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Deutsche GescMchtsblätter
Monatsschrift
zur
f öpdepung de? landesgesohiehtliehen foFsohuDg
unter Mitwirkung von
Prot Qaehmum-Prag, Prof. Breysig- Berlin, Fror. Brler-Mliotter i. W.,
Prof. F'inke-Freibnrg i. B., ArchiTdireklor Prof. Hanaen-KÖln, Prof. t. HeiKet-HfUichen,
Prof. Menner-Wünborg, Seclionscbcf v. Inuna-StemCKB-Wieo, Prof. Kolde-Erlwigen,
Prof- Kas«iiiiia-BcrliD, Arcbivrat KriCKer-Karbrohe, Prof. I.unp^ech^LeipIig,
Archivnt W. Lippert-Dresden, Arcliiv»r Mcrx-Osnabrilclc, Prof. HOblbACher-WicD,
Pro£ T, Ottenthal-lDiiibnick, Prof. Obw. Redlich-Wicn, Prof. «. d. Kopp-Marborg,
ProE. A. SchoIte-BoDD, Archifrat Sello-Oldcnburg, Geh. Archirrat attlin-SRittgart,
ArchWrat Wtocbke-Zerbsl, Prof. Weber-Prag, Prof. Weock-Mu-bnrg,
Archirrat Wintei-Osnabrück, Archivar Witte-Schwerin.
Prof. V. Zwiedineck-SQdenbont-Grai
herausgegeben von
Dr. Armin Tille
IV. Baad
Gotha
Friedrich Andreas Perthes
Aktia(*Hll«liaft
1903
STANFORr UN'VERSITY
STACKS
JAN 2( i^/u
t)4G
\)
.A-tp
I '"» ^'' ''"'
Inltalt.
Aufsätze : seue
Bergner« H. (Nischwitz, Sacbsen^Altenbnrg) : Landschaftliche Glockenkunde 225 — 239
BeffUng« Karl (DresdeD): Altertümer-Ausstellungen im Königreiche Sachsen 281 — 287
Caro, Georg (Zürich): Die Hufe t 257—272
Dwol^ Frans (Grax): Steiermarkische Geschichtschreibung im Mittelalter . 89 — loi
„ „ „ Steiermärkische Geschichtschreibung vom XVI. bis
XVIIL Jahrhundert 288—298
Käser» Kort (Wien): Zur Vorgeschichte des Bauernkrieges 301 — 309
Liebeskind (Münchenbemsdori) : Literatur zur Glockenkunde 239 — 245
Lippert, Woldemar (Dresden): Hermcmn Knotige und seine Bedeutung
für die oberlausitzische Geschichtsforschung 150 — 159
Ifiksebeck, Ernst (Metz) : Zur Geschichte der landesgeschichtlichen Forschung
in Lothringen 33—43
Richter, Eduard (Graz): Der historische Atlas der österreichischen Alpen-
länder 145 — 150
Sello, Georg (Oldenburg): Roland- Rundschau 113 — 128 a. 159 — 171
TQle, Armin (Leipzig): Nachwort zn dem Aufsatze über Steiermärkische
Geschichtschreibung vom XVI. bis XVIIL Jahrhundert von
Franzllwof 298 — 300
Werner, Heinrich (Merzig): Die Reform des geistlichen Standes nach
der sogen. Reformation des Kaisers Sigmund
im Lichte gleichzeitiger ReformpUme i — 14 u. 43 — 55
„ „ „ Die Reform des weltlichen Standes nach
der sogen. Reformation des Kaisers Sigmund
im Lichte der gleichzeitigen Reformbestre-
bungen im Reich und in den Städten . . 171 — 182
u. 193 — 2x8
Wol^ Gustav (Freiburg i. B.) : Forschungen und Forschungsaufgaben auf
dem Gebiete der Gegenreformation . 65 — 77 [falsche Zählung: 81 — 93]
u. io2~ 108
Mitteilungen :
Arthlologiscbe Karten 318 — 319
Arehhre und Kunstgeschichte (R. Hansen) 18 — 22
Archhre : Stadtarchiv Strafsburg (Winckelmann) 15 — 18; Dritter Archivtag 1902
in Düsseldorf 58—62; Inventare der nichtstaatlichen Archive der
Provinz Westfalen 108— 110 ; Archivberichte aus Kärnten I 129
bis 130; Schwedische Studien über das Archivwesen im Aus-
lande 130 — 13t; Literatur über städtisches Archivwesen 183;
Staatliches Archivwesen in Österreich 316 — 317; Landesarchiv
.^ Vorarlberg 317.
Seite
Berichtigungen 64, 144, 192, 256
Bibliographie der Zeitschriftenliteratur 22—25
Denkmalpflege: Dritter Tag fUr D. 1902 in Düsseldorf (Loersch) 55 — 58;
vierter 1903 in Erfurt 311.
Eingegangene Bücher . 31 — 32, 62 — 64, 87 — 88 [fabche Zählung: 103 — 104], 112»
142—144, 192, 224, 256, 280, 320
Familienforschung 272 — 274
Fluriurten 249—252, 314
Qesamtverein der deutschen Qeschichts- und Altertumsvereine: Ver-
sammlung 1902 ifi Düsseldorf 78 — 87 [falsche Zählung: 94 bis
103]; 1903 in Erfurt 309 — 310.
Historische Kommissionen: WUrttembergische K. fUr Landesgeschichte iio;
H. K. für Nassau iio — iii; H. K. bei der Kgl. Bayerischen
Akademie der Wissenschaften 140 — 141 ; Badische H. K. 141;
Kgl. Sächsische K. fUr Geschichte 222 — 223; Gesellschaft für
Rheinische Geschichtskunde 223 — 224.
Historische Ortsverzeichnisse (Vancsa) 186—188
Konferens von Vertretern deutscher Publikationsinstitute . . 182 — 183, 246 — 256
Museen: Niederösterreichisches Landesmuseum 131 — 132; kulturgeschichtliche
Ortsmuseen der Niederlausitz 133 — 140.
Nekrologe: Franz Krones Ritter von Marchland 188 — 190; Karl Albrecht
(Sorgenfrey) 319—320.
Ortsgeschichte, Zur deutschen (Albert) 312 — 316
Personalien 188 — 192, 319—320
Politische und sociale Bewegung im deutschen BOrgertum des XV.
und XVI. Jahrhunderts (Käser) 25 — 30
Siegeltmischriften, deutsche (Vancsa) in — 112
TQrkenkrieg: Neuere Literatur über den T. von 1664 279 — 2S0
Versammlung deutscher Historiker, siebente 1903 in Heidelberg . 182 u. 219—222
Versammlung deutscher Philologen und SchulmSnner, siebenundvier-
zigste 1903 in Halle 311 — 312
Zeitschriften: Geschichtsblätter für Waldeck und Pyrmont 183 — 184;
Jahrbuch des Historischen Vereins für das Fürstentum
Liechtenstein 184 — 185; Bibliothek der sächsischen Geschichte
und Landeskunde 185; Archiv für Kulturgeschichte 186;
Vierteljahrschrift für Sozial^ und Wirtschaftsgeschichte 186;
Fuldaer Geschichtsblätter 274 — 275; Deutsch • amerikanische
Geschichtsblätter 275 — 279.
Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte ... 273
Durch einen Irrtum des Setzers enthält dieser Band eine irrtümliche Seiten-
zählung: auf S. 64 folgt statt 65 fälschlicherweise mit Überspringung eines Bogens 81.
Im folgenden ist die richtige 2ählung (vgL Berichtigung S. 144) wieder hergestellt. Die
richtigen Seitenzahlen sind an Stelle der fabchen handschriftlich einzutragen.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
fur
Brdenmg der landesgescbichtlichen Forschung
IV. Band Oktober xgoa i. Heft
Die Heform des geistlichen Standes nach
der sogen. H^^ormation des Kaisers Sig>^
mund im Iiichte gleichzeitiger H^^ormpläne
Von
Heinrich Werner (Merzig)
Wie ich in einer Arbeit Über den Verfasser und Geist der sog.
Reformation des Kaisers Sigmund ^) zeige, sind die charakteristischen
Leitgedanken in der sogen. Reformation des Kaisers Sigmund , so der
Satz von der Freiheit jedes Christen, von der Scheidung des Geist-
lichen vom Weltlichen und die Abwehr gegen die Vermönchung von
kirchlichem Amt und Besitz u. a., im Zusammenhang gleichzeitiger
geistiger Strömungen und Zustände betrachtet, nicht revolutionär,
sondern nur insofern eigenartig, als sie aus einer anderen als bisher
angenommen Gedankenwelt, nämlich der eines Laien, Städtebürgers
und Stadtschreibers erzeugt sind. So sehr es auch bisher allgemeine
Anerkennung fand, hinter dem Verfasser einen Pfarrer, mindestens
einen Geistlichen zu suchen, so konnte doch ein Beweis dafür mit
glaubhaften Gründen nicht beigebracht werden. Im Gegenteil konnte
ich bei weitem zahlreichere und sicherere Gründe vorbringen •) zu der
Annahme, dafe ein Stadtschreiber die Reformschrift verfaüst hat und
zwar Valentin Eber von Augsburg; freilich eine entscheidende
Kontrolle kann nur ein hinreichender archivalischer Nachweis liefern.
Über den einzelnen Reformvorschlägen schwebt nun eine ähnliche
Unklarheit und nicht minder gespensterhaftes Dunkel. C. Koehne
hat sich in seinen Studien zur sogen, Reformation K. S. ') zuletzt
1) Historuche Vierteljahrschrift, (1902), 5. Bd. S. 467 ff.
2) Schon in dem Anhang tu meiner Schrift Die Flugschrift ^onus eccUsiae (1519)
mit einem Anhang über sozial^ und kirchenpolitische Prophetien. Ein Beitrag zur
^Steten- und Kulturgesch, des ausgehenden MitUlalUrs, (Giefsen 1901) S. 87 ff.
3) Zeitachr. fttr Soxial- und WirtschafUgeschichte VI. B. (1898), S. 369—430.
1
— 2 —
eine eingehende Behandlung dieser Schrift vorgesetzt. Sein Ergebnis
fuhrt uns aber wenig weiter, da der zweite Teil seiner Untersuchung,
der wichtigste, nämlich der über die Quellen der einzelnen Reform-
forderungen, weder tief noch breit genug ist.
Drei Behauptungen tritt hier Koehne entgegen; erstens als seien
vom Verfasser die Anschauungen und Forderungen der niederen Volks-
schichten wiedergegeben, zweitens als stimmten die vorliegenden Re-
formforderungen mit den auf den Reichstagen zu Regensburg und
Basel vom Jahre 1434 voi^ebrachten Artikeln überein, drittens als
seien sie auf husitische Ideen zurückzuführen. Dies geschieht mit gutem
Glück, weil die Gründe zum Teil auf der Hand liegen. Der positive
Teil der Quellenimtersuchung (von S. 410 ab) aber ist zu kurz ge-
kommen. Koehne kommt dabei zum Schlüsse; „Es mufs von vorn-
herein bemerkt werden, dafe eine bestimmte, andere Reformvorschläge
enthaltende Schrift, aus der Priester Friedrich einzelnes geschöpft hätte,^
nicht nur nicht nachzuweisen ist, sondern auch schwerlich
existiert hat." Dafs es aber noch andere Quellen gibt, sieht auch
Koehne, indem er in der „Wissenschaft, Umgebung und politischen
Vorgängen" der Zeit des Verfassers solche sucht Der vorliegenden
Refornischrift ähnliche Forderungen hätten z. B. die Konzilien zu Kon-
stanz und Basel aufgestellt, sie erwiesen sich aber nicht als „einfache Über-
setzungen" trotz aller Anklänge an die der Reformschrift. Da ihm
nirgends eine Quelle mit deutlichen Zügen zu erkennen ist, so glaubt
Koehne die Reformpläne aus den „Tendenzen, in denen sich der Fort-
schritt auf dem damaligen Gebiete verkörperte", abzuleiten. So stehen
wir denn vor einer neuen unbekannten Gröfee, die in früheren Unter-
suchimgen Radikalismus, revolutionärer Geist hiefe und jetzt, etwas ge-
mildert, „Fortschritt** genannt wird. Wir wollen nun im Folgenden den
Verfasser wieder möglichst beim Worte nehmen und dieses in zeit-
genössischem Lichte erscheinen lassen, so dafs es von dem isolierenden
Dunkel verliert und an Verständnis gewinnt; denn nichts bewundern
und nichts verdammen, sondern verstehen, ist oberstes Gesetz der
Wissenschaft.
Der Verfasser der Reformschrift stellt seine Forderungen in Zusammen-
hang mit dem Konzil zu Basel, er will zeigen, sagt er in der Einleitung,
wie das heilige konzil zu Basel gesamnet ist *) Femer sind nach seinen
eigenen Worten seine Reformpläne als eine Ordnung gemachet von
hoher meister (= Magister) Weisungen, gunst und willen und
i) Sämtliche Stellen aus unserer Refonnschrift sind nach der Aasgabe von W. Boehm,
Friedrich Reisers Reformation des K, Sigmund, (Leipzig 1876) angefUhrt S. 162..
— 3 —
lehre von latein zu deutsch zu einem bekennen allen gemeinen
Christen in der Christenheit ^), und diese Urkunde ist mit hohen weisen
erläutert*). Dafs wir diese Behauptung des Verfassers wörtlich neh-
men müssen, habe ich ebenfalls in meiner letzten Arbeit schon an-
gedeutet Ebenso habe ich bereits auf den Kreis hingewiesen, wo
ähnliche Forderungen aufgestellt wurden, und auf die Veröffentlichung
derselben bei Haller *). Es sind nämlich eine Reihe von Reformplänen
in Gestalt von motivierten Anträgen und Amendements zu Konzil- und
Ausschufeberatungen, wie letztere besonders durch den sogenannten
2. Status *) der Geistlichen stattfanden, als Vorarbeiten vorhanden, welche
die Verschiedenheit der in den offiziellen Konzilsbeschlüssen verdichteten
Stimmen wieder heraushören lassen. So hat unser Verfasser sein ord'
nungsbuch als Urkunde von hohen Meistern (Magistern) erhalten,
verdeutscht und erläutert zu allgemeinem Verständnis und Bekenntnis
veröffentlicht. In diesem Zusammenhang geben die einfachen Worte
des Verfassers einen unzweideutigen Sinn. Aber vergleichen wir einmal
die Reformforderungen des Verfassers mit den allerdings sehr unvoll-
ständig mitgeteilten Reformpapieren aus jener Reformbewegung, so läist
sich meine Annahme trotzdem noch zu einer gröfseren Gewifsheit er-
heben. Femer wird aus diesem Vergleich ersichtlich werden, dafs die
Forderungen des Verfassers nicht auf offizielle Beschlüsse, sondern auf
private zurückgehen, da(s also gerade im Gegensatz zu Koehne
unsere Reformscbrift Unterlagen hat, die ihres gelehrten Ursprungs
halber lateinisch sind, aber zu ihrer Massenverbreitung verständlicher
gemacht und verdeutscht werden mufsten. Daneben erscheinen die For-
derungen selbst in neuem und hellerem Licht und nur als eine Stimme
aus dem Wirrwarr der Meinungen in dem damals immer heftiger wer-
denden Drang nach Reform. Nur seine Erläuterungen haben, weü
subjektiv, ein so eigenartiges Gepräge, dafs sie von neuem auf eine
bestimmte Persönlichkeit als Verfasser, nämlich auf einen Laien und
Stadtschreiber hinweisen.
Was an den Reformplänen des geistlichen Standes sofort auffallt,
ist die Einhaltung der Reihenfolge, wie sie durch die hierarchische
Rangordnung in der Kirche voi^ezeichnet ist. Die Reform geht vom
Papste zu den Kardinälen, Bischöfen, Pfarrern, Prälaten, Orden bis zu
i) Ebenda S. 171.
3) Eine andere SteUe lautet: das wird nun von stuck zu stück erläutert zu
einem reckten bekennen gebracht» Ebenda S. 344.
3) Job. Hai 1er, Concilium Basitiense 1896. 4 Bde.
4) Vgl. Hiatorische Vierteljahrtchr. a. a. O. S. 469 und S. 475.
1*
— 4 —
den Laien im weltlichen Teil, also, wie er selbst sagt, vom haupt
bis zum mindesten herab. In dem zweiten Teile über den weltlichen \
Stand hat er keine derartige strenge Anordnung innegehalten. Der
Grund ist einfach: bei der geistlichen Reform hat er fest geordnete
Anträge vor sich gehabt, die den natürlichen Gang einer Geschäfts-
ordnung verraten *). In dem weltlichen Teil schreibt aber der Verfasser
über seinen eigenen Stand mit praktischer Erfahrung und eigener Ge-
dankenordnung; da er aber als Stadtschreiber nur Halbbildung besitzt,
so sticht jene grell genug gegen die gelehrten Entwürfe zum ersten
Teile ab. Nur in seiner Eigenschaft als städtischer Diplomat bringt er
mehr Kenntnisse für weltliche Dinge mit, die ihm kraft seiner TeU-
nähme an Reichs- und Städtetagen bekannt sein konnten. Davon ist
denn auch der zweite Teil der Reformation ein buntes Widerspiel.
(In einem andern Aufsatz ist darüber demnächst näheres zu finden.)
Bei jedem kirchlichen Amte macht er nun unter immer wieder-
kehrenden Gesichtspunkten seine Forderungen geltend : seine Reformen
betreffen hauptsächlich die Wahl zu jedem Amte und die dazu not-
wendige Ausbildung und Graduierung, die familia, das Einkommen
jedes hierarchischen Beamten und die Amtshandlungen jedes Klerikers..
Die Wahl zu einem jeden Amte soll einheitlich in dem Sinne
reformiert werden, dafs keine kirchliche Würde von einem Ordensmann
bekleidet werden darf. Während sich offizielle Vorschläge *) ausführ-
lich mit dem Gange der Wahl beschäftigen, macht unser Verfasser bei
seinen Vorschlägen nur den praktischen Gesichtspunkt des imbeteiligten
Laien geltend und in so scharfer Weise, dafs darin der auch sonst
ausgesprochene grofse Unwille gegen die Orden einen geradezu ty-
pischen Ausdruck findet Viele Stimmen aus damaliger Zeit ') geben
kund, wie die Plage des Almosensammeins und der Besitz in der toten
Hand den Städtebürgem immer mehr ein Dom im Auge wurde. Jeder
Orden sei eine parcialitas, fahrt unser Verfasser fort, der die Univer-
salität eines jeden kirchlichen Amtes widerstrebt Denn ein aus einem
Orden gewählter Würdenträger hat nur die Interessen seines Ordens
im Auge und dispensiert deshalb die Mitglieder desselben sehr leicht
von geistlichen Verpflichtungen. So entstehen überall Eingriffe der
Orden in kirchliches Amt und kirchliches Recht. Eine ähnliche Her-
i) Denselben Gmng halten auch die von Haller veröflfentlichten gröfseren Privat-
anträge ein, wie z. B. die des Andreas vonEscabor(I. Bd., S. 214), and ebenso soU der
Reforme ntwnrf Cesarinis geordnet gewesen sein. Vgl. Ebenda.
2) Vgl. Monumenta conciUorum gener<Uium saeculiXV, 2, S.402 und Hall e r I, S. 190.
3) Vgl. die in meiner oben genannten Schrift angeführten SteUen S. 87, Anm. 3.
Vorkehrung" dieses einen Gesichtspunktes über die Wahlreform finden
wir bis jetzt nirgends, sie ist also dem Verfasser als besonders cha-
rakteristisch und als ihm allein eigen zu betrachten. Nur aus seiner städte-
bürgerlichen Eigenschaft ist sie hervorgegangen und steht jedenfalls
ohne eine gelehrte Unterlage in der Form eines Antrages ver-
einzelt da.
Ganz anders liegt es bei seinen Forderungen über die wissen-
schaftliche Qualifikation. Hiermit haben sich offizielle ^) wie private
Reformbeschlüsse beschäftigt, und unser Verfasser bekennt sich hier
zu ähnlichen Anschauungen, wie sie jene vertreten. So soll nach
unserem Verfasser ein Kardinal ein Doctor in der heiligen Schrift und
in den Rechten sein, ein Bischof Doctor in der heiligen Schrift und
in decretis", der Pfarrer soll von einer hohen Schule Brief und Insiegel
haben, dais erBaccalaureus sei *). Hören wir nun, was andere gleichzeitige
Reformpläne über diesen Punkt vorschlagen . Haller veröffentlicht einen mo-
tivierten Antrag" auf Ergänzungendes Dekrets über die Wahlen (S. 190 ff.),
in dem es heilst : cavendum esse, ut de cetero nullus promoveatur in
episcopum, nisi fuerit doctor vel licentiatus sacrae paginae vel sac-
rorum canonum vel baccalarius in theologia/ormatus. Bei der Wahl
der Bischöfe müssen im Domkapitel mindestens 24 Mitglieder mitwirken,
ja sogar auch Laien, etsi non omnis multitudo civitatis tarnen ad
minus aliquis magnus et notabilis numerus bonorum virorum. Hier
sehen wir eine andere Stimme vertreten, die eher „fortschrittlich" ge-
nannt werden müfste als die unseres Verfassers.
In den Reformanträgen der deutschen Nation vom Jahre 1433 *),
die durch den Vikar von Freising gestellt sind, wird vor allem die
Freiheit der kanonischen Wahl gefordert und ebenfalls die Gelehrsam-
keit der Geistlichen hochgeschätzt, die in generalibus studiis et aliis
patrimonia sua et labores su/>rum consumunt parentum *) et quibus
forsitan per ordinarios eis ignotis minime vel sattem tardius pro-
videretur.
Ebenso verlangt die Denkschrift eines Ungenannten über die
Kirchenreform *) docti pastores und freie Wahl,
Andreas von Escabor macht den Vorschlag, dafs der zum Papst
l) Vgl. Monumenta conciliorum generalium saeculi XV, 2, S. 402.
3) Ausgabe ron Boehm, S. 182.
3) Hallcr m. ». O. S. 195 ff.
4) Dieser Text erinnert lebhaft an die Worte unseres Verf. Vgl. Boehm S. 182,
Z. II aod S. 183.
5) Haller a. a. O. S. 206 ff.
— 6 —
zu Wählende entweder in der Theologie oder im kanonischen Recht
graduiert oder de ducali aut regalt genere procreatus *) sei.
Die Zahl der Kardinäle soll beschränkt werden und sie sollen in der
Theologie und im kanonischen Recht graduiert, nicht mit Papst und
untereinander verwandt sein. Die Erzbischöfe und Bischöfe sollen
ebenfalls vel doctor in iure canonico vel civili vel medicinae
sein. Für die Beleihung von Benefizien und Offizien wird gleichfalls
eine der Höhe der Pfründe entsprechende wissenschaftliche Stufe ge-
fordert, so dafs eine förmliche Skala des Pfründenwertes dem Mafse
der Gelehrsamkeit entspricht. Ein Ordensmann kann vom Papste nicht
zum Bischof ernannt werden, selbst nicht auf die Bitte eines Königs
oder einer Gemeinde hin, weil dieses Amt dem Wesen eines Mönches
widerspricht : ne habeat occasionem peccandi et vaga n di et officium
pro pecunia exequendi, ac quod magis est, ne habeat proprietatem
et oboedientiam , ., et cogatur in opprobrium dignitatis episcopalis
ubique mendicare *). Andreas vonEscabor entwickelt also hier einen ähn-
lichen Gedanken über die Wahl eines Bischofs, der aber nicht bei allen kirch-
lichen Ämtern gleich einheitlich durchgeführt ist, im Gegenteil schon bei
dem Bischofsamte selbst eine Ausnahme erleidet: es darf nämlich ein
Ordensmann Bischof werden, wenn er vom Kapitel mit der Erlaubnis
von Abt oder Provinzial unter der Erfüllung aller anderen Bedingungen
gefordert wird.
Auch die Pfarrkirchen sollen je nach ihrem Ertrag an minder oder
höher Graduierte verliehen werden Auf die Pfarrkirche mit dem höch-
sten Ertrag von 200 Kammergulden (S. 225) hat der Doctor oder
Magister im kanonischen Recht oder in der Medizin das Anrecht.
Diesen steht gleich der vir magnus nobilis ex utroque parente de
militari genere descendus.
Die Graduierung spielt auch in einem anderen Ausschufsantrag, be-
trefTend die Expektanzen- und Benefizienverleihung (S. 223), eine grofse
Rolle; doch nach der Meinung des anderen Teüs des Aus-
schusses soll sie ganz wegfallen. Wie das adlige Element ^) den
Vorrang bei Verleihung von Benefizien haben soll, zeigt auch
dieser Antrag, indem er den Genannten vier Benefizien als Maximum
der Benefizienzahl, den Magistern, Doktoren und Lizentiaten nur drei
Benefizien zuerkennt. Sicut per suprascripta prohibetur ascensus
non graduatis et non nobilibus ad alta et magna beneficia, ita vi-
1) Ebenda S. 216.
2) Ebenda S 221.
3) Verwandte von Königen und Fürsten. Ebenda S. 238 u. 393.
detur prohiberi descensus nobütbus et graduatis ad pauca beneficia
et modica^ ut etiam substt amplms, de quo pauperibus providere.
Auch für das Pfarramt einer Gemeinde, ubi stt magntis et notabüis
populus, kann nur ein magister in artibus oder baccalaurius kandidieren,
während für andere Pfarrkirchen solche genügen, die lateinisch lesen
und verstehen können. Im übrigen sollen Adlige und Söhne der
Fürsten den Graduierten gleichstehen.
So sehen wir denn die Frage nach dem Wahlrecht^ welches
das Baseler Konzil schon im Dezember 1432 *) beschäftigte, in mannig-
facher Weise beantwortet Darin stimmen nun alle Anträge überein,
dafe das Wahlrecht, welches im Laufe der Zeit von geistlichen Re-
servationen und Provisionen ganz verdrängt war, den zuständigen Kör-
pern zurückgegeben werden soll, und dabei wird dem gelehrten und
adligen Element besondere Vergünstigung und Bevorzugung eingeräumt,
ja sogar den Laien eine gewisse Teilnahme zugestanden. Davon weifs
unser Verfasser nichts. Er stellt vielmehr eine eigene ganz charak-
teristische Forderung in bezug auf die Wahlen auf, die an eine be-
schränkte Forderung des Andreas von Escabor zwar erinnert, aber in
dieser Allgemeinheit und feindseligen Konsequenz nur unserem Verfasser
eigen ist und klar seinen städtebürgerlichen Geist verrät.
Nur den Graduierten erkennt er auch ihre Vorrechte im gewissen
Sinne zu, weil er sie in seiner Vorlage erwähnt sieht. Aber sie sind
so nebensächlich und mit so feindseligen Augen betrachtet, dafe ihn
seine Halbbildung in den viel breiteren Erläuterungen zu den genannten
Forderungen zu heftigen Angriffen auf die gelehrten und gewaltigen
fortreifst. Der Verfasser schliefst aus der Gelehrsamkeit für die Stellung
eines Klerikers etwas ganz anderes. Bei den übrigen genannten Vor-
schlägen wird die Graduienmg als Bedingung zu einem höheren Amt
und besseren Pfründe angesehen, bei unserem Verfasser aber ist sie die
Voraussetzung für eine schwerere Pflicht selbst eines niederen Amtes
wie z. B. des Pfarramtes. Dieses mufste einem Städtebürger, nament-
lich einem in der städtischen Verwaltung so hoch Stehenden, das wich-
tigste kirchliche Amt sein, weil es den Laien mit seinen Funktionen
bekleidet von der Wiege bis zum Grabe. Während die anderen An-
träge im grofsen und ganzen nur geringe wissenschaftliche Aufforde-
rungen an den Pfarrkandidaten stellen, will er dieses Amt aus recht
praktischen Gründen gerade an gelehrte Priester übertragen wissen,
die Ungelehrten seien noch gut genug für die Dome zum blofeen Singen
und Lesen. Unwissende Priester, die weder predigen noch Sakramente
i) Vgl. Malier, II. Bd., S. iii.
— 8 —
spenden können '), werden nach den Ansichten unseres Verfassers zur
Amtsausübung in den Pfarrkirchen gegen schenk und miet bevorzugt,
während die gelehrten Priester Jhre Würde und Gelehrsamkeit nur zu
einer bequemen Einnahmequelle machen. So sei denn heute die theo-
logische Gelehrsamkeit unfruchtbar geworden *). Gerade die gelehrten
Priester sollen auf die Kirchen gezwungen werden, sonst würde der
keherglauben in den städten noch mehr um sich greifen ^).
Von der Bevorzugung des adligen Elements bei der Wahl zu
einem höheren kirchlichen Amte weifs der Verfasser vollends gar nichts.
Vielmehr scheint auch hier ein bewufster Gegensatz vorzuliegen, der
sich neben einer politischen Spitze ^) in dem häufigen Rufe gegen die
„Gelehrten und Gewaltigen" *) Luft macht. Denn nicht nach Gunst,
sondern nach Kunst, nicht nach Stand, sondern nach Verstand will er
die Ämter verteilt haben, deren Wert er recht charakteristisch nach dem
Standpunkt des praktischen Laien einschätzt. So kommt es denn
auch, dafs er die Prälaten dem Range wie der Behandlung nach den
Pfarrern unterordnet.
Von seinen Reformforderungen über die Wahl können wir uns
also ein ganz genaues Bild machen. Die Ablehnung eines Ordens-
mannes als Kandidaten für ein kirchliches Amt ist ihm allein eigen
und für ihn charakteristisch ; sie wird sich höchstens an ähnliche, aber
bei weitem nicht so konsequent durchgedachte Forderungen wie die
des Andreas von Escabor angelehnt haben. Dies erklärt sich aus der
Tatsache, daCs in unserer Schrift die einzigen bis jetzt bekannten Re-
formpläne eines humanistisch ^) gesinnten und städtebürgerlichen Laien
vorliegen. Auch über die Qualifikation zu einem Amte teilt er, wie
schon oben erwähnt, nur kurz und oberflächlich den zu gründe liegen-
den gelehrten Antrag mit, um durch seine eigenen Erläuterungen dazu
um so kräftiger den Charakter desselben zu verwischen und seine
eigenen städtebürgerlichen Gesichtspunkte geltend zu machen.
Augenscheinlich geht auch die Forderung über die familia eines
Prälaten auf einen von den der Schrift zu gründe liegenden Anträgen
zurück: so soll die familia eines Kardinals 12 Personen umfassen,
nämlich 2 Kapläne, i Kammermeister, i Schreiber, 2 Edelknechte,
1) Vgl. Bochm, S. 183.
2) Ebenda S. 192.
3) Vgl. auch das unten über die Provinzialsynoden Gesagte.
4) Vgl. Anbang zu meiner obengenannten Schrift, S. 90.
5) Vgl. Anhang, S. 86, Anm. i.
6) Vgl. Histor. Vierteljahrschr. 5. Bd. (1902) S. 474f.
— 9 —
4 Scbildknechte, i Marstaller und i Koch. Eines Bischofs familia soll
bestehen aus 2 Priestern, 2 Schildknechten , i Koch und i Marstaller,
ein Suf&agan soll haben i Priester, i Schildknecht, i Schreiber,
I Koch und i Marstaller. Durch Privatanträge, wie sie Haller S. 208
mitteilt, lälst sich dieser Vorschlag nicht näher beleuchten als durch
die eine Stelle daselbst, wo für die familia eines Kardinals 30 Personen
gefordert werden.
Am wichtigsten aber ist die Frage über das Einkommen der Geist-
lichkeit, die lebhaft auf dem Konzil erörtert wurde und zu der des-
halb auch eine Reihe von Privatansichten vorliegen. Die mittelalter-
liche Kirche war in ihrer Blütezeit ein finanziell und wirtschaftlich
hoch entwickeltes Institut geworden; die Päpste und nach ihrem Bei-
spiel die übrigen Würdenträger der Kirche hatten frühzeitig die Macht
des Kapitals erkannt und zur Erlangung desselben zahlreiche Mittel
und Wege gefunden. Unter allen möglichen Namen wie Annaten,
Reservationen, Provisionen, Expektanzen, Vakanzgeldem und Taxen
aller Art flofis reichlich Geld nach Rom und anderen geistlichen Höfen *,
besonders beliebt war ein Mittel zur Bereicherung, nämlich die An-
häufung von Pfründen und Bencfizien in einer Hand, die sogen. Plu-
ralität oder Union von Pfründen. Um diese zu erlangen, hatten sich
an der römischen Kurie solche Pfründenjäger unter dem später best-
gehafsten Namen der Kurtisanen aufgehalten, die in ihrer geistlichen
Würde oft sehr tief standen, häufig gar keine besafsen.
Sehon unser Verfasser charakterisiert dieses Treiben mit den Wor-
ten: sie leihen unterweilen Stallknechten pfarreien und prälaten
Pfründen *). Nicht weniger ärgemiserregend war die Afterverleihung
von geistlichen Einnahmen, da hierdurch ganz unwürdige Priester gegen
ein fettes Entgelt in den Besitz von Pfründen und Benefizien kamen.
Eine Reform mufste also damit beginnen, die vom Papste angemaßten
Einnahmen aus Pfründen und Reservationen zu beseitigen, und sie den
Ordinarien wieder zurückgeben; andrerseits mufste die Pluralität ab-
geschafft oder auf ein Mindestmafs beschränkt werden. Das ist auch
der W^, den die offiziellen Verhandlungen über diesen Gegenstand
nahmen. In dem einen Punkte über die Annaten erlangte man gerade
durch das Drängen der deutschen Nation einen durchgreifenden Be-
schlufs: sie wurden abgeschafft. Eine Entschädigung für den Ausfall
wurde versprochen, aber da man sich über die Art nicht einigen
konnte, nicht ausgeführt. So war denn Spielraum genug für Privat-
anträge gegeben, und einer davon liegt auch unserer Schrift zu gründe.
i) Boehm, S. 182.
— 10 —
Das Einkommen des Papstes und seines Hofes soll ein Drittel der
Einnahmen aus dem Patrimonium Petri , also aus dem Kirchenstaat,
der in seinem Umfang kurz angegeben wird , betragen *) , die andern
zwei Drittel sollen dem Kardinalskollegium zugewendet werden; diese
Einnahmen werden gleichsam als direkt aus dem der römischen
Metropolitankirche verliehenen Kirchengut fliefeend betrachtet. Da-
gegen sollen alle indirekten, durch die Amtsfunktionen sich eig'eben-
den Einnahmen, also alle Taxen und Gebühren, wegfallen: ein Brief
von der Kurie soll deshalb „nicht mehr kosten als das Pergament
wert ist". Alle in der Rota beschäftigten Hofbeamten dürfen nicht
mehr mit Kirchenverleihungen und den damit verbundenen Inkor-
porationen besoldet werden, sondern ebenfalls mit den Einnahmen aus
dem Kirchenstaat und zwar von dem Anteil des Papstes. Die Peni-
tentiaren sollen keine Laien, sondern Priester sein. Für jeden Kar-
dinal erhofft der Verfasser aus den zwei Drittel der Einnahmen aus dem
Kirchenstaat, wenn sie ordentlich verteilt würden, I2(xx:) Gulden jähr-
lich. Dafür sollen sie aber keine indirekten Einnahmen mehr haben,
etwa aus Pfründen, sondern höchstens Vergütung der Spesen auf
Legationsreisen *).
Das Einkommen eines Erzbischofs hat loooo Gulden rheinisch zu
betragen und das eines Suffragans 5 — 6ocx) Gulden. Wenn auch
hier nicht angegeben ist, woher diese Besoldung genommen werden
soll, so liegt es im Sinne der anderen parallelen Forderungen des
Verfassers, auch hier die Einnahmen aus dem zur Metropolitankirche
gehörigen Kirchengut, also dem Herrschaftsgut, als den Fonds für das
Einkommen eines Erzbischofs zu bezeichnen. Die übrigen — indirekte
Einnahmen wollen wir sie wieder nennen — sollen teils beschränkt,
teils aufgehoben werden: so soll für Bestätigung eines Suffragans der
Bischof nur icx) Gulden erhalten. Die Pfründenverleihung soll wieder
den Bischöfen als den Ordinarien zurückgegeben werden, nur Erzbis-
tümer und gefürstete Abteien bleiben dem Papste vorbehalten (S. 182).
Jeder Bischof darf aber bei der Verleihung einer Pfründe nicht mehr
als I Gulden nehmen, wohl auch nur zur Deckung der dabei ent-
stehenden Unkosten. Dagegen darf er weder schenk noch miet nehmen
und keinem mehr als eine Pfründe geben (S. 183), damit er sie selbst
„verdienen" kann. Auch Geldstrafen, wie Konkubinatssteuer, auf-
zuerlegen, soll dem Bischof verboten sein (S. 184). Dafs dies oft aus
geitz (= avaritia) geschah, sagt er an der Stelle, wo es heifst: sie
i) s. 163 u. 174.
2) S. 177.
— 11 —
besl€U€m sie wegen ihrer konkuhin (S. 187). Die Verleihung
einer Pfründe soll nur an denjenigen erfolgen, der von einer hohen
schule durch 2 tnagister , Präsidenten genannt, geprüft ist , und
diesen soll der Bischof ohne weiteres beleihen. Hiermit wird dem
Gelehrtentum eine wichtige Entscheidung zugestanden. Daraus ist aber
auch wieder zu erkennen, dafe der Verfasser hier der lehre und Weisung
hoher tneister in seiner Vorlage gefolgt ist.
Jede Pfarrkirche soll mit zwei Priestern versorgt sein. Ist die Pfarre
zu klein, dann sollen zwei vereinigt werden, denn alle Priester sollen
gleiche Pfründe haben. Diese betragen für jeden 80 Gulden jährlich
für alle dinge (S. 189). Nach der Einnahme aus dem Pfarrgut oder
Herrschaftsgut richtet sich die Zahl der Priester in einer Pfarrei. Alle
Nebeneinnahmen, namentlich die aus feierlichen Begräbnissen und
Anniversarien, fallen weg, da diese selbst aufgehoben werden. An
ihrer Stelle sollen Geschenke, die in Kirchengeräten bestehen, gegeben
werden, oder andere Opfergaben. Aber Geld dürfen sie nicht nehmen
und nichts für Geld tun; denn die Pfründe soll ihnen in einem Stück
gegeben werden. Das Kirchengut dürfen die Priester selbst bebauen
und Vieh darauf halten, aber alle Gerechtigkeiten auf Häuser, Acker
und Wiesen der Untertanen sollen je für ein Schilling ein pfund ^) ab-
gelöst Verden. Der Gesamterlös hieraus ist in einemStück anzulegen, das
dann zu einem Fonds mit den Einkünften aus dem Herrschaftsgut zu-
sammeng'eschlagen wird. Hieraus erhält dann jeder Priester 80 Gulden
jährlich. Mit diesen weltlichen Dingen haben aber die Priester nichts
zu tun^ dafür soll ein Kirchenpfleger mit 40 Gulden Jahreseinkommen
eingesetzt werden. Dieser hat jährlich Rechnung abzulegen vor
2 Priestern, 1 Vertreter des Bischofs und 4 bis 5 Untertanen.
Aus diesen Vorschlägen läfst sich der Verfasser wieder recht deut-
lich erkennen. Abschaffung der feierlichen Begräbnisse und Anni-
versarien *), Trennung von geistlichem Amt und weltlicher Verwaltung,
Ablösung^ der Gerechtigkeiten und Rechnungsablage des Kirchenpflegers
selbst vor weltlichen Untertanen erscheinen, ohne Zusammenhang be-
trachtet, für die damalige Zeit als etwas Unerhörtes und im Munde
eines Geistlichen gesprochen — wie seither angenommen — etwas
Revolutionäres oder Husitisches. Ein ganz anderes Gesicht zeigen
diese Worte aber, wenn man sie im Geiste des mittelalterlichen Städte-
bürgertums betrachtet : nur ein Laie, ein Vertreter des mittelalterlichen
1) S. 190, Der Verf. meint scheinbar, dafs für je i /f laufende Abgabe eine ein-
malige Ablösungssomm e von i fö bezahlt werden soll.
2) VgL Auch das anten über ProvinziaUynoden Gesagte.
— 12 —
Städtebürgertums, das namentlich in seiner Verwaltung dem modernen
Staatsbürgertum vorbildlich geworden ist, kann solch modern er-
scheinende Forderungen aufstellen, und ein in dieser Verwaltung ge-
schulter Stadtschreiber war dazu in noch viel höherem Mafse im stände.
Erst nach den Pfarrern kommt der Verfasser mit besonders deut-
licher Spitze gegen die Prälaten auf die Domherren zu sprechen: sie
sollen nur i Pfründe haben und keine Pfarrei daneben, der sie doch
nicht vorstehen, ihr Einkommen von ihrer Kathedralkirche soll je
80 Gulden betragen. An einer Domkirche sollen nicht mehr als
24 Prälaten wirken ; da, wo eine gröfeere Anzahl vorhanden ist, sollen
die Überzähligen in die Pfarrkirchen geschickt werden (S. 193). Hier
fordert der Verfasser in seinem tiefen Groll gegen die Gelehrten mit
grofser Emphase von den getreuen Christen, dafe sie die gelehr-
ten bezwingen mögen mit gewalt, damit rechte Ordnung gehalten
werde. Ein Domherr in einem Kollegium soll nur 60 Gulden haben
und diese soll er selbst verdienen, denn jedermann soll seine arbeit
tun um sein tägliches Brot (S. 194). Dieser wiederholt ausgesprochene
Grundsatz von der persönlichen Leistung gegenüber dem in der mittel-
alterlichen Kirche und dem Staat eingerissenen Unwesen der Vikariate
und Afterverhältnisse ist echt städtebürgerlich und kennzeichnet wie-
derum den Verfasser nach der schon öfters betonten Seite. Mit Geld-
und Gerichtssachen soll ein Domherr ebensowenig etwas zu tun haben
wie die Pfarrer, Zinsen und Zehnten der Domkirchen sollen ebenfalls
abgelöst und die Verwaltung des Erlöses daraus einem Vogt und
Kellner übertragen werden, welche der Gewalt des Bischofs unterstehen
sollen (S. 19s).
Den Orden ist er nun vollends feindselig gesinnt : vor allen den
Benediktinern und Bernhardinern soll man ihre Güter und Kirchen
nehmen und ihnen die alte Regel vorlegen, wonach sie keinen Besitz
haben dürfen. Heute sind den Klöstern alle zinsbar , Laien , Edle wie
Reiche*), und deshalb dürfen sie treiben, was sie wollen (S. 197).
Alle zwing und benne, Schlösser und Städte sollen ihnen genommen
und dem Reich gegeben werden; dies soll es den rittern und
knechten leihen, die es verdienen, und ebenso den städten, die sich
üben in dieser sache und Ordnung (S. 200). Der Besitz in der
toten Hand war ja damals schon ins Ungeheure gestiegen und niemand
sah lange schon vor der Reformation begieriger darauf als die Reichs-
städter. In diesem Sinne will auch der Verfasser einen Teil des dem
i) Die kWster haben das erdreich inne (S. 17^).
— 13 —
Reiche zurückgegebenen Kircheng^tes verwendet wissen. Dabei drückt
er sich so aus, da(s er als ein Vertreter dieser Städte seine genaue
Kenntnis verrät; denn in den Worten: die städte üben sich in
dieser sacke und Ordnung, deutet er offenbar auf einschlägige Re-
formbestrebungen der Städte auf Städtetagen ^) hin, die allerdings wegen
der Mif^rnnst der gewaltigen ergebnislos verliefen.
Ein Abt soll an Einkommen haben 80 Gulden, ein Mönch dieser
beiden Orden je 40 Gulden. Die weltlichen Geschäfte soll ein Kasten-
vogt für jedes Kloster für 100 Gulden jährlich besorgen. Außerdem
sind 100 Gulden für die Beköstigung von Gästen aufzuwenden. Um
mit diesem geringeren Einkommen auszukommen, ist die Zahl der
Mönche eines Klosters zu vermindern und zwar so, da(s da, wo 40
sind, man sie aussterben lassen soll bis auf 24 u. s. w. bis auf 8.
überhaupt sollen alle Orden angehoben werden mit Ausnahme der-
jenigen, die von Almosen leben und die ihr bestimmtes Pfründeein-
kommen haben (S. 201), allein von den Almosen sollen die vier Bettel-
orden leben (S. 202), ihre Pfründen, Gülden, Anniversarien sollen
abgeschafft sein. Nur aus dem UnwUlen eines Laien lassen sich die
Worte begreifen: Männer und Frauen ohne Unterschied sollen ihrem
Gottesdienst beiwohnen dürfen und ihr Almosen sollen sie verdienen.
In den Frauenklöstem bekommt eine Äbtissin von jetzt an 50 Gulden,
jede andere Person 30 Gulden jährlich; im übrigen herrscht dieselbe
Ordnung wie bei Männerklöstem.
In einem gemeinsamen kapitel, auf das er wiederholt hmweist,
wendet er sich nochmals dem Einkommen der Pfarrer zu (S. 209 f.),
wobei nur das eine noch zu bemerken ist, dafs ein etwaiger Über-
schufis der Pfründen von dem Kirchenpfleger zuni Bau und zur Aus-
schmückung der Kirche verwendet werden soll. Noch einmal fordert
er den Heimfall aller Schlösser, Festen und Städte der Geistlichen an
das Reich, also eine grolse Säkularisation zu g^nsten von Herren,
Rittern, Knechten und Reichsstädten (S. 212). Und gerade die Reichs-
städte sollen diese Forderung nüt Gewalt durchsetzen, denn von den
übrigen damals allein geltenden Reichsständen erwartet er nicht viel.
Aber gerade deshalb, weU er diese nur dem Namen nach mit nennt,
ohne ihnen in Wirklichkeit eine Bedeutung in der von ihm verkün-
deten Reform zuzuschreiben '), charakterisiert sich der Verfasser wieder
als einen hervorragenden Vertreter dieser Städte selbst.
i) Vgl. Janssen, Frankfurts Reichskorrespondenz» I. Bd. (1863), S. 443.
2) Vgl. Anhang, S. 86, Anm. 2.
— 14 —
Stellen wir die Forderungen des Verfassers noch einmal kurz zu-
sammen! Vor allem sollen geistliche und weltliche Geschäfte peinlich
geschieden werden *). Für letzteres sind eigens dafür besoldete Organe
zu schaffen. Dann soll für die Geistlichen selbst eine förmliche Be-
soldung eintreten in der Form einer bestimmten Pfründe für die
Person; zur Gewinnung dieser Besoldung ist erstens das Kirchengut
und zwar als Herrschaftsgut heranzuziehen, und zweitens sind alle Ge-
rechtigkeiten am Untertanengut abzulösen durch eine Summe, die eben-
falls zum Fonds der Einnahmen aus dem Herrengut geschlagen wird;
für den Fall der ÜberbUanz ist die überschüssige Summe zum
Kirchbau zu verwenden. Eine Unterbilanz ist vom Verfasser nicht
ausdrücklich ins Auge gefafst, aber jedenfalls bei Pfarrkirchen durch
Vereinigung mehrerer zu einer, bei Klöstern durch Verminderung der
Mönche auszugleichen. Reichsgut wie Burgen, Schlösser und Städte
sollen an das Reich zurückfallen: also Stärkung des Reichsgedankens
ist auch bei dieser Selbsthilfe wie bei jeder des mittelalterlichen
Städtebürgertums bezeichnend genug für den überall konservativen
Charakter der Reichsstädte, sowie für unseren Verfasser als einen ihrer
Vertreter.
Koehne will nun in betreff des Einkommens „der Kanoniker,
besonders der Bischöfe, denen sowohl alle Hoheitsrechte wie Land-
besitz und Renten genommen werden, annehmen, dafs unser Autor an
Staatsbesoldung gedacht hat** (S. 377). Von einer Staatsbesoldung
kann in dieser Zeit aber noch gar nicht die Rede sein; wollte man
eine Stadtbesoldung annehmen, so gäbe das eher einen Sinn, die
Persönlichkeit des Verfassers würde eine solche Annahme zulassen,
doch dies ist nirgends angedeutet, was er doch gewifs beim Ein-
kommen der Pfarrer getan hätte. Auch ist der Landbesitz den ge-
nannten Würdenträgem gar nicht genommen, ebensowenig jede Rente,
nur geht mit dem Heimfall des Reichsgutes auch das Fürstenamt ver-
loren. Das beabsichtigt ausdrücklich der Verfasser mit den Worten :
sie (die Bischöfe) führen auch weltliche gewalt und wissen , da/s
es wider Gott ist (S. 181). Aber die Einnahmen aus dem Herrschafts-
gut der einzelnen Kirche und die Summe aus der Ablösung der Ge-
rechtigkeiten ergeben einen Fonds, der zm Besoldung auch der Bischöfe
und Prälaten hinreichen kann. (Schlafs folgt.)
i) Es soll sich lauUr in allweg scheiden das geutlich und das weltlüh, S. 231.
— 15
Mitteilungen
ArehiTe« — Unter den Archiven der süddeutschen Städte steht das
Strafoburger trotz schwerer Verluste, die es im Wandel der Zeiten erlitten
hat, noch in&mer als eins der reichhaltigsten und für die allgemeine Geschichte
wichtigsten in erster Reihe, dank der machtvollen Stellung, welche die Reichs-
stadt als Metropole des Oberrheins und als Bollwerk gegen Frankreich das
ganze Mittelalter hindurch und bis ins 17. Jahrhundert hinein behauptet hat.
Die Originale der ältesten Stadtrechte und kaiserUchen Privilegien sind frei-
lich verloren gegangen und auch sonst ist die 2^1 der Urkunden aus der
Zeit vor 1261 gering (71); die älteste erhaltene Kaiserurkunde ist von 1205.
£r^ vom Jahre 1261 ab, in welchem die Stadt den Krieg begann, der sie
von der bischöflichen Oberhoheit befreite, schwillt das urkundliche Material
mächtig an. Am 18. März 1399 beschlofs der Rat die Einrichtung be-
sonderer feuersicherer Archivräume; allein bald reichten diese nicht mehr
aus, so dafe die Akten tmd Urkunden teils im sogenannten „Pfennigturm '%
teils in der „ Pfalz*' und im Kanzleigebäude, später auch im sogenannten
„Neubau '*, dem nachmaligen Hotel du commerce, untergebracht werden
muisten. Die Verwaltung des Archivs unterstand lange Zeit unmittelbar dem
Stadtschreiber; als der Umfang der Geschäfte aber immer mehr wuchs, wurde
1594 ein besonderer Registrator archivi angestellt. Der erste Inhaber dieses
Amts war Laurentius Clussrath, der sich ebenso wie sein Nachfolger
Joh. Ulrich Fried redlich imi die Ordnung des Archivs annahm. In-
dessen wurden sie beide bei weitem nicht fertig damit, da man sie allzu häufig
zu andern Geschäften heranzog und schliefslich in höhere Stellen beförderte.
Sehr verdient hat sich dann der wohlbekannte Historiker Jakob Wen cker
(1668 — 1743) um die Ordnung und wissenschaftliche Ausbeutung der städti-
schen Archivahen gemacht ^). Selbst im Besitz der höchsten Würden , als
Dreizehner und Ammeister, hat er dem Archiv seine liebevolle Fürsorge be-
wahrt Auch nach seinem Tode bis zmn Ausbruch der Revolution 1789
wurde unter steter Aufsicht des Magistrats viel für das Archiv getan, wo-
für noch heute zahlreiche alte Repertorien zeugen, die allerdings leider zum
Teil unbrauchbar geworden sind. Nur einmal, im Jahre 1686, hatte das
Archiv durch den Brand des Kanzleigebäudes empfindlichen Schaden ge-
litten; vermutlich fielen damals die Missivbücher und ein Teil der Proto-
kolle den Flanmien zum Opfer. Doch waren diese Verluste geringfügig
gegenüber denen, die nun durch die Revolution und ihre Folgeerscheinungen
eintraten. Am 21. Juli 1789 stürmte der Pöbel das Rathaus und warf die
Akten in blinder Zerstörimgswut massenhaft aus den Fenstern in den Strafsen-
kot* Manches ist damals verschleppt worden ; das meiste aber wurde doch
wohl wieder gesammelt und in Sicherheit gebracht, wenn auch grofsenteils
zerstampft, zerrissen, beschmutzt und in einer entsetzlichen Unordnung, die
noch heute nicht wieder ganz beseitigt ist. Das war aber noch nicht das
Schlimmste! Am 20. November 1793 wurden auf Anordnung des Maires
Monet, eines Savoyarden, und des berüchtigten Eulogius Schneider zur Ver-
herrlichung des „Festes des höchsten Wesens" 15 grofse Wagenladtmgen
i) VgL J. Wenckcr, Coüectanea juris publici etc. (1702). Apparatus et instructus
archworum (17 13). Collecta archivi et cancellariae jura, (1715).
— 16 —
von Akten und Protokollen aus dem Stadt- und Bezirksarchiv als ,, Zeug-
nisse des Aberglaubens imd der . Sklaverei *' angesichts des Münsters feier-
lich verbrannt! Hauptsächlich sind dabei wohl Finanz- und Rechnungs-
sachen sowie die ältesten Kontraktbücher zu gründe gegangen, vielleicht
auch die zu Wenckers Zeit noch vorhanden gewesenen Ratsprotokolle aus
der Zeit vor 1539. Dies barbarische Verfahren hat sich zum Glück nicht
wiederholt ; doch zeigte die Stadtverwaltung noch lange eine höchst verderb-
liche Gleichgültigkeit gegen die Zeugnisse der Vergangenheit. Gröfsere Teile
des Archivs wurden ohne Bedenken an andere Behörden ausgeliefert, so
1798 die gesamten alten Gerichtsakten an das Tribunal, mit dessen Gebäude
sie 1870 verbrannten, femer 1806 ein grolser Teil der auf kirchliche Ver-
hältnisse, namentlich auf die Reformation, bezü^chen Akten an das evan-
gelische Konsistorium behufs Einverleibung in das Archiv des St Thomas-
stiftes. Die übrigen Bestände wurden bei wiederholten Umzügen und „Sich-
tungen'' durch unwissende oder gewissenlose Beamte der Mairie teils ver-
zettelt, teils in immer gröfsere Unordnimg gebracht Als dann der aus-
gezeichnete Theologe und Historiker Andreas Jung 1826 die Leitung
der Stadtbibliothek übernahm, kam die verhängnisvolle Ansicht auf, dais
die Archivalien, welche für die städtische Verwaltung keinen „aktuellen"
Wert hätten, sondern nur historisches Interesse böten, m die Bibliothek ge-
hörten. Glücklicherweise wurde dieser Grundsatz nicht allzu eifrig befolgt;
doch ist immerhin eine Anzahl der interessantesten Stücke in die Bibh'othek
gekommen und mit ihr in dem Brande von 1870 vernichtet worden.
Wenn trotz aller dieser Einbuisen seit 1789 die auf die Gegenwart ge-
retteten handschriftlichen Schätze noch sehr ansehnlich und inhaltlich sehr
wertvoll sind, so kann man danach auf die ehemalige Bedeutung des Ganzen
schliefsen. Eine dauernde Besserung für das Archiv trat erst ein, als der
gelehrte Ludwig Schneegans 1841 die Leitung übernahm. Die von
ihm begonnenen Ordntmgsarbeiten wurden seit 1863 von J. Brucker fort-
geführt, der durch Fleifs und Gewissenhaftigkeit ersetzte, was ihm an wissen-
schaftlicher Vorbildung abging. Er hat vier Quartbände von Inventaren
herausgegeben '), die allerdings nichts weniger als ein Muster für derartige
Veröffentlichungen sind. Man mufs aber gerechterweise berücksichtigen,
dafs Brucker sich durch den französischen Ministerialerlafs von 1857 über
die Ordnung der Gemeindearchive in seiner Arbeit gedrängt imd eingeengt
glaubte, imd dafs das vorgeschriebene Schema wohl für den Durchschnitt
der französischen Provinzialstädte passen mochte, nicht aber für eine alte
selbständige Reichsstadt. Die veröffentlichten Bände geben sich übrigens
mit Unrecht als das vollständige Inventar der zur Serie AA (Ades eafistitu-
Ufa et politiques de la commune) gehörigen Archivalien aus; tatsächlich
sind sehr umfangreiche und wichtige Bestände darin nicht verzeichnet, wäh-
rend umgekehrt manches Aufnahme gefunden hat, was eigentlich nicht in
diese Serie gehört. Es war dies eine Folge der Übereilung, mit der die
Inventare veröffentlicht wurden, lange bevor die Ordnung des Archivs voll-
endet war. Einstweilen ist denn auch von dem Unterzeichneten, der seit
1) J. Bnicker, Inventaire sommaire tUs archives dt la ville de Strasbourg. 4 vol.
1878 — 86. Vgl. auch desselben Schrift Les archives de la ville de Strasbourgs 187$.
— 17 —
Bmckers Tode 1889 dem Archiv vorsteht, auf die weitere Drucklegung von
Inventaren verzichtet worden. Für die Urkundenabteilung, die neuerdings
ans den Akten ausgesondert worden ist und mehr ab iiooo Stücke lun-
faist, sind genaue Regesten in Arbeit, die zur Zeit bis 1306 reichen. In
den letzten Jahrzehnten hat besonders das bis 1400 geführte und damit
vorläufig abgeschlossene Urkundenbtich der Stadt Stra/^hurg ') und die
PoliÜsehe Korrespondenz der Stadt Stra/^burg im Zeitalter der Beformation *)
den Reichtum des Archivs erschlossen.
Seit 1890 hat das Archiv die alten unzureichenden und feuergefähr-
lichen Räume im Rathaus verlassen und im Gebäude der Stadtbibliothek
eine angemessene und bequeme Unterkunft erhalten^). Im Jahre 1893 ist
es gelimgen, die 1806 dem evangelischen Konsistorium übergebenen Akten,
soweit sie politischen Inhalts sind, gröfstenteils zurückzugewinnen. Der
Rest des Thomasarchivs, der für die Geschichte des Thomasstifts und
für die elsässische Kirchengeschichte überhaupt eme aufserordentlich reiche
Fundgrube ist, wurde der Stadt 1901 als Depositum tibergeben. Zwei Jahre
TOrher hatte das Bürgermeisteramt die bis dahin im Standesamt aufbewahrten
Kirchenbücher (600 Bände Tauf-, Hochzeits- und Sterberegister, von denen
der älteste bis 1525 zurückreicht) dem Archiv überwiesen. Femer kamen
kürzlich die reichen Archive des Stifts Unser Frauen Werk und der
Zivilhospizien als Deposita in die städtische Sanmüung. Ersteres lun-
fafst etwa 2000 Pergamenturkunden (Schenkungsbriefe tmd sonstige Rechts-
titel) sowie zahlreiche Saalbücher, Rechnungen tmd Akten zur Geschichte des
Frauenstifts, aus dessen Mitteln das Strafsburger Münster gebaut ist und noch
heute unterhalten wird. Zur eigentlichen Baugeschichte bietet das Archiv
jedoch weniger, als man hiemach erwarten sollte. Dagegen ist zu bemerken,
dais es nicht nur für einen grofsen Teü des Elsafs, sondern auch für die
rechtsrheinischen Gebiete Beachtung verdient, weil sich der Besitz des Stifts
vor der Revolution auch auf diese Gegenden erstreckte. Das Gleiche gilt
von dem stattlichen Archiv der ZivUhospizien , das gewöhnlich als Spital-
archiv bezeichnet wird. Es besitzt allein an Pergamenturkimden , deren
älteste von 1143 ist, etwa 14000 Stück. Dieser gewaltige Umfang erklärt
sich teils aus dem hohen Alter und dem reichen Gmndbesitz des Spitals,
teils daraus, dafs im Lauf der Zeit fast alle wohltätigen Stiftungen der
Stadt dem Spital angegliedert wurden, wie die Almosenstiftung St. Marx, die
Elendenherberge, das Gutleuthaus, das Blatterhaus und das Waisenhaus. Alle
4iese Institute waren gleich dem Spital nicht blofs durch private Schenkungen
i) Sieben Bände, erschienen von 1879^-1900, bearbeitet von W. Wiegand,
A. Schulte, G. Wolfram, J. Fritz und H. Witte.
2) Bis jetzt 3 Bände, erschienen von 1882-98, bearbeitet von H. Virck und
O. Winckelmann. Der vierte und letzte Band, der die Jahre 1546 —55 umfassen wird,
ist in Vorbereitung. Von andern Quellenwerken, die aus dem Archiv geschöpft sind,
seien noch erwähnt: Bruckcr, Strafsburger Zunft- und PoUzeiverordnungen des 14. und
1$. Jahrhunderts (1%%^), K. Th. Eheberg, Verfassungs-^ Verwaltungs- und Wirtschafts-
geschichte der Stadt Straf shurg bis 1681. I. Band: Urkunden und Akten (1899). Ad.
Seyboth, Das alte Strafsburg vom 13. Jahrhundert bis zum Jahre 1870, Geschieht«
liehe Topographie (1890).
3) VgL Winckelmann, Die Neueinrichtung des Strafsburger Stadtarchivs y in
der Archivftlischen ZeiUchrift 1893, N. F. IV S. iii ff.
2
— 18 —
reich geworden, sondern auch durch Zuwendung von Gütern der im i6. Jahr-
hundert vom Magistrat aufgehobenen Klöster. Demgemäfs findet man heute
im Spitalarchiv eine ganze Reihe alter Klosterarchive mehr oder weniger
vollständig beisammen. Sehr lehrreich sind u. a. die im Besitz der Zivil-
hospizien befindlichen Akten über das Armenwesen, besonders zur Zeit der
Reformation. Ihre Publikation ist in Aussicht genommen.
Es ist jedenfalls vom Standpunkte der Forscher mit Freude zu begrüfsen,
dafs alle diese genannten Archive, welche bisher getrennt und schwer be-
nutzbar waren, nunmehr mit dem Stadtarchiv imter einem Dache vereinigt
sind und einer einheitlichen Verwaltung unterstehen. O. VVinckelmann.
Archire und Kunstgeschlehte. — Es wäre interessant, wenn man
einmal feststellen könnte, wie \iele von einer Gruppe Besuchern, die durch
ein Schlofs oder eine alte Kirche geführt wird, sich nicht mit der Be-
wunderung des Baues und der aufgehäuften Kunstwerke begnügen , sondern
nebenbei auch, wenigstens bei sich, die Frage aufwerfen, in wessen Gehirn
der ganze Bau, wie im Kern der Baum, entworfen war, ehe an die Aus-
führung geschritten wurde, oder wem die Skulpturen und Gemälde zu ver-
danken sind. Ich glaube, nur in bezug auf die Gemälde würde die Zahl
der Fragenden eine, wenn nicht grofse, doch nicht ganz verschwindend
kleine sein, bei den Skulpturen imd den Werken der Architekten recht gering.
Es ist ein wahres Wort, das ich einst einen Architekten zu einem Dichter sprechen
hörte: „Ihr habt es gut; euch liest man nicht nur, sondern will auch über euer
Leben unterrichtet sein ; unseren Bau besieht man und bewundert ihn vielleicht,
aber wer ihn gemacht hat, danach fragt man nicht*'. Im Mittelalter ist
diese Nichtachtung der Persönlichkeit, der wir die Bauwerke und Bilder zu
verdanken haben, entschieden ebenso grofs gewesen; ist doch die Zahl der
Künstler, die in den Chroniken erwähnt werden, eine sehr geringe. Gerade
deswegen ist es aber Pflicht der heutigen Kunstforscher, dieses Versäumnis,
soweit es möglich ist, wieder gut zu machen, und es ist keineswegs zu
verkennen, dafs die letzten Jahrzehnte in dieser Beziehung recht Erfreuliches
geleistet haben: die Kimstwerke selbst verraten ihre Schöpfer meistens nicht,
es sind vielmehr die Archive, deren Durchforschung für die Aufhellung
manches dunkeln Punktes überraschende Dienste geleistet hat.
Einige Beispiele mögen zur Illustrierung des Gesagten beitragen. Der
schönste Beleg für die Wichtigkeit auch kleinerer Archive für die Kunst-
geschichte ist vor kurzem durch die Festrede Alfred Lichtwarks bei der
Jubelfeier des Germanischen Museums zu Nürnberg allgemein bekannt ge-
worden ; ich kann mich daher kurz fassen. Aus den 1 84 1 von Lappenberg
veröffentlichten Nachrichten *) war über das Leben des alten Malers und
Bildhauers Bertram von Minden so viel bekannt geworden, dafs
er mindestens seit 1367 bis nach 14 10 in Hamburg tätig war, unter
anderem den Hauptaltar von St Petri, der ältesten Bürgerkirche Ham-
burgs, ausgeführt hatte und es zu behäbigem Wohlstande brachte. Dafs
Minden in Westfalen seine Vaterstadt war, ergab sich weiterhm durch
einen Fund im Archive dieser Stadt: denn 14 15 bemühten sich Ver-
1) Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte, Jahrgang 1841.
— 19 —
wandte Bertrams um den Nachlafs des Meisters. Doch Werke Bertrams
schienen nicht erhalten, denn sie waren zwar in Kirchen und Museen zu sehen,
aber nicht unter seinem Namen. Da brachte die Nachforschung in einem
Archive imerwartet Aufklärung. Im vierten Bande seiner treflfHchen Dar-
stellung der Kunst- und Kulturdenkmäler Mecklenburgs ^) hatte Friedrich
Schlie erwähnt, dais der schöne Altar von 1379 in der Stadtkirche zu
Grabow ein Geschenk aus Lübeck sei. Daraufhin hatte man die Grabower
Akten geprüft und gefunden, dafs der Altar nicht aus Lübeck, sondern 1734
von der PetrUdrche in Hamburg der neugebauten Grabower Kirche gestiftet
worden ist Mitteilung von dieser hochinteressanten Nachricht machte Schlie
zuerst auf dem letzten Kunsthistorikertage in Lübeck : es war sofort klar, der
Grabower Altar war das von Meister Bertram für die Hamburger Petrikirche
ausgeführte Werk, und aus stilistischen Gründen ergab sich femer, dafs auch
der schöne Marienaltar des Museums zu Buxtehude und der als altflämisch
bezeichnete Apokalypsenaltar des South Kensington-Museums zu London der
Hand Bertrams zuzuschreiben seien. Dazu kommen noch mehrere ver-
wandte Ktmstwerke in mecklenburgischen Kirchen, die man für Arbeiten
Bertrams halten mufs. So hat ein Fund im Grabower Archiv die Tätigkeit
eines namhaften alten deutschen Meisters aufgehellt.
Ein anderes Beispiel: Als der Verfertiger des berühmten Altars, in der
Domkirche zu Schleswig ist längst Hans Brügge mann bekannt; wie wenig
Zuverlässiges man aber von seiner Herkunft, Jugendzeit imd AusbUdimg
wufste, ersah man aus den Schriften, die ihn behandelten. August Sach
nahm an, er sei in Husum um 1470 geboren, da er um 1590 Husumensis
genannt wird, dort auch ausgebildet und Meister geworden. Nun prüfte
Gymnasiallehrer MagnusVofsin Husum ^) die sämtlichen Urkunden der Stadt
and des um 1440 errichteten Siechenhauses und Gasthauses St. Jürgen, in
welchem Brüggemann nach Heinrich Ranzaus Bericht^) um 1540 in grofser
Armut gestorben ist, tun die Spur eines Schnitzers Johannes oder Hans imd
eines Brüggemanns zu entdecken. Aber weder Vermächtnisse noch Schatz-
r^;ister noch Rentenverzeichmsse und dergl. enthalten einen ähnlichen Namen,
und Vofs zieht den Schlufs, Brüggemann sei erst als Meister nach Husum
gekommen. Vofs selbst konnte die Bestätigung dieses Schlusses noch in
seiner Schrift mitteilen: vom Staatsarchiv in Hannover wurde eine Original-
urkunde aus Walsrode an der Aller erworben und im Sommer 1901 vom
Archivdirektor M. Doebner veröffentlicht ; in dieser Urkunde schliefsen Propst,
Rat und Ältcrleute von Walsrode mit Hans Brüggemann am 5. August 1523
einen Vertrag, nach dem Brüggemann der Kirche zu Walsrode eine Altar-
tafel arbeiten soll ; die Arbeit soll mit 5 5 Gulden bezahlt werden ; ist sie nicht
so riel wert, so soll der Künstler sich einen Abzug gefallen lassen ; wird sie
vertroüer sein, so will Brüggemann das Mehr dem Gotteshause schenken,
weil er ein Walsroder Kind geboren ist imd seine freundlichen lieben eitern
hei uns begraben hat . . Geburtsort des Künstlers war also Walsrode. —
i) Vgl. diese Zeitschrift i. Bd., S. 283 and 2. Bd., S. 96.
2) Vgl. seine vor kurzem erschienene Chronik des Gasthauses Mum Ritter St, Jürgen
in Husum^ (Hosam Friedr. Petersen, 1902).
3) Westphalen, Monumenta inedita rerum Germanicarum (Leipzig, 1739 ^0»
1. Bd., S. 42.
2*
— 20 —
Vofs nimmt an, dafs Brüggemann während seines Aufenthaltes in Husum auf
der Husumer Münze imd bei wohlhabenden Bürgern als Stempel- imd Siegel-
schneider tätig gewesen ist. Einen direkten Beweis kann er dafür zwar nicht
führen; möglich ist es aber gewifs, dafs nach der Einführung der Reformation
die Aufträge zu gröfseren Altararbeiten ausblieben imd er mit gewöhnlicher
Arbeit zufrieden sein mufste.
Wie ein zufälliger Fund die Heimat Brüggemanns sichergestellt hat, so
darf man auf weitere Funde hoflfen, durch die wir über seine Schulung und
seine weiteren Arbeiten die nötige Kimde erhalten. Bis jetzt gibt es darüber
nur Vermutungen. Zu entscheiden, ob der Segeberger Altar von ihm her-
rührt, wie Ranzau behauptet, einige neueren Kritiker bezweifeln, darüber wäre
eine sichere archivalische Ktmde ebenfalls höchst erwünscht
Man braucht nur die Denkmälerinventare ') zu durchsuchen, um weitere
Beispiele für die wichtige Aufklärung, welche die Archive der kunstgeschicht-
lichen Forschung gegeben haben, aufzufinden. So war die Büdhauerfamilie
der Ringerink oder Ringeling wenig bekannt; was der erste von ihnen, der
von 1583 — 1626 in Flensburg tätig war, ausgeführt hat, Sandsteinstatuen,
Altäre, Kanzeln, Gestühle, Epitaphien, meist in der Flensburger Gegend, die
sich durch feine Technik auszeichnen, würde, da er nichts mit seinem Namen
bezeichnet hat, schwerlich als sein Werk bekannt geworden sein, wenn es
nicht durch das Flensburger Archiv *) nachgewiesen wäre. Die am Kölner
Rathaus tätig gewesenen Bildhauer Wühelm Femuken (Vemuken) und Henryck
Vemeykken finden wir auch beim Ausbau des Hauses Horst, Kreis Reckling-
hausen, beschäftigt *). Gerade kleinere Kirchen-, Stadt- und Famüienarchive
werden noch manche derartige Aufschlüsse bieten.
Fast noch schlimmer als mit den Bildhauern ist es mit den Baumeistern
bestellt. Wenn man die Register über Baumeister prüft, trifit man fistst
nur für die letzten beiden Jahrhunderte zuverlässige Angaben; wer die
Schlösser des XVI. und XVII. Jahrhunderts gebaut hat, darüber bieten die
Chroniken oft nicht die geringsten Mitteüungen. Die Bauherren, Fürsten
und Grafen u. s. w. kennen wir als Schlofserbauer ; wer aber die Pläne
entwarf, war den Berichterstattern meist gleichgtütig. Von den beim Bau des
längst verschwimdenen Schlosses zu Husum (errichtet 1577 — 82) imd der
von Herzog Johannes dem Älteren (+ 1581) errichteten Hansborg in Haders-
leben tätigen Künstlern weifs man wenig mehr als nichts. Beim Schlofsbau
in Gottorp waren mehrere Italiener beteiligt, wie Antonius Puppe und Thomas
de Orea, man kennt aber fast nur die Namen. Überhaupt sind bei einer
grofsen Zahl von Schlofsbauten bis in den Norden hinein französische und
italienische Künstler neben deutschen tätig gewesen; nach dem bis jetzt vor-
liegenden veröffentlichten Material ist es aber kaimi mögUch, ein zuverlässiges
Büd von dem Wirken der verschiedenen Künstlergruppen zu geben. Dafs
i) Vgl. die ZasammeDsteUoDg von Polaczek in dieser Zeitschrift, i. Bd., S. 270 — 290
und 3. Bd., S. 137—144.
2) Haapt, Bau- und KunstdenkmäUr Schleswig-Holsteins (Kiel 1887 f.), 2. Bd.,
Anhmng, Meister, S. 14 f.
3) Vgl. Armin Tüle, Obersicht über den Inhalt der kleineren Archive der Rhein*
provinz i. Bd. (Bonn 1899), S. 122.
— 21 —
hier noch zahlreiche handschrifÜiche Quellen vorhanden sind, ist wohl nicht
zu bezweifeln, es heifst nur suchen und sammehi.
Wer soll aber die Kärrnerarbeit des Sammeins und Sichtens leisten?
Ein Fachmann, der die Bedeutung auch von unbedeutendsten Notizen in
Rechnungen, Vermächtnissen, sogar in den Registern über Geldbufsen, am
leichtesten zu erkennen vermag, ist unmöglich zur Durchmusterung jedes
Archivs zur Verfugung. Selbst der Bearbeiter einer kunstgeschichtlichen
Monographie ist nur ausnahmsweise in der Lage, eine gröfsere Zahl von
Archiven zu besuchen, imd die Forschung im Archiv wird meist für ihn sehr
zeitraubend sein, da für seine bestimmten Zwecke naturgemäfs nur wenige Akten-
stücke von Belang, aber recht viele andere vergebens zu durchmustern
sind, ehe die ersteren gefunden werden. Systematische Arbeiten in
Archiven nehmen aber in grofser Zahl Geschichtsforscher zu den ver-
schiedensten Zwecken vor, und zwar sind dies meist Leute, die nicht über
eine besondere kunstgeschichtliche Ausbildung verfügen und für deren be-
sondere Studien jene Notizen über die Entstehung der verschiedenen Kimst-
werke kaum von Belang sind. Diesen weitesten Kreis der Archivbenutzer,
die Archivare und die in den sogenannten kleinen Archiven systematisch
Umschau Haltenden gilt es mithin für die kunstgeschichtlichen Quellen zu
mteressieren, damit sie die im Vorübergehen gefundenen einschlägigen Stellen
selbst veröffentlichen oder andere Forscher darauf aufmerksam machen. Bei
weitem am wichtigsten und inhaltlich ertragsreichsten dürften Verträge über
anzufertigende Arbeiten, dann auch besondere Rechnungen über Bauten ')
und dergl. sein: bei der bis ins XVII. und XVIII. Jahrhundert üblichen
Arbeitsorganisation enthalten ja die Rechnungen selbst in vielen Fällen die
Namen der einzelnen am Werke tätigen Personen und Angaben über ihre
besonderen Leistungen. Eine gröfsere Reihe von Stadt- und Kirchenrech-
nungen ist sogar kaum denkbar ohne in dieses Gebiet fallende Einträge.
Es kommt hierbei nur darauf an, dafs wie das Vorkonunen der Pest, der
frühen Erwähnung eines Feuergeschützes oder des Buchdrucks an irgend
einem Orte — wovon heute wohl jeder Forscher Notiz nimmt, auch wenn
seine Studien ganz anderen Gebieten gewidmet sind — so auch auf Kunst-
ge schichtliches das Augenmerk gerichtet wird. Den Wert jeder Notiz
für die Kimstgeschichte zu bestimmen, ist nicht Sache des Finders; viele
werden dies auch gar nicht können und in der Selbsterkenntnis, dafs ihnen
die Schulung auf diesem Gebiete fehlt, auch unterlassen. Aber nichtsdesto-
weniger ist es Pflicht, das Gefundene berufeneren Händen zur sachgemäfsen
Verwertung zugänglich zu machen ; solche gelegentliche Nachrichten auf Nach-
bargebieten arbeitenden Forschem mitzuteilen, mufs sich entschieden noch
mehr einbürgern!
i) Solche sind schon wiederholt' veröffentlicht worden, eine Reibe ist verKeichnet in
dieser Zeitschrift, i. Bd., S. 65—66, Anm. l. Ncuwirth hat aufser den dort er-
wähnten Rechnungen über den Präger Dombau 1372- 1378 (Prag 1890) in den Mit-
tdhmgeo des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen, 30. Jahrg. (1892),
S. 309—388, einen Auszug aus den Brüxer Rechnungen {Drr Bau d^r Stadtkirche in
BrOx von tsH — iS3^) veröffentlicht: als leitender Meister kommt neben Hans
Scharfrott aus Dresden und Jörg von Maulbronn besonders Jakob von
Schwein für t aus Annaberg in Betracht, von dem Entwurf und Modell herrühren (S. 333^ —
Veroftentlichiing verdiente u B. auch die Rechnung über den Bau der Muldenbrücke bei
Grimma (Kgr. Sachsen) im Jahre 1548.
— 22 —
Mehr oder weniger bleibt die Entdeckung auch wichtiger Nachrichten
auf diese Weise immer Sache des Zuüsdls, und das ist im Interesse der
Wissenschaft sehr zu bedauern. Deshalb wäre es wohl wünschenswert» dals
grölsere Archive, die vermutlich fiir die Kunstgeschichte noch ungehobene
Quellen enthalten, s)'stematisch von Fachmännern, die nicht für einen be-
stimmten Zweck sanmieln, sondern alles im weitesten Sinne Kunstgeschicht-
liche anziunerken hätten, durchforscht würden. Was aus den Archiven in
Nürnberg, Dresden oder München in früherer Zeit publiziert wurde, hat sich
neuerdings alles als unzureichend erwiesen; die neueren Monographieen über
die deutschen Meister der Renaissance, die auf eingehenden systematisch
vorgenommenen Archivstudien beruhen, haben gezeigt, wie wenig vollständig
die älteren Veröffentlichungen sind: das gilt z. B. von Baaders Beiträgen
zur Kunstgeschichte Xümbergs (Nördlingen 1860; zweite Reihe ebenda 1862),
die bis vor wenigen Jahren kritiklos als zuveriässige Quelle dienten. Bei
kleineren Archiven sollte, wenn sich zußillig — der Zufall spielt meist eine
bedeutende Rolle — ihre Wichtigkeit für die Kunstgeschichte herausstellt,
eine fiaichmännische Prüfung der Bestände möglichst bald vorgenommen werden.
Die Verbindung dieser Tätigkeit mit der Inventarisation der Denkmäler wäre
wohl am zweckmäisigsten gewesen, aber manche Bearbeiter jener Inventare
sind doch in der Archivbenutzung nicht genügend bewandert, um sich
rasch imd meist ohne fachmännische Hilfe in den Papieren imd Perga-
menten zurecht zu finden. Deshalb wird man im allgemeinen zunächst
mit einer gelegentlichen Durchforschung zufrieden sein müssen. Eine Zentral-
stelle, an welche etwaige Funde zu übermitteln wären, gibt es nicht, ist auch
nicht nötig. Jeder Forscher ist ja leicht in der Lage, etwaige Beiträge, die
ihm wichtig erscheinen, der Redaktion einer kunstgeschichtlichen Zeitschrift
einzusenden oder auch einige solche Nachrichten, die im Laufe der 2^it
aufgesammelt wurden, in der landes- oder ortsgeschichtlichen Zeitschrift zu
veröffentlichen; die Redaktionen werden dann schon eventuell notwendige
sachliche Ergänzungen und Erläutenmgen geben. Nur darf im zweiten Falle
nicht vergessen werden, durch Übersendung einiger Sonderabzüge sowohl
einzelne Kunsthistoriker, in deren Gebiet der Stoff gehört, als auch einige
Zeitschriften von der Veröffentlichung in Kenntnis zu setzen.
Dafs es auch ohne kunstgeschichtliche Fachbildung möglich ist, die
entsprechenden Notizen als wertvoll zu erkennen, wird unbedingt zuzugeben
sein, jedenfalls bei der Mehrzahl der Geschichtsforscher wird man solche
Fähigkeiten voraussetzen dürfen, wenn sie nur auf den Nutzen, den sie
damit stiften können, aufmerksam geworden sind. Und dazu sollen diese
Zeilen dienen. R. Hansen (Oldesloe).
Bibliographie der Zcitscliriftenliteratur. — Unabhängig von
dem in den Kreisen der Geschichtsforscher erwogenen verhältnismäfsig harm-
losen Gedanken, das alte Walther-Kon ersehe Re per torium der ge-
schichtlichen Zeitschriftenliteratur für die Zeit von 1850 — 1900
fortzusetzen '), ist im Kreise der Literarhistoriker der unvergleichlich weiter
I) Vgl. diese Zeitschrift 2. Bd., S. 17 — 22. In Verfolg des seitens des Gesamt-
Vereins der deutschen Gcschichts- und Altertumsvereine 1900 in Dresden gefafsten Bc-
— 23 —
greifende Plan aufgetaucht, systematisch den Inhalt aller Zeitschriften
des XVIII. und XIX. Jahrhunderts bibliographisch zu bearbeiten. Unzweifel-
haft wäre die Verwirklichung dieser Idee für alle Wissenschaften bedeutsam,
fbr die Geschichte aber besonders , weil das geistige Leben in- allen seinen
Erscheinungen nirgends einen so regelmäfsigen Niederschlag zu finden pflegt,
wie eben in der periodischen Presse und weil die Geschichte dieser selbst
ab Ganzes im Zusammenhange mit der modernen Kultur, so wichtig und
ergebnisreich sie sein würde, noch keinen Bearbeiter gefunden hat und beim
jetzigen Zustande kaum finden kann *).
Wissenschaftlich notwendig ist es auf jeden Fall, dafs die Zeitschriften
belletristischer, wissenschaftlicher und politischer Art, die seit dem Ende des
XVn. Jahrhunderts in Menge mit mehr oder minder langer Lebensdauer
entstanden sind, ebmal gründlich durchgearbeitet werden, damit das darin
Tcrborgene Material den Interessenten zugänglich gemacht wird. Notwendig
ist dies vor allem deshalb, weil der einzelne Forscher hier der erdrückenden
FüDe des Materials ratlos gegenübersteht: die Zeitschriften sind sehr schwer
zngan^ch, schon ihre Auffindung macht Mühe, und der Zeitaufwand, den
die Durchsicht von hundert Bänden erfordert, ist recht grofs im Verhältnis
zu der Ausbeute. Selbst wenn man noch nicht so weit gehen und eine
Bibliographie der einzelnen in den Zeitschriften enthaltenen Beiträge verlangen
sdünsses (ebenda S. 58 — $9) hat im Auftrage des tur Beratang eingesetjten Ausschusses
Armin Tille in einer Denkschrift dargelegt, wie die Aufgabe etwa zu lösen wäre. In
Freiburg ist 1901 in aller Kürze der Plan entwickelt worden (s. diese Zeitschrift 3. Bd.,
S. 90), und jetzt liegt die ganze Denkschrift gedruckt vor im Korrespondenzblatt
des Gesamtvereins, 50. Jahrgang (1902), S. 28—30.
i) Etwas, wenn auch nicht viel besser, steht es mit der Geschichte der Zei-
tnng: neben den zusammenfassenden Versuchen über die Entstehung der Zeitungen von
Opel {Du Anfänge der deutschtn Zettungspresse 1609—1650 im Archiv für Geschichte
des deutschen Buchhandels. N. F. 3. Bd , 1879) und Grasshof f (Z>jir briefliche Zeitung
des X VI. fahr Hunderts. Leipz. Diss. 187 7) kommt Prutz, Geschichte des deutschen
fntmalismus (I. und einziger Teil, Hannover 1845) ^^^ Ludwig Salomon, Geschichte
des deutschen Zeitungswesens von den ersten Anfängen bis zur Wiederaufrichtung
des Deutschen Reiches (i. und bisher einziger Band, das XVI. bis XVTII. Jahrhundert
behandelnd, Oldenburg, Schulze 1900) in Betracht. Den heutigen Bedürfnissen ent-
sprechen aoch diese Bücher nicht, es mufs vielmehr die Monographie über einzelne Zei-
tngen und das Zeitnngswesen an bestimmten Orten und eventuell in gröfseren land-
schafüicbeo Gebieten gepflegt werden, ehe mit einer grofsen Geschichte der deutschen
Zeitung gerechnet werden kann. In neuerer Zeit ist in dieser Richtung schon manches
geschehen: Die Basler Mittwoch- und Samstag- Zeitung 1682-1796 von Mangold
(Basel, Wittmer 1900) geht wesentlich tiefer auf die geschieh tliclien und volkswirtschaft-
lichen Probleme ein als sonstige Arbeiten. Recht viele mehr und minder brauchbare
Zeitongsgeschicbten sind in neuerer Zeit als Jubiläumsschriften erschienen, es sei z. B.
Eduard Heyck, Die Allgemeine Zeitung 1798—1898 und Zum 150 jährigen fubiläum
der LObeckischen Anzeigen 1751 6. Märt 1901 genannt. Über die Zeitungspresse ein-
telner Orte ist ebenfalls schon mehrfach gehandelt worden, neuerdings z. B. für Stettin
von Heinemann in den Baltischen Studien, N. F. 4. Bd., S. 193 — 210, und für
Göttingen von Eberwien in den Protokollen über die Sitzungen des Vereins für die
Geschichte Göttingens 1900— 1901, S. 28—46. Eine eigenartige und recht nützliche
Stadie ist die von Ludwig Munzinger, Die Entwickelung des Inseratenwesens in
den deutschen Zeitungen (Heidelberg, Karl Winter 1902). In allen diesen Schriften liegt
wertvolles Material vor, das nur der Sichtung, planmäfsigen Vervollständigung und
einheitlichen Verarbeitung harrt. — Zur Orientierung für Interessenten ist ein Anti-
qairiaUkatalog von Max Harrwitz (Berlin W., Potsdamerstrafse 41») über periodische
litcratnr von Belang.
— 24 —
wollte, wäre eine Bibliographie der Zeitschriften d. h. eine Zu-
sammenstellung der Titel mit Angabe der Herausgeber, der Jahre imd Orte
des Erscheinens, denen eine kurze inhaltliche Charakteristik beizufügen wäre,
von höchstem Werte ; natürlich müfsten auch diejenigen Bibliotheken namhaft
gemacht werden , welche Exemplare , deren meist ja nur wenige vollständige
erhalten sind, besitzen *). Schon dies wäre eine Arbeit, die die
Kräfte eines einzelnen Bearbeiters übersteigt, aber sie erscheint nicht nur an
sich notwendig, sondern auch die Voraussetzung für eine Bibliographie der
einzelnen Beiträge.
Nur die Organisation wird hier helfen können, und diese ist bereits
entstanden in der am 19. April 1902 gegründeten Deutschen Biblio-
graphischen Gesellschaft, in deren Vorstand meistens Literarhistoriker
sitzen, z. B. Sauer (Prag), Elster (Marburg), Koch (Breslau), Litzmann
(Bonn) und deren Sekretär der Vater des Gedankens Dr. Ho üben (Berlin-
Schöneberg, Ebersstr. 91) ist. Der Jahresbeitrag des Mitgliedes beläuft sich
auf 6 Mk., wofür die Mitglieder zum Bezüge der in Aussicht genommenen,
im Verlage von B. Behr erscheinenden Publikationen *) zu einem Vorzugs-
preise (^/s des Ladenpreises) berechtigt sind. Eine grofse Reihe namhafter
Personen aus den verschiedensten literarisch interessierten Kreisen sind be-
reits der Gesellschaft beigetreten, viele davon haben sich schon vorher gut-
achtlich über die Pläne geäufsert, so dafs in der Tat die Aussichten fiir das
Gelingen des Unternehmens günstig sind; in allen solchen Fällen ist ja das
Wesentliche, dafs die Zahl der Teilnehmer grofs genug ist, um die unbedingt
notwendigen Kosten durch eine verhältnismäfsig niedrige Beisteuer des Ein-
zelnen zu decken.
Die Gesellschaft bezweckt, wie es im § i der Satzungen heifst, „den
einheitlichen Zusammenschlufs der die Literaturgeschichte und ihre Grenz-
gebiete betreffenden bibliographischen Arbeiten, soweit sich diese auf periodische
Erscheinungen und Sammelwerke erstrecken". Zeitschriften und Zeitungen,
Briefwechsel und Memoiren, Almanache und Elssaisammlungen sind es, woran
bei „periodischen Erscheinungen und Sammelwerken" gedacht wird. Die
erste Aufgabe ist die Schafifung einer Gesamt-Bibliographie der
periodischen Erscheinungen des XVIIL und XIX. Jahr-
hunderts, und zwar wird mit den Zeitschriften der romantischen Epoche
begonnen werden; die jungdeutschen Zeitschriften sollen sich anschliefsen
und ihnen werden mehrere grofse Tageszeitungen mit ihren wissenschaft-
lichen Beilagen folgen, so dafs auch die Gegenwart schon bald Berück-
i) Für die politischen Zeitungen hat, ohne dafs die Anregung von Erfolg begleitet
gewesen wäre, bereits auf dem Frankfurter Historikertage 1895 l^rof. Kaltenbrunner
(Innsbruck) einen entsprechenden Vorschlag gemacht: er wollte die Bibliotheken direkt
um Auskunft darüber bitten, welche Serien politischer Zeitungen sie besitzen, und die so
gewonnenen Angaben sachlich eu einem Register verarbeitet wissen. Vgl. Bericht über
die dritte Versammlung dentscher Historiker (Leipzig, Duncker & Hurablot, 1895),
S. 29. — In Hamburg wird ein Verzeichnis der periodischen Literatur geplant (vgl.
Zeitschrift des Vereins flir Hambnrgische Geschichte, 10. Bd. [1899], S. 273 — 288). Ein
Verzeichnis der gelehrten Zeitschriften Leipzigs seit 1682 hat Johann Daniel
Schulze, Ahrifs einer Geschichte der Leipziger Universität im Laufe des XVIIL Jahr»
hunderts (Leipzig 1802) S. 140 — 176 bearbeitet.
2) Der I. Band soll noch im Winter 1902 — 1903 zur Ausgabe gelangen.
— 25 —
achtigung zu erhoffen hat Die Geschichtsforschung im weitesten Sinne wird
den Gewinn aus diesen bibliographischen Arbeiten ziehen, die nicht nur
Hilfsmittel sind, sondern an sich bereits wissenschaftliche Leistungen dar-
stdlen; deshalb mufs es aber auch als Sache der Geschichtsforscher be-
trachtet werden, das Unternehmen in jeder Weise zu fördern, besonders die
Geschichtsvereine sollten recht zahlreich die Mitgliedschaft erwerben,
am von vomhejein ihren Mitgliedern verhältnismäfsig billig und in der
weniger drückenden Form jährlicher Beisteuern den Besitz der Bibliographie
zu sichern. Gerade für die kleinere Bibliothek am abgelegenen Orte sind
derartige Hilfsmittel doppelt wichtig, weil sie dadurch wenigstens in die Lage
kommen, die Wünsche der Benutzer durch Bestellung von auswärts ') zu be-
friedigen.
Möge die Deutsche Bibliographische Gesellschaft sich gut
entwickeln und in recht rascher Folge ihre Veröffentlichungen erscheinen lassen !
Zur polltlsehen nnd sozialen Bewegung Im dentsehen Bürger-
tim des XY. und XYI. Jahrhunderts. — Bereits im dritten Bande
dieser Zeitschrift S. i ff. und S. 49 ff. habe ich Nachträge und Ergänzungen
ZQ meinem 1899 erschienenen Buche über denselben Gegenstand mitgeteilt.
Da aber bei den immer weiter fortgesetzten Nachforschungen sich noch
recht viele wichtige Einzelheiten ergeben haben, zögere ich nicht, abermals
einiges darüber zusammenzustellen in der Hoffnung, dafs auch diese Ver-
öfenüichung wieder dazu beitragen wird, mir aus dem Kreise der Forscher
neue Nachrichten zuzuführen.
Zunächst gebe ich einige Ergänzungen zur Geschichte städtischer Auf-
stände in der ersten Hälfte des XV. Jahrhunderts. Wie bekannt, haben die
Znnftkämpfe des XIV. Jahrhunderts sich bis ins XV. hinein fortgesetzt.
Im Norden Deutschlands wurden damals neben den hansischen besonders
die Städte der Mark Brandenburg von der demokratischen Bewegung stark
in Mideidenschaft gezogen. In Berlin liegen von ca. 1400 — 1450 das
anstokratische und das demokratische Prinzip miteinander in beständigem,
wechsehrollem Kampf. Um 1450 hat ersteres gesiegt, zugleich aber erscheint
die Stadt völlig unter die Gewalt des lAndesherm gebeugt *).
Die Verfassung Berlins hat im Laufe des XIV. Jahrhunderts allem An-
schein nach ein exklusiv aristokratisches Gepräge erhalten. Die vornehmen
Geschlechter, vermutlich dem Handelsstande angehörig, beherrschen den Rat.
Die übrigen Kreise der Bürgerschaft sind vom Regimente ausgeschlossen.
Seit 1381 besitzen indes die vier Gewerke der Fleischer, Bäcker, Tuch- und
Schuhmacher das Recht zu beratender Teilnahme, und seit Beginn des
XV. Jahrhimderts regt sich das Streben der Gewerbetreibenden und Kleinbürger
nach der Ratsfahigkeit. Schon 1 4 1 2 wird, offenbar von demokratischer Seite,
an Versuch zum Sturz der bisherigen Verfassung unternommen. Immer
1) YgL darüber diese Zeitschrift 2. Bd., S. 164 — 174 und 239—240.
2) Sello, Forschungen zur brandenburgisch • preufsischen Geschichte, Bd. XVII,
48—50, 53 — 55. Priebatsch, Die deutschen Städte im Kampf mit der Fürsten-
gf^ott^ Bd. I: Die Hohenzollern und die Städte der Mark im XV, Jahrhundert,
iBerün 1892.) S. 7> ff- 79- 86. 93. 218.
— 26 —
mehr erweitert sich jetzt der Kreis der Eletaente, die mit den Patriziern und den
von ihnen mehr oder minder notgedrungen zugelassenen Gewerbsgenossen
die Herrschaft zu teilen wünschen. 1431 erscheinen auch die Meister der
Gilden, d. h. der aufserhalb der oberen vier Gewerke stehenden gewerb-
lichen Korporationen neben den „Werken". Ein Rückschlag in dieser
demokratischen Bewegung erfolgte 1432 bei der Vereinigung Berlins mit Köln.
Die neue Bundesverfassung bestimmte, dafs der jährlich scheidende Rat den
neuen zu wählen habe. Die höchste Stadtmagistratur , die bisher gewohn-
heitsmäfsig in den Händen der Geschlechter gewesen war, wurde ihnen jetzt
statutarisch überwiesen. Das dem Rat zur Seite gestellte Kollegium von
16 Stadtverordneten wollte den 18 patrizischen Ratsherren gegenüber wenig
besagen. „Die Ordnung von 1432 begründete das Übergewicht des das
Kapital und die Intelligenz repräsentierenden Patriziates über den an Zahl
überlegenen, aber durch Kriegsläufe hart bedrängten, gemeinen Mann"
(Sello S. 50).
Nur zehn Jahre indes durften sich die Geschlechter ihres Sieges freuen.
Die Gewerke beharrten hier, wie anderswo, auf der Forderung, in den Rat
aufgenommen zu werden, und übertrugen 1442 dem Kurftirsten Friedrich
die Entscheidung. Dieser verschafite der demokratischen Sache den Sieg
durch die Verordnung, dafs der Rat künftig sunderliken aus den vier
Gewerken und aus den „Gemeinen" besetzt werden solle, machte sich aber
zugleich zum Herrn der Stadt. Dem Groll über den Verlust der Freiheit
entsprang die neue Bewegung von 1447, bei der die Aristokratie die Füh-
rung übernahm. Der Aufstand endete mit der Unterwerfung Berlins und
Kölns und mit der Wiederherstellung der oktroyierten Verfassung von 1442.
Die vom Kurfürsten wieder eingesetzte Demokratie vermochte sich indes
nicht dauernd zu behaupten. Friedrich wollte die Mitarbeit der politisch
erprobten und erfahrenen alten Familien nicht entbehren, und so kommt
nach 145 1 die Aristokratie allmählich wieder ans Ruder.
Auch in anderen Städten der Mark erheben sich in der ersten Hälfte
des XV. Jahrhunderts demokratische Bestrebungen, die von Kurfürst Friedrich I.
unterstützt, von seinem Stellvertreter, dem Markgrafen Johann, aufs schärfste
bekämpft werden. Friedrich schlichtet 1420 eine Entzweiung zwischen Rat
und Gemeinde von Frankfurt a. O. und gewährt den Bürgern imter anderem
das Recht, durch neun von ihnen vorgeschlagene, vom Rat gewählte Ver-
ordnete ihre Interessen vertreten zu lassen *).
Auch in Treuenbrietzen stellte der Kurfürst den Frieden zwischen
Bürgern und Rat wieder her und erfüllte ersteren eine Reihe ihrer Forde-
rungen *). In Prenzlau arbeitete die Gemeinde 1426 auf den Sturz des
Rates hin und lieferte die Stadt den feindlichen Pommern in die Hände.
Prenzlau wurde vom Markgrafen Johann wieder erobert und für seinen Verrat
aufs härteste gestraft, die Verfassung der Stadt wurde geändert ^).
Neben den allgemeinen demokratischen Ansprüchen machten sich in
den märkischen Städten auch mehr lokale, durch den Augenblick gezeitigte
Tendenzen geltend. Das Ansinnen, an der Husitensteuer teilzunehmen^
i) Priebatsch S. 66—67.
2) a a. O. S. 67.
3) a. a. O. S. 60.
— 27 —
weckte 1425 in Frankfurt a. O., Havelberg, Brandenburg offene Re-
Tohition. Wohl mag man in diesen Unruhen einen Reflex der Husiten-
stimne erkennen. Wenig war in den vom Kriegsschauplatz abgelegenen
Marken von einem Reichsbewufetsein zu spüren. Nur die Überredungskunst
des Bischofs von Lebus und die nahende Gefahr eines Böhmeneinfalles ver-
mochten die Städte zur Nachgiebigkeit ^).
Auch über die Altmark verbreitete sich die Bewegung. In der Neu-
stadt Sabn^edel verlangten 1429 die Tuchmacher das Recht des Gewand-
schnittes. In Stendal kam es im gleichen Jahre aus noch nicht aufgeklärtem
Anlais zu lärmvollen Unruhen, die den widerstrebenden Rat imd die vor-
nehmeren Gilden mit fortrissen und sich auch gegen die I^ndesherrschaft
richteten. Die Empörung wurde hier wie in Prenzlau von Johann rasch ge-
dämpft. Stendal blieb auch später noch ein Herd des Aufruhrs. 1488
artete dort die Opposition gegen die vom Kurfürsten Johann Cicero, gleich-
£üb einem Gegner der Demokratie, geforderte Biersteuer zu greulichen Pöbel-
szenen aus. Wieder wurden der Rat imd die vornehmeren Gilden von den
niederen Gewerken und der Gemeinde fortgerissen, diesen daher vom Kur-
föisten der Einflufs auf die Stadtverwaltung genommen. Die Bewegung, die
1530 in Stendal ausbrach, war religiöser Natur. Den Anlafs gab die Ver-
jagung eines lutherischen Predigers. Das Stadtregiment, das sich mit dem
Kurfürsten nicht überwerfen wollte, wurde gestürzt, das neue Bekenntnis
eingeführt *).
Im ganzen sind die märkischen Städtekämpfe mit dem XV. Jahrhundert
abgeschlossen. Ihre Ergebnisse sind gering. Bezeichnend ist die regel-
mSfsig wiederkehrende Einmischung der Landesherren, die, der Demokratie
im allgemeinen abhold, diese doch gelegentlich für ihren grofsen Zweck zu
benutzen wissen : für die Beugung der Städte unter die landesherrliche Gewalt.
Der Breslauer Aufstand von 14 18 ist, wie Grünhagen mit Recht be-
merkt, nicht in die Reihe der gewöhnlichen Zunftkämpfe einzuregistrieren.
Er verdankt seinen Ursprung nicht dem gewöhnlichen Gegensatz zwischen
Handwerker und städtischem Patriziat. Erstere kämpfen hier nicht um die
Teilnahme am Rat Denn diese ist ihnen schon seit 1390 gesichert. Die
Hauptschuld an der Empörung trägt der Groll der Bürger über die Eingriife
König Wenzels in die städtische Autonomie, über die mafslosen Geldforde-
lungen des Herrschers, denen gegenüber sich der Rat allzu nachgiebig zeigte,
so dais das städtische Budget in Verwirrung geriet, die Bürger mit Steuern
hart belastet wurden *). (Vgl. auch meine „Politischen und sozialen Be-
wegungen" S. 21.)
hl letzterer Zeit sind auch die Verhältnisse Naumburgs *) im XV.
und XVL Jahrhundert zum Gegenstand einer monographischen Darstellung
gemacht worden. Auf dem wirtschaftlichen Leben der Stadt lastete seit der
Glitte des XV. Jahrhunderts eine starke Lähmung, die sich besonders deut-
lich aus dem Stillstand in der Steigerung der Steuereinnahmen ergibt. An-
I) 8. a. O. S. 61—62.
2^ Priebatsch S. 65. 170. 191.
3) S. „Grenzboten" 1859, Nr. i, S. 56flF.
4) E. Hof fm ann, Naumburg a, S. im Zeitalter der Reformation [Leipziger Studien
aas dem Gebiet der Geschichte VII, i], S. 38 ff. und S. 57—60.
— 28 —
fang des XVI. Jahrhunderts hat sich die Lage anscheinend noch verschlechtert.
Teils durch Verschwendung, teils durch wiederholte Feuersbrünste gerieten
viele Bürger in Not, mufsten ihre mit „Zinsen, Geschofs und Schulden"
belasteten Häuser verfallen lassen oder nach dem Brande auf deren Wieder-
herstellung verzichten. So fehlen auch in Naumburg nicht die anderswo
bemerkbaren sozialen Gegensätze: hier manche Züge von Reichtum und
frohem Lebensgenufs, dort tiefe Verarmung und Elend, ohne dafs sich frei-
lich ein sicheres Bild der Verteilung von Armut und Reichtum gewinnen
liefse. Doch waren allem Anschein nach die Gegensätze in Naumburg nicht
so schroff, dafs sie sich wie an anderen Orten in heftigen Konflikten ent-
laden hätten. Nur schwache Anzeichen deuten seit 1450 auf eine leise
Gärung in der Bürgerschaft; 1460 und 1470 lehnen sich Bäcker und Brauer
gegen die Markt- und Lebensmittelpolizei des Rates auf, doch haben diese
Differenzen nur vorübergehend zu Unruhen geführt und nie einen gröfseren
Umfang angenonmien. Noch mehr spricht für eine im ganzen ruhige E-nt-
wickelung Naumburgs, selbst in den Jahren der Not, dafs die Stürme des
Bauernkrieges ohne tiefere Erschütterung über den Ort hingegangen sind.
Wohl kommt es unter Einflufs Münzers im Frühjahr 1525 zu einer religiösen
Bewegung, das soziale Moment aber tritt dank der Besonnenheit des Predigers
Langer und der klugen, sicheren Haltung des Rates Park zurück.
Die Kenntnis der Städteaufstände zu Beginn des XVL Jahrhunderts»
namentlich im unruhigen Jahre 15 13, ist durch eine neuere Untersuchung
bereichert worden *). Das niederrheinische Gebiet erscheint als besonders
gefährlicher Aufruhrherd. Zu den Bewegungen in Köhi, Aachen, Neufs,
Andernach, Lüttich kommen die Aufstände in Duisburg, Ahnveiler und
Linnich, alle drei im Jahre 15 13. In Duisburg hat die Zurückweisung
der Gemeindevertreter, der sogenannten Sechzehner, Anlafs zum Aufstand
gegeben, durch den der Rat genötigt wurde, die Forderungen der Gemeinde
zu erfüllen. Über die Unruhen in Ahrweiler und Linnich liefs sich Genaueres
nicht ermitteln. Doch dürfte auch hier — so wie in Köln u. a. O. — die
Unzufriedenheit der Gemeinden mit der Finanzgebarung des Rates das vor-
nehmste Motiv des Aufstandes gebildet haben. Auch in diesen Städten ist
für den Ausgang der Bewegung entscheidend die Einmischung der Landes-
herren oder der benachbarten Fürsten. In Andernach und Neufs tritt der
Kölner Erzbischof Philipp von Heinsberg als Schiedsrichter auf und befriedigt
die Wünsche dtv Bürger. Die Unruhen in Duisburg erwecken das lebhafte
Mifsfallen des Herzogs von Cleve. Und in Aachen wird — wie neuerdings klar-
gestellt *) — durch die zähe Politik Herzog Johanns von Jülich nach langwierigen
Verhandlungen die Versöhnung der Zünfte mit der Partei des alten Rats
herbeigeführt.
Zum Schlufs noch ein Wort an meine Kritiker! Ich habe in meinen
„Politischen und sozialen Bewegungen" einen Ausgleich gesucht zwischen
den widersprechenden Ansichten von Lamprecht und Lenz über den Charakter
der städtischen Revolutionen des XV. und XVI. Jahrhunderts und bin zu
1) Redlich, Herzog Johann von Jülich und der Aachefter Aujstand von 1513
in der Zeitschrift des Aachener Geschichtsvercins Bd. XXIII (1901).
2) a. a. O.
— 29 —
dem Ergebnis gelangt, dafs die Bewegung nicht einseitig proletarisch-
soziaKstbcher Natur sei, dafs sie aber ebensowenig ausschliefslich vom Hand-
werkerstände getragen werde und nur dessen Interessen dienstbar sei (vgl.
S. 258/9). Nun behaupten Stolze und v. Below *), der von mir angenom-
mene Gegensatz der Ansichten von Lamprecht und Lenz sei nicht vorhanden.
Lenz leugne durchaus nicht die Beteiligung der unteren Schichten, sondern
behaupte nur gegen Lamprecht, dafs die Handwerker die „Träger der re-
vohitionären Forderungen" gewesen seien, also der Bewegung den Stempel
ihres Geistes aufgedrückt hätten. Nun aber sagt Lenz ausdrücklich: „Nur
ganz verschwindend, inuner im Anschlufs an sie (die Gewerke) treten hier
und da, z. B. in Frankfurt, unzünftige Elemente auf, die dann aber auch
keineswegs verkonmiene Proletarier zu sein brauchen." Und an einer an-
deren Stelle erklärt er, dafs in den städtischen Revolten der Reformations-
epoche „auch nicht die leiseste Spur von taboritischen und sozialistischen
Forderungen zu finden sei" *). Der von mir angenommene Meinungsgegen-
satz besteht also, glaube ich, doch.
Stolze und v. Below sind mit Lenz der Ansicht, dafs in diesen städti-
schen Bewegungen von sozialistischem Gehalt wem'g zu spüren sei. v. Below
macht mir auch die Anwendung des Wortes „sozialistisch" zum Vorwurf*).
Das Wort ist vielleicht nicht glücklich gewählt und wäre durch „radikal"
oder „konununistisch" zu ersetzen. Ich glaube aber in meinem Buche nach-
gewiesen zu haben, dafs Tendenzen solcher Art seit Ausgang des XV. Jahr-
hunderts und besonders in der Zeit des Bauernkrieges in zahlreichen Städten
der verschiedensten Gegenden des Reiches aufgetreten sind, wenngleich sie
freilich nicht immer in so präzise formulierten Programmen vorliegen, wie die
Forderungen der Handwerker *). Ohne Zweifel würden ohne das Entgegen-
kommen der Räte gegenüber den gemäfsigten Trägem der Bewegung und
ohne den unglücklichen Verlauf des Bauernkrieges diese radikalen Ten-
denzen noch an Ausdehnung gewonnen haben und noch deutlicher an
die Oberfläche getreten sein. Aber vorhanden waren sie in weitem Umfange
imd in nicht zu unterschätzender Stärke, sie bereiteten der Obrigkeit schwere
Sorge, und es geht nicht an, ihre Bedeutung herabzusetzen oder gar ihr Dasein
eiD^h abzuleugnen, diesen Zug aus dem Charakterbild der Bewegung zu tilgen.
Diese radikale Strömung aber läfst doch auch schliefsen auf das Vor-
handensein zahlreicher besitzloser oder besitzarmer Elemente in den Städten,
zwingt uns zur Annahme eines städtischen Proletariats, das v. Below zu
leugnen scheint Gerne freilich gebe ich zu, dafs Verbreitung und Zusammen-
setzui^ dieses Proletariats noch eingehender Untersuchung bedürfen. Die
Städteaufistände im Zeitalter der Reformation sind nicht, wie die Zunfticämpfe
der früheren Zeit, nur eine Mittelstandsbewegung, die sich mit politischen
Reformen begnügt, sondern sie erstreben — zum Teil unter Einflufs der religiösen
1) W. Stolze, Zur Vorschickte d^s Bauernkrieges in Schmollers Staats- und
»ozialirisseiuchafUichen Forschnngen Bd. XVIII, Heft 4, S. 43 3, v. Below, Historische
Zeitsdmft, N. F. 53, S. looff.
2) H. Z., N. F., Bd. XLI, S. 397—399.
3) Stolze in „Mühlhänser Geschichtsblättem " I, 105; v. Below a. a. O. S. 10 1.
4) S. mein Bnch S. 2r8ff. Die Wncht der radikalen Bewegung zeigt sich übrigens
fast noch stärker in den Aufständen am Ausgang des XV. Jahrhunderts, s. S. 23 — 33.
— 30 —
Ideeen — in ihrer extremen Richtung, meist in den rohesten Formen, den
Umsturz der ganzen sozialen Ordnung. Das kommunistische Wiedertäufer-
reich in Münster bezeichnet den Höhepunkt dieser Entwickelung.
Kurt Käser (Wien).
Yerzeichnis der Stttdte, tvo toh ea. 1400—1535 Unruhen stattsrefunden haben :
Aachen 1450, 1477 1 ^$3^- Admont (Steiermark) 1525. Ahrweiler (Rheinprovinz)
1513. Alkmaar (Niederlande) 1492. Ammerschweier (Elsafs) 1525. Andernach 151 1.
Annaberg 1525. Aschaffenbarg 1525. Aagsbnrg 1491, 1524, 1525.
Bamberg 1525. Basel ca 1521— 1525. Bergheim (Elsafs) 1525. Berlin 1400 bis
1451. Biberach 1525. Boppard 1525. Botwar (Württemberg) 1525. Brackenheim
(Württemberg) 1525. Braunschweig 1445, 1488, 15 13. Bremen 1531. Breslau 141 8.
Brixen 1525. Bruchsal 1525. Brück (Steiermark) 1525.
Chemnitz 15 10 und 15 12 (Aufstand gegen die Geistlichkeit) *) 1525.
Danzig 1525. Dettelbach (Ostfranken) 1525. Deventer 151 2, 151 3. Dinkelsbühl
1525. Dortmund 1525 Dresden 1520. Duisburg 15 13.
Ebelsberg (Oberösterreich) 1525. Ebern (Ostfranken) 1525. Eichstädt 1525. Eisen-
erz (Steiermark) 1525. EUwangen 1525. Elsafs-Zabem 1525. Erfurt 1509 und 1525.
Essen 1531 ff.
Forchheim 1524. Frankenhausen 1525. Frankfurt a. M. 1525. Frankfurt a. O. 1420,
1425. Freiburg i. B. 1525. Fulda 1525.
Gebweiler (Ober - Elsafs) 1525. Gmünd (Württemberg) 1525. Görlitz 1525. Göt-
tingen 15 13. Gotha 1524. Graz 1525. Günzburg 1525.
Haarlem 1492. Hall (Württemberg) 151 1. HaUe 1474. Hamburg 1410, 14S3.
Hannover 1531. Heilbronn 1525. Hersfeld iS^S- Höxter 1514.
Joachimsthal 1525.
Kaiserbberg (Elsafs) 1525. Kamenz 1508 — 151 1. Kaufbeuren 1525. Kiensheira
(Elsafs) 1525. Kitzingen 1525. Köln 1482, 1513, 1525. Kolmar 1525. Konstanz
1429, 15 IG.
Langensalza 1525. Leipheim (Bayern) 1525. Leipzig 1492 und 1514. Leoben
(Steiermark) 1525. Limburg 1525. Linnich (Rheinprovinz) 15 13. Lippstadt 1525.
Lübeck 1513, 1529 ff. Lüttich 1513.
Magdeburg 1524, 1525. Mainz 141 1 — 1444. Markgröningen (Württemberg) 1525.
Marktbibart (Ostfranken) 1525. Meiningen 1525. Memmingen 1525. Mergentheim 1525.
Minden 1525. Mülhausen i. E. 1525. Mühlhausen i. Th. 1525. Münster (Westfalen)
1525. Murau (Steiermark) 1525.
Naumburg a. S. 1460, 1470, 1525. Neumarkt (Steiermark) 1525. Neufs 15 13.
Nördlingen 1525. Nordhausen 15 12, 1525. Nürnberg 152$.
Oberehenheim (Elsafs) 1525. Oberwelz (Kärnten) 1525. Ochsenfurt (Unterfranken)
1525. Öhringen 1525. Öttingen 1525. Osnabrück 1488, 1525.
Paderborn 1525. Pirna (Sachsen) 15 12, 15 19. Pöfsneck 1525 *). Prenzlau (Bran-
denburg) 1426.
RappoltSN^^eiler (Elsafs) 1525. Regensburg 15 12 und 1513, 1525. Reichenweiher
Elsafs) 1525. Rostock 1487 — 149 1. Rothenburg a. T. 1525.
Salzburg 1522, 1525. Salzwedel 1429. Sangershausen 1525. Schladming (Steier-
mark) 1525. Schlettstadt 1510, 1525. Schmalkalden 1525. Schneeberg 1524. Schweid-
nitz 1520. Schwein fürt 1513, 1525. Soest 1525. Speyer 1512, 1525. Stadtschwarzach
(Franken) 1525. Suufen (Breisgau) 1525. Stendal 1429, 1488, 1530. Stralsund 1532
bis 1537. Stuttgart 1525. Sulz (Elsafs) 1525.
Treuenbrietzen (Brandenburg) 1420. Trient 1525. Trier 1525.
Ulm 15 12, 1525. Utrecht 1525.
Wassertrüdingen (Bayern) 1525. Weinsberg 1525. Weifsenburg i. E. 152$. Wimpfen
1525. Windsheim 1525. Worms 1513, 1525.
Zwickau Anfang des XVI. Jahrhunderts und 1525.
1) C. W.Zöllner, Geschichte der Fabrik- und Handelsstadt Chemnitz {\%%o\ S. 165.
2) Kurfürst Johann zu Sachsen bestätigt 6. Januar 1527 der Stadt Pöfsneck ihre
Rechte und Privilegien, deren sie sich durch die Teilnahme am Bauemanfruhr verlustig
gemacht hatte. S. Joh. Ad. v. Schultes, Diplomatische Geschichte des Fürstentums
Sachsen-Coburg-Saal/eld. Urkundenbuch zum I. Bd. (1820), S. 112, Nr. CXI.
— 31 —
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18 S. 8**.
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Herausgeber Dr. Annin Tille in Leipzif. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Gotha.
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
lur
Forderung der landesgeschichtlichen Forschung
IV. Band November 1902 2. Heft
Zur Geschichte der landesgeschichtlichen
Forschung in Ltothringen
Von
Ernst Müsebeck (Metz) ^).
Jeder, der sich mit der territorialen Geschichte Lothringens be-
schäftigen will, sieht sich noch jetzt, solange nicht die Urkunden
oder ausführliche Regesten zur Entwickelung der einzelnen Bestand-
teile oder Institutionen des Landes vorliegen, auf die vornehmsten
Zeugen lothringischer Landesgeschichtschreibung im XVII. und
XVni. Jahrhundert angewiesen: auf Meurisse, Calmet und die Bene-
diktiner Frangois imd Tabouillot *). Abgesehen von den zahlreichen,
seitdem nicht wieder veröffentlichten Urkunden besitzen sie einen
dauernden Wert als Quelle: sie geben eine grofse Anzahl von Über-
resten jeder Art historischer Tatsachen oder Zustände wieder, die
seitdem verloren gegangen sind, und berichten über sie. Je nachdem
die Verfasser sich den Vorwurf zu ihrer Arbeit gewählt haben, tritt
die Darstellung der Geschichte des Bistums Metz, des Herzogtums
Lothringen oder der Stadt Metz mit den zahlreichen geistlichen Stif-
tungen in den Vordergrund ihrer Erzählung und ihrer Quellensamm-
lungen. Am umfassendsten gedachte Dom Calmet seine Aufgabe zu
lösen; allein was seine Arbeit an Ausdehnung auf die einzelnen poli-
tischen Gebilde gewann, verlor sie an Einheitlichkeit der Auffassung
i) Vgl. über die periodische Literatur Lothringens diese Zeitschrift Bd. III,
S. 121 ff. Eingehender konnte hier nur die Literatur seit 1870 berücksichtigt werden.
2) Meurisse, Histoire des evesques de Ve'glise de Metz, Metz 1634. Dom
Calmet, Histoire eccUsiasttque et civile de Lorraine, 3 Bde., Nancy 1728; 2. Aufl.
unter dem Titel Histoire de Lorraine^ Nancy 1745 ff.; sie wurde im Auftrage des Herzogs
Leopold unternommen. Histoire de Metz par des religieux ben^dtctins de la congr^'
gstion de St,'Vanne, Metz 1769/ 1790. Die Geschichte der Stadt ist bis zum Jahre
1733 geführt, dem Todesjahr des Bischofs Coislin. Die 3 letzten Bände enthalten die
im 3. Bande begonnenen preuves — im ganzen 2722 Quartseiten — bis zum Jahre
1545. — Fär die Geographie des Landes ist noch zu erwähnen: Durival rain6,
Description de la Lorraine et du BarroiSy Nancy 1778/83, 3 Bde. und i Ergänzungsband.
3
— 34 —
und Durchführung, so dafe sie an historiographischem Wert hinter der
Geschichte der Stadt Metz zurücksteht.
Im Jahre 1790 erschien der sechste Band der Histoire de Metz;
1793 erfolgte die Auflösung der Acaddmie royale de Metz. Damit
hatte auch die territoriale Geschichtschreibung in Lothringen vor-
läufig em Ende erreicht. Die Zeiten der Revolution, des Kaiserreichs
und der Restauration mit ihren auf das allgememe gerichteten Ten-
denzen waren nicht im stände, der landesgeschichtlichen Forschimg
die Anregung zu geben, die von dem katholischen Klerus des XVIII.
Jahrhunderts ausgegangen war und der wir jene Arbeiten verdanken.
Der Gedanke der Zentralisation hatte die Bevölkerung zu sehr durch-
drungen, als dafe in ihr noch der Wert und die Bedeutung der histo-
rischen Teile des Landes erkannt worden wäre. Erst in den vierziger
Jahren regte sich in den Provinzen der Widerwille gegen diese uni-
forme Gestaltung, die keine Rücksicht auf die individuellen Eigen-
heiten der Teile nahm. Damit war ein Anstofs zur territorialen Ge-
schichtschreibung gegeben, mochte ihre Bedeutung zunächst auch
nur in ihrem Verhältnis zur allgemeinen Landesgeschichte erkannt
werden *). In dieser Einschränkung liegt zugleich der stark subjektive
Charakter begründet, der allen folgenden zusammenfassenden Dar-
stellungen von französischer Seite eigen ist; in ihnen tritt mehr oder
weniger der französisch-nationale Standpunkt als das allein berechtigte
Prinzip für die Darstellung der lothringischen Landesgeschichte hervor.
So konnte Aug. Digot nach der Begründung der Socidte d'ar-
cheologie lorraine zu Nancy und bei dem Interesse, das die histo-
rischen Studien im Gebiete des ehemaligen Lothringen fanden, es
unternehmen, eine umfassende Geschichte des Landes zu veröffent-
lichen *). Seine Arbeit erlangte für die folgenden Jahrzehnte die
gleiche Bedeutung wie die Calmets für das XVIII. Jahrhundert. Dessen
weitläufige Anlage teilte es nicht; die Geschichte der Bistümer blieb
ganz unberücksichtigt, die von Bar wurde nur in ihren ersten Anfangen
berührt. Die Entwickelung des Herzogtums Lothringen findet in aus-
führlichster Weise ihre Darstellung, so dafe die Fülle der Einzelheiten
oft die Erkenntnis des Zusammenhanges vermissen läfst. Auf ihn
gehen alle folgenden französischen und deutschen Darstellungen bis
auf Derichsweiler zurück ^).
•
i) Vitct bei der Anzeige von Haussonvilles unten angeführtem Werk: L'historte
provinciale bün comprise doit servir de contröU ei de preuve ä l'historte genirale,
2) Aug. Digot, Histoire de Lorraine^ Nancy 1856, 6 Bde., bis 1766.
3) Es seien von französischen DarsteUtingen nur erwähnt: Victor de Henrion^
— 35 —
Mit dem Anspruch eine Geschichte des Landes Lothringen zu
geben, tritt J. B. Ravold auf den Plan*). Cette histoire (de l'an-
cienne LorraineJ tCa ^t^ jtisqu'ä präsent qu'artstocrattque et reit-
gieuse, si je puis m'exprtmer ainsi; fai pe?tsä qu'il serait bon de
la rendre populatre, c'est ä dire de faire mar eher de front V histoire
de la nation et celle des princes, qui Vont gouvernäe. Von einer
Verwirklichung dieser Absicht bleibt seine Arbeit weit entfernt. Sie
besteht gröfstenteils in der Aneinanderreihung- von Auszügen anderer
Werke, besonders von Lepage, B^in und Calmet, die durch seine
doktrinäre politische Anschauung eines ultraliberalen Franzosen zu-
sammengehalten werden. In seiner Einteilung bringt er es fertig, auch
die Geschichte der Bistümer den Regierungszeiten der Herzöge ein-
zugliedern. Von der Auffassung der Geschichte als einer Entwicke-
lung zeigt sich keine Andeutung.
Die beste Einleitung in die politische Geschichte des Herzogtums
Lx}thringen bildet die kleine, unter dem anspruchslosen Titel Räcits
lorrains auftretende Geschichte Lothringens und Bars von dem ehe-
maligen recteur de Tacadimie de Nancy, E. Mourin, durch dessen
Bemühungen eine Annäherung der Fakultäten daselbst zu stände kam.
Freilich beschränkt sie sich vollkommen auf die politische Geschichte
im engsten Sinne *), und will nur ein Bild der Vorgänge geben, unter denen
sich der allmähliche Anfall des Landes an Frankreich vollzogen hat.
Von deutscher Seite war bis vor kurzem noch keine Arbeit vor-
handen, die die allgemeine Geschichte Lothringens in ihrem Gesamt-
iim£ang in originaler Weise dargestellt hätte; denn Huhn und West-
phal begnügten sich damit, die erschienenen französischen Hauptwerke
mit einem deutsch-patriotischen Firnis zu überziehen ^). Erst Derichs-
wcüer hat diese Aufjgabe zu lösen versucht *). Eine andere Frage ist
Wxtoire populatre de la Lorraine d/dt/e ä la France, Paris 1880, nnd vorher: Victor
deSaintManris, £iudes historiques sur Vancienne Lorraine, 2 Bde., Nancy 1861. —
Zwttcfaea Calmet nnd Digot fällt E. A. 6 6giD, Histoire des duchds de Lorraine ei de
Bor et des trois evichis, Nancy -Paris 1833.
i) J. B. Ravold, Histoire democratique et anecdotique des pays de Lorraine , de
Bar et des Trois-Ev^ches depuis les temps plus recul/s jusqu'ä la r Evolution fr ancaue,
4 Bde^ Paris -Nancy 1889/90.
2) Ernest Moarin, R/cits lorrains. Histoire des ducs de Lorraine et de Bar,
Pkris- Nancy 1895. Von kulturgeschichtlicher Entwickelang handelt nur Kapitel II: la
conuDsne en Lorraine: la loi de Beaamont (17 Seiten!).
3) H. Th. Huhn, Geschichte Lothringens, 2 Bde., Berlin 1877/78 und Wcst-
phal, GeuhichU der Stadt Metz, 3 Bde., Metz 1875/78.
4) H. Derichswciler, Geschichte Lothringens, 2 Bde., Wiesbaden 1901 ; vgl.
<lie nähere Begrfindang meines Urteils in der Historischen Vierteljahrschrift Jahrgang 1903.
8*
— 36 —
es jedoch, ob diese seine originale Lösung* eine objektiv richtige Ant-
wort gibt. Von einer Geschichte des Landes Lothringen kann auch
hier nicht die Rede sein. Der Verfasser gibt im wesentlichen eine
Geschichte des Herzogtums Lothringen. Der Darstellung der zustand-
liehen Entwickelungsreihen sowie der Geschichte der Bistümer, der
Stadt Metz, der grofeen Abteien und der kleinen Territorien in ihrer
Eigenartigkeit und in ihrer Wirksamkeit auf die Geschicke des
ganzen Landes, besonders im Mittelalter, kommt nicht die selbständig'e
Bedeutung zu, die ihr gebührt. Freilich darf nicht aufser acht ge-
lassen werden, dafs es zu ihrer Feststellung noch weitgehender Einzel-
untersuchungen bedarf. Die Darstellung der politischen Geschichte
in der Neuzeit leidet aufserdem stark unter der verständnislosen Ver-
urteilung der Reformation und ihrer Folgen, sowie der idealen aber
stark subjektiven Vorliebe des Verfassers für die kaiserlich habs-
burgische Politik in ihrer angeblichen nationalen Selbstlosigkeit. Trotz
dieser Mängel bildet die Arbeit Dericbsweilers einen bedeutenden
Fortschritt in der Historiographie Lothringens, weil sie zum ersten Male
versucht, die Geschichte des Herzogtums aufser in ihrer eingehenden
landesgeschichtlichen Würdigung in ihrer universalen Bedeutung zu
erfassen und die Bevölkerung als Nation zu verstehen. Sie wird stets
ihren selbständigen Platz in der Geschichtsschreibung Lothringens be-
haupten, auch wenn die Bedeutung des Herzogtums gegenüber den
Bistümern und der Stadt Metz nach weiteren Forschungen in manchen
Linien für die allgemeine Entwickelung des Landes zurücktreten wird.
Nach dem Friedensschlüsse von 1871 brachte die deutsche Re-
gierung von Anfang an der Erforschung der Vergangenheit der beiden
Länder grofees Verständnis entgegen. Ihrer Initiative verdanken sie
es, dafs beide, Elsafs und Lothringen, auf dem Gebiete der Altertums-
kunde eine Beschreibung ihrer Denkmäler besitzen, die in einzelnen
Stücken berichtigt werden mag, als Ganzes aber ein monumentales
Denkmal deutschen wissenschaftlichen Fleifses bezeichnet. Bereits 1873
wurde F. X. Kraus von dem damaligen Oberpräsidenten v. Möller
damit beauftragt, ein Inventar der Kunstdenkmäler anzulegen und da-
mit für die Altertumskunde des Landes eine dauernde Grundlage zu
schaffen. Unter vielseitiger Beihilfe im Lande wurde das Werk in
jahrzehntelanger Arbeit vollendet *). Nicht minder wichtig für die
i) Fr. X. Kraus, Kunst und Altertum in Elsa/s - Lothringen ^ Bd. 3: Kunst
und Altertum in Lothringen. Strafsburg 1889. — Daru noch eine vom Ministerium
reich subvenüonicrte Arbeit von W. Schmitz, Der mittelalterliche Profanbau in
Lothringen, Düsseldorf 1898. Vgl. auch die kritische Zusammenstellung Über die
Denkmälerinveotare von Polaczek in dieser Zeitschrift L Bd., S. 286.
— 37 —
Landesgeschichte sind die Veröffentlichung-en des statistischen Bureaus
des kaiserlichen Ministeriums für Elsafs -Lothringen in dem letzten
Jahrzehnt. Durch sie ist die politische Geographie und die Geschichte
der territorialen Gestaltung des Landes in grofsen Zügen endgültig
fcstgel^ *).
So wurde und wird seitens der Regierung alles getan, um die
Geschichte des lothringischen Landes nach jahrhundertelanger Trennung
dem Forschungsgebiete der deutschen Wissenschaft wieder näher zu
bringen. Dafe diese Bemühungen nicht von so schnellem Erfolge
wie im Elsafs gekrönt wurden, liegt einmal an der innigeren Ver-
bindung des Landes mit Frankreich durch Sprache, Sitten und Kultur,
dann an dem Einflufs der Strafsburger Hochschule auf die Erforschung
der Geschichte des elsässischen Landes, die von den Vertretern der
geschichtswissenschaftlichen Fächer von Anfang an mit zu ihren vor-
nehmsten Aufgaben gerechnet wurde. Erst mit der Begründung der
Gesellschaft für lothringische Geschieh te und Altertums-
kunde 1888, die sich bald zum Mittelpunkte aller historischen
Forschungen des Landes herausbildete, ist eine neue Zeit unbefangener,
wissenschaftlicher Tätigkeit von Einheimischen und Eingewanderten
entfaltet worden, die es sich angelegen sein lassen, durch Einzel-
untersuchungen und Quellenpublikationen die Basis zu einer allgemeinen
Geschichte des Landes immer mehr zu verbreitem.
Es kann hier nicht die Aufgabe sein, alle einzelnen Untersuchungen
namentlich aufzuführen. Das Jahrbuch der Gesellschaft mit seinen
Verzeichnissen von neuen Erscheinungen zur lothringischen Geschichte
und seinen Besprechungen bietet reiche Anhaltspunkte in allen Einzel-
fragen. Es kommt darauf an, einige besonders charakteristische Unter-
I) Statutische Mitteilungen über Elsa/s-Lothringen, Heft 28 : Die alten Territorien
des Bezirkes Lothringen nach dem Stande vom /. Januar 164S. L Teil. Strafsbarg
1898. — Aofserdem ist ein Lieferungswerk im Erscheinen begriffen: Das Reichsland
Etsafs' Lothringen. Landes- und Ortsbeschreibung^ herausgegeben von demselben Bureau;
Strafsburg. Es wird 3 Teile enthalten : i) Die allgemeine Landesbeschreibung in einzelnen
AsfUlzea. 2) Eine Statistik des Landes. 3) Statistisch - geschichtliches Ortsverzeichnis.
Der erste nod der zweite Teil sind vollendet Hingewiesen sei hier vor allem aaf die
„Bcitrige mr Landesgeschichte", S. 250 — 335, die von dem Ministerialrat Freiherm
da Prel bearbeitet wurden und sich (Ur Lothringen als änfserst sorgsam nnd inhaltsreich
enrciseD. Der 3. Teil ist im Erscheinen begriffen. — Für die Topographie des Landes
kommt aniserdem in Betracht: Dictionnaire topographique de la France: Departement
de la Moselle par de Bonteiller, Paris 1874, de la Meurthe par Henri Lepage,
Paris 1862, de la Meuse par F61ix Li^nard, Paris 1872.
— 38 —
suchungen hervorzuheben, die bis dahin allgemeingültige Anschauting'en
widerlegt und der Forschung neue Wege gewiesen haben.
In den Vordei^rund der prähistorischen Forschung ist seit den
Vorbereitungen zum Anthropologenkongrefs 1901 in Metz die Frage
nach dem Ursprung und der Bedeutung der Briquetage getreten, deren
Lösung unter dem Aufwände grofser Mittel seitens der Gesellschaft
für lothringische Geschichte und Altertumskunde in Angriff genommen
wurde und noch fortgesetzt wird ^). Ihre unausgesetzten Nachfor-
schungen ermöglichen eine immer eingehendere Kenntnis der kulturellen
Verhältnisse Lothringens als eines Grenzlandes in römischer und früh-
germanischer Zeit, die in den letzten Jahrzehnten durch eine Reihe
von Funden auf das glücklichste vermehrt wurde *).
Wesentliche Förderung haben in dem letzten Jahrzehnt die ethno-
graphischen Studien erfahren, die die allmählichen Verschiebungen der
Nationalitätsgrenzen festzustellen suchen. Während This durch seine
Untersuchung die jetzige Sprachgrenze zwischen Germanen und Ro-
manen feststellte, unternahmen es Schiber und Witte in ihren ver-
schiedenen Arbeiten, die allmähliche Verschiebung der Sprachgrenze,
den Verlauf der deutschen Siedelung in Gallien festzulegen, bis im
XVI. Jahrhundert die Gegenbewegung einsetzte *). Mit diesen For-
i) Vgl. die AusfUhningen J. B. Keunes im Jahrbach der Gesellschaft XIII, S. 366 ff.
Das Briquetage im oberen Seilletal; dazu auch Protokolle der Generalversamm-
lung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine zu Metz^ Berlin
i8go. Auch die dort behandelten Mare und Mardellen hat die Gesellschaft von neuem
in den Kreis ihrer Untersuchungen gezogen. Vgl. auch diese Zeitschrift IIL Bd., S. 88.
2) Im einzelnen sind die jährlichen Fundberichte im Jahrbuch zu vergleichen. Dazu
die zusammenfassende Darstellung von R. Forrer, Zur Ur^ und Frühgeschichte Elsa/s-
Lothringens, Strafsburg 1901. Aufserdem sei im einzelnen hervorgcboben : J. B.
Keune, Gallo-römische Kultur in Lothringen und den benachbarten Gegenden, Jahr-
buch IX. G. Wolfram, Die räumliche Ausdehnung von Metz zu römisch -früh-
mittelalterlicher Zeit ^ Jahrbuch IX; dazu Wolfram, Die räumliche Eniwickelung
von Metz in „Die XXXII. allgemeine Versammlung der deutschen Gesellschaft für An-
thropologie, Ethnologie und Urgeschichte in Metz 1901**, München 1902 und seinen
Fundbericht im Jahrbuch XIII; F. v. Fisenne, Das Mithräum zu Sarburg in Lo-
thringen, Jahrbuch VIII.
3) C. This, Die deutsch-französische Sprcuhgrenze in Lothringen, Beiträge zur
Landes- und Volkskunde von Elsafs-Lothringen, Heft i, Strafsburg 1889. A. Schiber,
Die fränkischen und allemannischen Siedelungen in Gallien , Strafsburg 1894; der».:
Die Ortsnamen des Metzer Landes und ihre geschichtliche und ethnographische Be-
deutung, Jahrbuch IX; ders. : Germanische Siedelungen in Lothringen und England,
Jahrbuch XII. Hans Witte, Zur Geschichte des Deutschtums in Lothringen, Strafs-
burger Inaugural-Dissertation , Metz 1890; ders.: Deutsche und Keltoromanen in Lo-
thringen, Beiträge zur Landes- und Volkskunde von Elsafs-Lothringen, Heft 1$, Strafs-
— 39 —
schimgen berührt sich eine Gruppe von Marburger Dissertationen,
die augenscheinlich der Anregung* von Stengel ihre Entstehung ver-
danken, sowie die Arbeiten Hoffmanns, Keuffers und Zdliqzons ^), durch
die die Berührung und gegenseitige Durchdringung germanischer und
romanischer Dialekte auf dem lothringischen Boden gekennzeichnet
wird. Einer weit geringeren Anziehungskraft erfreut sich bei der
neueren Forschung die mit der Sprachgeschichte so eng verknüpfte
Sammlung volkstümlicher Sagen, Sitten und Gebräuche, die Kultur-
geschichte eines Volkes im engeren Sinne. Nur Lerond hat es unter-
nommen, in seinen Heften die verschiedenen« Seiten des Volkslebens
in Lothringen wiederzugeben und seine in ihrer reichen Mannig-
faltigkeit so schönen Erscheinungen einer Epoche zu erhalten, die lange
Zeit darauf ausging, das Individuelle einzelner Volksklassen und ein-
zelner in sich geschlossener Landschaften zu verwischen *).
Eine wichtige und notwendige Ei^änzung erfahren die allgemeinen
Darstellungen der lothringischen Geschichte durch die neuesten rechts-
geschichtlichen Publikationen von französischer und deutscher Seite.
Vor allem Bonvalot imd Sadoul haben es sich in ihren Studien an-
gelegen sein lassen, diese Fragen einer eingehenden Erörterung zu
unterziehen. Leider verraten sie eine nicht genügende Kenntnis der
deutschen Literatur, die bei Bonvalot zu dem verkehrten Ergebnis
führen konnte, dais die Gerichtsorganisation Lothringens eine durch-
aus originale sei *). Mit dem staatsrechtlichen Verhältnis Lothringens
borg 1891 ; ders.: Das deutsche Sprachgebiet Lothringens und die Wandelungen in
Fonchangen zur deutschen Landes- und Volkskunde ed. Kirchhoff VIU, 6; ders.:
Deatscbe Geschichtsblätter HI, S. 153 ff. Ortsnamenforschung und Wirtschaftsgeschichte,
Diza Wolfram, Die Entwickelung der Nationalitäten und der nationalen Grenzen
in Lothringen^ im XXXIL Jahresberichte des Anthropologentages (s. o.), S. 7 8 ff.
i) L. Z^liqzoo, Lothringische Mundarten^ Metz 1889 (Ergänzungsheft zum Jahr-
buch I); ders.: PatoiS'Lieder aus Lothringen^ Jahrbuch XIIT. Dazu: Chan Heurlin ou
les ßanfotUes de Fauchen, poeme en patois messin (1785/87), herausgegeben von
A. Brandes und D. Mory mit Ulustrationen von Victor Masson, Nancy 1900. —
K. Hoffmann, Laut* und Flexionslehre der Mundart der Moselgegend von Ober-
kam bis zur Rheinprorvinz, Jahrbuch XU. Keuffer, Die Metzer Stcultkanzleien und
ihre Bedeutung für die Geschichte des „Romans**, — Jene Dissertationen beschäftigen
sich vor aUem mit Geste des Loherains,
2) Lerond, Lothringische Sammelmappe I — X. Metz, 1890 — 1901.
3) Edouard Bonvalot, Le Tiers-Etat d'apris la charte de Beaumont et ses
ßUales, Paris 1884; ders.: Les feaute's en Lorraine, Paris 1889 und Htstoire du droit
et des instituHons de la Lorraine et des trois Evichü (843—1789), Paris 1895, auch
worden von ihm herausgegeben : „ Les plus principales et genirales coustumes du duchi^
de Lorraine *% Paris 1878. — Charles Sadoul, Essai historique sur les institutions
iudicitttres des duchds de Lorraine et de Bar avant les reformes de Leopold /, Paris-
— 40 —
zum Deutschen Reich beschäftigt sich die Arbeit von Fitte '). Die
Verbindung mit der Wirtschaftsgeschichte stellt Darmstädter mit seinen
trefflichen Untersuchungen über die Aufhebung der Leibeigenschaft
her, die sich jedoch auf das Herzogtum beschränken, weil die Ver-
hältnisse im Gebiet des Bistums und der Stadt Metz sich ganz anders
gestaltet hatten *). Ähnliche Fragen für das Mittelalter hatte früher
schon Sauerland in seine Untersuchung über die Immunität von Metz
hineingezogen ').
Von eigentlichen wirtschaftsgeschichtlichen Arbeiten, die es sich
zur Aufgabe gesetzt haben, die Zweige dieses weiten Gebietes in Mono-
graphieen darzustellen, liegt nur das Buch von Marcus über die Glas-
fabriken des Bitscher Landes vor *). Es dürfte dies eins der Gebiete
sein, dem sich die lothringische Geschichtsforschung zunächst zuzuwenden
hätte. Für die Agrarverhältnisse im späteren Mittelalter bietet das
Bezirksarchiv mit seinen zahlreichen Klosterarchiven reichhaltige
Quellen dar *).
Am gesichertsten sind wohl die Resultate, die auf dem Gebiete
der politischen Geschichtschreibung des Herzogtums Lothringen durch
die neueste Forschung erzielt sind. Die enge Verbindung des Mittel-
reiches Lothringen im frühen Mittelalter mit den beiden Nachbar-
reichen bringt es mit sich, dafe diese Verhältnisse in den grofsen
französischen und deutschen Publikationen für diese Zeit auf das ein-
gehendste berücksichtigt sind. Es braucht von deutscher Seite nur
auf die Jahrbücher der deutschen Geschichte verwiesen zu wer-
den. Französischerseits kommen die Darstellungen von Parisot und
Nancy 1898. Aufserdem sei von früheren Arbeiten erwähnt: E. Michel, Biographie
du Parlement de Metz^ Met* 1852 und Histoire du Parlement de Metz.
i) S. Fitte, DcLS staatsrechtliche Verhältnis des Herzogtums Lothringen zum
Deutschen Reiche seit dem Jahre 1342, Beiträge zur Landes- nnd Volkskunde von Elsafs-
Lothringen, Heft 14. Strafsburg 1891 ; dazu: O. Winckelmann, Beiträge zur Ge-
schichte der staatsrechtlichen Beziehungen Lothringens zum Reich im 16, Jahrhundert^
Jahrbuch II nebst Nachtrag von Wolfram.
2) P. Darmstädter, Die Befreiung der Leibeigenen in Savoyen^ der Schweiz
und Lothringen^ Strafsbnrg 1897.
3) H. V. Sanerland, Die Immunität von Metz von ihren Anfängen bis zum
Ende des XL Jahrhunderts, MeU 1877.
4) Ad. Marcus, Les verreries du comte de Bitche, Nancy 1887. Nicht so syste-
matisch durchgeführt ist P. Weise, Beiträge zur Geschichte des rämischen Weinbaus
in Gallien und an der Mosel,
5) Es sei hier für das französische Gebiet auf den umfassenden Aufsatz von
A. Bergerot in den Annales TEst Bd. XIII, XIV, XV hingewiesen: L' Organisation et
le rigime intirieur de chapitre de Rhniremont du XIII au XVIII si^cle. Für das
deutsche Gebiet fehlen derartige Untersuchungen noch völlig.
— 41 —
Lauer in Betracht *), die beide an Zuverlässigkeit nichts zu wünschen
übiig lassen; bemerkt sei hier ausdrücklich, dafe die politische Geo-
graphie bei Parisot eingehend berücksichtigt wird. Für die Geschichte
des Herzogtums im Mittelalter bedarf es erst noch umfangreicher
Quellenpublikationen , von den herzoglichen Urkunden liegen bisher
nur die des Matthäus IL gesammelt vor ^). Dagegen hat die neuere
Geschichte des Herzogtums von französischer Seite eingehende Be-
handlung gefunden, es genügt hier d'Haussonville , Baumont, Robert,
Boyi und Kaufmann namentlich anzuführen *). Für die mit der po-
litischen Geschichte engverbundene Militärgeschichte kommt allein
Lepage *) in Betracht, doch sind die organisatorischen Fragen erneuerter
Untersuchungen bedürftig.
In ein ganz neues Stadium ist seit wenigen Jahrzehnten die
Durchforschung der Geschichte des Bistums Metz und der kleinen
Territorien getreten. Die Arbeiten Wichmanns, Voigts und Sauer-
lands geben zum ersten Male eingehende Darstellungen der Geschichte
einzelner Bischöfe, freilich — mit Ausnahme der ersten — wohl all.
zusehr in ihrer Beziehung zur politischen Entwickelung, und Sauer-
land nebst Chatelain suchen in ihren Forschungen den Ursprung der
weltlichen Macht des Bistums aufzuhellen *). Einen vielversprechenden
Anfang zur Territorialgeschichte der kleinen weltlichen Gebilde Lo-
i)Rob. Parisot, Le royaume de Lorraine sous les Carolingüns (843—923),
Vasu 1899 nnd Ph. Lauer, Le Regne de Louis IV. d* Outre-Mer^ Paris 1900. Selbst-
verständlich sind hier alle allgemeinen Darstellungen, vor allem anch Calmet, immer in
Betracht zu ziehen.
2) VgL Dentsche Geschichtsblätter Bd. III, Hef^ 5, S. 124, Anmerk. 2. — An
Etnzelnntersnchangen ist zu bemerken H. Witte, Genealogische Untersuchungen zur
Geschickte Lothringens und des Wesirich im Jahrbuch V und VII.
3) Hanssonville, le comte d', Histoire de la reunion de la Lorraitte ä la
Prtmce^ Paris 1854, 4 Bde. F. des Robert, Charles IV ei Mazarin 1647 — 166 1,
Naacj-Paris 1899. H* Kaufmann, Die Reunionskammer zu Metz, Jahrbuch XL
H. Baumont, £tuäes sur le rigne de Lhpold duc de Lorraine et de Bar 1697 — 1729,
Paris-Nancy 1894. P. Boy6, Stanislas Leszczynski et le troisüme traite de Vienne,
Paris 1898.
4) H. Lepage, Sur l' Organisation ei les instiiutions miliiaires de la Lorraine, Paris
1884. Hingewiesen sei noch auf J. Nollet-Fabert, La Lorraine militairef 2 Bde.,
Nancy 1852, Biographieen der aus den lothringischen Departements stammenden Militärs.
5) Wichmann, Adelöeri, Bischof v. Metz 926 — 962. Jahrbuch III. G. Voigt,
Bischof Bertram v, Metz 1 1 80 — 1 2 1 2. Jahrbuch IV u. V. Sauerland, Geschichte
des Metzer Bistums wahrend des 14, fahrhunderts» Jahrbuch VI u. VI. K. Wein-
mann, Bischof Georg von Baden und der Metzer Kapitelstreit. Jahrbuch VI. —
Saaerland, Die Immunität ^ vgl. S. 40, Anm. 3 und V. Chatelain, /> comti de
Metz et la vouerie ipiscopole du VIIL au XIII siecle, Jahrbuch X u. XlII.
— 42 —
thringens bilden die Untersuchungen von Besler, Ruppersberg, Cha-
telain und Lempfried *) , während sich der Fortschritt der Forschung"
für die zahkeichen bedeutenden Abteien des Landes nicht so günstig
stellt *). Die Untersuchungen , aus früherer Zeit , geben mehr bio-
g-raphische Notizen einzelner Äbte als ein Bild der selbständigen Ent-
wickelung dieser kirchlichen Gemeinwesen , suchen archäologische
Überreste in ihrer lokalen Bedeutung festzuhalten und an das Tages-
licht zu fördern, als ihre Stellung in der Gesamtentwickelung des Lan-
des darzulegen ^). In der französischen Zeit wandte sich die Vorliebe
der Lokalforscher oft der Geschichte einzelner Dörfer oder Ortschaften
zu, ohne jedoch das Material kritisch zu durchforschen. Ein zuver-
lässiger und sicherer Führer durch die Geschichte der Dörfer um
Metz bietet sich in der Arbeit Stünkels dar, die hoffentlich zu weiteren
Forschungen auf diesem Gebiete anregt *).
Eine besondere Stellung in der Historiographie Lothringens nimmt
die Geschichte von Metz ein. In ihr zeigt sich am deutlichsten der
Einflufs, den diese Stadt auf die Entwickelung des ganzen Landes
ausgeübt hat. Die beiden französischen Geschichtsforscher KlipflTel
und A. Prost haben die Grundlagen zu einer kritischen Geschichte der
Stadt gelegt *). Auf ihre Arbeiten werden alle Einzeluntersuchungen
auch in Zukunft zurückgreifen müssen, wenn durch Herausgabe der
Chroniken der Stadt diese Quellen zu ihrer Geschichte bis zur Ein-
verleibung in Frankreich kritisch gesichtet und untersucht sind *).
i) Besler, Geschichte des Schlosses ^ der Herrschaft und der Stadt Forbach,
Forbach 1895. Ruppersberg, Geschichte der ehemaligen Grafschaft Saarbrücken,
nach Fr. und Ad. Köllner neu bearbeitet and erweitert, 2 Bde., Saarbrücken 1899,
1901. V. Chatelain, Histoire du comte de Cr^hange, Jahrbach III, IV, V. H. L c m p -
fried, Beiträge zur Geschichte der Herrschaft Bitsch 1570— 1606. Jahrbach IV.
2) Urkondensammlungen besitzen wir von Gorze in: A. D*Herbome%, Cartalaire
de Vabbaye de Gorze, Paris 1898 (Fondation A. Prost), enthält jedoch keine kritische
Darchforschong alles Materials, also kein Urkandenbach. Über St. Amalf vgl. Wolfram,
Kritische Bemerkungen zu den Urkunden des Arnulf sklosters , Jahrbuch I and Müse-
beck, Die Benediktinerabtei St. Arnulf vor Metz in der ersten Hälfte des Mittel-
alters, Jahrbach XIII.
3) L. Stünkel, Ein geschichtlicher Streif zug in der Umgegend von Metz
(wissensch. Beilage zum Jahresbericht des L3rzeams zu Metz 1898).
4) H. Klipf fei, Les parnizes Messains, Etüde sur la republique messine du XIII
au XVI siicle, Metz-Paris 1863; ders. : Une episode de l' histoire de regime municipal
dans les villes romanes de l'empire germanique, 1866. A. Prost, Etudes sur l' histoire
de Metz, Paris 1865; ders.: Le patriciat dans la citi de Metz, Paris 1873; ders.:
Histoire de la cathidrale de Metz in M^moires de la soci^t6 d'arch6ologie et d'histoire
de la Moselle XVI ; d e r s. : Les institutions judiciaires dans la cite de Metz, Paris-Nancy 1893.
5) Vgl. S. 38, Anm. 2 die Arbeiten Wolframs; ders.: Z>ie älteste Kathedrale tu
— 43 —
Zum Schlufs sei noch für genealogische Forschungen neben
Siebmacher auf die zahbreichen französischen Arbeiten des vorigen
Jahrhunderts und die neuen trefflichen Untersuchungen von Poirier
hingewiesen *).
t^eform des geistliehen Standes naeh
der sogen. (Reformation des Kaisers SiQ^
mund im Iiiehte gleiehzeitiger t^eformpläne
Von
Heinrich Werner (Merzig)
(Schlafs) ^)
Zum Vergleich seien andere Vorschläge zur Regelung des Ein-
kommens der Geistlichkeit herangezogen.
In den Reformanträgen der deutschen Nation ^) wird durch den
Vikar von Freising die Abschaffung der vacanciae, die zum Vorteile
der Kurie bestehen, gefordert. Papst und Kardinäle sollen entschädigt
werden, und zwar sollen einige in dieser Sache erfahrene Deputierte
untersuchen, si patrtmonia beati Petri eisdem pro sut status
decencta ad huiusmodt onera supportanda sufficiat. Sin autem,
provideatur eis per regna et provincias christianitatis. Inwieweit
diesem Antrag Rechnung getragen wurde, wissen wir nicht, aber so viel
scheint zuzutreffen, dafe die Vertreter der deutschen Nation auch später
die Einnahmen aus dem Patrimonium Petri für ausreichend für Papst
und Kardinäle hielten; denn von einem Ersatz dafür durch reiche
und Provinzen sah man ab. Für unsere Schrift aber hat dieser
MetZy Jahrbach IV a. Nene Untersnchungen über das Alter der Reiterstatuette Karls des
Grolsen, Jahrbach in. E. Kleinwächter, Der Metzer Reformaiionsversuch 1542 j 43.
Teil L Marborg 1894. O. Winckelmann, Der Anteil der deutschen Protestanten
an den kirchlichen Reformbestrebungen in Metz bts J543. Jahrbuch IX.
i) A. Pelletier, Nobiliaire ou Armorial giniral de la Lorraine et du Barrois
1758. H. Lepage et L. Germaine, Complement au nohilaire de Lorraine^
NaocjT 1885. J. Cayon, Ancienne chevalerie de Lorraine^ Nancy 1850. C. Lapais,
Armorial des villes^ hourgs et villages de la Lorraine^ Nancy 1877. C. de Paradis,
N«bilaire de Latraine et Barrois^ Nancy 1878. J. Aleide Georgel, Armorial des
famtäles de Lorraine, Elbcrf. 1887. — J» f« Poirier, Metz, Documents g^nSalogiques
d'apres les rlgistres des fanoisses 1561 — 1792, Paris 1899. Für Münzkunde vgl.
F. de Saalcy, Recherches sur les monnaies des ducs hiriditaires de Lorraine, Metz 1841.
2) Vgl. S. I — 14.
3) Hallcr I, S. I95flf.
— 44 —
Antrag, der auf Beschränkung des päpstlichen Einkommens auf die
Einnahmen aus dem Patrimonium Petri abzielt, einen grofsen Wert,
denn imser Verfasser mit seinem scheinbar sonderbaren Antrag ist
jetzt nur eine Stimme der Vertreter der deutschen Nation. Die Ur-
kunde, die ihm für die genannte Forderung vorlag, hat er von einem
Magister der auf dem Baseler Konzil vertretenen deutschen Nation er-
halten, sie verdeutscht und in seinem Sinne erläutert. Ebenso soll das
Einkommen der Kardinäle behandelt werden. Sie sollen nämlich, wie
der Antrag der deutschen Nation lautet, an den gemeinsamen fruchten
der apostolischen kammer, also an den Einnahmen aus dem Patri-
monium Petri, teilhaben, 3 — ^4000 Gulden ein jeder jährlich (S. 197).
Charakteristisch ist eine andere Forderung in der Denkschrift eines
Ungenannten (Ebenda S. 208). Der Papst habe mit der Verwaltung und
Verteidigung weltlicher Dinge nichts zu tun. Es sollen deshalb Papst
und Kardinäle zwölf Männer wählen, die sich zum Regieren eignen —
also Laien, diese sollen einen Senat bilden, der ein festes Gehalt be-
zieht und alle weltlichen Geschäfte an der Kurie ordnet. Die Ein-
künfte des Papstes und der Kardinäle sollen aus dem Ertrag des
Patrimonium Petri durch zwei Schatzmeister, von denen einer vom
Papst, der zweite von dem Kardinalskollegium gewählt ist, geregelt
werden, so dafs der Papst monatlich 1000 Dukaten erhält. Der Über-
schufs aus den Einnahmen soll an die genannten Senatoren, Legaten
und Schatzmeister verteilt oder zur Verteidigung der Kirche im Kriege
angewandt werden. Dieser Senat soll auch die weltliche Kriegführung
der Päpste überwachen, insofern diese nur unter Zustimmung der Mehr-
heit der Kardinäle und Senatoren Krieg führen dürfen.
Auch jeder Kardinal soll ein bestimmtes Gehalt bekommen und
zwar im ganzen 4000 Dukaten jährlich. Davon sind zu verwenden
für ein Pferd 30 Dukaten, 1000 für Geschenke und Almosen, 70 für
jede Person seiner familia. Der Verfasser dieses Dokuments scheint
auch ein Laie zu sein, was neben der scharfen Scheidung des Geist-
lichen vom Weltlichen aus seiner lebhaften Klage über die deformitates
der Kirche ersichtlich wird. Diese scheinen nach ihm in clero non
sine gravi scandalo populi christiani insorduisse (S. 206).
Charakteristisch und übereinstimmend mit unserem Verfasser ist
hier wieder die Forderung eines fixen Einkommens der geistlichen
Würdenträger und namentlich der Vorschlag, das Weltliche vom Geist-
lichen zu scheiden. Es war eben durch die mittelalterliche Ver-
quickung von geistlichem Amt und territorialer Gewalt das erstere
unter dem Vorwiegen der letzteren ganz verkümmert auf Kosten der
— 45 —
weltlichen Laien. So rufen denn diese am lautesten nach Trennung* des
Geistlichen vom Weltlichen.
Unter den ausgedehnten Vorschlägen des Andreas von Escabor
finden sich auch mehrere über das Einkommen der kirchlichen Würden-
träger. So soll ein Drittel der Einkünfte aus der päpstlichen Kammer
dem Papste, ein Drittel den Kardinälen und ein Drittel der Verwaltung
und Verteidigung der Kircbenländer zugewiesen werden (S. 217). Ab-
gaben, wie Zehnten vom Klerus zu erheben, sei es durch Geistliche
oder durch Weltliche, mufe verboten sein, ebenso sollen alle Sportein
für Sieg^el, Bestätigung, Weihen und andere servitia in der ganzen
Kirche wegfallen. Es sei Simonie (S. 218), für die Übertragung von
Bene&zien und die Verwaltung der Sakramente Geld zu fordern, selbst
wenn es sich der Papst erlaube. Diese Forderungen sind um so auf-
fallender, als der Autor derselben damals (1435/36) in Abhängigkeit
von der Kurie lebte und selbst seinen Anteil hatte an dem Milsbrauch,
den er rügt '). Seine Beschäftigung in der päpstlichen Kanzlei be-
&higt ihn zu ähnlichen praktischen und ausführlichen Vorschlägen auf
diesem Gebiete wie das Stadtschreiberamt unseren Verfasser. So soll
für Briefe über Benefizienverleihung nicht mehr als ein Dukat genommen
werden, ebenso sollen die Abbreviatoren , Registratoren und BuUa-
toren für andere Dokumente nicht mehr als einen halben Kammer-
gulden erhalten. Alle Kanzleibeamten und Pönitentiare sollen
nicht verheiratete Laien, sondern nur Kleriker mit den
niederen Weihen sein, ne laut sciant secreta virorum ecclesiastu
corum •). Die Taxen der Pönitentiare sollen ermäfsigt werden , die
minores poenitentiarii überhaupt nichts erhalten aufser ihrem festen
Gehalt von der apostolischen Kammer. Das Mindesteinkommen eines
Bischoüs wird auf über 300 Kammergulden festgesetzt; das schliefsen
wir aus der Forderung, dafs eine Bischofskirche, die nicht mehr als
300 Kammergulden jährlich abwirft, mit einer anderen vereinigt werden
soll (S. 223).
Ebenso soll sich die Zahl der Kanoniker , Benefiziaten und
Mönche nach dem Mals der Einkünfte des einzelnen Instituts richten.
Wenn aber die Zahl durch Könige oder Päpste festgelegt ist, so
I) Vgl. Hall er I, S. 114.
%) VgL nnseren Verftsscr, der ebenfalls für die Pönitentiare fordert, dafs sie keine
Laien, sondern Priester sein sollen (S. 174 f. )> aii<i ^^ai* ^^^^ ^\^^^ Begründang. Dafs
Wiscr Verfasser hier die Scheidung des Weltlichen vom Geistlichen anerkennt auch lu
gonsten der GetsÜichen, ist ein Beweis, dafs ihm dieser Antrag bei Abfassung seiner
Sduift Torlag. Die Begründung des Antrags konnte er als Laie freilich nicht mitmachen.
— 46 —
soll der Ordinarius die Präbende danach einrichten und die richtig-e
Zahl herstellen (S. 224), doch je eine Person soll nur eine Präbende haben.
Auch für das Einkommen eines Pfarrers ist ihm die Höhe des
Ertrags einer Pfarrkirche mafsg-ebend, und er stellt je nach dem Mafse
dieses Ertrages wissenschaftliche Anforderungen. Die Mendikanten haben
kein Eigentum und dürfen auch nichts für die Feier von Anniversarien
nehmen. Alle Güter der Klöster sollen in gleicher Weise dem Oberen
wie den Mitgliedern gemeinsam sein ; einige Klöster haben absichtlich
nur wenige Insassen, damit der Abt die Klostergüter für sich allein
verschlemmen kann : hier mufs die Zahl der Mönche entsprechend den
Einnahmen vermehrt werden. Der Abt aber soll viermal soviel
haben als ein Ordensbruder. Das Kloster, das looo Goldgulden Ein-
künfte hat, mufs einen Lehrer in der Grammatik und in dem Studium
Generale haben und so mit jedem Tausend Einkommen mehr einen
Lehrer mehr. Zehenten und primittae sind von den Laien an die
Kirchen zu zahlen, aber kein Fürst, keine Gemeinde darf eine Abgabe
von einem Kleriker fordern. Überhaupt sollen die Laien von der Unter-
jochung des Klerus, wie sie in dieser Zeit bestehe, zurückgebracht
werden (S. 229 ff.). Wir sehen hier überall die Hand des Klerikers
und zwar des gelehrten Klerikers, der seinen Stand geschützt, von
den Laien unterhalten und bei reichen Einkünften einer Kirche oder
eines Klosters vermehrt und mit Wissenschaft reichlicher versehen
haben will, ja, der zu einer Abwehr gegen das Vordringen des Laien-
elements namentlich in den Bürgergemeinden *) der Städte den Klerus
aufruft. Gewifs tief einschneidend in das wirtschaftliche Leben der
Städte wäre die Durchführung der Forderung gewesen : keine Gemeinde
darf eine Abgabe von einem Kleriker verlangen, wenn man sich des
lebhaften Kampfes der Städter gegenüber der Pfaffheit in bezug auf
das Weinungeid u. a. erinnert.
Wie ganz anders unser Verfeisser! Er fordert überall reinliche
Scheidung des geistlichen Amtes von den weltlichen Geschäften, Ab-
lösung sämtlicher Abgaben an Kirchen und Klöster, Vermindenmg
der Mönche und Kanoniker und bessere Ausnutzung des gelehrten
Standes in einem dem städtebürgerlichen Laien praktischer erscheinenden
Berufe , in der Seelsorge des Pfarrers *). Und trotzdem finden sich
i) Die Städte suchten namentlich in dieser Zeit die auf weltliche Streitsachen aas-
gedehnte Gerichtsbarkeit der Gei^ichen durch Verbesserung der eigenen Rechtspflege ru
beschränken. Vgl. Joachimsohn, Gregor Heimburg (1891), S. 15.
2) Wie wichtig ihm diese ist, geht ans dem überschwenglichen Lob auf die Pfarr-
kirche und die sieben Sakramente hervor.
— 47 —
\icle Berührungspunkte zwischen beiden Reform entwürfen. Unser Ver-
fiasser stimmt mit dem vorliegenden überein in der Dreiteilung der Ein-
künfte der apostolischen Kammer, in der Abschaffung der indirekten
Einnahmen aus der Amtsausübung der Geistlichen. Ebenso begegnen
sieb beide in der Forderung für das Kanzleiwesen und Herabsetzung
der Taxen für Vollzug von Papieren, und in ihren Wünschen bezüg-
lich der Pönitentiare stimmen sie sogar vollkommen überein. Auch
Bischöfe, Äbte, Mönche und Pfarrer sollen ihr fixes Einkommen aus
dem Ertrag des Kirchengutes geniefeen, ihre Zahl sei genau danach zu be-
stimmen, wenn auch von ganz verschiedenem Standpunkte, aber um
so charakteristischer für die Persönlichkeit beider Autoren: während
Andreas von Escabor den Fall der zu geringen Anzahl von Mönchen
in einem Kloster von dem Gesichtspunkte eines Klerikers besonders
ins Auge fafst, berücksichtigt unser Verfasser mit dem praktischen
Blick eines Laien nur die Überfüllung der damaligen Klöster, die er
nahezu auf den Aussterbeetat setzt.
Von dem Studium der Mönche bei einem bestimmten hohen Ein-
kommen eines Klosters weifs unser Verfasser nichts, im Gegenteil
scheint er gerade dagegen Stellung zu nehmen, wenn er es den Frauen
in den Klöstern in echt humanistischem Geiste zugesprochen wissen
will *) , sie mögen besser studieren denn die männer. Aber beide
stimmen noch überein in der Forderung für die Kanoniker, dafs jeder
mcht mehr als eine Pfründe haben soll. Kurzum die Übereinstimmung
unseres Verfassers mit den vorliegenden Entwürfen ist so mannigfach
und so auffallend, namentlich die der Dreiteilung des Einkommens
des Papstes und der Kardinäle, dafs eine Beziehung zwischen beiden
Reformplänen bestehen mufs. Jedenfalls hat unser Verfasser in den ge-
nannten Forderungen Vorlagen gehabt und zwar entweder direkt die Ar-
beiten des Andreas von Escabor, denen gegenüber er allerdings als Laie
in seinen Erläuterungen einen anderen Standpunkt einnimmt *) oder es
ist eine Vorlage anzunehmen, die aus dem Kreise jener Reformer, des
sogen, zweiten status nämlich, gegen die Ausführungen des Andreas
von Escabor polemisiert. Schon rem äufserlich haben beide Verfasser
den geistlichen imd den weltlichen Stand in den Bereich ihrer Ver-
besserungspläne gezogen, ohne dals jedoch unser Verfasser dem Schema
des anderen, nach den sieben Gaben des heUigen Geistes seine Forde-
1) Vgl Boebm, S. 203.
2) Eine saubere Scheidung zwischen den zu gründe gelegten Entwürfen und den
Eriisterungen des Verfassers wird sich wegen der Übersetzung ersterer ja nie bewerk-
stelligen lassen können.
— 48 —
ningen aufzustellen, gefolgt wäre. Genug ist, dafs die Reform-
versuche unseres Verfassers unbedingt eine Vorlage be-
sitzen, dafs sie gar nichts Isoliertes an sich haben, sondern
in einem breiten Strom von Reformanschauungen ihren
Platz finden und nur teilweise eine besondere Färbung
und Wendungen zeigen, die von der Persönlichkeit des
Verfassers als eines Laien und Stadtschreibers herrühren.
Sehen wir nun noch, welche Klagen unser Verfasser über die
Mifsbräuche bei Amtshandlungen vorbringt und welche Reformen er
zu deren Abstellung eingeführt wissen will.
Die Bischöfe sollen überall Frieden machen ^), wenn es Papst und
Kardinäle nicht tun, aber sie führen lieber selbst Krieg (Ebenda S. 1 8 1 u. 1 78).
Weit entfernt, den übrigen Klerikern ein Vorbild zu sein, leben sie im
Konkubinat und bannen sogar noch ihre Priester wegen Konkubinen
(S. 181 u. 187). Sie dürfen kein Schlofs oder Feste haben, dagegen
mufs ihnen die Residenzpflicht wieder eingeschärft werden.
Ein Bischof soll auch ein Gefängnis für einen fehlenden Priester
besitzen, den er auch mit zeitweiliger oder dauernder Entziehung seiner
Pfründen bestrafen kann. Jeder Bischof soll jährlich eine Synode halten
und die Gesetze und Ordnung derPfafTheit vorlesen und fragen, ob jemand
dagegen gefehlt hat und ob ein Priester von einem Herrn, Adeligen
oder sonstwie geschädigt worden ist. Im gegebenen Falle soll er diese
bannen und schätzen nach der Schwere des Vergehens. Auch soll
er alle Dechanten fragen, wie es in der Kirche stehe und um die
sieben Sakramente, und er soll der Pfaffheit verbieten, jemandem das
Sakrament (Abendmahl) vorzuenthalten. Mit dieser letzten Forderung
ist die prinzipielle Frage der Voienthaltung des Abendmahls zu gunsten
der Laien entschieden. Gewifs auch ein Hinweis auf die Persönlichkeit
unseres Verfassers.
In allen Bistümern sollen die statuta die gleichen sein und zwar
die vom Baseler Konzil angenommenen *). Jedes Jahr soll der Bischof
seine Kirchen visitieren ^) und dabei Streitigkeiten zwischen Pfarrern
und Kirchen beilegen. Nur für den Fall der Erkrankung oder des
hohen Alters soll ein Weihbischof ihn vertreten, sonst soll der Bischof
seine officia selbst tun.
Den Klöstern, die das Begräbnis an sich gerissen haben, ist es
völlig zu entziehen; denn es ist unnötig (S. 189). Man soll die Un-
i) Vgl. Monumenta Concilorum XV. saeculi, 3, 527.
2) Vgl. Monumenta Conciliorum XV. saeculi, 3, 525 flf.
3) Ebenda 3, 526.
— 49 —
kosten den Verwandten ersparen; darüber freue sich die Seele mehr
als durch ein Begräbnis. Diese Forderung- ist schroff gfenug, um den
Verfasser als Laien zu kennzeichnen. Höchstens darf man 2mstatt
emer Begräbnisfeier ein Geschenk an die Kirche geben in Gestalt
eines Altartuches oder eines Kleides zu Mefsgewändem oder ron
Wachs (S. 190) und Opfergaben in Naturalien, aber Geld muis aus-
geschlossen sein.
Das Auftreten der Domherren ist weltlich. Wie Laien gehen
sie in weiisen Schuhen, in Kleidern von Marderfellen (S. 191). Von
Allerheiligen bis Ostern sollen sie die langen schwarten Kutten tragen,
zu referendal essen tmd auf dem Dormitorium schlafen. Es herrscht
heute ein besonderes J^en nach Domhermpfründen: sobald einer
Meister (= magister) wird, will er sich eine solche erwerben. Wenn
man aber die damit verknüpften Verpflichtungen wüfste und sie selbst
befolgen mülste, so würde man nicht so sehr nach einer Pfründe ver-
langen. Aber die Domherren halten sich jetzt Kapläne, die für sie
singen und lesen, während sie selbst bei Wein und Spielbrett müfsig
gehen. Sie haben ihren Namen Kanoniker ab horis canonicis: diese
sollen sie selbst singen und lesen und nicht ihre Verweser (S. 192
»- 193).
Grofse Klagen sind gegen die Johanniter und deutsche Ordens-
heiren verbrieft. Sie werden beide zur erde gestoßen, darum ist
eine Neuordnung derselben nicht nötig (S. 196).
Die Benediktiner und Bernhardiner üben wider ihr Recht Pfarr-
gottesdienst aus, sind so weltlich wie die Laien, mit denen man sie
bei Spiel und Gesellschaft findet (S. 197). Sie soll man zur festen
Klausur zwing^en, und nur zum Besuche todkranker Eltern sollen sie
Urlaub erhalten. Der Abt soll im Konvent essen, auiser wenn ihn
Krankheit daran hindert. Die Kleidungsstücke sollen allen gemein-
sam sein.
Die Bettelmönche dürfen weder Beichte hören noch predigen
{S. 202): für sie sollen die Terminier betteln, die Laienbrüder sein müssen.
Die Domklosterfrauen wie zu Lindau und St. Stephan (Wien ?) sind
halb weltlich, halb geistlich. Sie gehen tanzen und nehmen Männer
und singen und lesen auch wieder in der Kirche. Man sagt, sie seien
der edlen sfntaL Sie erben allermeist dieselben kloster/rauen,
(S. 204.)
Die Beghinen und NoUharten wollen die dritte Regel des heiligen
Franziskus befolgen (S. 205), sie tragen aber den Stadtklatsch um,
treiben Kuppelei (S. 207) und Aberglauben mit Kerzenlöschen , tun
4
— 50 —
Wunder und geben Ablafe. Entweder soll man ihre Vereinigimg-en
aufheben oder sie in strenge Klausur einschlielsen , damit sie durch
Hilfeleistung auf dem Krankenbett ihr Almosen verdienen. Der
Messner soll morgens tmd abends drei Zeichen auf der Pfarrkirche
geben so lange, da(s man fünf Vaterunser und fünf Ave Maria beten
kann.
Hören wir nun noch das Wesentliche hierüber aus den Vorschlägen
des Andreas von Escabor.
Auch hier wird den Bischöfen klerikales Auftreten, persönliche
und jährliche Visitation ihrer Kirchen und die Residenzpflicht
eingeschärft*). Ihre Erfahrungen von der jährlichen Diözesan -
synode sollen sie auf der alle drei Jahre wiederkehrenden Provinzial-
synode vorbringen. Die Mendikanten dürfen nicht Beichthören oder
sonstige pfarramtliche Funktionen ausüben, es sei denn mit Erlaubnis
der Kuraten. Es sollen vom KonzU (zu Basel) wiederrufen werden die-
jenigen Religiösen beiderlei Geschlechts (S. 226), die Bigwarden oder
Beghinen, die keine von der Kirche approbierten Regeln haben. Sie
sollen gezwungen werden, sich einer bestehenden Ordensregel zu unter-
werfen oder ihre Wohnplätze zu verlassen, ihre Tracht abzulegen, zur
Welt zurückzukehren, zu arbeiten und nicht weiter zu betteln, damit
nicht so viel müfeiges Volk in der Kirche gefunden wird, das von
fremder Arbeit und Almosen lebt unter dem Schein der Frömmigkeit.
Die mobilia bona sollen zwischen Abt und Frieren nicht getrennt
sein, denn dies widerspricht der Ordensregel.
In dem Angeführten finden sich wieder manche Berührungspunkte
zwischen beiden Reformversuchen, namentlich bei den Forderungen
über die Beghinen. Es ist offenbar, dafs unserem Verfasser hier wieder
Anträge vorlagen, die im Sinne des Andreas von Escabor verfafet
waren, wenn nicht diese selbst in freier Weise verdeutscht und er-
läutert sind. Aber durch den Vergleich unserer Schrift mit diesem
einen Reformentwurf lassen sich noch nicht alle Klagen und Forde-
rungen unseres Verfassers decken, wir müssen vielmehr noch eine
andere Quelle hinzuziehen, und das sind die Beschlüsse der Provinzial-
und Diözesansynoden aus damaliger Zeit ^). Es erhält dadurch
i) Haller, S. 220.
2) Hier eröffnet sich dem L o k alf o rs c h e r ein weites Feld dankbarer Arbeit. Vor allem
wäre eine, modernen Anforderungen entsprechende Veröffentlichung der Diözesan-, Dekanats-
u. a. Statuten des XV. und XVL Jahrhunderts sehr wünschenswert. Daraus würden sich
sehr wichtige Ergebnisse nicht nur fUr die Kirchengeschichte, sondern auch für die Kultur-
geschichte im Allgemeinen ableiten lassen. So würde aus den Beschlüssen der Partikular-
konzilien ein interessanter Einblick ermöglicht werden, wie das Laienelement aUmählig^
— 51 —
die Stimme unseres Verfassers gleichsam einen breiteren Resonanzboden
nnd die lokalen Töne in der Schrift werden erkennbarer.
Schon die genehmigten Beschlüsse des Generalkonzils zu Basel,
die erst von der 12. Sitzimg ab für die Reform des geistlichen Standes
wichtig' und von Einiiuls auf die darauf in Deutschland gehaltenen
Provinzial- und Diözesankonzilien waren, namentlich die in Gegenwart
des Kaisers Sigmund *) gefafsten, klingen deutlich an die Forderungen
unseres Verfassers an, ja decken sich oft völlig.
Es soll danach jährlich in der Osterwoche eine Diözesansynode
vom Bischof abgehalten werden, Ermahnung über Kirchenzucht, Vor-
lesung der Statuten, Unterricht über Verwaltung der Sakramente und
amtliche Verrichtungen, Untersuchung über eingeschlichene Mife-
brauche und Vergehen der Geistlichen sollen hier Gegenstände des
Konzils sein. Allerdreijahre soll aber ein ProvinzialkonzU stattfinden.
Diese Beschlüsse sollen in den Provinzial- und Diözesankonzilien *)
wiederkehren, weU sie in die Akzeptationsurkunde von 1439 auf-
genommen wurden, wenn auch mit einigen Änderungen. Aber gerade
diese Änderungen, die durch die lokalen Unterschiede veranlafst sind,
interessieren uns am meisten. Sie führen uns durch ihre mannigfachen
Einzelheiten auch in die unserer Schrift tiefer ein.
So wissen wir von einer Salzburger Synode aus dem Jahre 1420,
deren Statuten unter heftigen Klagen*) Konkubinat, Jagd, Fechten,
Turnen und Tanzen, Würfel- und Kegelspiel der Kleriker verbieten;
ebenso wird die Simonie, für Spendung von Sakramenten und Sakra-
mentalien Geld zu fordern, verurteilt. Auch soll die Absolvierung von
vorbehaltenen Fällen nicht feü geboten *) und so durch Geldzahlungen
erpreist werden. Unser Verfasser wül deshalb die aus dieser Ver-
weigerung der Absolution häufig gefolgerte Vorenthaltung des Abend-
20 die VerwaltoDg der Kirchengüter einzudringen sacht, sowie über AnsäUe, derartige
Refonnideen zu Terwirklichen. Der Heraasgeber dieser Zeitschrift hat mich bereits güügst
anf einen eigenen Fond aafinerksam gemacht, nämlich den Versach, eine Kirchenfabrik
im Anfang des XYL Jahrhunderts (1532) in Monreal (Diözese Trier) aaf Kosten der Vikariats-
p€rtDden zn gründen (Übersicht über den Inhalt der kleineren Archive der Rheinprovinz
2. Bd., S. 82, Nr. 13.). Ohne Zweifel sind derartige Versnche anch ander-
wärts gemacht worden und namentlich den Archivaren bekannt
f) Unsere Schrift geht ja anter diesem Namen in die Öffentlichkeit.
2) Das behauptet Binterim, dem ich in meinen Mitteilungen folge, in seiner Prctg-
tmatücken Gesch, der deutschen National- ^ Provinztal- und Diözesankonzilien vom IV,
bis XVI. Jahrhundert, (1848), S. 210 ff.
3) Ebenso die Speyerer Synode, ebenda S. 319.
4) Ebenda S. 419 &•
4*
— 52 —
mahls vom Standpunkte des Laien abgeschaflfl wissen. Für Anfertigung^
von Formatbriefen ist höchstens ein Turoner für Schrift und Siegel
zu nehmen. Auf dem Provinzialkonzil zu Trier von 1423 wird ebenso
scharf gegen Konkubinat, weltliche Tracht und Betragen der Geistlichen
vorgegangen, namentlich aber über die Almosensammler weitläufige
und unserer Schrift ähnliche Klage geführt. Viele derselben betrögen
die Armen auf listige Weise, indem sie Ablässe versprächen, Strafe
androhten im Namen der Heiligen und von Gelübden dispensierten.
Es soll deshalb kein Laie als Almosensammler angestellt werden, auch
soll gegen solche vorgegangen werden, die gute und löbliche Bräuche
abschaßen wollen, wie es z. B. Bürgermeister, Gemeinde und Zünfte
jetzt tun bei Begräbnissen und Anniversarien (S. 460).
Wir finden also hier von klerikaler Seite deutlich eine Ablehnung-
der in den Städten damals herrschenden und deshalb auch von unserem
Verfasser vertretenen Ansicht über Begräbnis, Anniversarien und über
die damit verknüpften Gebräuche.
Das Provinzialkonzil zu Bamberg von 145 1 (S. 247) sucht Mifsstände
abzuschaffen, die sicher schon 20 Jahre früher eingerissen waren. Be-
sonders werden hier wie auch auf dem Provinzialkonzil zu Mainz (S. 284 f.)
die Grenzen der Amtstätigkeit zwischen Pfarrern und Mendikanten von
neuem festgelegt. Dabei wird lebhaft über letztere geklagt, dafe sie,
gestützt auf päpstliche Privilegien, ohne bischöfliche Befugnisse mit
Vorliebe , pfarramtliche Funktionen ausübten. Die energische Forde-
rung unseres Verfassers *), keinen kirchlichen Würdenträger aus einem
Orden zu wählen wegen des daraus entstehenden Privilegierens , ist
nichts anderes als der Widerhall dieser in vielen Diözesen verbreiteten
Erregung. Auch die weitere Schilderung des Treibens von falschen
Religiösen und Bruderschaften von Laien *) beiderlei Geschlechts , die
husitische Irrlehren verbreiteten, versetzt uns lebhaft in das MUieu, aus
dem auch unser Verfasser seine Ausfalle gegen das Winklertum und
die Befürchtung schöpft, es möchte in den Städten der Irrglaube sich
immer weiter ausdehnen *). Es wird z. B. auf der Konstanzer Synode den
Gläubigen verboten, starke arbeitsfähige Lullarden, die anstatt von
Handarbeit von Almosen leben wollen, mit diesem zu unterstützen.
Die Landdechanten werden angewiesen, das Tragen von Skapulieren
der Mitglieder des sogen, dritten Ordens durch Laienpersonen zu ver-
i) Vgl. oben S. 4 bei der Reform über die Wahl.
2) Vgl. S. 304 u. 313.
3) Vgl. oben S. 8.
— 53 —
bieten , weil sie verheiratet sind , in der Welt bleiben und dadurch
grolses Ärgernis err^en (S. 313) ^).
Aus alledem ergibt sich folgendes: Wir müssen die Worte des
Verfassers der ReformatioA Kaiser Sigmunds zu Recht bestehen lassen,
als sei seine Schrift als Übersetzung und Erläuterung von Reform-
antnigen „hoher Weiser und Magister*' anzusehen. Wie weit nun
des Verfassers Übersetzung und Kunst des Übersetzens reicht — sp
sehr auch im Humanistenkreis zu Augsburg diese geübt wtirde ^) — ,
können wir nicht absolut feststellen, solange wir nicht die Fassuqg
kennen, die ihr bestimmt als Vorlage gedient hat. So müssen wir
bis jetzt auf einen Vergleich von Wort zu Wort mit der Vorlage
verzichten und uns mit dem Hinweis auf die Übereinstimmung von
Inhalt zu Inhalt begnügen. Da ergibt sich denn, dafs der Verfasser
die in der Gegenwart des Kaisers Sigmund zu Basel gefafsten General-
bescblüsse, die Anträge der deutschen Nation (nach Haller) und den
Reformentwurf des Andreas von Escabor unbedingt gekannt und be-
nutzt hat, letztere positiv und negativ. Neben diesen groisen Zügen
der Reform über Wahl, Qualifikation und Einkommen der Kleriker,
die wir aus der Konzilsarbeit wieder erkannten, treten uns auch noch
kleinere, aber deshalb nicht minder wichtige entgegen von teils lokaler,
teils persönlicher Färbung. Wir konnten hier auf den Gleichlaut von
Klagen und Forderungen über die Amtshandlungen der Kleriker auf
den Proviozial- und Diözesankonzilien jener Zeit hinweisen. Also auch
in diesem Punkte sind Unterlagen für unsere Schrift von Männern zu
konstatieren, die an der Reformarbeit beteiligt gewesen und wohl die
Gelehrten aus einer Bischofs- und Universitätsstadt') sind, von denen
CT auch die übrigen Anträge erhalten hat. Die auf diese Unterlagen
basierten Forderungen haben denn auch nichts Vereinzeltes, Radikales
mehr, wie oft behauptet wurde, sondern gehören zu den in den General-
i) Und viele andere Synoden (namentlich die von Aagsbnrg), von deren Beschlüsse
Bioterim leider nur die Kapitalüberschriften mitteUt
2) Joachimsohn, Humanistische Gtschichtschreibung (1895), S. 14 a. 18. Die
Uteimacbeo SteUen, die er mit in seine Schrift genommen hat, sind zum Teil schlecht
fibcTMlxt, ein Beweis für die Halbbildung des Verfassers. Vgl. Anhang S. 88 Anm. 2.
3) Es scheint mir, als ob es Magister der Wiener Universität seien. Der grofse
Einflids der Magister einer hohen schule auf die Verleihung der Pfarrstellen und die
kbhafte Schildemsg der Domherren, die von der „hohen Schule'* kommen, legen das
Bibe. Die ErwShniing der Domfraoklöster zu St. Stephan scheint auf Wien zu fUhren, zu-
mal von dort der Verfasser Valentin Eber Papiere fUr den Humanistenkreis in Augsburg
besorgte. VgL Joachimsohn, Humanistische Geschichtschreibung, S. iS.
— 54 —
und Partikularkonzilien verdichteten Stimmen. Wir haben im Gegen-
teil g-esehen, dafs manche parallele Forderungen, namentlich die des
Andreas von Escabor, die Haller *) als die extremsten bezeichnet, viel
weiter gehen.
Bei weitem aber den gröfsten Teil unserer Schrift nehmen un-
streitig die Elrläuterungen des Verfassers ein. Sie sind für die Be-
urteilung des Laienstandes der Reichstädte in betreff seiner Anschauungen
über Reform des geistlichen Standes höchst wichtig und charakteristisch.
Hier wird in dem mutigen Ton eines Städtebürgers, und sagen wir,
eines ihrer wichtigsten Vertreters, des Stadtschreibers, gesprochen, der
in der freimachenden Luft der mittelalterlichen Stadt zur Selbsthilfe
geschult ist Und wohltuend wirkt der freie Geist, der in den Reform-
anträgen gegenüber den in ausgetretenen Bahnen wandelnden Zunft-
gelehrten zu Worte kommt. Er bringt es allein zu neuen Gedanken,
die aber nur insofern neu wirken, als sie von dem weltlich-städtischen
Gebiete auf das kirchlich-feudale übertragen sind. So sind die Sätze
von der peinlichen und reinlichen Scheidung des Geistlichen vom Welt-
lichen, vom Heimfall des Reichsguts und von damit verknüpftem Ver-
lust des weltlichen Fürstenamtes der geistlichen Herren, von der Ab*
wehr gegen die Vermönchung *) des kirchlichen Amtes und Besitzes,
von der Ablösung der Gerechtigkeit und Aufhebung der Leibeigen-
schaft *) zum Teil erst in neuerer Zeit verwirklicht, haben aber durch-
aus etwas vom Erdgeruch der freimachenden Stadtorganisation des
Mittelalters an sich. Das Stadtbürgertum ist eben vorbildlich geworden
für das moderne Staatsbürgertum. Seine Forderungen sind aber auch
nicht radikal, revolutionär, sondern sehr konservativ. So soll die
Säkularisation des von der Kirche besessenen Reichsgutes wieder an das
Reich zurückfallen. In der Kirche sind Papst und Kardinäle die Quelle
des Rechts, Papst, Bischöfe und Pfarrer die Säulen der Hierarchie.
Wenn der Verfasser sich auch zu dem Satze bekennt, dais das
allgemeine Konzil recht eigentlich die Kirche bilde ^) , so zeigt er
damit nur, wie populär diese von Konrad von Gelnhausen noch vor
Heinrich von Langenstein ausgesprochene konziliare Idee damals
schon war.
i) A. a. o. II, S. 114.
2) Wie die mönchische EinseUoDg des Zölibats der Verfasser als Humanist bekämpft,
vgl. Histor. Vierteljahrschr. 5. Bd., S. 471.
3) Vgl. ebenda S. 485 f.
4) Vgl. B o e h m Cap. : Wie es aufgestanden ist^ dass goii will einen anderen stand
und Ordnung,
— 55 —
Aber der Verfasser vertritt diese Ideen nicht für sich allein, sie
sind auch ein Produkt seiner Umgebung', und aus jenen lernen wir auch
diese kennen. Wir finden sie wieder in dem Augsburger Humanisten-
kreis der erst jung erstehenden Laienbildung. Aus diesem Kreis ist
unsere Schrift ein kräftiges Wort, so da(s wir Andreas von Escabor
verstehen, wenn er zur Abwehr gegen das Laienelement den Klerus
aufnift »).
Schon auf dem Baseler Konzil werden schliefslich Laienstimmen
immer zahlreicher und lauter '). Unser Verfasser will ja auch mit seiner
Schrift, als einem allgemeinen Bekennen der gemeinen Christen^
die Laienkreise allgemeiner und lebhafter in die damals hochgehende
Reforrabewegung hineinziehen. Die vermittelnde Rolle , die der
Stadtschreiber durch Übersetzungen auf dem gelehrten Gebiete
spielte ') , nimmt auch tmser Verfasser als Stadtschreiber ein durch
die Vermittelung gelehrter Reformentwürfe an die damals gebildeten
Laienkreise des Städtebürgertums. So sehen wir denn, dafs dieses
Bürgertum noch ganz konservativ auf dem Gebiete der Kirchenordnung
denkt, aber sein humanistisch gebildeter und weltlich-städtebürgerlicher
Geist doch schon manches freie moderne Wort findet.
Mitteilungen
Yeraammluilgeil« — Der dritte Tag für Denkmalpflege^) ist am 25. und
36. September im Ständehause zu Düsseldorf abgehalten worden. Vor dem
Eintritt in die Tagesordnung widmete der Vorsitzende kurze Worte der
Erinnerang dem verstorbenen Direktor der Mecklenburgischen Sammlungen
und Museen in Schwerin, Geh. Hofrat Dr. Schlie. Begrünungen brachten
1) Vgl. oben S. 46.
3) Vgl G. Voigt, Eoea Silrio Piccolomini, I. Bd. 1856, S. 67. 68 a. 108. Monu-
menU Conciliomm saeciüi XV., 11, 693 laicis comminantibus. Vgl. auch Haller, S. 204:
it köc (oämlich PlaraliUit der Pfründen) et alti layci conqueruntur. Auch war „die
«fgeregte Stimmong der deutschen Laien*' ein Argument fUr den Papst, das Konzil zu
verlegen. Vgl. Bezold, Vom rheinischen Bauernaufstand im Jahre 1431. (Zeitschr.
Ar Gesch. des Oberrheins, 27. Bd., S. 137.
3) ^S^- Joachimsohn, Gergor Heimburg (1891), S. 114» i^nd derselbe Verfasser,
Humanistische GeschichUchreibung (1895), S. 14.
4) Über den zweiten 1901 zu Freiburg i. Br. abgehaltenen Tag vgl. diese Zeitschrift
m. Bd., S. 61—63.
— 56 —
der Vertreter des Preufsischen Unterrichtsministers, Geh. Oberregierungsrat
V. Bremen, der Landeshauptmann der Rheinprovinz Dr, Klein, die Vertreter
Österreichs und der Schweiz, Professor Neuwirth und Professor Zemp. Nach
dem Bericht über die Tätigkeit des Ausschusses seit der letzten Tagung
kamen in gleichem Mafse Recht und Theorie, Praxis und Technik der Denk-
malpflege in einleitenden Vorträgen wie in den daran sich anschliefsenden
Verbandlungen zu ihrem Recht.
Ministerialrat v. Biegeleben aus Darmstadt berichtete über das nun-
mehr am I. Oktober d. J. in Kraft getretene Hessische Gesetz vom i6. Juli
1902 zum Schutze der Kunstdenkmäler und über die dazu gehörigen Aus-
führungsbestimmungen , Professor Loersch aus Bonn über die Annahme des
auf dem letzten Tage für Denkmalpflege von ihm erläuterten Gesetzentwürfe
durch die Volksabstinunung vom 16. März 1902 im Kanton Bern, Professor
Neuwirth aus Wien über den augenblicklichen Stand der Vorbereitimgen für
ein Gesetz über Denkmalpflege in Österreich, wo auch ein Spezialgesetz zur
Erhaltung des Diokletianischen Palastes in Spalato in Aussicht genommen ist.
Die einleitenden Vorträge über die Erhaltung von Baudenkmälern und
plastischen Kunstwerken hatten Professor Komelius Gurlitt aus Dresden und
Professor Borrmann aus Berlin übernommen; ihre Berichte wie die Ver-
handlung zeigten, dafs für die Konserviervmg des Materials sicher wirkende
Mittel und Verfahren noch immer nicht gefimden sind. Es wurde eine
Konmiission mit der Untersuchung der Verwitterungsvorgänge und der da-
gegen in Anwendung zu bringenden Mafsregeln betraut Im Zusanunen-
hang mit diesen Fragen wie in besonderer Beratung am zweiten Tage
wurde auch die Notwendigkeit der Bezeichnung von neuen Werkstücken bei
Instandsetzung von Bauwerken erörtert und ebenfalls eine Kommission mit
der Vorbereitung von praktischen Vorschlägen auf diesem Gebiete für den
nächsten Denkmalpflegetag beauftragt.
Wichtige theoretische Fragen kamen wiederum zur Erörterung in der
Verhandlung über die Beseitigung des bisherigen Westportals des Metzer Doms
und dessen Ersatz durch ein gotisches, ohne dafs jedoch die Debatte über
die erneute Begründung und Feststelltmg der sich entgegenstehenden An-
sichten hinausgekommen wäre. Herr Konservator Hager aus München legte
an der Hand praktischer Beispiele dar, dafs allgemeine Grundsätze kaum
aufgestellt werden könnten, dafs vieknehr von Fall zu Fall entschieden werden
müsse, welches Vorgehen das richtige sei. Die Frage der Wiederherstellung
des Domes zu Meifsen wurde mehrfach gestreift Eine Stellungnahme zu
solchen Fragen durch Abstimmung herbeizuführen, ist bekanntlich in den
Veisanmüimgen des Tages für Denkmalpflege nicht üblich.
Die für die praktische Denkmalpflege so überaus wichtigen Denkmäler-
archive wurden in einleitenden Vorträgen durch Direktor v. Bezold aus Nüm-
beig und Professor Ehrenberg aus Königsberg behandelt, ihre Gestaltung
\md Einrichtung dann nach verschiedenen Richtungen hin erörtert Geheimra;t
Meydenbauer besprach noch besonders das von ihm so hoch entwickelte
Mefsbilderverfahren für Erlangung unbedingt richtiger photographischer Ab-
bildimgen.
Den Höhepunkt der Verhandlungen bildete die fiast zweistündige Rede
des Oberbürgermeisters Struckmann aus Hildesheim über die Aufgaben der
— 57 —
Kommunalverwaltungen auf dem Gebiete der praktischen Denkmalpflege.
Die schöne Form des Vortrags und die Wärme der Begeisterung, die aus den
Worten des Redners klang, weckte lebhafte Zustimmung in der Versammlimg.
Mit Recht konnte der Redner auf den bedauerlichen Mangel an Teilnahme
lunweisen, der sich auf seiten der Stadtverwaltungen bis jetzt dem Denkmal-
pflegetag gegenüber zeigte. Er wies darauf hin, wie das Kunstleben der Städte
geblüht habe und wie der Sinn für die Zeugen der Vorzeit wach gewesen
sei, solange die Städte selbständig waren, wie dieses Kunstleben und dieser
Sinn sich wieder geregt hätten tmd regen könnten, seitdem nach langer Be-
vormundung durch den Staat, der alles an sich gerissen habe, die Selbst-
verwaltung den Gemeinden neue Rechte zugewiesen habe. Den Rechten
stünden aber auch Pflichten zur Seite tmd die Verwaltung der Kommtmen
müsse von den Bürgern Pietätlosigkeit gegen die Werke der Väter fem halten,
rein materielle Bestrebungen weise beschränken, Liebe zur Vaterstadt und
zn ihren Denkmälern schon in der Jugend wecken. Alle Kräfte müfsten
hier herangezogen werden, besonders die Kunst- und Geschichtsvereine, nicht
durch bureaukratische Mafsregeln, sondern durch freie Vorträge, Besieh-
tigangen und Belehrungen sei das örtliche Interesse auch an solchen Bau-
imd Konstdenkmälem, die fUr die Allgemeinheit und den Staat weniger Be-
deutjung haben, zu wecken und zu erhalten. Aus seiner reichen Erfahrung
tmd aus der von ihm mit dem herrlichsten Erfolg in Hildesheim geübten
Prans heraus hatte der Redner eine Reihe von Sätzen formuliert, die der
Versammlung gedruckt vorlagen und unter Heranziehung zahlreicher Beispiele
im einzelnen erörtert wurden. Sie ^den nicht nur eingehende Würdigung
in der an den Vortrag sich anschliefsenden Verhandlung, an der sich u. a.
Geheimrat Stubben und Baurat Heimann aus Köln, sowie Geheimrat Hofs-
idd aus Berlin beteiligten, sondern auch die volle Zustimmung der Ver-
sammlimg, welche den Beschlufs üdste, dafs diese Leitsätze durch den
geschäftsflihrenden Ausschufs den Staatsregienmgen , sowie den gröfseren
Provinzial- tmd Gemeindeverwaltungen ziu- Kenntnisnahme und mit dem Er-
suchen, ihnen entsprechend verfahren zu wollen, zugestellt werden sollen.
Als Ergänzung zu dem Vortrage des Oberbürgermeisters Struckmann be-
handelte Professor Giemen die Stellimg der Provinzialverwaltungen zur Denk-
malpflege, indem er insbesondere die Verhältnisse im Rheinlande darlegte.
Eine geradezu begeisterte Au&ahme, der auch Konservator Hager aus
München beredten Ausdruck gab, hat im Schoise der Versammltmg der im
Kamen der Rheinischen Provinzialverwaltimg an die Mitglieder verteilte, aufs
reichste mit Abbildimgen ausgestattete Bericht über die Tätigkeit der Pro-
vinzialkommission für die Denkmalpflege im Jahre 1901 gefunden. Die Ein-
leitung zu diesem Bericht gibt nämlich eine Übersicht über die Aufwendvmgen,
die die Rheinprovinz seit dem Inkrafttreten des Dotationsgesetzes vom
30. April 1873 ^^ ^^ Zwecke von Kunst und Wissenschaft gemacht hat
Die Gesamtsumme beträgt 4033204 Mk. Von dieser Stmime entfallen auf
die allgemeinen Ktmstangelegenheiten, einschliefslich der Kosten für die Er-
rk:fatimg der beiden Provinzialmuseen, 2661777 Mk. ; allein für die Erhal-
tang von Denkmälern sind ausgegeben worden 137 1426 Mk. Diese Zifiem
bedürfen keines Kommentars. Mehr als einmal ist während der Verhand-
lungen mit Ausdrücken lebhaften Bedauerns darauf hingewiesen worden»
— 68 —
dafs die Summe von looooo Mk., welche für die besonderen Zwecke der
Denkmalpflege in dem Preufsischen Staatshaushaltsetat für 1901 ausgeworfen
war, in dem für 1902 wieder gefehlt hat. Es wurde darauf hingewiesen,
wie wichtig für die Weiterentwickelung der Denkmalpflege diese Bereitstellung
staatlicher Mittel sei, als Ergänzung der von Provinzen und Gemeinden auf-
gebrachten, wie auch das Beispiel des gröfsten deutschen Staates für alle
tibrigen in Betracht komme. Aus diesen Erwägungen hat die Versammlung
beschlossen, die Bitte um Wiedereinstellung der erwähnten Summe an die preufsi-
schen Minister des Unterrichts und der Finanzen wie an die beiden Häuser
des preufsischen Landtages in besonderer Eingabe zu richten, ebenso aber
bei der Übersendung des stenographischen Berichtes an alle deutschen wie
an die den Tag durch Absendung von Bevollmächtigten ehrenden aufser-
deutschen Regierungen um tunliche Vermehrung der für die Zwecke der
Denkmalpflege in den Budgets dauernd bereit gestellten Summen zu bitten.
Bezüglich des Handbuches der deutschen Kunstdenkmäler'), dessen
Notwendigkeit in wiederholten Besprechungen von Mitgliedern der Versamm-
lung immer wieder aufs lebhafteste bestätigt worden ist, konnte der Vor-
sitzende nur mitteilen, dafs die Verhandlungen mit Verlegern fortgesetzt werden
und dafs von selten des Reichsamtes des Innern eine endgültige Mitteilung
darüber, ob die vom Reiche erbetene Unterstützung in den Haushaltsetat für
1903 eingestellt werden könne, noch ausstehe. Professor Dehio, der be-
kanntlich die Ausarbeitung des Planes für das Handbuch übernommen hatte
und Proben desselben vorlegte, ist aus der für die Verfolgung der Angelegen-
heit in Dresden gewählten kleinen Kommission ausgeschieden und Hofrat
v. Oechelhaeuser aus Karlsruhe an seiner Stelle gewählt worden.
Der geschäftsführende Ausschufs wurde durch zwei Mitglieder verstärkt
und besteht nunmehr aus den Herren: Geh. Archivrat Bailleu, Direktor
v. Bezold, Ministerialrat Freiherr v. Biegeleben, Professor Giemen (stellv.
Vorsitzender), Professor Loersch (Vorsitzender), Professor v. Oechelhaeuser,
Professor Walld, Regierungs- und Baurat Tomow.
Die Versammlung beschlofs, den nächsten Tag für Denkmalpflege,
wiederum im Zusammenhange mit der Generalversammlung des Gesamtvereins
der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine, im Jahre 1 903 gegen Ende
September zu Erfurt abzuhalten. Es dürfte nützlich sein, darauf hinzuweisen,
dafs für die Teilnahme an der Versammlung, zu der die deutschen Re-
gierungen wie Österreich und die Schweiz, ebenso wie die Provinzialverwal-
tungen und einzelne Gemeinden regelmäfsig ihre Vertreter entsandt haben«
weder die Zugehörigkeit zu einem Verein noch die Leistung eines Beitrages
Voraussetzung ist. Mögen sich diejenigen, denen die Erhaltung
der Denkmäler und ihre richtige Pflege am Herzen liegt, recht
zahlreich auf diesen Tagen einfinden! Loersch (Bonn).
Der dritte deutsche Archivtag*) fand am 22. September zu Düssel-
dorf statt, und zwar wurden zwei Sitzungen unter dem Vorsitze von Archiv-
1) VgL hierüber Gast. v. Bezold, Ein neues Handbach der deatschen Kaost-
den kmäler: Beilage zur Allgemeinen Zeitong (München) vom 12. September 1902, Nr. 209.
2) Über den zweiten 1900 in Dresden abgehaltenen Archivtag vgl. diese Zeitschrift
U. Bd., S. 60—61.
— 59 —
direktor Ilgen in den Räumen des neuen Kgl. Staatsarchivs und in der
Tonhalle abgehalten; über 60 Teilnehmer, darunter einige Herren aus
Holland, Belgien und Luxemburg, hatten sich eingefunden. Der vierte
Archivtag wird voraussichtlich 1904 in Danzig stattfinden, der bisherige
Ausschufs — bestehend aus Geh. Archivrat Bai Heu (Berlin), Geh, Archiv-
rat Grotefend (Schwerin) und Archivdirektor Wiegan d (Strafsburg) —
wurde wiedergewählt. Das vollständige Protokoll der Verhandl.mgen wird
den Teilnehmern an der Versammlung noch zugehen, deshalb können sich
die folgenden Mitteilungen über die Verhandlungen auf das Wichtigste beschränken.
An erster Stelle sprach Stadtarchivar Heydenreich (Mühlhausen)
über Städtische Archivbauten und forderte vor allem Sicherheit vor
Feuer und Feuchtigkeit für die zur Aufbewahrung der städtischen Archive
bestimmten Räume sowie Vermeidung ihrer Verwendung zu irgend welchen
anderen Zwecken und schliefslich eine genügende Gröfse, um eine über-
sichtliche Aufstellung vornehmen zu können. Unter Hinweis auf die häufig
bis in neuste Zeit vorgekommene Verwahrlosung ganzer Stadtarchive will
Redner den Stadtverwaltungen die Fürsorge für ihre Archive dringend ans
Herz gelegt wissen; von ihrer Deponierung in den Staatsarchiven sollte —
so meint Heydenreich — nur Gebrauch gemacht werden bei grofser Finanz-
not, die der Gemeinde gröfsere Aufwendungen unmöglich macht. Es ist
erst eine Errungenschaft der neusten Zeit, dafs bei Rathausneubauten von
vornherein ein geeigneter Archivraum vorgesehen wird oder dafs gar eigene
Archivgebäude errichtet werden : als treflfliches Muster für Archive von mittlerer
Gröfse stellt H. das in Lüneburg errichtete Gebäude hin. Die Aufgabe
der staatlichen Aufsichtsbehörden ist es, dauernd die Stadtgemeinden zur
Fürsorge für ihre Archive anzuhalten. — Als Vorbereitung für die bevor-
stehende Besichtigung des neuen Düsseldorfer Archivgebäudes, das 1899 bis
1901 mit Aufwand von einer Viertelmillion Mark aufgeführt, den erst vor
dreißig Jahren errichteten vollständig ungenügenden Bau abgelöst hat, sprach
Baurat Bongard. Wesentlich ist hieran, dafs das Magazingebäude, für
dessen Vergröfsenmg die Möglichkeit besteht und das 6 niedrige Geschosse
aufweist, nur äufserlich durch einen ins dritte Stockwerk führenden Ver-
bindungsgang mit dem Gebäude für die Beamten verbunden ist. Die Zentral-
dampfheizung für das Magazin soll nur an ganz kalten Tagen zur Vermeidung
von Feuchtigkeit in Anwendung kommen. Der Benutzersaal, in dem die
Handbibliothek auf besonders praktischen eisernen Regalen aufgestellt ist,
hat Raum für 18 Benutzer, auch ein photographisches Zimmer ist vorhanden.
Im Anschlufs an diese Ausführungen entspann sich eine kurze Erörterung
über praktische Mafsnahmen zu Erhöhung der Feuersicherheit und der Er-
hellung der Magazinräume ; namentlich, ob durchbrochene oder feste Decken
— in Düsseldorf sind letztere mit weifscm leuchtenden Anstrich verwendet —
zweckmäfsiger seien, wurde erörtert Gegen Roststabdecken machte sich eine
unverkennbare Strömung geltend, während über Glasdecken offenbar noch
nicht genügende Erfahrungen gesammelt worden sind. — Über die Bestände
des Düsseldorfer Staatsarchivs sprach in Kürze Archivdirektor Ilgen. Das
Archiv dient im ganzen den Regierungsbezirken Aachen, Köln und Düssel-
dorf und umfafst die alten Territorien Erzstift Köhi, Jülich-Berg, Cleve-Mark,
Geldern und Mors sowie die in diesem Gebiete gelegenen Reichsabteien,
— 60 —
Klöster u. s. w Im XVIII. Jahrhundert waren Bonn, Düsseldorf, Cleve und
Geldern die zuständigen Archivsitze; Düsseldorf besafs sein Archiv schon
im XV. Jahrhundert, während das Erzstiftisch - Kölnische Archiv erst im
XVII. Jahrhundert nach Bonn gebracht wurde, um bei der Flucht nach
Westfalen 1794 erhebliche Verluste zu erleiden. Als 1820 die Staatsarchive
— damab Provinzialarchive genannt — gegründet wurden, sah man für die
drei Regierungsbezirke zwei Archive in Köln und Düsseldorf vor, aber das
erstere ward 1832 bis 1835 auf Lacomblets Betreiben, der das Düsseldorfer
Archiv gegründet hat, aufgelöst Lacomblet teilte die Bestände in Urkunden,
Handschriften, Akten, Literalien (Notbehelf zur Unterbringung von Pergament-
aufzeichnungen, die keine Urkunden sind, Fragmente, Anfange der Korre-
spondenzen und sonstige Verlegenheitsabteilung) und Karten imd führte eine
sachliche Ordnung ein. Sein Nachfolger, der kürzlich verstorbene Harlefs,
hat nicht gewagt dieses Ordnungssystem umzuwerfen, aber dies ist die vor-
nehmste Aufgabe der Zukunft, um das Provenienzprinzip zur Durch-
führung zu bringen. Dabei wird die Abteilung der Literalien und der Hand-
schriften in den Akten aufgehen.
In der zweiten Sitzung, in der aus Zeitmangel die Behandlung der
Kassationsfrage durch Grotefend und der Vortrag Wieg and s über Wert
und Bedeutung der Archivgeschichte von der Tagesordnung abgesetzt werden
mufsten, sprach an erster Stelle Geh. Archivrat B a i 1 1 e u über das Provenienz-
prinzip und dessen Anwendung im Geh. Staatsarchive zu Berlin, wo es 1881
das bis dahin angewandte sogenannte physiographische Prinzip (d. h. Ordnung
nach dem Inhalte) abgelöst hat. Den Grundstock bildet das Archiv des
Etatministeriums des Brandenburg • Preufsischen Staats, das Kabinettsarchiv
des Königs sowie das aus dem Generaloberfinanz-, Kriegs- und Domänen-
archiv erwachsene Geh. Ministerialarchiv : sie sind organisch aus der Behörden-
organisation erwachsen, und Zugänge, die von den Behörden kamen, waren
jederzeit leicht einzuordnen. Als nun 1807 die neue Staatsverwaltung mit
Ressortministerien in Kraft trat imd das Geh. Staatsarchiv das Zentralarchiv
des Preufsischen Staates wurde, hätten vernünftigerweise diese Archive ge-
schlossen und der neuen Behördenorganisation entsprechend neue AbteUungen
geschaffen werden sollen. Dies ist jedoch nicht geschehen, sondern die
neuen Zugänge wurden jetzt gewaltsam in die einmal vorhandenen AbteÜimgen
hineingezwängt, wobei natürlich die neuen organisch entstandenen Registraturen
zerrissen wurden. Auch das Archiv der Provinz Brandenburg wurde auf
diese Weise zum Teil aufgelöst, und so wurde, auch infolge des alten
Grundsatzes, ein Aktenstück, das mehrere Jahre umfafst, immer zum Schlufs-
jahr zu legen, alhnählich die Auffindung einzebier Aktenstücke sehr er-
schwert. Als seit 1874 eine Reihe jüngere Beamte in das Archiv kamen,
wurde der Zustand als immer unerträglicher empfunden, zunächst die Kabinetts-
registratur König Friedrich Wilhelms III. wieder zusammengebracht und 1 88 1
die vollständige Reinigung der alten Bestände und Einrichtung neuer Registra-
turen für die neuen Behörden beschlossen. Es ging verhältnismäfsig schnell,
denn die Verschmelzung war vielfach nur äufserlich geschehen, und in einem
Jahre waren die alten Gruppen von den neuen Zutaten gereinigt, und diese
selbst wurden dann so aufgestellt, wie die Akten bei den Behörden entstanden
waren. — An letzter Stelle sprach sodann Archivrat Sello (Oldenburg) über
— 61 —
Zapon in der Archivpraxis. Derselbe gab zunächst der Freude darüber Aus-
druck, dafs die rührige Vereinigung der Niederländischen Archivare *) sich
bereits eingehend mit der Zaponfrage befafst habe, und dafs der Referent,
Archivar Schoengen-Leeuwarden, nicht nur anwesend sei, sondern auch
seinen soeben im Druck vollendeten bezüglichen Bericht den Archivteilnehmern
in Sonderabztigen mitgeteilt habe. Der Versuch, welchen die im Herbste
1899 vom Sächsischen Kriegsministerium nach Dresden berufene Archivar-
Konferenz *) gemacht hat, die auf der Konferenz vertretenen Staatsregierungen
u, s. w. zur Einführung des Zaponverfahrens in die Archivpraxis von Amts
wegen zu veranlassen, ist gescheitert. Die meisten, und gerade die einflufs-
reichsten der in Frage kommenden Instanzen haben dem ihnen vom Säch-
sischen Staatsministerium übermittelten Beschlufs der Konferenz keine Folge
gegeben, vielmehr ist alles weitere dem guten Willen der einzelnen über-
hissen geblieben. An einzelnen Archiven hat man zwar mit Eifer, doch ohne
Nutzen für die Allgemeinheit, experimentiert; andererwärts hat man sich um
die ganze Sache wenig oder gar nicht gekümmert, oder selbst ablehnend
verhaken, obwohl es keinem Zweifel mehr unterliegt, dals derjenige Archivar,
welcher sich das wirksame und einfache Mittel nicht dienstbar zu machen
sucht, einen Kunst fehler begeht Es handelt sich bei der ganzen An-
gelegenheit nicht blofs um die praktische Frage, in dem einen oder anderen
Falle irgend ein beschädigtes Archivstück zu erhalten, sondern um das höchste
Interesse der Archive, um die Konservierung der Schriftdenkmäler
unserer vaterländischen Geschichte. Diese beansprucht die gleiche
Berücksichtigung wie die Konservierung der Bau- irad Kunstdenkmäler. Ehren-
pflicht des Archivtages ist es, dieser Aufgabe sich zu widmen und den Be-
schhiis der Dresdener Konferenz, wenigstens dem Sinne nach, zur Aus-
ftorung zu bringen. Dies kann aber nicht geschehen ohne Erledigung einer
Vorfrage. Das nach Schills Anweisung aus bekannten Stoffen hergestellte
Normal -Zapon besitzt allerdings die gewünschten konservierenden Eigen-
schaften in hohem Mafse und hat keine schädlichen Nachwirkungen. Das
im Handel befindliche Zapon aber, dessen die Praxis nicht entbehren kann,
insbesondere auch das von Schill und Posse empfohlene „Archiv-Zapon"
einer Berliner Firma, enthält eingestanden ermafsen unbekannte Zusätze.
Vor den hierin möglicherweise liegenden Gefahren mufs der Archivpraktiker
geschützt werden. Es ist daher die nächste Aufgabe einer etwa vom Archiv-
tage einzusetzenden Kommission, auf die Feststellung einer bestimmten Vor-
schrift für die Zusammensetzung eines einwandfreien und zweckdienlichen
Normal-Archivzapons hinzuwirken. Man wird sich zu diesem Zwecke mit
berufenen Vertretern der Chemie in Verbindung setzen müssen. Die Archive
können abdann angewiesen werden, nur garantiertermafsen nach dieser Vor-
schrift hergestelltes Zapon zu verwenden, es mufs aber auch fUr eine wissen-
schaftlich-chemische Kontrolle des in den Handel kommenden Fabrikats
gesorgt werden. Der Vortragende beschrieb darauf im einzelnen das von
ihm mit Rücksicht auf tunlichste Einfachheit, Raschheit, Sicherheit und
Bü^keit ausgebildete und im Grofsherzoglich Oldenburgischen Haus- und
Zeo^alarchiv erprobte, von der Schillschen Methode mehrfach abweichende
i) VgL darüber diese Zeitschrift III. Bd., S. 109 — 112.
2) Vgl. darüber diese Zeitschrift I. Bd., S. 58.
— 62 —
Verfahren bei der Zapon-ImprägnieruDg. In der an den Vortrag sich an-
schliefsenden kurzen Besprechung wurden insbesondere die Bedenken, welche
der Vortragende gegen die zweifelhafte Natur des käuflichen Zapons erhoben
hatte, durch Mitteilungen des Archivdirektors Wiegand (Strafsburg) unter-
stützt. Alsdann wurde eine aus diesem, dem Geh. Archivrat Grotefend
(Schwerin) imd Archivrat S e 1 1 o (Oldenburg) bestehende Kommission ernannt,
um im Sinne des Vortrages die Einführtmg des Zaponverfahrens zu fördern.
Am Vormittage des 27. Septembers fand Archivrat Sello noch Gelegenheit,
im Kgl. Staatsarchive vor einer Anzahl von Fachgenossen seine Methode
mit Hilfe der von ihm in einem handlichen Kasten zusammengestellten Geräte
in allen ihren Einzelheiten zu demonstrieren.
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F. W. Siebert, 1902. 207 S. 80.
Berichtigung
In dem Aufsatze Ortsflur , polnischer Oemeindebexirk und Kirchspiel
von Rudolf Kötzschke im dritten Bande dieser Zeitschrift S. 2 73 ff.
ist zu lesen:
S. 278, Z. 21 statt umgearbeitet: umgestaltet,
S. 290, Anm. 2 statt Miselche: Miselohe,
S. 292, Anm. 2 statt P. Schom: P. Schoen.
D. Red.
Heniasgeber Dr. Armin Tille in Leipzig. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes in Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
stur
Forderung der landesgescMcbtlichen Forscliung
IV. Band Dezember xgoa 3. Heft
Forsehungen und Forsehungsaufgaben auf
dem Gebiete der Gegenrefortnation
Von
Gustav Wolf (Freiburg i. B.)
Es wird wenige Zeiträume deutscher Geschichte geben, für welche
die Ziele der Geschichtsblätter so vollständig mit den allgemeinen
Forschungsaufgaben zusammenfallen, als gerade das XVI. Jahrhundert.
Friedrich der GroCse und Bismarck können wenigstens nach vielen
Richtungen erschöpfend gewürdigt werden, ohne dafs man sich in das
kleine Getriebe des preußischen Staatsorganismus vertieft und ohne
-dais man in den damaligen inneren Zustand der einzelnen Provinzen
eindringt. Andrerseits läfst sich die organisatorische Regententätigkeit
Friedrich Wilhelms I. von Preufeen, Josefs II. von Österreich und vieler
anderer deutscher Fürsten auch ohne eingehende Darlegung des Zu-
sammenhanges mit den grofsen Weltereignissen in ihrem Wesen und
Zwecke begreifen. Für die Reformationsepoche auf eine solche Füh-
lung zwischen Lokalgeschichte und allgemeiner Geschichte verzichten,
hiefise sich von vornherein der wichtigsten Resultate begeben, welche
die Forschung auf diesem Gebiete gewinnen kann. Die Lebens-
beschreibung eines nur räumlich beschränkt tätigen Reformators, die
Schilderung der religiösen Umwälzung in dieser Stadt und jenem Dorfe
sinken zur Ansammlung ziemlich wertloser Notizen herab, wenn der
Darsteller es nicht versteht, das Typische von dem individuell Charakte-
ristischen zu scheiden, auf Schritt und Tritt die Wechselwirkung zwischen
den g^ofeen Begebenheiten der Geistes- und politischen Geschichte tmd
seinem Spezialthema zu verfolgen und so den von ihm erforschten
Tatsachen und Gedanken ihren Platz im Rahmen der ganzen vater-
ländischen Entwickelung einzuräumen. Umgekehrt verkennt ein Forscher,
welcher den Gang der Dinge nur an der Hand der Reichsgeschichte
oder der Schicksale und Meinungsäufserungen Luthers, Calvins und
Melanchthons studiert, vollständig den Hintergrund, auf welchem die
5
— -%%- —
Ereignisse sich abspielten und jene Männer wirkten, und weife nichts
von den Motiven, Folgen und Grenzen dieses Geschehens und Empor-
kommens. So wird uns die Ursache des Zusammenstofses zwischen
Karl V. und den deutschen Fürsten und das ganz verschiedenartige
Verhalten beider Faktoren erst begreiflich, wenn wir sehen, dafe, was
man vorschnell als Kurzsichtigkeit oder Blindheit der Territorial-
Obrigkeiten tadelt, nichts anderes als das natürliche Produkt einer
seit Generationen bestehenden Erziehung und Entwickelung ist, dals
die g^o&en Monarchen des Abendlandes und die deutschen Landes-
herren schon nach ihrem Erkenntnisvermögen, nach ihren anererbten
Lebensgewohnheiten inkommensurable Gröfsen waren. So kann keiner
das heftige Toben und Kritisieren der Theologen richtig erklären, der
nicht durch intensives Studium der Orts- und Territorialgeschichte das
Gegenstück dieser scharfen Fehden in den zahlreichen Übergängen,
Halbheiten, Unklarheiten findet, wie sie mit solchen konfessionellen
Auseinandersetzungen und werdenden Religionen verbunden sein müssen
und nur an Symptomen und in Einzelheiten, selten durch offenkundige,
weithin sichtbare Aufserungen zu Tage treten.
Derartige Erwägungen scheinen auf den ersten Blick sehr billig
und nahezu selbstverständlich. Aber nicht immer folgt die praktische
Nutzanwendung der Erkenntnis plausibeler Wahrheiten auf dem Fufee
und sie kann das häufig auch gar nicht, weil die Zusammenhänge
zwischen örtiichen und allgemeinen Verhältnissen oft sehr komplizierter
Natur sind. So verdankt denn auch die Wissenschaft die meisten wissen-
schaftlichen Fortschritte dieser Art erst einer relativ jungen Ver-
gangenheit. Die systematische Ausbeute der Archive, wie sie erst
die sogenannten Publikationsinstitute ermöglicht haben, die Veröffent-
lichungen verwandter Akten aus verschiedenen Ländern, welche den
Benutzern früher ungeahnte Parallelen geradezu aufdrängen, endlich
das grofsenteils zuerst an der Erforschung anderer Zeiträume geschulte
Verständnis für innere finanzielle und organisatorische Fragen, an denen
man früher achüos vorüberging, haben unseren Gesichtskreis erweitert,
haben dem Historiker Aufgaben gestellt, dafs eine Rundschau über
das, was geleistet und was noch zu leisten ist, manche unerwartete
Belehrung und Anregung gewähren würde. So sehr sich meinem per-
sönlichen Wunsche die Anstellung einer solchen Rundschau gerade in
einem Momente aufdrängt, wo ich darangehe, als Einleitung zum
zweiten Bande meiner Deutschen Geschickte im Zeitalter der Gegen-
reformation einen Überblick über die Gesamtlage der deutschen Terri-
torien um die Mitte des XVI. Jahrhunderts zu entwerfen, so treten
(o^
einer kompletten Erfüllung dieser Aufgabe nahezu unüberwindliche
Schwierigkeiten durch die Masse und zum Teil schwere Zugänglichkeit
der einschlägigen Literatur entgegen. Da überdies der mir verfüg-
bare Raum zur blosen Aufzählung, geschweige denn zu einer frucht-
bringenden Besprechung schon der mir bekannten Arbeiten nicht aus-
reichen würde, halte ich es für erspriefslicher, eine Auswahl zu treffen
und einige instruktive, sich mir ganz besonders aufdrängende Beispiele
herauszugreifen, als eine doch nicht erreichbare Vollständigkeit an-
zustreben. Ich will mich dabei heute auf die katholische Seite be-
schränken ; über die protestantische Seite vielleicht ein anderes Mal !
Die These, dafs nach dem Verschwinden Karls V. die Habsburger
als die mit der Kaiserkrone begabten Herren der österreichischen Erb-
staaten zu betrachten sind und das Reich nach partikularistischen Ge-
sichtspunkten regiert haben, gehört zu den banalsten Weisheiten all-
gemeinen reformationsgeschichtlichen Wissens. Die meisten ober-
flächlichen Kenner werden aber zur Begründung dieser Behauptung
wenig mehr anführen können, als dafs die habsburgischen Reichs-
oberhäupter aus territorialem engherzigen Interesse ihr Hauptaugen-
merk auf die energische Abwehr der Türken gerichtet, die nötigen
Kontributionen zum hervorragendsten Gegenstande der Reichstags-
verhandlungen gemacht und die Erledigung anderer wichtiger Fragen
darüber vernachlässigt hätten. Wenn diese dann emen Blick werfen
anf die reichhaltigen Literaturangaben, welche nicht zu den geringsten
Vomigen der österreichischen Geschichte von Alfons Huber ^) ge-
hören, dann werden sie erstaunen über die mannigfaltigen Fragen,
welche in jener Zeit Ferdinands I., Maximilians II. und Rudolfs II.
die Politik der Hofbui^ beherrscht haben. Die Bestrebungen, die
Macht der Stände einzuschränken, die Organisation fester Regierungs-
kollegien, die Bemühungen um Beseitigung der sittlichen und Ver-
waltungsschäden des Katholizismus und um Hebung des geistigen
Niveaus der Kleriker, die Ausbreitung der evangelischen Lehre in den
verschiedenen österreichischen Erbstaaten, die habsburgische Erbfolge
im Reiche, der Wunsch, letzteres von den niederländischen und fran-
zösischen Religionskämpfen unbeeinflufst zu erhalten und im Interesse
einer kräftigen Türkenabwehr vor Zersplitterung seiner Hilfsmittel zu
behüten, der Gedanke an die Ansiedelung eines Ritterordens an der
ungarischen Grenze, sowie der Wunsch nach Gebietserweiterungen und
manche andere Probleme ziehen an unserem Auge vorüber. Ein grofser
Teil dieser Fragen ist erst in neuerer Zeit aufgeworfen, ja gerade nach
i) Geschichte Österreichs Band 4 (Gotha 1892).
— .A4. —
Huber erst umfassender in Angriff genommen worden. So liegen, um
nur das Bekannteste zu erwähnen , für Tirol und Vorderösterreich das
zweibändige Werk Hirns über Erzherzog Ferdinand ') und die Abhand-
lungen Freiherm v. Becks und Loserths über die Wiedertäufer im
Archiv fiir österreichische Geschichte, für Steiermark, Krain und Kämthen
die noch lange nicht abgeschlossenen Studien Loserths •), zu denen
eine willkommene Ergänzung durch Schellhafs' Veröffentlichungen aus
den vatikanischen Papieren (A kten zur RefortntäHgkcit Feltctan Niguar-
das insbesondere in Bayern und Österreich während der Jahre 1^72 bis
'577 ^^ ^^^ Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bib-
liotheken, I — III), geboten wird, fiir Niederösterreich die ebenfalls noch
nicht abgeschlossenen Forschungen ViktorBibls*) vor. Die Tätigkeit
Ferdinands I. für Schlesien hat durch Räch fahl (Die Organisation der
Gesanttstaatsverwaltung Schlesiens vor dem Dreifsigjährigen Kriege
in Schmollers Staats- und sozialwisscnschaftlichcn Forschungen XIII)
manche Aufhellung erfahren. Alle diese Gelehrten suchen durch sorg-
fältige Archivbenutzung, durch die oft mikroskopische Betrachtung
einzelner Forschungsgegenstände und auch in kleinem Bereiche wirk-
samer Männer unser Wissensgebiet zu erweitem und vermitteln uns
Kenntnisse, deren wir, wenn wir sie einmal erworben haben, nicht
entbehren können, um den grofsen Zusammenhang der deutschen Ent-
wickelung zu durchschauen. Daneben hat uns nun andererseits die neue
Studienordnung für die juristischen Fakultäten, welche österreichische
Reichsgeschichte als obligatorischen Unterrichtsgegenstand *) einfiihrte,
eine Reihe ausgezeichneter Lehrbücher von Huber-D op seh ^öj/^r-
reichische Reichsgeschichte, Geschichte der Staatsbildung und des
öffentlichen Rechts, 2. Auflage, 1901), Luschin von Ebengreuth
(österreichische Reichsgeschichte, Geschichte der Staatsbildung, der
Rechtsquellen und des öffentlichen Rechts, Bamberg 1896), Wer-
i) Eruherzog Ferdinand II. i'on Tirols Geschichte seiner Regierung und seiner
Länder (Innsbruck 1885—1888).
2) Besonders die Reformation und Gegenreformation in den innerösterreichischen
Ländern (StnUgart 1898) und Akten und Korrespondenten zur Geschichte der Gegen-
reformation in Inneröstereich (1578 — 1590) in den Fontes renim Aastriacarom Abt. 2, Bd. 50
(Wien 1898).
3) Besonders die Organisation des evangelischen Kirchenwesens im Erzherzogtum
Österreich u, d. Enns von der Erteilung der Religionskonuession bis zu Kaiser JHäxi-
milians IL Tode (Wien 1899). Die Einführung der katholischen GegenreformcUion
in Niederösterreich durch Kaiser Rudolf IL (1576— 1 580), (Innsbruck 1900).
4) Wesen und Zweck dieses Unterrichtsgegeostandes , der für jeden anderen Staat
vorbildlich werden könnte, hat in dieser Zeitschrift II. Bd., S. 97 — 108 v. Voltelini
gekennzeichnet.
-li-
misky (Österreichische Reichs- und Rechtsgeschichte, Wien seit
1894 in Lieferungen) verschafift, welche zum Teil als reifer Abschlufs
langjähriger Studien zu betrachten sind und welche daher gleichzeitig
e^^e und fremde Detailforscbungen zu einem Gesamtbilde verarbeiten
wie auch wertvolle Anr^imgen zu weitergehenden Untersuchungen
enthalten.
Wir wollen nur auf einige noch zu lösende Probleme hinweisen,
welche sich erst jetzt durch die Entwickelung der österreichischen Ge-
scbichtsltteratur aufwerfen. Loserth ist, wie ich früher einmal aus-
geführt habe, von seiner ursprünglichen Aufgabe, eine steirische Ver-
iassungs- und Verwaltungsgeschichte unter den Erzherzögen Karl und
Ferdinand zu schreiben, allmählich zur Untersuchung des Verhältnisses
zwischen Fürst imd Landschaft, zur Lektüre der Landtagsakten, zum
Studium der damals wichtigsten territorialen Frage gelangt und hat
sich so zuletzt der Reformationsbewegung Innerösterreichs gewidmet.
Das ist kein Zufall, sondern beruht auf dem unzweifelhaft vorhandenen
innigen Zusammenhange dieser Dinge, welcher noch in hellerem Lichte
erscheinen wird, wenn erst auch die anderen Glieder dieser Kette in
ihrer Eigenart imtersucht sind und ihnen ihre besondere Stelle im gro&en
Ganzen angewiesen werden wird. Durch die Erkenntnis dieses Zu-
sammenhanges gewinnt aber nicht nur der Ursprung und der Verlauf
der steirischen Reformationsgeschichte, gewinnen Charakter, Interessen
und Anschauungen der beteiligten Personen und Bevölkerungskreise
eine eigene Motivierung und Färbung; da einzelne dieser Faktoren
schon vor B^^inn der Reformation ihre Entwickelung begonnen oder
gar abgeschlossen hatten, ergibt sich aus der geschilderten Ver-
flechtung, dais infolge der ganzen konstitutionellen und sozialen Ent-
wickelung des Landes für die religiöse Bewegung von vornherein ganz
q>ezieUe fordernde und hemmende Bedingungen bestanden haben.
Man kann mit anderen Worten eine Reihe frappanter Züge aus der
steierischen Reformationsgeschichte ohne Kenntnis früherer historischer
Vorgänge und Zustände überhaupt nicht verstehen. Die Studien von
Krones *) und Luschin über Steiermark im ausgehenden Mittelalter,
die verschiedenen Arbeiten, welche von der Verwaltungsreform der
habsburgischen Erbstaaten unter Maximilian I. und Ferdinand I. handeln,
i) Besonders Verfassung und Verwaltung der Mark und des Herzogtums Steter
von ihren Anfängen bis zur Herrschaft der Habshurger (Forschungen zur Verfassungs-
umI Verwaltnogsgeschichte der Steiermark I) und Landesfürst y Behörden und Stände
des Henogiums Steter 1283-1411 (ebenda IV, i). Vgl. auch die Rezension von Dopsch,
Mttteilaog«n des Inst. f. österr. Gesch., XXII, 666 ff.
-M -
und namentlich diejenigen unter ihnen, welche die eigenen Gedanken
der beiden Herrscher und die einheimischen Grundlagen des Ver-
fassungswerkes betonen, namentlich auch Belows Aufsatz von der land-
ständischen Verfassung, welcher es unternimmt, auf Grund der neuesten
Forschungen über die verschiedensten Territorien Vergleiche anzustellen *) ,
gewähren hierfür wertvolle Fingerzeige. Weder die Tatsache, dafe sich in
Österreich und Steiermark früher als in den meisten deutschen Territorien
die landständische Verfassung entwickelt hat, noch die vielfachen Erb-
teilungen und Zerwürfnisse unter den Habsburgem mit der dadurch
bedeutend gesteigerten Macht des Adels, noch auch der Gegensatz,
der zwischen Landherren und Rittern einerseits und Städten andererseits
obwaltete, noch endlich der Umstand, dafs Maximilian und Ferdinand
die amtliche Unabhängigkeit ihrer neuen Regfierungsorgane von den
Landschaften hauptsächlich durch Anstellung einheimischer Adliger
auf den wichtigsten Posten herbeiführten und damit den beherrschenden
Einflufs des Adels auf die Staatsgeschäfte, den sie offiziell brachen,
tatsächlich wiederherstellten, dürfen hierbei übersehen werden. Auf
dem Hintergrunde dieser historischen Gestaltung der politischen Ver-
hältnisse spielt sich dann die Reformationsbewegung so ab, da(s die
Adeligen, welche infolge des Verfalles der Wiener Hochschule vielfach
auswärts studierten, besonders in Wittenberg und Tübingen die neue
Lehre in sich aufnahmen, dais fiir dieselben der Protestantismus mit
den folgenden Säkularisationen auch einen materiellen Gewinn brachte,
dafs die Herrscher trotz ihrer persönlichen kirchentreuen Gesinnung
ja von religiös gleichgültigen und dem Landscbaftsadel entnommenen
oder nahestehenden Räten und Hofleuten umgeben waren, dafe ebenso
wichtige Prälatenstellen, besonders in der Salzburger Kurie und den
von ihr abhängigen Landesbistümem von Gurk, Seckau und Lavant
von Mitgliedern des Adels eingenommen und mehr als Pfründe wie
aus Berufsfreude verwaltet wurden, dafs also weder die Fürsten noch
der Klerus dem Adel mit der nötigen Energie entgegentraten. Kommt
dazu die Verwilderung des Priesterstandes und der Seelsorge, das
Recht des Adels zur Besetzung zahlreicher Pfarren, die schweren Finanz-
sorgen der Habsburger und die Türkenabwehr, welche zwar Fürst
und Untertanen in den gleichen Interessen vereinigte, aber immerhin
einer geschickten Führung der protestantischen Adelspartei eine gute
Karte in die Hand spielte, so lassen sich die reifsenden Fortschritte
i) In Territortum und Siadt^ Aufsätze zur deutschen VerfassungS'y Verwaltungs-
und Wirtschaftsgeschichte in der Historischen Bibliothek Bd. ii (München and Leipzig
1900), S. 161 ff.
7f
— ^R- —
des Luthertums auf einem hierfür scheinbar nicht besonders g'eeig'neten
Boden mühelos erklären. Ebenso leicht wie diesen raschen Aufschwung
verstehen wir freUich auch den schnellen Niedergang. Dieser Adel
war sowohl durch seine Lebensanschauungen als auch durch seine
Interessen und Rücksicht auf politischen Einflufs viel zu sehr mit den
Landesiiirsten geschichtlich verwachsen , um es auf einen langen und
erbitterten Kampf ankommen lassen zu können. Ferner fehlte der
rechte Zusammenhalt zwischen Adel und Städten, welcher allein das
nötige geschlossene Auftreten der Landschaft gegen den entschiedenen
Willen der Fürsten verbürgt und letztere gehindert hätte, sich in den
Märkten eine Zufluchtsstätte des Katholizismus und einen neuen Aus-
gangspunkt fiir die Gegenreformation zu sichern. So konnte die Pro-
testantisierung des Landes nur dann und so lange fortschreiten, als die
Obrigkeiten nicht das nötige Selbstgefühl und die erforderliche Ent-
schlossenheit besafsen, um einen eigenen Willen zu bekunden.
In Niederösterreich bestanden ähnliche Verhältnisse und verwandte
Entwickelungsbedingungen ; immerhin regt die vergleichende Lektüre
von Loserths und Bibls Arbeiten zur Erwägung an, dals einzelne Ver-
schiedenheiten auch einen etwas abweichenden Verlauf der Reformations-
geschichte bewirkten. So wird Niederösterreich viel mehr als die
Steiermark beherrscht durch die innerprotestantischen Streitigkeiten
zwischen den Freunden des Melanchthon und Flacius. Die Städte und
Märkte besalsen in den nördlichen Erbstaaten eine ungleich gröfsere
Wichtigkeit als in den südlichen. In Wien stand der Adel in viel
engeren Beziehungen zur allgemeinen Politik und zum Reiche ins-
besondere als in Graz und den zugehörigen Gebieten. Die Nachbar-
schaft Niederösterreichs mit Böhmen und Mähren veranlafste natur-
gemäfs häufigere und konstantere Verbindungen mit diesen ja von altersher
in einer gewissen Opposition gegen die Kirche befindlichen Ländern.
Endlich hatten die Kaiser, welche ja die Landesherren von Nieder-
österreich waren, viel mannigfaltigere Rücksichten zu üben als die in
Graz und Innsbruck residierenden Erzherzöge. Derartige Wahrneh-
mungen, welche sich bei eindringender Forschung selbstredend noch
sehr vermehren, spezialisieren und modifizieren liefsen, zeigen deutlich,
da& hier noch ein reiches Arbeitsfeld für den Reformationshistoriker
der Bestellung harrt.
Wie wichtig diese Bestellung sowohl territorial- wie allgemein-
geschichtlich wäre, dafür sprechen noch einige andere Erwägungen.
Wu wissen vom hervorragenden Einflüsse, welchen die Hans Hofmann
nnd Arco und Dietrichstein und Salm und Ungnad und so viele
ü-
andere Politiker gespielt haben, und die gleichzeitigen Korrespondenzen
sind mehr oder minder erfüllt mit tadelnden und lobenden Bemerkungen
über sie. Aber von vielen dieser Männer kennen wir nur die Tatsache
dieses Ansehens, den Namen und das Amt, dagegen ein lebendiges Bild
ihrer Personen, Fähigkeiten und Anschauungen besitzen wir nicht. Dürfte
sich auch für deren Würdigung schon aus einer sorgfältigen kritischen
Quellenbeobachtung und aus der Berücksichtigung meist unbeachtet
bleibender Einzelheiten mancher Anhalt gewinnen lassen, ein erheblicher
VorteU wäre es doch, wenn wir die Schichten, aus welchen die be-
treffenden Männer hervorgegangen, in ihrer Eigenart besser begreifen
und unterscheiden lernten. Ich hoffe, dais ein geschulter österreichischer
Reformationshistoriker z. B. noch einmal die Biographie einer so einfluis-
reichen Person wie Hans Hofmanns auf Grund eines solchen Aktenstudiums
und eines derartigen Eindringens in die Anschauungen des steirischen
Adels liefern wird, ja, dafis wir noch einmal durch eine Serie solcher
zugleich territorial- wie reichsgeschichtlich wertvoller Charakteristiken
die verschiedenen Strömungen und Meinungsgegensätze in der nächsten
Umgebung der habsburgischen Herrscher entdecken werden.
Wer von Beziehungen zwischen allgemeiner Geschichte und Landes-
geschichte in der Zeit der Gegenreformation redet, pflegt unwUlkürlich
zuerst an Bayern zu denken. Gilt doch für jene Epoche der Mün-
chener Hof als der Mittelpunkt aller Bestrebungen, welche der Ver-
nichtung oder wenigstens dem Zurückdrängen des Protestantismus
dienten, und die Geschicke mehr als eines deutschen Territoriums
werden auf Motive zurückgeführt, welche in den Verhältnissen und
Daseinsbedingungen des bayerischen Fürstenhauses und Landes zu
suchen sind. Unwillkürlich haben sich daher auch die Arbeiten der
Münchener historischen Kommission, welche der wittelsbachischen
Politik zwischen dem Schmalkaldischen Kriege und dem Westfälischen
Frieden gewidmet sind, zu reichshistorischen Studien erweitert, und
Männer wie Druffel, Stieve, Lossen, Riezler können gleichzeitig als
Forscher der Haus- und Territorial- wie der allgemeinen Reformations-
und Gegenreformationsgeschichte gelten. Tatsächlich bestätigt sich
jedoch bei näherer Betrachtung, was die vielverzweigten Beziehungen
des Münchener Hofes bereits von vornherein erwarten lassen, da(s
weite Strecken noch geradezu jungfräulicher Boden sind, dais für die
Berücksichtigung oder Vernachlässigung der verschiedenen Momente
der Zufall den Ausschlag gegeben hat und namentlich die Verkettung
der einzelnen Probleme noch sehr wenig untersucht worden ist.
Wollen wir uns diejenigen Punkte vergegenwärtigen, durch welche
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die Entwickelung Bayerns während der Gegenreformation für die All-
gemeinheit besonders wichtig geworden ist, so stofsen wir vor allem
anf vier Ursachen. Als äufserliches Zeichen tritt zunächst der Auf-
schwung Bayerns von der tiefen Ohnmacht, in welcher es sich um
die Mitte des XVI. Jahrhunderts befand, zu jener ausschlaggebenden
Rolle unter Kurfürst Maximilian entgegen. Zweitens mufs die Tätig-
keit der Herzöge und ihrer Berater für die innere Wiedergeburt des
deutschen Katholizismus und für die Reform der kirchlichen Miß-
stände gewürdigt werden. Als dritter und vierter Faktor schliefeen
sich diesem Streben die Bistumspolitik des Münchener Hofes und die
Opposition gegen die neue Lehre an. Diese vier Fragen hängen in
der mannigfaltigsten Weise aneinander. So ist die Bistumspolitik zu-
gleich auf religiöse Motive und das finanzielle Interesse der standes-
gemäßen Versorgung nachgeborener Prinzen zurückzuführen und be-
rührt sich daher sowohl mit der kirchlichen Seite als auch mit dem
Emporkommen der bayerischen Territorialmacht aufs engste; so kann
man einen großen TeU des Zuwachses an Ansehen auf die gegen-
reformatorischen Tendenzen der Münchener Staatsmänner zurückführen,
und es wäre gewiß kein undankbares Thema, diese parallele Entwicke-
lung als eine Art Längendurchschnitt durch die Jahrzehnte vor dem
Dreißigjährigen Kriege zu verfolgen. Außerdem muß man sich natür-
lich auch bei der Elrörterung dieser Probleme die Tatsache vergegen-
wärtigen, daß man bei einer gründlichen Lösung nicht mit dem Jahre
1546, 1550 oder 1555 einsetzen darf, sondern dafs man die Wurzeln
der späteren Entwickelung in die erste Hälfte des XVI. Jahrhunderts
und teilweise noch weiter zurückverfolgen mufs.
Da tritt uns denn von vornherein eine Schwierigkeit entgegen,
welche in der bayerischen Geschichtschreibung ganz besonders störend
ist, daß für die einzelnen Zeiträume sehr imgleichmäfsig vorgearbeitet
ist, ja, daß wir auf große Strecken noch ganz im dunkeln tappen.
Erst neuerdings ist dem Schaden durch den vierten Band von Ricz-
lers Geschichte Bayerns (Gotha 1898) und Goetz* Beiträgen zur Ge-
schichte Herzog Albrechts V. und des Landsberger Bundes f= Briefe
und Akten zur Geschichte des XVL Jahrhunderts Band 5, München
1898) einigermaßen abgeholfen worden. Aber wenn Riezlers Werk auch
mehr als eine kritische Sichtung und Zusammenfassung vorhandener Einzel-
arbeiten mit gelegentlich herangezogenem ungedruckten Material ist, wenn
insbesondere das bayerische Reichsarchiv systematisch ausgebeutet worden
zu sein scheint, so ließen sich derartige Studien angesichts der Masscn-
haftigkeit und Unübersichtlichkeit der Münchener Akten niemals so
schicbtlicben , aber sieb des allgemeinen Zusammenhangs bewu&ten
Arbeiten gewürdigt werden.
Erheblich mehr ist auf dem Gebiete der bayerischen Bistumspolitik
geschehen. Knüpften die betreffenden Forschungen zwar an konkrete
Tagesiragen, wie den Kölnischen Krieg an, so entsprach es doch der
Gewissenhaftigkeit Lossens und Stieves, sich die Persönlichkeiten der
bayerischen Prinzen Ernst und Ferdinand in ihrer Eigenart, Erziehung
und ganzen Entwickelung zu vergegenwärtigen, um einen festen Boden
für ihre speziellen Arbeiten zu gewinnen, und dabei mufeten sie auf
dieses dynastische, grundsätzliche, sich praktisch immer wieder durch-
setzende Interesse der Münchener Witteisbacher hingelenkt werden..
Aber wie ich bei meiner Abhandlung über die salzburgischen Wirren ^)
darauf aufmerksam geworden bin, dafe sich diese systematischen Be-
strebungen zeitlich viel weiter zurückverfolgen lassen und nur vorüber-
gehend durch den Mangel an geeigneten Prinzen unterbrochen werden»
so glaube ich, dafs bei einem tieferen Eindringen in diese Materie
noch manches unerwartete Ergebnis herausspringen wird. Derartige
Untersuchungen müüsten ja von Stift zu Stift fortschreiten, würden da-
her die persönlichen und sachlichen Verhältnisse in Passau, Rc^ens-
burg, Eichstätt u. s. w. für den Bereich mehrerer Jahrzehnte klar-
legen und besonders auch ein wichtiges Motiv jeder Territorialpolitik
dieser Zeit, die nachbarlichen Beziehungen des Hofes und deren
Voraussetzungen, viel bestimmter hervortreten lassen.
Wie Bayern, so steht auch Jülich-Berg im Vordergrunde des
Interesses der Gegenreformationshistoriker , freilich teilweise aus kon-
trären Ursachen. Fesselt der Münchener Hof durch seine aktive Rolle
in den damaligen religiösen und politischen Streitfragen, so ist es
mehr das passive, lange Zeit ungewisse Schicksal des niederrheinischen
Herzogtums und die ausschlaggebende Wichtigkeit dieses Schicksals»
was unsere TeUnahme erregt. Denn davon, ob diese Gebiete dem
Katholizismus erhalten wurden oder nicht, hing zum guten Teile die
Machtstellung beider Konfessionen in Deutschland und in den Nieder-
landen ab. Zeitgenössische Politiker der verschiedensten Richtungen
und Staaten haben deshalb den dortigen Menschen, Dingen und Elnt-
wickelungsmöglichkeiten ihre Aufmerksamkeit gewidmet, und es ist
nicht allein die von seinen früheren Studien mitgebrachte Vorliebe
für dieses Spezialthema , sondern vor allem die Erkenntnis seiner all-
l) Bayerische Bistumspolitik in der /. HälfU des XVL Jahrhunderts mtt besonderer
Rücksicht auf SaUburg in den Beiträgen rur bayerischen Kirchengeschichte VI, 4, 5.
(Erlangen 1900).
-Jl
Ifemeingeschichtlichen Tragweite, welche Moritz Ritter bestimmt
hat, in seiner Deutschen Geschichte im Zeitalter der Gegenrefor-
tfuUion die einschlägigen Probleme so ausführlich zu behandeln.
Dabei ist dann der Gedanke, wie wenig interessant eigentlich die un-
bedeutende Person des Herzens ist, mehr und mehr gegenüber dem
spannenden Eindruck gewichen, welchen die sich wechelseitig kreu-
zenden und unterstützenden Faktoren mit ihren Gründen und Erfolgen
auf den rückwärtsschauenden Historiker erwecken. Derartige Strö-
mung^en würden wir auch bei anderen Höfen und in anderen Ländern,
namentlich in den geistlichen Gebieten, durch tieferes Studium ge-
winnen; es würde sich vielfach, was bei oberflächlicher Betrachtung
als einheitlich und zusammengehörig erscheint, dem schärferen Be-
obachter, ähnlich wie in der Astronomie, in ein Durch-, Gegen- und
Nebeneinander ganz verschiedener Kräfte auflösen. Es ist darum auch
für den nicht speziell an der niederrheinischen Geschichte interessierten
Gelehrten wertvoll, an einem besonders instruktiven Beispiel zu verfolgen,
wie sich die Konstellationen und Kontraste gestalten und wie Schwan-
kungen und Irrungen oft auf die Verschiedenheit in der jeweüigen
Starke der einzelnen Faktoren zurückgeführt werden müssen, nicht
aber immer der persönlichen Inkonsequenz oder Halbheit eines ein-
zelnen Fürsten oder leitenden Staatsmannes zugeschrieben werden
dürfen. Die Möglichkeit, dieses Beispiel für die Betrachtung anderer
Höfe und Territorien zu nutzen, liegt um so näher, weil in den letzten
Jahrzehnten verschiedene Forscher als Führer auf diesem Wege er-
standen sind. So hat Keller aus verschiedenen Archiven seine
dreibändige Gegenreformation in Westfalen und am Niederrhein,
Aktenstücke und Erläuterungen (1555 — 1609) in den Publikationen
aus den Preufsischen Staatsarchiven (Leipzig 1881 ff.) zusammengetragen,
so hat Ritter die Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde zur Tätigkeit
gerade auf diesem Gebiete wiederholt angespornt; insbesondere sind
in dieser Richtung Belows Landtagsakten von fülich- Berg i. Bd.
♦Düsseldorf 1895) mit ihren mannigfachen Vorarbeiten und Lossens
Briefe van Andreas Masius und seinen Freunden, j^j8 — 757 j
in den Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde II
:Leq>zig 1886) zu nennen, und Redlichs Kirchenpolitik wird wesentlich
Vollständigeres bieten. (Schlufs folgt.)
n
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Mitteilungen
Yersaminlangeil» — Vom 22. bis 25. September fand in Düssel-
dorf die Hauptversammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts-
und Altertumsvereine ') unter dem Protektorate Sr. Königl. Hoheit des
Fürsten Leopold zu HohenzoUern tmd unter dem Vorsitze von Geh.
Archivrat Bai Heu statt Die Industrie-, Gewerbe- und Kunstausstellung
hatte diesmal nach der rheinischen Ktmststadt gerufen: 167 auswärtige Ver-
treter der Landes- und Ortsgeschichte waren der Einladung der Stadt *) ge-
folgt, während sich 99 einheimische Teilnehmer einzeichnen liefsen. Von
den jetzt im Gesamtverein verbundenen 153 Vereinen — die Liste nach
dem Stande vom 23. September gelangte zur Verteilung — hatten 66 d. h.
23 mehr als 1901 nach Freiburg und 2 mehr als 1900 nach Dresden
eigene Vertreter abgeordnet Eine Reihe Landesregienmgen (Anhalt, Baden,
Bremen, Hamburg, Elsafs-Lothnngen, Hessen, Mecklenburg-Schwerin, Schaum-
burg-Lippe, die Thüringischen Regierungen, Württemberg) sowie die Preufsische
Archiwerwaltung und 4 Städte (Breslau, Dortmund, Hildesheim, München)
hatten eigne Vertreter entsandt, aber die Reichsverwaltung hat diesmal davon
abgesehen. Nach der organisatorischen Seite hin wurden in der Abgeordneten-
sitzung Erwägungen angestellt, wie sich die Einnahmen des Gesamtvereins
vermehren lassen könnten, und dabei allseitig anerkannt, dafs eine gröfsere
Verbreitung des Korrespondenxhlattes diesem Zwecke imd zugleich dem
anderen, sachlich immer weitere Kreise für die Bestrebungen des Gesamtvereins
zu interessieren, am besten dienen würde. Vor einer Erhöhung des von den
Vereinen jetzt zufliefsenden Beitrags (15 Mark vom Verein) wurde dringend
gewarnt, dagegen müssen die Vereine immer wieder darauf aufmerksam ge-
macht werden, dafs sie für einzelne ihrer Mitglieder bei 5 Exemplaren den
ganzen Jahrgang (= mindestens 27 Bogen) für 3 Mark erhalten. Die Her-
stellung eines Gesamtregisters zu den abgeschlossenen 50 Jahrgängen des Korre-
spondenzblattes ist leider nicht möglich geworden, da die vom Reiche er-
wartete Unterstützung ausgeblieben ist Die Versammlung wird 1903 in Erfurt
stattfinden, 1904 vermutlich in Danzig und für 1905 wird an Bamberg
gedacht. Die verhältnismäfsig zahlreichen Österreicher sprachen den Wunsch
aus, dafs die Hauptversammlung doch auch einmal in einer Österreichischen
Stadt abgehalten werden möchte. Bezüglich der Zeit wurde mit Recht be-
tont, dafs in den Tagen nach dem 20. September tatsächlich die höheren
Schulen in keinem deutschen Staate Ferien hätten und dafs sich die letzten
September- oder ersten Oktobertage in dieser Beziehung zweifellos besser
eignen würden. — Der rührige Ortsausschufs unter dem Vorsitz von Archivar
Otto Redlich, dem Vorsitzenden des „Düsseldorfer Geschichtsvereins",
hatte eine emsige Tätigkeit entfaltet, um die von der Arbeit freie Zeit den
Gästen so angenehm wie möglich zu machen; die Stadt hatte für die Ver-
handlungen die prächtigen Räume der Tonhalle zur Verfügung gestellt imd
gab dort den Versammlungsteilnehmern eine opulente Abendfestlichkeit; eine
1) Über die Tagung in Freiburg i. B. 1901 vgl. Bd. III, S. 85 — 91.
2) Als Festgabe der Stadt wurde jedem auswärtigen Teilnehmer die im Auftrage
des Oberbürgermeisters von HansMeydenbauer verfafste reich illustrierte Festschrift Di>
Stadt Düsseldorf und ihre Verwaltung im Ausstellungsjahre igo2 (244 S. 4®) überreicht.
grofise Reihe literarischer Festgaben konnten die Gäste zur dauernden Er-
innerung mit nach Hause nehmen, und ein Ausflug nach der sehenswürdigen
Krönungsstadt Aachen, deren Kunstschätze im Münster, Rathaus nebst Archiv
und Bibliothek besichtigt wurden, schlössen die Festtage ab. Noch verdient
die yon Historienmaler F. Crem er entworfene künstlerich ausgeführte Teil-
nehmerkarte, welche das Bild der Stadt Düsseldorf von 1650 zeigt, Erwähnimg.
Die Vorträge der Hauptversammlungen eröffnete Prof. Delbrück
(Berlin) mit recht anschaulichen Erörterungen über Römerfeldxüge in Germanien
und versuchte darin die Wege zu zeigen, wie sich an der Hand des all-
gemeinen Wissens über Heeresorganisation und Strategie der Römer und mit
genauer Betrachtung der geographischen Verhältnisse die Berichte der Ge-
schichtschreiber, vor allem die des Tacitus, kritisch untersuchen lassen.
En^leisimgen in Bezug auf geographische und strategische Einzelheiten sind
bei Tacitus ebenso häufig wie z. B. bei Treitschke, deshalb müssen wir in
betreff der Zahl der tatsächlich kämpfenden Germanen, die weit überschätzt
wird, der Wahrheit näher zu kommen suchen, die Verpflegungsverhältnisse
und die Entfernungen ins Auge fassen: das Ergebnis ist hier, dafs die
Römer ihre Heere nur mit Hilfe des Lebensmitteltransports auf dem Wasser-
w^e verpflegen konnten, dazu stand ihnen die Ostsee tmd die während fünf
Monaten schiffbare Lippe zur Verfügung, und deshalb haben sie sich immer
diesem Flusse entlang bewegt, an dessen oberem Teile aber grofse Magazine
errichtet, von denen aus die Weser in wenigen Tagemärschen zu erreichen
war, imd dort fanden sie neue Vorräte, welche von der Nordsee her den
Strom herauf kamen; an der Wesermündung stand deshalb ein Kastell. —
Die Entstehung des mittelalterlichen Bürgertums in den Rheinlanden behandelte
der durch Studien über die frühmittelalterliche Geschichte namentlich Kölns
bekannte Dr. Oppermann (Köln): Der in der Karolingerzeit aufblühende
Handel brachte den alten Römerstädten in den Rheinlanden einen ersten starken
Bevölkerungszuwachs. Ihr Zusammenschluls zu einheitlichen Gebilden unter der
Herrschaft der Bischöfe tmd Burggrafen erfolgte tmter dem Druck der Normannen-
not; durch die Ottonischen Privilegien erhielten diese Zustände ihre rechtliche
Anerkennung. Gleichzeitig mit den Ottonen. waren im Norden die flandrischen
Grafen emporgekommen, und beide Dynastieen begünstigten den neuen Auf-
schwung des Handels, der jetzt mit veränderten örtlichen Rechtsverhältnissen zu
rechnen hatte. Freier Grundbesitz war zum Vorrecht einer kleinen Minderheit
geworden, und die im X. Jahrhundert sich ansiedelnden Kaufleute mufsten
Land zu Erbpacht gegen Zins erwerben. Dieses Rechtsverhältnis hatte sich
aus prekarischen Formen entwickelt, aber während von denjenigen, die als Entgelt
für prekarischen Grundbesitz Kriegsdienste leisteten, auch die Ministerialen
trotz unfreier Herkunft allmählich zu einem bevorrechteten Stande empor-
stiegen, der insbesondere in wichtigen Fällen das Recht hatte, sich vor Ge-
richt statt durch Gottesurteil durch Eid zu reinigen, blieben die Kaufleute,
die für ihr Land Zins zahlten, obwohl keineswegs alle unfreier Herkunft,
in einer politisch tmtergeordneten Stellung. Für die Bestrebungen, hier
Wandel zu schaffen, war in den Gilden eine Organisation gegeben, deren
politische Bedeutung bereits um 1020 bei den Tieler Kaufleuten hervortritt und
unter dem Einflufs des lebhaften Seeverkehrs mit England, wie ihn die Eroberung
der britischen Insel durch Wilhelm von der Normandie zur Folge hatte.
so
— an-
wachsen mufste; die Statuten der Gflden von Saint- Omer und Valenciennes
bieten schon für das ausgehende XI. Jahrhundert lehrreiche Einblicke in
diese Verhältnisse. Die bischöflichen Stadtherren standen dieser Bewegung
feindlich gegenüber ; doch ÜEuid das Bürgertum einen Rückhalt an der könig-
lichen Gewalt, seitdem Heinrich IV. in immer schärferen Gegensatz zu
den Reichsflirsten geriet Der Köhier Aufstand von 1074 besafs freilich
auf dem platten Lande zu wenig Rückhalt, um seine Ziele durchsetzen
zu können; eine Reaktion folgte, tmd die kommtmale Bewegung in Nord-
frankreich überhohe die Kölner. In Cambrai nahmen an der Kommune,
die um iioo errichtet wurde, auch die ritterlichen Mannen des Erzbischofs
teil, und der durch die Revolution geschaffene Zustand erhielt sich mehrere
Jahre lang. Er bietet den Schlüssel zur Beurteilung der Kölner Verhältnisse,
der coniuratio von 1 1 1 2 : sie ist aufzufassen als ein Zusammenschlufs der
zu Erbpacht in der Rheinvorstadt angesiedelten Kaufleute mit den Altfreien
und Ministerialen der Altstadt. Im Sinne emer heimlich vorbereiteten Ver-
schwörung braucht die coniuratio nicht gedeutet zu werden; die auf dem
Grundbesitz beruhende Interessengemeinschaft aller, die Grundeigentum aus
erster Hand -- als Freie, als Prekarie gegen Kriegsdienst oder als Prekarie
gegen Zins — besafsen, wird man als Hauptfaktor bei dem Werdeprozefs
der Stadtgemeinde betrachten müssen. In gleicher Weise wie in der Vorstadt
war auch in der Altstadt der Boden durch Parzellierung imd Vermietung
an die Masse der Kleinhändler, Handwerker und Tagelöhner nutzbar gemacht
worden. Die Grofsbürgerschafl der Gnmdbesitzer , offiziell einstweilen noch
durch das Schöffenkolleg vertreten, dessen MitgUederzahl sich durch Hinzu-
tritt von Bewohnern der Rheinvorstadt verdoppelt hatte, ist in der Bicher-
zeche organisiert, und nach deren Muster wird für Inmiobiliarverträge mit
den Mietern, den Kleinbürgern, in jedem Kirchspiel eine Behörde geschaffen ;
es ist der Ursprung des Kölner Schreinswesens. In den mittelrheinischeu
Städten (Mainz, Worms, Speyer), deren Handel Binnenhandel war und bei
Strafsburg, Regensburg, Erfurt seine Grenze fand, hat die Kaufmannschaft
eine imgleich geringere Rolle gespielt; hier blieb während des ganzen
XII. Jahrhunderts das bischöfliche Dienstrecht die Form, in der das öffent-
liche Leben sich bewegte. Aber die auf dem Grundbesitz beruhende Interessen-
gemeinschaft, die Ministerialen und hurgenses zusammenführte und gegen die
ärmeren Volksschichten abschlofs, war auch hier vorhanden; 11 16 hat
Heinrich V. an Grofsbürger und Kleinbürger von Mainz einen Brief gerichtet.
Aber wenn es auch im XII. Jahrhundert zur Ausbildung einer selbständigen
bürgerUchen Organisation am Mittelrhein nicht gekonmien ist, so trat doch
die rheinische Bürgerschaft in das XIII. Jahrhundert allenthalben als einheit-
licher Stand hinüber, der sich in der Ratsverfassung nur noch eine zweckmäfsige
Organisation zu geben brauchte. — An Stelle des Vortrags, den der am Er-
scheinen verhinderte Museumsdirektor Schuchhardt (Hannover) über FiHh-
geschichtlicJfe Burgen und Wohnsitze in Nordwestdetäschland angekündigt hatte,
sprach Geh. Archivrat B a i 1 1 e u (Berlin) über Königin Luise und die preufsisdte
Politik im Jahre 1810 und zeigte in lichtvollster Darstellung an der Hand
neu aufgedeckter Quellen, welch hervorragenden persönlichen Anteil die Königin
damals an den politischen Aktionen gehabt, imd wie sie sich im besonderen
dem Plane, Schlesien an Napoleon abzutreten, energisch widersetzt hat.
— 9^ —
Die Veihandlungen der ersten und zweiten Abteilung, zugleich
die des Verbandstages der west- und süddeutschen Vereine für römisch-
gemutnische Altertumsforschung ') eröfihete Oberlehrer Dr. Klinkenberg
(Köln) mit seinem Vortrag Die ^ Ära Ubiorum\und die Änfätige Kölns. Von
den zahlreichen an die Ära IThiorum sich knüpfenden Fragen ist nur die nacti
dem Wesen dieser Institution als einer Kultstätte der Roma und des Au^/tistus
^eich der berühmten Jra Lugdimensis als gelöst zu betrachten, aber die Haupt-
sadie, ihre Entstehung, Bedeutung und geschichtliche Entwickelung, bedürfen
noch der Klänmg. Die Ära Ubiorum ist spätestens gleichzeitig mit der Ära
Lugdunensis im Jahre 12 v. Chr., wahrscheinlich aber noch früher als der
Angustosaltar des Ubierstammes entstanden, sollte jedoch 9 n. Chr., als die
geplante Rhein-Elbprovinz genügend gesichert schien, zum exzentrischen
Mittelpunkt des Kaiserkultus der neuen Reichsuntertanen werden, weshalb
damals zum ersten Male ein Nicht-Ubier als Priester derselben berufen wurde.
Die Beweise für die frühe Entstehung und ursprüngliche Bedeutung des
Ubieraltars ündet K. teils in der allgemeinen Entwickelung des Kaiserkults,
der von einzelnen Stämmen tmd Städten ausging, tmd in der zur Adulation
neigenden Gesinnung der Ubier, insbesondere aber darin, dafs letztere nach-
weisbar keinen Anteil an der Ära Lugdunensis hatten, und dafs schon gegen
7 Y. Chr. sich an der Elbe ein Augustusaltar , an der Lippe ein Altar zu
Ehren des Drusus erhob. Mit der varianischen Niederlage sank die Ära
fJbiorum allerdings von der ihr zugedachten hohen Bedeutung wieder zurück,
aber sie blieb das vornehmste Heiligtum Kölns und der Augustusaltar der
Provinz Germania inferior. Darauf weisen nicht nur die zahlreichen Spuren
des ELaiserkultus in den kölnischen Denkmälern hin, sondern vor allem der
ältere Name der Kolonie Cohnkh Claudia Ära Agrippinensis oder kurz
.im , der sich sicher bis tief ins II. Jahrhundert hinein erhalten hat. Um
für die I^sung des schwierigsten Frage, der nach dem Standorte der Ära,
festen Boden zu gewinnen, ist die Schilderung des Tacitus von der Meuterei
der I. und 20. Legion beim Tode des Augustus mit Rücksicht auf die in
ihr enthaltenen Angaben über die Lage des oppidum Ubiorum, der Ära
und des Legionslagers von Belang. Auf Grund eingehender Untersuchungen
über die Grabdenkmäler und Gräberfelder Köbs bezw. über die älteste
Topographie und Geschichte der Stadt ergibt sich, dafs die literarische
Überüefenmg und die Denkmäler zu den gleichen Ergebnissen führen:
Das nach Osten, Süden und Norden ehemals steil abfallende
Plateau der späteren Colonia Agrippinensis hat das Legions-
lager und das oppidum Ubiorum in sich geschlossen, und
zwar nahm das Legionslager den östlichen, das unmittelbar
anschliefsende oppidum den westlichen Teil ein. Der für
das Lager aus dem Laufe der uralten Heerstrafsen bestimmte Raum erwies
t) In der Abgeordnetensitznng des Verbandes (vgL diese Zeitschrift IL Bd., S. 228
bis 234) wurde beschlossen: der Verband soll auch bei denjenigen Jahresversammlnngen
^ Gesamtrereios vertreten sein, die etwa im Norden oder Osten stattfinden. Femer
naftm der Verband mit dem gröfsten Interesse von der Mitteilung des Archivdirektors
Wolfram fMetz) über die Anffindang eines grofsen Amphitheaters in Metz Kenntnis und
t*aeüAneie e» einstimmig als dringend wünschenswert, dafs die mit grofsen Opfern frei-
'chcteo Reste des Amphitheaters sichtbar erhalten bleiben.
6
§-
sich annähernd gleich dem Räume des Bonner und Neufser Lagers zusammen-
genommen, in die bekanntlich je eine der Kölner Legionen verlegt wurde.
Die Ära Ubiorum hat nicht im Lager, sondern vor, oder — am wahr-
scheinlichsten — im o^i^um gestanden : als natürlichster Standpunkt
ergibt sich der heutige Neumarkt, von dem die beiden wichtigsten
Heerstrafsen gegen Westen und Südwesten ausgingen. An ersterer hat sich
noch auf dem Neumarkt selbst der Marmorkopf einer Borna mit einem für
die Aufstellung eines Standbildes bestimmten Fundamente, an letzterer, etwas
weiter entfernt, sind die in einer Grube niedergelegten Reste eines dem Kaiser-
kulte dienenden Tempels gefunden worden; beide Denkmäler gehören der
älteren Epoche der römischen Herrschaft an. Als eigendicher Gründer Kölns
ist der das ganze Mittelalter hindurch festgehaltenen Überlieferung entsprechend
M. Vipsanius Agrippa zu betrachten; auf ihn geht die Anlage der
Heerstrafsen, des Lagers, des oppidum und mittelbar wohl auch die der
Ära Ubiorum zurück. — Museumsdirektor Lehner (Bonn) berichtete über
die neuerdings von ihm aufgedeckten römischen Befestigungen von Remagen.
Die linksrheinischen Erdkastelle augusteischer Zeit in Obergermanien
konnten Ende des L Jahrhunderts eingeebnet werden, weil der rechtsrheinische
obergermanische Limes die Rolle als Grenzschutz übernahm, bis er um die
Mitte des III. Jahrhunderts verloren ging; dann wurde der linksrheinische
Festungsgürtel wieder hergestellt. Dagegen mufsten die linksrheinischen Be-
festigungen Untergermaniens stets ab solche bestehen bleiben, weil sie
niemals durch einen rechtsrheinischen Grenzschutz abgelöst wurden. Dem
entsprechend fand sich bei den Ausgrabungen in Remagen, deren Abbildungen
vorgelegt wurden, sowohl das Steinkastell des II. als auch die spätrömische
Befestigung des III. Jahrhunderts. Während das ältere Kastell die Form
und die Verhältnisse der gleichzeitigen Limeskastelle aufwies, war die spät-
römische Befestigung unter Benutzung der stehen gebliebenen 3 m hohen
und 1,30 m breiten Kastellmauer hergestellt, indem diese durch einen
Vorbau auf die Breite von 3 m und durch Erhöhimg auf die Höhe von
mindestens 6 m gebracht wurde. — Prof Bone (Düsseldorf) legte sodann
eine Sammlung antiker Gläser, insbesondere Millefiorigläser , vor und be-
sprach die römischen Glasarbeiten im Vergleich mit einheimischen Fabri-
katen, während Domkapitular Schnütgen (Köln) als Erläuterung zu den in
der kunstgeschichdichen Abteilung der Ausstellung zu besichtigenden rheinischen
Glasmalereien die Entwickelung der Glasmalerei vom Anfang des XIII. bis
zur Mitte des XVI Jahrhunderts behandelte.
In der Sitzung der dritten und vierten Abteilung besprach Prof.
v. Below (Tübingen) die Theorie vom Ureigentum und zeigte, wie das all-
mählich gewonnene Dogma, als ob das Gemeineigentum an Gnmd und
Boden bei allen Völkern der ursprünglich belegte Zustand sei, durch eine
Reihe von Einzeluntersuchungen, welche die angeblichen Belege kritisch zer-
pflückten, namentlich im letzten Jahrzehnt als fadsch erwiesen worden ist —
Recht lehrreich dafür, wie wichtig die Kirchenvogtei für die Ausbildung der
Landesherrlichkeit ist, war der Vortrag des Essener Stadtarchivars K o n r a d
Ribbeck über die Kölner ErxbiscJiöfe und das St iß Essen von 1243 bis
1288. Fast während des ganzen XIII. Jahrhunderts haben die Kölner
Erzbischöfe, die bereits die Herrschaft über die beiden anderen reichs-
t3
— ^ —
unmittelbaren Damenstifter Westfalens (Herford und Vreden) besafsen, nach
dem Besitze des Stiftes Essen gestrebt Besonders wertvoll war letzteres,
weil es mit seinen am Hellwege bis nach Unna sich an einander reihenden
Höfen für die Erzbischöfe die Verbindung mit Soest tmd dem Herzogtum
Westfalen herstellte. Ob schon Engelbert I. (f 1225) Absichten auf Essen
gehabt hat, als er den Kampf gegen die Übergrifife des Stifbvogts Friedrich
Ton Isenburg in die Hand nahm, mufs dahin gestellt bleiben; jedenfalls ist
ein solches Bestreben, falls es vorlümden war, zunächst durch den Sturz des
IsenbuTgers m'cht gefordert worden. König Heinrich, der Sohn Friedrichs 11.,
lieis sich selbst zum Stiftsvogt wählen und übertrug die Ausübung der Amts-
pflichten bewährten staufischen Parteigängern. Vielleicht hat zuletzt dennoch
Engelberts Nachfolger, Heinrich von Molenark, die Essener Vogtei an sich ge-
bracht, denn ihn befehden die Söhne Friedrichs von Isenburg. Die jülichsche
Gefimgenschaft des Erzbischofs Konrad von Hohstaden 1242 ermutigte die
Isenburger, und Dietrich, der älteste Sohn Friedrichs, erbaute mit Unterstützung
seines Oheims, des Bischofs von Osnabrück, die Veste Neu-Isenburg bei Relling-
hausen an der Ruhr: zweifellos hat er damab die Essener Vogtei wieder
an sich gerissen. Erzbischof Konrad wandte sich nach der Verständigung
mit Bei^ und Jülich mit ganzer Macht gegen die westfälischen Grafen, er-
oberte 1244 die neue Isenburg, besetzte Essen und liefs seinen Anhänger
Gottfried von Sayn zum Vogt wählen, während ihn selbst der Papst zum
Konservator des Stifb ernannte ; die Ummauerung Essens fallt in den Rahmen
der zahlreichen Stadtbefestigungen Konrads. Nach Gottfrieds Tode nahm
Konrad die Vogtei selbst an sich und setzte auf die Isenburg einen erz-
bischöflichen Drosten, der zugleich Richter und Vorsitzender des Rates in der
Stadt Essen wurde. Schliefslich hat der Erzbischof das bisher exemte Stift auch
seiner geistlichen Gerichtsbarkeit unterworfen. Sein Nachfolger Engelbert ü.
(1261 — 74) verzichtete auf die kirchliche Oberhoheit, behauptete aber in
gutem Einvernehmen mit der Äbtissin und deren Bruder, dem Grafen Gott-
fried von Arnsberg, die Vogtei, und Bissen wurde auch unter ihm wie eine
erzstiftische Stadt behandelt; Dietrich von Isenburg ward 1272 durch Be-
willigung einer Rente an das kölnische Interesse gefesselt. Nach Engelberts
Tode suchte sich die Äbtissin der erzbischöflichen Botmäfsigkeit zu entziehen
und übertrug die Vogtei dem König Rudolf. Allein Erzbischof Siegfried
(1275 — 97) liefs von der kölnischen Partei in den beiden Essener Kapiteln
die Wahl umstofsen und sich selbst zum Vogt ernennen, während Rudolf,
der damab die Unterstützung des Erzbischofs gegen Ottokar von Böhmen
nicht entbehren konnte, die Ausübung der Vogtei ihm ebenfedls übertrug.
Obwohl sich das Verhältnis des Königs zum Erzbischofe wieder verschlechterte
and ein gegen ihn gerichtetes rheinisch-westfälisches Adelsbündnis entstand,
so be^ite eine Reihe von unerhörten Glücksfällen dennoch Siegfried von
seinen gefahrlichsten Gegnern. Als der König, den zunächst die Aufgaben seiner
Hau^K>litik in Anspruch genonunen hatten, ins Reich zurückkehrte und sich
ihm der Erzbischof 1282 in Oppenheim unterwarf, wurde die Essener An-
gelegenheit dem Urteil eines Schiedsgerichts überlassen; tatsächlich behaup-
tete sich Siegfried bis 1288 im Besitze der Isenburg und der Vogtei. Erst
die Schlacht bei Worringen führte auch hier zum Sturze der kökiischen
.Machtstellung. — Über die Geschichte des Schlosses Burg an der Wupper
6*
— iö& —
berichtete schliefslich Herr Bibliothekar Otto Schell (Elberfeld). Das jetzt
im Wiederaufbau befindliche Schlofs Burg vergegenwärtigt die Geschichte des
bergischen Herrscherhauses und Landes und ist kunstgeschichlich von Interesse,
weil vom Xll. bis XVllI. Jahrhundert daran gebaut worden ist. Burg trat
im XII. Jahrhundert an Stelle von Altenberg, das die Grafen von Werl-
Altena in ein Cistercienserkloster umwandelten. Schlofs Burg, schon vor
dieser Zeit, vielleicht im Ringe einer alten Wallburg erbaut, hiefs nun „Neue
Burg" tmd war seit 1133 Lieblingssitz der bergischen Grafen, zuerst wohl
Adolfs IL, dessen Sohn Engelbert I. (f 1189) sich nach seinem Herrscher-
sitze zu benennen pflegte und in ihm eine Niederlassung des Johanniter-
Ordens begündete. Sein jüngerer Sohn, der Kölner Erzbischof Ekigelbert
(f 1225) nahm einen vollständigen Umbau vor: der herrliche Palas mit
seinen Spitzbogenfenstem im Rittersaal ist sein Werk. Nach Engelbert
lösen sich die engen Beziehungen, die bisher zwischen dem Erzbistum Köln
imd den Grafen von Berg bestanden, zum Schaden der letzteren. Unter
den nunmehrigen Herzögen Wilhelm IL (1475 — ^Si^) "^^ Johann IIL
(1511 — 1539) wurde bei einer neuen durchgreifenden baulichen Veränderung
der Palas umgebaut und mit einem neuen Dach versehen, dessen malerische
Fachwerkaufbauten möglichst genau wieder hergestellt worden sind. 1528
war das jetzige Torhaus vollendet. War noch 1526 die Hochzeit der Herzogs-
tochter Sibylla mit Herzog Johann Friedrich von Sachsen hier gefeiert worden,
so kehrten die fürstlichen Gäste nun immer seltener ein, bis kurz nach dem
Abschlüsse des Westfälischen Friedens 1648 der Hauptteil des Schlosses
von der bisherigen Besatzung unter Oberst Heinrich von Plettenberg zerstört
wurde. Von da an dienten die Überreste Zwecken der Kellnerei, im XIX. Jahr-
hundert verschiedenen industriellen Unternehmungen, bis 1849 ^'^ Balken vom
Dach des Palas zum Bau des Elberfelder Landgerichts verwendet wurden. Die
Ruine blieb stehen, und 1887 bildete sich „der Verein zur Erhaltung der
Schlofsruine Burg'*, dem es gelungen ist das Interesse weitester Kreise an
diesem geschichtlichen Denkmal zu erwecken und die bauliche Wiederher-
stellung in die Wege zu leiten.
Die erst 1901 gegründete fünfte Abteilung für Volkskunde tagte
unter dem Vorsitze ihres Gründers, des Generalmajors v. Friesen (Dresden)
zum ersten Male. Hier mufste es als die wichtigste Aufgabe erscheinen^
das Wesen und die Aufgabe der geschichtlichen Volkskunde und ihre Eigen-
schaft als geschichtliche Disziplin zu beleuchten, und dies tat Prof. Brenner
(Würzburg) in einem Vortrage, dessen Ergebnis er schon in Thesen bekannt
gegeben hatte. Als Aufgabe der wissenschaftlichen Volkskunde bezeichnet
er darin a) alle Äufserungen der Volksseele in Wort und Werk, soweit diese
von höherer Kultur unberührt ist, darzulegen ; b) die Äufserungen im Wandel
der Zeiten geschichtlich und kritisch zu verfolgen; c) den physiologischen
und geschichtlichen Gründen nachzugehen, die sie hervorgebracht und haben
wachsen lassen. Von den erfreulicherweise schon recht zahlreichen Vereinen,
die sich ausschliefslich der Volskunde widmen, gehören bis jetzt nur vier
dem Gesamtverein an, nämlich der Verein für sächsische Volkskunde (Dresden),
Der Verein für Egerländer Volkskunde, Die Kommission für die deutschen
volkstümlichen Überlieferungen in Böhmen (Prag) und Der Verein für bayerische
Volkskunde und Mundartenforschung (Würzburg).
— im: —
In den vereinigten Abteilungen sprach an erster Stelle Armin
Tille (Leipzig) über Erschließung tind Ausbeutung der kleineren Archive.
Nach kurzer Übersicht über das, was bisher in dieser Hinsicht in einigen
deutschen Landschaften und Österreichischen Kronländern geleistet worden
ist, warnt T. vor Überschätzung der Archivalien imd fordert unter Ver-
meidung einer Inventarisation , die Aufgabe der Archiveigentümer bleiben
mu£5, systematische Dmchsicht aller Archive der Gemeinden, der Pfarrämter
mid der im Privatbesitz befindlichen durch die zuständigen geschichtlichen
Organisationen. Gegentiber dem früher von anderer Seite erhobenen Vorwurfe,
man habe die Urkunden allzusehr vor den Akten bevorzugt und sei bezüg-
lich der Zeitgrenze nicht weit genug herabgegangen, deren Berechtigung T.
bis zu gewissem Grade anerkennt, betont er, dafs an ersterem die mangel-
hafte Entwickelung der Regestentechnik, die hier eine ganz andere sein mufs
als im grofsen umfassenden Zentralarchiv, viel Schuld trägt und dafs in der
Tat je vollständiger die Zentralarchive werden, desto weniger in den ört-
lichen zu finden ist. Die von T. aufgestellten Forderungen, die eine An-
regimg zu praktischer Betätigung in aUen Landesteilen sein sollen, fanden
ihren Ausdruck in der von der Versammlung angenommenen Resolution:
„Die Jahresversammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts-
und Altertumsvereine spricht allen den Körperschaften, welche es unter-
nommen haben, die einer fachmännischen Leitung entbehrenden Archive
ihres Bezirks systematisch auf ihren Inhalt untersuchen zu lassen, ihren
wärmsten Dank für die dadurch der Geschichtsforschung geleisteten Dienste
aus und bittet zugleich, das begonnene Werk fortzusetzen und womöglich
die Ergebnisse vollständig zu veröffentlichen.
Femer gibt sie der Hoffnung und dem Wunsche Ausdruck, dafs auch
in den Landesteilen, wo eine Untersuchung der kleineren Archive noch
nicht in Angriff genonmien worden ist, die berufenen Vertreter sich bald
emstUch mit der Frage beschäftigen, wie eine solche in die Wege geleitet
werden kann.
Als geeignete seitens der Geschichtsvereine zu ergreifende Mafs-
nahmen dürften etwa folgende Schritte zu betrachten sein:
a) in den Versammlungen der Geschichtsvereine immer wieder auf
die Wichtigkeit der kleineren Archive und ihrer Erschliefsung hinzuweisen
und zur Bearbeitung ihrer Inventare aufzufordern,
b) in den Vereinszeitschriften unter den Miszellen regehnäfsig über
den Inhalt einzelner Archive Mitteilungen zu veröffentlichen,
c) die staatlichen und kirchlichen Oberbehörden zu entsprechenden
Anordnungen (Ordnung, Verzeichnung, sowie feuersichere und trockene
Aufbewahrung) in ihrem Amtsbereiche anzuregen,
d) Verzeichnisse der im Privatbesitz befindlichen Archive anzulegen
mid namentlich den Adel zu veranlassen, die Archive, die zugleich das
Material für die Geschichte der einzelnen Geschlechter liefern, durch-
forschen und inventarisieren zu lassen. Wenn die Geschichtsvereine dabei
die für eine solche Tätigkeit geeigneten Personen namhaft machen,
werden sie der Sache selbst den gröfsten Dienst erweisen." —
Die Notwendigkeit, jetzt überall an die Ausführung geschichtlicher Karten
zu gehen, betonte Prof v. Thudichum (Tübingen) mit Hinweis darauf,
— 10»- —
dafs die Bewegung zur Herstelltmg von Grundkarten jetzt genügend im FluGs ist
und es vielmehr darauf ankommt, dieselben nutzbar zu machen. Das, was Thudi-
chum vorschwebt, ist eine Organisation der Art, dafs die historischen Koomiis-
sionen und Vereine je (tir ihre Gebiete Klarten bearbeiten, welche es ermöglichen,
durch Zusammenfligung eine einheitliche geschichtliche Karte von Deutschland
für die Jahre 1789, 1654 und 1525 herzustellen. Dem Wunsche des
Redners wurde entsprochen durch den Beschlufs, alle historischen Konmiis-
sionen imd Vereine, sowie alle deutschen Geschichts- tmd Altertumskundigen
einzuladen, sich alsbald an der Herstellung handschriftlicher historischer
Karten womöglich über die Gebiets Verhältnisse in den Jahren 1789, 1654
imd 1525 zu beteiligen. In der Erörterung wurde vornehmlich betont,
dafs in den einzelnen Landschaften die Zeitptmkte, für die man zweckmäfsiger-
weise Karten herstellt, verschieden sind, andrerseits aber mit Recht dem
entgegengehalten, dafs jeder solchen Karte ein Text mit den Quellennach-
weisen beigefügt werden mufs und dafs es, wenn Klarte tmd Text vorliegen,
verhältnismäfsig einfach sein wird, für eine ganz Deutschland umspannende
Karte die Einträge zu modifizieren, wenn auch den Verhältnissen der einzelnen
Landschaften entsprechend dort zweckmäfsig andere Zeitpunkte gewählt werden.
Jedenfalls ist es aufser Frage, dafs das gröfste allgemeine Interesse obwaltet,
sorgfältig bearbeitete Karten zu erhalten, welche den Zustand Deutschlands
kurz vor der französischen Revolution, nach der Ausführung der Bestim-
mungen des Westfälischen Friedens und vor Beginn der Religionsveränderungen
darstellen. — Die versprochenen Ausführungen von Rudolf Kötzschke
(Leipzig) über den gegenwärtigen Stand der historischen Geo-
graphie Deutschlands, die zweckmäfsigerweise vor dem Thudichumschen
Antrag hätten gehört und besprochen werden sollen, mufste der Vortragende
wegen des üblichen Zeitmangels auf einige kurze Bemerkungen zusammen-
drängen, in denen er die wichtigsten derzeitigen Unternehmungen historisch-
kartographischer Art, besonders den von der Gesellschaft für Rheinische
Geschichtskunde herausgegebenen Geschichtlichen Atlas der Rheinpratmix und
den Historischen Atlas der österreichiscfien Alpenländer *) sowie die Bearbeitung
der historisch-kirchlichen Geographie nach Inhalt imd Methode charakterisierte. —
Bezüglich der geplanten Fortsetzung des Walther-Coner'schen Re-
pertoriums der geschichtliccen Zeitschriftenliteratur im Sinne des von dem
dazu eingesetzten Ausschusse entworfenen Planes ^) war leider nur ein nega-
tiver Beschlufs möglich, da kein einziger Verein auch nur seine Meinung
bezüglich der ihm zugemuteten finanziellen Opfer geäufsert hat. In der be-
absichtigten Form läfst der Gesamtverein seinen Plan fallen. Dagegen soll
sich der Verwaltungsausschufs mit der neuerdings in Berlin entstandenen
Bibliographischen Gesellschaft^) ins Einvernehmen setzen, damit
in geeigneter Weise im Rahmen der von ihr geplanten Veröffentlichungen
eine Übersicht über die geschichtliche Zeitschriftenliteratur seit 1850 her-
gestellt wird. — Im Auftrage der Regierung legte Archivdirektor Wolfram
(Metz) der Versammlung die ersten fünf Lieferungen eines neuen historisch-
i) Vgl. diese Zeitschrift II. Bd., S. 217—227.
2) Vgl. Korrespondenzblatt des Gesamtrercins 50. Jahrg. (1902), S. 28—30.
3) Vgl. über die Aufgaben, die sich diese Gesellschaft gestellt hat, und die Mittel,
durch welche sie diese zu lösen gedenkt, oben S. 22 — 25.
- & -
statistischen Werkes für Ebafs • Lothringen vor: Bas Reichsland Elsaß -Lo-
lhri$igen, Landes und Ortsbeschreibung, herausgegeben vom Statistischen
Bureau des Ministeriums für Elsafs-Lothringen (Straisburg, Ed. Heitz, 1902.
Vollständig Mk. 15,40), gliedert sich in i. eine allgemeine Landesbeschreibung,
2. eine Statistik des Landes und 3. ein statistisch -geschichtliches Ortsver-
zeichnis, soll aber vorzugsweise der Gegenwart dienen. Sind auch die alten
Herrschaftsgebiete und Verwaltungsbezirke neben den modernen aufgenommen,
so sind doch die älteren Namenformen nur zum Teil berücksichtigt und im
allgemeinen nur die gedruckten Quellen benutzt worden. Es handelt sich
also nicht eigentlich um ein Werk, das dem im lU. Bande dieser Zeitschrift,
S. 97 ff. charakterisierten vergleichbar ist, aber doch um eins, das immerhin
in gewissen Grenzen dem Geschichtsforscher dienen kann, vorausgesetzt, dafs
die einzelnen mitgeteilten Nachrichten zuverlässig sind: das Urteil darüber
steht den Spezialforschem im Reichslande zu.
Eingegangene BBeher.
Tayenthal, Max von: Die Gablonzer Industrie und die Produktions-
genossenschaft der Hohlperlenerzeuger im politischen Bezirke Gablonz
[= Wiener staatswissenschaftliche Studien, herausgegeben von Edmund
Bematzik und Eugen von Philippovich , 2. Bd., 2. Heft]. Tübingen
und Leipzig, J. C. B. Mohr, 1900. 90 S. 8<>. M. 3,20.
Skalsky, Ad.: Die evangelische Kirchenordnung für Teschen vom Jahre
1584 [= Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantis-
mus in Österreich, 22. Jahrgang, 1901, S. i — 17].
Snsebach, H. : Zur Geschichte des Postwesens der Stadt Göttmgen
[= Protokolle über die Sitzungen des Vereins für die Geschichte
Göttingens 1900 — 1901, S. 115 — 143].
Vancsa, Max: Über Landes- und Ortsgeschichte, ihren Wert und ihre
Au%aben, Vortrag gehalten am i. März 1902 bei der Festfeier des
Akademischen Vereines deutscher Historiker in Wien anläislich des
25. Semesters seines Bestandes. Wien, Selbstverlag des Vereines, 1902.
18 S. 80.
Derselbe: Niederösterreich im Mittelalter [= Das Wissen für Alle. Volks-
tümliche Vorträge und populärwissenschaftliche Rtmdschau (Wien), 2. Jahr-
gang, Nr. 28 imd 29].
Benjes, C. : Zeittafel zur Mecklenburgischen Geschichte nebst Stammbäumen
und Wappen. Berlin, Süsserott, 1899. 8 S. M. 0,10.
Bilfinger: Das germanische Julfest [= Programm des Eberhard-Ludwig-
Gymnasiums in Stuttgart, 1900 — 1901]. 132 S. 4®.
Branner, Heinrich: Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte. Leipzig,
Duncker & Humblot, 1901. 298 S. 8^ Gebunden M. 6,80.
Carlebach, Ephraim: Die rechtlichen und sozialen Verhältnisse der
jüdischen Gemeinden Speyer, Worms und Mainz von ihren Anfangen
bis zur Mitte des XIV. Jahrhunderts. Frankfurt a. M., I. Kauffmann,
1901. 90 S. 80.
Deutsche Gaue, Zeitschrift für Heimatforschung und Heimatkunde, her-
ausgegeben von Kurat Frank, Kaufbeuren. 10 Hefte jährlich M. 2,40.
HU* —
Doehler, Richard: Diplomatarium vallis S. Mariae monasterii sanctimo-
niaÜum ord. eist., die Urkunden des Königlichen Jungfrauenstifts und
Klosters Cisterdenser-Ordens zu St. Marienthal in der kgl. sächs. Ober-
lausitz, nach den sämtlichen Origbalen des Archivs in ausführlichen
Regesten, [= Sonderabdruck aus dem Neuen Lausitzischen Magazin
Bd. 78]. 138 S. 8».
* Gengier, Gottfried Heinrich: Über die deutschen Städteprivilegien
des XVI., XVn. imd XVIII. Jahrhtmderts [= Sonderabdnick aus der
Festschrift der Universität Erlangen zur Feier des achtzigsten Geburts-
tages Sr. Königlichen Hoheit des Prinzregenten Luitpold von Bayern].
Erlangen tmd Leipzig, A. Deichert (Georg Böhme), 1901. 44 S. 8^.
M. 1,20.
Gehrhard, Heinrich imd Küstner, Wilhelm: Der Dichter und Schriftsteller
Karl Geib und die Familie Geib von Lambsheim, ein Gedenk- und
Erinnerungsblatt zum 50. Todestage des Dichters Karl Geib, heraus-
gegeben auf Veranlassung des Frankenthaler Altertumsvereins. Franken-
thal, Friedr. Albeck, 1902. 100 S. 8<>.
Grautoff, Ferdinand: Die Beziehimgen Lübecks zu Christian IV. bis
zum 30jährigen Kriege, Marburger Dissert. 1899. 51 S. 8^
Grütter, Fr.: Der Loin-Gau, ein Beitrag zur älteren Geschichte des Fürsten-
tums Lüneburg [= Veröffentlichungen zur niedersächsischen Geschichte,
herausg^eben von Jürgens, 4. Heft]. Hannover, M. & H. Schaper,
1901. 52 S. 8®. M. 1,00.
Hansen, Reimer: Wiedertäufer in Eiderstedt bis t6i6 [= Schriften des
Vereins für schleswig-holsteinische Kirchengeschichte. 11. Reihe (Bei-
träge und Mitteilungen) 2. Bd. (1901), S. 175 — 238].
Heineck, Hermann: Brandenburg-Preufsen und Nordhausen in urkund-
licher Darstellung, zur Feier der 100 jährigen Zugehörigkeit der Stadt
Nordhausen zur Krone Preufsen. Nordhausen, C. Haacke, 1902.
238 S. 80.
Herre, Paul: Europäische Politik im Cyprischen Krieg, 1570 — 1573,
I. Teil: Vorgeschichte imd Vorverhandlungen. Leipzig, Dieterich
(Theodor Weicher), 1902. 165 S. S^. M. 4,50.
Hilliger, Benno: Die Urbare von S. Pantaleon in Köln [= Publikationen
der GeseUschaft für Rheinische Geschichtskunde XX: Rheinische Urbare,
Sammlung von Urbaren und anderen Quellen zur Rheinischen Wirt-
schaftsgeschichte], Bonn, Behrendt, 1902. CIV und 725 S. 8^
Keller, Rudolf: Die Friedensverhandlungen zwischen Frankreich und
dem Kaiser auf dem Regensburger Kurftirstentag 1630. Bonner Disser-
tation. Bonn, Behrendt, 1902. 57 S. 8^
Kirchhoff, Alfred: Was ist national? Halle, Gebauer-Schwetschke, 1902.
44 S. 8«. M. 0,80.
Kraus, Joh.: Die Marken (Fabrikzeichen) der PorzellanmanuCaktur in Franken-
thal (1756 — 1800). Frankenthal, Friedr. Albeck, 1899. 45 und XIII
S. 80.
Prähistorische Blätter, unter Mitwirkung von Forschem und Freimden
der prähistorischen Wissenschaft herausgegeben von Prof. Dr. Julius
Naue in München. XIV. Jahrgang (1902), Nr. i. 16 S. 80.
Herantgeber Dr. Armin Tille in Leipcig. — Druck nnd Verlag von Friedrich Andreas Perdiet in Godia
Deutsche Geschichtsblätter
. Monatsschrift
cur
Fordening der landesgescMchtlicben Forschimg
IV. Band Januar 1903 4. Heft
Steiertnärkisehe Gesehiehtsehreibung itn
JAitteialter
Von
Franz Ilwof (Graz)
Wenn hier eine Darstellung der steirischen Historiographie ver-
sucht wird, so ist diesem nicht allzu leichten Unternehmen vorauszu-
schicken, dafs durchaus nicht an eine vollständige Aufzählung und
Besprechung aller Schriften zur steirischen Geschichte gedacht werden
kann; enthält doch Schlossar*s Bibliotheca Historico-Geographica
Stiriaca^) 3733 Nummern, obwohl sie nicht lückenlos und seit
äirer Vollendung manches Neue erschienen ist. Hier kommt es
darauf an, das Wichtigste und Bedeutendste, das ftir die betreffende Zeit
besonders Charakteristische und vor allem das ftir die Folge Belang-
reiche zu besprechen.
Die Anfange der Geschichtschreibung in Steiermark finden sich
in dem Benediktinerstifte Admont im Ennstale. Erzbischof Gebhard
von Salzburg gründete es, indem er 1074 aus St. Peter in Salzburg
zwölf Mönche dorthin sandte, der neuen Stiftung als Dotation die von
<icr heiligen Hemma, der 1045 verstorbenen Gemahlin des Grafen
Wilhelm von Friesach und Zeltschach gewidmeten Ländereien über-
gab und auch seinerseits reiche Schenkungen hinzufügte. Dafs man
in dem emporblühenden Kloster den Stifter nicht vergafs, beweist die
schon am Anfang des XII. Jahrhunderts von einem Admonter Mönch
entworfene vifa Gebhardi, aber der nächsten Generation genügte diese
kurze Lebensbeschreibung nicht, und ein anderer Admonter schilderte
nun eingehend das Leben Gebhards und seiner vier nächsten Nachfolger
(Thiemo, Konrad I., Eberhard, Konrad II.) mit besonderer Berück-
sichtigung ihres wohlwollenden Verhaltens gegen Admont *). Der Autor
i) Aach B. d. T.: Die Literatur der Steiermark in historischer^ geographischer
'tndetkfwgraphischer Besiehung. Ein Beitrag zur österreichischen Bibliographie. Graz 1886.
2) Gedruckt in den Mooameota Germaniae Historica, Scriptores XI, S. 25 — 33.
7
— 90 —
nennt die ältere Vita und die mündliche Überlieferung als seine
Quellen und schliefst mit dem Jahre Ii8i; eine andere Hand setzt
die Geschichte von Admont bis zum Abt Konrad 1242 und eine dritte
bis zum Abt Friedrich 1259 fort.
Auch die beiden Fassungen der Passio Thientonis scheinen in
Admont entstanden zu sein; die eine in Prosa in der Mitte, die an-
dere in Versen am Ende des XU. Jahrhunderts, und zwar rührt letztere
von einem Begleiter Thiemos auf dem Kreuzzuge her. Da an diesem
Abt Gisilbert von Admont und gewifs in Begleitung von Mönchen
und Dienstmannen seines Klosters teilnahm, so ist es nicht unwahr-
scheinlich, dafs einer der zurückgekehrten Admonter das Erlebte und
Gesehene in Versform beschrieb *). Erzbischof Thiemo fand auf der
unglücklichen Kreuzfahrt Herzog Welfs seinen Tod; in seiner Heimat
wünschte man einen Bericht über sein Ende, und diesem Wunsche
entsprechend beschrieb ein angeblicher Augenzeuge sein grauenvolles
Leiden und Sterben, aber schon Otto von Freising bezweifelt seine
Erzählung. Diese Schrift ist verloren gegangen, nur zwei verschiedene
Bearbeitungen, denen sie zu gründe liegt, sind erhalten, und eine da-
von ist aus Admont. Man besafs hier nach Wattenbach ^) eine
kurze metrische (beschichte der Salzburger Erzbischöfe bis auf diese
Zeit, knüpfte an diese im Anfange des XII. Jahrh. einige kurze Nach-
richten über Erzbischof Gebhard an und fügte, dann wieder zur Poesie
übergehend, das Leben und Sterben seines Nachfolgers Thiemo hinzu,
und das Ganze gibt eine recht gute Probe von der Formge-
wandtheit, die man sich damals in der Admonter Schule
erwerben konnte. Lehrreicher ist ein zweites Leben Thiemos,
welches die Zeiten vor dem Kreuzzuge ausführlicher behandelt , jedoch
erst um die Mitte des XII. Jahrh. verfafst ist und daher über jene
schon ziemlich fern liegenden Ereignisse manches F'ehlerhafte enthält.
Neben diesen Lebensschilderungen für Admont bedeutungsvoller
Persönlichkeiten entstanden dort auch Annale n. Diese beginnen mit
einer Computatio annorum nach Hieronymus, bringen Episoden aus
der Welt- und Kirchengeschichte und eröffnen die Reihe der Admonter
Ereignisse mit dem Ciründungsjahre 1074; mit den allgemeinen Be-
gebenheiten sind dann in der üblichen Weise Daten aus der Geschichte
des Klosters verflochten. Der Beginn der Niederschrift mag in das
Ende des XII. Jahrh. fallen; die Schriftzüge der ersten Hand reichen
i) Wichncr, Kloster Admont und seine Beziehungen zur Wissenschaft und zum
Unterricht, (o. O. Selbstverlag des Verfassers 1892.) S. 22 — 24.
2) Deutschlands Geschichtsquellen (4. Aufl. Berlin 1878), II., S. 61—62.
— 91 —
bis 1205 und zwei andere setzen das Werk bis 1250 fort. Unmittelbar
unterrichten diese Annalen über die Geschichte des Stiftes selbst, für
diis übrige sind die Annalen von Salzburg, Garsten, Melk, Ekkehard
und Otto von Freising benützt. Dafs sie von Admonter Mönchen
stammen, beweisen mehrere Stellen in ihnen selbst ^). Die Vita Geb-
hardi und die Passio Thienwnis sind erweitert, und die Kloster-
j^eschichte, verbimden mit einigen Angaben über die Salzburger Erz-
bischöfe, wird bis \\^^ fortgeführt. Später hat man noch ein Exzerpt
aus den Admonter Annalen bis 1231 hinzugefügt und die Kloster-
chronik von da bis 1259 fortgesetzt*).
Streng genommen nicht historischen Inhalts, aber doch hier an-
zuführen sind zwei Schriften des Abtes Engelbert von Admont (1297
bis 1327), das Gedicht de electione regis Rudolphi et de proelio et
cof^ictu regis Rudolphi contra regem Bohemiae Ottokarunt ^) und
die umfangreiche politische Abhandlung de ortu et fine Romani
imperii^) die in der Zeit Heinrichs VII. nach Empfang der Kaiser-
krone geschrieben ist. Lorenz^) sagt von letzterer, sie erzähle über
die Entstehung des Kaisertums nichts Neues, sei aber pessimistisch,
tteü das Ideal des Verfassers sich von der Wirklichkeit allzusehr ent-
ferne. In der Ansicht über die Einheit des christlichen Staates und
die Pflicht des Kaisers, den Frieden und die Eintracht zwischen allen
Völkern und Staaten herzustellen, hat Engelbert viel Ähnliches mit
Dante, so dafs man die Kenntnis der Schrift de ntonarchia bei Engel-
bert voraussetzen darf, zumal dies durch die Chronologie der Schriften
durchaus nicht ausgeschlossen ist.
Mit den Annales Adtnuntenses endet die historiographische
Tätigkeit im Kloster und in der Steiermark überhaupt, bis zwei nach
Form und Inhalt ganz anders beschaflfene Geschichtswerke in deutscher
Sprache und in Versen entstehen. Eins von ihnen ist für uns eine
hochwichtige Geschichtsquelle, für die Zeitgenossen und ihre nächsten
Nachkommen aber bildete es ein Geschichtswerk, aus dem sie die Er-
eignisse, die kurz vorher vorgegangen waren und die sie miterlebt,
kennen lernen und Anregung, Belehrung und Unterhaltung schöpfen
i) Gedruckt sind die Admonter Annalen in Moo. Germ. Histor, Scriptores IX,
S. 569 — 579, uod die Conünuatio S. 579 — 593. Vgl. Wattenbach a. a. O. II, S. 235
bi* 236.
2) Gedrackt Scriptores XI, S. 30—55.
3) Hs. in der Münchener Hofbibliothek.
4) Herausgegeben von Brusch 1553.
5) Deutschlands GeschichtsquelUn, 2. Aufl. (Berlin 1877) II. Bd., S. 297—298.
7*
— 92 —
konnten: es sind dies Jansen Enikels Weltchronik und Fürsten-
buch und Ottokars*) des Steiermärkers Österreichische oder
steirische Reimchronik,
Enikels Werke*) besitzen g^eringen historischen Wert , sind
nicht Geschichtswerke in engerem Sinne, sondern Geschichtenbüchcr,
die unterhalten wollen. Hingegen bietet das Landbuch von Öster-
reich und Steier, die Einleitung zum Fürstenbuche, im ersten Teile
die sehr wertvolle Beschreibung des landesherrlichen Besitzes in Öster-
reich und Steiermark zur Zeit der letzten Babenberger, der herzog-
lich steirischen Hausmacht von 1122 bis zur Beerbung der Traun-
gauer durch die Babenberger, die Beschreibung der Grenzen des Herzog-
tums Osterreich — also auch der Nordgrenze der Steiermark —
und der babenbergischen Hausmacht innerhalb der österreichischen
Grenzen bis herauf in die Zeit Friedrichs des Streitbaren. Dieses
Landbuch *) dürfte vor 1245 am babenbergischen Hofe entstanden sein.
War man bis vor etwa zehn Jahren auf die Ausgabe von Otto-
kars Reimchronik in den Scriptores rerunt austriacarum von Pez
(Regensburg 1745) angewiesen, so liegt nunmehr die musterhafte Edition
derselben von Joseph Seemüller*) vor, der nicht nur durch eine
umfangreiche Einleitung und eine Übersicht über den Inhalt der Reim-
chronik die Benützung seiner Ausgabe ungemein erleichtert, sondern
auch alles beigebracht hat, was über Ottokar und sein Werk über-
haupt zu erforschen war ^). Danach war Ottokar um 1265 in der
Steiermark geboren, wahrscheinlich im nordwestlichen Teile, und ver-
mutlich ein Dienstmann Ottos IL von Liechtenstein. Durch einige
Zeit seines Lebens Fahrender, lebte er stets in bescheidenen Lebens-
verhältnissen, hatte weltliche Bildung genossen, verstand aber Latei-
nisch und kannte die Bibel sowie die deutsche Dichtung gut : Hartmann
von Aue, Wolfram von Eschenbach, Konrad von Würzburg, Walther von
der Vogelweide, Frauenlob und den Prediger Berthold von Regens-
burg; Siegfried, Dietrich von Bern, Ermenrick, Ecke, Vasolt, Horand,
1) Den Namen „von Horneck^* hat Wolfgang Lazios erfanden, er ist eine willkürliche
Mutmafsang.
2) Jansen Enikels Werke, herausgegeben von Philipp Straach. Mon. Germ, histor.
Deutsche Chroniken and andere Geschichtsbücher des Mittelalters ^ Bd. m. (Hannover
1900.)
3) Bei Strauch, S. 687—729.
4) In Monumenta Germaniae Historica. Deutsche Chroniken und andere Geschichts-
bücher des Mittelalters. V. Band. (Hannover 1890 — 93.)
5) Diese Einleitung liegt auch dem folgenden zu Grunde. Vgl. auch Lorenz, a. a. O. I,
209 —217.
— 93 —
Kriemhild werden von ihm ausdrücklich genannt. Die Quellenunter-
suchung lehrt, dafs der Reimchronist manche schriftliche Quellen be-
nutzte'), aber aufser diesen müssen ihm noch andere umfangreiche
schriftliche Vorlagen und zahheiche mündliche Nachrichten zugekommen
sein, Seemüller vermutet mit Glück, steirische und kärntnische Adelige
hatten die Niederschrift des Werkes veranlafst, ihm mündliche Nach-
richten zukommen und für ihn Quellen ausschreiben lassen; im Mittel-
punkte dieses Kreises dürften die steirischen Liechtensteine gestanden
haben, besonders Otto IL*) und seine Söhne; dieses Geschlecht war
einflufsreich genug, auch mit den politischen Angelegenheiten des
Landes vemoben, um dem Chronisten selbst Urkunden zu verschaffen.
Aber auch mündliche Nachrichten erhielt der Chronist wahrscheinlich
diutrh die Liechtensteine, so die über die Verhandlungen zu Prefs-
burg (1291), deren Ergebnis, die Friedensurkunde, der Chronist genau
kennt, und die über des Böhmenkönigs Ottokar Kreuzzug nach Preufsen,
wobei Otto Marschall war; aber wie Otto von Liechtenstein, so haben
gewifs auch andere ihm Nachrichten geliefert. Dabei konnten Ver-
tauschung, Umordnung und Unordnung der Notizen leicht vorkommen ;
zahlreiche Anachronismen, geschichtliche Unrichtigkeiten, Verwechs-
lungen und Mifeverständnisse, die unverständlich wären, wenn Ottokar
die vollständigen Quellen vor sich gehabt hätte, dürften sich so erklären.
Die bisher von Pez, Schacht*), Jacobi*), Lorenz und
Krön es *) verschieden beant>vortete Frage nach der Zeit der Abfassung
ist nach SeemüHer dahin zu entscheiden, dafs die Arbeit etwa 1305
begonnen wurde und den Verfasser bis nahe an 1320 beschäftigt hat.
Die Reimchronik ist ein einheitliches Werk und umfafst die Ge-
schichte vom Tode Kaiser Friedrichs IL bis zur Ächtung der Mörder
König Albrechts 1. und bis zum Aufstande in Niederösterreich gegen
Herzog Friedrich den Schönen (1309), ist aber trotz des Umfangs (98595
\ erse) nicht lückenlos. Sie bietet vorwiegend eine Fürstengeschichte,
fiir Österreich mit Steiermark und Kärnten auch Landesgeschichte, für
drei gröfsere Episoden (aus der Geschichte Venedigs, von der Be-
lagerung und Zerstörung Accons und von den Freiheitskämpfen der
1) So die Salxborger Annalen and andere Salzborger Aufzeichnungen, die Altaicher
Azmaien und ihre Fortsetzungen, die österreichischen Annalen, elsässische Quellen, und
vielleicht bat es auch eine uns verlorene Geschichte des Hauses Habsburg gegeben, aus
der OUokar schöpfte.
2) Otto von Liechtenstein war literarisch gebildet, Mitglied der Schreiberzunft in Wien .
3) Aus und üb€r Ottokars von Horntck Hetmchront'k» {Mainz 1821).
4) Dt Ottocart chronica austrüuo (Vratislawiac 1839).
5) Allgemeine Deutsche Biographie XXIV. Bd , S. 774.
— 94 —
Häminge) auch Städtegeschichte. Staatssachen werden erzählt, rein
private Verhältnisse nur selten berührt. Synchronistische, geographische
und stoffliche Gesichtspunkte leiten den Verfasser bei der Stoffgliede-
rung. Im Mittelpunkte steht ihm Österreich, um dasselbe gruppieren
sich die Nachbarländer im Westen, Norden, Osten und Süden; doch
ebenso wichtig ist ihm das deutsche Reich, d. h. die Unternehmungen
der Könige. Aber die Auffassung ist durchaus subjektiv, so dafs sich
eine Charakteristik der politischen Stellungnahme des Verfassers wohl
geben läfst ^). Aber die Gedanken, die ihn beherrschen, sind nicht
erworbene Prinzipien, also auch nicht Tendenzen, sondern passiv durch
Leben und Bildung gewordene und erwachsene Anschauungsformen,
die von Fall zu F'all das Urteil und die Auffassung beeinflussen; sie
leiten den Verfasser, nicht er sie.
Die Reimchronik war nicht Ottokars einziges Werk ; er sagt selbst
in der Vorrede, dafs er eine Kaiserchronik, buoch der keiser, ge-
schrieben habe und von der Arbeit ausruhen wollte, als er von denen
die liep heten ze wissen diu tnaere, was hie geschehen waere,
nahen und wtten sit keiser fridrichs ztten gebeten wurde, auch das
darzustellen; so entstand die vorliegende Reimchronik, w-ährend das
verschollene Kaiserbuch eine Weltchronik war, welche mit Assyrien
beginnend, über Perser und Römer hinweg bis zum Tode Friedrichs II.
ging. Auch ein Buch der Päpste wollte er verfassen, also Welt- und
Landesgeschichte, wenn auch in verschiedenen Werken, nebeneinander
darstellen , wie überhaupt für ihn die versuchte und durchgeführte
Verbindung von Landes- und Reichsgeschichte charakteristisch ist *).
Die Bedeutung der Chronik für ihre Zeit bezeichnet am besten
die Tatsache, dafs sie wenige Jahre nach Ottokars Tode der gelehrte, in
politischen Dingen wohlerfahrene Abt Johannes von Viktring zur
Grundlage für einzelne Teile seines eigenen lateinischen Werkes machte.
Johannes, der Abt (13 15 — 1348) des Cistercienserklosters Viktring
i) Im Kampfe zwischen Kaiser und Papst steht er entschieden auf Seiten des ersteren,
in rein geistlichen Dingen ist er streng kirchlich. Die Verbindung zwischen Land und
angestammtem Herrscherhaus ist ihm ein geläufiger Begriff mit sittlichem Wert. Ein
lebhaftes HeimatsgefUhl weckt bei ihm wahre Liebe zu seinen Steiermärkern, neben ihnen
stehen ihm Leute aus Kärnten und Salzburg nahe; wenig wohlwollend ist er Böhmen und
Ungarn, auch Bayern und Tirolern.
2) Für uns liegt ihr Wert sowohl darin, dafs sie (^)uelle (lir bestimmte geschichtliche Vor-
gänge ist, als auch in ihrer Eigenschaft als literarisches Denkmal, denn sie war ein
geschichtliches Lesebuch fiir die Zeitgenossen und wird mit ihren anschaulichen Schilde-
rungen zu einer wichtigen Quelle für die Kenntnis der Zustände in Steiermark zur Zeit
des Verfassers.
— 95 —
bei Kla^enfurt in Kärnten, ist zwar kein Steiermärker und hat nicht
in diesem I^nde geschrieben; aber Kärnten ist das nächste Nachbar-
g^ebiet der Steiermark, mit dieser, besonders im späteren Mittelalter
und noch im XVI. Jahrhundert vielfach inni^ verbunden, und Johanns
liber certarutn historiaruin bringt so viele Nachrichten über Vor-
j^än^e und Ereig^nisse im Steierlande und erlitt in Leoben eine Um-
arbeitung^, dafs es gewifs nicht mit Unrecht den steiermärkischen Ge-
schichtsbüchern des Mittelalters anzureihen ist *). Johannes Victoriensis
beginnt sein Werk mit der Absetzung Kaiser Ottos IV. (1217) und
schliefst es mit dem Jahre 1344. Dem Herzog Albrecht II. gewidmet,
ist es eine der besten historischen Arbeiten des späteren Mittelalters, kunst-
voll angelegt und mit Einsicht verfafst. Die ersten Teile, die er nicht
als Zeitgenosse schildern konnte, beruhen auf Ottokars Reimchronik; für
die späteren Teile standen ihm seine eigenen Erfahrungen und allenfalls
noch originale Berichte von Augenzeugen der Ereignisse zur Verfügung.
Im besonderen von Steiermark handelt Johanns Erzählung im
I. Buche, wo von der Erledigung der F*ürstentümer Österreich und
Steier, dem Tode Friedrichs II. und der Erwerbung Österreichs durch
Markgraf Ottokar von Mähren die Rede ist. Ferner erzählt er, wie
König Bela Steiermark gewann und von Ottokar besiegt wurde sowie
von des letzteren Kampfe mit König Stephan von Ungarn.
Im zweiten Buche wird berichtet, wie König Rudolf seine beiden
Sohne und den Grafen Meinhard zu Herzögen machte, von Rudolfs
zweiter Ehe und seinem Sohne Albrecht, aber es ist auch viel über
Steiermark und Steiermärker gesagt, es sind über Orte und Persönlich-
keiten dieses Landes Mitteilungen gemacht. Wenn Johann von den
Westmächten, Spanien, Frankreich, England mancherlei zu erzählen
weifs, Italien als Sitz des Papsttums besonders berücksichtigt, die
Reihenfolge der Päpste genau verzeichnet, über ihre wichtigsten Hand-
lungen, ihre Politik, ihr Eingreifen in die Geschichte Unteritaliens be-
richtet, noch ausführHcher die Ereignisse in Italien behandelt, das je-
weilige Reichsoberhaupt auf allen Zügen und Unternehmungen be-
gleitet — so werden in zusammenhängender Erzählung doch eigent-
lich nur diejenigen Dinge mitgeteilt, deren Schauplatz jene südöst-
lichen I^ndschaften sind, in denen Johann zu Hause ist*).
i) Gedruckt in Böhmers Fontes rerum Germanicarum ^ I, 217 — 450. Vgl. dazu
Foornicr, Abt Johann von Viktring und sein Liber certarum historiarum, Berlin,
1875. ^'nd Lorenr a. a. O. I, 123, 209—217.
2) Frieden 5 bürg in der Einleitung zu Johannes von Viktring in den Geschicht-
*chrcil>cm der deutschen Vorzeit. Bd. VIII.
— 96 —
Eine Handschrift von Johanns Liber certarunt Aisioriarunt
wurde von einem unbekannten Schreiber umgearbeitet und durch Auf-
zeichnungen der Leobner Dominikaner vermehrt ; P e z *) hat sie als Ano-
nymi Leobiensis Chronicon herausgegeben, eine bis dahin unbekannte
weitere Handschrift fand v. Zahn in der Grazer Universitätsbibliothek
und edierte sie als Anonymi Leobiensis Chronicon (Graz 1865). Ob^
wohl dieser Anonymus aus vielen bekannten Quellen schöpft, bleibt
eine Anzahl Stellen übrig, für welche er der einzige Träger ist. Diese
Stellen betreffen gerade steiermärkische Dinge und stehen in so fester
Reihenfolge in der Chronik, dafs man sie nicht übersehen kann und
wegen ihres wertvollen Inhalts — vornehmlich Landes- und städttische
Verhältnisse betreffend — nicht übersehen darf*). Zahn nimmt
an, Verfasser bezw. Kompilator der Handschrift sei ein Priester des
Dominikanerklosters zu Leoben *).
Eine steirische Fortsetzung der Melker Annalen sind die Neu-
berger Annalen, welche in dem Cistercienserkloster Neuberg im
oberen Mürztale der Steiermark niedergeschrieben wurden und Nach-
richten von den Jahren 1325 — 1396 enthalten*).
Wenn die mit guten Gründen vorgebrachte Vermutung Franz
Martin Mayers*) zutreffend ist, dafs der Verfasser der österreichi-
schen Chronik, welche bisher den Namen des Matthaeus oder
Gregor Hagen trug, der Dekan der juridischen Fakultät an der
Universität zu Wien, Johann Sefner, war, so gehört diese Chronik
insoweit der Steiermark an, als Sefner, aus Untersteiermark gebürtig,,
als Pfarrer zu Rohats (Rohitsch) wirkte und erst um 1391 nach Wien
kam, wo er an die Abfassung der Chronik gegangen sein mag. Sie
ist besonders für die älteste Zeit voll haarsträubender Fabeln, die
dennoch oft gläubig nachgeschrieben wurden. Da sie aber ohne
geschichtlichen Wert ist, darf man sagen, dafe es in Innerösterreich
1) Scriptores rerum Austriararnm II. Bd. 218 — 300 (Leipzig und Regensborg^
3 Bde. 1720— 1745).
2) Hierzu gehören namentlich die bisher vergebens gesuchten Nachrichten über die
Gründung und Dotation von Göfs, die Stiftungen und Schicksale der Dominikanerklöster
zu Fncsach in Kärnten und Leoben in Obersteiermark, die Versetzung dieser Stadt und
Brände derselben.
3) Vgl. dazu die umfassende Untersuchung von Zahn, Ober den Anonymus Leobiensis
in den Beiträgen zur Kunde steicrmärkischer Geschieht. •»quellen, I. Band. (Graz 1864)
47—102.
4) Mon. Germ. Histor. Scriptorcs. IX. 669—677.
5) Untersuchungen über die ö:^U'r reichische Chronik des Matthaeus oder Gregor
Hagen. Im Archiv für österreichische Geschichte. 60. Band, 1^1880) S. 295 — 342.
— 97 —
von et^a 1350 — 1435 ganz an Chroniken mangelt *). Dann erst tritt die
Cillier Chronik ein, welche in der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts
abge£afist wurde und von den Ereignissen der Jahre 1437 — ^458 aus-^
fuhrlich handelt *).
Von der gröfisten Bedeutung für die östlichen Alpenländer und
fiir das Haus Habsburg war das Emporkommen und waren die Tat-
handlungen der Grafen von Cilli in der ersten Hälfte des XV. Jahrh's.
Sie stammen von den hochadeligen vollfreien Herren von der San^
von Saneck und lassen sich von 1130 an nachweisen. Bis zur habs-
burgischen Periode liegt ihre Geschichte im Dunkel ; von da an treten
die überlieferten Tatsachen klarer hervor und beginnen sich um ein-
zelne Persönlichkeiten des Geschlechtes zu konzentrieren. Ulrich I_
von Saneck war ein treuer Anhänger der Habsburger, wurde 1308
ihr Lehensmann und vermehrte den Güterbesitz seines Hauses. Sein
Sohn Friedrich erwarb im Erbgange den gröfsten Teil des umfang-
reichen Eigens der 1322 ausgestorbenen Heunburger, darunter Markt
und Burg Cilli, und damit war die Macht der Sanecker begründet^
die sich in Kürze so namhaft vermehrte, dafs sie Kaiser Ludwig
(München, 16. April 1341) zu Grafen von Cilli erhob. Teilungen
kamen nicht vor und schützten vor Zersplitterung des Besitzes. Auf
der Heerfahrt des habsburgischen Herzogs Albrecht IH. erscheint Her-
mann I. von Cilli als der vornehmste Kämpe, denn er erteilte dem
Herzog den Ritterschlag. Sein Sohn Hermann IL stand in hohen
Gnaden bei König Sigmund, der ihm Zagorien verlieh, ihn zum Banus
von Slavonien und der windischen Lande machte und mit der ganzen
Murinsel und der Grafschaft Csakathurn belehnte. 1408 vermählte
sich König Sigmund mit Barbara, der Tochter Hermanns II. {\ 143 S)
von Cilli. Als 1420 die reichen Grafen von Ortenburg ausstarben,
fielen die ausgedehnten Güter derselben in Kärnten und Krain den
Cilliem zu. Hermann II. hinterliefs den vermehrten Besitz seinem
Sohne Friedrich IL, dessen Güterbestand sich über einen weiten
Länderkreis, Steiermark, Kärnten, Krain, Nieder- und Oberösterreich,
Kroatien, Slavonien und Südungarn erstreckte; ihre Verwandtschaft
and Schwägerschaft umspannte die bedeutendsten Geschlechter der
östlichen Alpenländer, Bosniens und Serbiens und reichte bis in die
Herrscherhäuser ersten Ranges, Luxemburg und Habsburg. Daraus
1) Dem modernen Forscher stehen in dieser Zeit Urkunden und Akten in reicher
Ffiüe zur Verfiignng, aber die darstellende zeitgenössische Geschichtserzählung setzt aus.
2) Krones in den Beiträgen zur Kunde steiermärkischer Geschichtsquellen VH. Band,.
(,870) 3—55.
— Ü8 —
erklärt es sich, dafs Kaiser Sigmund die Cillier PViedrich IL und dessen
Sohn Ulrich II. trotz der Einsprache des Habsburg-er Herzogs Fried-
richs V. 1438 in den Reichsfürstenstand erhob. Damit erhielt das
Geschlecht immer gröfseren Einflufs; Ulrich II. wurde Gubernator
Böhmens und 1452 Vormund des nachgeborenen Ladislaus und Regent
in dessen Landen. Dieser glänzenden Erhebung folgte rasch der
Sturz : Ulrichs II. unbeschränkter Einflufs auf Ladislaus erbitterten das
in Ungarn mächtige Haus Ilunyadi derart, dafs Ladislaus Hunyadi,
der Sohn des grofsen Johann Hunyadi und Bruder des Mathias Cor-
vinus, den letzten Cillier Ulrich II. zu Belgrad nach einer Unter-
redung mit dem Schwerte angriff, verwundete und durch sein Gefolge
töten liefs (11. November 1456). Damit war das Haus der Grafen
von Cilli erloschen.
Die Geschichte dieses Geschlechtes ist in einer nahezu gleich-
zeitigen Chronik erhalten , die in trefflicher Ausgabe vorliegt *) ; sie
ist für die Steiermark von höchstem Belange, denn sie erzählt nicht
nur hochwichtige Ereignisse, sondern ist auch für die Zeit von etwa
1350 an die einzige chronikalische Aufzeichnung in Steiermark, Kärnten
und Krain.
Die Cillier Chronik wurde im XVIII. Jahrhundert erst von Hahn *)
nach einer 1 landschrift, und dann von Aquilinusjulius Caesar •)
nach vier Handschriften veröffentlicht; Krone s konnte 17 Hand-
schriften benutzen. Inhaltlich handelt es sich um zwei wesentlich
verschiedene Abschnitte : der erste ist die Maximilianslegende , eine
Verdeutschung der aus dem XIII. Jahrhunderte stammenden Uta
S, Maxintiliani; der zweite ist die Geschichte der Grafen von Cilli
von 1341 bis 1456; nur letzterer hat historischen Wert. Zwei Re-
daktionen der Chronik sind zu unterscheiden, die ältere stammt noch
aus dem XV. Jahrhundert, die jüngere ist im XVI. Jahrhimdert ent-
standen. Jene ältere Redaktion der Cillier Grafenchronik ist aber
eine Spezialquelle selbständiger Haltung: nirgends findet sich eine
nachweisbare Anlehnung an eine ältere Quelle oder stellenweise Be-
nützung einer solchen, ihr Verfasser ist ein Mönch des Minoriten-
klosters zu Cilli, welcher die Schlufsepoche des mächtigen Grafen-
geschlechtes miterlebte und wohl schon vor dem blutigen Ausgange
i) Die Freien von Saneck und ihre Chronik als Grafen von Cilli. Von Dr. Franz
Krones RiUer von Marchland. (Graz 1883.) — Vgl. dazu Krones in den Beiträgen zur
Kunde steiermärkischer GeschichtsqueUen. VIII. Bd. (1871) 97 — 116.
2) Collectio Monumeniortim veterum 2. Bd. (Braunschweig 1726).
3) Annales Ducafus Styriae 3. Bd. (\N'ien 1777).
— 99 -
<ler Cillier den Anfang einer Chronik unter die Feder nahm, und nach
1461 diesen Anfang zu einer vollständigen Chronik des berühmten
Dynastenhauses ergänzte. Der Verfasser war wohl eine Vertrauens-
person der letzten Cillier Grafen und gewissermafsen ihr Ilauschronist.
Für die Geschichte der Cillier als FamiHe und Dynastie ist die Chronik
die Hauptquelle, enthält manches Besondere und dient vornehmlich
als Korrektiv jenen Quellen gegenüber, die auf der Gegenseite stehen.
Ihre Angaben sind glaubwürdig, wenn sie auch mit ganz offenkundiger
Wärme für die Cillier eintritt; aber es ist keine Parteischrift, denn als
der Mönch sein Werk abschlofs, war das mächtige Grafengeschlecht
bereits erloschen. Schlicht und naiv, ohne aufdringliche Beschönigung
werden auch die tiefen Schlagschatten, an denen die Geschichte dieser
Familie nicht arm ist, der Nachwelt zur Kenntnis gebracht. Zur
inneren Glaubwürdigkeit dieser Quelle gesellt sich noch die durch
epische Lebendigkeit anheimelnde Darstellung, welche in Verbindung
mit den hier und da vorkommenden sachlichen und chronologischen
Verstöfsen beweist, dafs die Aufzeichnung aus dem Gedächtnisse er-
folgte, dafs die Erzählung nach dem Erlebten und Gehörten, nicht
nach genauen annalistischen Vorlagen oder fortlaufenden tageartigen
Notizen gegeben wurde.
Auch Aeneas Sylvius Piccolomini (Papst Pius II.) ist
in der Reihe der steirischen Historiographen nicht zu vergessen, da
er sich einige Zeit in diesem Lande aufhielt und in seiner Historia
Friderici Imperatoris und in der Historia Bohentiae über viele
Ereignisse, welche sich unter Herzog Friedrich V. (dem III. als Kaiser)
in Innerösterreich zutrugen, trefflich berichtet : so über die Verbindung
des Grafen Ulrich von Cilli mit dem Führer der ständischen Be-
wegung in Niederösterreich, Ulrich Eizinger, über die Verhandlungen
des Königs mit dem Altgrafen Friedrich von Cilli, über die Romfahrt
des Königs von Graz über Brück an der Mur, Leoben und weiter
durch Kärnten, über die nach der Rückkehr des Kaisers erfolgte Be-
lagerung von Wiener-Neustadt und Baumkirchers tapfere Tat; weiter
über den Sturz der Cillier und den Beginn der F'ehde um die Erb-
schaft dieser Grafen. 1458 schlofs Aeneas Sylvius seine geschicht-
schreibende Tätigkeit '). Er war mehrere Male in Steiermark , und
von seinen bis jetzt bekannten Briefen sind nicht weniger als 92 aus
Orten dieses Landes datiert. Er weilte hier 1443 zweimal, 1^44 zu
1) Kroncs, Die zeitgenössischen Quellen der steiermärkischen Geschichte in der
t%ixittn Hälfte des XV, Jahrhunderts, [Beiträge zur Kunde steicrmärkischer Gesclüchts-
^jueUcn, Vn. Bd. (1870) 3-55.]
— 100 —
Brück an der Mur, 1447 zu Radkersburg und 1453 im Sommer und
Herbst; damals, und zwar in Graz, schrieb er jene berühmten Türken-
hriefe, welche den Papst und alle christlichen Fürsten zu einträchtigem
K«impfe lije^en den Erbfeind der Christenheit anfeuern sollten. Diese
Briefe werfen auch einiges Licht auf die Geschichte der Steiermark^
namentlich auf die kirchlichen Zustände und Verhältnisse. Er befand
sich auch im Cienusse zweier steirischen Pfründen: der Einkünfte der
Pfarre Irdning im obersteirischen Ennstale und jener der Pfarre Alten-
markt bei Windischgräz im unteren Lande *).
Aus dem Ende des XV. Jahrhunderts sind noch ein paar kleine
geschichtliche Aufzeichnungen zu envähnen. Johann Manesdorfer
ilc Vienua, artium doctor ßirisque pontificii licentiatus, 1464 von Abt
Johann Schachner von St. Lambrecht zum Syndikus dieses Stiftes er-
nannt, verfafste 1482 eine kurze Geschichte dieses Klosters und 1487
eine Darstellung des Ursprunges des Wallfahrtsortes Maria Zell *). —
Wenig später tritt uns ein Werk entgegen, welches zwar wie das des
Johannes von Viktring seinen Ursprung in Kärnten hat, jedoch aus-
führlich und verläfslich die gleichzeitigen Elreignisse in Steiermark
behandelt. Es ist dies die österreichische Chronik des Jakob Unrest
Vgeb. zwischen 1420 und 1430, gest. 1500^. 1469 Chorherr zu Gumitz
und Pfarrer zu St. Martin am Techeisberge bei Pörtschach in Kärnten.
Kr verfafste auch eine Kärtner Chronik ^\ ; sie ist jedoch nur eine
Nacher/;Uilung geschichtlicher und s*igenhafter Überlieferungen, schliefist
mit der Eroberung Kärntens vl335^ ""^^^ Tirols ^ 1363 t durch die Habs-
burL^er und h.it keinen historischen Wert, l'm so bedeutender ist
lue Ösierrtickiscke Chronik ^' , liic er um 1470 begaim und 1 500
beenvieie. Widmet er viel Raum seinem iteburtsLmde Kärnten, so
er.MhU er vleunoch ausr\:hrlich und i> er.au d:e Begebenheiten, welche
sich ju seiner /oi; in Steiermark, Kr*uu, Österreich, ja in Böhmen
und l nca'" -utiUiren. ur.vl srreiit auch u:e Erx"*^ r.:s>e, deren Schau-
p*.a:.: der Osten tiiul Wcsteix Kufv^pas u,ij, vienu ,ils seine Haupt-
.v;;i;>abe In^ti achtete e:. vie v»esv\VAhte sonor i'ot, die Henschertage
i' \\ci.>» *,^t.wj« ,S'\i*-> ,-V'.\^'« ■• X v"- ,^* »o .-"^ K .W ji.-r< Lt^v~m mmd sein
y , ''» s X* ,*,. .;, -^'w it. Vi . •' »X *..v, l ^ii*A>. ^v*-*; :^", v><r ><.r< Wirksamkeit
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-— 101 —
Kaiser Friedrichs III. , zu schildern *). Unrests Chronik ist um so
wertvoller, als sie begfinnt, wo andere Quellen versiegen, und als sie
fiir die Periode von 1435 und namentlich von 1468 an bis 1499 aus-
fiihrUchen und meist auch einzigen Bericht über die Ereig^nisse in
Innerösterreich g^ibt. Er erzählt verläfslich und genau, ist erfüllt von
Liebe für sein Vaterland und sein Fürstenhaus, tadelt aber nicht
selten seinen Herrn, Kaiser Friedrich III., ob seiner Saumseligkeit
und Tatenlosigkeit. Obwohl selbst Priester, findet er nicht alles, was
von hohen Kirchenfürsten ausgeht, lobenswert und rügt auch deren
Verhalten. Von etwa 1468 bis 1470 an wird seine Darstellung stoff-
reicher, denn er schöpft nun aus mündlicher Kunde, handschriftlichen
und gedruckten fnären, Zeitungen, endlich aus öffentlichen Urkunden,
Mandaten, Manifesten, Abschieden und dergleichen und verarbeitet
das ihm zur Kenntnis Gekommene mit klarem Verstände und warmem
Gemüte. Der humanistischen Bildung seiner Zeit stand er fern, Zitate
aus den Klassikern würde man bei ihm vergeblich suchen, aber er
beruft sich einige Male auf die Bibel. Sein biederer Sinn für ge-
schichtliche Wahrheit und Recht tritt entschieden hervor und ist stets
bemüht, nach bestem Wissen und Können die ganze Wahrheit zu
sagen. Für die Geschichte Innerösterreichs in den Jahren 1468 bis 1499
ist Unrests Chronik von unschätzbarem Werte; für die Baumkircher
Fehde und für die Darstellung der furchtbar verheerenden Einfälle
der Türken in Steiermark, Kärnten und Krain in der zweiten I^Iälfte
des X\^ Jahrhunderts kommt er als bestunterrichteter Zeuge in Be-
tracht.
Von Klosterannalen , von Lebensbeschreibungen der Erzbischöfe
von Salzburg im XII. Jahrhundert ausgehend, hat sich die Historio-
graphie der Steiermark, wenn auch nicht so reichhaltig wie die anderer
deutscher Länder, bis gegen das Ende des Mittelalters allmählich
entwickelt; sie weist Lücken auf, hat aber doch so bedeutende Er-
scheinungen, wie den Reimchronisten Ottokar, so wertvolle Chroniken,
wie die Cillier und die des Jakob Unrest und zeigt in einer zwar dem
Lande nur teilweise angehörigen Persönlichkeit, in Aeneas Sylvius
Piccolomini, auch schon die Anfänge des Humanismus.
l) Krooes, die österreichische Chronik Jakob Unrests mit Bezug auf die einzige
Msher bekannte Handschrift der känigL Bibliothek zu Hannover, (Archiv Air öster-
reichische Geschichte, 48. Bd., 421—530.)
102 --
Forschungen und Forschungsaufgaben auf
dem Gebiete der Gegenreformation
Von
Gustav Wolf (Freiburg i. B.)
(Schlufs) I).
Erheblich schlechter steht es mit unserer Kenntnis der Geschichte
der geistlichen Stifter. Von Mainz und Trier wissen wir so gut
wie nichts. Wir besitzen weder einen Einblick in das innere Getriebe
der dortigen Stiftsregierung und Stiftsverwaltung jener Zeit, noch
können wir von den mafsgebenden Personen, die wir teilweise nicht
einmal dem Namen nach kennen, eine anschauliche Charakteristik ent-
werfen, noch endlich haben wir, von wenigen Ausnahmen abgesehen,
Aufklärung, welche Fragen denn hauptsächlich die Erzbischöfe, Dom-
herrn und sonstigen Politiker beherrscht haben. Dafs hier noch
aufserordentlich viel zu tun ist, ersehen wir aus einigen neueren fleifsigen
Untersuchungen, wie denjenigen von Burghard über Die Gegen^
reformation auf dem Eichsjeld 1^74 — /57p (Zeitschrift des historischen
Vereins für Niedersachsen , Hannover 1 890 — 1 89 1 ), von K n i e b , Geschichte
der Reformation und Gegenreformation auf dem Eichsfeld und von
Jakob Schmidt, Die katholische Restauratiofi in den ehemaligen
Kurmainzer Herrschaften Königstein und Rieneck in den Erläuterungen
und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes III, 1
(Freiburg 1902). Durch diese Arbeiten werden wir nicht nur auf einzelne
Quellensortcn aufmerksam, welche, wie die Domkapitelprotokolle und
die Pfarrbestellungsakten, bisher so gut wie gar nicht angerührt worden
sind, sondern die Verfasser waren auch genötigt, eine Anzahl allgemeinerer
Verhältnisse und Gesichtspunkte, die mit ihrem Spezialthema eng zu-
sammenhingen, zu berücksichtigen, wenn sie sich nicht mit einer unver-
arbeiteten Ansammlung lokalhistorischer Notizen begnügen wollten. Ein
bedeutend besseres Bild gewährt uns die reichhaltige Literatur über das
Erzstift Köln. Denn einmal gelten die Gründe, welche die Historiker
zur Betrachtung der Jülich-Bergischen Geschichte bewogen haben,,
zum Teil in noch verstärktem Mafsc für die benachbarten geistlichen
Gebiete, und daneben ist es der zweimalige Versuch, das Elrzstüt in
ein evangelisches Kuriurstentum umzuwandeln» welcher die kölnischen
Dinge in den Vordergrund des Interesses gerückt und glücklicher-
weise beide Male zum Gegenstand einer mustergültigen Monographie
1^ Vgl oben S. Si -Q3.
— 103 —
gemacht hat. Endlich hat in alten und neueren Zeiten die Stadt-
geschichte von Köln während jener Dezennien Einheimische wie
Fremde mehr gefesselt, als das bei Mainz imd Trier der Fall
ist. So begegnen wir auf dem Gebiete der modernen kölnischen
Geschichtschreibung einer stattlichen Reihe angesehener historischer
Namen, wie Varrentrapp (Herrman von Wicd und sein Refor-
mationsversuch in Köln, Leipzig 1878), Lossen (Der Kölnische
Krieg, Gotha 1882, München und Leipzig 1897), Hansen (Nuntiatur-
berichte aus Deutschland, III. Abteilung, 1. Band, Berlin 1894 und
Rheinische Akten zur Geschichte des Jesuitenordens 1^42 — 1^82
in den Publikationen der Gesellschaft für rheinische Geschichte, XIV.
Bonn 1896), Ennen (Geschichte der Stadt Köln, Köln 1863 — 1880),
Ehses und Meister (Die Kölner Nuntiatur in den Quellen und For-
schungen aus dem Gebiete der Geschichte, in Verbindung mit ihrem
historischen Institut herausgegeben von der Görresgesellschaft IV, VIL
Paderborn 1895, 1899), Höhlbaum-Lau (Das Buch Weinsberg,
Kölner Denkwürdigkeiten aus dem XVL Jahrhundert, in den Publi-
kationen der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde III, IV, XVL
Leipzig 1886 — 1887, Bonn 1898) um nur die wichtigsten zu nennen.
Trotzdem darf man nicht glauben, die Arbeit sei auf diesem Gebiete so
gut wie getan. So dürfte die Geschichte der einzelnen Pfarreien, Amts-
bezirke und Dekanate, die Durchforschung der kölnischen Landtags-
akten, die Biographie hervorragender Theologen und Politiker im da-
maligen Erzstift uns noch auf manches jetzt ungeahnte Resultat von
allgemeiner Tragweite hinführen ; braucht man sich in letzterer Hinsicht
doch nur zu vergegenwärtigen, welchen Wert die Arbeiten von Paulus,
Post in a (Der Karmelitermönch Eberhard Billick, Erläuterungen und
Ergänzimgen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes II, Frei-
burg 1901), Schwarz (Die Nuntiaturkorrespondenz Kaspar Groppers
nebst verwandten Aktenstücken i^yj — ^57^> io den Quellen und For-
schungen aus dem Gebiete der Geschichte, herausgegeben von der Görres-
gesellschaft Band 5, Paderborn 1898) nicht blofs für unsere Kenntnis der
betreffenden Persönlichkeiten besitzen, um zu sehen, dafs wir erst durch
eine gröfeere Anzahl derartiger Arbeiten und Publikationen die verschiede-
nen k'u*chlichen und politischen Kreise nach und nach kennen lernen.
Wenn wir im status quo der Forschung über die Erzstifter Mainz
und Trier grofee Lücken konstatieren mufeten, so ist dies angesichts
der archivalischen Grundlagen einigermafeen erklärlich. Ist doch be-
sonders das ehemalige kurmainzische Archiv in die verschiedensten
Orte, nach Aschaffenburg, Wien, Würzburg, zerstreut worden; dabei
— 104 —
Ist es natürlich mehr oder minder schweren Verlusten ausgesetzt
tind derjenige Teil der Akten, welcher in Aschaffenburg liegt, der
Benutzung bis in die neueste Zeit ziemlich unzugänglich gewesen.
Weniger begreiflich dürfte es erscheinen, dafs es mit unserer Kenntnis
der Bamberger und Würzburger Reformationsgeschicbte nicht
sehr viel besser steht. Denn das Aktenmaterial dürfte gut erhalten
sein, es ist für jedes der beiden Stifter an einer Stelle konzentriert
und sowohl in Ober- wie in Unterfranken gibt es tüchtige Provinzial-
zeitschriften , welche auf eine stattliche Reihe von Bänden zurück-
blicken. Aber der selbständigen modernen Schriften, die eine all-
gemeinere Tragweite besitzen, sind nur wenige, und selbst von einem
«o prägnant hervortretenden Geistlichen, wie Bischof Julius Echter von
Würzburg, mufste Wegele in der Allgemeinen Deutschen Biographie
berichten, dafs dieser Mann keine erschöpfende Darstellung seines
Wirkens aufzuweisen habe. Nur in einzelnen bedeutenderen Momenten,
wie gelegentlich der Auseinandersetzung mit Albrecht Alcibiades, der
Grumbachischen Händel, des Streites zwischen Julius Echter und Abt
Balthasar von Fulda, der Gründung der Universität tritt die^ Würz-
burger Reformations- und Gegenreformationsgeschichte etwas klarer
hervor. Für die Bamberger Reformationsgeschichte liegt neuerdings
ein kleiner lehrreicher Beitrag, auf soliden Aktenstudien fufsend, von
Erhard, Die Reformation der Kirche in Bamberg unter Bischof
IVeigand 1^22 — t^^6 vor, anscheinend durch Kolde angeregt, welch'
letzterer ja teils als langjähriger Lehrer der Kirchengeschichte an der
Erlanger Hochschule, teils als Herausgeber der Beiträge zur bayerischen
Kirchengeschichte zu verschiedentlichen Forschungen über die neu-
bayerischen Provinzen im XVI. Jahrhundert den Anlafs gegeben hat;
wie reiche Bestände im Bamberger Kreisarchiv noch vorhanden sein
müssen, ersieht man durch Erhards Monographie besonders aus dem
Umstände, dafs die schwäbischen Bundesakten, die Rezefebücher
(Verhandlungen zwischen Bischof und Domkapitel), die Reformations-
akten eigene Abteilungen bilden. So ist es kein Wunder, dafe die
allgemeindeutsche Wichtigkeit des Verlaufes, den die religiöse Be-
wegung in den beiden fränkischen Stiftern genommen hat, so gut wie
gar nicht gewürdigt wird. Und doch war es einmal an sich für die ge-
samte Stellung des Katholizismus nördlich der Alpen nicht einerlei,
ob er in zwei Diözesen, die es an Reichtum und Macht mit Mainz
und Trier sehr gut aufnehmen konnten, sich behauptete oder unterlag.
Ferner aber hätten die gegenreformatorischen Tendenzen des Mün-
chener Hofes sich niemals so extensiv geltend machen können, wenn
— 105 —
sich zwischen Bayern und die Gebiete des rheinischen Katholizismus
die protestantisierten fränkischen Diözesen, sei es als säkularisierte
Fürstentümer, sei es aufgeteilt unter die benachbarten evang^elischen
Landesobrigkeiten, wie ein Riegel vorgeschoben hätten. Erst wenn
das Ringen des neuen Geistes mit dem Herkommen in seinen Einzel-
heiten verfolgt, wenn das Auf und Nieder dieses Kampfes, wenn die
hierbei tätigen Elemente unserem Auge deutlich sichtbar werden, dann
werden sich solche Erwägungen in ihren Grundzügen und praktischen
Konsequenzen von selbst aufdrängen und für die Kritik der Stärke
der verschiedenen Faktoren in der Reformationsgeschichte ihre Be-
deutung gewinnen.
Auch für die anderen Diözesen des heutigen Königreichs Bayern
und Salzburg könnte viel mehr geschehen. Dies erscheint vielleicht
wunderbar, weil einzelne derselben hervorragende Vertreter des deut-
schen Prälatenstandes, wie Passau Wolfgang von Salm *), Augsburg Kar-
dinal Otto Truchsefe von Waldburg an ihrer Spitze gesehen haben.
Aber gerade der letztere bietet uns ein anschauliches Beispiel, wie oft
der Zufall für die Berücksichtigung oder Vernachlässigung wissenschaft-
licher Probleme entscheidet. Im Innsbrucker Statthaltereiarchiv liegt
der wichtige Briefwechsel zwischen den Kardinälen Otto Truchsefs und
Madrucci, freilich in italienischer Sprache und wohl darum seither
nur von Friedensburg für seine Nuntiaturberichte verwertet; es ist
wohl kein Zweifel, dafe gerade hier eine wichtige Fundgrube ihrer
systematischen Ausbeute harrt. Dafs der Kardinal Otto Truchsefs
weiter jahrelang als Protektor der deutschen Nation einen hervorragen-
den Mittelsmann zwischen der Kurie und den verschiedenartigsten
deutschen Angelegenheiten abgegeben hat, wird man aus den Rat-
schlägen ahnen, die er für die Wiedergewinnung der Deutschen dem
Papste Gregor XIII. gegeben und die uns Schwarz^) mitgeteilt hat;
aber wie diese Ratschläge allmählich im Inneren des Kardinals ent-
standen, durch welche Personen und Wahrnehmungen sie hervor-
gerufen sind , dieses zugleich landesgeschichtlich wie allgemein-
geschichtlich interessante Problem ist wohl überhaupt noch nicht auf-
geworfen worden.
Wenden wir uns von den bayerischen Diözesen zu den ober-
1) Über Wolfgang ist soeben eine kleine Darstellung von Reichenberge r, JVolf-
gong von Salm, Bischof von Passau in Granerts Studien und Darstellungen aus dem
Gebiete der Geschichte II, i (Freiburg 1902) erschienen, welche aber noch keinen ab-
Khlieisenden Charakter hat.
2) Briefe und Akten »ur Geschichte Maximilians IL 2. Teil (Paderborn 1891).
8
— 106 —
rheinischen, so hat Strafsburg vermöge des dortigen sogenannten
Kapitelstreites schon seit längerer 2^it die Gelehrten beschäftigt. Man
bezeichnet im Gegensatz zum Säkularisationsversuch von Köln, in den
die mannigfachsten anderen Kontroversen hineinspielten, diesen Strafe-
burger Kapitelstreit vom theoretischen und reichspolitischen Stand-
punkte aus als die eigentliche Kraftprobe auf die praktische Gültig-
keit des geistlichen Vorbehalts ; zudem nötigte das Faktum, dafe viele
Prälaten zugleich im StraCsburger und Kölner Domkapitel safsen und
dafs die Stadt Strafsburg Jahrzehnte hindurch die Führung der evan-
gelischen süddeutschen Kommunen hatte, weitere Gelehrtenkreise zur
Beschäftigung mit der Geschichte des Strafsburger Stifts. Und trotz-
dem ist, abgesehen vom Kapitelstreit, über welchen aufser einigen
Vorarbeiten das gründliche Buch von Meister*) vorliegt, kauip
ein Gegenstand der Bistumsgeschichte erschöpfend dargestellt, ja,
wichtige Fragen und Personen nur ganz kursorisch behandelt worden.
Was wissen wir z. B. von einem Manne wie dem Kanzler Christoph
Welsinger, der geraume Frist hindurch unter den katholischen Staats-
männern eine grofee Rolle gespielt hat? Was wissen wir von den Be-
ziehungen zwischen dem Domkapitel und dem elsässischen Adel, von
den Wahlkapitulationen und den für die Charakteristik der damaligen
Bischöfe so wichtigen Informationen, die über die Person und Ver-
gangenheit der Gewählten an die Kurie eingeschickt wurden?
Worms und Speier nehmen unter den deutschen Bistümern da-
durch eine aparte Stellung ein, dafs sie an das angriffslustigste evan-
gelische Territorium, die Pfalz, grenzten, teUweise mit derselben sogar
im Gemenge lagen. Anderseits tritt gerade hier die Tatsache, dafs
scharfe konfessionelle Gegensätze dicht neben Achsclträgerei und diplo-
matischem Lavieren imd Schwanken wohnen, ganz besonders hervor.
Diese beiden Motive weisen wiederum auf ein Gebiet, wo Territorial-
und Reichsgeschichte in engste Fühlung kommen und gegenseitig sich
in einer bis jetzt kaum gewürdigten Spezialität fördern können. Lä&t
sich eine solche Frage wohl nicht anders wie von Amt zu Amt, von
Ort zu Ort verfolgen, so wäre es von grofeem Gewinn, wenn sich
Lokalhistoriker dieser für die Allgemeinheit wichtigen Gesichtspunkte
bewufst bleiben, wenn unter diesem Horizonte mehrere parallele Einzel-
arbeiten entstehen würden.
Wir haben uns in unserer bisherigen Zusammenstellung auf die-
jenigen katholischen Stände beschränkt, welche eine mafsgebende
i) Der Strafsburger Kapitelstreit 1583 — 1592, Ein Beitrag zur Geschickte der
Gegenreformation (Strafsbarg 1899).
— 107 —
aktive Rolle in der damaligen Reichspolitik, namentlich auch auf den
Reichsversammlungen gespielt haben. Es liegt auf der Hand, dafs es
außerdem noch eine ganze Reihe territorialgeschichtlicher Fragen von
allgemeinerer Bedeutung gibt. Treten auch an reichspolitischem An-
sehen die mittel- und niederdeutschen Bischöfe hinter den süddeutschen
und rheinischen Kollegen meist zurück, so spielt hier das Auf und
Nieder der reformatorischen Bewegimg eine ganz andere und viel aus-
schlaggebendere Rolle. Probleme, die zwar auch in den südlichen
und westlichen Diözesen nicht fehlen, begegnen uns hier viel häufiger
und in oft recht verwickeltem Mafse. Diese Bistümer lagen fast alle
inmitten evangelischer Distrikte, waren entweder rechtlich oder faktisch
von mächtigeren weltlichen Nachbarn abhängig, die neue Lehre hatte
teils im Volke, teils in den Landschaften und in den Kapiteln Fufs
^efaist; wo dem Katholizismus nicht von auswärts Stützen geboten
worden sind, ist die Augsburgische Konfession fast allenthalben un-
aufhaltsam zum Siege gelangt. Die Entwickelung ist wiederholt so-
wohl populär als auch wissenschaftlich dargestellt worden; ich greife
als Beispiel für die volkstümliche Behandlung Erdmanns Refor-
mation und Gegenreformation im Fürstentum Hildesheim, (Hannover
1899) für die gelehrte Untersuchung die treflTliche Schrift von Hoff mann,
Naumburg im Zeitalter der Reformation, Leipziger Studien aus dem
GAiete der Geschichte VII, i (Leipzig 19CX)) heraus, und über einzelne
Stifter wie Magdeburg existiert eine ganze Literatur. Aber auch hier
fehlt es nicht an ungelösten Aufgaben; ich habe in meinen Anfängen
des Magdeburgischen Sessionsstreites (Forschungen zur brand. Gesch.,
Bd. 5, Berlin und Leipzig 1893) darauf hingewiesen, dafs selbst eine so
wichtige reichspolitische Frage wie diese nicht vom Hintergrunde der nach-
barlichen Grenz- und Interessenkonflikte losgelöst werden darf, dafs erst
durch diesen der Mangel an geschlossener Verteidigung gegen die katho-
lischen Fürsten verständlich wird. Es unterliegt keinem Zweifel, dafs
diese Verquickung kleiner und grofser Gesichtspunkte erst recht in
den mneren Angelegenheiten der Wahlen, Personalien, Religionskämpfe
und Religionskompromisse besteht und verfolgt werden müfste.
Dafs femer auch die kleineren katholischen Prälaten nicht über-
sehen werden dürfen, lehrt das Exempel des Abtes Balthasar von
Fulda und die Biographie Egloffsteins *) über ihn. Nach dieser
Rk^tung dürfen wir wohl besonders für die schwäbische Reformations-
geschichte noch manche Aufklärung erwarten ; ist doch eine so wichtige
I) Fürstabt Balthasar von Dermhach und die katholische Restauration im Erzstift
Fulda (Mönchen 1890).
8*
— 108 —
Quelle wie die Weingartenschen Missivenbücher im Stuttgarter Archiv
bisher nicht systematisch ausgebeutet worden.
Ein fast gar nicht angebautes Feld, welches jedenfalls noch einmal
reiche Früchte tragen wird, ist endlich die Geschichte der verschie-
denen Orden in Deutschland. Nur für die Jesuiten sind in dieser
Hinsicht durch Braunsbergers epistolae Canisü, durch Hansens schon
erwähnte rheinische Jesuitenakten, ganz neuerdings auch diurch das
sehr instruktive Werk von Bernhard Duhr, Die Jesuiten an den
deutschen Fürstenhöfen des XVL Jahrhunderts (Erläuterungen und
Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes, II, 4, Frei-
burg 1901) einige Spatenstiche getan. Wohl stehen in aktiver Beteiligung
am religiösen katholischen Leben damals die anderen Orden hinter den
Jesuiten zurück ; aber wenn uns vielleicht auch die Darstellung der Franzis-
kaner und Dominikaner nicht derart in das Getriebe an den Höfen
einführen wird wie das Buch von Duhr, ein farbenreicheres Bild,
lebendigere Anschauungen würden wir sicher gewinnen, wenn wir die
Organisation der verschiedenen Klöster imd Klosterprovinzen würden
funktionieren sehen, wenn wir in den fortlaufenden Briefwechsel der
verschiedenen Instanzen Einblick hätten.
So dürfen wir uns der Hoffnung hingeben, da(s auf dem Gebiete
der katholischen Reformations- und Gegenreformationsgeschichte die
bewufste Verbindung allgemein- und territorialhistorischer Gesichts-
punkte, die Fähigkeit, sich in Einzelheiten liebevoll zu versenken und
dabei doch die grofsen Zusammenhänge nicht aus dem Auge zu
verlieren, die Anpassung gefundener Resultate in den groCsen Rahmen
und umgekehrt die stete Umarbeitung dieses Rahmens nach MaCsgabe
der neuen Entdeckungen noch grofse Bereicherungen unseres Wissens
zur Folge haben wird.
Mitteilungen
ArchiTe. — Von den hiventaren der nichtstaailichen Archive der Provinx
Westfalen *) ist zu Ende des Jahres 1901 das zweite Heft, Kreis Borken
enthaltend, erschienen (Münster, Aschendorff, 160 S. 8^), welches die Ver-
zeichnung der Archivalien genau in derselben Weise, wie sie in Heft i be-
gonnen worden war, weiterführt. Über die Grundsätze selbst und ihre
Anwendung wäre hier weiter nichts zu sagen, wenn nicht, hervorgerufen
ij Vgl. über das erste 1899 erschienene Heft diese Zeitschrift I. Bd., S. 85/86.
Siehe auch Nederlandsch Archtevenblad 1899— 1900, S. 132/133.
— 109 —
durch die Bemerkungen darüber im ersten Bande dieser Zeitschrift, eine
Polemik entstanden wäre: in den AnncUen des historisclien Vereins für den
Niederrhein f 70. Heft (1901), S. 146 — 148 hat der Herausgeber dieser
Zeitschrift, Prof, Meister in Münster, die Übersicht über den Inhalt der
kleineren Archit'e der Rheinprovinz Bd. i und das erste Heft der west-
^lischen Inventare einer vergleichenden kritischen Betrachtung unterzogen,
in der im wesentlichen die gegen letztere in den deutschen Geschichtsblättern
gdtend gemachten Bedenken umgekehrt gegen die Rheinische Archivübersicht
TOigebracht wurden. Der Bearbeiter der letzteren hat sich darauf wesent-
lich ausfuhrlicher über die Methode der systematischen Forschung in den
sogenannten kleineren, d. h. den einer fachmännischen Leitung entbehrenden
Archiven in der Westdeutschen Zeitschrift Bd. 20, S. 384 — 95 geäufsert
und vor allem das von ihm tatsächlich angewandte Verfahren begründet.
Mit einer kurzen nichtssagenden Bemerkung hat Meister im 74. Heft (1902),
S. 199 der genannten Aimalen darauf geantwortet, womit diese Angelegen-
heit erledigt ist
Die Inventare der Archive des Kreises Borken sind von Privatdozent
Ludwig Schmitz bearbeitet, der Vorarbeiten von Prof. Finke benutzt
imd die Berichte des letzteren über die Schlofsarchive zu Anholt *) (S. 3 — 28
md S. 159 — 160), Gemen (S. 79 — 128) und Velen (S. 146 — 158) voll-
ständig übernommen hat. Diese drei Archive bergen ein sehr umfangreiches
und in jeder Hinsicht wertvolles Material, auf das in dieser Form jetzt zum
ersten Male auftnerksam gemacht wird. In Anholt sind die Privatkorrespon-
denzen des XV. bis XVIII. Jahrhunderts von höchster Bedeutung, da viele
Qicder des Geschlechtes Salm hervorragende Stellungen bekleideten. Wichtig
sind auch die Archivalien der Wild- und Rheingrafen, femer ein Band mit
Chroniken in niederdeutscher Sprache (S. 20/21), ein gedruckter Ablafsbrief
von 1484, der als Einband dient (S. 24), sowie vieles über das Stift Vreden.
Zu Gemen ruhen die Archive Gemen, Raesfeld, Ahausen, Mengede, Barns-
feld, Pröbsting, Landsberg, Imbsen, von denen die letzten vier aber un-
bedeutend sind: es überwiegen hier die Regesten der bis 1400 vorhandenen
Urkunden, daneben sind noch die Handschriften von Belang. Genannt
seien davon die in zwölf Bänden vorliegenden Tagebücher eines Feld-
marschalls von Landsberg vom Ende XVII. und Anfang XVIII. Jahrhunderts
(S. 102). In Velen befinden sich Archivalien über Velen, Raesfeld, Bams-
feld, Botzlar, Dülmen, Dücking, Engelrading-Heiden, Rölinghof und Wester-
haus und Emsländische Besitzungen: die Urkundenregesten bieten hier kaum
allgemein Wichtiges. — Bei der Mehrzahl der einzelnen Kreisorte ist die
Ausbeute in den Pfarr- und Amtsarchiven recht gering, jedenfalls nicht reicher
ak m anderen Gegenden: Ausnahmen bÜden die Archive von Stadt und
kath. Pfistrramt Bocholt (S. 29 — 47) und Borken (S. 48 — 67), neben denen
Haus Diepenbrock (S. 68 — 78) und Haus Rhede (S. 139 — 145) reichere Archive
besitzen. Es mögen noch einige Einzelheiten folgen : in Bocholt beginnen die
Stadtrechnungen 1407 (S. 37) ; ein lateinisches Lexikon vom Ende des XV. Jahr-
l) AU I. Beiheft der Inventare der nichtstaatlichen Archive der Provinz Westfalen
sind die Urkunden des fürstlich Salm- Salmschen Archivs in Anholt ^ bearbeitet von
Ladwig Schmitz, (Münster 1902) erschienen; ein Rezensionsexemplar ist der Redaktion
Bicht ZQgegangen.
— 110 —
Hunderts besitzt die ehemalige Kapuzinerkirche zu Borken (S. 67) ; wahrscheinlich
Teile der Redin ghoven sehen Sammlung zur niederrheinischen Geschichte^
deren Grundstock die Kgl. Bibliothek in München besitzt, befinden sich in
Haus Rhede (S. 139 flf.); zwei deutsche Gedichte als Proben S. i6q. —
So viel auch neues Material erschlossen wird, die Mehrzahl der Urkunden-
regesten bietet über das nächste ortsgeschichtliche Interesse hinaus doch
recht wenig allgemein Beachtenswertes; störend wirkt für den an moderne
Publikationen gewöhnten Leser vor allem die Fraktur bei deutschem Texte,
der direkt den Vorlagen entnommen ist. Ein Abweichen von dem einmal
eingeschlagenen Verfehren ist freilich jetzt nicht mehr gut möglich, wenn
auch das Urteil darüber kaum verschieden lauten dürfte.
Kommissionen. — Die Württembergische Kommission für
Landesgeschichte ') hielt am i. Mai 1902 zu Stuttgart ihre elfle Sitzung
ab. Von der Korrespmidenx^ des Ileixogs Christoph befindet sich der dritte
Band im Druck; von Wintterlins Geschichte der Behördenorganisation in
Württemberg liegt der erste Teil, der bis zum Ende des XVIII. Jahrhunderts
reicht (Stuttgart, Kohlhammer, 1902. 165 S. 8®) fertig vor; von den
GeschiddUcheH Liedon und Sj/rikJien aus Württemberg ist das dritte Heft
im Druck fertiggestellt. Der Druck des llcilbroimer Urkundcnbuchs y das
E. Knüpfe r bearbeitet hat, hat wegen anderer Arbeiten vollständig geruht.
Die Inventarisation der kleineren Archive ist wiederum wesentlich gefördert
worden; zu den im letzten Jahresbericht genannten dreizehn völlig erledigten
Bezirken ist im Berichtsjahre der Bezirk Besigheim hinzugekommen. Eine
ganze Reihe neuer Veröffentlichungen wurden angeregt, Fortsetzung und Er-
gänzung der Bibliographie der Württenibergisclien Gescliielite von Heyd von
IG zu IG Jahren — die erste Ergänzung soll 1905 erscheinen — , Bearbeitung
der Regesten der Grafen von Württemberg, der Politischen Korrespondenz
König Friedrichs und der württembergischen Landtagsakten, femer Heraus-
gabe der württembergischen Weistümer und Dorfordnungen, der Akten zur
Geschichte der Verfassung und Verwaltung der Stadt Ulm im Mittelalter und
der Tübinger Matrikeln, alter württembergischer Chroniken und eines zweiten
Bandes des Efslinger Urkundenbuchs. Endgültig beschlossen wurde die Her-
ausgabe der Haller Chroniken durch Prof. Kolb sowie die Herstellung von
Grundkarten im Mafsstabe i:ioggog mit Gemarkungsgrenzen in Gemein-.
Schaft mit dem Kgl. Statistischen Landesämt, wenn letzeres zunächst vier
weitere Karten anfertigen läfst und der Kommission eine entsprechende Anzahl
von Exemplaren überläfst.
Neu eingetreten sind in die Kommission Prof. v. Below und Dr. Knapp,
Vertreter des Vereins für Kunst und Altertum in Ulm und Oberschwaben.
Den Ausgaben von 13 413 Mark steht eine Einnahme von 15386 Mark
gegenüber.
Die Historische Kommission für Nassau^) hat, nachdem am
28. Juni 19G2 ihre Hauptversammlung stattfand, ihren fünften Jahresbericht
1) Vgl. diese Zeitschrift III. Bd., S. 185-186.
2) Vgl diese Zeitschrift Bd. II, S. 302—303.
— 111 —
ausgegeben : der Katxendnbogische Erbfolgestreit, herausgegeben von O. M e i -
nardus, liegt jetzt abgeschlossen im zweiten Bande der Nassau- Oranischen
Korrespondenxen (Wiesbaden, Bergmann, 1902. 113+377 S. Mk, 13,00) vor,
und zwar geht wie beim ersten Bande eine Darstellung den mitgeteilten
Briefen und Akten (1538 — 1557) voraus. Fortgeschritten sind die Arbeiten
am Eppsteiner Lehnregister, das Archivdirektor Wagner bearbeitet,
Archivar Sc haus hat die Vorarbeiten fiir das nassauische Urkundenbuch
nnd Archivdirektor Wagner die für eine Ausgabe nassauischer Weistümer
fortgesetzt Die nassfimscfie Bibliographie y die Bibliothekar Zedier bearbeitet,
hat nur wenig gefördert werden können, und „die in Aussicht genommene
loventarisation der nichtstaatlichen Archive des Regierungs-
beziiks Wiesbaden hat im Berichtsjahre keine Fortschritte gemacht ; es steht
aber zu hoffen, dafs die auf diesem Gebiet vorhandenen Schwierigkeiten
beseitigt, und mit der Arbeit begonnen wird, der dann die inzwischen er-
folgende gröfsere Klärung der Ansichten hinsichüich der Methode der In-
ventarisation zum Nutzen gereichen dürfte/'
Da die Kommission als Sektion des Vereins für nassauische Altertums-
kunde und Geschichtsforschung bisher in ihrer Verfügungsfreiheit gehemmt
war, hat eine Neugestaltung der Satzungen Wandel geschaht. Die Leitung
der Geschäfte lag, nachdem Prof. Otto, durch Krankheit veranlafst, vom Amte
des Vorsitzenden zurückgetreten war, in den Händen von Major a. D. Kolb,
bis Archivdirektor Wagner zum ersten Vorsitzenden gewählt wurde. Stifter zählt
die Kommission jetzt 4, Ehrenmitglieder i, Gönner 9, Freunde 27, Mitglieder
76; den Elinnahmen von 4193 Mk. stand eine Ausgabe von 4142 Mk. gegen-
über, der Bestand, der im Vorjahre 7 1 1 2 Mk. betrug, ist auf 7 163 Mk. gestiegen.
Die ältesten Siegelumschriften in deutscher Sprache. — In meiner
kurzen Zusammenfassung der bisher gewonnenen Forschimgsergebnisse auf
dem Gebiete der deutschen Urkundensprache und der noch notwendig zu
leistenden Arbeit in dieser Zeitschrift III. Bd., S. 11 7 habe ich auf die Verwen-
dung der deutschen Sprache bei einigen mit den Urkunden in mehr oder minder
nahem Zusanunenhang stehenden Erscheinungen hingewiesen, darunter auf die
deutschen Siegellegenden, imd als Beispiel die Siegel des Reichshofgerichtes
von der zweiten Hälfte der XIII. Jahrhunderts an erwähnt. In Österreich
geht jedoch der Gebrauch deutscher Siegelumschriften noch viel weiter zurück
und zwar ist es merkwürdigerweise der Herzog selbst, welcher sich derselben
bedient. Im Jahre 1197 bereits findet sich an einer Urkunde des Baben-
bcrger Herzog Leopolds VI. — damab Herzog der Steiermark — für das
Kloster Heiligenkreuz in Niederösterreich, gegeben zu Wien am 9. Dezember
des genannten Jahres *) , ein herzogliches Siegel mit der Umschrift f Hei-
"^ogt . Liufpolfd vfon . Sfijyre, Die Einführung eines derartigen vom Ge-
wohnten abweichenden Siegels dürfte zu jenen verschiedenen Mafsnahmen
gehören, welche die Babenberger verfügten, um auch äufserlich die Souveränität
ihres Territorialfürstentums zu markieren. Dem Beispiele des Landesfürsten
folgte bald eine Reihe österreichischer und steirischer Grafen imd Ministerialen,
1) Font. rer. Aastr. 2. Abt. XI, 30.
— 112 —
wie die Grafen von Ortenburg, die Kuenringer, die Pettauer, die Auersperge ^)y
und so scheint die Führung von Siegehi mit deutschen Umschriften eine
Zeitlang Mode gewesen zu sein, welche sich jedoch im XIII. Jahrhundert
wieder allmählich verlor, um im XIV. Jahrhundert neu und allgemeiner auf-
zutauchen ^). Aus Deutschland sind aus der ersten Hälfte des XUI. Jahr-
hunderts noch zwei Siegel mit deutschen Umschriften bekannt, das des
"Gottfried von Bickenbach (f 1244) und das des Kämmerers Ludwig
von Meldingen aus dem Jahre 1243 *), doch fallen beide später als die
erwähnten österreichischen Beispiele. Übrigens ist die Siegelforschung nach
dieser Richtimg noch nicht systematisch geführt worden, und es dürften sich
wohl bei genauerem Studium, das hiermit allen Siegelbeschreibem angelegent-
lichst empfohlen sei, auch hier noch neue und vielleicht überraschende Auf-
schlüsse ergeben.
Wien. M. Vancsa.
£iiigegaiigene Bttcher.
Lavater: Tagebuch von meiner Reise im Junius und Julius 1774 [= Mit-
teilungen der Deutschen Gesellschaft zur Erforschung vaterländischer
Sprache und Altertümer in Leipzig. Leipzig, W. Hiersemann. 9. Bd.,.
2. Heft (1902), S. 59 — 136].
Mitteilungen des Kaiserlichen und Königlichen Heeresmuseums im Artillerie-
Arsenal in Wien, herausgegeben von dem Kuratorium des Kaiserlichen
und Königlichen Heeresmuseums. Wien, Karl Konegen. i. Heft
(1902), XXIX und 200 S. 80.
' Rehm, Hermann: Das landesherrliche Haus, sein Begriff" und die Zu-
gehörigkeit zu ihm [= Sonderabdruck aus der Festschrift der Universität
Erlangen zur Feier des achtzigsten Geburtstages Sr. Königlichen Hoheit
des Prinzregenten Luitpold von Bayern]. Erlangen und Leipzig, A.
Deichert (Georg Böhme), 1902. 36 S. 8^. M. 1,20.
Rendtorff, F. M. : Die schleswig-holsteinischen Schulordnimgen vom i6»
bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts, Texte imd Untersuchungen zur
Geschichte des Schulwesens und des Katechismus in Schleswig-Holstein
[= Schriften des Vereins ftir schleswig-holsteinische Kirchengeschichte.
I. Reihe (gröfsere Publikationen) 2. Heft]. Kiel, Robert Cordes, 1902.
347 S. 80.
Sartori-Montecroce, Tullius R. v. : Geschichte des landschaftlichen
Steuerwesens in Tirol von K. Maximilian bis Maria Theresia [= Bei-
träge zur österreichischen Reichs- und Rechtsgeschichte II.]. Innsbruck,
Wagner, 1902. 337 S. 8^. Kr. 6,40.
S i e g 1 , Karl: Materialien zur Geschichte der Egerer Lateinschule vom Jahre
1300 — 1629 nach den Urkunden des Egerer Stadtarchivs* Eger, Ver-
lag des K. K. Staats-Obergymnasiums, 1902. 143 S. 4^^.
i) Siehe Luschin, Deutsche Inschriften ans Krain und Steiermark (Mitt. der k. k.
Zentral-Kommission N. F. X, 1884, S. LXIX).
2) Vgl. jetzt Siegenfeld, Das Landeswappen der Steiermark (Graz 1900), S. 40
und 146.
3) Hohenlo he- Waidenburg im Jahrbuch der heraldischen Gesellsch. „Adler"
m (1876), S. 125.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzif. — Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes m Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
für
Forderung der landesgeschichtlichen Forschung
IV. Band Februar 1903 5. Heft
t^oland ^ t^undsohau
RoUnd In der bildenden Kunst des letzten Jahres. Roland-Feuille-
tons: Neue Deutungen. Neues und Nachtrftgliches aus der Spexial-
literatur; neue Rolande. Die bAhmischen Rolande. Neueste Lite-
ratur. Nachlese.
Von
G. Sello (Oldenburg)
Die Freunde der Deutschen Geschichtsblätter bitte ich noch
einmal um Geduld für ein Referat über die Roland-Literatur. Dieselbe
ist in jüngster Zeit so sehr in die Breite gegangen und die 2^1
schreiblustiger DUettanten, welche von Verantwortlichkeit dem Pu-
blikum gegenüber nichts wissen, hat in ihr derartig zugenommen, dais
es fast firaglich erscheint, ob es einer wissenschaftlichen 2^itschrift
anstehe, sich damit zu beschäftigen. Das „Laienelement" in der Be-
handlung der Roland-Frage ist aber von jeher ein so erheblicher Teü
dieser selbst gewesen, da(s seine einfache Ignorierung kaum noch an-
gängig erscheint; und außerdem haben gewisse Vorgänge des ver-
flossenen Jahres geradezu elektrisierend auf die Phantasien und die
Federn gewirkt Außerordentliche Ereignisse rechtfertigen auCser-
gewöhnliche Ma&nahmen; darum möge für diesmal den Herren Ro-
land-Fenilletonisten ausfuhrlicher, als ihnen für die Zukunft zugesichert
werden kann, auch an dieser Stelle das Wort vergönnt werden. Dais
mir alles Erwähnenswerte zu Gesicht gekommen, wage ich nicht zu be-
haupten, wennschon Freunde der Sache, denen allen dafür mein Dank
hier gesagt sei, mich redlich durch Zusendungen unterstützt und erfreut
haben. Aber auch so dürfte vielleicht mir entgegengerufen werden:
uU, satis superque/ Bei späteren Berichten wird, falls dieselben über-
haupt noch wünschenswert erscheinen sollten, eine Beschränkung auf
diejenigen Publikationen einzutreten haben, welche tatsächlich Neues
zur Spezialgeschichte mitzuteilen wissen. Dais gerade hier der Tätig-
keit der redlichen Lokalgeschichtsfretmde noch ein mutmafslich reiches
Feld der Tätigkeit harrt, betone ich nicht zum ersten Male. Es ist
9
— 114 —
freilich leichter und lockender, aus Lesefrüchten und handlichen
Quellenstellen eine neue Theorie zu weben, als etwa eine Reihe von
Jahrgängen städtischer Rechnungen zu durchmustern.
Seit meinem letzten Berichte ^) sind ein paar Erscheinungen auf
künstlerischem Gebiete hervoigetreten, welche den Eindruck machen,
als könnten sie berufen sein, dem kulturhistorischen Roland«-Thema
ein neues Kapitel hinzuzufügen.
Der preisgekrönte Elntwurf H. Lederers für die Hamburger
Bismarck-Statue'), welcher den eisernen Kanzler im Eisenkleide,
barhäuptig, mit wallendem Mantel, auf ein riesiges Schwert sich stützend,
darstellt, ist unter dem Beifall von Presse imd Publikum als „Ro-
land" bezeichnet worden. Im Berliner Tieigarten ist die Hülle von
der kolossalen und prächtigen Brunnenfigur Professor O. Les-
sings ') gefallen, welche, in Erinnerung an den alten Berliner Roland
offiziell auf dessen Namen getauft, trotzdem nicht den Träger des
Roland-Mythus der norddeutschen Städte in seiner traditionell-ältesten
fürstlich-richterlichen Gestaltung zur Darstellung bringt, sondern den
halb historischen, halb sagenhaften Helden von Ronceval in einer aus
den verschiedensten Elementen zusammengesetzten Rittertracht, im
Detail echt, aber in seiner Gesamtheit ein unecht wirkendes Kompromifs.
Diesen Eindruck dadurch, dais er dem sonst korrekt gezeichneten
Recken einen „Haby-Bart" verlieh, satyrisch gesteigert zu haben, ist
gewissermafsen ein Verdienst des lustigen Karrikaturisten des Berliner
„Ulk" (1902, Nr. 29).
Neben diesen beiden öffentlichen Denkmälern ist ein denselben
verwandtes von privater Art an einem Platze entstanden, vor dem
selbst Akibas Weisheit zu Schanden werden mu(s: in einem neuen
Prunkrestaurant Berlins, in den Räumen des „Kolonialhauses", der
historischen Stätte des alten Roland ebenso fem wie der Tiergarten,
empfängt ein neuer „Roland von Berlin" den Gast: eine vom
Kopf bis zum Fu(s gerüstete, 3 Meter hohe Ritterfigur aus getriebenem
Kupfer mit dem Porträtkopfe Bismarcks und dem angeblichen mittel-
alterlichen Stadtwappen Berlins im SchUde.
Die historische Kritik hat das Recht und die Pflicht, auch Schöp-
fungen wie diese nach Form und Gehalt zu prüfen; sie stellt be-
I) Vgl. diese Zeitschrift m. Band, S. 33—48.
a) Mir nnr ans einer grofsen Photographie bekannt, welche ich der Liebenswttrdig«
keit des Herrn Senatssekret&r Dr. Hagedom Tcrdanke.
3) Treffliche Gesamt- und Teilanfoahmen derselben hat das photographische Institut
▼on W. Titzenthaler in Berlin gefertigt
— 116 —
danemd fest, dafs dabei für eine Zelt, welche auf ihre „wissenschaft-
fidie Beobachtung" sich soviel zu gute tut, etwas zu viel künstlerischer
^enwille, und etwas zu wenig ernstes Wollen in der Richtung ge-
sduchtlicher Wahrheit Hand in Hand gegangen sind. Sie möchte
aber anch nicht verkennen, dafs sich hier vielleicht ein neuartiges
Symptom der „versonnenen** Liebe des norddeutschen Volkes zu
seinem uralten Rolandmotiv zu erkennen gibt; da(s wir möglicher-
weise am Beginne eines neuen Abschnittes der Roland -Geschichte
stehen, dessen Wesen etwa in der spontanen Anerkennung eines inner-
halb gewisser Grenzen frei sich bewegenden Roland-T>'pus als ge-
meinsames Symbol des deutschen Städtewesens liegen möchte; so etwa
wie in der Heraldik die unschöne Abstraktion der Mauerkrone verwand-
tem Zwecke dienen sollte. Einen beachtenswerten Fingerzeig in dieser
Sichtung hat Moritz Leopold in Charlottenburg mit seinem zur Aus-
fihrung angenommenen Plakat, für die deutsche Städteaus-
stellung 1903 in Dresden gegeben, welches im Vordergrunde einen
„Roland'' mit der Stadtsilhouette dahinter zeigt
Die Zukunft wird lehren, ob die neuen Gebilde wirklich eine Fort-
eotwickelnng bedeuten, oder ob sie mit der Laune , welche sie schuft
wieder vergehen werden, ein Schicksal, welches ihnen Theodor
Wolff, der treffliche Kenner der modernen Volksseele, voraussagt,
wenn er in einem seiner meisterhaften, mit liebenswürdigem Lächeln
<fie ernstesten Wahrheiten kündenden Feuilletons (Berliner Tageblatt
1902, Nr. 436) in der Neuerrichtung des Berliner Roland nichts als die
interessante Erscheinung sieht, dafs man eine tote Symbolik aus ver-
klimgenen 2Mten heute auferwecken und künstlich wieder beleben
woDe. Aber auch fiir diesen Fall werden die neuen Bilder in einer
Ifin«cht wenigstens von dauerndem Nutzen gewesen sein.
Dem, der sie aufmerksam miterlebte, haben sie die GewUsheit
erbracht, da& eine Reihe scheinbar imvermittelter Übergänge in der
R^dandgeschichte seit dem XVI. Jahrhimdert gerade wie sie, die nur
(fie Wiederholung jener bilden, logisch nicht zu erklären sind, son-
dern, unbeschadet ihrer Tatsächlichkeit, einzig und allein in unkontrol-
fierbaren R^fungen der Volksseele oder der Regisseure derselben ihre
Veranlassung haben.
Wir werden jetzt keinen Anstols mehr daran nehmen, dais das
ffiU Karls des Groisen zu Wedel, der Denkstein Dietrichs v. Quitzow
Z8 L^de, der „Römer" auf dem Fischmarkt zu Erfurt, ja sogar der
gemalte Christopborus zu Oschatz volkstümlich als „Rolande" be-
werden; dals zahlreiche „Rolande" des XVL Jahrhunderts
— 116 —
nicht mehr die typische, fürstlich-richterliche Tracht des XIII., XIV.,
XV. Jahrhunderts erhielten, sondern idealisiert, im antikisierenden Helden-
kostüm der populären Illustrationswerke jener Zeit , oder veristisch in
der Kriegstracht ihrer städtischen Söldner sich zeigten; dafs neue
„Rolande*', gröfser, prächtiger als ehemals, errichtet wurden, wo es
keine „Freiheit", kein Privilegium mehr gegen fürstliche Überfahrung
zu schützen galt, wo selbst die Sage verstummt war, und nur die
Lust an dekorativer Verherrlichung einer von phantasievollen Chro-
nisten in künstlicher Beleuchtung gezeigten nebelhaften Vorzeit das
Wort führte.
Dieselben volkspsychologischen Imponderabilien , welche im
XVI. und wiederum im XX. Jahrhimdert ein Spielen mit dem Roland-
B^riflf, dem Roland-Namen, dem Roland-Typus zulicfeen, dürfen wir
als vollgültige Faktoren in der frühesten Roland-Geschichte anerkennen«
Die volkstümliche Umdeutung in ein Symbol der nach sächsischer
Sage von Karl dem Groisen gegönnten „Freiheit", die nach unserer
Auffassung eine Statue erfuhr, welche bei Gelegenheit einer der
ersten deutschen Städtegründungen im Sachsenlande durch König-
Otto I. der geistliche Stadtherr zum Zeichen ihm verliehener Stadt-
gerichtsfreiheit unter dem BUde eines dies Vorrecht als oberster Richter
schützenden Königs errichtete; die volkstümUche Verkörperung dieses
unbequem abstrakten Symbols zum Abbilde Rolands, des sagenhaften
Schutzpatrons der Sachsenfreiheit; die volkstümliche Umwertung dieses
Roland-AbbUdes zu einem unpersönlichen generellen SinnbUd städti-
scher Freiheit im Sachsenlande mit dem Gattungsnamen Roland: alle
diese Voraussetzimgen werden durch den Hamburger Bismarck-Roland,
den Berliner Tiergarten-Roland von dem schwankenden Boden histo-
rischer Hypothese in den sicheren Bereich psychologisch unanfecht-
barer Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit hinübergefuhrt So lange
die tatsächlichen Beobachtungen, auf die sie sich stützen, nicht als
irrig nachgewiesen sind, werden wir sie daher als zweifellos richtig*
gelten lassen dürfen.
An die Stelle der Chronisten, welche' im XVI. Jahrhundert das
historische RolandbUd verwischen halfen, eines Brotuff, Angelus, Po-
marius, Leuthinger, sind heute die Feuillctonisten der Tageszeitungen
und Wochenschriften getreten, Journalisten von Beruf, Techniker»
Kunstschriftsteller, Naturkundige, Geographen, Philologen, Juristen.
Die literarische Spreu, die vorher schon bergehoch lag, da jeder, der
einmal einen „Roland" gesehen und irgendwo etwas darüber g^elesen
hatte, sich berufen hält, seine Ansicht zur Rolandfrage zu äu&em, ist
— 117 —
in der neuesten Zeit um ein Erkleckliches gewachsen. Ein Satyriker
könnte daraus der hochgelobten Bildung unserer Tage einen anmutigen
Strohkranz winden. Uns würde der Versuch dazu hier zu weit fuhren;
wir müssen uns darauf beschränken, eine kleine Auswahl der neuesten
Deutungen vorzul^en.
Carus Sterne (Ernst Krause) hat eine umfangreiche ,,historisch-
m3rthologische Studie*' geschrieben „Die Rolandsbilder" (Vossische
Zeitong, Sonntagsbeilage, 1902, Juli 20. 27) '). Sie beginnt mit einer
TöUig unzulänglichen, kurzen Zusammenfassung dessen, was Rechts-
gelehrte und Geschichtsforscher (er nennt R. Schröders Abhandlung
▼OQ 1890, Sohm und den noch zu besprechenden E. A. Müller) über
den Ursprung der Rolandsbilder ermittelt haben. Das sei „durch-
aus unbefiriedigend *', weil sie trotz J. Grimms Hinweisung auf die Irmen-
sanlen und der Zustimmung „verschiedener genauer Kenner des deut-
schen Altertums, wie z. B. Mone und Holtzmann'*, „ die Mitarbeit der
Mythologen verschmäht haben". „Auf einem weiten Umwege und
ohne beim Aufbruch von diesen Vorgängern zu wissen", sei er
„zu derselben Schlufsfolgerung (eines näheren Zusammenhanges zwi-
schen den Irmensäulen und den Roiandsäulen) gelangt", und „hofTe
sie zu einem hohen Grade der Wahrscheinlichkeit bringen zu können".
Um zu der in diesen Worten verheifsenen Lösung der Roland-
frage zu gelangen, brauchen wir nicht den ganzen weiten Umweg
oder Irrw^ zu wandeln, den Sterne uns nun führen wUl. Nachdem
wir uns etwa bis auf die fünfte Spalte durchgearbeitet, stofsen wir
auf eine Art von Wegweiser : „wir werden bald sehen, dafe mit gröfster
Wahrscheinlichkeit die alten Marktkreuze, die in Gestalt eines Schwert-
griffes aufjgerichtet wurden, und aus denen die Rolandssäulen
hervorgegangen sind u. s. w." Flugs überschlagen wir das
Wettere, und finden bald, was wir nach dieser Andeutung ahnten:
R. Schröders wohlbekannte Marktkreuz - Theorie von 1886. Sterne
hat dieselbe, die er nur in der Fassung von 1890 kennt, in seiner
Einleitung als „die wohl vorherrschende Meinung in neuerer Zeit"
bezeichnet, aber, wie man aus seinen weiteren Ausführungen schliefsen
nntis, zunächst als ebenfalls „durchaus unbefriedigend" abgelehnt.
Dann ist er anderen Sinnes geworden; da er das, was Schröder ein-
gebend zu beweisen gesucht hat, beweislos als Tatsache hinstellt, hat
ihm offenbar die Autorität des Rechtsgelehrten — dessen Namen er
an dieser Stelle nicht nennt — für diesmal genügt. Der Ruhm der
i) Mir dorch Herrn Geh. Archi?rat Dr. Baillen, Berlin, freundlichst mitgeteilt.
— 118 —
Mythologea und J. Grimms „Fingerzeig'" müssen aber nichtsdesto-
weniger zu ihrem Rechte kommen; darum der „Umw^" und die
ihn in mystisches Halbdunkel hüllende gewaltige Wolke gelehrter
Abschnitzel aus den Mythologien aller alten Kulturvölker. Nachdem
wir den leitenden Faden gefunden, können wir, noch einmal b^^innend,
diesen Irrgarten rascher durcheilen. Kaum haben wir uns zwischen
den altrömischen Marktbildem, „welche nach Bedeutung und Charakter
durchaus den Rolanden Norddeutschlands entsprachen", Vater Lyaeus,
pater über, Marsyas, Silen, des Kaisers Augustus Tochter Livia mit der
freieren Lebensauffassung, Midas und dessen Malern aus der Renaissance-
zeit, hindurchgewunden, so müssen wir mit ansehen, wie nur zum
Zwecke sofortiger Widerlegung die Scheinbehauptung angestellt wird,
„die norddeutschen Rolandsbilder seien Nachahmungen der italieni-
schen Marsyasbilder, die mit dem römischen Rechte bei uns ein-
gezogen seien". Wir erfahren dabei, dafs „die au%ehobene Hand
des römischen Marsyas schon einen Hauptcharakter der Rolandbilder
enthielt", nehmen zum Beweise der Urverwandtschaft der römischen
Götter mit den altgermanischen an einer interessanten Konfrontation
von echten (und verdächtigen) Hauptrepräsentanten der beiden mytho-
logischen Systeme teil, imd sind damit dem Ziele ganz nahe ge-
kommen. „Der germanische Rechtsgott war nun der aus dem
Himmelskämpfer hervorgegangene Schwertgott Tiu oder 2Uo, der alles
auf Erden begangene Unrecht straft und gleichsam den Vorsitz der
unter freiem Himmel vorgenommenen Gerichtsverhandlungen führte."
Ihm wurden 2Uo-Säulen (Ziojodutes, Tyodutes, Jodutes, d. h. Tius'
Stamm) errichtet, die mit dem Irminsäulen einerlei waren. Be-
weis dafür: das von den Thüringern (!) „um 530" an der Unstrut
errichtete Siegesdenkmal in Gestalt eines dem Herkules ähnlichen
starken Mannes, deo sie als Mars, d. h. als den noch mit einer Keule
bewaffneten Kriegsgott, bezeichneten, den aber ein guter Mönch des
XII. Jahrhunderts in -einem Zusatz — zu Widukinds „Jahrbüchern der
Sachsen"?; Sterne scheint das zu meinen — Hermes nennt (weil
Wodan = Merkur s= Hermes damals „ bei den Sachsen ond anderen
nordischen Völkern" an die Stelle von Zio-Mars getreten war) und
mit Irmin, dessen Name den höchsten Gott der Germanen bezeichnete,
schon der Namensähnlichkeit wegen gleichsetzte ^). Fernerer Beweis :
das „Tyodute"- Standbild am Weifesholz und der Weidenstumpf
i) Wer die wissenscfaalUiche ZinrerlfiMigkeit Sternes prOfen wiU, möge seine Behand-
lung der historischen Nachrichten über die Scheidnnger und Eresbnrger Irmensul näher
betrachten.
— 119 —
daselbst, zur Erinnerung' des Sieges der Sachsen — NB. im Jahre
1115 — über des Kaisers Feldherm Graf Hoyer von Mansfeld, der
zu YÖÜig mythischer Persönlichkeit geworden als „angeborener Sonnen-
kampfer Tin- Donar -Siegfried", d. h. als „rothaariger Gewitteigott";
sodann: das bei Elias Schedius de düs Germanis 1648 und in Am-
kiels Cimbrischer Heidenreligion 1691 mi^eteilte als Ermensul be-
zeichnete Bild des „Ritters mit dem Hahn " ( ! ). „Bevor die germanischen
Stämme fähig waren, hölzerne, steinerne oder gar metallene Bildwerke
herzustellen, begnügten sie sich, eine hölzerne oder steinerne Säule zu
errichten, einen Si^es- oder Gerichtsbaum, der das fehlende BUd vertrat'*
„ Den einfachen Pfahl stattete man später mit zwei Armen aus, namentlich
an den Gerichtsstätten, und das sollten wohl weniger die Arme einer
menschlichen Gestalt sein, als die Parierstang'en eines in der Erde
steckenden Schwertes, das Zeichen des Schwertgottes, der als oberster
Richter galt" „Ein solcher Schwertbaum der Grerichtstätten mufs
— man beachte den einzig durch dieses Wörtlein geführten schlagen-
den Beweis — das UrbUd der Marktkreuze gewesen sein, aus denen
die Rolande hervorgegangen sind." Mit den Marktkreuzen werden die
,,Slavischen Kreuzbäume "^nach dem Berichte des Theologen Hilde-
brand über die Lünebui^er Wenden aus dem Jahre 1672) verglichen,
auf deren Spitze ein eiserner Hahn steht — wir erinnern uns dabei
des eben erwähnten Irmensul-Rittefs mit dem Hahn. Da dieser auch
mythologisch überaus schätzbare Vogel dem höchsten Gott der Slaven,
dem Licht- und Kamp^ott heilig ist, so gleichen also diese slavi-
schen Kreuzbäume nach Sinn und Ursprung völlig „den Rechts-
und Marktkreuzen (WeichbUdem) , aus denen die Rolande hervor-
g^angen sind".
Aus dem Wedeler und dem Bramstedter RolandsbUd scheint Sterne
zu schliefen, dals die aus den Marktkreuzen entstandenen Statuen
Kaiserbilder gewesen seien, zunächst Karls des Groisen, dem die be-
treffenden Länder die Einführung des Christentums imd eines neuen
Rechts schuldeten; die Lösung dafür, dafs an ihre Stelle der sagen-
hafte Paladin getreten sei, liege wohl darin, dais „fast um dieselbe
Zeit, in welcher die alten Marktkreuze in PersonenbUder umgewan-
delt wurden, oder nur kurz vorher (im XIL Jahrhundert) die Ro-
landlieder entstanden sind", welche den Paladin zum MusterbUde der
christlichen Vasallentreue erhoben.
Sternes Hineinziehen der slavischen Mythologie in die Roland-
frage fuhrt uns hinüber zu der „Studie" des früheren Kuns^orzellan-^
fabrikanten, jetzigen Rentners, Hugo Lonitz, Du Rolandsäulen
— 120 —
(Neuhaldensleben, Druck von Ernst Pflanz. 28 SS. 8) ^). Dieselbe ist
wdtere Ausfiihnmg des in DGBl. 1901 , S. 46 ff, nach einem Zei-
tungsreferate besprochenen Vortrages des Verfassers im Aller- Verein
zu Neuhaldensleben. Der erste Abschnitt bringt nach einer kurzen
Statistik folgenden Definitionsversuch (S. i): Unter einem „Roland^*
ist im allgemeinen zu verstehen eine riesige Ritterfigur aus Holz
oder Stein, welche auf einem Sockel oder hohen Postamente steht
und in der Rechten ein blankes Schwert aufrecht trägt; der Schwert-
träger hat keine Schwertscheide. Die linke Faust ist meist leer, oder
hält ein Trinkhom oder Schild. Als weitere Attribute kommen vor:
Fahne, Reichsapfel und Doppeladler. Als Kopfbedeckung kommen
vor: ein Rasenstück oder Blumenkranz, Stimreif und Krone, selten
ein Helm.** In Abschnitt 2 und 3 wird die älteste Geschichte, in
Abschnitt 4 und 5 die Mythologie der Sachsen und Wenden behandelt.
„Als Himmelskönig der Sachsen hat wohl Wuotan oder Wodan der
Göttervater gegolten** (S. 10). „Vor dem Angesichte der Bildsäule
Wuotans hielt man den Gerichtstag ab, feierte die Volks- und Götter-
feste und verband damit zugleich den Güteraustausch, den Markt**
(S. 11). „Swjatowit war der Allgott aller Slawen, der Himmelskönig**.
„ ie Swjatowit-Säulen (in Holz geschnitzte Bilder auf hohem Postament»
mit blankem Schwert, Trinkhom, Reitzeug) standen schon längst in
den Hagen (heiligen Hainen, Malstätten) der Slawen, als die Sachsen
g^en die Gegenden der Mittelelbe, der Ohre und Aller, anrückten
und als Nachbaren der Wenden sich ansiedelten** (S. 13). „Bei der
groisen Ähnlichkeit des beiderseitigen Götter- und Festkultus, und in-
folge des Jahrhunderte langen Verkehrs zwischen Wenden und Sachsen
war es eine natürliche Folge, dafe die gegenseitigen Gebräuche und
besonders die Göttergestalten und die damit verbundenen religiösen
Begfriffe von diesen Völkern zum gegenseitigen Gemeingut wurden
und auch gegenseitig nicht nur gern geduldet, sondern auch geachtet
und die Feste gegenseitig und gelegentlich mitgefeiert wurden. Dieser
Zustand währte ungefähr bis um das Jahr 748** (S. 14). Bei den
Sachsen hatte christliches Bekehrungswerk die alten Götterbilder
gestürzt; sie mögen damals mit besonderem Interesse das Bild des
Swjatowit angesehen und sich zu ihm hingezogen gefühlt haben;
„widerstand doch der alte heidnische Swjatowit noch immer dem
bösen Christengotte ** (S. 16). Die Kirche muiste dem Heidenglauben
viele Zugeständnisse machen (S. 17). Aus dem leidenden, gekreuzigten
Christus, welcher den kriegerischen Sachsen und Wenden unsympathisch,
i) Mir Ton Herrn Dr. med. P. Köhler, Magdebnrg-Neiutadt, freundlichst mitgeteilt.
— 121 —
wurde ,,der jugendliche, leuchtende Held, der gegen Sünde, böse
Gdster und die Hölle si^^eich gekämpft hat''. Jeder Gläubige ist
sein „Mann**, der ihm zur Gefolgschaft verpflichtet ist ^). „Aus der
Verschmelzung dieser Christusvorstellung mit der den Sachsen und
Wenden innewohnenden Vorstellung von Wuotan und Swjatowit ent-
stand die ritterliche und jugendliche Elrscheinung des Himmelskönigs,
welche als „ Roland*' auf uns gekommen ist, eine dreieinige Kom-
pronufisfigur der katholischen Kirche mit Sachsen und Wenden " (S. i8).
„So stand nun der neue riesige Himmelskönig in den uralten Mal-
statten, den Friedhöfen oder Hagen der Wenden und Sachsen".
Wahrscheinlich nannten ihn die Deutschen „Himmelskönig" oder
schlechtw^, „der König", „Kuning" (S. 19). Auch im Namen „Ro-
land" kann man nicht ohne Berechtigung die ursprüngliche Benennung
erblicken : wend. Rohld (spr. Rohljaa) = Acker, Flur, Rohldnt = der
Flnrbesitzende , Flurbeherrschende (S. 19). „Dann gewinnt aber die
Voraussetzung an Wahrscheinlichkeit, da& die Rolande zuerst bei den
Wenden entstanden seien." Der siav. Rohlänt wurde von den Sachsen
Q. s. w. übernommen und in Ruotland umgewandelt. Die Vorstellung
von der geistlichen Gefolgschaft des streitbaren Himmelskönigs ver-
blalste in der Zeit der Albigenser, der Katharer, der Stedinger, der
Waldenser; mit ihr verblafste das Ansehen der jene Idee personi-
£aerenden Rolandfigur. Sie wurde nur noch, jener kirchlichen Be-
deutung entkleidet, als Repräsentant der alten angestammten und vor
ihr ausgeübten Rechtsbräuche angesehen. Da erst entstand in Deutsch
lasd die Sage von Roland dem Paladin Karls des Grofsen; in den
Rolandsäulen wurde von nun ab nicht mehr der Himmelskönig, son-
dern nur jener ritterliche Held der Sage erblickt. „Die Städte, welche
gewöhnlich in der Nähe der alten Hagen mit ihren Märkten sich ent-
wickelt hatten", holten, besonders während des Interregnums, „den
das Markt- und andere Rechte repräsentierenden Roland vom Hagen
in die Stadt und richteten sein Bildnis auf ihrem Marktplatze wieder
auf. So entstand aus den uralten Himmelskönigen Wuotan und Swja-
towit der Himmelskönig Roland innerhalb freier Landgemeinden"
1- 8. w. (S. 21).
Das Bild, welches Lonitz zeichnet, entbehrt nicht künstlerischen
Schwunges und plastischer Rundtmg ; leider fehlt ihm jede tatsächliche
Grundlage.
Auf der Seite der Mythologen streitet nach wie vor unentwegt
Professor E. Dünzelmann. In der Historischen Gesellschaft zu
i) HelitDd-Rciiinmceiaen des belesenen Verfassers.
— 122 —
Bremen hat er am i8. Januar 1902 über „Neue Rolandforschungen*'
referiert; dabei hat er seine eigene Meinung (nach dem Bericht der
„Bremer Nachrichten** 1902, Nr. 20) dahin formuliert, „dais die
Rolandsäulen auf eine viel frühere 2^it, lange vor Karl dem Grofsen
zurückgehen. Sie würden demnach (!) von den Sachsen gesetzt
sein, zu Ehren eines Gottes und zur Erinnerung an den Sieg des
Arminius über die Römer, und zwar immer im Mittelpunkte eines
Gaues, besonders in Ostfalen, woraus sich die häufigen Rolandbild-
nisse in dieser Gegend erklären würden. Spätere Sage brachte dann
die Statue mit Karl dem Grofsen in Zusammenhang und liefs sie ent-
weder Roland oder einen sonst rätselhaften Heiligen, S. Hulpe, dar-
stellen." Es ist in der Tat unbegreiflich, dafe die unermüdlichen
Roland-Pioniere nicht längst auf Arminius verfallen sind. Wir wollen
wünschen, dafs ihnen demnächst, etwa aus einem günstig im Mittel-
punkte eines Gaues belegenen Moore, ein veritables, kombiniertes
Götter- und Arminiusbild beschert werde.
In der an Dünzelmanns Bericht sich anknüpfenden Diskussion ver-
suchte Professor Gerd es ebenfalls nicht übel „den Roland als ein
Wahrzeichen für gerodetes Land (Raland), d. h. durch Bann abgegrenztes
Königsgut zu erklären ". Diese Deutung berührt sich beinahe mit der des
Architekten J.Oltmanns (Hamburger Korrespondent, 1902, die Nummer
fehlt mir). Die Rolande sind danach AbbUd des Kaiser Karl, „welche er wohl
aufrichten liefs als Wahrzeichen seiner Macht und seines Willens gerade
an den Nordmarken seines Reiches, nachdem er sie sich mit blutiger
und eiserner Faust unterworfen hatte." „Bis hierhin", so sollten diese
Marksteine künden", geht Kaiser Karls Macht, WUle und Rechtsspruch,
bis hierhin reicht Kaiser „Karolus' Land". Aus diesem Karolus'
Land oder Karoli Land wurde KarolsLand, und als er abtrat vom
Schauplatz seines Wirkens, und Herrscher mit anderen Namen an die
Spitze des Reiches traten, wurde den späteren Geschlechtem aus
Absicht oder Milsve-rständnis der Sinn jener Denkmalssäulen ver-
schleiert, und aus Karols Land wurde
Karls Roland.
Man mufs dem Verfasser zugeben, dafs diese Lösung so „einfach und
naheliegend " ist wie 2X2 = 4.
Nach dieser kurzen Abschweifung kehren wir noch einmal auf
„heiligen Boden" zurück. In der Halbmonatsschrift Niedersachsen
(1902, Nr. 4) hatte B. Uhl -Münden in einem Aufisatz über den
„Löwenpudel" in Osnabrück, welchen er ebenso wie einen, im
XVIII. Jahrhundert „Erich" (= Gesetzhalter) genannten romanischen
/
— 123 —
Löwen in Münden für ein Hoheitszeichen an einer Gerichtsstätte er-
Uäit, geänfsert, „er halte dies alles deshalb fiir besonders wertvoll,
veil es in verschiedener Hinsicht Licht verbreiten könne über die
Bedeutung^ der Rolande, für die es bekanntlich immer noch an einer
ansrdchenden Erklärung fehle". Darauf erhob sich E. A. Müller-
Berlin (a. a. O. 1902, Nr. 8 Zur Rolamis/rage) und erklärte, die
Rolaudfrage „beantworten'' zu können. Denn seine Vorfiahren hätten
dem uralten Verbände der „Wetterfreien'' zur Melle angehört, einer
Verbindung westfälischer „Wehren", die sich und ihre Gerichtsbarkeit
für niemand Untertan erachteten als dem „Wetter" und der Jung-
frau Maria zu Herse (welche christlicherseits der Göttin Freya unter-
geschoben), in welcher Verbindung sich die Überlieferungen germa-
nischen Rechtswesens aus grauester Vorzeit bis in die Gegenwart
erhalten hatten. Auf dem „heilige Boden" der Dingstätten stand
die Figur des altgermanischen Sonnengottes, als Sinnbild des Erleuch-
ters der Menschen und der Wahrheit. Die Dingstätte selbst wurde
geh^ durch Lanzen ohne Spitzen, „Ruten" von 6 Fufs Länge, aus
deren 8 anf dem Boden ein Quadrat von 12 Fuis Seitenlänge gebildet
wurde. Aus. diesem „ eingeruteten " Land, plattdeutsch „roe land",
machte „christliche Idolatrie und Unverstand einen „Roland", als
diese Gerichtstsätten mitsamt ihren Sonnengöttern „in den Städten
bleibend wurden", und nahm „jene unwürdige Unterschiebung mit
jenem Büttel des Frankenkaisers, Roland", vor. Das „Roe-Lands-BUd
des Sonnengottes" stand nun in den Gerichtsstätten auf den Markt-
plätzen, wo als Ersatz für die Laube des Baumes, unter dem eigent-
Bch das Gericht stattfinden sollte, die „steinernen Gerichtslauben"
errichtet wurden.
Es ist b^^eiflich, dafs Sterne diese „Vermutung" Müllers als
„sehr ansprechend" bezeichnet. Da dieselbe in die Rechtshistorie
hinübergreift, möge nun noch ein praktischer Jurist das Wort zur
Sache nehmen. Nach dem mir vorliegenden Referat einer wahrschein-
lidi Hamburgischen Zeitung hat der Landgerichtsdirektor Dr. Föh-
ring am 28. Februar 1902 im Architekten- und Ingeiueurverein einen
i) Ein früherer Aufsatz Ton H. Theen in derselben Zeitschrift (,, NiedersAchsen '%
Jahrg. 1S98/99, S. 54ff.), Du Rolandssäulen, ist eine wertlose Kompilation. Qir ^i»
Niresa mag durch folgendes Beispiel charakterisiert werden. „Von der Rolands-
a Wedel wird behaoptet, dals sie genaa Karls des Grofsen Bildnis yorgestellt
habe: I>och die Ähnlichkeit, wie frappant sie auch sein mag, sagt an and für sich nicht
ndj* Unter den beig^ebenen Abbildnngen ist eine des Bramstedter Roland nicht
— 124 —
Vortrag über den fränkischen und den deutschen Roland gehalten.
Jener, d. h. der historische Roland, die an ihn anknüpfenden Sagen
und Lokalerinnerungen Frankreichs, interessieren uns hier nicht. Hin-
sichtlich des deutschen Rolands wird ausgeführt, dafs die deutschen Städte
im Verlaufe des Mittelalters verschiedene ihre Verwaltung betreffenden
Privilgien erwarben, die Marktfreiheit oder das Marktrecht, das Stapel-
recht u. a. m. Als äufseres Zeichen dessen pflegte auf dem Markt-
platze anstelle eines früher daselbst stehenden „Weichbildes *' (Stadt-
wappen) ein Kreuz aufgestellt zu werden, an welchem ein Schild mit
Wappen oder Inschrift, ein Schwert und ein Handschuh angebracht
und zuweilen auch während der Dauer des Marktes eine rote Fahne
aufgesteckt wurde. „Hie und da wurden auch nur einfache Säulen
mit der roten Fahne aufgestellt. Etwa von der Mitte des XIII. Jahr-
hunderts und von der Zeit an, wo sich die Städte vom Kaiser auch
den Blutbann, d. h. die Rechtsprechimg und den Vollzug in Straf-
sachen erwarben, verschwanden im nördlichen Deutschland die Kreuze
und die Säulen, und an ihre Stelle trat als Macht- und Hoheitszeichen
die Figur eines Schwert, Schild, oft auch Helm tragenden gepanzerten
Kriegers." „Für diese Figur ist nach und nach der Name Roland
gebräuchlich geworden." Aus dem Gedichte des Geistlichen Konrad,
im Dienste Heinrichs des Löwen (!), und der gröCseren und verbesser-
ten ( ! ) Bearbeitung desselben durch einen anderen Dichter — gemeint
ist der Stricker — war dem deutschen Volke die macht- und glanz-
volle Gestalt Rolands entgegengetreten ; da war nichts natürlicher, als
dafs das Wort Roland bald zu einem Eigenschaftsworte wurde, welches
man gebrauchte, wenn man Macht und Hoheit bezeichnen wollte, und
dafs es dann auf ein Symbol übertragen wurde, welches Macht und
Hoheit bezeichnen sollte. In der Überzeugung von der Richtigkeit
dieser Ansicht wird der Verfasser durch den Umstand unterstützt, dals
sich auf einer alten Roland -Statue von Magdeburg die Inschrift be-
fand „Rolandt anno 778 gestorben". Diese Jahreszahl mit einer
kurzen , aus des Marcantonius Coccius Sabellicus (-j- 1 505) Rhapsodiae
historicae entnommenen Biographie Rolands wurde bekanntlich bei
einer Restauration der Statue 1539 auf einer metallenen Tafel am
Sockel angebracht!
Fritz Stahl, der furchtlose und scharfblickende Kunstkritiker,
den wir schon früher als Roland-Feuilletonisten kennen gelernt haben
(vgl. Jahrg. 1900, S. 73 Anm. 2), möge unsere Feuilleton-Rundschau
beschlielsen *). In einer kurzen, strengen aber gerechten Besprechung^
i) Der Vollständigkeit halber erwähne ich noch Hermann Berdrow's Aufsatz
— 125 —
des neuen Berliner Roland (Berliner Tagebl. 1902, Nr. 455) trägt er
dne eigenartige, offenbar auch durch die Irmensul-Theorie beeinflu&te
Anacht von der formalen Genesis der Rolandstandbilder vor. Er
nennt sie ^eine Figur, die als Säule entstanden ist, und diesen Ur-
^ning nie verleugnete*'. So wenig man dem beipflichten mag, so
wird doch für den Augenblick der Widerspruch entwaffnet durch den
treffenden Sarkasmus des Schluissatzes, in welchem es, anknüpfend an
die Charakterisierung der Lessingschen Statue als Held von Ronce-
val, heilst: „Dieser Roland braucht kein Hifthorn, um den berühmten
Hüfenf zu blasen — er schreit einfach zum Himmel."
Der tapfere Versuch R. Schröders und weniger anderer, die Roland-
iage in wissenschaftliche Bahnen zu lenken, ist auf das literarisch
tätige Publikum, selbst auf diejenigen darunter, welche in ihrem Be-
rufe methodisches Denken gelernt haben sollten, fast ohne Elinflufs
geblieben. Die Musterkarte der Meinungen ist noch bunter, dieWill-
kürlichkeit und Phantasterei der jede solide Grundlage verschmähenden
Kombination immer zügelloser geworden.
Man darf unter diesen Umständen der Untersuchung des Ger-
manisten Professor Jos tes in Münster, welche, wie gesprächsweise
veriautet, der Veröffentlichung entgegengeht, um so erwartungsvoller
entg^ensehen. Vielleicht gelingt es ihr, die besprochene wohlfeile
Jahrmarktsware für eine Weile wenigstens auiser Kurs zu setzen.
Während unsere Rimdschau sich bereits im Druck befand, hat
R. Schröder^) selbst noch einmal kurz das Wort zur Rolandfrage er-
griffen; ebenso S. Rietschel*), der, nachdem er vor 5 Jahren schon
sich gelegentlich mit den Rolanden befaist (vgl. DGBl. II, 73. III, 41),
neuerdings den G^enstand in den direkten Bereich seiner Studien ge-
zogen hat Über beide wird zum Schlüsse berichtet werden, insbesondere
über Rietscbel, dessen Ausfuhrungen in ihrer flüchtigen archäologischen
und historischen Begründung als verfehlt bezeichnet werden müssen ').
Zunächst sei es mir gestattet, mein Referat in der ursprünglichen
Ordnung weiterzuführen.
Moiatub-SduUn („Der Tag«*, 1902, no. 93), welcher das VerständDis der „orginellen«
BiMDWck-Roland-Idee Lederers erschlielsen wilL
1} Lehrbuch der dentscheo Rechtsgeschichte, 4. Aufl., 1902, S. 626; femer ansfUhr-
ficber wi HohetuolUm-Jahrhuchy 1902, S. 207 — 211.
2) Ein neuer Beitrag sur RoUmdsforschung ^ in Hist. Zeitschrift. N. F. Bd. 53,
S. 457 C, Besprechung meiner Schrift Der Roland zu Bremen^
3) Aach F. Kentgen stellt eine neoe Hypothese anf in Deutsche LiteraturMeitung^
1903 00. 2. — VgL femer G. t. Below im Literarischen Zentralblatt, 1902, Sp. 1639.
— 126 —
Wir lassen die Spezialliterattir, neu Erschienenes und bisher nicht
registriertes Älteres, an uns vorüberziehen und haben dabei auch einige
„neuentdeckte" Rolande zu verzeichnen.
Folgen wir der alphabetischen Ordnung — die böhmischen sogen.
Rolande bilden zweckmäfsigerweise als besondere Gruppe den Schluls ^) —
so macht Berlin den Anfang, das ja auch sonst in diesem Jahre (1902)
für uns im Vordergrunde der Betrachtung steht, schon durch die histo-
rische Feststellung aus kaiserlichem Munde, dais leider von dem
alten Berliner Roland keine Abbildung mehr vorhanden sei (Bericht
des Berliner Tagebl. 1902, Nr. 430, über die Enthüllung des Roland-
brunnens am 25. August). Treffliches war von dem selbstverständlich
besten Kenner der Geschichte Berlins, Stadtarchivar Dr. Claus witz,
zu erwarten. Er hat endlich in einem Vortrage im Berliner Geschichts-
verein am 26. April 1902 das Wort ergriffen. Leider liegt nicht der
authentische Text seiner Ausfuhrungen, sondern nur ein längeres Re-
ferat vor (Mitteilungen d. Vereins f. d. Gesch. Berlins 1902, Nr. 5).
Danach hat Qauswitz, nachdem er in der Einleitung u. a. mich abgetan, zur
Generalfrage selbst Stellung genommen. „Da der Roland allenthalben
ein blofses Schwert in der Faust trägt, ohne Scheide an der Seite *),
und auch sonst (!) mit Richterattributen (!) ausgestattet wird, meist
ohne Helm, so mufs man ihn für ein Wahrzeichen nicht eines Rechtes
halten, sondern eines Gerichts, das dort abgehalten wurde. Die
Rolande waren ein Wahrzeichen der landesherrlichen Gerichts-
gewalt Das alte Sachsenland ist die Stätte der Rolande; nach der
im Sachsenspiegel sich offenbarenden Volksanschautmg vrurde Karl der
Grofse als Gesetzgeber der Sachsen angesehen. Die Statue Rolands
steht also als Vertreter Karls des Grofsen als Wahrzeichen, dais an
diesem Platze nach Sachsenrecht gerichtet wird. Hiermit erklärt
sich die Beschränkung der Bilder auf bestimmte TeUe Deutsch-
lands. Da der Landesherr überall die Gerichtsbarkeit inne hat, so
sind sie also Wahrzeichen, dafs der Landesherr dort nach
Sachsenrecht richten liefs. DafUr, dais man nicht, wie in
Wedel ^ die Figur Karls des Grofsen selbst, sondern die „des Ro-
lands** hinstellte, mufis die Erklärung in Rolands Volkstümlichkeit ge-
sucht werden. Die Rolandsage nach Strickers Dichtung verbreitete
i) Durch während des Druckes mir xogekommenes neues Material, insbesondere aber
durch die eigenartige Kritik RieUchels Teranlafste Aosftlhningen Aber die Rolande zu Bonn,
Elbing, HaUe, Hambnig, Leitmeritz, Perleberg, Qaedlinbnrg, werden als Nachtrag folgen.
2) Der Bramstedter und der Nordhanser tragen noch heat die Schwertscheide; der
Ton Beigem hat sie (samt der eisernen Starmhaabe) 1756 rerioren.
— 127 —
sich im Sachsenlande ^) etwa gleichzeitig mit Eickes Sachsenspiegel ;
dies wird zur Erklärung mit heranzuziehen sein. „Was nun speziell
den Berliner Roland betrifft, so kann man darauf hinweisen, dafs sämt-
liche alte Hauptstädte der Mark ihren Roland besaCsen." Zwei Stellen
im Berliner Stadtbuche beweisen unwiderleglich die Existenz des dortigen
Rolands, und zweitens, dals er um 1390 schon (!) stand, wo der Landes-
herr noch die Gerichtshoheit hatte. Sein Platz ist nach den Angaben
des Stadtbuches „rätselhaft**. Nach einer Stelle soll er einem Eckhause
des Molkenmarktes (in Berlin) gegenüberstehen, nach der anderen einem
EIckhause der „Lappstraise**, der heutigen Petristrafee (in Colin). Der
Berliner Referent bemerkt hier, da(s man in der daran sich knüpfen-
den Besprechung fast geneigt gewesen sei, das Vorhandensein von
zwei Rolanden anzunehmen, einen für Berlin und einen für Colin ').
i) Der Stricker war Österreicher und schrieb im reinen Mittelhochdeutsch des
ynr Jahrhunderts.
2) Das Berliner Stadtbach (zuletzt im Auftrage der städtischen Behörden heraos-
g^eben von P. Claoswitz, 1883) erwähnt den Roland an zwei Stellen (S. 22 einmal,
S. 23 zweimal). Ans ihnen ergibt sich mit einer Bestimmtheit, wie sie gröiser nicht
gewünscht werden kann, der Standplatz des Roland in Berlin auf dem Molkenmarkt.
Nach der ersten, den Martini-Zins behandelnden SteUe, begann mit einem Eckhans hart
OH sunte Nicolaus chore, also an der Nordostseite des Molkenmarkts, eine wohl nach
der jetzigen Poststralse zn gezählte Reihe von acht Hänsem, zwischen deren fünftem nnd
sechstem sich ein nnbenanntes (nach dem Nikolaikirchhof fiihrendes) Gäfschen befand,
dessen eines Eckhaus als ke^en den Buland bezeichnet wird. Im zweiten Abschnitt,
▼om Wortzins, wendet der Verfasser Ton den beiden Eckhäusern der Stralaner Strafse
her sich nach dem „Alten Markt *^; hier erwähnt er zunächst das negste orthus by
dem Ruland (d. h. also aof der Nordostseite des Platzes), dann kommt er znr Läpp-
straU nnd bezeichnet das eine <ler beiden Eckhäuser derselben als tugeste ort tu den
Ruiande wart. Nun geht er zurück in die Spandaner Strafte, welche wieder mit einem
Hanse hart an sunte Nicholaus chore b^innt E^t dann schreitet er nach CöUd hin-
ttber. Die in diesem Znsammenhange genannte „ Lappstrate '* ist danach die zuerst
enrähnte nnbenannte Gasse, welche später ihren Namen veränderte nnd jetzt Molkenstrafse
heifst. Das ist die einfache Lösung des Rätsels, nnd der Roland des brandenburgischen
CöUo ao der Ecke der Petristrafse ist Phantasterei. — Meine Angabe über das Fehlen
des Roland im Register cn Qanswitz' Stadtbuchansgabe (DGBL III, 36, Anm. 9) ist nicht
ganz richtig; er fehlt nur da, wo man ihn sucht, im „Sachenregister", findet sich da-
gegen im „Personen- nnd Ortsregister" unter dem Stichwort „Berlin", wo er nicht gar
leidit zn entdecken ist — S. Rietschel meint (Hist. Zeitschr. N. F. 53, S. 464), ich
wttrde ihm wohl zugeben, dafs die älteste Berliner Gerichtsstätte auf demselben Platze
lag, wo der Roland stand. Ich kann das für die kurze Zeit Ton der Gründung der
dentschen Stadt bis zn ihrer Erweiterung, bis zur Erbauung des neuen Rathauses nnd der
Gerichtslanbe. Dafs man nachher den Roland ruhig auf dem Molkenmarkt stehen liefs,
beweist deutlich, dafs man ihn damals nnd rund lY* Jahrhunderte weiter in Berlin nicht
ftr ein Zubehör der Dingstätte, ein Gerichtsbild, oder fUr was ihn Rietschel sonst er-
— 128 —
Mit einem Hinweis auf den neuen Roland am Kemperplatze schlofs
der Vortragende. Der Platz der Brunnenfigur in der Nähe der branden-
burgischen Markgrafen sei gut gewählt. Durch ihre Attribute sei sie
als Richter und zugleich als Krieger charakterisiert ^).
Ein kleiner Aufsatz von R. B^ringuier in dem von Georg Bar-
lösius illustrierten, vom Berliner Geschichtsverein herausgegebenen
„Berliner Kalender" für 1903 schliefst sich auf das engste an Claus-
witz an. Eigentum des Verfassers ist nur die im Schlufssatz aus-
gesprochene, an den neuen Berliner Roland anknüpfende höfische
Deutung der mit mehr als einem Tropfen demokratischen Öls ge-
salbten Rolandbilder: „Möge die auf Befehl des Deutschen Kaisers
errichtete neue Rolandstatue wieder sein, was die Rolande ursprünglich
darstelle sollten, ein Wahrzeichen dauernder landesherrUcher Huld und
Gnade."
E. Friedel dagegen, Vom Berliner Roland (Welt-Spiegel, illu-
strierte Halbwochenchronik des Berliner Tageblatts 1902, Nr. 69),
berichtet dankenswert von seinen vergeblichen Nachforschungen nach
archäologischen Spuren des Roland bei Gelegenheit der tiefgehenden
Kanalisationsarbeiten auf dem Molkenmarkt, und von der eigentüm-
lichen Vorgeschichte des neuen Rolandbrunnen.
Auch in Bonn hat man, nach gefälliger Mitteilung des Herrn
Dr. Armin Tille, wenn auch keinen Roland, so doch wenigstens eine
Roland-Säule ausfindig gemacht.
klüren will, ansah. Somit ist es ancb „direkt unwahrscheinlich^^, dafs er als der^leicheii
in Berlin errichtet and wenige Jahrzehnte hindurch verstanden wurde.
i) Ihre Charakteristik als Roland von Ronceval dnrch das Hom scheint danadi
dem Vortragenden entgangen zn sein. — Nachfmcht des Berliner Roland-Rommels iat
die Ton C. Kuhns herausgegebene Zeitschrift für Brandenbni^.-Preufs. and Niederdeatsobe
Heimatskande , Der Roland^ deren i. Nummer vom 4. Oktober 1902 in der Kopflciate
ein Bild des neaen Berliner Roland, dann ein Gedicht Roland vom Herausgeber, eine
nicht sehr treue Zeichnung des Rolandbronnens von O. Roick und einen kurzen An£uits
Der Roland in der Volksauffassung bringt, welcher nur dadurch bemerkenswert ist, cbds
er Paderborn als Rolandstadt nennt. Begreiflich bt es, dafs gerade jetzt auch Leoo-
cavallo Ton seiner immer noch nicht voUendeten Oper Der Roland von Berlin wieder
reden macht. Es verlautet, dafs, wie bei Alexis und Lauff, die Zerstörung der Statse
durch Markgraf Friedrich eine grofse Spektakelszene bilden soll.
(Schlufs folgt)
»^^ß»>^>^^'^^^^ß^f^>^->^»>^-^*^i^
— 129 —
Mitteilungen
ArchiTe. — In Kärnten ist man nach dem Muster von Steiermark ^
dtran gegangen, die Inventare von Adelsarchiven zu veröffentlichen^ aber
wählend bei dem von v. Zwiedeneck herausgegebenen Inventar des Reichs-
giiflich Wurmbrand sehen Haus- und Familienarchivs zu Steyersberg (Graz
1S96) ein ansführliches altes Repertorium benutzt werden konnte tmd die Be-
stände des gräflich Lambergschen Familienarchivs zu Schlofs Feistritz bei Hz,
dessen Inventar bis auf eine Nachlese in drei Heften (Graz 1897 — 99) vor-
liegt, abteilimgsweise zur Durchsicht und Verzeichnung nach Graz gesandt
imrden, hat August von Jaksch mehrere Sommer lang in Gmünd ge-
aibeitet und als Frucht seiner Tätigkeit als Archivberichte aus Kärnten L
Die Graf Lodronschen Archive in Omünd (Sonderabdruck aus dem Archiv
fo vaterländische Geschichte und Topographie XIX, Klagenfurt 1900.
167 S. 8*) veröffentlicht. Trotz des den Archivberichten aus Tirol*) nach-
gebildeten Haupttitels handelt es sich hier um etwas voUständig anderes,
während an einer Durchforschung wenigstens der kleinen geistlichen
Archive in Kärnten Norbert Lebinger tätig bt, wenn er auch bis jetzt
im Zosämmenhange noch nichts veröffentlicht hat Jaksch hat die Gräf-
lidi Lodronschen Archive vollständig durchgearbeitet und ein neues Inventar
hergestellt, aber leider haben Raum und Zeit nicht zur Verfügung gestanden,
tm die Bestände dem Inventar entsprechend aufzustellen, vielmehr haben
fiortlaofende Hnks von den Regesten stehende Nummern nur ideellen Wert,
während die rechts stehenden die Ftmdstellen jedes Aktenstückes in Bruch-
fbim (der 2^ähler nennt die Schublade, der Nenner das Faszikel) bezeichnen:
der Druck hätte vielleicht wesentlich entlastet werden können, wenn letztere
Befeichnnng weggeblieben wäre ; ihre Eintragung in das handschrifUiche Exem-
plar wflrde wohl genügt haben. Von allgemeinstem Interesse dürfte aus dem
Lodronschen Archiv das Material über die Bergwerke, namentlich die Eisen-
gewinnimg seit 1S38 sein (vgl. B 174, C 115, S. 121 tmten, sowie alles
S. 150 — 167). Für die Geschichte der Archivordnung ist C 114 von Belang,
fdr die des Gmünder Gemeindearchivs S. 138 (1768), für die Geschichte
der Gegenreformation liegt S. 121 ff. Material vor. Über einzelne Vorgänge,
dac nch f&r die Geschichte der Strafsen und des Verkehrs ausbeuten lassen,
berichtet C iS3 (15539 1569), über Markt, Niederlage und Zoll i553ff.
C 158. Akten über die Landesgrenze zwischen Salzburg und Kärnten seit
dem XVL Jahrhundert enthält C 171. Hier haben wir es mit einem im
Drack vorliegenden wirklichen Archivinventar zu tun; so nützlich dessen
Veröfiendichung ist, und so sehr dem Bearbeiter Dank für die entsagungs-
vole Arbeit gesagt werden mufs, es will scheinen, als ob selbst die Lokal-
forscboDg uimiittelbar nur wenig Nutzen aus den MitteUungen zu ziehen
1) Hier hat die „Historische Landeskommission für Steiermark*' die Arbeit in die
genommen and in ihrer 2. VeröffenÜidmng (Graz 1896) das Wormbrandsche
Arckif M Stcjersberg sowie in der 4, 7. and 11. VeröffenÜichong (Graz 1897, 1898,
1899) das Gräflich Larobergsche zn Sdilofs Feistritz beschrieben.
2) Bearbeitet Ton E. t. Ottenthai and Oswald Redlich, i. Bd. (Wien 1888).
2. Bd. (Wieo 1896). Vom 3. Bd. liegen bisher 5 Hefte (biii Seite 320) vor.
10
— 130 —
vennag, denn in jedem einzelnen Punkte mufs nochmals auf die Archivalien
selbst zurückgegangen werden. Für die geschichtliche Forschung wäre es
jedenfalls nützlicher gewesen, wenn das Inventar nur handschriftlich — viel-
leicht in zwei Exemplaren, eins in Gmünd und eins im Archiv zu Klagen-
furt — vorläge, im Druck nur ganz knapp die Einteilung mitgeteilt wäre,
dafür aber einzelne Abteilungen, z. B. die Akten über die Gegenreformation
oder sonstige Gebiete, eine so genaue inhaltliche Wiedergabe gefunden hätten,
dafs die wichtigsten Tatsachen direkt dem Forscher zu nutze kommen könnten.
Wir wissen ja, wie viele Umstände mitsprechen, wenn derartige Arbeiten zum
Druck befördert werden, und es ist deshalb imbillig, mit dem Bearbeiter
über sein Verfahren zu rechten, aber zweierlei scheint sich mir für die Ar-
beiter, die sich mit der Erscbliefsung der einer fachmännischen Leitung ent-
behrenden Archive beschäftigen, aus allen neueren Veröffentlichungen zu
ergeben ') : erstens darf nicht eine allzu grofse Masse einzelner Urkunden-
regesten mitgeteilt werden, die den Leser nur ermüden und im allgemeinen
zu wenig bieten, — hier ist sachliche Auswahl neben der kurzen Charakte-
ristik der Abteilungen am Platze — imd zweitens unterbleibt besser ein
Abdruck des ganzen Inventars, wenn dessen Angaben nicht zugleich als
Quellenveröffentlichimg einen gewissen Wert haben, und dann müssen sie
schon ziemlich ausführlich gestaltet sein. Dem Benutzer eines grofsen Archivs
wird immer am besten eine Arbeit dienen, wie die Übersicht über die Be-
stände des K. Staatsarchivs zu Hannover*) von Max Bär (= Mitteilungen
der Kgl. Preufsischen Archivverwaltung, Heft 3, Leipzig 1900), und wo kleinere
Archive in gröfserer Zahl behandelt werden, dürfte, wenn man nicht sofort so
ausführliche MitteUungen machen kann, dafs im wesentlichen der Stoff erschöpft
wird, das Verfahren zweckmäfsig erscheinen, welches Georg Winter bei
seinem Aufsatze Aus pommerschen Stadtarchiven ') eingeschlagen hat.
Eine vorzügliche Würdigung hat dem deutschen Archivwesen neuerdings
ein trefflich unterrichteter Ausländer, Samuel Clason, Archivar am
Schwedischen Reichsarchiv zu Stockholm, angedeihen» lassen : Studien über
das Archivwesen im Auslände ^) nennt er seine Arbeit, die als Mitteilungen
aus dem scJiwedischen Staatsarchim, Neue Folge 2 erschienen ist und nach-
einander Frankreich (S. i — 53), Belgien (S. 54 — 74), Holland (S. 75 — 97),
Preufsen (S. 98— 122), Vorkehrungen in deutschen Ländern^
freistehende Archive zu erhalten (S. 123 — 152), Archivbauten
und Archiveinrichtung (S. 153 — 165 behandelt. Sind für den deutschen
Archivar bereits die MitteUungen über das französische, belgische imd hol-
ländische Archivwesen von hohem Interesse, so dafs eine Übersetzung wohl
lohnen würde, so sind die Zusammenstellungen über die deutschen, im be-
sonderen preufsischen Archiwerhältnisse , die eine völlige Beherrschung der
archivalischen Literatur verraten, schon insofern von Wert, als sie zeigen,
wie aufmerksam im Auslande diese Dinge verfolgt werden. Sachlich dürften
i) Vgl oben S. loi.
2) Vgl. diese Zeitschrift Bd. U, S. 185—186.
3) Vgl. diese Zeitschrift III. Bd., S. 249—261 uod S. 295-306.
4) Studier öfver arkiväsendet i utlandet af Sam. Clason [Meddelanden frän
Svenska riksarkivei, Ny föLjd . 2.J. Stockholm, Norstcdt & Söner, 1902. 167 S. 8*.
— 131 —
die Angaben Clasons in jeder Hinsicht zuverlässig sein ; auch für den deutschen
Archivar lehrreich ist besonders die Übersicht über die Mafsnahmen zur
Erhaltimg „freistehender Archive", wie der recht treffende Ausdruck des
Veifiissers lautet, denn eine ähnliche bis in die neuste Zeit führende und
geschicbdich aufgebaute Darstellung der einschlägigen Verhältnisse fehlt bis-
her in Deutschland, wenn hier auch natürlich noch eine Menge einzelne
Az^;aben gemacht werden könnten, die dem schwedischen Forscher auch
xam greisen Teil bekannt waren, aber für seinen Zweck zu weit geführt
hätten, denn der nächste Zweck der von Clason auf Staatskosten ausgeführten
Bereisung europäischer Archive im Jahre 1900 war natürlich der, die aus-
wärtigen Verhältnisse dahin zu prüfen, ob sie sich etwa zweckmäfsigerweise
in Schweden nachahmen lassen könnten.
Xoseen. — Während alle österreichischen Kronländer im Laufe des
XDL Jahrhimderts in ihren Hauptstädten Landesmuseen gegründet haben,
moCste einzig und allein Niederösterreich, das alte Stammland der Monarchie,
eine so wichtige Sammlung von Kulturzeugen bisher entbehren. Das Vor-
handensein mannigfialtiger anderer Museen in Wien, der beiden Hofmuseen,
des Museums für österreichische Volkskunde, des Museums der Stadt Wien
nnd der vielen Privatsanmilungen liefs stets den irrigen Gedanken aufkonmien,
als ob hier ein Landesmuseum überflüssig wäre, wobei man aber nicht be-
dachte, dafs alle jene Sammlungen die spezifischen Aufgaben eines Landes-
museimis auch nicht im entferntesten erfüllen. Dafür begannen zumeist in
dem letzten Jahrzehnt in den kleinen Städten, ja Märkten des Landes die
Lokalmuseen wie Pilze aufzuschiefsen, und so wurde das Material, welches
ja gerade nur in gröfserer und systematischer Zusammenstellung und Über-
stcfadichkeit seine Bedeutung gewinnen kann, zersplittert, ja geriet nicht selten
in dilettantenhafte Hände, die es völlig entwerteten, abgesehen davon, dafs
solche Sanmilungen in den entlegenen Orten emer wissenschaftlichen Be-
nutzung schwer zugänglich und in ihrem Bestände keineswegs gesichert sind.
Schfiefslich erwachte in den ehrgeizigen Lokalpatrioten einzelner dieser sogar
der Ehrgeiz, ihre Sammlung als Landesmuseum hinzustellen, und namentlich
in der Stach Baden ging anmafsender Übereifer so weit, nicht nur den noch
nicht vergebenen Titel „Landesmuseum*' der blofsen Lokalsammlung bei-
zakgen, sondern auch, um diese Sanmilung reichhaltiger zu gestalten, noto-
rische Fälschungen und verdächtige Gegenstände in dieselbe einzureihen.
Die Aufdeckung dieses schwindelhaften Gebarens im Juli 1902 führte zu
emer Reihe von Aufsehen erregenden Gerichtsverhandlungen, zugleich aber
kamen die Vertreter der Wissenschaft und alle wahren Landesfreunde zu
der Einsicht, dafs angesichts derartiger beschämender Vorgänge die Gründung
eines mederösteireichischen Landesmuseums mit dem Sitze in Wien eine
Notwendigkeit sei. Der Leiter der Urgeschichtsforschung in Niederösterreich,
Regiemngsrat Dr. Matthäus Much, der Archäolog Universitäts-Professor Dr.
Wilhelm Kubitschek und der Historiker Universitäts-Professor Dr. Oswald
Redlich vereinigten sich daher zur Abfassung einer ausführlichen Denk-
schrift'), welche dem Verein für Landeskunde von Niederösterreich, der
1) Gedruckt im Monatsblatt des Vereins fUr Landeskunde von Niederösterreich,
Nr. fi (aacfa als Sonderabdmck).
10»
— 132 —
durch sein nunmehr siebenunddreifsigjähriges A^ken in erster Linie zur
Lösung einer solchen Aufgabe berufen erscheint, vorgelegt wurde. Eine aufser-
ordenüiche Generalversammlung dieses Veremes, bei welcher eine stattliche
Reihe hervorragender Vertreter der Wissensclu^ anwesend war, hat. nun
am 12. November 1903 auf Gnmd dieser Denkschrift einstimmig beschlossen,
die Errichtung eines niederösterreichischen Landesmuseums in Wien, „welches
der Veranschaulichung imd Erforschung der Vergangenheit und Gegenwart
des Landes in Natur und Kultur zu dienen hat'S anzuregen, und hat den
Ausschuis des Vereines beaufbragt, „im Einvernehmen mit den kompetenten
Behörden, Körperschaften und Vereinen, sowie mit Unterstützung geeigneter
Persönlichkeiten'' die vorbereitenden Schritte zu imtemehmen. Die Aktion
dürfte wesentlich dadurch erleichtert werden, dafs in dem niederösterreichischen
Landesarchiv und der Landesbibliothek bereits reiche und kostbare Schätze
an Urkunden, Handschriften, Büchern (die gesamte Spezialliteratur des Landes
umfistssend) , Landkarten und Plänen, topographischen Ansichten, Porträts
tmd dergleichen mehr vorhanden sind '), welche den stattlichen Grundstock
eines künftigen Musetuns bilden können, imd dafs man in deren Beamten
bereits die wissenschaftlich geschulten Kräfte dafür besitzt. Zunächst wurde
zur Durchführung der Beschlüsse der Generalversammlung vom Verein für
Landesktmde ein eigener Musealausschufs eingesetzt, dem auch je ein Ver-
treter des Altertumsvereines, der Numismatischen Gesellschaft, der anthro-
pologischen Gesellschaft, der heraldisch-genealogischen Gesellschaft „Adler**,
der zoologisch -botanischen Gesellschaft tmd des Vereins für österreichische
Volkskunde angehört. In den Händen der zuständigen Behörden und der
einflufsreichen Faktoren des Landes liegt nunmehr die Entscheidung darüber,
ob das Versäumnis des XDL Jahrhunderts im Lande Niederösterreich nach-
geholt werden wird und ob es zur Gründung eines niederösterreichischen
Landesmuseums in Wien kommt zur Ehre tmd Zierde des Landes tmd zum
Nutzen tmd Frommen der Wissenschaft tmd der Heimatskunde.
Die Zeit, in der nach dem Erstarken des nationalen Bewufstseins auch
die Erinnenmgen an die Vorzeit höheren Wert gewannen, hat die älteren
unter den fünf kulturgeschichtlichen Ortsmuseen der Niederlausitz,
die zu Guben tmd Kottbus, ins Leben gerufen. Beide haben sich aus
einer Sammhmg vorgeschichtlicher Gegenstände entwickelt, denen sich seit
der Begründtmg der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie tmd Ur-
geschichte *) i. J. 1869 an vielen Orten die Aufinerksamkeit zuwandte, in der
Niederlausitz namentlich durch Virchows wiederholte Besuche angeregt Im
Jahre 1874 erhielt der kleine Bestand an vorgeschichtlichen GefiUsen beim
Gymnasium zu Guben gesonderte Aufstelltmg tmd wuchs schnell durch zahl-
i) Über die Bestände dieser Anstalt siehe Anton Mayer, Das Archiv und die
Registratur der n, ä. Stände i^iS — 1848; Van es a, Über tc^grapkische Ansichten
mit besonderer Berücksichtigung Niederösterreichs (beides in dem nächstens znr Ausgabe
gelangenden I. Jahrbuch des Vereins fUr Landeskunde, sowie aach separat erschienen)
und eine tusammenfassende Übersicht im Wiener Fremdenblatt vom la. November 190a.
2) Ihr Organ sind die Verhandlungen der Gesellschaft für Anthropologie^ Ethno-
logie und Urgeschichte^ die als Anhang sa der Zeitschrift für Ethnologie erscheinen.
— 133 —
reiche Zuwendtingen aus dem damals noch ungeteilten Verwaltungskreise. Zehn
Jihre später trat die Niederlausitzer Gesellschaft für Anthropologie
and Altertumskunde ') zusanmien und stellte alsbald im Mittelpuiü:te
der Landschaft, in Kottbus, das allerdings selbst nur vorübergehend zur
Niederlausitz gehört hat, aber am leichtesten von allen ihren Teilen her zu
eneichen ist, die Ergebnisse ihrer Ausgrabungen und mehr&che Ankäufe
sisanmien. In den westlichen Kreisen Luckau imd Calau blieben die vor-
geschichtlichen Funde persönliches Eigentum, und mit den Besitzern zugleich
haben zwei der dort entstandenen Sammlungen später das Fundgebiet ver-
lassen: gerade dies sollte aber dort für die beteiligten Kreise eine Anregung
sein, das, was in Privatbesitz noch vorhanden ist, in Stadt- oder Vereins-
moseen zu vereinigen! Dieser westliche Bezirk ist auch in dem Museum
zu Kottbus weniger vertreten.
Nach dem Muster der Niederlausitzer Gesellschaft, z. T. unter ihrer Em-
wirkung, bildete sich im Jahre 1888 zu Sorau L Lh und später (1898) in der
Scadt Porst L L., die als selbständiger Verwaltungsbezirk aus dem Sorauer Kreise
ausschied, je ein Geschichtsverein, der kulturhistorisch bedeutsame Gegenstände
eiwaib und abbald der Öffentlichkeit zugänglich machte. Als jüngste derartige
Körperschaft folgte im Jahre 1899 der Museumsverein in Lübbenau, der
zur Erhaltung der greifbaren Niederschläge des Wendentums im Spreewalde
cm Museum begründete.
Alle diese Sammlungen tragen das Gepräge, das ihnen bei ihrer Ent-
stehung gegeben worden ist, noch jetzt ziemlich unverwischt an sich: noch
jetzt überwiegen in ihnen diejenigen Gruppen von Gegenständen, denen zu
An&ng ausschliefslich oder vornehmlich die Aufmerksamkeit gegolten hat;
sie sind eben aus den am Orte bestehenden Verhältnissen hervorgewachsen,
imd was diese boten, haben sie aufgenommen. Man könnte hiemach ver-
muten, dais die Sammlungen in den Industrieplätzen die gewerbliche Tätig-
keit der einzelnen Städte besonders treu wiederspiegelten, abo in Sorau die
Leinen- und Wachsverarbeitung, in Forst die Tuch-, in Guben die Tuch- und
Hut&brikation '), in Lübbenau die Fischerei und den Gemüsebau vorführten.
In der Tat pflegen die Nationalökonomen, welche die vorhandenen Samm-
kmgsbestände überblicken, nach alten Geräten, Stofiproben und Musterkarten
zu fragen, aber die Beschaffung derartiger Reste der Vergangenheit ist mit
zo groisen Schwierigkeiten verbunden, als dafs durch unsere Museen bereits
ein Gesamtbild des der Niederlausitz eigentümlichen Industrielebens zu ge-
winnen wäre. Dagegen tritt nach einer anderen Seite die Besonderheit der
Landschaft deutlich hervor: dies sind die Spuren der nationalen Ver-
schiedenheit imd der Durchmischung ihrer Bevölkerung, der Verbindung
deutscher Kultur mit dem Wendentum, von dem teils Reste in Sprache,
Tracht und Geräten fordeben, teils wenigstens deutliche Spuren des einstigen
Daseins geblieben sind, namentlich in Orts- und Flurnamen.
Die Wahrnehmung, dafs fUr die bezeichneten beiden Gruppen von land-
schaftlich charakteristischen Sammelgegenständen der vorhandene Vorrat nicht
I) Ihr Orsfan sind die NietUrlausttter Mitteilungen^ von deaen 7 Bände abgeschlosseo
2) Die SmmiliiDg in Kottbos ist insofern von anderer Art, als sie nicht in nnmittel-
b«cr Bcdelnng snr Stadt steht, sondern die gante Landschaft nmfafst.
— 134 —
mehr sehr umfänglich ist, hat die Erwägung nahe gelegt, ob sich nicht eine
übersichtliche, Einheimischen wie Fremden das Studium erleichternde Zu-
sanmienfassung des Bestandes in einem Nieder lau sitzer Zentralmuseum
oder die Anerkennung einer der bereits vorhandenen Sammlungen als eines
solchen empfehlen würde: besteht doch für die Uckermark zu Prenzlau,
für die Neumark zu Landsberg a. W., für das Wendentum der säch-
sischen Oberlausitz im Wendenmuseum zu Bautzen ein derartiger Mittel-
punkt Es fällt bei dem meist beschränkten Mafse der Mittel auch die
Erwägung ins Gewicht, dafs sich die Aufwendungen verringern würden, wenn
gleichartige Gegenstände nur einmal erworben zu werden brauchten. In
unserer Landschaft haben zwei Bedenken den Ausschlag gegen eine solche
Zusammenziehung gegeben: auf die Verwertung des örtlichen Interesses, des
Lokalpatriotismus bei den Besitzern geeigneter Gegenstände wollte man bei
deren Gewinnung nicht verzichten, und ebensowenig auf den büdenden Einflufs,
der von den Sammlimgen ausgeht, den ethischen Gewinn, an möglichst vielen
Stellen das Heimatgefühl und Heimatsliebe in den Besuchern angeregt zu haben.
Einen Ausweg böte allerdings die Verbindung beider Systeme ^), wenn einem
gröfseren landschaftlichen Museum die für den ganzen Bezirk charakte-
ristischen Gegenstände (z. B. die vorgeschichtlichen Gefäfstypen, die wendischen
Trachten und Geräte, die nach dem Urteü Sachverständiger geschichtlich
bemerkenswerten Erzeugnisse der Ortsindustrieen) zugeführt würden, um
namentlich Fremden den vergleichenden Überblick zu erleichtem, wenn aber
daneben möglichst viele kleine Sammlungen dasjenige au&ähmen, was in
gleicher Weise an vielen einzelnen Orten als bescheideneres Denkmal der
Vergangenheit zu Tage kommt, z. B. die grofse Masse der verbreiteteren
Formen vorgeschichüicher Gefäfse, die mittelalterlichen Topfkacheln, aufser
Gebrauch gesetzte Münzen, Geräte, Trachten dazu alles, was nur für einen
eng begrenzten Kreis von Interesse ist, wie Bilder von Persönlichkeiten
sowie Ansichten von Städten und einzelnen auffallenderen Gebäuden: hier
würde wie in einem Ortsarchiv niedergelegt, was von mehr örtlichem
Interesse ist.
Diese Scheidung führt zu der Frage nach dem Inhalt der Nieder-
lausitzer Museen. Von ihnen allen wird der Gnmdsatz festgehalten, die
Aufnahme auf diejenigen Denkmäler im weiteren Sinne ^) zu beschränken,
die in dem Sammelbezirk entweder hergestellt oder in Gebrauch gewesen
oder wenigstens als einstiger Gegenstand des Besitzes, des Interesses der Be-
wohner, Licht auf ihr geistiges Leben werfen.
Für den der Landschaft femer stehenden Leser ist vieUeicht ein Über-
blick über den Gesamtbestand, wie ihn etwa ein Landschafbmuseum geben
würde, von Interesse, imd eine kürzere Charakteristik der einzelnen Samm-
Itmgen mag sich anschliefsen.
i) Weiter ansgeführt ist dieser Vorschlag hinsichtlich der vor- und frühgeschicbtlichea
Altertümer von Jentsch in den Niederlausitzer Mitteilungen Bd. VI, 1899, S. 17 ff: Das
Verhältnis der örtlichen und Vereinssammlungen zu den Provinzial- und Landesmoseen.
2) „ Einer abgelaufenen Kulturperiode entstammende Gegenstände, die charakteristische
Wahrzeichen ihrer Entstehungszeit sind, and daher für deren Verständnis oder aber für
die Erinnerung an wichtige Vorgänge von i^edeutung sind/^ (Vgl. die Anleitung für
die Pflege und Erhaltung der Denkmäler in der Provinz Brandenburg von Bluth
(1896) S. 9).
— 135 —
Bei dem Reichtum der ganzen Niederlausitz an vorgeschichtlichen Funden
ist es begreiflich, dafs diese in allen fünf Museen vertreten sind, die aus
der steinzeidichen Periode — ihrem hier überhaupt nur spärlichen Vorkommen
entsprechend — schwach, am mebten noch zu Guben, die aus der Zeit
des sogenannten Lausitzer Typus ^), also aus dem Ablauf des zweiten imd
dem gröiseren Teile des letzten vorchrisdichen Jahrhunderts (die Buckel-
umen und die mannigfaltigen zierlichen, kleinen Gefäfse) reichlich, nament-
lich m Rottbus und Guben. Slavische Stücke aus der zweiten Hälfte des
ersten nachchrisüichen Jahrtausends führt fast ausschliefslich Guben vor.
Die Reste aus dem späteren Mittelalter spiegeln die politischen und die
Erwerbsverhältnisse der Niederlausitz wieder. Die Niederlausitz war kein
reiches Land: viel Wasser, Sand und Heide, wenig fruchtbarer Boden; von
verschiedenen Handelsstrafsen durchzogen, war sie kein bedeutsames Absatz-
gebiet für die Einfuhr. Sie hat femer zu der Zeit der Vielherrschaft in
Deutschland nie einen eigenen Landesherm gehabt, sondern hat, in der
Mitte zwischen Böhmen, Sachsen und Brandenburg gelegen, von allen dreien
umworben, den Besitzer verhältnismäfsig oft wechseln müssen. Eine blühende
Kulturentwickelung ist ihr daher nicht beschieden gewesen, am meisten noch
dort, wo reiche Dynastengeschlechter, wie die Bibersteine und Promnitze
residierten, und auch da, wo ein geistlicher Herr über gröfsere Mittel gebot,
z. B. in Neuzelle; indessen ist hier nach der Säkularisation des Klosters
nicht weniges unbeachtet verschwunden. An den anderen Orten hatten schon
Torhcr von dem, was Kunst und Kunstgewerbe gebildet, Kriege imd Brände
▼icks vernichtet Enthält daher die Landschaft überhaupt nur wenig von
wcTtrollcn Schöpfungen der Architektur imd Skulptur in Holz und Stein,
von Malereien und Manuskripten mit Zierschrift, so sind begreiflicherweise
auch die Museen arm an derartigen Gegenständen und selbst an deren Nach-
nnd Abbüdungen. Aus dem XII. bis zum begiimenden XVI. Jahrhundert
finden wir als Hauptstück eine gravierte Bronzeschale (Guben), Münzen (zumeist
^akteaten, auch sogenannte Wendenpfennige), Eisengerät wie Schwerter, Messer,
Speerspitzen, Sporen, Kettenpanzer, und wie aus allen Perioden verschiedenes
Tongeschirr, dazu Topfkacheln und Knochenarbeiten. Durch ähnliche Funde
ist auch noch das Reformationszeitalter und selbst das XVII. Jahrhundert
Tötreten : es kamen Steinkugeln, Schlüssel, Wetterfahnen, Armbrüste und andere
Waffen hinzu, feineres Geschirr, Stickereien, Drucksachen, Büder.
Reicher vertreten sind erst die Gegenstände des XVIII. Jahrhunderts:
Abbildungen damaliger Bauwerke, Grabsteine, Zimmereinrichtungen (Sorau,
Goben, Lübbenau), Ziimgeschirr imd Porzellan (Sorau, Forst), Schmucksachen,
hämische Druckschriften z. B. Kalender (Sorau). Die Niederschläge des
l€tzt?ergangenen Jahrhunderts betreffen einerseits geschichtliche Vorgänge,
<ße Zeit der Kriege sowie nationaler und politischer Bewegungen (Guben,
Sorau, Forst), andererseits die Umgestaltung des gewerblichen Lebens durch
antritt der Fabriktätigkeit, die durch billige Massenherstellung auch hier
die ursprünglichen, nicht selten unansehnlichen Geräte, die Erzeugnisse der
I) Durch neuerdings vorgenommene Aosgrabongen sind Backelumen bei Mockan
^BordoiUicii von Leipzig) und noch etwas weiter westlich bei Gautzsch (südlich von Leipzig)
^^^^esteUt worden. Dies sind bis jetzt überhaupt die am weitesten westlich gelegenen
^^ wo sieb diese Geföfse des Lansitzer Typus gefunden haben.
% <
— 136 —
Hausarbeit, verdrängte : derartigen, oft recht seltenen Stücken spüren namentlich
die Verwaltungen zu Forst, Guben und Sorau nach. Die Wandlung des
Geschmackes in Tracht tmd Wohaungsausstattung veranschaulichen andere
Stücke. Erst in diesem Zeitabschnitt tritt die Besonderheit des Wendentums ^)
in den Museen stärker hervor, weil weiter zurückreichende. Reste überaus
selten und kaum zu haben sind. An drei Stellen werden sie gesammelt:
in grösserem Umfange (Gewänder, Putz, Geräte, Bilder, Gedrucktes) zu Lübbenau,
Trachtenproben zu Kottbus, das wenige, was sich im Wendendorfe Homo,
jetzt dem einzigen im ELreise Guben, erhalten hat, sowie Nachklänge wen-
discher Omamentmuster auf Ostereiern, zu Guben.
Treten wir schliefslich den einzelnen Instituten näher, von denen
eins (zu Guben) in städtischem Besitze ist, während die übrigen Eigentum
wissenschaftlicher Vereine sind, deren keiner ein eigenes Grundstück besitzt,
einige sogar ftir Miete nicht unbeträchtliche Aufwendungen machen müssen.
Für Museumszwecke feuersicher tmd licht hergestellte Räume sind nicht vor-
handen : drei Sammlungen sind in städtischen Gebäuden — zwei in Schulen,
eine (Guben) bei der Lesehalle imd Volksbibliothek — zwei in den ehe-
malichen stattlichen Schlössern zu Sorau und Forst untergebracht. Staat-
licher Zuschufs wird keiner, mehreren dagegen (Guben, Forst, Sorau)
städtische Unterstützung zu teU; der Niederlausitzer Gesellschaft haben die
Brandenburgischen Provinzialstände alljährlich eine namhafte Beihilfe gewährt,
die Kommunalstände der Niederlausitz dagegen nur einmal zur ersten Ein-
richtung.
Das Museum zu Kottbus, Eigentum der letztgenannten Gesellschaft,
beschränkt sich in der Hauptsache auf vorgeschichtliche Funde, deren es
eine grofse Zahl besitzt, und auf wendische Reste. Unter den 1800 Ton-
gefäfsen, die, nach den 10 Verwaltungskreisen der Landschaft geordnet,
innerhalb der einzelnen aber nach den Typen, nicht nach den Fundorten
zusammengestellt, einen guten Überblick über die Keramik der vorslavbchen
Bevölkerung geben, befinden sich terrinenförmige und schlichtere Leichen-
behälter, Buckelumen, Tassen, Schalen, Kännchen, Fläschchen mannig£Eu:her
Form, geteilte Gefäße, darunter auch ein dreifacheriges, eine siebartige, ziem-
lich grofse Schale, sogenannte Räuchergefäfse , pokalförmig mit meist von
Fenstern durchbrochenem Fufse ; femer liegen Spinnwürtel aus, Flachbeilchen
aus Feuerstein, durchbohrte Hämmer aus kristallinischem Gestein, Schaft-
lappenzelte, die Spiralplatten einer grofsen Kreuznadel, einfache Ringe tmd
Nadeln aus Bronze, zwei Gufsformen (für ein Messer mit Griff und eine
Knopfsichel), eine lange Goldspirale, Eisengerät aus provinzialrömischer Zeit,
aus den Jahren tmi loio ein Münz- und Hacksilberfund von Ragow, Kreis
Calau ^) , endlich zahlreiche wertvolle Nachbildungen der Goldfunde von
Vettersfelde, ELreis Guben (tmi 600 v. Chr.), Pietroassa (aus der Gothenzeit)
und Hiddensöe in Pommern. — Die wendische Sammlung enthält auiser
einer genau gearbeiteten Trachtenpuppe die verschiedenen Bestandteile der
i) Die Deoste ümfasseDde Besprecbnng dieses Volkstnms, durch zahlreiche Abbildaogen
erllintert, bietet das Buch von F. Tetzner, DU Slaven in Deutschland (Brannschweig,
1902) S. 282 — 345. Übersichüiche Kärtchen zeigen das wendische Sprachgebiet in den
verschiedenen Zeiträumen.
2) Vgl. Niederlausitzer Mitteilungen I, S. 130.
— 137 —
männlichen und weiblichen Kleidung, einzelnes Gerät, auch einen Einbaum-
kahn (von Straupitz, Elreis Lübben). Jüngeren Zeiträumen gehören einige
Münzfimde, eine kleine Glocke mit tschechischer Inschrift (von Finsterwalde^
Kreis Luckau, 1597) an. Naturwissenschaftlich bemerkenswert sind Proben
des Sumpfzypressenholzes (iaacodium distichum) aus den Braunkohlenwerken
bei Grol^Räschen, Kreis Calau ^), und die Nachbildung eines Geweihs des
Riesenhirsches fCervus megaceros Buffii) aus dem diluvialen Torflager bei
Klinge, Kreis KotÜ>us ').
Die Sammlung zu Lübbenau legt ab „Spree waldmuseum" den
Nachdruck, wie bemerkt, auf die wendischen Haus- imd Wirtschafts-
gerate. An dergleichen Stücken sind bis jetzt aufgestellt — farbig gestrichen,
mit steifen Blumen bemalt — der Geschirrschrank, die Lade, das Teller-
brett, Holzstühle, die Kastenwiege mit Walzen, die hohe Laterne mit Holz-
rahmen, Erzeugnisse der Bauemtöpferei mit Malerei in matten Farben. Über
die Kleidung, namentlich auch die bereits um die Mitte des XIX. Jahr-
hunderts verschwundene männliche, unterrichten z. T. recht alte TrachtenbUder.
Ältere Ansichten der Stadt zeigen, dafs vormab die Strafsenverbindungen
wie noch jetzt in einzelnen Spreewalddörfem in Wasserarmen bestanden. Unter
den vorgeschichtlichen Funden, deren Zahl zwei Dutzend noch nicht über-
steigt, ist ein Flachcelt und eine dreieckige Dolchklinge der ältesten Bronze-
zeit von Tomow (Kr. Calau), die in der Literatur noch nicht Erwähnung ge-
funden haben, hervorzuheben.
Der Sammlung in Forst ist der reiche Vorrat von Erzeugnissen der
letzten drei Jahrhunderte eigentümlich. Feines Porzellan und Glasgeschirr,
Zinn- und Tonkrüge (u. a. einer mit Kerbschnitt) , Metallgerät fUr Wirt-
schaft tmd Küche, das, wie der durchbrochene, aus Messing gearbeitete
Kohlentopf (in der Niederlausitz wie von Vofs im Siebzigsten Geburtstag die
Feuerkieke genannt) aus dem Gebrauch bereits verschwunden ist, Gewerk-
Zeichen und Fahnen, veraltete Musikinstnunente, Waffen, Münzen, ein aus
Blechstreifen künstlich hergestellter Kronenleuchter der Klempnerinnung, die
hölzerne Kräuselvorrichtung für wendisch-bäuerliche Halskragen, allerlei weib-
liche Handarbeiten, ein kostbar mit Silber gesticktes Leichentuch, kirchliche
Geräte, Stadtansichten, Porträts, Schreibhefte aus dem Begiim des XIX. Jahr-
hunderts. Unter den vorgeschichtlichen Gegenständen sind Steinhämmer,
schwere Bronzeringe, tönerne Klappern, Buckelumen verschiedener Gestalt,
ein aulsen und innen mit ELreuz gezeichneter Gefafsboden, Eisengerät der
provinzialrömischen Periode hervorzuheben.
Dem reichen Familienbesitz entsprechend, der sich bei einem Teü der
Bürger zu Sorau vererbt hat, ist das dortige Museum mit wertvollen Stücken
ausgestattet Ins Auge fällt sogleich ein im Stil der ersten Hälfte des XVIII. Jahr-
hunderts geschmackvoll möbliertes Zimmer mit Tischen und Stühlen, Schr^mken
tmd Schubladen, Porzellan- und Glasgeschirr, Bildern und Nähzeug; femer
in einer grofsen Glasvitrine Kostümfiguren vom Ausgang desselben Jahrhunderts
mit städtischer und ländlicher Tracht In einem Vorzinuner ist ein alter
Prachtschlitten aufgestellt Auf das geistige Leben wirft der umfängliche
Bücherbestand aus alten Privatbibliotheken Licht; einzelnes enstammt der
1) Vgl NiederUusiUer MitteUangen Bd. IV ^896) S. 438 f.
2) EbcDda S. 440.
— 138 —
Sorauer Buchdruckerei, der ältesten der Landschaft, als deren bekanntestes
Erzeugnis die vollständige Reihe der dortigen Volks- und Wirtschaftskalender
ausgelegt ist Grofse Sammlungen der Landmünzen sind vorhanden, aber
auch andere Stücke, die vormals hier gangbar waren. Von der machtvollen
Stellung der einstigen Besitzer der grofsen Herrschaft Sorau, der Bibersteine,
zeugen die Beweise ihrer Münzberechtigung, die schweren, nach unten zugespitzten
Münzstempel aus Eisen und mehrere Urkunden. Stadtbilder und Ansichten
inzwischen abgetragener Gebäude, aber auch des Schlosses selbst schmücken
die Wandflächen. Die vorgeschichtiichen Altertümer — etwa 200 Ton-
gefäfse und einige Metallgeräte — entstammen den Gräberfeldern des Kreises,
die übrigens im Königlichen und im Märkischen Museum zu Berlin durch
Funde von Güritz und Billendorf besonders stark vertreten sind.
Einen umfassenden Plan, der gedruckt ausgelegt ist, verfolgt die Sammel-
arbeit des Museums in Guben. Zu den seit 30 Jahren erworbenen vor-
geschichtlichen Funden sind namentlich nach der Überführung in eigene
Räume zahlreiche kulturgeschichdiche Gegenstände, zumeist aus den letzten
drei Jahrhunderten, getreten. Der Bestand an prähistorischen Stücken *)
setzt sich zusammen aus 40 Steinbeilen aus dem Stadt- und Landkreise Guben,
150 Bronze- und einer Zahl von Eisengeräten, endlich aus etwas mehr als 2000
Gefafsen imd anderen Gegenständen aus Ton — Gräberfeldern und den ihnen
gleichzeitigen unteren Lagen doppelschichtiger Rundwälle, namendich des
heiligen Landes bei Niemitzsch entstammend. Von den keramischen Erzeug-
nissen ist ein Teil unabhängig von den Fundorten als Schau- und Lehr-
sammlung nach den Typen zusammengestellt, während alle übrigen nach
den Fundorten gruppiert sind. Sie geben ein übersichtliches Bild des
Lausitzer Formenkreises einschliefslich der selteneren Stücke (Drillings-, Etagen-
gefafse, Ton-Hömer und Klappern, Deckeldosen, z. T. mit reicher Verzierung,
Bodenzeichnungen u. a.) Aus den ersten nachchristlichen Jahrhunderten,
der provinzialrömischen Periode, ist eine Reihe in der Umgegend meist einzeln
gefundener Münzen hervorzuheben, und als Beigabe eines kleinen Sammelfundes
von Amtitz ein vortrefflich erhaltener Skarabäus. Zur Vergleichung, und um
die Übergänge bestimmter Formen in Nachbargebiete zu vergegenwärtigen,
sind Funde aus der Mark, Posen, Schlesien und auch aus Sachsen beige-
geben, sowie für die Stein- und ßronzesachen zahlreiche Abgüsse charakte-
ristischer Stücke, vom Berliner Königlichen Museum für Völkerkunde über-
wiesen im Austausch gegen Eisengeräte, deren Sicherung vor Rostschaden
sich unter den gegebenen Verhältnissen als unmöglich erwiesen hatte. Aus
slavischer Zeit liegt hier wohl die reichhaltigste ZusammensteUung von Nieder-
lausitzer Funden vor, da 9 der sehr selten wohlerhaltenen Tongefäfse und
überaus zahlreiche Bruchstücke mit den mannigfaltigsten Verzierungsmustem
aus den Rundwällen aufbewahrt werden, überdies Knochen- und Eisengerät,
auch ein silberplattiertes Beilchen etwa des VIII. Jahrhunderts. Die früh-
geschichtiiche Zeit ist aufser durch Bodenfunde aus Ton und Eisen namentlich
durch eine gravierte Bronzeschale des XII. Jahrhunderts vertreten, eine der
i) Die bis 1891 zusammengekommenen Gegenstände sind, nach den Fundorten ge-
ordnet, in 5 Gubener Gymnasialprograraraen (DU vorgeschichtlichen Altertümer der
Gymnasialsammlung zu Guhen^ 1883, 1885, 1886, 1889, 1892) mit 5 Tafeln, von Jentsch
ausführlich besprochen.
— 139 —
dm bis jetzt bekannt gewordenen mit szenischen Darstellungen ^), sodann auch
durch Teile eines Brakteatenfundes aus der Zeit um 1300. Die zweite Abteilung
dieses Museums gliedert sich folgendermafsen : i. Darstellung des äufseren
Slidibildesy der Bodenbeschaffenheit (dabei aussterbende und ausgestorbene
Tiere und Pflanzen); 2. Zusammensetzung der Einwohnerschaft, Behörden
und öffentliche Einrichtungen (Urkunden, Siegelstempel, Stadtmünzen, z. T.
recht selten, Aufrufe; Feueiwehr; Schützengilde); 3. Verhältnis der Stadt
zur Landesregierung und Landesgeschichtliches (Bilder, Autographen der
Landesherren, Wappen, Münzen; örtliche Erinnerungen an nationale Vor-
gänge und geschichtliche Persönlichkeiten; Kriegsandenken); 4. Kirchliches
aus vor- und nachreformatorischer Zeit (das Jungfrauenkloster; Abbildungen
Ton Kirchgebäuden und deren Ausstattung, Sanduhr ; Porträts von Geistlichen ;
Gesangbücher, u. a. das sehr seltene von Chr. Peter, Andacht - Oymbeln
für Qvben 1655; Patenbriefe seit 1708, Ostereier, gezeichnet, mit Nachklängen
wendischer Muster; 5. Gerichtswesen und Gesundheitspflege (Rechtsbücher,
Urkunden, Amtssiegel, Richtschwerter, steinernes Sühnekreuz; ärztliche An-
weisungen u. a. gegen die Pest, Guben 1680; Proben ehemaliger Apotheken-
einrichtungen) ; 6. Geistiges Leben: a) Pflege von Wissenschaft und Kunst
(Sdiukn, Volksbildung, mittelalterliches Manuskript mit goldgehöhten Initialen;
der literarische Geschmack in den Leihbibliothekskatalogen); b) Literarische
Persönlichkeiten in Bildem, Autographen, Denkmünzen, Andenken, Denk-
mälem (der geistliche Dichter Joh. Franck, Bürgermeister zu Guben t 1677;
Corona Schröter, Goethes erste Iphigenie, in Guben geb. 1 7 5 1 ; der geist-
liche Komponist, J. Crtiger in Grofsbreesen geb. 1598; Chr. O. Freiherr
von Schoenaich auf Amtitz, der Gegner Lessings); 7. Gewerbe und Ver-
kehr (u. a. Innungen, Wein- und Grubenbau, Handwerkserzeugnisse, z. B,
Voiffihrung der Flachsbearbeitung, Modeltuch v. J. 1685, Handel — eine stark
Tcrtietcne Gruppe gleich der folgenden : 8. häusliches Leben (Wohnung, Haus-
fbraien, Wetterfahnen seit 1601, Heizung, Beleuchtung — fast vollständig
vertreten, u. a. ein Geweihkronenleuchter, „der Nonnenkopf" v. J. 1 5 11 mit
4 Gesichtern — Ausstattung; Trachten und Schmuck, u. a. wendische Reste;
Nahrungs- und Genuismittel, Rauchen, Schnupfen ; Geselligkeit, Vereinsleben,
Spiele, Stanmibücher , Kalender). 9. Waffen (Ketten- u. a. Panzer, Helme,
Speere, Degen, Schufswaffen seit Beginn des XVI. Jahrhunderts). Als Be-
^andteile ehemaliger Gubener Privatsammlungen sind ethnologische Gegen-
stände teils aus dem Altertum (Ägypten, Kleinasien, Mykenä, Pompeji), teils
ans der Gegenwart aufgenonmien.
In der vorstehenden Übersicht sind die mehr äufserlichen Fragen un-
berührt geblieben, die doch für Besucher wie für Verwalter der Museen nicht
nnwesentÜch sind, z. B. Einrichtung, staubdichter Verschlufs und innerer An-
ttrich der Schränke : verfehlt ist für letzteren die Wahl der schwarzen Farbe
(Kottbus), die beständige Spiegelung des Betrachters bewirkt; vorteilhaft ist
ge&>liches Hellgrau (Guben, Forst) ; das wirksame Ponceaurot ist bis jetzt noch
nidit verwendet.
Als zweckmäfsig hat sich überall die Festsetzung einer Besuchszeit er-
i) Eiogehend besprochen Niederlausitzer Mitteilungen. Band VI (1899) S. i ff. mit
Abbddnogen.
— 140 —
geben; die Besichtigung erfolgt allenthalben iinen^;eltlich. Die Schenkung
geeigneter Gegenstände wird überall durch Nennung des Gebers vergolten.
Mit gutem Erfolg hat Forst die Annahme von Leihgaben — dauernden oder
für bestimmte Zeit zugewiesenen — eingeführt ; die Behörden sind in der Regd
an diese Art der Überweisung gebunden: so hat die Königliche Schul-
verwaltung in Kottbus, das Kaiserliche Reichspostamt in Guben wertvolle
Stücke ausgestellt Als höchst nützlich hat sich die Beigabe kurzer Auskunft
über Zweck und Alter der Gegenstände (Guben, Sorau) erwiesen; hierdurch
wird den Museen erst der erspriefsliche Erfolg der Belehrung gesichert Einen
kurzen gedruckten Katalog hat die Sorauer Sammlung herausgegeben, für die
erste Abteilung der Gubener liegt ein solcher in den oben erwähnten Pro-
gramm-Abhandlungen vor.
Von Interesse ist schliefslich ein Blick in die Besucherlisten. In der
Regel zeigen sie ein allmähliches, aber stetiges Anwachsen, insofern nicht
einmal eine äufserliche und ganz zufällige Störung eintiitt. Es kommen Hand-
werker, die aus ihrem Besitz beigesteuert, Lehrlinge, die Anregung zum Be-
such erhalten haben, gelegentlich eine Schulklasse unter Führung und dann
wiederholt ihre einzelnen Angehörigen, allmählich Beamte aller Beru&zweige,
hin imd wieder Forscher aus weiter Feme, endlich Vertreter der Behörden
bei gelegentlichen Revisionsbesuchen in den Städten.
Es scheint, dafs alle Bevölkerungsklassen, die Kleinhändler mit Alter-
tumsgegenständen nicht ausgeschlossen, den Orts- und Vereinsmuseen wohl-
wollend gegenüberstehen ; wenigstens ist bis jetzt aus keinem der besprochenen
ein Fall mutwilliger Beschädigung bekannt geworden. Die Vorsteher der grofsea
Provinzial- und Landesinstitute haben ihre Berechtigung anerkannt, selbst-
verständlich unter der Voraussetzung, dafs sie nach wissenschaftlichen Ge-
sichtspunkten geleitet werden ; die Stadtverwaltungen aber sehen in ihnen wohl
nicht mit Unrecht wie ein interessantes und wirksames BUdungsmittel für
weite, Elreise so einen nützlichen Anziehungspunkt ihrer Städte; mögen sie
in voUer Würdigung dieser Eigenschaften den Museen auch überall die
wünschenswerte materielle Unterstützung, vor allem unentgeltliche geeignete
Räume, zu teü werden lassen!
Kommissionen. — Die Historische Kommission beiderkgL
Bayerischen Akademie der Wissenschaften ^) hielt am ai. bis 33. Mai
1902 ihre 43. Plenarversammlung ab. Neu ausgegeben wurden im Berichts-
jahre dlt Jahrbücher des deutschen Reichs unter Otto IL von Karl Uhlirz (Leipzig
1902) und vom 46. Bande der Allgemeinen deutschen Biographie die Liefe-
nmgen 4 und 5. Alle Veröffentlichungen haben erfreuliche Fortschritte gemacht»
tmd zahlreiche Werke befinden sich schon im Druck. In die Städte-
chroniken sollen nach Vollendtmg der Lübecker noch die Bremer, Rostocker,
Stralsunder, Lüneburger sowie die Konstanzer Chroniken Aufnahme finden;
sachlich wurde die Herabsetzung der Zeitgrenze fUr wünschenswert erachtet,
womöglich bis 1648, aber die Beschlufsfassimg im einzelnen bis nach Er-
nennung eines neuen Redakteurs verschoben. Die Nachträge zur Allgemeinen
i) Vgl. Bd. m, s. 186.
- 141 —
Deutsehen Biographie werden nunmehr regelmäfsig — im Jahr zwei Bände —
wieder erscheinen. Die Abteiltmg Bayerische Landesckroniken wird die
sogenannten Vorläufer Aventins, Andreas von Regensburg, Hans Ebran
▼OD Wildenberg, Ulrich Fuetrer und Veit Ampeck enthalten. In den Queüen
und Erörterungen zur bayerischen und deutschen Geschichte steht zunächst
die von Bitterauf besorgte Ausgabe der Freisinger Traditionen tmd ihre
Verarbeitung nach Caros Vorgang ') zu erwarten.
Durch Tod hat die Kommission die Mitglieder v. Hegel und Scheffer-
Boichorst verloren, die Ergänzungswahlen wurden bis zum nächsten Jahre
▼erschoben.
Die 31. Plenarversammlung der Badischen Historischen Kom-
mission^) fiamd am 14. und 15. November 1902 in Karlsruhe statt Neu
ausgegeben wurde im Berichtsjahre die 5. und 6. Liefenmg (Schluis) des
n. Bandes der Regesten der Bischöfe von Konstanz, die i. und 2. Lieferung
des m. Bandes der Regesten der Markgrafen von Baden und Hachberg,
das 6. Heft der fränkischen Abteilung der Oberrheinischen Stadirechte so-
wie der I. Band des Schlettstadter Stadtrechts imd das Neujahrsblatt für
1902 Samuel Friedrich Saider, ausgewählte Gedichte, herausgegeben von
£. Kilian. Der Druck der zweiten Auflage von Kriegers Topographischem
Wörterbuch des Oroftherzogtums Baden hat bereits begonnen, Prof. Schulte
bereitet eine zweite Auflage des ersten (darstellenden) Bandes seiner Geschichte
des mittelalterlichen Handels und Verkehrs zvnschen West -Deutschland und
Italien mit Ausschluß von Venedig vor, das Register zu Band i — 39 der
Zeitsekriß für die Geschichte des Oberrheins bearbeitet Fritz Frankhauser.
Archivrat Obs er beschäftigt sich mit einem Nachtragsbande zur Politischen
Korrespondenz Karl Friedrichs von Baden. Der Antrag Tumbülts, eine Geld- imd
Münzgeschichte der im Grofsherzogtum Baden vereinigten Territorien bearbeiten
zu lassen, ward einer Unterkonmiission zur weiteren Beratung überwiesen.
Von den Grundkarten wurden die zwei Doppelsektionen Worms-Mannheim
und Miltenberg-Mosbach fertiggestellt
Proü Beyerle bt infolge seiner Beruftmg nach Breslau, Prof. Car-
tellieri infolge der nach Jena als aufserordentliches Mitglied der Konmiission
ausgeschieden. Die Arbeiten des letzteren an den Regesten der Bischöfe
von Konstanz hat sein bisheriger Mitarbeiter K. Rieder übernommen. Femer
wurde beschlossen, fortan auch „korrespondierende Mitglieder** zu
ernennen: zu solchen wurden gewählt Prof. Beyerle (Breslau), Landgerichts-
lat Adolf Birkenmayer (Freiburg), Pfarrer Gustav Bossert (Nahem in
Württemberg), Prof. Alexander Cartellieri (Jena) und Stadtarchivar
Joseph Geny (Schlettstadt). Zu aufserordentlichen Mitgliedern wurden
Profi Theodor Ludwig und Profi Heinrich Witte (beide in Strafsburg)
ernannt, mit der Geschäftsführung für weitere 5 Jahre wurde Geh. Archivrat
T. Weech betraut Als Oberpfleger im V. Bezirk ist Dr. Walter (Mann-
heim) an Stelle von Prof. Wille getreten.
i) Vgl. Zur Grundbesttzverteilung in der Karolingerteit in dieser Zeitschrift Bd. m,
S. 65-76.
a) Vgl Bd. in, S. 186—187.
— 142 —
Eingegangene Bfieher.
Schubert, H. von: Ansgar und die Anfange der schleswig-holsteinischen
Kirchengeschichte [= Schriften des Vereins für schleswig-hobteinische
Kirchengeschichte. II. Reihe (Beiträge und Mitteilungen) 2. Bd. (1901),
S. 145—174].
Schuller, Friedrich: Schrifteteller-Lexikon der Siebenbürger Deutschen.
4. Bd. (Ergänzungsband zu J. Trausch, Schriftsteller-Lexikon oder bio-
graphisch-literarische Denkblätter der Siebenbürger Deutschen). Her-
mannstadt, W. Krafit, 1902. 575 S. 8^
Tille, Armin: Zwei Waldordnungen aus dem Herzogtum Jülich [= Zeit-
schrift des Aachener Geschichtsvereines, 23. Bd. (1901), S. i — 30].
Ancona, Alessandro d*: Friedrich der Grofse und die Italiener. Deutsche
Übersetzimg von Albert Schnell. Rostock, Stiller, 1902. 201 S. 8^
M. 2,40.
Arens, Franz: Die Siegel und das Wappen der Stadt Essen [= Beiträge
zur Geschichte von Stadt und Stift Essen. 22. Heft (1902), S. 5 — 13].
Baier, Johannes: Geschichte des alten Augustinerklosters Würzburg.
Mit 5 Abbildungen. Würzburg, Stahel, 1895. 9^ S. 80. M. 1,50.
Derselbe : Ausgrabungen bei dem alten Augustinerkloster Würzburg im Jahre
1900, zugleich Nachtrag zur Geschichte dieses Klosters vom gleichen
Verfasser. Mit 7 Abbüdungen. Würzburg, Stahel, 1901. 36 S. 8®.
M. 0,80.
Becker, Wilhelm Martin: Aktenstücke zur Gründungsgeschichte der
Universität Giefsen [= Mitteilungen des Oberhessischen Geschichts-
vereins. Neue Folge 10. Band (1901), S. 40 — 55].
Duijnstee, Dominicus Fr. H. P. : Polemica de S.S. eucharistiae sacra-
mento inter Bartholomaeum Amoldi de Usingen O. E. S. A. eiusque
olim in universitate Erphurdiana discipulum Martinum Luthenun anno
1530. Wirceburgi, Stahel, 1903. 98 S. 8<>. M. 2,50.
Eskuche, Gustav: Sarcerius als Erzieher und Schulmann [Programm des
Realg)'mnasiums zu Siegen, 1901]. 74 S. 8^.
Gruber, Christian: Deutsches Wirtschaftsleben^ Mit 4 Karten. [= Aus
Natur und Geisteswelt, Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher
Darstellungen aus allen Gebieten des Wissens. 42. Bändchen.] Leipzig,
B. G. Teubner, 1902. 137 S. 8®. Gebunden M. 1,25.
Hertzberg, Gustav: Geschichtlicher Überblick über die Entwicklung des
thüringisch - sächsischen Geschichts- und Altertumsvereins von seiner
Stiftung bis zur Gegenwart [= Festschrift des Thüringisch-Sächsischen
Geschichtsvereins, Herrn Geh. Oberregierungsrat Dr. Ernst Dümmler
dargebracht zu der Feier seines 50 jährigen Doktor - Jubiläums am
5. August 1902. Halle, Ed. Anton, 1902, S. i — 17].
Kästner, Alexander: Die Kinderfragen, der erste deutsche Katechismus
MDXXI, herausgegeben und mit einer Einleitung und einem Abrifs
der Brüdergeschichte versehen von A. K. [= Neudrucke Pädagogischer
S chriften XVII]. Leipzig, Friedrich Brandstetter, 1902. 77 S. 8^ M. 0,80.
Knoth, Ernst: Ubertino von Casale, ein Beitrag zur religiösen Literatur
des Franziskanerordens. Marburger Dissertation, 1901. 50 S. 8^
— 143 —
Köhler, Walther: Der Katzenelnbogische Erbfolgestreit im Rahmeo der
allgemeinen Reformationsgeschichte bis zum Jahre 1530 [= Mitteilungen
des Oberbessischen Geschichtsvereins, Neue Folge 11. Band (Giefsen,
Ricker, 1902), S. i — 30].
Ockel, Hans: Bayerische Geschichte [= Sammlung Göschen]. Leipzig,
G. J. Göschen, 1902. 135 S. 8®. Gebunden M. 0,80.
Oidtmann, Heinrich: Die Schlacht bei Baesweiler am 22. August 1371
= Sonderabdruck aus dem Kreis-Jülicher Korrespondenz- und Wochen-
blatt 1902].
Derselbe: Das Linnicher Geschlecht van weyrdt, ein Beitrag zur Familien-
geschichte des Johann von Werth [= Annalen des Historischen Vereins
für den Niederrhein, 73. Heft {1902), S. 123 — 153].
Ohlenschlager, Friedrich: Römische Überreste in Bayern, nach Be-
richten, Abbildungen und eigener Anschauung geschildert und mit Unter-
stützung des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts heraus-
gegeben. Heft I mit 3 Karten. München, J. Lindauer, 1902.
96 S. 8». M. 4,00.
Otto, Eduard: Das Butzbacher Wollwebergewerbe im XIV., XV. und
XVI. Jahrhundert [= Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins.
Neue Folge 10. Band (1901), S. 86 — 118].
Perlbach, Max: Über eine Sanunlung Strafsburger Ordnimgen und Mandate
von 15 18 — 1673 *^s der Universitätsbibliothek zu Halle [= Festschrift des
Thüringisch-Sächsischen Geschichts Vereins zum 50jährigen Doktor- Jubiläum
Ernst Dümmlers 5. August 1902. Halle, Ed. Anton, 1902, S. 39 — 84].
Ribbeck, Konrad: Übersicht über die Verfassung der Stadt Essen bis
zum Untergange der städtischen Selbständigkeit [== Beiträge zur Ge-
schichte von Stadt und Stift Essen, 22. Heft (1902), S. 17 — 28].
Schädel, Ludwig: Über die „Kustodie" Philipps des Grofsmütigen
[= Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins, Neue Folge
II. Band (1902), S. 31 — 56].
Schmidt, O. E.: Kursächsische Streifzüge. Leipzig, Grunow, 1902.
351 S. 80. M. 3,50.
Schultze, Walther: Die Thronkandidatur Hohenzollem und Graf Bismarck..
Halle a. S., Ed. Anton, 1902. 55 S. 8®. M. 0,80.
Schultze, Victor: Waldeckische Reformationsgeschichte. Mit 56 Ab-
bildungen. Leipzig, A. Deichert (Georg Böhme), 1903. 459 S. 8®.
Siegl, Karl: Hervorragende Egerer Künstier und Werkleute im XV. Jahr-
hundert
Stieda, Wi
= Egerer Jahrbuch, XXXIII. Jahrgang (1903), S. i — 18].
heim: Ilmenau und Stützerbach, eine Erinnerung an die
Goethe-Zeit Leipzig, Hermann Seemann Nachfolger, 1902. 97 S. 8<>.
Viereck, L. : W. Assmanns Geschichte des Mittelalters von 375 — 1517»
dritte neu bearbeitete Auflage. Dritte Abteilung: Die beiden letzten
Jahrhimderte des Mittelalters, Deutschland, die Schweiz und Italien. Erste
Lieferung. Braunschweig, Vieweg & Sohn, 1902. 635 S. 8^. M. 12,00.
Wendt, Oscar: Lübecks Schiffs- und Warenverkehr in den Jahren 1368
Iund 1369, in tabellarischer Übersicht auf Grund der Lübecker Pfimd-
zollbücher aus denselben Jahren. Lübeck, Lübcke & Nöhring, 1902.
* 64 S. 80. M. 1,50.
I
I
— 144 —
Zwiedineck-Südenborst, Hans von: Die geschichtliche Stellung der
Steiennark. Graz, 1902. 13 S. S^.
Baier, Johannes: Dr. Martin Luthers Aufenthalt in Würzburg. Würs-
bürg, Stahel, 1895. 34 S. 8<>. M. 0,60.
Derselbe : Geschichte der beiden Kannelitenklöster mit' besonderer Berück-
sichtigung des ehemaligen Reurerinnenklosters in Würzburg. Würzburg,
Stahel, 1902. 136 S. 8®. M. 2,50.
Becker, Reinhold: Der Dresdener Friede und die Politik Brühls [= Biblio-
thek der sächsischen Geschichte und Landeskunde, herausgegeben von
Gustav Buchholz. i. Band, i. Heft]. Leipzig, S. Hirzel, 1902.
143 S. 8«. M. 3,00.
Beschorner, H.: Denkschrift über die Herstellung eines Historischen
Ortsverzeichnisses flir das Königreich Sachsen, im Auftrage der KgL
Sächsischen Kommission fUr Geschichte ausgearbeitet Dresden, Baensch,
1903. 68 S. 80.
Doebner, £.: Bausteine zu einer Geschichte der Stadt Meiningen, Au^
Sätze und Entwürfe [= Neue Beiträge zur Geschichte deutschen Altertums,
herausgegeben von dem Hennebergischen altertumsforschenden Verein
in Meiningen, 17. Lieferung]. Meiningen, Brückner & Renner, 1902.
III S. 80.
Heyne: Über Körperbau und Gesichtsbildung der alten Niedersachsen
[= Protokolle über die Sitzungen des Vereins fUr die Geschichte
Göttingens im zehnten Vereinsjahre 1901 — 1902, S. 4 — 7].
Höfer: Fortschritte in der Datierung der Steinzeit [=3 Mühlhäuser Geschichts-
blätter, Zeitschrift des Mühlhäuser Altertumsverebs in. Jahrgang 1902
bis 1903, S. 4 — 7].
Holder, K.: Das Landrecht von Jaun [= Freiburger Geschichtsblätter,
herausgegeben vom deutschen geschichtsforschenden Verein des Kantons
Freiburg IX. Jahrgang (1902), S. i — 73].
Ilgen, Th.: Die Entstehung der Städte des Erzstifts Köhi am Niederrhein
[s=3 Annalen des Historischen Vereins ftir den ^^ederrhein, 74. Heft
(1902), S. I — 26].
Kraus, Joh.: Das Jahr 1618 und seme schweren Folgen ftir die Stadt
Frankenthal [= Monatsschrift des Frankenthaler Altertumsvereins, 10. Jahr-
gang (1902)].
Berichtigung
Im dritten Hefte des laufenden Jahrganges (Dezember 1902) ist die
Seitenzfthlung irrtümlich um einen Bogen vorausgeeilt, obwohl die Bogen-
bezeichnung selbst richtig ist Das zweite Heft schliefst mit Seite 64, das
dritte mufs nach richtiger Zählung die Seiten 65 bis 88 tmifassen, während
das vierte wiederum richtig mit Seite 89 einsetzt Um die richtige Zählung
wieder herzustellen, wird gebeten, sofort im dritten Hefte derartig die Seiten-
zählung zu berichtigen, dafs die mit 83 bezeichnete Seite die Nummer 67,
die mit 91 bezeichnete die Nummer 75 u. s. w. erhält
Die Redaktion.
H«rMUf«b«r Dr. Armio TiUo in Ldpdg. — Drock nad Vtriag von Friedrich AndreM Pardiat in Oodn.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
nur
Forderung der landesgeschichtlichen Forscbung
IV. Band März/April 1903 6./;. Heft
Der historische Atlas der österreiehisehen
Alpenländer
Von
Eduard Richter (Graz)
Von berufener Seite eingeladen beim Historikertag in Heidelberg
über den beabsichtigten historischen Atlas der österreichischen Alpen-
länder zu sprechen, habe ich eine Ausstellung veranstaltet, welche,
besser als Worte vermöchten, den versammelten Vertretern der Ge-
schichtsforschung zeigen sollen, wie wir arbeiten, und wie das Werk
allmählich entsteht. Da ich selbst leider nicht in Heidelberg erscheinen
kann, möge das folgende zur Erklärung jener Ausstellung dienen.
Vorerst ein paar Worte über Ziel und Absicht des Atlas *). Es
gibt bis heute (mit Ausnahme des geschichtlichen Atlas der Rhein-
provinz) kein Kartenwerk, welches die geschichtlichen Abgrenzungen
in einem so grofsen Mafsstabe darstellt, wie die vorhandenen Landes-
aufnahmen der Kulturstaaten erlaubten. Es ist bisher noch niemals
versucht worden mittelalterliche Abgrenzungen, wie sie uns in so
vielen Grenzbeschreibungen erhalten sind, in einem ihrer Ausführlich-
keit entsprechenden Mafsstab wiederzugeben. Wir haben daher das
Verhältnis i : 200000 gewählt. Eine Neuerung ist ferner die Verwen-
dung von Karten mit Terrain; ein Punkt, worin wir auch von dem
rheinischen Atlas abweichen. Eine Karte ohne Geländezeichnung bleibt
immer etwas rätselhaft und unverständlich ; vollends in den Alpenländem
dürfte das Gelände nicht vernachlässigt werden.
Die Frage, welche Art historischer Abgrenzungen dargestellt
werden soll, beantwortet sich für Österreich ganz anders als für andere
Teile des alten Deutschen Reiches, insbesondere den Westen. Während
das naturgemäfse Ziel des rheinischen Atlas nur sein konnte, alle reichs-
unmittelbaren Territorien und ihre einzelnen Stücke abzubilden, kam
i) Vgl. diese ZeiUchrift I. Bd., S. 28 und II. Bd. S. 217—227 (Kapper: Der
Werdegang des hietorisehen Atlasses der österreichischen Älpenländer).
11
— 146 —
für die österreichischen Länder, deren heutige Grenzen der Hauptsache
nach bis ins 13. Jahrhundert hinaufreichen, nur die innere Gliede-
rung in Betracht; also nicht die Abgrenzung einzelner Territorien,
sondern der Gerichte. Die Landgerichte, die Einheiten der Kriminal-
gerichts-Verwaltung gehen zurück auf die alten Grafschaften und diese
wieder auf Zcnten der alten Gaue. Wir streben also hauptsächlich
danach die alten Landgerichte darzustellen, die bei uns bis zu der
Reformzeit nach 1848 oder doch bis zur napoleonischen Periode be-
standen haben. Ihre Schicksale, insbesondere was ihre räumliche
Ausdehnung betrifft, also Spaltungen, Zusammenlegungen u. s. w.
sollen soweit als möglich nach rückwärts verfolgt werden; und dafs
man damit bis ins hohe Mittelalter kommen kann, ist schon durch die
Tat erwiesen worden.
Zur Ermittelung der Abgrenzungen der einst bestandenen Land-
gerichte gibt es zwei Wege. Einmal die Verwendung alter Grenz-
beschreibungen, wie sie gedruckt in den Weistümem, oder noch
ungedruckt stellenweise in Menge in den Archiven erhalten sind. Eine
ganz gewaltige Archivdurchstöberung, die noch keineswegs beendet
ist, war daher die erste Lebensregung der neuen Unternehmung. Nicht
in allen Ländern sind die Archivalien in grofsen Archiven koncentriert;
in Österreich ob und unter den Enns z. B. sind die für uns wichtigen
Dinge nicht blofs in einem halben Dutzend der grofsen Wiener Archive»
sondern in unzähligen Herrschafts-, Stadt- und Marktarchiven zerstreut.
Nur der Sachkundige wird unseren bescheidenen Karten ansehen, welche
Aktenmassen ihretwegen durchgesehen worden sind.
Die Angaben der Grenzbeschreibungen können nur auf Karten
grofsen Mafsstabes mit Terrain aufgefunden werden. Das scheint
ohne weiteres einleuchtend ; denn je gröfser der Mafsstab der Karte ist
und je mehr Einzelheiten sie daher enthält, desto mehr Wahscheinlich-
keit ist vorhanden, die Gehöfte,Waldränder, Brücken, Bächlein, Zaunecken»
Kapellen und sonstigen Landmarken zu finden, von welchen die Be-
schreibungen berichten. Die Karte gröfsten Mafsstabs ist auf unserem
Gebiete die Originalaufnahme im Mafs i : 25CXX); leider sind die Blätter
zu teuer und auch zu wenig deutlich, da sie, von Natur vielfarbig, nur
in photographischer Kopie erhältlich sind. Für die Übergriffe nach
Bayern habe ich mich der bayerischen Positionsblätter 1 : 25 000 be-
dient, die sehr viele Einzelheiten des Terrains und der Situation, nur
leider viel zu wenig Namen enthalten. Diese mufs man durch Be-
gehungen oder Anfragen ergänzen. Im allgemeinen benützen wir die
Spezialkarte der österreichisch -ungarischen Monarchie im Mafsstab
— 147 —
i'.JS^^oo als eigentliche Arbeitskarte, Unser Arbeitsgebiet umfafet
ungefähr 140 Blätter derselben. Da wir die Blätter um den Vorzugs-
pids von 50 Hellem beziehen, so brauchen wir uns nicht zu sorgen,
wenn eines zu gründe gerichtet wird.
Wie man auf den Gedanken kommen konnte, Arbeitskarten ohne
Gelände, und mit ganz spärlicher Situation für historische Ein-
tragungen zu verwenden, wie die Thudichum sehen Grundkarten sind,
ist mir unverständlich. Wenn man auch nur einmal mit ihnen zu
arbeiten versucht hätte, so wäre man gewi(s schon in der ersten
Viertelstunde zur Überzeugung gelangt, da(s sie unbrauchbar sind.
Denn keine moderne Karte, selbst solche im gröfsten Malsstab nicht
ausgenommen, enthält auch nur annähernd so viel Detail als die alten
Grenzrügungen darbieten. In manchem wichtigen Falle können daher
erst Katasterblätter Aufschlug geben. Was macht man da mit einem
90 gut als leeren Blatt Papier?
Die alten Grenzen werden also in die Spezialkarten eingetragen;
da diese ziemlich schwarz gehalten sind, mit bunten Farben. Wir
unterscheiden nur zwei Grenzsignaturen: die der Landgerichte ,
und der Burgfrieden (Hofmarken)
Die zweite Gruppe von Quellen für die historischen Abgrenzungen
ist kartographischer Natur. Alte Karten gibt es nicht viele; aus der
Zeit vor dem XVII. Jahrhundert sind nur vereinzelte erhalten. Aus
dem XVTI. und XVIII. findet man sie für solche Gebiete wo es Grenz-
streitigkeiten gab ziemlich häufig; also iiir das Tirolsche Zillertal, für
Berchtesgaden, an den Grenzen gegen Venedig. Im Binnenlande hat
man vor Peter Anichs Karte von Tirol, also vor den letzten Dezennien
des XVIII. Jahrhunderts nichts für uns brauchbares hergestellt. Anichs
Karte enthält die Landgerichtsgrenzen und auf sein Beispiel hin wurden
anderswo ähnliche Aufnahmen versucht ; doch alle Arbeiten dieser Art
helfen uns nicht weit.
Viel wichtiger ist für uns die Frage, ob und wieviel Historisches
in den durch den Kataster zum erstenmal um 1830 auf Karten fest-
gelegten Gemeindegrenzen steckt. (Man hat hier stets an die
Steuergemeinden zu denken, denn die politischen oder Ortsgemeinden
stammen in Osterreich erst aus 1849 ^^^ ^^^ immer gleich einer oder
mehreren Steuergemeinden.) Das Ergebnis ist für die einzelnen
österreichischen Länder sehr verschieden. Man findet z. B. in Kärnthen
dnc vollkommene Übereinstimmung der Steuergemeinden mit den
alten „Jurisdiktionen", d. h. Landgerichten und Burgfrieden imd zwar
deshalb, weil bei der Josefinischen Steuerregulierung (1789) die einzelnen
11*
— 148 —
Herrschaftsgebiete, welche Gerichtsbarkeit besafsen, zu Steuergemeinden
gemacht worden sind und man 1828 die josefinische Einteilung wieder
aufgenommen hat In Steiermark hingegen ist zwischen den Land-
gerichten und den Steuergemeinden gar kein Zusammenhang;
diese wurden hauptsächlich nach Pfarren abgegrenzt. In Salzburg
stammen die Steuergemeinden aus dem Jahre 1828 und wurden dort
ohne jede Anknüpfung an frühere Verhältnisse von dem Geometer und
einem „politischen Kommissär*' nach Zweckmä&igkeitsrücksichten ab-
gegrenzt Trotzdem sind sie für die Landgerichtsgrenzen wichtig, da
jedes Pfleggericht zum Steuerbezirk eingerichtet wurde, und daher eine
ganze Zahl von Steuergemeinden umfafste; alle Pfleggerichtsgrenzen
laufen daher auf Steuergemeindegrenzen ; man mulis nur wissen, welche
Gemeinden zu dem Gerichte gehört haben, was leicht festzustellen ist.
Nur eine eingehende, keineswegs leichte Untersuchung gibt also
Antwort auf die Frage, welchen geschichtlichen Wert die „Gemar-
kungen" haben, wie sie gegenwärtig bestehen. Sie von vornherein als
etwas uraltes anzusehen ist für Österreich in den Grenzen des eben
Ausgeführten ganz ungerechtfertigt.
Es gibt in Österreich „Übersichtskarten der Steuergemeinden",
die sich von den Thudichum sehen Grundkarten fast gar nicht unter-
scheiden, sie sind ebenso leer und differieren nur wenig im Mafsstab
(1:115200 anstatt i : 100 000). Ich habe mich daher schon vor
mehreren Jahren, als ich noch nicht durch die Erfahrung von der Un-
brauchbarkeit der Grundkarten überzeugt worden war, gegen die Aus-
dehnung des Grundkarten-Untemehmens auf Österreich ausgesprochen,
da wir hier etwas Entsprechendes bereits besafsen. Aber wir können
diese Karten auch dort nur schwer verwenden, wo ihre Abgrenzungen
für uns von gröfstem Werte sind, wie in Kämthen. Denn aus einer
terrainlosen Karte eine Linie in eine Terrainkarte zu übertragen ist ein
waghalsiges Unternehmen. Jede Grenze knüpft an eine Terrainform
an, und wäre es auch nur ein Feldrain ; die punktierte Linie auf weifsem
leeren Papier sagt mir aber gar nichts über ihren Zusammenhang mit
der Natur, sie ist ein wesenloses Gespenst, das man nicht fassen kann,
und das nur beunruhigt. Wir ziehen daher, wenn wir Gemarkungs-
grenzen benutzen müssen, immer noch die überaus schwer leserliche
Eintragung in der Spezialkarte von ( )
Also auch von diesem Gesichtspunkte aus hat sich die Ver-
wendung von Karten nach dem Typus der Grundkarten durchaus
nicht bewährt.
Wenn der Mitarbeiter die fertigen Spezialkarten an die Zentral-
— 149 —
stelle (das geographische Institut der Universität Graz) eingeliefert hat,
so werden die historischen Abgrenzungen auf das Mafs i : 200000
reduziert Das k. u. k.. militäi^eographische Institut in Wien liefert der
Unternehmung Abdrücke der Generalkarte von Mitteleuropa im Ma(se
1 : 200000 in mattem blaugrauem Tone. Man sieht Terrain, Situation
(Straisen, Flüsse, Städte und Gehöfte u. s. w.) und Schrift genau, aber
sie erscheinen blafe. In diesen „Blaudruck" werden nun zunächst die
Grenzlinien übertragen, und zwar aus freier Hand, nicht mittels eines
mechanischen Verfahrens, da die Linien dem Terrain angepaist werden
müssen, welches wegen des kleineren Maisstabes etwas anders gehalten
ist, als das der Spezialkarte 1:75 000, obwohl es auf ihr beruht. Bei
den ersten Blättern wurde diese Übertragung im militäi^eographischen
Institute gemacht, jetzt machen wir sie selbst.
Der Blaudruck mit den Grenzen geht wieder hinaus an den
Mitarbeiter, und dieser hat nun die Schrift einzutragen. Weitaus
die Mehrzahl der einzutragenden Namen steht bereits auf dem Blau-
druck, denn die meisten historischen Namen von Siedelungen Flüssen,
Bachen, Bergen u. s. w. sind ja noch heute im Gebrauch. Diese Namen
werden nun entweder mit dunkler Tinte oder Tusche nachgezogen,
oder es wird durch eine bestimmte Art von Unterstreichen angedeutet,
dafe dieser Name auch auf der historischen Karte erscheinen soll. Was von
der blaugedruckten Schrift nicht nachgezogen oder unterstrichen wird,
bleib t w eg. Was endlich an Namen auf der historischen Karte erscheinen
soll, und nicht im Blaudruck steht, wird jetzt eingeschrieben ; ebenso
die Signaturen für Landgerichtssitze, Burgfriede und einiges der Art.
Der Blaudruck mit Terrain verbürgt die richtige Anpassung der
Grenzlinien an die Bodenformen, Flüsse u. s. w. ; er bietet einen festen
Anhaltspunkt für die Schrift, indem er erspart, das einzuschreiben, was
schon in der modernen Karte steht, und zugleich den Mitarbeitern,
welche keine Kalligraphen und Kartographen sind, sondern Geschichts-
forscher, die schwere Last abnimmt, die Schrift richtig einzupassen und
anzuordnen. Überhaupt soll nichts, was fachmäfsig und mit den Mitteln
der Technik gemacht werden kann, durch Ungeübte erstümpert
werden.
So kommen die Blätter abermals an das k. und k. militärgeographische
Institut, und dort wird die Schriftplatte neu hergestellt. Von dieser
(schwarzgedruckten) Schriftplatte, dem (braunen) Terrainstein und dem
(blauen) Gewässerstein der Generalkarte i : 200000 wird schliefslich die
Landgerichtskarte zusammengedruckt. Es wird also nur das neu her-
gestellt, was nicht auf der Generalkarte vorhanden ist, die Grenzen
— 152 —
i86i, bis zu seiner Berufung' als Professor an das Kgl. Kadettenkorps
in Dresden. Die Lehraufgabe letzterer Anstalt bietet in pädagogischer
Hinsicht manche Eigenheiten und Schwierigkeiten dar, die anderen
Lehrerstellen nicht eigen sind; die aufserordentliche Beschränkung',
bezw. der fast völlige Mangel an direkter, selbständiger Strafgewalt
verlangt von den Zivillehrem besonderes Geschick, sich die Aufmerk-
samkeit ihrer Schüler zu sichern und ihren Fleifs zu wecken. Knothe
besafs diese Gabe und erfreute sich in hohem Grade der Liebe seiner
Zöglinge; zahlreiche Offiziere der sächsischen Armee gedenken mit
warmer Verehrung ihres Lehrers. Diese Stellung brachte in Knothes
sonst in stiller Gleichmäfsigkeit dahinfliefsendes Leben auch die einzige
stärkere Aufregung hinein: im Krieg von 1866 verliefsen die nicht der
aktiven Armee überwiesenen Kadetten mit ihren Lehrern am 16. Juni
Dresden und verlebten nach kurzem Aufenthalt in Prag den Sommer
und Herbst in Wien und Liebenau bei Graz; erst am 28. November
traf man wieder in Dresden ein. Knothe hat diese Zeit anschaulich
in den Kriegserlebnissen eines SoldcUenschtdmeisters aus dem Jahre 1866
(in den Bautzener Nachrichten 1886 Nr. 35 — 38) geschildert Im Jahre
1880 trat er in den Ruhestand, wobei ihm das Ritterkreuz L Klasse
des Kgl. Sachs. Verdienstordens zu teil wurde; den gleichen Grad des
Albrechtsordens hatte er bereits 1874 erhalten; an seinem 80. Geburts-
tage wurde er durch den Titel eines Geh. Hofrats erfreut. Auch an
wissenschaftlichen Ehrungen fehlte es ihm nicht: die Oberlausitzische
Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz, ') der er seit dem 11. April
1860 (nicht 1850, wie N. L. M 61, 348 steht) angehörte, ernannte ihn
am 8. Okt. 1879 bei der Jubelfeier ihres hundertjährigen Bestehens zum
Ehrenmitgliede, und die Kgl. Sachs. Kommission für Geschichte wählte
ihn als Vertreter der lausitzischen Geschichte 1897 zu ihrem Mit-
gliede. *) Die höchste Anerkennung aber, die ihm zu teil wurde, war
das ihm 1882 seitens der sächsischen Regierung gemachte Anerbieten
der Direktorstelle des Kgl. Sachs. Hauptstaatsarchives, eine Stellung,
die sein schlichter Sinn ihn ablehnen liefs, da die neuen Dienst-
geschäfte ihn seinen oberlausitzischen Studien zum Teil entzogen hätten.
Er blieb in Dresden, an welches persönliche Beziehungen und besonders
i) Über diese eigenartige, der Geschichtsforschung dienende Organisation vgl. Deat-
sehe Geschichtsblätter III. Bd., S. 18—22.
2) Bezeichnend iiir Knothes Gewissenhaftigkeit ist es, dafs er sich in seinen letzten
Jahren mit dem Gedanken trug, die Mitgliedschaft niederzulegen, weil sein hohes Alter
ihn zu selbsttätiger Beteiligung an den Kommissionsarbeiten nicht mehr kommen liefs
und er es (Ür unrecht hielt, die Publikationen ohne wirkliche Gegenleistung zu empfangen.
— 168 —
die reichen wissenschaftlichen Schätze des Hauptstaatsarchivs und der
Kgl. Bibliothek ihn fesselten. Im Verkehr mit Freunden und Fach-
genossen verlebte er hier noch über zwei Jahrzehnte eines behaglichen
Alters, nicht aber der Arbeitsruhe, denn auf seinem historischen
Forschungsgebiet blieb er bis zuletzt ein fleifsiger Arbeiter. Ein
Unglücksfall (er wiurde am 2. März 1898 von einem Wagen überfahren
imd erlitt einen doppelten Schenkelbruch) trübte seine letzten Jahre;
CT genas zwar, war aber in seinem Bewegungsvermögen stark beein-
trächtigt Am 8. Februar 1903 starb er zu Dresden und wurde
hier am 11. Februar auf dem Annenfriedhofe bestattet; er war un ver-
mählt geblieben.
Schon als Gymnasiast und ebenso als Student hatte er sich in
seinen Ferien — veranlafst durch Zeitereignisse (einen Rechtsstreit
Sttaus mit Hirschfelde von 1835 bis 1841 über des letzteren Stadt-
gerechtigkeit) — mit der Vergangenheit seiner Heimat befafst und
zwar die Kirchen- und Schöppenbücher ordentlich durchgearbeitet,
eine Beschäftigung, die schon die ernste, streng wissenschaftliche
Richtung seiner Arbeiten vorahnen liefs. Auch sein Vaterhaus selbst
om&te ihn zu geschichtlichem Nachdenken anregen. Bereits im Anfang
des XIV. Jahrhunderts besafs der Johanniterorden eine Kommende zu
Hirschfelde; noch bis in die Neuzeit tragen gewisse Äcker den Namen
^Komthnräcker" und liegen am „Komthurweg", die Vergangenheit
lebt also noch im Munde der Bewohner in diesen Flurbezeichnungen
fort Der Sitz des Komthurs war der Pfarrhof, der 1555 abbrannte,
auf dessen erhaltenen Grundmauern aber 1593 das neue protestantische
P£urhaas erbaut wurde. Die 2^« Ellen starken Mauern des alten Baues
m<^en die Phantasie und das Interesse des Jünglings oft beschäftigt
haben; der Johanniter-Commende zu Hirschfelde ist daher seine erste
Studie gewidmet, die 1846 im 23. Bande des Neuen Lausitzischen
Magazins — im folgenden abgekürzt N. L. M. — erschien. Ein zweiter
Aufsatz desselben Jahrgangs zeigt uns bereits Knothes Neigung zu
reditBgeschichtlichen Arbeiten: er behandelt d(is älteste Schöppenbwih
JM Hirsehfdde. Der Geschichte seines Geburtsortes ist er. auch femer
treu geblieben; ihr ist seine erste selbständige Schrift, die Geschickte
des Fleckens Hirsehfdde in der kgl sächsischen Oherlausitz (Dresden 185 1)
gewidmet, und noch 1897 lieferte er Ergänzungen dazu in dem Aufsatze
Die ältesten Ortsherrschaften von Hirsehfdde (N. L. M. 73).
Der Oberlausitz galt aber auch fast ausnahmslos die ganze
wissenschaftliche Lebensarbeit Knothes und dieses Gebiet
um&iste er in einer erstaunlichen Vielseitigkeit. Es gibt kaum
— 154 —
zeitlich eine Periode, örtlich einen Landesteil, sachlich einen Gegen-
stand der politischen, Wirtschafts- und Kulturgeschichte der Oberlausitz,
den er nicht wenigstens einmal in seinen zahlreichen Schriften behandelt
oder doch berührt hätte.
Es ist nicht die Aufgabe eines Nekrologs in diesen Blättern eine
vollständige Bibliographie aller Bücher und Aufsätze Knothes zu geben,
deren Zahl sich auf weit über loo Nummern beläuft. Nicht wenige
davon sind ja auch nur kleinere Mitteilungen von geringem Umfang
und mäfsiger Bedeutung oder Zeitungsartikel zwar von mehr Gehalt,
als er dieser sekundären Literaturgattung meist anhaftet, aber doch
ohne höheren wissenschaftlichen Wert. Eine stattliche Zahl von Ab-
handlungen aber ist von grundlegender und dauernder Geltung und
wird ständig beachtenswert bleiben, wenn auch die Beschaffung neuen
Quellenmaterials oder vertieftere Auffassung künftig Ergänzungen und
Berichtigungen seiner Resultate ergeben wird. Die Mehrzahl seiner
Arbeiten enthält das Neue Lausüzische Magazin (die spezielleren An-
gaben bringt W. v. Böttichers Register über die ersten 75 Bände des
Magazins, s. Band 76, S. 118, 119, 168), andere K. v. Webers Archiv
für die Sächsische Geschichte (s. Verzeichnis im 6. Bande der Neuen
Folge), H. Ermischs Neues Archiv für Sächsische Geschichte (s. Ver-
zeichnis Band 12), die Mitteilungen des Nordböhmischen Exhursianshlubs,
Briegers und Dibelius' Beiträge eur sächsischen Kirchengeschichte (i, 2,
4, 7), die Bautzener Nachrichten, einzelne auch andere Zeitschriften
(Mitteilungen des Dresdner Geschichtsvereins 9, Ersch und Grubers
Allgemeine Encyklopädie 42, Löhers Archivalische Zeitschrift 4, Mär-
kische Forschungen 14, Blätter für Münzfreunde 1890, Herold 1893,
Germania I (1894), Zittauer Nachrichten 1891, Leipziger Zeitung 1891
u. a.) ^). Ihnen reihen sich noch zahlreiche Rezensionen und Referate
über neue literarische Erscheinungen in verschiedenen Zeitschriften an.
Nur die wichtigeren Schriften seien hier genannt.
Die relativ gröfste Anzahl gilt der Ortsgeschichte, bei der
es ihm vor allem darauf ankam, die Grundlinien der äufseren Geschichte,
die Reihenfolge der Besitzer von Orten, Herrschaften oder Sonder-
gebieten festzustellen, so bei Kamenz, Königsbrück, Pulsnitz, Gabel-
Lämberg, Hainsbach, Hoyerswerda, Reichenau, Schirgiswalde, Schönau,
Türchau u. a., bei anderen erweiterte er diese Studien zu einer als
i) Die Stellen sind fUr die letzten lO Jahre aus Jechts jährlichen Literatlirüber-
sichten im N. L. M. und fiir die letzten 20 Jahre aus Ermischs Übersichten im Neuen
Archiv fUr Sachs. Geschichte, sowie aus den Jahresberichten der Geschichtswissenschaft
leicht za ersehen.
— 166 —
selbstäadiges Buch erschienenen Ortsgeschichte, so für Hirschfelde
(s. oben), ferner in der Geschickte der Dörfer Rohnau, BosetUhal und
Sduirre in der Kgl. Sachs. Oberlausitz (Zittau 1857), der Geschichte der
Dörfer Burkersdarf und Schlegel (Zittau 1 862), der Geschichte des Eigen-
sehen Kreises in der Kgl. Sachs. Oberlausite (Dresden 1870, auch als
Aufsatz im N. L. M. 47). Bei wieder anderen behandelte er einzelne
Zeitabschnitte oder besondere Elreignisse, so bei Bautzen, Görlitz, Karlsfried,
Kirschau, Kosel, Seifhennersdorf, Seidenberg* (Reibersdorf) , Weifeen-
berg, Wilthen, oder ihre geistlichen Verhältnisse, so für Bautzen
(Ftäpste des CoUegiatstiftes S. Petri eu Bautzen 1221-^1562, im Neuen
Archiv für Sachs. Gesch. 1 1), die Pfarreien Göda und Grottau, desgl auch
die Nonnenklöster Marienstern, dem ein besonderes Buch, Urkundliche
Gesdiichte des Jungfrauen- Klosters Marienstem .... iis Anfang des
XVI. Jahrhunderts (Dresden 187 1) gewidmet ist, und Marienthal, die
Cölestiner des Oybin, die Klöster zu Lauban, Löbau und Kamenz, das
Zittauer WeichbUd u. a.
Neben» diese mehr das lokalgeschichtliche Element betonenden
Studien zur Oberlausitzer Kirchengeschichte treten dann noch
Aufeätze allgemeineren Gehalts, so 2wr Geschichte der Feier des
Gregariusfestes (N. L. M. 39), über die Meißner Bistumsmatrikel (N.
L. Bl 56), die geistlichen Güter in der Oherlausitz (N. L. M. 66), die
Stellung des erxpriesterlichen Stuhls SarcM unter die Präpositur Bautzen
(Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte 7). Mit der Pflege der
geistigen Kultur befassen sich Zusammenstellungen über die Oher-
hmsUzer auf Universitäten während des Mittelalters und iis 1550 und
spezieller über die Oberlausitzer auf der Universität Leipzig von
1420 — 1550 (N. L. M. 7 1 und 77), sowie über das Schulwesen auf den
Dörfern des Weichbilds Zittau bis 1835 (N. L. M. 70).
Der Ortsgeschichte dient auch Knothes gröfete Quellenver-
öffentlichung; einzelne Urkunden hat er ja vielfach in Aufsätzen
oder Schriften mit beigefügt, als besondere Urkundenpublikation aber gab
er das Urkundenbuch der Städte Kamenz und Löbau (Leipzig 1883, als
Band 7 des 2. Hauptteiles des Codex diplomaiicus Saxoniae regiae) heraus.
Die Beschäftigung mit der Ortsgeschichte, besonders mit den
Bentz- und Herrschaftsverhältnissen mufste Knothe von selbst hinüber-
fihren zur Pflege der Genealogie. Eine Reihe dankenswerter Unter-
suchungen hat er in einzelnen Abhandlungen den Familien — d. h.
soweit sie der Oberlausitz angehören oder sie mit berühren — Dohna,
Kamenz, Berka von der Duba, Gersdorf, Hochberg, Metzrad, Schafi" (d. i.
Scfaa^otsch), Schleinitz imd einigen Bürgerfamilien gewidmet (s. N.
— 156 —
L. M. 39, 41, 43, 44, 45, 49, 64, 69). Eine Verbindung der Adels-
und Ortsgeschichte bietet Knothes umfänglichstes Werk, die Geschichte
des Oberlausüzer Adels und seiner Gruter vom XIIL bis gegen Ende
des XVL Jahrhunderts (Leipzig 1879), ein Buch, das für die Adels-
geschichte Sachsens, der Lausitzen, Schlesiens und Böhmens von
mafsgebender Bedeutung ist und in einer umfassenden Einleitung auch
die rechts-, wirtschafts- imd kulturgeschichtlichen Seiten dieser Aul-
gabe berücksichtigt. Eine Fortsetzung für die folgende Zeit bis 1620
brachte unter sonst gleichem Titel ein Aufsatz des N. L. M. 63. In
einer wesentlichen Hinsicht liefs allerdings das Werk zu wünschen
übrig: die Heraldik, die in einer Adelsgeschichte, besonders der
zusammenfassenden Adelsgeschichte eines geschlossenen Territoriums
wegen ihrer Bedeutung für den ursprünglichen Zusammenhang später
getrennt erscheinender Familien von Wichtigkeit und oft grofsem
Nutzen ist, war ganz beiseite gelassen. Mit Recht machte ihm dies
Mülverstedt zum Vorwurf, mit dem er über Wappenfragen sowie über
die Nationalität einzelner Familien eine literarische Fehde auszufechten
hatte (N. L. M. 67, 68, 69). Um diesem Mangel abzuhelfen, beschrieb
Knothe die ältesten Siegel des oherlausitzischen Adels (N. L. M. 67 mit
Abbildungen); doch läfst sich nicht verhehlen, dafe er mit heraldischen
Dingen weniger vertraut war.
Der allgemeinen Landesgeschichte der Oberlausitz
kommen einige Aufsätze zur Geschichte des angehenden XV. Jahr-
hunderts, besonders aber zur Geschichte des XVH. Jahrhunderts zu
gute, so über die Bemühungen der Oberlausüs um einen Majestäts-
brief 1609—1611 (N. L. M. 56), den Anteil der Oberkmsite an den An-
fängen des 30jährigen Krieges 1618—1623 (N. L. M. 56), die Oberlausüe
während der Jahre 1623—1631 (N. L. M. 65), ferner über die verschiedenen
Benennungen des jetzigen Markgrafentums Oberlausitz (Webers Archiv,
N. F. i), das Landeswappen der Oberlausitz (N. Arch. f. Sachs. Gesch. 3) u. a.
Sehr verdienstlich sind Knothes Arbeiten auf dem Gebiete der
oherlausitzischen Rechtsgeschichte, wo aufser mehreren Auf-
sätzen, von denen nur die über die Hausmarken in der Oberlausitz
(N. L. M. 70) und Ein Görlüzer Hofgerichtsbuch von 1406-1423 (N.
L. M. 74) erwähnt seien, seine Urkundlichen Grundlagen zu einer
Rechtsgeschichte der Oberlausitz von ältester Zeit bis Mitte des
XVL Jahrhunderts (N. L. M. 53, auch als Buch erschienen, Görlitz
1877) sich entschiedener Anerkennung zu erfreuen hatten.
Nicht minder gilt dies von verschiedenen Arbeiten wirtschafts-
geschichtlicher Art, unter denen die auch als Buch (Dresden 1885)
— 157 —
eiscliieneiie über die Stellung der Chäsunterthanen in der OberlausUg
tu ihren Grtdsherrschaflen van den äUesten Zeiten bis zur Ablösung der
Snsen und Dienste (N. L. M. 6i) die wichtigste ist. Bei dem Mangel
einer ausgiebigen Quellensammlung besonders für die ländlichen Ort-
schaften wäre kaum ein anderer ebenso in der Lage gewesen, die
Fülle des Stoffes zusammenzubringen und zu durchdringen, die hier,
wie auch in den Grundlagen zur Rechtsgeschichte, verarbeitet ist, als
ein Mann, der in jahrzehntelanger Arbeit das Quellenmaterial sich zu
e^en gemacht hatte. Für die Wertschätzung dieses Buches sei hin-
gewiesen auf das Urteil des kompetentesten deutschen Fachmanns,
A. Meitzens, in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen (1887, Nr. 2,
S. 66 — 73), der S. 66 schreibt: „Für den, der in der Oberlausitz be-
kannt ist, bedarf es kaum der Erwähnung, dafs schlechthin niemand
fiir die Aufjg^abe besser ausgerüstet gewesen wäre, und dafe sie auf
das Zuverlässigste und Wohlbegründetste und zugleich in durchaus
anschaulicher, energisch die lebendigen Tatsachen zusammenfassender
Weise gelöst ist. Knothe beherrscht das gesamte vorhandene Material
in einer solchen Weise, dais er kurz sem kann'* u. s. w. Ergänzend
stehen auch diesem Werke andere Aufsätze zur Seite, wie der über
die Auskaufungen von Bauergütem in der Oberlausite (N. L. M. 72)^
über die verschiedenen Klagen slavischer Höriger in den wettinischen
Landen wahrend der Zeit vom XI. bis zum XIV. Jahrhundert (N. Arch.
f. Sachs. Cjesch. 4). Femer seien von kulturgeschichtlichen Arbeiten
genannt die Abbandlungen Zur Geschichte der Juden in der Ober-
lausiiß während des Mittelalters und Die Entstehung und Bildung
bürgerlicher Familiennamen . . . bis gegen Ende des XIV. Jahrhunderts
(N. Arch. f. Sachs. Gesch. 2 und 14). Auch die Handwerks-
geschichte ging nicht leer aus, die Geschichte des Tuchmacher^
hamdwerks in der Oberlausitz bis Anfang des XVI I. Jahrhunderts
(N. L. M. 58) ist eine sehr schätzbare, grundlegende Studie.
Die ganze reiche Lebensarbeit des fleifsigen Mannes beschränkt
sich aber, wie des Näheren gezeigt ist, fast ausschließlich auf die
Oberlausitz. Die wenigen Ausnahmen, einige meist kurze Aufsätze
über angrenzende Orte und Gegenden des nordöstlichen
Böhmens*) sowie der südöstlichen Niederlausitz*) beruhen
aoch auf gewissen lokalen oder sachlichen Beziehungen zur Ober-
i) So aber Pfarrei Grottaa, Herrschaft Gabel • Lämberg , über das SchleiniUer
Liodcben.
i) Über Sorau, Beetkow, Storkow im Besitz sächsischer Fürsien, in den Nieder-
Isuitscr Mitteil. 3.
— 158 —
lausitz, und auch die auf meifsnische Geschichte bezüglichen Aufsätze
in sächsischen Zeitschriften zeigen stets einen ähnlichen Zusammenhang ').
Auch die literarges chichtliche Abhandlung über den Barden
Bhingidphf den Dichter Karl Friedrich Kretschmann (Zittauer Gym-
nasialprogramm 1858), die sachlich mit der Oberlausitz nichts zu tun
hat, ist nur dadurch veranlafst, dafs Kretschmann aus Zittau stammte,
hier lebte und starb.
Knothe war also provinzialgeschichtlicher Spezialist von so aus-
Schliefelich oberlausitzischer Tendenz, wie das in anderen Territorien
bei entsprechender Vielseitigkeit auf allen Teilgebieten der Geschichts-
wissenschaft und ihrer Hilfsdisziplinen und bei gleichem Fleifse nicht
häufig sich wiederholen wird. Er wufete und fühlte es auch selbst,
dafs hierin seine Stärke, aber auch seine Schwäche lag. Wenn von
ihm, wie es nicht selten von minder in seine Eigenart Eingeweihten
geschah, eine Auskunft über niederlausitzische Dinge erbeten wurde,
so wies er das entschieden und halb scherzend, halb ernsthaft un-
willig über eine solche in seinen Augen eigentlich ungehörige Zu-
mutung ab: „Ist Niederlausitz! geht mich nichts an!'* Allen seinen
Arbeiten ist emsiger Fleife, redlichstes Bestreben nach wahrer Er-
kenntnis und zuverlässiger Wiedergabe der gewonnenen Ergebnisse,
ohne jede der historischen Objektivität widerstreitende Nebenabsicht,
eigen — vgl. seine Polemik mit Pastor Scheuffler über religiöse
Fragen, N. L. M. 57, 58, obwohl Knothe selbst ein treuer Protestant
war; damit verbinden sich schlichte Klarheit des Ausdrucks und
bescheidener Sinn, wenn er auch im Gefühl seiner umfassenden Kennt-
nisse, seiner Beherrschung des gesamten oberlausitzischen Geschichts-
gebiets und seiner vielen , meist sehr gut beurteilten Arbeiten *) et-
waigen Widerspruch gelegentlich schwer verwinden konnte. Solche
kleine Schwächen sind ja eben leicht den Vorzügen gepaart und
sogar durch sie hervorgerufen. Die deutsche Provinzialgeschichte hat
in ihm einen ihrer würdigsten Vertreter verloren, von dessen Arbeiten
i) So über die politischen Beziehungen zwischen der Oberlausitz und Meißen
in Webers Archiv 12, über die Vereinharungen zmschen König Johann von Böhmen,
Herzog Heinrich txm Jauer und Bischof Withego von Meißen 1319 in Webers
Archiv 8, über die Kragensche Fehde im N. Arch. f. Sachs. Gesch. 7.
2) Verschiedene seiner Abhandlangen waren preisgekrönte Bearbeitungen der von
der Oberlaosiiser GeseUschaft der Wissenschaften aasgeschriebenen Themen, so die ^e-
schichte des Eigenschen Kreises (1870), Die Grundlagen zu einer Bechtsgesehiehte
der Oberlausitz (1877), Der Anteil der Oberlausitz an den Änßngen des 30jähr%gen
Krieges (1880), Die Stellung der Gutsunterihanen (1885).
— 159 —
gar manche auch über den provinziellen Interessenkreis hinaus bisher
stets Beachtung gefunden haben und sie auch femer wahrlich ver*
dienen *).
t^oland ^ l^undsohau
Von
G, Seile (Oldenburg)
(Schlufs) «)
Mein Schriftchen über den Roland zu Bremen*), auf welches
ich im verflossenen Jahre hinwies, hat die Historische Gesellschaft zu
Bremen, die es herausgegeben hat, nun auch im XX. Band ihres-
Bremischen Jahrbuches 1902, S. i ff., wiederholt. Ich verweise be-
sonders auf die darin veröffentlichte neue, in Heliogravüre ausgeführte
photographische Aufnahme des Roland mit dem Rathause als Hinter-
grund. Sachlich zu bemerken ist, dafe meine Angabe S. 7, der Bremer
Roland sei sowohl historischer Überlieferung als formaler Bildung nach
das älteste dei^ in Norddeutschland bekannten Bilder, sich selbstver-
Btändlicfa, wie auch aus dem ganzen Zusammenhange hervorgeht, nur auf
die erhaltenen Rolandstatuen bezog. Die überhaupt erste urkund-
liche Erwähnung eines städtischen Roland ist die des Hamburger
im Jahre 1342*); — Femer schreibt mir Herr Professor Dr. O. Schroeder,
da(s der Dom zu Verona nicht dem heUigen Zcno geweiht ist (S. 21),-
sondern von der Kirche S. Zeno eine halbe Stunde entfernt liegt. — Bald
i) Als Gnmdlageo der vorstehenden Lebeosskizze and literarischen Würdigung,
dienten: der Nekrolog seines Vaters K. F. Knotbe im N. L. M. 33 (1857), 448 f.;
Bemerknngen Knothes selbst in der Geschichte des Fleckens Hirschfelde (s. oben),
•ovie andere Angaben in verschiedenen Bänden des N L. M.; W. Haan, Sächsisches-
SeknfUUOer-Lexikon (Leipzig 1875), S. i66f.; A. Meitzen, Die Oberlausitz und
Hermann Knothe (in den Götting. Gelehrten Anzeigen 1887, Nr. 2, S. 66 f.);
O. Friedrich, Album des Gymnasiums tu Zittau (Zittau 1886), S. 87, 183;
B. Poten, Cteschichte des Mihtär-Erziehungs- und Bildungswesens in Sachsen
(Berlin 1897), S. 134; mündliche and schriftliche Mitteilangen von Freunden und Be-
kannten Knothes, sowie persönliche langjährige Bekanntschaft.
2) Vgl. oben S. 113— 128.
3) I}er Roland mu Bremen, Von Georg SeUo. Mit i Heliogravüre und 11 Ab-
büdnngcn im Text. Heransgegeben von der Historischen GeseUschaft des Künstlervereins-
» Bremen. Max Nössler 1901. 69 S. 8. Aus der allgemeinen Einleitung der Schria
habe ich anf AniTordernng der Redaktion einen Aufsatz über Entstehung und Bedeutung:
öer Rolande för die Gartenlaube (1902, no. 29) geformt.
4) Von demselben wird später noch die Rede sein.
— 160 —
nach der Ausgabe meines Büchleins ging die Bremer Bauverwaltung*
daran, ihren Roland einer gründlichen Reinigung zu unterziehen und
einige völlig verwitterte Teile unter sorgfältigster Nachbildung des Altea
zu erneuern. Dabei kamen mancherlei Reste der letzten Bemalimg zu
Tage und es konnte mit Hilfe des aufgeschlagenen Gerüstes festgestellt
werden, dafs der ganze Kopf einer ziemlich späten Restauration angehört
(vgl. meine Bemerkungen über den auffälligen Schnitt des Profils S. 67»
Anm. 130) '). Bei dieser Gelegenheit wurde die stilgerechte Restauration
der Bekrönung der Statue (welche etwa um 1800 in ganz ungeschickter
Weise unter Benutzung alter Teile erneuert worden ist) und die Wieder-
herstellung ihrer alten Bemalung erwogen. Hoffentlich kommt die-
selbe bis zum 500jährigen Jubiläum der Statue im Jahre 1904 zur
Ausführung. Gewisse Kreise der Bremer Bevölkerung finden daran
vorläufig kein Gefallen; ein „eingesandtes" Gedicht (Bremer Nachrichten
1901, Nr. 353) läfst den Roland bitten:
Man een Ding doht mi nich to leed,
Smeert mi nich an med Klör!
De unnerliggt de „Mode" so,
Ick bin dor gor nich för;
Eikeen hat sin' Gesmack fÖr sick.
Ick bin man 'n groven Mann:
Treckt mi biet keen karreerde Büx
Un keen Busruntje an!
Wie der Bremer Roland in der französischen Zeit zu einem Hei-
ligen umgestempelt wurde, so hat er schon viel früher zu einem Hei-
ligen Modell gestanden. Im Jahre 1448 gofs Gerd Klinge eine Glocke
für die Stiftskirche S. Alexandri im uralten oldenburgischen Widukinds-
städtchen Wildes hausen. Auf dieser Glocke sollte der Stiftsheilige
dargestellt werden; da dem Künstler für die Erscheinung des bescheidenen
Märtyrerknaben jeder Anhalt fehlte, machte er naiv genug aus dem
Träger eines so heroischen Namens einen Krieger, den er seinem
heimischen Rolande nachbildete, nur mit dem Unterschiede, dafe er
die Spitze des Schwertes gegen den Boden kehrte. Damit schuf
er ein Bild, welches dem Hamburger Bismarck-Roland bemerkenswert
ähnelt. Dafs, abgesehen von dieser ihnen übrigens verborgenen Roland-
vetterschaft des heiligen Alexander, die Herausgeber der Bau- und
Kunstdenkmäler des Herzogtums Oldenburg in Wildeshausen auf Grund
einer „sagenhaften" Irmensul-Erinnerung einen „mittelalterlichen Ro-
i) Nach geföUigen Mitteilnngen des Herrn SUdtbaarat Weber, welche dorch Zeich-
Dangen und pbotographische Detailaufnahroen erläutert waren.
— 161 —
hnd" gesucht haben (1896), ist bereits im Jahre 1901 (S. 41) von
mir, unter Nachweis der ganz unsinnigen Entstehungsursache dieser
angeblichen SaLge^ mi^eteilt worden. Der sich nicht nennende Heraus-
geber der letzten Auflage der „ Oldenbtirger Spaziergänge und Aus-
fioge*' (Oldenburg 19CX)), welcher mit einem Mitgliede der Denkmäler-
Inventarisationskommission identisch sein dürfte, hat nun zwar den
Roland wieder gestrichen, von der Irmensul sich aber nicht zu trennen
vennocht Sie soll gestanden haben, wo der Bnmnen vor dem Rat-
hause sich befindet, und vom Christ gewordenen Widukind zerstört sein ^).
Der oben (S. 159, Anm. 3) erwähnte Aufisatz in „der Garten-
laobe'' hat mir eine Reihe amüsanter Reklamationen über von mir
, vergessene" oder mir „imbekannte" Rolande eingetragen, welche
wiederum das zu beweisen scheinen, was ich eingangs die „versonnene"
Liebe der Norddeutschen zu ihrem Rolandmotiv nannte. So bricht
2. B. ein Perleberger eine ritterliche Lanze iiir den Roland seiner
Heimatstadt, welcher „einer der ältesten und besterhaltenen" sei; er
hatte offenbar die Jahreszahl 1546 am Stützpfeiler der Statue und das
Kostüm übersehen; wie der Perleberger Roland 1871 seine Nase
verlor und für 53 Thlr. 23 Sgr. wieder erhielt, hat GeorgBufs in der
Zeitschrift „Zur guten Stunde" (1892, S. 207) ganz lustig erzählt Aus
Bdgem kamen gleich fiinf Postkarten mit Ansicht, auf deren einer
CS vorwurfisvoll hiefs, der dortige Roland sei doch einer der gröfsten,
während ein Anderer nur meinte, derselbe sei doch „gewifs hübsch".
Corbach in Waldeck war mir schon vor längeren Jahren als
Rolandort genannt worden ; mein inzwischen verstorbener sphragistischer
Gewährsmann hatte mich aber auf eine ganz falsche Fährte gebracht.
Nun hat mich Herr Professor A. Leifs in Wiesbaden auf das liebens-
würdigste und ausführlichste schriftlich orientiert und in den Ge-
schichtsblättem für Waldeck und Pyrmont (II, 1902, S. iii ff.) selbst
ein Referat gegeben. Am Südportal der Pfarrkirche St. Küian
(früher auf der Spitze des Giebels, jetzt in einer Nische des östlich
flankierenden Strebepfeilers) befindet sich (nach mir vorliegender Photo-
graphie) die mittelgrofse Figur eines Kriegers mit Plattenharnisch
und Helm, mit der Linken sich auf einen Schild stützend, in der
i) Anhäoger der RoUnd-Irmensol-Tbeorie mache ich darauf aufmerksam, dafs bei dem
mtgmts lopis in foro Wildeshusensi Kaufverträge abgeschlossen wurden (Urkunde yom
28. April 1281, H. Sudendorf, Beiträge z. Gesch. d. Stifts Wildeshausen, in Ztschr. f.
▼itcrläod. Gesch. o. Altertumskunde, herausgeg. von Erhard und Gehrken. VL Münster
1S43, S. 269; dgL Yom 22. Mai 1310, ungedr., Oldenburg. Arch.). Es dürfte leicht
icia, daraus and aus der 2^ichnung bei Balth. Voigtländer (vgl. DGBl. II, 41, Anm. t)
«ioea regelrechten Irmin-Roland-Kultus zu konstruieren. -
12
— 162 —
Rechten anscheinend eine Fahne haltend. Ältere Leute bezeichnen
dieselbe als ^ Roland'^. M. Stephanus Ritter, Rektor des Corbacher
Gymnasiums, sagt darüber in seiner Cosmographia prosometrica (Mar-
burg* 1619, S. 524): templum s. Kiliant in urbe veteri, portatn ob^
iinens, qnae forum resptci't, sculptiltbus eleganter exornatam, tnter
quae etiam est statua Rolandt, istum in locum e/oro trans-
lata. Auf diesen ^.Roland" als Freiheitswahrzeichen berief sich die
Stadt Corbach in einer beim Reichskammergericht gegen den Grafen
anhängig gemachten Klage wegen Eintreibung neuer, ungebräuchlicher
und unverbindlicher Abgaben, wogegen der gräfliche Kanzler Zacharias
Vietor am 16. Juni 1620 in der Klagebeantwortung erwiderte, dals die
Bürgerschaft dessen nit ein einzigen Schein oder Buchstaben jetnat
vorzeigen können; nur was cUte Weiber von einem unsichtbaren
und in Ewigkeit unerfindlichen Roland etwa geträumet haben,
läßt man sie gut darvor sein *). Auf den lebhaften Wortstreit der
älteren Lokalbistoriker : ob Roland? ob nicht? ist es unnötig einzu-
gehen, da in demselben sachlich nichts Neues beigebracht wird. Die
Figur, einem St. Moritz gleichend, mag ursprünglich als Brunnenfigur
auf dem Marktplatz gestanden haben.
Einen ebensolchen ehemals als Brunnenfigur dienenden, jetzt am
grofeherzoglichen Schlosse eingemauerten „Roland'^ wUl, wie er mir
im Frühjahr 1902 mündlich mitzuteilen die Freundlichkeit hatte, Herr
Professor Haupt in Eutin gefunden haben.
Den von Götze erwähnten Roland in Königsberg, Ostpreulsen,
hat, wie mir Herr Professor Dr. H. Ehrenberg nachzuweisen die Liebens-
würdigkeit gehabt bat, Steffenhagen entdeckt (Königsberger Hartungsche
Zeitung 1863, BeUage zu Nr. 143. 146; Altpreufe. Monatsschrift 1864^
S. 155 — 158), irre geleitet durch eine Notiz in „Erläutertes Preufeen"
II, Stück 19, 1724, S. 499 (auch in Caspars Steins Beschreibung der
Stadt Königsberg, XVII. Jahrhundert, in deutscher Übersetzung bei
A. Bötticher, Die Bau- und Kunstdenkmäler der Provinz Ostpreu&en»
VII, Königsberg 1897, S. 216): „an denen Wänden (des alten Junker-
hofes in Königsberg) stehen einige Statuen, als z. E. des Arturi Königs
von Engeland, des grofsen Rolands im Harnisch und blolsem Schwert
mit einem Mantel, Caroli Magni, Herculis . . ., Sebastiani". Das Ge-
bäude ist längst abgebrochen; es wurde samt den Statuen an die
Pinnauer Fabrik für Mehl, Graupe etc. verkauft. Die Bildsäulen gingen
auf dem Transport entzwei; die des Roland wurde von den Fabrik-
I) Gräffliche Waldeckische Ehreorettnng, Frankfart a. M. 1624. Beilage Nr. XXDC»
s. 343.
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arbeitem allmählich zu Schleifstemen verbraucht. Es liegt auf der
Hand, dafs es sich hier um eine reine Dekorativfigur handelte, welche
für unsere Frage gar nicht in Betracht kommt.
Den reitenden Roland zuNeuhaldensleben hat Lonitz im Anhange
zu seiner schon besprochenen Studie Die Rolandsäulen (s. oben
S. 1 19 — 120) behandelt. Er ist ihm einer der ältesten, vielleicht der älteste
aller Rolande auf sächsischem Gebiet ; denn er hat die ursprüngliche
Bezeichnung „Himmelskönig" oder „König" getragen. Der Beweis
dafür, bei welchem des Verfassers frühere Ausführungen Voraussetzung
sind, ist überwält^end. Er geht aus von der bei Neuhaldensleben
gelegenen Anhöhe „Kinnikenberg", im Jahre 172 1 „Königesberg".
Im Ohretale bei Haldesleve war jedenfalls schon seit uralten Zeiten
eine Malstätte, erst der Langobarden, dann der Wenden, dann der
Mischbevölkerung von Sachsen, Franken und Wenden. Hier, am
Schlüsselpunkt zum Wendenlande, war der Ort, wo die Kirche zuerst
den Weg des Kompromisses einzuschlagen sich genötigt sah. „Hier,
entfernt von der alten heidnischen Malstatt, welche von den katho-
lischen Priestern nun „Teufelsküche" genannt wurde, wurde der erste
hölzerne Himmelskönig errichtet. Es ist nicht unmöglich, dafs säch-
sischer Einfluis auch Wuotans Pferd Sleipner Recht verschaffte, und
daher dieser erste Himmelskönig zu Pferde steigen mulste, was später
nicht mehr (als zu entlegen dem Christusbegriff) gestattet worden ist."
Ringsherum lag der Hagen für den Volks- und Marktverkehr, mit der
Hauptquelle für das Volk, dem „Quickbom", einer zweiten Quelle,
und dem Aufenthaltsort der Priester, dem „Papenberg**. Nachdem
die Stadt 1224 das Magdeburger Recht erhalten hatte, „wurde der
König vom Königesberg im Jubel eingeholt und auf dem Marktplatz,
das Antlitz nach Morgen, aufgerichtet Damit hörte wohl auch die
Bezeichnung , König* auf und der , Roland* wurde modern".
Bei diesem Phantasiereichtum ist es begreiflich, dafs dem Ver-
fasser das Jahr der Errichtung der jetzigen Statue, 1528 *), ganz un-
bekannt ist 2^it wäre es, dafs die Ortshistoriker endlich die Richtig-
keit der Notiz von Behrends, dais der Neuhaldensleber Roland 1419
in einem „alten Ratsbuche" erwähnt werde, feststellten *).
Über den Nordhausener Roland hatte, wie ich 1900 (S. 45)
berichtet habe, Karl Meyer-Nordhausen im Feuilleton der Nordhäuser
i) G. Torquatos, Anoal. Magdeb. et Halberstad., 1574, bei Boysen, Monum,
ined, red, Gtrm,^ praecipue Magdeburguarum ei Halber stadensium I (1761), S. 165.
2) VgL dazu meinen Aufsatz im Montagsbl. der Magdeb. Zeitung 1890, unter Neu-
htldensleben.
12*
— 164 —
Zeitung vom 30. August 1899 *) einen Aufsatz geschrieben, in dem es
ihm gelungen, dessen urkundliche Existenz bis in das Jahr 141t hinauf-
zurücken. Dieser Aufsatz ist danach in die Zeitschrift des Harzvereins
Rir Geschichte und Altertumskunde •) übernommen worden, mit einigen
redaktionellen Änderungen und mit zwei Zusätzen, welche hier zu er-
wähnen sind. Meyer, der, wie vorausgeschickt werden mufs, zu Ein-
gang seines Aufsatzes das in Platens Osterprogramm 1899') zusammen-
getragene Beweismaterial als bei weitaus den meisten Rolandsorten
genügend erklärt, um der Annahme einstiger Donarsverehrung an ihnen
einen hohen Grad von Wahrscheinlichkeit zu verleihen, hatte in dem
Nordhäuser Domlehns- und Zinsbuche von 1322 für ein Gehöft in der
Nähe des alten Kaufhauses (und Rathauses) die Bezeichnung curia
contra truncum gefunden. Diesen „truncus" oder Baumstumpf (Holz-
säule) hielt er für die älteste Rolandssäule der Stadt Nordhausen, <Ue
damals noch nicht die Gestalt eines Königs hatte. Eine bedeutsame
Holzsäule müsse sie gewesen sein, sonst hätte man nicht die Lage
eines Hofes nach ihr bezeichnet. „Ist meine Annahme richtig, so
fuhr er fort, und ich glaube das, so ist die Existenz einer Rolandssäule
in Nordhausen im Jahre 1322 urkundlich bezeugt." Diese „Sachlage
und Vermutung" teilte er an R. Platen mit, und dessen Antwort vom
9. September ist nun dem Abdruck des Feuilletons in der Harzvereins-
Zeitschrift eingefügt. Darin heifst es: „Die von Ihnen aufgefundene
Nachricht über den , truncus* im Jahre 1322, den ich wie Sie mit
vollster Überzeugung*) auf den Vorgänger des Rolandes be-
ziehe, ist meines Erachtens von weittragendster Bedeutung für die
ganze Rolandsfrage" ... „Es ist nunmehr ein Punkt von wunder-
barer Festigkeit gewonnen. Da 1322 noch nicht die Bezeichnung
, Roland' an dem Bilde haftet, so läfst sich meines Erachtens der
Übergang des Namens Roland auf die alten Zeichen mit
ziemlicher Bestimmtheit in die Zeit zwischen 1322 und 1341, Er-
wähnung des Halleschen Rolands, verlegen. Weiter aber und vor
allem scheint mh: die ältere Bezeichnung , truncus* von höchster Be-
deutung" — es folgt nun der „truncus" = Irminsul des Rudolf von Fulda.
i) Das von mir dort angegebene Jahr 1900 ist ein Schreibfehler. ^
2) XXXn. Jahrg. 1899, Wernigerode 1899, S. 625 631.
3) Von dieser Arbeit liegt bisher immer noch der erste Teil aUein gednickt tof,
aber demnächst wird das Ganze — der erste Teil nochmals mit — veröffentlicht werden
unter dem Titel: Der Ursprung der Rolande von Paul Platen, aus Anlass der deut-
schen Städteausstellung tu Dresden igoj veröffentlicht vom Vereine für Geschichte
Dresdens.
4) Diese nnd die folgenden Sperrungen sind von mir vorgeschrieben.
— 165 —
„Ich messe der von Ihnen au^efiindenen Nachricht gro&e Bedeutung
iur die Rolandsfrage bei." Dals dieser Punkt von wunderbarer Festig-
keit bei richtiger Übersetzung des in mittelalterlichen Quellen un-
gezählte Male vorkommenden truncus zerrinnt, braucht hier nicht
wiederholt zu werden. Platen insbesondere hätte sich übrigens bei
dem von ihm so liebevoll in Schutz genommenen, von anderen „so
hart beurteilten" Zöpfl vorher Rats erholen sollen (Altertümer des
deotschen Reichs und Rechts I, S. 54 S 13 yJ^Qi Stock. Diebstock",
vgl. S. 60). So recht hat freilich auch dieser die Sache nicht be-
griffen, denn er versteht darunter ein „Gefängnis"; das ist aber immer
noch erträglicher als die Meyer -Platensche Übersetzung Irmensul-
Roland.
Im Jahre 1708 hatte Melissantes den Nordhäuser Roland gehamischt
und im Helm beschrieben, Berckenmeyer 1709 aber mit der Krone
auf dem Haupte. Hierauf bezieht sich der zweite Zusatz Meyers. Die
Unrichtigkeit der ersteren Angabe will er durch ein einheimisches
Zeugnis nachweisen. Der Nordhäuser Chronist Kindervater teile in
seiner 171 5 erschienenen Nordhusa ülustrü ein „weit über hundert
Jahre altes Gedicht" mit, nach welchem der Roland Krone und
Schwert trug. Dazu mag bemerkt werden, dafs die Datierung von
Kindervaters Quelle zu unbestimmt und unsicher ist, um mit ihrer
Hilfe präzise Kritik zu üben, und dafis, wenn man genauer zusieht,
die von Melissantes gegebene, 1708 gedruckte Beschreibung sehr
wohl auf dem Befund einer früheren Besichtigung beruhen kann.
Bis auf weiteres liegt also kein hinreichender Grund vor, die sach-
liche Richtigkeit der Melissantesschen Angabe in Zweifel zu ziehen;
ihre chronologische Zuverlässigkeit erscheint auch sonst fraglich *),
Wir wenden uns nun den böhmischen Rolanden zu. Infolge
meines vorjährigen Berichts, in welchem (S. 34) Aufklärung über die
Prager Brunswicksäule erbeten wurde, sind an die Redaktion ver-
schiedene Beschwerden von Nordböhmen darüber ergangen, dafs die
ans deutschem Samen geborenen Rolande ihrer Heimat in der Roland-
torschung des Stammlandes nicht die genügende Berücksichtigung ge-
funden hätten. In ihrer Allgemeinheit ist diese Behauptung nicht ganz
richtig. Was über die Rolande zu Prag, Leitmeritz, Komotau, Aman
bei Zöpfl, Götze, Müller und Mothes (Archäologisches Wörterbuch),
R.Schroeder und in meiner Abhandlung von 1890 mitgeteilt war, ge-
Qugte durchaus, um zu erkennen, dafs die fraglichen Bildwerke schwer-
I) In meioem Roland zu Bremen S. 1 7 ist dem nicht genügend Rechnung getragen.
— 166 —
lieh in irgendeiner Weise für die Lösung der Rolandfrage bedeutsam
seien. Freilich fehlte der Roland zu Eger darunter, der einzige, welcher
im XVI. Jahrhundert einmal gelegentlich diesen Namen führt ; es wird
sich aber zeigen, dafs auch er nicht bedeutungsvoller ist.
Seit in Deutschland die Rolandfrage in Flufs gekommen, haben,
soweit ich zu sehen vermag, die Deutsch - Böhmen sich darüber nie
mit unserer Wissenschaft ins Vernehmen gesetzt; meinem durch jene
Reklamationen angeregten Wunsche, die deutsch - böhmische Roland-
literatur gründlicher kennen zu lernen, sind von kollegialer und von
buchhändlerischer Seite ganz unerwartete Schwierigkeiten bereitet
worden ; nur der glücklichen Hand des Herrn Dr. Armin TUle ist es
gelungen, durch die grofee Gefälligkeit des Herrn Ankert in Leitmeritz
eine Reihe recht willkommener Nachrichten zu erhalten.
Danach hat, einem kurzen Referat in den Mitteilungen des Nord-
böhmischen Exkursionsklubs (IV, 127) zufolge, Oberlehrer Grunert in
der Generalversammlung des Konoyeser Lokalklubs einen Vortrag über
die Rolandsäulen, die uralten Zeichen des einstigen Magdeburger
Rechtes, gehalten. Die Richtung der dortigen Lokalforschung liegt
hierin programmatisch ausgedrückt. Sehen wir, wie es um die monu-
mentalen Stützen derselben im einzelnen bestellt ist.
Als böhmische Rolande werden, von Westen nach Osten fort-
schreitend, links der Elbe, am Südrande des Erzgebirges, im Gebiet
der Eger, genannt Eger, Saatz, Komotau; an der Mündung der
Eger in die Elbe, im „böhmischen Paradies", Leitmeritz; rechts
der Elbe, am Fufse des Riesengebirges, Arn au; südlich von dieser
leicht nach Norden geschwungenen Linie Prag. Saatz und Komotau
dürfen von vornherein ausscheiden. Erstere Stadt betreffend hat der
verstorbene Leitmeritzer Stadtarchivar Professor Dr. W. Katzerowsky
in einer handschriftlichen Notiz lediglich die Frage aufgeworfen, ob
die dortige Brunnensäule in der Nähe des Rathauses nicht als Ge-
richtssäule anzusehen sei, die zur Erinnerung an die der Stadt von
König Ottokar 1266 verliehene freie Gerichtsbarkeit errichtet wurde;
ein Roland in Komotau wird kurz in der Leipziger Ulustrierten Zeitung
(1902, Juli 23. Briefwechsel mit Allen für Alle) erwähnt; Herr Ankert
weifs nur anzugeben, dafs dort noch heute eine Anhöhe „Roland-
höhe" heifse. Für Eger liegt eine recht fleifeige Arbeit von J.Trötscher
vor [Das Brunnenstandbild auf dem oberen Marktplatze, mit zwei
Abbildungen, Egerer Jahrbuch, Kalender für das Egerland und seine
Freunde, XXIV. Jahrgang 1894). Nach dem städtischen Ausgabebuche
zum Jahre 1528 und der Krieglsteinischen Chronik zum Jahre 1529
— 167 —
fert^e Mathes Maler auf dem Röhrkasten des Marktbrunnens einen
,,hölzemen Mann**, der, weil er am Martini-Abend aufgestellt wurde und
dem alten Barth Tischer (Tischler) ähnelte, den Spitznamen „Marti
Barth Tischer** erhielt. Am 4. August 1581 erbot sich der Bildhauer
Wolf Hampf (Henf, aus Helberg) , für den steinernen Röhrkasten ein
gewapneUs streitpares mannsbüd zu fertigen, der ganzen gemeinen
Stadt zur ehr, ihm selbst zum rühm. Laut Ratsprotokoll vom 14. Sep-
tember 1584 erhielt der Künstler für Anfertigung des steinernen Ro-
land vom Röhrkasten ein Geschenk; nach einer Notiz des Gerichts-
herm Andr. Baier (Gradl , Chroniken der Stadt Eger , S. 900) wurde
der von Meister Wolf gemachte steinerne mann am 29. Juli 1591 auf
den steinernen Röhrkasten gesetzt. Die 1,84 Meter hohe Figur zeigt
einen Gehamischten in der Rüstung des ausgehenden XVI. Jahrhunderts,
barhäuptig, mit Vollbart, in der Rechten eine Lanze (an der eine Fahne
befestigt gewesen) haltend, mit der Linken sich auf den Wappenschild
der Stadt Eger stützend, dessen Ende auf einem Löwen ruht. Neben
den rechten Fufe ist die 0,47 Meter hohe Figur Davids mit dem
Haupt des Goliath angebracht. Am Sockel befindet sich die Jahres-
zahl der Errichtung der ersten hölzernen Figur, 1528. Im Volksmunde
hei&t das Standbild der Brunnen-Wastl. Trötscher kommt selbst
zu dem Resultat, dafs dasselbe mit dem herkömmlichen Typus der
Rolande (welche „Wahrzeichen der städtischen Gerichts- und Märkt-
freiheit sind ") nichts gemein hat, insbesondere erscheint ihm statt des
blanken Schwertes der Spiefs mit Banner auffallig. Er meint indessen :
„was sonst das Schwert anzeigt, nämlich die Gerichtsbarkeit über Leben
und Tod oder den Blutbann, das deutet die gleichsam zum Ersatz an-
gebrachte kleine Figur mit dem Schwert in der einen tmd dem ab-
geschlagenen Haupte in der anderen Hand an. Wir haben also in
dem bewaffneten aufrecht stehenden Manne mit unbedecktem Haupte,
mit Hambch und Beinschienen, immerhin eine Art Roland, der
zugleich Wappenhalter ist, vor uns. Es ist eine eigenartige
Gestaltung der Rolandsäule , die ein Egerer Meister des XVL Jahr-
hunderts seiner Zeit angepafst hat." Dafs für die Geschichte der
stadtischen Rolande diese Brunnenfigur mit dem Davidfigürchen , ob-
wohl der Rat sie einmal im XVL Jahrhundert per analogiam Roland
nemit, belanglos ist, bedarf keiner weiteren Ausführung.
Über den Roland zu Leitmeritz befindet sich ein Aufsatz mit
Abbildung in dem „Jahrbuch Comoto via" (Komotau 1877, S. 108 — iio),
der mir nicht erreichbar gewesen ist. Herr Ankert beschreibt das
Bildwerk wie folgt: „Am nördlichen Strebepfeiler des Rathauses, am
— 168 —
Ringplatze, steht der Leitmeritzer Roland. Es ist dies ein kleiner, in
einen Kettenpanzer gekleideter, also geharnischter Mann (aus Stein)
mit einer Kettenhaube. In dieser knapp anliegenden Tracht sieht er
fast nackt aus. Die Linke stützt sich auf einen (neueren) Schild, welcher
als Wappenbild eine Geldbörse zeigt. Die Rechte trägt eine Steinkeule
(bis 1854 eine hölzerne). Die Figur steht auf einem hohen, im Re-
naissancestil erbauten Postament, welches Medaillons (Männer und ge*
flügelte Engelsköpfe) und das Leitmeritzer Stadtwappen trägt. Der
Sockel wurde laut Inschrift 1539 erbaut.*' Lippert [Geschichte der
Stadt Leitmeritz, Prag 1871, S. 32) hält diesen „Roland'', welcher
mindestens so alt sei als die südliche gothische Hälfte des Rathauses,
für ein Zeichen des Stapelrechts. Herr Ankert bemerkt dem gegen-
über, dals nach den Aufzeichnungen der Leitmeritzer Ratsschreiber
(Stadtarchiv) 1598 das Elbewasser bis zu dem Hute des Bradacz (am
„alten Markt" an der Elbe) gereicht habe. Bradacz sei = Roland;
es müsse also mindestens damals zwei „Rolande" in Leitmeritz ge-
geben haben. Ein Überrest des Bradacz sei höchstwahrscheinlich
der verstümmelte Steinkopf in der Ufermauer der Mühlinsel nächst der
groisen Elbebrücke. Dem ist wieder entgegenzuhalten, dafs Brada£:
Grofsbart heilst, imd dafs diesen Namen auch eines der ältesten
Wahrzeichen der Altstadt-Prag führt, ein in Stein gehauenes altes
bärtiges Männerantlitz an der Außenseite des Bogens, welcher den
kleinen Platz neben dem Altstädter Brückenturm, auf welchem die neue
Statue Karls IV. steht, gegen die Moldau stützt ^).
Also auch hier wieder der Wunsch der Vater des Gedankens.
Der „Roland" am Leitmeritzer Rathause ist ein HerkulesbUd, wie es,
auf einen Schild mit Stadtwappen sich stützend, 1728 an der Rathaus-
treppe und in einer NachbUdung von 1738 auf dem unteren Markt-
brunnen zu Eger aufgestellt wurde, um als „wUder Mann" für einen
„rätselhaften deutschen Heldenkönig Aleman" erklärt zu werden (Prökl,
Eger und das Egerland I, 491). Herkulesdarstellungen, auch in Zu-
sammenstellung mit dem Roland des Stadt -Mythus oder der karo-
lingischen Heldensage, scheint die städtische Kunst früherer Zeit ge-
schätzt zu haben. Wir sahen eine solche am alten Junkerhofe in
Königsberg (Ostpreufsen) ; am Sockel des Perleberger Rolands sind
Relieis aus der Herkulesmythe angebracht (AbbUdung bei L. Schneider,
Der Roland von Berlin, „Berliner Denkmäler", Tafel 4, S. 18); auch
Berlin wird nächstens seinen Herkulesbrunnen erhalten.
i) Die OsteiTeich.-Ungar. Monarchie in Wort aod Bild. „Böhmen.*' i. Abt. S. 201
(J. A. Frb. V. Helfer t, Die alU KönigssUdt Prag).
— 169 —
Zu Arnau befinden sich am Rathausturtn, iS^^ über der Erde,
xwei 17 N^ hohe bärtige Steinriesen, Wahrzeichen der Stadt, in Panzer
und Helm barock-römischen Kostüms, Arbeiten des XVIII. Jahrhunderts.
„Sie scheinen Nachbildungen älterer Rolandsbilder zu sein'* '). Nach
der vorliegenden flüchtigen Zeichnung stützt sich die eine Figur mit
der Linken auf einen Schild mit Löwenwappen imd hält in der Rechten
ein mit der Spitze nach unten gekehrtes Schwert ; die andere stützt sich
mit der Rechten auf einen Adlerschild; was ihre Linke hält, ist nicht
zu erkennen. Im Archäologischen Wörterbuch von Müller und Mothes
(Stichwort „Roland **) ist von einem „gemalten" Roland zu Aman die Rede»
Den Beschlu(s macht Prag, wo seit C. Heideloff*) ein Bildwerk
an der Moldaubrücke für einen Roland angesprochen wird. Dieses
„Freistandbild der Spätgothik, derzeit gänzlich durch eine moderne
Nachbildung ersetzt", erhebt sich auf dem Vorhaupte des Brücken-
pfeflers auf der Insel Campa. In seiner jetzigen Gestalt zeigt es auf
reich ornamentiertem Sockel einen jugendlichen Mann in kanelliertem
Plattenhamisch mit Helm, in der Rechten das blofise Schwert aufrecht
tragend. Nicht sein Schild zeigt das Stadtwappen, sondern der Ritter
dient dem mächtigen Wappen der Stadt als Stütze, als Wappen-
halter. Das ist seine ganze formale Bedeutung, wenn er auch „heute
als Rolandsäule, als altes Symbol der Stapelgerechtigkeit be-
trachtet und vom Volke alsBrunzliksäule bezeichnet wird, die dem
Andenken eines sagenhaften Beherrschers Böhmens gelten soll*' ^).
Den sog. Rolanden zu Eger und Aman legt, soweit ersichtlich,
1) Mitteilnngen der K. K. Zentralkommission f. ErforschaDg u. Erhaltimg d. Bau-
denkmale XV, 1870, S. LXIV. Danach besprochen in meiner Abhandlmig von 1890.
2) Die Ornamentik des Mtiielalters , Nürnberg 1847, ^ (?); ^ßl- ^öpfl S. 309.
Aach B. Graeber, Die Kunst des Mittelalters in Böhmen IV, 1879, S. 133 sagt, dafs
d» Prager Bildwerk ein Zeichen der Marktfreiheit, mithin eine sog. „ Rolandsäule *' seL
Heidelofis imd Gmebers genannte Werke sind auf den Bibliotheken meines Wohnorts nicht
vorhanden. Ersterer ist ein eifriger Rolandfinder gewesen; einen angeblichen Roland zu
Heilbronn unter einem Tabernakel hat ZöpfL S. 308 ihm zweifelnd entlehnt; ans
Drexels Aufsatz über den Brunnen auf dem Fischmarkt zu Regensburg (1900, S. 16
des Sep.-Abdr.) entnehme ich, dafs es sich um zwei gerüstete behelmte Schildhalter auf
der Freitreppe des Heilbronner Rathauses handelte. Demselben Gewährsmann zufolge
behauptet Heideloff, dafs eine einfache Rolandsäule (ohne Standbild) im Kreuzgange des
Domes zu Regensburg aufbewahrt werde. Niemand dort kennt sie. Über die sog.
Predigtsanle vor dem St. Peterstore daselbst als angebliche Nachfolgerin einer Irmensänle
«{L die Bemerknngen a. a. O.
3) Berühmte Kunstitätten Nr. 8. Prag, von Jos. Neuwirth (Leipzig u. Berlin 1901,)
S.80. 81, Abb. S. 75. Die Mitteilungen v.Helferts in: Die Österreich.-Ungar. Monarchie etc.
(s. oben), S. 201, sind unerheblich.
— 170 —
die Lokaltradition keine besondere stadtrechtliche Bedeutung^ bei; die
zu Leitmeritz und Prag und der angeblich einst in Komotau vorhandene
werden in der neueren Literatur Wahrzeichen des Stapelrechts genannt
Ob diese Auffassung schon in älterer Zeit sich findet, oder das Produkt
modemer Gelehrsamkeit ist, würde die Lokalforschung zu ermitteln
haben. Aber auch im ersteren Falle würde es sich nur um eine ten-
denziöse Deutung bereits vorhandener Bildwerke handeln. Dasselbe
war der Fall bei den Stapelrechts - Streitigkeiten Magdeburgs mit den
Herzogen von Braunschweig-Lüneburg 1569, mit Hamburg 1609, mit
Kursachsen 1658. Bei der Bedeutung des Magdeburgischen Rechts
für die deutsch- böhmischen Stadtgemeinden lag es nahe, auf dieses
redende Beispiel zurückzugreifen.
Zum Schlufs sei noch der sog. Rolande zu Bartfeld (ungarisch
Bartfa) *) in Nord-Ungarn an der galizischen Grenze, und zu Hermann-
stadt (ungarisch Nagy-Szeben) in Siebenbürgen, nördlich vom Roten-
Tor-Pafs, gedacht, von denen L. Götze {Urkundliche Geschichte der
Stadt Stendal, 1873, S. 307 Anm.) nach Photographie resp. Zeichnung
genügende Beschreibungen gegeben hat. In der Rolandgeschichte ist
kein Platz für dieselben, ebensowenig wie für die sog. Rolande in
Niederösterreich *), Tyrol •), Schweiz *), Holland ^) und die angeblichen
Rolande Mittel-, Süd- und Westdeutschlands, welche aufzuzählen zwecklos
ist. Dafür möge als erheiternder Epilogus eine gelehrte Zeitungs-
notiz (Berliner Tageblatt 1902, Nr. 446, 3. September) folgen, welche
zeigt, wie das Hifthorn des neuen Berliner Roland, gleich dem Oberons,
seine sinnverwirrende Kraft schon auszuüben beginnt. Nachdem eine
Korrespondenz des Mailänder Corriere dellasera mitgeteilt, nach welcher
König Viktor Emanuel die Begrüfeungsrede des Oberbürgermeisters
von Berlin nicht verstanden habe, wcU derselbe „zu stark berlinisch"
gesprochen, wird wörtlich fortgefahren: „Interessant ist noch eine
andere Mitteilung, die ein italienischer Korrespondent anläislich der
Berliner Festtage an sein Blatt schrieb. Sie lautet: , In der Siegesallee
ist vor wenigen Tagen das Rolanddenkmal enthüllt worden. Dieser
i) In meinem „Roland zu Bremen'' S. 48. steht infolge eines Drnckfehlers :
Gr. Bortfeld.
2) Drosendorf, Grafendorf (Alt- ?, Ober- ?), Hollenburg, Stierndorf (?),
s. Mitteilungen der K. K. Zentralkommission etc. X (1884), S. CLX; Mitteilungen des
Altertnmsvereins £u Wien XX, 96. 129. Zöpfl S. 311.
3) Hall, Marmorfigur von 1522, Mitteilung des Herrn Oberpfarrer Wemicke-Loborg.
4) Weite, Kanton St. GaUen, s. Ed. Zetsche in Leipz. iUustr. Zeitung 1895,
Nr. 2772, S. 199.
5) Amsterdam, s. Götze a. a. O. S. 307.
— 171 —
Roland ist eine halb legendäre Figur aus jener Zeit, in der die Mark
Brandenburg von den Wenden überflutet war und Polen sich ge-
wöhnt hatte, sie als ein polnisches Lehen zu betrachten. Roland hat
dem kräftig entgegengewirkt und so ist sein Denkmal die symbolische
Antwort des Kaisers und Deutschlands auf die polnische Feier der
Sdilacht von Tannenbeig!' Wenn wir es von dem Italiener auch
nicht verlangen können, dafs er in die Geheimnisse der deutschen
Dialekte und Dialektanklänge eingeweiht ist — wer Orlando war,
sollte der Landsmann Ariostos doch wissen/'
Nachwort
Die in der Überschrift S. 113 am Schlufs angekündigte iVa^A/^j^,
auf die auch im Laufe der Darstellung mehrfach verwiesen wurde, hat
einen Umfang angenommen, dafs im gegenwärtigen Augenblicke von
ihrer Veröflentlichung abgesehen werden mufs. Sie wird jedoch zur
gi^benen Zeit folgen ; damit soll aber dann auch endgiltig das Thema
der Rolande für diese Zeitschrift abgetan sein.
(Reform des inreltliehen Standes nach
der sogen. (Reformation des Kaisers Sig^*
mund im Iiiehte der gleichzeitigen (Reform^
Bestrebungen im t^eieh und in den Städten
Von
Heinrich Werner (Merzig)
Mit meinen früheren Arbeiten über die sogen. Reformation des
Kaisers Sigmund *) glaube ich die von dem Abte Trithemius erweckte
und bereits traditionell gewordene Annahme, wonach der Verfasser der
genannten Reformschrift hussita potins quam christiantis *) gewesen sei,
endgültig widerlegt zu haben. Voraussetzung für die richtige Beurtei-
i) In der Historischen Vierte^jahrsschrifl, 5. Bd. S. 467 ff. und in den Deutsefien
OttdMUsUättem, IV. Bd. S. 1 — 14 and S. 43 -55-
2) Aschbach, Geschichte Kaiser Sigmunds. 4. Bd. S. 425. Anm. 6. In neuerer
Zeit hat man sogar einen „ ursprünglichen Entwurf" der Schrift konstruiert, der womög-
lich „noch viel schärfer formuliert und von hussitischem Geiste durchtränkt war". Vgl.
Heinrich Boos, Geschichte der rheinischen Städtehdttir. 2. Bd. (1897) S. 455.
— 172 —
lung der Reformforderungen über den geistlichen Stand im ersten
Teile der Schrift, und für die Auffindung der Quellen dazu war die
Lösung der Frage nach dem Verfasser: dies war um so wichtiger,
als einzelne Gedanken von verblüffender Eigenart sind und leicht zu
einer falschen Beleuchtung verleiten konnten.
Die Erkenntnis, wer der Verfasser ist, wird durch seine Forderungen
in Bezug auf eine Reform des weltlichen Standes durchaus ge-
stützt. Dafs dieser Teil desselben Ursprungs ist wie der erste und
mit diesem organisch zusammenhängt, ist aus denselben charakte-
ristischen Wendungen zu ersehen, in denen sich der Verfasser als
Stadtbürger und Stadtschreiber verrät, ganz abgesehen von der in der
Einleitung angegebenen und dann oft wiederholten Disposition der
ganzen Schrift. Der Verfasser will nämlich sprechen von den beiden
gröfsten gepresten: an den geistlichen liegt große Simonie und an den
welÜichen liegt der gaitz (= avaritia) *). Auch dem ersten Beurteiler
der Schrift, Wolfgang Aytinger lagen schon bei der Abfassung
seines Methodiuskommentars vom Jahre 1496 beide Teile zusammen
vor: er redet mit grofsem Lob von dem darin gemachten Versuch
totum ecclesiasticum staium et saectdarem zu reformieren. Für einen
und denselben Verfasser sprechen deutlich eine Reihe von charakte-
ristischen Erörterungen, die sich in beiden Teilen wiederholen. So
führt die im ersten Teil durchgeführte Scheidung des Geistlichen vom
Weltlichen zu der im zweiten Teile gestellten Forderung, den Geist-
lichen und Ordensleuten das Zollregal zu entziehen ^) zu Gunsten der
Reichsstädte und zu dem prinzipiellen Satz: es soll sich alleweg sehet-
den das geistlich vom weltlich. Der einheitliche Geist der ganzen
Schrift wird auch erkannt in der übereinstimmenden Erklärung der
Zünfte im zweiten und der Orden im ersten Teil, die beide eine parcia-
litas seien und der Gemeinsamkeit widersprächen. Ebenso wiederholt
sich der Verfasser im ersten und zweiten Teil über die Insiegel und
Instrument. ^). Ferner stimmt das Kapitel von den Insiegeln im zweiten
Teile stellenweise mit den Worten der geistlichen Reformation über-
i) Nach der Ausgabe Boehms S. 162. Auch S. 171. 241. 249 f. wird der Gegen-
satz zwischen dem geistlichen und weltlichen Stand als Einteilungsgrnnd angeführt.
2) Vgl. ßoehm 214.
3) Im ersten Teil heifst es hierüber S. 164: sie (die Klöster) sehreiben gen hof,
wir seien rerprunnefi, icir haben krieg y wir seien xer stört und finden Ursache das
alles erlogen ist. Im zweiten Teil drückt sich der Verfasser S. 231 ganz ähnUch ans,
nämlich: ron den instrumenten , die von den klÖstem gen hof geschickt werdetit . . .
da schreiben sie in die insirument ihr klag und ihre gepresten , das eitel lüge sind.
— 173 —
ein: mtm ninrnd auch geU von den insigel, das in aller weit die
wahrheU beseidmet. . . Das eeichen der Wahrheit ist das insigel, das
niemand taufen oder verkauffen soU, das ist offen umcher ^). N^ben
diesen gerade für die Persönlichkeit des Verfassers als eines Stadt-
schreibers charakteristischen Erörterungen, liefsen sich noch andere
glcidilautende anfuhren *). Soviel ist hieraus ersichtlich : Die Schrift
ist von einem Verfasser, aber, was ich gleich zeigen will, nicht aus
einem Gusse.
Der erste Teil ist mit Rücksicht auf die Abhängigkeit der vor-
gebrachten Reformpläne von anderen gleichzeitigen *) und namentlich
durch die scharfe Stellung gegen Simonie und Konkubinat*) den
Jahren 1433 — ^434 zuzuweisen. Der Entwurf zur Reform des
weltlichen Standes ist im Hinblick auf die politische
Aktion der Städte und die prophetische Konstellation*)
1438 entstanden und 1439 als Ganzes hervorgetreten.
Also sind die beiden Jahre 1434 und 1440, zwischen denen Goldast
ursprünglich schwankte, nicht „von vornherein als ganz unmöglich ab-
zulehnen " ^. Auf das Jahr 1440 verfiel Goldast wegen der Notiz,
der Priester Friedrich sei in Basel gewesen: diese bezieht er in einer
Randbemerkung zu seiner Ausgabe unserer Schrift ') auf den nach-
folgenden Kaiser Friedrich.
Aber nicht nur die Abfassimgszeit beider Teile liegt von einander
ab, sondern auch die äufsere Gestaltung beider ist sehr verschieden.
Während sich bei den Reformentwürfen des geistlichen Standes durch-
gehends Ordnung in den Vorschlägen nach einer programmmäfsigen
Unterlage findet, die auf gelehrte Entwürfe zurückgeht, sind im zweiten
Teile Gedanken lose an einander gereiht, die offenbar aus der prak-
tischen Erfahrung erwachsen, von einem durchaus unscholastischem
Geiste vorgetragen werden. Freilich ist die Reform des weltlichen
Standes hier nicht so verkümmert wie bei dem höheren Kleriker, bei
Andreas von Escabor, dem jene ferner lag, aber auch nicht so
i) Ebenda S. 175, vgL daza S. 230 Z. 8 n. 10.
2) So S. 179 Z. 23 a. 24, vgl. zQ S. 227 Kapitel vom rechtsprechen umb eigen
und erb. Vgl. auch die Forderung, die Klöster sollen ganz zerstört werden. S. 222
wnd S. 169.
3) VgL Deutsche Geschichtsblätter, IV. Bd. 2. H. S. 48.
4) VgL Histor. Vierteljahrsschrifl, 5. Bd. S. 475 f.
5) VgL Anhang S. 81 ff. zu meiner Schrift: „Die Flugschrift onus ecclesiae mit
einem Anhang über sozial- und kirchenpolitische Propheten.'* 1901.
6) Boehm S. 97.
7) VgL Statuta et Rescripta, 4. Bd. (17 13) S. 198.
- 174 - .
systematisch behandelt wie die des geistlichen, dafe sie etwa den
Stufen der Würden oder den Reichsständen folgte. Hier fehlten dem
Stadtschreiber eben die Vorlagen von Zunftgelehrten. Er drückt das
auch an zwei Stellen aus; während er in der Einleitung zur Reform
des geistlichen Standes sagt: han ich von hoher meister (Magister)
Weisung , gunst und willen und lehr diese Ordnung gemachet und von
latein zu deutsch^), so spricht er vom zweiten Teile folgendermafsen:
wir thun jsu wissen, dass wir mit hohen wisen diese urhund erläutert
haben *). Hier hört man also nichts mehr von Übersetzung und Ma-
gistern, sondern es wird der Glaube erweckt, als läge eine Urkunde
Sigmunds über die Reform des weltlichen Standes vor, die der Verfasser
mit dem Beirat verständiger Männer erläutert hier vorlegt. So kommen
wir denn zu einer der Hauptfragen, die wir uns im Vorliegenden zu
stellen haben: In welcher Beziehung steht Sigmund zu unserer
Schrift?
Dafs sie als Entwurf irgend einem Reichstag zur Beratung oder
Annahme vorgelegt worden sei ') , hat man schon lange nicht ge-
glaubt. Koehne *) hat untersucht , ob die Forderungen mit den auf
den Reichstagen zu Regensburg und Basel (1434) vorgelegen Artikeln
übereinstimmen und findet, dafs nirgends Beschlüsse oder Vorschläge
von jenen Reichstagen wörtlich übernommen sind. Aber welchen
Eindruck hätte der Verfasser der Reformschrift bei den Städten ge-
macht, hätte er die offiziellen Anträge — zu Beschlüssen kam es auf
beiden Reichstagen gamicht — in der bereits stereotyp gewordenen
Form einfach übernommen? Wie hätte er eine grofse Aktion des
gesamten städtischen Elements durch Proklamierung offizieller Be-
schlüsse, in denen auch die Wünsche der Herren berücksichtigt sind,
gegen die Herren selbst in Szene setzen können? Dazu waren ge-
rade diese beiden Reichstage für die Reichsreform am unfruchtbarsten.
Zuletzt hat sich L. Quid de') über die Reformschrift geäufsert: er
hält sie für eine „private politische Schrift** und deshalb gehöre sie
nicht zu den Reichstagsakten. Soviel Interesse die Schrift auch „für
die Beurteilung der Frage, um die es sich damals bei der Reichs-
reform handelt und für die Auffassung der Bestrebungen, die sich an
Sigmunds Namen knüpfen **, habe , zu einem Wiederabdruck kann
i) Boehm S. 171.
2) Ebenda S. 244.
3) Aschbach a. a. O. 4. Bd. S. 426.
4) Zcitschr. für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 5. Bd. (1897) S. 369—430.
5) Deutsche Reichstagsakten, Bd. XU (1900) S. XLVII.
— 175 —
sich Quidde doch nicht entschliefsen '), da sie „doch in keiner auch
noch so indirekten Weise mit den Verhandlungen irgend eines
bestimmten Reichstages zusammenhängt**. Nach Koehnes Studien
sollte man zu dieser Ansicht neigen. Aber die Schrift wird hier an
einer falschen Seite angefafst: sie ist ja überhaupt an die Öffentlich-
keit getreten, weil die Häupter und gewaltigen sich gegen eine
Reform sperren. Da wird sie doch nicht die häufig gar nicht ernst
{gemeinten Projekte der Fürsten oder die auf Reichstagen gefa&ten
Kompromi&beschlüsse einfach übernehmen! Man hat in ihr nicht
wörtliche Wiedergabe derselben zu suchen, sondern nur Reflexe, die
Nachwirkungen der Vorschläge und Beschlüsse, und zwar hier wieder
nur von solchen, die besonders das innerste Wesen des Städtebürger-
tums, die städtebürgerlichen Freiheiten, berührten. Auch eine flüch-
tige Durchsicht der Reform des weltlichen Standes zeigt überdies so-
fort, dafe viele der vorgebrachten Vorschläge gar nicht vor das Forum
eines Reichstages gehören ; viele Kapitel behandeln Gegenstände rein
städtischer, verwaltungstechnischer Natur, die höchstens auf Städte-
tagen zur Beratung gestellt werden konnten, so die Abschnitte über
^e Zünfte, den Stadtschreiber, die Arztordnung, die städtischen Siegel,
die Kaufmannschaft, die Monopole u. a. Nun wissen wir aber von
rührigen Bestrebungen der Städte im Jahre 1438 auf mehreren Städte-
tagen '), wo besonders über die städtischen Bedürfhisse, die zum Teil
den fürstlichen direkt gegenüberstanden, beraten wurde. Das Neue
hieran ist, dafs die Städte gemeinsam über innere Angelegen-
heiten ratschlagten und zwar, wie es heifst, nach jeglicher Stadt not-
iwrft *). Leider sind wir über die Einzelheiten noch nicht unterrichtet
— und die Heranziehung alles über jene Verhandlungen vorhandenen
Quellenmaterials wäre dringend nötig — , aber unsere Schrift gibt
ohne Zweifel städtische Ansichten über die auf dem Ulmer Städte-
tage gepflogenen Erörterungen über städtische Bedürfnisse wieder. Schei-
den wir nun diese rein städtischen Fragen aus, so bleibt uns noch
i) Ein Wiederabdruck von bewährter Haod hätte besonders den zweiten Teil ganr
andefB als er bei Boehm vorliegt, anordnen müssen. So mnfs S. 202 Z. 4 nach
ngeordoet ist*' weitergefahren werden mit „darumb wa sich des gemeinen volks** auf
S. 208 Z. 1 7. — S. 209 Z, 8 „ rechte totsünd <'. Anfserdem gehört an S. 208 Z. 8 :.
S. 209 Z. 9 — 13. An S. 208 Z. 17 gehört S. 211 Z. 29 bis S. 212 Z. 4. Zu S. 218-
^ 23 gehört S. 220 Z. 15 hw S. 221. Z. 22.
2) Namentlich ra Ulm and Konstanz. Vgl. Janssen, Frankfurts Reickskorre"
Mpondenx, L Bd. (1863) No. 810 und No. 824.
3) Jaosten a. a. O. No. 810 art. 3.
— 176 —
der Teil über die Reichsreform übrig, der allein zu Reformtätigkeit
Sigmunds in Beziehung stehen könnte.
Zu der Reform des städtischen Wesens gehört vor allem das
Kapitel von den Zöllen *). Das Zollwesen hat, soweit wir sehen, bei
den Reichstagen Sigmunds nicht auf der Tagesordnung gestanden,
wohl aber wissen wir, dafe auf dem Städtetag zu Ulm auf den An-
trag Nürnbergs auch über den Zoll *) geratschlagt wurde. Ob wir in
unserer Schrift eine dort vorgetragene Meinung vor uns haben, läfst
sich bis jetzt nicht entscheiden: es mufe genügen, an dieser Stelle
auf einen naheliegenden Zusammenhang hingewiesen zu haben! Der
Klage von der Übersetzung aller Länder und Städte mit Zöllen folgt
über die Abstellung dieses Mifsstandes ein Vorschlag, der sich auf
eine genetische Erörterung über den Ursprung des Zolles stützt.
Diese Art des Zurückgehens auf die Urgeschichte von Orten und
Einrichtungen mich alten Chroniken ') ist ein deutliches Kennzeichen
für den in dem damals sich bildenden Augsburger Humanistenkreis *)
herrschenden Geist. Auch seine Ausführungen im einzelnen lassen
die persönlichen Züge des Verfassers als eines Reichsstädters scharf
hervortreten. Kaiser und Päpste haben nämlich zuerst der gemeinen
wdt SU hilf und nutz den Zoll erlaubt. Dem Reich allein gehören
die Zölle, die Herren haben sie nur lehensweise inne ; Priester, Ordens-
leute, Ritter, Knechte sollen nickt zoll geben (d. h. verleihen). Die
Städte dürfen Zoll erheben, wenn die schwere der wege ihn notwendig
macht — denn nur zum Wegbau ist er erlaubt — , halten ihn aber
die Geistlichen, so soll man denselben nehmen, und die Stadt als
Vertreterin des Reichs^) soll ihn an sich reifsen. Zum Schlufs
fügt der Verfasser einen offenbar städtischen Vorschlag zu einer Weg-
ordnung hinzu, über den wohl auf dem Ulmer Städtetag beraten
wurde: Es soll danach jede Stadt zwei Wegebeschauer wählen, die
für Bau und Instandhaltung der Wege zu sorgen haben. Naiv klingt
i) Boehm, S. 212 f.
2) VgL Janssen a. a. O. No. 810 arL 3.
3) Boehm, S. 215: also findet man es lauter in den alten Chroniken,
4) Vgl. Joachimsohn, Anfange der humanistischen Oeschichtschreibung,
1. Heft Sigmund Meisterlin, S. 12. Da man diesen Zusammenhang seither nicht be-
achtete, so nannte man die Ausführungen des Verfassers „ganz wunderliche Ansichten
über die Rechtsverhältnisse und die historische Eotwickelung der Reichsverfassnng", die
natürlich „im Wesen des Radikalismus begründet'^ sein sollen. Vgl. dazu H. Boos,
Geschichte der rheinischen Städtekultur von ihren Anfängen bis xur Otgenwart mit
besonderer Berücksichtigung der Stadt Worms. II. Bd. (1897) S. 447.
5) Vgl. Boehm, S. 214 Z. 27 u. 28.
— 177 —
uns die Begründung" zu dem Vorschlag, die Unzuchtgelder für den
Wegbau zu verwenden: so wirf das sündig geU zu gutem bracJU und
«M die sünd vertreten ^).
Zu der städtischen Reform gehört auch das Kapitel von den
emflen in den stetten ^). Hier ist der Gedankengang ähnlich dem bei
der Kritik der Orden; die Zunft wird auch eine parcialiUis genannt,
beide sind sehr gewaltig geworden •) Wie ein aus einem Orden ge-
wählter kirchlicher Würdenträger nur das Interesse seines Ordens
durch leichtfertiges Dispensieren im Auge hat, so halten die Mitglieder
einer Zunft zusammen *) und eine Zunft hüft wieder der anderen *).
Die 2^nfte machen Gesetze, bringen ihre Mitglieder in den Rat und
betrügen die Gemeinde durch Verabredung von Lieferungen schlechter
Waren unter Aufrechterhaltung eines hohen Preises; dazu mufs man
die Zünfte noch gröblich kaufen. Deshalb sollen sie abgeschafft wer-
den, denn sie widersprechen einer rechten gemeinsamkeit , wie sie in
einer Stadt herrschen soll. Wenn nämlich in einer Stadt alle dinge
gemein wären, herren und jedermann wären ihnen auch gemein, d. h.
sie würden Städter werden. Es ist alles in der Stadt Übersetzt, und
itnd herm und landleut darumb den Städten gram. Laß man es in
gemeinsam kommen, es soU sicher niemand gereuen. Denn dann aufjfeten
{= vergröfsem) sich die städt großeMich. Dieses stolze politische
Bewufistsein, sowie den Zusammenhang dieser Worte mit dem ganzen
Programm hat man bis jettt ganz übersehen : Der Verfasser glaubt
durch Abschaffung der Zünfte und des hohen Eintrittsgeldes zu den-
selben, der Verallgemeinerung städtischen Wesens *), das ist aber der
städtischen Freiheit, bei Herren und Landleuten Vorschub
i) Boehm, S. 216.
2) Ebenda S. 216.
3) Vgl : Die kWster haben das erdreich innc.
4) Wirt einer erzürnet in einer 'xunftj so ist die ganxe zunfl erxiimet. S. 217.
5) So hilft dick eine xunfl der anderen ^ als ob ich spräche: hilf mir, ich
kdfedir.
6) Dieser Gedanke der „Geroeinsamkeit'' unter allen Ständen wird wiederholt ans-
Sesprochen, so auch noch S. 233: nun ist auch xu gedenken die allemtäxest ord-
nmtg umb fried und rechte gemainsami xehaben unter herren und stetten und auf
dem Umd, Diese Forderung der „Gemeinsamkeit'' hat man irrtümlich als Proklamiemnj^
^ „Gleichheit" hingestellt. Vgl. H. Boos a. a. O. S. 446 u. 451. Und zwar wolle
«ucr RcTolotiooär mit der Abschaffung der Zünfte die „ Demokratisierung der Gemeinde ".
Aber unser Verfasser will gar nicht die Zünfte ausschliefslich deshalb abgeschafft wissen,
«tfl sie „die armen Leute" durch Erhebung eines hohen Eintrittsgeldes vom Beitritt
atsschliefscn , sondern es sind auch die Herren bei diesem Vorschlag berücksichtigt.
Dvrch die Abschaffung der Zünfte und die Erleichterung der Bürgeraufnahme durch Herab-
13
— 178 —
7M leisten. Diese Ausbreitung der städtischen „Gemeinsamkeit'' soll
aicb, wie unten noch gezeigt wird, von innen nach aulsen vollziehen
durch Proklamierung der städtischen Freiheit für alle feudal Ab-
hängigen und von aufsen nach innen durch Verleihung des Bürger-
rechts an alle Aufsbürger. Den Zusammenhang seines Reformvor-
schlags zur ganzen Ordnung stellt der Verfasser auch selbst her:
Dieser rat ist gut und wiU euch sagen, wie; wenn diese Ordnung ge^
halien muß werden, so sucht es sich im rechten selber, daß es nicht
bestehen mag. Bei der Durchfuhrung dieser Reform also, die, wie
wir sehen werden, hauptsächlich die städtische Freiheit zur All-
gemeinheit erheben will, wird es den rechten Weg von selbst nehmen»
nämlich über die Zünfte hinweg.
Der stimmungsvolle Bericht über den Terrorismus der Zünfte er-
innert lebhaft an Augsburg, das ja alle seine Bewohner in eine poli-
tische Zunft aufnahm und das im Gegensatz zu dem patrizischen
und oligarchischen Nürnberg als besonders „zünftisch'' ') bezeichnet
wird. Wie aktuell übrigens damals das demokratische Treiben in den
schwäbischen Städten war, zeigt uns auch eine Urkunde Sig^munds^
welche dieser nach seinem Aufenthalt in Augsburg (vom 3. bis 12. Sep-
tember 143 1)*) auf seiner Reise nach Basel in Feldkirch am 19. Sep-
tember 143 1 zeichnete. Dieser fiir die Städte bedeutungsvolle Erlais
ist gerichtet besonders an die Vereinigung von Ulm und des oberen
Bundes, also auch an Augsburg, das ihn aber erst am 17. Dezember
erhält. Darin heifst es: uns ist fürkommen von guter unterweisunge,
wie etlich in den städten bei euch, beide Zunftmeister und ander in den
Zünften besonder samenunge hohen und heimlich gesprech und rete fiir
sich nehmen ohne wissen und befehJnus eines rechten rats, das uns so-
viel dester mehr wider und wißfeUig ist, so wir verstehen und eigentlich
merkefi, daß denselben unsem stetten kein nutz noch ehr sunder gans
Unordnung, Zwietracht und Verderbnisse daraus entstehen als sich dann
in Konstanz *') ... und viel anderen stetten leider wohl beweist hat, was
aus solchen Sonderheiten und heimlichen gesprechen und reten entstanden
ist. Der Kaiser hofft, dafs er nach seiner Rückkehr aus den welschen
setxong der Gebühren soll nur diejenige Gemeinsamkeit gefördert werden, die darin be-
steht, dafs möglichst viele der städtischen freiheü teilhaftig werden.
1) Joachimsohn, Die humanistische Oesehiehtsschreibimg y i. Heft (1895)
S. 152.
2) Vgl. Reiehsiagsakteny IX. Bd. No. 467 Anm. i.
3) VgL Aschbach, 3. Bd. S. 355. In Konstanz setzte Sigismand Dezember 1430-
die dorch die Zünfte vertriebenen Geschlechter wieder in ihre Rechte ein.
— 179 —
Landen die Städte noch in gtäem toesen finden und kinfiir sktiglick
Ane aOs neuigkeit behauen werde.
Auch BurchardZink') klagt über ähnliche demokratische Aus-
artungen in AugsburgTinter etwas fortgeschritteneren sozialen Verhält-
nissen: es sind dock erschrecklich ding, daß die minderweisen und die
armen die reichen regieren tvoUen, also sieht es noch und toeiß niemand,
wbä es bleiben mag. dcis gsmein volk will nU ungeU geben und wiU
große Steuer auf die reichen setsen. Damit werden die reichen als arm.
Der Verfasser unserer Reformschrift schreibt offenbar aus diesem
Milieu heraus, aber sein Bericht ist nur als persönlicher Ratschlag*
anzusehen, was er ausdrücklich betont: Dieser rai ist gut und wiU
ich euch sagen, wie.
Ejnen unbedingt städtischen Charakter haben die nun folgenden
Kapitel von dem Handel und Gewerbe. Hierher gehört zunächst das
Kapitel: daß jeder sein handwerh und gewerbe treiben soll^). Jeder
soll nur ein Handwerk ausüben und zwar nach kaiserlichem
Rechte, denn so mag sich jeder ernähren; bei der kaiserlichen
Ungnade und einer Strafe von 40 Mark Goldes soll die Ausübung
mehrerer Gewerbe durch eine Hand verboten sein. „Reiser will",
80 unterschiebt Boos (S. 452), „dafs keiner mehr verdiene als er zum
Leben nötig hat." Wenn der Verfasser sich so ausgedrückt hätte,
läge darin allerdings eine „sozialistische Tendenz". Doch der Ver-
fasser fordert nur Gelegenheit des Erwerbs für alle, die ihm ge-
acherter erscheint, wenn einer nur ein Gewerbe treibt. Über die
Höhe des Erwerbs aus einem Gewerbe sehen wir nirgends eine
Forderung. Das nächste Kapitel von der kaufleut Ordnung ^) versetzt
ans lebhaft in den schon damals fast international gewordenen Güter-
austausch. Gerügt wird vor allem die übliche Preisverabredung zwi-
schen den Kaufherren, die auf eine Hochhaltung der Preise abzielt;
die Kaufleute seien dick eins, es sei ^u Venedig oder anderswo, sodafs
man den Preis der Spezereien zu Wien *) weifs , wie mans hie kauft.
Dagegen sei folgendermafsen aufzukommen : In jedem Hafen soll alle
Kaufmannsware bei ihrer Ankunft aus den fernen Ländern mit dem
Insiegel des römischen Reichs versiegelt und damit der Einkaufs-
preis der Ware verbrieft werden. Dann sollen alle Waren ans Land
gebracht und in ein gemeinsames Kaufhaus übergeführt werden, wo
i) Vgl Städtecbronikcn, V. Bd. Angsbnrg. II. Bd. S. 121.
2) BoehiD S. 21S.
3) S. 220.
4) Au Wien erhielt ja Valenün Eber Nachrichten und Papiere.
13*
— 180 —
ein Oberster in einer Stadt mit zwei oder drei aus dem Rat den Brief
liest, und dann soll vom Tage der oben genannten Verbriefung für
jeden folgenden Tag der Warenführung 8 Schilling 4 Pf. als Verdienst
pro 100 Gulden Warenwert auf den verbrieften Einkaufspreis der
Ware geschlagen werden. So sozialistisch dieser interessante Vor-
schlag klingt, so ist er dennoch aus dem Geiste des mittelalterlichen
städtebürgerlichen Sozialismus entsprungen; eine ähnliche Festlegung
des Preises namentlich von Handwerkserzeugnissen wurde schon durch
die Zünfte ausgeführt.
Unmittelbar hierher gehört auch das Kapitel vom furkauffen >).
Das Vorkaufen oder Autkaufen — bekanntlich dem ganzen Mittel-
alter, das den möglichst direkten Verkehr zwischen Produzent und
Konsument mit Ausschaltung des berufsmäfeigen Händlers für Landes-
ware wünscht, ein Greuel — fände, so heifst es, gern bei partiell
schlechten Ernten statt ^). Deshalb soll in jeder Reichsstadt von jedem
Handwerk ein weiser mann d. h. ein Sachverständiger gewählt wer-
den; diese sollen einen Überschlag über Korn- und Weinertrag in
einem Jahre machen und danach den Preis bestimmen, wie auch für
jedes Handwerksprodukt einen Lohn festsetzen *).
Das Kapitel von den großen gesellschafien fuhrt uns unmittelbar
zu einer bestimmten Einrichtung und Örtlichkeit. Die grofsen Handels-
kompagnien, die sich einander helfen, damit sie nicht verlieren, soUen
ab sein; weder Bürger, noch Reichsstädte noch Adlige sollen ein
solches Bündnis eingehen bei der Ungnade des Reichs. Offenbar
hat der Verfasser die große geseUschaft von Ravensburg, wie sie sich
selbst nannte, oder die compagnia grande, wie sie in Mailand hiefs *),
vor Augen. Als seit 1419 das Geschlecht der Huntpifs die leitende
Macht der Kaufmannschaft wurde, verbreitete sie sich nicht nur über
die schwäbischen Städte Memmingen , Ulm , Konstanz *) und die
1) S 234.
2) Vgl. Reichstagsakten, XU. Bd. S. 48. In einem Schreiben Ravensburgs an Ulm
steht die Notiz: von des fleisches und pfragnens wegen derer , die das vteh kaufen
auf gewinn.
3) Boos sagt a. a. O. S. 453 darüber: „Diese Wünsche entsprechen vöUig den
im Mittelalter herrschenden Ansichten ^\ was insofern nicht richtig ist, als hier nicht für
eine bestimmte Stadt, sondern für eine ganze Landschaft, ja womöglich das ganze
Reich ein einziger Preis festgesetzt werden soll.
4) Vgl. W. Heyd, Die große Ravensburger Oesellscha ft {StutigBri 1890).
5) Vgl. W. Heyd, S. 12- f. Hier wurde sogar während der Zunftaufstände am
1425 — 1429 dasselbe beschlossen, was unser Verfasser fordert, nämlich die Handels-
gesellschaften abzuschaffen. Vgl. Schulte, Geschichte des mittelalterliehen Handels
und Verkehrs zwischen Westdeutschland und Balien, i. Bd., S. 608.
— 181 —
Schweiz, sondern auch bis nach Mailand und nach Barcelona ^). Mit
den Ulmer Kauthäusern bestand eine enge Geschäftsverbindung, aber
in den gröfeeren Handelsstädten, Augsburg und Nürnberg, machte
sich das Bedürfnis eines Anschlusses an eine fremde Handelsgesell-
schaft weit weniger fühlbar *). Das dürfte der Grund sein, warum über
die grofse Gesellschaft ziemlich kurz hinweggegangen wird.
Während der erste Teil des Kapitels : von zmng und benne nach
kaiserlichen rechten *) zur Reichsreform gehört, weist der zweite Teil ohne
Zweifel auf die Beziehungen zwischen Stadt und Land hin. Es wird hier
von den Bannrechten an Holz, Flur und Wasser auf dem Lande, die
sämtlich als der Abschaffung würdig erscheinen, gehandelt. Auffallend
ist dabei, dafs die Forderung in kein Verhältnis zu der grofsen so-
zialen Erregung unter den Bauern um diese Zeit, nämlich zu der im
Jahre 143 1, gebracht ist. Das Landvolk um Worms hatte nämlich
im Jahre 143 1 das früheste Vorspiel des grofsen Bauernkrieges*)
jf^eben, indem es mit bewaffneter- Hand die Auslieferung der Juden
forderte. Das erregte grofsen Schrecken bei allen Städten *) , sodafs
man in dieser Angelegenheit einen allgemeinen Städtetag plante:
die elsässischen und mittelrheinischen Städte luden auch Nürnberg
und Augsburg am 22. Januar 1432 dazu ein. Die Städte betonten,
dafe die Bewegung nicht nur gegen die Juden, sondern gegen jede
Ehrbarkeit, geistlich und weltlich, gerichtet sei; es sei geradezu eine
Lebensfrage für alle Reichsstädte, auf Mittel zur Abwehr und Dämpfung
zu sinnen. Der Aufstand war also nicht lokaler Natur, aber trotzdem
finden sich keine Beziehungen darauf in der sogenannten Reformation :
nur die Abschaffung der Bannrechte wie der Leibeigenschaft über-
haupt wird aus dem freien städtebürgerlichen Bewufstsein heraus ge-
fordert. Das zeigt zugleich wieder, dafs diese Auslassung ganz pri-
vater Natur ist, und die Proklamierung unserer Schrift als „Trompete
des grofsen Bauernkrieges " ^) fällt in sich zusammen. Die Abschaffung
der Bannrechte haben auch die Bauern in den Jahren 1524 bis 1525
1) Ebenda S. 33.
2) Ebenda S. 46.
3) Boehm S. 221 fif.
4) Vgl. von Bezold, Vom rheinischen Bauernaufstand im Jahre 1431^ in der
Zdtscbrift für Geschichte des Oberrheins. 27. Bd. (1875) S. 129 fif.
5) Wie man sich in Nürnberg dafUr interessierte, zeigen die neaerdings bei San-
<ier, Die reiehssiädiisehe Haushaltung Nürnbergs (Leipzig 1902) z. B. S. 554 oder 585
oütgctcflten Auszüge aus den Stadtrechnongen , die Kosten für Bolen nach Worms be-
treffen.
6) Boos a. a. O. S. 455 macht sich diese Bezeichnung za eigen.
— 182 —
gefordert, doch ein direkter Zusammenhang der damaligen Forde-
rungen mit den in der sogenannten Reformation Kaiser Sigmunds auf-
gestellten ist ebensowenig zu entdecken, wie die Anregung zu irgend
welchen anderen Neuerungen, die unsere Schrift auf rechtlichem und
politischem Gebiete in der Folgezeit gegeben haben soll ').
(Fortsetzang folgt.)
Mitteilungen
YorsanilllluilSteil. — Seit dem sechsten Historikertage ^) sind drei
Jahre vergangen, und nunmehr steht die VII. Versammlung deutscher
Historiker vor der Tür, die vom 14. bis 18. April zu Heidelberg statt-
finden wird. Das soeben ausgegebene Programm verspricht folgende Vor-
träge: Prof. Eduard Meyer (Beiiin) über Kaiser Äugustus, Prof. Georg
von Below (Tübingen) über die Entstehung des modernen Kapitalismus,
Archivdirektor GeorgWolfram (Metz) über Neuere Forschungen über die
Beiterstatuette Karls des Grofsen, Prof. Karl Neumann (Heidelberg) über
Byzantinische Kultur und Benaissancckultur, Prof. Erich Marcks (Heidel-
berg) über Ludwig Häusser, Prof. Johannes Haller (Marburg) über den
Ursprung der galUhmischen FreihfAten, Prof. Eberhard Gothein (Bonn)
über VorderOsterreich unter Maria Theresia und Joseph IL, Prof. Friedrich
Gottl (Brunn) über die Grenzen der Geschichte. Ferner wird über den Plan,
die Korrespondenz Karls V. zu bearbeiten *), berichtet und eine Reihe kleinere
wissenschaftliche Mitteilungen gemacht werden. Neben einem Rundgang durch
das Schlofs unter der sachkundigen Führung von Prof. Karl Pf äff ist ein
Ausflug ins Neckartal sowie am 18. April ein Besuch des Schlosses zu
Bruchsal und des Klosters Maulbronn in Aussicht genommen. Alle Sitzungen
finden in der Universisät, die Vorträge in der Aula statt; für die erfahrungs-
gemäfs ausgedehnten gemütlichen Zusammenkünfte werden Räume im „Museum"
(Städtischer Saalbau) freigehalten. Teilnehmen können alle historischen Fach-
genossen und Fachverwandten sowie Freunde geschichtlicher Forschung, die,
soweit sie nicht dem „Verband deutscher Historiker" (Jahresbeitrag 5 Mk.)
angehören, eine Teilnehmergebühr von 5 Mk. entrichten. Gegenwärtiger
Vorsitzender des Verbandes ist Prof. ErichMarcks (Heidelberg, Scheffel-
strafse 7), Vorsitzender des Ortsausschusses Oberbibliothekar Prof. J. Wille
(Heidelberg, Bunsenstrafse 9), welche beide auf besondere Anfragen gern
Auskunft erteilen.
Gleichzeitig wird wie gewöhnlich die Konferenz von Vertretern
deutscher Publikationsinstitate tagen. Als hauptsächlichster und vor-
1) Koehne a. a. O. S. 430.
2) Vgl. den Aufsatz Die Historikertage im i. Bande dieser Zeitschrift S. 137 — 145
sowie im besonderen den Bericht über die Tagung zu Halle ebenda S. 199 — 204.
3) Vgl. diese Zeitschrift I. Band, S. 241 —243.
— 183 —
knfig ebziger Gegenstand soll die Frage erörtert werden : Wache Methoden
sind eur Lösung histtmech^gtographiacher Probieme, insbesondere auch eu
denn kartographischer Bewältigung ausetibilden und anzuwenden? Za
diesem Behofe werden die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde, die
Kommission für den historischen Atlas der österreichischen Alpenländer *),
die Historische Kommission der Provinz Sachsen sowie die Kgl. Sächsische
Kommission für Geschichte das Material ausstellen, was sie bis jetzt ge-
wonnen haben, um damit eine Probe ihrer Arbeitsweise zu geben. Natür-
fich wäre es besonders dankenswert, wenn auch andere Institute sich durch
AossteUung eines Materiales beteiligen wollten, das ihre bisher getibte oder
demnächst in Aussicht genommene Praxis vollständig beleuchtet.
ArchlTC. — Gelegentlich des dritten deutschen Archivtages
hat Prof. Heydenreich (Mühlhausen) über Städtische Archivbauten*) gc-
sprodien. Nachdem die Protokoll des dritten deutschen Ärchivtages eu
DUssddorf 1902 vollständig im Korrespondenzblatt des Gesämtvereines der
deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 50. Jahrgang (1902) gedruckt
erschienen und auch im Sonderabdruck ausgegeben worden sind, mag noch
einmal die Aufmerksamkeit auf jenen Vortrag gelenkt werden, dessen Inhalt
dem Hörer nicht so bedeutsam erschienen sein dürfte wie dem Leser. Eine
ganz aufserordentliche Fülle von Material hat H. zusammengebracht nnd vor-
züglich gruppiert, und besonderen Wert weit über den unmittelbar berührten
Gegenstand hinaus verleiht seiner Veröffentlichung der Umstand, dafs in 114
Anmerkungen genaue Angaben über die Herkunft der einzelnen Mitteilungen
gemacht sind. Dieser Teil der Arbeit bietet gewisse rmafsen eine Bibliographie
der arcbivalischen Literatur aus dem ganzen deutschen Sprachgebiet, denn,
wo nur irgend Mitteilungen über den Zustand städtischer Archive aufzufinden
waren, da hat sie H. aufgespürt, und für diese Sammelarbeit schuldet ihm
der Archivar nicht minder Dank als der historische Forscher.
Zeitschriften. — Seit der letzten die periodische Literatur behandelnden
Mitteilung ^) haben wieder eine Reihe neue Zeitschriften zu erscheinen be-
gonnen, von denen einige allgemeine Aufmerksamkeit verdienen.
Im Jahre 1862 bat der damalige Gymnasialdi rektor zu Corbach, Louis
Curtze einen „Historischen Verein der Fürstentümer Waldeck und Pyrmont**
ins Leben gerufen, der aber nach Curtzes Tod (1868) allmählich einschüef.
Die ansehnlichen Sammlungen des Vereins blieben ganz ohne Aufsicht, bis
sich seit etwa 1895 Stimmen regten, die eine Erneuerung des Vereins
befürworteten. Am 28. Okt. 1900 kam dieselbe durch eine Versammlung
zu Corbach zu stände, und mit dem Sitze in Arolsen besteht seitdem der
„Geschichtsverein für Waldeck und Pyrmont", dessen Schrift-
fuhrer Realgymnasialoberlehrer R u d o 1 f F 1 a d e ist Im Jahre 1 90 1 erschien
bereits der f. Band der Gesnhichtsblätter für Wfädeck und Pyrmont (Menge-
rioghausen, Kommissionsverlag von Weigel) unter Redaktion von Victor
i) Vgl. den Aufsatz an der Spitze dieses Heftes!
2) Vgl. den Bericlit oben S. 59.
3) Vgl IL Band, S. 188—190.
— 184 —
Schultze, Prof. der Kirchengeschichte in Greifswald, auf dessen Wald-
eckische Beformationsgeschichte (Leipzig, A. Deichert Nachfolger, 1903, 459 S.
8 ^) an dieser Stelle vorläufig hingewiesen sei. Die neue Zeitschrift eröffiiet
«in gröfserer Aufisatz aus dem Nachlasse des verstorbenen Prof. Bosch (Ufeld)
über die Geschichte des Klosters Arötsen (S. i — 114). Die ältere Ge-
schichte der Siedlung Arolsen ist hier naturgemäfs einbezogen, und besonders
die Anfänge des Klosters, die bis zu Anfang des XII. Jahrhunderts hinauf-
führen, sind ausführlich und gründlich behandelt Die weitere Entwickelung
war offenbar mangels reicherer QueUen schwer zu beleuchten, und die Dar-
stellung wird daher erst mit der Schüderung des Verfalls im XV. Jahrhundert
wieder breiter, gegen dessen Ende — wohl 1492 — die Antoniter einziehen
tmd das Kloster in jeder Hinsicht reformieren. Da diese Erneuerung des
klösterlichen Lebens eine .Allgemeinerscheinung ist, so verdient die eingehende
DarsteUung dieser Verhältnisse in Arolsen besondere Beachtung. Auch die
Einziehung (1526) bietet manche Belehnmg. — Zwei kleinere Beiträge be-
schreiben dann die Sammlungen im fürstlichen Residenzschlosse zu Arolsen
(S. 115 — 122), die sich in Antikensammlung, Gewehrkammer und Hofbiblio-
thek gliedern, und die waldeckischen Archive (S. 134 — 138), und in ihrem
Wortlaut mitgeteUt ist die christliche Unterweisung ^ die Gräfin Anna Katha-
rina zu Waldeck 1655 ihren in fremde Kriegsdienste ziehenden Söhnen
Christian Ludwig und Josias erteilte (S. 123 — 133).
Im Fürstentum Liechtenstein ist am 10. Februar 1901 ein histo-
rischer Verein ins Leben getreten, dem der regierende Landesfürst Johann
einen jährlichen Beitrag von 200 Kronen gewährt Auch dieser Verein ist
sofort mit deip ersten Bande eines Jahrbuchs des Historischen Vereins für
das Fürstentum Liechtenstein (Vaduz, Selbstverlag des Vereins, 1901) an die
Öffentlichkeit getreten. KarlvonlnderMauer eröfifhet den Band mit dem Auf-
satze Die Gründung des Fürstentums Liechtenstein (S. 5 — 39), die in das Jahr
1 7 1 9 fällt, beleuchtet aber auch die Geschichte der Grafen von Hohenems, die
vor den Liechtensteinern Vaduz und Schellenberg besafsen, um in einem
dritten Abschnitte die Geschichte des Hauses Liechtenstein vorzuführen.
Mehrere Aktenstücke sowie eine Stammtafel der Fürsten von Liechtenstein
(S. 41 — 80) schliefsen sich an. Mit der Tätigkeit des liechtensteinischen
Landtages 1862 — 1873 beschäftigt sich Albert Schädler (S. 81 — 176)
und bietet darin recht interessante Einblicke in das Leben des kleinen Landes,
das natürlich nicht ohne Rücksicht auf die Nachbarstaaten darzustellen ist
Als dritte Darbietung kommt eine i. Folge der Begesten zur Geschichte der
Herren von Schellenberg von Johann Baptist Büchel, die Zeit von
1000 — 1433 in 321 Nummern umfassend, in Betracht (S. 180 — 268): wenn
mit derartigen fieifsigen Sammelarbeiten jeder Verein seine Tätigkeit beginnen
wollte, so würde dies selbst auf die Gefahr hin, dafs zunächst nur imvoU-
ständiges geboten werden kann, einen grofsen Fortschritt bedeuten!
Das Kaiserliche und Königliche Heeresmuseum in Wien
gibt seit kurzem Mitieüungen heraus, deren i. Heft (Wien, in Kommission
bei Karl Konegen, 1902) vorliegt und neben einem geschäftlichen Teil
(29 Seiten) einen wissenschaftlichen (S. i — 200) enthält Der Konservator
— 185 —
des Museums, Wilhelm Erben, bietet hier eine gröfsere Quellenveröffent-
tichimg (S. 33 — 200) mit vorzüglicher Einleitung (S. i — 32): Kriegsartikel
md Beglemenis als Quellen zur Geschichte der k. und k. Armee. Der Ver-
&sser, der bereits 1900 im 6. Ergänzungsband der Mitteilungen des Insti-
tuts für österreichische Geschichtsforschung den Ursprung und die Entwicke-
kmg der deutschen Kriegsartikel sachkundig dargestellt hat, zeigt hier, wie
ake Exerzierreglements mehr sind als Kuriositäten und wie sie sich für die
Geschichte des Heeres selbst als Quellen benutzen lassen. Die Reglements
and verhältnismäfsig jung, sie sind erst im XVII. Jahrhundert (S. 9 — 10)
zur Regelung des praktischen Dienstes verwendet worden und zwar, um dem
Laodesaufgebot eine brauchbare Gestalt zu geben : Landgraf Moriz von Hessen
hat um 1600 das erste Reglement verfafst, indem er, wie und was weis man
die Soldaten exerciren solle, niederschrieb *. In Osterreich ist die früheste
entsprechende Ordnung bald danach in Tirol entstanden. Im XVUI. Jahr-
hundert mehren sich die Reglements, die sich immer an ältere anlehnen, aber
in der Regel einige Neuerungen enthalten, es bilden sich zugleich allgemein
für das ganze Heer giltige Exerzierordnungen aus, während die früheren immer
nur für ein Regiment galten, und somit wird die Grundlage für die ent-
sprechenden, im XIX. Jahrhundert geltenden Vorschriften gewonnen. Der
Forschung erwächst, nachdem hier vortrefflich die Bedeutung jenes Quellen-
materials gewürdigt ist, die Aufgabe, nachzuspüren, wo etwa solche Exer-
aeneglements erhalten sind, und sie auf ihre Abhängigkeit von anderen be-
kannten zu untersuchen. Abgedruckt ist bei Erben Das Exercier-Beglement
f6r die Tiroler LandesdefensUm von 1653 (S. 75 — 114) und das Infanterie"
Beffiement des Freiherm von Ogilvy aus dem Jahre 1690 (S. 115 — 200).
Aof ein handschriftlich überliefertes Exerzierreglement kaim hierbei hingewiesen
werden : es findet sich in einem Sammelband, der Befehle, Berichte, Einblatt-
drucke enthält, welche 1640 bis 1651 dem im Regimente des Obersten Niven-
heiift dienenden Leutnant Martin Henriques von Strevestorff* dienstlich zu-
gegangen sind *.
Zur Belebung der geschichtlichen Studien im Königreich Sachsen und
namentlich zur Veröffentlichung gröfserer Arbeiten hat Gustav Buch holz
die Herausgabe einer Bibliothek der sächsischen Geschichte und Landeskunde
(Leipzig, S. Hirzel) begonnen. Der Herausgeber hat die Absicht, „ das weit
▼erbreitete, aber sachlich unbegründete Vorurteil Lügen zu strafen, als werm
manche Teile der sächsischen Geschichte besser der Bearbeitung ganz ent-
legen würden", er will Arbeiten aus allen Gebieten der sächsischen Ge-
schichte Aufnahme gewähren und denkt zugleich an gelegendiche Publikation
von Briefwechseln u. dgl. Das bis jetzt allein vorliegende i. Heft des ersten
Bandes enthält Reinhold Becker, Der Dresdener Friede und die Politik
Brühls (Leipzig, S. Hirzel, 1902, 143 S. 8").
'i) Es wäre eine sehr verdienstliche Arbeit, wenn namentlich für die der Union an-
getörenden Territorien im einzelnen untersucht würde, in wie weit das Landvolk ge-
MftcTt und militärisch ausgebildet worden ist! Die allgemein geschichtliche Bedeutung
<tiese$ Vorgangs kennzeichnet unter Anführung der wichtigsten Litteratur Erben S. 12.
2) Vgl. Obersicht über den Inhalt der kleineren Archive der Bheinprovim,
IL Bd. I. Heft (Bonn iQor), S. 41 No. 37.
— 186 —
Die Ausgabe der im Verlag von Emil Felber erschienenen T^itsrhrift
für Kulturgeschichte, herausgegeben von Georg Steinhausen, sowie der
Zeiischri/i für Social' und Wirtschaftsgeschichte, herausgegeben von Stephaa
Bauer und L. Moritz Hart mann, war seit langem unregelmäfsig erfolgt,
die Herausgeber haben daher ihre Verträge gelöst und die Fortsetzung ihrer
Unternehmen in neuer Gestalt begonnen. Georg Steinhausen, jetzt Stadt-
bibliothekar in Kassel, läfst seit Beginn des Jahres ein Archiv für Kultur^
geschichte im Verlag von Alexander Duncker in Berlin erscheinen, das
jährlich vier Hefte im Umfang von zusammen 30 — 32 Bogen zum Preise
von 12 Mark umfassen soll. Im Verlag von C. L. Hirschfeld in Leipzig
wird vom i. April ab eine Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschafts-
geschichte erscheinen, deren Herausgeber Stephan Bauer (Basel), Georg
von Below (Tübingen) und L. Moritz Hartmann (Wien) sind, in deren
Auftrag Kurt Käser (Wien) die Redaktionsgeschäfte führt. Die Vierteljahr-
schrift soll viermal jährlich in Heften zu je 10 Bogen erscheinen, die Bei-
träge können in deutscher, englischer, französischer oder italienischer Sprache
abgefafst sein.
Historische OrtsTcrzclchnlsse. — Seitdem bei der Jahresversamm-
lung des Gesamtvereines des deutschen Geschichts- und Altertumsvereines
zu Dresden im Jahre 1900 die modernen Grundsätze zur Abfassung histo-
rischer Ortsverzeichnisse festgelegt worden sind *), regt es sich erfreulicherweise
auf diesem Gebiete allenthalben *). Reimer, selbst Mi^lied des engeren
Ausschusses zur Abfassung dieser Grundsätze, hat bereits nach dem auf-
gestellten Muster Proben für ein historisches Ortsverzeichnis von Hessen
ausgearbeitet und im Druck vorgelegt. Die einzelnen Artikel halten sich
auf das Knappeste, man wird wohl finden, allzu knapp und bedauern, dafs
das durchforschte Material nicht doch noch zu weiteren Aufschlüssen ^ver-
wendet wird. Mit Recht hat daher die Sächsische Kommission für
Geschichte, als sie sich zu Ende des genannten Jahres 1900 demselben
Unternehmen zuwandte, sich etwas weitere Grenzen gesteckt. H. Beschorner,
welcher schon früher in eingehender Weise den Gegenstand mit besonderer
Rücksicht auf Sachsen behandelt hatte '), wurde mit der Ausarbeitung einer
eigenen Denkschrift betraut, die er nunmehr der Öffentlichkeit übergeben
hat *). Auch er war , wie sich ja Jeder , der ein solches Unternehmen in
Angriff nimmt, wird überzeugen müssen, genötigt, die Sache individuell zu
erfassen, d. h. nicht nur dem historischen Charakter des Landes angemessen,
1) Mitgeteilt in der Zeitschrift II. Bd., b. 92 — 94.
2) Zu dem Gegenstande vergl. meinen ausführlichen Aafsatx Über historische TopO'
graphie mit besonderer Rückncht auf Niederösterreich in dieser Zeitschrift 111. Bd.,
S. 97 — 109 ond 129 137. Ich trage hier nach, dafs auch die Thüringische Historische
Kommission seit ihrer Gründung im Jahre 1896 die Abfassung eines historischen Orts-
verteichnisses in ihr Arbeitsprogramm aufgenommen hat, wozu man allerdings über Vor-
arbeiten bis jetzt noch nicht hinausgekommen ist. — Über die Landes- and Ortsbeschreibung
von EUaf^-Lothrin(^en vgl. oben S. 87 (falsche Zählung S 103).
3) Stand und Aufgaben der historischen Topographie in Scushsen [Neues Archiv
für Sächsische Geschichte XXI, (1900), S. 138 ff.].
4) Denkttchrift Ober die Herfdeilung eines historischen Ortsverseichmsses für
das Königreich Sachsen (Dresden, 1903).
— 187 —
sondern auch nach dem Stande der bisherigen Vorarbeiten. In bezug auf
die Bau- und Kunsttopographie, die kirchliche Topographie und die Ver-
zeichnisse der prähistorischen Funde ist z. B. Sachsen bereits bestens ver-
sorgt, dagegen hält Beschorner die Sammlung der Flurnamen und die
Anlage eines Wüstungsverzeichnisses flir unerläfsliche Vorarbeiten, bevor an
die Abfassung eines historischen Ortsverzeichnisses geschritten werden kann.
Ihnen sind daher die zwei ersten Abschnitte der Denkschrift gewidmet.
(Man beachte auch den Fragebogen zur Ermittelung älterer Flurverhältnisse
im Anhang!) Bezüglich des eigendichen Ortsnamensverzeichnisses ist es,
wie gesagt, von Bedeutung, dafs Beschorner die Vorschläge des Dresdener
Tages vielfach umwandelt. Einerseits will er für die Artikel die zusammen-
hängende Darstellung anwenden, andrerseits, damit das Werk nicht zu sehr
anschwillt, die 2. und 3. Gruppe der Vorschläge, nämlich die Sammelartikel
über Gerichts-, Münz-, Zollstätten u. s. w. und über die Einteilung des Landes
in politischer und kirchlicher Hinsicht weglassen, jedoch eine Einleitung über
terntoriale Entwickelung, politische und kirchliche Einteilung, über Statistik und
namentlich über die benutzte Literatur vorausschicken und ein Sachregister
begeben. Der einzelne Artikel würde demnach enthalten: L den heutigen
Namen (offiziell und volkstümhch), Angabe des Ortscharakters und der Lage ;
n. die Namensentwickelung (mit Quellenbelegen) ; IIL Historisch-topographische
Nachrichten (u. zw. i. Gründung des Ortes, 2. Erhebung zur Stadt oder Ver-
leihung von Marktprivilegien, 3. bei Wüstungen Zeit und Art des Wüstwerdens,
4. Eingemeindungen, 5. Burgen und Rittergüter, 6. adlige Familien, 7. kirch-
liche Verhältnisse, 8. GerichtsstäUen, 9. Münz-, Zoll- und Geleitstätten,
10. Mühlen, 11. Bildungsanstalten, 12. industrielle Anlage, 13. politische
Zogehörigkeit, 14. Naturereignisse, kriegerische Vorgänge, 15. statistische
Angaben). Da über das Wesen der historischen Ortsverzeichnisse und ihre
Angaben vielfach sehr unklare Vorstellungen herrschen, so ist es sehr dankens-
wert, dafe Beschorner sein geplantes Werk präzisiert (S. 26) als ein „lexi-
kalisch gefafstes handliches Nachschlagewerk, das den Histo-
riker für jede Epoche der Geschichte über das Land im all-
gemeinen, seine Einteilung und seine Wohnstätten kurz auf-
klärt'*. Er veranschlagt den Umfang des Werkes auf einen Band und will es
ohne Mitarbeiterschatt allein abfassen. So sehr die Denkschrift gezwungen ist, in
jedem Funkte auf die spezifisch sächsischen Verhältnisse Rücksicht zu nehmen,
so wird sie dennoch für alle derartigen Unternehmungen eine höchst will-
kommene Vorlage bilden, denn es werden auch viele allgemeine Fragen,
namentlich in bezug auf die praktische Seite der Durchführung erörtert. —
Von der Topographie von Niederösterreich ist das i. Heft des
VL Bandes im Umfange von 16 Bogen (Buchstabe M) fertiggestellt. Die
weitschichtige Anlage dieses ganzen Werkes, an welchem gegenwärtig fünf-
nndzwanzig Mitarbeiter beschäftigt sind, bedingt einige wesendiche Verschieden-
heiten von den in Ausführung begriffenen oder auf Grund der Dresdener
Vorschläge geplanten historischen Ortsverzeichnissen in Deutschland, die eben
Dar ab Hand- und Nachschlagebücher gedacht sind, während hier eine Samm-
lung ausführlicherer Ortsgeschichten geboten werden soll. Um auch sonst
kein Miisverständnis aufkommen zu lassen, betone ich nochmals, wie ich
dies bereits in meinem oben erwähnten Aufsatz getan, dafs auch ich selbst-
— 188 —
verständlich mit vielen eigentümlichen Verhältnissen des Landes Niederöster-
reich rechnen mufste und bei dem schon weit vorgeschrittenen Stadium
des Erscheinens an gewissen bisher eingebürgerten Einrichtmigen des Werkes
auch fernerhin festzuhalten gezwungen war. Aufserdem werden manche
schwierigere Reformen, die längerer Vorbereitungen bedürfen, erst im weiteren
Verlaufe durchgeführt werden können, da in dem Erscheinen des Werices
keine Unterbrechung eintreten durfte.
Wien. M. Vancsa.
Personalien. — Am 17. Oktober 1902 starb Dr. Franz Krones
Ritter von Marchland, k. k. Hofrat, o. ö. Professor der österreichischen
Geschichte an der Universität zu Graz, ein hochverdienter Gelehrter, erfolg-
reicher Lehrer, eifriger Forscher und fruchtbarer Schriftsteller. Am 19. No-
vember 1835 7'^ Ungarisch - Ostrau in Mähren geboren, besuchte K. 1844
bis 1852 das Gynmasium zu Brunn und bis 1856 die Universität zu Wien,
wo er vorzugsweise historisch-geographische und germanistische Studien trieb»
Mitglied des 1855 gegründeten Instituts ftir österreichische Geschichtsforschung
war und zum Dr. phil. promoviert wurde. Erst 21 Jahre, 1856, zum Supplenten
der Lehrkanzel ftir österreichische Geschichte an der damals deutschen
Rechtsakademie zu Kaschau in Ungarn ernannt, ward er dort 1857 zum
aufserordentlichen Professor dieses Faches bestellt und blieb in diesem Amte,
bis durch den völligen Umschwung der politischen Verhältnisse in Ungarn
(186 1) alle von der Wiener Regierung" seit 1849 dorthin entsendeten Be-
amten ihre Stellen aufgeben mufsten. Seinen Aufenthalt in Ungarn benutzte
K. zur vollständigen Erlernung der ungarischen Sprache und erwarb sich
dadurch das Mittel zu seinen späteren Forschungen auf dem Gebiete der
Geschichte Ungarns.
Von Kaschau nach Wien zurückgekehrt, 1861 als Professor an das
erste Staatsgymnasium in Graz gesendet, habilitierte er sich 1862 an der
Universität daselbst und wurde 1865 zum o. ö. Professor ernannt, welche
Stelle er bis zu seinem Tode bekleidete. Wesenüichen Anteil nahm er an
der Gründung des historischen Seminars (1866/67), nicht minder an den
Arbeiten des historischen Vereins ftir Steiermark, dessen Ausschufsmitglied
er durch lange Zeit war, und zu dessen Ehrenmitglied er bei dem ftinfzig-
jährigen Jubiläum desselben (1900) ernannt wurde. Zweimal bekleidete er
die Würde eines Dekans der philosophischen Fakultät (1869 und 1873),
1877 w^*" ^^ Rektor der Universität, seit 1874 korrespondierendes Mitglied
der kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien und später auch der
königl. ungarischen Akademie zu Buda-Pest. Seit 1865 hielt K. auch als
Honorardozent der Geschichte an der k. k. technischen Hochschule Vor-
lesungen, von 1873 ^^s 1874 leitete er das in Graz gegründete Mädchen-
lyzeum, die erste derartige höhere Lehranstalt ftir das weibliche Geschlecht
in Österreich, als prov. Direktor und wirkte durch mehr als zwanzig Jahre
als Fachmann im steiermärkischen Landesschulrate. Als Auszeichnungen
wurden ihm der Orden der eisernen Krone IIL Klasse, die Erhebung in
den Ritterstand mit dem Prädikate „von Marchland" und die Verleihung
des Titels eines k. k. Hofrats zu teil.
Als Forscher hat K. vor allem die Geschichte Ungarns, die Geschichte
— 189 —
•
der Steiermark und Innerösteireichs, sowie die allgemeine österreichische Ge-
schichte an der Wende des XIX. Jahrhunderts bereichert, indem er entweder
Dcoes archivalisches Material zur Kenntnis der Fachgenossen brachte, dessen
Verarbeitung erst noch zu erfolgen hat, oder mit Verratung endegener ge-
dmckter Quellen Untersuchungen interessanter Fragen anstellte, die zur Auf-
hellung und Klärung einzelner Zeiträume beitragen. Zu dieser Gruppe seiner
literarischen Arbeiten zählen wir die Abhandlungen Der Kampf des Anjou-
^ektn Königtums mit den* Oligarchie (1863); Zur Geschichte Ungarns im
ZeitaUer fhram Rakocxys IL (1870); Zur Qescfiichte des deutschen Volks-
tums m den Karpathen (1878); Vorarbeiten zur Quellenkunde (1865 — 69) und
Materialien zur Oesehiclite des mittelalterlicfien Landtagswesens der Steierfnark
(1879); ^^ Freien von Saneck und ifire Chronik (1883); Qraf Hermann IL
ron OilU (1873); Zur Gesdiichi^ dei" Steiermark vor und in den Tagen
der Baumkircherfehhie (1869); Zeugenverhör über Andreas Bau/mkirchers
Taten^ Leben und Ende (187 1); Aktenmäßige Beiträge zur Geschichte des
Tattenbacltisehen Prozesses (1862); Verfassung und Verwaltung der Mark
und des Herzogtums Steter (1893); Landes fürst, Behörden und Stände des
Herzogtums Steier 1282 — 1411 (1901);* Geschichte der Kari-Franzens-Ühi-
rersüät in Graz (Jubiläumsschrift 1886 mit Fortsetzung 1895); ^'' Geschichte
ösienreidis 1792—1816 (1886); Tirol 1812-1816 und Erzherzogs Johann
ron Österreich (1890); Aus dem Tagebuche Erzherzogs Johanns , Aus Öster-
reichs stillen und bewegten Tagen 1810—1812, 1813—1815 (1891, 1892).
Zu diesen letztgenannten Studien aus dem Gräflich Meranschen Archiv
m Graz gesellen sich die Monographieen Feldzeugmeister Josef Freiherr von
Simbsehen 1810—1818 (1891) und Moritz von Kaiserfeld (1888).
Grofse Verbreitung hat das Handbuch der Ge^chicJäe Österreichs (5 Bde.,
1876 — 1879) gefunden, das bis zur Vollendung des Huberschen Werkes durch
Oswald Redlich das einzig brauchbare Nachschlagewerk bleiben wird, tmd dessen
bibliographische Hinweise dem Historiker unentbehrlich geworden sind. Kom-
pÜatorischen Charakter haben die Geschichte österreicJis für die reifere Jugend
(2 Bde.), der Grundri/h der österreichischen Geschichte ynit be^sonderer Bück-
fficht auf Quellen- und Literaturkunde (188 1), die Geschichte der Neuzeit
Österreichs (1879), während die Umrisse de^ Geschichtslebens der deuisch-öster-
reichischen Ländergruppe (1863) und Die österreichisdten , böhmischen und
ungarischen Länder im letzten Jahrhundert vor ihrer dauernden Vereinigung
(1864) vielfach auch selbständige Anschauungen zum Ausdruck bringen.
Mit diesen Werken sind die Leistungen des rasdosen und emsig schaffen-
den Mannes nicht erschöpft; mehr als fünfzig Aufsätze im Archiv für öster-
reichische Geschichte, in den. Mitteilungen und Beiträgen des Historischen
Vereines und in den Veröffentlichungen der Historischen Landes-Kommission für
Steiermark müfeten noch aufser einer stattlichen Anzahl selbständiger Brochüren,
Volksbücher u. dgl. m. aufgezählt werden, um eine vollständige Bibliographie
von K. zu bieten. Was unermüdlicher Fleifs und liebevolle Vertiefung in
<iie Denkmäler heimatlicher Geschichte hervorzubringen vermögen, das findet
nun in allen seinen Arbeiten; scharfe Kritik, die Durchdringung politischer
oder kulturhistorischer Probleme war seine Sache nicht. Es genügte ihm,
oeuc Wege durch das Dickicht der Aktenfaszikel eingeschlagen, Ausblicke
nach den verschiedenen Richtungen geschaffen und damit seine zahlreichen,
— 190 —
mit inniger Verehrung an ihm hängenden Schüler zur Nacharbeit angeeifert
zu haben. Seine Lehrtätigkeit wurde am wesentlichsten durch seine liebens-
würdige Persönlichkeit und seine wahrhaft kollegiale Gesinnung unterstützt,
die ihm bei Allen, die zu seinen Füfsen gesessen sind oder mit ihm das
Vereinsleben gefördert haben, eine dankbare Erinnerung bewahren wird.
An deutsche Universitäten wurden berufen: der Leipziger Privatdozent
Karl Sapper als aufserordentlicher Prof. der Geographie nach Tübingen;
der aufserordentliche Prof. der Geschichte in Marburg Karl Brandi als
ordentlicher Prof nach Göttingen; der aufserordentliche Prof. der Geschichte
in Göttingen Otto Krauske als ordentlicher Prof nach Königsberg i. P. ;
der ordentliche Prof. der alten Geschichte in Halle Eduard Meyer in
gleicher Eigenschaft nach Berlin; der aufserordentliche Prof der deutschen
Rcchtsgeschichte in Freiburg i. B. Konrad Beyerle in gleicher Eigen-
schaft nach Breslau ; der ordentliche Prof der Geschichte in Königsberg L F.
Georg Erler in gleicher Eigenschaft nach Münster i. W.; der bisherige
Assistent am Kgl. Preufs. historischen Institut in Rom J. Haller als aufser-
ordentlicher Prof nach Marburg; der aufserordentliche Prof der National-
ökonomie in Freiburg i. B. Heinrich Sieveking in gleicher Eigenschaft
nach Marburg ; der Archivar und Privatdozent der Kunstgeschichte in Königs-
berg i. P. Hermann Ehrenberg als aufserordentlicher Prof der Kunst-
geschichte nach Münster i. W. ; der Sekretär an der Hof- und Staatsbibliothek
in München Franz Kampers als aufserordentlicher Prof der Geschichte
nach Breslau;* der ordentliche Prof der alten Geschichte in Würzburg
Ulrich Wilcken in gleicher Eigenschaft nach Halle ; der ordentliche Profi
der Geschichte in Heidelberg Dietrich Schäfer in gleicher Eigenschaft
nach Berlin; der aufserordentiiche Prof der Geschichte in Bonn Karl
Hampe als ordentlicher Prof nach Heidelberg; der aufserordentliche Prof.
der Geschichte in Heidelberg Alexander Cartellieri in gleicher Eigen-
schaft nach Jena; der aufserordentliche Prof der Geschichte in Halle Felix
Rachfahl als ordentlicher Prof nach Köm'gsberg L P. Unter Verbleiben
an ihrem Wohnsitz wurden der aufserordentliche Prof der Kunstgeschichte
Adelbert Matthaei in Kiel sowie die aulserordentlichen Pioff. der Ge-
schichte Anton Chroust in Würzburg, O. Hintze in Berlin, Span-
nagel imd Aloys Meister in Münster i. W. zu Ordinarien ernannt.
Domkapitular AlexanderSchnütgen in Köb erhielt die Ernennung zum
Honorarprofessor für christliche Kunstgeschichte in Bonn. — In Berlin wurde
eine aufserordentliche Professur für „deutsche Archäologie und germanische
Altertumskunde", wie sie in neuerer Zeit öfter gefordert worden ist, begründet
und damit die erste selbständige Professur dieses Faches ins Leben gerufen ;
berufen wurde dafür im Juli 1902 Gustav Kossinna, ein Schüler Müllen-
hoffs, früher Bibliothekar an der Kgl. Bibliothek in Berlin, der seit langer
Zeit auf diesem Felde erfolgreich tätig gewesen ist.
Für Geschichte habilitierten sich: in Greifswald Albert Werming-
hoff; in Strafsburg i. E. Robert Holtzmann; in Wien J. Lechner;
in München Beckmann und Jansen; in Karlsruhe (Technische Hoch-
schule) Karl Brunner; in Leipzig Richard Scholz und A. Doren;
in Berlin Norden; in Innsbruck für österreichische Reichsgeschichte Kogler.
— 191 —
— Für Kunstgeschichte habilitierten sich: in Berlin L. Justi und
CX Wulff; in Stuttgart (Technische Hochschule) Karl Franck; in Wien
(Technische Hochschule) H. Egg er.
Es starben: 7. Mai 1902 Adolf Beer, Prof. an der Technisches
Hochschule in Wien, Ver&sser der Geschichte des Welthandels (1860)^
71 Jahre alt; xi. Mai Prediger Henri Tollin zu Magdeburg, der rer-
Aenstvolle Erforscher der Geschichte französischer Hugenottengemeinden in
Fnmkfurt a. Ö., Magdeburg, Berlin, Halberstadt, Celle, Mannheim, Oranien*
barg, seit 1890 Herausgeber der Geschiehtsblätter des deutschen Hugenotten^
Vereins i 69 Jahre alt; 23.. Mai in München Reichsarchivassessor. Franr
Schnei de rwirth, ein geborener Westlaie, 43 Jahre alt; 4. Juni in Dussel*
dorf der frühere langjährige Leiter des dortigen Staatsarchivs Woldemar
Harless, 74 Jahre alt (vgl. II. Bd., S. 94 — 95); 8. Juni der Heidelberger
Obeibibliothekar Karl Zangemeister, der Wiedergewinner der Manessischen
Handschrift, der Förderer Heidelberger Orts- tmd Schlofsgeschichte sowie
der römischen Altertumsforschung auf deutschem Boden und Vorsitzende des
geschäftsführenden Ausschusses der Reichs-Limeskommission , 64 Jahre alt;
7. Juli der Archivar und Bibliothekar der Stadt Trier M ax Keuffer, 46 Jahre
ah; 10. Juli der Innsbrucker Rechtshistoriker Julius Ficker, 76 Jahre
ah; 2f. Juli in Kissingen der Direktor des grofsherzoglichen Museums in
Schwerin, Friedrich Schlie, 63 Jahre alt; im Juli der Privatdozent der
Geschichte an der deutschen Universität in Prag Oskar Wanka Edler
TonRodlow, 28 Jahre alt; Anfang September in München Ferdinand
Kaltenbrunner, Prof. der geschichtlichen Hilfswissenschaften in Innsbruck,.
56 Jahre alt. 10. September in Friedrichroda Ernst Dümmler, Vor-
sitzeoder der Zentraldirektion der Monvmenta Germaniae historica, 73 Jahre
ah; 17. September in München der Rechtshistoriker Konrad von Maurer,
79 Jahre adt; 10. Oktober der Stadtarchivar von Dorpat Lichtenstein;
X2. Oktober der Direktor des Trierer Provinzialmuseums Felix Hettner,
Mitherausgeber der Westdeutschen Zeitschrift, 51 Jahre alt; 24. November
der Direktor des Kgl. Bayerischen Reichsarchivs in München Edmund
von Oefele, 58 Jahre alt; 27. Dezember Prof. ¥. Otto in Wiesbaden, em-
siger Forscher in Nassauischer Geschichte, 76 Jahre alt; i. Januar 1903 Geh»
Archivrat Ernst Friedländer in Berlin, 61 Jahre alt; 4. Januar Major a. D.
Wegen er, Konsen'ator des städtischen Museums in Braunschweig, 72 Jahre
ah; 13. Januar der Leiter der Universitätsbibliothek und Prof. der Biblio-
thekswissenschaft in Göttbgen KarlDziatzko, 60 Jahre alt; 13. Januar
Staatsarchivar a. D. Labhart-Labhart in Zürich, 79 Jahre alt; im Januar
der Stettiner Stadtbibliothekar TheodorMünster, 40 Jahre alt ; 8. Februar
der Archäolog Lycealprofessor Joseph Führer in Bamberg, 45 Jahre alt;
10. Februar CarlAdolfCornelius, eins der letzten Mitglieder des Frank-
furter Parlaments, 84 Jahre alt.
Im KgL Preufsischen Archivdienst wurden die Assistenten Lau von
Stettin nach Düsseldorf und Loewe von Berlin nach Hannover, die Hilfs-
arbeiter Ther Stappen von Königsberg nach Breslau und Eggers von
Schleswig nach Königsberg versetzt. — Zum Direktor des Kgl. Bayerischen
Reicbsarchivs in München wurde Reichsarchivrat Franz Ludwig Bau mann
ernannt; nach dem Tode von Oefeles war der dienstälteste Reichsarchivrat
— 192 —
Pius Wittmann, der im Sommer 1902 gerade 25 Jahre am Reichsarchtr
tätig war, mit der Geschäftsführung betraut. Der Kreisarchtvar Glasschröder
in Speier wurde als Reichsarchivassessor nach München berufen , an seine
Stelle in Speier trat Kreisarchivsekretär A. Müller. — Zum Staatsarchivar des
Kantons Zürich wurde Dr. Häne-Wegelin ernannt, Stadtarchivar in Augs-
burg wurde Dr. Dirr, in Efslingen Architekt A. Benz. — Prof. Hey den-
reich, Stadtarchivar zu Mühlhausen i. Th., wurde als Hilfsarbeiter in das
Ministerium des Innern zu Dresden berufen zur Bearbeitung der Adelsangelegen-
heiten und Einrichtung eines Adelsbuches.
Prof. L. Kämmerer, Assistent am k. Kupferstichkabinett in Berlin,
wurde zum Direktor des Provinzialmuseums in Posen gewählt, zum Konser-
vator der Kunstdenkmäler im Herzogtum Anhalt Dr. Ostermayer, bisher
in Danzig, zum Konservator für Ostpreufsen Dethlefsen, für Hessen
von Drach. H. Dragendorff, aufserordentl. Prof. der klassischen Philo-
logie und Archäologie in Basel, wurde zum Direktor der römisch-germanischen
Konmiission des kais. archäologischen Instituts mit dem Wohnsitze in Frank-
furt a. M. ernannt.
Eingegangene Bfleher.
Lutsch, Hans: Verzeichnis der Kunstdenkmäler der Provinz Schlesien,
Band VI: Denkmälerkarten (für jeden Regierungsbezirk eine).
Breslau, Gottl. Korn, 1902. M. 9,00.
Meier, P. J. : Untersuchungen zur Geschichte der Stadt Wolfenbtittel
[Sonderabdruck aus dem „ Braunschweiger Jahrbuch" 1902]. 37 S. 8®.
Nentwig, Heinrich: Silesiaca in der Reichsgräflich Schaflfgottsch'schen
Majoratsbibliothek zu Warmbrunn. 2. Heft. Leipzig, 1902. S. 233 - 576.
Ohr, Wilhelm: Der Karolingische Gottesstaat in Theorie und Praxis.
Leipziger Dissertation. Leipzig, Gustav Fock, 1902. 80 S. 8^.
Oidtmann, Heinrich: Die Hubertusschlacht bei Linnich in Dichtung,
Sage und Geschichte [Sonderabdruck aus dem Kreis- Jülicher Korre-
spondenz- und Wochenblatt, 1902]. 32 S. 8®.
Overmann, Alfred: Die ersten Jahre der Preufsisehen Herrschaft in
Erf'rt 1802 — 1806, veranlafst und unterstützt von der Stadt Erfurt.
Erfurt, Keyser 1902. 145 S. S^.
Pfau, W. C. : Grundzüge der älteren Geschichte des Dorfes Seelitz und
seiner Kirche [= Einzelheiten aus dem Gebiet der Rochlitzer Geschichte,
Lieferung 2]. Rochlitz i. S., 1902. 67 S. 8®.
Derselbe: Zur Geschichte des Tabaks in der Rochlitzer Pflege [== Einzel-
heiten aus dem Gebiete der Rochlitzer Geschichte , Lieferung 3 , S. 5
bis 10]. Rochlitz i. S., 1902.
Berichtigung
Auf Seite 135 auf Zeile 6 ist statt: „des letzten vorchristlichen Jahr-
hunderts" zu lesen: „des letzten vorchristlichen Jahrtausends".
Die Red.
U«^r4UJ(eeher Dr. Armin Tille in Leipzig.
Druck und Verlag von Friedrich Andrea« Perthes AkdengeselUchaft Gotha.
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
rar
Forderung der landesgeschichtlichen Forschung
IV. Band Mai 1903 8. Heft
Die {Reform des mreltliehen Standes naeh
der sogen, t^eformation des I^aisers Sig^
mund im Iiiehte der gleiehzeitigen t^eform^
Bestrebungen im t^eieh und in den Städten
Von
Heinrich Werner (Merzig)
(Fortsetzung.)
Nun folgt eine Reihe von Kapiteln, die sich auf das Polizeiwesen
und den diplomatischen Verkehr der Städte beziehen. Zu der Po-
lizei, d. h. im Mittelalter zu der gesamten öffentlichen Wohlfahrts-
pflege, gehören zunächst die Kapitel über das Arzneiwesen, im be-
sonderen den Arzt *). Leider sind die Polizeiverordnungen der Städte
aus jener Zeit noch sehr lückenhaft veröffentlicht; auch würden die
Beratungen des Ulmer Städtetages, wenn deren Protokolle dem Drucke
übergeben werden könnten, gröfseres Licht auf diese Vorschläge
werfen, namentlich auch auf die beiden Kapitel: ein poUtten*), und
daß man den pfundzoU, d. h. Wertzoll, geben soll '). Neben dem Zoll-
wesen soll auch das Geleite Gegenstand der Beratung in Ulm ge-
wesen sein: der Vorschlag, einen Stadtpafs einzufuhren, dürfte daran
erinnern.
Die Kapitel über den diplomatischen Verkehr einer Reichsstadt
sind höchst charakteristisch für die Person des Verfassers. Es sind
das die Kapitel von insigeln, eine reichssiaU soU ewei insigel hm, ein
dadtschreiber sdU publicus notaritis sein, kein priester soU notarius sein.
Zunächst fallt hier auf, dafs die Bemerkungen über die Insiegel fast
mit denselben Worten in beiden Teilen wiederkehren, und dafs dieses
Thema so ausführlich behandelt ist, dafs es in keinem rechten Ver-
1) Boehm S. aa6f.
2) Ebenda S. 331.
3) Ebenda S. 236.
14
— 194 —
hältnis zu den übrigen Reformvorschlägen steht. Dazu gelten diese
breiten Ausfuhrungen fast nur dem Stadtschreiberamt, denn nur an
einer Stelle wird auch der „kaiserliche Schreiber" *) erwähnt — wohl
infolge der Bekanntschaft des Verfassers mit dem zwischen Städten
und kaiserlicher Kanzlei üblichen diplomatischen Verkehr; der Ver-
fasser nennt sich ja selbst einmal r(U des kaisers '), er konnte auch als
städtischer Gesandter wohl einmal in den Rat des Kaisers gelangen ').
Wie die Art der Behandlung, so zeigt auch der Inhalt der Forde-
rungen, welches Interesse der Verfasser dem Stadtschreiberamt ent-
gegenbringt: es ist offenbar ein von tiefem Groll und verletztem
eigenen Interesse diktierter Protest, der zur Vermeidung eines Ein-
griffs geistlicher Personen bei der Besiegelung weltlicher Sachen
Scheidung des Geistlichen vom Weltlichen auf der ganzen Strecke
verlangt. Das Insiegel sei das Zeichen der Wahrheit, diese soll weder
verkauft noch gekauft werden, wie es geschehe, das sei offener Wucher.
Wie im ersten Teile die Beseitigung aller geistlichen Taxen und
Schreibgebühren gefordert wurde, so soll auch kein Geistlicher eine
weltliche Sache versiegeln: es soU sich lauter in alweg scheiden das
geistlich und dcLS weUlich. Nur konsequent ist diesem die folgende
Forderung, dafs kein priester weder stadtschreiber, noch notari sein sott,
es gehört lauter ihrem ^att nit zu, als ihr doch in viel stetten ist. So
wissen wir von Nürnberg, dafs dort Heinrich Leubing, Pfarrer von
St. Sebald , Stadtschreiber *) war und ebenso Sigmund Meisterlin in
Öttingen *). Im eigenen Interesse ist dann namentlich auch die For-
derung gestellt, dafs in allen Reichsstädten ein Stadtschreiber sei ^,
der alle Instrumente machen soll als putiicus notarius. Man soll
keinen anderen aufsuchen, denn ihm ist hoher eu trauen denn den
andern. Auch sollen nicht mehrere sein , sondern nur einer in
einer Stadt.
Auch soll jede Reichsstadt zwei Siegel haben, ein sigiUum secre-
tum, mit dem nur dasjenige, was heimlich dem reich zugehört, versiegelt
wird, und ein anderes Siegel mit dem Zeichen der Stadt für städtische
und Reichsangelegenheiten. Dazu bemerkt Goldast in einer Rand-
note: „Solche zwei Siegel hat die Stadt Nürnberg ** '). Eine Kontrolle
i) Boehm S. 231.
2) Vgl. Histor. Vicrtcljahrschrift, 5. Bd. S, 482.
3) Das zeigt Deuisehe Reiehstagsiikien 12. Bd. No. 90.
4) Joachimsohn, Gregor Heimburg (1891) S. 108.
5) Derselbe, Humamstisehe QesekiehUaekreibung, i. Heft (1895) S« ^'o*
6) Boehm S. 232.
7) A. «. O. S. 194.
— 196 —
dieser Behauptung wäre insofern wichtig, als im Falle ihrer Bestä-
ttgnng ein neuer Hinweis auf die Verhandlungen des Städtetages zu
Ulm gegeben wäre, denn dort soll auf Antrag Nürnbergs über Zoll
und Geleit und nach jeglicher Stadt notdurft beraten worden sein.
Überschauen wir nochmals das zuletzt Gesagte: wie kann man
hier einen Geistlichen als Verfasser vermuten wollen ? Die Breite der
Ausführung, das sittliche bis zum Protest gehobene Pathos zeigen,
wie persönlich der Verfasser an diesem Thema des Stadtschreiber-
amts interessiert ist; die Hebung seiner Stellung, die Ausdehnung
seines Wirkungskreises, die Erlangung einer Monopolstellung als
öffentlicher Notar und die Verdrängung des geistlichen Elementes aus
beiden Ämtern liegt ihm am Herzen : da wird es sogar undenkbar, dafs
ein geistlicher Stadtschreiber dies geschrieben hat, es mufs ein Laie
gewesen sein.
Hiermit schliefst die vorgeschlagene Reform des städtischen
Wesens; jedenfalls liegt ihr ein Entwurf, der dem Ulmer Städtetag
vom Jahre 1438 vorgelegt wurde, zu Grunde. Der Verfasser scheint
selbst darauf hinzuweisen, indem er die Verwirklichung der Reform
für das Jahr 1439 in Aussicht stellt , das nun da sei ^). Eben dahin
gehören die Worte: die städte üben sich in dieser Ordnung^)»
Was jetzt noch von Vorschlägen zur Reichsreform übrig
bleibt, ist sehr gering; es sind die Kapitel: von etoing und benne nach
haiserlicken rechten, von dem ritterlichen statt, von dem gerickt und
redU sprechen umb eigen und erb, man soU niemand bannen umb geU-
scJmdd, es soUent sein 4 vikari des reichs, dcfß man fried mach, daß eine
jede reichstaU mag burger aufnehmen und van der muntg. Das sind
alles Fragen, die auch 1438 auf den Städtetagen als Vorbereitung zu
den Nürnberger Reichstagen gelöst werden sollten, die aber schon
anter Sigmund aktuell waren. Wie kommt es nun, dafs der Verfasser
seine Reformschrift als eine Urkunde Sigmunds hinstellt , welche er
wnt koken wisen erläutert ') haben will ? Nachdem nun die Reichstags*
akten aus der Regierung Sigmunds abgeschlossen vorliegen, ist es an
der Zeit, den formellen und ideellen Zusammenhang unserer Schrift
mit den unter Sigmund nachweislich gepflogenen Verhandlungen end-
gültig zu prüfen. Der Verfasser wirft eine ähnliche Frage selbst auf
und gibt auch eine Antwort darauf in dem Kapitel : une es aufgestanden
1) Boehm S. 339: eUieh rdehstaUf die hand erwerben in den vordem Jahr
(ako 143S) umb diese Ordnung und meineni auch daxu xu tun,
2) Vgl. DenUche GeschichtsbläUer, IV. Bd. S« 13.
3) Boehm S. 244.
14*
— 196 —
ui eu dem ersten ^), das goU will ein ander stat und Ordnung. Bisher
hat man den hier erzählten Traum für ein pamphletartiges Einschiebsel
betrachtet •), aber erst die Feststellung-, wo dieser Traum stattfand und
welche Stimmung ihm zu Grunde liegt, dürfte genügenden Anhalt
geben, um den geschilderten traumhaften Zustand zu einem tatsäch-
lichen in Verbindung zu bringen.
Der Verfasser verlegt den Traum Sigmunds nach Prefeburg •),
wo dieser krank zu Bette liegt und eben die Sonne frühmorgens in
sein Schlafgemach dringt: Da hört er denn eine Stimme vom Himmel,
die ihn als den Wegbereiter des grofsen Reformators — d. i. unseres
Verfassers — hinstellt. Sigmund redet dann mit eigenen Worten:
als unr das hörten, da umrden wir betrübt van herzen . . . doch wart
uns ein bekantnuß, daß wir ein weg bereiten sollten, gewunnen wir ein
groß anfenthaU und ein leichterung . . . dazu (zur Reform) unr arbeitten
und alles unser vermugen, in siechtagen und gesundheit ^) • • . nun tun
wir (der Verfasser) aber eu wissen, daß wir mü hohen wisen diese
Urkunde (nämlich Sigmunds), als sie an ihr selbst besdiehen ist, er-
leutert halben. Offenbar hat der Verfasser hier den Bericht einer Rede
Sigmunds vor sich gehabt, in der eine melancholische, niedergeschla-
gene Stimmung vorherrscht. Nach einem kurzen unbefriedigten Rück-
blick auf seine Bestrebungen zur Reform der Kirche in Konstanz,
Pavia, Siena und Basel, und zwar in kranken und gesunden Ts^en,
wird ihm eine Erleichterung in der Erkenntnis, dafs er nur ein Weg-
bereiter zur grofsen Reform sein soll. Unser Verfasser, der eigent-
liche Reformator, dem Sigmund nur ein Vorläufer war, läfst deshalb
eine Urkunde Sigmunds erläutern und zu einem rechten bekennen^)
bringen. ' — Nun hielt Sigmund im Jahre 1429 (vom 4. bis 13. De-
zember) in Wirklichkeit einen Reichstag zu Prefsburg •) ab, namentlich
auf Veranlassung und in Gegenwart der Städte. Dieser Reichstag
1) Boehm S. 141. Dieses Kapitel gehört mlso nickt hierher, sondero an den An-
fang der weltlichen Reform. Bald darauf heilst es wieder: xu dem allerersten,
2) Ich habe bereits in Die Flugschrift 'onus eeelesiae'y S. 91 Anm. 3 auf die
gleichlautende Einkleidiing dieser Vision mit einer anderen Sigmunds, die dem Angs-
burger Dmck Yom Jahre 1497 beigegeben ist, hingewiesen.
3) Ebenda S. 14>.
4) Ebenda S. S43.
5) Ebenda S. S43 Z. 2.
6) Unsere Reformschrift nennt das Jahr 1403. Diese Zahl wird aber Yom Heraus-
geber als lückenhaft beteichnet. Sigmund war vom 39. Mfirs bis Schlnfs des Jahres in
Prefsburg, also auch an dem erwähnten Auflahrtstag. Vgl. Aschbach, Oesekiehte des
K. Sigmund, 3. Bd. (1841) S. 468.
— 197 —
verlief nicht nur wegen der Abwesenheit der Fürsten, sondern auch
wegen Krankheit des Kaisers selbst ergebnislos. Über den Gang
der Verhandlungen sind wir nun zufallig durch zwei städtische Ge-
sandtschaftsberichte besser unterrichtet als über irgend einen anderen
Reichstag ^). Namentlich der neu herausgegebene Bericht des Regens-
burger Gesandten Lucas Ingolstetter (?) überliefert „manche Einzel-
heiten'' und läfist „die Motive imd Stimmungen der Versammelten
recht deutlich erkennen". „König und Städte begegnen sich in dem
dringenden Wunsche, dafs endlich einmal Ordnung im Innern des
Reichs gemacht werde. Besonders ist es der König, welcher alle
anderen Fragen, sogar die Abwehr der Husiten, dieser nachsetzt.'*
Das Milieu cUeses fuhrt also schon deutlich hinüber zu dem in der
Vision geschilderten. Der Gesandte berichtet weiter von einer langen
Rede des Königs ') , die sofort die gekennzeichnete melancholische
Stimmung verrät. Sie beginnt mit einem Rückblick auf die Reform-
tatigkeit Sigmunds ') mit ganz ähnlichen Worten und Wendungen ^)
und ei^eht sich weiter in melancholischen Betrachtungen, denen Ärger
und Verstimmung wegen des schlechten Fortgangs der Reform zu
Grunde liegen. Dabei stehen ihm auch die Kurfürsten und Fürsten
im Wege, wie in der Vision die hohen Häupter als die Widerspen-
st^en bezeichnet werden. Aber Sigmund will mit aller Macht auf
seiner Mission bestehen und Ordnung schaffen ^) : wie krank er auch
war ...er uhM auf allen vieren dahin kriechen, damü er ah römischer
hmig mü eren in sein grub kam. Nun kommt die wichtigste Stelle
in dem Berichte: (der König) wulU auch seiner begerung gern ein ge-
sekriß machen lassen und ihnen die toeisen und daß sie die pesserien,
wenn dessen not war, und dqfl sie also van ihm geweüt (ss ausgebreitet,
bekannt gemacht) wmd und darauf zugeschrieben, dem also nacheugehn.
Hier finden wir also genau das Vorbild, nach dem die sogenannte
Reformation gearbeitet ist. Der Gesandtschaflsbericht von Augsburg
ist bis jetzt noch unbekannt, aber jedenfalls hat unserem Verfasser
ein städtischer Gesandtschaftsbericht über diesen Presburger Tag vor-
gel^en, woraus er den Vorsatz Sigmunds kennen lernte, eine Reform-
schrift abfassen zu lassen, den Ständen sie vorzulegen, die dann sie
i) Vgl. Deiäseht Beiehstagsaktm, 9. Bd. (1887) S. 341 ff.
2) VgL Deutsche Eeiehstagaakten, S. 358.
3) Dafii in miserer Schrift noch die weiteren Konzilien bis Basel hinxngefttgt sind,
gehört zur EriMtening des Verfassers.
4) Ebenda No. 286 Art 3.
5) No. a86 Art 11. 12. 23 u. 26.
— 198 —
verbessern könnten; wie denn der Verfasser auch sagt: war auch
jemand also tveis, der dehain stuck in der Ordnung gepessren mochi nach
jeglichen landes gelegenheü . . . dem soU es piUich vergunstet sein, also
für sich au nehmen und fürzubringen für unsem herm den könig ^).
Auch will er sie verbreiten su einem allgemeinen (oder) rechten he^
kennen oMen gemeinen Christen, und jeder ist verpflichtet, diese Ord-
nung SU halten, und namentlich sollen die reichstett das schwert daeu
gebrauchen. Auch deckt sich die beiderseitige Verstimmung gegen
Kurfürsten und Herren, weil sie sich gegen die Reform sperren. So
kann der Verfasser auch die Form des Berichtes, den Traum, aus
einer ausführlicheren schriftlichen oder mündlichen Mitteilung eines
in Prefeburg Anwesenden vernommen haben. Dafs die Rede Sigmunds
den städischen Gesandten sehr gefiel, besagt auch ein anderer Ge-
sandtschaftsbericht *). Dafs der König einen Traum erzählen und ihm
solche Bedeutung beimessen konnte, dafür spricht sein krankhafter
Zustand damals zu Presburg, das Podagra, und der ganze Zeitgeist.
Jedenfalls bedeutet der Presburger Reichstag den Höhepunkt im Ver-
hältnis zwischen den Städten und dem König, der mit jenen insgeheim
unterhandelt und zu ihnen gesagt haben soll: „Bei den Städten sei
eigentlich nur noch das Reich, wenn sie nicht wären, würde er nicht
weiter mehr die römische Königskrone tragen wollen " *). Unser Ver-
fasser kennt den Vorsatz des Kaisers, eine Reformschrift machen zu
lassen, sieht ihn aber unausgeführt und von ihm selbst unausführbar
— denn er ist ja tot — , da knüpft er an diesen Vorsatz an und nennt
seine Schrift ein ordnungsbuch, in dem er eine Urkunde Sigmunds er-
läutert und allgemein verbreitet. So ist Sigmund der Wegbereiter,
und er der eigentliche Reformator, der letzte Vollstrecker seines Wil-
lens und zugleich der Absichten, welche die mit dem Kaiser im
innigen Einverständnis gestandenen Reichsstädte hegten. Doch das
Verhältnis zwischen beiden blieb nicht immer so innig ; die Politik
Sigmunds ging nicht in so gerader Linie weiter, und auch das hat
seinen Niederschlag in unserer Sckrift zurückgelassen.
Schon 1430 beim Aufenthalt des Königs in Schwaben wurde es
getrübt und immer gespannter *) ; das Pfahlbürgertum hatte viele Land-
bewohner dem Steuer- und Gerichtsbann der Herren entzogen, und
die Fürsten verkehrten deshalb bei dem König mehr als den Städten
i) Boehm S. 171 f.
2) Eine lange erber vernünftig und treffliche redde. Reichstagsakten a. a. O. S. 367.
3) Vgl. Aschbach a. a. O. 3. Bd. S. 311.
4) Rcichstagsakten, 9. Bd. S. 494.
— 199 —
lieb war ^). Namentlich hatten die Ritter sich an den König gewandt,
um ein allgemeines Verbot des Püahlbürgertums zu erwirken und um
so die häufigen Zwistigkeiten wegen entlaufener Untertanen zu besei-
tigen. Die Herren hatten das geschriebene Recht für sich, die Städte
das Herkommen ^), den ritterschaftlichen Entwurf nahm der König
nicht in der schroffen Form an, sondern suchte die gegen die Städte
gerichtete Spitze abzubrechen, aber es genügt, dafs er tatsächlich
das Pfahlbürgerverbot auf dem Reichstag zu Nürnberg im Jahre 143 1
erliefs '). Damit hat sich Sigmund für immer den Ruhm einer wahren
Städtefreundlichkeit verscherzt; die Städte fühlten dieses auch und
wurden zurückhaltender ^). Kurzum das Verhältnis zwischen den
Städten und dem König hat auf diesem Reichstag einen Tie^unkt
erreicht. Den, wenn auch nur sachlichen Widerschein davon, zeigt
die sogenannte Reformation besonders in dem Kapitel, daß jede reichS"
Stadt mag bürget aufnehmen % In letzterem wird deutlich auf die
Streitigkeiten zwischen Herren und Städten um das Pfahlbürgertum Bezug
genonmien *). Die Reichsstädte haben die Freiheit der Bürgerauf-
nahme van angende; dies hat bestätigt Jcaiser Sigmund aUen reichstetten
(Us ein mehrer des reichs, der aUe freiheit geit und nimmt nach der
Sachen statt. Denn die Erteilung des Bürgerrechts geschieht nach
dem Urteil unseres Verfassers von des hl. reichs wegen, daß ^ (die
Reichsstädte) das sterkten ^). Die Einzelheiten über die Bedingungen
zur Aufnahme eines Bürgers zeigen den Stadtschreiber und sind dem
Stadtrecht einer Reichsstadt entnommen. Aber noch ein anderer sach-
licher Gegensatz gegen das Pfahlbürgerverbot ist zu entdecken in dem
Kapitel: van ewing und benn nach kaiserlichen rechten. In der kaiser-
lichen Urkunde steht eine Bestimmung über die Ansprechung von
Leuten als eigen ^. Gegen diese Besetzung einer Person als sein
i) Reichttagsakten, No. 394.
2) Hans Ehioger drückt das in seinem Bericht über den Reichstag sa Nttrnberg
1431 an Ulm ans. Ebenda No. 430.
3) VgL Ebenda No. 427, 429 o. 429h.
4) Wie grofs die Spannung zwischen den StSdten nnd dem König wurde, zeigt die
Besorgnis Nürnbergs. Ebenda S. 502.
5) Ebenda S. 236 f.
6) Die Herrn dürfen nü gedenken, daß ihnen ihr xwing und bann mehr helfen
eoüeni kriegen, sie Hand bisher auf solches gehalten und hand dick krieg aufgetrieben
umb ein varUmtx,
7) Ebenda S. 237.
8) Reichstagsakten, 9. Bd. No. 429 Art 2h: tcill einer eine person für sein eigen
person besetxen.
— 200 —
eigen, also gegen die Leibeigenschaft, ist das genannte Kapitel des
Verfassers ein feierlicher Protest, der eingeleitet wird mit den Worten*):
es ist eine ungehörte s(ju:h, daß man es in der hi. chrisienheii öffnen
muß das groß unrechi. so gar für gai, daß einer so geherzt ist vor
gott, daß er gedar (= wagt) sprechen zu einem: du bist mein eigen . . .
Christus hat uns durch seinen tod gefreit und von aUen banden ge-
löst, wer getauft ist und gelaubt, die sind in Christo glieder gezählt^
darumb wiß jedermann, wer der ist, der seinen mitchristen eigen spricht,
daß der nit Christen ist Wir sehen also, welchen Hintergrund diese
feierliche Absage und Kriegserklärung gegen die Leibeigenschaft hat:
sie ist zurückzufuhren auf den Ansturm, den die feudalen Geburts-
stände gegen die Freiheit der städtebürgerlichen Berufsstände und
ihren Grundsatz: „Wer das Weichbild der Stadt betritt, ist frei", unter-
nahmen, indem sie sich vom Kaiser ein Verbot des Pfahlbürgertums
erwirkten. Aus diesem Gedankengange erklärt sich auch die hier und
wiederholt verkündete Freiheit jedes Cluisten: sie ist nicht die der
Revolution, der Sozialdemokratie, wie Boehm gemeint hat, sie ist also
keine Phantasmagorie , sie ist vielmehr eine Freiheit, die tatsächlich
bestanden hat, und zwar in der mittelalterlichen Stadt, von der sie
der moderne Staat übernommen hat. Nur diese Freiheit meint der
Verfasser, die im Gegensatz steht zur Leibeigenschaft, wie er es auch
sonst ausdrückt: u^er woUt wider sich selbst sein und lieber eigen sein
denn frei •). Koehne stellt die Forderung der Freiheit mit dem Evan-
gelium •) zusammen. Doch von dem Evangelium spricht der Ver-
fasser nirgends; wohl führt er die Freiheit jedes Christen auf den Tod
Christi zurück *), und das hängt mit seiner eigentümlichen Auffassung
von dem Ursprung der reichsstädtischen Freiheit zusammen : ihr wir^-
dige reichstett, sagt er, ihr habt eure freiheit von äer Christenheit j ihr
seid des hl. glaubens schirmer und recht vogt ^). Es wird hier der gött-
liche Ursprung der kaiserlichen Würde im Mittelalter geradezu mit
denselben Worten auf die Bedeutung der Reichsstädte übertragen •).
darunib ihr edlen reichsstett sind ermahnt bei gott dem vater, bei Jesu
Christo, bei seinem rosenfarben bUU . . . dqß «Ar ansehent, wie wir vcn
gott gefreiet seien ^. Diese fromme Ausschmückung ist an sich im
i) Boehm S. 221.
2) Boehm S. 247.
3) A. a. O. S. 380 ff.
4) Boehm S. 221.
5; Ebenda S. 168.
6) Vgl. dazn ebenda S. 224 Z. 4 ff.
7) Ebenda S. 162.
— 201 —
Mittelalter, wo für alles Denken „die Religion die unentbehrliche
Lebensluft ist" % nicht auffallend, nur die Beziehung auf die Reichsstädte
ist eigenartig und charakterisiert aufs neue die Stellung des Verfassers.
Steht unsere Schrift auch im sachlichen Gegensatz zu diesem
Stüdc städtefeindlicher Politik Sigmunds, so ist doch nichts von einem
persönlichem, der in Wirklichkeit neben dem ersteren einher-
^t*), zu merken; im Gegenteil, das Recht der Reichsstädte, Pfahl-
bü^er aufzunehmen, wirdr gerade auf Sigmund zurückgeführt! Der
Grund liegt darin, dafs sich von jetzt ab wieder allmählich eine An-
näherung zwischen Städten und König vollzieht, die kurz vor dem
Tode Sigmunds, also auch kurz vor der Abfassung unserer Schrift,
nochmals einen Höhepunkt erreicht, und zwar durch die Donauwörther
Angelegenheit, bei der sich die sogenannte Städtefreundlichkeit Sig-
munds wieder im hellen Lichte zeigt. Es mufste den Städten als eine
sonderbare Zumutung Sigmunds erscheinen, zur Erhaltung der Reichs-
immittelbarkeit Donauwörths, die durch den Herzog von Bayern ge-
fihrdet war, mit den eben noch gegen eine ihrer Hauptfreiheiten auf-
getretenen Rittern des St. Georgenschildes einen Landfriedensbund
einzugehen. Diese Angelegenheit spielt lange auf den Reichstagen
10 Basel *), Ulm *) und Regensburg (im Jahre 1434 *) eine wichtige
Rolle. Die Vereinigung scheiterte an den widerstrebenden Interessen
von Rittern und Städten ; jemehr sich Sigmund dabei interessiert zeigte
nnd den Städten entgegenkam •), um so offener traten letztere an ihn
mit der Forderung heran, das Pfahlbürgerverbot nicht durchzuführen.
Denn sollte das Verbot in Kraft treten, so beUeben gar wenig hd an
attenreichssiädien und das wäre allen stäMen ein schlag, die sie niemmer
mAr überwinden, klagen die schwäbischen Städte. Der Grundgedanke
von Sigmunds Politik war, die Städte politisch niederzuhalten, sie nur
zur Befriedung des Landes heranzuziehen und das nur in Gemeinschaft
mit dem niederen Adel. An die Spitze des Bürgertums sich zu
stellen, lag ihm ferne — er hätte die Donauwörther Angelegenheit sonst
nicht den Städten selbst überlassen — , aber seine finanzielle Kraft
i) Vgl. TOD Bezold, Die armen Leute und die detUsche Litteraiur des späteren
MiUdaiiers, in Sjbek Histor. Zeitschrift. N. F. 5. Bd. (1879) S. i.
2) Dafs die Städte im AngeDbUck nichts Yom König so erwarten haben, drttckt ein
Scfcrca>en Ulms an Nördlingen ans: denn es isi not, daß goU die ding naeh noidiurft
und jedermann xu sieh selbst sehe. Reichstagsakten, 9. Bd. No. 484.
3) Y^ Rcichstagsakten, 11. Bd. No. loi, 103 a. 117.
4) Ebenda S. 381 ff.
5) Ebenda No. 240.
6) Ebenda.
— 202 —
wollte er sich nutzbar machen. So mufste Donauwörth, als der Herzog
es frei g^b, eine frühere Schuld Sigmunds streichen, die Zehrungs-
kosten des Kaisers in Ulm mit 13000 Gulden bezahlen und sein in
Basel versetztes Silbergeschirr im Werte von 5140 Gulden auslösen^).
Die langen Verhandlungen über eine Vereinigung der Ritter
Schwabens mit den Reichsstädten haben offenbar dem Verfasser eine
Behandlung des Ritterstandes nahe gelegt. Es ist schon auffallend,
dafs er diesem Stand allein von allen Reichsständen ein eigenes Ka-
pitel widmet, dafls er aber die Ritter als die natürlichen Verbündeten
der Städte betrachtet, weist auf den genannten Zusammenhang hin.
Im einzelnen g^bt er zunächst eine Entstehungsgeschichte des Ritter-
standes in echt frühhumanistischem und nicht revolutionären Geiste:
seine Gründung geht auf den sagenhaften ersten Kaiser Mimus zurück.
Der Grund, der diesem Kaiser dazu bewog, ist offenbar mit Rück-
sicht auf die Gegenwart des Verfassers gewählt: als er nämlich mii
seiner Jcrafl das kaisertum nicM regieren noch behaupUn mocM, damit
die Ritter in des Kaisers Namen gebieten sollten. So regierte der
Kaiser wohl bis auf Konstantin den Grofsen, der vom Papst die kaiser-
liche Gewalt lehensweis empfing als ein staUhaUer und schirmer des
hl. christenlichen glaübens. Da wurden denn auch die hl. reichsteU
geordnet und gefreiet . . . und wurden ihnen geistliche und welüiche
recht empfohlen als dem Jcaiser das reich . , . da wurden die riUer
erst recht gesetgt . . . und sachend an, daß die vordem kaiser oh$%e
die riüerschafl nicht mochten gewdlMglich regieren . , . do wurden sie
(nämlich die Ritter) gewirdigt und bas (= besser) erhöht, denn vor.
Nun hand sie sere abgdan und ton gar blind eu der großen verfallmuß
alles rechtes an geistlichen und weltlichen statt. Nun scUent sie doch
erkennen, wie sie vereint sind mit den reichsstetten . . . daß sie wachend,
wenn es tut not. das geistlich recht ist krank, das kaisertum und aües,
was ihm augehört, statt eu unrecht, man muß es mit kraft durchbrechen.
Wenn die großen schlaffen, so müssent die kleinen ') uHuihen, daß es
doch je gan muß.
Aus den angeführten Stellen klingt des Verfassers Absicht mit
diesem Kapitel klar durch: die Ritter sind die Stützen der kaiser-
lichen Gewalt. Den Städten ist geistliches und weltliches Recht em-
pfohlen wie dem Kaiser das Reich. Da nun das geistliche Recht
krank ist und das Kaisertum zu Unrecht steht, müssen es die Städte
jetzt ihre natürlichen Verbündeten, wie sie es ehemals bei dem Kaisertum
1) Vgl. Aschbach a. a. O. 4. Bd. S. 230.
2) Wer diese „Kleiaen<< sind, zeigt mein Anhang. S. 86.
— 203 —
verbessern und in rechte Ordnung bringen. Dabei sind die Ritter
waren. Wir sehen also neben der schon erkannten Verherrlichung
der Städte, dafe der Ritter hier nach der damaligen landläufigen An-
schauung nicht nur der öffentliche Rechtsanwalt ist, der Witwen und
Waisen beschützt und den Städten die Kriege führt, sondern auch der
geborene Verbündete, wenn es gilt, das Unrecht in weltlichem und
geistlichem Stand bei der geplanten Reform mit krafl zu durchbrechen.
Die innere Reichsreform tritt auf den Reichstagen dieser
Zeit ganz zurück. Es sind aufser dem Streit mit Donauwörth und der
Verhandlung um die Vereinigung zwischen den schwäbischen Städten
und den Rittern des St. Georgen -SchUdes hauptsächlich Angelegen-
heiten der äufseren Politik und der Kirchenpolitik, die nach dem
Presburger Reichstag die politischen Köpfe erfüllen, „Den Regens-
burger Reichstag haben Reichsangelegenheiten offenbar nicht beschäf-
tigt" *). Auf den darauffolgenden Frankfurter Tagen (1434 Dezember
und 1435 Mai und Juni) waren 16 Artikel zur Beratung in Aussicht
genommen, darunter befanden sich solche über Frieden, Gericht und
Beseitigtmg wirtschaftlicher Schäden. „Doch die ganze grofs ange-
legte Aktion des Kaisers ist kläglich gescheitert " *). Augsburg läfst
sich wegen seines Ausbleibens feindschaß halber *) entschuldigen, viele
andere schwäbische Städte fehlen, und selbst der Kaiser sendet nicht
einmal einen Gesandten. So ist von vornherein anzunehmen, dafs
diese Tage, deren Vorschläge und Beschlüsse Koehne auf unsere
Schrift hin prüft, keine Spur in ihr zurückgelassen haben. Der Erfolg
war durchaus negativ, die Unordnung wuchs, die Verhältnisse des
Reichs werden immer unhaltbarer, der Glaube an die Zentralgewalt
immer schwächer und der Drang nach Reform heftiger *).
Zu dieser rafft sich Sigmund zum letztenmal auf dem nun folgen-
den Reichstag zu Eger auf und zwar, wie es scheint, auf Drängen der
Kurfürsten. Denn schon vor den eigentlichen Reichstagsverhandlungen
zeigen sich letztere verstimmt, indem sie „ihm die unbefriedigenden
Zustände des Reichs vorhalten"*). Sigmund antwortet hierauf „nicht
ohne Bittericeit" und läCst nun eine Einladung nach Eger ergehen mit
einem Vorschlag von vier Punkten, nämlich über die Reform von
Gericht, Acht und Aberacht, Landfrieden und Münze. Die Kurfürsten
1) Reichstagsakten, ii. Bd., S. 491.
2) Ebenda S. 492.
3) Ebenda No. 260.
4) Näheres darüber vgl. Aschbach a. a. O., 4. Bd. S. 306 ff.
5) Reichstagsakten, 12. Bd., S. XXXVII. Vgl. aach ebenda No. 31 [lo].
— 204 —
fügen in ihrer Antwort diesen vier Artikeln noch einen fünften hmzu :
vom rieh, daß es sehr versplissen, verpfand ist, nun virkauft toird.
Sigmund ist über diesen Vorwurf sehr ungehalten und sucht mifstrauisch
gegen die Kurfürsten, die ihn immer mehr aus Deutschland zu ver-
drängen suchen, den Angriff zu parieren, indem er ihnen die Voll-
macht erteilt, einen Reichstag zur Vornahme der Reform abzuhalten,
aber nicht etwa als Zeichen des Vertrauens, oder im Glauben, diese
könnten ohne seine Autorität doch nichts ausrichten ^), sondern er
wendet vielmehr wieder die von ihm oft beliebte Politik an, einen
Reichsstand gegen den anderen auszuspielen. Da Sigmund die scharfen
Interessengegensätze zwischen den Städten und Herren kennt, so schlägt
er sich diesmal zu ersteren, um letztere im Zaume zu halten. Daher
rührt eine neue gro(se Einmütigkeit zwischen König und Städten, und
der Einflufs, den die Verhandlungen in Eger auf unsere Schrift geübt
haben, läfst sich wiederum erkennen.
Offenbar waren die Kurfürsten noch vor dem Reichstag bemüht,
einige Propositionen Sigmunds in ihrem Sinne eigenmächtig zu lösen;
der Kaiser hört davon und wendet sich bezeichnenderweise, um Atis-
kunft über ihr Verhalten zu erlangen, an die Städte : so fragt er Nürn-
berg nach den geheimen Plänen der Fürsten. Dieses weife aber nur
von einem Tag derselben in Lahnstein zu berichten, wo über die
Münze beraten werden sollte *).
Wie sehr der Kaiser die Städte in sein Vertrauen zieht, zeigen
auch andere Berichte ') : so sind einige Städteboten auch der Augs-
burger, dessen Bericht aber leider fehlt, dem Kaiser nach Prag ent-
gegengeritten *) , wo sie diesen in einer Unterredung offenbar wieder
über die Fürsten ausforscht. Der Frankfurter Gesandte gibt dann
einer Besorgnis ^) Ausdruck, die sich auch im Laufe der Verhandlungen
bestätigen sollte und die auch im voraus ein Licht wirft auf den Grund
der Uneinigkeit der Fürsten mit den Städten in ihren beiderseitigen
Reformentwürfen auf dem Egerer Reichstage *).
i) Reichstagsakten, I3. Bd., S. XXXVII, wie Qnidde meint.
3) Vgl. Reichstagsakten, 12. Bd., No. 68. Übrigens hatten die Städte Grand ge-
nug, über das Vorgehen der Fürsten betreffs der Mtinze sa wachen. Wie wir unten
sehen werden, erfolgt nach dem Tode Sigmunds sofort ein Angriff der Knrfflrsten gegen
das Münzrecht der Städte.
3) Ebenda No. 75.
4) No. 78.
5) Ebenda No. 83.
6) Ich besorge, schreibt er an Frankfurt, kommt der kaiser, daß den «iedffi
wUckn zugemutet werde, dcfi guten ratee den stedin not wäre; denn die fitrtten
— 406 —
Mehrfach stimmt man deshalb schon vor den eigentlichen Ver-
handlongen von städtischer und königlicher Seite seine Erwartungen
über den Erfolg derselben tief herab ^). Sofort mit dem Zusammen-
tritt des Reichstags kommen die gegensätzlichen Interessen zum Vor-
sdiein. So meint der Nürnberger Gesandte *) , der Ratschlag der
Fürsten über die vier kaiserlichen Propositionen sei zu weit und zu
viel enthaltend , dardt$rch aüer statte freiheii schwerlich gekrenkt würde.
Die Antwort der Städteboten an den Kaiser über den Entwurf der
Fürsten nimmt derselbe beifallig auf; der Berichterstatter glaubt, daCs
Fürsten und Städte sich hc^t einen, wann jedermann sucht seinen vor-
teily die Städteboten seien aber aUe eins und das sei ihr glück ').
Auch der Frankfurter Stadtschreiber, der uns über diesen Tag am
ausführlichsten berichtet, nennt die Erklärung der Fürsten einen langen
begriff y ebenso äufsert sich nach ihm der Kaiser zu den Städteboten:
der Begriff sei in etlichen stücken wüde und wid. Auch bei einer Be-
sprechung des ßirstlichen Ratschlags im einzelnen zwischen Sigmund
und den Städteboten ward es letzteren immer klarer, dafs mehrere
Artikel desselben wider kaiserliche und andere Rechte und ihre
Freiheit und Herkommen wären. Die kurze Gegenschrift der Städte-
boten gefiel dem Kaiser besser als der Fürsten Verzeichnis ; es wurde
dann eine Kompromifsschrift verfafst unter Leitung eines kaiserlichen
Bevollmächtigten, der sich ebenfalls nach der Meinung der Städte
richtete. Der Kaiser machte noch den Vorschlag über einen Land-
frieden und die lande in 4 teüe m teilen ^) ; die Fürsten glauben mit
dem Beschlossenen genug getan zu haben. Sigmund nimmt dies
etwas weigerlich auf, die Städteboten dagegen erklären sich bereit, auf
alle kaiserlichen Vorschls^e einzugehen, falls die Kreiseinteilung noch-
mals beraten werden sollte. Der Kaiser dankt für die Untertänigkeit
der Städte mit der B^^ndung, er wäre auch immer ihr gnädiger
herr gewesi und wollte es auch noch sein. Der kenig warb noch oft
darwn, nämlich um Landfrieden und Kreiseinteilung, sagt der Frank-
furter Berichterstatter, doch aUes blieb liegen. Deutlich erkennbar ist
migertide emg^uiben un$ nach gewaU gu fragen und sehen gern, defi man an den
gereekUn anhübe; dann die in aUen landen nU bestcdt sind, ah büge were und ein
mmme gemein recht hestaU uford, dffi aw^ getnein Hed boten kein gefäUn han; dann
mBe er und unBer freiheit dardorch viemechtgU wordin.
i) VgL ReichsUgstkten, 12. Bd., No. 86 a. 87.
2) Ebenda No. 88.
3) VgL anch No. 91.
4) Ebeoda Artikel 16.
— 206 —
hiernach ein gutes Einvernehmen der Städte unter sich und mit dem
König, ein starkes Betonen ihrer Freiheit und des kaiserlichen Rechts,
ein bereitwilliges Eintreten für den kaiserlichen Plan einer Teilung des
Reichs in vier Kreise zum Zwecke des Landfriedens.
Sehen wir uns nun die Kompromifsbeschlüsse zwischen Herren
und Städte näher an! Von dem Hofgericht, mit dessen Bestellung
die Kurfürsten zum Schein ihrer Arglosigkeit gegen den Kaiser ihren
Entwurf*) beginnen, ist hier nicht mehr die Rede, sondern vor allem
vom Landfrieden : die der Acht und Aberacht Verfallenen sollen nach
dem bestehenden Rechtsgebrauch behandelt werden; auch sollen alle
Reichsstände alle ihre Gerichte und Rechte aufrecht und redlich halten
nach Recht und Herkommen. Es wird also von einer Neuordnung des
Rechtsverfahrens bei Schuldforderungen ganz abgesehen. Dagegen ist
noch ein Zusatz, offenbar von den Städten im Gegensatz zu dem
fürstlichen Austragssystem durchgesetzt worden: doch jedermann in
seinen rechten und freiheiten in dUen sachen unscJiedelichen. Abgesehen
von der Anerkennung der Vchme in ihren rechtlichen Grenzen wurde
auch die von den Herren allein gestellte Forderung über herrenlose
Knechte aufgenommen. Von der Münzordnung weiis dagegen der
fürstliche Vorschlag nichts, wohl weil sie diese Angelegenheit eigen-
mächtig ordnen wollten und im voraus gegen das Münzrecht der
Städte waren. So kommt es denn auch, dals sie den städtischen Vor-
schlag über die Münze, dafs die iQkaratige Goldmünze als gemeine
Landeswährung gelten, die silberne dagegen nach jedes Landes Gre-
wohnheit ordentlich geschlagen werden soll, einfach über sich ergehen
lassen. Kurzum es werden alle vom Kaiser angeregten, von den
Fürsten z. T. gar nicht berührten Punkte erledigt und zwar mit grofser
Anpassung an den Vorschlag der Städte.
Sehen wir nun, wie sich unser Verfasser zu diesen Verhandlungen
verhält. Die vier Artikel der Egerer Reichstagsverhandlungen sind
ohne Zweifel deutlich in unserer Schrift angeschlagen, so vor allem
in dem Kapitel von dem gericht und vom rechtsprechen um eigen und
erb *). Letzteres war in dem Ratschlag der Fürsten ausdrücklich von
einer Behandlung ausgenommen und bei der Besprechung des ersteren
weifs er nichts von dem Austragssystem, das von den Fürsten geplant
war. Es werden nur praktische Gesichtspunkte, wie die Forderung-
eines guten Leumundes des Richters, über den Instanzenzug u. a. gel-
i) In No. 93.
2) Vgl. Boehm, S. 227 f.
— 407 —
teod gemacht und nicht prinzipielle wie auf dem Egerer Reichstag.
Nur private Ansichten liegen den Forderungen des Verfassers zu Grunde,
die offenbar städtische Einrichtungen teils kritisieren, teils kopieren.
Besonders wichtig für eine Reichsstadt war auch die Frage nach der
Kompetenz der geistlichen und weltlichen Gerichtsbarkeit. „ Die Aus-
dehnung der geistlichen Gerichtsbarkeit auf rein weltliche Streitsachen,
von den Laien lange Zeit gebilligt, führte damals zu häufigen Konflikten.
Besonders die Städte suchten diesen Übergriffen durch Verbesserung
der eigenen Rechtspfl^e einen Damm entgegenzusetzen** *). Unser Ver-
£user bestimmt in dieser Beziehung : das geistliche Recht soll in geist-
lichen Gerichten herrschen, das kaiserliche bei den weltlichen, be-
sonders an den Hauptgerichten soll über Blutschuld nach dem kaiser-
lichen Rechisbuch gerichtet werden.
An den Streit über die Kompetenz des geistlichen Gerichts schliefst
das Kapitel an : man soU niemand bannen umb geUschuld ^). Es ist be-
kannt, welcher Miisbrauch mit der geistlichen Gewalt gerade bei welt-
lichen Angelegenheiten im ausgehenden Mittelalter getrieben wurde.
Namentlich brach in den Städten häufig Streit aus zwischen der Pfaff-
beit und dem Rat wegen rein wirtschaftlichen Fragen, so z. B. wegen
des Wetnungelds *). Der Bischof exkommunizierte aus solcher Ver-
anlassung oft die Stadt, und Sperrung des Gottesdienstes war dann die
Folge. Es fordert deshalb der Verfasser, dafs um Geldschuld nicht
mehr gebannt werden soll. Auch wegen anderer Verbrechen, Avie
wegen Sakrileg, Wucher und Ehebruch, die sich ein oder zwei Per-
sonen zu schulden kommen lassen, den goUesdienst gu hindern, sei
dAädUek. Nur bei grö&erer Beteiligung an schweren Vergehen soll
man mit verschlahen der kirchen und niederlegen des goUesdienstes vor-
gehen. Auch das an dieser Stelle getadelte Unrecht der Bischöfe,
ni^erechte Steuern auf die Pfaffheit zu legen, um Kri^ zu führen,
le^ der Verfasser in demselben Lichte, wie im ersten Teile seiner
Schrift. Denn weltliche Sachen und der Besitz von Lehen will er den
Bischöfen abgenommen wissen. Mit diesen Klagen des Verfassers
werden wir aber lebhaft in das Augsburg von damals versetzt. Burchard
1) Joachimsohn, Chregor Heimburg (1891) S. 15.
2) Boehm, S. 229. — Anch der genannte Ratschlag der Ftlrsten bertthrt diese
Fra^: d4nß die geistUehen geriehte nicht richten noch arme Jeute mit laden pannen
oder wtU proMceee hcMchweren in weltlichen sw^ien, Artikel [10].
3) Beisptele geben H. Boos, Geschichte der rheinischen Städtehultw, 2. Teil
(1897), S. 2380. für Worms, und H. Hegel, Verfaseungsgeschichte von Mainz im
MOUkMer (1882X S. 40 dir Mainx.
— 208 —
Zink ^) berichtet ßir das Jahr 141 8 von einem skandalösen Streit der
Stadt Augsburg mit dem Bischof Neuninger, dem bei der Wahl wohl
die Pfaffheit , aber nicht der Rat anhing. Der Bischof bannte *) die
Stadt, und die Pfaffheit verliels dieselbe, weil sie nicht mehr lesen
wollte. Doch hold waren wieder viele pfaffen da und ward alles schlechi,
die Augsburger beklagten sich beim König über den Neuninger, der
die Augsburger gegen Rom wegen des Weinungeides und des Pflaster-
zolles laden liefe. Zink verurteilt auch diesen geistlichen Übergriff
scharf mit den Worten: das doch weltlich sach war und daß mam sie
um kein wdttich sach fw ein geistlich gericht mit laden stelU, denn das
sei verbrieft von Kaiser und Königen ').
Auch die Frage des Landfriedens mu&te den Verfasser als Städter
beschäftigen. In einem eigenen Kapitel ^) fordert er vor allen die
Reichsstädte auf, sich gegenseitig zum Frieden zu mahnen. Aber auch
die Frage nach der Einteilung des Reiches in vier Teile, die vom
Kaiser selbst zur besseren Handhabung des Landfriedens auf dem letzten
Egerer Reichstag angeregt wurde, erörtert unser Verfasser in dem Ka-
pitel : man soll 4 vikari des reidis seUsen % Jeder soll Reichsgewalt
haben und soll residieren in einem der vier Teile der Christenheit,
nämlich in Österreich, Mailand, Savoyen und Burgund. Diese sollen,
ein jeder in seinem Bezirk, ein Schiedsgericht bilden, vor dem alle
Rechtshändel des einzelnen Sprengeis ausgetragen werden. Wer sich
dem nicht unterwirft, wird von allen Reichsständen befehdet; die Hel-
fershelfer werden wie diejenigen, die im Ungehorsam verharren, in
contumaciam prozediert, und zwar bezeichnenderweise wieder von den
Reichsstädten. Ebenso sollen die Reichsstädte den Brand-
schatzem land und sfwinge gewinnen und dem reiche schwören und
dienen. Ob hier der vom Kaiser zu Eger gemachte Vorschlag vom
Verfasser mit eigenen Gedanken umschrieben wiederg^eben ist, läist
sich nicht kontrollieren ; jedenfalls decken sich seine Forderungen mit
anderen ähnlichen Vorschlägen in dem sogleich darauffolgenden Jahre
unter Albrecht nicht. Genug ist, dais damals die Städte gerade wie-
der auf diese Vierteilung des Reiches mit ausdrücklicher Beziehung auf
Sigmunds Ratschlag zu Eger zurückgreifen.
Auch den vierten und letzten Artikel des städtischen Ratschlags
i) VgL Chroniken der Städte, 5. Bd. (Angsborg 2. Bd. 1866), S. 77.
2) s. 79.
3) Ebenda S. 86.
4) Vgl. Boehm, S. 234.
5) Vgl. ebenda S. 232 ff.
— 40Ö —
und des gemeinsamen Kompromiisbeschlusses zu Eger (Mr. 94 u. 95)
von der Münze hat unser Verfasser in seinem Kapitel über die müme ^)
behandelt Die Münze sei schlecht, weil äos gold geschwächt wird
teils durch nach der Prägung vorgenommene äufsere Manipulationen)
teils durch ursprünglich schlechte Prägung *) : man soll deshalb die
Münzfälscher verbrennen und sie des Münzrechtes berauben. Aber
auch aüe fireüieü der münss sott ab sein '). Das Münzregal soll dem
Könige zurückgegeben, der Gold- und Silbergehalt der Münzen durch
buOe %md brief festgelegt werden. Alle Münzen sollen auf dem Avers
des reiches geichen, auf dem Revers der herm oder städte zeichen tragen,
damit der Fälscher erkannt wird. Dieser soll das Münzrecht verlieren
und 100 Goldgulden in die kaiserliche Kammer zahlen. Diese Art
der Münzreform geht ofTenbar weiter als der Egerer Reichstagsbeschlufs,
der sich an den städtischen Ratschlag sehr eng anlehnt. Die Forde-
rungen sind hier bestimmter und genauer und hätten eine Umgestal-
tung des Münzwesens zu Gunsten der Reichsgewalt bedeutet : es drückt
sich hierin wieder der einheitliche Zug unserer Schrift nach der ganz
bestimmten Richtung des Verfassers als eines Reichsstädters aus. Wie
er im ersten TeU von der Reform des geistUchen Standes Heimfall
alles Reichsguts der Geistlichen an das Reich verlangt, das den Reichs-
städten verliehen werden soll ^), so vindiziert er auch das Zollregal
dem Reiche und die Übertragung der von den Geistlichen besessenen
Zölle an die Städte, als die Vertreterinnen des Reichs. So soll jetzt
wieder das Münzregal dem Reiche zurückerstattet und jede Münze
zum Teil als Reichsmünze geprägt werden. Kaiserliches Recht
nach dem kaiserlichen Rechtsbuch soll herrschen, das Reich überall
gestartet werden. Dafür sind die Reichsstädte nicht nur von Anfang
an gesetzt, sondern haben auch jetzt wieder bei der bevorstehenden
Neuordnung einzutreten. Diese hohe politische Wertschätzung der
Reichsstädte deckt sich aber mit der von Kaiser Sigmund wenn auch
mir zur Schau getragenen Auffassung über die Bedeutung der Reichs-
i) Vgl. Boehm, S. 247.
2) VgL den Auftrag Nürnbergs an seinen Gesandten in Eger. Reichstagsakten,
12. Bd^ No. 84. Er soU dem Kaiser erklären, dafs es bisher reäUeh die müns ge-
halten habe und daß unsere herm die furaten umb uns eine geringere iiKünse darein
meinen eu schiahen und jetet scMahen, daß die nicht allein uns und unsere Stadt,
mmdem lant und leuten grqfien edtaden sei. Vgl. anch ebenda No. 51. Ulm schreibt
an Nördlingen Dezember 1436 betreffend Schädigung der sUbemen münz durch die
Miinxen Berns und Überlingens.
3) VgL Boehm, S. 248.
4) VgL Deutsche Geschichtsblätter, IV. Bd. S. 12.
16
— 210 --
Städte. Auch die Donauwörther Angelegenheit warf ein den Presburg^er
Äufserungen ähnliches Licht auf diese hohe Auffassung des Kaisers
von den Reichsstädten. Es soll nach dem Abschied eines schwä-
bischen Städtetages ') die Meinung des Kaisers über den Eintritt
Donauwörths in den schwäbischen Städtebund gewesen sein, daß die
Städte sie (nämlich Donauwörth) bei dem heiligen römischen reich je
handhaben und behalten sollen seiner kaiserlichen gnade m toUlen, dem *
römischen reiche zu umrden und ehren und des M. röm. reichs zu
nutzen und sterkung ... als des hl. röm. reichs ein tröstlich schloß und
thore zum Bayemlande, da es vor Zeiten den Reichsstädten zu schwerem
Abbruch von dem römischen Reiche entfrenidet worden sei. Auf dem
letzten Reichstag des Kaisers kam dann nochmals das innige Einver-
nehmen der Reichsstädte mit dem Kaiser zum deutlichen Ausdruck.
Da ist es denn verständlich, dafs gerade ein Städtebürger unter dem
Namen Sigmunds gleichsam als Vollender und Vollstrecker eines Ver-
mächtnisses des Kaisers ein Reformprojekt herausgibt und zu dessen
Vollzug gerade die Reichsstädte herausfordert.
Aber das gute Einvernehmen Sigmunds mit den Städten auf dem
letzten Egerer Reichstag traf gerade mit einem auch von Sigmund
vereitelten Angriff der Herren auf die Freiheiten der Städte zusammen.
Es war somit von neuem unter dem Namen dieses Kaisers den Städten
gleichsam die Parole gegeben, zu einer energischen Abwehr gegen
die nun unter Albrecht sich wiederholenden Angriffe der Herren auf ihre
Freiheiten zu schreiten. Dafs ein versteckter hochgradiger Gegensatz
zwischen Herren und Städten auf dem Egerer Reichstag bestand, ohne
dafs direkte Berichte darüber vorliegen, ist durch einen Rückschlufs
von den Handlungen der Fürsten nach dem Tode Sigmunds auf die
Gesinnungen derselben noch zu dessen Lebzeiten namentlich auf dem
genannten Tage unabweisbar. Bei der Prüfung der nun unmittelbar
folgenden Schritte der Herren sowohl als der Städte, sehen wir wiederum
diurch Rückschlufs die grofee Einigkeit der Städte mit Sigmund zu Eger
ausdrücklich ausgesprochen, ebenso die dort unter dem Einverständnis
desselben Kaisers beschlossenen Artikel als das Mindestmafs ihrer Re-
formforderungen angesehen. Vor allem aber bricht aus allen diesen
politischen Akten der Fürsten das heftige Verlangen hervor, anstatt
das Reich zu reformieren, endlich den Städten die Freiheiten zu nehmen.
Da mufe es denn wieder selbstverständlich sein, wenn ein Reichs-
städter den von Sigmund unter dem Beifall der Städte wiederholt in
i) VgL Reichstagsakten, ii. Bd., No. 244«
— 211 —
Angfriff geüommenen Plan einer Reichsreform in dessen Naraeü auf*
greift und gerade städtisches Wesen und städtische Freiheit nicht nur
zu rechtfertigen, sondern zu verallgemeinem sucht.
Bald nach Sigmunds Tod (9. Dez. 1437) treten die Kurfürsten
in einer Landfriedenseinigung geschlossen auf *). Der Gesandte Frank-
furts berichtet dann über die „Werbungen" der Kurfürsten bei dem
neuen König Albrecht, die gar grtißelichen sind tmder euch besonders
und aJle anderen reichsstett ^). Denn sie bezwecken nichts anderes als :
primo den stetten ihre freiheiten zu widerrufen, die nickt redlich sind.
Item besonders d€fß sie nirgends eu recht stehen seilen, denn bei ihnen,
item betreffend ihre müfize, die etliche haben *). So haben wir denn
hier klar ausgesprochen, was die Herren mit ihrer Reichsreform wäh-
rend der Regierung Kaiser Sigmunds wollten, nichts anderes als die
Widerrufung der städtischen Freiheiten aber namentlich der Freiheiten
des eigenen Gerichts und der eigenen Münzen: kurzum der Kampf
des territorialen Fürstentum um die Reichsunmittelbarkeit der Städte
wird immer akuter. Zugleich wird aber auch durch dieses post hoc zu
der wichtigsten Frage über den Egerer Reichstag, weshalb die Städte
so auiserordentlichen Anstols an den Vorschlägen der Herren genommen
haben, ein propter hoc in dem Sinne der bereits von Quidde mit an-
deren Gründen versuchten Lösujig geschaffen. Das fürstliche Aus-
tragsystem sollte ofTenbar die städtische Gerichtsbarkeit durchlöchern,
und nicht weniger gab das Münzrecht, zu dessen Reform der fürstliche
Ratschlag schweigt, den Grund zu einem latenten Gegensatz zwischen
Herren und Städten.
Aber auch auf städtischer Seite macht man mobil mit Vorstel-
lungen bei dem neuen König. So schreibt Speier an Köln wegen
einer städtischen Zusammenkunft, um zu beraten, wie man dem König
die not und gebrechen der städte verlegen soll, und hoffl, dafs Albrecht
gegen ungiemlichkeiten und unredliche wege der fiirsten stehen werde *).
Als nun der König nach Nürnberg einen Reichstag *) wegen der drei
Punkte: gemeiner Frieden, Münz und Gericht ausschreibt, da be-
i) Vgl. Janssen, Frankfurts BeicJukorre^pondene, No. 794.
2) Ebenda No. 800.
3) Ebenda No. 801. April 1438. In der Instraktion der kurfürstlichen Gesandt-
schaft soU gestanden haben: Item cds wohl wissentlich tat, daß mancherlei freiheit
die etädte erworben ?u»n, die unziemlich und unredlich sind, daß mit dem eu*
künßigen könig geredet würde, wifilicher zu bedenken, w(u eu bestätigen sei oder
nit mit rat seiner kurfürsten und anderer fürsten.
4) Ebenda No. 805.
5) Ebenda No. 807.
15*
- äli —
bchlie&en die Städte auf einem vorberatenden Tage zu Ulm i) bei
den Artikeln zu Eger (1437) bleiben zu wollen; 2) sich wegen
ihrer Freiheiten und Rechte besser zusammenzutun w^en man-
cherlei ivilden landsläufen und Artikel über diese Vereinigung jedem
Rate zu übergeben, 3) sei auf Antrag Nürnbergs auch über Geleit und
Zoll geratschlagt worden und nun anderes nach jeglicher Stadt Not-
durft *). Auf diesem Tage waren Ulm und Augsburg auch vertreten.
Die obengenannten Artikel über eine festere Einigung der Reichsstädte
liegen nun von Augsburg und der schwäbischen Bundesstädte vor, sie
zeichnen eine feste, detaillierte Organisation der genannten Städte
gegen Angriffe von einer dritten Seite, das ist von selten der Fürsten,
namentlich zum Schutze ihrer freiheiten, als sie von dem hl. reiche her-
kommen wäre *). Ravensburg schlägt vor, alle Streitigkeiten unter sich
zu lassen oder durch ein Schiedsgericht untereinander zu schlichten *).
Als nun die beiden Reichstage zu Nürnberg (Juli und Oktober 1438)
zu Stande kommen, da schlagen die königlichen Räte zur Handhabung
des Landfriedens die von Sigmund vorgeschlagene Teilung des Reiches
vor, aber nicht in vier, sondern in sechs Kreise^). Die Städte
bleiben bei der von Sigmund vorgeschlagenen Teilung in vier und
beziehen sich ausdrücklich auf die Einigkeit mit Sigmund in diesem
Punkte. Das zeigt der Abschied des vorberatenden Städtetages zu Kon-
stanz, wo gerade von selten Augsburg und Ulms geltend gemacht
wird, auf dem zweiten Reichstag zu Nürnberg bei den sseUdn des
Egerer tags von 1437 0u bleiben und darinnen tmserm herm den kaiser
(Sigmund) seliger gededUnas gu anhoarten ganz eins gewesen sind %
Unser Verfasser bat nun auch die Vierteilung des Reiches bei-
behalten und dem Vorgang der Städte, stimmt aber mit den örtlichen
Bezirken dieser vier TeUe mit den von den Städten dort vereinbarten
nicht überein: es ist eben in unserer Schrift nur eine der in Konstanz
in einem Gesamtbeschlufe untergegangenen Einzelstimmen. Auch die
ausführlichen Verhandlungen zu Nürnberg über Gericht, Austragver-
fahren *) und Münze ^) stimmen in keiner Weise mit den von unserem
Verfasser über dieselben Punkte gegebenen Vorschlägen überein.
1) VgL Janssen, No. 810.
2) Ebenda S. 446.
3) Ebenda S. 447*
4) VgL Wencker a. a. O., S. 340.
5) Janssen a. a. O., S. 45^ f.
6) Vgl. Wencker a. a. O., S. 343 u. 349.
7) Ebenda S. 357 u. 359.
— 218 —
Boehm, der jene im emzelnen mitteilt ^), konstruiert eine Übereinstim-
mung, ist aber selbst am Schlusse derselben von ihrer Unhaltbarkeit
äberzeugt Es sind vielmehr die Vorschläge unseres Verfiusers, wie
gesagt, eine Einzelstimme zu den vorbereitenden Verhandlungen auf
den Städtetagen zu Ulm und Konstanz. Die wiederholt auf diesem
Tage zum Ausdruck gekommene Übereinstimmung mit Sigmund und
namentlich auch von selten Augsburgs in der Frage der Teilui^ des
Reiches und der Reichsreform überhaupt und die ausdrückliche Er-
klärung bei dieser mit Sigmund zu Eger vereinbarten notkin bleiben
zu wollen, fuhren zu der Angabe des Verfassers, als vollziehe er nur
die Reform des genannten Kaisers, der nur ein Wegbereiter gewesen
sei, ganz abgesehen davon, dafs sie das von uns oben schon bewie-
sene Einverständnis zwischen Kaiser und Städten zu Eger von neuem
klar l^en. Namentlich die in Ulm zur Vorberatung gelai^^ten Gegen-
stände über Zoll und Geleite und sonstiger Notdurft der Städte sind
offenbar die Unterlagen zu unserer Schrift in ihrem zweiten Teile.
Eine städtische Instruktion zu diesen Tagen, auf denen die Städte bei
der von Sigmund b^onnenen Reichsreform bleiben wollen, hat ohne
Zweifel unserem Verfasser vorgel^en und er hat sie erläutert im
reichsstädtischen Geist und Interesse. Wenn man sich diese Einzel-
heiten namentlich das zu Eger bei der Reichsreform zu Tage getretene
Einverständnis zwischen Städten und Sigmund und auch die spätere
Betonung desselben fest vor Augen hält, dann versteht man allein
den Sinn der Worte unseres Verfassers über die Herkunft seiner Re-
form des weltlichen Standes: tvir thun aber m$ wissen, dtf/l unr mit
hohem und weisen diese urhmd (nämlich Sigmunds) als sie an ihr selbst
hesdtehen ist, erläutert haben und finden darin daß wahrlidh gottes um»-
fmng ist, was wir nun van stOch su stück erJdert haben und wird m
emem reckten bekennen bracht.
Aber auch von der Rührigkeit, womit damals die Städte die
bürgerlichen Zustände zu verbessern streben, ist unsere Schrift ein
hervorragendes Zeugnis. Der Verfasser deutet ganz offen auf die Re-
formbestrebungen der Städte im Jahre 1438 hin; an der Stelle, wo
er vom jüngsten Propheten spricht, der einen kleinen Geweihten als
den Reformator für das Jahr 1439 verhelfst, sagt er: daß in dem
neunten Jahr (d. i. 1439) dieses aufgehen soUe, das ist nun beschehen,
offenbar mit der Abfassung und Verkündung seiner eigenen Reform.
Gleich darauf fährt der Verfasser fort: wann etUch reichslädt haben
i) a, n. O., S. 95 ff.
^ 214 —
geworben in dem vordem jähr um diese Ordnung und vermeinen auch
dojsu zu ihun. Dieses vordere Jahr ist also 1438 und die Werbung
um diese Ordnung ist nichts anderes als die Beratung der Städte zu
Ulm imd Konstianz. Dieselbe Rührigkeit bezeichnet auch der Verfasser
mit den Worten: die städte, die sich üben in dieser sache und Ord-
nung *). Aber sie hat auch ihren Grund in dem Gefühle der Bc-
dröhimg von seiten der Fürsten *) ; die Städte wollen deshalb bei dem
neuen König den Werbungen der Fürsten zuvorkommen. Schon bei
der Beratung des Landfriedens zu Nürnberg 1438, als man sich nicht
einigen konnte, liefsen die Städte soM^ abscheidung des tags an seine
Majestät gleich bald gelangen, damit die kurfürsten mit ihrer noitel
ihnen nicht zuvorkämen '). Auch bei dem zweiten Reichstag zu Nürn-
berg wollen die Städte noch vor Ankunft des Königs daselbst, den-
selben über alles unterweisen, ehe dann daß die fürsten gemeinUch jau-
kommen werden ^). Der Abschied dieses Städtetages zu Nürnberg*
fordert dann eine sehr eilige und notwendige Abordnung an den König
von mancherlei Sachen wegen, die etile alles lantes nicht zu schreiben ge-
bühren und jetzt notdürftiger als vop-mals ^). Und all diese Hast dreht
sich um die Erhaltung ihrer Freiheiten,, die sie nun wiederholt seit
dem Egerer Reichstag betonen *). Wir sahen , wie die Städte sich
zum Schutze derselben enger zusammentun wollen, ja einige, nämlich
Mainz, Strafsburg, Worms und Speier schliefen kurz vor dem Ab-
sterben Kaiser Albrechts ^) ein Bündnis, weil die kurfürsten und andere
fürsten darauf gelegen und vermeint, daß die stadie zu viel freiheU
haben, sottten sie einen römischen konig kiesen, dann würden sie ihn
verbinden, ohne Zweifel diese Freiheiten abzutun. Diese Städte haben
sich auch in gegenseitiger treue und liebe verschworen, keinen römischen
könig gehorsam sein zu woUen, wenn er nicht vorher ihre freiheU, rechte
und gute gewohnheit bestätigt. Wir sehen also, wie die Herren darin
einig sind, die zukünftigen Vertreter der Zentralgewalt gegen die Städte
zu binden und wie anderseits die Städte erkennen, dafs die Reform
der Herren nur die Vernichtung der städtischen Freiheiten bezweckt
und so ebenfalls den zukünftigen römischen König zur unbedingten
i) VgL Boehm a. a. O., S. 300.
2) Vgl. Janssen a. a. O., No. 817.
3) Wencker a. a. O., S. 338 ff.
4) Janssen, No. 825.
5) Ebenda No. 834.
6) Darauf macht Wencker besonders aafmerksam auf S. 354>
7) Vgl. Wencker a. a. O., S. 354 f.
— 215 —
Anerkennung ihrer Freiheiten binden wollen. Die Gegensätze sind bis
zu der Krklärung offenen Ungehorsams und gewaltsamen Widerstandes
zugespitzt ^). Dabei sind die Städte einig, und die Erinnerung an die
einstig'e Einigkeit mit Sigmund in der Reichsreform gibt ihnen den
Mut eines hohen politischen Bewußtseins, die Kraft der Selbsthilfe. Der
Augenblick dazu ist wieder gekommen und er wird von unserem Ver-
fasser kraftvoll au^egrifTen mit dessen Appell an die Reichsstädte,
die von den Herren auf ein falsches Gebiet geleitete Reform in ihrer
Art durchzuführen. Dazu pafst femer die Drohung, mit Gewalt und
dem Schwert nicht nur die Freiheiten der Städte zu behaupten,
sondern auch die städtische Freiheit überhaupt iiir alle zu
proklamieren und zwar mit Hilfe des zu erwartenden und aus städtischen
Kreisen hervorgegangenen Priesterkönigs Friedrich *).
Wie denkt sich nun unser Verfasser selbst den Vollzug seiner Neu-
ordnung? Genau so wie die Vorlagen, auf denen seine Forderungen
beruhen; denn wie ihm bei der Erläuterung des ersten Teils seiner
Reformschrift hauptsächlich motivierte Anträge imd Amendements zu
den Konzilsberatungen zu Basel vorgelegen haben, so liegt im zweiten
Teil im grofsen und ganzen offenbar eine städische Instruktion zu dem
Uimer Städtetag (1438) zu Grunde, wo vorberatend und mit ausdrücklicher
Übereinstimmung mit Sigmunds zu Eger (1437) begonnenen Reichs-
reform über diese selbst sowie über rein städtische Bedür&isse nach
jeglicher stadi notdurfl Beratung gepflogen wurde. Dazu standen dem
Stadtschreiber viele Papiere des diplomatischen Verkehrs der Städte
unter sich und namentlich mit Sigmund von dem Reichstag zu Pres-
burg (1429) und über das Pfahlbürgerverbot zur Verfügung. Also
die Reformtätigkeit am Konzil zu Basel sowie die der
Städte im Jahre 1438 sind in seiner Schrift erläutert und
erweitert. So konnte unser Verfasser auch von der weiteren Re-
formtätigkeit des Kaisers Friedrich sagen: Viel andere Ordnung mrd
i) Für diese Zeit schreibt der Chronist za Augsburg, Burcbard Zink (1444)
a. a. O., S. 1 76, 8 : €8 war eine gemeine eag, daß die Jierm den wiüen hatten, sie
ufolUen äUe reichsstädte verderben und unterdrücken, gott ist herr Über uns aUe, er
behüte,
2) Offenbar versetzt uns die letzte Redaküon unserer Schrift in die Zeit des Inter-
regnums zwischen Albrecht und Friedrich m. Es scheinen mir folgende Worte darauf
hinzuweisen: dein zom ist offen, uAr gangen als die schaf ohne einen hirten.
(Boehm^ S. 161.] Ebenso fafst der Verfasser auch das Reichs-Vikariat ins Auge
auf S. 172 und stellt auch deshalb die kurze Frist von nur i Monat für den Beitritt zu
seiner Ordnung, weil er die prophetische Kombination auf das Jahr 1439 braucht und
nach Albrechts Tod von diesem Jahre nicht viel mehr übrig ist.
— 216 —
man noch verhandeln, die jetzt nicht notdürftig sind jsu erzählen, die
toerden den reichsstädten empfohlen, ein teil in ein cancUi geschlagen.
Also die Reichsstädte, die ja nach ihm an Reiches Stelle stehen, und
ein Konzil sind die zur Vornahme der Reform berufenen Korpo-
rationen, toann ein jeglich concüi ist nun recht bezeichnet die heiligen kirchen.
Dafe der VerCausser an einen Vollzug seiner Reform wirklich ge-
dacht hat, zeigt er selbst an. Er fordert zunächst alle, Herren, Ritter,
Knechte und besonders die Reichsstädte auf: in einem monat frist nach
dieser Verkündigung und Offenbarung, wo ihr innen werd, daß des reichs
banner aufgesteckt werde mit Qraf Friedrichs banner, so trettent zu und
spar sich niemand. Ja mit Gewalt soll jeder, besonders aber wieder
die im Jahre 1438 ja besonders fest organisierten Reichsstädte wider
denjenigen ziehen, der himder thet. Wenn es denn not tourd, daß sie
ermahnt werden mit unser geschrift und ordnungsbuch, wie die botten
zu ihnen kommen, daß sie dieselben in schirm setzen und geleiten in
ihrer eigenen kosten und wären sie in etwas notdürftig, daß sie daran
dienen tincJ also verhüten für unterdrücken und hinderung dieser sdigen
und heiligen Ordnung. Dies gebieten wir bei unseres reichs hulden und
bei der penne 100 M. goldes '). Bem es soü auch ein jeglicher fürst
oder herr, land oder stadt, diese Ordnung in einem buch behalten und
schndl lassen abschreiben. Es soll also nichts anderes als der diplo-
matische Verkehr bei Reichs- oder Städtetagverhandlungen nachgeahmt
werden. Unsere Schrift gibt sich außerdem durchaus als eine offizielle,
alle Stände bindende aber hauptsächlich den Reichssädten geltende
Kundgebung und ist nur insofern „ privat*' als sie offizielle Ratschläge
und Beschlüsse von einem rein persönlichen Standpunkte, nämlich
von dem eines Stadtschreibers und Mitgliedes des Augsburger Huma-
nistenkreises erläutert darbietet. Der Verfasser fragt sich selbst über
die Möglichkeit der Diurchfiihrung seiner Reform, sowie über die An-
erkennung des Priesterkönigs Friedrich aus städtebürgerlichen Kreisen :
Nun möcht man gedenken, wie möcht es zugehen, wenn es sei unmög-
Uch, den gang zu haben. Des mag man wohl verstehen und hören.
Nun kommt die ideale Spekulation des Verfassers: wenn die gemeine
weit bekennen wird unsere freiheit (d. h. die städtebürgerliche und nicht
irgend eine revolutionäre, wie wir oben zeigten), so ist den gewaltigen
häuptem ihre kraft genommen. Denn u^er woUt lieber wider sich selbst
sein und lieber eigen sein (= leibeigen) als frei? Also der Verallge-
meinerung der städtebürgerlichen Freiheit') traut der Verfasser
i) Boehm, S. 168.
2) nod nicht der Freiheit ttberhanpt wie noch Boos a. a. O., S. 454 f. glaubt
— 217 —
soviel Zugkraft zu, dais man sich bei ihrer Verkündung allgemein zu
einer Reform in städtebürgerlichem Sinne und zu einem Reformkaiser
der „ Kleinen " (d. i. der Reichsstädter) dem feudalen Fürstentum zum
Trotz erklären wird. Das ist offenbar ein noch deutlicheres Zeichen des
starken politischen BewuCstseins der Städte als wir es oben in der
Forderung fanden, Zünfte und Pfahlbürgerverbot abzuschaffen, damit
sich die Städte großeckUch auffeten (= vermehrten). Also nicht nur
äo&erlich sollen die Städte wachsen durch Zuzug vom Lande und so
dem städtischen Freiheitsprinzip weitere Kreise gewonnen werden, son-
dern auch die städtische Freiheit soll dem bleibenden Rest hinaus-
getragen werden. Der Gedanke ist kühn und zeigt von dem freien
Horizont des Verfassers sowohl als der damaligen Laien, namentlich
der in dem Augsburger Humanistenkreis.
Aber die Spekulation ist als verfehlt zu bezeichnen. Von ihrer
unmittelbaren Verwirklichung sehen wir nichts. Das hat einmal seinen
Grund darin, dafs der Verfasser die politische Kraft des Städtebürger-
tums seiner Zeit überschätzt. Denn diese hat bereits ihren Höhepunkt
überschritten : die Tage der kraftvollen Selbsthilfe der Städte im Bunde
mit Fürsten und dem Kaiser sind vorüber. Anderseits unterschätzt
er die krafl der gewaiUigen Häupter, der Fürsten: gerade diese ist es,
die jetzt politisch in aufisteigender Richtung begriffen ist. Dem Fürsten-
tum gehört die unmittelbare Zukunft, und bei seinem Aufstieg zur
Höhe im i6. Jahrhundert übernimmt es auch kulturell das Erbe des
Städtebürgertums. Aus dieser Überschätzung der städtebürgerlichen
Kraft ist es denn auch zu verstehen, dafe der zweite Teü weniger der
Reform des weltlichen Standes, wie er es sein will, als vielmehr der
des städtischen Wesens gewidmet ist. Nur für die Städte ist an-
g^cben, was auf Städtetagen durchgeführt werden soll, das Fürsten-
tum aber ist ganz ausgeschieden. Oder sollte der Verfasser gewufst
haben , dafs die von den Fürsten damals angestrebte Reform es nur
auf die Vernichtung städtischer Freiheiten abgesehen hatte, und hat
er deshalb diese in den Vordergrund seiner Reform gestellt, ja die
Verallgemeinerung der städtischen Freiheit gefordert? Jedenfalls be-
steht ein Widerspruch zwischen der Einsicht in die Verhältnisse und
der notwendigen Tatkraft, um Wandel zu schaffen. So sind die Re-
formpläne unseres Verfassers von vornherein totgeboren.
Aber unsere Schrift ist nicht nur ein hervorragendes Zeugnis von
der Höhe bürgerlicher Kultur im ausgehenden Mittelalter, sondern auch
ein Beweis dafür, wie sehr der Reichsgedanke schon bürgerlich
geworden ist Wie überall das Reich in seine ursprüngliche Macht-
— Ä18 —
Vollkommenheit eingesetzt werden und der Kaiser und kaiserliches
Recht überall vorherrschen soll, so sind die Reichsstädte auch überall
die Stellvertreter dieses Reiches. Diesen ist geistliches und weltliches
Recht von Anbeginn empfohlen, wie dem Kaiser das Reich. Ntm
steht das Jcaisertum und alles, tcas ihm eugehort, zu unrecht, man muß
es mit hraft durchbrechen; wenn die großen schlafen, müssen die kleinen
wachen, daß es doch gehen muß. Diese „Kleinen** sind die Bürger
und mit ihnen als ihre natürlichen Verbündeten die Ritter. Darum
soU der namen des Jcönigs Friedrich von Landnau sein oder graf
Friedrich *). Dieser Reformkaiser ist ebenfalls ein „Kleiner**, d. h. Städte-
bürger und dazu ein geweihter; denn er wird stMcer pussiUus genannt
Als Städtebürger und Stadtschreiber mit niederen Weihen hat unser
Verfasser diese Eigenschaften. Ebenso ist er damals noch jung, wie
er es auch vom Reformkaiser Friedrich verlangt, indem er ihn ver-
gleicht mit dem söhn eines haisers von India, dem gott in jungen tagen
toeisheU gab. Dasselbe wird gefordert in dem Gleichnis des Verfassers
aus Matthäus: es sei denn, daß ihr werdent als der jung. Wenn alle
diese Forderungen als „religiöse** *) hingestellt werden, so ist das im
Mittelalter nichts Auffallendes und am wenigsten ein Beweis für die
Persönlichkeit ihres Urhebers. Wie man sich hierin in die Irre führen
liefs, so hat man auch seither die wichtigsten staatsrechtlichen Ge-
danken unserer Schrift falsch gewertet Der Verfasser spricht keine
radikalen Ideen aus, sondern nur Worte einer damals fast all-
gemein gewordenen Erregung und im Bürgertum geltende Gnmdsätze.
Nur als Ausdruck dieser hat unsere Schrift zu gelten und nicht als
Programm einer „gewünschten Revolution**'), die dann im Bauern-
krieg ausbrach. So gereizt auch ihr Ton ist, so hat sie doch keine
aufireizende Wirkung gehabt *). Es hat sich vielmehr auch für das
mittelalterliche Bürgertum bestätigt, was Ranke vom Bürgertum über-
haupt sagt dafs in ihm alle liberalen Ideen wurzeln.
iWn dieser Usarpaüoo des Adels durch noseren V. ist passcod der mn diese Zeit
enrachende Dünkel der httTQJti aas der Kanxlei aosgesprochen , die sich spater ^ofiFen
mit dem Adel aaf eine Stmfe stellen" (TgL Boos a. a. O« S. 394).
2\ VgL Koehnc a. a. O^ S. 370.
3) VgL Boos a. a. O., S« 455, wo dieser falsche ^Ji^ammmhang niletxt aafrecht
erhallen ist.
4^ UamiiteibAre Wirkuut; aui' den Onuig nach Ncnordning hatten nur die hier firisch
und vcnrcj^n mm Aasdnick gekommenen Stichxrörter der Propbetien. Das zeigte ich
in dem Anhang i« meiner Schrift: diu Flmgsdl/rift * 9mm$ aedesMM* an der voiüegenden
Reformtchrift sowie an einer Reihe andeter. VgL S. 94C
— 219 —
Mitteilungen
Yersainillllingeil« — Die siebente Versammlung deutscher
Historiker hat so wie es nach dem oben mitgeteilten Programm (vgl.
S. 182) geplant war, vom 14. bis 18. April in Heidelberg stattgefunden,
und 192 Namen waren in der Teilnehmerliste verzeichnet. Die Vorträge
boten einen reichen Wissensstoff, aber entschieden zu bedauern ist, dafs die
Aussprache über die angeregten Fragen zeitlich so sehr beschränkt war.
Es machte beinahe den Eindruck , als ob gerade die am ehesten zur Dis-
kussion anregenden Vorträge so anberaumt worden seien, dafs die Stunde
der Mahlzeit kommen mufste und der Hunger die Teilnehmer von dannen
trieb. Dabei waren die Vorträge sämtlich mit Ausnahme der beiden „öffent-
lichen", über die eben von vornherein eine Aussprache nicht vorgesehen war
(Marcks: Ludwig Häusser und Gothein: Vorderösterreich unter Maria
Theresia und Josef II.), zu Auseinandersetzungen auch über allgemeine und
grundsätzliche Fragen recht wohl geeignet, und es zeigten sich auch mehr-
fach die Ansätze dazu. Doch bei diesen ist es auch geblieben, da sich
unter den ntm einmal obwaltenden Verhältnissen nur ganz wenige Redner
zum Worte zu melden wagten. Wünschenswert wäre es entschieden,
wenn künftig so, wie es bei den ersten fünf Historikertagen
der Fall war'), unter Ansetzung einer genügenden Zeit der
Diskussion ein breiterer Raum gewährt und die Vortrags-
themen wenigstens teilweise — am liebsten als Referat und
Gegenreferat — so gewählt würden, dafs sie Anregung zu
erspriefslicher Erörterung auch allgemeiner Fragen gaben.
Nach dem Vortrag über die Grenzen der Geschichte von Gottl sollte eine
Auseinandersetzung über die Grenze zwischen Geschichte und sogenannter
Vorgeschichte selbstverständlich sein, denn auf der einen Seite sind die
meisten Historiker darin einig, dafs vorgeschichtliche Funde im gegebenen
Falle praktisch verwertet werden müssen, während andrerseits doch viele
einen grundsätzlichen Gegensatz zwischen Geschichte und Vorgeschichte
konstruieren. Hier und in vielen anderen Fällen wird sich durch Rede und
Gegenrede viel eher ein Ergebnis und eine Klärung der Ansichten bei dem
einzelnen zeitigen lassen als durch literarische Erörterung. Mögen die Leiter
des 8. Historikertages, der im September 1904 in Salzburg stattfinden soll,
bei Aufstellung des Programms diese Anregung beherzigen: recht viele und
angesehene Teilnehmer haben in den Heidelberger Tagen im Privatgespräch
der hier vertretenen Anschauung Ausdruck verliehen.
Im einzelnen wird über die Verhandlimgen der wie früher im Auftrag des
Ausschusses des Verbarides deutscher Historiker bearbeitete Bericht Auskunft
erteilen ; hier müssen wir uns auf einige kurze Mitteiltmgen beschränken und
dürfen dies um so eher als von den Vorträgen, die dargeboten wurden,
einige ihrem Gegenstande nach aufserhalb des Rahmens dieser Zeitschrift
bUen. Eduard Meyer (Berlin) stellte den Kaiser Augustus inseiner
Charakteristik als überzeugten Republikaner hin und durchaus nicht als
i) Schon in dem Bericht über die Tagung in Halle wurde dieser Wunsch aus-
gesprochen. Vgl. diese Zettschrift i. Bd., S. 199.
— 220 —
Heuchler, wie er gewöhnlich aufgeSafst wird und wie es von anderer Seite
in der kurzen Debatte aufrecht erhalten wurde. — Halle r (Marburg) suchte
die gallikanischen Freiheiten als Nachbildung des in der Rirchen-
verfassung des mittelalterlichen England vorliegenden Musters zu erweisen. —
V. Below (Tübingen) sprach über die Entstehung des modernen
Kapitalismus, beschränkte sich aber dabei auf eine Kritik des Werices
von Sombart, Der moderne Kapitaliemus (1902), so weit dessen Darstellung
sich mit dem Aufkommen der ersten gröfseren Vermögen in den Städten
des Mittelalters beschäftigt: Sombart sieht darin vor allem akkumulierte
Grundrente, v. Below vielmehr durch Kleinhandel und Gewerbebetrieb erzielte
Überschüsse. Die angeschnittene Frage verdient eingehende Untersuchung
an einzelnen Beispielen, dürfte sich aber kaum auf so einfache Art, wie die
beiden Gegner es wollen, beantworten lassen, vielmehr wird der B^;riff
„Kapital" für jene Zeiten gewisse begriffliche Modifikationen erüthren müssen;
den Spezialforschem in den Städten, wo reicheres Material vorliegt, ist hier-
mit jedenfalls Anregung zu Arbeiten gegeben, die grolsen Nutzen versprechen. —
Der nunmehrige Göttinger Kimsthistoriker Karl Neu mann, ein ausgezeich-
neter Kenner byzantinischer Geschichte imd Verfasser der WeltsieUung des
byzantinischen Reiches vor den Kreuxxügen (Leipzig 1894), stellte in seinen
Ausführungen über byzantinische Kultur und Renaissancekultur
einen Vergleich an zwischen den auf byzantinischem und den auf italienischem
Boden erwachsenen Erneuerungen der Antike im Laufe des Mittelalters tmd
gewann durch diesen Vergleich einen Mafsstab zur Beurteilung der sogen.
Renaissancekultur: in Byzanz ist die Antike gewissermafsen erstarrt erhalten
geblieben, aber nur in einer kleinen hochgebildeten Oberschicht der Gesell-
schaft ; doch diese Kultur blieb unfiuchtbar, da sie die Masse der barbarischen
Untertanen überhaupt nicht berührte und sich auch mit dem Christentum
nur äufserlich verband. In Italien war die Antike lange Zeit imbekannt,
gelangte aber aufs neue zu Anerkennung in einer Epoche, die sich durch
ein tieferes Gemütsleben auszeichnet, in erster Linie jedoch als naturgemäfse
Fortsetzung mittelalteriicher Kultur charakterisiert ist Demgemäis überwiegt im
Zeitalter der italienischen Renaissance zunächst das Neue, das aus einer
gegenseitigen Befruchtung von Christentum und Barbarentum hervorgeht, und
diese erste Periode der Renaissance ist die kulturell fruchtbare Zeit Als
dann in einer zweiten Periode die mehr mechanische Wiederbelebung der
Antike in den Vordergrund trat, bedeutete das für Italien eine kulturelle
Gefahr, während die Renaissance nördlich der Alpen als neues germanischem
Wesen beigemischtes Kulturelement ganz anders fruchtbringend gewirkt hat
Das Verhältnis, in das bei den verschiedenen Renaissancen die Antike zu bar-
barischem Wesen und Christentum getreten ist, war das Entscheidende für die
kulturelle Bedeutung und die schöpferische Kraft der jeweiligen Renaissance:
nicht die Antike als neu zutretendes Element, sondern 4ie Kultur, mit der sie
sich verbinden soll, ist dabei für den Erfolg das wesentliche. — Archivdirektor
Wolfram (Metz) sprach über die Reite rstatuette Karls des Grofsen
aus Bronze, die dem Metier Domschatz entstammt und sich jetzt im Mus^
Camavalet zu Paris befindet, und suchte vor allem gegenüber Giemen, der
sie als Werk karolingischer Renaissance betrachtet, durch angehende Analyse
der Darstellung, namentlich hinsichtlich des Retdisq>fels, zu erweisen, dafs
- iil —
dfie Statuette erst 1507 auf BesteUung des Metzer Domkapitels vom Metzer
Goldscfamied Fran^ois hergestellt sei und zwar nach einer Abbildung, die
Kall den Kahlen darstellt, früher aber allgemein als Darstellung Karls des
Groisen angesehen wurde. In der Debatte trat Lamprecht (Leipzig) für
den abwesenden Giemen ein und führte die zu dessen Gunsten sprechenden
Momente vor, erklärte aber ausdrücklich, dais nur eine chemische Unter-
suchung der Bronce den endgiltigen Beweis fUr die Richtigkeit dieser oder
jener Ansicht zu erbringen vermöge. — Erich Marcks (Heidelberg) zeich-
nete ein treffliches Bild des Pf^er Historikers Ludwig Häusser (1818
bis 1867), dessen Wirksamkeit als Forscher, Lehrer und Politiker der Redner
eingehend darstellte; auch Häussers Lehrer Schlosser liefs er in der £b-
kttung eine gediegene Würdigung zu teil werden. — Eberhard Gothein
(Bonn) schil<krte die Zustände Vorderösterreichs unter Maria The-
resia und JosefIL, die von dem Geiste der Reformbestrebtmgen beherrscht
▼idiach für die Entwicklung Badens, an das der Breisgau später fiel, ent-
scheideiid geworden sind. Hatte Maria Theresia die alten Eigentümlichkeiten
des Landes noch geschont und nur behutsam eingegriffen, so begann Josef II.
sofort energisch mit Neuerungen, hatte aber wenig Glück, denn imter
Leopold II. wurde vieles wieder beseitigt, und erst längere Zeit nach dieser
Reaktion sind die josefinischen Ideen im badischen Liberalismus lebendig
geworden. — Den Abschlufs der Tagung bildete der Vortrag von Gottl
(Brunn) über die Grenzen der Geschichte, in dem er das naturwissen-
schafUiche Ericennen, welches das Sein ordnet, dem geschichtlichen
Erkennen, welches Geschehen erschliefst, gegenüberstellte und die
Denkweisen beider Arten des Erkennens in den denkbar schärfsten Gegen-
satz zueinander brachte. Gegenüber der Historik ab Wissenschaft der
Geschichte bezeichnet G. die naturwissenschaftlich-geschichtlichen Disziplinen,
wie Geologie und Biologie, in ihrer Gesamtheit alsMetahistorik und will
beide nach Arbeitsgebiet und Methode aufs schärfste geschieden wissen.
Edoard Meyer (Berlin), Kaufmann (Breslau), Windelband (Strafsburg) stimmten
dem Redner im wesentlichen zu, dagegen aber sprach energisch Lamp-
recht (Leipzig), der einen grundsätzlichen Wesensunterschied zwischen natur-
wissenschaftlichem und geschichtlichem Erkennen nicht zugibt und ein völliges
Begreifen der in Personen namentlich weit zurückliegender Zeitalter sich voll-
ziehenden seelischen Vorgänge seitens des modernen Forschers für aus-
geschlossen hält: nur näher kommen kann der einzelne den Motiven des
Handelns, die jene geschichtlichen Persönlichkeiten bestimmten, völlig er-
kennen kann er sie nie ; das Seelenleben eines Papua bleibt ihm ebenso ver-
schlossen, wie er sich in ein Kristall nicht hineinzuversetzen vermag.
Als Heidelberger Stimmungsbild teilte Alfred Stern (Zürich) einen
von ihm im BerUner Geheimen Staatsarchiv als Beilage zu dem Bericht des
Fretherm t. Otterstedt, preufsischen Gesandten in Karlsruhe, aufgefundenen
Brief des Juristen Thibaut vom 26. Mai 1832 mit Der Brief ist unmittelbar
▼or dem Hambacher Fest geschrieben und stellt sich ab eine Art von
Verteidigang der Heidelberger Hochschule dar, die, wie Freiburg, der preu-
ftbdien Regierung damals so verdächtig geworden war, dafs an ein Verbot
ihres Besuchs durch preufsische Untertanen gedacht wurde.
Iq Halle war 1900 eine Kommission eingesetzt worden, um zu beraten,
n
— i2i -
und zwar in vier Gruppen (geistliche Personen, geistliche Korporationeü,
weltliche Korporationen, weltliche Personen) sowie die Herausgabe von
Urkunden und Akten xur Rechts- und Wirtschjaflsgeschichte der kleineren
rheinischen Städte, Die Leitung beider Arbeiten liegt in den Händen des
Archivdirektors Ilgen (Düsseldorf), mit der Ausführung sind Dr. Ewald
und Dr. Lau beauftragt.
Stifter zählt die Gesellschaft gegenwärtig 7 , von denen 3 verstorben
sind, Patrone 118 (3 mehr als im Vorjahr), Mitglieder 175. Die Gesamt-
einnahme im Jahre 1902 betrug 39 50oMk., die Ausgabe 26175 Mk. Das
Vermögen beziffert sich einschliefslich der Mevissen-Stiftung (41825 Mk.) auf
110 150 Mk. Für die Preisaufgabe, Darstellung der durch die fran-
zösische Revolution in der Rheinprovinz bewirkten agrarwirtschaftlichen Ver-
änderungen, ist rechtzeitig eine Bearbeitung eingegangen, deren Prüfung aber
noch nicht abgeschlossen ist.
Eingegangene Bficher.
Rosenthal, Ludwig: Antiquariatskatalog 104 (Newe Zeytungen, Relatf<men
und Briefliche Mitteilungen des XV. — XVIIL Jahrhunderts), München,
Hildegardstrafse 16. 72 S. 8^.
Rühlmann, Paul: Die öffentliche Meinung in Sachsen während der Jahre
1 806 — ^1812 [= Geschichtliche Untersuchungen , herausgegeben von
Karl Lamprecht, i. Heft]. Gotha, Friedrich Andreas Perthes, 1902.
121 S. 8».
Rüthning, Gustav: Geschichte der Oldenburgischen Post, Denkschrift
zur Eröffnung des Dienstbetriebes im neuen Reichspost-Gebäude. Olden-
burg i. Gr., Gerhard Stalling, 1902. 91 S. 8<^.
Salomon, Ludwig: Geschichte des Deutschen 2^itungswesens von den
ersten Anfängen bis zur Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches.
2. Band (Die deutschen Zeitungen während der Fremdherrschaft 1792
bb 1814). Oldenburg und Leipzig, Schulze, 1902. 272 S. 8<^.
Schäfer, Rudolf: Die Marie Altenstad [Mitteilungen des Oberhessischen
Geschichtsvereins, Neue Folge 10. Band (1901), S. i — 39].
Schierse, Bruno: Das Breslauer Zeitungswesen vor 1742. Breslau,
J. U. Kern, 1902. 138 S. 8^. M. 3,00.
Schnürer, Franz und v. Bertele, Carl: Radmer, Gedenkblätter zur
Dreijahrhundertfeier der Kirche. Wien, Karl Fromme, 1902. 61 S. 4*^.
Sello, Georg: Des PfiEiffen Konemann Gedicht vom Kaland zu Eilenstedt
am Huy [Zeitschrift des Harzvereins fUr Geschichte und Alterttmis-
kunde XXUI (1890)]. 72 S. 8«.
Siebert, Hermann: Das Tanzwunder zu Kölbigk und der Bemburger
Heiige Christ, Festschrift dem Verein für Geschichte und Altertums-
kunde zu Bemburg anläfslich seines 25 jährigen Bestehens am 2. De-
zember 1902 gewidmet. Leipzig, Richard Siebert, 1902. 18 S. 8<^.
Tille, Armin: Zwei Waldordnungen aus dem Herzogtum Jülich [Zeitschrift
des Aachener Geschichtsvereins 23. Band (1901), S. i — 30].
Derselbe: Vom Kappbusch bei Brachelen [= Zeitschrift des Aachener Ge-
schichtsvereins. 24. Band (1902), S. 232 — 257].
Heraufgeber Dr. Armin Tille in Leipzig.
Druck und Verlag too Friedrich Andreas Perthes, Akdengesellschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
Forderung der landesgescbichtlichen Forschung
IV. Band Juni 1903 9. Heft
Iiandsehaftliohe Gloekenkunde
Von
H. Bergner (Nischwitz, Sachsen -Altenburg)
Die Glockenkunde ist (lir den ersten Blick einer der leichtesten
Wege, um in das Studium der Altertümer einzudringen. Denn für den
Anfänger ist es schon in hohem Grade reizvoll, die Glocken eines
kleineren Kreises, etwa der heimatlichen Umgebung au&unehmen,
die Inschriften epigraphisch genau zu sammeln, Gröfsen- und Ton-
Verhältnisse, Verzierungen und Giefser festzustellen und etwa aus
Archivalien ältere Berichte, Verträge, Rechnungen und dergl. aus-
zugraben, aus der Volksüberlieferung Glockensagen, Klangreime, Spott-
veiBe aufzulesen und das so gewonnene Material nach berühmten
Mustern leidlich lesbar abzurunden. Auch die kleinste derartige Vor-
arbeit wird der allgemeinen Glockenkunde zu Gute kommen und der
Zweck dieser Zeilen ist es, hierzu anzuregen und die nötigen Hilfs-
mittel und Gesichtspunkte anzugeben. Von der Vertiefung der Forschung
gilt dann allerdings der Vers : „ Ihr Fortgang aber bringt Gefahr. " Denn
einzelne ältere Stücke finden sich überall, die durch unlösbare Inschriften
oder rätselhafte Bilder an sprachliche, ikonographische oder heral-
dische Kenntnisse nicht geringe Anforderungen stellen. Vollends der
^ystematiker , der das Fazit langjährig erörterter Verhandlungen zu
ziehen und gewisse letzte Fragen zu beantworten sucht, wird oft genug
mit einem resignierten nan liquet schliefsen und das Ende jenes
Verses von der Glockenkunde anzuwenden geneigt sein: „Ihr Ende
Nacht und Grauen."
Der unentbehrliche Leitfaden für den Anfanger ist Ottes Oloekev^
hmde (Leipzig, Tauchnitz 1884, I^^^* 6)> worin der Altmeister der
deutschen Archäologie in seiner gründlichen und gediegenen Art die
Grenzen des Forschungsgebiets ziemlich weit mit Einbeziehung z. B. der
Schallbretter und Kuhschellen gezogen hat. Wer dieses Buch zuerst
in die Hand nimmt, ist doch erstaunt, wie vielseitig in liturgischer,
16
— 226 —
technischer oder kulturgeschichtlicher Hinsicht das Interesse angferegi:
wird, mag* er sich nun in den mannigfachen Gebrauch und das Rechts-
verhältnis der Glocke, in den dichterisch verklärten Entstehungsprozefs,
in die eigene Poesie ihrer Inschriften, in die oft wunderlichen Schick-
sale einzelner Stücke oder die Leistungen der grofsen Giefser vertiefen.
Das Material , mit welchem Otte arbeitet , ist ja verhältnismäfsig sehr
lückenhaft Er spricht über die Glocken der ganzen Welt, der altea
Römer, der Chinesen nnd Russen, der Franzosen und Engländer nach
dürftigen Berichten. Genauere statistische. Angaben ^) lagen ihm jedoch
i) Ehe die wissenschaftliche Arbeit beginnen kann, mofs natürlich die Sammlang^
des Materials erfolgen. Dies geschieht gegenwärtig durch die in allen Landschafteo
in Angriff genommene Inventarisaüon der Knnstdenkmäler. Den Stand der Dinge muf
diesem Gebiete kennzeichnet folgende Mitteilung von Ernst Polaczek (Strafsborg) :
Die Behandlang der Glocken in den deutschen Denkmäler -Verzeichnissen ist ähnlicfar
Terschieden, wie die Anlage der Verzeichnisse selbst. Dafs sogar Inventarisatoren, die
sonst sehr zuverlässig sind, den Glocken gegenüber zuweilen versagen, ist leicht erldärlicb..
Zu ebener Erde giebt es selten genaue Abschriften, und der Mühe- und Zeitaufwand einer
Turmbesteigung steht für den meist zu rascher Arbeit genötigten Denkmalsbeschreiber
oft nicht im Verhältnis zum Resultat. Es ist nicht jedermanns, insbesondere nicht des-
mit Jahren reichlich Belasteten Sache, auf steilen Treppen und schwanken Leitern, durch*
Falltüren nnd über morsche Bretterböden hinweg den Glockenstuhl, der meist aach-
Taubenhaus ist, zu erklimmen, den erhitzten Leib der Zugluft zwischen den stets geöffneten^
SchalULöchem auszusetzen und, eingekeilt in drangvoll fürchterliche Enge, im halben.
Dunkel, mit Kerzen und anderen künstlichen Aufhellungsmitteln eine gotische Minuskel-
inschrift durch Abtasten und Abdrücken festzustellen. Zuweilen sind die Glockenränme
überhaupt nicht ohne Lebensgefahr zugänglich. Die folgenden, nach der amtlichen Reihe-
der deutschen Bundesstaaten, bezw. der preufsischen Provinzen geordneten Notizen geben,
soweit dies ohne Nachprüfung am Orte möglich ist, Aufschlufs, wie die Denkmäler -Ver^
zeichnisse die Forderungen der Glockenspezialisten erfüllen. Es sollen und wollen keine Zen-
suren sein. Das Fehlen von Registern ist nur bei fertigen Inventaren notiert. Die genaueni
Titel der Inventare sind in Bd. I, S. 170 und Bd. III S. 137 dieser Zeiuchrift genannt.
Ostprenben« Keine Mafse. Bei älteren Glocken (bis XVI. Jahrhundert) sind die Inschriftem
in extenso wiedergegeben, bei neueren nur die Jahreszahl. Kein Register.
Wettprenbea« Keine Mafse; sehr sorgfältige Wiedergabe der Inschriften.
Bnuidenborgr* Z^f^^i Teil sehr genau; anderwärts ganz ungenau. Kein Register.
Berlin« Sehr sorgfaltig, jedoch ohne Mafse.
Pommern« In den ältesten Heften ungenau; in den neueren sehr sorgfältig mit aus-
führlicher Beschreibung und Mafsangabe.
Posea« Malse angegeben. Z. T. Inschriften sehr sorgfältig in extenso ; jedoch kein Register»
Sehleslen« Mafse und Inschriften sehr sorgfaltig.
Saehtea« Ausführliche Beschreibung; zuweilen auch Mafse.
Sehleswlg'-HolstelB« Mafsangabe fehlt. Bei den älteren Glocken ist die Inschrift in extenso-
wiedergegeben; bei neueren nur Jahreszahl und Giefser. Sehr ausführliche Register :
Die Glocken in Gruppen nach ihrer Ejitstehungszeit und innerhalb dieser alphabetisclk
nach den Orten. Die Giefser alphabetisch mit Verzeichnissen ihres Gesamtwerkes.
— 227 —
nur fiir Mitteldeutschland und auch da nur für das Gebiet der Provinz
Sachsen vor, wo sich an dem ungewöhnlichem Reichtum alter Glocken
schon seit etwa 1830 ein gewisses Glockeninteresse entzündete, wie denn
auch das sächsische Inventar nach G. Sommers Vorgang den einzelnen
Heften eine besondere „Glockenschau'* beigegeben hat Das Kindes-
alter statistischer Kenntnis tritt besonders an dem Giefserverzeichnis
Ottes zu Tage (S. 180 — 219), welches doch heut, wo die Inventarisation
noch lange nicht abgeschlossen ist, schon für Deutschland allein reich-
lich um das Vierfache erweitert werden könnte. Otte hat noch ein-
mal am Ende seines reichgesegneten Lebens das Wort „zur Glocken-
LnMBlrar;^« Ähnlich, nur knapper.
KsBBOTer« Durchmesser. Wortlaut der Inschrift, Schriftart, Anordnung.
WestIkleB« Das ältere Inventar ungenau; das neuere, obwohl nicht ganz gleichmäfsig,
gibt bei älteren Glocken die Mafse, bei allen den Wortlaut der Inschriften paläo-
gn^hisch getreu wieder. Abbildungen.
Benea-Kaasail. Das ältere Kasseler Verzeichnis sehr unvollständig; das neuere beschreibt
ausführlich, nennt oberen und unteren Durchmesser und Höhe, gibt Inschriften in
extenso; auiserdem Abbildungen.
Das filtere Wiesbadener Verzeichnis ist in der Behandlung der Glocken nicht
ganz koosequeot; das neue in Mafsangabe und Inschriftwiedergabe ausführlich.
BheiaprOTlBS, Ohne Mafse. Die Inschriften wörtlich, die Abbreviaturen aufgelöst
Verzeichnisse der Glocken, nach der Eatotehungszeit geordnet; die Gieiser nach
dem Alphabet.
H^heBX^em« Sorgfaltig, jedoch ohne Mafse. Kein Regbter.
Bftjera. Das Inventar verzeichnet die Glocken nicht
Mafse und Inschriften ausführlich.
WillkflrUch.
Ohne Maisangabe. Die Kraus'schen Hefte sind insbesondere in Bezug auf
spätere Glocken sehr summarisch; die älteren Inschriften hingegen sehr genau nach
Schriftart und Wortlaut Die von Adolf v. Oechelhänser bearbeiteten Hefte sehr
ausführlich, doch ebenfalls ohne Mafse.
Mafse, sowie ausführliche Beschreibung und Inschrift •Wiedergabe.
Meeklfln^vrg^Sellwerlll. Sehr sorgfältig, jedoch ohne Mafse.
TkflrlBgVB« Ausführliche Beschreibung der Dekoration; genaue Wiedergabe der In-
schriften.
Bekirarzbnrf «SoBdenhaiisen. Sehr sorgfaltig, ohne Mafse.
6ellMaibar|r*I«IpP®« Beschreibung sorgfältig; Mafsangaben; Inschriften in extenso.
Kein Register.
Oldeoborir« Ausführliche Beschreibung der Dekoration; genaue Inschriften -Wiedergabe»
Keine Mafse.
Bnurasehwelfr» Angabe von Höhe und Durchmesser. Sorgfaltige Beschreibung und
genaue Wiedergabe der Inschriften. Die jüngeren Glocken sind etwas kürzer behandelt.
AsluUt» Genaue Angaben der Inschriften, Dekoration und Mafse.
Elnfii-IiBthliBg6]l« Wo sich Angaben finden, fast immer auf Grund fremder Abschriften.
Offenbar sehr unvollständig; das Register nennt 70 Orte mit Glocken und 16 Giefser!
16»
— 228 —
künde" ergriffen (Halle 1891) in einem Weihnachtsheftchen des thür.-
sächs. Altertumsvereins, worin er einige der ältesten Glocken bespricht.
Der Tod nahm ihm mitten in der Arbeit die Feder ans der Hand,
doch ist das BmchstUck nach seinen Aufzeichnungen von seinem ver-
trauten Freunde E. Wemicke vollendet worden. Es richtet sich —
unausgesprochen — gegen die etwas magistrale Sicherheit, womit sich
Schoenermarck über „die Altersbestimmung der Glocken" (Berlin 1889)
ausgesprochen hatte. In vieler Beziehung musterhaft ist sodann die
Monographie von W. Schub art Die Glocken des Hersogtums ÄnhaU
(Dessau 1896, Mk. 30). Schubart hat eine ganz vortreffliche Tabelle er-
fanden, welche in kurzen knappen Angaben gestattet, eine Übersicht
über den Bestand zu gewinnen und er hat alle älteren Inschriften und
Bilder mittels Durchreibung faksimiliert , wodurch der Befund unab-
hängig von subjektiven Eindrücken festgelegt ist. Sonst ist die &-
örterung freilich ungemein umständlich. Wir werden nicht nur mit
den Resultaten bekannt gemacht, sondern auch mit den verschiedenen
Wegen, auf denen der Verfasser dazu gelangt ist. Und in Bezug
auf Lesung und Erklärung hat Schubart die Grundsätze nüchterner
Kritik weit überschritten, so dafs sein mit grofsen persönlichen Opfern
entstandenes Weric an bedauerlichen Entgleisungen keinen Mangel
leidet. Tadellos in jeder Hinsicht ist die Arbeit W. Effmanns
Die Glocken der Stadi Freiburg i. Schw. (Strafsburg 1899, Mk. 5)
mit zahlreichen photographischen Aufiiahmen und einigen interessanten
Aktenstücken. Auch ein Aufsatz von H. Pfeifer Kirckenglocken im
Hereogtwn Braunschiceig (Denkmalpflege III, 113) mit zahlreichen Ab-
bildungen verdient Beachtung w^en der auffällig variablen Glocken-
formen, die sich dort finden. Endlich darf ich noch auf meine eigenen
Versuche hinweisen: Zur Glockenkunde Thüringens (Jena, F. Strobel,
1896, Mk. 2) und Die Glocken des HenfogUnns S.'Meiningen (ebenda
1898, Mk. 3.60), worin ich glaube, wenigstens die zahlreichen Irrtümer
Lehfeldts in den foti- und Kunstdenkmälem berichtigt und die
thüringische Giefsergeschichte auf sicheren Boden gestellt zu haben.
Eine Ergänzung ist in Kurzem vom Oberpfarrer Liebeskind in München-
bemsdorf zu erwarten, welcher die Glocken des Neustädter Kreises
(S.- Weimar) aufjgfenommen hat
Es braucht wohl nicht bemerkt zu werden, dafs die Glocken-
forschung sehr grofse Opfer an Zeit und Geld erfordert und buch-
händlerischen Gewinn schlechterdings nicht abwirft. Dagegen ist der
ideale Gewinn, die Entdeckerfreude, die Lust, auf unbetretenen Pfaden
zu wandeln, blödsinnige Irrtümer zu beseitigen und neue Wahrheiten
— 229 —
ans Licht zu bringen, so voll von reinen Freuden und innerer Be-
fined^[ung'9 dais man mit gutem Gewissen zur Arbeit auffordern darf.
Zumal strebsame jüngere Geistliche werden sich leicht in das inter-
essante Grenzgebiet zwischen Theologie und Altertumskunde ein-
arbeiten.
Wenn wir nunmehr versuchen» die Methode der Forschung zu
umschreiben, so hat die Arbeit natürlich zuerst mit der Aufnahme der
Denkmäler ,Jioch in des Turmes Glockenstube" zu beginnen. Die
Ausrüstung ist einfach: ein 2^11stock, einige Bogen weifses Papier,
ein Farbstein und etwa noch einige Blätter Staniolpapier mit einer
Kleiderbürste. Zuerst wird die Grö&e und Form der Glocken fest-
gestellt Bei neueren Glocken genügt es meist, den unteren Durch-
messer von Schärfe zu Schärfe anzugeben, da die Rippen nur selten
Abweichungen vom gewöhnlichen Schema (der sogen, gotischen oder
deutschen Rippe) zeigen. Bei älteren, romanischen Glocken von un-
gewöhnlicher Form wird man wenigstens noch die Höhe bis zur Krone
messen und auch die Ktirve der Flanke durch einige Hilfsmessungen
annähernd feststellen und nach dem Profil aufzeichnen, wie es z. B.
Pfeifer mit bestem Elrfolg bei den braunschweigischen Glocken getan
hat Denn wirklich genaue Schnitte von Rippen, bei denen auch die
innere Wandung metrisch aufgenommen werden mufs, lassen sich nur mit
Hilfe eines groCsen Zirkels, wie ihn Glockengiefser benutzen, abstechen.
Sodann ist eine genaue Abschrift der Inschriften zu machen, natürlich
mit allen Schreib- und Gu(sfehlem imd mit Bezeichnung der Fundstelle
z. B. „am Hals zwischen Linien, Doppellinien, Stricklinien, an der Flanke
vom und hinten, am Schlag", wobei auch sorgfaltig auf die Inter-
punktion und Trennungszeichen (Punkte, Schwanzpunkte, Glöckchen,
Kleeblätter, Kreuzchen etc.) zu achten ist. Inschriften bis ca. 1500
wird man daneben immer abzuklatschen haben. Hierbei legt man
eben Bogen gewöhnlichen Papiers auf die Buchstaben, fährt mit
einem blauen oder roten Farbstein darüber, bis die Schrift vollkommen
sichtbar ist und setzt die Fortsetzung Zeile für Zeile untereinander.
Man erhält so typisch genaue Urkunden, welche zu Haus am Schreib-
tisch verglichen und nach den verschiedenen Giefsern klassifiziert
werden können. Denn genau so wie die Inkunabeln des Buchdrucks
nach der „Type" den verschiedenen Offizinen zugeordnet werden,
ebenso darf man die Glocken nach der „Type" der Gicfser behandeln.
Denn bis ca. 1450 gehört es immerhin zu den Ausnahmen, dafs sich
der Meister regelmäfsig und auf allen seinen Glocken nennt; oft be-
genügt er sich mit seinem Monogramm, wie der Erfurter Heinrich
— 230 —
Ziegler, der h. c. und H. C. zeichnet, oder mit einer Marke « oder er
verschweigt seinen Namen ganz. Namenlose Gie&er kann man, wie
es in der Geschichte des Kupferstichs geschieht, zunächst ruhig nach
irgend welchen Eigenheiten z. B. Giefeer mit den Lilien, Schwertern etc.
benennen. Entdeckt man, dafe ein Giefser verschiedene Typen oder
zwei Meister dieselbe benutzten, um so interessanter ist es. Den Grund
wird man leicht finden: in ersterem Fall kann die wechselnde Grö&e
der Glocken oder die fortgeschrittene Zeit, im zweiten ein Schüler-
oder Verwandtschaftsverhältnis in Betracht kommen. Ich habe dieses
Verfahren zuerst in Thüringen angewandt und z. B. den ausgezeichneten
Meistern Marc Rosenberger, Johannes Kantebom, Peter Koreis u. a. ihre
zugehörigen Werke mit einer bisher bewährten Sicherheit zuschreiben
können. Bei wachsender Erfahrung sieht man den meisten Stücken
schon auf den ersten Blick an, aus wessen Hand sie stammen.
Die Aufnahme des Dekors und des Bilderschmuckes setzt aller-
dings einige Übung im Zeichnen voraus. Doch kann man sich auch
dabei mit Durchreibungen oder Staniolabzügen helfen '). Letztere werden
so hergestellt, dafs man ein entsprechend groises Staniolplättchen
auf die meist flachen Medaillons legt und mit einer weichen Bürste
solange klopft, bis das Relief durchtritt. Die Abzüge mufs man
wenigstens auf dem Transporte am besten in einem Zigarrenkistchen
vor Druck schützen. Um sie dann länger aufzubewahren, empfiehlt
es sich, die Rückseite mit Wachs suszugiefsen. Sehr erhabene Sachen
lassen sich mechanisch nicht leicht abformen; sind sie besonders
schön oder bezeichnend, so wird man sie photographisch aufnehmen
müssen. Der Dekor ist ja bis zum XVI. Jahrhundert meist sehr ein-
fach. Es kommen wohl nur Spitz- und Kreuzbogenfiiese am Halse
und etwa ein Laubstab am Schlage vor. Dagegen im XVII. und XVIII.
Jahrhundert finden sich ungemein reiche und vielgestaltige Friese, und
i) Oberpfarrer Liebeskind verfahrt nach seiner freundlichen Mitteiltrag folgender
Mafsen und hat damit befriedigende Ergebnisse erzielt: ein schmaler Streifen von nicht
za weichem Papier (Seidenpapier auf keinen Fall) wird auf die Inschrift gelegt, mit dem
Finger werden die einzelnen Buchstaben abgedrückt, und dann wird nochmals mit staubiger
Hand darüber hingefahren, damit die Buchstaben Gnmd bekommen. Daheim zieht man
mit Feder und Tusche die Konturen nach und hat so ein ganz getreues Bild der Typen.
Ebenso wird bei Reliefs das Staniolblättchen aufgelegt und mit dem Finger auf aUe
SteUen fast aufgedrückt, wobei auch der feinste Strich, Gufsfehler u. dgl. ganz deutlich
zum Vorschein kommt Die Rückseite wird am besten an Ort und SteUe auf Stearin
oder Wachs ausgefüUt, und die Gefahr einer Beschädigung auf dem Transport ist ver-
mieden. Um das Nachzeichnen zu erleichtem, empfiehlt es sich, so wie bei den Inschriften
auch noch einen Papierabdruck des Reliefs zu nehmen. Anm. d. Red.
— 231 —
rein künstlerisch angesehen kann man die Zeit nach dem 3ojäbrigen
Kri^e als die Blütezeit der Gieiskunst bezeichnen. — Schließlich
wird man auch der Gestalt der Krone und der Bügel, des Klöppels
nnd dem Glockenstuhl und seinen Inschriften Aufmerksamkeit schenken
tmd — was ja eigentlich die Hauptsache an dem tönenden Gefafse
ist — den Ton und die Beitöne feststellen. Auch mu(s gleich an Ort
und Stelle den mündlichen Überlieferungen über Glockensagen, Klang-
reime, Aberglauben und im Pfarrarchiv etwaigen Aufzeichnungen über
ältere Glocken, Rechnungen, Gieiserverträgen u. s. w. nachgespürt
werden *).
Bei der Ausarbeitung beginnt man naturgemäfs mit der Einzel-
beschreibung, die am besten nach der alphabetischen Reihenfolge
der Ortschaften angelegt wird, und läfst die Glocken unbekümmert
um das Alter nach der Gröfse folgen. Verständige Kürze und feste
Ordnung werden dem Verfasser und dem Leser höchst dienlich sein.
Statt weiterer Regeln sei es mir gestattet einige Beispiele aus den
„Glocken Meiningens" beizubringen.
Saalfeld. Johanniskircbe. 6 Glocken, a. Fest- und Feuer-
glocke. 165 cm. Ton E. 1500 [H. Ziegler]. Am Hals zwischen
Stricklinien: (Hier ist ein Faksimile der Type eingesetzt) Anncdni*
m*cccc' confolor * viva * Fleo * mortua * pello • nociva * sancte*iohannes*ora*
i) Die Akten über die Herstellung von Glocken, im besonderen die mit dem
Clockengieiser teitent der Pfarrgemeinden abgeschlossenen Verträge tlber Nea- oder
Umgnfs Ton Glocken verdienen die gröfste Beacbtang, da sie, für ein bestimmtes Gebiet
in dnigcr Anxahl znsammen gebracht, in verschiedener Richtung wichtige AnlschlQsse so
geben rermögen : neben der Zeitbestimmung sind die Bedingungen und Kosten
4tT Lieferung, aber auch die Dauer und nicht zuletzt der Ort der HersteUung von
Belang. Diese Nachrichten sind natürlich um so interessanter, je älter sie sind, aber die
entsprechenden natürlich viel zahlreicheren Akten ans dem XVn. bis XDC. Jahrhundert
■sind durchaus nicht weniger wertvoll. In Pfarrarchiven finden sich Glockenguisakten
ziemlich häufig, im Rheinland z. B. zu Helenabrunn bei München -Gladbach von 1743
{Übergieki über den JMtaÜ der kleineren Arehite der Rheinprovinx, L Bd. S. 49 Nr. 6),
za Marienberghausen bei Gummersbach von 1699 (Ebenda S. 296 Nr. 5), zu Gevenich
bei Erkelenz von 171 1 (Ebenda II. Bd. S. iio Nr. 11), in Westfalen zu Borken mehrere
einschlägige nicht näher bezeichnete Papiere des XV. Jahrhunderts {Inventare der nieht-
etaaÜiehen Arehite der Provinx Westfalen. I. Bd. 2. Heft (1901) S. 56). In Erkelenz
bei Aachen erzählt die Chronik zum Jahre 1434 von einem Glockengufs, den Meister
Johann zu Aachen ausgeführt hat: dieser erhielt einen auf je 100 Pfund Glockenspeise
berechneten Giesslohn, die alte Glocke wog 2600 Pfund und dazu werden vom koper-
Sieger Meister Simon noch 19 14 Pfund Glockenspeise gekauft; auch die Kosten des Trans-
ports von Erkelenz nach Aachen und zurück sind angegeben (Annalen des historischen
Vereins (^ den Niederrhein 5. Heft (1857) S. 10). Ebenso berichtet der Chronist der
Stadt Hof über Alter — die älteste ist von 1374 — und Inschriften der dortigen Glocken
— 232 —
pro • nobis - deü. (Im Jahre des Herrn 1500. Ich tröste das Lebendige,
ich beweine das Tode, ich vertreibe das StMdUche, heäiger Johannes,
bat Gott für uns.) Die Worte sind durch Schwanzpunkte und
Kreuzchen getrennt, b in nobis steht verkehrt Die T)rpe ist die
Heinrich Zieglers; ebenso dessen beliebte Medaillons: an der Flanke
vom im Rechteck Maria in der Glorie (etc. folgt Beschreibung der
Bilder). — b. Schlagglocke oder Seier. 140 cm. Ton G. 1353.
Am Hals zwischen doppelten Stricklinien + ^BB© * ^Bj2F • Jß * (Z^JZ^iZ^
Jß>?;F? • B©B • §im ' ^^SS© ' 3E>?e35ß • Ä©B?Sa • Ice3ä»ja5l$f •
S'^i^Äjfi^Jpni • (folgt Übersetzung und Faksimile sowie Beschreibung
der 12 Medaillons) — f. Bergglocke. 54 cm. 1713 Joh. Rose. Am
Hals in zwei ZeUen i. GOTTES WORT BLEIBET EWIG ANNO
MDLXXXin 2. ANNO MDCCXIU UMGEGOSSEN DURCH JOHANN
ROSEN IN VOLCKSTiED, darunter Rankenfries. An der Flanke
Saalfelder Stadtwappen mit S. P. Q. S. (senatus populusque Saal-
feldensis) und lOH. lACOB SCHLEGEL D. BURGERM. lOH. HEIN.
GELLER KASTENVORSTEHER, anderseits das Monogramm JE,
des Herzogs Josias Ernst
Es empfiehlt sich, wenn irgend möglich, die Inschriften gleich in
den charakteristischen Typen, Majuskel, Minuskel und Antiqua, drucken
zu lassen, weil dadurch für die weitere Benutzung die bessere Über-
sicht gewahrt wird und beim Verfasser wie beim Leser die Freude an
(Quellen xur Geschichte der Stadt Hof, herausgegeben von Christian Meyer. I. Bd. (1894)
S. 44). — Aach die Rechtsverhältnisse der Glocken, namentlich die Tielfach bestehende
Verpflichtung der 2^hntherren, sie zu beschaffen, finden oft aktenmäisige Beleuchtung; zu.
Sittard z. B. wird diese Frage in einem interessanten Prozels 1542 — 1558 erörtert (Über-
sicht tlber den Inhalt u. s. w. II. Bd. S. 155 Nr. 13) oder ähnlich zu Beggendorf bei
Geilenkirchen (Ebenda S. 125 Nr. 5 — 7). — Die Person des Giefsers und seine gewerb-
liche SteUung ist nicht minder wichtig: so scheint z. B. in Leipzig gegen Ende des
XV. Jahrhunderts der Beruf des Glockengiefsers noch nicht selbständig zu sein, sondern
der Gnss wird von den Kupferschmieden zugleich mit besorgt (Berlit, Leipxdger
Bmungsordnungen des XV, Jahrhtmderte, S. 12 im Programm des Nikolaigymnasiums ra
Leipzig 1886). Aus der Zahl der Glocken, die als etwa gleichzeitig von einem Giefser
hergesteUt erwiesen werden, wird sich auf die Gröise seines Betriebes schliefsen lassen;
die Lieferung oder Nichtlieferung des Rohmaterials wird zeigen, ob sich der Giefser noch
^ gegen Lohn arbeitender Handwerker oder schon als Unternehmer fählt; ersteres ist
entschieden 1434 Meister Johann in Aachen. Ist in einem gröfseren Gebiet ftir jede
Glocke Zeit und Ort der Herstellung bekannt, so dürften sich daraus oil überraschende
wirtschaftsgeschichtliche Erkenntnisse gewinnen lassen, insofern immer nur relativ wenige
Orte fUr den Glockengufs in Frage kommen und nicht nur die Veränderungen in der
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einzelner Städte, sondern vor allem auch stattfindende
Verschiebungen ihre« wirtschaftlichen Wirkungskreises erkennbar werden.
Aniii* cL Rad.
— 23S —
diidomatischer Genanig^keit wächst. Die Übeisetzung der lateinischen
Texte ist man den Kreisen schuldig, die sich, wie z. B. Volksschal-
lehrer, sehr gern mit den Glocken wenigstens der Heimat beschäftigen.
An die Beschreibung der noch vorhandenen Glocken wird man dann
die Nachrichten über ältere» sowie Läuteordnungen, Gielserverträge und
dergleichen anzufügen haben.
Zur Übersicht wird man zwei Tabellen au&tellen, die eine kürzere
nach Ottes Entwurf über den Bestand:
Diöscse
Orte
Zahl
ohne
Inschrift
ohne
Datum
14
Jahrhondert
15 16 17 i8 19
Inschriften in
Maj. Min.
I. Salzimgeii
41
38
4
^"*»
-~
I
—
3
9
21
—
I
Die andere ausführlichere nach Schubarts Schema
Ort
M^
Dnrchm.
Ton
Jahr Giefscr
Themar
I
150
d
1520 —
2
120
e
1507 |P. Koreis
3
100
eis
■" 1 "■
Inschrift
Veraiemng and Bilder
matheos, marcns etc.
maria som nominata etc.
}saM^ßus etc.
Barbara, Bartholomäus
Hieran schliefsen sich nun einige Abschnitte mit den allgemeinen
Erörterungen. Zunächst über Inschriften, deren Technik und Inhalt (un-
leserliche, Scbutzinschriften, liturgische oder biblische Texte, Zeit- und
Gufsangaben, Klangreime, Siglen, Jahreszahlen, Chronogramme etc.) und
über Bilder und Dekor; dann über die Geschichte der Glocken
(älteste Schicksale einzelner Stücke, Haltbarkeit der Geläute, Stiftungen
und dergleichen) und über die Giefser, vobei die einzelnen nach ihren
Eigenheiten zu charakterisieren sind. Sehr reichlich pflegt das Material
sodann über Namen, Gebrauch und Recht der Glocke zu fliefsen und
auch über Sagen und Volksglauben wird man immer noch einige neue
und interessante Züge beibringen können. Den Schlufs bildet ein
alphabetisches Verzeichnis der Giefser mit Angabe ihrer Wirkungszeit
und der ihnen zugehörigen Glocken, wobei man die umgegossenen
passend mit einem Kreuzchen bezeichnet.
Wie bemerkt ist es hocherwünscht, dals alle älteren Inschriften
iaksimiliert und dem Texte im verkleinertem Malsstabe eingedruckt
werden. Wo dies indefs wegen zu hoher Kosten nicht durchführbar
ist, sollte wenigstens jede der vorkommenden Typen einmal bildlich
dargestellt werden. Es empfiehlt sich die AbbUdimgen auf folgende
Weise anzufertigen. Die Abklatsche werden mit schwarzer Tusche
ausgezogen und entweder ganz oder in ausgewählten Proben auf die
— 284 —
Wand, eine Tür oder eine Pappe geheftet, wobei dicht unter jede
Schriftprobe das metrische Maus, etwa lo cm, aufgezeichnet wird. Der
ganze Komplex wird photographiert und dabei auf V« oder */$ der
natürlichen GröCse verkleinert, auf Umdruckpapier kopiert und darauf
•einer Kunstanstalt zur Atzung in Zink übergeben. Die Kosten sind
hierbei verhältnismäfsig sehr gering. Da ein Verlagsbuchhändler das
Risiko der Drucklegung für eine solche Monographie von beschränktem
Absatz wohl kaum übernehmen wird, so wird man die Arbeit am
besten dem altertumforschenden Vereine des fraglichen Gebiets zur
Veröffentlichung übergeben.
Die weitere Belehrung über Einzelheiten des Faches wird der an-
gebende Forscher in Ottes Glockenkunde suchen müssen. Ich gestatte
mir nur einige Bemerkungen zu machen, zu denen die neueren Arbeiten
Veranlassung gegeben haben.
Zunächst über das Material. Bekanntlich weife Theophilus, der
kunstreiche Mönch Rugkerus v. Helmershausen, in seiner schedula di-
i^ersarum artium noch nichts von Silberbeimischung zum gewöhn-
lichen Glockengut. Doch schon in dem angehängten Breviarium wird
bemerkt, dafs ein Zusatz von Silber oder Gold den Ton ,, schärfer,
«tärker oder lieblicher** mache. Von „Silberglocken** wird dann weiter
in Glockensagen oft berichtet. Ein Beweis durch die chemische Analyse
ist aber bisher nicht erbracht worden. Vielmehr zeigten angebliche
-„Silberglocken** die gewöhnliche Bronzemischung mit einem so ge-
ringen Silbergehalt, wie er sich oft in Rohkupfer findet. Nun fand
Effmann ein Schreiben der „Herren von Freiburg** an die „Gesell-
schaft zu Memmingen**, dafs diese zum Gufe der Zionsglocke ver-
schaffe um 160 Ctr. guots kupfers u. um 48 Qr. engelsch eins guo
ir gloggen, dessglichen si an 40 mark (V* Ctr.) Silbers, das werden
inen min Tierren erberlich zaUen, Effmann hat das als ersten voll-
gültigen Beweis angesehen, leider aber die Glocke nicht analysieren
lassen. Aus dem Text folgt m. E. durchaus noch nicht, dafs das
Silber auch zum Glockengufs bestimmt war: die Herren von Freiburg
konnten es bei der passenden Frachtgelegenheit fiir die städtische
Münze bestellen. Die Sache ist also fraglich nach wie vor.
Eiserne Glocken der Frühzeit sind selten. Es sind bis jetzt drei
aus Blech zusammengenietete bekannt, der „Saufang** aus St. Cäcilien
im Museum zu Köhi, das „Kolumbansglöckchen** im Schatz von
St. Gallen und ein Glöckchen zu Ramsach in Oberbayem. Guiseiseme
Glöckchen in Halbkugelform etwa XV. Jahrhundert sind in Oberbayem
mehrfach nachgewiesen, häufiger in ganz Deutschland seit dem 30jährigen
— 236 —
Krieg-, die jetzt noch von Rost zerfressen und gesprungen da und dort
als altes Inventar aufbewahrt werden.
Ein sicheres Rezept für die Altersbestimmung der romanischen
Glocken, soweit sie des Datums entbehren, gibt es auch heut noch
nicht Nur aus der Form der Glocke und der Technik der Inschriften
lassen sich etwa folgende Beobachtungen zusammenstellen. Bis Ende
<les XII. Jahrhunderts arbeitete man in einer Form, welche Otte als
Bienenkorb treflfend bezeichnet hat. Der Typus wird am besten
durch die sogen. LuUusglocke in Hersfeld von ca. 1059 vertreten. Diese
ist mehr breit als hoch, die Flanke fällt fast senkrecht ab, die Haube
ist rund gewölbt, der Schlag ladet nur wenig aus und die Schärfe ist
nicht spitz zugeschnitten, sondern breit rechteckig. Hierzu gibt es aber
zahlreiche Varianten, indem das Profil meist ohne rechten Absatz aus
-der Haube in die geschwungene Flanke und den wulstigen Schlag über-
geführt wird. Die Inschriften sind ausnahmslos vertieft, da sie in das
Wacbshemd rechtläufig und vertieft eingegraben wurden, wie es Theo-
philus beschreibt. Aufserdem rät dieser noch zur Verbesserung des
Schalles am Hals 2 — 4 dreieckige Löcher (foramina) anzubringen.
Doch sind Glocken und Schalllöcher nicht gerade häufig. Mir sind
folgende bekannt: die LuUusglocke in Hersfeld, aus Graitschen S. W.
im Germ. Mus. zu Nürnberg, 2 im Dom zu Augsburg, 2 aus Dies-
xJorf und Elsdorf im Prov. Mus. zu Halle, Taufglocke in Roslau, Godewins-
glocke in Glentorf, je eine im Dom zu Merseburg, im diözes. Mus. zu
Köln, im Ferdinandeum zu Innsbruck und aus dem Münster im
Museum zu Basel. Neben den Bienenkorb tritt schon im XII. Jahr-
inmdeit eine gerade entgegengesetzte, die „Zuckerhutform", bei
welcher der Umrife bis zum Kegel gesteigert ist und der Schlag so-
"weit ausladet, dafe er gegen den Hals im Verhältnis von 2 : i steht.
Zuckerhüte sind noch sehr zahlreich erhalten, einige mit barbarischem
Flechtomament bedeckt, die meisten inschriftlos. Die Form scheint
sich noch weit bis ins XIV. Jahrhundert hinein gehalten zu haben, wie
auch wohl unfähigen Giefsern noch später Bienenkörbe gelangen.
Der Ton beider Formen ist schlimm in allen Variationen, schrill,
jammernd, weinerlich oder blechern, jedenfalls so absonderlich, dafs
man sie sofort aus einem Geläute heraushört.
Die normale, klangreiche „gotische" Rippe hat sich im Laufe
des XIII. Jahrhunderts gebildet. Damals erkannte man die noch heute
geltende Regel, dafe eine Glocke drei harmonische Töne von sich geben
müsse, den Grundton am Schlag und die Beitöne der Oktav am Hals,
•der grofeen oder kleinen Terz oder auch der Quart an der Flanke.
— 236 —
Diese günstige Klangmischung ergibt sich aber nur bei einer ganz
genau der Gröfse und dem Gewicht entsprechenden Rippe, die etwa als
Kompromifs zwischen Bienenkorb und Zuckerhut bezeichnet werden
kann. Das Verhältnis des Zuckerhuts (unterer Durchmesser zum Hals
= 2 : i) wurde beibehalten, die Höhe aber wesentlich verringert, die
Flanke verdünnt und etwa von der Mitte an elegant nach aufsen ge-
schwungen, der Schlag aber verdickt und nach unten zu einer Schärfe
zugespitzt, wodurch sich noch ein günstiger Beiton, die Unter-
oktave, ergab.
Als älteste mit einem Datum versehene Glocke galt bisher die-
jenige von Iggensbach in Bayern, ein formloser Bienenkorb mit der
Inschrift: Anno MCXLIÜI (i 144) ab incamcUiane Domini fusa est cam-
pana. Diesem weitberühmten Gefäfse hat nun Schubart nicht ohne
patriotisches Behagen die Ehre genommen, indem er eine Qlocke in
Drohnsdorf „als älteste nicht nur Deutschlands'* proklamiert. Er liest
nämlich aus der Inschrift f AM . IirDRFSAST MI II COC I II V MCFD
„nach langem vergeblichem Sinnen" das genaue Datum 30. Sept 1098:
Anno MIIC die post festum archangeli Michaelis IL Caiendas Odobris,
in honorem virginis Mariae genetricis Dei. Man kann zugeben, dafs
die Auflösung der 4 ersten Zeichen : AMIIC durch Anno MIIC tnil-
lesimo dtMdecentesimo oder nonagesimo octavo möglich ist, dagegen
die ganze folgende Auflösung ist völlig gegen den Geist frühmittel-
alterlicher Epigraphik, welche sich nie derartig in Siglcn bewegt. Viel-
mehr darf man den Text ruhig zu den ungelösten imd unlö3baren
Rätseln legen wie die Inschrift der Lullusglocke.
Die Zahl schwieriger Inschriften wächst von der Zeit an, wo man
die Inschriften nicht mehr in das Hemd, sondern in den Mantel grub.
Um ein richtiges Schriftbild im Gufs herzustellen, mufs die Eingrabung
„im Negativ" d. h. rückläufig und verkehrt geschehen. Im andern
Fall erscheint die Schrift im Spiegelbild. Welche Vexierfiragen hierbei
entstehen können, dafür bietet ein evidentes Beispiel die sogen. Silber-
glocke in Pöisneck. Am Hals fand sich in dünner Linienmajuskel folgende,
Inschrift: EROHTEB • TAMIN TSYEG ESOB NSAD EKOH • TVL-
EGEN • AM • OW • SNV • KOV • TOG • TIB • SUEMOHTKAB • EREH •
KEGLYEH f, an der Flanke TON SVRIM KOO ONV IHTOG FUH.
Natürlich waren alle Forscher verzweifelt und ich wollte nach vielen
vergeblichen Versuchen die Sache auch schon beiseite legen, als ich
bemerkte, dafs, trotzdem die Buchstaben so wie hier im Druck recht-
läufig stehen, der Text doch linksläufig angelegt ist, wobei konstant
R durch K ersetzt wurde. So kam denn der schöne deutsche Text
— 237 —
herans: Heyiger here Barihohmeus, bit got vor uns, wo mane gelvt
horej daen hose gegst nimant hetkore und hilf got hi und dort mir us not.
Wirklich unleserliche Sachen, denen auch der Verferüger keinen
Sinn nnterl^rte, beginnen doch erst seit Anfang des XIV. Jahrhunderts,
wo der Gie&er sich vom Schreiber unabhängig machte, seine Lettern aus
Wachs in Holztäfelchen preiste und auf das Hemd klebte. War er selbst
des Lesens imkundig, so klebte er die Buchstaben in wilder Mischung auf,
wie sie ihm unter die Hand kamen. In dieser naiven Kunst glänzte
Q. a. ein Giefser in Jena um 1350, der eine ganze Reihe von Glocken
hinterlassen hat, auf denen sich sinnlose Buchstabenreihen finden, sog,
Kryptogramme.
Hiermit dürfte auch die Frage der ABC-Glocken, an deren Vor-
kommen Otte noch zweifelt, im Zusammenhang stehen. Es sind davon
bisher 12 Beispiele bekannt, in Mennsdorf A — ^F, in Marisfeld A — G,
in Je&nitz A — T, in Gelnhausen Ratsglocke A — Z, in Kicklingen bei
Wertingen a. Donau A — ^V, in Gomesfeld b. Donauwörth, in der Pfarr-
kirche zu Biel A — K und A — D , in Luzem E — M , sämtlich in
Biajuskeln XIII. und XIV. Jahrhunderts, dann in Minuskeln in Rödelwitz
S. M. a — z, das Vesperglöckchen in Villingen a — z (lückenhaft), in der
Gertrudsldrche zu Stettin, in Schmilkendorf b. Wittenberg. Es lä&t
sich ja sehr gut denken, dafs man schon in der blofeen Buchstaben-
reihe eine Art Zauberformel sah, durch welche die Kraft der Glocke
g^en feindliche Mächte verstärkt wurde, wie ja auch der Bischof
bei der Kirchweih auf zwei kreuzweis auf den Boden der Kirche ge-
streute Aschenstreifen, das griechische und lateinische Alphabet zu
schreiben hatte. Neuerdings sind auch einige wenige Beispiele äufserer
Bemalung von Glocken bekannt geworden. Jos. Branis wies zuerst eine
solche im Glockenturm auf dem Friedhof bei Vidic in Böhmen (Mitt.
K.K. C.C. XIX. 70) 1599 von Thomas Klabal in Kuttenberg gegossen,
nach, woran sich reicher Figurenschmuck weifs, rot und grün emailliert
und künstlich oxydiert findet. Und in Münster fand Hertel 3 Glocken, die
Lambert!- und Katharinenglocke mit Bildern der Namensheiligen und die
Marien- oder Totenglocke mit dem Bild des Todes in Ölfarben bemalt.
Dazu kommt eine umgegossene Zeitglocke des Nikolausturms in Freiburg
Schw.y welche nach Ausweis der Seckelmeisterrechnungen 1484 von
einem Meister Hans für 40 Mk. bemalt wurde. Es wäre interessant,
diese merkwürdige Sitte durch weitere Beispiele zu belegen. Man ver-
gleiche dazu die Inschrift einer Glocke in Lübnde von 1278: me fudit
Thideridts VL Kai. Novembr. et me pinxit Hermanntis plebanus, welches
Otte auf die Gravierung der Bilder deutet.
— 238 —
Die Inschriften, namentlich in katholischer Zeit, bewegen sieb
grofsenteils in ganz festen Formeln, Sprüchen, liturgischen oder poetischen '
Sentenzen, gereimten (leoninischen) Hexametern und dieser Zustand
erleichtert dem Anß^nger die Arbeit ungemein. Er wird die Formeln,
auch in schlechten , gedrückten, beim Gufe mifslungenen Typen oder in
augenscheinlicher Verballhornung wiedererkennen und sich mit den vor- j
kommenden Abbreviaturen leicht befreunden. Kommen freie Texte
in schwieriger Form vor, so ist es immer rätlicher, das Faksimile in
Bescheidenheit nur mit Vorschlägen zu begleiten als sich auf eine
subjektiv ausgeklügelte Lesung zu kaprizieren, deren man sich später
zum Gaudium aller Mitarbeiter nicht wenig zu schämen pfl^t. Mit
Beispielen könnte man reichlich aufwarten.
Ebenso mufe vor voreilig aufgefaßten Giefsernamen gewarnt
werden. Wie oft tritt hinter der frommen Sentenz noch ein Name
wie Johannes, Petrus auf. Es ist dies aber nicht der Name des Giefeers,,
sondern der Glocke. Ganz verführerisch lautet z. B. eine Inschrift in
Gellershausen 1403 :
maria heis mich
cristus der schuf mich,
insofern man fast genötigt wird, einen Giefser Cristus anzunehmen.
Aber hier ist der zweite Satz nicht auf die Glocke, sondern auf Maria
zu beziehen nach dem dichterisch so oft verherrlichten Geheimnis^
dafs der Sohn der Jungfrau auch ihr Vater und Schöpfer sei.
In dieser Hinsicht steht auch der Hallesche Giefser Jahr (Jar,
Jaur) warnend am Wege. Dieser vielseitige, fruchtbare und langlebige
Mann ist durch Schubart in die Wissenschaft eingeführt worden. In
der Provinz Sachsen und in Anhalt gibt es eine ganze Reihe Glocken
mit gleicher Type und dem Halleschen Wappen (zwei Sterne, dazwischen
ein Halbmond), manchmal auch mit Giefserzeichen (Weinblatt) Schon
Otte hatte darauf aufmerksam gemacht, aber der Mann blieb namenlos.
Da fand Schubart eine Glocke in Sollnitz mit der Inschrift : f anno •
domini * m * ccccc * iaur und in Bobbau mit f anno * domini * m - ccccc *
i ' iar — „Es wäre somit der Name dieses Meisters hierdurch
ermittelt, nämlich Jaur oder Jar". Und dann werden ihm die frag
liehen Stücke von 1475 — 15 19 zugeschrieben. Ist die Wirksamkeit
des Meisters Jaur schon hierbei etwas ausgedehnt, so kann sie vorwärts
und rückwärts noch verlängert und über ganz Deutschland ausgedehnt
werden. In Jena findet sich eine Schlagglocke mit Anno dni. m^ ccc(fi
xl u iii iare (1448), eine noch ältere in Bobeck S. A., die umgegossen
ist, hatte die Inschrift: anno domini m cccc xi iar (141 1), eine andere
— 239 —
in Jena mit anno ixu in dem itd gar gegos (1546). Hier ist nun der
Irrtum auch dem Laien klar. Jar, jaur, gor ist das deutsche „Jahr*V
das trotz des vorausgehenden anno doniini nachklappt und so auch in.
Bau- und GeßLlsinschriften vorkommt. Übrigens wäre es grausam, den
,, Meister Jaur" wieder in der Versenkung verschwinden zu lassen^
Man kann ihm ruhig die Glocken wenigstens mit dem Weinblatt lassen,
bis einmal der wahre Name gefunden wird.
Ich schliefse mit dem Wimsche, dafs die Glockenkunde zu den
alten immer mehr neue Freunde finde, welche mit der edlen Leiden-
schaft des Suchens und Entdeckens, mit der opferfreudigen Hingabe
an einen schönen und weitverzweigten StofT die nötige Nüchternheit
des Urteils und den demütigen Stolz auf kleine aber sichere Ergebnisse
verbinden. Schliefslich ist doch der hohe Genufs der Arbeit schon.
ein „Lohn der reichlich lohnet*'.
üiteratur zur Gloeketikutide ^)
zusammengestellt von
Oberpfarrer Liebeskind (Münchenbemsdorf)
L Allgemeines.
Biringoccio, Piroteduiia, Vinegia, 2. Ausg. 1558 (in der UniYen.-Bibl. ni Göttingexk
[An mUit. 183] Fol. 94 — 100). Die älteste gedrackte Anweisung xur Glockengiefserei.
Hieronymi Magii Anglariensis de tintinnabolis Über posthnmus com notis Fran-
dsci Swertü, Amstelodami 1664, sninpt. Andreae Frisii; abgedruckt in A« H. de Sallengre^
Noths thesanms antiquitatiun Romanamm Tom. 2. Halae Comitiun 1718, p. 1156
bis 1200; im letasten Separatabdmck heraosgeg. von A. Lazzarini, Rom 1822. (Diese
älteste Monographie über die Glocken wurde vom Verfasser während seiner türkischen 1
Gefangenschaft, in der er 1572 oder 1573 ermordet wurde, nächtlicherweile voU-
endet Sie ward die Quelle für die zahlreichen Dissertationen des 17. und 18. Jahrh..
fiber diesen Gegenstand.)
Rocca, Angelns, de campanis commentarius ad sanctam ecd. cathol. , Romae 16 12..
4. Abgedruckt bei Sallengre a. a. O. p. 1233 ff.; auch in Thesaurus pontif. sacrarum*
que antiquitatum, ed. U. Romana, Romae 1745. Tom. I. p. 151 — 196.
Stockflet, Arn., de campanarum usu. Altdorf 1665. 12.
i) Diese Zusammenstellung soll die glockenkundliche Bibliographie in O ttes Oloeken-
bmde ergänzen. Einen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt sie nicht, aber manchem.
Leser dürfte sie willkommene Fingerzeige für seine Forschungen geben. Da Otte nicht
aSen Lesern zur Hand sein wird, sind die bei ihm zu findenden bis 1884 ziemlich voll-
ständigen Nachweise hier nochmals mit aufgenommen.
— 840 —
Reimann, Joh. Chr., DisserUtio de campanis, Isnad 1679 (HaUescbe UiiiTert.*Bibl. :
Kefersteinscbe Sammlong Bd. 293).
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Der»., Dissert. de origine et nomine campanamm, Jena 1685.
Storhias, Joh. Manr. , Dissert. de campanis templomm. Ups. 1692.
Pacicbeliiy J. B., de tintinnabnlo Nolana Incnbratio. Napoli 1695.
Wall er ii, Harald., Dissert de campania et praecipois eanmi nsibns, Holm. 1694.
Mi zier, H. A., de campanis. Viteb. 1695.
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d'orKtrerie. Paris 1857. p. 391—435.
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herzustellen. Vorangehend: Gemeinnützige Belehrungen Aber die Glocken über-
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Aufserdem sind zu vergleichen die betreflFenden Artikel in Enzyklopädieen etc., be-
sonders: Hallesche Enzyklopädie (Sekt. I, Bd. 70) die Artikel Glocke und Glockengut
von C Rcinwarth; Prechtls Enzyklopädie, Bd. 7, Art. Glocke von K&rmarsch;^
Viollet le Duc, Dictionnaire de l'architecture fran^aise Tom. 3.
— 243 —
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St. Peter za Aachen, in der Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 1882.
4, 318 — 333. — Die Glockengiefserfamilie ,|Ton Trier*' in Aachen, in der Zeitschr.
des Aachener Geschichtsvereins, 6. Bd., 1884, S. 239.
All^Q. Werner, C, Beiträge zur Glockenknnde im Allgäa, im Allgäuer Geschichts-
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Altenbnr^* Lobe, Beitrag zu den Glockeninschriften, in den Mitteilungen der Ge-
schichtsforschenden Gesellschaft des Osterlandes Vn. 2. Altenbnrg 1869.
Anhalt. Schab art, F. W., Die Glocken im Herzogtun Anhalt, Dessau 1896. Ders. :
Askanische Glocken in der 2^itschr. des Harzvereins XXDC (1896) S. 1 — 24.
Baselland* Birmann, Über die Glocken von Baselland, in den Blättern zur Heimat-
kunde von ßaselland, Liestal 1875.
Bayern. Die Glockenkunde in Alt-Bayern, in der Augsburger Postzeitung 1858. Nr. 65. —
G. Kr aus s, über gufseiseme Glocken in Oberbayern im Oberbayrischen Archiv
48. Bd. S. 522.
Berlin. Die Glocken der Kaiser- Wilhelm-Gedächtnisldrche in Berlin, im „Daheim** 1895.
Nr. 38. — Die Glocken für die Gnadenkircbe in Berlin, ebd. 1895. S. 480.
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im Archiv des historischen Vereins des Kantons Bern. 1882. IX. 3. — G. Studer
Über die lateinische Umschrift der Glocke des Dominikanerklosters in Bern, im
Archiv des histor. Vereins des Kantons Bern V. Bd. 1863., S. 373 ff.
BVbmen. Müller, Prof. Rud., Glockeninschriften aus Böhmen gesammelt, Reichenberg.
Brandenbnrg a* H. Wem icke, E., Beiträge zur Glockenkunde aus Brandenburg a. H.,
im „Bär**, 1876 Nr. 20 u. 21.
BraunsehwellT» Voges, Mittelalterliche Glockeninschriften aus dem Herzogtum Brann-
schweig, im Anzeiger des Germanischen Museums 1876 Nr. 7. — Der Glocken-
giefser Gerhardt de Wou aus Kampen; und: Zur Geschichte der Kirchenglocken in
ßraunschweig , im Beiblatt zur Magdeburger Zeitung 1889 Nr. 22 und 1890
Nr. 21. — Voges, Th., Niederländische Glocken in Wolfenbüttel, in der Zeit-
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giefser in Deutschland, im Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und
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Holland im Journal de la soci6t6 d'arch^ologie lorraine. Nancy 1886.
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of the connty of Stafford, mit 136 Tafeln, London 1889.
i] Die Inventare der Bau- und Kunstdenkmäler fiir die einzelnen Länder und Pro-
vinzen (vgl. diese 2^itschrift i. Bd. S. 270 — 290) enthalten natürlich auch viel Material
zur Glockenkunde. Vgl. oben S. 226 — 227.
17*
— 244 —
Blfnrt« Tettaa, W. J. A. t., Der Meister und die Kosten des Gusses der grofsen
Domglocke m Erfurt. 1866. — Ders., NichtrÜge hierzu, im Sonderabdruck aus den
Mitteilungen des Vereins fttr die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt. 2, 1 29 ff.
1868. -* Gleite, K. A., Geschichtliches ttber die grofse Glocke, die übrigen Glocken
des Domes und einige Glocken der Severikirche zu Erfurt; desgl. über die Stimmung
und Harmonie dieser Glocken. Erfurt 1867. 36. Aufl. 1892.
FniBkroich. Vallois, les doches de P6ronne 1865. — Deogny, les doches du pajrs
de Bray I. IL 1863. 1866.
Frelb^rg !• 8* Glockengiefser Martin Hilger zu Anfang des XVI. Jahrh. in den Mitteilungen
des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen. 30. Jahrg. (1892), S. 128 u. 338.
Freibnrf \. d. Behwels. Effmann, W., Die Glocken der Stadt Freiburg i. d. Schweiz,
Strafsburg 1899.
FriesUuid« ▼. Borssum-Waalkes, G. H., Friesche Klokke-Opschriften in de Voije
Fries XVI. XVm. XIX. Leeuwarden 1885. 1892. 1895.
Halbentadt« Nebe, G. , die HalberstXdter Glocken, in der Zeitschrift des Harz-Ver«
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I^lun. A« Nowak, Glocken der Iglauer Pfarrkirche in den Mitteilungen der k. k.
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KnÜB« Hitzinger, Zur Geschichte alter Glocken in Krain, in den Mitteilungen des
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Mansfalder Seekrels« Grössler, H., Glocken des Mansfdder Seekreises, in der Zdt*
Schrift des Harz-Vereins 1878. XI, 26—46. Mit 3 Tafeln.
Hark* Niemöller, Glocken der Grafschaft Mark, in dem Jahrbuch des Vereins für
die evangelische Kirchengeschichte der Grafschaft Mark. i. Jahrg. S. 27 — 62. 1899.
HerMburg* Otte, H., Mittelalterliche Glocken im Stift Merseburg, in der Zeitschrift
für christliche Archäologie und Kunst, herausgeg. von Ferd. v. Quast und H. Otte,
Bd. L 1856. S. 81—85; Bd. IL i8s8. S. 35—37.
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Mtsieil« Ledebur, L. v., Glocken im Fürstentum Minden und in der Gralschaft
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appendix: The bells of the cathedrale church of St Isaac at St Petersburg.
— 245 —
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Osterland. Vgl. AUenburg.
SefUMbarg. Schnegraf, Kurze Geschichte der Erfindung der Glocken, insbesondere
geschichtliche Nachrichten über die ältesten Glocken und Glockengicfscr der Stadt
Regensburg, in den Verhandlungen des historischen Vereins von Oberpfalz und
Regensburg. Bd. IX (N. Folge Bd. I) 1845. S. 294—308-
Buft^ek. W. Effmann, Die Glocken der Marienkirche zu Rostock in der Zeitschrift
f^ christliche Kunst VII, 81.
B^tteB^arg. Buse, C. A., Zur Glockcnkunde , im katholischen Kirchenblatt fiir die
Diöcese Rottenburg. 1866. Nr. 31 f. (vgl. hierzu: Pastoralblatt dieser Diöcese.
1882. Beüage Nr. i f.)
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im 35. Jahresbericht des Vereins ftlr kirchliche Kunst 1898, 14—19 "^^^ ^^ Neuen
.Archiv fUr sächsische Geschichte und Altertumskunde 1900, S. 259.
Sftdlfleil, PrOTinx. Eisenhardt, H., Kirchenglocken aus gotischer Zeit aus der Um-
gegend von Magdeburg. Zur Glockenkunde in der Provinz Sachsen, im Beiblatt zur
Magdeburgischen Zeitung 1889 Nr. 45. 46; 1891 Nr. 18. — Sommer, G., Zur
Glockenkunde in der Provinz Sachsen, im Beiblatt der Magdeb. Zeitung 1889 Nr. 51.
Saeksen-Meilliniren. Bergner, H., Die Glocken des Herzogtums S.-Mciningen, Jena
1899 (Separatabdruck aus den Schriften des Vereins für S.-Mciningische Geschichte
und Landeskunde Heft 33).
Sebweiz« Tissot, Ch.Eug., Les vieilles cloches de Valangin, im Mus^ Nenchatelois 1878.
i^ 97—108. — Brandstet ter, Repertorium über die in Zeit- und Sammelschriften
der Jahre 1812 — 1890 enthaltenen Aufsätze schweizergeschichtlichen Inhalts. Basel 1893.
S. 249. Darin sind zu finden: v. Szadrowski, Glocken der Stadt St. Gallen. —
Nüscheler-Usteri, Glocken im Kanton Glarus, Schafihausen, Tessin, Appenzell.
Sulzb erger, Die Glocken des Kantons Thurgau, vgl. auch: Thurgauische Beiträge
zur vaterländischen Geschichte, 12. Band 1875. — Aufserdem: v. Vantrey, Glocken
des bemischen Jura, vgl. auch La semaine catholique, Fribourg, seit 1881.
SiebealMIrsr^n» Müller, F., Zur älteren siebenbürgischen Glockenkunde, im Archiv des
Vereins für siebenbürgische Landeskunde. Neue Folge IV. 2. 1860.
SiMidal. Wrede, H., Berühmte Glocken in Stendal, im Beiblatt der Magdeb. Zeitung
1889. Nr. 19.
Thlringen. Bergner, H., Zur Glockenkunde Thüringens, Jena 1896. — H. S., Die
ältesten Glocken Thüringens, im Erfurter Allgemeinen Anzeiger 1903. Nr. 60. 2.
Beiblatt — Liebeskind, P., Noch einmal die „ältesten" Glocken Thüringens,
ebd. 1903 im Februar.
Torarlberir. S. Jenny, Glocken in Vorarlberg in den Mitteilungen der k. k. Zentral-
kommission XXI, 139 u. 230.
Wcraigerode, Jacobs, Ed., Alte Glocken der Grafschaft Wernigerode, im christ-
lichen Kunstblatt 1869, Nr. 9 (vgl. auch Zeitschrift des Harz-Vereins 1869. i, 39).
Wirttenberg, KUnzinger, C, Zur Glockenkunde in Württemberg, in den Württem-
bergischen Jahrbüchern 1857. Heft 2.
— 246 —
Mitteilungen
YersammlllDgen» — Qeicbzeitig mit dem Historikertag fand unter dem
Vorsitz von Professor Lamprecht (Leipzig) am 15. und 16. April die fünfte
Konferenz von Vertretern deutscher Publikationsinstitute
in Heidelberg statt. ^) Zwei Sitzungen wurden abgehalten und darin, ab-
gesehen von einigen organisatorischen Fragen, historisch-geographische
Probleme erörtert. Um einen Überblick über das auf diesem Gebiete in
den verschiedenen Landesteilen bisher Geleistete zu gewinnen, war eine Aus-
stellung von Arbeitskarten und fertigen Karten veranstaltet worden, die das
von den verschiedenen Bearbeitern eingeschlagene Arbeitsverfahren erläutern
sollten und in der Tat in dieser Richtung Belehrung und Anregung zu geb^n
geeignet waren. Kartenmaterial hatten vorgelegt: i. Die Gesellschaft fiir
Rheinische Geschichtskunde; 2. die Historische Kommission für die Provinz
Sachsen und Anhalt; 3. die Kommission zur Bearbeitung eines historischen
Atlasses der österreichischen Alpenländer; 4. die Kgl. Sächsische Kommission für
Geschichte; 5. dasWürttembergische Statistische Landesamt; ö.Prof.Dr.Lorentzen
(Oberrealschule Heidelberg) von ihm für pädagogische Zwecke entworfene
Karten. Die Leipziger Zentralstelle für Grundkarten hatte ein vollständiges
Exemplar der erschienenen Grundkarten Deutschlands tmd Hollands ausgestellt.
Einleitend bemerkte Prof. Lamprecht, dafs die Herstellung der Grund-
kalten jetzt im wesentlichen überall gesichert, ihr Charakter als Arbeits-
karten vielseitig aneriiannt und die Frage nach dem geschichtlichen Wert der
Gemarkungsgrenzen in Klärung begriffen, die Zentralstelle für Grundkarten
in Leipzig in Tätigkeit getreten *) und dafs es bei dem gegenwärtigen
Stand der Forschung die wichtigste Aufgabe sei, die hier und dort gemachte
Erfahrungen praktisch- technischer sowohl als wissenschaftlicher Natur aus-
zutauschen, um sich gegenseitig zu fördern und dort, wo man etwa die
Arbeit neu in Angriff nähme, nicht erst lange experimentieren zu müssen.
Zudem seien die Arbeiten teuer, sodafs sich durch rechtzeitige Berichtigung der
FragesteUung grofse Summen ersparen lassen. Das jetzt immer stärker auf-
tretende wissenschaftliche Problem sei die Darstellung der Fläche in einem
bestimmten geschichtlichen Zustand, während bisher immer wesentlich die
Linien d. h. in diesem Falle die Gebietsgrenzen aDein zur Darstellung ge-
langt sind. Und zweitens komme es darauf an, die hier und dort fest-
gestellten Forschungsergebnisse nach Möglichkeit so zu gestalten, dafs sie
unter sich x-erglcichbar werden.
In die materielle Ervirtemng eintretend berichtete zunächst Archivdirektor
Prof. Hansen ^Köln^ über die «eitlich am weitesten zurückreichenden histo-
risch-geographischen Arbeiten in der Rheinpro^nnx, als deren Frucht bis jetzt
4 Karten des (^rÄ^^^'»^*K*V^••l JfAucjsrcf i^ /iV#/ir-^.^rtn^ (Bonn, Behrend, 1894 ff.)
erschienen sind, nämlich i, die Rheinj^rvMin* unrer französisciier Herrschaft
1813 (Konstantin Sohultris, i : 5000VX*, *4 4.50^; 2. die politische xmd
i\ CSer die xk-rte Kv^ahrrwu yltWlK l^oo^ >i|ct lV«;»cfec GesdbcktsbL i, B<L, S. 201
Ins «05.
a^ Yjt <i*r*b<T dw» \«ii*u ron Kc»ti»cl»i.e ua Kc^rres^pocdgiubUtt des Gesamt*
^ercutt d<T devt^Wo G^^^-yaciiU- »»d Aheft«is»t*re«>«k t«»a^ Nr. 7 &.
— 247 —
•
administrative Einteilung der heutigen Rheinprovinz 1789 (Wilhelm Fabricius,
7 Blätter, i : 160000 und Übersicht der Staatsgebiete, i : 500000, Ji 34.50) ;
3. Übersicht der Kreiseinteilung der Rheinprovinz 1789 (W. Fabricius,
1:500000, M^ 4. 50); 4. die Rheinprovinz unter preufsischer Verwaltung
18 18 (Konstantin Schulteis, i : 500000, jH 4. 50). Femer sind Erläute-
ftmgen zum Geschichtlichen Atlas der Rheinprovinz erschienen, von denen
der erste Band die Karten von 18 13 und 18 18 {Ji 4.50), der zweite
{JH 18) die von 1789 behandelt Mit dem dritten Bande, W. Fabricius:
Das Hochgericht Rhaunen [Ji 4. 80) beginnen typische Spezialuntersuchungen,
die notwendig sind, um bei dem Zurückgehen über 1789 klarere Einsicht
in die Verhältnisse zu gewinnen. Als 4. Band ist eine in diesem Sinne aus-
geführte Arbeit über das Gebiet der vormaligen Reichsabtei Prüm von Archivar
a. D. Forst (Zürich) ganz kürzlich erschienen, während eine andere von
Archivar Knipping (Düsseldorf) über das Amt Rheinberg in Vorbereitung
ist Abgeschlossen ist ferner die Darstellung der Kirchenkarte der Rhein-
provinz nach der Reformation (imi 16 10) in 4 Blättern, von denen drei
schon gedruckt sind.
Im einzelnen berichteten über ihre Forschungen Wilhelm Fabricius,
Archivar Forst imd Archivar Knipping persönlich. Ersterer führte aus:
Die bbher im Rheinland befolgte Arbeitsmethode ging von dem Grundsatze
aus, dafs die jetzigen Gemarkungsgrenzen bei der Konstruktion alter Grenzen
für Territorien, Ämter, Gerichte, Diözesen, Dekanate, Kirchspiele zu Grunde
zu legen sind , soweit nicht etwa gute alte Karten , die auf wirklicher geo-
metrischer Aufiaahme beruhen, oder Grenzbeschreibungen ein besseres Hilfs-
mittel bieten. Es wurde also aus den Amtsbeschreibungen, Rechnungen,
Ortsverzeichnissen imd sonstigen Akten der Umfang und Bestand eines jeden
Bezirks festgestellt, die Enklaven imd Exklaven ermittelt imd für jede Ortschaft
ein 2^ttel angelegt, auf dem die festgestellten Punkte nach Rubriken ein-
getragen wurden. Alte Karten wurden kopiert und die Grenzen, die sich
dort fanden, in Mefstischblätter und andere Karten mit Gemarkungsgrenzen,
die z.T. erst aus den etwa 1800 — 1830 bearbeiteten Gemeindeübersichtskarten
eingetragen wurden, eingezeichnet. Wo diese Grenzen nicht ausreichten, sind
die Flurgrenzen des jetzigen Katasters eingetreten, die aber nicht immer auf alter
Grundlage beruhen, sondern sogar meist aus Bedürfnissen der Katasteraufnahme
hervorgegangen smd. Dies stellte sich jedoch erst heraus, als ich nach Fertig-
stellung der jetzt erschienenen Karten zu der systematischen Bearbeitung der
alten Grenzbeschreibungen überging. Die sich ergebenden Spezialkarten auf
Pauspapier wurden dann von einem Zeichner auf den Mafsstab und die
Blattgröfse der zu druckenden Karten reduziert und dann lithographiert. Seit
mir Grundkarten zur Verfügung stehen, zeichne ich die Vorlagen für den
Lithographen selbst in diese ein. Die Reduktion und Zusammensetzung der
Xartenblätter besorgt die lithographische Anstalt; für den Farbendruck lasse
ich, wenn die Situation und Grenzen fertig sind, auf einen Abdruck davon
unter meiner Aufsicht eine Vorlage herstellen. — Bei der Bearbeitung von
mittelalterlichen Karten sind alte Karten nicht mehr zu benutzen ; es müssen
dafür die Grenzbeschreibimgen ausgebeutet werden, deren systematische Durch-
arbeitung aber ohne die Benutzung der Flurkarten des Katasters unmöglich ist
Das Quellenmaterial, das neben den Grenzbegehungsprotokollen in Frage kommt.
— 248 —
Urbare, Zins- und Lehenbücher, Urkunden u. s. w. ist aber so reich, dafs
dessen Sammlung und Durcharbeitung nur möglich ist, wenn man dabei
kleinere Gebiete (Grafschaften, Ämter, Landgerichte) berücksichtigt; die Auf-
gabe ist überhaupt nur auf dem Wege monographischer Bearbeitung solcher
Landesteile zu lösen. — Die jetzt übliche Einteilimg der Gemarkung beruht
wenigstens zum grofsen Teil auf geschichtlicher Grundlage, die heutigen Ge-
markungsgrenzen decken sich in sehr vielen Fällen mit alten Grenzen. Da
aber nicht von vornherein zu sagen ist, wo Veränderungen eingetreten sind,
mufs die Übereinstimmung oder Abweichung von Fall zu Fall festgestellt
werden. Das Material dafür in den Akten ist reichhaltig, aber nur in be-
sonderen Arbeiten über diese Fragen für die verschiedenen Gegenden kann
es ganz ausgebeutet werden, ebenso wie das Schicksal von Wüstungen, Forsten
und gemeinen Marken, von selbständigen Einzelhöfen und Wildhufen in bezug
auf ihre Eingemeindung aktenmäfsiger Aufklärung bedarf.
Forst hat bei seiner Untersuchimg des Territoriums der Abtei Prüm
gefunden, dafs sich die Grenzen der lokalen Gerichts- und Verwaltungsbezirke —
hier Höfe oder Schultheifsereien genannt — für das XVL Jahrhundert genau
bestimmen lassen und Rückschlüsse auf die frühere Zeit bis ins X. Jahr-
hundert gestatten; sogar die Grenze eines im Jahre 8i6 der Abtei zu-
gesprochenen Bannforstes ist noch genau festzustellen, da sie mit den Hilfs-
grenzen des XVL Jahrhunderts zusammenföUt. Die Hilfsgrenzen decken sich
meist, jedoch nicht immer, mit den heutigen Gemeindegrenzen oder, wenn
ein Hofbezirk mehrere Ortschaften umfafste, mit den entsprechenden Teil-
strecken der heutigen Ortsgrenzen. Wo sich Abweichungen finden, lälst sich
meist auch die Ursache dieser ermitteln. Bei den Hofbezirken, die mehrere
Ortschaften umfafsten, war es nicht möglich, die Grenzen der einzelnen Orte
innerhalb des Hofbezirks genau festzustellen. Es hat vielmehr den Anschein,
als ob die Wälder und ödländereien noch im XVIII. Jahrhundert Gemeingut
der im Hofbezirk vereinten Orte gewesen und erst unter französischer
Herrschaft aufgeteilt worden seien, als man die alten Hof bezirke auflöste
imd die Einzelgemeinde zur Grtmdlage der Verwaltung machte. Die in den
Grenzbeschreibungen der Höfe genannten Ortlichkeiten liefsen sich zum gröfsten
Teile mit Hilfe der Flurkarten und der Mefstischblätter ermitteln und in die
Grundkarten eintragen; die Mefstischblätter selbst bieten zu wenig Raum für
diese Eintragungen, und aufserdem treten darauf die Grenzen der Einzel-
gemeinden nicht genügend gegenüber den Grenzen der modernen Verwaltungs-
bezirke (Landbürgermeistereien) hervor. Die Flurkarten, auf denen man die
Namen der einzelnen Flurteile findet, können nur auf den Katasterärotem
selbst benützt werden, aber Übersichtskarten einzelner Gemeinden des Regienmgs-
bezirks Koblenz sind bei der Regierung käuflich; sie sind grofs genug, um
darauf die Namen der Flurteile einzutragen, und es würde sich empfehlen,
eine Sammlung dieser Übersichtskarten anzulegen.
Knipping betonte, dals bei der Bearbeitung politischer Karten, auf
die es ftir die nächste Zukunft im Rheinland allein ankommen kann, eine
Änderung der Arbeitsmethode eintreten müsse, denn bei den von ihm und
Archivar Redlich (Düsseldorf) ausgeftihrten Einzeluntersuchungen habe sich
gezeigt, dafs das Aktenmaterial so umfangreich, der wirklich kartographisch
verwendbare Stoff aber so gering imd lückenhaft sei, dafs man an eine Prüfung
— 249 —
der Stabilität . der Gemarkungs-, Gerichts-, Amts- und Territorialgrenzen, wie
bisher geschehen, gar nicht denken könne. Deshalb seien künftig nur die
äu&eren Territorialgrenzen kritisch rückwärts zu verfolgen, die inneren Grenzen
müsse man jedoch aus der Karte von 1789 herübemehmen und ihre Stabilität
voraussetzen, obwohl sich oft bei der Arbeit Verschiebungen ergeben hätten.
Dort, wo Mefstischblätter vorliegen, die ja die Gemarkungsgrenzen enthalten,.
seien die Grundkarten überflüssig.
An zweiter Stelle erstattete als Erläuterung zu der von der Histori-
schen Kommission für die Provinz Sachsen veranstalteten Aus-
stellung Dr. Kötzschke (Leipzig) Bericht an Stelle des erkrankten Vertreters
der Kommission, Oberbürgermeisters Dr. Brecht (Quedlinburg), dem vor
allem die Anregung imd Förderung der vorgelegten Arbeiten historisch-karto-
graphischer Art zu danken ist. Die provinziabächsische Kommission hat die
historisch-geographischen Probleme von seiten der Besiedelungsgeschichte
angeüafst imd ist so auf das für die Fluren vorhandene und historisch ver-
wertbare Quellenmaterial zurückgegangen. Die Aufgabe , die. man sich zu-
nächst stellte, ist die, nach einem neuen und gründlichen Verfahren die Flur-
namen und die Wüstungen möglichst umfassend zu ermitteln imd kartogra-
phisch genau zu fixieren. Aus den Separationskarten und anderem Material
werden die historisch belangreichen Gregenstände (frühere und jetzige Ge-
meindegrenzen, sämtliche Namen, die Landgräben und Landwehren, Wüst-
ungen u. s. w.) in die Mefstischblätter des Generalstabs in i 125 000 über-
tragen. Femer wird für ein jedes Mefstischblatt ein Wüstimgsbuch herge-
stdlt, in dem die auf das Gebiet jenes Blattes bezüglichen Pausen solcher
Fhuteile der Separationskarten, wo Wüstungen nachweisbar sind oder ver-
mutet werden, sich gesammelt finden. Ebenso wird für jedes Mefstischblatt
ein Feld¥rannenbuch angelegt, in dem die zu den betr. Ortschaften ge-
hörigen Namen von Feldwannen verzeichnet werden. Ist so ein reiches
handschriftliches Material als Grundlage für mannigfache historisch-topo-
gr^hische Studien beschafft worden, so hat die Kommission auch einige
Karten im Druck veröffientlicht : für den Nordthüringgau ist als Beigabe zu
einer urkimdlich-quellenmäfsigen Publikation (herausgeg. von Hertel) über
die Wüstungen eine Wüstimgskarte , von G. Reischel im Mafsstabe der
Gcneraktabskarten i : 100 000 gezeichnet, veröffientlicht worden (mit Höhen-
scbichten); ebenso erscheint jetzt eine zweite für die Kreise Duderstadt, Worbis,
Heiligenstadt und Mühlhausen (auch mit Einzeichnung von Strafsen); da-
neben sind geschichtliche Karten herausgegeben worden, die aufserdem Ein-
tragungen betreffs des Baustils der Kirchen (durch farbige Unterstreichung der
Ortsnamen) enthalten; so baugeschichtliche und Wüstungskarten für die
Kreise Ziegenrück und Schleusingen.
An diitter Stelle folgte die Besprechung des zum Behufe eines histo-
rischen Atlasses der österreichischen Alpenländer gesammelten
und ausgestellten Materials. In Abwesenheit des Leiters jenes Unternehmens,
Prof, Richter (Graz), wiederholte Prof. v. Zwiedineck-Südenhorst an seiner
Stelle dasjenige, was Richter selbst in dieser Zeitschrift zu diesem Zwecke
mitgeteilt hat '). Lediglich im Punkte des für die Alpenverhältnisse nicht ver-
1) Vgl. oben Heft 6/7, S. 145—150. Jeder Teilnehmer an der Versammlung deutscher
— • 250 —
wendbaren Begriffs der „Gemarkungsgrenze", der Gegenden mit Dorf-
siedelung entnommen ist, wurden einige Erörterungen angestellt: in grofsen Teilen
■der Rheinprovinz z. B. kann als Gemarkung nur das Gebiet einer „Honnschaft" in
Frage kommen, deren 5 und mehr oft eine „Gemeinde" bilden, und in
den Alpenländem entspricht der „Gemarkung" das zu einem Einzelhof ge-
hörige Gebiet oder die oft noch erkennbaren Unterabteilungen der den mo-
dernen Steuergemeinden am nächsten verwandten, vor den Josefinischen Re-
formen bestehenden Gemeinden. (VgL Armin Tille, Die bäuerliche Wirt-
sckaßsverfassung des Vintschgaues [Innsbruck 1895] besonders Kap. 10:
Die Gemeindebildung S. 242 — 264.)
Als vierter Berichterstatter erklärte Archivdirektor Stalin (Stuttgart) zu-
nächst die Karte der Herrschaftsgebiete, die das heutige Württemberg im
Jahre 1801 ausmachten, imMafsstabe i : 260000. In Verbindung mit Topograph
Bechtle hat Redner sie selbst 1896 im Auftrage des Kgl. wtirttembergischen
statistischen Landesamts im Anschlufs an eine ältere Karte seines Vaters her-
ausgegeben. Diese Karte ist an der Hand des einschlägigen Aktenmaterials
auf Grund von Gemarkungskarten aufgebaut — stellt also insofern
die Verwirklichung eines Ideals historisch-geographischer Arbeit dar — und
enthält ztmächst nur die Namen der einzelnen Gemeinden mit ihren Grenzen.
Wenn einzelne Parzellen von Gemeinden jedoch zur genannten Zeit anderen
Herrschaften zustanden als die ftir den jetzigen Gesamtgemeindenamen mafs-
gebende örtlichkeit, so sind auch diese Parzellen mit der ftir die betreffende
Herrschaft gewählten Farbe bezeichnet. Ein erklärender Text (28 S.) ist
dieser Karte beigegeben. Zweitens besprach Stalin die gleichfalls vom statisti-
schen Landesamt herausgegebene Gemarkungskarte des Königreichs —
dort „Markungskarte" genannt — im Mafsstabe i : 350000, in der nach den
Angaben des Oberstudienrates Hartmann einzelne Verhältnisse, die für die
Landesbesiedelung von Interesse sind (Orte mit vorrömischen und alemannisch-
fränkischen Altertümern, Orte auf — ingen. Orte mit fränkischen Kirchen-
heiligen, vor 1000 genannte Orte u. s. w.), mit Farbe bezeichnet worden
sind. Im Anschlufs an die Denkschrift von Beschomer *) weist Stalin noch
darauf hin , dafs für Württemberg 15572 sogen. Rurkaxten im Maisstabe
I : 2500 existieren, in die auch die Namen der einzelnen Fluren und Wüstungen
eingezeichnet sind, und von denen Abdrücke einzeln käuflich erworben werden
können; der Preis beträgt bei amtlicher Benutzung ^ o. 30, für Privatkäufer
J^ o. 90, zu beziehen sind sie vom Katasterbureau in Stut^art Auf Grund
dieser Flurkarten ist ein Zettelkatalog der württembergischen Flur- und Wüstungs-
namen angelegt worden, der beim statistischen Landesamt aufbewahrt wird. Sehr
viel einschlägiges Material enthalten auch die 64 teilweise in zweiter Auflage
erschienenen Beschreibungen der einzelnen württembergischen Oberämter ').
Ebenfalls Dr. Kötzschke (Leipzig) berichtete zuletzt über die noch
in dem ersten Vorbereitungsstadium befindlichen Unternehmungen der Kgl.
Historiker hat dieses Heft als Geschenk erhalten; die Orientienmg des einzelnen über
<i»s Verfahren in Österreich war demnach wesentlich erleichtert.
1) Vgl oben S. 1S6/S7. Dort ist insofern ein Irrtum untergelaufen, als angenommen
worden ist, Beschomer wolle ein sächsisches Ortsveneichnis selbst bearbeiten, dies ist
aber nirgends aasgesprochen
2) VgL darüber Deutsche G«schichtsbL 3. Bd., S. 9S.
— 251 —
Sächsischen Kommission für Geschichte. Er gab zunächst einen
Überblick über die älteren Hauptwerke der Kartographie Kursachsens, um
den QueHenbefund für die jetzt zu schaffenden Arbeiten nach dieser Seite
bin zu charakterisieren; dabei ging er besonders ausfuhrlich auf die eigen-
artige und als Quelle höchst wertvolle Landesaufnahme aus der Zeit Kurfürst
Augusts und seiner Nachfolger ein (um 1600; M. Oeder und B. Zimmer-
mann). £r schilderte sodann, wie sich die Stellung historisch-geographischer
Probleme innerhalb der sächsischen Geschichtskommission ') entwickelt hat :
zunächst Schaffung einer für die verschiedenartigen Aufgaben historisch-karto-
grs^hischer Art brauchbaren zeichnerischen Grundlage in den Grundkarten,
zugleich Plan eines Flurkartenatias , der die wichtigsten Flurtypen mit agrar-
geschichtlichen Erläuterungen vorführen sollte; daran schlofs sich der Plan
einer Behandlung der Grenzen des Kurstaats, der sofort zu der Aufgabe
einer Ermittelung der Amts- und Gerichtsbezirke führte ; weiterhin aber stellte
sich das Bedürfnis eines historischen Ortsverzeichnisses ein, imd dabei wieder
traten als nächste wichtige Aufgaben die Sammlung der Flurnamen lind die
Wüstungsforschung heraus; auch die Bearbeitung der Ämter in Wort und
Kartenbild erweist sich ohne die des Ortsverzeichnisses als undurchführbar
oder doch höchst unpraktisch. Die Kommission ist so aus den allmählich
gewonnenen Erfahrungen heraus dazu gekommen, an erster Stelle das für die
Fluren des Landes vorhandene Material möglichst gründlich imd vielseitig
verarbeiten zu lassen und hat auf Vorschlag Prof. Lamprechts beschlossen,
zunächst versuchsweise für mehrere Amtshauptmannschaften in der Umgegend
von Dresden und Leipzig die aus der Zeit vor den Zusammenlegungen
(1835 ff.) vorhandenen älteren Flurkrokis 'für ihre Zwecke reproduzieren
zu lassen; in diese Karten soll dann der für historische Zwecke in
Betracht konamende Stoff eingetragen werden; die von der Kommission
als notwendig erkannte Methode ist also die, ihre sowohl den politisch-
historischen, wie auch kulturgeschichtlichen Problemen dienende karto-
graphische Arbeit auf den kleinsten hierfür in Betracht kommenden Boden-
abschnitten, den Ortsfluren, aufzubauen. — Ausgelegt waren zur Ver-
anschaulichung dieser Erfahrungen imd Pläne aufiser Beispielen der Karte
um 1600 einige die Verwertung von Grundkarten zeigende Karten, Versuche
der Amterdarstellung imd die Anfange der Flurkartenreproduktion.
Aus allen fünf eingehenden und durch die vorgelegten Karten imd Texte
eriäuterten Berichten ergibt sich bei aller Verschiedenheit der Arbeits-
weise und der Aufgaben die Notwendigkeit, auf die Einheiten der Be-
siedelung zurückzugehen und aus diesen von unten herauf Entstehung
bezw. Zusammensetzung der gröfseren Komplexe darzustellen. Die Einheiten
sind die Gemarkungen bezw. die zu Einzelhöfen gehörigen Flurbezirke.
Zwar haben diese manche Veränderungen erfahren — namentlich in Gegenden,
wo sich zahheiche Wüstungen finden — , und diese müssen in jedem ein-
zelnen Falle, wo sie urkundlich belegt sind, von der Forschung berücksichtigt
werden; wo aber urkundliche Belege fehlen, ist die Geltung des heutigen
Verlaufs subsidiär anzunehmend Als Arbeitsgrundsatz ergibt sich daraus
neben dem schon seit langem anerkannten, dafs rückläufig von der Gegen-
i) Vgl. oben s. 223.
~ 252 —
wart aus gearbeitet werden muls, der zweite: eine Sammlung des
Urmaterials, der Flurkarten aus der Zeit vor der Separation,
mufs den Ausgangspunkt der Forschung bilden. Wird die ein-
zelne Flur in dieser Weise untersucht und in emem Textbuch alles Zu-
gehörige eingetragen, so wird zugleich die Geschichte der Flurverfassung
und die Feststellung der Flurtypen sehr erleichtert, ebenso die Erforschung
der Flurnamen, aber zugleich wird — und das ist das wichtigste — eine
dauernde Grundlage geschaffen für den Betrieb der geschichtlichen
Geographie als Wissenschaft
Die praktisch zunächst zu erstrebenden Ziele begründete Dr. Kötzschke
(Leipzig) in der zweiten Sitzung in seinem Antrag:
„Die Konferenz deutscher Publikationsinstitute wolle beschliefsen, eine
Denkschrift ausarbeiten zu lassen, in der untersucht wird, inwieweit bei
der künftigen Bearbeitung für den Druck bestimmter, historischer Karten-
werke grofsen Mafsstabes in Deutschland einheitliche Grundsätze beobachtet
werden können."
Die Kernpunkte seiner Auseinandersetzung hatte er bereits den Teil-
nehmern durch den Druck zugänglich gemacht, sodafs er sich im wesentlichen
auf eine Erläuterung seiner „ Begründung " beschränken konnte. Diese lautet :
Die derzeitige Lage der historischen Kartographie im deutschen
Reichsgebiet ist dadurch gekennzeichnet, dafs, mit einziger Ausnahme der
Rheinprovinz, Veröffentlichungen, die den gesteigerten wissenschaftlichen
Ansprüchen der Gegenwart genügen und den in grofsen Mafsstäben aus-
geführten topographischen, geologischen und anderen modernen Karten
ebenbürtig sind, heute noch nicht vorliegen, wohl aber Bestrebungen,
ähnliches zu schaffen, mannigfach sich geregt haben und auch Vorarbeiten
dazu ins Werk gesetzt worden sind.
Der Zeitpunkt scheint darum geeignet zu sein, emmal der Frage
näher zu treten, ob bei der Bearbeitung historischer Kartenwerke inner-
halb der deutschen Bundesstaaten, an die in absehbarer Zeit an der einen
oder andern Stelle bestimmt herangetreten wird, gemeinsame Grundsätze
hinsichtlich des Forschungsverfahrens, wie der bildlichen Darstellung be-
obachtet werden können; der Zeitpunkt ist günstig, weil einerseits heute
schon eine Summe von Erfahrungen auf dem Gebiete historisch - karto-
graphischer Arbeit in Österreich, in den Rheinlanden, auch in Württemberg,
in Sachsen, in Brandenburg und anderwärts, gemacht sind, die es ermög-
lichen, nicht blofs theoretische Forderungen zu stellen, sondern einen
genügenden Einbb'ck in die Wege praktischer Ausführung gestatten, zum
andern aber weil heute in der Praxis durchaus noch die Möglichkeit be-
steht, bei der Ausarbeitung der künftig erscheinenden historischen Karten-
werke einheitliche Grundsätze, soweit deren Beachtung überhaupt möglich
oder erwünscht ist, auch wirklich zu betätigen. Erfolgt erst an mehreren
Stellen in Deutschland ein ganz selbständiges Vorgehen einzelner landes-
geschichtlicher Kommissionen oder Vereine, so ist bei der Kostspieligkeit
kartographischer Unternehmungen das Versäumte auf Jahrzehnte hinaus
gar nicht wieder gut zu machen.
— 253 —
Die Lösung historisch- kartographischer Probleme ist durch land-
schaftliche Verschiedenheit aufserordentlich stark bedingt : Hochalpennatur,
KGttelgebirge und Hügelland, Hoch- und Tiefebene, Dorf-, Hof- und
Weileisiedlung, die Wegsamkeit eines Landstrichs, die politischen Schicksale
und die Besonderheiten der Verwaltungsgeschichte, die Entwickelung der
Gnmdbesitzverhältnisse und der Flurverfassung, die Eigenart der Gemeinde-
bildnng, die Förderung der Landesaufnahme, wie der Landesbeschreibimg
und infolge davon Alter, Reichtum und Wert der besonderen historisch-
geographischen Quellen, dies alles und andres mehr schafft bei gewissen
gemeinsamen Grundzügen die manigfachsten Bedingungen für die Arbeiten
zur historischen deutschen Landeskunde iu Wort und Kartenbild: wie
sollte nicht gerade auf diesem Forschungsfelde jenes Merkmal deutscher
Landes- und Volksnatur, die reiche Ausgestaltung des landschaftlich und
örtlich Besonderen, aufs stärkste zur Erscheinung kommen? Die historisch-
kartographischen Probleme werden daher eine nach den deutschen Land-
schaften mannigfach verschiedene Lösung finden müssen; das landschaftliche
Sondertum hat in diesen Dingen sein gutes Recht
Aber gibt es darum nicht mancherlei, worüber eine Verständigung
möglich und dringlich ist? Ich weise auf folgende Punkte hin:
1. Die zurzeit bestehenden geschichtlichen Publikationsinstitute ent-
falten ihre Wirksamkeit zu einem guten Teile innerhalb modemer Staats-
oder Provinzgrenzen. Liegt es nicht nahe, dafs diese oft recht jungen
Grenzen auch den Rahmen des historischen Kartenwerkes abgeben
werden? In der Tat ist die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde
so vorgegangen, und es ist bekannt, dafs auch anderwärts ein entsprechendes
Verfahren jedenfalls im Bereiche der nächsten Möglichkeit liegt. Hier
entsteht eine Frage, die gründlich erörtert werden mufs: ist die Ver-
öffentlichung historischer Kartenwerke nach Abgrenzungen, die oft genug
die historischen Gebilde zerstören, wirklich das zweckmäfsigste ? Wenn
ja, wie lassen sich die damit verbundenen unleugbaren Nachteile vermeiden?
Wenn aber nein, wie läfst sich ein zweckdienlicheres Verfahren in die
Wege leiten?
2. Eine weitere Frage, die sich erhebt, ist die nach dem zu wählenden
Mafs Stabe, nicht nur für Arbeitskarten, sondern für die Veröffent-
lichungen selbst. Ich bin nicht der Meinung, dafs einige Abweichungen
bei der Wahl der Mafsstäbe für territoriale Spezialatlanten (z. B. i : looooo,
I : 80 000, 1:115 000) an sich die Benutzung sehr erschweren würden ;
nur bei Flächenmessungen wäre der Übelstand empfindlich. Aber es ist
doch klar, dafs Abweichungen, für die nicht gewichtige Gründe, wie
z. B. die Natur des Landes, die Siedlungsweise imd Flurgröfse, starke
Splittening der Gerichtsbezirke u. a. oder auch die Art der kartographischen
Quellen mafsgebend sind, vermieden werden sollten. Ich halte es nicht
für einfach, diese Frage nach dem Mafsstäbe allseitig befriedigend zu
lösen; ohne eingehende vergleichende Studien für die verschiedenen
deutschen Territorien ist dies nicht möglich. Die Erfahrungen der öster-
reichischen Fachgenossen sprechen für i : 200000 bei der historischen
Spezialkarte ; es wäre in mancher Hinsicht die idealste Lösung, wenn
dieser Mafsstab für ganz Deutschland angenonmien würde, und Erwägungen
— 264 —
in dieser Richtung sind jedenfalls am Platze ; auch die rheinischen Karten
für 1789 in I : 160000 (auf Grund einer Arbeitskarte in 1:80000)
kommen ihm nahe ; indessen bedarf die Frage durchaus noch gründlicher
Untersuchungen für die typischen Fälle historischer Kartographie in Deutsch-
land. Für Übersichtskarten wird man sich wohl leicht auf i : 500 000
verständigen können.
3. Die wichtigste, von den Bearbeitern • des historischen Atlasses der
österreichischen Alpenländer angeregte Frage ist die nach der Aufnahme
der Gelände darstellung in die historischen Karten. Es ist gan^
unleugbar, dafs für die älteren Zeiten die Bodenbeschafifenheit zum mindesten
die gleiche, meist aber noch eine erhöhte Bedeutung für das Menschen-
dasein hat als heute, und dafs somit eine historische Karte, die diese mit
zum Ausdruck bringt, ihre grofsen Vorzüge für das Verständnis der Vor-
zeit birgt. Es ist gut, dafs dies Problem von Österreich gestellt worden
ist ; und es scheint mir an sich allerdings sehr erwünscht, dafs man jeden-
falls irgend welche historische Karte mit Terraindarstellung für eine jede
deutsche Landschaft zur Verfügung hat. ^) Es läfst sich aber nicht leugnen,
dafis auch die Darbietung von buntem Flächen- und Streifenkolorit für die
bildliche Wiedergabe historischer, oft sehr zerstreuter und vermengter
Lebenserscheimmgen bisweilen sehr geeignet, ja einzig möglich ist; und
so wird es auch hier eingehender landschaftlicher Studien bedürfen, um
in dieser Hmsicht zu einem Ergebnis zu kommen, inwieweit vielleicht ge-
meinsame Grundsätze bezüglich der Aufnahme der Geländezeichnung, auch
der Darstellungsart (Schraffen, Höhenlinien, Schummerung) in die historischen
Karten befolgt werden können.
4. Auch die Frage einheitlicher Zeitpunkte für die Herstellung
historischer Karten taucht auf. Ich messe ihr, was die historischen
Territorialkarten betrifft, keine so erhebliche Bedeutung bei; es ist z. B.
ganz gut möglich, eine Karte für Kursachsen von 1720 und Brandenburg-
Preufsen von 1740 nebeneinander zu benutzen, wenn auch das Jahr nicht
stinmit ; es ist dies m. £. weniger bedenklich, als wenn man einer theoretisch
geforderten Einheitlichkeit zu Liebe etwa dem Quellenbefund Gewalt antun
wollte. Bei Übersichtskarten für ganz Deutschland oder wenigstens für
gröfsere Teile wird sich der einheitliche Zeitpunkt natürlich einstellen
müssen. Indes ist eine Untersuchuug darüber, inwieweit sich auch schon
für territoriale Spezialatlanten einheitliche oder wenigstens annähernd
stimmende Zeitpunkte finden lassen, doch recht erwünscht, damit, wenn
im übrigen, die Gründe gleich sind, die Rücksicht auf die Termine der
Nachbarstaaten den Ausschlag gibt.
Diese vier Punkte erschöpfen nicht die Summe der Fragen, die für
die Gewinnung einzelner gemeinsam bei der künftigen Bearbeitung histo-
rischer Kartenwerke im deutschen Reichsgebiet zu beobachtender Grund-
sätze aufzuwerfen wären ; sie sollen nur andeuten, dafs hier ein wichtiges,
der Erörterung harrendes Problem vorliegt Zum Schlüsse sei betont,
dafs es sich bei der angeregten Frage imi die Herausbildung wissenschaft-
ij Bei der mündlichen Begründung ging K. in diesem Znsammenhange noch besonders
anf die fUr ebene Gegenden so wichtige Aufnalime der Walddarstellong ein.
— 255 —
Hcher Grundsätze handelt, nicht um eine Organisationsfrage. Nicht ein
historischer Spezialatlas des Deutschen Reiches wird unter zentralisierender
Leitung zu bearbeiten sein, sondern eine Reihe deutscher Territorial-
kartenweike. £s wird aber dafür gesorgt werden müssen, dafs diese
nicht in den einzelnen Landschaften nach zufalligen Umständen hier so
und dort so ausfallen, sondern dafs sie, insofern gemeinsame Grundsätze
bei der Bearbeitung befolgt werden können, auch danach geschaffen werden.
Nachdem noch einige Teilnehmer sich zu Einzelheiten dieser Erörterungen-
z. B. über die Zeitpunkte, für die Karten über gröfsere Gebiete herzustellen
sind (Hansen: erst durch die Arbeit können diese gefunden werden!) und
über die kartographische Fixierung der Veränderung in den Waldgebieten
(Krieger, Curschmann) geäufsert, Knipping noch auf die für West-
deutschland schon erschienene Generalstabsübersichtskarte in i : 20000a
hingewiesen hatte, die das Terrainbild enthält tmd deshalb am besten geeignet
sei gleich der österreichischen desselben Malsstabes als Publikatipnskarte zu
dienen, — wurde der Antrag Kötzschke in folgender Form zum Beschlufs
erhoben :
„Die Konferenz beschliefst, eine Denkschrift ausarbeiten zu lassen,
in der untersucht wird, inwieweit bei der künftigen Bearbeitung für den
Druck bestimmter historischer Kartenwerke grofsen Mafsstabes in Deutsch-
land einheitliche Grundsätze beobachtet werden sollen, beauftragt Herrn
Dr. Kötzschke mit ihrer Abfassung und bittet ihn, zunächst durch Aus-
gabe von Fragebogen bei den verschiedenen Instituten über die ge-
machten Erfahrungen Erkundigungen einzuziehen."
Zur Bestellung einer Hilfskraft bei dieser Arbeit werden Herrn Dr. Kötzschke
aas den vorhandenen Mitteln der Konferenz 150 Mark bewilligt.
In Verfolg der früher gepflogenen Verhandlungen über kirchlich-hjstorisch-
gcographische Studien berichtete Prof. M e i n e c k e (Strafsburg) kurz über den
gegenwärtigen Stand der Arbeiten, und auf seinen Antrag wurde beschlossen :
„Die Konferenz macht die in ihr vertretenen Institute auf das be-
vorstehende Erscheinen der historisch - geographischen Bearbeitungen der
Diözesen Brandenburg und Meifsen aufmerksam und empfiehlt ihnen
entsprechende Arbeiten für ihre Gebiete, wo es nicht schon geschehen ist,,
anzuregen und zu unterstützen.'
cc
Um die lose Verfassung der Konferenz etwas zu konsolidieren, wurde aur
Antrag ihres bisherigen Leiters, Prof. Lamprecht, beschlossen
1. „Die Geschäftsführung der Konferenz wird Herrn Dr. Kötzschke
als Sekretär im Ehrenamt ständig übertragen."
2. „Der Vorsitzende wird in jeder Konferenz von den anwesenden
Mitgliedern dieser auf die Dauer der Tagung mit einfacher Mehrheit in
schriftlicher Abstimmung gewählt. Jedes vertretene Publikationsinstitut hat
eine Stimme."
Nachdem noch v. Zwiedineck mit allseitiger Zustimmung angeregt
hatte, die Beratung über einige der früher verhandelten Gegenstände (Anlage
von Urkundenbüchem u. s. w.) künftig wieder aufzunehmen uod Kötzschke
— 256 —
den Wunsch ausgesprochen hatte, es möchten nicht nur rechtzeitig etwaige
Verhandlungsgegenstände von den Instituten angeregt, sondern auch Bericht-
erstatter vorgeschlagen und sonstige Vorbereitungen getroffen werden, wurde
die überaus anregende Versammlung geschlossen.
Die nächste Tagung wird bereits in i Vj Jahren, September 1 904, gleich-
zeitig mit dem 8. Historikertag in Salzburg stattfinden, während seit der letzten
drei Jahre verflossen waren. Seit der Begründung der Konferenz deutscher
Publikationsinstitute auf dem Historikertag in Leipzig (1894) haben sich fol-
gende Institute an ihren Bestrebungen beteiligt:
Berlin: Verein für Geschichte der Mark Brandenburg.
Brüssel: Commission royale d*histoire de Belgique.
Dan zig: Westpreufsischer Geschichtsverein.
Graz: Historische Landeskommission für Steiermark und Historischer Ver-
ein für Steiermark.
Halle: Historische Kommission für die Provinz Sachsen und Anhalt
Hannover: Historischer Verein für Niedersachsen.
Jena: Thüringische Historische Kommission.
Karlsruhe: Grofsherzoglich Badische Historische Kommission.
Köln: Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde.
Königsberg: Verein für Geschichte Ost- und Westpreufsens.
Leipzig: Königlich Sächsische Kommission für Geschichte.
Metz: Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde Lothringens.
Münster i. W. : Historische Kommission für die Provinz Westfalen.
Posen: Historische Gesellschaft für die Provinz Posen.
Prag: Verein für die Geschichte der Deutschen in Böhmen.
Riga: Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen.
Schwerin: Kommission für Herausgabe des Mecklenburgischen Urkunden-
buches.
Stettin: Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertimiskunde.
Stuttgart: Kgl. Württembergische Kommission für Landesgeschichte.
Utrecht: Historisch Genootschap.
Wien: K. u. K. Kriegsarchiv (ausgeschieden).
Wiesbaden: Verein für Nassauische Altertumskunde und Geschichts-
forschung.
Zürich: Allgemeine Geschichtsforschende Gesellschaft der Schweiz.
Eingegangene Bttcher.
Tschierschky, Siegfried: Die Wirtschaftspolitik des Schlesischen Kommerz-
koUegs 17 16 — 1740. [= Geschichtliche Studien, herausgegeben von
Dr. Armin Tille, i. Band, 2. Heft.] Gotha, Friedrich Andreas Perthes,
1902. 132 S. 8^. M. 2,40.
Uhde-Bernays, Hermann: Catharina Regina von Greiflfenberg (1633
bis 1694), ihr Leben und ihre Dichtung. [=» Anzeiger des Germanischen
Nationalmuseums, Jahrgang 1902, S. 77 — 93].
Berlchtlgang. Unter dem Titel Die Reform des tveltlieken Standes u. s. w. S. 193 mafs
es statt Fortsetzung heifseo: Schlufo. Der Hinweis auf den ersten Teil des Auf-
satzes ist ebenfaUs irrtümlich weggeblieben, er steht S. 171 — 182. D. Red.
HerauüKeher Dr. Armin Tille in Leipzig.
Dnick und Verlag von Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Godia.
Hiena als Beilagen: i) Lagerkatalog Nene Folge Nr. 100 von Oswald Weigels Antiqaariom
in Leipzig, enthaltend Allgemeine und Deutsche "^ >rreich-Ungarn, Schweiz. —
2) Prospekt der Verlagsbuchhandlung R. Oldent n und Berlin, betr. Hand-
finrK r1(»p miffMaUftrlirhen nnrl npiier^n fi#»«rhii .hen von O. v. Relow^ und
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
tur
Förderung der landesgescbichtlicben Forschimg
IV. Band Juli 1903 10. Heft
Üie Hufe
Von
Georg Caro (Zürich)
Die Ansichten von der Hufe, welche als die g^enwärtig" allgemein
geltenden betrachtet werden dürfen, hat Waitz in der Abhandlung
-,,übcr die altdeutsche Hufe" *) niedergelegt und sind im wesentlichen
folgende. Buba oder hoba, gleichbedeutend mit sors, portio, angel-
rsächsisch hida, nordisch hol, in den lateinischen Quellen mansfis, be-
zeichnet im frühen Mittelalter „den Komplex von Land und dazu
^hörigen Rechten, den regelmäfsig der einzelne hat tmd dessen er
für seine Bedürfhisse als Landbauer bedarf". Die Hufe genügt, „um
-die Arbeit eines Landbauers mit einem oder zwei Knechten in Anspruch
xa nehmen und um ihn und die Seinen ausreichend, wie es die Ge-
irobnheit forderte, zu ernähren". 'Zur Hufe gehörte dreierlei: „Der
Hof mit dem Wohnhaus, das Ackerland und das Nutzungsrecht an
einem ungeteilt belassenen Teil des Grundes und Bodens."
Die Hofstätte, mansus in der ursprünglichen Bedeutung des Wortes,
umfalste Wohnhaus und Nebengebäude, Scheunen, Ställe, dazu den
<jarten und wohl auch einen Weinberg. Sie war durch einen Zaun
abgeschlossen; ihre Lage im Dorfe wird durch Aufführung der an-
stolsenden Grenznachbam bestimmt. Das Ackerland, die Hufe im
engeren Sinne, lag in der Flur verstreut. Es war nämlich die DorfHur
nach Mafsgabe der BodenbeschafTenheit in eine Anzahl von Vierecken
(Gewanne oder Kampe) geteilt, deren jedes in ebensoviel Ackerstreifen
zerfiel, als das Dorf Hufen zählte, und die wiederum entsprechend den
Anforderungen der Dreifeldenvirtschaft zu drei grofsen Feldern (Schlägen,
Helgen, arcUura) zusammengefafst waren. So befanden sich die zur
l) Abhmndlimgea der k. Gesellschaft der Wissenscbaflea zn Göttingeo Bd. 6 (Gdt-
tingen l8$6), S. 179 ff. und S. A.; Nendrock in Gesammelte Abhandlangen von G. Waitz
Bd. I, Abhandlongen rar Deutschen Verfassnngs- nnd Rechtsgeschichte, heransgeg. ron
£. Zenmer (Göttingen 1896), S. 123 ff.
18
— 258 —
Hufe gehörigen Äcker in jedem der drei Felder und in allen Gewannen..
Die Lage der Hufe konnte daher nicht wie die der Hofistätte nacb
den Nachbarn bestimmt werden. Ihre Gröüse betrug etwa 30 oder
40 Morgen, die gerade ausreichend zur „Grundlage einer einfachen^
bäuerlichen Existenz'*, „mit einem Pflug und einem Gespann und den
dabei üblichen Knechten'* sich bewirtschaften lielsen. Indem aber
schon das Flächenmais des Morgens, als des Landes, das man „an.
einem Tage oder Morgen mit einem Pfluge und einem Joch beackern
konnte", erhebliche Verschiedenheiten aufwies und vielleicht selbst in
der gleichen Gemarkung wechselte, je nach der schwereren oder
leichteren Pflügbarkeit des Bodens, finden sich in den Quellen mannig-
fach von einander abweichende Angaben über die Gröfse der Hufen.
Wenn gleichwohl die Ausdrücke Hufe und Morgen als Mafseinheit auf
Land angewendet wurden, das noch nicht in Kultur genommen war,
so ist dabei an den in der betreffenden Gegend oder in dem Dorfe*
üblichen Hufenumfang zu denken. Der Bestand der Hufen blieb nicht,
unverändert. Aufser Teilungen in Hälften und Drittel kam Abtrennung
einzelner Morgen bereits früh vor. Es „konnte eine Hufe vermindert
werden, eine andere Zuwachs erhalten, und die alte Regelmäfsigkeit
der Zustände ward durchbrochen; sodafs es fast mehr zu verwundem
ist, dafs aus späterer und selbst neuerer Zeit noch so viele Belege
von derselben übrig sind, als dafs sich zahlreiche Abweichungen,
finden." Neben dem Ackerland gehörten Wiesen zur Hufe, die in die
Gesamtzahl der Morgen eingerechnet, oder häufiger gesondert auf-
geführt werden. Der dritte Hauptbestandteil der Hufe, „die Teilnahme*
an der Nutzung des gemeinen Landes", wird aus den älteren Urkunden,
nicht so deutlich ersichtlich als aus den späteren Quellen, vor allem,
den Weistümem. Aufgeführt sind in jenen als Zubehör Wasserläufe,
W^e, Weiden, Wald und speziell auch das Recht zur Schweinemast
im Walde. Aufserdem kommt die Befugnis zum Roden in Betracht.
Die Rechte sind „an die Hufe oder an den Hof gebunden" und gehen,
mit ihnen auf jeden Besitzer über.
Inhaber der Hufe ist in Konsequenz der Auffassungfsweise von
Waitz der Freie , sodafs ursprünglich auf je einen Gemeinfreien eine
Hufe entfiel, die ihm zu Eigentum gehörte. Daher äufserte Waitz die
Vermutung, dafs der Wert der Hufe und die Höhe des Wergeides
des Freien mit einander im Zusammenhang ständen. Die Hufen der
Hörigen oder Knechte haben sich ursprünglich vielfach in der Hand
eines Freien befunden und sind „bei der Vereinigung gröfseren Grund-
besitzes in einer Hand von dem Eigentümer an abhängige Leute aus-
— 269 —
getan*' worden. Es werden hobcte (mansi) serviles, lidiles, ingenuäes
(tributales) unterschieden „nach der Verschiedenheit (des Standes) der
Inhaber oder doch ihrer ursprünglichen Bestimmung für verschiedene
Inhaber". Diese drei Arten von fnansi vestUi stehen wiederum im
G^ensatz zu den nichtbesetzten mansi äbsi, und zur hoba saiica das
ist der Hufe des Herrn, die dieser von seiner saia (= Haus) aus (im
Eigenbetrieb) bewirtschaftete, und die ursprünglich „in vielen Fällen
nichts anderes ist als eine der mehreren Hufen im Dorfe'^ Die Ver-
einigung mehrerer Hufen in der Hand eines einzigen Eigentümers ist
für später fast als Regel anzusehen. Die Zahl der Hufen in einem
Dorf war anfanglich nicht sehr grofs und dürfte kaum mehr als höchstens
fünfzig betragen haben.
Von der gleichen Auffassung der Hufe ist Waitz in seiner deutschen
Verfassungsgeschichte ausgegangen. Indem er von späteren Zuständen
auf die älteren zurückschliefst, nimmt er schon für die Zeit des Tacitus
das Bestehen der Hufenverfassung an ^). Zur Merowingerzeit ') hätten
in deutschen Landen die alten Zustände fortgedauert und seien viel-
fach „auch auf die später eingenommenen Gebiete übertragen, wo die
Ansiedelungen der Deutschen zahlreich und zugleich mit einer gewissen
Regelmäisigkeit stattgefunden haben. Hier (in Alamannien, Bayern)
sind Dörfer angelegt, das Land nach Hufen ausgeteUt, Ackerland und
Land» das als Wald und Weide in näherer Gemeinschaft blieb, ge-
sondert". „Der Bestand ^) der alten Gemeindeordnuug ward auch
dann nicht gestört, wenn ein TeU der Hufen an ein geistliches Stift
oder einen höheren weltlichen Herrn gekommen war und nun von
abhängigen Leuten bewohnt und bewirtschaftet ward."
Die eben dargelegte Ansicht von der Hufe, die, wie bereits be-
merkt, der Hauptsache nach noch jetzt in Geltung ist, beruht in zwei
wesentlichen Stücken auf dem BUde von der sozialen Entwickelung
des deutschen Volkes, welches einst Moser entworfen hatte. Der Ver-
fasser der patriotischen Phantasieen hat die Anschauung aufgebracht,
dafs Hufenbesitz und staatsbürgerliche Rechte bei den Germanen aufs
engste zusammenhingen. Indem er den altdeutschen Staat als Gesell-
schaft der Hufenbesitzer ansah, fafste er den manstis als Landaktie
auf ^), die zum Anteil am gemeinsamen Vorteil und Schaden berechtigte
f ) Waitz, Deutsche Verfassnngsgeschichte i ^, 126 ff.
2) Ibid. 2. I •, 277.
3) Ibid. 394.
4) Jattas Moser, Patriotische Phantasieen, in Sämtliche Werke heransgeg. von
Abeken, Bd. 3 (Berlin 1892), S. 291 ff., nr. LXm, DerBanerhof als eine Aktie betrachtet
18*
— 260 —
und verpflichtete, übrigens aber in verschiedenen Staatsvereinigungen
verschieden grois war. Moser hat femer den Untergang der gemeinen
Freiheit, den er in die Karolingerzeit setzte, auf die Weise vor sich
gehen lassen, dais die Hufen an abhängige Leute kamen. Ursprüng-
lich war ^) „noch mehrenteils jeder deutsche Ackerhof mit einem
Eigentümer oder Wehren besetzt, kein Knecht oder Leut auf dem
Heerbannsgute gefestet". Ludwig der Fromme „und Schwache'*
opferte die Gemeinfreien „den Geistlichen, Bedienten und Reichs-
vögten" auf. Bischof und Graf „besetzten die erledigten mansos mit
Leuten und Knechten, und nötigten die Wehren, sich auf gleiche Be-
dingungen zu ergeben". Hinsichtlich der staatsrechtlichen Bedeutung
der Hufe, als Grundlage fiir die Stellung des Freien im Gemeinwesen,
und ihres Überganges vom freien Eigentümer an den g^rundherrlichen
Hintersassen ist also Waitz — und mit ihm die geltende Ansicht —
der Auflassung Mosers gefolgt Während aber Moser sich nach west-
fiLlischem Muster die Hufe ab Einzelhof vorstellte, hielt Waitz die
dorfrnäfisige Siedelang für die dem germanischen Agrarwesen eigen-
tümliche, im Anschluls an die Untersuchungen des Dänen Olufsen,
wdche Haussen fiir die Ericenntnis der Urzeit verwertet hatte *).
Gleich Moser ist Olu&en, nach den Ausflihnmgen Hanssens, von
den agrarischen Zuständen seiner Zeit an^fegangen. Feldgemeinschaft
und entsprechende Gestaltung der Feldmaßen in Dänemark, die er
aus praktischer Beschäftigung als Fddmesser genau kennen gelernt
hatte, frmd er in den „alten" däniscfaen Gesetzen (des Xm. Jahrhunderts)
wieder und konstruierte nun ans dem aktuellen Befund und geschichts-
philosophischen Erwägungen den Hergang bei der ursprünglichen An-
steddung, fiir die eine Zeitbestimmung nicht einmal versucht ist. Als
die Niederlassung sich vollzog, sd noch Fanstrecht „das einzigste Ge-
setz" gewesen. Es kam den Ansiedlern darauf an, für Person und
Eigentum giöistmögliche Sicherhdt zu erlangen. Daher vereinigten
sich, kraft des menschlichen Geselhgkdtstriebes, mehrere Familien, „um
mit vereinten Kräften eine so grolse Strecke Landes an£nibauen, als
für hinlänglich zu ihrer Ernährung angesehen wurde". Audi bauten
sie ihre Wohnungen nahe aneinander, um nöt^cn£aUs sich Beistand
leisten XU können« So seien die Dörfer und gemetnschaftfichen Fddmarken
entstanden. Wenn nun ein Verein von Familien ein Doff bauen und
1) Jvstas M^ser, 0$MibrtK:kx»cb« Ge»cluclite« ibid. B. 6, S. Xff.
3) G. Haassen, Acr»riii«tMvcl»« Abkaftücrv^r» Bd. I, Lequ^ iS8o, S. I ff^ An-
skirteü ibcr dms A£i«w<wtn der Vonciti xverst crscKvczies io Falds Ni
IkftKfi Mufmun, Bd. 3 ». 6 (i$35 — 37V
— 261 —
Äcker in Kultur nehmen wollte, war die Verteilung^ der Ackerfläche
unter die einzelnen Interessenten das erste Geschäft. „Alle, welche
an dem Unternehmen teilnahmen, hatten gleiche Rechte und gleiche
Pflichten, hatten gleiche Schwierigkeiten zu überwinden, um dasselbe
Ziel zu erreichen, nämlich mit gleicher Kraft in den Stand gesetzt zu
werden, eine Familie zu ernähren/' Demnach mu&ten alle Teilnehmer
ein gleich gutes Landlos erhalten. Da aber formliche Taxation oder
Bonitierung des Landes nicht möglich war, schon weil sie Erfahrung
durch vorherigen Anbau erfordert hätte, sei nur die Anlage der Ge-
wanne übrig geblieben. „Jeder Teil der bauiahigen Landstrecke, welcher
w^en der Beschaflenheit des Terrains und sonstiger physischer Be-
ziehung von dem übrigen Lande abwich, wurde zu einem besonderen
Kamp (= Gewann) gemacht Nach der an beiden Enden aufgenommenen
Breite wurde ein solcher Kamp in kleinere Teile geteilt, in Striemen,
die jetzt sogen. Acker, von denen dann ein jeder Dorfsmann (Los-
interessent) so viel als der andere erhielt." „Eine notwendige Folge
von der Teilung der Ländereien war, dafs alle Boole (= Hufen) in
Feldgemeinschaft lagen, oder dais jede Boole ihre Ländereiea Acker
um Acker mit den übrigen Boolen im Dorf besafs."
1 ndem Haussen der Ansicht beipflichtete, , ,dals, wo wir Dörfer mit Feld-
gemeinschaft vorfinden, diese auch gleich bei der ersten Kultivierung des
Bodens so eingerichtet worden sind", verwarf er die Meinung Mosers von
einer ursprünglichen Ansiedelung in Einzelhöfen mit arrondierten Äckern,
und sachte nun , über Olufisen hinausgehend, auf Grund der Berichte von
Qisar und Tacitus über den Wechsel des Baulandes bei den Germanen
eine stufenweise Entwickelung festzustellen vom Gemeinbesitz am Grund
und Boden bis zu dem Grade des Sondereigentums, den die späteren
Quellen aufweisen. Hierin ist ihm Waitz nicht gefolgt, der vielmehr
schon für die Urzeit das Bestehen von Privateigentum am Acker
annahm ^) , während die neuere Forschung vielfach nach Analogieen
für das gemeinschaftliche Grundeigentum der Germanen gesucht hat *),
In der Auffassung der Hufe stimmen wesentlich mit Waitz die
fast gleichzeitigen Werke von Landau') und Maurer*) überein. Je-
1) D. V. G. I ', 124. Für die Zeit der lex salica t. Waitz, Das alte Recht der
uliacben Franken (Kiel 1846), S. 117.
2) W^en des MÜseifolgs dieser Bestrebungen vgL Below, Das korze Leben einer
vielgenannten Theorie, Beilage rar Allgemeinen Zeitung, 1903, nr. 11 n. 12.
3) G. Landau, Die Territorien in Bezog auf ihre Bildung und ihre Entwickdnng
(Hamburg n. Gotha 1854).
4) G. L. T. Maurer, Einleitung zur Geschichte der Mark-, Hof-, Dorf* und Stadt-
ferÜMsnng und der öffentlichen Gewalt (München 1854).
— 262 —
doch unterscheidet Landau nach der Lage der Äcker verschiedene
Hufengattungen, von denen Waitz blofe die mit Verteilung der Äcker
über die Gewanne als ursprünglich anerkennen will. Maurer hat er
die Verwechselung von Gewannen und Zeigen vorzuwerfen. Neuere
Untersuchungen sind nicht sowohl Waitz in der Interpretation der ur-
kundlichen Zeugnisse gefolgt, als da(s sie unter Benutzung der Flur-
karten die OIufsen-Hanssenschen Theorieen weiter auszubauen suchten.
Nachdem schon Haxthausen ^) über Gewanneinteilung und Hufen-
verfassimg für deutsche Landschaften zu ganz ähnlichen Ergebnissen
gelangt war, wie Olufsen für Dänemark, hatte Jacobi *) nationale Unter-
schiede in der Anlage der Dörfer und Fluren bei Deutschen und
Slaven ermittelt. Zur Erläuterung agrarischer Zustände zogen See-
bohm •) für England und Lamprecht *) für die Mosellande Flurkarten
heran. Zuletzt hat Meitzen ^) in umfassendem Mafsstabe die Flurkarten
verwandt, um die ursprünglichen Ansiedelungsformen der Germanen
zu erkennen ^).
Eben den durch Waitz festgestellten Begriff der Hufe setzt Meitzen
voraus. In den germanischen Dörfern „ist die Hufenverfassung die
Grundlage der Eigentumsverteilung**. Unter der Hufe verstand man ^
„eine ländliche Besitzung, welche von dem Hausvater mit seiner Familie
und wenigem Gesinde bestellt werden konnte und dabei hinreichend
war, um demselben den nötigen Unterhalt und die Mittel zu gewähren,
die üblichen öfTenUichen Lasten zu tragen. Sie stellte ein Bauerngut
dar, welches unter primitiven Umständen und Ansprüchen im stände
I) AogQst Freiherr t. Haxthaasen, Über die Agrar ver f— «qng in Nord-
deQtschUod und deren Konflikte in der g^enwlrtigen ZeiL Teil i , Band i. Über die
Agrairerfassnng in den FiirstentuLmem Paderborn und Correj (Berlin 1829).
3) Victor Jacobi, Forschungen ober das Agranresen des Altenbnrgischen Oster-
andes mit besonderer Berücksichtigung der AbManmiungsrerhältnisse der Bewohner, in
ninstrierte Zeitung Bd. 5 (Lcipiig 1S45).
3) F. Seebohn, Die ethische Dorigei&eiode , nach der 3. Auflage ans dem
Englischen öbertragen tob Tk v. Bansen (Heidelberg 1SS5V
4) K. Lamprecht, Deatsches Wiitschaibleben im MitteUUer, Bd. i, T. I, S. 331 ff.
5) A. Meitzen, Wanderungen, Anbau und Agrarrecht der Völker Eoropas nörd-
lich der Alpen, l. Abu Siedelung and Agrarvesen der TVestgemanen and Ostgermanen,
der Kelten, Römer, Finnen and Slawen, 4. Bd. (Berlin iSofV.
6) I>ie frtiheren auf den gleichen Gegenstand t>ecligUclieo Eimdabhandlaogen
Meitiens sind dort 1^30 m. i TerteichneL Auf die Haie besiefat sich Tor aDem
««Volkshufe and KiSnigshale in ihren allea MarsTeHOtltms^cii*, in der Festgabe ftr Georg
Hanssen «ura 31. Mai iSSg, Täbingen 1SS9, S, l C
7) So Meitxen im Handw<j>rteTbach der SualUaisjeiwc^ften, heraasg^. von
Conrad etc, 2. Aafl., Bd. 4* Je«a igoo, AftÄel Hafc, S 1*31,
— 263 —
-war» selbständig aus seinen eigenen Kräften zu bestehen''. Die Grölse
•der Hufen war je nach Ort und Umständen eine sehr verschiedene.
^^Dag^en waren die Hufen derselben Gemarkung bei den volksmä&igen
Anlagen stets gleich groiis/' Jede Dorfgemarkung zerfiel also „in eine
^wisse Zaid unter einander gleich gedachter Hufen, welche ihrem
Wesen nach ideelle Anteile an den zur Kultur verteilten wie an den
tmgeteilten Ländereien der Gemarkung bildeten''. Die Hufenanteile
wurden „auf dem altgermanischen Kulturlande stets in Gemenglage
.als verhältnismälsige Unterteile zahlreicher Gewannabschnitte ange-
wiesen". Daher sei es in der Regel möglich, „aus den Grölsenver-
hältnissen der Unterteile in den einzelnen Gewannen die Zahl der in
ihnen gemachten gleichen Anteile, und aus der Übereinstimmimg dieser
Zahl in den verschiedenen Gewannen die (ursprüngliche) Anzahl der
Hufen im Dorfe festzustellen".
Indem nun Meitzen ein Gebiet nationaler, germanischer Siedelung
zwischen Weser und Saale ausscheidet, das nie unter fremden Einflufs
kam, gelangt er dazu (in Übereinstimmung mit Waitz), die Verteilung
der Äcker über die Gewanne und die hufenartige, des festen Grund-
plans entbehrende Anlage des Dorfs als die ursprüngliche Form der Nieder-
lassung zu bezeichnen« Jüngerer Entstehung sind die Marschdörfer der
Nordseeküste, deren Gehöfte in einer Reihe an der inneren Seite der
Deiche liegen, während die zugehörigen Äcker in langen schmalen Streifen
durch die ganze Flur sich erstrecken. Auf keltischen Ursprung fuhrt
Meitzen das Einzelhofisystem westlich der Weser zurück. Im Osten
unterscheidet er zwei slavische Typen, die Runddörfer und die Straßen-
dörfer, und dazu die späte Kolonisationsform der Reihendörfer mit
Waldhufen, in denen die Gehöfte zu beiden Seiten einer Stra&e durch
die glänze Gemarkung sich hinziehend jeweils auf dem zugehörigen
Lande erbaut sind, und dieses in emem Streifen von der Strafse bis
zur Flurgrenze reicht, vom Tal bis zur Höhe oder quer durch das
TaL Für Oberdeutschland, alemannisches und bayrisches Stammes-
gebiet, konstatiert Meitzen das Vorhandensein der volkstümlichen Ge-
wanndörfer und schliefst daraus, dafs alle eindringenden deutschen
Stämme „bei der ersten stürmischen Besitznahme der keltorömischen
Landgebiete die Besiedelung unter den alten nationalen, aus der Heimat
hergebrachten Ideen ausführten. Diese aber beruhten wesentlich auf
genossenschafUicher Grundlage und entwickelten überall, wo sie zur
Geltung kamen, geschlossene Dörfer, Gemenglage der Grundstücke
und gleiche Hufen in der Flur". In solcher Weise habe schon die
Ansiedelung der Vangionen, Nemeter und Triboker auf dem linken
— 264 —
Rheinnfer zur Zeit des Ariovist stattgefunden. Die besonders in bergigen
elenden verbreiteten Weiler charakterisiert Meitzen als Gruppen voa
wenigen Höfen, oder Hufen, deren Fluren in blockförmigen Stücken
au^eteilt waren, und betrachtet sie als grundherrliche Gründungen,,
indem er von ihnen noch die romanischen Einzelhöfe in den Alpen
unterscheidet.
Auf Grundherrschaft und grundherrlichen Wirtschaftsbetrieb kommt
Meitzen des öfteren zurück. Der Abschnitt, den er speziell der „Ent*
mckelung der Gnmdherrlichkeit, der Lehne und der Siedelungen auf
Landleihe" widmet*), schildert die Vorgänge wesentlich im Anschluis
an die herrschende Ansicht. So hält er auch daran fest, dals in der
FlureinteUung und dem Wirtschaftsbetrieb der Dörfer erhebliche Ände-
rungen nicht eintraten, wenn einzelne Bauerngüter an Grundherren ge-
langten, und selbst wenn eine ganze Dorfischaft hörig wurde, habe die
alte Dorfverfassung fortbestanden. Grundherrliche Neugründungen
von Dörfern seien in der volkstümlichen Gestalt mit Gewannfluren,
erfolgt, aber auch in anderen Formen, mit blockförmiger Geschlossen-
heit der einzelnen Besitzstücke, wie sie bei den Weilern üblich war,
mit Wald- und Hagenhufen, deren Ackerland in einem Stück zusammen-
lag, und im Norden mit den analogen Marsch- oder Moorhufen. Eine
Ausnahme von der ursprünglichen Allgemeingültigkeit der Hufen-
verfassung will Meitzen nur für Friesland gelten lassen, in dessen west-
lichen TeUen sie erst durch fränkischen Einflufs eingeführt worden
sei, während für Ostfriesland „weder in den Urkunden des früheren
oder späteren Mittelalters, noch in den neueren Zins- und Steuerregistern
oder im Sprachgebrauch Hufen vorkommen *)".
Wesentlich im Anschlufs an Olufsen-Hanssen, Waitz und Meitzen:
sind von den Rechtshistorikem die Grundeigentumsverhältnisse dar-
gestellt worden ^), Die Wirtschaftshistoriker bringen nur wenig ab-
weichendes. Inama - Stemegg will die ursprüngliche Gleichheit des-
Grundbesitzes, die aus der Hufenverfassung sich ergibt, blofs in sehr
bedingter Weise anerkennen % während er im übrigen den gangbaren
Meinungen über das Hufensystem folgt, welches die Karolingerzeit in.
i) Meitten, Agrarwesen 2, 371 ff.
2) Ibid. 2, 50.
3)H. Branner, DeaUche Rechtsgeschichte Bd. i (Leipxig 1887), S. 194 £
{25. R. Schröder, Lehrbuch der dentschen Rechtsgesch. , 4. Aufl. (Leipzig 1902)^
i 88, S. 202 ff. F. Dahn, Die Könige der Germanen, Bd. 7, T. 2 (Leipzig 1894V
S. 13 ff:, Bd. 9 (1902), S. 447 ff.
4) K. Th. T. Inama-Sternegg, Deutsche TWirtschafUgeschichte, Bd. i (Leipzig:
1879), S. IIa ff.
— 266 —
Deutschland noch intakt übernommen habe ^). Lamprecht ') geht
mehr auf den Verfall der Hafenverfassung (im späteren Mittelalter) ein
als auf deren Entstehung. Übrigens bestreitet er die Annahme, „dafs-
der Morgen in verschieden abgestufter Gröüse die stehende Teilungs-
einheit der Gewanne gebildet habe, und daüs jede Gewanne stets*
Stücke jeder Hufe enthalten habe').*' Wenn neuerdings Hildebrand
beiläufig die Meinung geäufsert hat, dafs „die sogen. Hufen Verfassung
ihrem Ursprünge nach keine sehr alte Einrichtung sein kann ^)", so
geschah das ohne näheren Nachweis auf Grund jener vergleichenden
Methode, die gar leicht zu Trugschlüssen führt ^).
Es herrscht also in der Auffassung von Wesen imd Bedeutung der
Hufe £ast völlige Übereinstimmung. Um so gröfser war meine Ver-
wunderung, als ich bei dem Versuch, aus urkimdlichen Quellen der
Karolingerzeit den Bestand kleiner freier Gnmdeigentümer nachzuweisen^),,
die Hufendörfer nicht antraf, welche nach der herrschenden Meinung über
g^anz Deutschland verbreitet waren. Dörfer, in denen alle oder auch nur
ein^e Bewohner als freie Leute je eine Hufe inne hatten, die frei von
grundherrlichem Nexus war, ihnen zu Eigentum gehörte und durch sie mit
Hnfe ihrer Familie oder von Knechten im Eigenbetrieb bewirtschaftet wurde,,
solche Dörfer konnte ich nicht finden, weder in der Nordostschweiz, noch
in Oberschwaben, noch in Unterelsafs, oder überhaupt im alamannischen
Stammesgebiet, auf welches zunächst meine Untersuchungen sich be-
schränkten. Gerade die Traditionen an Kirchen, die augenscheinlich
i) n>id. 311.
2) Dentschet >^^rtsdiafUleben a. a. O.
3) Ihid. I. I, 337.
4) R. Hildebrand, Recht und Sitte aaf den verschiedenen wirtscbafUichei»
Roltnntnfen (Jena 1896), S. 146 n. i.
5) K. Weller, Die Besiedelang des Alamannenlandes , in Württembergische
Yierteljahnhefte fUr Landesgeschichte N. F. 7 (1898), S. 337 läfst das Hafendorf erst
Back der Ansiedelong sich ans dem orsprttnglichen Gesdilechtsdorf entwickeln, hfilt aber
daran fest» dafs „die Hofe als das spätere Dnrchschnittsmals des Besitzes der Gemein-
freien beseichnet werden kann*'. Für die Schweiz nimmt ganz im Sinne der herrschen-
den ÄDSchannngen das Bestehen von Dörfern mit freien Hafen an F. v. Wyss, Die
schweizerischen Landgemeinden in ihrer historischen Entwickelnng , in Abhandlangen zor
Geschichte des schweizerischen öffentlichen Rechts (Zürich 1892), S. 10 fl.
6) S. meine „Stadien zn den älteren St Galler Urkunden" im Jahrbach für
Schwetzeriache Geschichte Bd. 26 (1901), S. 205 ff., Bd. 27 (1902), S. 185 ff.; „Die
Grvndbesitzrerteilnng in der Nordostschweiz and angrenzenden alamannischen Stammes-
gebieten ZOT Karolingeneif in Conrads Jahrbüchern für Nationalökonomie nnd Statistik,.
3. Folge, Bd« 21 (1901), S. 474 ff-; und „Zwei Elsäfser Dörfer znr Zeit Karls dea
Grofsen^y in Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, N. F., Bd. 17, S. 450 ff. n.
S. 563 ff.
— 266 —
von kleineren freien Grundeigentümern herrühren, bezeichnen das tra«
<lierte Objekt nicht als Hufe oder Teil einer solchen, sondern wenden
Umschreibungen an, die unbegreiflich wären, wenn das Normalmafs
^er Hufe als Anteils an der Dorfgemarkung sich auf den Besitz der
Tradenten hätte anwenden lassen. Der den Urkundenschreibem wohl-
bekannte Ausdruck Hufe (oder mansus) wird nur gebraucht, um ab-
hängige Landgüter zu bezeichnen, höchstens auch für das im Eigen-
betrieb des Grundherren befindliche Salland, das gelegentlich hoha saUca
-genannt wird, im Gegensatz zu den vestierten, mit freien oder unfreien
Hintersassen besetzten Hufen.
Waitz ist, entgegen seiner sonstigen Arbeitsweise, bei der Be-
trachtung der urkundlichen Quellenzeugnisse von dem ihm von vorn-
herein feststehenden Begriff der Hufe ausgegangen, den er nur aus
dem reichlich vorhandenen Material näher zu erläutern suchte. Hierbei
«ah er ganz darüber hinweg, ob es sich um grundherrliche Hufen
handelt oder nicht, denn, ebenfalls vermöge vorgefaCster Meinung, hielt
-er die grundherrlichen Hufen mit den (hypothetischen) der freien
Bauern für identisch, und bezog ohne Unterschied, was von ersteren
ausgesagt wurde, auf letztere *). Wenn man, anstatt einzelne Quellen-
stellen ohne Rücksicht auf den Zusammenhang mehr oder minder will-
kürlich herauszugreifen, die Gesamtheit des zur Verfügung stehenden
Materials berücksichtigt, so ergibt sich ein ganz anderes Bild der Ver-
hältnisse, als nach der Hufentheorie zu erwarten steht. Die Traditionen
an St. Gallen liefsen sich nicht in solche von ein, zwei oder mehr
Hufen einteilen *). Für die von freien Leuten bewohnten Dörfer war
schlechterdings eine Hufenzahl nicht zu ermitteln *). Wohl mochten
sich die Besitzungen, wie das bei den Hufen der Fall ist, aus einem
Gehöft im Dorf, Äckern und Wiesen in der Flur und Anteil an der
gemeinen Mark zusammensetzen; aber sie waren nach Belieben des
Eigentümers teilbar. Recht häufig werden einzelne Bestandteile, Acker
und Wiesen, veräulscrt Des öfteren müssen selbst kleinere Freie
Besitz an mehreren Orten gehabt haben. Hätte je für ihr Eigengut
die Hufenverfassung gegolten, so wäre dieselbe überaus schnell in
Verfall geraten ; und doch erschienen zur selben Zeit die wirklich nach-
weisbaren Hufen, die gnindherrlichen, noch so fest, dafs selbst Halbie-
rungen äufserst selten sind. Die Voraussetzung mnb faüsch sein, deren
.^ ^_^ _ . _ •
I) A«ch Grimn« Dcstsche Reditsaltcitimtr (i. Aift., Götttac« iSaS) a, 5S4 ff>«
war Mf deo UntvncKwd nicht «iDgeganKtn,
a) S. dk Ihibelleo im jakrb. f. Sckw. Gc9clk a^ K7 ^
3) S. die ZttsuMMnsteUttugeft ibid. a?» atgfi.
— 267 —
NichtzutrefTen bei Anwendung^ auf konkretes Material sich herausstellt.
Der gangbare Begriff der Hufe ist zu modifizieren. Unter
Hufe wird eben im Sprachgebrauch der St. Galler und
Weifsenburger Urkunden ein abhängiges Landgut im Ver-
bände einer (grofsen oder kleinen) Grundherrschaft ver-
standen, das ausreichte, den Hintersassen und seine
Familie zu ernähren und die ihm vom Grundherrn auf-
erlegten Lasten zu tragen.
Die Umformulierung des Hufenbegriffs zieht für die gesamte Auf-
fassung von der älteren deutschen Wirtschafts- und Verfassungs-
geschichte nicht unwesentliche Modifikationen nach sich. Die Ergeb-
nisse der Flurkartenforschung bleiben nur insoweit unberührt, als sie
auf tatsächlicher Grundlage beruhen, also die Gestaltung der Fluren
im XVIII. und am Anfang des XIX. Jahrhunderts betreffen. Für die daraus
gezogenen Rückschlüsse auf die Urzeit wird das Urteil von Knapp *)
volle Geltung behaupten: „Gemarkungskarten zeigen deutlich die Lage
der Äcker, aber die Lage der Menschen geht aus anderen Urkunden her-
vor." Die Streifenteilung der Gewanne hat Knapp, unter Verwerfung
der „rationalistischen** Annahme von der ursprünglichen, planmäfeigen
Anlage, aus allmählicher Entstehung zu erklären gesucht, also aus gemein-
samer BeteiliguDg der Dorfnachbarn an der Ausdehnung der Flur über
früheres Almendland. Von einer Gütergleichheit bei den alten
Germanen mufs gänzlich abstrahiert werden. Dergleichen
findet sich wohl in der Grundherrschaft bei den Hintersassen, die ab-
hängige Güter bauen, aber nicht bei den freien Leuten, die auf eigenem
Grund und Boden sitzen. Jedenfalls ist in der Zeit, über welche die
Urkunden Aufschlufs geben, keine Spur von einer Gleichheit des Besitz-
tums vorhanden, und die auf frühere Zeiten aus der Hufenverfassung
gezogenen Schlüsse sind hinfällig.
Wenn Moser anerkanntermafsen die Zustände des späteren Mittel-
alters auf die Urzeit zurückübertragen hat, unter Herstellung eines
freien Bauernstandes, so genügt es nicht, die Züge aus dem von ihm
entworfenen Gemälde zu entfernen, welche in offenbarem Wider-
spruch zu den Quellen stehen, sondern man mufs eben völlig von
seiner in den älteren Quellen nicht begründeten Auffassimgsweise sich
loslösen. Die Stellung der Vollhufher in der späteren Dorfverfassung
unter der Grundherrschaft beweist nicht das geringste für die Verhält-
nisse der freien Leute früherer Epochen, von denen sie keinesfalls
i) G. F. Knapp, Siedelang and Agrarwesen nach A. Meitzen, in der Beilage
2ar Allgemeinen Zeitnng, Jahrg. 1896, nr. 249, vgl. WeUer L c. S. 338.
— 268 —
direkt herzuleiten sind; denn dafs auch der (angebliche) Unteigangp
der freien Bauern nicht einfach durch Eingliederung ihrer Hufen
(richtiger Besitzungen) in die Grundherrschaften erfolgt sein kann,
habe ich bereits früher zu zeigen gesucht *). Diejenigen Grundherr-
schaften, deren Entstehung unmittelbar nachweisbar ist, die geistlichen,,
beruhen guten Teils auf den vor ihnen vorhandenen weltlichen. Wohl
mochte durch Tradition zu frommem Zweck gar manches Eigengut
kleiner Freier in immittelbare Nutzniefsung einer Kirche übergehen
und ist dann etwa bei Neueinrichtung von Hufen iiir Hintersassen mit
verwandt worden, ganz wie ja auch auf Rodland neue gnmdherrliche
Hufen angelegt wurden ; aber die Vorstellung ist abzuweisen, dafe der
Freie, der sein tradiertes Eigengut zu Prekarie zurückempfing '), damit
in das gleiche Verhältnis zum grundherrUchen Frohnhof trat, in dem
sich der Hufner befand. Leihe zu Hofrecht und Leihe zu Prekarie
waren imd blieben verschieden •) , auch wenn durch Ausdehnung der
Immunität obrigkeitliche Rechte der Grundherren über die Inhaber der
freien Leih^^ter begründet wurden.
Gerade auf alamannischem Stammesgebiet haben die alten Zu-
stände nur sehr langsam sich geändert. Als BestandteUe der Frohn-
höfe erscheinen noch in den späteren Urbaren Salland und Hufen ^)»
Ersteres wurde nach Aufhören des grundherrlichen Eigenbaues vom
Kellner gegen feste Abgaben auf eigene Rechnung bewüischaftet. Zu
den Hufen sind als dienende Güter im Frohnho£sverband die (kleineren)
Schupposen hinzugetreten. Auiserdem aber sind die 2Unsgüter nachweisbar,,
die, wie sie nicht nach Hofrecht innegehalten wurden, so auch in der Regel
i) Vgl. Jahrb. f. Schweix. Gesch. 27, 343 ff.
2) Das Wesen der Prekarie im Gegensatz zum Beneficinm beleuchtet nenerdings-
Seeliger, Die soziale und politische Bedeuttmg dm' Orundherrsehaft im früheren
MiäelaÜer [= Abhandlungen der phU.-hist. Klasse der königL Sächsischen Gesellschaft
der Wissenschaften 22. Bd.] Leipzig 1903.
3) Wegen der Entstehung der freien Leihe ans der Prekarie s. Rietschel,
Die Entstehung der freien Erbleihe, in Zeitschrift der Savigny*Stiftung für Rechtsgeschichte,.
germ. Abt. Bd. 22 (1901), S. 181 ff.
4) VgL die SL Galler Rodel bei Wartmann, Urkundenbuch der Abtei St Gallen^
Bd. 3, St Gallen 1882, S. 746 E Das Habsburgische Urbar, herausgeg. von R. Maag,
in Quellen zur Schweizer Geschichte Bd. 14 und 15 (Basel 1894, 99). Das Üteste Eia>
Siedler Urbar, herausg^. von P. Gall Morel in Der Geschichtsfrennd, Mitteüungen des.
historischen Vereins der fünf Orte, Bd. 19 (1863), S. 93 ff. Das Einsiedler Urbar von
1331, herausgeg. von P. Odilo Ringholz, ibid. Bd. 45 (1890), S, i (L Ein Rheinaner
Urbar des XIV. Jahrhunderts, herausgeg. ron J. M e 7 e r , in Alemannia, Zeitschrift f&r Sprache,.
Litteratur und Volkdmode des TOsassrt und Oberrhtins, herausgeg. von A. Birlinger^
Bd. 4 (1877), S. 106 fi:^ 212 ff.
— 269 —
nicht als Hufen oder Schupposen bezeichnet werden ^) , ebensowenig*
wie das Eigengnt freier Bauern *). An diesen Verhältnissen hat der
Wechsel der Zeiten nichts geändert. Die Hufenverfassung war im
Xn. und XIII. Jahrhundert so wenig allgemein durchgeführt, als in der
Karolingerzeit. Ihre Auflösung ist ein Vorgang, der nicht, wie bisher
wohl angenommen werden mufete, sich über mehr als ein halbes Jahr-
tausend ausdehnte ^), sondern der, aufs engste zusammenhängend mit
den Veränderungen in der Verfassung der Grundherrschaften, im
südlichen Alamannien kaum vor dem XIII. Jahrhundert begonnen hat
tmd in der Weise sich vollzog, dais die nach Hofrecht zu Erbe sitzenden
Inhaber der Hufen das Nutzland teilten oder auch Stücke davon ver-
änüserten. Die seit der Karolingerzeit durch Ablösung der Frohnden
in Abgaben verwandelten grundherrlichen Lasten wurden, (als Grund-
zins) auf den Boden radiziert, mit diesem geteUt, sodals schlie&lich
Hufen (und auch Schupposen) zu ideellen Belastungseinheiten im Rahmen
der Grundherrschaft herabsinken konnten^).
Inwieweit die aus der Betrachtung eines lokal begrenzten Quellen-
kreises gewonnenen Ergebnisse allgemeine Geltung beanspruchen dürfen,
wird sich erst durch weitere spezielle Untersuchungen ermitteln lassen.
i) VgL meine AusfÜhningeii über die Dörfer Mari und Wohlen (nach den AcU
llnrcnsia, QoeUen cur Schweiz. Gesch. Bd. 3, T. 3) in dem Aufsatz „Zar Agrargeschichte
<ler Nordostschweis and angrenzenden Gebiete vom 10. bis 13. Jahrbondert** in Conrads
Jahrbttchem für Nationalökonomie and Statistik, 3. Folge, Bd. 24 (1903), S. 601 ff.,
s. S. 615 f.
3) VgL ibid. S. 611 wegen der Besitzungen des freien Banem Rözo.
3) So Terlegt Inama-Sternegg, D. W. G. i, 313 den Anfang bereits ins
Vm. Jahrhimdert and läftt ibid. 3. i. 22$ ff. die Aaflösang der (gmndherrlichen) Hufen-
onfamng ganz besonders im XIV. Jahrhundert vor sich gehen.
4) Besonders deutlich ersichtlich ist die Hufenteilung in dem oben S. 268, Anm. 4
erwähnten Rheinaner Urbar, wo für die einzelnen Höfe das Zubehör an Hufen, Schup-
posen etc. mit der darauf ruhenden Belastung angegeben wird, und dann die Teilinhaber der
Haien und ihre Abgaben aufgeführt sind. Sehr stark zersplittert erscheinen die Hufen in
einem den Statuten des GrofsmOnsterstifts Zürich von 1 346 beigefügten Einkünfteverzeichnis
^Stadtbibliothek Zürich Msc C. 10 a). So ist ibid. f. 240 von Albisrieden gesagt, dafs
Niemals dort 3Vt Hufen vorhanden waren, die proeessu temparum ex vendicumibuSy
iontUicmbua ei permutaiiombus adeo partieulariter nmt divise, quod vtx vel ttmquam
rtmUgrari pos9%mt. Für Schwamendingen werden (f. 251) aufser dem Kelnhof loy, Hufen
«od 6 Schupposen aufgeführt (ebenso im Habsburger Urbar 1. c. 14, 252), die schon stark
zerstOckelt sind, während in einem Urbar des XVL Jahrhunderts die Hufenverfassung wieder-
hergestellt erscheint, und die Dorföffnung von 1533 Teilung der Hufen oder Abverkauf
von ParzeUen verbietet, eine Bestimmung, welche die älteren Weistttmer des Dorfs noch
nicht enthielten, s. Hotz, Zur Geschichte des Grofsmttnsterstifts Zürich und der Mark
Schwamendingen, Bd. i, Urkundenbuch (Zürich 1865), S. 38 nr. 45 und S. 39 nr. 46.
— 270 —
Gewife waren die Verhältnisse nicht in allen deutschen Landschaften
die gleichen ; aber gerade da, wo gnindherrlicher Besitz überwog, sind
auch die Hufen besonders häufig zu finden ^). Anderwärts ist die
doppelte Bedeutung des Wortes mansus zu beachten, das vor allen
in den Lorscher Traditionen vielfach ausschließlich die Hofstätte be»
zeichnet. Gesondert aufgeführte Pertinenzen des manstis entsprechen
dann sehr wenig dem herkömmlichen Begriff der Hufe ^). Aus den
Urbaren der Karolingerzeit können über die Beschaffenheit des Grund-
eigentums freier Bauern keine Aufschlüsse gewonnen werden, da in
ihnen nur grundherrlicher Besitzstand verzeichnet ist '). Gerade die
Urbare schildern jedoch so deutlich die Hufe als Nutzungs- und Be-
lastungseinheit im Frohnhofsverband , dafs allein schon die in ihnen
massenhaft vorhandenen Zeugnisse jeder anderen Auffassung der Hufe
die gröfeten Schwierigkeiten bereiten.
Die Frage nach dem Wesen der Hufe hat einschneidende Bedeu-
tung für die gesamte Auffassung von der sozialen und wirtschaft-
lichen Entwicklung des deutschen Volkes. Eine Lösung kann
sie nicht finden durch Abstraktionen und Rückschlüsse, welche achtungs-
los über die Wandlungen im Verlauf einer mehr als tausendjährigen Ge-
schichte hinweggehen. Nur eindringende lokalhistorische Forschung
vermag all die Veränderungen nachzuweisen, welche die scheinbar so«
stabilen agrarischen Zustände erfahren haben. Aus Nordfrankreich liegt
wichtiges Material zum Vergleich vor *). Die reichhaltigen Quellen Eng-
i) Über die Gnindbesitzyerteilang znr Karolingerzeit in Deutschland und das ftir
die Ermittelang derselben verwendbare Material, vgl. meinen Aufsatz in dieser Zeitschrift
Bd. 3 (1901), S. 65 fif. Sehr bemerkenswert ist z, B. im breviarium des Abts Urolf von
Niederalthaich in Bayern (Monumenta Boica Bd. 11, S. 13 ff.)» ^^ ^ ^^ Schenkungen,
welche der Herzog machte oder die aus Herzogsgut herrührten, die Zahl der mansi an-
gegeben wird. Bei den Traditionen der nobiles heifst es nur, dafs sie Erbgut des Tra-
denten an dem und dem Orte betrafen.
2) Das hat schon Landau, Territorien S. 5 fi^, erkannt und mit Beispielen belegt.
3} Ober Urbare vgl. J. Susta, Zur Geschichte und Kritik der Urbarialaufzeich-
nungen, Sitzungsberichte der Wiener Akademie, phiL hist Klasse, Bd. 138 (1898). Aufser
den vom Lamprecht 2, 59 ff. behandelten Prümer und Metlacher Urbaren sind besonders
interessant, auch w^en der Möglichkeit des Vergleichs mit Urkunden, die jedenfalls auf
karolingische Grundlage zurückgehenden Aufzeichnungen von Weifsenburg und Lorsch.
Erstere bei Zeufs, Traditiones possessionesque Wizenburgenses (Speier 1842), S. 269 ff., vgl.
W. Hart t er. Der Güterbesitz des Klosters Weifsenburg i. E. 2. Teil, Gymnasialprogramm,
Speier 1893/4; letztere im Lorscher Traditionskodex, Codex principis olim Laureshamensis
diplomaticus, ed. Academia Palatina (Mannheim 1768), Bd. 3, S. 175 ff., nr. 3651 ff.
4) Für Nordfrankreich hat Gu^rard in den Erläuterungen zum polyptichum Ir-
minonis den Begriff des mansus festgestellt nach dem Gebrauch des Wortes in diesen»
— 271 —
lands würden erneute Durchsicht verdienen ^), Erst wenn es gelungem
ist, die Entwickelung bis zu ihrem durch positive Zeugnisse erkenn-
baren Ausg^angspunkt zurückzuverfolgen, können Vermutungen über
die dunkle Vorzeit gewagt werden.
Auf einen Umstand möchte ich noch hinweisen. Vollkommen
durchgeführt erscheint die Hufenverfassung im deutschen Kolonisations-
g^biet östlich der Elbe. Dort sind die Ansiedelungen in Dörfern er-
folgt, das Land wurde in Hufen ausgeteilt, Acker und gemeine Mark
blieben gesondert; aber gerade die ostelbischen Ansiedelungen tragea
durchgehends grundherrlichen Charakter >). Es haben nicht die zu-
ziehenden Bauern den Boden als Eigentum okkupiert, sondern ihui
von den Eigentümern zu Erbzinsrecht 'angewiesen erhalten. Die inv
Mutterlande ausgebüdeten Formen von Dorfverfassung und Gnmd-
herrschaft wurden auf die Kolonieen übertragen mit denjenigen Modi-
fikationen in Bezug auf persönliche Freiheit der Hintersassen und häufige
auch geringere Höhe der speziell grundherrlichen Belastung, welche
dem freiwilligen Eintritt in das Leiheverhältnis und der Leistung der
Beliehenen für Nutzbarmachung des Landes entsprachen. Kaum glaub-
Uch erscheint, dals germanische Krieger, die im wilden Ansturm den
römischen Grenzwall durchbrachen und das Schilddach der Legionen
sprengten, auf dem Boden eroberter Provinzen ebenso fein säuberlidt
ihre zum notdürftigen Unterhalt der Familie gerade ausreichenden
Äckerlein sollen abgezirkelt haben, wie das an Untertänigkeit gewöhnte
Bauern taten, welche nach dem Osten auswanderten, um mehr Land
UrbAT des Klosters Saint-Germain-des-Pr^, s. Poljptyque de Tabb^ Irminon, ed. Gn^rard,«
Bd. I (Paris 1844), S. 577 ff. Seine Begrifftbesümmnog „on doit entendre, en g6n^ral,
par mause iine sorte de ferme oa nne habitation mrale k laqneUe ^tait attacb6e, 4 per--
pteit6, nne qnaoüt^ de terre d6termiii6e et, eo principe, invariable ** war weit gefafst,.
SB anfser den mit Hintersassen besetzten mansi aach dem mansns dominicos einsaschliefsen.
Von letzterem sieht Fnstel de Conlanges aosdrücklich ab, wenn er anter dem mansas
„ranit^ de tennre" rersteht (Histoire des institntions politiqnes. L'aUen et le donuune-
rvaly Paris 1889, S. 367) uid ibid. 371 sagt, „les hobae sont, en g6n^ral, des manses-
d'esdares on de Utes." Mit Rücksicht auf westfränkische Veriiältnisse ist jedenfalls die
Bedentnng des mansns in den karolingischen Kapitularien zu erklären ; vgL ilbrigens meine -
demnächst in der Historischen Vierteljahrschrift erscheinende Abhandlung über „Die Land-
gfiter in den fränkischen Formelsammlungen".
i) VgL fiber die flir das ältere englische Agrarwesen streitigen Fragen W. J. Ashley,,
Ab introdnction to English economic history and theory, Bd. i , The middle ages
(London 1888).
2) Vgl. besonders Meitzen, Urkunden schlesischer Dörfer zur Geschichte der
ländlichen Verhältnisse und der Flureinteilung insbesondere [= Codex diplomaticus Sile-
■iae, Bd. 4 (Breslau 1863)].
— 272 —
tind bessere Bedingungen zu finden, als die übervölkerte Heimat zu
bieten vermochte. Es ist vielmehr ein g'anz ung'eheuerer
Anachronismus, die Formen der g'ermanischen Ansiede-
lungen auf römischem Boden in der Völkerwanderung's-
^eit gleich zu setzen mit denen, welche bei der deutschen
Kolonisation imOsten über ein halbes Jahrtausend später
üblich waren, und die Bodenverteilung in den deutschen
.Stammesgebieten zur Merovingerzeit sich unter dem Bilde
vorzustellen, welches die Landbücher des XIV. Jahr-
hunderts von Brandenburg und Schlesien gewähren. Und
• doch würden zu solchen Folgerungen die geltenden Anschauungen von
der Hufe fuhren, indem sie über den tiefgreifenden Unterschied von
Eigengut der Freien und dienenden Gütern der Hintersassen in der
'Grundherrschaft mittels einer durch die Quellen nicht bestätigten
Fiktion hinweggleiten.
Mitteilungen
Famillenforsehung. — Die Bedeutung einer nach wissenschafUichen
Grundsätzen betriebenen Familien forschung — d.h. der Untersuchungen,
die über Jahrhimderte hinweg eine Famüie, ihre Wanderungen , die Berufe
ihrer Glieder u. s. w. verfolgen, — läfet sich heute keinen Augenblick ver-
kennen, und ihre Zusammengehörigkeit bezw. Interessengemeinschaft mit der
Ortsgeschichte wurde bereits früher nachdrücklich betont^). Aber gerade
auf diesem Felde sind, da das allerindividuellste Gebiet geschichtlichen
Lebens, die einzekie meist nicht weiter hervortretende Person, Forschungs-
objekt ist, die Schwierigkeiten ganz besonders grofs und für den einzelnen
(äst unüberwindlich. Zwar beschäftigen sich heute viele einzelne Personen
mit der AufheUung ihrer Familiengeschichte, aber ihre Arbeit pflegt der All-
gemeinheit verloren zu gehen, da eben nur die im besonderen daran Inter-
essierten davon Kenntnis nehmen und der Forscher, den aus rein sachlichen
Gründen eine bestimmte Person und ihre Herkunft interessiert, selbst dann,
wenn die entsprechenden Nachforschungen bereits einmal angestellt worden
sind, selten etwas davon erßLhrt oder sie sich gar zu nutze machen kann.
Und kommt er selbst in diese glückliche Lage, dann sind die ihm vor-
liegenden Angaben vielfach zu ungenau tmd entsprechen nicht seinen kri-
tischen Anforderungen, sodaüs er doch selbst aufis neue an die Arbeit gehen
mufs. Das sind Mifsstände, die sich bei dem heutigen Stande der For-
schung immer empfindlicher fühlbar machen, und wenn sich Mittel finden
liefisen, um sie zu beseitigen, so wäre dies für die gesamte Geschichtsforschung,
i) VergL diese ZeiUchrift 3. Bd., S. 182 — 185.
— 273 —
nameadich Tom XVI. bis XIX. Jahrhundert ein unschätzbarer Gewinn. £in
Versuch dazu wird jetzt von Leipzig aus unternommen; eine der brei-
testen Öffentlichkeit zugängliche Zentralstelle fOr deutsche Per-
sonen- und Familiengeschichte soll gegründet und zu deren Begründung
zunächst ein Verein ins Leben gerufen werden. Der Verein ist hier nur
Mittel zum Zweck ; den Mitgliedern werden natürlich bei der Auskunfterteilung
besonders günstige Bedingungen gewährt, aber auch jedem anderen Frager
soll die Zentralstelle ofifen stehen. Ihre Aufgabe besteht zimächst darin, das
weitschichtige gedruckte Material auszubeuten und in Zettelkatalogen nieder-
zulegen, und daraus jedem Frager gegen geringes Entgelt Auskunft zu gewähren,
sowie eigene Forschungen, auch im Auftrage der Interessenten, anzustellen.
Neben der freiwilligen Mitarbeit der Vereinsmitglieder soll aber dauernd die
eines historisch-wissenschaftlich geschulten Beamten — später
mehrerer! — für diese Zwecke nutzbar gemacht werden, und hierin liegt
gegenüber ähnlichen Versuchen eine beachtenswerte Besonderheit und, wenn
es gelingen sollte, einigermafsen Mittel dafür zusammenzubringen, die Gewähr
für ein glückliches Fortschreiten, da nicht allein auf die zufällige oft versagende
Id&beTeitschaft einzelner gerechnet wird.
DreiunddreÜsig Personen jeglichen Berufis, die sich über ganz Deutsch-
land verteilen und unter denen sich zahlreiche Mitglieder der Vereine „Herold**
und „Roland** befinden, haben einen soeben verbreiteten Aufruf unterzeichnet,
den wir vollständig folgen lassen:
Wiederholt ist in den letzten Jahren in den Kreisen der Genealogen
und Familiengeschichtsforscher der Gedanke angeregt worden, die grofsen
Schwieri^eiten , welche die ungeheure Zersplitterung des Materials ihren
Art>eiten in den Weg legt, dadurch zu überwinden, dafs die in Urkunden-
büchem, Universitätsmatrikeln, Bürgerlisten und anderen gedruckten und
ungedruckten Quellen zerstreuten Angaben planmäfsig gesanunelt und an
einer Stelle der Benutzung weiterer Kreise zugänglich gemacht werden.
Es ist dabei meist ausschliefslich an freiwillige Betätigung der zahlreichen
Interessenten gedacht worden, und wenn auch heute schon eine Reihe von
Vereinigungen besteht, die ihren MitgUedem solche Forschungen zu er-
leichtem suchen, so fehlt es doch noch immer an einem Mittel, um jedem
Fragenden über alle tatsächlich angestellten Ermittelungen Auskunft zu geben.
Die Unterzeichneten sind der Überzeugung, dafs das erstrebte Ziel, die
Begründung einer Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte
nur erreicht werden kann, wenn zu der freiwilligen Arbeit der Interessenten,
auf die gerade in einem solchen Falle gar nicht verzichtet werden kann,
die Mitarbeit historisch geschulter Arbeitskräfte tritt, deren es vor allem
bedarf zur systematischen Durcharbeitung des schon gedruckt vorliegenden
QueUenmaterials , um das Material zu ergänzen und auszubauen, das der
einzelne freiwillige Mitarbeiter seiner Neigung oder seinem Berufe gemäfs
bearbeitet Zur Beschafitmg der Mittel für die zunächst nötigen Bücher,
Schreibmaterialien und Zettelkästen, sowie für die nötigen Arbeitskräfte,
haben die Unterzeichneten beschlossen, einen Verein zur Begründung imd
Erhaltung einer solchen 2^ntralstelle ins Leben zu rufen, dessen Mitglieder
durch einen regelmäisigen Jahresbeitrag und nach Kräften durch Einsendung
korrekt ausgefüllter Zettel zu dem bezeichneten Zwecke mitwirken sollen.
19
— 274 —
Sie richten deshalb aa alle Freunde ÜEuaufieogeschichtlicher Forschung die
Bitte, das Zustandekonunen des Unternehmens durch den Beitritt zu diesem
Verein zu unterstützen.
Als Grundlage einer solchen Zentralstelle soll dann ein alphabetisdi
geordneter Zettelkatalog geschaffen werden, dessen einzelne Zettel enthalten
sdkn: Geburts- bezw. Taufzeit und Ort, Todeszeit und Ort, Angaben über
Wohnort und Lebensstellung, Verheiratung, Eltern imd Kinder unter genauen
Angaben der Quellen und bei Zetteln, die von Mitgliedern eingesandt sind,
die Angabe des Einsenders. Ausgeschlossen sollen alle die Personen sein,
über welche bereits genaue biographische Angaben in allgemein zugäng-
lichen gedruckten Werken vorhanden sind, die Zentralstelle würde aber fUr
solche Personen die gedruckte Literatur nachweisen, auf Anfragen Auskunft
erteilen und gegen geringes Honorar Abschriften des in ihren Zetteln vor-
handenen Materials liefern. Es ist nicht zu leugnen, dals eine so aus-
gestattete Zentralstelle nicht nur flir die Familien- und Personengeschichte,
sondern auch, für die Orts- und Namensforschung, die Geschichte der
inneren Wanderungen und der Stämme von gröfster Wichti^eit sein würde.
Die Schwierigkeiten, die dem Unternehmen entgegenotehen, verhehlen sich
die Unterzeichneten nicht, sie weisen aber darauf hin, da& eine ähnliche
Einrichtung kleineren Maßstabes besteht bei der Commission de Vkütok-e
des SgUaes tcaUonnes in Leyden (Holland), die Kircbenbuchauszüge fran-
zösisch-reformierter Gemeinden in Belgien, Holland, Deutschland u. s. w.
besitzt und davon gegen geringe Gebühr Abschriften liefert
An die Verwirklichung des Planes, eine Zentralstelle ftir deutsche
Personen- tmd Familiengeschichte zu schaffen, kann nur gegangen werden,
wenn die zugesagten B^eiträge eine genügende Höhe erreichen, und die
Zeichner von Jahresbeiträgen sollen deshalb bis zum i. Januar 1904 an
ihre Zusage gebunden bleiben. Bis dahin wird ihnen, wenn das Zustande-
kommen der Zentralstelle gesichert ist, eine entsprechende Mitteilung zu-
gehen und der Beitrag von ihnen erhoben werden.
Als jährlicher Mindest-Beitrag sind fünf Mark festgesetzt worden.
Zuschriften und Sendungen werden zunächst erbeten an Rechtsanwalt
Dr. Breymann in Leipzig, Neumarkt 29.
Allen Freunden der Geschichte, im besonderen den Genealogen mufs
die Beteiligung an diesem Unternehmen empfohlen werden. Es ist nicht von
vornherein zu grofsartig angelegt, kann mit einigen Tausend Mark jährlich
wohl seine Täti^eit beginnen, aber die Organisation gestattet auch leicht
eine Ausdehnung und Vergröferung des Betriebes, wenn das Interesse und
damit die finanzielle Grundlage wächst
ZeltoclurlftolU — Der Fuldaer Geschichtsverein veranlafst seit
1 902 die Herausgabe der FuZdaer Oesehieht^UUtef', die der Stadt-
archivar Dr. Josef Karteis redigiert imd die mit dem Untertitel Zeüschrift
für OeschiebU, Kunst-, Kultur- und Wirtsehaßsgtsokkhte, insbesondere des ehe-
makgen Fürstentums Fulda als MonsUsbeilage zur Fuldaer Zeitung erscheinen.
Der erste Jahrgang (1901) liegt jetzt abgeschlossen vor (192 S. S^) imd
zeigte wie ein Verein ohne grofse Kosten sich ein Organ schaffen und —
— «76 —
noch mehr ist *— zugleich auf die weiteren Kreise wirken kann, da
eben in der Beäage zur Tageszeitung mancher Dinge liest, die ihm sonst
nie zu Gesicht kommen würden ^). Beiträge , die auch für die allgenieine
Forschmig belangreich sind, stellen die Wieiertäuferhewegiing im ehemoHgen
HoeksUft FiMa von Karteis (S. 3 — 20) und Fulda im Bauernkriege von
Antoni (8. 33 — 41, 49 — 59, 65 — 72) dar: beide Verfasser benutzen neben
der Literatur Akten des Marburger Staatsarchivs. Recht lehrreich ist auch
der Au£ntz über die Lebensmittelpreise in Fkäda (S. 8x^—88, 97 — 109),
in dem Karteis die Polizeibestimmungen geschickt mit den Ergebnissen der
Rechnungen verbindet: die ganz allgemein übUche Tabelle, nach der das
Gewicht eines Groschenbrotes mit dem Kompreis variiert (S. 102), nicht
wie heute der Preis für ein feststehendes Gewicht, verdient bei ähnlichen
Stadien zum Vergleich herangezogen zu werden. Von eigentümlichem Reize
und für die Geschichte der Chronistik, ganz abgesehen von den Nachrichten,
die sie bringt, wertvoll ist die den Jahren 1637 — 1667 entstammende Chrcmik
eines Stausenbacher Bauern, die id, fünf Stüdcen vollständig mitgeteilt wird:
eine ganz drastische Schilderung erfährt der Besuch eines Wolfe im Dorfe
Stansenbach und seine Verfolgung am 16. Mai 1643; u* ^ E^^^ damus
hervor, daüs der Bauer auch damals noch nackt im Bett zu liegen pflegte
(S. 130). Eine grö&ere Zahl MiszeUen berichtet über die verschiedensten
Vorgänge meist durch Mitteilung von Aktenstüdcen : bemerkenswert ist das
Verzeichnis der Fuldaischen Bürger von 1525 — 27: es sind 370 (S. 22 — 27);
16 18 werden auf dem Wdhnachtsmaikte zu Fulda von Auswärtigen Honig-
kuchen feilgeboten (S. 191). Recht verdienstvoU ist schliefslich der Versuch,
eine Fuldaische Bibliographie zusammenzustellen, der in 8 Studien gemacht
wird; diesem löbHchen Unternehmen sollten alle Geschichtsvereine für ihr
Gebiet besondere Aufinerksamkeit zuwenden und vor allem verstreute Zeit-
schriftenaufeätze sämdich, wie es hier geschieht, mit Titel und genauer An-
gabe der Fundstelle aufiühren! Die Leistung des Fuldaer Geschichtsvereäis
und des Redakteurs verdient die vollste Anerkennung, denn mit bescheidenen
Mitteln ist hier viel erreicht: die Beiträge sind voUcstümlidi und jedermann
verstftndHch und doch zugleich sachUch wertvoll, sodafs jeder Forscher für
seine Zwecke hier brauchbares Material finden kann und die Zeitschrift einer
Durchsicht würdigen solke.
Von der bereits früher *) erwähnten Vierteljahrschrift iDeUiSCh'AMS'
rikamtBehe Ges^^UchtäbUtMer, die die Deutsch-Amerikanische
Historische Gesellschaft von Illinois herausgibt, hegen jetzt zwei
Jahrgänge, 1901 und 1902, abgeschlossen vor und zeigen, daft 'die deutsche
i) Ganz ähnlich steht es mit den Blättern fUr lippische HeimaÜcimde, die als
monatliche Beilage der Lippischen Landeszeitnng in Detmold erscheinen, aber ohne dafs
tto Verein dahinter steht. Vgl. 2, Bd., S. 189.
2) VgL diese Zeitschrift 3. Bd. S. 311 — 312. — £• gibt anch eine „Gesellschaft
filr die Geschichte der Deutschen in Maryland^^ mit dem Site in Baltimore, aber eine
Zeitschrift hat, wie es scheint, nur die Deutsch-Amerikanische Gesellschaft von Illinois,
die aber nicht nur Illinois, sondern das gante Gebiet der Vereinigten Staaten als ihr
Aibeitagebiet betraditot.
19*
— 276 —
Geschichtsforschung allen Grund hat, nicht achtlos an dieser VeröfientUchung
vorüberzugehen. Es ist ein Stück deutscher Geschichte, dessen Aufdeckung
sich die Gesellschaft zum Ziel gesetzt hat, denn sie will den Anteil des
deutschen Volkes an der Kolonisation und dem Ausbau des Staats- imd
Wirtschaftslebens in den Vereinigten Staaten erforschen, und das ist eine
Notwendigkeit, da von der offiziellen und vorherrschenden englisch gefärbten
Geschichtschreibung dieser Anteil absichtlich und unabsichtlich vernach-
lässigt worden ist Für die Geschichte der deutschen Landschaften sind
diese Blätter so wichtig, weil sie zu einer individuellen Charakteristik des
Auswanderertums , das in der Regel in Deutschland nur statistisch begriffen
wird, fortschreiten und so den Verlust, den das Mutterland durch Abgabe
so vieler seiner Kinder erlitten hat, verstehen lehren. Die Persönlichkeit und
die Arbeit der Auswanderer, die Mühe und die Not der Kolonisten wird
in zahlreichen Einzelbeispielen geschildert, und die alte Heimat bildet dabei,
wenn irgend nähere Kenntnis davon vorliegt, den Ausgangspunkt
Die Zeitschrift erscheint vierteljährlich, aber leider nicht so, dafs, wie
wir es in Deutschland gewöhnt sind, vier Hefte einen Jahrgang und Band
mit einem Titelblatt bilden, sondern jedes Heft steht mit einer selbständigen
Seitenzählung für sich; das im je vierten Hefte veröffentlichte Inhalts- und
Namenregister kann den Mangel nicht ersetzen, und jedenfalls sollte daneben
eine systematische Inhaltsübersicht nicht fehlen. Ein alphabetisches Register
folgt besser nach Abschlufs von etwa fünf Jahrgängen und mufs dann den
gesamten mitgeteilten Stoff zu einer Einheit zusanunenzufassen suchen. An
der Form der Beiträge ist vielleicht für manchen Leser störend, dafs die
einzelnen Aufsätze offenbar absichtlich, um sofort recht viel verschiedenes zu
bieten, recht klein sind, so dafs der Stoff allzusehr zerstückelt wird. Wird
eine Mitteilung zunächst zurückgelegt imd, wenn eine kleine Zahl verwandter
Arbeiten vorliegt, mit diesen zugleich veröffentlicht, so verliert jede mitgeteilte
Tatsache die Eigenschaft des Kuriosiuns, denn dann tritt im Einzel&ll das
Typische hervor. Ein so herrUches Stück wie Börstlers Tagebuch sollte
höchstens in zwei oder drei Abschnitten mitgeteUt werden; jetzt liegt es in
sieben Stücken vor und ist noch nicht abgeschlossen. Im Einzelnen
könnten die positiven Angaben genauer sein : z. B. läfst sich I, 3, S. 40 aus
dem Zusammenhange nicht erkennen, im April welchen Jahres das deutsche
Theater in Chikago eröfhet worden ist; es kann 1857 ebensogut wie 1858
gemeint sein. Büchertitel sollten stets so vollständig imd genau sein, dafs
der Leser sie ohne weiteres in einer Bibliothek bezw. beim Buchhändler zu
bestellen und dieser sie zu identifizieren vermag. Diese Bemerkungen sollen
nur vom deutschen Standpunkte aus auf einige formale Mängel aufinerksam
machen, sollen aber niemandem die Freude am Inhalt verkümmern!
* Wert und Ziel der deutsch-amerikanischen Geschichtsforschung behandelt,
wie billig, der erste Beitrag (I, i, S. 4 — 8), und Wilhelm Vocke hat mit
wenigen kräftigen Zügen hier die Beziehungen klargelegt, die zwischen den
Deutschen in den Vereinigten Staaten und den Deutschen im Mutterlande
bestehen. Eme Ergänzung dazu bildet die Zuschrift von H. A. Ratter-
mann (Cincinnati) an den Verein (I, i, S. 11 — 12), die um so wertvoUer
ist, als der Verfasser, entschieden der eifrigste deutsch-amerikanische Ge-
schichtsforscher, bereits in den dreizehn Jahrgängen seiner Zeitschrift Pionier
— 277 —
dne FfiUe einschlägiger Arbeiten veröffentlicht hat. Der Weit der Arbeit, die
der Verein leisten will, wird aber nicht nur von den schriftstellerisch
tätigen Deutsch- Amerikanern anerkannt, sondern eine ganze Reihe am
Schlosse der ersten Hefte unter Aus unsrer Briefmappe mitgeteilte Zu-
schriften beweisen, dafs sich Angehörige aller Kreise lebhaft daftir interes-
sieren und ihre z. T. ererbten Aufzeichnungen aus der Vergangenheit zur
Verfügung steUen. Nicht minder legen die zahlreichen Geschenke für die
Bibliothek Zeugnis davon ab, die zusammen mit der Verzeichnung deutsch-
amerikanischer Geschichtslitteratur manchen in Erstaunen darüber setzen
dürften, wie viel Material bereits ausgegraben ist, das nur der Ergänzung
und vor allem Ausbeutung bedarf. — Von den Beiträgen können hier nur
die charakteristischen genannt werden, sie mögen ein Bild davon geben, was
für den Deutschen hier zu suchen ist. Natürlich wird den Deutschen, die
sich nachgewiesenennafsen zuerst an diesem oder jenem Orte niedergelassen
haben, besondere Aufinersamkeit geschenkt, und ihre Lebensschicksale werden
mit Recht z. T. einzeln dargestellt, denn nur so lassen sich bestimmte be-
gründete Anschauungen über das typische Einwandrergeschick gewinnen.
Eine wiederholt zu machende Beobachtung ist z. B. die, dafs die Einwandrer
nacheinander an recht vielen, oft weit voneinander entfernten Orten ihr
Glück versuchen, ehe sie dauernd sefshaft werden. Die Geschichte der
Deutschen Quinc/s wird von I, 2 an in sieben Abschnitten geschildert und
ist damit noch nicht zu Ende geführt : Der erste Deutsche ist Michael Mast,
1797 zu Forchheim geboren, der 181 6 auswanderte imd sich 1829 hier
mederUefs. Der erste Deutsche in Chikago hiefs Matthias Meyer und kam
1831 dort an (I, i, S. 38 und I, 3, S. 17). Die Einwandrung von drei
Banemfamilien aus der Nähe von Aschaftenburg 1837 wird nach der Er-
zählung der Beteiligten anschaulich geschildert (I, i, S. 33 — 35). Für uns
.ist bei diesen Feststellungen vor allem die Gegend Deutschlands, aus der
die Einwandrer stammen, von Interesse und nicht minder die 2^t, wo sie,
und die Verhältnisse, unter denen sie die neue Heimat aufsuchten: oft ist
eme Rrisenepoche die Veranlassung, namentlich, wenn eine gröfsere Zahl
^chzeitig von dannen zieht; andre meiden als politische mehr oder weniger
freiwillige Flüchtlinge die Heimat tmd gehen über das Meer, und wieder
andre locken besonders günstige Aussichten, von denen die Kunde zu ihnen
dringt, oder auch gewissenlos erweckte Hofibungen. In letzterer Hinsicht
ist die Einwandrung westfälischer Bergleute aus der Gegend von Musen
nach Virginien 17 14 von Interesse: 40 Leute unter Führung ihres Ober-
steigers harrten im Herbst 17 13 in London der Überfahrt; unter diesen
be£uid sich auch Johann Kemper, dessen Nachkoiomen in einer neu er-
schienenen sich über elf Generationen erstreckenden Familiengeschichte diese
wichtigen Nachrichten veröffentlicht haben. Die Gründung dieser Bergleute,
die zur Eisenschmelze einen heute noch vorhandenen Hochofen erbauten,
war die jetzt verschwtmdene Stadt Germana, die aber bereits vor 1724
wieder verlassen wurde (II, 4, S. 28 — 32); denn die Deutschen zogen weiter
nordwärts und gründeten das heute ebenfalls wieder eingegangene German-
town, nicht zu verwechseln mit der 1833 gegründeten gleichnamigen Kolonie
im nordwestlichen Louisiana (I, 4, S. 82 — 83) und der ebenso genannten
am Ende des ,XVII. Jahrhunderts gegründeten^ Ansiedlung in Pennsylvaniea
— 278 —
(ly I S. 48). Woher die Weinstock, Flachs und Webstuhl iniAringenden „Hoch-
teutsden** stammten, die 1^84 bereits in Pennsylvanien lebten, ist aus den
entsprechenden Mitteilungen nicht zu ersehen. Einwandrer aus Drachen-
bronn im Unterelsafs kamen seit 1833 ^ Menge über Havre nach Mac
Henry County (I, 2, S. 20); seit 1841 treten hier Leute aus der Eifel auf
(II, 4, S. 58), und Oldenburgische Jeverländer liefsen sich seit 1849 in Will
County nieder (II, i, S. 33): den Anstofs dazu gab der Schulmeister Fried-
rich Heinrich Luhrs in Norder-Schweiberg, der andere nach sich zog. Die
1836 am Missouri angelegte und bis heute ein deutsches Gemeinwesen ge-
bliebene Stadt Hermann ist die Gründung einer Gesellschaft von Deutschen,
die, meist kurz vorher eingewandert, sich in Philadelphia zusanunenfanden
(I, 4, S. 41). Bei weitem am lehrreichsten ist die bereits oben erwähnte
Autobiographie und das Tagebuch (noch nicht ganz vollständig) des
Christian Börstler: er stanmite aus Glanmünchweiler in der RheinpÜEÜz,
war Schulmeister und Wundarzt und wanderte 1784 aus nebst 70 Personen
aus seiner G^end; diese fuhren den Rhein hinunter und schifiten sich in
Rotterdam ein, wo gleichzeitig drei Schiffe mit 180, 136 und 300 Deutschen,
die Kinder ungerechnet, nach Amerika abgingen (I, i, S. 20). — Nach einer
gelegentlichen Angabe (I, 2, S. 56) existiert bereits eine um^greiche Samm-
lung der Namen von Leuten, die vom XVII. bis XIX. Jahrhundert aus
Deutschland eingewandert sind, aber der Titel und Erscheinungsjahr ist leider
nicht angegeben. In neuerer Zeit finden sich Angaben über die Heiktmft
der Leute in den Kirchenbüchern: mitgeteilt werden solche z. B. aus den
Trauregistem der protestantbchen Gemeinde in Chikago 1861 — 71 (1, 3, S. 45),
woraus sich ergibt, dais die Mehrzahl aus Hannover stammt, sowie aus allen
Registern der Jahre 1838 — 39 (I, 4, S. 64 — 78). Von ausgewanderten
Achtundvierzigern werden Gustav Adolf R Osler aus Öls (n, 2, S. 39) und
Christian Essellen (11, i, S. 45 — 47) aus Hamm behandelt, ja sogar das
Frankfurter Attentat vom 3. April 1833 nach den Berichten der daran be-
teiligten Bunsen und Körner (U, i, S. i — 15).
Nicht weniger interessant ist die Schilderung amerikanischer Zustände
in früherer Zeit unter deutschem Einflufs und im Kreise der Einwanderer.
Da wird vom Schulwesen (I, i, S. 13 — 17), vom Schützenwesen (I, 2,
S. 48 — 51), von der Rechtspflege ^, 2, S. 35 — 47 ; n, 2, S. 40) erzählt, die
Geschichte der Juden in Illinois (I, 3, S. 30 — 38), die Gründung des deutschen
Hauses und des Theaters in Chikago (I, 3, S. 38 — 43) verfolgt Die An-
fänge des kirchlichen Lebens (I, 2, S. 24 — 29) und das Predigerleben in den
über viele Meilen ausgebreiteten Pfsurbezirken (II, i, S. 47 — 49, 1841) werden
geschildert. Besonderes Interesse bieten auch die Arbeiten über die Bau*
kunst im Staate Illinois (I, i, S. 25 — 32) und die Erlebnisse eines deutschen
Ingenieurs 1867 — 1885, die in sechs Abschnitten von I, 3 bis n, 4 mit-
geteilt sind. Auch die deutsche Litteratur ist nicht vergessen: das Leben
des Dichters Johann Oottlieb Dönitz^ zu HaUe a. S. 181 1 geboren und
1894 auf seiner Farm in Illinois gestorben, wird kurz (I, i, S. 53 — 55) ge-
schildert und einige seiner Gedichte sind mitgeteilt Wir er&hren, wie im
Rebellionskriege 1861 das deutsche Soldatenlied erklungen ist (I, 4, S. 29 — 31)
and wie das deutsche lied nicht nur gepflegt, sondern auch, wie es inner*
halb der deutsch-amerikanischen Dichtung geschätzt wird (I, 2, S. 33-^3 9).
— 2W —
Dn deutsche Elemeott imierbalb des ameriksiiischen Wirtschafb-, Geistes«-
und Staatslebeos zu würdigen» seine Spnren zu rerfolgen und somit den
deutschen Anteil am Amerikanertum, der, wie schon gesagt, von den Angel-
sachsen mannigÜEich geschmälert imd herahgedrückt worden ist, zur allseitigen
Anerkeimung zu verhelfen — das ist das Bestreben der DetUsch^Amerikamschen
OeaehichisbUUter. Die Geschichtsforschung ist hier also so recht in den Dienst
der Nationalität getreten und hat in kurzer Zeit eine Fülle Ton Arbeit geleistet
und vor allem Anregung gegeben. Von hoher Bedeutung ist z. B. noch
die mit groiser Wahrscheinlichkeit zutreffende Feststellung, dais der Präsident
Lmeoin deutscher Abkunft und sein Name nur en^isch Yerstümmdt ist,
da sein Grofsrater noch 1780 amtlich als Abraham lAnkhom bezeichnet
wird (I, 2, S. 54).
Als schöne Aufgabe der Deutsch-Amerikanischen Historischen Gesell-
schaft für die Zukunft mu(s es gelten, einmal eine Bibliogn^hie der im
Piomer Terüffmdichten historischen Arbeiten zu bearbeiten und als not«
weodigerweise erstrebenswertes Ziel stets die Schaffung einer grofsen tun-
üissenden deutsch -amerikanischen Bibliographie im Auge zu bebaken. Eine
wichtige Vorarbeit dazu wäre die sorgsame Sammlung aller deutschen
Zeitungen: schon die Feststellung der Titel mit den Angaben der Jahre,
in denen jede erschienen ist, dürfte oft Schwierigkeiten machen, viel gröisere
aber die Beschaffung vollständiger Jahrgänge ipid ganzer Reihen von diesen.
Die wicfat%sten Zeitungen zum wenigsten sollten in der Bibliothek der Gesell-
schaft vorhanden sein, denn darm wird auf die Dauer die um&ssende
Gnmdlage ftir die amerikanische Geschichtsforschung liegen. A. T.
Neuen Idtentur ttber den TBrkeiikrieg y<Ni 1664 % Unsere
Kenntnis der politischen und militärischen Vorgänge, welche mit dem Frieden
von Vasvar im September 1664 ihren Abschlufs banden, ist durch einige in
den letzten Jahren erschienene Werke wesentlich erweitert und vertieft worden.
Zani<^i8t hat die Direktion des K. und K. Kriegsarchivs in Wien eine Aus-
wähl der Schriften Montecuccolis in deutscher Übersetzung herausgegeben ').
Diese Sammlung enthält aufser den bereits bekaonten Memoiren des Generals
dne Reihe wichtiger, bisher imgedruckter Aufsätze aus seinem Nachlasse. Für
(fie Gesdiichte des Türkenkrieges besonders wertvoll sind die in Band III
nntgeteSten Bemerkungen zu den Schriften des Abb^ de Noires und des
Grafen Gualdo Priorato, sowie diejenigen zu veuetianischen Berichten in
Band IV, femer militärische Gutachten aus dem Jahre 1663 und Aufzeich-
mmgen über Verhandlungen in Regensburg im März und April 1664. Leider
sbd die zahlreichen amtlichen Schreiben, die Montecuccoli aus dem Feld-
lager abgehen liefs, in diese Sammlung nicht aufgenommen.
Genaue Nachrichten über das braunschweigische Kontingent, welches
sich unter dem von der Rheinischen Allianz dem Kaiser gestellten IClfscorps
befimd, gibt O. £lster ^. £r berichtigt dabei die Irrtümer, welche sich in
1) VgL diese ZeiUchrift i. Bd., S. 76—88 and S. 176.
2) Anigewählte ScIurifteD des Rumnnd Fürsten Montecuccoli, bearbeitet von Alois
Ydtz^, 4 Binde. Wien und Leipzig, W. BranmOller, 1899—1900.
3) Geschichte der stehenden Trappen im Herzogtam Braonschweig-Wolfenbtlttel von
1600^1714. Leipzig, M* Heinsios Nachfolger, 1899. Elsters Arbeit habe ich flir meinen
— 280 —
die älteren hannoverschen Darstellungen (v. d. Decken und Sichart) ein-
geschlichen haben. Zugleich bringt er wichtige Mitteilungen über die nieder-
sächsischen Kreistruppen.
Die Teilnahme Bayerns an dem Kriege ist erschöpfend behandelt in
den beiden einander ergänzenden Werken von M. Doeberl ^) und K. Stau-
dinger'). Doeberl schildert die Politik, die Bayern dem Kaiser gegenüber
verfolgte, Staudinger aber die Taten und Schicksale der bayerischen Truppen
Sehr dankenswert wäre es, wenn gleich sorg^ltige Untersuchungen über die
Kontingente des schwäbischen und fränkischen Kreises angestellt
würden. Vor allen verdienen ein solches literarisches Denkmal die Württem-
berger, die sich nach dem Zeugnis des Reichsfeldmarschalls ebenso wie
die bayerischen und niedersächsischen Reiter „gar wohl gehalten haben*'.
Eine Biographie des türkischen Oberfeldherm, des Grofswesirs Achmed
Köprili, gibt M. Brosch ') hauptsächlich nach Berichten venetianischer Diplo
maten. Wenngleich der Krieg in Ungarn dabei nur kurz berührt wird, so
ist Broschs Arbeit doch von hohem Werte für den Forscher, der sich über
die Zustände im türkischen Reiche unterrichten will.
Hermann Forst (Zürich).
Eingegangene Bficher.
Voltelini, Hans von: Die ältesten Statuten von Trient imd ihre Über-
liefenmg. Wien, Karl Gerolds Sohn, 1902. 187 S. 8^
Vancsa, Max: Über topographische Ansichten mit besonderer Berück-
sichtigung Niederösterreichs [Sonderabdruck aus dem „Jahrbuch des
Vereines für Landeskimde von Niederösterreich", 1902]. 21 S. 8®.
Vassileff, Matthäus: Russisch-französische Politik 1689—1717 [= Ge-
schichtliche Studien, herausgegeben von Dr. Armin Tille, i. Band,
3. Heft]. Gotha, Friedrich Andreas Perthes, 1902. 108 S. 8^ M. 2,40.
Werner, Victor: Urspnmg und Wesen des Erbgrafentums bei den Sieben-
bürger Sachsen [= Geschichtliche Untersuchungen, herausgegeben von
Karl Lamprecht, 2. Heft]. Gotha, Friedrich Andreas Perdies,
1902. 66 S. 8^
Wustmann, Gustav: Der Wirt von Auerbachs Keller, Dr. Heinrich
Stromer von Auerbach, 1482 — 1542. Mit 7 Briefen Stromers an«
Spalatin. Leipzig, Hennann Seemann Nachfolger, 1902. 100 S. 8®.
AofsaU Die deutsehen Eetehstruppen im Türkenkriege 2664 (Mitteilangen des Instituts
für österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband VI, S. 634 ff.) noch benutzen
können. Aufserdem habe ich dort einige bisher unbekannte Notizen über die Truppen
des westfälischen Kreises mitgeteilt. Dagegen sind mir die beiden bayerischen Werke
erst später zu Gesichte gekommen.
i) Bayern und Frankreich, vornehmlich unter Kurfürst Ferdinand Maria (München,
C. Haushalter, 1900).
2) Geschichte des kurbayerischen Heeres insbesondere unter KurfUrst Ferdinand
Maria (München, Lindauer, 1901).
3) Geschichten aus dem Leben dreier Grofswesire (Gotha, Perthes, 1899).
Harausgeher Dr. Anoin Tille in Leipzif .
Druck und Verlag von Fnedrioh Andreas Perthes, AknenceselUchaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
rar
Brdenmg der landesgescbichtlichen Forschung
IV. Band August/September 1903 11./ 12. Heft
iUtertütner^^Ausstellungen im Königreiehe
Saehsen
Von
Karl Berling (Dresden)
Der Deatsche hat lange Zeit kein rechtes Verständnis gehabt für
den Wert seiner alten heimischen Kunst. Er zeigte nur stumpfe Gleich-
gültigkeit oder spottete über den „spleenigen Engländer '% der den
verbrauchten Altväterhausrat oder die alten Kirchen- und Ratsschätze
für „Unsummen", seiner Meinung nach, in Wahrheit um wenig mehr
als ein Nichts an sich brachte und ins Ausland schleppte.
Von den Erzeugnissen des einst so blühenden deutschen Kunst-
handwerkes ist nur wenig im Lande geblieben. Das meiste ist in den
Kriegen zu gründe gegangen; es wurde eingeschmolzen, verbrannt,
mutwillig zerstört. Viel ist aber auch durch Freund und Feind, be-
sonders von den Schweden, Franzosen und Russen in deren Heimat
entfiihrt worden. Von dem, was uns die Kriegsstürme gelassen, kam
dann noch ein groiser TeU in Friedenszeiten durch Verkauf ins Aus-
land. So sind wir denn durch Unglück imd Unverstand arm geworden
an unseren alten Ktmsterzeugnissen. Da aber dieser Fehler uns schon
lange zum Bewußtsein gekommen ist, hat hier eine völlige Umwertung
stattgefonden. Und wenn wir auch heute noch nicht mit den Millionen
der Amerikaner konkurrieren können, so haben wir uns doch bereits
zu hüten, dals wir nicht gelegentlich ins GegenteU verfallen, denn viel-
fach erscheint heute schon die Wertschätzung einzelner Dinge eine
zu hohe geworden zu sein. Wenn man bei unserer augenblicklichen
Geldnot von den staunenswerten Preisen hört, die auf den letzten
Auktionen z. B. für „Altmeissen'* bezahlt worden sind, so möchte
man meinen, dals ein Rückschlag gar nicht ausbleiben kann.
Das Gesagte gilt natürlich nur für einige wenige künstlerisch be-
sonders hervorragende Stücke. Das meiste hat auch heute noch einen
bescheidenen, häufig genug auch gar keinen Marktpreis. Aber gerade
20
— 282 —
dadurch sind solche Dinge vor allem dem Untergänge leicht gewdht
Die gro&e Masse hat hierfür noch immer kein rechtes Verständnis.
Das Möbelstück, das nicht mehr zeitgemäis erscheint, wird gelegentlich
durch ein neues ersetzt Es wandert darm auf den Boden, wo es von
den Würmern, Motten, dem Rost oder von der Kinderhand, der man
es zum Spiele überläfet, zerstört wird.
Wohl sind schon seit langer Zeit private und öffentliche Samm-
lungen angel^ worden, die auch von den bescheideneren Kunst-
werken retten, was zu retten ist Aber noch immer gilt es, in den
breiten Schichten der Bevölkerung ein größeres Verständnis fiir diese
Dinge, eine gröfisere Liebe für den ererbten Besitz zu erwecken. Als
ein vortreffliches Mittel zur Erreichung dieses Zweckes sind im König-
reiche Sachsen die Altertümer-Ausstellungen in den kleinen
Städten erkannt worden, weshalb auch die hier in Frage kommende
staatliche Behörde, die Königl. Kommission zur Erhaltung der Kunst-
denkmäler, sie nach Kräften unterstützt. Über die Au^ben und die
Erfolge der bis jetzt veranstalteten Ausstellungen in Sachsen ') sollen
hier einige Mitteilungen gemacht werden.
i) Wohl in keinem Lande und in keiner Landschaft sind AltertfimeranssteUnngeD
bisher in solcher Anzahl Teranstaltet worden wie gerade im Königreich Sachsen, aber
dennoch sind sie auch anderwärts nicht anbekannt. In Essen z.B. fand
im September nnd Oktober 1901 eine ,. ortsgeschichtliche Ansstelluig '* statt, und im
Sommer 1903 sind dicht an Sachsens Grenze in Weifsenfeis nnd Bitterfeld, im Sttden
in Feachtwangen solche veranstaltet worden. In H n s a m hat anläfslich der Dreihondert-
jahrfeier der Stadt eine Kmistansstellong stattgefunden, aber nähere Mitteilungen darfiber
waren leider nicht zu erlangen. Ans Essen liegt der gedruckte Katalog Tor: danadi
war das Ganze eingeteilt in Stift Essen (Bildnisse; Wappen, Ordensinsignien a. s. w. ;
Karten; Mtinsterkirche and ihr Schatz; Ansichten aas dem Stift and der Umgegend;
Uiiomden and Drackschrifien ; Münzen; Erinnerungen an die letzten Äbtissinnen) nnd
Stadt Essen (Urkunden und Aktenstücke; Siegel und Wappen; Stadtpläne; Stadt-
ansichten; Alte Häuser nnd Stadtg^enden; Bildnisse; Stammbäume nnd Wappen Essener
Familien; Möbel und Hausgeräte; Zur Geschichte des Buchdrucks in Essen; Rheinisch-
westfälische Zeitung; femer Gegenstände der Kirchengemeinden und Schriftstücke darüber;
ebenso über das Gymnasium, Ebener Gelehrte, die Gufsstahlfabrik von Friedrich Krupp,
über die Wildpferde im Emscherbmch ; Waffen; Gewehre; Pistolen; Schützenwesen;
Städtische Altertümer aus Essen und Steele). Die Besitzer der ausgestellten G^enstände
sind sämtlich namentlich genannt, und es ist erfreulicherweise eine recht grofse ZahL
Wie schon die Aufzählung der Abteilungen beweist, ist hier der geschichtliche Gesichts-
punkt stärker betont worden als der kunstgeschichtliche: dies wird aber in dem Umfange
nur möglich sein bei einer Stadt, die eine namhafte äufsere Geschichte besitzt. — In
Bitterfeld hat im Oktober 1902 der Zweigverein des allgemeinen deutschen Sprach-
vereins eine „Ausstellung zur Wappen-, Familien- und Ortskunde der
Kreise Bitterfeld und Delitzsch** veranstaltet, deren Kosten (480 Mk.) durch
— 283 —
Wenn wir von den gröfeeren, hier nicht hergehörigen Unter-
nehmungen in Dresden (1875) und Leipzig (1879) absehen, so finden
di€ Beihilfen und das erhobene Eintrittsgeld bis auf einen Rest von 9 Mk. gedeckt
worden sind. Ausgestellt hatten Behörden und Privatpersonen, nnd ein Teil der Aos-
steQuigsg^enstände ist der bereits bestehenden städtischen Sammlung für Heimatkiinde
aod Geschichte des Kreises Bitterfeld überwiesen worden; ein Katalog wurde nicht
gedruckt. Die ersten sieben Abteilnngen enthielten die Wappen der Landesherren, Städte
Bod Adelsgeschlechter, die natürlich eine Menge geschichtlicher Erinnerungen anklingen
lassen; bemerkenswert ist darunter besonders das Wappen der „Fläminger Societät'%
einer Acker- und Waldgenossenschaft angeblicher niederländischer Kolonisten des XIL Jahr-
hunderts, die bis 1873 bestanden hat. Bürgerliche Wappen und Stammbäume, Ehren-
bflrgerbriefe, Familienstammbücher und Familienchroniken, Siegel, Biographieen, Portraits,
Antographieen , Ansichten, Karten, Kunstgewerbliche Gegenstände und Orts- und heimat-
kandliche Literatur reihten sich an. Auch hier ist also der Nachdruck auf das geschriebene
Wort und das Bild gelegt worden, die Gegenstände treten dem gegenüber mehr zurück. —
In Weifsenfeis bildete im Juni 1903 eine vom Verein für Natur- und Alter-
tumskunde veranstaltete Ausstellung einen Anziehungspunkt. Die G^enstände, den
vendiiedensten Eigentümern gehörig, waren in elf Abteilungen geschieden, nämlich : Bilder
der Stadt, benachbarter Orte und einzelner Gebäude seit dem XVI. Jahrhundert; Kirch-
liche Altertümer aus Stadt und Umgegend; Andenken an die Zeit der Herzöge von
Sadisen-Weilsenfels (1657 — 1746); Werke und Bilder von, sowie Andenken an Müllner,
Novalis und Luise Brachmann; Waffen; Musikinstrumente; Zimmergeräte des XVIIL bis
XDL Jahrimnderts ; Innungsgegenstände; Zinn- und Porzellangeschirr; Familienandenken
(Stammbäume, Stammbücher, Urkunden); Vorgeschichtliches. — In Feuchtwangen
endlich, einer Stadt mit künstlerisch bedeutenden geschichtlichen Erinnerungen, hat die
Ausstellung — das Werk des Bezirkshauptmanns Fischer, dem der Münchener Maler
Rnschbeck als Arrangeur des Ganzen zur Seite stand — , zur Gründung einer
dauernden Sammlung geführt und zu deren Förderung einen Verein ins Leben gerufen.
Der Staat hat letzterem finanzielle Unterstützung gewährt, 300 Mitglieder sind ihm bei-
getreten, und die Stadt hat vorläufig Räumlichkeiten im alten Spital zur Verfugung gesteUt,
die aber durch geeignetere in einem jetzt der Rentmeistereiregistratur dienenden roma-
msdien Krenzgang ersetzt werden sollen. Die Einteilung der Ausstellung ist aus den
mir vorli^enden Angaben nicht zu erkennen, dagegen geben zahlreiche photographische
Anfhahmen der Ausstellungsobjekte eine direkte Anschauung von diesen selbst: es finden
sich da zahlreiche Gegenstände der kirchlichen Konst, eine Bauernstube, eine Patrizier-
stsbe» einzelne hervorragend schöne Möbelstücke, ein Rokokoschlitten, Zunf^erinnerungen,
sowie eine Sammlung von Fayence- und Zinnkannen und Gläsern. Der Reichtum Süd-
deutschlands an Erzeugnissen der Kunst und des Kunstgewerbes tritt gegenüber der
Armitt, die Mitteldeutschland daran auszeichnet, deutlich zu Tage. — Oberall sind, wie
wir hier sehen, die Freunde der heimatlichen Geschichte dabei, weiteren Kreisen zu zeigen,
was die Heimat an geschichtlichen Erinnerungen besitzt So verschieden die Ausstellungen
nach Anordnung und Zweck den örtlichen Verhältnissen entsprechend auch sind, sie ar-
beiten alle dem gleichen Ziele entgegen, den Sinn und die Achtung für die heimischen
geschichtlichen Denkmäler, so unscheinbar sie auch sein mögen, wach zu halten. Wir
dürfen heute hoffen, dais mit der Zeit in allen Landschaften ähnliche Versuche
angestellt werden nnd dafs sich Altertumsausstellungen zu regelmäfsigen in grölseren zeit-
lichen Zwischenräumen wiederkehrenden Einrichtungen gestalten. Anin. d. Red.
20*
— 284 —
wir die älteste derartige Veranstaltung in Plauen i. V., wo im Mai
1876 eine Altertümer- Ausstellung stattfand. Gegen 400 Gegenstände
hatte der dortige Altertumsverein zusammengebracht, von denen
nahezu die Hälfte dem Vereine dauernd zur Verfügung gestellt wurde.
Hierdurch ist der Grund zu einer bleibenden Sammlung gelegt worden.
Der Besuch dieser Ausstellung war so zahlreich, dafs, obwohl kein
Eintrittsgeld erhoben, sondern nur eine Sammelbüchse für freiwillige
Gaben aufgestellt worden war, nach Abzug aller Unkosten noch
eine Summe von 100 Mk. für einen gemeinnützigen Zweck abgeliefert
werden konnte.
Nach langer Pause, erst 1885, folgte der Geschichtsverein in
Annaberg mit einer „lokalhistorischen Ausstellung", zu der der da-
malige Bürgermeister Voigt die Anregung gegeben hatte. Die Be-
schickung (über 1000 Stück im Katalog) und der Besuch der Aus-
stellung waren überraschend stark. Da viele Besitzer sich bereit er-
klärten, das Ausgestellte schenk- oder leihweise dem genannten Vereine
zu überlassen, so gab die Annaberger Ausstellung die Veranlassung,
hier ein Museum zu begründen, und dieses konnte im Jahre 1887 der
Öffentlichkeit übergeben werden.
Auch die auf Anregung und unter Leitung des Direktors Sandt
im Mai 1894 unternommene Altertümer- Ausstellung zu Lob au hatte
die Gründung eines Museums zur Folge. Gegen 450 der ausgestellten
Gegenstände wurden zu diesem Zwecke der Stadtgemeinde geschenkt,
die sich dadurch veranlafet sah, eine der Öffentlichkeit zugängliche
städtische Altertümer-Sammlung ins Leben zu rufen.
Im April 1899 veranstaltete im Rathaussaale zu Pegau der dortige
Gewerbeverein eine Ausstellung von Altertümern, die im Besitze von
Pegauem sind oder auf die Geschichte Pegaus und seiner Umgebung
Bezug haben. Die Beschickung und der Besuch der Ausstellung
waren außerordentlich befriedigend; der Eindruck, den sie machte,
höchst erfreulich. Dies beruhte nun nicht etwa darauf, da(s die Zahl
der kunstgewerblich wertvollen Gegenstände besonders beträchtlich
gewesen wäre, sondern auf der überall erkennbaren Liebe vieler für
ihren er erbten Besitz und auf der Steigerung seiner Wertschätzung.
Auch hier gab die Ausstellung die Veranlassung zur Gründung eines
Museums, das, seit Ostern 1900 in einem städtischen Räume unter-
gebracht, der Öffentlichkeit zugänglich ist. Die Pegauer Ausstellung
wurde von einem Mitgliede der Kommission zur Erhaltung der Ktmst-
denkmäler besucht, auf dessen Bericht hin die Kommission den Alter-
tums- und Gewerbevereinen in mittleren und kleinen Städten Sachsens
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— 285 —
das Beispiel Pegaus zur Nachahmung anempfahl. Der Erfolg war der,
dals folgende Ausstellungen abgehalten wurden:
in Würzen im Oktober 1899,
Döbeln im Oktober und November 1899,
Penig im April 1900,
Mügeln b. O. im Mai 19CX),
Grimma im Juli I9CX>,
Waidenburg im September 1900,
Zittau im Juni 190 1,
Groisenhain im Juli 1901,
Buchholz im Juli 1901 (gelegentlich eines Heimatsfestes).
Die genannten Ausstellungen wurden durch ein Mitglied, die
letztere durch einen Vertrauensmann der Kommission besucht. Auf
Gnmd der bei den ersten gemachten Erfahrungen wurden von der
Kommission BcUadUäge bei Veranstaltungen von ÄÜertümer-ÄussieUungen
bearbeitet und denjenigen Vereinen zugesandt, die ein solches Unter-
nehmen in Aussicht stellten. Sie sind auch jetzt noch kostenfrei
von der genannten Kommission (Dresden, Königl. Ministerium des
Inneren) zu erhalten.
Im Jahre 1902 sind derartige Ausstellungen, soweit mir bekannt
geworden ist, nicht veranstaltet worden. In diesem Jahre hat man in
Rochlitz gelegentlich eines vom 11. bis 14. Juli abgehaltenen Heimats-
festes Altertümer der letzten 80 Jahre zu einer Ausstellung vereinigt.
Bei dem in Pegau im Juni mit Erfolg veranstalteten Heimatsfest hat das
nunmehr bestehende Museum eine über Erwarten gro&e Anziehui^^
kraft auf die einstigen Pegauer ausgeübt. Auch andere sächsische
Städte, wie z. B. Pulsnitz, gehen mit dem Gedanken um, bei sich
Altertümer-Ausstellungen ins Leben zu rufen.
Dafe ein derartiges Unternehmen sehr viele und aufopferungsvolle
Arbeit erfordert, steht au&er aller Frage. Man mag das Komitee
noch so grois wählen, die Hauptlast bleibt doch auf den Schultern
einiger weniger ruhen. Aber die meisten Veranstalter werden sich
durch das stetig wachsende Interesse ihrer Mitbürger, durch deren
vollste Zufriedenheit und Überraschung über das günstige und reich-
haltige BUd in hohem Maise belohnt finden. Auch die pekuniäre Seite
war bei den meisten Ausstellungen nicht tmgünstig, dürfte sich aber
in Zukunft, wenn man sich an der Hand der erwähnten „Ratschläge**
die Erfahrungen andrer Städte zu nutze macht, noch vorteilhafter ge-
stalten. Fehlbeträge hatten nur zu verzeichnen : Annaberg (287 Mk.),
Mügeln (62 Mk.), Würzen (28 Mk.), Waidenburg (4736 Mk.). Bei
— 286 —
Döbeln glichen sich Ausgaben und Einnahmen aus. Von Löbau er-
fuhr ich nur, dafs das „finanzielle Ergebnis günstig*' gewesen sei.
Überschüsse erzielten: Penig (6 Mk.), Pegau (22 Mk.), Plauen (100 Mk.),
Grimma (600 Mk.), Grofeenhain (880 Mk.), Zittau (1500 Mk.).
In vielen Fällen veranlafste die Drucklegung eines Kataloges
eine Hauptarbeit und -ausgäbe. Die Kommission riet nach den von ihr
gemachten Erfahrungen von dessen Herausgabe ab. Der Wert solcher
rasch und von Leuten, die meist nicht genügend fachmäfsige Schulung
besitzen, hergestellten Kataloge steht in der Regel zu dem Aufwand an
Arbeit und Kosten in keinem rechten Verhältnisse, und das Publikum
wird über dessen Fehlen kaum imglücklich sein. Statt dessen wurde eine
möglichst weitgehende Bezettelung dringend angeraten. Die Leiter
der Zittauer Ausstellung schlugen noch einen anderen Weg ein, der
für ähnlich liegende Verhältnisse nur empfohlen werden kann: es
wurde in den „Zittauer Nachrichten" nach und nach ein „Wegweiser
durch die Ausstellung** veröffentlicht Dieser wurde möglichst rasch
geschrieben, sofort gesetzt und als Sonderabdruck in der Ausstellung
für 10 Pf. verkauft. Ein solcher Wegweiser, der nur auf die Haupt-
gegenstände aufmerksam macht und daher allgemeine Gesichtspunkte
angibt, erscheint mir für den Besucher aufserordentlich nutzbringend,
nicht aber die Nummer für Nummer vorgenommene trockene Auf-
zählung aller Stücke, wie es die meisten Kataloge taten.
Stellt man sich nun die Frage, was ist durch solche Ausstellungen
erreicht worden? so mufe die Antwort lauten, dafs sie in ihrer Ge-
samtheit — einige natürlich mehr, andere weniger — einen vollen
Erfolg bedeuten.
Wollte man allerdings diese Veranstaltungen lediglich vom Stand-
punkte des Kunsthistorikers auffassen, so würde man dabei kaum seine
Rechnung finden. Bisher unbekannte Kunstwerke ersten Ranges sind
durch die Ausstellungen kaum ans Tageslicht gefördert worden. Un-
möglich wäre aber natürlich auch dies keineswegs, denn irgend ein
glücklicher Zufall kann immerhin dazu führen. In der Hauptsache
haben aber das Wesentliche bereits einerseits die staatliche Inventari-
sation bekannt gemacht, andrerseits die Spürnasen der Antiquitäten-
händler ausgekundschaftet. Aber in der Entdeckung grofser Kunst-
werke darf auch die Hauptaufgabe solcher Ausstellungen nicht ge-
sucht werden. Für die doch im Beschauen meist recht ungeschulten
Besucher würde das sogar nicht allzuviel bedeuten; ihr Verständnis
wird besser gepackt durch Dinge, die ihren Gesichtskreisen näher
liegen, durch den Altväterhausrat, durch das, womit sie selbst, ihre
— 287 —
Väter oder Grofeväter gearbeitet, gespielt oder woran sie sich erfreut
haben.
Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet, also mehr in ethischer
Beziehung, sind die Ausstellungen von grofsem Werte für die Stadt,
ja für den ganzen Bezirk geworden, denn sie erhöhten das Heimats-
gefiihl und die Empfindung der Zugehörigkeit zur Scholle. Sie waren
vortrefflich dazu geeignet, den Sinn und das Verständnis für den er-
erbten Familienbesitz zu wecken und zu heben, für die Heimatskunde
bedeutungsvolle Gegenstände ans Tageslicht zu fördern, ihre Besitzer
über deren Wesen und die Notwendigkeit ihrer Erhaltung aufzuklären
und so der unnötigen Verschleppung und Verschleuderung heimat-
licher Altertümer zu steuern.
Und dafs diese Erfolge nicht nur vorübergehende, sondern von
bleibendem Werte für die Gegend werden, dafür sorgen in den meisten
Fällen die Altertümermuseen. Denn in den Orten, in denen Museen
bereits bestanden, wie in Zittau, haben die Ausstellungen deren dauern-
den Bestand erhöht und das Interesse hierfür bedeutend gehoben, in
den anderen Orten wurde aber die Ausstellung Veranlassung, ent-
weder wie in Plauen, Annabei^, Löbau, Pegau, Döbeln, Waidenburg,
Mügeln, Grimma ein Museum zu gründen oder, wie in Würzen
und GroCsenhain, die Gründung eines solchen in Aussicht zu nehmen.
Endlich mag noch ein VorteU solcher Ausstellungen hier erwähnt
werden, der vor allem den Umstand begründet, dafs die mehrfach
erwähnte Königl. Kommission zur Erhaltung der Kunstdenkmäler
sie nach Kräften unterstützt hat: die Kommission durfte sich wohl
bewuist sein, daiis ihr durch solche Veranstaltungen und durch die
ihnen meist folgende Gründung von Museen in deren Leitern eine An-
zahl von Leuten erwächst, die die bewufste Absicht hegen, im ge-
wissen Sinne imd in einem eng begrenzten Gebiete einen Teil ihrer
Aufgaben lösen zu helfen. Diese sich über das ganze Königreich er-
streckenden Angaben sind aber so zahlreich, so vielseitig und doch
noch immer von so wenigen in ihrem eigensten Wesen richtig ver-
standen, dafs jede, auch die kleinste Mitarbeiterschaft am Werke der
Erhaltung des Volkstumes und der alten Kunstdenkmäler dankbar be-
grüist werden mufs, und gerade die Ausstellungen sind es, durch die
vielfach weitere Kreise erst auf solche geeignete Personen aufmerksam
werden.
— 288 —
Steiertnärkisehe Gesehiehtsehreibung vom
XVI. bis XVm. Jahrhundert
Von
Fran2 Uwof (Graz)
Im Jahre iSii wurde in Graz durch Erzherzog Johann das Joan-
neum gegründet und damit beginnt seine groisartige, alle Zweige der
geistigen und materiellen Kultur in sich schlielsende Tätigkeit für die
Steiermark, die auf allen Gebieten der Wissenschaft, so auch auf dem
der Geschichtsforschung einen Aufschwung mit sich brachte; schoa
die Errichtung der Bibliothek und des Archivs an diesem Institute,
aber nicht zuletzt das persönliche Einwirken des Erzherzogs selbst
war dafür mafsgebend. Bis zu jenem denkwürdigen Zeitpunkte soll
daher diese Skizze geführt werden, aber die Zahl der Publikationen
steigt in dieser Periode derart, dafs noch mehr als bei der steiermär-
kischen Geschichtschreibung im Mittelalter ^) nur das Wichtigste, Be-
deutendste, besonders Charakteristische Erwähnung finden kann.
An der Spitze der Historiographen des XVI. Jahrhunderts steht
Sigmund Freiherr von Herberstein. Als Spröisling eines schon
seit 1301 nachweisbaren Edelgeschlechtes am 24. August i486 zu
Wippach in Krain geboren, studierte er seit 1497 ^^ ^^^ damals hu-
manistischen Universität zu Wien, ward Baccalaureus und liefs durch
sein Latein und mancherlei klassische Reminiszenzen seine gelehrte
Bildung hervortreten. Er starb 28. März 1566 zu Wien, berühmt als
Krieger, Staatsmann, Gelehrter und Reisender, der aulser anderen
grofsen Reisen durch ganz Europa, zweimal (1516 — 1518, 1525 — 1526)
als kaiserlicher Gesandter Rulsland besuchte und die Commentarii rerum
Moscaviticartmi (Wien 1549, sodann in weiteren zehn Auflagen, in
deutscher Bearbeitung 1557 und in weiteren neun Auf lagen) verfafste:
dadurch ist er der geistige und wissenschaftliche Entdecker Osteuropas
geworden '). Unmittelbar die Geschichte der Steiermark betreffen
Herbersteins Darstellungen seines eigenen Lebenslaufes tmd seiner
i) Vgl. diese Zeitschrift oben S. 89 — loi.
2) Krones, Sigmund von Herberstem, In den Mitteilungen des historischen
Vereins fttr Steiermark. XIX (1871), S. 2 — 76. — Ludwig Geiger in der Äügememen
Deutschen Biographie, XII, S. 35 — 39. — Wnrzbach, Biographisches Lexikon des
Kaisertums Österreich, XII, S. 342—343. [Eine Frucht vielseitiger Beobachtungen und
umfassender Stadien hat das Buch den Namen Herberstein in Westeuropa ebenso wie in
Rnisland unsterblich gemacht ; flir jeden, der Über das weite Gebiet vom Schwarzen Meere
bis zum Weifsen für die Zeit bis zum XVL Jahrhundert geographische, ethnographische.
— 289 —
Dienstleistungen, sowie solche seiner Brüder, Verwandten und Vor-
fahren, denen Urkunden beigegeben sind, wodurch sie besondere Be-
deutung erlangen und ein Stück Herbersteinscher Familienchronik
bilden ^). Hierher gehört auch die Selbstbiographie Sigmunds von
Herberstein *) und dessen Familienbuch *) , zu welchen beiden v. Lu-
schin wertvolle Nachträge und Ergänzungen geliefert hat^).
Das XVI. Jahrhimdert und die drei ersten Jahrzehnte des XVII.,
wie in anderen deutschen Ländern, so auch in Innerösterreich die Zeit
der Reformation und Gegenreformation, haben innerhalb der theo-
logischen Literatur auch beachtenswerte geschichtliche Nachrichten
überliefert: so enthält eine Schrift des Wittenberger Professors David
Rungius kurze, allgemein gehaltene Mitteilungen über den Verlauf der
Gegenreformation in Innerösterreich*). Die Gegenschrift ®) des Jacob
Rosolenz erzählt vom fanatisch katholischen Standpunkt aus alle
Taten der Religions-Kommissionen, denen die Durchführung der Gegen-
reformation zufiel, imd stellt sie in das glänzendste Licht. Eine cha-
rakteristische Episode in der traurigen Blütezeit der Rekatholisierung
bildet das Vorgehen gegen den evangelischen Prediger Paulus Odon-
tius, Erzieher der jungen Freiherren Christoph und Friedrich von
V^ndischgrätz. Trotz des allgemeinen Ausweisungsbefehles fiir alle
Piädikanten verharrte er auf dem freiherrlichen Schlosse Waldstein bei
seinen Zöglingen, im Vertrauen darauf, dafs er sich im Gebiete eines
poliüsche nnd natnrhistorische Stadien anstellen will, bildet dieses Werk eine anentbehr-
Ikhe Gmndlage; niemand hat vor ihm ähnliches geliefert and seit ihm ist niemand
entanden, der so viel neaen Stoff gesammelt and in ein organisches Ganze ver-
woben hat]
i) Die langatmigen, ihrer Zeit entsprechenden Titel s. bei Krones a. a. O.
Sw 64 — 72 and bei Schlossar, Bibliotkeca historico-geographica Siiriaca (Graz 1886)
S. 14—15-
2) Herausgegeben von Th. G. von Karajan in Fontes rerum Äu$tnaearum^
L Scriptores i Bd. (1855), S. 69—396.
3) Heraosgegeben von Zahn im Archiv für österreichische Geschichte, 39. Bd.,
S. 293—415-
4) In den BeitrSgeo xar Kande steiermärldscher GeschichtsqaeUen , 24. Bd. (1892),
S. 69—122.
5) Berieht tmd Erinnerung von der Tyrannischen Bäpsiischen Verfolgung des
k Bcangeüi in Stegermarkt, KUmten und Krain (Graz 1601).
6) Orändlieher Oegenberiehi Auff den falschen Bericht und vermainte Erinne-
rung Davidis Rungü . . . von der Tgrannisdten Bäpsiischen Verfolgung des K Bvan-
gdü m StejfermarJä, Kärnten und Orain ... ht welchem mit Qrund der Wahr-
heit aussfUhrUeh dargethan und erwiesen wird^ daß solch Berieht ein lauters Liigen-
hyeh, IdUterkatien und Famoss/ehrift seg . , . Oestellet durch Jaeobum, deß LobHehen
Stißs Stayntx in Steyr Frohsten. (GräU 1607.)
— 290 —
landständischen Edelherrn, dem die Übung des lutherischen Bekennt-
nisses gestattet war, befinde, und dafs er den Schutz der einflufs-
reichen Familie Windischgrätz geniefse. Auf Befehl des Erzherzogs
Ferdinand bemächtigte sich eine Abteilung Söldner ii. April 1602
des Schlosses Waldstein und nahm Odontius gefangen , der zum
Tode verurteilt, jedoch vom Landesfürsten zu lebenslänglicher Galeeren-
strafe begnadigt wurde. Auf dem Transporte nach Triest entfliehend,
gelangte er in das Reich, wurde ein Jahr später Pfarrer zu Odern
in Sachsen und beschrieb dann die Geschichte seiner Verfolgung und
Rettung *).
Im XVIII. Jahrhundert finden sich Versuche, die Geschichte der
Protestanten in Innerösterreich zusammenfassend darzustellen in den
Werken von Raupach ^) und Waldau *), Auszug und Fortsetzung
des erstgenannten.
Die Erben des lutherischen Adels, der ausgetrieben und re-
katholisiert wurde, waren in den innerösterreichischen Ländern die
Jesuiten, die schon 1572 durch Erzherzog Karl in Graz eingeführt,
bald die geistige und zum guten Teile auch die weltliche Herrschaft
an sich rissen und in der 1586 gegründeten Universität bis zur
Aufhebung ihres Ordens (1773) dominierten. Eine Fülle von
geistigen und materiellen Kräften ging den innerösterreichischen
Ländern durch die Austreibung der Protestanten verloren. Jede Be-
rührung der Deutschen in Österreich mit den Deutschen des Reiches
war und blieb unterbunden; die Zeit des geistigen und wirtschaft-
lichen Quietismus fügte den österreichischen Alpenländern unersetz-
lichen Schaden zu.
Obwohl die mafsgebenden Faktoren an der Universität zu Graz
und im ganzen geistigen Leben der Länder Steiermark, Kärnten und
Krain, so haben die Jesuiten doch nirgendwo etwas Namhaftes auf dem
Gebiete der vaterländischen Geschichte geleistet: Die von 1573 bis
i) Kurtxe und War haßige Historische Erxehlung, Wie und welcher gestaU
Paulus Odontius y gewesener Evangelischer Prediger %u Waldstein in Steyennark,
wegen der Lehr und Predigt des heil. Euangdij von der Orätxerischen Inquisition
gefenglich eingexogeUf auch . . . xweg mal xum Tode verurtheüet, aber . . . triderumh
aus der feinde hende und bamlen wunderbarlicher weise loß und ledig worden. Mies
. . . beschrieben ron ihme selbsten M, Paulo OdontiOy jtxiger xeit Pfarrherm xu
Odem (Dresden 1603. — Magdeburg 1603 u. 1620. — Lübeck 1714-)
2) Evangelisches Oesterreieh. (Hamburg 1732.) — Erläutertes evangelisches Oester^
reich. (Hamburg 1738 mit £wei Fortsetzungen. Hamburg 1738. 1740.)
3) Oeschichte der Protestanten in Oesterreieh y Steiermarkty Kärnten wid Ämm
vom Jahr 1520 bi.s auf die neueste Zeit. (2 Bde. Anspach 1 784.)
— 291 —
1773 von Jesuiten und deren Schülern in Graz verfafeten Schriften*)
— es sind ihrer 778 — enthalten nur sehr wenige Beiträge zur Ge-
schichte der Steiermark : Gabriel Hevenesi (1656 — 1715), Professor
der Theologie , verfafste ein kleines Büchlein ') , selbst für seine Zeit
ohne Wert, und zur Feier des ersten Jahrhunderts der Grazer Univer-
sität erschien eine Festschrift von Paul Hansiz*) (1645 — 1721).
EIntschieden wertvoller ist die Schilderung der Stadt Graz von Jo-
hannes Macher*) (1661 — 1704), eine in gutem Latein geschriebene
und mancherlei historische Mitteilungen enthaltende Topographie der
Landeshauptstadt, ausgestattet mit zahlreichen vortrefflich hergestellten
Kupferstichen, die wichtigsten Gebäude der Stadt darstellend. — Von
Alexander Szöreny (1664 — 1719) stammt eine kleine Schrift *),
die, nach den wissenschaftlichen Fächern gruppiert, und in diesen alpha-
betisch geordnet, die kurzen Biographieen aller jener Jesuiten vorfuhrt,
deren Berufstätigkeit mit der Grazer Hochschule zusammenhing und
deren Werke der Bibliothek des Jesuitenkollegiums (jetzt der Univer-
sitätsbibliothek in Graz) angehörten.
Mit der Geschichte der Universität Graz beschäftigten sich natur-
gemäfis die Jesuiten auch: so Anton Sporeno®) (1683' — i75o)i
Georg Neumayr, S. J. ^ (1681 — I75S) und Theophilus Thon-
hausen *) S. J. (1690 — 1757); diese Arbeiten berichten jedoch nur von
den äufiseren Ereignissen, namentlich von den Festlichkeiten an der
Grazer Hochschule von 1586 — 1641.
Von gröfeerer Bedeutung, namentlich für die älteste Kirchen-
geschichte, sind die Arbeiten von Sigmund Pusch^) (1669 — 1735),
i) Peinlich, Geschichte des Gymnasiums in Grax. 11 : CoUegiuim, Gymna-
sium und Universität unter den Jesuiten, Im Jahresbericht des k. k. Obergymna-
sinms zu Graz 1869, S. 81 — loo.
3) Styriae dueum memoria ab Ottocaro usque ad Leopoldum L (Graz 1685.)
3) Styria gloriosa seu serenissimcrum Styriae ducum memoria fracto ealamo
adumbraia anno fundatae Universitaiis Graecensis saeculari, (Graz 1685.)
4) Graeeimny inciyii ducatus Styriae metropolis. (Graz 1700.)
5) Propylaeum Bibliotheeae almae ae ceteberrimae Universitaiis Graeeensisy
quo seripiores hie quondam seu diseentes seu docentes eorumque opera recenseniur,
fGras 1703.)
6) Lustrum L Universitatis Graecensis. (Graz 17 19.) — lAtstrum IV. et V. Uni-
versitaiis Graecensis. (Graz 1719.)
^) IL et m. Lustrum Universitatis Graecensis. (Graz 1719.)
8) Lustrum VI. VIL et VUI. Universitatis Graecensis. (Graz 1723.) — Ijusirum
DL X. et XL Universitatis Graecensis. (Graz 1724.)
9) Chronologiae sacrae ducatus Styriae Pars I. ab origine nascentis eeclesiae
ad usque Cktocari I. ducis gubemium deducta. (Graz 1715) — Chronologia indyti
— 292 —
die Octavius Bucellini (1674 — 1752) fortsetzte*). Der Wiener
Jesuit Karl Granelli (1671 — 1739) verfafete ein umfangreiches topo-
graphisches Werk über die deutsch -österreichischen Länder*); sein
Grazer Ordensgenosse Anton Freiherr von Erber exzerpierte es,
so weit es Steiermark behandelt, und lieferte damit eine Topographie
dieses Landes ^).
Endlich sei noch des Karl Freiherrn von Andrian (1680 bis
1745) Geschichte der Herzoge von Steiermark genannt *).
Nicht nur ein ausgezeichneter Gelehrter, sondern auch durch
seine Schriften und sonstige Tätigkeit ein Förderer der Wissenschaft
wurde Erasmus Frölich. Geboren 1700 zu Graz, trat er in den
Orden Jesu, studierte zu Graz, Leoben und Wien, lehrte in Klagen-
furt und Wien Mathematik, Geschichte und Münzkunde, wurde 1746
Bibliothekar und Professor der Geschichte und der Altertümer am
Theresianum zu Wien, sowie Aufseher des Münzkabinettes imd
starb 1758. Das Hauptgebiet seiner Forschung war die Numismatik,
aber auch zwei Schriften zur steiermärkischen Geschichte liegen
von ihm vor *) ; auch gab er die Sammlung von Urkunden zur Kirchen-
geschichte der Steiermark von Pusch vermehrt und teilweise neu be-
arbeitet heraus *).
Sind diese Jesuitenschriften mit wenigen Ausnahmen für die Ge-
schichte der Steiermark inhaltlich von geringem Belange, so legen sie
doch anderseits formell beredtes Zeugnis davon ab, dafis die Wieder-
erweckung der humanistischen Studien nicht umsonst gewesen ist.
Aufserhalb der Universitätskreise regte sich in dieser Periode in
Klöstern, bei Adeligen, in städtischen Kanzleien der Trieb, vergangenes
und gegenwärtiges aufzuzeichnen, um es der Zukunft zu erhalten. In
dem Franziskanerkloster zu Graz wurde von 145 1 — 1776 jeweilig von
ducatua Siyriae ab Oitocaro duce L usque ad excessum Leopoldt /., Duois UL sive
ab anno MCLXXX usque ad MCCXXX, (Graz 1 720.)
1) Chronologiam saoram Ducatus Styriae per P. Sigümundum Pusch & J, ab
angine ad Ottoearum U, perductam ad excessum Leopoldt L cofUinuavü Buceüini
OetamuSy S. J. (Graz 1720.)
2) Germania Austriaca seu Topographia omnium Oermaniae provinciarum
domui austriaci subfectarum, (Graz 1727.)
3) Topographia Ducatus Styriae Caroli Oranelli. (Graz 1727.)
4) Historia dueum Styriae in tres partes divisa, (Graz 1728.)
5) Dialogus, quo disceptaiur: anne Rudolphus Regi Bohemiae OUocaro ab ob^
sequiis fuerit, eundemque tentorio lapsili deluseril. (Vieonae 1755.) — Oenealogiae
Sounekiorum Comüum Oelefoe ei Comitum de Heunburg duo spedmina. (Vicnnae 1 755.)
6) Diplomataria sacra Ducatus Styriae. II Partes, (Vicnnae 1757,)
— 293 —
den verschiedenen Guardianen desselben eine Chronik geführt *),
die Berichte über Vorfälle im Konvente, auch über lokale Verhältnisse
in der Stadt, über Ereigiiisse, die für das Land und dessen Haupt-
stadt von Belang" waren , femer über die Beziehungen dieses Klosters
zu anderen und über manches kunsthistorisch Merkwürdige bietet. —
Wolf Andreas von Steinach (1563 — 1615), Besitzer der Herr-
schaft Steinach im Ennstale der oberen Steiermark, schrieb eine
Chronik *) , die zuerst eine Abschrift von Unrests Kärntner Chronik,
sodann eine solche des Stiftes Admont und die österreichische Chronik
des Gregor oder Matthäus Hagen enthält *). Einen gewissen Wert hat
die Admonter Chronik; zwar strotzt sie von Märchen, historischen
Zerrbildern und chronologischen Fehlern, aber sie liefert Notizen, die das
Gepräge der Glaubwürdigkeit an der Stime tragen, und Urkunden sind ein-
geschaltet, deren Originale längst verloren gegangen sind ; für die Zeit
ihrer Abfassung ist sie eine brauchbare Quelle. Sie beruht im wesent-
lichen auf dem von dem Admonter Mönche Theodosius Lang abgefaisten
Liber mannscriptus I. (Handschrift in Admont), wobei jedoch der Ver-
fasser der Strahower Abschrift manches änderte, hinwegliefs, hinzusetzte
und für die Jahre 1589 — 1596 eine selbständige Fortsetzung anfügte.
„Landeshauptmannschroniken" sind Aufzeichnungen, die sich mit
den Landeshauptleuten als solchen beschäftigen, indem sie deren
Reihenfolge nennen, die wichtigsten Momente ihrer politischen Wirk-
samkeit hervorheben und soweit es tunlich, auf ihre Privatverhältnisse,
Genealogie u. s. w. Bedacht nehmen. Eine der wertvollsten unter diesen
befindet sich im steiermärkischen Landesarchiv (Papier-Hs Nr. 471, fol.);
sie stammt aus der Wende des XVI. und XVII. Jahrhunderts *) und
beginnt mit den Landeshauptleuten, die nach dem Tode Herzog Fried-
richs des Streitbaren in Steiermark durch Kaiser Friedrich II. eingesetzt
wurden. Jedem Landeshauptmanne ist ein eigenes Blatt gewidmet;
als Quellen dienten dem uns unbekannten Verfasser Chroniken, Ge-
schichtswerke und Urkunden; alle Angaben sind vollkommen richtig;
diese Chronik bringt eine Fülle interessanter Personalnotizen in kritisch
i) Auszüge cn4s der Hausehranik des Franxiskanerklosters xu Graz. Abschrift
im steiermärkischen Landesarchive. Abgedruckt in Zahns steiermärkischen Geschichts-
blättem, 3. Bd., S. 74—106.
2) Osterreiekis^ Ckromea, Handschrift im Prämonstratenserkloster Strahow in
Prag. S. Wichner, Ein altes Ohromkenbueh in den Beiträgen zur Kunde steiermär-
kischer Geschichtsqnellen, 19. Bd., S. 74 — 91.
3) VgL diese Zeitschrift oben S. 96.
4) Kümmel, Über eine Landeshauptmannsehromk des XVI. Jahrhunderts. In
den Beiträgen zur Kunde steiermärkischer Geschichtsquellen, 15. Bd., S. 67 — 73.
— 294 —
gesichteter Form, wobei wohl hie und da auch auf allgemeinere Ver-
hältnisse ein Streiflicht fällt. Ihr Autor ist ein tüchtiger Geschichts-
kenner; es gibt keine andere gleichzeitige Chronik, in der eine so
vielseitige gründliche Forschung, gepaart mit einsichtsvollem politischen
Urteil zu Tage tritt.
Das älteste Kloster in Steiermark ist das adelige Frauenstift
Göfs bei Leoben; eine späte Chronik desselben, im Besitze der
Pfarre Göfs *), wurde 1652 begonnen, wahrscheinlich von einem adeligen
sogenannten Schaffer d. h. Hof- und Rentmeister des Stiftes, dessen
Nachfolger sie fortsetzten, und erzählt die Geschichte des Stiftes von
seiner Gründung (1004) bis zur Aufhebung (1782) durch Joseph II. —
Auch das Zweitälteste Kloster in Steiermark, St. Lambrecht, hat seinen
Chronisten. Es ist der Konventuale Peter Weixler*) (1603 — 1675);
sein Werk ist betitelt: Brevis annotatio vicissihidinis circa ordinem
St ßenedidi, praeciptce vero monasterium Si. LamhertL Da er immer
den ganzen Orden, alle Benediktinerklöster ins Auge fafst, beginnt er mit
der Geburt des HeUigen Benedikt und schliefst mit dem Jahre 1636.
Neben allgemeineren Quellen ist besonders der reiche Urkundenschatz
seines Klosters fleifsig, wenn auch nicht erschöpfend, ausgebeutet.
Die Chronik ist vornehmlich Geschichte des Klosters, sie bringt aber
auch einige die allgemeine Landesgeschichte betreffende Daten.
Im XVII. Jahrhundert entstand in Steiermark eine Kompilation,
die sogenannte Stetermärkische Chronik, deren Verfasser Jakob Anton
von Cerroni sein soll: sie ist in zahlreichen Abschriften verbreitet
(die Grazer Universitätsbibliothek besitzt deren drei, das steiermärkische
Landesarchiv vier), enthält die sonderbarsten Erfindungen und ist eine
durchaus unlautere Quelle ').
Der Stadtschreiber zu Brück an der Mur Michael Francken-
berg er*) verfafste in den letzten Dezennien des XVII. Jahrhunderts
eine Geschichte des Hauses Habsburg ; er versichert, dafs er zu diesem
Behufe über 3(X) Bücher exzerpiert habe, legte sein Werk der Zensur-
1) Abschrift im steiermärkischen Landesarchiv. Abdnick in Zahns steiermärkischen
Gcschichtsblättcrn, 5. Bd., S. 1—42, 65—103, 129 — 167, 195—218.
2) Zahn, Über Peter Weixlers Chronik von St. Lambrecht, In den Beiträgen
zur Kunde steiermärkischer Geschichtsqnellen, 10. Bd., S. i — 23. — Original der Chronik
im Archiv des Süftes St. Lambrecht Im Aaszage abgedruckt in Zahns steiermärkischen
Geschichteblättem, 6. Bd., S. 1 — 27, 65 — 79, 129— 161.
3) Krön es in den Mitteilangen des historischen Vereins für Steiermark, 17. Bd.,
S. 121. — Krones, Die Freien von Sanek und ihre Chronik. (Graz 1883.) IL Abt., S. 7.
4) Kümmel, Mn verloren gegangenes Qeschicktswerk in den Beiträgen zur Kunde
steiermärkischer Geschichtsquellen, 15. Bd., S. 129 — 134.
— 295 —
behörde vor und seitdem blieb es verschollen. Aus einer vorhandenen
Eingabe Franckenbergers an Kaiser Leopold I. ist zu ersehen, dafs
sein Werk, der Geistesrichtung der österreichischen Geschichtschreibung'
des XVII. Jahrhunderts entsprechend, in jenem panegyrischen Tone
gehalten war, der die meisten historiographischen Werke über Oster-
reich und das Haus Habsburg jener Zeit charakterisiert.
Auf Ansuchen der steiermärkischen Stände (173 1) verfaiste Franz
Leopold Wenzel Freiherr von und zu Stadl (geb. 1678,
gest. 1747), Verordneter der Stände und Amtspräsident der Landschaft
in Steyer, den Ijhrenspiegel des Herzogtums Speyer ^) in neun starken
Foliobänden imd bietet nach den Adelsfamilien geordnet eine Fülle
von historischen Mitteilungen, eine grofse Anzahl von Abschriften,
Wappenbriefen, Adelsdiplomen, dann Kopieen von Siegeln, Wappen
und Inschriften, Abbildungen von Schlössern, Grabmälem, welche sich
auf die betreffenden Familien beziehen; 597 Edelgeschlechter werden
in solcher Weise in diesem Sammelwerke behandelt. Es ist eine wich-
tige Quelle für die Geschichte des Adels in Steiermark tmd somit für
das ganze Land, die prächtige Handschrift ruht im steiermärkischen
Landesarchiv. — Ein anderes handschriftliches Werk Stadls findet
sich ebenfalls dort, doch nur in einer jüngeren im XIX. Jahrhundert
angefertigten Abschrift, die Ada der Familie der Freiherren van SkuU,
vier Foliobände (Original im Schlosse Birkenstein bei Birkfeld in der
östlichen Steiermark). Was Stadl in dem Ehrenspiegel für alle übrigen
steirischen Edelgeschlechter geleistet, das vollführte er in den Ada
für seine eigene Familie, indem er alle dieselbe betreffenden Urkunden
imd Akten, soweit sie ihm zugänglich, in genauen Abschriften zu-
sammenstellte. Er bewährte sich somit als hervorragender Sammler
und eifriger Arbeiter auf dem Gebiete der steiermärkischen Landes-,
insbesondere der Adelsgeschichte; was man zu s. Z. darin leisten
konnte, das hat er vollbracht und heute noch bieten seine Arbeiten
dem Forscher reiches und willkommenes Material.
Leopold Ulrich Schiedlberger, geb. 1647, seit 1694 Markt-
scbreiber zu Eisenerz *) verfaiste 17 13 eine Chronik des Marktes Eisen-
erz (Handschrift im steiermärkischen Landesarchiv), die mit dem Jahre
der Welt 3039 beginnt, „dem Oeburtsjahre des Homer, der in seinen
i) S. die von mir verfkfste Biographie Stadls in dct Aügemeinen Deutschen Bto-
graphie, 35. Bd., S. 376—378.
2) F. M. Mayer, Leopold Ulrich Schiedlbergers Aufxeichmingen %ur Oesehiehte
von Eisenerz, In den Beiträgen zur Kunde steiermärkischer Geschichtsquellen, 17. Bd.,
S. 3—32.
— 296 —
Mnterlassenen Schriften des Bergwerkes Eisenere gedenkt^'. Der Verfasser
geht rasch über die Vorg'eschichten hinweg, wird in der Darstellung
des XV. und XVI. Jahrhunderts, wo er den sicheren Boden urkund-
lichen Materials unter sich hat, ausführlicher und bringt einige ziemlich
belangreiche Beiträge zur Geschichte der Reformation des Marktes.
Die Chronik schliefst mit dem Jahre 1570. Im Jahre 1709 stellte
Schiedlbeiger das IngedenJdnich oder Bepertarium aUer in des kayser-
tmd landtsfwrstUchen uralt gefreyten Marckts Eysenartzts Registratur und
Archiv befindlichen Original und andern glaubwürdigen schri/ften zu-
sammen, seine wertvollste Arbeit; er registriert darin, was sich an ur-
kundlichem, heute verlorenem Material in Original oder Abschrift im
Marktarchive damals noch vorfand. Schiedlbergers drittes Werk vom
Jahre 17 10 war der Ehrenrueff des in ganz Europa beriehnUen Hertzog-
thurnbs Steyermarkt . . . aus bewerten Scribenten zusammen getragen,
eine stattliche Leistung (1449 S. fol.), die man eine Landeskunde von
Steiermark nennen könnte. Im letzten Kapitel handelt er von dem
fast in gante Europa bekannt und von Gott reichgesegneten edlen Eysen-
stain im Innemberg des Eysenäriztes, dessen Ursprung, Vortpflanzung
und Regierung des gantzen lobl, Haubtgewerkschafßs - Weesens *).
An Memoiren, besonders aus dem XVII. und XVIII. Jahrhundert,
an denen Frankreich sehr reich ist, fehlt es anscheinend sehr in den
deutschen Landen — oder sollten sie nur noch nicht ausgegraben
sein? Zwei Niederschriften dieser Art hat die Steiermark dennoch
aufzuweisen: die erste ist das j5aus&uc& der Frau Marie Elisabeth
Stampfer (geb. 1638), zuerst behandelt von Adam Wolf*) in einem
geistreichen Essay, herausgegeben von J. v. Zahn'). Marie Elisabeth
war die Frau des Hochofenbesitzers Adam Stampfer in Vordemberg
und führte ihr Hausbuch von 1666 — 1694. Aufgezeichnet ist darin
alles, was sie und ihre Familie in Glück und Unglück berührte, aber
es finden sich auch Notizen allgemeinen Inhalts über die Pest von 1669
und 1670, über die Stimmung der Bewohner der Steiermark zur 2^it
der grofeen Türkennot von 1683, u. a. — Einer ihrer Nachkommen,
Johann Gottlieb, wurde wegen seiner Verdienste um den Bergbau in
Ungarn (1731) in den Grafenstand erhoben, seine Familie starb jedoch
1) Valentin Preitenhuebers Castrum Styrense (Wien 165 1) und AnncUes Siyrenses
nach des Verfassers Tod ersclaenen (Nürnberg 1 740), betreffen nicht die Steiermark, son-
dern die Burg und die Stadt Steier in Oberösterreich.
2) OeschichÜiehe Bilder aus Österreich, (Wien 1880.) 2. Bd.
3) Der Frau Marie Elisabeth Stampfer aus Vordemberg Hausbuch, Auf Ver-
anlassung des Grafen Franz von Meran herausgegeben von J. v. Zahn. (Wien 1887.)
— 297 —
«cbon 1807 mit seinem Urenkel aus. — Das andere dieser Familien-
bücher ist das Gedenkbuch der Frau Maria Cordula Freiin von
Pranck, verwitweten Hacke, g-eborenen Radhaupt, das die Jahre 1595
bis 1707 umfafst *) und wichtige Nachrichten über die steirischen Edel-
geschlechter enthält. Der angesehenen Grazer Familie Radhaupt zum
Rosenberg entstammend, war sie in erster Ehe vermählt mit dem
kaiserlichen Kapitänleutnant Gerhard Johann Hacke, der 1659 bei der
Belagerung von Demin in Pommern fiel, in zweiter Ehe mit Hans Sig-
mund Freiherrn von Pranck, aus dem im Murtale der oberen Steier-
mark begüterten Geschlechte.
Ist die Periode von der Gegenreformation an bis in die zweite
Hälfte des XVIII. Jahrhunderts als die Zeit geistiger Öde und unfrucht-
baren Quietismus zu bezeichnen und fehlt es in der Tat an irgend
welchen hervorragenden Leistungen der Geschichtsschreibung, so ändert
sich dies allmählich, seitdem unter Maria Theresia und Joseph II. wirt-
schaftlich, geistig und politisch ein anderes Leben begann. Zur Zeit
<ier grofsen Kaiserin entstand der Steiermark ihr erster wirklicher Ge-
schichtsforscher und Geschichtschreiber, der die Geschichte des ganzen
Landes von den ältesten Zeiten bis zu seinen Tagen gründlich durch-
forschte, formell befriedigend darstellte und soweit es nach den da-
mals gegebenen Verhältnissen möglich war, kritisch behandelte:
Aquilin Julius Cäsar, regulierter Chorherr im Stifte Voran (geb.
1720, gest 1792), ein unermüdlicher Mann, der mit eisernem Fleifs
arbeitete, treffliches leistete und dies nicht nur für seine Zeit, denn
seine Werke *) braucht heute noch jeder, der die Geschichte der Steier-
mark erforschen und bearbeiten will.
Und sehr bald wurde in einer Reihe kleiner Schriften ') der von
Ihm zusammengetragene Stoff* popularisiert.
i) Heraosgegeben io Zahns Stetermärkischen Oeschichtsblättem , 2. Bd. (1881),
S. 9—29.
2) Antiales Dtseatus Stiriae. ('s Bde. Vindobonae 1768, 1773, 1777.) Der vierte Band
wurde der Zensorbehörde in Wien ttberreicht, Cäsar starb inzwischen und die Handschrift
dieses Bandes ging verloren. — Besehreibung des Hßrxogthums Steyermark. (2 Bde.
<5rar 1773.) — Beschreibung der k, k. Hauptstadt Orätx. (3 Teile. Sakburg 1781.) —
StaaiS' und Kirchengeschichte des Eerxogthums Steyermark. (7 Bde. Graz 7185 — 1788.)
3) Baumeister, Joseph EdLv.: Versiuh einer StcuUsgeschichte von Steyer-
mark bis 1246. (Wien 1780.) — Majer, Karl Wilhelm: Versuch Ober steige-
märkisehe ÄUerthümer und einige merkwürdige Oegenstände, (Graz 1782.) — Kinder-
joann, Jos. C: Historischer und geographischer Abriß des Hemagthums Steyermark,
(2. Aufl. Graz 1787.) — Derselbe: Beiträge zur Vaierlandskunde für hmeröster-
reiche EinuH>hner, (Graz 1790.) — Derselbe: Repertorium der steiermärkischen
21
— 298 —
Aus dem ersten Jahrzehnt des XIX. Jahrhunderts ist noch heute
beachtenswert Joseph Pilipps (geb. 1752), Dechanten in Eisenerz,
später zu St. Lorenzen im Mürztale, Monographie über die für ganz
Steiermark und auch noch viel weiter hin hochwichtige Erzgewinnungs-
und Eisenbereitungsstätte Eisenerz im Innemberg ^). Johann Bap-
tist von Winklern (geb. 1768), Pfarrer zu St Johann im Saggau-
tale, sammelte reichhaltiges biographisches Material über steiermär-
kische Schriftsteller und veröffentliche es in einem Büchlein *), welches
jetzt noch sehr brauchbar ist.
Am Anfange der humanistisch belebten Periode steiermärkischer
Geschichtschreibung steht der Name eines Berühmten, Sigmund von
Herbersteins; es folgt die bewegte Zeit der Reformation und Gegen-
reformation; ihr Ergebnis ist die geistige Öde von etwa 1630 bis 1760.
Vom Kaiserthrone herab dringt dann neues Leben und Licht anregend
und erfrischend ins Volk und auch auf dem Gebiete der Geschicht-
schreibung schliefst ein bedeutender Forscher und Darsteller, Aquilin
Julius Cäsar, mit dem XVIIL Jahrhundert die vorwiegend vom"
Geiste der Antike beherrschte Zeit steiermärkischer Geschichtsdar-
stellung.
Nachwort
Solche Studien, wie im Vorstehenden eine geboten wird, dürfen
nicht nur bei den Forschem, die sich mit der Geschichte Steiermarks
oder wenigstens der der habsburgischen Länder überhaupt beschäftigen,
auf Teilnahme rechnen; sie sollen vielmehr in erster Linie Beiträge
zur Geschichte der Geschichtschreibung sein und zur immer
weiteren Ausbildung dieses noch so rückständigen Forschungszweiges
beitragen. Bereits früher wurde in dieser Zeitschrift ') im Anschlufe
an eine andere Arbeit dieser Gesichtspunkt geltend gemacht, und das
dort Gesagte wäre hier zu wiederholen. Das Ziel solcher Untersuchung
ist es zu ergründen, wie in einem bestimmten Zweige der Literatur,
Oeachiehte, Tupographte, Statistik und Naturhistorie. (Graz 1798.) — Geist Ca-
jetan: VtUerländische Oesekiehte Steyermarks. (Wien 1803) — Knmar, Josef
Angnst: Versttch einer vaterländischen Oesehichte Ottokars VI., ersten Herzogs von
Steyermark. (Graz 1808.)
i) Das 18. Jahrhundert im Innernberge des Eisenerzes. (Graz 1801.)
2) Biographische und literarische Naehriehten von den SehriftsteUem und KOnst-
lern, welche in dem Herxogthume Steyermark geboren sind und in oder außer dem-
selben gelebt haben und noch leben. (Graz t8io.)
3) Vgl. Bd. n, S. 182—184.
— 299 —
eben dem der Geschichtschreibungf, die geistige Disposition einer Zeit
zum Ausdruck kommt, um damit diesem Geistesleben selbst näher zu
kommen. Für das frühe und selbst das spätere Mittelalter sind diese
Probleme als reizvoll wohl allgemein anerkannt, aber für die Zeit vom
XVI. bis XIX. Jahrhundert sind sie es in vielleicht noch höherem Grade,
und dabei ist hier ihre Lösung schon wegen der massenhaften lite-
rarischen Produktion, in der das Bahnbrechende und Neue vor allem
ausgesucht und gewürdigt werden mufs, viel schwieriger. Die Arbeit
wird hier gegenüber der, die sich auf frühere Perioden erstreckt, auch
verwickelter, denn es ergeben sich aus den allgemeinen Bedürfriissen
der Geschichtsforschung wie anderer Wissenschaften noch eine ganze
Menge Sonderaufgaben: geschichtlich ist die Quellenkritik am
wichtigsten, für die bereits bei einer Darstellung des XVI. Jahrhunderts
das für die Untersuchung mittelalterlicher Annalen entwickelte Schema
nicht mehr genügt, und von anderen Wissensgebieten zieht die so-
genannte Weltanschauungsgeschichte den gröfeten Nutzen, da
bewuist oder unbewuOst bestimmte philosophische oder religiöse An-
schauungen die geschichtliche Darstellung zu beeinflussen pflegen und
eben daraus deren Wirkung auf weitere Kreise erkennbar wird.
Vom allgemeinsten geschichtlichen Interesse ist für Deutschland
die umfassende Beantwortung der Frage: Wie hat sich die durch
das Wort „Humanismus" oder „Studium der Alten** ge-
kennzeichnete Bildung, die durch die Lateinschule hin-
durch vom XVI. bis XVIII. Jahrhundert so gut wie aus-
schliefslich das deutsche Geistesleben aller Kreise be-
herrscht und als deren Ausflufs die Blüte der deutschen
Literatur seit der Mitte des XVIII. Jahrhunderts zu be-
trachten ist, in der Geschichtschreibung geäufsert? Die
Beantwortung ist nur möglich auf Grund einer ausgedehnten Sammel-
und Sucharbeit, die zu leisten die Lokalforschung berufen und
allein befähigt ist. Die Charakteristik der von mehr oder weniger ge-
lehrten Leuten seit dem XVI. Jahrhundert verfafsten Ortschroniken
und Landeskunden mit ihren vielen Wunderlichkeiten und der Sucht,
gelehrt zu erscheinen oder vielmehr mit Schulweisheit zu prunken,
erscheint unter diesen allgemeinen Gesichtspunkten als eine recht
lohnende Aufjgabe *). Ganz ähnlich steht es mit den im ganzen
i) Für die Landeskunde ist bereits in dem Aufsatz Ton Hantesch in dieser
Zeitschrift, Bd. I, S. 18—22 und S. 41 — 47 eine kurze Zusammenstellung der Werke
des XVI. Jahrhunderts versucht worden. Recht dankenswerte einschlägige Monographieen
sind z. B. Alfred Berg, Oeorg Torquatus als ältester Halberstädter Topograph (Mit-
21*
— 300 —
naiveren und der B^rifiswelt des anstehenden Mittelalters näher
stehenden Selbstbiographieen und Gedenkbüchem von Bürgern und
Bauern *), die als Literaturdenkmale und Quellen oft gleichen Wert
besitzen. Die oben für die Steiermark erfolgte Feststellung hinsichtlich
der geschichtlichen Forschertätigkeit der Jesuiten sollte zur An-
stellung von Vergleichen Anlafs geben, denn in anderen Landschaften
wird es vielfach anders gewesen sein, und in ähnlicher Weise wäre zu
verfolgen, welche Anregungen der Geschichtschreibung etwa von be-
stimmten Universitäten oder kirchlichen Gemeinschaften aus zuteil ge-
worden sind.
Das sind nur einige besondere Aufgaben, recht zahlreiche andere
gesellen sich ihnen zu. Wenn die Lokalforschung dieses Gebiet des
Geisteslebens, das vielfach mit der Schulgeschichte verquickt ist und
namentlich für den Lehrer an den höheren Schulen in kleineren Städten
ein dankbares Arbeitsfeld darstellt, systematisch bearbeiten wollte, so
könnte sie Grofses leisten und zwar zugleich für den engeren
und den weiteren Kreis: jenem wird die genauere Kenntnis der
heimischen Geschichtsquellen vermittelt, diesem ein Beitrag zum Ver-
ständnis deutschen Geisteslebens seit dem XVL Jahrhundert geboten.
A. T.
teilangen des Vereins für Erdkunde zu Halle, 1901 , S. 17 — 45); Reimer Hansen,
Der dühmarsische Chronist Johann Russe und seine Vorgänger (Zeitschrift der Gesell-
schaft für Schleswig-holsteinisch-laaenborgische Geschichte 29. Bd. (1899) sowie Kiel 1901);
Hermann Pieper, Der märkische Chronist Andreas Engel (Angelus) aus Strausberg
(Programm, Berlin 1902); Lutze, Die Chronikenschreiber der Stadl Sondershattsen
(Programm der Realschule zu Sondershausen 1901); Kolb, Des Haller Chronisten
Oeorg Widman Leben (f 1560) und die Handschriften der Widmanschen Chronik
(Wilrttembergisch Franken. Neue Folge, 6. Bd., Schwäbisch-Hall 1897). Als Muster einer
zusammenfassenden Darstellung für einen Ort wäre Ludwig, Die Konstanxer Geschichts-
schreibung bis zum X Vlll. Jahrhundert (Strafsburg 1894) oder Albert, Die Oeschiehts-
schreibung der Stadt Freiburg in alter und neuer Zeit [Zeitschrift für die Geschichte
des Oberrheins. Nene Folge, 16. Bd. (1901)] zu nennen. Was fUr das XVL Jahrhundert
gesagt wurde, gilt in vieler Beziehung auch schon fUr das XV. Jahrhundert: Chroniken
dieser Zeit aus Leutkirch und Kempten sind z. B. im Allgäuer Oeschichisfreund
7. Jahrgang (1894) und 8. Jahrgang (1895) charakterisiert.
i) Üwof nennt oben S. 296 zwei Oedehkbücher. Zwei andere sind z. B. oben
S. 275 (das eines Fuldaer Bauern 1637— 1667) und S. 278 (das des 1784 nach Amerika
ausgewanderten Rheinpfalzers Börstler) erwähnt. Eine Bibliographie dieser Literatur-
gattnng wäre bei der verstreuten Veröffentlichung sehr wünschenswert und die Voraus-
setzung für eine umfassende Charakteristik.
— 301 —
Zur Vorgeschichte des Bauernkrieges
Von
Kurt Käser (Wien)
Die bisherige Forschung über die Geschichte des Bauernkrieges
ist von einer gewissen Einseitigkeit nicht frei zu sprechen. Sie hat
bisher vorwiegend den äulseren Verlauf der Bewegiuig zu erfassen, die
Verhandlungen zwischen Bauern und Herren, die Kriegs- und Plünde-
rungszüge des empörten Landvolkes, die entscheidenden Schlachten,
die Gestalten einzelner hervorragender Führer beider Parteien dar-
zustellen gesucht, darüber jedoch die ungleich wichtigere Vorgeschichte
der Bewegung einigermafeen vernachlässigt. Man hat sich lange Zeit
mit dem Material begnügt, das man im Vorbeigehen mitnehmen konnte.
Und doch ist es ein viel höheres Ziel, diejenigen Momente in der
bäuerlichen Entwickelung klarzustellen, die den konservativsten aller
Stände zu allgemeiner Empörung trieben, als mit peinlicher Sorgfalt
die Einzelheiten in den äu&eren Hergängen einer Bewegung zu er-
forschen, die, so bedrohlich und machtvoll sie auch begann, doch
schliefslich die Grundlinien des bäuerlichen Lebens nicht zu verrücken
vermochte.
Erst in neuerer Zeit hat man begonnen, mit gröfeerer Aufmerk-
samkeit den Ursachen der bäuerlichen Aufstände nachzuspüren, ge-
nauere Untersuchungen über die Lage des süddeutschen Bauernstandes
im XV. und XVI. Jahrhundert anzustellen ^). Noch immer jedoch
harren für die Vorgeschichte des Bauernkrieges wichtige Probleme der
Lösung, die gewaltigen Stoffmassen der Archive gilt es zu bearbeiten.
Noch aber fehlt die notwendige Organisation der Arbeit, und ins-
besondere der landes- und ortsgeschichtlichen Forschung erschliefst
sich hier ein weites, ergiebiges Feld. Zweck dieser Zeilen ist, eine
Art Programm zur Vorgeschichte des Bauernkrieges zu entwerfen.
i) Ich nenne hier nur einige der wichtigsten: Gothein, Die Lage des Bauern-
standes am Ende des MiUelaÜers, vomehmlteh in Südwestdeutsehland, Westdeutsche
Zeitschrift IV (1885), S. i and Wirtschaftsgeschichte des Schwarzwaldes, Bd. I; Lamprecht,
WirtsehafUiehe und soxdale Wandhmgen vom XIV, — XVI. Jahrhundert. Zeitschrift
f. Soz.- n. Wirtsch.-Geschichte, Bd. I (1893); M. A. Höfsler, Zur Enistehungsgesehiehte
des Bauernkrieges in SüdwestdeutsckUmd (Leipzig. Diss. 1893); ^* Heerwagen, Die
Lage der Bauern Mir Zeit des Bauernkrieges in den Taubergegenden (Heidelberger
Diss. 1899); W. Stolze, Zur Vorgesehiehte des Bauernkrieges (Schmoller, Staats- nnd
tozialw. Forschungen XVm, 4, 1900); Grapp, Die Ursachen des Bauernkrieges, Hist.-
pol. Blätter, Bd. CXXIV, 199.
— 802 —
Insbesondere soll das Interesse der Lokalforschung hingelenkt werden
auf die ErschlieCsung oder Bereicherung gewisser wertvoller Quellen-
kreise, sowie auf etliche neuere Untersuchungen über besonders wich-
tige, in unser Gebiet einschlagende Fragen, die der weiteren Arbeit
zur Anregung und als Muster dienen sollten.
Der Bauernkrieg löst sich auf in eine Kette von Einzelaufständen,
die innerhalb bestimmter Territorien sich abspielen *) , miteinander oft
gar nicht in nähere Berührung kommen, eine sehr verschiedene Fär-
bung zeigen. Die neueren Forscher, die sich mit dem eigentlichen
Bauernkrieg beschäftigen, haben diesen Verhältnissen Rechnung tragend
sich zu territorialer Arbeitsteilung entschlossen. Auch für die Vor-
geschichte des Bauernkrieges wird man bei der keineswegs gleich-
mäfsigen Gestaltung der bäuerlichen Verhältnisse in den einzelnen Ländern
diesen Weg einschlagen müssen, den ja einzelne Forscher, wie Höfsler,
Heerwagen, Stolze u. a. auch schon betreten haben. Aber auch die
bisherigen Arbeiten hüten sich nicht immer genug vor Verallgemei-
nerungen, suchen oft auf Grund einseitiger oder eklektischer Quellen-
benutzung ein Gesaratbild der bäuerlichen Lage zu entwerfen, das vor
genauer Prüfung nicht immer bestehen kann. Hier eben wäre der
Punkt, wo die Pfleger der Orts- und Landesgeschichte mit ihrer Tätig-
keit einsetzen und der zusammenfassenden Forschung die Wege ebnen
könnten. Innerhalb der landschaftlichen oder lokalen Grenzen aber
hätte dann eine weitere Spezialisienmg der Arbeit nach bestimmten
Aufgaben einzutreten.
Von diesen Aufgaben nun möchte ich im Folgenden einige nennen,
die noch gar nicht oder noch nicht genügend bearbeitet sind, und
deren Behandlung mir als besonders wünschenswert und lohnend
erscheint.
Eine Hauptursache der bäuerlichen Unzufriedenheit liegt in den
Neuerungen, die im XV. und XVI. Jahrhundert den Bauern zu Ab-
bruch und Beschwerde eingeführt wurden. Ein grofser Teil ihrer
Klagen richtet sich gegen die willkürliche Steigerung der Dienste,
Zinsen und Steuern, gegen die „neuen Fündlein"; sie wollen bei ihrem
alten Recht und Herkommen bleiben. Die beste Einsicht in Art und
Mals dieser Neuerungen gewähren uns die urkundlichen Aufzeichnungen
i) Vor allem gilt es im einzelnen festzusteUen, welche besonderen Mifsstände an
«inem bestimmten Ort za Aafmhr oder wenigstens zu Streitigkeiten gef^ihrt haben. In
Graach an der Mosel macht z. B. mn 1500 der Aosschlnfs der Bauern von der Eichel-
mast in einem klösterlichen Walde böses Blut Vgl. Tille, Die Benediktinerabtei
St. Martin bei Trier (Trierisches Archiv, Heft 4, 1900), S. 82.
— 303 —
bäuerlicher Pflichten, die Urbare, Salbücher, Zinsrodel u. dgi. An der
Hand dieser Dokumente läfet sich die Entwickelung der Bauemlasten
für die einzelnen Güter durch bestimmte Zeiträume hindurch verfolgen.
Freilich auch sie geben uns nicht immer volle GewiCsheit. Denn es
kam vor, dais Grundherren die Abgaben ihrer Untertanen über das
in den Urbaren festgesetzte Mafs hinaus steigerten, ohne da(s die
Neuerung im Urbar eingetragen wurde *). Immerhin liefern diese Auf-
zeichnungen einen Malsstab für die Höhe imd für die Veränderungen der
bäuerlichen Pflichten und können als Kontrole der vorgebrachten Be-
schwerden dienen *). Die Weiterarbeit an der Publikation von
Urbarien, Zinsregistern und ähnlichen Dokumenten des
bäuerlichen Rechts- und Wirtschaftslebens wäre also eine
Aufgabe, durch deren Lösung die landes- und ortsgeschichtlichen Or-
ganisationen sich den lebhaften Dank aller daran interessierten For-
scher verdienen würden.
Zur Steigerung der Lasten war eine Minderung der bäuerlichen
Rechte gekommen. Grund- und Landesherrschaft haben den Bauern
das Eigentum und die Nutzimg an Wasser, Wald, Weide und Jagd
entzogen oder geschmälert *). Die Motive dieses Vorgehens gilt es
klarzulegen und zwar vorurteilslos: sie liegen in der Zunahme der
Bevölkerung, die eine Begrenzimg der Nutzungsrechte des einzelnen
notwendig machte, in dem Verlangen der Grund- und Landesherren
nach ungehinderter Übung ihres Jagdrechts, in der Einbürgerung eines
strengeren Eigentumsbegrifis, endlich aber in der Rücksicht auf eine
rationelle Forstwirtschaft, die der Verwüstung des Waldes durch bäuer-
i) Vgl. F. M. Mayer, Der innerösterreichische Bauernkrieg des Jahres 1515
(Archiv f. österr. Gesch., Bd. LXV, 1884), S. 6oflF.
2) Derartige Verwertung von Zinsregistern s. bei Höfsler S. 17 ff. and Alfred
Grand, Die Veränderungen der Ibpographie im Wiener Walde und Wiener Becken
(Geographische Abhandlangen, heransgeg. von A. Penck. VIII, i. Leipzig 1901), S. 199,
Anm. 3.
3) Dabei kommt aber in Betracht, dafs das Recht zu stärkerer Natzang vielfach
dem Grundherrn gar nicht bestritten werden konnte, dafs der Baaer aber trotzdem die
wieder wachsende Eigenwirtschaft namentlich klösterlicher Grandherren recht ttbel em-
pfand. Vgl. Tille, Die Benediktinerabiei St. Mariin bei Trier, S. 70 and dazu die
Bemerkung von Ludwig in der Historischen Vierteljahrschrift, 4. Jahrgang (1901), S. 291,
der fHr Südwestdeutschland die gleiche Beobachtung gemacht hat. Überhaupt ist es sehr
wichtig festzustellen, wo und im welchem Malse die Grundherren schon im XV. und
XVL Jahrhundert zum Eigenbetrieb zurückgekehrt sind, wie weit sich die folgenschwere
Umwandlung der Grundherrschaft zur G u t s herrschaf t damals schon vorbereitet hat.
Manche Klagen der Baaem, z. B. über Steigerung der Frohnden, würden dann ihre
Erklärung finden.
— 304 —
liehe Unvernunft vorzubeugen suchte '). Eine Veröffentlichung der
zahlreichen Waldordnungen des XV. und XVI. Jahrhunderts würde
die Motive dieser grund- und landesherrlichen Forstpolitik deutlicher
erkennen lassen. Von Wert wäre auch eine weitere Sammlung solcher
Dokumente, die über die Ursprungszeit jener Herrenrechte an der
Allmende Auüschlufs gäben. Man würde dann klarer sehen, ob die
früher schon gegen die Freiheit der Allmende gerichteten Tendenzen
der Herrschaften in der Zeit unmittelbar vor dem Bauernkriege eine
Steigerung erfahren haben, ob die Klagen der Bauern über Schmäle-
rung der Allmende also durch kürzlich erfolgte Mafsregeln der Herren
oder nur durch die Erinnerung an weit zurückliegende, längst verlorene
Rechte verursacht sind *).
Für die gesamte Auffassung der Bewegung erscheint mir von
entscheidender Wichtigkeit die Frage : wie verhielt sich die Leistungs-
fähigkeit des Bauern zu .allen jenen Beeinträchtigungen ? War er im
Stande, eine Mehrbelastung zu ertragen, oder drückte sie ihn zu Boden?
Die Ermittelung der bäuerlichen Vermögens- und Besitz-
verhältnisse ist daher eine der wichtigsten, aber auch eine der
schwierigsten Aufgaben, die den Forscher auf diesem Gebiete erwarten.
Das Material, das einstweilen vorliegt, ist noch äufeerst dürftig, zeigt
aber doch die Richtung an, in der sich die künftige Forschung wird
bewegen müssen. Von unschätzbarem Werte für die Erkenntnis des
bäuerlichen Vermögensstandes sind die Verzeichnisse der Güter
entwichener Bauern und femer Steuerlisten, in denen uns eme
wohl zuverlässige Schätzung bäuerlicher Vermögen geboten wird. Ein
solches Güterverzeichnis für Stadt und Amt Weinsberg aus dem Jahre
1525 hat Baumann*) mitgeteUt. In der „Zeitschrift für Geschichte
des Oberrheins *' *) finden sich Statistiken bäuerlicher Vermögen zum
Zweck der Steuererhebung aus dem Gebiet von Überlingen (Ende d^
XV. Jahrhunderts) und aus den Ämtern Weinsbei^, Neustadt am Kocher
i) Vgl. Armin Tille, jSwei Waidorditwigen aus dem Herxogium Jülich sowie
Vom Kappusch bei Braehelen (Zeitochrift des Aachener Geschichtsvereins, Bd. XXIH
[1901], S. 1—30 und Bd. XXIV [1902], S. 232—257).
2) Jnama- Sternegg, Deutsche WirisehaftsgesehichUt Bd. m, i, S. 2370:. lu
S. 285 fif. ist gezeigt, wie im XIV. Jahrhundert bereits ein voUes Eigentumsrecht der Grand-
herren an Wald ond Allmende ausgebildet and eine rationelle Forstpolitik im Zuge war.
3) Akten xur OesehiMe des deutsehen Bauernkrieges aus Obersehwahen, n. 417.
Vgl auch S. 392 u. 393.
4) Bd. XDC, S. loff. Für den Kanton Zttrich hat Ciaassen, Schwerer Bauern-
poUtik im Zeitalter Ulrich Zicinglis (Weimar 1S99), die Verteilung der bänerlichea
Vermögen berechnet (S. ii9flf.).
— 305 —
und Möckmühl (1505). Auf die ErmitteluDg von solch statistischem
Material mu(s die Aufmerksamkeit der Forscher ganz besonders ge-
richtet sein. Auf dieser Basis, nicht auf Grund der unsicheren, ein-
ander oft widersprechenden Nachrichten der zeitgenössischen Schrift-
steller wird das Urteil über die wirtschaftliche Lage des süddeutschen
Bauernstandes im XV. und XVI. Jahrhundert gefällt werden müssen.
Den wichtigsten Faktor des bäuerlichen Vermögens bildete der
Grundbesitz, der in der Regel nicht im vollen Eigentum des Bauern
stand, aber doch als die Grundlage seiner Existenz zu betrachten ist.
Von dem Ausmals des Grundbesitzes wird unser Urteil über bäuer-
liche Vermögensverhältnisse wesentlich bedingt sein, und es wird sich
darum handeln, die Verteilung von Grund und Boden inner-
halb der einzelnen süddeutschen Landschaften festzustellen. Auch
dieses Feld der Forschung ist noch lange nicht ausgebaut.
Über die Besitzverhältnisse in Stadt und Amt Weinsberg belehrt
uns das früher zitierte Güterverzeichnis. Über die Gliederung des Be-
sitzes im südwestlichen Deutschland hat Höüsler ^) , im Taubergebiet
Heerwagen "), im Kanton Zürich Ciaassen ^) Untersuchungen angestellt.
Weitere Angaben über BodenverteUung in den süddeutschen Terri-
torien gibt Jnama-Stemegg *). Diese Arbeiten bieten der weiteren For-
schung wertvolle Fingerzeige. Vor allem müfste man auch hier auf
die Sammltmg reichlichen statistischen Materials bedacht sein, wie es
namentlich in den Güterbeschreibungen der Urbarien und Weistümer
enthalten ist. Gothein bezeichnet den Bruchrain, die Ortenau und das
württembergische Neckartal als die Gebiete äufserster Güterzersplitte-
rung *). Diese Angabe sollte durch die Spezialforschung noch fester
fimdamentiert werden. Solche Studien könnten auch eine klare Vor-
stellung geben von dem Verhältnis bäuerlichen Klein- und Grofs-
betriebes.
Um die bäuerliche Vermögenslage richtig zu bewerten, mufe man
neben dem Ausmafs auch die Ertrags fähigkeit des Bodens zu er-
mitteln trachten. Dieses Unternehmen ist freilich mit groisen Schwierig-
keiten verknüpft. Eine Buchführung über ländlichen Wirtschaftsbetrieb
ist nicht auf uns gekommen, wohl deshalb, weil der Bauer damals
überhaupt nicht das Bedürfnis empfand, sich in dieser Weise über die
1) S. 8ff.
2) S. III.
3) s. 65-67.
4) m, I, s. 215 ff.
5) Lage des BaoernstaDds S. 5.
— 306 —
Ergebnisse seiner Wirtschaft Rechenschaft zu geben *). Man wird sich
also neben Feststellung der etwa vorkommenden Meliorationen, an-
gewandter Düngung usw., damit begnügen müssen, nach den Angaben
der Quellen für möglichst weite Zeiträume Preistabcllen der landwirtschaft-
lichen Produkte zu konstruieren. Diese Tabellen werden freilich meist
lückenhaft bleiben, weil die Chronisten fast stets nur ausnahmsweise
— in Fällen besonderer Teuerung oder besonderer Billigkeit — Preise
der Mitteilung für wert halten. Für die Getreidepreise und Münzverhält-
nisse Niederösterreichs im XIV. und XV. Jahrhundert hat Grund in
seiner früher erwähnten Arbeit derartige Tabellen entworfen imd zeigt
uns mit ihrer Hilfe den Ruin des niederösterreichischen Bauernstandes
im XV. Jahrhundert *). Infolge der sinkenden Kaufkraft des Geldes,
welcher der Bauer nicht durch entsprechende Steigerung der Getreide-
preise nachzukommen wufete, verminderte sich der Bodenertrag, wäh-
rend die dem Bauern notwendigen Erzeugnisse des Handels und Hand-
werkes vielfach im Preise stiegen. So sah sich der niederösterreichische
Bauer der Verarmung preisgegeben, und hätte nicht die blühende
Weinkultur ihm eine Zufluchtsstätte geboten, so wäre sein Ruin
vollständig gewesen. Es ist dringend zu wünschen, dafe die bäuer-
lichen Produktionsverhältnisse anderer Territorien bald eine ebenso
scharfsinnige und gründliche Aufhellung erfahren mögen, wie die Nieder-
österreichs durch A. Grund.
Aber auch noch aus anderen Gründen ist die Arbeit dieses For-
schers, wiewohl im wesentlichen geographischen Zielen zugewendet,
für den Historiker höchst beachtenswert. Sie eröffnet die Aussicht auf
neue wirtschaftsgeschichtliche , speziell agrarhistorische Erkenntnisse,
die durch eine Verbindung geographischer und historischer Studien
gewonnen werden können. Grund hat, gestützt auf eine Fülle der
sorgsamsten Beobachtungen, gezeigt, in welch hohem Maise die Wider-
standsfähigkeit des Bauern gegenüber wirtschafüichen Krisen durch
BodenbeschafTenheit, Klima und Bevölkerungsdichte bedingt ist ^). Ich
würde mir für die Vorgeschichte des Bauernkrieges reichen Gewinn
versprechen, w*enn diese Methode auch auf andere Territorien an-
i) Vogt, Vorgeschichte des Bauernkrieges, S. 23.
2) S. 211 ff. Wenigstens im XVI. Jabrhandert gibt es auch fortlaufende Listen,
die den Getreidepreis in seinem Wechsel verfolgen, z. 6. für Düren seit 1541, and
solches Material mUfste statistisch and in Verbindung mit dem Feingehalt der Münzen so
bearbeitet werden, dafs für jeden Zeitpunkt die Kaufkraft von i Gramm Feinsilber er-
kennbar wird.
3) S. 121 ff.
— 307 —
gewandt, wenn man versuchen würde, aus den gfeographischen Be-
dingungen heraus für die Produktionskraft des Bodens, für den Grad
der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Bauern gewisse Anhalts-
punkte zu gewinnen.
Den Erträgnissen der bäuerlichen Wirtschaft standen mannigfache
Ausgaben gegenüber. Hier kommen neben den Leistungen für Grund-
herrschaft, Staat und Kirche besonders Arbeitslöhne und Schuldzinsen
in Betracht. Welchen Platz nahmen die Löhne für die „Ehehalten**
im bäuerlichen Etat ein? Janssen ist der Ansicht, die zahlreiche Klasse
der landwirtschaftlichen Lohnarbeiter, die ohne eigenes Besitztum von
ihrer täglichen Arbeit leben mufste, sei selten materiell so günstig
gestellt gewesen als vom Ende des XIV. bis in die ersten Jahrzehnte
des XVL Jahrhunderts '). Vogt hat, auf Grund der Angaben Janssens,
die Meinung ausgesprochen, dafs die Arbeitslöhne das bäuerliche Ein-
kommen wesentlich geschmälert hätten *). Nun stammen aber die Be-
lege, die Janssen für seine Behauptung beibringt, ausschliefslich aus
Norddeutschland, aus dem Herzogtum Sachsen, der Gegend des Nieder-
rheins, oder aus Niederösterreich, oder aus Städten, wie Augsburg und
Aachen, also aus Gegenden, die vom Bauernkrieg wenig oder gar
nicht berührt wurden. Überhaupt betrachtet Janssen mit Vorliebe die
Lage ländlicher Lohnarbeiter, die im Dienste grofser Herrschaften
— des Stiftes Klostemeuburg , des Erzstiftes Mainz, des Schenken
Erasmus zu Erbach, des Grafen von Öttingen — standen und sich einer
trefflichen Behandlung erfreuten. Damit ist aber doch wohl noch
nichts bewiesen für die Lebensbedingungen der Ehehalten im Dienste
der kleinen Bauern. Untersuchungen über Zahl und Entlohnung
des bäuerlichen Gesindes, besonders in der Gegend der Bauern-
kriege, sind also ein ebenso dringendes Erfordernis, wie Studien über
die Entwickelung der Preise landwirtschaftlicher Produkte.
Elementarschäden und andere Unglücksfalle, wirtschaftliche Krisen,
vielleicht auch das Bedürfnis nach Meliorationen haben vielfach zu
einer Überschuldung des bäuerlichen Grundbesitzes Anlafs gegeben.
Es wäre aufserordentlich wichtig, die Motive der Verschuldung, sowie
das Verhältnis der Schuldenmasse zum Wert der Bauerngüter im ein-
zelnen kennen zu lernen. Für den Kanton Zürich hat Ciaassen diese
Untersuchung ausgeführt und dabei eine starke Überlastung, besonders
der kleineren Bauerngüter , gefunden '). Auch die Fragen nach dem
i) Bd. I (1897), S. 371 ff.
2) Vorgeaehiehie des Bauernkrieges. S. 24 u. 25.
3) S. 95 ff.
— 308 —
Stande der Gläubiger — ob Christen oder Juden, Bürger oder Grund-
herren — und nach der Stellung der Grundherren zur Beschuldung-
des Bodens sind noch nichtvöllig geklärt ').
Gelingt es nun, Ausmals und Ertrag des bäuerlichen Grundbesitzes
zu bestimmen, andrerseits mit der gleichen Genauigkeit den Abgang
an Grund- und Schuldzinsen, Zehnten, Steuern und Betriebskosten zu
berechnen, so ergibt sich ein klares, zuverlässiges Bild der bäuer-
lichen Vermögensverhältnisse. Das Muster einer derartigen Zusammen-
fassung bietet wieder Ciaassen für den Kanton Zürich (S. 122). Ist
es dann noch weiter möglich, einen Vergleich zu ziehen zwischen dem
Ertrag des bäuerlichen Bodens und den Preisen der für den bäuer-
lichen Haushalt unentbehrlichen Produkte des Handels und Handwerks,
wie dies Grund für Niederösterreich getan hat, so wird über die Auf-
fassung der wirtschaftlichen Lage des Bauern vollends kein Zweifel
mehr übrig bleiben, wird man über die Ursachen der Bauembewegung
gröfeere Klarheit gewinnen.
Wie die Verhältnisse der Bauern, so bedürfen auch die der Herren
noch eingehender Untersuchungen. Sie bieten uns ja, zum Teil we-
nigstens, die Erklärung für die erhöhten Ansprüche, welche die Herren
im XV. und XVI. Jahrhundert an ihre Untertanen stellten. Man spricht
davon, dafs der weltliche Adel damals wirtschaftlich zurückgegangen^
der Reichtum der Klöster dagegen gestiegen sei. Aber man hat, soweit
ich sehe, noch nicht versucht, diesen Prozefe in seinen Einzelheiten
zu verfolgen. Die besten Aufschlüsse über ungünstige Veränderungen
in den Besitzverhältnissen des Adels geben wohl Urkimden über Kon-
trahierung von Darleihen, über Verkauf und Verpfandung von Adels-
gütem, über fromme Stiftungen an Klöster, während gelegentlich
erhaltene ritterliche Haushaltrechnungen zeigen, wie wenig „herren-
mäfsig** die kleinen Grundherren lebten und wie schwer selbst ihnen
i) StoUe (S. 50 a. 51) meint, von einer Ubermäfsigen Verscbaldong des Baaem an
das städtische Kapital könne nicht die Rede sein. Es sei nicht zn denken, dafs die
Städte den Bauern ansgewnchert hätten. Da£s man aber zar Zeit des Bauernkrieges wenig*
stens an einen starken Druck des städtischen Kapitals auf den Bauern glaubte, beweist
das charakteristische Gespräch Von der Oiilt (etwa 1520) bei Baur, DetUschUmd in
den Jahren 1517—1525 y betrachtet im Lichte gleichzeitiger anonymer und pseudo^
nymer deutscher Volks- und Flugschriften, S. 50 ff. Auch dürfte sich Stolze darin
täuschen, dafs der Einflufs der Grundherren, die sich tatsächlich selbst, soweit sie auf rein
agrarischer Grundlage wirtschafteten, in wenig beneidenswerter Lage befanden, einer Ver-
schuldung der Bauern ernstlich hätte steuern können. 1535 ist Ton der Ablösung bäuer-
licher Schuldzinsen noch od genug die Rede. Auch scheint mir Stolze Schuld- und Grund»
Zinsen miteinander zu verwechseln.
— 309 —
der Absatz ihrer Überschüsse auf dem städtischen Markte war. Das
Fürstenbergische Urkundenbuch z. B. bietet für die Beleuchtung dieser
Verhältnisse ein schätzbares Material, dafs aber nach allen Richtungen
hin noch der Bereicherung bedarf. Die Lokalforschung würde sich
ein grofses Verdienst erwerben, wenn sie die Geschichte ein-
zelner Adels familien auf ihren wirtschaftlichen Verlauf hin an
der Hand der Urkunden prüfen, ebenso das Wachstum des geist-
lichen Besitzes auf Grund der klösterlichen Gültbücher, Güter-
verzeichnisse etc. verfolgen würde.
Damit glaube ich auf einige der wichtigsten Vorarbeiten hin-
gewiesen zu haben, die für eine Vorgeschichte des Bauernkrieges die
Fundamente liefern müssen. Der Zweck dieser kleinen Abhandlung
wäre erreicht, wenn die landes- und ortsgeschichtliche Forschung daraus
die Anregung schöpfen würde, das zur eingehenden Bearbeitung ge-
eignete örtlich bekannte Material vorzulegen und damit jene Probleme
zu fördern, deren Lösung allein uns zum vollen Verständnis der bäuer-
lichen Bewegungen führen kann.
Mitteilungen
Yersammlungeil. — Die diesjährige Hauptversammlung des Gesamt-
vereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine *) wird in
den Tagen vom 27. bis 30. September in Erfurt stattfinden und damit so
im Herzen Deutschlands wie es nicht aUzu oft der Fall ist. Hoffentlich wird
dieser günstige Umstand genügend gewürdigt, sodafs nicht nur die Beteiligung
der Personen, sondern vor allem auch die der Vereine dem entspricht.
Die im Gesamtverein miteinander verbundenen Vereine sind immer zahl-
reicher geworden, es sind über 150, aber es ist bis jetzt noch nicht so weit
gekommen, dafs auch nur die Hälfte auf den Versammlungen vertreten ge-
wesen wäre. Und dabei gibt es bedauerlicherweise sogar Vereine, die
nicht niu: das eine oder andere Mal fehlen, sondern solche, die seit langen
Jahren nicht mehr an eine Beschickung gedacht haben. Nicht eindringlich
genug kann deshalb die Mahnung an alle Vereinsvorstände ergehen:
entsendet bevollmächtigte Abgeordnete, die daheim über die Ver-
handlungen berichten« und dadurch Anregungen zu weiterer Arbeit
im heimischen Verein mitbringen!
Ein vierghedriger Ortsausschufs mit dem Oberbürgermeister Dr. Schmidt
an der Spitze hat sich gebildet, und die beiden als Forscher bekannten
i) Ober die Versammlang in Düsseldorf 1903 TgL oben S. 78 — 87 (fehlerhmfter
Zählung: 94— 103).
— 310 —
Herren, Sanitätsrat Zschiesche und Stadtarchivar Overmann sind dann
vertreten. Die Verhandlungen finden in der Ressource statt. Neben der
Besichtigung der Stadt und ihrer Kunstwerke lockt eine besondere kunst-
geschichtliche Ausstellung, die Gegenstände aus Kirchen, Schlössern,
Rathäusern und Privatsammlungen Sachsens und Thüringens enthält *), sowie
ein Ausflug nach Arnstadt am 30. September; ein Fest der Stadt Erfurt
für die Teilnehmer ist am 29. September vorgesehen.
Für die Hauptversammlungen sind folgende Vorträge angemeldet :
Prof. Lindner (Halle) über die Stellung Sachsens und Thüringens in der
deutschen Geschichte, Prof. Mogk (Leipzig) über die Volkskunde im Rahmen
der Kulturentwickelimg der Gegenwart und Stadtarchivar Overmann (Erfurt)
über Erfurt in Geschichte und Kunst. In den Abteilungssitzungen wird über
folgende Gegenstände verhandelt werden : Die SammlungvonFlurnamen
(Beschomer-Dresden), HandelsgeschichtlicheProbleme (Keutgen-Jena),
Die Eroberung Thüringens durch die Franken, neue Aufgaben
für die Altertumsforschung (Rubel-Dortmund), Das vorgeschicht-
liche Thüringen (Götze-Berlin), Die Besiedlung Südwestdeutsch-
lands in der Hallstattzeit (Soldan-Darmstadt), Das vorgeschicht-
liche Erfurt (Zschiesche - Erfurt) , Die neuesten Ausgrabungen in
Haltern (Dragendorff- Frankfurt a. M.), Die Hauptgattungen alter
Befestigungen in Deutschland und England (Schuchhardt-Hannover),
Die Erforschung der altdeutschen Kaiserp falzen(Plath-Wiesbaden),
Die sprachliche Bedeutung unserer mittelalterlichen Urkunden
und Handschriften (Thiele-Erfurt), Das Bursenwesen der mittel-
alterlichen Universitäten, insbesondere Erfurts (Oergel-Erfurt),
Volksdichtung und volkstümliche Denkweise (Petsch-Würzburg),
Die Bestrebungen des „Ausschusses zur Pflege heimatlicher
Bauweise in Sachsen und Thüringen" (Finanz- imd Baurat Schmidt-
Dresden). Die letztgenannte Organisation hat noch eine Sonderausstellimg
veranstaltet. Die Gesellschaft für Lothringische Geschichte und Altertums-
kunde hat noch zwei Anträge gestellt, nämlich i) Die Forschung über
den Einflufs der römischen Kultur auf diejenigen Gegenden
Deutschlands, die nicht dem römischen Herrschaftsbereich
angehörten, ist vom Gesamtverein einheitlich zu organisieren
und einer Spezialkommission zu unterstellen; hierüber werden
Wolfram-Metz, Höfer-Wernigerode, Lemcke-Stettm, Prümers-Posen und Seger-
Breslau berichten. 2) Der Gesamtverein wolle veranlassen, dafs
über die Befestigung römischer Städte, wie sie im IIL Jahr-
hundert überall nachweisbar ist, einheitliche Untersuchungen
angestellt werden; Berichterstatter Wolfram-Metz.
Es ist ein reiches und vielseitiges Programm, das man aufgestellt hat
Die Erfahnmg hat gelehrt, wie erspriefslich und anregend für alle Beteiligten,
auch für die dem besonderen Gebiete femer Stehenden, solche Besprechungen
zu werden vermögen; deshalb kommt recht zahlreich, ihr Geschichtsforscher
imd Geschichtsfreimde nach der thüringischen Metropole!
i) Vgl. dazu den Aafsatz an der Spitze dieses Heftes!
^
. — 311 —
Wie üblich findet in Verbindung mit der Tagung des Gesamtvereins der
Tag für Denkmalpflege ^) statt; es ist diesmal der vierte, zu dem für den
25. und 26. September der Vorsitzende, Loersch-Bonn, einladet. Die
entsprechenden Ausschüsse werden berichten über die Behandlung der
Steinerhaltung und die Kennzeichnung von wiederherge-
stellten Teilen eines Bauwerkes. Über die Erhaltung von
farbigen Altertümern (Wandmalereien, plastischen Werken) spricht Prof.
Borrmann, über die mit der Wiederherstellung des MeifsnerDoms
zusammenhängenden Fragen KomeUus Gurlitt, über die wegen des
Handbuchs der deutschen Denkmäler unternommenenSchritte
V. Oechelhäuser , über die den Denkmalschutz betreffende Gesetz-
gebung in Österreich Neuwirth, in Italien Loersch imd über die
Ausführung des hessischen Gesetzes vom 16. Juli 1902 v. Biege-
leben. Über die Erhaltung von Altertumsfunden berichtet Prof.
Rathgen, über die Vorbildung zur Denkmalpfege Lutsch tmd Dehio,
einen Teil des Hamburger Denkmälerarchivs legt Direktor Brinck-
mann unter Darlegung der bei dessen Zusammenstellimg befolgten Grundsätze
vor, über das Verhältnis der Altertumsmuseen zur Denkmal-
pflege spricht Prof. Ehrenberg, die Bedeutung der Gestaltung der
Strafsenfluchtlinien in den Städten vom Standpunkt der Denk-
malpflege erörtern Stubben, Gurlitt tmd Hofifmann, und eventuell soll noch
über die Aufnahme, Sammlung und Erhaltung der Kleinbürger-
häuser mittelalterlicher Städte (Berichterstatter: Stadtbauinspektor
Stiehl) verhandelt werden. Auch hier lockt also die Aussicht auf praktisch
wertvolle und fiir jeden Kunst- und Altertumsfreund wichtige Belehnmg.
In Halle a. S. findet vom 6. bis 10. Oktober die 47. Versammlung
deutscher Philologen und Schulmänner statt Das aufserordentlich
reichhaltige Programm bietet aber für den Forscher auf dem Gebiete der
deutschen Geschichte nur ganz wenig, nachdem die zuletzt mit Erfolg
tätige bibliothekarische Sektion ^) sich abgetrennt tmd selbständig gemacht
hat und Anmeldungen für Vorträge in einer unter dem Vorsitz von Prof.
Lind n er geplanten Sektion für mittelalterliche und neuere Geschichte völlig
ausgeblieben sind. Die historisch -epigraphische Sektion wird sich nur mit
Problemen der alten Geschichte befassen. In den Allgemeinen Sitztmgen wird
Prof. Bruno Keil (Strafsburg) über einen vergessenen Humanisten sprechen,
aber seinen Namen verrät er im Progranune nicht. Für die deutsche Namen-
forschung wird der von Prof. Meyer-Lübke (Wien) angekündigte Vortrag
Die romanischen Personennamen in ihrer historischen Bedeuiung von Belang
sein; er schliefst sich offenbar an die Äufserungen an, die Hirt und Schröder
früher über Völker- und Personennamenbildung getan haben *). Einen den
Lesern dieser Blätter bekannten Ideenkreis dürfte der Vortrag von Prof.
Lübbert (Halle) Die Verwertung d&r Heimat im Unterricht berühren, für
die Sozialgeschichte wichtig ist entschieden der Vortrag von Prof. Wunderlich
i) Vgl. den Bericht über die Düsseldorfer Tagung in dieser Zeitschrift oben
s. 55-58.
2) Vgl diese Zeitschrift 3. Bd., S. 63 — 64.
3) Vgl. diese Zeitschrift i. Bd., S. 61—63 und 2. Bd., S. 295.
— 312 —
(Berlin) : Dk deutsche Oememsprache in der Bauembewegung des XVI. Jakr-
hwnderts, für die Klärung der deutschen urgeschichtlichen Probleme belang-
reich der von Prof. H o o p s (Heidelberg) : Die Baunmamen und die Heimai
der Indogermanen,
Zur deatschen Ortsgeschichte. — Seitdem ich das letzte Mal in
diesen Blättern *) über den Stand der Deutschen Ortsgeschichtsforschung be-
richtet habe, sind mir einige neue Arbeiten auf diesem Gebiete zu Gesicht
gekommen, die eine nähere Würdigung verdienen, da sie zeigen, dafs dieser
Zweig der Geschichtswissenschaft, wenn auch noch von mancherlei Fesseln
gehemmt, doch stetig und gedeihlich seinem wahren Ziele zu vor- und auf-
wärts schreitet. Der gröfste Feind der Ortsgeschichte ist nach wie vor wie
der Geschichtsschreibung überhaupt der schon in meinem genannten Bericht
hinlänglich gekennzeichnete Dilettantismus, der „Fluch des Zeitalters".
Keine Wissenschaft hat vielleicht so viel von ihm zu leiden, wie die historische,
da sie einerseits scheinbar der einfachste und leichteste aller schriftstellerischen
Betriebe ist, andrerseits mehr als jede andere die Aufgabe hat, im gröfseren
Umkreis allgemein belehrend und bildend zu wirken, wozu sich von jeher
allzuviele fälschlich berufen glauben. Es ist immer bedenklich, wenn Leute
auch von besserer und höherer Schulbildung, wie Lehrer, Pfarrer, Ärzte,
Juristen die Pflege der Geschichte an sich reifsen, ohne sich Zeit und Mühe
zu der erforderlichen fachmännischen Ausbildung zu nehmen. Um so öfter
und dringender erscheint deshalb die Abwehr geboten und die immer
schärfere Abgrenzung der Geschichtschreibung als Wissenschaft und als Ver-
suchsfeld für unreife und unklare Köpfe.
Zu den ungenügenden ortsgeschichtlichen Versuchen der letzten Jahre
gehört ein Büchlein von dem Pfarrer R. Kaiser, das sich als GeschicßUe
des Orts und der Pfarrei Höp fingen bezeichnet *) , in Wahrheit aber weiter
nichts ist als eine ziemlich magere, mit Kapitelüberschriften versehene Ma-
terialiensammlung zur Geschichte dieses Ortes. Auf 48 Seiten werden
25 verschiedene Abschnitte gemacht und der ganze Stoff in einer Weise
zerlegt und erörtert, wie man etwa Schulkindern Geschichtchen erzählt.
Dagegen nennt sich die von Fr. Schnürer und K. v. Bertele
zur Dreijahrhundertfeier der Kirche zu Radmer in Steiermark veröffentlichte
historische und kunsthistorische Abhandlung viel zu bescheiden nur Gedenk-
blättert) j da sie ihren Gegenstand umfassend und erschöpfend behandelt.
Mit Geschick und feinem Verständnis für alles Schöne in Natur, Kunst
i) 3. Bd. (1902), S. 193 — 208. Zu meiner Freude hat Ermisch im Neuen Archiv
für Sächsische Geschichte, Bd. 24 (1903)» S. 191 eine Besprechung mehrerer Ortsgeschichten
damit eingeleitet , dafs er den Verfassern solcher die Lektüre meines Aufsatzes empfiehlt.
Die geschichtliche Literatur über einzelne Orte wächst ganz aofserordentlich ; was auf
diesem Felde erscheint, zeigt die Zusammenstellung kleinerer Ortsgeschichten
im Historischen Jahrbuch, wo sich z. B. im Jahrgang 1902 dreimal, S. 209, 420 und 681
eine solche findet. Eingehende sachkundige Besprechungen aber sind noch immer
selten, aber auch sie beginnen sich zu mehren, vgl. z. B. die Anzeige eines Buches von
Juffinger, Kundl, Oesehiehie eines Dorfes im ünterinntal (München 1902) durch
Straganz im JMgemeinen LitercUurblatt 12. Jahrg. (1903) Nr. 14, S. 432.
2) Tauberbischofsheim 1900.
3) Wien 1902. 61 S. 4*.
— 318 —
und Leben des kleinen Hochgebirgsortes lassen die Verfiisser in gedrängter,
aber inhaltreicher Rede die gesamten Geschicke Radmers, in eingehender
und durch viele und treftliche Bilder ^) veranschaulichter Weise die der
Kirche, ihrer Erbauung, Ausschmückung imd Renovierung an uns vorüber-
ziehen. Wie ernst, tief und erbauend sie ihre Sache aufgefafst haben, be-
weisen folgende Sätze, die ihrer Trefiflichkeit wegen hier eine Stelle finden mögen.
„Es läist sich nicht leicht eine reizvollere Anfgabe denken, als der Geschichte einer
kleinen Ortschaft, eines Dorfes, eines Marktfleckens, einer Kleinstadt nachzugehen, wie
sie sich etwa aas den Lokalchroniken, Pfarrgedenkbüchem , alten Urkunden, Urbarien,
Weistümem und dergleichen ergibt. Während in den grofsen Zentren der Knltar die be*
dentsamen, weltgeschichtlichen Ereignisse in die Erscheinung treten, Könige und Kaiser
ihren Hof halten , die Geschicke ganzer Staaten entschieden werden , spiegeln die ent-
femteren Ansiedelungen mehr das innere, das Kleioleben der Zeit wieder. Die groisen
historischen Geschehnisse kräuseln oft nur leichthin das stille Leben und Weben solcher
anscheinbaren Orte, wie grofse Flutwellen in abgelegenen Buchten leise verebben, während
anderseits Vorkommnisse, die in grofsen Städten kaum beachtet vorübergehen, oft tiefe
Forchen in das Leben der Kleinstadt und ihrer Bewohner ziehen und zu Marksteinen in
der Entwicklung der Gegend werden können. Die Erbauung einer Kirche, die Gründung
einer Schule, die Errichtung einer Fabrik und dergleichen — was besagt das in der
Grolsstadt ? Und wie sind solche Ereignisse, über die der lokale Teil der Zeitungen mit
einer kurzen Meldung hinweggeht, oft von umwälzender Bedeutung fUr die Bewohner einer
kleinen Ortschaft am flachen Lande, eines ganzen Tales! Wenn die Gegend „in der
Radmer'*, von der es im Jahre 1600 heilst, dafs „grobes Gesindel und unartiges Volk*'
dort wohnte, unter das sich eine Regierungskommission kaum unter dem Schutze von
80 Musketieren zu begeben traute, wenn diese selbe Gegend heute ein blühendes Tal
mit einer arbeitsamen, friedfertigen, fleifsigen Bevölkerung ist, so hat dazu sicher zu aller-
erst die von Ferdinand II. gestiftete Kirche beigetragen, die einen Mittelpunkt der Sitte
und Bildung abgab, ans dem heraus die in jedem Menschenherzen schlummernde Sehn-
sucht nach dem Besseren, Höheren — der Volksseele ist ftir diesen Trieb kein reinerer
nnd ihr zusagenderer Ausdruck gegeben, als die Religion und der Gottesdienst — Be-
friedigung und Erfüllung fand. Das ist ja eine der wichtigsten Seiten der grofsen Kul-
tnrmission, die das Giristentum auf Erden eHUllt, dafs es dem Naturmenschen die Mög-
lichkeit gibt, einen Ausdruck zu flnden für die ihm innewohnenden seelischen Bedürfhisse,
dafs es seinen Geist erftillt mit dem Begriffe einer ewigen Gerechtigkeit und Heiligkeit,
mit der Verehrung eines allmächtigen, allweisen, allgütigen Gottes . . ,**•
Will die Schrift über Radmer mehr der Bau- und Kunstgeschichte
dienen, so tun dies zwei andere mehr nach der Seite der Volkskunde. Die
eine, Alis Oro/kmühlingens Vergangenheit *), ein Beitrag zur Volkskunde des
ehemaligen Nordthüringgaus, von dem dortigen Pastor F. Loose läfst den
rein geschichtlichen Teil stark zurücktreten tmd schöpft dafür desto reich-
licher aus der Fülle des volkskundlichen Stoffes. „Mit ihm ist", wie es im
Vorwort heÜst, „für die Volkskunde Belangloseres verbunden worden, um
den Mühlingem nicht blofs zu zeigen, dafs ihr Dorf ein Altertum ersten
Ranges ist, sondern sie mit der Vergangenheit überhaupt bekannter zu
machen und dadurch ihre Liebe zur Heimat fördern zu helfen". Dabei
schlägt der Verfasser Saiten an, die alles Lob verdienen.
In noch erheblich höherem Mafse gilt dies von der andern Arbeit, von
der Geschichte und Volkskunde des Egerländer Dorfes Oberlohma von
A. John *). Sie ist aus einem von mir bereits erwähnten *) Vortrage heraus-
i) 5 Heliogravüren, 19 Textillustrationen.
2) Dessau 1903. 46 S. Lex.-8^ mit 14 Abb.
3) Beiträge t. DeuUch..böhm. Volkskunde. IV. Bd., 2. Heft. Prag 1903. Gr. 8*».
X, 196 S. mit 3 Phototypieen, 3 Plänen und i Kartenskizze.
4} Diese Zeitschr. 3. Bd., S. 204.
22
— 314 —
gewachseOf erfüllt ihren Zweck anfe beste und kann in mancher Hinsicht
geradezu musterhaft genannt werden. Der Verfasser hat die Geschichte
seiner Heimat in zwei völlig getrennte Teile geschieden« in einen geschidit-
Hchen und Tolkskundlichen und betrachtet jenen ,, eigentlich nur als Ein-
leitung und Voraussetzung^^ für diesen. Trotzdem ist auch dieser, den er
in 6 Abschnitte zeri^^t, durchaus wohlgelungen und verdient alle Anerkennung
und Achtung. Der volkskundliche Teil ergibt sich dem Verfiisser „als not-
wendige Folge aus der Geschichte der Hufenver£assung und Besiedlung *^
Er um&fst Haus und Hof, Nahrung und Tracht, Sitten und Gebräuche,
Aberglaube, Volksdichtung und Namen der Gemeinde Oberlohma aus den
Jahren 1850 — 1900, aus der Zeit des Übergangs also, des allmählichen Ver-
Schwindens der alten tmd der Entstehung neuer wirtschaftlicher und sozialer
Formen volkstümlichen Lebens. Mit verständiger Beschränkung auf das
Wesendiche und Charakteristische hat hier John, was doppelt verdienstlich
ist, fUr Deutsch-Böhmen die erste mustergültige Geschichte und Volkskunde
eines Dorfes geliefert, wofür ihm der Dank aller Vaterlandsfreunde gebührt
Hier sei auch nicht unterlassen, auf eine ältere Darstellung von H. v. Z w i e -
dineck-Südenhorst hinzuweisen: Dorfleben im XVIII. Jahrhundert, kultur-
historische Skizzen aus Innerösterreich '), welche zeigen, wie reich das Volks-
leben auf dem Lande auch nach der politischen Richtung sein und wie es
wohl auch von höheren Gesichtspunkten aus betrachtet und verwertet werden
kann. Wie sehr trifft der Verfasser die Wahrheit, wenn er hervorhebt, „wie
der Bauer zu allen Zeiten den härtesten Kampf ums Dasein zu führen hat,
wie alle Resultate höherer Kultur auf seiner Lebtung beruhen, wie alle Lasten
des gröfseren Besitzers auf seine Schultern überwälzt werden, tmd wie er
doch selbst in den Ansprüchen, die er an den Staat macht, stets der be-
scheidenste bleibt . . .**
Erhöhte Bedeutung haben die beiden Arbeiten von Loose und John
auch wegen der von ihnen besonders berücksichtigten und durch Karten er-
läuterten DorfHur. Ich selbst habe der Geschichte meiner Heimat Steinbach
(bei Mudau) eine mit Gelände und Situation versehene Flurkarte im Maß-
stab von r : 20000 der natürlichen Gröfse beigegeben und damit ein ge-
treues und jedermann zugängliches Bild der seit 700 Jahren unveränderten
Flurverfassung des Dorfes geliefert. Es sei eine unerläfsliche For-
derung an jede Ortsgeschichte, eine gute Gemarkungskarte
zu bringen, und auf diese Weise zur endlichen Klärung und
Lösung der Siedlungsprobleme beizutragen*)!
Haben Schnürer und v. Bertele auf die Kunst des platten Landes,
Loose und John auf die Kultur ihr Hauptgewicht gelegt, so macht nunx&ehr
eine Dissertation von H. Duncker eine neue Äufserung des deutschen Dorf-
lebens, das mittelalterliche Dorfgewerbe nach den Weisiumsüberlieferungen •),
1) Wien 1877. IV, 178 S. 8«.
2) Vgl. daza diese Zeitschrift oben S. 251/253. Zahlreiche and z. T. als TjpeD
beachtenswerte Flarkarten finden sich z. B. mitgeteilt bei Kttstermann, ÄUgeographische
und topographische Streif xüge durch das Hochstift Merseburg [= Neue Mitteilungen
ans dem Gebiet historisch-antiqoarischer Fortchangen, Halle, Bd. 16 (1883), S. 161 — 352;
Bd. 17 (1889), S. 339—497 and Bd. 18 (1894), S. 188—240].
3) Leipzig 1903. XI, 137 S. gr. 8».
— 315 —
zum Gegenstände der Untersuchung. Er behandelt vornehmlich die Ver-
fertigung von Hilfsstoffen und Gerätschaften, also das Holz-, Ton-, und Eisen-
gerätgewerbe sowie das Bau- imd das Bekleidungsgewerbe, die ja auch dem
städtischen Wirtschafts- und Rechtskörper zur Grundlage dienen, und eröf&et
neue, fruchtbringende Bahnen für die Betrachtung des Volkslebens und der
Volksbeschäftigung auf dem Lande. Arbeiten wie die von v. Zwiedineck
und D u n ck e r sind insofern so lehrreich, weil sie geeignet sind, dem Geschichts-
schreiber eines Ortes eine Menge Aufgaben zu stellen, die er, wenn er
sie einmal erkannt hat tmd das Quellenmaterial einigermafsen vollständig
beherrscht, unschwer und mit grofsem Nutzen zu lösen vermag.
Inzwischen ist aber auch der Dilettantismus nicht müssig gewesen,
sondern sogar hinsichtlich der Technik aus seiner Reserve getreten und hat
sich erdreistet, Gnmdsätze aufzustellen und Regeln zu entwickeln, wie man
Ortsgeschichte schreiben soll. Bemheims Lehrbuch der historischen Methode,
unlängst (Leipzig 1903) in 3. und 4. Auflage erschienen, ist dadurch überholt tmd
veraltet, und Bemheim wird gut tun, seine Methode neu zu fassen und zu diesem
Zwecke bei Herrn Landgerichtsdirektor Zehnter in Mannheim in die Schule
zu gehen. Anknüpfend nämlich an eine von mir in der „Alemannia^* ')
gebrachte Besprechung seiner Oeschichte des Ortes Messelhausen hat Zehnter
in den seit An^Emg dieses Jahres hier erscheinenden Monatsblättem des Ver-
eins für ländliche Wohlfahrtspflege in Baden gegen die bisher übliche fach-
männische Auf&ssung über die Ziele und den Betrieb der Ortsgeschicht-
schreibung Stellimg genommen. Ich hatte seine Geschichte des Ortes Messel-
hausen mit unverhohlener Freude begrüist und sie durchaus gerecht und
günstig gewürdigt, allerdings auch ihre Fehler und vorab ihre breite Ge-
schwätzigkeit gerügt und den unfertigen Urkundenanhang bemängelt % Ich
hatte gesagt:
„Möchten doch alle, welche sich popnlär-wisseoschaftlich xn schreiben vornehmen,
dabei stets als obersten Grundsatz im Auge behalten, dals das Volk gerade gut genug
ist, ihm das Beste zu bieten. Dann darf man ihm aber nicht, wenn man ihm einen
Konstschrein zimmern will, das sämtliche Holz vorlegen, mit Abfall, Sägemehl und Spähnen.
Denn ein Geschichtswerk muis immer auch ein Kunstwerk sein: nur harmonisch gestimmt,
wird es auch harmonisch und bildend wirken, fesseln und überzeugen und dem wahren
Zweck der Wissenschaft dienen. Zu diesem Ende aber darf der Verfasser nicht das
ganze Rüstzeug seiner Studien und Vorarbeiten zum besten geben, sondern mufs sich auf
das wirklich Wissenswerte beschränken. Fliefst der Stoff tatsächlich so Überreich wie
scheinbar hier (bei der Geschichte von Messelhausen), so mufs eine weise Sichtung und
Scheidung vorgenommen und nur das Wichtige, das durch die Untersuchung gesicherte
Ergebnis darstellerisch verarbeitet werden. Alles andere kann man etwa in Zeitschriften
niederlegen, damit es dem Kleinforscher nicht vorenthalten bleibt. Aus dem gleichen
Grunde soll auch, was die Urkunden selbst Wissens- und Erwähnenswertes enthalten , in
dM Darttellnng, und zwar womöglich in ihrer eigenen Sprache aufgenommen, alles Übrige
beiseite gelassen werden . . .**
Dagegen wendet sich mm Zehnter '), unterstützt von einem schwachmütigen
Urteile des Würzburger Professors Henner, der seine Arbeit sans phrase
musterhaft genannt hat, indem er behauptet, dafs die Ortsgeschichte vor
allem belehrende und ethische Zwecke zu erfüllen habe, imd verlangt, dafs
1) Zeitschrift f. alemannische u. fränkische Geschichte, Volkskunde, Kunst und
Sprache. N. F. i (Freiburg i. Br. 1900), 281-384.
3) Vgl. auch' diese Zeitschr. 3. Bd., S. 201.
3) Dorf und Hof. i. Jahrg., Freiburg i. Br. 1903. S. 104—108.
22*
— 316 —
die Frage ,, nicht TOm Standpunkt und nach dem Maisstab des zünftigen
Gelehrten oder des Mannes der Wissenschaft, sondern in erster Reihe Tom
Standpunkt der Ortsangehörigen, ftir die die Ortsgeschichte zunädist ge*
schrieben ist, entschieden werden solle'S Zu deutsch heifst das also: der
Lehrer soü die Schüler lehren und erziehen, aber nicht Tom Standpunkt der
Schule, sondern von dem der Schüler aus. Merkwürdiges Veriangen eines
deutschen Juristen und Politikers! In dieser ungereimten Weise verlaufen
auch die übrigen Darlegungen Zehnters, der. die Begriffe „ Ortsgeschichte ^
und „Ortschronik'' völlig vermengt und durcheinanderwirft und in bezug auf
das Urkundenedieren und andere Forderungen der Wissenschaft geradezu
erheiternd wirkende Ansichten entwickelt. Dafs er dies aüen Ernstes und
öffentlich in einer Zeitschrift tut, keimzeichnet ihn als unverbesseriichem
Delittanten. Ich bin hier auf seine Auslassungen zu sprechen gekommen,
nicht um sie zu wideriegen, deim das verdienen sie nicht, sondern nur
um auf die Absondeilichkeit eines akademisch gebildeten Mannes des
XX. Jahrhunderts auftnerksam zu machen. Seine Ortsgeschichte von Messd-
hausen hat sich stillschweigend mein i'/s Jahre zuvor erschienenes Steinbacft
bei Mudau zum Muster genommen : wo sie es tut, ist sie musterhaft, wo sie
diese Bahn verläist, irrt sie uferlos im Sumpfe des Dilettantismus.
P. Albert (Freiburg i. Br.)
ArchlTe. — In Österreich sind die grofsen Archive der gemein-
samen Reichsbehörden, Haus-, Hof- und Staatsarchiv, sowie das
Hofkammerarchiv vorzüglich geleitete Anstalten, aber merkwürdigerweise
stehen diese in so gut wie keinerlei Beziehung zu den Landesarchiven der
einzelnen Kronländer, von denen jedes ein Sonderdasein ftihrt; nicht einmal
alle Kronländer verfügen über ein solches Landesarchiv. Dafs dieser orga>
nisatorische Mangel schädigende Folgen hat, ist leicht verständlich, tmd auch
die zunächst Beteiligten empfinden dies lebhaft Der Vorsteher des Inns-
brucker Archivs, Professor Michael Mayr, hat diese Übelstände unlängst
öffendich besprochen % tmd die positiven Vorschläge für eine künftige Or-
ganisation, die er dort macht, verdienen wiederholt zu werden nicht nur
im Hinblick auf die österreichischen Verhältnisse, die gebessert werden
sollen, sondern vor allem auch, weil sie geeignet sind das noch vielfach man-
gelnde Verständnis für das staatliche Archivwesen imd seine doppelten Auf-
gaben (verwaltungstechnische und wissenschaftliche) zu wecken. Es heifst
dort: „Wesen und Aufgaben der gleichartigen Archive sind im grofsen imd
ganzen überall dieselben. Anerkannt erprobte Muster sollten deshalb auch,
wenigstens in ihren Grundzügen, für uns mafsgebend sein. Am nächsten
liegt uns wohl die preufsische oder bayerische Organisation, welche übrigens
von jener anderer Kulturstaaten nicht erheblich abweicht. Auch bei uns
werden endlich Kronlandsarchive bei allen Landesregierungen erstehen müssen.
Diese haben allmähb'ch die Archivalien nicht blofs der politischen, sondern
aller staatlichen Landesbehörden aufzunehmen und zu verwalten. Die Über-
nahmen müfsten periodisch geschehen und sich bis auf ungefähr die letzten
i) Über aUuUliches Archivwesen in Österreich in der Zeitschrift (Ur Volkswirt-
tchaft, Sozialpoliük und Verwaltnog 12. Bd. (1903), S. 116—119.
— 317 —
dreifsig Jahre erstrecken, damit die verschiedenen Registraturen entlastet
werden und Behörden und Parteien für alle mehr als ein Menschenalter zu-
zückliegenden Fragen stets auf raschen tmd gründlichen Aufschlufs vom
Archiv rechnen könnten. Nur der Praktiker vermag zu ermessen, wieviel
Zeit und Arbeit durch eine derartige Einrichtung erspart wird. Die geringen
Kosten derselben würden sich von selbst decken. Diese Provinzialarchive
hätten auch belebend und beispielgebend auf das Landes-, Gemeinde- imd
Privatarchivwesen, dessen Wichtigkeit auch bei ims mehr und mehr erkannt
wird, einzuwirken imd selbstverständlich ihre eigene wissenschaftliche Aufgabe
nicht zu vernachlässigen. In zweiter Linie sollten die heute zerstreuten und
wohl auch ungenügend untergebrachten Archive der verschiedenen Zentral-
stellen zu einem Archiv der k. k. Ministerien vereinigt werden, wodurch
die jetzige komplizierte Verwaltung wesentlich vereinfacht tmd verbilligt, die
Benützung für alle Interessenten sehr erleichtert würde. — Die Oberleitung
der Provinzialarchive imd des Archives der k. k. Ministerien wäre wie bei
allen Fachanstalten einem aus ein bis swei Fachmännern bestehenden
Direktorium der k. k. Staatsarchive anzuvertrauen; denn nur auf diese Weise
ist es möglich, den einzelnen Anstalten Geist und Leben einzuhauchen und
ihrer Tätigkeit ein richtiges Ziel zu geben. Für wissenschaftliche Fragen
hätte der bereits bestehende Archivrat als Beirat des Direktoriums zu fun-
gieren. — Da die Provinzialarchive und das Archiv der k. k. Ministerien
Urkunden und Akten aller Staatsbehörden verwalten, erscheint es selbst-
verständlich, dafs die ganze Organisation, respektive das Direktorium, nach
preufsischen Muster dem Ministerratspräsidium, nicht mehr dem Ministerium
des Innern unterzuordnen wäre.'*
So berechtigt die hier ausgesprochenen Forderungen sind, ihre Ver-
wirklichung scheint doch im weiten Felde zu liegen. Vorläufig ist es
besser, sich über Fortschritte zu freuen, die in einzelnen Kronländem aus
eigener Kraft gemacht worden sind, wie in Vorarlberg. Erst im Jahre
1898 wurde hier durch Vereinbarimg zwischen der Staatsverwaltung imd dem
Vorarlberger Landtage die Vereinigung der bis dahin in verschiedenen Re-
gistraturen verstreuten archivalischen Schätze zu einem Landesarchive
bewerksteUigt, das sich unter der Leitung von Viktor Kleiner zu Bregenz
befindet Neben acht staatlichen Archiven ruht hier das Archiv der Vorarl-
berger Landstände 1789 — 1808, während dessen älterer Teil (1404
bis 1788) noch im Magistratsarchiv zu Feldkirch verwahrt wird, aber auch
übergeführt werden soll Eine eigene Gruppe bilden die zur Aufbewahrung
hinterlegten Archive von bis jetzt sechs Gemeinden, denen sich dem-
nächst andere beigesellen werden. Die Bedeutung dieser Archive liegt nach
sachkundigem Urteile weniger auf dem geschichtlichen Wert als vielmehr in
dem Nutzen, den die Gemeinde durch die Ordnung, d. h. zugleich Nutz-
barmachung, für administrative Zwecke erzielt. Wie die Gemeinden, so hat auch
die Stadt- und Landpfarrei Bregenz hundert Pergamenturkunden (1 196— 1700)
als Depositum hinterlegt, die das staatliche Archiv des vormaligen Klosters
Mehrerau, dem die meisten Benefizien in Bregenz gehörten, wesentlich er-
gänzen. Durch Geschenke, Ablieferung seitens der Behörden und depo-
sitarische Hinterlegung mehren sich die Bestände fortwährend, und es ist
hier mithin eine erfreuliche Neugründung zu verzeichnen, die lehrt, dafs auch
— 318 —
dort, wo ein Archiv für eine Landschaft fehlt, bei gutem Willen sehr wohl
ein solches begründet werden kann.
ArchSologische Karten. — Die Notwendigkeit, die Ergebnisse der
vor- und frtihgeschichtlichen Forschung in Karten einzutragen, und sie so
der Anschauimg zugänglicher zu machen und zugleich die Zusanmienhänge
der Kulturstätten mit den topographischen Eigentümlichkeiten aufzudecken,
ist heute allgemein anerkannt, imd um eine gewisse Einheitlichkeit dabei zu
erzielen, sind bestinmite Fundzeichen vereinbart worden '). Für die Her-
stellung solcher Karten, die natürlich nicht mit einem Male erfolgen kann,
sondern allmählich gefordert werden mufs, wird den Museumsvorständen, denen
in den meisten Fällen die Arbeit zufiallen dürfte, vielleicht eine Mitteilung
willkommen sein, die in den Süzungsberichien der Oeselisehaft für Geschichte
und Alteriuniskuruie der Ostseeprovinxen Rufslands aus dem Jahre 1902
(Riga 1903), S. 105 anläfslich des Vorschlages, eine neue archäologische
Karte der Ostseeprovinzen herzustellen, gemacht wird. Es heifst dort : „ Da
es sich darum handeln würde, die seitherigen Forschungsresultate einerseits
übersichtlich, andrerseits aber vollständig und genau zu fixieren, mufs eine
Karte in grofsem Mafsstabe als Grundlage dienen, wozu für Livland die
groise Rücker'sche Karte von 1839 wohl geeignet sein dürfte, doch würde zur
Zeit nicht eine Vervielfältigimg der projektierten Karte, sondern nur die Her-
stellung eines einzigen, für das Museum bestimmten Exemplars ins Auge
zu fassen sein, nach dem Vorbilde der im dänischen National-
museum zuKopenhagen befindlichen grofsen archäologischen
Karte von Dänemark. Hier sind mit überraschendem Erfolge
die zu markierenden Punkte anstatt durch aufgetragene Zei-
chen mittels eingesteckter Nadeln hervorgehoben. Die ver-
schiedenen Farben der Nadelköpfe (Glas oder Lack) ermög-
lichen Unterscheidungen in grofser Zahl, die sich vom Kar-
tenbilde deutlich abheben; auch hat diese Art der Markierung
den Vorzug, dafs Korrekturen und Ergänzungen sich leicht
ausführen lassen. Als höchst lehrreich und gleichfalls leicht
ausführbar erweist sich die Andeutung der alten Heer- und
Handelsstrafsen durch angeheftete Messingdrähte. Da die
Herstellung emer derartigen Karte in grofsem Mafsstabe genaue Ortskenntnis
erfordert, würde es sich empfehlen, die nach einheitlichen Gesichtspunkten
auszuführende Arbeit unter den auf archäologischem Gebiete tätigen Gesell-
schaften der Ostseeprovinzen regional zu verteilen. Schliefslich hätte ein
Austausch der Resultate und deren Übertragung auf die Generalkarte der
Ostseeprovinzen stattzufinden. Dank dem Umstände, dafs in den archäo-
logischen Karten von C. Grewingk (1884) und J. Sitzka (1896), sowie
in den Arbeiten von Professor R. Hausmann und Ant. Buchholtz
bedeutende Vorarbeiten bereits vorliegen, endlich aber K. v. Löwis of
I) Vgl. darüber diese Zeitschrift 3. Bd., S. 237 — 242. Dort sind S. 237/38 anch eine
Reihe solcher Karten aufgeführt; nachzntragen wäre die archäologische Karte für den
Kanton Schaffhansen, die mit einem Kommentar (S. 9 — 55) in den Beiträgen %t4r
vaterländischen Geschichte, herausgegeben vom Historisch-antiquarischen Verein des
Kmntons Schaffhausen, 7. Heft (1900) enthalten bt.
— 319 —
M e n a r die auf den erwähnten Karten fehlenden, für den vorliegenden Zweck
so sehr wichtigen Burgberge und Ringwälle der Eingeborenen in möglichster
Vollständigkeit kartographisch fixiert hat, dürften keine allzugrofsen Schwierig-
keiten zu überwinden sein. Unter Annahme dieses Antrages wurde beschlossen,
sich wegen dessen Ausführung mit den anderen Gesellschaften in Benehmen
zu setzen.**
Die Bewerkstelligung der Eintragung auf der Arbeitskarte durch Nadeln
anstatt durch Einschreibung, ist ja auch sonst nicht ungewöhnlich, aber es
würde sich fragen, ob nicht die Nadelköpfe zugleich die vereinbarten Fund-
zeichen tragen könnten, etwa aus Pappe oder auch aus Metall: wenn der-
artige Hilfsmittel dem Bearbeiter zur Verfügung stünden, würde die Arbeit
wesentlich rascher fortschreiten und vor allem die Korrektur des einzelnen
Eintrags ohne weiteres ermöglichen. Denkt man sich die Arbeitskarte auf
einer Korkunterlage befestigt imd Nadeln mit den entsprechenden Fundzeichen
als Köpfen in genügender Menge vorhanden, dann wäre vor aUem die Über-
tragung von Karten aufserordentlich erleichtert. Es würde nur darauf an-
konmien, solche Nadeln relativ biUig in Masse herzustellen!
Personalien. — Unerwartet ist am Ende des vorigen Jahres ein Ge-
lehrter aus dem Leben geschieden, der für die Geschichte seiner Heimat
eine hervorragend tüchtige Arbeit hinterlassen hat: Prof. Dr. Karl Albrecht
in Colmar i. Elsafs. Geboren zu Lübeck am 3. Januar 1846 war A., vor-
gebildet auf einer Privatrealschule, zunächst als Ellementarlehrer tätig gewesen,
hatte als Autodidakt die klassischen Sprachen betrieben und war dann nach
kurzem Besuche der Prima des Katharineums und bestandener Reifeprüfung
nach Leipzig gegangen, um Philologie zu studieren. Hier schlofs er sich
besonders an Curtius und Zamcke an, promovierte mit einer Abhandlung über
den Akkusativus cum Infinitivo bei Homer, bestand im August 187 1 die
Staatsprüfung und wurde erst als Probekandidat, dann als Lehrer an dem
Nicolaigymnasitun zu Leipzig beschäftigt. Michaelis 1872 in das Reichsland
berufen, war A. bis 1875 ^^ ^^^ Kollegium zu Gebweiler, darauf bis zu
seinem Tode am Lycetun zu Colmar als Oberlehrer, später als Professor
tätig. Hier wandte er sich der Landesgeschichte seiner neuen Heimat zu.
Seit 1877 widmete er sich der Bearbeitung eines Urkundmbucks der ehe-
maUgen Herrschaft EappoUstein, In fünf stattlichen Bänden hat A. mit Unter-
stützung der Landes- und Bezirksvertretung einen reichen Schatz von Urkimden
und Regesten dem Forscher zugänglich gemacht. Die ältere Linie der Herren
von Rappoltstein ist schon 1157 im Mannesstanune erloschen, ihre Be-
sitztmgen sind dann an den Gatten der Erbtochter, einen Urslingen aus
Schwaben, übergegangen, dessen Oheim Konrad in Italien vom deutschen
Kaiser mit dem Herzogtum Spoleto belehnt worden war. Weit über die
Grenzen des Elsafs hinaus haben die Rappoltsteiner im deutschen Reiche
eine bedeutende Rolle gespielt und mit der Schweiz, der Freigrafschafl Burgund,
mit den Herzogen von Lothringen und dem Bistum Metz mit allen Fürsten
und Städten des südwestlichen Deutschlands mannigfache freundliche wie
feindliche Beziehungen tmterhalten. Die jüngere Linie der Herren von Rappolt-
stein starb 1673 aus imd ihr Besitz fiel an den Schwiegersohn des letzten
Grafen, den PfaJzgrafen Christian von Birkenfeld. Eine Enkelin aus dieser
— 320 —
Ehe, die Landgräün Henriette Karoline von Hessen-Darmstadt war die Ur-
grofsmutter des Kaisers Wilhelm I. und der Kaiserin Augusta. Die Erbtochter
Rappoltstein war die Ahnfrau des bayrischen Königshauses, der letzte Graf
von Rappoltstein der nachmalige König Max I. von Bayern. Diese weite
Verzweigung von Beziehungen hat es nötig gemacht, den Stoff aus 5 7 Archiven
Deutschlands, Österreichs, Frankreichs, der Schweiz und Italiens zu sammeln.
Kein geringerer als der Heidelberger Historiker E. Winkelmann hat es s. Z.
ausgesprochen, dafs A.s Werk als Denkmal einer ganz erstatmlichen Arbeits-
kraft wird gelten dürfen. Aber es bedeutet mehr: es ist eine fast imer-
schöpfliche Fundgrube für kulturgeschichtliche tmd wirtschafbgeschichtliche
Beziehungen, ein trübes Bild, welches zeigt, wie es kommen konnte, dafs an
der Wes^renze Deutschlands niemals eine starke kaiserliche oder landes-
herrliche Macht entstanden ist, wie Schenkungen an Klöster und Bistümer,
Lehnsauftragungen an den Krummstab die Zersplitterung vollendeten. Die
Urkimden zu verwerten war A. nicht beschieden. Nur zwei der bedeutendsten
Rappoltsteiner Anselm II. und Brimo hat A. in der Allgemeinen Deutschen
Biographie behandelt ; über letzteren als den bekanntesten Rappoltsteiner und
über den Widerstreit zwischen Sage und Forschung in betreff der ältesten
Generationen der Rappoltsteiner hat er sich gelegentlich in Vorträgen ver-
breitet : dafs er nicht dazu gekonmien ist, der so interessanten Persönlichkeit
Smafsmanns eine besondere Darstellung zu widmen, ist sehr zu bedauern.
Andere Untersuchungen galten der älteren Linie der Rappoltsteiner und dem
Stammvater der jüngeren Linie, Egenolf von Urslingen. Den Beziehtmgen
des Elsafs zum Reiche ging A. in einer auch im Druck erschienenen Festrede
nach: Besuche deutscher Könige und Kaiser in Colmar, zu der dann Er-
weiterungen imd Nachträge die Beilage zum Programm der Lyceums 1886
brachte. Bei allen diesen Studien ist A. seinem Berufe als Gymnasiallehrer
mit ganzer Kraft gerecht geworden: nur einige Jahre hindurch wurde ihm
durch Minderung der Pflichtstundenzahl eine Erleichterung zu teil, vielleicht ist
es aber für seine historischen Studien von besonderem Vorteil gewesen, dafs
er ganz gegen seinen Willen in seiner Tätigkeit auf die mittleren Klassen
beschränkt blieb. Nie hat er den Schulmann hinter dem Forscher zurück-
stehen lassen. Allzu früh für die Geschichte des Elsafs ist A. am 18. Dezember
1902 durch einen Schlaganfall der Wissenschaft und den Seinen entrissen
worden. Sein Name wird unter den Forschem der elsässischen Geschichte
nie vergessen werden. Sorgenfrey.
Eingegangene Btteher.
Hertel, Gustav: Die Wüstungen im Nordthüringgau (in den Kreisen Magde-
burg, Wolmirstedt, Neuhaldensleben , Gardelegen, Oschersleben, Wanz-
leben, Calbe und der Grafschaft Mühlingen), herausgegeben von der
Historischen Kommission der Provinz Sachsen. Mit einer Wüstungskarte
vom Nordthüringgau in Farbendruck, entworfen von Dr. G. Reischel
I : 100 000. Halle, Otto Hendel, 1899. 559 S. 8<>. M. 16 [= Geschichts-
quellen der Provinz Sachsen und angrenzender Gebiete. 38. Bd.].
Rautenstrauch, Johannes : Die Kalandbrüderschaflen, das kulturelle Vorbild
der sächsischen Kantoreien, ein Beitrag zur sächsischen Musikpfiege in vor-
tmd nachreformatorischer Zeit Dresden, Ramming, 1903. 45 S. S^.
HerausKeher Dr. Annin Tille in Leipzig.
Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes, Akriengesellschaft, Gotha.
Deutsche GescMchtsblätter
Monatsschrift
fövdepuog den landesgesehiehMiGheD f ovsohuog
unter Mitwirkung von
Prof. Bachmaim-Prag, Prof. Brayvig-Berlin, Prof. Bilor-MäDitcr i. W.,
Prot Pinka-FreibiiTg i. B., Archttdirektor Prof. Huiaen-KälQ, Prof. t. MsiKel-MUndieD,
Frol Humer-WUizbarg, Sektionichef t. Inkma-StemeKK-Wien, Prof. Kolde-Erltngeii,
Prof. KomilniM-Berlin, Archivraf Knegei-Karlsrahe, Prof. L«mprecht-L«iptJ£,
Archirrkt W. Upport-Droden, Archivdirektor Prof. M, M«jrr.Inn£bniclc,
ArchiTtT Ueix-OmabrUck, Prof. t. Ottenthol-WicQ, Prof. Oaw. Radlich-Wien,
Prof. T. d. Ropp-Muburg, Prof. A. Schulte-Bonn, Archivrat Sollo -Oldenburg,
Geb. Archiirat StUiD-StDltgart, Archivrat WUchke-Zerbat, Prof. Wvber-Prac,
Prot WMiek'Marbnrg, Archivrat Winter-Oioabrilck, Archi»ar Witte-Schwerin,
Prof. V. Zwi«din«d(-Badetihor«t-Graz
herausgegeben von
Dr. Armin Tille
Gotha
Friedrich Andreas
AkÜHieiellielult
1904
Inlialt.
Aufsätze : se»«
Beyerle, Konimd (Breslau): Netu Veröffentlichungen deuUeher Stadtrechte i — 15
«. 48—5^
Caemmerer» Bruno (Arnstadt): Arnstädter Tauf- und Famihennatnen ^ » 245 — 261
u. 296—315
Caro, Georg (Zürich): Zur Bevölkerungsstatistik der Karolingerzeit . ^ 195 — 202
Erben, Wilhelm (Innsbruck) : Heeresgeschichte 33 — 47
Forst, Hermann (Zürich): Die Geschichtschreihung im Bistum OsnabrOci
bis zum Ende des XVII, Jahrhunderts 117 — 127
Frankfurter, Salomon (Wien): Limesforschung in Österreich 286 — 295
Qiannoni, Karl (Wien): Staatliches Archivwesen in Österreich . ^ . • 97 — 116
Ilwof^ Frans (Graz): Steiermärkische Geschichtschreibung von 1811 bis 1850 202 — 213
Ments, Ferdinand (Strafsborg i. E.): DialektwörterbUcher und ihre Be-
deutung für den Historiker ^, 169 — 189
Pagel, Julius (Berlin): Medizinische Kulturgeschichte , 145 — 156
Tille, Armin (Leipzig): Nachwort zu dem Aufsätze über Wendische Be-
Völkerungsreste im westlichen Mecklenburg Ton HansWitte 235 — 237
Vancsa, Blas (Wien): Zur Geschichte der Besiedelung von Nieder» und
Oberösterreich 275 — 286
WSschke, Hermann (Zerbst): Die UmdesgeschichtUche Forschung in
Anhalt , 65 — 74
Witte, Hans (Schwerin) : Wendische Bevölkerungsreste im westlichen Meck-
lenburg , . . . 219 — 235
Mitteilungen :
Archive: Gesetzliche Bestimmungen über die städtischen ArchiTe in den
östlichen Provinzen Preufsens 30 — 31 ; Niederösterreichisches
Landesarchiv 59 — 60; St. Gallische Gemeindearchive 60 — 62;
Adrefsbuch der wichtigsten Archive Europas von Bettler
164—167; Stadtarchiv Saalfeld (Ernst Devrient) 213—216;
Stadtarchiv Grimma 217—218; Stadtarchiv Wernigerode 237;
Inventare Kölner Pfarrarchive 264 — 265 ; Zum österreichischen
Archivwesen (Michael Mayr) 315 — 330.
Archivtag, vierter deutscher 262
Berichtigung 4 194
Denkmalpflege: Vierter Tag fUr D. 1903 in Erfurt (Robert Brück) 56—59;
Fünfter Tag für D. 1904 in Mainz 263.
Eingegangene Bücher 32, 64, 93—96, i44, 167—168, 194,218,243—244, 273—274,330.
Seite
Oesamtverein der denttchen Qeschichts- und Alteitumsvereine : Ver-
sammlong 1903 zn Erfurt 74 — 82; Programm der Versammlung
1904 zu Danzig 361 — 262.
Onmdk«rten, der gegenwSrtige Stand der Veröffentlichung von (R.
Kötzschke) 82—87
Heimatechats 163 — 164
Helmatskiinde : Literatur zurH. TonStörzner,Koischwitz,Thalhofer,
Schwarz 1S9 — 193
Historische Kommissionen: H. K» für Sachsen-Anhalt 31—32 und 267;
H. K. für Hessen und Waldeck 32 und 266 ; Württembergische
K. für Landesgeschichte 87 — 88; H. K. bei der Kgl. Bayerischen
Akademie der Wissenschaften 88 ; Badische H. K. 88 ; Deutsche
K. bei der Kgl. Preufsischen Akademie der Wissenschaften
237 — 241; KgL Sächsische K. für Geschichte 265—266; Ge-
sellschaft für rheinische Geschichtskunde 267 — 268.
Hundert Jahre preofsisch: Nordhansen, Mühlhansen, Essen, Münster, Er-
furt, Quedlinburg (Armin Tille) 26—30
Museen: Thüringische Ortsmuseen in Nordhansen, Gera, Kahla, Arnstadt,
Mühlhausen, Langensalza, Wachsenburg, Weimar, Weida, Nieder-
pöllnitz, Hafsleben, Laucha, Kamburg, Pöfsneck, Stadtilm, *
Lauscha, Lauenstein, Jena (Paul Weber) , . 16 — 25
Nelcrologe : für Engelbert Mühlbacher (Harold Steinacker) 90 — 93 ; für Levin
▼on Wintzingeroda - Knorr 93.
Neuhochdeutsche Schriftsprache « 237—243
Neujahrsblätter: der historischen Kommission der Prorinz Sachsen, der
badischen Historischen Kommission, aus Anhalt (Armin Tille) 131 — 139
Ortsbeschreibung, Geschichtliche 88—90
Ortsverseichnisse, Historische: Westpreufsen 128— 131
Personalien 90—93
Publikationsinstitute, Konferens von Vertretern deutscher 264
Vereine: Gesellschaft für neuere Geschichte Österreichs 139 — 144; Ober-
lausitzische Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz 268 — 270 ;
Kgl. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt 270 — 73.
Versammlung deutscher Historiker: Programm der achten V. d. H. zn
Salzburg 1904 263 — 264
Wandtafeln vorgeschichtlicher Funde: Westpreufsen, Hannover, Westfalen,
Provinz Sachsen, Mitteldeutschland, Oberlausitz, Rhein- und
dcQtsches Donaugebiet, Elsafs - Lothringen, Österreich -Ungarn,
Niederlande (Hugo Jentsch) 156 — 163
Zeitschriften : JahrJmch des Geschichtsvereins für das Herzogtum Braun-
schweig 62 — 63; Mitteilungen aus der Lippischen Geschichte
und Landeskunde 63 — 64.
Monatsschrift
zur
f öpderung der laodesgesGhichtlicheQ f orschung
herausgegeben von
Dr. Armin Tille
,— erscheinen seit Oktober 1899 ■—
*
Die komplett vorliegenden fünf ersten Bände im Um-
fang von 99 Bogen werden von jetzt ab zum Preise von
— ^^^ 20 Mark ' —
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Der Bezug erfolgt einzig und allein durch den
Sortimentsbuchhandel,
doch kann dieses billige Angebot nur bis 31. Dezember 1 904
aufrechterhalten werden.
Gotha, August 1904.
Friedrich Andreas Perthes
Aktiengesellschaft.
PROSPEKT.
Deutsche Geschichtsblätter
*
Monatsschrift
zur
f öpdepuog der landesgeschichtlißhen f orschung
unter Mitwirkung- von
Piiof. Bachmann-Prag, Prot Breyaig-Bcrlin, Prof. Erler-Miinster i. W.,
Prof. Finke-Frciburg i. B., Arcbivdirektor Prof. Hansen-Köln, Prof. v. Heigel-Münchcn,
Prof. Henner- Würzburg, Sectionschcf v. Inama-Stemegg-Wien, Prof. Kolde-Erlangcn,
Prof. Kossinna-Berlin, Archivrat Krieger-Karlruhe, Prof. Lamprecht-Leipzig,
Archivrat W. Lippert-Drcsdcn, Archivdirektor Prof. M. Mayr-Innsbruck,
Archivar Merz-OsnabrUck, Prof. v. Ottenthal-WieD, Prof. Osw. Redlich-Wien,
Prof. V. d. Ropp-Marburg, Prof. A. Schulte-Bonn, Archivrat Sello-Oldenburg,
Geh. Archivrat Stälin-Stuttgart, Archivrat Wäschke-Zerbst, Prof. Weber-Prag,
Prof. Wenck-Marbnrg, Archivrat Winter-Osnabrück, Archivar Witte-Schwerin,
Prof. V. Zwiedineck-SÜdenhorst-Gras
herausgegeben von
Dr. Armin
Der Jatirgang im Omfango von 20 Bogen kostet nnr 6 Mk.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten An Orte,
wo keine Buchhandlung^ ist, erfolgt direkte Zusendung vom Verlag
ohne Preisaufschlag.
JTünf Jahrgänge der Deutschen GeschicMsbläUer liegen jetzt ab-
geschlossen vor; die Zeitschrift ist nicht mehr jung zu nennen, so
dafs sie ihre Berechtigung erst erweisen müfste, sie ist vielmehr er-
freulicher Weise in allen Teilen des Deutschen Sprachgebietes ver-
breitet und nicht nur in den Mittelpunkten geistigen Lebens, sondern
auch in recht vielen Orten, die weit abseits vom greisen Verkehr
liegen. Was die Zeitschrift, deren Preis so billig \Tie nur denkbar
bemessen ist ^, dem Leser bietet, das zeigt am besten die unten mit-
geteilte Übersicht über den Inhalt der erschienenen Jahrgänge: wer
diese durchmustert, wird sich überzeugen, dafe das geschichtliche
Forschungsgebiet den Objekten nach in keiner Weise beschränkt ist,
sondern dafe alle Erscheinungen des geistigen, wirtschaftlichen und
staatlichen Lebens gebührende Berücksichtigung finden.
Die Pflege der Landes- und Ortsgeschichte neben der allge-
meinen Geschichte bedarf heute keiner besonderen Rechtfertigung
mehr. Hier haben sich im Laufe der letzten Jahre die Anschauungen
wesentlich geläutert, und ein friedliches Nebeneinander beider Forschungs-
zweige, die sich immer mehr und mehr gegenseitig ergänzen, ist an
Stelle der vormals teilweise feindlichen Befehdung getreten. Der
Verein, der sich die Aufgabe gestellt hat, die Vergangenheit eines
gewissen geographischen Gebietes in jeder Hinsicht zu erschliefsen, ist
zu einem allseitig anerkannten Faktor innerhalb der Geschichtsforschung
geworden, den niemand mehr gern missen möchte, und der seit 1852
bestehende Gesamtverein der deutschen Geschichts- und
Altertumsyereine, in dem mehr als 150 einzelne Vereine — wenn
auch nur lose — organisiert sind, hat unverkennbar im Laufe der
letzten Jahre erheblich an Einflufs gewonnen. Nicht mehr darum
handelt es sich heute, die Berechtigung und Notwendigkeit gewisser
Organisationen zm: Pflege der landes- und ortsgeschichtlichen For-
schung zu erweisen, wie G. v. Bessert es vor zwanzig Jahren tun nciufete*,
sondern um die praktische Förderung und Vertiefung der
Arbeit jedes einzelnen Geschichtsforschers, welches ört-
liche oder sachliche Spezialgebiet er auch bearbeiten mag.
An dieser Stelle suchen die DetUschen GeschichtsbläUer den Hebel
einzusetzen, sie wollen ein unentbehrliches Hilfsmittel für
den geschichtlichen Forscher sein und ihn in seiner ent-
sagungsvollen, aber wichtigen und schliefslich lohnenden Arbeit fördern.
Die Zeitschrift verzichtet deshalb auf eingehende Darstellung geschicht-
licher Ereignisse und auf Quellenverößentlichungen — dafür gibt es
Organe genug — , sondern sie will dem Forscher das Handwerkszeug
1) 6 Mk. fUr den Jahrgang bei „mindestens 18 Bogen" Umfang. Der I. Band
nmfaist 19, der iX, Band 19I und der III. nnd IV. Band 20, der V. Band 20 j^ Bogen, so
dafs gegenwärtig der Druckbogen in vorzüglicher Ausstattung mit weniger als 30 Pfennigen
bezahlt wird. Für die Zukunft ist eine noch weitere Erhöhung des Umfanges ohne Preis-
erhöhung geplant, wenn der Abnehmerkreis sich in dem bisherigen Mafse zn vergröfsem
fortfährt
2) Die historischen Vereine vor dem Tribunal der Wissenschaft. (Heilbronn 1883.)
liefern und zwar auf jede nur denkbare Weise : diesem Zwecke dieneo
vor allem die Beleuchtung- geschichtlicher Aufgaben durch kurze Aus-
einandersetzungen über den Stand gewisser Forschungen, knappe
Literaturübersichten und' Würdigung nachahmenswerter Arbeiten aus
engen Gebieten. Die ganze Zeitschrift vom i. Hefte des i. Bandes
an bis zur Gegenwart ist dabei als eine Einheit zu betrachten, nicht
als eine Sammlung grundsätzlich verschiedenartiger Dinge; ein geistiges
Band hält alle Beiträge zusammen, und die Anknüpfung an frühere
Aufsätze bildet die Regel.
Es ist eine erfreuliche Tatsache, dafs sich heute nicht nur aka-
demisch gebildete Historiker, sondern Mitglieder aller Berufszweige
mit sehr verschiedener Vorbildung an der geschichtlichen Forschimg
beteiligen. Trotz grofsen Fleifses werden daher heute noch vielfach
recht dilettantische Arbeiten veröffentlicht, die z. T. geeignet sind die
ortsgeschichtliche Forschung selbst in Mifsachtung zu bringen. Dies
läfst sich nur vermeiden, wenn den Dilettanten der Ernst der Aufgabe
vor Augen gestellt wird, so dafs sie vielleicht von ihrem Vor-
haben ablassen, und wenn ihnen Gelegenheit gegeben wird, die Menge
kleiner Kunstgriffe der Forschung, die sich der Schüler eines histo-
rischen Seminars bei entsprechender Begabung in kurzer Zeit spielend
aneignet , kennen zu lernen : auch diese Aufgabe sucht die Zeit-
schrift, so gut es eben im Vorbeigehen geschehen kann, zu erfüllen.
Von denen, die auf der Universität geschichtliche Studien getrieben
haben, sind viele in einen stillen Winkel verschlagen, wo ihnen die
Hilfsmittel zur Fortsetzung der Arbeit fehlen, ja wo sie sich nicht ein-
mal über neuere Literatur und neuere Forschungsergebnisse zu unter-
richten vermögen. Auch ihnen — und das sind vor allem die
Lehrer an den höheren Schulen in kleinen Städten — soll die Zeit-
schrift die Möglichkeit gewähren, sich auf dem Laufenden zu erhalten.
So verschieden die Gruppen der Forscher sind, denen die Deutschen
Gescliicldshlätter praktisch dienen sollen, das Ziel ist ein einziges: Ver-
tiefung der örtlich begrenzten Forschung. Dazu ist zuerst
die Kenntnis der allgemeinen Literatur erforderlich ^ aus der
allein die richtige F'ragestellung zu gewinnen ist, und auf Grund deren
allein der F^orscher jeder örtlich als tatsächlich festgestellten Erschei-
nung ihren richtigen Platz in der Gesamtentwicklung anzuweisen und
ihre Bedeutung abzuschätzen vermag. Die genauere Besprechung
guter Einzeluntersuchungen soll nicht nur die zweckmäfsige
Arbeitsmethode kennzeichnen, sondern vor allem auch zur Untersuchung
derselben Probleme in anderen Gegenden anspornen, damit auf
diese Weise möglichst untereinander vergleichbare Ergebnisse ge-
Wonnen werden. Die vergleichende Zusammenstellung verwandter
Einzeluntersuchungen und Feststellung ihrer Hauptergebnisse
soll die Benutzung der Spezialuntersuchuneen durch die Vertreter der
allgemeinen Forschung erleichtem und führen erfahrungsgemäfs meist
zugleich zu einer neuen Problemstellung.
Die Deutschen GeschichtsbläUer wenden sich an jeden, der ge-
schichtlich arbeitet, nicht zuletzt an die Vertreter der geschichtlichen
Nebenbetriebe, wie Ahertumswissenschaft, Kunst- undLiteraturgeschichte,
Geographie und Volkskunde, vor allem aber suchten sie ihre Freunde
im Kreise der arbeitenden Mitglieder der Geschichtsvereine
und im Kreise der Lehrer an höheren Lehranstalten. Nament-
lich die Vorstandsmitglieder der Geschichtsvereine, die für Vorträge
zu sorgen und Zeitschriften zu redigieren haben, sollen in den Deutschen
Geschichtsblättern eine Unterstützung finden, mit Hilfe deren sie auch
wenig umfangreiches und oft lückenhaftes örtliches Quellenmaterial aus-
zunutzen und manche scheinbar unwesentliche Ereignisse und Vorgänge
in den gröfseren geschichtlichen Zusammenhang einzuordnen vermögen.
Dem Lehrer der Geschichte aber gibt die Zeitschrift die Möglich-
keit, sich über die schwebenden Probleme der Geschichtsforschung zu
unterrichten, sein Wissen dem Stande der Forschung gemäfs in ein-
zelnen Punkten zu berichtigen und zugleich zu vertiefen; fühlt er sich
dadurch veranlafst, an seinem Wohnsitz oder in seiner Landschaft
selbsttätig in die Forschung einzugreifen, so wird er aus der Zeitschrift
doppelten Gewinn ziehen.
Gotha und Leipzig.
Verlag und Herausgeber
der
„Deutschen Geschichtsblätter"
FrMricl Minis PirtiBS, Aktliiiuillulan. Dr. Arnli Tllli.
MaMkrudAkr
• fl
kfte.
'Terrttorud^€9cktdKU 'mit arüfiLrHcfccr ErörtcniDf über <fic Ge-
»/',h^'/r*:*v±rt;b''*.aig Ostpr^nii^ms'. Von K^irt Breysig . . . ~ i
/)4X« Ert^»we»em mUUhVerUrJi/er Städte. Von Georg Liebe. 12
I/U landeihmäikk^ LitUraimr Leuti^hlantb im Befonmaiiom»-
gedaii^ L Von Viktot Hantesch iS
Bßtteümmgen: a) Versammlungen 'Gesamiicidn der drnrscfaen
Gev:h>cbt$- and AÄerr-UDSTcreiEC , 45- Versammhmg deistsc^cr
VLiW:o^€a und Schdmänner in Bremen); b) ArchiTe (erster
Ar^*rrüd£,er deuticher Archirag, Th'.:nnger Ardtnlag, Scadt-
archir \i*iT,2a:iS'tn L Th., Staatsarchir £)ecmold, Inrentari-
jadoc kl^rinerer Archire;; c) Kommissionen (Historiscbe
K^/iorori*aon für Hessen und Waldeck, Historische Landes-
komnii^^^ion fir .Stdermark, Konunission zur Heiaa^abe von
Akten und KoircspK/ndeazen zur neueren Geschichte Osterreidis,
R.cic b^konmussion für römisch-germanische Altertumsforscfaong) ;
d; Historischer Atlas der österreichischen Alpen-
länder; e) Person alicn f^N'ekrolog für ZeÜsberg, für Melissen,
Habi Jtation r'^m Historik era/, f; Z e i t s c h r i f t e n (Tiierisciies
Archivy; gj Eingegangene Bücher 23
2. Heft (N'ovemr^cr r899;:
/Jar OrganL$aikm der Grun^Jk/irienforschung. Von Karl Lamprecht 33
X^ic Uxndeskundlkht Litttrafur Deutschlands im Beformatum»-
zeitfiUer (Schlufi;. Von Viktor Hantzsch 41
Der gegenvoürtuje Stand der lamlesgeschiddlichen Forschung in
Württemberg, Von Karl WclJer 4;
MitfeffHn(/en : a) Versammlungen (Konferenz deutscher Archi-
rarc in Dresden und der erste deutsche Archiitag in Strais-
burg, 45. Vcrsammjjng deutscher Philologen und Schulmänner);
b) Eingegangene Bücher 57
3, Heft (Dezember 1899):
Stadtrechnungen. Von Armin Tille 65
Der Rcichskrieg gegen die Türken im Jahre 1664. Von Her-
mann Forst 67
Mitteilungen : a) V c r s a rn m 1 u ti g e n (Gesamtverein der deutschen
Geschichts- und Altertumsvercin* in Strafsburg); b) Archire
(Gemeinschaftlich Hennebergisches Archiv, Invcntare der nicht-
staatiichen Archive der Provinz Westfalen , Mitteilungen der
Königl. Preufsischen ArchirverwaltungJ ; c) Vereine (Rügisch-
•i
.U
1
Seit«
Pommerscher Geschichtsvereio, Vereine für Sammlung sächsischer
Altertümer); d) Personalien; e) Eingegangene Bücher 8i
4» Heft (Januar 1900):
Über Traditionsbücher. Von Oswald Redlich 89
Die landeagesehichUiche Forschung in Pommern tvährend des
letzten Jahrsehnts I. Von Martin Wehrmann 98
Mitteikingen : a) Kommisjsionen (Historische Kommission bei
der ^ KönigL Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Thürin-
gische Historische Kommission, Badische Historische Kommission,
KöoigL Sächsische Kommission für Geschichte, Historische
Kommission der Provinz Westüsden, Altertumskommission för
Westfalen); b) Archive (Stadtarchiv Lüneburg, Bonn, Ständige
Archivausstellung in Mühlhausen i. Th.) ; c) Denk m^a 1 p f 1 e g e ;
d) Ausgrabungen; e) Zeitschriften (Nassovias, Anzeiger
für Schweizer Geschichte); f) Personalien; g) Einge-
gangene Bücher 104
5. Heft (Februar 1900):
Die Technik der Grundkarteneinzeichnung, Von Rudolf Kötzschke 113
Die landesgeschichtliche Forschung in Bommern während des
letzten Jahreehnts (Schlufs). Von Martin Wehrmann . . . 132
^ Mitteilungen: a) Historikertag und Konferenz deutscher
Publikationsinstitute; b) Vereine (Verein fUr historische
Waffenkunde, Mannheimer Altertumsverein, Oberländischer Ge-
schichtsverein, Altertumsverein für Mühlhausen i.Th.); c) Biblio-
graphie; d) Eingegangene Bücher ....... 133
6,/7, Heft (März/ April 1900):
Die Historikertage, Von Armin Tille. ... .... 157
Studien zur Geschichte der deutsch -romanischen Sprachgrenze,
Von Hans Witte \ . . . . 145
Die Verwertung der Kirchenbücher, Von Julius Gmelin . . . 157
Mitteilungen: a) Archive (Mitteilungen der KgL Preufsischen
Archiwerwaltung, Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln,
Staatsarchiv Hamburg, Generallandesarchiv Karbruhe, Archiv
der Universität Freiburg i. B.); b) Vereine (Uckermärkischer
Musetuns- und Geschichtsverein in Prenzlau, Geschichts- und
Altertumsverein in , Alsfeld, Altertums- und Musemnsverein in
Delitzsch, Historischer Verein in Reichenhall, Museumsverein
in Harburg, Historische Sektion des Naturwissenschaftlichen
Vereins für Lippe -Detmold); c) Nachtrag von Hermann
Forst zu seinem Auf satze „Der Reichstag gegen die Türken
im Jahre 1664''; d) Personalien; e) Eingegangene Bücher 171
8. Heft (Mai 1900):
Archivbenuizungsordnungen. Von Pius Wittmann 181
JAmesforschung in Österreich. Von S. Frankfurter . . . . 195
Mitteilungen: a) Versammlungen (Die sechste Versammlung
• deutscher Historiker, Vierte Konferenz von Vertretern deutscher
landesgeschichtlicher Publikationsinstitute, Versammlung des
Hansischen Geschichtsvereins); b) Eingegangene Bücher 199
■
Seit«
9« Heft (Juni 1900):
Wer war um 1430 der reichste Bürger in Schwaben und in der
Schweiß? Von Aloys Schulte 205
Zur landesgeschichtlichen Forschung in Schleswig-Holstein, Von
R. Hansen ...äii
Mitteilungen: a) Historische Museen deutscher Städte
(Frankfurt a. M., Köln, Leipzig, Breslau); b) Heinrich Theodor
Flathe und seine Stellung in der sächsischen Ge-
schichtsschreibung; c) Archive (Staatsarchiv für West-
preufsen in Danzig); d) Eingegangene Bücher. . . . 214
IG. Heft ü^ 1900):
Fünfzig Jahre oberrheinischer Geschichtsforschung. Von Karl
Brunner " 229
Mitteilungen: a) Versammlungen (Hansischer Geschichtsverein
in Göttingen); b) Denkschrift von Paul Kalkoff (Breslau)
über die Bearbeitung der politischen Korrespon-
denz Karls V.; c) Archive (Benutzung der Preußischen
Staatsarchive, Staatsarchiv Hamburg, Bayerische Archive, Archiv-
ausstellung Mühlhausen, Thüringer Arqhivtag, Fürstl. Landes-
archiv Sondershausen) ; d) Museen (der geschichtlichen Vereine
in Stade und Arnstadt, das des Vereins Camuntum); e) Per-
sonalien; f) Eingegangene Bücher 239
IX. 12. Heft (August/September 1900):
Ortsnamenforschung, Von Hermann Wäschke 253
iJie Denkmäler 'Inventarisation in Deutschland, Von Ernst
Polaczek 270
Mitteilungen: a) Versammlungen (Gesamtverein, Tag für Denk-
malspflege, Archivtag); b) Archive (Stadtarchive Breslau, Frank-
furt a. M., Reval, Staatsarchiv Zürich, Stadtarchive Pforzheim,
Eger) ; c) Kommissionen (Historische Kommission für Hessen
und Waldeck, Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde) ; -
d) Sammlung von Reiseberichten und Tagebüchern;
e) Personalien; 0 Eingegangene Bücher 291
I. Heft (Oktober 1900):
Zur Litteratur der Boland- Bildsäulen l. Von G. Sello ... i
Deutsche Wirtschafts- und Münegeschichte. Von Alfred Köberlin 12
Mitteilungen: a) Bibliographie der historischen Zeit-
schriftenlitteratur; b) Eine archäologische Reise
durch Teile Norddeutschlands. Von Gustaf Kossinna;
c) Archive (Staatliches Archivwesen in den Königreichen
Sachsen und Württemberg); d) Eingegangene Bücher . 17
a. Heft (November 1900):
J'artial'Kirchengeschichte, Von Otto Giemen 33
Zur Litteratur der Boland- Bildsäulen (Fortsetzung). Von G. Sello 40
S«ite
JiRtteilungen : a) Versammlungen (Generalversammlung des
Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine
in Dresden, Erster Tag für Denkmalpflege); b) Archive (Zweiter
allgemeiner deutscher Archivtag in Dresden, Stadtarchiv in
Freiburg i. B.); c) Eingegangene Bücher 57
3. Heft (Dezember 1900):
Zur Litteratur der Eoland-Büdsä/ulen (Schlufe). Von G. Sello 65
Mitteilungen: a) Archive (Stadtarchiv Mannheim, Staatliches
Archivwesen in Baden); b) Geschichtliche Ortschafts-
verzeichnisse; c) Personalien; d) Eingegangene
Bücher; e) Berichtigung 90
4. Heft (Januar 1901):
Die österreichiscJie EeicJisgeschichte , ihre Aufgaben und Ziele,
Von Hans v. Voltelini 97
Litteratur eur Geschichte Schleswig-Holsteins I. Von A. Lorenzen 108
Mitteilungen: a) Ausgrabungen (Antike Brote); b) Museen
(Guben, Lübbenau); c) Klostergeschichte (Aufruf, Preis-
ausschreibung einer Geschichte des Klosters Schiffenberg);
d) Zeitschriften (Pommersche Jahrbücher, Mühlhäuser Ge-
schichtsblätter); e) Eingegangene Bücher 114
5. Heft (Februar 1901):
Zur Ortsnamenforschung. Von Gustav Hey 121
Nachwort. Von Hermann Wäschke 131
Litteratur sur Geschichte Schlesung • Holsteins (Schlufs). Von
A. Lorenzen 134
Mitteilungen: a) Archive (Archivwesen im Herzogtume Braun-
schweig , Stadtarchiv Saalfeld) ; b) Zeitschriften (Ludwigs-
burger Geschichtsblätter, Jahrbuch des Vereins für die Evan-
gelische Kirchengeschichte der Grafschaft Mark); c) Kommis-
sionen (Kommission zur Herausgabe lothringischer Geschichts-
quellen, Historische Kommission in Österreich); d) Berich-
tigung 138
6./7. Heft (März 'April 1901):
Theatergeschichte. Von Christian Gaehde 145
Der auswärtige Leihverkehr der preufsischen BibliofJieken. Von
Walther Schnitze ' 164
Geschichtliche Forschung in Stadt und Bistum Worms im XV.
und XYL Jahrhundert. Von W. Roth 174
Nachwort. Von Armin Tille 182
Mitteilungen: a) Archive (Stadtarchiv Speier, Mitteilungen der
Kgl. Preufsischen Archiwerwaltung) ; b) Museen (Historisches
Museum der Pfalz, Leipaer Museumsverein); c) Zeitschriften
(Mannheimer Geschichtsblätter, Mitteilungen des Histor. Vereins
der Mediomatriker für die Westpfalz in Zweibrücken, Blätter für
Lippische Heimatkunde) ; d)Komniissionen (Württembergische
Kommission für Landesgeschichte, Histor. Kommission bei
der Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften) ; e) E i n -
gegangeneBücher 184
Seite
8. Heft (Mai 1901):
VerkehrsgeschicJUe. Von Armin Tille 193
Zur Partialkirchengeschichte, Von Peter P. Albert .... 203
Mitteilungen: a) Archive (Herzogl. kurländisches Archiv in
Mitau, Stadtarchiv Rosenheim); b) Kommissionen (Historische
Kommission für die Provinz Sachsen); c) Personalien;
d) Eingegangene Bücher 210
9. Heft (Juni 1901):
Der Werdegang des historischen Atlasses der österreichischen
Älpenländer. Von Anton Kapper 217
Der erste Verbandstag der west- und süddeutschen Vereine für
rämisch'germanische Altertumsforschung, Von E.' Anthes . . 328
Mitteilungen: a) Archive (Anhaltisches Haus- imd Staatsarchiv);
b) Kommissionen (Kgl. sächsische Kommission für Ge-
schichte, Badische Historische Kommission, Thüringische
Historische Kommission); c) Zum auswärtigen Leihver-
kehr der Bibliotheken; d) Eingegangene Bücher . 235
IG. Heft (Juli 1901):
Die Juden im deutschen Mittelalter I. Von Bruno Klaus . . 241
Das Verfahren hei Aktenkassationen in Sachsen. Von Woldemar
Lippert 249
Mitteilungen: a) Vereine (Donauwörth) 264
XI./12. Heft (August/September 1901):
Landes- und Heimatsgeschichte im Unterrichte der höheren
Schulen» Von Martin Wehrmann 265
Die Juden im deutschen Mittelalter (Schlufs). Von Bruno
Klaus . . . . 273
Lüteraturubersicht 2S9
Mitteilungen: a) Versammlungen (Hansischer Geschichts-
verein, Hauptversanmilung des Gesamtvereins, 46. Versammlung
deutscher Philologen und Schulmänner); b) Archive (Weg-
weiser durch die historischen Archive Thüringens,, Die Be-
deutung der Stadtarchive, Thüringer Archivtag); c) Wachs-
tafeln; d) Kommissionen (H. K. für Hessen imd Waldeck,
H. K. für Nassau, Gesellschaft tür Rheinische Geschichts-
kunde}; e) Vereine (Schwabach, Braunschweig -Wolfenbüttd,
für hessische Kirchengeschichte, Barmen, Stade) ;OPreufsisches
Historisches Institut in Rom; g) Eingegangene
Bücher 292
TTT, ^and.
X. Heft (Oktober 1901):
Zur politischen und sozialen Bewegung im deutsehen Bürgertum
des XV, und XVI. Jahrhunderts I. Von Kurt Käser . . i
Die OherlausUzische Gesellschaft der Wissenschaften und ihr
Neues Lausitzisches Magazin, Von Woldemar Lippert . . 18
MiUeüungm: a) Archive (Inventare des (kossherzogl. Badischen
Generallandesarchivs, Urkunden des Heiliggeistspitals zu. Frei-
bürg i. B.); b) Kommissionen (Städtische histor. Kom-
missionen in Duisburg xmd Heidelberg); c) Personalien
(Ludwig Leiner); Eingegangene Bücher 22
a« Heft (November 1901):
Nachträgliches und Neues eur Litteratur der Boland-Büdsäulen.
Von G. Sello . 53
Zur polUischen und soMuUen Bewegung im deutschen Bürgertum
des XV. und XVI. Jahrhunderts II. Von Kurt Käser . . 49
Mitteilungen: a) Versammlungen (Zweiter Tag für Denkmal-
pflege, 46. Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner);
b) Eingegangene Bücher & 61
3. Heft (Dezember 1901):
Zur Grundbesit/sverteüung in der KarolingereeU. Von Georg Caro 65
Aus dem Budget zweier Schuhmachergesdlen des XVIL Jahr-
hunderts, Von G. Schnapper-Arndt ........ 77
Mitteilungen: a) Versammlungen (Tagung des Gesamtvereins
in Freiburg i. B.); b) Archive (Stadtarchiv Wien); c) Per-
sonalien (Gustav Veesenmeyer, Josef Edmund Jörg) ; d) E i n •
gegangene Bücher 85
4. Heft Qanuar 1902):
Historische Topographie mit besonderer Berücksichtigung Nieder-
Österreichs I. Von Max Vancsa 97
Mitteilungen: a) Archive (Vereeniging van archivarissen in
Nederland, Inventar des Archivs zu Hermannstadt) ; b) L a n d e s-
geschichte im Unterricht (Hamburg, Steietmark);
c) Deutschals Urkundensprache; d) Eingegangene
Bücher 109
5. Heft (Februar. 1902):
Zur Geschichte der landesgeschichtlichen Forschung in Lothringen,
Von Ernst Müsebeck 121
Historische Topographie mit besonderer Berücksichtigung 'Nieder-
österreicJis II. Von Max Vancsa 129
Der Fortgang der deutschen Denkmälerinventarisation. Von
Ernst Polaczek 137
Mitteilungen: a) Eingegangene Bücher 144
6./7. Heft (März/ April 1902):
Betäschlands neolithische Altertümer, Von Moriz Hoemes . . 145
Ortsnamenforschung und Wirtschaftsgeschichte I. Von Hans
Witte 153
Der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen (zu seinem
40jährigen Jubiläum). Von Ottocar Weber 167
Mitteilungen: a) Archive (Hermannstadt, Mitteilungen der KgL
Preufs. Archiwerwaltung V, Fürstlich Castellsches Archiv);
b) Vereine (V. Itir Geschichte Leipzigs, V. für Rochlitzer Ge-
schichte); c) Landesgeschichtliche Bibliographie;
d) Familienforschung; e) Kommissionen (Württemberg,
S«tt«
Bayern, Baden, Kgr. Sachsen); f) Personalien (Nekrologe
für Gengier und Hegel, Verschiedene Personalverändeningen) ;
g) Eingegangene Bücher; h) Berichtigungen . . . 172
8. Heft (Mai 1902):
Ortsgeschichte, Von Peter P. Albert 193
Ortsnamenforschung und Wirtschaftsgeschichte II. Von Hans Witte 209
Mitteilungen: a) Archive (Kölnische Pfarrarchivinventare , Ur-
kunden des Altenburger imd Bomaer Stadtarchivs); b) Kom-
missionen (Westfalen); c) Eingegangene Bücher;
d) Berichtigung und Nachtrag (Merian imd Zeiller) 217
9. Heft (Juni 1902):
Landesgeschichtliche Lehr- und Lesebücher, Von Martin Wehrmann 225
Mitteilungen: a) Archive (Sorge für die Gemeindearchive in der ^
Pfalz); b) Fundzeichen; c) Kommissionen (Lothringen,
Rheinprovinz); d) Personalien (Nekrolog für Köberlin);
e) Eingegangene Bücher; f) Berichtigung .... 235
IG. Heft (Juli 1902):
Aus pommerschen Stadtarchiven I. Von Georg Winter . . . 249
Das Germanische Museum. Von Armin Tille 261
Mitteilungen: a)EingegangeneBücher 271
11./12. Heft (August/September 1902):
Ortsfiur, politischer Gemeindeheeirk tmd Kirchspiel, ein Beitrag
mr Gemarkungsgrenzfrage. Von Rudolf Kötzschke . . . 273
Aus pommerschen Stadtarchiven II. Von Georg Winter . . 295
Mitteilungen: a) Versammlungen (Hauptversammlung des
Gesamtvereins in Düsseldorf, dritter Archivtag, dritter Tag für
Denkmalpflege); b) Vereine (Verein für Thüringische Geschichte
und Altertumskunde, Deutsch-Amerikanische Historische Gesell-
schaft von Illinois); c) Kommissionen (Hist. Kommission
für Sachsen- Anhalt, Hessen und Waldeck, Thüringische H. K.) ;
d) Die Franzosenkrankheit; e) Eingegangene Bücher;
f) Nachtrag (Martin Zeiller) 306
1. Heft (Oktober 1902):
Die Reform des geistlichen Standes nach der sogen. Reformation
des Kaisers Sigmund im Lichte gleichzeitiger Reformpläne L
Von Heinrich Werner i
Mitieiluivgen : a) Archive (Strafsburger Stadtarchiv) ; b) A r c h i v e
und Kunstgeschichte; c) Bibliographie der Zeit-
schriftenliteratur; d) Zur politischen und sozialen
Bewegung im deutschen Bürgertum des XV. und
XVI. Jahrhunderts; e) Eingegangene Bücher . . 15
2. Heft (November 1902):
Zur Geschichte der landesgeschichtlichen Forschung in Lothringen*
Von Ernst Müsebeck 33
Seite
Die Reform des geistlichen Standes nach der sogen, JRefomiiation
des Kaisers Sigmund im Lichte gleichzeitiger Heformpläne IL
Von Heinrich Werner 43
Mitteihmgen: a) Versammlungen (Dritter Tag für Denkmal-
pflege, Dritter deutscher Archivtag zu Düsseldorf); b) Ein-
gegangene Bücher; c) Berichtigung 55
3. Heft (Dezember 1902):
Forschungen und Forschungsaufgaben auf dem Gebiete der Gegen'
reformation L Von Gustav Wolf 65
Mitteilungen: a) Versammlungen (Tagung des Gesamtvereins
der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine in Düsseldorf) ;
b) Eingegangene Bücher .......... 78
4. Heft (Januar 1903):
Stetermärkische Geschichtschreibung im Mittelalter, Von Franz Ilwot 8 9
Forschungen und Forschungsaufgaben auf dem Gebiete der Gegen-
reformation LL Von Gustav Wolt 102
Mitteilungen: a) Archive (Inventare der nichtstaatlichen Ar-
chive der Provinz Westfalen); b) Kommissionen (Württem-
berg, Nassau); c) Die ältesten Siegelumschriften in
deutscher Sprache; d) Eingegarngene Bücher . . 108
5. Heft (Februar 1903):
Roland'Bundschau L, Von G. Sello 113
Mitteilungen: a) Archive (Archivinventare aus Kärnten und
Steiermark, Schwedische Studien über das Archivwesen im Aus-
land); b) Museen (Niederösterreichisches Landesmuseum, Orta<
museen der Niederlausitz) ;c) Kommissionen f Hist. K. bei der
Kgl. Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Badische H. K.);
d) Eingegangene Bücher; e) Berichtigung .... 129
6./7, Heft (März/ April 1903):
Ber historische Atlas der österreichischen Alpenländer, Von
Eduard Richter * 145
Hermann Knothe und seine Bedeutung für die ober lausitzische
Geschichtsforschung. Von Woldemar Lippert 150
Boland'Rundschau IL Von G. Sello 159
Die Beform des weltlichen Standes nach der sogen. Beformation
des Kaisers Sigmund im Lichte der gleichzeitigen Befor^rnftestre-
bungen im Beich und in den Städten L Von Heinrich Werner i 7 i
Mitteilungen: a) Versammlungen (7. Versammlung deutscher
Historiker, Konferenz von Vertretern deutscher Publikations-
institute); b) Archive; c) Zeitschriften (Geschichtsblätter
fiir Waldeck und Pyrmont, Jahrbuch des Hist. Vereins für das
Fürstentum Liechtenstein, Mitteilungen des k. u. k. Heeresmuseums
in Wien, Bibliothek der sächs. Geschichte und Landeskunde, Archiv
fiir Kulturgeschichte und Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirt-
schaftsgeschichte); d)HistorischeOrtsverzeichnisse; e) Per-
sonalien (Nekrolog für Krones, Personalveränderuogen) ; f ) B e -
richtigung ' 182
t
Seite
8. Heft (Mai 1903):
Die Beform des weltlichen Standes nach der sogen, Beformaiion
des Kaisers Si^und im Lichte der gleicheeitigen Beform-
bestrebungen im Beich und in den Städten II. Von Heinrich
Werner % . 193
MOteüimgen : a)Versammlungen (Siebente Versammlung deut-
scher Historiker in Heidelberg); b) Kommissionen (KgL
Sächsische Kommission für Geschichte, Gesellschaft für Rheinische
Geschichtskunde); c) Eingegangene Bücher .... 219
9, Heft (Juni 1903):
Landschaftliche Glockenhunde. Von H. Bergner . . . . . 225
Literatur eur Glockenkunde. Von Liebeskind 239
Mitteilungen: a) Versammlungen (Konferenz von Vertretern
deutscher Publikationsinstitute) ; b) Eingegangene Bücher;
c) Berichtigung 246
IG. Heft (Juli 1903):
Die Hufe. Von Georg Caro 257
Mitteilungen: a) Familienforschung; b) Zeitschriften ,
(Fuldaer Geschichtsblätter, Deutsch -amerikanische Geschichts-
blätter); c) Neuere Literatur über den Türkenkrieg
von 1664; d) Eingegangene Bücher 272
XX. /x2. Heft (August/September 1903):
Altertümer-Ausstellungen im Königreiche Sachsen. Von Karl Berling 281
Steiermärkische Geschichtschreibung vom XVL bis XVIIL Jahr-
hundert. Von Franz Ilwot 288
Nachwort 298
Zur Vorgeschichte des Bauernkrieges. Von Kurt Käser . . . 301
Mitteäungen : a) Versammlungen (Gesamtverein der Deutschen
Geschichts- und Altertumsvereine, Tag für Denkmalpflege, Ver-
sammlung deutscher Philologen tmd Schulmänner); b) Zur
deutschen Ortsgeschichte; c) Archive (Staatliches
Archivwesen in Österreich, Landesarchiv in Vorarlberg) ; d) A r-
chäologische Karten; e) Personalien; f) Einge-
gangene Bücher 309
X. Heft (Oktober 1903):
Neue Veröffentlichungen deutscher Stadtrechte L Von Konrad
Beyerle i
MiUeüungen: a) Thüringische Ortsmuseen; b) Hundert
Jahre preufsisch (Nordhausen, Mühlhausen, Essen, Münster,
Erfurt, Quedlinburg); c) Archive; d) Kommissionen
(Sachsen -Anhalt, Hessen und Waldeck); e) Eingegangene
Bücher : 16
2. Heft (November 1903):
Heeresgeschichte, Von Wilhekn Erben 33
Seite
I^eue Veröffentlichungen deutscher Stadtrechte IL Von Konrad
Beyerle 48
Mitteilungen: a) Versammlungen (Vierter Tag lür Denkmal-
pflege) ; b) A r c h i V e (Landständisches Archiv von Nieder-
Östef reich, St. Gallische Gemeindearchive) ; c) Zeitschriften
Qahrbiich des Geschichtsvereins für. das Herzogtum Braun-
schweig, Mitteilungen aus der lippischen Geschichte und Landes-
kunde); d)EingegangeneBücher. 56
3. Heft {Dezember 1903):
Die landesgeschichtliche Forschung in Anhalt, Von Hermann
Wäschke 65
Mitteilungen: a) Versammlungen (Tagung des Gesamtvereins
in Erfurt); b) Der gegenwärtige Stand der Veröffent-
lichung von Grundkarten; c) Kommissionen (Württem-
berg, Bayern, Baden); d) Geschichtliche Ortsbeschrei-
bung; e) Personalien (Nekrolog für Mühlbacher und
V. Wintzingeroda-Knorr) ; f) Eingegangene Bücher . . 74
475. Heft (Januar/Februar 1904):
Staatliches Archivwesen in Österreich. Von Karl Giannoni . . 97
Geschichtschreibung im Bistum Osnabrück bis zum Ende des
XVI L Jahrhunderts. Von Hermann Forst 117
Mitteilungen: a) Historische Ortsve^-zeichnisse (Westpreufsen);
b)NeujahrsbJätter (Provinz Sachsen, Baden, Anhalt) ; c) Ver-
eine (Gesellschaft für neuere Geschichte Österreichs); d) Ein-
gegangene Bücher 128
6. Heft (März 1904):
Medizinische Kulturgeschichte. Von Julius Pagel T . . . . 145
Mitteilungen: a) Wandtafeln vorgeschichtlicher Funde
(Westpreufsen, Hannover, Westfalen, Provinz Sachsen, Mittel-
deutschland, Oberlausitz, Rhein- und deutsches Donaugebiet,
Elsafs-Lothringen, Österreich-Ungarn, Niederlande); b) Heimat-
schutz; c) Archive (Adrefsbuch der wichtigsten Archive
Europas); 4) Eingegangene Bücher 156
7. Heft (April 1904):
Dialektwörterbücher und ihre Bedeutung für den Historiker.
Von Ferdinand Mentz 169
Mitteilungen: a) Heimatskunde (Störzner, Koischwitz, Thal-
hofer, Sebald Schwarz ; b) Eingegangene Bücher; c) Be-
richtigung 1^9
8. Heft (Mai 1904):
Zur Bevölkerungsstatistik der Karolinger zeit. Von Georg Caro 195
Steiermärkische Geschichtschreibung von 1811 bis 1850. Von
Franz Ilwof . ^^'^
Mitteilungen: a) Archive (Stadtarchiv Saalfeld, Stadtarchiv
Grimma); b) Eingegangene Bücher 213
V ' •*
Seite
9. Heft. (Juni 1904):
We^ulische licvöll'erungsr'este im westlichen Mecklenburg, Von
Hans Witte . 219
Nachtvort i 235
Mitteilungen : a) Archive (Stadtarchiv Wernigerode) ; b) Kom-
missionen (Deutsche Kommission der preufsischeu Akademie
, der Wissenschaften); c) Eingegangene Bücher . . . 237
10. Heft (Juli 1904):
Arnsfädter Tauf- und Familiennamen I. Von Bruno Caemmerer 245
Mitteilungen: a) Versammlungen (Gesamtverein, Archivtag,
Tag für Denkmalpflege, Versammlung deutscher Historiker, Kon-
ferenz von Vertretern landesgeschichtlicher Publikationsinstitute) ;
b) Archive (Inveatare Kölner Pfarrarchive); c) Kommis-
sionen (Kgl. Sächsische Kommission für Geschichte, Historische
Kommission für Hessen und Waldeck, Historische Kommission
für Sachsen- An halt, Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde);
d) Vereine (Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften
zu Görlitz, Kgl. Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu
Erfurt; e) Eingegangene Bücher . . . . . . 261
11./12. Heft (August/September 1904):
Zur Geschichte der Besiedelung von Nieder- und Oberösterreich,
Von Max Vancsa 275
Limesforschung in Österreich. Von Salomon Frankfurter . .286
Arnstädter Tauf- und Familiennamen II. Von Bruno Caemmerer 296
• Mitteilungen: a) Archive (Zum österreichischen Archivwesen
von Michael Mayr);b) Eingegangene Bücher. . . 315
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
nur
P?>rderung der landesgeschicbtliclien Forschung
i =
V. Band Oktober 1903 i. Heft
Veröffentliehungen deutseher Stadtreehte
Von
Konrad Beyerle (Breslau)
•
Durch die Rechtseinheit, welche das Bürgerliche Gesetzbuch dem
deutschen Volke auf dem Gebiete des Privatrechts brachte, ist eine
Fülle von Rechtsquellen des Land- und Stadtrechts aufser Kraft ge-
setzt worden. Aus Grundlagen des wirklichen Rechtslebens wurden
Denkmäler der Rechtsgeschichte. Freilich wird die wissenschaftliche
Behandlung des neuen Reichsrechts immer auf die älteren Gesetz-
bücher imd auf das römische Recht als auf die Vorbilder seines in
eklektischem Verfahren zusammengeschweifstenGedankeninhalts zurück-
greifen müssen. Aber der Rechtsgeschichte steckte die Epoche einer
neuen Zeit neue erweiterte Ziele. Der Kampf zwischen den juristischen
Schulen der Romanisten und Germanisten verliert zusehends an Schärfe
und Bedeutung. Historischen Rechtsquellen gegenüber lebt der Ge-
lehrte stiller Forschertätigkeit.
Indes auch für die früheren Perioden deutscher Rechtsgestaltimg
ist die Arbeit noch lange nicht abgeschlossen. Rechtszersplitte-
, rung charakterisiert die alte Zeit, vornehmlich bis zur Aufnahme des
; römischen Rechts. Da mufste der Rechtshistoriker sich vielfach mit
älteren, ungenauen und lückenhaften Ausgaben der Quellen als Unter-
lagen seiner Forschungen begnügen. Das ist anders geworden. Mehr
und mehr werden uns die einzelnen Quellenkreise in abgeschlossenen
Publikationen zugänglich gemacht, wird durch kritische, kommentierte
Edition die Schärfe und Sicherheit des juristischen Erkennens ge-
fördert. Man ist nicht mehr, wie früher vielfach, genötigt, auf grofser
blühender Wiese hie und da ein Blümlein zusammenhangslos ab-
zureiisen und zu einem leidlichen Ganzen zu binden. Wir können
jetzt mehr imd mehr uns an einer Ecke festsetzen, die Rechtsbildungen
1
— 2 —
eines Ortes in genetischem Zusammenhange überschauen nnd erfassen,
die typischen Züge der Gesamtrechtsgeschichte einreihen.
Während Jakob Grimm Bahnbrecher für die Sammlung nnd Ver-
öffentlichung der ländlichen Rechtsquellen war, wendet sich heut-
zutage das Interesse vor allem den Städten zu. Nicht als ob man
für Weistümer und Hofrechte die Arbeit als getan ansehen würde.
Vielmehr ist von mehreren staatlichen Kommissionen die umfassende
Neuherausgabe auch der Weistümer geplant, Österreich ist hierin be-
reits mit Glück vorangegangen, die Rheinprovinz hat die Wissenschaft
jüngst mit einem ersten Bande ihrer Dorfrechte erfreut. Es sind andere
Gründe, welche zunächst den Stadtrechtspublikationen den Vorrang ein-
geräumt haben. Einmal sind die Fragen, die sich an die Entstehung
und Ausbildung unserer deutschen Städte anknüpfen, Tagesfragen der
Rechts- und Verfassungsgeschichte geworden, deren Aufhellung sich
die hervorragendsten Kräfte zuwandten. Was Wunder, wenn bei dem
gesteigerten Interesse auch umfassende Neuausgaben stadtrechtlicher
Quellenkreise auf dem Plane erschienen sind? Sodann liegen die
städtischen Quellen meist archivalisch beisammen und sind daher mit
geringeren Vorarbeiten der Edition zugänglich.
Allenthalben, nicht zuletzt in der befreundeten Schweiz, stoisen
wir auf neue Veröffentlichungen deutscher Stadtrechte, die für die
deutsche Rechtsgeschichte des späteren Mittelalters und der neueren
Zeit einen starken Antrieb zu erneutem Forschen geben werden. Auf
lange Jahre hinaus wird die Gemeinde deutscher Rechtshistoriker mit
der Buchung des reichen, hier offengelegten Quelleninhaltes zu tun
haben. Die verfassungsgeschichtliche Seite deutschen Städtetums ist
ja in den letzten fünfzehn Jahren mehr und mehr in ihren vielfach
gemeinsamen Grundlinien festgestellt worden. Für die Gebiete des
Privatrechts, des Rechtsgangs, des Strafrechts, des Verwaltungsrechts
harrt aber nun ein reiches Feld der Schnitter.
Die Umschau, die wir im Nachfolgenden unter diesen neueren
Stadtrechtspublikationen halten wollen, ergibt sofort eine auffällige Ver-
schiedenheit in der Behandlung dessen, was wir historische Ein-
leitung nennen. Textkritisch stehen sie zumeist auf der Höhe der
Zeit; auch der Handschriftenbestand und seine Überlieferung pflegen
genau mitgeteilt zu sein. Dagegen enthalten sich einzelne Ausgaben
fast jeder historischen Angabe über Verfassungs- und Rechtsgeschichte
der fraglichen Stadt, andere bringen einen kurzen Abrifs, wieder andere
setzen den Quellen eine ziemlich breit ausgeführte Verfassungsgeschichte
voran. Die Ansichten darüber gehen auseinander, welcher Weg hier
— 3 —
wohl der beste ist. Es ist der Standpunkt vertreten, Quellenausgaben
seien auf Quellen zu beschränken. Denn nur diese hätten dauernden
Wert, während alle verfassungsgeschichtlichen Einleitungen bestenfalls
den Stand der Forschung zur Zeit der Herausgabe widerspiegelten.
Das zum Verständnis der lokalen Rechtsentwickelung dienende Ur-
kundenmaterial sei nicht zu verarbeiten, sondern, soweit es nicht direkt
zum Abdruck gelangt, in zuverlässigen Regesten unterzubringen, eigener
Stellungnahme habe sich der Editor zu enthalten. Ich will zugeben,
dafs die Beigabe mehr oder weniger ausgearbeiteter Verfassungs-
geschichten aufserhalb des Zweckes der Quellenpublikation liegt und
diese mit Ballast beschwert. Anderseits bin ich stets für eine kurze
orientierende Einleitung dankbar gewesen. Sie erleichtert dem Frem-
den, dem die Menge der örtlichen Beziehungen unbekannt ist, das
Erfassen eines selbständigen neuen Quellenkreises in hohem Mafse.
Sie braucht nicht mehr zu bieten, als knappe historische Daten über
Entstehung der Stadt, über den Stadtherm, über Marktrecht und Stadt-
gericht, über Gemeindebildung, Rat und städtische Ämter, über Stadt-
rechte und Stadtrechtsfiamilien. Das lälst sich alles bequem auf ein
paar Seiten zusammendrängen, wird den meisten Benutzem höchst
willkommen sein und kann nicht als eine Belastimg der Ausgabe mit
der Veraltung unterworfenen subjektiven Anschauungen in Betracht
kommen. Gewifs ist z. B. die Keutgensche Sammlung von Ur-
kunden zur städtischen Verfassungsgeschichte *) ein hervorragendes Er-
kenntnismittel für die Geschichte des deutschen Städtewesens. Sollte
ich eine Ausstellung daran machen, so wäre es nur die, da(s sie auch
die knappsten Hinweise auf die verfassungsgeschichtlichen Grundlagen
der einzelnen Städte unterläßt, wie sie z. B. beim Ortsregister sehr
gut hätten angebracht werden können. Wer wie ich das Buch als
Chrestomathie bei Seminarübungen benutzt hat, wird mir darin recht
geben. Was aber von einer solchen Urkundensammlung gilt, gilt
viel mehr von der gesammelten Herausgabe der Rechtsquellen einer
einzelnen Stadt.
Noch in einem zweiten Pimkte weisen die zu besprechenden Neu-
erscheinungen eine grolse Verschiedenheit auf, nämlich in der äu(seren
Disposition des zur Veröffentlichung gelangenden QuellenstofTes. Die
rein chronologische Anreihung überwiegt, sie scheint mir auch die
vorzüglichste zu sein. Wenigstens gewährt sie bei Quellenkreisen
kleinen und mittleren Umfanges die beste Übersichtlichkeit. Nur bei
i) Berlin, Einil Felber, 1901.
— 6 —
gehoben, den Büig'ern von Walldürn, Buchen und Lauda, vermutlich
auch von Mergentheim , wurde als Strafe für ihre Teilnahme am
Bauernkriege sogar die Freizügigkeit, das Palladium aller mittelalter-
lichen Stadtrechte, genommen, sie sanken in eine beschränkte Leib-
eigenschaft zurück (aufgehoben erst 1667). Der Inhalt des Heftes ist
fast ausschliefslich ungedrucktem Material entnommen. Aus dem In-
halt möchte ich besonders nennen: die durch Konrad von Düren
erfolgte Erhebung von Amorbach zur Stadt im Jahre 1253, die Be-
Widmung des Dorfes Külsheim mit Frankfurter Recht unter Einräumung
von Markt und Befestigung durch König Adolf im Jahre 1292, Stadt-
recht (1447) und Stadtordnung (1492) von Walldürn, endlich die ge-
nannten Stadtordnungen des Erzbischofs Albrecht von Mainz für die
einzelnen Städte (1527/1528).
Heft 4 (erschienen 1898, 168 Seiten) enthält die Rechtsquellen
von Miltenberg, das nach Aschaffenburg zu Haupte ging, während es
um sich die Städtchen Buchen, Külsheim, Obemburg, Wörth am Main,
Stadiprozelten und König im Odenwald in Tochterstellung versammelte.
Da Buchen und Külsheim schon im 3. Heft Aufnahme gefunden hatten,
kam von den Tochterrechten nur noch Obemburg in Betracht, die
übrigen Tochterstädte besitzen zum Teil nichts Mitteilenswertes, zum
Teil fallen sie aufserhalb des Aufnahmegebietes der oberrheinischen
Stadtrechte. Im weiteren enthält das Heft die Quellen der Odenwald-
städte Hirschhorn, Neckarsteinach (Oberhof Ladenburg) und Wein-
heim (Oberhof Heidelberg), sodann diejenigen der Städte Sinsheim
und HUsbach. Die Publikation beruht fast ausschliefslich auf hand-
schriftlicher Grundlage. Aus dem Inhalte sind hervorzuheben: MUten-
berger Ratssatzungen aus den Jahren 1379 — 1434, sowie Miltenberger
Stadtbucheinträge (1440 — 1459); eine umfangreiche Aufzeichnung der
Rechte zu Neckarstemach (1537); das PrivUeg Ottos III. für Kloster
Lorsch über die Verleihung von Markt, Zoll und Bann in Weinheim
(1000); femer eine Stadtordnung des Pfalzgrafen Philipp für Weinheim
aus dem Jahre 1489; der Marictbrief Heinrichs IV. für den Grafen
Zeizolf über die Gründung des Marktes zu Sinsheim (1067), eine Ur-
kunde Heinrichs VI. von 1 192 über Erwerbung der Hälfte der öffent-
lichen Einkünfte zu Sinsheim durch den König; endlich ein gröfseres
Sinsheimer Weistum von 1563.
Heft 5 (erschienen 1900, 211 Seiten) führt uns in die Perle der
Pfalz, nach Heidelberg. Heidelberg war Oberhof für Weinheim (vgl.
Heft 4) und Neckargemünd. Aufserdem sind in diesem Hefte die
Rechtsquellen der pfäkdschen Städte Mosbach, Neckargemünd und
— 7 —
Adelsbeim niedergelegt. Zum gröfsten Teil wird auch hier ungedrucktes
Material veröfTentlicht Der Rechtsstoff Heidelbergs erscheint allerdings
durch die Zerstörung stark dezimiert. Ältestes Stück ist eine Stadt-
ordnung Pfalzgraf Ruprechts I. von 1375. Weiter sind zu nennen eine
zweite Stadtordnung von 1465 und ein umfangreiches landesherrliches
Privileg des Pfalzgrafen Friedrich I. von 147 1, endlich ein Privileg
des Kiurfürsten Karl Theodor von 1746. Mosbach besitzt ein grö&eres
Stadtrechtsbuch von 1526.
So ist in verhältnismäfsig kurzer Zeit der Rechtsstoff einer" groisen
Zahl fränkischer Städte badischen Anteils der Forschung zugänglich
gemacht. Es steht zu hoffen, dafs in ebenso rascher Folge die wei-
teren fränkischen Städte der alten Pfalz, des Bistums Speier und der
Markgrafschaft Baden (-Durlach und -Baden) folgen werden. Sollten
sich die Herausgeber entschliefsen können, die oben angeregten
kurzen tatsächlichen Mitteilungen den einzelnen Quellenkreisen voran-
zuschicken, so würden sie damit, wie ich zuversichtlich hoffe, den
Wünschen weiter interessierter Kreise in hohem Maise entgegen-
kommen.
Wir wenden uns der elsässischen Abteilung der oberrheinischen
Stadtrechte zu. Hier ist vor Jahresfrist in zwei umfangreichen Halb-
bänden das Recht der alten Reichsstadt Schlettstadt, bearbeitet vom
Schlettstadter Stadtarchivar Joseph G^ny, veröffentlicht worden^).
Weitaus das Meiste davon beruht auf handschriftlichem Material. Der
Bearbeiter hat der Ausgabe eine Einleitung vorangeschickt, welche
über die verfassungsgeschichtlichen Grundlagen von Schlettstadt orien-
tiert und den Handschriftenbestand klarlegt. Leider lä(st die histo-
rische Einleitung die wünschenswerte juristische Schärfe vermissen.
Wir entnehmen derselben, da(s am Schlettstadter Boden seit dem
XI. Jahrhundert grundherrschaftlich begütert waren das Domkapitel
und der Dompropst von Straisburg einerseits und die von der süd-
französi§chen Benediktinerabtei Conques abhängige Propstei S. Fides
in Schlettstadt selbst anderseits. Die überwiegenden Rechte müssen
in der Hand der letzteren Anstalt gelegen haben, wie mit Sicherheit
aus der vom Bearbeiter viel zu wenig gewürdigten Tatsache hervor-
geht, dafs die Propstei S. Fides Markt-, Zoll- und Scbankrecht zu
Schlettstadt im Jahre 1095 bereits antiquissima iraduAane besaft. Es
i) Sehlettstadier Stadireehte, bearbeitet von Joseph G^ny, Gymnasialprofessor
in Schlettsudt, i. and 2. Hälfte. [Oberrheinische SUidireehie, 3. Abt.: Elsässisch^
BeehU, ▼eröffentlicht von der Kommission snr Hermosgabe elsässischer Gescfaiditsqaellen ^
Heidelberg, Kail Winter, 1902. XXVIII und 1173 S. 8*. 36 Mk.
— 8 —
ist sehr bedauerlich, dafs G^ny diesen .Marktbrief nicht aufnahm, die
Note I auf S. VI beweist mir, dafe er sich der Trag^weite der Ur-
kunde nicht bewufst wurde. Durch Vertrag vom Jahre 12 17 tauscht
Friedrich II. vom Propst von S. Fides gegen Überlassung von Königs-
gut zu Schlettstadt, Burner und Kinzheim den Bannwein, das Schank-
recht, die Fronden, den halben Zoll und die Hälfte der Gerichts-
gebühren von Schlettstadt dem Reiche ein: Schlettstadt rückt damit
in die Reihe der elsässischen Reichsstädte ein. Schultheis und
Zoller werden fortan gemeinschaftlich von König und Propst ernannt.
Die weitere Entwickelung von Schlettstadt kennzeichnet sich dturch
folgende Daten: 1292 Einsetzung, 1358 demokratische Umgestaltung
des Rates, 1402 Erwerb des Blutbanns, 1404 Ankauf des SchultheiCsen-
amtes durch die Stadt, zunächst als Pfand.
Den grofsen, ausschliefslich dem Schlettstadter Stadtarchiv ent-
nommenen QuellenstofT gliedert der Bearbeiter sachlich in drei Teile.
Der erste Teil umfafet die königlichen und kaiserlichen Privilegien,
welche Verfassung und Verwaltung bestimmen, sowie die, Grund- und
Hoheitsrechte berührenden Verträge der maisgebenden Gewalten
(212 Nummern auf 267 Seiten). Im zweiten Teil folgen die Satzungen
und Ordnungen der autonomen Reichsstadt und zwar, soweit sie in
für sich abgeschlossenen Statuten- und Ratsbüchern vorliegen, in ihrer
Gesamtheit, zerstreut überlieferte Sätze nur, soweit sie der Zeit vor
dem Jahre 1500 entstammen, eine m. E. mechanische Zeitgrenze. Ich
will jedoch sofort hinzufügen, dafs der Bearbeiter in allgemein sehr
verständiger Weise die Quellen auch der neueren Zeit, speziell fran-
zösische Gesetze und Erlasse aufgenommen hat, namentlich gilt das
von Teil I und Teil III. Dieser letztere dritte Teü enthält unter dem
Titel Ordnungen die Eidesformeln und Amtsordnungen der städtischen
Behörden und Beamten, sodann in Auswahl die Bürger- und Gewerbe-
ordnungen, endlich die von der Stadtbehörde genehmigten Hand-
werker- und Zunftordnungen. Der Bearbeiter geht sogar über das
Mafe des Üblichen bedeutend hinaus, indem er in diesen dritten, den
zweiten '(grölseren) Halbband füllenden Teil auch Achtbücher, Bufeen-
register, Bürger- und Ratslisten, Zollordnungen und Rentenverzeichnisse
über städtische Schulden und Forderungen aufnimmt. Gegen die von
dem Herausgeber gewählte alphabetische Anordnung habe ich mich
bereits oben im Prinzip ausgesprochen. Der dadurch geschaffene
Mangel chronologischer Übersichtlichkeit hätte zum mindesten durch
eine kurze chronologische Tabelle aller Stücke ausgeglichen werden
müssen. Auch wird es sich fühlbar machen, dafs die zahlreichen
— 9 —
Stücke des zweiten Halbbandes nicht ziffernmälsig durchgezählt, son-
dern in kleineren Sachrubriken vereinigt sind.
An anderer Stelle^) habe ich sodann auf einen Mifsstand hin-
gewiesen, der eine prinzipielle Aussprache erfordert. Bekanntlich
pflegen nur die Satzungsbücher den Rechtsstoff in kleine, für Über-
sieht und Zitierung unerläfsliche Abschnitte zu teilen, wie sie unseren
modernen Gesetzesparagraphen entsprechen. Dagegen häufen die Ur-
kunden oft die umfangreichsten und verschiedenartigsten Bestimmungen
ohne Abschnitte und Überschriften aufeinander, wodurch die Benutzung
und vor allem die Zitiermöglichkeit ungemein erschwert ist. Ich halte
es nun für eine übertriebene archivalistische Forderung, solche um-
fangreichen Urkunden ohne äufsere Einteilung in kleinere übersicht-
liche Abschnitte abzudrucken lediglich deshalb, weU die Vorlage solche
nicht enthält. Ich denke, diese mit so grofsem Aufwände an Geld
und Mühen hergestellten Stadtrechtspublikationen sollen doch vor-
nehmlich der Rechtsgeschichte zur Förderung dienen. Da mufs aber
der Jurist mit Entschiedenheit bitten, dais ihm nicht viele Seiten lange
Texte ohne jeden Abschnitt vorgesetzt werden, sondern dafs da, wo
die Vorlage keine Abschnitte aufweist, der Herausgeber sie nach
bestem Ermessen selbst anbringe. Es versteht sich von selbst, dais
solche in der Vorlage nicht vorhandenen Abschnitte als vom Heraus-
geber herrührend (durch eckige Klammem) kenntlich zu machen sind.
Dann hat aber die Sache vom Standpunkte der genauen Textwiedergabe
nichts Bedenkliches an sich *). Haben wir doch auch längst verzichtet,
die alte mangelhafte Interpunktion unserer Texte aufzunehmen. Die
Lektüre einer ganzen Reihe von Stüdcen der Schlettstadter Stadtrechts-
publikation hat mir diese Forderung als dringendes Bedürfnis für eine
leichte und sachgemäfse Benutzung erwiesen. Man vergleiche die Ur-
kunden Nr. 52, 60, 72, 89, 103, 104, 115, 161, 175.
1) Deutsche LitercUurxeitung 1903, Nr. 29, S. 1792.
2) Verstäodigcrweisc so verfahren ist z. B. schon K o r t h , der in den Annalen des
historischefi Veretfis für den Niederrhein y Heft 51 (1891) und Heft 62 (1896), als
Vorarbeit für eine künftige Ausgabe eine Reihe von Vrkuttden xur Verfassungsgeschichte
niederrheinischer Landstädte herausgegeben hat.
Es sei bei dieser Gelegenheit bemerict, dafs seit kurzem die Herausgabe der Stadt-
rechtlichen Urkunden der kleineren Städte der Rheinprovinz von Seiten der Gesellschall
für Rheinische Geschichtskunde beschlossen worden ist Vgl diese ZeiUcbrift 4. Bd.,
S. 224. — In Thüringen ist die Historische Kommission ebenfalls mit der Veröffent-
lichung von Sudtrechten beschäftigt, und diejenigen der Städte Eisenach und Saal-
feld dürften bald erscheinen. Vgl. diese Zeitschrift 3. Bd., S. 314. D ""^
— 10 —
In der orthographischen Textwiedergfabe huldigt Geny freieren
Grundsätzen. Mir sind einzelne offenbar verlesene Stellen aufgefallen.
Die beiden Bände bieten ein reiches Material zur Rechts-, Wirt-
schafts-, Finanz- und Kulturgeschichte der elässischen Reichsstadt dar.
Hier kann nur auf die wichtigsten Stücke hingewiesen werden. Unter
den Urkunden steht im Vordergrunde die Handfeste König Adolfs von
1292, welche in 74 Abschnitten ein den Stadtrechten von Freiburg i. Br.,
Breisach (25. VIII. 1275) und Kolmar (29. XII. 1278) entnommenes
Recht bietet und damit Schlettstadt in die grofse zähringische Stadt-
rechtsfamilie einreiht. In sehr verständiger Weise hat G^ny die
Parallelstellen in Anmerkungen bezeichnet. Durch die folgenden
Könige, insbesondere durch Karl IV. (1347), hat die Handfeste mehr-
fache Erweiterungen erfahren. Eine Reihe von Bündnissen verbindet
schon im XIV. Jahrhundert die Stadt Schlettstadt mit anderen elsässi-
schen Städten, insbesondere mit Strafsburg und Kolmar, in mannig-
fachen Rechtsbeziehungen. Die Geleitsurkunde, die Schlettstadt im
Jahre 1438 von Bischof Wilhelm von Strafsburg für das bischöfliche
Gebiet erwirkte (Nr. 121) ist im Regest als solche nicht genügend ge-
kennzeichnet, auf S. 139 Zeile 15 v. o. mufe es wohl „torne*' statt des
unverständlichen „nome" heifsen. Für die Reaktion Süddeutschlands
gegen die westfälischen Femgerichte ist Nr. 129 zu beachten. Juden-
rechtlich von Interesse ist die Urkunde Karls V. von 1521 (Nr. 154),
worin den Bürgern von Schlettstadt verboten wird, auf Li^enscfaaften,
Handschriften oder auf Treu und Glauben von den Juden Geld zu
entleihen. Für die im XVI. Jahrhundert eingeführte Ablösbarkeit der
Ewigrenten sind die Privilegien Karls V. von 1526 und 1530 (Nr. 164
und 165) zu vergleichen. Asylrecht genofs zu Schlettstadt der Hof
der Propstei von S. Fides (Nr. 177). Von Versailles datiert eine Ver-
waltungsverordnung Ludwigs XV. für den Magistrat zu Schlettstadt
(1756, Nr. 205). Noch unter französischer Herrschaft befiehlt der
königliche Intendant im Eisais zur besseren Steuereinschätzung die An-
legung von Grundsteuerkatastem im Jahre 1777 (Nr. 207), nicht von
Grundbüchern im juristischen Sinne! Das umfangreiche Statutenbuch
der Stadt Schlettstadt stammt in seiner Anlage aus dem Jahre 1374;
es übernimmt ältere Satzungen und wird in jüngeren Handschriften
durch das XV. Jahrhundert fortgesetzt Aus dem zweiten alphabetisch
geordneten Halbbande notiere ich folgende Stücke: Bürgerbriefe
(S. 409 ff.), Bestallungsurkunden von Stadtärzten (S. 430 ff.), Bau-
ordnungen (S. 471 ff.), Bürgerannahme (S. 505 ff.) mit Bürgerlisten,
Eheordnung (S. 520), Klostertod (S. 523), Ächterverzeichnisse (S. 588 ff.),
— 11 —
Bufsregrister (S. 593 ff.), Zivilprozefeordnung^ von 1503 (S. 642 ff.),
Hexenprozesse (S. 663 ff.), Gewerfregister (S. 682 ff.), Stadtrechnungen
(S. 751 ff.), Verhältnisse der Geisüichkeit (S. 813 ff., vgl. dazu die Ur-
künden Nr. 112, 145, 146, 161, 171, 174 des I.Teiles), Schulmeister
(S. 931 ff.), Ratslisten (S. 826 ff.), Spitalordnung (S. 945 ff.), Wechsler-
wesen (S. loiiff.), umfangreiche Bestimmungen über Weinverkauf und
Wirte (S. 1 014 ff.), städtische Zinsregister (S. 1050 ff.), Zollordnungen
(S. 1063 ff.). Wenn wir damit vom Schlettstadter Stadtrecht Abschied
nehmen, so tun wir es nicht ohne das Gefühl aufrichtigen Dankes
gegenüber dem unermüdlichen Herausgeber eines grofeen Quellenstoffes.
Vom Elsafs wenden wir unsere Blicke auf die schwäbische Reichs-
stadt Rottweü. Prof. Grein er hat von ihren reichen Rechtsquellen
in Ergänzung des ürkundenbtichs der StacU Rottweü (Württembergische
Geschichtsquellen III) eine Satzungshandschrift, das sogen. Rote Buch,
tmter dem Titel: „Das ältere Recht der Reichsstadt Rottweil" ver-
öffentlicht *). Die Ausgabe ist mit den bescheidenen Mitteln des Rott-
weiler Altertumsvereins im Druck gegeben und nimmt in der Reihe
der hier zu besprechenden Neuerscheinungen eine gewisse Sonder-
stellung ein. Der Herausgeber glaubte ihr auiser einer ziemlich um-
fangreichen geschichtlichen auch eine sprachliche Einleitung voraus-
schicken zu sollen. Das letztere war sicherlich nicht vonnöten. Aber
auch die geschichtliche Einleitung, in der ich gerne eine für einen
Nichtberufsjuristen recht anerkennenswerte Leistung erblicke, greift
über die oben angedeutete Beschränkung, die bei Quellenausgaben
walten sollte, sehr erheblich hinaus. Sie unterrichtet zunächst über die
RottweUer Satzungsbücher. Eine ältere Aufzeichnung, die zu Anfang
des XIV. Jahrhunderts angesetzt wird, ist verloren. In der Haupt-
sache haben dann nur zwei Redaktionen stattgefunden. Das hier
publizierte Rote Buch einerseits (552 Sätze: Satz i — 231 die älteren
Satzungen bis zum Jahre 1425 enthaltend, von Satz 232 — 323 folgen
Bestimmungen des XV. Jahrhunderts, von weiteren Händen nachgetragen,
sodann ab Satz 398 Zusätze des XVI. Jahrhunderts bis zum Jahre
1535)» dessen Anlage zwischen 1498 und 1503 fällt, und eme um-
fangreiche, in zwei Peigamentbänden enthaltene Reformation des Rott-
weiler Stadtrechts von 1546. Von der Praxis bis 1865 angewandt und
von der Rechtsgeschichte (besonders durch Wächter) verwertet wurde
bisher nur diese jüngere Redaktion, so dafs sich der Herausgeber
durch die Drucklegung der älteren Statutensammlung ein offent
I) Greiner, Das äitere Recht der Reichsstadt Rottweü, Mü gmUBÜHe?
sprachlicher Einleitung. (Stattgsrt, Kohlhammer, 1900. 373 S. kL
— 12 —
Verdienst erwirbt. Im zweiten Kapitel seiner Einleitung* bandelt Grei-
ner von der „Entstehung der Stadt und Entwickelung der städtischen
Verfassung im Zeitrahmen des Roten Buches". Er scheint sich dabei
der Hoffnung hingegeben zu haben, durch eine breitere historische
Darstellung auch dem Laien sein Rottweiler Rechtsbuch nahezubringen.
Für den Rechtshistoriker hätte eine kürzere und straffere Orientierung-
viel mehr Wert gehabt. Die Reichsstadt RottwcU geht auf römischen
Ursprung, direkt auf eine Karolingische Königsvilla zurück, aus der
da» „Dorf", die Altstadt Rottweil entstanden ist. Markt und Stadt
entstanden erst, als die Grafschaftsrechte der Gegend nachweisbar um
I IOC an die städtegründenden Herzoge von Zähringen gekommen waren.
Dabei werden die 21ähringer gewifs auch grundherrschaftlich den Rott-
weiler Boden in die Hände bekommen haben, denn die Annahme
Greiners, sie hätten die Marktgründung Rottweil lediglich auf Grund
ihrer Grafenrechte unter Zustimmung der königlichen Grundherren
vorgenommen, widerspricht allen gemeingültigen Beobachtungen der
Rechtsgeschichte. Die S. 28, Nr. i mitgeteilte Vermutung von Heyck,
dafs der im XIII. Jahrhundert nachweisbare Grundbesitz der Habs-
burger zu Rottweil aus der zähringischen Erbschaft stammt, scheint
mir dabei der Wahrheit viel näher zu kommen. Die äufsere Anlage
der „Neustadt" Rottweil zeigt, übereinstimmend mit VUlingen und
Freiburg i. Br., den zähringischen Stadtplan, durchzogen von zwei
grofsen sich kreuzenden Strafsen. Das Wesen des Hofstättenzinses,
der an den Stadtherrn entrichtet wurde, ist Grein er nicht klar ge-
worden. Er weifs zwar, dafs damit keine hofrechtliche persönliche
Abhängigkeit der Marktansiedler gegeben war, erklärt aber dieselben
für Nichteigentümer, für in dinglicher Abhängigkeit stehende Pächter;
der Gegensatz von städtischer Erbleihe und Gründelleihe, der mehr
öffentlich-rechtliche Charakter der letzteren, sind ihm entgangen. Die
Ausbildung der städtischen Ämter zu Rottweil weist folgende Haupt-
daten auf: Schultheifs und Rat erscheinen urkundlich seit 1265, ein
erweiterter grofser Rat seit 13 14, das Amt des Bürgermeisters ist seit
1290 belegt. Das Schultheifsenamt kam zuerst 1341 durch Verpfän-
dung in den Besitz der Stadt, den Blutbann erlangte RottweU 1359.
Die wichtige Frage der ursprünglichen Trennung der Marktgemeinde
von der Hofgemeinde der Altstadt wird S. 32 nur in der Note er-
wähnt. Durch gute Belege erhärtet Grein er im weiteren den Satz,
dafis zähringisches , insonderheit Freiburger Recht auf dem Umwege
über Villingen in Rottweil Eingang fand. Mit Villingen und Freiburg,
namentlich aber auch mit Schaffhausen hatte Rottweil im XIV. Jahr-
— 13 —
hundert Bündnisverträge geschlossen. Eine förmliche Oberhofstellung
von Freibui^ oder Villingen über Rottweil ist jedoch nicht nach-
gewiesen. Eine demokratische Umgestaltung der Verfassung fand im
Jahre 1378 durch Einfügung eines zünftischen Zweiundzwanzigeraus-
schusses statt. Jahrhundertelange Beziehungen verknüpften Rottweil
mit der Eidgenossenschaft. RottweU wurde 15 19 zum ewigen Eid-
genossen aufgenommen und als zugewandter Ort anerkannt. Es
besuchte bis 1630 die eidgenössischen Tagsatzungen. Tochterstädte
von RottweU waren Donauwörth, Weifsenhom und Reutlingen, letztere
Stadt seit 1377. Auf den Einzelinhalt des veröffentlichten Stadtrechtes
kann hier nicht eingegangen werden. Es weist in zahlreichen Stücken
die zähringische Färbung auf. Leider fehlt der Ausgabe ein Sach-
register. Die salvatorische Klausel, die sich der Herausgeber auf
S. 102, Nr. I vorbehält, kann ihn davon nicht entbinden, ebensowenig
die unter Anlehnung an die spätere Redaktion in zwölf Abschnitten
gegliederte Inhaltsübersicht. Alles in allem wird man die Veröffent-
lichung des RottweUer Roten Buches zwar begrüfsen, aber nicht als
eine auf der Höhe rechtsgeschichtlicher QuellenpublUcation stehende
Ausgabe gelten lassen können.
Ehe wir uns den hervorragenden Veröffentlichungen schweizerischer
Stadtrechte zuwenden, sei der Tätigkeit gedacht, welche die historische
Kommission für Westfalen auf unserem Gebiete entfaltet. Bis jetzt
li^ in einem Band, bearbeitet von Stadtarchivar Dr. A. Overmann
in Erfurt, das Stadtrecht von Lippstadt im Drucke vor ^). Einer Vor-
bemerkung von Dr. F. Philippi ist zu entnehmen, dafs die west-
fälische historische Kommission schon bei ihrem ersten Zusammen-
treflTen neben anderen Quellen auch die Rechtsquellen in ihren Ver-
öffentlichungen zu berücksichtigen beschlofs. Mit Recht wird darauf
hingewiesen, dafs die vorbildliche Bedeutung der Städte Westfalens
für die nördlichen und östlichen Städte gerade eine umfassende Be-
arbeitung der westfälischen Stadtrechte besonders rechtfertige. Die
westfälischen Städte gliedern sich in zwei Gruppen, Bischofs- und
Stiftsstädte mit ihren Tochtergründungen einerseits, laienfürstliche
Gründungen anderseits. An der Spitze der letzteren steht Soest, eine
Tochter Kölns. Für die Aufhellung der Verfassungsverhältnisse der
i) Veröfifentlichangen der historischen Kommission für Westfalen. Rechtsquellen.
Westfälische Stadtrechte. Abteilung I: Die Stadtrechte der Grafschafl Mark. Heft i.
Lippstadi, bearbeitet von Dr. A. Overmano, Stadtarchivar in Erfart. Mit Unter-
stützang der Stadt Lippstadt. Münster i. W., Kommissionsverlag von Aschendorff, 1901.
III bzw. 150 S. and 3 Beilagen.
— 14 —
ersten Gruppe sowie von Soest selbst ist bereits so viel geschehen,
dafe die westfälische Kommission zunächst von der Publikation dieser
Rechtsquellen Abstand nahm und sich dem bisher ziemlich vernach-
lässigten Kreise der Städte in der Grafschaft Mark zuwandte. Ihr
Recht entstammt mittelbar Soest. Hamm, die Hauptstadt der Grafschaft
und Mutterstadt aller übrigen Städte in derselben, erhielt das Soester
Recht auf dem Wege über Lippstadt. So kam die genannte Kommission
dazu, mit den Rechtsquellen von Lippstadt ihre rechtsgeschichtliche
Publikationsserie zu eröffnen, zumal Lippstadt seit 1376 im Teilbesitz
der Grafen von der Mark gewesen ist.
Auch der Veröffentlichung des Lippstadter Rechts ist eine um-
fangreiche Übersicht über die Entwickelung der Stadtverfassung und
Stadtverwaltung vorausgeschickt. Für meinen Geschmack ist dieselbe
in dieser Breite hier nicht am Platze. Sie beruht allerdings allent-
halben auf eindringendem Studium und verrät ein gutes Verständnis
für verfassungsgeschichtliche Fragen. Aber sie greift über eine orien-
tierende Übersicht für den Quellenbenutzer sehr erheblich hinaus und
belastet so in der Tat die Quellenpublikation, der sie an Umfang fast
gleichkommt, mit einem dem Wandel der Anschauungen unterworfenen
Abrifs der Verfassungsgeschichte von Lippstadt. Schon heute sind
manche Ausführungen nicht einwandfrei.
Lippstadt ist Dynastengründung Bernhards von Lippe vom Jahre
1168. Der Grund und Boden der Stadt und Feldmark war iippisches
Eigengut, nur einzelne Teile der Feldmark waren kurkölnische Lehen.
Ja es scheint, dafs die ganze Herrschaft der Lippe ein durch Auf-
tragung des Gründers von Lippstadt begründetes Lehen der Kölner
Kirche war. Die Herren von Lippe erscheinen unter diesem Gesichts-
punkt als besonders freie Vogteiinhaber. Der Punkt ist in der Ab-
handlung nicht deutlich genug gemacht, obwohl die Einleitung des
ältesten Stadtrechts dazu besonders auffordern mufste. Die Bewohner-
schaft Lippstadts gliedert sich in Bürger und sogen. Medewoner, die
ohne politische Rechte an den städtischen Lasten teilnahmen. Aufser-
halb der Gemeinde standen Geistliche, nichtverbürgerte Ministerialen
und Juden. Die Bestimmungen der alten Privilegien über Aufnahme
Höriger sind mifsverstanden. Der Satz der Bestätigungsurkunde Bern-
hards III. von 1244, dafs ein Jahr und Tag unangesprochen in der
Stadt wohnender Höriger als Bürger aufgenommen werden könne,
besagt gegenüber dem entsprechenden Satze des ersten Privilegs
nichts neues, ist vielmehr nur eine deutlichere Fassung des bekannten
Rechtsprinzips. Die weiter aufgestellte These, dafs sicher Grund-
— 15 —
besitz in Lippstadt zur Erwerbung* des Bürgerrechts nicht genügt habe,
ist nicht bewiesen und scheint mir für die ältere 2^it höchst zweifel-
haft. Der Grundbesitz zu Lippstadt war zu Weichbildrecht gegen
Wortzins ausgetanes Herrenland.
Stadtherren von Lippstadt waren ursprünglich allein die Edel-
herren von Lippe. 1376 verpfändete Simon zur Lippe die Stadt für
8000 Mark Silber an Graf Engelbert von der Mark. Durch Vertrag
zwischen den Herren von Cleve und von Lippe vom Jahre 1445
wurde ein Condominium beider Dynastengeschlechter über Lippstadt
vereinbart. Seitdem stand die Stadt unter der Samtherrschaft von
Cleve-Mark (seit 1609 resp. 1666 Brandenburg -Preufsen) und Lippe.
Erst im Jahre 1850 fand die völlige Vereinigung Lippstadts mit Preufsen
statt. Die Verfassungsentwickelung von Lippstadt zeigt zunächst ein
jahrhundertelanges Erstarken der selbständig werdenden Stadtgemeinde,
die jedoch stets Landstadt blieb. Infolge der Reformation griffen die
Stadtherren im Jahre 1535 in die Entwickelung hemmend ein, Lipp-
stadt wurde in den neueren Jahrhunderten mehr und mehr der landes-
herrlichen Bevormundung unterworfen.
Im weiteren behandelt Ov ermann die Hoheitsrechte und grund-
herrschaftlichen Befugnisse der Stadtherren. Hoheitsrechte waren vor
allem Gerichtsbarkeit, Markt, Zoll, Münze, Anspruch auf Huldigung.
Die Ausführungen des Verfassers entbehren hierin der jiuristischen
Schärfe. Als Grundherren bezogen die Stadtherren von den städti-
schen Hofstätten Wortzins, von den Liegenschaften der Feldfliu: Morgen-
kom, sie verfügten über die Almende, gewährten ihren Ministerialen
Freiheit von städtischen Abgaben, behielten sich Fischerei und Mühlen
vor. An landesherrlichen Beamten besafs Lippstadt Verwaltungsbeamte
(Amtmann, auch Droste genannt) und Gerichtsbeamte (Samtrichter).
Der Bürgergemeinde legte der Gründer die Ratsverfassung in die Wiege.
Ursprünglich wurden die Ratmänner vom Stadtherm unter Zustimmung
der Bürgerschaft ernannt. Neben dem regierenden Rat spielte der
alte Rat eine Rolle. Als selbständiger Ratsausschufs tritt der Magistrat
erst in jüngerer Zeit hervor. Die Stadt Lippstadt besafs von vorn-
herein zwei Büi^ermeister (tnagisiri civium, seit dem XV. Jahrhundert
proconsules), Zunftbildungen treten spät, die erste 1396 auf.
(Schlnfs folgt.)
— 16 —
Mitteilungen
Thflringische Ortsmuseen. — In allen Teilen Deutschlands beginnt
sich die Bewegung für Begründung ortsgeschichtlicher Sammlungen auszu-
breiten. Das ist gut so. Es gibt unzählige Dinge in jeder Stadt, an jedem
gröfseren Orte, die aus künstlerischen, historischen oder anderen Gründen
dringend der Erhaltung für die Öffentlichkeit bedürfen, die aber nur inner-
halb des Rahmens des betreffenden Ortes Anspruch auf Beachtung machen
können. In den Museen der gröfseren Städte würden diese Dinge nur als
störender Ballast wirken und bedeutungslos erscheinen, während sie in der
heimatlichen Umgebung unschätzbare Anregungen imd mannigfaltige Beleh-
rungen vermitteln. Dahin gehören die Zunftaltertümer: Siegel, Fahnen,
Herbergszeichen, Meisterbriefe, Innimgsladen , Gewerkschaftsabzeichen der
alten Innungen mit ihrer ganzen Fülle von lokalen Beziehungen; dahin die
städtischen Altertümer: Stadtpläne, Siegel, Stempel, Mafse und Ge-
wichte, Münzprägungen, Urkunden, städtische Hoheitszeichen, Ratsladen,
Stadtfahnen, Stadttorschlüssel des betreffenden Ortes, Funde aus dem Boden
der Stadt, die Überreste des städtischen Zeughauses ; drittens gewerbliche
und häusliche Gegenstände: künstlerisch verzierte Wetterfahnen, Ofen-
platten, Schmiedearbeiten aus dem Orte, Hausgerät, künstlerische Teile von
abgebrochenen Bauten, Zeugnisse der dort in alter Zeit heimisch gewesenen
Industrieen und vieles andere derart Endlich alles Lokalgeschichtliche:
Bildnisse berühmter Söhne der Stadt, Abbildungen von Ereignissen aus der
Geschichte der Stadt, genealogische und ortsgeschichtliche Aufzeichnungen,
Ansichten der Stadt und Aufnahmen der verschwundenen oder ziun Abbruch
bestimmten Baulichkeiten.
Es ist nur mit Freude zu begrüfsen, wenn jetzt allenthalben die Städte
sich auf den Wert dieser Erbschaft aus vergangenen Zeiten besinnen, der
bisherigen Verschleppung in alle Winde vorzubeugen suchen und für sach-
gemäfse Sammlung, Ordnung und Aufstellung derselben Sorge tragen. Wo
einmal ein Anfang in dieser Richtung gemacht worden ist, wächst der Be-
stand meist aufserordentlich schnell. Viele Einwohner sind glücklich, irgend
ein interessantes Altertum, das bisher unbeachtet in emem Winkel ihres Hauses
steckte, der Allgemeinheit auf diesem Wege zugänglich machen zu können;
unzählige Dinge werden dadurch überhaupt erst in ihrem kultur- oder orts-
geschichtlichen Werte erkannt, dafs die Besitzer sie in einem gröfseren Zu-
sammenhange eingeordnet sehen. Bei dem immer lebhafteren Interesse un-
serer Zeit für alles Heimatkundliche, Volkskundliche, Volkstümliche werden
die Ortsmuseen eine grofse Zukunft haben. Mögen sich auch mancherlei
Reibungen mit den grofsen Museen und andere Schwierigkeiten ergeben, der
Nutzen, der durch die Heimatmuseen gestiftet wird, überwiegt nach meiner
Überzeugung bei weitem den der grofsen sogen. „Kunstmuseen". Und
nach kurzer Zeit des Versuchens und Hin- und Hertastens pflegt doch in
allen menschlichen Dingen die richtige Mittellinie herausgefunden zu werden.
Einstweilen kann man nur jedem Orte von einiger Bedeutung den Rat geben,
die Zeugen seiner Vergangenheit fleifsig und gewissenhaft zu sanmieln und
zu bewahren. Die Organisation im Grofsen, die Abgrenzung der Sanmiel-
— 17 —
gebiete, die Überführung der wissenschafüich wertvollsten Stücke in Kreb-
oder Landesmoseen wird sich dann schon von selber mit der Zeit heraos-
bilden. Wir müssen doch unseren Söhnen und Enkeln auch etwas zu tun
übrig lassen, sonst langweilen sie sich. Und das wäre doch gerade auf
einem so zukunftsfähigen Gebiete doppelt zu bedauern.
Da& in Thüringen die Bewegung für Ortsmuseen besonders kräftig
eingesetzt hat, ist verständlich. Alle Kulturbewegungen in diesem buntesten
Teile der deutschen Landkarte stehen ja unter dem Zeichen der iüeinstaatereL
Den Ortsmuseen war hier der Weg noch nicht verbaut durch größere Pro-
▼inzial- und Landesmuseen. Um eigene gröfsere Landesmuseen zu schaffen
sind die Staaten zu klein, die Städte zu unbedeutend. Was sollte man auch
von einem schwarzburg-rudolstädtischen, was von einem schwarzburg-sonders-
hausenschen, von einem Reufs-Geraer oder Reufs-Greizer Landesmuseum
erwarten? Die Gruppierung nicht nach politischen, sondern landschaftlichen
Grenzen, wie das z. B. mit dem „hennebergischen** Museum in Meiningen
oder mit der Sammlung des „vogtländischen altertumsforschenden Vereines**
in dem Schlosse Reichen fels bei Hohenleuben (Fürstentum Reufs j. L.)
vor Jahrzehnten versucht worden ist, wäre schon viel verständlicher. Aber
da eine und dieselbe thüringische Landschaft oft unter die verschiedensten
Souveräne geteUt ist, so steUen sich der Durchführung auch dieses Prinzipes
die gröisten Schwierigkeiten entgegen. Vollends aussichtslos hat sich bis jetzt
auch jeder Versuch erwiesen, ganz Thüringen in einem Museum zu umftissen.
Schon aus dem Grunde, weil kein Mensch bestimmen kann, was denn eigent-
lich zu Thüringen gehört. Ein Teil unserer Kleinstaaten vereinigt ausgesprochen
thüringisches und ausgesprochen fränkisches Gebiet in seinen Grenzen, andere
reichen ins Vogtland hinein, wieder andere ins hessische Volksgebiet, und
das beste Stück von Thüringen mit den wichtigsten Städten gehört seit Be-
ginn des XDC. Jahrhunderts zur preufsischen Provinz Sachsen und gravitiert
infolgedessen kulturell durchaus nach Preufsen hin. Die eiozige Stadt in
Thüringen, die ihrer Lage, Vergangenheit und Bedeutung nach geeignet wäre
den Mittelptmkt für die thüringischen Lande zu bUden, Erfurt, kommt in-
folgedessen dafür nicht mehr in Betracht
Ein grofses Ortsmuseum ist für Erfurt geplant. Bedeutende Mittel sind
von der Stadt und von Privatleuten für Erbauung desselben bereits zur Ver-
ftlgung gesteUt. Wegen der zahlreichen und interessanten städtischen Alter-
tümer, die sich aus Erfurts Vergangenheit erhalten haben, und die jetzt an
verschiedenen Stellen, zum Teü recht ungenügend, untergebracht sind, kann
dieses Museum aufserordentlich wertvoll — innerhalb seines ortsgeschicht-
lichen Rahmens — werden. Sobald es diesen Rahmen überschreitet, wird
seine Einheitlichkeit dahin sein, ohne dafs doch etwas Ganzes für Gesamt-
thüringen erreicht wird. Jedes Unternehmen, das ganz Thüringen umfassen
wiU, stolpert bei den jetzigen politischen Verhältnissen über die unzähligen
Grenzsteine und bricht sich dabei unfehlbar die Beine.
Das zeigt sich auch bei dem vor fünf Jahren begründeten „thürin-
gischen Museum'* in Eisenach. In der Hauptsache besteht es jetzt
aus Leihgaben weimarischer Dorfkirchen, daz>vischen einige prähistons
Altertümer von da und dort her, stadt-eisenachische Erinnerungsstücke, k
gewerbliche Gegenstände allerverschiedenster Herkunft und Zwer»-' — ^—
— 18 —
und das alles zusammeogedrängt in einem einzigen Räume. Bei den finan-
ziellen Verhältnissen der Einzelstaaten in der Gegenwart ist wohl auf Jahre
lunaus kaum auf tatkräftige Unterstützung des Unternehmens zu rechnen.
Unter solchen Verhältnissen ist das Vorgehen der Städte, die B^;rtin-
düng möglichst zahlreicher Ortsmuseen der gewiesene Weg. Thüiingen
marschiert in dieser Beziehung jetzt wohl an der Spitze. Namendich die
letzten drei Jahre haben hierin viel geschafft Einige Orte haben schon
vor längerer Zeit nach dieser Richtung zu arbeiten begonnen, so Nord-
hausen, dessen städtisches Museum 1903 die Feier des 35 jährigen Be-
stehens begangen hat, bei welchem Anlaft eine kleine Festschrift mit der
Schilderung seines Entwickelungsganges erschienen ist; so Gera, dessen
städtisches Museum etwa das gleiche Alter hat. Merkwürdigerweise sind
beide Museen trotz ihrer reichen Bestände und trotz der grofsen Einwohner-
zahl der betreffenden Städte, nur selten allgemein zugänglich. Das Nord-
häuser Museum ist nur Donnerstag nachmittags 2 Stunden geöfihet, an an-
deren Tagen aber wenigstens gegen Eintrittsgeld zu besichtigen. Das Geraer
Museum dagegen, das in dem ehemaligen städtischen Waisenhause unter-
gebracht ist und dort eine ganze geräumige Etage fÜUt, ist nur an Sommer-
sonntagen vonnittags 2 Stunden geöffnet In allen übrigen Fällen mufs man
sich zu dem weit entfernt wohnenden Museumsleiter bemühen und diesen
bitten mitzukommen. Es zeigt sich also: die älteren Gründungen entbehren
des frischen Zuges, den die Gegenwart mit ihrem lebhaften sozialen Em-
pfinden derartigen Fragen entgegenbringt Aus diesem Grunde sind auch die
Bestände dieser Museen viel weniger bekannt, als sie verdienten. Die des
Nordhäuser Museums habe ich seit einer Reihe von Jahren nicht mehr ge-
sehen und weifs daher ihre Gruppierung nicht mehr genau anzugeben. Das
Geraer enthält zahlreiche alte Stadtansichten, eine grofse prähistorische Samm-
lung (1800 Nummern), eine naturwissenschaftliche Sammlung (6000 Nummern),
4500 Porträts, 5300 Urkunden, 1500 Trachtenbilder, einige, zum Teil sehr
schlimm restaurierte, Schnitzaltäre aus den Kirchen der Umgegend, allerlei
kunstgewerbliche Altertümer, eine Münzsammlung von 3500 Nummern und
vielerlei zmn Teil recht interessante Gegenstände aus der Vergangenheit des
reufsischen Landes. Die Stadt stellt die Räumlichkeiten zur Verfügung
und leistet einen jährlichen Zuschufs von 1000 Mk., dazu 200 Mk. für die
Verwaltung.
Etwas jünger an Jahren ist die kleine Sammlung, welche der Altertums-
verein für Kahla tmd Roda in Kahla zusammengebracht hat. Früher auf
der Leuchtenburg, dann im Kahlaer Rathause untergebracht, trauern jetzt die
Sammlungsgegenstände in einer Dachkammer des Schulhauses und harren
sehnsüchtig auf ein würdiges Ausstellungslokal, zu dessen Hergabe sich die
Stadtgemeinde hoffentlich bald entschliefst Für die Allgemeinheit ist die
Sammlung zurzeit natürlich nicht zugänglich. Sie umfafst einige Waffen,
einen Schnitzaltar, eine kleine Münz- und Siegelsammlung, wenige städtische
Altertümer, einen grofsen, nicht uninteressanten paläontologischen Fund,
eine ziemUch umfangreiche Bibliothek und ediche Bilder. Da Kahla eine
alte und reich entwickelte Porzellanindustrie besitzt, so wäre ein städtisches
Museum nach dieser Richtung hin lehrreicher Ausgestaltung fähig. An Be-
suchern würde es nicht fehlen, da Kahla Ausgangspunkt für den Besuch
— 19 —
der bekannten Leuchtenburg ist, die alljährlich yon vielen Tausenden von
Fremden besucht wird.
In Arnstadt hat das Ortsmuseum nach mehreren Umzügen in drei
genügend groüsen Räumen des Rathauses ein Unterkommen gefunden. Neben
Porträts, Autographen, Münzen, Fahnen und anderen stadtgeschichtlidien Er-
innerungen ist auch das moderne Gewerbe Arnstadts vertreten. Jedes Stück
ist mit einer grofsen Ntmuner versehen ; den Besuchern wird ein ausführlicher
gedruckter Katalog zur Verfügung gestdh.
Grofser Entwickelung fähig ist der sehr bescheidene An&ng eines städ-
tischen Museums in Mühlhausen in Thüringen. Die ehemalige Reichs-
stadt besitzt noch eine Fülle wertvoller städtischer Altertümer, die nur der
geeigneten Ordnung und Au&teüung bedürfen, um ein sehr interessantes
Museum zu bUden. Die Mehrzahl derselben steckt zurzeit noch in den gänz-
lich ungenügenden Räumen des städtischen Archives. Der Grundstock des
„städtischen Museums'* aber ist im Bauhofe untergebracht Er enthält kunst-
gewerbliche Gegenstände, namentlich Kunstschlosserarbeiten aus alter und
neuer Zeit, einige Ztmftaltertümer, Bürgerwehrstücke, Kriegserinnerungen, etwas
Keramik und den Anfang einer Kupferstichsammlung.
In dem benachbarten Langensalza erwuchs das städtische Museum
aus einer Ausstellung von Kriegserinnerungen, die dort im Jahre 1898 ver-
anstaltet wurde. Gegenstände, welche sich auf das Treffen bei Langensalza
vom Jahre 1866 beziehen, bilden den Hauptbestandteil, dazu Erinnerungs-
stücke aus früheren und späteren Kriegen, einige Innungssachen, eine kleine
prähistorische, eine ethnographische und eine naturhistorische Sammlung.
Die Kulturgeschichte der Stadt und nächsten Umgebung ist bisher in der
Sammlung noch wenig berücksichtigt. Die Stadt hat zwei gröfsere Räume
im ehemaligen Augustinerkloster zur Verfügung gestellt und zahlt, vorläufig
auf drei Jahre, einen jährlichen Zuschufs von 100 Mark. Aufserdem hat sich
ein Museumsverein gebildet, dessen Mitglieder einen Beitrag von jährlich
mindestens i Mark entrichten.
In der Hauptsache aus Waffen und Kriegserinnerungen besteht auch das höchst
interessante und reichhaltige Museum auf der Wachsenburg, einer der „Drei
Gleichen" bei Gotha. Den Grundstock bilden die Bestände des früheren Gothaer
Zeughauses. Dazu kamen zahlreiche Geschenke von Mitkämpfern aus den
Jahren 1848, 1849, 1864, 1866, 1870, aus dem chinesischen Feldzuge und
aus afrikanischen Kriegen. Aber auch allerhand Landes- tmd Ortsgeschicht-
liches, Thüringer Trachten, Bilder und Hausgeräte haben sich zusammengefunden.
Die Stadt Weimar besitzt em „städtisches naturhistorisches Museum^^
Bis vor kurzem enthielt es nur prähistorische und ethnographische Gegenstände.
Aber das Interesse für Heimati[;unde tmd Ortsgeschichte wirkt neuerdmgs auch
hier ein. Jetzt werden auch Altertümer gesammelt, welche sich auf die Geschichte
der Stadt Weimar beziehen. Dafs (^es ein weites tmd lohnendes Sammel-
gebiet ist und neben dem grofsherzoglichen Kunstmuseum wie neben den
Sanmüimgen des Goethehauses noch recht wohl bestehen kann, ist ohne wei-
teres ersichtlich. Aufserdem hat Generaloberarzt Dr. Schwabe dem Museum
seine überaus reichhaltigen Sammltmgen vermacht. Sie erstrecken sich auf
alle Gebiete, die überhaupt sammelnswert sind, darunter auch vieles orts-
geschichtlich Wertvolle.
2*
— 20 —
Auf dem Vereinswege will die Stadt Weida ein Ortsmuseum zu-
stande bringen. Die nahe Nachbarschaft des oben erwähnten, schon seit
Jahrzehnten bestehenden, vogtländischen Altertumsmuseums in Hohenleuben-
Reichenfels ist der Entstehung eines Ortsmuseums in Weida natürlich nicht
sonderlich günstig. Vorläufig wird ohne besondere Rücksicht auf Ortsgeschichte
alles gesammelt, was einigermaßen Altertumswert hat. Die etwa 50 Mitglieder
des ortsgeschichtlichen Vereines zahlen einen Jahresbeitrag von je 2 Maik.
Auch sind einige Zuwendungen gemacht worden. Die etwa 100 Nmnmem
umfassende Sammlung ist jetzt im Caf^ Museum (Schützenstrafse) gegen
20 Pfg. Eintrittsgeld der Öffentlichkeit zugän^ch gemacht wordeiL
^^ Nahe dabei, in Niederpöllnitz , hat der Ortspfarrer Koch in seiner
Kirche ein „Dorfoiuseum*' eingerichtet, dessen Inhalt mir noch nicht bekannt
ist, — eine Idee, die auch anderwärts schon Boden gefafst hat. Denn auch
Hafsleben und L»aucha in Thüringen haben Dorfinuseen tmd andere Orte
werden in Bälde folgen.
Die Stadt Kamburg a. d. Saale plant ein kleines städtisches Museum,
das aber noch nicht über Anfänge hinaus gediehen ist. In Saalfeld wird
das städtische Museum wohl noch im Laufe dieses Jahres der Öffentlichkeit
übergeben werden. Die Stadt hat einen Flügel des ehemaligen Franziskaner-
kreuzganges hinter der Münzkirche zu seiner Aufoahme herrichten lassen tmd
zahlt einen jährlichen, zurzeit noch ziemlich bescheidenen, Beitrag für die
Vergröfserung der Sanmilungen. Die alte Berg- und Handelsstadt Saalfeld
mit ihrer reichen geschichtlichen Vergangenheit wird sicher mit der Zeit ein
recht sehenswertes Ortsmuseum zustande bringen. Material dazu ist in Fülle
vorhanden. Schon jetzt sind eine Reihe schöner Innungsgegenstände vor-
handen, eine umfassende, höchst wertvolle und vortrefflich geordnete Samm-
lung aller im meiningischen Lande geprägten Münzen, vielerlei städtische
Altertümer, Bilder, Schriften, Bauteile und gewerbliche Gegenstände. Hier
müfste vor allem die berühmte Saalfelder Schnitzwerkstatt reiche Ver-
tretung finden, die in den letzten Jahrzehnten vor der Reformation geblüht
und die Umgegend weithin mit künsüerisch hervorragenden Schöpfungen kirch-
licher Kunst versehen hat. Allerdings sind in Saalfeld selbst von diesen Schnitz-
altären und Einzelfiguren nur wenige erhalten geblieben. Aber bei der Bedeu-
tung der Saalfelder Schnitzwerkstatt für die allgemeine Kunstgeschichte kann in
diesem Falle der ÜberfÜhnmg einiger Schnitzaltäre aus den Kirchen der Um-
gegend in das Museum ausnahmsweise das Wort geredet werden, während
es sonst im allgemeinen gewifs richtiger ist, wenn die Kirchen ihre alten
Altäre behalten, sofern für deren sachgemäfse Erhaltung und Aufstellung
genügend Sorge getragen wird.
Nur eine kurze Strecke von Saalfeld entfernt liegt die alte Tuchmacher-
stadt Pöfsneck. Hier ist im Herbste vergangenen Jahres in drei Räumen
eines städtischen Gebäudes ein von der Stadt unterstütztes Museum eröffiiet
worden, das schon jetzt recht viel Interessantes imd Wertvolles enthält, wenn
auch ein grofser Teil der Gegenstände vorläufig noch Leihgaben sind. Am
meisten Beachtung verdienen die originellen Zimftaltertümer, vor allem die
der einst hochberühmten Tuchmacherzunft. Auch die bis ins XVIII. Jahr-
hundert zurückreichenden Zeugnisse der Pöfsnecker Porzellanindustrie werden
hier sorgfältig gesammelt. Die herrlichen mittelalterlichen Rüstungen und
— 21 —
Waffen der Bürgerwehr, welche sich im Rathause bis vor wenigen Jahrzehnten
erbalten hatten, sind zwar zum gröfsten Teile nach Schlofs Landsberg in den
Besitz des Herzogs von Meiningen gelangt, der sie dadurch seinerzeit vor
Verschleuderung schützte, aber einige Stücke, darunter zwei prachtvolle Zwei-
händer, sind zurückgeblieben und dienen, zusammen mit allerlei anderem
alten Gewaffen, dem Museum zur besonderen Zierde. Würde es der Stadt
gelingen, ihre ganze ehemalige Rüstkanmier zurückzuerlangen, so würde sie
«inen unter den thüringischen Städten wohl einzig dastehenden Schatz ihrem
Museum einverleiben können.
Auch eine kleine prähistorische Sammlung, eine alte Apothekeneinrich-
tung, Stadtansichten, Pläne, Bücher imd Urkunden fehlen im Pöfsnecker
Museum nicht, wie sie sich ja in den meisten Heimatmuseen anzusammeln
pflegen.
In Stadtilm bildet die Privatsammlimg des Dr. Sy, bereichert durch
Schenkungen und Leihgaben aus dem Orte und aus der Umgegend, den
An£uig eines Heimatmuseums. Porzellane, Gläser, Krüge, Münzen aus Thü-
ringen, Hausgeräte und Raritäten aller Art füllen ein grofses Zimmer in einem
Gasthofe, der vor den Toren der Stadt liegt.
Privatsammlungen sind wohl der Ausgangspunkt der meisten Ortsmuseen
gewesen. * Denn von Vereinswegen geschieht nichts Ganzes in der Welt
Immer gehört die einzelne, für die Sache begeisterte, Persönlichkeit dazu,
um den Karren ins Rollen zu bringen, und wo diese fehlt, da geht's eben
nicht vorwärts. Das ist ja auch die grofse Gefahr bei vielen der jetzt überall
emporschiefsenden Ortsmuseen, dais, wenn einmal der „ Betreffende *\ „die
Seele des Ganzen'* gestorben ist, Verwahrlosung und Unordnung einreifst
Da ist es Pflicht der Stadtbehörden, die Hand darüber zu halten. Unsere
studierende Jugend aber sollte sich fleifsig mit Heimatgeschichte, Volkskunde
und Volkskunst vertraut machen, damit sie einst, wenn sie als Beamte, P&rrer,
Lehrer draufsen in den kleinen Städten sitzt, dieses wichtige Erbe verständnis-
voll zu übernehmen bef^'gt ist
Ich erwähne noch als recht beachtenswerte thüringische Privatsammlungen
die des Apotheker Thiel in Lauscha auf dem Thüriuger Walde, welche
hauptsächlich Hausaltertümer umfafst, und die des Dr. Mefsmer auf Burg
Lauenstein bei Probstzella. Dr. Mefsmer hat diese alte thüringisch -frän-
kische Grenzwarte angekauft, hergestellt und ausgebaut und in den zahlreichen
Räumen der um&ngreichen Burg eine Fülle von Kunstwerken und Altertümern
des Mittelalters und der Renaissance mit viel Geschmack und Sachkenntnis
zusammengebracht. Mit der Erweiterung der Sammlungen ist er unausgesetzt
beschäftigt
Wenn zum Schlufs etwas ausführlicher über das jüngste aller Thüringer
Ortsmuseen, das am i. Februar 1903 eröffnete städtische Museum in Jena
berichtet wird, so geschieht dies erstens auf besonderen Wunsch der Schrift-
leitung dieser Blätter, imd zweitens weil in diesem Museum eine Reihe von
Versuchen in die Praxis umgesetzt worden sind, welche von dem Wunsch
geleitet wurden, verwandten Unternehmungen manchen Umweg zu ersparen.
Das Jenaer Museum beschränkt sich grundsätzlich darauf, das zu sam-
meln, was sich auf die Geschichte der Stadt Jena und ihrer Bewohner bezieht
Die zum Stadtbezirke gehörigen Dörfer werden insoweit berücksichtigt, als
— 22 —
sie für die Geschichte der Stadt von Wichtigkeit sind. Die Durchführung
dieses Grundsatzes wird dem Jenaer Museum dadurch erleichtert, dais alles
naturhistorische 9 ethnographische, prähistorische Material von den betreffen-
den Abteilungen der Uniyersitätssaöunlungen an sich gesogen wird, mithin
nicht störend zwischen den ortsgeschichtlichen Gegenständen untergebracht
werden mufs, wie das sonst in Ortsmuseen die Regel ist.
Als zweiter Grundsatz ist im Jenaer Museum durchgeführt, dafs jeder
Raum ein einheiüiches, in sich geschlossenes Ganze bildet und nur solche
Gegenstände enthalten darf, die mit dem Grundgedanken des betreffenden
Raumes in direkter Beziehimg stehen. So tmi&ist also das „Zinmier der
Stadt '^ nur allgemein -städtische Altertümer, das „Zimmer der Zünfte*' nur
Zunf^egenstände, das „Zimmer der Universität '* nur Dinge, die sich auf die
Geschichte der Universität beziehen usw. Auf diese Weise ist es möglich,
das verwirrende und ermüdende Vielerlei und Durcheinander von Gegen-
ständen zu vermeiden, das den Besuch der meisten Altertümermuseen so un-
erquicklich macht und ihnen den Charakter von Raritätensammlungen aufprägt
Anderseits gewinnt auch das an sich Unbedeutende durch straffe logische
Einordnung in einen gröfseren Zusammenhang sofort an Bedeutung. Rein
künstlerisch betrachtet sind ja die meisten der Gegenstände in klein-
städtischen Sammlungen von geringem Werte. Da mufs ihnen der kultur-
geschichdiche Zusammenhang ihre Bedeutung, ihre Daseinsberechtigung in
einem Museum verieihen.
Als ein besonderer Voiteü ergab sich für das Jenaer Museum der Um-
stand, dafs es in einer Zimmerflucht untergebracht werden mufste, welche
ursprünglich zu Wohnzwecken bestimmt war. Die Abmessungen bürgerlicher
Wohnräume sind tatsächlich der günstigste Rahmen für eine ortsgeschichtliche
Sammlung. Kleinbürgerüche Gegenstände woUen nicht in grofsen Sälen, son-
dern intim, aus nächster Nähe, in schlichter Umgebung betrachtet sein. Wenn
für das Jenaer Museum im Laufe der Jahre einmal ein eigenes Heim erbaut
werden soUte, was bei dem überaus schnellen Wachstum der Sammlungen
bald zur Notwendigkeit werden wird, so könnten die neuen Räume kaum
wesendich anders gestaltet werden, als die im jetzigen provisorischen Heim
(zweites Geschofs des neuen „Stadthauses").
Das Gedeihen eines derartigen Unternehmens hängt wesentlich davon
ab, dafs es häufig, womöglich täglich dem Besuche offen steht. Das Jenaer
Museum ist Sonntags und Mittwochs nachmittags unentgeltÜch geöffiiet, aufser-
dem noch in den Wintermonaten Sonnabend abends bis 9 Uhr speziell für
die Arbeiter, an aUen übrigen Tagen von früh 9 Uhr bis zur Dunkelheit
gegen ein mäfsiges Eintrittsgeld. Der Sonntag Nachmittag ist die wichtigste
Zeit für den aUgemeinen Besuch. Kein Museum, das der AUgemeinheit wirk-
lich nützen wiU, soUte vor den Schwierigkeiten zurückschrecken, gerade diesen
Nachmittag freizugeben. Der Bürger, der Gewerbetreibende, der Arbeiter
haben nur da wirklich Zeit Auch das Landvolk der Umgegend kommt nur
da ins Museum. An regnerischen Sonntagnachmittagen ist der Besuch regel-
mäfsig geradezu überwältigend.
Die Durchführung dieser Grundsätze wurde erleichtert durch das Ent-
gegenkommen der städtischen Behörden Jenas, die in richtiger Erkenntnis
der Bedeutung eines derartigen Unternehmens für die allgemeine Belehrung
— 23 —
und Kldung und zugleich für das Ansehen der Stadt, nicht nur das ganze
zweite GescJiofs des Stadthauses (zehn Räume und einen grofsen Korridor) und
die Dienerwohnung im dritten Stock kostenlos überliefsen, sondern auch einen
jährlichen Zuschufs von 1500 Mark hewilUgten, der allerdings im wescntHchm
für Unterhalt und Inventar aufgebraucht wird. Die Ankäufe werden von frei-
willigen Zuschüssen bestritten. Der Ertrag der Eintrittsgelder ist verhältnis-
mäfsig gering, obgleich das Museum in den sechs Monaten seit seiner Er-
öffioiung von fast 8000 Personen besucht worden ist Diese verteilen sich
eben in der Überzahl auf die freien Besuchstage.
Soviel über die äuisere Organisation. Was nun die Sammlungen selbst
betrifit, so bildet den Kern derselben die von der Stadt im Jahre 1900 er-
worbene Privatsammlung eines hiesigen Einwohners, der seit etwa 20 Jahren
Jenensia aller Art gesammelt hatte (nmd 1200 Nummern). Zu diesem
Grundstock kamen dann im Laufe der letzten zwei Jahre mehrere tausend
Nummern von Geschenken und Leihgaben aus der Bürgerschaft, von Ver-
einen, Innungen und Instituten, imd etwa ebensoviele Ankäufe. Durch
regelmäfsig erfolgende ausführliche Berichte über die Neiuugänge in der
Zeitung wurde und wird die Schenkfreudigkeit stetig rege erhalten, sodais
noch jetzt der monatliche Zugang etwa 100 Nimmiem beträgt, — ein Zeichen,
wie nötig und nützlich die Einrichtung eines Ortsmuseums ist Denn sonst
würde, wie bisher, Unschätzbares imd Unzähliges durch den Händler nach
auswärts verschleppt und somit der Heimatgeschichte entzogen werden. Natür-
lich befindet sich hier wie anderwärts unter den Geschenken manches, was
einer geeigneten Ausstellung Schwierigkeiten bereitet. Aber bei der Mannig-
fiedtigkeit der Gesichtspunkte, nach welchen ein Ortsmuseum sich ausgestalten
läist, findet doch sclüiefslich das Meiste irgendwo sein passendes Plätzchen.
JedenfoUs sollte ein Ortsmusetmi im Anfang prinzipiell nichts zurückweisen.
Magazinräiune sind natürlich unentbehrlich.
Durchwandern wir einmal flüchtig die Räume des Jenaer Museums, lun
die Anordnung zu überschauen: Im ersten Räume, dem „Zimmer der Stadt'*,
finden wir die alten Ratsladen, Stadtsiegel, Stadttorschlüssel, die städtischen
Maise, Gewichte, Münzstempel, Brenneisen, eine prachtvolle Bürgermeister-
Portechaise aus dem XVIII. Jahrhundert, die Ansichten und Pläne der Stadt
vom Mittelalter bis zur Gegenwart, die aus den Jenaer Kirchen entbehrlich
gewordenen kirchlichen Altertümer und einige Erinnerungen an das kurzlebige
Herzogtum Sachsen-Jena, das von 1662 — 1692 bestand.
Das ,', Zimmer der Zünfte *' enthält die Laden, Fahnen, Siegd, Statute,
Meisterbriefe, Innungshumpen, Herbergszeichen und Namensbänder der Jenaer
Zünfte, soweit dieselben zu erlangen waren. In einem Aktenschranke ist jeder
aufgelösten oder noch bestehenden Innung ein Fach für ihre Urkunden
eingeräumt Aufserdem beginnt in diesem Räume die Reihe der zahl-
reichen, in Wechselrahmen ausgestellten, fitrbigen und photographischen Auf-
nahmen aller baugeschichdich wertvollen Bürgerhäuser und Gebäudegruppen
der Stadt Denn zweifellos ist es eine der wichtigsten Aufgaben eines Orts-
muaeums, die in imseren Tagen immer schneller verschwindenden Bauten der
Altstadt im Bilde der Nachwelt zu überliefern und damit zugleich den Sinn
für deren pietätvolle Erhaltung zu wecken.
Das dritte Zimmer, ein saalartiger Raum, ist den Erinnerungen an
- 24 —
unglückliche Schlacht von Jena gewidmet Preufsische und französische
Waffen, Helme, Unifonnen, Sättel, Kugeln, die ganze Literatur über die
Schlacht, alle Abbildungen derselben, ein Relief des Schlachtfeldes, die
Schlachtpläne, Tagesbefehle Napoleons, Gedichte, Flugblätter und Aufrufe
aus jener Zeit sind hier vereinigt, aber als Gegengewicht auch Erinnerungen
an die Befreiungskriege und an die Feldzüge von 1864, 1866 und 1870.
Das Zimmer der Universität zeigt uns zahlreiche Bilder von Jenaer
Professoren des XVI. bis XX. Jahrhunderts, die ältesten Jenaer Drucke,
Medaillen aus der Geschichte der Hochschule, Bilder aus der Geschichte der
in Jena gerundeten deutschen Burschenschaft, Erinnerungen an Ludwig Sand,
den Jenaer Burschenschaftler, der durch die Ermordimg Kotzebues den Sturm
der Verfolgung über die junge Gründung heraufbeschwor, Jubiläumsbilder
der Universität u. dgl.
Das Goethe-Schiller-Zimmer ist ganz im Geschmacke der klassi-
zistischen Zeit eingerichtet imd birgt zahlreiche Erinnerungen an Goethe,
Schiller, Karl August und den Jenaer Kreis jener Tage. Daran schliefst sich
ein Zimmer der Jenaer Künstler, in welchem die in Jena geborenen
oder längere Zeit hier gelebt habenden und noch lebenden Künstler mit
mannigfaltigen Schöpfungen vertreten sind, darunter der Kupferstecher Jakob
Wilhelm Roux (geb. 1771 in Jena, f 1831), Oehme, Geiling, Ludwig Hefs,
Luise Seidler, Adolf HUdebrand, Edmund Kanoldt, Namen von gutem Klange.
Diese rein künstlerische AbteUung des Museums soll mit der Zeit eine be-
sonders stattliche Ausgestaltung erfahren und dadurch den Mangel eines
Kunstmuseums, der in Jena recht fühlbar ist, einigermafsen ersetzen.
Im „Bürgerstübchen** sind Erinnerungen an das Jahr 1848 ver-
einigt, Porträts stadtbekannter Jenaer Originale, Abbildungen verschwundener
Teile der alten Stadt, „Was unser Marktplatz erlebt hat*', „Bismarck in
Jena'% und eine Sanmüung „Von der Wiege bis zur Bahre**.
Das Karzerzimmer ist errichtet aus Teüen des abgebrochenen alten
Jenaer Universitätskarzers, über tmd über bedeckt mit Malereien und Namen
einstiger „Gäste'^ Hier sind auch die Jenaer Studentenstammbücher, Mensur-
bilder, eine Entwickelung des Mensurspeeres, Bierkrüge, Allotria und andere
Gegenstände „zur Geschichte des Jenaer Studentenlebens'* imtergebracht
Damit ist die Reihe der Einzelräume zu Ende. Auf dem langgestreckten
Flur ist das Jenaer Gewerbe und Kunstgewerbe vertreten: Ofen-
platten, Wetterfahnen, Kunstschmiedearbeiten, Lebkuchenformen, eine „Ge-
schichte des Beleuchtungsgerätes'', Jenaer Kostüme aus der Rokoko- und
Empirezeit, Funde von den benachbarten Burgen, Waffen der Bürger«
wehr aus früherer Zeit und von 1848, eine „Entwickelung des Schreib-
zeuges", die in einer Universitätsstadt auf besonderes Interesse rechnen
darf, u. ähnl.
Als Beschlufs reihen sich einige Schränke mit kunstgewerblichen Gegen-
ständen an, die zwar auch meist aus Jenaer Privatbesitz stammen, aber doch
nach allgemeineren Gesichtspunkten geordnet sind : Porzellane, Krüge, Qäser,
Fächer, Stickereien, Metallarbeiten, Trachten. Hier ist der einzige Punkt,
wo das Museum über den ortsgeschichtlichen Rahmen etwas hinausgeht
Das läfst sich schon deshalb nicht vermeiden, weil viele dieser, zum Teil
sehr wertvollen, Gegenstände als Geschenke dem Museum zugekonmien sind.
— 25 —
Vielleicht läfist sich später eine von der ortsgeschichtlichen Sammlung getrennte
rein kunstgewerbliche Abteilung daraus bilden, die in einer so gewerbtätigen
Stadt wie Jena durchaus am Platze, ja geradezu ein Bedürfiiis ist und selbst-
ständiger Entwickelung bedarf. Dagegen sind als Erweiterung der ortsgeschicht-
lichen Abteilung noch wünschenswert : ein Raum „ Geschichte der Reforma-
tionszeit in Beziehung auf Jena'% eine historische Jenaer Studentenbude, ein
Jenaer Bürgerzimmer der Schillerzeit, ein Jenaer Gelehrtenzimmer. Viele
dahin gehörige Gegenstände schlummern schon jetzt in den reich gefüllten
Magazinräumen des Museums und harren des Tages, wo ein eigenes Haus,
ganz auf die speziellen Bedürfhisse dieses Unternehmens zugeschnitten, er-
stellt werden küm.
Gewifs hat das Jenaer Ortsmuseum gegenüber vielen verwandten Grün-
dungen einen besonderen Vorzug durch die vielbewegte Vergangenheit der
Stadt und ihrer Hochschule, durch die zentrale Stellung Jenas im deutschen
Geistesleben vergangener Tage, durch die Beziehimgen der Stadt zu Luther,
Melanchthon, Johann Friedrich dem Grofsmütigen, zu Schiller, Goethe, Hum-
boldt, Fichte und fast allen grofsen Geistern der neueren Zeit, andrerseits zur
Schmach der napoleonischen Zeit und der glorreichen Erhebung Deutschlands
im XIX. Jahrhundert (deutsche Burschenschaft, Fritz Reuter), wie schliefs-
lich zum Begründer des neuen Reiches, Bismarck, der in Jenas Mauern denk-
würdige Tage verlebt hat Aber bedeutungsvolle Schicksale, wenn vielleicht
auch von weniger zentralem Interesse, hat doch wohl jede ältere deutsche
Stadt zu verzeichnen, und kaum einer wird es an Zeugnissen für die
Eigenart der heimischen Lebensweise, des künstlerischen Geschmackes ihrer
Bewohner, der besonderen Gewerbe des Ortes fehlen. Das ganze Bestreben
der Ortsmuseen müfste, meines Erachtens, darauf gerichtet sein, dieses In-
dividuelle herauszuarbeiten auf ortsgeschichtlicher und kulturgeschicht-
licher Grundlage, und alles Nebensächliche diesen Hauptgesichtspunkten unter-
zuordnen. Denn in der Art der Ausstellungsstücke wird sich viel^h eine
gewisse Gleichförmigkeit herausbilden, die das Durchwandern mehrerer Orts-
museen nacheinander etwas langweih'g machen dürfte. Die Zusammenfassung
unter gröfsere Gesichtspunkte aber wird jedem ein individuelles Gepräge zu
geben vermögen. Selbst wo dies nicht möglich sein soUte, werden die Orts-
museen doch für die engere Heimat vielfältigen Nutzen und manche An-
regung vermitteln, mehr, — um dies noch einmal zu wiederholen — , ab
die Kunstmuseen der Grofsstädte. Möchten unsere gebildeten Kreise dies
beizeiten erkennen! Prof. Paul Weber (Jena).
Vorstehender Aufsatz ergänzt den bereits früher in dieser Zeitschrift, 4. Bd., S. 132
bis 140, veröffentlichten Bericht über die entsprechenden Bestrebungen in der Nieder-
lansitz. Wie sich die Gründang von Ortsmuseen durch Veranstaltang von Aasstel-
Inngen begünstigen läfst, hat an dem Beispiele des Königreichs Sachsen Berling in
dieser Zeitschrift 4. Band, S. aSi — 287, gezeigt Bezüglich des vielfach betonten und doch
nur scheinbar vorhandenen Gegensatzes zwischen Lokal- und Zentral mnseum vgl. diese
Zeitschrift 3. Band, S. 271. Der Vorstand des Provinzialmuseums in Halle, Major a. D.
Dr. Förtsch, hat sich noch in seinem Bericht über die jüngste Zeit (Frühjsihr 1903)
über die „heimlich auftretende Konkurrenz öffentlicher wie privater Sammlungen'' be-
klagt Der Leiter der städtischen Sammlung zu Bitterfeld, Emil Obst, erklärt dem-
gegenüber am Schlüsse seines kürzlich erschienenen lehrreichen Führers durch die
Sammlung, dals er jedenfalls zu diesem in amtlicher Form erhobenen Vorwurf keinen
Anlafs gegeben habe. D. Red.
— . 26 —
Hundert Jahre pren&iseh. — Die Gepflogenheit, die Jahrhundert-
feiern geschichdicher Ereignisse dadurch zu begehen, dafs die Ereignisse selbst
in ihrem Verlauf geschildert und so dem Volke selbst näher gebracht
werden, verdient vom Standpunkte des Geschichtsfreundes ungeteilte Anerken-
nung, denn es ist ein Mittel, um bei diesen äufseren Anlässen, wo mancher
zu einem Buche greift, der es sonst nicht tut, zur Verbreitung geschichtlichen
Wissens beizutragen und zugleich manche Aufklänmgen über Bestehendes zu
geben. Aber es läfst sich leider nicht in Abrede stellen: die Schriften, die
belehren sollen, sind recht oft so dürftig und mangelhaft, dafs sie nicht nur
ihren Zweck nicht erfüllen, sondern eher Schaden anrichten. Der Grund
dafür liegt teib in der EUe, mit der an die Arbeit gegangen werden muls,
tmd teils an dem Mangel geschichtlicher Allgemeinbildung und Forscher-
fahigkeit bei denen, die mit der Aufgabe betraut werden oder sich selbst zu
ihrer Lösung berufen fühlen. Es ergibt sich für jeden, der solche Literatur
kennt, die unabweisbare Forderung : soll ein Ereignis der Vergangen-
heit würdig gefeiert und durch eine Festschrift weiteren
Kreisen näher gebracht werden, dann ist es die Pflicht der
Auftraggeber, wenigstens ein bis zwei Jahre vorher sich
schlüssig zu machen, den wissenschaftlich befähigten Ar-
beiter auszuwählen und die relativ — im Vergleich etwa zu den
Kosten, die ein Festzug verursacht — recht geringen Aufwendungen
für die Arbeit, Druck und würdige Ausstattung zweckent-
sprechend anzuwenden. Es ist dabei stets zu bedenken, dafs derartige
Festschriften weit verbreitet und noch auf lange Zeit hinaus gelesen zu werden
pflegen !
Derartige Gedanken drängen sich auf, wenn man die reiche Literatur
überblickt, die anläfslich der Hundertjahrfeier der Einverleibung vormals
reichsstädtischer und geistlicher Gebiete in Preufsen ent-
standen ist Die Einverleibung war die Ausfühnmg der im Frieden von
Luneville (9. Februar 1801) getroffenen Vereinbarungen, sie ist ein bedeut-
sames Ereignis für Städte und Landschaften und verdient unstreitig eine orts-
geschichüiche Würdigung, die gerade in solchen Fällen die Darstellung der
allgemeinen Geschichte wohltuend zu ergänzen vermag. Alle diejenigen
Schriften, die der Redaktion dieser Zeitschrift zugegangen sind — es sind
längst nicht alle erschienenen — , sollen hier kurz charakterisiert werden und
wir beginnen mit Nordhausen, das sich rühmen kann, zwei Festschriften
hervorgebracht zu haben.
Am 6. Juni 1802 wurde Nordhausen preufsisch; Magistrat imd Stadt-
verordnete beschlossen im Januar 1901 eine Festschrift ausarbeiten zu lassen,
die besonders die gegenseitigen Beziehungen zwischen dem preufsischen Staate
und der Stadt darstellen sollte, imd im Oktober 1901 erhielt der Mittel-
schullehrer Hermann Heineck den Auftrag zur Abfassung derselben*).
Die Zeit war gewifs recht kurz, aber da der Beauftragte in der Geschichte
seiner Heimatstadt gut bewandert und zudem Stadtarchivar ist, so konnte
sie zur Not genügen. Und in der Tat merkt man dem Buche die rasche
i) Brandenburg-Preußen tmd Nordhattsen in ttrkundlieher Darsteüungj Nord«
hausen, Kommbsionsverlag von C. Haackes Buchhandlung, 1902. 238 S. 8^
— 27 —
Entstehung nicht an, es zeichnet sich aus durch eine verständige Berührung
der grofsen politbchen Vorgänge, ohne dafs der nächste Zweck auch nur
einen Augenblick vergessen wäre. Die Reichsstadt Nordhausen, seit 1650
von brandenburgisch-preufsischem Gebiete umgeben, ist nattiriich schon längst
vor 1802 in engere Berührung mit dem aufstrebenden Staate gekommen, und
die Einverleibung am 6. Juni d. J. schliefst deshalb nur einen Prozeis ab,
der mit dem Entschädigungsanspruch beginnt, den der Grofse Kurfürst am
26. JuH 1680 beim Reiche für seine Opfer in den Reichskriegen erhob.
Bei diesem Punkte muiste die Erzählung einsetzen ; es wird dann anschaulich
die käufliche Erwerbung der Reichsvogtei und des Reichsschultheifsenamts
in Nordhausen durch Kurbrandenburg von Kursachsen 1698 geschildert, die
preufsische Okkupation der Stadt 1703 imd ihre Leiden im Siebenjährigen
Kriege. Dann erfahren wir näheres über das innerstädtische Leben, über das
Aufboten kirchlicher Sektierer 1751 — 1766, sowie über Verfiissung, Ver-
waltung und Leben in der Reichsstadt am Ende des XVIII. Jahrhunderts
(S. 69 — 107). Die Einverleibung in Preufsen selbst und der Besuch des
Königspaares 1805 oaufste natürlich etwas ausführlicher behandelt werden,
als ihm an sich zukommt (S. 108 — 142); die Fremdherrschaft 1806 — 1813
und die Befreiungskriege, nach denen 18 15 Nordhausen wieder preufsisch
ward, sowie die äufseren Ereignisse bis 1852 (S. 143 — 187) werden durch-
aus angemessen so geschildert, dafs die Stadt selbst immer der Gegenstand
bleibt und alles andere nur den Hindergrund bildet Die preuisischen Könige
als Gäste der Stadt (S. 188 — 199) behandelt ein besonderes Kapitel, das
wir als ein Zugeständnis an das gröfsere Publikum zu betrachten haben,
während die knappe Vergleichung der Zustände 1852 und 1902 (S. 200
bis 211) geradezu als vorbildlich für eine Stadtgeschichte, die bis zur Gegen-
wart geführt wird, gelten kann. Zum Schlufs sind Anmerkungen und ur-
kundliche Beilagen (S. 312 — 238) mitgeteilt Eine Nachprüfung der Dar-
stellung ist dem Berichterstatter natürlich nicht möglich, aber überall herrscht
Klarheit und ein Verständnis für die Ereignisse und Zustände der Vergangen-
heit, die 2^ichen einer wirklichen geschichüichen Bildimg. Der Bürger von
Nordhausen, für den das Buch zunächst geschrieben ist, aber auch jeder
Geschichtsfreund muis es mit Befriedigung lesen und kann sein geschicht-
liches Wissen daraus vermehren.
Aufiallenderweise ist nun neben dieser im Auftrag der städtischen Be-
hörden verfiaifsten und würdig ausgestatteten Schrift noch eine andere er-
schienen: Nardhausen und Preußen, Festbeitrag xur Jubelfeier der hundert-
jährigen Zugehörigkeit NorcUiausens zu Preuften am 6. Juni 1902, nach
wrkwndUchen Qu^le^i x/usammengestellt von K. Heine, Mittelschulrektor in
Nordhausen (Nordhausen, L. Homickel 1902. 119 S. 8®). Der Inhalt ist
natüriich im grofsen und ganzen derselbe, wie in der oben besprochenen
Schrift, nur ist es dem Verfisisser nicht gelungen, ein einheitliches Bild zu
zeichnen, und auf Schritt tmd Tritt macht sich das Fehlen einer allgemeinen
geschichtlichen Bildung und der Mangel eines Verständnisses für die Zu-
stände des XVIII. Jahrhunderts geltend. Viel zu viel Aktenstücke sind im
voUen Wortlaut im Texte mitgeteilt, bei denen eine kurze und klare Angabe
des Inhalts am Platze gewesen wäre. Die ganze Unfertigkeit der Schrift be-
zeichnet schon das voranstehende Quellenverzeichnis, in dem in biblio-
— 28 —
graphisch unverantwortlicher Fassung die örtliche Literatur untermischt mit
einigen Aktenstücken aus Dresden, Berlin und dem Nordhäuser Stadtarchiv
verzeichnet ist Wie im Text Lesser-Förstemann und die übrige orts-
geschichtliche Literatur, namentlich eine« Festschrift von 1852, in ungebühr-
licher Weise ausgeschrieben ist, so ist die Einleitung geradezu ein literarisches
Unikum, da sie wörtlich aus Damus, Danxiga Eintritt in den preufsischen
Staat im Jahre 1793 (2. Aufl. 1894) — im Quellenverzeichnis mit fal-
schem Titel angeführt — abgeschrieben und nur Dan zig durch Nord-
hausen ersetzt ist Eine derartige Weitherzigkeit in bezug auf die Benutzung
geistigen Eigentums anderer mufs allerdings und besonders bei einem Schul-
manne Bedenken erregen.
Für Mühlhausen ist eine entsprechende Schrift von dem auf dem Ge-
biete der Stadtgeschichte vielfech tätigen Professor R. Jordan erschienen *),
die aber nicht zur Besprechung vorliegt; jedoch verrät der Preis (0,80 Mk.),
dafs es eine kleine Schrift ist, die wohl nur den Vorgang selbst erläutert.
Preufsisch ist Mühlhausen am 23. Mai 1802 geworden, und Ende Juni 1803
stattete das Königspaar der Stadt einen Besuch ab. Dieses Ereignis hat
Bai Heu zu einem Erinnerungsblatte benutzt und kurz, aber ansprechend in
einem Aufsatze: Königin Luise und die Stadi Mühlhausen (= Mühlhäuser
Geschichtsblätter, Jahrgang III, 1 902/1 903, S. i — 4) die Ereignisse geschildert,
die mit dem Übergang der Stadt an Preufsen in Zusammenhang stehen. Be-
merkenswert ist dabei vor allem, dafs die Mühlhäuser gern preufsisch wurden,
so dafs Wartensleben am 6. August berichten konnte: „Die Aufiiahme und
Stimmung der Einwohner war aufserordentlich gut.'* Die Königin Luise hat
Mühlhausen nochmals am Unglückstage von Jena und Auerstädt (14. Oktober
1806) berührt
Ausschliefslich um die Erinnerung an die Ereignisse von 1802 in weiteren
Kreisen wachzurufen, sind zwei kleine Schriften über die Gebiete der vor-
maligen Abteien Essen und Werden entstanden. Die Vereinigung des
Stiftes und der Stadt JEssen mit dem preußischen Staate, Festschrift zur
1 00jährigen Jubelfeier am 3. August 1902, von K. Ribbeck, Stadtarchivar,
(36 S. 16^) ist eine aus dem vollen schöpfende Darstelltmg der Ereignisse,
die sich die Aufgabe stellt, zu zeigen, wie für Essen mit jenem Tage eine
neue Zeit beginnt. Die knappe Übersicht über die Geschichte der Stadt
und Abtei und die Schilderung der Zustände im Stift vor dessen Auflösung,
namentlich auch mit Hinsicht auf Gewerbe imd Industrie — Essen besafs
schon damals eine angesehene Gewehrindustrie — mufs als Muster-
leistung gelten ; wenigstens würde mancher andere kaum in einem Bande von
500 Seiten so viel allgemein Wissenswertes darzubieten vermögen. In Werden
hat der Historische Verein ftir das Gebiet des ehemaligen Stiftes Werden als
Beilage zu dem 8. Heft seiner „ Beiträge '* eine Festschrift erscheinen lassen,
die zugleich der vor iioo Jahren erfolgten Gründung Werdens und der vor
100 Jahren erfolgten Einverleibung in Preufsen gedenkt (37 S. 8**). Gerade
ein Jahrtausend hat die Abtei Werden bestanden, ihr Anfang und ihr Ende
i) Der Übergang MühÜutusens an die Herrschaft Preußens, MühlhanscD i. Tb.,
Danner, 1902. Hierher gehört auch G. Thiele, Hundert Jahre unier Preußens Aar!
1802^1902, Festschrift zur Feier der 100 jährigen Zugehörigkeit des iMndkreises
MOhihausen i. Thiir. xur Krone Preußen. Mühlhaasen, Albrecht, 1902.
— 29 —
werden hier kurz und volkstümlich geschildert. Steht die Darstellung auch
nicht auf der Höhe der Essener Festschrift, da sie sich mehr an die
äufseren Erscheinungen hält, so ist sie doch höchst dankbar zu begrüisen.
Die kurze vergleichende Übersicht über die Kulturfortschritte tmter preufsischer
Herrschaft ist ansprechend und lehrreich, und eine Reihe Abbildungen (aulser
den Bildern der Königspaare von 1802 und 1903, Werden zur 2^it der Auf-
hebung der Abtei, Bildnis des letzten Abtes, MUnsterkirche nach der Restau-
ration 1893, Königsbrücke, Werden 1902) beleben die Darstellung.
Das weltliche Territorium des Bischofs zu Münster hörte wie alle
anderen auf zu sein, und der östliche Teil mit der Stadt Münster fiel an
Preufsen. Die damit zusammenhängenden Ereignisse beschreibt lebendig
P&rrer Stenger in dem Aufsatze: Wie das Münsterland preu/kisch wurde
(=r Jahrbuch des Vereins fUr die evangelische Kirchengeschichte der Graf-
schaft Mark, 4. Jahrg., 1902, S. i — 15). Das Besitzeigreifungspatent vom
6. Juni 1802 wurde in Münster zur höchsten Überraschung der Beteiligten
erst am 28. Juli mit einem Schreiben des Ministeriums vom 24. Juli bekannt.
Dieser Aufsatz ist ein ganz erfreulicher Beitrag, der gleichzeitige Tagebücher be-
nutzt und die wichtigsten Aktenstücke mitteilt, aber der Verfasser hat gar nicht
die Absicht, den ganzen Vorgang geschichtb'ch zu würdigen, und beschränkt
sich meist auf tatsächliche Mitteilungen. Dies ist entschieden besser, als
wenn die Zustände, worauf es bei einem Gesamtbilde vor allem ankommt,
nur oberflächlich charakterisiert werden.
Unzweifelhaft die bedeutendste der Jubiiäumsschriften ist die auf Ver-
anlassung der Stadt Erfurt erschienene, die Stadtarchivar Overmann be-
arbeitet hat Sie zeichnet sich durch eine mustergültige vornehme Ausstattung
aus, die im äufseren Umschlage das feine Buch von 1802 geschickt nach-
ahmt. Der Verfasser beschränkt den Gegenstand und beschreibt nur Die
ersten Jahre der preußischen Herrschaft in Erfurt, 1802 — 1806 (Mit 6 Ab-
bildungen, Erfurt, Keyser, 1902, 145 S. 8<^). Hier haben wir es mit einer
ganz ausgezeichneten Monographie zu tun, die unter der Eigenschaft als Ge-
legenheitsschrift nicht im mindesten leidet, wie man es bis zu einem gewissen
Grade sonst wohl in den meisten Fällen beobachten kann. Gewifs war es
eine schöne Aufgabe, eine solche Übergangszeit, in der altes imd neues mit-
einander kämpfen, gerade für eine Stadt von der Bedeuttmg und Vergangen-
heit Erfurts darzustellen, aber andrerseits ist die Aufgabe so grofs imd der
zu bewältigende Stoff so reich, dafs Entsagung und Geschick dazu gehört,
um sich ihrer in angenehmer Form auf anderthalbhundert Seiten zu ent-
ledigen. Der Verfasser beginnt mit der Schilderung der Besitzergreifung
durch Preufsen und schliefst mit einer kurzen Zusammenfassung der über
Erfiirt schwebenden unmittelbaren Herrschaft Napoleons 1807— 18 14. Seine
wesentliche Aufgabe aber sieht er darin, zu schildern, wie Erfurt 1802 aus-
sah, was Preufsen in den vier kurzen Jahren bis zur Katastrophe von Jena
für die Stadt getan und wie sich diese in dieser Zeit selbst umgestaltet
hat. Wir verfolgen die interimistische Verwaltung, die staatliche Organisation
des Gebietes in Rechtspflege, Stadtverfassung, Wirtschaft, sowie Kirchen- und
Schulwesen, und eine eingehende Charakteristik des geistigen Lebens schliefst
das Ganze ab. Das Ende der alten Zeit, namentlich Dalbergs einsichtsvolles
Walten, tritt deutlich vor das Auge; die herausfordernde Haltung des Gouver-
— 30 —
neurs von WarteDsieben gegenüber der Bürgerschaft, die trotzdem im ganzen
preu&enfireundliche Stknmung der Bevölkerung werden lebendig geschildert^ und
keinen Augenblick kann das Interesse des Lesers erlahmen.
Noch eine andere Schrift mag hier angereiht werden, die den bereits
1698 erfolgten Eintritt Quedlinburgs in den brandenburg-preuisischen Staat
behandelt '). Es ist eine Festschrift zur 200jährigen Jubelfeier der preufsi-
sehen Königskrönung, in der die Festveranstaltungen vom Januar 1701, die
zugleich die erste Huldigung der Stadt für den neuen Landesherm darstellen,
ansprechend geschildert werden. Die Zustände Quedlinburgs am Ende des
XVII. Jahrhunderts, die Ereignisse, die zu dem Verkauf von Stift und Stadt seitens
Kursachsens an Kurbrandenburg führen, die Besitzergreifung selbst imd die
ersten brandenburgischen Regierungsmafsnahmen werden schlicht beschrieben,
aber der Verfasser verrät dabei, dafs er die Geschichte der Stadt und die
geschichtlichen Probleme des XVII. und XVIII. Jahrhunderts beherrscht,
und so wird auch diese Jubiläumsschrift zu einem erfreulichen Zeichen fttr
die Vertiefung der eng begrenzten ortsgeschichtlichen Studien unserer
jüngsten Vergangenheit »A. T.
ArchlTe. — E>ie heute vielfach erörterte Frage, welche gesetzlichen
Bestimmungen hinsichtlich der Archive gelten, hat neuerdings Archivrat
Lippert (Dresden) für die Städte der östlichen Provinzen Preufsens —
Ost- und Westpreufsen, Posen, Pommern, Brandenburg, Schlesien, Sachsen —
beantwortet *). Die Materie wird geregelt durch die preufsische Städte-
ordntmg von 1853 und das Zuständigkeitsgesetz von 1883, aber verschiedene
Ministerialerlasse und Obenrerwaltungsgerichtsentscheidungen sind zur Er-
läuterung und Ergänzung heranzuziehen. Nachdem schon 182 1 Hardenberg
den Städten die Abgabe ihrer Urkunden an das Geheime Staatsarchiv an-
geboten hatte, stellte 1827 ein Reskript des Ministeriums des Innern fest,
dafs die Erhaltung der städtischen Archive zu den Pflichten der städtischen
Beamten gehört und dafs die vorgesetzten Regierungen das Recht haben,
diese zu Erfüllung dieser Pflicht anzuhalten, und in dem Zirkularreskript
des Ministeriums des Innern vom 3. März 1832 heifst es: „Es ist eine
unzweifelhafte Pflicht der Kommunalbehörden, über die Er- '
haltung des städtischen Eigentums zu wachen; und da Akten %
und Urkunden ein sehr wichtiger Teil dieses Eigentums sein
können, so mufs von den vorgesetzten Behörden darüber Auf-
sicht geführt werden, dafs sie dieser Pflicht auch in Hinsicht
der städtischen Archive nachkommen. Schon hier ist deutlich
ausgesprochen, dafs das Archiv ein Teü des Stadtvermögens ist; die
Städteordnung von 1853 bringt dasselbe zum Ausdruck, aber verfügt auch,
dafs der Magistrat über alle TeUe des Vermögens ein Lagerbuch zu führen
hat, und damit ist die Inventarisation der Stadtarchive gesetzlich
als notwendig anerkannt. Zur Veräufsenmg oder wesentlichen Veränderung
i) Hermann Lorenz, Die Einführung der Brandenburg- Preußischen Landes-
hoheit in die Siadt Quedlinburg und die Feier des Krönungstages daselbst am 17. und
18. Januar 1701. Quedlinburg, Vieweg, 1901. 32 S. 8**.
2) Die für die Niederlausiix geltenden Bestimmungen über die Stadtarchive in
den Niedcrlansitzer Mitteilungen 7. Bd. (1903), S. 383—397.
— 31 —
von' Sachen , welche einen besonderen wissenschaftlichen , historischen oder
Ktinstwert haben, namentlich von Archiven oder Teilen derselben, seitens
der Stadtgemeinde ist nach S 50 der Städteordnung die jedesmalige Zu-
stimmung des Regierungspräsidenten erforderlich, und das Zuständigkeits-
gesetz von 1883 hat diesen Grundsatz übernommen. Eine Entscheidung
des Oberverwaltungsgerichtes von 1898/99 hat aufserdem festgestellt, dafs
die Obhut über das Archiv lediglich dem Magistrat zusteht und zwar in
seiner Eigenschaft als Stadtobrigkeit und nicht in der eines ausführenden
Organs der Gemeindeverwaltung, dafs mithin der Stadtverordnetenversammlung
eine Mitwirkung nicht zukommt, auiser für den Fall, dafs finanzielle Auf-
wendungen erforderlich sind. Aus dieser Dariegung ergibt sich mit vollster
Klarheit die Pflicht des Stadtmagistrats, flir sein Archiv zu sorgen; wie dies
zu geschehen hat, bezw. wie es geschehen kann, darüber wird im einzelnen
Falle entschieden werden müssen, aber die allgemein mafsgebenden Gesichts-
punkte stehen unverrückbar fest.
KommlfiSlolien. — Aus dem Berichte über die 29. ordentliche
Sitzung der Historischen Kommission für Sachsen -Anhalt, die am
23. und 24. Mai 1903 in Erfurt stattfand, ist folgendes mitzuteilen ^). Der
vierte Band des Urkundenbuchs der Stadt Goslar (1336 — 1364) ist nahezu
druckfertig, die Vollendung des Urkundenbuchs des Klosters Unser Lieben
Frauen in Halberstadt steht in Aussicht, vom Urkundenbuch des Klosters
Pforta ist auch die zweite Hälfte des ersten Bandes im Druck vollendet
Gefördert worden sind die Arbeiten für die Herausgabe des Erfurter
Varietatum varüoquus und der Qnedlinburger Paurgedinge, Rats- und
Kirchenordnungen sowie die der Kirchenvisitationsprotokolle des Kurkreises
von 1528 bis 1592 durch Archidiakonus Pallas in Herzberg. Dagegen
sind die Verhandlungen über Bearbeitung eines Urkundenbuchs des Hoch-
stifb Zeitz noch nicht abgeschlossen, während die Bearbeitung eines Ur-
kundenbuchs von Neuhaldensleben in Angriff genommen und die des
Eichsteldschen Urkundenbuches wieder aufgenommen worden ist — Als
Neujahrsblatt für 1903 ist eine Schrift von Archivrat Wäschke über die
Dessauer EWbrücke erschienen. — Von den Beschreibungen der Bau- und
Kunstdenkmäler ist Halberstadt erschienen, der Stadtkreis Naumburg
ist im Druck und Stadtkreis Aschersleben ist druckfertig, während in
Wernigerode die Arbeiten im Gange sind. — An den geschicht-
lichen und vorgeschichtlichen Karten, sowie den Grundkarten
ist rüstig weiter gearbeitet worden. Desgleichen wurden die Arbeiten an
den Flurkarten *) fortgeführt Von den vorgeschichtlichen Wandtafeln
sind bis jetzt 3928 Stück abgesetzt worden. — Zur Veröfifentlichung des
hochwichtigen Brakteatenfundes von Seega (Schwarzburg- Rudolstadt),
welche die Historische Kommission für Hessen und Waldeck veranlafst, leistet
die Kommission einen Beitrag.
Zu Mitgliedern der Kommission an SteUe von Dümmler und v. Win-
tzingerode-Knorr wurden der Direktor des Provinziafanuseums Förtsch
i) Über die 27. und 28. Sitzung Tgl. dieie Zeitschrift 3. Bd., S. 312 — 313.
2) Vgl. diese Zeitschrift 4. Bd., S. 249.
— 32 —
und Privatdozent Heldmann in Halle ernannt; die Sitzung im Jahre 1904
wird in Genthin stattfinden.
Dem sechsten im Mai 1903 erstatteten Jahresbericht der Historischen
Kommission für Hessen und Waldeck ^) ist über den Fortgang der
Arbeiten folgendes zu entnehmen. Ausgegeben konnte auch in diesem Jahre
eine Publikation nicht werden, aber die dritte Lieferung des Hessischen
Trachtenbuchs liegt fertig vor, und die Herstellung der vierten wird sich
unmittelbar anschliefsen. Alle anderen begonnenen Publikationen sind trotz
vielfacher Behinderung der Bearbeiter erheblich gefordert worden. Für die
Bearbeitung der Landgrafenregesten ist in O. Grotefend eine EGllfskraft
gewonnen worden, unter Leitung von Prof. Höhl bäum wurde die Bear-
beitung eines Urkundenbuchs der Stadt Wetzlar in Angriff genommen.
Als Vorarbeit für das hessische Münzwerk wurde die Publikation des um 12 10
vergrabenen Münzfunds von Seega, dessen Hebung Dr. Buchenau
im Juli 1902 gelang, beschlossen imd mit Unterstützung der Historischen
Kommission für Sachsen- Anhalt so gefördert^ dafs der Versammlung bereits
einige Probetafeln vorgelegt werden konnten. Das ganze Weric, das 1904
fertig vorliegen wird, soll 25 Tafeln* mit je 20 Abbüdungen und den nötigen
Beschreibungen tunfassen. Ein dreigliederiger Ausschufs wurde schliefslich
beauftragt, der nächsten Versammlung einen Plan zur Herausgabe von Quellen
%wr Geschichte des geistigen und kirchlichen Lebens in Hessen und Wcddeek
vorzulegen.
Zu Mitgliedern wurden gewählt Superintendent Wissemann (Hof-
geismar), die Professoren Haller, Tröltsch, Vogt imd Wiegand
(Marburg) und Archivassistent Knetsch (Wiesbaden). Der Jahreseinnahme
von 6509 Mk. steht nur eine Ausgabe von 1849 ^^* gegenüber, der Kassen-
bestand weist die Sunune von 1 7480 Mk. auf.
Eingegangene Bfieher.
Hansen, R. : Wiedertäufer in Eiderstedt bis 16 16 [=s Schriften des Vereins
für schleswig-holsteinische Kirchengeschichte IL Reihe, 2. Bd., S. 175 bis
238 und 344—399]-
Ilwolf, Franz: Karl Gottfried Ritter v. Leitner. Graz 1893. 60 S. 8<>.
John, Alois: Oberlohna, Geschichte und Volkskunde eines egerländer
Dorfes [=» Beiträge zur deutsch-böhmischen Volkskunde, FV. Bd., 2. Heft].
Prag, J. G. Calve'sche k. u. k. Hof- und Universitätsbuchhandlung
(Josef Koch), 1903. 195 S. 8^.
L o o s e , F. : Aus Grofsmühlingens Vergangenheit, ein Beitrag zur Volkskunde
des ehemaligen Nordthüringgaus. Dessau, C. Dünnhaupt, 1903. 46 S. S^,
Prall: Der Norderdithmarscher Kaland [= Schriften des Verems für schleswig-
holsteinische Kirchengeschichte II. Reihe, 2. Bd., S. 400 — 40 5J.
Redlich, Oswald: Tirolische Geschichtsquellen des Mittelalters [Sonder-
abdruck aus der Festschrift des akademischen Historiker-Klubs in Inns-
bruck zum 30. Stifhmgsfest 1903]. 8 S. 8<^.
i) Über den Stand der Arbeiten 1902 vgl. diese Zeitschrift 3. Bd., S. 313.
Herausseher Dr. Annin Tille in Leiptif.
Druck und Verlag ron Friedrich Andreas Perthes, AktieageselUchaft, Gotfia.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
lur
Förderung der landesgescMchtlichen Forschung
_ ■ _ 11^ I ■ - _■---_ - - —
V. Band November 1903 2. Heft
Hceresgesehiehte
Von
Wilhelm Erben (Innsbruck)
Durch geraume Zeit hat die heeresgeschichtliche Literatur, soweit
sie das Gebiet des alten deutschen Reiches betrifil, sich vorwiegend mit
der Geschichte einzelner Truppenkörper befafet. Das war weniger in
den Eigentümlichkeiten des darzustellenden Gegenstandes begründet
als in den Antrieben, welche bei der historischen Betätigung mais-
gebend waren. Der Offizier, welcher Armeegeschichte treibt, sieht in
ihr vor allem einen starken Hebel zur Förderung des kriegerischen
Geistes im Heere und er empfindet den Zusammenhang mit den Taten
seiner Vorfahren im gleichen Berufe um so lebhafter, je enger der
Kreis ist, der ihn mit jenen vereint. Das sind die wohlberechtigten
Gründe, welche in den letzten Jahrzehnten eine so überaus gro&e
Zahl schriftstellernder Offiziere auf das Gebiet der Regimen ts-
geschichte gelockt und es bewirkt haben, dafs im Deutschen Reiche
wie in Österreich eine schwer zu überblickende Menge von Darstellungen
dieser Gattung emporgewachsen ist *).
i) Pohler hat im 3. Bande seiner Bibltotheea hiitoriea müitarU (Cassel 1895)
in der Abteilang Eeeres- und Tnippengesehiehte ^ S. 347^439 «och die Regiments-
geschichten berücksichtigen wollen. Aber seine Liste ist, wenigstens was Österreich be-
trifft, auch för den damaligen Stand sehr lückenhaft. Eine annähernd vollständige Anf-
sählang der österreichischen Regimentsgeschichten bietet der 3. Band des KaUUoges der
Bibliothekabteüung des k. und k. Kriegsarchiva (Wien 1896, mit in Conponform ge-
druckten Nachträgen, S. 561 — 587). Referate über die neaen Erscheinungen aaf diesem
Gebiete bringen jetzt fast nur die militärischen Fachblätter. Es wäre Tcrdienstlich, wenn
auch die grölseren historischen Organe, wie es einst in der Historischen Zeitsehriß
Brancfa war (rgh Bd. 37, 3816. and 550; 46, 317 ff.; 57, 552) von Zeit za Zeit Be-
sprechungen über nea erschienene Bücher dieser Art bieten and aaf diese Weise das red-
liche Streben, das sich in vielen offenbart ond das doch natorgemäls oftmals der Scholong
in geschichtswissenschafUichen Dingen bedarf, darch wohlmeinende Kritik bestärken ond
da ond dort aaf den richtigen Weg leiten würden.
3
— 36 —
Sorgfalt verwandt ist *). Aber das ist eine Eigenheit, für welche wieder
nicht der Autor allein verantwortlich zu machen ist, da sie auch
anderen VeröfTentlichungen derselben Anstalt anhaftet. Es liegt hierin
eine Verkennung des wissenschaftlichen Bedürfnisses. Verschmähen
es monumentale Editionen wie die Monumenta Germaniae oder die
VeröfTentlichungen anderer gelehrter Gesellschaften nicht, sich mit der
vorausgegangenen Literatur auseinanderzusetzen, so kann auch der offi-
zielle Charakter der vom Kriegsarchive herausgegebenen Geschichts-
werke, soweit sie auf wissenschaftlichen Wert Anspruch erheben, nicht
von dieser Verpflichtung entbinden. Sie ist nicht etwa löbliches
Herkommen oder Höflichkeitssache, sondern die notwendige Voraus-
setzung wissenschaftlichen Fortschrittes und es ist bedauerlich, dals
auch die Geschichte der Wehrmacht dieser Sachlage nicht vollkommen
Rechnung trägt.
Mit Belegen archivalischer Art ist Freih. v. Wrede erfreulicher-
weise ziemlich reichlich vorgegangen; aber auch hier bleibt manches
zu wünschen übrig. So sind beispielsweise die für die Benennung der
Regimenter mafsgebenden Reihen der Inhaber und jene der Obersten
zwar vielfach, aber doch selbst fürs XVII. Jahrhundert durchaus nicht
überall mit der Anführung des Patentes oder der Bestallung nebst
Archivsignatur versehen; häufig fehlt die Signatur, häufig auch jeder
Beleg. Ist, wo dies zutrifft, die betreffende Urkunde nicht mehr er-
i) Mit Unrecht sagt F er d. Wagner in den Mitteütmgen des Instituts für österr,
Geschiehtsforsehung 23, 701, es sei in der Geschichte der Wehrmacht neben den hand-
schriftlichen QueUen „aach die gedruckte Literatur im vollen Umfange berücksichtigt".
Werke über den Dreifsigjährigen Krieg finden sich allerdings oftmals angeführt, aber
keineswegs überall, wo es zu. erwarten wäre, and zudem in recht sorgloser Weise. So
werden mehrbändige Werke ohne Band- und ohne Seitenangabe zitiert (2, 112: „Ge-
schichte des Infanterie • R^iments Nr. 8"; 3, 409: „Heilmann, Kriegsgeschichte von
Baiem*^), so wird mit Vorliebe die Bandzahl weggelassen (2, 25 und 3, 388 wird: „Förster,
Waldsteins Briefe p. 140** resp. p. 132 usw. angeführt; damit ist der erste Band von
Förster, Albrechts von Wallenstein Briefe gemeint; ebenso 3, 431 und 433 mit
„Hallwich S. 564, S. 60": Hallwich, Wallensteins Ende i, 564 resp. i, 60). Auch
an unrichtigen Zitaten ist kein Mangel; 2, 57 Anm. 4 wird „Hallwich p. 233" angeftUirt;
gemeint ist wohl das schon angefahrte Werk von Hall wich 2, lai. Statt „Hallwich p. 264'*
(2y 51, Anm. k) könnte man Hallwich i, 371 lesen, wobei aber der Monat nicht über-
einzustimmen scheint Falsch sind auch die Zitate aus Förster, welche Wrede 3, 390,
Anm. I und 3, 430, Anm. 2 anftlhrt. Sehr bedauerlich ist es femer, dafs im spezieUeo
Teil die Regimentsgeschichten nicht angeführt sind. Wrede zitiert Patente und Kapitu-
lationen nur mit der Archivsignatnr auch dsuin, wenn diese Stücke in der Regimentsgeschichte
gedruckt sind, so etwa i, 117 und 130 die Kapitulationen vom 19. Aug. 171 5, ge-
druckt bei Pizzighelli, Oeseh, des Mf-Regts. Nr. 7, S. 15 ff. und Stanka, Oesek.
des iif,'Begts, Nr. 3, 2, 121 ff. usw.
J
— 37 —
halten, so wäre es nötig gewesen, anzuführen, aus welchen ander-
weitigen Quellen der eingetretene Namenswechsel erschlossen worden
ist ^), was freilich manchmal zu ziemlich breiten, aber jedenfalls nütz-
lichen Erörterungen Anlais gegeben hätte, in anderen Fällen aber
durch den Hinweis auf die betreffende Regimentsgeschichte kurz zu
erledigen gewesen wäre. Wo aber Patent oder Bestallung vorliegen,
da würde man gerne stets auch das Tagesdatum beigefügt sehen;
auch das mag Schwierigkeiten verursachen, da die Daten in den Kon-
zepten korrigiert oder in scheinbar zusammengehörigen Stücken ver-
schieden sein können ; aber die Lösung solcher kleiner chronologischer
Fragen oder die offene Darlegung der in den Quellen sich ergebenden
Widersprüche hätte sicherlich zu lohnenden Ergebnissen geführt. Mit
blolser Andeutung des Zweifels *) ist die wissenschaftliche Aufgabe
nicht erledigt.
In dem knappen Rahmen, an den sich die Geschichte der Wehr-
macht mit militärischer Pünktlichkeit hält, waren freilich kritische Er-
örterungen, wie ich sie hier als nötig bezeichne, kaum unterzubringen ;
sie hätten die Geschichten der ältesten Regimenter und namentlich
jene der schon im XVII. Jahrhundert aufgelösten Truppenkörper un-
verhältnismäfsig anschwellen lassen und von selbst das Schema der
regimenterweisen Ordnung gesprengt und zu einer zusammenfassenden
chronologisch fortschreitenden Behandlung der gesamten Armee-
geschichte oder doch der einzelnen Truppengattungen geführt. Dafs
diese zusammenfassende Form der Darstellung sich wenigstens bei
kleineren Armeen für die ältere, der Erkenntnis gröfsere Schwierig-
keiten bietende Zeit sehr gut eignet, das beweist zur Genüge der
erste Band der Geschichte des bayerischen Heeres, herausgegeben vom
Königl. bayer. Kriegsarchiv, welcher unter dem Sondertitel Geschichte
des hurbayerischen Heeres unter Ferdinand Maria, verfafst von Oberst
Karl Staudinger, im Jahre 1901 erschienen ist (München, Lindauer).
i) Zameist wird dabei an Standestabellen , Qnartierlisten n. dergL zu denken sein,
aber auch diete erfordern kritische Behandlung, wie Loewe in seiner Besprechung in der
Hiat. Ztitsehr. 85, la; f. mit Recht andeutet. — Wenn Loewe aber Wredes Werk „nicht
sowohl eine Geschichte als vielmehr eine möglichst systematische Sammlnng von Quellen**
nennt, so mufs das tu Mifsverständnissen führen. Als Anhang zu dem Werke Wredes
hätte eine Quellensammlung oder Qnellenpublikation recht wohl Platz finden können, tat-
sächlich aber findet sich hierzu in dem ganzen Werke bisher nicht der geringste Ansatz.
3) Man vergleiche Bemerkungen wie: „doch erscheint das Regiment noch 1639
genannt Vielleicht Verwechslung../* (3, 64); „nach einem anderen Ausweis wäre" ein
anderer Oberst zu setzen (2, 68); „nicht ganz sichergestellt*' oder „nicht ganz authen-
tisch** (2, 72, 78 f.).
— 38 —
Das ist zweifellos die beste, wissenschaftlich am höch-
sten stehende deutsche Heeresgeschichte, die wir be-
sitzen, und es ist kein Zufall, dafs in diesen Dingen Bayern vor
anderen einen so g^ofisen Vorsprung erreicht hat Anger^ durch
den um die Geschichtswissenschaft so hoch verdienten König Maxi-
milian IL haben dort seit Jahrzehnten ernste, mit der wissenschaft-
lichen Welt in Verbindung stehende Offiziere, wie Würdinge r,
Heilmann und Erhard, die Kriegsgeschichte des Landes durch
das ganze Mittelalter hindurch und bis in die Zeit des Dreiisigjährigen
Krieges hinein verfolgt. So ist in München eine kriegsgeschichtliche
Schule erwachsen, welche die schwierige Aufgabe einer Armeegeschichte
mit Geschick vorbereiten und ihr einen wahrhaft wissenschaftlichen
Charakter geben konnte.
Die von Erhard entworfene Einleitung (S. i — 126) behandelt in
gro&en Zügen die Anfänge des bayerischen Heeres bis zu seiner in
den Jahren 1649 und 1650 eingetretenen vollständigen Auflösung. Für
diese neuerlich auch von Riezler*) ziemlich ausführlich dargestellte
Periode, ist vorwiegend die bisherige Literatur und sind nur stellen-
weise neue Quellen benutzt. Dagegen beruht die folgende aus der
Feder Staudingers geflossene Darstellung auf einem weitschichtigen
Quellenmaterial, über dessen Wert oder Unwert der Leser Schritt für
Schritt aufgeklärt wird. Neben den gleichzeitigen Akten, welche zu-
meist den Münchener Archiven entnommen sind, werden auch ältere
gedruckte Quellen, wie Meurers Mefsrelationen oder das Theatrum
Europäum und seine Ausschreiber kritisch benutzt, oder wenn die
Umstände es erfordern, ihre Fehler erwähnt und erklärt. Daneben
läuft eine sorgfaltige Berücksichtigung neuerer heeresgeschichtlicher
Arbeiten, deren Verdienst mit feinem Takt hervorgehoben, deren Ver-
seben und Mängel aber allezeit gewissenhaft zurückgewiesen werden.
Auch handschriftlich erhaltene Arbeiten zur Heeresgeschichte, die be-
kanntlich, wenn sie unter den Akten des Archivs aufbewahrt werden,
leicht zu Ansehen und Einflufs gelangen, werden, wo es not tut, in
die Kritik einbezogen und selbst die älteren Jahrgänge des offiziellen
MUitärhandbuches für das Königreich Bayern werden nicht mit der
I) Riezler, Qeachichte Baiems, 6. Bd. (Gotha 1903) S. 136—170 behandelt
das Heerwesen von 1508 — 1651. Andere Teile der europäischen Staatengeschichte, wie
etwa Habers Geschichte Östetreiehs, haben es in Ermangelang geeigneter Vorarbeiten
an einer entsprechend aasflihrlichen Darstellung des Wehrwesens fehlen lassen müssen
and auch die bekannten Lehrbücher der österr. Reichsgeschichte behandeln aas demselben
Grande das Heerwesen nar süefinUtterlich.
— 39 —
Berichtigung verschont, wenn es gilt, irgendeine Einzelheit der Heeres-
geschichte, wie der Autor in einem Falle sagt, „endgültig von allen
ihr angehängten historischen Schlacken zu reinigen". In der Tat,
Bolche sorgfältige und allseitige Benutzung und Berichtigung der Quellen
und der Literatur ist der einzige zuverlässige Weg, um der Erkenntnis
die Wege zu ebnen. Möge sie in heeresgeschichtlichen Arbeiten auch
anderwärts eifrige und verständnisvolle Nachachmung finden!
Bei solcher Methode und Denkweise steht der Autor dem begreif-
lichen Streben anderer, die Stämme der Regimenter recht weit zurück*
zuverfolgen, mit voller Unabhängigkeit gegenüber, und es gelingt ihm
der überzeugende Beweis, dafs kein bayerischer Truppenkörper den
DreiCsigjährigen Krieg um mehr als zwei Jahre überlebt und dafe erst
in den Jahren 1664/65 und 1672 — 1675 die Anfänge des neuen baye-
rischen Heeres gelegen sind. Indem nun die Versuche und Verhand-
lungen, welche diesen Neuaufstellungen vorangingen, die Schwierig-
keiten, die sie begleiteten, dann das allmähliche Wachsen und Erstarken
der Formationen und in besonderen Abschnitten die Art der Werbung,
die Bekleidung und Ausrüstung, die Verwaltung und Verpflegung, die
gesamten Dienstverhältnisse und endlich die Feldzüge von 1657 bis
1674, zusammenhängend vorgeführt werden, erhalten wir von der Ent-
wickelung dieses überaus wichtigen Zweiges staatlichen Lebens ein
klares Bild, wie es die schematische Darstellungsweise der österreichi-
schen Heeresgeschichte doch nicht ganz zu bieten vermag.
Als eine überaus wertvolle Zutat des bayerischen Werkes sind
endlich die Beilagen zu begrüfeen. Hier wird in der Art eines Ur-
kundenbuches eine Reihe der wichtigsten in der vorausgehenden Dar-
stellung benutzten archivalischen Quellen im Wortlaut abgedruckt.
Der Wert dieser Quellensammlung reicht in manchen Stücken über
die bayerische Heeresgeschichte hinaus *) , hier ist der Punkt, wo nüt
Erfolg die vergleichende Betrachtung der verschiedenen deutschen
Armeen jener Zeit einsetzen kann, wo es sich zeigen mufs, inwiefern
in dem Deutschland jener Tage eine Einheit der militärischen Ein-
richtungen bestand und inwiefern dieser oder jener Staat aus eigenem
i) Hervorgehoben seien die Garnison-Vorschriften der Festung Braunaa Ton 1675,
die Werbongs- nnd Mosternngsinstroktionen TOn 1657, 1658, 1661, 1673, die Ver-
pflegsordonanzen Ton 1657 und 1679, die Quartierordnong Ton 1657; aach der Ab«
dnick des Kriegs-Exerzitien - Mannais (gedruckt zn Mflnchen 1674) nnd des Artikelsbriefes
von 1672 (Lttnig, Corp. iuris mil. 2, 788, vgl. jedoch meine Bemerkungen in den Mit-
teilungen des Institiäs für österr, Qeschidhtsforachung 6. Ergbd., 493 'd
sehr willkommen.
i
— 40 —
Antriebe oder von auswärts beeinflufst über das alte Herkommen hinaus
neue Formen entwickelt hatte. Auch in dieser Hinsicht also darf das
Werk des bayerischen Kriegsarchives , dem jeder eine ebenbürtige
Weiterfiihrung' wünschen wird, äholichen Arbeiten als Muster em-
pfohlen werden.
Von den in jüngster Zeit erschienenen Heeresgeschichten der
deutschen Kleinstaaten sei hier die von dem Premierleutnant a. D.
O. Elster verfafste Geschichte der stehenden Truppen im Hereog^
tum Braunschweig- Wolfenbüttel angereiht, deren erster Band (Leip-
zig, Heinsius, 1899) die Zeit von 1600 — 17 14 umfafst, während
der zweite (ebenda 1901) bis zum Jahre 1806 herabreicht In der
Anordnung des Stoffes zeigt dieses Werk eine Verwandtschaft mit
dem bayerischen, indem in chronologisch fortschreitenden Kapiteln
die Geschichte dieser kleinen aber früh entwickelten Truppenmacht
einheitlich, also nicht regimenterweise verfolgt wird. Innerhalb der
durch die Regierungen der einzelnen Herzöge gegebenen Zeitgrenzen
werden jedesmal die Formationen und die kriegerischen Aktionen ab-
gehandelt. Für beide Richtungen sind gedruckte und ungedruckte
Hilfemittel benutzt und angeführt, so die Publikationen des Grafen
von der Decken, v. Sicharts und des Freiherrn v. Reitzenstein, ältere
handschriftlich erhaltene Arbeiten und die Akten des Wolfenbüttler
Landeshauptarchivs , vereinzelt auch Archivalien in Berlin, Marburg,
Haag und Wien. Manches wertvolle aus diesen Quellen ist im Wort-
laut oder in Auszügen mitgeteilt so I, S. 45 bis 54 (wohl aus einem
gleichzeitigen Druck) die Verpflegsordonanz des Herzogs August vom
Jahre 1640 ; femer II, S. 144 bis 158 die 1737 von Herzog Karl er-
lassenen, 1744 etwas abgeänderten Exerziervorschriften; II, S. 162 f
eine den Gamisondienst regelnde Verordnung vom Jahre 1743; dann
einige Berichte über den Türkenkrieg von 1663 und 1664 *), über die
Schlacht bei Entzheim (4. Oktober 1674) und über die im veneziani-
schen Dienst 1687/88 unternommene Elxpedition nach Griechenland
und viele Stellen aus dem auf den Siebenjährigen Krieg bezüglichen
Teil der Tagebücher des Leutnants und späteren Kriegsiates Heinrich
Urban Cleve. Der Leser verfolgt mit Teilnahme wie auch eine so
i) Hermann Forst, der in dieser Zeitschrift i. Bd., S. 76 ff. n. 176, sowie
4. Bd., S. 279 f. QneUen und Literatur ilber den Türkenkrieg yon 1664 in sehr dankens«
werter Weise zusammengestellt hat, konnte Elsters Pablikation schon für seinen im
6. Ergbd. der Mitteiluigen des Insütnts für österr. Geschichtsforschung S. 634 ff. ver-
öffentlichten Aufsatz über die deutschen Reichstruppen im Tfirkenkrieg 1664 mit Nutzen
heranziehen.
— 41 —
kleine Trappenmacht in die Welthandel in Ost und West nach
Kräften eingreift, und jeder billig Denkende wird dem Verfasser von
Herzen zustimmen in seinem Streben, diese Kriegsfahrten der Ver-
gessenheit zu entreifsen ^). Sie bilden für das kleine Land eine Quelle
selbstbewufisten Strebens, eine Quelle, die durch künstlich angefachte
Begeistenmg für fremde Taten nie ersetzt werden kann.
Aber nicht so sehr in solchen Beiträgen zur Kriegsgeschichte
wird der Wert dieser und anderer auf die Geschichte kleiner Kon-
tingente bezüglicher Geschichtswerke zu suchen sein. Ihr vornehmstes
wissenschaftliches Ziel mufs auf einer anderen Seite gesucht werden :
es liegt in der übersichtlichen Zusammenstellung der
Namen aller jener Männer, welche als Offiziere oder
sonst in bemerkenswerter Stellung der betreffenden Ar-
mee angehört haben. Gleich den Regimentsgeschichten, in denen
erfreulicherweise immer mehr Sorgfalt auf Erreichung einer voll-
ständigen Offiziersliste des Regimentes verwandt wird, werden auch
solche kleinere Heeresgeschichten der Wissenschaft den gröfsten Dienst
durch Herstellung eines zuverlässigen Personallexikons leisten
können. Welchen Nutzen solche Namenlisten der neuerlich auf-
blühenden Familienforschung •) gewähren können , das liegt auf der
Hand ; sie findet schon in der bisher erschienenen heeresgeschichtlichen
Literatur reiches Material aufgespeichert und sie darf hoffen, auch femer
in den Regimentsgeschichtsschreibem sehr nützliche Mitarbeiter zu
finden. Aber das auf diese Art zustande kommende Namenmaterial
besitzt nicht blols für den Familienforscher im engeren Sinn, welcher
einzelne Familiengeschichten studiert, Wert und Bedeutung, sondern
es kann richtig benutzt zu weittragenden Folgerungen führen. Die
Fn^e nach der jeweiligen Zusammensetzung des Offizierkorps ist eines
der wichtigsten Probleme heeresgeschichtlicher Studien. Es ist für
die Abschätzung einer Armee von gröfetem Belange zu wissen, ob
ihre OfiSziere dem eigenen Lande oder ob sie auswärtigen FamUien
angehörten, ob und bis zu welchem Grade unter ihnen der Adel über-
wog. Vor Beantwortung dieser Frage gelangen wir weder zur richtigen
Vorstellung des Verhältnisses, das zwischen Heer und Land besteht,
noch zu einem Mafsstab für die Einwirkung auswärtiger Beispiele. Eine
zusammenfassende, die vorliegenden Namenlisten als statistische Grund-
lage verwertende Untersuchung ist daher für die Geschichte kleinerer
1) Dafs es dabei ohne scharfe Seiteohiebe auf preu(sische Geschichtsanffassnng
nicht abgeht (vgl. i, 131, 179; 2, 371 fit.), kann kaum wundernehmen.
2) Vgl. diese Zeitschrift 3. Bd., S. 182 ff. u. 4. Bd., S. 272 ff.
— 42 —
Armeen eine geradezu unerläfeliche Bedingung, für jene der grofsen
Heere aber eine Sache von höchstem Interesse. Naturgemäß spiegeln
sich die äufseren Geschicke des Staates, Gebietszuwachs und -Verlust,
in den Listen des Offizierkorps; aber die Übergänge werden mannig-
fach abgestuft durch den sehr verschiedenen Grad, in welchem diese
oder jene Provinz zur Führung des Heeres beigesteuert hat. So
hat beispielsweise die österreichische Armee noch lange nach dem
Untergang des alten Reiches einen guten Teil ihres Offizierskorps aus
dem Reiche bezogen; ja in diesem Sinn wirken noch heute die Be-
ziehungen Österreichs zu seinen schwäbischen Vorlanden. Grofe war
zu Zeiten der Einflufs der Niederländer, welchen Österreich hervor-
ragende militärische Kräfte zu danken hat. Andere Kronländer sind
erst im Laufe des XIX. Jahrhunderts mehr und mehr in die Reihen
des österreichischen Offizierskorps eingedrungen und keineswegs alle
im gleichen Mafs. Je mehr sie sich aber nun der Armee anschlössen
und je mehr die bevorzugte Stellung des Adels im Offizierskorps
schwindet, umsomehr gewinnt ihre Bevölkerung in dem Offiziersstand
eine Gelegenheit, aus ärmeren Schichten in bessere Lagen aufzusteigen.
Die Armee verwächst mit dem Lande, sie wird eines jener Medien,
durch welche die unverdorbene Volkskraft des Landes in die Kreise
höherer Kultur emporsteigen kann, um an der Leitung des Staates
und der Gesellschaft teilzunehmen.
Solchen Untersuchungen, wie sie hier angedeutet sind, ebnet jener
die Wege, der im Rahmen der Regiments- oder Truppengeschichte
die Personallisten zusammenträgt. Seine trockene Arbeit dient der
historischen Erkenntnis besser als manche auf Darstellung kriegs-
geschichtlicher Details angewandte Mühe.
Elster hat der Zusammensetzung des Offizierskorps Beachtung ge-
schenkt, indem er im Text eine lange Reihe von Offizierslisten mit-
teilt und jedem Bande überdies alphabetische Namensverzeichnisse bei-
fügt Auf eine eigentliche Verarbeitung dieses ungefähr 1700 Namen
umfassenden Materials hat er sich allerdings nicht eingelassen, aber
trotzdem gewährt sein Buch eine Vorstellung von den Elementen,
welche das braunschweig -wolfenbüttelsche Heer zu leiten hatten. Es
sind in weitaus überwiegender Zahl deutsche und zwar norddeutsche
Namen; während des XVIII. Jahrhunderts tauchen einzelne Franzosen
auf, aber ihre Zahl überschreitet kaum zwanzig; weit geringer sind
andere Nationen vertreten, am stärksten noch im Baufach. Unter den
deutschen Namen kehren etwa hundert viermal oder noch öfter wieder,
ein Beweis wie sehr sich das Offizierskorps aus bestimmten, vorwiegend
— 43 —
adeligen Familien rekrutierte. Es wäre iiir den, der mit norddeutscher
Familiengeschiclite vertraut ist, gewife leicht und lohnend, weitere Be-
obachtungen an diese Namenlisten zu knüpfen und es wäre nament-
lich zu wünschen, da(s ähnliche Zusammenstellungen für andere deutsche
Armeen des XVII. imd XVIII. Jahrhunderts gemacht und dadurch ein
Vergleich über die Struktur des Offizierskorps in diesem und in jenem
Staate ermöglicht würde *).
Indem hier zu ähnlichen Arbeiten angeregt wird, darf aber nicht
verschwiegen werden, dafs die Art, wie Elster seine Namenlisten vor-
legt, nicht die beste ist. Es war vor allem kein glücklicher Gedanke,
an den Schluis der Bände drei verschiedene alphabetische Reihen zu
stellen, eine für die Zeit vor 1666, eine zweite für 1666 bis 1714
und eine dritte für die weitere Folge bis 1806. Ein einziges alphabetisches
Verzeichnis wird jedem Benutzer lieber sein. Ein weiterer Nachteil
ist es , dais den alphabetischen Verzeichnissen die Hinweise auf jene
Stellen des Buches fehlen, an denen die betreffenden Namen vor-
kommen. Die alphabetische Liste kann, wenn sie nicht ihre Übersicht-
lichkeit einbüfsen soll, nicht alle wissenswerten Daten über den ein-
zelnen enthalten, die dem Autor zur Verfügung stehen. Elster hat
zumeist das Datum des ersten Vorkommens nebst der betreffenden
Charge, dann die Daten des Avancements und die Art des Abgangs
dem Namen beigefügt; man vermifst im zweiten Bande die Angabe
des Regiments und man vermifst durchaus die Quelle, aus welcher
der Name geschöpft ist. Hätte Elster durch Beifügung der Seiten-
zitate eine Verbindung zwischen seinem Text und seinen Registern
hergestellt, so hätte er dadurch die Vollständigkeit des Reg^ters einer
nützlichen Kontrolle unterzogen imd — falls er im Text die Quelle
seiner Standeslisten von Fall zu Fall angeführt hätte — indirekt auch
dem Register die quellenmäfsige Begründung gegeben. Es wird dann
von den Umständen abhängen, ob im Text oder im Register oder
auch an beiden Stellen noch weitere Anhaltspunkte zur Bestimmung
i) Aach dem österreichischen and dem bayerischen Werk sind Namelnisten bei-
gefügt, aber sie eignen sich nicht gat zom Vergleich mit jenen Elsters. Die am Schlofs
jedes Bandes der Geschichte der k. and k. Wehrmacht stehenden Verzeichnisse bachen
nnr die Namen der Inhaber and Kommandanten, die grofse Masse des Offizierskorps
bleibt hier wie in dem ganzen Werke selbst onberflcksichtigt and sie wird voraassichtlich
mach in dem 7. (Schlafs-)Band , welcher die Gesamtregister bringen soll, keinen Platz
finden. Staadinger bietet drei sehr wertvolle Verzeichnisse, in welchen er die Personen-
namen, die Ortsnamen and die behandelten Gegenstände getrennt aasweist; im Personen-
verzeichnis erscheinen aber natargemäfs neben den Offizieren aach andere in dem Bach
genannte Persönlichkeiten.
— 44 —
der Persönlichkeit Aufnahme finden können. Jedenfalls wird es gut
sein, die Standestabellen vollständig auszubeuten und was sie etwa
über das Alter und die Herkunft der einzelnen Offiziere anführen, vor
allem aber stets die Taufnamen mit aufzunehmen. Die durchgängige
Beobachtung dieser Grundsätze wird allen heeresgeschichtlichen Ar-
beiten, den Regimentsgeschichten sowohl als jenen, welche die Ent-
stehung ganzer Armeen verfolgen, ohne allzugrofse Mehrbelastung doch
bedeutenden Wert verleihen.
Es würde zu weit fuhren, alle einschlägigen Arbeiten auch nur
der jüngsten Jahre in ähnlicher Weise, wie es nun an drei Beispielen
geschehen ist, vorzunehmen *). Aber ein Wort über den gegen-
wärtigen Stand der preufsischen Heeresgeschichte wird
am Schlüsse dieser Erörterungen doch nicht unterdrückt werden können.
Bei dem Vorhandensein einer so grofs angelegten österreichischen
und einer so vorzüglichen bayerischen Heeresgeschichte und besonders
bei dem eigentümlichen Parallelismus, welchen sonst die kriegs-
geschichtlichen Arbeiten des österreichischen und des preufsischen
Generalstabs aufweisen, mag es wundernehmen, dafe an dieser Stelle
einer neuen preufeischen Heeresgeschichte nicht zu gedenken ist. In
klagendem Ton hat denn auch V. Loewe, der tüchtige Kenner des
Wallensteinschen Heeres, die Frage aufgeworfen, wann denn endlich
„der Staat, der auf die stolzeste Kriegsgeschichte der neuen Zeit*'
zurückblicke „für Erschliefsung und Bearbeitung der Quellen seiner
Heeresgeschichte in freiem wissenschaftlichen Geiste in gleich groß-
artiger Weise Sorge tragen" werde *). Ohne die Verhältnisse genauer
zu kennen, glaube ich doch, sagen zu dürfen, dais der in diesen
Worten enthaltene Vorwurf schwerlich ganz berechtigt sein dürfte. Ks
ist richtig, dafs es in Preufsen an einer neueren einheitlichen Heeres-
i) Erwähnt seien folgende Arbeiten über das Heerwesen kleiner deutscher Staaten:
Müll mann. Zur Geschichte des Kurtrierischen Militärs im i. Ergänzungshefte des
Trierischen Archivs S. 60 ff. — Erhard, Studie über die kurfürstlich pfälKische Armee
1610 bis 1778 in den Darstellungen aus der bayerischen Kriegs- und Heeresgeschichte,
I. Heft — Henle, Das Heerwesen des Hochstifts Würxburg im 18. Jahrhundert,
ebenda 7. Heft. — Das stehende hessiscite Heer 1670 bis 1866 j in der Zeitschrift
Hessenland 1900, S. 59 ff. — Zur Geschichte des lippeschen Kontingents 1516 bis 1867
in den Blättern für lippische Heimatskunde (Monatl. Beilage der lippischen Landeszeitong)
I, Nr. 10 ; ein Vortrag Yon Kiewning behandelt das lippische Kontingent bis l8o6,
Referat darüber in den Mitteilungen aus der lippischen Geschichte und Landeskunde
I. Bd. (Detmold 1903), S. 184 — 187. — Gaedechens, Das Hamburgische Militär
(Hamburg 1889). — Pocke, Das bremische Stadimilitär vom Ende des 16. Jahrhunderts
bis a/uf die napoleonische Zeit im Bremischen Jahrbuch 19. Bd.
2) Historische Zeitschrift 85, 128.
— 45 —
geschichte fehlt, aber es fehlt keineswegs an Einzelarbeiten auf diesem
Gebiet. Man scheint dort zu empfinden, was man sich anderwärts
vielleicht zu wenig gegenwärtig hält, dafs es, um zu einer befriedigen-
den Gesamtdarstellung zu gelangen, erst zahlreicher Vorarbeiten in
verschiedener Richtung bedürfe. Solcher Vorarbeiten aber besitzt
Preufeen eine sehr ansehnliche Reihe. Die bedeutenden Studien
von Lehmann^) und Schmoller*), die Arbeiten des Freiherm
V. Schroetter^) und des Oberleutnants Jany*) ersetzen zum Teil
eine zusammenfassende Heeresgeschichte und können ähnlichen Werken
in vieler Hinsicht als Muster dienen. Ganz besonders zu rühmen aber
ist, dafe sich die preufsische heeresgeschichtliche Forschung in neuester
Zeit mit verstärkter Kraft der Erforschung der Quellen zuwendet.
Für den Offizier, wie für jeden, der von fremdem Arbeitsgebiet her-
kommend sich geschichtlichen Studien widmet, mag die Quellen-
forschung zunächst wenig verlockendes bieten, sie mag wie ein Hinder-
nis erscheinen, das möglichst rasch überwunden werden mufs, um
die lohnende Hauptarbeit, die Darstellung selbst, in Angriff zu nfchmen.
Um so erfreulicher ist es, wenn auch hier die Erkenntnis durchdringt,
dafs es hingebender Beschäftigung mit den Quellen bedarf, um den
Boden für die Darstellung zu ebnen.
Ganz besonders gepflegt wird diese Richtung in den seit 1901
in Mittlers Verlag erscheinenden Urkundlichen Beiträgen und For^
schungen eur Geschichte des preußischen Heeres, wovon der grolse
Generalstab (Kriegsgeschichtliche AbteUung II) bisher fünf Hefte in
zwangloser Folge erscheinen liefs. Schon diese kleine Reihe läfst er-
kennen, welch manigfaltige Quellen der Kriegs- und Heeresgeschichte
noch der Ausbeutung harren. Mit den offiziellen Berichten und mit
den Erlässen der höchsten Instanzen ist es hier so wenig getan als
1) Werbung und Wehrpflieht im Heere Friedrich Wilhelm /., Hist. Zeitschr.
67. Bd.
2) Die Entstehung des preußischen Heeres von 1640 bis 1740 y jetzt abgedruckt
in Schm ollers Umrissen und Untersuchungen xur Verfcusungs-, Verwathrngs- und
Wirtsehaftsgesehiehie (Leipzig 1898).
3) Die brandenburgiseh' preußische Heeresverfassung unier dem Großen Kur-
fürsten (Staats- und socialwissenschaftliche Forschangeo herausgegeben von Scbm oller
XI, 5, Leipzig 1892) und Über die Entwicklung des Begriffs Servis in den ForschiiDgen
zur brandenbnrgisch-prenfsischen Geschichte, 13. Bd.
4) Preußische Heeresgeschiekte im XVU. Jahrhundert in den Forschungen znr
brandenbnrgisch-preafstschen Geschichte 10. Band und Die Anfänge der aÜen Armee,
L 7M, in den Urkundlichen Beiträgen und Forschungen zur Geschichte des preafsischen
Heeres, i. Heft.
— 46 —
anf anderem geschichtlichen Grebiet. Ein volles wahres Bild erhält
erst, wer auch die tiefer stehenden, die unverantwortlichen Teilnehmer
der Ereignisse um ihre Meinung fragt, welche die Lage des Augen-
blicks zwar manchmal nicht ganz überblicken, aber in unbefangener
und in verständlicherer Sprache zu uns späteren sprechen. In diesem
Sinne sind die von einzelnen Truppenkommandanten erstatteten Be-
richte über die Kämpfe bei Auerstädt, Jena, Halle und Lübeck und
die daran geknüpften Auszüge aus den Tagebüchern beteiligter OflS-
ziere von Wert, welche die „Gefechtsausbildung der preufsischen In-
fanterie von 1806" zu beleuchten bestimmt sind *). Sehr willkommen
sind ferner die preußischen Soldatenbriefe aus den Jahren 1756 und
1757, welche in die Gedanken des gemeinen Mannes Einblick ge-
währen *). Mögen solche Beispiele in anderen Armeen Nachahmung
finden! Sicher schlummern auch anderwärts in den Archiven der Re-
gimenter und im Privatbesitz zahlreiche Quellen ähnlicher Art, vor
allem Briefe und Tagebücher der Offiziere, welche nicht so sehr als
Beitrag zur Geschichte der kriegerischen Operationen, denn als Quelle
für die Erkenntnis der Menschen und der Zustände im Heer von un-
schätzbarem Werte sind. Ihre Veröffentlichung bietet dem, den
Beruf und Neigung zur Kriegsgeschichte führt, ein dankbares Feld
der Tätigkeit.
Dafs auch bei solchen Quellen mit dem blofsen Abdruck die
1) Jany begleitet diese Pablikaüon (Heft 5 der Urk. Beiträge nnd Forachongen)
mit einer sehr instmktiTen Einleitung, welche zeigt, wie nötig es ist, das ans den Vor-
schriften einer Zeit gewonnene Bild der Heeresverfassnng mit Hilfe anderer Quellen nach-
zuprüfen nnd zu ergänzen. Auch Liebe in einer Anzeige meiner im i. Hefte der Mit'
teilungen des k, ti. k, Heerea-Museuma (Wien, Konegen, 1902) yeröffentlichten Studien
ttber Kriegaartikel und Reglements als Quellen xur Geschichte der K, und K Armee
hat diesen Gedanken angedeutet (Hist Vierteljahrschrift 6, 296), aber er irrt, wenn er
meint, dafs ich diesem Umstand nicht gebührend Rechnung getragen hätte; die ein-
leitenden Sätze meines angeführten Aufsatzes und auch jene zu meinem Aufsatz ttber
Ursprung und Entwiekelung der deutschen Kriegsartikel in den Mitteilungen des In-
stituts für österr. Geschichtsforschung 6. Ergbd. 4 74 f. bewahren mich vor dem Vorwurf^
die Bedeutung der Vorschriften überschätzt zu haben. Trotzdem halte ich nach wie vor
die Kenntnis der Vorschriften und ihres Zusammenhangs, wie ich ihn für
die deutschen Kriegsartikel überhaupt und dann auch für die österreichischen Reglements
in den angeführten Arbeiten dargel^ habe, für die erste Bedingung aller anf
die Zustände der Heere gerichteten Forschung. — Einen neuen Beitrag zur
Geschichte der österreichischen Reglements bietet Oswald Redlich, Ein Exerzier-
reglement aus der Zeit Prinx Eugens in den Mitteilungen des k. n. k. Heeresmuseums,
2. Heft, S. 55 ff.
2) Urkundl. Beiträge nnd Forschungen, 2. Heft.
— 47 —
Arbeit de3 Historikers nicht erledig^ ist, versteht sich von selbst. Der
Benutzer mufs genaue Auskunft verlangen über die Beschaffenheit der
Handschriften, über die Entstehungszeit und über alles, was irgendwie
den Wert der Quelle beeinflussen kann. Und hier ist es wiederum
eine Arbeit von Jany, die für ähnliche Angaben als Muster empfohlen
werden kann. Die Art, wie dieser Offizier das für die Geschichte des
Siebenjährigen Krieges so bedeutsame Tagebuch des General-
leutnants Gaudi nach seiner recht verwickelten Überlieferungsart,
nach seiner Entstehungszeit, den benutzten Quellen und der ihm zu-
kommenden Glaubwürdigkeit untersucht hat *) , verdient volles Lob,
In neuester Zeit hat sich auch die österreichische Forschung dieser
Richtung zugewandt. Im zweiten Hefte der von dem Wiener Heeres^
museum herausgegebenen Mitteilungen ^) veröffentlicht Wilhelm John
zwei dem Regimentsarchiv des k. u. k. 55. Infanterieregiments ent-
nommene gleichzeitige Aufzeichnungen aus der Zeit der Be-
freiungskriege. Der Herausgeber hat diese für den Geist des
österreichischen Heeres jener Zeit sehr bezeichnenden Quellen nicht
nur mit sachlichen Erläuterungen, sondern auch mit einer kritischen
Einleitung versehen, welche die Grundsätze der Quellenkritik auf da&
kriegs- und heeresgeschichtliche Gebiet anwendend zu einer schönen
Würdigtmg der beiden Stücke gelangt*). Zahlreiche verwandte
und oft benutzte kriegsgeschichtliche Quellen harren
noch ähnlicher Behandlung. Mögen diese Zeilen dazu
beitragen, dafs auch sie bald die verdiente Untersuchung
finden und dafs das weite Gebiet der Heeresgeschichte
immer mehr in den Betrieb geschulter wissenschaftlicher
Arbeit einbezogen werde!
i) Das Qaudisehe Journal des Siebenjährigen Krieges, Feldxüge 1756 und
1757. UrkundL Beiträge und Forschungen, 3. Heft.
2) Vgl. diese Zeitschrift 4. Bd., S. 184 f.
3) In einer längeren Anmerknng za S. So bietet John eine Znsammenstellong ver^
wandter in den Archiven anderer österreichischer Regimenter nachweisbarer handschriftt
Ucher QneUen (zameist Regimentstagebttcher aus der zweiten Hälfte des XVUL und der
ersten des XIX. Jahrhunderts). — Sehr zvl beherzigen sind auch Johns Ansftlhningen über
den in der 'militärhistorischen Literatur so oft ignorierten Unterschied zwischen Quelle
und Literatur, seine kritischen Bemerkungen Über Rangslisten und Schematismen, endlich
die einleitenden Worte, in denen er den bisherigen Stand der österr. Kriegsgeschichte
kennzeichnet und ihre Lostrennnng von didaktischen Tendenzen fordert
48
]4eue
Veröff entliehungen deutseher Stadtreehte
Von
Konrad Beyerle (Breslau)
(Schlafe) 1)
Der folgende Abschnitt über die Gerichtsverfassung leidet vor
allem an dem Mangel, da(s das ordentliche Stadtgericht, das alte Markt-
gericht, nicht genügend in den Vordergrund gestellt ist Die Behaup-
timg, dafe die Bildung eines selbständigen Gerichtsbezirks für die Stadt
Lippstadt erst längere Zeit nach der Gründung durch Eximierung vom
Landgericht erfolgt sei, schwebt in der Luft. Selbstverständlich ist
schon der judex des ältesten Privilegs (S 6) der ordentUche, Stadt-
herrUche Richter der Bürgerschaft für den engeren Stadtbezirk. VgL
S. 70, Noten i u. 2. Für die Wende des XV. Jahrhunderts weist
Overmann das Bestehen von acht Gerichten in Lippstadt nach:
das stadtherrliche ordentliche Gericht (wegen des Condominiums von
Lippe und Mark Sandgericht genannt), dessen Umstand der Rat bil-
dete, dessen örtliche Zuständigkeit bis an die Stadtmauern reichte, das
sachlich auf bürgerliche Rechtsstreite und freiwillige Gerichtsbarkeit
beschränkt war, da die Entscheidung über die niederen Straffälle schon
durch die Handfeste des Gründers dem Rate als Gemeindeoi^an zu-
gewiesen wurde. Tatsächlich war freiUch die Besetzung dieses zweiten
Gerichts dieselbe in dem einmal jährlich stattfindenden Bruchtengericht
über Frefel. Art. i der Handfeste zeigt ja deutlich, dafe die Absicht
des Stadtherm lediglich war, die Frefelbufsen der Bürgerschaft für
den Mauerbau zukommen zu lassen. Drittes Gericht ist das Kriminal-
gericht in Blutfällen, ebenfalls gehegt durch den landesherrUchen
Samtrichter (in alter Zeit vom Stadtherm oder seinem Amtmann?),
den Umstand bildet auch hier der Rat, die örtliche Zuständigkeit soll
anfangs auf den Mauerring beschränkt, später zum Nachteil des landes-
herrlichen Gogerichts auf die Feldmark ausgedehnt worden sein. Das
Gogericht, welches an vierter Stelle zu nennen ist, wird von Over-
mann als öffentliches landesherrliches Gericht für das Gebiet aufser-
halb der Stadtmauer mit umfassenden Kompetenzen erwiesen; die
ursprüngliche Bezeichnung Vogtgericht wird mit der Kölner Lehns-
hoheit in Verbindung gebracht. Als fünftes Gericht sind auf der
i) VgL oben S. i— 15.
— 49 —
Lippstädter Markung' auch zwei Freistüble nachweisbar. Gemeinde-
gerichte waren das Burgericht (jede der vier städtischen PÜEUieieii
besafe zwei Bnrrichter), welches richterMche (Feldfrevel, Grenzstrdtig-
keiten) und polizeiliche Funktionen (Aufsicht über alles Gemeinde-
eigentum) verband, und das Ratsgericfat, dem schon die Handfeste
des Gründers die Entscheidtmg über rechtes Mafs und Gewicht, über
Frevel und in solchen sonst zur Zulässigkeit der Borrtchter gehörigen
Sachen zuwies, welche die Kenntnisse der Burrichter überschritten.
Letztes (achtes) Gericht zu Lippstadt war das geistliche Sendgericht
Mit einer Skizze über die Stadtverwaltung, welche besonders ein-
gehend die Finanzverwaltung behandelt, beschliefst Ov er mann seine
verfassungsgeschichtliche Einleitung. Ein dem undatiert überlieferten
(im Faksimile beigegebenen) ersten StadtrechtsprivUeg gewidmeter
Exkurs kommt zum Elrgebnis, dafs die meisten Gründe dafür sprechen,
die Handfeste, übrigens bereits das kodifizierte Elrgebnis einer längeren
Rechtsentwickelung, um 1220 anzusetzen.
Der zweite TeU des Bandes ist dem Abdruck der Quellen ge-
widmet. Dabei werden dieselben vom Herausgeber in mehrere sach-
liche Gruppen gebracht. Zunächst gelangen „Privilegien und Recesse**
teils im Vollabdruck, teils in Regestform zur Wiedergabe. Im Vorder-
grunde steht das bekannte Privileg des Gründers von um 1220 (Nr. i).
Aus dem weiteren Inhalt dieser Abteilung notiere ich den Rezefs von
153S9 welcher die städtischen Freiheiten starker Beschränkung unter-
wirft (Nr. 41); eine Gerichtsordnung des Lippstadter SamtgerichtB
(siehe oben) von 1559 (Nr. 45); eine Sendgerichtsordnung von 1591
(Nr. 51); Rezesse über das Gerichtswesen von 1599 (Nr. 52) und 1691
(Nr. 54). In einem zweiten Abschnitt gelangen „Statuten und Wil-
küren" zum Abdrucke. Hervorzuheben ist ein erstmals zum Druck
gelangendes sogen, zweites Stadtrecht (aufgezeiehnet zwischen 1309
und 1327) in 29 Paragraphen; sodann eine aus d^^elben Zeit stam-
mende Aufzeichnung über Hergewete und Gerade; eine amtliche Mit-
teUung des Lippstadter Stadtrechts an Detmold von 1575 (44 SS);
eine Verfahrensordnung in peinlichen Fällen aus dem XVII. Jahr-
hundert. In der dritten Abteilung sind unter dem Gesamttitel Zunft-
sachen gewerbliche Ordnungen zusammengesteUt. Ratslisten von
1230 — 1560 und Worterklärungen, an denen Prof. Dr. Jos t es mit-
gewirkt hat, beschliefsen den Band. So sehr wir die westfälische
historische Kommission und den Herau^eber zu diesem ersten Werke
einer vielversprechenden Serie beglückwünschen, können wir doch
den Wunsch nicht unterdrücken, dafs in Zukunft verfassungsgeschicht-
4
— 50 —
liehe Einleitungen auf das Notwendigste beschränkt, dagegen jedem
Band die für die Benutzung durch den Juristen unumgänglichen Sach-
register beigegeben werden mögen. Besonders in letzterer Hinsicht
können die mustergültigen Ausgaben schweizerischer Stadtrechte zum
zum Vorbild dienen, die wir uns jetzt kurz ansehen wollen.
Der hohe Wert der schweizerischen, von fremdrechtlichen Ein-
flüssen verhältnismäfsig ireigebliebenen Rechtsquellen für die deutsche
Rechtsgeschichte ist längst erkannt. Hervorragende Forscher haben
der Erschliefeung ihres Gedankeninhalts ihr Lebenswerk gewidmet.
Bluntschli, v. Wyfs, Heusler, Huber, Planta sind Namen
vom besten Klange. Neuerdings hat nun der rührige schweizerische
Juristenverein im Jahre 1894 beschlossen, eine den heutigen Anforde-
rungen der Wissenschaft entsprechende Sammlung der schweizerischen
Rechtsquellen herauszugeben. Im weitesten Umfange soll der rechts-
geschichtliche Quellenschatz bis herab zur Helvetik der Forschung
zugänglich gemacht werden. Die Leitung des grofeen Unternehmens
liegt in Händen einer Kommission, bestehend aus Prof. Andreas
Heusler-Basel, Prof. Eugen Huber-Bem und Bundesrichter Charles
Soldan-Lausanne. Die Sammlung wird sich nach den heutigen Kan-
tonen der Schweiz gliedern. Innerhalb jedes Kantons sollen die Quellen
nach drei sachlichen Kategorien geordnet werden, es sollen nämlich
jeweils eine Gruppe für sich bilden Stadt- und Landrechte, Herrschafts-
und Amtsrechte, bäuerliche und grundherrschaftliche Rechte (Weis-
tümer). Für die meisten Kantone sind umfangreiche archivalische Vor-
arbeiten nötig. Dagegen konnte die Herausgabe der reichen Rechts-
quellen des Kantons Argau bereits in Angriff genommen werden,
deren Erhebung und Ordnung schon seit Jahren durch Dr. W. Merz
durchgeführt wurde.
Als ersten Band ihrer Sammlung legte demgemäfe die schweize-
rische Kommission im Jahre 1898 das Stadtrecht von Arau vor, be-
arbeitet und herausgegeben von Dr. Walther Merz*), eine in Aus-
stattung, Anordnung und Textwiedergabe gleich treffliche Publikation.
Die typographische Ausstattung ermöglicht die denkbar beste Über-
sichtlichkeit, die Anordnimg ist streng chronologisch ohne Spaltung
des Quellenstoffs in Einzelgruppen, die Textwiedergabe ist bis 1500
i) Sammlung schweizerischer Rechlsqueüen , herausgegeben auf Veranlassung des
schweizerischen Joristenvereins mit Unterstützung des Bundes und der Kantone. XVI. Ab-
teilung : Die Rechtsquellen des Kantons Argau. Erster Teil : Stadtrechte. Erster Band :
Das Stadtrecht von Arau, bearbeitet und herausgegeben von Dr. Walther Merz
(Arau. H. R. Sanerländer & Co., 1898. XXVII und 558 S.).
— 51 —
buchstäblich getreu, erst von da ab läfet der Herausgeber eine Verein-
fachung der Orthographie eintreten. Die Einleitung tmterrichtet über
den Handschiiftenbestand , das folgende Inhaltsverzeichnis erleichtert
eine rasche Kenntnisnahme vom Stoff der 430 gröfstenteils im Voll-
abdruck wiedergegebenen Stücke. Eröffnet wird die Quellenserie durch
die Handfeste König Rudolfis von Habsbuig vom 4. März 1283. Die
historische Einleitung dazu belehrt uns, da(s die argauischen Stadt-
rechte zwei Gruppen angehören, der zähringischen und der habs-
burgisch- österreichischen. Prototyp der ersteren Gruppe ist bekannt-
lich das Stadtrecht von Freiburg i. Br., Prototyp der zweiten das Stadt-
recht von Winterthur von 1264. Das letztere ist zwar weniger reich
entwickelt als das zähringische Recht, jedoch ganz selbständig; von
den zähringischen Stadtfreiheiten unterscheidet es sich namentlich durch
das Streben, die habsburg^chen Städte durch landesfürstliche Beamte
zu beherrschen, die habsbui^ischen Gründer gaben das Recht der
Schultheifsenwahl tmd das Kirchenpatronat nicht aus den Händen. Die
Arauer Handfeste geht direkt auf die Winterthurer Vorbilder von 1264
und 1275 zurück, denen gegenüber sie einige Einschränkungen auf-
weist Sie selbst wurde das Vorbild für die Stadtrechte von Brugg,
Sursee, Lenzburg und Rotenburg. Zu beachten ist, dafs die Hand-
feste Rudolfs I. für Arau vom Jahre 1283 nicht den Beginn städtischen
Wesens daselbst markiert. Schon vorher tritt Arau als städtisch organi-
siertes Gemeinwesen auf. Allerdings muls ich meiner Verwunderung
darüber Ausdruck geben, dafs nach Ansicht des Herausgebers (S. 3)
erst die Rudolfina der Stadt Arau das Marktrecht verliehen habe. Es
heifst in Art. i der Handfeste (= Winterthur 1264 I) ausdrücklich, dafs
nüt Willen des Königs der Friedekreis der Stadt Arau stets Marktrecht
haben soll „nach der stat sitte und gewonheit*^ Ein gewohnheits-
rechtlich bereits bestehender Zustand wird also unter königlichen
Schutz gestellt Sodann bedeutet Marktrecht nicht, wie der Heraus-
geber meint, ein Programm, d. h. ein bestimmtes Mindestmafs stadt-
rechtlicher Freiheiten, ist vielmehr ganz konkret als dingliche Freiung
des Marktlandes zu verstehen. Der Friedekreuze Einschlufs soll Markt-
recht haben nach der Bürger Gewohnheit heilst nicht mehr und nicht
weniger als: Das Marktareal unterliegt freier Verfügung seiner frei-
zügigen Besitzer, der Arauer Bürger. Vgl. das RadoUzeller Privileg
von iioo: Partem ville . . . sub jure fori donavimtts, eo viddicet
iure et lihertate, tU ipsa terra omni homini cuiuscumque condicianis
liceret emere, vendere et libere in dUodio possidere. Bereits ein zweites
Stadtrecht von Arau vom Jahre 1301 zeigt uns den eigentümlichen
4*
— 52 —
Prozefis des Eindringens zähringischer Rechtssätze in liabi^uigisches
Stadtrecht, welches die schweizerische Rechtsgeschichte jener Zeit be-
lebt. Die Bestimmungen von 1301 stellen gleichzeitig die ersten auto-
nomen Satzungen der Stadt Arau dar. Eine noch stärkere Rezeption
zähringischer Rechtssätze in Arau enthält die von Merz vor dem
Jahre 1309 angesetzte sogen, gröfeere Handfeste (58 Sätze), welche
inhaltlich eine Übernahme des zähringisch gefärbten Stadtrechtsbrie£s
Rudolfs von Habsburg für Bremgarten von um 1250 ist. Aus dem
weiteren reichen Inhalt des Bandes möchte ich auf folgende Stücke
aufmerksam machen: Eine Reihe von Urkunden betreffen die ding-
liche Freiung der Herrschaftsburg Rore in Arau, den Bürgern stets cm
Dom im Auge (vgl. S. 34, 39, 79, 84, 89, 131, 177). Genau belegt
ist die Einfügung der Vorstadt Arau in das Bürgerrecht d. h. die
Aufsaugung der hofrechtlichen Ansiedelung durch die Marktstadt
Vgl. S. 37 und 94. Umfangreiche Ordnungen und Satzungen besitzt
Arau aus der Zeit um 1510; eine nochmalige Erneuerung fand im
Jahre 1572 statt. Es ist nicht möglich, hier weiter auf den in jeder
Beziehung reichen Inhalt des Bandes einzugehen, die Benutzung
desselben ist für jedermann durch ein sorgfaltiges Register sehr er-
leichtert.
Schon nach Jahresfrist, 1899, ^^^ ^^^ schweizerische Kommission
in der angenehmen Lage, in einem stattlichen Doppelbande die Rechts-
quellen der argauischen Städte Baden und Brugg der Öffentlichkeit zu
übergeben, die ersteren bearbeitet von Dr. Friedrich EmilWelti,
die letzteren von dem genannten Bearbeiter des Arauer Rechts,
Dr. Walther Merz*). In der Heranziehung des Stoffes steckte der
Bearbeiter des Badener Rechts mit Recht den Rahmen besonders
weit, indem er zahlreichen kulturgeschichtlich interessanten Verofd-
nimgen der Gesundheits- und Sittlichkeitspolizei aus der Rechts-
vergangenheit der schweizerischen Bäder- und Versammlungsstadt Auf-
nahme gewährte. Über den Handschriftenbestand tmterrichtet das Vor-
wort. Das Inhaltsverzeichnis weist 580 Stücke auf Die Grundlagen
des Badener Stadtrechts sind in der quellengeschichtlichen Einleitung
zum Stadtbuche von 1384 dargelegt. Danach geht das Badener Redit
unmittelbar auf Winterthur zurück, die einst vorhandene habsbto^^isdie
Handfeste ist im Jahre 1369 im Original verbrannt, eine Abschrift ist
I) Sammiimg sehweixeriseher Rechisquellen (wie oben Nr. 18). Arganische Stadt-
rechte IL Band. Die Stadtreehte von Baden und Brugg ^ bearbeitet und herausgegeben
Ton Dr. Friedrich Emil Welti and Dr. Walther Mers (Arau, H. R. Saueriändcr
1^ Co., 1899. XXIV and 449 S. and bezw. Xm and 346 S.).
— 53 —
sieht zurückgeblieben. Mit guten Gründen weist der Herausgeber die
Bewidmung von Baden mit Winterthurer Recht in die Jahre 1297 bis
1298; kurz vorher erst mufs Baden zur Stadt erhoben worden sein.
In einer Wettinger Urkunde von 1298 spricht Herzog Albrecht I. von
Österreich von cppidum nosirum navum Baden. Das Stadtbuch von
1384 ist eine offizielle Aufzeichnung des in Baden geltenden Rechts
durch die städtische Behörde. Die Verwandtschaft der ersten 18 Sätze
mit den Winterthurer Handfesten ist überall deutlich gemacht. Die
Sätze 19 — 115 sind autonome Stadtrechtsergänzungen, die Zusammen-
steUung diente mit den Ergänzungen bis in den Anfang des XVI. Jahr-
hunderts als ofSzielles Satzungsbuch und nimmt beim Fehlen der ur-
q>rünglichen Handfeste den wichtigsten Platz unter den Badener Rechts-
queUen ein. Eine Revision erfuhr dasselbe bald nach 1503 durch den
Stadtschreiber Ulrich Dirsch. An umfassenderen Quellen des Badener
Rechts sind femer hervorzuheben ein Eidbuch der städtischen Be-
amten usw. von um 1520, sowie eine Blutgerichtsordnung von 1641.
Von dem rechts- und kulturgeschichtlich reichen Inhalt nenne ich noch
folgende Stücke: Erbauung von Marktlauben 1353 (Nr. 6), Errichtung
zweier Jahrmärkte 1363 (Nr. 11), Elrrichtung einer Wechselbank 1369
(Nr. 14), Stadt Baden erwirbt das Scher- und Schröpfamt und das
heifee Bad 1430 (Nr. 45), Erwerb des Blutbanns 1442 (Nr. 49),
Schüttungsordnung 1496 (Nr. 75), Von der badstuben 1496 (Nr. 78),
Sittenpolizei 1501 (Nr. 90), Ordnung für den Badknecht 1560 (Nr. 100),
Strafe der Selbsthilfe 1518 (Nr. 128), Sittenpolizei in den Bädern 1520
(Nr. 14s), Verbot des Getreidekaufs nach dem Kurs 1541 (Nr. 176),
Welsche Krämer 1558 (Nr. 211) usw. Für Stoffanordnung, typo-
graphische Ausstattung und Register war das besprochene Arauer
Stadtrecht Muster und Vorbild. Auch diese Publikation ist zu den
besten unter den besprochenen Neuerscheinungen zu rechnen.
In. gleicher Weise befriedigt alle Anforderungen die den zweiten
Ualbband füllende Bearbeitung des Stadtrechts von Brugg. Dr. Walther
Merz befolgte bei seiner Herausgabe im allgemeinen dieselben Grund-
sätze, die ihn beim Arauer Stadtrecht leiteten. Eine gewisse Ein-
scluiänkung in der Auswahl des Stoffes ist nur insofern eingetreten,
ah vom XVII. Jahrhundert ab unbedeutendere Quellen ganz weg-
gelassen wurden; die vereinfachte Orthographie ist hier schon von
145 1 an zur Verwendung gekommen. Die nur in jüngerer deut-
scher Fassung überlieferte Handfeste Rudolfs I. für Brugg von 1284
bietet dem Herausgeber Gelegenheit, mit der Echtheitsfrage dieses
Rechtsdenkmals die Untersuchung seiner Vorlagen zu verbinden. Be-
— 54 —
züglich des ersten Punktes kommt Merz zum Ergebnis, dais das
wahrscheinlich im Jahre 1444 verloren gegangene Original der Hand-
feste nach dem verwandten Arauer Stadtrechtsbrief wiederhergestellt
wurde, inhaltlich also echt ist, mit Ausnahme der Zeugenreihe und
des Datums, welche dem Arauer Brief direkt abgeschrieben sind, und
mit Ausnahme des weitausgedehnten Friedekreises, der in der Re-
konstruktion des XV. Jahrhunderts an Stelle des Marktumfanges alte
Weidegrenzen einer grofeen Markgenossenschaft angibt. Gegen das
Jahr 1284 als Zeit des Privilegs werden Einwendungen nicht erhoben.
Der Herausgeber weist indes gleich Arau auch für Brugg nach, dafe
schon vor diesem Jahre der Ort städtische Verfassung besafs. Schon
1232 nennt Rudolf von Habsburg den W. tnonetarius civis noster in
Brucge. Ihrem Inhalte nach enthält die Handfeste habsburgisches
Winterthurer Recht, das über Arau nach Brugg verpflanzt wurde. Frei-
lich nahm auch Brugg vor dem Jahre 1309 gleich Arau im Wege
autonomer Satzung zähringisches Recht auf; von dieser Rezeption sind
Fragmente als sogen, gröfseres Stadtrecht erhalten (Nr. 4). Im übrigen
möchte ich aus den chronologisch durchgezählten 211 Stücken der
Brugger Rechtsquellen namentlich die umfangreichen Satzungen von 1512
bis 15 13 und deren Erneuerung von 1620 bis 1621 hervorheben. Durch
ein trefi*liches Register wird auch der Inhalt dieses Quellenbandes dem
Benutzer nahe gebracht.
An letzter Stelle ist des im Jahre 1902 erschienenen ersten Bandes
des Bemer Stadtrechts zu gedenken, den Dr. Friedrich Emil Welti
bearbeitet und herausgegeben hat '). Die quellengeschichtliche Ein-
leitung hierzu hatten bereits Schnell und S türler mit ihrer im
Jahre 1871 erschienenen „Übersicht der älteren Rechtsquellen des
Kantons Bern mit Ausschlufs des Jura", sodann Hub er in seiner Ab-
handlung „Die Satzungsbücher der Stadt Bern" in der Zeitschrift des
Berner Juristenvereins geliefert. Der Herausgeber verzichtet daher, ob
ganz mit Recht, scheint mir fraglich, unter Verweisung auf jene früheren
Aufsätze auf jede Übernahme des Inhalts jener Nachweisungen. Man
sollte bei einer so monumentalen Quellenedition ein paar Seiten oder
Bogen nicht sparen und den Benutzer nicht nötigen, zur quellen-
geschichtlichen Orientierung nach anderen vielleicht nicht überall zu-
gänglichen Aufsätzen zu suchen. Die Ausstattung des vorliegenden
i) Sammlung schweixerischer RechtsqueUen U. Abteilung: Die Rechtsqaellen dc8
Kantons Bern. Erster Teil: Stadtrechte. Erster Band: Das Stadtrecht ton Bern I
(1218 — 1539), bearbeitet und herausgegeben von Dr. Friedrich Emil Welti (Arao,
H. R. Sauerländer & Co., 1902. LXXXII und 428 S.).
— 55 —
Bandes ist dieselbe treflFliche wie in den vorangegangenen Pubikationen.
Hinsichtlich der Stoflfanordnung ist insofern das rein chronologische
System durchbrochen, als die sehr umfangreichen drei Redaktionen
des Berner Stadtrechts allein schon einen Band zu füllen in der Lage
waren, während die übrigen in Urkunden und Rechtsbüchem usw.
niedergelegten Quellen in chronologischer Anreihung den zweiten Band
der Bemer Stadtrechte ausmachen werden. Bis jetzt liegen daher nur
im Druck vor drei Quellen, nämlich die vom 15. April 12 18 datierte
Berner Handfeste, das in seiner ausfuhrlichsten Überlieferung 350 Sätze
enthaltende Satzungenbuch (Satzungen aus der Zeit von 1283 bis 1487
bezw. 1535), endlich die revidierte Stadtsatzung von 1539 in 270 Ar-
tikeln. Das Satzungsbuch, welches als hervorragendste Quelle für die
Erkenntnis der Berner Rechtsentwickelung gelten mufs, war bisher un-
gedruckt.
In umfangreicher kritischer Untersuchung prüft der Herausgeber
die Echtheitsfrage der Bemer Handfeste von 1218 nach, bekanntlich
eine der berühmtesten und umstrittensten Fragen der schweizerischen
Rechtsgeschichte. Er gelangt zu negativem Ergebnis und erklärt in
eindringender, sorgfältiger, wohlüberlegter Beweisführung das Denkmal
für eine Fälschung der Bemer, deren Entstehimgszeit in das 8. Jahr-
zehnt des XIII. Jahrhunderts verlegt wird. Unter den Gründen gegen
die Echtheit stehen im Vordergmnd: i) die Form der Handfeste, die
von den Urkunden Friedrichs II. in allen Stücken abweicht und sehr
salopp gehalten ist; 2) die Tatsache, dals die Handfeste den Bernem
ewige Steuerfreiheit zusichert, während das von Schwalm im Neuen
Archiv edierte Reichssteuerverzeichnis von 1241 die Stadt Bern der
ordentlichen Steuer von 40 Mark Silber unterwirft; 3) die für 12 18 in
dieser Form unmögliche Verleihung der Reichsunmittelbarkeit ; 4) die
den Bürgem gewährte echte Lehnsfahigkeit , die anderwärts nirgends
vor dem Interregnum erlangt wurde; 5) die freie Wahl aller Stadt-
beamten, welche die Handfeste einräumt, während nachweisbar nach
121 8 Geistliche und Schultheifsen zu Bern noch vom Stadtherm er-
nannt wurden; 6) insbesondere die Tatsache, dafs die Handfeste auf
das Recht von Freiburg i. Br. in dessen Weiterbildung im sogen.
Stadtrodel zurückgeht, die Entstehung des letzteren aber von Merz
mit guten Gründen unter das Jahr 12 18 herab angesetzt wird.
Die älteste Handschrift des Satzungenbuches enthält von erster
Hand geschrieben 204 Sätze, deren letzter datierter dem Jahre 1403
angehört.
Auf den reichen Inhalt der drei hier veröfTentlichten Rechtsdenk-
— 56 —
mäler kann im emelnen nicht eingegangfcn werden. Sicher werden
auch sie treffliche Hilfsmittel der schweizerischen und allgemein deut-
schen rechtsgeschichtlichen Forschung sein, deren Zi^änglichkeit durch
ein sorgfältig gearbeitetes Register erheblich gesteigert wird.
Die Umschau, die wir unter den neuesten StadtrechtsveröSent-
lichungen gehalten haben und hiermit beschlie&en, berechtigt zu den
schönsten Hoffnungen für die Zukunft. Welche Fülle von Rechtsstoff
harrt schon jetzt der Verarbeitung und wächst von Jahr zu Jahr ! Die
Rechtshistoriker des deutschen Mittelalters haben auf lange Zeit voll-
auf zu tun, um aus den geförderten Erzen das edle Metall der Rechts-
gedanken zu schmelzen. Das Rechtsgebäude des deutschen mittel-
alterlichen Rechts wird aus ungezählten partikularrechtlichen Sonder-
bildungen immer deutlicher als ein einheitliches Denkmal deutscher
Sittlichkeit und deutschen Geisteslebens emporsteigen und in dem
Reichtum imd der Tiefe seiner Sätze dem gefeierten Altmeister auf
dem Basler Lehrstuhle recht geben.
Mitteilungen
Yersammhutgeil. — Am 25. September nahm der vierte Tag
für Denkmalpflege ^) in der Ressource zu Erfurt semen Anfang ; gegen
150 Teilnehmer aus Deutschland und Österreich waren dazu erschienen.
Die königlich preufsische und die königlich sächsische Staatsregiening hatten
Vertreter entsandt. Nachdem durch die Vertreter der preufsischen Regierung,
der österreichischen Zentralkommission und der Stadt Erfurt Begrüfsungen
stattgefunden hatten , berichtete der Vorsitzende, Geheimer Justizrat Professor
Loersch (Bonn) über die Tätigkeit des geschäftsfUhrenden Ausschusses. Be-
sonders wichtige Punkte waren u. a., dafs der preufsische Staatshaushalt
den Fonds für Denkmalpflege von 33000 Mark auf 50000 Mark erhöhte,
und dafs einem Spruche des preufsischen Obenrerwaltungsgerichtes zufolge,
die Ortsbehörden verpflichtet sind, wertvolle Kunstalterttimer nicht nur
zu behalten, sondern auch zu pflegen und zu erhalten.
Den ersten Vortrag hielt Prof. Giemen (Bonn) über das Verhältnis
der Altertumsmuseen zur Denkmalpflege, wobei er besonders den Grundsatz
betonte, dafs alles, was an Ort und Stelle, z. B. in der Kirche oder dem Rat-
hause gut bewahrt sei, daselbst verbleiben möge, was aber gefährdet er-
scheine soü einer und wenn möglich einer gröfseren Sanmilung einverleibt
werden.
i) Über den dritten 1903 in Düsseldorf vgL diese Zeitschrift 4. Bd., S. 55 — 58.
— 57 —
Direktor Brinckmann (Hamburg) wies darauf hin, dafs es kleinen
Museen meist an geschulten Kräften fehle und deshalb durch unverständiges
Restaurieren und durch Ankäufe gefälschter Gegenstände viel Schaden ent-
stünde. An den Beispielen der Museen zu Hildesheim, Göttingen, Minden
und Stade zeigte Oberbürgermeister Struckmann (Hildesheim), welchen
Wert auch kleine Museen besitzen können, die sich vor Fälschern hüteten
und nur solche Gegenstände sammelten, welche für den betreffenden Bezirk
kulturgeschichtlich wichtig sind.
Der hierauf folgende Vortrag des Herrn Konservator Hager (München)
über die Erhaltung von Wandmalereien war überaus lehrreich und bot auif
Grund gründlichster Forschungen ein in jeder Beziehung, besonders in
technischer Hinsicht, höchst wertvolles Material.
Hofrat von Oechelhäuser (Karlsruhe) stellte in Aussicht, bei der
nächstjährigen Sitzung des Denkmalpflegetages die ersten Bogen des wissen-
schaftlichen Handbuches der Deutschen Denkmäler ^), dessen Umfang sein
Bearbeiter Prof. Dehio auf 5 Bände berechnet, vorlegen zu können, ob-
wohl bislang vom Reiche noch keine Unterstützung zugesagt worden ist.
In längerer durch Abbildimgen erläuterter Rede berichtete Hofrat
Cornelius Gurlitt (Dresden) über die mit der Wiederherstellung des
Meifsner Domes zusammenhängenden Fragen. Nach der historischen Dar-
legung der Baugeschichte besprach der Redner den vom Dombauverein zur
Ausführung gestellten Schäferschen Plan imd wies darauf hin, dafs dieses
Projekt weder in seiner Totalität noch in Einzelheiten, weder für die 2^it
noch den Ort charakteristisch sei. Hieran schlofs sich eine sehr erregte
Auseinandersetzung. Zunächst erklärte Bau- und Finanzrat Schmidt (Dresden),
dafs es der Meifsner Dombauverein nicht an Ernst, Fleifs und Gewissen-
haftigkeit habe fehlen lassen. Dann ergriff Oberbaurat Schäfer (Karisruhe)
das Wort, tun darzutun, dafs die Dreiturmanlage nur eine Marotte eines
Architekten des XV. oder XVI. Jahrhunderts gewesen sei. Professor Dehio
(Strafsburg) vertrat die Ansicht, dafs der Meifsner Dom überhaupt nicht
ausgebaut werden sollte, der Dombau stehe in grellem Widerspruch zu dem
Gedanken der Denkmalpflege. Reg. Baumeister Stiehl (Steglitz) bemerkte,
dafs der Meifsner Dom ursprünglich zweitürmig geplant gewesen sei und
deshalb Schäfer mit Recht sich in seinem Entwürfe hieran gehalten habe.
Geh. Rat Hofsfeld (Berlin) glaubte, dafs es dem Meifsner Stadtbild zum
Vorteil gereiche, wenn der Dom seine Türme erhielte. Zuerst sei auch er
Anhänger der Dreiturmanlage gewesen, später aber Anhänger des Schäferschen
Entwurfes geworden. Hof rat Gurlitt bemängelte das Verfahren der Denkmal
pflege, die bei gröfseren Aufgaben sich immer noch nicht von dem theoretisch
längst überwundenen alten Standpunkt frei machen köime. Oberbaurat Schäfer
erwiderte darauf meist in persönlicher Weise. Nachdem Prof. Lichtwark
(Hamburg) erklärte, dafs in solchem Tone die Erörterung nicht weitergehen
könne, hob der Vorsitzende, Geheimer Justizrat Lorsch, die Versaromlung auf.
Den nächsten durch Lich^ilder erläuterten Vortrag hielt Professor
Rathgen (Berlin) über Erhaltung von Alterumsfunden durch Entfeuchtung
von Steinen und Entfernung des so schädlichen salzhaltigen Niederschlags,
I) Vgl. 4. Bd., S. 58.
— 58 —
was durch die Vorführung dementsprechend behandelter babylonischer Ton-
tafeln vorzüglich illustriert wurde. Bodo Ebhar dt (Berlin) berichtete über
die Kennzeichnung von wiederhergestellten Teilen eines Bauwerks durch
Steinmetzzeichen, Architektenmarken oder dergl. , die an jedem einzelnen
Steine angebracht werden müfsten. Zu dieser Sache sprachen Geh. Rat
Lutsch (Berlin), Geh. Oberbaurat Hofmann (Darmstadt), Oberbürger-
meister Struckmann (Hildesheim) imd Professor Dehio (Strafsburg).
Über das hessische Gesetz für Denkmalpflege vom i6. Juli 1902 be-
richtete Ministerialrat von Biegeleben (Darmstadt) , worauf Prof. Dehio
(Strafsburg) zu dem Thema „Vorbildung zur Denkmalpflege" das Wort er-
griff. Redner machte auf den Gegensatz zwischen dem Architekten tmd
Kunsthistoriker aufmerksam. „Der Kunsthistoriker ist ein Gelehrter, der
Architekt ein Künstler ; der Kimsthistoriker will erforschen , der Architekt
schoflen." Dehio führte daraufhin aus, dafs die Denkmalpflege ein besonderes
Fach innerhalb der historischen Disziplin sei, die somit den Architekten
nur als technischen Gehilfen brauche. Nur in dem Falle könne der
Architekt als Denkmalpfleger in Frage kommen, wenn er in seiner ganzen
Denkrichtung Historiker geworden sei und auf jedes eigene Schaffen
Verzicht leiste. Dem entgegnete Geh. Rat Lutsch (Berlin) in längerem
Vortrage, betrachtete die künstlerische Erziehung unserer Jugend von der
Kinderstube bis zur Universität und indem er auf die weitere Ausbildung
Bezug nahm, hob er hervor, dafs ein Gegensatz zwischen Architekt und
Kunsthistoriker nicht zu bestehen brauche. „Wichtiger als die Vorbildung
sei die Praxis, alles hänge hier wie auch sonst im Leben von der Persön-
lichkeit ab." Einigkeit aber sei dringend nötig, denn die Bestrebungen der
Denkmalpflege seien noch lange nicht so populär geworden, wie dies als
Bedingung geradezu geboten sei. Über die Hamburgische Inventarisation,
die sich wesentlich von der der anderen Staaten dadurch unterscheidet, dafs
sie bis in die unmittelbare Gegenwart reicht, sprach Direktor Brinck-
mann, indem er das Hamburger Denkmälerarchiv und die Grundsätze für
dessen Zusammenstellung erklärte.
Den letzten Tag füllten Beratungen über „ die Bedeutung neuer Strafsen-
fluchtlinien in alten Städten vom Standpunkte der Denkmalpflege" aus.
Hierüber hielt Geh. Baurat Stubben (Köln) einen inhaltlich tmd technisch
glänzend zu nennenden einleitenden Vortrag, worauf zu dieser Frage noch
Geh. Oberbaurat Hofmann (Darmstadt), Hofrat Cornelius Gurlitt
(Dresden) und Professor Frentzen (Aachen) sprachen. Letzterer verlangte
energisch für unsere alten Rathäuser, Kirchen und sonstigen Baudenkmäler
eine gesetzlich festgelegte Schutzzone, damit die schönen Strafsenbilder nicht
durch die berüchtigten Kjlsten aus Spiegelglas imd Eisen so empfindlich ge-
schädigt werden könnten.
Auf dem nächsten Tage für Denkmalpflege, der 1904 in Dan zig statt-
findet, soll u. a. über die Frage der Bauordnung im Dienste der
Denkmalpflege beraten werden. Hiermit nahm der an Anregungen so
reiche vierte Tag der Denkmalpflege seinen Abschlufs.
Die Pausen zwischen den Vorträgen und die sonst verfügbare freie Zeit
benutzten die Teilnehmer am Denkmalpflegetag zur Besichtigung der im Kreuz-
gange und einigen anderen Räumen des Erfurter Domes reizvoll untergebrachten
— 59 —
kunstgeschichtlichen Ausstellung, die für die Geschichte der sächsisch-
thüringischen Kunst von allerhöchster Bedeutung war. Aus allen Teilen des
Landes, aus vielen abgelegenen und deshalb £ast unbekannten Kirchen waren
Kunstwerke herbeigeschafft worden, um die Entwickelung der Kunst und die Ent-
stehung der Renaissance in diesen Landen dem Auge des Beschauers vorführen
zu können. Malerei und Plastik, besonders eine grofse Anzahl schöner Schnitz-
altäre, sowie Erzeugnisse des Kunstgewerbes, u. a. kirchliche Gef^se und
Geräte, Stickereien und Goldschmiedearbeiten, waren gleichmäfsig gut ver-
treten. Diu-ch die Vereinigung aller dieser Kunstschätze wird sicher noch
manches für die Kunstgeschichte wertvolle Resultat zutage treten. So war
es z. B. sehr erfreulich in dem Gemälde von Lucas Cranach d. Ä. vom
Jahre 1503 (Nr. 131 des Kataloges), Bildnis einer sitzenden Frau in rotem
Kleide, das aus dem Fürstlichen Schlosse Heidecksburg (Rudolstadt) ent-
liehen wurde, das Gegenstück zu Cranachs Bildnis des Kanzlers „Reufs*'
zu entdecken. Robert Brück (Dresden).
Archive. — Die Landesarchive der österreichischen Kxonländer ^)
sind z. T. aus landständischen Archiven erwachsen, stellen also An-
stalten dar, die ihrem Ursprünge nach den Interessen der Stände, die sich
als Repräsentanten des Landes betrachteten, gegenüber denen der Landes-
fürsten dienen sollten, und diese Eigenschaft wirkt nicht nur vielfach bis heute
nach, sondern erklärt vor allem den Gegensatz zu den Archiven der Staats-
behörden. Um den gegenwärtigen Zustand eines solchen Archivs zu ver-
stehen, ist es deshalb nötig, seine auch materiell vielfach interessante Geschichte
zu verfolgen, wie ja die Archivgeschichte überhaupt erst den Schlüssel
zum Verständnis des modernen Archivwesens gibt und zugleich mancherlei
Vorgänge des öfifentlichen Lebens verständlich macht. In dieser Erkenntnis
hat der niederösterreichische Landesarchivar AntonMayer eine Geschichte
des landständischen Archivs von Niederösterreich, soweit von einem solchen
die Rede sein kann, nämlich von 15 18 bis 1848'), bearbeitet und damit
einen recht wichtigen Beitrag zur Archivgeschichte, wie zur Geschichte des
Landes Niederösterreich, geliefert
Entstanden ist das Archiv der niederösterreichischen Landstände, nach-
dem sie 15 13 ein eigenes Haus zur Abhaltung der Landtage, Uoterbringung
der Kanzleien usw. erworben hatten: jetzt wurde auch ein briefgewöW ge-
schaffen, und in dieses wanderten 1 5 1 8 die Urkunden der Stände, die vorher
meist auf dem Schlosse des jeweiligen LandesmarschaUs untergebracht gewesen
waren. Vor den Türken wurde das Archiv 1529 nach Kloster Melk, 1532
nach Schlofs Aggstein und 1543 nach Schlofs Pümstein (Oberösterreich,
Mühlviertel) geflüchtet Inventare wurden angelegt 1542, 1566 (fehlt jetzt),
1576 und 161 1; in letzterem Jahre beschlofs man auch die Anlage eines
Kopiars. Aber die Feuchtigkeit des Archivgewölbes beschädigte die Perga-
mente; manche Stücke wurden verliehen und kehrten trotz mannigfacher
Schreiben an die Entleiher und ihre Erben nicht wieder zurück. Wenn sich
i) Vgl. darüber diese ZeiUchrift 4. Bd., S. 316.
3) Das Archiv und die Registratur der niederösterreichischen Stände von 1518
bis 1848 [■> Separatabdnick ans dem Jahrbuche des Vereins für Landeskunde von Nieder-
österreich. 190a. 79 S. 8®].
— 60 —
heute bisweilen Aktenstücke in Archiven finden, wo sie niemand venaotet,
dann mag oft ein derartiges Entleihen die letzte Ursache der Verschleppung
sein. Im Briefgewölbe lagen nur die Urkunden. Die Akten des heutigen
Landesarchivs dagegen gehen auf die zuerst 1580 bezeugte Registratur
der Stände zurück, die seit 1654 selbständig neben der Kanzlei bestand und
deren Beamten die Aufsicht über das Archiv zugleich mit oblag. Die Tätig-
keit der einzelnen Archivbeamten seit der Mitte des XVII. Jahrhunderts wird
eingehend geschildert, ihre namentlich seit den sechziger Jahren erneute Sorg-
falt tritt uns anschaulich entgegen : es wird inventarisiert und Ordnung geschafit,
aber immer wieder sind Klagen über fehlende Stücke und eingerissene Un-
ordnung zu vernehmen. In den Jahren 1696 bis 1706 wurde eine grofse Ma-
trikel aller Angehörigen der beiden adligen Stände angelegt und dabei wurden
3799 Urkunden sorgfaltig ausgezogen; ein neues Inventar enstand 1734. Die
grölste Sammlung des gesamten Archivinhalts ist der Codex provindaHs, der
1723 mit vier Foliobänden begonnen wurde und dessen Fortsetzung 1779
bis 18 19 in zehn Bänden bearbeitet worden ist Mit der Errichtung des
neuen Landhauses 1832 erhielt endlich auch das Archiv, dem nunmehr auch
die Registratur bis 1792 einverleibt war, entsprechende Räumlichkeiten, und
in diesem Gebäude befindet es sich heute noch. Aufser dem Archiv fiir
alle Stände gab es auch noch Sonderarchive für den Prälaten-, Herren- tmd
Ritterstand, die von deren Vorständen verwaltet wurden und ebenfisdls im
heutigen Landesarchiv ruhen.
Wohltuend wirkt in Mayers Darstellung die im allgemeinen recht grofse
Fürsorge, die die Stände ihren Privilegien und Akten zuteil werden liefsen,
und die oft zum Ausdruck gebrachte richtige Erkenntnis von ihrem Werte,
dem entsprechend oft nicht unbedeutende finanzielle Aufwendungen gemacht
wurden. Die Geschichte des Archivs zeigt dem modernen Benutzer, warum
das eine Aktenstück sich hier befindet tmd das andere fehlt; sie erst gibt
einen Mafsstab dafür, wie vollständig die Archivalien erhalten sind, sowie
darüber, was überhaupt existiert hat, und liefert damit im einzelnen Falle
eine wichtige Grundlage für eingehende Quellenkritik. Der Arbeit Mayers
entspricht bis jetzt in Norddeutschland allein die Geschichte des Kgl. Staats-
arehivs xu Hannover von Max Bär *), die in dieser Zeitschrift bereits früher
(i. Bd., S. 171) gewürdigt wurde. In mancher Hinsicht mehr, in anderer
weniger als Mayer für sein Archiv bietet Richard Krebs in der Archiv-
geschickte des Hauses Leiningen ^).
Bei der Frage nach dem Stande der sogenannten Inventarisation
der kleineren Archive — den letzten Bericht darüber enthält der Vor-
trag von Armin Tille gelegentlich der Düsseldorfer Versanmilung des
Gesamtvereins der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine 1902, gedruckt
im Korrespondenxblait des Gesamivereins 51. Jahrgang (1903), S. 71 — 75:
Erschließung und Ausbeutung der kleineren Archive — ist bisher merk-
würdigerweise der entsprechenden Arbeiten in der Schiveiz gar nicht gedacht
i) MitteiloDgen der Kgl. Preufsischen Archiwerwaltang. Heft 2. 1900.
2) S«paratabdnick aas den Mitteilangen des historischea Vereins der Pfals. 23. Heft
(Spcier 1898. 46 S. 8*»).
— 61 —
worden, obwohl diese verhältnismäf^ recht weit zurüGkreichen. Als Probe
schweizerischer ArchiTerschliefsung Uegt irns Tor St OcUlische Qememde-
Archwe, herausgegeben vom HiatoriBohen Verein des Kantons St, Oaüen, Der
Hof WidnaU'Haslach (Politische Gemeinden Widnau und Au und Ortsgemeinde
Sekmitter), bearbeitet von Hermann Wartmann. St. Gallen, In Kom-
mission bei Huber & Co. (E. Fehr), 1887. C und 312 S, 8». Der Plan
ist von vornherein ein anderer und vor allem tunfiaissenderer als der, welcher
den Durchmusterungen der kleinen Archive in Baden, dem Rheinland oder
Westfalen zugnmde liegt: nicht der Bestand der Örtlichen Archive wird hier
untersucht, sondern alles nur irgend auf die betreffenden Gemeinden bezüg-
liche Material, wo es auch ruhen mag, wird zusammengebracht, und bei
dieser Gelegenheit werden naturgemäfs auch die an den Orten selbst befind-
lichen Archivalien mit ausgebeutet ; denn bei einer blofsen Verzeichnung be-
ruhigt man sich nicht und schreitet zu einer Verarbeitung fort, die in vieler
Beziehung einer Ortsgeschichte sehr nahe kommt. Der Gegenstand lud freilich
hier dazu ein, derm Wartmann behandelt in dem vorliegenden und einem
vorhergehenden, nicht vorliegendem Bande, Gebiete, die einst zu den beiden
im Rheintale gdegenen Königshöfen Kriessern und Lust n au gehörten.
Das Gebiet des letzteren veranschaulicht eine ELarte 1:75 ^^^ °^^ ^^^ Grenze
des Jahres 15 10 neben der an einigen Stellen abweichenden modernen.
£rst 1303 tritt uns Widnau, erst 1345 Haslach urkundlich entgegen, und von
dieser Zeit an schildert Wartmann eingehend auf 38 Seiten und 62 Seiten
zugehörigen Anmerkungen die Geschichte der Gemeinden. Die 331 Urkunden,
deren ausführliche Regesten nebst Erläuterungen den Hauptteil und Anhang
bilden, umfassen die Zeit von 1303 bis 1805 und entstanmien dem Staats-,
Stifts-, Spital- und Stadtarchiv zu St. Gallen, den Staatsarchiven zu Zürich
imd Luzem, aber vielfach sind auch nur die Eidgenössischen Abschiede als
Vorlage bezeichnet. Die genannten Archive liefern bei weitem die Mehrzahl
der Stücke, und nur in relativ geringer Zahl finden sich solche aus den ört-
lichen Archiven zu Widnau (zuerst 1441), Schmitter (zuerst 1582) und Au
(zuerst 1600), womit wohl die Gemeindearchive gemeint sind; femer
ist einmal das Pfarrarchiv Widnau (1619) und einmal das Archiv der
evangelischen Schule (Nr. 227) genannt. Ob sich die Bezeichnung
„Lade der evangelischen Schule'* ohne Ortsbezeichnung unter Nr. 167 auch
auf letzteres bezieht, ist nicht ohne weiteres zu ersehen. Als in Privat-
besitz befindlich werden Nr. 62, 80, 104 und 152 bezeichnet, aber es
ist nicht angegeben, wer der glückliche Besitzer ist Über diese letzteren
örtlichen Archive wären zweifellos einige genauere Angaben hinsichtlich des
Alters, der Zusammensetzung, des Aufbewahrungsortes usw. willkommen ge-
wesen. Das ganze Buch stellt sich als eine recht gründliche Materialsamm-
Itmg zur Ortsgeschichte dar, die auch bereits bis zu einem gewissen Grade
Verarbeitung gefunden hat.. Ein ausführliches Namen- und ein vielleicht zu
knappes Sachregister (nur eine Seite) erleichtem die Übersicht Aufikllig ist
schÜefslich nur der Titel, der in gewissem Mafse irre leitet, denn ,',Gemeinde-
archiv** soll hier nicht wörtlich verstanden sein, sondem im Sinne von
„Materialsammltmg zur Geschichte der Gemeinde X*S Es fragt sich, wenn
man alles überblickt, vielleicht, ob nicht eine reine Darstellung, eventueü
mit reichlichen Beigaben, den Zweck noch besser erfüllt hätte, aber die
— 62 —
VeröfifenÜichuDg ist trotz alledem höchst dankenswert, wenn es auch fraglich
erscheinen mufs, ob es angängig ist, jeder Gemeinde des Kantons ein der-
artiges geschichtliches Quellenwerk zu widnien.
ZeitschrUten. — Die Umwandlung des Braunschweig-Wolfenbütteler
Ortsvereins des Harzvereins für Geschichte und Altertumskunde in einen
Geschichtsverein für das Herzogtum Braunschweig, die An-
fiang 1902 erfolgt ist, wurde bereits früher erwähnt *). Jetzt liegt die erste
Publikation des Vereins vor: Jahrbuch des Oeschichtsvereins für das Herzog-
tum Braunschioeig, herausgegeben von PaulZimmermann. Wolfenbüttel,
In Kommission bei Julius Zwifsler, 1902. 148 S. 8<^. Den Band eröfihet
eine Abhandlung von P. J. Meier, in der er zuerst die Grundlagen für die
Entstehung der Stadt Wolfenbüttel, nämlich einen Übergang der Strafse an
dieser Stelle über die Oker, bespricht und dann die Tätigkeit des Herzogs
Julius für die Stadt in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts würdigt
Der Herzog hat 1 5 7 1 den Plan gefafst, die Stadt zu erweitem, die Strafsen
gerade zu legen und bei dieser Gelegenheit alte Häuser neu zu bauen; wie
dies letztere im einzelnen geschehen ist, zum Vorteil der Bürger und zum
dauernden Nutzen des Herzogs, der das Abreifsen und Neuerrichten der
Häuser auf seine Rechnung besorgte und sich die Differenz im Werte mit
5 % verzinsen liefs, das wird hier eingehend beleuchtet. Archivrat Zimmer-
mann verbreitet sich über Merians Topographie der Herzogtümer Braun-
schweig und Lüneburg (S. 38 — 66) und zeigt in recht dankenswerter Weise,
w i e Merian und Zeiller in Wirklichkeit gearbeitet haben. In den Braunschweig-
Lüneburgischen Landen wurden sie durch die Landesherren besonders energisch
unterstützt, und als Schöpfer der gerade in diesem Gebiete recht zahlreichen
Abbildungen wird KonradBuno erwiesen. Die vorliegende Arbeit fördert
das Verständnis für das grofse Werk der beiden Männer *) in ganz unge-
ahnter Weise. Franz Tetzner, der verdienstliche Verfasser des Buches
Die Slaven in Deutschland (Braunschweig 1902) bespricht das Polabische
Wörterbuch (S. 67—96). Die Polaben haben ihre wendische Sprache erst
seit einem Jahrhundert völlig aufgegeben, und die Versuche, den polabischen
Wortschatz zu verzeichnen, die seit dem Ende des XVII. Jahrhunderts gemacht
worden sind, werden hier anschaulich geschildert. Die Mitteilungen sind ein
Beleg dafür, wie sich seit der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts erst der
Sinn für eine anders geartete Bevölkerung bei Gelehrten und Vertretern der
Landespolizei entwickelt, denn die früheste Schilderung des polabischen
Volkstums überhaupt stammt erst aus dem Jahre 1672 und findet sich in
dem Bericht des Obersuperintendenten Hildebrand über eine Kirchenvisitation.
Martin Wehrmann, ein Kenner der Pommerschen Geschichte, teilt aus
dem Staatsarchive zu Stettin das Verzeichnis der Gegenstände mit, welche
die Braunschweig -Lüneburgische Prinzessin Anna bei ihrer Vermählung mit
Herzog Barnim von Pommern 1525 als Aussteuer erhielt: kultur- und be-
sonders handelsgeschichtlich sind die Angaben wichtig, weil wir hier den-
selben Stoffen (Damast, Atlas, Sammet) begegnen, die uns sonst als Handelsware
i) Vgl. ft. Bd., S. 305.
2) Vgl. über sie diese Zeitschrift 3. Bd., S. 223 — 224 and 320.
— 63 —
entgegentreten, aber zu Kleidern verarbeitet. Bei den Silbergeräten ist das
Gewicht jedes einzelnen Stückes angegeben. Kurze veröfifentlicht einen
bemerkenswerten Brief des humanistisch gebildeten Braunschweiger Arztes
Euricius Cordus aus dem Jahre 1523, der nicht nur das Verhältnis des
Verfassers zu den übrigen Humanisten verrät, sondern auch wichtige Mit-
teilungen über Braunschweig enthält. £inen Blick in das literarische Leben
des XVIII. Jahrhunderts gewährt ein von W. Brandes mitgeteilter Brief von
Boie (t r8o6) an Jeannette v. Voigt (f 18 14) von 1781, dem der Heraus-
geber einige kurze Mitteilungen über die Männer des Hannoverschen Kreises
hinzufügt. Den Schlufs bildet eine anziehende Schilderung der Wirksamkeit
von Caroline Neuber in Braunschweig von Karl Schüddekopf, der u. a.
den Beweis erbringt, dais die Künstlerin ihre Bühnenlaufbahn bei der Spiegel-
berg'schen Truppe begonnen hat.
Mannigfaltig ist der Inhalt dieses Bandes. Das Land Braunschweig
steht überall im Mittelpunkte, aber die Beiträge sind sämtlich würdige
literarische Leistungen von bleibendem wissenschaftlichen Werte und doch
zugleich für jeden Gebildeten im Lande ein ansprechendes Mittel zur Be-
lehrung und Unterhaltung. Mögen die künftigen Jahrbücher würdige Nach-
folger des ersten werden!
Die Organisation der landesgeschichtlichen Forschung in Lippe -Det*
mold, über die wir früher *) als geplant berichteten, ist im Jahre 1900 Tat-
sache geworden durch die Errichtung einer „Geschichtlichen Abteilung des
Naturwissenschaftlichen Vereins in Detmold". Nunmehr ist die letztere be-
reits mit einer Veröflfentlichung, Miäeüungen aus der lippischen Geschichte und
Landeskunde Bd. I (Detmold, Hans Hinrichs, 1903. 200 S. 8<>), an die
Öffentlichkeit getreten, die neben vier gröfseren Aufsätzen auch fUnf kleinere
Mitteilimgen , Bücherbesprechimgen und Berichte über die Vereinssitzungen
enthält Die letzteren zeigen, wie in zehn Sitzungen — vom 7. November 1900
bis 5. März 1902 — die geschichtliche Abteilung tätig gewesen ist; aus
den Vorträgen, soweit sie nicht als Aufsätze vollständig gedruckt sind, wird
das wesentliche mitgeteilt, so über Lemgos Blütezeit (2. Hälfte des
XVI. Jahrhunderts), die Erinnerungen des Grafen Ferdinand Christian
zur Lippe (löög — 1686), Entstehung und Entwickelung des lippischeu
Kontingents bis zur Auflösung des Deutschen Reichs, die Geschichte der
Landesbibliothek seit 1614, die lippischen Papiermühlen, die
Fruchtbringende Gesellschaft u. a. Mitgeteüt werden ein Juden-
schutzbrief von 1500, sodann einige lu-kundliche Nachrichten über den gräf^
liehen Maler (Cantrafeiter) JohannTilemann, den Vater des Bremischen
Malers Simon Peter Tilemann, 1599 — 1605, ^^ ungedruckter Brief Freilig-
raths von 1838 sowie der Titel eines Lemgoer Drucks von 1603, der eine
Kirchenordnung der kleinen evangelischen Gemeinde Bruchhausen enthält.
Die gröfseren Beiträge betreffen ebenfalls die verschiedensten Gegenstände.
An erster Stelle handelt O. Weerth über die Uffenburg bei Bremke^
macht die Existenz eines Edlen Uffo im IX. Jahrhundert höchst wahrschein-
h'ch, beschreibt die Anlage der Burg und fUgt einen Situationsplan bei, wie
I) Vgl. I. Bd., S. 176,
— 64 —
er sich nach den 1900 vorgenommenen Ausgrabungen herstellen liefs.
Mauerreste wurden dabei nicht in bescheidenstem Umfange aufgedeckt, aber
wohl Tonscherben, die dem IX. bis X. Jahrhundert angehören können, und
die mutmafslichen verkohlten Reste von Holzplanken. Die Vermählung des
Grafen Simon Heinrich zur Lippe mit Gräfin Amalia von Dohna schildert
Stegmann (S. 12 — 39) und zeichnet damit ein Bild des Lebens an einem
kleinen fürstlichen Hofe nach der Mitte des XVII. Jahrhtmderts , denn die
Ehe wurde 1666 geschlossen. Der jimge Graf hatte seine spätere Gemahlin«
die Tochter des Burggrafen Christian Albrecht von Dohna, am kurfürstlichen
Hofe zu Berlin kennen gelernt; der Kurfürst selbst aber betrieb die Ver-
bindimg, weil er hoffte, auf diese Weise den Erben des Uppischen Landes
enger an sich zu fesseln; die Hochzeit ward am kurfürstlichen Hofe zu Cleve
gefeiert. Interessant sind ganz besonders die Erlebnisse des jungen Grafen
auf einer Reise durch Süddeutschland, die ihn vom 28. September 1665
bis Sommer 1666 von Berlin über Dessau, Leipzig, Dresden, Prag, Mün-
chen, Augsburg, Regensburg, Nürnberg, Heidelberg, Mainz, Frankenberg und
Marburg nach Detmold zurückführte: Kiewning behandelt S. 39 — 62 den
lippischen Fürstenbrief von 1720, d. h. die Ereignisse, die mit der Erwerbung
des Reichs fürstenstandes durch die Grafen von Lippe zusammenhängen
und die um so interessanter sind, weil die Standeserhöhungen seit der zweiten
Hälfte des XVII. Jahrhimderts eine so grofse Rolle spielten. Mit den Ver-
fassungsstreitigkeiten in Lippe 1817 — 1820 befafst sich an der Hand
der ungedruckten Briefe der Fürstin Pauline M. Weerth und schildert, wie
die Fürstin vergebens an Stelle der alten Landstände eine Volksvertretung
einzuführen versuchte (S. 63 — 136). Da die lippische Verfassungsfrage auch
die Bundesversammlung beschäftigt hat, greift der vorliegende Beitrag in die
allgememe deutsche Geschichte über und ist geeignet, die Schwierigkeiten
zu beleuchten, mit denen Verfassungsreformen in jener Zeit zu kämpfen
hatten.
Auch diesem neuen Organ, das für die Zukimft den Mittelpunkt der
lippischen Geschichtsforschung bilden wird, können wir nur eine günstige
Weiterentwickelung wünschen.
Eingegangene Bficher.
Rolfs, C.: Das Vikarien-, Zeiten- und Memorienregister der Kirche zu
Heide vom Jahre 1538 [= Schriften des Vereins für schleswig-holsteinische
Kirchengeschichte IL Reihe, 2. Bd., S. 289 — 326].
Schumacher, Bruno: Niederländische Ansiedlungen im Herzogtum Preufsen
zur Zeit Herzog Albrechts (1525 — 1568). Dissertation, Königsberg L Pr.,
1902. 44 S. 8^
Wäschke, H. : Die Dessauer Eibbrücke [== Neujahrsblätter, herausgegeben
von der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen und das
Herzogtum Anhalt 27]. Halle, Otto Hendel, 1903. 34 S. 8^.
Arbuso w, L. : Die Visitationen im Deutschen Orden in Livland [= Sitzungs-
berichte der Gesellschaft für Geschichte tmd Altertumsktmde der Ostsee-
provinzen Rufslands aus dem Jahre 1902 (Riga 1903), S. 179 — 192].
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzig.
Druck und Verlag Ton Friedrich Andreas Perthes, Akdengesellsehaft, Godia.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
V. Band Dezember 1903 3. Heft
Die landesgesehiehtliehe Forschung in
Anhalt
Von
Hermann Wäschke (Zerbst)
Mehrfach schon ist in diesen Blättern über den Stand der landes-
geschichtlichen Studien Bericht erstattet und damit ein überaus in-
teressanter Einblick in einen Teil des wissenschaftlichen Lebens der
Gegenwart gegeben worden. Wenn ich nun, einer freundlichen
Aufforderung des Herausgebers entsprechend, den Versuch mache,
einen ähnlichen Bericht über den Stand der landesgeschichtlichen
Studien in Anhalt zu geben, so darf ich versichern, dafs ich diesen
Versuch nicht ohne einiges Bedenken unternommen habe; denn das
ist ja von vornherein ersichtlich, dafs in einem kleben Staate in dieser
Richtung wissenschaftlicher Tätigkeit nur mit geringeren Mitteln und
mit jedenfalls der Zahl nach geringeren Kräften gerechnet und ge-
arbeitet werden kann, und dais daher das von jener wissenschaftlichen
Tätigkeit entworfene Bild, zu nahe an jene gröfeeren Gemälde heran-
gerückt, schon durch den blofsen Kontrast unbedeutender erscheinen
dürfte, als es an und für sich ist.
Gleichwohl mufste der Versuch unternommen werden, um dem
an sich so schönen Gedanken einer umfassenden Berichterstattung über
alle Territorien des Reiches an unserm Teile zu dienen, zumal auch
er auf ein gewisses Interesse rechnen darf, denn die Geschichte An-
halts birgt in sich eine Reihe allgemein wichtiger Gegenstände. Durch
Anhalt zieht in der Elb - Saal - Linie die alte Grenze gegen die
Wenden, und in der Richtung des Eiblaufes von Coswig nach Aken
zurzeit die Sprachgrenze zwischen Hoch- und Niederdeutsch. Das
Land ist eriiillt von wichtigen prähistorischen Stätten, deren
Bedeutung u. a. aus der Aufstellung eines besonderen Bernburger
Urnentypus erhellt; es hat besondere Bedeutung in der Geschichte
der Kolonisation und Reformation, der Erweckung deut-
5
— Ge-
sehen Nationalgefühls, der Schulreform, und von seinen
Fürsten haben viele durch die Förderung allgemeiner Interessen im
Lande wie im Dienste fremder Staaten anerkannt Gro(ses geleistet, so
dafe in ihnen der Zusammenhang der Landesgeschichte mit der Reichs*
geschichte unmittelbar gegeben ist.
Die einheimische Geschichtschreibung freilich hat diese im Stoffe
selbst liegende Richtung auf die Reichsgeschichte nicht genügend ge-
würdigt und sich meist auf eine fast chronikartige Darstellung der
Geschichte des Fürstenhauses beschränkt, in der das allgemein Wich-
tige noch nicht genügend losgelöst ist vom Minderwichtigen und Gleich-
gültigen. Der Grund dafür liegt in dem Umstände, dafe die Arbeiten
über Anhaltische Geschichte in überraschender Einmütigkeit alle von
dem bekannten Werke Beckmanns, Historie des Fürstenthums AnhaU
(Zerbst 17 lo), abhängig sind und sich nur durch das gröfsere oder
geringere Mafe der Kritik und der Ausdehnung eigener Studien imter-
scheiden. Die meisten dieser Werke sind heute veraltet, von denen,
die jetzt noch in Betracht kommen können, sind zu nennen : H. Lindner,
OeschidUe und Beschreibung des Landes Anhalt (Dessau 1833) und
Ferd. Siebigk, Das Hereogthum AnhaU (Dessau 1867). Beide bieten
neben einem historischen Abrifs der Geschichte des Fürstenhauses die
Beschreibung des Landes; Lindner, dessen Darstellung übrigens von
Siebigk genügend ausgenutzt ist, hat dazu reiches literarisches Material
kritisch verwertet, Siebigk aufserdem Archivalien benutzt. Den Ver-
such, die Anhaltische Geschichte als eine Landes-, nicht nur Fürsten-
geschichte darzustellen, bietet H. Wäschke, Abriß der AnhaUischen
Geschichte (Dessau 1895).
Eine wirklich auf den Quellen und Eigebnissen der neueren
Forschung ruhende Geschichte Anhalts wollte die Anhaltische Geschickte
(Dessau 1893) von Fr. Knoke bieten; es liegen davon 4 Hefte des
ersten Bandes (bis 1162) vor, da aber seit 1893 kein weiteres Hefl
erschienen ist, wird man das Unternehmen wohl als aufgegeben an*
sehen müssen. Ob sobald ein anderes derartiges Werk in Erscheinung
treten könne, darf aus zwei Gründen hauptsächlich in Frage gezogen
werden. Der erste ist das immerhin ziemlich kleine Publikum, welches
sich für eine derart wissenschaftliche und umfangreiche Darstellung
der Landesgeschichte interessiert und durch seine Teilnahme dem
Verleger das Risiko von vornherein allzu grofs erscheinen läfist.
Ich glaube wohl, dafe man diesen Grund in gröfeeren Terri-
torien mit einem Gefühl materieller Überlegenheit belächeln wird,
doch für unsere Verhältnisse ist es in der Tat einer der wichtigsten
— 67 —
Gründe, die ein Unternehmen von gröfeerer Ausdehnung in Frage
stellen, da Organisationen, die ein solches Unternehmen materiell
zu stützen und zu tragen imstande wären, vorläufig noch nicht vor-
handen oder erst in der Bildung begriffen sind. Aber selbst wenn
die Aussichten nach dieser Richtung hin verhältnismäfsig günstiger
lägen, so würde eine durchaus auf den Quellen ruhende, rein wissen-
schaftliche Leistung aus einem zweiten Grunde nach meiner Ansicht
zur Zeit nicht recht möglich sein, weil nämlich vorläufig eine aus-
reichende Grundlage in QuellenpubUkationen und darauf ruhenden
Monographien nicht vorhanden imd durch die umfassendsten Studien
eines Einzelnen in absehbarer Zeit nicht zu gewinnen ist.
Die bisherigen Quellenpublikationen sind im einzehien wohl
hoch achtbare und anerkannt gediegene Leistungen, aber sie erstrecken
sich nur auf verhältnismäfsig geringe Zeiträume. Den Anfang machte
Fr. Kindscher mit einer UrJcundenscMnmlung 0tir Geschichte van
AsüiaU, wovon aber nur die Einleitung, Peier Beckers derbster Chronik^
herausgegeben von Franz Kindscher (Dessau 1858) erschienen ist; eine
Fortsetzimg hat diese Sammlung meines Wissens nicht erfahren. Ihm
folgte G. Krause mit den ürhwnden, Aktenstücke und Briefe eur Gte-
schichte der ÄnhcUtischen Lande und ihrer Fürsten unter dem Drucke des
Dreißigjährigen Krieges (5 Bde., Leipzig 1861 — 1866). Es ist dies zwar
ein Werk grofsen Fleifees, doch ist die diplomatische Treue, auf die der
Herausgeber damals noch besonderen Wert legte, im einzelnen anfecht-
bar, und überdies enthält es zum gröfsten Teil nur die Archivalien aus
dem Besitz des Fürsten Ludwig von Cöthen, ist also trotz der 1 5000 Akten- •
stücke, die zur Verfügung standen, doch unvollständig. Im Jahre
1864 (Leipzig, Dyk) erschien femer der Codex diplonuMcus minor
von einem Anonymus, der darin die vornehmsten Landtagsabschiede,
Rezesse usw. „des Fürstentums Anhalt de anno 1547 bis 1727 samt
deren nötigsten Beylagen bei müfsigen Stunden in guter Ordnung zu-
sammengetragen anno 1727". Es ist das eine verdienstvolle Arbeit,
aber leider die eines Dilettanten, der sich in vielen Lesefehlern und
Mifeverständnissen verrät. Im Jahre 1867 begann Otto v. Heine-
mann die Herausgabe des CJodex Diplomaticus Änhaltinus auf Befehl
Sr. Hoheit des Herzogs Leopold Friedrich. Dieses Werk, welches in
5 Bänden die Urkunden von 936—1400 und im 6. Bande ein aus-
führliches Orts- und Personenregister enthält, hat im Jahre 1883 seinen
Abschlufs gefunden und bildet nun die hervorragendste Grundlage fiir
Darstellung der älteren Anhaltischen Geschichte.
Die neueren Publikationen sind von dem Herzoglichen Haus-
se
— 68 —
und Staatsarchiv und dem Stadtarchiv in Zerbst ausgegangen,
sie bieten teils Ergänzungen zum Cod. Dipl. ÄnhaU., teils andere
wertvolle Dokumente, von denen wir ausdrücklich hervorheben : Neu-
bauer, Das aUesie Schöffenlmch der Stadt Zerbst, dessen Herausgabe
von R. Siebert fortgeführt wurde ^); R. Siebert, Das eweite Schöffen-
buch der Stadt Zerbst ^) ; derselbe, Lehnbuch Graf ACbrechts 1. von An-
halt und seiner Nachfolger (1307 — 1470)^). Als eine Fortsetzung des
Cod. Dipl. Anhalt, erschien vor kurzem das erste Heft der JRegesien der
Urkunden des Herzogl. Hattö- und Staatsarchivs aus den Jahren 1401 bis
1500 von H. Wäschke (Dessau, Kommissionsverlag von Dünnhaupt).
Auf Grund des urkundlichen Materials sind auch mehrere Mono-
graphien entstanden, so Blume, Heinrich L, Crraf von Ascharien
und Fürst von Anhalt (Cöthen 1895) eine Schrift, die sich an wissen-
schaftlichem Gehalt den Werken v. Heinemanns, Markgraf Gero
(Braunschweig 1860), und Albrecht der Bär (Darmstadt 1864) eben-
bürtig zur Seite stellt Wenn man nun auch durch diese drei Werke die
Geschichte der Anhaltischen Lande bis zur Begründung des eigent-
lichen Fürstentums Anhalt im ganzen als genügend erforscht ansehen
kann, so dais sich eine umfassende Darstellung darauf aufbauen lieise,
so fehlen doch von dem genannten Zeitraum ab noch ausreichende
Vorarbeiten.
Solche Vorarbeiten erfordern aber eine gröfeere Zahl von Mit-
arbeitern , die sich zu einem Zwecke in die Hände arbeiten ; dieser
Mitarbeiter sind nur wenige, und selbst wo sie vorhanden sind, fehlt
es doch mehrfach an dem Streben zur Einheit, zur Einfügung der in-
dividuellen Kraft in den Dienst der gemeinsam als notwendig an-
erkannten Aufgabe. Hier gilt es Selbstverleugnung zu üben, und das
ist nicht jedermanns Sache, denn leichter ist es ja, nach eigenem Be-
lieben zu ernten auf bebautem Boden, als den Boden selbst in harter
Arbeit für anderer Ernte vorzubereiten. Darum zeigt ein Überblick
über das, was bisher auf dem Gebiete Anhaltischer Geschichte ge-
leistet ist, eine gewisse Planlosigkeit des Anbaus, an manchen Stellen
grölsere, an anderen Stellen geringere Tätigkeit, ganze Perioden harren
noch der Bearbeitung. Es ist fast, als ob Zufall und Neigung allein
für den Anbau entscheidend gewesen wären.
Verhältnismäisig am besten ist noch die Kirchengeschichte er-
i) Enthalten in den Mitteüungen des Vereins für AnkdUische Oesehiehte und
AÜertumskunde 7. und 8. Bd.
2) Ebenda.
3) Ebenda 9. Bd.
— 69 —
forscht, und zwar für das Zeitalter der Reformation, wo die un-
mittelbaren Beziehungen der Fürsten und des Landes zu den Refor-
matoren zur Darstellung reizten. Auiser den Aufsätzen Stenzels,
über die nachher noch gehandelt werden soll, und den von Stier
angelegten Regesten aus Luthers Briefen, ist namentlich hinzuweisen
auf C. Krause, MelanffkmiafM, Begesten und Briefe über die Be-
gehungen MelancMhons zu AnhaU und dessen Fürsten (Zerbst 1885).
Aus den Tagen, da man in Anhalt den Schlufsstein der Union
der evangelischen Kirchen legen wollte und als Unionskatechismus
den lutherischen Katechismus in Aussicht nahm, gibt es mehrere
Schriften, die das Recht des reformierten Bekenntnisses in Anhalt be-
stritten oder verteidigten ; unter ihnen ragt durch ergiebige Ausnutzung
archivalischen Materials hervor: Duncker, AnhaiUs Bekenntnisstand
u>ährend der Vereinigung der Fürstentümer unter Joachim Ernst und
Johann Georg 1570 — 1606 (Dessau 1892). Derselbe Verfasser hat
femer geschrieben: Nachwort fsu der Schrift AnhaMs Bekenntnisstand
usw* (Dessau 1892), worin er teils die von der Kritik erhobenen Be-
denken zurückzuweisen sich bemüht, teils die Geltung seines Gesamt-
urtcils noch zu erweitern sucht.
In neuerer Zeit haben namentlich Pastor Becker in Lindau und
Schulrat Dr. Suhle in Dessau durch eingehende und auf den besten
Quellen ruhende Darstellungen die Einführung der Reformation in den
einzelnen Landesteilen genauer festgestellt, die Anfange einer Pfarr-
chronik gegeben und die Entwickelung des Schulwesens, der Gymnasien
wie der Volksschulen, klargelegt. Ein Werk von grundlegender Be-
deutung, Die reformatorischen Kirchenordnungen Anhalts, von Prof.
Dr. Sehling in Erlangen, befindet sich gegenwärtig im Druck.
Die hundertjährige Jubelfeier der „Hauptschule** in Dessau (1885)
veranlafste zwei wichtigere Publikationen: Wörtlicher Abdruck urJcund-
Ucher Gedenkschriften aus dem ersten Halbjahrhundert (1763 — 1835)
des Bestehens der Herzoglichen Hauptschule usw. (Dessau 1885). Der
anonyme Herausgeber war der Lehrer O. Scjieuer. Femer O. Franke,
Geschichte der Hereoglichen Hauptschule zu Dessau 1785—1856 (Dessau
1885). Aus gleichem Anlafe, der Zentenarfeier, erschien die Geschichte
des Zerbster Francisceums von Prof. Dr. Sickel (Zerbst 1903).
Über das Philanthropin hat vor allem das Werk des Franzosen
Pin loche eine ausführliche und gute Darstellung gebracht, die jetzt
auch in deutscher Übersetzung vorliegt. Eine gediegene Vorarbeit
bildet der in den Verhandlungen der Dessauer Philologenversamm-
lung (1884) abgedruckte Vortrag von L. Gerlach.
— 70 —
Erneute Behandlung erfuhr auch die „Fruchtbringende Ge-
sellschaft" in einem hübsch geschriebenen Buche von Fr. Zöllner,
Einrichtung und Verfassung der Fruchibringenden OeseUschaft^ vor-
nehmlich unier dem Fürsien Ludwig £u ÄnhäU'Cöihen (Berlin 1899).
Die wichtigen Beziehungen der Bemburger Fürsten zur Geschichte
der Union und des Dreifsigjährigen Kri^es haben Darstellung ge-
funden in den Schriften: G. Krause, Ttxgebuch Christian d, J.,
Fürsien von Anhalt (Leipzig 1858), Krebs, Christian von Anhalt und
die kurpfälßische Politik (JLeipzig 1872); Zwiedineck-Südenhorst:
Fürst Christian von AnhaU und seine Beeiehungen zu Österreich (Graz
1874). Freilich liegen diese Schriften alle schon weit zurück wie auch
die von Ferd. Siebigk besorgte Ausgabe einer Selbsänograjohie des
Fürsten Leopold von Anhalt-Dessau von 1676 bis 1703 (Dessau 1860).
Die neueren und neuesten Untersuchungen und Arbeiten zur Landes-
geschichte sind meist in den nachher genauer zu schildernden J£tf-
ieUungen enthalten. Ein trefflicher Aufsatz von Otto Krauske»
Friedrich Wilhelm L und Leopold von AnhaU- Dessau, findet sich in
Sybels Hist. Zeitschr. N. F., Bd. 39, S. 19 ff.
Das Studium der Lokalgeschichte hat ebenfalls mehrere
Werke gefördert: O. Härtung, Geschichte der Siadt Cöthen bis mm
Beginn des 19. Jahrhunderis (Cöthen 1900); Würdig, Chronik der
Siadt Dessau (Dessau 1876); Graf, Gesdiichte der Siadt Oranienbaum
(Oranienbaum 1899). Wäschke, Geschichte der SicUU Dessau (JDesaBxi
1901) mit einem Anhange Urkunden des Stadtarchivs eu Dessau von
demselben und mehrere Monographien zur Stadtgeschichte von ver-
schiedenen Verfassern. Namentlich ist eine Verfügung des HerzogL
Konsistoriums, die Pfarrarchive betreffend, Ursache mehrerer lokal-
geschichtlicher Schriften geworden, unter denen die des Pastors Heine
in Wörbzig über Mühlingen und über Wörbzig echt wissenschafk-
liches Gepräge tragen. Die Geschichte des Dorfes Mehringen von
Pastor E. Kühne (2. Bearbeitung, Dessau 1899) »»^ «"^^ ebenfalls be-
deutende Leistimg, und nicht minder gilt dies von den Schriften über
Grofs-Mühlingen von Loose (1903) *) und über Gröna von Grimmert
Es wird aus den vorstehenden Bemerkungen und Schriftenver-
zeichnissen ersichtlich, dafis nur die politische Geschichte eine einiger-
mafsen ergiebige Behandlung erfahren hat, das grofee Gebiet der
wirtschaftlichen Entwickelung Anhalts ist aufeer in kleineren
Aufeätzen des Verfassers Zur Wirtschaftsgeschichte der Anhdltisehen
i) Vgl. diese ZeiUchrift 4. Bd., S. 313.
— 71 —
Lamde^) und in einem umfangreichen hochachtbaren Werke: A. Kraas,
JBßuemgtii und Frohndiensie in AnhaU vom Jß. his man 19. Jahr-
hundert (Jena 1898), bisher unangebaut geblieben.
Gelegentliche Ausblicke auf die Geschichte des wirtschaftlichen
Lebens eröffnen die Berichte der Handelskammer, der städtffichen Ver-
waltungen, sowie die der statistischen Bureaus. Eine besonders ein-
gehende Darstellung hat die Geschichte des Eisenbahnverkehrs in
Die Eisenbahnen im Herstogthum AnhaU heim Beginn des 20. Jahr»
kunderts von Schultz-Niborn (als Manuskript gedruckt, Magde-
burg 1900) gefunden.
Aufser den oben bereits genannten Arbeiten über die Geschichte
der Kirche in Anhalt haben wir noch eine Reihe von Schilderungen
einzelner Kirchen und Gemeinden zu erwähnen, so W. Sickel, &e-
schichie der St. Trinitatiskirche tm Zerbst (Zerbst 1896); Reich-
mann, Die Kirche und Gemeinde leu St. Nicolai in Zerbst (Zerbst
1894); O. Härtung, Geschickte der reformierten Stadt- und Käthe-
draUcirche fsu St. Jacob in Cöthen (Cöthen 1898); G. Heine, Bilder
und Skizeen aus der Geschickte der lutherischen Kirche und der St. Agnus-
Gemeinde in Cöthen (Cöthen 1898).
Ein ganz vorzügliches und durch die Verlagsbuchhandlung von
P. Baumann in Dessau trefflich ausgestattetes Werk ist Schub art,'
Die Glocken im Herzogtum AnhaU usw. (Dessau 1896); es ist nicht
nur ein Schatz für unsre Landesgeschichte, sondern in seinen all-
gemeinen Elrgebnissen von grundlegender Bedeutung fiir die Glocken-
kunde überhaupt *).
Ferner liegt eine Arbeit über Anhalts Bau- und Kunst- Denk-
mäler vor von Dr. Büttner, Pfanner zu Thal, die bereits im i. Bd.
der Deutschen Geschichtsblätter S. 285 eme anerkennende BeurteUung
erfahren hat. Gleichwohl wird diese Arbeit bei einer etwaigen Neu-
ausgabe eine vollständige Umarbeitung und abgesehen von manchen
anderen Änderungen mindestens eine Ausscheidung der ganz unwissen-
schaftlichen Literaturangaben und des in dieser Arbeit ganz unan-
gebrachten Wüstungsverzeichnisses erfahren müssen.
Der Arbeitskraft imd Forscherfreude kommender Zeiten bleibt
also noch ein geräumiges Feld zur Betätigung offen, wofern eben nur
das Interesse für derartige Studien in ausreichendem Malse wach gehalten
wird. FreUich kann ich vorläufig nur das bestätigen, was in einem
i) Id den BÜtteilimgen.
a) Vgl. darüber diese ZeiUchrift 4. Bd., S. aaS.
— 72 —
der im ersten Bande dieser 2^itschrift gfelieferten Berichte angedeutet
wird, dafs wir uns augenblicklich in einem Niedergange der landes-
geschichtlichen Studien befinden. Gründe genereller und individueller
Art sind dort mehrere beigebracht, um diese beklagenswerte Tatsache
zu erklären, den nach meiner Überzeugung wichtigsten Grund hat man,
so viel ich sehe, nicht angeführt: es ist die moderne Denkart, das
sich steigernde geschichtslose Leben und Wirken in und für den Augen-
blick, oder gar das vom geschichtlich Gewordenen bewufet sich ab-
wendende Träumen in ZukunftshoflFnungen. Doch dürfen wir einer
künftigen Besserung der Verhältnisse gewife sein, da sich bereits an
zwei Punkten verheifsungsvoUe Ansätze finden: schon geht die Schule
daran, mehr und mehr das allgemeine geschichtliche Wissen auf der
Kenntnis der Landesgeschichte aufzubauen, und von anderer Seite
wirkt das Interesse an der Familiengeschichte anregend und
fördernd auch auf die landesgeschichtlichen Studien ein.
Auch wir in Anhalt müssen demnach beklagen, da(s mehrere der
früher eifrigen Forscher in der Landesgeschichte uns entrissen sind,
wie der Pfarrer Th. Stenzel, der treffliche Schriften zur Genealogie
und Münzkunde des Fürstenhauses, sowie über Wüstungen und Kh-chen
Anhalts im M.-A. veröffentlicht hat, wie Hofrat Dr. W. Ho saus, der
namentlich das Leben und Wirken des Fürsten Franz nach allen
Richtungen hin zum Gegenstand seiner Forschung machte. Und wie
der Kreis der Mitarbeiter, so hat sich auch der Kreis derer vermindert,
die an den Ergebnissen landesgeschichtlicher Forschung Interesse
hatten. Die Zahl der historischen Vereine war zurückgegangen wie
die Zahl der Mitglieder in den einzelnen Vereinen.
Gegenwärtig bestehen noch der Verein für Anhaltische
Geschichte und Altertumskunde in Dessau, gegründet am
6. März 1875, der Altertumsverein in Bernburg, gegründet
am 2. Dezember 1877 ^^^ der Verein für Landeskunde in
Dessau. Von diesen Vereinen hat nur der Anhaltische Geschichts-
verein ein ständiges Organ, die Mitteilungen des Vereins für AnhaiU.
Geschichte und ÄÜertumshunde , von denen acht Bände gedruckt vor-
liegen, vpm neunten Bande das sechste Heft in diesen Tagen ausgegeben
ist. In diesen Mitteüuagen befindet sich so ziemlich alles vereinigt, was
seit 1875 an Arbeit zur Landesgeschichte geleistet ist. Der Altertums-
verein in Bernburg hat sich vor allem um den Aufschlufs prä-
historischer Stätten, wie des Stockhofs und des Spitzen -Hochs ver-
dient gemacht hat und eine Sammlung prähistorischer Altertümer an-
gelegt, die wegen des oben schon erwähnten besonderen Umentypus
— 73 —
wichtig erscheinen muis. Der Dessauer Verein steht in enger
Beziehung zu der Sammlung geschichtlicher Denkmäler im Herzog-
lichen Schlosse zu Grofe-Kühnau, die zwar an sich hoch bedeutsame
Funde birgt, wie die Hoymer Hausume, aber teils durch die Ent-
fernung von Dessau, teils wegen der noch fehlenden umfassenden
wissenschaftlichen Ordnung wenig nutzbar ist.
Aus der gegebenen Schilderung mag die Au%abe der nächsten
Zukunft auch ohne besonderen Hinweis hervorgehen. Es gilt vor
allem eine Organisation zu schaffen, die imstande ist, neues Leben
hervorzurufen. Durch Verfügung des Herzoglichen Staatsministeriums
ist nun eine Zentralleitung der Anhaltschen Vereine für Geschichte
und Landeskunde ins Leben gerufen werden, mit dem Zweck, die bisher
getrennten Vereine in einer Organisation zusammenzufassen, neue Kreis-
vereine zu begründen und durch diese wieder Ortsgruppen oder
wenigstens Vertrauensmänner in den einzelnen Ortschaften aufzustellen.
Die Zentralleitung wird gebildet durch ein Mitglied der Regierung,
den Staatsarchivar und je ein Mitglied der angeschlossenen Vereine.
Sic hat ferner die Aufgabe, geschichtliche Studien und Arbeiten an-
zuregen, aus dem vom Herzogl. Staatsministeriura zur Verfügung ge-
stellten Fonds für diesen Zweck je nach Bedürfnis Unterstützung aus-
zuwürken und die Ausführung der unternommenen Arbeiten zu über-
wachen. Die einzelnen Vereine behalten im übrigen ihre volle Selb-
ständigkeit, ihr volles Eigentum an ihren Sammlungen usw. und sind
nur gehalten, in ihrem Kreise die Organisation weiter auszubauen,
landeskundliche Studien energisch zu pflegen, regelmäfsig, und zwar
mindestens einmal im Jahre, Bericht über ihre Tätigkeit, sowie regel-
mäfsig über prähistorische Funde einen Fundbericht an die Zentral-
leitung einzusenden. Die Zentralleitung hat diese Berichte zu sammeln
und für deren Abdruck in den MitteUungen Sorge zu tragen.
Eine weitere Anregung der historischen Studien ist dadurch ge-
geben, dafs durch Verfügung des Herzogl. Staatsministeriums im Jahre
1901 ein Anschlufs der diesseitigen Vereine an die Historische
Kommission der Provinz Sachsen erfolgt ist, und zwar gehören
dieser Kommission, den Satzungen derselben entsprechend, an: ein
Mitglied der Herzogl. Regierung, der Staatsarchivar und ein Mitglied
des Dessauer Vereins für Anhaltische Geschichte.
Der Erfolg dieser Organisation, die erst vor drei Jahren begründet
wurde, wird sich erst in der Zukunft zeigen können, doch bestehen
gegründete Aussichten, Geschichtsvereine wieder in allen Kreisstädten
und kleineren Städten erstehen zu sehen. Gegenwärtig hat der An-
— 74 —
haltische Geschichtsverein Ortsgruppen in Dessau, Roislau, Coswig und
2^rbst mit insgesamt 400 Mitgliedern.
Augenblicklich steht das Interesse an der prähistorischen For-
schung- im Vordergrunde, das ja auch von der Teilnahme eines
gröfeeren Publikums getragen wird. Der Bemburger Verein führte
im Vorjahre eine gröfsere Ausgrabung auf dem Schneiderberg bei
Baiberge aus und hat dabei überraschende Funde gemacht. Das um-
fangreiche Urnenfeld auf der Soi^e bei Lindau hat vollkommenen Auf-
schluß und wissenschaftliche Bearbeitung durch Pastor Becker in
Lindau erfahren. Die „Zentralleitung** wird für umfangreichere
Publikationen aus den Archiven sorgen und namentlich auch die
Erschliesung und die Inventarisierung der Privatarchive in die Wege
leiten.
Weitere Anregung ist von der Bildung städtischer Museen zu
erwarten. Bemburg und Zerbst sind darin vorausgegangen, für Dessau
wird ein solches geplant.
Möge von diesen Veranstaltungen aus der historische Sinn in
breiteren Schichten der Bevölkerung wieder rege werden!
Mitteilungen
Yersammlungen. — Vom 27. — 30. September fand in Erfurt die
diesjährige Jahresversammlung des Gesamtvereins der deutschen Ge-
schichts- und Altertumsvereine *) statt. Der Tag für Denkmalpflege,
über den schon im vorigen Hefte berichtet wurde, war vorhergegangen, und
die reiche kunstgeschichtliche Ausstellung bot den Besuchern beider Ver-
sammlungen vielseitige Belehrung imd Anregung. Die Teilnehmerliste zählte
97 auswärtige und 10 1 Erfurter Teilnehmer; von den dem Gesamtverein
angehörigen 165 Vereinen waren aber nur 56 durch Abgeordnete vertreten —
ein Zeichen, dafs der wiederholte Appell an die Vereine, wie er auch in
dieser Zeitschrift, 4. Bd., S. 309, erhoben wurde, noch nichts gefruchtet
hat und dafs die Bedeutung der Versammlungen für die Arbeit jedes
Vereins noch nicht genügend gewürdigt wird. In der Vertreterversammlung
wurde über den günstigen Kassenstand und eine erfreuliche Zunahme der
Abonnenten des Korrespondenzblattes berichtet. Bei der satzungsgemäfs
stattfindenden Neuwahl des Vorstandes wurden Bailleu, v. Pfister und
Zimmermann wiedergewählt, aber an Stelle der ausscheidenden und satzungs-
I) Vgl. Ober die Tagimg ia Düsseldorf 1902, 4. Bd., S. 94—103.
— 75 —
gemä& nicht wieder wählbaren Beisitzer Ermisch und PrUmers fiel die
Wahl auf Grotefend (Schwerin) und ▼. Zwiedineck-Südenhorst (Gras):
einem öfter ausgesprochenen Wunsche gemäfs ist nun auch Österreich durch
ein Mitglied im Vorstand vertreten. Für 1904 ist der Gesamtverein nach
Danzig dngeladen, wo Denkmalpflegetag und Archivtag ^eichzeitig statt-
finden werden, und 1905 nach BÜnberg. — Für die Versammlungen waren
die Räume der städtischen Ressource zur Verfügung gestellt worden; um
die Organisation und Leitung der Veranstaltungen hatten sich besonders die
einheimischen Herren Stadtarchivar Overmann und Sanitätsrat Zschiesche
verdient gemacht; ein Ausflug nach Arnstadt schlofs die Veisammfamg ab,
während die Teilnehmer am Abend des 29. September Gäste der Stadt
£tfiirt waren.
In den Hat^)tversanmllungen sprach an erster Stelle Geh. Rat. Prof.
Lindner (Halle) über die Stellung Sachsens und Thüringens in
der deutschen Geschichte und erzählte fesselnd in einem knappen
Überblicke über die gesamte deutsche Geschichte, wie das deutsche Volk
allmählich aus germanischen Stämmen zusammengewachsen ist und wie gerade
Sachsen-Thüringen bei diesem Prozefs als Übergangsglied eine wesentliche
Vermitderrolle gespielt hat — Prof. Mogk (Leipzig) sprach an zweiter
Stelle über die Volkskunde im Rahmen der Kulturentwickelung
der Gegenwart imd führte etwa folgendes aus: Obgleich Herder schon
1777 die Forderung aufgestellt hat, dafs die Beschäftigung mit der Volks-
dichtung eine der Wissenschaft würdige Aufgabe sei, ist die Volkskunde
doch erst in den letzten Jahrzehnten zu einer akademischen Wissenschaft
erhoben worden. Die mythologisierende Methode hatte sie in Mifskredit
gebracht; erst durch das Aufblühen der Völkerkunde, der Kultur- und Lokal-
geschichte wurde sie alhnählich zur historischen Wissenschaft, und zwar zur
Kulturwissenschaft. Als solche hat sie die Aufgabe, die Erscheinungen des
Volkslebens vor ihrem Untergange aufzuzeichnen und diese im Laufe der
Zeiten in ihrem Werden und Entwickeln geschichtlich zu erforschen. Allein
die Volkskunde hat noch eine zweite, eine praktische Aufgabe. Da sie sich
mit dem Seelenleben imseres Volkes beschäftigt, soll sie auch in die nationale
Entwickelung des Volkes eingreifen und diesem zu erhalten suchen, was ge-
sund und lebensfähig ist. Vor aUem soll sie der Entfiremdung, die im
Laufe der Zeit zwischen den Gebildeten und dem gemeinen Manne ein-
getreten ist, en^egenwirken. Sie will aber nicht die imteren Schichten der
Bevölkerung in eine höhere Sphäre ziehen, sondern will, dafis die Gebildeten
sich mit dem Seelenleben des Volkes bekaimt machen. Um dies erreichen
zu können, mufs zunächst vom akademischen Katheder der Student über die
Erscheinungen imseres Volkslebens aufgeklärt werden, damit er in seinem
Berufe später für diese ein offenes Auge hat Verwerten können aber fiast
alle höheren Stände in ihrem Berufe die Volkskunde. Besonders mufs der
Geistliche in ihr heimisch sein, wenn er erfolgreich in seiner Gemeinde
wirken soll. Diese Tatsache, die vor allem Drews klar erkazmt hat, mufis
den Theologen nachdrücklichst vor die Seele geführt werden. Femer mufs
der Lehrer in der Volkskunde bewandert sein, sowohl der Volksschullehrer
als der Gymnasiallehrer. Durch seine Lehre allein kaim der verderben-
bringende Aberglaube geheilt, durch ihn kann den Kbdem der höheren
— 76 —
Stände Verständnis für das Leben des einfachen Mannes beigebracht werden.
Geschieht dies auf dem Gymnasium, dann ist auch zu hoffen, dals unsere
Richter, imsere Polizeibehörden mehr mit den Volksanschauungen rechnen
und ihnen gerecht werden. Unsere heutige Rechtsprechung hat fast alle
Fühlung mit dem Volke verloren; sie wieder zu gewinnen, ist eine der
wichtigsten Forderungen der Zeit. Allerorten müssen wir darnach streben,
dem Volke seine alten, volkstümlichen Feste wiederzugeben, seine Behaglich-
keit und Freude an Haus und Wohnung, damit der schlichte Mann wieder
Freude am Dasein imd damit zugleich am Volks- und Staatsleben erlange. —
Stadtarchivar Overmann verbreitete sich als dritter Redner über die Ge-
schichte der engeren Heimat in dem Vortrage Erfurt in Geschichte
und Kunst, in welchem fein und verständnisvoll ohne Überladung mit
Einzelheiten den Ortsfremden die Versammlungsstadt geschichtlich mit groisem
Erfolg näher gebracht wurde.
In den sehr gut besuchten Sitzungen der ersten und zweiten
Abteilung unter dem Vorsitz von Sanitätsrat Zschiesche wurde eine
Anzahl von Vorträgen gehalten, die für weitere Kreise von Bedeutung
sind. Aus der Vorgeschichte Thüringens machte A. Götze (Berlin)
ausführliche Mitteilungen, wobei besonders wohltuend die warme Würdigung
berührte, die der Vortragende seinem Lehrer Klop fleisch zuteil werden
liefs , einem Mann , der den Wert vorgeschichtlicher Forschungen bereits zu
einer Zeit erkannt hat, in der man für diese Dinge meist nur Spott übrig
hatte. Die ältesten Ansiedlungen auf dem engeren Gebiet von Erfurt
schilderte Zschiesche (Erfurt), dessen Verdienste um die Erforschung der
Prähistorie seiner Heimat bekannt sind. Bedeutendes Aufsehen erregten die
Ausführungen von S c hu chhar dt (Hannover) über die Hauptgattungen
alter Befestigungen in Deutschland und in England. Auf zwei
Studienreisen nach England hat der eifrige Forscher höchst wertvolles Vergleichs-
material gesammelt, mit dem er, im einzelnen vielleicht etwas zu radikal,
den seitherigen Anschauungen über die Entstehungszeit der imzähligen Burg-
wallanlagen in Mitteldeutschland zu Leibe ging. Er hat gewifs recht, wenn
er die Forderung aufstellt, dafs zunächst bei der Beurteilung der Ring-
wälle imd ähnlicher Anlagen das ausgeschieden werde, was sich irgendwie
als frühgermanisch, d. h. als nachrömisch erweisen lasse. Und dafs dies
nicht gerade wenig ist, vermochte Schuchhardt an zahlreichen Beispielen zu
zeigen, wo* durch seine und vor allem durch Rübeis Forschungen im nieder-
sächsischen Gebiet gar manche dieser Anlagen als karlingisch erwiesen wurde,
die man früher als vorgeschichtlich bezeichnen zu dürfen glaubte. Der
Vortrag wird mit Abbildungen und Grundrissen seinem Wortlaut nach im
Korrespondenzhlatt des Gesamtverebs erscheinen und sicher überall klärend
und anregend wirken. — Immer noch steht für die nächsten Jahre die
römische Forschung in Deutschland im Vordergrund des Interesses, zumal
nach der glücklichen Erledigung der Limesarbeiten sich ein überraschend
reiches Arbeitsgebiet bei dem westfälischen Haltern aufgetan hat. Die
neuesten Ergebnisse der dortigen Grabungen schilderte einer der Mitarbeitenden,
Dragendorff (Frankfurt), der Direktor der neugegründeten römisch-
germanischen Kommission des Archäologischen Instituts. Nach kurzem
Überblick über das bisher geleistete ging er näher ein auf die erst vor
— 77 —
kurzem genau ausgegrabene Erdbefestigung zwischen dem antiken Landeplatz
und der jetzigen Stadt Haltern, deren wichtige Einzelheiten jetzt im dritten
Heft der westüUischen Mitteilungen yeröffentlicht worden sind.
Im Laufe der nach einheitlichen Gesichtspunkten durchgeführten Limes-
arbeit hat sich das Bedürfnis herausgestellt, die römische Kultur in Deutsch-
land auf breiterer Grundlage zu erforschen, ab es der Limeskommission aus
natürlichen Gründen möglich war. Zwei besonders wichtige Punkte wurden
diesmal zum Gegenstand von Resolutionen gemacht, denen der beste Er-
folg zu wünschen ist. Der erste betrifft die Bedeutung und Ausbreitung der
östlich vom Limes, also im freien Germanien gemachten Römerfimde; auf
Antrag von Wolfram (Metz), dem als Korreferenten Höfer (Wernigerode)
und Prümers (Posen) zur Seite standen, wurde folgender Wortlaut be-
schlossen :
„Der Gesamtverein fordert die Geschichts- und Alter-
tumsvereine auf, der Forschung über den Einfiufs rö-
mischer Kultur auf das Gebiet östlich vom Limes be-
sondere Aufmerksamkeit zuzuwenden, alljährlich auf der
Hauptversammlung des Gesamtvereins über die Ergebnisse
zu berichten und durch Veröffentlichung der jeweiligen
Untersuchungen im Korrbl. des Ges.-Ver. sich gegenseitig
in der Arbeit zu fördern. Der Gesamtverein spricht die
Hoffnung aus, dafs die römisch-germanische Kommission
auch ihrerseits diese Bestrebungen in geeigneter Weise
unterstützt"
Die Forschungen der letzten Jahre besonders auf dem linken Rheinufer
haben die Wichtigkeit der römischen Befestigungsanlagen der Zeit ergeben,
in der das rechte Rheinufer aufgegeben und die römische Verwaltung genötigt
war, zur Sicherung ihres Besitzes jenseits des Stroms neue Festungen anzulegen«
Bedeutsame Ergebnisse sind für diese „Diokletianischen" Anlagen schon ge-
wonnen, aber die auf Wolframs Antrag angenommene Resolution wünscht
auch hier ein einheitliches Vorgehen, durch das beim Limes so erfreuliches
erreicht worden ist. Sie lautet:
„Der Gesamtverein beantragt bei der Reichskommission
für röm.-germ. Forschung und bei dem Verband der süd-
westdeutschen Vereine, dafs über die römische Befestigung
aus der späteren Kaiserzeit, insbesondere der Städte, ein
heitliche Untersuchungen angestellt werden."
In der Sitzung der dritten und vierten Abteilung, bei der Stadt-
archivar Overmann den Vorsitz führte, erörterte zuerst Gymnasialdirektor
Thiele (Erfurt) die sprachliche Bedeutung unserer mittel-
deutschen Urkunden und Handschriften. Wie alle Wissenschaften,
so meinte der Vortragende, sollten vor allem Geschichte und Sprachwissen-
schaft einander tatkräftig imterstützen. Diese Unterstützung wäre besonders
notwendig auf dem Gebiete des Mitteldeutschen, da diese Sprachform
ebensowenig in ihrer Art genau gekannt, wie in ihrer Bedeutung bisher aus-
reichend gewürdigt sei. Nachdem er in kurzen Zügen das Wesen des Mittel-
deutschen, seine räumliche Ausdehntmg und seine zeitliche Entwickelung dar-
gelegt, betonte er die Verwendung des Mitteldeutschen in der kaiserlichen
— 78 —
Kanzlei und in den Kanzleien bedeutender ReichsfUrsten, wie der sächsiachen
Kurfürsten und Herzöge, die Benutzung dieses Dialekts auf den Reichstagen,
wo man nur offiziell lateinisch verhandelt habe, und seine dadurch vermittelte
Bdcanntschaft in allen Teilen Deutschlands. Luther hat diese Sprachfbrm in
den Schriften der Jahre 1520 und 1521 sowie bei der Übersetzung des
Neuen Testaments 1522 benutzt, tmd das Mitteldeutsche ist unter diesem
günstigen Stern die dialektische Grundlage des Neuhochdeutschen
geworden. Literarisch ist das Mitteldeutsche nur vereinzelt im Mittelalter
benutzt worden — die hauptsächlichsten Werke werden aufgeführt — die
wichtigsten sprachlichen Zeugnisse sind vielmehr die Urkunden des be-
treffenden Sprachgebiets, die bis jetzt aber nur zum kleinen Teile in Urkunden-
büchem und sonst bekannt geworden sind imd die im engeren Sinne sprach-
lich fast noch gar nicht durchforscht sind. Hier müssen die Geschichts-
vereine eingreifen und dafür sorgen, dafs die Urkunden wie als Quelle, so
auch als sprachliche Denkmäler gewürdigt werden. Ebenfalls ein wichtiges
Hilfsmittel zur Kenntnis des Mitteldeutschen dürfte es sein, wenn die Be-
sonderheiten der mittelhochdeutschen Handschriften, soweit sie von mitteldeutschen
Schreiben herrühren, bei der Publikation mehr beachtet würden, so mühsam
solche Untersuchungen auch zum Teil sein mögen. In der anschlieisenden
Erörterung fand die Anregung allgemeine Teilnahme, und in einer Resolution
wurde es als wünschenswert bezeichnet, es möchten die oft nur ver-
einzelt vorhandenen wichtigeren mitteldeutschen Urkunden
in historischem und sprachlichem Interesse mehr als bisher
wissenschaftlich zuverlässig in lokalen Publikationen, nament-
lich in den Programmen höherer Lehranstalten veröffentlicht
und eingehend sprachlich behandelt werden. — Konrad
Plath (Wiesbaden) besprach die Erforschung der altdeutschen
Kaiserpfalzen imd schilderte die Entwickelung des Pfalzenwesens bei den
Römern und daran anschlieisend in den germanischen Staaten nach der
Völkerwanderung, bei den Ost- und Westgoten, Alemannen und Burgundern,
Angelsachsen, Vandalen und Langobarden, sowie auch bei Iren und Bretonen,
Dänen, Norwegern imd Schweden ; insbesondere dann aber bei den Franken,
deren Könige, nach Chlodovechs genialer Staatsschöpfung zuerst ein System
königlicher Pfalzen schufen, und die gesammte Staatsverwaltimg darauf grün-
deten. So kennen wir allein aus den so trümmerhaft erhaltenen Schrift-
quellen der fränkischen Zeit über 150 königliche Paläste der Merowinger
und Karolinger, die über das ganze Gebiet des fränkischen Reiches, von
Nimwegen bis Benevent, von St. Jean d'Angely bei Bordeaux bis Baden
bei Wien verteilt waren. Nachdem der Redner dann den weiteren Ausbau
dieser bedeutsamen Einrichtung unter den späteren deutschen Herrscher-
geschlechtem und seine Entwickelung bis zum Ende des Mittelalters verfolgt,
legte er den Einflufs der deutschen Pfialzorte auf das deutsche Heidentum,
wie auf die Ausbreitung der christlichen Kirche, auf die letzte Blüte der
römischen Poesie, wie auf den Aufwuchs einer nationalen Dichtung, auf die
Ausbildung der Sage, wie der geschichtlichen Aufzeichnungen, auf die Aus-
breitung eines zielbewufsten Landbaues, wie auf die Ausbildung des Forst- und
Jagdwesens, auf die Gestaltung des Rechtes und der Sprache der bildenden
Künste, der Baukunst, Malerei und Bildhauerkunst, wie der Musik und des
— 79 —
Gesanges, der Wissenschaft and Handwerke, wie des Heerwesens und der
Flotte dar, und zeigte, wie nach all diesen Richtungen, bis zur Buchdrudcer-
kunst, dem Humanismus und der Reformation die deutsche Kulturentwicke*
lung Yon den königlichen P£aüzen ausging, und an die Pfalzorte sich anschlofs.
Sie treten, in diesem Zusanmienhange betrachtet, als eine der fruchtbarsten
und folgenreichsten Gründungen der Weltgeschichte hervor. Aber wie die
Pfalzorte so als die Keimstellen imserer gesamten nationalen Kultur erscheinen,
so reicht ihre Bedeutung zugleich weit in die vorgeschichtliche Zeit hinauf.
Ihre einheitliche, vergleichende, planmäfsige Erforschung erweist sich als eine
der furchtbarsten archäologischen Unternehmungen, die nach allen Seiten hin
Licht verbreitend vor allem über die Entwickelung der eigenen nationalen
Kultur aus fernen Uranfängen, die überraschendsten und beiehrendsten Auf-
schlüsse darbietet Heute, wo die deutsche Kultur die Kultur der Welt wird,
wird es von weltgeschichtlichem Interesse, den Wurzehi der deutschen
Bildung auch unter der Erde nachzuspüren. In dieser Überzeugung hat der
Redner seit sechzehn Jahren die örtliche Erforschung und Ausgrabung der
altdeutschen Königspfalzen mit Unterstützung des Königlich Preufsischen
Kultusministeriums vorbereitet und zum Teil bereits durchgeführt Die überall
dabei erzielten Erfolge lassen es jetzt an der Zeit erscheinen, die nationale
Unternehmung als Reichssache in weiterem ' Umfange und mit erhöhten
Mitteln fortzuführen, um so mehr, als in immer steigendem Mafse die un-
schätzbaren Zeugen unserer Kulturentwickelung unrettbar dahinschwinden.
So sei denn auch den deutschen Altertumsvereinen diese Angelegenheit zu
gemeinsamer Förderung dringend zu empfehlen. Zur Erläuterung des Vor-
trages wies Dr. Plath am Schlufs auf die bei seinen Reisen und Aus-
grabimgen von ihm hergestellten photographischen Aufnahmen hin, von
denen ungefähr 300 neben Karten, Plänen und Zeichnungen an den Wänden
des grofsen Sitzungssaales zur Ausstellung gebracht waren und eine lebendige
Anschauung von dem bisher auf diesen Felde Erreichten darboten. — Als
dritter Redner sprach Pastor 0er gel (Erfurt) über das Bursenwesen der
mittelalterlichen Universitäten, insbesondere Erfurts, mufste
sich aber bei dem bekannten Zeitmangel auf die Hauptsachen beschränken;
die Veröffentlichung des Vortrags wird sicher auch über diesen Gegenstand
neue Belehrung bringen.
In der fünften Abteilung (für Volkskunde) sprach Privatdozent Robert
Petsch (Würzburg) über Volkstümliches Denken und Dichten
und suchte hierbei der zurzeit brennenden Frage nach der Berechtigung zur
Annahme einer eigendichen Volkspoesie von der psychologischen Seite aus
näher zu treten. Volkspoesie ist im Grunde jene Poesie, die mit der Vor-
stellungs- tmd Gefühlswelt der grofsen Masse der mechanisch, nicht will-
kürlich Denkenden arbeitet, wobei freilich zu berücksichtigen ist, dafs auch
die Träger der höchsten Bildung immer wieder in jene mechanische Denk-
weise zurückfallen (Aberglaube, unerlaubtes Generalisieren usw.), so dafs
schhefslich die Grenze zwischen höherem und niederem geistigen Leben und
dementsprechend zwischen Volks- imd Kunstpoesie im ganzen fiiefsende
bleiben. Im Einzelnen wies der Redner die volkstümliche „Denkweise**
nach an der starken Wirkung sinnlicher Eindrücke, an dem Haften am
eigenen Ich (egozentrisches Denken), an der beherrschenden Stellung einer
— 80 —
einzelnen Vorstelluog oder eines einmal gefMlten Urteils, wodurch das Ver-
halten zu früheren und zu neuen Eindrücken auf das Stärkste beeinflufst
wird (monarchistische Bewufstseinsverfassimg). Die Neigung zur extremen
Darstellung, zur möglichst starken Verdeutlichung und vollen Ausschöpfimg
einzelner Eindrücke läfst sich dann bis in den Stil der Volkspoesie hinein
verfolgen, wo alles nach Deutlichkeit, sinnlicher Anschaulichkeit und voller
Gefühlswirkung hindrängt
In der Sitzung der fünf vereinigten Abteilungen, die Ober-
regierungsrat Ermisch (Dresden) leitete, erstattete zuerst Prof. Anthes
(Darmstadt) Bericht über die Tätigkeit des Verbandes west- und süddeutscher
Vereine für römisch-germanische Altertumsforschung. Hierauf nahm das Wort
Archivsekretär Beschorner (Dresden) zu seinen Ausflihrtmgen über das
Sammeln von Flurnamen'). Nachdem er auf die Bedeutung der Flur-
namen für die verschiedensten Zweige der Wissenschaft und auf die nicht
unerhebliche sich mit ihnen beschäftigende Literatur hingewiesen hatte, legte
er die verschiedenen Mittel dar, die Flurnamen eines Landes möglichst voll-
ständig imd zuverlässig zusammen zu bekommen: Ausbeutung guter Karten,
namentlich der überall vorhandenen Katasterkarten mit zugehörigen Flur-
verzeichnissen, Ausnutzung des archivalischen Materials, persönliche UmfrsLgt
bei den Bewohnern, Versendung von Fragebogen an die Gemeindevorstände,
Geistlichen usw., Heranziehung der aus Landgemeinden stammenden Schüler
der Gymnasien und Mittelschulen, desgleichen der Geometer bei Neuvermes-
sung des Landes. Sodann erläuterte er an der Hand eines aus verschiedenen
Gegenden Deutschlands zusammengebrachten Anschauungsmaterials, in welcher
Weise das auf den angegebenen Wegen gewonnene Material am praktischsten
in Flumamenverzeichnissen und vervielfältigten Katasterkarten oder in beiden
gemeinsam übersichtlich gesanmielt werden könne. Auf die Bearbeitung der
fertigen Flumamensammlungen in sprachlicher, geschichtlicher und kultur-
geschichtlicher Hinsicht ging Redner nicht ein, da diese eine Sache für sich
ist; dagegen streifte er noch kurz die äufserst schwierige Frage des Ver-
öfifentlichens der tunfknglichen Flumamenverzeichnisse.
Anschliefsend wies Stadtarchivar Prof. Tschirch (Brandenburg), der
eine Karte des Planer Sees ausgestellt hatte, auf die zahlreichen interessanten
Namen für Fischereibezirke in den Gebieten grofser Seen hin und
machte Vorschläge zur Lösung der besonders schwierigen Aufgabe, diese zu
sammeln. Um dem reifsend schnellen Verschwinden der Flurnamen Einhalt
zu tun, riet Hofrat Mirus (Leisnig), die GrundbuchfÜhrer zu veranlassen,
neben den Katastemununem auch die Flurnamen wieder in die Grundbücher
aufzunehmen, wie dies in der Leisniger Gegend bereits geschehen sei. Im
Anschlufs an die Ausfühnmgen des Vortragenden befürwortete Privatdozent
Petsch (Würzburg), die Lehrer, namentlich die Volksschullehrer, zum Sammeln
der Flurnamen anzuregen imd zu diesem Zwecke kurze, in den Gegenstand
einführende Aufsätze in den von allen Lehrern gelesenen Zeittmgen und IZeit-
schriften (in Bayern in den Mitteilungen und Umfragen zur bayrischen Volks-
kunde und der Bayrischen Lehrerzeilung) zu veröffentlichen. Aufserdem
warnte er davor, in die Sammlungen, wie vorgeschlagen sei, nur die eigent-
lichen Flur n a m e n aufzunehmen und die Flur bezeichnungen („ sekundären
Flurnamen") wegzulassen. Da den Vertretern von Volkskunde von Wert sei.
— 81 —
zu wissen, nach welchen Flurnamen (heidnischen oder nicht heidmschen)
das Volk die Flurbezeichnungen wählte, müfsten die sekundären Flurnamen
den primären wenigstens in Klammem beigefügt werden. In längerer Aus-
führung berichtete Oberbürgermeister a. D. Dr. Brecht (Quedlinburg) über
seine Erfahrungen, die er sich bei jahrzehntelangem Sammeln der provinzial-
sächsischen Flurnamen angeeignet hat, und forderte namenüich noch genauere
Erwägimg der bei Veröffenüichung der Flumamensammlungen zu befolgenden
Grundsätze. Nachdem noch Dr. Ahrends (Arnstadt) für weiteren Ausbau
der im „Korrespondenzblatte** begründeten Zentralstelle für Orts- und Flur-
Damenforschung eingetreten war, wurde die Erörterung mit folgender Reso*
lution geschlossen:
Die fünf vereinigten Abteilungen halten es für in hohem
Grade wünschenswert, dafs in allen deutschen Landschaften
möglichst ungesäumt an die Sammlung der von Jahr zu Jahr
mehr verschwindenden Flurnamen herangetreten werde.
Sie ersuchen den Herrn Berichterstatter, eine Anweisung
für die Sammlung von Flurnamen zu entwerfen und Herrn
Archivrat Dr. Wäschke (Zerbst) von Zeit zu Zeit im Korre-
spondenzblatt über denFortgang der Flurnamenforschung
zu berichten.
In dem sich anschliefsenden Vortrage über handelsgeschichtliche
Probleme empfahl Prof. Kentgen (Jena) nicht nur zahlreiche, die Ge-
schichte des Strafsenwesens, der Zölle, der bisher eigentlich nur für
Italien gut bearbeiteten Handelsgesellschaften und der Münzpolitik
betreffende Aufgaben der lokalen Geschichtsforschung, sondern wies gleich-
zeitig auch auf einige bei Behandlung der genannten Themen leicht vor-
kommende Fehler hin. Häufig begegne man z. B. den irrigen Vorstellungen,
dafs die Zölle im Mittelalter mit dem Wachsen der Entfernungen gestiegen
seien oder dafs die Unterscheidung zwischen Grofs- und Kleinhandel auf der
Höhe des Umsatzes beruhe, während lediglich die Art des Betriebes mafs-
gebend ist Für die Strafsenforschung stellte Redner die Arbeiten von Aloys
Schulte^) und Simon ^) als vorbildlich hin. Als dankbare zollgeschicht-
liche Aufgaben bezeichnete er Untersuchungen über die Höhe der Zölle
und den Mafsstab ihrer Berechnung (Wert der Waren, Mafs und Gewicht,
Herkunft), über die Belastung des Handels durch die Zölle und den Unter-
schied zwischen Grofs- und Kleinhandel in dieser Beziehung. Hinsichtlich
i) Die Sammlang der Flarnamea ist nar ein Teil der umfassenden Flarforschong,
für die in den Flarkarten das Vormaterial vorliegt. Vgl. darüber den Bericht über
die Verhandlungen der Vertreter deutscher landesgeschichtlicher Pablikationsinstitute im
4. Bd. dieser Zeitschrift S. 251—252.
1) Oesrhiehie des mitteUüferltcken Handels und Verkehrs xwischen Westdeutseh-
Umd und Italien mit Ausschluß von Venedig. Leipzig 1900, 2 Bde. Eine zweite Auf-
lage ist in Vorbereitung. Das Bach ist eingehend gewürdigt in dieser Zeitschrift, 2. Bd.
5. 193 — 202, und dort sind auch einige Aufgaben (Ur die weitere Forschung, namentlich
Anlage Ton Strafsenkarten mit besonderer Rücksicht auf die Zollstätten, sowie
Sammlung der Zolltarife besprochen worden.
2) Die Verkehrsstraßm in Sachsen und ihr Einfluß auf die Städteentwiekekmg
bis xum Jahre 1500 [■« Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde, 7. Bd.
2. Heft, 1892].
6
— 82 —
der Müiiq)olitik emp£EÜü er, namentlich den Münzvemiien, den einzelnen
Münz- und Kursstätten und den Münzn^scbriften Beachtung zu schenken.
Endlich riet er, Vergleichungen zwischen der Handelsgeschichte des deutschen
Volkes und der benachbarter oder ausländischer Staaten anzustellen, mit denen
die Deutschen Handelsbeziehungen unterhidten.
Eine Aussprache über die zahlreichen Anregungen konnte, so erwünscht
sie war, aus Mangel an Zeit nicht stattfinden. Die Versammlung beschränkte
sich daher darauf, den Vortragenden in einer Resolution zu ersuchen, seinen
für die Landes- und Ortsgeschichte durch die Aufstellung
einer Fülle handelsgeschichtlicher Probleme reichen Vor-
trag im Korrespondenzblatt drucken zu lassen.
Der gegenwSrtIge Stand der YerOlfe&tliehviig ron Gmnd-
karten« — Die Herstellung von Grundkarten nach Thudichums Vorgange und
die Ansanmilung von je einer Anzahl der fertig gewordenen Blätter an der
Leipziger Zentralstelle für Grundkarten zum Vertriebe an die Interessenten ist
seit dem letzten ausführlichen Berichte, den ich im Korrespondenzblatt des
Gesamtvereins der deutschen Geschichts- imd Altertumsvereine, Jahrgang 1902,
Nr. 7/8, S. 125 ff. darüber erstattet habe, weiter for^eschritten. Es wird
zweckmäfsig sein, auch in den „Deutschen Geschichtsblättem'S die ja ein
Mittelpunkt für die Pflege landesgeschichtlicher Bestrebungen in den ver-
schiedensten Teilen des deutschen Volksgebietes sind, ein Verzeichnis der-
jenigen Blätter der Grundkarten zu veröffentlichen, die zurzeit erschienen imd
von denen Exemplare auf der Leipziger Zentralstelle vorrätig sind, welche von
da (Adresse : Universität, Historisch-Geographisches Institut, Bomerianum, Erd-
geschofs rechts) zum Preise von 30 Pfg. flir das Blatt (Doppebektion) und
gegen Erstattung der Portokosten bezogen werden können. Ich ordne sie
nach den historischen Kommissionen, Vereinen und Gesellschaften an, welche
Grtmdkarten für ihre im wesentlichen nach politischen Gesichtspunkten ab-
gegrenzten Gebiete veröffentlicht haben ; die Nummern bezeichnen die Sektionen
der Karte des deutschen Reiches in i : 100 000 (der sogen. Generabtabs-
karten).
I. Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde. Die Ge-
sellschaft hat zunächst nur für ihre eigenen Unternehmungen Karten im Mafs-
stabe der Liebenowschen Karte Rheinlands und Westfalens i : 80 000 aus-
geführt; doch ist sie bereit nach Verbrauch des jetzigen Bestandes, neue
in dem sonst allgemein angenommenen Mafsstabe i : 100 000 anfertigen zu
lassen. Die Sektionseinteilung der jetzt vorhandenen Grundkarten weicht von
der der Reichskarte in i : 100 000 ab; ich zähle aber die Blätter im ff.
nach den Nummern und Sektionsbezeichnungen der i : 100 000 Karte auf
und füge, wo die Sektionsbezeichnung der rheinischen Karten abweicht,
diese in () bei; Generalstabskartensektionen, von denen nur ein kleiner Teil
auf der entsprechenden rheinischen sich findet, werden mit * bezeichnet
327: Kleve. — 328: Bocholt.
352: Geldern. — 353: Wesel. — '354: ReckUnghausen (Dorsten-
Schermbeck).
377: Kaldenkirchen (Straelen). — 378: Krefeld. — 379*. Elberfeld
(Schwelm). — '380: Iserlohn.
— 83 —
402 : Erkelenz. — 403 : Düsseldorf. — 404 : Soliagen. — 405 : Lüden-
scheid.
428: Aachen. — 429: Düren (Jülich). — 430: Köln. — 431 : Wald-
broeL — *432i Siegen.
455: Eupen. — 456: Euskirchen (ZUlpich). — 457 : Bonn. — 458:
Altenkirchen. — 459 t Dillenburg. — (Greifenstein). — 460 : Gieisen (Wetzlar).
480: Malm^dy. — 481: HiUesheim (Aremberg). — 482: Mayen. —
483: Koblenz. — 484: Limburg. — 485: Friedberg i. H. (Krafbolms).
502: Neuerburg. — 503: Prüm. — 504: Cochem. — 505: Boppard^
522 : Mettendorf. — 523 : Trier. — 524: Bemcastel. — 525 : Simmem. —
*526: Mainz (Kreuznach).
540: Saarburg i. Rhld. — 541: Birkenfeld. — 542: Knsel (Bftum-
holder).
554: Saarlouis. — 555: St Wendel. ^
569: St Arnold (Ludweiler). — 570: Saarbrücken.
n. Gesellschaft für Lothringische Geschichte und Alter-
tumskunde.
539/553: Ewringen-Diedenhofen. — 554: Saarlouis.
568/584: Metz-Solgne. — 569/585/600: St Amold-Chäteau-Sahns-
Bourdonnaye. — 570/586: Saarbrücken-Ptalzburg. — 571/587: vgl. III. —
Sektion Nancy.
III. Gesellschaft für die Erhaltung der geschichtlichen
Denkmäler des Elsafs.
571/587: Pirmasens-Hagenau (im Verein mit der Lothringischen Gesell*
Schaft). — 572/588'- Landau in der RheinpÜEÜz-Rastatt
601/615: Saarburg i. L.-Schirmeck. — 602/616: Strafsburg i. E.-
SchlettsUdt
IV. Herausgegeben von Fried r. Thudichum: a) mit Unterstützung
der Grofsherzogl. Hessischen Regierung; b) mit Unterstützung der
Wedekindstiftung zu Göttingen. — c) Desgl. sowie des Vereins
für Geschichte zu Frankfurt a. M.
460/485: Giefsen-Friedberg i. H. — 461/486: Grünberg-Büdingen. —
462/487: Fulda-Schlüchtem.
506/526: Wiesbaden-Mainz. — 507/527: Frankfurt a. M.-Darmstadt —
508/528: Hanau-Aschafifenburg.
543I557: Kirchheimbolanden-Neustadt a. d. Haardt
V. Grofsherzoglich Badische Historische Kommission.
544/558: Worms-Mannheim. — 545/559 : Miltenberg-Mosbach.
VI. Königl. Bayerische Akademie der Wissenschaften^).
510/530: Schweii^rt- Würzburg.
Vn. Königl. Württembergisches Statistisches Landesamt
574/590: Heilbronn-Stuttgart
Vin. Historische Kommission für Westfalen.
304/328: Vreden-Bocholt — 305/329: Ahaus-Krefeld. — 306^330:
Burgstemfurt-Münster. — 307/331: Iburg-Warendorf. — 308/332: Bielefeld
Gütersloh.
i) Die Sektion 659: Konstanx, ist von dem Verein fUr Geschichte des Bodensees
hei^^estellt worden.
6*
— 84 —
353/379* Recklinghausen-Elberfeld. — 355/380: Dortmund-Iserlohn. —
356/381: Soest-Amsberg.
*4o6/433: Attendorn- Siegen.
IX. Historische Kommission für die Provinz Sachsen und
Anhalt
365/290: Gardelegen-Neuhaldensleben.
314/338: Magdeburg-Bemburg. — 315/339« Loburg-Dessau.
363/388: Eisleben-Querfurt — 364/389: Zörbig-Halle. — 365/390:
Düben-Leipzig. — 366/381: Torgau-Oschatz.
X. Königl. Sächsische Kommission für Geschichte.
415/441 : Borna- Altenburg. — 416/442: Döbeln- Chemnitz. — 417/443:
Dresden-Dippoldiswalde. — 418/444: Bischofswcrda-Königstein. — 419/445:
Bautzen-Zittau. — 420/446: Görlitz-Hirschfelde.
467/492: Greiz-Hof. — 468/493: Zwickau- Johanngeorgenstadt. —
469*494: Annaberg- Wiesenthal. — 470: Sayda. — 471: Fürstenau.
514: WunsiedeL — 515« Mammersreut.
XI. Verein für Geschichte der Mark Brandenburg.
213/241: Perleberg- Havelberg. — 214242: Wittstock a. d. Dosse-
Neu-Ruppin. — 215/243: Rheinsberg-Oranienburg. — 216/244: Templin-
Eberswalde.
267/282: Rathenow-Brandenburg a. d. Havel. — 268/293: Spandau-
Potsdam. — 269/284: Berlin-Köpenick.
XU. Provinzial-Kommission zur Förderung wissenschaft-
licher, künstlerischer und kunstgewerblicher Bestrebungen
in der Provinz Schleswig-Holstein. (Herausgegeben von R. Haupt.)
5 : Witting. — 6 : Gramm. — 7 : Hadersleben.
1 1/2 1/20: Röm-Hoyer- Westerland. — 12/22: Lügumkloster-Tondem. —
1 3/ 1 4/24/2 3 : Apenrade-Tarup- Augustenburg-Flensburg.
36/55: Föhr-Eiderstädt — 37/56: Bredstedt-Husmn. — 38/57: Schles-
wig-Rendsburg. — 39/58: Kappeln-Kiel. — 56: Lütjenburg. — 40/60/84:
Markelsdorf-Oldenburg-Grömitz.
83/114: Eutin-Lübeck.
[XIII. Grofsherzogl. Mecklenburg- Schwerinsche Regierung.
85/116: Kröpelin-Wismar. — 86/117: Rostock-Güstrow *).]
Die zuletzt erschienenen Blätter der Historischen Kommission für West-
falen veranlassen mich, eine Bitte, die ich schon früher einmal ausgesprochen
habe, zu wiederholen. In meinem Aufsatze „Ortsflur, politischer Gemeinde-
bezirk und Kirchspiel" (in den Deutschen Geschichtsbl. III, S. 2 73flf.) hatte
ich auf die Bedeutung des Unterschiedes der Bezirke politischer Gemeinden
und der Steuerbezirke oder der Ortsfluren für die Grundkartenbenutzung hin-
gewiesen. Für die rheinischen Grundkarten sprach ich die Vermutung
aus, dais sie nicht die Bezirke der politischen Gemeinden darstellen, sondern
die der Katastralgemeinden , ähnlich wie in Sachsen. Das Erscheinen der
Sektion 379, Elberfeld, der Grundkarten der Westfälischen Kommission,
die laut ausdrücklicher Angabe die politischen Gemeindebezirke enthalten,
zeigt nun in der Tat mannigfache Abweichimgen von den entsprechenden
i) Diese Blätter sind bis auf weiteres anverkäaflich.
— 86 —
rbeinischeD Blättem: freilich keinen verschiedenen Verlauf der Grenzlinien,
die Überhaupt in den beiderlei Karten sich fiodeni Kataatralgemeindegrenzen
and Grenzen politischer Gemeinden schneiden sich hier nicht, wohl aber
sind öfter mehrere Katastralgemeindcn zu einer politischen zusammengefalst.
Es wird somit hier in der Praxis bestätigt, dafs der Historiker, wenn er
Gmndkaiten benutzen will, durch eine ausdrückliche Angabe, wie sie die
westfälischen Karten aufweisen, Bescheid erhalten mufs, um was fUr Grenzen
es sich bei den eingetragcDen roten Linien handelt.
Für die Richtigkeit des Gedankens, aus dem das Grundkartenunter-
nehmen hervorgegangen ist, mehren sich neuerdings die Beweise von bisher
unbeteiligter Seite her. Es ist nämlich zu beobachten, dafs bei Geographen
und Statistikern die Notwendigkeit mehr und mehr anerkannt wird, für eine
Reihe von Aufgaben auf die Gemarkung als verwendbarste Einheit zurück-
zugehen. So hatte Herrn. Losch („Einige Bemerkungen über Wirtschafis-
stadstik, Wirtschaftsgeld raphie und kartographische Darstellung" in Hettners
Geographischer Zeitschrift VII, 1901] unter Hinweis auf die württembergische
„Gemeindestatistik" und „Gewerbetopographie" aus geographischen Gesichts-
punkten die Forderung gestellt, mehr als bisher Üblich, statistische VerQffent-
lichungen auf die Gemeinden zu gründen. Ein schönes Zeugnis fUr die Ver-
wertbarkeit der Gemarkungen liegt jetzt aus der Praxis vor: sehr ausgiebig
sind sie nämlich in Otto Schlüters kürzlich erschienenem Werke Über die
Siedelungen im nordöstlichen Thüringen verwendet worden. Schlüter ent-
scheidet sich dafür, die Gemarkungen seiner Volksdichtekarte zugrunde zu
legen (wie dies früher schon von E. Friedrich in einer Arbeit für den Re-
gierungsbezirk Danzig geschehen war], weil sich keine bestimmte feststellbare
Fläche finden läfst, mit der die Bevölkerung, alles in allem genommen, inniger
verwachsen wäre. Auf derselben Grimdlage sind dann kartographisch dar-
gestellt: der Gnmdsteuerreinertrag der Gemeinden, Veränderungen der Ein-
wohneriahlen der Gemeinden in dem Zeitraum von 1852—95; die Ge-
schichte der Besiedelung; die äufsere Gestalt der Siedelungen nebst den Ver-
kehrswegen um das Jahr 1750 (im Drucke im Mafsstab i : 200000).
Ab SeitenstUck zu dieser Leistung sei hier auch auf eine Arbeit hin-
gewiesen, die als erste auf Gmndkarten beruhende Veröffentlichung im König-
reich Sachsen beweist, dafs das Unternehmen hier anfängt, seine Früchte zu
zeitigen: es sind dies zwei Karten der Verbreitung der wendischen und
deutschen Sprache im östlichen Sachsen, die das Statistische Bureau im
laufenden Jahrgang seiner Zeitschrift hat erscheinen lassen.
Aufserhalb des Deutschen Reiches ist die Herstellung von Grundkarten
in Holland in die Wege geleitet worden, und es ist dort mit besonderer
Energie, freilich auch unter geringeren Schwierigkeiten als hier
die Ausführung der Kartenblätter gefördert und deren Nutzbannacb
Znsammenwirken einer Reihe von Gelehrten angebahnt worden. Die
riscb-Statistiscbe Schetskaart", die durch die Centra
missie voor de Historisch - Statistische Kaarten in
land herausgegeben wird, ist auf 30 Blatt berechnet, die im F
den deutschen Grundkarten abweichen und gelbe Gemeindegrenzen
Ecschienen sind bisher die Hälfte aller Sektionen, nämlich:
I. (Titelblatt.) — 2. (Ameland.) — 3, (Schictmonnikoog.) —
— 86 —
und Vidand.) — 6. (Sneek und Leuwarden.) — 7. (Groningen.) — 9. (Alk-
Byyu-.) — 10. {Stavoren, Urk.) — 11. (ZwoUe, Kämpen.) — 13. (*s Giaven-
hage.) — 14. (Amsterdam und Utrecht.) — 15. (Haiderwijk und Amen-
foort.) — 19. (Rotterdam.) — 20. (Schoonhoven, Dordrecht, Breda.) —
21. ('s Hertogenbosch, Wijk bij Duurstede.) Auch eine Übersichtskarte in
I : 600000 ist bereits ausgegeben worden.
Eine Zentralstdle für die niederländischen Grundkarten besteht in Hattem
unter Leitung von Herrn F. A. Hoefer. Ein Fortschritt ist nun dadurdi
erzielt worden, daß sich berdts mehrere Forscher des Landes zur Bear-
beitung bestinmiter Themata mit Hilfe von Grundkarten haben bereit finden
lassen: Münzorte tmd Münzfunde (Dr. de Dompierre de Chaufepi^), Gau-
grenzen (Prof. Blök), Landgrenzen (Dr. Bannier), Deiche (Beekman), Rechts-
geschichte (Rollin Couquerque), Eintragungen für Limburg (Prof. Goossens).
Im Znsammenhang mit diesem praktischen Vorgehen, dessen Erfolg wohl
besonders dem Leiter der Zentralstelle zu danken gewesen ist, steht es nun
auch, dafe eine Anregung, die ich selbst früher einmal gegeben habe (Deutsche
Geschbl. I, S. 113^)9 in Holland zu einem greifbaren Ergebnis gefuhrt hat,
w^Üu-end sie in Deutschland bisher Anregung geblieben ist. Es ist nämlich
ein Heftchen (Wenken voor het bewerken der schetskaarten voor historisch-
statistische liggers) ausgegeben worden, das Zeichen für die Eintragungen in
Grundkarten angibt : Buchdruckereien, Deiche, Fabriken, Grenzen, Rittersitze,
Kirchen, Kirchtürme, Klöster, Mühlen, Münzorte, Märkte, Siedelungen,
Schulen, Gelände, Stadtrechte, Festungen, Zölle, Wege u. a., alles in alpha-
betischer Ordnung angeführt. Es sind gewifs darin viele Zeichen vor-
geschlagen, die brauchbar und gut sind, tmd auch in Deutschland wird man
diese Arbeit der holländischen Fachgenossen mit Nutzen einsehen, wenn
man eine Anleitung zur Einzeichnung in Grundkarten zu haben wünscht.
Aber von Einzelheiten abgesehen — z. B. das Zeichen für Universität, die
Fackel (die wie eine Mohrrübe aussieht !) wird sich so wenig wie die Kerze
der Lateinschule empfehlen — , möchte ich gegen die Vorschläge ganz im
allgemeinen einwenden, dafs mir die Grenze des kartographisch darstellbaren
hier nicht eingehalten zu sein scheint. Zeichen im Kartenbild müssen ent-
weder Elemente enthalten, die das Erinnerungsbild dessen, was sie bedeuten,
anzuregen vermögen oder sehr leicht imd einfach tmterscheidbar sein. Den
Versuch, die Jahrhunderte durch kleine Unterschiede in den Zeichen, noch
dazu durch verschiedenerlei bei Kirchbauten, Stadthäusern, Märkten, an-
zudeuten oder nun gar die Unterschiede von vielen Dutzenden geistlicher
Orden mit einer Fülle an sich nichtssagender Formen und ergänzender Ziffer-
bezeichnung halte ich für wenig glücklich. Ich bin der Ansicht, dais man
viel mehr mit Farbenimterschieden arbeiten mufs (so bei Wiedergabe der
Jahrhunderte) und auf Zeichenunterschiede, wenn sie zu einem so kompli-
zierten System führen wie bei den geistlichen Orden, lieber verzichten solL
In Deutschland sind die Versuche, zu einem System von vereinbarten
Zeichen zu kommen, ztmächst einmal grundsätzlich zurückgestellt worden,
und ich glaube, für unsere Verhältnisse mit vollem Recht Man hat es vor-
gezogen, flir diej^iigen konkreten Einzelaufgaben, die schon jetzt Verein-
barungen erfordern, wie z. B. für die Funde, auf Grund ausreichender prak-
tischer Erprobungen ein Einvernehmen anzubahnen. Vor allem aber hat die
— 87 —
ErörteruDg der wissenschaftlichen Vorfragen für kritisch einwandsfreie Grund-
kartenverweitung und überhaupt fiir die Aufarbeitung des auf die Gemarkungen
bezüglichen Materials eine Zeitlang im Vordergrund des Interesses gestanden
und naturgemäfs rein technische Fragen, wie die Zeichenvereinbarung,
zurückgedrängt Mag die so eingetretene Verzögerung in den Fortschritten
des Grundkartenuntemehmens in mancher Hinsicht ab unliebsam empfunden
werden: ich meine, sie ist mit der erreichten Klärung und Vertiefung der
Probleme historischer Kartographie in Deutschland nicht zu teuer erkauft.
Leipzig. R. Kötzschke.
Kommissionen. — Die Württembergische Kommission für
Landesgeschichte hielt am i. Mai 1903 ihre zwölfte Sitzung ^) zu Stutt-
gart ab. Von der Korrespondenz des Herzogs Christoph bt der dritte
Band im Druck vollendet; der Bearbeiter, Dr. Ernst, scheidet zwar aus
dem Dienste der Kommission, wird aber seine Arbeit fortsetzen. Von den
Oeschichilichefi Liedern und Sprüchen aus Württemberg liegt das vierte Heft
vor, das vom Beginn des XVU. bis zur Mitte des XVIÜ. Jahrhunderts reicht.
Von der Haller Chronik des G. Widmann, deren Ausgabe Prof. Ko 1 b besorgt,
liegen 6 Bogen gedruckt vor. Von den im vorigen Jahre geplanten Unter-
nehmungen ist die Fortsetzung der Bibliographie der Württembergischen Oe-
schichte endgültig beschlossen worden; die Bearbeitung übernimmt Th. Schön.
Die Herausgabe der Tübinger Matrikeln übernimmt unter Leitung von Prof.
Busch Dr. Hermelink. Die Veröffentiichung der Ulm er Geschichtsquellen
wird durch die Herausgabe des Roten Buchs, die Dr. Mo 11 wo besorgt, er-
öffnet; die Herausgabe der Rechnungen übernimmt Dr. KöUe. Über die
Grundsätze für die Ausgabe der Weistümer und Dorfordnungen ist Einigkeit
erzielt worden, die Geschichte der Behärdenorganisation in Württemberg von
Win tt erlin wird fortgesetzt und für die Bearbeitung des zweiten Bandes
des Eßlinger Urkundenbuchs hat die Stadt Efslingen einen Posten in ihren
Haushalt einzustellen versprochen. Andere der früher besprochenen Arbeiten
(Landtagsakten, Weingartner Missivbücher) müssen vorläufig noch zurück-
gestellt werden, aber wieder sind neue Wünsche ausgesprochen worden, so
Urkundenbücher der klemeren Reichsstädte, Geschichte der Bettelklöster in
den Reichsstädten, Württembergische Kulturgeschichte von der Zeit Herzog
Christophs bis zum Ende Johann Friedrichs, Geschichte der Gnmdentlastung
in Württemberg mit besonderer Berücksichtigung der Vorgänge des Jahres 1848.
Letztere Arbeit soll als Preisarbeit ausgeschrieben werden. Die unter Leitung
von sechs Kreispflegem durch einheimische Kräfte besorgte Inventarisation
der kleineren Archive schreitet rüstig fort imd ist schon in manchem Be-
zirke ganz vollendet.
Als ordentliche Mitglieder sind durch königliche Ernennung in die
Konmiission eingetreten Prof. v. Funk, Prof. Riet sc hei, Rektor Knapp,
Prof. Müller, Prof. Günter in Tübingen, sowie Prof. Sixt in Stuttgart;
zu aufserordentlichen Mitgliedern wurden gewählt Amtsrichter a. D. Beck
(Ravensburg), Archivassessor Kr aufs und Privatdozent Marx in Stuttgart.
i) Über den Bericht von 1902 vgl. diese ZeiUchrift 4. Bd., S. iio.
— 88 —
Das Rechnungsjahr 1902 schlofs mit einem Überschufs von 6483 Mk., der
der Ausgabe von 10827 Mk. an Einnahmen 17309 Mk. gegenüberstanden.
Die Historische Kommission bei der kgl. Bayerischen
Akademie der Wissenschaften hielt am 3. bis 5. Juni 1903 ihre
44. Plenarversammlung ^) ab. Neu ausgegeben wurde im Berichtsjahre:
Jahrbücher des Deutschen Reiches unter Otto FL. und Otto UL i. Bd. (Leipzig
1902], in dem Uhlirz Otto II. behandelt; femer von den Jahrbüchern
unter Heinrich IV. und Heinrich V. der 4. Bd. (Leipzig 1903), in dem
Meyer von Knonau die Geschichte der Jahre 1085 — 1096 darstellt;
Chroniken der deutschen Städte 28 Bd. (Leipzig 1903), worin Kopp mann
den 3. Band der Lübecker Chroniken veröffentlicht; Quellen und Erörte-
rungen 9Mr bayerischen und deutschen Geschichte, Neue Folge i. Bd.: Andreas
von Eegensburg, sämtliche Werke, herausgegeben von Leidinger (München
1903); von der Allgemeinen Deutschen Biographie ist der 47. Bd. und vom
48. die erste Lieferung (Leipzig 1903) erschienen. Alle begonnenen Unter-
nehmungen sind rüstig fortgeschritten. Über die Ausdehnimg der Städte-
chroniken wird erst nach Gewinnung eines neuen Redakteurs Beschlufs ge-
fafst werden. Da alle Mittel der Kommission festgelegt sind, konote die
Inangriffnahme neuer Veröffentlichimgen nicht beschlossen werden.
Zu ordentlichen Mitgliedern wurden neu ernannt Prof. v. Below
(Tübingen), Geh. Rat Hauck (Leipzig), Geh. Rat Brentano (München)
imd zu aufserordentlichen Privatdozent Beckmann (München) imd Dr. Herre
(München).
Die 22. Plenarversammlung der Badischen Historischen Kom-
mission fand am 6. imd 7. November 1903 in Karlsruhe statt ^). Im
Berichtsjahr erschienen ist der erste Halbband des Topographischen Wörter-
buchs in zweiter Auflage, vom Oberbadischen Oeschlechterbuch die fünfte
Lieferung, als Neujahrsblatt für 1903 Finke: Bilder vom Eonstanzer Konzil.
Die Inventarisierung der Gemeinde- und Pfarrarchive ist in den meisten Be-
zirken vollendet, die der gnmdherrlichen Archive ist in gutem Fortgang be-
griffen, wie die grolse Mehrzahl der übrigen Veröffentlichungen. Gemäfs
eines im Vorjahre gestellten Antrages wurde beschlossen, für die Bearbeitung
einer Münz- und Oeldgeschichte der im Groftherzogtum Baden vereinigten
Territorien einen eingehenden Arbeitsplan ausarbeiten zu lassen ; femer wird
Karl Rieder Römische Quellen zur Konstanzer Bischofsgeschichte ver-
öffentlichen, und Archivrat Obser wird die Herausgabe der Denkwürdigkeiten
des Markgrafen Wilhelm von Baden besorgen.
Infolge seiner Berufung nach Berlin ist Geh. Rat Schäfer aus der
Kommission ausgeschieden.
Geschieht! iche Ortsbesehreibang. — Das Wesen der geschicht-
lichen Landesbeschreibung, mag sie als eine Sammlung von Orts-
geschichten in lexikalischer Form oder als eine systematische Darstellung
erscheinen oder beides verbinden, ist den Lesern dieser Zeitschrift hinreichend
i) Über die 43. Versamrolnog vgl. 4. Bd., S. 140— 141.
2) Über die Tagung 1902 vgl diese Zeitschrift 4. Bd., S. 141.
— 89 —
bekannt '). Wie dort für eine Landschaft, so läfst sich auch für einen Ort
das Ergebnis der historischen Forschung auf topographischer Grundlage
zusammenstellen, und dann haben wir die geschichtliche Ortsbeschrei-
bung. Ansätze dazu finden sich in jeder Stadtgeschichte, da es ja bei einer
solchen in erster Linie immer darauf ankonunt, den Schauplatz genauer zu unter-
suchen, den jeweiligen Umfang der Stadt und etwaige Stadterweiterungen
festzustellen; und im weiteren Verlauf der Darstellung gibt es tausend Gelegen-
heiten, wo eine in den Quellen genannte örtlichkeit näher bestimmt werden
mufs. In manchen Städten hat man auch Häuserchroniken angelegt, wenn
sie als Ganzes wohl auch noch nirgends veröffentlicht worden sind. In den
bezeichneten Richtungen ist man nun in Freiburg i. B. zu systematischer
Arbeit fortgeschritten, und es liegt jetzt die GesckiehÜiche Ortsbeschreibung
der Stadt Freiburg im Breisgau in zwei Bänden (Freiburg i. B., Fr. Wagner,
1891 und 1903, 170 und 417 S.) vor. Als zweiter und vierter Teil der
Veröffentlichufigen aus dem Archiv der Stadt Freiburg im Breisgau ^) ist
die Arbeit erschienen, die Bearbeitung des ersten hat der frühere Stadtarchivar
A. Poinsignon, die des zweiten der jetzige, P. P. Albert, geleitet; die
endgiltige Gestalt hat dem zweiten Bande unter Benutzung der Arbeiten von
Korth und Karteb Hermann Flamm gegeben. In dem ersten Teile
werden S. i — 34 die Bauperioden beschrieben, S. 35 — 55 der Stadtbann
und zwei vormals dörfliche Gemarkungen, femer S. 56 — 72 die Wasser-
versorgungsanstalten, S. 73 — 74 die Friedhöfe imd schliefslich die Strafsen
und Plätze in alphabetischer Ordnung. In der letzten Abteilung sind jetzige
tmd ehemalige Strafsennamen aufgeführt, der Name wird sachlich erklärt und
die Dauer seines Gebrauches festgestellt; das ist für den Forscher in der
Freiburger Geschichte natürlich ein ganz vorzügliches Hilfsmittel. Wir er-
fahren z. B., dafs die Kaiserstrafse seit einem Besuche Kaiser Josephs IL
1777 ihren Namen trägt, als auch der Gasthof „Zum Storchen", wo er
wohnte, in „Römischer Kaiser" umgetauft wurde. Die neue Münzgasse
ist benannt nach dem städtischen Münzhaus, das 1567 dorthin verlegt wurde ;
der Rottecksplatz ist 1865 angelegt und nach dem bekannten Historiker
benannt. Von allgemeinem Interesse ist die Geschichte der Friedhöfe und
der Wasserversorgung: die Verlegung des ersteren aufserhalb der Stadt ist 15 14
von Maximilian angeordnet worden; 1333 bereits existieren Leitungen, die den
Brunnen Wasser zufuhren. Wie anderwärts werden auch hier 1349 die
Juden der Brunnenvergifhmg beschuldigt, und der angestellte Prozefs gibt
nähere Auskunft auch über die Brunnen, wenn auch gerade das inter-
essanteste, die Stelle, von wo das Wasser bezogen wird, unbekannt bleibt
Die Brunnenmeister werden wiederholt vom Rate nach auswärts verliehen,
so schon 1407 nach Basel; 1501 werden die bis dahin verwendeten Holz-
röhren teilwebe durch irdene verdrängt; 1535 werden 20 öffentliche und
II private Brunnen gezählt. Wir haben hier ein schönes Material vor uns,
das zum Vergleich mit anderen Städten •) reizt: es wäre eine schöne Auf-
1) Vgl. den Aufsatz von Vancsa im 3. Bd., S. 97—109 und 129—137 sowie die
Ergänzung von demselben im 4. Bde., S. 186 — 188.
2) Über Teil i und 3 dieser Veröffentlichung vgl. 3. Bd., S. 23/24.
3) Über Dresden gibt das Material Richter, VerwaUungageschichie der Stadt
Dresden i. Abteilung (Dresden 1891), S. 209.
— 90 —
gäbe einmal für wenigstens 20 Städte die Wasserversorgung bis ia
das XVI. Jahrhundert darzustellen.
Der zweite Band übermittelt uns den Hänserbestand von 1400 bis 1806,
und zwar mit unendlichem Fleifse aus den verschiedensten Archivalien zu-
sammengetragen: am wichtigsten sind die Grundbücher (FertigungsprotokoU^
und die Herrschaftsrechtsbücher d. h. 6kt Verzeichnisse der von den Häusern
an den Stadtherren zu entrichtenden Abgaben; daneben ist die 1565 erst
diu-chgefiihrte Häuserbenennung durch Namen von Wichtigkeit, die 1770
durch die Numerienmg abgelöst wird. Auch das ist eine für die Anschau-
ungsweise der Zeiten wichtige Frage, die vergleichende Behandlung verdient:
werden die Häuser nach ihren Besitzern bezw. örtlichen Eigentümlichkeiten
mit Namen oder mit Nummern bezeichnet und wann treten in verschiedenen
Städten Änderungen ein? Der Hauptteil bietet dann die Strafsen in alpha-
betischer Folge wie im modernen Adrefsbuch, imd innerhalb der Strafse
wird von Haus zu Haus fortschreitend der alte Name (in Fettdruck) ange-
führt, und darauf folgen die l^amen der bekannten Besitzer mit den Jahres-
zahlen, sowie bei den den Herrschafbrechtsbüchem entnommenen Angaben
die Beträge der auf jedem Hause lastenden Steuer. Zwei Register über die
Häusemamen sowie Orts- und Personennamen (S. 294 — 417) schliefsen das
Buch ab und machen es fUr den Geschichtsforscher der Stadt in ausgiebigster
Weise nutzbar. Dem ersten Bande sind zwei Stadtpläne von 1589 und
1744, dem zweiten einer von 1685 in vorzügücher Ausführung beigegeben.
Für den Humor in der Häuserbenennimg liegt ein reiches Material vor,
was gewifs auch für die Personennamenforschung Beachtung verdient; einige
heute komisch wirkende Bezeichnungen sind z. B. : Zum Affentanz , Zum
schwarzen Bauer, Zum Kuhschwanz, Zur grofsen Geige, Zum kalten Licht,
Zur geilen Nonne, Zum faulen Pelz, Zur blauen Sau, Zum roten oder schwarzen
Stiefel, Zmn gelben Zopf.
Personalien. — Am 17. Juli 1903 starb in Wien Engelbert Mühl-
bacher. Der äufsere Rahmen seines reichen Lebens ist rasch gegeben.
Am 4. Oktober 1843 ^^ Gresten geboren, trat er 1866 in das Augustincr-
Chorherrenstift Hl. Florian ein, studierte 1872 — 1874 als Schüler Fickers in
Innsbruck, wo er mit einer Dissertation über <§e streitige Papstwahl von 1 1 30
den Doktorgrad erlangte, dann 1874 — 1876 als Schüler Sickels am Institut
für österreichische Geschichtsforschung zu Wien, habilitierte sich 1878 für
historische Hilfswissenschaften in Innsbruck und wirkte von 1881 als aufser-
ordentlicher, von 1896 als ordentlicher Professor und Vorstand des Institutes
für österreichische Geschichtsforschung an der Universität Wien. 1885 wurde
er korrespondierendes, 1891 wirkliches Mitglied der Wiener Akademie, die
er vom gleichen Jahr an mit Luschin v. Ebengreuth (Graz) in der Zentral-
direktion der Monumenta Germaniae vertrat, 1896 korrespondierendes Mit-
glied der Münchener historischen Kommbsion, 1903 Ehrendoktor der juris-
tischen Fakultät von Bern.
Mühlbacher ist einer warmen Würdigung gerade in den Deutschen
Geschichtsblättem wert, deren besondere Ziele sich Seines Verständnisses und
seiner Mitwirkung erfreuten. Seine Erstlingsarbeiten *) galten der Geschichte
I) Zur ältesten Kirchengeschickte des Landes ob der Enns und Zur KriUk
— 91 —
einer deutschen Landschaft, seiner engeren Heimat Oberösterreich. AUen
deutschen Landschaften aber — mit Ausschluis etwa des ostelbischen Neu-
landes, also allen altdeutschen Landschaften — ^ brachten seine Werke reiche
Förderung ihrer Geschichte. Denn wie die innere Entwickelung dieser Ge-
biete in Wirtschaft, Recht und Verfassung von gemeinsamer karolingischer
Grundlage ausging, so knüpft ihre Geschichte allüberall an die der karolin-
gischen Zeit an. Und diese dankt in den letzten Jahrzehnten niemandem
mehr als Mühlbacher und seinen drei Hauptwerken, den Karolinger-
regesten, der Deutschen Geschichte unter den Karolingern und seiner Aus-
gabe der Karolingerdiplome.
Die Palme gebührt dem ersten dieser drei Werke, den Regesten *). In
ihnen hat Mühlbacher die kritischen Errungenschaften, die das diplo-
matische Genie Sickels in den Acta regum et imperatorum Karolmormn der
Wissenschaft schenkte, in selbständig nachschafifender Arbeit unter Heran-
ziehung des ganzen nichturkundlichen Quellenstoffes in unmittelbare his-
torische Erkenntnis umgeprägt, in eine Fülle einzelner geschichtlicher Er-
gebnisse ausgemünzt. In staunenswerter Bewältigung der gesamten ein-
schlägigen Literatur hat er alle wissenschaftlichen, insbesondere alle rechts-
geschichtlichen Ergebnisse, unter denen er namentlich die Brunners hoch
bewertete, der landschaftlichen Einzelforschung vermittelt. Für die ganze
Folge der Neubearbeitungen von Böhmers Regesta Imperii, wie auch für
die ganze jüngere Regestenliteratur, deren grundlegende Bedeutung für die
Landeskunde immer deutlicher erkannt wird^ sind Mühlbachers Regesten
das unbestrittene Vorbild geworden.
Seine Deutsche Geschickte unter den Karolingern (Bd. II der Bibliodiek
deutscher Geschichte 1896) beruht auf erschöpfender Verwertung des für
die Regesten kritisch durchgearbeiteten Quellenmateriales und darf als Muster-
leistung gelten, wenn man an ein darstellendes Werk zwei Forderungen stellt :
aus den Quellen Alles zu gewinnen, was in ihnen enthalten, und Nichts,
was in ihnen nicht enthalten ist. Mit Erfüllung der zweiten dieser Forde-
rungen war eine gewisse Zurückhaltung gegen die heute beliebten „grofsen
Zusammenhänge", namentlich der „zuständlichen" Welt gegeben, die man
bemängelt hat. Man wird vielleicht anders darüber urteÜen, wenn einmal
der sich von verschiedenen Seiten vorbereitende Umsturz in unseren An-
schauungen über die fränkische Rechts- und Wirtschaftsgeschichte vollzogen
sein wird. Und dann — das Zurücktreten der zuständlichen Faktoren vor
der oft sehr subjektiven psychologischen Vertiefung in die handelnden Persön-
lichkeiten mag immerhin als Einseitigkeit gelten. Aber das Persönliche in
der Geschichte kongenial zu empfinden und empfinden zu lehren, das bleibt
das hHlsame Vorrecht kräftiger und ursprünglicher Persönlichkeiten, wie es
Mühlbacher als Forscher wie als Lehrer war.
Die Ausgabe der KLarolingerdiplome für die Monumenta Germaniae ^)
der Legenden des HL Florian beides in Bd. 21 (1868) der [LinzerJ Theol.-prakt
Qoartalschritt.
1) Die Regesten des Kaiserreiches anter den Karolingern 751 — 918. Nach J. Fr.
Böhmer neu bearbeitet von Engelbert Mühlbacher. L 1880 — 1889. I. i in 2. Aafl ,
1899. I. 2 bis aaf die Register vollendet wird bald erscheinen. Ftir den II. Teil, der
die aoiserdeotschen Karolingfer zu omfassen hätte, hat MUhlbacher seit Jahren gesammelt.
2) Mon. Germ. Diplomaia Karolmarum I. Der die Urkunden Karls des Greisen
— 92 —
vollendet, was die Regesten begonnen haben und läfst erkennen, was Mühl-
bachers Bedeutung für die Urkundenlehre ausmacht. Mühlbacher durfte den
Druck der Beiträge xur ürkundenlehre seines Lehrers Ficker als erster
Leser begleiten; er ist aber zugleich der älteste und bedeutendste Diplo-
matiker aus der Schule Sickels. So vollzog sich in seinen Regesten und
seiner Lehrtätigkeit zuerst die Synthese der beiden Hauptrichtungen diplo-
matischer Forschung, — jene Synthese, um die sich insbesondere die durch
das Institut für österreichische Geschichtsforschung hindurchgegangenen Schüler
Fickers verdient gemacht haben und die durch das lehrende Wort Mühl-
bachers als lebendige Tradition weitergegeben worden ist. Mit Freude
hat er im Vorwort zur 2. Auflage der Regesten auf die stattliche Reihe
diplomatischer Arbeiten seiner Mitarbeiter hingewiesen, die bis damals im
Zusammenhang mit seiner Ausgabe entstanden waren und die den Weg
wandeln, den er in den Regesten und sonst gewiesen: die Vereinigung
spezial - diplomatischer Methode und allgemein-historischer Kritik des inhalt-
lichen. Wie sehr Mühlbacher die Diplomatik vom Speziellen zum Uni-
versellen zu führen trachtete, lehrt auch sein Aufsatz Papsiurkunde und
Kaiserurkunde (Mitteil. d. Instit. Erg.-Bd. IV, 1893), das Juwel unter seinen
kleineren diplomatischen Arbeiten. Trotz mancher ßerichtigtmg im einzelnen
wird diese Studie ihre Bedeutung als ein erster Versuch vergleichender Diplo-
matik stets behalten.
Aber nicht nur als Forscher und Lehrer, auch als Leiter und Organi-
sator wissenschaftlicher Arbeit war Mühlbacher hervorragend tätig. In Öster-
reich, dessen erste historische Zeitschrift, die Mitteilungen des Institutes für
österreichische Geschichtsforschung, er von Anbeginn (1879) redigierte, hatte
er als Obmann der historischen Kommission der Akademie, als Mitglied des
Archivrates, als Geschäftsleiter der Kommission fhr neuere Geschichte Öster-
reichs in den letzten Jahren die Leitung der wichtigsten historischen Ar-
beiten in Händen. Nur imi die Sache der Wissenschaft war es ihm dabei
zu tun. So wenig er aber jemals für sich einen äufseren Erfolg als Lohn
dieser Mühe angestrebt hat, so gut wufste er die Förderung sachlicher In-
teressen mit warmer Fürsorge für seine Schüler zu verbinden. Die eigenen
schweren Anfänge und langjährige unverdiente Zurücksetzxmg koimten sein
natürliches Wohlwollen wohl mit der rauhen Schale der Schroffheit umgeben,
nicht aber mindern und imterdrücken.
Indes, für die österreichischen Historiker war Mühlbacher nicht
nur der Leiter der heimischen Arbeit. In ihm verkörperte sich ein Teil
unseres Zusammenhanges mit dem deutschen Geistesleben. Er stand an der
Spitze der Böhmerschen Regesta Imperii, eines den ganzen Bereich deutscher
Geschichte umfassenden Unternehmens ; er war Vorstand der einzigen in Öster-
reich befindlichen Abteilung der Monumenta Germaniae. So war er der
Träger jenes Anteiles, den die österreichische Wissenschaft an diesem letz-
teo grofsdeutschen historischen Unternehmen beanspruchen darf und mufs.
Der Verstorbene selbst hatte — er war ein Schüler Fickers — lebhaften
Sinn für die Notwendigkeit ergänzenden Zusanmienhaltens der Historiker
umfassende, seit Jannar 1903 fertig gedruckte Band wird nach Absclilufs der Register
durch die Mitarbeiter MUhlbachers herausgegeben werden.
— 93 —
aller deutschen Lande. Diesem Motiv entsprang seine Mitwirkerschaft an
dieser Zeitschrift und seine Teilnahme an den deutschen Historikertagen,
deren nächster (1904 zu Salzburg) unter seinem Vorsitz hätte stattfinden sollen.
Nun hat ihn aus all seiner mannigfaltigen Wirksamkeit ein plötzlicher
Tod abberufen, zu früh für ihn selbst, der erst spät an den verdienten Platz
gekommen war und zu früh für die deutsche Geschichtswissenschaft, die
noch manche reife Frucht seiner tmgebrochenen Arbeitskraft erhofifen durfte.
Wien. Harold Steinacker.
Eine Lebensskizze des am 27. Juni 1902 verstorbenen Freiherm Levin
V. Wintzingeroda-Knorr gibt Ferdinand Wagner in den Protokollen
über die Sitzungen des Vereins für die Geschichte Oöttingens im elften Ver"
emsjahre 1902 — 1903 ^ S. 10 — 14. Der Verstorbene war am 17. Januar 1830
in Adelsbom auf dem Eichsfelde geboren, besuchte die Klosterschule zu
Rofsleben, studierte die Rechte, wiu-de 1857 Landrat des Kreises Mtihl-
hausen, 1872 Landarmendirektor der Provinz Sachsen in Merseburg, später
als Landesrat Stellvertreter des Landesdirektors, schied 1884 aus Gesundheits-
rücksichten aus dem Dienste der Provinz und lebte auf seinem Stammgut
Wehnde, zuletzt in Göttingen. Als Geschichtsforscher ist der Verwaltungs-
beamte zuerst mit den Schriften, Die Kämpfe und Leiden der Evangelischen
auf dem Eichsfelde während dreier Jahrhunderte: i. Heft: Jieforniation
und Gegenreformation bis xu dem Tode des Kurfürsten Daniel von Mainz
(21. März 1582); 2. Heft: Die Vollendung der Gegenreformation und die
Behandlung der EvangeliscJien seit der Beendigung des drei fsig jährigen
Krieges [= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Nr. 36 und
42. Halle, Niemeyer, 1892 und 1893] hervorgetreten, und dieser Gegen-
stand lag ihm besonders nahe, da die Wintzingeroda neben den Hanstein
die einzige adlige Familie des Eichsfeldes gewesen sind, deren Hintersassen
den evangelischen Glauben bewahren konnten und im Westfälischen Frieden
gewährleistet erhielten. Lange aber hatte er schon an dem Verzeichnis der
Wüstungen in den Eichsfeldischen Kreisen Heiligenstadt, Worbis, Duder-
stadt und Mühlhausen gesammelt, wenn er auch erst während der letzten
Jahre in Göttingen die Bearbeitung dieses Werkes, das die Historische Kom-
mission für Sachsen-Anhalt herausgegeben hat, abschliefsen konnte. Seine
Fertigstellung im Druck hat er freilich nicht mehr erlebt, aber es ist eine
bedeutende Forscherleistung, über die in gröfserem Zusammenhange bald in
dieser Zeitschrift ausführlich die Rede sein wird.
Eingegangene Bücher.
Bächtold, C. A. : Die Schaffhauser Wiedertäufer in der Reformationszeit
[= Beiträge zur Vaterländischen Geschichte, herausgegeben vom Historisch-
antiquarischen Verein des Kantons SchafThausen. 7. Heft (1900), S. 71
bis 118].
Bericht des Provinzial-Konservators der Kimstdenkmäler der Provinz Schle-
sien über die Tätigkeit vom i. Januar 1900 bis 31. Dezember 1902,
erstattet an die Provinzial-Konmiission zur Erhaltung und Erforschung
der Denkmäler Schlesiens \= Veröffentlichungen der Provinzial-Kom-
— 94 —
mission zur Erhaltung und Erforschung der Denkmäler der Provinz
Schlesien IV]. Breslau, Groft, Barth & Co. (W. Friedrich). 53 S. 8*.
Bittner, Ludwig: Die Geschichte der dirdcten Staatssteuem im Erzstifte
Salzburg bis zur Aufhebung der Landschaft unter Wolf Dietrich. I : Die
ordendichen Steuern. Wien, Karl Gerolds Sohn, 1903. 83 S. 8^
Bon dam, A. C: Verslag omtrent oude gemeente-en waterschaps-archieven
in Noordbrabant, uitgebracht aan de Gedeputeerde Staten dier provinde.
's-Hertogenbosch, Juni 1903. 19 S. 8®.
Bruiningk, H. v. : Der Einflufs der Heiligenverehrung auf die Wahl der
Taufnamen in Riga im Mittelalter [= Sitzungsberichte der Gesellschaft
für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rufslands aus
dem Jahre 1902 (Riga 1903). S. 77 — 83].
Die hl, W. : Beiträge zur Schulgeschichte der Herrschaft Eppstein [= An-
nalen des Vereins fUr Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung.
33. Bd. (1902), S. 42 — 61].
Führer durch die Sammlung des Duisburger Altertumsvereins, im Auftrage
des Vorstandes herausgegeben. Duisburg, Joh. Ewich, 1902. in S. 8®.
Gutmann, Karl: Fränkische Steinsärge in Bergholz (mit Abbildungen) [= Bul-
letin du musde historique de Mulhouse. XXVI. annde (1902). S. 5 — 16].
Häne, Johannes: Das Familienbuch zweier rheintalischer Amtmänner des
XV. und XVI. Jahrhunderts (Hans Vogler, der Reformator des Rhein-
tals) [= Jahrbuch für Schweizerische Geschichte, herausgegeben auf
Veranstaltung der allgemeinen geschichtsforschenden Gesellschaft der
Schweiz. 25. Bd. (Zürich 1900), S. 43 — 80].
Heldmann, August: Die Reichsherrschaft Bretzenheim a. d. Nahe, ihre
Inhaber und Prätendenten [= Antiquarisch-historischer Verein zu Kreuz-
nach, XVII. Veröffentlichung]. Kreuznach, Ferd. Harrach, 1896. 70 S. 8".
Jochumsen, H. : Referat über den am 9. Juli 1902 im Dom zu Riga
gemachten Münzfund [= Sitzimgsberichte der Gesellschaft für Geschichte
und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rufslands aus dem Jahre 1902
(Riga 1903), S. 93—99].
Keufsler, Friedrich v. : Die Deeters'sche Familienchronik [= Sitzungsberichte
der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen
Rufslands aus dem Jahre 1902 (Riga 1903), S. 46 — 48].
Knaflitsch: Einiges über die schauspielernde Tätigkeit der Troppauer
Ordensleute [= Zeitschrift des Deutschen Vereines für die Geschichte
Mährens und Schlesiens. 6. Jahrgang (Brünn 1902), S. 301 — 311].
Kranz, G. : Der dreifsigjährige Streit um den Brehm zwischen Stift und
Stadt Werden von 1618 bis 1648 [= Beiträge zur Geschichte des Stiftes
Werden, herausgegeben von dem Historischen Verein für das Gebiet
des ehemaligen Stiftes Werden. 8. Heft (1901), S. 152 — 175].
Lang, Robert: Der Kanton Schaff hausen im Revolutionsjahre 1798
[= 12. Neujahrsblatt des Historisch - antiquarischen Vereins tmd des
Ktmstvereins der Stadt Schaffhausen. 1903. S. i — 49].
Mannhardt, Emil: Deutsches Blut in den Vereinigten Staaten und in Illinois
im XIX. Jahrhundert [«> Deutsch-amerikanische Geschichtsblätter, Viertel-
jahrsschrift, herausgegeben von der deutsch-amerikanischen Historischen
Gesellschaft von lUinois. 3. Jahrgang (1903), 3. Heft, S. 12 — 31].
— % —
Obst, Emil: Dritter Bericht über die städtische SammloDg zu Bitterfeld für
Heimatskunde mid Geschichte des Kreises Bitterfeld. Bitterfeld 1903.
36 S. 8<>.
Otto, F.: Nassamsche Studenten auf Universitäten des Mittelalters [«■ An-
nalen des Vereins fiir Nassauische Altertumsktmde und Geschichtsforschung.
33. Bd. (1902), S. 62 — 98].
Pfau, C. : Festschrift zum Rochlitzer Heimatsfest vom 11. bis 14. Juli 1903.
Rochlitz, Bode, 1903. 60 S. 8**. 0,50 Mk.
Eedienbuch van allem empfcmgh vnd auj^geben im jar 1582, Soester Stadt-
rechming, herausgegeben von Vogeler [= Zeitschrift des Vereins ftlr die
Geschichte von Soest und der Börde. 18. Heft (1901), S. i — 126].
Reumont, H. ; Zur Chronologie der Gorzer Urkunden aus karolingischer
Zeit [= Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und
Altertumskunde. 14. Jahrgang (1902), S. 270 — 289].
Schmidt, K. Ed.: Die Tagebücher des Grafen Ernst Ahasverus Heinrich
von Lehndorf [= Mitteilungen der Literarischen GeseUschaft Masovia.
8. Heft (Lötzen 1902), S. 119 — 176, vi/erte Fortsetzung].
Schramm -Wolfram-Keune: Das grofse römische Amphitheater zu Metz.
[s=s Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und Alter-
tumskimde. 14. Jahrgang (1902), S. 340 — 430].
Soldan, W. : Die Niederkissimg aus der Hallstattzeit bei Neuhäusel im
Westerwald, Nachtrag [= Annalen des Vereins ftir Nassauische Alter-
tiunskunde und Geschichtsforschung. 33. Bd. (1902), S. 35 — 41].
Stiglmayer, Hans: Ps^st Liberius, ein Beitrag zur Geschichte des Arianis-
mus. Wien, Verlag des Akademischen Vereins Deutscher Historiker ia
Wien, 1900. 82 S. 8«.
Unger: Über eine Wiedertäuferhandschrift des XVIL Jahrhonderts [= Jahr-
buch der GeseUschaft für die Geschichte des Protestantisnms in Öster-
reich. 20. Jahrgang (1899), S. 193 — 208].
Waldburger, Augast: Rheinau und die Reformation, ein Beitrag zur
schweizerischen Reformationsgeschichte [= Jahrbuch für Schweizerische
Geschichte, herausgegeben von der allgemeinen geschichtsforschenden
Gesellschaft der Schweiz. 25. Bd. (Zürich 1900), S. 81 — 360].
Wiepen, Eduard: Palmsonntagsprozession und Palmesel, eine kultur- und
kunstgeschichtlich-volkskündliche Abhandlung zum Köhier Palmesel der
kunsthistorischen Ausstellung zu Düsseldorf 1902 (Sammlung Schnütgen).
Bonn, P. Hanstein> 1903. 58 S. 8<>.
Bodewig, R. : Vorrömische Dörfer in Braubach und Lahnstein [= Annalen
des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung.
33. Bd. (1902), S. 1—34].
Bruiningk, H. v.: Ein liturgisches mittefcilterliches Bronzebecken, die so-
genannte Kaiser -Otto -Schale im Dommuseum der Gesellschaft für Ge-
schichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen zu Riga (mit 2 Tafeln)
[== Sitzungsberichte der Gesellschaft für Geschichte und Altertumskunde
der Ostseeprovinzen Ruislands aus dem Jahre 1902 (Riga 1903),
S. 108 — 149].
Hefs, Ignaz: Der Grenzstreit zwischen Engelberg und Uri, historisch-topo-
— 96 —
graphische Studie (mit topographischer Karte) [= Jahrbuch für Schweize-
rische Geschichte, herausgegeben von der allgemeinen geschichtsforschen-
den Gesellschaft der Schweiz. 25. Bd. (Zürich 1900), S. i — 42].
Lang, Robert: Die Schicksale des Kantons Schaffhausen in den Jahren
1802 und 1803 bis zur Mediation [= 12. Neujahrsblatt des Historisch-
antiquarischen Vereins und des Kunstvereins der Stadt Schaffhausen 1903].
38 S. 4«^.
Mettig, C.: Die Gilde der Losträger und die mit ihr verwandten Ämter
in Riga [= Sitzungsberichte der Gesellschaft ftir Geschichte und Alter-
tumskunde der Ostseeprovinzen Rufslands aus dem Jahre 1902 (Riga 1903),
S. 56—69].
Schiber, Adolf: Zur deutschen Siedlungsgeschichte und zur Entwicklung
ihrer Kritik in den letzten Jahren [= Jahrbuch der Gesellschaft ftir loth-
ringische Geschichte und Altertumskunde. 14. Jahrgang (1902), S. 449
bis 461].
Zösmair, Josef: Zur ältesten vergleichenden Geschichts- und Landeskunde
Tirols und Vorarlbergs [= Programm des k. k. Staatsgymnasiiuns in
Innsbruck 1902/ 1903]. Innsbruck, Wagner, 1903. 38 S. 8^
E i c h h o 1 z , P. : Die Burg der Erzbischöfe von Mainz zu Eltville [= Annalen
für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung. 33. Bd. (1902),
S. 99 — 146].
Mettig, C.: Über die silberne Statuette des Ritters St. Georg im Silber-
schatze der Schwarzen Häupter zu Riga [= Sitzungsberichte der Gesell-
schaft für Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rufslands
aus dem Jahre 1902 (Riga 1903), S. 84 — 86].
Schlosser, Heinrich: Das abgegangene Dorf Trimlingen im eigentlichen
Eichelthale mit einem Rückblick auf die übrigen in jener Gegend ver-
schwundenen Orte [=3 Bausteine zur Elsafs-Lothringischen Geschichts-
und Landesktmde, VII. Heft]. Zabem, A. Fuchs, 1903. 65 S. 8«.
Erhard, Otto: Geschichte von Hohenaltheim auf Gnmd archivalischer
Studien in Einzelbildern dargestellt Erlangen, Fr. Junge, 1903. 1 16 S. 8^.
Mk. 1,50.
Tille, Armin: Aktenstücke zur Kurkölnischen Stcucrgcschichte [= Bonner
Jahrbücher iio. Heft 1903) S. 214 — 242]
Trauer, Eduard: Chronik des Dorfes Marieney i. VogtL bis zur Ein-
führung der Sächsischen Landesverfassung. Plauen i. V., A. Kell, 1903.
III S. 80.
Sorgen fr ey, Theodor: Chronik der Stadt Neuhaldensleben. Dritte, der
Neubearbeitung zweite Auflage. Neuhaldensleben, Ernst Pflanz, 1902.
293 S. 8®.
Arens, Franz: Geschichte des Klosters und der Schule der Congregatio
B. M. V. in Essen 1652 — 1902 [= Beiträge zur Geschichte von Stadt
und Stift Essen 25. Heft (1903) 74 S. 8"].
Feldhaus, Franz M.: Lexikon der Erfindungen und Entdeckungen auf den
Gebieten der Naturwissenschaft und Technik in chronologischer Über-
sicht mit Personen- und Sachregister. Heidelberg, Karl Winter, 1904.
144 S. S^. Mk. 4.
Herausgeber Dr. Armin Ulle in Leipzig.
Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Gotha.
Hierza als Beilage : Prospekt der Verlagsbuchhandlang R. Oldenbonrg in Manchen und
Berlin, betr. Loser th, Geschichte des späteren Mittelalters von 1197 bis 1493,
u. a. Verlagswerke.
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
fur
Förderung der landesgescMchtlichen Forscbung
V. Band Januar/Februar 1904 4-/5 . Heft
Staatliehes Arehivweseti in Österreieh
Von
Karl Giannoni (Wien)
Die Redaktion dieser Zeitschrift wünschte dem wissenschaftlichen
Publikum Deutschlands eine Übersicht des österreichischen staatlichen
Archivwesens zu geben, die in Kürze eine Orientierung über dessen
Oiganisation und über den Inhalt der einzelnen Archive bieten sollte.
Der gewesene Oberarchivar der Stadt Wien, jetzt Professor an dm
Universität Graz, K. Uhlirz, der diese Aufjgrabe übernommen hatte,
wurde durch seine Berufung an ihrer Ausfuhrung verhindert, ersuchte
mich im Einvernehmen mit der Redaktion an seine Stelle zu treten
und stellte mir in dankenswerter Weise einige Notizen, die er gesammelt,
zur Verfügung.
Es kam mir bei dieser Arbeit darauf an, vornehmlich den Zu-
sammenhang der Archive mit der Behördenorganisation zu
betonen, was kaum Sache der Archiv-Hand- imd -Adressbücher (Bnrk-
hardt, Minerva) sein kann. Immerhin bieten diese, für die organi-
sierten Archive die wichtigsten Anhaltspunkte, und in den Archiven
;selbst erhält der fremde Forscher ja fachkundigen Rat. Anders steht
es aber bezüglich jener staatlichen Archivalien, welche nicht archivarisch
verwahrt werden. Bei der leider gro&en Anzahl solcher Bestände bei
den verschiedensten Behörden in Osterreich schien es mir um so
dringender geboten, die Fundstellen solcher Archivalien zu nennen, als
es bisher hierfür eine Auskunftstelle überhaupt nicht gibt, und es
insbesondere für den fremden Forscher kaum möglich ist, sich darin
zurechtzufinden. Ich habe daher auch eine kurze Übersicht über
4te in nichtstaatlichen Archiven und die in keinerlei Archiv befind-
liehen staatlichen Archivalien zu geben versucht, um wenigstens in
allgemeinster Art einen zusammenfassenden Überblick zu vermitteln.
Natürlich haften ihr auch zahlreiche Mängel an, schon infolge der un-
.gleichmä&igen Nachrichten, die mir für die verschiedenen Länder .zu
7
— 98 —
Gebote standen. VielCacb unmöglich wäre mir die Arbeit gewesen,
ohne die gütigen Auskünfte zahkeicher Archivare und Konservatoren
der k. k. Zentralkommission für Kunst- und historische Denkmale, denen
allen ich hiermit herzlichst danke ^).
Es ist zunächst nötig, sich kurz über den Begriff „Archiv**, wie
er im folgenden verwendet werden soll, zu verständigen. Ohne hier
irgendwie in eine Erörtenmg des prinzipiellen Wesensunterschiedes
zwischen Registratur und Archiv einzugehen, sei nur festgestellt, dais
als „Archive** nur als solche organisierte, von den Registraturen völlig
getrennte, und von Fachleuten, d. h. historisch wissenschaftlich ge-
bildeten Beamten verwaltete Amter bezeichnet werden sollen; im
übrigen wird von „Archivalien** bei Behörden die Rede sein.
Das dualistische Gefuge der Monarchie bedingt (seit 1867) Be-
hörden für die gemeinsame Verwaltung und solche für die jedes Einzel-
Staates. Den ersteren unterstehen die Archive jener ehemaligen Zen-
tralstellen, deren Ingerenz sich auch über Ungarn erstreckte. Sie
stehen in keinem Zusammenhange und werden einzeln besprochen
werden. Nur auf Österreich im engeren Sinne (Zisleithanien) bezieht
sich, was im folgenden bezüglich der Organisation des österreichischen
Archivwesens gesagt wird.
Dieselbe ist keine einheitliche und steht erst in ihren Anfangen,
sie geht im allgemeinen auch nicht von dem Standpunkte der Archive
und ihrem Zusammenhange aus. Daher besitzen die österreichischen
Zentralstellen kein gemeinsames Archiv wie die preufsischen oder bay«
rischen, dem die Provinzialarchive unterstellt wären, sondern die Archive
der verschiedenen Zentralstellen bestehen gesondert und ohne Kontakt
untereinander. Es gibt daher auch kein für die Archive fes^esetztes
Normaljahr, welches ihre Bestände von denen der Registraturen scheidet;
auch bringt da die verschiedene Natur der Bestände Verschiedenheiten
mit sich. Im allgemeinen kann man sagen, dals die Mehrzahl der
Archive das bis vor einigen Jahren gewöhnliche historische Normaljahr
1848 zu verlassen beginnt und dafür das historisch wichtige Jahr der
staatsrechtlichen Neugestaltung Österreichs 1867 als Schlufisjahr setzt.
i) Ganz besonders habe ich hier m nennen die Herren: Archivdirektor Böttner
in Zara, Arcbivdirektor Reg.-Rat Dr. Fellner in Wien, Landesgericbtsrat ▼. Grosser
in Wien, Landesarchivar v. Jaksch in Klagenfurt, Konservator Kobler in Krainbnrg»
Landesarchivar Prof. Kürschner in Troppaa, Konservator Prof. Petri in Ci^odistria,
Univ.-Prof. Dr. Redlich, der mir die Benützung des fUr die Mitteilungen der Archiv-
Sektion der k. k. Zentral -Kom. {ür Kunst- und histor. Denkmale vorbereiteten Akten*
materials gütig gewährte, Archivdirektor Dr. Schuster in Salzburg, Archivdirektor Dr^
Starzer in Wien.
— 99 —
Für einen Teil der Archive indessen ist der Weg der Organisation
betreten worden, und zwar zunächst für die Archive bei den politischen
Verwaltungsbehörden, nämlich dem Ministerium des Innern und den
Landesregierungen. Bei diesem Ministerium besteht seit 1894 als iach-
männischer Beirat für das Archivwesen sämtlicher k. k. Zentralstellen
und ihrer Unterbehörden der k. k. Archivrat. Der Vorsitzende ist
der Minister des Innern, seine ordentlidien und korrespondierenden
Mitglieder gehören den historischen Fachkreisen der Universität und
der Archive (auch der nichtstaatlichen) an. An seinen Sitzungen
nehmen teil, die ordentlichen, fallweise auch korrespondierende Mit-
glieder, seitens des Ministeriums des Innern dessen ständiger Archiv-
referent sowie Vertreter der übrigen Zentralstellen. Aus seinen An-
regungen und Beratungen sind die folgenden organisatorischen Mafs-
nahmen hervorgegangen.
Das Archiv des Ministeriums des Innern und die, welche bei den
Landesregierungen bestehen, wurden zu einem Gesamtstatus vereinigt.
Die Ernennungen des Personals vollzieht der Minister des Innern ; das-
selbe wird nach Bedarf den einzelnen Archiven der Landesregierungen
zugewiesen ; diesen unterstehen die Provinzialarchive in dienstlicher Hin-
sicht. Für diese Archive wurden vom Archivrate „Grundsätze einer
Archiv-Ordnung" ausgearbeitet, sowie „Grundsätze betreffend
die Vorbildung und Stellung der Beamten in den staatlichen
Archiven", welche heute fast bei allen österreichischen Archiven (auch
den niditstaatlichen) bei Neuanstellungen in Geltung sind. Damach haben
Bewerber um Archivstellungen entweder den Nachweis der Staatsprüfung
des Instituts für österreichische Geschichtsforschung oder des Doktorates
der Philosophie in der historischen Fachgruppe oder der Lehramts-
prüfung dieser Gruppe oder des juristischen Doktorates oder der
juristischen Staatsprüfungen, wozu in den vier letzteren Fällen eine Er-
gänzungsprüfung aus den historischen Hilfswissenschaften kommt, zu
liefern. Ein praktischer Archivkurs besteht nicht.
Die Archivbeamten gehören zum Konzeptspersonale; die Bezüge
der in dem oben erwähnten Status des Ministeriums des Innern befind-
lichen Beamten (ausschlie&lich der Praktikanten) bewegen sich zwischen
einem Gehalte von 2200 Kronen mit einer nach der Ortskategorie
verschieden bemessenen Aktivitätszulage von 400 — 800 Kronen und
einem Gehalte von 6000 Kronen mit der Aktivitätszulage von 700 bis
1400 Kronen. Ganz ähnlich sind die Bezüge der Archivbeamten bei
den übrigen österreichischen Zentralstellen; ungleich besser gestellt sind
die Beamten der Archive der gemeinsamen Zentralstellen.
7*
— 100 —
Der Gesamtaufwand des österreichischen (mit Ausschluis des ge-
meinsamen) Archivwesens beträgt gegenwärtig 143 580 Kronen, wobei
jedoch zu bedenken ist, daSs mit den meisten Archiven die Bibliotheken
waltungsbehörden verbunden sind, welche einen bedeutenden Teil des
Personals absorbieren, so dais die tatsächlich für das Archivwesen auf-
gewendete Summe sich hierdurch verringert.
Der Einflufe des Archivrates hat auch zur Aufstellung wichtiger
Normen bezüglich der Aktenskartierung (Aktenkassation) geführt, in
dem Sinne, dafs dieselben stets nur nach Begutachtung der Archive
vorgenommen werden sollen , . wie dies z. B. bezüglich aller dem Fi-
nanzministerium unterstehenden Behörden der Fall ist. Ebenso wur-
den die Gerichte aller Kronländer angewiesen, Aktenskartierungen be-
stimmten staatlichen Archiven oder in Ermangelung von solchen den
Landesarchiven der autonomen Behörden anzuzeigen und die ihnen ent-
behrlichen, jedoch historisch wicht^en Akten an dieselben abzugeben. —
Auch Grundzüge für die Bearbeitung und Veröffentlichung von Archir-
inventaren, die in Österreich noch mangeln, hat der Archivrat aus-
gearbeitet.
Stellt dieser, wenn auch nur als Beirat geschaffen, eine Art von
Oberleitung des staatlichen Archivwesens dar, so gibt es in der
Archivsektion der k. k. Zentral-Kommission für Kunst-
und historische Denkmale noch eine parallele, in ihrer Tätigkeit
allerdings auch beschränkte Zentralstelle für das österreichische Archiv-
wesen, deren Arbeitsgebiet aber das gesamte Archivwesen, auch das
der Gemeinden und Korporationen mit umfafst. Ihre Tätigkeit kommt
der Erforschung und Erhahimg hauptsächlich jener Archivalien zugute,
welche noch keinem Archive angehören. In den Mitteilungen der
Archivsektion hat sie ein Organ fiir das Archivwesen Österreichs —
das einzige hier bestehende — geschaffen, dessen auch der Arcfaivrat
sich bedient und das sich gegenwärtig zu einem wirklichen Zentral-
organ für das österreichische Archivwesen ausgestaltet.
Dies ist in den Hauptzügen dasjenige, was über die österreichische
Archivorganisation zu S2^n ist.
Die wichtigsten Arcbivbildenden und -verändernden Momente sind
in der Geschichte der Behördenorganisation gegeben: Die zentralisti-
schen Organisationen Maximilians I. und besonders Ferdinands I., die
Länderteilungen mit ihrer dezentralisierenden Wirkung gegenüber dem
Gesamtstaate, aber zugleich ihrer Neuschaffung von Zentralstellen und
damit von Archivzentren für die oberösterreichische Ländergruppe ^)
i) Zur Zeit Maximilians L bestanden folgende L&ndergrnppen : Niederösterrei^
— 101 —
in Innsbruck und für Innerösterreich in Graz, die neuerlichen 2^ntrali-
sierungen Maria Theresias und Josephs IL, sowie die Neugestaltung
Österreichs im Jahre 1849 ™^^ 'Aier vollständigen Beseitigung der
feudalen Bildungen kommen hier in betracht. Andererseits haben be-
sondere Verfügungen seit Maximilian I. ohne Änderung in der Be-
hördenorganisation direkt die Archive betroffen und dazu geführt, dafs
aus den Beständen der Stellen zu Innsbruck, Wien, Wiener Neustadt
und Graz schliefslich 1749 das Hauptarchiv Österreichs, das Haus-
Hof- und Staatsarchiv hervorgegangen ist.
Dieses zweite, direkt archivorganisatorische Moment hat vom
Schlüsse des XVIII. bis gegen den Schlufs des XIX. Jahrhunderts
sehr gemangelt, und besonders in den fünfziger Jahren des letzteren
herrschte trostlose Verständnislosigkeit, welche der Verwaltung wie der
Wissenschaft gleich grolsen Schaden zugefügt hat. In der Gegenwart
macht sich ein erfreulicher organisatorischer Aufschwung in den Pro-
vinzarchiven geltend durch die Tendenz zur Schaffung von Kronlands-
archiven, welche das gesamte archivalische Material je eines Landes
enthalten sollen, sei es, dafs diese Archive staatliche sind oder solche
der autonomen Behörden ; wo beide nebeneinander bestehen, teilt sich
zumeist das einzubeziehende Material nach seiner staatlichen und nicht-
staatlichen Herkunft.
Das im ganzen hoch entwickelte Archivwesen der autonomen
Landesbehörden fallt aus dem Rahmen dieser Darstellung; nur der
Bestand eines „Landesarchives** — auch wenn es keine staatlichen
Archivalien enthält — wird vermerkt werden.
Es kann sich hier nicht darum handeln, Inventarauszüge der ein-
zelnen Archive — wenn auch noch so summarischer Art — zu geben ;
ebensowenig ist hier der Platz für eine Geschichte der einzelnen Be-
hörden und ihrer Archive. Für den Zweck dieser ZeUen mufs es ge-
nügen, die Hauptbestände der einzehien Archive zu nennen und ihr
Verhältnis zur historischen Behördenorganisation anzudeuten ^) , sowie
(■a Österreich unter nnd ob der Eons, Steiermark, Kärnten, Krain), Oberösterreich
(— Tirol, Görier Besitz, Vorarlberg, schwäbischer Besitz), Vorderösterreich (— Besitz im
Elsafs, Breisgau nnd Schwarzwald). Nachmals bUdete sich noch die Gmppe Inneröster-
reich (s* Steiermark, Kärnten, Krain, Istrien, Triest)
x) Ich möchte bei dieser Gelegenheit aussprechen, dais ich ein genaoet Schema
der österreichischen Behördenfiliation von Maximilian L bis heute, das für alle
Gattnogen and Wandlangen der Behörden aUer Kronländer die gegenwärtige Aafbewahnmgs*
steUe ihrer Archivalien genaa erkennen liefse, für eine der wichtigsten Aufgaben halte,
welche die staatlichen Archive vereint zu lösen hätten. Hierdurch erst wttrden die Lttcken
nod die Zeraplittenmg des österreichischen Archivwetens erkannt , die Notwendigkeit von
— 102 —
die übrigen Fundstellen staatlicher Archivalien — mit Ausnahme der
Handschriften in Bibliotheken — nachzuweisen.
A. Archive bei den k. und k. Oemeinsamen (österreiohiBoh-imgariaohen)
ZentralBtellen (in Wien) ^).
I. K. u. k. Haus- Hof- und Staatsarchiv.
Über dieses gröfste und wichtigste Archiv Österreichs, für das
1902 ein prächtiger, der modernsten Archivtechnik entsprechender
Bau vollendet wurde, soll in dieser Zeitschrift ein eigener Artikel er-
scheinen. Ich bescheide mich daher, hier seine Stellung ganz all-
gemein zu kennzeichnen. Von Maria Theresia als Archiv des kaiser-
lichen Hauses und der geheimen Haus-, Hof- und Staatskanzlei ge-
gründet, bewahrt es Archivalien des Kaiserhauses, des Römischen
Reiches deutscher Nation in den Beständen des Reichshofrates und
des Erzkanzlerischen (Mainzer) Archives. Als österreichisches Staats-
archiv entstand es aus der Einbeziehung der wichtigsten Bestände der
Provinzialarchivalien ; ein allgemein österreichisches Archiv wurde es
durch den Umstand, dafe es — lange Zeit das einzige organisierte
Archiv in Österreich — eine Sammelstelle für Archivalien der ver-
schiedensten Art wurde, die man vom Untergange retten wollte. Das
Archiv untersteht dem k. und k. Ministerium des kaiserlichen Hauses
und des Äufseren. Literatur bei Burckhardt, dazu bes. Winter G., die
Gründung des k. u. k. Haus- Hof- und Staatsarchivs, 1749 — 1762.
Archiv f. öst. Gesch. 92, iff. (1902).
II. Archiv des k. und k. (gemeinsamen) Reichs-Finanz-
ministeriums („Hofkamm er- Archiv").
Das Archiv enthält die Akten und Urktmden der Hofkammer, die
als Zentralbehörde nicht nur für die österreichischen Erblande, sondern
auch für Böhmen und Ungarn seit 1527 bestand. Von Akten der
Länderkammem befinden sich nur die der niederösterreichischen
Kammer, die 1635 ^^^ ^^^ Hofkammer vereinigt wurde, in dem
Kompetenzumfange für Österreich unter und ob der Enns im Hof-
kammerarchiv, während die innerösterreichische und oberösterreichische
Hofkammer als Zentralbehörden früher selbständiger Ländergruppen
erst 1709 der Hofkammer in Wien untergeordnet wurden und ihre
VereiaigODgen dargetan, und zugleich die Richtung, in der sich tolche zn bew^en
hätten, gegeben werden.
I) Ober die staatlichen Archive in Wien vgl. Wolfs nicht dorchaos zaTerlltsige
und teilweise veraltete OesehiMe der k, k. Arehwe m Wien (Wien 1871).
— loa —
Bestände sich in Graz und Innsbruck befinden. Die Universal-Bankali-
tät (seit 17 14) und die geheime Finanzkonferenz (bis 1741), deren
Akten sich im Hofkammerarchive befinden, standen neben der Hof-
kammer als zentrale Finanzbehörden. Der Wirkungskreis der Hof-
kammer wurde 1749 — 1762 auf den Hofstaat und Ungarn eingeschränkt,
da die gesamte Verwaltung im Directorium in Publicis et Cameralibus
vereinigt wurde. Die Finanzakten desselben aus diesen Jahren sind
aber nicht, wie Wolf (S. 122) berichtet, im Archive des Ministeriums
des Innern, sondern sind verschollen.
Im Jahre 1762 wurde die Hofkammer reaktiviert fiir alle Agenden
der Kameralgeschäfte und Landtagskontributionen — die Kredits-
deputation besorgte das Staatsschulden- und Kreditwesen (Akten eben-
falls im Hofkammerarchiv) — und blieb mit vorübergehenden Ver-
änderungen in der Josephinischen Zeit bis 1848 bestehen, wo sie in
dem Finanzministerium aufging.
Das Hof kammerarchiv bewahrt auch Akten des Römischen Reiches
deutscher Nation (hauptsächlich Steuersachen) femer die Archivalien
der Hof kammer in Münz- und Berg^ivesen (seit 1745) und der Kommerz-
stelle (seit 1746 mit wechselnder Bezeichnung und Angliederung), so-
wie eine groise Reihe von Beständen einzelner Unterbehörden und
Kommissionen. Besonders hingewiesen sei auf die Gedenkbücher
(Reichsgedenkbücher und solche für die Länder der heutigen österr.-
ung. Monarchie) vom XV. — XVIII. Jahrhundert, welche die Kopien
vieler Akten enthalten, die in keiner anderen Überlieferung mehr
existieren, auf die aus den Hauptbeständen gesonderten „Herrschafts-
akten'' und die gro&e Urbariensammlung (seit dem XIV. Jahrh.). Das
Hofkammerarchiv ist eines der gröfsten und wichtigsten Archive in
Österreich und es gibt selten eine historische quellenmäfsige Arbeit
über österreichische Verhältnisse aus der Zeit seit dem späten Mittel-
alter, die sich nicht an dieses Archiv zu wenden hätte. Seine Be-
stände sind teUs chronologisch, teils nach Ländern, teils nach Materien
geordnet.
III. K. und k. Kriegsarchiv.
Bei dem seit 1556 (wenn auch nicht gleich unter dieser Bezeich^
nung) bestehenden Hofkriegsrate, dessen Kompetenz sich auf die
österreichischen Erblande, Böhmen und Ungarn erstreckte ^), wurde über
Antrag des Prinzen Eugen von Savoyen 1711 ein Archiv begründet,
i) Der telbatändige innerösterreichische Hofkriegsrat (seit 1578) wnrde dem zu
Wien 1705 untergeordnet und verschwand (1749) ebenso wie die Selbstfindigkeit des Inns*
bmcker Geheimrats-KoUegioms in Kriegssachen.
— 104 —
mit welchem 1776 die Geaieämtlicheii Archivalien vereinigt wurden«
Schon durch Joseph II. wurde die Verwertung seiner Bestände zu
kriegsgeschichtlichen Arbeiten inauguriert. Neben diesem Archive
wurde 1801 über Intervention des Erzherzogs Karl ein „Kriegsarchiv"
für rein militärische Archivalien, die aus dem Hofkriegsratsarchive
ausgeschieden ¥mrdeny mit einer eigenen kriegsgeschichtlichen Ab-
teilung, unter der Verwaltung von Offizieren, gegründet. Der Rest
des Hofkriegsratsarchivs („Kanzleiarchiv'*), das später an die Registra-
tur des Kriegsministeriums fiel, wurde erst 1889 wieder mit dem
Kriegsarchive vereint, das 1876 neu organisiert und wieder mit dem
eine Zeitlang abgetrennten Bureau für Kriegsgeschichte verbunden
wurde. Das Kriegsarchiv hat auch durch Erwerbungen der Militaria
aus anderen Archiven und durch Einziehung der historischen Akten
von den Korpskommanden seine Bestände erweitert Es teilt sich
in die kriegsgeschichtliche-, die Schriften-, Karten- und Bibliotheks-
abteilung.
Seine wichtigsten Bestände sind die Akten des Hofkriegsrates
(1557 — 1815), des innerösterreichischen Hofkriegsrates (1578— 1749),
des Prager Hofkriegsrates (Kriegskanzlei Rudolüs II.), die General-
Kriegs-Kommissariats- Akten , die Feld- und Armee- Akten (Akten der
operierenden Kommanden), die Kabinettsakten (schriftlicher Verkehr des
Hofes mit der Militärleitung, XVII. — XDC. Jahrh.) ; die KartenabteUung
(XVI. — XDC. Jahrh.) enthält auch reiches topographisches Material.
Das Kri^i^archiv untersteht durch den Chef des Generalstabes
dem Kriegsministerium. Seine Beamten sind Offiziere, welche zu ihrer
iachmäisigen Ausbildung einen zweijährigen Kurs im Institute für öster-
reichische Geschichtsforschung absolvieren. Es publiziert seit 1876
„Mitteilungen des k. und k. Kriegsarchivs", und eine bedeutende
Reihe zum Teile sehr umfangreicher Quellenwerke (Feldzüge des
Prinzen Eugen von Savoyen; der österr. Erbfolgekrieg 1740 — 1748).
Das Kriegsarchiv gehört zu den ältesten Archiven Österreichs und
steht, bezüglich seiner Organisation, welche die wissenschaftliche Be-
arbeitung der Bestände durch das Archivpersonal vorschreibt, an erster
Stelle. [Langer, J., Das k. u. k. Kriegsarchiv von seiner Gründung bis
zum Jahre 1900. Wien 1900.]
B. Archive der k« k« (öiterreiohisohen) Zentralstellen (in Wien).
I. Archiv des k. k. Ministeriums des Innern.
Dieses Archiv ist entstanden aus den Aktenbeständen der öster-
reichischen und böhmischen Hofkanzlei, welche es vom XVI. Jahr-
— 105 —
Inndert an enthält Für letztere sind die Bestände aus dem XVI
Jahrhundert sehr spärlich; erst seitdem miter Ferdinand IL die böh-
mische Hofkanzlei definitiv nach Wien kam, liefen hier alle Akten,
die sich auf Böhmen bezogen.
Die österreichischen Angelegenheiten wurden unter Ferdinand L
in seiner von ihm aufgestellten Hofkanzlei zugleich mit den Geschäfts-
stücken besorgt, die von ihm als Römischem König in das Reich
gingen. Als Ferdinand I. 1558 Kaiser wurde, hörte seine Hofkanzlei
auf zu existieren; die österreichischen Angelegenheiten wurden in der
Reichskanzlei besorgt. Daraus entstand eine österreichische Abteilung
derselben, deren Akten in diesem Archive sind. Diese Abteilung
wurde 1620 selbständig gestellt als österreichische Hofkanzlei, bei
der alle Zivilagenden der österreichischen Länder bis auf das Finanz-
wesen geleitet wurden, seitdem 16 19 und 1665 auch die oberöster-
reichische Hofkanzlei aus Innsbruck und die innerösterreichische aus
Graz nach Wien gebracht und der österreichischen Hofkanzlei unter-
stellt wtirden.
Im Jahre 1742 erfolgte die Abtrennung der Staatskanzlei von der
Hofkanzlei und 1753 ihre Ausgestaltung zur geheimen Haus- Hof-
und Staatskanzlei, an welche nachmals die Akten, welche die Familie
des Herrscherhauses und die auswärtigen Angelegenheiten betrafen,
extradiert wurden. Im Jahre 1749 wurden die österreichische und die
böhmische Hofkanzlei aufgehoben, die Justiz von der Verwaltung ge-
trennt (oberste Justizstelle), und ein Directorium in Publicis et Camerali-
bus — seit 1762 wieder Vereinigte böhmisch-österreichische Hofkanz-
lei — besorgte nun die oberste politische Verwaltung, die Kultus- und
Unterrichtsangelegenheiten und bis 1762 auch das Finanzwesen der
österreichisch-böhmischen und der weiters an Österreich anfallenden
Länder. Mit kurz dauernden Veränderungen und Wiederherstellungen
währte dieser Zustand bis 1849, wo die Agenden und Akten betreffend
Kultus und Unterricht an das hierfür errichtete Ministerium übergingen.
Später wurden noch die Militärakten (mit Ausnahms der Konskriptions-
akten) an das Kri^fsarchiv abgetreten, während die Akten der Polizei-
und Zensurhofistelle (1780— 1848) zuwuchsen.
Die Originalurkunden des Archives reichen bis zur Mitte des XV.
Jahrhunderts zurück, die zahlreichen Kopien bis 935. Erwähnt sei
auch die bedeutende Patenten- und Zirkulariensammlung.
Seit 1820 begann mit der Ordnung der Archivalien die allmähliche
Ausgestaltung dieses Archives, das zu den wichtigsten Archiven
Österreichs zählt. Die Bestände desselben sind bis 1827 nach Materien
— 106 —
und Ländern, von 1827 — 1848, dem Schlu&jahre des Archives, nur
nach Materien geordnet.
II. Adelsarchiv des k. k. Ministeriums des Innern.
Aus den Archivalien der Hofkanzlei wurden alle Akten und Ur-
kunden über Adels- und Wappenangelegenheiten (beginnend mit dem
XV. Jahrh.) ausgeschieden und 1834 zu einem Adelsarchive für
Österreich vereinigt, das auch die Akten über Verleihung des Reichs-
adels enthält, sowie zahlreiche Urkundenkopien (bis ins X. Jahrh. zu-
rück), femer Bestände betreffend den Deutschen Ritterorden, den
Johanniterorden, adelige Damenstifte und adelige Präbenden. Im Ar-
chive wurde ein Adelsverzeichnis angelegt, das über 200000 adelige
Familien aufweist. [Pöttickh v. Pettenegg G. Graf, Über das k. k.
Adelsarchiv, Mittlgn. der Archivsektion der Zentral -Kom. für Kunst-
u. histor. Denkmale IV, 302 ff. ; Goldegg H. v.. Die Tyroler Wappen-
bücher im Adelsarchive des k. k. Ministeriums d. Innern, Ztschrft. d.
Ferdinandeums 1875, 1876.]
III. Archiv des k. k. Ministeriums für Kultus und Unterricht.
Dieses 1895 organisierte Archiv ging aus den diesbezüglichen
Aktenbeständen der Hof kanzlei ^) , der 1760 ins Leben gerufenen
Studicnhofkommission und der Stiftungs-Hofbuchhandlung hervor imd
enthält das Kultus- und Unterrichtswesen betreffende Akten in der Haupt-
masse aus dem XVIII. und XIX. Jahrhundert (aber zurückreichend bis
zum XV. Jahrhundert) und Originalurkimden bis ins XII. Jahrhundert.
IV. Archiv des k. k. (österreichischen) Finanzministeriums.
Dieses 1892 organisierte Archiv ging aus der „alten Registratur"
der Hofkammer hervor und stellt die direkte Fortsetzung des „Hof-
kammerarchives" (Archiv des k. u. k. [gemeinsamen] Reichs-Finanz-
ministeriums) und seiner Abteilungen, welche die ganze Finanzverwal-
tung umfassen, dar. Seine Bestände sind daher in der Hauptsache
solche des XIX. Jahrhunderts; ältere Teile weisen die kleinen Akten-
bestände der ehemaligen Klagenfurter Bergdirektion und die Inner-
berger Akten (bis ins XVI. Jahrh.), die der Grazer Berg- und Forst-
direktion, der aufgelassenen Montanwerke, die Tranksteuerakten, die
Akten der Tabakgefällsdirektion und einiger ehemals staatlichen Fabriken
PCVIII. u. XIX. Jahrh.) auf.
Das Archiv des k. k. Eisenbahnministeriums fällt, der Natur
der Sache nach, heute noch aus dieser Übersicht hinaus und es ge-
nügt der Vollständigkeit halber, seine Erwähnung.
i) Vgl. oben Archiv des Ministeriams des Iiuiern.
— 107 —
Kein Archiv, aber Archivalien befinden sich im k. k. Justiz-
ministerium, nämlich Akten der 1790 begfründetea Gesetzgebungs-
Hofkommission, sowie Reste von Archivalien der Obersten Justizstelle.
Erwähnt seien hier auch die Archivalien des dem k. k. Finanz-
ministerium unterstehenden k. k. Haupt-Münzamtes, das auch eine
sehr wertvolle Münzen- und Medaillenstempelsammlung besitzt (seit dem
XV. Jahrh.). [Katalog der Münzen- und Medaillenstempelsammlung
des k. k. Hauptmünzamtes in Wien. 2 Bde. (mit Abbildungen) Wien
1901/02.]
C. Archive der österreiohisohen Kronlander ^).
(In der Reihenfolge ihrer Vereinigung mit Osterreich.)
I. Niederösterreich.
Das staatliche Kronlandsarchiv des Stammlandes Öster-
reichs ist das „k. k. Archiv für Niederösterreich** bei der niederöster-
reichischen Statthalterei in Wien, als Archiv organisiert seit 1893. ^
enthält die Archivalien der niederösterreichischen Regierung — jedoch
nicht in dem Smne der fünf niederösterreichischen Lande (vgl. imten
Steiermark), und ausschliefslich der Akten des durch Joseph II. auf-
gehobenen Justizsenates der Regierung — hauptsächlich vom XVI.
Jahrhunderte an bis 1849 (Präsidialakten bis 1867), des niederöster-
reichischen Klosterrates von 15 68 — 1713, der niederösterreichischen
Lehenstube von Maximilian I. an bis zur Allodialisieruug, der nieder-
österreichischen Stiftungsbehörde mit über 25000 Stiftbriefen vom
XIII. Jahrhundert an, die Akten der Grundentlastungs-Kommission von
1853 — 1868. Abtretungen wichtiger Archivalien seitens der Regierung
an das Haus- Hof- und Staatsarchiv und an das Archiv des Ministeriums
des Innern haben 1844 ^^^ ^881 stattgefunden, und sinnlose Skar-
sierungen haben die Bestände dezimiert. Das Archiv erweitert sich aber
seiner Gründungsidee gemäfs immer mehr zu einem Depositorium der
Archivalien der gesamten staatlichen Verwaltung des Kronlandes. Es
wurden bisher einbezogen die Akten der bestandenen vier Kreisämter
von 1763 — 1849, ^^s Versatzamtes von 1707 — 1840, der Patrimonial-
herrschaften aus dem XVIII. und XIX. Jahrhundert, soweit sie po-
litischen Inhalts sind. — Die Akten der Zivil- und Kriminaljustiz
blieben bei den Kreis- und Bezirksgerichten ; die Urbar-, Grund-, Satz-,
Gewähr-, Waisenamtsbücher, Inventur- und Testamentsprotokolle (vom
XVI. — XVill. Jahrhundert) der Grundherrschaften, die in den Spren-
i) Vgl. „Die unter dem Ministerinm des Innern stehenden Archive in den einzelnen
österreichischen Ländern*', österr. Zeitschr. für Verwaltung, 1883 (XVI), 119 f. u. i2^fL
(jetzt Tielfach veraltet).
— 108 —
g^ln der heutigen Kreisgeiichte Korneubaig und Krems liegen; die
gleichen Bücher der Sprengel der Kreisgerichte St. Polten und Wiener-
Neustadt befinden sich noch bei diesen, die des Wiener Sprengeis
beim Landesgerichte in Wien. [Die Einrichtung eines Archives bei der
k. k. Statthalterei in Niederösterreich. Mitteil. d. III. (Archiv-) Sektion
der Zentral-Koon. f. Kunst- u. histor. Denkmale II, 241 ff.]
Staatliche Archivalien in nicht archivmäüsiger Verwaltung
befinden sich bei den Bezirkshauptmannschaften (Herrschafts-
akten) beim Oberlandesgerichte (für Niederes terr., Oberösterr. und
Salzburg) in Wien, beim Landesgerichte in Zivilrechtssachen in
Wien (Gerichtsorganisationsakten, Akten des Landrechtes, Abhand-
lungsakten des Obersthofmarschallamtes und der nö. Regierung, des
Wiener Magistrates und des Militäigerichtes, hauptsächlich des XVIII.
und XDC. Jahrhunderts. Amtsbücher — besonders Urbare und Grund-
bücher der im Wiener Sprengel bestandenen Grundherrschaften vom
XV. — XIX. Jahrhundert), bei den Kreisgerichten Wiener -Neu-
stadt und St. Polten (hauptsächlich die gleichen Bücher der in diesen
Sprengein vorhanden gewesenen Grundherrschaften vom XV. — XIX. Jahr-
hundert) und bei den meisten Bezirksgerichten (hauptsächlich jüngere
Grundbücher der Herrschaften), bei der nö. Finanzlandesdirektion
in Wien (Akten betr. die veräufserten Staatsgüter, XVIII. u. XDC. Jahrh.)
und der k. k. Forst- und Domänendirektion (für Niederösterr.,
Steiermark, Böhmen u. die oberösterr. Religionsforste Reichraming u.
Weyer) in Wien. (Akten über die nicht veräufeerten Staat^jüter, Reste
der Archivalien des ehemaligen nö. Waldamtes, steirische Wald-
tomi.)
In Niederösterreich besteht auch ein Landesarchiv, das durch
seine Verbindung mit topographischen und anderen Sammlungen, so-
wie mit dem Verein für Landeskunde von Niederösterreich das Zentrum
der landeskundlichen Forschung in Niederösterreich ist.
II. Oberösterreich.
In diesem Lande, das eine selbständige Landesregierung erst
1784 erhielt, ist es nicht zur Entwickelung eines staatlichen Archives
gekommen. Das Archivwesen des Landes beginnt sich in dem 1896
gegfriindeten Landesarchive zu konzentrieren, neben welchem derzeit
noch das Archiv des Museums Francisco Carolinum sich befindet. Von
staatlichen Archivalien hat das Landesarchiv 1901 die Urkunden
und Akten der Statthalterei in Linz (mit ganz geringen Ausnahmen)
übernommen, sowie solche des Landesgerichtes in Linz und des Be-
— 109 —
zirksgerichtes in Engelszell pCVII. — XIX. Jahrb.) [Czemy A., Das oeue
Landesarchiv in Linz und seine Ausgestaltung in der Zukunft. Mit*
teilungen der IIL (Archiv-) Sektion der Zentral-Kooa. f. Kunst- u.
histor. Denkmale IV, 60 ff.; Krackowizer, Das oberösterr. Landesarchiv
zu Linz. Seine Entstehung u. seine Bestände. Linz 1903.J
Staatliche Arcbivalien befinden sidi, soweit eruierbar, noch
beim Landesgerichte in Linz, daselbst auch solche der Kreis-
gerichte Steyr imd Wels, beim Kreisgerichte Ried (Archivalien
des bayrischen Innviertels) bei einzelnen Bezirksgerichten und
bei der Finanzprokuratur in Linz, nveist nur des XVIII. und
XIX. Jahrhunderts, bei den Salinenverwaltungen in Hallstadt und
Ischl (u. a. Urbare des XVI. — ^XVIII. Jahrh.) bei der Domänenver-
waltung in Mattighofen (XVI. — XIX. Jahrh.).
III. Steiermark.
Steiermark, 1192 an Österreich gefallen, schied sich von diesem
wieder durch die Länderteilungen von 1379, um nach der 1493 ^^'
folgten Wiedervereinigung durch die Länderteilung von 1564 abermals
als Kemland der innerösterreichischen Ländergruppe (Steiermark,
Kärnten, Krain, Istrien, Triest) sich zu sondern. In Graz kam es da-
her zur Errichtung von eigenen Zentralstellen und Mittelbehörden für
die mnerösterreichischen Lande, die Archivalien aus der Verwaltung
der fiinf niederösterreichischen Lande, zu denen Steiermark gehört
hatte, ausgefolgt bekamen und deren Wirksamkeit das Jahr der
Wiedervereinigung 1619 noch lange überdauerte. Der Vorort dieser
Ländergruppe war Graz. Bei der Regierung daselbst befamd sich
der archivalische Niederschlag der jene gro&e Ländergruppe um-
fassenden Verwaltung. Obwohl davon seit Maria Theresia sehr be-
deutende Extradierungen an das Haus- Hof- und Staatsarchiv imd
das Hofkammerarchiv in Wien stattfanden, blieb doch noch ein Be-
stand von über 9000 Faszikeln vom XV. — XIX. Jahrhundert reichend,
von grofeer inhaltlicher Wichtigkeit bei der Statthalterei in Graz, leider
noch nicht zu einem Archive organisiert, sondern nur schwer zugäng-
lich und daher wenig benützt. [Kapper, A., Mitteilungen aus dem k. k.
Statthaltereiarchive zu Graz, mit Verzeichnis der Bestände u. Regesten
über die „Miscellanea". Veröffentlidxungen der Histor« Landes-Com-
oiisnon für Steiermark XVI, Graz 1902.]
Das nicbtstaatliche Archivwesen der SteiermaiiE besitzt dagegen
ein Musterinstitut eisten Ranges in dem Landesarchive zu Graz seit
iSfOt das auch eine Reihe ataatlicher Arcbivalien gdK>xgen hat.
— 110 —
so die Archivalien der ehemaligen k. k. Innerberger Hauptgewerkschafl,
des Bergamtes Leoben (älterer Teil), der Saline Aussee, die landesfiirst-
lichen Lehenakten von der Finanzprokuratur in Graz (Ende des XV.
Jahrh. beginnend), die Grundbücher und sonstigen Amtsbücher der
Herrschaften von den Gerichten (1893 waren es 4620 Nummern), die
Archivalien des Landrechtes und der Schranne (vom XVI. Jahrh. an),
vom k. k. Landesgerichte in Graz (mit Ausnahme der Fideikommiis-
akten). [Zahn, Das Steiermärkische Landesarchiv in Graz. Zum 25.
Jahre seines Bestehens, Graz 1894.]
Staatliche Archivalien befinden sich aufserdem noch bei
der Finanz-Landesdirektion in Graz (Grundsteuer-, Forst- u. Do-
mänenakten, XVIIL u. XIX. Jahrh.).
IV. Kärnten.
Dieses 1335 mit Österreich vereinigte Land besitzt ebenfalls kein
staatliches Archiv und erst seit wenigen Tagen (i./i. 1904) ein organi-
siertes Landesarchiv. Die vortrefflich geleitete Archivzentrale ist seit
1844 ^^ noch weiterhin bestehen bleibende Archiv des kärnti-
schen Geschichtsvereines im Museum zu Klagenfurt. Es enthält
folgende staatlichen Archivalien: Klosteraufhebungs- und franzö-
sische Invasionsakten der Landesregierung, Archivalien des Villacher
Kreisamtes (XDC. Jahrh.), Verlassenschaflsakten (XVII.— XVIII. Jahrh.),
Urbarien und fianzösische Justizakten des Landesgerichtes, Kärntner Akten
der Finanzlandesdirektion in Graz, Archivalien der Finanzdirektion imd
Finanzprokuratur in Klagenfurt (Lehenakten XIV. — XVIII. Jahrh.). Die
Archivalien der Gerichte Kärntens, der Forst- und Domänenverwaltimg
Tarvis und Ossiach, des Landeszahlamtes sind dem Geschichtsvereins-
archive bereits zugewiesen, aber wegen Platzmangel noch nicht über-
nommen.
Archivalien des XVIII. selten des XVII. Jahrhunderts befinden
sich auch bei den Bezirkshauptmannschaften, und bei der Berg-
hauptmannschaft (für Steiermark, Kärnten, Tirol u. Vorarlberg,
Krain, das Küstenland u. Dalmatien) vom XV. Jahrh. an.
V. Krain.
Auch dieses, 1335 mit Österreich vereinigte Land, besitzt kein
staatliches Archiv. Das Archiv des Landesmuseums in Laibach
hat das Vizedomarchiv übernommen, die Archivalien des Laibacher
Kreisamtes und solche der Finanzprokuratur in Laibach (u. a. Urbarien).
Bei der Landesregierung, von welcher Extradienmgen nach Graz und
— 111 —
Triest stattgefunden haben, und ihren Unterbehörden, sowie bei den
Finanzbehörden befinden sich nur Archivalien vom Ende des
XVIII. Jahrhunderts an, beim Landesgerichte in Laibach und beim
Kreisgerichte in Rudolfswert auch ältere (u. a. einige Urbarien).
VI. Küstenland (Görz u. Gradisca seit 1500, Istrien seit 1374,
Triest seit 1382 mit Österreich vereinigt).
Auch hier befindet sich kein organisiertes Staatsarchiv. Dagegen be-
steht inGörz einLandesarchiv und ein Archiv desLandesmuseums,
ein Landesarchiv in Parenzo (Istrien) ist in Bildung begriffen.
Staatliche Archivalten der politischen Verwaltung (Statt-
halterei in Triest) befinden sich zum Teile bei dieser, zum Teile im
Görzer Landesarchiv, das auch Archivalien der Finanzdirektion
in Triest und der Forst- und Domänendirektion (für Kärnten, Krain,
Küstenland und Dalmatien) in Görz geborgen hat.
VII. Tirol und Vorarlberg.
Tirol ist in bezug auf Archivwesen das am weitesten vorgeschrit-
tene Kronland Österreichs. Im Jahre 1363 an Österreich gefallen,
wurde es alsbald wieder durch die Länderteilung von 1379 von diesem
und 1386 auch von Innerösterreich gesondert und blieb es unter seinen
selbständigen Landesfürsten bis 1493, um nach der Teilung von 1564
wieder in derselben Sonderung bis 1665 zu bleiben. Gleichwie in
Innerösterreich blieben auch nach der dauernden Vereinigung die durch
die Scheidung in Innsbruck entstandenen Zentralstellen iiir die ober-
österreichische Ländergruppe (Tirol, Vorarlberg und die Vorlande) be-
stehen (bis 1752). Diese Stellung Tirols prägt sich in seinem Archive
aus, und in der Zeit der Ländervereinigung unter Maximilian I. fa(sten
die Archivzentralisierungspläne dieses Herrschers zunächst auch Inns-
bruck ins Auge. Hier erwuchs das bis zur Gründung des Haus- Hof--
und Staatsarchives in Wien (1749) gröfste und bedeutendste Archiv
Österreichs. Die Geschichte der Entstehung des Statthaltereiarchives
in Innsbruck, die massenhaften Extradierungen nach Wien, Freiburg,
Strafsburg und München, sowie die Übersicht über seine Bestände hat
1894 Mayr, M., Das k. k. Statthaltereiarchiv zu Innsbruck, Mittlgn. d.
Archivsektion d. Zentral-Kom. etc. II, 141 ff. ausführlich dargestellt zum
Teile auf Grund der Ausführungen Schönherrs in den Mittlgn. d.
Zentral-Kom. N. F. 10 u. 11 und in erweiterter Form in Löhers Ar-
chival. Zeitschr. 11 (1886). Ausführliche Angaben bietet in diesem
Falle auch Burkhardt, dessen Zahlen durch die Jahrgänge 7 u. 10 der
„Minerva" berichtigt werden.
— 112 —
Deshalb kann es hier genügen, die Veränderungen zu besprechen
und sonst nur darauf hinzuweisen, dais das Siatthaltereiarchiv in Inns-
bruck eine über Tirol hinausreichende Bedeutung besitzt und in der
Hauptsache aus den Archiven der Landesfiirsten aus den Häusern
Görz und Habsburg, und jenen der säkularisierten Fürstentümer Trient
und Brixen besteht.
Die Unterbringung in einem 1873 vollendeten und igoo erweiterten
eigenen Archivgebäude hat diesem Archive aber auch eine höchst be-
deutende Ausgestaltung zu einem staatlichen Archive für das Land
Tirol möglich gemacht Es wurden in dasselbe übernommen: die
Akten der sämtlichen Bezirkshauptmannschaften des Landes (bis 1868),
der Bezirksgerichte (bis 1815, Verfachbücher bis 1700), femer das
sehr bedeutende historische Gerichtsarchiv beim Obeilandesgerichte
in Innsbruck (beginnend mit dem XVI. Jahrh.). [Über dasselbe Mages, A.
Frh. v., Bericht über die Anlegung eines histor. Gerichtsarchives für
Deutsch-Tirol, Mittlgn. d. Archivsektion d. Zentral-Koon. 11, 49 ff.]
In Vorarlberg wurden die Archivalien der politischen und Gerichts-
behörden vom Landesarchive übernommen, das in dieser Beziehung
dem Innsbrucker Statthaltereiarchive unterstellt ist — der einzige Fall
bisher in Österreich, dafs (wie in Bayern die Regel) ein Archiv einer
Fachbehörde, nämlich wieder einem Archive untersteht [Kleiner, V.,
Das Vorarlberger Landesarchiv im 41. Jahresber. d. Vorarlberger Mn-
seumsver.] In gleicher Weise ist die Errichtung eines grolsen Notariats-
archives für Italienisch-Tirol vom XV. Jahrhundert bis 1827 als Filiale
des Innsbrucker Archives beabsichtigt
Femer wurde das Archiv der Marktgemeinde Neumarkt (beginnend
mit Anf. XIV. Jahrh.) und das Familieaarchiv der von Vintlerschen
Hauptlinie übernommen. [Mayr, M. , Das k. k. Statthaltereiarchiv in
Innsbruck, Mittlgn. der Archivsektion d. Zentral-Koon. IV, 275 ff.]
Staatliche Archivalien, die noch nicht archivalisch ver-
wahrt werden, befinden sich in Tirol nur noch bei der Finanzlandes-
direktion und der Finanzprokuratur in Innsbruck (XVII. u. XVIII.
Jahrh.) und einigen Bergwerken. Die Salinenverwaltung in Hall hat
ihre Archivalien teils dem StatthaHereiarchive in Innsbruck, teils dem
Haus- Hof- und Staatsarchive und dem Hauptmünzamte in Wien über-
geben. In Innsbruck besteht auch ein Landesarchiv.
VIII. Böhmen.
Für dieses Kronland stehen mir nur ui^enügende Angaben za
Gebote, da ich vergeblich versucht hatte, ans Prag ausreichende Nadi-
— 113 —
richten zu erlangen. Für Böhmen besteht ein Statthaltereiarchiv,
das die Archivalien der bestandenen obersten Landesbehörden seit
der Vereinigung Böhmens mit Österreich (1526), namentlich die der
politischen Landesstelle und der Kammer enthält Mit Ausnahme von
Urkunden, die bis 1250 zurückreichen, befinden sich dort keine Archi-
valien aus der Zeit vor 1526. — In Prag besteht auch ein Landes-
archiv.
Staatliche Archivalien finden sich bei den Bezirkshaupt-
mannschaften — die der Bezirkshauptmannschaft Pardubitz pCVI.
bis XIX. Jahrh.) wurden dem Museum dieser Stadt zur einstweiligen
Verwahrung übergeben — und bei der Finanzlandesdirektion
in Prag (XVIII. u. XDC. Jahrh.). Die Bezirksgerichte haben mehr-
fach Grundbücher an das Landesarchiv in Prag abgegeben.
IX. Mähren (1526 mit Österreich vereinigt).
In diesem Kronlande befindet sich kein staatliches Archiv, das
Archivwesen des Landes konzentriert sich im Landesarchive in
Brunn. Dasselbe hat 1897 die Archivalien der Statthalterei in Brunn
(1636 — 1785) übernommen, nachdem diese schon 1856 einzelne Be-
stände, darunter ca. 600CX) Stück Akten und Urkunden der 1773
aufgehobenen Klöster in Mähren und Schlesien an das Landesarchiv
übergeben hatte (ein kleiner Teil kam 181 1 in das Haus- Hof- und
Staatsarchiv). Ein Verzeichnis der historisch wichtigen Akten in alpha-
betischer Folge der Namen und Sachbetreffe verfafste Schräm, W.,
Das k. k. Statthaltereiarchiv in Brunn, Mittlgn. d. Archivsektion der
Zentral-Kom. IV, i ff.
Staatliche Archivalien befinden sich ferner bei den Bezirks-
hauptmannschaften (Akten der ehemaligen Kreisämter), beim
Oberlandesgerichte in Brunn (Akten des kgl. Tribunals bzw. des
mäbr.-schles. Kriminalobergerichtesu. Appellationsgerichtes, 1636 — 1783,
Originalreskripte u. Normalien 1628 — 1862), von denen die historisch
wichtigen ebenfalls Schräm, W., Das k. k. Oberlandesgerichtsarchiv
in Brunn , Mittlgn. d. Archivsektion etc. W , 203 ff. verzeichnet hat,
femer bei der Finanzlandesdirektion in Brunn (Staatsgüterakten,
PCVIII. u. XDC. Jahrh.) und der Finanzprokuratur in Brunn pCVIII.
u. XDC. Jahrh.).
X. Schlesien (1526 an Österreich gelangt).
Hier besteht kein staatliches Archiv und die nach der Aufhebung
der Gemeinsamkeit der mährischen und schlesischen Verwaltung von
Brunn an die selbständige Landesregierung in Troppau aus-
8
— 114 —
gelieferten Archivalien bei dieser reichen nur bis zur Mitte des
XVIII. Jahrhunderts zurück. Noch jünger sind die bei den Be-
zirkshauptmannschaften befindlichen Archivalien der ehemaligen
Kreisämter. In Schlesien besteht ein Landesarchiv.
XI. Galizien (seit 1773 bei Österreich).
Hier gibt es kein organisiertes staatliches Archiv, dagegen die
bedeutenden Landesarchive der Grodgerichtlichen- und Terrestral-
akten in Krakau (XIV.- XVIII. Jahrh.) und Lemberg (XV.— XVIII.
Jahrh.).
Staatliche Archivalien befinden sich bei der Statthalterei
in Lemberg (1773 — 1848), bei der Bezirkshauptmannschaft in
Krakau (Akten des Senates des Freistaates Krakau, der ehemaligen
Kreisbehörde und Bezirksämter, 1796 — 1853), im Hypothekenamte des
Kreisgerichtes in Przemyäl von der Mitte des XVIII. Jahrhunderts
an mit Urkundenabschriften, die ins XIV. Jahrhundert zurückreichen»
bei der Finanzlandesdirektion in Lemberg (Staatsgüterakten,
XVIII. u. XIX. Jahrh.), der Finanzprokuratur in Lemberg (XVTII,
u. XDC. Jahrh. u. a. Fassionen aller Pfarren), der Finanzdirektion in
Przemyöl (XIX. Jahrh.), sowie bei den zahlreichen Salinenverwal-
tungen des Landes (XVIII. u. XIX. Jahrh.). [Dudik, B., Die Ar-
chive im Kgr. Galizien und Ladomerien, Archiv f. österr. Gesch.
39, I ff., Bericht über die amtliche Reise der Korrespondenten der
k. k. Zentralkommission, St. Kryzanowski u. St. Estreicher in den
Mittlgn. d. Archivsektion d. Zentral-Kom. IV, 281 ff.]
XII. Bukowina (seit 1775 bei Österreich, zunächst mit Galizien
vereinigt).
Hier besteht kein Archiv ; staatliche Archivalien befinden sich
bei der Landesregierung. Im übrigen stehen mir keine Daten zur
Verfügung.
XIII. Salzburg.
Durch Säkularisierung des Erzstiftes kam Österreich 1805 ^ ^^^
Besitz Salzburgs, den es 1809 an Bayern verlor und 181 5 wieder-
gewann. In dem Archive der Landesregierung in Salzburg
findet sich — wenn auch vielfach nur in Resten — der Niederechlag
der erzstiftlichen , bayrischen und österreichischen Verwaltung des
Landes in reichen Beständen, der ehemaligen Zentralstellen und ihrer
Unterbehörden, aus denen hier nur das wichtigste hervorgehoben sei
und das, was als Berichtigung oder Ergänzung zu den Notizen bei
Burkhardt (2. Aufl.) sich ergibt.
— 115 —
Die bedeutendsten und wichtigsten Bestände sind jene der alt-
salzburgischen Hofkammer und ihrer Unterämter (Hofbauamt, Wald-
meisterei, Bei^behörde etc.) mit zahhreichen Urbaren und Grund-
büchern, das „alte Archiv 'S die Reste des Domkapitelischen Archives,
die Akten des Lehenhofes. Die Abteilung „Politicum" ist vor der
kurfürstlichen (toskanischen) Zeit (1803 — 1806) durch sinnlose Skar-
tierung in den 50er Jahren ungemein verringert, wie auch die Akten
des Konsistoriums (das Meiste im Konsistorialarchive) und des Hof-
kriegsrates sehr spärlich sind. Die jüngeren politischen Akten sind
bis 1860 (nicht 1850) im Archive. Dasselbe wurde schon durch seine
Geschichte auf den allein richtigen Weg gewiesen, nämlich ein Gesamt-
archiv des Landes zu werden. Bisher wurden einbezogen die Archivalien der
alten Pfleggerichte (jetzt meist Bezirksgerichte) oft im XVI. Jahrhundert
beginnend: GoUing, Hallein, Lofer, Mittersill, Moosham, Tamsweg,
St Mchael, Gastein, Taxenbach, St. Gilgen, Lichtenberg (Saalfelden)
Werfen und Wartenfels (Talgau) und die Archivalien der Forst- und
Domänendirektion in Salzburg. Das Archiv des Landesausschusses
wurde mit dem Regierungsarchiv vereinigt, das auch Archive be-
deutender Familien: das gräflich Platzsche, gräflich Uiberackersche
and gräflich Khuenburgsche Archiv enthält. [Literatur bei Burkhardt,
2. Aufl.]
XIV. Dalmatien.
Das staatliche Archivwesen dieses, bleibend seit 18 14 mit Oster-
reich vereinigten Landes befindet sich in besserem Zustande als das
vieler anderer Kronländer. Das Statthalteiarchiv in Zara ist
eines der bedeutendsten Provinzialarchive und vereinigt im Haupt-
archive die Akten der venetianischen Landesverwaltung von 1409 bis
1797, der ersten österreichischen Periode von 1797 — 1806, der fran-
zösischen Herrschaft von 1806— 18 13 und der zweiten österreichischen
Periode seit 18 14. Erfreulicherweise erweitert sich aber dieses Archiv
zu einem Sammelorte für die staatlichen und nichtstaatlichen Archi-
valien des Landes. Einverleibt sind die Archive (bezw. deren Reste)
von Spalato (1343 — 181 3; venetianische Korrespondenz (ab 1683),
Curzola (beg. 1338), Cattaro (beg. 1309), Nona (beg. 1244), Almissa,
ein Teil des Archives von Macarsca (1798 — 18 14), ein Teil der Archi-
valien der Kreishauptmannschaft in Zara (1798 — 1820), das venetianische
Archiv, das sich beim Bezirksgerichte in San Pietro della Brazza be-
fand, die Archivalien des Oberlandesgerichtes in Zara (1798 — 1814),
auiserdem eine Reihe von Archiven aufgehobener Klöster (beg. 986)
und von Familienarchiven. Das Archiv veröffentlicht eben Übersichten
8*
— 116 —
und Inventare seiner Bestände. [Böttner, S., L'Archivio degli Atti
antichi presse la I. R. Luogotenenza Dalmata.]
Ein sehr wichtiges staatliches Archiv besteht seit 1895 auch
in Ragusa. Es vereinigt die vorher bei der Bezirkshauptmannschaft,
dem Kreisgerichte, der Finanzbezirksbehörde und dem Hafen- und
Seesanitäts-Kapitanat in Ragusa und bei dem Bezirksgerichte zu Stagno
befindlichen Archivalien der bis 1808 bestandenen Republik Ragusa,
mit Urkunden vom XI. Jahrhundert an und Büchern von 1278 — 18 14,
Gerichtsbüchem und Akten von 1280 an, 215 Bänden betreffend die
Domänenverwaltung, Kultusangelegenheiten, Zünfte, Münz- und ZoU-
wesen der Republik, endlich solche bezüglich des Quarantainewesens
derselben. [Jirecek, J. C. , Die Archive von Dalmatien. Mttlgn. d.
Archivsektion der Zentral-Kom. IV, 141 ff.]
Staatliche Archivalien befinden sich noch beim Landes-
gerichte in Zara (Notariatsarchiv, ins XIII. Jahrh. zurückreichend),
bei den Kreisgerichten in Cattaro, Sebenico und Spalato und bei
der Finanzprokuratur in Zara (Venetianische Lehenakten, XV. bis
XVm. Jahrh.).
*
Dieser Übersicht über das staatliche Archivwesen Österreichs seien
nur noch wenige zusammenfassende Worte hinzugefügt In neun
Kronländem besteht noch kein staatliches Archiv, während die Menge
der staatlichen Archivalien, die überhaupt in keinem Archive deponiert
oder zersplittert ist, eine sehr bedeutende und vielfach von groiser
Wichtigkeit ist. Diese und andere Übelstände wurden unlängst kurz
erörtert *) und einige wichtige Reform vorschlage gemacht ; auf solche
werde ich vielleicht an anderer Stelle zu sprechen kommen. Diese
Zeilen sollen nur einen Beitrag zur Kenntnis des österreichischen
Archivwesens liefern; aus dieser ergibt sich die Notwendigkeit einer
Reform und ihre Richtung.
i) Mayr, M., Über siaatltehes Arehwweaen in Österreieh (-» Zeitschrift für Volks-
wirtschaft, Sozialpolitik and Venraltang XII, 116 ff.). Vgl. diese Zeitschrift 4. Bd.,
S. 316—317.
— 117 —
Die Gesehiehtsehreibung
itn Bistum Osnabrüek bis zum Ende des
XVn. Jahrhunderts
Von
Hermann Porst (Zürich)
In Osnabrück hat, wie anderwärts, die Geschichtschreibung damit
begonnen, da(s man kurze Notizen über bemerkenswerte Ereignisse
in die bei der Kathedralkirche aufbewahrte Ostertafel eintrug. Solche
Notizen sind uns für den Zeitraum vom Jahre 772 bis 11 10 erhalten,
allerdings nicht in der Urschrift, sondern in einem Auszuge, den der
Chronist Ertwin Ertman um das Jahr 1480 angefertigt hat ^). Ertman
hielt dabei irrtümlich den Ostertag, hinter dem die Notiz stand
— meist handelt es sich um den Tod eines Bischofs — für den Tag
des Ereignisses. Dieses Verhältnis hat F. Philippi scharfsinnig nach-
gewiesen und zugleich gezeigt, dafe die uns jetzt verlorene Ostertafel
in Köln angelegt und von dort wohl erst nach dem Jahre 785 nach
Osnabrück gebracht worden ist *).
Für lange Zeit blieben diese kurzen Notizen das einzige Geschichts-
werk, das in Osnabrück entstand. Ein für die ganze Diözese wichtiges
Ereignis, die Erwerbung der Reliquien des heiligen Alexander für die
Kirche in Wildeshausen, konnte von keinem einheimischen Kleriker
literarisch dargestellt werden ; zwei Mönche des Klosters Fulda mufsten
diese Aufgabe lösen •). Der Grund dafür ist wohl darin zu suchen,
dafs Osnabrück ein sehr armes Bistum war. Die in jener Zeit be-
deutendsten kirchlichen Einkünfte, die Pfarrzehnten, kamen infolge be-
sonderer Verhältnisse in einem grofsen Teile der Diözese nicht dem
i) Zuerst Teröffentlicht von C. J. B. Stüve in den Miäeütmgen des historischen
Vereins xu Osnabrück, Bd. vn (1864), S. 4 ff., dann von F. Philippi in den Osna-
briieker OesehiehisqueUen, Bd. I (Die Chroniken des Mittelalters, heraosg. von F. Phi-
lippi nnd H. Forst, Osnabrück 1891), S. i.
2) In Bd. XV der angeführten „Mitteilungen" (Osnabrflck 1890), S. 217—231.
Seit 1882 lautet der Titel dieser ZeiUchiift Mitteihmgen des Vereins für Geschichte
und Landeskunde von Osnabrück, Wir werden sie im folgenden einfach als „Mittei-
lungen" anführen.
3) üranslaiio S. Älexandri ed. Pertz, Mon. Germ. Script, 2. Bd., S. 673 &, VgL
die bei Potthast, Bibliatheea histariea (2. Aufl., Berlin 1896), Bd. II, S. 1151 an-
geftihrten Erläuterungsschriften.
— 118 —
Bischöfe zu, sondern den auswärtigen Klöstern Korvey und Herford ^).
Das Bistum konnte daher nicht mehr Geistliche unterhalten, als zur
Besorgung der laufenden Geschäfte erforderlich waren; zu literarischen
Arbeiten hatte niemand Mufse. Wohl legen zahlreiche Urkunden
Zeugnis ab von der Tätigkeit der Bischöfe im IX. und X. Jahrhundert;
aber wir vermissen eine zusammenhängende Darstellung der Begeben-
heiten, besitzen auch nicht die Biographie eines einzigen Bischofs.
Osnabrück blieb in dieser Beziehung lange Zeit gegenüber anderen
Diözesen im Rückstande. Allerdings erhielt die Stadt im Jahre loi i
durch Bischof Detmar *) eine zweite Kollegiatkirche , das Stift St. Jo-
hann ; aber noch mehrere Menschenalter vergingen, bis sich auch hier
der Sinn für den Wert geschichtiicher Aufzeichnungen entwickelte.
Der Investiturstreit brachte dem Bistume einen beträchtlichen
Zuwachs an Einkünften. Bischof Benno II. (1068 — 1088) war ein
treuer Anhänger des Königs Heinrich IV., während das Kloster Korvey
unter dem besonderen Schutze des Sachsenfürsten Otto von Nord-
heim stand. Man weifs, welche bittere Feindschaft zwischen diesem
Manne und dem Könige herrschte. Nun benutzte Bischof Benno ge-
schickt die politische Lage, um gegen Korvey einen Prozefs anzu-
strengen. Er forderte, dafs die Zehnten von den in seiner Diözese
gelegenen, dem Kloster aber seit alter Zeit inkorporierten Pfarreien
nicht, wie bisher, an das Kloster, sondern an den Bischof entrichtet
Avürden. Diese Forderung war schon von seinen Amtsvorgängem
mehrfach erhoben worden. Sie entsprach dem kanonischen Rechte;
aber Korvey konnte sich dagegen auf ältere kaiserliche und königliche
PrivUegien berufen, in denen ihm der Besitz jener Einkünfte ausdrücklich
zugestanden war. Jetzt legte Benno seinerseits einige Urkunden vor,
laut deren schon die letzten Karolinger und später die Ottonen den
Streit zu gunsten des Bistums entschieden hatten ^). Auf Grund dieser
Urkimden fällte ein von Heinrich IV. berufenes 'Fürstengericht im
Jahre 1077 ^^ Urteil, dafs die Zehnten fortan dem Bistume zufliefsen
sollten.
i) Vgl. die ausführliche Darlegung von Philippi in der Einleitung zum OttUh'
hrücker ürkundenbuek, Bd. I (Osnabrück 189a), S. Xff.
2) Wir gebrauchen die niederdeutsche, in Osnabrück eingebürgerte Namaisformy
um diesen Bischof von seinem Zeit- und Amtsgenossen, dem bekannten Geschichtschreiber
Thietmar von Merseburg, zu unterscheiden.
3) Diese Dokumente waren gefiüscht; es fragt sich nur noch, wer der Fälscher
gewesen ist VgL Meyer v. Knonan, Jahrbücher des deutsehen Reiches unier Hern-
rieh IV., Bd. IV (Leipzig 1903), S. 55^— 55».
— 119 —
Durch die Erwerbung* dieser Zehnten, sowie durch andere wirt-
schaftliche Malsregeln hatte Benno seine Einkünfte derart gesteigert,
dafs er im Jahre 1082 unmittelbar neben seinem Schlosse Iburg ein
Kloster errichten und mit Gütern ausstatten konnte. Hier ward er be-
graben; hier scheint auch ein Teil seines Nachlasses verblieben zu
sein. In der Klosterbibliothek bewahrte man noch lange Zeit eine
Streitschrift auf, welche auf Bennos Veranlassung der Dompropst Wido
im Jahre 1084 verfafst hatte, um die Rechte des Königs gegen den
Papst zu verteidigen. Hier sind die Gesichtspunkte dargelegt, die
Bennos Verhalten in dem Kampfe der beiden Mächte bestimmt haben.
Leider ist das Original untergegangen, wahrscheinlich bei dem grofsen
Brande, der im Jahre 1581 die Bibliothek verzehrte. Erhalten hat sich
nur ein Auszug, den etwa um das Jahr 11 20 ein Osnabrücker Kle-
riker seinen Freunden in Bamberg mitteilte. So kam dieser Auszug in
die von dem Bamberger Kleriker Udalrich angelegte Briefsammlung *),
Eine Ehrenpflicht für das Kloster war es, das Andenken seines
Stifters zu pflegen. Daher verfafete der Abt Norbert in der Zeit
zwischen 1090 und iioo eine Biographie Bennos. Dieses Schriftchen
ist dann im XVII. Jahrhundert von dem Abte Maurus überarbeitet
und mit zahlreichen Zusätzen versehen worden, und lange Zeit war
nur diese interpolierte Fassung bekannt *). Da nun manche Angaben
darin den urkundlich festgestellten Verhältnissen widersprechen, so
erklärte F. Philippi die ganze Biographie für eine im XVI. Jahr-
hundert angefertigte Kompilation *) , fand aber damit wenig Zustim-
mung; besonders trat ihm Scheffer-Boichorst entgegen*). Dann
entdeckte H. Brefslau eine Abschrift des ursprünglichen Textes. Bei
der Vergleichung ergab sich, dafs Abt Maurus nicht blofe Zusätze
gemacht, sondern auch ganze Abschnitte des Originals unterdrückt
i) Bei Jaff6, Bibliotheea rerum Oermanicarunif vol. V (Berlin 1869), S. 328 ff.,
neuerdings anch in den Ldbelli de lue imperatorum et pontificumy i. Bd., S. 461 ff.
Eine Obersetzang gibt H. Hartmann in der nnten anzuführenden Lebensbeschreibung
Bennos.
2) Zuerst gedruckt bei Eccard, Corpus historicum medii aevi, (1723) voLII,
S. 2i6iff., dann (von R. Wilmans) in den Mon. Germ. Script XII, S. 58 ff. Eine
deutsche Übersetzung veröffentlichte H. Hartmann (Osnabrück 1866), die auch in den
„Mitteilungen« Bd. Vm gedruckt ist.
3) F. Philippi, Norberts Vita Bennonis eine Fälschung? (Neues Archiv der
Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde, 25. Bd. 1900, S. 767 ff.)
4) Scheffer-Boichorst, Norberts Vita Bennonis Osnabrugensis episeopi
eine Fälschung? (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften zu Berlin 190X,
Heft Vn, S. I32ff.)
— 120 —
hatte. Daher mu(s der von Breislau veröfTentlichte Text die Grund-
lage für alle weiteren Forschungen bilden *).
Wohl erst durch das Beispiel Norberts wurden auch die Kano-
niker von St. Johann angeregt, eine Biographie des Bischofs Detmar
zusammenzustellen. Diese Biographie selbst ist uns nicht mehr er-
halten ; doch finden sich bei Ertwin Ertman längere Auszüge aus ihr ').
Diese Auszüge beweisen aber, dais der Biograph nicht mehr aus
lebendiger einheimischer Überlieferung schöpfen konnte, sondern sein
Material mühsam aus literarischen Quellen, vor allem aus der Chronik
Thietmars von Merseburg, zusammensuchen mulste. Der Verlust des
Werkes ist daher nicht besonders zu bedauern.
Osnabrück gehörte zu denjenigen Bistümern, welche im Investitur-
streit am längsten auf der königlichen Seite standen; erst im Jahre
1118 drang auch hier die gregorianische Idee von der Freiheit der
Bischoüs wählen durch und veranla&te ein Schisma. Der Kaiser mufste
endlich nachgeben und den von der Opposition gewählten Bischof
Thiethard anerkennen. Ein literarisches Zeugnis von dem Umschlage
der Stimmung sind die Iburger Annalen, von denen freilich auch der
grölste Teü untergegangen ist. Nur zwei Pergamentblätter der Original-
handschrift sind erhalten. Sie stammen, wie die Schriflzüge beweisen,
aus dem XII. Jahrhundert; eine genauere Bestimmung ist nicht möglich,
da sich bis jetzt keine von derselben Hand geschriebenen Urkunden
auffinden liefsen. Selbständigen Wert als historische Quelle besitzt
nur das zweite Blatt; es bietet Nachrichten über die Jahre 1072 bis
1085 *). Dabei zeigen sich auffallende Anklänge an diejenigen Werke,
welche nach Scheffer-Boichorsts Untersuchungen auf den uns jetzt ver-
lorenen Paderbomer Annalen beruhten. SchefTer-Boichorst nahm des-
wegen an, dafis auch der Iburger Chronist sein Material grölstenteUs
aus diesen geschöpft habe. Die Paderbomer Annalen waren in der
Zeit von 1109 ^^^ 1^44 entstanden; also konnten die Iburger erst
nach II 44 geschrieben sein ^).
i) Viia Bennonü U. episeopi Osnabrugenais auetore Noriberto abbaie Iburgensi
recogn. H. Brefslaa. Hannover und Leipzig, Hahnache Bachhandlang, 1902 (Scrip-
tores reram Germanicaram in osom scholanun). Vgl. dazu Brefslaos Aoftatz im Neuen
Archiv, 28. Bd. (1902), S. S2[fL
2) Oanabrüeker Oeschiehisquellen, i. Bd. S. 45 und Einleitung dazu S. LIH.
3) Der Text beider Blätter wurde zuerst veröffentlicht von L. Perger in der
(westfälischen) Zeitschrift fttr vaterländische Geschichte, 18. Bd. (Münster i. W. 1857),
S. 277 ff., dann von Pertz in den Mon. Genn. Script. XVI, S. 434 ff., endlich von mir
in den Osnabrücker Oesehiehtsqueüm, i. Bd., S. 17$ ff.
4) Scheffer-Boichorst, Annales Patherbrunnenses (Innsbruck 1870), S. 388.
— 121 —
Nun finden sich unter den Notizen Ertirin Ertmans einige Nach*
richten über die Jahie iiio bis 1119, welche ebenfalls auffiadlend an
jene aus den Paderbomer Annalen abgeleiteten Werke anklingen, ihnen
jedoch nicht entnommen sein können ^). Schon Pertz und Stüve ver-
muteten, dals diese Nachrichten aus dem uns verlorenen letzten Teile
der Ibuiger Annalen stammten. Diese Vermutung' habe ich dann
naher b^^ründet und daraufhin die Abfassung der Iburger Annalen in
die Zeit zwischen 1122 und 1137 gesetzt'). Dann aber konnte nicht
der Ibuiger Annalist den Paderbomer benutzt haben, sondern sein
Werk mufste umgekehrt die Quelle des Paderbomers gewesen sein.
Schon Perger hatte darauf hingewiesen, dafs der Benediktiner
Bernhard Witte, der um das Jahr 1520 seine Geschichte Westfalens
abschlois, den Iburger Annalen einige Sätze wörtlich entlehnt hat.
Neuerdings zeigte dann F. Philippi, dafs Witte den Iburger Annalen
keine über das Jahr 1090 hinausreichenden Nachrichten entnommen
hat, und folgerte daraus, dafs die Annalen mit diesem Jahre endeten,
Ertmans Notizen über iiio bis 1119 dagegen aus einer anderen
Quelle stammten *).
Umgekehrt hat Scheffer-Boichorst in seinem letzten, nach seinem
Tode von A. Cartellieri veröffentlichten Aufsatze*) anerkannt, dafs
jene eigentümlichen Nachrichten Ertmans mit Recht als Exzerpte aus
den Iburger Annalen in Anspruch genommen worden sind. Zugleich
aber brachte er neue Gründe vor, die dafür sprechen, dafs der Iburger
Annalist jünger war als der Paderbomer und diesen benutzt hat. Er
gab dabei zu, daCs die erste Redaktion der Paderbomer Annalen be-
reits mit dem Jahre 1137 geschlossen habe, der Iburger also sie schon
vor 1144 einsehen konnte.
Diesen neuen Argumenten gegenüber darf ich meine frühere An-
sicht von der Priorität des Iburgers nicht mehr aufrecht halten, son-
dern muis Scheffer-Boichorst beipflichten. Sicher ist, dafs die von
Ertman benutzten Annalen nicht über das Jahr 1125 hinausgingen,
sondern mit dem Siege des Bischofs Thiethard schlössen.
Neben diesen Annalen und der Ostertafel war anscheinend noch
ein Verzeichnis vorhanden, welches die Summe der Regierangsjahre
1) Vcröflfentlicht zntni ton C. J. B. Stüre in den „Mitteilungen" 7. Bd. (1864),
S. 9 ff. dann von mir in den Osnabrflcker Geschichtsqaellen I, S. 184.
2) Osnabrflcker GefchichUqneUen I, EinL S. XLVUff.
3) Philippi in dem oben angeführten Aufsätze ttber die Vita Bennonis (Neuea
Archiv 35. Bd., S. 770 ff.).
4) Neues Archiv 27. Bd. (1903), S. 689 ff.
— 122 —
jedes Bischofs angab *). Dieses Verzeichnis reichte aber wohl nicht
über das Ende des XII. Jahrhunderts hinaus; denn von da an zeigt
sich in der einheimischen Überlieferung eine Lücke, die in späterer
Zeit durch Sagen ausgefüllt wurde.
Erst in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhunderts begann man
im Stifte St. Johann kurze historische Notizen in das Totenbuch ein-
zutragen *). Der Domscholaster Jordanus verfafete um das Jahr 1280
einen theologisch - politischen Traktat; doch enthält dieser Traktat
nichts über die Geschichte des Bistums ; der Verfasser beschäftigt sich
nur mit den grofsen Fragen, welche damals die gesamte abendländische
Christenheit bewegten ^).
Auch im XIV. Jahrhundert hat Osnabrück keinen Geschieht'
Schreiber hervorgebracht; doch bestand über die Kämpfe jener Zeit
eine verhältnismäfsig sehr getreue mündliche Überlieferung. Einige
Züge daraus fafste um das Jahr 1428 der Domvikar Albert Su ho in
seinem Spectdum futurorum temporum zusammen ^). Dann dichtete
unter Bischof Konrad III. (1456— 1481), wohl auf Veranlassung dieses
Fürsten, ein Ungenannter in niederdeutscher Sprache eine kurze Reim-
chronik, die mit Konrads Vorgänger Rudolf schlofe *). Diese Reim-
chronik liefs Konrad auf einer Tafel im Dome anbringen. Ebenso
liefe er die Gebeine des Bruders Reyner, der im XIII. Jahrhundert als
Rekluse in einer Zelle beim Dome gestorben war, im Jahre 1465
feierlich erheben und, ebenfalls in niederdeutscher Sprache, das Leben
Reyners, sowie die an seinem Grabe geschehenen Wunder beschreiben •).
Den Ansprüchen der Gelehrten genügten solche populäre Werk-
chen nicht. Daher begann im Jahre 1480 der Bürgermeister und
bischöfliche Rat ErtwinErtman (gestorben 1 505) die Ausarbeitung einer
lateinischen Chronik des Bistums ^). Ertman war Jurist und hatte in Erfurt
i) Osnabrücker Geschichtsqaellen I, EinL S. XIII.
2) Diese Notizen hat Philipp i veröfifentlicht in den Osnabrücker Geschichtsquellen
I, S. 3it
3) Über Jordanus vgl. Osw. Redlich, Rudolf von Habsburg (Innsbruck 1903),
S. 423 fr.
4) Vgl. F. Runge, Albert Suho als Quelle für den Osnabrücker Chronisten
Lilie (Mitteilungen 16. Bd. [Osnabrück 1891], S. 173 ff.).
5) Herausgegeben zuerst von C. J. B. Stttve (Mitteilungen 7. Bd., S. iff.)f ^>^°
von mir in den Osnabrücker Geschichtsquellen I, S. 7 ff.
6) Leben des Bruders Reiner, herausgegeben von C. Httdepohl (Mitteilungen
I. Bd. Osnabrück 1848, S. 289 ff.).
7) Ertwini Ertmanni Croniea sive catalogus episcoporum Osnaburgensium,
herausgegeben zuerst von Meibom (Rerum Germanicarum T. II 1688, p. 193), dann von
— 123 —
studiert Seine Kenntnis des kanonischen Rechtes verwertet er, freilich
nicht immer glücklich, zu historischen Kombinationen. Daneben aber
sucht er eifrig Material zusammen : die Urkunden des Domarchivs hat
er sorg<ig durchgesehen und viele Auszüge daraus mitgeteilt. Manche
Pergamente, die unbeachtet unter den Chorstühlen lagen, wurden auf
seine Veranlassung hervorgeholt und erwiesen sich als historisch inter-
essante Schriftstücke. Ihm verdanken wir die einzige uns erhaltene
Abschrift der Reimchronik und die früher angeführten Auszüge aus
der Ostertafel, den Iburger Annalen und der Biographie Detmars —
lauter uns jetzt verlorenen Quellen. Ebenso forschte er in den Chro-
niken der benachbarten Diözesen Minden, Münster und Utrecht, sowie
der Erzdiözese Köln, und nahm ganze Abschnitte aus ihnen in seine
Darstellung auf). Wir freilich würden gerne auf diese Erweiterung
seines Buches verzichten; denn er wurde dadurch gehindert, die Ge-
schichte seiner eigenen Zeit zu behandeln. Sein Werk ist unvollendet
geblieben, aber es ist ein frühes literarisches Zeugnis gelehrter
historischer Forschung in Deutschland, wie sie nur ein humanistisch
gebildeter Geist betreiben konnte. Bezeichnender Weise ist der Ver-
fasser Jurist, und nicht wie die Mehrzahl seiner geschichtsschreibenden
Vorläufer Theologe.
Die kleineren Klöster des Hochstiftes waren von Bischof Konrad III.
sämtlich nach der Bursfelder Regel reformiert und der Au&icht des
Abtes von Iburg unterstellt worden. Dabei sammelte man, was von
Stiftungslegenden und historischen Notizen zu finden war. Die Le-
genden der Klöster Rulle und ösede sind uns noch erhalten, freilich
nur in Bearbeitungen aus dem XVI. Jahrhundert *). Dafis der Bene-
diktiner BernhardWitte, der in der Diözese Münster im Kloster Lies-
born lebte, die Iburger Annalen für seine Geschichte Westfalens be-
nutzte, ist schon oben erwähnt. Ob es gelingen wird, aus diesem
mir (Osnabrücker Geschieh tsqnellen I, S. 19 ff.)* ^S^- Vildhaut, Handbuch der Quellen-
künde xur deutsehen Oeschichte, Bd. n (Arnsberg 1900), S. 399.
i) Für Köln benutzte er die am das Jahr 1370 abgefafste Orontca prestdwn et
archiepiseoporum. Da diese Chronik auch von dem Verfasser des als Chronicon
magnum Belgicum bekannten Sammelwerkes (vgl. Vildhaut a. a. O. S. 361) benatzt
wurde, so stimmte Ertmans Erzählung meist wörtlich mit dem ChrMB üderein. Doch
hat Ertmann das ChrMB selbst nicht benutzt.
2) Die drei Legenden vom Kloster %u Btdle, herausgegeben von C. Raven (Mit-
teilungen I. Bd., S. 364ff.). F. Philippi, Von der SHflung der Kirche und Etn-
weihtmg der Altäre %u Oesede (Mitteilungen 14. Bd., S. 59 ff.).
— 124 —
Werke die Iburger Annalen in gröiserem Umfange zu rekonstruieren,
ist heute noch eine offene Frage ^).
In der Stadt Osnabrück setzte man zunächst die Rehnchronik
fort; man brachte den Lebenslauf Konrads III. und seiner beiden
Nachfolger in Verse. Diese Gedichte wurden dann auf der Tafel im
Dome hinter der Reimchronik eingetragen. Auch den Bürgeraufruhr
vom Jahre 1488 hat ein Zeitgenosse dichterisch behandelt*). Ein
Domgeistlicher stellte um das Jahr 1508 Auszüge aus älteren Chro-
niken zusammen *). Die historischen Notizen im Nekrologium des
Stiftes St. Johann werden zahlreicher und ausführUcher *). In dem
kleinen Kloster Marienstette verfaiste ein Ungenannter um das Jahr
1532 kurze Aufzeichnungen über die Begebenheiten der letzten drei
Jahrzehnte *).
Durch die Annahme der Reformation gewann die Stadt kirchlich
wie politisch mehr Selbständigkeit gegenüber den Bischöfen. Ein
Zeichen von erhöhtem Selbstgefühl ist es wohl, dafs der Rat in den
Jahren 1550 bis 1555 die Chronik Ertmans ins Niederdeutsche über-
setzen liefs, um sie auch den Ungelehrten näher zu bringen, wenn
sie auch nicht gedruckt wurde. Der Übersetzer hiefs Bernhard
von Horst. Zugleich schrieb in Iburg der Mönch Dietrich
Lilie eine Fortsetzung bis zum Tode des Bischofs Franz im Jahre
1553. Lilie hatte während des Interims im Jahre 1548 eine Pfarr-
stelle in Osnabrück versehen, dabei aber nach Ansicht der Alt-
gläubigen den Lutheranern zu viel Entgegenkommen bewiesen. Auch
zeigt seine Darstellung ein gewisses Schwanken im Urteil über Luther;
die Vergleichung der verschiedenen Handschriften ergibt , dafs Lilie
unter dem Drucke seiner Oberen manche Sätze nachmals geändert hat.
In den meisten Handschriften sind Horsts und Lilies Arbeiten so
eng verbunden, dafs man lange Zeit Lilie für den Verfasser beider
i) Vgl. darüber die Bemerlrongen von Scheffer-Boichorst, Annal. Patherbnum.
S. 44, Anm. 3 and F. Philipp! im Neuen Archiv 25. Bd., S. 770. Ober Wittes Leben
und Werke orientiert der von P. Bahlmann verfafste Artikel in der Aügemeinen
Deutschen Biographiey Bd. 43, S. 587.
2) Ober diese in der niederdeutschen Übersetzung von Ertmans Chronik erhal-
tenen Gedichte vgL F. Runge in den Osnabrttcker Geschichtsquellen 2. Bd., S. XLVIff.
3)H. Veltman, Exxerpte atis anscheinend verloren gegangenen Osnabrücker
Chroniken (Mitteilungen Xu, S. 383 flf.)
4) Osnabrücker Geschichtsquellen I, S. 4 ff.
5) C J. B. Stttve, Ein bei den Marienstetter Akten befindliches kieines Heft
(Mitteilungen 2. Bd., S. 166 ff.). Darin findet sich n. a. eine Notiz über den Tod
Ertwin Ertmans.
— 125 —
Teile hielt. Erst der neueste Herausgeber F. Runge hat den wahren
Sachverhalt festgestellt ^).
Weniger durch äuisere Rücksichten beeinfiu&t als Lilie zeigt sich
der humanistisch gebildete Edelmann Kaspar Schele in seinen
Denkwürdigkeiten. Dieselben sind in lateinischer Sprache abgefaist
und behandeln die Zeit von 1530 bis 1549*). Viele wichtige Nach-
richten über diese Zeit gibt auch der lutherische Theologe Hermann
Hamelmann, ein geborener Osnabrücker, Sohn eines Klerikers von
St. Johann •). Ferner besitzen wir eine Anzahl Aufzeichnungen von
ungenannten Verfassern, wohl städtischen Beamten oder Geistlichen,
über Verfassung und Schicksale der Stadt im XVI. und XVII. Jahr-
hundert. Diese kurzen Notizen können nicht als Geschichtswerke im
eigentlichen Sinne betrachtet werden ; doch sind sie zuverlässig ^). Im
Jahre 161 7 gründete Martin Mann die erste Druckerei in Osnabrück,
und aus dieser Offizin ging schon im Jahre 16 19 eine von Rudolf
Bellinckhausen verfafete Chronik in deutschen Versen hervor. In
der Folgezeit erschienen hier zahlreiche Flugschriften über Tages-
ereignisse *).
Eine kurze Geschichte des Nonnenklosters Malgarten schrieb im
Jahre 1601 der Beichtvater Johann Veltman. Lange Zeit galt dieses
Werk fiir verloren *). Neuerdings aber ist die Originalhandschrift von
einem süddeutschen Antiquar zum Kaufe ausgeboten worden und be-
findet sich jetzt in Privatbesitz ^.
i) Zuerst erschienen beide Teile im Druck unter dem Titel Oesehichte des Fürsten-
ttiiTis und Hochstifts Osnabrück (Osnabrück 1 792) in vier Bändchen ; davon enthält das
erste die Übersetzung Ertmans, das zweite die Fortsetzung von Lilie, das dritte und
vierte eine Zusammenstellung kleinerer historischer Aufzeichnungen aus dem XVI. und
XVII. Jahrhundert. Der Text Lilies ist hier nach einer stark interpolierten Handschrift
wiedergegeben. Für kritische Untersuchungen darf daher jetzt nur die neue, von
F. Runge besorgte Ausgabe (Osnabrücker Geschichtsquellen 2. Bd., Osnabrück 1894)
benutzt werden.
2) Mitteilungen I, S. 85 ff.
3) Allgemeine Deutsche Biographie Bd. X, S. 474 ff., sowie Hermann Hamel-
mann, eine Skixxe seines Lebens und seiner Schriften von Emil Knodt (Herbom)
in dem Jahrbuch des Vereins für die Evangelische Kirchengeschichte der Grafschaft Mark,
I. Jahrg. (1899), S. 1—93.
4) Zusammengestellt sind diese Aufzeichnungen in Teil III und IV der Oesehichte
des Fürstentums und Hbehstifts Osnabrück (s. oben).
5) Vgl. H. Runge, Oesehichte des Osnabrücker Buchdrucks (Mitteilungen 17. Bd.
1893). Das Verzeichnis der Drucke beginnt daselbst S. 322.
6) O. Lorenz, Deutschlands Oesehichtsquelleny 2. Bd. (3. Aufl. 1886), S. 82.
7) Vgl die Notiz darüber in den Osnabrücker GescMchtoquellen 3. Bd. (1895),
S. 259 (s. unten).
— 126 —
Die von Köln ausgehende Gegenreformation fand in Osnabrück
einen energischen Vorkämpfer an Bischof Franz Wilhelm (1625 bis
1661). Man wei(s, dafe die Vertreter dieser Richtung den Protestan-
tismus ebensosehr mit geistigen Waffen wie mit physischen Zwangs-
mitteln bekämpften. Zu ihren geistigen Waffen aber gehörte vor
allem die kirchengeschichtliche Forschung. So verdanken wir einem
Gehilfen Franz Wilhelms, dem Kölner Gelehrten Ägidius Gelenius,
die neuerdings von H. Breislau entdeckte Abschrift der unverfälschten
Vita Bennanis. Auf Franz Wilhelms Veranlassung wurden auch Bio-
graphien der beiden als Lokalheilige geltenden Bischöfe Wiho und
Adolf zusammengestellt ; doch haben diese für uns keinen selbständigen
Wert, da sie nur auf noch vorhandenen Quellen beruhen *).
In das Kloster Iburg trat im Jahre 1653 als Novize Maurus
Rost, der Sohn eines englischen Emigranten. Maurus zeichnete sich
unter seinen Ordensbrüdern so aus, dais er, kaum 33 Jahre alt, im
Jahre 1666 zum Abte gewählt wurde. Die Vermögensverhältnisse des
Klosters waren zerrüttet; Maurus mufste sich bemühen, entfremdete
Güter wieder zu erwerben, vergessene Rechte neu geltend zu machen.
Dies führte ihn zum Studium der Urkunden und zu dem Entschlüsse,
eine Geschichte des Klosters zu schreiben. Seine in lateinischer
Sprache abgefafsten Annalen umfassen die Zeit von der Gründung
Iburgs bis zum Jahre 1700 *). Für die ersten Jahrhunderte sind sie
nur mit Vorsicht zu benutzen; denn Maurus wollte nachweisen, dafis
die bischöfliche Burg, die neben dem Kloster stand, ursprünglich auf
Klostergut erbaut sei. Diesem Zwecke dienen auch gewisse Inter-
polationen, die Maurus in die Vita Bennonis hineinbrachte. Die alten
Iburger Annalen hat er nicht mehr gekannt; sie waren also zu seiner
Zeit schon verloren. Selbständigen Wert gewinnt seine Darstellung
erst mit dem XV. Jahrhundert; denn hierfür konnte er noch manche
jetzt verschwundene Quellen benutzen. Für seine eigene Zeit be-
schränkt er sich nicht mehr auf die Lokalgeschichte, sondern zieht
auch die auswärtigen Ereignisse in den Kreis seiner Betrachtung: so
die Kriege Ludwigs XIV., der Türkenkrieg von 1683 bis 1697, die
englische Revolution von 1688. Freilich kann er nur berichten, was
er aus den damals so zahlreich erscheinenden Flugschriften erfuhr;
doch ist es interessant zu sehen , wie ein in die Geheimnisse der
i) Vgl. Osnabrücker G^schichUqneUen l. Bd., S. UEL
2) Annalea monoHoni S, Ciementü m Iburg coUectcre Mauro ahbate^ heraus-
gegeben Ton C. StttTe (Osnabrücker GeschichtsqaeUen 3. Bd., Osnabrück 1895).
— 127 —
hohen Politik nicht eingeweihter katholischer Prälat jene Vorgänge
beurteilt.
Fürstbischof von Osnabrück war seit 1662 der Herzog (später
Kurfürst) Ernst August von Hannover. Dieser hat mit seiner Ge-
mahlin Sophie anfangs in Iburg, später von 1672 bis 1680 in Osna-
brück residiert. Sophie hat diese glücklichste Epoche ihres Lebens
in ihren Memoiren eingehend geschildert *). Dafs auch Abt Maurus,
der strenge Katholik, sich dem Zauber dieser hochgebildeten philo-
sophischen Fürstin nicht entziehen konnte, zeigen einige Bemerkungen
in seinem Werke.
Im Bistum Osnabrück war Maurus der letzte Vertreter der alten
naiven Geschichtschreibung, welche im engen Anschlufs an die zu-
fallig vorhandenen Quellen einheimische und auswärtige Begebenheiten
durcheinander erzählte *). Die kritische, sich auf die Landesgeschichte
beschränkende Forschung hat dort erst mit dem 18. Jahrhundert be-
gonnen, veranlafst durch einen Angriff auf die Echtheit der angeblich
ältesten Urkunden des Stiftes ^). Zugleich wandte damals ein anderer
Gelehrter, der Gymnasialrektor Zacharias Götze, seine Aufmerk-
samkeit den im Lande gefundenen Überresten aus römischer Zeit zu ^).
Auf Grund dieser Vorarbeiten erst konnte Justus Moser versuchen,
die Landesgeschichte von den ältesten Zeiten an darzustellen, während
die älteren Lokalhistoriker nicht über Karl den Grofscn und Wittekind
zurückgegangen waren. Wohl hat Ertman seine Kenntnis des römischen
Rechtes auch bei seinen geschichtlichen Forschimgen gelegentlich ge-^
zeigt; Kaspar Schele und Maurus Rost bemühen sich, ein schul-
gerechtcs klassisches Latein zu schreiben; aber erst Moser hat die
humanistischenStudien systematisch für die Osnabrücker Landes-
geschichte verwertet *).
i) Memoiren der Berx4)gm Sophie, nachmals Kurfitrstin von Hannover, heraas-
gegeben von A. Köcher (Pablikationen ans den K. PrenfsUchen Staatsarchiren 4. Bd.„
Leipzig 1879).
3) Die kurzen Aofzeichnongen des Rentmeisten Schmitman ans den Jahren 1661
bis 1666 (MitteUungen 26. Bd. [1902], S. 277 ff.) können nicht als eigentliches Geschichts«
werk betrachtet werden.
3) Vgl. Philippi in Osn. US. I, Einl. S. K.
4) Nachrichten über Götze enthält das Programm des Ratsgymnasiams 1869, S. 25ff.^
▼gl. dazu F. Runge, QesehichU des Baisgymnasiums (Osnabrück 1895), S* 55*
5) Damit ist lUr Osnabrück die in diesen Blfittern, 4. Bd., S. 299, aofgeworfene-
Frage beantwortet, soweit dies auf Grund des gedruckten Materials möglich ist
%^^>^N^>^^»i^>^»M^*^»^>^'^^>^>^"
— 128 —
Mitteilungen
OrtSTeneichnisse* — Wie es mit derartigen Werken
ü!» ^<t9cbM%ikae& Teden Deutschlands steht, ist bereits früher wiederholt
^t^^^e^Mt «onikn *). Neuerdings ist nun auch in Westpreufsen eine
iiltotokc^^< V^rOd^ndicbimg angeregt worden, die auch insofern von Bedeutung
te4^ ,^ sJbDe Amtgang dazu Ton dem 1901 neu gegründeten K^ Staats-
ji * >: h X ^ <u l^aniig ausgegangen ist, das damit seine wissenschaftliche Tätig-
IciC N^uuftt Darlegungen über das Unternehmen Tom Staatsarchivar Bär,
vhc *uclx auj&erhalb der Provinz — namentlich überall dort, wo slavische
^HcuMimeo vorhanden sind, also bis westlich der Elbe — Beachtung und
^,1«^ Vcihäitnissen entsprechende Würdigung verdienen, finden sich in den
\ii:u4iuH4^'n tk^ Westpreußischen OeschiciUsvereins (3. Jahrgang Nr. i :=
Yaaiu&r 1904)» die wir deshalb hier im wesentlichen wiedergeben wollen:
„Weit schwieriger als in irgendeiner Provinz gestaltet sich in West-
picufken jede Feststellung über die historische Benennung und die geo-
graphische Zugehörigkeit der Dörfer imd örtlichkeiten. Den Grund hierfür
bietet die in dieser Allgemeinheit sonst in keiner Provinz, auch in keiner
Uec ö^hchen Provinzen wahrnehmbare Tatsache, dafs die meisten Orte
iiu l'Aufe der Jahrhunderte wenigstens zwei verschiedene Namen oder
U<.Hh Namenformen gehabt haben, eine deutsche und eine polnische.
AUc OxKt aber weisen darüber hinaus mehrere Entwickelungsformen ihrer
Ueut^^hen bezw. polnischen Namen auf, die jede Lokalisierung im Einzd-
tiaiie au einer schwierigen tmd sehr oft tmlösbaren Aufgabe gestalten. Sie
wirü fUr spätere Zeiten — wenn nicht jetzt eine Festlegung eintritt —
ucKh viel schwieriger werden, weil die seit einigen Jahrzenten übliche
v.>it:u)ainenänderung wieder neue Namen den alten und den bestehenden
huuut\i^t« Diese neuen Namen sind nun, wie anerkannt werden mufs,
vicUach unter Berücksichtigung der alten deutschen Bezeichnung gewählt
^vuU^u uud es ist nicht zu verkennen, dafs hier die für einige Kreise
vivi:tvii^i Ihovinz vorhandenen, mit geringer Ausnahme musterhaften Kreis-
gv^vbichten von gutem Einflufs gewesen sind. Aber ebenso oft sind jene
N^vucuv^udeningen ohne jene Rücksicht, ohne historisches Gefühl imd
s^hv\c Not gaiu willkürlich vorgenommen worden. Einige Beispiele
xvKU vUt\u angeführt. Das Gut Dziemiony im Kreise Thom *) hiefs zur
V^uku^^cit Simnau, der dementsprechende polnische Name Dziemiony ist
sU u^ vu uuMcien Tagen in Dreilinden umgeändert, der historisch-sprachliche
' uiu^uvvhhaug also ohne Not unterbrochen worden, weil es richtiger
<swsx\vw wAu\ die alte deutsche Fonn Sinmau wieder zu Ehren zu bringen.
y Sik^^sv yt^ihalt es sich mit Pygrza im Kreise Thom. Der Ort wurde
.*- N^-styMvisMt Wppingsee und Poppmgsee genannt und hat mm seit
> •>* KvOs^ \v\» Jahren den Namen Emstrode erhalten. In demselben
^^ V;^ i IM.» S, 97—109 und 129—137 sowie 4. Bd., S. 186—187. Ent-
^* V \\^ <v k«^ci> Baden and Elsafs sowie Württemberg, wenn aach in anderer
^ ,\^'y HA* *'^v^si^i^4bungen), gearbeitet wird an solchen in Hessen- Waldeck, in Thü-
^ «i^ s M V>v,^,^^^.^ Sachsen und Niederösterreich.
^ ^ ^ ^ H ^ ♦ I X beschichte der ländlichen Ortschaften usw. des Kreises Thom,
— 129 —
Kreise Thorn hiefsen die Orte Slomowo, Kamionken und Grzywno zur
Ordenszeit Slumme, Kemmenig und Griffen und wurden unter Nicht-
beachtung des historisch -sprachlichen Zusammenhanges in Rydigsheim,
Steinau und Stemberg umgeändert Es würde femer fUr Szramowo im
Kreise Strasburg statt des neuerdings gewählten Namens Niedeck die
Wiederherstellung des alten ordenszeitüchen Schrammendorf und für Jab-
lonowo im Kreise Strasburg statt Gofslershausen der einstige Name Gabelnau
zu empfehlen gewesen sein. Hiemach wird man zugeben , dafis die
Schaffung eines Ortslexikons und die Feststellung der Ortsnamenformen«
von erheblichem Einflufs für diese ganze Frage sein wird. Sie wird, wie
diese Beispiele gezeigt haben, in erster Linie sich brauchbar erweisen,
wenn es sich bei Verändemng eines polnischen Ortsnamens daram handeln
kann, eine bereits früher gebräuchlich gewesene deutsche Bezeichnung
wieder anzunehmen, sei es dafs der wiederanzunehmende Name ursprüng-
lich deutsch war oder durch Umfomiung tmd Eindeutschung eines ur-
sprünglich polnischen Namens ein deutsches Gewand erhalten hatte. Aber
auch wenn wir die Kenntnis der einstigen deutschen Form eines Namens
nicht besitzen, kann das Ortslexikon sich als ein brauchbares Hilfsmittel
für die vorliegende Frage dadurch erweisen, dafs wir aus ihm die Gesetze
kennen lernen^ nach welchen in früheren Jahrhunderten die Polonisierung
deutscher Ortsnamen und die Eindeutschung polnischer Ortsnamen statt-
gefunden hat. Können wir dann beim Mangel älterer Quellen oder weil
ein Ort überhaupt erst zu polnischer Zeit besiedelt worden ist, eine ältere
deutsche Namensform überhaupt nicht mehr feststellen, so werden wir in
vielen Fällen in der Lage sein, durch Beobachtung jener Gesetze, nach
denen die alte Sprache Namen polonisiert bezw. eingedeutscht hat, auch
heute noch polnischen Ortsnamen ein deutsches Gewand künstlich zu
geben, wie es früher die lebendige Sprache von selbst getan hat bei ihrer
gröfseren, durch keine Schriftsprache und keine amtliche Schreibweise
eingeengten Bewegungsfreiheit. Einige Beispiele werden das Gesagte er-
läutern, wobei im voraus zu bemerken ist, dafs es im einzelnen Falle nur
selten möglich ist, mit Genauigkeit zu sagen, ob der deutsche oder der
polnische Name der ältere und ursprüngliche gewesen ist. In einigen
Fällen hat geradezu eine Übersetzung aus der einen in die andere Sprache
stattgefunden. Im heutigen Kreise Strasburg ^) hiefs zur Ordenszeit ein
Ort Roddin und Roden, dessen polnischer Name Karczewo sich als eine
Übertragung durch karczowac = roden darstellt Ebenso entsprechen
einander als Übersetzungen Piecewo imd Ofen, Nowawies und Neudorf,
Czystochleb und Schönbrot, Zielen und Grunenberg, Lipnica und linde,
Srebmiki und Silbersdorf. Daraus folgt, dafs in solchen Fällen, wo eine
Feststellung der emstigen deutschen Namensform nicht mehr möglich ist,
auch die Verwendung einer Übersetzung zur Wahrung des sprachlichen
Zusammenhanges berechtigt sein kann. Meist allerdings ist die sdte Sprache
anders verfahren, sie hat das fremde Wort sich selbst mtmdgerecht gemacht,
wofür auch der eben zuletztgenannte Ort Srebmiki = Silbersdorf ein
Beispiel bietet, denn tatsächlich ist Silbersdorf erst eine spätere Bezeichntmg,
i) Plehn, Ortsgeschichte des Kreises Strasburg, Königsberg 1900.
9
— 130 —
während der Ort zur ganzen Ordenszeit Schrebemik genannt worden ist
Der oben schon genannte Ort Jablonowo heifst in der ältesten Form
Jabloyo imd war eine der zerstörten Burgen, die der Herzog Konrad
von Masowien 1222 dem Bischof Christian von Preufisen schenkte. 1295
erscheint der Name schon in verdeutschter Form Gobilnau und dann Gabehiau,
bis im 16. Jahrhundert der pobiische Name Jablonowo Platz greift und der
Besitzer Nildas v. Eicholz den Namen Jablonowski annimmt Die Beobachtung
nun, dafs die polnische Endung ow und owo einem deutschen au ent-
spricht, läfst sich so oft machen, dafs sie in der rein sprachlichen Mode«
lung als die Regel erscheint ') und es entsprechen Pi^tkowo = Pindcau,
Gronowo = Grünau, Rogowo = Rogau. Andere viel vorkommende
polnische Endungen yca, ica, ice, ycz entsprechen dem deutschen itz,
ieniec einem deutschen enz z. B. Tyhce = Thilitz, Rybieniec = Ribenz
imd Reibnitz, die polnischen Endungen in, yn werden zum deutschen en
abgeschlififen, z. B. Radzyn = Rehden, Lasin = Lessen, L^zyn = Lansen
imd W^zyn = Wansen, die polnischen Endungen sk und sko entsprechen
dem deutschen seh z. B. Radowisko = Redewisch, Targowisko = Targe-
wisch und Therwisch. Daneben kommen bei allen diesen Endungen aber
auch freiere Umbildungen vor, so dafs Gawlowice und Gabelndorf, Pilewice
imd Pfeilsdorf, Galczewo und Galsdorf, Gotartowo und Gottersdorf, Dzia-
lowo und Salendorf, Szramowo und Schrammendorf, Szymkowo und
Schenkendorf einander entsprechen. Wie für die Schlufssilben, so werden
sich auch für die Anfangssilben und namendich für die Umsetzimg der
Konsonanten gewisse Regeln ergeben und es ist kein Zweifel, dafs ihre
Beobachtung und ihre Anwendung in den Fällen, in denen die Umände-
rung eines Ortsnamens für wünschenswert gehalten wird, dazu führen kann,
den historischen und sprachlichen Zusammenhang mehr, als es vielfach
bisher geschehen ist, zu wahren.
Mit dem hier gesagten soll nun nicht etwa behauptet werden, dafs
die Frage der bei uns üblichen Ortsnamenänderung etwa allein die Be-
arbeitung eines historisch-geographischen Ortslexikons rechtferigen könnte»
sondern es sollte damit nur sein Nutzen überhaupt nach einer besonderen^
auf unsere westpreufsischen Verhältnisse hinweisenden Richtung erläutert
werden.
Der Plan der Anlage eines solchen Ortslexikons würde sich in folgende
Sätze begreifen lassen.
1 . Das historisch-geographische Ortschaftverzeichnis der Provinz West-
preufsen hat die Aufgabe, in lexikographischer Form von den örtlichkeiten
der Provinz diejenigen Nachrichten zu geben, welche die Entwickelung
des Namens, die Lage, Entstehung und jeweilige Zugehörigkeit zu poli-
tischen oder kirchlichen Bezirken klarstellen.
2. Aufgenonmien werden Ortschaften, Burgen, Schlösser, Gutsbezirke»
Einzel-Höfe und -Mühlen, aufserhalb der Ortschaften liegende Kapellen,
Wüstungen, Flurnamen, Berge, Wasserläufe, Seen und Wälder, soweit sie
urkundlich genannte Namen haben.
i) Betüglich einer AnfsteUung solcher Regeln ist das hierfür wichtige Werk
Wojciech K^tnyaskis zu vergleichen: O Indoosci Polskiej w Prosiech niegdys krxyjackicK
S. 92 ff.
— 131 —
3. Unter dem einzelnen Artikel ist anzugeben: Der heutige Name
in amtlicher Schreibweise mit HinzufUgung des Amtsgerichtsbezirkes; die
Namensformen 9 soweit sie einen Fortschritt in der Namenentwickelung
bedeuten imter Angabe der Zeit; geschichtüche Nachrichten über Ent-
stehimg, Zusammensetzung imd topographische Entwickeltmg (also Grün-
dung, Handfeste), Erhebung zur Stadt, Eingemeindungen, im Orte liegende
Burgen, Schlösser, Kirchen, Klöster, femer Familien, welche das Dorf
oder Gut besessen tmd dergl ; die Entwickelung der politischen Zugehörig-
keit (terra, Komturei, Starostei, Powiat, landrätlicher und steuerrätlicher
Kreis, heutiger Kreis und die älteren Gerichtsbezirke); die kirchliche Zu-
gehörigkeit; Literatur über einzelne Ortschaften.
Die Bearbeitung eines solchen Werkes wird naturgemäfs eine erheb-
liche 2^it tmd die dauernde Tätigkeit einer vollen Arbeitskraft auf mehrere
Jahre in Anspruch nehmen, auch wenn man die Auswahl der durch-
zuarbeitenden Quellen vorher durch Sichtung beschränkt. Unerläfslich
aber wird es sein, die gesamte rein urkundliche Überlieferung der älteren
Zeit heranzuziehen, namentlich aber femer die Zins- und Hausbücher des
deutschen Ordens als vornehmste Quelle für die Namen jener Zeit, femer
die Lustrationen der Starosteien, die Eintragungen in die Gerichtsbücher,
die Gmndbücher, und die im hiesigen Staatsarchiv verwahrten berühmten
Akten der Friderizianischen Landesau&ahme , endlich die gesamte für
diesen Zweck in Betracht kommende gedmckte Literatur.
Natürlich wird die Bearbeitung auch Kosten vemrsachen. Aber
gleichzeitig mit der Berühmng dieser meist unangenehmen Frage kann
ich erfreulicherweise mitteilen, dafs diese Frage für uns schon kaum
noch eine Frage ist, insofem es mir gelungen ist, die Mittel zunächst
für einige Zeit und, wie ich hofife, bis zur Beendigung der Arbeit bereit
gestellt zu erhalten. Vom i. Januar oder vom i. April an wird ein
junger Gelehrter nach Ablegung des Archiv-Staatsexamens hierher gesandt
werden, um nach einem vorher im Staatsarchiv festzustellenden Plane die
Arbeit zu übemehmen. Der späteren Dmcklegung und Veröffentlichung
aber wird hoffentlich der Westprenlsische Geschichtsverein sein fürsorg-
liches Interesse nicht versagen.**
Ne^JahrsbUtter, — Die Tätigkeit der geschichtsforschenden Gesell-
schaften läuft bei dem heutigen Stande der Forschung namentlich darauf
hinaus, neues Quellenmaterial zu erschliefsen und der Bearbeitung zugänglich
zu machen, da die Arbeitsleistung des einzelnen Privatmannes hierzu nicht
ausreicht. Innerhalb der geschichtsforschenden Organisationen haben wiederum
die meist mit öffentlichen Mitteln ausgestatteten sogenannten „Publikations-
institute", meist Historische Kommissionen, ganz vorwiegend die
Veröffentlichung umfangreicher Quellen in die Hand genommen, tmd ihre
Betätigimg hat infolge davon einen streng wissenschaftlichen Charakter ge-
wonnen. Trotz alledem läfst sich nicht verkennen, dafs kritische Quellen-
edition doch nur Vorarbeit, wenn auch unbedingt notwendige Vorarbeit,
darstellt imd dafs sie aufserdem weniger aus inneren, wissenschaftlichen
Gründen, sondem als Ausflufs des wirtschaftlichen Prinzips der Arbeitsteilung
gesondert betrieben wird: Ziel der Geschichtsforschung bleibt
9*
— 132 —
trotzdem die abgerundete künstlerische Darstellung ge-
schichtlichen Geschehens und geschichtlicher Zustände.
Dieser Gedanke besagt etwas an sich selbstverständliches, aber er muis
ausgesprochen werden, um angesichts der unermüdlichen Quellenerö&ung
nicht die Meinung aufkommen zu lassen, als ob die Vertreter der wissen-
schaftlichen Geschichtsforschimg darin ihre Hauptaufgabe erblickten. Und
zum Glück findet dieser Satz in den Tatsachen seine Bestätigung, insofern
nämlich wenigstens zwei der historischen Kommissionen (Sachsen-Anhalt
imd Baden) in dem Bewufstsein ihrer Pflicht, auch der Darstellung zu
ihrem Rechte zu verhelfen, tmd in der Absicht, auch auf weitere Kreise ein-
zuwirken, jährlich ein Neujahrsblatt erscheinen lassen. Diese kleinen
Darstellungen aus dem Arbeitsgebiete der beiden Kommissionen sind auf
gediegener Quellenkenntnis aufgebaute Arbeiten, die Forschungsergebnisse in
ansprechender Form dem grofsen Publikum geniefsbar machen, aber zu^eich
die geschichtliche Erkenntnis mehren sollen. Indem sie diesen Zweck er-
füllen, helfen sie aber auch dazu, das Wissen von der Landesgeschichte zu
mehren und den gelehrten Instituten, die sie herausgeben, in weiteren Kreisen
Freunde zu gewinnen. Dies letztere ist ein Gegenstand von höchster Be-
deutung, der in jeder Landschaft den Gedanken nahe legen sollte, ob sich
nicht ähnliches ins Leben rufen liefse, und die Frage ist überall
da besonders brennend, wo die Haupttätigkeit des Instituts im engeren Sinne
wissenschaftlicher Natur ist Der Vorteil, den es gewährt, wenn eine fort-
laufende Serie um eine Menge von Einzelarbeiten ein gemeinsames Band
schlingt tmd wenn das herausgebende Institut eine Gewähr fUr die Qualität
der Darbietungen übernimmt, liegt auf der Hand. Was mit den Neujahrs-
blättem geleistet werden kann, mag ein Überblick darüber zeigen, was in der
Provinz Sachsen und in Baden in den letzten Jahren in dieser Richtung
tatsächlich geleistet worden ist; und eine ihrem Zwecke nach gleichartige
aber von privater Seite ins Leben gerufene neue Publikation, die für das
Herzogtum Anhalt ähnliche Ziele verfolgt, möge schliefslich als Beispiel
dafür dienen, dafs in jeder Landschaft — mögen die Verhältnisse sein, wie
sie wollen — etwas den Bedürfnissen entsprechendes geleistet werden kann.
Neujahrshläitery heraitsgegeben von der Historischen Kommission für die
Provinz Sachsen, erscheinen im Verlag von Otto Hendel in Halle seit 1877;
28 Hefte mannigfaltigen Inhalts gibt es bis jetzt, von denen die beiden
jüngsten zur Besprechung vorliegen. Die Historische Kommission hat
seit 1900 in ihr Arbeitsgebiet auch das Herzogtum Anhalt einbezogen
und demgemäfs ihren Namen erweitert, und diese Erweiterung tritt im
27. Neujahrsblatt insofern zutage, als darin ein anhaltischer Gegenstand zur
Behandlung kommt, nämlich die Dessauer Eibbrücke ^). Die Geschichte
dieses wichtigen Eibüberganges wird hier sachkundig von Hermann Wä s c hk e
dargestellt und damit dem Bau der mitteldeutschen Verkehrsgeschichte ein
neuer wichtiger Stein eingefügt. Dessau wird 1180 zuerst urkundlich erwähnt,
imd seine Anlage nach Weise eines Strafsendorfes macht es wahrscheinlich, dafs
die Entstehung der Siedlung eben auf den Flufsübergang zurückzuführen ist,
denn die Strafse, an die sich der Ort anlehnt, läuft von Norden nach Süden
I) H. Wäschke, Die Dessauer Elbbrüeke (Halle, Otto Hendel, 1903, 34 S. S^
— 133 —
in derselben Richtung, in der man den Strom überschreiten mufste. Der
Eibübergang selbst liegt bei Rofslau, aber wegen der engen Beziehung zu
Dessau wird er als der bei Dessau bezeichnet. Doch erst im ersten Drittel
des XIV. Jahrhunderts ist dies der Fall, während vorher der Muldenüber-
gang wichtiger war, als der über die Elbe. Eine Elbföhre in Anhalt ist zu-
erst zwischen Aken tmd Steutz 1362 zu finden, d. h. dort, wo man auf
dem Wege von Zerbst über Köthen nach Halle die Elbe überschreitet; bei
Roislau ist dasselbe erst um 1437 der Fall, wenn auch wohl anzunehmen
ist, dafs die Fähre damals schon einige Zeit bestand. Die Brücke bei Dessau
entstand aber erst 1583 imd erst damit ward der Verkehr von Norden nach
Süden über diese Stelle geleitet, so dafs nun der ältere Flufsübergang Aken-
Steutz seine Bedeutung verlor. Im Jahre 1584 entstand dann die als Fort-
setzung der Eibbrücke gedachte Muldenbrücke; Schöpfer des Baues waren
die Baumeister Peter und Bernhard Niuronn. Wie nach Erbauung der
Brücke der Verkehr gestiegen ist, läfst sich annähernd zahlenmäfsig verfolgen ;
dafs sie auch als strategisch wichtiger Punkt erkannt wurde, beweist die Tat-
sache, dafs die Kaiserlichen bereits seit 23. Dezember 1625 die Brücke besetzt
hielten und sich dort verschanzten, während die Schlacht imi die Verschan-
zung erst am 25. April 1626 geschlagen wurde. Auch nach der Schlacht
wurde der Dessauer Eibübergang von den kriegführenden Parteien inmier im
Auge behalten und befestigt, nach dem Falle Magdeburgs aber liefs Tiüy
die Dessauer Brücke abbrennen. Den Verkehr vermittelte dann bis 1682
wiederum eine Fähre, die dann eine Schiftbrücke ablöste; 1735 ward eine
Pontonbrücke, und 1739 abermals eine stehende Brücke errichtet, die im
siebenjährigen Kriege wiederum als wichtig erkannt wurde. Sie ist dem in
allen Teilen Deutschlands so verheerenden bekannten Eisgang von 1784
zum Opfer gefaUen, aber schon 1787 imd zwar in gröfsercr Höhe neu er-
standen. Diese Brücke ist von den Preufsen auf ihrem Rückzug nach der
Schlacht bei Jena am 18. Oktober 1806 zerstört worden. Wieder mufste nun
die Fähre dienen, bis im April 1813 die Verbündeten vorübergehend eine
neue Brücke schlugen, wie wiederum der Dessauer Eibübergang eine gewisse
Rolle in den kriegerischen Operationen ' bildet. Die jetzige stehende Brücke
ist erst 1834 — 1836 erbaut worden, und über sie läuft seit 1841 auch die
Eisenbahn. — In den verschiedensten Richtungen sind diese Darlegungen
wertvoll, weil sie die Voraussetzung für die Entwickelimg einer Stadt in dem
gröfseren Rahmen des Verkehrs vorführen. Nichts wäre wünschenswerter,
ab wenn wir entsprechende verkehrsgeschichtliche Überblicke an recht vielen
einzebien Orten auf Grund des örtlichen Materials erhielten: jede solche
monographische Darstellung hilft das Bild der Verkehrsgeschichte vervoll-
ständigen. Im Vorübergehen wird noch S. 14 eine wichtige sprachgeschicht-
liche Bemerkung gemacht, nämlich die, dafs sich die Sprachgrenze zwischen
Mittel- und Niederdeutsch zugunsten des Mitteldeutschen in Dessau zwischen
1408 und 1433 verschoben hat.
Auf ein ganz anderes Feld führt uns das 28. Neujahrsblatt. Prof. Höfer
handelt hier über Archäologische Probleme in der Provinz Sachsen'),
I) P. Höfer, Archädogüche Probleme in der Provinx Sachten (Halle, O. Hendel,
1904, 29 S. %•).
— 134 —
stellt zunächst in aller Kürze das Gesamtergebnis der vorgeschichtlichen
Forschungen zusammen und entwickelt im besonderen, welche Aufgaben
den Forschern in der Provinz Sachsen beim jetzigen Stande des Wissens
gestellt sind. Das ganze Schriftchen stellt für jeden Freund des Alter-
tums, mag er wohnen, wo er will, ein Mittel dar, um Wesen imd Auf-
gabe der gesamten Archäologie kennen zu lernen, und vermittelt eine grofse
Menge tatsächlichen Wissens, wie es so kurz nur derjenige mitzuteilen ver-
mag, der die fast unübersehbare Literatur kennt und den gesamten Stoff
überblickt. Die Provinz Sachsen kommt dabei insofern zu ihrem Rechte,
als bei jeder Gattung von Funden, die ihrem Wesen und ihrer Bedeutung
nach im allgemeinen charakterisiert worden sind, im einzelnen erörtert
wird, in welcher Zahl und mit welchen Besonderheiten ausgestattet sie sich
in der Provinz vorfinden. Besonders anschaulich sind die Steinkanunem der
jüngeren Steinzeit imd der Kulturzustand der Menschen jener Epoche ge-
schildert, immer in enger Anlehüung an die Funde der Provinz ; die Datierung
dieser Kulturperiode tmd die Besprechung der Herkunft der zugehörigen Be-
völkerung zeichnen sich dadurch aus, dafs der Gedankengang, der zu den
einzelnen Behauptimgen geftihrt hat, wiederholt wird und ein Literaturverzeich-
nis am Schlufs auch dem Neuling den Weg zeigt, um in die Einzelheiten einzu-
dringen. Etwas kürzer ist dann an der Hand der Funde die Frage der ger-
manischen Einwanderung und germanischen Siedelung behandelt (S. i8 — 24),
und zum Schlufs sind eine Reihe einzelner Probleme aufgeftihrt, deren Lösung
durch eindringendes Studium der Funde möglich werden kann: die Aus-
grabimgen von Kulturresten erweisen sich selbst ftir verhältnismäfsig späte
Perioden vielfach wichtiger als die geschichtliche Überlieferung, das Sprach-
gut und selbst als die Ortsnamen. Höfers Schrift fafst in glänzender Weise
die Ergebnisse eigener und fremder Forschungen zusammen, und jede solche
Zusammenfassung ist an sich bereits eine Tat, die nicht nur Kenntnis, son-
dern auch Mut erheischt. Sie ist aber zugleich eine Programmschrift, die
das Zusammenarbeiten der einzelnen verwandten Disziplinen schildert imd
eine dauernde gegenseitige Befruchtung und Ergänzung fordert. Eindringlich
wird die Forschung durch Beispiele daran gemahnt, dafs alle Spezialisierung
nur dann segensreich zu wirken vermag, wenn der einzelne Forscher die
allgemeinen Ziele stets im Auge behält und an den Forschungsergebnissen
des benachbarten Spezialisten nicht achtlos vorübergeht
In Baden sind von 1891 — 1897 Badische Neujahrsblätter erschienen,
aber seit 1898 tragen sie ein neues Gewand und hcifstn Neujahrsblätter der
Badischen Historischen Kommission (Heidelberg, Karl Winter), wovon die
letzten vier Hefte zur Besprechung vorliegen. Peter P. Albert, Baden
xvnschen Neckar und Main in den Jahren 1803 — 1806 [= Neujahrsblätter
der Badischen Historischen Kommission, Neue Folge 4. Heidelberg, Karl
Winter 1901, 91 S. 8®] bietet ein einheitliches Kulturbild in einem fUr das
Werden des modernen badischen Staates höchst wichtigen Zeitpunkte und
teilt es in fünf Abschnitte: Land und Leute (S. 3 — 20), Staats- imd Rechts-
verhältnisse (S. 21 — 40), Kirche und Schule (S. 40 — 51), Wirtschaftliche
Verhältnisse (S. 52 — 70), Volkswohl imd Bildung (S. 70—85). Ein solcher
geschichtlicher Querschnitt berührt naturgemäfs die verschiedensten Gebiete,
gibt überall neue Aufschlüsse, aber ermöglicht es vor allem auch dem Laien
— 135 —
— und das ist eine wichtige pädagogische Aufgabe der Geschichtsdarstellung —
sich in die Zustände vergangener Zeiten hineinzudenken; die Ereignisse und
Vorgänge dienen in solchem Falle nur als Erläuterung der Zustände. Der
gesamte Inhalt von Alberts Schrift läfst sich hier auch nicht andeuten —
leider fehlt eine gegliederte Inhaltsübersicht — , wir müssen uns damit be-
gnügen einige Einzelheiten hervorzuheben und zwar vor allem solche, deren
Erörterung der femer stehende hier kaum suchen dürfte. Wir erhalten ein
Bild von Dalbergs Person und Herrschaft (8. 28), besonders aber sind es
die Zustände in dem Fürstentum Leiningen, das nur drei Jahre bestanden
hat, die dem Leser vertraut werden: eine Vermesstmg und topographische
Landesbeschreibung wurde ins Werk gesetzt (S. 38), schon 1803 ein Lei-
ningisches Intelligenzblatt ins Leben gerufen (S. 80 — 81). Der Landwirtschaft
wird Fürsorge zugewendet, und besonders zeichnet sich der Lehrer Haueisen
als werktätiger Förderer des Bauern aus (S. 5 9 ff.); der Kleeanbau (S. 58. 61)
und der der Kartoffel (S. 57 — 58) werden erörtert. In Baden wurde bei
der Neugestaltung der religiösen Verhältnisse auch der Judenschaft 1809
eine Organisation gegeben, die das ganze Land umfafste (S. 62). Die
Dürftigkeit des Schulunterrichts wird treffend gezeichnet (S. 48 ff.), die Zu-
sanmienstellung der die einzelnen Gemeinden drückenden Kriegslasten (S. 54)
verdient besondere Beachtung. In Mosbach befand sich seit 1756 eme
Saline im Betrieb, auch eine Papierfabrik und seit 1770 eine Fayencefabrik
bestand dort (S. 66), während einige andere industrielle Unternehmungen bereits
wieder eingegangen waren. Die Verwirrung, die im Mafs \md Gewicht herrschte,
und in der die Vielherrigkeit* des Landes zum Ausdruck konmit, ist S. 69 ge-
schildert; schliefslich finden wir eine interessante Bemerkung über das Ver-
schwinden der Volkstracht (S. 74), sobald sich der französische Geist nach der
Gründung des Rheinbundes Geltung verschaffte. Jeder Freund der Geschichte wird
dies Büchlein mit Genufs lesen und wer sich mit dem Deutschland befafst, wie
es beim Untergang des alten Reiches war, fUr den bUdet es infolge der sorg-
ftQtig ausgebeuteten und gut verarbeiteten Aktenmassen eine reiche Fundgrube.
Das Neujahrsblatt für 1902 bildet Samuel Friedrich Sanier, Ausgewählte
Gedichte, eingeleitet und herausgegeben von Eugen Kilian (XXXI und 78 S. 8^).
Ein in weiteren Kreisen kaum bekannter Dichter, der Dorfschulmeister S auter
zu Flehingen, der 1766 geboren wurde imd 1846 starb, wird hier zu neuem
Leben erweckt; sein Wesen imd Wirken ist in der Einleitung anschaulich
geschildert \md in Verbindung mit der zeitgenössischen Literatur gewürdigt,
imd der Leser mufs es als Verdienst anerkennen, dafs ein von anderen
— namentlich von Ludwig Eichrodt, der Das Buch Biedermaier
schrieb, — vielfach stark benutzter Dichter zu seinem Rechte kommt, dessen
Gedichte sogar vielfach den Charakter des Volksliedes angenommen haben.
Die sämtlichen Dichtungen sind zugleich Kulturbilder aus der ersten Hälfte
des XIX. Jahrhunderts und verdienen als solche schon Beachtung: so z. B.
Das Kaffeeweib (Nr. 25), worin die Stimmung des Volkes bei Einführung
der Kontinentabperre zum Ausdruck kommt, oder Aufruf xur Lamdwekr (Nr. 2 7),
in dem sich schon etwas vom Geiste der Freiheitskriege spüren läfst, obwohl
das Vordringen der Franzosen 1794 den Anlafis dazu gegeben hat. Auch der
Abschied der Attswanderer nach Amerika (Nr. 20) von 1830, ein Gegenstück
zu Freiligraths Gedicht von 1832, greift in die Ereignisse des Tages hinein.
— 136 —
Büder vom Konsianxer Konzü von Heinrich Finke bilden das Neu-
jahrsblatt 1903 (98 S. 8^). In zwei Abteilungen behandelt der Verfasser,
der sich ganz besonders mit dem Konstanzer Konzil beschäftigt, die Flucht
und die Schicksale des Papstes Johannes XXIU. in badischen Landen
(S. 7 — 59) und das literarische Leben und Schaffen auf dem Konzil zu
Konstanz (S. 60 — 98). Treten in dem ersten Abschnitt neben der Person
des Papstes die ätiiseren Ereignisse mit besonderer Berücksichtigung der
örtlichkeiten, wo Johann Aufenthalt nahm, (Schafifhausen, Waldshut, Laufen-
buiig, Freiburg, Breisach, Neuenburg, Mannheim) in den Vordergrund, so
wird in dem zweiten Abschnitt ein vorzügliches Bild von dem geistigen Leben
in Konstanz zur Zeit des Konzils gegeben und damit dessen kulturelle Be-
deutung in das rechte Licht gesetzt Mit der humanistisch-schöngeistigen
Richtung, soweit sie sich imter den Gästen der Stadt Konstanz verfolgen läfst,
werden wir hier vertraut gemacht. Als Sekretär in der päpstlichen Kanzlei
weilt der Humanist Poggio in Konstanz; er nimmt aber nicht teil an den
eigentlichen Verhandlungen, sondern widmet sich vor allem dem Bücher^
sammeln. Abschreiben und Verbessern, besucht mit seinen Freunden die
Bibliothek des Klosters St Gallen tmd entdeckt u. a. ein Exemplar von
Quintilians Institutionen; ja manches Buch aus deutschen Bibliotheken
— so ein Ammianus Marcellinus — ist damals nach Italien entführt worden.
Das Griechische, das zuerst Chrysoloras pflegte, vertritt nach seinem Tode
in Konstanz Cenci, und so traten noch eine Reihe anderer Humanisten auf^
von denen einer, Vergerio, dauernd diesseits der Alpen und zwar im Gefolge
Sigmtmds blieb. Eine wichtige Tat ist die Übersetzung von Dantes Göttlicher
Komödie tmd die Verfassung eines Kommentars dazu von Giovanni da Serra-
valle 14 16, und König Sigmund hat das Werk gelesen. Das Konzil selbst
hat anregend auch auf deutsche Dichter gewirkt, wenn sie auch keine Meister-
werke geschaffen haben, so auf Thomas Prischuh aus Augsburg imd Johannes
Engelmar tmd vor allem Oswald von Wolkenstein, den „letzten Minnesänger ^^
der entgegen Richentals Behauptung von einer wesentlichen Preissteigenmg
der Lebensmittel zu berichten weifs. In Konstanz selbst ist aber auch noch
eine eigene dem Humanismus eigene Literaturgattimg grofs geworden, die
Schmähschriftenliteratur, denn für deren Entfaltung boten die Zustände tm-
veikennbar den günstigsten Boden. Zustände tmd Personen werden in gleich
scharfer Weise befehdet, die Päpste dauernd mit Spitznamen belegt, vor
allem aber König Sigmtmd, dessen geschichdiches Bild Finke ganz vorzüglich
mit wenigen Strichen zeichnet, wird ztu: Zielscheibe des Witzes fUr die Spötter,
tmter denen der französische Staatssekretär Jean de Montreuil, einer der ersten
französischen Humanisten, oben ansteht Andrerseits zeitigt das Zusammen-
leben der Nationen auch zahlreiche Ergüsse wenig freundlicher Art überein-
ander, namentlich kommen die Franzosen dabei schlecht weg. Als Spafs-
macher tmd Beobachter der Konstanzer Zustände ist auch der spanische
Ho&arr Mossen Borra von Belang, der sich im Gefolge König Sigmtmds
be£uid und seinem Könige Alfons V. Bericht zu erstatten pflegte. Wohl
im ganzen Mittelalter ist nie gleichzeitig an einem Orte eme so internationale
Gesellschaft beisammen gewesen wie in Konstanz, und eben dieser Umstand
gibt den literarischen Produkten, die dort und im Zusammenhange mit den
dortigen Ereignissen entstanden sind, eben besonderen Wert. Finke gibt
— 137 —
Uer, ganz abgesehen davon, daüs dadurch neues Licht auf die konziliaren Er-
eignisse lallt, einen wertvollen Beitrag zu der noch sehr vernachlässigten
Literaturgeschichte des Mittelalters, Literatur in dem weiteren Sinne verstan-
den und ohne Rücksicht darauf, ob die Produkte lateinisch oder in einer
nationalen Sprache verfafst sind.
Im jüngsten badischen Neujahrsblatt behandelt Friedrich Panzer
die Deutsche Heldensage im Breisgau (Heidelberg, Karl Winter, 1904.
90 S. 8^). Den Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung bietet die
Tatsache, dafs in einer späten Einleitung zu einem Heldenbuch der Breis-
gau und das Land um Breisach als das Gebiet der Harlungen, der Nefifen
des Königs Ermanerich bezeichnet wird, deren Vormund der geirutoe Eckhart
ist Dieser gilt als derjenige, der nebst Dietrich von Bern die allgemeinen
Kämpfe überlebt und vor Frau Venus' Berg Wache hält, um alle zu warnen,
die in den Berg wollen. Diese Erzählung ist deshalb so bedeutsam, weil
bei Freiburg tatsächlich ein Eckardtsberg, 1139 und 1185 bereits mit diesem
Namen genannt, existiert. Eine sich im wesentlichen damit deckende Erzählung
enthält eine nordische Saga, die in einzelnen Zügen wieder durch die Qued-
linburger Annalen, das Gedicht von Bieterolf und Dietleib, Saxo Grammati-
kus und andere nordische Sagen ergänzt wird, im ganzen aber eine jüngere
Form der Sage aufweist. Indem Panzer dann den geschichtlichen Kern der
Sage zu cnthüUen sucht, betont er, dafs nicht das geringste dafür spricht,
(fc Harlungen als Heruler zu deuten, da der Harlungenberg bei Branden-
barg diesen Namen bewahre (S. 46 — 47), denn Berge dieses Namens und
zwar stets mons Harlungorüm imd nicht mons Herulorum finden sich auch
in Gegenden, die nicht von Herulem bewohnt werden. Das Auftreten des
getreuen Eckart in dem deutschen Volksglauben seit dem XV. Jahrhundert
hat eine Reihe gemeinsamer Züge, die darauf hindeuten, dafs er in das
wütende Heer gehört. Aber auch die Harlunge selbst gehören dazu, und
da die wilde Jagd bekanntermafsen in einem örtlich immer bestimmt be-
zeichneten Berge ihren Sitz hat, so sind die „ Harlungenberge *' in den ver-
schiedenen Gegenden genügend erklärt, und sie sind ihrem Wesen nach
identisch mit dem Venus-, Hörsei- oder Eckardsberg. „Harlunge" wird
mit dem Worte „Heer" überzeugend in Zusammenhang gebracht (S. 57).
Dagegen ist die Sage gewifs schon um 800 im Breisgau lokalisiert, da die
Namen der Sage dort häufig wiederkehren, und sie hat dort auch weiter-
gelebt, da tun iioo bereits gesagt wird, die Harlunge hätten die Burg
Breisach einst besessen. Gerade zu Breisach aber sei, so heifst es im Wolf-
dietrich, Eckhart geboren, derselbe, der in Alphards Tod als Hüter des
Hauses erscheint. Andrerseits nennt Sebastian Münster die Bewohner des
Breisgaues selbst Harelunger. Wird gefragt, warum gerade die Lokalisierung
der Sagen im Breisgau besonders stark hervortritt, so hat dies seinen Grund
gewifs zum Teil darin, dafs das dortige Fürstengeschlecht der Zähringer
persönlichen Anteil an der Pflege der Heldensage genommen hat Die Sage
brachte dieses Fürstenhaus selbst mit Dietrich von Bern in Verbindung, und
so kann es nicht auffallen, dafs bei dieser örtlichen Verbindung die Har-
lungensage mit der von Ermanerich und Dietrich zusammengebracht und ver-
schmolzen wurde. Somit wäre hier auf Grund sorgfältiger exakter Unter-
suchung einmal schlagend gezeigt, auf welche Weise eine in bestimmter
— 138 —
Gestalt überlieferte Sage entstanden ist und aus welchen Elementen sie sich
zusammensetzt. Solche Untersuchungen, die über das Gebiet der Literatur-
geschichte im gewöhnlichen Sinne weit hinausgehen, aber mit den Hilfsmitteln
dieser Wissenschaft die Sagengeschichte bezw. Stotfgeschichte
pflegen imd dem Inhalte jedes Literaturprodukts das Hauptgewicht beilegen,
sind fiir die Beurteilung des deutschen Geisteslebens im Laufe der Jahr-
hunderte von höchstem Interesse, und wir können ihrer noch recht viele ge-
brauchen. Die Geschichte im engeren Sinne vermag aufserordentlich viel lehr-
reiches daraus zu gewinnen.
In Anhalt endlich sind, wie schon oben angedeutet, gegenwärtig iVeu-
jakrsblätter aus AnJialt, herausgegeben von Hermann Wäschke als buch-
händlerisches Unternehmen (Dessau, Paul Baumann) ins Leben getreten, da
oiTenbar eine wissenschaftliche Körperschaft daftir nicht zu haben war. Wenn
der Verein für Anhaltische Geschichte und Altertumskunde diese fruchtbare
Idee zu der seinigen machte, dann könnte entschieden viel geleistet werden
imd für gute anhaltische Monographien wäre dann eine geeignete Sammel-
stätte vorhanden ! Das erste Heft hat der Herausgeber, den wir schon oben
als den Geschichtschreiber der Dessauer Eibbrücke kennen lernten, selbst
verfafst und zeitgemäfs behandelt er Anhalt vor hundert JaJiren (1904,
32 S. 8®). Wir lernen hier das im ganzen in der neueren Geschichte wenig
genannte Land Anhalt in dem Zeitalter kennen, das dem Frieden von Lüne-
ville folgte und sehen, dafs selbst dieses Land an der EHbe von den grofsen
Umwälzungen nicht völlig unberührt geblieben ist; ist doch die Vertauschung
der Fürsten- mit der Herzogs würde seitens der Landesherren in letzter
Linie mit darauf zurückzuführen. Die vorliegende Arbeit tritt der oben ge-
nannten von Albert, aber ebenso den früher ^) besprochenen zur Seite,
die sich mit den Erwerbungen Preufsens in jenem kritischen Zeitpunkte be-
fassen. Wir lernen die anhaltischen Teüfürsten des XVI 11. Jahrhunderts
kennen, die Verfassung des Gesamthauses und die daraus sich ergebenden
Schwierigkeiten bei der Teilung des Zerbster Fürstentums, dessen letzter Herr
1793 gestorben war; es sind alles recht kleine, ja kleinliche Verhält-
nisse, aber gerade das ist so charakteristisch daran. Die innere Politik
der Fürsten beschäftigte sich in erster Linie mit der Einziehung der noch
im Umlauf befindlichen Zerbster Münzen ; dann galt es einer Viehseuche zu
steuern, und dabei wurde ein Vieh- Assekuranz ins Leben gerufen ; schliefslich
ward auch das Steuerwesen reorganisiert. Die auswärtige Politik der Fürsten
bezw. die Teilnahme an den Angelegenheiten des Reiches ist geradezu ein
Spiegelbild der gesamten deutschen Verhältnisse im Kleinen. Die demütige
Verbeugung aller Diplomaten vor den in Regensburg anwesenden französischen
Abgesandten und deren gelegentliche Bestechung (Bürger Matthieu) läfst sich
gerade hier unter diesen kleinen Verhältnissen recht gut verfolgen und alles
tritt in um so helleres Licht, weü die Angelegenheiten Anhalts selbst so unbe-
deutend sind. Das Gesamthaus Anhalt hatte keinen eigenen Abgesandten in
i) Vgl. oben S. 26—30: Hundert Jahre preußisch. Unter den Erfurter Fett-
schriften ist noch der Vortrag von Richard Thiele, Die Schicksale der Erfurter Aka-
demie nüixlicher (gemeinnütxiger) Wissenschaften nach der ersten Besitznahme Erfurts
durch Preußen (1802— 1803) [= Jahrbücher der Kgl. Akademie gemeinnütziger Wissen-
schaften zn Erfurt, N. Folge, Heft XXVIUJ zu nennen.
— 139 —
Regensburgy sondern liefs sich durch den Württembergischen Gesandten ver-
treten, beteiligt war es an dem Entschädigungsverfahren insofern, als sich
Gernrode unter den Preufsen zugedachten Entschädigungen befand und das
Amalienstift zu Dessau Güter auf dem linken Rheinufer bei Kreuznach ein-
gebüfist hatte. Andrerseits suchte Anhalt selbst Ansprüche auf Aschersleben
und Lauenburg geltend zu machen, während es wiederum fürchten mulste,
andere Besitzungen, die bischöflich bambergische Lehen waren , an Bayern,
dem das Bistum Bamberg zufiel, zu verlieren. Das Amalienstift wurde tat-
sächlich durch eine jährliche Rente von 2000 Talern entschädigt, im übrigen
aber hatte Anhalt wenig Glück. Doch nicht das Ergebnis, sondern die Art
der Unterhandlung und der Wirrwarr von Einzelangelegenheiten, der die
Politik ausmacht, ist es, was uns interessiert.
Es war eine lange Reihe von Arbeiten und zwar mit recht verschiedenem
Inhalte, die wir vorüberziehen liefsen, aber allen ist das Zeugnis auszustellen,
daüs sie dem Zweck, den die Neujahrsblätter erfüllen sollen, tatsächlich ent-
sprechen. Sollen solche Arbeiten für weitere Kreise interessant imd jedem
Gebildeten verständlich sein, dann dürfen sie nicht wissenschaftUche Mono-
graphien im engeren Sinne darstellen, sondern ein relativ grofses Gebiet muis
den Gegenstand bilden und Beziehungen zur Gegenwart müssen womöglich
darin zutage treten. Ist dies der Fall, dann werden solche Arbeiten im
besten Sinne populär-wissenschaftlichen Charakter tragen und mit der Zeit
sehr wohl ihr Publikum finden. In dieser Überzeugung sollten die
Kommissionen und gröfseren Vereine, deren Arbeitsgebiet
ein ganzes Land oder eine Provinz bildet, mit sich zurate
gehen, ob sie nicht dem Beispiele der Provinz Sachsen, Badens
und Anhalts nachfolgen können! A. T.
Vereine. — Im Jahre 1901 ist in Österreich eine staatliche Kom-
mission für die Herausgabe von Akten und Korrespondenzen
zur neueren Geschichte Österreichs ins Leben getreten*) und hat
aufser einer kritischen Ausgabe der österreichischen Staatsverträge, die be-
reits durch einen Übersichtsband (bearbeitet von M. Bittner) eingeleitet wurde,
zunächst eine Bearbeitung der Korrespondenz Karls V. mit Margarete, Maria
imd Ferdinand aus den Jahren 1519 bis 1530 ins Auge gefafst '). Daneben
aber sind in umfassender Weise Untersuchungen darüber angestellt worden,
was von Material vorhanden ist, dessen Herausgabe Aufgabe der Kommission
sein würde, und es hat sich dabei herausgestellt, dafs nicht nur aufserordent-
lich viel wichtiges Material vorliegt, sondern vor allem, dafs es in recht
sehr vielen Archiven verstreut ist und dafs dieser Umstand die Herausgabe
recht erschwert Zu den mannigfaltigen Aufgaben, deren Lösung der Kom-
mission zufällt, steht freilich die staaüiche Jahresdotation von 6000 Kronen
in einem grofsen Mifsverhältnis , und die Kommission bedarf, wenn sie er-
spriefsliches leisten soll, wesentlich reicherer Mittel. Um ihr nun diese zu
verschaffen, nicht minder aber auch, um weitere Kreise, deren Hilfe nicht
zu entbehren ist, für die entsprechenden Arbeiten zu interessieren, ist soeben
i) Vgl. diese Zeitschrift a. Bd., S. 143—144.
3) Vgl. 4. Bd., S. 323.
— 140 —
eine Gesellschaft für neuere Geschichte Österreichs ins Leben ge-
treten, die ähi^ch der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde organisiert
ist und sich aus Stiftern, die einmal oder in zehn Jahresbeiträgen 500
Kronen beisteuern, und Mitgliedern, die jährlich 10 Kronen Beitrag
leisten, zusammensetzt. EHese erhalten die Veröffentlichungen der Kommis-
sion zu einem Vorzt^preise. Der Zweck der Gesellschaft ist „die in
öffentlichen und privaten Archiven, Bibliotheken und son-
stigen Sammlungen erhaltenen Quellen für die neuere Ge-
schichte Österreichs der wissenschaftlichen Forschung zu-
gänglich zu machen und deren Veröffentlichung und Ver-
arbeitung zu unterstützen^S \md dieser Zweck soll erreicht werden
durch Ordnungsarbeiten in Privatarchiven; durch Veranlassung
und Untersttitzung von Forschungsarbeiten in in- und ausländischen
Archiven, Bibliotheken imd sonstigen Sammlungen; durch Zuwendung eines
Teiles der Mittel der Gesellschaft an die vom k. k. Ministerium für Kultus
mnl Unterricht eingesetzte „Kommission für neuere Geschichte Österreichs**
fiir bestimmte, von beiden Körperschaften zu vereinbarende wissenschaftliche
Unternehmungen, insbesondere für Veröffentlichung von Korrespondenzen
der österreichischen Herrscher und Angehöriger des österreichischen
Herrscherhauses, sowie der in öffentlichen Diensten Österreichs verwendeten
Staatsmänner, Offiziere, Gelehrten; sowie endlich durch Veranstaltung von
Vorträgen aus dem Gebiete der neueren und neuesten Geschichte Öster-
reichs.
Die Anregung zu dieser Vereinsgründung hat der 1903 gewählte Präsident
der Kommission Fürst Franz von und zu Liechtenstein gegeben; der
Gedanke wurde weiter entwickelt von Prof. v. Zwi edineck- Südenhorst
(Graz), der in einer Denkschrift noch besonders die Notwendigkeit der
Herausgabe der Korrespondenzen österreichischer Herrscher nachwies. Sie
enthält eine solche Fülle tatsächlichen Materials, dafs sie hier in ihrem
vollständigen Wortlaut folgen soll. Man darf wohl annehmen, da& auch
in aufserösterreichischen Archiven, an die bisher kaum gedacht worden ist,
wichtiges, für diese Korrespondenzen zu verwertendes Material ruht, worauf
die Kommission aufmerkssun gemacht werden kann. Die Bedeutung, die
den zahheichen Privatarchiven, namentlich denen der bekannten öster-
reichischen Adelsgeschlechter zukommt, tritt dadurch in das rechte Licht
aber ebenso können in jedem anderen Lande die berufenen Vertreter der
Geschichtsforschung die Lehre daraus ziehen, dafs sie in ihrem Gebiet diesen
Archiven ihre besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden haben ^).
i) In einem anderen Berichte der österreichischen Kommission heifst es:
,,In manchen Familienarchiven herrscht eine vortreffliche Ordnung, finden sich
ausreichende Repertorieo and Inhaltsangaben, in anderen sind einzelne Bestände in gater
Verfassung, andere in chaotischem Zustande oder es ist die einst hergestellte Ordnnng zerstört :
es finden sich zwar Repertorien, aber die Akten sind durcheinander geworfen. Nicht selten
konnte man sich von dem Vorhandensein grofser und wertvoller Aktenmassen ttberzengen, sie
sind aber in Kisten verpackt oder wegen Raummangels sehr schwer zugänglich, sodafs ihrer
Benützung die Ordnung und Sichtung notwendig vorausgehen mufs. Einzelne Familienarchive
weisen einen überraschenden Umfang auf, sie zählen nach hunderten von Faszikeln, die
zum gröfsten Teil völlig unberührt sind ; aus den Repertorien oder aus den vorgenommenen
Stichproben konnte man sich überzeugen, dafs ihr Inhalt ein aufserordentlich bedentungs-
— 141 —
Die angezogene Denkschrift über die Herausgabe der Korrespondenzen
österreichischer Herrscher lautet:
„Unter den noch unbearbeiteten und deshalb ttovenrerteten Quellen
zur neueren Geschichte östeneichs muis den Korrespondenzen öster-
reichischer Herrscher mit Mitgliedern des kaiserlichen Hauses, mit fremden
Fürsten und mit Staatsmännern die gröfste Bedeutung zugesprochen wer-
den. Sie finden sich, abgesehen von den Beständen des k. u. k. Haus-,
Hof- und Staatsarchiyes, in überraschend grofser Zahl in öffent-
lichen und Privatarchiven.
Nach den von der Kommission für neuere Geschichte Österreichs
eingeleiteten Erhebungen in den Archiven des historischen Adels
wurden Korrespondenzen österreichischer Herrscher sowie Mitglieder des
kaiserlichen Hauses bereits nachgewiesen in den Archiven der Grafen
Thum, Bleiburg in Kärnten, Fürsten und Grafen Trauttmansdorff früher
Bischof-Teinitz, jetzt Wien; Grafen Coronini (zugleich Grafen Cobentzl und
Rabatta), Cronberg bei Görtz ; Fürsten und Grafen Starhemberg, Efferding,
Oberösterreich; Grafen Künigl, Ehrenburg, Tirol; Grafen Lamberg (zu-
gleich Grafen Brenner), Feistritz bei Ilz, Steiermark; Grafen Herberstein
(zugleich Fürsten E^genberg), Graz; Grafen Meran, Graz; Grafen Dietrich-
stein, Hollenburg, Kärnten; Grafen Hoyos-Sprinzenstein, Hom, Nieder-
österreich; Grafen Wrbna imd Kaunitz, Jarmeritz, Mähren; Fürsten und
Grafen Rosenberg, Klagenfurt; Fürsten und Grafen Dietrichstein, Nikols-
burg, Mähren; Grafen Lamberg, Ottenstein, Niederösterreich; Etirsten und
Grafen Collalto (zugleich Freiherm v. Teuffenbach) , Pimitz, Mähren;
Fürsten Lobkowitz, Raudnitz, Böhmen; Fürsten Porcia, Spittal, Kärnten;
Grafen Wurmbrand, Steyersberg, Niederösterreich; Fürsten lamberg, Steyr,
Oberösterreich; Fürsten und Grafen Fürstenberg, Weitra, Niederösterreich;
Fürsten Liechtenstein, Wien, Liechtenstein-Zentralarchiv; Grafen Harrach,
voUer and für die historische Wissenschaft sowie fUr die Erkenntnis der Politik des
Hauses Habsburg und die diplomatischen Beziehungen seiner Länder zu den übrigen
europäischen Staaten vielversprechend genannt werden kann. Es darf wohl schon heute
auf die archivalischen Schätze von NikoUburg, Jarmentz, Austerlitz, Pimitz, Wittingau,
Tachau, Raudnitz, Steyr, Steyersberg, Ottenstein, Klagenfurt (Go^), Wicsentheid, Wien,
(Liechtenstein, Trauttmansdorff, Harrach), hingewiesen werden, deren Bearbeitung für
viele Epochen der neueren österreichischen Geschichte noch ungeahnte Aufklärungen und
Ergänzungen bieten kann/'
Unter Bezug darauf sagt dann die Denkschrift, die Mitglieder für die neue Gesell-
schaft werben soll, weiter : „ E^ ist aber meist nicht die Schuld der Archivbesitzer, dafs der
Inhalt ihrer Archive der wissenschaftlichen Verwertung nicht zugeführt werden kann. Viele
von ihnen würden sofort die Ordnung ihrer Aktensammlungen vornehmen lassen, wenn sie ohne
allzugrofse Kosten die nötigen Kräfte daftlr bekämen, wenn Fachmänner deren Arbeiten
organisieren und überwachen würden. Der Einzelne kann sich die Bürgschaft, dafs die von
ihm gebrachten Opfer auch ein entsprechendes Resultat ergeben, nur in den seltensten Fällen
verschaffen." — Auch Deutschland besitzt genug reiche, aber einer fachmännischen Lei-
tung entbehrende Archive. Es sei z. B. an das fürstlich Salm-Salmsche Archiv zu
Anholt in Westfalen erinnert, über dessen Inhalt jetzt in den Inventuren der nichtstaat'
liehen Archive der Provinx Westfalen 2. Heft (1901), S. 3 ff. eine Übersicht vorliegt:
vielleicht kommt dieses Archiv sogar (Ur die Korrespondenz Karls V. in betracht, sicher
aber für die des Kaisers Leopold, wie überhaupt für das XVn. und XVIII. Jahrhundert.
Für das Hatzfeldsche Archiv zu Calcum bei Düsseldorf fehlt eine eingehende orientie-
rende Obersicht leider noch immer, aber es werden sich dort voraussichtlich ebenfalls
Korrespondenzen vorfinden.
— 142 —
Wien, Harrach- Archiv; Grafen Schönbom, Wiesentheid, Bayern; Fürsten
SchwaFzenberg, Wittingau, Böhmen.
Aulserdem werden ohne Zweifel die gro&en Korrespondenz -Samm-
lungen der Fürsten Windisch-Graetz, Tachau, Böhmen, und Grafen Königs-
eck, Aulendorf, Württemberg, zahlreiche Briefe von Kaisem und Erz-
herzoginnen enthalten.
Von ausländischen Archiven sind bis heute in dieser Richtung
sechs italienische Staatsarchive, die Haus- und Staatsarchive von Brüssel
und Dresden eingehender behandelt worden.
Mailand enthält Briefe von Erzherzog Sigismund, Kaiser Maximilian L
und Kaiser Ferdinand I. ; Turin Briefe von Kaiser Albrecht 11. und lücken-
los von Maximilian I. bis Franz II. tmd Kaiserin Karoline Auguste ; Genua
Briefe aller Kaiser von Karl V. bis Franz II. (1795) und vieler Erz-
herzoge ; Florenz Briefe von Kaiser Maximilian L und Kaiser Karl V., von
den Erzherzoginnen Klaudia, Anna, Isabella, Klara Eugenia und Maria
Leopoldina, von den Erzherzogen Ferdinand Karl, Sigismtmd Franz und
Leopold; Modena eine fortlaufende Serie von Briefen von Friedrich 111.(1452)
bis Erzherzogin Maria Beatrix (1791); Venedig eine fortlaufende Serie von
Karl V. (1546) bis Franz II. (1797), darunter besonders viele von Fer-
dinand II. und Karl VI.
Brüssel steht an hervorragender Stelle durch die Sammlungen:
Correspondance du Charles Quint avec le Roi Ferdinand (1522 — 1531,
1 543 — 1551» '553 — ^556)» Correspondance de TArchiduchesse Marguerite
avec TArchiduc Ferdinand, Correspondance de la Reine Marie de Hongrie
avec le Roi des Romains Ferdinand (1537 — 1556), Lettres diverses de
et ä Charles V, 4 Vol., Lettres de Marie de Hongrie ä Ferdinand
(1528 — 1543), Lettres de Ferdinand ä Marie de Hongrie (1528 — 1543).
Aufserdem sind fast alle späteren österreichischen Herrscher mit
Briefen im Brüsseler Staatsarchiv vertreten.
Diese Aufzählungen, die noch der Ergänzung aus den anderen grofsen
Archiven Europas bedürfen, genügen, um die Tatsache festzulegen, dafs
die Korrespondenzen der österreichischen Herrscher ein aufserordentlich
tunfangreiches Material fUr die Vertiefung der historischen Forschung bieten ;
sie werden sämtliche Kaiser und Könige, die meisten Erzherzoge sowie
zahlreiche Kaiserinnen und Erzherzoginnen betreffen. Der Inhalt der ein-
zelnen Briefe wird sich ohne Zweifel zwischen sehr verschiedenen Wert-
stufen bewegen; dafs er in vielen Fällen ganz neue Aufschlüsse gewähren
imd zu historischen Entdeckungen von gröfster Tragweite führen kann,
geht aus den Stichproben hervor, deren Ergebnisse bisher vorliegen.
Denn nichts anderes als Stichproben sind es, was bis jetzt aus der
Korrespondenz des österreichischen Herrscherhauses veröffentlicht wurde,
aus sehr verschiedenen Veranlassungen, mit mehr oder weniger glücklicher
Auswahl, aber stets ohne VoUständigkeit, weder in Hinsicht einer Person,
noch in Hinsicht eines Zeitraiunes.
Aber weder die Auffindung irgend einer Briefserie in einem Archivs-
faszikel, noch die Herausgabe einer aus dem Zusammenhange der histori-
schen Denkmäler einer Zeit herausgerissenen Korrespondenz kann den
Anspruch erheben, eine wissenschaftliche Leistung zu sein. Geschichts-
— 143 —
wisseDschaftliche Probleme werden erst dann zu lösen sein, wenn eine
systematische Behandlung der nebeneinanderlaufenden Korrespondenzen,
also eine Durchdringung des Gedankenverkehrs möglich wird, der zwischen
geschichtlich handelnden Personen stattgefunden hat.
Die Bearbeitung der Korrespondenzen möglichst vieler gleichzeitig
wirkender Personen wird zu einer wahren und bedeutsamen Förderung
unserer geschichtlichen Erkenntnis führen. Den Mittelpunkt solcher Korre-
spondenzen wird in der deutschen und österreichischen Geschichte die
Korrespondenz der Herrscher aus dem Hause Habsburg bilden.
Was wir heute aus der Korrespondenz Karls V. und seiner Ge-
schwister Ferdinand I. und der Königin Maria von Ungarn kennen (vor-
zugsweise aus der sehr unvollständigen Sammlung von Karl Lanz) berech-
tigt zu dem Schlüsse, dafs ein Gesamtüberblick über diese Korrespondenz
erst das reifere Verständnis der Entstehung unseres Staatswesens begründen
wird. Hier ist also der Beginn imserer Sammeltätigkeit und der sich
daran anschliefsenden Bearbeitung wissenschaftlich geboten. Er wird aber
auch durch das hohe Interesse gerechtfertigt, das sich den Persönlichkeiten
zuwendet, deren Gedankenaustausch uns durch die Bekanntschaft mit
ihren Briefen vor Augen gerückt werden soll. Die Gröfse der historischen
Erscheinung Karls V. ist heute noch nicht erfafst, sie konnte nicht er-
fafst werden, weil wir mit seinen politischen Ideen, mit seiner Weltanschau-
ung, mit den inneren Gründen seiner Entschliefsungen noch viel zu wenig
vertraut sind.
Von der deutschen Geschichtsforschung ist die Forderung (durch
Baumgarten, Bezold, Varrentrapp, Brandi, Bemays, zuletzt sehr eindring-
lich auf dem Historikertag zu Halle 1900 durch Kalkoflf) erhoben worden,
es solle endlich mit vereinten Kräften eine Korrespondenz Elarls V. ge-
schaffen werden. Die österreichische Geschichtsforschung hat mehr als
eine Veranlassung, das Ihrige zur Erfüllung dieser Forderung beizutragen ;
sie hat dies durch ihre in Halle anwesenden Vertreter auch sofort an-
erkannt
Die Kommission für neuere Geschichte Österreichs hat daher meinem
Antrage zugestimmt, jenen Teil der Korrespondenz des grofsen Kaisers»
der mit der österreichischen Geschichte am nächsten zusammenhängt, die
Korrespondenz Ferdinands I. mit Karl V. in Angriff zu nehmen. Nach
den Berichten, die in der Sitzung vom 4. Jänner 1903 von Prof. Dr. Hirn
über die Vorarbeiten im Wiener Staatsarchiv und von dem Unterzeichneten
über seine Erhebimgen im Staatsarchiv zu Brüssel erstattet werden konnten,,
wurde der Beschlufs gefafst, zunächst die Epoche von 15 19 bis 1530,
sozusagen die Geburtsstunde Österreichs, zum Gegenstande der Forschung
zu machen. Die aus dieser 2^it stammenden Korrespondenzen, die sich
im Wiener Staatsarchiv vorfinden, sollen gesammelt, durch die Brüsseler
Bestände ergänzt und zur Herausgabe vorbereitet werden. Die Grundsätze
für die Herausgabe selbst, bei der alle Erfahrungen der letzten Jahrzehnte
über Aktenpublikationen berücksichtigt werden müssen, sind von einem
Sonderausschusse, der auch die Arbeiten leitet, für die Beschlufsfassung^
in der Konmiission vorzuberaten. Die Kommission hat geleistet, was ihr
die vom k. k. Minbterium für Kultus und Unterricht gebotenen Mittel ge^
»
4
— 144 —
statten, sie wird aber nicht mit der erwünschten Raschheit ihr Ziel er-
reichen, wenn sie nicht auch von anderer Seite Unterstützung findet
Wenn die Epoche von 1519 bis 1530 allseitig beleuchtet, wenn alle
politischen Fäden der europäischen Geschichte dieser Zeit mit den Ent-
schlüssen tmd Unternehmungen Karls V. und seiner Geschwister in Be-
ziehung gebracht werden sollen, dann müssen namentlich die Archive von
Simancas (Spanien) und Lille besucht, dann müssen die Korrespondenzen
in den italienischen Archiven (namentlich in Rom, Neapel, Genua, Venedig
und Modena) zur Stelle geschafil, dann müssen auch die zugehörigen noch
nngedruckten Aktenbestände studiert werden.
Das Resultat könnte ein sehr bedeutungsvolles werden, denn es würde
darin bestehen, die Erscheintmg Karls V. darzustellen beim Antritte der
Reichsregierung, auf der ersten Stufe der Reformation als politischer Be-
wegung, inmitten des Versuches der Wiederbelebung einer grofsartigen
Kaiserpolitik in Italien imd während der Gründung Österreichs durch
Vereinigtmg der ungarischen und böhmischen Krone mit den alten deutschen
Erbländem.
Österreich würde mit einem Werke, das — wie nie zuvor — auf
•der Kenntnis der wichtigsten gleichzeitigen archivalischen Quellen aufzubauen
wäre, ein nachahmenswertes Beispiel intensiver Beschäftigung mit einem der
grofsartigsten historischen Probleme der Neuzeit geben, es würde allen
anderen Staaten vorauseilen, denen ebenfalls die Pflicht obliegt, ihr Ver-
hältnis zu jenen folgenreichen Ej-eignissen und Entwicklungen klarzustellen,
es würde die Aufmerksamkeit der Vaterlandsfreimde auf eine Zeit lenken^
wo der Zug nach Zentralisation der staatlichen ELräfte alle Gegenbewegungen
überwunden hat"
Eingegangene Bflcher.
Apell, Franz: Zur Münzgeschichte Erfurts (mit drei Tafeln) [= Mitteilungen
des Vereins fUr die Geschichte imd Altertumskimde von Erfurt 24. Hefl,
2. Teil, S. 123 — 134].
Bibra, Reinhard v. : Bodenlauben bei Bad Kissingen, Geschichte der Burg
imd des Amtes. Kissingen, Friedrich Wemberger. 146 S. i6*. Mk. 1,50.
Borchardt, Paul: Der Haushalt der Stadt Essen am Ende des 16. und
Anfang des 17. Jahrhunderts [= Beiträge zur Geschichte von Stadt imd
Stift Essen 24. Heft (1903). 124 S. 8^.]
Eitner, Theodor: Erfurt und die Bauernaufstände im XVI. Jahrhundert
[= Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde
von Erfurt 24. Heft, 2. Teil, S. i — 108].
Michael, Oskar: Die Annaberger Hospitalordnung vom Jahre 1550 [= Mit-
teilungen des Vereins für Geschichte von Annaberg und Umgegend 2. Bd.,
3. Heft, S. 157 — 162].
Simson, Paul: Geschichte der Stadt Danzig. Danzig, L. Saunier, 1903.
202 S. 80.
Well er, Karl: Die Weiber von Weinsberg [= Württembergische Vierteljahrs-
hefte für Landesgeschichte N. F. Xu (1903), S. 95 — 136].
HermusKeber Dr. Annin Tille in Leipxif.
Dnick und VerUg von Friedrich Andreas Perdiea, Akdengesellschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
V. Band Marx 1904 6. Heft
Medizinisehe I^ulturgesehiehte
Von
Julius Pagel (Berlin)
Längst ist der Begriff der „Medizinischen Kulturgeschichte'* klar
erkannt und formuliert. Wir bezeichnen damit die zahlreichen Wechsel-
beziehungen, welche die Heilkunst oder Heilkunde im engeren Sinne
im Laufe ihrer Jahrtausende währenden Entwickelung mit und zu allen
übrigen Zweigen menschlicher Gesamtkultur gewonnen hat. Man stelle
sich die Medizin als eine Kreisfläche vor und diese durchschnitten von
einer Reihe von anderen, die einzelnen Kultursphären repräsentierenden
Kreisen: die innerhalb der medizinischen Peripherie so entstandenen
neuen Ringe — sie bilden das Gebiet, auf dem wir unsere neue Wissen-
schaft verfolgen und ihren Spuren nachgehen wollen. Wohin die ge-
schichtliche Medizin ihre Fühler ausstreckt, glaube ich bereits vor zehn
Jahren in einer Anzeige von Ischers Monographie über den bekannten
Arzt Johann Georg Zimmermann (Deutsche Medizinal -Zeitung 1894)
gezeigt zu haben, wobei ich gleichzeitig die Notwendigkeit einer
gesonderten Darstellung betonte ^). Bei einer ähnlichen Gel^oi-
i) Die besttgUche Stelle laatet folgendermafsen : ,)Die sahireichen Bertthraogspiuikte
and Bedehaogen, welche die Geschichte der Meditin mit der allgemeinen Welt- nnd
Knltorgeschichte verknüpfen, von der jene ja einen integrierenden Bestandteil bildet, können
natnrgemftfs nur in gröfseren Lehrbttchem der medizinischen Geschichte zur Sprache
kommen, nnd selbst da wird dieser Gegenstand meist nur in knappen and oberflächlichen
Hinweisen gleichsam als Appendix gestreift. Eine aosfUhrliche and sasammenhängende
DarsteUang in einem ansschlieislich diesem Thema gewidmeten, umfassenden Spesialwerk
an dem es bisher in der Literatur fehlt, würde im einseinen sa schildern haben, ob and
inwieweit etwa Weltgeschichte and Entwickelungsgang der Medizin sich
gegenseitig beeinflafst haben [im Original nicht gesperrt], in welchem Malse
Natnrforschang, Philosophie, Kirchenlehren, schöne Literatur (s. B. auch die Roman«
literatar) und andere Wissenschaften, Künste, Handel nnd Gewerbe, Sprachen und Sitten
der Völker, Lebensgewohnheiten, Rechtsprechung, Nationalwohlstand, mit einem Worte
aUe nur irgend denkbaren Seiten des Menschendaseins von der Medizin and diese von
10
— 146 —
heit^) habe kii »eines Wissest zum eisteaMaledkekt den TenBffius,, Medi-
zinische Kulturhistorie'' s^ebraucht, um die mehr äuüserlichen Angel^en-
heiten des ärztlichen Berufs- und Standeslebens zu kennzeichnen, soweit
sie den Arzt mit den iibrigen Kulturaphären, mit Staat und Gesellschaft
m Berührung bringen. Wenn J. Bloch in einer schönen Artikelreihe ')
den Begriff limitieren und ihn nur für die Einwirkungen der Medizin
auf die ubngen Wissenschaften, nicht aber umgekehrt, gelten lassen
will, so zeigt das oben verwendete Bild von den Kreisen, wie schwer
durchführbar eine solche Trennung ist. Hier flutet das Material so in-
und durcheinander, dafs eine Unterscheidung zwischen dem genomme-
nen tmd g^ebenen Anteil so wenig möglich ist, wie an der Mündungs-
stelle eines grofsen Stromes die genauen Grenzen zwischen diesem und
dem Meer fiestzustellen. Die Beziehungen zwischen Medizin und Kultur
hidsen sich so innig gestaltet, <fie gegenwartige Durchdrii^fung und
Befiruditnng ist eine so tiefe und so reiche, dafe der Versuch einer
Trenaong dessen, was die Medizin hier gegeben von dem, was sie ge-
nommem hat, schwer gelingen, sicher aber nur eine einseitige Beleuch-
tung des Gegenstandes bewirken würde. Beide gehcmn zusammen
mid beide verkörpern Nehmer und Geber, die Gleichui^ geht ohne
Rest auf. Die Editiones principes der griechischen Klassiker-Arzte, von
-den philologischen Medizinern der Renaissanceperiode ins Werk gesetzt,
sind ebenso der philologischen wie der medizinischen Foischung zu-
gute gekommen, der Anteil der dabei geleisteten Arbeit und der Ge-
wion für die Wissenschaft wiegt nach beiden Seiten, nach der philo-
logischen, wie nach der medizinischen, gleidi viel. Die Belebung des
Eiperiroeats, zu der die Philosophie des RelbrmatoiB der Methode,
Bacons, den Anstols im XVII. Jahrhundert lieferte, führte Medizin und
Naturwissenschaft auf neue Bahnen, und die hierbei gewonnenen Er-
gebnisse haben ihrerseits, wenn auch erst in einer späteren Zeit, zur
Läuterung der Philosophie beigetragen, indem diese abgedrängt von der
jenen gefedert worden tind, «ie wttrde a«ch gewitte Attfserlldikeiten <ii berSeksiditifeQ
liäben, z. B. d» Eindringen der medisinisclien Terminologie in weite VoHcskreüe «nd die
tJbertngttng «nf mndere Gebiete (man denke an Worte, wie Kreidteof, BasiUnB), «ie wttrde
eingdiend Kspitd tn bebandeln haben, wie „die Knntt in der Mediiin*', „die Medisin
in der Ktntt^ und fihnlithe, tie wttrde den Nachweis tm llihren faiben, wie weit Arzte
ds sogen. Polyhistoren, als Politiker, Dichter, Schriftsteneri Kttnstler, Sammler, Nnmia»
matiker, Reisende, Naturforscher, Anthropologen, Sdidngeister, Pbflanthropen, indnttrieQe
Ofganistoren etc. etc. Bedenbrng imd Eänflais anch anfserhalb ihrer eigenttichcn Bem^
sphftre gewonnen haben."
i) Btidhr. f. mn4ale Msd,, heraaig. ▼. Oldendorff, Bd. I, Heft 6 (Leiptif 1S96).
3) Med, Wot^ ed. Meifsner Berlin, 1900, Bl. 36—73.
— 147 —
rein xaetaphymacben und tsanssendentalen Sidttnng aUmäfaUch leellere,
exaktere Grundlageoi gewann und sich selbst wiedergegeben wurde.
Ja selbst für die tiieologisdie Metaphysik dürfen wir von der modernen
naturwissenschaftlichen Beobachtung einen heüsamen Umschwung er-
warten. Die nicht zu leugnende Wirksamkeit der psychischen Heil-
faktoren zeigt, wie verwaidisen mit dem menschlicben Wesen der
Glaube an eine höhere Macht ist, und so wird, dürfen wir hoffen, fiir
die Immanenz des Göttlichen im Menschlichen (ich «precfae nicht vom
Konfessionellen, das ja mir in einer wediselnden und nicht essentiellen
Kuhusfbrm seinen Ausdruck findet) in gewissem Sinne gerade durch
die Medizin ein neues, exaktes, materialistisches Beweismaterial
beigebracht werden.
Doch ¥rie dem auch sei, das eine ist sicher, da& nur «der geschicht-
lichen Betrachtung der Hdlkunde die Kenntnis von einem Wege 2u
verdanken ist, für den sie gleichzeitig die erfoxderlichen Weiser ge-
liefert und den sie allein gangbar gemacht hat Der wahre Histt)-
riker der Medizin ist Kulturhistoriker. Es ergeht ihm, wie
dem Beschauer eines Vexierbildes : je länger man es betrachtet, desto
schärfer treten die versteckten Umrisse des zweiten Bildes hervor, desto
mehr hebt es sich aus dem Hintergründe heraos, tmd schlielslich sieht
man nur dieses. Jede Seite der medizinischen Geschichte aeigt ein
solches Doppelbild. „Die Stellung der Heilkunde in dem Kreise des
gesamten menschlichen Wissens und Könnens iät vergleichbar dem
Verhältnis unseres Planeten ^ ACkrokosmus) zum ganzen Sonnen-
system (sst Makrokosmus). Wie die Erde änre Eigenbewegung beatzt,
sbcr zugleich eine vollständige Rotation um die Sonne volHiäict, so
sind auch von dem Glanz der Medizin, welche als Wissenschaft ihre
eigenen Wege geht, nicht wen^ Strahlen axf die täbrigen Zweige
unserer Kultur gefallen; umgekehrt ist auch die tidUoende bekanntlich
in hohem Grade von Philos(q>hie, Natniforschmig und allen librigen
Künsten und Wissensdiaften, vor allem jd»er von ie%iösen, poHtiBchen
und sozialen Verhältnissen, von dem Verlauf der weltgeschichtlichen
Ereignisse, kurz von dem Gang der Gesamtkultiir beeinflulst worden*' ^).
Wie frachtbar die Betrachtung der Medizin vom kulturhistorischen Ge-
stditspunkte ist, bevmst am besten die von ihr erzeugte literarische
Arbelt. Hier kann man fast von einer Hyperproduktivität reden.
Seit 1898 Referent für den historischen Teil in dem grofsen Virchow-
schen (jetzt Waldeyer-Posnerschen) Jahresbericht über die Fortschritte
I) Pagel, Emfiiknmg m die QescikiekU der Medixdn (Berlin iB^.
10*
— 150 —
die rohempirisdte Heilkonst zur HeiUrande. Auch die Medizin als
Wissensdiaft darf sich rühmen von dem Tantahngeschlecht der
göttlichen Phäosophie abzustammen, mehr vieUeicht, als so mandie
Wissenschaft. Aus ihrem Scho&e» zwischen ihren Knieen ist sie
geboren, an ihren Brüsten gesäugt und fort und fort zieht sie, auch
in der gegenwärtigen, ns^nrwissenschaftUchen Ära, aus ihrem Blute
das erforderliche Nährmaterial. Von der Naturphilosophie der alten
Griechen bis zu. derjenigen der modernen Zeit läuft ganz parallel mit
der mystischen Bewegung die rationelle,, wissenschaftliche Richtung
der Medizin, und maat mtUste ein ganzes Lehrbuch der medizinischen
Geschichte hier reproduzwren, wollte man im Einzelnen die Belege
dafür liefern. In dem Kapitel Philosophie und Medizin prägt sich Ge-
wicht und Umfang der gegenseitigen Anleihen ganz besonders aus,
des Lehngntes, das eme Disziplin der anderen verdankt Und wenn
die Religion oder meinetwegen die Theologie der Weisheit Anfang
bedeutet, sicher baig für die Heilkunde die Philosophie nach der
Meinung zahlreicher Ärzte aller Zeiten der Weisheit letzten Schluis.
Philosophie und Medizm sind blutsverwandt bis auf die Knochen. Von
Hippokrates bis auf Lotze, Helmholtz, Virchow g^iit das alte Wort
Sti. yäq 6 g>iX6ao^og latQÖg iaziv lad&eog. Und dafs in puncto „Ethik''
der Zusammenhang beider Disziplinen nie wird gelockert werden können
und dürfen, wird auch der banausischste Mediziner nicht in Abrede
stellen wollen ^).
Kurz sei noch auf den Zusammenhang zwischen Recht sprechung
und Medizin hingedeutet, der in jüngfster Zeit recht innig geworden ist.
Die überraschenden Ergebnisse der Naturforschung haben der Lehre
von der Gesundheitspflege eine exakte Grundlage gegeben: von hier
aus, d. h. von der Erkenntnis, wie notwendig die Berücksichtigung der
somatischen Faktoren ßk das Gedeihen des Staats- und Völkerlebens
i) Betläafis bemerkt ist die Behtaptnng, d«fs die neuere Medizin in der Ar« des
ICsterialismiis philosopfaiscbem Denken entfremdet oder abhokl gewesen sei, eine dreiste
EotsteUuig der Tatsacken. Nor eine ihrer Meinung nach Terkehrte nnd Terinte Plnlo-
topkie hat die Medisin damals nnd für aUe Zeiten jetst hoffentlich endgütig abgelefant.
Seit wann ist denn der Materialismns keine Philosophie? Steckt in einer Wissenschaft-
UdMn Bescfatftigmg mit ihm kein phüosophisches Erkenntnisstreben ? Und wenn weiter
behanptet wird, dals jetst aUraMhüch eine Wiederkehr der Neigung m Beschiltigang der
(natarwissenschaftUchen) Geister aiit philosophischen FrobleaMn si^ geltend mache, so
beweist gerade diese Tatsache die Irrtftmiirhkeit der Torigen Behanploiig. In Wahrheit
hat die philosophische Arbeit bei den malsgebenden Medizinern nie geruht; denn wir«
sie bereits nicht mehr Torhanden, bereits tot gewesen, so hätte sie nicht wiederkehren
können. Sie befand sich höchstens in einem Stadium vorübergehender Liatens, die za
— 151 —
istt wurde die Brücke zw^hea Medizia und Recht gescfalagfea. Dte
soziale Gesetzgebung',, dk StaatsfÜrsorge für die grofren Maasea betnkl
auf der modemeft hygiemscbenEckeBdBtnis. Durch die staatliche Kranken-,
Un£Edl- und Invaliden -Vefsicheraogs- Gesetzgebung sind Rechtsfiragen
an^etaucht, die in gleicher Weise Juristen wie Medizinern zml schaflni
machen, die Rechts- wie die Heiiwissenschaft in gleichem Mafse fi)rdenL
Die staatlichen Ehrengerichte» mit denen man neuerdifigs den atigtUcbe»
Stand beglückt hat, bilden den Anstofs zu einem neuen Zweige der
Rechtsprechung. Die Rechtswissenschaft hat sich femer mit ärztlichen
Kunstfehlem» mit der Aburteilung von Körperverletzungen durch s)l>M-
litische Infektion und ähnlichen Frs^en zu beschäftigen. Man kann
aber dabei ebensogut von gerichtlicher Medüzia, wie (nach dem Beispid
der Engländer) von „medical jurisprudence" sprechen. Die Kreise
berühren und schneiden sich in weitem Umfange. In einem neueren
Werke von Wilhelm Rudeck, Medissm und Beekt, Q€sehleckiM)em
tmd KrankbeiieH in mediginisel^jmristisel^Tm^ Bedeutung
(Berlin 1902), wird diese Materie zum Teil erörtert — Von den Be-
ziehungen zu Handel, Gewerbe und Technik, ebenso zu den Natur-
wissenschaften im allgemeinen soll hier nicht die Rede sein, weil da-
mit der Rahmen dieses Aufsatzes weit überschritten werden mübte.
Dieser Teil mag dem von mir geplanten Spezialwerk vorbehalten
bleiben. Hier wird auch die Beziehung zwischen Kunst- und Medizin-
geschichte zu erörtern sein, die in einigen Prachtwerken, von Rieh er
(Paris 1902), von Eugen Holländer in Berlin (Stuttgart 1903) und
R. Müllerheim in Berlin {Die Wockemiube m der Kunst, Festgabe
liir W. A. Freund, Berlin 1905) im Laufe der letzten zwei Jahre von
neuem literarisch in Angriff genommen ist. Leider können wir hier
auch nur andeutungsweise die innigen Beziehungen berühren, die
zwischen Medizin, Sprache und Volkskunde bestehen: wie sehr diese
▼erstehen und za rechtfertigen ist ans dem Ansturm der Fülle neuer Tetsmchen, welche
die netorwissenschaftliche An brachte, der Einzelforschnng u viel Arbeit gab and die
Geister erdrückte. Jetzt, wo die Flut sich verlaufen, kommt die Selbstbesinnung wieder
und die philosophische Arbeit setzt von neuem mit frischer Kraft und von neuen Gesichts-
punkten ein. Die Neigung zu philosophieren steckt dem einsichtigen Mediziner heredttir
und mit nnvertilgbaren Keimen im Blute; die Mediain als Wissenschaft vom
Menschen, als Anthropologie und Kosmogonie ist die nattirlichste
Grundlage aller Philosophie. In der deutschen Literatur fehlt ea meioea Wisatm
an einem groiaen, zusamwutifassenden Werk über Medizin und Philoa^hia. Ober iü^
deewm et pküoeopku erschien am 9. Noiv. I9a3 eine L]poner I>r.4>isatslatio« von Avgiwlt
Eym i n (259 S. stark), ia der leider der Beaiehungeii Spinozas sor Natur- und madirinisrha«
Wissenschaft nur mit wenigen Worten gedacht iit
— 162 —
Wissenschaften sich g^egenseitig gefördert haben, dafiir sind die klas-
sischen Arbeiten von M. Höfler (Tölz) der schlagendste Beweis ').
Und nun zum eigentlichen Thema, zum Verhältnis zwischen Ge-
schichte und Medizin zunächst im allgemeinen. Es ist unbestreitbar,
dals die Weltpolitik , die Bewegungen der Staaten und Völker auch
den Gang der medizinischen Wissenschaft zu allen Zeiten nicht un-
wesentlich beeinfluist haben. Der Parallelismus von Staatenblüte und
Verfall mit wissenschaftlichem Aufschwung und Niedergang ist un-
schwer auch für die Medizin zu erweisen. Nicht immer, aber meist
ging die politische Hegemonie mit der wissenschaftlichen Hand in Hand.
In der napoleonischen Ära und im ersten Drittel des vorigen Jahr-
hunderts wanderten deutsche Ärzte scharenweise nach Paris, um dort
ihre Ausbildung zu erlangen. Die politische Machtstellung, welche
Deutschland seit den Ereignissen von 1 870/71 im Konzert der Völker
erreicht hat, traf gewifs nicht durch Zufall zusammen mit ungeahnten
Fortschritten der Medizin, unter denen die in der Bakteriologie und
Hjrgiene erreichten, obenan stehen, und diese bewirkten einen Zuflufs
ausländischer Arzte, wie ihn vorher Deutschland nicht gekannt hatte.
Die deutsche medizinische Literatur erreicht im Auslande jetzt selbst
den Absatz der englischen, wenn sie ihn nicht bereits überflügelt hat.
Um aber auf ältere Zeiten zu exemplifizieren, sei auf die erhabene
Periode der Renaissance abermals hingewiesen. Die Kulturphase, die
die religiöse Reformation, die Buchdruckerkimst, die Entdeckung der
neuen in und über die alte Welt brachte, leitete auch für die Medizin
eine solche ein. Es ist wohl kein zufälliges Zusammentreffen, dafs die
Reformation der Medizin in allen ihren Teilen, in der Anatomie, der
innerlichen und äufseren (wundärztlich - geburtshilflichen) Praxis sich
chronologisch deckt mit der religiösen Reformation. Die Geister waren
eben frei geworden, die Macht der Kirche begann zu wanken, die
Schranken des Autoritätsglaubens und Dogmas fielen, in der ganzen
Linie siegten über sie freie Forschung, selbständige Nachprüfung und
Kritik. Die Entdeckung Amerikas brachte die Kenntnis und den Im-
port neuer Heildroguen; dies verlockte zahlreiche Auswanderer, die
i) DeuUehea Erankhmisnamen-Bueh (Mttochen 1899), ein gnmdioses Werk, du
den besflglichen Arbeiten von E. Littr6 dreist an die Seite gesteUt werden kann, femer
DoB Jahr im oberbayeriaehm Volksleben mü beeonderer Berüekeiehttgung der Volk9'
medix^n (Beitrige nir Anthropologie nnd Urgeschichte Bayerns. XUI, Heft i — 3).
Mflnchen 1899. Weitere bedeutende VerÖflfentlichangen von Höfler sind in Tersdiiedenea
Zeitschriften 9 im „Globns'^, „Janas" (intemation. Archiv ftr Geschichte d. Med^
Amsterdam) uid anderswo erschienen.
— 153 —
ebenfalls glückliebe Finder werden wollten oder zu werden bofilen,
za weiteren Forschungen; so wurde mit der Erweiterung des Gesichts-
kreises, mit der Inaugurierung der Weltpolitik, auch das praktische
Rüstzeug ärztlicher Kunst in überraschender Weise bereichert.
Was von den grofsen Menschheitsbewegungen gilt, trißl auch itir
kleinere Verhältnisse zu. Die literarische Arbeit gerade in den jüngeren
Jahren hat gezeigt, wie von der ärztlichen Geschichte kleiner
Länder, Städte und Gemeinden, der Institute (Krankenhäuser und
Universitäten) und Regentenhäuser zahlreiche Fäden hinführen zu den
bezüglichen poUtischen Verhältnissen, so dals für das gewöhnliche Ver-
ständnis beides nicht getrennt werden kann. Die schöne Zusammen-
stellung von Hermann Vierordt (Tübingen) unter dem Titel:
Medijsinisches aus der GresckicMe (2. Auflage, Tübingen 1896) Uefert
in zahlreichen Beispielen die Beweise dafür, wie durch die medi-
zinisch-naturwissenschaftliche, oder besser anthropologische Betrachtung
der Grölsen in Literatur und Politik ungeahnte Aufschlüsse über ihre
Personen und Leistungen zu gewinnen sind, wie so manches Rätsel ge-
löst, so mancher der hohen Würdenträger menschlich uns näher ge-
rückt und für eine allseitige Bewertung uns zugänglich gemacht ist.
Die „geschichtliche Medizin'* (im engeren Sinne) hat durch die
Betrachtung von Personen und Vorgängen unter biologisch -patholo-
gischen Gesichtspunkten, mit den Hilfsmitteln der Methodik, mit
den Anregungen, Fragen und Problemen, wie sie Medizin und Natur-
wissenschaften bieten, oft eine ganz unerwartete Beleuchtung erfahren;
die bisherige geschichtliche Auffasstmg und Angabe hat sich in vielen
Beziehungen Korrekturen gefallen lassen müssen. Dürfte ich in diesen,
vornehmlich der deutschen Geschichtsliteratur gewidmeten Blättern auch
ausländische Publikationen heranziehen, so wäre in erster Linie an die
ungemein zahlreichen französischen zu denken. Besondere Zeitschriften
(„La Chronique medicale" von Cabante und Minime „M^decine anecdo-
tique, historique et literaire *') sind ihnen gewidmet. Ich müfste nament-
lich auf das bedeutende Werk des 1898 verstorbenen Philologen Au-
guste Brächet, zuletzt Professor der deutschen Literatur an der poly-
technischen Schule in Paris, eines Schülers von Diez und EmUeLittrd, hin-
weisen, das Ergebnis einer 15jährigen Arbeit: dort wird zu dem Kapitel
„Cäsarenwahn", die mit der Inzucht verbundene allmähliche geistige
Entartung an durch 6 Jahrhunderte hindurch (852 — 1483) verfolgten
Erblichkeitsverhältnissen bei Ludwig XI. in gründlicher Weise dargetan *).
1} Das TOD der Witwe des VerfaMen herausgegebene Werk führt den Titel: Patko^
logie mentale des roia de Franee Lome XI. ei sea aaeendcmte. üne vie huma/me
— 164 —
lodessen dem Plane dieser Blätter gemäis mvds ich mich auf
deutsche Arbeiten beschränken, und daran ist ebenfalls kein Mangel.
Es sei, bevor wir auf sie eingehen, noch ein äufseres Moment betont,
das die Besprechung zwischen Medizin und aUgemeiner Menschheits-
geschichte so glücklich beleuchtet: die Förderung der ge-
schichtlichen Quellenforschung überhaupt. Alte Dokumente
sind hervoi^eholt worden, ewiger Vei^essenheit anscheinend rettungs-
los anheimgefallene Archive haben sich vor uns aufgetan, und der
Gewinn, den die lokale Geschichte davon erhalten hat, läfst sich noch
nicht im entferntesten abschätzen und übersehen. Man lese nur die Studien
von Becker^) über HUdesheim, die umfassendere von Th. Schön*)
über Stuttgart oder die von Peters'), und man wird überall auf
Kreuz- und Seitenwege stolsen, die in geradezu blickverwirrender und
überwältigender Zahl immer wieder zu den allgemein lokalpolitischen
und kommunalen Zuständen bezw. kulturellen Verhältnissen führen, aus
denen heraus ja erst die medizinischen (und umgekehrt) zu erklären
sind. Dasselbe gilt mutatis mutandis von den Arbeiten der H. Laehr *) ,
HudiSe ä travers six sielet cTMrSdite 852—1483. Paris 1903. CCXDC o. 694 S. Anch
eine Arbeit tod Kekal6 t. Stradonits, Untemtehung von Vererbtmgsfragen und
die Degeneration der Spanischen Habsburger [Archiv fttr Ptjchiatrie and Nenren-
krankheiteo 35. Bd. (1902), S. 787—814] ist heranzuziehen.
i) Geschickte der Med. in Hildesheim während des Mittelalters ^ in: Zeitschr. f.
klin. Med. 1899; Hüdesheimer Chirurgen in alter Zeit, in: Arch. f. klin. Chirur-
gie 1902.
2) Die Entwiekelung des Krankenha/uswesens und der Krankenpflege in Württen^
herg (WOrtt. ärztl. Korrespondenzblatt 1901 — 1903).
3) Der Arxt und die Hsilhmst in der deutschen Vergangenheit [«- Monographien
inr dentschen Koltargeschichte 3 Bd., Leipzig 1900].
4) Auf eine bibliographisch genaue Titelregistriemng im einzelnen mvSs an dieser
Stelle verzichtet werden; für weitere Forschungen sei auf meine oben erwähnten Jahres-
berichte verwiesen, wo im Abschnitt XV und zum Teil im Abschnitt m und XVI die be-
treffenden Publikationen annähernd vollständig aus der Weltliteratur und mit exakten Titd-
angaben zusammengestellt sind. Fttr die ältere Zeit sei auf meine Einfuhrung in die
Oesehiehte der Medixin (Berlin 1898) und den bibliographischen Anhang aufmerk-
sam gemacht
Bei dieser Gelegenheit möchte ich die bereits in Zamckes Literarischem Zentral-
blatt 1898 ausgesprochene Bitte um freundliche Unterstützung durch Obersenduog
▼ on Sonderabzügen und geeigneten Hinweisen wiederholen. NamentlSck
wären mir solche ans den Schriften der lokalen Geschichtsvereine sehr wichtig,
die mir nicht zugänglich sind. Gerade für den vorliegenden Zweck kann der Lokalforacher
noch viel bisher unbeachtetes Material zusammentragen: so sind u. a. in den Schriftet^
des Vereins für Geschichte der Neumark 13. Bd. (Landsberg a. W. 1902), S. 151 <üc
Kamen von Krankheiten ans den Totenregistem zusammengestellt, die ab Todes-
orsachen genannt sind.
— 165 —
Möbius, Gerber, Rahmer, Gottbold Ludwig Mamlok (BevUa)
u. V. a. (über Shakespeare, Rousseau, Goethe, Sdiopenhaoes, Heine,
Friedrich den Grofiien). Die Arbeiten selbst der letzten drei Jahre
sind so zahlreich, dais hier nur in Bausch und Bogen darauf verwiesen
werden kann. Auf eine ganz hervorragende sei jedoch besonder» auf-
merksam gemacht, die sich ganz im Sinne und Geiste der obtn er-
wähnten von Brächet bewegt, nämlich auf die Publikation von Dr. med
H. Naegeli-Akerblom in Virchows Archiv 1902, Band 170, S. 151
bis 362 über Die Oeminitäi in ihren erUiehen Beziehungen, His"
tariache KrUik falscher Angäben. Eine Kette von Regentenhäuser-
geschichten und -Stammbäumen wird hier mit zahlreichen Diagrammen
und Tabellen vorgeführt, die von der erstaunlichen Tie%Tündigkeit der
Untersuchung zeugen und zugleich ein glänzendes Beispiel für die Not-
wendigkeit der Kombination allgemein historischer und spezieller medi-
zinischer Forschung behufs Beantworttmg biologischer und historischer
Fragen bieten. Es gibt für Aufgaben dieser Art leicht kein geeigneteres
Material, als das aus weiten Zeiträumen der Geschichte selbst her-
geholte. Arbeiten, wie die von Brächet und Naegeli, die sich auf die
dynastische Pathologie oder auf die pathologischen Dynastien stützen,
weisen nur zu deutlich auf die Wege hin, die einzuschlagen oder doch
zuhilfe zu nehmen sind, wenn man zu einer wissenschaftlichen, besser
naturwissenschaftlichen, Ermittelung und Begründung des ErbUchkeits-
gesetzes kommen will.
Es gibt aber nicht nur eine Pathologie der Dynastien und der
Regentenhäuser, es gibt auch eine solche der Völker. Das zeigt die
Seuchengeschichte. Psychische und somatische Seuchen haben die
Menschheit zu allen Zeiten heimgesucht, niemals aber mehr als im
Mittelalter, und gerade dessen niedriges Kultumiveau zu beurteilen
und zu begründen — und somit in einem weiteren Beispiel die Existenz
der „geschichtlichen Medizin" darzutun, dafür bietet die medizin-
geschichtliche Forschung die beste Handhabe, indem bekanntlich in
dieser Periode medizinwissenschaftliche Versumpfung und kultureller
Verfall parallel gehen, beide als Töchter einer Mutter. Es braucht nur
an den schwarzen Tod, den „schwarzen Mann der Welt- und Mensch-
heitsgeschichte", erinnert zu werden, der nahezu eine vollständige Auf-
lösung der menschlichen Gesellschaft erzeugte. Wenn wir dabei an die
Erzählungen des Boccaccio denken, die ebenfalls ein Produkt dieser
Zeit smd, so dürfte der Übergang zu einer anderen, in neuerer Zeit
viel gepflegten Literaturgattung nicht so schroff sein: von Boccaccio
führt zu der erotischen Literatur in der Gegenwart kein kühner Sprung,
— 156 —
sondern wir können nnr ein sanftes Hinäbef]^leiten beobachten. Es
ist ein ebenso unbestreitbares, vie bleibendes Verdienst v€m Eng-en
Dühren (pseodonym für J. Bloch), dieser ganzen Literataxg^ttmig^
dorcb seine» mit einem ungeheueren literaiischen Apparat und einer
bewundernswerten Belesenheit aus allen Wissensgebieten g^earbetteten
Schriften ^) den gro&en, idealen Zug ins Kultnriiistorische gegeben zu
haben; in durchaus wissenschaftlichem Geiste hat er zugleich gezeigt,
wie die in dem Geschlechtsleben hervortretenden ,,documents humains"
erst durch anthropologisch-historisch-kompaiative Analyse in das rich-
tige Licht rücken. Derselbe Forscher hat in seinem klasaschen Werk :
Ursprung der Sf^hiUs (Jena 1901) ein altes medizinisches Problem durch
Verwertung verschiedener nicht rein medizinischer Quellen einer end-
glitten Lösung näher geführt und dargetan, wie Medizin- und Welt-
geschichte als HilBswissenschaflen aufeinander angewiesen sind. Auf die
Notwendigkeit und den Wert eines solchen gegenseitigen Austausches hat
im einzelnen gerade bei der Besprechung der eben erwähnten Schrift der
Herausgeber dieser Blätter (Band III, Heft 11/ 12, S. 314—320) nach-
drücklich hingewiesen« Beide, Welt- und Medizingeschichte in weiterem
Umfange sind dazu berufen, sich unentbehrliche Dienste in der For-
schung zu leisten. „Getrennt marschieren — vereint schlagen." Dieser
strategische Grundsatz gilt auch von den ^^^enschaften. Sollen greise
Probleme gelöst werden, so müssen die sonst getrennten emsigen Detail-
forscher der einzelnen Wissensgebiete sich verbinden, die Zunftschranken
zwischen ihnen müssen fallen, die Schatztruben müssen sich öffnen,
und der kostbare Inhalt muCs sich gefallen lassen, gelegentlich als
Lehngut verwertet zu werden.
Mitteilungen
Wandtafeln Toi^schlehtlieher Funde. — iSmt der frühesten Be-
tätigungen des wissenschaftlichen Betriebes yorgeschichtlicher Untersuchungen^
die lange genug phantastischen Liebhabern überlassen geblieben waren, wurde
die Anlegung von Fundkarten'), d. h. die Eintragung gewisser Zeichen
i) Studien xur OesehiehU des menaehliehen QesMeehtslebens (Berlin 1901 —1904):
Marquu de Sode (3. Anfl. 1901), Oeaehlechisleben in England (3 Bäode), Neue For-
gehungen über Marquis de Sode etc.
3) VgL diese ZeiUchrift 3. Bd., S. 237—238.
— 167 ~
für die einzelnen Aiten yon Denkmälern der Vorzeit in Landkarten: über
Form und Farbe dieser Zeichen ist indessen eine durchgreifende Einigung
auch jetzt noch nicht eifolgt, obwohl die Arbeit für einzelne Gegenden bereits
fertiggestellt ist
Neben diese Fimdkarten, welche der örtlichen Einordnung der einzelnen
Niederschläge femer Vergangenheit dienten, sind später als Darstellung der
zeitlichen Gruppierung Fundtafeln getreten, die mit jenen ersteren nicht
verwechselt werden dürfen. Durch Darstellung der in bestimmten Beziiken
vorkommenden typischen Stücke geben sie eine stmimarische Übersicht
des vorgeschichtlichen Inventars der einzelnen Gebiete meist nach der gegen-
wärtigen politischen Abgrenzimg. Sie waren ursprünglich bestimmt, dem Be-
dürfiiis der Belehrung weiterer Kreise zu dienen, namentlich derjenigen Be-
standteile der Bevölkerung, die mit den Fundstücken am ersten in unmittel-
bare Berühnmg kommen, und von deren Interesse für ihre Erhaltung es in
den meisten Fällen abhängig ist, ob sie baldiger Zerstörung anheim fallen
oder wissenschaftlicher Verwertbarkeit zugeführt werden.
Denn da sich der etwa zu derselben Zeit angeregte Gedanke, durch kleine
Mustersammlungen vorgeschichtlicher Gegenstände deren Kenntnis an mög-
lichst vielen Stellen ins Volk zu tragen, als unausführbar erwies, erschien es
geboten, auf andere Weise tunlichst weite Verbreitung der Bekanntschaft mit
den Resten der Vorzeit bis in alle Dorfschulen hinein anzustreben, und es
schien ausreichend, wenn auf die hauptsächlichsten Gruppen der Funde die
Aufmerksamkeit durch anschauliche Darstellung gelenkt würde nach dem
Gnmdsatz: Mehr Bilder in die Schule imd unter die Leute! Die Tafeln
waren also in den Dienst der Denkmalpflege gestellt und sollten verhüten,
dafs der Wissenschaft die Niederschläge einer fernen Vergangenheit aus Un-
kenntnis verloren gingen; denn zumeist ist diese und nicht böser Wille der
Grund der Vernichtung. Von einer vollständigen Vorführung der Typen
konnte man dabei absehen, auch brauchte der Fundort der abgebüdeten Stücke
nicht angegeben zu werden; dagegen war wesentlich die Ausführung in den
natürlichen Farben und wo möglich in einer Gröfise, die den wirklichen
Mafsen nahe kam; überdies empfahl sich die Aufnahme typbcher Ftmdstätten,
um von vornherein für deren Beachtung die Aufmerksünkeit zu schärfen.
Wie sich aber bei dem schlichten Denkmälerinventar leicht die Neigung
zu künstlerischer Ausführung einstellt, so lag es auch hier sehr nahe, die
Tafeln zugleich der Wissenschaft selbst dienstbar zu machen tmd durch sie
die Verbreitung der einzelnen Fimdtypen vor Augen zu führen. In immittel-
baren Zusammenhang mit der Forschimg traten sie von selbst durch das für
die Anordnung der einzelnen Zeichnungen zu wählende Prinzip: das einzige
wissenschaftlich mögliche war das chronologische. Seit durch Anknüpfung
der nordischen Funde an verwandte Formen in Ländern, auf die früher das
Licht der Geschichte gefallen ist, nicht nur eine relative, sondern bis zu
einem gewissen Grade von Sicherheit auch die absolute Zeitbestimmung mög-
lich geworden ist, hat ja eine wissenschaftliche Vertiefung der vorgeschicht-
lichen Arbeiten stattgefunden, die sich nicht mehr, wie früher, mit schlichter
Beschreibimg und mit der Vergleichung verwandter Funde begnügen. Da-
durch ist den Ausgrabungsergebnissen auch in solchen Kreisen, die sich
früher gegen die Schlüsse aus ihnen ablehnend verhielten, Beachtung ge-
— 168 —
«cfaezt worden« Diese xeitttche Anocdmoig der FnndUkler ist «nf den «eisten
— mdkt jUen — Karten sorgfiJtig Ins ins einzelne dntchgefiüirt, nicfat mir
mit BerHrksirfatigmig ^ sondern mit ansdrüddicher K^imrtnrhmmg da Über-
gangsfonnen. Die Benennung der einzelnen Perioden ist allerdingB nidit
durchweg diesdbe«
Ein weiterem Riiigrhm auf wissmBchaftfirhe Ansprüche erib^te dadnrdi,
daft nidit nur ein oder der andere Vertreter der einzelnen Fundgnq>pen
TorgeMut, sondern Vollständigkeit der Typen angestrebt wurde, ffier-
duich kdnnca die Taüeln zu einem wichtigen Hil&mittel fiir diefenigen
werden 5 die an cmem kleineren Orte ohne wissenschaffiiche Bücher- und
andere Sammlungen Funde bestimmen und die eigenen Schätze oder die
Bestände einer Vereinssammhing nach den Knlturperioden ordnen wollen;
zugleich sind sie eine bequeme erste Anleitung zu vergleichenden Studien
und eine Anregung zu tieferem Eingehen auf die Fragen nadi ahen Kultur-
beziehnngen, Bezugsquellen, Handebverbindungen und Völkerbewq;ui^;ea.
Es ist selbstrerständUch, dafs eine Sammlung tou Akertümem , sei sie im
Besitz eines Vereins, einer Stadt oder eines Privatmannes, die Fundtafeln
des Gebietes, dem die Funde angehören, aushängen haben muis. Bei der
Inventaiisierung und Aufstellung der Sanmüung werden für deren Vorsteher
aber auch die Fundtafeln der übrigen Gebiete Ton greisem Nutzen sein, und
deshalb s<^te jede Sammlung möglichst über mehrer« derartige Abbildungs-
werke Terfligen.
Was die geschichtliche Entwickelung dieser Tafeln betriffi, so war in
Preufsen vom Ministerium der geistlichen usw. Angelegenheiten nach Angabe
des bereits erwähnten Planes, systematische Mustersammlungen an gee^eten
Orten aufiEUStellen , empfohlen worden, für die einzelnen Provinzen
derartige Fundtafeln herzustellen« Die Entwürfe wurden im Jahre
1893 der 24. deutschen Anthropologenversammlung zu Hannover im dortigen
Provinziafanuseum zugänglich gemacht In Wien nahm die k. k. 2^entral-
kommission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und historischen Denk-
mäler, in anderen Gebieten einzelne Forscher und Verleger die Sache in die
Hand. Es ergab sich bald, für Preuisen schon bei der bezeichneten Aus-
stdhmg, dafs zwar in der Hauptsadie dieselbe Einteilung der Gruppen be-
folgt, dafii aber die Weite des Rahmens redit verschieden ausgefieülen war.
Dies wurde bei der VervielfiÜtigung durch den Druck z. T. verhängnisvoll:
rie kam flir die 6 Westpreufsischen Tafeln nach mehreren vergeblichen Ver-
sudien erst durch die Opferwilligkeit eines einzelnen Mannes, des Konsids
H. Brandt, zustande; für die 5 Pommerschen hat sie bis jetzt noch nicht
erfolgen können ^). Dieser Gruppe sdiÜefst sich die jüngste Veröfienüichung
von P. Benndorf in 4 Tafeln mit vorgeschichtlichen Gegenständen ans
Mittddeutschland an. Leichter gestaltete sudi die Herausgabe derauf einem
Blatt zusammengefidsten Entwürfe. Ifier ist die Qiedenmg in Perioden teils
i) Sie ttod verkkiaert der VerCflenttidlimBg von H. ScImhiDanB, Die S^Umr
Pommenu m v<trg$»ehiokUichtr Zeü, mit $ Tafeln naoh Entwurf und Zetcknoog ipon
A. Stabearaach {fiaUisehe Studien Nene Folge I, Sonderdruck Bedin b. Mittler 1897)
beigegeben, mit Angabe der Fundorte der einzelnen Stücke. Taf. i flttirt die Stein-,
Taf. 3, 3 die Bronze- und fiaUstattzeit, Taf. 4 die ältere Eisenzeit, d. h. die La T^e-
md proTinikl-römiscbe Periode, Taf. 5 die jflngere £iten-(Weoden')Beit tot.
— 169 —
^rch wigerochte TveDnung (Hannover, Sadisen), teils durch senkrechte
Linien kenntlich gemacht; beide Arten der Sondenmg kombiniert die Ober-
lausitzer Karte. Im ganzen scheint die senkrechte Gruppientng die Übersicht
SU erleiditem. I^ Breite des ^fuegels der Tafeln sdiwankt zwischen 64}-
und X08 cm, die Höhe vom oberen Rande der Überschrift bis zur unteren
Randlinie zwischen $o^ und 88 { cm.
Wenden wir uns jetzt den etnsdnen Veröffestlichnngen zu!
Vargeschichiliche WamUafdn für Weeipreufsetif entworfen im West-
preu&ischen Provinztalmuseum ^). Bei den umfassenden und gründlichen
Voraibdten, deren auch der Prospekt vom JiAre 1898 gedenkt, und bei der
socgfiütigen Ausführung ist die Aufiuhme aller bis zur Zeit der Herstellung
ermittelten Typen selbstverständlich. G^äte, Gefil&e, Schmuck und Waffen
werden vor Augen g^&rt und in einem unteren Streifen zeigen Landschafls-
bilder — zw» von ihnen farbig — die Beschaffenheit der Fundstellen, na-
mendich die Bestattungsweise, und zwar auf Tafl I aus der Steinzeit, auf
Taf. n aus der älteren und jüngeren Bronzezeit, auf Tafl m aus der jüngsten
Bronze-, der Hallstattperiode : hier werden Vertreter der flir die Provinz am
meisten charakteristischen Gesicfatsumen daigestellt, ihre verschiedenen Foimen,
die Mützendeckel, Veraerungen und die angefügten Schmucksachen. Taf. IV
um&fst die vorrömische £iseszeit (die La T^ne-Periode), Taf. V die provinziid-
römische mit besonderer Berücksiditigung der Fibelformen, Taf. VI die
Arabisch-Nordische Ztk mit slavisdien Gefäistypen. Die Anordnung ist über-
sichtlich, die AusAihrung nidit mir deutlich, sondern dem Ruf der Kunst^
anstatt von Troitsch entsprechend trefflich gdungen. Ein Teil der ab^
gebildeten Stücke ist hier zum ersten Male verttffenthcht Die Fundorte sind
nicht angegeben, dagegen die Bezeidmung der einzdnen Geräte. Den Be-
schluls bildet die Mahnung zur Aufbewahrung der Funde und eine An^
weisimg, wie sie zu bergen sind.
Vor- und frühgeaMchÜiehe AUeriümer aus der Provinz Bonnoner,
herausgegd>en von der Provinzialkommission zur Erfiuschung und Erhaltung
«ier Kunstdenkmäler in der Provinz Hannover^. In wagerecht abgeteilte
•Gn^pen auf einer Tafel geg^dert, werden in halber GrOfse und in charak-
teristischen Farben 118 Funde L der Stein-, IL der älteren Metall- und III. der
jtti]^eren (i. römischen, 3. sächsisdiea, 3. fränkisdien) Metallzeit vorgeführt
Die Funde smd chand^rislisch ausgewählt und in übersichüicher Anordnung
anschaulich dargestdh. Als eigpenartig ist das sädnische GefiÜs mit Buckeln
zu beachten. Vier Begräbnisformen sind ddzziert Interessant würde die Dar-
steUnng eines Moorieicheniundes sein.
Die für We&ifaien vom dortigen Provinzialkonservator Baunit Ludorf f
im Sdbstverlage des Provinziaknuaeums zu Münster herausgegebenen beiden
i) Berlin W. HoMCnniMostitat von O. Troitich. 6 Tafdii. a. Anfl. 1898. Prei«
— ftr omnifgezogeDe BMtter -^ 10 Mk. Breite 70, HObe 88 cm. Die Tafeln sind
■chon seit geraumer Zeit veegriflen and werden mobt wieder gedrackt Bin Bxemplar iit
in Berlin im König!. Moseam fltr Völkerknnde ansgestelH.
s) I Tafel in Faibendmck aoit 1 18 AbWMangen and erliatemdem Tnta. Hannover.
Theodor Schnlxes Bachhandlaag, Otterttralse 85. Preis i Mk. Breite 64I, Höbe 88| cm.
3) 1898. Lith. Druck von P. Sobwars in Halle a. S. Tedag von Tansch and Grosse«
Preis I Mk. 50 PC Breite 8i|, Höhe 61^ cm.
— 160 —
Tafeln sind nur für Schulen bestimmt imd der Besprechung entzogen. Auch
in der Zentralstelle für Preufsen, dem KönigL Museum für Völkerkunde, ist
kern Exemplar ausgestellt
Vor- und Fruhge&cMdMiche OegenstOnde aus der JPravlnz Sachsen^
herausgegeben von der Historischen Kommission für die Provinz Sachsen ^) :
in wagerecht gegliederten Gruppen werden I. die Steinzeit (vormetallische Zei^,
U. die Bronze- und Hallstattzeit, III. die entwickelte Eisenzeit (La Tdne-Zeit),
die römische Kaiserzeit, IV. die Zeit der Völkerwanderung, Fränkisch-Merowin-
gische, Slavische Funde dargestellt, in verschiedenem Maisstabe je nach der
Gröfse der Gegenstände und der Art der Verzierung. Den tatsächlichen Verhält-
nissen entsprechend treten die Tongeföfse mehr, als auf den bisher be^ro-
chenen Taieln hervor: sie sind in Gruppen vereinigt unter Hinzunahme
seltenerer Formen, z. B. der vogelförmigen Tonklapper, der dreiföcherigen
Dose, der Flasche mit B-förmigem Henkel; die einem Teile dieses Gebietes
eigentümliche Erscheinung, die Hausumen, sind durch ein Exemplar vertreten,
in kleinerem Mafsstabe dargestellt, vielleicht dem beschränkten Vorkommen
entsprechend. Die Fundorte der einzelnen Stücke, auch der selteneren, sind
nicht angegeben. — Das Gesamtbüd ist sehr reichhaltig und doch zugleich
noch übersichtlich; aber es ist wohl die höchstmögliche Ausnutzung des
Raumes im Interesse der Vollständigkeit erfolgt, und in der Tat ist keine
wesentliche Einzelheit zu vermissen: in Abschnitt III i hätte höchstens die
eiserne Schieberspange der La T^e-Zeit mitberücksichtigt werden können,
weü ihre Verbreitung nach Osten von der Provinz Sachsen aus erfolgte.
Die Zwischenräume zwischen den einzelnen Gegenständen sind daher auch
verhältnismäisig nur klein, die einzelnen Büder selbst aber sind charakteristisch
und deutUch. Ein begleitender Text gibt die Bezeichnung der verschiedenen
Stücke und unterrichtet in kürzester Fassung über die Kulturperioden. Auf
die Darstellung einer Grabeinrichtung ist verzichtet.
Tafeln vorgeschichtlicher Oegemtände aus JUJUteldeutsehUM/nd^ her-
ausgegeben von P. Benndorf). In der vorzüglichsten Ausführung und bei
gerätunigen Abständen werden in sehr übersichtlicher Anordnung mit photo-
graphischer Treue in natürlicher Gröfse und sorgfältigster Farbenwiedergabe,
mit kurzer Charakteristik der Kultuiperioden und unter Angabe des Fund-
ortes, auf Taf. I Gegenstände der Stein- , auf Taf. U der Bronzezeit (hier
auch einzelne Tonarbeiten), auf Taf. III Gefäfse dieser beiden Perioden, auf
Taf. IV Geräte und GeMse der vorrömischen Eisen-, Hallstatt- imd La T^e-,
sowie der römischen Kaiserzeit, der Völkerwanderungs- und der slawischen
Periode vorgeführt; die Darstellung eines Grabes aus der Bronzezeit ist am
Schlüsse beigefügt Auf der sehr umfassenden vierten Tafel hätte sich viel-
leicht eine äufsere Gliederung der Kulturperioden und — aufser Trennung der
Hallstattzeit (die auch früher anzusetzen sein wird, als geschieht) von den
Niederschlägen der La T^ne-Kultur — als Einzelheit die Aufnahme der mitt-
leren La T^ne-Fibel empfohlen. Auf derartige Fragen ist minderes Gewicht
gelegt, da der ursprüngliche Zweck solcher Tafeln, überhaupt erst die
i) Verlag Ton Friedrich Brandstaetter in Leipzig, 1903. Preis 14 Mk. Breite 73,
Höhe 50^ cm.
2) Druck Ton C. A Starke, Königl. Hoflieferant, Görlitz. 2. Aufl. 1900. Preis
3 Mk. — Breite 108, Höhe 65^ cm.
— 161 —
Aufinerksamkeit der Laien dorch ansdiattliche Darstellung auf die vorgeschicht-
lichen Fände hinzulenken, festgehalten ist
Tafel vargeschichüicher AUertümer der OberUMUsUz , herausgegeben
▼on dtn Kommonalständen des preu&ischen Madtgrafentums Oberiausitz,
bearbeitet von L. Feyerabend, gezeichnet von J. Schurig '). Die
Funde sind &rbig in drei senkrecht getrennten Gruppen dargestellt, deren
erste und zweite je zwei, deren dritte drei wagerecht geschiedene Unter-
abteilungen enthält, nämlich: die Stein- imd Bronze-, — die ältere und jüngere
Lausitzer 2^t, — die provinzial-römische, die Burgwall- und die aiabbche
Zeit. Bei allen Stücken ist der Maisstab und der Fundort angegeben. Eine
Grabanlage iind eine Heidenschanze sind abgebildet Ein unten abgetrennter
Streifen unterriditet über die Kulturentwickelung der Landschaft und mahnt
zur Erhaltung der Funde und zur Ablieferung an eine öffentliche Sammlung.
Der Scheidung der zweiten und dritten Gruppe (Bronzezeit — ältere Lausitzer
Zeit) liegt wohl eigentlich die Sonderung der Einzel- und Depotfunde von
den Gnd>einschlüssen zugrunde, was in der Überschrift nicht zum Ausdruck
kommt: sind doch einige Stücke der zweiten Gruppe denen der dritten
(^eichzeitig. Die Auswahl der Gegenstände und die Ausführung im einzelnen
ist zweckmäfeig, die Gruppierung recht geräumig und darum übersichtlich
und gefällig.
AUertümer aus tmserer Heimat (Mheh^ und deutsches JDonou^
gebiet) ^). Durch senkrechte Lmien ist die vorrömische 2^it der Kelten und
Germanen, die römische, die im Vergleich mit anderen Tafeln einen ver-
hältnismäisig breiten Raum einnimmt, und die alamannisch - fränkische ge-
schieden. Die Anordnung ist übersichtlich, der Maisstab iür die einzelnen
Gegenstände verschieden. Das Ganze macht einen fiubenfrischen Eindruck,
wobei der Ton des angerosteten Eisens besonders gut getroffen ist Ab
charakteristisch tritt in allen Kolumnen das edelste Stück der Ausrüstung,
das Schwert hervor, zu dessen Seiten die übrigen Funde gruppiert sind.
Gräber imd Bauanlagen sind nicht mitabgebildet Der Fundort der ras
dargestellten Objekte, die zu beiden Seiten der Tafel bezeichnet und be«
narmt sind, ist nicht angegeben. Ein unten abgetreimter Streifen «ithäh eine
gut unterrichtende Übersicht über die älteste Geschichte des Landes; unter
dem oberen Rande sind die gesetzlichen Bestimmimgen und eine technische
Anleitung fUr die Behandlung der Erdfimde abgedruckt
R. Forrer, Zur Ur- u/nd I\ruhgesehiehU JElsafS'^lAMyH^
Eine um&ssende, durch senkrechte Erlegung sehr übersichtlich geordnete
Darstellung der Funde, mit sorg^tiger Abwägung der Chronologie imter Her-
vorhebung der Übergangsformen, die durch eigenartige Emgliederung kermt-
Uch gemacht sind. Bei der Vollständigkeit der 192 wiederg^ebenen Typen
sind auch Schlüsse e silentio zulässig. Es werden unterschieden die ältere
i) Ein Blatt mit Abbüdnn^n in acht Farben gedruckt nebtt karzem Randtext (Grö&e
69:87 cm). Entworfen and geseichnet von E. t. Tröltsch, Königl. wttrtt. Major a. D.
Stuttgart, Verlag von W. Kohlhammer. Preis angesogen aaf Leinwand mit StSben ond
Schlaafen com Anfhfingen: x Mk. 80 PfL, imaafgesogcn i Mk. (Bereits in 3. Auflage
erschienen.) Breite nach den S. 159 angegebenen Messungen 84^, Höhe 65 1 cm.
a) Nebst ror- and friihgeschichtlicher Fandtafel mit 192 Abbildongen in Licht- and
Farbendrnck. Strafsboig, Verlag Ton K. J. Trttbner, ipor. Preis 3 Mk. Breite 78^
Höhe 63 cm.
11
— 162 —
und jüngere Steinzeit , der sich die Kupfetfunde anscUielsen, die ältere
Bronzezeit, die mitdere und jüngere, die nicht gesondert sind, die ältere und
jüngere Eisenzeit (Hallstattepoche und LaT^eperiode), die frühe Römerseit, die
nicht gesonderte mittlere und spätere Kaiserzeit, endlich die Völkerwanderung»-
zeit mit den Funden der Alemannen und Franken, sowie der Merowinger.
Zwei charakteristische Grabeinrichtungen sind beigegeben. Der Mafsstab ist
verschieden, bei kleineren Gegenständen die natürliche Gröise, während er
bei TongefiUsen bis zu V>^ herabgeht Ein Beg^eitheft von 46 Seiten legt
nnt Quellenangaben die Kulturentwid^elung des Landes dar. Das Ganze ist
in gleichem Maise als Lehrmittd fUr das Volk, wie als wissenschaftliches
Hilfsmittel angelegt
Vofr- und frühgesekiehtliche Denkmähr aus Österreich* Ungarn ^).
Die Tafel ist in sechs Kolumnen geteilt, welche L die Stein-, II. dk
Bronze-, lU. IV. die Eisenzeit und zwar gesondert in die Hallstatt- und die
La T^e-Periode, V. die Römerherrscbaft, VI. die christliche Zeit umfassen ;
den Schluis der letzteren bilden die slawischen Schläfenringe, Töpfe mit Wellen-
linien und Krüge. Durchweg sind charakteristische Gegenstände unter ge*
legentlicher Berücksichtigung vereinzelt stehender Stücke (z. B. in der letzten
Periode ein silberplattiertes Eisenbeil) ausgewählt. Der Maisstab ist an-
gegeben, der Fundort nicht ') ; die Farben sind hell gehalten. Ein unten ab*
getrennter Streifen benennt die verschiedenen Stücke ; eme beigegebene Über-
sicht (4 S. 4^) schildert unter Bezugnahme auf die einzelnen Funde die
Kulturentwickelung des Ländergebietes imd gibt am Schlüsse Verhaltungs-
r^eln, deren letzte ') zeigt, wie frei von aller Engherzigkeit ihr Verfasser iaiL
Anhangsweise sei schliefslich auf die von dem Nederlandsche Oud-
heidkundige Bond herausgegebene Wandkarte hingewiesen, zu der
R. Jesse, Konservator am Holländischen Reichsmuseum in Leyden, einen
kurzen erklärenden Text geschrieben hat ^).
Die jüngste Zeit hat einen bedeutsamen weiteren Schritt in der Erforschung
der vorgeschichtlichen Niederschläge g^an, insofern jetzt gleichsam die Fund-
karten und Fund tafeln zu einem neuen Kulturbilde vereinigt werden, zu
Typenkarten, aus denen ersichtlich werden soll, woher die Fundgegen*
stände mit ihren mannigfachen Formen und Verzierungen ursprünglich stammen,
auf welchen Wegen und wie weit sie sich verbreitet haben, wie sie mn-
gestaltet worden sind, und mit welchen anderen Dingen sie gleichzeitig in
Gebrauch waren. Der bereits 1900 gegebenen Anregung des Geh. R^e-
i) Im Auftrage des hohen k. k. Ministeriumt für Koitus und Unterricht herausgegeben
▼on der k. k. Zentralkommission Ittr Kunst- und historische Denkmale, entworfen und er-
Itetert Ton Dr. W. Much. Aquarelle Ton Ludwig Hans Fischer. Verlag Toa
Ed. Hölzeis Verlagsbuchhandlung. Wien IV, Lnisengasse. Preis 2 Mk., auf Leinwand
mit Holxleisten 3 Mk. 80 Pf. - Breite 84I, Höhe 69 cm.
3) Wer sich hierüber unterrichten wül, findet die erforderlichen Angaben im Knnat-
historischen Atlas, herausgeg. Ton der k. k. Zentralkommission, L Abt. redigiert Ton
Dr. M. Mach. Wien 1889.
3) „y^tT sich nicht selbst wissenachaftUoh mit diesen Funden beschäftigt oder
nicht die Mittel besitzt, ihnen eine dauernde Pflege und der Forschung xngfingliehe Zo»
fluchtsstätte zu gewfihren, erfüllt eiiie Pflicht, wenn er sie dem . . . oder dem . . .
Museum schenkt oder Terkauft.**
4) Verlag Ton Joh. Müller in Amsterdam. Preis i Gulden.
— IM —
niiigsnUes Vofs za Berlin folgend, hat die deutsdie anthropologische Gesell-
sdiaft bei ihrer 34. Versammlnng za Wonns 1903 beschlossen, durch eine
Kommission unter VonitE des Prof. Lissauer zu Berlin alljährlich eine
Zahl TOD Fundtypen in der Art bearbeiten zu lassen, dais in die zwei nur
schwach anzudrackenden Blätter des Kiepertschen Handatlasses Ton Deutsch-
land und Europa 2^ichen für jene Typen eingetragen werden: die Yerschiedenen
Fonnen je eines Gerätes und überdies die Varianten einzdner seiner Teile
sind als Schlüssel fUr die Terwendeten Zeichen in den Eckstücken der Karten
daigestellt '). Das erste ^att vergegenwärtigt fünf Arten von Radnadeln mit
acht Varianten, das zweite die Flachcdte in acht Formen mit neun Varianten
des Bahnendes und sieben der Schneide, vermittelt also eine sehr genaue
Vorstellung der Funde.
Je mehr diese Untersuchungen ins einzelne geführt werden, um so enger
wird der Kreis, für den das gesamte Material bestimmt ist; aus ihm werden
a&erdings später Ergebnisse hervorgehen, die in ihrer Vollständigkeit und
Sicherheit das Interesse aller Gebildeten in Anspruch nehmen dürfen.
Hugo Jentsch (Guben).
nelmatsclmtz. — Um die l^wirkungen zu bekämpfen, die in neuester
Zeit unnötig und kurzsichtig viel&ch die Denkmäler der Natur vernichtet
haben, kurz um dem staatlichen Schutze der historischen Denkmäler einen
solchen der Naturdenkmäler zur Seite zu stellen, wird gegenwärtig ein
Aufruf zur Gründung eines Bundes Heimatschutz verbreitet Als Zweck
wird bezeichnet : Ergänzung der staadich organisierten Denkmalpflege ; Pflege
der überlieferten ländlichen und bürgerlichen Bauweise, Erhaltung des vor-
handeuen Bestandes; Schutz der landschafffichen Natur einschliefslich der
Ruinen; Rettung der einheimischen Tier- und Pflanzenwelt sowie der geolo-
gischen Eigentümlichkeiten; Pflege der Volkskunst auf dem Gebiete der be-
weglichen Gegenstände; Pflege der Sitten, Gebräuche, Feste und Trachten.
Unter Einschlufs dessen, was die Vereine für Volkskunde sammeln imd
zu erhalten streben, wird hier das Augeimierk auf die Gesamtheit der Elemente
gerichtet, die zusammen einer Landschaft ihr eigeutümliches Gepräge ver-
leihen, und vor allem die Tier- und Pflanzenwelt, die Gestaltung von Wald
xmd Berg ist nicht vergessen. Das Ziel ist allem Anschein nach weniger
wissenschaftliche Arbeit — dafür ist. ja vidfach schon gesorgt — sondern
in erster Linie tatkräftiges Handeln, um die Natur vor gewaltsamen
Schädigungen zu bewahren. Der Gedanke, der in den beiden letzten Jahr-
zehnten hinsichtlich der Kunstdenkmäler so überraschend schnell Anerkennung
gefunden hat, soll hier auf alle Eigentümlichkeiten der Natur undKunst
ausgedehnt werden. Mögen die Bestrebungen von günstigem Erfolge be-
gleitet sein!
Vor allem die Geschichtsvereine, für die es in mancher Gegend
i) Die Arbdt wird also mit derselben bis ins einzelne gehenden Genaniglceit
gefthrt werden, mit der nach einheitlichem Plane Dialektkmrten Hir je eins der
Wörter in 40 Mnsters&tzen entworfen werden, über die im Jahre 1879 ErhebimgeQ
in gane Deutschland angesteUt worden. Vgl. die Mitteilongen von Wrede im An^
xeiger d&r ZeUatknfi fiir dtHtsohea Altertum bis snm Jahre 1903. Siehe Mch
diese Zeitschrift a. Bd., S. a9a — 293.
11*
— 16i —
und mancher Stadt nur vorteilhaft sein kann, wenn sie sich an immi^lh^r
praktischen Aufgaben beteiligen können, sollten sich diesen Bestrebungen gegen-
über zu tatkräftiger Unterstützung entschliefsen. Durch eine eventuelle Er-
weiterung ihres Arbeitsgebietes würden sie nicht nur der Sache dienen, son-
dern auch die nächsten und ursprünglichen Aufgaben in mancher Beziehung
fördern können. — Nähere Auskunft erteilt allen Interessenten Robert
Mielke in Charlottenburg 5, Römerstrafse i8.
ArchiTe. — Im Jahre 1903 ist die archivalische und historische Welt
mit einem Adreßbuch der wichiigaien Archive Europas, erster Teil : Deutsches
Eeieh ohne Preußen, beschenkt worden. Da ein sach- tmd zeitgemäis be-
arbeitetes Archivadrefsbuch imstreitig ein recht verdienstvolles, aber für den
Bearbeiter zugleich entsagungsvoUes Werk wäre und das Publikum annehmen
mufs, dafs nur ein unterrichteter Faehmann an eine solche Aufgabe heran-
geht, ist es dringend notwendig darauf hinzuweisen, da& das vorliegende
Buch ^) den zu stellenden Anforderungen in keiner Weise ge-
nügt, und vor dem Ankauf zu warnen. Schon Preis tmd Bezugs-
bedingungen erwecken gerechtes Bedenken, aber für Sachkenner wird es be-
sonders bezeichnend sein, dafs von denjenigen Archiven bezw. Interessenten,
die das Adrefsbuch vorausbestellt haben, die Königl. Preufsischen Staats-
archive zu Marburg, Osnabrück und Stettin, sowie das Fürstl. HohenzoUemsche
Haus- und Domänenarchiv zu Sigmaringen das Büchlein zurückgesandt
haben. Und gewüs hätten den gleichen Weg gern noch andere eingeschlagen«
wenn sie nicht schon voreilig das Buch der Bibliothek einverleibt hätten,
ohne von seinem traurigen Inhalte Kenntnis zu nehmen.
Die Person des Verfassers ist insofern von Interesse, als das Buch-
händler-Börsenblatt seit Jahren eine Reihe wertvoUer Beiträge zu seiner Bio-
graphie enthält, wodurch die von ihm befolgten Geschäftsmaximen in das
redite Licht treten. Hettler ist von Haus aus Buchhändler, seine Verlags-
artikel werden aber durch den organisierten Buchhandel nicht vertrieben
und sind deswegen nur direkt zu beziehen. In dieser Weise ist erschienen
eine Zeüsckrift für den geographischen Unterricht, eine Zeitschrift für den
geschichtlichen Unterricht, ein Historisches Literaturblatt, eine Zeitschrift für
alte Geschichte, eine Neuphilologische Bundschau, wobei dieselben Auifsätze,
weim es der Inhalt einigermafsen zuläfst, in mehrere dieser Organe Auf-
nahme gefunden haben. Wie viel von jeder einzelnen dieser Zeitschriften
wirklich erschienen ist, wird sich nur sehr schwer angeben lassen ; aber alle
zeichnen sich dadurch aus, dafs zu einem horrend hohen Preise recht wenig
geliefert wird und dafs das begonnene Werk sehr bald ins Stocken geräL
Vom Historischen Literaturblatt ist wohl im Frühjahr 1900 das letzte er-
schienen, Titel und Inhalt zu Bd. i und 2 fehlen noch immer; und jetzt
i) Adreßbuch der wichtigsien Archive Europas. Mü Angaben über die Be"
nutxungsxeiten^ die wissensehaftliehen Beamten und die ekuehlägige Literaker, Herant-
g^eben Ton Angnst Hettler. Erster Teil: Deutsches Reich ohne Umißen, Jem
1903, Selbstverlag des Heraasgebers. Vm und 167 S. kleinsten OlrtaTS. Preis
10 Mark, Vorzugspreis (bis zu bestimmten Tagen) 5 Mark, Ramponierte Exemplare bieten
Baumert und Ronge in Grolsenhain im Dezember 1903 bei direkter BesteÜvng binnen
6 Tagen für 6 Mark an.
— 166 —
taacht nim plötzlich eine erste Nummer des 3. Bandes dieses Organs an!,
die — la Seiten stark — 50 Pfennige kostet, aber sich wesentlich auf die
Reklame für die neuen archiiralischen Veröffentüchimgen beschränkt, jeden£dls
nicht das bringt, was man nach dem Titel von dem Inhalte erwarten sollte :
wir lesen eine Ankündigung eines Arohivcdiaehen Aknanaehs — wieder ein
neues Werk — imd auch die Namen derer, die darauf hineinge&llen sind
und Yorausbestellt haben, sodann eine Rezension des Archivadreisbuches von
Heydenreich, die richtig gelesen durchaus nicht etwa besonders anerkennend
ist, aber immerhin manchem Leser als eine Empfehlung erscheinen kann; es
folgt eine Bibliographie, dann Personali«! (Nekrolog fUr den dänischen Reichs-
archivar Bricka) imd schliefsUch die Anzeige des 2. Teiles des Archivadrefs*
buches (Preufsen), sowie als dessen „Ergänzung** ein Jahrbuch der 420
deutschen historiMhen Kommiaaionen, Institute und Vereine des deutschen
Seichs und der deutschen Sprachgebiete des Auslands, i. Jahrg. 1903, einige
Textproben daraus und wiederum ein Verzeichnis der VorausbesteUer des
Jahrbuchs. Dieses letztere ist ein neues verheißungsvolles Unternehmen, vor
dem ebenüeüls gewarnt sein möge. Seitdem Hetder sich so intensiv mit dem
Archivwesen beschäftigt, gibt er auch in „zwanglosen** Nunmiem ein Archivar
Hsches ZeräraibUxtt, Organ für die Oescemtinteressen des Jrchivwesens heraus,
dessen erste Nummer am 15. August 1903 ausgegeben worden ist Diese
— 6 Seiten stark und mit einem Inhalt, der niemanden interessiert, — kostet
eine Mark. Ob überhaupt und was etwa von dem Zentralblatt, dem Jahr-
buch, dem Almanach oder dem 2. Teil des Adrefsbuchs erschienen ist,
weifs ich nicht; mir sind diese Dmge alle nur aus den Ankündigungen im
Historischen Literaturblatt, 3. Bd. i. Heft, und den ersten beiden Nummern des
Zentralblatts bekannt Als Kuriosum sei nur erwähnt, dafs das 2. Heft des
Archivalischen Zentralblattes sich fiast ganz inhaltlich mit dem i. Hefte des
literaturblattes deckt Vor mir Hegt nur der erste Teil des Adrefsbuches,
der natürlich nicht zur Besprechung eingegangen, auch nicht etwa gekauft
worden ist, sondern von einem der voreiligen Vorausbestdler gütigst zur Ver*
ftigUQg gestellt wurde. Der Hinweis auf Hettlers sonstige literarischen
Machwerke war imbedingt nötig, um das jüngste Verfieihren voll zu würdigen.
Was Burkhardt mit semem Handr und Ädrefibuch der Deutschen
Archive (2. Aufl., Leipzig 1887) geleistet hat, das weiis jeder Archivar und
jeder Archivbenutzer. Die Fortsc^tte, die seitdem das Archivwesen überaH
und in jeder Richtung gemacht hat, sind aber nicht minder bekannt; dadurch
ist einerseits eine Neubearbeitung erleichtert worden — es sei z. B. an den
Wegweiser durch die historischen Archive Thüringens von Mitzschke er-
innert *), — aber andrerseits sind auch die Ansprüche gestiegen, denn manche
Archive sind gewissermaisen neu erstanden bezw. neu entdeckt, recht viele,
namentlich &chmännischer Leitung entbehrende, neugeordnet worden, so dafs,
wie die Sache heute liegt, sich wohl nur unter Mitarbeit vieler und einheitlicher
Redaktion einer alle Interessen abwägenden' Person oder etwa Kommission
eine dritte Auflage von Burkhardts Buch schaffen läfst Wird ein solches
Buch bearbeitet, dann mufs es für lange Zeit die Grundlage bilden und
bedarf deshalb sorgf^tigste Redaktion. Vielleicht beschäftigt sick
i) Vergl diese Zeitschrift 8. Bd. S. 296.
— 166 —
der nächste ArchiTtag inDanzig einmal mit dieser Frage! Als
leitende Gesichtspunkte würden zum wenigsten dabei die folgenden zu be*
trachten sein: i. Es muis deutUch von ««historischen^* Archiven gesfMrochea
werden, um literarische und sonstige immer reichlicher entstehende Ardnve
und auch die reinen Verwaltungsarchive auszuschliefsen ; 2. Der Nachdruck
ist auf die Bestände zu legen und, tun über diese zu unterrichten, ist neben
einer schematischen Übersicht die Geschichte des Archivs kurz zu behandehi.
3. Alles übrige ist relativ nebensächlich. Am wichtigsten fiir die Benutzer
ist noch die Benutzungsordnung (wer gibt die Erlaubnis? Etwaige Zdtgrenze.
Wird versandt?), während die Dienststunden usw. leicht wechseln und die
Personalangaben im Augenblick des Erscheinens bereits veraltet sein können.
Um der Vollständigkeit willen gibt man wohl solche Dinge mit an, aber
besser unterrichtet ja in diesen Fällen die Minerva bezw. bei Personalangaben
auch Kürschners Deutscher Ldteratur-Kaiender, die eben deshalb, weil sie
jährlich erscheinen, alle Verändenmgen bald bringen können. Freilich ist
dazu erforderlich, dafs die Archivare noch mehr als es bisher geschehen ist,
ihre Personalien für den Literatur- Kalender einsenden und sachliche Ver-
änderungen (Dienststtmden usw.) der Minerva anzeigen. Auf diese Weise
erledigt sich auch von selbst die schriftstellerische Tätigkeit der Ardiivbeamten»
über die naturgemäß jeder gerne Aufschluis erhält, und selbst die Bezeich-
nung des Arbeitsgebietes bei der einzelnen Person, wie sie Burkhardt gibt,
wird dann überflüssig. Die Literaturangaben über das einzelne Archiv müssen
sich auf die speziell archivalischen Arbeiten beschränken, die entweder
die gesamten Archivbestände oder einzelne Gruppen beschreiben, die Zu-
sammensetzung und Geschichte des Archivs schildern oder sidi mit sonstigen
archivalischen Angelegenheiten beschäftigen; diese müssen aber unbedingt
vollständig sein. Absurd ist es dagegen, alle Publikationen aufftihren zu
woüen, die Material aus den betreffenden Archiven enthalten oder verarbeiten:
dies läfst sich nicht durchführen und hat auch recht geringen Wert, da jedem
Sachkenner viel bessere und vollständigere literarische Hil£nnittel zur Ver-
fügung stehen.
Hinsichtlich dessen, was ein neues Archivadrefsbuch heute leisten mufs
und was minder wichtig oder überflüssig ist, mögen die Ansichten der Fach-
leute im einzelnen auseinandergehen, aber die soeben entwickelten Gesichts-
punkte dürften wohl in das Gebiet fallen, worin alle übereinstimmen. Will
man nun daran etwa die Leistung des Hettlerschen Elaborats messen, so «>
weist es sich als durchaus ungenügend.
Ein vernünftiger Gesichtspunkt hinsichtlich der Archive, die aufgenommen
worden sind, läfst sich überhaupt nicht erkennen, es sind vielmehr „mitver-
hältnismäisig geringen Ausnahmen nur diejenigen Ardiive au%enommen, von
denen gedruckte Inventare vorliegen oder über welche irgend etwas im Dnick
erschienen ist bezw. aus denen Veröfientlichungen hervorgegangen sind'S
Träfe dies zu, so müfste fast die gesamte historische Literatur benutzt tmd
herangezogen sein, mindestens aber jede Stadtgeschichte, die das mehr oder
minder reiche Stadtarchiv benutzt; dies ist aber längst nicht der Fall, viel-
mehr fehlen sogar nicht wenige bei Burkhardt aufgeführte Archive völlig.
Andrerseits kann die Tatsache, dafs über ein Archiv etwas Gedrucktes
vorliegt, auf keinen Fall für dessen Aufnahme entscheidend sein: das Ur-
— 167 —
material muis doch anbedingt durch direkte Anfrage bei den Archiwor«
ständen beschafit werden, wenn es 2ii?erlässig und vollständig sein soll; Ver-
öflentlichungen haben in den meisten Fällen doch einen bestimmten sach-
lichen Zweck «nd woBen nicht nur registrieren. Ein Archivadrefsbuch soll
gerade im Gegenteil die Wege ebnen helfen, um die Schätze zu ersdüiefsen,
und dazu ist es vor allem nötig, dafs auf die Charakteristik der Gesamt-
bestände das Haup^;ewicht gelegt wird, die, wie schon oben gesagt, ganz auiser
acht gelassen ist. Da auch Heydenreich in seiner Kritik dies hervorhebt,
so wird für den preufstschen Teil Berücksichtigui^ der Bestände in Aussiebt
gestellt Ob dies gelingen wird, ist recht zweifelhaft, denn dazu ist grofser
Fleifs und viel Sachkenntms notwendig. Zwar behauptet Hettler kühn, Burk-
hardt und Mitzschke habe er „ohne erheblichen Nutzen '* zur Vergleichung
herangezogen, aber merkwürdig ist doch die sachliche Übereinstimmung mit
diesen Büchern, wo nicht ganz offen etwas neueres vorliegt. Bei dem Fürst-
lichen Haus- und Landesarchiv in Detmold z. B. wird S. io8 ein&ch wieder-
holt, was bei Burkhardt über die Benutzungserlaubnis steht, ohne zu fragen,
ob dies noch gilt Tatsächlich erteilt seit 27. Juni 1901 der Archiworstand
die Erlaubnis flir wissenschaftliche Zwecke bis 1848. Das ist doch etwas
ganz anderes! Wie einfältig geradezu „literaturangaben'' sind, zeigt eben
da ein Hinweis auf diese Zeitschrift i. Bd., S. 26, wo mit ganzen 4 ZeUen
die Anstellung des jetzigen Archiworstandes erwähnt wird. Und lun so einer
Nachricht willen wird ein Leser veranlafst, dort nachzuschlagen, da er ver-
muten mufs, dafs an dieser Stelle etwas wesentliches über das Archiv zu
finden sei ! Während sonst absolut nicht Hergehöriges aufgeführt wird — z. B.
unter Königreich Sachsen S. 120 — 122 der Inhalt des ganzen Codex diplomaticus
Saxaniae regiae und wie recht oft so unter Lübeck S. 109 das Frscheinungs-
jahr jedes der 1 1 Bände des ürkundenbuehs der Stadt Lübeck, denn solche
Dinge sind bequem abzuschreiben und füllen nett die leeren Seiten, — fehlt
bei Lippe selbst die BibUogmphia lAppiaca, die als Nachschlagewerk unendlich
viel ersetzt Die ganze Art der Literaturbearbeitung ist zwecklos, oder gibt
es nicht ein durchaus falsches Bild, wenn S. 126 — 127 gerade 12 Bücher
verzeichnet sind, die Material aus dem Köni^ Hauptstaatsarchiv Dresden
verarbeiten? Nach meiner Ansicht ist es durchaus töricht, solche Bücher
aufzuführen, aber wenn man es tut, dann müisten billig noch hunderte
folgen. £>ie reinste WiUkür, der Zu£dl, dem der Sachuakundige naturgemäis
ausgesetzt ist, hat allein bei der Auswahl entschieden und das Ergebnis ist
entsprechend ansgefiallen. Niemand hat einen Nutzen davon ; denn das, was
der Leser findet, kann er an anderen Stellen besser und vollständiger haben,
und was er sucht,, das findet er nicht
Mögen die deutschen Archivare und Historiker einmütig die Zumutung
ablehnen, ein solches Machwerk zu kaufen! A. T.
Eingegangene Btteher.
Friedensburg, Walter: Die Herzöge von Pommern und die hansisch-
niederländische Konföderation von 16 16 [«>■ Ponmiersche Jahrbücher
4. Bd. (Greifswald 1903), S. 91 — 138].
Günther, Arno: Sachsen und die Gefiethr einer schwedischen Invasion im
Jahre 1706. Leipzig, Dissertation, 1903. 96 S. 8^
— 168 —
Kraus, Job.: Aus dem Leben eines Frankentbakr Lateinscbulrektors im
17. Jabrbundert [=» Zur Erinnerung an die Eröflhung des neuen Pror
gynmasiums in Frankentbai am 30. September 1903].
Mayr, M«: Veste Hobenweifen« ein gescbicbdicber Fübrer, mit Foto-
grafien imd 2^cbnungen von A. Weber, Architekt Innsbruck, Wagner,
1903« 75 S. 8^ I Krone.
Neder, Emil ; Gescbicbte der Kircbe zu Höflitz bei Bensen 1234 — 1903.
Selbstverlag des Verfassers. 42 S. 8^
Oergel, G.: Das ehemalige Erfurtische Gebiet (mit einer Karte) [= l^fit-
teilungen des Vereins fUr die Geschichte und Altertumskunde Erfurts
24. Heft (Erfurt 1903), S. 159 — 190].
Schultz, Alwin: Das häusliche Leben der europäischen Kulturvölker vom
Mittelalter bis zur zweiten Hälfte des XVUI. Jahrhunderts [t=s Handbuch
der mittelalterlichen und neueren Geschichte, herausgegeben von G. v.
Below und F. Meinecke]. München und Berlin, R. Oldenbourg, 1903.
432 S. 8«. Mk 9.
Thiele, R. : Rede zur Feier der vor 100 Jahren erfolgten ersten Vereinigung
Erfurts mit Preufsen in der Aula des Kgl. Gymnasiums zu Erfurt am
21. August 1902. Erfurt, Fr. Bartholomäus, 1903. 12 S. 8^.
Schwieters,J. : Das Kloster Freckenhorst und seine Äbtissinnen. Waren-
dorf i. W., J. Schnell, 1903. 288 S. 8«. Mk. 4.
Zschiesche: Funde aus der merovingischen Zeit in Erfurt und der Um-
gegend [= Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertums-
kunde von Erfurt 24. Heft, 2. Teil, S. 191 — 204].
Zollinger, Fr.: Johann Jakob Redinger (1619 — 1688) weiland Rektor
der Lateinschule zu Frankenthal [«« Zur Erinnerung an die Erö&ung
des neuen Progymnasiums in Frankenthal am 30. September 1903].
Schrohe, Heinrich: Kurmainz in den Pestjahren 1666 — 1667 [e=> Erläu-
terungen und Ergänzungen zu Janssens Geschichte des deutschen Volkes«
herausgegeben von Ludwig Pastor III. Bd., 5. Heft]. Freibuig i. B.»
Herder, 1903. 133 S. 8^ Mk. 2,50.
Mitzschke: Johann Andreas Ebenbart [«» Allgemeine Deutsche Biographie
Bd. 48, S. 301— 3 Jf?]-
Oechelhäuser, Adolf v. : Das Heidelberger Schlofs, bau- und kunst-
geschichdicher Führer, 2. Aufl. Heidelberg, J. Höring, 1902. 196 S. i6^.
Riehl, W^ H. : Kulturstudien aus drei Jahrhimderten, 6. Aufl. Stuttgart und
Berlin, J. G. Cotta Nachfolger, 1903. 446 S« S^.
Roll, Louis: Erfurt in Thüringen [«» Europäische Wanderbilder Nr. 141
und 142]. Zürich, Oreü Füfsli. in S. 8^
Störzner, Bernhard: Wie ist in den Gemeinden der Sinn fUr die Geschichte
der Heimat zu wecken und zu pflegen? 2. Aufl. Leipzig, Arwed
Strauch. 27 S. S^.
Veen, J. S. V. : De pest en bare bestrijding in Gelderland, in hed bij-
zonder te Amhem. [Overgedrukt uit Bijdragen en Mededeelingen der
Vereeniging 'Gelre* deel VI.]. 66 S. 8«.
Henustgeber Dr. Annin Ulle in Leiptif.
Dniek und Varlmg von Friedrich AndroM PertliM, AktienfeMlUchait, Godi«.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
tur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
V. Band April 1904 7. Heft
Dialektvy^örterbüeher und ihre Bedeutung
für den Historiker
Von
Ferdinand Mentz (Strasburg i. £.)
Edward Schröder hat in seinen „Urkundenstudien eines Germanisten" *)
den Beweis erbracht, „dafs auf dem Gebiete der mittelalterlichen Quellen-
kunde das Handwerkszeug oder, wo dies fehlt, der Beirat des Ger-
manisten öfter als seither aufgesucht werden mufe", und hofft, dafe
sich ein regerer Verkehr zwischen den Urkundenforschern und den
deutschen Philologen anbahnen werde. Da sich Schröders Studien nur auf
lateinische Urkunden beziehen, kamen für ihn nur in diesen vorkomm enden
deutschen Eigennamen in Betracht : er zeigt , wie aus deren gramma-
tischen Eigentümlichkeiten auf das Alter der Urkunden, ihr Verhältnis
zueinander u. dgl. geschlossen werden könne. Doch dürfte auch beim
Studium deutscher Urkunden und Chroniken — und zwar nicht blofs
des Mittelalters, wo dieselben ja ohnedies den lateinischen gegenüber
zurücktreten, sondern auch späterer Zeit — der Historiker häufig in
die Lage kommen, sich bei dem Germanisten Rats erholen zu müssen.
Grammatische Fragen werden da allerdings seltener für ihn wichtig
werden, desto öfter aber wird er in Zweifel sein wegen der Wort-
bedeutung. Es ist jedem Germanisten bekannt, dafe im Mittelhoch-
deutschen viele Worte einen durchaus anderen Sinn haben, als in
heutiger Zeit, dafe heute verpönte , ja obszöne Bezeichnungen damals
durchaus harmlos waren usw. Was aber vom Mittelhochdeutschen dem
Neuhochdeutschen gegenüber gilt, das gilt in ebensolchem oder noch
höherem Mafse von den deutschen Mundarten gegenüber der Schrift-
sprache. Wenn man in einem elsässischen Laden etwas verlangt und
der Verkäufer erwidert einem, es sei „wirklich** nicht da, so wird man
als Nord- oder Mitteldeutscher versucht sein, zu sagen, dafs man ihm
I) Mitteilangen des lostitats f. ötterr. GetchichUforachnng 18 (1897), S. i ß.
12
— 170 —
auch ohne eine so nachdrückliche Versicherung glaube, während der
Mann doch nur ausdrücken wollte, dais das Gewünschte gegenwärtig'
oder augenblicklich nicht vorhanden sei. Ähnlich wird in vielen
deutschen Mundarten bereits statt fast gesagt, so daCs emem ein
böses Miisverständnis zustofsen kann, wenn man erfahrt, eine Person
sei „bereits tot" und man dies nach schriftdeutscher Weise aufifiEifst.
Andere Dialekte wieder, besonders ostmitteldeutsche, verwenden aber
für oder und umgekehrt. Vielleicht noch mehr Abweichungen finden
sich bei den Substantiven: „Schmutz** bedeutet im Elsässischen „Fetf
oder „Ku(s*S aber selten oder nie das, was es in der Schriftsprache
bezeichnet; ein „Reiter** bezeichnet manchenorts ein Sieb, anderswo
(in Hessen) ein „belegtes Brot**, „Pappe** sagt man im Elsals für
Brei oder Teig, kurz, die Beispiele liefsen sich bis ins Unendliche
vermehren. Selbstverständlich finden sich diese in den heutigen
Mundarten bestehenden Abweichungen auch in Urkunden und Chroniken
früherer Zeit ^), da diese fast alle, wenn auch nicht völlig im Dialekt ge-
schrieben, so doch (besonders die Privaturkunden) stark durch ihn be-
einflufist sind, und sie können dem Historiker fast das Schlimmste zu-
fügen, was ihm passieren kann, nämlich ihn verleiten, seine Quellen
falsch zu verstehen. Ein ergötzliches Beispiel solchen Mifisverständ-
nisses erwähnt der Kolberger Prediger J. E. Müller, der sich um die
Mitte des XVIII. Jahrhunderts auf die Sammlung der in der Kolberger
Gegend gebräuchlichen Idiotismen legte. Ein eingewanderter Kolberger
Schulrektor hatte zu den Worten Henric van dages decanus einer Ur-
kunde angemerkt, eine Familie van Dages könne er nicht nachweisen.
Er wufste nicht, dafs van (wan) dages im Niederdeutschen so viel ist,
wie „weiland** oder „vorzeiten**')!
Viel harmloser sind demgegenüber diejenigen Worte, die dem, der
nur das heutige Deutsch kennt, zunächst überhaupt unverständlich sind,
denn sie machen, wenn sich ihr Sinn nicht zweifellos aus dem Zusammen-
hange ergibt, den Gebrauch des Wörterbuchs unumgänglich und schützen
so vor Milsverständnissen. Sehr viele solcher Wörter finden ihre Er-
klärung in Benecke-Müller-Zamckes grofsem mittelhochdeutschen Wörter-
buche oder in Lexers grofsem Wörterbuche, das nach jenem und zur Er-
klärung und Ergänzung von jenem gearbeitet ist, ja selbst Lexers mittel-
hochdeutsches Taschenwörterbuch (6. Aufl. 1901) wird oft sehr gute
Dienste leisten. Für Quellen aus späterer Zeit, etwa dem Reformations-
i) So beitpielsweiie aber fUr oder in den Briefen Johann Friedrichs des Grofs-
mtttigen (vgl. G. MenU, Job. Friedr. d. GrofsmUtige I, S. 99).
2) Vgl. Jahrboch des Vereins f. niederd. Sprachforschong 13 (1887), S. 35.
— 171 —
Zeitalter oder dem des 30 jährigen Krieges, ist höchst wertvoll, aber
nicht handlich, das grofse Deutsche Wörterbuch der Brüder Grimm;
leider ist es aber noch nicht ganz vollständig, denn es geht nur bis
W und ist auch bis dahin nicht ohne Lücken. Oft genug aber werden
alle diese und ähnliche Hilfsmittel versagen : einmal , weil bei ihnen,
wie es in der Natur der Sache liegt, der Wortschatz der schönen Lite-
ratur mehr herangezogen ist, als der der Rechts- und Geschäflssprache,
dann aber auch, weil bei ihrer Abfassung viele heute gedruckt vor-
liegende Geschichtsquellen, besonders Urkunden, noch gar nicht zu-
gänglich waren und deshalb nicht berücksichtigt werden konnten.
In solchen Fällen können oft die Dialektwörterbücher helfend
eintreten, sei es, dafs das in den anderen Lexicis fehlende oder un-
genügend erklärte Wort in heutigen Mundarten noch lebendig ist, sei
es, dais sie, wie häufig der Fall ist und eigentlich immer sein sollte,
auch die älteren Perioden des Dialektes und daher entlegenere Quellen
berücksichtigen, die in den grofsen allgemeinen Wörterbüchern über-
gangen werden mufsten. So steht beispielsweise in Heinrich Hugs
Villinger Chronik , herausgegeben von Roder ^) : die von WaUehüU,
die toarend uff die selben jdä im harte . . . Das Register (S. 257)
bemerkt dazu: „Hartz, streit (?)." In den Wörterbüchern von Grimm,
Lexer usw. findet sich das Wort nicht. Wendet man sich nun an
die mundartlichen Wörterbücher, so gibt es leider ein Idiotikon speziell
für die Mundart von VUlingen oder überhaupt für das rechtsrheinische
Alemannien noch nicht, man mufs es deshalb mit dem Wörterbuche
des angrenzenden, gleichfalls alemannischen Schweizerischen versuchen.
Da steht denn im Schweizerischen Idiotikon (s. unten), TeU II, Sp.
1657: Jiarziereii = einen Streifzug machen, aus Vadians Schriften,
allerdings ebenfalls mit einem Fragezeichen versehen. Indessen erhebt
diese an beiden Stellen vorhandene Wahrscheinlichkeit die vermutliche
Deutung des Wortes nahezu zur Gewifsheit; das Schweizerische Idiotikon
hilft uns also die Villinger Chronik verstehen, diese wiederum erhärtet
eine in jenem ausgedrückte Vermutung. Hervorragend praktisch für
das Aufsuchen rätselhafter Wörter sind aber viele, besonders neuere,
mundartliche Wörterbücher deshalb, weil in ihnen die einzelnen Artikel
nicht, wie sonst, nach dem Alphabet aller Buchstaben der be-
handelten Wörter, sondern nach Wortstämmen geordnet sind, oder,
genauer gesagt, nach dem Konsonantengerippe des Wortstammes, ohne
Rücksicht auf die Vokale. Es steht also z. B. Tuch vor Tag, Buch
i) Bibliothek dea literar. Vereins in Stuttgart 164, S. 102 (Tübingen 1883).
12*
— 172 —
vor Bank usw. Wortstämme, die sieb nur in den Vokalen vonein-
ander unterscheiden, sind natürlich nach der alphabetischen Reihen-
folge dieser geordnet, also Bach steht vor Buch. Diese Anordnung
ist deshalb getroffen worden, weil in den verschiedenen Untergebieten
einer Mundart häufig die Vokale ein und desselben Wortes wechseln,
während die Konsonanten im allgemeinen unveränderlich sind. Es ist
auf diese Weise möglich, die Bedeutung eines Wortes zu finden, auch
wenn dasselbe in der betr. Quelle einen anderen Vokal zeigt, als im
Wörterbuche. Ein Beispiel wird dies deutlicher machen: In Hans
Stoltz' Büchlein Von Ursprung und Anfang der Stadt Gebweiler, heraus-
gegeben von See (Colmar 187 1), steht auf Seite 19: In disem jar
[1504] uHiren so gar vil g ecken, die übel stinkhen, in der kürchen, in
äUen fenstem vnnd in den mauern . . . Das Wort gechen ist bei
Grimm, Lexer und sonst nicht verzeichnet, aus dem Zusammenhange
geht hervor, da(s damit entweder ein Ungeziefer oder eine Art Schwamm
gemeint sein muls. Sehen wir nun in dem Wörterbuche der elsässi-
sehen Mundarten von Martin und Lienhart, das in der oben geschU-
derten Weise angelegt ist, die Wortstämme, die aus g + Vokal + ch
bestehen, durch, so finden wir zwar nicht gechen, wohl aber auf S. 197
des I. Bandes angegeben gauch = Baumwanze imd noch dazu als
Beispiel stitüce wie ne gauch. Dais dies gauch zu dem obigen gechen
der Singular ist, würde zweifellos sein, auch wenn man nicht noch in
Klammern dabei lesen könnte, da(s es im Oberelsafs koiche imd kaich
ausgesprochen wird. Dies gauch steht allerdings auch bei Grimm
(IV, I, I, Sp. 1531), aber wer denkt daran, die Erklärung für ein Wort
gechen unter gauch zu suchen, wenn er nicht durch die Anordnung
des Wörterbuches selbst darauf hingeführt wird ^) ?
Ein Wort aber, welches ganz besonders die Wichtigkeit der Mund-
artenkenntnis für die Erklärung und Kritik der Quellen illustriert, ist
das Sachenspiegelwort cUtvil (Ssp. I, 4), von jeher eine Crux der Ju-
risten tmd der Deutsch-Philologen. Während man dasselbe früher als
„Zwitter*' auffaCste (so bekanntlich schon die Glossatoren des Sachsen-
spiegels), vertritt neuerdings Thudichum *) die schon von Sachfee imd
K. J. Th. Haupt gegebene Erklärung „Elfenkind** (d. i. Diminutivum von
i) Zufallig tiod wir allerdings in der Lage, diese Stellen ans StolU anch darch die
grofse Tbanaer Chronik (Annales oder Jahrs- OeschicfUen der Baar faseren .. ,xu Thann . . .
durch Malachiam Tschamser, 1724 [Heraosg. ▼. Zimberlin, Colmar 1864]) erklären zu
können, wo anf S. 705 des ersten Bandes dasselbe Ungeziefer gauehen genannt und mit
lat. blaüa identifiziert wird. Das beweist aber nichts gegen die obigen AasHihningen.
2) Die Rechtssprache in Grimms Wörterbach (Stuttgart 1898), S. 4.
J
— 173 —
<^Vf df) und will deshalb mit der Hälfte der Sachsenspiegelhand-
schriften altoile schreiben. Dies ist jedoch aus zwei Gründen unmöglich.
Erstens müfste das Wort, wenn es Diminutivum von alf oder df wäre,
nicht aUoile, sondern ehoüe lauten, d. h. das a müfste durch das folgende
i umgelautet sein. Eben dieser fehlende Umlaut zwingt uns, das Wort
fiir eine Zusammensetzung anzusehen. Zweitens, und das ist die Haupt-
sache, ist das Wort im heutigen Niederdeutschen vor nicht langer Zeit
wieder entdeckt worden ^) und heilst da aUviL Damit ist der Beweis
erbracht, da(s die Lesung almle falsch ist ; das Wort ist somit ein Bei-
spiel dafür, dafs durch die heutigen Mundarten auch textkritische Fragen
gelöst werden können. Sehr interessant ist dabei noch, dafs aUvü
im heutigen Niederdeutschen „Wechselbalg'* bedeutet; Sachfse und
Haupt haben also den Text richtig interpretiert, und nur die etymo-
logische Begründung ihrer Deutung ist falsch. Auf diese hier näher
einzugehen, würde zu weit fuhren; ich denke die richtige Ableitung an
anderer Stelle zu bringen.
Jedenfalls zeigt das Vorstehende, wie wichtig für die historischen
Quellenforscher die Kenntnis der Mundarten, besonders ihres Wort-
schatzes, ist. Ich glaube deshalb manchem einen Gefallen zu er-
weisen, wenn ich, einer Anregung des Herausgebers folgend, hier die
wichtigsten Mundartenwörterbücher — auch die, welche erst vorbereitet
werden, — aufführe *). Der Vollständigkeit halber fuge ich auch die
Wörterbücher der luxemburgischen, niederländischen und friesischen
Mundarten hinzu : der beiden ersteren, weü sie, obgleich politisch nicht
zu denen des deutschen Reiches gehörig, dennoch sprachlich nicht von
ihnen zu trennen sind, der letzteren, weil sie, zum TeU wenigstens, inner-
halb des deutschen Reiches gesprochen werden, wenn ihnen auch von
den meisten Germanisten eine selbständige Stellung gegenüber den
deutschen Mundarten zugewiesen wird. Auch einzelne allgemeinere Wörter-
bücher, die jedoch auf die Mundarten Bezug nehmen, glaubte ich mit
angeben zu sollen. Aus praktischen Rücksichten — da diese Angaben
fiir Historiker, nicht für Germanisten bestimmt sind — ordne ich die Titel
in der Weise, dafs ich zuerst einige allgemeine Werke anführe, dann
i) Vgl. Korrespondenzbl. des Vereins f. niederd. Sprachforschong, 5. Bd. (1S80),
S. 17 f.
a) Ein möglichst ToUstXndiges Verzeichnis der Literatur über die deutschen Mund-
arten (Bibliographie der deutschen Mundartenforsehung) habe ich 189a als 3. Band der
▼on Otto Bremer heraofg. Sammhtng kurzer Orammaiiken deuUeher Mundarten
(Leipzig, Breitkopf & Härtel) erscheinen lassen and in der Zeitschrift Deutsche Mund'
arten (Wien, Fromme) fortgesetzt.
— 174 —
diejenigen, welche die Mundarten des ober- und mitteldeutschen Sprach-
gebietes (die sogen, hochdeutschen Mimdarten) behandeln, dann die
über die Mundarten des niederdeutschen Sprachgebietes. Innerhalb
des Hochdeutschen und des Niederdeutschen folgen sich die Werke,
ohne Rücksicht auf feinere mundartliche Unterschiede, nach dem
politischen Gebiet, welchem die jeweils behandelte Mundart ganz oder
gröistenteüs angehört, im allgemeinen in der Richtung von West nach
Ost. Umfassendere Wörterbücher stehen stets vor den spezielleren,
die letzteren, soweit sie überhaupt angeführt sind, reihen sich nach
dem Alphabet der behandelten Gegenden oder Orte. Sind mehrere
Idiotiken eines und desselben Gebietes zu nennen, so wird dasjenige,
welches wissenschaftlichen Anforderungen am meisten entspricht, zu-
erst genannt. Bei denjenigen Werken, die auCser der lebenden Mund-
art auch ältere Perioden derselben berücksichtigen, habe ich dies, so-
fern es nicht aus dem Titel selbst hervorgeht, ausdrücklich vermerkt.
Wo ich über den Wert eines Buches nichts sage, bitte ich an-
zunehmen, dais ich es entweder für gut halte, oder da(s wenigstens
nichts Besseres da ist; über die Vollständigkeit kann man sich nach
den beigefügten Seitenangaben meist ein ungefähres Urteil bilden. Die
Angaben der Wortbedeutungen dürften in den meisten Idioticis, da sie
doch fast stets von Leuten verfafst sind, die mit der Mundart von klein
auf vertraut sind, zuverlässig sein, die Etymologien, in denen sich be-
sonders ältere Lexika gefallen, sind mit grofser Vorsicht zu benutzen,
für den Historiker aber auch kaum von Belang. Die in den Mundarten
(z. T. auch in der Schriftsprache) phonetisch zusammenfallenden Kon-
sonanten, wie b und p, d und t, g und k, f und v, werden in den
Wörterbüchern oft zusammen behandelt. Von den Vorteüen der häufig
angewandten Anordnung der Wörter nach Stämmen ist schon oben
die Rede gewesen.
Allgemeines.
Diefenbach, Lor., ti. Wülcker, Ernst, Hoch- und niederdeutsches Wörterbuch
der mittleren und neueren Zßit, Zur Ergänzung der vorhandenen Wörterbücher, ins-
besondere des der Oebr. Orimm. (Basel, B. Schwabe, 1885. 8". 2 Bl., X S., 930 Sp., i S.)
Höfler, M., Deutsches Krankheitsnamenbuch. (München, Piloty & Loehle 1899.
8^ XI, 932 S.)
Pritzel, G., a. Jessen, C, Die deutschen Volksnamen der Pflanxen, Neuer
Beitrag xum deutschen Sprachschätze, Aus allen Mundarten und Zeiten xusammen-
gesteUt. (Hannover, Ph. Cohen, 1882. 8^ i Bl., VIII, 701 S.)
Ein umfassendes Wörterbuch der deutschen Bechtsspraehe wird seit 1897 durch
die preulsische Akademie der Wissenschaften unter Leitung von Prof. Richard Schröder
in Heidelberg vorbereitet. Dasselbe berücksichtigt die ganze irgendwie in Betracht kom-
— 176 —
mende Literatur des ganzen deutschen Sprachgebietes (einschl. der Niederlande) ans Mittel-
alter and Neuzeit sowie anch die heutigen Mundarten , wird somit für den Juristen wie
fUr den Historiker und Germanisten eine unschätzbare Fundgrube und ein hervor-
ragendes Hilfsmittel zum Verständnis der Quellen sein und die Lücke bezüglich der Rechts-
sprache im Grimmschen Wörterbuch, auf die 1898 Thudichum i) hingewiesen hat, völlig
ausfüllen. Vgl. auch diese Zeitschrift i. Bd., S. 340.
Hochdentsche« Gebiet.
(Ober- and mitteldeutsche Mundarten.)
Schweiz.
Sehtoeixerisehea ItHoiihon, Wörterbuch der aehweixerdeutaehen Sprache, Oe-
aammelt auf Veranstaltung der Antiquarischen OeseUaehaft in Zürich unter Beihilfe
au8 allen Kreisen des SchweixervoOces. Herausgegeben mit Unterstützung des Bundes
und der Kantone. Band L Bearbeitet von Frdr. Staub und Ludw. Tob 1er. (Frauen-
feld, J. Huber 1881. 4^ i Bl., XXX, 1344 Sp.) IL Bearb. von denselben und Rudolf
Sc ho eh. (Ebd. 1885. 2 BL 1840 Sp.) IIL Bearb. von den vorigen, A. Bachmann
und H. Bruppacher. (Ebd. 1895. ' BL, 1574 Sp.) IV. Bearb. von A. Bachmann*,
R. Schoch, H. Bruppacher, E. Schwyzer, E. Hoffmann-Krayer. (Ebd. 1901.
2 BL, 2038 Sp.) Auiserdem sind bis Ende 1903 vom V. Bande erschienen Bogen i — 51
= Sp. 1^816 = Heft 43—48 des ganzen Werkes, sowie als Heft 47a: Verxeiehnie der
literarischen Quellen mit den dafUr gebrauchten Äbkürxungen, Samt einem ergänxten
Verzeichnis der abgekiirxten Ortsbexeiehnungen, (66 S.)
Das Idiotikon umfafst das Gebiet der deutschen Schweiz und ihre Kolonien im
Süden des Kantons Wallis. Aufser der gegenwärtigen schweizerischen Volkssprache ist
auch die ältere schweizerdentsche Literatur berücksichtigt Das Werk sammelt i. alle
schweizerdeutschen Ausdrücke, welche der gegenwärtigen neuhochdeutschen Schriftsprache
nicht angehören oder in Form oder Bedeutung erheblich von ihr abweichen; 2. alle im
Schweizerdeutschen eingebürgerten Fremdwörter; 3. die Eigennamen, deren appellative
Natur noch deutlich erkennbar ist und zur Erklärung oder Ergänzung reiner Appellativa
beitragen kann; 4. die Kose- oder Kurzformen der Personennamen. Die Wörter sind,
wie in den später zu besprechenden bayrischen Wörterbüchern von Schmeller, nach Stämmen
geordnet >), die in der Mundart zusammenfallenden Konsonanten, z. B. b und p, sind zu-
sammen behandelt. Die Ausdehnung dieses unstreitig umfangreichsten aller bis jetzt vor-
handenen mundartlichen Wörterbücher kann man, abgesehen von den oben angegebenen
Spaltenzahlen der einzelnen Bände, daraus ermessen, dafs das in Heft 47a enthaltene
Verzeichnis nur der literarischen Quellen 60 enggedruckte dreispaltige Quartseiten um-
fafst. — In den bis jetzt erschienenen Teilen und Lieferungen des Werkes werden die
mit Vokalen, sowie mit den Konsonanten F bis N, B und P beginnenden Stämme und
ihre Ableitungen, Zusammensetzungen usw. behandelt.
Stalder, Frz. Jos., Versuch eines Sehu>eixerischen Idiotikon mit etymologischen
Bemerkungen untermischt. Samt einer Sldxxe einer schweizerischen Dialektologie, L IL
(Basel und Arau, S. Flick 1806; Aarau, H. R. Sauerländer 1812. 8^ 507 S. und XII,
528 S., 2 BL)
Hunziker, J., Aar gauer Wörterbuch in der Lautform der Leerauer Mundart,
Im Auftrage der Kantonalkonferenz verfafst Aarau, H. R. Sauerländer 1877. 8^ CXXXIX, 331 S.
1) Die Rechtssprache in Grimms Wörterbuch. Stuttgart, Fr. Frommann (E. Hauff)
1898. 8* 56 S.
2) Ober die Vorteile dieser Anordnung s. o.
1
I
I
I
I
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Tobler, Titos, Äppenxelliaeher Sprtichsekatx. Eine Sammlung (^pen-
xeUücher Wärter, Redensarten, nebst analogischer, kistarischer und etymohgiseher
Bearbeitung einer Menge von Landeswörtem . . . (Zürich, Orell, Fttssli & Co. 1837.
8». LVm S., I BL, 464 S.)
Schmidt, Sam., Idiotieon Bernense. Mitgeteilt von Titas T o b 1 e r. Närnberg
1857. 8^ I Bl., 82 S. Erschien zuerst in der Zeitschrift Die deutschen Mundarten,
Bd. n— IV.
Btthler, V., Davos in seinem Walserdialekt ... I. Lexikographischer Teil.
Heidelberg, Selbstveriag (Comm.: Aarao, H. R. Saaerländer) 1870. 8^ XUV, 358 S.
Elsafs.
MartiD, E., und Lienhart, H., Wörterbuch der elsässischen Mundarten. Im
Auftrage der Landesverwaltung von Elsafs-Lothringeo. L Band. A. E. L O. U. F. V. G. H. J.
K. L. M. N. (Strafsborg, K. J. Trübner, 1899. 2 Bl., XVI, 799 S.) Das grofs angel^te
Werk lehnt sich in seiner Einrichtung an das oben erwähnte schweizerische Idiotikon und
and mit diesem an das Moster aller Dialektwörterbücher, das Ton Schmeller (s. o.), an.
Es „soll den Wortschatz der heotigen Volkssprache in den Bezirken Ober- ond Unter-
elsafs — abgesehen Ton den kleinen Gebieten mit romanischer Sprache — wissenschaftlich
bearbeitet zosammenfassen ; es soll besonders die von der Schriftsprache abweichenden
Wörter ond Wendongen dieser Dialekte verzeichnen ond in aller Kürze erklären.'* Sind
gegenwärtige Aosdrücke schon in früherer Zeit literarisch belegbar, so sind die Zeugnisse
dafür gesammelt, sonst sind im ganzen die vergangenen Sprachverhältnisse nicht be-
rücksichtigt. Für letztere sind vielmehr die drei folgenden Werke besonders heranzuziehen.
Johannis Georgii Scherzi i Glossarium Oermanieum medii aevi, potissimum
dialecti Suevicae, edidit illostravit sopplevit Jeremias Jacobos Oberlinos. Tomos L IL
(Argentorati , Lorenz et Scholer 1781, 1784. fol. X S. o. 2148 Sp.) Das Werk ist be-
sonders für das Elsafs von Interesse wegen der fleifsigen Benotzong der damaligen Strafs-
borger Handschriften.
Schmidt, Charles, Historisches Wörterbuch der elsässischen Mundart mit be-
sonderer Berücksichtigung der fruh-neukoehdeutschen Periode. Aos dem Nachlasse.
Strafsborg. J. H. Ed. Heitz [Heitz & Mündel] 1901. XV, 447 S.) Das Boch ist, wie
von den Heraosgebern in der Vorrede ausdrücklich gesagt wird, Brochstück ond erhebt
aof Vollständigkeit keinen Ansproch. Aof S. XI— XV sind die benotzten Texte angeführt,
aof S. Vin — IX diejenigen, deren Benotzong dem Verf. dorch seinen Tod onmögbch ge-
macht worde. Trotz dieser Lücken ond trotzdem, dafs der Verfasser kein gescholter Ger-
manist (sondern Theologe) war, ist das Werk für jeden, der sich mit älteren elsässischen
Texten beschäftigt, onentbehrlich.
Schmidt, Charles, Wörterbuch der Straßburger Mundart. Ans dem Nachlasse.
Strafsborg, J. H. Ed. Heitz [Heitz & Mündel] 1896. 8^ XX, 124 S.) Mit dem Porträt des
VerL als Titelbild. Behandelt nor die Strafsboiger Mondart ohne Berücksichtigong der
übrigen elsässischen Dialekte, aber'mit reichlicher Zoziehong älterer Schriftsteller ond Urkonden.
Ergänzongen zo Schmidts Wörterboch gibt Edoard Halter in: Die Alemannische
Mundart Hagenau- Straßburg. (Strafsborg [Selbstverl.] 1901. 8^ 208 aotogr. S. [Wörter-
verzeichnis: S. 135 — 197.])
Vgl. aoch das Glossar zo den Strafsborger Chroniken von C. Schröder (Die
Chroniken der deutschen Städte IX, S. 1079— 11 34).
Henry, Victor, Le dialeete alaman de Cdmar (Haute'Alsaee) en 1870. Gram-
maire et Lexiqoe. [■■ Universitö de Paris. Biblioth^qae de la Facolt^ des Lettres XL]
(Paris, F. Alcan 1900. XIV, 244 S. 80.)
— 177 —
Lothringen.
Die Gesellschaft für lothr. Gesch. o. Altertnmsknnde hat einen Anfnif zur Her-
stellong eines Wörterbachs der dentsch-lothr. Mundarten erlassen. (VgL Der Schnlfreand.
Pädagog. Ztschr. f. Els.-Lothr. 30, 1900, S. 145.) Der als Kenner der lothr. Mundart
bekannte Prof. FoUmann in Mets hat die Herausgabe übernommen. Die Berücksichtigung
der Urkunden ist ausdrücklich in Aussicht gestellt. Vgl. auch diese Zeitschrift 3. Bd., S. 242.
Luxemburg.
Ein Ton dem Zahnarst Dr. Jos. Weber aus Luxemburg verfafstes Wörterbuch des
Luxemburger Dialektes ist bis jetzt nur handschriftlich vorhanden, doch ist der Druck mit
staatlicher Unterstützung in Aussicht genommen. Vgl. darüber Ons Himeeht, Organ des
Vereins für Luxemburger Oeeehichte, lAUeratur und Kunst 3, 1897, S. 397 f. und
574—578.
Anfserdem ist zu erwähnen: Essai de lexicologte hußembourgeoise (Ons H^mecht 2,
1896, S. 23 ff.).
Baden.
Heilig, Otto, Beiträge zu einem Wörterbuch der ostfränkisehen Mundarten des
Taubergrundes, Progr. der Grofish. Bad. Realsch. zu Heidelbeig. (Leipzig, Breitkopf
& Härtel 1894. 4^- 20 S.)
Lenz, Phil., Der Handschuhsheimer Dialekt I. Wörterrerzeichnis. (Progr.-
BciL Konstanz 1887. 4^. 55 S.) Nachtrag in Progr. -Beil. von Heidelbeig. (Darmstadt
1892. 4«. IV, 20 S.)
Württemberg (einschl. Bayerisch-Schwaben).
Fischer, Hermann, Schwäbisches Wörterbuch. Auf Qrund der von Ädelbert
V. Keller begonnenen Sammlungen und mit UnterstiÜxung des Württembergischen Staates
bearbeitet. Lief. i~8. K ^polteren, (Tübingen, H. Laupp 1 901— 1904. 4^ 1280 Sp.)
Die 8. Lief, ist fUr Frühjahr 1904 angekündigt. Das Wörterbuch umfafst die Sprache
des gesamten Königreichs Württemberg, der Hohenzollerischen Fürstentümer, des Grofs-
herzogtums Baden östlich einer Linie von Tuttlingen zum Oberlinger See, der K. bayerischen
Provinz Schwaben westlich der Wömitz und des Lechs, von Tirol des nördlichsten Lech-
tals und des Tannheimer Tab. Neben der heutigen Mundart dieser Gegenden ist auch
die ältere Sprache vom Xm. Jahrh an verzeichnet, soweit ihre Denkmäler mit Sicherheit
jenen Gegenden zugewiesen werden können. Die Wortordnung ist die der gewöhnlichen
Wörterbücher, also nicht, wie z. B. bei Schmeller (s. u.), nach Stämmen, doch sind die-
jenigen Mitlauter, die in der Mundart zusammenfallen, z. B. anlautendes b und p, zusammen
behandelt: die mundartliche Form hochdeutsch mit p beginnender Wörter ist unter b zu
suchen.
Schmid, Joh. Chrph. v.. Schwäbisches Wörterbuch^ mit etymologischen und
historischen Anmerkungen, 2. Ausg. (Stuttgart, E. Schweizerbart 1844. 8^ XVI, 630 S.)
Berücksichtigt auch die ältere Mundart.
Birlinger, Anton, Schwäbisch- Äugsburgisches Wörterbuch, Im Verlag der K.-B.
Akademie d. Wiss. (München, Franz 1864. 8^ Vm, 490 S.) Bringt hauptsächlich älteres
Material, grofsenteils aus Handschriften, zum Sprachschatze derjenigen schwäbischen Lande,
die jetzt unter bayerischer Krone sind, oder des alten Augsburger Bistumgebietes.
Für Augsburg ist auch zn vergleichen das Glossar zu den Augsburger Chroniken
von Math. Lexer. (Die Chroniken der deutschen Städte IV, S. 357—400, V, S. 441
bis 488) und von Fr. Roth (ebd. XXU, S. 530—549, XXm, S. 471— 5i3i XXV, S, 410—443.)
Schneller, C, Idiotikon der Volksmundart im Lechtal, (Zeitsch. des Ferdinan-
deums 21, 1877, S. 70 — 92.)
— 178 —
Bajern.
Schneller, J. Andr^ Batferisekeg WorterbudL 8ammkm§ wm Wariam und
ÄMudrüdcenf die in den lebenden Mundarten wwokl, als m der äUanen und äUeeten
Provmeidl'LiUeratMir de» Känigreiehs Bayern, bee, eemer äüeren Lande, tm-kommem,
und in der heutigen aUgemetn-deutsehen Sekriftspraeke entweder gar niekt, oder nkki
in denselben Bedeutungen üblieh emd, mit urkundl. Bdegen, nad^ den Siammsgtten
etymologiseh^phabetiseh geordnet. L (Stuttgart und TfibingeD, CotU 1837. 8«. XYIHy
640 S.) IL (Ebd. 1828. 8* I BL, 722 S.) ra. (E2>d. 1836. 8* VI S., 1 BL, 69t S.)
IV. (Ebd. 1837. 8^ I BL, 310 n. XXX n. 2 S.) ~ Dasselbe, zweite, mit des VeifiMsen
Nachtragen vermehrte Ausgabe. Auf Veranlassung und mit Uoterstfitzang seiner Ifajestit
des Königs Blaztmilian IL heransg. durch die hist Kommission bei d. Kön. Ak. d. W.,
bearb. von G. K. Frommann. i. Bd., enth. Teil I a. II der i. Ausg. (Mfinchen, Oldeobovg
1872. 4*. XV n. I S. Q. 1784 Sp.) 2. Bd., enth. Teil m n. IV der i. Aosg. (Ebd. 1877.
4» XXm n. I S., 1264 Sp.)
Dies Wörterbuch ffihre ich deshalb in i. and 2. Anflage an, weil es för die deatsche
Blondartenforschnng, speziell fiir die Bearbeitung mundartlicher Wörterbficher, epodie-
machend gewirkt hat, nicht nur durch seine strengwissenschafUiche und zugleich hödist
praktische Anordnung (nach Wortstämmen; s. darüber oben in der EinL), sondern aach
durch die Genauigkeit der Aussprachebezeichnung und die weite Ausdehnung des bear-
beiteten Feldes. Es ist Torbildlich geworden fUr alle neueren grofsen Dialektwörterbfid^r.
Zur Erleichterung des Znrechtfindens auch für Nicht- Germanisten ist dem Bndie ein ge-
naues, rein alphabetisches Register beigegeben.
Rockinger, Ldw., Wörterbuch xu dem Urkundenwerke *Die tMaierisehen
landständiechen Freibriefe mit den Landes freiheitserklärungefi , (München, Druck Ton
C. Wolf & S. 1853. 8^ 2 BL 159 S.) Als weiteren Zweck des Buches gibt der Verf.
an: „Viele, namentlich juristisch-technische Ausdrücke unseres Mittelalters in einem be-
stimmten Quellenzusammenhange nachzuweisen und so zum Verständnisse nicht Uoft ein-
zelner, sondern einer grofsen Masse Ton Urkunden über verwandte und ähnliche Zustände
einen nicht unwesentlich erleichternden Beitrag zu liefern.'*
Femer kommen für Bayern in Betracht die Glossare zu den Chroniken von
Nürnberg (von Math. Lexer [Chroniken der deutsehen Städte I, S. 477 — 501, II,
S. 535-574» m« S. 417—442, XI, S. 821—859]), Regensburg, Landshnt, Mfihl-
dorf, München (v. Albr. Wagner [ebd. XV, S. 584—607]).
Pfalz.
Antenrieth, Pfälxisehes Idiotikon. Ein Versuch. (Zweibrücken, Lehmann 1899.
8«. 197 S.)
Osterreich.
Höfer, M., Etymologisches WörterbucJi der in Oberdeutseßdand, vorzüglich ixber
in Österreich üblichen Mundart. L— HI. (Linz, J. Kastner 1875. i BL, 342 S., i BL;
362 S., I BL; 344 S.. 36 BL
Mareta. H., Proben eines Wörterbuches der österreichischen Volkssprache mit
Berücksichtigung der älteren deutschen Mundarten. (Progr, des Schottengymn. in Wien
1861. S\ S. m-X, I BL u. S. 1—65; und 1865. 8«. XU, 72 S.
Scheuchenstnel, C. v., Idiotikonder österreichischen Berg- und Hüttenspraehe.
Wien, Braumüller 1856. 8<». VIU, 270 S.
TiroL
Schöpf, J. B., Tirolisches Idiotikon. Nach dessen Tode vollendet von Anton
— 179 —
J. Hofe r. Heraosg. auf Veranl. und darch UnterstüUang des Ferdinandenms (Innsbrock,
Wagner 1866. 8». XVI, 835 S.).
Anfserdem enthält der IV. Band (S. 789—954) von Die HroUschen Weüthümerf
im Anftr. der Kais. Ak. d. Wiss. , heraosg. von Ignaz V. Zingerle n. K. Theodor von
Inama-Sternegg (Ost. Weisth. V. Wien, Braamüller, 1888. 8^.) ein von Jos. Egger
verfaultes Glossar.
Salz barg.
Ein Sahburguches Idiotikon von K. £. Frhr. v. Moll ündet sich in L. Hühners
Beschreibung des Erxstiftes u. EeichsfUrstenthums Salzburg , III (Salzburg 1796),
s. 955-984.
Ferner kommt hier in Betracht des Glossar zn:
Die Sahburgisehen Taidinge. (Osten*. Weisthttmer L) Im Auftrage der K. Akad.
d. Wiss. heraosg. von Heinrich Siegel o. Karl Tomasche k. (Wien, W. Braomttller
1870. 8^) Das von Tomaschek verfafste Glossar steht aof S. 349 — 432.
Niederösterreich.
Castelli, I. F., Wörterbuch der Mundart in Österreich unter der Enns, eine
Sammhmg der Wörter ^ Ausdrücke und Redensarten, welche von der Hochdeutschen
Sprache abteeiehend, deni niederösterreiehischen Dialekte eigentümlich sind, samt bei-
gefügter Erklärung und so viel möglich auch ihrer Abstammung tmd Verwandtschaft,
beigegeben grammatische und dialektologische Bemerkungen über diese Mundart über-
ha/upL (Wien, Tendier & Co, 1847. 8^ Vm, 281 S.)
Kärnten.
Lexer, TJ; :ibias Kämtisches Wörterbuch, Mit einem Anhange: Weihnacht'Spiele
ond Lieder aos Kärnten. (Leipzig, S. Hirzel 1862. 4^ XVO S., 340 Sp.)
Zo vergleichen ist aoch : Steirische und hämthische Jhidinge, im Auftrage der K.
Akad. d. Wiss. heraosg. von Ferd. Bischoff u. Ant. Schönbach, (österr. Weisth. VL
Wien, BraumttUer 1881. 8^) Darin S. 543—670 ein Glossar von Ant. Schönbaeh.
Steiermark (s. a. bei Kärnten).
Unger, Theod., Steirischer Wortschatx, als Ergänzung zu Schmellers Bayerischem-
Wörterbuch gesammelt von Th. U. , für den Druck bearb. und herausg. v. Ferd. KhuU.
Gedruckt mit Unterstützung der kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien. (Graz, Leuschner
u. Lubensky 1903. XXIV, 662 S. Mk. 12.50.) Mit reicher Benutzung auch der älteren Lite-
ratur und besonders der handschriftlichen Materialien des steiermärkischen Landesarchivs.
Deutsche Sprachinseln im italienischen Sprachgebiet.
Schmeller, Joh. Andr., Sogenanntes Oimbrisches Wörterbruch, d, i, deutsches
Idiotikon der FZT. und XTTT, eomuni in den venetianischen Alpen, Mit Einleitung ond
Zusätzen im Auftrage der Kais. Ak. d. Wiss. herausg. von J. Bergmann. (Wien, Hof-
und Staatsdruckerei 1855. 8^ 212 S.)
Zingerle, Ignaz V., Lusemisches Wörterbuch, (Innsbruck, Wagner 1 869. S^, VI, 80 S.)
Gottschee.
Schröer, Karl Julius, Wörterbuch der Mundart von Oottschee, . . [Aus dem
Oktoberhefte des Jahrganges 1868 und dem Maihefte des Jahrganges 1870 der Sitzungs-
berichte der philos.-hist Kl. der Kais. Ak. d. W. besonders abgedr.] (Wien, Hof- und
Staatsdruckerei 1879. 8^ 3 Bl., 244 S.) Das eigentliche Wörterbuch umfafst nur die Seiten
35—122 und 130—241. Die ältere Sprache wird ebenfalls berücksichtigt.
Ungarn.
Schröer, Karl Julius, Beitrag xu einem Wörterbuehe der deutsehen Mundarten
des ungrischen Berglandes, (Sitzber. der K. Ak. d. Wiss. in Wien 25, 1857, S. 213
— ISO —
bis 372. 27, 1858, S. 174—218. Aach besonders ersch. : Wien 1858. 8^ 136 S., i BL
Nachtrag daza ebd. 31, 1859, S. 245—292 und besonders ersch. Wien 1859. 8^ 51 S.)
Siebenbürgen.
Ein Wörterbuch der siebenbürgisch-deutschen Mandart wird seit langem vorbereitet,
ttber die Fortschritte desselben im Korrespondenzblatt des Vereins lUr siebenbttrgiscfae
Landeskunde berichtet. Nach dem Berichte in der 44. Versammlung deutscher PhilologCD
in Dresden im Herbst 1897 waren damab zn dem in J. Wolfiis Nachlafs befindlichen Gmnd-
stock etwa 40000 Beiträge ans der lebenden Mandart gesammelt worden; die Ansarbeitnog
sollte im folgenden Winter begonnen werden.
Von Einzelarbeiten seien erwäl^nt:
Keintzel, Gg., Nömer Idiotismea. (Festgabe der Stadt Bistritz, 1897. S. 45—80).
Kisch, Gast, Nosner Wörter und Wendungen. Ein Beitrag xiwi avhenbürgiBeh-
sächsischen Wörterbuch, Progr. des ev. Obergymn. (Bistritz 1900. 178 S. Mk. 1.20.)
f Kram er, Frdr., Idiotismen des Bistriixer Dialectes. Beitrag xu einem sieben-
bürgisch-sächsischen Idiotikon. (Progr. d. er. Obergymn. in Bistritz 1876, 1877. 8^ 147 S.)
Böhmen.
Neabaaer, Johann, AÜdeuische Idiotismen der Egerländer Mundart. Mü\einer
kurxen Darstellung der LautverhäUnisse dieser Mundart. Ein Beitrag »u einem
Egerländer WMerbuche. (Wien, C. Gracscr 1887. 8«. 115 S. Nene [Titel-] Auflage 1898.)
Rheinland.
Müller, Jos., a. Weitz, Wilh., Die Aachener Mundart. Idiotikon ndfst einem
poetischen Anhange. (Aachen ond Leipzig, Mayer 1836. 8^ XU, 278 S.)
[Wegeier, J.] Wörterbuch der Coblenxer Mundart. (Rhein. Antiqaarios m, 14,
1869, S. 698—759. Aach bes. ersch.: Coblenz, R. F. Hergt 1869. 8^. 2 Bl., 68 S.)
T o n n a r, Aug., n. Et e rs , Wilh., Wörterbuch der Eupener Sprache, mit sprach-
vergl. Worterklärungen Ton Wilh. Altenbar g. (Enpen, C. Braselmann 1899. 8^ VmS.,
I Bl., 267 S.)
Honig, FriU, Wörterbuch der Kölner Mundart. Nebst Einleitung von F. W.
.Wahlenberg. (Köln, F. Heyn 1877. 8^ 174 S.)
Vgl. aach das Glossar zn den Kölner Chroniken von Ant. Birlinger. (Die Chro-
niken der deutschen Städte XU, S. 388—430 u. XIV, S. 967—1007.)
Heinzerling, Jak., Probe eines Wörterbuches der Siegerländer Mundart.
(Beil. zum 54. Jahresber. des Realgymn. zu Siegen. 1891. 8*^. 39 S.)
Mit Materialsammlong für ein Wörterbuch der Solinger Volkssprache beschäftigte
sich Anfang der 70 er Jahre des XIX. Jahrh. ein Herr C. A. Lüttgen in Solingen. Die
Anzahl der vollständigen Artikel belief sich damals auf 3000, die Zahl der Redensarten
und Sprichwörter auf etwa 1500. VgL Monatsschrift f. rhein.-westföl. Geschichtsforschung
3. Bd. (1877), S. 330 f. Leider ist das Werk bis jetzt nicht erschienen.
Schmidt, Karl Chrn. Ldw., Westerwäldisches Idiotikon oder Sammlung der auf
dem Westencalde gebräuchlichen Idiotismen, mit etymologischen Anmerkungen und
der Vergleichung anderer alten und neuen Germanistiken Dialekte. (Hadamar und
Herbom, Neue gelehrte Buchhdl. 1800. 8^ XXVI, 384 S.)
Hessen.
Vilmar, Aug. Frdr. Chrn., Idiotikon von Kurhessen. (Marburg und Leipzig,
Elwert i868. 8». VIII, 479 + i S. — Neue billige Ausg. Marburg 1883.)
Als Ergänzungen dazu sind erschienen:
Bech, Fedor, Beiträge xu Vümars Idiotikon von Kurhessen. (Progr. des KgL
Stiftsgymn. zu Zeitz 1868. 4^ 1 Bl., XXVI S.)
— 181 —
P fister, Herrn, v.. Mundartliehe und stamtnkeüliehe Naehiräge za A. F. C.
Vilmars Idiotikon tod Heiseo. Mit einer Karte. (Marbnrg, Elwert 1886. 8«. XVI, 360 S.)
V i I m a r und P f i s t e r , Idiotikon von Hessen, i. a. 2. Erg.-Heft durch Herrn, v. Pfiiter.
(Marburg, Elwert 1889. 1894. 80. XII, 32 n. 49 S.)
Femer ist fUr Hessen xn erwähnen:
Kehr ein, Jos., Volkssprache und VoUcssiüe in Nassau. Ein Beitrag zu deren
Kenntnis. [L] (Weilborg, Lang 1860. 8«. 2 Bl., XII, 464 + 64 S. ~ Nene Titelaoflage
Bonn, Habicht 1872. 8». [S. 31—464 n. 1—64: Wörterbuch.])
Crecelias, Wilh., Oberhessisches Wörterbuch, Auf Orund der Vorarbeiten
Weigands, Diefenbachs und Hainebachs sowie eigener Materialien bearb. im Auf-
trage des Historisehen Vereins für das Oroßherxogtum Hessen. (Darmstadt, A. Berg-
sträfser in Komm. 1897. 8*. 951 S.) Nachträge dazu von A. Roeschen in Quartab-
bl&tter d. hist Ver. f. d. Grofsh. Hessen 1901, S. 857-860.
Schröner, Gast., Spexialidiotikon des Sprackschatxes von Eschenrod (Ober-
hessen) . . . (Giefsener) Inaog.-Dis. (Heidelberg, K. Winter 1903. 8^ 114 S.) S.-A. ans
Zeitschr. f. hochd. Mundarten 1902 u. 1903.
Thüringen.
H e r t e 1 , L., Thüringer SprachschcUx. Sammlung mundartlicher Ausdrücke aus
Thüringen^ nebst Einleitung , Sprachkarte und Sprachproben. Mit Unterstützung des
Thüringerwald-Vereins herausgegeben. (Weimar, H. Böhlaus Nachf. 1895. 8^ VII, 268 S.)
Das Buch gibt, wie in der Vorrede gesagt ist, keinen vollständigen Sprachschatz fUr ganz
Thüringen, doch ist aus allen vier Himmelsgegenden und der Mitte des Landes die Mund-
art je eines oder mehrerer wichtiger Orte vertreten : aus Nordthüringen die Mundart von
Ebeleben und von Stiege, aus Ostthüringen die von Altenbnrg, Naumburg und
Rndolstadt, aus dem Süden die von Salzungen, Rnhla und Winterstein, aus
dem Westen die von Nordhausen, Mühlhausen uod der Vogtei, aus der Mitte
die von Erfurt Es sind nicht nur die ftir die genannten Orte vorhandenen Darstellungen
benutzt, sondern auch die mundartlichen Gedichtsammlungen ausgezogen worden; urkund-
liches Material ist nicht berücksichtigt.
Reinwald, W. F. H., Hennebergisehes Idiotikon, oder Sammlung der in der
gefürsteten Grafschaft Henneberg gebräuchlichen Idiotismen, mit etymologisehen Anmer-
hingen und Vergleiehung anderer alten und neuen Germanischen Dialekte. [I.] IL
(Berlin und Stettin, F. Nicolai 1793, 1801. 8^ XVI, 115 S. und 171 S.).
Provinz Sachsen (vgl. auch Niederd. Gebiet).
Jecht, Rieh., Wörterbuch der Mansfelder Mundart. Im Selbstverlag des Heraus-
gebers. (Görlitz, Druck d. Görlitzer Nachrichten und Anzeiger. 1888. 8^ VIII, 129 S.)
Bruns, Kari, Volkswörter der Provinx Sachsen (OsUeü) nebst vielen geschieht'
lieh merkwürdigen Ausdrücken der sächsischen Vorzeit. Herausg. im Auftr. des Zweig-
vereins Torgau des Allg. Dt Sprachvereins. (Torgau, F. Jacobs. 1901. 8*. 31 S.)
Hierher gehört auch das von Hertel bearbeitete Glossar zum 2. Bde. der Magde-
burger Chroniken. (Die Ohron. der deutsehen Städte XXVn, S. 237—265).
Königreich Sachsen.
Albrecht, Karl, Die Leipziger Mundart. Grammatik und Wörterbuch der
Leipziger Volkssprache, Zugleich ein Beitrag zur Schilderung der Volkssprache im
Allgemeinen. Mit einem Vorwort von Rud. Hildebrand. (Leipzig, Arnold 1881. 8^
XVin S., I Bl., 243 S.) S. 1—69 Gramm., S. 71—243 Wörterbuch.
Anton, Karl Gottlieb, Alphabetisches Verzeichnis mehrerer in der Oberlausitz
üblichen, ihr zum Theil eigenihümlichen Wörter und Redensarten. Stück i — 19. (Gör-
— 184 —
andere uitdrukkingen uü vlaamaehe, hrabantsehe en limbtsrgsehe oorkonden. Uitgegeven
vanwege de MaaUchappij der Nederl. Letterkonde te Leiden. Deel I. A— Hawen [i= Afl.
1—8]. (Uiden, E. J. BriU 1890. 8». 4 BL, XVÜI, 634 S.) Deel H. AH. 9-12. Yd bis
Overdrach. Ebd. 1891 ff. 330 S. Die erste Lieferung des Werkes erschien 1886.
Cornelissen, P. Joief, en Vervliet, J. B., Idiotiean van het ÄrUwerpseh
dialeet (stad Antwerpen en antwerpscke kempen), (Uitg. d. koninkl. vlaanuche Academie
voor taal- en letterkonde, VIe reeks, no. 3i.) Afl. i — 3. (Gent, A. Siffer 1899 — 1900.
8^ S. 1—784.)
Draaij er, W., WoordenboeJ^ van het Deventerseh dialeet, (Haag, M. Nijhoff
1896. 8». 1,75 fl.)
Dijkstra, Waling, Friesek tcoordenboek (Lexicon Frisicum). Deel L A — H.
II. I— P. Leeuwarden, Meijer & Schaafsma 1900. 1903. 2 BL, XDC, 545 S. a. 398 S.
An den ersten 10 Lieferungen (bis Bacbst. D) war aach F. Buitenrust-Hettema be-
teiligt. Das Werk umfafst die heutige Volkssprache der niederl. Provinx Friesland. — An-
dere friesische Wörterbücher s. bei Hannover (Ostfriesland).
Gall^e, J. H., Woordenboek van het Oeldfireeh-Overijsselech dialeet.
('s Gravenhage, M. Nijhoff 1895. 8«. XXVII, 77 S.)
Molema, H., Wörterbuch der Oroningenschen Mundart im XIX, Jahr-
hundert, [= Wörterbücher, heraasg. v. Verein f. nd. Sprachforschung III.] (Norden u.
Leipzig, Soltau 1888. 8«. VHI, 583 S.)
Schnermans, L. W. , Algemeen Vlaamsch- Idiotiean, (Leuven 1865 — 1870.)
Dazu ein Bijvoegsel 1883. 2 Teile. 8*^. 902 S.
De Bo, L. L., Westvlaamseh Idiotieon, (Brügge, E. Gaillard & Comp. 1873. gr.
8*^. XV, 1488 S.) Mit einer Karte von Westflandern. Ein neuer Abdruck in kleineren
T3rpen, herausg. v. Jos. Saroyn, unter Verwendung der Zusätze aus De Bos Hand-
exemplar, erschien 1892 in Gent bei Siffer. (4*^. XIV, 1335 S.)
Boekenoogen, G. J., De Zaanaehe volkstaal. Bijdrage tot de kennis van
den woordmsehat in Noord-HoUand, Leiden, Sijthoff 1897. 8^. CLIII, 1368 Sp.)
Westfalen.
W o e s t e , Fr., Wörterbuch der Westfälischen Mundart, [Nach d. Tode d. Verf.
herausg. v. Crecelius u. Lübben.] (Wörterbücher, herausg. v. d. Verein f. nieder-
deutsche Sprachforschung I.) (Norden und Leipzig, Soltau 1882. 8<>. 4 BL, 331 S.) Be-
zieht sich vorwiegend auf die Mundart der Grafschaft Mark.
Koppen, Heinr., Verxeiehnis der Idiotismen in plattdeutscher Mundart^ volks-
tümlieh in Dortmund und dessen Umgegend, Veröffentlicht von seinen [d. i. des
Verfassers] Freunden und Verehrern. Als Manuskript gedruckt (Dortmund, Köppensche
Buchhdlg. 1877. 80. 67 S.)
Waldeck.
Bauer, Karl, Waldeekisches Wörterbuch nebst Dialektproben, Herausg. v. Herrn.
Collitz. (Wörterbücher, herausg. v. Verein f. ndd. Sprachf. IV.) (Norden und Leipzig,
SolUu 1902. XXVI, 105 u. 320 S. gr. S\ M 8.)
Braunschweig.
Damköhler, Eduard, Probe einee nordostharxischen Idiotikons, (Wiss. Beil.
z. d. Schulnachrichten des Herzogl. Gymn. zu Blankenburg a. H. 1893. Blankenburg
a. H., Otto Kircher 1893. 4^- 3^ ^0 Behandelt die Gegend von Kattenstedt bei
Blankenburg.
Beck, H., Idiotikon von Nordsteimke bei Vorsfelde, (Jahrb. d. Ver. f. niederd.
Sprfg. 23, 1897, S. 131—154 u. 24, 1898, S. 113— 128.
— 186 —
Vgl. auch die Glossare zu den Chroniken roo Braonschweig von Karl Schiller
(Die Chroniken der deutschen Städte VI, S. 482—501) und von Hänselmann (ebd.
XVI, S. 567—640).
Hannover.
Schambach, Georg, Wörterbuch der niederdeutschen Mundart der Fürsten-
thümer Qöttingenund Orubenhagenoder Oöttingtsch-Orubenhagensches Idiotikon,
(Hannover, K. Rümpler 1858. 8^ XVI, 333 S.) Nachträge dasa von Sprenger im
Jahrbach des Vereins f. niederdeutsche Sprachforschang 8, 1882, S. 27 — 32 ; femer im Korre-
spondenzblatt desselben Vereins 14, 1889— 1890, S. 77— 78 and 18, 1894 — 1895, S> ^^ — 27*
Der IV. Band des Urkundenbuches der Stadt Hildesheim (Hildesheim, Gersten-
berg 1897) enthält ein von Herrn. Brandes bearbeitetes Glossar ttber die ersten vier
Bände des Urkandenbaches.
Strodtmann, Joh. Chrph., Idiotieon Osnabrug-ense. (Leipsig and Altona,
Körten 1756. 8«. XVI, 392 S.)
Stürenbarg, Cirk Hnr., Ostfriesisches Wörterbuch, (Anrieh, L. Spielmeyer
1862. 80. xn, 356 S.)
Doornkaat-Koolman, J. ten, Wörterbuch der Ostfriesischen Sprache
Bkymologisch bearbeitet. I. A — gtttjen. (Norden, Braams 1879. XX, 710 S.) II. H bis
pAtwater. (Ebd. 1882, 2 Bl., 781 S.) UI. Q—Z nebst Nachtrag and Indices. (Ebd. 1884,
2 Bl., 635 S.) Ergänzungen daza von W. Lüpkes in dem Jahrbach d. Ges. f. bild. Kanst
u. vaterl. Altertümer za Emden ii, 1895, S. 157 — 171.
Richthofen, Karl Freiherr v., Ättfriesisches Wörterbuch, (Göttingen, Dieterich
1840. 4^ S. 581— 1 165.) Die Seitenzählong schliefst an die von R.s Friesischen Rechts-
qaellen an, mit welchen das Wörterbach arsprUnglich einen Band bilden sollte.
Bremen.
[T i 1 i n g und D r e y e r ,] Versuch eines Bremisch-Niedersächsischen Wörterbuchs,
worin nicht nur die in und um Bremen, sondern auch fast in ganx Nied^sachsen
gebräuchliche eigeniümliehe Mundart nebst den schon veralteten Wörtern und Redens-
arten in bremischen Gesetzen, Urkunden und Diplomen, gesammelt, zugleich auch
Tutch einer behutsamen Sprachforschung , und aus Vergleichung alter und neuer ver-
wandter Dialekte erkläret sind, herausgegeben von der bremischen deutschen Gesellschaft.
I. U. (Bremen, G. L. Förster 1767. 8«. 8 Bl., 903 S.) lU. IV. (Ebd. 1768, 1770. 8«.
4 Bl., 1132 S.) V. (Ebd. 1771. 80. i Bl., 467 S.) VI. [auch mit dem Titel: Versuch eines
Bremisch-Nieders. Wörterbuchs . . . VI.]. 2. Nachtrag, enthaltend Zusätze und Verbesse-
rungen. (Bremen, K. Tannen 1869. 8®. VII, 424 S.) — Neue [Titel-] Aufl. von VI: Bremen,
Haake 1881, 1886, 8°. 424 S. pie Bearbeitung von I— V besorgten Eberhard Tiling
und dessen Bruder, der Pastor Tiling. Vgl. Bd. VI, Vorrede, S. V. Den VL Bd. bearb.
der Lehrer Dreyer.] Das Buch war bis zum Erscheinen des mittelniederdeutschen Wörter-
buchs von Schiller und Lttbben (s. o.) das beste Hilfsmittel zum Verständnis des Mittel-
niederdeutschen.
Hamburg.
Richey, Michael, Idiotieon Bamburgense oder Wörterbuch zur Erklärung der
eigenen, in und Um (!) Hamburg gebräuchlichen. Nieder- Sächsischen Mund-Art, Jetxo
vielfaltig vermehret , . . nebst einem Vierfachen Anhange . . . Hamburg, K. König 1754.
80. 5 Bl., LU, 480 S. — Eine neue Ausgabe mit dem Bilde des Verfassers erschien ebd.
1755. Die letztere Ausgabe ist ohne die Anhänge wieder abgedruckt in Thesaurus iu-
ris provincialis et stcUutarii illustrati Oermaniae I, Giesen(!) 1756. 40. S. 129-424.
Die allererste Ausgabe erschien Hamburg 1743 und war nur XIV, 48 S. stark.
18
— 186 —
Schleswig-Holstein.
In Kiel hat sich ein aas Professoren and Lehrern bestehender Aoischofs gebildet,
der sich die Aafgabe gestellt hat, ein schleswig-holsteinisches Wörterbuch heraaszogeben.
(Vgl. Lit. CbL 1903, Sp. 502.)
Anlserdexn ist za erwfihnen:
Schütze, Joh. Frdr., Eolsteintsches Idiotikon^ ein Beitrag xur VoUcsiUen-
geschickte; oder Sammlung plaüdetäseher, alter und neugetnldeter Worte, Wortformen,
Redensarten, . . . der alten und neuen Holstemer, Mit Holzschnitten. I. Nebst Einleitung
über den Plan and die Grandideen des Werkes (Hamborg, H. L. Villaome 1800. 8*.
XXIV, 342 S.) n. (Ebd. 1801. 2 Bl., 370 S.) IIL (Ebd. 1802. 1 Bl., 346 S.) IV. und
letzter Teil (Altona 1806. 4 BL, 391 S.)
Mecklenburg.
[Chytraeas, Nathan,] Nomenclator Latinosaxonieon. LatimsehvndePtaddütseh
Vokabelnboek, (Rostock 11582. 8^ and öfter.) Berücksichtigt besonders die Mecklen-
barger Mandart Ober die versch. Aasgaben vgl. Lisch in Jahrbücher des Vereins för
Meckl. Gesch. 23, 1858, S. 139—142.
Mi [Pseadonym fUr Sibeth, C G.], Wörterbuch der Meektenburgiseh-vorpommer-
sehen Mundart, (Leipzig, C. A. Koch 1876. 8^ 2 BL, iio S.}
Pommern.
Dähncrt, Joh. Carl, PkUt- Deutsches Wörterbuch, nach der alten und neuen
Pömmerschen und Bügischen Mundart. (Stralsund, C. L. Strack 1781. 4^ 4 BL, 562 S.)
Das Werk ist fUr seine Zeit aasgezeicbnet Es berücksichtigt sowohl die damab gesprochene
als aach die ältere Mandart and läfst dabei Etymologien klagerweise aas dem Spiele.
Altmark.
Danneil, Joh. Friedr., Wörterbuch der altmärkiseh-plattdeuischen Mundart.
(Salzwedel, J. D. Schmidt 1859. 8^ XI, 299 S.)
Parisias, L., Zusätxe xu J, F. Danneils Wörterbuch der altmärkisch - pkUt-
deutschen Mundart. (Jahresber. d. altmärk. Ver. f. vaterl. Gesch. a. Indastrie. AbtL
f. Gesch. 19, 1879, S. 37—80.)
Provinz Sachsen (vgl. aach Hochdeatsehes Gebiet).
Sprenger, R., Versuch eines Quedlinburger Idiotikons, (Jahrbach des Vereins
f. niederd. Sprachf. 29, 1903, S. 139-160.) Unter Benatzang der Aafzeichnangen von
Joh. Chr. Friedr. Gats-Maths and des verst. preafs. Kaitarministers Rob. Bosse.
Hierher gehört aach das Glossar von Jan icke zam i. Bde. der Magdeburger
Chroniken. (Die Chron, der deutschen Städte VII, S. 434—484.)
Mark Brandenbarg.
Meyer, Hans, Der richtige Berliner in Wörtern und Redensarten, 5. AafL
Berlin, H. S. Hermann 1904. 8». XVIH, 169 S.
Kollatz, C, and Adam, P., Berliner Wortschatx xu den Zeitefi Kaiser Wil-
helms I, Aaf Grand der Sammiaogen des verstorbenen C. K. and P. A. bearbeitet von
Hans Brendicke. (Schriften des Vereins f. d. Gesch. Berlins 33, 1897, S* 69—196.)
Preafsen (Provinz).
Frischbier, H., Preußisches Wörterbuch, Ost- und u^estpreußische Promnxia-
lirnnen in alphabetischer Folge. L A — K. Berlin, T. C. F. Enslin 1882. 8r XVI,
452 S. IL L-~Z. Nachträge and Berichtigungen. Ebd. 1883. 8^. i BL, 355 S.
Hennig, G. E. S., Preußisches Wörterbuch, worvnnen nicht nur die in Preußen
gebräuchliche eigentümlieke Mundart und was sie sonst mit der niedersächsisehen
gemein hat, angexeigt, sondern auch manche in preußischen Schriftstdlem, Urhmden,
— 187 —
Dokumenten und Verordnungen vorkommende veraUete Tl^Örter, Redensarten, Oehräuehe
und Altertümer erklärt werden, im Namen der Eönigliehen Deutsehen Qesellsehaft
XU Königsberg herausgegeben. (Königsberg, Dengel 1785. 8®. 8 BL, 340 S.)
Fischer, E. L., Grammatik und Wortschatz der plattdeutschen Mundart im
preussischen Samlande. (Halle, Waisenhaas 1895. 8^ XXIV, 360 S.)
Rassische Ostseeprovinxen.
Gatzeit, W. v., Wortersehaix der deutsehen Spraehe IMamds. (Riga, N. Kjm-
mel 1859 ff. 8^) Die erste Lieferang dieses sehr reichhaltigen, aber leider tuiToUendeteo
Werkes erschien 1859. Bis 20m Schlosse des Jahres 1898 erschienen in den Jahren
1864, 1887, 1889, 1893, 1894 and 1898 die Avtikel A— Getreibe, H— Schwartbrett, T bis
Todesgemch, V— verschränken , ferner 1886 Nachträge ra A— F, 1889 dgl. sa H — L,
1893 dgl. za A-R, 1894 dgl. za A— S and V, 1898 dgl. za A— V.
[Hapel, Aog. Wilh.,] Idiotikon der deutsehen Sprache in lAef- und Ehstland,
Nebst eingestreaeten Winken für Liebhaber. (Riga, Hartknoch 1795. 80. XX, 373 S.)
[Abgedmckt aas Hapels Neuen Nordischen Mbcellaneen Stück ii, I3, 1795. Nachträge
ebd. Stück 17, S. 335 — 335 and in J. C. Petri, Esthland and die Esthen II, Gotha
t8o3, S. 83 - 104.]
Sallmann, Karl, Leadkaüsehe Beiträge Mur deutschen Mundart in Estland,
[Jenenser Diss.] (Leipzig, Gnunbach 1877. 8*. 88 S.)
Ders., Neue Beiträge %ur deutsehen Mundart in Estland. Gedruckt mit Unter«
Stützung der estl. literar. Gesellschaft. (Reval, F. Kluge 1880. 8*^. 3 El., 160 S.)
Ders., Eine Nachlese %ur deutschen Mundart in Estland. (Baltische Monatsschr.
34, 1888, S. 463-471.)
Eine gewisse Verwandtschaft mit den Mnndarten haben die Sprachen einzelner
Stände und Gewerbe, sowie die Gauner- (Rotwelsche) und Judensprache. Auch die Wörter-
bücher dieser Spracharten können dem Historiker gelegentlich fttr das Verständnis seiner
Quellen von grofsem Nutzen sein. E4n allen wissenschaftlichen Anforderungen entsprechendes
Wörterbuch des Rotwelschen wird uns hoffentlich Friedrich Kluge bescheren; die älteren
einschlägigen Werke aufzuzählen, würde hier zu weit führen.
Es lieget auf der Hand, dafs die Benutzung obiger Wörterbücher
am nötigsten ist für den Lokalhistoriker, denn er hat am meisten mtmd-
artliche Quellen zu studieren. Ist er in der betr. Gegend fremd, so
wird er ihnen ohne diese Hilfsmittel oft ratlos gegenüberstehen, aber
auch der Einheimische wird nicht selten einer HUfe bedürfen. Von beson-
derem Nutzen ist es daher immer, wenn, wie auch häufig geschieht,
bei Ausgabe lokaler Urkunden und Chroniken in der Ein-
leitung oder sonstwo auf die mundartlichen Wörterbücher
hingewiesen wird, die für das Verständnis derselben vor-
zugsweise heranzuziehen sind. Natürlich wird sich oft ergeben,
dafs die Idiotika nicht vollständig sind. Dies wird dem Historiker
Gelegenheit bieten, Ergänzungen und Berichtigungen beizubringen
und dadtirch, gewisserma&en als Entgelt für den atis der germanistischen
Wissenschaft gezogenen Nutzen, ihr seinerseits in sehr erheblichem
Mafise zu dienen. Denn jeder Beleg eines Wortes aus einer
18*
— 188 —
Zeit, aus der man es noch nicht kannte, oder aus einer
Gegend, in der man es nicht vermutete, kann für die
deutsche Wortforschung von höchstem Werte sein, jede
neue Bedeutung oder auch nur Bedeutungsnuance eines
Wortes auf die Geschichte desselben,' ja seiner ganzen
Sippe, ein überraschendes Licht werfen, ein Licht, das
dann seinerseits oft neue kulturgeschichtliche Erkennt-
nisse vermittelt. Sehr interessant ist es beispielsweise, dafe das
aus dem Litauischen stammende Wort toOcer (= Dolmetscher) sich auch
in Strafsburger Geschichtsquellen findet ') ; nicht minder merkwürdig, dais
ebenda *) die mitteldeutsch-niederdeutsche Form haniqtiehle (= Hand-
tuch) vorkommt, während sonst im Oberdeutschen twehd oder zwehd
(heute elsässisch ewehl) gebräuchlich ist. Dafs das Wort geche in dieser
Form noch nicht lexikalisch gebucht ist, haben wir schon oben ge-
sehen; noch wichtiger ist aber, dafs in der grofeen Thanner Chronik
an der oben erwähnten Stelle (I, 705) für dasselbe Tier auch der Name
Unke (unekhen) verwendet wird, der sonst nur als Bezeichnung für
„Kröte" und „Schlange" bekannt ist.
Eine besonders reiche Beute an neuen Worten oder an Berichti-
gungen ist natürlich immer zu erwarten bei der Herausgabe von Ine-
ditis. Und hier sei es gestattet, einen Vorschlag zu machen, wie man
die Glossare, die man den Neuausgaben beizufügen pflegt, und in denen
naturgemäß auch die Ergänzungen und Berichtigungen zu den mund-
artlichen Wörterbüchern ihre Stelle zu finden hätten, zweckmäfsiger
als bisher einrichten könnte. Dieselben, auch die höchst wertvollen,
von namhaften Germanisten bearbeiteten Glossare zu den Chroniken
der deutschen Städte, bringen bis jetzt in ununterbrochener alpha-
betischer Reihenfolge sowohl die Worte, deren Erklärung zwar zum
Verständnis des Textes nötig ist, die aber besonderen germanistischen
Interesses entbehren, als auch die, welche für die Germanistik von
Belang sind. Man muis also, um den aus der Quelle der Germanistik
zufliegenden Gewinn zu erkennen, das ganze Wörterbuch durchsuchen.
Es wäre viel praktischer, wenn man das Wortregister in mehrere Ab-
schnitte teilte: an erster Stelle hätten etwa die Worte zu stehen, die,
ohne besondere germanistische Bedeutung, nur für das Verständnis
des Textes wichtig wären; dann könnten die folgen, die sonst nicht
oder nur in anderen Mundarten oder aus anderen Zeitperioden belegt
i) Z. B. Strafsb. Urkundenbach IV, 2, S. 9.
2) StraOib. Urkb. IV, 3, S. 164.
— 189 —
sind; an dritter Stelle diejenigen, die in einer anderen als der bisher
bekannten Bedeutung vorkommen; zuletzt hätten die zu folgen, deren
Sinn sich nicht oder nicht genügend hat ermitteln lassen. Ein so ge-
teiltes Glossar würde den Gewinn für die deutsche Wortkunde sofort
erkennen lassen. Scheut man sich vor dieser Teilung, die allerdings
den Übelstand mit sich bringen würde, dafsderBenutzer des Wörterbuches
ein ihm unbekanntes Wort häufig an vier Stellen suchen müfste, dann
könnte man, anstatt verschiedene Abschnitte zu machen, die durch-
gehende alphabetische Reihenfolge beibehalten und die den verschie-
denen Kategorien zugehörigen Worte durch verschiedenen Druck oder
durch sonstige in die Augen fallende Merkmale (etwa Sterne) kennt-
lich machen. Auch so würden die für den Germanisten wichtigen
Worte leicht zu finden sein.
Allerdings würde die Schaffung eines derartigen Wortregisters dem
Historiker etwas viel germanistische Studien auferlegen; fiir gröisere
Publikationen wäre es deshalb stets das beste, einen Germanisten hin-
zuziehen, wie dies ja ohnedies, häufig, z. B. eben bei den Städtechro-
niken, beim Hansischen Urkundenbuche, bei dem Hildesheimer Urkunden-
buche, geschehen ist. Auch bei der Oberleitung des oben erwähnten
Wörterbuchs der deutschen Rechtssprache ist ein Deutschphilologe
beteiligt.
Damit sind wir wieder an unserm Ausgangspunkte angelangt, dem
Wunsche nach einem regen Verkehr zwischen Historikern
und Deutschphilologen. Ihn hervorzurufen und, soweit er bereits
vorhanden, zu beleben und zu kräftigen und dadurch beiden Wissen-
schaften einen Dienst zu leisten, war der Zweck dieser Zeilen.
Mitteilungen
HeimatsklUlde. — Von ganz verschiedenen Seiten und in ganz ver-
schiedener Absicht wird heute erfreulicherweise der Blick auf die engere
Heimat, die Landschaft, die der einzelne Sefshafte aus eigener Anschauung
kennt, hingelenkt, imd anerkennenswerte Erfolge sind in dieser Richtung
bereits erzielt worden. Und trotzdem ist es von vornherein klar, dafs diese
Bemühungen nur dann einen nachhaltigen Einfiufs auf die Volksbüdung ge-
winnen können, wenn die weitesten Kreise des Volkes darüber
aufgeklärt werden, worauf es ankommt. Denn der Bauer, der
dauernd auf seinem Dorfe lebt, der Bürger der Kleinstadt, der nicht weit
herumkommt, und selbst derjenige Gebüdete, der nicht wesentlich über die
Grenzen seines Heimatlandes oder seiner Provinz hinausgekommen ist und die
— 190 —
Unterschiede wesentlich anders gearteter Landschaften aus eigener Anschauang
nicht kennt, kann von vom herein gar nicht den Blick dafür besitzen, was an
der ihm geläufigen Landschaft charakteristisch ist, was im weiteren Sinne Kunst-
denkmäler sind und worin man Erinnerungen geschichtlicher Art zu erblicken
hat. Der Sinn dafür mufs erst anerzogen werden.
Für das Königreich Sachsen ist ein solches kurzes für die weitesten
Kreise bestimmtes populäres Schriftchen 1901 erschienen, das seit 1903 in
zweiter Auflage vorliegt, Bernhard Störzner; Wie ist in den Oemem-
den der Sinn für die Geschichte der Heimat xu wecken und xu pflegen?
(Leipzig, Arwed Strauch, 27 S. 8®.) Wichtig und lehrreich sind bereits die
Abbildungen: auf dem Umschlag sieht man den Markt zu Meüsen 1850,
S. II den Aschmarkt zu Freiberg 1830, S. 24 den Markt zu Brand 1830,
drei ganz charakteristische Bilder; das Titelblatt bringt sofort zwei Steinmetz-
zeichen von der Kirche zu Lommatzsch ; femer finden wir das Schlofs zu
Planitz (1604), ein datiertes (1506) Sims aus Altzella^ die Kirche zu Koswig
1840, eine Sanduhr, das Epitaphium des Albrecht von Miltitz auf Munzig,
ein Landfuhrmannshaus, das Bomkinnel von 1637 zu Bärenwalde, ein Altar*
gemälde, einen Taufstein, ein Sakramentshäuschen, einen Kelch 1480, ein
Kirchenportal, ein altes Stadttor, ein Siegel und nicht zuletzt einige Qocken-
Inschriften. Das ist auf wenigen Seiten e'm so reichhaltiges und vielseitiges
Material, wie es sich nur denken läfst, und es deutet kurz alles das an,
worauf der Mensch ohne jede Fachbildung achten mufs und kann, wenn er
Verständnis für die geschichtlichen Erinnerungen seiner Heimat bekommen
will. Der Text ist einfach gehalten, so dafs ihn jeder verstehen kann, und fidst
die in der Fachliteratur weiter ausgeführten und in Fachkreisen allseitig be-
kannten Gedanken knapp zusammen. Der Verfasser erläutert zuerst an einigen
Beispielen der engeren und weiteren Heimat, dafs jeder Gegenstand, jeder
Zustand, jeder Glaube und jede Vorstellung geschichtlich interessant ist bezw.
sein kann; er fragt dann, wem die Aufgabe zukommt, alles zu hegen und zu
sammeln, und beantwortet sie für die ländlichen Verhältnisse: dem Pfarrer,
dem Lehrer, dem Gemeindevorsteher; hinsichtlich der Mittel, um den Sinn
für die Geschichte in den Gemeinden zu wecken, gibt er manchen Finger-
zeig für die berufenen Vertreter der Dorfheimat Besonders sei darauf ver-
wiesen, dafs auch in sächsischen Dörfern bereits Ortsmuseen existieren
(S. 22). Den Schlufs bildet die Erörterung der Bedeutung, den die an-
gedeuteten Bestrebungen in Anspruch nehmen dürfen.
Dieses Schriftchen dürfte für jeden, der lesen kann, einen gewissen Wert
besitzen und das Interesse an den geschichtlichen Denkmälern wachrufen;
es ist klar und einfach, vermeidet alle Schwierigkeiten und fafst knapp zu-
sammen, was sich sagen läfst imd in der Fachliteratur gesagt ist, vereinigt
vor allem glücklich allgemeine Gedanken mit konkreten, dem örtlichen Kreise
entnommenen Angaben. Vorbildlich kann es gewifs insofem werden,
als es den Weg zeigt, wie für eine Landschaft ein ganz billiges, zur Massen-
verbreitung geeignetes Heftchen hergestellt werden kann. Sache der ein
Land oder eine Provinz umfassenden Vereine dürfte es sein, das Verfahren
eines Privatmanns, des Kantors zu Amsdorf^ nachzuahmen!
Hierbei handelt es sich im wesentlichen um kulturgeschichtliche Nieder-
schläge in Gegenständen, die jedem, der mit offenem Auge die heimaüiche
— 191 —
Flur durchmifst, entgegentreten können, und die Schätze der Erde, die Über-
reste Yorgeschichtlicher Kuliur ^) , sind dabei noch ganz beiseite gelassen.
In der Schule und bei mancher Gelegenheit auch in weiteren Kreisen ent-
steht aber auch das Bedürbis, einen Überblick über die heimische
Geschichte zu gewinnen, und dies ist zugleich die Vorstufe, um das, was
sich dem Auge darbietet, zu verstehen und dem Ganzen richtig einzuordnen.
Dieses Bedürfnis mufs das Lesebuch der Heimatkunde, welches als Ergänzung
des allgemeinen Schullesebuches und zugleich des Geschichtslehrbuches zu be-
trachten ist, erfüllen % Ein solches für die Bewohner von Jauer und Umgegend
bestimmtes Schriftchen liegt gegenwärtig vor: Otto Koischwitz, Leaehudi für
die Heimaikunde (Jauer, Oskar Hellmann. 3 1 S. 8*'). Hier handelt es sich darum,
ein einfaches, auch dem Verständnis des Kindes angepafstes Bild der Ereig-
nisse zu geben, die der Allgemeingeschichte angehörend den heimischen
Boden im besonderen berührt haben, eine heimatsgeschichtliche Ergänzung
zum Geschichtsunterricht Es wird da ganz kurz die germanische und
slavische Vorzeit geschildert; es folgt die deutsche Einwanderung, wobei
dem Ortsnamen eine entsprechende Würdigung zuteil wird, und nun wird
speziell auf das slavische Dorf Jauer eingegangen, neben dem sich die deutsche
Stadt entwickelt, und deren Anlage besprochen. Der Stadtplan und eine
Karte des Kreises Jauer sind am Schlufs beigegeben. Der Mongolenschlacbt
von Wahlstatt wird gedacht, femer der zwei in topographischen Bezeichnungen
fortlebenden piastischen Herzoginnen Hedwig und Agnes; Ratshaus, Stadt-
recht und Bürgertum werden unter Heranziehung der ortsgeschichtlichen
Nachrichten beschrieben, es folgt die Einführung der Reformation und als
Episode der Peterwitzer Bauernaufstand. Die Ereignisse des Dreifsigjährigen
Krieges, die Schlacht bei Hohenfriedberg , Franzosenzeit und Befreiungs-
kriege (Katzbach), soweit sie die Gegend von Jauer berührt haben, werden
in dzs Gedächtnis gerufen, und dazwischen schiebt sich die nach dem West-
fälischen Frieden gestattete protestantische Religionsübung und die Entwicke-
lung der evangelischen Schule. Die Ereignisse und Zustände des XIX. Jahr-
hunderts sind schliefslich in einen „Geographischen Anhang*' zusammen-
gedrängt, in dem nach einer Schilderung des geographischen Zustandes die
Industrie, die Eisenbahn, die Kasernen und die Wobltätigkeitsanstalten kurz
beschrieben werden. Dann ist die Entstehung der Kolonie Grögersdorf, an-
gelegt nach einem Brande 1590, erwähnt, und als Schlufs wird ein Gedicht
auf dem Ratsturm von 1811 mitgeteilt
Es ist zweifellos eine anerkennenswerte Leistung, auf so wenigen Seiten
so viel örtlich gefärbte allgemeine Geschichte mitzuteilen, aber dennoch wird
der Leser manches vermissen, und das Doppelte des Umfanges hätte das
Büchlein wohl haben dürfen, ohne seinen Zweck zu verfehlen. Über die
Stadtverfassung hätte man gern auch nähere und bestimmtere Angaben aus
späterer Zeit, ebenso über die Zünfte (wieviel gab es im XIV. Jahrhundert
und wie änderte sich ihre Zahl?). In neuerer Zeit vermifist man etwas über
die Post; über die Eisenbahn hätte mehr gesagt sein können. Gewerbe und
i) Vgl. darüber diese Zeitschrift oben S. 156—163 (Wandtafeln vorgeachichtlicher
Funde).
2) Vgl. darüber Wehrmaoo: Landesgeschiehtliche Lehr- und Lesebücher in
dieser Zeitschrift 3. Bd., S. 225 235.
— 192 —
Industrie kommen zu kurz weg, und vor allem fehlt eine Tabelle der Ein-
wohnerzahlen etwa von Jahrzehnt zu Jahrzehnt Noch manches^Hefse sich
anreihen, aber an einigen Stellen hätten auch Weglassungen nichts geschadet.
Zur Charakteristik des Reisens im XVIII. Jahrhundert hätte wenigstens ein
schlesisches Beispiel erwählt werden müssen, die Beschreibung des mili-
tärischen Dienstes S. 29 ist überflüssig. Manches, was derselbe Verüisser in
seiner Schrift Jauer, ein Wegweiser durch die Heimat (Jauer, O. Hellmann.
139 S. i6<^), die eine Beschreibung des modernen Zustandes mit geschicht-
lichen Rückblicken gibt, niedergelegt hat — z. B. einige Dialektgedichte —
hätte wohl auch hier Aufiiahme finden köimen. ^ne neue Bearbeitung, in
der kein Wort zu viel stünde imd deren Umfang doch etwa doppelt so grois
wäre, könnte für viele deutsche Städte vorbildlich werden, denn jetzt ist es
an der Zeit, dafs jede deutsche Kreisstadt zum wenigsten ihr
heimatskundliches und heimatsgeschichtliches Lesebuch be-
kommt. Bearbeiten kann ein solches aber nur derjenige, der die ganze
Heimatsgeschichte durch und durch kennt und von seinem Wissen nur das
Hundertstel mitteilt, das nach seiner Meinung notwendig jeder Schüler und
jeder Einwohner kennen mufs! Einen ähnlichen Zweck verfolgt eine von
der Gegenwart ausgehende und in die Vergangenheit zurückschweifende Be-
schreibung von Donauwörth: Thalhofer, Führer durch die Stadt Donau-
wCrth, deren Geschichte und Umgebung (Donauwörth, Ludwig Auer, 1904,
64 S. 8<^). Abweichend von der vorigen Arbeit stehen die Zustände und
Einrichtungen der Stadt, ihre Bauten und Denkmäler, im Vordergrunde, die
äufseren Ereignisse werden nur nebenbei gestreift. Andrerseits geben eine
grofse Anzahl trefifliche Abbildtmgen auch dem, der die Wanderung nicht selbst
unternehmen kann, ein gutes Bild von dem, was er zu sehen bekommen würde.
Wir haben nicht einen modernen Wegweiser mit geschichtlichen Rückblicken
vor uns, sondern eine geschichtliche Beschreibung der Stadt, Jdie sich der
äufseren Form des Wegweisers bedient und dem geschichtlich interessierten
Fremden wohl auch als solcher dienen kann. Thalhofer vereinigt fiir seine
Heimat in gewissem Sinne das, was Störzner für Sachsen tat, mit dem, was
Koischwitz in seinen beiden angeführter Schriften für Jauer erstrebt, aber in ^
der allseitigen Beherrschung des Stoffes imd in der Fähigkeit, dieTeinzelne
Erscheinung zu bewerten, ist er beiden überlegen. Für Jauer hat einen Teil
des entsprechenden Stoffes in durchaus ansprechender und zweckdienlicher
Weise G. Schönaich, der auch eine Stadtgeschichte bearbeitet, in einem
Vortrage dargestellt : Die alte Jauersehe Stadtbefestigung (Jauer, Oskar Hellmann,
1903, 18 S. 8®). Eine reproduzierte Gesamtansicht der Stadt von 1562 ist
ganz bedeutend zu nennen, das Bild der Stadt aus dem Anfamg des 17. Jahr-
hunderts ist mindestens interessant, und die Geschichte der Stadtbefestigung
ist zugleich die des Stadtbildes.
Eine andere, aber nicht minder wichtige Frage ist die, wie Landes-
und Heimatsgeschichte im Unterrichte der höheren Schulen
zu handhaben sei ^). Unmittelbar aus der Praxis des Unterrichts schöpfend.
i) Vgl. darüber den Aufsatz von Weh rm an 11 in dieser Zeitschrift 3. Bd., S. 265
bis 273 und 3. Bd., S. 113— 115.
— 193 —
gibt zu diesem Kapitel einen höchst beachtenswerten Beitrag Sebald Schwarz
in der Zeüschrifl für laleinlose höhere Schulen, 15. Jahrgang (1903). Utk 2:
Vergangenheit und Qegemoart. Aus der Praxis des Oeschichtsunterrichts an
den mittleren Klassen der Realschule, Nicht nur jeder Geschichtslehrer, sondern
überhaupt jeder Lehrer sollte die ganz kurzen Ausführungen (8 Seiten) ein-
dringend lesen, denn das Gebiet, um welches es sich hier handelt, gehört schliefs-
lieh zu j e d e m Unterrichtsgegenstande und kommt auch jedem zugute. Der Ort,
wo der Verfasser wirkt, ist Blankenese, und niedersächsisches Wesen ist es
daher , womit er sich vorwiegend abzugeben hat. Seine These ist einfach
die: an möglichst vielen Stellen des Geschichtsunterrichts
ist auf Gegenstände und Erscheinungen Bezug zu nehmen,
die uns an die Vergangenheit erinnern und uns doch noch in
der Gegenwart lebendig vor Augen stehen, während andrer-
seits bei Beobachtungen der Gegenwartszustände stets die
Frage nach dem warum? zu stellen und die Erklärung in den
Zuständen der Vergangenheit zu suchen ist. Die Beispiele, an
denen Schwarz sein System veranschaulicht, sind aufserordentlich lehrreich imd
lassen sich für jede Gegend, falls der Lehrer daselbst heimisch und zugleich
in ihrer Geschichte bewandert ist, entsprechend ausgestalten. Von den
Worten, die an Örtlichkeiten haften geblieben sind und uns von deren
Vergangenheit erzählen, geht er aus, dabei die irreleitenden Volksetymologien
streifend: Reste der germanischen Rechtsverfassung entdeckt er noch in der
modernen Sprache (Ableitungen von ding)^ über die Ansiedelungsformen der
Vorfahren belehrt eine Flurkarte. Dabei werden Schilderungen aus dem
Lesebuche und sonstigen bekannteren Werken der Literatur zur Veranschau-
lichung herangezogen; die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart
schlägt z. B. bei der FlurverfassuDg die Erläuterung der modernen Grund-
stückszusammenlegung, mit der Friedrich der Grofse begann. Die Auswahl
des Stoffes ist für Schwarz etwas wesentliches, da er das zunächstliegende
immer bevorzugt „Für uns ist nicht Bonifa cius, sondern Ansgar der
Typus des Heidenbekehrers , dessen Statue auf der Trostbrücke im nahen
Hamburg steht." »«Wir nehmen daher uns sogar die Zeit, sehr eingehend
auf die Geschichte Hamburgs einzugehen; nicht nur, weil es wünschenswert
ist, dafs die Schüler von dem Leben und Werden unserer Städte ein Bild
gewinnen, sondern vor allem, weil sie hierbei einmal im Zusammenhang
sehen können, dafs Geschichte nicht nur im Geschichtsbuche
steht, sondern dafs die Gegenwart sie auf tausend Seiten dem offenen
Auge zeigt. Und eben als ein Beispiel dafür, wie man die Augen dafür
öffnen kann, möchte ich den Gang imserer Betrachtungen hier ausführlicher
skizzieren.'* Ganz derselbe Weg läfst sich durch jede irgendwie bedeutendere
Stadt einschlagen, und bei Klassenausflügen bietet sich dazu auch die Ge-
legenheit, wenn nur die allgemeinen Voraussetzungen vorher gewonnen sind«
Auf das speziell Pädagogische in den Ausführungen von Schwarz sei hier
nicht weiter eingegangen, es genüge der Hinweis und eine Andeutung, wie
ein Schulmann das geschichtliche Wissen in seinem Unterricht verwertet
— 194 —
Eingegangene Bfieher.
Zahn, W. : Geschichte der Annen- und Krankenpflege in der Altmark, Fest-
schrift zur Versammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichts-
imd Altertumsvereine und des Vereins zur Erhaltung der Denkmäler der
Provinz Sachsen am 25. — 30. Sept. 1903 in Erfurt, gewidmet von dem
Altmärkischen Verein für vaterländische Geschichte. 132 S. 8®.
Aus^ld, Eduard: Übersicht über die Bestände des K. Staatsarchivs zu
Coblenz [= Mitteilungen der K. Preufsischen Archivverwaltung Heft 6].
Leipzig, Hirzel, 1903. 227 S, 8®.
Bergner, Heinrich: Kirchliche Kunstalterttimer in Deutschland, Lieferung i.
Leipzig, Chr. Herm. Tauchnitz, 1903. 112 S. Lex.-8®. M. 5,00.
Caro, G.: Zwei Elsässer Dörfer zur Zeit Karls des Grofsen [= Zeitschrift
für die Geschichte des Oberrheins, N. F. 17. Band, S. 450 — 587].
Dietz, Alexander: Das Frankfurter Zinngiefsergewerbe und seine Blütezeit
im 18. Jahrhundert [== Festschrift zur Feier des 25jährigen Bestehens
des Städtischen Historischen Museums in Frankfurt a. M., dargebracht
vom Verein für Geschichte und Altertumskunde (1903) S. 149 — 180. 4**].
G ö ring , P. : Beitrag zur Forstrechtsfrage, als Manuskript gedruckt. München,
Kastner und Lossen, 1902. 82 S. 8**.
Hauck, Karl: Karl Ludwig, Kurfürst von der Pfalz 161 7 — 1680 [= For-
schungen zur Geschichte Mannheims und der Pfalz IV, herausgegeben
vom Mannheimer Altertumsverein]. Leipzig, Breitkopf und Härtel, 1903.
334 S. 8^ M. 5,00.
Haushof er, M.: Bevölkerungslehre [== Aus Natur und Geisteswelt, 50.
Bändchen]. Leipzig, B. G. Teubner, 1904. 128 S. 8^ geb. 1,25 M.
Hofmann, Wilhelm: Die Politik des Fürstbischofs von Würzburg und Bam-
berg Adam Friedrich Grafen j«on Seinsheim 1756 — 1763, ein Bei-
trag zur Geschichte des siebenjährigen Krieges. München, M. Rieger
(G. Himmer), 1903. 102 S. 8**. M. 1,60.
Jaeger, Johannes: Klosterleben im Mittelalter, ein Kulturbild aus der Glanz-
periode des Cistercienserordens. Würzburg, Stahel, 1903. 90 S. 8^ M. 1,50.
Kalk off, Paul: Die Anfänge der Gegenreformation in den Niederlanden.
I. Teil. [= Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Nr. 79].
Halle, Max Niemeyer, 1903. 112 S. 8®. M. 1,20.
Katalog der Druckschriften über die Stadt Breslau, heraus-
gegeben von der Verwaltung der Stadtbibliothek. Breslau, E. Morgenstern,
1903. 509 S. Lex.-8^
Kiewning, Hans: Die auswärtige Politik der Grafschaft Lippe vom Aus-
bruch der französischen Revolution bis zum Tüsiter Frieden. Detmold,
Hans Hinrichs, 1903. 370 S. 8^ M. 5,50.
Berichtigung
Auf S. 159 — 160 ist eine Verschiebung der Anmerkungen vorgekommen,
welche beztigUcb der bibliographischen Angaben irreleiten kann. Die Anmerkung 3) au(
S. 159 gehört zu i) auf S. 160, und die nächsten drei haben dann fUr je das nächste
Werk Geltung. Übrigens bezeichnet der Erscheinungsort schon für sich die Zu-
gehörigkeit: die Wandtafeln für die Provinz Sachsen sind in Halle, die für Mittel-
deutschland in Leipzig, die für die Oberlausitz in Görlitz, die für das Rhein- und
Donaugebiet in Stuttgart erschienen.
Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipzig.
Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Gotha.
Hierzu als Beilage : Einladung zum Bezug der Zeitschrift „Deutsche Erde*^ (Verlag
von Justus Perthes, Gotha).
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsscbrift
sar
Förderang der landesgeschichtlichen Forschung
V. Band Mai 1904 8. Heft
Zur Bevölkerungsstatistik der Karolingerzeit
Von
Georg Caro (Zürich)
Die Bevölkerungsziffer der Länder Europas im früheren Mittelalter
ist wegen der Beschaffenheit der Überlieferung in tiefes Dunkel ge-
hüllt Es fehlte den Menschen jener Zeiten der Sinn für die Zahl.
Angaben über die Stärke von Heeren oder Verluste in Schlachten,
wie sie etwa in den Quellen vorliegen, tragen in der Regel den
Charakter der Unglaubwürdigkeit.
Um gleichwohl eine zahlenmäßige Anschauung vom Stande und
Wachstum der Bevölkerung nach dem Untergang des Römerreichs zu
gewinnen , hat die neuere Forschung ^) zweierlei Wege eingeschlagen.
Lamprecht *) nahm zur Grundlage seiner für das Moselland angestellten
Berechnungen die Ortsstatistik. Er wies nach, welche Ortschaften je-
weils im VIII., IX. und in den folgenden Jahrhunderten neu in den
Quellen auftauchen, und setzte die wachsende Zahl der Ortschaften in
Proportion zur Vermehrung der Bevölkerung. Unmittelbarer auf über-
lieferte Zeugnisse stützen sich Schätzungen, die schon früher der fran-
zösische Gelehrte Gu^rard in der Einleitung zu dem von ihm heraus-
gegebenen Güterverzeichnis der Abtei S. Germain des Pr&, dem
Polyptychum Irminonis abbatis •), vom Anfang des IX. Jahrhunderts
vorgenommen hatte. In demselben sind nicht nur die dem Kloster
gehörigen Höfe und Dörfer beschrieben, sondern auch die dort
wohnenden freien und unfreien Hintersassen des Klosters namentlich
aufgezählt. Es lag also nahe, daraus Schlüsse auf die Dichtigkeit der
Bevölkerung zu ziehen*).
i) VgL Beloch, die Be?ölkenmg Europas im Mittelalter, Zschr. L Sozialwiften-
schait 3, 405 ff.
3) Deutsches Wirtschaftsleben im Ma. i, 161 ff., 3, 17 ff.
3) Polyptyque de Tabb^ Irminon, pabl. B. Gnörard, B. I (Paris 1844), S. 358 ff.
4) Vgl. dazu E. Levassenr, la popolation fraogaise i, 135 ff. Die Toa Beloch a. a. O.
14
— 196 —
So mühsam und verdienstvoll besonders das von Lamprecht ein-
geschlagene Verfahren sein mag, seine Mängel sind doch unschwer
erkennbar. Es hängt sehr wesentlich vom Zufall der Überlieferung
ab, in welchem Jahrhundert ein Ort zuerst erwähnt wird, und es kann
die durchschnittliche Bewohnerzahl eines Ortes im Jahre 800 auch
nicht annähernd die gleiche gewesen sein wie ein Jahrtausend später.
Das Polyptychum Irminonis andrerseits gibt nur über die — ganz oder
teilweise — der Abtei S. Germain des Pres gehörigen Orte Auskunft;
es verzeichnet nur die servi, liti und coloni des Klosters, nicht aber
die vom grundherrlichen Verbände unabhängigen Freien, und doch
würde es das erheblichste Interesse bieten, gerade vom Stande der
freien Leute eine numerische Anschauung zu gewinnen.
Auf dem freien Manne beruhte die karolingische Reichsverfassung,
nur der Freie wurde zum Heerbann aufgeboten und leistete der Ladung
zur Gerichtsversammlung Folge. Wenn es nicht gelingt, einen Begriff
zu bekommen von der Zahl der Freien, die aus den Gauen und
Hundertschaften zu Kriegszügen und zum Placitum sich einfinden
konnten, bleiben alle Vorstellungen Vom Heeres- und Gerichtswesen
schattenhaft. Erst die zahlenmäßige Grundlage vermag die Ergebnisse
der rechtshistorischen wie der wirtschaftsgeschichtlichen Forschungen
zu voller Anschaulichkeit zu erheben.
So wird es nicht unangebracht erscheinen, auf einen dritten Weg
hinzuweisen, von dem ich zwar nicht behaupten möchte, da(s er zu
unanfechtbaren Ergebnissen führt, der aber doch vielleicht sich noch
als ausbaufähig erweisen kann. Um in dunklen Zeiten bis zu zahlen-
mäfs^er Anschauung vorzudringen, mufe schlielislich jedes irgend mög-
liche Mittel benutzt werden.
Im zweiten Teil meiner Arbeit über die S. Galler Urkunden *)
habe ich versucht, das Vorkommen der gröfeeren und kleineren Grund-
besitzer, die ans Kloster Traditionen machten, in den Zeugenlisten
nachzuweisen. Die Zusammenstellungen enthalten viel hypothetisches.
2kir Karolingerzeit führte jede Person nur einen Namen, Familiennamen
waren noch nicht vorhanden; so liefs sich die Identifikation von Per-
sonen gleichen Namens mit einiger Sicherheit nur vornehmen, wenn
der Name zur gleichen Zeit an einem Ort oder wenigstens in derselben
Gegend mehrfach wiederkehrt. Zu beachten war dabei freilich, dafe die
gleichen Namen recht häufig von mehreren Angehörigen derselben Fa-
angefUhrte Schrift von Salvioli in Atti della r. accademia Palermo 1899 bringt nicht
prinzipiell neue Gesichtspunkte.
i) Jahrbuch f. Schweizer. Gesch. B. 27, S. 187 ff.
— 197 —
milie getragen wurden. Gleichwohl erschien es in nicht ganz wenigen
Fällen angängig, eine Person einige Zeit hindurch zu verfolgen. Mittels
anderer Zusammenstellungen habe ich versucht, die Grundbesitzver-
teilung in einzelnen Ortschaften zu ermitteln. Aus den Urkunden, die
sich auf Rechtsgeschäfte mit Grundbesitz an einem Orte beziehen,
Hefsen sich die dortselbst begüterten Personen feststellen, und nicht
ganz selten gelang es deren Namen in Zeugenlisten wiederzufinden.
Bei der Streulage der Besitzungen ist es nicht ohne weiteres erlaubt,
jeden, der Grundeigentum an einem Orte hatte, als Bewohner des
Ortes aufzufassen. Immerhin zeigte sich, dafs an benachbarten Orten
wieder andere Personen Grundeigentum besafsen.
In den Zeugenlisten finden sich nun noch viele Namen von Leuten,
deren Besitzverhältnisse ganz unbekannt bleiben, weil sie nicht an
S. Gallen tradiert haben, oder weil die betreflfenden Urkunden zufällig
nicht erhalten sind. Nach den Normen, die allgemein zur Karolingerzeit
für die Fähigkeit als Urkundenzeuge zu dienen in Geltung waren ^), mufis
angenommen werden, dafs ausschliefslich freie Leute und in der Regel
Grundeigentümer in den Zeugenlisten aufgeführt sind. Manche der
Namen, besonders solche, die obenan stehen und sehr häufig wieder-
kehren, mögen Klostervögten oder Hundertschaftsvorstehem angehören,
denen die Amtsbezeichnung nicht immer beigefügt wurde *). In den
meisten Zeugen jedoch sind Gutsnachbarn der Aussteller zu erblicken,
Bewohner des Orts, an dem das tradierte Objekt lag, oder doch in
der näheren Umgebung ansässige Leute *). Auf den so gewonnenen
Grundlagen läfst sich nun weiter bauen. Es wird nicht als ganz ver-
gebliche Mühe erscheinen, wenn ich die in den Urkunden genannten
Namen dazu verwende, für die Bewohnerschaft, nicht gerade einzelner
Ortschaften, aber doch kleinerer Bezirke Zahlen zu ermitteln.
Goldach, bei Rorschach in der Nähe des Bodensees, im alten
Arbongau gelegen, ist Ausstellungsort von drei Urkunden, die dem
gleichen Jahrzehnt angehören und Rechtsgeschäfte mit Grundbesitz zu
Goldach betreflfen *). In den drei Urkunden sind im ganzen 28 ver-
i) Lex. Alam. tit. I. i, vgl. Capit. leg. add. 818/9 cap. 6 (M. G. Capit i, 282)
nod Capit Worin. 829 cap. 6 (ibid. 2, 19).
2) Vgl. £. B. Jahrb. f. Schw. Gesch. 27, 195 wegen Perahtgar nnd Wolfhard
3) Die Zeugen sind darcbgängig Handlungszengen, vgL Bresslan, Urk. lehre S. 807.
Für eine Unterscheidung nach Parteien, vgl. Erben, in Mitth. d. Ges. f. Sakb. Landes-
kunde B. 29 (1889), S. 458 E, finde ich keinen Anhalt.
4) Wartmann, Urkondenbnch der Abtei S. Gallen, Nr. 444. S. 855/50, Nr. 451.
S. 856/7, Nr. 466. S. 859.
14»
J
— 198 —
schiedene Namen auljfefiihrt, 26 von Männern, 2 von Frauen *); ein Name
findet sich in allen drei Urkunden, 11 Namen in je zwei, die übrig-en
nur in einer. Schwerlich waren alle die genannten Personen Bewohner
von Goldach selbst, 11 von ihnen finden sich auch in einer Urkunde
von 847 (Nr. 402), die sich auf das benachbarte Gommerswil be-
zieht und „in confinio Coldaun** ausgestellt ist. In einer zu Steinach
ausgestellten Urkunde (Nr. 398. 846) erscheinen sogar 15 von den 28,
während allerdings nur sehr wenige in Urkunden sich finden, die zwar
Grundbesitz zu Goldach betreifen, aber an entlegenen Orten (Langdorf
und Winterthur) ausgestellt sind (Nr. 471. 860, 514. 865). Immerhin
ist anzunehmen, dafs die 28, wenn nicht alle in Goldach, so doch in
der näheren Umgebung ansässig waren. Dafür ist auch ein ganz po-
sitives Zeugnis vorhanden. Eine Aufzeichnung über Schlichtung eines
Grenzstreites zwischen dem Kloster S. Gallen und dem Bistum Kon-
stanz vom Jahre 854 führt 42 Personen auf, welche die althergebrachte
Grenze der beiderseitigen in der Nähe von Goldach gelegenen Be-
sitzungen bezeugten^). Es liegt auf der Hand, dafs die 42 zu den
bejahrteren Anwohnern gehört haben müssen. Gleich die ersten 10
von ihnen finden sich unter den 26 von Goldach, aufserdem noch 5,
und von den übrigen 27 sind 10 in anderen Urktmden aus dem Arbon-
gau wiederzuerkennen. Drei in der Liste nebeneinander angeführte
Namen kommen nur in Urkunden vor, die sich auf den Ort Berg be-
ziehen. Es wäre nicht undenkbar, dafs die Namen der 42 Zeugen
nach Wohnsitzen geordnet sind; jedenfalls bildeten sie einen erheb-
lichen Teil der in der Nachbarschaft angesessenen freien Grundeigen-
tümer. Mehr als die Hälfte von ihnen ist in Urkunden aus der gleichen
Zeit und Gegend nachweisbar. Schon die Zeugenlisten allein vermögen
also mit einem ganz erheblichen Teil der Bewohnerschaft eines Be-
zirks bekannt zu machen. Die Zahl derer, die unbekannt bleiben,
weil sie — zufallig — nicht zu Zeugen für Urkunden herangezogen
wurden, darf nicht gar sehr hoch angeschlagen werden. Dazu stimmt
die allgemein anzustellende Beobachtung: Je mehr Urkunden vom
gleichen Ort und aus der gleichen Zeit vorliegen, um so öfter kehren
die gleichen Namen wieder, während Zeugenlisten aus entfernt von-
emander gelegenen Ortschaften, oder vom gleichen Ort, aber aus er-
heblich verschiedener Zeit, nur sehr geringe Verwandtschaft aufweisen.
i) In Nr. 444 die Tradeotin, ein Klostenrogt, 14 Zeugen (abgesehen von den
Mönchen); in Nr. 451 der Tradent, »eine Frau, ein Klostenrogt, 7 Zeugen; in Nr. 466
der Tradent, 14 Zeugen.
2) S. G. U. B. 3, 687, Anhang Nr. 7.
— 199 —
Setzt man die wirkliche Zahl der freien Eigentümer eines Bezirks
gleich der durch Auszählung zu gewinnenden Minimalzahl a plus der
wegen Nichterwähnung der Personen unbekannt bleibenden Gröise x,
so kann unter x kemesfalls eine a mehrfach übertreffende Ziffer ver-
standen werden. Es dürfte sich also wohl verlohnen, alle Namen ab-
zuzählen, die in Urkunden aus einem Bezirk von bestimmt gegebener
Abgrenzung auftreten. Den Versuch habe ich für den Argen- und
Nibelgau *) unternommen und teile das Ergebnis im folgenden mit.
Der Argengau erstreckte sich am Nordufer des Bodensees von
Bregenz über Lindau, Wasserburg, Langenargen bis nach Buchhom
(Friedrichshafen); landeinwärts reichte er nur wenige Meilen. Von den
Urkunden, die sicher dem Argengau angehören, sind vier zu Langen-
argen ausgestellt, zwölf zu Wasserburg, sechs zu Leiblach und sieben an
verschiedenen Orten innerhalb des Gaues. Der Zeit nach verteilen
sie sich ziemlich gleichmäfsig über etwa vier Menschenalter (769 bis
885). In den 29 Urkunden sind im Kontext und den Zeugenlisten
zusammen 237 verschiedene Namen genannt, davon 137 nur je ein-
mal, 56 doppelt, 20 dreifach, 11 vierfach, 13 mehrfach; 33 der Namen
kommen im ganzen Urkundenbuch nur einmal für Freie vor.
Von den 237 sind 8 Geistliche und 8 Frauen. Unter den übrig
bleibenden 221 Namen für freie Männer weltlichen Standes verbergen
sich einige Personen mehr. 11 Namen finden sich doppelt in einer
oder mehreren Listen, können also nicht auf nur eine Person sich be-
ziehen ; auch sind manchmal die zeitlichen Abstände zwischen dem Auf-
treten desselben Namens zu erheblich, als dafs die Beziehung auf die
gleiche Person für wahrscheinlich erachtet werden könnte. Rechnet
man also noch 30 hinzu, so ergeben sich rund 250 freie Grundeigen-
tümer, oder für das Menschenalter kaum viel mehr als 60. Die Zahl
ist erstaunlich gering; aber auch durch ein umfangreicheres Material
könnte sie nicht sehr wesentlich erhöht werden. Das zeigen gerade
einige auf den Argengau bezügliche Urkunden, die bei der Berechnung
aulser acht geblieben sind, weü ihr Ausstellungsort nicht genannt ist
oder nicht im Gau lag Berechnungen für den benachbarten Nibelgau
fuhren zu einem ganz ähnlichen Ergebnis. In 26 Urkunden, von 766 bis
879 reichend, treten 195 Personen auf (davon 10 Frauen und 4 Geist-
liche). 40 kommen überhaupt nur im Nibelgau vor, 53 Namen er-
scheinen zugleich im Nibel- und Argengau, aber allerdings vielfach in
i) Vgl. die Gankarte bei F. L. Baumann, Die Gaugrafschaftcn im wirtembergischcn
Schwaben, Stuttgart 1879.
— 200 —
so erheblichem zeitlichen Abstände, dafs an Identität der Personen
nicht zu denken ist. Der Durchschnitt nach Menschenaltem wäre fiir
den Nibelgau noch geringer als für den Argengau, und doch ist die
Zahl der Urkunden nicht viel kleiner, während die einzelnen Zeugen-
listen eher länger sind. Wollte man selbst die Zahl der unbekannt
bleibenden freien Grundeigentümer auf das Doppelte der bekannten
veranschlagen, was doch gewifs hoch g^friffen ist, so erhielte man
immer noch eine recht niedrige Ziffer für die gleichzeitig lebenden
pagenses, denen die Pflichten der karolingischen Reichsverfassung ob-
lagen.
Die gesamte Bewohnerzahl des Gaues mufis allerdings erheblich
höher gewesen sein als die der freien Grundeigentümer. Es sind die
Familienangehörigen, die servi domestici und casati und auch die
freien Hintersassen hinzuzurechnen, deren Anzahl sich nicht annähernd
schätzen läfst, und vage Vermutungen aufzustellen ist zwecklos. Da-
gegen wäre wohl noch auf einen Gesichtspunkt hinzuweisen. Die
Hundertschaft ist in Alamannien nach der viel angefochtenen, aber
recht wahrscheinlichen Ansicht von Brunner ^) nicht alten Urspnmgs,
sondern erst unter fränkischer Herrschaft eingeführt worden. Da liegt
denn die Vermutung nahe, daCs der Name nicht zufällig die Zahl aus-
drücke. Nicht einstmals in nebelgrauer Vorzeit hat die Hundertschaft
ICO Mann umfafist, sondern bei ihrer Einführung in Alamannien. Die
zu einer Hundertschaft vereinigten Hundert waren freie Leute, Grund-
eigentümer, denen unter Hinzurechnung ihrer Familien, Unfreien usw.
eine beträchtlich höhere Kopfzahl entsprochen haben muis, und die
auch ein nicht gar zu eng begrenztes Gebiet bewohnten. Eine Hundert-
schaft konnte immerhin eine ganze Anzahl Dörfer und Weiler mit zu-
gehörigem Markland umfassen. Die Erklärung des Namens durch die
Zahl macht die Flüssigkeit der territorialen Einteilungen im Karolinger-
reich verständlich. Wenn die Bevölkerung, das ist die Zahl der voll-
berechtigten Freien, zu stark angewachsen war, wurden neue Hundert-
schaften ausgeschieden und Gaue geteilt. Daher benannte man auch
die Hundertschaften in Alamannien nicht nach Flüssen oder sonstigen
geographischen Begriffen, sondern nach den Vorstehern Walthrams-
huntare, Hattenhuntare usw. ^).
i) Deutsche Rechtsgeschichte i, 117; dagegen WeUer in Württemb. Vierteljahrs-
hefte N F. 7 (1898), S. 312.
2) Vgl. die, übrigens sehr anfechtbare, Geschichte der Alamanneo als Gaogeschichte
▼on J. Crmmer, in Gierkes Untersnchnngen sar deutschen Staats- und Rechtsgeschichte
H. 57, Breslan 1899.
— 201 —
Der Argen- und der Nibelgau waren allerdings wohl zu klein, als
dais sieb eine Einteilung in Hundertschaften annehmen Heise. Für den
grofsen Thurgau vor Abtrennung des Zürichgaues ist die Zahl der
Hundertschaften auf zehn bis zwölf veranschlagt worden ^), das würde
etwa locx) — 1200 freie Leute und vielleicht noch keine locxx) Be-
wohner für ein Gebiet ergeben, welches gegenwärtig in den Kantonen
Zürich, Thurgau und S. Gallen mehr als die siebzigfache Zahl auf-
weist. Solche Schätzungen mögen auf schwankender Grundlage be-
ruhen, dennoch lassen sie den Schlufs zu, dafs vor mehr als tausend
Jahren relativ, im Vergleich zur Gegenwart, und absolut das Land
außerordentlich dünn bevölkert gewesen sein mufs. Noch bUdete
Ackerbau fast die einzige Nahrungsquelle für die Bewohner, noch
waren weite Strecken des Bodens, mit Wald und Sumpf bedeckt, dem
Anbau entzogen. Es wäre interessant zu beobachten, wie mit dem
Steigen der Bevölkerungszahl die Fortschritte der Landeskultur zu-
sammengingen. Indessen versagt für die späteren Jahrhunderte der
Anhalt völlig, den die Zeugenlisten der Urkunden bieten. Eigentlich
erst mit dem XV. Jahrhundert beginnt in der Schweiz ein Akten-
material, das statistische Berechnungen der Landbevölkerung zuläfst *).
Für die Karolingerzeit aber lielsen sich wohl auch aus anderen Ur-
kundengruppen ähnliche Ermittelungen anstellen, wie aus den S. Galler.
So ergibt sich aus Fuldenser Traditionen eine doch nicht ganz un-
beträchtliche Anzahl von Bewohnern der Stadt Mainz *) , und die
i) S. F. V. Wyss, AbhandluDgen zur Geschichte des schweizerischen öffentlichen
Rechts, ZOrich 1892, S. 288 n. i; vgl. G. Meyer ▼. KnooM, Ein thnrganiiches Schult-
hcilsengeschlecht des IX. und X. Jahrhunderts, in Jahrbuch f. Schweiz. Gesch. B. 2
(1877), S. 109 f.
2) Solche sind schon im XVIU. Jahrh. angestellt worden von J. H. Waser, Be-
▼ölkerung des löbl. Kantons Zürich in verschiedenen Zeitaltern, in Schlözers Briefwechsel,
meist historischen und politischen Inhalts, B. 6 (H. 32), S. 102 ff., 2. Aufl., Göttingen
1780; vgl. Sophie Daszynaka, die Bevölkerung von Ztlrich im XVIL Jahrh., Züricher
Diss. 1891 ; s. auch F. Buomberger, Bevölkemngs- und Vermögensstatistik der Stadt und
Landschaft Freiburg i. Ü., in Zeitschr. f. Schweiz. Statistik, 36. Jahrgang, 1900, S. 20$ tL;
und A. Lütolf, zur Geschichte der Vermögenszustände im Kanton Luzem, XIV. und XV.
Jahrb., im Geschichtsfrennd (Mitteil, des bist Vereins der 5 Orte) B. 19 (1863), S. 301 ff.
Ein Vermögensverzeichnis der Bewohner von Appenzell bei 2^weger, Geschichte des
appenzdlischen Volkes, Urkunden, B. i, T. i, S. 265, Nr. 118, n 1378/9.
3) Vgl. S. Rietschel, Die Civitas auf deutschem Boden bis zum Ausgang dar
Karolingerzeit, Leipzig 1894, S. 78 f. Statistisch verwertbar sind auch die Verzeichnisse
der bei den Verfolgungen anlässlich des i. Krenzzuges (1096) und sonst erschlagenen Juden, in
Quellen zur Geschichte der Juden in Deutschland, B. 3, das Martyrologinm des Nttm*
berger Memorbuches, hg. v. S. Salfeld, Berlin 1898, ftlr Mainz s. S. 113 ff.
— 202 —
Lorscher Traditionen *) zeigen , dais im fruchtbaren Rheinfranken die
Bevölkerung eine viel dichtere war als in der Nordostschweiz.
Steiermärkisehe Gesehiehtsehreibung
von 1811 bis 1850«)
Von
Franz Ilwof (Graz)
Im Jahre 1811 erfolgte durch das Zusammenwirken Erzherzog-
Johanns und der Stände der Steiermark die Gründung des Joannen ms.
Schon in seinen ersten Anfangen bestand es aus einer Bibliothek,
einem Archiv, einem Münz- und Antikenkabinett, einem naturhistori-
schen Museum und einem botanischen Garten, bald wurden auch
wissenschaftliche Vorträge gehalten und Lehrkanzeln errichtet. Dieses
Ereignis begünstigte das geistige Leben und führte zu einem Auf-
schwung, wie er in der Steiermark seit dem XVI. Jahrhundert nicht
dagewesen war, und auch in der steiermärkischen Geschichtsforschung
und Geschichtschreibung beginnt damit ein neuer Abschnitt, den man
billigerweise bis dahin rechnen darf, wo — um die Mitte des XIX. Jahr-
hunderts — der Historische Verein für Steiermark ins Leben trat
In diesem Zeiträume und fast noch zehn Jahre länger, bis zu
seinem Tode (1859), stand Erzherzog Johann im Mittelpunkte dieser
geistigen Bewegung; vieles ging unmittelbar von ihm aus, anderes,
von anderen getan, wurde von ihm gefördert und begünstigt, so dafe
man, ohne den Vorwurf des Byzantinismus furchten zu dürfen, sagen
kann: Erzherzog Johann war der Reformator der Steiermark, er hat
das Land auf dem Gebiete der geistigen und materiellen Kultur aus
dem Zustande der Erschlaffung, des Quietismus, dem es durch die
Gegenreformation verfallen war, emporgehoben, so dafe es jetzt allen
Ländern der alten Monarchie, der es seit mehr als 700 Jahren ange-
hört, und auch vielen anderen deutschen Gebieten in kultureller Be-
ziehung ebenbürtig zur Seite steht.
i) Im Codex principis olim Laureshamensis abbatiae diplomaticos , ed. Academia
Palatina, 3 Tom., Mannheim 1768.
2) Vgl. die beiden früheren Aufsätze im 4. Bde., S. 89—101 and S. 288—398.
— 203 —
Erzherzog Johaon entwarf selbst das Statut für das Joanneum
und forderte in erster Linie die Pflege der vaterländischen Geschichte.
Zunächst verlangte er eine Sammlung des Quellenmaterials ^) und die
Anlage diplomatisch getreuer, beglaubigter Abschriften, die im Joan-
neum niedergelegt werden sollten, um sie „durch diese Verdoppelung
den Unfällen und dem Zahne der Zeit" um so sicherer zu entreifsen.
Ein chronologisches Verzeichnis soll über ihren Inhalt berichten. Sodann
sollen gesammelt werden „alle im Lande vorfindliche Denkmäler der
Vorzeit, Meilen- und Grabsteine, Inschriften, Statuen, Basreliefs usw. usw.,
die inländischen Münzen von allen Metallgattungen"; ferner soll eine
möglichst vollständige Wappen- und Siegelsammlung der inneröster-
reichischen Adelsgeschlechter angelegt werden. „Inzwischen ist zu
jenem Zwecke", schreibt der Erzherzog, „noch mehr erwünschlich.
Bei der Auflösung so vieler Dom- und Ritterstifte und Orden, bei so
rapidem Wechsel von Besitz und Verfassung infolge feindlicher In-
vasionen sind unzählige, in Erbschafts- und Filiationsangelegenheiten
hochbedeutende Dokumente der edelsten Häuser in Verlust geraten.
Wie erwünscht demnach, hier die Adelstitel, Diplome, Lehenbriefe
und Stammbäume der adeligen Geschlechter Innerösterreichs zu deren
eigenem, unverkennbaren Bestem in beglaubigten Kopien beisammen
zu sehen." Endlich werden als Gegenstände der Sammlung bezeichnet
„historische Manuskripte, gedruckte Werke, welche die Geschichte und
Statistik Innerösterreichs und seiner Nachbarlande im ganzen und einzelnen
betreffen und schliefslich die Porträtsreihe der Landesfürsten und bio-
graphische Züge der auf irgendeine Weise um Innerösterreich verdienten
oder aus seinem Schofse entsprungenen, im öffentlichen, Geschäfts- oder
im wissenschaftlichen Leben ausgezeichneten Männer."
Was der Erzherzog selbst an Büchern, Akten, Urkunden usw. usw.
seit Jahren gesammelt hatte, überliefs er geschenkweise dem Joanneum
und veranlasste, daüs durch die Regierungsbehörden all das, was an
historischen Denkmälern, Dokumenten, Schriften usw. in und aufserhalb
der Steiermark für ihre Geschichte wichtig sei, erhoben werden, im
Originale oder in Abschriften dem Joanneumsarchiv zukommen sollte.
So entstand das reichhaltige, für die Forschung in Steiermärkischer
Geschichte hochwichtige Joanneumsarchiv *) : zu einem Teile und wesent-
1) ÄUe ofuf irgendein erhebliehee Ltmdesinteresse bexughabenden Urkunden
mu den ttändischen^ bischöflichen^ städtisehenf montanistiachen und Privatarchiten und
BibHotheken, vorx/üglieh Verträge mit ÄUHcärtigen, Oränx-BexesBe, Landtagsverhand-
lungen, allgemeine Landeafreiheiien usw. usw, von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten.
2) Ilwof, Enherzog Johanni BedeutoDg fUr die Pflege ftteiermärkischer Getchichte
— 204 —
lieh früher schon verwirklicht es für die Steiermark dasjenige, was
dem Freiherrn von und zu Aufsefs bei seinem Genera Irepertorium
im Germanischen Museum zu Nürnberg vorschwebte *).
Die gesammelten Materialien sollten auch bearbeitet werden. Der
Elrzherzog beschlofs daher eine Preisfrage für die Geschichte Inner-
österreichs auszuschreiben, setzte sich mit den Geschichtschreibem
Hormayr und Kurz in Verbindung, führte (1812) einen ausgedehnten
Briefwechsel mit den namhaftesten Historikern Deutschlands, so mit
Joachim Jäck, der die Geschichte von Stadt und Gebiet Bamberg
erforschte, mit Friedrich Wilken in Heidelberg, dem Verfasser der
Geschichte der Kreuzzüge, mit Lorenz von Westenriederin München,
mit Konrad Mannert in Landshut und mit Karl Georg Dümge in
Heidelberg, dem ersten Herausgeber des Archivs für ältere deutsche
Geschichtskunde. Das Ergebnis dieser Bemühungen war die Aus-
schreibung einer Preisfrage (12. Februar 18 12), welche die quellenmäfsige
Erforschung und Darstellung der historischen und geographischen Ver-
hältnisse der Steiermark, Kärntens, Krains und Istriens von der Zeit
Karls des Grofsen bis zum Aussterben der Traungauer forderte. Die
Frage war so umfassend und griff so tief, dafs ihre vollständige Be-
antwortung bei dem damaligen Stande der Quellenforschung einem
einzelnen unmöglich war. Eine das ganze in der Aufgabe umschriebene
Gebiet behandelnde Arbeit lief auch nicht ein, aber wohl zehn Ab-
handlungen, die TeUe dieser Frage behandelten und manches neue
Elrgebnis zutage brachten: von diesen sind besonders hervorzuheben
die Untersuchungen von Hormayr*) und von Blumberger •). Diese
zehn Aufsätze erschienen teils in Hormayrs Archiv, teils in den
(MiUeiloDgen des Historischen Vereins für Steiermark, XXX, 3 — 34.) — llwof, Enherxog
Johann and der Historische Verein für Steiermark. Rede, gehalten in der Festversamm-
lang des Historischen Vereins fUr Steiermark bei der Feier seines 50jährigen Bestandes
am 13. Dezember 1900. Als Manuskript gedruckt. Graz, 1900, SelbstTorlag des Yer*
fauers. — Kümmel, Erzherzog Johann and das Joanneamsarchiv (Mitteilungen dea
Historischen Vereins Hir Steiermark, XXIX, 106 — 140).
i) Vgl. diese Zeitschria 3. Bd., S. 364.
3) Beiträge xur Oesehichie InnerÖsterreiehs. — Die Sachsen in Infierästerreieh. —
Neustadt tmd Steyer.
3) Über hmerösterreiehs QesehickU mut Geographie im MUteiaUer mui über
die Genealogie der traungauischen Ottokare. — Stellen des Göttweiher SaaXbußhes über
die traungauischen Ottokare, — Über den eigentlichen Zeitpunkt der Folge der Spon'
heimer auf die Mürxthaler im Herxogthume Kärnten. — Beiträge zur Lösaog der
Preisfrage des durchlauchtigsten Erzherzogs Johann, fUr Geographie und Historie Ihb«-
Österreichs im Mittelalter. L und IL Heft. (Besonders abgedruckt und unentgeltlich Ter-
teilt den Freunden der Vaterlandsgeschichte.) Wien 1819. GednickI bei Anton Stranft.
— 205 —
Wiener Jahrbüchern der LUeratur und wurden später auf des Erzherzogs
Kosten veröffentlicht.
Die eifrigsten und erfolgreichsten Mitarbeiter des Erzherzogs bei
der Gründung des Joanneums und des Archivs waren Johann Ritter
von Kalchberg und Josef Wartinge r. Kalchberg '), der ständische
Ausschuisrat und Verordnete, war nicht nur in dieser wichtigen Stellung
und als Kurator des Joanneums ungemein tätig und einflufsreich, er
lieferte auch mehrere für seine Zeit bemerkenswerte Untersuchungen
verfassungsgeschichtlichen Inhalts, so über Ursprung und Verfassung
der Stände der Steiermark ^) und über Ursprung und Beschaffenheit der
Urbarialabgaben in Innerösterreich ^). Weit bedeutender waren die
Leistungen Wartingers *). Er war der Begründer und Förderer des
Unterrichtes in der Steiermärkischcn Geschichte an den Mittelschulen
des Landes*), wurde Archivar der Stände, bereiste zum Behufe der •
Aufsuchung und Erwerbung historischer Denkmäler das ganze Land,
brachte reiche Urkundenschätze in das Joanneumsarchiv, ordnete das-
selbe, schrieb eine kleine, aber treffliche Kurggefaßte Geschichte der
Steiermark ®), veröffentlichte die Privilegien der Städte Graz, Brück an
der Mur, der Märkte Vordernberg, Tüffer und Eisenerz, sowie die
Landhandfeste Kaiser Karls des Sechsten für das Herjsogtum Steiermark
vom Jahre 1731 und verfaiste zahlreiche kleinere und gröfsere Aufsätze.
Alle seine Arbeiten beruhen auf gründlicher Durchforschung der Quellen
und zeugen von scharfem kritischem Geiste.
An die Veröffentlichung der Landhandfeste knüpften sich lang-
wierige Verhandlungen zwischen den Ständen und der Regierung, die
so charakteristisch sind, dafs sie eine Erwähnung verdienen. Wartinger
überreichte 1835 den Ständen einen Antrag auf Neudruck der stei-
rischen Landhandfesten, d. i. die Sammlung jener Urkunden, welche
die landständische Verfassung des Herzogtums Steiermark darstellten
und zu deren Bestätigung der Herzog von Steiermark bei der Erb-
1) Schlossar, Johann Ritter von Kalchberg. (Mitteilungen des Historischen
Vereins für Steiermark XXVI, 3—57.) Kalchbergs sämmtliche Werke. 9 Bde. Wien,
1816— 1817. — Kalchbergs gesammelte Schriften. Herausgegeben von A. Schlossar.
4 Hde. Wien, 1878- 1880. —
2) Abgedruckt in den sämtlichen Werken, V, 3—83; in den gesammelten Schriften
III, 195—260.
3) Abgedruckt in den gesammelten Schriften III, 261 — 378.
4) S. die von mir verfafate Biographie Wartingers mit Aufzählung aller seiner
wisseoschaftlichen Arbeiten in der Allgemeinen Deutschen Biographie XLI, 202—207.
5) S. diese Zeitschrift 3. Bd., S. 115 — 117.
6) I. Aufl. 1815, 2. AufU 1827, 3. Aufl. 1853.
J
— 206 —
huldigung' den landesfiirsüichen Eid ablegte. Eiae solche Sammlung'
war seit 1697 nicht mehr erschienen, und die von Wartinger
beabsichtigte neue Ausgabe sollte durch die bisher ungedruckte, ja
ganz unbekannt gebliebene Landhandfeste Kaiser Karls VI. vom
8. Oktober 1731, die letzte Verfassungsurkunde der Steiermark bis
zur LandesordnuDg vom 26. Februar 1861, vermehrt werden. Der
ständische Ausschuls nahm diesen Antrag an uud bat die Regierung
zu genehmigen, dafs die Druckkosten aus dem ständischen Fonds bezahlt
würden. Da erhob die Zensurbehörde Bedenken, und nach weitläufigen
Verhandlungen forderte die kaiserliche Hofkanzlei von den Ständen, sie
sollten Wartinger eine Rüge erteilen, weil er eine so wichtige Urkunde
von staatsrechtlicher Bedeutung dem ständischen Archive entnommen
habe, um sie zur Drucklegung und Veröffentlichung zu befördern, und
ihn in Zukunft besser überwachen. Die Stände traten jedoch für ihren
Archivar ein, erklärten, er sei einer ihrer treuesten und ergebensten
Diener, der weder eine Rüge verdiene, noch der Überwachung bedürfe,
und erneuten ihre Bitte um Genehmigung der Drucklegung, die nunmehr
von der Regierung gestattet wurde ').
Die Erfahrungen, die Erzherzog Johann mit der Preisaufgabe gemacht
hatte, brachten ihn zur Erkenntnis, dafs es, ehe an die Abfassung
einer quellenmäfeigen Geschichte von Innerösterreich, ja auch nur von
Steiermark gedacht werden könne, vieler Vorarbeiten, zahlreicher
Spezialuntersuchungen und der Erforschung einzelner Partien der Ge-
schichte und Geographie des Landes bedürfe. So entstand in ihm
der Plan einer wissenschaftlichen Zeitschrift in und für Steiermark.
Schon im Jahresberichte der Joanneums von 18 17 ist davon die Rede.
Die Zeitschrift sollte das Land mit allen neuen und wichtigen literarischen
und artistischen Erscheinungen Österreichs und des Auslandes bekannt
und die Bewohner von Inncrösterrcich mit allen Kulturfortschritten auf
heimischem Gebiete vertraut machen. Der Erzherzog selbst erwirkte
von seinem Bruder, Kaiser Franz, die Bewilligung zur Herausgabe dieser
Zeitschrift. Als Organ hierzu bediente er sich des Ausschusses des am
Joanneum bestehenden Lesevereins, welcher alle namhaften Kapazitäten
von Graz zu seinen Mitgliedern zählte und nun als Redaktion der neuen
Zeitschrift hervortrat. Der Erzherzog selbst erliefs eigenhändig ge-
fertigte Einladungen zur Einsendung von Aufsätzen, und so konnte schon
i) Ijandhandfesie Kaiser Karls des Sechsten für das Berxogtum Steiermark
rom Jahre 173J, o. O. u. J. Vorwort gezeichnet: Vom steiermärkisch ständischen vcr.
ordneten Rathe. Grats, am 21. July 1842. 88 S. Anhang: Der Erbvertrag des letzten
Tranogauers Otakar mit Herzog Leopold V. von Österreich am 17. Angnst 1186.
— 207 —
i82i das erste Heft dieses für die wissenschafdichen Interessen der
Steiermark so wichtigen Organs unter dem Titel : bteyermärkische Zeit-
schrifly herausgegd>en vom Ausschüsse des Lesevereins am Joannetim
veröfTentlicht werden. Von ihr erschienen von 182 1 bis 1834 zwölf
Hefte 'und von 1834 bis 1848 als Neue Folge neun Jahigänge zu je
zwei Heften (vom neunten Jahrgang nur ein Heft). Arbeiten aus den
verschiedensten Gebieten des Wissens fanden darin Aufnahme und
Berücksichtigung: Geschichte, Geographie, Ästhetik, Geognosie und
Mineralogie, Kunstgeschichte, Poesie, Mechanik, Astronomie, Naturge-
schichte usw., am reichsten jedoch ist die vaterländische Geschichte
vertreten; noch heute beachtenswerte Beiträge lieferten besonders
Muchar und Wartinger.
Von Machar Hegen vor : Das aUkeUische Norikum oder Urgeschichte von Ösierreiehy
Saixburgf Kämtenund Krain (I, 3-72, II, i — 85, in, 1—63, IV, i -84); Versuch einer
Oeschiehte der slavischen Völkerschaften an der Donau y um die erste Einwanderung
und Festsetzung der Slaven in der Steyermark, in Kärnten und Krain xu bestimmen
und XU erweisen. Von der Zeit des Kaisers Augtutus bis in die Mitte des siebenten
Jahrhunderts nach Christus y unmittelbar <ms den lateinischen und griechischen
Quellen bearbeitet. (VI, 1-57, VIl, 17-47, vm, 72-125, IX, 135—156, X, 51-83);
Beiträge xu einer urkundlichen Oeschiehte der altnorischen Berg- und Satxwerke
(XI, 1—56); die Gründung der Universität xu Qrätx (W. F. I, 2, S. 27 — 61);
Oeschiehte und innere Einrichtungen der alten Universität und des Lyxeums xu
Qrätx (II, 2, S. 20 — 58); die ältesten Erfindungen und die frühesten Privilegien
für industriellen Fleiß in Innerösterreich (N. F. IV, 2, S. 3 — 19); efer steyermärkische
Eisenberg, vorzugsweise der Erxberg genannt, nebst einer Übersicht über den Besitx-
standeS'Weehsel der Eisenschmelxwerke in Vordemberg, wie derselbe aus den Ur-
kunden des Vordernberger Archives bisher erhoben worden ist (V, i, S. 3-78);
äUere Institutionen in Orätx, I. ältere Regierung und Munidpal- Einrichtung,
n. das ältere Religionswesen in Orätx, Ol. die älteren Wohlthätigkeitsanstalten , der
Handel und die Industrie in Orätx (Vm, i, S. 4 — 30); Oeschiehte des steiermärkischen
Eisenwesens am Erxberge vom Jahre 1550^1590 (Vin, 2, S. 14-81).
Weniger umfassende Darstellungen lieferte Wartinger, jedoch eine Reihe
kleinerer, aber filr die Geschichte und Kulturgeschichte des Landes wichtiger, bemerkens-
werter Notizen und Beiträge, von denen wir nur einige nennen wollen: Büchercensur-
anstcUt in Orätx im 16. Jahrhundert, — Domitians Münxe auf TUus* Vergötterung. —
Äuexug aus der Wolkensteiner Landgerichtsordnung vom J, 1478. — Über das
Befugnis der Juden in Steiermark mit Oetreide xu handeln. — Beiträge xum steier-
märkischen Taxwesen, — Musikanten- Compagnie in Orätx. — Silberhaltiges Blei-
bergwerk in Pusterwalde, — Leibeigene Stadtbewohner im XTV, Jahrhunderte (VIII,
145-162); ältere pUutische Künstler in Steiermark (XI, 97—100»); Ursprung von
Spital am Semering (N. F. I, i, S. 82—86); Beitrag xu des Oeographen Vischer
Lebendfeschreibung (N. F. I, 2, S 76—78); War Leibnix je eine Stadt? (N. F. n, i,
S. 19-22); 3iärkte in Steiermark, die einst StädU waren (II, 2, S. 92—96); frühere
Besitzer des Joanneumsgebäudes (N. F. m, i, S. 86—88); Entstehung des Landhauses
oder Ständehauses (N. F. V, i, S. 118-125).
— 208 —
Wartinger und Muchar sind die bedeutendsten Forscher in der
steiermärkischen Geschichte in jener Zeit. Was in der zweiten Hälfte
des XVIII. Jahrhunderts Aquilinus Julius Cäsar, das leisteten Wartinger
und Muchar in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts ; ihre Arbeiten
ruhen durchaus auf gründlicher Quellenforschung und waren für ihre
Zeit von staunenswertem kritischem Geiste getragen. Die allgemeine
Bildung beider Männer ruhte auf den klassischen Studien, und beide
beherrschten die alten Sprachen, Wartinger besonders das Griechische.
Aufser diesen beiden historischen Haaptmitarbeitem der Steiermärkiscken Zeii'
Schrift haben aber noch viele andere dort wertvoUe Beiträge veröffentlicht: so Josef
von Hammer (später Freiherr von Hammer-Pargstall, der berühmte Orientalist) über die
Einfalle der Türken in Sleiermark (VI, 58-64, Vll, i— 16, XÜ, 75—86), über die
Grafen von PurgstaU (N. F. IV, i, S. 71—96), über den Ursprung der Sage von den
feindlichen Brüdern, über die Benennung von Lichtenegg j über die drei ältesten Ur-
kunden und die Reihe der Besitzer von Biegersburg (VL 2., S. 102—108), Äbul Feda's
und Hrisis'j der arabischen Geographen Stellen über die norischen Eisenbergwerke und
Oratx (N. F. VII, I, S. 134— 136). — W i n kl h o (er , Historische Darstellung einiger Kirchen-
gründungen und Priesterfundierungen in Salzburg j Steiermark und Kärnten, vor-
züglich im Mittelalter (IX, 1 — 43). — Richter, über das konzentrische Zusammen-
icirken der intierösterreichischen Geschichtsforschuug (N. F. I, i, S. 19 — 24), der
Lavanter Bischof Stobäus von Palmburg in Schlesien oder Rückblicke auf die Politik
Innerösterreichs (N. F. III, 2, S. 126—139). — Leitner, die Heimführung der
Herzogin Maria von Baiern durch den Erzherzog Karl von Österreich zu Grätx
im Jahre 1571 (N. F. I, i, S. 31 — 49), i'd)er den Einfluß der Landstände au f die
Bildung in Steiermark (N. F. 11, i, S. 94 — 131). — Johann Gabriel Sei dl, Römer-
steine bei Töplitx (N. F. I, 2, S. 62 — 66) , Maria Rasty monographische Skizze (N. F.
n, I, S. 23-40), zur Geschichte der Stadt Cilli (N. F. VH, 2, S. 5—25), Thomas
von Cilli. Eine biographische Skizze (N. F. Vni, 2, S. i — 13). — Macher, Bruch-
stücke aus der Geschichte der Stadt Hartberg und ihrer Umgebungen (N. F. I, 2,
S. 123—134), Abriß einer Geschichte der Stadt Hartberg (N. F. VI, i, S. 29—74). —
Hoffbauer, Welche Sieiermärker wirkten zunächst auf Weltbegebenheiten (N. F.
II, 2, S. 130—133). — Graf, die Stadt Leoben in Obersteiermark (IV, 2, S. 59—66)^
historische Notixen über Brück an der Mur (N. F. IX, i, S. 140 — 153). — Winklern,
Biographien denkwürdiger Sieiermärker (N. F. VI, i , S. 82 — 139, VI, 2, S. 27 — 80,
VII, I, S. 52 — 114). — Ungcr, die Heuschrecken xüge in Steiermark (S. F. VII, i,
S. 115 — 133). — Hofrichter, Ein Beitrag zur Kirchengeschichte und Statistik
der Steiermark (N. F. VI, 2, S. 108 — 130). — D. T., über das geistige und poetische
Leben der Slaven in Steiermark (N. F. VIII, i, S. 95 — 113). — Ungenannt,
Geschichtliche Notizen des vormaligen Chorherrenstiftes Pöllau im Grätxer Kreise
(N. F. Vm, 2, S. 90—101). — Tangl, Wo lag die Burg des Priwina? (N. F. IX,
I, S. 1—25). — Göth, das Schloß Feistritz und dessen Besitxa- (N. F. IX, i, 63—77).
Wollten wir auch sonst nichts weiter berücksichtigen, die Gründung
des Archivs am Joanneum und die durch 27 Jahre (1821 — 1848)
erfolgte Herausgabe der Steiermärkischen Zeitschrifi allem würden
genügen, um das Urteil zu begründen, dafs das geistige Leben in
— 209 —
der Steiermark und im besonderen die Geschichtsforschung^ und
Geschichtschreibung in der ersten Hälfte des XDC. Jahrhunderts
einen bedeutenden Aufschwung genommen hat, so dafs beide eine
ganz andere Gestalt zeigten, als im Jahrhundert vorher. Aber nicht
blofs jene beiden die Wissenschaft fördernden Tatsachen fallen in
die Periode von 1811 — 1850, auch einzelne Personen haben nicht
Unbedeutendes geleistet.
Hierher gehören vor allen das hisioriach- topographische Lexikon
von Steyermark. 4 Teile. Gratz 1822 — 23 von Karl Schmutz
und dctö römische Norihum oder Österreich, Steyermark, Salzburg,
Kärnten und Krain unter den Römern von Albert von Muchar.
2 Teile. Grätz 1825—26.
Das Werk von Schmutz *) war eine ebenso mühevolle Arbeit,
wie es auch noch heutzutage in vielen Teilen wertvoll ist: es enthält
in alphabetischer Ordnung die Namen jeder örtlichkeit (Stadt, Markt-
flecken, Dorf, Gemeinde, Herrschaft, Schlois, Stift, Kirche, Berge,
Alpen, Weinhügel, Flüsse, Bäche, Seen, Mineralwässer, Bergwerke,
Hammerwerke usw.), und jeder Artikel beschreibt alles Wissenswerte,
was von dem betreffenden Objekte zu ermitteln war. Bei den Grund-
und Bezirksherrschaften wird die Reihe ihrer Besitzer so weit wie
möglich zurück angegeben ; es folgen die Namen der Ämter, in denen
die Herrschaft Untertanen besafe, die Zehnten sind genannt, und Land-
gerichte, Vogteien oder Patronate im Besitze einer Herrschaft auf-
geführt. Dann kommen die Namen der Bezirksgemeinden mit Angabe
der verschiedenen Kategorien des Grund und Bodens, der Wohnplätze,
der Bevölkerung, des Viehstandes. Bei den einzelnen Dörfern wird
angegeben, welchen Herrschaften sie dienstbar, wohin sie bergrecht- und
zehentpflichtig waren. Bei den Pfarreien erfährt man die Art ihrer
Gründung, ihr Alter, wer Patron, wer Vogtherr ist, welche Grabmäler
sich in ihren Kirchen befinden. Femer ist der Name jeder adeligen
in Steiermark begüterten Familie verzeichnet, und historische Notizen
über die Glieder dieser Familien sind beigefügt. Endlich ist jeder
Name eines Schriftstellers oder Künstlers eingetragen, der in der
Steiermark geboren wurde, mit Hinzufügung biographischer Daten. —
Schmutz' Lexikon ist ein Werk riesigen Fleifses und, obwohl achtzig
Jahre seit seinem Erscheinen verflossen sind, jetzt noch für den
Geschichtsforscher der Steiermark sowie für den Archivar unentbehr-
lich, besonders wegen seiner geographischen Artikel, der Angaben
i) VergL diese Zeitschrift 3. Bd., S. 135.
— 210 —
über die Herrschaften und Pfarreien, die diesen unterstehenden Unter-
tanen — das Untertanenverhältnis wurde ja erst 1848/49 aufjg-e-
hoben — , die zugehörigen Zehnten und sonstigen Abgaben.
Muchar lieferte in dem Bömischen Norihum eine Fortsetzung
seines altkeltischen; was er Bemerkenswertes über diese römische
Provinz in den Schriften der Klassiker fand, trug er eifrigst zusammen
und entwarf ein Bild des politischen und wirtschaftlichen Lebens in
jenem Lande, wie es nach dem damaligen Stande der Forschung und
der Wissenschaft möglich war.
Diesen beiden Männern reihen sich manche andere an, von denen
nur einige wenige genannt seien.
Eine ungemein fleifsige, jetzt noch brauchbare Arbeit ist die
Chronologische Geschichte der Steiermark von Winklern (Graz 1823);
auf gründlicher Forschung beruht die Geschichte der steirischen Otto-
Jcare von Pritz (Linz 1846); nennenswert sind auch die Schriften des
geistvollen, aber exzentrischen Historikers Julius Schneller: Öster-
reichs und Steiermarhs Tatkraft vor dem Vereine mit Ungarn, Böhmen
und unter sich (Graz 18 18), Bundes -Anbeginn von Ungarn, Böhmen,
Österreich, Steiermark von 1526 — 1714 (Graz 18 19) sowie Geschichte von
Österreich und Steiermark (Dresden 1828, 4 Bändchen).
Auch eines historischen Romanes mufe gedacht werden: Die
GaUerinn auf der Riegersburg. Historischer Roman mit Urkunden,
Von einem Steiermärker (Darmstadt 1845 » 3 Teile). Sein Verfasser
ist der bedeutende Orientalist Josef Freiherr von Hammer-Purgstall,
die Heldin des Romans ist die Schlofsherrin der merkwürdigen Felsen-
feste Riegersburg, Elisabeth Katharina Freiin von Galler (gest. 1672);
von besonderem geschichtlichem Interesse sind die Darstellung der
vielen Prozesse, welche sie führte, die Schilderung des Hexen-
unwesens in Feldbach und die zadilreichen mitgeteilten Urkunden und
Akten.
Die Ortsgeschichtsforschung, auf deren Bedeutung in diesen
Blättern (4. Bd., S. 312 — 316)^) hingewiesen wurde, ist in Steiermark
I) Zu. der dort ans Schnürer and Bertele, GedenkbUüter zur Dreikundert-
jahrfeier der Kirche in derRadmer bei Eisenerx in Obersteiermark (Wien 1903) zitierten
SteUe ist za bemerken: Das grobe Gesindel und unartige Volk, das sich 1600 in
Radmer fand, bestand aus wackeren, arbeitsfreadigen Bergknappen evangelischen
Bekenntnisses, and die Regierangs>Kommission, die 30 Masketiere za ihrem Schatze bedarfte,
war eine jener Gegenreformations-Kommissionen, welche Innerösterreich aof Befehl Erz-
herzog Ferdinands darchzogen, am mit Waffengewalt die Rekatholisierang darchzasetzen.
Schnttrer and Bertele folgten offenbar einer anlaateren katholischen Qaelle and ent-
stellten dadarch den historischen Hergang.
— 211 —
schon in der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts nicht ohne Erfolg
gepflegt worden. Einige der damals erschienenen Ortsgeschichten mögen
wenigstens ihrem Titel nach erwähnt werden: Graf, N(ichrichien über
Leoben und die Umgang (Graz 1824); Macher, Histarisch-iGpogrO'
phische Darstellung des berühmien Wallfahrtsortes Maria ZeU (Wien
1830); Göth, Varderhberg in neuester Zeit (Wien 1839); Leithner,
Versuch einer Monographie über die k. k. Kreisstadt Judenburg (Juden-
burg 1840); Hofrichter, Die Privilegien der k. k. landesfOrstUchen
Stadt Badker^Hirg , nebst einer kuregefa/Uen Geschichte und Beschreib
bung dieser Stadi (Radkersburg 1842); Schreiner, Oräig, einnatur-
historisch' statistisch 'topographisches Oemöhlde dieser Stadt und ihrer
Umgebungen (Grätz 1843), ^^ vorzügliches Buch, das heute noch für
jeden, der über was immer die Landeshauptstadt betreffendes forscht
und arbeitet, eine reiche Fundgrube darstellt; Sonntag, Knittdfeld
in Obersteiermark (Graz 1844), Puff, Marburg in Steiermark (Graz
1847); Hofrichter, Luttehberg in üntersteier (Graz 1850).
Am Schluis des Zeitraumes, über den wir hier berichteten, erschien
ein grofses Werk über die Geschichte der Steiermark und erfolgte die
Gründung des innerösterreichischen Geschichtsvereins. Jenes ist
Muchar, Geschichte des Herzogtums Steiermark (Graz 1844— 1867); vier
Teile hat der Verfasser selbst (1844 — 48) herausgegeben, nach seinem
Tode (1849) wurde die Herausgabe der Bände 5 — 8(1850 — 1867) von
Prangner und vom Ausschusse des Historischen Vereins für Steiermark
besoi^. Ist von dem, was Muchar gearbeitet hat, auch heute schon vieles
veraltet und nahezu nicht mehr brauchbar, so enthalten doch besonders
die letzten Bände ein reiches, von Muchar erst gesammeltes Material,
aber auch nur ein solches, und keine Bearbeitung. Das weitschichtige
bis 1558 reichende Werk bildet sonach namentlich für die letzten
Jahrhunderte des Mittelalters eine fast nie versagende Fundgrube selbst
bis in die kleinsten Details der steirischen Geschichte und ist für jeden
Forscher in der Landesgeschichte als Nachschlagebuch unentbehrlich.
Als solches aber ist das Werk erst zu gebrauchen, seitdem der Hi-
storische Verein für Steiermark in einem 9. Bande ein 474 dreispaltige
Seiten umfassendes Alphabetisches Register der in Muchar^s Oesdiichte
der Steiermark, Band I-^VUI vorkommenden Namen von Personen^
Orten uy^ Sachen, bearbeitet von Georg Göth, (Graz 1874), heraus-
gegeben hat.
Bei der Gründung des Geschichtsvereines für Inneröster*
reich war wieder Erzherzog Johann ausschlaggebend. Vier Freunde
der vaterländischen Geschichte, Ludwig Crophius Edler von Kaiser
15
— 212 —
sieg, Abt des Zisterzienserstiftes Rdn, Albert von Muchar, Josef
Wartinger und Karl Gottfried Ritter von Leitner traten im Jahre
1840 in Graz zusammen und berieten eingehend über die Mittel, wie
in Verbindung mit gleichgesinnten Persönlichkeiten in Kärnten und in
Krain die reichen archäologischen und archivalischen Schätze des
Joanneums und ähnlicher Sammlungen in Klagenfurt und Laibach am
besten für die Wissenschaft und für die Förderung der vaterländischen
Altertums- und Geschichtskunde nutzbringend zu verwerten wären.
Sie überreichten dem Erzherzog eine Denkschrift, in der sie die Bitte
aussprachen, er wolle seine Fürsorge auch der Pflege der vaterlän-
dischen Geschichte durch die Gründung eines historischen Vereines
für die durch zahllose Beziehungen innigst verbundenen und historisch
zusammengehörigen Länder Steiermark, Kärnten und Krain unter dem
Namen „.Innerösterreichischer Geschichtsvercin" zuwenden.
Der Erzherzog nahm diese Denkschrift in zuvorkommender Weise
entgegen und stellte sich als Präsident an die Spitze des Vereines.
Die kaiserliche Genehmigung tmd die Sanktion der Statuten erfolgte
am 27. April 1843: die Zentralleitung, bestehend aus Ausschuismit-
gliedern aller drei Länder, hatte ihren Sitz in Graz und jeder Landes-
verein eine selbständige Direktion in der Hauptstadt des betreflenden
Landes. Der Erzherzog selbst erliefe die Aufforderung zum Beitritt,
und nach Jahresfrist betrug die Zahl der Mitglieder bereits 964.
Am 26. Febr. 1845 konstituierte sich der steiermärkische Aus-
schuis des innerösterreichischen Geschichtsvereins, am 3. Dez. 1845
fand in Graz die erste Versammlung der Zentralleitung unter dem
Vorsitze des Erzherzogs statt, der, wenn er in Graz anwesend war,
stets selbst den Sitzungen beiwohnte. Alljährlich wurde eine Ver-
sammlung des historischen Landesvereins für Steiermark abgehalten.
An Schriften veröffentlichte der innerösterreichische Verein nur ein
Heft, aber dieses enthält als Beitrag aus Steiermark Richard Knabls
grundlegende Arbeit über Flavium Solveuse mit zahlreichen Abbil-
düngen von dort gefundenen plastischen und Inschriftsteinen, Gefa(sen,
Geräten, Schmucksachen u. dgl. : die auf dem Leibnitzer Felde süd-
lich von Graz gelegene Kömerstadt hielt man früher für Muroela,
während man Flavium Solvense oder Solva auf das Zollfeld in Kärnten
verlegte.
Nur einmal und zwar zu Graz am 4. April 1848 versammelte
sich der Geschichtsverein für Innerösterreich zu einer allgemeinen
Sitzung. Die dabei gemachten Wahrnehmungen gaben die Veran-
lassung dazu, dafs bei der am 20. März 1849 unter dem Vorsitze des
— 218 —
Erzherzogs stattfindenden Sitzung des steiermärkischen Landesvereins
der Antrag gestellt wurde, den innerösterreichischen Verein freiwillig
in drei voneinander unabhängige Vereine aufzulösen. Die Landes*
vereine von Kärnten und Krain stimmten diesem Beschlüsse zu, so erfolgte
die Trennung des grofsen Vereins, und aus einem der drei bisherigen
Landesvereine entstand der „Historische Verein für Steier-
mark'', der wieder unter dem Präsidium des Erzherzogs Johann am
2. Dezember 1850 seine erste Versammlung hielt.
In der ganzen Periode von 1811—1850 steht der Prinz an der
Spitze der geistigen Bewegung zur Pflege und Förderung der vater-
ländischen Geschichte: 181 1 durch die Errichtung des Joanneums,
des Archivs und der Bibliothek dortselbst, 1850 durch die Gründung
des Historischen Vereins fiir Steiermark, über dessen Wirksamkeit und
Arbeiten später berichtet werden soll.
Mitteilungen
Archive. — Unter den thüringischen Städten hat aufser Erfurt, Mühl-
hausen und Nordhausen wohl keine andere mit Recht die Geschichtsforscher
so beschäftigt wie Saalfeld ^). Im Laufe einer tausendjährigen Geschichte
haben hier Kaiser und Könige, Herzöge und Grafen, Bischöfe und Äbte,
Beamte und Gelehrte gewirkt und Spuren ihrer Tätigkeit in Verwaltung und
Bauten hinterlassen, auch die großen imd kleinen Bewegungen der Volks-
massen, wie die Kriege der Staaten haben oft die Stadt berührt. Und seit
dem Anfange des XVII. Jahrhunderts hat fast jede Generation der Forscher
in dieser Geschichte Arbeit gefunden. Die Namen SUvester Liebe, Kaspar
Sagittarius, Christian Schlegel, Joh. Melch. Lochmann sind in der thüringi-
schen Geschichtsschreibung wolü bekannt Die urkundlichen Grundlagen hat
ihnen hauptsächlich das Stadtarchiv geliefert, soweit es den grofsen Brand
von 151 7 überstanden hatte. Später jedoch, als die meisten Urkunden ihre
unmittelbare praktische Bedeutung verloren, ist das Archiv durch lange Ver-
nachlässigung in einen derartigen Verfall geraten, dafs es bis vor kurzem nur
mit grofsem Zeitverlust und Gefahr für die Gesundheit der Beamten und
Forscher benutzt werden konnte. Zwar hatte die memingische Regierung
seit 1839 wiederholt Ordnung und Verzeichnung der Reposituren anbefohlen«
aber bei den engen Verhältnissen der damaligen kleinen Landstadt waren
diese Arbeiten über eine notdürftige Einteilimg der gangbaren Akten nicht
hinausgekommen. Nur die auf Verfassung und Gerechtsame der Stadt be-
züglichen Urkimden wurden in zehn kleinen Kisten aufbewahrt, die wiederum
in eine Kiste gebracht imd mit kurzen Inhaltsangaben versehen waren. Im
übrigen wurde das Archiv nur als Rumpelkammer für lästige Papiermassen
1) Vgl. diese ZeiUchrift 3. Bd., S. 139—140.
15*
— 214 —
angesehen. Der Dreifsigjährige Krieg, dem man oft alles Unheil zuschiebt,
hat dem Archiv nicht so viel geschadet wie die Gleichgültigkeit der neueren
Zeiten. Erst im Jahre 1899 gelang es dem Ersten Bürgermeister Liebscher,
die Zustimmung des Gemeinderats zu einer um^senden Neuordnung zu er-
langen. Durch Vermittelung des Thüringer Archivtages, in dessen Namen
zunächst Archivrat Mitzschke das Archiv besucht und ein ausführliches Gut-
achten darüber abgegeben hatte, wurde die Arbeit dem Unterzeichneten
übertragen.
Das Archiv ist in zwei starken Gewölben im Rathaus untergebracht, von
denen das eine zu ebener Erde liegt und früher als Folterkammer gedient
haben soll. Durch eine enge steinerne Wendeltreppe gelangt man in das
zweite Gewölbe im ersten Stockwerk. Beide Räume sind durchaus feuer-
sicher und architektonisch merkwürdig. Neben dem oberen liegt ein kleines
Arbeitszimmer, durch das man auch auf die Haupttreppe und so in die Ge-
schäftsräimie im zweiten Stock gelangen kann.
Diese drei Archivräume waren gefüllt mit wüsten Massen von Papier,
Staub und Moder und belebt von zahlreichen Mäusen. Bei dem Fehlen von
Repertorien mufste nun im Notieren eine ganz äufserliche Reihenfolge ge-
macht werden, wie die Akten einem in die Hände kamen: Kriegssachen,
Stiftungen, Stiafsenreinigung, Kleinkinderbewahranstalt , Reichstag — , alles
durcheinander. Das Durchsehen aller dieser Papiere erforderte viel Zeit, ge-
währte aber auch interessante Einblicke. Die gänzliche Formlosigkeit der
Masse liefs dem Ordner völlig freie Hand in der Gestaltung, die aber erst
nach einem halben Jahre beginnen konnte, als alles auf ca. 5000 Zetteln ver-
zeichnet war. Die Zettel wurden in eine sachliche Ordnung gebracht und
dann danach die Akten umgestellt. Dies nahm, durch bauliche Verbesse-
rungen im unteren Gewölbe einigermafsen aufgehalten, ebenfalls viel Zeit in
Anspruch. Fortwährend ging daneben die Arbeit des Buchbinders her, der
recht viel zu tun hatte mit Einheften und Kleben. Auch mufsten viele Stücke,
die von der Feuchtigkeit der Wände und des Fufsbodens gelitten hatten, mit
Zapon behandelt werden. Auch Maurer, Tischler und Schlosser bekamen
Arbeit : ein Fenster wurde erweitert, einige Stufen bequemer gelegt, der untere
Fufsboden zementiert, und im ganzen Archiv die Reposituren von den Wänden
abgerückt und mit eisernen Stangen in freier Stellung befestigt, auch die nur
zum Legen der Akten eingerichteten Fächer durch höhere zum AufeteUen
der Pakete ersetzt. Gegen die Mäuse konnte ein erfolgreicher Vemichtungs-
kampf geführt werden.
Nachdem die Übersicht über den ganzen Bestand gewonnen war, mufste
ein grofser Teil, etwa 800 Nummern, wieder der Registratur zugewiesen
werden. Dadurch wurde die künftige Erhaltung der Ordnung gesichert;
denn die Vermengung von Archiv und Registratur war eme Hauptursache
der eingerissenen Verwirrung gewesen. Ein Normaljahr für die Scheidung
anzunehmen schien nicht rätlich, die Entscheidung wurde in jeder Abteilung
nach besonderen Erwägungen getroffen; manche Stücke von 1880 liegen
schon im Archiv, während auch solche von 1870 noch der Registratur vor-
behalten sind. Im allgemeinen scheint mir für klebe städtische Behörden
ein 2^tTaimi von 33 Jahren die Akten in der Registratur entbehrlich zu
machen. Dem Bestreben der unteren Verwaltungsbeamten, die Papiere mög-
— 215 —
liehst schnell loszuwerden, darf jedoch nicht zu leicht nachgegeben werden.
Etwa IOC Stücke des Archivs konnten zur Vernichtung ausgeschieden werden.
Auf Antrag des Ordners wurden vorher aufser der vorgeschriebenen Ge-
nehmigung des Ministeriums auch noch bei den lokalen Gerichts-, Kirchen-,
Schul- und Verwaltungsbehörden etwaige Bedenken gegen die Vernichtung
durch Umlauf erbeten.
Das ganze Archiv zerfällt nun in drei Abteilungen: Urkunden, Akten
und Bücher.
A. Die Urkunden sind einfach chronologisch geordnet, jede in einer
Hülle von mattroter Pappe, alle in einem grofsen Eichenschrank, der schon
vorhanden war und nur mit Luftlöchern versehen werden mufste. Über jede
Urkunde ist ein Regest angelegt worden, das bis zum Jahre 1600 alle in
der Urkunde vorkonmienden Namen, später nur die wichtigeren enthält. Es
sind im ganzen weit über 700 Nummern von 13 13 bis 1889, darunter 223
aus der Zeit bis 1600. Die wichtigsten sind die städtischen Privilegien von
1493, 1558 usw., die Handwerksinnungen (fast voUständig), die Stifhingen,
unter denen besonders das Testament des wohlverdienten Bürgermeisters
Kelz von 1555 und die Tryllerstiftung von 16 17 historisch, juristisch und
diplomatisch äufserst interessant sind.
B. Die Akten sind sämtlich im oberen Gewölbe aufgestellt, wo auch
der Urkundenschrank steht. Bei der Einteilung konnte ganz selbständig ein
rein sachliches System angewendet werden. Das Provenienzprinzip wurde
nur soweit beachtet, als die Akten der einverleibten Gemeinden eine Ab-
teilung für sich bilden , und sonst auf jedem Stück die Herkunft vermerkt
ist: Akttn des Stadtrats, des Schulamts, der Kircheninspektion, des Justiz-
amts, des Landratsamts usw. Die Unterabteilungen sind im übrigen ledig-
lich nach den verschiedenen Geschäftszweigen der Gemeindeverwaltung an-
gelegt worden. Aus ihrem Umfange läfst sich die bisherige Wichtigkeit der
einzelnen Zweige erkennen. Einige sind noch klein, werden aber mit der
2Mt stärker wachsen als die älteren Abteilungen. Überall ist Raum für
den Zuwachs gelassen. Die Einteilung ist folgende: L Städtische Behörden
und Beamte seit 1533; II. Weichbild und Stadtgericht seit 1483; III. Ein-
verleibte Gemeinden seit 181 7; IV. Städtischer Besitz seit 1539; V. Städtische
Privilegien seit 1541; VI. Bürgerrecht, Privilegien einzelner Personen und
Häuser, Lehnssachen seit 1587; VII. Rechnungswesen, Steuersachen seit
XV. Jahrhundert; VUI. Stiftungen seit XVI. Jahrhundert; IX. Armenwesen
seit 1694; X. Medizinalwesen seit 1558; XI. Feuerpolizei und Löschwesen
seit 1678; XII. Bausachen, Strafsen- und Feldpolizei seit 1524; XIII. Melde-
wesen, Heimat-, Fremden- und Familiensachen seit 1557; XIV. Ordnungs-,
Sicherheits- und Sittenpolizei seit 1562; XV. Landwirtschaft, Handel und
Industrie, allgemeine Gewerbesachen seit 1587; XVI. Handwerk seit Mitte
des XVI. Jahrhunderts; XVII. Arbeiter- und Gesindesachen seit 18 14;
XVIII. Vermischte Polizeisachen seit 1807; XIX. Presse, Literatur, Wissen-
schaft seit 1709; XX. Kirche seit 1406; XXI. Schule seit 1593; XXII. Aus-
wärtige Beziehungen und Verkehr seit 1487; XXIII. Herzogliches Haus und
Landesbehörden seit 1524; XXIV. Reichsangelegenheiten, nationale Feste
seit 1777; XXV. Militaria seit 15 10. Ursprünglich schwebte eine EinteUung
nach den drei grofsen Gruppen der städtischen Verwaltung: Gemeindesachen,
— 216 —
Polizeisachen, öffentliche oder Staatssachen, vor. Doch bald tiberzeugte ich
mich davon, dafs diese zwar den Registraturen der Gemeindevorstände sehr
zu empfehlen, in Archiven aber nicht genau durchführbar ist. Die Reihen-
folge der Abteilungen imd danach die örtliche Verteilung schliefst sich ihr
zwar an (i : I— IX, 2: X— XIX, 3: XX— XXV): aber der Inhalt der ein-
zelnen Abteilungen ist nur selten einer der Gruppen allein zugehörig, da im
Laufe der Zeit sich oft der Charakter der Behörden geändert hat. Die
Reihenfolge der Stücke je einer Abteilung ist im allgemeinen chronologisch
(nach dem Anfangsjahr). Nur unter V, VIII und XVI sind noch kleinere
sachliche Gruppen gebildet. Für den Rechts- und Lokalhistoriker
bieten die Abteilungen I, II, V, VI viel Material; Genealogen werden in
Abteilung VIII sehr viel Stoff finden, da die Stiftungsberechtigten meist zur
Familie der Stifter gehören müssen; Wirtschaftshistorikern gewährt
Abteilung XVI Stoff. Die X. Abteilung enthält manche interessante Stücke
über die Bekämpfung der Pest und die Besetzung des Stadtphysikats.
Kirchen- und Schulakten sind leider nicht sehr ergiebig, doch werden
die letzteren vielfach durch die vom Herzogl. Realgymnasium aufbewahrte
Matrikel des alten Lyzeums ergänzt. Grofse Aktenmassen der Superintendentur
liegen noch ungeordnet in den Schränken des Pfarramtes. Aus Abteilung XXIII
sind besonders die aus der Kanzlei des bekannten Amtmanns Hans von Dolzigk
herrührenden Papiere zu erwähnen, die namentlich bezüglich der Bergwerks-
angelegenheiten des XVI. Jahrhunderts der Bearbeitung eines Fach-
mannes empfohlen seien. Aufserordentlich reichhaltig sind schliefslich die
Kriegsakten, die zur Geschichte den Wehrverfassung, des Dreifsigjährigen,
des Siebenjährigen, der Napoleonischen und auch noch der neueren Kriege
eine zwar schon viel benutzte, aber noch nicht erschöpfte Quelle bieten.
Unter Vorbehalt des Eigentums ist der Aktenabteilung das Archiv des Ritter-
gutes Unterwirbach zugeteilt, das manche Nachrichten über benachbarte
Adelsfamilien enthält.
C. Die Bücher haben im unteren Gewölbe Aufstellung gefunden und
zwar in vier Abteilungen: I. Register und Geschäftsbücher seit 1485 ; II. Rech-
nungen seit 1491; III. Protokolle, Kopialbücher, Sammlungen seit dem
XIV. Jahrhundert; IV. Bücher der einverleibten Gemeinden seit 1540. In
diesen Büchern liegt noch eine Menge Stoff zur Rechts-, Verwaltungs-, Kultur-
imd Familiengeschichte unbehoben. Von allgemeinerem Interesse ist nament-
lich die III. Abteilung, die aufser der alten Stadtrechtsaufzeichnung das sogen.
Salbuch, die Salfeldographia von Silvester Liebe, viele Jahrgänge der Rats-
protokolle usw. enthält.
Für die Akten und die Bücher wurde je ein Band Repertorium
angelegt, und ein alphabetisches Register gibt Auskunft über sämt-
liche Namen und die wichtigsten Sachen aller drei Verzeichnisse.
Über die älteren Bestände des Archivs gewähren auch eine Übersicht
die eben im Erscheinen befindlichen Saalfeldischen Historien von Kaspar
Sagittarius *). Dort sind alle Urkunden bis 15 17 im Regest gegeben,
später nur die wichtigeren als Quellen angeführt. E. Devrient
i) Im Auftrage der Stadt Saalfeld tum ersten Male herausgegeben von Dr. Ernst
Devrieot. Vn u. 395 S. — Pr. 4 Mk., zu bezichen durch die Buchhandlungen von
Niese und Boltze in Saalfeld a. S.
— 217 —
In vieler Beziehung den in Saalfeld herrschenden Verhältnissen ähnlich
waren die eines anderen Stadtarchivs, das im Laufe der Jahre 1902 und
1903 von dem Herausgeber dieser Zeitschrift geordnet und neu aufgestellt
>vorden ist : es ist dies das Archiv der Stadt Grirama an der Mulde. Seit
dem Ende des XVII. Jahrhunderts ist das Archiv mehrmals geordnet worden,
und mehrere ältere Inventare der Bestände liegen vor, aber keins davon
umfafst in der Tat die Gesamtheit der Archivalien, und die Aufstellung
entsprach bisher durchaus nicht der Anordnung der Inventare. Zudem
waren in neuerer Zeit die Archivbestände wiederholt in andere Räume
gebracht worden, so dafs die AufBndung bestimmter Stücke recht erschwert
war. Am gründlichsten hat das Stadtarchiv seit Mitte des XIX. Jahr-
hunderts Lorenz durchforscht, der eine für ihre Zeit ganz vorzügliche
Stadtgeschichte ') verfafst hat, aber manches Aktenstück, das er noch benutzt
hat, ist heute verschollen, während andrerseits nicht unbedeutende Stücke
vorliegen, die er völlig unbenutzt gelassen hat; bei seiner sonstigen Gründ-
lichkeit mufs man daraus schliefsen, dafs ihm diese Archivalien überhaupt
nicht zu Gesicht gekommen sind. Seither war und ist leider auch noch
heute das Archiv zugleich „alte Registratur'^ in die von den Beamten gern
möglichst viel abgeschoben wird: schon jetzt sind beispielsweise die Belege
zu den Stadtrechnungen von 1902 im Archiv untergebracht. Eine wirkliche
Trennung von Archiv und alter Registratur liefs sich aus Raummangel auch
jetzt noch nicht durchführen; es konnte lediglich ein Aktenrepositorium
reserviert werden, auf dem die Zugänge Platz finden, bis sie zusammen,
etwa emmal im Jahre, dem Archive selbst einverleibt werden. So weit es
der Raum gestattet, smd bei allen den Unterabteilungen, die Zuwachs erhalten,
Fächer für die Zugänge freigelassen worden.
Das ganze Archiv zerfällt nunmehr in vier Hauptabteilungen : Urkunden;
Handschriften und Drucke; Karten und Pläne; Akten. Die ersten
drei sind verhältnismäfsig wenig umfangreich und befinden sich sämdich in
einem geräumigen Schranke, der im Arbeitszimmei steht, während die Akten-
abteUtmg in fast 1000 Fächern untergebracht ist: diese verteUen sich auf
zwei Räume, von denen einer auch ein Mittelrepositorium besitzt, und einen
Gang. Die sämtlichen Gelasse liegen im Erdgeschofs, sind ziemlich hell,
und der Fufsboden ist mit Ausnahme des Arbeitszimmers mit Steinfliefsen
belegt. Ein erst neuerdings in die Mauer eingesetzter Ventilator sorgt für
Luftzufuhr. Die Akten sind zu Packeten fest zusammengeschnürt; die fort-
laufenden Reihen der Rechnungen und Belege, die gebunden sind, stehen
dagegen auf Regalen, aber auch hier laufen die Nummern an den Repositorien
in gleicher Weise wie bei den Aktenfächem fort.
Die Urkunden sind getrennt in a) solche verschiedenen Inhalts,
73 Stück 1287 bis 1792, deren ältere im Urkundenbuche der Stadt Grimma
(Leipzig, 1895, T^'^ ^^s Ck)d€x dipUymaticus Saxoniae regiae) abgedruckt
sind, und b) die Ratsbestätigungen, die 1491 bis 17 17 fast vollständig vor-
liegen. Die Handschriften und Drucke gliedern sich in a) solche zur
Stadt- und Gerichtsverfassung (8 Stück, ältestes Stadtbuch 1372 begonnen),
b) Chroniken, c) Archivinventare, d) verschiedenen Inhalts, e) ältere Drucke.
i) Lorenz, Die Stadt Grimma, historisch besehrieben. (Leipzig, 1856— 1871).
— 218 -
Karten und Pläne finden sich im ganzen nur vier Nummern. Die dem
Umfange nach weitaus gröfste und dem Inhalte nach entschieden wertvollste
Abteilimg bilden die Akten, die naturgemäls auch hinsichtlich der Stadtver-
fassung neben den Urkunden und Handschriften viel wichtiges Material enthalten
und unter denen sich auch zahlreiche Urkunden in Abschriften finden. Gemäfs
der in der modernen Verwaltung üblichen Einteilung der Funktionen des Stadt-
rats in solche, welche Staatsangelegenheiten und solche welche Gemeinde-
angelegenheiten betreffen, sind auch die Akten nach diesen Gesichtspunkten
gegliedert; denn die modernen Akten müssen sich ja, wie wir oben
sahen, dem System bequem einfügen. Denmach gliedern sich nun die
I. Staatsangelegenheiten (Fach i — 76) in: i. Landtagsakten, 2. Wahlen
zu verschiedenen Körperschaften, 3. Gesetze und Verordnungen, 4. Besondere
Äufserungen der Landeshoheit, 5. Statistik, 6. Militärwesen, 7. Kreis-
8. Bezirksangelegenheiten, 9. Versicherungswesen. Die U. Gemeinde-
angelegenheiten (Fach 77 — 704) gliedern sich in: i. Verfassung und
Verwaltung der Stadt, 2. Rechte und Privilegien, 3. Der Rat, 4. Die Ge-
meindevertretung, 5. Städtische Beamte und AngesteUte, 6. Einwohnerschaft,
7. Städtischer Besitz an Häusern und Grundstücken, 8. Vermögen und
Schulden der Stadt, 9. Besondere städtische Anstalten und Fonds, 10. Steuer-
wesen, II. Finanzverwaltung. Als selbständige Hauptgruppen ohne weitere
Unterteilung schlieisen sich daran an III. Kirchenwesen (Fach 705 bis
726). IV. Schulangelegenheiten (Fach 727 — 768). V. Gerichts-
wesen (Fach 769 — 784). VI. Polizeiwesen (Fach 785 — 912). VII. Ge-
werbe, Handel, Verkehr (Fach 913 — 955). VIII. Korporationen,
einzelne Personen, besondere Vorfälle (Fach 956 — 961).
Eine eingehendere Charakteristik des Archivinhalts mufs an dieser
Stelle füglich unterbleiben. Wie in den meisten kleineren Städten werden
auch hier die Bestände erst mit dem XVI. Jahrhundert reichhaltiger, imd vor
allem bieten die seit 1505, anfierngs allerdings mit Lücken, später meist in
mehreren Exemplaren vorliegenden Stadtrechnungen eine reiche Fund-
grube. Wichtig und reichhaltig sind aber auch die Akten über die Brau-
gerechtsame der Stadt und ihr Privilegium des Bierschanks sowie über die
Rechte auf den Handel mit Flofsholz. Für die Reformationsgeschichte fällt
auch manches ab, aber die Hauptmasse der Akten, wenn wir auch von
denen des XIX. Jahrhunderts absehen wollten, harrt trotz Lorenz' fleifsiger
Arbeit noch des künftigen Ausbeuters. Immerhin ist es ein bedeutender
Fortschritt, dafs dieses schöne sächsische Stadtarchiv jetzt der Benutztmg
zugänglich gemacht worden ist. Zur Orientierung dient die Systematische
Übersicht über den Inhalt des Fatsarchivs xu Grimma, die dem geschicht-
lichen Forscher bei dem relativ geringen Umfange der letzten Unterabteilungen
genügen wird, aber daneben ist für den praktischen Gebrauch namentlich
der jüngeren Bestände auch noch einAktenrepertorium angelegt worden.
Eingegangene Bficher.
Eid, Ludwig: Die städtischen Sammlungen Rosenheim im Jahre 1902.
14 S. und 6 Tafehi 8".
Gm elin : Hall in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts [= Württembergisch
Franken, Neue Folge VIII (1903), S. 141 — 201].
Herausgeber Dr. Annin Tille in Leipsig .
Dnick und Verlag von Friedrich Andreas Perthes, Akdengesellschaft, Godia.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
nur
Förderung der landesgescbichtlichen Forscbung
V. Band Juni 1904 9. Heft
Wet^disGh^ Bevölkerungsreste im mrest^
liehen Mecklenburg ')
Von
Hans Witte (Schwerin)
Die Frage, wie die einst unser ganzes Land erfüllenden Wenden
so vollständig, fast spurlos und plötzlich, wie es auf den ersten Blick
scheint, aus Mecklenburg verschwinden konnten, hat schon häufig die
Gedanken nicht nur forschender Gelehrter, sondern auch so manches
für unsere geschichtliche Vergangenheit interessierten Laien auf sich
gezogen.
In der kurzen Spanne Zeit von 1160 an, wo Heinrichs des Löwen
Macht die Wenden überwunden und deren Fürst Niklot, aus seiner
Burg Werle bei Schwaan ausfallend, den Tod gefunden hatte, bis etwa
zur zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, also im Laufe von kaum mehr
als hundert Jahren, ist aus einem slawischen Lande ein deutsches ge-
worden, in dem anscheinend nur noch ganz unbedeutende Reste des
altansässigen Wendenvolkes inmitten einer erdrückenden Überzahl ein-
gewanderter Deutscher übrig geblieben waren.
Ein so schneller und gründlicher Wandel der Bevölkerung imd
Sprache, wie er durch diese enge Zeitbegrenzung nicht nur für Mecklen-
burg, sondern in ähnlicher Weise auch für die weiten Gebiete des
ganzen aus slawischer Hand zurückgewonnenen deutschen Nordostens
«rsichtlich ist, forderte eine Erklärung. Und sie ist ihm auch in der
verschiedensten Art geworden.
Der Breslauer Professor C. F. Fabricius ^) konnte sich in seiner
1841 erschienenen Studie über das frühere Slawentum der zu Deutsch-
i) Vortrag, gehalten za Schwerin am 26. April 1904 aaf der 69. GeneralTersamm«
long des Vereins fUr mecklenburgische Geschichte and Altertamskande — Es sind in
Terkttrzter Fassung die beiden einleitenden Kapitel einer in Vorbereitung befindlichen
^öfseren Arbeit über die Wendenreste Mecklenburgs.
2) Die Literatur ist zusammengestellt bei Bachmann, Die landeskundliche Literatur
16
— 220 —
land gehörigen Ostseeländer diesen Umschwung nur erklären, indem
er annahm, die Slawen Ostelbiens hätten nur als herrschende Rasse
über einem „deutsch bleibenden Hauptstamm der Bevölkerung gesessen,
dessen Volkstum die slawischen Herren allmählich gegen* ihr eigenes
eintauschten", ähnlich wie es die Franken, Goten und Langobarden
in Gallien und Italien den eingesessenen Romanen gegenüber taten.
So wurde an Stelle des offensichtlichen Wechsels der Bevölkerung ein
seit der vorgeschichtlichen Zeit unuifterbrochener Bestand einer germa-
nischen Bevölkerungsmasse gesetzt, die als niedere, bäuerliche Schicht
auch noch unter den bis an die Kieler Föhrde und über die Elbe
hinaus vordringenden Slawen fortbestanden haben sollte. Sobald die
nur dünne slawische Herrenschicht vernichtet war, mufete also das Land
mit einem Schlage seinen ursprünglichen, im Grunde niemals ge-
wandelten, sondern nur durch Überlagerung dieser fremden Schicht
vorübergehend niedergehaltenen deutschen Charakter wiedererlangen. —
Das ist keine Erklärung, sondern eine Ableugnung des Bevölkerungs-
wechsels !
Diese sogenannte Urgermanentheorie ist längst widerlegt;
ein näheres Eingehen auf sie ist daher überflüssig.
Im schärfsten Gegensatz zu ihr steht die Meinung derer, die nicht
nur eine rein slawische Bevölkerung bis auf Heinrichs des Löwen
Zeiten annehmen, sondern sie auch noch diese Zeit der Kämpfe über-
dauern lassen und in den heutigen Bewohnern Mecklenburgs imd Ost-
elbiens nichts anderes als Slawen mit deutscher Sprache sehen wollen.
In voller Krafeheit wird diese Ansicht, die ich kurz die Germani-
sationstheorie nennen möchte, heute wohl nur von Laien geteilt,
vor allem in Süddeutschland, wo man gern den vermeintlich lediglich
germanisierten Ostelbiern gegenüber ein angeblich reineres Deutsch-
tum herauskehrt. Wer sich mit der Frage quellenmäCsig oder auch
nur durch Studium der einschlägigen Literatur beschäftigt, dem kann
der starke deutsche Einwandererstrom ja unmöglich entgehen, der sich
seit der zweiten Hälfte des XII. Jahrhunderts in diese Lande ergossen
hat; ebensowenig wie ihm die furchtbare Schwächung des einheimischen
Wendentums in dem voraufgegangenen, von unversöhnlichstem National-
hafe geschürten Vernichtungskampfe verborgen bleiben kann.
Aber wer alles dies erwägt, kann immer noch im Zweifel
bleiben, welches Volkstum zu der in Mecklenburg hiemach er-
üher die Oroßherxogiümer Mecklenburg, (Güstrow 1889), S. 159 ff., worauf ich im
aUgemeinen verweise. Der Aofsatz von Fabricios ist abgedruckt in den Jahrbüchern de&
Vereins für Meckl. Gesch. (Jb.) VL (1841), 1—50.
— 221 —
wachsenen deutschen Bevölkerung das überwiegende Material bei-
gesteuert hat. Und hierin haben noch vor kurzem weitgehende
Meinungsverschiedenheiten bestanden. Ein so vorzüglicher Kenner
unserer gesamten urkundlichen und archivalischen Überlieferung, wie
G. C. F. Lisch es war, hat z. B. der Germanisation einen breiten
Raum beim Erwachsen unserer Landesbevölkerung zugewiesen. In
seinen Familiengeschichten hat er bei jeder Gelegenheit scharf betont,
dais, wie bekanntlich unser Fürstenhaus wendischen Ursprungs ist, so
auch „die eigentlichen alten Adelsgeschlechter Mecklenburgs ... aus
alten wendischen edlen oder Dynastcngeschlechtern** herzuleiten seien *).
Und die Erhaltimg eines so zahlreichen slawischen Adels würde wohl
kaum zu denken sein ohne die Erhaltung einer entsprechenden slawi-
schen Bevölkerungsmasse. Nach Lisch hat noch der Landsyndikus
Ahlers in seinem Aufsatz über das bäuerliche Hufenwesen in Mecklen-
burg die Meinung vertreten, dais bei der Kolonisation „eine starke,
in einzelnen Gegenden (aufserhalb der Grafischaft Schwerin) wohl über-
wiegende wendische Bevölkerung auf dem platten Lande zurückblieb *)**,
die dann sehr bald mit der deutschen verschmolz, nachdem sie durch
Ansetzung zu deutschem Recht zehnt- und zinspflichtig gemacht
worden war.
In der jüngstverflossenen Zeit ist dagegen in der Literatur eine
weiter gehende Richtung fast allein zu Wort gekommen, die dem
Wendentum überhaupt keinen nennenswerten Anteil am Aufbau der
mecklenburgischen Bevölkerung zuerkennen will. Nach Heinrich
Ernst') wurde auch nach der vollendeten Beugung der Slawen unter
die deutschen Waffen ein wahrer Vemichtungskampf gegen sie fort-
geführt: in Massen wurden sie von ihrem angestammten Grund und
Boden vertrieben, den man danach Deutschen zur Besiedelung über-
wies. Ihnen wurde „das deutsche Recht tmd damit die Germani-
sierung versagt" (II, ii). Wo immer deutschrechtliche Formen in
Erscheinung treten, ist daher für Ernst das Vorhandensein einer deut-
schen Bevöikerungsmasse eine ausgemachte Sache ; wo z. B. Urkunden
von der TeUung des Zehnten eines ganzen Landes handeln, steht ihm
i) So in der öeschiehte und Urkunden des Geschlechts Rahn^ (1844), L Band S. 19
nnd in der Urkundltehen Geschichte des Geschlechts v. Oertxeny (1847), ^- '^^^ S* 23.
2) Jb. 51 (1886) S. 67.
3) Heinrich Ernst, Die Kolonisation Mecklenburgs im XU, und Xlll, Jahr-
hundert (Schimnachcrs Beiträge ü, S. 1—130, Rostock 1875). I. — Derselbe, Die
Kolonisation von Ostdeutschland, Übersicht und Literatur. Erste Hälfte (Progr. d. Real-
gymnasiums zu Langenberg 1888). II. — Derselbe, Mecklenburg im XlII. Jahrhundert
(Progr. des Realg3rmnasinms £u Langenberg 1894). HI.
16*
— 222 —
die gänzliche Vertreibung' der Slawen aus demselben (I, 28) fest Elr
hält jeden Ort, der in Hufen liegt und Zehnten entrichtet, für voa
Deutschen besiedelt (I, 55). Slawische Bevölkerungsreste zu vermuten,
scheint ihm nicht zulässig, wo solche „nicht ausdrücklich ge-
nannt sind" [!], und „diese Fälle sind sehr gering an 2^hl" fährt er
fort. „In Mecklenburg sind es das Land Jabel, ein oder mehrere
Slawen im deutschen Dorfe Jassewitz bei Grewismühlen , die Wenden
in Wismar, Rostock und Wendisch -Wiek bei Rostock, die ... 13 15
in Hohenfelde und Stülow und die bei der Gründung von Friedland
genannten ; wahrscheinlich auch einige Dörfer in den Ämtern Wreden-
hagen und Lübz, wo sich die Namen der slawischen Ritter am längsten
hielten, und Kohlhasen -Vilen bei Broda" (I, 57). Angesichts so gering-
fügiger Slawenreste, wie sie nach Emsts Meinung allein der „systema-
tischen Verdrängung" entgangen sind, meint er denn auch, dafs
„der Ausdruck , Germanisierung' für diese Länder nicht mehr gebraucht
werden" (II, 6) sollte.
Wer hat nun recht? Die Germanisations- oder die Ausrottungs-
theorie, wie ich die zuletzt skizzierte zurzeit herrschende Meinung
nennen möchte?
Schon oben hat sich gezeigt, da(s der in ihnen zum Ausdruck
kommende Gegensatz kein diametraler ist. Bei Licht besehen schrumpft
er dahin zusammen, daCs die Germanisationstheorie die Erhaltung be-
trächtlicherer, ja die deutsche Einwanderung wenigstens in bestimmten
Gegenden überwiegender, die Ausrottungstheorie dagegen nur ganz ver-
schwindender slawischer Bevölkerungsreste annimmt. Diese Kluft ist nicht
so weit, das sie die Möglichkeit der Überbrückung von vornherein aus-
schlösse, zumal da die Wahrheit erfahrungsgemäfs ein gewisses Streben
nach der Mitte hat. Von vornherein einer der beiden Meinungen den
Vorzug zu geben, dafür liegt keinerlei Veranlassung vor, da, soweit
ich sehe, bisher ein Beweis von keiner Seite erbracht worden ist.
Wie soll nun aber entschieden werden, welche von beiden Mei-
nungen richtig ist, oder auf welcher mittleren Linie ungefähr der tat-
sächliche Zustand sich mit einiger Sicherheit erkennen läfst? — Dazu
kann kein anderes Mittel führen, als das von Heinrich Ernst kühl ab-
gelehnte Forschen nach dem Vorhandensein slawischer Bevölkerungs-
reste aufser den wenigen, die in unserer lückenhaften urkundlichen
Überlieferung mit dürren Worten als solche gekennzeichnet sind. Ohne
mich hier auf eine Erörterung der Methode einzulassen, wUl ich dies
im folgenden an einem konkreten Falle zeigen, wobei die gestellte
Frage zwar noch nicht in ihrem vollen Umfange beantwortet wird,
j
— 223 —
wohl aber bestimmte Richtung-slinien für eine neue Beurteilung dieser
Dinge gewonnen werden.
*
Am Schlüsse seiner berühmten Slawenchronik berichtet uns Hel-
mold zum Jahre 1171, dafs nach den furchtbaren Verwüstungen,
durch die in den Vemichtungskämpfen der sechziger Jahre unsere
Slawenlande „gänzlich zu einer Einöde" geworden waren, und nach der
darauf erfolgten deutschen Masseneinwanderung das ganze Slawenland
von der Eider an, zwischen dem baltischen Meer und der Elbe, bis
nach Schwerin gleichsam in eine einzige Sachsenkolonie verwandelt
worden sei : omnis enim Slavorum regio indpiens ab Egdora , . , , et
extendüur inier mare BaUhicum et Albiam per longissimos tradus nsque
Zverin .... tota redada est veluti in unam Saxonum coloniam ^).
Diese Stelle ist je nach dem Standpunkt der Forscher verschieden
behandelt worden. Ernst setzt in sie volles Vertrauen; mit ausdrück-
licher Berufung auf sie schreibt er: „ii/i war das Land westlich
vom [Schweriner] See ganz deutsch *)." Der pommersche Forscher
W. von Sommerfeld dagegen findet Helmolds Angabe „nicht ganz
ohne Übertreibung** *). Dafs dieser Satz wenigstens in einzelnen
Punkten einer Berichtigung bedarf, konnte übrigens auch Ernst nicht
verborgen sein, da er ja das Ratzeburger Zehntenregister von 1230*)
kannte. Dieses Zehntenregister umfafst den von der Ostseeküste des
westlichen Mecklenburg bis zur Elbe sich erstreckenden Sprengel
des Bistums Ratzeburg, also ungefähr gerade den westlich des Schweriner
Sees gelegenen Teil Mecklenburgs, der nach Helmold schon im Jahre
1171 eine einzige Sachsenkolonie darstellte, nebst einigen benachbarten
lauenburgischen Gebietsteilen (den Ländern Ratzeburg und Sadelband).
Es zählt die einzelnen Ortschaften dieses Gebietes auf und erwähnt
dabei, wieviel vom Zehnten der Bischof als Lehen ausgetan und wieviel
er für sich behalten hatte. Der Zehnte trat in diesen Gebieten als
christlich-deutsche Abgabe auf; die Slawen zahlten anstatt seiner eine
besondere auf den Haken liegende Abgabe, die sogenannte Biscopnitza.
So kommt es denn, dafe in einigen Orten von keinem Zehnten die
Rede ist. Und dafs in diesen in der Tat noch Slawen gewohnt haben.
i) Mon. Germ. Script. XXI, S. 99.
2) A. a. O. II, S 12.
3) W. von Sommerfeld, Geschichte der Oermanisierung des Herxogtums
Pommern oder Slavien bis xum Ablauf des XJH. Jahrhunderts. (Leipzig, Duncker
nnd Humblot, 1896), S. 136.
4) M. ü. B. I, Nr. 375.
— 224 —
wird durch den im Zehntenregister regelmäisig boig-efügten Zusatz
Sclavi sunt, nuUum beneficium est (oder ähnlich) über jeden Zweifel
erhoben.
Es leuchtet auf den ersten Blick ein, welche aufserordentliche Be-
deutung dieser leider einzigartigen Urkunde für die Geschichte der
Germanisation unseres Landes und besonders auch für die Auffindung-
der bei ims verbliebenen slawischen Bevölkerungsrückstände innewohnt.
Durch sie scheint die Mitteilung Helmolds von der Sachsenkolonie mit
einem Schlage richtig gestellt oder doch beträchtlich eingeschränkt
werden zu können.
Kein Wunder, dafe eine solche Urkunde schon frühzeitig die Auf-
merksamkeit auf sich gezogen hat. Der Revisor beim Engeren Aus-
schufs, Joachim Heinrich Neuendorf f, hat sie 1832 seiner Schrift
über Die Stiftsländer des ehemaligen Bisthums Bateehurg mit zu-
grunde gelegt und durch eine beigegebene, von Hofmarschall D. L
von Oertzen entworfene Karte zu anschaulicher Darstellung gebracht.
Später (1848) hatBolP) sie noch eingehend verwertet. Hinsichtlich
des in der Urkunde selber hervortretenden Tatbestandes kann ich
nuch auch heute noch vollständig an diesen bewährten Forscher an-
lehnen, der wohl als erster die historische Nationalitätsfrage unseres
Landes mit eindringendem Verständnis behandelt und so brauchbare
Ergebnisse gewonnen hat, wie sie sich bei dem damals erst in so un-
zureichendem Mafse zugänglichen Quellenmaterial überhaupt gewinnen
liefsen. Im wesentlichen weiche ich nur durch genauere Ortsangaben
von Bolls Darstellung des Tatbestandes dieser Urkunde ab.
So völlig leer von Slawen, wie es nach Helmolds Darstellung
schon um das Jahr 1171 gewesen sein müfste, war das Land westlich
vom Schweriner See auch im Jahre 1230 noch nicht. Im Norden lassen
sich zwar nur noch versprengte Reste dieses Volkes aus dem
Zehntenregister herausschälen: im Lande Ratzeburg werden unter
125 Ortschaften nur 4 als von Slawen bewohnt angeführt; es sind
Villa Elisabet im Kirchspiel Schlagstorf, vielleicht das heutige
Neuhof am Ostufer des Ratzeburger Sees auf Strelitzer Gebiet, sowie
Schiphorst (jScipÄors^) westl. Ratzeburg, Klein-Berkentin (Scfown-
cum ParJcetin) nordwestl. Ratzeburg und Wendisch-Pogeez (Sclavi^
cum Pogatse) nördl. Ratzeburg, dem eben erwähnten Neuhof gegen-
über; die letzten drei liegen auf Lauenburger und Lübecker Gebiet.
Im Lande Wittenburg bezeichnet das Zehntenregister unter
93 Ortschaften ebenfalls nur 4 als von Slawen bewohnt: nämlich Viez
I) Jb. Xm (1848), S. 57 flf.; hier kommt besonders S. 68 f. in Betracht.
— 226 —
(Vis) nordöstl. Hagenow im späteren Amte Bakendorf, Gör slow
(Qoreelawe) südwestl. Hagenow, S etzin (Getsin) etwas weiter nördlich
gelegen und ein jetzt nicht mehr vorhandenes Scarbenowe^ das
gleich den beiden vorgenannten Orten zum Kirchspiel Pritzier ge-
hörte.
Das Land Gadebusch wie auch der zum Ratzeburger Sprengel
gehörige nordwestliche Teil des Landes Schwerin (8 Orte) weisen
keine einzige von Slawen bewohnte Ortschaft mehr auf, das Land
Dassow (Darisawe) dagegen unter 29 Ortschaften 3 mit slawischen
Bewohnern: Pötenitz (Wotenie) am Dassower Binnensee östlich vom
Priwall, femer das nicht mehr vorhandene unmittelbar benachbarte
Wendisch - Harkensee (Erkense Sdavicum), aus dem vielleicht
Rosenhagen oder Barendorf hervorgegangen ist ^) , endlich einen im
Kirchspiel Mummendorf im Anschlufs an Roggenstorf (viUa Beintoardi)
ohne Namenangabe genannten Ort: in eisdem agris est sdavica viUa;
ntdlum heneficium est.
Etwas dichter erscheint die slawische Bevölkerung noch im Lande
Bresen, das sich etwa von Grevesmühlen bis nach Wismar er-
streckte. Unter 74 genannten Ortschaften sind dort 12 von Slawen
bewohnt, nämlich im Kirchspiel Hohenkirchen ein nicht mehr genauer
festzustellender Ort Marmotse, im Kirchspiel Proseken Wolters-
dorf (ViUa WaÜeri) an das sich Barnekow (Bamekowe) und Klein-
Krankow (Sclavicum Crankowe) vom Kirchspiel Gresse, femer viHa
Mauricii, vielleicht das heutige Schulenbrook , Klüssendorf (viUa
CUtseJj Schar fstorf (viÜa Zscarhue) und Harmshagen (viUa
Hermanni) anschliefsen, zwei in sich ziemlich zusammenhängende sla-
wische Grappen bildend, deren gröfeere sich an den Burgwall Mecklen-
burg anlehnt. Dazu kommen im Kirchspiel Grevesmühlen noch die
Slawenorte Gostorf (villa Gozwini), Warnow (LuUehen Wamawe),
sowie zwei jetzt nicht mehr genau festzustellende Orte , Villa (7on-
radi und Vulniistorp.
Das benachbarte Land Klütz erscheint dann wieder völlig frei
von Ortschaften der Slawen, die sich dagegen im Südwesten unseres
Landes, dort, wo die Grafschaft Dannenberg mit den Landschaften Dar-
zing, Jabel und Weningen über die Elbe hinübergriff, noch in einer
dichten zusammenhängenden Masse erhalten haben. Schon im
ausgehenden XII. Jahrhundert*) hatte Bischof Isfried von Ratzeburg
mit dem Grafen Heinrich von Dannenberg einen Zehntenvertrag über
i) M. U. B. rv, Ortsregister S. 22 unter Erkense Sclavicum
2) [1190^1195] M. U. B. I, Nr. 150.
— 226 —
die Lande Jabel (inter Zudam ei Waierotve) undWeningen (inier
WcUerawe d AHnam et Eldenam) geschlossen in der Art, dafe, solang-e
Weningen von Slawen bewohnt bleiben würde (quamdiu Sclavi illatn
terram incolerent), der Bischof dort die Biscopnitm haben sollte
(super omnes Sclavos suo sdavico iure gauderet); wenn aber dort
deutsche Bauern angesiedelt sein und Zehnten leisten würden, so sollte
der Graf den Zehnten erhalten. Der Graf verpflichtete sich femer, das
Land Jabel binnen zehn Jahren zehntpflichtig zu machen, worauf der
Zehnte zu gleichen Teilen unter beide Vertragschliefeende geteilt
werden sollte. Es war wohl vor allem die Dürftigkeit dieses unfrucht-
baren Landstriches, die der Heranziehung deutscher Bauern und damit
der Erfüllung des letzten Teiles dieses Vertrages ein unüberwindliches
Hindernis entgegenstellte. Im Jahre 1230 wenigstens war die beschlossene
Besiedelung des Landes Jabel mit deutschen Bauern noch nicht einmal
begonnen ; das Ratzeburger Zehntenregister läfet den vorerwähnten Ver-
trag noch deutlich als unerfüllt erscheinen und zeigt uns dies Land
noch eingenommen von einer slawischen Bewohnerschaft (medio vero
tempore Sclavis ibidem existentibus).
Vom Lande Weningen heifst es im Zehntenregister nur, dafe
die Grafen den Zehnten, abgesehen von wenigen bischöflichen Gütern,
haben sollen (häbdmnt). Die Stelle ist verschieden erklärt worden:
Neuendorff ist der Ansicht, dafs wie Jabel so auch Weningen im
Jahre 1230 „noch fast ganz von Wenden bewohnt** wurde (S. 66).
Ernst*) dagegen hält das Land Weningen schon für vollständig-
kolonisiert, d. h. unter Vertreibung der Wenden mit Deutschen be-
siedelt. Der Text des Zehntenregisters, das im ganzen Lande Weningen
erst ein einziges zehntpflichtiges Dorf Malus ( Villa Mdzog) und einige
wenige bischöfliche Besitzungen (Maik, eine Mühle und Bresegard) er-
wähnt, scheint mir erst recht bescheidene Anfänge einer deutschen
Kolonisationstätigkeit erkennen zu lassen. Die Entscheidung *) dieser
Frage dürfen wir von den später heranzuziehenden Materialien er-
warten.
Vom Lande Darzing, dem späteren hannoverschen Amte Neu-
haus, sagt das Zehntenregister wieder ausdrücklich, da(s dort noch
Slawen wohnten ; nur zwei Grundbesitzer tragen deutsche Namen, Rabodo
und Gerung. So gewannen die Slawen des Landes Jabel durch das
Mittelglied des Landes Darzing einen unmittelbaren Zusammenhang mit
i) Ernst a. a. O. I, S. 27 f.
2) Sie wird in meiner zu erwartenden gröfseren Arbeit erfolgen und zwar, wie ich
schon jetzt sagen kann, zugunsten der Nenendorfiischen Auffassung.
j
— 227 —
der kompakten Slawenmasse des hannoverschen Wendlandes, mit der
zusammen sie demnach eine einheitliche, ziemlich ausgedehnte Sprach-
insel darstellten. Neben der Dürftigkeit der Jabeler Heide ist es wohl
hauptsächlich dem durch diese Zugehörigkeit zu einer noch ununter-
brochenen gröiseren Slawenmasse erlangten Rückhalt zuzuschreiben,
dais die Slawen des Landes Jabel sich noch Jahrhunderte über die
2^it des Ratzeburger Zehntenregisters hinaus erhalten konnten.
Was dies Register über das nach Westen zu angrenzende Land
Boizenburg mitteilt, ist leider sehr verstümmelt. Angaben über
dort etwa noch vorhandene Slawendörfer finden sich nicht. Ernst be-
trachtet dies Land „als schon zu Ende des XII. Jahrhunderts völlig
kolonisiert'* ^). In dem noch weiter westlich in Lauenburg gelegenen
Lande Sadelband dagegen werden noch slawische Reste erwähnt,
und zwar ausschlie&lich im Kirchspiel Siebeneichen. Dort erscheinen
die sclavice viUe: Lelecawe, Wankelowe, EUnhorst, Cemerstorp, Qra-
howe, Chrave, SdavioAm Pampowe.
So lä&t |das Ratzeburger Zehntenregister immerhin manche von
Slawen bewohnte Ortschaften erkennen, die, meist zerstreut oder in
lockeren Gruppen gelagert, sich nur im südwestlichen Winkel un-
• seres Landes zu einer zusammenhängenden, noch ziemlich unver-
mischten Masse zusammenballen.
Diesen Orten, die ausdrücklich als slawisch bezeichnet sind, steht
eine erdrückende Überzahl solcher gegenüber, bei denen ein Zusatz
über slawische Bewohnerschaft fehlt. Aus diesem Tatbestande haben
schon Neuendorff und Boll den Schlufs gezogen, dafe diese
überwiegende Masse von Orten, die sich aufserdem noch durch die
Hufeneinteilung und Zehntpflicht von der Minderheit abheben,
damals schon von einer deutschen Bevölkerung eingenommen war.
Auch die Dörfer der Mehrheit, die durch ein vorgesetztes Slavicum
von gleichnamigen Orten unterschieden waren, z. B. Sdavicum Karlowe,
Sei Turowe, Sd. Tsachere, Sei Sähorp, Sei Sakkeran, Sd. Sirikes-
velde, Sd. Sarawe, Sei NicfUharp, Sei Nesowe, Sei BrtUsekowe und
manche andere im Zehntenregister genannte, wurden ausdrücklich in
diesen Schlufe einbezogen; da sie „als zehntpflichtig aufjgeführt werden,
so müssen auch sie bereits in den Besitz der deutschen Anbauer über-
gegangen sein. Den Beinamen „slawisch" hatten diese Dorfschaften
behalten, weil sich beim Beginn der deutschen Einwanderung die Slawen,
ehe sie gänzlich den Deutschen weichen mufsten, in diese Ortschaften
I) A. a. O. I, S. 65.
— 228 —
zurückgezogen hatten, die zur Unterscheidung von dem g-leich-
namigen deutschen Dorfe diesen Beinamen auch noch behielten, nach-
dem sie längst von den Slawen gänzlich geräumt waren** *). Dieser
Auffassung Bolls hat sich Ernst vollinhaltlich angeschlossen *) , und
gewifs ist der letzte Satz in seiner allgemeinen Fassung auch richtig.
Ob er aber schon für das Jahr 1230 mit zwingender Notwendigkeit
erschlossen werden mufe, darüber wird sich im weiteren Fortgang dieser
Untersuchung ein Urteil finden lassen. Jedenfalls springt in die
Augen, dafs schon zur Zeit des Zehntenregisters die Ortsnamen für
die Bestimmung der damaligen Nationalität der Ortsbevölkerung
völlig versagen : sicher war damals wenigstens im westlichen Mecklen-
burg wohl schon die grofse Mehrzahl der Orte mit slawischen Namen
von Deutschen bewohnt, und unter den als von Slawen bewohnt be-
zeugten Ortschaften fuhren manche reindeutsche Namen wie Sciphorä,
Vulntistorp, Elmhorst, denen die latinisierten, mit Personennamen und
viUa gebildeten Formen entschieden auch zuziu-echnen sind.
Bisher ist das Ratzeburger Zehntenregister nur aus sich selbst
erklärt worden. Das hatte auch eine gewisse Berechtigung, solange
unser urkundliches Material einer allgemeineren Benutzung erst in sehr
unvollkommener und lückenhafter Weise zugänglich gemacht war. Seit-
dem aber das Mecklenburgische Urkundenbuch auf mehr als zwanzig
stattliche Bände angewachsen ist, läfst sich die Pflicht, für eine so wich-
tige Urkunde nach weiteren beleuchtenden Tatsachen zu suchen, nicht
länger mehr aufschieben. Und es findet sich auch mancherlei in
unserem Urkundenwerk, wodurch das für sich allein so klar und un-
zweideutig erscheinende Zehntenregister in eine überraschende Beleuch-
tung gesetzt wird.
InGägelow westlich von Wismar wird im Jahre 1281 ein Ämokhis
Sclavus^) genannt: ein Slawe mit Namen Arnold*). Ob damals dort
noch mehr Slawen waren, lässt sich nicht mit Sicherheit entscheiden,
da uns nur dieser einzige Personenname überliefert ist. Es liegt
aber durchaus im Bereich der Möglichkeit, da Gägelow in unmittel-
barer Nähe der uns aus dem Ratzeburger Zehntenregister bekannt ge-
wordenen Gruppe von Slawenorten bei Wismar gelegen ist, wo sich
noch weitere und deutlichere Spuren slawischer Bevölkerungsreste finden
i) BoU im Jb. XUI, S. 68.
2) A. a. O. I, S. 27.
3) M. ü. B. m, Nr. 1575.
4) Deutsche Namen sind bei Slawen damals keine Seltenheit mehr.
— 229 —
werden. In dem nur wenig westlicher gelegenen Jassewitz nennt
eine zwischen 1260 und 1272 anzusetzende Urkunde ^) neben den Bauern
Johannes, Gerardus, Rembertus und Wenemarus auch einen Albertus
Slavus «).
Die gleiche Urkunde erwähnt in Upahl bei Grevesraühlen unter
mehreren Einwohnern einen Träger des unzweifelhaft slawischen Namens
Scrahbek. In Weitendorf bei Proseken erscheint 1452*) unter drei
genannten Einwohnern einer mit dem slawischen Zunamen Toysan.
In Rankendorf bei Dassow wird 1368*) genannt eine curia . . . .
qtiatn ccluü Prystaf, also ebenfalls der Träger eines entschieden
slawischen Namens.
Abgesehen von Upahl und Rankendorf kommen alle diese Orte im
Ratzeburger Zehntenregister vor; aber ohne jede Hindeutung auf sla-
wische Einwohnerschaft. Nun, vielleicht handelte es sich in ihnen nur um
kleinere slawische Minderheiten, deren Ausfallen einen Zweifel an der
allgemeinen Zuverlässigkeit des Zehntenregisters noch nicht rechtfertigen
würde. Aber es lassen sich noch weitere und schwerer wiegende
Fälle dieser Art nachweisen.
Eine Urkunde aus dem Jahre 1277^) bringt uns zugleich für
mehrere Ortschaften schätzbares Material: ein Hince Tessiken filius
aus Käselow (Coselowe) südwestlich von Wismar war wegen einer
Ausschreitung gefänglich eingezogen worden. Bei seiner Entlassung
schwuren er und die Seinen dem Rat von Wismar Urfehde, und zwar
aus Käselow aufser ihm seine Brüder Tessike d Mertin fratreSy femer
Otto patruus, noch ein zweiter Hince Tessiken filius, Dargag und
Hince Volseken fiUus; aus Büttlingen (BuÜingin) südlich von Greves-
mühlen : der Schulze mit Namen Eadazce, Hinricus Xander filius und
Ciren; aus Mall entin nordwestlich von Grevesmühlen einer mit Namen
Tribus; endlich aus Plüschow südöstlich von Grevesmühlen ein Ber-
nardus und aus HoÜorpe (wohl Holdorf nordwestlich von Gadebusch)
Oerhardus et Radolf. Unter den Namen aus Käselow fallen die sla-
wischen Formen (Tessike, Dargaa, vielleicht auch Volseke) auf, die
mit deutschen Vornamen (Hince, Otto) eigenartig verbunden sind.
I) M. U. B. IV, Nr. 2677.
3) übrigens kommen Zunamen bei den in dieser Urkunde genannten vielen Bauern
erst aosnabmsweise vor. Das obigen in der Urkunde zerstreuten Namen dort zugefügte
de Jaxtervix (lauch Jaxtervix) ist kein Zuname, sondern zeigt lediglich den Wohnort an.
3) Geh. u. Hauptarchiv zu Schwerin: Schuldverschreibungen (Urkk.) Fase. 6 Nr. 143.
4) M. U. B. XVI, Nr. 9826.
5) Ebendort II, Nr. 1425.
— 230 —
Das deutet schon sehr bestimmt auf slawische Nationalität der Träg^er,
die aber aufserdem noch ausdrücklich dadurch bezeugt wird, dafis in
der gleichen Urkunde Benedikt von Bamekow von Hince Tessiken
filit4S als von stu> Slavo spricht, eine Bezeichnung, die ja von selber
auf dessen zumal slawische Namen führende Verwandten mit zu be-
ziehen ist. Deutsche Vornamen waren, wie schon die Beispiele aus
Gägelow und Jassewitz zeigten, bei wendischen Bauern keine Selten-
heit mehr; zur Bildung von Familiennamen patronymischer Art zeigen
sich hier erst schwache Ansätze. Unter einem allein mit deutschem
VornamenbenanntenBauern kann also zujenerZeitsehr wohl
ein Slawe verborgen sein. Und wenn schon der Vater eines solchen
einen deutschen Vornamen führte, so konnte der wendische Sohn, zumal
in einer Gegend mit stark überwiegender deutscher Bevölkerung, leicht
zu einem deutschen patronymischen Familiennamen kommen. Die wen-
dischen Personennamen zeigen daher nur das unbedingt sichere Mini-
mum der wendischen Bevölkerung eines Ortes an; darüber hinaus
können sehr wohl unter den Einwohnern mit deutschen Namen noch
Wenden verborgen sein. Darum müssen auch die vereinzelt vor-
kommenden slawischen Personennamen überall gesammelt werden, weU
sie vielleicht nur der deutlich erkennbare Kern einer in Wirklichkeit
am Orte verbreiteteren wendischen Bevölkerung sind.
Aus diesen Gründen ist es auch nicht ausgeschlossen, dafe die
drei in Plüschow und Holdorf genannten deutschnamigen Bauern
Wenden waren ; um so weniger, als auch sie jedenfalls Verwandte des
als Slawen nachgewiesenen Hince Tessiken waren. Ich will aber darauf
kein Gewicht legen, sondern mich streng auf wirklich beweiskräftige
Anzeichen slawischer Bevölkerung beschränken. Solche liegen au&er
für Käselow noch für Büttlingen wie für Mallentin in den oben mit-
geteilten slawischen Personennamen.
Das Ergebnis der Urkunde ist also, dafs in Käselow sieben er-
wachsene männliche Personen genannt sind, die ausnahmslos Slawen
waren. Da Käselow nach dem Ratzeburger Zehntenregister (S. 373) nur
sechs Hufen hatte, ist hierdurch für einen sehr erhebUchen Teil der
Ortsbevölkerung, wenn nicht für die Gesamtheit, slawische Nationalität
erwiesen. Ein Gleiches ist wohl schon wegen des slawischen Schulzen
(Badazce) für Büttlingen anzunehmen. Ob und wie stark aber in
Mallentin aufeer dem allein genannten slawischen Bauern (Tribus) das
Slawentum noch vertreten war, darüber läfst sich natürlich keine Ver-
mutung aufstellen : vielleicht ist Mallentin die sclavica viUa, die das Ratze-
burger Register ohne Namensnennung im Kirchspiel Mummendorf
— 231 —
hinter Roggensdorf anführt (S. 372) '), da der Name Mallentin in diesem
Register nicht vorkommt und die Lage des Ortes dem nicht entgegen-
zustehen scheint
Unbedeutende Spuren slawischer Reste zeigen dann noch Wen-
dorf bei Wismar, wo in einer zu 1357 — ^367 anzusetzenden Urkunde *)
unter sieben Einwohnern ein Henneke Janekens erscheint. Janekens ist
ein patronymischer Familienname nach deutscher Art vom slawischen
Janeke gebildet In Rolofshagen nördlich von Grevesmühlen wird
noch im Jahre 1356') ein Wendfeld erwähnt, das aus zwei Hufen
und fünf Ackers tücken bestand. In Sievershagen südlich der ge-
nannten Stadt finden sich 1346^) unter acht Einwohnernamen drei auf
Slawen deutende: Johannes Janeke, Hinricus Sümse und Thidericus
Went, Im benachbarten Pieverstorf wird im 'Jahre 1326^) ein
Radeco Slavi genannt In Pöterow®) bei Gadebusch .erscheint im
gleichen Jahre unter sieben Bauemnamen einer in der Form Tri-
bechd. Das östlich Boizenburg gelegene Düssin zeigt 13 19') unter
zwölf namentlich genannten Einwohnern zwei mit slawischen Namen,
G-us und Tribue, abgesehen von Formen wie Glasin und Pinnaw.
Alle diese Orte liegen ausnahmslos in dem Teile des Landes,
der im Ratzeburger Zehntenregister von 1230 behandelt ist Von
ihnen sind Büttlingen, Wendorf, Sievershagen und Pieverstorf im Zehnten-
register nicht erwähnt, ebensowenig Mallentin, wenn es nicht, wie viel-
leicht angenommen werden darf, mit dem oben näher bezeichneten
namenlosen Wendenort gleichzusetzen ist. In diesem Falle wäre Mallentin
der einzige Ort, in dem bisher der urkundliche Befund mit dem des
Zehntenregisters übereinstimmen würde. Alle übrigen hat man nach
der bisherigen Auffassung des Zehntenregisters, da sie dort in Hufen
liegend und zehntpflichtig erscheinen und nichts über slawische Be-
völkerung gesagt ist, für deutsch halten müssen. Sogar eine so aus-
gesprochen slawische Bevölkerung, wie sie nach unserem urkundlichen
Befunde noch fast ein halbes Jahrhundert später in Käselow bestand,
läfst sich auf Grund des Zehntenregisters gar nicht vermuten.
Aber es finden sich noch weit gröfeere Abweichungen zwischen
den Urkunden und dem Zehntenregister oder vielmehr dessen bis-
1) Vgl. oben S. 225.
2) M. U. B. XIV, Nr. 8427.
3) M. U. B. XIV, Nr. 8240.
4) M. U. B. X, Nr. 6658.
5) Ebd. VII, Nr. 4771.
6) Ebd. Nr. 4775.
7) Ebd. VI, Nr. 4040 S. 409.
— 232 —
hcriger Auffassung. Wölzow südöstlich von Wittenburg wird noch
in einer dem Jahre 1333 angehörenden oder nur wenig früheren Ur-
kunde ein slawisches Dorf genannt: viUam totam slavicaiem WeUsow
didam '). Dies slavicalis lässt sich nicht auffassen als Bestandteil
des Ortsnamens: Wendisch-W. im Gegensatz zu Deutsch-W. Dann
müfete es im Text heifeen slavicale anstatt slavicaiem; dann müfste
es ferner zwei Orte des Namens Wölzow geben. Es gibt aber nur
dies eine Wölzow, das für das Jahr 1333 urkundlich als slawisch be-
zeugt ist, dasselbe, das auch im Ratzeburger Zehntenregister (S. 367)
als zehntpflichtig, in Hufen liegend und ohne jeden Hinweis auf sla-
wische Bevölkerung auftritt.
Genau ebenso verhält es sich mit dem westlich von Wittenburg
gelegenen Pamprin. Dies wird im Jahre 1326 ein slawisches Dorf
genannt: totam villam Pamper in slavicaiem *). Im Zehntenregister
(S. 366) erschemt auch dieses als zehntpflichtig, aber ohne Angabe
der Hufenzahl und ohne ausdrücklichen Hinweis auf slawische Bevöl-
kerung.- Nur dafs dort die Hälfte des Zehnten an den Träger eines
slawischen Namens, Blisemer verliehen ist, gibt zu denken.
Auch im Lande Boizenburg, wo das Zehntenregister kein A^eichen
slawischer Bevölkerung mehr erkennen liefe, wird von Karren tin
(Carpentin) im Jahre 1244 als von einem slawischen Dorfe berichtet:
in slavicali villa ^).
Diese Beispiele genügen vollständig, um Klarheit über das Ratze-
burger Zehntenregister in seiner Eigenschaft als Quelle für die Natio-
nalitätsverhältnisse der damaligen Zeit zu gewinnen. Das war von
vornherein anzunehmen tmd läfet sich auch jetzt nicht anfechten, dafe
die Orte, die in diesem Register ausdrücklich als von Slawen bewohnt
bezeichnet werden, dies auch wirklich waren. Aber der daraus ge-
zogene und bisher für richtig gehaltene Schlufs, dafe alle übrigen
Orte, bei denen ein solcher Vermerk über slawische Bewohnerschaft
fehlt, für von Deutschen bevölkert angesehen werden müfeten, kann
jetzt nicht mehr aufrecht erhalten werden, nachdem sich vier der nach
dem Register bisher als deutsch betrachteten Orte (Käselow, Wölzow, Pam-
prin und Karrentin) als slawisch erwiesen haben, um ganz zu schweigen
von den viel zahlreicheren Orten, die im Register nicht genannt waren
oder bei denen sich zum wenigsten slawische Minderheiten erkennen
Uefeen.
1) M. U. B. Vm, Nr. 5435.
2) M. U. B. VII, Nr. 4708.
3) Ebd. X, Nr. 7169.
— 233 —
Selbstverständlich darf man nun auch die mit Slavkum zusammen-
gesetzten Ortschaften. des Registers, soweit ihnen der Vermerk über
slawische Bevölkerung fehlt, nicht mehr ohne weiteres als schon dem
Deutschtum anheimgefallen betrachten. MögUch ist es natürlich ,^
dafs auch von dieser Ortskategorie schon manche deutsch geworden
waren; aber das Ratzeburger Zehntenregister bietet keine Handhabe
mehr, dies zu beweisen.
Die Slawenbevölkerung, die ich hiermit aufserhalb der ausdrück-
lich als von Slawen bewohnt bezeichneten Orte des Ratzeburger Zehnten-
registers nachgewiesen habe, lebte in Orten, die in Hufen lagen und
zehntpflichtig waren, d. h. unter deutschem Recht. Man kann also-
jetzt nicht mehr, wie Ernst es noch vielfach getan hat, aus dem blofsea
Vorhandensein der Hufeneinteilung und der Zehntpflicht auf deutsche
Besiedelung schliefeen. Die Verleihung deutschen Rechts an Slawea
war auch in Mecklenburg nicht etwas so ausnahmsweises und auf die
eine oder zwei urkundlichen Erwähnungen beschränkt, wie dieser
Forscher meinte. So sagt z. B. auch die soeben angezogene Urkunde
über Karrentin ausdrücklich, dafe in diesem slawischen Dorfe ge-
zehntet wurde, und aufser den oben angeführten Orten finden wir
noch im Jahre 1253 in nächster Nähe von Zarren tin ein Slawendorf
urkundlich erwähnt (vülam slavicam . . . WoJcendorpe nuncupcUam)^
das nach Hufen eingeteUt und zehntpflichtig war *). Im Zehntenregister
fehlt dieser Ort.
Die Einführung der Zehntpflicht wie auch die Einteilung des
Dorfackers in Hufen konnte mithin auch ohne Vertreibung der alt-
eingesessenen slawischen Bewohnerschaft geschehen. Und wenn auch die
Tatsache solcher Vertreibungen selbstverständlich nicht bestritten wer-
den kann und soll, so kann dies Vorgehen doch schon nach dem oben
Mitgeteilten nicht so radikal und bis zur völligen Ausmerzung der
Slawen durchgeführt worden sein, wie unsere neueren Forscher es an-
nehmen. So stark war eben der deutsche Zuzug doch nicht, dafs
man in so kurzer Zeit mit dem Wendentum hätte völlig aufräumen
können. Und schliefslich war ja der Ertrag der Dörfer für Landes-
herrschaft, Geistlichkeit und Adel derselbe, mochten sie von deutschen
Einwanderern oder mit deutschem Recht ausgestatteten Slawen besetzt
sein. Dieser Gesichtspunkt des materiellen Nutzens, durch den in der
ersten Zeit ohne Frage die Slawenaustreibungen sehr gefördert wurden,
ist später, nachdem durch das Nebeneinanderwohnen der nationale Gegen-
satz an Schärfe verloren hatte, der Erhaltung der übrig gebliebenen
I) M. u. B. n, Nr. 727.
— 234 —
Wendenreste zugute gekommen , zumal seitdem nach Aufhören der
Massenemwanderung deutscher Ersatz doch wohl in dem notwendig'en
Maise nicht mehr zu erlangen war.
Ganz vorüber scheint die Zeit der Slawenaustreibungen aber auch
im Jahre 1230 noch nicht gewesen zu sein. Das zeigt der im Zehnten-
register beim slawischen Marmotse vorhandene Zusatz: dum Teutonid
intraverinty Wartus II hahebit usw. (S. 373). Häufig wird aber die
Austreibung damals nicht mehr gewesen sein, da ja schon in manchen
Orten Slawen zu deutschem Recht salsen und damit der Weg gehm-
den war, auf dem unter Erhaltung der wendischen Einwohnerschaft der
Ertrag ihrer Dörfer mit dem der Deutschen in Einklang gebracht wer-
den konnte.
Das allgemeine Ergebnis dieser Untersuchung ist also ein nega-
tives : die Auffassung, daCs das Zehntenregister über die damalige Natio-
nalität aller in ihm aufgezählten Orte des Ratzeburger Sprengeis, teils
«ie ausdrücklich als slawisch bezeichnend, teils stillschweigend und nur
die Einteilung in Hufen und die Zehntpflicht erwähnend, Auskunft er-
teile, läfet sich jetzt nicht mehr aufrecht erhalten. An der Natio-
nalität hatte das Register nur insoweit ein Interesse, als durch sie
irgendwo der Zehnte in Fortfall kam. ,Das war in den Slawenorten der
Fall, in denen die alte Bevölkerung noch nach ihrem nationalen Recht
lebte; diese smd im Zehntenregister auch sämtlich als von Slawen be-
wohnt ausdrücklich gekennzeichnet. Aber ob in den übrigen, also
zehntpflichtigen Orten diese Abgabe von Deutschen oder von zu deut-
schem Recht angesiedelten Slawen geleistet wurde, das hatte für eine
Aufzeichnung, die lediglich dem materiellen Interesse des Bistums
diente, keine Bedeutung.
Wenn somit die für den westlichen Teil unseres Landes schein-
bar schon gelöste Nationalitätenfrage von neuem anklopft und Lösung
heischt, so hat uns ja das Zchntenregister selber, das trotz allem immer
noch die bei weitem wichtigste Urkunde für unsere einstmaligen Natio-
nalitätsverhältnisse bleibt, schon so manchen festen Anhaltspunkt, der zur
Beantwortung dienen kann, gespendet; andere habe ich aus unserem
Urkundenschatze hinzugefügt. Aber die sich jetzt aufdrängende Frage :
Welche von den nach dem Ratzeburger Zehntenregister
bisher für deutsch gehaltenen Orte waren dies wirklich,
welche waren wendisch? ist damit noch nicht erschöpfend beant-
wortet. Das ist mit unserem immerhin lückenhaften Urkundenvorrat über-
haupt nicht zu erreichen. Wir stehen jetzt erst am Anfang der aus
der Kritik des Zehntenregisters neu erwachsenden Aufgabe : die Frage
— 236 —
nach dea Resten des Wendenvolks, besonders den durch das deutsche
Recht verborgenen, ist hiermit eigentlich erst aufgerollt Sie kann
aber jetzt — und das ist der eigentliche Fortschritt gegenüber dem
bisherigen Zustand — mit zuversichtlicher Hoffnung auf einen guten
Erfolg in Angriff genommen werden. Und zu ihrer Lösung kann
jeder Kenner unseres Volkes — auch ohne besondere wissenschaft-
liche Vorbildung — beitragen , indem er z. B. dahin wirkt , dafe die
hier und dort in unserer Landbevölkerung noch lebenden Überliefe-
rungen über längere Dauer wendischer Ansässigkeit aufgezeichnet
werden, ehe sie vor dem zerstörenden Hauch unserer modernen Ent-
wicklung völlig dahingeschwunden sind; oder indem er auf körper-
liche Eigentümlichkeiten aufmerksam macht, wie sie sich in manchen
Gegenden finden und vielleicht ein Licht auf die einstmalige Verteilung
der Nationalitäten in unserer Heimat werfen könnten.
Ich schliefe mit dem Wunsche, dafe der jetzt zu lösenden Auf-
gabe recht zahlreiche , mitten im Volksleben stehende Mitarbeiter er-
wachsen mögen. Dann wird sie gewife zu einem guten Ende geführt
werden.
Nachwort.
Die Geschichte der Kolonisation und Germanisation des
östlichen Deutschland bedarf noch sehr der Aufklärung. Es fehlt noch
durchaus an einem Versuch , den Prozefs in seiner Gesamtheit darzu-
stellen , und nicht minder an zeitlich und örtlich begrenzten Einzel-
untersuchungen. Als im I. Bande dieser Zeitschrift ^) die Verschiebungen
in der deutsch-romanischen Sprachgrenze zusammenfassend ge-
schildert worden waren, da sollte sofort die entsprechende Arbeit für
die Ostgrenze vorgenommen werden, aber es erwies sich bald als
unmöglich, hier gesicherte Ergebnisse zusammenfassend mitzuteilen.
Dafe der Untersuchimg der deutsch-slawischen Sprachgrenzen und
ihrer Verschiebungen im Zusammenhange mit der Kolonisation sich
wesentliche Schwierigkeiten in den Weg stellen würden, war von
vornherein klar, schon wegen der räumlichen Ausdehnung des Gebietes,
der Zeitdauer und der manichfachen Rückgewinnung bereits deutsch
gewordener Gebiete durch die Slawen, aber der Zustand der ein-
schlägigen Literatur ist in der Tat viel schlechter als man von vorn-
herein vermuten sollte, und deshalb mufs eine zusammenfassende
Skizzierung der Sprachgrenzen vom XII. bis XIX. Jahrhundert vor-
i) Witte, Studien xur Oesehiehte der ckutsch- romanischen Sprachgrenze,
s. 145—157.
17
— 236 —
läufig unterbleiben, da selbst ein schwacher Versuch angesichts der
mangelnden Vorarbeiten ein unzeitgemäfses Beginnen wäre.
Damit wir uns aber diesem Ziele nähern, gilt es zunächst in allen
ostelbischen Landesteilen im einzelnen Untersuchungen anzustellen,
die bei schärferer Fassung der Fragestellung die gesamte Überlieferung
eines engeren Gebietes und zunächst beschränkten Zeitraumes auszu-
beuten suchen, und als Anregung zu entsprechenden Arbeiten
soll vorstehender Aufsatz in erster Linie dienen. Hoffentlich
wird es bald möglich werden über mehrere einschlägige Arbeiten
zusammenfassend zu berichten, und kleinere Aufsätze über die Ger-
manisation und Kolonisation einzelner Landschaften, die sich ihrer
ganzen Anlage nach für diese Zeitschrift eignen — d. h. solche, die
zu greifbaren Ergebnissen und zur Berichtigung älterer verbreiteter
Ansichten gelangen und methodisch als Muster für ähnliche Unter-
suchungen dienen können — werden in den Detäschen GreschicUs-
bläHem gern Aufnahme finden.
Dabei mufs das Augenmerk sowohl auf die ältere Zeit als auch
auf die neuere gerichtet werden, denn wo sich eine slawische Kolonie
inmitten deutschen Gebietes bis ins XVIIL Jahrhundert erhalten hat,
da wird ihr Bestand sich meist auch quellenmäfeig weiter zurück-
verfolgen lassen. Wie zahlreich solche Kolonien selbst westlich der
Elbe sind, das zeigt die Zusammenstellung der einschlägigen Nach-
richten in dem Buche von Franz Tetzner: Die Slawen in Deutsch-
land *). Ohne auf die Ausstellungen einzugehen , die gegen die An-
ordnung dieses Werkes und gegen die Einbeziehung nichtslawischer
Völkerschaften in der Kritik kleinlich breitgetreten worden sind, soll
hier nur hervorgehoben werden, dafs dieser erste Versuch, unser
Wissen über die Gesamtheit der im Deutschen Reiche vorhandenen
Slawen zusammenzufassen, schon als solcher dankbar zu begrüfisen ist
Die angedeuteten Mängel der Ausführung, von denen der eine ja
lediglich eine jedenfalls nicht wertlose Zugabe bedeutet, sind nicht
so grofe wie es der Ton mancher Kritik vermuten läfst, und die ge-
wählte Anordnung läfst sich sehr wohl verstehen. Jedenfalls aber sind
diese Dinge ohne jede Bedeutung, wenn es sich darum handelt, die
fleifsige Arbeit Tetzners, die für jedes Gebiet unermüdlich die Einzel-
heiten zusammenbringt, als Grundriis zu benutzen für die umfassende
historische Forscharbeit, die für unseren ganzen einstmals slawischen
Osten noch zu leisten ist. Der Anfänger auf diesem jungen, erst im
i) Braunschweig 1902.
— 237 —
Westen des deutschen Sprachgebietes zu einigermafsen abschließenden
Ergebnissen gebrachten Forschungsfelde wird vielleicht am besten
fahren, wenn er zunächst in Anknüpfung an die durch Tetzner zu-
sammengestellten Tatsachen oder die ihm etwa durch Volksüberlieferung
bekannt gewordenen Anhaltspunkte rückwärts schreitend zu arbeiten
beginnt. So wird er sich am leichtesten mit dem eigenartigen von
Landschaft zu Landschaft naturgemäis nach Überlieferung und Inhalt
verschiedenartigen Quellenmaterial bekannt machen und besonders
auch vor der namentlich im Anfangsstadium nur zu leicht verhängnis-
vollen Enttäuschung des „Nichtsfindens" bewahrt bleiben. Es ist keines-
wegs nötig, solche Forschungen stets mit den Urkunden zu beg^innen,
•denn auch in Landschaften, wo die slawische Sprache schon vor
Jahrhunderten verstummte, werden doch die inhaltsreicheren Akten —
namentlich Steuer- usw. Register — in der Regel mehr Ausbeute
liefern. Der Verfasser obigen Aufsatzes wenigstens, der das gesamte
einschlägige Material des Schweriner Geh. und Hauptarchivs ausgebeutet
und zum gröfsten Teil schon bearbeitet hat, mufstc bekennen, da(s
sein urkundliches Material, von dem oben eine kleine Probe ge-
geben ist, neben dem aus den Akten gewonnenen geradezu ver-
^schwindet. Näheres hierüber, wie über das Quellenmaterial und die
Methode wird sich in seiner bald zu erwartenden gröfseren Arbeit
über die wendischen Bevölkerungsreste in Mecklenburg finden.
Mögen sich auch für die anderen ostelbischen Landesteile bald
Arbeiter finden, die uns erzählen, wie diese Gebiete deutsch geworden
«ind! A. T.
Mitteilungen
Archive. — In Wernigerode am Harz wurde die Neuordnung des
Stadtarchivs beschlossen, und die Arbeit Dr. Hans von Wurmb übertragen,
der soeben die Ordnungsarbeiten im Fürstlichen Landesarchiv zu Sondershausen
vollendet hat.
Kommissionen. — Als die Kgl. Preufsische Akademie der Wissen-
schaften 1900 die Feier ihres zweihundertjährigen Bestandes beging, da
wurden in beiden Klassen neue Stellen gegründet, und zwar in der philoso-
phisch-historischen mit der Mafegabe, dafs die neuen Kräfte vorzugsweise der
Pflege der deutschen Sprache zugute kommen sollten. Schon seit 1897
hatte die Akademie die Arbeiten, die Konrad Burdach (damals Professor
an der Universität Halle) behufs Vorbereitung einer Geschichte der neuhoch-
deutschen Schriftsprache im Zusammenhang mit der gesamten geistigen Bildung
17*
— 238 —
von sich aus in Angriff genommen hatte, materiell unterstützt, aber nunmehr
wurde, nachdem inzwischen Burdach als ordentliches Mitglied der Akademie
in die neu errichtete Stelle für deutsche Sprachwissenschaft berufen worden
war, eine besondere Deutsche Kommission geschaffen, der zurzeit Bu r d a ch,
Diels, Dilthey, Koser, Roethe imd Erich S c h m i d t als Mi^lieder
angehören. Diese junge Kommission hat zu Beginn des laufenden Jahres
zum ersten Male über ihre Tätigkeit berichtet, und naturgemäis handelt es
sich dabei gegenwärtig noch vorwiegend um Pläne und Absichten. Die im
Schofse der Kommission entwickelten Gedanken sind jedoch in hervorragen-
dem Mafse geschichtlicher Natur, ja man darf wohl überhaupt aus-
sprechen, dafs die namentlich von Burdach *), aber auch von Schönbach
(Graz) u. a. schon seit längerer Zeit und wiederholt geforderte engere Ver-
bindung der deutschen Philologie mit der Geschichte jetzt nur von der
Akademie als eine ihrer Lösung harrende Aufgabe anerkannt worden ist Deshalb
mufs an diefser Stelle die Aufmerksamkeit der Historiker unbedingt auf die
neuen Pläne gelenkt werden, zumal da sich nach Lage der Sache gerade
dem Historiker vielfach Gelegenheit bieten wird, die grofse Sammelarbeit
der Kommission zu unterstützen.
Als ihr letztes Ziel betrachtet die Deutsche Kommission eine dar-
stellende Geschichte der neuhochdeutschen Sprache und die
Herausgabe eines grofsen Thesaurus linguae Germanicae, tmd för
beide Aufgaben gilt es jetzt eine genügend breite Gnmdlage zu schaffen.
Da die älteren deutschen Literaturdenkmale fast vollständig publiziert sind,
kommt es auch unter diesem Gesichtspunkte vor allem darauf an, die
deutschen Handschriften des späteren Mittelalters und der älteren neuhoch-
i) So schon in der Vorrede zu Vom Mittelalter xur Reformatfon (Halle a. S.
1893). I" ^^^ Vorrede zu seinem Walther von der Vogelweide i. Teil (Leipzig
1900), S. XXn wird die Verbindung der deutschen Philologie mit der Geschichte
des Mittelalters kurz als „mittelalterliche Philologie der Zukunft*' be-
zeichnet. Ebendort fordert der Verfasser« von den Philologen, dafs sie gegebenen
Falls auf die primären Quellen des Mittelalters zurückgreifen und sich nicht mit der
Benutzung modemer historischer Darstellungen begnügen, eine Forderung, die ebenso
umgekehrt ftlr den Historiker Geltung hat, wenn er literarische Quellen verwerten wilL
Burdachs Buch über Walther erftillt diese Forderung im höchsten Mafse und bietet ebenso
viel neues zur Kenntnis der deutschen Reichsgeschichte um 1200, wie es das Wissen
über die Person und die Dichtung Walthers auf eine neue Grundlage stellt; die Ge-
schichtsforschung ist hier in der Tat unmittelbar in den Dienst der Philologie getreten,
und die rein geschichtliche Erkenntnis wird wieder umgekehrt durch die neue Interpretation
der politischen Dichtung Walthers wesentlich gefördert. — Am bündigsten hat schliefslich
Burdach seine Forderung formuliert in seiner Rede beim Eintritt in die Akademie (3. Juli
1902), indem er von der deutschen Philologie sagt: ,, Sie wird sich lösen müssen
von der Hausgenossin ihrer Jugend, der vergleichenden Sprachwissen-
schaft, deren Ziele nicht die ihrigen sind. Sie wird dafür engere
Fühlung mit den angrenzenden geschichtlichen Fächern eintauschen:
mit der Geschichte der deutschen Kirche undReligion, des deutschen
Rechts, des deutschen Staates, der deutschen Kunst, vor allem mit der
Geschichte des Nachlebens und Neulebens lateinischer Sprache und
Literatur in Kirche und Schule, in den wiederholten Renaissancen
der mittleren und neueren Zeiten, endlich mit der Geschichte der
romanischen Bildung.'^ Es sind Gedanken und Ziele, wie sie in verwandter nur
noch umfassenderer Weise Lamprecht ausgesprochen und in seiner Deutschen Oesekiehte
zu verwirklichen gesucht hat* das geschichtliche Leben ist einsl
— 239 —
deutschen Zeit besser kennen zu lernen, und zwar mit Einschluis der Unter-
haltungs-, Erbauungs- und Lehrliteratur, damit wir zunächst deutlicher sehen,
an wdchen Punkten und in welcher Literaturgattung neue Sprachelemente
zuerst auftauchen.
Das Problem einer Geschichte der neuhochdeutschen Schriftsprache, die
zugleich das gröfste Stück einer deutschen Volksgeschichte werden mufs,
zerftUlt in drei Teile. Es sind die Fragen zu beantworten: i. Wie gestaltete
sich ihr Ursprung und Emporkommen im XIV. bis XVL Jahrhtmdert? 2. Wie voll-
zog sich die Einigung im XVn. und XVIII. Jahrhundert? 3. Wie entstand die
moderne Literatursprache ? Zur Beantwortung der ersten Frage ist es vor allem
nötig, dafs wir die Kanzleisprache einzelner Fürsten imd Städte untersuchen ') ;
hinsichtlich der zweiten ist der überall sich wiederholende Kampf zwbchen
Hochdeutsch und Dialekt, sein Verlauf und nicht zuletzt seine zeitliche Fest-
legung von Interesse: dies aber sind beides Punkte, zu deren Aufhellung
die landschaftliche Geschichtsforschung manches beizutragen vermag, während
die dritte Frage im wesentlichen durch fachmännische Bearbeitung der ein-
flufsreichsten Schriftsteller des XVIII. Jahrhunderts ihrer Lösung näher ge-
bracht werden wird. In dieser Hinsicht hat die Kommission zunächst eine
kritische Gesamtausgabe von Wielands Werken geplant, die Bernhard
Seuffert (Graz) besorgen wird. Die grofse Lücke in unserer Kenntnis der
spätmittelalterlichen und frühneuhochdeutschen Literatur (etwa 1250 — 1500)
soll durch Publikation einschlägiger Werke — eine grofse Zahl, unter anderem
Rudolf von Ems, sind schon in Bearbeitung — aUmählich geschlossen
werden: die Sammlung erscheint unter der Leitung von Roethe und wird
den Titel ftlhren Deutsche Texte des Mittelalters, Um fUr diese Veröfient-
lichtmgen aber eine genügend sichere Grundlage zu gewinnen, ist zunächst
von der Kommission die Inventarisierung der literarischen Hand-
schriften deutscher Sprache in Angriff genonmien worden'). Es
handelt sich dabei nur tun literarische Handschriften, d. h. Akten und
sonstige geschäftliche Handschriften bleiben aufser Betracht. Aber alles,
was nicht zu letzteren gehört, wird berücksichtigt, so vor allem wissenschaft-
liche Arbeiten, technische Anweisungen (wie Formelbücher), Briefe, Rezepte,
Segen, Gebete usw., insbesondere alle Aufseichnungen in gebundener Rede.
Nach 1500 sollen nur noch solche Handschriften berücksichtigt werden, die
Werke des Mittelalters enthalten, alle schöne Literatur, nebst Briefen, Memoiren,
Segen des XVI. und XVII. Jahrhunderts, sowie mittel- imd neulateinische
Handschriften bis ins XVIII. Jahrhundert. Um diese Arbeit zu bewältigen,
bedarf es natürlich einer grofsen Anzahl von Mitarbeitern, für die eine be-
sondere ins einzelne gehende Arbeitsanweisung ausgearbeitet worden ist Alle
einlaufenden Handschriftenbeschreibtmgen werden zu einem Handschriften-
i) In dieser Hinsicht ist schon manches geschehen. Eine Reihe von Untersuchangen
einzelner Kanzleisprachen wurde bereits im 3. Bande dieser Zeitschrift S. 118 — 120 auf-
geftihrt Ergänzend wären noch zu erwähnen: Kemmer, Versuch einer Darstellung
des Lautstandes der Äsehaffmburger Kanzleisprache in der. ersten Hälfte des XVI. Jahr'
hunderte (Programm, Dillingen 1897/98 und 1898/99); O. Böhme, 2kir Kenntnis des
Oberfränkisehen im 12., 13. und 14. Jahrhundert (Leipz. Dissert. 1893).
3) Über den Plan im einzelnen vgl. Bardachs Aufsatz im Zentralblatt (Ur Biblio-
thekswesen, 21. Jahrg. (1904), S. 183 — 187: Die Inventarisierung älterer deutscher
Handschriften.
— 240 —
archiv der Königl. Akademie in Berlin vereinigt, und auf Grund des |iier
aufgehäuften Materials soll später eine Handschriftenkunde des deuis^n
Mittelalters geschaffen werden. Ganz abgesehen von dem statistischen Wert,
den eine solche Sammlung besitzt, — man wird oft schon an der Zahl der
erhaltenen Handschriften erkennen, ob und wie lange ein Buch viel gelesen
wurde, — wird es mit Hilfe des Handschriftenarchivs in Zukunft möglich
sein, ohne besondere Mühe die für eine Edition oder Benutzung brauch-
barste Handschrift eines Werkes kennen zu lernen, was bisher meist mit
grofser Mühe verbunden war. Manches ganz neue Buch wird wenigstens
ftir die breitere Öffentlichkeit ans Tageslicht kommen, manches verkannte und
falsch registrierte wird ins rechte Licht gerückt werden. Deshalb mufs die
Förderung dieses Inventarisationsuntemehmens , das sich mit der von Seiten
der landesgeschichtlichen Publikationsinstitute eingeleiteten Durchforschung
der sogenannten „kleinen Archive" behufs systematischer Sammlung des
landesgeschichtlichen Quellenmaterials *) vergleichen läfst und manche Be-
rührungspunkte damit besitzt, den Geschichtsforschern angelegentlichst em-
pfohlen werden. Vor allem wird es darauf ankommen, dafs auf Handschriften,
die sich im Privatbesitz befinden, oder solche, die in kleinen Vereinssamm-
lungen ruhen, aufmerksam gemacht wird. Nützlich erweisen würde es sich
auch, wenn jeder, der Handschriften zu welchem Zwecke auch immer be-
nutzt, bei der Veröffentlichung eines, wenn auch ganz kleinen Stückes aus
dem Inhalt nicht nur mit lakonischer Kürze andeuten wollte, was ihm als Vor-
lage gedient hat, sondern die Handschrift vollständig beschriebe und auch
aufzählte, was sonst etwa noch darin enthalten ist.
Die Drucklegung der Handschriftenkataloge imserer Bibliotheken schreitet
erfreulicherweise rüstig fort, und die Beschreibung wird immer ausftihrlicher
und sorgfältiger *), aber für recht viele Bibliotheken fehlt etwas entsprechen-
des noch. Das Unternehmen der Kommission wird hoffentlich an mancher
Stelle dazu anregen, diese Arbeit auch auszuführen, aber ihre Hauptaufgabe
ist und bleibt die systematische Registrierung und Vereinigung nach dem
Inhalt: das Handschriftenarchiv wird einst einen sachlich geordneten Zettel-
katalog aller deutschen Handschriftensanmilungen darstellen. Was sich bei
solcher systematischer Forschung gewinnen läfst, das hat Burdach selbst
in seinem einfach erzählenden Bericht über Forschungen zum Ursprung der
neuhochdeutschen Schriftsprache und des deutschen Humanismus *) dargelegt.
i) Die jüngste Zusammenstellung über den Stand der Erschliefsung der „kleioeo
Archive *' findet sich im Korrespondenzblatt des Gesamtvereins der deutschen Geschicbts-
und Altertumsvereine, 51. Bd. (1903), S. 71 — 76.
2) Eine ganz vorzügliche und ihrer Ausführlichkeit wegen in recht vieler Hinsicht
brauchbare Arbeit ist z. B. das Beschreibende Verzeichnis der Handschriften der
Stadibibliothek xu Trier, von dem MaxKeuffer fünf Hefte (Trier, LinU 1888— 1900)
bearbeitet hat. 653 Handschriften sind hier beschrieben, kleinere Einträge sofort abge-
druckt; wo es irgend möglich war, ist die Provenienz ermittelt, und so wird mancher
wichtige Aafschlufs über den Bestand alter Bibliotheken gewonnen. Der Abschlufs der
theologischen Handschriften ist frühestens 1905 zu erwarten. Eine Ergänzung zu dieser
Publikation bildet das Verxeichnis der Handschriften des historischen Archivs der
Stadt Trier y wovon 6 Bogen, je einer als Anbang zum Trierischen Archiv (1899 flf.),
gedruckt sind.
3] Abhandlungen der Königl. Preufs. Akademie der Wissenschaften vom Jahre 1903,
S. 631—693.
— 241 —
Eine Fülle feiner Beobachtungen und Gedanken ist neben der Mitteilung des
rein Tatsächlichen darin enthalten, und jeder, der sich mit den Problemen
der Geistesgeschichte beschäftigt, mufs hier Anregung imd Belehrung finden.
Als unmittelbare Frucht dieser Arbeiten steht binnen kurzem die Veröflfent-
lichung einer sprachgeschichtlich wichtigen Handschrift zu erwarten: es ist
eine Olmützer Sanmielhandschrift von rund 1400; sie stammt aus dem Schüler-
kreise Johanns von Neumarkt, der als Gehilfe Karls IV. vor allem
die königliche Kanzlei reformierte und den Stil der lateinischen und deutschen
Urkunden umbildete, und wird jetzt von Burdach nud Willy Scheel
publiziert. Die Olmützer Handschrift enthält Stücke, die auf Petrarcas Ver-
ehrung und Nachahmung im Kreise der Schüler und Nachfolger Johanns,
also auf die ersten Regungen des mährischen Humanismus, und auf die
literarischen Beziehungen Johanns zu Karl IV. neues Licht werfen. Es sind
unbekannte und bekannte Prosatraktate und Gedichte Petrarcas uud un-
bekannte Briefe Johanns an Karl IV., die in Olmütz zu einer Sanmilung
vereinigt wxirden.
* *
*
Bei dieser Gelegenheit sei auf Forschungen zur älteren neuhochdeutschen
Schriftsprache aufmerksam gemacht, die ein anderer Gelehrter seit einem
Jahrzehnt betrieben hat, über die aber noch nichts an die breitere Öffent-
lichkeit gekommen ist. Als im Jahre 1893 die Fürstlich Joblonowskische
Gesellschaft zu Leipzig auf Anregung Lamprechts die Preisaufgabe stellte:
AllmählicheEinführung der deutschenSprache in öffentlichen
und privaten Urkunden bis zur Mitte des XIV. Jahrhunderts *),
da beschäftigte sich auch Realschuldirektor Prof. Emil Gutjahr in Leipzig
mit diesem Stoffe und begann die Bemühungen Karls IV. und Johanns von
Neumarkt um die neuhochdeutsche Schriftsprache sowie die Grundlagen
dieser Sprache selbst zu untersuchen. Die Früchte dieser Arbeit werden
biimen kurzem in einer gröfseren Arbeit, die sich mit dem in der kaiserlichen
Kanzlei Karb IV. herrschenden Urkundenwesen und der dort geschriebenen
Sprache beschäftigt: Zur Entstehung der neuhochdeutschen Schriftsprache,
Studien xur deutschen Hechts- und Sprachgeschichte , (Leipzig, Dieterich'sche
Verlagsbuchhandlung [Theodor Weicher]) der Öffentlichkeit zugänglich ge-
tnacht werden.
Schon Ostern 1897 legte der Verfasser seine Ergebnisse in dem ztmächst
fertiggestellten umfangreichen Manuskripte des IL Teils, Die Urhunden
deutscher Sprache in der kaiserL Kanxüi Karls IV.^ Theodor Lindner
(Halle) vor, der sich in der Hauptsache zustimmend aussprach. Seit 1897
aber behandelte G. die ältesten Urkunden deutscher Sprache aus allen
Gegenden unseres Vaterlandes nach ihrer kulturellen Stellung, besonders
nach ihrem mundartlichen bez. gemeinsprachlichen Werte, und kam dabei
zu dem Ergebnb, dafs die Sprache der ältesten ostmitteldeutschen Urkunden
Obersachsens, insonderheit Halles a. S., als die Wiedergabe der ost-
mitteldeutschen Patriziersprache, ja auch als die erste Wiedergabe unserer neu-
hochdeutschen Schriftsprache anzusehen ist. Die Umgangs- bezw. Schrift-
i) Den Preis erhielt die Arbeit von Vancsa: Das erste Auftreten der deutschen
Sprache in den Urkunden (Leipzig, Hirzel 1895).
— 242 —
spräche des ostmitteldeutschen Schöffen Patriziat es im XI. — XIII. Jahr-
hundert, die auch schon, mehr aristokratisch gefärbt fmtn, hüs, lüte; dampf,
klopfen), die Originalsprache des zweifellos beim Obergericht Halle ent-
standenen Sachsenspiegels und, mehr demokratisch nuanciert (mein,
haus, leute; damp, kloppen) *), auch die Originalsprache des sog. sächsischen
Weichbildrechts ist, zeigt im XIV. Jahrhundert, als das Schöffenpatriziat
sich in ein Innungspatriziat mit reiner Zunftverfassung*), wie z. B. in
Augsburg und Braunschweig, oder mit gemischter Verfassung, wie z. B.
in Nürnberg '), Frankfurt und in den meisten Städten des kolonialen Ostens
(z. B. Prag) wandelte, wohl noch die patrizischen Laute in dampf, klopfen,
aber daneben schon die streng zünftlerischen (nhd.) ei, au^ eu, in mein,
haus, leute. Diese neuen ,synthetischen' Laute stammen wohl ursprünglich
kaum aus Bayern-Österreich, wie man anzunehmen sich gewöhnt hat, sondern
vom Niederrhein und sind erst durch die gewerbliche Kolonisation von da
nach den ostdeutschen Städten übertragen worden. AugustMeitzen, dem G.
das Manuskript seines I. Teiles, Des Sachsenspiegels Ursprung, Heimat und
Sprache in Halle a. S,, im Sommer 1900 zu Wernigerode vorlegen durfte,
stand dieser Annahme mit Reserve, doch sympatisch gegenüber. Merkwürdig
ist, dafs das deutsche, durchaus national empfindende Innungspatriziat der
Hauptträger jener deutschen Schriftsprache, die in den Urkimden seit dem
XIII. Jahrhundert in immer zunehmender Fülle überliefert ist, gleichzeitig
des Humanismus und des römischen Rechtes bester Förderer war. Dieses
auffällige Zusammentreffen lehrt ja zunächst nur, dafs dem engdeutschen und
strengdeutschen Wesen des Schöffenpatriziates und seinem nurdeutschen
Rechte gegenüber im deutschen Innungspatriziat zugleich mit der gröfseren
Geistesbildung auch eine weitsichtigere Auffassung der Dinge platzgegriffen hatte.
Auf die ungleich lebensfrischere und gebildetere Gesellschafbchicht des
Innungspatriziates, dem die zwischenstädtische Femwirkung und Kommunikation,
gesteigert bis zur politischen Bündnislust der Hansen, nochmals Erbe vom
alten grofskaufmännischen Schöffenpatriziat geblieben war, stützte Karl IV.
seine fein berechnete, besonders auf die Städte und ihre Innungspatriziate
abzielende Interessenpolitik. Johann von Neumarkt, der Hofkanzler
Kaiser Karls IV. und der Organisator seiner Kanzlei, aber wufste auch die
Schriftsprache der kaiserl. Kanzlei trefilich den Bedürfhissen der Zeit, insonder-
heit der Politik seines Herrn anzupassen. Man verwendete deshalb in den
i) In der Mundart des niederen Volkes in Ostmitteldeatschland heifst es noch heaie :
dampf kloppen.
2) Lamprecht, Deutsche Geschichte, 4. Bd., S. aoo.
3) Eine bemerkenswerte Urkunde in deutscher Sprache, von der auch neuerdings
wieder behauptet worden ist (s. Karl Hoffmann-Charlottenhurg in Zs. „Deutsche Arbeit*'
n. Heft 1 1 S. 860), sie gehöre voll der kaiserlichen Kanzlei Karls IV. an, ist die Urkunde
der Sudt Nürnberg vom 13. September 1367, Prag (Huber, Regesten nr. 4549; Deutsche
Reichstagsakten unter König Wenzel, ed. Weizsäcker, I n. 27 S. 56). Die Urkunde ist aber
nach Formular und Mundart (s. Uk. a. 1375 Okt. 20 bei Huber, Regesten nr. 5514; Nieder-
rhein. U.B. m, 674; vgl. MaxVancsa, Das erste Auftreten der deutschen Sprache in
den Urkunden^ S. 102) eine reine Parteiurkunde und vom Innungspatriziat Nürnbergs und
seiner Kanzlei ausgegangen, das Diktat (Konzept) wie die Ausfertigung gehört voll dieser
Partei als Empfängerin an, nur die Besiegelnng wurde von der kaiserlichen Kanzlei zu
Prag vorgenommen (s. Vancsa a. a. O. S. 64).
— 243 —
Urkunden, welche voll der kaiserl. Kanzlei angehören, sobald man mit der
exklusiv- reaktionären Welt der höheren Geistlichkeit, des Ritterttuns und
des ritterlichen Schöffenpatriziates geschäftlich durch Urkunden deutscher
Sprache | verkehrte, die soziale früh-nhd. Mundart des Schöffenpatriziates
(i, ü, ü; mpfy pf), sobald man aber mit der bürgerlich- fortschrittlichen
Welt^der Innungspatriziate schriftlich verkehrte, schrieb man nhd. (ei, au,
eu; mpf, pf). Solche Konzessionen der Rechts- und Geschäfbsprache
waren nicht neu : schon die frühneuhochdeutsche Sprache des Sachsenspiegels
(c. 1235) bekundet im Landrecht strengreaktionär-schöfienpatrizische bezw.agra-
risch-ritterliche Tendenz (%, ü, ü; mpf, pf), während gleichzeitig die Sprache des
sog. sächsischen Weichbildrechts, mehr bürgerlich-fortschrittlich, nicht ein-
mal nur strenginnungspatrizische Idiome aufweist, sondern auch andere,
selbst gemeinbürgerliche nebenbei (ei, au, eu neben i, ü, ü; mpf, pf neben mp,
pp) verwendet; auch des Lehnrechtes ostmitteldeutsche Origin^üsprache im
Sachsenspiegel hält ungefähr dieselbe Mitte ein. Gemeinbürgerliches kloppen
verwendet Johannes Noviforensis ab redactor in der Königlichen Kanzlei
Karls IV. a. 1347 April 3 Purglein (Huber, Regesten nr. 666; Cod. Bohem.
I. nr. 48 S. 72). Ähnlich wie der Verfasser des Weichbildrechtes und
Lehnsrechtes verhält sich der nhd. Sprache gegenüber Johann von Neumarkt
als Verfasser des Heil. Heronymu^ (ed. Benedict 1880); auch er verwendet
ei, au, eu neben t, ü, ü (S. XLVI. XLVII) ; mpf, pf neben mp, pp, ja hie
und da läufl sogar ein niederdeutsches anlaut. p (plichlig, geplantxet) mit tmter
(S. L). Durchaus modern aber im innimgspatrizischen Sinne ist sowohl das
böhmische Deutsch im Buche der Malerschaft zu Prag (a. 1348), wie die Sprache
im Ackermann aus Böhmen (a. 1399). Für Luthers nhd. Sprache war sonach
die erste Grundlage das Schöfifendeutsch der ostmitteldeutschen bürgerlich-
patrizischen Rechtssprache des XIII. Jahrhunderts, die weder im XVI. Jahr-
hundert etwa durch „Keiser Maximilian tmd Kurfürst Friedrich, Herzog zu
Sachsen, im römischen Reiche, also in eine gewisse Sprache gezogen*'
(s. Luther, Tischreden c. 69), noch im XIV. Jahrhundert durch die kaiserl.
Kanzlei Karls IV. als Schriftsprache hervorgerufen wurde, sondern schon in
der ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts im Sachsenspiegel und mehr noch
im sächsischen Weichbüdrechte vorlag.
Eingegangene Bflcher.
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Herausgeber Dr. Armin Tille in Leipiig.
Druck und Verlag von Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Gotha.
J
Deutsche Geschichtsblätter
Monatssclirift
snr
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
V. Band Juli 1904 10. Heft
Arnstädter Tauf^ und F^niüiennatnen
Von
Bruno Caemmerer (Arnstadt)
Unsere Orts- und Personennamen stammen zum grolsen Teil aus
fremden Sprachen : aus dem Keltischen z.B. die Ortsnamen Rhein,
Main, Worms, Remagfen, aus dem Slawischen die Ortsnamen Berlin,
Potsdam, Leipzig, Zeitz, Strelitz, Kamenz, oder die Personennamen Olga,
Putkamer, Muschik und Noack, aus dem Hebräischen die Per-
sonennamen Johannes, Joseph, Simon, Maria, aus dem Griechischen
Alexander, Theodor, Georg, Dorothea tmd aus dem Lateinischen
Köln und Koblenz und Max, Paul, Beate, Klara. Die Personennamen
deutscher Herkunft haben im Laufe der Zeiten vielfache Änderungen
erfahren, und die Feststellung der ihnen etymologisch zukommenden
Bedeutung und ursprünglichen Form gelingt oft nur tmter grofsen
Schwierigkeiten. Die Personennamen sind entweder Vornamen (=» Ruf.
oder Tauftiamen) oder Zunamen, die, wenn sie sich vom Vater auf die
Kinder vererben, zu Familiennamen werden. Erstere gehen bis in die
vorchristliche Zeit zurück ^) , die letzteren sind erst mit dem Empor-
kommen des Bürgerstandes seit dem XII. — XTV. Jahrhundert allge-
mein üblich geworden, während eine Person bis dahin und vereinzelt
noch später nur einen Namen führte. Zu Vornamen — das Wort
hat natürlich erst einen Sinn, seitdem es Zunamen bezw. feste Zunamen
(sB Familiennamen) gibt — verwendete man gebräuchliche deutsche
und fremdsprachliche Namen, aber dieselben Formen kehren auch als
Zunamen wieder, so dals eine feste Grenze zwischen Vor- und Zu-
namen hinsichtlich des Namenschatzes nicht existiert: Friedrich,
Günther, Heinrich, Bruno, Beate kommen teils als Tauf-, teils als
Familiennamen vor.
Die Erforschung der Namen ist ein recht wesentlicher Zweig der
I) Vgl. meme Arbeit in Ält-Amstadt, I., (Arnstadt 1902), S. 118.
18
— 246 —
Sozialgeschichte, da jeder einzelne Mensch einen Namen trägt und
hier leicht Masscnvorstellimgen gewonnen werden, die wiederum
einen Rückschlufs auf das geistige Leben der jeweiligen Gesellschaft
zulassen. Es ist bekannt, dafs das Mittelalter an einer bedenklichen
Namen armut leidet. Nicht als ob aus- dem Laufe eines Jahrtausends
nicht eine ganz riesige Masse verschiedener und uns vielfach seltsamer
Namen überliefert wäre; dies ist wohl der Fall, aber in ii^endeiner
bestimmten Generation und Gegend ist die Zahl der belegten Namen stets
aufserordentlich geringe wenige Modenamen herrschen unverhältnismälsig
vor, d. h. der jeweilige Namenschatz ist klein ^). Oft haben bekanntlich
sogar Geschwister gleiche Namen : in manchen Geschlechtem gibt es nur
wenige oder wie bei den Gliedern der fürstlichen Häuser Reu(s gar
nur einen zulässigen Vornamen, nämlich Heinrich. Wie schon an-
gedeutet, spielt andrerseits die Mode eine sehr grofse Rolle bei der
Namengebung, und manche Kultureinflüsse verraten sich in dem plötz-
lichen Auftauchen fremder Namen, man denke nur an den Einfluis
Spaniens (Ferdinand) und Frankreichs (Louis, Henriette, Charlotte).
Wer einmal die Sittengeschichte unserer Zeit schreibt, wird ebenüalls
nicht umhinkönnen, diese typische Erscheinung mit ihrem sozialen
Untergrunde zu schildern.
Sachgemäfs sollte der Personenname kein leerer Schall sein, son-
dern die Art des ihn tragenden Einzelwesens widerspiegeln. Weil
letzteres aber zu der Zeit, da es in der Regel benannt wird, noch ein
unbestimmtes Etwas darstellt, ist es unmöglich, ihm einen Namen als
Inb^IxifT seiner Haupteigenschaft beizulegen. So kommt es, dafe die
den Kindern bald nach der Geburt erteilten Namen in der Tat keine
reale Grundlage haben, meist nur einen Segenswunsch, den Ausdruck
der Freude oder den Hinweis enthalten, dafs der Sprölslingdereinst seinem
Namen Ehre machen, die darin ausgedrückten Eigenschaften im Leben
verwirkUchen solle. Jedes Volk hat von Haus aus eine ihm eigentüm-
liche Art der Namengebung : fiir die Ägypter *) , Hebräer , Inder»
Iranier *), Griechen, Römer und Slawen *) u. a. sind die daftir gelten-
den Grundsätze schon mannigfach untersucht. Das etymologische
i) Vgl. darüber St ein hausen, Die Namenarmtä im ausgehenden MittelaUer
in der Zeitschrift för deutschen Unterricht Vm, S. ^i6ff. und Tille, Weibliehe Vor-
namen im MiUekUter in der Zeitschrilt fUr Knitargeschichte, 5. Bd. (1898), S. 173 ff.
2) H. Bragsch, Sonntagsbeil, zur „Vossischen Zeitung*', 1892.
3) Justi, Lranisehes Namenbuch (Marburg 1895).
4) Einleitung tu meiner Arbeit Über die thüringisehen Familiennamen (2 Teile,
1885— 1886). Vgl. diese ZeiUchrift 2. Bd., S. 127 sowie Miklosich, Die Bildung
der slawischen Personennamen (Wien 1860).
j
— 247 —
Durchdringen und Verständnis dieser Namen lehrt uns in der Tat das
Denken, Fühlen, WoUei^ und Wirken des Volkes, den Stern und Kern
seines Charakters entdecken und erfassen. Einen spärlichen Vorrat an
Namen hatten z. B. die Römer, und ihre Namen sind recht haus-
backen *), während die der Israeliten und noch mehr die der Griechen
sehr zahlreich sind und meist einen recht schönen Sinn geben. Am
reichsten und tiefsten war aber ohne Zweifel von jeher der Namen-
schatz der Germanen. Von dem hohen Fluge der Gedanken und der
bei ihnen üblichen Schätzung der Tugenden legen die Namen, die
ältesten Denkmäler unserer Sprache, ja vielfach die ältesten geschicht-
lichen Denkmäler überhaupt, ein ebenso glänzendes wie beredtes Zeug-
nis ab.
Die germanischen Namen sind in der Regel zweistämmig und —
in dieser Beziehung den griechischen verwandt, ja völlig gleich —
aus zwei Wörtern zusammengesetzt, von denen jedes einen bestimmten
Sinn gibt, wie Ariovist, CaitAalda, Theoderich, Gtmdakar, Ansgar, Os-
waU. Doch gibt es auch eine Anzahl schon im grauen Altertume ein-
stämmiger Namen, die also überhaupt nicht zusammengesetzt vor-
kommen, oder deren einfache Form die spärlichen Zusammensetzungen
oder Ableitungen durchaus überwiegt« wie Nctöua, bei Cäsar erwähnt
und als Naso verbreitet '), Bisino und Bisina, Anno und Anna (deutsch,
nicht der hebräische Name Anna), Otto, Fatto u. a. , doch sind damit
nicht die sehr zahlreichen Koseformen oder Kurznamen, Kürzungen
aus zweistämmigen Personennamen, zu verwechseln *). Das bisher noch
offene Problem, ob die Zweistämmigkeit ursprünglich sei, oder Ein-
stämmigkeit voraussetze, hat der bald nach Erscheinen seines treff-
lichen Werkes: Mittelhochdeutsches Namenbtuih. Nach oberrheinischen
Quellen des XII. und XIII, Jahrhunderts (Basel 1903) leider zu früh
(Februar d. J.) verstorbene Baseler Professor Adolf Socin in treffender
Weise gelöst. Sein Gedankengang ist folgender. Stark vermutete am
Schlüsse seiner Beiträge zur Kunde germanischer Personennamen*),
dafs, wenn in geschichtlicher Zeit die zweistämmigen Namen das Ur-
i) Ich erinnere nnr an die Namen FahitiSy Lenttdua, PorctuSj die Bohnenmann,
Linsemann, Schweinezüchter bedeaten.
3) Dafs dieser Name germanisch und nicht lateinisch ist, wnrde in Haapts Zeit-
schrift XXII, S. 328 nachgewiesen. Umgekehrt ist Ärminius lateinischen Ursprungs.
3) Vgl. Stark, Die Kosenamen der Oermanen (Wien 1868) and meine Abhand-
lang I, Einleitang.
4) Sitzongsber. der Wiener Akademie der Wissenschaft, hist.-phil. Kl., Bd. 23
(1857), S. 654 ff.
18»
— 248 —
sprüngliche, die einstämmigen dagegen sekundär sind, es sich in vor-
geschichtlicher Zeit umgekehrt verhalten haben müsse: da seien die
Namen anfanglich einfach gewesen und die zusammengesetzten seien
erst allmählich aus ihnen entstanden, da man versucht hätte, die Namen
der Eltern und Verwandten mit denen der Kinder zu vereinigen. Diese
Vermutung wird in ihrer Hauptsache dadurch widerlegt, dafs Fick,
Die griechischen Personennamefi (Göttingen 1874) für das Griechische
die Ursprünglichkeit der zweistämmigen Vollnamen nachgewiesen hat.
Wie im Germanischen z. B. Gerhart zu Gero, Gundakar zu Gundo
(nochmals verkürzt Gundizo, Gunzo *)), Sigebert zu Sizzo, Sitto •) wird
oder ein Sifridus cognomento Sicco 998 •) vorkommt , so wird im
Griechischen JrifxoyLQatriq im Jfjfxog gekürzt, OeQivtyoog zu Oeorig, £<dj-
&ea (von göttlicher Gestalt, os humerasque deo simüis, sagt Ve^l),
zu Eidd, JafioyiQcov zu riqtavy nokvXaidag zu ^didag, IIol^dwQog zu
Iloliidag, IloXikpafiog zu Ilokikpag, Jriiioa&ivrig (germanisch FoVchart)
zu Jr^fioa&äg (Ftüco). Den gleichen Grundsatz weist Justi, a. a. O.,
für das altpersische Namensystem nach : Darayawahu wird zu JaQÜog
oder — aus dem zweiten BestandteU — zu ^ii^og verkürzt. Es ist
also diese Bildungsweise schon uralt, indogermanisch.
Wir sehen zugleich schon aus diesen wenigen Beispielen, dafs ¥rie
in anderen indogermanischen Sprachen bei den germanischen Namen
der erste Stamm den besonderen eigenschaftlichen Teil, der zweite in
der Regel den allgemeinen Begriff enthält : in Qerhart ist ger das Be-
sondere, die besondere Waffe, hart der allgemeine Begriff (= stark) ;
ebenso besteht Reinhart aus ragin (= Rat) und hart (=» stark), be-
deutet also „stark im Rat*', wogegen Kuonrat, Conrad, zusammen-
gezogen Kurtj griechisch QqaaißovXog^ die entg^engesetzte Bildung
aufweist. Die Koseform dazu ist Ktumo, Kuno. Es liegt auf der Hand,
dals die alten Namen mit der Zeit umgestaltet und verigidert, durch
den vielen Gebrauch verstümmelt und verderbt worden sind. Die oft
Jahrhunderte währende Fortpflanzung der Personennamen durch münd-
liche Überlieferung, der fortwährende Wechsel in den Anschauungen
des Volkes, vor allem die Veränderung und Entwickelüng unserer
Muttersprache, Verschiedenheiten, Verdrängungen und Vermischungen
der Mundarten haben hierzu natürlich in mancher Weise beigetragen.
Ihre Bedeutung, der tiefere Sinn, der ihnen allen ursprünglich zugrunde
i) OundakoTy qui et Ounxo aot d. J. 1014 bei J. Grimm, Gramm. IV, 1338
(3. Aufl.).
3) Ebend. S. 1239.
3) Ebend. S. 1240.
— 249 —
lag, ihre Anmut und Schönheit wurde zwar nicht mehr vom Volke
verstanden und gewürdigt, aber trotzdem hielten sich die Namen als
dunkle, schemenhafte Gestalten, sie blieben bestehen aus Gewohnheit
und Familienrücksichten. Ulrich, Uodalric, im VIII. Jahrh. , von
uodal, odal, ahd. uodil (= Erbgut oder Heimat), alts. oäil, ags. eäd
und rieh *), got reiks (= mächtig, vornehm), ahd. rihhi, mhd. riche,
also den Erbgutreichen, den Herrscher über seinen Erbsitz, nannte
man im ausgehenden Mittelalter, ohne sich dabei etwas zu denken,
einen, der als armer Teufel durchs Leben ging, Wolfram (Wolfhrahan,
VII. Jahrhundert), nach den heiligen Tieren Wotans, dem Wolf und
dem Raben (ahd. hraban, räban, hram, ahd. u. mhd. ram), einen,
der ein guter Christ war. Nach wie vor wurde der Name Bern-
hard, der Bärenstarke {Berinhard, VIII. Jahrhundert) gebraucht, ob-
schon das heilige Tier Donars in Deutschland längst ausgerottet und
der Träger des Namens vielleicht ein schwacher und recht fried-
liebender Mann war; Bluoma ^), Rosa, Minna (die Liebreiche), Tiura
(die Teure), Holda (IX. Jahrhundert), Vreuda, Wunnegebe (XIII. Jahr-
hundert) bezeichneten weibliche Wesen, die vielleicht nie Sonnenschein
ins eheliche Leben brachten.
Aus Gewohnheit und Familienrücksichten, sagte ich, wollte man
den Namen des Vaters, Ahnen oder Urahnen nicht missen, und hielt
oft jahrhundertelang daran fest. Neben den alten Namen bildeten
sich aber, besonders in Familien mit zahlreicher Kinderschar, immer
neue: die Römer halfen sich nüchtern mit einfachen Zahlennamen,
wie Secundus, Quinius, Sextus, Sepümus, Oeiavus, Nont^^ Decimus%
und auch unseren deutschen Voreltern ist dieses Auskunftsmittel nicht
entgangen ; belegt sind die entsprechenden Namen Sipunia (VIII. Jahr-
hundert), Niunta (VIII. Jahrhundert), Einciho (IX. Jahrhundert) und
Einicho (X. Jahrhundert). Aufeerdem wurden die Koseformen oder
Kurznamen immer zahlreicher. Auch Abkürzungen, Umstellungen der
alten Namen traten ein: aus Winirich (VIII. Jahrhundert), der Freunde
Fürst, wird Bichwin (kein Imperativname!), aus BcMwin, Balduin
i) Dad rieh kein germanisches Wort, sondern aus dem Keltischen entlehnt sei,
wird jetzt last allgemein (auch von Socin S. 3io) angenommen. Ich kann dieser An-
sicht nicht beipflichten, denn es ist doch wohl nur Sprachverwandtschaft, auch mit lat.
rex, anzunehmen: Ämaiarichy Hermanarieh im Gotischen.
2) J. Grimm, Über Frauennamen (ms Blumen (Berlin 1853).
3) Eine unter den der Legende nach mit der heiligen Ursula von Britannien nach
Köln gekommenen Märtjrrerinnen befindliche ündeeimilla ist der Anlafs zur Entstehung
der Sage von den dftausend (undeeim müia) Jungfrauen geworden.
— 250 —
kühner Freund, WihbaU, WimbaÜ, Wimpel, aus Berthar: Herbert^ aus
HiUhurg : BurghiU. Schliefslich kommen auch Umstellungen und Ab-
kürzungen innerhalb derselben Silbe vor: hret entsteht aus beri, ferd
aus frifhu, fridu, fred (Ferdinand aus Fridunand), mhd. berM aus ahd.
beraJU (glänzend).
Und selbst heutzutage hat die BUdung neuer Namen noch nicht
aufgehört, und der herrliche germanische Namenschatz wird noch immer
bereichert. Freilich ist die Tatsache nicht wegzuleugnen, dafs auch viele
fremdsprachige Namen, zunächst solche der Heiligen '), mit der Aus-
breitung des Christentums und Einbürgerung des Kalenders mit seinen
Märtyrertagen bei uns eingedrungen sind, und da(s der Völkerverkehr,
besonders seit Ausgang des Mittelalters, uns auch eine grolse Zahl
Namen zugeführt hat. Die Neubildung von Namen und die Anwen-
dung und Verbreitung der alten ist dadurch zweifellos aufjgehalten und
vielfach verhindert worden. Aber für die Neuzeit läfst sich bereits der
Beweis erbringen, dafs besonders in der evangelischen Bevölkerung die
national-deutschen Namen nach der Reichsgründung mehr imd mehr
Aufnahme gefunden haben ').
Diesen wenigen Andeutungen liegt nicht die Absicht zugrunde,
die Probleme der Namensforschung erschöpfend vorzufuhren. Sie sollen
vielmehr als Anregung dazu dienen, die Namenkunde einer bestimmten
Gegend •) als Hilfsmittel zu deren geschichtlichen Verständnis zu ver-
i) VgL V. Briuningk, Der Einfluß der Heüigenverekrung auf die WM der
Taufnamen in Riga im Mittelalter (vgl. Sitzungsberichte der Gesellschaft für Geschichte
and Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rufslands ans dem Jahre 1903, S. 77 — 83).
2) Vgl. Pulvermacher, Programm des Lessinggymnasinms, Berlin 1903. — Die
1886 in Görlitz üblichen Rufnamen steUte Je cht im Neuen Lausitzischen Magazin Bd. 62,
S. 149 — 154 zusammen.
3) Untersuchungen über die Personennamen in einzelnen Städten und Gegenden
gibt es bereits eine ziemliche Zahl, aber sie nutzen sämtlich das Material nicht genügend
geschichtlich aus. Es seien hier genannt: Je cht, Beiträge xur Oörlitxer Namen^
künde, (Neues Laus. Magazin, Bd. 68, 1892); Knothe, Die Entstellung und Bildung
bürgerlicher Familiennamen in der Oberlausitx bis gegen Mitte des XIV. Jahr*-
hunderts (Neues Archiv für sächsische Geschichte und Altertumskunde XIV, 1893,
S. 312 — 323); Göpfert, Annaberger Familiennamen (Mitteilungen des Vereins für
Geschichte von Annaberg und Umgegend, V. Jahrbuch, 1896—1898); Koch, Saalfelder
Familiennamen und Familien (1877 — 1878) ;Kleemann, Die Familiennamen QuedUn-
burgs und der Umgegend (i 89 1 ) ; H e s s e 1 , \Die deutsehen Familiennamen und ihr Zusam-
menhang mit der deutsehen Kultur ^ erläutert an den in Krewunaeh vorkommenden Namen
(Kreuznach 1869); Leithäuser, Die ältesten Wupperthaler Vornamen (Monatsschrift
des Bergischen Geschichtsvereins, III, 1896, S. 146 — 160); Glöel, Die Familiennamen
Wesels (Wesel 1901). — Im Vorübergehen werden die Namen z. B. behandelt fUr
Kaschan im Archiv 'für Kunde Österreichischer GesehiehtsquelUn, 30. Bd., (1863),
— 251 —
wenden — da die Namensform zu bestimmten Zeiten eine bestimmte
Gestalt hat, ist die Namensforschung auch ein Hilfismittel der Quellen-
kritik! — und in diesem Sinne Forschungen anzustellen, sie sollen aber
auch einer speziellen Untersuchung über die Arnstädter Namen
von 704 bis zum Ausgang des Mittelalters, die hier folgt,
den allgemeinen Hintei^irund geben und ihre Einzelheiten verständlich
machen. Nur so wird es möglich werden, die Fülle von Beobachtungen,
die sich darbieten, zu bemeistem tmd wissenschaftlich das Gebiet der
deutschen Namenwelt zu erschlieisen , von dem ich mit Anlehnung
an L. Tieck sagen möchte:
Mondbeglänzte Zaubemacht,
Die den Sinn gefangen hält,
Steige auf in aher Pracht,
Wundervolle Namen weit!
Der Stadt Arnstadt gebührt in Hinsicht des Alters unbedingt der
Preis unter den Städten Thüringens *). Schon 704, etwa 25 Jahre nach
dem -Auftreten Kilians und 15 Jahre vor Bonifatius' Ankunft in Thü-
ringen, regierten in Thüringen imd dem heutigen Franken eigene
Herzöge, die in einem ziemlich losen Abhängigkeitsverhältnisse zu den
£ränkischen Königen standen, und ihre Residenz war Würzburg ').
Einer von ihnen, Heden der Jüngere, stellte hier am i. Mai 704
eine Urkunde aus, laut welcher er dem Bischof Willibrord zu Utrecht
Güter in Arnstadt (AmeskUi), in casteUo Muienberge (j. Mühlberg,
Rgb. Erfurt) und in curte — nuncupante Monhore (j. Ostermondra,
Grofemondra bei Sangerhausen) schenkungsweise überliefe.
Die ersten Träger von Namen, die uns mit dem Anfange des
VIII. Jahrhunderts in den Arnstädter Urkunden entgegentreten, sind
der genannte Erlauchte Mann Heden, Herzog von Thüringen, der uns
S. 33—44; für die Mark Brandeobarg (XIV. Jahrhundert) bei Klöden, Diplomen
tiaehe öeaehiehie des Markgrafen Waldemar von Brandenbitrg L, (1844), S. 131 &,
395ff.; fUr Braanschweig bei Haremann, Otachiehte der Lande Braunaehweig
und Lüneburg L, (1853), S. 331 ; fdr Leipzig bei Wastmann, Quellen zur Oe-
aehichte Leipzigs L, (1889), S. 46, 71 ; fUr Halle bei Hertzberg, Geschichte der
Stadt Haue o. S. L, S. 210, 213, 424; für Erfart bei Kirchhoff, Erfurt im
XTTI, Jahrhundert (Berlin 1870) S. 49—54.
i) Thuringasnes laatet der Name 726 im ürkundenbuoh der Stadt Arnstadt 704 bis
1495, heraosg. von Barkhart (Jena 1883) — im folgenden abgekürzt A. U. — S. 2. VgL
Dr. Ladwig Friedrich Hesse, Arnstadts Vorxeit und Oegenwctrt, 184s, Heft r, S. 2.
2) Virednsreh, A. ü. i, S. 2, J. 704.
— 262 —
als Uedenus vir illuster, als Hedenus dux, vir illuster, auch blois Hede-
nus (704) oder Illuster vir Hedenus (726 im Testamente Willibrords;
gestorben ist Heden wahrscheinlich schon 716) entgegentritt. Seine
Gemahlin heilst Theodrada (cum ctmiuge mea darissima TheodradaJ,
und der Sohn beider Thuringus (Thuringus^ fUius Hedeni). In der-
selben Urkunde werden erwähnt der Bischof von Utrecht, WüUbrardus
episcapus, und am Schlüsse in der Datierung der Frankenkönig Childebert.
Es ist herzerfrischend, gleich in diesen hohen Kreisen so schönen
und seltenen, und zwar echt germanischen Namen zu b^egnen. Der
Stammvater Hedens ist Chamarus ^). Diese Form ist echt fränkisch
wegen des scharfen Hauchs im Anlaut statt Hamar(us) *), und einfach
ein im Sprachschatze vorhandenes Appellativum , keine Koseform,
ebensowenig wie StaJud, Magan, Groß (VIII. Jahrh.) und Nagal
(DC. Jahrh.), aber wie diese letzteren Namen ein Sinnbild der
Festigkeit und Kraft, und bedeutet „Hammer'', wobei man wohl an
den nordisch Miölnir benannten Hammer Donars, den Blitzstrahl,
denken darf ^). Dessen Sohn führt den Namen Badulf aus ahd. und
mhd. rät („Rat"), ein Wort, das sich seit dem V. Jahrh. in Per-
sonennamen findet, und ulf, olf (^=a. wolf), Ratswolf, d. h. also vielleicht
soviel wie der nach Rat Gierige. Dieser Name ist nicht identisch
mit Rudolf (=» Hruodölf, Ruhmeswolf, der nach Ruhm Gierige). Seine
i) Hedens Geschlechtstafel ist nach Eckhard, Commeniar. de reb. Franc, orieni.
I, 325, abgedrückt bei Hesse, a. a. O., S. 81, folgende:
Chamarus
Radolf (Rudolf, Ruodo), Gemahlin:
Herzog von ThOringen, 630 Kunigunde.
Heden (Hedene; Hethan) der ältere, Herzog, gest. 651
I. Gem., unbekannt 2. die heil. Bilhildis
Aus I. Ehe: Aus 2. Ehe:
Sohn mit unbekanntem Namen, Theobald oder Gozbert, Sigebert,
dessen Gem. Geilana Herz. v. Thür., 687 als Kind gest.
Gem. Geilana,
Witwe seines Bruders.
Heden (Hethan, Hetan) der jüngere, Herzog von Thüringen,
704. 716. Gemahlin Theodrada
, fs ,
Thuringus, 704. 716 Die heil. Irmina.
2) Bei Förstemann, Altd. Namenbuch I' wird Hamar erst im VIEL Jahrh.
erwähnt ; Eamerard (Vm Jahrh.) und Hamarolf (DC Jahrh.) sind Vollnamen, aber m. E.
erst sekundäre, jüngere Bildungen.
3) Als Analogie wäre heranzuziehen Makkabäar vom hebr. Makaph (Hammer) und
Karl Marteü, wo letzteres Wort nur Zuname ist.
— 253 —
Gemahlin beiist Kumgunde aus chuni, abd. kunni, chunni (Geschlecht)
und gund (Kampf), und dies ist ein echter „Walkürenname 'S wie
MüUenhoif die al^ermanischen Frauennamen einmal genannt hat
Beider Sohn ist Heden vom ahd. hetan, Hedin (VI. Jahrb.), fränkisch
Chedin, Heden(us). Die Bedeutung des Stammes ist noch unklar; den
Stamm selbst bat Grimm (Ztschr. f. deutsch. Altert. II, 2) erkannt;
an eine Verwandtschaft mit dem Stamme Aat^n (nach Förstemann
= Häuptling über Landbewohner, später heidnische Urbewobner) ist
nicht zu denken, und an den Stamm hcUhu, hadu (Krieg, Hader) mit
Suffix in (vgl. Irminl), der in Hedwig aus Hathuwic lebt, ebensowenig ^).
Hedens zweite Gemahlin hieis Bühüdis aus hil (ahd., mhd. Streitaxt,
unser Beil; vgl. aber auch gr. (piXo^ und den alten Stamm hil im
Sinne von Billigkeit, Recht) und hilt (ahd. hiUjay alts. Mld = Kampf) *).
Ein Sohn Hedens unbekannten Namens aus erster Ehe war vermählt
mit Geilana, verkürzt Gaila^), Dieser Name ist abgeleitet von geü
(ahd. gaü, keü, mhd. geil, übermütig, lustig), imd die männliche Form
würde Geilo lauten. Mit demselben Stamme sind gebildet GeUmci,
GaUrat und Gailrada, GeUwib, die alle im VIII. Jahrb. belegt
sind^). Der andere Sohn, Theobald (=: Thieodbald = Theudobald,
ahd. Dietpcid, vom Stamme theuda, got. thiuda, ahd. diot Volk) und
b(üd {baU, boU, kühn), oder Gozberi — sekundäre Bildung aus der
Koseform Gojso zu god (Gott) und bert glänzend (ahd. peraJU) — ver-
i) Ein altgennanischer und zwar einstämmiger Name ist Heden, Bedan, Hetan
jedenfalls. Als Familiennamen haben wir ihn heute noch in Meiningen und Dresden.
Der Name des berühmten schwedischen Reiseoden und Forschers Sven Hedin (HedirmJ
erinnert an den nordischen Stamm hedhinn „Rock, Kleid ^^ in OundhetaUf Wolfhetan,
MardhetiHf Bjamheddin und im Angels. üolfhedan IX. und X. Jahrh. => Hede-
ntdfuSy die Umkehrung, wie in Kemot »o Nötker, Wolfgang »o Qangolf (unser thttring.
GangloffiBömmem -■ Gangolfss.), Nanttcie und Wicnant, Ntthart und Hartntt, Es
könnte m. E. hedan, hedm tropisch «» der Schütxende sein; vgl. ags. hedan hüten, be-
hüten, das altgerm. heim und hat (englisch ■■ Hut). Auch an den Namen Theiudane
(bei Förstemann) zu thiuda (Volk), der wie eine Partiiipialform aussieht, möchte ich
erinnern.
2) Bühüdis mit ausgefallenem t, bez. «; nrspr. Büihüd (-ts -ay im VL, VIL und
Vm. Jahrh., neben BilehiU und Bilhüd im VIII. Jahrh. Büihüd ist , was mir bei den
nahen Beziehungen zwischen dem fränkischen Königshanse und der thüringischen Herzogs-
familie nicht nnerwähnenswert scheint, auch der Name der Gemahlin des Königs Theode-
bert IL (VI. Jahrh.) und des Königs ChUderich U. (VU. Jahrh.).
3) Qeratrudis Mi Oeüa, traditiones Wizenburgenses im Jahre 7X7(Förstemannl'
567) ist durchaus nicht dem Sinne nach dasselbe trotz sibi statt eive; vielmehr ein gar
nicht dem VoUnamen Gertrud verwandter einstämmiger Name; im übrigen entsprechen
solche Beispiele mit sive (aeu) den doppelten Taufnamen.
4) Förstemann, a. a. O., S. 567f.
— 254 —
mahlte sich mit der Witwe seines Bruders, der eben erwähnten Gei-
lana (Oaila, Geila). Dieser Namenwechsel deutet den Übertritt zum
Christentume an ^) ; in anderen Fällen vollzieht er sich beim Eintritt
in den geistlichen Stand; so wird Winfrid zu einem Bonifatius, Oer^
heri als Papst zu einem Sylvester. Förstemann denkt an zwei verschie-
dene Herzöge: Thetidobald im VII. Jahrh. und Goi^>ert ebenfalls
im VII. Jahrh., wenn er Gaila, die Tochter des Thüringerherzogs
Gozbert^) nennt
Aus zweiter Ehe stammt der bereits ab Kind verstorbene dritte
Sohn Hedens des älteren, Sigebert von sig (got. sigis, ahd. sigu, sigi,
mhd. sige, sie „Sieg**, seit dem I. Jahrh. in Namen: Segimer (statt
Sigimer, Sigmar), Segimundus, Segestes bei Tacitus) und bert*),
Hedens des älteren zweiter Sohn und Erbe ist unser neden(us)f
Heden, der jüngere. Seine Gemahlin Theodradä, aus thieod = ihiuda *),
diet und rada von rat mit der ahd. und lat Endung -a, ist die
„Volksberaterin**. Bei Förstemann findet sich auch die Femininform
Gtmderat ohne a, echt deutsch, denn im ahd. bildet man männliche
und weibliche Personennamen mit -ratj wie mit -/rö, -lauby -nmot,
'Sint und -ung (z. B. Hedtoig, männlich und weiblich; als Familien-
name, also männlich, findet sich Hedwig noch jetzt), und nur die weib-
lichen Kosenamen haben in der Regel die ahd. und lat. Endung -a,
mhd. -ß. Theodrat schenkte ihrem Gemahl zwei Kinder, einen Sohn,
Thuringus, und eine Tochter, Irmina, d. i. die heilige Irmina, Kloster-
jungfrau zu Karlburg. Mit ihnen erlischt das erlauchte Geschlecht.
Thtmng(tis), d. i. ahd. Thwring, Turinc, Durinc, Dttring, (der Thüring,
Thüringer, unser Familienname Döring) ist vom Volksnamen her-
genommen, — urspr. Hermunduren, d. h. die grolsen Düren, also ein
i) Nadi anderer Erklänmg Oox vom Stamme gatix^ (Gote).
2) Sonst auch Oaud (Gote); die Stämmen füefiien zusammen (so Ooxheltn neben
Ootahelm) ; jenes zu Oauta (Qctud), dieses zn Oud „ Gott *'*' gezogen bei Förstem.
3) Die Verkürzung im i. Teile der Zusammensetzung aig statt ngts (Sigfrid statt
Sigisfiridy Sigmund statt Stgtsmund, Sigmar) ist uralt; so ad verkürzt ans adal schon
frühzeitig (Adabraht » Adalbraht, Förstemann I', 163, Ädamar 850, Adarieh,
Adolf, Adbold 816, Adbraht, Adwin ebd.), uod verkürzt und uodai (Uoddbraht X. Jahrh.);
am aus amal; eg aus egil, egis; gis aus gial, gisal; erm oder irm aus ermen,
irmini Irmina -« Irma — im Ungar, aber Bma ■■ Marie per mekUhesin — im-
gart aus Lmingart; vgL Lmintrui; erk aus erkan (Erehanger und Ereaharius, Ere-
mar)] fruoch aus fruochan^ wdeh aus wolchan; is aus tsan (banbert)', it aus üis
(Ba, Ha), Vgl. Henning, Haupts ZUchr. XXXVn, S. 312.
4) So enthält die Form Leopold nicht den roman. N. leo (Löwe), sondern leo ist
eine Verstümmelung aus dem altd. Stamme Hut, ags. ISode Leute, Volk, P. N. Leodegar.
Romanischer Einflufs ist aber nicht ganz auszuschliefsen.
— 255 —
nomen gerUäe; es ist zugleich die älteste patronymische Form in un-
serem später auf Durioheim beschränkten Gebiet und nicht etwa eine
einstämmige Kürzung, welche Dura lauten müfste. Die Vollnamen
ThuringbraJU oder Turind)ert, Thüringer und Thurringarius statt Thu-
ringger, Turincwart, die im VIII. — IX. Jahrh. vorkommen, halte
ich für sekundäre Bildungen nach Art der alten zweistämmigen Per-
sonennamen. So lauten die alten Formen Baiar, Burgunt (fem.?),
Charlinch^), Fine (Beowulf), Francho, Freaso oder Friso (Friese),
Griwsing, Htiso und Hesso, Scuihso, Mar, Si4ab, TTitmng, Wifdd und
sind einstämmig, während die Vollnamen Blacfin, Oodfifmus und SU
gifin, MoroU, Hasulf usw. sekundär sind *).
Irmina, d. h. die Höchste , Hermine ■) , vom Stamme irmin, Ir-
min, bezeichnet den kriegerisch dargestellten höchsten Gott Wotan
(oder Halbgott: Ermin, Innin, Grimm, Mythol., S. 325), überhaupt
das Höchste; der Name ist gebildet wie Basina; dies war die Tochter
des Bisinus, des Königs von Thüringen (V. Jahrh.) und Gemahlin
des Frankenkönigs Chüderich. Irmina ist wieder der einstämmige
alte Name; die Vollnamen dazu sind Ermandrud (VI. Jahrh.) oder
Irmindrud, Ermengard oder Irmingari, Ermehgundis (VII. Jahrh.).
Die ganze Sippe Hedens zeichnet sich durch echt germanische Namen
aus. Aber auch Childä)ert, das ist Childebert IL, König der Franken
(695 — 711), hat einen germanischen, durch die Aspirata im Anlaut als
fränkisch charakterisierten Namen : child (ahd. Mit) und bert, neuhoch-
deutsch Hubert, Hilpert, bedeutet kampfglänzend, der glänzende Kämpfer.
Wiüibrord ist ein ebenfalls deutscher Name und besteht aus tviUi,
(got. ioilja, ahd. müo, mhd. tviUe „Wille, Gesinnung") imd ahd. prort,
prot, ags. brarä „Rand, Schildrand" (auch Schiffsrand), dann — totum
pro parte — der Schild selbst, oder die Spitze (des Schwertes , dem
Sinne nach = or{). Das ursprüngliche ; des Suffixes ja erhielt sich
in Wilia *) — und Wilie — das auf dem Wege der AssimUation zu
i) Thuring ist Volksnftme, Charlineh, »ach Kerline in den Urkunden (-■ Karo-
linger) Geschlechtsname : Carl, Karl (karel), d. h. der Gemeinfreie ist zum „Kerl" geworden.
2) So ist Smido älter als Smidhart and Smidirat, also nicht die Koseform dazu;
es sind erst aus jenem entstandene Neubildungen; so ist Karl älter als Karlman, die
Zosammensetzong in diesem Falle also wieder sekandär; so ist VoenuM (Volcman) jünger
als Voceo, Wopeman jünger als WoppOy Woffekint jünger als Woffo,
3) Lrmina und Ermina sind gleichbedeutend: Ermina heifst schon im VIL Jahr-
hundert eine Tochter König Dagoberts II. Auch der Volksname Herminones und imAn-
schlnfs daran die JBermunduri gehören hierher.
4) Der einstämmige Name Wilia findet sich im V. Jahrh. Statt des SufEzes
ja zeigen auslautendes i schon im Gotischen die N. Tkeudi = Thntdeis^ Waei ■■
Wakjis, Neudi = Niudeis, Albi — Älbeis, Vgl. Wrede, Sprache der Ostgoten, S. 181.
— 256 —
Wüla — (seit VII. Jahrb.), WiUi — (seit Vni. Jahrb.) und WiUe-,
daraus Wila-, Wili-, Wile-, endlich Wil- wurde. Der Name WiUi'
brord bedeutet etwa den „willenskräftigen Beschützer**. Ein solcher
war er dem Christentum, das laut unserer Urkunde um diese Zeit
schon in Thüringen verbreitet war. Seine Anwesenheit in Thüring^en
ist durch Urkunden auch sonst beglaubigt. Dazu treten am Schlüsse
der Urkunde Laurentius indignt^s presbyter, der Schreiber bezw. Verfasser
der Urkunde, und wohl als Zeugen, ohne jeden Zusatz : J. Rocchus. DodcL
Laurentius ist ein kirchlicher lateinischer Name und heifst ,,der
Lorbeerbekränzte**. Der kirchliche Träger des Namens, der heilige
Laurentius, war im III. Jahrh. Diakon zu Rom und ward als Mär-
tyrer auf einem Roste verbrannt ; presbyter bezeichnet einen Geistlichen
höheren Grades als sacerdos, wiewohl beide Bezeichnungen unserem
„Priester** entsprechen. Der Buchstabe J. ist die Abkürzung eines
Namens und als aufserordentlich frühes Zeugnis einer solchen Abkür-
zung bemerkenswert; es kann damit sowohl der Name Jacdbus als
auch Johannes bezeichnet sein, wiewohl ersterer Name zu «7a., letzterer
als Jo. abgekürzt zu werden pflegte *).
Bocchus ist vom Stamme hroc, got. hrukjan, ahd. rohon, rugire,
wohl mit Bezug auf den Schlachtruf [ßor^ dya&dg!) gebildet; der Be-
deutung wegen ist schwerlich mit Förstemann an roc = ruah, ruoh
„Sorge, Ruhe** zu denken. Crocus hiefs schon im IV. Jahrh. ein
Alamannenkönig — Hrocus lautet die Form bei Gregor von Tours; es ist
ein einstämmiger Name; an den Bischof Rochus, Rocho von Bourges, der
um jene Zeit lebte (697 — 737), ist in unserer Urkunde wohl nicht zu
denken. Doda, ebenfalls deutschen Ursprungs und dasselbe wie Dodo,
ist ein mehrfach für Bischöfe im VI. und VII. Jahrh. bezeugter
Name; für unsere Zeit käme vielleicht Bischof Dodo von Toul in Be-
tracht (705). Dodo ist entweder ein „ Lallname ** (Socin) von toh = pa-
trinus, tcUa = Vater, oder es gehört zu thiuda, diot Doda als msc.
kommt nur hier und in der Vita Meinwardi episcopi (Mon. Germ. S.S.
Bd. 13, 122 u. 129) vor, aber als Duda, auch bei Cassiodor. Sonst
erscheint Doda nur als Frauenname, ist aber als solcher im
VII.— IX. Jahrh. sehr häufig.
Zu diesen Namen gesellen sich neue erst im X. Jahrh.; denn
für die letzten drei Viertel des VIII. *), das ganze IX. und mehr als
x) Zum Kapitel der Namensabkürzangen vgl. Socin, a. a. O., S. 43.
2) In dem A. U. findet sich S. 12 zum Jahre 1266 auch Karuku impenUor, Kart
der Grofse, erwähnt Bii zum Anfange des X. Jahrhunderts — wohl noch vor Heinrich I. —
gehörte Arnstadt der Abtei Echternach, und Karl der Grofse bekleidete selbst fast ein
— 257 —
die erste Hälfte des X. Jahrh. sind die Geschicke unseres ÄmeakUi
in Dunkel gehüllt. Es liegen aus dem VIII. nur zwei, aus dem
DC. keine, aus dem X. zwei, aus dem XII. iiinf, aus dem XIII 51,
aus dem XIV. 188 und aus dem XV. Jahrh. (bis zum Jahre 1496)
641 Urkunden vor; es bedeutet dies erst äu&erste Seltenheit, dann
Häufigkeit und schlieislich Überflufs an Namenmaterial.
Das Jahr 954 erst lüftet den Schleier ein wenig und gibt ims
^wieder Kunde von Arnstadt und seiner wachsenden Bedeutung. Laut
Urkunde vom 17. Dezember wird nach dem Tode des Erzbischofs
Friedrich von Mainz (dompjnus Frühuricus sandae Mogontiacensis
ecclesiae archiepiscapus), Wilhelm, Wülidmus, der Sohn Kaiser Ottos I.
und einer slawischen Fürstin, die als Gefangene am Hofe seines Vaters
Heinrich lebte, im Alter von 26 Jahren auf der Reichsversammlung
zu Arnstadt (in loco Aranstedt, in A. U. S. 4 in AmesUxt) zum Erz-
bischof von Mainz ernannt und daselbst Friede inter regem OtUmem
et fUium eius Liadolfum geschlossen.
Alle vier Namen sind echt deutsch. Frühuricus kommt vom
Stamme frid, ahd. fridu, mhd. vride, „ Friede, Waffenstillstand, Schirm
und Schutz " und ric (rieh) vom Stamme rikja ; dies findet sich schon
in vorgermanischer Zeit bei Namen im Sinne von rex, keltisch rig,
worauf z. B. der Ortsname Migomagus (jetzt Remagen) zurückgeht , in
dem Namen Boiorix (II. Jahrh. v. Chr.), dann denen der Goten-
könige Ämalarieh, Hermanarieh, Älarieh. Rieh ^) ist got. reiks, König,
tmd ebenso reiki reich, ahd. rihhi, es hat also eine Spalttmg in rika
nnd rikja stattgefunden, von denen das erstere mehr als Grundwort,
das zweite mehr als Bestimmungswort Geltung zu beanspruchen scheint.
Der Name Frithuric ist seit dem V. Jahrh. beglaubigt und bedeutet
„der Friedefurst'S hebr. Salomo. Das auslautende u des ersten Teils ist in
unserer Urkunde noch beibehalten, vom XII. Jahrh. an heilst es
Friihericus (Fredericus), heute = Friedrich : Fridu, Frida, Fride, Frid *),
Jahr die Würde eines Abtes dieses Klosters. Der Name selbst ist ein altgerm. , einst
vom St Karl (ahd. karal, mhd. karl, der Mann, der Mannhafte, der Held, lat. Carolas
Vn. Jahrhundert, Karolus, Oarlns, tlberaU oft; ans ahd. karal anklingend Caralns oder
Karolos selten, ebenfalls selten unsere Form Karulus, verd. aus Karoliu; die Form Kamins
findet sich bei Landulf, hist Mediol. und in St. GaUer Urk. des Vm. Jahrhunderts, auch
in Bayern, scheint also m. £. vom Süden aus eingedrungen und mehr die Gelehrtenform
zu sein; griechisch KäQOvXog bei Theophanes (Forste mann 1', S. 359). — Vgl. auch
S, 255, Anm. I.
i) Vgl. oben S. 249 Anm. i.
2) So wird Hadu- zu Häel'.
— 268 —
«
Fred und ric (rieh) bezeichnen die chronologische Reihenfolg-e der
Namensformen.
Wülielmtis von toiUi (s. oben) und heim (got. hihns, ahd., mhd. heim
Helm, d. i. Schützender), WiOaMm VII. Jahrh., WiUahalm VIII. Jahrb.,
dann WiUihelm, WiUihalm ; in WiUielmtis haben wir zwar die lateinische
Endung und Ausfall des h, aber sonst die deutsche Schreibweise,
GruiUemus ist die auf romanischem Boden erwachsene lateinische
Form.
Otto ist einstämmiger Name (Kürzung?), abgeleitet vom Stamme
od, ot, alts. od „ ererbter Besitz, Reichtum ", ^ot aud (vgl. atidctgs =
selig, ahd. ötag = reich, begütert, glücklich und den zweiten Teil
unseres Wortes „Kleinod") mit der Endung o.
Lit4dolf(us) aus liud, ahd., mhd. liut Volk und olf, identisch mit
lAudtdff IV. Jahrh., Volkswolf, d. h. der das Volk zum Siege Füh-
rende, der Name lebt noch im heutigen Familiennamen Leitholf (Erfurt)
mit unorganischem Ä, oder Leithoff,
Für das XI. und den gröfsten Teil des XII. Jahrh. schweigen die
Urkunden abermals; erst das Jahr 1176 hat uns eine bewahrt und mit
ihr folgende Namen: Ekkenbert ist Geistlicher in Arnstadt, Heinrich Vogt
daselbst und sein Bruder heilst EdeJhertis von Amstete; ferner wird der
Adelige Albert von Qrumbixch genannt. Der erste, zweite und vierte
kommen auch 11 84 vor.
Ekkenbert gehört zum Stamme (ig, ahd. ekka, mhd. ecke, d. h.
Spitze, Schwertschneide, dem Sinne nach = ort und wie dieses in
Namen mit der allgemeinen Bedeutung „Schwert" (pars pro Mo) \ die
schwach flektierte Form zu (ig ist iigin, daraus wird durch Umlaut
eciken, und der Name bedeutet so viel wie der Schwertglänzende.
Heinrich gehört zu hagan, hagin, der erweiterten (schwachen) Form
von hag, mhd. hoc, Zaun, Einfriedigung, umhegtes Gut ^), Dorf, Stadt,
und ric, rih = Haganrih, VII. Jahrh., der Fürst des umhegten Ortes,
später seit Anfang des IX. Jahrh. zusammengezogen zu Heinrich, ht.
Heinricus, Henricus.
Eddherus kommt vom Stamme addl, ahd. adal, mhd. add Ge-
schlecht, edles Geschlecht, verwandt mit ahd. iwdil, Elrbsitz, Heimat,
und hari, umgelautet her, got. harjis, ahd. hari, heri, mhd. here, Heer,
x) Nach Tacitas, Germ. 16 herrschte bei den Germanen die Gewohnheit, ihre
Gehöfte mit andarchdringlichen Domwällen absuschliefsen. So wehrte man im Mittel-
alter den Zugang za den Borgen durch einen Verhau, ein Palisadenwerk, das hämUi
Schulze, Das höfische Leben, P, S. 16.
— 259 —
auch Kämpfer, und ist belegt als AdaXhar im VIII. Jahrb. und Ädaiheri;
die Kürzung Ethüo, Edüo findet sich im DC. Jahrh.
Albert, meist in der lateinischen Form Älberhts und in der deut-
schen AJbrekt (AJbreeht) bel^t, besteht aus adal und hert, und be-
deutet „der durch Besitz, Reichtum Glänzende".
Im Jahre 1182 werden genannt Sifridus (= Sigirid), Abt von
Hersfeld*), Oraf Heinrich van Buch, Vogt des Klosters Memleben,
und am Schlüsse Kaiser Friedrich L, der Rotbart (regnanie gloriasis-
simo Bomanorum imperatare Friderico huitts naminis primo). Sifridt^
vom Stamme sig, im VII. Jahrh. Sigifrid, bedeutet der siegreiche
Friedensfürst, und der Name lautet heute Siegfried oder Seifert; Sifri-
dus ist die zusammengezogene Form aus Sigifridus, Sigefridus.
Ebenfalls im Jahre 1182 treten auf Adekild, Abt in Pforta, Be-
ringer, Schultheife von Amstete, und sein Sohn Gottfried — die beiden
letzten als 2^gen; 1184 und 1196 Ccnrad^ Erzbischof von Mainz;
1196 Oebhard, Vorsteher des Walpurgisklosters zu Arnstadt.
Der Name AdeMd aus adal und oU <» tvaid, toalt, waltend, lautet im
VII. Jahrh. AdcUoald (Langobardenkönig) und Addtoald; Addold ist
zuerst 849 im Chronicon Hildeshemense belegt. Beringer, aus herin,
der schwachen Form von her, ahd. hero, mhd. her, Bär, das in Namen
tapferer Mann, Held bedeutet, und ger (= gar, ahd. mhd. gir, Wurf-
speer) zusammengesetzt, bezeichnet den, der „wie ein Bär kämpfte" ').
Beringar ist die zuerst im VIII. Jahrh. in Urkunden belegte Form.
Gottfried (Gotefridus, Gotfrü) gehört zum Stamme god, got, guth,
ahd. mhd. got, „Gott", nach Luther, dem wir übrigens das älteste
deutsche Namenbüchlein — Aliquot Germanarum namina prapria
(Wittenberg 1537) — verdanken, der Gute, ursprünglich der An-
gerufene, wie bei den Indem (Veda) Indra puruhüta, der viel Gerufene,
heilst, und bedeutet etwa „der durch Gott Schützende".
Conrad ist ahd. Kuonräi, lat. Canradus, und daher mit Verkürzung
des Selbstlautes Conrad. Gehhard, aus Gab, Geh, Gib, got. gihan,
i) Arnstadt stand seit Wülibrords Tode zur Hälfte anter den Äbten von Echter-
nach, dann anter denen von Hersfeld bis sam Jahre 1306; der andere Teil gehörte den
Grafen von Keremborg-Schwarzbarg.
2) Starke and schwache Formen ein and desselben Stammes kommen mehrfach
gleichzeitig nebeneinander vor: so arin, am (schwach) neben ar (stark), berin, bern
(schwach) neben 6er (stark); Beringar, Berinhard, Berinher, Bemeold schon im
Vin. Jahrhandert, aber gleichzeitig auch Beraward (Berwardus, Bervoart); Beringer ist
älter als Berigarius, amgelaatet Berger. Diese Fälle sind natürlich von den oben er-
wähnten Verkürzungen streng za scheiden.
— 260 —
ahd. g'ä>an, mhd. geben, geben, lautet im IX. Jahrh. Gebahard und
bedeutet der sehr Freigebige.
Zu keiner Zeit — das zeigen uns schon die bisher besprochenen
Namen — hat die Neubildung einen Stillstand au&uweisen, und selbst
im X. und XL Jahrh., wo die aus den Urzeiten überlieferten altgerma-
nischen Namen ausklingen, hat man nicht etwa nur vom vorhandenen
Kapital gezehrt. Die Neuschöpfung zeigt sich in der Erweiterung-
des ersten Teiles der Zusammensetzung : man sagt z. B. jetzt GodSberct
statt Gotbert, GunddlperM statt Gimdperht, GerinhoU statt GeroU,
Gcfteshdm statt Goihelm, Grodesscalh statt Gotscäth usw. ^). Sie zeigt
sich aber auch in der Verkürzung des ersten Kompositionsteiles : Heinrieh
ist aus Haganrih (VII. Jahrh.), MeinhcNrd aus Magihhard (VII. Jahrh.),
Bembcldus aus Beginboldas, Sifridus aus Sigefridus, Älberhis aus Ädd-
berius, ÄdaiberaJU (VIII. Jahrh.), Ulrich aus Udelrih, GHbertus aus
Giselbertus geworden, während Sigebertus ^— Sigd^eM, Albertus —
AUbrekt, Htmbertus — Humbreht, Wolperhis — Wolprehi nur parallel
lateinische und deutsche Formen darstellen *). Die Neuschöpfung zeigt
sich endlich tiuch in der Doppelnamigkeit, die bei uns im letzten
Viertel des XII. Jahrh. einsetzt. Die comües und nobües viri, der Hoch-
adel wie der Adel, nehmen Zusätze zu den einfachen Taufinamen an:
Graf (cames) Heinrieh van Buch, Heinrich, Vogt (cidvocatus) von
Arnstadt, und Eddherus von Amstete, Beringer, der Schultheiis (scuUetus)
von AmsteU, und sein Sohn Gottfried sind Glieder der adeligen Familie
in und au&erhalb unserer Stadt. Dazu kommt A1bert(us) von (de)
Grrwnibach. Dieser Brauch ist also vom alten Adel ausgegangen,
und die Geschlechtsnamen sind auch bei uns von den Stammsitzen
entlehnt. Zu den Familiennamen aber, die von Amt, Beschäftigung
und Stand hergenommen wurden, leiten zu gleicher Zeit die Zusätze
„Vogt" und „ Schultheifs " (Schulze) über.
Alle bisher aufgezählten Namen sind Taufnamen, später bald als
Vor-, bald als Familiennamen gebraucht, und alle Stände, die Kaiser
und Könige, Herzöge und Grafen, der Adel und die hohe Geistlich-
keit, wie auch die Bürgerlichen haben germanische Taufnamen;
nur einen Geistlichen, Laureniius, ziert ein fremder Taufname , wäh-
i) VgL So ein, S. 210 ff.
2) Vgl. Socio, S. 44. Nicht zu verwechseln mit diesen Vertretern einer zeit-
lichen Entwickelung, vielmehr ganz anders zu beurteilen and weit älter sind die oben
angeführten althochdeutschen Verkürzungen. Dahin gehört auch unser Eckinberi,
Eckenbert (=- Äginbert, Agüperht im Xu. Jahrhundert), die ältere ahd. Form fUr das
später übUche Ag-, Eg-, Ekk-, Eckbert.
— 261 —
rend alle übrigen Kleriker gleich den Laien germanische Taufhamen
tragen. Bis zum Ende des XII. Jahrhunderts sind von 26 in den Ur-
kunden vorkommenden Taufnamen 25 germanischen Ursprungs (24
männliche, i weiblicher), fremden Ursprungs nur einer, also rund 96 0/0
g^en 4*/j>. (SchlüÄ folgt).
Mitteilungen
Yersammlaugen» — Früher als in anderen Jahren wird dieses Mal
die Jahresversammlung des Gesamtvereins der deutschen Geschichta-
und Altertumsvereine stattfinden, und zwar in den Tagen vom 8. bis
Tl. August in Danzig. Was diese Versammlungen für die Pflege der
Geschichtsforschung in den deutschen Landschaften bedeuten, ist oft genug
ausgesprochen worden, und es bleibt nur übrig die Vereins vorstände an
ihre Pflicht zu erinnern, damit sie recht zahlreich Abgeordnete ents^den,
wenn auch gerade dieses Mal die für die meisten Vereine recht weite Ent-
fernung die Kosten etwas erhöht
Das fünfundzwanzigjährige Jubiläum des „Westpreufsischen Geschichts-
vereins" ist der unmittelbare Anlafs, dafs diesmal Danzig die Versammlung
aufnimmt Neben Oberbürgermeister Ehlers steht Stadtschulrat Damus
an der Spitze des Ortsausschusses; die Sitzungen finden im Franziskaner-
kloster statt, aber für die Begrüfsung durch die Stadt am Abend des 8. August
ist der Artushof ausersehen, wo sich auch an diesem Tage von 6 Uhr abends
an das Empfangsbureau befindet Drei Ausflüge nach Oliva, Zoppot und
der Marienburg sind vorgesehen, und für den 12. August hat der Verein
zur Hebung des Fremdenverkehrs in Ostpreufsen noch zu einem Besuche
von Königsberg und Umgebung eingeladen. Femer werden unter der
sachkundigen Führung von Prof. Conwentz das westpreufsische Provinzial-
museum und die Sehenswürdigkeiten der Stadt besichtigt
Für die Hauptversammlungen sind folgende Vorträge angemeldet: Stadt-
schulrat Damus (Danzig) über Danzig in Geschichte und Kunst;
Prof. Krauske (Königsberg) über König Friedrich Wilhelm I. ;
Archivrat Bär (Danzig) über die geschichtliche Entwickelung der
Provinz Westpreufsen. In den Abteilungssitzungen werden folgende
Gegenstände verhandelt: Das vorgeschichtliche Ostpreufsen (Prof.
Bezzenberger , Königsberg); Das Erdlager bei Kneblinghausen in
Westfalen (Prof. Dragendorfl*, Frankfurt a. M.); Die „römische Pe-
riode" (Kustos Kemke, Königsberg); Römische Münzen in Ost-
preufsen (Privatdozent Peiser, Königsberg); Die Vorgeschichte des
Samlandes (BaugewerkschuUehrer Hollack, Königsberg); Der west-
preufsische Geschichtsverein (Stadtschulrat Damus); Stand der
Geschichtsforschung in Ostpreufsen und die Tätigkeit des
Vereins für die Geschichte von Ost- und Westpreufsen (Archiv-
direktor Joachim, Königsberg); Wesen und Aufgaben der Leipziger
Zentralstelle für deutsche Personen- und Familiengeschichte
19
— 262 —
(Armin Tille, Leipzig); Die Danziger Stadtverfassung im i6. and
I 7. Jahrhundert (Oberlehrer Simson, Danzig); Die Gründung des
Verbandes deutscher volkskundlicher Vereine (Freiherr von
Friesen, Dresden) ; Sage und Geschichtswissenschaft im wechsel-
seitigen Dienste (Lehrer Schmidkonz, Würzburg); Die Erforschung
der Geschichte der deutschen Kolonisation im Osten (Archiv-
rat Warschauer, Posen); Grundsätze der Orts- und Personennaznen-
forschung (Archivrat Wäschke, Zerbst); Die Erforschung der Ge-
schichte der periodischen Presse in Deutschland (Armin Tille,
Leipzig).
Das Programm ist wahrlich reichhaltig und vielseitig genug, so dais
jeder, der kommt, gewifs ist, auch für seine Person im besonderen etwas
Interessantes zu gewinnen, und nicht zum geringsten dürfte manchen die
Aussicht, die Marienburg mit eigenen Augen zu sehen, zur Teilnahme
an der Tagung anlocken!
^e es nach der Praxis der letzten Jahre zu erwarten ist, wird in
Danzig unmittelbar vor der Tagung des Gesamtvereins am Montag, den
8. August, der Vierte deutsche Archivtag stattfinden ^), und zwar in den
Räumen des Kgl. Staatsarchivs (Hanseplatz 5), das einer eingehenden Be-
sichtigung tmterzogen werden wird. Zur Besprechung werden folgende Gegen-
stände gelangen: Staatsarchivar Bär (Danzig): Über eine gesetzliche
Regelung des Schutzes von Archivalien und der Beaufsichti-
gung nicht fachmännisch verwalteter Archive und Registraturen,
hl Anschlufs daran finden Korreferate von Er misch (Dresden) tmd Knapp
(München) statt Archivar Erhardt (Berlin): Die Hauptphasen der
Entwickelung des Geheimen Staatsarchivs in Berlin. Staats-
archivar Bär: DieBegründung des Staatsarchivs zu Danzig. Fabrik-
besitzer Perl (Berlin): Die allgemeine Verwendung des Zapons
in der Industrie. Archivrat Seil o (Oldenburg): Bericht über die bei
der Zaponverwendung gemachten Erfahrungen.
Der Archivtag hat sich zweifellos gut bewährt, und er hat sich als ein
brauchbares Mittel erwiesen, um unter der verhältnismäfsig kleinen Beamten-
gruppe der Archivare einen engeren Zusammenhalt herbeizuführen. Leider
steht eine nicht unbeträchtliche Zahl von Archivaren noch immer abseits,
von der zu hoffen ist, dafs sie sich noch eines Besseren besinnt Noch
recht wenig vertreten waren bisher auch diejenigen, welche die Verwaltung
eines Archivs im Nebenamt besorgen. Die Zahl dieser wächst ständig,
und gerade für sie ist es von hohem Werte, die Äufserung der berufsmäfsigen
Vertreter der Archivpraxis und Archivwissenschaft zu hören und sich für
ihre besonderen Verhältnisse hier Rat bezw. Anregung zu neuer Tätigkeit zu holen.
Zeit imd Ort der Tagung des Gesamtvereins hat es mit sich gebracht.
i) Der dritte warde 1902 in Düsseldorf abgehalten. Vgl. diese Zeitschrift 4. Bd.,
S. 58-62.
— 263 —
dafs sich der Tag für Denkmalpflege ^), der bisher schon viermal gleich-
zeitig stattfand, dieses Mal getrennt hat: (Üeser ruft seine Freunde vielmehr
für Ende September nach Mainz. Aufser den Berichten der Ausschüsse
für die Fragen der Steinerhaltung imd der Bezeichnung hergestell-
ter Bauteile sowie für Herstellung eines Handbuchs der deutschen
Kunstdenkmäler, die auf frühere Verhandlungen Bezug nehmen, werden
folgende Gegenstände besprochen werden: Die Vorbildung für die
Denkmalpflege (Baurat Tomow und Geh. Rat v. Oechelhäuser) ; Er-
haltung des Berliner Opernhauses (Prof. Wall^); Inventarisierung
beweglicher Kunstgegenstände im Privatbesitz (Geh. Rat Cornelius
Gurlitt); Aufnahme, Sammlung und Erhaltung der Kleinbürger-
häuser mittelalterlicher Städte (Stadtbauinspektor Stiehl); Städtische
Bauordnungen im Dienste der Denkmalpflege (Prof. Frentzen und
Geh. Rat Stubben).
Auch dieses Programm ist reichhaltig genug, und das allgemein ge-
schichtliche Interesse an den Bestrebungen der Denkmalpflege liegt so deutlich
zutage, dafs deren Bedeutung für die Geschichtsforschung nicht weiter hervor-
gehoben zu werden braucht
Gemäfs dem Beschlüsse der Heidelberger Tagung Ostern 1903 wird
die Achte Versammlung deutscher Historiker in Salzburg stattfinden,
imd zwar in den Tagen vom 31. August bis 4. September; die Leitung
liegt in den Händen von Prof. Oswald Redlich (Wien). Mittwoch, den
31. August ist der übliche Begrüfsungsabend, Donnerstag, Freitag und Sonn-
abend sind den Verhandlungen gewidmet, die wesendich nur die Vormittage
in Anspruch nehmen werden; am Donnerstag und Freitag Abend finden
öffendiche Vorträge statt. Für Sonntag, den 4. September, ist ein Ausflug
nach Schlofs Hohenwerfen in Aussicht genommen. Die Verhandlungen
finden in Schlofs Mirabell statt. In den beiden vorgesehenen öffentlichen
Sitzungen sprechen Prof. Riegl (Wien) über Salefmrgs Bedeutung in der
KunstgeschUMe und Prof. Busch (Tübingen) über Das deutsche Hauptquar-
tier 8u VersaiUes und der Streit Über die Bekämpfung von Paris 1870.
Für die Verhandlungen mit nachfolgendem Meinungsaustausch sind Vorträge
angekündigt von Prof. R. Joh. Neumann (Strafsburg) über Die Entstehung
des spartaniscJhen Staates ^ Prof. Finke (Freiburg i. B.) über Philipp den
Schönen, von Prof. Dop seh (Wien) und — als Korreferenten — Privat-
dozent Kötzschke (Leipzig) über Herausgabe der Quellen eur Agrar^
geschickte des Mittelalters j Prof. v. Voltelini (Innsbruck) über Die Ent-
stehung der Landgerichte auf ba^frisch- österreichischem Rechtsgebiet und
Prof. F o u r n i e r (Wien) über Neue QueUen zur Geschichte des Wiener Kongresses.
Im Stift St Peter wird Prälat Willibald Hauthaler eine Ausstellung
von Urkunden und Handschriften veranstalten. Das Empfangsbureau be-
findet sich im ersten Stock des Mirabellschlosses; Auskunft in Wohnungs-
angelegenheiten erteilt der Verein für Fremdenverkehr in Salzburg.
Andere Auskünfte erteilt der derzeitige Vorsitzende des Verbands deutscher
I) Vgl. über die leUte Tagung in Erfurt diese ZeiUchrift, oben S. 56—59.
19»
— 264 —
Historiker Prof. Oswald Redlich (Wien I. Universität) sowie der Obmann
des Ortsausschusses Archivdirektor Richard Schuster in Salzburg.
Am 31. August (Mittwoch) wird bereits die mit den Historikertagen
üblicherweise verbundene Konferenz von Vertretern landesgeschicht-
licher Publikationsinstitute ^) ihre erste Sitzung abhalten ; eine zweite wird
an einem der nächsten Tage zu noch zu bestimmender Stunde folgen. £s
wird über folgende Gegenstände verhandelt werden: i. Austausch der Er-
fahrungen über Verlag und Druck der Publikationen. 2. Mafsnahmen
behufs Erschliefsung der agrargeschichtlichen Quellen. 3. Die
Anlage der Urkundenbücher tmd die Behandlung des in ihnen zu veröffent-
lichenden Materiab. 4. Über Herausgabe von Münz- und Sie gel werken.
5. Die Fortschritte des Historischen Atlasses der österreichischen Alpen-
länder. Mitteilungen über historisch -geographische Unternehmungen im
Deutschen Reich.
Arehiye. — Die vom Historischen Verein für den Niederrhein bewirkte
Drucklegung von Archivinventaren hat wiederum einen Zuwachs erhalten, tmd
zwar sind im 76. Hefte der von genanntem Verein herausgegebenen Ännalen
(Köln, Boisserde 1903, 263 S. 8®) die Inventare der Pfarrarchive von
St. Andreas, St. Ursula und St. Kolumba in Köln mitgeteilt Ein
dritter Band wird voraussichtlich die Mitteilungen über die noch ausstehenden
8 Pfarrarchive zum Abschlufs bringen. Bearbeitet hat den vorliegenden Band
wie den zuletzt veröffentlichten im 71. Hefte der Annalen — vgl. darüber
diese Zeitschrift 3. Bd. S. 217 bis 219 — wiederum Heinrich Schäfer.
Das Äufsere entspricht durchaus den früheren Publikationen, tmd wie bei
jenen ist auch jetzt im einzelnen nicht zu e^ennen, wo die Worte des Be-
arbeiters beginnen und die aus der Yoriage direkt und buchstabengetreu
mitgeteilten Stellen aufhören. Dies sollte aber mit Rücksicht auf den Zweck
unbedingt der Fall sein; denn hier handelt es sich um eine besondere Art
der Qu eilen Veröffentlichung durch ausführliches Regest und nicht lun ein
Inventar für Zwecke der Archiwerwaltung.
In der Tat ist wiederum ein aufserordentlich reicher und vielseitiger
Quellenstoff mitgeteilt Dafs für die Geschichte der Stadt Köln recht viel
daraus zu gewinnen sein wird, leuchtet ohne weiteres ein; auch dafs recht
viele Orte in der näheren imd weiteren Umgebimg Kölns genannt imd orts-
geschichtlich wichtige Einzelheiten, namentlich solche kirchh'cher Natur, mitgeteilt
werden, ist bei dem Charakter der Archive verständlich, aber auch darüber
hinaus bietet die Veröffentlichung inhaltlich manche wichtige Notiz. Zwei un-
bekannte Urkunden des Andreasstifts aus dem 11. Jahrhundert hat Schäfer
bereits im 75. Hefte der Ännalen, S. 106 — iii veröffentlicht Von drei
im Archiv von St Andreas ruhenden Königsurkunden (Nr. 40, 152, 158)
ist die mittelste — 1357» Aug. 18 — in den Itegesta imperU (1877) S. 219
i) Vgl. ttber die letzte VersAumilaiig den aasfUhrlichen Bericht in dieser Zeitschrift
4. Bd., S. 246—256.
— 265 —
nicht verzeichDet. S. i6 Nr. 76 ist 1323 von einer Rente im Betrag von
zwei Mark alten Gewichts die Rede; S. 18 Nr. 88 erscheint in einem
Testament (1328) neben einem breviarium die Legenda lombardica; der
Durchschnittswert des Malters Weizen wird 1342 S. 22 Nr. 109 zu 18 Mark
Kölnisch gerechnet; den Königsgulden bezeichnet 1345 eine Urkimde
vulgariter reyoü S. 23 Nr. 115; 1354 wird ein Stiftshof auf 18 Jahre
für jährlich 66 Malter Weizen verpachtet S. 27 Nr. 143; 1362 werden-
30 solidi und 30 grossi Turonenses aniigui in Gold oder Silber einander
gleichgesetzt S. 30 Nr. 163; von päpstlicher Besteuenmg des Klerus handeln
S. 32 Nr. 171 (1364) S. 39 Nr. 220 und 221 (1386); 1378 ist Stroh-
düngung des Ackers bezeugt S. 36 Nr. 198; das Gewicht der Brote und
die Zahl, die 142 1 und i486 aus einem Malter gebacken wird, bestimmen
die Urkimden S. 49 Nr. 277 und S. 123 Nr. 42 ; ein doctor im kaiser-
recht wird 1496 S. 65 Nr. 386 genannt; Akten über die Verbreitung
des Kalvinismus in Köln durch Boxharn finden sich S. 82 Nr. 3; 1350
wird Wein gestiftet, der den Kommunikanten in cäUce ad potum post
eommunicationem gereicht werden soll S. 83 Nr. 3 ; das Familienbuch eines
Kölner Krämers 1422 ff. ist S. iioNr. i aufgeführt; 1426 wird der Pfarr-
gemeinde von St Kolumba die Wahl ihres Pfarrers durch einen Ausschufs
zugestanden S. 159 Nr. 56/58, 1478 wird in der Praxis danach verfahren
S. 168/69 Nr. 98/99, 1542 ebenso S. 193 Nr. 233; 1543 wird eine Rente
gestiftet für zwei ständige Predigten im Dom am Mittwoch und Freitag S. 194
Nr. 239; in einem Sammelband von Dmcken sind neben vielen Predigten
von Luther Reformationsstreitschriften enthalten, auch das Gescmgbuch des
Nicolaus Herman im Jochimstal von 1570 (Wittenberg, Joh. Schwertel)
S. 249 Nr. 50; eme Reihe kaufinännischer und privater Rechnungsbücher
sind S. 258 ff. verzeichnet.
Dies mag genügen, um den Beweis zu erbringen, dafs hier tatsächlich
ein reicher Quellenstoff erschlossen worden ist, der nicht nur der Köber Orts-
geschichte, sondern der Geschichtsforschung im weitesten Sinne zugute kommt
Kommissionen» — Am 12. Dezember 1903 hielt in Leipzig die
K öniglich Sächsische Kommission für Geschichte *} ihre 8. Jahres-
versammlung ab. Im Laufe des letzten Jahres ist veröffentlicht worden der
erste Band der Dresdener Bilderhandschrift des Sachsenspiegels (Leipzig,
Hiersemann 1902), herausgegeben von Karl Amira, von der PolUischen
Korrespondens des Herzogs und Kurfürsten Moritz , herausgegeben von
Erich Brandenburg, die erste Hälfte des zweiten Bandes und Luthers
Tischireden in der MathesiscJien Sammlung, herausgegeben von Ernst
Kroker (beide Leipzig, B. G. Teubner 1902). Unmittelbar nach der Jahres-
versammlung wurde das Lehnbuch Friedrichs des Strengen vom Jahre 1349,
herausgegeben von Woldemar Lippert und Hans Beschorn er (Leipzig
1 903), ausgegeben. Alle anderen Unternehmungen erftihren im Berichtsjahre eine
entsprechende Förderung, so dafs ftir die nächste Zeit der Abschlufs einer
Reihe von Arbeiten zu erwarten ist. Von der Grundkarte des König-
reichs Sachsen ist die Doppelsektion 467/492 (Greiz-Hof) ausgegeben woidcn.
') Vgl. 4. Bd. S. 222—223.
— 266 —
so dafi nun nur noch die Herstellung einiger Halbsektionen an den Grenzen
in Frage kommt. Femer sind fUr die historisch-geographischen, sowie fiir
die schon früher geplanten agrargeschichdichen Arbeiten der Kommission die
Flurkarten aus den dreifsiger tmd vierziger Jahren des XIX. Jahrhundeits für
die Amtshauptmannschaften Dresden- A., Meifsen, Dippoldiswalde , Freiberg,
Leipzig und teilweise Borna und Grimma photographisch reproduziert und
mit koloristischer Bezeichnung der Kulturarten versehen worden. Die so
hergestellten Karten sind zunächst für den inneren Dienst der Kommission
bestimmt; doch können sie auch anderen Benutzern, wie Archivalien, zu-
gänglich gemacht werden. Herr Dr. Beschornerin Dresden hat sodann Vor-
studien für eine systematische Sammlung der sächsischen Flurnamen gemacht.
Um diese zu fördern, smd Fragebogen zur Ermittelung der älteren Flurver-
hältnisse an die Gemeinden imd Gutsbezirke des Landes ausgegeben worden,
deren Beantwortung wenigstens teilweise wertvolle Ergebnisse zutage ge-
fördert hat
Neu traten in die Kommission ein Prof. Buchholz und Prof. Branden-
burg (Leipzig), durch Tod schied Prof. Knothe aus. Die Zahl der Sub-
skribenten, denen die Veröffentlichungen der Kommission zu einem Vorzugs-
preise geliefert werden, beträgt 202 , ist aber gegen das Vorjahr lun 5 zu-
rückgegangen.
Dem siebenten im Mai 1 904 erstatteten Jahresbericht der Historischen
Kommission für Hessen und Waldeck ^) ist folgendes zu entnehmen.
Ausgegeben wurde im Berichtsjahr nur die dritte Lieferung des Hessischen
Trachtenbuchs (Marburg, Elwert 1 903), aber die Arbeit an den anderen Publi-
kationen ist rüstig fortgeschritten. In Ausführung des vorjährigen Beschlusses
wurde die Herausgabe Urkundlicher Quellen zur Geschichte des geistigen
und kirchlichen Lebens in Hessen und Waldeck endgültig beschlossen und
Privatdozent Köhler (Giefsen) mit der Bearbeitung eines ersten Teils betraut
Femer wurde die Herausgabe von Quellen zur Geschichte der Landschaft an
der Werra, wofür auf fünf Jahre ein besonderer Beitrag von iioo Mk.
seitens Beteiligter zugesagt wurde, beschlossen und Dr. Huyskens zunächst
damit betraut, die Archive der Klöster jener Landschaft zu bearbeiten. Von
den Grimdkarten, die im Auftrag des Vereins für hessische Geschichte und
Landeskunde General Eisentraut bearbeitet, liegen die Sektionen Berleburg
und Marburg fertig vor.
Durch Tod verlor die Kommission ihre Mitglieder Hartwig (Marburg),
H ö h 1 b a u m (Giefsen) imd Schneider (Fulda). Neugewählt wurden Archiv-
assistent Dersch (Marburg), Pfarrer Die hl (Hirschhorn), Direktor Fabarius
(Witzenhausen), Archivassistent Grotefend (Marburg), Oberlehrer He r rman n
(Darmstadt), Rektor Lürssen (Wetzlar), Archivar Merx (Marburg) tmd
Oberlehrer Wintzer (Marburg). Der Jahreseinnahme von 6626 Mk. steht
eine Ausgabe von 8560 Mk. gegenüber, aber der Kassenbestand weist die
Summe von 15545 Mk. auf.
i) VgL oben S. 32.
— 267 —
Aus dem Berichte Ub«r die 30- ordentliche Versammlung der H i s to T i 5 c beo
Kommission fttr Sacbseo-Anhalt , die in Freyburg a. U. stattfand, ist
folgendes mitzuteilen '). Vom TTrkundetibuche des Klosters Pforta, das
Prof. Böhme bearbeitet, wird der zweite Halbband des ersten Teiles dem-
nächst erscheinen, ebenso der vierte Band des ürlntndeti^nickea der Stadt
ihslar von Bode (Biaunschwcig). Bezüglich des Urkundenbuches des Hoch-
stifts Zeitz wurde beschlossen, es mit dem des Stiftes Naumburg, das Archi»-
assistent Rosenfeld (Magdeburg) bearbeitet, zu vereinigen. Die Heraus-
gabe des Erfurter Varidalun varib>guus hat an Stelle von Prof. Heyden-
reich Gymnasialdirektar Thiele (Erfurt) übernommen. Dagegen sind die
nahezu vollendeten Vorarbeiten fUr das Urkundenbuch des Erzstiftes Magde-
burg durch den Tod des Prof. Hertel unterbrochen worden. Als neue
PubUlcation wurde ein Urkundenbuch der Stadt Aschersleben in Aussicht
genommen. Als Neujahrsblatt 1904 tiscbita Ärckdoloffische R-obhme in der
Provitu Sachsen von Prof. Höfer, ein Schriftchen, das in gröfserem
Zusammenhange bereits oben S. 134 besprochen wurde; fUr 1905 steht eine
Arbeit von Archivar Liebe über die sanitären und hmnanitären Etorichtungen
in der Provinz Sachsen zu erwarten. Von den Beschreibungen der Bau- imd
Kunstdenkmälcr ist der Stadtkreis Naumburg von Bergner und der
Stadtkreis Aschersleben von Brinkmann (Zeitz) erschienen, das Manu*
skript zum Landkreis Naumburg liegt druckfertig vor. Von den vorgeschicht-
lichen Altertümern hegt das 12. Heft: Zschiesche, Die vorgesckichtlichen
Burgen und WäUe in Th^-ingen, vollendet vor. Von der vom Provinzial-
museum herausgegebenen Jahreasehrifl für die Vorgeschichte der sächsisch-
ikttringischen Länder steht das Erscheinen des dritten Bandes bevor. Die
Arbeit an den geschichtlichen und vorgeschichdichen Karten sowie an den
Flurkarten ist rüstig fortgeschritten.
Die nächstjährige Versanomlung findet in Genthin statt.
Die Gesellschaft für Rheinische Geschicbtskunde *} hielt ihre
33. Jahresversammhmg am 9. März ab, und dem bei dieser Gelegenheit
erstatteten Bericht über das Jahr 1903 ist folgendes zu entnehmen. Aus-
gegeben wurde: Ernst Voulliäme, Der Buchdruck KOlns bis Mum Ende
des fünfjiehnien Jah'hunderts (Bonn, Behrendt 1903, Mk. 15,00), Hermann
Forst, Das FBrstentum Prüm [= Erläuterungen zum eeschichUichen Atlas
der Rheinprovinz, Bd. 4] (Bonn, Behrendt 190^
Fabricius, Kirchliche Organisation und VerteHt
Bereieh der heutigen Bheinpromnr um das Jahr l
Bonn, Behrendt 1903, Mk. 18,00). Alle anderen be|
mehr oder weniger gefördert Ab neues Unteme
gäbe eines von Dr. Otto (f) begonnenen Corpus
beschlossen; das Direktorium der preufsischen Staa
Publikation einen namhaften Zuschufs, die Bearbeit
von Prof. Menadier (Beriin) und Frdherm v. Sc
— 268 —
Stifter zählt die Gesellschaft gegenwärtig 7, von denen 3 yerstorben
sind, Patrone 118, Mitglieder 178. Die Gesamteinnahme im Jahre 1903
betrug 35 750 Mk., die Gesamtausgabe 2 7 36oMk. Das Vermögen be-
ziffert sich einschliefslich der Mevissen-Stiftung (43180 Mk.) auf 106570 Mk«
Der seitens der Mevissenstiftung ausgesetzte Preis von 4000 Mk. ist
dem Stadtarchivar Hermann Keussen für seine Historische Topographie
der Sicidt Köln im Mittelalter zuerkannt worden; das Werk ist im Druck
mid wird in zwei Quartbänden erscheinen, zu den Kosten des Druckes hat
die Stadt Köln einen Zuschufs von 2000 Mk. gewährt. Für die beiden am
31. Januar 1904 f^Uigen Preisaufgaben (Organisation und Tätigkeit der
Brandenburgischen Landesverwaltung in Jülich-Kleve; Entstehung des mittel-
alterlichen Bürgertums in den Rheinlanden) sind Bearbeitungen nicht ein-
gegangen. Der Termin wurde bis 31. Januar 1906 verlängert.
Gleichzeitig mit dem Jahresbericht ist nach ebjähriger Pause wiederum
ein Heft der Übersicht Ober den Inhalt der kleineren Archive der JRhetn-
provinM veröffentlicht worden; es ist bearbeitet von Johannes Kru de wig
und schliefst den zweiten Band (Bonn, Behrendt 1904, 385 S. 8®) ab.
Es sind in diesem Bande Mitteilungen über 525 Archive in sieben Kreisen,
von denen 6 dem Regierungsbezirk Aachen und einer dem Regierungsbezirk
Koblenz (Mayen) angehören, enthalten. Im ganzen sind jetzt in den beiden
Bänden 28 Kreise und 1301 Archive bearbeitet.
Yereine. — Den Geschichtsvereinen mit beschränktem Arbeitsgebiet
wird in der künftigen Geschichte des wissenschaftlichen Lebens im XIX. Jahr-
hundert eine Würdigung nicht versagt werden können, und diejenigen, die am
frühesten ins Leben getreten sind, werden sich vor den übrigen auszeichnen.
Wir wissen schon jetzt, dafs Vereine mit dem ausgesprochenen Zwecke, die
Geschichte bestimmter Landschaften zu pflegen, erst im zweiten Jahrzehnt
des XIX. Jahrhunderts ins Leben getreten sind, und wenn imter den heute
blühenden Vereinen einige sind, die auf ein wesentlich höheres Alter zurück-
blicken können, so dürfen wir nicht vergessen, dafs sich bei diesen eine
gewisse Wandlung hinsichtlich des Arbeitsgebietes vollzogen hat, dafs die
ursprünglich allgemeineren Bestrebungen allmählich zugunsten der
besonders nahe liegenden geschichtlichen und vornehmlich landesgeschichtlichen
Studien zurückgetreten sind. Darin aber findet ein wichtiger Vorgang in der
Geschichte der deutschen Wissenschaft seinen Ausdruck.
Fast gleichzeitig haben zwei Vereine der letzteren Art ihre Jubiläen
feiern können: am 21. April blickte die 1779 gegründete Oberlausitzische
Gesellschaft der Wissenschaften zu Görlitz auf eine 125jährige Tätig-
keit zurück, und die Königliche Akademie gemeinnütziger Wissen-
schaften zu Erfurt beging am i. und 2. Juli das Fest ihres 150jährigen
Bestehens. Im Namen der beiden Anstalten ist noch von den „ Weisse n -
8 c hafte n'* im aUgemeinen die Rede, und darin lebt noch ein Stück geistiges
Leben aus der Zeit ihrer Entstehung. Bezüglich der Oberlausitzischen
Gesellschaft hat die Vielheit der Bestrebungen WoldemarLippertin dieser
Zeitschrift 3. Bd., S. 18 — 19 treffend gekennzeichnet und auch den Um-
wandlungsprozefs , der zur Beschränkung auf die Landesgeschichte gefühlt
hat, anschaulich geschildert Die Erfurter Akademie verfolgt zwar auch
— 269 —
heute noch manDigfaltige Ziele, aber die geschichtlichen Disziplinen stehen
doch stark im Vordergrund, so daüs auch sie unter den Organisationen zur Pflege
geschichtlicher Forschung genannt werden mufs. Die Festschrift gur Feier des
150 jährigen Bestehens der Kgl. Akademie, die als 30. Heft der neuen
Folge der Jahrbücher der KÖniglicJ^en Akademie gemeinnüteiger Wissen-
Schäften mu Erfurt (Erfurt, Karl Villaret 1904, 652 S. Lex.-8) erschienen
ist, liefert den besten Beweis dafür.
Im 80. Bande des Neuen Lausiteischen Magaeins — vgl. darüber den
oben angezogenen Aufsatz von Lippert — veröffentlicht Richard Jecht,
der verdienstvolle Leiter der Gesellschaft imd Redakteur des Magazins, einen
Kurzen Wegweiser durch die Geschichte der OberlausUeischen Gesellschaft
der Wissenschaften eu Görlitz van 1779 — 1904. Er beschränkt sich hierbei
auf die äufseren Verhältnisse und gibt namentlich ein Bild der gegenwärtigen
Zustände, aber für die künftige Geschichte der Gesellschaft ist darin trotz-
dem das Wesentlichste enthalten. Bezeichnenderweise stehen als Gründer
der Historiker und Sprachforscher Karl Gottlob von Anton und der
Naturforscher Adolf Traugott von Gersdorf an der Spitze. Der
Name lautete zuerst „Oberlausitzische Gesellschaft zur Beförde-
rung der Natur- und Geschichtskunde'S änderte sich 1779 in
„Gesellschaft der Wissenschaften in der Oberlausitz'', 1792
in „Oberlausitzische Gesellschaft der Wissenschaften'', wurde
1803 durch „Kurfürstlich Sächsische . . ." ergänzt und ist seit 18 15 der jetzige.
Seit 1807 ist die Gesellschaft Eigentümerin eines Hauses, das ihr von Anton
geschenkt wurde. Von Anfang an wtirden reiche Sammlungen (Steine,
Pflanzen, Vögel, Münzen, Altertümer und namentlich Bibliothek) angelegt,
aber neben den naturwissenschaftlichen und geschichtlichen Studien auch
gemeinnützige Bestrebimgen — wie Hilfeleistung für Ertrunkene, Erfrorene
und Erhenkte — gefördert. Das Vereinsleben blühte namentlich in der Zeit
zwischen 1790 und 1804, dann aber trat eine Erschlafiung ein, und es
wurden verschiedene Versuche gemacht, durch Verbindung mit anderen
Unternehmungen der Gesellschaft wieder aufzuhelfen; imter diesen Plänen
verdient der 18 16 von Anton der Preufsischen Regierung gemachte Vorschlag,
die Universität Wittenberg nach Görlitz zu verlegen, besondere
Erwähnung. Dann beginnt bald neues Leben: 1819 erscheint ein gedruckter
zweibändiger Bibliothekskatalog, 1821 beginnt das Neue Lausiteische Magagin
zu erscheinen, 1825 wird von Personen, die fast sämtlich der Gesellschaft
als tätige Mitglieder angehörten, der Kgl. Sächsische Altertumsverein gegründet,
1826 beginnt der Schriftenaustausch, 1830 wird der Gewerbeverein ins Leben
gerufen und übernimmt einen Teil der bisher der Gesellschaft zufaUenden
Aufgaben, seit 1838 finden monatliche wissenschaftliche Versammlungen statt;
damab ward auch ein Joumallesezirkel begründet. Auch zu verschiedenen
Veröffentlichungen aufserhalb der Zeitschrift wird jetzt fortgeschritten, unter
denen die Scriptores rerum Lusaticarum (4 Bde. 1839, 1841, 1852, 1870) und
der Codex diplamaticus Lusatiae superioris Bd. i ( 1 8 5 1 , 2 . Atifl. 1856) besondere
Erwähnung verdienen. Heute zählt die Biblioüiek gegen 70000 Nummern;
daneben gibt es ein Archiv, Siegelsammlung, Münzsammlung, Kupferstiche
und Zeichnungen, Landkartensammlung und Altertümersammlung, während
die in das Gebiet der Naturwissenschaft fiallenden Sammlungen mit Aus-
— 270 —
nähme des physikalischen Kabinetts den Schulen zu Unterrichtszwecken über-
lassen worden sind.
Die Gesellschaft hat, wie diese wenigen Angaben zeigen, eine auiser-
ordentlich segensreiche Tätigkeit entfaltet und kann mit Genugtuung auf ihr
Wirken zurückblicken. Sie ist erwachsen aus den seit der Mitte des i8. Jahr-
hunderts allenthalben lebendigen Bestrebungen, dtirch Schaffung eines Kreises,
fUr den gearbeitet wird, einzelne Männer zu selbständiger wissenschafHicher
Forscherarbeit — im Gegensatz zu dem Lehrbetrieb der damaligen Uni-
versitäten — anzuregen, sie ist mit ihrer Zeit gewachsen, hat sich mit ihr
mngestaltet und ist heute einer der am besten geleiteten landschaftlichen
Geschichtsvereine.
Trotz des wesensgleichen Ursprungs ist die Erfurter Akademie
etwas wesentlich anderes geworden als die Görlitzer „Gesellschaft'S obwohl
die^ beiden Worte — letzteres gern in der Form „Sozietät" — im XVIII. Jahr-
hundert im wesentlichen dasselbe zum Ausdruck bringen: ist doch heute
noch z. 6. die Kgl. Sächsische Gesellschaft der Wissenschaften ihrem
Wesen nach dasselbe wie die Kgl. Preufsische Akademie der Wissen-
schaften. Die Geschichte der Erfurter Akademie behandeln drei muster-
gültige Arbeiten in der genannten Festschrift von Thiele, der ihre Gründung
imd Geschichte bis zur Wiederbelebung unter Dalberg 1776 behandelt,
Oergel, der ihre Geschichte bis 1816 führt, und Heinzelmann, der
die Entwickelung des XIX. Jahrhunderts darstellt. Thiele schüdert vor allem
ganz ausgezeichnet die Entstehung der „Akademien" in Deutschland nach
dem Vorbild der 1635 gegründeten ÄccuUmie fran^aise und der „Sozietäten"
nach dem VorbUd der seit 1645 ^ Oxford bestehenden sowie ihr Verhältnis
zu den Universitäten. Die Gründung der Erfurter Akademie 1754 erfolgte
nach dem Muster der 1751 in Göttingen entstandenen Sozietät, und wie bei
dieser trat gleichzeitig eine gelehrte 2^itung, die wöchentlich erschemenden
Erfurtischen Gelehrten Nachrichten , ins Leben. Der Name der Erfurter
Anstalt lautete „Kurfürstlich Mainzische Akademie nützlicher Wissen-
schaften", imd zwar sind darunter zunächst die Naturwissenschaften und
Mathematik zu verstehen; der kurfürsüich mainzische Regierungsrat Freiherr
von Lincker war der erste Präsident; Anfang 1755 erhielt die Akademie
geeignete Räume durch Überlassung des Häusericomplexes mit Turm am
Krämpfertore zur Unterbringung ihrer naturwissenschaftlichen Anstalten und
zur Anlage eines botanischen Gartens. Der erste Band der anfangs durchweg
lateinisch geschriebenen Acta Äcademiae erschien 1757 und enthielt 44 Ab-
handlungen, 1 2 aus den Geistes-, 3 2 aus den Erfahrungswissenschaften, unter
denen auf eine bemerkenswerte Arbeit vom Freiherm von Lincker über das
Übervölkerungsproblem (utrum hamines nimium müUipiicentur) hinge-
wiesen sei. Auch der 2. Band der Acta (i 76 1) war noch lateinisch geschrieben,
während 1762 und 1763 zwei Bändchen deutsch geschriebener Abhandlungen
veröffentlicht wurden; in dem letzteren wird u. a. die Frage erörtert, ob es
nützlich sei, die Getreideausfuhr zu verbieten. Nach Linckers Tode 1763
schlief die Akademie allmählich ein, bis sie 1776 der Erfurter Statthalter
Karl von Dalberg gewissermaisen neu gründete. Seit 1772 weUte dieser
Mann in Erfurt, 1775 hatte ihn der Kurfürst zum Spezialprotektor der
Akademie ernannt, imd im März 1776 begann er seine Vorbereitung zur
— 271 —
Neubelebuog. Sein Ziel sind regelmäfsige Sitzungen und Stellung von Preis-
aufgaben, während er die materiellen Aulwendungen aus seiner Tasche bestrei-
tet und sogar einen Saal für die Versammlungen mietet. Bis zum Jahre
1802 ist nun das Wirken der Akademie dasjenige Dalbergs, und was darüber
gesagt wird (S. 161 — 215)» ist deshalb ein Beitrag zur Biographie dieses
eigenartigen Mannes. £r hat auch auswärtige Gäste, so die Gebrüder Hum-
boldt und Schiller, gelegentlich zu den Versammlungen mitgebracht, besonders
durch die Preisaufgaben zur Behandlung praktischer Fragen angeregt und seit
1781 die seit 1769 ab Privatuntemehmen bestehende Erfurtiache CMehrte
Zeitung wieder zum Organ der Akademie gemacht, bis die Akademie 1797
auch den Verlag übernahm, den Titel in Nachrichten von gelehrten Sachen
umänderte und die Rezensionen mit vollem Namen imterzeichnen liefs.
Von den Acta erschienen bis 1 796 zwölf Quartbände, in denen nun die deutsche
Sprache neben der lateinischen und französischen schon vorwiegend gebraucht
wird. 1799 traten Nova Acta mit dem Untertitel Abhandlungen der Kur»
fürstlich Mainzischen Akademie nütäflicher Wissenschaften eu Erfurt an
deren Stelle. Recht wesentlich ist bezüglich des Inhalts, dafs die geschicht-
lichen Arbeiten und auch die in die Acta nicht aufgenommenen Vorträge
sich vorwiegend mit Gegenständen der näheren Umgegend befassen, lokal-
geschichtlicher Natur sind (S. 213).
Kurz nachdem Dalberg Kurfürst geworden war, fiel Erfurt 1802 an
Preufsen, und noch vor Jahresschlufs bat der Direktor von Dacheröden
die preufsische Regierung um ihre Unterstützung imd Förderung der Aka-
demie ; doch es kam keine Bestätigung, wenn auch nicht die Auflösung, der
die Universität anheimfiel. Unter französischer Herrschaft fanden einige
pomphafte Festsitzungen statt Als Erfiut wieder preufsisch geworden war,
erhielt die Akademie von dem neuen Landesherm i. August 18 14 das
Recht, sich „Königliche Akademie d. g. W/* zu nennen, und
erneuerte sich in den Jahren 18 14— 16 völlig. Bei der 181 7 — 19 folgen-
den Beratung der neuen Satzungen wurden die „nützlichen*' Wbsenschaften
in „ gemeinnützige*' umgewandelt, und damit zugleich das Arbeits-
gebiet verschoben, denn es handelt sich nunmehr darum, diejenigen Fächer
der menschlichen Kenntnisse zu pflegen, die unmittelbaren Einflufs auf
das praktische Leben haben. Hatten seit Dalbergs Weggang ntir gelegent-
liche Schenkungen der Akademie Geldmittel zugeführt, so blieb der verlangte
und im Betrag von 800 Talern zugesagte Zuschufs des preufsischen Staates
ebenfalls aus; nur aus dem kurmainzischen Fonds wurden 130 Taler tmd
vom Unterrichtsminister jedes Jahr neu zu erbittende 100 Taler gewährt
Bezüglich des Arbeitsgebietes macht sich nun in der Folgezeit inmier mehr
die Überzeugung geltend, dais der Ausdruck „gemeinnützige Wissenschaften''
irre führt, dafs er zu eng ist und dafs den Geisteswissenschaften die Gleich-
berechtigung mit den Naturwissenschaften gebühre, imd nach 1859, noch
mehr seit 187 1 gewiimen die geisteswissenschaftlichen Vorträge gegenüber
den naturwissenschaftlichen bei weitem das Übergewicht (S. 288), wenn
diese auch noch in ganz stattlicher Zahl vertreten sind. Aber gemeinsam
ist allen Arbeiten, dais es sich in ihnen um gelehrte Forschung handelt
Wie sich die Arbeiten auf die einzelnen Gebiete des Wissens verteilen, das
zeigt eine Übersicht über die 1804^1903 veröffentlichten Abhandlungen
— 272 —
(S. 299 — 371), unter denen die geschichüichen im weiteren Sinne recht
zahlreich sind. — Die Geschichte der Erfurter Akademie als solche ist
bereits ein wichtiges Stück deutscher Geistesgeschichte, aber nicht minder
wertvoll sind die aus dem Kreise ihrer Mitglieder hervorgegangenen Arbeiten,
von denen die vorliegende Festschrift noch sieben bringt, die alle geschicht-
lichen Charakter tragen.
Richard Loth behandelt S. 383 — 466 Das Medizinalwesen, den
äretUchen Stand und die medieinische Fakultät bis jsum Anfang des 17,
Jahrhunderts in Erfurt imd bespricht darin Fragen, auf deren Wichti^eit
in dieser Zeitschrift oben S. 155 — 156 nachdrücklich hingewiesen wurde;
es wäre nur zu wünschen, dafs für recht viele Städte die gleiche Unter-
suchung gemacht tmd namentlich die Geschichte der medizinischen Fakultät
an allen Universitäten in dieser Weise dargestellt würde. Über dem Ganzen
liegt ja ein viel gröfseres Problem der Geistesgeschichte: wie hat auf dem
Gebiete der naturwissenschaftlichen Forschung die induktive Methode die
Herrschaft gewonnen? Und dafür wie für die Geschichte des Humanismus
als solchen ist es von grofser Wichtigkeit zu erfahren, wie sich die Ärzte
und Naturforscher, einzelne und die Gesamtheit, zum Humanismus verhalten
haben. — Albert Lüttge beschäftigt sich mit der Lebensarbeit eines
HohenzoUern im Osten Europas S. 467 — 510, und meint damit die Wirk-
samkeit des Königs Karl von Rumänien; eine solche Darstellung wird
schwerlich jemand an dieser Stelle suchen, und deshalb sei hier darauf auf-
merksam gemacht, wenn sie auch aus dem Rahmen landesgeschichtlicher
Forschung herausfällt. — Ein künstlerisches Problem beschäftigt Eduard
von Hagen, der einen von der herrschenden Memung abweichenden Deutungs-
veisuch der Transfiguration van Baffael S. 511 — 541 gibt; nach ihm ist
der Knabe im unteren Teile keine epileptische Person, sondern eine
ekstatische, die in Zungen redet und seiner Umgebung von dem Wunder
berichtet, das sich auf dem oberen Teile des Bildes vollzieht. — A. Bau-
meister imterbreitet S. 543 — 564 einen Vorschlag eur Neugestaltung des
Geschichtsunterrichts in der obersten Klasse unserer höheren Schulen^ wo-
bei er von der Forderung ausgeht, wie bei anderen Lehrfächern müsse
auch im Geschichtsunterricht dessen Zweck immer wieder betont werden
d. h. die Erziehung für das Staatsleben der Gegenwart Um dies zuerreichen,
wünscht er die Gründung des Deutschen Reichs und die Person Bismarcks,
von dessen Reden einige zu lesen sind, in den Anfang und Mittelpunkt
gestellt zu sehen, und die Geschichte seit 1648 soll, abschnittweise von
hinten angefangen, als Vorbereitung auf dieses Ziel vorgetragen werden. —
Otto Albrecht gibt Luthers Kleinen Katechismus nach der Wüten-
berger Ausgabe vom Jahre 1540 heraus (S. 565 — 600): zwei Exemplare
dieses Druckes hat der Herausgeber benutzt, von denen das eine im Besitz des
Herzogs Albrecht von Preufsen gewesen ist und handschriftliche Einträge von
ihm enthält, danmter ein bisher unbekanntes sechsstrophiges Glaubenslied
(S. 571). — Valentin Hintner (Wien) gibt Beiträge eur tirolischen Namen*
forschung (S. 601 — 630), und fördert zweifellos damit auch methodisch das wich-
tige und schwierige Feld der sprachlichen Bearbeitung von Ortsnamen. — Als
letzter endlich veröffentlicht HermannAlthof (Weimar) eine Untersuchung
über ein Problem in der Walthariusforschung Gerald und ErchambcHd
— 273 —
(S. 631 — 652). Ersterer widmet in einem in drei Handschriften von Ekke-
hards Epos befindlichen Prolog dem letzteren das Gedicht, aber wer diese
Personen sind, darüber ist viel gestritten worden : hier wird mit gutem Grunde
die Ansicht vertreten, dafs Erchambald (f 991) der Bischof von Strafsburg
und Gerald ein zu seiner Zeit bezeugter Domherr ebendort gewesen ist.
Diese verschiedenen, auf die mannigfachsten Fragen der örtlichen Ge-
schichtsforschung eingehenden Arbeiten stellen eine Bereicherung der Lite-
ratur dar; sie verdienen um so nachdrücklichere Erwähnung, weil gerade im
Jahrbuche der Erfurter Akademie kaum jemand nach solchen Arbeiten sucht.
Die Erfurter Akademie ist, wie wir gesehen haben, eine eigentümliche
Anstalt; sie ist wie die Görlitzer Gesellschaft von allgemeinen Bestrebungen
ausgegangen, hat sich aber nicht so sehr spezialisiert wie jene. Tragen die
von ihr veröffentlichten Studien heute auch ztuneist geschichtlichen Charakter,
so sind sie doch nicht auf dieses Gebiet grundsätzlich beschränkt, und, so
weit sie ihm angehören, beschränken sie sich auch nicht auf eine bestimmte
geographisch abgegrenzte Landschaft, sondern ziehen die verschiedensten
Gegenstände aus allen Landschaften in Betracht und fördern damit den
Zusammenhang geschichtlicher und geisteswbsenschaftlicher Arbeit überhaupt
Eingegangene Bficher.
Knickenberg, Fritz: Die ältesten Aufnahmen der Stadt Bonn [= Bonner
Jahrbücher, Heft iio (1903), S. 203 — 213].
Kräl von DobraVoda, Adalbert Ritter: Der Adel von Böhmen, Mähren
und Schlesien, genealogisch-heraldisches Repertorium sämtlicher Standes-
erhebungen, Prädikate, Beförderungen, Incolats-Erteilimgen, Wappen und
Wappenverbesserungen des gesamten Adels der Böhmischen Krone.
Prag, J. Taussig, 1904. 310 S. 4^ M. 20,00.
Krieger, Albert: Topographisches Wörterbuch des Grofsherzogtums Baden,
herausgegeben von der Badischen Historischen Kommission. Zweite
durchgesehene und stark vermehrte Auflage. Erster Band in zwei Halb-
bänden. Heidelberg, Carl Winter, 1903 und 1904. XXII S. und
1290 Spalten.
Landau, Richard: Eine medico - historische Urkunde [=3 Anzeiger des
Germanischen Nationalmuseums Jahrgang 1903, S. 97 — 100].
Muchau, H.: Die Inschriften der Chur- und Hauptstadt Brandenburg [= Der
Roland, Wochenschrift für Heimatkunde. 2. Jahrgang Nr. 19 und Nr. 20].
Ohlenschlager, Friedrich : Römische Überreste in Bayern, nach Berichten,
AbbUdungen und eigener Anschauung geschildert und mit Unterstützung
des Kaiserlich Deutschen Archäologischen Instituts herausgegeben, Heft 2.
München, J. Lindauer (Schöpping), 1903, S. 97 — 192 mit 3 Karten, einem
Plan und 30 Abbildungen im Text. M. 4,00.
Prejawa: Erläuterungen zu dem im Germanischen Nationalmuseiun auf-
gestellten Teil eines Niedersächsischen Bauernhauses [= Anzeiger des
Germanischen Nationalmuseums, Jahrgang 1903, S. 131 — 152].
Schäfer, Ernst: Sevilla und Valladolid, die evangelischen Gemeinden Spaniens
im Reformationszeitalter [= Schriften des Vereins für Reformations-
geschichte Nr. 78]. Halle, Niemeyer, 1903. 137 S. 8^ M. 1,20.
— 274 —
Schönaich, G. : Die alte Jauersche Stadtbefestigung, Vortrag gehalten in der
Philomaüiie zu Jauer. Jauer, Oskar Hellmann, 1903. 18 S. 8^. M. o,6o.
— : Die alte Fürstentumshauptstadt Jauer, Bilder und Studien zva jauerschen
Stadtgeschichte, i. Lieferung. Jauer, Oskar Hellmann, 1903. 48 S. 8^.
Schubert, Hans von : Grundzüge der Kirchengeschichte. Tübingen, I. C.
B. Mohr (Paul Siebeck), 1904. 304 S. 8^ M. 4.
Sepp, Joh. Nep. : Ludwig Augustus, König von Bayern, und das Zeitalter
der Wiedergeburt der Künste. Zweite vermehrte imd verbesserte Auflage
Mit 2 Bildnissen. Regensburg, G. J. Manz, 1903. 965 S. 8^ M. 10.00
Siegl: Die Geschichte der Egerer Stadtuhr [= Sonderabdruck aus dem
„Egerer Jahrbuch", 1904].
Stümcke, Heinrich: HohenzoUemfürsten im Drama, ein Beitrag zu ver-
gleichenden Literatur- und Theatergeschichte. Leipzig, Georg Wigand,
1903- 305 S. 8^ M. 5,50.
Thalhofer, Fr. H. : Führer durch die Stadt Donauwörth, deren Geschichte
und Umgebung. Donauwörth, Luwig Auer, 1904. 64 S. 8®.
Wolkan, Rudolf: Die Lieder der Wiedertäufer, em Beitrag zur deutschen
und niederländischen Literatur- und Kirchengeschichte. Berlin W 35,
B. Behr, 1903. 295 S. 8^ M. 8,00.
Arnold, Robert F.: Die Kultur der Renaissance, Gesittung, Forschung,
Dichtung [= Sanmüung Göschen]. Leipzig, G. J. Göschen, 1904.
137 S. i6<>. M. 0.80.
Bossert: Die Reformation in Creglingen [= Württembergisch Franken, Neue
Folge Vm (1903), S. 1—64].
Bredt, £. W. : Katalog der mittelalterlichen Miniaturen des Germanischen
Nationalmusetuns. Nürnberg, Verlag des Germanischen Museums, 1903.
149 S. und 16 Tafehi 8^
Dönges, C. : Belagenmg, Zerstörung und Schleifung von Schlofs und Festung
Dillenburg [bb Veröffentlichung des historischen Vereins zu Dillenbuig
Nr. 3]. Dillenburg, Moritz Weidenbach (K. Seels Nachfolger), 1904.
48 und C. VIII S. 8».
Jostes, Franz: Roland in Schimpf und Ernst [«> Zeitschrift des Vereins
für rheinische und westfälische Volkskunde, i. Jahrgang, erstes Heft
Elberfeld, Baedeker, 1904. S. 6 — 36].
Kehrmann, Karl: Die Capita agendorum^ kritischer Beitrag zur Geschichte
der Reformverhandlungen in Konstanz [= Historische Bibliothek, heraus-
gegeben von der Redaktion der Historischen Zeitschrift, 15. Band.]
München, R. Oldenburg, 1903. 67 S. 8®.
Knüll, Bodo: Historische Geographie Deutschlands im Mittelalter. Breslau,
Ferdinand Hirt, 1903. 240 S. 8<*. M. 4.00.
K o s e r , Reinhold : Die Neuordnung des preufsischen Archivwesens durch den
Staatskanzler Fürsten von Hardenberg [= Mitteilungen der K. Preufsischen
ArchiwerwaltungHeft 7]. Leipzig, S.Hirzel, 1904. XVIII u. 72 S.8<>. M. 2.60.
Mitteilungen des Elaiserlichen und Königlichen Heeresmuseums im Artillerie-
arsenal in Wien, herausgegeben von dem Kuratoritun des K. u. K. Heeres-
museums. 2. Heft. Mit drei Tafeln. Wien, in Kommission bei Karl
Konegen, 1903. XLIX und 126 S. 8^.
Heraotgebcr Dr. Armin Tille in Leiptif .
Dmck und Verlag tob Friedrich Andreas Perthes, Akdeng esellschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsscbrift
rar
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
V. Band August/September 1904 11./ 12. Heft
: _. . . . . ._ ' . ¥
Zur Geschichte der Besiedelung von
]S[ieder^ und Oberösterreich
Von
Max Vancsa (Wien)
Für die Geschichte der meisten Länder, aber ganz insbesondere
für die eines ausgesprochenen Koloniallandes, wie es das österreichische
Stammland, das heutige Nieder- und zum Teil Oberösterreich, die alte
Ostmark, ursprünglich gewesen ist, bUdet die Siedelungsgeschichte
die wichtigste Grundlage. Dennoch ist es noch nicht gar lange her,
dafs sie für das genannte Gebiet in AngriiT genommen wurde.
Der erste, der bei der Gesamtdarstellung der Geschichte Öster-
reichs derBesiedelungsgeschichte einen hervorragenden Platz einräumte,
war Franz von Krones in seinem Handbuch der Geschichie Österreichs
mit besonderer Rücksicht auf Länder-, Völkerkunde und Kultur-
geschichte (Berlin 1876— 1879), nachdem allerdings bereits Büding er,
österreichische Geschichie I. Bd. (Leipzig 1858) eine bedeutende Vorarbeit
geleistet hatte. Selbstverständlich war bei diesem ersten Versuch die
Besiedelung^eschichte nur in grö&eren Zügen dem Rahmen der Ge-
samtdarstellung eingefügt; die Ergebnisse beruhten auf den darstellen*
den Quellen, hauptsächlich aber auf den Urkunden.
Im Jahre 1879 erschien dann die erste grofse rein siedlungs-
geschichtliche Arbeit für Österreich : Otto K ä m m e 1 , Anfänge deutschen
Lebens in Österreich bis zum Ausgange der Karolingerzeit , die den
ersten Teil eines gröfser angelegten Werkes Bie Entstehung des
österreichischen Deutschtums bUden sollte, aber leider eine Fortsetzung
nicht erfahren hat. Bedenkt man, dafs die grundlegenden Werke von
Lamprecht, Meitzen u. a. erst ein bis zwei Jahrzehnte später
entstanden sind, und dais der Verfasser dem Lande ganz fern stand,
so kann man seiner Leistung, die bis heute kaum in Einzelheiten, ge-
schweige denn in den Hauptzügen berichtigt oder überholt worden
ist, die volle Bewunderung nicht versagen. Auf Kämmel gehen dahe^
20
— 276 —
auch alle späteren Gesamt- oder Spezialdarstellungen zurück, so
Hubers österreichische Geschichte^ so trotz aller gegenteiligen Be-
hauptung Strakosch-Grafsmanns Geschichte der Deutschen in Öster-
reich, deren erster Band wie Kämmeis Buch nur bis zur Schlacht am
Lechfelde reicht, so selbst nochMeitzen, der in seinem grolsen Werke
Sieädung und Agrarwesen der West- und Ostgermanen, der Kelten, Römer,
Finnen und Slaven (Berlin 1895) auch ein allerdings nur kurzes Kapitel
der Besiedelungsgeschichte der Ostmark widmet.
Alle diese Arbeiten waren zeitlich beschränkt, vornehmlich auf
die Karolingische Periode, und zogen höchstens noch das X. und XI.
Jahrhundert mit herein. Eine kleine Studie über die neuzeitliche
Siedelungsgeschichte, die namentlich in der Türken- und Reformations-
zeit für die österreichischen Verhältnisse sehr wichtig ist, sei hier noch
erwähnt : Neuere slavische Siedlungen auf süddeutschem Boden von H. I.
Bidermann [Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde
II. Bd. 5. Heft. Stuttgart 1888], worin auch Niederösterreich in Kürze
behandelt ist.
Diese Arbeiten sind jedoch auch beschränkt in bezug auf ihre
Pfilfsmittel. Sie gewinnen ihre Ergebnisse nahezu ausschliefslich aus
den Urkunden bezw. aus den darstellenden Quellen. Kämmel zog
allerdings auch die Ortsnamenforschung heran, jedoch nur die slawische,
gestützt auf Miklosich, während er innerhalb der deutschen keine weiteren
Unterscheidungen vornahm ^).
In den letzten 20 Jahren haben aber die HUfsdisziplinen der Ge-
schichtsforschung im allgemeinen und der Siedelungsgeschichte im
besonderen eine ungeahnte AusbUdung erfahren, wenn auch die älteren
derartigen Spezialarbeiten in Österreich noch nicht in Zusammenhang
mit den grundlegenden und richtunggebenden neuen Forschungen in
Deutschland stehen. Da ist vor allem die Ortsnamenforschung zu
nennen. Schon Alois Hub er hat in seinem an unbewiesenen Hypo-
thesen reichen, nur mit grofeer Vorsicht zu benutzendem Werke, Geschichte
der Einführung und Verbreitung des Christentums in Süddeutschland
(Salzburg 1874 und 1875), die Ortsnamenforschung als Hilfsmittel der
Besiedelungsgeschichte herangezogen, und man kann nicht leugnen,,
dafs sich in diesem Abschnitte (IV. Bd. S. 325 f ) einige ganz brauch-
bare Gesichtspunkte finden; jedenfalls bessere, als sie die ungefähr
zur selben Zeit grassierende Keltomanie bot, die in den meisten
i) Dazu Tgl. noch Kämmel, Die slawischen Ortsnamen im nördlichen Teile
Niederösterreichs (Archiv f. slavische Philologie Vn, 356, 1884).
— 277 —
österreichischen Ortsnamen keltische Stämme erblicken zu können
glaubte. *).
Hub er scheint übrigens, wenn auch uneingestandenerma&en,
bereits von Arnolds bahnbrechendem Werke: Ansiedelungen und
Wanderungen germanischer Stämme, hmptsäcKUch in Thessischen Orts--
namen (1875) beeinflufst zu sem. — Systematischer in Angriff genommen
wurde die Ortsnamenforschtmg erst von Richard Müller, der in den
Jahren 1884 — 1893, sowie 1899 und 1900 namhafte Vorarbeiten zur
österreichischen Ortsnamenktmde in den Blättern des Vereines für
Landeshunde von Niederösterreich (XVIII— XXVH, XXXIH, XXXIV)
veröffentlicht hat, die zusammengefatst , vermehrt und kritisch gesichtet
als Altösterreichisches Ortsnamenbuch demnächst erscheinen sollen.
Freilich haben diese an sich sehr dankenswerten, flei&igen und
gründlichen Forschungen, die in exakt wissenschaftlicher Weise auf
die älteste urkundliche Überlieferung zurückgehen, eine Reihe von
Mängeln, die sie gerade für den Historiker als ziemlich problematisch
erscheinen lassen müssen.
Sie sind von rein sprachwissenschaftlichem Standpunkt aus unter-
nommen und tragen der siedelungsgeschichtlichen Seite, von gelegent-
lichen Streiflichtem abgesehen, fast gar nicht Rechnung. Und dann
erwecken manche Ergebnisse durch den Umstand, dafs die letzten
Untersuchungen mit dem Aufwand emes reichen gelehrten Apparates
vielfach zu Anschauungen geführt haben, die den ursprünglichen schein-
bar nicht minder gründlich bewiesenen gerade entgegengesetzt sind
ein gewisses Müstrauen. Jedenfalls überwiegt die theoretisch -gram-
matikalische Arbeit zu sehr, während die lebendige Überlieferung und An-
schauung und auch der Dialekt zu wenig berücksichtigt sind. So haben
denn auch Theodor von Grienberger (Mitt. d. Institutes f. österreich-
ische Geschichtsforschung XIX, 520) und Willibald Nagl (verstreut in
Zeitschriften und Zeitungen) vieles im allgemeinen und im DetaU
bekämpft tmd berichtigt').
Verhältnismäfisig frühzeitig wurde auch das Thema der Wüstungen
in Niederösterreich angeschnitten, das für die Besiedelungsgeschichte
des späteren Mittelalters und der beginnenden Neuzeit hervorragende
1) Siehe z. B. Goehlert in den Blättern des Vereins für Landesk. von Nieder-
Österreich m (1868) 3,93 und VI (1872) 179.
2) Im allgemeinen hat fUr die österreichischen Alpenländer im Rahmen eines knappen
Vortrages Osw. Redlich, Über Ortsnamen der östlichen Alpenländer und ihre Be-
deutung (Zeitschr. d. deutschen n. österr. Alpenvereins XXVm, 72,i8flgt^ihr bemerkens-
werte Gesichtspunkte gegeben.
— 278 —
Bedeutung' besitzt Neil! , Abgekommene Ortschaften in Niederösterreich
[Blätter des Vereines f. Landesk. XV— XVII, 1881 — 1883] hat in
dieser Beziehung eine gute Grundlage geschaffen, zu der dann Maure r,
Schranzhofer, Hammerl, Wiek, 2 ak und PI ess er (ebenda XV,
XX, XXI, XXV— XXVII, XXXIII und XXXIV) zahlreiche weitere
Bausteine zusammengetragen haben.
Auch die Topographie von Niederösterreich, die seit dem Jahre 1877
der Verein für Landeskunde von Niederösterreich herausgibt und die
gegenwärtig bis zum Artikel „Melk" gediehen ist*), berücksichtiget
wenigstens in den späteren Bänden die Besiedelungsgeschichte und
bietet der Einzelforschung manche Anhaltspunkte.
Unterdessen waren dann eine Reihe allgemeiner siedelungs-
geschichtlicher Arbeiten erschienen, von Inama-Sternegg aufser
seiner Deutschen Wirtschaftsgeschichte besonders die kleineren Arbeiten :
Untersuchungen Ober das Hofsystem im MittdaUer mit besonderer Be-
Ziehung auf Deutsches Alpenland, (Innsbruck 1872), Die Entwiekdung
der deutschen Alpendörfer im Histor. Taschenbuch 5. Folge IV, 1874
und Die Ausbildung der grofsen Grrundherrschaften in Deutschland
während der Karolingereeit (Leipzig 1878), von Lamprecht Deutsches
Wirtschaftsleben, Deutsche Geschichte und viele kleinere Arbeiten, und
vonMeitzen au(ser seinem schon zitierten Hauptwerk die zahlreichen
kleinen Abhandlungen über die Hufe, den Hausbau, die Flur usw.
Hier wurden der Besiedelungsgeschichte mit besonderer Betonung
der Wirtschaftsgeschichte neue Bahnen gewiesen und neue Hilfe-
mittel, namentlich durch die Untersuchung noch gegenwärtig bestehen-
der Verhältnisse und Formen, die einen Rückschlufs auf die Vergangen-
heit gestatten, an die Hand gegeben.
Inama-Sternegg und Meitzen haben die österreichischen
Verhältnisse gelegentlich im grofeen Zusammenhange berücksichtigt;
allmählich, wenn auch langsam und stockend folgten dann auch Einzel-
untersuchungen. Nicht unerwähnt dürfen zwei kleine Arbeiten Kämm eis,
vermutlich Vorarbeiten für die nicht weiter ausgeführte Fortsetzung
seines Werkes, bleiben : Aus dem Salbuch eines österreichischen Klosters
[Zeitschr. f. allgem. Gesch., Kultur- und Literaturgesch. III, 253,
1886] und Zur Entwickelungsgeschichte der weltlichen Grundherrschaften in
den deutschen SOdostmarken während des X und XI. Jahrhunderts,
[Histor. Untersuchungen, E. Förstemann zum sojähr. Doktorjubiläum
gewidmet von der hist Gesellschaft in Dresden, Leipzig 1894], die
i) Vgl. darüber meinen Aufsatz in dieser Zeitschrift m (1908) 97 f., 129 f.
— 279 —
bereits mit Geschick und Glück die wirtscbaftsgeschichtliche Methode
auf siedelungsgeschichtliche Fragen anwenden ^).
Die Hausforschung hat fiir die Alpenländer zuerst Gustav
Bancalari in Angriff genommen , der einen Aufruf in der Deiäschen
Bundschau für Geographie und Statistik (1890), 9. Heft, veröffentlichte,
und eine 1892 von der Anthropologischen Gesellschaft herausgegebene
Anleitung, Vorgang hei der Hauafarsdiung, folgen liefis. Zusammen-
gefaist hat er die Ergebnisse in einem Aufsatze: Die Hausforschung
und ihre Ergebnisse in den Ostalpen [Zeitschrift des deutschen und
österreichischen Alpenvereins 1893 und separat], doch fanden sie bei
der exakten Forschung nicht allgemeinen Anklang; jedenfalls hat er
viel zu sehr schematisiert und phantasiert. Die Anwendung auf die
Siedelungsgeschichte fehlte.
Auf enger begrenztem Gebiet ist es Anton D a c h 1 e r , Das Bauern^
haus in Niederösterreich und sein Urqfrung [Blätter des Vereins für
Landesk. XXXI, 115, 1897] geglückt, zu klareren Gesichtspunkten, ein-
facheren Typen und verwendbareren Ergebnissen zu gelangen. Erst
dadurch war es mögUch, die bajuvarische und fränkische Besiedltmg
Niederösterreichs, die man in jüngster Zeit als nebeneinander bestehend
immer deutlicher erkannt hatte, schärfer zu umgrenzen. Derselbe
Forscher hat es auch nicht ohne Glück unternommen, in einer kleinen
Studie : Beziehungen zwischen den niederösterreichisehen, bayerischen und
fränkischen Mundarten und Bewohnern [Zeitschrift für österreichische
Volkskunde VIII, 81 f. 1901] als Stütze der Siedelungsgeschichte die
Dialektforschung heranzuziehen.
Nach diesen zahlreichen Spezialvorarbeiten auf dem Gebiete der
Hilfswissenschaften und nach den bedeutenden Fortschritten der siede-
lungsgeschichtlichen Forschung überhaupt ist man endlich in den letzten
Jahien in Österreich darangegangen, gröfsere siedelungsgeschicht-
liche Darstellungen zu versuchen, die modernen Methoden zu ver-
wenden, die Einzelforschungen zu verwerten und so zu umfassenderen
Ei^ebnissen zu gelangen. Merkwürdigerweise sind es da vornehmlich
aus der Wiener geographischen Schule Albrecht Pencks her-
vorgegangene jüngere Gelehrte, die sich diesem Gebiete zugewendet
haben und es mit mehr oder weniger Geschick und Gründlichkeit
pflegen. Dabei erweist es sich als sehr zweckmäfsig, dafs die Unter-
1} Die vortreffliche Arbeit von Krön es. Die deutsche Besudelung der östlichen
Älpenländer, insbesondere Steiermarks, Kärntens und Krains mich ihren geschicht-
lichen und örtlichen Verhältnissen [Forschungen zur deutschen Landes- und Volkskunde IIT,
StBttgart 18S9] bertthrt Nieder- und Oberösterreich nur in den südlichen Grenzgebieten
— 280 —
sachnngen regional ao^eteilt wurden, denn bei der starken Verschieden-
heit der einzelnen Landesteile in bezug auf BodenbeschafTenheit und
wirtschaftliche Bedingungen war auch der Gang der Besiedelung regional
verschieden, und man entgeht bei dieser Art der Untersuchung leiditer
der Gefahr, an einem Orte gewonnene Ergebnisse willkürlich auf ganz
abweichende Verhältnisse zu übertragen, beziehungsweise Beobachtungen,
die verschiedenartigen Voraussetzungen entspringen, miteinander zu
vermengen.
Ein verheifeungsvoller erster Wurf war die Arbeit von Alfred
Grund: Die Veränderungen der Topographie im Wiener Walde und
Wiener Becken [Geographische Abhandlungen, herausgegeben von
Prof. Albrecht Penck, VIII. Bd. i. Heft. Leipzig 1901]. Im Gegensatz
zu den älteren zeitlich mehr oder weniger eng begrenzten siedelungs-
geschichtlichen Darstellungen gibt Grund für sein Gebiet, das übrigens
dadurch von besonderer Bedeutung ist, dafs es den Kern des Landes
bildet, eine vollständige Siedelungsgeschichte , die im wesentlichen
drei gro&e Etappen feststellt: die Kolonisation des Landes von der
Karolingerzeit bis zum Abschluß im XIII. Jahrhundert ; Rückgang und
Stillstand der Besiedelung bis zum XVII. Jahrhundert; Neubesiedelungen
seit 1683.
Ausgezeichnet ist die Methode, mit der Grund Gang und Ur-
sachen dieser Erscheinungen klarlegt. Für die älteste Periode, die
ihrerseits in die primäre Karolingische Besiedelung und in die sekundäre
seit 955 zerfällt, wobei die letztere wieder in die Besiedelung der
Ebene, in die des Waldes und Gebirges und in dem Abschlufis durch
die Gründung der Märkte und Städte geschieden wird, verwendet er
naturgemäß die Ergebnisse der Urkundenforschung, der Hausbau-
forschung, bei der er einige beachtenswerte selbständige Typen auf-
stellt, und der Ortsnamenforschung. So vermag er die bayerische
und fränkische Siedelung mit ziemlicher Sicherheit klarzulegen. Er macht
auch den Versuch, auf Grund der bestehenden und der verschollenen
Ortschaften die Ortschaftsdichte im Mittelalter ziiTernmäfsig darzustellen,
wobei sich ergibt, dafs sie seit dem Mittelalter durchweg zurück-
gegangen ist.
Dies fuhrt nun hmüber zur zweiten Periode des Rückganges und
Stillstandes, und hier gelingt es dem Verfasser, durch Anwendung der
wirtschaftsgeschichtlichen Methode noch zu weit interessanteren imd
überraschenderen Ergebnissen zu kommen. Die früheren Forscher, die
sich mit der auffallenden Tatsache des massenhaften Abkommens von
Ortschaften in Niederösterreich beschäftigt haben, suchten die Ursache
— 281 —
stets in äufserlichen Ereignissen : in den Bürgerkriegen des XV. Jahr-
hunderts, noch mehr im Zeitalter der Gegenreformation, in denSchweden-
iind Türkeneinfallen, in der Pest u. dergl. Indem nun Grund die
urkundlichen Nachrichten über die verschollenen Orte prüft, zeig^
sich, dafs sie fast alle aus dem ausgehenden XV. oder beginnenden
XVI. Jahrhundert stammen. Die Erklärung dafür lieget nach Grund
lediglich in einer wirtschaftlichen Katastrophe. Die zunehmende Edel-
metallarmut Europas und speziell Österreichs liefs gegen Ende des
Mittelalters die Getreidepreise und den Bodenwert rapid sinken. Die
Ackerbaufläche liefs sich aber in Österreich nicht mehr vergröfsem,
und so trat eine Verarmung der Bevölkerung, beziehungsweise ein
Abströmen derselben in die Städte, Märkte und Weinbauorte ein. Nur
diese blieben in Blüte, weil die Weinbaufläche noch vermehrt werden
konnte. Die Orte, die einst von den ersten Kolonisten ohne Rücksicht
auf BodenbeschafTenheit tmd Klima gegründet worden waren, gingen
jetzt fast durchweg ein. Zur näheren Darlegung aller dieser eigen-
tümlichen Verhältnisse und Prozesse hat Grund einen sehr grofsen
wirtschaftsgeschichtlichen Anhang hinzugefügt, der vielleicht im Ver-
gleich zum Ausmafs des Buches zu umfangreich ausgefallen ist, zur
erschöpfenden Darstellung aller wirtschaftsgeschichtlichen Faktoren da-
gegen wieder nicht ausreicht, aber immerhin reichliches Material beibringt
In dem Augenblicke, da mit der Entdeckung und Erschliefsnng
Amerikas die Edelmetallarmut der alten Welt behoben war, war auch
dem Niedergang des Ackerbaues ein Ziel gesetzt, dafür trat allerdings
ein starker Verfall des Weinbaues ein. Immerhin war nun der Ort-
schaftenbestand fixiert, und nun erfolgt eine teilweise Neubesiedelung
des Landes. Einige Grofsgrundbesitzer rufen von ihren in Kroatien
gelegenen Gütern kroatische Bauern ins Land, auch aus Steiermark, Ober-
österreich und Süddeutschland zogen Kolonisten herbei. Eine Periode
grofser Aufforstungen hatte die Gründung zahlreicher Hüttlerkolonien
im Gefolge; die Versuche zur Hebung der Industrie, die Schaffung
neuer Verkehrswege, endlich im XDC. Jahrhundert die Anlage der
Eisenbahnen, die Touristik und die VUleggiaturengründungen vollendeten
dann das BesiedelungsbUd der Gegenwart.
Was Grunds Werk au&er seinen reichen Aufschlüssen und semen
methodologischen Vorzügen noch einen besonderen Wert verleiht, ist
der Umstand, dafs der Verfasser nie den Blick für die grofisen und
allgemeinen Zusammenhänge verliert. Dadurch gewinnt es aucb für
die siedelungsgeschichtliche Forschung im allgemeinen Bedeutung und
verdient auch bei Untersuchungen, die den von ihm behandelten G ^
— 282 —
biete fem liegen, beachtet zu werden. Übrigens hat Grund selbst in
einem Schluiskapitel einen Vergleich mit zahlreichen anderen Gebieten
Deutschlands gezogen und nachgewiesen, dafs sich die von ihm ge-
wonnenen Gesichtspunkte und klargelegten Erscheinungen noch ander-
weitig verfolgen lassen.
In einiger Entfernung von Grunds Werke reihen sich dann zwei
Arbeiten über andere Landstriche Nieder- und Oberösterreichs an, die
gleichfalls aus Pencks geographischem Seminar hervorgegangen sincL
Vor Grunds Buch verfafet, aber etwas später erschienen ist die Unter-
suchung von Alfred Hackel: Die Besiedelungsverhältnisse des ober-
österreichischen MüMviertels in ihrer Abhängigkeit von natürlichen und
geschichtlichen Bedingungen [Forschungen zur deutschen Landes- und
Volkskunde, herausgegeben von Dr. A. Kirchhoflf XTV. Bd., i. Heft
Stuttgart 1902]. Sie hat das Verdienst, über ein bisher von der For-
schung ziemlich vernachlässigtes Gebiet Licht verbreitet zu haben, das
Gebiet des grofeen „Nordwaldes*', des Urwaldes, der sich im Norden
der Donau von der Ilz bis zum Kamp ausgedehnt hat. Wenn auch
schon im Altertume Saumwege nach Böhmen hindurchfuhrten und
wenn auch im frühen Mittelalter einige slawische, ja auch fränkische
Siedelungen in der Nähe der Donau nachgewiesen sind, so begann die
Rodung und Besiedelung doch erst im XI. Jahrhundert. Es sind nun
zwei scharf getrennte Besiedelungsperioden zu unterscheiden. Die eine
nimm t ihren Ausgangspunkt von der gro(sen Schenkung Kaiser Heinrichs II.
an das Kloster Niedemburg in Passau im Jahre lofo, wodurch ein
bedeutendes Gebiet im Westen des bebandelten Landstriches, das
sogenannte Abteiland, an das Kloster, bezw. an das Bistum Passau
gelangte. Die Konkurrenz, die hier dem Bistum in einigen bedeuten-
den Adelsgeschlechtem erwuchs, war für die Kolonisierung des Gebietes
au&erordentlich günstig. Später, seit Mitte dtts XII. Jahrhunderts,
entwickelte sich sodann mit der Ausbreitung der Territorialmacht des
Bistums Passau auch ein Interessenkampf mit den österreichischen
Landesfursten, denen der östliche l*eil des heutigen Mühlviertels, die
Riedmark und das Machland, gehörten. So begann nun auch hier eine
intensive Rodung und Kolonisierung, die jedoch erst^^um die Mitte des
XIII. Jahrhunderts ihren Abschlufs fand. Wie Hackel nachweist, trägt
die ältere Besiedelungsperiode, also hauptsächlich im Westen des Landes,
bajuvarischen Charakter, die jüngeren fränkischen. Ortsnamen und Haus-
formen deuten noch heute daraufhin. Den Untersuchungen Hackeis wohnt
leider eine gewisse 2^haftigkeit inne, die ihn verhindert, die Hilfsmittel
zu konzentrieren und den Stoffbis zu den letzten Konsequenzen auszubeuten.
— 283 —
In der dritten der angeführten Arbeiten: I}ie nördlichen Alpen
gtvisehen Enns, Traisen und Mure von Norbert Krebs [Geographische
Abhandlungen, herausgegeben von Prof. Penck, VIII. Bd., 2. Heft.
Leipzig 1903] ist der Besiedelungsgeschichte ein geringerer Raum ge-
widmet. Das ist wohl auch in dem Charakter des behandelten Land-
striches begründet, der als von den grofsen Völkerstraisen ziemlich
abseits liegendes Gebirgsland weniger bunte Verhältnisse, weniger
wechselvolle Schicksale aufzuweisen hat. Er hat mehr Ähnlichkeit
mit der oberen Steiermark als mit dem österreichischen Donauland
oder dem Gebiete des böhmisch-mährischen Mittelgebirges. Es ist
das Gebiet der bajuvarischen Einzelhofsiedelung , höchstens da(s im
Nordosten einige fränkische Siedelungen herübergreifen. Im frühen
Mittelalter sitzen hier in den Flufstälem Slawen. Der Abschlufs der
deutschen Besiedelung erfolgt ziemlich spät, im XIII. Jahrhundert.
Auch die Katastrophe der Landwirtschaft, die, wie wir gesehen haben,
im Wiener Wald und Wiener Becken und wohl auch im Norden der
Donau im XV. Jahrhundert einen so aulserordentlichen Umschwung
in der Besiedelung hervorgerufen hat, machte sich hier nur wenig
bemerkbar, denn hier hatte die Bevölkerung eine ganz anders ge-
sicherte wirtschaftliche Grundlage im Bergbau und Hüttenwesen ge-
wonnen. — Über die Hausformen hat Krebs gleichfalls noch Spezial-
Studien in seinem Gebiete angestellt ^).
Groisen Gewinn dürfte auch die Siedelungsgeschichte aus der Neu-
ausgabe der landesfürstlichen Urbare durch Alfons Dopsch ziehen
(I. Bd. der Österreichischen urbare, herausgegeben von der K. Akademie
der Wissenschaften. Wien und Leipzig 1904)^ der übrigens in der Ein-
leitung, die sich zu einer Art österreichischer Wirtschaftsgeschichte
im kleinen ausgestaltet hat, selbst die Hauptergebnisse klai^elegt hat.
Nicht unerwähtit darf bleiben, dafs Willibald Na gl und Jakob
Zeidler, als sie vor wenigen Jahren an die Abfassung einer DaufocA-
i) Nicht unerwähnt soll bleiben, dafs über eines der interessantesten and bisher wohl
am ärgsten vernachl^igten Siedelangsgebiete, nämlich Über das Waldvicrtel,' Franz Heils-
berg eine eingehende Untersachong nahezu rollendet hat, deren Veröffentlichang jeden-
falls für die nächste Zeit tu, gewärtigen ist. Der Vollständigkeit wegen führe ich noch
an, dafs sich auch das IIL Bändchen von P e e z , Erlebt — erwandert, das den Untertitel
Blicke auf die Entstehtmg der Ostmark und Karl der Große als Neubegründer des
Deutschen Volksstammes trägt (Wien 1902), mit der Besiedelungsgeschichte beschäftigt
und Ortsnamen- und Hausbauforschung heranzieht. Es beruht jedoch nicht auf exakten
wissenschaftlichen Forschungen, sonderi) ist mehr populär-dilettantisch gehalten und könnte
eher verwirrend als fördernd wirken.
— 284 —
österreichischen Literaturgeschichte (I. Bd., Wien 1899) gingen, den
Ausgangspunkt von der Besiedelungsgeschichte nahmen, welcher das
erste Kapitel gewidmet ist.
Was die bisherige Forschung zutage gefördert hat, habe ich im
Rahmen der Landesgeschichte in dem ersten Bande meiner Geschickte
Nieder- und Oberösterreichs, der bis 1283 reicht und demnächst als
Teil der Deutschen Landesgeschichten im Verlage von Friedrich Andreas
Perthes A.-G. in Gotha erscheinen wird, verwertet.
Trotz der zahlreichen bemerkenswerten Einzeluntersuchungen und
obwohl die Besiedelungsgeschichte Nieder- und Oberösterreichs, wie
man sehen kann, in jüngster Zeit einen regen Aufechwung genommen
hat, bleiben noch ganz gewaltige Lücken, die ausgefüllt werden wollen,
ehe sich die Einzelbeobachtungen zu einem klaren Gesamtbilde ver-
einigen lassen.
Zunächst ist das Land regional nur erst zum geringen Teil
durchforscht. Die historische Forschung in Oberösterreich ist wie in
so vielen Beziehungen auch darin arg zurückgeblieben; hier fehlen
sogar die Vorarbeiten, denn fast alle eingangs erwähnten Spezialunter-
suchungen beschäftigen sich nahezu ausschließlich mit Niederösterreich.
Aber auch in Niederösterreich ist das Viertel ober dem Manhartsberg,
das Waldviertel, eine Terra incognita geblieben, im Viertel unter dem
Manhartsberg fehlen neuere systematische Untersuchtmgen und auch
im Süden der Donau gibt es einige noch wenig durchforschte Gebiete.
Aber nicht minder bedürfen einzelne Fragen der Besiedelungs-
geschichte noch eine gründliche Nachprüfung und Ausgestaltung, ja
Neubearbeitung. Am meisten dürften wohl die urkundlichen Nach-
richten ausgebeutet sein. Es sind zwar noch lange nicht alle Urkunden-
schätze zutage gefördert, aber an den Hauptergebnissen dürfte doch
kaum durch neue Veröflfentlichungen etwas geändert werden; es sind
vielmehr wohl nur neue örtlich bedeutsame Aufschlüsse zu erwarten.
Einen gröfseren Gewinn verspricht die Ausgabe der Urbarien, in
bezug auf welche ja bereits, wie wir sahen, ein verheifeungsvoller An-
fang gemacht wurde. Ist durch sie einmal das wirtschaftliche BUd in
seinen Einzelheiten, seinen charakteristischen Eigentümlichkeiten und
Verschiedenheiten festgestellt, — und Dop seh hat bereits den Weg
gewiesen — , so wird man auch in bezug auf die Besiedelung klarer
sehen. Beides greift ja auf das engste ineinander; die Urbarien und
Grundbücher geben dort, wo heute die Spuren verwischt sind, Auf-
schlüsse über Einzelhof- und Dorfsiedelung, über Bauern- und Grund-
herrensiedelung, über verschollene Orte, über Fluranlage u. v. a. m.
— 286 —
Die Flurkartenforschung, wie sie Meitzen anderwärts mit
Erfolg angestellt hat, stöfst bei uns mangels älterer Flurkarten auf
Schwierigkeiten. Zur Grundlage könnten nur die Franziszeischen
Katastralpläne aus den zwanziger Jahren des XIX. Jahrhunderts ge-
nommen werden; ein gutes Hilfsmittel ist auch die vom Verein für
Landeskunde herausgegebene Administrativkarte von Niederösterreich
in HO Sektionen (i : 28800).
Noch immer nicht ist es möglich, den iiir die Besiedelungsgeschichte
erhofilen Gewinn aus der Ortsnamenforschung zu ziehen, denn
abgesehen davon, dais für Oberösterreich nicht einmal Vorarbeiten
vorhanden sind, stehen auch für Niederösterreich die Erklärungen
keineswegs fest Die Nutzanwendung auf die Siedelungsgeschichte
mufs erst durch systematische Untersuchungen und Zusammenstellungen
gewonnen werden. Man mülste auch die Verteilung gewisser Orts-
namen, Ortsnamengruppen und Ortsnamenformen auf einzelne Land-
striche näher ins Auge fassen. Neue Perspektiven, die bei uns erst
noch zu verfolgen sind, eröffnet die neue wirtschaftsgeschichtliche
MetHode der Ortsnamenforschimg, wie sie zuerst Hans Witte und
Adolf Seh ib er für die Besiedelungsgeschichte des Eisais angewendet
haben, freilich ohne vorläufig in der Erklärung einig zu werden *), Bei
uns dürfte sich vielfach das wirtschaftsgeschichtliche mit dem stammes-
geschichtlichen Moment decken.
Hand in Hand mit der Ortsnamenforschung müiste die Flurnamen-
forschung gehen, die unbegreiflicherweise bisher in Nieder- und
Oberösterreich völlig vernachlässigt worden ist. Jetzt sind die Flur-
namen leider schon im Schwinden begriffen, doch würden, wie schon
erwähnt, die Katastralpläne und die Administrativkarte gute Hilfsmittel
zu ihrer Feststellung bieten, Aufiserdem würden gerade in dieser
Beziehimg Urbarien und Grundbücher die reichste Ausbeute liefern.
Unerläfelich für Orts- und Flurnamenforschung ist eine gründliche
Kenntnis des Dialektes. Aber auch regionale Beobachtungen des
Dialektes und seiner Unterschiede werden noch Aufschlüsse über die
Besiedelung ergeben. Eine gesicherte Grundlage wird hoffentlich das
Niederösterreichische DiaMttcörterbuch schaffen, für dessen Abfassung
der Verein für Landeskunde von Niederösterreich in Ausführung einer
testamentarischen Verfügung des Freiherm Otto Mayer von und
i) Die Literatur siehe: Deutsche Geschichtsblätter I, 153, 1900, Anm. 2. — Vei^.
ferner Was chke, Ortsnamenforschung (ebenda S. 253 f.) und Witte, Ortsnamenforschung
und Wirtschaftsgeschichte (ebenda m, 153 f., 209 f., 1902).
— 286 —
zu Gravenegg im Vorjahre einen Preis mit dreijährigem
aoBgeschrieben hat.
Ergänzend muCs auch noch die volkskundliche Forschung^
hinzutreten. Auch in Sitten und Gebräuchen sind ja bisweilen alte
Stammeseigenheiten bewahrt; auch sie können daher manchen Anhalts-
punkt bieten ^).
Erst wenn man alle Gebiete der beiden Länder nach allen den
genannten Richtungen hin durchforscht, erst wenn man die Zusammen-
hänge mit der Besiedelung in anderen Ländern, die Eigentümlich-
keiten der österreichischen Besiedelung und die regionalen oder zeitlichen
Unterschiede klar erkannt und ihre Ursachen ergründet hat, erst dann
wird sich ein richtiges Gesamtbild von der Besiedelungsgeschichte
Nieder- und Oberösterreichs gewinnen lassen.
Liimesforsehung in Österreich
Von
Salomon Frankfurter (Wien)
Im ersten Jahrgange dieser Zeitschrift (S. 195 ff.) hat Schreiber
dieser Zeilen über die im Jahre 1897 begonnene Limesforschung in
Österreich berichtet und zunächst die Aufgaben skizziert, die diese
Forschung in Österreich - Ungarn zu lösen hat. Seine Ausführungen
schlössen mit der Anregung, dafe die Kaiserliche Akademie der Wissen-
schaften in Wien, die zur Durchführung dieser Arbeiten, soweit sie
Österreich zukommt, eine Limeskommission eingesetzt hat, sich
mit der ungarischen Akademie der Wissenschaften verbinden möge,
damit nach einem einheitlichen . Plane in der ganzen Monarchie die
Arbeit in Angriff genommen und durchgeführt werde. Indem ich nun,
dem Wunsche der Redaktion entsprechend, daran gehe, an der Hand
der bisher erschienenen fünf Hefte der von der Limeskommission der
Wiener Akademie herausgegebenen Publikation Der römische Limes
♦n Österreich — das 5. Heft ist noch nicht zur Ausgabe gelangt —
den derzeitigen Stand der österreichischen Forschung auf diesem Ge-
biete zu skizzieren, mufs ich zunächst bekennen, dafs der im Jahre
I) Siehe Kaindl, Die Volkskunde (Leiprig und Wien 1903).
— 287 —
igoo ausgesprochene Wunsch auch jetzt noch ein frommer, unerfüllter
geblieben ist Damit hängt es aber auch zusammen, dafs die fünf-
jährige Tätigkeit der Limesforschung an der Donau noch immer erst
ein Anfangsstadium darstellt und sowohl in der Reichhaltigkeit der
Resultate als auch der Lebhaftigkeit der Arbeiten den Vei^leich mit der
Tätigkeit der deutschen Reichs-Limeskommission, die ihr, wie begreif-
lich, als Vorbild dient, vorläufig noch nicht aushält.
Aber auch innerhalb des engeren Gebietes, dessen Erforschung
die Limeskommission sich zur Au^abe gestellt hat, in Nieder- und
Oberösterreich, ist von einem für die planmäfsige und raschere Durch-
fuhrung der Arbeiten, die geschehen müssen, wünschenswerten Um-
fang der Tätigkeit nicht viel zu melden: es fehlt noch immer an
einer Oi^anisation der Aufgabe in gröfserem Stile. Es wäre vor allem
erforderlich, dafs man, ähnlich wie es in Deutschland der Fall ist, zur
Bildung von Lokalkomitees schritte, damit nach einem von der akade-
mischen Limeskommission entworfenen Plane die Arbeit längs der
ganzen Limesstrecke aufgenommen und allmählich durchgeführt werden
könnte. Wie notwendig das wäre, ergibt sich aus einer aufmerksamen
Durchsicht der bisher erschienenen Limeshefte, denn von Jahr zu Jahr
geht immer mehr durch Unachtsamkeit unwiederbringlich verloren.
Die Reste der römischen Strafsen und Bauten, die ohnehin meist nur
in geringen Spuren erhalten sind, liegen so wenig tief unter dem
Ackerboden, dafs alljährlich der Pflug immer mehr davon berührt:
das Steinmaterial wird von den kleinen Grundbesitzern ausgehoben,
und so geht vieles unkontrolliert verloren. Die Mitteilungen von
Augenzeugen, auf die man dann nach Jahren angewiesen ist, bieten aber
eine viel zu unzuverlässige Grundlage für spätere Feststellungen. Ohne-
hin haben ja die Arbeiten behufs systematischer Erforschung des römi-
schen Limes in Österreich zu spät eingesetzt. So zweifellos es ist,
dafs die Technik des Grabens und die Fähigkeit im Erkennen und
Deuten der Reste heute ganz anders ausgebildet sind, so dass auch
viel vollkommenere Ergebnisse der Forschung zu verzeichnen sind, so
steht doch diesen Fortschritten der unleugbare Nachteil gegenüber,
dafs sich die Objekte der Forschung immer mehr vermindern. Vieles
ist auch durch die Gewalt des Stromes, namentlich bevor diese durch
die Donauregulierung eingedämmt worden ist, unterwühlt und zerstört
worden. Charakteristisch dafür ist die Tatsache, dafis Oberst Groller
v. Mildensee, der Ausgrabungsleiter der Limeskommission und Ver-
fasser der Berichte, der in seinen Wahrnehmungen sowohl als in derer
Beurteilung überaus vorsichtig ist, die Frage, ob aufser der Straf£>
— 288 —
den Türmen und dem Legionslager an der bis jetzt untersuchten
Strecke eine dem obergermanisch -rätischen Grenzsperrwerk ähnliche,
linear zusammenhängende Befestigung vorhanden war, nicht bestimmt
zu beantworten wagt. Er begnügt sich damit, die Tatsache zu kon-
statieren, da(s sie nicht vorhanden ist: „wenn sie jemals bestanden
hat, müfete sie vor der Limesstrafse sich befunden haben und wäre
längst im Strom verschwunden". Aber nicht nur diese eventuell zu
supponierende linear zusammenhängende Befestigung ist spurlos ver-
schwunden, sondern, wie erwähnt, auch groise Stücke des Straisen-
baues und andere Bauwerke, wie Türme und Kastelle, die zum System
der Limesanlage gehörten, sind heute nicht mehr aufzufinden. Der
Bestand der noch unter dem Ackerboden befindlichen Reste verringert
sich, wie gesagt, alljährlich, ganz zu geschweigen von den unter den
Häusern bewohnter Orte an der Limesstrafse ruhenden und bei ge-
legentlichen, unkontrollierten baulichen Veränderungen, bei Anlage von
Bahnbauten und anderen Arbeiten beseitigten Resten.
Wenn nun trotz dieser beklagenswerten Verminderung des Be-
standes die Ergebnisse der Arbeiten im ersten Lustrum der akademischen
Limeskommission, wie noch gezeigt werden soll, ganz erhebliche sind,
so legt dies um so mehr die Notwendigkeit nahe, dafs endlich zu
einei Organisation im gröfseren Stile geschritten wird. Im
einzelnen hier darzulegen, in welcher Weise dies geschehen müfste,
können wir uns wohl versagen : es genügt ja auch hier auf die Or-
ganisation der Limesforschung in Deutschland hinzuweisen. Vor allem
müfste die Limeskommission sich durch die Aufnahme von Mitgliedern
verstärken, die für diese Arbeiten besonderes Interesse haben; nament-
lich müfsten die Lokalforscher ihr in irgendeiner Form angegUedert
und Vorsorge getroffen werden, dafs gleichzeitig auf der ganzen
Strecke die Grabungen und Forschungen einsetzen könnten. Not-
wendig wird auch wohl sein, eine Vermehrung der Mittel herbei-
zuführen. So dankenswert es ist, dafs die Kaiserliche Akademie der
Wissenschaften die Limsforschung in den Kreis der von ihr zu lösen-
den Aufgaben einbezogen und ihr aus der TreiÜ- Stiftung Mittel zur
Verfügung gestellt hat, so dürften doch fiir ein flotteres Arbeiten diese
Mittel nicht ausreichen. Die Landesregierungen und Lokalvereine
könnten aber wohl dafür gewonnen werden, dafs auch sie zur Bestrei-
tung der Grabungskosten Beiträge leisten.
In der Zusammensetzung der Limeskommission hat sich insofern
eine Veränderung vollzogen, als an Stelle des 1902 verstorbenen Pro-
fessors Hartl, der ebenso hervorragend als Gelehrter — er war
— 289 —
Oberst des Ruhestandes und Professor der Geodäsie an der Uni-
versität — wie durch seine Wirksamkeit in der Limeskommission
war, nunmehr der Universitätsprofessor Hofrat K. Jireczek ge-
getreten ist.
Was die Arbeiten der Limeskommission im abgelaufenen ersten
Lustrum anlangt, so standen die Ausgrabungen im Lager von Car-
nuntum^) im Mittelptmkte ihrer Tätigkeit, und das mit gutem
Grunde. Carauntum war das bedeutendste Standlager an der oberen
und mittleren Donau, und der Umstand, dafs der Boden, auf dem es
einstmals stand — das sogenannte „Bui^feld*' zwischen Petronell und
Deutsch-Altenburg — heute Ackerboden ist, legt die Möglichkeit nahe,
allmählich das ganze Lager in methodisch-rationeller Weise aufzudecken
und so hier Auüschlüsse über die Anlage dieses L^onslagers und
seine Veränderungen in den verschiedenen 2^itläuften zu gewinnen,
zumal da anderwärts meist örtliche Verhältnisse, wie Überbauung durch
moderne Städte, eifriger Raubbau auf das vorzügliche antike Ma-
terial oder die weite Entfernung von grölseren modernen Orten und
infolgedessen die erschwerte Beschaffung von Arbeitskräften, meist eine
dauernde und erfolgreiche Ausgrabung verhindern. Obwohl nun im
Lager zu Carnuntum bereits seit nahezu 20 Jahren Ausgrabungen ver-
anlaist werden und insbesondere in den letzten fünf Jahren intensiv
gegraben wird, ist diese Aufgabe noch lange nicht gelöst: es ist bis
jetzt erst ein Drittel des ganzen Lagerraums au^edeckt worden. Wie
schwierig es ist, völlige Klarheit und Sicherheit hinsichtlich der Er-
klärung der Ergebnisse und vollends in bezug auf die Bestimmung
und Benennung der au^edeckten Baulichkeiten zu gewinnen, zeigt sich
darin, dafs die neuesten Ausgrabungen manche der früheren Ergebnisse
umgestofsen haben. Die fortschreitende Erkenntnis und die Verwertung
der Ergebnisse anderwärtiger Grabungen haben manches anders ver-
stehen gelehrt, und um so mehr ist nun Vorsicht auch gegenüber den
neuesten Ergebnissen am Platze. Auf Einzelheiten kann hier nicht
eingegangen werden. Besonders anzuerkennen sind die überaus exakte
Darlegung des tatsächlich Ermittelten und, wie bereits erwähnt, die
groise Vorsicht in der Deutung der Tatsachen und in der Aufstellung
von Hypothesen, die im allgemeinen geübt wird. Mit grofser Um-
sicht wird alles beachtet, was irgendwie von Belang sein kann, und
die Berichte sind durchweg von dem Bestreben geleitet, nach allen
Richtungen hin die Ergebnisse zu erwägen, um zu einem wenn auch
i) Für das Folgende vgh Kabitschek und Frankfurter: Führer durch Car^
nuntum (5. Auflage, 2. Ausgabe, Wien 1904), S. 8a ff.
— 290 —
nicht immer sicheren, so doch wenigstens wahrscheinlichen Schlüsse
zu gelangen.
Durch die bisherigen Ausgrabungen wurden nun aufgedeckt die
ganze Westseite des Lagers, Teile der Ostseite, die Nordseite, sowrit
sie noch vorhanden ist, die westliche Hälfte der Südseite, und es
wurde aufserdem eine gröfsere Anzahl von Gebäuden im Inneren
untersucht. In den letzten beiden Jahren (1901 und 1902) wurden die
Grabungen an der Südwestecke fortgesetzt und zum Abschlufs ge-
bracht; es wurde dadurch ein Abschnitt des Lagers blofegelegt, der
geradezu als „Stadtviertel" bezeichnet werden kann: er ist von der
via quintana einerseits und von der decumana andrerseits begrenzt und
bedeckt eine Fläche von 19000 Quadratmeter; er ist von einer Reihe
parallel laufender Strafsen durchzogen, die von der via quintana aus-
gehen, aber als Sackgassen verlaufen und nicht bis zur via angularis
führen. Beachtenswert sind die Beobachtungen über den Grad und
die Art der vorgefundenen Zerstörung des Mauerwerkes: die Mauern
machten meist den Eindruck, als ob sie nicht vom Feind zerstört,
sondern gemächlich abgetragen worden sind, was daraus geschlossen
wird , dafe die jetzt vorhandene Maueroberfläche oft auf lange Strecken
geradlinig verläuft und in der Regel ziemlich gleichmä&ig tief unter
dem gegenwärtigen Bodenniveau liegt. Zweifellos ist hierin die Hand
des seinen Boden verbessernden Landwirtes zu erkennen. In ähnlichem
Sinne ist es zu deuten, dafs häufig in den zerstörten Gebäuden gar
kein oder nur sehr wenig Mauerbruch in der Erde liegt, ebenso, dals
mitunter tief in den Boden hinabreichende Mauerfundamente bis auf den
letzten Stein ausgehoben worden sind. Dagegen läfst sich auch nicht
selten deutlich erkennen, dafs Mauern entweder gewaltsam umgestürzt
oder im Laufe der Zeit allmählich niedergebrochen worden sind Aus
all dem scheint hervorzugehen, dafs das Lager nicht in dem Ma&e der
Feindesgewalt zum Opfer gefallen ist, wie hie und da angenommen zu
werden pflegt. 'Wie viel tatsächlich vom Feinde zerstört worden ist, wird
sich jedoch kaum mehr feststellen lassen, denn nach glaubwürdigen Be-
richten ragten noch vor 200 und 150 Jahren die Mauerzüge vielfach
aus dem Boden hervor, doch seither ist alles über der Erde Befind-
liche und vieles unter ihr Ruhende beseitigt worden. Alles spricht
femer dafür, dals Camuntum auch im Altertum nach der letzten Kata-
strophe nicht mehr besiedelt war, und den Charakter der Schlufe-
katastrophe lassen gewisse Funddetails erschliefsen. In einem Back-
ofen fand man sechs Brotlaibe, die erst „gegangen'* waren und nie
gebacken worden sind; in einem anstoisenden Magazin des Lagers
— 291 —
fanden sich erbebliche Vorräte an Waffen und Lebensmitteln (Erbsen»
Hirse und Hafer) unbenutzt vor ; auf den Lag'erstrafsen vor dem L^^er
und im Amphitheater lagen Steinkugeln verstreut; angeblich sind
aufserdem Panzerreste auf der Berme der westlichen Lagerseite ge-
funden worden. Das sind alles ^ Anzeichen dafür, daCs die Lager-
festung ganz plötzlich verlassen werden mulste.
In Ergänzung früherer Untersuchungen wurde der Lauf der Mauern,
die Torbauten, die Lage der Zwischentürme genauer festgestellt. In
besonders sorgßUtiger Weise hat Oberst von GroUer die verschiedenen
Bauperioden klarzulegen gesucht. Sowohl innerhalb als außer-
halb des Lagers hatte sich die Anlage allmählich bedeutend verändert
Es war eine r^elrechte Stadt im früheren Lager errichtet worden,
die sttengere miUtärische Ordnung der älteren Zeit war .durch-
brochen; selbst Frauen scheinen im Lager gewohnt zu haben. Die
Umwandlung des stehenden Heeres in eine Grenzmiliz, die dauernde
Detachierung grölserer Teile der Legionen und die damit verbundene
teilweise Entleerung des Lagers von wafienfuhrenden Inwohnern, sowie
die drohenden Einfalle der Barbaren werden einen grofsen Teil der
Einwohnerschaft der ZivUstadt nach und nach in das Lager selbst
gefuhrt haben. Selbst Kindergräber sind im Lagerviertel konstatiert
worden. Andrerseits scheinen zunächst die OfSzierswohnungen ganz
oder teüweise hinaus verlegt worden zu sein und Magazinbauten dürf-
ten einen beträchtlichen Flächenraum in Anspruch genommen haben.
Auch aufserhalb des Lagers führte Platzmangel und eine zunächst
als Gratifikation für einzelne Soldaten — anfangs vorübei^ehend, dann
in dauernder Form — verstattete Nutzniefsung am Boden, wie eine
interessante Inschrift bezeugt, zu einer intensiven Verwertung und Be-
bauung der Glacisgründe. Anscheinend ist später das ganze Glacis
an mehreren Stellen bis nahe an das Lager ganz mit grölseren Bauten
bedeckt worden. Längs des Donauufers sind diese im Westen nur
noch i8o Meter von der nächsten Lagermauer entfernt Hier wurde
1902 ein grofses Gebäude mit weiten Sälen au^edeckt, in dem ein
von dem Statthalter T. Pomponius Protomachus der Gerechtigkeit
(Aeguitaa) gestifteter Altar gefunden wurde, dessen lateinische Wid-
mung ein griechisches Epigramm wiederholt. Im Südwesten reicht
ein groCses, mit aufserordentlich starken Mauern versehenes gewaltiges
Bauwerk mit rechteckigem Grundrifs, das erst an der Nordostseite
— dort 219 Meter lang — 1902 volbtändig aufgedeckt worden ist,
bis auf 86 Meter an das Lager; von der Südfront stehen Bauten nur
etwa 140 Meter ab; im Nordosten ist ein grölserer Bau (Militär-
21
— 292 —
werkstätte?) gar nur etwa 22 Meter von der Umfassungsmauer ent-
fernt.
Der Grundriis des Lagers ist sehr unregelmäfsig und weicht von
der normalen Rechtecksform bedeutend ab. Wie die Untersuchung^
ergeben hat, ist jedoch jede gröfefere Abweichung von der natür-
lichen Bodenbeschaffenheit bedingt. Die Ost- und Westseite
lehnen sich an Bodensenkungen an und verlaufen deshalb nicht gerade
und nicht senkrecht zur Donaufront. Ebenso ist auch der Lauf der via
principctlis durch eine natürliche Bodensenkung bedingt ; sie deckt sich
fast mit der heutigen Landstraise von Prefsburg und schneidet des-
halb die Umfassungsmauer nicht senkrecht. Die Anlage der Dekuman-
seite ist hingegen nicht vom Terrain beeinflufst worden, der Graben
ist vielmehr künstlich ausgehoben, die ganze Linie läuft parallel der
via principalisy bildet demnach mit den Prinzipalseiten einen zum Teil
spitzen, zum TeU stumpfen Winkel. Auch in der Umfassung der
Prätentura sind Grabungen veranstaltet worden ; dabei wurde ein Stück
der Donaufront und ein Nordtor blofegelegt. Auch hier war die Boden-
beschaffenheit von Einflufs. Aufser dem weniger reich gegliederten
Nordtor sind auch die beiden Sinistraltore (mit zwei Durchfahrten) und
das Dekumantor in Resten erhalten.
Von den vielen Baulichkeiten, die durch die neuen Ausgrabungen
blofsgelegt wurden, sind aufser den bereits erwähnten, am bemerkens-
wertesten das grofse Waffendepot, das Lebensmittelmagazin,
die Bäckerei, die Töpferei und ein Raum, in dem man wegen
der von Beschliefsem ausgehenden Widmungen ein Garnisonarrest-
lok a 1 wohl mit Recht vermutet hat. Erwähnt sei auch ein anderer Raum,
den man wegen der Anlage und Funde (Altäre mit Widmung an Liber
und Libera, und eine Menge von Tonscherben) als Lagerkneipe
angesprochen hat.
Von Einzelfunden seien hier die grofsen Waflfenfunde besonders
erwähnt, unter denen aufser Teilen von Schilden, Helmen, Schwertern,
Pilen, Lanzen, Pfeilen, Dolchen tmd Panzern verschiedener Art, die
jetzt ein wertvoller Schatz des neuerbauten und vor wenigen Monaten
durch den Kaiser eröffneten Museum Camuntinum bUden, besonders
bemerkenswert die eine vollkommen gesicherte Rekonstruktion ermög-
lichenden Reste des Schienenpanzers sind, der bisher nur aus monu-
mentalen Denkmälern bekannt war und dessen Realität vielfach be-
zweifelt worden ist. Von den gut erhaltenen Brotlaiben und den
grofsen Mengen von sonstigen Lebensmitteln war bereits die Rede.
Im Jahre 1902 wurde auch mit den planmäfsigen Grabungen auf
— 293 —
dem Boden der Zivilstadt begonnen. Die Grabungen beg^nen
im Vorterrain der linken Prinzipalseite. Au^edeckt wurden die bereits
oben erwähnten zwei grofsen Gebäude, das eine nächst der südlichen
Lagerecke, das andere auf der „Petroneller Burg"; femer wurden ein
Rundtempel im „Petroneller Tiergarten" und zwei Gräber an der
Gräberstraise Carauntum - Scarabantia blo&gelegt.
Für die Limesforscbung wichtig sind auch die Ergebnisse der
Strafsenforschung. Fünf Stralsen, deren Reste in der Umgegend
bloisgelegt wurden, liefen von Carnuntum aus, das damit zu einem
wichtigen Knotenpunkte ^wurde. Es sind Reste von fünf Straisen
au%edeckt, von denen sich vier mit gröbter Wahrscheinlichkeit mit
den im Itinerttrium AtUanini und in der Tabula PetUingeriana ver-
zeichneten Straisen identifizieren lassen. Längs der einen Straise, die
von Carnuntum über Ulmus nach Scarabantia führte sind schon früher
Gräber au^edeckt worden; durch die neuerliche Untersuchung ist sie
bestimmt als Gräberstrafse erwiesen. Dadurch ist auch festgestellt
worden, dafs sich das vorvespasianische Lager an derselben Stelle wie
das spätere befand. Der Lauf der Strafse Carnuntum -Scarabantia
wurde in drei Kampagnen näher festgestellt: sie lief bis zum Weiler
Schafflerhof und dann über Höflein, wo ein Kastell aufgedeckt wurde,
nach einem Flurstück, das „in Gaisbei^en" heilst; eine Reihe von
Straisentürmen lielsen sich ermitteln, und zwar in einem mittleren Abstand
von 1308 Metern von Turm zu Turm. Die sogenannte „alte Straise", die
von der erwähnten Kreuzung beim Schafflerhof nach Brück a. d. Leitha
verläuft, erwies sich nicht als römisch, sondern als Überbleibsel einer
von Hainburg nach Brück führenden modernen Strafse, die erst zu
Beginn des XDC. Jahrhunderts aufjg'elassen wurde, jedoch nicht über
einer älteren, römischen StraCse erbaut worden ist. Die eigentliche
Limesstralse ist die von Carnuntum nach Vindobona fuhrende. Sie
wurde bis jetzt bis an das WeichbUd von Wien, bis zum Zentral-
friedhof, verfolgt. Die genaue Untersuchung führte zur sicheren Fest-
stellung der in den alten Strafsenkarten an ihr verzeichneten Punkte
Aequinodium und viUa Gai der Tabula; jenes ist mit Fischamcnd,
dieses mit der in der Spezialkarte als Poigenan, im Volksmund „die
Poigen" genannten buchtartigen Erweiterung der Ufemiederung der
Donau identisch. Äla nova, das im Antoninianum in der Mitte
zwischen Aequtnoctium und Vindobona angesetzt wird, mufs an
der Stelle von Schwechat gelegen haben. An dieser Straise sind
folgende Reste zutage getreten: bei Regelsbrunn Gebäudefunda-
mente und ein grofees Gehöft, in Regelsbrunn selbst ein Gebäude
21*
— 294 —
>
(limesturm) , im Rohrauer Walde Gebäudefundamente , ein Gebäude
südwestlich von Kroatisch -Haslau, eine Gebäudegruppe westlich vom
Eilender Hof (Limesturm) und im Eilender Weingarten. Besonders
zahlreich sind die römischen Reste in Fischamend, doch spricht nichts
ür die Annahme eines Kastells daselbst; hingegen wurden mehrere
Limestürme ermittelt und zwar eine aus einem steinernen und
einem hölzernen (den ersten am österreichischen Limes gefundenen)
Turm bestehende Turmanlage auf dem Plateau östlich von der Fischa
sowie ein Turm an dem westlich von der Fischa gelegenen. AuCser diesen
zwei Hauptstrafsen wurden ferner zwei Neben- (Verbindungs-) Straisen
nach aufgefundenen Gebäuderesten vermutungsweise angesetzt.
Auf die Fülle der Einzelfunde, namentlich die Inschriften, die von
Prof. Bor mann eingehend erläutert werden, kann hier ebensowenig
wie auf Einzelheiten der Grabungen und auf strittige Fragen ein-
gegangen werden. Zur Ausstattung der in Grofsquart vorliegenden
Berichte sei nur noch erwähnt, dafs eine Fülle von AbbUdungen auf
Tafeln und im Text zur Erläuterungen dienen. Während die Text-
bilder nach Photographien manchmal zu wünschen übrig lassen, sind
die nach Zeichnungen des Oberst von Groller hergestellten Ab-
bUdungen von Strafsenkarten, Gebäuderesten, Aufrissen und Grund-
rissen von Gebäuden und Kleinfunden ungemein anschaulich. Ein
Fortschritt ist in den letzten beiden Berichten auch insofern zu ver-
zeichnen, als nunmehr die Mehrzahl der AbbUdungen dem Texte
selbst beigefügt ist und nicht mehr auf Tafeln vereinigt wird; dies
vereinfacht die Benutzung erheblich, da die AbbUdung meist unmittel-
bar neben dem Text steht, zu dem sie gehört.
So kann denn die Limesforschung, wenn sie auch aus den ein-
gangs angeführten Gründen nur als Anfang einer gro(sen Aktion, die
über kurz oder lang ins Werk gesetzt werden mu(s, gelten kann, doch
auf die Ergebnisse des ersten Jahrfünfts der Arbeit um so mehr mit
Befriedigung zurückblicken, als gerade in ihnen der Ansporn zu
gröfeerer Arbeitsleistung mit reicheren Mitteln gelegen ist. Vom
weiteren Verlauf lassen sich noch reiche Aufschlüsse für die römische
Altertumskunde im aUgemeinen und die Geschichte der Römerherr-
schaft in Österreich im besonderen erhoffen.
Im weiteren Verlauf sollen zunächst nicht nur Wien selbst, sondern
auch die westlich von Wien gelegenen Punkte zunächst ausgelassen
werden und die Arbeiten wieder an einem — wenn auch jüngeren
und weniger bedeutenden — Legionslager einsetzen. Deshalb hat vor
kurzem die Limeskommission ihre Tätigkeit auf Oberösterreich
— 295 —
ausgedehnt, indem Oberst von Groller auch in dem bei Enns ge-
legenen Lager von Laureacum , dem Standlager der zweiten italischen
Legion, die seit einigen Jahren vom Musealverein in Enns betriebenen
und von manchem schönen Erfolg begleiteten Ausgrabungen in diesem
Jahre leitete. Obwohl über diese Grabungen und ihre Ergebnisse
noch kein authentischer Bericht erschienen ist, sei doch hier auf Grund
eines auf den Mitteilungen Grollers fufsenden Linzer Zeitungsberichtes
(„Tagespost*' vom 17. Juni 1904) das Wesentlichste darüber mit-
geteilt.
Der Lagergraben, der das ganze Lager wie ein Gürtel umgab,
ist besonders in nächster Nähe der Aw^^bungsstätte in seiner ur-
sprünglichen Form noch erhalten. Er bestand aus dem tiefen äufseren
und einem zweiten, inneren Graben. Der innere Umfassungsgrabeu
ist durchweg ausgefüllt und nicht mehr erkennbar. Von den Be-
festigungs- und Gebäudeanlagen ist fast weiter nichts als das unterste
Kieselfundament vorhanden, die übrigen Baumaterialien, insbesondere
die mächtigen Granitquader wurden sämtlich abgebrochen, weggeschafft
und seinerzeit zum Bau der Festungsmauem und der anderen Bauten
der Stadt Enns verwendet. Es wurde noch ein ganzer Stock solcher
mächtiger, fest zusammengefugter Steinblöcke aufgedeckt, wohlbehauene
Granitquader von 90 Zentimeter Länge, 45 Zentimeter Breite und
80 Zentimeter Tiefe. Vollständig blolsgelegt sind die Fundamente
der Umfassungsmauer und drei der immer in gleichen kurzen Ab-
ständen an der Mauer erbauten quadratischen Türme, deren Innenseiten
je 3 Meter messen, femer eine von Süden nach Norden führende
Kloake, deren Boden mit Ziegelplatten ausgelegt ist Auch ein Teil
der Heizleitung wurde aufgedeckt. Die Mauern haben durchweg eine
Dicke von 1,80 Meter, die Umfassungsmauer des Lagers eine solche
von 2 Metern. In der Mitte jeder Seite befand sich ein Tor, die an
der Nord- und an der Ostseite gelegenen Tore fallen in die das Lager
durchschneidende Bahnlinie und sind beim Bahnbau zerstört worden.
Das Tor an der Westseite müfste an der Kamptiner-VUla am Bahn-
wege, jenes an der Südseite bei der Fritz -Villa am Teich wege gelegen
haben. Kleinfunde wurden wenige gemacht; als der wertvollste gilt
der bronzene Griff eines Standartenträgers, der in einen sehr hübsch
geformten Hunde- oder Wolfskopf endigt.
— 296 —
Arnstädter Tauf^ und Familiennamen
Von
Bruno Caemmerer (Arnstadt)
(Schlaft) i)
Die Zahl der Arnstädter Urkunden und damit der Namen wächst
im XIII. Jahrh. In der Urkunde vom 22. September 1208 wird
Arnstadt als Versammlungsort einer grofsen Anzahl deutscher Fürsten
behufs der Wahl des Weifen Otto zum Könige genannt *). Seit dem
Jahre 1220 wird das Schwarzbui^er Grafenhaus mit seinen Neben-
linien, den Grafen von Kevemburg und Rabenswald *), in den Arn-
städter Urkunden erwähnt, und zwar zunächst 1220 GurUher, Graf
von Keverinburg, der später zum Unterschiede von seinem gleich-
namigen Neffen senior genannt wird. Die Gemahlin eines 1305 be-
reits verstorbenen Günther — es ist der VIII. — heiist Ädelheidis.
Der Rabenswalder Linie gehörte Graf Albrecht (Albert III.) an, der
als greve Albreckt von Babenstoald und zugleich als comes Albertus de
Rabenswald bezeichnet wird. Die Mutter Günthers VIL und VIII. von
Kevemburg und Grofsmutter Günthers X. war MedUhüdis comiüssa de
Kevemberg, die 13 12 bereits verstorben ist.
Als Ahnherr erscheint schon ums Jahr 700 ein von Willibrord
(oder Bonifatius?) zum Christentum bekehrter Edelmann Chuniarius
(Oundar), der in Thüringen ansässig war und ein Sohn des fränkischen
Königs Lothar gewesen sein soll. Der Name Chrnda/Ty Guniher, CHmther,
der auf fränkischen Ursprung des ersten Trägers schliefsen läfst —
auch das anlautende ch ist ja echt fränkisch — ward in dessen Ge«»
schlecht erblich. Die Mitglieder des Schwarzbui^er Fürstenhauses
tragen seit den ältesten Zeiten , mit wenigen Ausnahmen ^) , diesen
I) VgL oben S. 245 — a6i.
a) 2^hn Jahre vorher (1198) hatte eine zahlreiche and glänzende Versammlang von
deutschen Fürsten ebenfalls in Arnstadt dem Staafer Philipp von Schwaben die Königs-
krone angeboten.
3) Siegel des Adels der WeUiner Lande bis xum Jahre 1500, Im Auftrage
der Königlich sächsischen Staatsregierang herausgegeben von Otto Pofse (Dresden
1903). Ein herrliches sphragistisches Qaellenwerk, von dem bis jetzt Bd. I erschienen ist.
Dieser umfafst die Siegel der Grafen von Käfembarg (Kevembarg) nnd Schwarzbarg, der
Vögte von Weida, Plauen and Gera and von dem Adel der Wetüner Lande den Bach-
staben A (Abersfeld bis Aaerswald) aaf 50 Tafeln mit beschreibendem Texte, Namen-
und Sachregister.
4) Nar Sigebert, Sigehari und die Koseform Sixxo kommt daneben vom IX. Jahrfaondert
— 297 —
Namen, der aus gund und hari besteht und Kampf held bedeutet. Auch
die beiden weiblichen Eigennamen Addheidis und Mechlhüdis sind
germanisch: jenes besteht aus adal und heid^ heit (got. haidus, ahd,
Aei^ „Rang, Stand'S mhd. heit „Art, Beschaffenheit"), und bezeichnet
die Trägerin als adeligen Standes; dieser, aus maM (got. maMs, ahd.,
mhd. mdkt „Kraft, Macht'*) und hild bestehend, hei&t die Kampfes-
mächtige. Die Form MecUhildis (MehtiU) statt MaJUhiU (Mathilde) is^
aus der Umlautung des ersten Kompositionsteiles durch den zweiten
zu erklären; die ältesten, allerdings verdächtigen Fälle dieses Umlautes
sind Namen des codex Laureshamensis (Rheinfranken) aus dem
VUI. Jahrhundert (MeMilda, MechthiU, Mechtsuifd, Beldrih, Lempfrit
und BechiU), die Forste mann aufführt.
Am 9. September 122 1 werden genannt: Landgraf Ludwig von
Thüringen, Sophie, seine Mutter, Elisabeth, seine Gemahlin, Raspo und
Ckmrad, seine Brüder.
Ludwig ist Ludwig der Heilige, Raspo der unter dem Namen
Heinrich Haspe bekannte Gegenkönig Friedrichs IL Heinrich, niemand
anders als Heinrich der Erlauchte, wird als Landgraf von Thüringen
1228 genannt. Alberius (Albrecht der Entartete), wird 1273 als
iUustris princq^ dominus Albertus, Turingie lanigravius bezeichnet';
später heifst es von ihm: des hohen vursten lanigreven Albrechtes von
Duringen, und in Urkunden von 1302 und 1305: Albrecht von gotes
gnaden lantgrave zu Duringen.
Ludwig besteht aus Mod, htud, griech. xkv%6g, lat dutus, laut,
berühmt und wig (ahd. wlg, mhd. wie „Schlacht, Kampf"), lautet
Chiodowich im V. Jahrhundert, latinisiert Ludowicus, Ludewicus oder
Ludewigus und bedeutet „berühmter Kämpfer", bei Ludewicus statt
Ludewigus spielt die geschichtliche Überlieferung eine Rolle ^).
Sophie (Sophia, Sophya) und Elisabeth sind Fremdnamen : jener ist
an vor. Sizxo IV. (t 1160) neimt sich bald Graf von Kevemborg, bald von Schwarz-
borg; er ist der letzte Gangraf seines Geschlechtes. Seine Nachkommen hatten den erb-
lichen Grafentitel and zählten za dem hohen Dynastenadel. Da in den Urkunden fast
nur die Namen OihUher und Heinrich vorkommen and andere Zasätze als „der ältere^
oder „der jOngere^^ fehlen, ist die Unterscheidung der einzelnen Personen oft sehr schwer,
i) So nach So ein, S. 44. Genaa genommen ist Ludewigtss so wenig korrekt
wie lA4dewieu8. Die Urform laatet nämlich Chlodoveu$y got Bkidüiu, ahd. Bludowihy
and der zweite Bestandteil ist nach Müllenhoff in Schmidts Ztschr. f. Gesch. VUI, 364
and dem Index za Jordanes, S. 152 demnach nicht wig^ sondern wiku, toih oder wiu
(Heiligtnm). So JJewieus (Älawih), got Alaviv(uB). Doch fragt sich, ob Alamv(u»)
mit Alawicua identisch ist; Förstemann stellt den Namen aach als vereinzelt hin, and
'toie, -wg, 'Wieii, wik, "Wihe werden in den Urkunden ohne Unterschied gebraucht.
— 298 —
griechischen Ursprungs und bedeutet die Weisheit, dieser hebräischen
und heifst etwa „Gottes Eid", „Gottes Schwur". Beide Namen waren
im Mittelalter sehr beliebt ^).
Itaspo ist wieder echt germanisch : ich erkläre es als zweistämmig-e
Koseform zu rcU und pert im Sinne von Badbald (VIII. Jahrh.) der
Ratkühne oder von l^adobert (VIII. Jahrh.) „der durch Rat Glänzende**;
rcts wäre dann zusammengezogen aus rtzdis, ratis (zu radi <=: raf).
Aufser den schon genannten Namen begegnen jetzt neu ein Ritter
Lupoid von Arnskte 1240, ein Vogt Rudegerus 1246, ein GuntemSy,
dictus StipTU de Amstete 1 248, ein Eilherus miles 1 268, LuMphus de
Amstete 1293, Bertcld von Crrtjsheym (Griesheim), EUwin von Bincke-
leihen (Ringleben), Elher de Bochusen (Rockhausen) nebst seiner Fraa
Lucichard. Unter den Vertretern des Hochadels erscheinen bei den
Grafen von Orlamünde (de Orlamunden, Orlamunde) die Namen Her-
mann und Otto, bei den Grafen von Gleichen (Gleichen, Glichen)
Ernst und Albrecht. Es erscheint dann noch ein miles Hartmannus
JJce de Gelingen, der ein anderes Mal iudex Hartmannus de Gelingen
heifst, und mit ihm zusammen wird beide Male Hermannus de Ichstete
genannt, einmal als miles, das andere Mal als iudex.
Hier haben wh- schon vor der Mitte des XIII. Jahrh. zwei
treffende Beispiele doppelter Vornamen: Heinrich Raspe und
Hartmann Ucz von Göllingen. Wenn letzterer ein Jahr später nur
den Vornamen Hartmann hat, so zeigt dies, da(s damals der Ge-
brauch noch schwankte; ist doch Baspo und Heinrich Raspe auch
identisch, und der Wechsel zwischen miles und jtMlex deutet bei Hart-
mann von G. so wenig auf eine andere Person, wie bei Hermann
von Ichstedt.
Die häufige Wiederkehr derselben Taufnamen — im XII. Jahrh.
findet sich bei drei von dreizehn Personen der Name Heinrich,
im XIII. Jahrhundert kehren Günther, Heinrich, Albert, Hermann u. a.
oft wieder — beweist starken Familiensinn, besonders beim Hochadel,
von dem dann diese Lieblingsnamen eines bestimmten Geschlechtes
in die adeligen Familien und von diesen in die Bürgerkreise eindrangen.
So haben wir jedenfalls als nach dem Namen des Herrscherhauses be-
i) Neben Elisabeth findet sich im XIV. Jahrb. aach Ehebeih; so nennen z. B.
die A. U. von zwei Schwanburger Gräfinnen namens Elisabeth die eine Eliaabelh
(1350 — 1356), die andere Ehtbetk (1362). In Frankfurt a. M. tragen 1385 von i66a
namentlich genannten weiblichen Personen nicht weniger als 300 die Namen Ms%y
Maeohin and Elsa, Dagegen kommt die volle Form Elisabeth Überhaupt nicht vor.
Tille in der ZeiUchrifl för Knltargeschichte, V. Bd., S. 175.
— Ü99 —
nannt die zahlreichen Günther und Heinriche von Arnstadt anzusehen.
Natürlicher und altgermanisch ist der Brauch, den Sohn nach dem
Vater oder Grofsvater oder Oheim zu benennen, auf diese Weise wird
ein bestimmter Name gewissermafsen Sondereigentum einer bestimmten
Familie. Aus dem thüringischen Herzogshause sind uns zwei Herzöge
Hedenus bekannt, im sächsischen Königshause waren die Namen Otto
und Heinrich, bei den Saliern Heinrich, bei den Staufem Friedrich
üblich. Poppe heifsen die Grafen von Henneberg vom XI. Jahrh.
bis zur Mitte des XIII. Jahrh., die Grafen und Fürsten von Schwarz-
burg Günther oder Heinrich, und die Fürsten von Reufe von jeher
ohne Ausnahme Heinrich. Und so wac es auch beim Adel : Gerwkus
de Moüistarf heifsen Vater und Sohn und Theoderictts de MoUestorff^
vererbt auch seinen Namen auf den Sohn. Im Jahre 1267 findet sich
ein Amstädter Bürger Ekehard, sein ältester Sohn heilist ebenfalls Eke-
hard, der zweite Heinrich. Auch durch Alliteration wurde in den alt-
germanischen Namen die Verwandtschaft bezeichnet: bei den Mero-
wingischen Königsnamen durch Zusammensetzungen mit Chüd- (Chil-
derich), Ghüp-, CMod- und Theodr. Bei den Burgunden lauten alle
mit G an: Gibich, Godomarus, Gisiaharitis, Gundaharius (Günther),
Gundevechtis, Grundobctdus, Godegisilus, Gidahadus. Oder einer von beiden
Stämmen kehrt bisweilen in einem anderen Namen wieder: so ver-
hält sich Theobaid zu Theodrada, Godegisüus zu GUdabatdus. Andere
Geschlechter lieben Namen mit bestimmtem zweiten Stamm, das eine
die auf ^bert, das andere etwa die auf ^ölf, -hart, 'Ung, -toin u. a.
Noch im IX. Jahrhundert überwiegen diese verwandten Namenbüdungen,
während im X., XI. und XII. Jahrhundert die unverwandten bedeutend,
nach Socin, S. 208, etwa viermal so häufig sind. Dann erhält der
älteste Sohn den Eigennamen des Vaters, woraus im XIII., bezw.
XIV. Jahrh. die Familiennamen entsprielsen ; der Zusatz senior und
junior oder filius bildet dazu den schüchternen Übergang.
Weiter ist die Erscheinung des gleichen Vornamens •auffallend.
Trotz des reichen Schatzes altgermanischer Namen und trotz der Auf-
nahme fremden Sprachguts fuhren Brüder denselben Taufnamen:
GunÜiems et Chmtherus fraires in Keverinberg comües, 1273; Her»
mannus und Hermannus von Vanre, 1294, ohne jeden unterscheiden-
den Zusatz. Auf diese Weise erklären sich auch die oben erwähnten
doppelten Vornamen: Heinrich Rcispe ( — 1247), Hermannus Uce de
Gelingen (1248), sowie Günther Vrowin, der der Sohn Conrads von Sieh-
leben ist und 1277 als Bürger von Arnstadt erscheint. Die Seltenheit
der Belege Uefert den Beweis, dafs es sich hier um Ausnahmefälle
— 300 —
handelt, die sich bei uns erst nur im XIII. Jahrh. finden. In der Regel
hatte man auch im XIII. Jahrh. nur je einen Taufnamen. All-
gemein fingen doppelte Vornamen erst mit dem Ende des XV. Jahr-
hunderts an ^), und in der Gegenwart kehrt man teilweise zu der alten
Sitte, nur einen Taufnamen zu geben, zurück. Übrigens stammen
die ältesten Beispiele von doppelten Taufnamen wieder aus den Kreisen
des Hochadels und Adels und sind von da in die „besseren ''Bürger-
kreise eingedrungen: Ounfher Vromns Vater ist bezeichnenderweise
constd von Arnstadt, d. h. Ratsherr. Stark entwickeltes Familien-
gefiihl steht mit dieser Neuerung sicher in ursächlichem Zusammen-
hang ; außerdem pflegen nur Jiäufige Taufnamen , wie Heinrich , Her*
mann, Günther, zu Paaren vereinigt zu werden.
Kehren wir zur Erklärung der oben genannten Namen zurück!
Lupoid = LitUbold, LitUbald im VII. Jahrh. lälst sich schwer
trennen vom Stamme Hub lieb, teuer. Btulegerus, auch Btidengerus^
Budigertis, BMiger, besteht aus hrod, hmod {= „Ruhm*') und ger und
bedeutet „RuhmspQer''. Die Form Budengerus ist wohl ein Unikum,
volksetymologisch statt Budeger [Hrodgar VIII. Jahrh., Budiger seit
XI. Jahrh.); ebenso wechselt die Schreibung Otto mit Ottho, mhd.
Otte, Guntherus mit GunteruSy Hermannus mit Herman, Eilherus, Elh&r,
üyJherus. — Eilhems, EOier gehört zu agil, Nebenform von a$r, und
ger^ zusammengezogen zu Eüher, Elher = Agelhar im VIII. Jahrh.
und bedeutet „der Schwertkämpfer '\ EUhar ist nach Förstemann 803
belegt LuMphus, LudcHf ist dasselbe wie lAwtdf [vgl. oben S. 258].
Die Abkürzung F. bedeutet Fridericus. — Bertold besteht aus berahi,
bert und olt (nicht etwa hold, denn das h in Berthold ist unorganisch) ;
es ist eine Verkürzung aus BerahtoJd und bedeutet „der glänzend
Waltende". Die Form Berchtwald ist 625 belegt. PerdoU IX. Jahrh. —
EUwin gehört zum Stamme cdt, got. cdiheis, ahd. mhd. aU, der zweite
Bestandteil ist win (Freund) ; das Ganze ist eine Umlautung aus Aid-
win, als Aldawin 538 bezeugt. — Kunemundus vom Stamme hun,
got. huni, ahd. chunni, mhd. hünne (Geschlecht, Sippe) und mund,
ahd. mhd. muni (Schutz, Gewalt) bedeutet „ der das Geschlecht Schir-
mende"; Cunimund ist im V. — ^VI. Jahrh., Kunimunt im DC. Jahrh.
belegt '). Auffallend ist die schwache Form im Akkus. Konemunden,
1) Kriegk, Deutsches Bürgertum im Mittelalter (Frankfiirt 1871), S. 20a. Vgl.
mach Blamschein, Zur Oesehiehte unserer mehrfachen Vornamen in der Halbmonats«
Schrift Deutsche Stimmen (Köln), i. Bd. (1899), S. 81—85.
2) Von kuon^ ahd. chuoni, mhd. kiiene, kiien, dagegen kommt Chunrad (VÜI. Jahrh.),
lat. OonraduSj ahd. meist Kuonrät, Vgl. oben S. 248.
— 301 —
richtig der Gen. und Dat. OUen von Otte, mhd. statt (Xto; daher Otten-
dorf, Thiemendorf (von Thieme statt Thiemo) , Etzelndorf (von Ehsd),
Dorotheental, Sibyllenort. Bei von Orlamwide neben van Orlanmnden
ist noch ein Schwanken in der Beugung zu beobachten. — Hemumn
mit dem Gen. Hermannes, neben Hermannus und Herman ist aus
Hariman (VII. Jahrh.) entstanden und bedeutet der Kriegsmann, Heer-
genosse von hcMii, ahd. hari, heri, mhd. here Heer und man, got
ma$ma, ahd. mhd. man „Mensch, Mann*'. Die Identifizierung von
Herman und Arminius ist deshalb unmöglich, weil die latinisierte vor-
althochdeutsche Form Chariomannu8 heüsen mü(ste, wie die ent-
sprechende Form für Hessen ChaUi ist. — Hartmannus: hard, hart,
got ha/rdus, ahd. mhd. hari bedeutet in Namen „kräftig, tapfer*'.
Hardman und Hartman (Ardeman VIII. Jahrh.) ist der kriegstüchtige,
tapfere Held. — Vcz ist eine Zusammenziehung aus Udo mit' der
Endung isso (üdüfo, U0O), wie Ltäjs aus Ludwig entsteht ; TJdo aber ist die im
XII. Jahrh. nachgewiesene Koseform zu Uolrich. — Luckhard ist weibl.
Name aus litU und gard (Litägardis VIII. Jahrh.) und bedeutet
Schützerin des Volkes. Eine Bildung mit dem keltischen letik glänzend
ist nicht anzunehmen , wenigstens wäre dafür louc (ahd. Flamme) zu
setzen.
Zu den milües gesellen sich die servi, Knechte, d. h. noch nicht
zu Rittern geschlagene Adelige und Lehensträger : dudbt^ servis Alberto
de Hürden et Ludewico de Brücken 1248 (A. U. 19), d. h. Albrecht
von Hürde und Ludwig von Brücken. Dazu kommen in derselben
Urkunde die testes idonei: Gerwicus dictus de MdOenstorff (derselbe
heifst 1249 Gerwicus dictus de MöUistor/f) et fUius suus Gerwicus;
Conradus dictus Bendel de Erfford (bez. Erphordia) ; Bruno de Holce-
husen (Holzhausen bei Arnstadt); Teodericus deDocnifS (1249 Theodericus
de Docnig [d. i. Dozniz]); Gerardus de Ghsserstete et ßius suus
Th.(eoderict4s) ; Herenfridus scuUetus et stms ßius Heinricus; dtwbus
Senats Friderico 0. de Oderszleben et Bemone de Bendeleben 1249.
Sämtliche Taufhamen sind wieder echt germanisch ; Gerwicus be-
steht aus ger und unc, Bruno gehört zum Stamme bnm, ahd. brunnia,
brunna, mhd. brOnne Brusthamisch, Ringpanzer, und galt bisher als
Kürzung, dürfte jedoch eh tr vfie Heden, Otto uavf, als einstämmiger
Name aufzufassen sein ; die Zusammensetzungen, die Vollnamen Brun-
hard, Brunhold, Brunheri usw. sind alle jünger als Bruno. Bemo
{mcht Benno) stammt von ber, berin und entsteht BxxsBerino (VIII. Jahrh.);
die Koseform zu BUdungen mit ber ist: Bero, zu Bildimgen mit berin:
Beno (Benno), jenes im VI., dieses im VIII. Jahrh. zuerst belegt, aber
— 302 —
ebenfalls Kürzung ^). Gerardus besteht aus ger und hart und Heren-
fridus ist so viel wie Erenfridus *). Das 0, nach Friderico ist gewife
Abkürzung für Otto, und wir haben also den doppelten Vornamen
Friedrich Otto. Unter den Gliedern der Familie de MoUestorff (= Mols-
dorf in Sachsen-Gotha) findet sich auch ein Theodericus ZacJume
de M., d, i. Theoderichus Zachariae (fUius) de M., der das inte-
ressante Beispiel eines patronymischen Namens bietet. Zacbarias
(jetzt: Zacher) ist ein hebräischer Fremdname und bedeutet den,
dessen Jehova gedenkt. Einen solchen Taufnamen im Genetiv zeigt
auch um dieselbe 2^it Volpertus Helbini, d. h. Wolper(t) Hiltwins
Sohn; die patronymische Form lautet HeUbing. Ob man solche
Genetivnamen, was auch ihre Entstehung sein mag, schon als Bei-
namen (Übernamen) empfunden hat, ist sehr unsicher; man be-
trachtete sie jedenfalls im XIII. Jahrb., seit dessen Mitte sie über-
haupt erst vorkommen, als doppelte Taufiiamen wie Hermamms
ücz de Gelingen. Diese Genetivnamen werden dann gar nicht mehr
als alte Taufnamen empfunden und gehen einfach in die Familien-
namen über, als welche wir heute Zacher, Helbing, Utz, Lutze, Lutz
finden; als Vorname ist letzterer noch in unserem altadeligen Ge-
schlechte von Wurmb häufig.
Auch die seit 1266 neu hinzutretenden Taufnamen sind wieder
deutsch; Volpertus (= Votßert, Vtdfbert im VII. Jahrh.) besteht aus
todf und bert, bedeutet der gleifsende Wolf, und erinnert wohl an
Wotans heiliges Tier; doch kommen die Stämme ftdca und vola in
Konkurrenz. Amoldus besteht aus arin (ahd. mhd. am, verkürzt ara,
ahd. aro^ mhd. ar, Aar, Adler, der Götterbote) und toalty lautet Ar-
noald im VII. Jahrh. und bedeutet der wie ein Adler Waltende. Ger-
locus, Gairelaih VII. Jahrh., Geroiah VIII. Jahrh., Gerlach, der Speer-
frohe, Iah zu laikan springen; vgl. Caemmerer, Thüring. Famil., I
S. i6fl. ; Helbini patronym. Gen. von HeUnnus, d. i. hiU und fdn,
Hilduin VIII. Jahrh., Hildimn = Elduin schon im VII. Jahrh. und 704
(mon. Eptern.), der Schlachtenfreund; EcJdnbertus wurde schon oben
behandelt; Remboldus aus ragin (zusammengezogen rein) und boU,
der im Rate Kühne, Baginbald VIII. Jahrh., Reinboldfis 1266 ff.
Zusätze wie pincema, dapifer, camerarius, marescalcus, welche die
vier hohen Hofämter bezeichnen, fuhren zu den Familiennamen Schenk,
Droste, Kämmerer, Marschall, wie scuUetus und advocatus zu Schulze
i) Bero, Berns kann auch einstämmiger Name sein.
2) So wechselt aach Hertel und ErUl und Heidechse und Eideckse,
— 303 —
und Vogt. In Thüringen findet sich schon 1162 Jordanus dapifer,
1262 Ulrictis de Camera Ulrich der Kämmerer, um 1299 Hermamms
Lanlgravius, 1299 C/onradas) carpeniarius (der Wagner). In IVojfte
Pistor ist letzteres (Becker) schon Familienname. Zugleich wird,
wiewohl selten, die Verbindung durch den Zusatz didas hergestellt,
z. B. Heidmrieus didus Kouphman und in derselben Urkunde vom
Jahre 1291 Rudo^hus Kouphman, aber sonst einfach: Conradus Kauf-
manntis 1283, Chmtherus dictus Schenke, Ratsmeister, 1332 fr., Theoderich
Schenke 1377, Friederich Schengke 1425, Cunase der pancsermacher 1431.
Der Name WendepJuiffe 1273, d. i. wendischer, fremder PfafTe *),
zeigt wieder die Entstehung des Familiennamens, vermittelt durch den
Zusatz dictus. So wurde aus Cunrai, der da genant is Babist, Rats-
kämmerer und Grundbesitzer in Arnstadt seit 1322, leicht ein £bnradf
Papst; dahin gehört auch Guntherus dictus Stipht de Ämsteie, der
schon oben zu 1248 erwähnt wurde. Gleichzeitig erscheint Conradus
dictus Bendel de Erffbrd. Bendel gehört zum einstämmigen Namen
(Kürzung?) Bando (VI. Jahrh.), verkürzt mit üo zu Bandilo, Bandit und
umgelautet zu Bendel. Der Stamm band bedeutet Banner, Feldzeichen.
Die weiblichen Namen Gerdrudis (von ger und drud die Drude, un-
holde Jungfrau — vgl. aber auch trüt, traut — ), Cartrud VIII. Jahrh.,
umgek. Thrudger (bei Förstemann), die Speerjungfrau, und Wemtrudis
(uxirin, war, got. warjany abd. werian, weren, mhd. wem und drud :»
die schützende Jungfrau), Wa/rentrudis VIII. Jahrh., Werintrudis (We-
rindrut) IX. Jahrh., Wemdrud, Wemdrui IX. Jahrh. zeigen durch den
gemeinsamen zweiten Stamm ihrer Namen die Verwandtschaft.
Beim Geschlecht derer von Wechmar haben wir um 1300 zuerst
den später so häufigen und beliebten Taufnamen Johann, d. i. Jo-
hannes, die griech. Form für hebr. Jehochanan, Jochanan „dem Gott
gnädig ist'S ^o einen Fremdnamen; der Name Johann taucht auch
wie BaUhasar seit dem XIV. Jahrh. ganz vereinzelt bei den Schwarz-
burger Grafen und den Landgrafen von Thüringen auf.
Der Zuname de Curia, von dem Hofe bei domint^s Otto de Curia
1280, auch her Otto von dem Hove 1306, und IHtterich vom Hofe
1496 ist bei uns der früheste Ansatz zu den örtlichen FamUiennamen,
die die Wohnstätte des ersten Namenträgers nach Lage und BeschafTen-
heit kennzeichnen.
Bezeichnend sind die Benennungen: miles Conradus dictus Sunn-
i) Vgl. den Familiennamen Wendland, der aaf die Herkunft aus dem lUnebnr-
gischea, von Wenden besiedelten Lande hindeutet.
— 304 —
rüde 1282, miles Gothfredus Swynrode 1301 und Ootfridus vom
Schweynrode 1302. Der Zusatz didus (ohne de) fällt bald weg, dann
,,vom** ebenfalls und es bleibt nur der Ortsname Schweinroda (jetzt
Schweina, S.-M.). Vom statt von der (Rodung) ist alt und echt mnd.,
es lebt noch bei uns in vom Schwenge, d. h. Geschwenda (Schwarz-
burg-Sondershausen), viUa Gyswende 1302, das ist der Ort, wo der
Wald nicht „gerodet**, sondern „geschwendet** ist.
Fridericus Cragh, miles 1282. Der Name Cragh findet sich nitgfcnds
belegt, ist aber wohl von gradu, altn. gräd gierig, ahd. gräiag, zu-
sammenfließend mit grcü, mhd. Spitze, etwa Pfeil- oder Lanzenspitze
(vgl. ort, ag u, a.) abgeleitet; dann wäre Craish = Chradüfo, Grtufgo,
Diminutivum mit izo zu Grado DC. Jahrb., CrcUhard VIII. Jahrb., Chra-
dtüf VIII. Jahrh. oder Orctdigis IX. Jahrh. Oristanus statt Christianus
ist eine griechisch-lateinische Ableitung von Christ und bedeutet Be-
kenner des Christentums, Christ; es ist ein Fremdname, der aber
dem Deutschen schon angenähert ist durch Wegfall des h und i,
mit Umstellung des r: Kyrstanus Kirsten, (= Christen), und mit
Brechung des i in e: Kersten *).
Bertoldvs didtis de Isnacho (d. i. Eisenach), redor scolarium de
Amstete 1286, gehört wohl auch dem Adel an. Der magister scho-
larum (Schulmeister), der später auch scholctsticus oder schdaster ge-
nannt wurde, stand hoch im Rang; er war Prälat, in den älteren Zeiten
selbst Lehrer der Alumnen, die zu Priestern herangebildet wurden, er
war etwa der SchuUnspektor des ganzen Sprengeis, prüfte und er-
nannte die Rektoren, Kantoren und die übrigen Lehrer der einzelnen
Schulen und konnte sogar Bischof werden *).
Als Zeugen erscheinen 1286 neben anderen Theodericus dictus
Serws, d.h. servtis, denn 1291 heifst es von derselben Person: Theo^
derich genannt Kneicht, sodann Gruntherus didus Rizchir, Henricus
didtts Corea und Bertoldus dictus Sterkere. Der Name Riechir scheint
ein Unikum zu sein; ich halte ihn für eine sekundäre BUdung aus der
Verkleinerung Eichiiso, zusammengezogen Rijso, von rik, reich — nicht
zu verwechseln mit Rico — imd chir = hir, her, Herr; Richiro
X. Jahrh., Richero XI. Jahrh. sind die zugehörigen Vollnamen. Corea
i) Kerstin 1049 Förstemann, in Westfalen 1096 (=» Chrtatinua), Kirst für
Krist erstmalig urkundlich belegt im „Lorscher Bienensegen ^^ X. Jahrh.. — Kyrsta/nua,
eapellatms in ElxUybin (Elxleben) 1286.
2) Vgl. Schmidt, Geschichte der Pädagogik, II, S. 148 f. — Panlsen, Ge-
schichte des gelehrten Unterrichts (1896), S. 16 und Beiträge zur Oberlehrerfrage von
Frickc und Eulenburg (1903), S. 6 — 7.
— 305 —
ist wohl identisch mit Chorea Tanz und bezeichnet den Tänzer. Ster-
Teere ist die umgelantete Form von Siarchari VIII. Jahrh. , Starheri,
Stercer, jetzt: Sterker, besteht ans starc, ahd. starh, starc hart, fest,
und hart, und bedeutet der standhaltende Kämpfer.
Der Taufiiame Eberhardus begegnet 1290 zuerst und bedeutet
„stark wie ein Eber*'; den ersten Bestandteil bildet ehar, ahd. &mr,
mhd. eher, der Eber, das heilige Tier des Jagdgottes Fro (altn. JFVeyr),
den zweiten hart; mit niederdeutschem v, also als Everhardus, findet
sich der Name schon 1282 für den Propst von Hersfeld.
Das Geschlecht derer von Witzleben entstammt dem thüringischen
Lande. Ein Friedrich de Wtcedeibin tritt 1293 — 1361 auf, sein Tauf-
name nimmt eine häufig veränderte Gestalt an: Fridericus, Friderich,
Friederich, Fricee und Früe (die Koseform zu Friderich = Fridigo)^
ja auch die aspirierte Form Fricsch ist vertreten. Ebirlin — so heilst
sein Sohn — ist eine Koseform zu ebar. Dieser Stamm erscheint im
VII. Jahrh. mit der doppelten Verkleinerungssilbe l (üo) und n als
Ebolenus und im VIII. Jahrh. als Euerlin. Ein Coppo miles kommt 1293
vor. Cobbo oder Coppo IX. Jahrh., auch Choppo, ist eine deutliche zwei-
stämmige Koseform zu verschiedenen Vollnamen, besonders Godahert
und anderen mit i oder p im Anlaut des zweiten Kompositionsteiles.
Die stattliche Schar ritterlicher Personen schlielsen ab: dominus
Ounradus de Hdüis, magister Conradus de Bosla, Ekkehardus de Tenne-
stete (Tennstädt bei Langensalza), Ountherus de Tullestete (wohl von
DöUstädt), Berthold von Stedtenfeld, Heinrich gen. von ÄUdsUifen, Lehns-
träger des Grafen Günther von Schwarzburg, sämtlich 1299 genannt,
CHiniher und Friedrich Gebrüder von Salza (Langensalza) 1300, sowie
Berthold von Totelstedt (Töttelstädt bei Gotha) zu Erfurt 1300.
Wenden wir uns nun zu der Geistlichkeit! Es tragen die hohen
Würdenträger neben ihren Adels- und Geburtsnamen, wie die übrigen
Geistlichen und die Angehörigen des höheren Lehrerstandes, den wir
mit anschlieisen — ist doch u. a. der Titel magister beiden Ständen
völlig gemeinsam — , auch im XIII. Jahrh. mit ganz vereinzelten Aus-
nahmen nur deutsche Taufhamen. Und dasselbe gilt für die weib-
lichen Namen der Äbtissinnen und Priorinnen; Namen von Kloster-
jungfrauen usw. sind in Arnstadt erst im folgenden Jahrhundert belegt.
Als erster der derici tritt Hugo, Vorsteher des Klosters St. Wal-
purgis 1220 — 1257, und 1268 als verstorben genannt, auf, femer 1220
Theoderich, Propst zu Ichtershausen, und Herdenus, Priester zu Arnstadt,
Abt Werner von Hersfeld 1246 und dominus Theodericus Oldeszlebensis
äbbas 1248. Der Vorsteher des Klosters JJditershusen heif
— 306 —
G.(oUschcdk) ^) , der Pfarrer zu Arnstadt 1253 — 1291 CSonrod und der
Abt von Fulda und Hersfeld 1263 Henricus.
Weiter reihen sich an: prepasiius Henricus de Breümgen 1263,
auch Henricus prepositua de BreiUngen genannt, nuigister Erkenberius
1263, der 1266 magister Erkinbertus heilst, und magisier Ludewicus,
scokisticua de Ordorf 1263, dem bei einer anderen Erwähnung' der Zu-
satz magisier fehlt.
Herdenus kommt vom Stamme herod, ahd. hSroU (= princip€U%ts)
oder von hart und lautet im VIII. Jahrh. Hardini, Harduni, und vom
IX. Jahrh. an nrngelantct Herdenus; doch können auch zwei verscbie-
dene Bildungen vorliegen. Erkenbertus gehört zum Stamme erckan,
ercan, got. airhns, ahd. ercan (= ingenuus, genumus), mit der Endung-
bert, Ercanbert lautet im VII. Jahrh. Erkenbert, Erchinbert, kommt ia
Thüringen und Sachsen sehr selten vor, ist sonst zuerst als Bischofs-
name und in romanischen Ländern als Taufiiame belegt Der Name
des 1263 als 2^uge vorkommenden Klerikers Hdwicus (oder Helewicus)
Zucdo ist wieder ein Doppelname. Helwicus lautet im VIII. Jahrh.
HiUiwic, Der erste Kompositionsteil ist gebrochen und hat den auslauten-
den Konsonanten verloren, es ist der jetzige Name Heibig oder Hel-
wig, der aus zwei Kampfesworteü , hitt und wie, zusammengesetzt ist,
wie Haduwic, das übrigens männlich und weiblich ist. Ein Unikum
ist der Name Zucelo, Förstemann kennt einen Zuchüo im VI. Jahrh.
und einen Zuco, welche beide am besten zum Stamme zog von tfiuJuiti,
fuhren {gogo &» Führer, Herzog, tnagezogo), zu stellen sind; Tmogo,
Zogo und Zuogo kommen im VIII. Jahrh. vor und aus der Diminutiv-
silbe l (ilo) entsteht Zugilo, ZucUo, Zucelo, wobei c den Wert von
k hat.
Gerlingis — seit 1272 als Priorin des Klosters St. Walpurgis ge-
nannt — ist die mittelniederdeutsche Form für OerUndis; im VIII. Jahrh.
lautet der Name Gerüinda, Gerlind (-is, -a), Gerlint IX. — ^XFV. Jahrh.,
der erste Teil ist ger, der zweite lint Schlange, Drache, ein Wort, das
sich als SinnbUd geheimnisvollen Wesens vielfach in weiblichen Namen
als zweiter Stamm findet, gerade wie drud. Zum Dialekt vergleiche
„finge" statt finden, „Linge" statt Linde.
Der Kaplan im Walpurgiskloster heilst 1272 Jacobus; das ist ein
alttestamentlicher Fremdname und zugleich Apostelname; hebräisches
Jaakob bedeutet der Fersenhalter, d. i. Nachgeborene von Zwillingen.
Der Propst von Hersfeld 1282 — 1307 heifst Heinricus Maiar, wobei der
i) über die AbkttnangeQ vgl. S. 256.
— 807 —
zweite Name »■ maiar natu, der ältere, sein mag ; es liegt hierin wieder
ein Ansatz znm Familienhamen.
Rudolfus Huganis, 1294 Kanoniker in Erfurt, ist wieder ein
interessantes Beispiel für die Ausbildung von Familiennamen, wie sie
bei dem Laien Oriatanus TtUhonis ebenfalls 1294 oder bereits 1266
bei dem mües Volpertus Helbini und TheodericHS Zacharie 1268 vor-
kamen. Dieser Zusatz sollte eigentlich stets im Genetiv stehen, schon
frühzeitig findet sich aber der Nominativ. Der Genetiv scheint aus
einer Ellipse von fUitis zu erklären zu sein; doch wird diese naheli^ende
Deutung nicht allseits für unbedingt notwendig erachtet ^) ; neben den
erwähnten Grenetiven haben wir auch Nominative bei Hdewicus Zuceto,
IVidericus Crtufh, Qunfherus didus RichHr, J. Cappo, Albertus dictus
Bendel, OutUher Banemcmn u. a. Überhaupt überwiegt der Nominativ
bei weitem in den aus altdeutschen Einzelnamen entstandenen FamUien-
namen, wie sich auch im Gegensatz zu den Taufnamen, von denen
sie doch grundsätzlich nicht verschieden sind, bei den Familiennamen
altdeutschen Ursprungs ein bedeutendes Übergewicht der Kurznamen
über die Vollnamen zeigt.
JuUa war Priorin des Walpurgisklosters 1289: zugrunde liegt wohl
der Stamm psd (nicht Ooda, Quda =» g^ut, wovon Chida DC. Jahrh.,
(hda VIII. Jahrh., Gtitta DC. Jahrh. gebildet wurde), der dem Namen
der Juten und Jöthunen (Riesen) zugrunde liegt. Der männliche Name
Judo ist im DC. Jahrh., der weibliche Judda im VIII. Jahrh., auch als
JiUay Jutta bezeugt. — Osanna, auch eine Priorin, trägt einen Fremd-
namen, der aus dem Kirchengesang Kyrie eleison, Osanna (für Ho-
sianna) in den Namenschatz übergegangen, zuerst 769 bezeugt ist und
sich im XIV. Jahrh. auch in Görlitz findet.
Entsprechende Namenbildungen sind Grrätzschen aus Oraüas, als
Familienname Chaiien, oder Ävemarg, Avemartg, jetzt Familienname
in Gotha, aus Ave Maria.
Der Familienname PfaUsgraf erscheint — 1253 Sifrid gen. Phfal-
lenggreve, Vogt zu Arnstadt — zunächst mit dem Zusätze gena/nnt,
von 1257 an aber lautet der Familienname einfach Pfalzgraf, in lateini-
schen Urkunden Palatinus. Heinrich Phanczgrefe kommt 141 2 und
Phanczgrefe ohne Vornamen auch 141 2 vor! — Bonimannus ist 1264
noch Taufname, in demselben Jahre aber schon als Familienname bei
Qvntherus Bonimannus bezeugt. Roni kommt vom Stamme run^ ahd.
i) Vgl. Socin, a. a. O., S. i88 and Je cht im Neoea i^iaiUitcheo Magazin,
^8. Bd. (1892), S. 12.
— 308 —
riina (Geheimnis), alts. rü/na (Beratung), ursprünglich wohl Zauberhand-
lung, ist aber nur vereinzelt in männlichen Namen ^) bezeugt Uater
cioes Hersveldenses wird erwähnt 1263 — 1266 Bert(oldu8) JUoneiarius,
wobei Monetarius (Münzmeister, Münzer) schon Familienname ist Da-
gegen ist bei dem 1266 erwähnten H^eodericus Friso monetarius das-
selbe Wort wieder Berufsbezeichnung. Die Schreibweise des Vor-
namens schwankt zwischen i und (h, wie bei Gtmterus und Guntherus,
Renoldus statt des richtigeren Beindldus wie Henrieus statt Heinrious
gehört zu got ragin (= Rat, Ratschlufs) und oU waltend. Wie Hem^
rieh aus Haganrih durch Zusammenziehung entsteht, so lautet Reinoldus
im VI. Jahrh. Baginald und bedeutet mit klugem Rate waltend. Bai-
ndld(us), Beinhöld, Beinold aus umgelautetem regin, regen; nur selten
kommt dafür Benold vor, doch wird diese Form erst seit dem XIII. Jahrh.
gebräuchlich und bald durch den Zwillingsbruder Beinhcid verdrängt *).
Ein Ludwig trägt 1263 den Familiennamen de CapeUa und 1266 <2e
Capeßana nach irgendeiner Kapelle, in deren Nähe er wohnt. Die Form
CapeiUana ist auffallend, vielleicht auch nur verschrieben; daraus entstan-
den Familiennamen wie Kapelle (Göttingen) oder Spittel (Arnstadt), die an
die Wohnung des ersten Trägers bei der Kapelle oder beim Hospital
erinnern. So ist auch gewifs der adelige Name Qtmterus dietu»
Stipht de Amstete (1248) zu verstehen.
Ein Hersfelder Bürger heiüst 1266 Craßho. Das ist dasselbe wie
Crafto und bedeutet einfach starker Mann; dieser einstämmige Name
ist seit dem VIII. Jahrh. bezeugt. Ob in der bezeugten Nennung^
ein Familienname ohne Vornamen oder einfacher Personenname vor-
liegt, bleibt ungewiis.
Der 1267 genannte Gerthinger ist aus Gerthingen; der Familien-
name ist also aus dem Ortsnamen abgeleitet, aber letzterem liegt selbst
ein Personenname zugrunde, denn Qerthing, Gerding kommt vom
Stamme gard, got. gards Haus, Gehöft, Familie, ahd. gart. Der
Stamm ist als erster Kompositionsteil in Namen selten, kommt aber
seit dem VI. Jahrh. vor; Gerding ist die umgelautete patronymische
Form statt Garding im VI. Jahrh. Aufserdem haben wir hier ein
sicheres Beispiel eines reinen FamUiennamens ohne Vornamen.
i) Fönte mann führt 32 anf -run anslantende Fraueimamen an: Älbnm (scboi»
bei Tacitas), Qvdnm, Fredentn usw.; Weissagung war ja hauptsächlich Fraaensache.
Noch jetzt ist in Nordthüringen der Name Runkunkel im Sinne von „alte Geheimnis-
krämerin" verbreitet
3) Das k ist volksetymologisch wie in Berthold statt Bertolt oder im Amstädter
Flamamen Rahenhold fUr Rabenwald (RabenouU),
— 309 —
ülricus Meichiildis bedeutet Ulrich, Sohn der Maihilde, und ist ein
metrony mischer Name wie Hans Eisin (Hans Ehe) und Günther Else ;
doch deutet die Nennung der Mutter nicht auf uneheliche Geburt,
sondern bezeichnet die vornehme Stellung der Mutter. Auffallend ist
die Form Meichiildis statt MeMUdis, wie sich 1291 Kneicht statt Kneht
findet Ounradus cognamento Scolaris ist Konrad Schüler: der Zusatz
cognomento statt des häufigeren didus zeigt den folgenden Familien-
namen an; Scolaris oder Schüler, auch Jünger, steht im Gegensatz zu
Magister, Meister. Eckehardus Vasämrger, civis in AmsteU (1272) ist
wohl wie Gerthinger nach seinem Heimatsorte benannt.
Das Jahr 1283 nennt uns fünf consules: Henricus Schade (auch
Sehada 1320), Ulricus Schüebot, Conradus de Gota, Conraäus Ulrici
und Heinricus Ulrici. Dazu treten Conradus Saxo, Gotfridus Menteler,
Conradus Koufmannus, Henricus Ovener und 1293 Heinrich von Am-
stete, Theoderich genannt Vanre (auch Dietrich von Vanre).
Die Namen von Amstete, de Gota, genannt Vanre oder von Vanre
sind Ortsfamiliennamen. Hier ist von Amstete büiger lieber Name,
bezeichnet aber ein Glied einer hochangesehenen Bürgerfamilie,
während ursprünglich nur den adeligen Familien dieser Name zukam.
Conradus Saxo trägt einen Volksnamen als Familiennamen. Conradus
Ulrici ist Konrad Ulrich; C^mradus Koufmannus ist Konrad Kaufmann,
K.der Kaufmann. — Schade (Schada) ist gleich Schade {Scatto im VIII. Jahrh.)
und hier zum Familiennamen geworden. Es kommt vom Stamme scada,
ahd. scado, mhd. schade der Schädiger, Feind. Schilebot kann nur eine
NeubUdung aus dem nur in wenigen Spuren in Namen wie in Schiliolf
erhaltenen Stamme scüdu (got shildus, ahd. sdÜ, mhd. schild der SchUd)
und bot (bodo), sein. Die Form Schilebot ist verderbt aus SchiUbot,
der Kompositionsvokal e ist häufig in lateinisch abgefaüsten Urkunden,
aber unorganisch und unnötig erweiternd; der Sinn ist Schildgebieter
oder auch SchUdkämpfer wie Marbod (aus mar und bod) berühmter Ge-
bieter bedeutet; doch ist nach Socin Marbod ^=iMeripaU>=i^l7tn6^axog.
— Mewtder gehört zum Stamme mand, ahd. mendar^, mhd. menden
sich freuen; der einstämmige Name Manto kommt im VIII. Jahrh. vor,
mit l (Ho) als JIfan^t2o, und die patrony mische BUdung davon ist
Mandler, Menteler ^). — Ovener erkläre ich als lateinische Schrei-
bung für Owener, was dann ein an Ovoe, Aue, erinnernder Ortsfamilien-
name wäre.
i) MenM ist in anderen Fällen Ablehnng von Immanael. Bei Menteler könn'
man aach an mbd. manUier der Trödler denken.
22*
— 310 —
In Conradus didus Banso und dominus didus Canrcukis Banso
(1294) ist Banso — wie Bendd — die Koseform zu Band (VI. Jahrb.),
Bandigo, zusammengezogen zu Pango VIII. Jahrh., Pen$o, Benjso, und
die altd. Nominativform ist zum Familiennamen geworden. In CWsto-
nus Tulhonis ist letzteres wieder ein Beispiel eines zum Familiennamen
gewordenen altd. Namens im Genetiv : TtUhonis von TtUho, auch Dudo,
daraus Dute, Tute, Thute bis um 1600, von da an Thaute; CWstom»
Tuihonis ist also „Christian Thaute*'.
Zwei Bauern, rusHci in EhUeybin, hei&en 1286 Henricus didus
de Liberffin und Hdnricus dictus Grolle, De Libergin ist ein Lokal-
name als Familienname, noch mit dem Zusatz didus, wie ursprünglich
in den Kreisen des Adels und vornehmen Bürgertums, von denen
aus diese Art der Namenbildung immer weitere Kreise zog. GrosMe
ist eine Zusammensetzung aus Gros (Gro(s) und hole. Letzteres lautet
im IV. Jahrh. bald und erscheint im VIII. Jahrh. als einstämmig'er
Familienname BaUo; daraus sind u. a. die modernen Familiennamen:
Bolte, Bolle, Bole, Boll entstanden. Bald, got. baUhs, ahd. btüd, mhd.
baU bedeutet kühn, tapfer, schnell, und Grofsboll ist gebildet wie
Grofskunz, Grotefend, Kleingünther u. a.
Wir haben die Namen unserer Urktmden . vom An£amg des
VIII. bis Anfang des XIV. Jahrhunderts vorgeführt und unsere ältesten
Taufhamen wie die großenteils aus ihnen entstehenden FamUiennamen
besprochen. Die anderen Familiennamen sind aus Ortsnamen, Be-
nennungen nach Amt und Würden, charakteristischen Eigenschaften
usw. hervorgegangen, aber überall zeigt sich noch ein oft recht er-
hebliches Schwanken in der Schreibung. Noch endigen die meisten
altdeutschen Namen auf -0 (fem-a), OUo, nicht Otte, Bruno, nicht
Brune oder Brun, Craßho statt Krafl, Jutta statt Jutte.
Die Doppelnamigkeit mit de und dem Ortsnamen kommt zuerst
1176 (Albert de Grumbach) vor, dann bei den Grafen von Buch, den
Grafen von Schwarzburg und Käfemburg, den Herren von Amsiete u. a.
seit Anfang des XIII. Jahrh. Die Hochadeligen sind stets vollnamig,
z. B. comes Guntherus de Schwarzburg, comes Albertus de Glichen oder
greve Hennan von Orlamunde, ebenso die viri neuntes, aber nicht die
Herzöge. Die milites und servi, später die Bürger (seit Anfang des
XIII. Jahrh.) folgen diesem Beispiele im Durchschnitt etwa ein Jahr-
hundert später. Die Bischöfe und die Geistlichen führen einfache
Namen. Zur Regel ward also fester Familienname haupt-
sächlich aus Rücksicht auf erblichen Besitz oder erbliche
— 811 —
politische Rechte. Erst später, im XTV. bis XVI. Jahrh. folgte
der Bürgerstand in den Städten, wo die bürgerliche Ordnung
und das römische Recht einen festen Familiennamen verlangten,
und zuletzt mufste sich auch der Bauernstand der Neuerung anbe-
quemen.
Das früheste Beispiel eines Familiennamens aus unserer Gegend
ist vir nobiUs nomine Sigfridus de StuiUungen 1058. Die Namen mit
de sind in Verbindung mit der Bezeichnung dominus beim Adel am
häufigsten. Benennungen wie Herenfridus sciMdus 1248 oder Her-
mannus et Henricus prefedi 1263 sind anfangs noch als einnamig zu
rechnen und jünger als die Bezeichnungen mit de\ beides verbunden
aber findet sich in Reinholdus pincema de Lengisfeli 1266. — Die
fSrühesten bürgerlichen Geschlechtsnamen finden sich am Rhein (in
Köln zu Anfang des Xu. Jahrh.), wo die Bevölkerung damals die
stärkste imter allen Gegenden Deutschlands war, so dafs diese beiden
Erscheinungen sicher in Zusammenhang stehen. Bei uns setzen sie
erst seit Mitte des XIII. Jahrh. ein. Das XII. Jahrh. ist die Blütezeit
des alten, echten Adels, das eigentliche feudale Jahrhimdert. Der
alte Adel ist heutzutage im wesentlichen nur noch in den Kaisern,
Königen, Herzögen, Fürsten, Grafen und Freiherren erhalten, doch
sind auch von diesen viele aus dem Dienstadel hervorgegangen. Im
XII. Jahrh. bedeutet Ritter (milesj noch einen Beruf, mit dem
XIII. Jahrh. die Zugehörigkeit zu einem Stande. Die Städter spielen
bei uns im XII. Jahrb. noch keine Rolle, erst mit dem Aufschwung
von Handel und Verkehr seit dem XIIL, besonders XIV. Jahrh. Ein
BiUer taucht bei uns zuerst 1223 auf, 1248 müites und servi; mini-
steriodes werden 1268 erwähnt; ein miUs noch 1301, dann verschwindet
diese Bezeichnung. Im strengen Sinne des Wortes sind die ministeriales,
die ebenfalls „rittermäfsige Leute '* sind und mit den miZe^ rangieren,
nur solche Adelige, die bestimmte Ämter haben: Truchseis, Schenk,
Kämmerer, Marschalk und Vitztum (vicedominus), Sie sind vornehmer
als die Ritter, sozusagen die Aristokratie unter ihnen, stammen gewifs
auch zum TeU von ndbiles ab '). Ihre Macht hob sich zur Zeit der Staufer
aufserordentlich, sie wurden zum Teil selbst Fürsten, hielten sich selber
eine groise Dienstmannschaft, und dadurch vornehmlich gelangte der
Ritterstand zur Blüte. Gleichzeitig mit dieser Hebung des Standes
und dem tragischen Ende der Staufer verschwindet auch der Ausdruck
ministerialis, bei uns ist er zuletzt 1268 belegt und zwar mit B^dÜuuur
i) Die Tornehouten sind die mintsteriales imperti, barones.
— S12 —
auf die Hersfelder Ministerialen. Mües aber bedeutet zunächst den zu
Rosse dienenden Kriegsmann, der aber, da er zugleich Land zu Lehen
trug, wie andere Lehnsleute über Grundbesitz verfugte. Im XIII. Jahrfa.
aber bezeichnet Ritter, unabhängig von der persönlichen Stellung der
einzelnen Person, einen Stand. Ein tniles konnte vorher leibeigen
sein, verschenkt und vertauscht werden und stand somit unter dem
Gemeinfreien, im XIII. Jahrh. aber bekommt er den Titel dominus
und steht in den Zeugenreihen der Urkunden vor den Bürgern, auch
wenn sie Altfreie sind. Ja, mancher Adelfreie (nobiUs, nobiiis vir) ist
auf seine Zugehörigkeit zur Ritterschaft so stolz, dafs er sich nicht als
ndbüis, sondern als miles, müüaris, ministeriaUa bezeichnet. Die Ritter-
geschlechter aber nannten sich bald Edelleute (ncbiles, nobiles viri),
wie es bis vor kurzem nur den freien Herren (liberi, Uteri domini)
zugestanden hatte. Die erbliche Berechtigung zur Ritterwürde, die
Ritterbürtigkeit , hatte die alten StandesbegrifTe verwischt und neue
geschaffen.
Wenn beim alten Adel die Standesbezeichnungen wie comes
und die Prädikate nobiiis oder edele, liber oder vrie, ingenuus fehlen,
so sind innere Gründe oder die Zeugenfolge in den Urkunden, wo die
nobües vor den tnüitcs, die Bezeichnung dominus vor dem Namen,
bei geringeren hinter demselben steht, für uns Leitmotive. Der
Dienstadel, gewöhnlich durch ministeriaUs oder miles bezeichnet,
hat manchmal diesen Zusatz nicht, und dann ist die Entscheidung
schwer, ob es sich um einen Altfreien oder einen Stadtbürger usw.
handelt. Tatsächlich schwankte die Grenze hier sehr. Wenn der Sohn
eines Ministerialen nicht Ritter und Lehnsträger wurde, konnte er
wieder zum Unfreien hinabsinken; arme Freie nahmen mit Freuden
einen Posten als Dienstmann an; reiche Bürgersöhne konnten Ritter
werden und dadurch zum Adel emporsteigen. Der Knappe hiels
senms oder Jcnehi; er folgt in den Urkunden unmittelbar auf die
miUies >).
Wenn es schon vorkommt, dafs Hochadelige und Dienstmannen
dem Namen nach kaum oder gar nicht zu unterscheiden sind, so be^
steht noch gröfsere Unsicherheit zwischen Ritter- und Bürgemamen.
Geht man der Sache auf den Grund, so besteht hier der ganze Unter-
schied ursprünglich nur darin, dafs die Ritter zum auswärtigen Kriegs-
i) Die Bezeichnung domieeUuSf domieeüa, ursprünglich den Kindern des alten
Adels gegeben, bald auch den RiUerbiirtigen, kneht später „Edelknecht*^, noch später
iuneherre ist ohne Beispiel bis 1300 in unseren Urkunden; auch serviens (So ein
S. 399) statt seiTtu findet sich nicht
— 813 —
dienst, die Bürger blols zur Verteidigung der Stadt verpflichtet sind,
und es liegt auf der Hand, daüs da ein Übergang von der einen
Klasse zur anderen leicht möglich war >). Den Titel fwbüis fuhren
nur Adelige, auch der mües ist nach der Auffassung des XIII. Jahrh.
adelig, ebenso ursprünglich der domimts; aber schon im XIII. Jahrh.
fähren auch die sogen. Geschlechter oder Altfreien diesen Titel.
Heutzutage pflegt man die Bezeichnung van als sicheres Zeichen
des Adels aufzufassen ; doch im Mittelalter verhielt sich das noch nicht
so, wie ja auch heute noch das holländische und niederrheinische vcm
nicht Zugehörigkeit zum Adel, sondern nur die Herkunft bezeichnet
Da gab es neben dem de oder van, was. ja bei Adeligen
gewaltig überwiegt, doch auch vereinzelte müües, welche kein de
fähren, wie Eüherus mües 1268 und J. Cappa tniles 1293 zeigen.
Andrerseits tragen es auch Bürger : de Amsteie, die bürgerliche Linie,
de Suldhe, van Siebeleben 1277 oder de Sebeleiben noch 1320, de
Ghtha*), van Vanre, wenn es auch gegenüber dem Adel nur eine
Minderheit ist, und schliefslich auch ein Bauersmann : Henricus dictum
delAbergin 1286; allerdings modifiziert hier der Zusatz dictus gewisser-
mafsen. Nach der Lage der Behausung benannte Personen tragen
ebenfalls das de, so de Capdla 1263 in Hersfeld und dominus Otto
de Curia 1280.
So ergibt sich ein doppelter Sinn des Vorwortes de\ es bedeutet
entweder „aus", bezeichnet also blofs den Herkunfts- oder Wohnort,
oder es heifst so viel wie „von" und zeigt das Bestehen eines
FamUiennamens an. Seit dem XIII. Jahrh. ist ein bürgerlicher Name
mit de (von) keine Seltenheit mehr, und ein Standesunterschied in der
Namengebung nicht vorhanden: Hochadel, Ritter, Bürger und Land-
bewohner haben die Partikel de, während sich die Neuzeit Namen wie
von Rhein, von Ende — auch Vonende geschrieben — von Busch kaum
als bürgerliche denken kann. Die hurgensea 12676'., später cives, be-
zeichnen die altfreien, in der Stadt ansässigen gentes (Greschlechter),
besonders die ratsiähigen; ihnen, wie ursprünglich den Adeligen,
kommt der Titel dominus, her — auch er geschrieben — zu; dann
bezeichnet civis auch den Handwerker und allgemein den Städter.
Jedenfalls, weil die Namen mit van für den Gebrauch und bei
der Biegung sich zu schwerfallig erwiesen, bildete man seit der Mitte
des XIII. Jahrh. auch gleichbedeutende Namen auf -er, wie Gerthinger
i) Hensler bei So ein S. 301.
2) Aber Theoderich von Chtha, Ritter, 1267, A. U. 31.
— 314 —
1267 und Vasfburger 1272. Und diese Bildungen machten dann in
den folgenden Jahrhunderten reifsende Fortschritte, während das van
bei Familiennamen, die mit Hilfe eines Ortsnamens gebildet wurden,
inmier mehr schwand. Gleichzeitig findet sich auch der blofise Orts-
name als Familienname, eine Form der Familiennamen, die am Rhein
heute noch vorherrscht : ein Bürger Arnstadts heifet einfach WiUleben,
Die Übertragimg der Beinamen vom Vater auf den Sohn, das
Festwerden derselben in der Familie und ihre Vererbung von Ge-
schlecht zu Geschlecht ging von Italien aus, wo schon im IX. Jahrh«
Familiennamen vorkommen (in Vehedig 809, zu Mailand 882) und
verbreitete sich vom Rhein und Süddeutschland immer mehr nach
Norden: in Köln traten zuerst 1106 Familiennamen auf, in Zürich und
Basel um die Mitte des XII. Jahrh. (1145, bezw. 1168), desgleichen
in Mainz und Worms, anfange des XIII. Jahrh. in Frankfurt a. M. Um
die Mitte des XIII. Jahrh. werden sie erblich in Mitteldeutschland
(Arnstadt, Erfurt, Nordhausen), in Lippe, Hamburg (hier schon Ansätze
am Anfang des XIII. Jahrh.), in Mecklenburg, Schlesien und in
Luxemburg; in Quedlinburg zeigt sich schon zwischen 1 184 und 1203
die erste Spur, ein Festwerden ebenfalls erst um die Mitte des
XIII. Jahrh. (1244); um letztere Zeit endlich auch in Riga. Der Ent-
Wickelung in der Stadt folgt naturgemäfs erst später die auf dem
Lande, und dabei haben die besitzenden vornehmen Bürger den Vor-
rang; ihnen folgen Ritter, Geistliche und Handwerker; im allgemeinen
geht dann während des XIV. und XV. Jahrh. der Abschluß vor sich,
wenn auch ein Wechsel der Familiennamen noch oft zu beobachten
ist Eine Ausnahme bilden die Juden, bei denen erst seit 150 — 100
Jahren, in Österreich teilweise noch später infolge behördlicher Ver-
ordnungen an die Stelle der ursprünglichen Einnamigkeit feste Familien-
namen getreten sind.
Die Tauf- und Familiennamen sind zum weitaus gröüsten Teile
deutscher Herkunft. Das VIII. Jahrh. bietet unter 9 Namen unserer
Urkunden: 8 germanische (die männlichen: Heden, Thuring, Childe-
bert, Willibrord, Rocchus, Doda, Karulus, wie den weiblichen Theo-
drat) und nur einen Fremdnamen (Laurentius) ; das X. Jahrh. die 4
germanischen: Otto, Liudolf, Frithuricus, Willielmus; das XII. Jahrh.
nur germanische, und zwar 13 Träger männlicher Namen: Heinrich
(3), Ekkenbert, Edelher, Albert, Sigfrid, Friedrich, Adelold, Beringer,
Gottfried, Conrad und Gebhard.
Im XIII. Jahrh. treten auf 233 Personen mit folgenden Namen,
wobei die Nebenformen unberücksichtigt bleiben:
— 315 —
Gerlacus (2);
Gerwicus (2);
Gothfredus (2);
Hartungus (2);
Kunemundus (2);
Rudolfus (2);
Wemherus (2);
Volpertus (2);
Arnoldus (i);
Bruno (l);
Berno (i);
Ditmarus (i);
Eberlin (i);
Eltwin (i);
Erkenbertus (i);
Heinrich (46);
Guntherus (17);
Conrad (17);
Theodericus (14);
Albertus (12);
Hermannus (11);
Bertolfdus] (10);
Ludwig (10);
Fridericus (9);
Otto (8);
Ulricus (6);
Ekehardus (3);
Eilherus (3);
Ludolphus (3);
Rudigerus (3);
Eberhardus (2); Ernst (i);
Dazu kommen 7 weibliche Namen, ebenfalls deutschen Ursprungs :
Adelheid (2); ; Gerlindis (i); ] Luckard (i);
Gerardus (i);
G.[ottschalk] (i);
Helwicus (i);
Herdenus (i);
Herenfridus (i);
Hugo (1);
Lupoid (l);
Raspo (i);
Renoldus (i);
Ronimannus (i);
Sifridus (i);
Walther (i);
Wilh[elmus] (i).
Zusammen 211.
Mechtildis (i).
Gerdrudis (i); Jutta (i);
Ihnen gegenüber stehen nur wenige Fremdnamen
liehe und 4 weibliche — nämlich:
8 männ-
Johannes (3) ;
Cristianus (4);
I Jacobus (i);
sowie :
Elisabeth (2); | Osanna (i); | Sophie (i).
Au&erhalb stehen drei Personen — 2 männliche imd i weib-
liche — ohne Vornamen. Das ergibt ein Verhältnis von etwa 18 : i
oder rund 95 \ deutsche Namen, 5 % Fremdnamen.
Wie sich in den nächsten sechs Jahrhunderten die Namengebung
ändert und mehr und mehr kirchliche Namen aufkommen, davon ein
ander Mal!
Mitteilungen
Archive. — Zum österreichischen Archivwesen*). Der
grofse Aufschwung der Geschichtswissenschaft im verflossenen Jahrhundert kam
i) Diese AnsflÜmiiigen eioet ötterreichiscfaen Archivdirektors sollen deo
Giannoni, Staatliches Arehivfcesen in Österreich oben S. 97—116 er
Einzelheiten aach berichtigen.
— 316 —
auch dem lange stiefinütterlich behandelten Archivwesen sehr zugute. Je
breiter und je tiefer die Forschtmg griff, desto mehr wurde die Bedeutung
der Archive gewürdigt. Sie galten mit Recht wieder als die vomehmsteOf
wissenschaftlichen Zeughäuser, von deren Leistungsfähigkeit die Resultate der
Forschung oft ganz wesentlich abhängen.
Von der erhöhten Wertschätzung der Archive zogen zunächst die gro&en,
reichhaltigen Staatsarchive den besten Nutzen für ihre eigene Entwickelung.
Aber nach imd nach, wenn auch ziemlich spät, war auch bei den verschie-
denen Behörden, namentlich bei denen der Verwaltung in Bezug auf ihre
Verhandlungen tmd Entscheidungen die Wiederkehr des seit der Aufklärungs-
periode zu Ende des XVIIL Jahrhunderts verloren gegangenen historischen
Sinnes deutlich zu verspüren. Sie greifen, insbesondere seit etwa zwei Jahr-
zehnten, immer häufiger auf alte Rechte imd Verhältnisse zurück; zum min-
desten werden diese mit anerkennenswertem Eifer studiert, und dieser Umstand
bringt den alten Registraturen der Oberbehörden, zum Teil auch solchen
untergeordneter Ämter die lange vermifste Anerkennung ihres Weites zurüdL
Hatte man in Osterreich die Bestände der Registraturen noch vor gar
nicht langer Zeit nicht selten barbarisch und zum Unglücke auch wahUos
dezimiert, so werden sie jetzt allmählich in wirkliche Archive, d. h. in selb-
ständige, von wissenschaftlich gebildeten Fachleuten verwaltete Anstalten
umgewandelt oder bestehenden Archiven einverleibt Manche dieser Archive
ziehen alles nächstgelegene, noch brauchbare Urkimden- und Aktenmaterial
systematisch an sich, um es wieder der archivalischen Verwertung zuzuführen.
Ihrem Inhalte nach sbd diese Archive berufen, in gleichem Mafse der Ver-
waltung tmd der Wissenschaft zu dienen.
In Osterreich steht diese zweite Gattung von Archiven, zu welchen die
meisten Staats- und Landesarchive gehören, erst am Beginne ihrer
Entwickelung. Vordem gab es eigentlich nur drei wiridiche Staatsarchive und
kaum ein Landesarchiv ^). Diese Staatsarchive, besser vielleicht Reichsarchive,
sind das Haus-Hof- und Staatsarchiv, das Hofkammerarchiv
und das Kriegsar chiv in Wien. Sie verwahren der Hauptsache nach die
Archivalien der grofsen Zentralbehörden für die ganze Habsbuiger Monarchie.
Entsprechend der dualistischen Gestaltung derselben seit 1867 zählen sie jetEt
zu den für beide Staaten, Osterreich und Ungarn, gemeinsamen Institutionen.
Für das österreichische Archivwesen konmien die zwei erstgenannten
Anstalten nur soweit in Betracht, als sie im Laufe der Zeit viele rein öster-
reichische Bestände angesammelt haben und als auch österreichische Staats-
archive noch manches enthalten, was besser im Haus-Hof- tmd Staatsarchiv
nihen würde.
Von den drei erwähnten Reichsarchiven ist bis heute eigentlich nur das
Kriegsarchiv organisatorisch voUkonmien ausgestaltet Die Einheidichkeit
tmd natürliche Abgrenztmg seiner Bestände, sowie die sehr erfolgreidi
durchgeführte Verpflichttmg des Archivpersonales zu ihrer systematischen
Bearbeittmg verbürgen die rasche tmd sichere Erreichtmg des zweifachen
i) Der in den allgemeinen Zeitverhältnissen begründete Tiefstand des öster-
rachiscfaen Ardiivwesens beginnt nngtfiUir mit dem Anfange des XIX. Jahrfannderts.
Wikrend der vorausgehenden drei Jahrhanderte dagegen erfireate sick das staatlicke, sooi
Teil auch das ständische and private Archivwesen an vielen Orten sorgsamer Pflege.
— 317 —
Endzweckes ebes jeden Archives und sichern dem Kriegsarchive die erste
Stelle unter allen staatlichen und nichtstaatlichen Archiven des Kaiserstaates.
Jeder Fachmann, der Gelegenheit hatte, die vollendete Organisation dieses
Institutes zu erproben, wird dankbar desselben gedenken und vielleicht mit
einigem Neide erfüllt sein ^).
Die ausschliefslich österreichischen Archive teilen sich in staatliche
und nichtstaatliche Anstalten*). Die ersteren sind entweder Archive
der Zentralstellen (Nfinisterien) oder Staatsarchive bei den Kronlandsregierungen
(Provinzial-Staatsarchive). Dazu gehören das allgemeine Archiv des
Ministeriums des Innern und das Adelsarchiv desselben, die
aber beide miteinander in keinem sachlichen Zusammenhang stehen, das
Archiv des Ministeriums für Kultus und Unterricht, das Archiv
des Finanzministeriums, das Archiv des Eisenbahnministeriums
und die Archive bei den Landesregierungen (Statthakereien) in
Wien, Salzburg, Innsbruck, Prag und Zara. Justiz-, Handels-,
Ackerbau- und Landesverteidigungsministerium haben kein Archiv. Ebenso-
wenig bestehen flir die Klronländer Oberösterreich, Steiermark, Kärnten, Krain,
Küstenland, Mähren, Schlesien, Galizien und Bukowina, also für die Mehr-
zahl derselben, Staatsarchive. Angesichts der bekannten mafsgebenden Bedeutung
der Staatsarchive bei den Provinzialregierungen als natürlichen Mittelpunkten
des ganzen Archivwesens eines Landes erhellt schon daraus, wie weit der Staat
hier in der Erfüllung seiner Aufgabe im Rückstande ist Wir kommen weiter
unten noch darauf zu sprechen. Wer z. B. die Organisation und Wirk-
samkeit der Provimdal-Staatsarchive Bayerns und Preufsens kennt, würde es
kaum für möglich halten, dafs nicht auch in Österreich längst bei jeder
Landesregierung ein Staatsarchiv besteht, ähnlich wie dort die Kreis- bezw.
Staatsarchive in den Provinzen. Gerade diese traurige Bedürfeislosigkeit
weist auf einen der schwersten noch vorhandenen Mängel im österreichischen
Staatsarchivwesen hin *).
Die nichtstaatlichen Archive lassen sich in vier Gruppen zusammen-
fassen: Landesarchive und Kommunalarchive, kirchliche und
private Archive.
Von allgemeinerer Bedeutung für Wissenschaft und Verwaltung sind nächst
den Staatsarchiven die Landesarchive, d. s. die Archive beiden auto-
nomen Verwaltungen der einzelnen Königreiche und Länder. Solche bestehen
i) In baulicher Hinsicht überragt dagegen das Haas-, Hof- nnd Staatsarchiv mit
seiner neuen, geradeso luxuriösen Ausstattung und Einrichtung derzeit wohl die meisten
europäischen Archive. Vgl. darüber Q. Winter, Das neue Gebäude des k. u. k. Haus-,
Hof- und Staatsarchivs zu Wien (Wien, C. Gerold, 1903).
2) Der Reichsrat, die österreichische Volksvertretung, besitzt je ein Archiv für das
Herrenhans nnd fitr das Abgeordnetenhaus; doch entbehrt hier der Beamtenkörper
ansckeinend der für den Archivdienst sonst durchgehends verlangten MrissenschaftUdicn
Fachbildung.
3) VgL darüber meine Ausführungen Ober staatliches Archivwesen in Oster-
reich in der Zeitschrift für Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung (1903) Xu, ii6fF.,
welche auch in dieser Zeitschrift IV, S. 316 f. zustimmend besprochen wurden, und neuestetts
die Abhandlungen von K. Giannoni, StaaÜiehes Archivtcesen in (Merreieh in dieser Zeit-
schrift oben S. 97 ff., sowie Osw. Redlich, DoBÄrehivtresenin Österreich in denMitteilungen
der dritten (Archiv-) Sektion der k. k Zentral-Kommission etc. (1904) VI, i. if. Auf beide
Abnhadlnngen komme ich wiederholt zurück.
— 318 —
in Wien, Linz (seit i. September 1896), Graz, Klagenfiiit (seit i. Januar 1904},
Görz, Innsbruck (seit i. September 1902), Bregenz (seit 1899), Prag, Brünn^
Troppau, Lemberg und Krakau. Diese Landesarcbive sollen der Natur der
Sache nach den archivalischen Niederschlag der alten Landstände und
ihrer gesetzlichen Nachfolger, der autonomen Landesvertretungen
aufbewahren. In jenen Ländern, wo keine Staatsarchive bestehen, greifen
sie allerdings nicht selten weit über ihre unmittelbare Aufgabe hinaus, indem
sie sich bemühen, das fehlende Staatsarchiv zu ersetzen. So nützlich unter
den gegebenen Verhältnissen auch diese Seite der Wirksamkeit sein mjig,
so wird doch die zur Zeit in Österreich viel&ch herrschende archivalische
Konfusion dadurch eher gemehrt ab gemindert
Die hervorragendsten Landesarchive sind jene in Graz, Prag, Wien '),
Brunn ^) imd die galizischen Grod- und Landschaftsarchive in Lemberg und
Krakau, welch letzteren auch die Gerichtsarchivalien überwiesen sind, weü
die Gerichte auch die polnischen Landtagsbeschlüsse zu registrieren hatten«
Das steiermärkische Landesarchiv in Graz erfreut sich von allen diesen der
besten und fortgeschrittensten Organisation. Über Geschichte und Bestände
desselben orientiert das trefifliche Büchlein : Das steiermärkische Landesarchir
XU Orax. Zum 25. Jahre seines Bestehens von J. v. Zahn (Graz 1893).
Die Ordnung der Urkunden , die J. v. Zahn hier zuerst durchführte *), ist
für manche andere Archive vorbildlich geworden. Im Jahre 1898 begann das
Archiv imter dem Titel Publikationen aus dem sieiermärhischen Landes^
archive die Veröffentlichung seiner Inventare. Keines der österreichischen
Staatsarchive wäre in der Lage, diesem Beispiele zu folgen, da ihre
Bestände vielleicht noch ein oder mehrere Jahrzehnte intensiver Ordnungs-
arbeit bedürfen, bis eine auch nur teilweise Inventar- Veröffentlichtmg auf
ziemliche Vollständigkeit Anspruch erheben kann und somit bleibenden Nutzen
gewährt ^). Eine besondere Eigenart des böhmischen Landesarchives in Prag
ist die eifrige Sammlung aller auf Böhmen bezüglichen auswärtigen Archivalien
in Abschriften, wofür das Land reiche Mittel beistellt
Im raschen Aufblühen begriffen sbd die in den letzten Jahren erstan»
denen Landesarchive für Oberösterreich in Linz, für Vorarlberg in Bregenz
und für Tirol in Innsbruck.
Mittelbar wirkte allerdings auf die Entstehung dieser drei Archive die seit
1893 teilweise in Angriff genommene staatliche Archivorganisation ein, un-
i) Vgl. A. Mayer, Das Archiv und die Registratur der niederösterreiekis^ten
Stände von 1518 — 1848 (Jahrbuch des Vereins für Landeskunde van Niederösterreich 1903
und im Sonderabdruck) , besprochen in dieser Zeitschrift oben S. 59 f. Man möchte
dem sehr verdienstlichen Büchlein nur mehr ÜbersichÜichkeit, gröfsere Kürte und weniger
Druckfehler wünschen.
2) VgL J. Chytil, BericiU über das mähr.-atänd, Landesarehiv (Brunn 1858) und
die bei O. Redlich, a. a. O. S. 12 gegebenen Notizen.
3) Siehe J. Zahn, Über die Ordnung der Urkunden am Arcfiive des st. l. Joan-
neums in Grax (Graz 1867).
4) Auch die vom österreichischen Archivrate in seiner Sitzung vom 18. April 1898
empfohlene Herausgabe von summarischen Inventaren der Staatsarchive halte ich noch
Air lange Zeit aus verschiedenen Gründen für eine bedenkliche Sache. Weder der Wissen-
schaft noch der Verwaltung dürfte jener Nutzen erwachsen, der die Kosten der Heraus-
gabe rechtfertigen könnte. Vorbildlich müssen doch die Karlsruher Inventare (vgl
diese Zeitschrift 3. Bd., S. 23) bleiben. Dazu ist in Österreich noch ein sehr langer Weg.
— 319 —
mittelbar hängt sie jedoch mit dieser nicht zusammen, da dieselbe unab-
hängig vom Archivrate und ohne seine Intervention zustande kam. Nur für
die im wesentlichen gleichlautenden Archiv-Ordnungen der Landesarchive in
Linz, Bregenz und Innsbruck dienten die trefflichen Grundsätze einer Archiv-
Ordnung für die dlem k, k, Ministerium des Innern unterstehenden ÄrcMve
vom 2. Juli 1895 im grofsen und ganzen als Vorlage, nicht aber ohne dafs
sie mit Rücksicht auf die besonderen Verhältnisse und Bedürfiiisse und auf
Grund der reichen Erfahrungen zahlreicher gleicher Anstalten des Deutschen
Reiches tmd Österreichs geändert und in wichtigen Punkten erweitert worden
wären '). Selbstverständlich wurde auf die Bestellung wissenschaftlich und fistch-
lich gebildeter Landesarchivare in erster Linie Bedacht genonmien.
Die Entwickelung der neugeschaffenen Landesarchive in Linz, Bregenz und
Innsbruck vollzieht sich sehr rasch und in sehr glücklicher Weise. Das langsame
und durch allerlei leidige finanzielle Hindemisse gehemmte Tempo der wenigen
neu organisierten Staatsarchive wurde von diesen schon weit überflügelt. Bei
den Landesarchiven herrscht eben eine stärkere Initiative der beteiligten mais-
gebenden Faktoren.
Über die in wenigen Jahren erreichte Höhe der Ausgestaltung geben die
neuesten Veröffentlichungen den besten Aufschlufs ^). Derartige Rechenschafb-
berichte, verbunden mit einer kurzen Geschichte der Anstalt und einer Übersicht
der Bestände gehören überhaupt zu den wichtigsten und vorläufig auch leicht
erreichbaren Orientierungsmitteln für die Wissenschaft und Verwaltung. Leider
mangeln solche für die organisierten österreichischen Staatsarchive mit Aus-
nahme einer jetzt gänzlich veralteten Publikation über das Innsbrucker Staats-
archiv ÜEtöt vollständig ^).
Die Landesarchive in Innsbruck und Bregenz stellen sich auch die
besondere Aufgabe, eine Regelung des noch sehr im Argen liegenden
Gemeinde-Archivwesens in Tirol imd Vorarlberg anzubahnen.
i) Das möchte ich gegenüber der nicht vollkommen zutreffenden Darsiellang O.
Redlichs, a. a. O., S. 13 bemerken. — Ich darf wohl, ohne anbescheiden zu sein, erwähnen,
dafs die Archivordnungen fUr Linz, Bregenz und Innsbruck von mir entworfen und in
mehrfachen Beratungen von den zuständigen Faktoren auch genehmigt worden sind. Das
Linzer Archiv verdankt seine Entstehung wesentlich den Bemilhnngen des damaligen Landes-
ausschufsreferenten Julius Strnadt. Die zu schaffende Organisation wurde vom Vor-
stande des Grazer Landesarchives, welches dem in Linz zum Vorbild dienen sollte, vom
Wiener Archivdirektor A Starzer und der k. k. Zentralkommission für Kunst- und
historische Denkmale in Wien geprüft und gutgeheifsen. In Bregenz gebührt das Haupt-
verdieost der energischen und sachkundigen Durchführung meiner Vorschläge dem Landes-
hauptmann A. Rhomberg, in Innsbruck der Tätigkeit Prof. J. Hirns und der des Landes-
ansschufsreferenten Dr. K. Fusch.
2) F. Krackowizer, Das oberösterreiehisehe Landesarehiv xu TAnx. Seine
Entstehung tmd seine Bestände (Linz 1903) und V. Kleiner, Dcts Vfyrarlberger
Landesarchiv (Sonderabdruck aus dem 41. Jahresberichte des Vorarlberger Museums-
Vereins und aus den Mitteil, der dritten (Archiv-) Sektion der k. k. S^entral-Kommission
VI, (1904) 107 ff.). Beide Arbeiten sind vorzügliche Zusammenfassungen , welche von
der regen archivalischen Tätigkeit und dem herrschenden vollen Verständnis für die Auf-
gaben dieser Landesarchive Zeugnis ablegen. Über die Entwickelang des Tiroler Landes-
archives dürfte bald eine ähnliche Übersicht erscheinen.
3) M. Mayr, Das k. k. Statthatterei-Ärchiv xu Innsbruck. Mitteil, der dritten
(Archiv-) Sektion II (1894), 141 ff. und in Sonderabdruck. Diese Abhandlung ist eine
Umarbeitung und Erweiterung eines damals nicht mehr brauchbaren Aufsatzes Schönherrs.
Schönherr selbst regte die neue Arbeit an.
— 320 —
Das Kommunal- oder Gemeindearchivwesen hängt in Öster-
reich einigermaßen mit den Landesarchiven zusammen. Die Landesverwal-
tungen, resp. ihr ausführendes Organ, der Landesausschufs, fuhrt eine
Oberaufsicht über die Verwaltung und besonders über die Vermögens-
gebarung der Stadt- tmd Landgemeinden. Da das Archiv einen wertvollen
Bestandteil des Gemeinde Vermögens bildet, hat der Landesausschufs die
Pflicht, auch für die intakte Erhaltung der Archive zu sorgen. Durch den
Hinweis auf diese bequeme Handhabe und durch das Angebot der Mit-
hilfe des Innsbrucker Statthalterei-Archives gelang es mir zunächst, den Tiroler
Landesausschufs zu einer zielbewufsten , gleichmäfsigen Fürsorge für die
Gemeindearchive zu gewinnen. Vorarlberg folgte rasch diesem Beispiele. In
beiden Ländern werden alle Gemeindearchive vom Landesarchive, resp. vom
Landesausschufs strenge überwacht Die Besitzer gröfserer Kommunalarchive
werden unter Beihilfe des Landes- oder Staatsarchives zur Herstellung einer
sachgemäfsen Ordnimg imd Verwaltung angehalten. Die zahlreichen kleineren
Gemeindearchive werden nach imd nach von dem Landesarchiv eingezogen
und dort als Deposittun der Gemeinden dauernd verwahrt imd verwaltet.
Statt der Urkunden erhält die Gemeinde Regesten ihres Archivs kosten-
los zugestellt. Im Bedarfsfalle braucht sie blofs auf Gnmd des allgemdn
verständlichen Regests das Original oder eine Abschrift vom Landesarchiv
zu verlangen. Soweit die bisherige Erfiahrung in Tirol reicht, verweigern die
Gemeinden die Abgabe ihrer Archive nicht nur nicht, sie sind vielmehr
dankbar für das bewiesene Entgegenkommen.
Der Gnmd für diese energischen imd weitgehenden Mafsregeln ist ein
doppelter. Fürs erste wurden durch die an und für sich sehr dankens-
werte Veröffentlichung der Urkundenauszüge aus den kleineren Archiven Tirols
und Vorarlbergs die Antiquare förmlich angelockt, wodurch nachweisbar
viel mehr älteres Urkundenmaterial verschleppt worden ist als früher. Fürs
zweite verlangen administrative Zwecke eine zeitlich viel umfassendere Ordnung
und Kenntnis der Gemeindearchive. Gerade die nachmittelalterlichen Urkunden
und Verträge, die in den Gemeindetruhen liegen oder liegen sollten, haben
nicht selten praktischen Wert Deshalb erstreckt sich die Überwachung und
Einziehung der Bestände der Gemeindearchive in Tirol und Vorarlberg bis
zur Einführung der Gemeinde-Ordnung von 1849 ')•
Wirkliche Gemeindearchive unter der Leitung und Aufsicht eigener
Beamten sind in Osterreich recht selten. Solche bestehen z. B. in Wien,
Triest, Prag und in manchen kleineren Städten mt Baden, Steyr, Trient,
Hall, Bregenz u. a. Eme durchgreifende Besserung der Verhältnisse wird
gröfistenteils von den Bemühungen und der Tätigkeit der Staats- und Landes-
archive in den Provinzen abhängen.
Von gröfster allgemeiner Bedeutung sind die in Österreich überaus zahl-
i) Bei der Übernahme der älteren Urkanden ergibt sich nicht selten die bedauer-
liche Tatsache, dafs den Bearbeitern der Archivberichte grofse and wichtige Teile der
Bestände nicht zugänglich gemacht worden sind. Dieser entweder durch Unachtsam-
keit oder Mifstrauen gegen fremde Herren hervorgerufene Übelstand wird jetzt dadurch
zu vermeiden gesucht, dafs der landschaftliche Gemeinderevisor, der Autorität und Ver-
trauen geniefst, den ganzen Gemeindeausschafs den Beschlufs zur Ablieferung des Archives
an das Landesarchiv fassen läfst und die Ablieferung selbst überwacht.
— 821 —
reichen Archivaliensammlungen der kirchlichen Behörden. Auf
die Ordnung und Verwaltung derselben steht den Staats- und Landesarchiven
keinerlei direkter Einflufs zu. Mit Ausnahme der von jeher gut gehüteten
imd wohl gepflegten Archive der grofsen Stifter und Klöster oder
greiser geistlicher Orden wie des deutschen Ritterordens ist es tun
die meisten Konsistorial-, Diözesan-, Dekanal- und Pfarrarchive
noch sehr schlimm bestellt Immerhin zeigen sich auch hier in den letzten
Jahren durch den indirekten Einflufs der Staats* tmd Landesarchive kräftige
Ansätze zur Besserung. So erfreuen sich beispielsweise die groisen Konsis-
torialarchive in Salzburg und in Trient (seit neuester Zeit) einer geregelten
Verwaltung. Die musterhafte Organisation des Diözesanarchives und
der Pfarrarchive Oberösterreichs, welche der Bischof von Lbz Dr. F.
M. Doppelbauer im Jahre 1902 durchgeführt hat, fand allseits die gröiste
Anerkenntmg und verdient in allen kirchlichen Kreisen die ernsteste Beach-
tung und Nachahmung '). Neben der unmittelbaren Förderung, welche die
Staats- und Landesarchive auch auf das kirchliche Archivwesen durch Rat
und Tat nehmen können % ist wohl nichts so geeignet, zur Hebtmg des
kirchlichen Archivwesens beizutragen wie die zeitweilige Teilnahme geistlicher
Lehramtskandidaten tmd Archivare am Studien^trieb im Institute für öster-
reichische Geschichtsforschung oder an Vorlesungen über praktische Archiv-
kunde *).
Eine sehr wichtige Stelle im Rahmen der Archivgruppen beanspruchen
endlich auch die Privatarchive Österreichs. Dazu zählen nicht nur die
oft recht bedeutenden, aus den verschiedenartigsten, selbst staadichen Be-
ständen zusammengesetzten Archive von Museal- und Geschichts-
vereinen, wie z. B. des Kärntner Geschichtsvereines, der ein musterhaft
verwaltetes Archiv hat, des Linzer, des Salzburger, des Innsbrucker, des
Bregenzer Museums usw., oder die Archive einzelner Körperschaften, wie
das Archiv der Tiroler Adelsgenossenschaft, der Bozner Handelskanmier usw.,
sondern vor allem auch die zahlreichen groisen und kleinen Archive der
alten Adelsgeschlechter, auf deren hervorragende Bedeutung für die
österreichische Geschichte erst in letzter Zeit ein besonderes Augenmerk
gelenkt wurde *), Schützen auch die meisten der grofsen alten Geschlechter,
i) Um die Dnrchnihning dieses grofsen Werkes erwarben sich Prof. P. Seb. Mayr
in Kremsmflnster imd der Diöcesaaarcbiyar Prof Dr. K. Schiffmann in Linx hervor-
ragende Verdienste. Ich darf wohl enrihnen, dafs ich die ^^Instruktion zur Ordnung der
Pfarrarchive'' (S. Linier Diözesanblatt 1903 Nr. 7 n. jetzt auch Mitt. der dritten [Archiv-}
Sektion VI, 43 ff.) einer gründlichen Durchsicht and Revision unterzogen habe.
2) So werden in Tirol und Vorarlberg die Archive zu Innsbruck und Bregens nicht
selten auch sur Ordnung der Archive von Klöstern und Kirchen (Stams, Fiecht, Inns-
bruck, Bregens) beigezogen.
3) Solche habe ich kürzlich in Innsbruck eingeführt. Für dieselben gibt sich eine
aufsergewöhnlich starke Teilnahme kund. Das Innsbrucker Statthalterei-Archiv wird übrigens
in den letzten Jahren auch von angehenden jungen Archivaren mit Vorliebe für einige
Zeit zur praktischen Ausbildung in der Geschäftsführung und im Archivbetrieb aufgesucht.
Bei der Zusammenhanglosigkeit und Abgeschlossenheit der österreichischen Staats- und
Landesarchive voneinander würde es überhaupt dringend geboten sein, dafs die Archiv«
Praktikanten einen Teil ihrer ersten Dienstzeit an einem grofsen, gut organisierten Staats*
archiv zubringen ; denn die beste Vorbildung vermag nicht eine gründliche Pnuds zu ersetzen.
4) Vgl. den „Bericht der provisorischen Kommission zur Herausgabe von Akten
— 322 —
wenige unrühmliche Ausnahmen abgerechnet, ihre Archive vor Verderben«
so mangelt es in vielen doch an der rechten Ordnung und der Möglichkeit
fruchtbarer Benützung ^). Nur wenige dieser groisen Geschlediter haben
eigene Archivbeamte angestellt In dieser Richtung sind die fürstlich Schwarzen-
bergischen Archive (46 Archive an 24 Standorten mit einer Zentralleitimg
in Wittingau ^), das fürstlich Liechtensteinische Archiv, das fürstlich
Windischgrätzische Archiv in Tachau ^), das Archiv des Grafen
Thun in Tetschen (alle in Böhmen) u. a. zu nennen.
Kleinere Adels- und Körperschaftsarchive werden nach ausländischem
Muster hie imd da auch in Staats- oder Landesarchiven deponiert und auf
diese Weise gesichert und allgemein zugänglich gemacht^).
Auch in bezug auf das Privatarchivwesen, welches jede unmittelbare
fremde Einflufsnahme an und für sich ausschliefst, hat, wie die Erfahrung
lehrt, der archivalische Aufschwung der letzten Jahre, welcher vorzugsweise
von den neuorganisierten Staats- und Landesarchiven in den Kronländem
ausgeht, bereits sehr fördernd und befruchtend gewirkt
Um so bedauerlicher ist die Tatsache, dafs die in den Jahren 1S93 bis
1896 so glücklich und verheifsungsvoll begonnene Organisation der Staats-
archive auf halben Wege sieben geblieben ist, und dafs nur an einzelnen
Orten ohne Zusammenhang mit dem Ganzen weitergebaut wurde, am meisten
dort, wo vordem schon einzelne Männer durch selbstlose OpferwüUgkeit
Grofses, wie Schönherr in Innsbruck, oder Ansehnliches wie Pirkmayer
in Salzburg geschaffen hatten ^). Der Fehler besteht nach unserer Ansicht,
wenn man dieses Urteil gleich vorwegnehmen darf, darin, dais die Reformen
blofs von wissenschaftlicher Seite ausgingen und im wesendichen auch
nur einseitig für die imabweislichen Forderungen der Wissenschaft berechnet
sind. Für den Gewinn, welchen die Verwaltung bei richtiger Funktion
eines gut organisierten Staatsarchives aus diesem zu ziehen vermag, fehlte
das richtige Verständnis. Das ist nicht verwunderlich, denn an den ent-
scheidenden Stellen kommt man nicht allzu häufig in die Lage, Vorteü und
Wert eines gut funktionierenden Archives abschätzen zu können, dagegen
dürften landesfürstliche tmd landschaftliche Behörden und Ämter, Rechts-
und Korrespondenzen zur neueren Geschichte Österreichs" über ihre Tätigkeit in den
Jahren 1898 und 1899. Vgl. oben S. 140 — 141 Anm.
i) In dieser Beziehung will auch die ror kurzem gegründete „Gesellschaft für neuere
Geschichte Österreichs" den einzelnen Besitzern ihre Dienste anbieten. Dasselbe geschieht
schon seit längerer Zeit von einigen Staats- und Landesarchiven. So hat beispiels-
weise das Innsbmcker Statthalterei-Archiv schon mehrere Herrschaftsarchive gesichtet und
neu geordnet. Da auch die eben erwähnte Gesellschaft doch nur praktisch ausgebildete
Archivbeamte heranziehen kann, so wird sich wohl ihre sehr verdiensüiche Intervention
in dieser Beziehung hauptsächlich auf die jeweilige BeschafiFung der nötigen Geldmittel
beschränken müssen.
2) Vgl. Die Archive des fürsti, Hauaee Sckwarxenberg a, L, (Wien 1873.)
3) Dieses grofse und wichtige Archiv erhielt erst im Vorjahre eine zeitgemäfse
Reorganisation, die ich zu leiten die Ehre hatte«
4) Derartige sehr wünschenswerte und jetzt nicht mehr seltene Hinterlegungen
(zuweilen auch Schenkungen) fanden zuerst in Tirol statt, dann auch in Salzburg, Ober-
Österreich und wahrscheinlich auch anderwärts.
5) Die höchst anerkennenswerten Leistungen v. Zahns für das Landesarchir in
Gras waren für diese Staatsarchive wenigstens teilweise vorbildlich.
— 888 —
■nwälte und PriTate die Staatsarcbire in Kronlftndeni wie Niederösterreich,
Salsburg ood Tiiol schon jetzt, nach einem Jahrzehnt ihrer vollen Wirk-
samkeit, mit anderen Angen ansebeD *).
Sijion der erste Versuch einer Archirorganisation im Jahre 1869 wurde
auMcbliefalich toh wissenschaftlicher Seite untemommen *).
Anch die Tom österreichischen Herrenbause im Jafarc 1893/94 eingeleitete
höchst verdienstliche Organisatioa ging von rein wissenschaftlichen Kreisen
aus. Der Nestor der östeirdchischeii Geschichtsfoischer und Präsident der
ZcntialkommissiOQ ftlr Kunst uod historische Denkmale I. A. Freiherr
von Helfert im Verein mit A. v. Arneth waren die Begründer des
Neugeschaffenen. In richtiger Erkenntnis dessen, was notwendig ist, war
ihr Ziel aUerdings viel weiter gesteckt : sie wünschten erstens die Organisation
der staatlichen Archive auf Grund der heutigen Anforderungen der Ver-
waltung und Wissenschaft; sie verlangten zweitens die Schaffimg eines
fachmännischen Archivrates und sie forderten wissenschaftliche Fachbildung
für die Anstellung im staatlichen Archivdienste und die nötigen Geldminel.
Die letite Forderung, die wichtigste von allen, gelangte auch schnell
Eur befriedigenden Durchftlbrung. Auch der stfindige Archivrat ward
bald gebildet Bis ungeßlhr zum Jahre 1900 entfaltete er auch eine recht
eispriefsliche Tätigkeit, wenn sich auch seine Arbdten nicht selten in Dinge
verloren, womit diese Körperschaft nicht hätte behelligt werden soUen oder
welche der praktische Archivbeamte ein&cher erledigt gewünscht hätte. Immer-
hin haben sich einzelne Mitglieder desselben, allen voran die Universitäts-
Professoren O. Redlich und der verstorbeneE. MUhlbacher wieder Referent
Ministerialrat von Mahl-Schedl-Alpenburg die grölscen Verdienste um
das staatliche Archivwesen erworben. Dazu zähle ich die zur Durchführung
gelangten Beschlüsse über die notwendige Vorbildung der Archivbeamten,
über die Grundzüge einer Archivordnong für die dem k, k. Ministerium des
Innern unterstehenden Archive, Über die Behandlung der Archivalien und
Aktenausscheidung bei den Gerichtsbehörden*) und, allerdings mit einher
Reserve, die Schaflümg eines gemeinsamen Personalstandes der dem Ministerium
des Innern unterstehenden Archivbeamten.
Seit ein paar Jahren scheint die Tätigkeit dieses Archivrates gänzlich
unterbrochen zu sein. Praktische Kermer der Verhältnisse sahen übrigens
voraus, dafs diese Instimtion nur so knge lebensfähig sein werde, als es sich
um die unmittelbare Förderung der Wissenschaft handelt; denn der Archiv-
rat setzt sich vornehmlich aus Männern der Wissenschaft zusammen, welchen
der nötige Ausbau der inneren Organisation der Archive, namentlich die
i) Jene Zeiten (e. B. noch 1830], wo man die entichcidenditcD KUeren Bewlii-
arknnden, aoch trenn niBn sie kannte, onbeBchtet lief*, weil lie nicht gut lesbar leien,
(ind heilte doch endgiUig rorilber.
1) Vgl. darüber und Aber du Folgende auch die Danlelliin£ bei 0. Redlich,
a. a. O, tff.
3) Die (Hr die Aktenaaucbeidnae bei den politiichen Behörden aufgeitelllen Grnnd-
■Jltie reichen nicht au; lie und flbrigeni anch nicht entiprechend knndKemacht worden.
Dafür bedcben bei dem eincD odet anderen Archivt beiendere, direkt *m dr- " — =-
k«rvor£C2«ngeiie pro*i>«ri«cbe Vortdiriften, nach denen (kartiert wird. Über di
•Um, nach denen i. a in Kilnigreick Sachten Akten der Bchfirdcii kiuiart w«r
dicte Zeittchrift a. Bd. 5. 149—164.
— 324 —
Bedürfnisse und die besonderen Au%aben der Provinzialstaatsarchive femer-
liegende, zum Teil auch unbekannte Dinge sind. Ein so gewiegter Praktiker
und klarblickender Kopf wie der 1897 verstorbene von Schönherr erklärte
sofort nach der Schafiung und ersten Zusammensetzung des Archivrates,
dafs die ganze Institution in dieser Form schwere Bedenken erregen müsse.
Dieser Archivrat sei eine fast nur wissenschaftlichen Interessen dienende
Körperschaft, die mit dem vor allem in den Provinzialarchiven des Staates
und Landes lebhaft pulsierenden praktischen Archivleben keinen Zusammen-
hang habe. Solange dieser Rat nicht analog den übrigen Beiräten der
Ministerien gestaltet sei, solange er nicht mindestens zur Hälfte aus den
aktiven Leitern der gröfseren Provinzarchive bestehe und nicht verpflichtet
sei, sich jährlich einmal (öfter sei es überflüssig) zu versammeln, so lange
werde er keinen rechten Bestand haben können ^); er werde schon in wenigen
Jahren nach leidlicher Sichenmg der ohnehin von den wissenschaftlich
gebildeten Archivbeamten auch kräftig vertretenen wissenschaftlichen Interessen
wenig mehr zu raten haben und auch inmier seltener gefragt werden. Diese
Vorhersage scheint denn auch pünktlich in Erfüllung gehen zu wollen.
Manche Gegenstände der bis 1899 veröffendichten Verhandlungsprotokolle
des Archivrates boten in der Tat einzelnen Archivleitungen b^ründeten
Anlafs, von den eigenen Plänen tmd deren Durchführung keine Notiz an
den Archivrat gelangen zu lassen, iso erwünscht und fördernd auch ein (auch-
männischer Rat scheinen mochte. Heute zählt man selbst in den unmittelbar
beteüigten Kreisen, wenn ich nicht irre, diesen Archivrat zu den Toten.
Trotzdem hielte ich ihn selbst in dieser nicht eben glücklichen Form für
eine verdienstliche Einrichtung, wenn nicht die erste Voraussetzung für eine
geregelte Tätigkeit eines solchen Rates fehlen würde, nämlich eine leitende
Fachbehörde, welche die inneren Verhältnisse und Erfordernisse des praktischen
Dienstes in den verschiedenen Staatsarchiven aus eigener Erfahnmg kennt
und darüber nicht erst gröfstenteils unbeteiligte und femestehende Herren zu
befragen braucht, dagegen verpflichtet ist, in jenen nicht allzu häufigen
Fällen, welche die Wissenschaft berühren, ihren Rat einzuholen *).
Bei dem Ausländer erweckt der Bestand eines fachmännischen k. k.
Archivrates zunächst den Eindruck einer besonders wohlgeordneten Pflege
des staatlichen Archivwesens in Österreich. Er ist dann nicht wenig erstaunt
zu hören, dafs derselbe nicht die krönende Spitze eines soliden Gebäudes
bildet, sondern dafs dieses Gebäude selbst, die leitendeFachbehörde,
fehlt, während sie anderwärts wie in Italien oder in Preufsen, Bayern usw.
die naturgemäfse Gnmdlage des Ganzen bildet. Es darf übrigens zur Ehre
Österreichs nicht verschwiegen werden, dafs ein derartiges Mifsverhältnis wohl
nur auf dem vielfach noch imverstandenen Gebiete des Archivwesens herrscht.
Der Archivrat, wie er jetzt besteht, kann nur als ein dankenswertes
Mittel zur Fördenmg der rein wissenschaftlichen Interessen des vielgestaltigen
i) Das Organisationsstatnt des Archivrates (abgedruckt in den Mitt der dritten
[Archiv-] Sektion IV, 331 ff.) gilt allgemein als mifsglttckt.
2) Näheres darüber und über andere im Zosammenhang stehende Mängel des
österreichischen Staatsarchivwesens wäre in meinem angeführten Aufsätze Über staaÜiekeB
Arehivwesen in Österreieh nachzulesen. Vgl. auch die Besprechung desselben in dieser
ZeiUchrift IV, 316 f.
— 326 —
Archivwesens angesehen werden. £ine Verpflichtung, sich seiner Intervention
zu bedienen, hat niemand. Die wichtigsten und brennendsten Fragen prak-
tbcher Archivarbeit liegen von seinem Interessenkreise im allgemeinen zu
weit abseits ^).
Einer ähnlichen Aufgabe, wie sie dem Archivrat gegenwärtig gestellt ist,
unterzieht sich die Archivsektion der k. k. Zentralkommission zur Er-
haltung imd Erforschung der Kunst- imd historischen Denkmale durch ihre
Konservatoren und Korrespondenten schon lange Jahre mit Erfolg» An der
Spitze der Archivsektion stehen zurzeit die nämlichen Persönlichkeiten,
welche im Archivrate die fuhrende Stellung einnehmen. Obzwar der Tätig-
keitsbereich der beiden Institutionen nicht streng geschieden ist, so beschäf-
tigt sich doch der Archivrat mehr mit dem staatlichen, die Archiv-
sektion der k. k. Zentralkommission mehr mit dem privaten Archiv-
wesen. Eine wirkliche Scheidung ist da kamn durchzuführen und würde
der Sache höchstens schaden. Es will mir überhaupt scheinen, als ob dieser
Zustand, der gewissermaisen eine stille Konkunenz zweier staatlicher Behörden
darstellt , * für die Dauer unhaltbar sei. Die moralische imd die sachliche
Autorität der Archivsektion der Zentralkommission gilt durchaus als
höher, obwohl noch kein Gesetz für den Denkmalschutz besteht. Jedermann
wendet sich doch viel lieber an diese, mit bestimmten Rechten ausgestattete,
emflufsreiche Behörde als an den Archivrat, der in staatlichen Archiv-
angelegenheiten einen guten Rat geben darf, wenn er überhaupt gefragt wird,
imd dem es „unbenommen bleibt, auch nichtstaatlichen Behörden oder Privaten
bei Organisierung ihrer Archive seinen Beistand zu leisten" (S 2 des Organi-
i) Es ist bezeichnend genug, dafs ein so hervorragendes Bffitglied des Archivrates
wie O. Redlich, welcher einst selbst in einem groisen Archiv gedient hat, allerdings
za einer Zeit , wo dasselbe fast nur rein wissenschaftliche Interessen kannte , in seiner
erwähnten jüngsten Abhandlung S. 6 noch die Anschauung vertritt, eine allzu rasche Ver-
einigung der Aktenbestände eines Landes in einem Staatsarchiv schädige eher die Ver-
waltung als dafs sie gefördert werde. Der Praktiker wird das Gegenteil aus seiher
EHahmng bestätigen. Je rascher die Konzentrierung des Materiales durchgeführt wird,
desto einfacher und billiger gestaltet sich die unangenehme und opfervolle Arbeit. Es handelt
sich zunächst nur um die Herstellung eines möglichst ausgedehnten Raumes und des
nötigen Handlangerpersonales, so dafs sämtliche Akten vorläufig ungefähr in der Ordnung
aufgestellt werden können, wie sie übernommen wurden. Ein findiger Kanzleibeamter
genügt, alle Anfragen, die einlaufen, mindestens ebensogut und schneller zu erledigen
als dies früher durch die meist überlasteten Unterbehörden der Fall war. Die archivalische
Ordnung der Akten und die Ausscheidung des überflüssigen Ballastes kann in aller Ruhe
nebenher geschehen. In Innsbruck hat die rasche Masseneinziehung die Probe sehr gut be-
standen. Es wurden im Verlaufe von ein paar Jahren über 300000 Aktenbündel und mehr als
1 5 000 Bücher eingezogen. Die Benutzung derselben erfolgte von Anfang an klaglos und wird
mit der fortschreitenden Ordnung immer einfacher, so dafs die durch eine schnelle und
möglichst bündige Erledigung natnrgemäfs sehr gesteigerten Anfragen glatt abgewickelt
werden können. Die Erfahrung lehrt, da£s Behörden und Parteien diese aufserordentliche
Vereinfachung und Sicherheit des „Priorierens*^ durch das Zentralarchiv des Landes dankbarst
anerkennen. Den Oberbehörden liegt dafür freilich die sehr vereinfachte Pflicht ob, fUr
eine entsprechende Unterbringung der sich häufenden Aktenmengen zu sorgen. Die Er-
fahrung lehrt auch, dafs langsam durchgeftibrte Konzentrierungen fast nie zu einem
Abschlufs der mühevollen Arbeit führen und eine Menge ungeahnter Verdriefslichk^feen
mit sich bringen. Dazu kommt die stete Gefahr des Verlustes, welcher naroenlhch *^-
Akten bei dem üblichen Platzmangel in den Registraturen der Unterbehörden aur
zu sein pflegen.
2
— 326 —
satioDSstatutes). Bei der unglücklichen Organisation des Aichiviates werden
sich wohl auch in Zukunft Behörden und Private, die sachgemälsen Rat be-
dürfen, stets besser an die Zentralkommission oder selbst auch an die Gesell-
schaft für neuere Geschichte Österreichs wenden. Wer übrigens praktisch denkt
und vorgeht, läfst, wie die Erfahrung z. B. in Tirol und Vorarlberg und auch
anderwärts lehrt, alle diese Institutionen Unks liegen und wendet sich an das
nächstgelegene gut organisierte Staats- oder Landesarchiv, welches die Verhält-
nisse in seinem Wirkungsbereich am besten kennt und das meiste Interesse
dafür besitzt Da findet man gewöhnlich den besten Rat und die tatkräf-
tigste Unterstützung. Auch Zentralkommission und Archivrat sind schlieis-
lieh auf diese Institute mehr oder minder angewiesen. Damit sollte besonders
erstere rechnen, indem sie im allgemeinen eine engere Verbindung mit den
Provinzialarchiven herstellt, als es bisher viel&ch der Fall ist Diese werden
ausnahmslos gerne dazu bereit sein, wissen sie doch ihrerseits die moralische
Hilfe der Zentralkonunission wolü zu schätzen. Die besten berufs-
mäfsigen Konservatoren, auf welche O. Redlich besonderen Wert legt,
sind zweifellos tüchtige Archivbeamte.
Wir haben bisher zwei von den vier im Jahre 1893/94 vom österreichischen
Herrenhause aufgestellten Grundsätzen für die Organisierung des staatlichen
Archivwesens besprochen '). Die Frage nach der wissenschaftlichen Vor-
bildung der Archivbeamten des Staates konnten wir als befriedigend gelöst,
die Schaffung des Archivrates in der bestehenden Form muüsten wir dagegen
hauptsächlich deshalb als verfehlt bezeichnen, weil übersehen wurde, eine
gemeinsame Fachbehörde für alle staatlichen Archive als Krone der ganzen
Organisation aufzustellen oder wenigstens, solange eine solche nicht besteht,
den Archivrat dadurch lebensfähig zu erhalten, dafs er den aktiven, unmittel-
bar beteiligten Archivvorständen eine starke Vertretung gewährt und zu
regelmäfsigen Beratungen verpflichtet ist.
Die zwei weiteren Forderungen, Bereitstellung von staatlichen Geld-
mitteln zur Erwerbung gefährdeter Archivalien und Organisation der
österreichischen Staatsarchive gemäfs den modernen An-
sprüchen der Verwaltung und Wissenschaft, fanden noch keine
oder doch nur eine höchst mangelhafte Berücksichtigung.
Eigene Geldmittel für den gedachten Zweck sind unseres Wissens noch
niemals bewilligt worden; höchstens wurden auf dringendes Bitten in ein-
zelnen seltenen Fällen kleine Beträge aus anderen Fonds zur Verfügung gestellt
Selbst kleine, regelmäfsige Dotationen zur Bestreitung imumgänglich notwendiger
Bedürfnisse bei den gröfseren Staatsarchiven waren bisher nicht zu erlangen %
i) Ich stimme O. Re dlich, a. a. O. S. 3, roUkommeo bei, wenn er die weise Bescbrin-
knng des Herrenhauses auf die Organisation des staatlichen Archivwesens rtthmt Es
dttrfte sich schon aus unserer Darstellung mit voller Klarheit ergeben, dafs gutorganisierte
Staatsarchive auch die besten Förderer des Archivwesens aller übrigen Interessenten sind.
Im Übrigen hKtte dem Herrenhause wohl kaum ein Mittel zu Gebote gestanden, seine
Wttnsche auf nichtstaaüiche Archive auszudehnen.
3) So petitioniert z. B. das Innsbrucker Archiv, das gröfste und bedeutendste der
austchUefslich österreichischen Staatsarchive, schon seit einer Reihe von Jahren vergeblich
um die geringfügige Summe von jihrlich 1000 Kronen Dotation. Auch die Verwendung
des Archivrates in der Sitzung vom 18. April 1898 nützte nichts. Dasselbe mufs sich
— 827 —
Die Orgamsation der Staatsarchive wurde im Jahre 1896 nur zum
kleineren Teil, vorwiegend nur in bezug auf die Personalien bei den bereits
vorhandenen Archiven, durchgeführt. Seither blieb sie nach unserer Über-
zeugung hauptsächlich deshalb stecken, weil eben keine fachmännische
Zentralleitung, möge sie nun . Generaldirektion der Staatsarchive wie in
Preufsen oder anderswie heifsen, geschaffen wurde und infolgedessen auch
der Archivrat als nur wissenschaftlicher, nicht eigentlich fiaichmännischer
Beirat seinen Zweck nicht erfüllen kann.
Die zu Anfang dieser Besprechung aufgezählten österreichischen Staats-
archive stehen unter sich in keinem Zusammenhange. Selbst das Band des
gemeinsamen Personalstandes für einen Teil, für die Archive der politischen
Verwaltungsbehörden, vermochte keinerlei sachliche Zusammengehörigkeit
auch nur dieser Archive zu schaffen. Jede Anstalt lebt in ihrer früheren
Tradition fort und entwickelt sich selbständig, oft sogar in mehr oder
minder gegensätzlicher Art In manchen Fällen war sogar der gemeinsame
Personalstand für eine entwickeltere Anstalt ein zeitweiliger Hemmschuh in
ihrer Ausgestaltung ^). Sehr bedauerlich ist das Fehlen eines praktischen
Archivkurses, bezw. die gleichmäfsige Schulung der Archivpraktikanten, weil
dadurch auch für die Zukunft die Absonderung der einzelnen Anstalten
aufrechterhalten und die praktische Verwertung gemeinsamer £rfahrungen
verhindert wird. Die soziale und materielle Stellung der stiatlichen Archiv-
beamten läfst noch sehr viel zu wünschen übrig, obwohl das Schema für
das unbedingt notwendige Ausmafs der Bezüge schon seit dem Jahre 1896
von er&hrener Seite entworfen wurde '). Vorbildung, Arbeitsleistung und
Verantwortung der österreichischen staadichen Archivbeamten verlangen gebie-
terisch die Gleichstellung mit den Archivbeamten der Zentralstellen der
Monarchie oder mit den Bibliotheksbeamten der Universitäten und den
Gymnasialprofessoren. Da sie nach ihrer Personalstandseinteilung Ministerial-
beamte sind, ist ihre Zurücksetzung gegenüber den anderen Kategorien des
Konzeptspersonales in den Ministerien besonders empfindlich ^).
*
nach wie vor mit einem, vom tiroliscben Statthalter aas seinen Paoschalgeldern gnaden-
weise gewährten Bibliotheksbeitrag von 400 Kronen behelfen.
i) Die Aufnahme von einigen Bibliotheksbeamten in den Personalstand der Archive
rnais als eine ganz nnnatttrliche Verbindung bezeichnet werden, weil Archiv- und
Bibliotheksbeamte grundverschiedene Aufgaben und keine gemeinsamen Interessen
haben. Fttr das Aufrücken sind sie sich gegenseitig nur hinderlich. Allerdings gilt diese
Einreihung nur vorläufig. Sie währt aber schon seit 1896. Weil die Staatsarchive
nicht die Aufgabe haben, auch Bibliotheksgeschäfte zu besorgen, wurde z. B. das
Innsbrucker Archiv durch die Einsicht des Statthalters von vorneherein mit der Verwal*
tung der Statthaltereibibliothek nicht behelligt und auf diese Weise nicht zum Teil von
seiner ganz anders gearteten, viel wichtigeren Tätigkeit abgelenkt.
2) Vom verstorbenen Direktor des Kriegsarchives L. v. Wetzer in der Archivrats-
sitsung vom 30. März 1896. Auch die übrigen Forderungen v. Wetzers treffen in der
Regel den Kern der Sache. Aus ihm spricht eben der praktische Archivar und Vorstand
des ersten Archives der Monarchie.
3) Die derzeitige Systemisierung der Stellen ist dnrchgehends um einen Rang zu
niedrig. Wegen des an und lUr sich sehr begreiflichen Strebens, die absolvierten wissen-
schaftlich gebildeten Kandidaten möglichst unterzubringen, und in Unkenntnis des Umfangs
der Verwaltungsarbeiten eines allseitig ausgebildeten Staatsarchivcs vernachlässigt man
auch, ganz im Gegensatz zu manchem Landesarchiv, die Bestellui^des nötigen Kanzlei -
personales. Per wissenschaftlich gebildete Archivbeamte wir^älbMUlosen unvermeid-
i
— 328 —
Die bedeutendsten Mängel im ganzen staatlichen Archivwesen sind
jedoch ausschliedslich sachlicher Natur. Fürs erste scheint die Tatsache
fast unglaublich, dafs für einzelne Ministerien und flir neun Kronländer, wie
schon erwähnt wurde, überhaupt noch kein Staatsarchiv besteht. Dann
herrscht in den wenigen Staatsarchiven der .Kronländer im allgemeinen eine
grofse Systemlosigkeit der Arbeit und eme Regellosi^eit in Bezug auf Art
und Umfang der Bestände, die wohl in anderen Kulturstaaten nicht mehr
ihresgleichen findet. Endlich ist die natürliche Scheidung des Materiales
zwischen einzelnen Zentralarchiven der Monarchie und den österreichischen
Staatsarchiven und wieder zwischen diesen imd den Landes- und Privat-
archiven wie nicht selten auch die Unterbringung der Archivalien ^) derart
vernachlässigt worden, dafs in dieser Hinsicht oft die grölste Verwirrung
herrscht. Sie wurde durch einzelne Beschlüsse des Archivrates am grünen
Tisch mindestens nicht verbessert Namentlich bezüglich der letzterwähnten
zwei Punkte zeigt sich der verderbliche Mangel einer leitenden Fach-
behörde am offenkimdigsten. Die erste Frage dagegen, die Schaffung
neuer Archive, ist wesentlich eine Geldfrage. Sie erscheint sogar als die
weniger dringende, weil da im grofsen imd ganzen nicht so viel verdorben
wird. Zuallererst müssen die bestehenden Staatsarchive halbwegs ausgebaut sein
imd gut funktionieren. Dazu bedarf es nicht so sehr bedeutender Geld-
mittel als der steten Belehrung, des Arbeitseifers, praktischen Verständnisses
und des richtigen Zusammenwirkens von oben imd unten.
Über die Regellosigkeit und die heillose Zerstreuung der Archivbestände
in den Staatsarchiven und manchen staadichen Registraturen orientiert jetzt
im allgemeinen die erwähnte, sehr dankenswerte Abhandlung von Giannoni
in dieser Zeitschrift. Während Osw. Redlich einen trefflichen Überblick
dessen verschafft, was seit ungefähr lo Jahren für das Archivwesen überhaupt
geschah, um daraus die Notwendigkeit weiterer Reorganisation abzuleiten
tmd einige weiter oben besprochene Winke zu geben, erörtert Giannoni die
Bestände der Staatsarchive mit Rücksicht auf die geschichtliche Entwicke-
lung der Behördenorganisation der einzelnen Staatsgebiete. Nicht selten
erscheint das unerfreuliche Bild unrichtig und noch allzu günstig gezeichnet,
weil der Autor doch nur über ein ungenügendes Material verfügte. Daran
ist wohl die Unmöglichkeit unmittelbarer Information an Ort und Stelle
schuld '). Das gröfste Verdienst der Arbeit Giannonis erblicke ich darin,
dafs zum erstenmal ein Praktiker die Verhältnisse schildert, der sie
nicht fast ausschliefslich mit dem wissenschafdichen Auge betrachtet, sondern
den Finger direkt auf eine der wundesten Stellen legt ^). Vom rein* prak-
liehen mechanischen Schreibarbeiten and Handlangerdienste bald überdrüssig, verliert
den Blick für seine eigentliche Betätigang and wird dann mifsgestimmt, ja berufsverdrossen,
i) Das gilt namentlich auch für grofse und wichtige Teile des Innsbrucker Staats-
archives.
2) Ich verweise beispielsweise auf Prag oder auf Innsbruck. Giannonis jedem
Archivar gewifs willkommene Arbeit beweist am besten die Notwendigkeit eigener An-
schauung und persönlicher Information , wenn die Dinge beurteilt werden soUen wie sie
wirklich sind. In viel höherem Grade gilt diese Notwendigkeit natürlich für die ent-
scheidenden Faktoren.
3) Ge^^enüber dem Ausland, wo gewöhnlich das natürliche Verhältnis besteht, dafs
die archivalische Entwickelang zuerA die praktischen Bedürfnisse und dann erst die wissen-
— 829 —
tischeo Gesicbtsptmkte aus will mir aber auch GiauDonis AbbaudluDg nur
als eine der ErgäDzuog bedürftige Vorarbeit erscheiDen für eine viel weiter-
greifende Beschreibung der Bestände, welche nur von den einzelnen Archiven
selbst geleistet werden kann ^). Redlich fordert mit vollem Rechte die Arbeits-
abgrenzung zwischen den Staats* und Landesarchiven. Nach meiner Über-
zeugung wäre in erster Linie über das Suum euique zu entscheiden. Jedes
Staatsarchiv müiste sich vor allem ebe Übersicht dessen verschaffen, was
auf Grund der historischen Entwickelung und seines territorialen Wirkungs-
kreises in seine Bestände gehört, mögen nun diese Archivalien bereits in
seiner Verwaltung sein oder einem ausländischen Archive, einem Archive
der Zentralbehörden der Monarchie, einem anderen Staatsarchive oder einem
Landes- oder Privatarchive angehören oder noch in Registraturen ruhen.
Was nicht im Original zu erreichen ist, soll wenigstens in Verzeichnissen
oder Abschriften beschafft werden. Erst auf dieser festen Grundlage läfst
sich ein richtiger Überblick gewinnen und die Richtung feststellen, nach
welcher sich die ordnende und sammelnde Tätigkeit zu bewegen hätte ^).
Was im Interesse der österreichischen Staatsarchive und damit mittelbar
auch der Landes- tmd Privatarchive notwendig ist, darf ich zum Schlüsse
wohl nochmals in folgende wesentliche Punkte zusammenfassen: Einheitliche
Organisation und fachmännische Oberleitung aller Staats-
archive^ damit endlich innerer Zusammenhang geschaffen werde tmd sich
gemeinsames Leben einstelle^); Umgestaltung des Archivrates in
einen wirklichen fachmännischen Beirat, der aus Vertretern der
Archivsektion der Zentralkommission, ein paar Universitätsprofessoren und
vor allem aus praktischen Archivbeamten besteht; materielle Besser-
stellung der Beamten des Personal Standes zur Verhinderung der
schon jetzt bedenklichen Archivflucht gerade der tüchtigsten jungen Kräfte;
Verpflichtung der Aspiranten zu gründlicher und allseitiger
Praxis; Anstellung des nötigen Kanzleipersonales; ent-
sprechende Vorsorge des Staates für räumlich und sachlich
schafUiche Aufgabe berücksichtigt, könnte das vielleicht einigennafsen befremdlich erscheinen.
In Österreich nimmt die Entwickelang, wie ich mich sa zeigen bemühte, den umge-
kehrten Gang.
i) AUerdings nicht in der Form jener kurzen Inventare ,. welche der Archivrat ein-
mal Vorschlag.
2) Diese Grandsätze sind seit einigen Jahren in Innsbruck malsgebend. Ihre kon-
sequente Durchführung zeitigte schon eine Reihe von Erfolgen. Da das Archiv auch
einen gewissen Zusammenhang mit der modernen Verwaltung wahren mufs, werden alle
neueren Verträge und Stiftbriefe sofort in das Archiv übernommen und dort registriert.
Die Übrigen Akten werden von 10 zu 10 Jahren übernommen und bei dieser Gelegenheit
skartiert. Derzeit besitzt das Archiv die Akten der politischen Zentrale bis 1850, die
der politischen Unterbehörden bis 1868, die Gerichtsakten bis 1820. Die italienischen
Notariatsakten sind bis 1820, die Akten der Finanzbehörden werden bis 1853 übernommen.
Für diese Zeitgrenzen ist die Behördenorganisation mafsgebend. Zur Entlastung des Zentral-
archives in Innsbruck bestehen organisierte Filialen inBregenz, Trient und Roveredo,
an welche Archivalien dieser Kreise abgegeben werden. Nur die politischen Akten
sind sämtlich in Innsbruck vereinigt.
3) Es freut mich, dafs nun auch O. Redlich, a. a. O. S. 19 f. diesen von mir vor
zwei Jahren schon ausgesprochenen Gedanken zur Grundlage seiner Reformvorschläge
macht Ich stimme Redlich heute auch darin bei, dafs die räumliche Vereinigung der
Mioisterialarchive nicht nötig« vielleicht auch noch lange nicht wünschenswert sei«
— 830 —
genügende Archivräume ohne die bisherige Engherzigkeit;
Bereitstellung der zum geordneten Archivbetrieb unerläfs-
liehen Dotationen für die einzelnen Anstalten; endlich syste-
matische Bearbeitung, Sichtung und Ergänzung der Befände
nach den oben angegebenen Gesichtspunkten und allmähliche Gründung
der noch fehlenden Staatsarchive. Schliefslich soll auch auf eine
wissenschaftliche Verwertung der Archivbestände durch die
Archivbeamten selbst ein besonderes Augenmerk gerichtet werden^).
Seit zehn Jahren hat das österreichische Archivwesen dank der vcnn
Staate energisch begonnenen Organisation gewifs viele imd grofse Fortschritte
gemacht. Leider geriet dieselbe in den letzten Jahren in aufßUUges Stocken«
Über die Notwendigkeit der Fortführung dieser Organisation sind jedoch alle be-
teiUgten Kreise einig; sie kann schnell wieder belebt werden imd zu einem
befriedigenden Abschlüsse gelangen, wenn man an ihrer bisherigen Richtung
einige gründliche Änderungen vornimmt, wenn insbesondere die bestehenden
und die erst neuzuschaffenden Staatsarchive nicht bloß der Privatinitiative'
und der Tatkraft einzelner überlassen bleiben, sondern der lebendige geistige
Zusammenhang durch einen Gesamtorganismus der Staatsarchive geschafien
und gesichert wird. Archivdirektor Prof. Michael Mayr (Innsbruck).
Eingegangene Bfiehen
Behlen, H.: Der Pflug und das Pflügen bei den Römern tmd in Mittel-
europa in vorgeschichtlicher Zeit, eine vergleichende, agrargeschichthche,
kulturgeschichtliche und archäologische Studie, zugleich ein Beitrag zur
Besiedelungsgeschichte von Nassau. Dillenburg, C. Seels Nachf. (Moritz
Weidenbach), 1904. 192 S. 8*^. M. 4,00.
Hartmann, Karl: Der Prozefs gegen die protestantischen Landstände in
Bayern unter Herzog Albrecht V. 1564. München, G. J. Manz, 1904.
272 S. 8®. M. 3,00.
Jaeger, Johannes: Die Klosterkirche zu Ebrach, ein kunst- und kultur-
geschichtliches Denkmal aus der Blütezeit des Cistercienserordens. Mit
127 Abbildungen, Details und Plänen. Würzburg, Stahel. 144 S. 4^
Jaeger, Oskar: Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts [=» Sammlung
Göschen]. Erstes Bändchen 1800—1852, zweites Bändchen 1852 — 1900.
Leipzig, G. J. Göschen, 1904. 157 tmd 160 S. 16^. M. 1,60.
Koehne, Carl: Das Recht der Mühlen bis zum Ende der Karolingerzeit,
ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Gewerberechts. [■— Unter-
suchungen zur deutseben Staats- und Rechtsgeschichte, herausgegeben
von Otto Gierke, 71. Heft.] Breslau, M. & H. Marcus, 1904.
48 S. S^. M. 1,60.
i) Dafür dürften sich am besten gemeinsame gröfsere Arbeiten nnter entsprechender
Leitung besonders empfehlen. Um diese wissenschaftliche Tätigkeit anzuspornen and
dieselbe mehr tn konzentrieren, gibt das Innsbracker Archiv seit 1904 als erstes öster-
reichisches Staatsarchiv eine eigene wissenschaftliche Zeitschrift in Vierteljahrshefteo
heraas: Forschungen u, Müteihtngen xur QeachiehU Tirols tmd Vorarlbergs, wovon
jetzt der erste Jahrgang vorliegt.
■ I I I - ■ I I .1 I I !■ I I II II - I I ■« ■ . ^ I ly
Hermtugeber Dr. Annhi Tille tu Leipcig.
pnick oad Vtrlaf top fkfp^rM» Aiidr«as PvtfaM, AkdcageseUscIiafk^ Gotka,
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
mr
föfdeFung den landesgesohieUlieheo f opsehnng
unter Mitwirkung von
Prof. Bachmann-Prag, Prof Brejnig-Bertin, Fror. Brler-MUiiiter i. W.,
Prof. Finke-Freibnrg i. B., Archivdirektor Prof. Hansea-Käln, Prof. t. Heigel-MBncbcD,
Prof. Heaner-Wünborg, Sektiomcbef ▼. InBma-Stemegg'WicD, Prof. Kolde-Erlangen,
Prof. KaaBiona-Bertio, Archivrat KriegeT-Karlsmlie, Prof. Lamprecht-Leipiig,
ArcbiTrat W. Lippert-Dreiden, Arcfaivdlrektor Prof. M. MsTT-Ianabnick,
ArcbivK Mera-Marhnrg, Prof. ▼. Ottentbal-Wien, Prof. Oaw. Redlich- Wien,
Prof. T. d. Ropp-M&rborg f Prof. A. Schulte-Bona, Geh. Archivrat Sello-Oldenburg,
Geh. Archirr^ SttUn-Slntlgut, Archivrat WKachke-Zerbil, Prof. Weber-Prag,
Prof. Wenck-Marburg, Archivdirektor Winter-Omabrück, Archivar Witte-Schwerin,
Prof. V. Zwiedineck-Sndenhorat-Grai
bcrausgegebea von
Dr. Armin Tille
Gotha
Friedrich Andreas
AkliaBisialbchafc
190S
Inlialt.
Aufsätze : seite
Beschomer, Hans (Dresden): Wüsiungsverzeüknisse i — 15
Boemer, Qustav (Fflrstenwalde) : Die Brüder des gemeinsamen Lebens in
Deutschland 241 — 246
Dopschy Alfons (Wien) : Die Herausgabe von Quellen zur Agrargeschichte
des Mittelalters 145 — 167
Hoemes, Moris (Wien): Die Hallstattperiode 97 — 105
Lohmeyer, Theodor (Marburg): Unsere Flufsnamen 29—43
Manitius» Max (Radebeul bei Dresden) : Die lateinische Literatur des Mittel-
alters 265 — 281
Nelle, Wilhelm (Hamm i. W.): Das Gesangbuch und die Heimatkunde . 291— 311
Schmidkunx, Hans (Berlin-Halensee) : Geschichtliche Studien zur Pädagogik
der Wissenschaften und Künste 121 — 132
Schottmttller, Kurt (Posen): Deutsche Siedelungen in der Provinz Posen . 312 — 323
Tille« Armin (Leiprig): Neuere Wirtschaftsgeschichte 193 — 235
WIschke« Hermann (Zerbst): Anhaltische Akten zum Wiener Kongrefs . 246 — 261
Werner, Heinrich (Euskirchen): Kirchen- und sozialpolitische Publizistik
im Mittelalter 65— 88 und 105— 1 16
Wingenroth, Max (Karlsruhe) : Die Ausgestaltung der Denkmälerverzeichnisse 1 68 — 1 84
Mitteilungen:
Archive: Stadtarchiv Magdeburg 93; Mitteilungen der Kgl. Preufsischen
Archiwerwaltung ^ sechstes und siebentes Heft 132 — 134;
Württembergisches Archiv des Innern in Ludwigsburg 135; In-
ventare des Grofsherxoglich Badischen GeneraULandesarchivs^
zweiter Band, erster Halbband 135 — 136; Beamte der preufsi-
schen Archiwerwaltung am i. April 1905 237 — 239; Beamte
an den kgl. bayerischen Archiven am i. Januar 1905 239;
Repertorium des Staatsarchivs zu Basel 262 — 264; Stadtarchiv
Frankfurt a. M. 281.
Archivtag: Vierter deutscher 1904 in Dan zig (Wäschke) 15 — 19; fUnfter
1905 in Bamberg, Programm 324 — 325.
Bibliotheken: Titel der Beamten an den Grofsherzoglich Hessischen staat-
lichen Bibliotheken in Darmstadt und Giefsen 93; Tauschver-
kehr zwischen Jena und Weimar 93 — 94.
Bibliothekskataloge, alte (Theodor Göttlich) 24—27.
Seit«
Bingegmngene Bücher 27 — 28, 96, 120, 143 — 144, 191 — 192, 239 — 240, 264,
289—290, 330.
Oesamtverein der deutschen Geschichte- und Altertumsvereine: Ver-
sammlang 1904 in Dans ig (Wäschke) 43 — 54; Programm der
Versammlung 1905 in Bamberg 323 — 324.
Historikertag: Achter 1904 in Salzburg 88 — 91.
Historische Kommissionen: Römisch-germanische K. des Kaiserl. archäo-
logischen Instituts (Dragendorff) 19 — 24; Historische Landes-
kommission fUr Steiermark 136 — 137; K. fUr neuere Geschichte
Österreichs 137 — 138; Wttrttembergiscbe K. Hir Landesgeschichte
138; H. K. für Nassau 139; Badische H. K. 139— 140; Gesell-
schaft für fränkische Geschichte 281 — 286; Kgl. Sächsische K.
für Geschichte 325 — 326; Gesellschaft für rheinische Geschichts-
kunde 326; H. K. für Hessen und Waldeck 327.
Historischer Atlas der österreichischen Alpenländer» dessen Fortschritte
(Anton Meli) 54 — 64
Kirchliche Kunstaltertttmer (Wingenroth) 141 — 143
Museen: Essen 140; Düren 140 — 141 ; Reichenfels 288—289.
Nekrologe: für Kreisrichter Conrady 94— 95 ; für Gustav Sixt 116 — 117; für
Eduard Richter (Anton Meli) 186—189; fUr Franz Kindscher
189— 191.
Nordwestdeuteche Altertumsforschung 184 — 18$
, Personalien 94 — 95, 116— 120, 186— 191, 236-239
I Publikationsinstitute, Konferenx von Vertretern landesgeschichtlicher:
I 1904 in Salzbarg 91 — 93
Urkundenbuch, Hamburgisches 329 — 330
t Vereine : Vogtländischer altertumsforschender Verein zu Hohenleuben (Giristian
Schlag) 286—289, 327; Gesellschaft für Geschichte und Litera-
tur der Landwirtschaft 327 — 329.
Versammlungen: Vierter deutscher Archivtag 15 — 19: Versammlung des
Gesamtvereins in Danzig 43 — 54; Versammlung deutscher Hi-
storiker (achte) in Salzburg 88 — 91 ; Konferenz von Vertretern
laodesgeschichtlicher Publikationsinstitute 9 1 — 93 ; Versammlung
des Gesamtvereins in Bamberg, Programm 323 — 324; Fünfter
deutscher Archivtag, Programm 324 — 325 ; 48.Versammlung deut-
scher Philologen und Schulmänner in Hamburg, Programm 325.
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
nur
Fördenmg der landesgeschicbtlicben Forschung
VI. Band Oktober 1904 i. Heft
I ■ 1 ._^T^^^^^
Wüstungsverzeiehnisse
Von
Hans Beschomer Presden)
Erst seitdem man urkundenmäüsig die Geschichte der einzelnen mittel-
europäischen Landschaften zu bearbeiten begonnen hat, ist die historische
Wissenschaft nachdrücklich auf die zahlreichen Siedelungen aufmerksam
geworden, die sich mit keiner der heute noch bestehenden menschlichen
Niederlassungen decken und die man, falls es sich nicht nur um ver-
stümmelte oder falsch gelesene Namen handelt, Wüstungen, in Süd-
deutschland Odungen, abgegangene Orte und ähnlich nennt. Zunächst
begnügte man sich meist, in den Anmerkungen oder Ortsregistem der Ur-
kundenbücher auf sie hinzuweisen und vielleicht eine kurze Bemerkung
über ihre Lage einzuflechten. Bald aber fanden sich auch Forscher, denen
diese nicht mehr vorhandenen Orte beachtenswert genug erschienen,
um sie gesondert zusammenzustellen. Zuerst wohl von allen taten
dies J. C. V. Dreyhaupt 1755 für die Wüsten Borffstätm im Saal-
Oreysse (Beschreibung des Saal-Creyses II, S. 874—974), G. C. Kreys-
sig 1758 für die Eingegangenen Dörffer und Schlösser in der Q^af-
Schaft Barhy und im Amte Gommern (Beiträge zur Historie derer Chur-
und Fürstl. Sächsischen Lande IV, S. 320—324) und J. C. Hasche 1784
bezw. 1788/9 für die Wüsten Marken in den Ämtern Torgau und MiM-
berg (Magazin der Sächsischen Geschichte I, S. 318—328, 507—513,
V, S. 462—475, 536—552, 678—697, VI, S. 33—43, 85—88). Seit
diesen ersten, nicht nur für ihre Zeit lobenswerten, sondern auch heute
noch recht brauchbaren Arbeiten hat sich die Wüstungsliteratur stark
vermehrt, anfänglich allerdings nur langsam, seit den dreilsiger Jahren
des XIX. Jahrhunderts aber mit immer zunehmender Schnelligkeit.
Selbständige Monographien über die untergegangenen Orte deutscher
Länder oder über einzelne hervorragende Wüstungen sind darunter
selten. Sie blieben hauptsächlich unseren Tagen vorbehalten. Um
so mehr Arbeiten aber wurden in den Zeitschriften der Geschichts-
und Altertumsvereine, in lokalen Tagesblättem und anderwärts an ent-
1
— 2 —
legenen Stellen veröffentlicht. Wie stattlich heute bereits die Wüstungs-
literatur ist, auch wenn man die unzähligen Arbeiten unberücksichtigt
läfst, in denen Wüstungen nur nebenbei erwähnt werden, kann man
schon aus der allerdings ziemlich unvollständigen und vielfach auch
ungenauen Zusammenstellung ersehen, die A. Grund kürzlich in seinem
Werke über Die Veränderungen der Topographie im Wiener Walde
und Wiener Becken (Leipzig, 1901), S. 191 — 194, veröffentlicht hat.
Beziehen sich seine Zitate auch durchaus nicht alle auf gröisere
Wüstungsarbeiten, da es ihm im wesentlichen nur darauf ankam, über-
haupt das mittelalterliche Eingehen von Ortschaften allerwärts in Deutsch-
land und seinen Nachbargebieten nachzuweisen, so gibt er doch immer-
hin an die vierzig wichtige Beiträge zur Wüstungsliteratur. Ihnen
fügte K. Kretschmer in seiner Übersicht über die Wüstungsliteratur,
die die Seiten 540— 542 seiner Historischen Geographie von Mitteleuropa
(München und Berlin, 1904) einnimmt und ebenfalls verschiedene
Mängel aufweist, noch etwa zehn, allerdings meist auf einzelne Wüstungen
bezügliche Arbeiten hinzu.
Ein wesentlich vollständigeres und zugleich auch kritisch sichtendes
Verzeichnis soll eines der nächsten Hefte dieser Zeitschrift bringen.
Jahrelang habe ich den Stoff dazu gesammelt. Da mir aber trotz allen
Eifers zweifellos noch viele, an verborgenen Stellen erschienene Arbeiten
entgangen sind, möchte ich alle Altertumsfreunde undLokal-
historiker, die der Wüstungsforschung nahestehen, bitten,
mir Nachrichten über weniger bekannte und schwer zu-
gängliche Zeitungs-, Zeitschriftenaufsätze und dergl. zu-
kommen zu lassen, die zusammenfassend die ausgegange-
nen Orte gröfserer oder kleinerer Gebiete oder auch
einzelne Wüstungen behandeln; denn nur auf diesem Wege
ist es möglich, zu einer einigermaßen vollständigen Zusammenstellung
der Wüstungsliteratur zu gelangen, die ein entschiedenes wissenschaft-
liches Bedürfnis ist.
Überblickt man die bisherigen Leistungen auf dem Gebiete der
Wüstungsforschung von Dreyhaupt bis auf die großangelegten
Werke von Hertel und Wintzingeroda *), so erkennt man nicht nur
i) G. Hertel, Die Wüstungen im Nordtküringgau , Halle 1899 (Geschichts-
qaellen der Prorinz Sachsen und angrenzender Gebiete, Band XXXVIII). L. Frhr. von
Wintzingeroda-Knorr, Die Wüstungen des Eichsfeldes, Halle 1903 (Geschichts-
quellen der Prov. Sachsen, Band XL). Auf beide, in der Wüstangsfurschong einen Ehren-
platz einnehmende Werke denke ich noch in meinem künftigen Aufsätze über die
WUstongsliteratnr näher einzugehen. Dafs sie, trotz ihrer grofsen Vorzüge, doch nicht allen
— 3 —
sofort den sehr ungleichen Umfang und Wert der einzelnen Arbeiten,
sondern bemerkt auch grofse grundsätzliche Verschiedenheiten, die
schuld daran sind, dafis die Wüstungsforschung der historischen Geo-
graphie und besonders der Siedelungsgeschichte bisher noch nicht
diejenigen Dienste geleistet hat, die sie ihr ohne Zweifel zu leisten
berufen ist. Der Wissenschaft zuliebe mufs daher in Zu-
kunft eine gröfsere Einheitlichkeit bei Herstellung von
Wüstungsverzeichnissen angestrebt werden.
Zunächst begegnet uns in den Wüstungsarbeiten meist eine ganz
verschiedene Auffassung des Wüstungsbegriff es ^). Während einige
Gelehrte als Wüstungen nur untergegangene Dörfer gelten lassen,
rechnen andere auch verschwundene Einzelhöfe, Mühlen, Klöster, Ka-
pellen und, wenn auch seltener, Burgen dazu. Bei Wintzingeroda findet
man sogar alte Gerichtsstätten und aufeer Betrieb gesetzte Bergwerke
aufjg^enommen ! Endlich kann man vielfach noch beobachten, dafis
neben den Wüstungen auch Flurnamen, die mit einiger Sicherheit auf
Wüstungen schlieisen lassen, rätselhafte Ortsnamen, die meist, wie sich
nachträglich herauszustellen pflegt, auf irgendeinen Irrtum zurückgehen,
also mit dem Begriffe Wüstung nichts zu tun haben, sowie umgetaufte
und eingemeindete Orte berücksichtigt sind. Dafs aber bei diesen ab-
weichenden Anschauungen die vorhandenen Wüstungsverzeichnisse für
vergleichende Beobachtungen, wie sie in der Wüstungsforschung allein
zu wichtigeren Ei^ebnissen führen können, so gut wie unbrauchbar
sind, leuchtet wohl ohne weiteres ein. Sollen also Wüstungsverzeich-
nisse künftig nicht blofs der einen, zwar wichtigen, aber doch nicht alleini-
gen Bestimmung dienen, nämlich, die in Urkunden und Akten vorkommen-
denWüstungen zu lokalisieren, sondern auch zur Lösung siedelungsge-
schichtlicher Aufgaben, wie sie neuerdings Grund und Schlüter •) mit Er-
folg versucht haben, beitragen, dann dürfen darin nur eigentliche
Ortschaften (einschliefelich der wenigen Städte), die vom Erdboden
verschwunden sind, vertreten sein. In kleinerem Drucke füge man
Anforderungen entsprechen, die man vom wissenschaftlichen Standpunkte ans an Wttstungs-
verzeichnisse stellen mnis, werden bereits die folgenden Ausführungen erkennen lassen.
i) Vgl. hierzu meinen Aufsatz Die Wüstungen und ihre Entstehung in der
Montagsbeilage des Dresdner Anzeigers vom i6. Juni 1902 (H. Band, S. 187—189) und
die Ausfuhrungen über Notwendigkeit eines sächsischen Wüstungsverxeiehnisses und Be-
stimmung seines Umfanges in meiner Denkschrift über die Hersteüung eines Histo-
Tischen Ortsverzeichnisses für das Königreich Sachsen (Dresden 1903) S. 15—17.
3) O. Schlüter, Die Siedelungen im nordöstlichen Thüringen, Ein Beispiel
für die Beftandiung siedlungsgeographischer Fragen (Berlin, 1903). — Über das bereits
oben zitierte Buch von Grand vgl. auch diese Zeitschrift 5. Bd., S. a8i — 282.
— 4 —
höchstens noch die eingegangenen Einzelsiedelungen, die einzelnen Ge-
höfte, Mühlen und dergl., hinzu. Dagegen schlielse man grundsätzlich
die verfallenen Burgen und einstigen Klöster, die eingemeindeten und
umgetauften Orte aus. Erstere müssen, schon ihrer grofsen Zahl und
des notwendigen Kommentars wegen, besonderen Zusammenstellungen
vorbehalten bleiben, letztere können anhangsweise den Wüstungsver-
zeichnissen beigegeben werden.
Damit sind freilich noch nicht alle Zweifel über den in die
Wüstungsverzeichnisse aufzunehmenden Stoff beseitigt. Denn was
heifst „Dörfer, die vom Erdboden verschwunden sind**? Elrstens ist
die Grenze zwischen Einzelsiedelungen und kleinen Dörfern, namentlich
für die ältesten Zeiten, schwer zu ziehen. Zweitens dürften aber die
Ansichten darüber weit auseinandergehen , was unter „ vom Erdboden
verschwunden ** zu verstehen ist. Man nehme den häufig vorkommen-
den Fall, dafe auf der Stelle eines untergegangenen Dorfes ein ein-
zelnes Gehöft steht, etwa ein Gutshof, ein Wirtshaus, eine Mühle oder
Ziegelei. Ist hier der ehemalige Ort unter die Wüstungen aufzunehmen ?
Verhältnismäfsig leicht läfst sich die Frage beantworten, wenn das Ge-
höft erst später, vielleicht nach Jahrhunderten, auf der Stelle des alten
Dorfes oder in seiner Nähe erstand. Dann gehört das Dorf unbe-
streitbar in die Zahl der Wüstungen, mag das Gehöft nun einen neuen
Namen oder denselben, den einst das Dorf trug, erhalten haben. Logisch
gedacht, wird auch dann an diesem Sachverhalte nichts geändert, wenn sich
das einzelne Gehöft allmählich wieder zu einem Dorfe ausgewachsen hat
oder wenn überhaupt nach Jahrhunderten an Stelle eines ehemaligen Dorfes
planmäfsig ein neues, gleichviel mit welchem Namen, entstanden ist.
In allen diesen Fällen ist der früheren Siedelung ihre Wüstungseigen-
schaft nicht genommen. Wie aber steht die Sache, wenn das einzelne
Gehöft als Überrest eines alten Dorfes zu betrachten, ja vielleicht ur-
kundlich als solcher nachzuweisen ist und wenn aus diesem Gehöft im
Laufe der Zeit wieder ein Dorf wurde? In diesen und ähnlichen Fällen,
die nicht nur sehr häufig vorkommen, sondern auch eine grofee Mannig-
faltigkeit aufweisen, heifst es, Farbe bekennen. Ich denke, siedelungs-
geschichtlich betrachtet, mufs man sie alle zu den Wüstungen rechnen,
da ein einzelnes Gehöft seiner Bewohnerzahl und infolgedessen seinem
wirtschaftsgeschichtlichen Werte nach etwas anderes ist, als ein Dorf,
und andrerseits ein Dorf, das nach geraumer Zeit, vielleicht rein zu-
fällig, auf dem Standorte eines früheren entsteht, mit diesem ent-
wickelungsgeschichtlich nichts, höchstens den Namen, gemein hat. Die
Worte „nach geraumer Zeit** deuten freilich bereits neue Schwierig-
— 5 —
keiten an; denn ein Dorf, das in Kriegszeiten nur auf einige Jahre
oder Jahrzehnte von seinen Bewohnern verlassen wurde, wie das wäh-
rend und nach dem Dreifsigjährigen Kriege häufig vorkam, kann nicht
gut als Wüstung betrachtet werden.
Wird bei Anfertigung von Wüstungsverzeichnissen an der enip-
fohlenen Beschränkung des aufzunehmenden Stoffes festgehalten, so
ist damit schon viel gewonnen. Aber innerhalb der Wüstungen in
engerem Sinne machen sich noch weitere Unterscheidungen notwendig.
Die Wüstungen rühren nicht, wie man früher ohne Kritik allgemein
glaubte, aus dem Dreifsigjährigen Kriege her. Die Zahl der in diesem
Kriege dauernd zerstörten Dörfer ist verschwindend klein. Die Wüstungen
sind vielmehr, wie längst richtig erkannt wurde, im wesentlichen eine
mittelalterliche Erscheinung *). Viele von ihnen entstanden schon in den
allerersten Zeiten der Besitzergreifung des deutschen Bodens durch
Kolonisten. Hier war im ersten Siedelungseifer ein Dorf zu nahe am
Flusse, dort zu dicht am steilen Bergeshange gegründet worden, hier
eines zu tief im wild- und raubtierreichen Forste, dort ein anderes auf
steinigem, wasserarmen Boden. So verlegte man kurz entschlossen .
das nur aus wenigen, leichten Holzhütten bestehende Dorf von der un-
günstigen Stelle, die fortan gern den Namen „Wüste Mark N", „das
alte Dorf** oder dergl. behielt *) , an einen günstigeren Punkt in der
Nähe. Die meisten Wüstungen aber stammen doch erst aus dem XIV.,
XV. oder XVI. Jahrhundert und gehen auf einen völligen Umschwung
der wirtschafüichen Verhältnisse zurück, wie ihn Grund für ein be-
grenztes österreichisches Gebiet quellenmäfsig nachgewiesen und für
ganz Mitteleuropa wahrscheinlich gemacht hat. Deshalb ist auf diese
Wüstungen aus der „negativen Siedelungsperiode** des ausgehenden
Mittelalters das Hauptgewicht zu legen. Scharf müssen von ihnen
getrennt werden:
1. die bereits genannten Wüstungen früherer Jahrhunderte,
2. die durch äufsere, nicht durch wirtschaflsgeschichtliche Ursachen
hervorgerufenen Wüstungen. Hierher gehören die Dörfer, die
nachweislich verheerenden Kriegen zum Opfer fielen, so nament-
lich den Einfällen der Mongolen, Hussiten, Armagnaken und
i) Die untergegangenen und zum grofsen Teile wieder aufgedeckten Siedelungen
aus prähistorischer, römischer und keltischer Zeit, die man als eine besondere Art
Wüstungen auffassen kann, sind hier auiiier acht gelassen.
2) Vgl. z. B. zwischen Oschatz und Beigem die Wüste Mark Treptitz nord-
östlich von dem heuügen Treptitz, die Wüste Mark Klingenhain südöstlich von
dem heutigen Klingenhain usw.
— 6 —
Türken, dem Dreifsigjährigren Kriege und einzelnen erbitterten
territorialen Fehden, wie z. B. der Hildesheimer Stiflsfehde, die
neun Dörfer bei Eldagsen vernichtete *). Dahin gehören femer
die Dörfer, deren Bewohner „gelegt" wurden, sei es, daCs welt-
liche Grundherren oder Klöster auf diese Weise ihre Ländereien
vergröfecrten, sei es, dalis Fürsten die Felder zur Erweiterung
ihrer Wildbahnen brauchten. Endlich gehören hierher die vielen
Dörfer, die vom Meere verschlungen, von Flüssen weggerissen,
von Bergen, namentlich in den Alpen, zerschmettert, durch Erd-
beben zerstört, durch Blitz oder anderweit entstehende Feuers-
brünste eingeäschert, durch Seuchen ihrer Bewohner beraubt
wurden, usw.
3. die wenigen in neuerer und neuester Zeit entstandenen Wüstungen,
wie Golmenglin in Anhalt, das 1756 (aus nicht näher bekannter
Ursache) vom Grafen von Metzsch abgerissen und an seiner heutigen
Stelle wieder aufgebaut wurde*). Schwanden bei Bern, das
wegen drohenden Bergsturzes erst in unseren Tagen von seinen
Bewohnern aufgegeben wurde'), Serbitz und Sobochleben
bei Teplitz, die wegen des Kohlenbergbaues verlegt wurden,
Untermalter, das von der sächsischen Regierung vor Er-
bauung der WeiCseritz-Talsperre angekauft wurde, Gohrisch (bei
Riesa in Sachsen) und Haspelscheid (bei Bitsch in Lothringen),
die zur Erweiterung von Militärschiefeplätzen gebraucht wurden,
Wernings, Pferdsbach und Lutsche (erstere beiden in
Oberhessen zwischen Ortenberg und Büdingen, letzteres in Thü-
ringen bei Liebenstein südwestlich Arnstadt), deren Bewohner in
den vierziger und sechziger Jahren des XIX. Jahrhunderts, halb
zur Auswanderung gezwungen, ihr Glück drüben in Amerika
suchten *).
i) VgLE.Bodemann, Wüste Ortschaflen in der Provmx Hannover nach offUüli^
Berichten der Ämter und Städte i. J. 1715: Zeitschr. d. histor. Ver. f. Niedersachsen
1887, S. 242—255 (bes. S. 245).
2) VgL H. Lindner, Geschichte von Anhalt (Dessau 1833), S. 369.
3) Vgl. Mitteihmgen des deutschen und Österreichischen Alpenvereins 1901, S. 125
Nr. 10). Dagegen verliefsen die Bewohner des französischen Dorfes Söranon (bei
St. Anban nordwestlich Nizza) ihre Heimat lediglich, weil ihnen das Leben in der Stadt
angenehmer dünkte (Zeitungsnotiz).
4) Vgl. F. Kofi er, Ausgegangene Ortschaften; eine Wanderung in der Umgebung
von Frankfurt a. M.: Jahresbericht des Taunus-Gubs 1898, S. 51 — 72 (bes. S. 63). —
A. Trio i US, Der letzte Schuhe von Lütsohe, in seinem Thüringer Wanderhuche I (1886),
S. 297- 310.
— 7 —
Da es kaum vorteilhaft ist, jedes Wüstuagsverzeichnis in eine
gröfsere Zahl besonderer Verzeichnisse aufzulösen, so dürfte sich
empfehlen, nur die an dritter Stelle genannten neuzeitlichen Wüstungen
(ur sich zu stellen, die beiden anderen Gruppen aber in der Reihe der
übrigen Wüstungen zu belassen und durch Zeichen (vorgesetzte Stern-
chen, Kreuze usw.) hervorzuheben.
Aulserdem erscheint es aber unerläislich, die verschiedenen Arten
von Wüstungen an einer geeigneten Stelle zusammenfassend zu be*
trachten und hinsichtlich ihrer Eotstehungszeit, Lage, Gruppierung usw.
miteinander zu vergleichen, etwa am Schlüsse des Ganzen oder in
der Einleitung. Solche kritische Betrachtungen, fiir die sich teilweise
tabellarische Übersichten gut eignen ') , lassen bisher alle Wüstungs-
arbeiten vermissen. Nur hier und da zeigen sich Ansätze dazu. Aus
diesen zusammenfassenden Betrachttingen muis ohne weiteres die Zahl
der bis zum XIV. Jahrhundert entstandenen und die der späteren
Wüstungen hervorgehen, wobei möglichst wieder die verschiedenen
Jahrhunderte oder, besser noch, geeignet erscheinende gröfeere Zeit-
räume auseinandergehalten werden möchten. Daraus mufs femer zu
ersehen sein, wieviel Wüstungen auf Kriege und andere äu&ere Vor-
gänge, wieviel dagegen auf wirtschaftliche Ursachen zurückzuführen
sind. Dabei wäre wieder derjenigen Wüstungen besonders zu ge-
denken, deren Entstehung mit der aufsaugenden Kraft der Städte und
gröiseren Dörfer zusammenhängt; denn es ist eine längst beobach-
tete Tatsache , da(s , zumeist aus wirtschaften Gründen, zahlreiche Ort-
schaften in Städten und gröfseren Dörfern aufgegangen sind. In dem
Schlufs- bezw. Einleitungskapitel mufs endlich auch die Zahl der in
dem behandelten Gebiete heute noch bestehenden Ortschaften an-
gegeben werden; denn will man die Wüstungen als statistisches Ma-
terial benutzen und z. B. mit ihrer Hilfe den Ortschaftsverlust fiir
die verschiedenen Zeiten berechnen, wie dies Grund und Schlüter
getan haben, so ist es nötig zu wissen, wieviel man bestehende Orte
den untergegangenen gegenüberzustellen hat. Das macht aber groüse
Schwierigkeiten; denn meist handelt es sich bei Wüstungsarbeiten
nicht um heutige Staaten und Provinzen, für die sich die nötigen statis-
tischen Angaben allenfalls beschaffen lassen, sondern um Gebiete, die
sich aus mehreren, statistisch nicht besonders behandelten Teilen
verschiedener Staaten zusammensetzen. Zweitens hält es immer schwer,
i) Vgl. Schlüter a. a. O., S. 408-^411 (Tabelle IV. Die untergegangenen OrU
Schäften des OebieteSy geordnet nach ihrer Oründungexeü).
— 8 —
diejenigen Ortschaften festzustellen, die sich erst in neuerer Zeit zu den
mittelalterlichen hinzugesellt haben; und diese müssen doch natür-
lich abgezogen werden. Drittens aber mufs man sich stets erst genaa
darüber Rechenschaft geben , was für Einheiten der Zählung zugrunde
liegen. Sind es Ortsgemeinden, so müssen erst die aus mehreren
Orten bestehenden Gemeinden in ihre einzelne Dorfbestandteile auf-
gelöst werden, sind Rittergüter usw. besonders mitgerechnet, müssen
diese ausgeschieden werden, usw. Denn das ist klar, wUl man bei
der Vergleichung der Wüstungen mit den bestehenden Ortschaften
zu brauchbaren Ergebnissen gelangen, so mufs an untergegangene und
noch vorhandene Siedelungen derselbe Mafsstab gelegt werden.
Der allgemeinen Sichtung und richtigen Anordnung mufs in künf-
tigen Wüstungsverzeichnissen eine vernünftige Einschränkung des zu
bietenden Stoffes zur Seite gehen. Für jede Wüstung möglichst viele
Urkundenzeugnisse beizubringen, wie dies Hertel und Wintzingeroda
getan haben, kann durchaus nicht als das erstrebenswerte Ideal an-
gesehen werden; denn wer solche Werke für gröfsere, zusammenhängende
Forschungen benutzen will, versinkt in dem überreichen Stoffe. Nicht
darauf kommt es an, über all die kleinen Besitzveränderungen der
wüsten Marken während der verflossenen Jahrhunderte genau unterrichtet
zu werden, sondern darauf, mit möglichst wenig Worten alles Wissens-
werte zu erfahren über den Namen der Wüstung und seine Wande-
lungen, über die Lage des ehemaligen Ortes und den Umfang der
dazu gehörigen Flur, über die Zeit, die Ursache und den Verlauf des
Wüstwerdens, über die Schicksale der Bewohner (bezw. deren Nach-
kommen) und ihrer einstigen Besitzungen. Auch Sagen, die sich um
alte, untergegangene Siedelungen gesponnen haben, wUl man natürlich
wissen.
Wegen des Namens und der damit zusammenhängenden Fragen
geben die Vorschläge für die Ausa/rbeUung historischer Ortschaflsver-
geichnisse, die vom Gesamtverein deutscher Geschichts- imd Alter-
tumsvereine veröffentlicht worden sind, die nötigen Verhaltungsmafs-
regeln. Da sie sich in dieser Zeitschrift Band II, S. 92 f., abgedruckt
finden, brauche ich blois auf sie und das in meiner „Denkschrift"
S. 21 — 22 und 33 — 36 dazu Gesagte zu verweisen. Dagegen möchte
ich die Forderungen genannter „Vorschläge" hinsichtlich der Lage
wesentlich erweitert wissen. Es genügt meines Erachtens nicht, „die
Lage der Wüstung durch die Gemarkung, in welcher sie liegt, und
wenn möglich durch die Himmelsrichtung zum Gemarkungsdorfe zu
bestimmen." Es genügt auch gewissenhafte Eintragung in besondere
— 9 —
Karten nicht, die unbedingt jedem Wüstungsverzeichnisse beigegeben
werden müssen >). Vielmehr ist es erforderlich , alle Anhaltspunkte,
die zur genauen Bestimmung der Lage der früheren Wohnstätten dienen
können, sorgsam zusammenzutragen. Solche sind:
1. urkundliche Erwähnungen der Wüstungen mit Zusätzen, wie „ge-
legen bei N", „gelegen zwischen A und B**, usw.;
2. noch vorhandene oder früher gefundene Mauerreste;
3. die alte Flurein teilung, wie sie sich meist bis in die Tage der Sepa-
rationen unverändert erhielt und oft deutlich die Lage der Wohn-
stätten erkennen liefe; vergl. die trefflichen, von der provinzial-
sächsischen Kommission hergestellten Wüstungsbücher;
4. bestimmte Flurnamen, wie „das alte Dorf, die Dorfistatt, die
Höfchen, die Gärten, der Kirchhof** usw.;
5. kleine Teiche, die sich durch Gestalt und Lage als alte Dorf-
teiche verraten;
6. Wege, die, von den Bauern mit gröfster Beharrlichkeit beibe-
halten, vielfach unverkennbar auf das frühere Vorhandensein einer
Ansiedelung an einer bestimmten Stelle hinweisen. Es handelt
sich dabei im Einzelfalle entweder um einen kurzen, kreis- oder
halbkreisförmigen Weg, der ehemals rings um das Dorf lief, oder
um eine Anzahl von Wegen, die strahlenförmig einem früher
sichtlich vorhanden gewesenen Mittelpunkte zustreben.
7. Hecken und Raine, die sich leicht als Dorfeinfriedigungen zu er-
kennen geben, Baumgruppen, die einst das Innere des Dorfes
zierten, Baumreihen, die die Dorfstrafee einsäumten, usw.
Was für trefTliche Dienste diese meist wenig beachteten Merk-
male, namentlich auch die an vierter und sechster Stelle genannten,
zu liefern vermögen, lehrt das Beispiel des Allervereins, der lediglich
mit ihrer Hilfe an 86 Stellen nachgewiesen hat, dafs dort Dörfer ge-
standen haben müssen *). Schon aus guten Karten , z. B. den preuf-
i) Als Muster können die schönen, von G. Reise hei gezeichneten WUstungskarten
dienen, die', den Werken von Hertel und Winttingeroda (s. S. 2, Anm. i) bei-
gegeben sind, ferner H. Gröfslers verschiedene Bearbeitungen der Historischen Karte
der beiden Mansfelder Kreise (vgl. Mitteilungen des Ver. f. Erdkunde ru Halle, 1896,
S. 55—60), K. Meyers Wüstungskarte der Orafsehaften Stolberg- Stolberg , Stolbarg-
Boßla und Bohnstein (Zcitschr. des Harzver. 1871 und 1877) und A. Wemeburgs
Wüstungskarte von Thüringen (Jahrbücher der Kgl. Akademie gemeinnütziger Wissen-
schaften EU Erfurt, N. F. XD, 1884). Auch die acht Kärtchen in G. W. L Wagners
Werke Die Wüstungen im Qroßherxogtum Hessen (Darmstadt 1854 — 1865) sind
recht nreckmMisig.
a) Vgl. Hertel a. a. O., S. XXXIV.
— 10 —
sischen Mcfstischblättern , vermag ein geübtes Auge solche Punkte
abzulesen.
Mit derselben Sorgfalt, wie die Lage des ehemaligen Dorfes, ist
der Umfang der einst dazu gehörigen Flur und die Abgrenzung gegen
die Nachbargemeinden zu behandeln, femer alles, was über das Ver-
schwinden des Dorfes und die Schicksale der Flur Licht verbreitet.
Für ersteres sind, wenn es sich nicht um gewaltsame Zerstörung, son-
dern um allmähliches Eingehen handelt, nicht nur letzte urkundliche
Erwähnung als viüa und erste als viUa desolata, sondern auch die mit
der Zeit in demselben Dorfe immer häufiger auftretenden curiae deserUie
und mansi desciati maßgebend.
Die Schicksale der Fluren sind sehr verschieden. Sie hängen eng-
mit den Geschicken der Gemeinden zusammen. Namentlich in den
ersten Jahrhunderten der Kolonisation, aber auch später in schweren
Kriegszeiten, konnte es vorkommen, dafs eine wenig fruchtbare Flur
einfach von ihren Besitzern verlassen wiude und herrenlos liegen blieb,
Jahrzehnte-, jahrhundertelang. Hatte sie sich mittlerweile nicht all-
mählich mit Wald bedeckt, so erbarmten sich ihrer vielleicht später
die Bewohner umliegender Dörfer und eigneten sich einzelne Stücke
davon an, derentwegen sie nachträglich häufig mit der Regierung in
Streit gerieten. Meist aber erging es den wüsten Marken doch anders.
Wanderte, wie das häufig vorkam, eine Gemeinde, von der Aussicht
auf gröfsere Sicherheit, leichteren Gewinn und bequemere Lebensführung
angelockt, geschlossen nach der nächsten Stadt aus, so behielt sie
ihre Felder, die entweder selbständig verraint blieben oder der Stadt-
flur einverleibt wurden, bei und bestellte sie von den neuen Wohn-
sitzen aus. Die Leute bUdeten dann meist in der Stadt eine Gemeinde
für sich, die ein besonderes Viertel oder wenigstens bestimmte Strassen
bewohnte, einen eigenen Schulzen hatte, in Flurangelegenheiten be-
sonderes Gericht hielt und sich auch sonst in Sitten und Gebräuchen
ihre Eigenheiten wahrte. Solche Wüstungsgemeinden (stellenweise
„Erbschaften" genannt) lassen sich bis in die Mitte des XIX. Jahr-
hunderts, bis in die Tage der Zusammenlegungen (Separationen), in
vielen Städten nachweisen, z. B. in Halberstadt (die Gemeinde der
Haslingerstralse), Heringen (der Eilerschulze), Berga (der Langen-
riet- und der Vorrietschulze) *) , Calbe (der Balbergische Konvent,
die Schwarzauer Gemeinde), Barby (die Gemeinde von Cyprehna) *)
1) Vgl. Gröfsicr in der HarzzciUchr. Vm (1875), S. 384- 385, Anm. i.
2) Vgl. Hcrtel a. a. O., S. XXV.
— 11 —
usw. In Gräfenhainichen waren Breitewitz, Domewitz, Stein-
grube, Grols- und Klein-Gadewitz aufgegangen. Diese Marken bildeten
eigene, unter besonderen Markenrichtem stehende Genossenschaften, von
denen die Breitewitzer am längsten zu verfolgen ist ^). In der Braunschwei-
gischen Stadt Königslutter lebten die eingewanderten Bewohner
des ehemaligen Dorfes Schoderstedt unter ihrem „Bauermeister"
als sogenannte Bauern- oder zweite Bürgerschaft weiter fort und hielten
an ihren althergebrachten Gewohnheiten, dem „Seekonvent" und dem
„Seeschmause", treulich fest ^). Bei Sangerhausen lag früher u. a. ein
Dorf Kieselhausen. Seine Bewohner wanderten im XVI. Jahrhundert all-
mählich nach der benachbarten Stadt aus und bildeten hier in derKilischen
Strafse bezw. im Kilischen Viertel lange eine Sondergemeinde, indem sie
ihre Zusammenkünfte hatten, „Kollationen" (d. h. Mahlzeiten) veranstalteten
usw. Nur nach und nach gingen die Geschäfte der „Kilischen Herren" in
die Hände des Sangerhäuser Rates über '). In der Nähe von Buttstädt
wurde noch um die Mitte des vorigen Jahrhunderts jährlich ein Feld-
gericht gehalten, das sogenannte „Hägemal", zur Erinnerung an die
untergegangenen und mit Buttstädt vereinigten Dörfer Wenigen, Schaf-
hausen und ömhausen. „Es ziehen nämlich", sagt v. Maurer in
seiner Einleitung der OeschicfUe der Mark-, Hof-, Dorf- und Stadt*
Verfassung (München 1854) S. 174, „die Nachkommen der ömhäuser
alle Jahre am Jakobitagc nach einem Rasenhügel und beschauen die
Grenzen der Felder, als wenn das Dorf selbst noch existierte. Ein
Flurschütz tritt sodann auf den Hügel und fordert diejenigen, welche
eine Klage anzubringen haben, auf, dais sie vortreten. Klagt nun einer,
so treten die Schöffen auf dem Hügel zusammen und sprechen ihr
Urteil." — Ähnlich wurde „ einmal alljährlich, gewöhnlich in der ersten
Hälfte des Jimi, auf vorherige öffentlich ausgehängte Bekanntmachung
des Zerbster Rates, auf der Stätte des ehemaligen Dorfes
Meinsdorf im Freien unter einem Baum selbst bei heftigem Gewitter
und unter Beobachtung alter Cermonien vom Acker- oder
Feldrichter und Schoppen zu Meinsdorf im Beisein der Abgeordneten
des Zerbster Rates und in Gegenwart der Gemeinde von Meinsdorf
1) Vgl. E. Obst, Besehreibung u. Gesch. des Kreises Bitter feld (BiUerfeld 1887/8),
S. 167.
2) Vgl. Näheres darüber bei A. Lüders, Das ehemalige Dorf Sehoderstedt, jäxt
eine Wüshmg im Braunschweigischeo Magadn (heraasg. von P. Zimmermano) VII
(1901), S. 110— 112 und 117^119 (über den „ See-Konvent <' nsw. S. ii8f.).
3) Vgl K. Mensel, Die Wüstungen Kieselhausen und Almensieben vor Sanger-
hausen: Harueitschr. VI (1873), S. 13—43.
— 12 —
und der beiden Schulzen von Jütrichau und Luso das Meinsdorfer
Feldgericht gehegt" *).
Die gleichen Beobachtungen kann man vielfach auch in gröberen
Dörfern machen. Es sei nur an den „Schulzen von Weidenhorst" in
Wallhausen (westlich Sangerhausen) *) oder den „Wiestedter Schulzen"
in Grofs -Wechsungen (westlich Nordbausen) ') erinnert. In dem
württembergischen Dorfe Kupferzeil (nördlich Hall) bestand bis tief
hinein ins XIX. Jahrhundert die an das untergegangene Dorf Rieden
anknüpfende Riedener Gemeinde, die jedes Jahr einen Markenumgang
hielt. Dieser wurde eingeleitet durch einen Gottesdienst, bei dem die
einzelnen Mitglieder mit der Hacke auf der Schulter erschienen ^).
In Grofs -Leinungen (westlich Sangerhausen) bildeten die ehemals
in dem untergegangenen Dorfe Mönchs-Leinungen ansässigen Lehns-
leute des Klosters Naundorf bei Allstedt die sogenannte „ Zoberbrüder-
schaft". Jährlich mufete der „Zoberschulze" den „Brüdern und
Schwestern" ein festliches Essen geben, zu dem er auch den „Propst",
d. h. den Pfarrer in Grofs-Leinungen, einzuladen verpflichtet war ; denn
diesem war nach der Reformation die Zoberbrüderschaft mit allen
ihren Lehen unterstellt worden. Über die bei dem Schmause üblichen
Gebräuche berichtet Gröfsler in der Harzzeitschrift VIII (1875), S. 384
ausführlich und erinnert in der Anmerkung u. a. an das „Beelitzer
Bauemmahl" in Bebitz und das „Eieressen der (in Schiettau und
Löbejün wohnenden) Bauern von Beesen"*).
Häufig bestanden in ein und derselben Stadt oder in ein und
demselben Dorfe mehrere selbständige Wüstungsgemeinden neben-
einander, wie bereits oben (S. 10 f.) gelegentlich erwähnt wurde. Weitere
Beispiele für diese beachtenswerte Erscheinung bieten das württem-
bergische Dorf Ad olz hausen (südöstlich Mergentheim), wo von den
darin aufgegangenen WeUem Radolzhausen, Reckersfelden, Dunkenroth
und Schönthal die drei erstgenannten je eine Gemeinde in der Gemeinde
i) Vgl. die ausführliche, aaf den im Zerbster SUdtarchive befindlichen Rügeproto-
kollen beruhende Abhandlung von R. Siebert Über das Feldrügegericht xu Meiru-
dorf bei Zerbst in der Wochenschrift Unser Anhaltland II (1902), Nr. 17 (auch in
Sonderdruck erschienen).
2) Vgl. Gröfsler in der HarazciUchr. Vm (1875), S. 385, Anm.
3) Vgl. K. lAtyer, Zur Wüstungskarte der Orafschaft Hanstein-LohrO'Clettenberg,
in der HarzzeiUchr. X (1877), S. 111-187 (bes. S. 118).
4) Vgl. Bossert, Zur Topographie von Württembergiseh FVanken, in den Wfirttem-
bergischen Jahrbüchern f. Sutistik n. Landesk. 1879, S. 254—256.
5) Vgl. K. E. Förstemann in den Neuen Mitt aus d. Gebiet histor.-aotiqnar. For-
schungen 1 (1834), S, 44 u. 51.
— 13 —
mit eigeaen Bürgermeistern und Gerichtsschreibem bildeten *) , und
Görsbach (südöstlich Nordhausen), wo es neben dem eigentlichen
flämischen Ortsschulzen noch einen Diemenröder, Crimderöder und den
Kiebitzschulzen (!) für die drei Wüstungen Diemenrode, Crimderode und
Libitz gab, während sich ein solcher für das vierte in Görsbach auf-
gegangene Dorf Tütschenwenden nicht mehr nachweisen lälst *).
Nicht immer liegen aber die Verhältnisse so, dafs ein auswandern-
des Dorf geschlossen nach einem benachbarten, größeren Gemein-
wesen übersiedelte. Fehlte es in der Nähe an einem solchen, dann
verteilten sich die Leute nicht selten auf mehrere Nachbardörfer.
Dabei gmg bisweUen die alte Zusammengehörigkeit verloren. Meist
blieb sie aber doch gewahrt in dem gemeinsamen Weiderecht auf der
wüsten Mark und in dem gemeinsamen Schulzen, der regclmäfsig ein-
mal im Jahre die zerstreut wohnenden Gemeindeglieder zu einem Ge-
richte auf der Mark zusammenrief. So hielt sich in den Dörfern
Holzhausen und Zuckelhausen (südöstlich von Leipzig) lange
fiir die wüste Mark Kolm ein besonderer Schulze, der Kolmenrichter,
der in den Streitigkeiten wegen Überweisung der Mark an den „ge-
meinen Tisch ** der Universität Leipzig eine Rolle spielte *). — Eine
Anzahl von Leuten in Eckartsberga, Nieder-Holzhausen und
Braunsrode bildeten zusammen die sogenannte „Heidenkommun".
Seit 1577 versammelte sie sich regelmäfeig Sonntag nach Jakobi auf
dem Rathause in Eckartsberga zu einer gemeinsamen Beratung. Den
Vorsitz führten der Bürgermeister von Eckartsberga und die Ältesten,
d. h. die Gemeindevorstände der ehemaligen Dörfer Nieder-Holzhausen
und Braunsrode, die auch das Bier für das sich anschliefsende Gelage
zu liefern hatten. Wegen der Gepflogenheiten bei diesen Hediener
Zusammenkünften, der Belehnung jedes der drei Ortsvorsteher mit
einer Freihufe, wegen des „Heydener Knechtes** usw. vergleiche man,
was L. Naumann im 2. Hefte seiner Skizzen und Bilder zu einer
Heimatskunde des Kreises Eckartsberga^ S. 43 f., aus dem „Heiden-
buch** mitteilt. — Dieser Heidenkommun gleicht vielfach die Wehr-
brucher Gemeinde % Unter Vorsitz des Vogtes des Leipziger Tho-
1) Vgl. Th. Knapp, Oesammelte Betträge zur Rechts- und Wirtschaftsgeschichte
vornehmlich des deutschen Bauernstandes (Tübingen 1902), S. 165, Anm. i.
2) Vgl. K. M c y e r , Die tausendjährige Geschichte einer benachbarten Feldflur ^ in der
„Aus der Heimat" betitelten Sonntagsbeilage des Nordh&nser Kuriers, 1895, ^f* 8 f.
3) Vgl. darüber die beiden ausführlichen Aufsätze von P. Z. im Leipziger Tage-
blatte vom 9. August 1897 und vom 9. und 10. November 1902.
4) Vgl. C. Chr. C. Grctschel, Beiträge xur Geschichte Leipzigs (Leipzig 1835),
S. HO.
— 14 —
masklosters , dem die Wehrbnichmark zustand, wurde jedes Jahr auf
der Flur unter Zelten Gericht gehalten, zu dem die Bewohnerschaft
von Zweenfurt, Panitzsch und Sommerfeld (östlich Leipzig*)
die Gerichtspersonen stellte und diese hinterher bewirtete ^).
Es wäre dringend zu wünschen, dafs auf diese und ähnliche Elr-
scheinungen in Zukunft bei Anlegung von Wüstungsverzeichnissen mehr
Wert gelegt würde; denn nicht mit der Verödung oder dem Verfalle
der Gehöfte endet die Geschichte einer Wüstung, sondern erst mit
dem Erlöschen der letzten Spuren der einstigen Dorfgemeinde und
ihrer selbständigen Flur. Bisher ist darauf viel zu wenig geachtet
worden. „Wie Gemeinden aufstehen und wie sie niedergehen, man
sollte es eingraben in weiche Herzen und in harten Stein. Es wäre
so grois als die Weltgeschichte. Das geht freilich vor sich so sachte
zumeist, wie das Wachsen und Modem eines Baumes, und darum
halten es die Menschen nicht für wesentlich, darüber zu berichten.
i) Wohl nicht hierher gehört der seiner ganzen Organisation nach den oben an-
geführten WUstongsgemeinden ähnelnde Otterwischer Märkerverband, über den
Chr. G. Lorenz, Die Stadt Grimma im Königreich Sachsen (Leipzig 1856), S. 105 5 f.,
eingehende Auskunft gibt Bei diesem handelt et sich wahrscheinlich vielmehr um eine
Anzahl weit auseinanderliegender Ortschaften der Wurzener und Grimmaer Gegend
(Deubcn, Trebsen, Neichen usw., s. u.)» denen der Otterwisch von alters her als
Koramunforst oder Gesaratwald (Samtwald) gehörte, wie deren Wintzingeroda
(a. a. O., Einl. S. XLIV f.) mehrere in seinem Wtistungsverzeichnis aufführt. Diese Otter-
wischer Holzmark, aus der spSter irrtümlich eine wüste Mark Ottendorf gemacht wurde
(vgl. Generalstabskarte, Blatt 390), umfalste wahrscheinlich den gröfsten Teil der aus-
gedehnten Waldung zwischen Würzen und Altenhain. Der eigentliche Beamte des Ver-
bandes, der eidlich geloben mufste, „die Gerechtigkeiten der Mark zu verteidigen, alle
Pfändungen und andere Gerichtsgefälle anzumelden und für Abführung der Zinsen und
Steuern zu sorgen, war der „Holzrichter**, über dem der „Holzgraf", der jeweilige Be-
sitzer des Rittergutes Trebsen (nordöstlich Grimma) stand. Dienstag vor Johannis
wurde auf dem „Kührtage^% der gewöhnlich in dem am günstigsten gelegenen De üben
(westlich von Würzen) stattfand und mit einem Gemeinebier beschlossen wurde, abgerechnet
und über die Markangelegenheilen verhandelt. Den Vorsitz führte hier weder der Holz-
graf noch der Holzrichter, sondern ein eigens gewählter „Gesprächsmeister", der von
letzterem über die Beratungsgegenstände unterrichtet wurde. Anfserdem fand aber auch
alljährlich im Mai oder Juni unter freiem Himmel ein Markengericht statt, zu dem auf
Ansuchen des Holzrichters der Trebsener Genchtshalter als Stellvertreter des Holzgrafen
einlud. Die Gerichtsbank wurde mit 6 bis 7 Schöffen aus Trebsen und Neichen
(östlich von Trebsen) besetzt. Der Gerichtshalter protokollierte, anfänglich unentgeltlich,
seit Mitte des XVIII. Jahrhunderts gegen drei Taler Vergütung, die ihm die Markgenossen
nach längerem Widerstreben zugestanden. Wie streng man bei diesen Gerichtstagen auf
althergebrachte Ordnung sah, dafür bieten die Rügenprotokolle, die Lorenz vorlagen,
zahlreiche, bemerkenswerte Belege.
— 16 —
Erst wenn der Blitz in den Baum fährt, schaut man ihn an und ist
erschrocken, da(s ein so kraftvolles Leben dahin ist" ^).
Mitteilungen
Yersamilllllllgeil. — Der vierte deutsche Archivtag ^) fand am
8. August zu Dan zig in den Räumen des Kgl. Staatsarchivs, Hansaplatz 5,
imter dem Vorsitze des Geh. Archivrats Grotefend (Schwerin) statt; etwa
50 Teilnehmer, darunter zwei Herren aus Dänemark, hatten sich zu der Ta-
gung eingefunden.
Erster Gegenstand der Tagesordnung war die Beratung „über
eine gesetzliche Regelung des Schutzes von Archivalien und
der Beaufsichtigung nicht fachmännisch verwalteter Archive
und Registraturen", worüber Staatsarchivar Bär (Danzig) das Referat,
Oberr^erungsrat Dr. Er misch (Dresden) und Reichsarchivassessor Knapp
(München) Korreferate übernommen hatten. Archivrat Bär ging von den
preufsischen Verhältnissen aus und bezeichnete die dort zum Schutze der
Archivalien in kleineren Archiven getroffenen Mafsregeln als meist nicht ge-
nügend. Die einzige Handhabe biete die Preufsische Städteordnuag , deren
Bestimmungen seien aber nur anwendbar auf Stadtarchive, insofern diese
einen Teil des Stadtvermögens ausmachten und daher dem Aufsichtsrecht
der Bezirksregierungen unterständen. Aber selbst dieses Aufsichtsrecht werde
nicht immer ausgeübt, weil andere Geschäfte die Tätigkeit dieser Behörden
vollständig in Anspruch nähmen ; den eigentlich zur Aufsicht Berufenen, den
Vorstehern und Direktoren der Staatsarchive, fehle bisher jede gesetzliche
Handhabe, jeder amtliche Auftrag zum Eingreifen. So sei es denn gekom-
men, dafs z. B. in den 57 Städten Westpreufsens die kommunalen Archive
zum Teil schwer geschädigt seien, 12 alles ältere Material verloren, 19 nur
wenig erhalten hätten, also in 3 1 von 5 7 Städten so gut wie gar kein Archiv
vorhanden sei. Ähnlich dürften die Verhältnisse auch anderwärts liegen,
vieles sei durch Brand imd Verschleppung verlorengegangen. Wie mit den
Archiven liege es mit den reponierten Registraturen, den Archiven der Zu-
kunft. Bei vielen Städten wären diese unverzeichnet und verwahrlost, selbst
bei Behörden wäre bessere Fürsorge, namentlich auch geeignetere Unter-
bringung der alten Akten erwünscht Jede Aufsicht fehle bei den Archiven welt-
licher und geistlicher Genossenschaften, eine um so beklagenswertere Tatsache,
weil früher vielfach auch andere Archive in der Kirche deponiert wurden.
Schlimmer aber stände es noch um Archivalien staatlichen oder kommuualen
Ursprungs, die in die Hände von Privaten gelangt sind, denn da könnte
nicht einmal der Verkauf ins Ausland gehindert werden, wie das mit den
i) P. Rosegger, Das xu 0 runde gegangene Dorf (Wiesbadener Volksbücher,
Nr. 3, Wiesbaden 1901), S. 36.
2) Über den dritten 1902 in Düsseldorf abgehaltenen Archivtag vgl. diese Zeit-
schrift IV. Bd., S. 58—62.
— 16 —
Bereuter Schöfifenbtichem geschehen sei , von denen elf Bände aus den Jahren
1579 — 1745 ins Ossolinskische Institut in Lemberg gelangt sind. Nach
einem Hinweis auf die Tatsache, dafs man in den meisten deutschen Bundes-
staaten der Erhaltung von Kunstdenkmälem ein so grofses Interesse entgegen-
bringe, bezeichnete er es als eine nicht minder wichtige Aufgabe, die schrift-
lichen Denkmäler vergangener Zeiten zu erhalten, und schlägt deshalb vor,
einen Ausschuis zu bilden, der mit Hilfe der Archive feststelle, wieviel von
Archivalien in ihren Bezirken während der letzten 2 5 Jahre durch Brand usw.
verlorengegangen sei, und auf Grund des gesammelten Materials eine Denk-
schrift ausarbeite, die den Regierungen der deutschen Bundesstaaten über-
reicht werden und dadurch die Anregung zu einem Archivgesetze oder einer
Organisation zum Schutze der Archivalien geben soll.
Oberregierungsrat Er misch bestätigte zunächst die vom Referenten
gegebene Schilderung aus seiner eigenen Erfahrung, wies dann auf die in
Sachsen geschaffene Organisation hin, gemäfs der die kommunalen Archive
und Registraturen tatsächUch der Beaufsichtigung des Hauptstaatsarchivs zu
Dresden unterstehen, und stimmte schliefsUch dem Antrage des Referenten
auf Bildung eines Ausschusses, Abfassung einer Denkschrift und Mitteilung
derselben an die deutschen Staatsregierungen zu. Für die praktische Frage
der Organisation empfahl er die gesetzliche Ordnung nicht zu streng zu
machen, namentlich den Gemeinden gegenüber empfehle sich mehr der Weg
der Verordnung (Verwaltung), als der des Gesetzes, die Staatsarchive sollten
nur die Stelle wohlwollender Berater einnehmen, von dem Grundsatz suaviier
in modo, fortUer in re müsse für die Staatsarchive das erstere, das letz-
tere aber für die Staatsbehörde gelten.
Nach einer kurzen Erklärung des Archivrats Dr. Bär über seine Auf-
fassung des Wortes „gesetzlich'', durch welches er auch den Weg der
Verordnung bezeichnet haben möchte, imd nach nochmaliger Wiederholung
der mifsverstandenen Werte über die Archivalien kommunalen oder staat-
lichen Ursprungs in den Händen Privater gab Reichsarchivassessor Knapp eine
hübsche Ergänzung des Referates und Korreferates durch einen Überblick
über die in dem übrigen Deutschland sowie dem Auslande etwa bestehenden
Besdnmiungen über Archivalienschutz. Im übrigen nahm er den gemachten
Vorschlägen gegenüber eine im ganzen ablehnende Stellung ein; die Ein-
verleibung der kleinen Archive in die Staatsarchive führe notwendig zur Be-
lastung der letzteren, die Ausübung einer Aufsicht durch Bereisen der kleinen
Archive müsse so lange als nicht gerechtfertigt erscheinen, solange die Staats-
archive selbst nicht vollständig geordnet wären, die Überweisung der Beauf-
sichtigung an Kommissionen und Geschichtsvereine scheitere daran, dafs es
diesen Vereinen an der zu diesem Zwecke nötigen Autorität fehle, das Wich-
tigste bleibe immer Erzielung von Geldmitteln, mit denen den Mifsständen
abgeholfen werden könne.
Die Diskussion ergab eine vollständige Übereinstimmung über die
Notwendigkeit des Archivalienschutzes, nur über die Möglichkeit einer gesetz-
lichen Regelung entspann sich eine längere Debatte. Nachdem Stadtarchivar
Weckerling (Worms) auf die in Hessen geltenden Bestimmungen, deren Aus-
führung und Wirkung hingewiesen, femer Archivdirektor Wolfram (Metz)
die vorteilhaften Wirkungen des in den Reichslanden noch bestehenden Auf-
— 17 —
Sichtsrechts der staatlichen Archivbehörden geschildert hatte, schien die Sym-
pathie für diese straffere Organisation die Oberhand zu gewinnen. Der von
Weckerling angeregte Gedanke, nicht den Staatsarchivaren, sondern den
Stadtarchivaren die Beauüsichtigung der kleinen Archive im Bezirke der Stadt
zu unterstellen, fand nur geringe Zustinunimg, ebenso der Antrag des Geh.
Archivrats Joachim (Königsberg), durch eine Resolution den deutschen
Staatsregierungen zu empfehlen, die im Königreich Sachsen oder die in Elsafs-
Lothringen geltende Ordnung des Archivalienschutzes zur Einführung zu
bringen. Endlich ward der Antrag des Geh. Archivrats Bai Heu (Berlin)
zum Beschlufs erhoben: ein Ausschufs solle gewählt werden, bestehend
aus den drei Referenten und dem Archivdirektor Wolfram (Metz); dieser
Ausschufs solle die vom Referenten empfohlene Denkschrift ausarbeiten
und dem nächsten Archivtage in Bamberg vorlegen.
Hieran schlofs sich der Vortrag des Archivrats Bär über die Be-
gründung des Staatsarchives zu Danzig. Der Vortragende wies
darauf hin, dafs hier in Danzig das Archiv nicht allein ein neugebautes,
sondern auch neugegründetes sei, schilderte dann die Entstehung desselben,
das mit einer gewissen Notwendigkeit aus der Sonderung der Provinzial-
Verwaltung hervorgegangen sei, eine Notwendigkeit, die besonders der ver-
storbene Oberpräsident v. Gofsler klar erkannt habe. Unter den Bestän-
den, die das neue Archiv übernahm, war am wertvollsten das Archiv der
Stadt Danzig, welches von dieser durch einen besonderen Vertrag dem Staat
zur Verwaltung überwiesen wurde. Die weiteren Ausführungen des Redners
über die Anlage des Archivgebäudes ergaben, dafs neben vielen Vorzügen
doch auch manche Mängel sich zeigten ; so ist z. B. das Verwaltungsgebäude
leider etwas zu klein, der für die Bibliothek bestimmte Raum schon jetzt
vollständig ausgefüllt, ein Raum für Zaponiening fehlt ; im eigentlichen Archiv-
gebäude treten ebenfiedls die Vorzüge wie Mängel des Magazinsystems zutage,
unter letzteren die geringere Beleuchtung der unteren Räume, auch macht
sich das Fehlen von Baikonen für das Abstäuben und Lüften der Akten
bemerkbar. Unter den im Archiv eingeführten Neuerungen sind besonders
zwei beachtenswert, die Einrichtung der Aktengestelle tmd die Art der Auf-
bewahrung von Karten und Plänen. Die AktengesteUe sind unverstellbar,
die horizontale Gliederung der Fächer in der Weise geschaffen, dafs zwischen
je zwei festen Trägem drei eiserne Stäbe eingefügt wurden als Trennung und
Scheidung nach rechts und links, zugleich als Stütze des darüber liegenden
Faches, durch Herausnahme eines oder zwei oder auch drei dieser Stäbe
läist sich ein den Bedürfnissen entsprechender breiterer Raum hersteUen bis
zu dem Höchstmafs der Entfernung zwischen den beiden festen vertikalen
Stützen. In jedem kleinen Fach ist auch durch ein in der Mitte des Hinter-
grundes au%estelltes Stäbchen das Verschieben der Akten nach dem Inneren
des Faches verhindert Diese Anordnung steht in gewissem Zusammenhange
mit der zweiten Neuerung, der Lagerung von Karten und Plänen. Für deren
Aufbewahrung sind hier Kasten mit Klappen angefertigt, die, abgesehen von
dem gröfseren Schutze, den sie dem Material gewähren, den Vorteil bieten,
dafs sie nach Entfernung der entsprechenden Zahl der Eisenstäbchen in die
Fächer selbst eingeschoben werden können, abo in unmittelbarer Nähe der
Akten sich befinden, zu denen sie gehören. Weiter verbreitete sich der
2
— >8 —
Redner über die Grundsätze, nach denen die Ausscheidung der Akten für
das Staatsarchiv zu Danzig aus dem Staatsarchiv zu Königsberg erfolgt ist;
es sind nicht nur alle Akten von Behörden der jetzigen Provinz Westpreufsen
hertibergenommen , sondern auch alle solche Akten der ostpreufsischen Be-
hörden, die sich auf Westpreufsen beziehen. Mit einer Erörterung allgemeiner
Art über Durchführung des Provenienzprinzips schlofs der Vortrag.
Hieran schlofs sich ein Rundgang durch das Archiv, bei dem beson-
ders die vorher genannten Neuerungen einer Prüfung unterzogen wurden.
Im allgemeinen kann man sich nicht verhehlen, dafs sie, namentlich in Rück-
sicht auf die Unterbringung der Pläne, sinnreich erdacht sind und eines
praktischen Wertes nicht entbehren, doch dürfte einer längeren Prüfung noch
die Frage vorbehalten bleiben, ob sie sich in allen Teilen praktisch bewähren
und ob der Nutzen, den die Aufbewahiang der Pläne in besonderen Kästen
neben den Akten vor den anderen Aufbewahrungsarten voraus hat, im rechten
Verhältnis zu den offenbar nicht unbedeutenden Kosten steht.
Nach einem im Archivkeller eingenommenen Frühstück wurden die Ver-
handlungen um I Uhr wieder aufgenommen, da aber um 2 Uhr bereits nach
der Disposition für diesen Tag die Fahit nach Langfuhr unternommen werden
sollte, so konnten die noch angemeldeten drei Vortaäge nur in ganz über-
sichtlicher und knapper Form geboten werden. Zunächst folgte der Vortrag
des Archivars Erhar dt (Berlin) über die Hauptphasen der Entwicke-
lung des Geheimen Staatsarchivs in Berlin. Er schilderte nament-
lich die Anfänge desselben unter dem Grofsen Kurfürsten und die Tätigkeit
Schönebecks, dessen Einteilung noch heute Geltung habe. Das XVIII. Jahrh.
habe nicht wesentliche Veränderungen gebracht, ebensowenig der Anfang
des XIX. Jahrh., obwohl die Veränderung der Staatsbehörden eine solche
hätte erwarten lassen. Dann aber seien drei wesentliche Veränderungen
erfolgt, I. die Ausscheidung des Hausarchivs, 2. die Vereinigung mit dem
Archiv des Generaldirektoriums, das 1808 aufgelöst wurde, 3. die Anwen-
dung des Provenienzprinzips. Nach einer Darstellung der gegenwärtigen
Organisation schlofs der Redner mit der Versicherung, dafs das geheime
Staatsarchiv wie im XVIII. Jahrh. so auch heute bestrebt sei, sowohl wissen-
schaftlichen Ansprüchen als auch praktischen Bedürfnissen voll zu entsprechen.
Im zweiten Vortrage gab Fabrikbesitzer Dr. Perl (Berlin) einen Über-
blick über „die allgemeine Verwendung des Zapons in der In-
dustrie*'. Er ging von der Tatsache aus, dafs man früher Lacke aus
natürlichen Stoffen hergestellt habe, jetzt aber solche aus künstlichen Stoffen
bilde, das Zapon aus Nitroglyzerin. Die Erfindung dieses Lacks ist der
amerikanischen Industrie gelungen, seine Vorzüge bestehen in der Freiheit
von Säure, der Farblosigkeit und der Härte, die ihn vor aUen Lacken aus-
zeichnet, sowie namentlich darin, dafs beim Trocknen seine eigenen Tropfen
aufgesogen werden und daher überall decken. Durch diese Eigenschaften
wird er das vorzüglichste Konservierungsmittel und findet namentlich in der
Silberwarenindustrie als bestes Schutzmittel gegen Oxydierung, aber neuer-
dings auch in der Bronzeindustrie Verwendung. An markanten Beweisstücken
legte der Redner all diese Vorzüge dar.
Dafs aber dieser I^ck für die Archive eins der wichtigsten Konser-
vierungsmittel bietet, das hat auf früheren Archivtagen bereits durch Wort
- 19 —
und praktische Vorführung Archivrat Sello (Oldenburg) dargetan. Er hatte
auch diesmal in dankenswerter Weise sich bereit finden lassen zu einem
„Bericht über die bei der Zaponverwendung gemachten Er-
fahrungen''. Die Veranlassung dazu war ein Auftrag des dritten Archiv-
tages *) zu Düsseldorf an eine dreigliederige Kommission, bestehend aus dem
Geh. Archivrat Grotefend (Schwerin), Archivdirektor Wolfram (Metz) und
Archivrat Sello (Oldenburg), dem vierten Archivtage über die beim Zaponieren
gemachten Erfahrungen Bericht zu erstatten. Da diese Kommission wegen örtlicher
Trennung an ein Zusammenaibeiten nicht hatte denken können, so legte der
Redner seine eigenen Erfahrungen dar, indem er einen Überblick über die
neueste Literatur gab, dann über die bei Besuchen fremder Archive an-
gestellten Beobachtungen, endlich über das Laboratorium in Oldenburg be-
richtete. Für die praktische Tätigkeit waren besonders wichtig die Mitteilungen,
dafs Redner die Zaponfilms nicht mehr verwendet, als Klebemittel jetzt Perl-
kitt empfiehlt und Siegel nicht mehr zaponiert. Interessant waren femer die
Ausführungen über die Verwendung des Lyoneser Schleiers und dessen Er-
satz durch die bei ims gebräuchlichen Tüll- imd Schleiersorten. Die vor-
gelegten Proben wiesen in überaus instruktiver Weise nicht allein die Ein-
wirkung der verschiedenen Tüllarten auf die Lesbarkeit der Schrift nach,
sondern noch mehr die allmählich gesteigerte Kunstfertigkeit in Wieder-
herstellung der der Zerstörung anheimfallenden Archivalien. Der Redner
schlofs mit der Mahnimg: Im übrigen zaponieren Sie lustig darauf los, die
Freude an den Erfolgen wird die beste Lehrmeisterin werden.
Im Anschlufs an den Vortrag empfahl Archivrat Bär, der Vortragende
möge eine Stunde für ein Praktikum im Zaponieren bestimmen. Archivrat
Sello erklärte sich auch freundlichst dazu bereit und setzte das Praktikum
für Doimerstag früh halb 9 Uhr im KgL Staatsarchiv an. Auch dazu, wie
wir vorgreifend melden, fand sich eine grofse Zahl von Archivaren ein und
dankte am Schlufs der überaus instruktiven Vorführungen in herzlicher Weise
für die so freundlich gebotene Belehrung.
Aus dem geschäftsführenden Ausschufs scheiden satzungsgemäfs Archiv-
direktor Grotefend (Schwerin) und Geh. Archivrat Wiegand (Strafsburg)
aus, doch beschlofs auf Antrag des Geh. Archivrats Bai Heu die Ver-
sanunlung deren Wiederwahl sowie die Wahl des Generaldirektors Baumann
(München). Aufserdeyi wurde der Druck der Protokolle der Versammlung
durch besonderen Beschlufs genehmigt.
Der nächste Archivtag soll Ende September 1905 in Bamberg stattfinden.
Archivrat Wäschke (Zerbst).
Kommissionen. — Die römisch-germanische Kommission des
Kaiserlichen archäologischen Instituts. Am 4. Januar 1904 hat
sich in Fraiücfurt a. M. die römisch-germanische Kommission des Kaiser-
lichen archäologischen Instituts zum ersten Male versammelt und damit ihre
Tätigkeit in vollem Umfange aufgenommen. Was diese KommisMon ist, wer
sie bildet, was ihre Zwecke sind, wie sie ihre Arbeiten zu gestalten denkt,
darüber bin ich auch jetzt noch so oft unklaren oder direkt falschen Vor-
I) S. diese Zeitschrift Bd. IV, S. 62.
2*
— 20 —
Stellungen begegnet, dafs ich einer Aufforderung der Redaktion dieser Zeit-
schrift nachkomme und auch dem Kreise ihrer Leser in Kürze ein Bild von
der Kommission zu geben versuche. Denn in den Dienst landesgeschicht-
licher Forschung soll sich auch die neue Organisation stellen* imd darf
daher auf das Interesse der hieran beteiligten Kreise rechnen.
Mit der Bildung der Reichslimeskommission hatte sich das deutsche
Reich zum ersten Male aktiv an der archäologischen Erforschung West-
deutschlands beteiligt. Eine grofse Aufgabe, die Erforschtmg des gröfsten
historischen Monumentes Deutschlands aus der Römerzeit, an welcher schon
seit Dezennien von lokalen Vereinen und einzelnen Forschem gearbeitet
worden war, sollte hier nach einheitlichem Plane zu einem gewissen Abschlufs
gebracht werden. Ein Unternehmen, das die Kräfle der Einzelforschimg
überschritt, sollte durch ihre Zusanmienfassung gefördert werden. In den
zwölf Jahren ihrer Tätigkeit hat sich diese Organisation vortrefflich bewährt,
und die Aufgabe, die ihr gestellt war, wird demnächst erreicht sein. Es hat
sich dabei gezeigt, wie nützlich ein solches gemeinsames Vorgehen ist; wie
notwendig es ist zur Erreichimg grofser Ziele ; wie erspriefslich der beständige
Austausch wirkt, der auf diese Weise zwischen allen Arbeitenden herbeigeführt
wird; wie die Forschung dadurch, dafs sie auf eine breitere Basis gestellt
wird, auch an Tiefe gewinnt So mufste der Gedanke wach werden, die
enge Fühlung, in welche die west- und süddeutschen Altertumsforscher durch
die gemeinsam betriebene Limesforschung zueinander getreten waren, auch
für die Zukunft zu erhalten und die Vorteile, die sie einem Forschungs-
objekt gebracht, auch anderen Gebieten zugute konmien zu lassen.
Die laqgen Beratungen tmd das endlose Hin und Her, zum Teil im-
erquicklichster Art, die der Bildung der römisch-germanischen Konmiission
vorausgegangen sind, will ich übergehen. Es hat keinen Zweck, diese Dinge
wieder aufzurühren, die abgeschlossen sind mit dem endlichen Inslebentreten
der neuen Organisation. Diese selbst aber möchte ich kurz beleuchten.
Die römisch-germanische Kommission ist als eine Abteilung des Kaiser-
lichen archäologischen Instituts ins Leben getreten. Dieses Reichsinstitut,
das bisher in erster Linie auf klassischem Gebiet und im Auslande tätig
war, hat damit seine Tätigkeit auch auf das Gebiet der heimaüichen Archäo-
logie ausgedehnt. Gegenüber den beiden bisherigen Abteilungen des archäo-
logischen Instituts in Rom und Athen nimmt die n«ue AbteUtmg insofern
eine Sonderstellung ein, als ihr durch Reichstagsbeschlufs ein gesonderter
Etat von 20 000 Mk. zugewiesen ist und über diesen nicht von der 2^ntral-
direktion des Instituts, sondern von einer besonderen Konmiission verfügt
wird. Dieser Kommission ist nach den Satzimgen die Aufgabe gestellt: „die
archäologische Erforschung derjenigen Teile des deutschen
Reiches, die dauernd unter römischer Herrschaft gestanden
haben, mit Rat und Tat zu fördern. Innerhalb dieses Ge-
bietes ist die Kultur von den ältesten Zeiten bis zum Ende
der Römerherrschaft gleichmäfsig zu untersuchen. Die aufscr-
halb dieser Grenzen, namentlich zwischen Elbe und Weser
sich findenden römischen Reste sind, soweit die Organi-
sation der Kommissionsarbeiten es gestatten wird, in die
Forschung einzubeziehen". Die Konmiission entwirft in ihrer Jahres-
— 21 —
Sitzung ihren Arbeitsplan und Etat, während die unmittelbare Leitung der
Arbeiten durch ihren Direktor erfolgt.
Die Kommission besteht aus dem Direktor und 17 Mitgliedem. Von
diesen ernennt die Zentraldirektion des archäologischen Instituts aus ihrer
Mitte zwei, gegenwärtig die Herren Prof. Hirsch feld (Berlb) und
Prof. Loeschcke (Bonn), zu denen ab dritter der jeweilige Generalsekretär des
Institutes kommt. Drei weitere Mitglieder beruft der Reichskanzler. Es smd
das gegenwärtig die Herren Oberbürgermeister Adickes (Frankfurt), Prof.
£d. Meyer (Berlin) und Prof. Schumacher, der Direktor des römisch-
germanischen Zentralmuseums in Mainz. Sechs weitere Mi^lieder werden
von den zunächst beteiligten Regierungen berufen. Bayern wird durch Herrn
Prof. Ranke (München), Württemberg durch Prof. von Herzog (Tübingen),
Baden durch den Vorsitzenden der Reichslimeskommission Prof. Fabricius
(Freiburg), Hessen durch Herrn Ministerialrat Soldan (Darmstadt), Preufsen
durch Geh. Baurat Ja cobi (Homburg), das Reichsland durch Prof. Henning
(Strafsburg) vertreten. Aufserdem hat die Zentraldirektion das Recht, die Be-
rufung von fünf Vertretern von Altertumsvereinen und anderen an der römisch-
germanischen Forschung interessierten Körperschaften zu beantragen. Auf
diese Weise sind der Kommission noch die Herren Profif. von Domaszewski
(Heidelberg), Ohlenschlager (München), Ritterling (Wiesbaden),
Schuchhardt (Hannover) und Wolff (Frankfurt) beigetreten.
Schon in dieser Zusammensetzung der Kommission zeigt sich deutlich
das Streben, mit der lokalen Forschimg Hand in Hand zu gehen, indem
die Kommission zum gröfsten Teile aus Männern gebildet wurde, deren
Namen mit der lokalen Altertumsforschung der letzten Jahrzehnte in engster
Verbindung stehen und dem Kreise derjenigen entnommen sind, denen ein
gutes Teil der Fortschritte imserer heimischen Archäologie in den letzten
Jahrzehnten zu danken ist. Auf der anderen Seite sollte die Angliedenmg
an das archäologische Institut die Gewähr dafür geben, dafs die lokale
Forschimg mehr und mehr aus ihrer örtlichen Abgeschlossenheit heraustritt
und die nötige Fühltmg mit der klassischen Altertumsforschung gewinnt.
Träger der lokalen Altertumsforschung sind seit Jahrzehnten in erster
Linie die wissenschaftlichen Vereine und die provinzialen und landschaftlichen
Museen gewesen. In einer Zeit, in der an den Universitäten noch kaiun
ein Interesse für die einheimischen Altertümer zu finden war und die zünftigen
Archäologen sich meist vollkommen von der heimischen Altertumsforschung
fernhielten, haben sie, ein jeder in seinem Gebiet, gearbeitet, Material ge-
sammelt und durch Einzeluntersuchungen einen festen Grund bereitet, auf
dem jetzt weiter gebaut werden kann. Ihre Arbeiten sind aber keineswegs
beendet, vielmehr harren die gröfsten Aufgaben noch ihrer Erledigung, imd
diese können sie nur finden durch die Mitarbeit der lokalen Forschung. Die
heimische Altertumsforschung ist so eng mit ihrem Boden verwachsen, dafs
sie die Mitarbeit der örtlichen Vereine und Forscher gar nicht entbehren
kann. Bei der Gründtmg der römisch-germanischen Konmiission wollte man
deshalb auch keineswegs einen Ersatz für die Vereine schafien , man dachte
nicht daran, der Vereinsarbeit, der Arbeit der örtlichen Forscher entgegen-
zutreten, sie auszuschalten und etwas Neues an ihre Stelle zu setzen. Es
sind wohl Stimmen laut geworden, die solche Befürchtungen ericennen liefsen.
— 22 —
Aber die, deren Bemühungen in erster Linie das Zustandekommen der Kom-
mission zu danken ist, haben derartige Absichten nie gehabt Sie waren
sich voll bewufst, dafs eine lokale Forschung ohne lokale Arbeitskräfte un-
möglich sei und dais die einheimische Altertumsforschung nur durch För-
dertmg der lokalen Forschung gefördert werden könne. Ebensowenig
wie die bisherigen Arbeitskräfte ausgeschaltet werden sollten, soll auch ihre
wissenschaftliche Selbständigkeit, wie ich es nennen möchte, ihnen genommen
werden. Das Reichsinstitut soll nicht etwa künftig die gesamten wissen-
schaftlichen Aufgaben übernehmen und sie zentralisieren in dem, Sinne
dafs es nun jedem Vereine oder Forscher seine Rolle zuweisen wollte in
dem Thema, das es gerade zu bearbeiten für gut findet. Ein solches Vor-
gehen würde die Vereinstätigkeit bald lahmlegen. Die Kommission soll die
römisch-germanische Forschung mit Rat und Tat fördern, indem sie ihr
hilft, die Mängel, welche der lokalen Forschung naturgemäfs anhaften, zu
überwinden. Vor allem soll sie es sich angelegen sein lassen, die Altertums-
forschung vor der früheren Zersplitterung zu bewahren. Sie soll das Ihre
dazu beitragen, die lokalen Forscher in Fühlung miteinander zu bringen,
damit mehr und mehr die Gemeinsamkeit der Aufgaben erkannt werde, und
die Einzeluntersuchung, aus dem engen lokalen Rahmen herausgehoben,
grofsen Beobachtnngsreihen sich einordne. Sie soll die lokale Forschung
auf diese Weise in ständiger Verbindung mit den grofsen allgemeinen Fragen
der Wissenschaft halten. Sie soll fem er planmäfsig angelegte gemeinsame
Unternehmungen anregen und fördern, die die materielle und geistige Kraft
der einzelnen übersteigen. Sie soll ihre wissenschaftlichen Erfahrungen der
lokalen Forschung zur Verfügung stellen und soll endlich auch mit ihren
materiellen Mitteln helfend eingreifen, wo die lokalen Hilfsquellen versagen
oder nicht ausreichen, um ein wertvolles wissenschaftliches Unternehmen
befriedigend zu Ende zu führen.
Also nicht eine Bevormundung der bisherigen Arbeitskräfte ist mit der
neuen Kommission beabsichtigt, nicht eine zentrale Leitung, der jene unter-
geordnet werden sollen, sondern eine Bundesgenossin soll sie sein, mit der
zusammen sie an die gemeinsamen Aufgaben herantreten sollen. Kein amt-
liches, sondern ein Vertrauensverhältnis soll zwischen Kommission und ört-
licher Forschung herrschen.
Im einzelnen wird sich das Verhältnis zwischen Kommission und Ver-
einen sehr verschieden gestalten , entsprechend der grofsen Verschiedenheit
der örtlichen Verhältnisse und Aufgaben. Auch hier soll keine feste Regel
beengend wirken, sondern wie Aufgabe, Persönlichkeiten, örtlichkeiten es
erfordern, so wird es gemacht. Am klarsten wird das wohl werden, wenn
ich hier einige Beispiele aus der bisherigen Tätigkeit der Kommission
kurz anführe. Das gröfste Unternehmen, das die Kommission gegenwärtig
betreibt, sind die Ausgrabungen in dem Römerplatze bei Haltern an der
Lippe. Hier hat sich die Kommission mit der Altertnmskommission für
Westfalen vereinigt, der sie einen grofsen Teil des nötigen Geldes zur Ver-
fügung stellt. In die persönliche Leitung der Grabungen teilen sich hier
der Vorsitzende der westfälischen Kommission und der Direktor der römisch-
germanischen Kommission. In anderen Fällen hat die Kommission wissen-
schaftlichen Vereinen zur Durchführung einer augenblicklich drängenden
— 23 —
Untersuchung Geldmittel zur Verfiigung gestellt, damit die Arbeiten nicht
ins Stocken gerieten und der Erfolg in Frage gestellt wurde. Als Felix
Hettner durch einen jähen Tod mitten aus der Arbeit gerissen wurde,
da stellte die Kommission die Arbeitskraft ihres Direktors der Rheinprovinz
zur Verfügung, damit die gerade damab so wichtige ständige archäologische
Beobachtung der Kanalisierungsarbeiten in Trier weitergeführt werden konnte,
bis ein Nachfolger Hettners sie selbst wieder in die Hand nehmen konnte.
Auch einzelnen Forschem ist die Kommission schon beigesprungen, um
ihnen die Fortführung wissenschaftlicher Arbeiten zu ermöglichen.
Es ist schon eine ganze Reihe von Aufgat>en, welche die Kommission
teils gelöst, teils in Angriff genommen hat: die jährlichen Berichte in dem
Jahresbericht des Kaiserlichen archäologischen Instituts geben darüber Auf-
schluis, und über den Arbeitsplan des laufenden Jahres orientiert der Bericht
des Direktors, den er vor der Versammlung west- und süddeutscher Alter-
tumsvereine in Mannheim erstattet hat (vgl. Korrespondenzblatt des Gesamt-
vereins Bd. 52 (1904) S. 338 ff.). Ich möchte noch hervorheben, dafs die Kom-
mission die Vereinheitlichung der Forschung auch dadurch zu fördern sich
bemühen wird, da£s sie künftig einen Jahresbericht über die Fortschritte der
römisch-gemumischen Forschung herausgibt, welcher die Übersicht über die
weitschichtige Literatur dem Forscher erleichtem solL
Wir wollen uns unserer bisherigen Erfolge nicht rühmen, noch stehen
wir ganz am Anfange unserer Tätigkeit. Das aber glauben wir, dafs wir
auf dem richtigen Wege sind, dafs gerade unser Verhältnis zu den bisherigen
Arbeitern sich richtig und erfreulich gestaltet hat und für die Zukunft zu
den besten Hofihungen auf gedeihliche gemeinsame Arbeit berechtigt.
Noch zwei Punkte möchte ich berühren, weil da vielfach falsche Vor-
stellungen herrschen. Das ist einmal die Begrenzung unserer Aufgabe. Die
Konunission nennt sich „ römisch-germanische '% und schon in diesem Namen
soll ausgesprochen sein, dafs sie Römisches und Germanisches in
gleicher Weise in den Bereich ihrer Studien ziehen will. Sie
soll eben wirklich unsere heimische Vor- imd Frühgeschichte fördern helfen,
nicht nur soweit diese sich mit der der klassischen Völker berührt. Die
Zeiten, wo der Archäologe an allem, was nicht römi^h oder griechisch
war, scheu oder verächtlich vorüberging, sind ebenso vergangen, wie die
Zeiten, wo der Historiker bei seinen Arbeiten nicht über die schriftlichen
Quellen hinauszugehen wagte. Dafs es ihr ernst sei um das Studium auch
des nichtrömischen Teiles unserer Vorgeschichte, hat die Kommission bereits
durch mehrere Untemehmungen auf sog. prähistorischem Gebiete bewiesen.
Ich brauche nur an die Untersuchung der grofsen Niederlassung der Hall-
stattzeit bei Neuhäusel zu erinnern, der jetzt andere Arbeiten auf prähisto-
rischem Gebiete folgen.
Der zweite Punkt betrifft den Verbleib der Funde, die bei Aus-
grabungen der Kommission gemacht werden. Er erledigt sich eigentlich
schon durch das, was über die Arbeitsweise der Kommission gesagt ist.
Die Konunission besitzt kein eigenes Museum, in dem sie die Funde aufbe-
wahren könnte, und sie beabsichtigt auch nicht, irgendeinem bestimmten
Museum alle ihre Funde zuzuschieben. Die Frage, ob Zentralisierung oder
Dezentralisiemng der Museen das Richtige sei, ist ja eine sehr schwierige
— 24 —
und kann hier natürlich nicht behandek werden. Dafs eine gewisse Dezen-
tralisierung das einzig MögUche und Notwendige ist, scheint mir klar, und es kann
sich nur darum handeki, wie weit diese Dezentralisierung gehen soll. Der
Nutzen, den die Forschung dadurch gehabt hat, dafs neben einigen grofsen
2^ntralmuseen Provinzialmuseen, Lokalmuseen, Vereinsmuseen stehen, in denen
die Fimde, auch die unscheinbarsten, in ihrer lokalen Zusammengehörigkeit
erscheinen, ist offenkundig. Ganz abgesehen von der belebenden Wirkung,
welche die lokalen Museen auf die lokale Forschung ausüben, bleiben hier
auch die unscheinbarsten Fimde lebendiges Material, die in grofsen Zentral-
museen von der Masse erdrückt werden würden imd, herausgerissen aus dem
lokalen Zusammenhange, einen Hauptteil ihres Wertes einbüfsen würden. Für
die Kommission werden auch hier die jedesmaligen örtlichen Verhältnisse
malsgebend seb müssen, und nach ihnen wird sich der Verbleib der Funde
in jedem einzelnen Falle regeln. Arbeitet sie mit einem Vereine zusanmien,
so wird es sich in der Regel von selbst verstehen, dafs die Fimde in der
Sammlung des Vereines bleiben, arbeitet sie mit einem Provinzialmuseum
zusammen, so gelangen die Funde natürlich dorthin. In vielen Fällen wird
es Sache des betreffenden Provinzialmuseums sein, sich mit einer Vereins-
sammlung in seinem Gebiet über den Verbleib der Funde zu einigen. Das sind
dann Fragen, die sich nur von Fall zu Fall entscheiden lassen und in denen
es gilt, den Weg zu finden, auf dem weder das Provinzialmuseum in seinem
Charakter als die SteUe, an der man den möglichst vollständigen Überblick über
die Funde eines bestimmten Gebietes erhalten soll, geschädigt wird, noch
den Vereinen ein wichtiges Mittel, das Interesse weiterer Kreise zu gewiimen
und zu erhalten, genommen wird.
Das mag in Kürze über die Kommission orientieren. Wir stehen, wie
gesagt, noch ganz am Anfange und es ist noch nicht möglich, ein erschöpfen-
des Programm fUr die Tätigkeit der Kommission aufzustellen; das mufs die
Zeit bringen. Nur einige Grundsätze wollte ich andeuten, nach denen wir die
Arbeit begonnen haben. Wir hoffen, dafs sie sich bewähren werden. Über
den Erfolg unserer Bestrebimgen werden künftige Jahre urteilen können. Er
wird um so gröfser sein, mit je gröfserem gegenseitigem Vertrauen und mit
je gröfserer gegenseitiger Achtung Lokalforschung imd Kommission zusam-
menarbeiten tmd zusanmienstreben. Dragendorff (Frankfurt a. M.).
Alte BIbllothekskatalogC. — Schon seit langer Zeit haben die
Bibliographen allen Notizen, die aus dem Mittelalter über Herstellung, Er-
werbung imd Sammlung von Büchern erhalten sind, Aufinerksamkeit geschenkt,
sie haben die historischen Quellen, die Chroniken von Klöstern und Stiften,
die Nekrologien, die Urkunden, besonders aber alle Arten von Inventaren
durchsucht, und so ist im Laufe der Jahie ein beträchtliches Material teils
durch kurze Notizen nachgewiesen, teils durch erstmalige Veröffentlichung
oder durch Wiederabdruck von Dokumenten, die in wenig verbreiteten oder
seltenen Schriften schon gedruckt waren, der Wissenschaft ein Dienst ge-
leistet worden. Im Jahre 1885 erschienen dann Gustav Beckers CcUalogi
bibUothecarum aniiqui, die den gröfsten Teil der damals allgemeiner bekaimten
alten Btbliotheksverzeichnisse an einem Orte vereinigten, ein Buch, das von
mancherlei Forschern und in recht verschiedener Hinsicht mit Nutzen ge-
— 26 —
braucht worden ist Aber es brachte die Kataloge nur bis zum Jahre 1200
zum Abdruck und begnügte sich für die folgende Zeit mit dem Nachweis
der Existenz und des Druckorts der in Frage konmienden Dokumente. Aus
einer beabsichtigten Rezension dieser Sammlung, die jedoch in der Folge
inmier mehr und mehr anschwoll, erwuchs bei fortschreitender Beschäftigung
mit dem Stoffe das Buch des Unterzeichneten Über mitUHaUerliche BVjiUo-
iheken (Leipzig 1890), in dem der Versuch gemacht wurde, eine Über-
sicht über das ganze aus dem Mittelalter erhaltene Material an alten Bücher-
Terzeichnissen zu geben. Dais dieser Versuch bei dem ungeheuren Umfang
und der Vielgestaltigkeit der Quellen von Vollständigkeit weit entfernt war,
darüber war sich wohl niemand klarer, als der Verfiisser selbst. Schon
einige Besprechungen des Buches hatten Nachträge verzeichnet Im Laufe
der Zeit sind dann teils in selbständigen umfangreichen Arbeiten, teils im
„Zentralblatt für Bibliothekswesen" und anderwärts entweder neue Dokumente
zum ersten Male veröffentlicht oder wenigstens Hinweise auf die unseren
Zwecken dienenden Publikationen gegeben worden.
Trotz alledem ist das Material nach unserer Überzeugung noch bei
wdtem nicht erschöpft Die gedruckten Kataloge modemer Handschrifteo-
sammlungen geben derartige kleinere Stücke zwar meistens, aber nicht immer
an, so dafs eine Orientierung über das in Bibliotheken erhaltene Material
nur einigermafsen durch das Studium der genannten ELataloge erreicht werden
kann. Viel schwieriger gestalten sich die Verhältnisse dann betreffs der
Archive, von denen Verzeichnisse, der Natur der Sache entsprechend, nur in
Ausnahmefällen gedruckt vorliegen. Dazu kommt der Umstand, dafs neben
den unter staatlicher Verwaltung stehenden Archiven eine bedeutende Anzahl
von städtischen, kirchlichen und privaten Sammlungen besteht, deren Inhalt,
ja deren Existenz zuweilen in weiteren Kreisen überhaupt nicht bekannt ist
und deren Durchforschung öfters auf grofse Schwierigkeiten stöfst.
Hier öfkCtt sich für die Tätigkeit der vielen historischen Vereine und
fiir die Lokalforschung ein weites Feld. ^) Da den LokaUbrschem am ehesten
bekannt ist, in welchen modernen Sammlungen sie die handschrifttichen und
tnrkundlichen Überbleibsel von Biblioüieken und Archiven der alten Dome,
Klöster und Stifter ihres Kreises zu suchen haben, sind ihnen für methodische
Nachforschung die Wege mehr geebnet, als den Femerstehenden.
Dafs eine vollständige Sammlung aller urkundlichen Notizen, welche sich
aus dem Mittelalter über Existenz und Inhalt von Bibliotheken erhalten
haben, von grofsem Werte in verschiedener Hinsicht wäre, braucht nicht
eingehender besprochen zu werden. Bücherverzeichnisse sind kulturhistorische
Dokumente. Sie lehren uns die literarischen Quellen kennen, die zu bestimmter
Zeit, an bestimmtem Orte oder von bestimmten Personen zur Bildung benutzt
wurden oder wenigstens benutzt werden konnten. Der Literarhistoriker ge-
winnt sichere Maisstäbe ftir die Verbreitung bestimmter Autoren oder be-
stimmter Werke, ebenso der Philologe Anhaltspunkte für deren Überiieferungs-
geschichte. Der Historiker erhält Zeugnisse für das Vorhandensein geschicht-
licher Quellen; auch die Philosophie, Theologie imd Medizin geht beim
i) Anregungen in diesem Sinne gab gelegentlich der 46. Philologenrersammlanc
1901 in Strafsbarg F. Eichler (Graz). Vgl. diese ZeiUcfarift 3. Bd.,.S. 63—64.
— 26 —
Studium der alten Bücherverzeichnisse nicht leer aus. Für die Geschichte
des Rechts sind alte Kataloge mit Erfolg schon von Savigny herangezogen worden,
speziell die Rezeptiongeschichte des Römischen Rechts ist vielfach auf
Grund der in diesen Verzeichnissen enthaltenen Angaben au%eklärt worden;
ich verweise auf die Untersuchungen von Emil Ott , Beiträge eur HecepiMms*
geschickte des rämisck-^anonischen Beehts (Leipzig, 1879). Dazu sind in neuerer
Zeit noch die Forschungen über Ursprung und Ausbreitung des Humanismus
in Deutschland gekommen, imd gerade auf diesem Gebiete sind die mittel-
alterlichen Bibliotheksverzeichnisse in der Hand eines Gelehrten wie Konrad
Burdach ^) zu neuem Leben erweckt worden, als unverfängliche Zeugen über
Werden und Wachsen einer der bemerkenswertesten Epochen der kulturellen
Entwickelung.
In vielen Fällen wird schon der urktmdliche Nachweis vom Vorhanden-
sein dieses oder jenes Werkes genügen, um Schlüsse ziehen zu können. In
anderen Fällen würde der volle Wert alter Kataloge erst zur Geltung kommen^
wenn es gelingt, die Existenz der dort aufgezählten Bücher noch heute mit
Sicherheit nachzuweisen. Eine udcundliche Geschichte der Buchmalerei
(Miniaturkunst) müfste vielfach mit Hilfe solcher Nachweise zum Ziele gelangen.
Ebenso steht hier dem Paläographen ein Schatz örtlich und zeitlich mehr
oder weniger gesicherter Belege für seine Wissenschaft zur Verfügung. Da
in den Verzeichnissen nach 1450 schon vielfach gedruckte Werke erscheinen,
kann sowohl, die Geschichte des Buchdrucks als die Verbreitung seiner
Produkte im Wege des Handels Aufklärungen erhalten. Auch für die in
Berlin geplante, lunfassende Behandlung alter Handschriften, in denen die
Denkmäler der deutschen Literatur erhalten sind, imd zwar im Sinne einer
geschichtlichen Handschriftenkunde, dürfte sich die Hilfe einer mit der Ge-
schichte unserer alten Bibliotheken vertrauten Kraft als notwendig herausstellen.
Um dergleichen Resultate zu gewinnen oder überhaupt möglich zu
machen, müfste eine Reihe langwieriger, mit gröfster Genauigkeit ausgeführter
Detailarbeiten voraufgehen, u. a. eine einheitliche imd in wissenschaftlichem
Gebte durchgeführte Katalogisierung der modernen Handschriftensammlungen,,
von denen noch manche brauchbarer Kataloge überhaupt entbehren. Wollen
wir aber in dieser Hinsicht vorläufig zu einem Abschlufs kommen, so
handelt es sich in erster Linie um eine Ausgabe der alten Bibliotheks-
kataloge selbst. Nun hat seit einigen Jahren die KaiserL Akademie der
Wissenschaften in Wien den Plan dieser Ausgabe unternommen, in erster
Linie auf Grund der Anregung durch Se. Exzellenz den Minister Wilhelm v.
Hartel. Nach den jetzigen Bestimmtmgen soll ein Abschhiis zuerst für
Österreich-Ungarn, dann für das Deutsche Reich versucht werden.
Es ergeht demnach an alle Forscher die dringende Bitte, dieses Unter*
nehmen der KaiserL Akademie nach Kräften fördern zu wollen. Dies könnte
geschehen durch Veröfifentlichung von noch ganz unbekannten oder in dem
Buche „Über mittelalt. Bibliotheken*' indizierten Verzeichnissen (von denen
übrigens eine grofse Zahl bereits in guten Abschriften imApparate der Wiener
Akademie liegt), oder, wo die Veröffendichung ans diesem oder jenem
Grunde auf Schwierigkeiten stöfst, durch Hinweise auf die Existenz von der-
2) VgU oben S. 239—240.
— 27 —
artigen Bücherverzeichnissen , Testamenten mit Bücherschenkungen u. dgl.
entweder in den Zeitschriften historischer Vereine oder, was in allen Fällen
besonders erwünscht wäre, durch direkte Mitteilung an die bei der KaiserL
Akademie der WissenschsUten befindliche Kommission zur Herausgabe alter
Biblioüiekskataloge, in jeden derartigen Hinweis mit lebhaftem Dank entgegen-
nehmen wird. Theodor Gottlieb (Wien).
Eingegangene Bficher«
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M. & H. Marcus, 1903. 245 S. 8^ M. 8,00.
Heuser, Emil: Die Protestation von Speier, Geschichte der Protestation
und des Reichstags 1529 nebst Veröffentlichung bisher unbekannter
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64 S. 8«.
Kautzsch, Otto Friedrich: Wappenbüchlein zur Erklärung von einfachen
und zusammengesetzten Schilden und Kleinoden deutscher Gebietswappen,
hauptsächlich auch solcher auf Münzen. Zweite Auflage. Leipzig,
Th. Grieben, 1903. 65 S. 8^ M. 3,00.
Kohl, Dietrich: Die AUmende der Stadt Oldenburg. Mit einer Karte.
Oldenburg, Gerhard Stalling, 1903. 76 S. 8^
Henuiif*b«r Dr. Anala Tille in Leipdg.
Druck und V«rlaf tob Friedrich Andreu Perthes, Aktieagesellscheft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
tur
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
VI. Band November 1904 2. Heft
Unsere Flufsnamen^)
Von
Theodor Lohmeyer (Marbnrg)
Der freundlichen Aufforderung des Herausgebers dieser Zeitschrift,
für diese einen kurzen Aufsatz über unsere Flufsnamen zu verfassen,
komme ich gern nach , besonders auch , weil mir dadurch eine neue
Gelegenheit gegeben wird, die einfache, aber auf aufserordentlich
scharfer Geländebeobachtung und auf allgemeinen festen Grund-
sätzen beruhende Flufenamengebung hervorzuheben, femer das viel-
fache Hinaufreichen dieser ältesten Urkunden unserer Sprache bis in
die indogermanische Urzeit und die darin wurzelnde Bewahrung der
Urbedeutung der zur Namenprägung angewandten Wörter, schliefs-
lich die auch aus der Erforschung der Flufsnamen sich ergebende
Erkenntnis, dafs Europa und nicht Asien die Urheimat der Indoger-
manen sei.
i) Besondere Abkttrxangen: Eia * vor einer Form xeigt an, dafs sie nicht
überliefert, sondern blofs erschlossen ist. — Daniel => Daniel, DeutsMand (3. Aufl.
Leips. 1869/70). — Doomkaat =» J. ten Doornkaat Koolmann, WÖrterbueh der ost'
friesischen Sprttehe, — Fick => Fick, Vergleichendes Wörterbuch der indogerma-
nischen Sprachen (3. Aufl. Götting. 1870/76). — Förstemann =sFörttemann, AUdetäsches
Namenbuch (2. Aafl. Nordhaas. 1872) Die ohne Quellenangabe ans althochdeutscher Zeit
■angeführten Formen sind mit wenigen Aasnahmen diesem Werke entnommen. — Klage =»
Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (5. AufL Straisburg 1894). —
Lo. I. =s Th. Lohmeyer, Beiträge xur Etymologie deutscher Flußnamen (Göttingen
1881). — Lo. 2. = Neue Betträge xur Etymologie deutscher Flußnamen (Herrigs Archir,
Bd. 70, S. 355-440). — Lo. 3. = Was bedeutet der Name ZoUem? (Wiss. Bcü. des
Jahresber. des R.-P.-G. xu Altena, Ostern 1890). — Lo. 4, mm Beiträge xur Namenkunde
des Süderlandes (Wiss. Beil. zum Jahresber. des Prog. zu Altena, Ostern 1894, 76 S.). —
Lo. 5. =s Die Hauptgesetxe der germanischen Flußnamengebung (Kiel und Leipzig
1904, DC, 32 S. gr. 8. Jü 1,20). — Oesterley =s Oesterley, Historisch-geographisches
Wörterbuch des deutschen Mittelalters (Gotha 1883). — Schade ^ Schade, Alt-
deutsches Wörterbuch (2. Aufl. Haue 1872 flf.).
3
— 30 —
Eine fünfundzwanzigjährige Beschäftigung mit der Erklärung deutscher
Flu&namen hat mich zunächst gelehrt, dais die Ansichten Förstemanns»
des überaus verdienstvollen Begründers der wissenschaftlichen Orts-
namenkunde, einmal über die sogenannten Flufsnamensuffixe , zum
anderen über die namenveranlassenden Wirklichkeitsbedingungen nicht
haltbar sind. Indem ich bezüglich der näheren Begründung der hier
vorgetragenen Ansichten auf meine letzte Schrift Lo. 5, s. Anm. i,
und deren Pfinweise auf meine früheren Schriften verweise, will ich nur
erwähnen, dafis sich mir erstens aus der Betrachtung einer aufserordent-
lieh groisen Menge von Einzelfluisnamen betreffs deren Wortbildung^
folgendes Gesetz ergeben hat: „Ein germanischer Flufsname
besteht, wenn er nicht zusammengesetzt ist, aus einem
einfachen Grundwort für Flufs, wie aha, aÜa, apa, asa, manay.
trawausvf.f oder, wenn er zusammengesetzt ist, aus einem Bestim-
mungswort mit einem der Grundwörter für Flufs. Ein Suf-
fix tritt nur bei den Grundwörtern auf, und zwar ist das
Grundwort ohne Suffix aus dem Grundwort mit Suffix
durch Abschleifung hervorgegangen, so aUa aus aliena^
asa aus asana, trawa aus irawena.'' Als solche Grundwörter habe
ich am Ende von Flufsnamen alta, asa, aia oder anta, bada, niana,.
rena (rana, ame), scara, trawa nachgewiesen, während dieselben bis
dahin, wenn sie den Schlufs von Wörtern bilden, als blofse Ableitungs-
endungen aufgefafist wurden und dUa, asa, ata oder anta, bada, mana
in NichtZusammensetzungen, also als einfache Wörter, unerklärt ge-
blieben oder wenigstens nicht als Grundwörter für Flufs erkannt waren.
Die scheinbaren SufOxe bei Nichtgrundwörtern sind Reste ehemaliger
Grundwörter, so -ala mit den Nachtonformen -ela, -ila, -via, -ola usw.
von (Ma und dies aus lata, amna oder a^na mit den Nachtonformen
-ana, -i/na, -una, -ona von ama oder anta, -ara (-era, -ira, -ura, -ora}
von ama, -se von asa (asana), -tra von trawa usw.
Diese von mir aufgestellten neuen Grundwörter für Wasser, Bacb
usw. sind jetzt bereits im Grundsatz von verschiedenen hervorragenden
Ortsnamenforschem (Jellinghaus, Leithäuser) angenommen worden; auch
das Literarische ZentralblaU (Jahrgang 1904, Nr. 21) bemerkt in bezug
auf die neuen Grundwörter: „Lohmeyer mag in den meisten Fällen
das Richtige trefTen, gibt er doch einleuchtende Etymologien für einen
Teil derselben."
Zweitens hat sich mir bis jetzt ohne Ausnahme das weitere
Gesetz stets von neuem bei den uralten Flufsnamen bestätigt: „Wie
das Quellgelände oder die Quellhöhe, so der Flufsname".
— 81 —
Unsere Vorfahren nannten also die Flüsse nach ihrer Heimat, ihrer
Geburtsstätte. Deshalb sind die wirklich uralten Flulsnamen sozusagen
Ursprungszeugnisse, d. h. sie sagen uns, wie das Gelände beschaffen
ist, wo die Quellen des betreffenden Flusses zutage kommen; aus*
genommen sind diejenigen, bei denen, wie es besonders bei mehreren
grofsen Flüssen der Fall ist, ein bloises Grundwort ohne Bestimmungs-
wort verwandt ist, wie z. B. bei Elbe, Rhein, Maas, wahrscheinlich auch
bei Oder *). Gewifs haben verschiedene Flüsse in ihrem Laufe ver-
schiedene Namen, aber ursprünglich immer nur einen, und der wurde
von der Beschaffenheit der Quellhöhe heigenommen.
Wie erklärt sich diese aufiallige Tatsache ? Einmal aus der hohen
Verehrung der Quellen — pilgern doch noch jetzt die urverwandten
Hindus zu den Quellhöhen des Ganges — und der Wertschätzung
eines beständig den Menschen und den Haustieren Wasser spendenden
Flusses. Deshalb erfolgten die Siedelungen meistens längs eines Flusses,
und die Anwohner nannten sich sehr oft nach diesem Flusse. Zum
anderen setzt diese Tatsache eine Verbreitung der Namengeber über
weite Landstrecken und zugleich einen Verkehr zwischen den einzelnen
Stämmen voraus. So erklärt sich auch, dafs gerade bei den gröfsten
Strömen mit ihrer mächtigen Ausdehnung von der Quelle bis zur
Mündung blofs ein Grundwort angewandt wird; sie wurden „das Wasser,
derFlufs'* schlechthin genannt; auch kommt es vor, dafs ein Stamm
seinen Hauptfiufs, wenn dieser auch kleiner war, blols als „das Wasser'*
bezeichnete; verschiedentlich ist auch das Bestimmungswort verloren
gegangen und blofs das Grundwort übriggeblieben, wie ich nach-
weisen kann. Die Flufsnamengebung war sozusagen eine öffentliche
Stammesangelegenheit, eine feierliche Handlung; denn durch das ihm
geläufige Grundwort für Wasser, Flufs stempelte der betreffende Stamm
i) Unter dem von Ptolemfios überlieferten Flofsnmmen OöCaSo^ (Viadus) ist nach
ziemlich allgemeiner Annahme and auch m. £. die Oder za verstehen. Der Name ist
aach nach meiner Meinuig vorgermanisch, in diesem Falle slawisch und hängt mit idg.
vada = Wasser, altslaw. voda, germ. wcUan ^ anrd. vaitn^ got vatö zusammen. Das
i betrachte ich als aas dem Bestreben hervorgegangen, den eigentümlich konsonantisch-
vokalischen Anlaut das w wiederzugeben, das im Urbaltisch-Slawischen nach B rüg mann,
Kturxe pergleichmde OrammaHk der mdogermanisehen Sprctehen (Strafsb. 1902 fi) { 160,
noch „unsilbisches u^* war. Die späteren Formen Odara, Odara mit der Ableitungssilbe
ixra entprechen der von demselben Stamme schon im Indogermanischen vorhandenen Ab*
leitung vadra »■ Wasser, sskr. udSm, slawodeutsch vadra — s. Fick II, 461 — , germ.
vatra, as. watar, nhd. Wasser. Das indogermanische icada erscheint übrigens auch in
germanischer Lautverschiebung als Grundwort, z. B. in Lanö-toata^ jetzt Rehbmch (Rhein,
unterhalb Speier, nach Förstemann).
3*
— 32 —
die Quellen und den ihnen entströmenden Fluis gewissermaisen als
Stammeseigentum. Es scheint auch nicht ausgeschlossen ^), dais sich
die Menge der Grundwörter für Wasser, Fluis usw. nicht blofs aus der
langen Reihe der Jahrhunderte erklärt, innerhalb deren bei demselben
Stamme das eine Grundwort in Vergessenheit geriet, das andere empor-
kam, und nicht blofs aus der zufälligen Verschiedenheit der einzelnen
Grundwörter bei den verschiedenen germanischen Stämmen, sondern
auch aus der Mannigfaltigkeit der indogermanischen Urstämme, welche
für den Zweck der Besitzergreifung von dem Quell- und Flufegebiet
ihres Landes ein bestimmtes Grundwort für Flufis absichtlich ge-
wissermafsen als Stammeswort erkoren.
Die Bestimmungswörter nun, welche das Quellgelände kennzeich-
nen und beurkunden, zeugen von einer aufserordentlich scharfen und
geistvollen Auffassungsgabe. Es zeigt sich darin neben der nüchternen,
einen ausgeprägten Wirklichkeitssinn offenbarenden Erkenntnis der
jedesmaligen Geländeverhältnisse eine phantasievolle Ausdrucksweise,
z. B. wenn eine Bergeinsattelung, wie der Voralpenpais Brünig, alt:
Bruen-eg, mit dem Worte hru/na = Brauenhöhe bezeichnet wird —
die Nasenwurzelsenke ist die Einsattelung zwischen den beiden Brauen-
höhen — , oder wenn ein an einer lehnstuhlartigen Höhe, einer „Platten-
lehne**, entspringender Flufs, wie die Lenne (Ruhr)*), der Flufs von
der Plattenlehne heifst. Es zeigt sich die Schärfe der Auffassung, wenn
genau die Form bzw. die Beschaffenheit der Quellhöhe gekennzeichnet
wird. So z. B. wird eine Sanflhalde *abja% genannt, ein Bergkamm
mit scharfem Abfall nach zwei oder einer Seite agja*), nhd. Egge,
eine hügelförmige Spitze (üa oder ila *) , ein Bergrand ''^amba *) —
die älteste Bezeichnung für diesen Begriff — , die Steilhöhe *ana, ein
Spitzkegel *aspa oder *ispa ') — wiederum die älteste Bezeichnung
i) Diese Annahme ist bis jetzt allerdin^ nur Vermatang and bedarf noch einer
näheren Untersachnng.
2) Lo. 5, S. 19.
3) Lo. 5, S. 16.
4) Lo. 5, S. 7 n. 10 und Lo. 2, S. 423.
5) Lo. 5, S. II.
6) Lo. 5, S. 14 ff.
7) aapa mit der Nebenform iapa ist ursprünglich gleich mit dem Baumnamen Espe,
d. h. eigentlich Spitze, womit zunächst wohl besonders die Schwarzpappel gemeint ist,
welche ostwärts in die spitze Pyramidenpappel übergeht; aspa ist stammverwandt
mit lateinisch asper spitzig, rauh. Es erscheint in vielen Flufs- und Bergnamen, z. B. in
dem schön noch jetzt in alter, voUer Form erhaltenen Flufsnamen Ssp-olda (Leine) und
in dem Namen des nordöstlich von Giefsen gelegenen erloschenen Vulkan kegeis Aspen*
kippel; die Nebenform ispa erscheint z. B. in Isp-era, jetzt Isp-er (Donau).
— 38 —
für diesen Begriff — , eine kleine Hochfläche hara % eine Geradböschung
oder eine Höhe mit Geradböschung fara*)^ bzw. f(^a (fuora, ftira),
eine gröfsere Hochfläche fulr oder fü-, bzw. /oJ-, ein Langvorsprung,
Langkeil eines Berges ger, eine Sanftwölbung *gula *), eine Tiefschlucht
*^na*), *gana, ein scharfer, meist senkrecht aufsteigender Fels mit
hwat'y wat-, ein etwas breiter, k in n artiger Berg^orsprung Jcvan-, hun-,
ken-, Mn- *) , ein Bergrand laisa *) — vgl. amba — , ein meist klippen-
artiger Felsen, gewöhnlich ein Hochfelsen lud-, eine Querbergzunge
lup-, lap- (s. S. 40 Anmerkung 3), eine etwas steilere dammartige Bergwand
mur-, mar- ^), eine nabelartige Erhöhung , ein Geländebuckel nciba %
ein etwas steilerer Abhang von längefen Bergrücken natha und nitha •),
ein Berg mit nackten Felsen nur-, nar~ ^^) — wohl der älteste Ausdruck
für diesen Begriff — , ein Bei^jand quas-, huSf und zwar wohl ein Berg-
hochrand, ein Berg mit freiliegenden Felsen rod — vgl. nur und ruf — ,
ein Berg mit meist zerklüfteten, blofsliegenden Felsen ruf-, ein spitzer,
meist felsiger Bergvorstols scut-, ein kleiner Hügel oder ein Hügel-
köpfchen swcLS'f sf45-, der nasenartige Bergvorsprung *swantha, *swcUha
bzw. *stUha, *5un^Äa*% ein scharfer, aufsteigender Felsen sweg- (ch),
sug vgl. hu?€U — , ein Beigkegel *tetUa, tuia^) — vgl. (zspa — ,
eine breite Rundkuppe *warja ") (war) , eine Kuppe , Spitzkuppe auf
breitem Sockel mws-, wcts^, u;is- ^*). So könnte ich noch eine grofse
Menge weiterer treffender Bezeichnungen anführen; doch mögen die
gegebenen Beispiele genügen ^*). Übrigens läfst sich auch in den
Grundwörtern für Wässer mehrfach eine feine Unterscheidung erkennen :
ihre Mannigfaltigkeit beruht nicht blofs auf der langen Reihe der Jahr-
i) Aach der im Ablautaverhältiiit stehende Stamm Imr- kommt vor; s. Lo. 4, S. 51.
2) Lo. 5, S. 16.
3) Lo. 5, S. 17.
4) Lo. 5, S. 16.
5) Lo. 5, S. 20.
6) Lo. I, S. 51.
7) Lo. 4, S. 16 u. 61.
8) Lo. 5, S. 14 ff.
9) Lo. 5, S. 5ff.
10) Lo. 4, S. 73 ff.
11) Lo. 4, S. 3ff.
12) Lo. 4, S. 52 n. 75.
13) Lo. 5, S. 18 ff:
14) Vgl. S. 34i Aom. i und bid. S. 38—39, Anm. 4.
1 5) Die von mir in früheren Schriften noch nicht behandelten Bestimmungswörter hier
begründend sn erklären, übersteigt den mir zugemessenen Raum. Wo mir die Grundform
noch nicht klar ist, habe ich oben die blofsen Stämme mitgeteilt.
— 84 —
hunderte und der Vielheit der Stämme, sondern hier hat auch die
Veiischiedenheit des Quellwassers einige besondere Benennmig'eii ver-
anlaüst. So ist das Grundwort bada ^) nach meinen Beobachtungen
nur bei warmen Flulsquellen angewandt, wie der Name Baden sich
i) Germanisch batha gehört nach Fick imd Klage sa dem Stamme 6a>; dazu
althochdeutsch bäen = bfihen. Die Grondbedentung des indogermanischen Stammes bk9:
bha ist nach Klnge „warm waschen, warm baden ^ gewesen, nach Fick bShen, wärmen;
batha heifst also zunächst wohl das Wärmen durch warmes Wasser, dann das wärmende
Wasser, das Warmwasser, das Warmbad, das Bad. Es erscheint z. B. in Bode (Saale),
*
alt: Bada — wichtig ist hier besonders «die Bezeichnung „Warme Bode'', in Bode
(Wipper); daran Bodongen im Kreise Worbis, alt: Badungen. Es begegnet femer in
Badestube bei Marburg, ein Name, der zunächst eine in der Nähe ron vidkanischen Basalt-
aosbrflchen entspringende, im Mittelalter hochverehrte and mit der heiligen EUsabcth in
Verbindang gebrachte Quelle und deren Umgebung bezeichnet, dann das ganze Bachtal.
Badestabe ist gleich Badestofe m. E. oi Warmquellstufe und zwar so genannt ron den .
mächtigen, trotz der Überwacherung noch jetzt in ihrer stufenartigen Lagerung erkenn- I
baren Quarzitplatten. Die QueUe wird in uralter Zeit etwas warm gewesen sein nnd
daher wird die ihr zugeschriebene Heilkraft stammen. Auch der Umstand, dais die alten
Bachnamen in der nächsten Umgebung Marburgs ohne Ausnahme das Grandwort asa haben,
dieser aber nicht, führt darauf, dafs der Grund der abweichenden Benennung wohl in d^
ursprünglichen Wärme des Quells gelegen haben mufs. — Bada »m WarmqueU haben
wir auch in Wiesbaden, alt: Wiai-bad; aus den offen zutage tretenden WarmqueUen
wird ursprünglich ein Bach frei abgeflossen sein; der Name ist gleich mit Wies-bQde
(Bieber) im Kreise Gelnhausen; -büde erklärt sich als Nachtonform von -bada, boda.
Wiet' in Wisi-bad deutet auf germanisch *tcisja, rorgermanisch ^toe^; wetja steckt
m. E. in Ves-utnue, der auch Ves^emu heifst und nach meiner Erklärung Bergknppen-
Gelände bedeutet, sowie in dem am Ves-av entspringenden Ves-eris, d. h. Berg-
kuppen - Flufs , s. Lo. 4, S. 31. ^Wisfa steht im Ablautsverhältnisse zu dem unten
S. 38 — 39 behandelten tcöS', waS' und ist wahrscheinlich gleich mit althochdeutsch trüo,
neuhochdeutsch Wiese, das so wiederum verwandt ist mit waso — s. S. 38, Anm. 4. —
und auch nach Kl,uge mit angelsächsisch toö8 Feuchtigkeit, englisch woasy feucht. Wis-
bedeutet in Flufs- und Bergnamen Kuppenberg wie tcds- und tctu-, wie ich glaube nach-
weisen zu können ; es erscheint auch in Vis-ur-g-is — s. über das ^ als ein rein pho-
netisches Zeichen zum Ausdruck des den Römern fremden gutturalen r Lo. 5, S. 35 — ,
sie heifst im Mittelalter stets ohne g Wis-ura usw. und ist namensgleich mit dem alt-
italischen Ves-er-is; femer in Vis-t-tda, jetzt Weichsel, und in zahlreichen anderen
Flufs- und Bergnamen. — In Wiesbaden liegen die beiden bedeutendsten und zugleich
allein offen zutage tretenden Warmquellen, der Kochbrunnen und der Adlerbrunnen
am Fufse eines Berges. Ob der als Quellberg dieser beiden Brunnen anzusehende Berg
eine Kuppe auf breitem, massigem Sockel zeigt, also eine *wtsfa ist, und ob daher nach
ihm das aus den beiden Quellen ursprünglich als Warmbach frei abfliefsende Wasser
Wiei^fad, also Kuppen- Warmwasser, genannt ist, dies festzustellen, fehlt es mir augen-
blicklich an Zeit und Gelegenheit. Es würde mir sehr lieb sein, wenn jemand, durch
diese Bemerkungen angeregt, mir über die Gestalt des Quellbeiges Sicheres mitteilen
könnte.
J
— 86 —
immer als Bezeichoung von Orten mit Thermalquellea findet ') ; so
bezeichnet das von mir früher noch nicht erkannte Grundwort risa
bzw. rusa*) wohl nur einen Sprudelquell, wie in Salt-rissa ") , jetzt
Selters — Nieder- und Oberselters am Emsbacbe ~- ; das blofee Gmnd-
i) Siebe Nagl, OtographUehe Namenkunde (Leipi. o. Wien 1903), S. 31.
1) rüa hst sich noch erbalteo in (riesiicti ria du Anfiteigea, Aafqnellen — 1. Doorn-
kaat — , itammveTwandt mit althochdenticb Titan lich erheben, »teigea, aber Mch,
-wie ät abgeleitete rieieln ^ tröpfeln, »{pien; ei hat sich ferner erhalten im bajerischen
m dai Fallen — i. Schmeller, Baytriteket WiSrterbueh —, denn althoahdeatich
f-Mon heifit neben „steigen" auch „fallen"; et ateckt «odann in hestück Be-rw, eigent-
lich „das Nebenbeigerieselte ", d. i. der Abfall Ton Getreidehalmen, s. Vilmar, Mio.
Ukon von &irhetten unter rUen ^ sinken nnd vgl. Orimmt Wörterbueh anter Riet
Das im AblanttferhHltniste ttehende ruaa haben wir nock in friesisch nae, d. i. behnb
dei Mttlzens anfgeqnollenei Getreide, ortprtlaglidi demnach die Erkebnng, das Asf-
qnellen. Dieiei friciiiche Wort wird tchon von Doornkaat m friesitch ruien ^
•cbvellen, anfqnellen mw. {resleUt. Ähnlich gibt e> nach Orimnu Wdrierbueh anch
iD rieieln eine Nebenform nueln und tu Ricsel •— Regen, Sommcrtproue niw. towohl
Bumt ^ kleines Hagelkorn als Rütd ^ Sommertprosse , eigentlich das Niederspritien
bzw. Aafspritien. Dieses Gntodwort ruaa, riaa ist woU in anteracheiden ron dem aas
gemaniscb hruga eatttandenen und in Flnfa- nnd Bergnunen „die Steinranhe", d. h.
den tteinigen Boden beaeichnenden Beitimmnogswort fuaa, du in den laUreicben
Roftbacben meistent steckt imd t. B. anch in Wira-el, alt: Ihtra-iila, einer Unutellong
ant 'Erua'üla, welches durch Angleichang »oi *Hrui-iäa eotttanden ist Siehe Über
-Üa aas -Uta, einer Nachtonform tod oUo, Lo. 1, S. 384.
3) Sau- in SaUriaaa kann aot 'siealja Steilichwelle eatitanden sein, wie Sali' in
dem Bergnamen Sal-t-eri ■- *Sieal-f-keri, jetit der Seiter, westlich »on Ganderiheim;
hier ist ans Uatpbytiologiichem Gnmde ein l eingeschoben ; t, bierUbcr sowie über *»iea^
Steilschwelle and den Bergnamen SaÜeri Hberhaapt Lo. 3 , 5. 1 , 5 n. 6 and vgl. Lo. 5,
S. 10. Bei dem Bergnamen Seiter ist eine Ableitung von Sali nnmOgUcb, wie ich Lo. 3,
S. 6 aof Grand lon inverläsiigcn Erknndigongen dargetan habe. Salt- könnte aber anch
in diesem Falle, wo es sich am eine blofse Qaelle ohne Bach handelt, als Salz aafgefaftt
und demgemtft Sait-riaaa als Salzipmdel gedeotet werden. Dies wflrde gat passen, denn,
wie Daniel U, 744 bemerkt, „tpradelt der berühmte kohlensaore Bronnen bei Nieder-
sellera ans dem linken Hange dei Emstalet mit starkem Braasen and zahllosen Blasen
ans der Tiefe". Es bliebe aber bei dieser Deatong die Unlerlassong der hochdeatschcn
Laatrertcbiebang gut nnerklärlicb , Salt statt Sah, nnd deshalb gebe ich der enteren
ErkläroDg nnbedingt den Vorzog. Dana hiefse der Name „Bergsprodel", eigentlich:
Sprodel ans einer Steilschwelle. Vielleicht dentet «nf awal- Ber" •"''' -"• b»"»»'«™™"
Vogels, BeMohreäntng dea Eerxoglwma Naaaau, S. 76: „Diejenij
die nicht lo den Thermen gehSreo, worden in der Voneit nnd b
Schwnllbnuuien genannt, wie sie jetzt Saaerbrvnneo heiften"; bei
die von Vogel (S. 76) crwihnte Uineralqoelle „aof dem Schwall
Ortlichkeit zu denken ist. — Für denselben Namen, aber andere C
bezeichnend, finden sich anch die Farmen cnit einem a, SaU-riee
Hase (Enu) altdentsch auch Aia and Atta, wie der GOnzbach,
— im Vm. Jahrhandert — Ovn-itaa nnd Qunita lautet.
— 36 —
wort tritt ferner hervor in dem Flufenamen Reuls, alt: Busa — Biusa
ist Konjektur für Rinsa — , femer in der schwäbischen Rife, alt : Bussa,.
und dies Grundwort steckt m. E. auch in dem Schweizer Flulsnamen
Bibe-rtissa, jetzt Bibersch ^).
Die verschiedenen Bezeichnungen für denselben Begriff haben anch
bei den Bestimmungswörtern ihren Grund einmal in der langen Reihe
von Jahrhunderten, die für die Flufenamengebung in Betracht kommt.
Während dieser Zeit gingen, selbst bei denselben Stämmen, verschiedene
Bestimmungswörter zugrunde, andere kamen empor, wie sich ein solcher
Vorgang auch in der deutschen Sprache von der gotischen bis zur
neuhochdeutschen Sprachperiode bei verschiedenen Gattungsnamen ver-
folgen läfst. Zum anderen rührt diese Mannigfaltigkeit daher, da&
bezüglich der Bestimmungswörter gleichzeitig bei dem einen germa-
nischen Stamme das eine, bei dem anderen ein anderes in Gebrauch war.
Wenn man nun wahrnimmt, da(s viele Fluiisnamen in Frankreich,
Deutschland, Italien, den slawischen Ländern, ja selbst in Asien in
den nachweislich von indogermanischen Stämmen bewohnten Gegenden
wiederkehren; wenn man sieht, da(s diese in Nordfrankreich, Belgien,
Holland, in Deutschland, Deutsch - Osterreich in sehr groüser Anzahl
in einer der Urform am meisten sich nähernden Gestalt erhalten sind ;
wenn man erkennt, dafs die für diese Flufsnamen gebrauchten Wörter
die ursprüngliche indogermanische Bedeutimg oft treu bewahrt haben
und widerspiegeln*): so gelangt man zu der Überzeugung, dafs die
Ausbreitung der Indogermanen nicht von Osten nach Westen,
sondern umgekehrt V o n den Ländern an der Nord- und Ostsee
nach Osten und Süden erfolgt ist. Auf diese jetzt immer mehr
Anhänger gewinnende Ansicht ') führt also auch die Betrachtung der
Flufsnamen. Ein derartiger, überall in Ländern indogermanischer Zunge
verbreiteter Flufename ist z. B. die ^Ak-ctsana oder *Ak^ana, zu-
sammengesetzt aus vorgermanisch nikia = germanisch agja ^=3 Egge
i) BW'fbib-) in Flnfs- nnd Bergnamen ist rorgermamsches Ftb-, z, B. in Fib-renuay
einem Flosse im alten Latiom; dieser ist völlig gleich mit dem deutschen Flufsnamen
Bw^ema, jetzt Berer (Oste), s. über -ema -■ rena Lo. 5, S. 5. Biv-, bib-, anch buf*-,
bub' erscheint in vielen Flofs- und Bergnamen, nnd bedeutet nach meinen bisherigen
sprachlichen und Gelündeontersachangen „Anfbauschong, Randköpfchen ^^ Die Flofsnamen
mit diesem Bestimmungswort haben mit dem Tiere „Biber" nichts tXL tun.
2) Dies glaube ich Lo. 4 und 5 wiederholt nachgewiesen zu haben, z. B. in der
letzten Schrift bei den Bestimmungswörtern ^amba Bergrand, *ana Steilhöhe, ^nitha etwas
steiler Abhang, loh aus lauha (lauga) Freihöhe, Schauhöhe, Hoa/rja, eigentlich Hebung,
dann Breitkuppe u. bei a.
3) Siehe z. B. Mnch, Die Heimat der Indogermanen (Berlin 1902).
— 37 —
oder Bergkamm und (isana = Flufs, also einen Flufs bedeutend,
welcher an einem Bergkamm entspringt, ein Bergkammwasser. Er er-
scheint im alten Gallien in vorgermanischer, keltischer Form als Axona,
jetzt Aisne (Oise), aus *Äc~is(ma (^Ac-CLsona) mit dem auch sonst
vielfach nachweisbaren Fortfall des i (a) in isana (asana), in Altsizilien
als L^x-ccy/v-ijg , in Szythien *) als Ak-esin-os (Ac-esin-^is) , vielleicht
auch in Altindien als AJc-esin, griechisch L^fx^a/yijg , wenn der in den
Wedas vorkommende Name für diesen Flufe Asikni, Asüa (trüb, gefärbt)
als gelehrte Umdeutung des bereits nicht mehr verstandenen Flufe-
namens gefafst werden kann. Derselbe Name erscheint nun in Württem-
berg in germanischer Form als Ach-aea •) — statt -osa mit zu 0 ver-
schärftem s, wie so oft bei diesem Worte besonders in Kurhessen — ,
jetzt Echatz (Neckar), in Oberösterreich als Ag-asia, jetzt Aist (Donau),
mit angefügtem ^•), in Niederösterreich als Acc-ussa-hah ^) (830), als
Ach'iS'bach (1083), j^^^ Aggsbach ; -6acA ist späterer Zusatz und -ussa
bzw. -is sind Nachtonformen von (isa.
Ein weites Verbreitungsgebiet, nämlich in Frankreich, Westfalen
und Hessen, in Österreich hat auch der Flufename *An'isana, jetzt
Enns (alt: Anisus, auch An-astis) in Österreich, Ense in Westfalen,
Anze in Kurhessen, An-isola, jetzt AnUle in Frankreich*), ferner die
Werse, in Italien als Ver-es-is erscheinend, die Ems, älteste Form
Am-asirOSy deren altitalischer Namensbruder der Am-CLsen-us in La-
tium ist •).
Man hat ntm in den Flufsnamen vielfach ein Mittel, um das ursprüng-
liche Germanien abzugrenzen: soweit die Flufsnamen die ger-
i) Dais die Szythen zu den Indogermanen and zwar za den Eraniem gehört haben,
steht nach Mttllenhoffs Untersachnngen ein för aUemal fest (MonaUheriehi der kömgL
Akad, der Wies, xu Berlin ^ S. 549 ff., 2. Aognst 1866 nnd vgl. Fick, Die ehemalige
Spraeheinheit der Indogermanen Europas, S. 405).
2) ch wird statt g verschiedentlich in Oberdentschland in der althochdeutschen Sprach-
periode geschrieben.
3) Gerade bei diesem Worte geschieht das sehr häufig, s. Lo. 5, S. 18 und Lo. 2y
S. 376; vgl. die Jaxt, alt: Jag-ista (nach Graff, AUhochdeuteeher Spraehsehatx) und
Jag-as, Jag-ese,
4) Äe- möchte ich lieber als germanisches ag- in hochdeutscher Lautverschiebung
fassen, denn als vorgermanisches oe-. Das a statt des Umlautes e erhält sich in Eigen-
namen oft, besonders auch bei diesem Worte, vgl. z. B. Ag-ist-er-stein, s. über diesen
Namen im KorrespondenxbkUt für niederdeutsche Sprachforschung Heft 12, 1887, Nr. 4^
S. 5 1 ff. — baeh ist späterer erklärender Zusatz zu dem nicht mehr verstandenen Grund-
wort asOj in Nachtonform usa oder isa,
5) S. Lo. 5, S. 23 u. 24.
6) S. Lo. 5, S. 13 ff.
0
— 38 —
manische bzw. hochdeutsche Lautverschiebung zeigen,
reicht germanisches Gebiet; erscheint aber die unverschobene
Form, so haben wir es mit nichtgermanischem Sprachgebiet zu tun.
Die AJc-eda z. B., jetzt nach einer freundlichen Mitteilung des Archiv-
direktors Reimer in Koblenz der Achter Bach *) (Nitz, unterhalb Vime-
burg), zeigt in Ak »= vorgermanisch akia = germanisch agja, Egge
und dem Grundwort eda aus ada ') die vorgermanische Lautstufe,
während derselbe Name, die Oichten (Salzach), alt: Og-cUa und Ogete^
^= *Äg'ata, die germanische Lautverschiebung aufweist — So tritt auch
in Vös-i^-us, jetzt Vogesen, in -eg, welches hier natürlich nicht um-
gelautetes e, sondern Nachton-6 bat, die germanische Lautverschie-
bung hervor; denn -eg ist das germanische agja: die Formen mit -€ij^
kommen vielfach noch in der älteren althochdeutschen Zeit vor in Fa9-€i^ti9,
Vos-ago usw. Erst später tritt die Abschwächung des Was- zu TFos- ein,
z. B. in den Formen Was-ag-us, Was-ac^us — mit hochdeutscher Laut-
verschiebung — und Was-igen. Derselbe Name wie Vosegus ist wohl
mit derselben späteren Abschwächung des o zu a Was-unga, das nach
Oesterley auch als Was-eg^n vorkommt, jetzt Wasungen, nördlich von
Meiningen; Was-^nga : Was-egin = Osning : Osn-egge; u ist ein-
getreten durch Trübung des a infolge des Nachtons ; Vosegus ist ferner
wohl =a Wcts-egen in Oesterreich — s. Oesterley — , weiter = Wctö-gun-^^erg
bei Förstemann, ziemlich sicher aus Was-eg-un-berg mit erklärend zu-
gefügtem 'berg, sodann auch =» Wassen-egge bei St Blasien, jetzt
Wcschenegg, schlielslich »■ Was-ago, wahrscheinlich in der Nähe der
Lauter, westlich von Worms nach Förstemann. — Vos-^gus^) heifst
i) Der Ort Acht an diesem Bache hat seinen Namen von dem Bache bekommen,
und von diesem Ortsnamen ist wiederum der jetzige FlnTsname „Achter Bach*' abgeleitet
Förstemanns topographische Bemerkungen über die Akeda sind nicht genau.
2) S. über dieses Grandwort Lo. 5, S. 28.
3) Sicher — mittels Verdumpfong des o aus dem ursprünglichen a — =*J^-ata.*
der Osning heifst altdeutsch Am-4gf Osivdg and Osn-egge; Oese bei Elze» südöstlich
von Hildesheim, laatet altdeutsch Aaühe and Ostthe, die Hase alt sowohl Asa als 0$e usw.
4) Dieses toos halte ich für gleich, wie ich hier nor andenten kann, mit mittelnieder-
deutsch wösfe) =" der Schaum von siedenden Dingen und,* da der Schaum immer blasig
ist, auch ■» Blase, wie ich schlieise; wös aber ist m. E. gleich lateinisch was, rdm
Gedifs, eigentlich wohl Blase, d. i. blasenförmiges GefiKs, wie wir aach mit Blase ein
aas Kupfer usw. getriebenes bauchiges Gefiifs bexeichnen ; vcts wird auch von Co-
lamella. De re rustiea ohne Zasats von dem aach bei den Römern hohl runden
Bienenkorb gebraucht (9, 6: ex ferulis eommode wua texuntur), and das ist beteicb-
nend. Sodann sind stammverwandt altnordisch V08 eiternde Hantpostel — diese Be-
deutung ist sehr wichtig — , femer mittelniederdeatsch waae ■» Bündel, englisch wam ■■
Strohbündel, Tragwulst usw. (mitteloiederdeatsch wase aach = Schlamm and Rasen). Der
— 39 —
Kuppen-Bergkamm, und diese Bezeichnung palst vorzüglich besonders
für die eigentlichen oder Hochvogesen mit ihren zahlreichen Kuppen
oder Belchen (Ballons), für welche sich mehrfach die mit wos- zu-
sammenhängende Einzelbezeichnung Wasen (Wassen) findet Vös-^-
US, urgermanisch Wös-ägja, ist sowohl nach dem ö des Bestimmungs-
wortes als dem g des Grundwortes ein echt germanischer Name. An
Grundbegriff ist Schanm, dann von der Gestalt des Schaomes: i) Blase, wie klar her-
vortritt in aluordiscb V08 eiternde Hantpustel, eigentlich wohl Blase, Bläschen; a) Trag-
wolst, Bündel (von der rundlichen Form); 3) GeffUs von Blasenform; 4) Berg mit
Blasenform, also mit randlicher Knppe. Blase selbst »■ Erdblase, Berg von blasenförmiger
Gestalt erscheint in vielen Flnfs- und Bergnamen. — Germanisch ö in toOe entspricht also
indogermanisch ä und auch lateinisch ä in väa, väsia, vgl. Brngmann, Kurze ver-
gleichende Grammatik der indogermcmisehen Sprachen, } 124 o. 125. Danach heifst
es also Vös-l^-uSy wenn auch der Dichter Lukan in den Pharsalia in der wohl verderbten
UmsteUuig Vog-es-ue das o kurz gebraucht In der früheren althochdeutschen Zeit er-
scheint noch dieses ö in Wös-äg^us usw., während das spätere a eine Abschwächung des
0 ist, wahrscheinlich unter Anlehnung an das stammverwandte und im Sprachbewufstsein
noch lebendigere waeo. — Ich nehme femer an, dafs Wust, mittelhochdeutsch nach Kluge
auch wuoet, germanisch also ^wösU^ femer wüst, altsächsisch wösH, welches genau ^
lateinisch vMue ist, sowie die Wüste nur Weiterbildungen vom Stamme was mit dem ^-Laute
sind; die Bedeutungsentwickelung ist: das Schäumen, das Wildsein (Schäumen vor Wut),
die Wildnis. Von gröfster Wichtigkeit ist es nun, dals mittelhochdeutsch toüestc^ die
Wüste, zwar nicht die Grundbedeutung von wöa, nämlich Schaum, Blase, aber die ab-
geleitete „Bauchgegend'' hat, die sich aus der von „blasenförmiger Rundung^' ergibt
WüesU heilst in diesem Sinne wohl zunächst Bauch, wie denn Wilhelm Müller im
mittelhochdeutschen Wörterbuch bei Anführung der Stelle aus Konrad von Würzburg:
er stach dem schateliure die tanzen %n %er wüeste mit Recht fragt: „Heilst das:
in den Bauch?'', — dann, wie noch jetzt im Neuhochdeutschen — s. Sanders,
Wörterbuch der deutsehen Sprache — die Weiche usw. Eine Weiterbildung mit dem
^-Laute und der Nasalierung ist Wanst b» Bauch, welches Fick mit sskr. vasti Harn-
blase, Unterleib zusammenstellt; man vgl. auch visica, in guten Handschriften venstea, —
Zugrunde liegt sämtlichen germanischen Wörtern das starke althochdeutsche Verbum
wasan stark sein, dessen ursprüngliche Bedeutung schäumen, wild sein, gewesen sein wird ;
hierauf deutet wohl klar mittelniederdeutsch wasen und mit der häufigen Vertauschnng von
b und w im Anlaute im Mittelniederdeutschen auch basen =» unsinnig reden und handeln,
s. Mittelniederdeutsches Wörterbuch von Schiller und Lttbben; vgl. auch das von
wös abgeleitete mittelniederdeutsche Verbum traten «■ überschäumen, schwärmen, rasen as«
friesisch wösen schäumen, brausen, ein wildes, wüstes Leben Dihren. Die weitere Ver-
wandtschaft dieser Wörter mit althochdeutsch waso feuchter Erdgrund, Rasen, Schlamm,
das ich abweichend von Kluge, aber in Obereinstimmung mit Schade streng von mittel-
niederdeutsch wrase «^ neuhochdeutsch Rasen sondere, und mit althochdeutsch wasal
feuchte Erdmasse, Feuchtigkeit, ferner mit friesisch wasem Dunst, Dunstdecke, sodann mit
oberdeutsch Wastel, das eine Art Kuchen, also wohl ein rundliches Gebäck, bedeutet usw.,
sowie der Zusammenhang der verschiedenen Bedeutungen dieser Wörter mit der Grundbedeu-
tung gehört nicht unbedingt hierher. Nach Unger-Khull, Steirischer Wartsehatz (Graz,
1903) bedeutet Wasling in der Metzgersprache eine dickere Gattung von Wurstblasen.
— 40 —
diesem Gebirge wohnten ja schon zu Cäsars Zeit Germanen, die
wohl nicht, wie Müllenhoflf früher in seiner Vorlesung* über Tacitus'
Germania zu begründen suchte, erst unter Ariovist hier angesiedelt
wurden, sondern die, wie der germanische Name beweist, schon läng-er
hier gewohnt haben müssen.
In Lupi-as femer, jetzt Lippe, = *Lupir-€töa, ist die germanische
Form des Flufsnamens bewahrt, während in der aus Tirol kommenden
Litib-asa *) , jetzt Loisach (Isar) , unter späterer umdeutender Anleh-
nung an althochdeutsch litib lieb die vorgermanische Form "^LuIh
asa *) erhalten ist , ebenso in dem niederösterreichischen Flufe- und
Ortsnamen lAtÄb-isa '), jetzt Langen = Lois am Loisbache.
Ich könnte noch eine Menge derartiger sich entsprechender ger-
manischer und vorgermanischer Flufenamen nennen, will aber nur noch
den oft vorkommenden germanischen Flufsnamen Verse — vgl. den
holländischen Flufsnamen Ver-sia aus dem Jahre 876 — , dessen Grund-
form *Far'isa *) ist , und den in den Ister mündenden , von Strabo
erwähnten Par-ls-os nebeneinanderstellen. Das P zeigt hier die vor-
i) Lupi-as werden die Römer gehört haben, daraas haben sie Lupi-^t gemacht;
Lupta, nicht Luppia hat Nipperdey in seiner Ausgabe überall; ebenso findet si<^
Lupia bei Mela. Vielleicht ist die älteste Form bei Strabo, nämlich uiovTri-ng, nicht
eine Umformung des lateinischen Lupia y sondern bewahrt den eigentlichen Lantbestand.
Asa ist das ursprünglich am Teutoburger Walde einheimische Grundwort; es erscheint
z. B. dort in Hase (Ems), alt auch Asa, femer in Em-s, alt: Äm-asi'as, in El-se (Werre,
Weser) usw., kommt aber, wie ich wegen der im Texte erwähnten österreichischen Flüsse
Loisach und Loisbach bemerke, auch in Deutsch-Österreich sehr oft vor. VgL über asa
am Teutoburger Walde Lo. 2, S. 367 ff. und Lo. 5, S. 6 ff. Einen Stamm Uq}-, der
Wasser bedeutete, gibt es nicht, also mufs das Grundwort für Wasser abgefaUen sein;
das a in Lupua kann es nicht sein, denn ä = ahva begegnet erst im Mittelalter. Mit
der Annahme hingegen von a als einer römischen Umformung von as = asa ist alles
erklärt Vgl. noch die Jaxt, alt: Jag-as und Jag-ese, und s. über Äm-asi-fcu) ans
Mm-OÄtn, Mm-cmwa Lo. 5, S. 13.
2) Auch Liuth-is-aha mit erklärend hinzugefügtem aha.
3) Das b ist hier wahrscheinlich vorgermanisch und nicht eine spätere germanische
Umdeutung. Das vorgermanische lub-, germanisch Inp^ bzw. lupi- aus ^lupfa, ebtxiso
wie das nasalierte Lumpen (eigentlich b* Lappen) im Ablautverhältnisse zu Lappen stehend
— vgl. englisch lap =^ Schofs oder Zipfel am Kleide und niederländisch lamp^» Lampen
oder Lappen — dieses Hupja bezeichnet in Berg- und Flufsnamen, wie ich aus vielfacher
Beobachtung weifs und später einmal ausführlicher begründen werde, einen Quer-Bergzipfel
oder eine Quer Bergzunge , d. h. eine aus der Längsrichtung eines Bergzuges sich ab-
zweigende und quer sich vorstreckende Bergzunge. Dies pafst vorzüglich auf die nidit
bei Lippspringe, sondern mit ihrem entferntesten Quellarm viel weiter aufwärts oberhalb
Kohlstädt, an der äufsersten Südostecke des Teutoburger Waldes, hart an der dortigen
Wasserscheide, entspringende Lippe. Ich habe die Quellen selbst besichtigt.
4) Siehe Lo. 5, S. 16.
— 41 —
germanische Lautstufe, während in der westfälischen Verse (Lenne,
bei Werdohl bei Lüdenscheid), in der hessischen Vers (Salzböde, Lahn)
sowie in Fer-sina (Etsch, alt : Ät-es-is *) , der auch, wie der Nebenflufs,
das Grundwort asa enthält) die germanische Lautverschiebung vorli^.
Bei Fersina ist zudem die Ableitungsendung -fia prächtig erhalten,
denn €isa bzw. isa ist aus (isana bzw. isana entstanden *), Die Fersina
(Etsch), deren germanische Grundform *Far'i8ana lautet, ist wieder
völlig gleich der hannoverschen Far-istina *) — aus dem VIII. Jahr-
hundert — , nur mit dem oft bei asa bzw. isa antretenden t ^).
Die Flufis- und Bergnamen sind die ältesten uns erhaltenen Eigen-
namen, denn ehe man zu festen Ansiedelungen gelangte, hatten die
Flüsse und Berge bereits Namen erhalten; es sind die altehrwürdigen
Geländeurkunden, in welchen das Volk der Indogermanen — bzw. die
aus ihm sich loslösenden Einzelstämme — seiner hohen Begabung,
seiner scharfen, geist- und liebevollen Naturauffassung ein dauerndes
Denkmal setzte. Zwar sind diese Urkunden im Laufe der Jahrtausende
verwittert und oft bis zur Unkenntlichkeit entstellt; aber dem Ernste
gemeinsamer Forschung, „den keine Mühe bleichet", wird auch hier
„der Wahrheit tiefversteckter Born rauschen". Die allerältesten Flufe-
namen reichen bis in die indogermanische Urzeit zurück und zwar
entweder als unmittelbare bodenständige Erzeugnisse des Urvolkes in
der Urheimat oder als mitgebrachte, ncugepflanzte Spröislinge der
indogermanischen Einzelstämme in den neueroberten Ländern. Die
Aufgabe der Zukunft ist es demnach, die Flufsnamen — hauptsächlich
mit Hilfe der verschiedenen Grundwörter — nach ihrem Alter zu be-
stimmen. Nach meinen bisherigen Untersuchungen scheint asana, asa
das älteste Grundwort zu sein ; ich möchte es das in indogermanischer
Urzeit gebräuchliche, aber auch in neueroberten Ländern neugepflanzte
Grundwort nennen. Es begegnet fast überall, wo indogermanische
Stämme nachweislich sich niedergelassen haben, z. B. in England
{Tam-eS'is, jetzt Themse), zahlreich in Nordfrankreich, Belgien und
Holland, zahllos in Deutschland, oft in Skandinavien und sehr oft wieder
in den Ostseeländern, vielfach in Italien (At-es-is, Ver-esis, Amrosen-us),
sehr häufig in Österreich und in den Alpen, in Ungarn (Tib'is-is,
jetzt Temes u. a.), in Ruüsland (Ak-esin-os, s. oben, u. a.) , wahrschein-
i) Nicht: Äth-estSy s. Pauly- Wisso wa, Real' Enzyklopädie der klassischen
ÄÜertumsunssenschaftf anter Atesis.
2) Siehe Lo. 5, S. 6 ff.
3) Nach Förstemann jetzt der MUhlenbeck (alte AUer, bei Daverden, Kr. Verden).
4) Siehe Lo. 5, S. 18 und Lo. a, S. 376.
— 42 —
lieh auch in Griechenland und Kleinasien in denen auf -isos bzw. -issas
usw. *). Rena hingegen scheint das Grundwort des g-ermanisch-keltischen
Stammes zu sein *), dessen Abzweigungen schon vor der geschichtlichen
Einwanderung der Kelten nach Italien sich wohl unter dem Namen Sabiner
in Italien festsetzten, daher besonders im Sabinerlande und in Sanmium
die Flufsnamen auf -re»«5 bzw. -emtis, meistens verwittert zu '^erus
(era), artis (aris), iris usw. Diese beiden Grundwörter erscheinen mir
auch aus dem Grunde als die ältesten, weil an sie als nicht mehr ver-
standene Wörter oder Wortstümpfe solche Grundwörter gehängt werden,
welche sich länger im Sprachbewufstsein erhalten haben, sei es bei
dem ursprünglich namengebenden, sei es bei einem später eindringenden
Volke. So wird das fälschlich von Müllenhoflf und anderen für keltisch
gehaltene, aber mit Recht von Arnold, Gall6e, Jellinghaus u. a. als
deutsch beanspruchte Grundwort apa, oberdeutsch afa, affa '), an das
Grundwort asa und ama (aus ratui) *) erklärend angefügt , z. B. in
El-s-pe (Lenne, Ruhr) aus El-se=*-B^i5a +jpc aus apa, ferner in El-s~off
(Eder, bei Hatzfeld), alt: EUs-apha, in EUs-off bei Rennerod in Nassau,
alt: El- OS -äffe usw., in MilrS-^ (Ennepe, Volme, Ruhr) aus Milse,
alt : "^Mü-isa , +pe *). An am wird apa bzw. affa hinzugefügt in Am-apa
oder Am-afa, jetzt Erft (Rhein), im waldeckischen Arn-effe, jetzt AnrafT.
Derselbe Name ist im Grunde Arl-ape % jetzt Erlaf (Donau), nur dafe
das n, wie so oft, in l übergegangen ist; Arlapa ist sonst ganz un-
erklärlich, denn von einer Ableitung von Erle kann keine Rede sein.
Dieses apa war aber bereits im Mittelalter kein Gattungswort mehr,
sondern lebte nur in den Eigennamen fort, während das jetzt als Gattungs-
wort erloschene aha damals im Sprachbewufstsein noch lebendig war
und besonders von den überklugen Mönchen überaus häufig an die
nicht mehr verstandenen Grundwörter aUa, asa, ata (anta), mana, rana
usw. erklärend angehängt wurde.
Es ist also die Aufgabe der Zukunft, einmal die noch nicht er-
klärten Bestimmungswörter zu deuten und zum anderen die Flufsnamen
i) Siehe über den altindischen Accsi-nes oben S. 37.
2) Insbesondere auch des grofsen saebischen Volkes.
3) Germanisch apa entspricht lateinisch ab- in amnia ans ^ab-nis nod auch alt*
irisch abh Flufs, denn nach Fick sind die indogermanischen Wurzeln ahh and ab
gleich.
4) Siehe Lo. 5, S. 5.
5) Siehe über mtd-y mü- nnd den althochdeutschen Flufsnamen Mü-isa Lo. 4, S. 61
mit den Hinweisen.
6) So ist die richtige Schreibung, nicht Arelape, s. Pauly-Wissowa a. a. O.
— 43 —
in den verschiedenen Ländern indogermanischer Zunge nach den ver-
schiedenen Grundwörtern zusammenzustellen und sie den verschiedenen
Zeiten, Völkern und deren Stämmen zuzuweisen. Diese ungeheure
Aufgabe kann nur von den vereinten Kräften vieler nach einem gemein-
schaftlichen Plane arbeitenden Gelehrten allmählich gelöst werden..
Beitragen dazu kann aber jeder Forscher und zwar zunächst dadurch,
dals er die in den Quellen überlieferten Namen für Flüsse, Flüfschen
und Bäche sorgfältig zusammenstellt. — Es werden sich einerseits aus
der Deutung der Bestimmungswörter sehr wichtige, besonders die Ur-
bedeutung der Wörter aufhellende sprachliche Auüschlüsse und andrer-
seits aus der örtlichen Verbreitung der verschiedenen Grundwörter die
wichtigsten Rückschlüsse auf die Heimat des Urvolkes, die Wande-
rungen der indogermanischen Völker und deren Stämme, z. B. der
Stämme des germanischen Volkes, ergeben *).
Mitteilungen
Yersanilllllingeil. — Die diesjährige Hauptversammlung des Ge-
samtvereins der deutschen Geschichts- und Altertums-
vereine fand vom 8. bis i i. August zu Danzig statt. Die Ver-
anlassung zur Einladung nach Danzig bot das Jubiläum des Westpreufsischen
Geschichtsvereins, der auf eine fünfundzwanzigjährige arbeitsreiche und von
Erfolg gekrönte Tätigkeit zurückblicken kann. Die Jahreszeit, zu der die
Versammlung berufen war, erschien manchem Teilnehmer nicht besonders
günstig gewählt, wieder wurde auf den Oktober ab die geeignetste Zeit
wiederholt hingewiesen und wieder die verschiedene Lage der Schulferien
als ein Hindernis für einen möglichst zahlreichen Besuch empfunden, ohne
dafs für die Zukunft ein allen Wünschen entsprechender Temiin zu ünden
gewesen wäre. Trotz der Schwierigkeiten, die Zeit und Ort der Versammlimg
verursachten, waren von den 169 dem Gesamtverein jetzt angehörigen Ver-
einen 41 vertreten, zwar an und für sich eine kleine Zahl, aber nicht be-
deutend hinter den letzten Versammlungen: Freiburg mit 43, Dresden mit
64 und Düsseldorf mit 66 zurückbleibend. Ofi&ziell waren nur vertreten die
Regiemng des Grofsherzogtums Oldenburg, die Landesverwaltuug von Elsafs-
Lothringen und die Königl. Preufsische Archiwerwaltung. Insgesamt betrug
die 2^ahl der Teilnehmer 182, davon aus der Stadt Danzig 96, auswärtige
86. Der Osten Deutschlands war selbstverständlich am stärksten vertreten,
indem Danzig (Stadt), West- und Ostpreufsen und Posen zusammen 128
Teilnehmer, das übrige Deutschland nur 52 entsendet hatte, und vom Aus-
lande (Dänem?^k) 2 erschienen waren. Der Ortsausschufs hatte in überaus
rühriger Tätigkeit sich bemüht, der Versammlung die schönsten Eindrücke
i) Siehe hierüber auch Na gl, Oeographteehe Namenkunde (1903), S. 69 and 85.
— 44 —
von Danzig und Umgegend zu verschaffen, indem er zum Teil ganz freie
Fahrten nach Oliva, Zoppot mit Stolzenfels, Marienburg und Königsberg
veranstaltete. Die Stadt bewirtete die Teilnehmer am Begrüfsungsabend im
Artushofe. An dieser Stätte herrlicher Erinnerungen aus der Stadtgeschichte
begrtifste Oberbürgermeister Ehlers die Gäste mit herzlichen Worten, in
denen er namentlich die Annahme zurückwies, Danzig liege im fernen Osten,
er hofife vielmehr, es werde den Herzen der Teilnehmer sehr nahe liegen.
Der Vorsitzende des Gesamtvereins, Geh. Archivrat Bailleu dankte tmter
Anknüpfung an Treitschkes Urteil über das alte Danzig und widmete seine
dankbaren Wünsche der sich entwickelnden modernen Stadt.
Als Festgaben gelangten zur Verteilung: Zeitschrift des Wesipreufsi-
sehen Qeschichichtsverems, Heft 47 (Danzig 1904); Die Stadt Danzig, ihre
geschichtliche Entwickelung und ihre öffentlichen Einrichtungen , herausgegeben
im Auftrage des Magistrats (Danzig 1 904) ; Illustrierter Führer durch Danx^ig
und Ufngebung, gewidmet von der Stadt Danzig, herausgegeben von Leo
Woerl (to. Aufl., Leipzig 1904); Danzig und seine neue technische Hodi-
schule (ohne Angabe d. Verf. u. Jahres). Aufserdem Prospekt der seit
Anfang 1904 in Leipzig bestehenden „Zentralstelle für deutsche Personen-
und Familiengeschichte", worin Wesen und Absichten dieser Anstalt darge-
legt werden.
Die erste Hauptversammlung, Dienstag, den 9. August, früh
8 Uhr in den Räumen des Franziskanerklosters eröffnete Geh. Archivrat
Bailleu mit einer Begrüfsung der Regierungsvertreter und gab dann einen
Überblick über die Tätigkeit des Gesamtvereins, der gegenwärtig 167, darunter
einen deutsch-amerikanischen Verein umschliefse. Durch zwei weitere Mel-
dungen während der Tagung ist nunmehr die Zahl auf 169 gestiegen. Die
Einnahmen stellten sich auf 4600 Mark, die Ausgaben auf 4520 Mark. Das
Organ des Gesamtvereins ist in der Höhe der Auflage ebenfalls gestiegen.
Hinsichtlich der Ausführung der im Vorjahr von der Hauptversammlung in
Erfurt gefafsten Beschlüsse konnte der Redner die befriedigende Mitteilung
machen, dafs der Vorstand willige Mitarbeiter gefunden habe, die eine Durch-
führung der Beschlüsse erwarten lasse; über den ersten Gegenstand, den
Einflufs der römischen Kultur auf die Gebiete östlich des römischen Limes *)
sei ein Vortrag für die Versammlung des nächsten Jahres in Aussicht
gestellt.
Hieran schlössen sich die offiziellen Begrüfsungen im Auftrage des
Oberpräsidenten durch Oberregierungsrat Möhrs, seitens der städtischen
Verwaltung durch Bürgermeister Trampe, seitens des Westpreufsischen
Geschichtsvereins durch Stadtschulrat Damus, denen der Vorsitzende Worte
des Dankes erwiderte.
Die Vorträge eröflOiete Stadtschulrat Damus mit einer überaus fesselnden
Darstellung von Danzig in Geschichte und Kunst, Die Stadt ist hervor-
gegangen aus einer slawischen Stadt, über die wir nichts wissen, und aus
einer deutschen mit lübischem Stadtrecht unter pomerellischen Herzögen,
über die wir besser unterrichtet sind. Die deutsche Stadt wurde durch den
Orden vernichtet, der ihre Bürger zwang , sich an der Mottlau anzusiedeln.
i) Vgl. diese ZciUchrift 5. Bd., S. 77.
— 46 —
Die Entwickelung dieser Siedelung fand ihren Abschlufs durch Verleihung
des kalmischen Stadtrechts. Seitdem entstanden die Stadtbefestigungen
tmd die Stadtkirche. Die Befestigungen umschlossen lediglich die Rechts-
stadt Die Altstadt wurde zwar wieder erbaut, erhielt aber kein Stadtprivileg,
und ebensowenig das polnische Hakelwerk. Die günstige Lage ermöglichte
«in rasches Aufblühen der Rechtsstadt , so dals sie schon am Ende des
XIV. Jahrhunderts zu den bedeutendsten Städten der Hansa gehörte und alle
preufsischen Städte überflügelt hatte. Mit dem zunehmenden Reichtume
wuchs das Gefühl der Kraft und das Verlangen nach Selbständigkeit, woraus
dann der Konflikt mit dem Orden entstand. Im Jahre 138a gründete der
Orden die Jungstadt als Konkurrenzunternehmen gegen die Hansastadt; da-
durch wurde letztere zum Ab&li vom Orden veranlafst. Schon 14 10 nach
der Schlacht bei Tannenberg fiel sie ab, mufste sich aber noch einmal
dem Orden fügen; 1454 erfolgte der zweite AbGedl, und in einem 13jährigen
Kriege besiegte die Stadt den Orden. Die Jungstadt wurde nun zerstört,
Altstadt und Hakelwerk mit der Stadt vereinigt. Damals begann die Periode
der städtischen Bauten, namentlich der neuen Wallbefestigung, die erst in
jüngster Zeit ge&llen ist ; damals war auch das von den polnbchen Königen
mit reichen Privilegien ausgestattete Danzig Herrscherin zur See. Im
XVI. Jahrhundert durchdringen das städtische Leben zwei wichtige Be-
ilegungen, die religiöse (Refonnation) und die politische, d. h. der Kampf
gegen Polen, das die Selbständigkeit der Stadt vernichten wollte. Beide
Bewegungen gehen mehrfiach ineinander über, doch wurde durch das weise
Verhalten des Rates die Reformation in so schonender Weise vollzogen,
<iafs alle Überstürzung vermieden und eine Zerstörung kirchlicher Denk-
mäler verhindert wurde. Im Jahre 1557 wurde die evangelische Kirche
aneriuumt Die polnischen Bestrebungen erreichten ihren Höhepunkt auf
dem Lubliner Reichstag 1569, sie führten zur Belagerung der Stadt 1578,
•die aber mit dem Siege Danzigs endete. Nun erstarkte die Stadt wieder
und wurde der Mittelpunkt des Getreidehandels, der sich bis nach Italien
-erstreckte. Von dort stammen die Anregungen zu den Renaissancebauten,
•die noch heute die Zierde der Stadt bilden. Im XVn. Jahrhundert,
namentlich imter der Einwirkung des schwedisch - polnischen Krieges, litt
die Stadt, obwohl sie sich ihre Selbständigkeit zu wahren wufste. Erst
<kr Anschlufs an den lebenskräftigen preufsischen Staat hat ihr ein neues
Leben und eine neue Entwickelung erö&et, in der sie sich gegenwärtig
befindet.
In der zweiten Hauptversammlung sprach Professor Kraus ke (Königs-
berg) über König Friedrieh Wilhelm L In kurzer, knapper Charakteristik
^b er ein Bild vom Geiste jenes Zeitalters, in dem die Deutschen mit der
Vergangenheit zwar gebrochen hatten und nach neuen Formen suchten, aber
^ch doch noch nicht ganz aus der Überlieferung, dem Geist und den
Formen vergangener Zeiten herausheben konnten. Als echtes Kind dieser
Übergangszeit erscheint der König, wie sein Verhalten der Familie gegen-
über und seine Stellung zur Etikette und der Gesellschaft beweist. Die
bisher geltende Auffie^sung von der Abneigung des Königs gegen Wissen-
schaft und Kunst mufs nach zwei Seiten hin eine Einschränkung erfiUiren,
indem zunächst vor der Generalisierung einzelner dem König gelegeüdich
4
— 40 —
^tschlüpfter Urteile über den Wert wissenschaftlicher Tätigkeit zu wameo
ist, andrerseits aber durch Tatsach^i belegt werden kann , dafe . der König
die angewandte Wissenschaft^ namentlich auch Medizin und Staatswissenschaft,
sehr hoch einschätzte und selbst der Philosophie nicht in dem Mafse. ab-
hold war, wie man es aus einzelnen Urteilen und Handlungen bisher glaubte-
annehmen zu sollen; auch die wissenschaftliche Bedeutung Gundlings verdient
eine gegenüber der bisherigen gerechtere Einschätztmg. Die Gegensätze, dit
sich in der Zeit wie in der Person des Königs offenbaren, bringen ihn oft
mit sich seihst in den ärgsten Zwiespalt. Seine Absicht war, das Land zu
verwalten wie ein tüchtiger, verständiger Grofsgrundbesitzer, aber der Um£uig^
des Staates stand der Durchführung dieser Absicht en^egen; er, der bewnfst
zu der guten alten Zeit zurückführen wollte, wurde selbst der Schöpfer des-
modernen Staates Preufsen, an dessen Organisation nicht einmal sein grofser
Sohn imd Nachfolger etwas zu ändern fand. Derselbe König, der allgemein*
ab geizig und knauserig verschrieen war, hatte doch Sinn für würdige Re-
präsentation und rühmte sich, dafis sein Silberschatz gröfser sei als der des
prunkliebenden Herrschers, Augusts des Starken, aber er war dabei ein so
umsichtiger Haushalter, dafs er seinem Hause Reichtümer hinterliefs und
dais an seinem Lande Hungersnöte, die anderen Völkern verhängnisvoll ge-
worden sind, ohne grofse Schädigungen vorübergegangen sind. Derselbe
König, der ein leidenschaftlicher Soldat war und tmter bedeutenden Kosten
eine über das unmittelbare Bedürfnis des Landes hinausgehende Heeresmacht
tmterhielt, hat dennoch am wenigsten sich in kriegerische Unternehmungen
eingelassen; das Gefühl der Verantwortlichkeit schreckte ihn zurück, ja
nahm ihm das berechtigte Mafs von Selbstvertrauen. In dem Mafse aber,
wie dieses abnahm, wuchs in . ihm das Miistrauen gegen andere , er wurde
ein unzuverlässiger Bundesgenosse imd darum schliefslich selbst betrogen.
Für grofsangelegte Pläne war er nicht zu gewinnen, andrerseits aber wufste
er da, wo er auf fremde Interessen nicht Rücksicht zu nehmen hatte, mit
voller Energie einzutreten. Er war, wie Schön einst über ihn geurteilt hat,
der gröfste innere König Preuisens. Dies wird ihm unvergessen, bleiben,,
namentlich hier im Osten der Monarchie. Ostpreufsen, das in erster Linie
die Kraft und den Segen seiner Wirksamkeit empfunden hat, hat ihm auch
das erste Denkmal gesetzt.
In derselben Sitzung behandelte Archivrat Bär (Danzig) Die geschiehi'
liehe Enttüickelung der Provinx Westpreufhen, Im Hinblick auf den Vortrag^
von Dam US äufserte der Vortragende, er könne ein so glanzvolles Bild
nicht ' entwerfen , seine Ausführungen könnten nur von Kampf imd Arbeit
berichten, von Kampf für das Volkstum imd Arbeit mit der Pflugschar. Der
Kampf galt der Eroberung des Landes, das von heidnischen Preufsen und
christlichen Slawen besiedelt war, als der Orden 1226 von einem pome-
rellischen Fürsten herbeigerufen wurde. Der Orden suchte einen Stützpunkt
für seine Herrschaft im Osten und hat ihn mit erlaubten und unerlaubten
Mitteln, sogar Urkundenfälschung, sich geschaffen. Der Niederweriung der
Heiden folgt der Aufschwung des Landes durch deutsche Kolonisation, oder,
wo deutsche Kolonisten fehlen, durch Polen. Der Erfolg des Ordens beruht
auf der Durchführung des Grundsatzes „ Gleiches Recht für Gleiche 'S nicht
„Gleiches Recht für alle". Der glänzendste Vertreter jener Ijtxt ist der
— 47 —
Hochmeister Winrich von Kmprode, unter deoL auch der Orden seinen Höhe-»
punkt erreichte. Bald fiel der Orden von den Tugenden ab, die seine £rr
folge begründet hatten, die religiöse Begeisterung verflog, die Zwitterstellung
zwischen Möüch und Ritter wurde fUhlbar, damit aber schritt der Orden
seinem VerÜEdl entgegen. In eben der Zeit vereinten sich seine Feinde, die
Schlacht bei Tannenberg 1410 brach die Macht des Ordens für immer.
Denn nun begannen auch die inneren Kämpfe, das Verlangen nach Selb-
ständi^eit bradite das Bürgertum zur Auflehnung ; der durch Polens Feindr
Schaft hervorgerufene Steuerdruck liefs das Verlangen nach einer Staats-
Veränderung mächtiger werden, die preuisischen Städte und Landstände ver-*
bündeten sich unter dieser gemeinsam empfundenen Not und erhoben den
Ruf „Los vom Orden !'^ Im Jahre 1454 wurde dem Orden abgesagt, und
der Anschlufs des Landes an Polen vollzog sich, indem alle nationalen
Gegensätze in Rücksicht auf das gemeinsam erstrebte 2^el unbeachtet blieben»
Nach einigem Bedenken hatte der König von Polen den preufsischen Stän-*
den gewillfahrt, ihren Anschlufs an Polen angenonmien und dem Orden den
Fehdebrief geschickt In einem 13 Jahre währenden Kriege büfste der
Orden seine Herrschaft ein, im Thomer Frieden 1466 verlor er die preufsischen
Länder. Bald aber zerfiel Preufsen auch mit Polen, das ihm die zugesicherte
provinzielle Selbständigkeit zu entziehen trachtete, weil es selbst nach dem
Zugang zum Baltischen Meere strebte. Der Streit endete mit dem Sieg der
Polen im Lubliner Dekret 1569. Nim beginnt der Nationalitätenkampf, die
polnische Sprache, polnische Sitte und der Katholizismus dringen siegreich
vor ; am wenigsten standhaft zeigte sich der Adel , stärker die städtische
Bevölkerung, und die drei grofsen Städte Danzig, £lbing und Thom bildeten
die Felsen, an denen die polnische Hochflut machtlos zerschellte. Durch
Willkür und Intoleranz ging aber schliefslich der polnische Staat selbst zu-
grunde, seine Auflösung begann mit der Teilung im Jahre 1772. Die Er-
werbung Westpreufsens war für Preufsen eine politische Notwendigkeit, um
Rtlislands Herrschaft über die Ostsee zu hindern, das seine Absicht wenig-'
stens noch dadurch zur Geltimg zu bringen suchte, dafs Danzig vorläu^
nicht an Preufsen fiel. Die neuen Landesteile wurden durch Friedrichs Tätigkeit
so fest mit dem Königreich verbunden, dafs ihre Bewohner schon in der
Napoleonischen Zeit sich als Preufsen bewährten. Kampf und Arbeit ist das
von den Vätern überkonmiene Erbe, das die Gegenwart festhält. Das
Wappen der Provinz, der Adler des Hochmeisters , soll eine Mahnung sein^
im Kampfe gegen slawischen Ansturm dafür zu sorgen, dafs wir auch
in Zukui^ an dem Strande eines deutschen Meeres, am Fufse deutscher
Hügel wandern.
In der Sitzung der vereinigten ersten und zweiten Abteilung
sprach Profes^r Dragendorff (Frankfurt a. M.) über das Erdlagier bei
Knebimghausen in Westfalen, das, 7 Hektar Fläche bedeckend, wie die
vorgelegte 2>ichnung unmittelbar veranschaulichte , die Vermutung erweckt,
dafs es ein römisches Lager . sei. EMe Untersuchimg hat aber keinerlei
römische Funde ergeben, so dafs die Frage, ob es ein solches sei oder eine
Nachahmung des römischen Lagers durch Germanen, oflen bleibt Die
Diskussion, die dieser interessante Gegenstand hervorrief, erstreckte sich nament-
lich auf die Toranlage und cUe Verschiebung in der Lage des Südtores,
4t*
— 48 —
ohne dafs auch seitens der Versammhing irgend etwas Positives zur näheren
Feststellung beigebracht werden konnte. Über die innerhalb der Anlage ge-
fundenen Scherben gehen die Ansichten einschliefslich der des Vortragenden
dahin, dafs sie der La-Täie-Periode angehörten; Dr. Knorr (Kiel) möchte
sie einer späteren Zeit zuerteilen und meint, sie seien ganz von der Frage
nach dem Ursprung des Lagers auszuscheiden. — Den zweiten Vortrag hielt
Privatdozent Peiser (Königsberg) über römiacke Münzen in Osipreu/hen.
Eine grofse Zahl einzelner Funde liegen vor: im ganzen 130 verschiedene
Fundstellen, davon die meisten (35) im Kreise Fischhausen. Die Funde
umÜEissen etwa 6000 römische Münzen aus Bronze, Silber und Gold, düe
Prägezeit liegt zwischen Nero und Theodosius U., umfafst also rund 400
Jahre. Die Fimde müssen als Altertumsfunde angesprochen werden und sind
daher werdos, sobald, was oft der Fall ist, die Fundberichte fehlen. Mit Re<dit
verlangt deshalb der Redner unbedingt Fundberichte und die Schafftmg eines
Gesetzes, auf Grund dessen jedem die Ausgrabung untersagt werden solle, der
nicht Fundberichte geben könne, oder woUe. Auf Grund umfieissender statis-
tischer Aufstellung kommt der Redner zu dem Ergebnis, dafs Tischlers ^)
Ansicht richtig sei: erst kurz vor und nach 200 ist die Hauptmasse der bis
jetzt festgestellten Bronzemünzen dorthin gekommen ; aber mit der Mitte des
V. Jahrhunderts hört die Zufuhr auf. Femer bezeichnet er es als möglich,
die Verbindungslinien herzustellen und eventuell auch noch weitere Fragen
mit dem vorhandenen Material zu lösen. Die sich anschh'efsende Dis-
kussion erstreckte sich namentlich auf die Frage, wie die Altertümer im
weitesten Sinne vor der Gefahr der privaten Buddelei und der daraus
sich ergebenden Verschleppung unter grofsem Verlust für die Wissenschaft
endlich bewahrt werden könnten. Em darauf abzielender Antrag (Hottack)
fiuid allgemeine Zustimmung. — An dritter SteUe sprach Professor Bezzen -
berger (Königsberg) über das vorgeschiehtUehe Ostpreußen. Seine Aus-
fühnmgen an die chronologische Folge der Perioden anschliefsend, diarakte-
risierte er eine jede an den wichtigsten Fundobjekten. Das Schnuromament
ist hier nicht durchaus Unterscheidungsmerkmal der Steinzeit, es ist vielmehr
eine ostpreufsisch jüngere und ostpreufsisch ältere Steinzeit anzusetzen, aber
nicht in dem Sinne der Wissenschaft Aus der Kupferzeit sind nur
wenig Stücke vorhanden, welche die Annahme emer besonderen Kupfer-
zeit nicht bestimmt ermöglichen; wahrscheinlich ist der Steinzeit gleich
die Bronzezeit gefolgt, für deren sechs von Montelius ') aufgestellte
Perioden Funde vorliegen, so dafs diese Kulturen aUe nach Ostpreufsen
gekommen sein müssen, doch lassen sich die Perioden für Ostpreufsen
mehr zusanmienfassen, insofern man zwar Skelett- unb Brandbestattung unter-
scheiden mufs, andrerseits aber die fünfte und sechste bereits Eisen ent-
halten, also eigentlich niu* eine Periode bilden. Zwischen der ersten und
zweiten besteht keine Verbindung, da in der ersten sich keine jüngere
Bronze, in der zweiten keine ältere Bronze findet An die jüngste Bronze-
zeit reiht sich düe Periode der Gräberfelder, deren Chronologie durch die
1) Bei FriedUnder, SittengeaehiehU RomSy 6. Ana. a. Bd., S. 278 f.
2) Die Chrenologie der äUeeten Bronxexeü in NorddetUsehkmd und SktmUnamen
(Braantchweig).
— 49 —
MüBzüinde gesichert ist Hinsichtlich der Kritik der Tischlerschen Perioden
sei noch hervorgehoben, dais gegen Tischlers Annahme tatsächlich La-Täie-
Schmuck in der Periode a vorkommt, und somit ist enriesen, dafs die
jüngste Bronzeperiode in die La-T^e-Zeit hineinreicht, diese aber wieder in
die der Gräberfelder. Auch hier ergab sich wieder die Notwendigkeit
wissenschaftlich verwertbarer Fundberichte, zumal sich für die Periode e die
chronologischen Beweise nur durch Fundberichte erbringen lassen, -r-
Baugewerkschnlldirer Hollack (Königsberg) berichtete über die Vorgeschichie
des Samiands^ beschränkte sich aber wegen des bemericbaren Zeitmangels auf die
Periode der Gräberfelder und zwar aus dem westlichen Samland, wo 200 Flach-
gräber untersucht worden sind. Am besten vertreten ist die römische Periode,
in der die römischen Bronzemünzen und die Annbrustfibel zur chronologischen
Bestimmung dienen. Besonderes Interesse erweckten die durch karto-
graphische Fixierung unterstützten Ausführungen über die Art der Urnen
und die Menge der Beigaben. Mit der Charakteristik der spätrömischen
Zeit und der BurgwäUe, die im XIII. Jahrhundert in den Dienst der Kirche
genommen wurden, schlofs der Vortrag.
In der vereinigten dritten und vierten Abteilung berichtete zuerst
Geh. Archivrat Joachim (Königsberg) über den Stand der Oesehichts-
forsckung in Ostpnufken und die Tätigkeit des Vereins für die Qeschichte
von Ost' und Westpreußen, gab einen Überblick über die historischen Zeit-
schriften der Provinz und über die Urkimdensammlungen, dann über die Tätig-
keit des Geschichtsvereins und die wichtigeren Werke zur Provinzial-
geschichte. — Oberlehrer Simson (Danzig) behandelte Die Damiger
Stadtverfassung im XVL und XVIL Jahrhundert. Anknüpfend an die Zeit der
Renaissanceprachtbauten bezeichnete der Redner diese Periode als die Zeit, in
der auch die Stadtverfassung Danzigs wurzelt, deren Urkunden inLengnichs
Schrift «^ publicum civitatis Oedanensis (1900) enthalten ist. Die QueUe des
Stadtrechts sind Gewohnheit und Tradition. Als Danzig polnisch wurde,
erhielt es Unabhängigkeit zugesichert Veränderung erfuhr die Verfassung
erst 1525 bei Einführung der Reformation; im XVII. Jahrhundert' wurden
infolge der Opposition der unteren Stände weitere Reformen vorgenommen,
und dazu kommen die Dekrete der polnischen Könige {Statuta Sigismundi L
von 1526 \md Traciaiiis portorii Bathoris yon 1^%$). Die Verwaltung bilden
der Rat, die Schöffen imd die Vertreter der Gemeinde (Hundertmänner) ; die
Mitglieder der beiden ersteren wurden nur aus Patrizierfamilien genommen.
Die älteste Fixienmg des Stadtrechts bietet die Handfeste von 1342. Seit
1455 gewinnen die Vertreter der Gemeinde, die sich zu einer Oppositions-
partei ausbüden, Einflufs auf die Gesetzgebung. Bis in die zweite Hälfte des
XVIII. Jahrhunderts war die Verwaltung durchaus aristokratisch; erst seitdem
gewinnt die „dritte Ordnimg** als demokratischer Faktor mit Unterstützung des
Königtums Einflufs darauf. Zum Rat gehörten im XVII. Jahrhundert 4 Bürger-
meister und 19 Ratsherren. Weiter behandelte der Redner die Gerichtsver-
fassung und die vielen Kompetenzstreitigkeiten unter den zahlreichen richterlichen
Behörden sowie die Finanzverwaltung und die innere Verfassung. Den Schlufs
bildete eine interessante Darlegung des vom König Johann Sobiesky 1678
vergeblich gemachten Versuchs, die von der Verwaltung ausgeschlossenen
Katholiken zur Mitarbeit heranzuziehen.
— 50 —
Die fünfte Abteilung^) beschäftigte sich nach Erledigung geschäft-
licher Angelegenheiten mit der Gründung des Verbandes deutscher
Tolkskundlicher Vereine. Nachdem der Vorsitzende General Freiherr
T. Friesen (Dresden) in grofsen Zügen die Geschichte der Gründung dieses
Verbandes, der Ostern 1904 in Leipzig ins Leben gerufen wurde, noch
emmal vorgeführt und die Gründe für das Vorgehen der den Verband
vertretenden Herren erörtert hatte, wurde die Frage zur Diskussion gesteUt,
ob die 1901 begründete fünfte Abteilung weiter bestehen oder aufhören
solle. Oberregierungsrat Ermisch (Dresden) betonte, dafs bei aller An-
erkennung der Verdienste phüologischer Arbeit für Ausbildung der Methode
die Zugehörigkeit des Forschungsgebietes zur Geschichte allgetnein zugestanden
werden, daher auch die fünfte AbteUung notwendig bei der Hauptversamm-
lung fortbestehen müsse. Archivdirektor Wolfram (Metz) begründete die
Notwendigkeit der AbteUung damit, dafs die Erörterung volkskundlicher
Fragen in das Programm des Gesamtvereins gehöre; wenn die Abteilung
noch nicht bestände, so müfste sie geschaffen werden. Vor allem aber sei
sie zu stärken, damit den Sonderbestrebungen positiv en^egengewirkt werden
könne. Hierauf wurde das Fortbestehen der Abteüung einstimmig be-
schlossen. — Auf Anregung des Professors Brenner (Würzburg) wurde be-
schlossen, der Hauskunde eine gröfsere Aufinerksamkeit zu widmen.
Lehrer Schmidkontz (Würzburg) nahm diesen Gedanken auf und schilderte
einige Haustypen in Süddeutschland, erklärte sich auch bereit, Fragebogen
über diesen Gegenstand an Interessenten senden zu wollen. Der Vorsitzende
empfahl dann die bereits in Erfurt angeregte Erforschung und Sammlung von
Flurnamen. Femer teUte er mit, dafs bei der 1906 stattfindenden 3. Kimst-
gewerbeausstellung in Dresden zum ersten Male die Volkskunst eine eigene
Abteilung büden werde; doch sei dort keine Ausstellung von Abbildungen
vorgesehen, deshalb werde eine Sonderausstellung von Abbildungen aus dem
Gebiete der Volkskunst geplant, deren Unterstützung der Versammlung aufs
angelegentlichste empfohlen wurde. Bei der nunmehr eröffneten Besprechung
über die Wahl eines Vorsitzenden der Abteüung wurde die Wiederwahl des
Generals Freiherm v. Friesen einstimmig beschlossen, doch auf seinen
Wunsch für das nächste Jahr Professor Brenner (Würzburg) zum zweiten
Vorsitzenden gewählt. Hierauf sprach Bauinspektor Kleefeld (Danzig) über
die Bestrebungen des Vereins zur Erhaltung der Bau- und Kunstdenkniäler
Danzigs, Der Verein ist am 13. September 1900 begründet und hat zu-
nächst durch Abhaltung von Vorträgen auf die Öffentlichkeit gewirkt, um
auf die Wichtigkeit des Gegenstandes hinzuweisen. Referate darüber in der
Tagespresse haben auch weitere Kreise für die Bestrebungen des Vereins
gewonnen. Praktische Arbeit hat der Verein geleistet durch Ausschreiben
von Fassadenentwürfen, die sich im Stü dem überlieferten Stadtcharakter an-
schliefsen, imd sie den Interessenten zur Verfügung gestellt. Der Verein hat
femer mitgewirkt bei der Reparatur des Rathausturmes. Ein Neubau ist
bereits mit einer Fassade aufgeführt, deren Entwurf der Verein geliefert
hat; weitere Entwürfe sind auch für Schaufenster vorhanden, aber leider
zieht die Geschäftswelt vom charakteristischen BaustUe sich entfernende
i) Vgl. diese Zeitschrift Bd. 4, S. 100.
— 51 —
möglichst weite Auslagen vor. Zur Erhaltung und Aufsuchung histon*
«eher Denkmäler sind für die verschiedenen Stadtteile Denkmalspfleger
•bestellt. Die Gründung eines Denkmälerarchivs bleibt noch der Zukunft
vorbehalten.
Archivdirektor Wolfram (Mets) lenkte die ; Aufincrksamkeit ; der Ver-
sammlung auf die Wegkreuze und bat, die Vereine möchten die Aufnahme
derartiger Kreuze in Angriff nehmen, um die in Lothringen bereits begonnenen
Studien über diesen Gegenstand über ganz Deutschland auszudehnen. Die
Bitte gelangte schlieislich in folgendem Antrage zur Annahme :
„Die deutschen Geschichts- und Altertums- und Volks-
kundeuvereine wollen photographische oder zeichnerische
Aufnahmen der Wegkreuze veranlassen und sammeln und
bei der nächsten Hauptversammlung unter Vorlegung
möglichst zahlreicher Abbildungen darüber Bericht er-
statten lassen.''
Hierauf sprach Lehrer J. Schmidkontz (Würzburg) über deutsche
Sagen und Qeachichiswiasenschafl im wechselseitigen Dienste. Der Vor-
tragende hielt sich vorzugsweise an die Sagenstofife und Sagenzüge der heid-
nischen Zeit, und liefb die geschichtlichen Sagen imberücksichtigt Die Sagen
allgemeiner Natur sind von besonderem Werte für die Prähistorie und die
Geschichte im allgemeinen und für die Kulturgeschichte, Besiedelungs- und
Agrargeschichte, sowie für die Orts- und Rechtsgeschichte im besonderen.
Aber auch der Völkerpsychologie und der Ethnologie lassen sich unsere
ältesten Sagen dienstbar machen. Der Prähistorie und allgemeinen Geschichte
dienen die Sagen dadurch, dafs in ihnen der örtliche Kern festgelegt ist,
wo vorzeiten etwas geschichtlich Merkwürdiges vorhanden war oder ge-
schah. Das mythische imd märchenhafte Element ist in den Sagen das
Untergeordnete. Die Prähistorie ihrerseits erweist eine grofse Zahl von Sagen-
zügen als verhältnismäisig jung. So können z. B. alle Sagenzüge, in denen
Metalle eine Rolle spielen, erst mit dem Eintritt in die Metallzeit entstanden
sein. Jede gröfsere Kulturperiode hat besondere Sagenzüge hervorgebracht
und uns hinterlassen. Als einen der jüngsten Sagenzüge führt der Redner
die Entwickelung des Begriffs der Geisterstunde an. Durch die Sagen mit
erziehlichem Inhalte, die Wandersagen, werde der Völkerpsychologie wert-
volles Material geboten. Für eine grofse Reihe von Punkten im deutschen
Sprachgebiet gilt die Erscheinung, dafs an sie sich eine grofse Anzahl von
Sagen heftet; dies sind vorzugsweise die heidnischen Kultstätten. Die Sagen
sind daher eins der Mittel, diese für die Orts- und Besiedelungsgeschichte
so wertvollen Stellen zu erkennen. Durch die in christlicher Zeit vollzogene
Aufteilung der altheidnischen Kultusländereien berühren sich Sagen mit
der Rechtsgeschichte. Im Zusammenhang mit den vorchristlichen Kultstellen
stehen auch die meisten natürlichen Höhlen und die künstlich von Menschen
in den Boden gegrabenen unterirdischen Gänge und Erdkammem. Ent-
gegen den bisherigen Anschauungen hält sie Redner für Aufbewahrungs-
orte der heidnischen Götzenbilder und der gemeinsamen beweglichen Heilig-
tümer während des Winters und vielleicht auch in Zeiten drohender Gefahr.
Die Sagen von Wichtein und Heinzelmännchen haben darin ihren Ursprung.
Die natürlichen Höhlen — auch dieser Erklärungsversuch wurde hier zum
— 62 —
ersten Male aufgestellt — sind die Ursache zu dem Glauben an
und Drachen geworden. Wit die Maden im Gallapfel und anderen Früchten
sich entwickeln, allmählich durch ihre Hülle sich eine Offiiung ins Freie
nagen und zuletzt zu geflügelten Wesen werden, so hat man sich die Lind-
würmer als wunnartige Wesen von riesiger Ungestalt vorgestellt, durch deren.
langjähriges Nagen die Höhlen in der Erde entstanden, bis sie an das
Tageslicht gelangten und nach dem Durchbruch der Erdhttlle sich in feurige
Drachen verwandelten. Wie Sagengruppen sogar für die Ethnologie von Be-
deutung werden können, zeigt der Vortragende an einem Beispid. Zwischen
Virchow und Montelius bestand eine einschnddende Meinungsverschiedenheit
über die Art der Einwanderung der Slawen in die vor der Völkerwandening
von Germanen besiedelten Gegenden. Mit Berücksichtigung der Sagengiuppen
auf dem strittigen Gebiete entscheidet sich der Redner für die Auflfassui^
von Montelius. Zuletzt forderte er kartographische Festlegung der vor-
christlichen Sagenstoffe für das deutsche Sprachgebiet, der entsprechende
Verzdchnisse über die SagenUteratur zur Seite stehen sollen. Eine ähnliche
Einrichtung besteht berdts für mehrere Gegenden Deutschlands bezü^ch der
prähistorischen Funde.
In den vereinigten fünf Abteilungen berichtete zuerst Archivrat
Professor Warschauer (Posen) über die Erforschung der deutschen Kolo-
nisation im Osten, Er beschränkte sich aber auf die Geschichte der mittel-
alterlichen Kolonisation ^). In prägnanter Kürze zeichete er die Probleme,
die sich der Forschung bisher ergeben haben imd deren Lösung noch von
der Zukunft zu erwarten ist. Die AusfÜhnmgen erstreckten sich auf den
äufseren Vorgang der Auswanderung und die Emwirkung auf das Kolonisations-
gebiet. Die landläufige Anschauung vom Einflufs der Samländer bleibt noch
zu untersuchen, bedeutend war jedenfaUs der Einflufs der Kirche, namendich
der Bettelorden. Unbekannt ist noch die Organisation, namentlich die Mit-
wirkung des Lokators. Der AnteU der Juden beschränkt sich wahrscheinlich
auf das Darleihen von Kapital. Besonders wertvoll waren die Ausführungen über
die Siedelung selbst und die Parallele mit dem römischen Prätorium. Als Problen»
wurde femer die Rezeption des deutschen Rechts bezeichnet, wünschenswert
erscheint namentlich eine rechtliche Untersuchung der Gründungsprivilegien,
sowie eine Feststellung der Grenzen des itis teiUonicum, das vermutlich so weit
gegolten hat, wie der Einflufs der lateinischen Kirche reichte, abo etwa bis zum
53® östl. Länge. Als erste 2^it der Erwähnung gilt das Jahr 1204, als jüngstes
Beispiel Neutomischl; am längsten hat es sich in Kiew erhalten, nänölich bis
1835. Als zweiter Berichterstatter behandelte Schumacher (Königsberg) die
iZeit vom XV. — XVII. Jahrhimdert. In dieser Periode gilt es nur Trümmer zu
erhalten ; es fanden keine Kolonistenzüge statt , nur die Bemühungen der
Hochmeister, namentlich Albrechts, sind wichtig gewesen, erst mit Friedrich II.
ist 1772 ein neuer Zug in die Kolonisation hineingekommen. Diese jüngere
Kolonisation steht aber in keinem Zusammenhange mit der des Mittelalters^
es sind darin aber teils religiöse, teils Handelsbeziehungen erkennbar; die
Rolle der Kirche ist nach der Reformation weniger bedeutend. In der
Organisation tritt die Werbung der Fürsten und die Tätigkeit des Lokators
i) Vgl. dazu den Aafsatz von Witte in dieser Zeitschrift 5. Bd., S. 219—237.
— 53 —
hervor. Der Zugang bestaDd aus LandberölkeruDg, daher später auch aus
Poleu, es sind keine Grofsgrundbesitzer, wohl aber GroiskauÖeute dabei be-
teiligt, und das erklärt den Widerstand der Stadd)evölkerung. Die Siedelung
erfolgte auf fürstlichem Gebiete. Städte wurden nicht neu gegründet, aber ein
eigenttUnliches Besitzrecht entstand dabei. Nachdem der Vortragende noch die
Verfassung namentlich der holländischen Kolonisten, die wirtschaftlichen Fragen
und kirchliche Verfassung, die religiösen Gegensätze iind die Stellung der
Mennoniten erörtert hatte, charakterisierte er die Kolonisation jener Zeit
dahin, dafs sie zwar der grolsen Gesichtspunkte entbehre, immerhin doch
in ihrer Bedeutung als Vorarbeit für spätere Zeit nicht imterschätzt werden
dürfte. Der dritte Berichterstatter van Niessen (Stettin), am Erscheinen
verhindert, hatte seine Arbeit zur Verfügung gestellt, Professor Warschauer
machte einige Mitteilungen daraus, die den bedeutenden Wert der Niessen-
sehen Arbeit erkennen liefsen. Sie gruppiert den Stoff in 4 Abteilungen:
Verhältnisse, Maisregeln, Ergebnis der Kolonisation und äufsere Vorgänge.
Wichtig vor allem ist der zweite Teil, in welchem der Sto£f nach Subjekt
und Objekt gegliedert sehr ergiebigen Aufischlufs über die Beteiligung der
NiederUUider und über die Feldmark bot Da die 3. und 4. Abteilung der
Arbeit nicht ausgeführt war, wurde beschlossen, den Verfasser zur Ergänzung
des Fehlenden zu gewinnen und die Arbeit, die des Neuen gar vieks bot,
zu drucken. Über den zweiten Gegenstand: Wie können die OesMehia'
vereine die Ortsnamenforsckung /(hadern? verbreitete sich Archivrat Wäschke
(Zerbst). Er erörterte einleitend die Frage, ob es überhaupt wünschenswert
sei, dafs die Geschichtsvereine sich auch mit der Ortsnamenkunde beschäf-
tigten, und nachdem er sich für die Aufoahme dieser Arbeit ausgesprochen
hatte, weil sie den Vereinen ein neues wichtiges Interesse böte, eine Zu-
sammenarbeit vieler ermögliche imd als Ergebnis ein auf wachsender Kenntnis
ruhendes Heimatsgefühl an ihrem Teil zu erwecken geeignet sei, besprach
er die zu diesem Zwecke notwendige Organisation. Die Möglichkeit der
Fördenmg liegt einerseits in der Veranstaltung von Vorträgen über diesen
Gegenstand, andrerseits in der Betätigung der Vereinsmitglieder bei den
Vorarbeiten für die Forschung. Unter den Vorträgen erscheinen besonders
wichtig solche, in denen die Methode der Forschung an einzelnen prägnanten
Beispielen zur Anschauung gebracht wird, weil solche Vorträge geeignet sind,
auf die Schwierigkeit der Untersuchung und die dazu nötigen Erfordernisse
hinzuweisen, damit aber zugleich die Möglichkeit tmd die Grenze bestimmen,
iimerhalb deren das Laienelement mitwirken kann. Diese Möglichkeit der
Mitwirkung liegt vor bei der Sammlung der Orts- tmd Flurnamen, namentlich
beim Aufsuchen und der Durchmusterung des kartographischen Materials,
sowie beim Aufsuchen kleinerer Archive und Ausbeutung ihrer Bestände,
ebenso bei der Abfassung von historischen Ortsverzeichnissen. Sie liegt
femer vor bei der Feststellung der Lage wüster Ortschaften innerhalb der
Feldmark durch Beobachtung oder Erkundigung an Ort und Stelle, durch
Nachgrabung usw., eine Arbeit, die z. B. der Alier-Verein mit grofsem Erfolg
geleistet hat. Wo die Mittel vorhanden sind, können sich die Vereine auch
im Sinne der Königl. Preufs. Regierungsverfügimg vom Jahre 1825 die Er-
richtung von Denksteinen auf der Stätte der wüsten Ortschaften zur Aufgabe
machen. Selbst bei der eigentlichen Ortsnamendeutung, die der Vortragende
j
— 54 —
im Gegensatz zu Archivdirektor Wolfram (s. diese 2^tschrift Bd. 2, S. 58
u. 92) als das letzte Ziel der philologischen Ortsnamenforschung prinzipiell
anerkennen mufs, kann das Laienelement innerhalb der Vereine wichtig
werden durch die Kenntnis des Volksdialektes, dessen Wert für die Namens-
deutung neuerdings, namentlich durch Nagls Geogr, Nctmenkunde (Leipzig
u. Wien 1903), gebührend hervorgehoben wird, ebenso bei der sogenannten
Realprobe, d. h. der Feststellung, ob die gefundene Deutung mit der natür-
lichen Beschaffenheit des geographischen Objekts übereinstimmt. Die Grenze
•der Mitwirkung ist dadurch ausgedrückt, dafs sie nur bei den Vorarbeiten
für die Forschung stattzufinden hat tmd auch dort nur unter der Voraus-
setzung, dafs die Ergebnisse selbst der Begutachtung und Prüfung durch eine
Kommission von Fachleuten ans den VereinsmitgÜedem unterstehen. In der
-sich anschliefsenden Diskussion wurde auf die Gefahr hingewiesen, welche iii
der Beteiligung der Laien an der Arbeit liege, namentlich sollte, was auch
durch die Worte des Vortragenden vollständig als ausgeschlossen betrachtet
werden mufs, das Etymologisieren der Laien nicht noch gefördert werden.
Im übrigen wurde die Förderung der Ortsnamenforschung als Aufgabe der
Vereine anerkannt.
Hierauf erfolgte der Bericht über die erste Sitzung der Abgeordneten.
Das Korrespondenzblatt erscheint jetzt in 700 Exemplaren; es sollen künftig
regeknäfsigere Berichte über Personalien , auch über Veränderungen und
wichtige Verfügungen gegeben werden; das Format bleibt das alte, der
Honorarsatz 32 Mark für den Bogen. Nach Anhören dieses günstigen Be-
richtes über den Stand des Korrespondenzblattes spricht Archivdirektor
Wolfram im Namen des Gesamtvereins dem Vorsitzenden für seine Mühe-
waltung im Dienste des Unternehmens den herzlichsten Dank aus. An Stelle
der ausscheidenden Mitglieder v. Bezold und Wolfram werden Archivrmt
Mummenhoff (Nürnberg) tmd Professor Ritterling (Wiesbaden) gewählt.
Die nächste Versammlung soll in der zweiten Hälfte des September 1905
in Bamberg stattfinden. Mit dem Berichte der Abteilungsvorstände wurden
die Sitzungen geschlossen. Wäschke (Zerbst).
Die Fortschritte des Historischen Atlasses der Ostcrrelehischeii
Alpenländer ^). — Was ich heute über die Fortschrittte in den Arbeiten
zum Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer zu sagen habe,
scheidet sich nach 4 Richtungen hin. Ich will versuchen, ein Bild der
Arbeitstätigkeit zu geben, indem ich
1. über die Vollendung der einzelnen Sektionen im Manuskripte,
2. über die breits vollendeten oder wenigstens in Ausführung befindlichen
Blätter der i. Lieferung,
3. über den Fortschritt der den einzelnen Kartenblättem beizugebenden
„Erläuterungen" und endlich
4. über jene Studien und Untersuchungen referieren werde, welche imter
dem Titel „Abhandlungen" eine nicht hoch genug zu veranschla-
i) Den hier mitgeteilten Bericht erstattete gelegentlich der 5. Konferenz lindesge-
schichüicher Pablikationsinstitute am 2. September 1904 za Salzbarg der Unterzeichnete
in Vertretung von Eduard Richter. Ober die Entwickelang der Arbeiten am Atlas
selbst vgl. die Aufsätze in dieser Zeitschrift 2. Bd., S. 217 — 227 und 4. Bd., S. 14^— 150.
— 55 —
gende Frucht historisch-geographischer, historisch-topographischer und
rechtsgeschichtlicher Beschäftigung, hervorgegangen aus den Problemen
des Historischen Atiasses selbst, darstellen.
I. Gleich den Blättern der österreichischen Spezialkarte i : 75000 wird
auch der „Landgerichtskarte** des Historischen Atlasses der Österreichischen
Alpenländer ein Übersichtsblatt beigegeben werden, und zwar im Mafs-
stabe I : 2 000 000. Dieses Übersicfatsblatt, welches das schnelle Auffinden
der einzelnen Kartenblätter vor allem erleichtem soll, gibt durch dünne
Linien die Blatteinteilung der österreichischen Spezialkarte i : 75000, durch
dicke die Blatteinteilung der Landgerichtskarte selbst. Jedes Blatt derselben
entspricht je einem halben Blatte der Generalkarte von Mitteleuropa (i : 200 000),
von der biefcanntKch der (braune) Terrainstein und der (blaue) Gewässerstein
für die Zwecke des Historischen Atlasses benützt wird, während die (schwarz-
gedruckte) Schriftplatte mit der von den Mitarbeitern gegebenen Beschrifhmg
insoweit neu angefertigt wird, als nur das neu hergestellt wird, was in Sachen
der Beschrifhmg die Generalkarte nicht bringt, so vor allem die Signaturen
fiir die Landgerichts- und Burgfrieds- (Hofmarks-, Freiimgs-, Jurisdiktions-)
Grenzen, jene für die Städte, Märkte, Dörfer tmd Stifte, femer die Zeichen
für die Sitze der Landgerichte, Burgfrieden und Herrschaften. Wie viel durch
diesen praktischen Vorgang an Geld erspart wird, hat Eduard Richter in
seinem dem Historikertage 1903 vorgelegten Berichte bereits ausdrücklich betont ^).
»üM tßf lim I iti*i»ii»n» »•»•*■••"'
Obersichttblatt
LANDGERICHTSKARTE
200000.
i) Vgl. diese Zeitschrift, 4. Bd., S. 149 o. 150.
— 56 —
Das Übersichtßblatt, welches ich hiermit vorlege, weist 3 8 , benehmigs-
weise 4oBlätter der Landgerichtskarte des Historischen Atlasses auf. Auf
einem zweiten Übersichtsblatte habe ich den Fortschritt, den die Mitarbeiter in
Sachen der Eintragung der Landgerichts- und fiurgfriedsgrenzen seit 1902
machten, durch Schraffen keimtlich gemacht Es kann schon heute mit Be-
friedigung festgestellt werden, dafs die Arbeiten am Historischen Adas, dank
der unermüdlichen Mitarbeiterschaft der an dem Unternehmen beteiligten
Herren, bereits über die Hälfte hinaus gediehen ist und der gröfste Teil der
Manuskriptblätter (i : 75000) dem Leiter des Unternehmens eingeliefert
wurde.
Vor allem ist die Vollendung der Landgerichtskarte des Landes ob
der E n n s , hergestellt im Manuskripte auf der Generalkarte durch den un-
ermüdlichen Forscher Oberlandesgerichtsrat Julius Strnadt, henrorzuhebeiL
Diese Karte umfafst die Blätter i*, i^, 4, 5, 6 (mit Niederösterreich), 9
(mit Salzburg) und 10 (mit Steiermark) der Landgerichtskarte, somit die
Blätter Zone 10, Kol. IX, Zone 11, Kol. IX, X, XI und XII, Zone 12,
Kol. VIII, IX, X, XI und XÜ, Zone 13, Kol. VU, VIU, IX, X und XI,
Zone 14, Kol. VIII, IX, X und XI und endlich Zone 15, KoL IX, X und
XI der Spezialkarte i : 75000.
Die das Kronland Salzburg anlangenden Manuskripd)lätter und die
Übertragung der Eintragungen auf derselben in die Generalkarte hat Eduard
Richter schon 1903 dem Historikertag in Heidelberg vorgelegt. Die salz-
burgische Landgerichtskarte umfafst die Blätter 9 (mit Oberösterreich), 8 (mit
Nordtirol), 16 (mit Nordtirol), 17 (mit Steiermark und Kärnten), und
setzt sich aus den Blättern Zone 13, Kol. VIII, Zone 14, Kol. VIII und IX,
Zone 15, Kol. VU, VIII, IX, Zone 16, Kol. VI, VII, VIU und IX, Zone
17, Kol. VI, VII, Vni, IX und X zusammen.
Auch für das Land Vorarlberg liegen die fertigen Manuskriptblätter
bereits vor: Blatt 13, 14 und 21 der Landgerichtskarte, die Blätter Zone 15,
Kol. I und II, Zone 16, Kol. I und II, Zone 17, Kol. I und II und Zone 18,
Kol. U der Spezialkarte i : 75000. Bearbeiter dieser Sektion ist Prof.
Zösmaier in Innsbruck.
In Sachen der für Nordtirol auch bereits fertiggestellten Manu-
skriptblätter halte ich es für meine Pflicht jenes Mannes zu gedenken, den
ein frühzeitiger und ungeahnter Tod den Reihen der treuesten Mitarbeiter an
unserem wissenschaftlichen Unternehmen entrifs, Prof. JosefEgger. Neben
Richters Studie über die historische Geographie von Salzburg hatte Jos. Egger
durch seine Abhandlung über die Entstehung der Gerichtsbezirke
Deutschtirols jene Probleme und Fragen behandelt, welche die Grundidee
zum Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer ausmachen. „E^;ger
war der selbstverständliche Mitarbeiter für Tirol, der eigentlich alle die
Fragen, die hier in Betracht konmien, schon behandelt und erwogen hatte,
und der scheinbar nichts anderes zu tun brauchte, als seine Kenntnisse in
einer anderen Form zur Darstellung zu bringen.** ') Mitten in emsigster
Arbeit, in der Vertiefung und Erweiterung der bereits begonnenen Studien,
in der Durchforschung zahlreicher Herrschafts- und Gemeindearchive, in
i) Stcirische Zeitschrift f. Geschichte, I. Jahrg. (2./3. Heft), S. 116— 117.
— 57 —
dem Abgehen der alten Jurisdiktionsgrenzen überraschte ihn im Herbst 1902
schwere Erkrankung, der er am 20. Juni 1903 unterlag. Der Historische
Atlas hat mit ihm einen seiner besten Mitarbeiter verloren : die Landgerichts-
kaite Tirols hätte sich ebenbürtig jener für das Land ob der Enns an die
Seite gestellt Die Eintragungen in die Spezialkarte i : 75000 hat Egger
noch gemacht, nur die Angabe der Orte in der i : 200000 und die Erläute-
rungen fehlen. An die Stelle Eggers trat Prof. Zösmaier als Bearbeiter
der nordtirolischen Landgerichtskarte. Für Südtirol hatte Prof. v. V öl-
te lini in Innsbruck die Arbeiten übernommen.
An Niederösterreich arbeiten gegenwärtig die Herren Archivar
Dr. C. Giannoni und der Wiener Privatdozent für Geographie Dr. A. Grund
in der Weise, dafs Giannoni das Viertel unter dem Wiener Wald, Grund
die anderen drei Viertel in Behandlung zieht. Für dieses Kronland liegen
die Verhältnisse insofern schwierig, als schon die Herbeischafiimg des im
ganzen Lande zerstreuten archivalischen Materials Aufwand an Kosten und
Zeit verursacht, imd dafs nach dem von Dr. Grund der Historischen Atlas-
kommission unterbreiteten Gutachten die Verschiebung der alten Gerichts-
grenzen eine gegenüber den übrigen Kronländem bedeutendere und daher
kompliziertere ist und die Fixierung der so zahlreichen Niedergerichts-
bezirke der Burgfrieden und Dor^erichte Schwierigkeiten bereitet. Dr. Grund
steht im Dienste des Historischen Atlasses als gegenwärtig einziger ständiger
Hilfearbeiter. Von beiden Herren wurden im Verlaufe der Jahre 190a — 1904
im Auftrage der Atlaskommission imd nach dem Bedarf des jeweiligen
Arbeitsgebietes zahlreiche Archivreisen unternommen.
Die Ebtragungen in die steirischen Manuskriptblätter und die Über-
tragung derselben in die Generalkarte i : 200000 können bereits heute als
vollendet bezeichnet werden. Die Festsetzung einzelner und nur weniger
gegenwärtig noch fraglicher Gerichtsgemarkungen wird Prof. Dr. Hans
Pirchegger noch im Laufe des heurigen Herbstes durchführen, tmd die
Besserungen auf den Blättern der Spezial- wie der Generalkarte vornehmen.
Die Ausführung der Landgerichtskarte für Steiermark hatte ich ursprünglich
übemonmien; erhöhte amtliche Tätigkeit sowie längere Erkrankung zwangen
mich nach Abschlufs der Sammlung der Landgerichtsbeschreibungen und
Fertigstellung dreier Manuskriptblätter für die weiteren Arbeiten unter gleich-
zeitiger Übergabe meiner Sammlungen, Notizen imd Kartenblätter den da-
maligen Hilfsarbeiter Dr. Pirchegger der Konmiission als Mitarbeiter vorzu-
schlagen, und seiner unermüdlichen Tätigkeit ist es zu verdanken, dafs ich
heute die Vollendung der steirischen Landgerichtskarte rühmend hervorheben
kann. Diese umfafst die Blätter 9 (mit Salzburg), 10 (mit Ober- und Nieder-
österreich), II und 12 (mit Niederösterreich), 17 (mit Salzburg und Kärnten),
18 (mit Salzburg imd Kärnten), 19, 20, 26 (mit Kärnten), 27, 31, 32,
37 (mit Krain) und 38, daher die Blätter der Spezialkarte i : 75000 Zone
14, Kol. XII und Xm, Zone 15, Kol. IX— XIV, Zone 16, KoL IX— XIV,
Zone 17, Kol. X— XIV, Zone 18, Kol. XH— XIV, Zone 19, KoL XH-XIV,
Zone 20, Kol. XI — XIV, Zone 21, KoL XII und Xni, und endlich Zone 22,
Kol. Xin. Der grofse freibleibende Raum auf Blatt 33 der Landgerichts-
karte soll durch Aufnahme eines Kärtchens (in noch später zu bestimmen-
dem Mafsstabe) ausgenützt werden, welches die historisch-geographische
— 58 —
Entwickelung der Mark und des Herzogtums Steier in Grundzügen
zum Ausdrucke bringt.
Auch für das Kronland Kärnten hat der frühere ständige Hil&arbeiteT
am Historischen Atlas, Prof. Dr. Martin Wutte in Klagenfiirt, die Land-
gerichtskarte (mit Aufnahme sämtlicher Burgfriede) fertiggestellt. Hier mangelt
nur die endgültige Feststellung der Zugehörigkeit einzelner Burgfriede (mederer
Gerichtsbezirke) zu den Landgerichten. In dieser Sache wird, im Laufe des
heurigen Winters Prof. Wutte mit Unterstützung des Kärntnischen Landes-
archivars A. R. v. Jaksch archivalische Forschungen betreiben. Nach Be-
endigimg derselben können die Blätter 24 (Spital) und 2$ (Klagenfurt) dem
militärisch-geographischen Institut in W^ien zum Stiche übergeben werden.
Betrefl^ dieses Kronlandes möchte ich einer meüiodisch interessanten
Tatsache kurz gedenken. Gelegentlich der Werbbezirkseinteilung dieses
Landes unter Maria Theresia und Josef II. legte man dieser militärisch-
administrativen Mafsregel die alten Jurisdiktionsgebiete, also die Landgerichte
imd die Burgfriede (Hofrnarken) zugrunde, und die Josefinische wie auch
später die Franziszeische SteuerreguUenmg knüpfte an die Werbbezirke an.
Die Steuergemeindenkarte vom Jahre 1830 (i : 115 200) ergab somit für
Kärnten die Grundlage zur Landgerichtskarte.
Diese um&fst die Blätter 16 und 17 (mit Sakburg), 18 (mit Steiermark),
23 (mit Tirol), 24, 25, 26 (mit Steiermark), 30 und 31 (mit Görz und
Krain) der Generalkarte, und die Blätter Zone 17, Kol. VII, VIII, IX und
X, Zone 18, Kol. VIII, IX, X, XI und XU, Zone 19, Kol. VII, VUI, IX,
X, XI und XII, Zone 20, Kol. IX, XI und XU.
Für krainischen Boden ist von besonders erfreulichem Fortschritte
gegenwärtig leider nicht zu sprechen. Das Land Krain besitzt allerdings
dn sogenanntes Landesarchiv, jedoch nur mit dem Begriff des alten Archives
der krainischen Landstände. Jene Sammeltätigkeit, welche z. B. das steier-
märkische Landesarchiv zu einem Zentrallandesarchive mit seinem so reichen
Inhahe an den einzelnen Stadt-, Markt- und Herrschaftsarchiven gemacht hat^
ist dort noch nicht begonnen worden.
Der von mir in den Publikationen des Laibacher Musealvereins för
Krain veröffentlichte Aufruf zur Mitarbeiterschaft ^) an der Sektion Krain des
Historischen Atlasses blieb ohne Erfolg, und die Durchsicht des krainischen
Landesarchives, dessen damaliger Vorstand Prof. Müllner in zuvorkommend-
ster Weise das betreffende Aktenmaterial nach Graz überschickte, der iimer-
österreichischen Bestände des Hofkammerarchives (im gemeinsamen Finanz-
archive) sowie der Grazer Statthaltereiregistratur ergaben nur vereinzdtc
Funde von Landgerichts- und Burgfriedsbeschreibtmgen. Auf Gnmd dieser
versuchte Prof. Dr. Pirchegger das krainische Landgerichtsbild zu rekon-
stniiexen , . doch wies die Arbeitskarte i : 75000 derartige Lücken auf, dais
nunmehr an eine ernstliche tmd systematische Durchforschung der Krainischen
Städte-, Märkte- und Her];schaftsarchive herangetreten wurde. Gegenwärtig
bereist Prof. F. Komotar im Auftrage der Atla.skommission das Kronla^d Krain.
Ein ausführlicher Bericht über die Ergebnisse dieser , archivalischen Bereisnng
1) Mitteilnngen des Mosealvereines f. Krain XY. Jahrg. (1./2. Hefit), S. 46—67.
— 6Ö —
ist noch ausständig ^). Ebeoso schwierig wie die Durchführung der karto-
graphischen Darstellung dürfte die AbCaiissiuig der sogenntinten „Erläuten
Hingen" $ein. r .
Die Ausführung der Landgericht^arte von Görz-&radiska, dem Reste
des alten österreichischen Friauls, habe ich übemonunen« und ich bin heute
in der Lage, der Konferens^ über <^e dabei verfolgte Methode zu berichten
und .zwar ausführlicher , als es der Charakter dieses Referates eigentlich ge-
stattet Sämtlichen Anwesenden dürfte es bekannt sein, dais auch der
Schöpfer imd die Mitarbeiter des Historischeu Atlasses der österreichischen
Alpenländer die Deutsche Grundkartenfrage in den Bereich ihrer
Vorarbeiten und Voruntersuchungen gezogen haben und im Einklänge mit.
der Gegnerschaft der Grundkartenfrage im Reiche selbst zn dem gleichen^
Resultate gekonunen sind. Für unser Arbeitsgebiet bleibt die Grundkarte —
hier die sogenannte Steuergemeindekarte aus den 20er und 30er Jahren
des XIX. Jahrhunderts — vollkommen irrelevant. Praktische — nicht
theoretische — Untersuchungen haben zweifellos ergeben» dafs die moderne
Orts- (und Steuer-) Gemeindegrenze mit der alten Gerichtsgrenze nicht zu-
sammenfällt tmd somit eine Ausnützung jener zu Zwecken der Landgerichts-
karte vollkommen ausgeschlossen erscheint. Dort, wo auch in Österreich«
tatsächlich Gemeindegrenze mit Gerichtsgemarkung zusanmienfMt, liegt die^
Ursache dieses Zusammenfallens , diese historische Grenzstabilität,,
einzig imd allein in dem orographischen Charakter des Gebirgslandes : die
markanten Wasserscheiden bildeten Gemarkungen seit ältester ^eit Um jedoch
über die Stellung der österreichischen Historiker zur Grundkartenfrage nicht,
eine falsche Meinung zu verbreiten, möchte ich ausdrücklich betonen, dafs
wir in Osterreich über das Verhältnis der modernen Ortsgemeinde zur altem
Ortsgemarkung noch keineswegs klar sehen. Für diese Frage fehlen noch,
die notwendigsten Voruntersuchungen, mit denen hoffentlich nicht in allzu
langer Frist für Steiermark, wo das archivalische Material gesammelt und ge-.
sichtet vorliegt, begonnen werden wird.
Für den Boden der österreichischen Alpenländer hat also Ed. Richter
in semem Berichte an die Historische Landeskommission für Steiermark die
Anlage von Grundkartenblättem, wie sie in Deutschland hergestellt werden,
kurzweg und zwar berechtigt abgelehnt, schon in der Überlegimg, dafs wir
durch die Steuerkarten aus der ersten Hälfte des XIX. Jahrhunderts und.
deren Indikationsskizzen, femer diuch die allerdings mangelhafte Eintragung
der Ortsgemeindegrenzen in die Spezialkarte i : 75000 vollen Ersatz für die
erst neu anzulegenden Gnmdkarten besitzen.
Für Görz und Gradiska dagegen gab die Steuergemeindekarte von 1855
im Mafsstabe i : 192000 die einzige Gnmdlage, auf der eine Jurisdiktions-
karte dieses Landes sich herstellen läfist An anderer Stelle, in den „Ab-
handlungen ztun Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer*' werde
ich auf die Methode des , breiteren zu sprechen kommen ; hier mögen nur
kurze Andeutungen den Gang der Untersuchung veranschaulichen. Etwa.
i] Gegenwärtig wird fttr die Zwecke des HistorisdieQ Atlasses auch die sog. looer»
österreichische HerrschafUaktenreihe des HofkammerarduTes (k. n. k; gemeins; Finanz--
Archiv) SU Wien dnrch Dr. M. Doblinger einer Durchsicht onterzogen.
— 60 —
um den Ausgang des XVI. Jahrhunderts oder in der Mitte des XVIL Jahr-
hunderts war die Aufteilung des Ländchens Görz-Gradiska in 80 Gerichts-
bezirke mit hoher Jurisdiktion und 3 7 Beadrke mit sogenannter „kleinerer
Halsgerichtsbarkeit'' vollendet; erstere werden in den Akten des XVin. Jahr-
hunderts direkt als ^^Landgerichte'' bezeichnet Die beiden grossen Land«
gerichte des Görzer Oberlandes, Flitsch, Tolmein imd Kanäle, sind als
Landgerichte im topographischen Stile der alten innerösterreichischen Land-
gerichte aufzufassen. Nicht so die übrigen, deren kleines Flächenausmais
gegenüber den meisten übrigen altösterreichischen Landgerichten sofort ins
Auge fällt Die Verleihung der höheren oder niederen Jurisdiktion, durch
den Landesfürsten entweder an Private oder an geistliche Korporationen«
erfolgte stets im Anschlüsse imd auf Grund des betr. Kommunal* (Gemeinde-)
Gebietes, des Dorfgebietes. Die Akten und Urkunden sprechen von dem
gericht erster instanz über das dorff N. N. (1548) imd zugleich von dem
gericht N, N,, das sich über den dorfgezirkh, also über das Gemeinde-
gebiet erstreckt Der Name der einzelnen Görzbchen Jurisdiktionsterritorien
knüpft sich fast durchweg an Dorfiiamen, äuiserst selten an Herrschaften
oder Herrschaftssitze (Burgen). Die Jurisdiktionen s. Rocco, s. Pietro,
Ober- tmd Unter- Vertoiba stiftete 1647 Kaiser Ferdinand für Vinzenz Ernst
Ottmann von Ottensee im Gebiet und Territorium der 4 gleichnamigen
Dörfer, tmd diese wurden erst in späterer Zeit als „Landgericht s. Pietro"
zusammengezogen. (Hofkammerarchiv, Wien.) Es erscheint ab quellen-
mäfsig festgestellt, dafs die Verausgabung von Jurisdiktionsgebieten im Görzi-
schen gemeinde weise vor sich gegangen ist, und dais man bei der
Verbriefung der Jurisdiktionsverleihungen die Kenntnis der Gemeind^e-
markung vorausgesetzt hat Daher fehlen Grenzbeschreibungen dieser Ge-
meindejurisdiktionen völlig.
Die Josefinische Steuerreform schuf nun bekanntlich die sogenannten
„Steuergemeinden", und als nach dem Zusammenbruche der Reformen
dieses Kaisers die franziszeische Katastraleinteilung der altösterreichischen
Länder vorgenommen wurde, gri£f man zu den Josefinischen Steuergemeinden
zurück, man knüpfte an sie an, und liefe deren Gemarkung als neue Steuer-
gemeindegrenze in Geltung. Das Verbindungsglied zwischen der Josefini-
schen Steuergemeinde, der alten Ortsgemarkung imd damit der an diese
sich anlehnenden Jurisdiktionsgrenze ist durch die Tatsache gegeben, dais
eben gerade die alte görzische Ortsgemarkung als Grundlage zur Josefi-
schen Steuergemeinde genommen wurde, somit die alte Gemaricung ihre
Stabilität bis heute — die franziszeischen Steuergemeinden bilden ja noch
heute die Basis für die Steuergemeindeeinteilnng der österreichischen Länder —
bewahrt hat
Als man im Jahre 1785 daran ging, die neuen Steuergemeinden zu
kreiren, wurde ein „Tabellarischer Entwurf über die sämdichen in den ge-
fürsteten Gra&chaften Görz-Gradiska bestehenden, dann in Ansehimg des
Fassionsgeschäftes vorzunehmenden Gemeindeinteilungen vorgelegt". Dieser
Entwurf macht tms auf das genaueste bekannt mit der Zugehörigkeit der
alten Gemeinden zu den Jurisdiktionsgebieten und zu den Ge-
meinden, welche nunmehr die Josefinische Steuerregulierung schuf.
Das durch diese Untersuchung Gewonnene &nd nun seine praktische
— 61 —
Nutzanwendung bei der Anlage der Landgerichtskarte von Görz-Gradiska,
und die franziszeische Steuerkaite von 1855 bildete — wenn auch aus-
schliefslich für dieses Territorium — die verlä&liche Grundkarte. Von
dieser wurden die Grenzen auf die Spezialkarte i : 75000 und aus dieser
auf die Generalkarte i : 200000 übertragen. Nur mit Hilfe jenes methodi-
schen Vorganges, den ich Ihnen allerdings nur in Gnmdzügen veraugen-
scheinlichen und durch Oleate und Spezialkartenblätter vorführen konnte,
wurde es ermöglicht, die Aufteilimg des Kronlandes Görz-Gradiska in hohe
und niedere Jurisdiktionsgebiete kartographisch darzustellen.
Die lAndgerichtskarte Görz-Gradiska umÜEtfst die Blätter 30 (mit Kärnten
und Krain), 31 (mit Krain), 35 und 36 (mit Krain) der Generalkarte, die
Blätter Zone ao, KoL IX, Zone 21, Kol. IX und X, Zone 22, Kol. VIII,
IX und X, imd Zone 23, Kol. VIII und IX der österreichischen Spezialkarte.
Den freien Raum auf Blatt 30 (Fiitsch) soll eine Darstellung der Josefini-
schen Kriminalgerichtskonzentration im Jahre 1786 im görzischen Gebiete,
die auch nach dem Zusanmienbruch der Reformen Kaiser Josephs U. be-
stehen blieb, ausfüllen.
Ob der Venetianische Anteil Istriens (mit Ausschlufs des kraini-
schen Mitterburger Territoriums) noch in die Landgerichtskarte aufgenommen
werden wird, kann ich heute nicht sagen. Nur scheint es mir nach
der bisherigen oberflächlichen Beschäftigung mit diesem Gebiete fast wahr-
scheinb'ch, dafs man auch für dieses Territorium, das bereits im Mittelalter
eine genaue Gastaldien- (= Gerichts-) Einteilung besafs, den Zusammenhang
der Jurisdiktion mit der alten Dorfkommune wird nachweisen können.
Über die bis heute durchgeführte Rekonstruktion der Landgerichte der
österreichischen Alpenländer möge für die einzelnen Kronländer nachstehende
statistische Zusammenstellung ^) ein Bild geben.
Niederösterreich 260 Landgerichte, davon 143 in ihrem Grenzverlaufe festgestellt
Oberösterreich 102 102
Salzburg 37 37
Vorarlberg 3 1 (Hoch- u. Niederger.) 3 1
Nordtirol )
Südtirol 1 59 —
Steiermark 124 134
Kärnten 63 63
Krain 56 8
Görz-Gradiska 80 80 ')
Es ergibt sich also ein Verhältnis der Zahl sämtlicher altösterreichischer
Landgerichte zu jener der für die Zwecke des Historischen Atlasses in ihrem
Grenzverlaufe gegenwärtig festgestellten, wie 812 zu 588.
2. Was den Stand der Sticharbeiten am k. u. k. militärgeogra-
Shischen Institute in Wien anlangt, so legte dieses auf einem
Fbersichtsblatte der Landgerichtskarte denselben für den 25. August dar.
Auf diesem Blatte, welches ich vorlege, ist der Fortschritt der Publizierung
resp. der technisch-kartographischen Arbeiten ersichtlich gemacht
i) Nach dem Stmnde im J. 1784.
2) Aufserdem 37 niedere Jarisdiktiooen.
— 62 —
Die I. resp. die 2. Korrektur ist bei den Blättern 17 (Pongan)
und 18 (Murau) vollständig durchgeführt.
Probedrucke wurden (vor wenigen Tagen) vorgelegt von den Blättern
IG (Admont), 19 (Graz) und 26 (Marburg).
Von den übrigen eingelangten Originalen im Manuskripte (Blätter
1% I^ 4» 5» 9» 27, 30 33, und 35) ist für die Blätter 4 (Innviertel),
5 (Linz), 9 (Salzburg) der Schrift stein gegenwärtig in Arbeit, für die Blätter
I* (Passau), i^ (Freistadt), 30 (Flitsch) und 35 (Triest) der Terrainstein
und Wasserstein fertiggestellt; ebenso für die Blätter 13 (Hohenems), 14
(Arlberg), 15 (Innsbruck), 16 (Pinzgau), 22 (Brixen), 23 (Pustertal), 28» (Sulz-
berg), 28** (Judikarien), 29 (Triest) 34 (Rovereto), 24 (Spital) und 25 (Klagen-
furt). Für 13 Blätter \^nirden die technischen Vorarbeiten überhaupt noch
nicht vorgenommen;
Die Drucke der hier aufgelegten Kartenblätter 10, 17, 18, 19 und 26
entbehren noch insoweit der Vollständigkeit, als auf denselben der Grenz-
verlauf der alten Gaue und Grafschaften noch nicht sichtbar ge-
macht ist Auf der Darstellung dieser Grenzverläufe beruht ja bekanndich
die ganze Idee des Historischen Atlasses, auf der Annahme, dafs wenigstens
für den gröfseren Teil des darzustellenden Gebietes auf dem Wege retrogressiver
Forschung, aus der Zurückverfolgung der Bezirke der höheren Gerichtsbarkeit
sich auch die ältesten Bezirke (Grafschaft, Gau imd Mark) erscfaliefsen lassen.
Für Steiermark ist es gelungen, diesen Zerstückelungsprozefs der Land-
gerichte nach rückwärts zu verfolgen. Ich verweise auf meine Untersuchungen
über den Oomüaiiis Luipoldi, und erwähne, dafs auch für die übrigen
Teile der alten Mark und des Herzogtums Steier die Eruierung der alten
Grafschafbgrenzen im grofsen imd ganzen bereits gelungen ist. Für das
salzburgische Gebiet hat Ed. Richter das gleiche Problem schon vor
Jahren mit vollem Erfolge bearbeitet, für Tirol bildet die erwähnte Ab-
handlung Eggers die Grundlage. Die oberösterreichischen GraCschaftsgebiete
hat Julius Strnadt klargelegt, und betreffs Kärntens steht in kurzer
Zeit eine Studie über die Kärntner Grafschaften aus der Feder des Heraus-
gebers der Mon. hisiorica duc, Cbrinth,, Aug. R. v. Jaksch, zu erwarten
Für Krain versuchte ich im Jahre 1888 den Beweis für die Zweiteütmg
des Landes in eine Mark imd eine Grafschaft zu erbringen. Meine Resul-
tate wurden von den Fachgenossen teils aufgenommen teils verworfen, und es
würde mich freuen, wenn in diese Angelegenheit eben durch die für den Histo-
rischen Atlas anzustellenden Untersuchungen Klarheit gebracht werden würde.
In den Kartenblättem 10, 17, 18, 19 und 26 werden die Grafschafb- und
Markgrenzen von den Mitarbeitern durch ein Farbenband dargestellt werden,,
worauf im militärgeographischen Institute eigene Farbensteine hergestellt werden.
3. Prinzipiell wird die Eintragung der Namen in die Blau-
druckkarten gleichzeitig mit der Abfassung der textlichen „Erläute-
rungen*^ vorgenommen, ein Vorgang, den Eduard Richter en^>fohlen
tmd der sich vollständig bewährt hat. Dem Heidelberger Historikertage des
Jahres 1903 hatte Richter die von ihm verfafsten Erläutenmgen zur Land^
gerichtskarte von Salzburg vorgelegt, und diese Erläuterungen sollten vor-
bildlich sein. Nach diesem Muster nun hat im Frühjahr 1904 Julius
Strnadt die „Erläuterungen für das Land Österreich ob der Enns'^
— 63 —
der Adaskommission im Manuskripte vorgelegt Im Anschlüsse an die
Richterschcn Erläuterungen beginnt auch Stmadt mit den ,, Allgemeinen
Bemerkungen ''. Unter diesem Titel wird die Entstehimg und das An-
wachsen Oberösterreichs bis zum Jahre 1850 verfolgt, während das Jahr
1781 als Endpunkt der kartographischen Darstellung gewählt wurde.
An diese allgemeinen Bemerkungen schliefst sich eine kurze Aufzählung
und Besprechung der ,, Qu eilen", auf denen kartographische Darstellung
und textliche Erläutertmg beruhen, und daran die kurze Geschichte der
einzelnen Gerichte nach den Landeskreisen und nach der ehemaligen
Zugehörigkeit zu den Grafschaften oder alten judicia provinciaUa, Die
Filiationen wurden nach dem von mir im Comüatua Lu^oldi gegebenen
Beispiele stammtafelartig zum Ausdruck gebracht Auch die Erläuterungen
für „Vorarlberg" hat Prof. Zösmaier bereits fertiggestellt
An den Erläuterungen für die Blätter „Steiermark" arbeitet gegen-
wärtig Prof. Pirchegger in Pettau; die „Allgemeinen Bemerkungen" und
die „Quellen" werden von mir verfisdst werden.
Für Görz und Gradiska werden die Erläuterungen gleichfialls von mir be-
sorgt werden, und es steht zu erwarten, dafs nach Fertigstelltmg der Kartendrucke
auch die Erläuterungen im Laufe des heurigen Winters vorgelegt werden können.
Über die Vorarbeiten zu den Erläuterungen für die Blätter „Niederösterreich,
Tirol, Kärnten und Krain" kann gegenwärtig nicht berichtet werden.
Die im ELartenbilde wiedergegebenen Grenzlinien der einzelnen Land-
gerichte beruhen fast durchgängig auf der Reduktion der sogenannten L. G. -
Beschreibungen aus verschiedenstem Zeitalter. An die Edition dieser Be-
schreibungen, welche so reiche topographische, sprachliche und auch rechts-
historische Details bieten, hat man bis jetzt seitens der Atlaskonmiission
nur insoweit gedacht, als man für eine solche die einzelnen Landespubli-
kationsinstitute interessieren wollte. In dieser Sache ist bis jetzt ein
merkbarer Fortschritt nicht zu verzeichnen.
4. Die Adaskommission der k. Akademie der Wissenschaften in Wien
hat beschlossen, alle jene Studien, die in irgendeinem Zusammenhange mit
den Problemen der historischen Geographie der österreichischen Alpenländer
stehen oder welche der Entstehung, der Weiterbildung tmd dem Verschwinden
gewisser historischer, administrativer und judizieller — selbstverständlich
kartographisch darstellbarer — Erscheintmgen nachgehen, nach Form und
Inhalt aber über den Rahmen der sogenannten Erläuterungen hinausgeben,
fallweise und nach Bedarf in einzelnen Sammelbänden als „Abhandlungen
zum Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer" erscheinen zu
lassen. Diesen Studien wurde das „Archiv für österreichische Ge-
schichte" zur Verfügung gestellt
Eine Reihe von Abhandlungen liegt bereits druckfertig vor. So von
Ed. Richter, Die älteste Kartognq)hie Salzburgs, von demselben. Die
salzburgischen Steuergemeinden, von Martin Wutte, Konskriptionsgemeinde
und Steuergemeinde und deren Verhältnis zur alten Gerichtseinteilung des
Landes Kärnten, von S. Puchleitner, Die Bestallungsbücher der salz-
burgischen Pfleger tmd Landrichter im XVI. und XVII. Jahrhundert Teils
in Vorbereitung teils nahe dem Abschlüsse sind „Studien historisch-topo-
graphischer Natur über einzelne steirische Territorien" von Hans Pirchegger,
5*
— 64 —
über „die theresianische und josefinische Kreiseinteilung Steiermarks*' von
Ant Kapp er, über die ,, Josefinischen und Franriszeischen Steuerge*
meinden und deren Stellung zur Grundkartenfrage ** von C. Giannoni,
über die ,, Alten Grafschaften des Landes Kärnten*^ von A. v. Jaksch,
und endlich über „die Entstehung der Landgerichte auf bayerisch-österreichi-
schem Rechtsgebiete** von H. v, Voltelini *).
Eingeleitet soll dieser erste Band der „Abhandlungen** durch eine ein-
gehende Untersuchung über die Entstehung, die Ausbildung und
das Aufhören der hohen und niederen Strafgerichtsbarkeiten
auf dem Boden der altösterreichischen Alpenländer werden, wie der Titel
schon besagt, von der Zeit des ersten Auftretens der Grafechaftsgebiete an-
gefimgen bis zum Jahre 1848 als dem Jahre des Aufhörens des Feudal-
systems und der Patrimonialwirtschaft. Diese zumeist auf archivalischem Nfaterial
beruhende Studie soll das im Bilde der Landgerichtskarte Gebotene genetisch
erläutern und jene Lücken ausfüllen, welche die sogenannten „Erläuterungen**
schon ihrer Natur nach als blofser Begleittext zur Karte aufweisen. Ob
diese umfimgreiche Studie noch im Veriauf des heurigen Winters der aka-
demischen Atlaskommission vorgel^ werden wird, kann ich, als VerfEisser
dieser Arbeit, heute mit Bestimmtheit nicht voraussagen. Jene Teile, welche
die strafgerichtlichen Kompetenzen zur Zeit der Kodifikation der österreichischen
Territorialstrafgesetze behandeln, und die dem allmählichen Eingehen der niederen
Gerichtsbarkeiten alter Form von dem Erscheinen der Theresiana ab bis zur Josefi-
nischen Gerichtsorganisation gewidmet sind, sowie die Untersuchungen über das
Entstehen der altösterreichischen Gerichtsherrschaften, liegen allerdings bereits
druckfertig vor. Dagegen erfordern die Gegenstände: Patrimoniale Gerichts-
barkeiten, Dorfgericht, Burgfried und andere noch eingehender Studien.
Ziehen wir mit dem heutigen Tage die Schlufsrechnung über die seit
1902 im Bereiche der einzelnen Lokalkommissionen für den Historischen
Atlas geleisteten Arbeiten, so sind wir von vornherein berechtigt von Fort-
schritten zu sprechen. Mit diesen hat deren Publizierung leider
nicht gleichen Schritt gehalten. Diese ist von einem öffentlichen Institute
tmd dessen Arbeitstätigkeit abhängig, welche dieses Institut sich erst in zweiter
Linie unserem Unternehmen widmen läist Dies soll jedoch keineswegs ein
Vorwurf sein ! Alle, denen der Historische Atlas der österreichischen Alpen-
länder nahe liegt, müssen dem k. u. k. militärgeographischen
Institute zu Wien, das mit seinen ausgezeichneten Kräften und bedeuten-
den Mitteln mit der gröfsten Bereitwilligkeit für den Atlas sich eingesetzt
hat, nur zu Dank verpflichtet sein.
Zur 6. Tagung der Konferenz landesgeschichtlicher Publikationsinstitute
im Jahre 1906 wird der Historische Atlas sich wieder zum Worte melden.
Und ich glaube im Sinne aller Anwesenden zu handeln, wenn ich die
Hoffiiung ausspreche: zu dieser Tagung möge Eduard Richter in eigener
Person die ersten beiden Lieferungen des Historischen Atlasses der österreichi-
schen Alpenländer vorlegen können. Anton Meli (Graz).
1) Vortrag gehalten am 3. September 1904 in der VIII. Versammlong deutscher
Historiker in Salzbarg.
Herausgeber Dr. Armiii Tille in Leiptig.
Druck und VerUg von Friedrich Andreas PertheS| AktiengeaelUchaft, Gotha.
Hierzu als Beilage: Aufforderung zum Abonnement auf die illustrierte Zeitung:
„Der Tag".
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
lur
Förderung der landesgeschiclitliclien Forschung
VI. Band Dezember 1904 3. Heft
Kitohen^ und . sozialpolitische
im ISZIittel alter ')
Von
Heinrich Werner (Euskirchen)
Gehen grofse Ideen auf den Marsch, so wandern sie kaum merk-
lich zuerst als Stichwörter aus der Feder einiger geistiger Höhen-
bewohner, bis sie den günstigen Boden gefunden haben, so dais sie
als Schlagwörter verbreitet und in Taten umgesetzt werden können.
1) Schon zweimal (vgl. 2. Bd., S. 182—184 und 4. Bd., S. 298—300) hat der
Herausgeber in einem Ncuikwori zu Aufsätzen, die sich mit der älteren Geschichtsliteratur
bestimmter Gebiete beschäftigten, die Lokalforsdiung auf die Pflege der Literatur-
geschichte des Mittelalters — das Wort Literatur im weitesten Siooe verstanden —
hingewiesen. Der hier veröffentlichte Aufsatz, der nur in grofsen Zügen die Publizistik
des Mittelalters und die Umstände, unter denen sie entstand, schildern will, soll weitere
Anregung zur Arbeit in der bezeichneten Richtung geben und zugleich in Kürze andeuten,
wie viel aus kirchenpolitischen Traktaten und eventuell Pamphleten, ihrer Entstehung und
Verbreitung geschichtlich zu lernen ist. Wie sehr die Bedeutung der noch jungen Wissen-
schaft von der lateinischen Literatur des Mittelalters überhaupt gewachsen ist, geht am
besten daraus hervor, dafs an den Universitäten München und Berlin eigene Lehr-
stühle dafiir errichtet worden sind (L. Traube und P. von Winter feld). Den
Versuch einer zusammenfassenden Behandlung der mittellateinischen Literatur bis zum
Auftreten der Nationalliteraturen hatte A. Ebert unternommen; sein bekanntes Werk
liat wesentlidi die Stellung und Geltung der bedeutenderen Schriftsteller jener Zeiten in
der Weltliteratur bestimmt Gegenwärtig arbeitet M. Manitius an einer Geschiehte
der römischen Literatur im Mittelalter, die als Teil von Iwan von Müllers Handbuch
der kUusischen AUertumeunssensckaft erscheinen wird. Diese Darstellung soll bis in
die Zeiten des Humanismus gehen und wird besonders den Zusammenhang zwischen
mittelalterlicher und römischer Literatur näher erörtern. — Eine Zeitschrift, welche sich
ganz in den Dienst des Mittelalters gestellt hat, ist das vortrefflich redigierte Le moyen
äge, welches schon eine stattliche Reihe von Bänden aufzuweisen hat und sich durch
ausführliche Literaturnachweise auszeichnet.
Zugleich aber dienen diese Ausführungen dazu, eine Vorläuferin der modernen
Zeitung zu charakterisieren: die politische Tendenzschriftstellerei zur Be-
einflussung der öffentlichen Meinung. So gewifs die Verbindung der letzteren mit
^er Zeitung, die vorher nur der Nachrichten Verbreitung diente, ein Erzeugai«^
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Die stimmungmachende Zeitung ist allerdings erst ein Produkt des
XIX. Jahrhunderts, aber in anderer Form haben hervorragende Geister
auch schon im Mittelalter ihre Ideen literarisch zur Geltung zu bringen
gewufet durch die ihrer Zeit allein entsprechende Broschüre (libeUi).
Keine Zeit aber ist vielleicht, abgesehen von den Tagen der franzö-
sischen Revolution, reicher an Schlagwörtern als das ausgehende
Mittelalter, und doch sind gerade diese noch wenig durchforscht.
Zum ersten Male entzündeten sich allgemeine Gedanken sozial-
und kirchenpolitischer Natur an dem Kampfe zwischen Kaisertum und
Papsttum, denn in diese beiden war das imperium Bomanum aus-
gemündet. Die in jenem geschlossene antike Einheit von Kirche und Staat
war dadurch zerfallen, dafs das Christentum, als ein „Reich nicht von
dieser Welt", zuerst in das alte universelle Machtgebiet eingetreten war
und als Weltkirche in der römischen 2^ntrale das imperium Christi
gegründet hatte. Dazu kam bald die Erneuerung des römischen
Reiches, das als Reich von dieser Welt und von der Weltkirche ge-
gründet nichts anderes sein konnte als das Weltreich, das intperiufn
mundi. So entstand der Glaubenssatz des Mittelalters von der engen
Verknüpfung und der Dauer der beiden Gewalten: das hl. römische
Reich sei das letzte der Weltreiche und an seine Dauer sei die der
Weltkirche geknüpft. Beide Weltinstitutionen bedienten sich einer Welt-
sprache, des Lateins, einer Weltwissenschaft, der theologisch gefärbten
Philosophie, der Scholastik. Wie diese auf einer Abstraktion beruhte,,
so auch der kirchenpolitische Begriff des mittelalterlichen Staates : auf
zwei Gewalten, auf der Weltkirche und dem Weltreiche. So kommt
es dann, dafe in der Folgezeit die abstrakte Deduktion von einer
XIX. Jahrhanderts ist, so wenig darf man vergessen, dafs eine Beeinflassaog der öffeoU
liehen Meinung darch Broschüren schon längst üblich war. Das, was beide Arten
der Publizistik voneinander trennt, sind nur graduelle Unterschiede, die in den alK
gemeinen Kultunrerhältnissen begründet sind. Heute hat jede politische Richtung die
Möglichkeit, durch regelmäfsige Wiederholung ihrer Prinripien fiir ihre Ideen Propa-
ganda £U machen; im Mittelalter dagegen muiste eine einzige Broschüre oder höchstens
ein halbes Dutzend über Jahre verstreute Schriften gleicher Tendenz genügen, um eine
gewisse Stimmung hervorzurufen und die verwandten Geister zum öffentlichen Partei-
ergreifen zu zwingen. In der Gegenwart verrichtet denselben Dienst eine Zeitung, die
durch viele Jahrgänge im täglichen Leitartikel dasselbe predigt, indem sie dasselbe
Prinzip nur auf immer neue Tatsachen, die gerade im Vordergrunde des Interesses stehen,,
anwendet.
Unter den zwei bezeichneten Gesichtspunkten mögen die obigen Ausführungen be-
trachtet werden ; sie mögen dazu beitragen, dafs das Interesse an der Flngtchriflenliteratar
des Mittelalters einschliefslich der Reformationszeit wächst und dafs sich unsere Kenntnis^
von dieser Literaturgattung immer mehr vertieft. Die Redaktion.
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Trennung des römischen Reiches in Kirche und Staat, femer die Ab-
straktion von der Weltkirche und dem Weltreiche und der damit zu-
sammenhängenden Weltsprache ringt mit der induktiven Erfahrung,
mit der antiken Einheit von Kirche und Staat, und zugleich mit dem
Nationalstaat, der Nationalkirche und der Nationalsprache, wie die philo-
sophische Deduktion mit der Induktion der Erfahrungswissenschaft. Mit
dem Siege der Induktion auf der ganzen Strecke, mit der Auflösung
des Weltreichs, der Weltkirche, Weltsprache und Wissenschaft ist das
Ende des Mittelalters gekommen. Dieser universelle Beruf und Begriff
des mittelalterlichen Staates und der Kirche war aber sozial- und
kirchenpolitisch von eminenter Bedeutung. Der Universalität haftete
naturgemäß Unbegrenztheit nach aulsen imd scharfe Beschränktmg nach
innen an. Fugenlose Hierarchie und strenge Formulierung des Glaubens
einerseits und eine kraftvolle Monarchie und mannigfach gegliederte
Feudalität anderseits ermöglichten beiden, Staat und Kirche, die civit(is
dei sich als letztes Ziel vorzustellen. In diesem fand der jugendliche
Tatendrang der Germanen, die zu den eigentlichen Trägem des neuen
Staates und der Kirche wurden, seine entsprechende Befriedigung.
Germanisiemng und Christianisierung bewahrten das Land vor sozialen
Konflikten, denn der Überschufs der Bevölkemng flofs in die Koloni-
sationsgebiete ab. Unter dem Dmcke der streng gefügten Feudalität
war aber jede intime Neigung zu sich selbst erstickt; für sich war der
einzelne möglichst wunschlos, um für das Grolse und Ganze alles
wünschen zu dürfen. Eine soziale Frage im modernen Sinne gab es
nicht, und es ist nicht nur Oberflächlichkeit der Auffassung, wenn sich
die schriftliche Tradition beinahe ganz auf die Registriemng der Papst-
und Kaisergeschichte beschränkt.
Eine natürliche Grenze von Staat und Kirche war nicht erkennbar.
So entstand denn schon früh ein Grenzstreit zwischen beiden. Aber
am frühesten erhob sich der Streit im eigenen Hause, und zwar zuerst
geriet das Weltreich ins Wanken. Schon Otto I. mu&te sich gegen
die seiner Weltpolitik widerstrebenden Territorialmächte schützen, und
das tat er in einer für das ganze Mittelalter verhängnisvollen Weise,
indem er geistliche Würdenträger durch Verleihung weltlichen Besitzes
an seine politischen Interessen knüpfte; dadurch waren die Grenzen
für Staat und Kirche für die Zukunft noch unkenntlicher gemacht.
Da nun aber die mit zeitlichen Gütern belehnte Kirche auch die soziale
Organisation der Feudalität übernahm, war dieses sozialpolitische System
gleichsam kirchlich sanktioniert und sein Bestand gesichert.
Bald aber beobachten wir die umgekehrte Erscheinung. Sobald
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der erste grofee Grenzstreit zwischen Staat und Kirche unter Greg-or VII.
und Heinrich IV. ausbricht, bedient sich der Papst der das Weltreich
dezentralisierenden territorialen Mächte, um die Staatsgewalt selbst in
ihre Grenzen zurückzuweisen. Staat und Kirche strebten in diesem
Falle wieder ihrer natürlichen antiken Einheit zu, indem der Empfang
des weltlichen Besitzes auch den des geistlichen Amtes nach sich
ziehen sollte. Die Laieninvestitur also, die durch die Ottonische Politik
inauguriert war, gab Anlafs zu dem grofsen Grenzstreit, der mit dem
Bestreben, die Reinheit der Kirche herzustellen, beginnt und der mit
dem Kampfe um die Freiheit der Kirche von der weltlichen Gewalt
endet, sich also zu einer Kraftprobe zwischen Staat und Kirche aus-
gestaltet. Beide Teile schreiben sich die Allgewalt über den anderen
zu, und die von jeder Seite beanspruchte Universalität des Macht-
bereichs wird von nun an die treibende Kraft in dem Kampfe um die
Grenze zwischen beiden. Das Charakteristische dabei ist, dafs gleich-
zeitig mit diesem Kampfe nach aufeen ein innerer reformatorischer
Zug — der gegen Simonie und Konkubinat — einhergeht Zugleich
charakterisiert sich der Kampf als ein Ringen zwischen Geistlich und
Weltlich, zwischen Mönchtum und Laientum. Als geistige Waflfe dienen
der Kirche die pseudoisidorischen Dekrctalien, die in Verbindung mit
der Staatslehre des Thomas von Aquino die staatsrechtliche Doktrin
für das ganze Mittelalter abgeben. Die in den Dekretalien aus-
gesprochene Befreiung des geistlichen Standes von der weltlichen Ge-
richtsbarkeit, also von der Laienwelt, während die letztere der kirch-
lichen Gesetzgebung unterworfen ist, verschärft die Trennung von
Staat und Kirche, um zugleich wieder zu universalisieren , aber aus-
schliefelich zugunsten der Universalkirche. Diese geistige Waflfe greift
die kluniazensische Reform auf und als mönchische Reform verschärft
sie den Gegensatz zu einem solchen zwischen Mönchtum und Laien-
tum. Als ein hervorragender Vertreter dieser Reform und zugleich
staatsrechtlichen Doktrin erscheint uns Gregor VIL Um für seine
Ideen Stimmung zu machen, hat er sich des Briefes als Mittel bedient.
So schrieb er Briefe an geistliche und weltliche Fürsten, ja sogar an
alle Gläubigen ^). Schon hier flackern die staatsrechtlichen Ideen vom
Urvertrag und von der Volkssouveränität *) hell auf. Gregor bezeichnet
die weltliche Gewalt als eine Erfindung des menschlichen Hochmuts,
die ersten Fürsten sind ihm grofse Verbrecher, die sich aus blofser
i) Vgl. Registrnm VII, cp. 21 uod IX, ep. 21.
2) Vgl. V. Bezold, Die Lehre von der Volkssouveränität im MittelaUer in der
Hut. ZUchr., 33. Bd., S. 321 ff.
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Herrschgier auf Antrieb des Teufels eine Macht über ihresgleichen an-
malsten ^). Mögen diese Behauptungen auch zunächst nur als historische
Beobachtungen gemeint sein, die Anhänger Gregors prägten sie bald
zu Stichwörtern um. Neben den gregorianischen Kardinälen, unter
ihnen besonders Humbert, hat Gregors extremster Parteigänger, Magister
Manegold von Lautenbach, die Überspannung des geistlichen Prinzips
bis zur Absurdität geführt. Bricht der vom Volke erhobene König
den Vertrag und wird zum Tyrannen, so — meint er — „mufe man
ihn aus dem Dienste jagen wie einen diebischen Schweinehirten". So
war der Prinzipienstreit in schärfster Weise eröffnet, und Generationen
hatten an Überbrückung der Kluft zu arbeiten ').
Akut ward der Streit wieder mit dem Auftreten der Hohenstaufen ;
denn diese, durch ihren Besitz auf römischen Boden gestellt, sahen
sich auch staatsrechtlich auf altrömische Traditionen verwiesen und
berauschten sich an der universalen Machtfüllc der römischen Impe-
ratoren. Der staatsrechtliche Grundsatz Friedrichs I.: Quod principi
plcumit legis habet vigorem ^) stiefs hart an die seit Gregor VII. ge-
züchtete Allgewalt der Päpste, der Grenz streit hat sich zu einem
Kompetenz streit fortentwickelt, der auf der staatlichen Seite die
kirchliche Gewalt in sich aufzunehmen strebte und zur Bildung des
Zwitterbegriffs vom Cäsaropapismus führte. Friedrich II. bildete die
imperialistische Idee zur Devotion der Untertanen aus und überbot
noch die Byzantiner und Orientalen. Der Kirche gegenüber ist er
nicht nur ein Feind ihrer Staatslehre, sondern auch ihres weltlichen
Besitzes. In einem Briefe an den König von England *) rügt er die
Habsucht der Kurie und Prälaten und läist durch den in späterer Zeit
immer mehr üblich werdenden Hinweis auf die in paupertate ei simpli-
cikUe fundaia primüiva ecclesia seine Absicht der Säkularisation der
Kirchengüter deutlich durchblicken. Damit wird zugleich eine neue
wesentliche Nebenerscheinung des grofeen Kampfes berührt, die Ver-
weltlichung der Kirche durch ihren Reichtum. Die Verleihung von
weltlichem Gut hatte den Grund dazu gelegt.
Für die Kampfzeit brauchten die Päpste gröfeere Geldmittel, die
i) Vgl. Monumenta Oregoriana, ed. Jaff6, S. 167, 199 und 456.
2) Der gröfste Teil der StreiUckriflen aas dieser Zeit ist in den Monumenta Oer-
maniae aU libeUi de iüe imperaiorum et poniificum saeculia XI. et XII. conscripti
(2 Bde., Hannover 1891 — 1892) herausgegeben. Erschöpfend ist dieser Streit behandelt
von C. Mirbt, Die Publixietik im Zeitalter Gregors VII. (1894).
3) ülpian, digest. I, 4, i.
4) H uillard-Br^bolles, Historia diplomatiea Friederici IL, VI. Bd. (Paris
1853), S. 391 ff.
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sie sieb durch höhere Besteuerung der Kirchen zu verschaffen wu&ten.
Der Ausfall an Leistungen der kaiserfreundlichen Prälaten und die
reichere Begabung kirchlich treu Gesinnter trieb dabei zu noch höherer
Anspannung der Steuerkraft So entstanden lebhafte Klagen über
Gelderpressungen der päpstlichen Legaten. Zum ersten Male wird
die Verknüpfung des weltlichen Besitzes mit dem geistlichen Amte
ö f f e n 1 1 i c h empfunden. So fand schon der Opferstock, den Innozenz lU.
ftir einen Kreuzzug in allen Kirchen aufstellen liefe, einen heftigen An-
griff durch Walter von der Vogelweide '). Auch Friedrich II. zog
das Volk durch Manifeste in den Streit hinein, wandte sich an das
Nationalgefühl, verlangte vom Klerus den Dritteil seiner Einkünfte und
ging gegen die Mendikanten scharf vor. Zugleich geht neben diesem
Kampfe wieder ein reformatorischer Zug einher, der von Papst Inno-
zenz IV. selbst eingeleitet und von anderen Männern, namentlich von
Bernhard von Clairvaux, weitergeführt wird. Dazu tritt eine neue Be-
gleiterscheinung, nämlich die gegenseitige Verdächtigung in bezug auf
die Rechtgläubigkeit.
Besonders erlangte die Anklage Gregors IX. gegen Friedrich II.
Berühmtheit, als habe der letztere behauptet: a tribtis barcUoribus sd.
Cristo Jesu, Moyse, Mdhometo totum mundum fuisse deceptum '). Sind
auch die Meinungen über den Autor der im Jahre 1598 im Drucke
erschienenen Schrift De tribtis impostoribus geteilt, jedenfalls stammt sie
aus derselben Quelle wie die Äufeerung Friedrichs II. Durch die Kreuz-
2}igQ war die abendländische Wissenschaft von der arabischen Gelehrsam-
keit befruchtet worden und fand bei dem Völkergewirr in dem sarazenisch-
jüdischen Spanien und in Palermo neue Pflege. Von hier hat die
mittelalterliche religiöse Aufklänmg ihren Ursprung genommen und
einen bezeichnenden Ausdruck in der Fabel von den drei Ringen ge-
wonnen. So kann man von den Kreuzzügen sagen : die Christen zogen
aus, um das hl. Grab zu suchen, und fanden das Grab ihrer Welt-
anschauung. Sollte aber die genannte Schrift von dem Rektor der
Pariser Universität, Simon von Tournay (1203), herrühren, so wäre
damit die andere Quelle, aus der von jetzt an die Aufklärung dem
Mittelalter zufliefst, angedeutet, nämlich die zersetzende Gelehrsamkeit
der Pariser Universität. Die Romanen waren von jeher die Führer im
Kampfe ftir sozial- und kirchenpolitische Aufklärung.
i) Vgl. Lachmann, Die Oediehte Walters von der Vogelueüie, S. 34 and 155.
Hier ist anch die Stelle des „welschen Gast" aDgefUhrt, der gegen Walter auftritt.
2) Vgl. Hnillard-Br^holles, ebenda V, 339f. Auch Renter, Geschichte
der religiösen Aufklärung im Mittelalter (1877), 2. Bd., S. 251 ff.
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Im XII. Jahrhundert wird auch die Staatslehre scholastisch und
zwar in der französischen Prägung-, wie sie nun an dem privilegierten
Sitz des siudium generale in Paris tonangebend wirkt. Die arabische
Philosophie des XIII. Jahrhunderts pafst die Staatslehre unter Wahrung
der juristisch-scholastischen Form inhaltlich dem Altertum noch mehr
an. Der nun vollständig aufgefundene Aristoteles führt isur schärferen
Scheidung des Naturrechts oder göttlichen Rechts von* dem posi-
tiven Recht, dem itis getUium, Das erstere ist das allein wahre, allen
gegebene, das letztere das willkürliche der einzelnen Völker ^). Von
da stammt die Lehre von der natürlichen Gütergemeinschaft, wie sie
Cäsarius von Heisterbach z. B. vertritt *). Der einflufsreichste Scholastiker,
Thomas von Aquino'), hat auch staatsrechtlich am kräftigstengewirkt.
Er formuliert den Urvertrag und die Volkssouveränität ebenso gemäfsigt
wie konsequent. Bald aberzerfiel die Pariser Scholastik philosophisch; denn
man lehrte : was theologisch wahr ist, kann philosophisch falsch sein, und
die philosophische Auflösung wirkte auch staatsrechtlich auflösend.
Dieser von Paris ausgehenden Zersetzung gibt zugleich auch
nationalen Ausdruck der Roman de la Rose. Er behandelt utopistisch
alle Fragen des Daseins und schildert die glückselige Urzeit mit ihrer
Gleichheit und Freiheit, ewigem Frieden und Liebe. Alle „gemachten"
Autoritäten, namentlich der Richterstand, werden mit Hohn übergössen.
Der einzige Adelstitel des Menschen ist seine natürliche Freiheit und
gottentstammte Vernunft. „So wurde in Frankreich die Lehre vom
Urvertrag und der Volkssouveränität ein Gemeingut der gebildeten
Laien.** *) Hier sollte denn auch diese staatsrechtliche Aufklärung
ihre erste Kraftprobe bestehen. Wiederum entzündet sich der grofee
Kampf zwischen Papsttum und Königtum an rein weltlichen Dingen,
nämlich an der Besteuerung der reichen französischen Geistlichkeit
durch König Philipp. Der Kampf ist weiterhin gekennzeichnet durch
die erste Kampfesbulle Papst Bonifaz' VIII., Clericis laicos, als ein
solcher zwischen Geistlich und Weltlich. Dem Klerus wird jede Ab-
gabe an Laien verboten und den Laien, solche vom Klerus zu fordern ^).
Der kgl. Advokat P. Dubois von Coutance, ein Hauptparteigänger
i) VgL V. Besold, m. a. O. S. 33oflF.
2) MfiDDcr wie Vincentias v. Baavais in seinem Speetätmi morale, Aegidins
Romanas und J oh. t. Paris baldigen dieser Lehre vom Unrertrag and von der Volks-
Souveränität, während Durand de Pourgain mit Vorliebe die Lehre von der Güter-
gemeinschaft behandelt
3) Vgl. B anmann, Die Staatslehre des heiligen Thomas von Aquino, (Leipzig 1873).
4) ^gl* ^' Bezold a. a. O. S. 342.
5) Vgl. He feie, Konxiliengesehiehle VI, 259 ff. •
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Philipps, machte in einer Denkschrift den Vorschlag einer Säkularisation
des Kirchenstaates und der Gründung einer sogenannten Universalmonar-
chie ^) auf nationaler Grundlage. Unter Zuhilfenahme des Adels und des
dritten Standes schien die Sache eine Nationalangelegenheit zu werden*
Der König scheidet zwischen spiritualia und temporalia und drängt den
Papst schliefsUch unter den üblichen Verdächtigungen der Rechtgläubig-
keit *) zu der Bulle Unam sandam vom Jahre 1304. In ihr wird die
alte Machtfrage nochmals scharf formuliert und jetzt sogar dogmatisch
entschieden. Die weltliche Gewalt mufs unter der geistlichen Autorität
stehen, wie das weltliche Schwert unter dem geistlichen. Aber nicht
genug damit. Der Vorzug des Geistigen vor dem Materiellen ver-
lange auch, dafe die geistliche Gewalt jede irdische Würde über-
rage und dafs deshalb „jede menschliche Kreatur dem römischen
Papste unterstehe". Neben den schon früher gutgewählten Bildern
von Sonne und Mond und von den zwei Schwertern kennzeichnet der
Schlufs vom Verhältnis des Geistigen zum Materiellen auf das des
Geistlichen zum Weltlichen hinreichend die Wissenschaft des Mittel-
alters. Die stattliche Zahl von Streitschriften, die über diesen Streit
pro et contra entstanden sind, hier eingehender zu besprechen, mufe
ich mir versagen. Den Inhalt derselben erschöpfend und systema-
tisch dargestellt zu haben, ist das grofse Verdienst von R. Scholz,
Die PiMizistik zur Zeit Philipps des Schönen und Bonifaz VIIL (=»
„Kirchenrechtlichen Abhandlungen** 6./8. Heft, 1903). Der bedeutendste
Wortführer Bonifaz' VIII. war Egidius Romanus oder Egidius de Columna ').
In den Schriften De renuntiatione papae sive apologia pro Bonifacio VIIL
und in De potestate ecclesiastica vertritt dieser Erzbischof mit solcher
Entschiedenheit die päpstlichen Ansprüche, dafe er als der Verfasser
der genannten Bulle Unam sanctam angesehen wird. In seiner
Eigenschaft als Erzieher des Prinzen Philipps III. hat er den Tractatus
de regimine principum geschrieben, dessen Übersetzung in das Mittel-
niederdeutsche um das Jahr 1400 uns zeigt, „dafs man in weiteren Kreisen
Deutschlands um 1400 über das Wesen des Staates und das Ideal des Für-
sten nachgedacht imd die Mühe der Übersetzung nicht gescheut hat *)."
i) Vgl. Notices et eactraits des tnanuserits de la bibliothique imperiale t. XXII, 186.
2) Vgl. Dupuy, Histoire du differant du Pape Bonif. VIII. avec PhiL le Bei
(Paris 1765), S. loiff.
3) Vgl. Scholz, a. a. O. S. 32—129.
4) Diese Übersetzung hat Armin Tille an dem Umschlag zn einem Aktenstücke
▼on 1578 erkannt und mitgeteilt in Zeitschrift für die gesamte Siaatstcissenschaft
57.. Jahrg. 1901.
— 73 —
Dals dieser Traktat au(serordentlich bekannt war, zeigt die Exis-
tenz vieler Handschriften und Übersetzungen derselben in mehrere
Sprachen ^). Aber mit der dogmatischen Definition päpstlicher Allgewalt
über jede menschliche Kreatur hatte das Papsttum seine Kraft er-
schöpft, es stürzte und ging in die sogen, babylonische Gefangenschaft
nach Avignon. Theoretisch freilich blieb es Sieger und hat so ein
System seiner Machtfülle ausgebaut, an dem jeder Stein um so halt-
barer sich erwies, als er auf Gnmd von tatsächlichen Ergebnissen ein-
gefügt wurde.
Die weltliche Gewalt dagegen vergafe, ihre Machtansprüche recht-
lich zu kodifizieren. Aber ihr erwuchs eine andere Stütze, das Laien-
tum. Dessen kritischer Trieb schärfte sich in diesen Kämpfen immer
mehr, es wird durch das an Einfluls immer wachsende Stadtbürgertum
eine Macht auch in den staatsrechtlichen Kämpfen zwischen den beiden
höchsten Gewalten. Das geschah in dem nun folgenden grofsen Grenz-
streit zwischen Papst Johann XXII. und Ludwig dem Bayer *). Ludwig
war der erste und letzte demokratische Kaiser des Mittelalters; von
einem römischen Parlamente zum Kaiser gewählt, empfing er aus Laien-
hand die Krone. Ludwig erkannte als erster König die Bedeutung
des Bürgertums; auf die kräftige Initiative der deutschen Städte hui
ging der Kaiser immer entschiedener vor und formulierte im Verein
mit den Kurfürsten nach dem Kurverein von Rhense (1338) zu Frank-
furt zwei Konstitutionen, nach welchen die kaiserliche Würde un-
mittelbar von Gott komme und der von den Kurfürsten gewählte
Herrscher auch ohne weiteres römischer König sei.
An dieser staatsrechtlichen Tat war auch das deutsche National-
bewußtsein beteiligt, insofern das Papsttum damals ganz vom fran-
zösischen Hofe beeinfluist war und gerade der französische Einfluls
finanziell Deutschland schwer drückte. Aber von demselben Frank-
reich werden die Waffen für den theoretischen Kampf entliehen. Und
seltsam! Was einst Gregor VII. und seine Anhänger zu Ungunsten
der weltlichen Gewalt vorbrachten, das wird jetzt gegen die päpst-
lichen Machtansprüche gekehrt und zugespitzt. Das bedeutendste Er-
eignis der groCsen Publizistik jenes Kampfes ist der Defensor pacis ')
des Marsilius von Padua. In ihm haben drei Faktoren, die rö-
mische republikanische Tradition, die in den italischen Städten, nament-
i) Ebenda S. 487 Anm. i u. S. 4S8.
2) Vgl. Riezler, Die literarischen Widersckcher der Päpste xur Zeit Ludwigs
des Bayern (1874).
3) Gedrnckt bei Goldast, Monarchia s. Romani imperii II, S. 154 ff.
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lieh in Padua, der Heimat des Marsilius,*nie verlorenginge, der kritiscbe
Trieb der Laien und die französische Aufklärung gemeinsam ein monu-
mentales Werk aufgeführt. Die Schrift zerfällt in drei Teile. Der
erste handelt vom Ursprung und Zweck des Staates, der zweite vom
Verhältnis der geistlichen und weltlichen Gewalt und der dritte zieht
41 Schlüsse ') aus dem Gesagten. Nach Marsilius ist der Staat und
vornehmlich die Monarchie zwar göttlichen Ursprungs, aber das Volk
ist souverän. Deshalb ist der Monarch nur Präsident des Staates, das
Volk ist Gesetzgeber und bestimmt die Stärke der bewaffneten Macht,
die Versammlung des Volkes aber herrscht und zwar nach Mafsgabe
der Mehrheit, sie wählt auch den Fürsten. Dieser hat die Exekution,
ist verantwortlich imd absetzbar, denn er ist nur „regierender Bürger".
Die Kirche steht unter dem Staate und ist diesem konform gebildet.
Der Papst ist nur Präsident des Konzils, das aus Laien und Geist-
lichen besteht. Letztere werden von der Gemeinde gewählt Kurz-
um, Marsilius hat die republikanische „Staatsverfassung des Aristoteles
zum ersten Male frei von jeder kirchlichen Beimischung und konsequent
wie kein anderer übernommen***). Auch die Minoriten, Michael
von Cesena, Bonagratia und namentlich Wilhelm von Occam
("t 1347)» beteiligten sich an der Federpolemik gegen das Papsttum.
Besonders letzterer vertritt mit dem Abte Engelbert von Ad-
mont — beide sind Professoren von Paris — die Lehre vom Ur-
vertrag, verwirft mit Marsilius die Universalmonarchie, weil es nur
Einzelstaaten gibt. Auf kirchlichem Gebiete ist der eigentliche
Träger kirchlicher Gewalt selbst in Glaubenssachen die Gesamtheit der
Gläubigen.
Selbst literarische Anhänger des Papsttums vermochten sich von
der Macht der gegnerischen Streitschriften nicht ganz frei zu halten,
ja sie übten auch ihrerseits positiv Kritik an den Mißständen und be-
sonders der Verweltlichung der Kurie *). Auch der bedeutendste
deutsche Publizist, Lupoid vonBebenburg, Bischof von Bamberg,
hat, so vermittehid er auch zwischen beiden Richtungen steht, Stim-
mung für die Vorgänge auf dem Reichstage von Frankfurt vom Jahre
1338 gemacht. Aber den Franzosen blieb es wieder vorbehalten, am
wirkungsvollsten die staatsrechtlichen Theorien der letzten Zeit noch
i) Johann XXIL verdammte mehrere Sätze in der Bulle Juxta doetrmam bei
Martine II, 704 ff.
2) Vgl. Bezold a. a. O. S. 346.
3) Daninter der Dominikaner Petrus de Palu de, der Minorit Alvarus Pelagius
jnd der Augustiner Augnstns Triumphns.
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einmal an der Schwelle des groüsen Schisma zusammenzufassen und,
im wesentlichsten auf Marsilius und Occam fufsend, zum heftigsten An-
griff auf das Papalsystem auszuholen. Dies geschieht in dem Dialog
zwischen Kleriker und Ritter, in dem sogen. Somnium viridarium oder
Sänge du vergier, der im Jahre 1376/77 von einem königlichen Rate
abgefafst wurde. Der Geistliche vertritt die kaiserliche Weltherrschaft,
der Ritter die Interessen des Laien, des Volkes, der Nationalität.
Hierin kommt die Umwälzung der Jahrhunderte zum Ausdruck.
In Frankreich freilich versteht sich diese Entwickelung von selbst;
hier hatte das Königtum am Ende des XIV. Jahrhunderts im Bunde
mit dem Bürgertum und den Legisten gegen den Feudalismus und
dessen notwendige Folgeerscheinung, den Imperialismus, gekämpft und
eine Nation geschaffen '). Die germanisch-christliche Abstraktion einer
Trennung des Staates von der Kirche ward von Marsilius und Genossen
auf heidnisch-republikanische Weise verneint, dafür aber die Einheit
der beiden Gewalten in die Allgewalt des Staates und zwar in die
Demokratie, ja sogar in die Gemeinde verlegt. Der Imperialismus,
die Einheit des Weltreiches wird ebenfalls geleugnet infolge der breiteren
Anteilnahme des nationalen Bürgertums an der Kultur und dem staats-
rechtlichen Kampfe. So hatte namentlich in Frankreich die Volks-
sprache noch früher als in Italien die Übermacht über die mit dem Welt-
reich verknüpfte internationale oder lateinische Weltsprache gewonnen *).
In Deutschland freilich bewegte sich diese nationale Richtung noch
in bescheideneren Bahnen. Zwar nahm das Bürgertum einen kräf-
tigen Anlauf mit Kaiser Ludwig dem Bayer zu einer rein weltlichen
Reichspolitik. Auch das Volk wurde selbst von den Kanzeln herab
in dem grofeen Grenzstreit zwischen Kaisertum und Papsttum für die
Unabhängigkeit des Kaisertums beeinflufst *). Die Streitfrage erlangte
so eine gewisse Popularität. Daneben ist wieder der Kampf um die
temporalia sogar im eigenen Hause der Kirche entbrannt. Die Spiri-
tualisten der Minoriten, die einst unter Friedrich II. so fest zum
Papste hielten, finden durch ihre extreme Ansicht von der Armut der
Kirche einen Bundesgenossen an der weltlichen Macht, so dais der
Kampf auch von einer Seite unter das Volk getragen wurde, die sich
mit ihm noch näher berührte, nämUch von den Bettelmönchen. Ihre
Lehre von der Armut der Kirche klang verständlicher zu dem niederen
1) Vgl. Boos, Rheinische Siädtekultur 3. Bd., S. 390.
2) Ebenda.
3) Vgl. Mntii, Oerm. chron. XIV, S. 881: aliquamdiu nihil aliud ad populum
praedieabant quam de imperatore et pontifice etc.
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Volke, das dadurch noch gröfseres Interesse auch an den anderen
Streitfragen gewann. Nur noch die Einheit in der Weltkirche stand
aufrecht. Diese wurde zunächst durch das Schisma in dem Ober-
haupte der Kirche durchbrochen und schließlich durch die Spaltung-
der Gläubigen tatsächlich aufgelöst. Wir stehen am Ende des Mittel-
alters.
Das Papsttum hatte in dem Grenzstreite mit der weltlichen Macht
mit Hilfe der dezentralisierenden Partikulargewalten die Zentralgewalt
des Kaisers entwurzelt, aber das Papsttum ging in das avignonesische
Exil. Der mittelalterliche Glaubenssatz, dafs Rom der Sitz des saeer^
dotiutn sei, war damit erschüttert; die universelle Stellung des Papst-
tums schien gekürzt. Als nun gar durch zwiespältige Wahl zwei, ja
drei Oberhäupter der Kirche auftraten, da mufsten die geistlichen
Rivalen buhlen um die Gunst der Fürsten; es mufste ignoriert oder
zugestanden werden, was ihre eigene Würde und Rechte untergrub.
Namentlich mit Bencfizienverleihung wurde grober Unfug getrieben.
Die gegenseitigen Zensuren der beiden Widersacher bewirkten die
Verachtung kirchlicher Zuchtmittel überhaupt, und die Besteuerung
zweier Kurien empfanden die Gläubigen erst recht als drückend. Schon
früher sind besonders sensible Naturen unter dem Gewände der Weis-
sagung und namentlich unter Ludwig dem Bayer die niederen kirch-
lichen Gewalten, besonders die armen Mönche, gegen die Verwelt-
lichung imd den Reichtum der Kirche aufgetreten. Diese Strömung
wird jetzt breiter. Eine ganze Reihe gelehrter und würdiger Männer,
wie Heinrich von Langenstein, Nikolaus von Clemange,
Gerson und viele andere treten zwar für die Einheit der Kirche ein,
werden aber unter der Gewalt der Umstände heftige Ankläger der
Mifsstände an der Kurie und in der Geistlichkeit : während sie iiir die
Einheit der Kirche kämpfen, schwärmen sie für deren Reinheit. Mit
der breiteren Öffentlichkeit der schismatischen Frage werden aber auch
die Mifsstände öffentlicher empfunden, es beginnt das Zeitalter der
Reformkonzilien. Ein wahrer Wettlauf in der Reform spielt sich ab,
dem bald Ermattung bei den Häuptern folgt, um bei den Niederen,
„Kleinen" um so heftigeres Verlangen zu erregen. Diese „Kleinen"
sind ursprünglich die Bettelmönche gewesen, sie bleiben es auch noch
in dieser Zeit und erheben ihr Zetergeschrei gegen den Reichtum der
Prälaten und die Gelehrsamkeit der Zunftgelehrtcn von jeher. Aber
ihre Reihen werden nun noch verstärkt von oben, wie wir gesehen
haben, durch die Gelehrten der Pariser Hochschule selbst und nach
unten durch die Laien. Auch sie kämpften gegen Besitz und Gelehr-
— 77 —
samkeit der Kirche, aber im anderen Sinne, nicht um diese ganz zu
verneinen, sondern um sie selbst zu besitzen. Der Besitz in der toten
Hand war namentlich den Bürgern um so mehr ein Dom im Auge,
als sich die Bevölkerung stark vermehrte und der frühere Abfluis des
Überschusses nach dem Norden und Osten seit langem stockte. So
entstand eine soziale Frage. Da natürlich mit dem reicheren Besitz
an materiellen Gütern auch die Kirche seither die Trägerin der Bildung
war, so erfüllte die Laien nun der Gedanke neben einer Revindikation
von Besitz auch die der Bildung.
Da bot sich diesen ein neues BUdungsmittel dar in dem Humanis-
mus. Die Anhänger desselben sind zwar anfangs treu kirchlich gesinnt,
aber es lag in dem Wesen der neuen Geistesrichtung als der mehr
weltlichen Wissenschaft gegenüber der scholastisch-kirchlichen Zunft-
gelehrsamkeit, sich bald in Gegensatz zu dieser imd dem von ihr ver-
tretenen Glauben zu setzen, jedenfalls sich an der Kritik kirchUcher
Mifsstände zu beteiligen. Namentlich waren es die verschiedenen Arten
von niederen Beamten aus der Kanzlei, als der „Stätte, wo sich die
Säkularisation der Kultur vorbereitete" ^), wie Kanzler, Notare, Schreiber,
Schulmeister, Buchschreiber und Handschriflenhändler, sowie die Juristen,
die sich besonders eifrig dieser „laischen Gelehrsamkeit" widmeten.
Insbesondere die Stadtschreiber waren als Halbgelehrte so recht die
Vermittler des Gelehrtentums , zwischen Doktoren und Laien *). So
sehen wir denn auch das Laienelement in den öffentlichen Fragen
immer einflufsreicher werden und namentlich neben den Juristen schon
auf dem KonzU zu Konstanz eine Rolle spielen. Hier fand sich eine
internationale Gesellschaft zusammen, deren Mitglieder sich aber ihrer
Nationalität wohl bewuist waren. Denn hier wurde zum ersten Male
nicht nach Kirchenprovinzen, sondern nach Nationen beraten und
abgestimmt. Der nationale Gegensatz wurde so weit empfunden, dafs
„bestimmte Charaktereigenschaften der leitenden Nationen als fest-
stehende Schlagwörter von Anfang des KonzUs an gebraucht wurden" *),
die sogar in Predigten vorkamen. Diese innige Berührung berufener
Vertreter der verschiedenen Nationen hatte politisch für die Folgezeit
trennend gewirkt, geistig aber einen Kosmopolitismus erzeugt, dessen
Bindeglied der aus Konstanz bereichert hervorgehende Humanismus
darstellt. Die Humanisten waren auch das Eigenartige an der Kon-
i) VgL Boos, m. ft. O., 3. Bd., S. 391.
2) Vgl. Joachimsohn, Oregor Heimburg (1891) S. 114.
3) Fink e, H., Bilder vom Konskmxer Konxil (Nenjahrsblätler der badischen
historischen Kommission 1903) S. 91.
— 78 —
•
»
Stanzer Versammlung , sie waren fast alle der Kurie angegliedert '),
die einen näher als Beamte der Kanzlei, die anderen entfernter.
Das Sekretariat für politische Briefe war das bevorzugte Amt der
humanistischen Partei. In jenen Tagen war aber zu viel politischer Zünd-
stoff angehäuft, und so war der Boden fruchtbar für die Invektive und
das Pamphlet. König und Konzil lieisen dagegen harte Strafen an-
drohen, doch war bald hier bald dort ein Libell an der Kirchentüre
zu entfernen. Mit einer an die Frivolität der französischen Revolutions-
literatur grenzenden, ja sogar an die Titel von Flugschriften aus derselben
Zeit erinnernden Blasphemie wurden hierbei kirchUche Zustände, Kurie
und Päpste behandelt *). Ein Kuriale schreibt im Jahre 14 15 eine Invek-
tive, die erdem Papst Johannes XXIII. im Namen „der Mutter der schönen
! Liebe**, der Kirche, widmet *). Auch Sigismund wird in Invektiven, Pre-
digten und Tagebüchern bald für sein unermüdliches Wirken um die Union
gepriesen, bald aber am Ende des Konzils ebenso heftig verhöhnt*).
Diese aufregenden Tage von Konstanz erlebte der ebenfalls aus dem
Stande der Schreiber hervorgegangene Bischof von Worms Matthäus
von Krakau ("j* 1410) nicht, obschon er schon an der lange vorher
herrschenden Aufregung über die sittlichen Zustände und der Einheit
der Kirche hervorragenden Anteil genommen hatte. Im Gegensatz
zu den Humanisten und Juristen wollte er die Erneuerung der Kirche
durch sittliche Reform und diese „ins Grenzenlose erweitern** *). „Sein
Radikalismus verstiefs gegen den Geist, die Verfassung und die Organi-
sation der katholischen Kirche, und so arbeitete er unbewulst an dem
destruktiven Werk der Auflösung der kirchlichen Kultur mit.*'
Mit dem ausgehenden Mittelalter beginnt das politische Leben
sich infolge der Schwäche der Zentralgewalt in die Territorien zurück-
zuziehen. Der staatsrechtliche Grenzstreit wird mehr privatrechtlich,
der Gegensatz von Staat und Kirche erweitert sich zu dem zwischen
Geistlich und Weltlich. Es beginnen die Emanzipationsversuche der
Laien gegen die geistliche Gerichtsbarkeit und gegen wirtschaftliche
Vorrechte der Kirche in den Städten. So wird denn mit dem be-
i) Ebenda S. 62.
2) Vgl. ebenda, S. 85. Es gab eine Passto (Leidensgeschichte) m curia Romana
seeundum aurum et argentunif eine Messe secundum simontaeos, ein reeeptum pro
stomacho 8, Peiri/
3) Ebenda S. 86. Dieses Stück soll noch übertrofTen werden von der sogen.
Canonixacio Johannis XXIIL
4) S. 86 and 90.
5) Vgl. Boos a. a. O., 2. Bd., S. 252 nnd Th. Sommerlad, Über das Leben
und die Schriften des Maithaeus van Krakau (Hallesche Diss. 1891).
— 79 —
ginnenden XV. Jahrhundert die Publizistik immer breiter in bezug* auf
die Teilnahme sowohl als auch in bezug auf den Stoff. Sozial- und
kirchenpolitische Fragen werden von Gelehrten und Laien erörtert. Auch
jetzt geht die literarische Bewegung von Paris aus, und hiermit erlangte
die Pariser Universität, nachdem sie schon längst ihre wissenschaftliche
Blüte überschritten hatte, den Höhepunkt ihrer kirchenpolitischen Be-
deutung.
Von hier breitet sich die antihierarchische Strömung auf die übrigen
Hochschulen aus. In Deutschland übernimmt sie an erster Stelle die
Universität Erfurt und wird so die Pflanzstätte der neuen Ideen. Als
deren bedeutendster Vertreter ist der Minoritenprovinzial von der
Minoritenprovinz Sachsen, Matthias Döring^), erkannt worden. Um
ihn scharten sich die modemi d. h. die Anhänger Occams und
Genossen, gegenüber den anUgui d. h. den Thomisten und Scotisten
mit ihrem freisinnigen, entschieden reformatorischen und mit den
hierarchischen Gewalten nicht sonderlich befreundeten Einflufs ^). Aber
alle hatten die beste Absicht, die Einheit der Kirche wiederherzustellen^
aber das Prinzip, das sie zur Heilung dieses Schadens anwandten^
wirkte destruktiv auf das wenn auch geeinigte Papsttum. Wie einst
Gregor VII. die auf dem römischen Rechte beruhende Grundanschauung
von der Volkssouveränität zum Angriff auf die weltliche Macht be-
nutzte und Marsilius und Genossen wieder umgekehrt gegen die
geistliche Gewalt, so benutzte sie jetzt sonderbarerweise die Kirche
zur Herstellung der Einheit in der päpstlichen Gewalt.
In der Notlage des Schismas mufste man zu außergewöhnlichen
Mitteln greifen: da das positive Recht versagte, ging man auf die
Prinzipien des natürlichen Rechts zurück. Nach diesem aber beruhte
die Fülle der kirchlichen Gewalt nicht mehr auf dem Papste, sondern
auf der Gesamtheit der Gläubigen, die auf dem allgemeinen Konzil
vertreten sind '). Der Fundamentalsatz der Epistüla pacis des Konrad
von Gelnhausen ist durchaus nach dem Muster des Defensor pacis
gebildet. Das Volk, die Gesamtkirche, vertreten durch das allgemeine
Konzil, ist souverän, ist unfehlbar *). Hiermit ist Konrad von Gelnhausen
i) Albert, P. Matthias Döring^ 'ein deutscher Theologe und Chronist des
15, Jahrh, (Münchener Diss. 1S89). S. 4. Er gehörte zn denjenigen, die die Reform
von der ganzen Kirchengemeinde vollzogen wissen wollten. Ebenda S. 26.
2) Ebenda S. 13 f.
3) Vgl. Kneer, Die Entstehung der konxiliaren Theorie in 6m ..RoiDischea
Quartalschnft ", Supplementheft, 1893, S. 53.
4) Ebenda S. 55.
— 80 —
der Beg^nder der sogenannten konziliaren Theorie noch vor Heinrich
von Langenstein. Dieser übernimmt nur die von jenem g-epxagtc
Theorie, gewinnt ihr aber in seiner episttda cancUii pacis noch eine
neue Seite ab. Schon vor ihm hatten Schriftsteller die sittlichen \Cis-
stände in der Kirche geschildert, aber er erblickt zuerst einen kau-
salen Zusammenhang zwischen Schisma und Mifsständen; er stellt
-dem Konzil nicht nur die. negative Aufgabe, die Vielheit der Hanpter
zu beseitigen, sondern verlangt von ihm auch positiv die sittliche Er-
neuerung. Die eigentliche Bedeutung dieses Mannes liegt also darin,
dafis er „aus persönlicher Erfahrung heraus, mit der ganzen Lebhaftig-
keit seines Naturells die Pfeile seiner Kritik gegen die vielfachen Miß-
brauche in der Kirche, gegen die grofee Sittenverderbnis an Haupt
und Gliedern schleudert, zu deren Reform es dringend die Abhaltung
allgemeiner und besonders auch von Provinzialsynoden bedürfe" *).
Gerson bildet die Lehre vom natürlichen Recht fort bis zum Ra-
dikalismus. Das Wohl der Gemeinsamheit hat zu entscheiden; deshalb
haben auch weltliche Herrscher die Pflicht, das Konzil zu berufen, ja
selbst ein Bauer oder ein altes Weib*). Auch Dietrich von Niem
45teht auf dem Boden des Marsilius, ohne in dessen Grundsatz der Volks-
souveränität tiefer einzudringen *). Er steht einsam am Wege und er-
wartet alles Heil von einem tatkräftigen Kaisertum. Ebenso vertreten
Peter d'Ailly und Francesco Zabarella mit aller Festigkeit
den Gedanken, dals ein allgemeines Konzil auch ohne päpstliche Be-
rufung zusammentreten könne. Der bedeutendste Traktat des letzteren De
schismcUe (1403 — 1408) führt unmittelbar vor die Tore Pisas, wo die kon-
ziliare Theorie zum ersten Male konkrete Gestalt gewinnt. Zu Konstanz
wird sie in der vierten und fünften Sitzung zum Beschlüsse erhoben,
^o da(s der Satz von der Superiorität des Konzils über den Papst ins
Kirchenrecht zu dringen sucht und weiter hinaus über die Baseler
Synode bis zur Reformation wirkt. Der ganze Superioritätsstreit ist
insofern für eine allgemeine Betrachtung wichtig, weil in ihm sich die
Lehre von der Volkssouveränität bis zum krassen Radikalismus aus-
tobt. Das allgemeine Konzil, zusammengesetzt aus Geistlichen und
Laien, das also eine Vertretung aller Gläubigen darstellt, steht über
dem Papste. Wie einst gelegentlich des Zwistes über die Superiorität
zwischen Kaisertum und Papsttum, zwischen Staat und Kirche diese
demokratische Lehre entstanden ist, so wird sie jetzt innerhalb der
1) Ebenda S. 82.
2) Vgl. Bezold ft. a. O. S. 355.
3) Vgl. Erler, Dietrich von Niem {1887) S. 418.
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— 81 —
Kirche selbst angewandt und zwar zum ersten Male praktisch, um ein
einheitliches kirchliches Oberhaupt zu bekommen. Zur Wiederher-
stellung dieser Einheit hält auch der bedeutendste Publizist des Baseler
Konzils, Nikolaus von Kues, an dem Satze der Volkssouveränität
fest, so sehr er politisch die 2^ntralisation anstrebt. Mag er denn
auch später seine Einseitigkeit eingesehen und die Halbheit des kirch-
lichen Demokratismus bereut haben, tatsächlich hat er sich zu dem
wieder zentralistischen Papsttum Eugens IV. geflüchtet. In seiner Con-
wrdafUia catholica will er den Einklang, wie er ihn im Hierarchicus
ordo vorgeschrieben sieht, wiederherstellen zwischen Staat und Kirche,
zwischen der Kirche und ihren Organen, namentlich dem Konzil, und
zwischen dem Reich und seinen Gewalten. So lebt in diesem Werke
der Gedanke von der alten Einheit und Universalität in seiner traditio-
nellen Gestalt wieder auf, aber daneben stehen schon die Wahrzeichen
der modernen Entwickelung, die durch Übernahme der aristotelischen
Lehre begründete Teilnahme des Volkes an Recht und Gesetz in Staat
und Kirche. Nikolaus von Kues ist der Prophet des modernen Kon-
stitutionalismus geworden.
Weltliche und geistliche Gewalt stammt vom Volke, denn alle
Menschen sind von Natur gleich frei und mächtig. So geht der Kaiser
nur aus der Wahl der Kurfürsten hervor, die im Namen der Gesamt-
heit handeln. Damit stellt sich Nikolaus auf den Boden der Tat-
sachen von 1338. Aber auch in die weitere Vergangenheit Deutsch-
lands vertieft er sich, wenn es gilt, die Schäden seiner Zeit aufzuspüren
und Grundlagen für die Reform ausfindig zu machen. Das Grundübel
ist nach ihm die Schwächung der Zentralgewalt und die damit zusammen-
hängende Rechtlosigkeit. Er kennt das Bestreben der Kurfiirsten-
oligarchie, sich an Stelle der Zentralgewalt zu setzen, und tadelt deren
Raub von Reichsgut und Regalien. An diese Rechtsverletzung knüpft
«r die berechtigte Voraussage einer bürgerlichen Revolution. Die Auf-
hebung des Fehderechts durch Verkündung eines ewigen Friedens,
die dadurch notwendige Einteilung des Reiches in zwölf Kreise mit je
«inem kaiserlichen Gerichtshof^) und besoldeten Richtern sollen die
Rechtssicherheit heben. Über den kaiserlichen Gerichten steht der
Reichstag, und darin, nämlich in einer der Gesamtheit verantwortlichen
Zentralgewalt, die aus einer bedingten aber starken Volksvertretung
Gesteht, liegt der Schwerpunkt des ganzen Reformprojektes. Kaiser
i) Vgl. Conc cath. L 3, cap. 29 — 31 and 33 und 34. Ed. Schardias, De furis-
dietiane, S. 465—676. Stampf, Die politischen Ideen des Nikolaus von Kues,
<Köln 1865) S. 59—68.
7
— 82 —
und Reich sollen also gestärkt werden, aber nicht in „ der alten Bedeutung
des Wortes", sondern im modern konstitutionellen Sinne. Die Forderung
eines stehenden Reichsheeres, das durch die kaiserlichen Zölle und
eine Reichssteuer unterhalten werden soll, bezeichnet eine einheitliche
Finanz- und Heeresreform.
Wir sehen also, dafe der Grenzstreit innerhalb der kirchlichen
Organe, zwischen Papsttum imd Konzil zwar ergebnislos für die Eni-
Wickelung der Hierarchie verlief, denn Papst Eugen IV. vernichtete
den Konzilsbeschlufe von der Superiorität über den Papst durch eine
Bulle, weil er erkannte, da(s die Männer in Basel mit Gedanken spielten,
die leicht einen Brand von unabsehbaren Folgen hätten entzünden können,
aber das Beispiel der Kirche blieb nicht ohne Wirkung, wenn diese
sich auch auf staatlichem Gebiete zeigte; in beiden Fällen bietet
freilich die politische Aufklärung das Material für die Aufstellung der
entsprechenden Ideen. Wie die Gewalt des Papstes beschnitten werden
sollte durch die Steigerung der Gewalt der aligemeinen Konzilien, der
Bischöfe und der von ihnen berufenen Provinzial- und Diözesansynoden,
so sollte politisch der Reichstag die Machtvollkommenheit des Kaisers
mindern und eine neue gestärkte Zentralgewalt darstellen, allerdings
eine, die durch Heranziehung niederer Faktoren (aller Fürsten, Ritter
und Städte) eine neue Gestalt annehmen würde. Unzweifelhaft ist
dieses Stichwort und andere, wie Kreiseinteilung, ewiger Friede, Reichs-
heer und Reichssteuer, kaiserliches Gericht und natürliches Recht, durch
NUcolaus von Kues geprägt worden, um bald als Schlagwörter in ak-
tuelle Reformprogrammc überzugehen.
Zugkräftig wurden die Stichwörter erst, als sie in die Reihen der
niederen Prälaten und Kleriker und von hier aus unter die Laien
drangen. Hier führten sie zum wildesten Radikalismus, denn die kühn
gestimmte Linke geriet durch die leisesten Versuche einer Reaktion
in die heftigste Opposition. In ihrem Sturm und Drang nach Reform
huldigte sie einem ausgearteten Kritizismus. Einer ihrer Vertreter,
Hermann Zoestius von Marienfeld ^), gibt der hochgehenden Erregung
bezeichnenden Ausdruck, wenn er in seinem Traktate De vocibus de-
finitivis in conciliis generalibus sechs charakteristische Gründe für die
Zulassung auch der niederen Kleriker anführt. Wenige Hohe lassen
sich eher irreleiten als viele Niedere; den Geringeren hat Gott
mit Vorliebe sich offenbart. Der Papst ist nur der Verwalter der
Kirche; wenn es die Kirche will, so ist er kein Verwalter mehr. Der
I) Vgl. Fr. Zurbonscn in Wcstd. Ztschr., XVlll. Jahrg., 1899, S. 146^.
— 83 —
i
t letzte und stärkste Trumpf der Baseler Ultras aber war: „Möge das
c Hündlein bellen *S ruft Hermann aus, „damit die groisen Hunde wachen!'*
Die Zulassung der niederen Kleriker wurde Beschluß, und damit zog
eine groise Schar auch Gelehrter und Laien in das Konzil ein. Hier-
mit hatte das niedere Element der Geistlichen und der Laien den
ersten Sieg errungen; teils von Unmut über die kirchlichen Zustände
namentlich an der Kurie und bei den höheren Prälaten, teils vom
Emanzipationstrieb geleitet, wollten sie ein ernstes Wort am rechten
Ort mitreden und auf jeden Fall für geistig gleichwertig gelten. Darin
offenbart sich der Zeitgeist des beginnenden XV. Jahrhunderts aufs
glänzendste, dais eine gröfsere Masse gebildeter Laien Anteil zu nehmen
sucht nicht nur an der Bildung im allgemeinen, sondern auch an öffent-
lichen Zeit- und Streitfragen. Der kritische Trieb der Laien fangt an,
zu Gericht zu sitzen über die bisher stets auf aristokratischen Ursprung
zurückgehenden geistigen, staatlichen und kirchlichen Erzeugnisse und
Einrichtungen und wirkt hier auflösend bis zur Reformation.
Die Auflösung beginnt namentlich mit den Reform- und Konzils-
rufen der Pariser Hochschule, die auch auf deutschen Universitäten,
namentlich in Erfurt, Widerhall fanden. Diese verpflanzten die Rede-
und Disputierkunst des Katheders über kirchliche Miisstände auf die
Kanzeln der Dome zu Pisa und Konstanz '). Von da drangen die
freisinnigen Ideen unter das Volk. Daneben erhoben aber die armen
Mönche am lautesten ihre Stimme über den Luxus der höheren und
den Leichtsinn und die Laster des niederen Weltklerus. Die zer-
setzende Gelehrsamkeit der Pariser Theologen und Kanonisten ist es,
die im Verein mit den „Lamentationen der mönchischen Naturen durch
Rede und Schrift** den freisinnigen Ideen zu gröfserer Popularität ver-
helfen. Das Konzil zu Basel setzt in dieser Beziehung nur das Kon-
stanzer fort; eme Reihe voö Schmäh- und Flugschriften zum TeU
ofGzieller Natur werden verbreitet, ja Eugen IV. hat einige selbst
förmlich bulliert. Man bezeichnete sie deshalb mit den Anfangsbuch-
staben, z. B. Detis novit, Moyses und ähnlich. Andere, die sich w^en
ihrer Gegnerschaft nicht mit der herrschenden kirchlichen Autorität
umkleiden konnten, nahmen deshalb eine höhere für sich in Anspruch,
nämüch die Prophet ie. So entsteht eine Menge von Pamphleten
von Privatpersonen oder von „ fanatisierten Mönchen**, die über das
Schicksal der Kirche nach den sieben Weltreichen der Propheten
oder den Bildern der Apokalypse weissagten, oder von „bezahlten
I) Vgl. G. Voigt, Enea Süvto de Piecohmini, i. Bd. (1856), S. i86ff.
7*
— 84 —
Schöngeistern, die mit einem bewunderungswürdigen Wortreicbtum
zu schimpfen wufsten, oder von fürstlichen Advokaten'*. Nachdem
nun gar die Partei Eugens Basel verlassen hatte, folgte dem Wort-
krieg ein ebenso heftiger Streit mit der Feder. Zu dieser Rührigkeit
kam noch das rege von dem Humanismus ausgehende und gefor-
derte Interesse niederer Kreise an Aufzeichnung und Sammlung- von
Tagesereignissen. Die diplomatische Korrespondenz *) war in jener
Zeit schon hoch entwickelt; manche Aktenstücke waren ebenfalls als
Pamphlet und Flugschriften gedacht, um den Verfasser vor der Öffent-
lichkeit zu verteidigen oder seine Gegner anzuklagen. Namentlich
war „die Versendung von Aktenkopien offenbar zugleich ein Mittel
der Nachrichtenverbreitung'', vielleicht ein besseres als die moderne
Art. Auf diesem Wege erfolgte denn auch die bessere Orientierung
der Laien über die kirchlichen Reformfragen, nachdem diese in über-
wiegender Anzahl zuerst als Vertreter der Fürsten und des Königs
immer mehr Zutritt zu den Konzilsverhandlungen erlangten. Aneas
will schliefslich „Köche und Stallmeister zu Rate sitzen gesehen
haben " '). Aber ebenso wichtig als unleugbar war es , daCs bald
Schreiber und Kopisten zu dieser Ehre gelangten'). So ver-
steht man denn auch leicht, wie der Laie und der Stadtschreiber
Valentin Eber von Augsburg als städtischer Diplomat teils aus der
diplomatischen Korrespondenz, teils aus persönlichen Beziehungen zu
KonzUskreisen Papiere erhalten konnte, die er zu dem ersten Teile seiner
sogenannten Reformation Kaiser Sigmunds, der bedeutendsten und ersten
deutschen Reformschrift des XV. Jahrhunderts, zur Reform des geistlichen
Standes benutzte *), Dafs der Verfasser dieses Reformprojekt unter dem Na-
men des Kaisers Sigmund ausgehen liefs, hat seine mannigfachen, aber guten
Gründe. Auf einen nur sei in diesem Zusammenhange hingewiesen ^).
Sigmund berauschte sich an der Mission des universalen Kaiser-
tums, griff schon in die groise Reformbewegung zu Konstanz kräftig-
ein und wurde deshalb als neuer Moses und David gefeiert^). In-
folge seines Reformeifers kam er aber bald in schlechten Ruf bei den
i) VgL Haller, Ooneüium Basiliense, 2. Bd., S. äff.
2) VgL Voigt, I. Bd., S. 108.
3) Ebenda S. 153.
4) Vgl. meine AnsfUhnuigen in Die Flugaehrift *0nu8 eeclesiad mit einem Anhang
über aoxial' und kirchenpolitische Prophetien, (Giefsen 1901«)
5) Andere sind in meinem Aafsatze über die Reformation m dieser Zeitschrift
4. Bd., S. I ff aa^eföhrt.
6) Vgl Y. Bezold a. a. O. S. 583 and Finke a. a. O. S. 91.
— 86 —
Geistlichen, die ihn als den Vorläufer des Antichrists bezeichneten
und in ihm den grofsen Züchtiger der verderbten Kirche erblickten.
Dies trug denn dazu bei, dafs die Laien ihn immer mehr glorifi-
zierten und neuen Mut gewannen, immer lauter nach Reform zu
schreien. Als deshalb bei der Reformberatung über Simonie und
Konkubinat die Prälaten heftigen Widerstand erhoben, da sind es
die Laien, die drohen: Nisi reformetis vos, nos reformabimus ^).
Als diese Bewegung dann immer mehr die niederen Kreise ergriff,
galt er auch bald hier als der Beschützer der Kleinen und Armen.
So erklärt sich denn auch der hervorstechende Zug jener Schrift, dafe
sich der Verfasser wiederholt als der Dolmetsch der Kleinen, der
Laien und namentlich des Städtebürgertums gegenüber den Gelehrten
und Prälaten, ,,die sich wider die Reform sperren", aufspielt. Aber
auch einen anderen Gegensatz kehrt der Verfasser hervor , nämlich
den gegen die Gewaltigen, Fürsten und namentlich Kurfürsten. Das
hat seinen kirchenpolitischen Hintergrund. Die kosmopolitische Idee
einer Reform der Gesamtkirche zerfiel bald in ihre nationalen Faktoren.
In Frankreich wurde die Reform auf der Nationalsynode zu Bourges
(7. Juli 1438) gelöst, in Deutschland dagegen kam es zu keinem
nationalen Zusammenschlufe in dieser Frage. Die Kurfürsten fuhren
sich unter der Leitung der Rechtsdoktoren GregorHeimburg und
Joh. V. Lysura in der unfruchtbaren Neutralität fest. Das mufste
die weiten Kreise der Laien, namentlich der Reichsstädter in Er-
regung bringen und sie von neuem aufstacheln, selbst die Reform in
die Hand zu nehmen. Ein derartiger Versuch liegt in der genannten
deutschen Reformschrift vor. Aber auch die Aufdringlichkeit der
niederen Kreise auf dem Baseler KonzU klingt daraus deutlich hervor,
wie ich schon oben das charakteristische Wort eines der Baseler
Ultras anführen konnte, dafs „wenige Hohe können eher irregeleitet
werden als viele Niedere** oder „den Geringen hat Gott der Herr
sich mit Vorliebe offenbart**. So legt auch Äneas Silvius in seinen
Commentarii de conc. Bas. (S. 17, 18 und 27 — 30) dem Kardinal
d'Allmend die Worte in den Mund: „Die Weisheit wohnt öfters in
schmutzigen Kleidern als in gestickten Gewändern.** Das bezeichnet
das allmähliche Überhandnehmen der Klosterbrüder, Graduierten und
Laien bis herab zu den niedrigsten Ständen *) , denen gegenüber
Bischöfe und Prälaten immer mehr zurücktreten. Auch der Verfasser
1) Vgl. Manumenta caneüiorum generaiiufn 2. Bd., S. 693. Vgl. anch Deutsche
GcschichtsbläUer, 4. Bd. S. 55 Anm. 2 und Historische Vierteljahrschrift 5. Bd., S. 476.
2) Vgl. oben.
— 86 —
der Reformation Kaiser Sigmunds betont wiederholt ') die Bedeutung^
der „Kleinen'* in einer Art und Weise, die besagt, dafs er nicht nur
die Städtebürger als die Kleinen denkt, die als berufene Reformer
dastehen; vielmehr soll sich auch ein „kleiner Geweihter" als der zu-
künftige Reformkaiser an die Spitze der Bewegung stellen. Der Be-
griff der ,, Kleinen" ist also bereits ein Schlagwort. Wir müssen
deshalb nach den Quellen suchen, in den dieser Begriff zuerst literarisch
auftaucht, und finden, dafs es anfänglich in den Prophetien als Stichwort
verwendet wird und da(s noch eine Reihe anderer Stichwörter aus den
Prophetien als Schlagwörter jetzt immer mehr an Macht gewinnen.
„ Politisch sind die Propheten nur als Demagogen zu verstehen. " ^
Wie die Mystik nach religiös -sittlicher Aufklärung strebt und dabei
dem Laien die Zunge löste zur religiös -sittlichen Kritik, so hat die
Prophetie, die sich der Offenbarung als Mittel bediente, der herr-
schenden Gewalt gegenüber dem Laientum den Mut zur sorial- und
kirchenpolitischen Aufklärung gegeben •). Die beiden Hauptvertreter
der früheren mittelalterlichen Prophetie sind Joachim und Hilde-
gard: „Mit ihnen setzt die Prophetie im XII. Jahrhundert, dem kri-
tischen der romanisch -germanischen Welt, an zwei Kulturzentren in
der reichentwickelten Städtekultur am Rhein und in Süditalien in einer
für das Mittelalter besonders bestimmenden Weise ein" *). Mit dem
XIV., namentlich aber im XV. und Anfang des XVI. Jahrhunderts
geniefst die nordische Seherin Birgitta ebenso grofses Ansehen.
Die mehrfache Drucklegung ihrer Offenbarungen *) und namentlich
eine Anthologie daraus, Ontis mundi genannt, die lateinisch und
deutsch erschien, trugen viel zur kirchenpolitischen Aufklärung bei.
Unter dem Einfluis der Minoriten wurden die sozial- und kirchen-
politischen Erwartungen namentlich der joachimitischen Prophetien
gewissermaisen in ein Grundschema von Stichwörtern gebracht: „Die
Kirche •) ist durch ihren überreichen Besitz verderbt. Die Habgier
hat alle Stände ergriffen, besonders den Klerus. Der weltliche Be-
sitz wird deshalb der Kirche genommen und mit ihm der Klerus
hart verfolgt werden. Dies soll eintreten in einer schweren, nahe be-
i) Die Stellen sind in dem Anhang tu meiner Schrift Die Flugsehrift *Onu9
eedesie S. 80 angefahrt.
2) Treitschke, Politik. 2. Bd. (1898), S. 26.
3) Näheres in meinem Anhang S. 70 ff.
4) Ebenda S. 72.
5) Die Aasgaben sind in meinem Anbang zusammengestellt S. 75 Anm. 7 f.
6) Vgl. meinen Anhang S. 77.
— 87 —
vorstehenden Krisis, der Übergangszeit von der zweiten zur dritten
und letzten Weltära. In dieser letzten und neuen Zeit herrschen die
Kleinen. Diese sind von vornherein Gegner der Zunftgelehrten, der
Dekretisten, werden aber unter dem Einflufs der Spiritualen die
Armen." Aus ihnen sollen auch die vier Engelpäpste hervorgehen,
die allem weltlichen Besitz entsagen und befehlen werden, „das
Evangelium zu predigen". Dann wird Gerechtigkeit und Friede
herrschen, und ein Hirt und ein Schafstall wird sein. So ist denn
mit der immer mehr zunehmenden Verbreitung dieser utopistischen
Ideen jeder Reformversuch, der von einem Laien kommt oder sich
an die Laien wendet, stets mit der Prophetie verknüpft. Aus ihr
schöpft der kritische Trieb der Laien jenen verwegenen Mut zur
sozial- und kirchenpolitischen Aufklärung, aber auch manchen be-
fruchtenden Gedanken. Die erste breite Anteilnahme der Laien an
der Reformbewegung zur Zeit des Baseler Konzils zeigt das sofort.
Viele Flugschriften gingen unter prophetischen Namen aus, wie wir
oben sahen, aber namentlich das Ansehen Hildegards wurde mit Vor-
liebe benutzt ^). So hat auch die Reformation des Kaisers Sigmund
die utopistische Ideologie des Prophetentums mit ihren geläufigsten
Begriffen in sich aufgenommen*). „Eine Neuordnung steht bevor,
die nach einer Katastrophe durch einen , kleinen Geweihten* durch-
gefiihrt wird." Als Reformentwurf eines Laien, der sich an Laien
wendet, vornehmlich an die Reichsstädter, konnte es bei dem unent-
wickelten mittelalterlichen Denken dieser höchsten Legitimation durch
die Offenbarung nicht eintraten. So konservativ seine Vorschläge
auch im einzelnen sind^), wirkt doch der Geist, der daraus spricht,
insofern eigenartig, als es der Geist der freimachenden Stadtlu/t ist,
der nicht nur um die durch das Widerspiel der Gewaltigen und Prä-
laten in Trümmer gehende Reform ringt, sondern der gerade damals
sogar um seine Existenz kämpft und deshalb hochpolitisch gestimmt
ist. Alle Welt fordert der Verfasser auf zum Bekenntnis der städtischen
Freiheit in dem Glauben, dafe jeder lieber frei sein möchte als leib-
eigen. Um dieser Proklamation der Freiheit, gegen die sich die
Herren gerade zur Abfassungszeit des zweiten Teiles der Schrift unter
dem Scheine der Reform zusammentun, weitere Tore zu öffnen, for-
i) Vgl. Voigt a. a. O. i. Bd., S. i86ff. und Altmann, Eberhard Windeeke,
S. 350 f.
2) Vgl. Anhang von S. 79 — 84.
3) Das habe ich gezeigt in den „Deutschen GeschichUbläUem", 4. Bd., S. 171—
182 u. 193—218.
— 88 —
dert er auiserdem die AbschafTung der Zünfte, die in einigen Städten,
namentlich in Augsburg, ein terroristisches Regiment führten. Damit
soll der Zuzug vom Lande in die Stadt, dem Sitz der Freiheit, ver-
stärkt werden; die Bevölkerung der Städte soll wachsen und so den
Feudalen Abbruch tun. (Schlafe folgt.)
Mitteilungen
Yersamnilnngeii. — Die achte Versammlung deutscher Hi-
storiker hat programmgemäfs (vgl. 5. Bd. S. 263) in den Tagen vom 31.
August bis 4. September in Salzburg stattgefunden, und zwar haben sich
ungefähr 150 Fachgenossen daran beteiligt; Österreich war natürlich ver-
hältnismäfsig stark, Deutschland, namentlich der nördliche Teil, dagegen
recht schwach vertreten. Den Vorsitz führte Oswald Redlich (Wien);
die Verhandlungen fanden im Schlosse Mirabell statt, für die üblichen ge-
mütlichen Zusammenkünfte war der Stiegelkeller ausersehen. Der 4. Sep-
tember brachte einen Ausflug nach der Feste Hohenwerfen an der Salzach»
die Erzherzog Eugen unter der sachverständigen Leitung des Innsbnicker
Archivdirektors M. Mayr in der Weise wiederherzustellen im Begriff ist, wie
sie im XVI. Jahrhundert war.
Die Vorträge *), die dargeboten wurden, fallen z. T. aus dem Rahmen
dieser Zeitschrift heraus : das gilt von dem übrigens durch eine bewunderns-
würdige Klarheit in der Beweisflihnmg ausgezeichneten Vortrag Die Eni^
stehung des spartanischen Staates in der lyknrgischeti Verfassung von Prof.
Karl Johannes Neumann (Strafsburg) und ebenso von der Charakteristik
Philipps des Schönen, die Prof. Finke (Freiburg) gab, bis zu einem gewissen
Grade auch von dem öffentlichen Vortrage Das deutsche Hauptquartier zu
Versailles und der Streit über die Bekämpfung von Paris 1870 von Busch
(Tübingen), der auf Grund der zahlreichen Memoiren und Briefe, die jene
denkwürdige Zeit behandeln, den Kampf um die Beschiefsung psychologisch
verständlich zu machen suchte.
Prof. August Fournier (Wien) berichtete über Neue Quellen xur
Geschichte des Wiener Kongresses *) und gab zimächst eine Übersicht über die
bisher veröffentlichten Quellen, die in der Tat nicht zureichen, um über die
wichtigsten Fragen, die sächsische und die polnische, völlige Klarheit
zu schaffen. Der Grund für den Mangel an speziellen Nachrichten ist, dals
von den vier verbündeten Monarchen drei in Wien waren und unter sich
und mit ihren Mmistern mündlich verhandelten, so dafs überhaupt wenig
geschrieben wurde ; es fehlt bei den Beschlüssen meist an der Kenntnis der
Vorverhandlungen und damit der Schlüssel zu ihrem Verständnis. Georg lü.
i) Der offizielle Bericht erscheint 1905 im Verlag von Duncker & Homblot in Leipzig.
2) Der Vortrag ist vollständig im Dmck erschienen in der Österreiekischen Bund-
schau, herausgegeben von Alfred Freiherrn v. Berger und Karl Glossy (Wien»
Konegen) Bd., 1, Heft 3, S. 140—150.
— 89 —
von England-Hannover war nicht anwesend, und die ihm von dem Grafen
Münster ^), dem Minister flir Hannover, erstatteten Berichte, die noch nicht
sämtlich herausgegeben sind, stellen in der Tat eine hervorragende Quelle
dar. Stein, der damals noch in russischen Diensten stand, hat sich Auf-
zeichnungen gemacht, aber die chronologische Folge der Ereignisse ist nicht
ganz klar; die französischen Gesandtschaftsberichte Taillerands sind
nicht lückenlos, und viele andere Aufzeichnungen können schon nach den
Stellungen, die ihre Verfasser einnahmen, nicht als vollwertig gelten. Die
Nachforschung nach neuen Quellen hat nun ergeben, dafs es einen Brief-
wechsel des Prinzen Anton von Sachsen, der ein Schwager des Kaisers
Franz war und in Wien weilte, mit sebem Bruder, dem König Friedrich
August, gibt. Nach ähnlichen Korrespondenzen müssen noch
gründliche Nachforschungen in den Archiven der [Einzel-
staaten angestellt werden! In Wien lagert nun im Archiv des Mini-
steriums des Innern eine bisher unbenutzte Quelle, nämlich die Polizeiakten
jener Tage. Auf Veranlassung Metternichs hatte die Polizei den Auftrag
erhalten, die fremden Diplomaten und hervorragenden Würdenträger in ihrem
mündlichen und schriftlichen Verkehr zu beobachten und darüber täglich
Bericht zu erstatten. Diese Berichte und die dafür benutzten Unterlagen,
die Mitteilungen geheimer Agenten , entwendete Briefe und dgl. , sind bis
auf wenige Lücken erhalten und gestatten ganz wunderbare Einblicke in die
Verhandlungen zu Wien, wenn auch vieles nur auf müfsiges Gerede zurück-
gehen mag. Über die äufseren Ereignisse geben schliefslich auch noch
einige in Wien aufgefundene Tagebücher manchen Aufschlufs. Aus den vom
Kanzleidirektor im Oberststallmeisteramt, Skall, verfafsten Meinorahüien vorn
Wiener Kongiefs , aus denen wir Näheres über, die Ankunft der fremden
Gäste, ihre Wohnung usw. erfahren, können wir z. B. auch die interessante
Tatsache entnehmen, dafs der Gedanke eines Kongresses in Wien auf einen
nach der Schlacht bei Leipzig ausgesprochenen Wunsch Kaiser Alexanders
zurückgeht, den Kaiser Franz in Wien zu besuchen. Der Gedanke ist fest-
gehalten worden, und schon im Januar und Februar 1814 hat der Kaiser
von Basel aus Anordnungen bezüglich der in Wien zu veranstaltenden Feste
getroffen.
Die Probleme der Wirtschaftsgeschichte und der diesbezüglichen Quellen-
publikationen nahmen einen ganzen Vormittag in Anspruch. Prof. D o p s c h
(Wien) und Privatdozent Kötzschke (Leipzig) berichteten Über Herausgabe
von Quellen zur Agiargeschirhte des Mitielalteis und verbreiteten sich wesent-
lich über die Urbare und ihre Publikation. Da der hochwichtige Gegen-
stand im Anschlufs an diese Verhandlungen in dieser Zeitschrift in nicht
allzu ferner Zeit ausfuhrlich behandelt werden soll, mag hier nur kurz
darauf hingewiesen sein. Die Debatte nahm eine Anregung des ersten
Redners auf, die darauf hinauslief, man solle der Zentraldirektion der Monu-
meuta Gennaniae historica den Wunsch unterbreiten, dafs sie eine kritische
Sanmilung der Hofrechte des Mittelalters, die zwar bekannt, aber
nirgends zusammen zugänglich sind, herausgibt.
i) Georg Herbert Graf zu Münster, Politische Skixxen über die Lage Europas
(Leipzig 1867).
— 90 —
Diese Anregung, zu einem Beschlüsse erhoben, fand aUgemeine Zu-
stimmung, und Prof. Redlich versprach seinerseits als Mitglied der Zentral-
kommission für die Erfüllung dieses Wunsches einzutreten. — Prof. H.
V. Voltelini (Innsbruck) behandelte in einem übersichtlich die Ergebnisse
der namendich für die Zwecke des Historischen Atlasses angestellten For-
schungen zusammenfassenden Vortrage DCe Entstehung der Landgerichte itn
bayrisch-österreichischen Bechtsgehieie. Die Entstehung der Landgerichte zählt
zu den wichtigsten Problemen der deutschen Territorialgeschichte. Zweifellos
sind sie aus Trümmern der Grafschaften entstanden, wenn auch die Motive
der Zertrümmerung und der Gang der Entwickelung im dunkeln liegen. Für
das bayrisch-österreichische Rechtsgebiet ist auf jeden Fall ein Zusammen-
hang der Landgerichtsbezirke mit den Sprengein alter Himdertschaften ab-
zulehnen, da es bei den Bayern keine Hundertschaften gab. Von groiscr
Bedeutimg für die Entstehung der Landgerichte war jedenfalls die fortschrei-
tende Besiedelung und Zunahme der Bevölkerung sowie die üblich werdende
Erblichkeit der Grafschaften. Die Landgerichte selbst gehen z. T. auf
Immunitäten imd Exemtionen zurück, welche die deutschen Könige, später
auch die Landesherren verliehen haben. Auch grund- und leibherrlichc
Gerichtsbarkeit konnte zur Ausbildung der ordentlichen Gerichtshoheit führen,
indem im Wege des Vergleichs Gerichtsbarkeit in einem geschlossenen Sprengel
an Stelle grund- und leibherrlicher Gerichtsbarkeit über zerstreute Untertanen
oder Güter trat. Vor aUem hängt die Burgen Verfassung mit der Entstehung
der I^andgerichte zusammen ; der Burghauptmann wird häufig Landrichter des
zur Burg gehörigen Burgfriedens, indem er zum Burgbanne, den er über
die bäuerliche Bevölkerung des zur Burg gehörigen Bezirks (Burgfriedens)
übt, noch die richterliche Gewalt hinzu erlangt. Auch Exemtionen imd patri-
moniale Gerichte können auf Grund von Burgfrieden entstehen. Während
in Bayern, Salzburg und Tirol die Entwickelung der Landgerichte frühzeitig
abschliefst, die Gerichtssprengel daher im wesentlichen feststehend bleiben,
schreitet die Zersplitterung in Nieder- imd Innerösterreich, namentlich infolge
der Bildung neuer Burgfrieden, bis ins XVIIL Jahrhimdert fort.
Mit der Stadt Salzburg selbst befafste sich schliefslich ein aufserordent*
lieh feiner, leider mit fast unverständlicher Stinmie gehaltener Vortrag von
Prof. Alois Riegl (Wien) über Salzburgs Steüung in der Kunstgeschichte,
Obwohl Salzburg zur Kunststadt geschaffen ist, hat es nie eine „Salzburger
Schule" gegeben; was der Stadt ihre eigenartige Stellung in der Kunstge-
schichte verleiht, ist vielmehr die ausgesprochene Vorliebe für italienische
Kimstweise, die neben deutschen Elementen steht, aber sich nicht wie in
Tirol mit ihnen harmonisch verbindet Es herrscht ein rein lokaler Ge-
schmack, der sich jedoch immöglich aus einer starken Einwanderung römi-
scher Elemente erklären läfst, denn mindestens seit dem XI. Jahrhundert ist
Salzburg eine rein deutsche Stadt. Trotzdem fehlen hier mittelalterliche
Monumentalbauten, und was an Bauwerken des Kultus und Gebrauchs da
war, ist später leichten Herzens beseitigt und verändert worden. In karo-
lingischer Zeit gibt es wohl eine Salzburger Schreibschule, aber die Miniatur-
malerei wird in ihr nicht gepflegt. Auch das Hauptproblem der romanischen
Bauweise in Frankreich, Deutschland und Oberitalien — die Gliederung der
Basilika und Steigerung der Höhenrichtung, die Ersetzung der Flachdecke
— 91 —
durch eme Kreuzgewölbedecke — hat augenscheinlich für Salzburg gar nicht
bestanden. Als man schliefslich bei der alten Bauart nicht mehr blei-
ben konnte, wurde von auswärts sofort ein fertiges System übemonunen,
und zwar nicht das rheinische, sondern das lombardische Gewölbe-
system. Dieser Umstand erklärt das völlige Fehlen früh- und hochgotischer
Bauten. Erst aus dem spätgotischen Jahrhundert (1440 — 1540) besitzt Salz-
burg zahlreiche Kunstwerke, aber eine führende Rolle hat es auch in dieser
Zeit nicht gespielt. Der Profanbau zeigt vielmehr schon in spätgotischer
Zeit hier einen offenen Umschwung zum italienischen, wie das kolorierte
Stadtbild von 1553 im Stift St. Peter beweist. Der Erzbischof Wolf-Dietrich
hat dann ein halbes Jahrhundert später die Italisierung der monumentalen
Kunst in Salzburg durchgeführt. Sein Nachfolger baute den Dom, dessen
Inneres am reinsten auf deutschem Boden italienische Art zeigt; aufsen da-
gegen zeigt gerade der Dom ganz deutsche Elemente wie die beiden Front-
türme. Das XVII. Jahrhundert beherrscht das italienische Barock, das dann
durch Johann Bernhard Fischer von Erlach zum österreichischen Barock
(Universitätskirche) umgebildet wurde. Im XVm. Jahrhundert erlahmte die
bildende Kunst, und die Musikpflege trat vor allem in den Vordergrund.
Alles in allem bildete Salzburg jederzeit ein offenes Tor für das Emdringen
italienischen Geschmacks in Deutschland ; Salzburg übernahm die italienischen
VorbUder rein und stellte sie gewissermafsen dem übrigen Deutschland zur
Schau, und darin beruht Salzburgs eigenartige Stellung b der Kunst-
geschichte.
In der Benediktinerabtei St. Peter hatte Prälat Willibald Haut hal er
eine AussteUung von Salzburger Handschriften, z. T. mit Bilderschmuck,
Urktmden usw. veranstaltet, die das lebhafteste Interesse der Besucher in
Anspruch nahm.
Hinsichüich der geschäftlichen Angelegenheiten, die beim „Verband
deutscher Historiker'' ruhen, ist zu bemerken, dafs satzungsgemäfs aus dem
Ausschufs die fünf, 1898 in Nürnberg gewählten Mitglieder ausschieden,
nämlich Hansen (Köln), Kaufmann (Breslau), v. Stalin (Stuttgart),
Ulm an n (Greifswald), v. Wcech (Karlsruhe). Aufserdem war an SteUe
des verstorbenen Mühlbacher ein neues Mitglied in den Ausschufs zu
wählen. Die ausscheidenden Herren wurden wieder, und aufserdem Prof.
Geizer (Jena) neu m den Ausschufs berufen. Als Ort der nächsten
Tagung wurde Jena, als Zeit Ostern 1906 ins Auge gefafst.
Gleichzeitig mit dem Historikertag fand wie üblich die Konferenz
von Vertretern landesgeschichtUcher Publikationsinstitute statt, die
diesmal drei sehr gut besuchte Sitzungen unter dem Vorsitze von Prof.
v. Zwiedineck-Südenhorst (Graz) abhielt. An erster SteUe wurden
Erfahrungen darüber ausgetauscht, welches Verfahren sich hinsichtlich des
Verlags und Druckes der Publikationen bei den verschiedenen Publika-
tionsmstituten bewährt hat. Prof. Hansen (Köln) schüderte zunächst die
Erfahrungen, die die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde gemacht
hat ; die Vertreter verschiedener andrer Institute äufserten sich über das be?
ihnen eingeschlagene Verfahren, doch standen die genauen Zahlen nid
— 92 —
zu Gebote. Um diese kennen zu lernen, wird Prof. Hansen einen Frage-
bogen an die verschiedenen Institute senden, der durch eine aus drei
Personen zu bildende Kommission ausgearbeitet werden soll, imd auf Gnmd
dieser Mitteüimgen soll für die nächste Tagung ein Bericht ausgearbeitet werden.
An zweiter Stelle wurde die Anlage von Urkundenbüchern und
die Behandlung des in ihnen zu veröffentlichenden Materials
erörtert. Der erste Berichterstatter Prof v. Ottenthai (Wien) behandelte
vor allem den zweiten Punkt, betonte die Notwendigkeit, bei der Edition
zugleich die Diplomatik und das Kanzleiwesen mit zu behandeln und zu
diesem Behufe den äufseren Merkmalen besonderes Augenmerk zuzuwenden.
Gegenüber der Diplomatik der Königsurkunde sei die der Fürstenurkunde
noch sehr rückständig, und deshalb bestehe die Notwendigkeit, dafs bei
künftig zu bearbeitenden Urkundenbüchern folgende Forderungen möglichst
erfüllt würden: i) Der Bearbeiter mufs hilfswissenschafllich tüchtig geschult
sein. 2) Der Bearbeiter mufs zugleich die Spezialdiplomatik der Urkunden-
gruppe, die er herausgibt, mit behandeln. 3) Wenn es sich um verschiedene
Gruppen handelt, so mufs wenigstens die Hauptgruppe speziell diplomatisch
untersucht werden. 4) Bei jedem Original mufs der Herausgeber unbedingt
auf alles achten, was nach dem heutigen Wissen für die Kritik wichtig er-
scheint (Schriftbeweis, Beglaubigungsformel, Expeditionsnotizen, Registratur-
vermerk, Indossat des Empfangers). 5) Was schon gut herausgegeben ist,
braucht nicht wiederholt zu werden. Der zweite Berichterstatter Archiv-
direktor Ilgen (Düsseldorf) besprach vor allem die Schwierigkeit, die Ur-
kimdenmassen des 14. und 15. Jahrhunderts zu publizieren, und befür-
wortete den reichlicheren Gebrauch des Regests, ohne damit bei den Zu-
hörern viel Beifall zu finden. Prof v. Below bezeichnete ein solches Ver-
fahren höchstens als Provisorium, und Prof Rietschel betonte vor allem,
dafs ein Regest den vollen Wortlaut namentlich für rechtliche Untersuchungen
nicht ersetzen könne, und forderte eine besondere Regestentechnik. Die
einschlägigen Fragen werden in absehbarer Zeit in dieser Zeitschrift eine be-
sondere Behandlung erfahren.
Der von Anton Meli (Graz) erstattete Bericht über den Fortgang der
Arbeiten am Historischen Atlas der Osterreichischen Alpenländer ist bereits
oben (S. 54 — 64) im vollen Wortlaut mitgeteilt worden.
Die Darlegungen von Prof Dop seh (Wien) über Mafsnahmen zur Er-
schliefsung agrargeschichtlicher Quellen lehnten sich an den Vortrag, den er
in der Versammlung des Historikertags gehalten hatte, an und gipfelten in
der Forderung, die einzelnen Publikationsinstitute möchten für
ihr Gebiet eine systematische Verzeichnung der agrargeschicht-
lichen Quellen in die Wege leiten. Dieser Antrag wurde zum Be-
schlufs erhoben.
Der letzte Punkt, die Herausgabe von Münz- und Siegel-
werken, wurde auf die Münzwerke beschränkt, da der Referent, der sich
über Siegelweike äufsern wollte , nicht mehr anwesend war. Nach der Mit-
teilung von Prof Hansen wird am Rhein je ein Münzwerk für die Stadt Köln,
die Stadt Aachen und die Stadt Trier geplant; Menadier, der über Münzwerke
im besonderen sprechen wollte, aber durch Abreise daran verhindert war,
hat für alle drei den numismatischen Teil übernommen, aber abweichend von
— 93 —
der bisherigen Praxis soll hier auch eine MüDzgescbichte beigegeben
werdeD, die für Ktiln Dr. Kuske bearbeitet. Die allgemeineo Aufgaben
von PubhkationeD über das Mlinzwesen charakterisierte Prof. Luschia v.
Ebengreuth (Graz), iDdem er im wesentlichen das wiederholte, was er in
seiner kürzlich erschienenen Münzkunde utid Qeldgeschidile {= Handbuch
der mittelalterlichen und neueren Geschichte, herausgegeben von G. v. Betow
und F. Reinecke, Abteilung IV), S. 183 £F. ausgeführt hat. Die Forde-
rung ist im wescnüjchen die, die numismatische mit der wirtschaftegeschicht-
lichen Forschung zu verbinden und namentlich hinsichcUch der jeweiligen
Kaufkraft des Geldes umfassende Untersuchungen anzustellen. Die Debatte
zeigte gnindsätzUch volle Übereinstinunung mit allen Rednern, und doch wurde
die ungeheure Schwierigkeit solcher Untersuchungen allgemein anerkannt.
Der Vorsitzende gab zum Schlüsse dem Wunsche Ausdruck, es möchten
noch mehr Institute an die Publikation von Münzwerken herangehen.
Damit war die reiche Tagesordnung erschöpft. Die Verhandlungen
waren so lebhaft wie noch nie vorher, und sie dürften auch einen nach-
haltigen Einflufs hinterlassen haben. Das eingehendere Protokoll der Ver-
handlungen wird in dem offiziellen Bericht der Versammlung der deutschen
Historiker mit enthalten sein.
Archire. — Das Stadtarchiv zu Magdeburg erhält voraussichtlich
1907 neue Räume und zugleich bedeutenden Zuwachs. Die Stadt baut
gegenwärtig an der Hauptwache am Alten-Markt ein drittes Rathaus, dessen
3. und 4. Geschofs in der Hauptsache dem Archiv und der Bibliothek ein-
geräumt werden sollen. Die Schaffung eines eigenen Heims für das Archiv
entspricht einem dringenden Bedürfnis, da die bisher benutzten Räume fUr
ihre Zwecke in verschiedener Hinsicht ungenügend sind. Zugleich sind in
letzter Zeit neue Vorschriften ausgearbeitet worden, welche die Aufbewahraug
oder Ausscheidung verschiedener Klassen von Archivalien regeln; das Archiv
wird dadurch mit den verschiedenen Registraturen in organische Verbindung
gebracht, und es wird verhindert, das die dauernd aufzuhebenden Sachen
teilweise eine Verwahrlosungspenode in irgend einem schmutzigen Bodeu-
winket durchmachen. Die Durchführung dieser Vorschriften förderte in den
einzelnen Registratur-Böden umfangreiche Bestände zutage, die bis ins XVI.
Jahrhundert zurückgehen und z. T. inhaltlich recht bedeutend sind. Diese
Bestände werden dem Archiv nach der Übersiedelung in die neuen Räume
einverleibt werden.
BlbliothekeD. — An der Grofsherzogtichen Hofbibliothek in Darm-
Stadt und der Grofsherzoglichen Universitätsbibliothek in Giefsen haben
die Amtstitel der Beamten eine Änderung erfahren. Der
künftig den Titel Direktor, der zweite Beamte den Titel O
die übrigen festangestellten Beamten den Titel Bibliothekar, di
Hilfsarbeiter (Assistenten) den Titel Hilfsbibliothekar.
Eine erfreuliche Erieichtenmg in der Bücherbenutzung ist sf
1904 in Thüringen eingetreten. Zwischen der Universitätsbib!
— 94 —
und der Grofsherzoglichen Bibliothek in Weimar ist ein Tanschverkehr ein-
gerichtet worden, der eine dauernde Ergänzung der gegenseitigen Bestände
ermöglicht Mittwochs werden die Bestellungen auf Bücher, die in Weimar
nicht vorhanden sind, nach Jena abgegeben; am Sonnabend Nachmittag ge-
langen die darauf hin übermittelten Schätze der Jenaer Bibliothek in Weimar
zur Ausgabe. Jena gibt seine Bestellungen Sonnabends nach Weimar
ab und kann die Eingänge am Donnerstag den Bestellern aushändigen.
Die Kosten für den Versand tragen die Besteller, doch ist vorläufig von
einem bestimmten Gebührensatze, der erst durch die Erfahrung ermittelt
werden kann. Abstand genommen worden.
Diese neue Erleichterimg in der Benutzung von Bibliotheken ist dank-
barst zu begrüfsen. Bekanntlich *) bestehen ähnliche Austauschsverhältnisse
schon seit längerer Zeit unter den Bibliotheken inPreufsen, Bayern,
Württemberg, Hessen und auch in Österreich. Teilweise sind sogar
auch die höheren Lehranstalten und Behörden in der Lage, auf diesem
Wege sich rasch und billig gewünschte Bücher zu beschaffen; die Gebühren
betragen in Preufsen 20 Pfennige für den Band, in Hessen bei Bestellungen
von auswärts 15 Pfennige, aber zwischen Giefsen und Darmstadt erfolgt
die Vermittelimg völlig kostenlos; dasselbe gilt für den Verkehr zwischen
Stuttgart und Tübingen. In Baden besteht zwar eine besondere Or-
ganisation des Austausches unter den drei staatlichen Bibliotheken zu Heidel-
berg, Freiburg und Karlsruhe nicht, aber tatsächlich ergänzen sich diese
Anstalten fast täglich durch gegenseitige Übersendung von Büchern. Porto-
kosten und Packgebühren haben jedoch die Besteller zu tragen.
Danach fehlen heute entsprechende Einrichtungen für Länder, in denen es
mehrere staatliche Bibliothen gibt, nur noch in Sachsen, wo ein Austauschs-
verhältnis zwischen der Kgl. Bibliothek in Dresden und der Universitätsbibliothek
in Leipzig ein dringendes Bedürfnis wäre, und in Mecklenburg, wo Schwerin
und Rostock eines solchen Gegenseitigkeitsverhältnisses harren. Hoffentlich
entschliefst man sich in diesen beiden bis jetzt hinter den andern
rückständigen deutschen Staaten recht bald zu entsprechenden
Mafs nahmen! Selbstverständlich ist dies für die Zukimfl immer noch nicht
genügend. Innerhalb der einzelnen Staaten müfsten gröfsere Stadtbibliotheken,
wie etwa die zu Frankfurt und Köln, am organisierten Versand teilnehmen. Es
darf aber auch die Landesgrenze für die Bücherbeschaffung auf keinen Fall
dauernd eine Schranke bilden. In Hessen ist dieser Forderung bereits ent-
sprochen, denn dort werden Bücher, die in Giefsen und Darmstadt nicht
vorhanden sind, aus Strafsburg, Göttingen, München, Berlin oder wo sie
sonst zu haben sind, seitens der Bibliothek bestellt, und der Benutzer
hat nur bei solchen Bestellungen 15 Pfennige für den Band zu zahlen.
Vivat scquens!
Personallen. — Am i. Dezember 1903 ist der Kreisrichter a. D.
Conrady auf Schlofs Miltenberg am Main im Alter von 74 Jahren gestorben,
em Mann, der sich um die Altertumsforschung in Südwestdeutschland hervor-
ragende Verdienste erworben hat und der auf Vorschlag der Grofsherzoglich-
i) Vgl. diese Zeitschrift 2. Bd., S. 164—174, sowie S. 239 — 240.
— 95 —
Badischen Regierung gleich bei der Gründung der Reichs-Limes-Kommission
im Jahre 1892 zu deren Mitglied ernannt worden war.
Geboren 1829 in Rüdesheim, aufgewachsen in Idstein am Taunus»
später Schüler des Wiesbadener Gymnasiums, war er, der Neffe Friedrich
Habeis, in seiner nassauischen Heimat frühzeitig vertraut geworden mit den
Überresten der Römerzeit und mit der von seinem Oheim so erfolgreich
betriebenen Altertumsforschung auf vaterländischem Boden. Conrady studierte
die Rechte und stand von 1852 ab im nassauischen Justizdienste. Als
ihm aber nach dem Tode Habeis im Jahre 1867 dessen schöner Besitz am
Main, die ehemals kurmainzische Burg Miltenberg als Erbe zuteil geworden
war, gab er den Staatsdienst auf und übernahm mit der Fürsorge für die
reichen Kunst- und Altertumssammlungen Habeis zugleich nach dessen Vor-
bild die Aufgabe, die Denkmäler der Römerzeit in der Maingegend zu er-
forschen.
Vom Standquartier der EocplorcUores Seiopenses an einem der wichtigsten
Funkte des obergermanischen Limes aus begann Conrady seine Kundschafter-
tätigkeit mit der Feststellung des Limeslaufes von Miltenberg bis WaUdüm
und nahm 1881 und 1882 die ersten Ausgrabungen auf der Altenburg bei
Walldürn vor. In den achtziger Jahren folgten die Entdeckungen der Main-
kastelle Trennfurt, Wörth, Obemburg, Niedemberg imd Stockstadt. Auch
an der von badischer Seite in Angriff genommenen Untersuchung der Kastelle
Oberscheidenthal (1880, 1883) ^"^l Schlossau (1884) nahm Conrady AnteiL
Daneben wurde die Lage und Ausdehnung des Altstadtkastells unterhalb
Miltenbergs durch Ausgrabungen festgestellt. So brachte er der Limeskonmiis-
sion nicht allein den Schatz langjähriger Erfahrungen mit ein, sondern auch
eine Fülle noch unverwerteten Materials. Seine Ernennung zum Strecken-
kommissar für den langen Abschnitt von Grofskrotzenberg bis zum Hönehaus
südlich von Walldürn bot ihm die erwünschte Gelegenheit, die früher mit
beschränkten Mitteln schon weit gefcJrderten Arbeiten in gröfserem Umfang
fortzusetzen und zu vollenden.
Conradys Leistungen ftir die Limeskommission sind aus den eingehenden
Berichten, die er selbst über seine Forschungen im Limesblatt veröffentlicht
hat, und aus dem Limeswerk, in dem seine Bearbeitimgen der Kastelle des
3. Bandes schon zum gröfsten Teil erschienen sind, allen Forschern be-
kannt. Mit freudiger Begeisterung widmete er sich der mühevollen Arbeit
im Gelände, ein Dilettant in des Wortes bester Bedeutimg: die Forschung
war ihm Herzenssache imd jede Entdeckung ein frohes Erlebnis, zumal
wenn er darin die Bestätigung früher gewonnener Anschauungen erblicken
durfte.
Alle Mitarbeiter verehrten in ihm einen Mann von ausgezeichnetem
Charakter. Wie eine Gestalt aus vergangener Zeit erschien der Burgherr von
Miltenberg in seiner stets würdevollen Haltung, und sein ritterliches Wesea
war gepaart mit Liebenswürdigkeit und Milde.
Einen grofsen Teil seiner Arbeiten hat Conrady noch selbst zum Ab-
schlufse gebracht. Auch die im Limeswerk vor kurzem erschienene Publi-
kation von Walldürn beniht im wesentlichen auf seinen Aufeeichnungen
und Skizzen. Aber ein erheblicher Rest unveröffentlichter Untersuchungen
harrt noch der Verarbeitung und Herausgabe.
— 96 —
Eingegangene Btteher.
Bretholz, Berthold: Codex diplomatious et ^nstolaris Moramae, 14. Band
(Die Jahre 1408 — 14 n). Brunn, Verlag des Mährischen Landesaus-
schusses, 1903. 193 S. 4^ 15. Band (Nachträge 1207 — 1408).
Ebenda 1903. 440 S. 4^
Die Saalburg. Auf Grund der Ausgrabungen und der teilweisen Wieder-
herstellung durch Geh. Baurat Professor L. Jacobi. Fünf Bilder
in Farbendruck (darunter ein Doppelblatt) nach Aquarellen von Peter
Woltze, Architekturmaler. Text von Dr. K Schulze, Direktor des
Kaiserin -Friedrich -Gymnasiums zu Homburg vor der Höhe. Gotha,
Friedrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, 1904. Text 34 S. 8*.
M. 0,80. Abbildungen M. 15,00, aufgezogen M. 25,00.
Do ebner, Richard: Annalen und Akten der Brüder des gemeinsamen
Lebens im Lüchtenhofe zu Hildesheim [== Quellen und Darstellungen
zur Geschichte Niedersachsens DC]. Hannover und Leipzig, 1903.
446 S. 8».
Donner von Richter, Otto: Die Gründung des Städtischen Histori-
schen Museums und des Vereines für dasselbe im Jahre 1877 [= Fest-
schrift zur Feier des 25 jährigen Bestehens des Städtischen Historischen
Museums in Frankfurt a. M. (1903) S. 27 — 44].
£ b e 1 i n g , Robert : Das zweite Stralsundische Stadtbuch (1310 — 1342).
Stralsund, Kgl. Regierungsbuchdruckerei, 1903. 390 S. 8^.
Forrer, R. : Keltische Numismatik der Rhein- und Donaulande [= Jahr-
buch der Gesellschaft fUr lothringische Geschichte und Altertumskunde
13- Jahrgang (1901), S. 1—35, 14. Jahrgang (1902), S. 151—209,
15. Jahrgang (1903), S. iio— 157].
Olasschröder, Franz Xaver: Urkunden zur Pfalzischen Kirchengeschichte
im Mittelalter, in Regestenform veröffentlicht. Im Selbstverlag des
Verfassers. München und Freising, Druck von Franz Paul Datterer
& Cie. G. m. b. H., 1903. 403 S. 8®.
Hasenclever, Adolf: Die Politik Kaiser Karls V. und Landgraf Philipps
von Hessen vor Ausbruch des Schmalkaldischen Krieges (Januar bis
Juli 1546). Marburg i. H., Elwert, 1903. 88 S. 8^ M. 1,50.
Inventare des Grofsherzoglich Badischen General-Landes-
archivs, herausgegeben von der Grofsherzoglichen Archivdirektion,
Zweiter Band, erster Halbband. Karlsruhe, Chr. Fr. MüUersche Hof-
buchhandlung, 1904. 194 S. 8^^.
Jung, Rudolf: Die städtischen Sammlungen in reichs- und freistädtischer
Zeit 1691 — 1866 [= Festschrift zur Feier des 25 jährigen Bestehens
des Städtischen Historischen Museums im Frankfurt a. M. (1903)
S. 1—26].
Kirch, J. P. : Die Leproserien Lothringens, insbesondere die Metzer Leprostrie
S. Ladre bei Montigny [= Jahrbuch der Gesellschaft ftir lothringische
Geschichte und Altertumskunde 15. Jahrgang (1903), S. 46 — 109].
Lamp recht, Karl: Über den Begriff der Geschichte und über historische
und psychologische Gesetze [= Sonderabdruck aus Ostwalds „Annalea
der Naturphilosophie" 2. Bd., S. 255 — 278.]
Herausgeber Dr. Annin llUe in Leipzig.
Druck und Verlag von Friedrich Andrea* Perthes, AkriengeselUchaft, Gotha.
Hierzu als Beilage : Welhliachtsprospekt der Verlagsbachhandlong Fliedlich
Andreaa Perthes, Aktiengesellschaft, in Gotha.
Deutsche Ceschichtsblätter
Monatsschrift
rar
Förderung der landesgeschichtlichen Forschung
VI. Band Januar 1905 4. Heft
; [ 1 '
Die H^iistattperiode
Von
Moriz Hoemes (Wien) *)
Die Hallstattperiode ist die erste Eisenzeit Mitteleuropas, genauer :
<les südlichen Mitteleuropa und einiger angrenzender Gebiete des
Westens und des Südens. Sie bildet einerseits eine Art Fortsetzung
und Vollendung der reinen Bronzezeit (bis ca. 1000 v. Chr.), in der sie
Äum grofeen Teile wurzelt, andrerseits eine Vorstufe der entwickelten
älteren Eisenzeit jener Länder, die vom Beginne der La-Ttee-Periode
{um 400 V. Chr.) bis über die römische Kaiserzeit hinausreicht. Sie
ist also, verglichen mit den älteren Zeiträumen der Vorgeschichte, wie
i) Eine aasfUhrliclie DarsteUoog der HallstaUperiode , wie sie hier natürlich nicht
:geboten werden kann, erscheint mir so sehr als ein Bedürfnis unserer geschichtswissen-
schaftlichen Literatur, dafs ich — in täglichem Kontakt mit den anerkannt wertvollsten,
im k. k. naturhistorischen Hofmuseum zu Wien aufbewahrten Denkmälern dieser Zeit —
«in solches 83rnthetisches und Yor allem reichlich illustriertes Werk seit langem plane
und seit Jahresfrist mit der Ausführung desselben beschäftigt bin. Es soll, auiser einer
über Gegenstand und Ziel der Darstellung handelnden Einleitung, folgende 2 Teile ent-
halten: A, Der Formenkreis (Typologie der Hallstattperiode). L Unbeweg-
liche Formen, i. Die Wohnstätten (a. Westdeutschland, b. der Osten, c. historische
Verhältnisse). 2. Die Grabstätten (a. Verbrennung und brandlose Bestattung, b. Bau und
Inhalt der Gräber). H. Bewegliche Funde, i. Die Metalle (Gold, Silber, Blei, BroMC,
Eisen). 2. Die Formen (a. Allgemeines. Stil und Technik, Industrie und Handel,
•b. die einzelnen Formen. Waffen und Werkzeuge, Tracht und Schmuck, Gefafse, Haus-
rat u. dgl.). — B. Topographie und Chronologie der Hallstattperiode.
I. Oberblick der Länder und Stufen, i. Der Süden. 2. Der Osten, a. Der Westen.
4. Der Norden. 11. Österreich -Ungarn, i. Südliche Zone. 2. Nördliche Zone. Im
folgenden gebe ich, einem Wunsche der Redaktion entsprechend, eine kurze Charakteristik
der Hallstattperiode, zugleich als Ankündigung des Buches, dessen Vollendung und Er*
scheinen sich nicht mehr allzulange verzögern soll. Obwohl ich die ausgedehnte Literatur
über Funde aus jener Zeit hinlänglich zu fiberblicken glaube, so ist mir doch ebensogut
bekannt, wie zerstreut und versteckt die kleineren Mitteilungen über solche Funde sind.
Ich verbinde dahe mit dieser Anzeige das Ersuchen um Zusendung solcher, namentlich
neuerer Literatur, deren Würdigung in meiaem Buche ich mir nach Tünlidikeit angelegen
sein lassen will.
8
— 98 —
wir sie in Europa gewöhnlich abgrenzen, der älteren nnd der jüng^ereo
Steinzeit und der Bronzezeit, von kurzer Dauer und geringer rätunlicher
Ausdehnung. Denn im Fortschritte der Kultur individualisieren sich
die 2^ten nnd die Länderräume, und neben den allgemeinen Gesetzen
der Entwickelung , die immer und überall wirken müssen, kommen
mehr und mehr die landeigentümlichen Verhältnisse zur Geltung:
Weltlage, besondere innere Ausstattung, vielleicht auch (aber nicht so
nachweislich, wie jene) die charakteristischen Anlagen der Bevölkerung;
das merkt man schon in der Steinzeit, noch mehr in der Bronzezeit,
aber ganz besonders in der Hallstattperiode, d. i. in der ersten Hälfte
des letzten Jahrtausends v. Chr. auf dem Gebiete, welches von der
Adria und dem Golf von Genua nordwärts bis zur Lahn uod zur Mosel,
zum Thüringerwalde, Fichtelgebirge und Erzgebirge reicht und stellen-
weise darüber hinausgreift.
Der vielgestufte Entwickeluugsgang der europäischen Vorgeschichte
gibt uns ein grofses Beispiel der Entstehung von Kultur und Reichtum
auf der Grundlage der Arbeit und legt damit Zeugnis ab von der
Tüchtigkeit unserer Altvordern zu einer Zeit, aus der wir nicht ein-
mal mitteleuropäische Völkemamen mit Sicherheit kennen. Was aber
diese Völker einmal ergriffen hatten, das wurde fest angeeignet und
schwer aufgegeben. Daher verdrängte auch das Eisen nicht mit einem
Schlage die Bronze, sondern setzte sich nur langsam durch, in man-
chen Ländern, wie Nordfrankreich und England, Norddeutschland und
Skandinavien, fast unglaublich spät. Es war vielleicht auch dort schon
lange nicht mehr ganz unbekannt; aber es ward noch nicht geschätzt
und spielte keine kulturfördemde Rolle. — Das Gegenteil, den „ Fort-
schritt**, welcher eintritt, wenn Neues rasch, aber nur oberflächlich
aufgenommen wird, kennen wir reichlich aus der Geschichte des Unter-
ganges der Naturvölker unserer Zeit.
Es ist der charakteristische Vorzug unserer ersten Eisenzeit (int
Gegensatz zu jener späteren Beglückung überseeischer Stämme mit
dem Eisen und anderen Betriebsmitteln einer vorgeschrittenen Kultur),
dafs sie eine langsame, organische Vermittelung zwischen vorgeschicht-
lichem und geschichtlichem Lebeo, welches in dieser Zeit durch den
Orient und durch Griechenland, dann auch durch Italien vertreten
wird, anbahnt und weiterführt. In dieser Zeit steht Italien weit zurück
hinter Griechenland, das schon im 2. Jahrtausend v. Chr. die „my-
kenischen ** Kulturformen besessen hat, Mitteleuropa weit zurück hinter
Italien und Nordeuropa hinter Mitteleuropa. Und doch hängen alle
iiese Länderräume durch vermittelnde Zwischeugebiete und Kultur-
99
beziehungen uatereinandei eng zusammen, uod überall bemerkt man
eine durch den Kontakt bewirkte, fortgesetzte Stärkung und Steigerraig
der Zivilisation, nirgends jenen Rückgang und Verfall, von dem die
„Eingeborenen" sonst beim Zusammentreffen höherer und niederer
Kulturibrmen betroffen werden.
Da die Hallstattperiode einen Übergang von der reifen Bronzezeit
zur entwickelten Eisenzeit bildet, die Hallstattzone aber mitten inne
liegt zwischen dem europäischen Süden und dem europäischen Norden,
so nimmt die Hallstattkultur in Zeit und Raum eine Mittelstellung ein,
eine wahre Zentralstellung innerhalb der alteuropäischen Metallkulturen,
wie die nebenstehende Zeittafel in freilich nur schematischer Weise
zeigt.
Metallperioden Europas bis um Christi Geburt.
Zeit
Sfideorop«
Miltelenropa
».,d™.p.
(Zeit der „ Schnchtgräber ")
Reifmykeniich
(Zeit der „ Knppelgräber ")
Frilhe
Mittlere BroMSwit
Späte
Frühe 1
1 HaÜautt-
Mlttle» ) _, _,
1 Periode
8p»o )
Bronieieit l.
(1900- 1600)
^-.ooo
(1600—1400)
Spälmykcniich
(Zeit der „ Kammergräber")
broMeieit 3.
(1400—1050)
Bronieietl 4.
(1050-850)
looo-soo
(850-650)
(650—500)
HeUeniidie Blutcieit
MitÜN. L.-Ttoe-Zeit
EiMDieit I.
(500-300)
500—0
HeUeaUtifiche Feriod«
Eiaenteit a.
Römische Periode
Sp«.. )
Das Gebiet der Hallstattkultur liegt als ein breiter
Länderstreifen (im Ost etwa vom 45. bis zum 50. Breitengri
— im West etwas südlicher] zwischen Südeuropa und de:
Mitteleuropa; es ist die Übergaogszone zwischen den
Mittelmeere und denen an der Ost- und der Nordsee. Di<
Mittelmeeres bespülen es im österreichischen Küstenlande
— 100 —
frankreich; aber die Alpen und die rauhen Berglande im Norden der
Balkanhalbinsel, als eine wichtige Vormauer der ersteren auch der
Appennin, scheiden es vom Süden und machen aus ihm eine eigene
Welt halb nordischen, halb südlichen Kulturcharakters. Die Elemente
dieser Kultur sind teils nordischer, europäischer, teils exotischer, orien-
talischer« Herkunft. Im einzelnen ist da noch vieles strittig, aber über
das Wesen des Ganzen kann man vernünftigerweise nicht im Zweifel
sein. Jene Vermengung und Durchdringung ist uralt und reichte einst
viel weiter nach Süden hinab, in Zeiten und Länderräume, die beide
uns hier direkt nichts mehr angehen. Die Metalle, die Bronze und
das Eisen spielen dabei eine geringere Rolle, als man gewöhnlich
glaubt, eine viel bescheidenere, als die Lebensformen im allgemeinen,
und es macht z. B. wenig Unterschied, ob das Eisen schon vorhanden
ist, wie im Süden und im Hallstätter Kulturkreis, oder noch fehlt, wie
in Nordeuropa und im Nordwesten. Das Eisen fand überhaupt im
ganzen Altertum , auch bei den orientalischen und den klassischen
Völkern, nicht so reichliche Anwendung, als wenn es das erstbekannte
Metall gewesen wäre. Das erklärt sich aus der alten und intimen Ver-
trautheit mit der Bronze, aus deren hoher Beliebtheit und Tauglich-
keit für die Zwecke, welchen das Metall im Altertum überhaupt zu
dienen hatte. Die Alten sind in gewissem Sinne stets Kinder gewesen,
denen das Schöne über das Nützliche ging. Viel wertvollere Merk-
malQ, als die Bronze und das Eisen, bilden für die Erkenntnis der
wahren Kulturgrenzen die Unterschiede von Stadt und Dorf, Steinbau
und Holzbau, Bilderreichtum und Bildarmut, Schriftbesitz und Schrift-
losigkeit.
Die allgemeinen Lebensformen sind es also, welche den Unter-
schied zwischen vorgeschichtlichen und geschichtlichen Zeiten und
Völkern ausmachen, und sie stellen die Hallstattperiode mit ihren
namenlosen, aber wahrscheinlich keltischen, germanischen und illyrischen
Kulturträgem noch ganz in die Vorgeschichte, doch gegen das Ende
derselben. Noch ganz prähistorisch, zeigt sie doch schon das ferne
Heraufdämmern einer geschichtlichen Ära für ihr Gebiet, wie es in
dessen geographischer Lage und in den allgemeinen Zeitverhältnissen
begründet ist. Als echte Übergangszeit bringt sie in ihrem Gebiete
eigentlich nichts Neues zu revolutionärer grundstürzender Herrschaft.
Sie setzt strenggenommen nur die jüngere Bronzezeit weiter fort und
belebt sie mit neuen Elementen, wie ja die Bronzezeit selbst nur eine
bereicherte Fortsetzung der Periode ist, die wir jüngere Steinzeit nennen.
Allein gerade in dieser Stetigkeit, bei all den unbekannten Kompli-
— 101 —
kationen der Völkerschicksale im einzelnen, liegt das Gediegene, Aus-
sichtreiche der Entwickelung im ganzen. Wie K. Schumacher jüngst
wieder treflfend hervorgehoben, ist die vorgeschichtliche Bevölkerung
Mitteleuropas für alle Zeiten nach dem Ablauf der älteren Steinzeit
an 2^hl und Dichtigkeit höher einzuschätzen, als gewöhnlich geschieht.
Die Vorstellung von dem Zusammenleben in kleinen Horden oder in
völlig zerstreuter Siedelungsweise ist aufzugeben ; denn durch alle Pe-
rioden hindurch, von der neolithischen bis zur römischen trifft man
groise geschlossene Dorfanlagen, neben welchen allerdings einzelne
Siedelungen nicht fehlen. Daraus ergab sich umfangreichere Rodung
und Urbarmachung des Gemeindelandes zu Zwecken festen Acker-
baues, und eine weitere Folge war, dafs nachrückende Völker, die doch
stets der gleichen indogermanischen Gruppe angehörten, sich die Kultur-
arbeit ihrer Vorgänger immer wieder zunutze machten. Auf diese
Weise entwickelte sich jene Kontinuität der Besiedelung und Bebauung
günstiger örtlichkeiten, von welchen die Ausgrabungen auf Schritt und
Tritt Zeugnis ablegen. (Vgl. K. Schumacher, Zttr Besieddungs-
geschidUe des rechtsseitigen Rheiniales sswischen Basel und Maine,
Festschr. Mus. Mainz 1902, S. löflf.).
Dafs es eine so beschaffene erste Eisenzeit in dem genannten Ge-
biete gegeben, war aus geschriebenen Urkunden schlechterdings nicht
zu ermitteln, ja nicht einmal zu ahnen. Die mangelhafte Vertrautheit
früherer Generationen mit den ungeschriebenen Zeugnissen höheren
Altertums, ihre Buchweisheit und Bodenscheu, wenn man so sagen
darf, haben es mit sich gebracht, dafs man das gesamte Kulturleben
unserer Altvordern vor deren Berührung mit den Römern viel zu gering
einschätzte. Erst vor einem halben Jahrhundert fiihrtcn verschiedene
Entdeckungen, namentlich jene bei den umfangreichen und planmäfsigen
Ausgrabungen auf dem Salzberge bei Hallstatt in Oberösterreich zu
einem ebenso reichen und anziehenden, als rätselhaften Bilde jener
Periode, die man, durch jene falsche Wertung irregeleitet, den letzten
Jahrhunderten vor unserer Zeitrechnung gleichsetzte. Heute weifs man,
dafs sie zum gröfsten Teile der ersten Hälfte des Jahrtausends an-
gehört. Nach Montelius umfafst sie das IX. — V. , nach Schumacher
das IX. — VI., nach Naues (wohl zu niedriger) Schätzung das VIIL — IV.,
nach anderen das XII. — VI. Jahrhundert Nach meiner Meinung mufs
man ihr das X.— V. Jahrhundert einräumen. Eine Trennung zwischen
älterer und jüngerer Hallstattzeit machten Montelius bei 600, Naue
bei 400, andere bei 700 und 500 v. Chr.
In diese Zeit fallen auf anderen, südlichen und östlichen Gebieten
— 102 —
bekannte historische Vorgänge : die Ausbreitung der assyrischen Macht
in Vorderasien, die des phönikischen Handels und der griechischen
Kolonisation im Mittelmeer, die Blüte der etruskischen Macht in
Italien und die erste Entwickelung Roms. Durch alle diese Ver-
änderungen geht ein gemeinsamer Zug. Etwa vom Ende des XII. Jahr-
hunderts ab schreitet der Geist der Geschichte im Orient und der
Mittelmeerwelt von Ost nach West und von Süd nach Nord. Im
Morgenlande bricht das Reich der Qietiter zusammen, und die ägyp-
tische Macht verfällt. Syrien und das Nilgebiet erfahren die Angriffe
der Seevölker. Die Hellenen reagieren gegen die phönikische Herr-
schaft im östlichen Mittelmeer, und die Phöniker wenden sich nach
Westen. Assyrien erhebt sich zur Grofismacht, von welcher Syrien,
Babylonien und Ägypten abhängig werden. Aber vom weiteren Nor-
den her drängen wieder neue Stämme, die Kimmerier und die Skythen;
und zuletzt ersteht gegen die Mitte des Jahrtausends das erste indo-
germanische Weltreich, das der Perser. Während des gleichen Zeit-
raumes vollzieht sich in Griechenland und von dort aus anderes: die
hellenische Besiedelung Kleinasiens, das siegreiche Auftreten der nor-
dischen Bergstämme im Mutterlande, die Kolonisation des Hellesponts
und des Pontus, Siziliens und Italiens. Der griechischen Expansion
gegenüber begründen und verbünden sich die karthagische und die
etruskische Macht; — all das zeigt den Stempel eines Überganges
höher bewegten historischen Lebens auf neue , dem mittleren Europa
•näher gelegene Gebiete.
Die Hallstattperiode ist nun nicht nur gleichzeitig mit diesen Vor-
gängen, sie steht auch gewifs in kausalem Zusammenhang mit ihnen.
Irgendwo müssen sich so grofse Anstöfee für uns im Dunkel ver-
lieren, ohne dafs die Fortpflanzung wirklich aufhörte. Mit anderen
Worten : bei so vieler Bewegung rund um das Mittelmeer ist ein ganz
in sich abgeschlossener, allein auf sich selbst ruhender Kulturkreis in
Mitteleuropa undenkbar. Weder einzeln, noch als Gesamtheit gegen-
über der Mittelmeerwelt haben die illyrischen und thrakischen, kel-
tischen und germanischen Völker des Nordens ein Sonderdasein ge-
führt, sondern mittelbar oder unmittelbar standen sie alle teils unter-
einander, teils mit jenem Süden in Beziehungen, die freilich kein grofs-
zügiger Handelsverkehr , sondern ein stiller Gütertausch von Nachbar-
haus zu Nachbarhaus gewesen sind.
Man hat früher gemeint, dafs Mittel- und Nordeuropa in den
ältesten Metallzeiten kulturell ganz vom Süden abgehangen hätten.
Das hat sich widerlegt; aber es ist doch unmöglich, sich Südeuropa
— 103 —
und den Orient bei der Betrachtung jener Zeiten einfach wegzudenken.
Das Wesen der Hallstattkultur li^, wie wir schon sahen, nicht in
einem Umschwung, sondern in einer Steigerung namentlich des Han-
dels und der Produktion. In belehrender Weise zeigt sich dabei, wie
die gröfseren Vorteile nicht dem Erzeuger der Rohprodukte, dem Bem-
steinfischer und Zinnschmelzer nordischer Küsten, sondern dem mittel-
europäischen Zwischenhändler zugefallen sind. Natürlich war dieser
selbst auch wieder Produzent. Waren aus dem Mineralreich (Salze,
Metalle), Pflanzenreich (Holz, Zerealien) und Tierreich (Vieh, Häute,
Wolle, Wachs usw.) wurden überall in steigendem Mafse gewonnen
imd zum Austausch verwendet. Daher der Reichtum und die gro&en
Volksziffem, bezeugt durch die zahlreichen, oft mehrere Tausende von
Gräbern umfassenden Totenfelder dieser Zeit mit ihren unendlichen
Mengen von Schmucksachen, Waffen, Gefafsen und Geräten allerart,
die insgesamt, ob aus Eisen, Bronze oder welchem Stoffe immer, das
technische und formelle Gepräge ihrer Zeit an sich tragen.
Die Frage nach dem Ursprünge der Hallstattkultur hat man früher
falsch gestellt. Man fragte sich nämlich, ob blofs Import und Ein-
flüsse aus dem Süden oder aber eine vom Süden ganz unabhäng^e
Entwickelung vorliege. Die einen leiteten schon für die Bronzezeit,
noch mehr für die erste Eisenzeit, alles und jedes — oder wenigstens
alles Neue, oder alles Bessere — vom Süden her: aus Etrurien, aus
Griechenland, von den Phönikem oder überhaupt aus dem Orient.
Diese Auffassung hat viel Abbruch erlitten durch ungereimte konkrete
Vorstellungen von phönikischen Handelskoionien, etruskischen Handels-
strafisen u. dgl. in nördlichen Gebieten. Die anderen hielten, wie
F. V. Hochstetter, Mitteleuropa oder gar, wie heute noch eine ganze
Schule, Nordeuropa für die Quelle aller Formen und Erscheinungen
prähistorischer Kultur in unserem WeltteU. Man pflegt eben in dunklen
Fragen, solange es geht, das Einfache, Formelhafte dem Verwickelten
vorzuziehen. Allein die Tatsachen sind nicht so einfach. Hinsicht-
lich der Hallstattzeit lehren sie uns, dais am Beginn des ersten Eisen-
alters, um looo V. Chr., in weiten Länderräumen des mittleren und
des südlichen Europa annähernde Kulturgleichheit herrschte, dafs aber
dann der Süden und namentlich der Südosten, infolge der mykenischen
Erbschaft und der fortwirkenden Nähe des Morgenlandes, bald einen
grofisen Vorsprung gewann. Dort schritt die Kultur sichtlich rascheren
Ganges vorwärts, als in Mitteleuropa, und ersetzte allmählich überall
das Primitive, Europäische, Prähistorische durch das Entwickelte, Diflfe*
renzierte, GeschichÜiche. Dadurch entstand die Möglichkeit, ja die
— 104 —
Notwendigkeit, dafe der Süden in steigendem Mafse Einfluls auf den
Norden gewann, wie ihn schon die ältere, noch mehr die jüngere
Hallstattstufe und wieder noch mehr die La-Tfene-Periode zeigt Da-
neben herrschte aber, im Gegensatz zum Süden, jene eben gekenn-
zeichnete prähistorische Stabilität, welche es mit sich brachte, dafe
streckenweise die ältesten Formen der Hallstattzeit bis ans Ende der
Periode, ja noch lange darüber hinaus festgehalten wurden, und heute
als TruggebUde aus der Reihe der wirklichen Leitfossilien ausge-
schieden werden müssen.
Die Nebengruppen der Hallstattkultur, welche gleichzeitig mit ihr
in benachbarten Gebieten herrschten, sind: im Süden das griechische
Mittelalter und die Anfänge der klassischen Kultur, femer die pro-
toetruskische und die etruskischen Stufen Italiens, — im Norden und
Nordwesten die jüngere germanisch-keltische Bronzezeit — , im Osten
die sogen, skythische Bronze- und erste Eisenzeit. Die griechische^
später griechisch - italische Nebengruppe befruchtete den Hallstätter
Kulturkreis, die nordische und die skythische beschränkten ihn. Aber
der stammverwandte Norden steht ihm und seiner Entwickelung näher,,
als der allophyle Osten. Hier sieht man deutlich, wie seiner Aus-
breitung durch eine starke Gegenströmung Einhalt geboten wiu-de.
Im finno-ugrischen Osten entwickelte sich eine erste Eisenzeit mit
parallelem Gebrauche der Bronze und des Eisens aus der ural-altaischen
Bronzezeit ähnlich, wie sich die Hallstattgruppe aus der mitteleuropäischen
Bronzekultur entwickelt hat.
Der Verfall und das Ende kamen aber der Hallstattkultur nicht
vom Süden und nicht vom Norden, auch nicht vom Osten, sondern
vom Westen. Nicht Griechen oder Etrusker, nicht Germanen und
Skythen haben Neues an ihre Stelle gesetzt, sondern die Kelten. In
manchen Gegenden bricht sie plötzlich ab, und an ihrer Statt erscheint
unvermittelt ein ganz neuer fremdartiger Formenkreis noch ziemlicb
rätselhaften Ursprungs: die Typen der Früh -La-Tene-Kultur, deren
Analyse auf westgriechische Einflüsse und ein starkes autochthones
Handwerk zurückleitet. So geschah es im Westen und in Böhmen*
In anderen Gebieten hören die Hallstattformen nicht so völlig auf, und
es ist nicht die frühe, sondern die mittlere La -T^e- Stufe, welche
sie ablöst oder sich mit ihnen vermengt. Dies ist in den Ostalpen^
ländem der Fall. Noch weiter im Südosten, im dinarischen Bergland^
finden wir bis zur Kaiserzeit ein buntes Gemenge später lokaler Hall*
stattformen und vorgeschrittener La-T^ne-Typen , dem sich bald Rö-
misches gesellt. Daraus erkennt man den Weg, den die La-Tene*
— 106 —
Kultur, d. i. Macht und Einfluis der Kelten des Westens, in der zweiten
Hälfte des Jahrtausends in Mitteleuropa zurückgelegt und die Schick*
sale, welche sie der Hallstattkultur in den einzelnen Ländern bereitet
haben. Man sieht, wie diese neue Macht, von Westen ausgehend und
die einheimischen Ellemente anfangs ganz verdrängend, zuerst das west-
liche und das südliche Deutschland, später, anscheinend mit geringerer
Energie, die Ostalpen und zuletzt den Norden der Balkanhalbinsel
überzog und unterwarf. Je weiter sie kam, desto mehr verlor sie ihren
ursprünglichen Charakter, und mit der zeitlichen und räumlichen Ent-
fernung von ihrer Basis wuchs die Neigung und Fähigkeit zur Ver-
mischung. Und in solchen Mischformen, oft in barocker Entstellung,^
hat dann auch manches uralte hallstättische Element bis zur Römerzeit
und darüber hinaus fortgedauert.
Kirehen^ und sozialpolitisehe
itn ISflittelalter
Von
Heinrich Werner (Euskirchen)
(Scblofs) 1).
Aber noch ein anderer Gedanke der Abwehr zieht durch die
ganze Reform des geistlichen Standes. Bei der Wahl zu den ein-
zelnen kirchlichen Ämtern weist er rücksichtslos und konsequent die
Kandidatur eines Mönches ab: es ist bekannt» wie gespannt das Ver-^
hältnis zwischen der Pfarrgeistlichkeit und den Bettelmönchen während
der Baseler Reformbew^ung war '). Aber auch von Laien ist in da-
maliger Zeit wiederholt den Bettelmönchen die Schuld an dem
Schaden in der Christenheit zugeschrieben worden ^). Die Reformation
Kaiser Sigmunds erweitert nun diesen Gegensatz, indem sie, vom
Standpunkte der Städtebürger und Humanisten aus, das Überwuchern
des Mönchtums in kirchlichem Amt und Besitz auf der ganzen Strecke
ablehnt. Bei einem Mönche in hohem kirchlichem Amt liege die
Gefahr nahe, dafs er seine Ordensmitglieder von Ordensregeln dis-
pensiere ^) und dadurch in die Amtsbeiugnisse der Pfarrgeistlichkeit
i) Vgl oben S. 65—88.
2) Vgl. meinen AoüiaU in Histor. VieiteljahnchriA 5. B., S. 469 f.
3) Ebenda S. 471.
4) Vgl. auch Nikolaas von Knes OoneordatUia eatholica cap. 30.
— 106 —
-eingreife, während anderseits den Laien wirtschaftliche Konkurrenz er-
wachse. Denn gerade das wirtschaftliche Übergewicht der Orden *)
fordert ihn, den Laien, auf zur Revindikation des kirchlichen Besitzes.
Aber nicht nur den Orden fordert er den weltlichen Besitz ab, son-
dern dem ganzen geistlichen Stande jede wirtschaftUche Tätigkeit.
Denn es soll sich latUer in aUweg scheiden das Geistliche vom WeU-
Uchen%
Auch Nikolaus von Kues verurteilt den zeitlichen Besitz in der
toten Hand der Kirche *). Ihm schwebt deshalb auch als Ideal eine
weltliche Verwaltung des Kirchenguts vor und zwar in der Person von
Laien als vicedomini und oeconomi, die von einem Fürsten unter
Konsenserteilung der Kirche aufgestellt werden sollen. Gleichzeitig
auf dem Baseler Konzil erschien die Denkschrift eines Ungenannten *),
die dem Papste die weltliche Verwaltung des Pa^imonium Peiri
abspricht. Es sollen dafür von Papst und Kardinälen 12 Männer
zvL einem Senate konstituiert werden, die gegen festes Gehalt die welt-
lichen Geschäfte an der Kurie besorgen *). Aber wie heftig werden
erst die Einkünfte der Kurie durch Annaten und die vielen anderen
Taxen in jener Zeit angegriffen! Gleichzeitig und fast gleichlautend
haben Nikolaus von Kues und Valentin Eber Mifsstände gegeifeelt,
die gerade durch das Drängen der deutschen Nation in dem Konzils-
beschlusse über die Abschaffung der Annaten gemildert wurden •).
Beide Verfasser wollen die kirchlichen Gnaden gratis verteilt wissen.
Für den Ausfall dieser Nebeneinnahmen stellt Nikolaus von Kues
(Kap. 30) im Einklang mit dem Konzil provisiones in Aussicht. Valentin
Eber sieht im Einklang mit den Vertretern der deutschen Nation und
besonders mit dem Antrag des Andreas von Eskabor eine Teilung der
Einkünfte des Patrimonium Petri vor, so dafs ein Drittel dem Papst und
zwei Drittel den Kardinälen zufallt. Für die Ausstattung der übrigen
hierarchischen Beamten soll durch eine jährliche feststehende und
i) Die orden haben das erdrteh inne. Vgl. Boehm S. 176.
2) Vgl. Boehm S. 231.
3) VgL Concordantia catholica, L 2, cap. 29: temporalia eeclestarum quid
prosunt rei fmblieae, quid imperio, quid subditis? certe parum aut nihil.
4) Vgl. Haller a. a. O. S. 208.
5) VgL auch Deutsche Geschlchtsbl&Uer 4. Bd., S. 44.
6) Ouria attrahii quidquid pingue est. Hie mundus elamat de quaesiu
Romanae euriae (1. a, cap. 29 — 30). Propter liies omnis sudor etiam parefUutn
per filios ad curiam defertur, posipomtntur studia et religumum exerdtiay deferunt
<mrum et argentum et reportant Chartas (l. 3, cap. 40). Vgl. dam Boehm S. 182
und 183.
— 107 —
gleiche Besoldung in der Gestalt einer persönlichen Pfründe gesorgt
werden. Diese soll aus dem Ertrag des Herrschaftsgutes und der
Ablösungssumme aller Gerechtigkeiten, die auf dem Untertanengut
ruhen, gezahlt werden. Bei einer Überbilanz soll die überschüssige
Summe zum Kirchenbau verwendet werden *). Bei einer Unterbilanz
ist Zusammenfassung mehrerer Pfarreien und bei Klöstern Vermin-
derung der Zahl der Mönche vorgesehen. Das Reichsgut der Geist-
lichen und die damit verbundene weltliche Würde soll an das Reich
zurückfallen, das es an Ritter und Städte geben soll. Auch Nikolaus
von Kues erkennt den Schaden der Anhäufung von zeitlichem Besitz
in der toten Hand. Er kommt zu dem bezeichnenden Schlufs: «m-
periale efficitur papcde et spirituale temporale. Dieser appetitus ad
ipsa terrena ecclesiis annexa dominia hat einen unverhältnismäisigen
Zudrang zum Priesterstande im Gefolge (1. 2, cap. 32) und dies wieder
eine Verachtung des Priesterstandes selbst, zumal dieser durch seine
Unwissenheit die Verachtung seiner Mitglieder nach sich zieht. Das
alles facit laicos clericis infestos *). Damit gibt der Kusaner einer auch
sonst vielfach geäufserten ') gereizten Stimmung der Laien gegen den
Klerus zur Zeit des Baseler Konzils einen erneuten Ausdruck. Aus
dieser gegenseitigen Bedrohung ist auch des Laien Valentin Eber
Reformschrift hervorgegangen. GröFsere Reformprogramme von Laien
werden nun auch am Ende des XV. und zu Beginn des XVI. Jahrhunderts
häufiger, zumal in dieser Zeit Erscheinungen auftreten, welche das be-
günstigen.
Mit dem Erwachen der Sinnesfreude in der Renaissance werden
auch die naturwissenschaftlichen Bestrebungen wiedererweckt. Aber
die Unzulänglichkeit der technischen Mittel, die der Erforschung der
Natur dienen sollten, liefe den Aberglauben an Geheimmittel erwachsen,
i) Damit wäre der Anfang zur Kirchenfabrik gemacht. Armin Tille hat in seiner
Übersicht iibcr den InhaU der kleineren Archive der Rheinprovinx mehrfach auf An-
fönge der Verwaltung der Kirchengüter durch Laien hingewiesen. So wird der ibtrcA-
meister erwähnt schon fUr das Jahr 1373 (i. Bd., S. 209) und später öfters i. Bd.,
S. 156, 224, 263 und 276. Es wäre eine im höchsten Mafse dankenswerte
Arbeit, wenn einmal die Beteiligung der Laien an der Verwaltung
des Kirchenvermögens Tor dem XVI. Jahrhundert im Zusammenhange
untersucht wttrdel
2) Valentin Eber tritt auch der Überzahl der Geistlichen entgegen, aber als
Laie und Humanist gerade den Mönchen. Aus demselben Grunde wiU er auch die un-
wissenden Priester in die Dome zum Kanonikat und die gelehrten in die Pfarrkirchen be-
rufen wissen.
3) Vgl. Deutsche Geschichtsblätter, 4. Bd., S. 55 Anm. 2.
— 108 —
mit denen man vorläufig' sein Streben nach Naturerkenntnis zu be-
friedigen suchte. So steht an der Wiege der* Chemie die Alchimie,
an der der Astronomie die Astrologie. Namentlich die letztere war
im XV. Jahrhundert die populärste Wissenschaft bei allen Ständen,
Kaiser, Papst und Volk ^). Sie greift mit ihrer geheimnisvollen Kraft
in das private, politische und soziale Leben tief ein'). Mit geradezu
faszinierender Gewalt wirkten die Reformschriften auf das Volk, welche
neben der unmittelbaren Offenbarung in der Prophetie die mittelbare
durch Konstellation in der Astrologie in sich vereinigten und so die
leicht bewegliche Phantasie des gemeinen Mannes doppelt erregten •).
Schon unter den Gelehrten des Konstanzer Konzils werden die asiro^
logt mit klugen listen angeführt, ebenso die sdiwairghunst niffromaniici ^),
aber keine Schrift hat sich die Verbindung von Prophetie und Astro-
logie mehr nutzbar gemacht als die Praktik Lichtenbergers ^). Die
Prophetie, verstärkt durch die Astrologie, gibt erst Lichtenberger den
Mut, freisinnige Ideen zu verkünden; aber die Prophetie hat auch
seine Reformgedanken befruchtet. Nach joachimitischen Erwartungen
steht eine sozial- und kirchenpolitische Krisis bevor; in der Übeigangs-
zeit treten mehrere Propheten auf, unter anderen auch ein Mönch, „der
eine neue Geistlichkeit aufbringen wird**, dann erscheint der Anti-
christ und nach ihm wird „eine neue und gute Reformation" an-
gerichtet werden. Durch sie werden Lehen und Zinsen verdammt»
und es wird angeordnet, „dafs die Geistlichen nur vom Zehnten und
dem Opfer leben und das Gepränge der Kleider ablegen sollen**.
Auch wird geboten werden, „dafs man das Evangelium pre-
dige**. Überhaupt soll die gerechtigkeit des evangeliums ^) gegen-
über der irdischen und getrübten Weisheit des geistlichen und kaiser-
lichen Rechts wieder zur Geltung kommen ^). Eine Neuordnung durch
das Volk aber kann nur unter dem Antrieb der Sterne geschehen.
So ist hier, abgesehen von den anderen Stichwörtern der Prophetie,
auch der Gedanke der Volkssouveränität von der Höhenluft des Ka*
theders in die Niederungen des Volkes gedrungen und durch die
i) VgL Johann Friedrich, Äetrologie und Refortnaiian oder die Aitroiogem
(Ü9 I^reddger der Refarmaiian und ürkdfer des Bauemkriegee, S. x6 (München 1864).
3) Vgl. meine Schrift Onus eeelesiae^ S. 47 Anm. 2 und 3 und S. 94 Aom. 4.
3) ^gl* ^* Bezold, Die armen Leute und die deutsehe Liienxtur des splUerem
Mittelalters. In Sybels Hiitor. ZeiUchrift, N. F., 5. Bd., 1879, S. 1—37.
4) VgL Finke a. a. O. S. 76.
5) Vgl. Onus eeelesiae S. 95 Anm. 3.
6) Vgl. ebenda S. 98.
7) Ebenda Anm. 2.
— 109 —
prophetisch-astrologische Umkleidung populär geworden. Wo diese
prophetisch -astrologische Anschauungsweise Platz griff, da wirkte sie
bei dem unentwickelten Denken des mittelalterlichen Volkes wie das
Naturrecht. Die nun immer wachsenden Mifsstände treiben die durch
Prophetie und Astrologie genährten sozial- und kirchenpoUtischen Er-
wartungen des Volkes immer mehr in die Höhe; die weite Verbrei-
tung dieser Anschauungen und den Kampf innerhalb derselben lehrt
uns am besten eine Schrift Grünpecks *) kennen. Die Erwartung der
Züchtigung von Kirche und Gesellschaft war nach ihm damals ein ge-
mein sag. Geistliche und weltliche Obrigkeit wird verachtet und die
Kirchen verwüstet werden ; auch die Laien werden darunter zu leiden
haben ; wenn auch die Geistlichen zuerst gezüchtigt werden, so müssen
doch die Laien den „schmutzigen Rest zuletzt trinken". Die bei-
gegebenen Bilder redeten für den gemeinen Mann noch eine deut-
lichere Sprache, namentlich das eine mufste besonders auffallen, das
das Innere einer umgekehrten Kirche zeigt*), in der ein Laie
Messe liest, während ihm die Geistlichkeit assistiert. Also das
Laienpriestertum ist hier schon vor Luther in Deutschland ver-
anschaulicht. Dieser selbst erkannte auch in der Vorrede zu seiner Aus-
gabe der Praktik (vom Jahre 1527)*) an, dafs Lichtenberger mit
seinen Bildern gerade daraufgeschossen habe.
Auch die gröfste deutsche Reformschrift jener Zeit, die sogenannten
Trierer Statuten *), stehen unter dem Einflüsse der Astrologie und des
Prophetentums. Mit dem prophetischen Schema der Züchtigung der
Kirche, Erscheinung des Kaisers Friedrich aus dem Schwarzwalde und
des Antichrists schliefst auch der „oberrheinische Revolutionär** sein
breitangelegtes sozial- und kirchenpolitisches Programm. Er kennt
Methodius, die joachimitische Literatur sowie Birgittas Offenbarungen,
und hat sie alle wohl ausgebeutet ; wir wundem uns daher auch nicht,
wenn ein Laie mit solcher Kühnheit und mit solch polterndem Tone
seine radikalen Ideen zum Ausdruck bringt.
Den Mut zur Aufklärung haben ihm Prophetie und Astrologie ge-
geben; aber bei ihm tritt schon ein anderer Faktor in Wirksamkeit.
Was wir schon an Valentin Ebers Schrift als ein Merkmal der huma-
nistischen Gesinnung des Verfassers mit Mühe erkannten, das liegt bei dem
i) Ebenda S. 99 Anm. ff.
3) Ebenda S. los.
3) Ebenda S. 103 Anm. 3.
4) Haupt, Der oberrheiniBefie RevoluHonär, In Westdeotscfae Zeitschrift
<^chiclite und Kunst, Ergänznngsbeft Vllly 1893 (S* 79 — ^^S)*
— 110 —
oberrheinischen Revolutionär klar zutage: die sogenannte RefonnatioQ
Kaiser Sigmunds ist die erste deutsche Reformschrift und noch dabei
eine Übersetzung von einer Sammlung offizieller und privater Reform-
papiere. Das ist der Ausfluls humanistischer Bestrebungen in Augs-
burg, war ja doch die „Liebe zur Muttersprache und Über-
setzertätigkeit das Haupterkennungszeichen des schwäbischen Huma-
nismus'', der namentlich in seinem „hervorragenden Vertreter Stein-
höwel die hauptsächlichsten Werke des Humanismus popularisieren
will '* ^). Auch „ die oberrheinischen Humanisten haben durch deutsche
Übersetzungen die klassische Bildung zu popularisieren gesucht*' ^.
Diesen Popularisierungsbestrebungen kam die neu erfimdene Buch-
druckerkunst weit entgegen. So wurden Schriften von Petrarca und
Boccaccio u. a. , aber auch die mittelalterliche Literatiu:, namentlich
die aufgeklärte französische Publizistik einer breiteren öfTenUichkeit
übergeben. Eine Verbreitung der Schriften von Marsilius, Dante und
Occam nimmt auch Armin Tille a. a. O. S. 486 noch vor der ersten
Drucklegung derselben an. Der Defensor pcuds erschien deutsch 1545
als Ain hurtzer aasmg des treffentlichen Werks und fridschirmbuchs
und 1552 als Marsilius von Padua^ von kaiserlicher majestät und
häpstticher gewaU. Dantes Monarchey erschien deutsch 1559. Am Ende
des XV. Jahrhunderts entsteht ein gelehrtes Proletariat vornehmlich
aus Männern der Kanzlei und des herabgekommenen Adels; Viel-
wisserei mit ihrer verhängnisvollen Halbbildung bemächtigt sich
vieler sozial- und wirtschafüich Enterbter und macht sie unzufrie-
den bis zur Revolution. Diese wesentlichen Zeichen der Zeit finden
wir in den Trierer Statuten als deuüiche Merkmale wieder. Der Ver-
fasser kennt das wiederbelebte sagenhafte Altertum der Griechen und
Römer; Männer wie Brutus und die alten Philosophen dienen ihm
als Idealbilder. Wie keiner ist er beladen mit allen möglichen An-
spielungen auf die Ortsgeschichte und schwelgt in humanistischer Weise
in der Schilderung von Natiu^chönheiten. Dazu hat niemand vor ihm
die Weltsprache des Lateinischen so scharf bekämpft, aber auch nie-
mand die deutsche Sprache so verherrlicht, wie er: sie ist ihm die
W. deutsche Sprache. Er ist der heftigste Gegner alles Romanischen
und Welschen *) schon vor Luther. Überhaupt sind alle freien Ge-
i) Vgl. Joachim söhn, Frühhumanismus in Schtvoben, S. 125.
2) Vgl. Boot a. a. O. 2. Bd., S. 426.
3) Am nächsten steht ihm hierin Hans von Hermansgrün (1495), der gleich ener-
gisch zun Kampf gegen Frankreich aufmft. Vgl. U 1 m a n n in Forschungen zur dentschea
Geschichte, 20. Bd.
— 111 —
danken des Bürgers, wie sie Valentin Eber hegte, was bei dem 2^it-
räum eines halben Jahrhunderts, das inzwischen vergangen war, nicht
zu verwundem ist, zum Radikalismus fortentwickelt. So kommt es,
daiis der Verfasser oft die kühnsten Angelwürfe nach der Zukunft tut ').
Beide smd als Laien und w^en ihrer humanistischen Gesinnung
Gegner des Zölibats, aber der oberrheinische Revolutionär weit radi-
kaler; die unehelichen Kinder vom verfluchten samen treffen seine
härtesten Worte. Beide erheben heftige Anklagen gegen die Mit-
glieder der Hierarchie, obschon beide hohe Achtung vor dem Priestertum
hegen. Valentin Eber ist dem Pfarramte sehr zugetan und verkündet
stolz, dafe der Kaiser Friedrich ein Priester sein werde. Der ober-
rheinische Revolutionär versteht dies falsch und macht daraus den
cäsaropapistischen Satz : Der Kaiser (Friedrich) ist der oberste pfarr *).
Beide sind Gegner des Mönchtums und der Vermönchung kirchlicher
Ämter und kirchlichen Besitzes ') und zwar fast mit denselben Worten ;
Söbaid als die münch wurden envehlt ftu bebesten, da hat der Christen-
glaub sich vermindert^). Beide sind Gegner der „Gewaltigen** und
drohen deshalb mit einer bevorstehenden Erhebung der „Kleinen**.
Für den Städtebürger Eber bedeutet dies die Erhebung des bürger-
lichen Elements, für den Landbewohner die der Bauern. Der Gefolg-
schaft entsprechend hat bei dem ersteren die Führung der mit den
niederen Weihen versehene Stadtschreiber, bei dem letzteren ein herab-
gekommener Adliger aus einem kleinen geschlecht aber von großer
Vernunft, ein astronomus und in allen künsten durchgründet ^) , der aa
der Spitze eines neuen Adels die weit mit heereskraft regulieren wird.
Beide sind Anhänger der Freiheit: Eber erhebt als Städtebürger die
bürgerliche Freiheit über die Leibeigenschaft, der oberrheinische Revo-
lutionär aber verherrlicht nach seinen Vorbildern aus der populari-
sierten humanistischen und französischen Aufklärungsliteratur die uto-
i) Der Verfasser ist offenbar ein sozial and wirtschaftlich yerkommener Adliger
aas dem Schwarzwalde. Er entlehnt die französischen Träumereien des Roman de la
Rose, atopistische Z^c aas dem griechisch-römischen Altertame and dem Alten Testament,
and fUgt sie am das Traambild einer deutschen Unrergangenheit um Trier za einem Ideal»
Staat zosammen. Er hat offenbar die sogen. Reformation Kaiser Sigmunds gekannt, was-
schon aus dem Titel des yerlorengegangenen Kapitels henrorgeht. (Hanpt a. a. O. S^
155 widerspricht diesem aber.) Namentlich aber die Stelle sagt es: Die keiaerliche
reformation weist aus, daß wir DeiUsehe frei sind, (Haupt S. 130.)
2) VgL Haupt, a. a. O. S. 158.
3) Ebenda S. 120.
4) Ebenda S. 118 nnd S. 183.
5) Ebenda S. 159.
— 112 —
pistische Freiheit. Ihm schwebt ein sozialistisch geordnetes^ Gemein-
wesen mit demokratischer Regierungsform vor Augen, denn auch der
Kaiser geht nicht aus einem Gcschlechte, sondern durch Wahl aus
dem Bauernstände hervor. Aber in nichts unterscheiden sie sich
schärfer als in der Beurteilung des Schreiberamts. Während Valentin
Eber als Stadtschreiber sein Amt bis zu einer gewissen Monopol-
stellung gehoben wissen will, sieht der oberrheinische Revolutionär in
<len Schreibern nur Wucherer und Streber *).
Weit radikaler fordert er die Säkularisation alles weltlichen Be-
sitzes der Kirche *) ; ebenso sollen alle Abgaben wie Zehnte , Zoll,
Ungelt sowie der ganze städtische Kapitalismus abgeschafül werden.
Wie Nikolaus von Kues will auch er eine fiinfprozentige Reichs-
steuer einfuhren, aus deren Ertrag der Kaiser und sein Heer sowie
die Geistlichen besoldet werden sollen. Dieser Gedanke der Zivil-
besoldung war damals schon sehr geläufig und wurde sogar in das
Programm des Schlettstadter Bundschuhs vom Jahre 1493 und in das
des Breisgauer Bundes vom Jahre 15 13 aufgenommen. Der Überschuß
aus der Reichssteuer soll zum gemeinen ntUsf, so z. B. für staatliche
Alters- und Invalididätsversorgung verwendet werden *). Erinnern wir
uns seines Planes der Säkularisation des Kirchengutes und seines Staats-
kirchentums, so verstehen wir die Idee Kaiser Maximilians die päpstliche
Tiara mit der Kaiserkrone zu vereinigen oder wenigstens die geistliche
Macht unter die kirchliche stellen und den Kirchenstaat annektieren zn
wollen *). Aber auch dem Laien, besonders dem verheirateten Laien
wird Gleichberechtigung, ja Bevorzugung in dem kirchlichen Orga-
nismus zuerkannt. Jeder fromme ehemann vermag die messe ö/fenÜich
jm lesen ^), Die Ehe ist ihm das höchste Sakrament, und Eheleute
und Bauern müssen es sein, die den neuen Adel der St. Michaels-
gesellschaft bilden. Dies ist die denkbar heftigste Reaktion gegen das
Zölibat und den exklusiven Priesterstand. Halten wir noch das Bild
Griinpecks von der umgekehrten Kirche daneben, in der ein Laie
und zwar ein Bauer die Messe liest, so erkennen wir, wie verbreitet
schon vor Luther der Gedanke des Laienpriestertums war. Wenn auch
die Messe im übrigen im kirchlichen Sinne beibehalten werden soll,
so fordert man doch, dafs sie in der hL deutsche Sprache gelesen
i) Ebenda S. 125 und S. 132.
3) Ebenda S. 168.
3) Ebenda S. 171.
4) VgL U 1 m a n n , Kaiser Maximilians L Absichten auf das Papsttum 160 7^1611.
5) Haupt a. a. O. S. 180.
— 113 —
wird *). Der Revolutionär ist auch darin Luther voraus, dafe er Moses
dem Judentum allein zuweist und die Sabbatfeier als jüdisch verwirft.
Er hält sogar Moses für einen Zauberer und Betrüger und argumen-
tiert schon mit der bekannten Aufserung: ich sig, daß Mdhomet hat
verfuhrt die heiden, Maises die Juden, Jesus die Christen '). In huma-
nistischem Geiste stellt er die jüdisch - christliche Religion dem heid-
nischen Götterglauben gleich, „humanistische und astrologische Re-
miniszenzen treiben ihn zu einer sonderbaren Religionsmepgerei". So
sehen wir, wie durch die Vielwisserei und Halbbildung infolge der
humanistischen Popularisationsbestrebungen unklare Begriffe über Re-
ligion und Kirche, Staat und Gesellschaft entstehen, wie am Vorabende
jeder Revolution. Die deutschnationalen Bestrebungen des Verfassers
sind einigermafsen erfreulich , wenn sie nicht zu übertriebenen Be-
strebungen hinneigten: mit starker Betonung der Tatsache, dafs der
Donnerstag ein echt deutscher Tag sei, fordert er, man solle ihn an
Stelle des Sonntags feiern. Die deutsche Sprache soll an die Stelle
der lateinischen Weltsprache treten, der deutsche Kaiser soll mit Hilfe
eines neuen deutschen Ordens, der Michaelsgesellschaft, die weit mit
heereshraft regulieren. So redet er auch einer deutschen Nationalkirche
mit dem Sitze zu Mainz das Wort. Schon Hildegard hatte in ihren
Prophezeiungen den Gedanken eines deutschen Patriarchats in Trier
ausgesprochen *). Im XV. Jahrhundert wird wiederholt Mainz als Sitz
bezeichnet; auch der Amberger Predigt des Joh. Wünschelburg
vom Jahre 1409 rühmt v. Bezold*) eine gewisse „deutsche Selb-
ständigkeit" als Grundzug nach. Ebenso verlangt Hans von Her-
mansgrün in seiner Vision*) vom Jahre 1495 ein deutsches Patri-
archat. Ja der Hafs gegen Rom und die römische Kirche ging im
Anfang des XVI. Jahrhunderts so weit, dafs von dem Bischof Bertold
Pirstinger in seinem Onus ecclesiae eine transkUio ecclesiae zu den
Heiden als nahe bevorstehend bezeichnet wird. Wir sehen also, wie
die Weltkirche und die Weltsprache des Mittelalters aufe heftigste be-
fehdet werden: wir stehen am Ende des Mittelalters.
Onus ecclesiae ist als „Grenzstein** in den prophetischen Er-
I) Ebenda S. 186.
3) Ebenda S. 188.
3) Vgl. Grane rt, Mte Prophexeiungm über Kaiser und Reich in Deutscher
HaoMchatz, 17, b (1890/91), S. 676 flF.
4) Im Sitzungsbericht der Rgl. Bayr. Akademie der Wissenschaften, hist-pb^
Klasse 1884. „Zar dentschen Kaisersage *^ S. 580.
5) Ulmann, H., in Forschnngen zur deutschen Geschichte 20. Bd. i'
9
— 116 —
nung war man nicht fähig, und sie wäre auch wirkungslos geblieben
bei der Unreife des mittelalterlichen Volkes** *). Da war die Prophetie
das aufreizende Element, der Sprengstoff gleichsam, der die Massen
betäubte zur leichteren Zuführung rationalistischer Ideen. Das hat
dieselbe Wirkung getan wie bei einem aufgeklärteren Volke der Appell
an „die in den Sternen geschriebenen Menschenrechte**. Das erste
sozial- und kirchenpolitische Wetterleuchten ist aus derselben erwar-
tungsschwülen Atmosphäre der Prophetie und Astrologie hervorgegangen
wie die Bewegung des Hans Boehm und die gemeinsame Aktion
der Jahre 1524 und 1525 ^). Ja selbst Luther kannte diese Erregung
und benutzte sie *). Aber es gab auch eine Klasse von Leuten , auf
die die apokalyptisch - astrologische Berechnung beruhigend wirkte.
Männer wie Kardinal Matthäus Lang, Jakob Wimpheling,
Bertold Pirstinger u. a. sind bei den ersten Anzeichen des Sturmes
auf den weiteren Verlauf desselben als auf eine verhengnus gattes
gefafst und scheuen sich vor jeder Abwehr, geschweige denn Initia-
tive. Die „Alten** rufen zuletzt zurück, die „Jungen** begrülsen die
neue 2^it als voll von Möglichkeiten *).
Mitteilungen
Personalien. — Württemberg hat in kurzer Zeit zwei seiner Söhne
verloren, auf die das Land stolz sein durfte: wenige Wochen nach W.
Osiander, dem unermüdlichen Forscher auf dem Gebiet der antiken Topo-
graphie der Westalpen, ist Gustav Sixt, Professor am Karlsgymnasium und
Inspektor der Münz- und Medaillensammlung und der Sammlung römischer
Steindenkmäler im königlichen Museum zu Stuttgart, nach längerer Krank-
heit gestorben. Als trefflicher Schulmann hoch angesehen, hat er sich auch
um die Altertumskunde seiner engeren Heimat bleibende Verdienste
erworben. Dabei kam ihm eine ausgedehnte archäologische Bildung wohl
zustatten, die er sich auf weiten Reisen in den klassischen Ländern er-
worben hatte. Nach der Neuordnung der ihm unterstellten Sammlungsteile
verfafste Sixt einen 1902 in 2. Auflage erschienenen Führer durch das Stutt^
garter Lapidarium, gewissermafsen eine Vorarbeit zu einem gröfseren Werk,
dem mit F. Haug gemeinsam herausgegebenen Buch: Die römisehen In*
srJiriften und Bildwerke Württetnbergs (Stuttgart, 1900), in dem zum ersten
Male für einen ganzen deutschen Bundesstaat in vorbildlicher Weise alle
i) Ebenda S. 105.
2) Vgl. ebenda S. 105 Anm. i.
3) Ebenda.
4) Aaf Seite 87 Zeile 25 ist staU eintraten za lesen: entraten.
— 117 —
römischen Skulpturwerke unter Beigabe zahlreicher guter Abbildungen muster-
gültig beschrieben und in den grofsen wissenschaftlichen Zusanmienhang ein-
gereiht werden. In ähnlicher Richtung, stets die neuesten Forschungen bringend,
bewegten sich die von Sixt herausgegebenen Fundberichie aus Schwaben,
von denen ii Jahrgänge (Stuttgart, Schweizerbart) vorliegen. In diesen Be-
richten, wie auch in den Süddeutschen Sckulblätiem, im Würiietnbergischen
KorrespandenxbkUi und im Schwäbischen Merkur hat Sixt zahlreiche gediegene
Aufsätze über Gegenstände aus der heimischen Altertumskunde drucken lassen.
£ifrig arbeitete er mit bei den Forschungen der Reichs-Limeskommission ; vorläufige
Berichte über die Ergebnisse seiner Tätigkeit als Streckenkommissar finden
sich im Ldmesblatt; die endgültige Publikation seiner Arbeiten im grofsen
Limeswerk hat er nicht erleben sollen. Auch an den Arbeiten der Ge-
schichts- und Altertumsvereine beteiligte sich der Verstorbene, und besonders
dankbar wird seiner in den Kreisen des Verbands West- und Süddeutscher
Vereine flir römisch -germanische Altertumskunde gedacht werden, dessen
Vorstand er von Anfang an zugehörte imd an dessen Sitzungen er regel-
mäfsig teilnahm. Von seiner Regierung war Sixt zum Mitglied der Kom-
mission für Verwaltung der kgl. Altertumssammlung und der Kommission
für Württembergischc Landesgeschichte ernannt und ihm im Zusammenhang
damit die Neubearbeitung der Abschnitte über die vaterländischen Altertümer
übertragen worden, als das Statistische Landesamt die Herausgabe des
Werks Das Königreich Württemberg begann. Auch die Geschäfte des
Landeskonservators führte Sixt eine Zeitlang in Stellvertretung. Es ist nicht
zu viel behauptet, wenn wir sagen, dafs mit Sixt der beste Kenner der
Württembergischen Altertümer dahingegangen ist. Er ist nur 47 Jahre alt
geworden; bei seiner bis in die letzten Jahre ungebrochenen Arbeitskraft
hätten wir von ihm noch manche reife Frucht seiner Studien erwarten dürfen.
Denn Sixt war kein Mann der Phantasie ; was er sprach und schrieb, zeugte
von scharfem, nüchternem Verstand und gewissenhafter Beobachtung, wie
auch seine ganze Persönlichkeit kräftig imd in sich abgeschlossen war. Er
verleugnete den Schwaben nicht, und nicht rasch war er mit seiner Freund-
schaft zur Hand. Wer ihm aber näher treten durfte, der erkannte in ihm
bald nicht nur den tüchtigen Gelehrten voll umfassenden Wissens, sondern
auch den biederen, treuen und unbedingt zuverlässigen Menschen, als der
er im Gedächtnis seiner Freunde fortleben wird. A. D.
■ *) An deutsche Universitäten wurden berufen: Aloys Schulte, ordentL
Prof. in Breslau, zuletzt Direktor des Kgl. preuisischen Historischen Instituts in Rom,
in gleicher Eigenschaft nach Bonn ; der Privatdozent Prof. HeinrichBöhmer
in Leipzig als aufserordentl. Prof. der Kirchengeschichte nach Bonn; der
aufserordentl. Prof. der Kunstgeschichte Karl Neumann in Heidelberg in
gleicher Eigenschaft nach Göttingen und kürzlich als ordentl. Prof. dieses
i) Personalverändemngen, die nach Absicht der Redaktion wenigftent einmal im
Jahre zQsammcQgestellt werden sollen , haben wegen Raummangels leider seit Man
1903 (Bd. IV, S. 190 — 192) nicht mitgeteilt werden können. Hier sollen wenigstens die
wichtigsten Nachrichten aus diesem langen Zeitraum bis Ende 1904 nachträglich folgen.
Die Redaktion.
— 118 —
Faches nach Kiel; der aufserordenü. Prof. der Kunstgeschichte in Haue
Rudolf Kautzsch als ordentl. Prof. an die Technische Hochschule in
Darmstadt; der Privatdozent der neueren Ktmstgeschichte Justi in Berlin
als aufserordentl. Prof. nach Halle; der Privatdozent Walter Stein in Bres-
lau als ordentl. Prof. der Geschichte nach Göttmgen; der ordcntL Prof.
fUr deutsches Recht Ulrich Stutz in Freiburg i. B. in gleicher Eigenschaft
nach Bonn; der ordentl. Prof. der Nationalökonomie Eberhard Gothein
in Bonn in gleicher Eigenschaft nach Heidelberg; der aufserordentl. Prof. des
deutschen Rechts RudolfHis in Heidelberg als ordentl. Prof. nach Königs-
berg; der ordentl. Prof. der Nationalökonomie Heinrich Waentig in Münster
in gleicher Eigenschaft nach Halle; der ordend. Prof. der Geschichte Emil
V. Ottenthai in Innsbruck in gleicher Eigenschaft nach Wien; der Direktor
der Handelshochschule in KölnProf. Hermann Schumacher als ordend. Prof.
der Volkswirtschaft nach Bonn ; der aufserordentl. Prof. der Nationalökonomie
Joseph Schmoele in Greifswald in gleicher Eigenschaft nach Bonn; der
ordentl. Prof. der Geographie Eduard Brückner in Bern in gleicher Eigen-
schaft nach Halle; der aufserordentl. Prof. der Geschichte Hermann Bloch
in Strafisburg als ordentl. Prof. nach Rostock; Otto Oppermann, bisher
Mitarbeiter der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde in Köln, als
aufserordentl. Prof. der mittelalterlichen Geschichte nach Utrecht; der Prof.
der geschichtlichen Hilfswissenschaften in Marburg Johannes Haller als
Prof. der Geschichte nach Giefsen; der aufserordentl. Prof. der Deutschen
Philologie in Freiburg i. Br. Friedrich Panzer ab Prof. dieses Faches
an die Akademie flir Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt a. M.;
der ordentl. Prof. der Geographie Joseph Partsch in Breslau. in gleicher
Eigenschaft nach Leipzig. — Unter Verbleiben an ihren Wohnsitzen wurden
die aufserordentlichen Professoren Konrad Beyerle in Breslau (deutsche
Rechtsgeschichte), Ernst Elster in Marburg (neuere deutsche Literatur-
geschichte), Franz Kampers in Breslau (mittelalterliche Geschichte), Otto
V. Zwiedineck-Südenhorst in Karlsruhe (Nationalökonomie), Robert
Wuttke in Dresden (Nationalökonomie), Kornemann in Tübingen (alte
Geschichte), Roman Woernerin Freiburg i. B. (deutsche Literaturgeschichte),
Alexander Cartellieri in Jena (Geschichte), Erich Brandenburgf in
Leipzig (neuere politische Geschichte), Raimund Kaindl in Czemowitz
(österreichische Geschichte) zu Ordinarien befördert. In Wien wurde der
Privatdozent Rudolf Much zum aufserordentlichen Professor der genna-
nischen Sprachgeschichte und Altertumskunde ernannt, in Berlin der Privat-
dozent Paul V. Winter feld zum aufserordentlichen Professor für mittelalter-
liches Latein, in München L. Traube zum ordentlichen Professor fUr lateinische
Philologie des Mittelalters, in Wien der Privatdozent Max Neuburger zum
aufserordentlichen Professor für Geschichte der Medizin ; in Bern der Staats-
archivar Heinrich Türler zum aufserordentl. Prof. der Archivwissen-
schaften; in Marburg der Privatdozent der Geschichte Hans Glagau zum
aufserordentl. Professor.
Es habilitierten sich: in Kiel Max Eckert für Geographie; in Göttingea
C. Borchling für germanische Philologie; an der Technischen Hochschule
in Dresden Robert Brück für Kunstgeschichte; an der Technischen Hoch-
schule in München Albrecht Wirth für Geschichte; an der Technischen
— 119 —
Hochschule in Dresden Karl Reuschel für deutsche Sprache und Literatur;
in Erlangen Theodor Bitterauf für Geschichte und siedelte inzwischen
nach München über; in Freiburg i. B. Fritz Baumgarten für Kunst-
geschichte; in Berlin Werner Weisbach für neuere Kunstgeschichte; in
Bern M. Bühl er für Zeitungswesen; in Berlin L. Riess für Geschichte; in
Basel Stückelberg für Geschichte; in Berlin Richard Delbrück für
Kunstgeschichte; in Bonn W. Lewis on für Geschichte des Mittelalters und
geschichtliche Hilfswissenschaften; in München A. Rosenlehner für Ge-
schichte; in Zürich E. Jueter für Geschichte; in Innsbruck H. Wopfner
für Wirtschaftsgeschichte; in Tübingen W. Ohr für mittlere und neuere Ge-
schichte; in Breslau Johannes Ziekursch für Geschiebe; in Heidelberg Otto
Gart e Hie ri für mittelalterliche Geschichte; in Wien Alfred Grund für Geo-
graphie; in Münster Ferdinand Koch für Kunstgeschichte; in Strafsburg
Fritz Kiener für elsässische Geschichte; in Wien Archivar Hans Schlitter
für neuere Geschichte; in Tübingen H. Heyf eider für Kimstgeschichte.
Es starben: 4. Mai 1903 der Ethnolog Heinrich Schurtz, 39 Jahre
alt, in Bremen; 19. Mai Jakob Heinrich von Hefner-Alteneck,
93 Jahre alt, in München; 18. Juli Engelbert Mühlbacher (vgl. den
Nekrolog in dieser Zeitschrift 5. Bd., S. 90-93); 29. August in Frankfurt a. O.
Prof. Gurnik, Vorsitzender des dortigen historischen Vereins, 59 Jahre
alt; I. September Archivrat Friedrich von Meyenn in Schwerin;
I. November Theodor Mommsen, 85 Jahre alt; 22. Dezember der
Bibliotheksdirektor Otto Hartwig in Marburg, 73 Jahre alt; 24. Dezember
der Professor der Geographie an der Technischen Hochschule in Dresden
Sophus Rüge, 72 Jahre alt, und der Direktor des Museiuns für Völker-
kunde in Kiel Richard Scheppig; 25. Dezember in Stuttgart der National-
ökonom Albert Schäffle, 72 Jahre alt; 8. Januar 1904 in Berlin der
Professor der Geschichte Wilhelm Naudd; 15. Januar in Königsberg der
Privatdozent der Geschichte Max Immich, 36 Jahre alt; 20. Januar in
Freiburg i. B. der frühere Professor der Geschichte an der Universität Ghicago
Hermann Eduard v. Holst, 62 Jahre alt; ? Januar in Münster der
Oberbibliothekar Heinrich Detmer, 51 Jahre alt; ? März Gottfried
Schnapper-Arndt, Dozent der Nationalökonomie an der Akademie für
Sozial- und Handelswissenschaften in Frankfurt a. M., 58 Jahre alt; 9. März
in Stuttgart der Geh. Archivrat Otto v. Alberti, 69 Jahre alt; ? März in
Wien der frühere Direktor des Kriegsarchivs Feldmarschalleutnant Leander
V. Wetzer; 22. März in Brauoschweig der Stadtarchivar Ludwig Hänsel-
mann, 70 Jahre alt; 2. Mai in Giefsen Prof. Konstantin Höhlbaum,
54 Jahre alt; 13. Mai in Jena Prof. Ottokar Lorenz, 71 Jahre alt;
6. Juni in Wolfenbüttel Oberbibliothekar Otto vonHeinemann, 80 Jahre
alt; 19. Juni in Rostock Prof. Friedrich Wilhelm Schirrmacher,
80 Jahre alt; 25. Juni in Darmstadt der Direktor der Hofbibliotbek Gustav
Nick, 55 Jahre alt; 9. August in Ammerland am Starnberger See der
Leipziger Geograph Friedrich Ratzel, 59 Jahre alt; 8. September in
Berlin Baurat Peter Walld, 59 Jahre alt; 27. September Hugo Berger,
Professor der Geschichte der Erdkunde und geschichtlichen Geographie des
Altertums in Leipzig, 67 Jahre alt; 4. Oktober Prof. Rudolf Gaedechens,
früher Direktor des archäologischen Museums in Jena.
— 120 —
Mit der Direktion des Kgl. preufsischen Historischen Instituts in Rom
ist seit I. Oktober 1903 Prof. Paul Kehr in Göttingen betraut
Die philosophische Fakultät der Universität Graz ernannte den Kärntner
Landesarchivar August von Jaksch in Anerkennung seiner vorzüglichen
Leistungen auf dem Gebiete der vaterländischen Geschichtsforschung, ins-
besondere im Hinblick auf die ausgezeichnete Ausgabe der Kärntner Geschichts-
quellen in den Monumenia ducattis Ckrrinthiae zum Ehrendoktor.
Eingegangene Bficher.
Keutgen, F.: Ämter und Zünfte. Zur Elntstehung des Zunftwesens. Jena,
Gustav Fischer, 1903. 256 S. 8^
Loch, Eduard: Das Lochstädter Tief in historischer Zeit [= Beilage zum
Programm des Altstädtischen Gymnasiums zu Königsberg i. P., 1903J.
38 S. 8».
Loewe, Victor: Bücherkunde der deutschen Geschichte, kritischer Wegweiser
durch die neuere deutsche historische Literatur. Berlin W 15, Johannes
Rade. 120 S. 8®. M. 3,00.
Marcus, Hugo: Die Allgemeine Bildung in Vergangenheit, Gegenwart und
Zukunft, eine historisch-kritisch-dogmatische Grundlegung. Berlin, K.
Ehering, 1903. 72 S. 8®.
Müsebeck, E. : Zoll und Markt in Metz in der ersten Hälfte des Mittel-
alters [= Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte und
Altertumskunde. 15. Jahrgang (1903), S. i — 32].
Nicoladoni, Alexander: Zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der
österreichischen Herzogtümer mit besonderer Berücksichtigung Ober-
österreichs, Fortsetzung [= 61. Jahresbericht des Museum Francisco-
Carolinum (Linz 1903) S. 130 — 227].
Rein ecke, Wilhelm: Lüneburgs ältestes Stadtbuch und Verfestungsregister.
Mit 3 Tafeln. [=s= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Nieder-
sachsens Bd. VIII]. Hannover und Leipzig, Hahn, 1903. Gl und
446 S. S^.
Richter, Paul: Geschichte des Rheingaues [= Sonderabdruck aus dem
Werke Der Bheingaukreis , herausgegeben von dem Kreisausschusse
des Rheingaukreises zu Rüdesheim a. Rh., 1902]. 259 S. 4^.
Schmidt, Erich: Geschichte des Deutschtums im Lsinde Posen unter pol-
nischer Herrschaft. Mit 25 Abbildungen und 2 Karten. Bromberg,
Mittler'sche Buchhandlung (A. Fromm), 1904. 442 S. 8®.
Sello, Georg: Der Jadebusen, sein Gebiet, seine Entstehungsgeschichte,
der Turm auf Wangeroge. Mit 2 Ansichten, 2 Vignetten tmd 2 Karten-
skizzen. Varel, Allmers, 1903. 70 S. 8®.
Wccch, Friedrich von: Siegel der badischen Städte in chronologischer
Reihenfolge, herausgegeben von der Badischen Historischen Kommission.
Zweites Heft: Die Siegel der Städte in den Kreisen Baden und
Offenburg. Heidelberg, Karl Winter, 1903. 16 S. imd 41 Tafeln 8^.
Wo! ff, Georg: Ergebnisse und Aufgaben der Heddemheimer Lokalforschung
[=» Festschrift zur Feier des 25 jährigen Bestehens des Städtischen
Historischen Museums in Frankftirt a. M. (1903), S. 45 — 66].
HenuMgebor Dr. Annin Till« ia LeJptig.
Drack nad VcrUg TO0 Friedrich Andreas Perthes, Aktieageeellachaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sor
Fördemng der landesgeschichtlichen Forschimg
VI. Band Februar 1905 5. Heft
Gesehiehtliehe Studien zur Pädagogik
der Wissensehaften und Künste
Von
Hans Schmidkunz (Berlin-Halensee)
Seit einten Jahren ist eine mehrfach verzweigte Bewegfong im
Gange, die jedoch noch nicht über einige engere Kreise hinaus-
gekommen ist Es handelt sich um das Bestreben, die bisherige Praxis
und Theorie der Pädagogik um ein Gebiet zu erweitem, das ihr
zwar auch schon bisher einigermaisen eigen war, ohne jedoch vollauf
und grundsätzlich in sie einbezogen zu sein.
Die bisherige Pädagogik hat sich praktisch und theoretisch vor-
wiegend in der Richtung des allgemein-bildenden Schul- und Er-
ziehungswesens betätigt, aber nur in geringem Malse das Fachliche
oder Berufliche berücksichtigt. Damit hängt es zusammen, dais sie
um so besser entwickelt ist, um eine je niedrigere Stufe es sich handelt.
Gegenüber der Heranbildung des jungen Menschen (Ur das Leben
überhaupt und dann noch speziell für das Leben in den höheren
geistigen Arbeitsgebieten ist von einer Pädagogik der Spezialaus-
bUdungen nur in sehr geringem Umfange die Rede; und gegenüber
der virtuosen Methode des Volksschulwesens steht die des höheren
BUdungswesens sehr zurück, noch mehr aber die pädagogische Ent-
wickelung des Hochschulwesens. Dies gilt von dem tatsächlichen
Vorgehen und von seiner kunstvollen Verfeinerung einerseits, von der
theoretischen Erkenntnis dieses Vorgehens andererseits. Die Praxis des
Volksschullehrers und einigermafsen auch die des Gymnasiallehrers, sowie
der ihm verwandten Lehrerkategorien, ist seit längerem zum Gegen-
stand einer wissenschaftlichen Forschung und Zusammenstellung ge-
macht worden; fUr die Praxis des Hochschullehrers fehlt dies noch
beinahe völlig oder ist höchstens in verschiedentlichen Einselbetrach-
tungen berührt worden. Hier Wandel zu schaffen, und insbesondere
die gesamte Welt dieser Pädagogik, ihren Tatsachen
10
— IM —
und ihrem Werte nach, wissenschaftlich zu beschreiben,
zu erklären und in eine Systematik zu bringen, ist das Ziel der neuen
Bewegung.
Wenn hier von dem Theoretischen gefprochen wurde, so ist
dies in einem doppelten Sinne zu verstehen: in dem des Histori-
schen, sowie dem des darüber hinausliegenden Sachlichen über-
haupt Die historische Seite ist aber die weitaus greifbarere, wenn
auch die sachliche Behandlung in jener Bew^rung als die wichtigere
erscheint DafUr ist die historische Seite des Themas so überaus reich
an Umfang und Inhalt, und in so hohem Malse geeignet, die anderen
Interessen zu fördern, dafs es sich lohnt, sie mehr als bisher in den
Vordergrund zu stellen. Die allgemeine historische Arbeit auf diesem
Gebiete hat, wie es bei neuen Arbeitsgebieten fast immer der Fall ist,
vor allem gute Einzeluntersuchungen nötig, und auf solche ihrer Natur nach
ortsgeschichtliche Arbeiten soll hier die Aufmerksamkeit gerichtet
werden ; zugleich wird sich daraus eine Anr^^ung zur Anlage und Er-
weiterung von Archiven gewinnen lassen« Die gro&e Entfaltung der
Geschichtsvereine mit landschaftlich und örtlich beschränktem Arbeits-
gebiet ist für diese Seite der erwähnten Bestrebungen ebenso günstig,
wie diese neuen Anregungen wiederum eine Ausdehnung der Tätigkeit
jener bedeuten.
Angesichts der nicht nur extensiv und intensiv gewaltigen Arbeit,
welche in Deutschland auf die Erforschung geschichtlicher Gegenstände
verwandt wird, und angesichts der erörterten Spezialthemen , die dem
Laien oft wunderlich erscheinen mögen, ist es auffallig, dals so über-
aus wenig davon (lir die Geschichte der Pädagogik abßillt, und
dais von diesem wenigen wiederum das meiste auf die oben gekenn-
zeichneten allgememen und unteren Partien entfallt, nur verschwindend
weniges aber auf die spezielleren pädagogischen Fragen und auf die
Hochschulstufe. Das gilt auch für die Arbeiten der Gesellschaft fUr
deutsche Erziehungs- und Schulgeschichte. Wie man vollends in der
Vergangenheit die Wissenschaften und die Künste selber, nicht nur
den zum Kreise der Schulßlcher gehörigen Extrakt, lehrend übermittelt
hat, darüber läfist die Geschichte der Pädagogik fast gänzlich im Stich.
Sie betrachtet all das, z. B. unter den Wissenschaften die Philosophie
oder unter den Künsten die Musik, led^lich als Bestandteil der all-^
gemeinen Lebensbildung, also als sogenanntes Schulfach. Begreiflich
ist dies ganz wohl, aber der sonstigen Höhe historischer Wissenschaft
entschieden nicht würd^. Wer in den groben historischen und
enzyklopädischen Werken über Pädagogik, beispielsweise in den an
— 123 —
sich vorzüglichen und meistenteils recht eingehenden Büchern von
K. A. Schmid, nach dem von uns Gemeinten sucht, wird mit wenigen
Ausnahmen enttäuscht werden. Hier und da finden Ankündigungen
statt, daCs ein derartiges Werk sich in einem späteren Band oder An-
hang auch auf diese Gebiete einlassen will; die Erfüllung bleibt aber
häufig aus oder geschieht nur so, wie es vom Standpunkte des niederen
und allgemeineren Schulwesens aus pa&t, nicht jedoch von dem hier
gemeinten Standpunkt aus. Rühmliche Ausnahmen, wie gerade auch
zum Teil die Ghschichte der Ereiehung (1884 ff, 5 Bde.) von K. A.
Schmid, sollen dabei nicht vergessen sein.
Es ist dabei merkwürdig, dafs solche Ausnahmen immer nur wieder
einen bestimmten Teil dessen treffen, was wir meinen, und andere
Teile völlig vernachlässigen. Nehmen wir unter den Künsten die Ton-
kunst und fragen wir, wie weit ihr Schulwesen bisher historisch be-
handelt worden ist. Man sollte doch denken, dafis es in einem an
historischer^ speziell lokalhistorischer Arbeit so reichen Lande wie
Deutschland längst schon eine Geschichte des Musikschulwesens gebe,
wenigstens seit der neuen Gestaltung dieser Schulen, die sie im
XVI. Jahrhundert erfahren haben. Allein es liegen bisher beinahe
ausschließlich nur die unvermeidlichen Festschriften zu Schuljubiläen
und dei^eichen vor. Die Pädagogischen Mcnatshefte haben allerdings
in ihrem 9. Jahrgange (1903) eine Artikelreihe gebracht: Aus der Oe-
schichte der MusikschtUen; hier ist versucht, das wenige zusammenzustellen,
was ohne neue Spezialforschungen zusammenzustellen war. Im Jahre
1904 feierte die Königliche Musikschule zu Würzburg, wohl die älteste von
allen heute in Deutschland bestehenden, ihr hundertjähriges Jubiläum und
benutzte diese Gelegenheit auch zur Darlegung ihrer eigenen histori-
schen Entwickelung. Das sind jedoch nur vereinzelte Anläufe, die sich
nicht vergleichen lassen mit dem energischeren Gange geschichtlicher
Arbeit auf anderen Gebieten.
Begreiflicherweise noch weit weniger ist die Geschichte des Schul-
wesens in den übrigen redenden Künsten erforscht. Zur Erkenntnis
der Geschichte der Theaterschulen ist vor einiger Zeit ebenfalls
ein Anlauf genommen worden; allein auch der darin liegende Anreiz
hat nicht weitergewirkt
Ein wenig besser steht es mit der Geschichte der Schulen (Ür
bildende Kunst. Allein auch hier kommt man über jubilierende
Gelegenheitsschriften u. dergl. wenig hinaus; doch sind sie inuner-
hin von einem ein wenig höheren Standpunkt aus geschrieben als
die der vorhin erwähnten Gebiete. Auch diese Kunstschulen gehen
10 ♦
— 126 —
Ziehungen und Verschiedenheiten zwischen den Universitäten Göttingen
und Wien bezüglich des juristischen Unterrichtes aufmerksam gemacht
werden; wir sehen in Göttingen das Staatsrecht des Reiches freier
vertreten als dort, wo die Nähe des Wiener Hofes einen Druck auch
auf diese wissenschaftliche Sache ausübte.
Bisher war in der Hauptsache vom Schulwesen, nicht aber vom
Erziehungs- und Unterrichtswesen die Rede. Aber für die Pädagogik
ist doch das Schulwesen nur ein Aufsenteil, der bereits so weit in
die Staatswissenschaften hineinreicht, dais sich manche Werke aus dem
Gebiete dieser hinwiderum enge mit der Pädagogik berühren. Die
Innenteile der Pädagogik sind Erziehungs- und Unterrichts-
wesen. Die bisherige Geschieh Ischreibüng des hier besprochenen
Gebietes spiegelt das Mafs des Interesses für BLdagogik wider: sie
kümmert sich mehr um das Schulwesen als um Erziehung und Unt^-
rieht; und ebenso ist es mit der Theorie. Die Theorie im engeren
Sinne lä&t uns hier ähnlich wie die Historie im Stich. Das Interesse an
ihr würde sich wohl erweitem, wenn sich erst einmal das historische
Interesse erweiterte. Ernst Bernheim hat in seiner Rektorats-
rede vom 15. Mai 1899, Die gefährdete SieUung unserer deutschen
Universitäten, unter anderem beklagt, daüs die meisten, die über aka-
demische Unterrichtsfiragen schreiben, wenig Kenntnis von dem be-
sitzen, was andere vor ihnen über die Dinge gedacht und veröffentlicht
haben. „Die Geschichte des Universitätsunterrichtes ist ein £ast
unbekanntes Feld, und man zweifelt doch jetzt auf keinem Gebiete,
selbst einem so praktisch aktuellen wie die Medizin nicht, dals
aus der Geschichte zu lernen sei." Dabei unterscheidet aber Bem-
heim sehr wohl zwischen Schul- und Unterrichtswesen. In einer An-
merkung heifst et dabei: „Ich sage: Die Geschichte des Unterrichtes,
d. h. des inneren pädagogischen Betriebes"; und aufserdem verweist
Bemheim, auch abgesehen von der historischen Seite der Sache, auf
die Notwendigkeit, eine „Universitätspädagogik" zu schaffen, an der
es uns so sehr fehle, sowie auf die bisherige Darlegung dieses Be-
griffes und seiner Bedeutung.
Es fehlt uns nicht nur eine Geschichte des Unterrichtswesens über-
haupt an den Universitäten, sondern auch eine Geschichte des Unter-
richtes in einzelnen Wissenschaften, die ja begreiflicherweise noch eher
in Angriff genommen werden müfete als jene zusammenfassende Arbeit.
Ein Muster für das, was wir hier brauchen, war ein Vortrag von
Bruno Meyer: Aus der Oeschichte des hunstwissenschafUichen Unter-
richtes, der in den Pädagogisehen Monatsheften (1904, Heft 5) erschienen
— 127 —
wl und in fetprinniger , meist auf eigenes Erleben g^fründeter Weise
namentlich die allmählichen Fortschritte von blolser Materialkunde zu
wissenschaftlicher Materialverarbeitung darl^t. Die Geschichtswissen-
schaft selber scheint bisher nicht daran gedacht zu haben , die Ge-
schichte ihres eigenen Unterrichtes zu behandeln. Eher finden sich
schon unseres Wissens Spuren von gleichem in der Philosophie. So
bat vor kurzem der Franzose Th. Colardeau in iHude 9wr EpideU
(1903) den spätstoischen Philosophen Epiktet, nachdem dieser bisher
von verschiedentlichen anderen Standpunkten aus behandelt worden
war, nun auch von dem aus betrachtet, wie er als Lehrer der Philo-
sophie gewirkt hat %
Dais wir historisch und pädagogisch ein Fortschreiten von der
blofeen Schulgeschichtc zur Erziehungs- und Unterrichts-
geschichte brauchen, mu&te von vornherein dort klar sein, wo man
darauf ausging, die Pädagogik schlechtw^ um das ihr bisher fehlende
Gebiet der höchsten Stufen und der spezialistischen Bildung zu er-
gänzen. Mit dieser Absicht wurde am 17. Juli 1898 zu Berlin der
„Verband für Hochschulpädagogik" gegründet; seine Auf-
gabe sollte sein : beizutragen zur Förderung des gesamten Erziehungs-
und Unterrichtswesens, das sich auf Jünger der Wissenschaften und
Künste als solcher bezieht, und zwar nach jeglicher praktischen, theo-
retischen und historischen Seite. Einige der im vorigen erwähnten
literarischen Leistungen gehen auf die Tätigkeit dieses Verbandes
zurück. Obwohl seine letzten Absichten nicht eigentlich historische
sind, so hat er doch das Gewicht des historischen Teiles seiner Arbeit
dadurch bekundet, dais er in seinem Programm') die Geschichte
seines Gebietes vorangestellt hat Er unterscheidet seine theore-
tischen und praktischen Ziele, geht dabei von den theoretischen aus
und beginnt hier mit der Forderung, welche er als Nr. i anftihrt:
„I&torische Erforschung und Darstellung des Erziehungs-, Unterrichts-
und Schulwesens in allen Veranstaltungen, die der Übennittelung von
Wissenschaften und Künsten als solchen dienen. Insbesondere soll
der bisherigen Universitätsgeschichte einerseits eine Geschichte des
Erziehungs- und Lehrverfahrens an den Universitäten, andrerseits eine
Geschichte der übrigen Hochschulen und ihrer Tätigkeit zur Seite ge-
stellt werden. Dabei ist ein Hauptgewicht auf das Studium der Fort-
i) Ich entnehme dies einer Rezension Ton A. Schmekel in der Berliner phih'
hgtsehen Woehensehrifl Tom 18. Juni 1904.
2) PUdagogüekes ArtM», Norember 1900, fai Sondcrdnck Ton dem VerCuser dieses
Aalgatt^s !■ bcsidMn.
— 128 —
schritte im Ausland zu legen/' Die sogenannte hocbacfanlpädagogiscbe
Bewegung betont diese Voranstellung des Historischen vor dem ührig^o
Theoretischen und dann auch des Theoretischen überhaupt vor dem
Praktischen ganz besonders und betrachtet sich demgemäis zunächst
als eine fachwissenschaftliche Bestrebimg. Die Art und Weise,
wie speziell das Historische hier behandelt werden soll, wurde in der
Abhandlung Zur Geschichtsschreänmg und OesehidUsforsdmng der Hoch-
schulpädagogik in Lehrpröben und Lehrgänge, Heft 68, dargelegt.
Nun ist es den Historikern längst bekannt, dafs die geschichtliche
Arbeit auf irgendeinem Spezialgebiet eine zureichende Kenntnis dieses
Gebietes als solchen voraussetzt. Demgemäß wird auch hier eine g^te
Systematik der Sache selber ein unentbehrlicher heuristischer Faktor
für die geschichtliche Arbeit sein. Die Pädagogik mufe als solche
lehren, was im allgemeinen und dann für das betreffende Spezialgebiet
im besonderen als Zweck und Ziel, als Bildungsideal und Bildungs-
stoff, als Plan und Form, als Verfahren im einzelnen und dergl. mehr
unterschieden sein will. Ohne Beherrschung dieser Systematik wird
auch der Historiker nicht genug von dem sehen, was er sehen soll.
Um gleich wieder ein Beispiel zu geben, so verweisen wir auf das
nicht einmal sehr subtile Thema von der „Lehrdauer''. Es ze^
sich in der Geschichte der Wissenschafts- und Kunstpädagogik, dafe
gegenüber der Verlängerung der allgemeinen Lebensbildung im Lanfe
der letzten Jahrhunderte eine beträchtliche Verkürzung der Lehr-
dauer in der Spezialbildung eingetreten ist. Früher rechnete man auf
die Ausbildung des Musikers, des Architekten usw., und ebenso auf
die des Wissenschaftsjüngers eine weit gröisere Zahl von Jahren, als
es heute üblich ist. In der Geschichte des juristischen Unterrichts und
in der des musikalischen Unterrichts tritt dieser Ersatz einer früheren
Gründlichkeit oder mindestens Langwierigkeit durch eine Art Schnell-
presse ganz besonders hervor. — Eine Artikelserie der Neuen mtisi-
kaiischen Presse von A. Seydler (1904) behandelt einen anderen Fall,
in welchem zwar nicht ein Rückgang der Lehrdauer g^en früher zu be-
klagen ist, jedoch das heute übliche Ausmafis hinter dem Nötigen zurüdD-
bleibt; sie verzeichnet unter anderem den Betrag, mit welchem die Musik-
geschichte an den verschtedenen Musikschulen im Lehrplan auftritt
Vielleicht am meisten wird auf dem Hochschulgebiete die Er-
ziehung neben dem Unterricht und neben dem Schulwesen engeren
Sinnes vernachlässigt. Um hier nicht moralisierende Forderungen auf-
zustellen, wird es g^t sein, gegenüber dem Einwand, dafs eine Hoch-
schule nicht mehr zu erziehen habe, die Satzungen vcm Hochschulen
— ii9 —
und das dazu gehörige Motmerang-smaterial daraufhin zu prüfen, wie
weit, gemäfe diesen Vorlagen, der einzelnen Hochschule die Auijg^abe
erzieherischer Einwirkung zuerteilt ist Jene Gegner werden durch eine
solche Arbeit voraussichtlich manche Enttäuschung erleben. Die Ver-
schiedenheiten, die sich dann noch hinsichtlich des Betrages der Aufmerk-
samkeit auf diese pädag€^^che Seite finden, wollen natürlich ebenso er-
klärt sein, wie im vorigen die Unterschiede in der Lehrdauer. Natür-
lich werden wir durch ein spezielleres Eingehen darauf, wie sich das
eine und das andere in dem einen oder dem anderen Lande auf kürzere
oder längerer Zeit gehalten oder nicht gehalten hat, die unentbehr-
Uchen Anhalte finden, um Erklärungen der g^ebenen Tatsachen zu
versuchen.
Eine besondere quellenmäßige Hilfe für derartige Probleme w^den
die studentischen Stammbücher bilden. Zwar hat der Verfasser
dieser Zeilen bisher eine besonders grofee Ausbeute aus ihnen nicht
eben konstatieren können. Doch es handelt sich bei diesen Dingen
auch darum, dafe Einzelheiten, die für sich allein nicht recht verwert-
bar scheinen, durch ihre Verbindung mit Anderweitigem erst so recht
einen Wert für die Forschung gewinnen. Ist man zum Beispiel emmal
auf die erzieherische Seite des HocbschuUebens aufmerksam geworden,
und hat man herausbekommen, wie weit in einer bestimmten Zeit und
an einem bestimmten Orte die erzieherische Einwirkung auf Studenten
gehandhabt wurde, so wird wohl auch manches sonst Gleichgültigere
in studentisdien Stammbüchern beachtenswert erscheinen.
Gröiser als man wohl anfangs glaubt, sind hier die örtlichen
Unterschiede. Eüie Beschäftigung mit Universitätsgeschichte läfst bald
merken, welche individuellen Verschiedenheiten zwischen den einzelnen
Universitäten wenigstens in früherer Zeit bestanden haben. Dazu kommt
die Forderung der PädagogUc selber, jede Schule möglichst als ein
Individuum zu betrachten und zu behandeln und sie vor Gleichmacherei
zu schützen. Den tatsächlichen individuellen Verschiedenheiten der
Hochschulen jeglicher Gattung kommt das landesgeschichtliche Inter-
esse entg^en und umgekehrt Manche Bestandteile von Landes-
archiven werden reichliche Materialien für unseren Gegenstand ent-
halten. Das materielle Interesse der Regierung sowie der Bevölkerung
eines Landes an seinen Hochschulen, femer die Traditionen, die sich
am betreffenden Orte von hervorragend tüchtigen Lehrern erbalten
haben, mögen zu dem von uns Gemeinten beitragen. Die seit läpf*"""-
erhobene und nur erst in kleinen Spuren verwirklichte Forderunir
graphischer Arbeit auf dem Gebiete der Pädagogik und ilr^
— 180 —
gehört ebeofalls hierher. Wenn zu befürchten ist, dais die allg'emeiDe
Geschichtsforschung ihre bisherige Lahmheit auf dem Felde der Hodi-
schulhistorie nicht so bald überwinden werde, so lä&t sich von der
Lokalgeschichtsforschung schon deswegen eher etwas enrarteo,
weil diese einen Ehrgeiz darein setzt, das scheinbar Untergeordnete und
Belanglose, das andere verschmähen, in seinem wirklichen Werte za 1
würdigen. Scheinbar untergeordnet und belanglos sind eben ancb
manche Dinge der Hochschulpädagogik; beispielsweise scheint sieb
mit den Musikschulen die Wissenschaft schon w^en ihrer anschei-
nenden Geringwertigkeit nicht abgeben zu wollen. Wie viel jedodi
zu erreichen ist, wenn derlei wenig beachteten Idealen Dingten nach-
gegangen wird, zeigen z. B. Arbeiten, die von oder unter Karl
Kehrbach gemacht worden sind: hier wurde beispielsweise ans ge-
richtlichen Zeugenaussagen heraus bemerkt, aus welchen Lehrbüchern
die betreffenden Personen ihre Schulbildung geholt haben, und da-
durch der örtliche Verbreitungsbezirk von Lfehrbüchern festgestellt
Zahlreich sind die Orte, in denen der Wunsch der Bevölkerung
oder eines Fürsten darauf hingearbeitet hat, eine Hochschule zu gründen, j
ohne dafs es jedoch tatsächlich dazu gekommen ist. Das erwähnte
Werk von Denifle enthält Berichte auch über mifslungene Universitäts-
gründungen. Dazu kommen die zahlreichen eingegangenen Universi-
täten und ihre örtlichen Nachwirkungen, die für Bibliotheken und sonst
noch für das Kulturleben des Landes grölser sein dürften, als man
zunächst meinen möchte. Wir brauchen nur an die eingegangenen
Universitäten Erfurt und Hcrbom zu erinnern. Schlieblich haben wir
auch noch mit den jetzt wieder zahlreich werdenden Neugründungeo
von Hochschulen anderer als universitätsmä&iger Gattung zu rechnen,
an denen ja das lokale Interesse lebhaft mitbeteiligt ist; meistens haben
solche Neugründungen eine lange Vorgeschichte, deren man sich erst
wieder erinnert, wann die Dinge aktuell werden.
Weiterhin kommt die Geschichte des Unterrichtes einzelner Wissen-
schaften und Künste in Betracht. Hier sind geradezu auch Methoden
lokal verschieden. Der phUosophische Unterricht ist im Süden Deutsch-
lands durchschnittlich etwas anders als im Norden, natürlich nicht ohne
Beeinflussung durch die Konfessionen. Wir erwähnen nur das Voran-
stehen der systematischen Partien im Unterrichte dort und der histo-
rischen Partien hier. Die örtliche Verbreitung philosophischer Schulen
ist zum Teil bekannt und gibt noch Gelegenheit zu näheren Forschong-en.
Wir brauchen gar nicht auf die preußische Bedeutung Hegels und
auf die österreichische Bedeutung Herbsurts hinzuweisen. Weniger be-
— 131 —
kannt ist die ausgedehnte Wirksamkeit, welche manche andere Philo-
sophen in ihren Ländern ausgeübt haben : so würde es sich beispiels-
weise lohnen, dem Wirken von Branifs (in Schlesien) und dem von
Franz Brentano (in Österreich sowie über Österreich hinaus) nachzugehen.
Um noch den Musikunterricht als Beispiel heranzuziehen, so sei
darauf verwiesen, wie sich der Einflufs Hugo Riemanns und seiner
Unterrichtsweisc bereits jetzt verfolgen läfet, sogar bis zu einem
„Riemann-Konservatorium** in Stettin. Neuerdings ist die Frage wieder
angeregt worden, ob die Unterweisung in der musikalischen Satzlehre
mit der Harmonielehre oder mit dem Kontrapunkt zu beginnen habe;
eine Frage, die zwar vorläufig zugunsten des Vorantrittes der Harmonie-
lehre entschieden ist, aber doch durch kritische Stimmen von konser-
vativerer Seite her neu aufgerührt wird. Hier würde es wertvoll sein,
wenn wir von Ort zu Ort feststellten, wie es damit in den verschiedenen
Schulen ist und war. Bei den Musikschulen kommt noch als nicht ganz
belanglos, ebenso wie natürlich bei allen anderen Schulen, der Schul her r
in Betracht. Im Deutschen Reich , namentlich im Norden , sind die
Musikschulen vorwiegend Sache der pädagogischen Privatindustrie, ab-
gesehen von dem wenigen, was Staat und Stadt dafür tun. In Süd-
deutschland, besonders in der Schweiz und in Österreich, treten grofsen-
teils musikalische Vereine für das Lehrwesen ein. — Während im
Musikunterrichte die Kämpfe der verschiedenen künstlerischen Rich-
tungen bisher weniger zu bemerken waren, spielen sie in den Lehr-
stätten der bildenden Künste eine gröiscre Rolle und geben dem
ewigen Kampfe zwischen Neuem und Altem eine fortwährende Nahrung.
KonflUcte hinsichtlich der akademischen Lehrfireiheit sind hier in ähn-
licher Weise an der Tagesordnung wie an den Universitäten, werden
aber doch in der öflFentlichkcit nicht so beachtet wie dort, weshalb
auch hier die stillere Lokalforschung gut tun wird, mit ihren Interessen
in eine Lücke einzutreten.
Da(s wir zum Abschluß unserer Ausführungen das Verlangen
nach hochschulpädagogischen Archiven und Bibliotheken aussprechen
müssen, versteht sich wohl von selbst. Zunächst wird es g^t sein,
Archive , an welche die Forschung kaum noch gedacht hat, d. h. die-
jenigen, die sich bei jeder Lehranstalt finden, besser zu beachten, auch
wenn man keineswegs die Absicht hat, etwa die Archive verschiedener
Musikschulen eines Landes zusammen mit verwandtem Material in einem
hochschulpädagogischen Landesarchive zu vereinigen. Was Biblio-
theken betrifft, so wird hier besondere Sorgfalt auf die Sammlm««'
irrigerweise meist weniger beachteten, Kleinzeuges der. Saezk
— 132 —
zu verwenden sein. Der Verfasser dieses hat den Keim einer eig-enen
hochschulpädag'ogischen Privatbibliothek wesentlich dahin zu gestalten
gesucht, dafs er vor allem die kleinen Spuren zu sammeln bestrebt
ist, die für die hochschulpädagogische Bewegung charakteristisch sind,
und deren man nach einiger Zeit viel schwerer wird habhaft werden
können, als der gröfseren Bücher. Es ist heute hohe Z^it, dasjeni^
zu sammeln, was später vielleicht gar nicht mehr wieder au&utreiben
sein wird; und es ist schliefslich erst recht wieder nötig, dals wir in
Deutschland an diese Aufgaben energisch herangehen, um uns nicht
vom Auslande überflügeln zu lassen.
>. ^ V'^. S-^^^-^N. wv--
Mitteilungen
irclÜTe. — Von den Mitteilungen der K, Pteu/stschen Arekiwer'
waltung ') liegen zwei neue Hefte, das sechste und siebente, vor, die das
begonnene Werk mit Glück fortsetzen und der Geschichte des ArchiY-
weseus im Zusammenhange mit der Staatsverwaltung ebenso dienen, wie
der Nutzbarmachung des in den i^chiven aufgespeicherten Materials.
Nur wenn auf dem hier begonnenen ' Wege allseitig fortgeschritten vrird,
kann mit der Zeit eine genügende trschliefsung der Quellen zur deutschen
Geschichte erhofll werden. Denn wenn ein Forscher über irgendeinen
Gegenstand Auskunft haben will, dann entsteht ftir ihn die Frage: bei
welchem Archive und in welcher AbteUung könnte wohl etwas liegen?
Antwort darauf kann im Grunde nur derjenige geben, der weifs, wie die
einzelnen Archive erwachsen sind und aus welchen Teilen
sie sich zusammensetzen.
Das sechste Heft, Übersicht über die Bestände des K. Siaaisarehivs zu
Koblenz (Leipzig, S. Hirzel 1903, XII und 227 S. 8^ M. 8,00), hat der
jetzige Archivdirektor in Magdeburg, Eduard Ausfeld, bearbeitet, der
früher jahrelang in Koblenz tätig war. Das dortige Archiv umüafst im
wesentlichen, seit 18 15 ausschliefslich , das Gebiet der jetzigen Regierungs-
bezirke Koblenz und Trier, und das Material — und demgemäfs auch die
Übersicht — zerfällt in drei zeiüiche Abschnitte: Zeit des alten Reiches
(S. I — loi), Zeit der französischen Herrschaft (S. 102 — iio) und 2>it
der preufsischen Herrschaft (S. iii — 115). Daran anschliefsend wird
der Bestand an Handschriften, Kopialbüchem , Karten und Depositen
(S. 116 — 123) verzeichnet, imd den Anhang (S. 124 — 192) bildet ein Ver-
zeichnis der Archivalien über adlige Familien, die S. 69 sununarisch ver-
zeichnet sind. Gerade diese alphabetische Übersicht ist für die Forschung
von unschätzbarem Werte, denn sie stellt zugleich ein Personenregister zum
Archivrepertorium dar, das durch die Einbeziehung des Inhalts der Akten
der Lehnhöfe von Kur-Trier, Kur-Köln, Kur-Pfiftlz, Sponheim, Prüm und
i) Vgl dkie ZciUdirift 3. Bd., S. 173—174.
— 138 —
Luxemburg, sowie der der Reichsritterschaft am Mittel- und Niederrheiö
besonders wertvoll wird. Aufser Nachträgen und Berichtigungen (S. 193 — 196)
schliefst das Ganze mit einem Ortsregister (S. 197 — 227), und dem Suchen-
den sind somit die Wege in genügender Weise geebnet, um sich in den
Aktenverzeichnissen zurechtzufinden. Vor allem für die Ortsgeschichte
liegt jetzt das Material so bequem offen, wie nur möglich ; es ist aber gerade
deswegen nun auch zu fordern, dafs die Interessenten diese Publi-
kation wirklich benutzen und sich vorher an ihrer Hand orien-
tieren, ehe sie der Archivleitung ihre Wünsche vortragen.
Das gröfste geschichtliche Interesse hat natürlich der erste Teil, in dem
nacheinander die Archive I. der Reichs- und Kreisstände (45 staatliche
Gebilde), IL der reichsunmittelbaren Gemeinschaften, III. der Gebiete von
loser, bestrittener oder zweifelhafter Reichsunmittelbarkeit , IV. der Reichs-
ritterschaft, V. des Adels und anderer Geschlechter — die oben bereits
angezogene Abteilung — , VI. der geistlichen Ritterorden, VII. der Stifter
und Klöster und VIII. des Reichskammergerichts beschrieben werden. Die
2^it, aus der die Archivalien stammen, ist natürlich stets durch Angabe der
Jahreszahlen gekennzeichnet, und bei den Urkunden sind die Originale und
Abschriften deutlich unterschieden. Einige Gegenstände, die allgemeineres
Interesse haben dürften, seien hier kurz herausgehoben. S. 14 werden die
Auswärtigen Beziehungen Kur-Txiers zu Rom, zu Kaiser und Reich
und zu 3 1 deutschen und aufserdeutschen Staaten verzeichnet und anschliefsend
Reichs- und Kreistagssachen i47ifr— 1801 in 187 Heften und Bänden;
S. 15 Nr. 10 unter Jusiixwesen finden sich 174 Hexenprozesse
1586 — 1642; die Protokolle des Domkapitels liegen in 19 Bänden seit
1472 mit nur kleinen Lücken vor, die Akten der limdstände in 809 Bänden
seit 147 1 (S. 16). Beachtung verdienen auch die langen Serien von Kellerei-
Rechnungen, die fiir einige Ämter vorliegen (Manderscheid seit 1397, Wittlich
seit 15 19, Zell seit 1523, Boppard seit 1540) und sich zu einer forüaufenden
Bearbeitung verwaltungs- und wirtschaftsgeschichtlicher Art empfehlen würden
(S. 17). Unter den Archivalien der Reichsgrafschaft Blankenheim (S. 39)
finden sich Akten über das Verhältnis zu Kaiser und Reich seit 1475,
über Kurkölnische Landtage seit 1509 und niedersächsisch-
westfälische Kreistage seit 1653. ^^ Archiv der Reichsgrafschaft
Wied-Isenburg (S. 46) findet sich eine Rechnung des Hauses Dierdorf von
1344 auf 27 Blatt Papier, die gewifs einer Edition oder gründlichen Be-
arbeitung wert wäre. Das Verzeichnis der Archivalien der geistlichen Ritter-
orden und der Stifter und Klöster (S. 69 ff.) stellt zugleich ein willkommenes
und wahrscheinlich auch ziemlich vollständiges Verzeichnis der betreffenden
Niederlassungen dar mit Angabe des Ordens, dem jede angehörte; es sind
im Erzstift Trier allein 163 Stifter und Klöster, im Erzstift Köln und Mainz
je 37. Von den als Depositen hinterlegten Archiven sei bemerkt, dafs
5 Stadt- und 14 Landgemeinden (bezw. Bürgermeistereien), 2 evangelische
und I katholische Pfarrgemeinde, sowie i Familie von dieser zweckmäfsigen
Sichenmg ihrer z. T. recht umfangreichen Archive Gebrauch gemacht haben.
Im siebenten Hefte behandelt der Generaldirektor der preufsischen
Staatsarchive Reinhold Koser Die Neuordnung des Preufsischen Archiv^
Wesens durch den Staatskanxler Fürsten von Hardenberg (Leipzig, S. Hirzel
— 134 —
r904, XVIII und 72 S. 8^ M. 2,60). Hier werden 15 AktenstOdtt am
der Zeit vom 25. März 18 19 bis 4. JoK 1822 vollständig veröffeiididit,
die einen tiefen Einblick in die Zustände der preufsischen Archive, aber
auch in die Absichten Hardenbergs gestatten, denn nichts Geriogercs als
das, was durch die heutige Organisation endlich erreicht ist, hat er amgestrebt
In der Einleitung wird der Gang der Ereignisse, wie ihn die Aktenstödc
und das sonstige Material erkennen lassen, dargestellt. Wichtig ist dabd,
dafs sich der Staatskanzler auch persönlich mit den kleinen Fragen der
Organisation abgegeben hat, dafs er es gewesen ist, der das ArchivwesQ
direkt dem Staatskanzler unterstellt hat im Gegensatze zu dem ersten Ent-
wurf über die Verfassung der obersten Staatsbehörden. Die Personen, deres
er sich zur Durchführung seiner Absichten bediente, waren Legationsrat Kd
Georg V. Raumer und Regierungsrat Gustav Adolf Tzschoppe, <&
nacheinander die beiden ersten Direktoren der Staatsarchive gewesen sbd
Merkwürdig berührt heute weniger die vorgeschlagene Trennung von histo-
rischen und staatsrechtlichen Archiven als der Plan, ein einziges
wissenschaftliches Zentralarchiv für den ganzen preufsischeir
Staat in Berlin zu errichten. Die Einführung einer Trennung nacb
jenen Gesichtspunkten scheiterte an der praktischen Undurchführbarkeit, aber
ebenso die Errichtung des Zentralarchivs, da den Provinzen gewisse Befände
doch gelassen werden sollten und nun wiederum eine reinliche Scheidacg
notwendig geworden wäre. Interessant ist eine auf Mettemich zurückgehcDde
Mitteilung, dafs Napoleon I. an die Zentralisierung aller Archive Europas ü
Paris gedacht hat! (S. X.) Bereits im Herbst 1822 ist von einer Zentnti-
sierung nicht mehr die Rede, und sie ist schlie(slich nur mit Rücksicht ant
die mittelalterlichen Kaiserurkunden durchgeführt worden. Die Untersuchm:|
der Archive in den Provinzen und ihre Vereinigung in den ProvinzialhaopC
Städten hat dagegen guten Fortgang genommen, wenn auch der ZustaoJ
meist recht schlecht war, und auch zur Verbindung der reponierten Regienrngs-
akten mit den antiquierten Archiven wurde sehr bald fortgeschritten, p
schon 1822 eine feste Richtschnur für die Trennung zwischen Archiv oxüi
Registratur gegeben. Auch wurde das Augenmerk auf die Kommunalaxdmt
und die im Privatbesitze befindlichen Dokumente gerichtet, und man versuchte,
wenigstens Verzeichnisse davon zu erhalten. Abschriften aus ausländischci
Archiven (Kopenhagen) sollten genommen werden; um die nötige Anzahl
tüchtiger Archivare zu gewinnen, schienen die Geschichtsvereine in dec
Provinzen geeignete Helfer zu sein; eme weitherzige Öffnung der Archire
für wissenschaftliche Zwecke sollte Platz greifen. Doch alle diese weit aos*
schauenden modernen Ideen sanken mit Hardenberg ins Grab , und cr^
unter Bismarck sind jene Anforderungen verwirklicht worden, ohne dafs jemand
an Hardenberg gedacht haben dürfte. — Diese kleine Skizze aus de
preufsischen Archivgeschichte ist lehrreich mit Hinbb'ck auf Hardenberg als
Person und auf seine Staatsreform, sie ist aber zugleich ein schöner Beitn^
zur Geschichte des wissenschaftlichen Lebens im XIX. Jahrhundert.
Die Organisation des staatlichen Archivwesens in Württemberg t£
in dieser Zeitschrift 2. Bd., S. 29 — 32, bereits beschrieben worden, ni^
— 186 —
dort ist auch autgefllhit, welche StelluDg im Rahmen des Ganzen das Archiv
des Ministeriums des Innern einnimmt. Neuerdings hat Kanzleirat Marquart
(Ludwigsburg) in einem Aufsatze den Inhalt des zuletzt genannten Archivs
charakterisiert: Zur Geschieht des K. Archivs des Tmtern in Ltkiwigsburg
[«0 Württembergische Vierteljahrshefte (Ur I^ndesgeschtchte, Neue Folge,
13. Jahrgang (1904)9 S. 113 — 139]. Den Grundstock des Archivs bildet
die seit 1806 ,, Hauptaktendepot " genannte obere oder ältere Registratur
der vormaligen altwürttembergischen Regierung, an die sich dann im Laufe
des XIX. Jahrhunderts die verschiedensten anderen Aktenbestände angegliedert
haben. Deren Aufzählung ist in der Darstellung selbst zu suchen, zumal
da wesendiche Tfile im Laufe der Zeit wieder an andere Stellen abgegeben
worden sind. Im ganzen gewinnt man die Empfindung, dafs von etwa
1830 — 1850 im württembergbchen Archivwesen zwar viel geschehen ist,
6a£s man die einzelnen Bestände oft überführt und auch tüchtig durch Aus-
scheidung dezimiert hat, aber es fehlt irgendein gröfserer Organisationsplan,
und die Behörden stehen den Aktenmassen im ganzen ratlos gegenüber.
Wie weit man bei der Aktenkassation vorgegangen ist, beweist die Tatsache,
dais ein Beamter im Jahre 1869 von sich sagen konnte, er habe dadurch
einen Reinerlös von 11 18 Gulden erzielt! Als archivgeschichtliche Dar-
stellung ist der vorliegende Aufsatz willkommen, aber er hätte leicht noch
mehr bieten können, nämlich eine Übersicht über den heutigen Bestand,
em Übersichtsinrentar. Obwohl eine grofse Menge von Aktengruppen auf-
gezählt wird, erhält der Leser doch kein Gesamtbild von dem, was heute
im Archiv ruht, und noch weniger von dem angewandten Ordnungsprinzip,
welches notwendigerweise bekannt sein mufs, wenn nach bestimmten Akten
gesucht werden soll. Die Archivgeschichte gerade ist es, die anscheinende
ZuftÜligkeiten der Organisation erklärt, und nicht zuletzt wegen dieses prak-
tischen Nutzens verdient sie eine liebevolle Pflege.
Von den Inveniaren des Oroßherxoglich Badischen Oeneral-Landes*
airckivs ') liegt der erste Halbband eines zweiten Bandes (Karbruhe , MüUersche
Hofbuchhandlung 1904, 194 S. 8®) vor. Den Inhalt bUden die „Personalien'*
der Abteilungen Alt-Baden, Hachberg und Baden-Baden, d. h. die jenen
Linien angehörigen Personen, soweit über sie Archivalien vorliegen, sind
verzeichnet, und bei jeder Person finden sich die sie betreffenden Archivalien
aufgezählt Bei Christoph I. (f 1527) von Altbaden sind es z. B. 160
Nummern, die in 14 AbteUungen (Familiensachen, Vermählung, Verlassen-
schaft, Ausstände, Schulden und Zahlungen, Erwerbungen, PCuidschaft, Kirchen-
dienste, Kirchensachen, Kaiserliche Privilegien, Reichssachen, Lehen, Be-
ziehungen zum Anhand, Korrespondenz) gegliedert sind. Bei der Mehrzahl
der Personen ist das Material natürlich nicht so lunCuigreich , aber bei
Wilhelm von Baden-Baden (f 1677) steigt das Verzeichnis auf 201 Nummer
und füllt 16 Druckseiten. Das bedeutet die Bewältigung ganz gewaltiger
Massen von Archivalien, über deren Inhalt noch dazu wesentlich ausführlicher,
als es im ersten Bande der Fall war, berichtet wird, so dais im Grunde
1) Vgl diese ZcitMhrift 3. Bd., S. 23—33.
— 186 —
schon diese archivalischen Notizen em Bild von dem Lebensgange jedo-
Person geben. Sehr zweckmäfsig sind die Hinweise auf die Regesten der
Markgrafen s?on Baden und Hachberg von Fester-Witte. Die Verdienst-
lichkeit einer solchen Publikation und ihr Wert flir die badische, aber
auch flir die allgemeine Geschichtsforschung braucht nicht erst hervor-
gehoben zu werden; wenn mit dem zweiten Haibbande auch das Register
vorliegen wird, dann wird die Bedeutung noch viel schärfer hervortreten.
Als Beispiele dafür, welche Angaben man hier finden kann, seien lediglich
einige Einzelheiten, die allgemeines Interesse haben dürften, herausgehoben.
Abgesehen von zahlreichen Gemahlinnen der Markgrafen, deren Angelegen-
heiten nach auswärts führen — hierher gehört z. B. 4ie Gemaljlin des
Markgrafen Albrecht Achilles von Brandenburg, Margarete (f 1457)8. 24 — ,
finden sich Glieder des Fürstenhauses erwähnt, die selbst in die Feme
gezogen sind, so der Erzbischof Johann von Trier (f 1503) S. 23, Bischof
Georg von Metz (f 1484) und Bischof Markus von Lüttich (f 1478) S. 24,
Erzbischof Jakob von Trier (+ 15 10) S. 38, Dompropst Rudolf von Köln
(+ 1533) S. 39. Unter den Papieren des Markgrafen VVilhelm von Baden-Baden
(t 1677) finden sich S. 88 unter anderem Korrespondezen , die sich mit
dem Anspruch Bayerns und der Kurpfalz auf das Reichsvikariat und
die Ernennung eines Koadjutors im Erzstift Köln (1676) beziehen.
Wer würde wohl nach Material über diese Gegenstände von vornherein in
Karlsruhe suchen? Die Korrespondenzen der fürstlichen Personen spielen
überhaupt im XVII. und XVIÜ, Jahrhundert eine grofse Rolle, und der
wesentliche Inhalt, der sich natürlich auch auf vieles Nichtbadische bezieht,
ist immer angegeben; so wird im Briefwechsel zwischen Markgraf Ludwig
Wilhelm und dem König Friedrich I. von Preufsen (S. 163) die Annahme
des Königfstitels seitens des letzteren und der Widerstand dagegen besprochen.
Für die Türkenkriege — Leopold Wilhelm hat bei St. Gotthard mitgekämpft
(S. 119) ' — und die Reichsknege gegen Frankreich fällt ganz aufserordentlich
viel ab. Wer sich mit Spezialfragen aus diesen Gebieten beschäftigt, der
hat hier einen vorzüglichen Wegweiser, um neues Material aufisufinden, und
in dieser Hinsicht seien besonders die Forscher aufs er halb Badens darauf
aufmerksam gemacht, dafs sie dieses Inventar zu Rate ziehen. Es wird kaum
eine politische Frage des XVII. und XVIIL Jahrhunderts geben, über die
nicht diese Karlsruher Fürstenkorrespondenzen möglicherweise etwas ent-
halten. — Aufgefallen ist mir ein einziger Druckfehler S. 163, wo 22, März
1860 statt 1680 steht. A. T.
Kommissioneil. — Die Historische Landeskommission für
Steiermark hielt am 11. Mai 1904 unter dem Vorsitze des Landeshaupt-
manns Graf A 1 1 e m s ihre Vollsitzung ab. Im Geschäfbjahr 1 903 sind von
den Veröffentlichungen der historischen Ixindeskommission für Steiermark
erschienen Albert Starzer: Die landesfürsUichen Lehen in Steiermark
1421 — 1546, Alois Lang: Beiträge zur Kirchengeschichte der Steiennark
und ihrer Nachbarländer aus römischen Archiven, Anton v. Pantz: Ä»-
träge zur OeschidUe der Innerberger Hauptgewerkschaft, In Bearbeitung
sind die Regesten zur Geschichte der Familien Teufifenbach, Pranckh, Herber-
stein, Eggenberg und Liechtenstein zu Murau. Aufserdem bearbeitet Prof.
— 137 —
Ritter y. Wretschko (Innsbruck) die Geschichte des Landeshauptmanns-
amtes, Rittmeister a. D. Strobl v. Ravelsberg die Wehrver^eissung und
Grenzverteidigung im i6. Jahrhundert, Freiherr v. Mensi die Finanz-
geschichte der Steiermark und Piof. Loserth Salzburgisch-Seckauische
Korrespondenzen zur Reformationsgeschichte. Die Kommission hat femer
Schritte eingeleitet, um die vom verstorbenen Oberbergrat Kupelwieser
hinterlassene Geschichte des steirischen Bergwesens seit Maria Theresia in
ihre PuUikationen aufiiehmen zu können, v. Pantz beabsichtigt, die
Geschichte der Innerberger Hauptgewerkschaft, der Konzipist des Staats-
archivs L. Bittner die Geschichte des Vordemberger Eisenwesens zu be-
arbeitan. Prof. Anton Weifs hat die ältere Geschichte der Oiözese Seckau
in Angriff genommen. Die Ausdehnung der Tätigkeit der Landeskommission
erfordert weit gr^sere Mittel, als ihr bisher durch die 'Landessubvention und
die Beiträge des steirischen Hochadels zur Verfügung gestellt wurden; die
Kommission wird daher Unterstützungen vom Ministerium für Kultus und
Unterricht, sowie von jenen Korporationen zu erwirken suchen, deren Ge-
schichte durch die Forschungen der Kommission gefördert und bekannt
gemacht wird.
Am 31. Oktober 1904 tagte in Wien die Kommission für neuere
Geschichte Österreichs ') unter dem Vorsitze S. Durchl. des Prinzen
Franz Liechtenstein. Anwesend waren die Mitglieder Dopsch, Foumieri
GoU (Prag), Hirn, Jireöek, v. Ottenthai (Geschäftsleiter), Pribram, Redlich,
Schütter, Weber (Prag), Gustav Winter, v. Zwiedineck-Südenhorst (Graz).
Der Stand der Arbeiten ist folgender: Regierungsrat Thomas Fellner hatte
die Ausarbeitung einer Geschichte der Organisation der öster-
reichischen Zentralverwaltung übernommen, und das A^inisterium
für Kultus imd Unterricht hatte einer solchen Ausdehnung der Kommissions-
publikationen auf innere österreichische Geschichte der neueren Zeit seine
Zustimmung erteilt ; Fellner wurde leider nach Vollendung des gröfsten Teiles
des Werkes durch einen plötzlichen Tod hinweggerafft, die Fertigstellung
wurde nun Dr. Heinrich Kretschmayr übertragen, der im Jahre 1905
mit dem Drucke hofft beginnen zu können. — Für die Ausgabe der öster-
reichisch-englischen Staatsverträge hat Prof. Alfred F. P r i b r a m die all-
gemeine Einleitung und die Spezialeinleitungen der einzelnen Verträge bis
172 1 vollendet und stellt die Vorlage des Manuskripts des ersten Bandes
fUr die nächste Vollversammlung der Kommission in Aussicht. Staatsarchivar
Schütter beendete die allgemeine Einleitung der österreichisch-französischen
Staatsverträge. Heinrich R. v. Srbik ist mit der Durcharbeitung der Ho-
landioa des Haus-, Hof- und Staatsarchives fUr die Ausgabe der öster-
reichisch-niederländischen Verträge beschäftigt. Vorarbeiten für die Heraus-
gabe der Verträge Österreichs mit Bayern, Pfalz, Württemberg und Baden
wird Roderich Goofs in Angriff* nehmen. Die Ausarbeitung des zweiten
Teiles des Chronologischen Verzeichnisses der österreichischen Staatsverträge,
der die Zeit von 1763 bis zur Gegenwart umfassen wird, hat Ludwig Bittner
i) Vgl. diese Zuschrift 2. Bd., S. 143—144 sowie 5. Bd., 8. 139 ff.
11
— 13« —
weiter gefiMeit. — Voo der Korrofomdemz Ftrdimamds L wird
dte r imiiif ofcOTTCi'pofKiepz mc &an v^ Margarcw, otatnuBKiio der rneder*
laode, imd Maria, Kdoigm ron Uctgani, n» 1522 — 1531 beransgcgcbm
werden; Wübelm Bauer, der ÜA cfiescr Aidgabe voi widmet, wird in der
SoBDflolttDg des Materials durch Dr. Kad Goll iBUnilfilfl — An Pdbli-
katiooeo der Kotiioiiwioii worden folgende nco in AfigBctitgfuoiiimcn: auf Antrag
Prof. Redfichs wurde beschlossen, <fie fin- die Arbeiten der Kommissioo er-
statteten Berichte über österrcicfaisdie Piiiataichiie mit ZjwliBimung der Be-
sitzer der betrefienden Archire in geeigneter Answahl und Bearbeitnng jds
Beridäe Über Queüenmaienal zur neueren Oexkiekie (hterreidu mit Sooder-
titdn in zwangloser Folge zn Terögentiicben. Ebenso wurde die Anfialme
des im Anftrage Sr. Dordilancbt des Prinzen Liechtenstein nm Dr. Hans
Übersberger bearbeiteten Werkes Osierreidi und Rufdand (DarsteUnog
der pi^itischen Beziehungen beider Staatei^, dessen erster Band im Manu-
skripte schon Torhegt, unter die Kommissionspqhhkationen genehmigt.
Die Württembergische Kommission für Landesgeschichte ^)
hat am 5. Mai 1904 ihre dreizehnte Sitzung abgehalten. Im Druck
erschienen ist der zweite Band der Oeschiehtsqtteüen der Sladt Hau, der
Yon Chr. Kolb bearbeitet Widmanns Chronica enthält, femer Wintterlin:
Geschichte der Behördencrganisaiion Württembergs i. Bd. (bis zum Regie-
rungsantritt König Wilhelms L 181 6), Schuster, Der geschichtliche Kern
von Hauffs Lichtensiein [=a Darstellungen aus der württembergischen Ge-
schichte, Band I] und Binder: Würtletnbergische Münz- und MedaHlenkunde,
neu bearbeitet von Julius Ebner, Heft i. Das Heilbronner Urkundenbuch,
bearbeitet von Knüpf er, und der zweite Band des Efslinger von Diehl
gehen ihrer Vollendung im Druck entgegen. Die begonnenen Arbeiten sind
sämtlich weiter gefördert worden. Hinsichtlich der Archivalienverzeichnung
im I^nde ist eme Beschleunigung dadurch zu erwarten, dafs das K. Mini-
sterium des Kirchen- und Schulwesens eine Anstellung ständiger Pfleger
angeordnet hat. Neu wurde die Herausgabe der Landtagsakten be-
schlossen, die Dr. Adam und Privatdozent Ohr übernehmen, femer die
Bearbeitung eines wissenschaftlichen Bilderatlas zur württembergischen
Geschichte, die Herausgabe von Akten zur Geschichte der Verfassung und
Verwaltung der Stadt Ravensburg und von Akten zur Geschichte der
Kirchenpolitik der württembergischen Landesherren vor der Reformation.
Durch Tod ist das ordentliche Mitglied Archivrat v. Alberti aus-
geschieden, aus Gesundheitsrücksichten hat Dr. v. Paulus sein Amt nieder-
gelegt Neu sind zu ordentlichen Mitgliedern emannt worden: Archivrat
Kr auf 8 und Prof. Ernst, zu aufserordentlichen Mitgliedern: Freiherr Friedrich
von Gaisberg-Schöckingen, Landeskonservator Prof Grad mann und
Prof Kolb (Hall). Geschäftsftihrendes Mitglied ist Archivrat Schneider.
Das Rechnungsjahr 1903 hat mit 5145 M. Überschufs abgeschlossen, da
der Ausgabe von 16543 M. eine Eiimahme von 21688 M. gegenüberstand.
i) Vgl. diese ZeiUchrift 5. Bd., S. 87.
— 189 —
Die Historische Kommission für Nassaxi ^) hat über die Ergeb-
nisse ihrer Hauptversammlungen im Juni 1 903 und Juni 1 904 einen gemein-
samen Bericht veröffentlicht, dem folgendes zu entnehmen ist. Neue Publi-
kationen sind nicht erschienen, aber die begonnenen Arbeiten (Nassauisches
Urkundenbuch, Nassauische Weistümer, Epsteiner Lehnbuch,
Nassauische Bibliographie] sind sämtlich in einer den Verhältnissen
entsprechenden Weise gefördert worden, wenn auch eine Vollendung aufser
beim Epsteiner I^hnbuch vorläufig noch bei keiner abzusehen ist Neu wurde
beschlossen die Matrikel der Hohen Schule zu Herborn heraus-
zugeben, die Bibliothekar Zedier bearbeiten wird; eine Geschichte der
Abtei Marienstatt hat Archivar v. Domarus in Aussicht gestellt.
Die neuen Satzungen sind in Kraft getreten, auf Grund deren 1904
zum ersten Male Mitglieder ernannt worden sind, und zwar Dr. Beck
(Biebrich), Domkapitular Höhler (Limburg), Archivar Jung (Frankfurt),
Archivassistent Knetsch (Wiesbaden), Prof. Luthmer (Frankfurt), Pfarrer
Moser (Idstein), Amtsrichter Sayn (Soden) und Landrat Wagner
(Rüdesheim). Stifter zählt die Kommission jetzt 4, Gönner 9, Freunde 30,
Mitglieder 76. Das Vermögen bezifferte sich im Juni 2904 auf 13978 M.
Die 23. Plenarsitzung der Badischen Historischen Kommission^)
hat am 38. und 29. Oktober 1904 in Karbruhe stattgefunden. Von den
Regesten der Markgrafen von Baden und Hackberg ist der Schlufs des
3. Bandes ausgegeben worden, und das von Frankhauser bearbeitete
Register befindet sich im Druck. Vom Topographiaehen Wörterbuch des
Qroftkerxogtums Baden in zweiter Auflage steht nun nur noch der zweite
Halbband des zweiten Bandes aus. Vom Oberbadischen Oeschlechterbuch ist
die 6. Lieferung erschienen, die 7. befindet sich im Druck. Die Badischen
Biographien sind bis zum 5. Bande fortgeschritten, und 6 Lieferungen davon
liegen vor, 5 stehen noch aus. Die Register zu dem 2. Bande der Regesten
der Bisehöfe von Konstanz sind im Druck nahezu vollendet; die FortfÜhnmg
der Arbeit liegt in den Händen von Karl Rieder, der auch die Ausgabe
Römischer Quellen xur Konstanxer Bistumsgesehichte vorbereitet und zu diesem
Zwecke einen längeren Aufenthalt in Rom genommen hat. Von den Ober-
rheinischen Stadtrechten ist das Villinger im Druck, das Überlinger in Vor-
bereitung. Die Denkwürdigkeiten des Markgrafen Wilhelm von Baden gebeü
V. Weech und Obser gemeinsam heraus, und der Druck des ersten Bandes
soll 1905 beginnen. Julius Kahn (Frankfurt) erhielt den Auftrag, eine
Münx- und Geldgeschichte der im Qroßherxogtum Baden vereinigten Terri-
torien zu bearbeiten. Als Neujahrst^tt für 1905 ist Fabricius: Die
BesitznaJime Badens durch die Römer erschienen. Die Verzeichnung des
Inhalts der Gemeinde- und Pfarrarchive ist in vier Bezirken vollendet imd
nähert sich im fünften dem Abschlufs. Die Verzeichnung der grundherr-
lichen Archive ist in gutem Fortgang begriffen. Zum ordentlichen Mit-
glied wurde Prof. Eberhard Gothein (Heidelberg) ernannt, zu korre-
1) Vgl. diese Zeitschrift 4. Bd., S. 110 — iii.
2) Vgl. diese Zeitschrift 5. Bd., S. 88.
11*
— 140 —
spondierenden Mh^edem wnrden gewählt Prof. Max Weber (Heidelbergs^
der sein Mandat als ordentliches Mitglied niedergelegt hat, sowie Prof.
Heinrich Funck (Geinsbach).
Maseen. — Am 4. Dezember 1904 ist in Essen ein städtisches
Mus eum eröffiiet worden. Im Anschhifs an die Ausstellungen des Kruppschen
Bildungsrereins, von denen die ortsgeschichtliche Ausstellung auch in dieser
Zeitschrift^) bereits besprochen worden ist, hat sich 1901 ein Essener M u -
seumsverein gebildet, der seinem Ursprünge gemäGs in erster Linie der
Volksbildung dienen will tmd dazu neben der Erweiterung seiner ständigen
Sammlungen die Veranstaltung vorübergehender Ausstellungen plant Die
Sanmüungen zerfallen in drei Abteilungen (Kunst, Ortsgeschichte und Nator-
wissenschaft), deren jede von einem Ausschufs verwaltet wird; auiserdem be-
sitzt der Verein durch Schenkungen eine kleine ethnographische Sanmohmg.
Die Stadt Essen hat dem Verein, dessen Vorsitz Oberbürgermeister Zweigert
übernommen hat, einen Betrag von 25000 Mark überwiesen, der ihr ans
den Überschüssen der Düsseldorfer Ausstellung von 1902 zu Museumszwecken
bewilligt ist, und hat ihm das Obergeschofs des für diesen Zweck würdig
und zweckmäfsig umgebauten früheren Postgebäudes eingeräumt; auch ver-
waltet der Vereinsvorstand die der Stadt durch Vermächtnis zugefiülene
Q^pellsche Gemäldesammlung. Der Verein hat 332 Mi^;lieder, die min-
destens 2 Mark (im ganzen 1225 Mark) Jahresbeitrag zahlen; dazu konmien
ein jährlicher Zuschufs der Stadt von looo Mark (eine namhafte Erhöhung
ist in Aussicht genommen) und die einmaligen Zahlungen der lebensläng-
lichen Mitglieder (bisher 6500 Mark). Die Ausstellungsräume tnn&ssen
im ganzen etwa 400 qm, wovon 100 auf die naturwissenschaftliche und
je 150 auf die ortsgeschichtliche und Kunstabteilung entfallen. — Die
ortsgeschichtliche Sammlung umfafst: i) Erinnenmgen an das Stift
Essen (Bildnisse, Urkunden, Münznachbildungen) und Darstellungen zur
Bau- imd Kunstgeschichte der Essener Münsterkirche; 2) eine Essener Bauern-
stube, Abbildungen des Äufseren und Inneren von Essener Bauernhäusern
und das Modell eines solchen; 3) städtische Altertümer; Urkunden und
Drucke zur Geschichte der Stadt, der evangelischen Gemeinde und des Gym-
nasiums; Stadtpläne und Stadtansichten; photographische Aufnahmen älterer
Häuser und Strafsen ; Bildnisse von hervorragenden Essenern ; 4) Darstellungen
zur Geschichte der Essener Industrie.
In Düren ist durch eine reiche Stiftung der Erben des Geheimen
Kommerzienrats Leopold Ho e seh die Errichtung eines Leopold-Hoesch-
Museums ermöglicht worden. Das eigens zu diesem Zwecke errichtete
Gebäude ist nahezu vollendet, so dafs es voraussichtlich Ende Juni dieses
Jahres eröffiiet wird. Der stolze, in weifs-gelbem Sandstein gehaltene Bau
zeigt Barockstil mit Verwendung von Rokokomotiven, besonders der Kar-
tusche, in den ZiergUedem. An ein mächtiges Treppenhaus schliefst sich
ein gröfserer Ost- und Westflügel mit apsidialem Abschlufs und ein kleinerer,
0 Vgl 4. Bd., S. a82.
— 141 —
rechteckiger Südflügel an. Au&erdem spriogen nach Süden neben den Apsiden
zwei kleinere Anbauten Tor, die Anfönge etvraiger späterer Erweiterungen.
Das monumentale, von einer Lichtkuppel mit aufgesetzter Laterne überdeckte
Treppenhaus nimmt fielst ein Drittel der Hauptachse des Gebäudes ein, welche
einschliefslich der Mauerstäike 48,90 m mifst. Nach der Vorderseite läuft
es in ein wuchtiges Pnmkportal aus, das von zwei Paaren Dreiviertelsäulen
flankiert ist und ein wenig aus den Flügeb heraustritt. In bewegter Kurve
gleitet das Risalit zu diesen über, wodurch alles Schwerfällige vermieden wird.
Prof. Frentzen m Aachen ist der geniale Schöpfer dieses Baues, der auch
der gröfsten Stadt zur Zierde gereichen würde.
In das Gebäude sollen aufgenommen werden: i) die über 16000 Bände
zählende städtische Bibliothek; für sie ist das reich belichtete Keller- und
Erdgeschois des Ostflügels bestimmt, der auch einen Lesesaal enthält.
2) Das reichhaltige städtische Archiv. 3) Die städtische Altertumssammlung,
meistens römische und fränkische Altertümer aus dem Kreise Düren. Dazu
konomt noch eine in den Anfängen begriffene Sammlung mittelalterlichen und
jüngeren deutschen Steinzeuges. Die an zweiter und dritter Stelle genannten
Abteilungen sollen in den entsprechenden Räumen des Ostflügels unterge-
bracht werden. 4) Eine naturhistorisch-ethnographische Sammlung, käuflich
erworben von dem Afrikareisenden Schillings. 5) Eine Schmetterlings-
sammlung, Geschenk des Herrn Eugen Meyer aus Düren, und eine Käfer-
sammlung, Geschenk des Herrn Benno Schoeller aus Düren . Letzterem ver-
dankt das Museum auch das grofszügige Bild von Jochmus, Begräbnis
am Niederrhein, das mit seinen grofsen Abmessungen zurzeit eine ganze
Wand des Rathaussaales einnimmt. Die letztgenannten Sammlungen sowie
die vielleicht noch im Museum unterzubringende städtische Volksbibliothek
sollen hier nur eine vorläufige Stätte haben. Das Obergeschofis ist in erster
Linie fttr die noch in den ersten Anfängen stehende städtische Gemälde-
sammlung, sowie fUr Ausstellungszwecke bestimmt.
Die Verwaltung des Museiuns wird einer noch zu schaffenden Museums-
kommission unterstellt werden, an deren Spitze der Bürgermeister Klotz
stehen soll. In dieser Kommission soll auch der gleichfalls noch ins Leben
zu rufende Museumsverein durch einen oder mehrere Vertreter Sitz und
Stimme haben. Die städtische Bibliothek und dasArchiv werden wie bisher
von je einem städtischen Bibliothekar und Archivar verwaltet werden.
Kirehliehe Kanstaltertftmer. — Es liegt neuerdings ein Buch <) vor,
das ich schlankweg als eine Meisterleistung bezeichnen möchte, wenn man
den Zweck ins Auge fidst, dem er in erster Linie dienen soll: Studieren-
den und Geistlichen beider Bekenntnisse, Kunstliebhabern
und Architekten die nötige Kenntnis der kirchlichen Kunst-
archäologie Deutschlands zu vermitteln. Dazu war Ottes be-
kanntes Handbuch wenig geeignet, weil allzusehr für Gelehrte bestimmt,
durch die Anordnung des Ganzen für zusammenhängende Lektüre unzu-
i) Heinrich Bcrgncr, Kirchliehe Kunstaliertümer in Deutschland ^ (Verlag
H. Ttachnitz, Leipzig 1904). Vollständig in 5 Lieferungen k 5 Mk., 4 Liefenmgen
liegen vor.
— I« —
f^iBffidh tmd zndcm noch dnrdi die beute ja fibei flüssige MommieoCal
Statistik besdiwert Das Torfiegende Buch dagegen, in einem frischen,
lebendigen Tone geschrieben, bei der hier so schwierigen Besduankmig
in seinen Aosfühningen Ton geradeza bewnndei nsweitei Präzision, gestattet
eine Lektüre ton Anfang bis zu Ende und ist zodem sehr geschickt eingeteilt.
Im ersten Abschnitt wird das Kirchengebäude in historischer Entwickehmg,
mit besonderer Rücksicht attf Htnrgische Einflüsse, im zweiten werden iMc
Ausstattung, die dekorativen Rttnste und die technischen Künste, Kirchen-
schmuck und Kirchengerät, kirchliche Inschriften nach Technik, Sprache,
Form und Inhalt (ein vorzüglich orientierendes Kapitel), im dritten Abschnitt
endlich der Bildeikreis behandelt Die ganze kirchliche Knnstentwickelnng,
mit Einschluis der Renaissance und des Barock, bis um 1800, ist in den
Kreis der Betrachtung gezogen, was besonders vom Standpunkt der Denk-
malpflege aus sehr zu begrüfsen ist. Denn dais ein romanisches oder gotisches
Stück der Erhaltung wert ist, das ist nun allmählich der Allgemeinheit klar ge-
worden, dem XVII. und XVIII. Jahrhundert gegenüber stöist man dagegen oft
noch auf gröfste Verständnislosig^eit Deshalb möchte ich u. a. folgenden Satz
gestrichen wissen: „Fremdartig oder geradezu abstolsend wird freilich der
Eindruck, wenn ein solcher (Barock-) Altar in eine romanische Basilika oder
in einen gotischen Dom oder in eine gedrückte Landkirche eingezwängt wircL**
Der Pfarrer, der dies liest, wird sich sicher bestreben, einen etwa in einer
mittelalterlichen Kirche vorhandenen Barockaltar so schnell wie möglich hin-
auszuwerfen und durch einen meistens erschreckend schönen neu • gotischen
zu ersetzen. Der Vandalisme desirveteur ist nirgends ge^riicher, als
gerade nach dieser Seite hin. Deshalb ist ein solcher Satz sehr zu beklagen
in einem Buch, das auch weitere Kreise zur Denkmalpflege anregen solL Das
sind indes geringe Ausnahmen in dem Werke, das sich vorzüglich zum Selbst-
studium eignet, seinem Preise nach vom Privatmann und der kleinen Bibliothek
wohl beschafit werden kann, und von dem wir vor allem auch wünschen möchten,
dafs sein Studium den jungen Kunsthistorikern an der Univeratät von ihren
I^hrem recht dringend ans Herz gelegt wird, denn in nicht seltenen Fällen
verlassen diese die Hochschule mit zwar sehr schönen Gedanken über
Botticelli und Michelangelo, aber mit sehr mangelhafter Kenntnis der kirch-
lichen Kunstarchäologie. Sie erhalten durch das Buch auch einen Über-
blick über die wichtigsten Denkmäler, wenn auch nicht, wie es hier und da
scheinen könnte, alle wichtigen angeführt sind. Auch in den Literaturangaben
dürfen wir nur das Hauptsächlichste suchen, es konnte da nicht jeder kleine
Aufsatz zitiert werden, wenn der Verfasser auch den Kreis des zu Berück-
sichtigenden sehr weit gezogen hat Darin liegt die notwendige Beschränkung
des Buches, das zwar auch dem Gelehrten hochwillkommen sein und ihm
auf viele Fragen Auskunft geben wird, das aber das Bedürfnis nach einem er-
weiterten Otte weder befriedigen kann noch soll. Dem Verfasser darf ich
vielleicht die Frage vorlegen, ob es nicht bei einer zweiten Auflage die
Brauchbarkeit sehr erhöhen würde, wenn auch die kirchliche Liturgie selbst
darin behandelt würde ; auch auf den Inhalt der einzelnen kirchlichen Bücher,
der Evangelistarien, Evangeliarien, Antiphonarien, Breviarien wäre dann etwas
genauer einzugehen. — Die Illustration ist durchaus vorzüglich, es sind auch
eine ganze Reihe neu^r Abbildungen nach Mefsbildem beigebracht Hier
— 14S —
tind da hätte maa wohl etwas mehr gewünscht, z. B. fehk eine Abbildung
eines Aquamaniles. Doch sind das alles nur unwichtige Ausstellungen,
die den Wert des vorzüglichen Werkes nicht vermindern sollen.
VVingenroth (Karlsruhe).
Eingegangene Bfieher.
Baldamus, Alfred: Georg Webers Lehr- und Handbuch der Weltgeschichte.
21. Aufl. Unter Mitwirkung von Prof. Dr. Richard Friedrich, Prof.
Dr. Ernst Lehmann, Prof. Franz Moldenhauer und Prof. Dr. Ernst
Schwabe vollständig neu bearbeitet von Prof. Dr. Alfred Baldamus.
Erster Band: Altertum. Iw.eipzig, Wilhelm Engelmann, 1902. XIII
und 610 S. Lex.-8^ M. 6,00. Zweiter Band: Mittelalter. Zweiter
Abdruck (viertes bis sechstes Tausend). Ebenda, 1905. XX und
786 S. M. 6,00.
Benzinger, J.: Geschichte Israels bis auf die griechische Zeit [«> Sammlung
Göschen Nr. 231]. Leipzig, G. J. Göschen, 1904. 158 S. i6^
Gebunden M. 0,80.
Bösken, Walther: Aus der Zeit der Gegenreformation in Wesel [= Zeit-
schrift des Bergischen Geschichtsvereins, 37. Bd. (Elberfeld 1904), S.
179—203].
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Liebe, G. : Die Ausbildung der Geistlichen im Herzogtum Ma^eburg bis
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LoserthyJ.: Salzburg und Steiermark im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts,
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Agricola und Martin Brenner und dem Vizedomamte zu Leibnitz
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Luckenbach: Abbildungen zur deutschen Geschichte [= Kunst und
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Otto, Eduard: Das deutsche Handwerk in seiner kulturgeschichtlichen £at-
Wickelung [= Aus Natur und Geisteswelt, 14. Bändchen]. Zweite
durchgesehene Auflage. Mit 27 Abbildungen auf 8 Tafeln. Leipzig,
B. G. Teubner, 1904. VI und 154 S. 8**. Gebunden M. 1,25.
Pfeifer, W. : Lehrbuch fUr den Geschichtsunterricht an höheren Lehran^teo.
L Teil: Lehraufgabe der Quarta (Griechische Geschichte bis zum Tode
Alexanders des Grofsen, Römische Geschichte bis zum Tode des
Augustus). Breslau, Ferdinand Hirt, 1904. 83 S. 8®. Gebunden
M. 1,00. — II. Teil: Lehraufgabe der Unter- und Obertertia (Die
Blütezeit des römischen Reiches unter den grodsen Kaisem. Deutsche
und preufsische Geschichte bis 1740). Ebenda. 159 S. 8". Gebunden
M. 1,65. — III. Teil: Lehraufgabe der Untersekunda (Preufsische
und deutsche Geschichte vom Regierungsantritt Friedrichs des Grolsen
bis zur Gegenwart). Ebenda. 80 S. 8®. Gebunden M. 1,00. —
IV. Teil: Lehraufgabe der Obersekunda (Die Hauptereignisse der
griechischen Geschichte bis zum Tode Alexanders des Grofsen und
der römischen Geschichte bis Augustus). Mit einem Bilderanhange zur
Kunst- und Kulturgeschichte (100 Abbildungen und eine farbige Tafel),
zusammengestellt und erläutert von Dr. P. Brandt. Ebenda. 140 S. 8^.
Gebunden M. 2,50.
W e n c k , Karl : Zur Geschichte des Hessengaus [= Zeitschrift für hessische
Geschichte, Neue Folge Bd. 26 (1903^ S. 227 — 276].
Woltmann, Ludwig: Politische Anthropologie, eine Untersuchung über den
Einflufs der Deszendenztheorie auf die Lehre von der politischen Ent-
wickelung der Völker. Eiseuach und Leipzig, Thüringische Verlags-
anstalt, 1903. 326 S. 8^ M. 6,00.
Wolfram, G.: Zur Metzer Bischofsgeschichte während der Zeit Kaiser
Friedrichs I. [«■ Jahrbuch der Gesellschaft für lothringische Geschichte
und Altertumskunde. 15. Jahrgang (1903), S. 207 — 217].
— - - ■ - ■ - ni I III I ■ ■ ■ ■ I ■ t ■ - ^ !■ I I la n II II I g ■ r I ■ II I I I ^ ^M^ um ■ ^m 'i mm^ 'n i i ' — - t — »^ ■ mj.
Hermosgebor Dr. Armin Tille in Leipcif .
Druck und Verlag von niodrich Andreas Perthes, Aktiengesellschaft, Godia.
Hierra als Beflageo: i) Anfforderong sam Aboonemeot auf die illostrierte Zeitung: „Der
Tag«'. 2) Prospekt der Zigarrenlabiik von Gebr. Blum in Goch.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsscluift
Brdenmg der landesgescliichtlidten Forschnnf
VI. Band März/April 1905 6./;. Heft
Die H^f&usgabe von Quellen zur Agrar^
gesehiehte des Mittelalters')
(Ein Arbeitsprogramm)
Von
Alfons Dopsch (Wien)
An dem grofsen Aufschwung der wirt<;chaftgescliichtlichen Studien
hat die Agrargeschichte des Mittelalters in jüngster Zeit nicht mehr ent-
sprechenden Anteil behalten. Während agrarhistorische Untersuchungen
über die ältere Entwickelung früher im Vordergrund des wissenschaft-
lichen Interesses standen, sind solche jetzt gegenüber der reichen
Literatur auf dem Gebiete der Stadtwirtschaft relativ selten geworden. Die
Lücke wird um so fühlbarer, als ftir die neueren Jahrhunderte bedeutende
Leistungen vorliegen, die keineswegs blofs der besseren Überlieferung
aus diesen Zeiten zu danken sind. Ich habe dabei vornehmlich die
Arbeiten G. Knapp's und seiner Schule vor Augen.
Aber auch innerhalb der Ag^rargeschichtc des Mittelalters selbst
^ringt eine Ungleichheit unserer Kenntnis ins Auge. Wir kennen
ziemlich gut die wirtschaftliche Entwickelung der Karolingerperiode,
es ist nur anderseits die Spätzeit der mittelalterlichen Agrarverhältnisse
von verschiedener Seite her beleuchtet worden. In der Mitte aber,
zwischen diesen beiden mächtigen Evolutionsphasen, hob sich das
XII. Jahrhundert zu Liqhte, das einen Umschwung der Agrarwirtschaft
des platten Landes bedeutete.
Offenbar ist der Stand unseres' Wissens hier von der positiven
Überlieferung beeinfluüst worden. Gerade für die drei vorerwähnten
Zeitabschnitte liegen nicht nur reiche Erkenntnismittel vor, sie sind
auch frühzeitig in guten fditioaen allgemein zugänglich geqiacbt worden.
Zwisohenglieder aber i^ischea diesen Entwickelungsgipf«^ batioa
Nach einem Vortrage, den ^ 'VetC anf den I. deotsclMn HiaUr^ierUge mm SM^
am 3. fiept 1904 gwliaUw Mt. Vfl den «ffinaUeo Brnriokt iÜm die mckk V
Mmt/Unng deuUeher Historihtr (Leipxig 1905)9 S. 19— SS-
IS
— 146 —
die Forschung' weniger beschäftigt. Sie fielen gewissermaisen in den
Schlagschatten jener. Eben in der Zwischenzeit, vom Ausgang der Karo-
linger bis zum XII. Jahrhundert, fliefcen auch die Quellen etwas spärlicher,
ganz unzureichend aber ist der Stand ihrer Veröffentlichung und Kritik.
Und da mm in jüngster Zeit die Forschung diesen Überg-angs-
perioden eine erhöhte Beachtung zuwandte ') , enthüllte sich uns ein
bedeutsam verändertes Bild. Grundlegende Anschauungen von bisher
erscheinen hinfallig, Berichtigungen hier und dort notwendig, es gewinnen
eben diese Zwischenzeiten an Bedeutung ; nicht nur für die Erkenntnis
der Agrargeschichte selbst, auch für die Erfassung der rechtlichen
Grundlagen späterer Grofsbüdungen, als Städtewesen und Landeshoheit.
So erscheint eine sichere Fundierung der Agrarhistorie des Mittel-
alters als dringendes Bedürfnis der modernen Geschichtswissenschaft;
die Frage nach den Erkenntnismitteln wird unmittelbar rege. Quellen
sind ja auch für diese bislang vernachlässigten Zeiten genug vorhanden.
Sieht man von dem Nordosten Deutschlands ab — einem jüng^eren
Kolonisationsgebiete, das dieser älteren Quellen zumeist darbt, — so
liegt für den Westen, aber auch den ganzen Süden des alten Reiches
eine relativ reiche Überlieferung noch vor: verschieden im einzelnen
nach Zeit und Ort, aber groCs genug, um als adäquater Ausdruck der
eigenartigen Entwickelung hier und dort, kritischer Forschung sichere
Erkenntnis zu vermitteln.
Was uns fehlt, ist eine umfassende und kritische Herausgabe dieser
Quellen, die nach bestimmten Gesichtspunkten eingerichtet, möglichst
vielen Anforderungen der modernen Geschichtswissenschaft zu ent-
sprechen vermöchte. Ohne diese wird auch in der Folge alle Einzel-
arbeit nur Stückwerk bleiben imd ephemer in ihrem Werte. Ich sagte
es schon: Traurig und trostlos ist er mit der Edition und Kritik der
agrargeschichtlichen Quellen des Mittelalters von den Karolingern her-
wärts, heute noch bestellt. Kaum dafs noch eine sichere Übersicht
über deren grofse Masse gewonnen werden konnte! Der Ruf, den
Inama-Stemegg vor heute nahezu einem Menschenalter 1876 erschallen
liefis '), nach einer Sammlung und Sichtung derselben, hat bisher nur
i) Man Tgl. insbesondere die Arbeiten G. Caros zur Agrargeschichte der nordöaü.
Schweiz in Konrads Jahrb. f. Naüonalökon. a. Statistik 76. u. 79. Bd., sowie im Jahrb.
f. Schweiz. Gesch. 26. a. 27. Bd. (190a); femer S. Rietschels über die Entstehung der
freien Erbteihen in Zeitschr. d. SaTignjstiftang 22,187 ff. (1901) und G. Seeligers,Z>»»
soziale u, politische Bedeutung der Grundherrschafl im früheren Mittelalter (AbhandL d.
pbü.-hist a. d. Kgl.-Sächs. Ges. d. Wiss. XXU) 1903.
2) Über die Quellen der deutsehen Wirtsehaftsgesehiehte. Sitz.-Ber. d. Wiener
Akad. 84,135 ff.
— 147 —
ein schwaches Echo gefunden. Vieles ist noch in den Archiven und
Bibliotheken begraben, ganz unbekannt; das meiste von dem bereits
veröffentlichten Material liegt in älteren Drucken vor, die unkritisch
gehalten, oft nur einen Abklatsch der betreffenden Handschriften dar*
stellen. Ganz wenig blois hat in jüngerer Zeit einen sachkundigen
Editor gefunden. Aber auch das war meist von Zufällen abhängig,
dem persönlichen Interesse des Einzelnen, oft seiner lokalgeschichtlichen
Liebhaberei. Nicht nach dem objektiven Werte der Quellen etwa
ist man dabei mit zielbewu&ter Auswahl vorgegangen. So kann uns
nicht wunder nehmen, dafis selbst hervorragende Fachmänner an der
Bewältigung der Aufgabe an sich verzweifelten. So hat Eberh. Gothein
1886 ^) angesichts der übergrofsen Menge von Quellen die prinzipielle
Frage aufgeworfen, ob es überhaupt notwendig sei, diese imüberseh-
bare Masse zu bewältigen, ob es nicht genüge, entsprechende Typen
auszuwählen, da sich gleiche Erscheinungen überall und stets wieder-
holten. Und das geschah zu wiederholten Malen, ja häufig. Da dem
Einzelnen die Durcharbeitung einer so grofsen Quellenmasse bei dem
Stande ihrer Veröffentlichung schier unmögUch schien, stützte man
die Darstellung auf bestimmte, etwa für einen Dinghof vorliegende
Sonderquellen.
Der Standpunkt Gotheins mag heute noch teilweise Berechtigung
haben. Aber gerade die Verschiedenheiten hier und dort sind dem
Wirtschaftshistoriker lehrreich, da sie die Frage nach dem „Warum"
unmittelbar anregen. Und eine zusammenfassende Darstellung der
Agrarwirtschaft des Mittelalters könnte ihrer unmöglich entraten.
Zudem aber muis jede solche Typenwahl stets einen subjektiven
Minderwert an sich tragen, solange mindestens als nicht eine sichere
Übersicht über den Gesamtbestand des überhaupt Vorhandenen er-
reicht ist
Die grofse Angabe ist nicht von einem Einzelnen zu lösen, und
zwar nidit blols wegen der unendlichen Summe von Arbeit die da
zu bewältigen ist; insbesondere auch deshalb, weil die Eigenart dieser
Quellen eine besondere Vertrautheit des Editors zu deren Entstehungs-
kreis voraussetzt. Alle Agrarwirtschaft ist bedingt durch den Boden, auf
dem sie sich abspielt. Die topographische Erläuterung, aber auch die
Erfassung der wirtschaftlichen Besonderheiten einer bestimmten Quellen-
gruppe werden dem am besten gelingen, der über gute persönliche
Lokalkenntnisse verftigft und auch die betreffende Territorialgeschichte
i) Die BofiferfBusung auf dem SekwarxücM. Ztchr. f. Geteh. d. Ob.-Rbetni,
NF. 1, 257.
IQ-
— 148 —
aus ihrem GesamtqaeUenbestande beherrscht Die Bodeostaodlgkeit
wird den Editor vor allen qualifizieren.
So schien es mir am Platze, die folgenden Voischlage einer
Versammlung deutscher Historiker zu unterbreiten, auf dais ein gemeiii-
sames Vorgehen beschlossen und einheitliche Grundsätze — soweit
dies überhaupt möglich ist — beraten werden mögen.
Halten wir zunächst einen kurzen Überblick über die verschiedeneo
Quellengruppen der Agrargeschichte des Mittelalters, so dürfte
der gegenwärtige Stand ihrer Veröffentlichung zugleich für das bis-
her Gesagte die praktische Erklärung und Illustration bieten.
Am besten ist es noch mit der Herausgabe der spätmittelalterlichea
Quellen bestellt. Denn da die jüngeren Hofrechte vielfach in
Form von Weistümem *) überliefert sind , ist das Interesse , welches
man frühzeitig diesen letzteren entgegengebracht hat, auch jenen
wirtschaftlichen Ordnungen zu statten gekommen. Seitdem J. Grimm
eine Sammlung von Weistümem angeregt und begonnen hatte, sind
in der Folge eine Anzahl von ähnlichen Unternehmungen in den ver*
schiedenen Territorien ins Leben getreten. Sie haben — imter anderen
bei Inama-Stemegg verzeichnet ^) — ein überraschendes Ergebnis zur
Folge gehabt, indem selbst die kühnsten Erwartungen der ersten
Sammler durch eine überreiche Ausbeute übertroffen wurden. Tausende
von Einzel -Weistümem li^en bereits gedruckt vor, oder sind dem*
nächst in I>ruck zu erwarten. Hier ist also die Hauptarbeit bereits
geleistet tind nur Ergänzungen noch weiter nötig. Denn wie sehr
auch da die Sondemng der Arbeit am Platze ist, lehrt am besten die
Tatsache, daÜB z. B. in der Schweiz eine systematische Verzeichnung'
der Öffnungen nach Kantonen, welche auf Anregung des Schweizer-
Juristen- Vereines durchgeführt wird, eine groise Menge neu zu Tage
gefördert hat, die sich in Grimms Sammlung nicht findet *). Am
systematischsten hat vielleicht die Wiener Akademie iur die Veröffent-
lichung in Österreich vorgesorgt, indem unter der Leitung einer ein-
heitlichen Zentralkommission die Weistümer jedes Kronliindes durch
artskundige Fachleute herausgegeben werden. Grewöhnlich atbeiten
Juristen oder juristisch entsprechend gebildete Historiker mit Philologeii
i) D«ft diote W«iitttmtr aiMh toMt eiaeo rticben agrMgetciiifliUialMn Inhalt habe«,
hat achon Inama a. a. O. 165 henrorgehoben (betondtn «ach ftir FontvirUchaft).
2) SiU.-Ber. d. Wiener Akad. 84, 151 n. i.
3) Vgl. t, B. f&r die Züricher Öffnnngen P. Schweizer, Anseiger fUr Schweizer
Gta«b. 1690. JkUieh auch am EMn: y^^ Loarsc^, dm Wtkmmer der Ekem-
pnmnx^ i. Bd. (1900).
— 149 —
da zusammen. Eine Nachlese zu den beieits veröffentlichten Bänden
ist demnächst zu gewärtigen.
Für die Weistümer wird somit unser Wunschzettel ein relativ
gerii^er sein. Nur darauf sei noch besonders hingewiesen , dafs kein
Band herausgegeben werden sollte ohne erschöpfende Register und
Glossare, auf deren Ausarbeitung hier besondere Sorgfalt und Sach-
kenntnis verwendet werden mufs. Nur so wird an eine nutzbringende
Verwertung dieses umfänglichen Apparates geschritten werden können.
Auch ein kurzer sachlicher Kommentar über die Geschichte der einzelnen
Herrschaften ist wünschenswert; er wird bei der Fülle des Materiales
am besten jeder einzelnen Gruppe vorauszustellen sein. Dafür bietet
Gustav Winters Ausgabe der niederösterreichischen Weistümer eine
wahre Müsterleistung.
Haben also die Weistümer seit langem sich der Aufmerksamkeit
wissenschaftlicher Forscbimg erfreut, zumal Historiker, Rechtsgelehrte
und Philologen sich gleichmääig dafür interessierten, so ist Ähnliches
von den Quellen zur älteren Agrai^eschichte mit nichten zu kon-
statieren. Gerade eine der wichtigsten Gruppen unter ihnen ist erst
in jüngster Zeit überhaupt zur Erkenntnis der Agrarhistorie ernstlich
herangezogen worden, die Traditionsbücher. Wohl haben sie
früher schon gelegentlich dazu gedient, um die äulsere Entwickelung
der Grundherrschaften zu verfolgen, deren raumliche Erstreckung und
Umfang festzustellen. Man hat sie insbesondere auch für die Besiede-
lungsgeschichte verwertet, als älteste Zeugnisse für das Auftreten der
einzelnen örtlichkeiten und ihrer Bewohner. Erst in jüngster Zeit ist
man auch auf ihre Bedeutung für die Sozialgeschichte aufmerksam
geworden und bat sie mit groüsem Erfolge ausgebeutet, wie z. B. die
Arbeiten Caros an den St Galler Traditionen dartun *).
Sie geben aber auch über die innere Struktur und wirtschaftliche
Organisation der betreffenden Grundherrschaften nicht selten wichtige
Nachrichten, indem bei einzelnen Traditionen sich gelegentlich kurze
Hinweise über den Inhalt und wirtschaftlichen Charakter des tradierten
Gutes finden. Der grofse Wert dieser QucUengruppe für die Agrar-
geschichte ruht darin, daüs sie 2^ugnisse bietet für eine Zeit, aus
welcher sonst Belege nur i^xLrlich vorhanden sind. Eben in der
Periode ihres Auftretens, den» IX.— Xli. Jahrhundert, sind mindestens
im deutschen Südosten selbst die Urkunden selten, vertreten eben cKe
Traditionsbücher vielfach deren Stelle.
1) SMim M* am äiUnn SL eaUer Urkunden. Jahrbuch f. Schweiz. GeKh.
j6 n. 27.
— 160 —
Der gegenwärtige Stand ihrer VeröfTentUchnng muls als selir
unbeiriedigend bezeichnet werden. Geht man die Verzeichnisse, welche
einerseits Zeumer ^), anderseits Osw. Redlich *) g^eben haben, durch, so
findet'man, da(s die groise Masse davon in alten, unkritischen Editionen
vorliegt, meist ohne jedweden Kommentar. Und gerade da ist ein
solcher doppelt notwendig, da schon die handschriftliche Analyse
dieser undatierten Quellen meist äufserst schwierig ist und gute diplo-
matische Kenntnisse voraussetzt. Jedoch sind dafür bereits einige
musterhafte Untersuchungen geliefert worden ') , haben die Traditions-
bücher bisher doch hauptsächlich das Interesse der Diplomatiker in
Anspruch genommen. Als Muster für eine Ausgabe von Traditions-
büchem kann die Osw. Redlichs über das Hochstift Brixen ^) angesehen
werden. Die Masse der so wichtigen bayrischen Traditionsbücher wird
hoffentlich bald aus ihrem langen Winterschlaf geweckt werden, da
sich die k. Akademie der Wissenschaften in München nunmehr ihrer
angenommen hat. Auch in Österreich stehen weitere Publikationen in
Aussicht, so die Klosterneuburger und Göttweiher Traditionen^). Im
Elsafs, Baden und der Schweiz, wo Einzelnes in jüngerer 2^it bereits
geschehen ist *), mag Weiteres noch erhofft werden.
Der Wirtschaftshistoriker wird freilich dem Diplomatiker bei einer
kritischen Ausgabe dieser Quellen, noch weitere und neue Wünsche
zu präsentieren haben. Vor allem eine statistische Zusammenstellong
der Traditionsobjekte nach ihren verschiedenen wirtschaftlichen und
rechtlichen Kategorien, anderseits aber womöglich auch eine karto-
graphische Darstellung des tradierten Gutes. Damit würde die Hand-
habung dieser Quellen für den Agrarhistoriker wesentlich erleichtert
und deren wirtschaftsgeschichtlicher Inhalt ihm recht eigentlich erst
erschlossen werden. Dem richtigen Verständnis aber dieser Au&eicdi-
I) In WiitB, V.G. 5«, (Vor-) Bemerkung XIV.
3) DenUche GeschichUblätter i, 89 ff.
3) Man vgl. besonders Osw. Redlich, Über bayrische ThuNUofubüeher u, JhuH^
tionen, Mitteil. d. Instit. 5, i ff. B. Bretholz, Studien xu den IhMianebüehem von
S. Emmeram in Regenburg, Ebenda 13, i ff., und W. Erben, Untersuehungen xu defn
codex tradHionum Oldaberii. MitteiL d. Gesell, f. Salzbnrger Landeskunde 39, 454.
4) Die Traditiombücher des HoehMfles Briam. Acta Tirolensia i. Bd. (1886).
5) Vgl. die Anzeige A. Starzers in den MonatablJUtem des AltertnmsTereina. Wies
(1904), vn, 99.
6) Man vgl. n. a. Harster, Der Qiäerbesiix der Abtei Weißenburg (Progr. d.
GTmoas. Speier 1893. 1^94) ^ ^*» Kloster Weifsenburg i. E.: Weech, Der Batulus 8.
PlBtrinus (Freiburger Diözesarch. 15, 133 ff.) für St. Peter auf d. Schwamrald : Wartmann,
ÜB. von St, Oallen, sowie im allgemeinen Baumann, Quell s. SchweizerGesch. 3, i68.
— 151 —
nungen kann endlich nur eine sachliche Einleitung vorarbeiten, die
am besten wohl der Editor selbst zu geben vermag. Einer der Haupt-
fehler bei der bisherigen Verwertung dieser Quellen ist gewesen, dais
man sich ihrer spezifischen Eigenart zu wenig bewuDst geworden ist.
Wofür können sie nach Absicht und Inhalt ihrer Aufzeichnung über-
haupt Aufschlüsse gewähren? Es sind keinesw^s objektive Bilder
einer blofs zeitlich begrenzten Wirtschaftsentwickelung, sie sind in
sozialer und wirtschaftlicher Beziehung einseitig durch den Empfanger
der Traditionsakte bestimmt. Sehr hübsch hat G. Caro das für die
soziale Entwickelung der Nordostschweiz ausgeführt ^).
Die Traditionsbücher werden insbesondere auch dadurch zu einer
Quelle ersten Ranges für den Agrarhistoriker, dafs sie einen Vorläufer
der jüngeren Urbare darstellen. Wie sich formell, ihrer äufeeren
Anlage nach, ein Übergang zu den Urbaren oft unmittelbar verfolgen
lä&t, hat die diplomatbche Forschung bereits gezeigt^). Dafs auch
ein sachlicher Zusammenhang vorhanden ist, e^bt sich aus der Natur
ihres beiderseitigen Inhaltes. Und eben dieser wird dem Agrarhistoriker
besonders interessieren. Denn es läfst sich durch vergleichende Kritik
dieser älteren und jüngeren Aufzeichnungen über den Besitzstand der-
selben Grundherrschaft nicht nur der Verlauf ihrer äu&eren Entwicke-
lung feststellen, man wird auch bei sorgfaltiger Beobachtung der
Unterschiede, mit welchen einzelne Gutsstücke hier und dort verzeichnet
und dargestellt erscheinen, nicht selten wertvolle Rückschlüsse auf
Veränderungen in der Wirtschaftsführung und Organisation des Grund-
besitzes machen können. Um ein praktisches Beispiel hier einzustreuen :
während in den Traditionsbüchern des XI. und XII. Jahrhunderts noch
die ältere Villikationsverfassung in deutlichen Spuren zutage tritt
— man vgl. u. a. jenes vom Kloster Göttweih in Niederösterreich — ,
wird in den Urbaren aus dem XIII. Jahrhundert bereits deren Auf-
lösung ersichtlich, der Übergang zu einem bäuerlichen Zinsgütersystem
allenthalben bemerkbar').
i) Zur AgrargeachiehU der Nordostschtceix in Konrads Jahrb. d. Nationalökonomie
nnd Statistik 79 (1902). Fflr die wichtige Frage nach dem Stande des Freien in der
Zeit tom X. — XIL Jahrh., deren Existenz man an der Hand dieser Quellen zn leugnen sachte,
ist daraus Überhaupt wenig zu folgern. Denn ihrer ^genart entsprechend ist hier nur
dann foa solchen die Rede, wenn sie anfliörten frei sa sein. Von den im alten Rechts-
Terhältnis Fortlebenden zn handeln, lag hier keine Veranlassung vor.
2) Vgl Osw.Redlich, Über bayrische Tradütansbüehermtitjü. d. InstitnU 5, 59f.,
sowie J. Sasta, ^tr Oesehiehie undKrüik der Urbartaktufxeiefmungen, SitsittHlbttr. d.
Wiener Akad. 138, 8. Abhandig.
3) Vgl TorlXnfig meiDd Bemerkungen in Öeterr. Urbare t i, CXm
— IW —
Damit sind wir nun bei der yielleicbt wichtigsten Qaellengattmifir
fürdieAgirargeschichte des Mittelalters, denUrbarialaufzeichnung-en,
angelangt Ihre vielseitige Bedeutung toiucht hier nicht neuerdii^
erörtert zu werden« Das ist längst bereits geschehen und seit Inamas
Auüsatz darüber ^) zum öfteren von anderen wiederholt worden. Nieht
dafs Urbare herausg^eben werden sollen, bedarf einer Besprecbang,
sondern wie, d. h. nach welchen Grundsätzen. Denn man könnte
nicht sagen, dafs die Publikation von Urbaren jemals ins Stodcen
geraten sei. Wie viele Einzelurbare sind nicht in den letzten Dezennien
da und dort, in den verschiedenen landesgeschichtlichen Publikationen,
auch Zeitschriften, erschienen! Das lokalgeschichtliche Interesse war
insbesondere auf Herausgabe der ältesten Quellen dieser Art gerichtet.
Allein eben mit dieser Art und Weise der Veröffentlichung muis meines
Erachtens möglichst bald gebrochen werden. Nicht nur weil sie etiras
rein Zufalliges an sich trägt und eine Verstreuung des Materiaies zur
Folge hatte. Sie ist ganz danach angetan, den bisherigen Todschlaf
dieser Quellen in ein neues, und zwar verdichtetes Stadhim treten zu
lassen. Denn was geschah? Man begnügte sich im Kreise dieaer
lokalhistorischen Editoren meist damit, den Text der Quelle wieder-
zugeben und deren Alter mühsam zu bestimmen. War noch eine
topographische Erklärung — oft auch recht lückenhaft — dazu gefunden«
so schien bereits genug für die Herausgabe geschehen. Über aUen
Zweifel erhaben aber war die Sache dann, weim noch ein aus Inama
und Lamprecht zusammengeschriebener wirtschaftsgeschichtlicher Über-
gufs hinzukam. Nicht aus der Quelle selbst deren Besonderheiten
zu erklären , sondern in ihr womöglich das bisher -^ wenn auch* oft
für ganz andere Verhältnisse — Gültige wiederzufinden, schien Haupt«
aufgäbe solcher Editionen. Wie wenig damit die Forschung gefordert
wurde, läfist sich unmittelbar begreifen. Jedem wissenschaftlichen
Benutzer lastete stets die mühsame Arbeit von neuem auf, die ganze
Quelle im einzelnen durchzugehen, wollte er auf irgend eine ihn inter-
essierende Frage aus ihr Antwort und Aufischlufs gewinnen. So
begnügte man sich meist mit einzelnen Zitaten, die gelegenüich ein
glücklicher Griff aus dieser indigesta moles herausgefunden hatte, und
übernahm sie dann weiter bis in die Handbücher hinein.
Kn Wandel ist hier dringend geboten; Eben jetzt aber schefaif
mir vielleicht der geeignete Zeitpunkt, die Grundsätze zu beraten, nach
welchen derartige Editionen veranstaltet werden mögen, auf dals sie
i) Aro^fd. Zdtockr. 2, 26 AT.: Über üHfoHm und ürimialmsfiLei^mmgmK
— »53 —
möglichst verschiedenen Bedürfiiissen der wissenschaftlichen Forschung
entsprechen können. Eben jetst sind ja von drei verschiedenen Seiten
gröfsere Unternehmungen bereits zu fertigen Publikationen gediehen,
deren unterschiedliche Anlage zur Überlegung und Diskussion anregen
kann. Die Herausgabe der gro&en habsbui^chen Urbare für die
Schweiz, welche Maag vor längerer Zeit bereits mit einem i. Bde.
eröffnet hatte, ist vor kurzem durch P. Schweizer zu Ende gebracht
worden ^) ; die stattliche Unternehmung der Gesellschaft für rheinische
Geschichtskunde zur Herausgabe der rheinischen Urbare hat bereits
einen umfangreichen Band produziert *) und in den letzten Wochen
eben ist als Frucht eines umfassenden Planes der Wiener Akademie,
der I. Bd. Österreichische Urbare erschienen^.
Es sei mir, als Herausgeber dieser letzteren Publikation verstattet,
an die Grundsätze anzuknüpfen, nach welchen ^speziell die Wiener
Akademie vorgeht
Sie hat eine besondere Serie ihrer Veröffentlichungen den Urbaren
gewidmet, so wie dies früher bereits mit den österreichischen Weis-
tümem geschehen ist. Diese österreichischen. Urbare sollen eine
möglichst umfassende Ausgabe der vorhandenen Quellen dieser Art
bieten und sich in vier Unterabteilungen gliedern: i. landesförstlicAe
Urbare, 2. Urbare der Hochstifter (Bistümer etc.), 3. Urbare anderer
geistlicher Grundherrschaften , 4. Urbare weltlicher Grundherrschaften.
Um diese Veröffentlichung nicht von ZußUlen abhängig zu machen,
wurde mit einer systematischen Verzeichnung und Registrierung aller
in den verschiedensten Archiven und Ämtern vorhandenen Quellen
dieser Art begonnen. Damit ist nun eine Art Quellenkunde der Agrar-
geschichte Österreichs zustande gekommen und eine Übersicht über
das Ganze gewonnen, auf Grund welcher mit einer bestimmten Aus«
wähl der zur Veröffentlichung besonders geeigneten und wertvollen
Urbare allmählich vorgegangen werden kann. Zugleich ist durch die
im voraus durchgeführte Sammlung des Gesamtmateriales die Möglich-
keit geboten, bei der Veröffentlichung alle auf ein und dieselbe Grund-
herrschaft sich beziehenden Urbare zu vereinigen. Eben dies ist ja
gerade da aus mehr als einem Grunde geboten. So kann das Interesse
des Wirtschaftshistorikers am ausgiebigsten befriedigt werden, da er die
i) QaeUen zur Schweizer Geschichte XV, 2 (1904)*
3) PabUkaÜooen der GeseUKhaft iUr Rheiotsche Gecchichtskimde 20 (i 9021) Rheinische
Urbare I: Die Urbare des Kloekre S, PanUUeon m Köln, heraosgegeben ▼. B. Hilliger.
3) Osterreich. Urbare t t: Die landeefUrMehm Urbare Nieder- und Ober'öster-
reiche am dem XUL und XIV, Jahrhundert (1904)*
— 164 —
Entwickelung der betreffenden Gnindherrschaft durch den Wandel
der Jahrhunderte fort zu verfolgen vermag; es wird sich auch die
Au%abe des Editors dadurch bisweilen vereinfachen lassen, da nicht
die vollen Texte immer wieder abgedruckt zu werden brauchen, sondern
eventuell gleichartiges, im Spaltendruck etwa, ausgeschieden werden
kann, so dais die Veränderungen schon formell zutage treten ^). Soweit
scheint mir auch die Forderung Lamprechts nach Herausgabe insti-
tutioneller Urkundenbücher *) für Urbarausgaben begründet und prak-
tisch durchführbar.
Was nun die Edition selbst anlangt, so möge zunächst eine Be*
merkung über die äuisere Ausstattung in Format und Druck voraus-
geschickt werden. Nicht wenige der bisherigen Urbarausgaben sind
vielleicht auch deshalb so unfruchtbar geblieben, weil schon die äu&ere
Publikationsform deren praktische Benutzung ungemein erschwerte.
Man werfe nur einen Blick auf die Ausgabe der Passauer bischöflichen
Urbare in den Mon. Boica ') !
Eine Urbarausgabe soll vor allem übersichtlich sein. Und
dafür kann schon äufserlich vorgearbeitet werden, wenn das Schriftbild
nicht überlastet erscheint. Es wird sich deshalb ein nicht zu kleiner
Dfück empfehlen und eine Gliederung des Textes nach zusammen-
gehörigen Abschnitten am Platze sein. Wird dementsprechend ein
nicht zu kleines Format — etwa Groisoktav — gewählt, so kann auch
bei reichem wissenschaftlichen Apparat fiir den Textabdruck hinreichend
Raum gewonnen werden.
In der österreichischen Ausgabe, wo darauf mit Absicht grofser
Wert gelegt wurde, begleiten nun den zur besseren Übersicht in
Nummern gegliederten Text auf jeder Seite Noten , welche die hand-
schriftliche Überlieferung betreffen, und sachliche Erläuterungen. Letztere
sollen einmal eine Bestimmung der im Texte vorkommenden Orte und
Personen, anderseits aber eine kurze Zusammenstellung des (tir die
einzelnen Besitzstücke vorhandenen historischen Materiales bieten.
Damit haben wir auch bereits eine der wichtigsten Fragen der
Urbaredition gestreift. Wieweit hat sich dieBeibringung von Er-
läuterungsmaterial dabei zu erstrecken? Daus ein solches der
Ausgabe selbst beigegeben werden mufs, bedarf wohl heute kaum
mehr einer Diskussion. Der Text der Urbare ist nicht selten derart
i) VgL s. B. die Anigabe der Urbare des Bistums Freising, welche J. t. Zahn
in deo Font. rer. Anstr. IL 36 TeransUltet hat.
2) Vgl. das Vorwort ra den Rheinischen Urbaren, i. Bd.
3) 28. und 29. Bd.
— 156 —
spröde und karg an direkten Nachrichten, dais nur mit Beiziehung
anderer Quellen, gleichen oder auch verschiedenen Charakters, von
anderen Urbaren oder Urkunden, das sachliche Verständnis angebahnt
werden kann.
In diesem bedeutungsvollen Punkte gehen nun die früher erwähnten
drei grofsen Urbarpublikationen der jüngsten Zeit bereits beträchtlich
auseinander. Wohl hat man auch in den schweizer und österreichischen
Urbaren ein stattliches QucUenmaterial, besonders an Urkunden heran-
gezogen — alles was den Herausgebern erreichbar war — allein man
beschränkte sich darauf, dasselbe in kürzeren sachlichen Noten, deren
Umfang hier und dort kaum wesentlich verschieden ist, zu verwerten
unter Hinweis auf die entsprechenden Belegstellen. Dagegen erscheint
in den rheinischen Urbaren eine beträchtliche Menge von Erläuterungs-
material auch nicht-urbarialen Charakters, besonders von Urkunden,
zwischen den einzelnen Texten zu vollem Abdrucke gebracht, und zwar
auch solches, das nicht eine direkte Beziehung zu jenen selbst aufweist
Man ist dabei nach den Anschauungen Lamprechts vorgegangen,
die er auch in einem Vorwort zu dieser Edition kurz formuliert hat.
Seiner Meinung nach sind die sogenannten institutionellen Urkunden-
bücher, d. h. die Vereinigung aller „Urkunden oder wohl auch im
weiteren Sinne die wichtigeren Aktenbestände der gröberen öffentlichen
Institute der Vergangenheit jedesmal für sich als ein geschlossener
Komplex" gerade dafür außerordentlich vorteilhaft, da sie an sich
darauf hinleiten, den inneren kulturgeschichtlichen Gehalt der Quellen
zu erschlieisen.
Es scheint ihm „durchaus notwendig, dafs, wenn Urbare zur Edition
kämen, sie nicht kahl und gleichsam nackend herausgegeben würden,
sondern vielmehr nur als wesentlichster Bestandteil von Editionen,
welche jedesmal auf eines der wichtigsten agrarischen Wirtschafts-
institute der rheinischen Vergangenheit allein bezogen sein und ent-
halten sollten: i. eine ganz eingehende Wirtschaftsgeschichte des
betreffenden Institutes durch alle Stufen seiner Entwickelung hindurch
auf Grund der gesamten, noch irgendwie aufzutreibenden Überlieferung
jeglicher Art; 2. im Sinne von pieces justificatives eine Ausgabe der
Urbare und aller wichtigsten Aktenstücke und Urkunden zur Wbt-
schaftsgeschichte des betreffenden Institutes, gleichviel welcher Art
diese nach archivaUschen oder diplomatischen Merkmalen gerechnet,
auch sein möchten.'*
Lamprecht teilt uns allerdings zugleich auch mit, da(s „diese
Anschauungen als zuweitgehende erachtet wurden, da sie über den
— I6Ö —
Rahmen jener Qtiellenpnblikationen hinausgrifien , die das eigfcntlicbe
Arbeitsfeld der Gesellschaft für rheinische Geschichtskunde bilden ^)/'^
Er habe sich begnügen müssen, „schliefelich die Wünsche, die sich
eine Ausgabe der Rheinischen Urbare knüpfen licdsen, dahin erflUIt
sehen, dafe diese Urbare mit dem für ihr Verständnis absolut notwendigen
Kern anderer aktenmäfsiger Überlieferung umgeben und auch mit Ein»
leitungen versehen ediert werden konnten, die in das VerständniR de»
Stoffes näher einführen/*
Niemand wird den Wert institutioneller Urkundenbücher bexweifebi
wollen. Sie sind ungemein lehrreich und bequem für den, der sich auf die
historische Betrachtung eines oder mehrererderartiger Institute beschränkt.
Aber niemals wird die Forschung auf zusammenfassende Urkunden»
bücher ganz verzichten können, die das gesamte, für eine bestimmte
Zeit vorli^ende Material in mehr oder minder weitem, territorialen
Umkreis geschlossen darbieten. Eben darin ruht ja doch ein wesent-
licher Fortschritt der modernen Urkundenpublikation, weil nur mit
der Kenntnis des vollständigen Materiales ixgendeiner 2^it die wechsel-
seitige Kritik der einzelnen Fonds und ein Urteil darüber möglich
wird, was allgemeingültig und was Besonderheit ist, von den Fälschungen
gar nicht zu reden. Lamprecht meint, diese (territorialen) Urkunden-
bücher seien „auf die Bedürfhisse vorübergehenden Gebrauches zur
Geschichte des äufserlichen Spieles geschichtlicher Kräfte zugeschnitten
und bestimmt, zunächst vornehmlich der politischen, genealogischen,
und topographischen Geschichte zu dienen.*^ Ob die wirtschafts-
geschichtliche Forschung auf jene wird verzichten können?*)
Und noch ein zweites, höchst wichtiges Argument : die praktische
Durchführbarkeit. Kann das von Lamprecht aufgestellte Idealbüd von.
Urbareditionen allgemein auf die Möglichkeit der Verwu-klichung rechnen >
Sollte es auch bei kleineren Grundherrschaften durchführbar seia
— Klöstern etwa — , für grofse Wirtschaftsinstitute dürfte es doch
wohl ein ideales Schemen bleiben. Ungeheuer g^rofis und umfangretclL
wächst ja die Masse der Überlieferung schon gegen Ende des Mittel«
alters an, falls man etwa bedeutende Hochstifter des Rheinlandes
z. B., oder die weltlichen Grofsgrundherrschaften der späteren Terri-
torialherrcn m Süddcutschland so zu behandeln gedenkt Wer und
in welcher Zeit wü-d diese Massen durch die Jahrhunderte herab mit
wissenschaftlich durchgreifender Edition zu meistern vermögen? Da»
Schicksal der bisher unternommenen institutionellen Urkundenbücher
i) Zum Qekü (Vorwort Lamprecbts) zn dem r. Bd. der Rheinischen UrtMU^
j) Vorwort nun i. Bd. der Rheinischen Urbare (1903).
— 467 —
spricht eine deutliche Sprache. Es sind solche vornefamlicli doch
nur für kleinere Institute zustande gekommen, besonders Klöster ^). Wo
man sie bei grö&eren unternommen hat, ist stets eine Beschränkung,
sei es in stofflicher oder zeitlicher Beziehung, notwendig geworden *).
Um gute und verwendbare Urbareditionen herzustellen, scheint
mir aber die Heranziehung des Urkundenmateriales in jenem Ausma&e
aiK^h gar nicht nötig. Die Urbartexte sollen bei einer modernen
Edition erläutert werden. Dieser Grundgedanke, der auch Lamprecht
vorschwebte, ist als al^emein gültige Forderung festzuhalten. Müssen
aber zu diesem Zwecke ganze Urkundenreihen zu vollem Abdruck
gelax^en, von welchen oft eine ganze Anzahl doch nur das Gleiche
beweisen? Meiner Ansicht nach würde ea genügen, besonders wert-
^Folle Stücke, die noch nicht bekannt sind und eine generelle Bedeu-
tung haben, anhangsweise, am Schlüsse der urbarialen Aufzeichnungen,
in der Edition abzudrucken. Auf die Menge der andeicn, sachlich
^idiartigen, würde ein blolser Hinweis wohl um so eher ausreichen,
als man sich ja heute selbst in den eigentlichen Urkundenbüchem
darauf beschränkt, die Masse des jüngeren Materiales, etwa seit dem
XIV. Jahundert, blolis im Regest zu geben. Urkunden aus der früheren
Zeit, die ganz unbekannt wären, dürften auch durch diese institutionellen
Sammlungen kaum in grö&erer Masse zustande gebracht werden ').
Als zweiten Hauptpunkt betrachte ich, da die Herstellung von
entsprechenden Personen- und Ortsr^istern , wie eines Glossars imd
Sachregisters wohl als selbstverständlich bei diesen Editionen voraus-
gesetzt werden darf, die Beigabe von statistischen Tabellen
und Karten. Schon mehrfach ist von Forschern, die gröfsere Urbare
zu benutzen hatten, eine solche Beigabe als dringendes Bedürfnis emp-
funden worden. AI. Schulte hat seinerzeit bereits in den „Habsburger
Studien*', geradezu erklärt, ,.dafs die bisherige Editionsmethode der
Uibarien ohne Tabellen, ohne Karten in Zukunft verlassen werden
l) Ich sehe d«bei gßni too den ünfteneo, in der archivalifchep Überlieferoog ge-
legenen Motiren zur Anfertlgang «olcher institutioneller Urknndenbttcher tb, obwohl dieses
Moment sicherlich oft fUr den aaf das unmittelbar oder leicht Erreichbare sich beschrän-
'kenden Verfasser mafsgebend gewesen sein dfirfte. Wieviele Ton diesen Editionen rühren
iVUk, von den Areld?ai«ii des betreffenden Institutes selbst her!
9) YgL s. B. dieültereoAHHnltii TooM«icli«lb«ok Ar,Frfisiog(i7a4), Hooth^tm
fttr Trier (1750), Kleime7.«rn filr SaJ^Qi|( (i?^) »der die jOn^trea.voa Ried filr
Regenybnrg (1816), Qniy für Aachen (1J&39) ond.Remling fUr Speyer (1852) etc.
3) In dem Torliegenden i. Bd. der Rheinischen Urbare werden 2 Urkunden aus
dem Ende des XL Jahrb., 9 aus dem Xn. Jahrb., er. 50 aber je ans dem Xm., XIV- "'^
XV. JahiJi. patittfif k Hsgtrtn AiirfgwiX nr&fSmÜkkL
— 168 —
mulis, wenn anders diese Quellen, wenn sie auch gedruckt vorliegen,
nicht ihren Winterschlaf fortsetzen sollen" *).
Auch in dieser Frage stimmen die drei neuen Urbarausgaben
nicht überein. Die Rheinischen Urbare verzichten in ihrem i. Bde.
auf beide Zutaten gänzlich; das dürfte aber wohl hier nur auf den
besonderen Inhalt (Kloster St. Pantaleon zu Köln) zurückzufuhren sein ?
In der Schweiz hat man in einem statistischen Ubersichtstableau eine
„Summierung der Posten des Urbars König Albrechts" und zwei
Karten beig^eben. In der österieichischen Sammlung erscheint mit
umfänglichen Tabellen über den Besitz und die Einkünfte in allen
einzelnen Ämtern den statistischen Ausweisen ein breiter Raum (iio S.!)
gewährt und werden drei Spezialkarten geboten.
Auch da dürfte weniger die Sache selbst, als deren Durchfuhrung
in Diskussion zu ziehen sein. Gewifs genügt ein Übersichtsblatt für
die Beantwortung mancher statistischer Fragen. Aber es handelt sich
bei diesen statistischen Beigaben doch nicht blofis darum, eine Über-
sicht im grofsen ganzen, etwa über die Anzahl der Ämter, oder die
Gesamteinnahmen zu erzielen. Das findet man wohl auch vielfach
in allgemeinen Handbüchern zusammengestellt. Den Wirtschafbhtsto-
riker werden noch viel mehr zahlreiche andere Fragen interessieren,
die damit unmöglich beantwortet werden können. Die Verteilung der
verschiedenen Wirtschaftsgüter innerhalb der Ämter (Zinslehen, Villi-
kationen, Industrialien), deren Betriebsform (Eigenbetrieb, Teilbau etc.),
oder aber die verschiedene Belastung der Wirtschaftseinheiten, das
Verhältnis von Natural- und Geldzins, sowie vieles andere kann durch
die Tabellen der österreichischen Ausgabe ohne weiteres verfolgt und
studiert werden, nicht aber an einem blofsen Ubersichtstableau.
Was die Kartenbeilagen weiters anlangt, so besteht zwischen
der schweizer und österreichischen Edition vornehmlich der Unter-
schied, dals bei der ersteren das Terrain völlig unberücksichtigt blieb.
Man versteht wohl , weshalb man sich dazu entschlossen haben mag.
Eben in dem Hochgebirgsland mochte die Einzeichnung des Terrains
ein undeutliches BUd von dem eigentlichen DarstellungsstofT befurchten
lassen. Aber ist nicht eben durch die gänzliche Weglassung des
Terrains das Kartenbild noch unverständlicher geworden? Hat man
sich mit diesem Vorgeben nicht eines der wichtigsten Demonstrations-
mittel wirtschaftlicher Zusammenhänge beraubt?
Ich habe in der österreichischen Edition einen Mittelweg einzuhalten
i) MiUefliiiigen det Institatei filr ötteiretchMchö Oeschichtsfondmiff 7, 553.
— 169 —
versucht, indem ich das Terrain prinzipiell aufnahm, es jedoch nur
andeutungsweise, in Schummerung, ausführen liefis, auf dals die Deut-
lichkeit des Gesamtbildes nicht darunter leide. Wieviel die Plastik
der Darstellung damit gewinnt, dürfte ein Vergleich der schweizer
Blätter mit einem der hier gebotenen unmittelbar klar werden lassen.
Man wird bei der Schweiz stets eine oro- und hydrographische Karte
daneben halten müssen, um die Einflüsse der Bodenkonfiguration
recht würdigen zu können. Die Karten beider Editionen beschränken
sich auf die Darstellung des in den betreffenden Urbaren verzeichneten
Besitzes, derart, dafs die einzelnen Orte angeführt und die an denselben
bestehenden Rechte ersichtlich gemacht wurden. Besondere Produk-
tionskarten fehlen hier und dort übereinstimmend. Ich hatte bei
der österreichischen Edition solche in Aussicht genommen, kam aber
selbst alsbald davon ab, da meine Beobachtungen beim Vergleich
mit anderen Urbaren deren sachlichen Wert sehr problematisch erscheinen
liefsen. Es läfst sich nämlich die Wahrnehmung machen, dais Pro-
duktionskarten auf Grund eines, selbst noch so ausgedehnten und
umfangreichen Urbares kein annähernd richtiges Bild von der Boden-
produktion eines Landes zu gewähren vermögen. Es fehlen oft Pro-
duktionsarten in einem Urbar durchaus, die in eiaem zweiten Urbar
über ganz benachbarte Gebiete anderer Grundherrschaften dch regel-
mäßig finden. Solche Produktionskarten werden also am besten erst
nach der Publikation einer gröberen Reihe von Urbaraufzeichnungen
eines Territoriums zu entwerfen sein.
Als letzten, aber vielleicht wichtigsten Punkt, will ich hier noch
die Frage nach einer sachlichen Einleitung hervorheben. Eine
solche fand man ja auch bislang gewöhnlich. Allein sie beschränkte
sich meist auf eine Besprechung der handschriftlichen Überlieferung,
Datierungsfragen und, wenn es hoch kam, etwa eine Zusamntenstellung
der einzelnen Besitzrechte der betreffenden Grundherrscbaft Der
Nationalökonom geht wohl in der Regel leer aus, und selbst eine
Darstellung der Verwaltungsorganisation wird nicht selten vermüst
Auch in der so ausfuhrlichen und umfänglichen Einleitung der schweizer
Edition werden diese Fragen kaum berührt, obwohl man die Not-
wendigkeit ericannte, der „inhaltlichen Bedeutung des Urbars" einen
besonderen Abschnitt zu widmen. Er behandelt x. die rechtlichea
Verhältnisse der Habsbuiger zu den verschiedenen Klassen der Be-
völkerung a) die Eigenleute, b) die Freien , c) die Gotteahaudeute ;
2. habsburgische Lehen von Gotteshäusern und vom Reich; 3. die
Passiven der habsburgiscben Finanzwirtschaft.
— 160 —
Im ersten Band der rheinischen Urbare erstreckt sich die sac±-
liebe Einleitung zwar neben einer ,, Geschichte des Klosters St. Panta-
leon" (S. I — XXXI) auch auf die ,,Klosterwirtsohaft und Klostergut"
(S. XXXI — ^XLIII), allein diese an sich kurzen Ausführungen befaandefai
doch nur die äufsere Entwidcelung des Besitzstandes im ganzen, sowie
an einzelnen wichtigsten Besitzstüdcen , ohne die innere Struktur
dieser Grundherrschaft klarzulegen oder die Besonderheiten dieser
Quellen in wirtschaftlicher und verwaltungsrechtlicher Beziehung zu
erläutern.
Eben in diesem Punkte nun scheinen mir die früher schon be-
rührten Forderungen Lamprechts zu wenig beachtet worden zu sein.
Mag er auch vielleicht da zu weit gegangen sein, wenn er als einen
Hauptteil von Urbareditionen geradezu „eine ganz eingehende Wirt-
schaftsgeschichte des betreffenden Institutes durch alle Stufen seiner
Entwickelung hindurch auf Grund der gesamten noch irgendwie auf-
zutreibenden Überlieferung jeglicher Art" verlangte, — sicherlich besteht
eine der wichtigsten Aufgaben des Editors eben nach dieser Richtung
hin. Eine möglichst vielseitige wirtschaftsgeschichtliche Orientierung
über die Grundherrschaft, von der die edierten Quellen handeln, aber
auch über Ziel und Anlafis ihrer Aufeeichnung selbst, scheint auch
mir ein Haupterfordemis modemer Urbareditionen zu sein. Denn die
verschiedenen Benutzer werden vielleicht Manches darin suchen, was
ihrer inneren Wesenheit nach gar nicht Zweck der Aufiseichnung war.
Andere werden als Besonderheit empfinden, was eine genaue Kenntnis
der sachlichen Zusammenhänge leicht auch formell aufeulösen vermag.
Vorschnelle Rückschlüsse, die nur zu gern darauf angebaut werden,
ergeben dann ein ganz falsches BUd der wirklichen Sadilage.
Hier nun hat der Editor einzutreten. Nicht so sehr, wie mir
scheint, um mit einer emgehenden Wirtschaftsgeschichte sofort auch
den ganzen Inhalt dieser Quellen voll auszuschöpfen. Vor allem des-
halb, weil er selbst, als bester Kenner derselben, durch eine ent-
sprechende Charakterisierung einer falschen Auffassung seitens weniger
bewanderter Benutzer vorbeugen kann. Denn so ähnlich auch Urbare
im allgemeinem ihrem Inhalte nach sein mögen, sie weisen im einzelnen
oft solche Vers<^iedenhe{ten auf, dafe man in deren Verwertung die
denkbar gröftte Voish^t beobachten raub. Noch vor nicht gar langer
Zeit hat em asgooebenerGelehrter aus den östeireichischeB und bajerisdien
Uibaren des XIII. JiAthuaderts allen Ernstes deduziert, es hätten damals
diese beiden Hersogtümer wirtochaftüch noch auf demselben Standpunlrt
verharrt, den der Südwesten Deutschlands zur Karolingereeit ein-
— 161 —
genommen habe ^). In diesen Urbaren werden nämlich die Stener-
erträgnisse nahezu nirgends verzeichnet und der Hauptnachdrack auf
die Domäneneinkünfle gelegt Aber die Urkunden derselben, ja noch
früherer Zeit, ergänzen dieses Bild und beweisen zugleich neben
anderem, daiis es hier gar nicht Angabe der Urbare war, jene Ein-
künfte zu buchen. Ihre Eigenart erklärt sich aus der Verwaltungs-
organisation, die uns andere Quellen deutlich machen.
In der Einleitung zum i. Bde. der Osterreichischen Urbare habe
ich den Versuch unternommen, unter Heranziehung eines möglichst
ausgedehnten Quellenmateriales (an anderen Urbaren und Urkunden)
eine eingehende Charakteristik der hier in Frage stehenden Grund-
herrschaft nach den verschiedenen, für das Verständnis dieser Quellen
notwendigen Beziehungen zu bieten und speziell auch die verwaltungs-
geschichtliche Bedeutung derselben zu erläutern. Ich ging hiebei
von der Vorstellung aus, daüs sich so zugleich auch die früher schon
berührte Frage nach Beibringung eines entsprechenden Erläuterungs-
materiales am ungezwungensten und wirksamsten lösen lasse.
Diese Methode der Präparierung des zu veröffentlichenden Quellen-
stoffes hat übrigens auch noch den Vorteil , dafs sich aus der Heran*-
Ziehung anderer Quellen und ihrer wechselseitigen Verarbeitung nicht
selten wertvolle Aufschlüsse für die Beurteilung jener ergeben. So
z. B. der Urkunden. Auch für die Agrargeschichte sind ja die Ur-
kunden eine der wichtigsten und unentbehrlichsten Quellen. Aber
in wirtsehaftsgeschichtlicher Beziehung werden dieselben vielfach anders
zu verwerten sein, als dies sonst der Fall ist. Dem Beurkundungsgeschäft
kommt hier nämlidi eine zum Teile andere Bedeutung zu. Denn eine
ganz grofse Anzahl von wirtschaftsgeschichtlich wichtigen Handlungen
und Voigängen wurde überhaupt förmlicher Beuricundung nicht für wert
gehalten. Kurzlebig, wie sie selbst, mochte auch die Form gewesen
sein, in der man gleichzeitig von ihnen Notiz nahm. So ist das
testimonium ex sUentio hier oft und oft nicht zulässig, wo es sonst
dem Historiker untrüglich scheint Um es an einem Beispiel zu illu-
strieren: gegenüber der Masse von Urkunden, die Erb- und Vitalpacht
verbriefen, sind jene über Zei^>acht im engeren Sinne verschwindend
gering. Wollte man danach einen statistischen Anschlag versuchen,
so würde ein ganz unrichtiges Bild sich ergeben. Denn es läftt sich
nachweisen, da& am Rhein und in Osterreich, im XII. und Xlll. Jahr-
i) AL Schalte in den Mitteünngen des Inttitate« für österreichische Geschieht«*
forschuig 7, $$J.
13
— IM —
Jbamdcrt, aur Pctfi^tiiaKeti, aiclil aber TeispotaUeii aii^ytearhaet wiudea
«nd (imu^afaigc die aof \aa8 gekommooG ÜberUefenwcf yoflttfifKA be>
Dock jg^mig* di^er Abweidnmg! Über UrkuAden «Is QueUea
-dtx Agraigeschiohte w^ ich hier ja nicht spnechen, da sie der
iSonderveröiTentlichyiig in »i6ttiinen£ra«eDden UrkiuideabücherB vor-
behalten bleiben mögen. Und dafik ist ja bereite zui Geaäge vor-
geborgt l
So erübrigt mir nur noch, 2wei Gruf^pen von agrargeediichtlidKia
Quriten hier kurz zu behaadela.
In näherem Zusammenhang mit den Urbaren stehen zeitabwärts
die Lehenbücher. Förmliche VerzeiclbQisse des zu Leben ansgetaBeo
Gfites wurden vomehmlidi sdt dem XTV. J^Aihuad^t in Deutschland
hnmer häufiger angelegt Getstüche und weltliche Grundhecren haben
Wert darauf gelegt, über den Stand ihres also in fremder Haad he-
•findlichen Eig^entums eine sichere Übersicht zu. besitzen. I>a wk
diese Aufeeich&migen gewöhnlich über einen längeren Zeitraum er-
•streckea, ist anzunehmen, dais wir so zieoiUcfa das gesamte zu Lehen
•gelinde Gut des betreffenden Lehensherm hier verzeichnet fixten.
Indem einmal die Emp&ng^, dann aber das Lebeasgut selbst ia
einzelnen Stücken, wie auch die davon fiieisenden Einkünfte
-geaau angegfeben erscheinen, so erhellt, wie wertvoll diese Leben-
iMkiher iur die Agraigeschidite defi Mittelalters sind. Doppelt wevtvoH
dotrt, wo fiir dieselbe Grundfaerrschaft nodi ältere Urbare oder .gar
auch Traditionsbücher vorliegen. Dann lä6t sich aus 4eren ver-
gieichender Zusammen^sung die attmäUiobe Eatwickelui^ sehr in-
itaiktiv verfolgen. Einea Versuch dieser Art hat Harster für ^das
-elsifflisdie Kloster Weifsenbucg unternooimen ^), w^eon auch seine wiit«
achaftsgeaduchtliohen SchlufiBiblgenmgen daraus kaum in entaprechee-
dbm Verhältnis zu dem grofiien Fleüs stehen» der darauf verwendet wtitde.
Der gegenwärtige Stand der Veröffentlichung dieser QueUen vi
noch weojger günstig als jener der Urbare. W. Lip^eit hat jiii^Tif
(1903), getegentHcfa der Herausgabe des Leheabuc^es Markgiaf Fcied-
lichs des Strengen von Meifisen und LandfiTTafen von Thüringen t JS9/60
in einer verdienstvollen Einldtung eine -Übetsioht über dm bis jetzt
veröfienttlichte Material geboten.
Neuendiags hat auch die rtihrigte historische T mrtrnknmniirtninn
in Steiermark eine solche Publikation in ihr Programm aufgenommen
I) Da- GmetbrnU the Khetey9 Whißmikmy i J^ (I^graoM tdts
Speier 1893 ^^^ 1^94-)
— 168 —
und bereits in diesem Jahre ein Bänddien der iandesfiirBtUchen Lehen»
bücher erscheizien lassen ^).
Man wird im allgeaxeinem auch für diese Quellen äfanUche Grund'*
Sätze und Forderungen aufstellen können, wie sie voriier bei Besprechung
der Urbare entwickelt wurden. In der schweizer Urbaredition sind
auch Lehenbücher mit abgedruckt worden ^).
Nur eine Frage wirdhier noch besonderszu erörtemsein«diederText*
anordnung. Die uns erhaltenen Au&eidxnungen dieser Art sind ver-
schieden angelegt: bald der Zeit nach, wobei die Abfolge allerdings nicht
stets streng eingehalten wurde, bald nach Empfängern oder nach Verwal-
tuogs- und Herrschaftsbezirken. Von dieser ursprünglichen Anordnung
wird man heute bei der Veröffentlichung eventuell abweichen dürfen, falls
praktische Gründe dies etwa zum Zwecke gröiserer Übersichtlichkeit
empfehlen. Das ist denn auch mit Recht wohl schon geschehen.
Jedoch wird sich die Frage erheben, welche von den verschiedenen
Möglichkeiten für die wissenschaftliche Benutzung und Verwertung
am förderlichsten erscheint. Kaum die chronologische Folge. Denn
der Zeitpunkt der Lehensendigung wie jener der Neaverleihung war
doch zu sehr Zufallen unterworfen. Ob aber eine örtliche Anordnung
oder jene nach Empfängern gewählt werden soll, wird in jedem Einzel-
falle nach Mafisgabe der besonderen Verhältnisse und der Überliefentsg
selbst zu entscheiden sein. Wählt man letztere, so wäre meines Er<^
achtens eine Scheidung nach den einzelnen Staodesklassen dca* mit
alphabetischen Anordnung ') vorzuziehen , wie dies ja viel£EKJi in der
Überlieferung selbst sdion erfolgt ist. £>ena mit einer soldien Scheidung
werden manche Fragen der Sozial* und Wirtschaftsgeschichte bereits
von vornherein ins rechte Licht gerückt, ganz abg^esehen davon, das
auch die Edition selbst mit Vereinfachuii^des enjfcspredtenden Kommen^
tares entlastet werden kann.
Einer sachlichen Einleitung und statistischer Tabellen wird man
auch da kaum entraten können, soll die Veröffentlichung mcht wiederum
taubes Gestein bleiben.
Zum Schlüsse sei noch jener Gruppe von Quellen der älteren
Zeit hier gedacht, die gewöhnlich unter dem Kollektivbegriff der
Hof rechte susammeagefiifst werden. Ich metne jene Aufeeichnungen
des XI. und XII. Jalffhunderts , wdche über die redhtKdie Stettm:^
I) VeriMfcptüchongea der liutodtclwo Laadedcoanisaioo ftr Stoiwnark XVII: ^
kmiesfürMlMm Jjtkm m akkrmaHt mom 1421—3546 (A. Slaratt; 1^3).
a) Quellen xor Sdxmtam Geschichte XV i, 409^593. 75S— yS».
3) Diese ist in der steirischeo Pablikation (s. o.) too A« S tarser befolgt ^r^Mien.
13 ♦
— 164 —
der Hintersassen einer Grundherrschaft Aufechluis geben. Sie können
verschiedenen Charakters sein. Verschieden nach dem Objekt , das
sie betreffen ; verschieden auch nach dem Zwecke, den sie verfolgen ').
Indem dadurch häufig die Abgaben und Leistungen an die Grund-
herren, oder die gegenseitige Rechtsstellung verschiedener Klassen
der Hintersassen fixiert erscheint, bieten sie eine wichtige Ergänzung- zu
dem aus den früher besprochenen Quellen zu gewinnenden statistischen
Material. Hier ruhen vielfach die Verbindungsglieder zum Verständnis
der dort gefundenen Grundlinien.
Die Zahl dieser älteren „Hofrechte" ist nach unserer heutig-en
Kenntnis nicht gerade grofs. Aber eine systematische Sammlang
würde vermutlich ein ganz bedeutendes Ergebnis zeitigen, sofeme man
der Eigenart ihrer Überlieferung entsprechende Beachtung schenkt
Denn nicht wenige davon sind in Form von Urkundenfälschungen
auf uns gekommen und wollen aus diesen erst gehoben sein. Besonders
geistliche Grundherrschaften haben solche Ordnungen im XII. Jahr-
hundert anfertigen und in die Form von Königl. Privilegien der Vor-
zeit — Merowinger und Karolinger waren dafür besonders beliebt —
kleiden lassen, da sie gegenüber der neuen wirtschaftlichen und sozialen
Evolution, die zu empfindlichem materiellen Drucke gediehen war,
sich nicht anders zu schützen vermochten. Ich habe im Jahre 1898,
als ich aus den Ebersheimer Urkundenfälschungen ein bisher nicht
bekanntes Dienstrecht zutage förderte, noch auf eine Reihe weiterer
Fälschungen dieser Art aufmerksam gemacht '). Seitdem sind noch
einige Quellen gleichen Charakters ans Licht getreten •). Wieviel der
Forschung eben hier noch zu tun bleibt, beleuchtet ein drastisches
Beispiel der jüng^sten Vergangenheit. Das angeblich älteste alemannische
Weistum, welches Eb. Gothein auffand und als dem X. Jahrhundert
l) Vgl. darilber G. Seellger, Die saxüUe und poliHsehe Bedeutung der Orund-
herreehaft, S. 193.
3) Die Ebersheimer ürkundenflüeehungen und ein bieker unbeaehtetee Dienetreeki
aue dem Xu. Jahrh, MiUeil. d. Institates 19, 577 ff. — Ähnlichen Chmrakters sind offen-
btr auch die Hofrechte des Klosters Gorze, angeblich vom Jahre 765. — Sanerlaod,
Die Immunität ran MetXy S. 153. Vgl. dasa anch $.'98 N. i.
3) Vgl. neben dem onten S. 165 N. i cit Mönohweier WeUtein das Hofre^it fftr
Iaj, einen Fronhof der Kölner Kirche, das Oppermann (Krii. Stud, x, älteren Kokser
Oteeh., Westdeatsche Zeitschr. 3i, 104) nachgewiesen hat — Endlich ist auch daa as-
gabUch ^de des X. Jahrh. provozierte Weistum über die RechtssteUong der Passaaer
Familia dem Marl^grafen in der Ostmark gegenüber (Ufi. von St Polten i, 3 N. ^
dne Filschnng des XIL Jahrh. Vgl. die bei Haber, Österr. Gesch. i, 178 N. i dt
Literatar.
J
— 166 —
zugehörig publizierte ') , ist nichts anderes als eine solche Ordnung;
und gehört, wie die Forschungen Zeumers *) und Bloch-Wittichs ')
dargetan haben, ebenso in's XII. Jahrhundert. — Nur durch eine
kritische Edition dieser Quellen kann eine zutreffende chronolc^rische
J^nordnung derselben gesichert und erst auf Grund dieser, sowie einer
systematischen Sammlung, deren richtige Bewertui^ für die Dar-
stellung mittelalterlicher Agrargeschichte ermöglicht werden.
Man wird die ernste Mahnung nach sorgfaltigerer Quellenkritik^
welche Bloch anläfslich des eben besprochenen besonderen Falles
an die Wirtschaftsgeschichte gerichtet hat, immer wieder eindringlich
wiederholen müssen. Denn „dafis sie bis in ihre neuesten Darstellungen
hinein an der mangelnden kritischen Sichtung des Materiales leidet",
läfst sich für die älteren Quellen ebensowenig leugnen, wie er auch
bereits richtig betont hat, es werde sich „erst auf der sachverständigen
sorgsamen Bearbeitung des Stoffes die rechte Erkenntnis unserer Ver-
fassungs- und unserer Wirtschaftsgeschichte aufbauen'* lassen ^).
Ich habe diese Gruppe absichtlich an den SchluDs gesetzt, weil
ich mir vorstelle, dafs für sie nach deren Umfang und Verbreitung
eine besondere Möglichkeit der Veröffentlichung vorhanden wäre.
Traditionsbücher, Urbare und Lehenbücher fallen, innerlich zusammen-
hängend, in den Kreis der Aufgaben landesgeschichtlicher PublUcations-
institute. Nur von ihnen ist auch mit entsprechender Teilung der
Arbeit eine Bewältigung der ^rofisen Aufgabe zu erhoffen. Die Ge-
samtzahl dieser sogenannten Hofrechte aus der älteren Zeit pCI. und
XII. Jahrhundert) würde meines Elrachtens blofs einen mäfsigen Quart-
band füllen. Sollten die Mon. Germ. Historica zu gewinnen sein,
dafür etwa in der Abteilung Legea eine Heimstätte zu eröffnen, so
würden diese über weite Gebiete West- und Süddeutschlands hin auf-
tretenden Rechtsquellen die würdigste und wirksamste Publikationsstelle
gefunden haben.
Dies meine Vorschläge. Ich habe dabei nur des Nächsten ge-
dacht. Die gröfseren Aufgaben, welche die Agrargeschichte des
Mittelalters noch zu lösen hat — eine wissenschaftlich halbwegs be-
gründete Bevölkerungsstatistik, die Darstellung der äufiserst komplizierten
i) Jura cutiae in Munekwüare, Das älteste aiMnannitche Weistnm (Boooer Uni?.«
Progr. 1899).
2} Dom angeblieh älteste alamannieehe Weieium, Neues Archiv 25, 807 ff.
3) Die Jura euriae in Munchunlare. Zeitichr. fttr Gesch. des Oberrhems, N. F.
I5i 391 ff.
4) A. a. O. S. 414.
— 166 —
Meüologie und eine Geschichte der Preise — liegen heute noch ferne.
Sit können dereinst in Angriff genommen werden, wenn diese QneOen
wirklich gehoben sind.
Die zweite Hälfte des XK. Jahrhunderts hat eine ungeahnte Ver-
tiefung in der Erkenntnis geschiditlicher Vorgänge des sogenanntem
MRttelalters gezestigt, indem man die Lehre von der kritischen Behandlong
der Geschichtsquellen aufnahm und besonders jene der Urkunden in
substiister Weise entwickelte. Was vermag ein modemer Diplomatiker
nicht aus Urkundenformeln zu erschließen, die vordem gänzlich belai^-
los erschienen! Da& eine systematisch-kritische Behandlung der bisher
▼emachlä&igten agraigeschichtlichen Quellen in ähnlicher Weise aitdi
methodologische Forschritte für die Erkenntnis wirtschaftsgeschic^tlicfaer
Zusammenhänge mit sich bringen wird, steht sicher zu erwarten *) und
kann heute schon nicht mehr Prophezeihung sein.
Wie dber sind nun diese weit ausschauenden Vorschläge zu ver-
wirklichen? Die praktische Durchführung*) derselben wird in den
Einzelheiten naturgemäfs nach den verschiedenen Territorien eine
verschiedene sein. Die Besonderheiten der Entwickelung wie der
Überlieferung werden da einen bestimmenden Einflufs ausüben. Die
erste und dringendste Vorarbeit aber mufe allüberall sein, eine Ver-
zeichnung des überhaupt vorhandenen Quellenmateriales herzustellen.
Es ist wünschenswert, dafs man dabei nicht allzu oberflächlich vorgehe.
fßcht auf die Feststellung der äufseren Form ihrer Überiiefening srfl
sich diese „Quellenkunde" beschränken, nähere Angaben über den
Inhalt der Etnzelquellen und deren wirtschaftlich-rechtlichen Charakter
werden besonders wertvoll sein. Denn auf Grund dieser Verzeichnisse
wird man dann die Veröffentlichungen selbst erst zutreffend gestalten
können. Es kann und soll ja nicht alles publiziert werden. Das ist
auch gar nicht notwendig, falls eine Auswahl das wirldidi wertvolle
l) Besonders wertvolle Aufschlüsse verspreche ich mir n. «. tod sjstemmtischcB
Untersachangen der in Urbaren eoUialtenen Zinsangaben. Da sich (mindestens in Osttr-
reich) die Beobachtung machen läfst, dafs der Inhalt dieser Zinse ein nach der rechtlichen
Qualität des Besitzes, aber auch nach der sozialen Zagehörigkeit des Zinsenden Ter^
schiedener ist, wird man eben aas den Zinsangaben einen RttckscMafs aaf die rechtliche
Notar des ZinsrerhSItnisses «och dort gewinnen können, wo direkte arkondUche Zeugnisse
dafür fehlen. Vgl. österr. Urbare L i, LXXXVIII», dazn Text S. 34 N. iio; 35 N. Iii,
sowie CLVn* nnd daza Text S. 78 N. 314.
a) I>ie8e Aasfthnragen worden Tom Verfasser z. T. in der Konferenz Icode^etchichto
lieber Pablikationsinstitnte vorgetragen, die gleichzeitig mit dem 8. Peatschen Ifistorikcr-
tage in Salzborg stattfand.
J
— 1#I —
und für die Entwickelung* bedeutsame Material bietet. Dann kann
vieles roD deo mbkdtt belangmcl^n Quetten duM m EiipiiUnmgs-
zwecken, gewissermafsen als w^iteirq Belege für dieselbe Sache, ver-
wendet werden (in Anmerkungen oder der Einleitung).
Diese Auswahl wird fUr die altere Zeit leichtor sein schon deshalb,
weH da überhaupt weoigor Quellen dieser Art erhalten suid. Hier
dürfte sich formell in der Regel eme vollständige Edition derscilbeja
eoq^fehlen. Eine Auswahl wird hier nur sachlich am PlatzQ sein, dals
n^an vor allem solche Grundherrscbafiten ins Auge fafst, deren qualitative
und quantitative Bedeutung für die agrargeschichtliche Entwickelung
eiaes Territoriums besonders charakteristisch gewesen ist. Urbare
des Landesherren, der Bistümer und reichsunmittelbaren Grundherren
(geistlichen oder weltlichen Charakters, von Reichsabteien und Reiche-
grafengescblechtern) werden da zunächst zu bearbeiten sein. Daneben
mögen bei der Auswahl auch die in den natürlichen Wirtschailsbedin-
guagen gelegenen Unterschiede berücksichtigt werden. Neben Grund-
henschaften, deren Besitz sich vornehmlich auf ebenen Boden ausbreitete,
werden solche erwünscht sein, die im Gebirge reich begütert waren.
Auch die Verschiedenheit der ökonomischen Position, sei es an
widtitigen Verkehrslinien (Flüssen, Palsübergängen etc.\ oder ringsum
groüse Städte, wird bei Auswahl der Grundherrschaften Beachtung
verdienen, um instruktive wirtschafüiche Antithesen zu gewinnen«
Für die jüngere Zeit, etwa vom XV. Jahrhundert ab, dürfte eine
vollständige Wiedergabe der Texte kaum immer nötig sein. Auch
die agrargeschichtlicheiv Quellen nehmen ja da in einer solch enormen
Weise zu, dafis deren Bewältigung immer schwieriger wird. Allerdings
wird vielfach auch die Wirtschaftsführung und Verwaltung dieser Grund-
herrschafiea meines Erachtens schematischer, gleichartiger denn zuvor«
Wir können sie zudem eben ob dieser Fülle des Schreibwerkes in
der jüngeren Zeit deutlicher fassen und analysieren. Urbarialien dieser
Periode werden dementsprechend nidit sekea bloft in Aussägen oder
mit Zusammenstellung ihres Inhaltes in Tabellenform zu verdflfent-
licben sein.
Aliüberall aber dürfte endlich eine Kürzung bei der Wiedergabe
solcher Quellen dadurch möglich sein, dafe man die zahkeic^n Geld-«
und Mafsangaben in abgekürzter Form zum Abdrudc bringt und ebenso
auch die Masse der einen breiten Raum t^anspruchenden römischen
Zahlzeichen in die ohnedies deutlicheren arabischen, Ziffern umsetzt.
^^^^I^^^^^^^^^»V^^^^^^>^^»
— 168 —
Die Ausgestaltung der Denkmäler-
verzeiehnisse
Von
Max Wingcnroth (Karlsruhe)
Gleich im ersten Jahrgange der Deutschen GeschicktMätter wurden
die bis dahin erschienenen deutschen Denkmälerverzeichnisse durdi
E. Polaczek einer Gesamtbetrachtung unterzogen ^) , wobei er auch
einige Grundsätze (lir deren einheitliche Gestaltung festlegte. Die Publi-
kationen haben unterdes, wenn auch etwas langsam, ihren Fortgang
genommen und sind in diesen Blättern durch die gleiche Feder
gewürdigt worden. Die Fragen über die Ausgestaltung der Inventare
aber haben auf den Denkmalspflegetagen ') seit fünf Jahren teils in
öffentlichen Sitzungen, teils in gemütlichem Zusammensein reichlich^
Erörterung gefunden,, und nicht minder in den verschiedensten 2^itschriften
gelegentlich der Besprechung neu erschienener Bände. Endlich sind in
einer Broschüre, welche aus Beratungen von Kunstgelehrten und Prak-
tikern der Denkmalpflege hervorgegangen ist, die Grundsätze für die
formale Gestaltung der Kunstdenkmälerverzeichnisse in den preu(sischen
Provinzen ziemlich bis ins emzelne festgelegt worden •). Es mag daher
nicht unzeitgemäfs sein, auch in diesen Blättern einmal die Aufjgaben
der Inventare und die daraus sich ergebenden Forderungen einer
kurzen Untersuchung zu unterziehen. Wir befinden uns dabei sofort
auf festem Boden, wenn wir den Ursprung aller Denkmälerverzeichnissc
zum Ausgangspunkt unserer Betrachtung machen.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dafs dieser Ursprung zu
suchen ist in dem Interesse an der Erhaltung der Denkmäler.
Überall, wo dies envacht war, da war das nächste Bedürfnis, sich
einen Überblick über die zu erhaltenden Denkmäler zu verschaflTen.
i) Deuiseke Oeschdekisbläiter, L Bd. S. 270 ff. sowie 3. Bd., S. 137—144.
3) S. die Protokolle der Ta^ flir Denkmalpfl^e, insbesondere dms des ersten Ta^es,
Sept. 1900, (Berlin, Mittler & Sohn) S. 22, wo Garlitts Thesen über die Aufgaben der
InTentare und die daran sich anknüpfende Debatte wiedergegeben sind. In dieser Zeit*
Schrift wurde Über diese Tagungen kurz berichtet, 2. Bd., S. 59 — 60, 3. Bd., S. 61—63,
4. Bd., S. 55—58, 5- Bd. S. 56—59.
3) Die finrmaie Oe$taUung der Kunädenkmälerverxeieknuee der pre^ßieekem
Brovinxen. Wiih. Ernst & Sohn, Berlin 1902. (Auch in der Zeitschrift „Die Denkmal-
pflege*', Jahrg. IV, 6. August 1902). Ee darf hierbei rielleicht auch auf die Bemühungen des
Freiherrn t. Aufsefs erinnert werden, der innerhalb des Generalrepertoriums,
das einen wesentlichen Teil des Germanischen Nationalmnseums bilden sollte, aach an
eine InTentaristerung der KunstdenkmiUer dachte. Vgl. diese Zeitschrift 3. Bd., S. 264.
— 16« —
Da man nun sehr bald die Soige für die Erhaltung den dazu ge*
eig^etsten Stellen, nämlich den Staats- oder Kirdienbehörden über-
trug, so ist von diesen oder den von ihnen eingesetzten Kommissionen
sogleich die Forderung nach Inventaren erhoben worden. Zunächst
wurde dabei wohl nur an die Herstellung schriftlicher Inventare ge-
dacht; auf die Notwendigkeit, solche anzul^en, hat Schinkel bereits
l8 15/16 hingewiesen und mit richtigem Blick zugleich die besondere
Berücksichtigung der beweglichen Gegenstände empfohlen. Im Jahre
1842 wurde dann in Preulsen die Herstellung eines Inventars durch
den König gebilligt ^) und zunächst die Ausfüllung gewisser Formulare
durch die berufenen Personen unter BeihUfe der Ortsbehörden verfügt
Schon 50 Jahre früher, 1798 % war in der Schweiz der Beschlufs ge-
faxt worden, eine ausführliche Beschreibung aller alten Monumente
anzufertigen, eben als Grundlage für ihre Erhaltung ; in Baden hat gar
schon 1756 das Kirchenratskollegium der Markgrafschaft Baden-Dur-
lach Erhebungen über die Kunstwerke veranlafst, sowie die Anfertigung
von Beschreibungen und AbbUdungen derselben, welche sodann zu-
sammengestellt und veröffentlicht werden sollten ; die gleichen Gründe
führten in Frankreich, in Dänemark hierzu und so fort bis zu den
neuesten Bestrebungen Spaniens und Rufslands. Da indes die ad-
ministrative 2^ntralbehörde unmöglich allein die Sorge für die Er-
haltung tragen kann, so tauchte schon früh der Wunsch auf, die In-
ventare zu drucken und dadurch allen denen zugänglich zu machen,
welche zur Mithilfe berufen sind, also den Pfarrern, Lehrern, Lokal-
behörden u. a. m. Das Bestehen eines gedruckten Inventars ist ferner
oft schon an sich ein Schutz gegen die Verschleuderung vieler Stücke.
Nie jedoch darf es als das letzte Ziel gelten, da(s der Staat durch ad-
ministrative Maisregeln oder durch die Gesetzgebung für die Monumente
sorgt, das Ideal besteht vielmehr darin, die Nation allmählich zu einem
derartigen Verständnis der Denkmäler heranzuziehen, dals man —
paradox gesprochen — schliefslich die Fürsorge ihrem selbständigen
Handeln überlassen könnte. Diesem Erziehungswerk müssen die In«
ventare dienen, sie' müssen der Bevölkerung den Wert ihres Besitzes
klar machen, den Wert auch des einfachen Stückes') für die Ge-
schichte der Heimat. Dazu sind die sie auch in hervorragendem
i) E. Wnssow, Die ErhaUung der Kunstdenkmäler in den KuUunUuüen der
Otgemcart, Bd. I md n. (Berlin 1885.)
2) S. Festgabe auf die Eräffmmg det eekweixer, Landeitnuaeume, (Zürich 1898.)
Emkitiing, sowie Denkmalpflege, Jahfg. I, S. 53.
3) VgL Garlitt uf dem ersten Deakmalpflegttag n. a. O. S. 25.
— ITO —
Ma&e geeignet. D«oii während di« KuBstgescbiclile, deven i
ziirftigen imd zünftigfen Veitretem im XIX Jabhundert maa ji
£rw<eckun|f des Interesses gewifii zu danken bat, steh doch »n^
den bedeutenderen oder für die Entwickelong irgendwie ¥
Stücken befassen kann, bat das Inventar die MögKcbkeit, au
Werke des Altertums einzugehen. In diesem Sinne wurde bei d
nennung Quasts zum Konservator in Preufeen (1843) ^^^ ^^ Wert
der unbedeutenden Sachen hingewiesen; gerade durch ihre Be
sichtigung glaubte man hoffen zu dürfen, nicht nur den V^rwal
behörden das nötige Hilfsmittel zu geben, sondern auch den gesc
liehen Sinn überall zu wecken, kurz: den berufenen Persoaen
Grundlage zu bieten für die Erhaltung der DenkmUer, der Bevolk
die Anregung, im gleichen Sinne zu arbeiten, das ist die Haaptatofj
der Verzeichnisse,
Dafs auch heute die Gefahr ftir die Denkmäler der Vorzeit
gTofa genug ist, um so drohender, je später eine rationelle Denkai^
pflege auf Grund eines Inventars möglich wird, darauf brauche 1
nicht näher einzugehen; maxi stelle sich nur einmal vor, was «
jener Schinkelschen Anregung in Deutschland verloren oder ins An
land gegangen und zerstört worden ist. Deshalb hätte die cfs
Forderung an alte Inventarisationen sein müssen und muCs es hev
noch sein: möglichst schnelle Vorlage. Des weiteren ist a
absolute Vollständigkeit zu sehen. Da wir beute nach de
vielen Wandlungen des Geschmackes glücklich so weit sind, ein Wa
des Barock nicht von vornherein geringer zu achten, als eines d<
Gotik, da wir femer grundsätzlich, vom Standpunkte der Denkma
pflege aus jedes Werk früherer Zeiten, das den Charakter sei«
Epoche trägt oder als geschichtliches Monument irgendwelche Bc
deutung hat, der Erhaltung für wert erachten, so muis eben aiic
das einfachste Stück in dem Inventar genannt sein ; es kann hier pei
sönlichem Ermessen kein Spielraum gelassen werden. Selbstverstind
Hch kann man sich bei minder wichtigen Stücken mit emer knappe
Notiz begnügen. Im übrigen ist eine klare Beschreibung zu verlanget
die alles zur Orientierung über den Bestand Nöt^e enthält; endltd
das Mals von Illustration, das hierfer erforderiich ist. Das stml ts
allgemeinen die Forderungen der Denkmalpflege an das Inventar, hmte
denen alle übrigen Wünsche zurückstehen müssen ^).
i) Daft da» oben AnftgefUlkrtt (He hMptslcklidiste A«%abe der Immmftwr^ »ei, wir
TOD den mebteo InventarisatioDen Mierkannt. Siekt «. ft. die Vorrede n d«B K«M
denkmileni der RhefnpfOTins Bd. I, die Kenit- «ad CreMkichttdeAkaalUr -^m Qro61
— WJ —
lite ji Es ist 9btx Ickkt eiazuBehen , dais man bei Heraosgabe eines
D^B aolcheii Werkes, das aocb bei kürzester Fassung sehr oä^mhaAe Kostea
(jj ^^ verursacht, soweit möglicfa, die Wünsche weiterer Kreise zu befriedigeii
^g Micht, schon allein um die Absatzfabigkeit der PubSkation zu erhöhen.
1^ Darüber l»naus ist das Interesse der Wissenschaft, zunächst also das
^^j der Kuns^escbichte, zu wahren, welcher die Inventare erst die gerade
^j^l für Deutschland so sehr herbeigesehnte Grundlage bieten^); dazu
,' kommen die Wünsche der Künstier, besonders der Architekten, die
in dem Buch Anregung für ihr Schaffen suchen *), und nicht zuletzt
die des Historikers, der ohne der künstlerischen Bedeutung jedes
einzelnen Werkes Gewicht beizulegen, dieses an sieb als Denkmal
einer bestimmten Zeit betrachtet und vor allem eine genaue zeitliche
Bestimmui^ seines Ursprungs braucht. Eine etwas gröisere Ausführ-
lichkeit verbunden mit einer möglichst reichen Uhistratioii wird aber
Su alle diese Kreise das Weiic erst brauchbar machen. Beides bt
zugleich auch nötig, wenn die Inventarisation dazu beitragen soll, in
allen Schichten das Interesse für die Zeugen der Vorzeit und ihre
Pflege zu erwecken. Von diesem Standpunkt aus mtab jedoch —
und das kollidiert etwas mit der zuletzt erhobenen Forderung -^ auf
möglichste Billigkeit des emzelnen Bandes gedrungen werden. Man
sieht, es ist viel gegeneinander abzuwägen, will man den für die In*
ventarisation richtigen Weg vorzeicfanen.
Das Wichtigste ist jedenfalls die möglichst rasche Voll-
endung. Davon hängt es ab, wie weit die aiKleren Forderungen be-
friedigt werden können, vor allem also von den zur Verfügung stehen-
den Mitteln. Selten oder nie sind diese so unermefslich, dafs man
Bnzäbfige Kräfte zur Verfügung hat und somit das Werk auf txeitester
Girundlage ausführen kann. Gewöhntich handelt es sich darum, nach
^ Mecklenbirg-Schwerin Bd. I (besonders die Ansütze zur Iiht. im JaKre iSii). Der Slaod-
'J pvnkt ist in der Denkmalpflege Jahrg. I, S. 34 ton Cohte scharf präzisiert worden.
^ Anders ist der später ansaiHhrende Standpunkt Bickells, sowie der a«a gßaz anderen
Bedingungen beraosgewachsenen Schweizer Inveniarisaüon. Anders vor allem die bajeriscbe
Ansicht: „Das Inventar kann über das, was za erbalten ist, keinen erschöpfenden Ober-
^ blick geben" (Hager aaf dem ersten Denkmalpflegetag, Dresden 1900, ProtokoU S. 29).
D^agegen steOen die Gurlit «sehen Thesen diesen Zweck allen anderen veran. (S. eben-
daselbst S. 3 2.)
I) Siehe daza die „Ban- nnd Knnstdenkmäler Westfalens <<, i. Band, Kreis Löding^
hansen. Vorwort, ebenso das Vorwort zu Bd. I der Konstdonkmaler 4er Rheinprovinz,
KsMtdeaknäler des Grofsh. Bade« Bd. I, Vorwert S. O n. Gnrlitt a. a. O. S. 33.
3) ArchüahUn, die ütsk mit der Geschichte der Archilektar bellMseo^ sind in dieser
TMigkeit oaMrUch KwMthistorfter und deehalb unter diesen mit eiabegriffeo.
— tu —
aicht albsu reicheo Mitteln die Grenzen ztt bestimmen, innerhalb deren
eine rasche Durchführung möglich ist. In einem kleinen Lande wie
Schaumburg-Lippe könnte leicht so ziemlich allem Genügre ge-
leistet und das Werk doch rechtzeitig vorgelegt werden. Auch
den Reigen beginnende Inventar des Regierungsbezirks Kassel
rasch zu vollenden, kann aber schon lange nicht mehr als Muster
gelten. F. X. Kraus hat dann in Elsafs-Lothringen den Beweis
geliefert, dais man selbst in einem so grofsen und reichen Territorium
in absehbarer Zeit (in i6 Jahren) die Arbeit bewältigen kann. Darin
liegt ein Hauptverdienst des Werkes, dessen Mängel durch die Art
seiner Entstehung leicht zu erklären sind. Eine Neubearbeitung-, nut
der bei allen Inventaren zu rechnen ist, kann sie beseitigen, zunä<dut
haben wir aber doch einmal den wünschenswerten Überblick. So war
es auch unbedingt das richtigste von Lutsch, bei der Knappheit der in
Schlesien vorhandenen Mittel, vorerst die Beschreibung ohne AbbS-
dungen zu drucken, und später, sobald es möglich war, die Illustration
in Gestalt eines ja sehr schön ausgefallenen dreimappigen Atlasses nach-
folgen zu lassien, dessen einzelne Tafeln handlich sind und sich des-
halb beliebig im Unterricht und bei Vorträgen verschiedenster Art als
Anschauungsmaterial verwenden lassen. Wie Lutsch selbst sich geäuüseit
hat ^), kam es ihm vor allem darauf an, eine Grundl^e zu schaffen, auf der
fufsend die Pflege der Denkmäler wirksam in die Hand genommen werden
könnte. Wir müssen dad insbesondere z. B. dem bayerischen Standpunkt
gegenüber für das allein Richtige halten. In Bayern ist eine Vollendung
des Werkes wohl vor 40 Jahren nicht zu erwarten, da für den einen
Regierungsbezirk Oberbayem schon über 12 Jahre nötig waren. Was
nützt da der herrlichste Büderatlas! Bei den raschen Fortschritten
der Wissenschaft und der Illustrationstechnik werden die ersten Bände
längst veraltet sein, ehe der letzte erscheint. Und gerade in Bayern
ist ein Inventar so dringend nötig. Deshalb haben verschiedene denk-
malreiche Städte, wie Nürnberg und Rothenburg, eine Art Vorinventari*
sation von sich aus in die Hand genommen; daneben ist es dann sehr
zu begrüfsen, wenn über wichtige Baudenkmäler mit ihrem reichen
Inhalt Sonderpublikationen erscheinen, wie uns gerade eine über Eb-
rach ') vorliegt, in welcher ein vorzügliches Abbildungsmaterial bet-
gebracht wird.
i) J>enkiiuapflcge Jabi^g. I, S. 56.
fl) Du KioBterkittke »u Mraeh tod Dr. Joh. Jaeger (Stabelscher Veriag, Win-
bwrg 1903). Der Verfasser, seit langen Jahren Geistlicher an der in den ettjemaligeo Kloster-
gebänden nntei^gebrachten Anstalt, hat sich mit aafserordentlicher Liebe in die Geschichl«
— 178 —
Vollständigkeit — aoweit sie bei einer ersten Bearbeitung,
den ZußUligkeiten derselben und der Unzulänglichkeit aller Menschen-
kraft überhaupt möglich ist — lautet die zweite Forderung, die wir
stellen müssen, auch hier im Gegensatze zu dem bayerischen Inventar,
bei dem schon in romanischer Zeit gesiebt wird, je später desto stärker.
Die Mehrzahl der Inventare nimmt den entgegengesetzten Standpunkt
ein. GroOse Meinungsverschiedenheit herrscht dagegen über die zeit-
liche Grenze, die für die Aufnahme in das Inventar ma&gebend ist,
AO in erster Linie darüber, ob' die prähistorischen, römischen und ger-
manischen Altertümer hineinbezogen werden sollen ; die meisten Publi-
kationen beginnen, je nach den Denkmälern des Landes, mit der
Karolinger- oder Ottonenzeit. Ich möchte glauben, dafe bei Bau-
denkmälern der vorbeigehenden Epochen oder vielmehr solchen Stücken
überhaupt, die noch in situ vorhanden sind, gar kein Zweifel bestehen
kann: sie müssen ins Inventar, schon deshalb, weil man den mit der
Denkmalpflege beschäftigten Behörden schlechterdings nicht zumuten
kann, daüs sie für jede Gattung von Denkmälern zur raschen Orientierung
ein neues Buch, wenn nicht gar einen versteckten Aufsatz heraussuchen
sollen^). Höchstens dann könnte darauf verzichtet werden, wenn für
ein Gebiet etwa ein Inventar der vorgeschichtlichen Denkmäler,
wie es seitens der Vertreter der Altertumsforschung sdion mehrmals
gefordert worden ist, bereits vorliegen sollte ; dann würde ein Verweis
geni^en. Was die in Sammlungen überführten Stücke betrifft — aus
diesen Perioden wohl die Mehrzahl — , so ist dafür mafsgebend, wie
man sich überhaupt zu der Behandlung der Sammlungen stellt. Mail
wird wohl im allgemeinen den gleichen Standpunkt einnehmen, wie die
eingangs zitierte Broschüre über die Verzeichnisse in Preufsen, nämlich :
„Das Verzeichnis hat alle gröüseren und kleineren öffentlichen und
privaten Sammlungen, sowie Einzelbesitz, sofern er von anerkannt
künstlerischem Wert ist, zu berücksichtigen. Bei gröfseren, öffent-
lichen Sammlungen mit eigener wissenschaftlicher Verwaltung genügt
des Klosters Tertieft and in fleifsiger Arbeit aUes beigebracht, was Hir die Geschichte
derselben und seiner Bauten von Bedentang ist. Den baageschichtlichen Fragen, die hier
ja sehr weit greifen, ist er vieUeicht nicht ganz gerecht geworden. Henrorragend ist das
Abbildangsmaterial, wofür wir dem Verfasser und der Firma groOien Dank schulden. Was
iigend interessiert, ist im Bild wiedergegeben ; die Blnstrationen sind, mit den anvermeid-
lichen Ausnahmen, durchweg gut, die Ausstattung auch sonst gediegen.
]) SellMtTerstindUch können die Inventare allein nicht die Grandlage fl^ «i»« «im.
mrbeitende Gutachten ttber die Erhahung bieten, wie das Hager a. a. 0
betont bat. In vielen FäUen aber werden sie doch gentigen, um su beurl'^'
Stttck einen grofsen Aufwand an Untersudrang oder Überhaupt ein Gitr
— 176 —
knapp und klar sei. Aber man wird die Knappheit nicht übertreibea
dürfen und wird der Individualität die genügende Freiheit lassen müssefl.
Denn der Mensch ist keine Maschine und verliert bei allzu grotser
Schematisierung leicht seine Elastizität» die für das hier und da wahrlidi
recht trockene Geschäft der Inventarisation wichtig genug ist. Deshalb
möchte ich auch nicht die schmückenden, allgemeinen Beiworte ver-
bieten. Warum nicht einmal etwas schön nennen, auch wunderschön,
warum nicht einmal seiner Begeisterung freien Lauf lassen, wenn nur
die rasche Vollendung nicht darunter leidet und man damit nicht die
Crenauigkeit der Beschreibung ersetzen will. Tadelnde Beiwörter aller-
dings sind durchaus zu vermeiden. Man rede nicht von einem ge-
ringen^ sondern von einem einfachen Werk oder von einem Werk in
den üblichen Formen dieses oder jenen Stües. Derartige Ausdrücke
aber sind nicht zu vermeiden, wenn nicht allgemein ausgemacht wird,
durch Weglassung jedes Beiwortes eben das sagen zu wollen.
In der Einzelbeschreibung wird man genaue Angabe des Stand-
bezw. Aufbewahrungsortes, des Materials, der Technik, der nötigen
Mafse, der Inschriften, der 2^ichen oder Marken, der Herkunft und
eine möglichst präzise Datierung verlangen. Es ist das — mit Aus-
nahme der beiden ersten Punkte — natürlich nur mit Einschränkungen
zu verstehen, da sich sonst die Vollendung allzusehr hinauszöge.
Man wird nicht bei jedem Kelch die Mafse angeben, nicht bei jedem
BHd, in gröüseren Ländern auch bei Glocken, selbst bei alten Glodcen
nicht, wo nicht in selteneren Fällen eine Zeichnung gegeben wird.
Wünschenswert wäre das alles wohl, wer aber weiis, wie zeitraubend
schon die nicht zu umgehende Besteigung der Glockenstühle ist, der
wird vernünftigerweise diese Genauigkeit auf eine zweite Auflage ver-
schieben. Auch die Glockeninschriflen können nicht alle gegeben
werden. Was hätte es für einen Sinn, all' die Hunderte von £iist
gleichlautenden Inschriften z. B. der Strafsburger Familie Edel aus dem
XVII. und XVIII. Jahrhundert genau abzuschreiben ? ^) Natürlich mufs die
i) Hier wäre es vor aUem Sache der Geistlicheo, vielleicht aach der Lehrer, mit-
saarbeiten. In den Akten des Pfarrarchivs könnte recht wohl niedergelegt sein, welche
Jahreszahl und ob eine Inschrift vorhanden ist usw. Aber wie oft trifft man anch rttstige
GeisUiche,^ die ihren Kirchturm noch nie bestiegen haben. Und doch wäre es ihnen so
leicht gemacht, ttber Glockenknnde sich mm informieren. VgL Bergner, LtmdackafiL
CRoekenkunde in den Dentschen Geschicbtsblltteni, 4. Bd., S. 125 «nd dan Liebes-
kind, Literatur %ur Ohdbmhmde ebda. S. 339 & Eine sehr frisch ond aoregeod ge-
schriebene EinfUhmng in die Materie mit all ihrer Sage and Poesie besitsea wir seit ksraem
in dem Tkrm- tmd OfMken^^üeMem, Eine Wanderung durch deutsche Wächter- und CUockcft»
Stuben von Dr. Karl Bader (Giefsen 1903, J. Rickers Verlag) mit httbtcheo Abbildungeu.
— 177 —
Tatsache, dafii es eine Glocke gerade dieses Gtefeers ist, und die Jahres-
zahl jedesmal erwähnt werden, da der Wirtschaftshistoriker nicht nur den
g'eographischen Umkreis, indem jener lieferte, sondern auch möglichst die
Zahl der in einem Jahre gegossenen Glocken kennen lernen will. Anders
steht es mit den frühen, seltenen und deshalb wichtigen Glocken. Hier sind
selbstverständlich sämtliche Inschriften genau wiederzugeben, in der Art,
wie überhaupt in dem Werke die Inschriften behandelt werden. Auch
darin herrscht ja groise Verschiedenheit Jene Broschüre schreibt vor:
„Inschriften von Bedeutung seien mit allen Schreibfehlern, Abkürzungen
und de^leichen anzuftihren''. Das rheinische Inventar sieht bei den
gründlichen Vorarbeiten von Brambach und Kraus von einer Wieder^
gäbe des Charakters der Buchstaben ab , da diese doch immer un^
zulänglich seien. Letzteres ist dann zutreffend , wenn kein Faksimile
der Inschriften gegeben wird, was aber bei sehr wichtigen sowohl, als
bei solchen, deren Zeit nur durch die genaueste Untersuchung des
Charakters der Buchstaben — ich erinnere an die für die Baugeschichte
so bedeutenden Inschriften im Erdgeschofs des Freiburger Münster«
tnrmes — ermittelt werden kann, endlich bei solchen, die für die
Epigraphik besonders interessant sind, stets geschehen sollte. Bei den
übrigen Inschriften bis ins XVI. Jahrhundert hinab, deren Text in
extenso gegeben werden mufis, ist es, wie das badische Inventar zeigt,
wohl durchführbar und auch nicht zwecklos, den Charakter der Schrift
soweit möglich durch den Drude zu kennzeichnen, aber mit Auflösung
der Abbreviaturen selbstverständlich, aufiser wenn Zweifel über ihre
Bedeutung obwalten. Von den späteren unglaublich zahlreichen,
redseligen und dabei inhaltslosen Inschriften ist, mit Ausnahme der
historisch bedeutenderen, nur eine kurze Inhaltsangabe zu machen,
etwa vorkommende Namen aber und Daten verlangen die genaue
Schreibweise des Originals. Ähnliche Beschränkungen wird man sich
auch bei der Wiedergabe der Goldschmiedemerkzeichen, der Zinn-
zeichen usw. auferlegen. Reine Frage, es wäre sehr schön, wie es
neuerdings im Königreich Sachsen geschieht, sie nach dem Vorgange
Mark Rosenbergs faksimiliert in doppelter Gröfse wiederzugebei^-
Allein welcher Aufenthalt für das Ganze ! Daher wird man die Er-
fiölhmg dieser Forderung besser auf die Neubearbeitung verschieben.
'Dsgtgtn müssen die Steinmetzzeichen vollständig gegeben werden,
weil sie für die Baugeschichte oft sehr wertvoll sind, ebenso Künstler-
zeichen an Bauten in Photographie oder genauer Zeichnung.
Bei Bauten ist eine genaue Baubeschreibung und vielleicht ein
kurzes Resümee der daraus sich ergebenden Baugeschichte uneriäfslich.
14
— 178 —
Urkundliche Foischuogen sind im allgemeinen ausgeschloesen, wie aucfa
bei allen anderen G^enstanden der Inventarisation. Das ist jedem
von der Kritik in dieser Richtong gemachten Vorwurf g^nenüber un-
bedingt festzuhalten, Kosten und Dauer der Arbeit würden sich da*
durch ins ungeheure steigern ^). Bei den wichtigsten Bandenkmälcra
des Landes allein können derartige Forschungen gefordert werden.
Bei ihnen wird auch in der ganzen Behandlung eine gröisere As»*
fiihrlichkeit nötig, werden gröüsere knnstgeschichtliche Veigleiche go
stattet sein. Da gibt es aber meist auch gröisere Vorarbeiten tmd
sind vielleicht auch besondere Mittel zu bekommen. Ein derartiges
Überschreiten der eigentlichen Grenzen der Inventarisation mtifr
aber stets im Belieben des einzelnen stehen, da derselbe keine
Aktuamatur sein darf, die nur registriert, er mu(s — wie schon
betont — Freude an seiner Arbeit haben und sich deshalb hier
und da gehen lassen dürfen. So scheint es mir auch kein gro&ea
Unglück, wenn einmal die Behandlung eines dem Inventarisator lx>
sonders lieben Gegenstandes aus dem Rahmen des ganzen Werkes
herausfällt Der verstorbene verdienstvolle Konservator der Provinz
Hessen-Nassau, B icke 11, ist ziemlich der einzige, der über die oben
gesteckten Grenzen weit hinausgegangen ist. Seiner Ansicht ') nach sollte
ein Inventar ein Quellenwerk sein bestimmt, den Bestand der Denkmäler
Cestzul^en, und zwar in Abbildung und Text, so dais ans ihm auch nach
dem unabweisiichen Verlust einzelner in späteren Jahren nodi ausreichende
Vorstellung davon zu gewinnen ist; danach sind alleErörtcrungen über die
Baugeschichte, auch die Durchforschung des Urkundenmaterials schon
jetzt anzustellen, solange noch alles dazu Erforderliche vorhanden ist
Das ist ein Standpunkt, auf den man sich erst bei einer Neubearbeitung
wird stellen können. Von ihm aus und im obigen Sinne mag man in
i) Danach sind «ach die Ai^riffe abxnweison, die Kre bB*Aiaorb«ch (AleaMumia»
N. F. IIl. S. 371 ff.) gegen die dritte Abteilung des Bandes IV der Kunstdeokmäler des.
Grofsh. Badens gerichtet hat Die von ihm vermifste Qnellenforschang kann in keiner
Weise von den Inventarisatoren verlangt werden. Eine wertvolle Unterstützung würde
ihnen aber zateil, wenn die Anregung Hansens {Archive und Kunsigeschiehtef Deutsche
GeschichUbl. Bd. 4, S. 18 ff.) überall auf fruchtbaren Bodeo fiele, wenn oSmlidi jeder
Forscher, auf welchem Gebiete es auch sei, die bei der Durchaicht voe Urkaodeii s«
anderen Zwecken sich tnfiiUig «rgebenden kunstgeschichtlichen Notizen, festhielte oad an
geeigneter Stelle mitteilte. Wären z. B. in dem vorbin angeführten Fall die pachtrSglich
in der Besprechung von Herrn Krebs gegebenen Notizen aus Urkunden irgendwo publiziert
oder signalisiert gewesen, so hätte der Inventarisator sie sicherlich mit Freuden benutzt
3) Bau- und Kumtdenkmäier im Regiemngabexirk Qelnkmmen, Bd. I, bearb^
von L. Bickell. (ao8 S. Teit and 350 Tafeln.) Vorwort
— 179 —
manchen Fällen auch zu Ausgrabungen schreiten, wenn nur durch sie
ein sicheres Resultat über die Geschichte des Baues zu gewinnen ist.
Um nun von der Beschreibung des einzelnen auf d|e Gesamt'^
anläge überzugehen, so ist die Anordnung in den meisten Fällen die,
dafs innerhalb eines Verwaltungsbezirks die einzelnen Orte alphabetisch
aufeinander folgen; bei dem einzelnen Ort zunächst die Angabe der
Literatur, eine kurze Geschichte und Angabe der ersten Erwähnung
des Orts und seiner Namensformen, hierauf Stadtanlage, Befestigungen,
Tore, Burg, dann Kirchen, sonstige kirchliche Gebäude, Profanbauten,
zunächst in öffentlichem, dann in Privatbesitz, endlich Varia, darunter
auch Sammlungen, soweit sie nicht bei einem der erwähnten Gebäude
schon behandelt sind. In der Angabe der Ortsliteratur verlangt z. B.
das Inventar der Rheinprovinz möglichste Vollständigkeit, vor allem
Angabe der handschriftlichen Quellen, Urkunden- und Aktenbestände.
Bei den einzelnen Denkmälern wird man sich dann mit Hinweisen hierauf
begnügen können. Die verschiedenen Besitzer der Orte sind anzuführen,
womöglich ihre Wappen und die des Ortes sind in ihren Wandlungen kurz
zu beschreiben und, wenn die Mittel dazu reichen, abzubilden, wenn nicht
wie in Baden eine besonderePublikation der Gemeinde wappen besteht. Eine
wichtige Forderung, der nicht durchweg Geni^e geleistet wird, ist die nach
Angabe der ehemaligen kirchlichen Stellung einer Kirche (z. B.Pfarr-oder
Filialkirche, Jahr der Erhebung zur Pfarrkirche usw.) ^), sowie ihres Titels,
bei protestantischen auch des ehemaligen katholischen Titels. Bei Klöstern
mufs selbstverständlich kurz ihre Geschichte, bei Bturgen die ihrer Herren
gegeben werden. — Dodi ist es hier unmöglich, genauer auf die
Einzelheiten der Beschreibimg einzugehen. Allmählich haben sich feste
Gebräuche ausgebildet, wie wir sie besonders in einigen sich ziemlich
ähnlichen Inventaren finden, z. B. demjenigen der Rheinprovinz, der
Groisherzogtümer Baden, Hessen, Mecklenburg-Schwerin u. a.; die
gewonnenen Erfahrungen haben in der viel zitierten Broschüre ihren
Niederschlag gefunden, worauf hier verwiesen werden kann.
Dagegen sind noch zwei wichtige Fragen kurz zu streifen, die der
Illustration und der Heranziehung der Geschichte. Was letzteres
betrifft, so wird man mit Rücksicht auf die wichtigste Forderung —
der schnellen Vollendung — bescheiden sein müssen : soweit es zum
Verständnis der Monumente unbedingt nötig ist, muis man gehen«
darüber hinaus nur, soweit die Veranlagung der Inventarisators oder
die ihm leicht zur Verfugung stehenden Hilfskräfte es gestatten« Für
t) In welcher Diöxete die Kirche Ug, m welchen Kapitel »ie g^örte, das »t Sit.
die .kimttgeschiehlliche BearteüiiDg oft sehr wichtig«
14*
— 180 —
eine Neubearbeitung kann mehr verlangt werden, zunächst als Eiih
leitung jedes Bandes eine präzise Darstellung- der Geschichte der be^
handelten Gegend, beginnend mit ihrer kurzen topographisch-geo-
logischen Beschreibung, wobei auch die in ihr vorhandenen MateriaHen
Steine und Hölzer u. a. mitzuteilen sind; im weiteren Verfolg müssen dam
die Besitzverhältnisse, die Kirchengeschichte, die Vefkehrsweg-e und
die Handelsbeziehungen bis zum XVIII. Jahrhundert, oder besser wohl
bis zur Gegenwart geschildert werden. Aber auch hier wird stcö
der Stand der Forschung auf diesen speziellen Gebieten mafj^[ebenc
sein. Die Leser dieser Zeitschrift wissen am besten, dais für viele
Gegenden eine Antwort auf die eben gestreiften Fragen nicht so ohne
weiteres zu geben ist Daran schliefst sich passend eine kunstgescbicht-
liehe Skizze an, in welcher der Gang der Entwickelung, die bedeutend-
sten Denkmäler und die verschiedenen Klassen von vorhandenen Denk-
mälern behandelt werden. Die Broschüre will das an den Schlafs
stellen, weil es ja eigentlich das Endergebnis der Inventarisatton sei,
was zwar richtig, aber doch kein triftiger Grund ist. Viel geeigneter
steht es am Anfang, damit der, welcher nicht die Zeit hat, den ganzen
Band genau durchzusehen, hier rasch die nötige Orientierung findet. —
Ähnliche Einleitungen wird man femer, soweit sie nicht in der all-
gemeinen enthalten sind , noch den einzelnen Orten mit selbständ^
bedeutender Orts- und Kunstgeschichte vorsetzen. Das vollendete
Inventar mu(s dann seinen krönenden Abschlufs finden in einer frisdi
geschriebenen Kunst- und Altertumsgeschichte des gesamten Landes.
Dafs die Illustration so reich wie möglich sein soll, ist klar. Als
einschränkendes Moment wirken aber gerade hier die vorhandenen
oder vielmehr nicht vorhandenen Mittel ; auch darf der illustrative Teil
nicht so überwuchern, dafs schliefslich ein in absehbarer Zeit nicht zu
vollendendes Prachtwerk aus dem Ganzen wird. Gewifs, Bilder sagen
mehr als Worte, aber was nützt praktischer Denkmalpflege die schönste
Illustration, wie in Württemberg — ich meine nur die friiheren, von
Paulus bearbeiteten Bände — , wenn der Text zwar recht poetisch*
Feuilletonistisch ist, aber nur die Hälfte der Denkmäler enthlUt! Das
Buch soll doch nicht in erster Linie ein Vorlagewerk für Architekten
und Kunsthandwerker sein. Bei den beschränkten Mitteln hat man
deshalb mit geringen Ausnahmen von der Herausgabe eines Atlasses
zunächst abgesehen. Ein solcher erhöht auch nicht gerade die Be-
quemlichkeit des Gebrauchs. Das empfehlenswerte Lexikonformat ge-
stattet übrigens für die meisten Abbildungen eine recht genügende
Gröise; ich möchte auch ftir die Zukunft wünschen, dafs nur die Haupt-
— XBl —
werke, welche grolses Format verlangen, im Atlas gegebqn werden,
wenn man nicht für den Text der leichteren Transportabilität halber
das kleine Ciccroneformat wählen will und dann alle Äbbildtingen —
mit Ausnahme der unentbehrlichen Grundrisse — ausscheidet. Für
die Abbildungen ist als Grundlage, wo es der Natur des Gegenstandes
nach irgend möglich ist, die Photographie zu empfehlen, welche dann,
in Lichtdruck oder durch Netzätzung im Texte wiedergegeben wird *).
Letzteres Verfahren wirkt ja sicher künstlerisch oft recht unbefriedigend»
insbesondere in der Mischung mit der Wiedergabe von Zeichnungen,
der Holzschnitt stand besser zum Druck, die Mischung aber ausschlieüsen
zu wollen, wie kürzlich ein Kritiker ^) gefordert hat, zeugt von gänz^
lieber Unkenntnis aller Inventarisationswerke und absoluter Verständnis-
losigkeit für ihre Aufgaben. Daneben sind zeichnerische Aufnahmen
nicht zu entbehren, sowohl für viele Details als insbesondere für die
in reichlichster Zahl zu bringenden Grundrisse, Querschnitte, Längs-
schnitte usw. Es ist wünschenswert — bei letzteren Aufiiahmen ja
selbstverständlich — , dafs der Illustration möglichst die Mafse bei-
gegeben werden. Man wird ferner grofsen Wert legen auf reich-
liche Publikation des wichtigen Quellenmaterials, welches uns in
alten Abbildungen, Stadtbildern und -planen erhalten ist. Endlich
mag es wohl hier und da angehen, zur Verdeutlichung der Bau-
geschichte Rekonstruktionen früherer Zustände zu bringen. So ist
eine gewisse Buntscheckigkeit in der Inventarisation gar nicht zu ver-
meiden, und ich halte es danach für kein grofses Unglück, manchmal
sogar für wohltuend, wenn verschiedene zeichnerische Manieren sich
in einem Bande geltend machen.
An Kartenmaterial ist jedenfalls zu verlangen eine Karte der
Gegend mit Einzeichnung der alten und neuen Verkehrszüge, Grenzen usw.,
wie sie sich etwa in den Denhmälerkarten der Pravnuf Schlesien (für
jeden der drei Regierungsbezirke eine im Mafsstab i : 5ooO(X)) finden,
und mit Angabe des Charakters der an jedem Ort vorhandenen Denk-
mäler, etwa durch farbige Unterstreichungen *). Das wäre die Vor-
bereitung für eine grofse Stilkarte des ganzen Landes, schliefislich ganz
Deutschlands.
i) S. die Schrift: Die formmle Gestaltong etc. a. a. O.
2) S. Sttdwestdemtscbe ScholbläUer 1904. S. 258.
3) Aaf den eben erwähnten schlesiscben Denkmälerkarten (= Verzeichnis der
Kmutdenkmäler der Provinx Schlesien Bd. VI, im amüichen Aaftrtge bearbeitet Ton
Hans Lntsch, Breslan 1902) bedeutet rot: romanisch, grün: frtthgotisch, blaa: spät-
gotisch, orange; Renaissance, gelb: Barock, braon: Holz (Kirchen).
— 1«2 —
Um dfit die schon oben berührte Frage des Formats zorück-
2tikommen, so empfiehlt sich nach den bisherigfen Erfahrungen in erster
Linie Lexikonformat mit etwa 19 : 12 cm bedruckter Fläche, vidleicfat
auch ein kleines Taschenformat wie das des Burckhardtschen Cicerones.
Letzteres gestattet allerdings keine genügende Gröise der AbbUduogen,
denn diese über zwei Seiten fortzudrucken, wie es die Broschüre znra
Notfall empfiehlt, halte ich für durchaus ungeeignet Ein gfröfseres
Format aber, wie es z. B. das westfälische und das westprenftiscfae
Inventar haben, ist entschieden zu verwerfen. Derartige Bände sind ja
selbst im Koffer kaum mitzuschleppen. Für die sonstige Ausgestaltm^
des Druckes kann ich wieder auf die Broschüre verweisen, mit der
man in den meisten Punkten sich einverstanden erklären wird. Vor
allem ist auf die Lesbarkeit des Textes groiser Wert zu I^en;
diese wird aber sehr vermindert, wenn — wie z. B. im badisdien
Inventar — die Sätze durch eingeschobene Literaturnachweise oder
Zitate zerrissen werden. Derartiges gehört an den Anfang oder den
Schlufs des betreffenden Abschnittes, wenn nicht gar, wie die als
Bel^e zitierten Werke, in Anmerkungen unter die Seite. Auch dürfte
es sich vielleicht empfehlen, den lesbaren Teü durch besondere Typen
auszuzeichnen. Seitenüberschriften sind möglichst genau und zur
raschen Orientierung geeignet zu geben, daneben Randbemerkungen.
Warum die Broschüre sich dagegen erklärt, ist mir nicht verständ-
lich; ich meine, dafs solche sich doch in dem badischen und
hessischen Inventar als recht brauchbar erwiesen haben; die Er-
höhung der Druckkosten wird meines Erachtens durch den Vorteil der
gröfseren Übersichtlichkeit reichlich wettgemacht. Jedem Bande sind
R^ister beizugeben und zwar mindestens ein Ortsregister, sowie ein
Verzeichnis der Abbildungen. Bei jedem einzelnen Orte die be-
handelten Gegenstände mit Seitenzahlen anzuführen, wäre vielleicht ein
zu grofser Arbeitsaufwand in Anbetracht des Resultates. Sind es doch
in den meisten Bezirken oft nur wenige Orte, die mehr als ein oder
zwei Seiten einnehmen. E4n Sachregister würde sich wohl empfehlen,
es fragt sich aber, ob es nicht am besten erst mit dem am Schlüsse
des ganzen Werkes unbedingt zu gebenden Gesamtregister vereinigt
wird; dieses wird dann auch noch ein Künstlerverzeichnis enthalten
müssen. Ein derartiger, sehr ausführlicher Registerband liegt uns jetzt
z. B. für Schlesien vor *), der zwar etwas umständlich angelegt zu sein
I) Verxeiehnis der Kunstdmkmäkr der Ptavin» SMe$ien Bd. Y (BretUo, Koro,
1903), 812 S. 8».
— 183 —
scheint, aber eine grofse Arbeit repräsentiert und in den verschiedensten
Richtungen Auskunft erteilt
Zu allen diesen, nur flüchtig skizzierten Forderungen tritt nun noch
die nach möglichster Billigkeit der einzelnen Bände hinzu. Sie steht
zu allem bisher Auseinandergesetzten in grellem Widerspruch. Und
doch müssen wir dringend wünschen, dals es jedem Einwohner eines
Bezirkes leicht gemacht wird, sich die Beschreibung der Denkmäler
seiner Heimat zu kaufen. Deshalb ist zunächst zu empfehlen die Her-
stellung des Werkes in eigener Regie, der Vertrieb durch Kommissions-
vcriag '). Daneben die Teilung jedes Bandes je nach der Einteilung
des Landes in mehrere Hefte. Ob diese emzeln käuflichen Hefte
auch der Zeit nach getrennt herausgegeben werden sollen oder die
m einem Band gehörigen alle auf einmal, weife ich nicht. Bei ersterer
Manier entsteht leicht einmal das Gefühl des Befriedigtseins darüber,
daCsi wieder etwas herangekommen ist, ohne damit dem endlichen
Abschlufe bedeutend näher gekommen zu sein. Jedenfalls aber sind
die einzeln in sich paginierten Hefte auch noch mit den durchlaufenden
Seitenzahlen des Bandes zu versehen, denn die Zusammenfassung in
ein^i solchen mu(s stets in Aussicht genommen werden *). So ge-
schieht es in der Rheinprovinz. Wenn aber hier den einzelnen
Heften die Ortsregister beigegeben werden, dem gesamten Bande aber
nur ein, wenn auch sehr dankenswertes Sachregister, so erschwert das
die wissenschaftliche Benutzung doch sehr. Ich glaube, die Besitzer
einzelner nicht zu groDser Hefte können sich in diesen, zumal sie orts-
kundig sein werden, leichter ohne ein Ortsregister zurechtfinden, als
der Forscher, der einem ganzen Band gegenübersteht. Woher soll
einer, der nicht aus der Rheinprovinz stammt, auch nur ahnen, in
welchem Kreise Wichterich liegt? Dazu mufs er dann in den Orts-
registem von etwa i6 Heften nachsehen.
Sind nun alle Wünsche, die wir an die Inventarisation stellen, er-
füllt, schreitet sie rascher Vollendung zu, ist sie vollständig, genau,
bringt genügende Illustrationen und was alles dazu gehört, so ist dock
noch nicht Genüge geleistet« Ihrer Aufgabe, wesentlich mit-
zuhelfen an der Erziehung der Bevölkerung zum Ver-
i) ErmÜsigte Preise für Beamte, Lehrer, Geistliche nsw. des Bezirks. Siehe die
VerlMtidkngen saf dem ersten Tmgt fftr Denkmalpflege. S. 27— 3a
2) In Bayern scheint man sich über die Ansdehnang des Werkes i^ Ma^m» nicht
Ttcbt klar gewesen in sein, denn der erste Band hat bis jetzt die Seif
hätte sich doch wohl eine Teilung in mehrere Binde. empfohlen.
— 184 —
ständnis der Denkmäler nnd ihrer Pflege, wird sie erst
gerecht, wenn das Werk in einem frischen Tone geschrieben
ist, wenn dem Leser, gerade dem nicht zünftigen, ans
den Zeilen nicht das Gesicht eines trockenen Inventari-
sators anblickt, sondern wenn er die Liebe erkennt» ent-
weder die angestammte des Landeskindes zu der Heimat
nnd ihren Denkmälern oder die des Fremden zn der nen
gewonnenen Heimat Ich wdls wohl, dals das ja nicht in jeder
Zeile znm Ausdruck kommen kann, aber es soll zu spüren seiii« wo
irgend möglich. Erst dann wird das Werk allem Genüge leisten,
was der spätere König, damalige Prinz Johann von Sachsen bei
der ersten Sitzung des sächsischen Alteitumsvereines als Wunsch
ausgesprochen hat und das hier als Zusammenfassung aller Forde-
rungen wiederholt sein mag: „Erfbischung und Erhaltung, beide
müssen Hand in Hand gehen. Nur was erstere entdeckt und seinem
historischen und artistischen Werte geschätzt hat, verdient die er-
haltende Vorsorge, und diese Vorsorge bewahrt wieder für viele
eigentlich historische Forschungen ein wichtiges und inhaltreiches
Material. Beide aber verfolgen gemeinschaftlich ein höheres Ziel,
Erweckung und Belebung der Liebe des Volkes zu seiner Vor-
zeit, aus welcher jede Nation, wie Antäus aus der Berührung mit der
Mutter Erde, stets neue Kraft und Begeisterung schöpft.*' ^)
Mitteilungen
Nordwestdeutsehe Altertnmsforsehnng. — Am 22. Oktober 1904
venammelten sich in Hannover auf Einladung des Vereins für hessische
Geschichte und Landeskunde (Kassel), des historischen Vereines für I^^eder-
Sachsen (Hannover) und des Vereins für Geschichte und Altertumskunde
Westfalens (Münster und Paderborn) Vertreter nordwestdeutscher wissenschaft-
licher Vereine, Kommissionen und Universitäten, um die Gründung eines
Nordwestdentachen Verbandes fOr Altertumsforschung zu beraten.
Auch der Direktor der römisch-germanischen Kommission wohnte der Be-
sprechung bei.
Der Plan emes derartigen Zusammenschlusses der nordwestdeutschen
Altertumsforscher liegt schon eine Reihe von Jahren zurück, war aber teils
aus persönlichen Rücksichten, teils mit Rücksicht auf die damals vom Reich
gepUmte Gründung einer Organisation für römisch-germanische Forschung vertagt
I) Btaehr, Darstdkmg der äiterm Bau- und Kunttdenkmäkr dm Kbm^nidiM
Sachsen, Bd. I (Dresden 1882) S. 6.
— 186 —
worden. Nachdem diese Oiganisatioii in Gestalt der Römisch-gennanischen
Kommission des kaiserl. archäologischen Instituts ^) ins Leben getreten ist
und in ihrer Wirksamkeit sich übersehen läist, wurde der Gedanke wieder
aufgenommen. Es galt nunmehr einen Zusammenschlufs der Vereine zu
gewinnen, ¥ne ihn mittlerweile die west- und süddeutschen Vereine für römisch-
germanische Forschung in ihrem Verbände *) erreicht hatten, und wie er sich
dort vortrefflich bew&hrt hatte.
Durch das Fortschreiten der Einzelarbeit treten die allgemeinen Aufgaben
auf dem Gebiet der heimischen Altertumsforschung mehr und mehr hervor,
die weit über die örtlichen Gebiete einzelner Vereine hinausreichen. Die
Hauptaufjgabe des Verbandes ist damit klar vorgezeichnet: er soll durch
enge Fühlung der Arbeitenden untereinander, durch ständigen Austausch
der Erfahrungen das Interesse imd das Verständnis für die gro&en gemein-
samen Aufgaben wecken und fördern, welche die wissenschaftliche Eiforschung
der alten Kultur und Geschichte Nordwestdeutschlands stellt, und soll andrer-
seits einer Verzettelung der Kräfte entgegenarbeiten.
Der Gedanke eines derartigen Verbandes fand bei der Versammlung
allgemein lebhafte Zustimmung; die Ausgestaltung weiterer Einzelheiten wurde
einer Kommission übertragen, welche die Satzungen bis zum ersten Verbands-
tage, der für die Osterwoche in Münster und Haltern geplant ist, ausarbeiten wird.
Dem Verband gehören bereits eine grofse Anzahl von Vereinen von
Westfalen, Hessen, Hannover, Schleswig-Holstein, Oldenburg, Mecklenburg,
Braunschweig, Lippe-Detmold, Schaumburg-Lippe, Waldeck, Hamburg imd
Lübeck an. Die Frage, ob eine Verschmelzung mit dem westdeutschen
Verbände tunlich gewesen wäre, mag hier unerörtert bleiben; ein möglichst
enger Anschlufs an denselben ist jedenfalls erwünscht. Wenn auch die
Aufgaben in Einzelheiten naturgemäfs verschieden sind, so bleibt doch eine
grofse Fülle gemeinsamer Aufgaben, bei denen der Austausch der Erfahrungen
für beide Vereinsgruppen von höchstem Wert sein dürfte. Eine engere
Arbeitsgemeinschaft zwischen den Vereinen Nordwestdeutschlands und des
römisch-germanischen Gebietes wird zweifellos dahin führen, dafs gewisse
historische Perioden, die in Nordwestdeutschland schärfer hervortreten, und
deshalb dort schon eingehendere Bearbeitung gefunden haben, künftig auch
m West- und Süddeutschland mehr Beachtung finden werden, und umgekehrt.
Es ist deshalb auf das wärmste zu begrüfsen, dafs in Hannover schon in
dieser vorbereitenden Versammlung der Beschlufs gefielst wurde, mit dem
westdeutschen Verbände Fühlung zu suchen durch eine Art Kartell für
gegenseitigen Besuch der Verbandstage und Austausch der Schriften. Auch
steht zu hoffen, dafs das Verhältnis des neuen Verbandes zu der römisch-
germanischen Kommission sich in gleicher Weise befriedigend und frucht-
bringend gestalten wird, wie es sich zwischen der Kommission und dem
westdeutschen Verband entwickelt hat D.
i) Vgl. oben S. 19 — 24.
3) Vgl. darüber diese ZeiUchrift 3. Bd., S. 228—234. Der fttnat Vi
dieser Organisation, der im April 1904 in Mannheim stattfand, zeugte «f'
die Erspriefslichkeit solcher gemeinsamen Tätigkeit. Vgl. den als Sondeta'
Korrespondenxblatt des OesanUvereins der deutschen Qeschichts- und M
1904 erschienenen Beridit
— 186 —
PersOüftlteB. — Als ich hn Sqitember 1904 gelegenüich der fimftn
Konferenz landesgeschichüicher Pablikationsinstitute in Salzburg Ober dar
Fbrtsekriäe des Higtcrtsehen Atlasses der Merreiekischen Afpenländer bertclitne,
schlols ich mein Referat mit dem Wnnsche: zur sechsten Konferenz möge
Eduard Richter die ersten beiden Lieferungen des Historischen Adasscs
der österreichischen Alpenländer den Vertretern der deutschen PuMikadooS'
Institute selbst vorlegen. Damals weilte Richter wohl auch in SaU>firg,
aber trotz eines anscheinend von Erfolg begleiteten Kurgebratiches b
Nauheim mufste er sich Schonung auferlegen, und so hatte Richter es
mir überlassen, über seine gröiste Leistung, über den von ihm ins Lebes
gerufenen, von seinen Kenntnissen und seiner Persönlichkeit getmgcoeB
Historischen Atlas, sein mit aller Liebe gepflegtes Sorgenkind, zu sprechen.
Mit heller Freude wurde Richter in Salzburg, seiner zweiten Heimat, be-
willkommnet: man glaubte den liebenswürdigen Gelehrten und Mensches
seiner Familie, seinen Freunden und seinem Wirkimgskreise gerettet zu wissen,
und es hatte ja &st den Anschein hierzu. Nach Graz, der Stätte seiner
akademischen Tätigkeit, zurückgekehrt, meldete sich das alte Obel nst
doppelter Hefidgkeit, und am 6. Februar f 5 Uhr früh schlössen sich die
Augen des weit über die schwarzgelben Grenzpfähle hinaus bekannten und
hochgeachteten Historikers und Geographen.
Die Nachricht von Richters Hinscheiden, die den näherstehenden Kretsen
nicht unerwartet kam, erfüllte alle, welche dieser Persönlichkeit nur einmii
näher getreten sbd, mit tiefer Trauer. Gerade die so unendlich harmo-
nische und so seltene Verquickung von Gelehrtentum und reiner Mensch-
lichkeit, von streng wissenschaftlichem Denken tmd froher Lebensau&ssun^
von tiefsittlichem Ernste und feinem Humor in allen Lebenslagen, schuf
ihm jene grofse Freundesgemeinde, in der sein Tod eine unausfUllbare Lücke
hinterliefs. Die Blätter ehrlichen und treuen Gedenkens an Eduard Richter,
die Anton Schönbach und Hans von Zwiedineck dem Toten aa£i
Grab legten, die in ihnen enthaltene Würdigung seines Wirkens und Lebens,
sind geschrieben im Eindrucke von der letzten Aussprache mit dem Freunde.
Sie sind das Beste, was ich seit Jahren in der grofsen Reihe von Lebens-
bildern bedeutender Menschen und Gelehrten gelesen habe. Da stand er,
der ehrliche Freund und Berater, mir wieder gegenüber wie in seinen besten
Tagen, rastlos arbeitend und forschend, fördernd und unterstützend, mit
voller Überzeugung ratend und helfend, fröhlich mit den Frohen, lachend
über die Schwächen seiner Mitmenschen, ohne je zu vedetzen.
Richter hat das Leben und sein Leben selbst in den Tagen des
schwersten Leidens und der bedrückendsten Atemnot ak ein „schönes**
bezeichnet. Er koimte sein Leben trotz manch schwerer Schicksalsschläge
ein „schönes** nennen: er hatte ja jene glückliche Hand, die nicht nur zo
ergreifen trachtete, sondern auch ergriff und fesdiielt, was sie erreichen
wollte. Wie wenigen war es ihm gegönnt, den Zenit einer gelehrten und
akademischen Laufbahn in verhältnismäfsig noch jungen Jahren zu erreichen,
und den groisen Unternehmungen, die er ins Leben gerufen hat und denen er
sich widmete, war er immer der sichere Fährmann zum wohlüberlegten 2ele.
Richters Jugend- und Studienzeit verflois ruhiger und unbewegter
als bei manch anderem. Ein geborener Niederösterreicher (zu Mannersdoif
— 187 —
am 3. Oktober 1847) bezog er« nachdem er in >^ener Neustadt die Gymnasial*
^dien vollendet hatte, 1867 die Wiener Universität und widmete sich hier
historisch-geographischen Studien, mit der Absicht, nach Vollendung der-
selben ins Mittelschullehramt einzutreten. Richters Studiengang war nicht —
wie es heute leider so häufig vorkommt — ein einseitiger. Naturwissen-
schaft und Kunstgeschichte begeisterten ihn geradeso wie die Vorträge
ttber Geschichte und Geographie. Die zwei Jahre, welche Richter als
ordentliches Mi^lied am Institute für österreichische Geschichtsforschung
zubrachte, Lehrjahre im strengen Sinne des Wortes, machten ihn unter der
Zeitung Theodor Sickeb mit der historischen Methode und Kritik vertraut
Richter wurde geschulter Historiker; und erst die Berührung mit dem Gletscher-
forscher Friedrich Simony liefs ihn in letzter Stunde in der wissenschafUichen
Berufswahl umsatteln. Als er 1871 in Salzburg eine Lehrstelle am Gym-
nasium annahm y hatte er den Gedanken an eine akademische Laufbahn
aufgegeben. In Salzburg, auf prächtigem historischen Boden und so recht
mitten in der österreichischen Alpenwelt, entwickelten sich in Eduard Richter
jene zwei Richtungen seines Schaffens, für welche die Wiener Studienzeit
die Grundlage gegeben hatte. Die Freude an der Alpenwelt brachte Richter
die naturwissenschaftliche Beschäftigung mit dieser nahe : aus dieser erwuchs
der Morphologe und Gletscherforscher Richter und dem Deutschen
und österreichischen Alpenvereine der eifrigste Förderer. Eine Reihe von
Abhandlungen entstand auf Salzburger Boden und wurde wenigstens hier
vorbereitet: die 3 Bände der ErstMießung der Ostalpen (1893 — 1894), die
Oleischer der Ostalpen (t888) und so manch andere wertvolle Studie.
Die von ihm späterhin mit so viel Liebe und Geschick bevorzugte Verbin-
dung zwischen Geschichte und Geographie schuf weitere Arbeiten: 1891
schrieb er eine Geschichte der Schwankungen der Alpengletscher imd 1892
gab Richter, der geschulte Historiker, die Urkunden über die Ausbrüche des
Vernagle und Gurglergletschers tm XVII, und XVIIL Jahrhundert in den
f,Forschungen zur deutschen Länder- und Völkerkunde" heraus. Über die Be-
deutung des Geographen Richter, über siene wbsenschafdiche und namentlich seine
Lehrtätigkeit nach dieser Richtung hin, zu sprechen, ist Berufeneren vorbehalten.
Neben der Erfüllung seiner Lehrpflichten — 1886 wurde Richter der
Nachfolger Wilhelm Tomascheks auf der Lehrkanzel für Geographie in
Graz — , neben seinen rein geographischen Studien und seinen zahlreichen
Reisen, die ihn fast in sämtliche Länder Europas und auch nach Asien
fiihrten, wufste Richter noch immer Zeit zu gewinnen, das in Wien und
namentlich am Institute für österreichische Geschichtsforschung Erlernte zu
verwerten. Schon in Salzburg übernahm er in dem rührigen Verein für
Salzburger Landeskunde die führende Rolle, und seine Studien über die
Sakburger TradUianscodices und namentlich seine Untersuchungen zur Histo^
riscfien Geographie des ehemaligen Hochstiftes Salzburg und seiner Nachbar-
länder (in den Mitteil, des Instituts f. österr. G.-F., I. Erg.-Bd. 1885) sicherten
dem Gynmasiallehrer Richter einen ehrenvollen Platz imter den österreichi-
schen Historikern. i. .
Letztere Abhandlung ist ein Muster kritischer T^ nennen.
In ihr zeigte sich Richter als vollendeter Methof^*' '^jmer
mittelalterlichen Rechtes. Durch die Anwen^ her
— 188 —
Forschung auf Themen kartographischer und geographischer Natur,
Richter nach langjähriger Beschäftigung mit der Sache zu der Aosict^
„dafs nicht die Ansammlung einer grofsen Menge topo-
graphischer Details, sondern die Aufsuchung der administrativeB
und gerichtlichen Abgrenzungen die Aufgabe sei, durch deren
Lösung die geschichtliche Geographie sich um die Aufhellung unserer
Vorzeit vielleicht einige Verdienste erwerben könnte". Für Salzburger Boden
hatte Richter die Lösung gefunden, und mit den Untersuchungen zugleich
auch den Weg zum „Historischen Atlas". Auf diesem Wege begegnete
ihm Josef Egger und wurde sein treuer Begleiter auf tirolischem Boden.
Erst in der kommenden Zeit, wenn die augenblickliche tiefe Schmerz-
empfindung um den Verlust einer ruhigen Trauer gewichen ist, wird man sich
des Verdienstes, das sich Eduard Richter tun die Historische Geographie
Alt-Österreichs erworben hat, voll be wufst werden. Es war ein eigentümliches
Zusammentreffen, dafs Richter mit seinen Ideen zur Herausgabe eines Histo-
rischen Atlasses der österreichischen Alpenländer zu jenem Zeitpunkt in die
Öffentlichkeit trat, als man in Österreich der Verfassungs- und Verwaltungs-
geschichte, der „Reichsgeschichte" erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden
begann, und sich unter Leitung Luschins von Ebengreuth eine Reihe
jüngerer Kräfte für die Probleme dieser Disziplin begeisterten. Als die
Thudichumsche Grundkartenfrage die beteiligten Kreise pro und contra
erhitzte, als von dem ausgezeichneten Atlas der Rheinprovinz die ersten Blätter
veröffentlicht wurden, trug Eduard Richter Plan und Arbeitsprogranmi für einen
Historischen Atlas der österreichischen Alpenländer schon längst in sich, und
wenn auch seine Untersuchungen zur historischen Geographie Salzburgs aas
dem Jahre 1885 den Kern der späteren Atlasidee bereits enthielten, so
fand er doch erst ein Jahrzehnt später Gelegenheit, in der Festgabe für Franz
von Krones sein Programm zu entwickeln und durch die Auseinandersetzung
des Planes, vorsichtig, nicht schematisierend, sondern blols vorbereitend die
Fachkreise dafür zu interessieren. In dieser Schrift erklärte er als die wichtigste
und entscheidende wissenschaftliche Vorarbeit für den historischen Atlas des
Mittelalters die Landgerichtskarte. „Sie mufs, indem man von der Gegenwart
rückwärts schreitet, auf Grundlage der Spezialkarte, der gleichzeitigen karto-
graphischen Versuche und der Grenzbeschreibungen gemacht werden. Erst
auf Grtmdlage dieser lassen sich die anderen Aufgaben des Historischen
Atlasses lösen/* Seme Festgabe erregte bald die Aufmerksamkeit der
mafsgebenden Kreise, imd als Eduard Richter in der nächsten Zeit im
V. Erg.-Bde. der Mitteil. des Instituts f. österr. G.-F. „nochmals" für
seine Ideen eintrat, hatte er in Alfons Hub er und Engelbert Mühl*
b ach er tatkräftige und mächtige Unterstützer gefunden. Diese beiden ebneten
die finanziellen Schwierigkeiten und bestinunten dieKaiserL Akademie
der Wissenschaften in Wien, Richter die Mittel zur Ausführung semes
Planes aus der Treitel-Stiftung zur Verfügung zu stellen.
In der erwähnten Krones-Festgabe aus dem Jahre 1895 hatte Richter
seine klaren Auseinandersetzungen mit folgenden Worten geschlossen: „Es
steht zu hoffen, dafs in einer Zeit, wo so viel Nachfrage nach dankbaren
wissenschaftlichen Themen vorhanden ist, sich auch für diese schönen und
lohnenden Aufgaben die richtigen Leute finden werden.'* Der Ruf Richters
— 189 -
blieb auch in dieser Sache nicht ungehört: bald scharten sich um ihn
und um das von ihm getragene Unternehmen Berufegenossen und Schüler,
er organisierte diese Schar, und die Arbeit begann. Hindemisse, die
sich so oder so dem Unternehmen entgegenstellten, störten Richter wenig.
Sein öfteres „Es mufs gehen** — ich höre es jetzt noch so deutlich —
brachte ihn dem Erfolge schrittweise näher, und — am Beginne dieses
Jahres war sich Eduard Richter vollkommen bewufst, dafs er die Ausgabe der
von ihm &st vollständig vorbereiteten i. Lieferung des Atlasses (mit ii
Kartenblättem und den Erläuterungen für Salzburg, Oberösterreich und Steier-
mark) nicht mehr erleben werde. Mit voller Klarheit, aber auch voll
bedrückender Sorge gab er die letzten Anordnungen ftir sein Lieblingswerk
an die Freunde und jene Gesellschaft, die durch ihre Autorität und mit den
ihr zu Gebote stehenden reichen Mitteln an der Wiege des Atlasses Gevatter
gestanden war. Diese Sorge um die Zukunft des Historischen Atlasses,
die Richters letzte Lebenstage so erfüllte, wurde dem Toten genommen, als
Oswald Redlich in Vertretung der KaiserL Akademie am offenen Grabe
dem verblichenen Freunde die Abschiedsworte zurief: „Richter hat ein Werk
begonnen, das Geographie und Geschichte vereinigt und das für die Geschichte
der Alpenländer bahnbrechend sein wird. Und wenn es ihm auch- nicht
gegönnt war, das Erscheinen der ersten Bände dieses Werkes zu erleben,
so wird dasselbe doch seinen Namen ruhmvoll weitertragen."
Die wissenschaftlichen Überiegungen und die reiche Er&hrung, die
Richter zur Idee des Historischen Aüasses geführt hatten, wurde von ihm
des öfteren, und auch in dieser 2^itschrift, ausgesprochen oder durch seine
Mitarbeiter den Fachgenossen näher zu bringen versucht Der Endzweck,
welchen der Historische Atlas verfolgt, ist der deutschen Gelehrtenwelt bisto-
risch-geogitiphischer und rechtsgeschichtlicher Richtung genügend bekannt, als
dafs er hier noch ausführlicher auseinandergesetzt werden müfste. Die gröfste
Genugtuung, die Eduard Richter aus seinem rastlosen und uneigennützigen
Schaffen für den Historischen Atlas empfing imd deren er sich in berechtigter
Freudigkeit so oft rühmte, war ihm eine wichtige Begleiterscheinung:
die Entstehung und Inangrifinahme von „namentlich rechtshistorischen
Detailuntersuchungen ^S die sämtlich aus der Beschäftigtmg mit Atlaq)Foblemen
hervorgingen und auf dieser fufsten. Richter schrieb selbst mehrere wert-
vdle Beiträge zu den Äbhandhmgen zum Historischen Atlas der österreichischen
AipenUtnder, und klangvolle Namen, wie die eines v. Jaksch, v. Voltelini
u. a. wird der i. Band dieser Abhandlungen aufweisen können.
Heute deckt steirische Erde den Leichnam dieses bedeutenden Mannes,
dem Licht, Aufklärung und Erkennen über alles ging. In uns aber bleibt
die Erinnerung wach an Eduard Richter, an sein Leben und Wirken, sein
Lernen und Lehren und — an sein heldenhaftes Sterben!
Anton Meli (Graz).
Am 7. Februar 1905 starb zu Zerbst der Geh. Archivrat Prof. Frans
Kindscher im eben begonnenen 82. Lebensjahre, ein Gelehrter und Forscher,
der sich um die Geschichtschreibuiig seines Vaterlandes Anhalt die grö&tep
Verdienste erworben bat.
— 190 —
Er war am 29. Januar 1824 zu Dessau geboren und hatte als Zögting
des dortigen Gymnasiums den ebenso als Forscher in der anhaltischen Ge-
schichte, wie als Pädagogen rühmlich bekannten Heinrich Lindner zum
Lehrer. Ostern 1843 bezog Kindscher die Universität Leipzig und studierte
Philologie und Geschichte unter Gottfried Herrmann, Haupt, Klotz, Becker
und Wachsmuth. Seine Studien 1843 ^^ Berlin fortsetzend, hörte er Boeckh,
Lachmann, Zumpt, W. Grimm, E. Curtius, Trendelenburg, v. Schelling,
Ranke und y. Raumer. Hier yoUzog sich bei ihm der Übergang Jtus dem
Formalismus der Leipziger Schule zu der durch Boeckh vertretenen realistischen
Richtung der Philologie, ein für sein Leben so bedeutender Voigang, ^^
er noch in den letzten Tagen seines Lebens Boeckhs im Gespräch mit ÖGk
Seinen gedachte und dieses Mannes Einflufs auf sein ganzes geistiges Leben
dankend anerkannte. Im Jahre 1845 verliefs er die Universität, um eine
Hauslehrerstelle in Wörlitz anztmehmen, erhielt aber bald auch Beschäftigu]^
als Lehrer in den gewerblichen Nebenklassen des Gymnasiums zu Dessau.
Von hier wurde er 1849 "^^^ Ablegung des philologischen Staatsexamens
als Vikar an das Gymnasium nach Zerbst versetzt, erhielt 1850 seine feste
Anstellung, 1856 den Titel Oberlehrer, 1866 den Titel Professor.
Seine wissenschaftliche Tätigkeit hatte sich anfangs ganz auf die Archäo>
logie erstreckt. Von den Arbeiten dieser Zeit, die sich in den philologischen
Zeitschriften zerstreut finden, seien zwei genannt: Die Hearakleischen Doppd-
Sieger zu Olympia (1845) und Das Programm der Olympien (1845). Auch
später ist er bei Anlässen, wie sie sich durch Schulprogramme boten, auf
die philologischen Studien zurückgekommen; so schrieb er 1860 als Grata-
lationsschrift für die Berliner Universität die Emendationes Oaesarianae und
1864 die Qtmestiones Caesarianae,
Inzwischen hatte aber bereits seine wissenschaftliche Neigung eine andere
Richtung angenommen. Die Stadt Zerbst, die noch heute mit ihren last
unversehrt erhaltenen Stadtmauern, dem denkmalsreichen Markt, den alten
Gebäuden, Kloster ruinen und anderen ehrwürdigen Zeugen der Vergangeohdt
jedes Forschers Interesse auf sich lenkt, hatte auch ihm es angetan, und er
begann, sich der Erforschung ihrer reichen und fesselnden Geschichte nach-
haltig zu widmen. Er isS&tJt den Gedanken, eine Urkundensammlung zur
Geschichte von Anhalt herauszugeben. Als Emleitung dazu veröffentlichte er
1858 die bis dahin ungedruckte Chronik der Stadt Zerbst von Peter Becker^
die die Jahre 1259 — 1445 umfafst Diese Ausgabe ist jetzt vollständig ver-
griffen; eme zweite hat der Unterzeichnete als Festgabe zur 900 jährigen
Jubelfeier der Stadt Zerbst (1907) in Vorbereitung.
Als nach Aussterben der Linie Anhalt-Bembuig (1863) ganz Anhalt
wieder zu einer Herrschaft vereinigt war, auch die Archive der Linien 2^rbst,
Köthen und Bemburg mit dem der Dessauer Linie und dem Archir des
Gesamthauses Anhalt zu dem Herzoglichen Haus- und Staatsarchiv verein^
und (1872) in dem zur Verfügung gestellten Herzoglichen Schlosse zu Zerfo^
untergebracht wurden, lenkte der damalige Archiworsteher Geh. Archiviat
Siebigk (f 8. Mai 1886) die Aufmerksamkeit des Herzo^chen Staats-
ministerituns auf die wissenschaftliche Tätigkeit Kindschers und erbat sich ihn «n^^
Mitarbeiter m der Archivverwaltung. Infolge dieser Anregung wurde Kindscfaer
zunächst (1873) als Archivar im Nebenamte beschäftigt, später (1876)
— 191 —
Schulamt dispensiert und als zweiter Archivbeamter angestellt Als solcher
hatte er die Verwaltung des Gesamtarchivs zugewiesen erhalten, d. h. die des
älteren Archivbestandes vom Jahre 941 — 1603, ^uid von der emsigen und
gewissenhaften Tätigkeit nach dieser Richtung legen die von ihm vollzogenen
Inventarisationen des Urkundenbestandes, wie die von ihm allein durch-
geführte Inventarisierung und R^istrierung sämtlicher Lehnsakten des XV.
und XVI. Jahrhunderts (Registrande VI) das rühmlichste Zeugnis ab. Im
Jahre 1876 wurde er zum Archivrat, 1896 zum Geh. Archivrat ernannt,
nachdem er 1886 als Siebigks Nachfolger Archiworsteher geworden war.
Von weiterer Bedeutung für seine Tätigkeit wurde die 1875 folgte
Begründung des Vereins (Ur Anhalcische Geschichte und Altertumskunde,
dem er von Anfang als Mitglied und nach dem Rücktritt von W. Hosäus
(19. März 1890) als Vorsitzender angehörte.
Nachdem ein schweres Augenleiden, das leider zu vollständiger Er-
blindung führte, seine wissenschaftliche Tätigkeit einschränkte und schliefislich
fast ganz aufhob, sah er sich zur Angabe des von ihm mit voller Liebe
gehegten Amtes genötigt; am 22. Juni 1901 legte er den Vorsitz im Anhaltischen
Geschichtsverein nieder, am i. Juli desselben Jahres schied er aus seinem
Amte im Herzoglichen Haus- und Staatsarchiv. Seine Mulse fiillten noch
mancherlei Arbeiten aus, zu denen ihn sein geradezu phänomenales Ge-
dächtnis befähigte, wenn auch das Licht der Augen versagte; unter Plänen
und Entwürfen ist er gestorben.
Seine wissenschaftlichen Arbeiten sind zumeist der Erforschung der
Anhaltischen Geschichte gevridmet gewesen und in verschiedenen Zeitschriften
zerstreut; die Mitteilungen des Vereins für Anhaltieche Geschichte, die Monun
menta Germaniae paedagogica, die Aügemeine deutsche Biographie enthalten
die wichtigsten Ergebnisse seines Forscherfleüses ; zu gröüseren Publikationen
ist er nach der Editio princeps von Peter Beckers Zerbster Chronik leider
nicht gekommen, und das ist zu beklagen, da er mehr als jeder andere
hierzulande zu solchen Arbeiten BefiKfaigung und Wissen besaft.
Aber trotzdem ist sein Einflufs auf die Darstellung der Geschichte unseres
Landes nicht gering, weil er als Archiworsteher immer bemüht ?^mr, die
Arbeiten anderer selbstlos au& eifrigste zu unterstützen. Daher kommt es,
dafis während seiner Amtstätigkeit fast keine einzige Schrift zur Geschichte
Anhalts erschienen ist, die nicht im Vorwort seiner freundlichen und fördernden
Hilfe gedenkt, und so wird sein Hinscheiden noch vielen aufser uns ein
Verlust dünken, der schwer ersetzlich ist, sein Andenken aber bei allen,
die ihn kannten, ein gesegnetes sein und bleiben. Wäschke (Zerbst).
EingegaBgene Bfleher.
I^^igclf J. : Wirtschaftliche Folgen des 30jährigen Krieges in Monheim
und Umgebung [»« Mitteilungen des Historischen Vereins fXr Donau-
wörth nnd Umgegend (Donauwörth, Ludwig Auer, 1905), 8. 57 — 68].
Repertorium des Staatsarchivs zu BaseL Basel, Helbing und Lichtenhahn,
1905. LXVUI und 834 S. Lex.-8^
Schttlthefs-Rechberg, Gustav von: Heinrich BulUnger, der Nachfolger
Zwingiis [=e Schriften des Vereins fttr Reformationsgeschichte Nr. 82].
Halle a. S., Max Niemeyer, 1904. 104 S. 8^ M. 1,20.
— 192 —
Richter, G.: Der französische Emigrant Gabriel Henry und (He Entstehung
der katholischen Pfarrei Jena-Weimar (1795 — i3i5), ein Beitrag zur
Geschichte der katholischen Diaspora in Thüringen. Fulda, Fuldaer
Aktiendruckerei, 1904. 33 S. 8®. M. 0,60.
Wagner, Paul: Ostfriesland und der Hof der Gräfin Anna in der Mitte
des XVI. Jahrhunderts [«> Abhandlungen und Vorträge zur Geschichte
Ostfrieslands, herausgegeben von Archivrat Dr. Wächter, Heft i].
Aurich, D. Friemann, 1904. 31 S. 8^.
Wopfner, Hermann: Beiträge zur Geschichte der freien bäuerlichen Erb-
leihe Deutschtirols im Mittelalter [>» Untersuchungen zur deutschen
Staats- und Rechtsgeschichte, herausgegeben von Gierke, 67. Heft].
Breslau, M. & H. Marcus, 1903. 239 S. 8^ M. 8,00.
Wustmann, Gustav: Geschichte der heimlichen Calvinisten (Kryptocalvi-
nisten) in Leipzig 1574 — 1593 [«=« Neujahrsblätter der Bibliothek und des
Archivs der Stadt Leipzig 1 (Leipzig, C. L. Hirschfeld, 1905) S. i — 94].
Zahn, W.: Die Altmark im DreÜsigjährigen Kriege [»» Schriften des Vereins
für Reformationsgeschichte Nr. 80]. Halle a. S., Max Niemeyer, 1904.
61 S. 8^ M. 1,20.
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schrift des Vereins für Kirchengeschichte in der Provinz Sachsen, i. Jahrg.
(Ms^deburg, Holtermann, 1904), S. 25 — 33].
Bruchmüller, W. : Zwischen Sumpf und Sand, Skizzen aus dem märkischen
Landleben vergangener Zeiten. Berlin, Deutscher Verlag (1904), 286 S. 8^
Diehl, Wühelm: Martm Butzers Bedeutung für das kirchliche Leben in
Hessen [=s Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte Nr. 83
(Halle a. S., Max Niemeyer, 1904), S. 39 — 62].
Fabricius, Ernst: Die Besitznahme Badens durch oie Römer [>= Neujahrs-
blätter der Badischen Historischen Kommission, Neue Folge 8]. Heidel-
berg, Karl Winter, 1905* 88 S. 8^. M. 1,20.
Fehr, Hans: Die Entstehung der Landeshoheit im Breisgau. Leipzig,
Dundcer & Humblot, 1904. 186 S. 8^ M. 4,00.
Hasenclever, Adolf: Zwei Aktenstücke über die Verteidigungsverhältnisse
im Erzstifte Köhi vor Ausbruch des Schmalkaldischen KLrieges [=» Ztit-
Schrift des Bergischen Geschichtsvereins, 37. Bd. (Elberfeld, B. Hartmano,
1904), S. 224 — 236].
Lindner, Pirmin: Verzeichnis der Äbte und Mönche des ehemaligen
Benediktinerstiftes HeUig-Kreuz in Donauwörth [=» MitteUungen des
Historischen Vereins für Donauwörth und Umgegend. Zweiter Jahrgang
(Donauwörth, Ludwig Auer, 1905), S. i — 44].
Richter, G. : Statuta maioris ecclesiae Fuldensis. Ungedruckte Quellen i
zur kirchlichen Rechts- und Verfassungsgeschichte der Benediktinerabtei 1
Fulda [= QueUen und Abhandlungen zur Geschichte der Abtei und •
der Diözese Fulda I]. Fulda, Fuldaer Aktiendruckerei, 1904. 118 S. 8®. ^
M. 2,00.
— : Die adeligen Kapitulare des Stifts Fulda seit der Visitation der Abtei ^
durch den päpstlichen Nuntius Petrus Aloysius Carafa (1627 — i8oa)« '^.
Fulda, Fuldaer Aktiendruckerei, 1904. 42 S. 8*. M. 0,80. '
■ k
Honmag^ber Dr. Armin IUI« in Leipdg.
Drack aad V«rUf von FrMrich Andraas Pwtfaes, AkdeagtMlbdiaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsscbrift
Förderung der landesgeschicMclien Forschung
VI. Band Mai 1905 8. Heft
I
Heuere Wiftsehaftsgesehiehte
Von
Armin Tille (Leipzig)
In der zweiten Hälfte des XIX. Jahrhunderts haben die Wissen-
schaften fast durchweg das alte, ihnen von altersher zugewiesene
Arbeitsgebiet erweitert, aber gleichzeitig haben sich die Disziplinen
angesichts des täglich wachsenden Forschungsmaterials gespalten,
und so sind eine Menge mehr oder weniger selbständige Sonderwissen-
schaften entstanden. Sie besitzen zwar mit verschiedenen benachbarten
Wissenszweigen enge Fühlung, aber als Spezialficher erscheinen sie
selbständig und brauchen heute längst nicht mehr um ihre Berechti-
gung zu kämpfen, sondern erfreuen sich vielmehr allgemeiner An-
erkennung.
Zu den Disziplinen, von denen dies gilt, gehört auch die Wirt-
schaftsgeschichte, die sich ihren Platz neben der beschreibenden
und theoretischen Nationalökonomie im üblichen Sinne erworben hat
und zugleich nicht wenige Beziehungen zur politischen Geschichte
und der Geschichte des geistigen Lebens besitzt Ja die Darstellung
der heute * wohl allgemein als Ideal betrachteten nationalen Gesamt-
geschichte, die alle geistigen und materiellen Lebensäufiserungen einer
Nation gleichmäßig in das Bereich ihrer Betrachtung ziehen soll, ist
nur denkbar unter nachdrücklicher Betonung und lückenloser Vor-
iiihrung der wirtschaftlichen Entwickelung. Wenn man letztere nicht
grar als Grundlage alles anderen betrachten will, dann bleibt sie doch
stets ein wesentlicher Teil der Gesamtentwickelung, und dank der
Tatsache, dafs sich materielle Vorgänge leichter begreifen lassen, als
rein geistige, gewinnt sie zugleich für den Forscher noch eine besondere
Bedeutung als heuristisches Prbzip. Die Wirtschaftsgeschichte ist
aber gleichzeitig eine derjenigen geschichtlichen Disziplinen, die vor-
nehmlich Material aus räumlich begrenzten Gebieten verarbeiten, die
sich ihrer Natur nach zunächst mit räumlich und zeitlich bestimmten
Einzelerscheinungen beschäftigen und diese in die grofsen Zusammen-
15
— 194 —
i
hänge einzureiheii suchen. Aus diesem Grunde ist den wirtschaftlichen
Problemen auch in diesen Blättern jederzeit ein verhältnismäüsig breiter
Raum gewidmet worden.
Für das Mittelalter, und noch bis etwa zur Mitte des XVI. Jahr-
hunderts ist es heute selbstverständlich, da(s eine geschichtliche Dar-
stellung die wirtschaftlichen Zustände mindestens in demselben Maise
berücksichtigt, wie die politischen, kirchlichen und rechtlichen. Ja den
sozialen Verhältnissen jener Perioden hat man tatsächlich erst nach
eingehender Prüfting der materiellen Voraussetzungen Verständnis ab-
gewonnen, und gerade das letzte Jahrzehnt hat auf diesem Wege
eine Menge alt eingebürgerter einschlägiger Anschauungen als irrig
erwiesen. Das ist eine Tatsache, die gewürdigt werden will, und die
zur Nacheiferung auf dem Gebiet der neueren Geschichte anspornen
sollte. Grundsätzlich wird wohl heute kein Forscher behaupten, dafs
die für die mittelalterliche Geschichtsforschung geltenden Prinzipien
andere seien als diejenigen, welche auf die neuere Anwendung finden»
aber betrachtet man die Darstellungen der neueren Geschichte so
wie sie sind, dann gewinnt man tatsächlich den Eindruck, als ob hier
nach anderen Grundsätzen gearbeitet würde. Denn in den bisherigen
Gesamtdarstellimgen der deutschen Geschichte, die sich mit den letzten
drei Jahrhunderten oder gröfseren Abschnitten daraus beschäftigen»
ist — abgesehen von einzelnen Perioden, die gewissermaßen durch
Momentphotogpraphien beleuchtet zu werden pflegen, — nicht nadi
dem Muster verfahren worden, das die neueren Darstellungen des
Mittelalters für diese Periode bieten.
Das ist ein entschiedener tatsächlicher Mangel, der des sonstigen
Standes der Wissenschaft nicht würdig ist, und deshalb ist es eine
Notwendigkeit, die grundsätzlich anerkannt werden mufe, dais auch
die neuere Geschichte auf jene Basis gestellt wird, auf der die mitteU
alterliche bereits steht. Nur unter dieser Voraussetzung kann die
Geschichte tatsächlich das allgemeine Erziehungs- und BUdungsmittel
für die Gegenwart werden, als wekhes man sie bei feierlichen Ge-
legenheiten hinzustellen pflegt, ohne dafe sie es in Wirklichkeit ist
Will man aber dieses Ziel erreichen, dann ist es notwendig, da(k
die für das Mittelalter ganz leidlich entwickelten geschichtlichen Sonder-
disziplinen auch zeitlich in derselben Weise fortgesetzt und bis an die
unmittelbare Gegenwart herangebracht werden. Das gilt für die Recht»-
gerade so wie für die Literatur-, Kunst- und Kirchen- bezw. Religions-
und Weltanschauungsgeschichte, und nicht minder für die Wirtschafts-
geschichte. Es handelt sich dabei im wesentlichen darum, dais.
_ 186 —
diese 'Zweigfc der Wisaenschafteo von des Gebieten, den sie zunächst
— nach der alten Klassifizienmg der Wissenschaften — aagehötta,
und innerhalb deren sie gewissennaiseo eine Ergänzong zu ihrer
modernen Systematik bilden, losgetrennt und von der Geschichts-
forschung als vollwertiger Teil der Gesamtgeschichte anerkannt
und von Geschichtsforschern geschichtlich betrieben werden '}. . Ge-
schieht dies, dann verschieben sich, wie das Beispiel Lamprechts
zeigt, sofort dit Probleme ; der Antöl jedes Elementes an der Gesamt-
entwickelang' tritt dann deutlicher zu Tage, und die anscheinend so ver<
schiedenen Lebensädseningen der Nation werden dadurch wieder von
einem gemeinsamen Bande umschlungen. Es zeigt sich dann, dab in
allen anscheinend noch so sehr voneinuider abweichenden Richtungen
einer Zeit doch ein gemeinsamer Zeitg'eist zum Ausdruck kommt,
und dafs die Entwickelung doch schlieblicb eine Einheit darstellt,
aus der beliebig einen Teil herauszugreifen und den anderen zu ver-
nachlässigen, unwissenschaftlich ist
Um nnr einen Gedanken aus einem anderen Gebiete — als Parallele
zu der hier allein in Frage stehenden Wirtschaftsgeschichte — anzudeu-
ten, HO wird man bisher in geschichtlichen Gesamtdarstellungen, die sidi
mit der Entstehung des Deutschen Reiches und im Zusammenhange damit
mit der Bildung des deutschen Volkes als nationaler Einheit be-
schäfUgen, vei^eblich nach einer eingehenden Geschichte des Römischen
Rechtes in Deutschland vom XVI. — ^XIX. Jahrhundert herab suchen.
Und doch liegt es für den Kundigen auf der Hand — und im all-
gemeinen ist dies auch schon manchmal ausgesprochen worden — ,
dafe wir hier einen Faktor vor uns haben, der fUr die Entwickelung
des Qnheitsgedankens und eines Nationalgeiiihles höchst wicht^ gewesen
ist Das Auffällige dabei ist gerade, dais das anfanglich fremde Recht
t) lodlaemSisaeiiat UD£rol»«BdiedMttckcGe*duchle DubeTnuKarl Limprcckt
betrachtet, imd der DOtoniche Uangel an Einidimlemcliiiiigeii, die alle EncheinnDgen
Act modemeD Lcbeni ■UgemeiDgeichichtli cb behkadcln, bat ibo Teruilafit, ehe er
an die DanteUnng dei XVU. nod XVm. JahrhaodtrU innerhalb seiner DeuUehen Ö^
tehiehle heranfing, in nrei Ergäruungsbänden dam, die den Titel (Bbrea Zur jäng$ten
deuttehen Veryatigatheä {a. Bde. in 3 Tcilci^ Beriin bciw, Fraborg i. Br. 190a — 1904}
4lie Vorgjmge der letitei
Mummhaiig einiareihen.
eine geviwe AbhSngigkei
beobachten läTit. Gcndi
er iit , dafa eine geicbii
wirtichaftl leben Lebeni
gut nÖgUdk ^ beginnt
— 196 —
schliefslich dem deutschen Volke zur Rechtseinheit verholfen bat,
indem sich das alte römische, anfangs mechanisch rezipierte Recht
mit deutschen Rechtsgrundsätzen vermischte und so zu einem für
alle deutschen Gaue gültigen deutschen Rechte wurde. Wird die
Rechtsgeschichte der Neuzeit, oder auch nur die Entwickelung einer
einzelnen Rechtsinstitution, unter einem solchen allgemeinen Gesichts-
pimkte verfolgt, dann hört eine derartige Untersuchung auf, eine ledig-
lich juristisch -fachwissenschafUiche Arbeit zu sein; sie wird eine ge-
schichtliche Arbeit im besten Sinne, wenn auch selbstverständlich
nur der allseitig gebildete Jurist zur Bewältigung einer solchen Aufjgabe
befähigt und berufen ist. Aber an Juristen, die sich zugleich als
tüchtige Geschichtsforscher bewährt haben, ist ja heute zum Glück
kein Mangel.
Dieses Beispiel soll nur andeuten, in welcher Richtung eine Ver-
tiefung der geschichtlichen Forschung auf den der Gegenwart näher
liegenden Gebieten und eine Verbreiterung ihrer Grundlage gefordert
wird. In der Tat sind das XVI. und XVII. Jahrhundert im ganzen
immer noch wesentlich besser allgemeingeschichtlich beleuchtet als
das XVni. und XIX. Jahrhundert, und deswegen wird es praktisch
zweckmäfsig sein, vor allen Dingen dem XIX. Jahrhundert das Augen-
merk zuzuwenden, das nebenbei in recht vieler Hinsicht Interesse
bietet, und hinsichtlich dessen eine Menge alte tendenziöse Urteile ge-
wohnheitsgemäfs weitergeschleppt werden. Für die Förderung unserer
weiteren Erkenntnis dürfte es sich dann empfehlen, rückwärts zu
schreiten; denn nur auf diesem Wege, wenn man die fernere Ver-
g^genheit gewissermafisen im „Lichte der Erfüllung" betrachtet,
wird es gelingen, auch dem XVIII. Jahrhundert allmählich kultur-
geschichtlich gerecht zu werden, während andrerseits die genauere
Erforschung des Anfangsstadiums der modernen Kultur — als solches
erscheint uns heute die Zeit nach 1700 — für das Verständnis der
unmittelbaren Gegenwart recht wesentlich werden kann.
Diese allgemeinen Erwägungen mögen als Rechtfertigung dafür
dienen, dafs in dieser geschichtlichen Zeitschrift Fragen erörtert
werden, die der neuesten Zeit angehören und deren geschicht-
licher Charakter nicht jedem Leser auf den ersten Blick verständlich
sein wird. Doch es erscheint ganz allgemein notwendig, dafis die
bisherige Scheu vor geschichtlich-wissenschaftlicher Betrachtung auch
zeitlich dem Forscher nahe liegender Verhältnisse allmählich schwindet.
— 197 —
Nur wenn dies geschieht, ist auf ein volles Verständnis der Gegenwart
zu rechnen, und dieses ist wiederum notwendig, wenn man gegen-
wärtig systematisch Material sammeln will, das später einmal zur
gerechten Beurteilung unserer Zeit in der geschichtlichen Erinnerung
beitragen soll. In solcher Arbeit erst wird sich wirklicher geschicht-
licher Sinn offenbaren!
Ganz besonders, mehr als für andere Gebiete, gilt diese Forderung
für das Wirtschaftsleben, und zwar deshalb, weil in dieser Beziehung die
öffentlichen staatlichen und kommunalen Archive später einmal versagen
müssen; denn da sich das wirtschaftliche Leben heute zum gröfsten Teile
ohne unmittelbare behördliche Beeinflussung vollzieht, enthalten die Re-
gistraturen der Behörden fast nichts, was als gute Quelle gelten kann.
Deshalb erscheint heute sowohl die sorgsame Pflege der neueren Wirt-
schaftsgeschichte, als auch die Materialsammlung für die Zukunft als
Notwendigkeit. Aber auch noch andere Gründe kommen hinzu.
Die Erfahrung hat gelehrt, da& man im Laufe des XDC. Jahr-
hunderts aus Unachtsamkeit tmd in Verkennung seines Wertes sehr
viel wirtschaftsgeschichtliches Quellenmaterial, d. h. Geschäftsbücher,
geschäftliche Briefwechsel usw., vernichtet hat, so dafs es recht
fraglich geworden ist, ob sich eine künftige Geschichte der wirt-
schaftlichen EntWickelung Deutschlands im verflossenen Jahrhundert
überhaupt in genügendem Umfange auf unnüttelbare Quellen wird
stützen können. Die der Zeit selbst entstammenden tendenziösen
Bearbeitungen — und das sind mehr oder weniger alle, die praktischen
Zwecken dienen, — werden voraussichtlich schlechtere Dienste leisten,
als es bei denen des XV. und XVI. Jahrhunderts der Fall ist, bei
denen die unbeholfenere Art der Stoffbewältigung die Grundlage
leichter erkennen, und die tendenziöse HüUe leichter entfernen läüst.
Wenn wir aber heute, zu Beginn des XX. Jahrhunderts, diese Übel-
stände als solche erkennen, dann wird es zur Pflicht, künftig sorgsamer
zu verfahren, die Erhaltung des Materials furder nicht mehr dem Zu-
fall zu überlassen, sondern in der Gegenwart schon systematisch
zu sammeln, damit wir der nächsten Generation neben anderen Gütern
auch einen quellenmäfisigen Niederschlag der Wirtschaftsverhältnisse
unserer Zeit hinterlassen.
Dazu kommt aber noch ein weiteres. Es ist jetzt endlich an
der Zeit, dafs im Bewufistsein der fuhrenden Kr^ie unseres Volkes
das Verständnis für die G^enwart wächst, und^pRpHM|M|U[' vom
Getriebe der Parteipolitik , in deren Interesse^ ^^^^Bp ge-
sagt werden — heute die ntuzeiÜMkmaßti^^^ ^^^^Hpben
— 108 —
Volkes vielfach absichtlich und unabsichtlich veczenrt dargestellt worden
ist. Ganz willkürliche Behauptungen können gerade deshalb so leicht
angestellt werden, weil es an offen liegenden Quellen und Sonder-
untersuchungen fehlt, auf Grund deren sich das G^enteil rasch nach-
weisen lielse.
Als weiteres Moment kommt endlich die weiter untenzu besprechende
Forderung sorgfaltiger Beobachtung der wirtschaftlichen Tatsachen im
Interesse der nationalökonomischen Systematik in Betracht
Aus diesen Gründen ergibt sich die Notwendigkeit, gewisse An-
stalten zu gründen, dieerstensdie primären wirtschaftsgeschichtlichen
Quellen aus dem XIX. Jahrhundert, soweit es nachträglich irgend
möglich ist, sammeln, und zweitens in der Gegenwart schon in
demselben Sinne für die Zukunft wirken. Solche Anstalten, mögen
sie nun selbständig sein, oder sich an andere bestehende Institute
anlehnen, verdienen den Namen „Wirtschaftliche Archive" oder viel-
leicht auch kurz „Wirtschaftsarchive'' ^). Auf diese Anstalten, die das
Material retten und erhalten sollen, wird es in erster Linie ankommen;
d^in die gewünschte Verarbeitung hat nicht nur das Vorhandensein
zuverlässiger Quellen zur Voraussetzimg, sondern wird durch nichts
mehr gefördert, als wenn man der bisher immer nur beklagten Zer-
streuung und Vernichtung der Quellen tatsächlich steuert und im voraus
für ihren guten Zustand sorgt. Bisher hinderten beide Ubelstände
fast regelmäfsig eine systematische und ersprieisliche Arbeit, denn
wenn gelegentlich auch einmal ein besonders fleifisiger und glücklicher
Arbeiter alle Schwierigkeiten und Hindemisse überwand » so konnte
im allgemeinen doch nie mit der wünschenswerten Lust und Schnellig-
keit gearbeitet werden. Mag auch die abgerundete Darstellung für weitere
Kreise immer als das letzte Ziel erscheinen, so ist doch andrer^
seits dafür längst nicht alles Material geeignet; aber auch dasjenige,
für welches letzteres zutrifft, ist in seinen Einzelheiten wissenschaftlich
wertvoll und kann nur durch die archivalische Behandlung gerettet
und zugänglich gemacht werden. Auch auf dieses ist mithin die Obacht
auszudehnen, und da sich von vornherein über den Wert gewisser
Geschäflspapiere für die Forschung ein endgültiges Urteil überhaupt
i) Eio solchef ArchiT besteht bereits, ood zwtr ist dies das too Prof. Richard
Ehrenberg in Rostock ins Leben gerufene „Thttnen-ArchiT''. Ein sweites soU ia
Kd'ln gegründet werden. Anf diesen «nd andere plane wird im Folgenden noch näher
eingegangen: Im allgemeinen ist zu Tergleichen des Verfassers Ao&atz 2Sur Frage dar
nmenn WirUckafisgesehiMe in der „Deutschen Indostrieseitong^, 24. Jahrg. (1905)
Kr. II md 13 rom 17. and 34. Mars 190$.
— 199 —
nicht fällen lä&t, so muiis in fluög^chat groisem Umfang« die Sammlui^
primärer Quellen und ihre dauernde Aufbewahrung ange8trd>t werden.
Jetzt erhebt sich sofort (Ue Frage: welches sind denn die
primären Quellen der neueren Wirtschaftsgeschichte?
Sie sind gewiä recht verschiedener Art, aber so verschieden sie sein
mögen, eins ist ihnen gemeinsam: als primäre Qudlen können
nttr solche schriftlich fixierte Tatsachen des wirtschafdichen Lebens
betrachtet werden, die unmittelbar auf einen Einzelbetrieb (Einzel-
wirtschaft), d. h. dine wirtschaftliche Unternehmung, einen Handwerks-
betrieb oder eine Haushaltung, zurückgehen.
Mit Recht bat sich die Forschung mit liebevoller Sorgfalt den
wenigen kaufmännischen Geschäftsbüchern zugewandt, die uns aus dem
Mittelalter überkommen sind; jeder kaufmännische Brief, jedes Waren-
verzeichnis, dafis man etwa im XVI. Jahrhundert zu einem ganz be-
stimmten Zwecke angelegt hat, wird als unmittelbare Quelle für
das Wirtschaftsleben jener Zeit hochgeschätzt, aber gleichzeitig wird
an denselben Erzeugnissen aus unserer Zeit achtlos vorübergegangen!
Die Forschung beachtet sie gar nicht, oder höchstens vereinzelt er-
haltene Stücke, die schon einige Jahrzehnte alt sind, als ein Kuriosum.
Die heute allgemein beliebte „volkswirtschaftliche" Betrachtung^)
hat -^ wohl infolge einer mifsverständlichen Deutung des Wortes —
zu einer ganz auffälligen Geringschätzung der einzelnen privatwirt-
schaiUichen Unternehmung, auch innerhalb der geschichtlichen und
volkswirtschaftlichen Betrachtung geführt Trotzdem ist diese das
einzig greifbare Objekt wirtschaftswissenschaftlicher Untersuchung, und
eist die Summe aller vorhandenen Unternehmungen und sonstigen
Betriebe sowie die zwischen diesen bestehenden Beziehungen
— eine abstrakte, nicht meisbare Grölse — stellen zusammen die
„Volkswirtschaft" dar; letztere ist wohl fiir den Gesetzgeber und Poli-
tiker, fiir die das wirtschaftliche Gemeinwohl in Frage kommt, der
i) Das Wort „Volkswirtschaft" bezw. „Nationalökonomie*' wird heute
nicht nur im Sinne Ton „Politischer Ökonomie" angewandt, sondern wird durchgängig
auch in Fällen gebraucht, wo ganz allgemein nur Ton der Erörterung unter wirtschaft-
liehen Gesichtspnidcten die Rede ist Dies leitet in redit vielen FäUen selbst den
FMhBiann irre und Temrsmcht ^filsTentindnisse. Deshalb ist es sachlich «in Fortschritt,
wenn Ehrenberg jetzt in diesem allgemeinen Sinne einfach ron „Wir tschafts wissen-
Schaft" nnd „wirtschaftswissenschaftlicher Forschung" spricht, wie wir
längst gewöhnt sind, Ton Natur- und Gesellschaftswisseaschaft eu sprechen. Die Wirt-
schaftswissenschaft nmiaist dann natürlich sowohl dio ¥oI]m- dl wich die Privat«
Wirtschaft, oad anf letztere kommt es bei im SHlfNiff||||^l^^idWbi^^ ^^f*
wiegend an.
— 200 —
Gegenstand des Interesses, aber fUr die Wissenschaft wie für den
Unternehmer selbst mufe der Einzelbetrieb in den Vordergrund treten,
damit auf diesem Wege die volkswirtschaftliche Untersuchung einen
zuverlässigen Untergrund erhält.
Mit überzeugender Klarheit hat Richard Ehrenberg diesen
Punkt erörtert^), und darin zugleich die Ursache dafür erkannt, dafs
die moderne Volkswirtschaftslehre so wenig vorwärts gekommen ist
Er tritt energisch für eine exakt-vergleichende Methode wirt-
schaftswissenschaftlicher Forschung ein und führt etwa das
Folgende aus. Das exakte Verfahren, wie es die Naturwissenschaften
kennen, benutzt das Experiment, um sich Beobachtungsmaterial zu
verschaffen; dieses Material wird gemessen, und die Messungen
werden verglichen. Das Experiment versagt jedoch bei der Ergrün-
duxig gesellschaftlicher Vorgänge, imd deshalb muls das Beobach-
tungsmaterial , das man messen und dann vergleichen kann,
auf andere Weise beschafüt werden. Dieses gesuchte Beobach-
tungsmaterial liefern die Registrierungen wirtschaftlicher
Tatsachen zu praktischen Zwecken *). In Wirklichkeit werden
wirtschaftliche Tatsachen der Volkswirtschaft nur in bescheidenen
Grenzen registriert, und deshalb fehlt es für exakte volksvrirtschaft-
liehe Untersuchungen an geeigneten Quellen. Ganz anders sieht es
mit den Privatwirtschaften, sowohl mit den Erwerbs- als auch
den Verbrauchswirtschaften, aus. Diese haben ihrer Natur nach eine
eigene in sich geschlossene und z. T. gesetzlich vorgeschriebene
Wirtschaftsführung, innerhalb deren und zu deren Ermöglichung die
einzelnen Tatsachen exakt gebucht werden. „Diese automatische Regi-
strierung wirtschaftlicher Tatsachen durch die Wirtschaftseinheiten nennt
man Buchführung. Sie ist für die>^rtschaflswissenschaften das wichtigste
Mittel, um ein ausreichendes Material an sicher festgestellten wirtschaft-
lichen Tatsachen zu erlangen.*' Die systematische Vergleichung
so gewonnener Einzeltatsachen führt zur Erkenntnis typischer Kausal-
verknüpfungen, die uns als wirtschaftliche Gesetze erscheinen.
Soweit Ehrenberg, für den als Vertreter der Nationalökonomie
oder besser der Wirtschaftswissenschaft deren Systematik unmittel-
barer Zweck der Untersuchung ist Aber der Wirtschafts historiker
I) Tkünm-Arehuf^ Organ für exakte Wirteehafteforeehung, i. Jahrg. (Jena,
GiifUT Fischer, 1905), S. 8 — 11.
3) Auf das hohe Mais rott ZaTerUssigkeit und GUnbwflrdigkeit , das solcheo
y, Rechnungen *< als QaeUen innewohnt, hat Verfuser bereits 1899 in seinem Anfiatse iStodf-
reeknungen (Deutsche Geschichtsblltter, i. Bd. S. 65) hingewiesen.
— 201 —
kaon ihm unbedenklich in seinem bisherigen Gedankengange folgen,
trotz des scheinbaren Widerspruchs mit Ehrenbergs eigenen Aus-
führungen über, die „historische Richtung" in der Nationalökonomie ^).
Denn erstens handelt es sich für ihn um Wirtschaftsgeschichte als
Geschichte und nicht um geschichtliche Erörterungen, die als Ersatz
für theoretisch-nationalökonomische Gedankenarbeit gelten sollen, und
zweitens mufis gerade der Historiker Ehrenberg unbedingt zustimmen,
wenn er sagt: „Vor allem sind die (durch historische Arbeiten) ermittelten
Tatsachen für eine neue Grundlegung der Volkswirtschaftslehre gar
nicht geeignet. Denn was Staats- und Gemeindearchive von den wirt-
schaftlichen Zuständen der Vergangenheit berichten, ist im Verhältnis
zur Wirklichkeit viel zu wenig und vor allem zu ungenau fest-
gestellt, als dafs sich daraus die Ursache der wirtschaftlichen Tat-
sachen mit irgendwie annähernder Sicherheit ermitteln liefise/* Insofern
ist. ganz offensichtlich alle bisherige Wirtschaftsgeschichte recht
lückenhaft, und es ist dringend nötig, für die Zukunft wenigstens, eine
Besserung herbeizuführen durch systematische Materialsamm-
lung in Wirtschaftsarchiven. Und Ehrenbergs neuste Arbeiten
sind überdies nur die Fortsetzung seiner rein geschichtlichen Unter-
suchungen, die ihm gerade gezeigt haben, wie unzulänglich die bis-
herige wirtschaftsgeschichtliche Arbeitsweise ist, ganz abgesehen
vom Zustande der Quellen. Eine gute wirtschaftsgeschichtliche Dar-
stellung, wie sie auf Grund des angesammelten, archivalischen Mate-
rials denkbar und wünschenswert ist, hat allerdings eine wirtschafts-
wissenschaftliche Systematik, ein auf exakte Beobachtungen ge-
gründetes wirtschaftswissenschaftliches System als heuristisches Mittel
für die Ordnung der Tatsachen der Vergangenheit zur Vorausset-
zung. Gewinnt sie aber dann ihrerseits exakte Beobachtungen, so
führt sie zugleich der wirtschaftswissenschaftlichen Systematik neues
Material zu. So sind Wirtschaftsgeschichte und Wirtschaftssyste-
matik dauernd eng miteinander verbunden; beide sind fiir die Zu-
kunft berufen, einander mehr als bisher zu ergänzen. Wenn die bei
beiden zur Anwendung kommende Arbeitsweise auch grundsätzlich
verschieden ist, so verarbeiten doch beide dasselbe Material, nur
unter verschiedenen Gesichtspunkten,
Um die Notwendigkeit einer intensiven allseitigen Erforschung
der einzelnen wirtschaftlichen Unternehmungen recht zu erkennen,
i) Tkünen-Arehiv, i. Jahrg., S. 3^4.
— »2 —
wird es nützlich sein, zweierlei zu beobachten, erstens die Literatur
über die Unternehmung als s(dcbe, und zweitens einige vorhandene
Monographien über einzelne Unternehmungen, wobei die verschie-
densten Arten berücksichtigt werden sollen. Selbstverständlich kann es
sich nicht um eine erschöpfende Darstellung dieser Gegenstände
handeln, sondern nur um Stichproben, was den zweiten Punkt an*
belangt, und um die allgemeine Literatur, soweit der erstere in Frage
kommt Denn auch die in der streng wissenschaftlich-volkswirtschaft-
lichen Literatur enthaltenen einschlägigen Erörterungen können an
der Tatsache nichts ändern, dafs innerhalb der allgemeineren Literatur
und in den Lehrbüchern die Unternehmung entschieden zu kurz
kommt; deshalb verhält sich auch das öffentliche Bewuüstsein ihi
gegenüber so merkwürdig gleichgültig, während andere relativ gering-
ftigige Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens die öfienÜichkeit
viel mehr in Anspruch nehmen. Der Grund dafür ist, dafis die Masse
unserer wirtschaftswissenschaftlichen Literatur mehr oder weniger sozia-
lis tisch beeinflufst ist; dem Sozialisten, der den grundsätzlichen
Unterschied zwischen Handarbeit und Kopfarbeit nicht anerkennt,
pafst eine wahrheitsgemäße Schilderung der Unternehmung, die eben
das organisierte Zusammenarbeiten beider Arten von Arbeiten unter
Leitung des Unternehmers darstellt, nicht in sein System, und deshalb
wird dieses ganze Gebiet möglichst beiseite gelassen. Es ist ganz
bezeichnend, dafs lediglich ein damit zusammenhängender Punkt,
nämlich der „Untemehmergewinn**, monographisch oft behandelt
worden ist, aber fast durchgängig nicht vorurteilsfrei. Dies kann
weiter gar nicht wundernehmen, da das Wesen und der Geist der
Unternehmung, was die Voraussetzung wäre, noch so wenig bearbei-
tet ist.
Die Unternehmung ist zwar diejenige Orgfanisation der Er-
werbswirtschaften, innerhalb deren sich gegenwärtig in Deutschland
der bei weitem gröfste TeU aller wirtschafUichen Tätigkeiten vollzieht«
aber dennoch ist sie nii^ends in der Literatur erschöpfend beschrieben,
ja nicht einmal der Versuch dazu ist ii^endwo gemacht worden«
Die Fabrik, die doch nur einen Teil der Unternehmung, und zwar
den äufserlich sichtbaren, darstellt, ist viel besser bedacht Dagegen
die nur durch geistige Arbeit zu erfassende und in geistiger Arbeit
bestehende Organisation der Untemehmimg ist ein ganz'unangebautes
Feld, und es scheint fast, als ob der Mehrzahl wirtschaftswissenschaft-
licher Forscher das Verständnis dafür fehlt, wie andrerseits auch die
Historiker noch nicht erkannt zu haben scheinen, welche grofse ge«
— 203 —
schichtliche Bedeutung, auch politisch, die Entwickehmg der Unter-
nehmung besitzt, so dais ihr Studium eine Grundbedingui^ fiir das
Verständnis des XIX. Jahrhunderts ist
Im allgemeinen hat eine Würdigung des Unternehmertums vor
neun Jahren einmal Vorster in seiner Broschüre Die Qroßimdustriey
eme dßr Grundlagen nationaler Soßidlpolitik (Jena 1896) versucht,
aber das war nur die Stimme eines Predigers in der Wüste. Neuer-
dings hat wiederum Richard Ehrenberg, der allen diesen Problemen
von den sämtlichen akademischen Vertretern der Wirtschaftswissen-
schaften das meiste Verständnis entgegenbringt, auch in dieser Frage
das Wort ergriffen und in einer kleinen Schrift, SoBiaJreformer und
Unternehmer (Jena 1904), eindringlich, leicht verständlich und ohne
jiede Voreingenommenheit nach irgendeiner Seite hin die allgemeine
Bedeutung des Unternehmers klargel^t. Seine Darlegungen' über
Das Wesen der newseiüiehen Unternehmung *) fuhren dann an der
Hand der Geschichte der Firma Siemens & Halske tiefer in diese
Probleme ein; sie wollen vor allem zeigen, wie sich das Kapital zu
der Person des Unternehmers verhält, und lehren, dals es den wirt-
schaftlichen Tatsachen Gewalt antun heifst, wenn man das Kapital
derartig, wie es heute üblich ist, in den Vordergrund stellt, geradezu
das Wesen der Unternehmung durch die Benötigung von Kapital
bestimmt glaubt, und dementsprechend, um die moderne Wirtschafts-
weise zu charakterisieren, von „Kapitalismus" spricht. Dies ist
um so bedeutsamer gerade in dem Augenblicke, in dem dieses etwas
abgebrauchte Wort durch Werner Sombart einen neuen wissen-
schaftlichen Anstrich bekommen hat.
Aber neben den Vertretern der Wirtschaftswissenschaften hat in
neuerer Zeit auch ein Historiker sich bemüht, der Unternehmung in
der öffentlichen Meinung zu ihrem Rechte zu verhelfen, und das ist
Lamprecht in seinem oben schon angezogenen Werke .2iir juti^s^
deutstken Vergangenkeit, Als Einteilungsgrund zur Abgrenzung ge-
schichtlicher Perioden betrachtet Lamprecht bekanntlich sozialpsychi-
sche Dispositionen, d. h. eme gewisse Struktur des geistigen Menschen,
die für eine bestimmte Periode typisch ist; es ist dies im Grunde
der denkbar schärfste Gegensatz zu der sogenannten „materialistischen"
Geschichtsauffassung. Die jüngste Periode der Entwickelung, als
deren. Charakteristikum ihm die zum Selbstverständlichen gewordene
Nervosität, die „Reizsamkeit'S erscheint, findet aber nach ihm ihrca
i) Im Thünen-'ArehiPt i. Jahrg., S. 34 ff.
— 204 —
typischen Vertreter im Unternehmer, und auf diese Weise erhält
dieser eine ganz besondere Stellung angewiesen: er erscheint nicht
mehr lediglich als wirtschaftlicher Organisator, sondern zugleich
als geistiger Typus. Wenn Lamprechts Darstellung in beiden Hin-
sichten gelegentlich auch den Widerspruch herausfordert, so daif
andrerseits nicht vergessen werden, dafs diese Dinge in der Literatar
bisher so kurz weggekommen und so einseitig behandelt worden sind,
und dafs es an exakten Beobachtungen so sehr fehlt. Gerade dieser
Umstand mufe ein neuer Sporn sein, das Unternehmertum von ge-
schichtlichem Standpunkte aus zu untersuchen.
Was die Monographien über einzelne Unternehmun-
gen anbelangt, so ist ihre Zahl zwar nicht ganz gering '), aber wohl
ihre wissenschaftliche Bedeutung. Das hat u. a. seinen Grund darin,
dafe die Verfasser vielfach Liebhaber ohne genügende historisch-volks-
wirtschaftliche Schulung sind, Aufserdem bilden in der Regel Jubiläen
den Anlais zu solchen Arbeiten, und es wird dann erst viel zu spät
an die Lösung der schwierigen Aufgabe herangegangen. Es läist sich
aber auch nicht leugnen, dafs tatsächlich weitere Kreise, sowohl unter
den Vertretern der praktischen Arbeit als auch unter denen der
Wissenschaft, noch kein rechtes Verständnis für die sachliche Bedeu-
tung besitzen, die der Geschichte eines beliebigen Handlungshauses
oder der eines industriellen Unternehmens zukommt. Gewifs gibt es
auch manche gute Arbeit unter jenen Monographien, aber bislang
sind dies Ausnahmen, und aus allgemeinem Interesse ist erst in aller-
jüngster Zeit Oskar Stillich zur Bearbeitung Nationdlokonamiseher
Forschungen auf dem Gebiete der großindusfrieUen Unternehmung fort-
geschritten, indem er in einem ersten Bande (Berlin, Siemenroth, 1904)
fiinf Unternehmungen der Eisen- und Stahlindustrie (Hoerder Berg-
werks- imd Hüttenverein; Ilseder Hütte und das Peiner Walzwerk;
Dortmunder Union ; Phönix, Aktiengesellschaft für Bergbau und Hütten-
betrieb; Vereinigte Königs- und Laurahütte) in ihrer geschichtlichen
Entwickelung beschrieben hat. Angesichts der grofsen Schwierigkeiten,
die sich solcher Arbeit bisher entgegenstellten, ist diese Veröffent-
lichung eine wissenschaftliche Tat von grofser Bedeutung, die über
das, was heute noch als tatsächlicher Zustand gelten muls, bereits
hinausfährt, und jeder Kenner unserer Wirtschaftszustände und der
Literatur darüber wird dem Verfasser beistimmen, wenn er im Vorwort
i) Der Raam gestattet nicht, hier eine gröüert Anzahl solcher Schriften eingehend
zn behandeln ; wir müssen uns mit einer Aaswahl Ton Typen begnügen. Eine Bibliographie
wird an anderer Stelle gegeben werden.
— 206 —
sagt : „...., denn die monographische Darstellung gro(skapitatistischer
Betriebe, wie sie ihren prägnantesten und reinsten Ausdruck in der
Form der Aktiengesellschaft erhalten haben, ist heute ein fast un-
beschriebenes Blatt der deskriptiven Nationalökonomie/' Dieser
eine in die Zukunft hinüberleitende Ansatz, mit dem in Verbindung nur
Ehrenbergs Untersuchungen genannt werden können, kommt bei einer
Charakteristik des heutigen Zustandes nicht weiter in Betracht, denn
auch hier macht eine Schwalbe keinen Frühling. Dem guten Willen
und der wissenschaftlichen Stellungnahme entspricht aufserdem der
Erfolg nicht völlig, da wichtiges Quellenmaterial teils nicht mehr
vorhanden war, teils wenigstens dem Verfasser nicht zugänglich ge-
macht worden ist '). Deshalb stellt heute immer noch die von einem
Geschäftsinhaber oder von einem in seinem Auftrage tätigen Bearbeiter
verfaüste Jubiläumsschrift den Typus der Monographie über eine
einzelne Unternehmung dar.
Manche derartige Untersuchung läüst erkennen, welches reich-
haltige Quellenmaterial dem Bearbeiter vorgelegen hat, und desto
mehr ist es dann zu bedauern, daüs der Verfasser die Wichtigkeit
der Au^abe, zu deren Lösimg er berufen war, nicht erkannt hat,
dafs er nicht tiefer in den Stoff eingedrungen ist und auf eine inten-
sive allseitige Ausbeutung der Geschäftsbücher verzichtet. Dies gilt
z. B. für die Festschrift, welche die Leipziger Tee - Importfirma
Riquet & Co. bei der Feier ihres 150 jährigen Bestehens 1895 hat
erscheinen lassen'). Dieses kleine Heflchen läist nur ahnen, über
welch prächtiges Material aus dem XVIII. Jahrhundert die Firma
verfügt. Ob das XIX. Jahrhundert weniger gut bedacht ist, oder ob
lediglich Mitteilimgen daraus fiir überflüssig gehalten wurden, weil
diese Dinge weniger interessant erschienen, mufis dahingestellt bleiben.
Die beiden Faksimileblätter aus dem ersten Hauptbuch (1746/47)
und dem 1767 begonnenen Schiff slmch (1784) zeigen jedenfalls hin-
länglich, welchen Gewinn die Wissenschaft aus einer sachgemäfsen
Bearbeitung dieses Stoffes ziehen könnte. Eine andere Leipziger Firma,
die Drogenhandlung Brückner, Lampe & Co., 1750 gegründet,
hat ebenfalls zum 150 jährigen JubUäum eine Festschrift veröflfentlicht *).
i) Ober dat geringe EntgegeDkommen , das StUlich bei Tielen Unteniehmero ge-
funden bat, klagt er beweglich im Vorwort $. VIU — IX.
2) 150 Jahre des Bestehens der Firma Riquet cO Co., gegründet am 15. No-
vember 1745, Leipzig. (29 S. 8*.)
3) 150 Jahre einer deutsehen Drogenhandlung 1750-^1900. Bin Beitrag «tir
Oesehiehie der Firma Brückner, Lampe db Co. Leipzig, Berlin, Hamburg, f^-^
Groüi 8^}
— 206 —
Das Quellenmaterial zur Geschichte des Hauses — seine Geschäfts-
papiere — scheint im ganzen weniger gut erhalten zu sein als
bei der zuerst genannten Firma, aber der Inhalt der Festschrift ist
wesentlich reicher. Vor allem interessieren die Er&hrungen, die die
Geschäftsinhaber während der Kontmentalsperre gemacht haben, und
aus dieser Zeit sind i8 Geschäftsbriefe im Auszug mitgeteilt, die für
die damals herrschenden Zustände als unmittelbar aus dem Geschäfts-
leben herausgewachsene Quellen, die nur ftir Vertraute bestimmt
waren, hervorragenden Wert besitzen. Höchst wichtige Preiskurante
von Drogerien sind im Faksimile wiedergegeben, und zwar solche
von 1757, 182 1 und 1826. Ob dies die einzigen erhaltenen aus
weiterer Vergangenheit sind, läist sich aus den Mitteilungen nicht
erkennen. Recht nützlich ist femer eine 1875 verfafste Zusammen-
stellung der verschiedenen Drogen mit Angabe des Jahres, in dem
sie zuerst in den Handel gekommen sind: im Jahre 1847 erst wurde
Guttapercha nach Deutschland eingeführt, und in demselben Jahre
zuerst Chloroform hergestellt. Dann werden eine Reihe politischer
Ereignisse 1824 — 1874 mit ihren Rückwirkungen auf den Handel auf-
geführt — diese Zusammenstellung ist schon gelegentlich des Jubi-
läums von 187s niedergeschrieben worden — , imd schliefslich wird ein
besonderer Rückblick auf das Geschäftsjahr 1874 gegeben. Das sind
Dinge von bleibendem Werte, wenn wirklich exakte Beobachtungen
aus dem einen Geschäft zugrunde liegen. Wenn ein Kauftnann solche
Übersichten — natürlich in der bewufsten Absicht, nichts anderes als
das in seinem Geschäft individuell Beobachtete, das, was er aus den
Zahlen seiner Bücher herausgelesen hat, niederzuschreiben — , Jahr
für Jahr für sein Archiv zusammenstellen wollte, dann könnte durch
solche „persönliche Aufzeichnungen" in der Tat allmählich ein vor-
zügliches authentisches Material gewonnen werden, und für den, der
als Geschäftsleiter den Markt überblickt und jede Veränderung schliefis-
lich in seiner Kasse beobachtet, ist dies nach dem Abschlufs der
Bücher bei der Jahreswende eine verhältnismäfisig geringe Mühe.
Freilich in den beiden genannten Jubiläumsschriften handelt es
sich nur um die Aufsenseite des Geschäftsbetriebes, die konkreten
Geschäfte. Der wirtschaftsgeschichtlich wenigstens ebenso wichtige,
für die wirtschaftswissenschaftliche Systematik aber entschieden nodi
wichtigere innere Betrieb, die Organisation der Unternehmung und
deren Wandelung im Laufe der 2^it, kommt kaum in Betracht; ja
dafs diese Seite überhaupt jemanden interessieren könnte, scheint den
Verfassern nicht in den Sinn gekommen zu sein. Und doch lie&en
— 2Q7 —
sich selbst bei relativ schlecht erhaltenem Quellenmaterial gewüs ohne
groise Schwierigkeiten wichtige Tatsachen feststellen. Bei Brückner,
Lampe & Co. waren 1900 26 Vertreter und Reisende im Geschäft
tätig : hätte dies nicht Anla£s bieten können, auch rückwärts zu fragen,
iu welcher Weise sich diese Klasse des Personals entwickelt hat?
In Leipzig selbst wurde bereits 182 1 beobachtet, dais namentlich die
Engländer durch „Reisediener" und „Musterreiter'' diejenigen Personen,
die sonst zur Messe kamen, au&uchen lieisen und dadurch den Mefs-
^erkehr schädigten ^). Dies sei nur als ein Beispiel dafür erwähnt, in
welcher Richtung sich wichtige Aufschlüsse über die Organisation des
Geschäftes gewinnen lassen.
Von der Geschichte einer industriellen Unternehmung erzählt
uns eine den beiden genannten in mancher Beziehung ähnliche Jubi-
läumsschrift, die allerdings bereits 1889 erschienen ist; es handelt
sich da um die Papier- Lackwaren -Fabrik der Gebrüder Adt in
Ensheim ') (Bayr. Pfalz) , und verfaist ist das Schriftchen von Haupt-
lehrer Grentz in Forbach, der auch sonst als Lokalgescbichtsforscher
tätig gewesen ist. In dankenswerter Weise sucht der Verfasser die
Papier-Lackwaren-Indttstrie in ihren geschichtlichen Zusammenhang
hineinzustellen und erzählt ganz interessant von der Schnupftabak-
dosenindustrie, die sowohl Produkte aus Holz als auch aus Papier
kannte. Holzdosen hat m Ensheim zuerst 1739 Matthias Adt, der
Ahne der heute noch blühenden Familie, geschnitzt; die Holzdose ist
aber später von der Papierdose verdrängt worden, und unter Ver-
wendung der zunächst für die Dosen entwickelten Technik sind dann
im besonderen in der 1839 gegründeten Unternehmung, der die Fest-
schrift gilt, alle möglichen Gebrauchsgegenstände hergestellt worden;
die im Jubiläumsjahre gangbaren Artikel werden in einem besonderen
Kapitel angezählt, so daüs auch der Fernerstehende eine Vorstellung
davon gewinnt: es sind iioo Sorten Dosen, 370 Gegenstände iur
Raucher, 330 Artikel für den Schreibtisch usw. Wird dann auch die
„heutige'' Fabrikation, d. h. die von 1889, kurz beschrieben, so
empfindet der I^ieser doch wiederum das Fehlen jeder Mitteilung über
die frühere Technik, sowie über die heutige und einstige Organisation
des Betriebes als Mangel. Wie in den beiden ersten Fällen hat auch
in diesem der Verfasser nicht das Bewufstsein, dafe er im Grunde vor
i) HassCf Geschichte der Leipziger Messen (Leipzig 1885), S. 435, 437.
yjleisende Handlangskommis", die Rnisland aufsucheD, werden schon 18 18 erwähnt S^4a9.
3) Festsekrifl xum 60 jährigen Jubiläum der Fabrik von Oebr. Adi in "^
39 S. 8® und 2 Uchtdnicktafeln).
— 208 —
einer wissenschaftlichen Au^abe von gröfster allgemeiner Bedeutung'
steht; er will interessant unterhalten und durch einige Streiflichter
auf die Vergangenheit namentlich den modernen Geschäftsmann, der
den betreffenden Betrieb kennt, zu einem Vergleiche zwischen einst
und jetzt anregen, aber die erschöpfende Verarbeitung seines Materials
liegt ihm fem. Für die Forschung auf dem Gebiete der Wirtschafts-
wissenschaften sind solche Festschriften vor allem als Proben von
Belang, indem sie — zunächst wohl halb unbewulst — die Allgemein-
heit auf gewisse Probleme aufmerksam machen und zugleich zeigen,
wo sich Material für solche Untersuchungen findet, wie es etwa ge-
artet ist, und wie man es bei dessen Bearbeitung nicht machen soll.
Trotz alledem wäre es ungerecht, auf solche Arbeiten und ihre Ver-
fasser verächtlich herabzublicken, denn auch sie sind zu Bahnbrechern
auf einem Wege geworden, auf dem andere später mit Glück vorwärts-
dringen konnten.
Aber es ist durchaus nicht notwendig, dafs Jubiläumsschriften
nur solchen mittelbaren Wert besitzen. Es gibt jedenfalls eine ganze
Reihe, die sich auch durch das, was sie an Material bieten, und
durch die Art seiner Bearbeitung mit anderen Erzeugnissen der
wirtschaftswissenschaftlichen Literatur — diese besteht notwendiger-
weise zu einem grofsen Teile aus literarischen Halbfabrikaten —
messen können und eine tatsächliche Bereicherung der wirtschafts-
geschichtlichen Literatur darstellen. Drei solche Schriften, die eine
Bank, ein Hüttenwerk ^) und ein Handelshaus zum Gegenstände
haben, sollen hier ebenfalls kurz besprochen werden. Schon äuiser-
lieh zeichnen sie sich den erstgenannten gegenüber durch den
Umfang aus, und wenigstens in den ersten beiden spielt auch das
in übersichtlichen Tabellen dargebotene Zahlenmaterial, und zwar bis
herab zum Jahre 1900, eine grofise Rolle. Auch diese Schriften sind
jedoch noch nicht — und wollen es auch nicht sein — umfassende
„Geschichten" der betreffenden Unternehmungen, die geschichtlich
und wirtschaftswissenschaftlich als mustergültige, erschöpfende Mono-
graphien gelten könnten. Indessen ihre Verfasser sind sich ihrer
hohen Aufgabe bewufst und kennen auch die Schwächen ihrer Arbeiten
wohl; sie aber würden auch am besten als Sachkenner bestätigen können,
was sie am eigenen Leibe erfahren haben, dafs nämlich das Material
im einzelnen Falle längst nicht gut genug erhalten ist,
1) Uosügänglich war mir bisher die von Ehrenberg im Thänef^ÄrchiPf i. Jahrg.
S. 331 anerkennend erwähnte Schrift ttber den Oearga^Marien'Berguferki' und iJüttoi-
verem (knabrüek von H. Malier (1896).
— 209 —
lim alles, worüber Auskunft verlangt wird, mitteilen zu könneti. Das
ist der springende Punkt. Es lassen sich eben heute viele Tatsachen,
die der Forscher gern ergründen möchte , selbst solche , die nur
wenige Jahrzehnte zurückliegen, nicht feststellen, weil das Material
zu lückenhaft ist. Nur in wenigen Ausnahmefallen und voraussichtlich
noch am ehesten bei Unternehmungen, die einst Staatsbetriebe ')
waren, oder solche, die früh zu Aktiengesellschaften wurden, oder
auch als solche entstanden sind, wird dies ftir die fernere Vergangen-
heit überhaupt möglich sein.
Die Diskonto-CreseUsdiaft 1851—1901, Denkschrifl zum 50 jährigen
JübHäum (Berlin 1901) bildet einen stattlichen, gut tmd doch nicht
übermäisig opulent ausgestatteten, mit zahlreichen Abbildungen ver-
sehenen Quartband von 277 Seiten, und gliedert sich in zehn Abschnitte,
von denen der erste Entstehung und innere Entwickelung , und der
zweite bis siebente die Tätigkeit auf dem Gebiet des öffentlichen Kredits
in Deutschland und im Auslande, auf dem Gebiet des Verkehrswesens,
dem der Industrie, des Versicherungswesens und der Grundstückunter-
nehmungen, dem der Landwirtschaft und der Bank- und Kolonial-
untemehmungen betrifft, während im achten Abschnitte die Geschäfts-
organisation beschrieben wird. Unter den Anlagen ist die Übersicht
über die Geschäftsergebnisse 1852 — 1900 (S. 257 — 262) in mancher
Hinsicht recht willkommen; es sei z. B. nur auf den Rückgang des
Geschäfts hingewiesen, den ein Vergleich der für 1873 und 1874 ge-
wonnenen Zahlen auf den ersten Blick ergibt. Von gröfstem allgemeinen
Interesse sind auch die Mitteilungen über die Eisenbahnbauten, an
denen die Gesellschaft beteiligt war, denn schon jetzt wird man be-
haupten dürfen, da& die Geschichte der Eisenbahnen hinsichtlich ihrer
Finanzierung, technischen Herstellung und wirtschaftlichen Wirksamkeit
eine der wichtigsten Aufgaben der künftigen wirtschaftsgcschichtlichen
Arbeit sein wird, und jeder Beitrag dazu, der sich auf Aktenmaterial
T
f) Ein Staatsbetrieb z. B. ist es aach, über den A. Amrhein, D» kurmain%%9ehe
GkuküUe Emmerichsthal bei Burg^osfa [» ArchiT des Historischen Vereins von Unter-
franken and Aschaffenbnrg, 42. Bd. (Wiirzborg 1900), S. 143 — 243] sehr interessant
handelt. Aber gerade der Staatsbetrieb ist es, der den Verfasser zn seiner fleifsigen
Untei^achang angeregt hat, denn nachdem 1776 die Hütte verpachtet worden ist, bricht
er ab und sagt S. 194: „Die Glashütte Emmerichsthal, die nan den Charakter eines
Privatanternehmens hatte, bietet in ihrer weiteren Geschichte kein
besonderes Interesse." Dem Anschein nach sind die Akten auch Über die nächsten
Jahrzehnte (bis 1804) noch ganz reichhaltig, aber ihr Inhalt wird nur in aller Kürze auf
7 Seiten znsammengefafst. Das ist bedauerlich, aber zagleich bezeichnend für die Auf-
fassung eines fleifsigen Lokalgeschichtsforsdhers.
16
— 210 —
stützt, ist deshalb von Bedeutung. Es darf dabei nicht vergessen
werden, daüs der Gründer der Diskonto-Gesellschaft, David Hanse-
mann, einer derjenigen Männer ist, die sich schon zu Anfang der
1830 er Jahre um den Eisenbahnbau im Rheinlande bemüht und verdient
gemacht haben ^). Die Gesamtheit der Bauuntemehmungen, an denen
die Gesellschaft seit ihrer Gründung beteUigt gewesen ist — nach
Ländern, und innerhalb dieser alphabetisch geordnet — , findet sich
S. 136 — 145; schon die Angabe der Jahre, in denen die betreffenden
Bahnen finanziert wurden, ist heute wertvoll. Aus dem Kapitel über
die Schiffahrtsuntemehmungen verdient das Projekt eines Nordostsee-
kanals, das Hansemann 1864 — 1866 entwickelte, Beachtung (S. 147 — 150).
Dies möge genügen, um den Beweis zu liefern, dais das vorliegende
Buch in vieler Hinsicht dauernden Wert besitzt, dafs es in die Hand
jedes gehört, der die wirtschaftliche Entwickelung Deutschlands im
XDC. Jahrhundert studiert, und daüs sich jede Gesellschaft ein Verdienst
erwirbt, die ähnliche Veröffentlichungen von sich aus veranlagt oder
wenigstens anderen ermöglicht Bedenken gegen solche Mitteüungen
aus geschäftlichem Interesse kommen namentlich bei Gesellschaften
kaum in Frage, denn was hier aus neuester Zeit allgemein interessiert,
das ist den Leitern geschäftlich in gleicher Richtung tätiger Unter-
nehmungen, der Konkurrenz, längst bekannt, und über Dinge, die
25 Jahre zurückliegen, wird unbeschadet aktueller Interessen meist
auch solches Material mitgeteUt werden können, was damals geheim
behandelt worden ist und vielleicht einige Jahre lang Geheimhaltung ver-
diente. Jedenfalls ist es jetzt an der Zeit, dafs wir bald
auf Grund zahlreicher, alle Gebiete des wirtschaftlichen
Schaffens berührender Monographien, die sich auf das
authentische Aktenmaterial stützen, vielleicht sogar mit
Hilfe von Akten Veröffentlichungen, die Periode deutschen
Wirtschaftslebens von etwa 1840 bis 1880 kennen lernen.
Die wirtschaftlichen Interessen des einzelnen in unseren Tagen sind
dadurch nicht gefährdet!
Im Jahre 1902 erschien, von Bergrat O. Junghann bearbeitet:
1802—1902. Die Gründung und Weiterentwickelung der KönigshüUe,
Festschrift zur 100 jährigen Jubelfeier (121 S. 4^ würdig ausgestattet
i) Vgl. Berge Qgrttn, David Hansemann (Berlin 1901), S. 157 fi. Diese Bio-
graphie enthält (S. 647 ff.) auch eine aoiführliche Gründnngtgeschichte der Diskonto-
Gesellschaft. Der Verfasser dieses Baches wird übrigens wohl auch im wesentlichen als
Verfasser der anonym erschienenen Denkschrift za gelten haben.
— «11 —
und illustriert) ^). Die 1802 erfolgte Gründung des Eisenhüttenwerks
Königshütte bildet insofern ein wichtiges Ereignis, als dieses die erste
mit Dampfkraft betriebene Kokshochofenanlage auf dem Kontinent
war, und gewissermafeen den Absdilufa der von Friedrich II. be-
gonnenen Bemühungen um die Bergwerks* und Hüttenindustrie Ober-
schlesiens bildet. Deshalb wird mit Recht die Geschichte des ober-
schlesischen Bergwerks- und Hüttenwesens seit 1741 im Zusammen-
hange mit der Entstehung der Kön^hütte erzählt, wobei die einzelnen
beteUigten Personen, namentlich der Geh. Finanzrat Graf von Reden
und Johann Friedrich Wedding, scharf heraustreten. Die Be-
mühungen, das mangelnde Kohlholz durch Koks zu ersetzen, und
die zu diesem Behufe angeknüpften Verhandlungen mit England (S.
9 — ig) sind für die Industriegeschichte höchst lehrreich. Das Akten-
material ist in diesem Falle gut erhalten, da die Hütte von vornherein
staatlich war, und deshalb die Akten des Ministeriums für Handel und
Gewerbe und des Königlichen Oberbeigamts Breslau gute und im
wesentlichen gewi& auch vollständige Auskunft geben; bei Privat-
untemehmungen selbst grossen Stils wird dieses jedoch nur in den
seltensten Fällen zu beobachten sein. Aus späterer Zeit, wo der einfache
alltägliche Betrieb im einzelnen interessieren würde, sind offenbar die
Akten auch nicht mehr so ergiebig wie früher, wenn auch das Material
immer noch erheblich besser sein dürfte als bei irgendwelchen, von
jeher in Privatbesitz befindlichen Unternehmungen. In einer Tabelle
wird von 1802 an die Produktion von Roheisen und Gu&waren zahlen«
mausig mitgeteilt; auch die Höhe der Bel^^chaft wird angegeben,
aber von 1843 ^^ ^^ ^^ Produktionsstatistik sogar vollständig ver-
öffentlicht, obwohl die Hütte 1869 vom Staate verkauft und 187 1 in
eine Aktiengesellschaft verwandelt worden ist Hier erhalten wir wiederum
ein höchst wichtiges 2^1enmaterial, obwohl nur die letzten Ergebnisse
mitgeteilt sind. Bei der Königshütte macht sich der wirtschaftliche
Rückgang erst im Geschäftsjahr 1875/76 völlig bemerkbar, während
sich im vorhergehenden Jahre die Arbeiterschaft noch vermehrt
hatte (1873/74:3234; 1874/75:3436). Aber der Durchschnittsver-
dienst') des Arbeiters, der 1873/74 noch 703 Mk. betrug, war bereits
i) Die Königshiitte wird «ach in der oben angezogenen Arbeit von 0»kar
Stillicb mit bebandelt, nnd dort ist ancb die Festscbrifl bereits verwertet, aber ein
näheres vergleichendes Eingehen auf beide Darstellungen gestattet hier der Raum nicht
3) Bei so groisen Zahlen gleicht sich der Unterschied zwischen den einzelnen
Klassen von Arbeitern zwar einigennaisen ans, aber methodisch ist eine solche Dorch-
schnittsberechnnng za verwerfen, weil sie leicht za ganz falschen Schlüssen vcf*
16*
— «12 —
1874/75 ^uf 690 Mk. gesunken, und fiel in den beiden folgenden
Jahren auf 651 und 611 Mk., um erst 1877/78 wieder auf 651 zu
steigen und im folgenden Jahre nochmals auf 618 Mk. zu sinken.
Seitdem erst ist eine fast ununterbrochene Steigerung — 1879/80
bereits 729 Mk.! — zu verzeichnen. Das sei nur ein Beispiel dafiir,
was Zahlen von individueller Geltung lehren können, und wie sie die
Anschauung über allgemein charakterisierte wirtschaftliche Vorgänge
zu beleben vermögen. Dazu kommt, dafs der Verfasser die wirt-
schaftlichen Ergebnisse der Königshütte dauernd zu der Wirtschafts-
politik des Staates in Beziehung setzt und dadurch auch zur Geschichte
der Zollpolitik, wenn diese auch im ganzen bekannt ist, einiges Neue
beibringt. Die ganze Arbeit ist eine wesentliche Bereicherung der
Literatur über Einzeluntemehmungen und kann wohl für andere der-
artige Monographien als Muster dienen , wenn auch ein geschulter
Vertreter der Wirtschaftswissenschaft gewifis in der Lage gewesen wäre,
aus dem vorhandenen Material noch wesentlich mehr herauszuholen.
Die technischen Erläuterungen des Hüttenfachmannes und die durch-
gängige Charakteristik aller technischen Neuerungen ist im höchsten
Mafse nützlich und beweist, wie sehr diese Dinge zum Verständnis
der wiftschafdichen Entwickelüng notwendig sind. Doch crfahrungs-
gemäfs kann der technische Fachmann dem wirtschaftlichen Bearbeiter
viel eher als Helfer und Erklärer zur Seite treten als umgekehrt.
Als -dritte der allgemeinen Beachtung zu empfehlende Mono-
graphie über eine Firma, und 2war ein Handelshaus, sei hier angeführt :
Dci8 SoU und Haben van EUMom & Co. in 175 Jahren, ein schlesischer
Beitrag ewr vaterländischen Wirtschaftageschickte von Kurt Moriz-
Eichborn (Breslau, Korn, 1903. 371 S. 4^; vorzüglich ausgestattet
und trefflich illustriert). Die 175 Jahre, die in Frs^e kommen, um-
fassen den Zeitraum von 1728 bis 1903, denn im erstgenannten Jahre
gründete der aus Landau in der Pfalz eingewanderte Johann Ludwig-
Eichborn in Breslau das Speditions-, Kommissions- und Wechselge»
Darchschnitte haben immer nur da ihre Berechtigang, wo eine VieUieit von Verhältnissen,
die im Bewufstsein der Beteiligten als wesentlich gleichartig erscheinen, beqaem zahlen-
mäfsig begriffen werden soU. In einem derartig grofsen Betriebe werden al>er notwendiger-
weise mehrere Klassen von Arbeitern unterschieden, deren Lohn ebenfalls erhebUch von-
einander abweicht. Mit Rücksicht anf hochgelohnte qualifizierte Arbeiter, die natärlich
in der Minderheit sind, erscheinen die Zahlen dann naturgemäfs zu niedrig. Es ist auch
sehr ^t denkbar, dafs trotz des Rtlckganges des Durchschnittslohns von 3000 Arbeitern
eine kleine Gmppe, die vieUeicht 5^0 ausmacht, gleichzeitig im Lohne steigt Auf
solche Dinge mofs eine ekakte, zu wissenschaftlichen und nicht za agitatorischen Zwecken
anfgesteUte Statistik natürlich achten and sie deutlich zum Ausdruck bringen.
— tl8 —
schäft, das noch heute als Bankhaus Eichbom & Co. besteht Die
Geschichte der Firma ist schon insofern lehrreich, als sie d^n
org^anischen Übergang vom Waren handel — anfangs besonders
Leinwand und Garn, später Wolle — zum Geld handel und die
Trennung beider Geschäftszweige veranschaulicht ; das Mittelglied bildet
der Kommissionsbetrieb. Die bis tief ins XIX. Jahrhundert herein zu
beobachtende aktive Beteiligung am Warenhandel tritt dann immer
mehr zurück, die Firma wird ein Bankgeschäft in modernem Sinne,
das sich mit der Finanzierung der verschiedensten Unternehmungen
begnügt, und trägt dadurch zur Zerlegung des früher einheitlichen
Wirtschaftsprozesses in einzelne selbständige Teile bei. Interessant
sind die Schilderungen des Breslauer Wollmarktes in den 30er
und 40er Jahren des XDC. Jahrhunderts, und der Zufall will, und
das ist gewifs lehrreich, dafis die oben angeführte Biographie von
David Hansemann derselben Verhältnisse in Aachen gedenkt, wenn
dort auch die Erörterung ein Jahrzehnt früher einsetzt
Am ausfuhrlichsten sind die Ereignisse und Zustände nach 1807
dai^stellt, die ein ganz aufserordentliches allgemeines Interesse haben,
und die gegenüber der älteren Zeit wesentlich eingehender behandelt
werden konnten, weil von da an die Firma selbst über Aktenmaterial
verfugt. Die jüngste Wirksamkeit der Firma seit 1870 wird dagegen
S. 347—351 nur kurz charakterisiert Der Schwerpunkt liegt mitbin
auf der Zeit vom tie&ten Niedergang Deutschlands bis zur Reichs-
gründung, und für diese Periode wird endlich einmal die Bedeutung
des Kaufmanns für das nationale Leben und die Gesamtheit an einem
einzelnen, aber prägnanten Beispiele erläutert. Auch die politische
Geschichtschreibung dieser Periode darf an- den hier erschlossenen
Quellen über die staatlichen Finanzaktionen und die Beteiligung der
privaten Bankinstitute daran künftig nicht vorübergehen. Durch diese
Darstellung gewinnen nicht nur die jeweiligen Leiter der Firma als
Persönlichkeiten Leben, sondern auch ihre Geschäftstätigkeit als Ganzes
wird dem Leser verständlich, so dafs das Buch nach Anlage, Form
und Inhalt unbedenklich als das beste bezeichnet werden kann, was
bis jetzt über die Geschichte einer einzelnen Firma geschrieben worden
ist Und dabei ist das Material an sich nicht einmal besonders gut
erhalten, desto gröfeer aber war der Fleifs und das Verständnis des
' Verfassers, der seit 1899 Mitinhaber der Firma ist.
— «14 —
Die vorstehende kleine Blütenlese erschien angebracht, um ein
ungefähres Bild davon zu geben, in welcher Weise man gegenwärtig-
die Geschichte einzelner gewerblicher und kaufmännischer Unterneh-
mungen darzustellen pflegt. Diese Arbeiten zeigen konkret, welcher-
art die Belehrungen sind, die sich aus solchen Monographien ge-
winnen lassen oder wenigstens gewinnen lassen sollten; denn gerade
der Umstand, dafs wir dasjenige, was wir gern wissen möchten, daraus
vielfach nicht erfahren, erweckt unsere Teilnahme und zwmgt uns, nach
Mitteln zu suchen, die zu einer Besserung in dieser Beziehung fuhren
können. Es bedarf weiter keiner Worte, die Proben haben es deutli<di
erwiesen: es fehlt vor allem an einem zuverlässigen, zu-
sammenhängenden Quellenmaterial. Die Mängel hinsichtlich
der Vorbildung der Bearbeiter, der rechten Würdigung der Au%abe
usw. treten an Bedeutung demgegenüber zurück, denn wenn hier ein
MifsgrifT geschehen ist, so läiist er sich wieder gutmachen; bei der
Materialsammlung hingegen ist dies nicht der Fall.
Die einzige Lehre, die gegenwärtig die Wirtschaftsforschung aus
diesen Tatsachen ziehen kann, ist die: es mufs in der Gegenwart
bereits eine systematische Sammlung desjenigen Mate-
rials in die Wege geleitet werden, das künftigen Ge-
schlechtern als Quelle für die wirtschaftlichen Tat-
sachen unsererZeit dienen kann, und als entsprechende
Ergänzung für die Vergangenheit mufs jetzt bald aller-
orts mit der nachträglichen Rettung des noch erhaltenen
direkten Quellenmaterials begonnen werden»
Das ist die wissenschaftliche Aufgabe und Pflicht der Gegenwart,
die mit gerechtem Stolz von den Leistungen der Deutschen namentlich
auf dem Gebiete der Industrie zu sprechen pflegt und die in der Tat
von dem Werden und Wachsen der Unternehmungen, von dem dabei
angewandten Fleifs und Scharfsinn ihrer Leiter nicht entfernt die
richtigen Vorstellungen besitzt. Für die künftige wirtschaftliche und
soziale Entwickelung unseres Volkes ist es durchaus nicht gleichgültig,
wie die öffentliche Meinung über solche Dinge denkt, und deshalb
ist es nicht nur eine wissenschaftliche, sondern auch eine sozial-
politische Pflicht, dafür zu sorgen, dais die Quellen, aus denen sich
später ein wahrheitsgetreues BUd unserer Wirtschafiszustände gewinnen
läfist, gerettet und dauernd erhalten werden.
Darauf kommt es an, und es wird sich dieses Ziel nur erreichen
lassen, wenn besondere Anstalten, die ausschliefslich diesem
Zwecke dienen, gegründet werden; sie verdienen — wie schon
— «15 —
oben S. 198 angedeutet wurde — den Namen ,, Wirtschaftliche
Archive'' oder „Wirtschaftsarchive'', und es erhebt sich sofort die
Frage, wie sich derartige Archive etwa einrichten liefsen. Eine Er-
örterung dieses Punktes von allgemeinen Gesichtspunkten aus erscheint
gerade im jetzigen Augenblicke notwendig, weil im Verlaufe des
Winters 1904 — 1905 in einem Gebiete Deutschlands, das ein be-
sonders ausgeprägtes Wirtschaftsleben besitzt, in Rheinland- Westfalen,
praktische Vorschläge in dieser Richtung gemacht worden sind. Deren
Prüfung erscheint nicht nur zweckmä&ig , ehe sie in die Wirklichkeit
umgesetzt werden, sondern die Vorschläge selbst sind geeignet, für
eine grundsätzliche Erörterung der einschlägigen Fragen als Unter-
lage zu dienen.
Als 1901 in Köln die Handelshochschule ins Leben trat, da ist
seitens der zunächst Beteiligten alsbald auch die Gründung eines
,, Zentralarchivs für rheinisch-westfälische Wirtschaftsgeschichte" ins
Auge gefafst worden^); ein „BUanzarchiv'^ das als Teil des ersteren
gedacht ist, besteht seit Herbst 1904 bereits und liefert zunächst das
Material für bilanzkritische Untersuchungen der Handelshochschüler ').
Ein Ausschufs hat die Förderung der Angelegenheit in die Hand
genommen und unter Mitwirkung des Syndikus der Kölner Handels-
kammer, Prof. Wirminghaus, sie stetig weiter verfolgt, vor allem
auch versucht, die Vertreter von Handel und Industrie für den Ge-
danken einer Archivgründung zu erwärmen. Diese Bemühungen sind
auch nicht ohne Erfolg geblieben, und es ist im Herbste 1904 auch
noch weiter endgültig beschlossen worden, das Archiv nicht mit der
Handelshochschule zu verbinden, sondern zu einer mehr selbstän-
digen, nur lose mit jener zusammenhängenden Anstalt zu machen,
es materiell auf Stiftungen und regelmäfsige Beiträge zu gründen und
es vielleicht der städtischen Obhut anzuvertrauen. In diesem Sinne
wird gegenwärtig an der Verwirklichung des Projektes, um die sich
namentlich auch Studiendirektor Prof. Eckert bemüht, weitergearbeitet,
und die Bibliothek der Handelshochschule sowie das Bilanzarchiv ent-
halten bereits beträchtliches einschlägiges Material.
i) VgL darflber die knne KitteÜnsg Ton Stadiendirektor Prof. Eckert in der
Kökidsehen Zeitung Tom 2, Not. 1904 (Bfittagsansgabe) Nr. 1133 sowie die Nachrichten
in dem von Prof. Eckert erstatteten Bericht ttber die xwei Stadienjahre 1903 nnd 1904
in Die städtische BandeU-Eoehsekuk wi KStn 0M|^oo5), S. 118— lai nnd 79. Im
ttbrigen sei anf des Verfassers bereits oben enrfl^^^^^|H|Lj^Nr. 11 and 12 der
Deutschen JMustriezeitung rom 17. and 24.
a) Das BilansarchiT, welches Dosent SeS ^^^^^^^ kflrzUch von
der Handelskammer Köln einen JahTeibii|MMV ^^^^^BMli^ erhalten.
— 216 —
Von diesem Plane war in der weiteren OfTentlichkeit und selbst
in Köln nichts bekannt, als die Handelskammer zu Düsseldorf in
ihrer Sitzung vom 23. September 1904 den Beschlufs fauste, in ganz
bestimmter Weise im Verein mit den übrigen Handelskammern in der
Rheinprovinz und Westfalen die Sammlung wirtschaftsgeschichtlicher
Tatsachen zu organisieren und zwar dadurch, dafs jeder Kammer für ihren
Bezirk die entsprechende Sammeltätigkeit zur Pflicht gemacht würde ; die
Inventare über die von jeder Kammer angelegten Sammlungen sollten
dann an einer Auskunftsstelle niedergelegt werden. Nachdem die
Kölnische Zeitung vom 29. Oktober 1904 (Nr. 1108) an diesem Plane
Kritik geübt hatte und am 2. November die in Köln geplante Archiv-
gründung öffentlich bekannt geworden war, erschien eine vom 5. No-
vember 1904 datierte Denkschrift, in der die Düsseldorfer Handels-
kammer ihren Plan näher darlegt^und die übrigen Kammern zu gemein-
samer Arbeit auffordert *).
Das schon oben S. 198, Anm. i erwähnte in Rostock von
Richard Ehrenberg gegründete „Thünen-Archiv**, das mit dem
Staatswissenschaftlichen Seminar der dortigen Universität verbunden
ist % kann in diesem Falle aufser acht bleiben, da es seiner ganzen
Entstehung nach sich darauf beschränkt, Massen der dem Geschäfts-
betrieb einzelner Unternehmungen entstammenden Papiere zu retten
und der Wissenschaft zugänglich zu machen, aber — wie es scheint —
auf die Kleinarbeit der Materialsammlung über die Gegenwart ver-
zichten will und gewifs auch mufs, wenn ihm nicht dauernd besondere
Arbeitskräfte zur Verfugung gestellt werden.
Praktisch kommt es deshalb im Augenblicke nur darauf an, die
beiden dem Rheinland entstammenden Pläne, den Kölner und den
Düsseldorfer, miteinander zu vergleichen und vorurteilsfrei zugleich
im allgemeinen zu prüfen, ob sich die Projekte verwirklichen lassen
und welcher Nutzen voraussichtlich bei der Verwirklichung des einen
oder anderen herausspringen wird. "
Der Unterschied zwichen beiden Projekten besteht darin: in Köln
i) Die nicht besonders Uat gehüttü Forderangen in 5 Absätzen sind in der
Deutschen LtduslriexeUung Nr. 5a vom 23. Des. 1904 (S. 461) und in Nr. la Tom
a4. Marx 1905 (S. 135) abgedruckt.
3) Vgl. Thünen-Arehiv , i. Jahrg., S. 23—24. Die Verbindung mit dem Tolks-
wirtschafUichen besw. staatswissenschafUichen Seminar einer Universität erscheint aof dea
ersten Blick zweckmäfsig, aber es fragt sich sehr, ob sie es ist. Denn die Stndeoten,
die hier im Archiv beschäftigt werden, wechseln rasch, nnd selbst der Lehrer kann leicht
wegbenifen nnd durch einen Nachfolger ersetzt werden, der weniger Verständnis Air das
Archiv besitzt and damit kann dessen gedeihliche Weiterentwickelong in Frage gestellt
— 217 —
soll die Rettung und Aufbewahrung älteren Materials sowie die dauernde
systematische Sammlung wirtschaftlicher Tatsachen aus der Gegenwart
von einem Zentralarchiv aus geschehen, dessen Leiter das gesamte
niederrheinisch-westialische Wirtschaftsgebiet lediglich zu diesem Zwecke
ständig überblicken soll ; zur Unterhaltung eines solchen Archivs sind
natürlich beträchtliche Mittel erforderlich und zum Gelingen des
Planes nicht nunder die gelegentliche Unterstützung seitens lokaler Or-
ganisationen und einzelner Firmen. Gemäiis dem Düsseldorfer
Vorschlag dagegen soll ein geistiges Band genügen; jede Kammer
soll für ihren verhältnismässig kleinen Bezirk nebenbei auch wirtschafls*
geschichtliches Material sammeln, ein genaues Inventar darüber an-
legen und dieses in Abschrift an eine Sammelstelle, als die etwa die
Handelskammer Düsseldorf zu gelten hätte, einsenden. Dort würde —
so nimmt man an — ein wirtschaftsgeschichtlicher Forscher sich leicht
auf Grund der Inventare darüber unterrichten können, was er an Material
über den Gegenstand, der ihn interessiert, im Archiv der einzelnen
Kammer bzw. in der diesem angegliederten wirtschaftsgeschichtlichen
archivalischen Sammlung finden kann. Dieser Vorschlag hat den
Vorzug, dafe er die Tätigkeit besonderer Arbeitskräfte nicht vorsieht,
auch weiter keine besonderen Anstalten nötig macht, und deshalb
würde seine Ausfuhrung billig sein.
Lediglich unter letzterem Gesichtspunkte dürfte in den Augen
des Publikums dem Düsseldorfer Plane der Vorzug vor dem Kölner
zu geben sein. Denn das ist demjenigen, der die Arbeit in Archiven
zum Zwecke geschichtlicher Forschung kennt, ohne weiteres klar:
das Ziel, hinsichtlich dessen sich alle Beteiligten einig
sind, wird durch eine Organisation, wie sie in Düssel-
dorf geplant wird, nicht im entferntesten erreicht, denn
der Vorschlag beruht auf einer völligen Verkennung wirtschafts-
wissenschaftlicher Forscherarbeit, ihrer Voraussetzungen und Absichten.
Es hat nur nebensächliche Bedeutung, darf aber doch nicht un-
erwähnt bleiben, daüs es dem Sprachgebrauche widerspricht, eine
Sammlung von Inventaren als „Archiv" zu bezeichnen; denn unter
einem Archiv verstehen wir immer nur eine Sammhmg von Akten,
Abbildungen usw., kurz Stoffen, die — so wie sie vorliegen — zur
wissenschaftlichen Ausnutzung geeignet sind, nicht aber eine Sammlung
von Inventaren, die nur die Kenntnis von gewissen Akten vermitteln.
Sachlich erregt der Düsseldorfer Plan in dreifacher Richtung Bedenken,
nämlich hinsichtlich des geographischen Gebietes, '"' * ^.in-
heit für die Sammlung dienen soll, hinsichtlich der Art
— 218 —
in der man verfahren will, und schlielslich hinsichtlich der Nutzbar-
machung des gesammelten Materials^).
Der Handelskammerbezirk, dessen Grenzen durch mancherlei Rück-
sichten und Kompromisse bestimmt sind und der in der Tat heute
nur in seltenen Fällen ein wirtschaftlich einheitliches Gebiet vollständig^
umfafst, ist als Einheit für eine wirtschaftsgeschichtliche umfassende
Materialsammlung von vornherein nicht geeignet; vielmehr kann es
hur praktisch sein, unabhängig von politischen und administrativen
Grenzen, relativ einheitliche Wirtschaftsgebiete, die größeren
und geringeren Umfang haben können, so wie sie im Leben der Gegen-
wart als Einheiten empfunden werden, als Einheiten zugrunde zu
legen. In dem aktuellen Falle würde es sich demgemäfs um das
niederrheinisch-westfalische Wirtschaftsgebiet, das durch das Vorkommen
von Kohle und Eisen charakterisiert ist, handeln, während der süd-
liche Teil der Rheinprovinz, etwa von der Mosel an, wirtschaftlich mit
Lothringen und der Pfalz zusammengehört. Ein solches Wirtschafts-
gebiet zeigt natürlich auch wirtschaftliche Verschiedenheiten, aber das-
selbe ist schließlich auch in den kleinsten Bezirken der Fall, und es
kommt hier wie bei allen Fragen der Wirtschaftspolitik vornehmlich
auf die Lebensgemeinschaft an, in der sich die Bevölkerung befindet,
auf die Gleichartigkeit der Lebensauffassung und Lebenshaltimg, die
auch auf das Wirtschaftsgebaren von gröüserem Einflufs zu sein
pflegt, als man von vornherein anzunehmen geneigt sein möchte.
Nur dieses groüse Wirtschaftsgebiet in allen seinen Lebensäulserungen
einschlielslich der Landwirtschaft und des Handwerks stellt eine kulturelle
Einheit dar , aber innerhalb dieses Gebietes finden sich zahlreiche
Handelskammern, die zwar der Aufsenwelt gegenüber gewisse gemein-
same Interessen vertreten, aber zugleich auch im Widerstreite örtlicher
Interessen oft gegeneinander Stellung nehmen müssen. Jede neu
auftauchende Frage macht es nötig, dals eine Mehrzahl von Kammern —
um zunächst nur von diesen und ihren regelmäfsigen Akten zu reden —
dazu Stellung nimmt, und es wird fiir den künftigen Forscher in hohem
Mafse wertvoll sein, wenn er bei Betrachtung solcher Fälle leicht die
Kundgebung mehrerer rivalisierender Kammern nebeneinander be-
nutzen kann. Ja bei gewissen Fragen, wie denen des Verkehrs,
werden sich die Archive benachbarter Kammern nicht nur ergänzen,
i) Die folgende Kritik war schon niedergeschrieben, als die Anlsenuig der Handels-
kammer Saarbrücken bekannt wurde, die yon ihrem Standpunkte aas in ganz ähn-
licher Weise m dem Düsseldorfer Plane Stellang nimmt Vgl. Saarindustrie, lo. Jahrg.
(1905) Nr. 14. S. 70—72.
— «19 —
sondern vielfach auch das Projekt selbst nnto: entgegengesetzten Ge*
Sichtspunkten beleuchten. Der Lauf jeder neuen Bahnlinie z. B. ist —
abgesehen von technischen Rücksichten — durch einen wirtschaftlichen
Interessenkampf bestimmt und stellt meist ein Kompromüs dar; die
Geschichte ihrer Entstehung — und das wird, wie schon oben angedeutet
wurde, eine recht wichtige Au%abe künftiger wirtschaftsgeschichtlicher
Forschung sein — wird sich deshalb nur unter Benutzung zahlreicher,
die verschiedenen Interessen vertretender Akten aufhellen lassen;
deren räumliche Trennung bildet aber bei solchen Untersuchungen,
die sich nur bei systematischer Durchforschung mehrerer 2^ntner
Akten bewerkstelligen lassen , ein schweres Hindernis. Und für die
einzelne Unternehmung gilt ganz dasselbe; denn die Aufhellung ihrer
besonderen Geschichte ist doch nur eine Vorbedingung, und der Ver-
gleich mit anderen, unter wesentlich gleichen Bedingungen arbeitenden
Unternehmungen erst macht die Einzeluntersuchung für die Wirtschafls-
forschung als Wissenschaft fruchtbar. Solche Vergleiche, die allmäh-
lich zu einer bestimmten gut begründeten Anschauung über die Zu-
stände grolser, wesentlich einheitlicher Gebiete führen, sind wissenschaft-
lich notwendiger als alles andere, denn sie erst schlagen die Brücke
zwischen der heute üblichen Einzeluntersuchung über ein kleines Stück
wirtschaftlichen Daseins und den grolsen, wesentlich auf statistischer
Grundlage aufgebauten Betrachtungen wirtschaftlicher Zustände im
ganzen Lande oder gar im Reiche. Die einzige organische Einheit,
das Wirtschaftsgebiet, fehlt als Objekt wirtschaflsgeschichtlicher
Untersuchung fast völlig, und dieses mu(s intensiv bearbeitet werden,
wenn solche Arbeiten wissenschaftlich und praktisch nutzbringend
wirken sollen.
Alle diese wissenschafUich-sachlichen Forderungen werden nur
erfüllt, wenn die Sammelarbeit und die damit Hand in Hand gehende
Bearbeitung des Stoffes ein viel gröfseres Gebiet umfafst, als es ein
Handelskammerbezirk ist; denn es gilt hier das Ganze zu betrachten,
ohne die wirtschaftliche Einheit, die einzelne Unternehmung, völlig
aus dem Auge zu verlieren.
Eng damit hängt es zusammen, dais eine von der einzelnen Kammer
selbständig unternommene Sammlung auch hinsichtlich der Art und
Weise des Sammeins den zu stellenden Anforderungen nicht genügen
kann. Denn es wäre bei diesem Verfahren nicht die geringste Gewähr
dafür vorhanden, dais gleichmäfsig nach demselben Grundplane,
ja daCs auch nur regelmäfsig gesammelt würde, und beides,
doch angesichts des verfolgten Zweckes unerläfslich. Der per
— 220 —
Anlage und Neignng' nach würde jeder Syndikus seine Aufgabe anders
auffassen; um gewisse Dinge würden sich immer mehrere gleichzeitig
bemühen — und das wäre Arbeitsvergeudung — , während anderes
Material völlig unbeachtet bleiben bzw. nur vereinzelt gesammelt
wjerden würde. Aber selbst wenn sich in dieser Richtung eine genaue
Instruktion aufstellen liefse und wenn diese auch im allgemeinen be*
folgt würde, so sind die aktuellen Aufgaben der Kammern doch so
mannigfaltig und nehmen den einzelnen Geschäftsführer derartig in An-
spruch, dais er ganze Perioden lang an die Sammeltätigkeit und die
dafür notwendige dauernde Beobachtung des Lebens kaum würde
denken können. Beides würde für ihn immer nur etwas Nebensächlidies
sein und kaum im Mittelpunkt seines Interesses stehen, ja die mangelnde
archivtechnische Erfahrung der Anordner würde es mit sich bringen,
da(s selbst im günstigsten Falle, wenn wirklich gutes Material zusammen-
käme, die Übersichtlichkeit des Apparates, und das heilst zugleich
die Benutzbarkeit, vieles zu wünschen übriglassen würde. Die Anlage
eines Archivraumes mit der nötigen Einrichtung bei jeder Kammer
würde namentlich den kleineren weniger leistungsfähigen Kammern
und denen, die nur in gemieteten Räumen Unterkommen gefunden
haben, Schwierigkeiten verursachen, und diese würden naturgemäCs
mit der Zeit immer noch wachsen, wenn den tatsächlichen Bedür&issen
wirklich Rechnung getragen werden soll.
Wenn aber schließlich diese Schwierigkeiten alle irgendwie über-
wunden werden sollten, wäre dann das an so vielen Stellen gesammelte
Quellenmaterial wü-klich für die Forschung nutzbar gemacht? Mit
nichten. Die Lage des Forschers, der so glücklich wäre, in der
„ Sammelstelle'* die Inventare der verschiedenen örtlichen Sammlungen
wirklich einzusehen, ist durchaus nicht so beneidenswert, wie es von
vornherein scheinen könnte. Er mufs unter allen Umständen die
Kammern, in deren Archiv er auf Grund des kurzen Vermerks im
Inventar etwas zu finden hofil, noch persönlich aufsuchen, aber selbst
ein negatives Ergebnis bei Durchsicht des Inventars wird den gewissen-
haften Arbeiter von einem persönlichen Besuch nicht abhalten, wenn er
aus sachlichen Gründen daselbst Material fiir seine Forschungen ver-
mutet. Inventare, und wären es die am sorgsamsten angelegten,
können diesen Dienst, an den man in Düsseldorf denkt, niemals
leisten ; denn sie müssen sich stets an das Formale, Äulserliche halten
und können den Inhalt der Aktenfaszikel, auf den es hier allein an-
kommt, nie so angeben, wie es der Forscher für seine Zwecke, die
andere sind als die des Registrators , nötig hat. Der Benutzer eines
— «21 —
Archivs betrachtet die aus mehreren Jahrzehnten stammenden Akten
naturgemäß unter ganz anderen Gesichtspunkten, als es die waren,
welche die Anlage der Faszikel gerade in der Weise, wie es geschehen
ist, veranlaisten. Die Rubrik ist etwas rein Zufalliges und hat für
jenen gar keine Bedeutung, sondern nur der tatsächliche Inhalt. Der
Geschäftsbetrieb bringt es aber erfahrungsgemäüs mit sich, daüs infolge
einer aktuellen Ideenverbindung Aktenstücke über ganz verschieden-
artige Vorgänge und Tatsachen zu einem Faszikel vereinigt werden.
Wer unter solchen Verhältnissen ein Inventar anlegen wollte, der müfiste
gerade den Inhalt jedes einzelnen Blattes kennzeichnen! Wer je in
Archiven gearbeitet und Registranden oder Inventare benutzt hat, der
weiis, wie diese einerseits irrefuhren und falche HofTnungen erwecken,
während andrerseits ganze Materien, die doch in den Akten selbst
eine grofse Rolle spielen, in ihnen überhaupt unerwähnt bleiben.
Aber auüserdem würden diese Inventare, da sie von ganz verschiedenen
Personen angelegt wurden, auch unter sich nicht einmal vergleichbar
sein und dadurch noch mehr an Wert verlieren.
Die ganze Organisation, die ausgedacht zu haben der Geschäfts-
führer der Düsseldorfer Handelskammer, Herr Dr. Brandt, nicht wenig
stolz ist, erweist sich mithin als unpraktisch, wenn nicht als undurch-
führbar; sie ist in der Tat ganz und gar nicht geeignet,
um dasProblemzulösen, daszulösenist, dieweit sichtige,
grofs angelegte Sammlung wirtschaftsgeschichtlichen
Quellenmaterials behufs exakter wirtschaftswissenschaft-
licher Forschung. Deshalb wäre es im allgemeinen Interesse das
beste, wenn die geplante Düsseldorfer „Organisation" völlig unter-
bliebe, damit nicht durch sie die an sich recht erwünschte Tätigkeit
der einzelnen Kammer in falsche Bahnen gelenkt und der besseren
anderen zentralisierenden Anstalt z. T. das Wasser abgegraben, ihren
gemeinnützigen Bestrebungen entgegengearbeitet wird.
Welchen Standpunkt die« einzelnen Handelskammern in der Rhein-
provinz und in Westfalen, die in jener Denkschrift vom 5» November
1904 zur Aufserung ihrer Ansicht und zum Beitritt zu jener Organisation
au%efordert worden sind, in ihrer Mehrzahl eingenommen und ob
sie sich überhaupt eingehender über die Angelten heit ausgesprochen
haben, ist mir unbekannt. Lediglich die von den Handelskammern
zu Köln und Saarbrücken am 18. November 1904 bzw. 28. März 1905
gefafsten Beschlüsse sind mir zu Händen gekommen, und beide sprechen
sich, wie es angesichts des besseren Kölner Projekts nicht anders zu
erwarten ist, gegen die Gründung einer Sammelstelle im Düs8eldoi||L
j
— tss —
Sinne aus und zwar z. T. aus denselben Gründen, die hier angeführt
und ausführlich begründet wurden.
Aus den vorstehenden, zunächst nur auf den aktuellen Fall ge^
münzten Ausführungen ist im allgemeinen unmittelbar folgendes
Ergebnis abzuleiten: Anstalten, die sich ausschliefslich der
Aufgabe unterziehen, die Urkunden des modernen Wirt*
Schaftslebens zu sammeln und dauernd aufzubewahren,
sind für je ein Wirtschaftsgebiet zu begründen, dessen
Abgrenzung sich nur durch eine sorgfältige Prüfung der
modernen Zustände gewinnen läfst und für das zufällige
administrative Grenzen nicht mafsgebend sein dürfen.
Das wäre eine erste Forderung, die hinsichtlich der Organisation auf-
zustellen wäre. Femer aber wird es sich empfehlen, dieAnstalten
möglichst selbständig zu machenund in die Mittelpunkte
des wirtschaftlichen Lebens zu verl^en, wie Köln einer ist;
denn die Berührung mit dem praktischen Leben wird ja ein Haupt-
erfordemis für das Gedeihen jener Archive sein; andrerseits wird die
räumliche Nähe anderer wissenschaftlicher Anstalten manchen Nutzen
gewähren wird. In dieser Richtung würden Städte wie Köln und
Frankfurt mit ihren beiden jungen, den Wirtschaftswissenschaften ge*
widmeten Hochschulen besonders geeignet erscheinen, während die
deutschen Universitätsstädte — höchstens etwa mit Ausnahme Breslaus — ,
weil sie nicht zugleich derartig ausgesprochene wirtschaftliche Mittel
punkte sind, weniger in Betracht kommen dürften. Als Bezeichnung*
würde vielleicht „Wirtschaftliches Bezirksarchiv für . . .*•
zu empfehlen sein. „Wirtschaftliches" und nicht „wirtschaftsgeschicht-
liches", weU das Archiv jeder Art wirtschaftswissenschaftlidier
Forschung dienen, nicht nur zu geschichtlichen, sondern vor allem
auch zu theoretischen Arbeiten Material liefern soll; „Beziricsarchiv**,
weil ein bestimmtes Wirtschaftsgebiet, ein Bezirk, räumlich das Sammel-
bereich bildet. In dem Worte „Zentralarchiv" kommt dies nicht voll
zum Ausdruck, denn jedes „Archiv", das diesen Namen verdient,
zentralisiert die aus verschiedenen Registraturen herrührenden Akten^
und im übrigen besagt „Zentral-" nicht, aus welchem Bereiche Quellen
zentralisiert werden sollen, während „Bezirks-" in der nachfolgenden
Ortsbestimmung sofort seine konkrete Erklärung findet
Was die bereits erwähnte Selbständigkeit anlangt, so ist dies
ein negativer Begriff. Er soll zunächst ausschlieisen , dafs ein wir^«
schafdiches Bezirksarchiv etwa als Anhängrsel an ein staatliches oder
städtisches Archiv entsteht und von dessen Beamten nebenbei mit
— 888 —
verwaltet wird, denn gerade darauf, dais sich der Leiter dauernd und
gründlich um die Gegenwart kümmert, liegt der Nachdruck; nur dies
vermag einen Erfolg zu sichern. Selbständig muis ein solches Archiv
aber auch noch in anderer Hinsicht sein, nämlich hinsichtlich seiner
materiellen Gnmdlage. Am erspriefslichsten dürfte es sein, wenn nam*
hafte Stiftungen den Grundstock bilden, jährliche Beiträge von Firmen,
Handelskammern und Korporationen ein bestimmtes Einkommen sichern
und die Stadt, in der das Archiv besteht, die Verwaltung übernimmt.
Staatsmittel würden gewiüs jederzeit als Unterstützung gern angenommen
werden, aber rein staatliche Archive, entsprechend den preuüsischen
Staatsarchiven, würden sich durchaus nicht empfehlen, weil alles ver-
mieden werden mufis, was der Archivverwaltung den Charakter einer
Staatsbehörde verleihen könnte. Geschähe dies, dann würde man im
Kreise der Privatunternehmer dem Archiv sofort mit gewissem Miß-
trauen begegnen und allerlei Nebenabsichten wittern, und auch die
schätzenswerte Mitarbeit wirtschaftlicher Korporationen und Vereine»
die kaum zu entbehren ist, würde dann höchst wahrscheinlich ver-
loren gehen. Trotzdem wäre aber zu wünschen, dais sich die Staats-
behörden nicht nur als die berufenen Hüter aller wissenschaftlich-
geistigen Interessen des Volkes, sondern auch in wohlverstandenem
Interesse der Staatsverwaltung selbst mit den hier entwickelten Vorschlägen
vertraut machen, mit ihrer Autorität die Gründung von wirtschaftlichen
Bezirksarchiven unterstützen und materielle BeihUfen dazu leisten. In
Preuiisen ist ganz neuerdings ein „Landesgewerbeamt'' in Tätig-
keit getreten, das dem gesamten gewerblichen Unterrichtswesen und
jeder Art von Gewerbeförderung sein Augenmerk zuwenden soll.
Diese neue Behörde könnte viel Nützliches wirken, wenn sie von vorn-
herein durch immer wiederholte Betonung der Notwendigkeit wenigstens
mittelbar zur Konservierung des Materials beitragen wollte, das, aus
dem modernen Geschäftsbetriebe hervorg^angen , als geschichtliche
Quelle dauernden Wert besitzt.
Über die Notwendigkeit, dais wirtschaftliche Bezirksarchive ge-
gründet werden müssen, ist kein Wort zu verlieren. Aber wenn
selbst in einigen Wirtschaftsgebieten bald solche entstehen sollten, so
ist doch, wie die Verhältnisse in Deutschland liegen, längst nicht in
allen Gauen darauf zu rechnen, und selbst dort, wo die Verhältnisse
günstig liegen, wird stets noch eine entsprechende Zeit vergehen, ehe
die geplanten Anstalten organisiert sind und ihre Tätigkeit voll aufnehmen.
Aber es ist Gefahr im Verzug. Es ist dringend notwendig, dafis
überall bald etwas geschieht, vor allem dae^MiäurtiR, dem Unter-
— 224 —
gang geweihtes Material gerettet wird, und damit, wenigstens in be-
scheidenen Grenzen, die Erscheinungen des täglichen Lebens und das,
was gedruckt und geschrieben davon Kunde gibt, vom Standpunkte
des beobachtenden Dritten aus betrachtet werden. Deshalb wird, so-
lange etwas Besseres mangelt, und überall dort, wo dies zutriüt, in
allen Teilen deutscher Erde jede Person und jede Anstalt, soweit
es in ihren Kräften steht, sich in dieser Richtung betätigen müssen.
Ein solches Vorgehen wird zugleich dazu dienen, dais die für künftige
wirtschaftliche Bezirksarchive geeigneten Personen gefunden und da&
praktische Erfahrungen, wie und was gesammelt werden kann und soll,
erworben werden. Jeder Kaufmann und Fabrikant kann in seinem
Betriebe und dem ihm nahestehenden Kreise privatim in gewissem
Grade sammelnd tätig sein, und nicht minder wird mancher, der als
Rentner lebt und sich ein Interesse am wirtschaftlichen Leben bewahrt
hat, dazu in der Lage sein, aber im allgemeinen wird man doch zu-
nächst auf die Hilfe der bestehenden halböffentlichen Korporationen,
Vereine und Anstalten rechnen müssen, schon deshalb, weil von ihnen
am ehesten zu erwarten ist, dafis sie künftig bei Errichtung eines wirt-
schaftlichen Bezirksarchivs diesem ihre Sammlungen, soweit sie für
dessen Zwecke bedeutsam sind, überweisen.
In erster Linie kommen da die „Kammern" in Betracht, aber
nicht nur die im obigen allein genannten Handelskammern; nein
das, was von ihnen gilt, findet auch auf die Gewerbe-, Handwerks-
und Landwirtschaftskammem Anwendung, denn alle Zweige des
Erwerbslebens müssen grundsätzlich gleichmäisig berücksichtigt werden.
Für die Vergangenheit kommen natürlich die Betriebe, bei denen schon
immer eine geordnete Buchführung üblich war, mehr in Betracht als
die, bei denen eine solche erst in neuerer Zeit eingeführt worden ist,
aber in der Gegenwart schon sind in dieser Richtung die Unterschiede
der Geschäftsführung nicht mehr allzu grofs. Neben jenen Kammern
gibt es aber noch eine grofse Menge wirtschaftliche Beruf s vereine,
z. T. mit guter Organisation und eigener Geschäftsführung: auch alle
diese, die zugleich auf ihre Mitglieder einen bestimmenden Einfhiis
besitzen , sollten die sorgsame Aufbewahrung alles gedruckten und
geschriebenen Materials, das von derEntwickelung der in ihnen vertretenen
Etnzelunternehmungen Zeugnis ablegt, als ihre Ehrenpflicht betrachten.
Ihre Aufgabe wird es vor allem sein, für die verflossenen Jahrzehnte
zu retten, was zu retten ist, und zunächst wenigstens au&uspeichem,
wenn auch in der Praxis eine gleichzeitige Sammlung von Einzel-
heiten und eine Nutzbarmachung des aufgespeicherten Materials
— Mb —
— an sich wünschenswert — nur in Ausnahmefällen durchführbar
sein wird.
Es blühen aber in Deutschland auch mehrere hundert Geschichts-
vereine, von denen die weitaus meisten nur in einem räumlich
beschränkten Gebiete arbeiten. Diese besitzen zu einem recht grolsen
Teile auch Sammlungen, ein Museum oder wie sonst die Bezeichnung
sein mag, und als Teil davon ein „Archiv". Letzteres ist ebenfalls
eine geeignete Stelle, um das der Privatuntemehmung entstammende
Schreibwerk, vor allem Geschäftsbücher vergangener Jahrzehnte, auf-
zubewahren. Die Vereinsvorstände sollten ihr ganz beson-
deres Augenmerk diesem Gegenstande zuwenden und
namentlich auf ihre, dem Unternehmertum angehörigen
Mitglieder in diesem Sinne einwirken; selbst eine Hinter-
l^ung als Depositum unter Wahrung des Eigentums rechts ist Ja in
solchen Fällen möglich und zweckmäfsig. Auch die gegenständ-
lichen Sammlungen der Gesdiichtsvereine könnten sehr wohl in noch
höherem Maise, als es bis jetzt geschieht, die Erzeugnisse des heimischen
Gewerbes in den Kreis des zu Sammelnden einbeziehen, denn es ist
bisher noch eine Seltenheit, dafs, wie bei dem neuen Städtischen
Museum in Essen >), eine besondere, der Industrie gewidmete Abteilimg
vorhanden ist
Ganz dasselbe, was für die Sammlungen der Geschichtsvereine
gilt, pa&t auch auf städtische Museen und vor allem hinsichtlich der
Akten auf die Stadt- und Gemeindearchive, die sich heute ganz
allgemein einer guten Pflege erfreuen. Recht viele Orte besitzen eine
spezielle Industrie, die heute für ihr Wohl entscheidend ist, und das
Stadtarchiv enthält bereits naturgemäfs in seinem organisch entstandenen
Teile wichtige Nachrichten über die einzelnen Betriebe. Warum soll
es diese nicht durch Übernahme von Geschäftsbüchern u. dgl., sei es
infolge von Schenkung oder Kauf, sei es als Depositum, ergänzen?
Aus den praktischen Bedürfhissen der Gegenwart heraus sind An-
stalten entstanden, die „Handelsmuseum" oder ähnlich heifsen ')
und den Zweck haben, den Besuchern eine Übersicht über die Er-
zeugnisse des Gewerbes und der gangbaren Artikel des Handels zu
geben. Die älteste Anstalt dieser Art, die in Wien, ist mit
einer Handelshochschule, der Exportakademie, verbunden und
I) Vgl. BeuUehe OtaehiekUblätUr , 6. Bd. (1905), S. 140. ÄhoUcbe« wird ia
Saarbiücken fUr das dort im EnUtehen begriffene Saarmaseum geplant.
a) Vgl. Neufeld, Die fUkrvr'-' ^^^^^'^^mml-M^port-ÄmUr (Berlin 1905), wo
S. 8 £ der Begriff nfiker bettir
17
4
— 226 —
dient als Atiskunftsstelle über ZoUangelegenheiten und Kreditverhältnisse.
Aber dort werden auch die Kursberichte, Jahresberichte der Aktien«
gesellschaften sowie alte Handelsbücher gesammelt und seitens der
Akademie auch zu wissenschaftlicher Arbeit benutzt Dieses Beispiel
verdient Nachahmung ; jedes Handelsmuseum sollte auch den geschrie-
benen tmd gedruckten Quellen des Wirtschaftslebens Aufinerksamkeit
schenken und wenigstens nebenbei sammeln. Ja es wäre gewifs sach*
lieh nicht unrichtig, wenn unter gegebenen Verhältnissen em Wirtschaft*
liches Bezirksarchiv tmmittelbar mit dem Handelsmuseum verbunden
würde. Ist der Zweck beider Anstalten auch grundsätzlich verschieden,
so haben sie doch zahlreiche Berührungspunkte miteinander: beide
müssen an wirtschaftlichen Mittelpunkten erstehen, und die Sammltmgs-
Objekte — hier die Gegenstände, dort die Akten — ergänzen sich
gegenseitig, namentlich dann, wenn alle, dem Handelsmuseum einmal
als aktuell wichtig überwiesenen Erzeugnisse ihm dauernd verbleiben
und mit der Zeit „altmodisch" und schließlich „alt" werden. Erst
kürzlich ist in Hannover seitens der Handelskammer mit der Ein-
richtung eines „Handels- und Industriemuseums" begonnen werden,
aber gerade von der Sammlung handschriftlichen und gedruckten Mate-
rials hat man dort zunächst abgesehen ; man will sich auf das Gegen-
ständliche beschränken. Dagegen verdient es Anerkennung, dafs bei
der Ausstellung der Industrieerzeugnisse vor allem darauf Wert gel^t
wird, dafs sich aus den Proben der Werdegang des Erzeugnisses
ersehen läfst. Die Ausstellung soll zunächst der Belehrung des Pu-
blikums über die Erzeugnisse der Gegenwart und der AusbUdung junger
Kaufleute dienen, aber ganz von selbst wird die Anstalt allmählich
das werden, was man im gewöhnlichen Sinne ein „Museum" nennt,
denn was heute aktuell ist, wird in vielen Fällen bereits nach einem
Jahrzehnt völlig der Veigangenheit angehören, und der au^festellte
Gegenstand wird dann eine körperliche Quelle für die Erkenntnis der
wirtschaftlichen Entwickelung. In K ö 1 n ist ebenfalls ein solches Han-
delsmuseum im Werden, und in diesem Falle würde die Frage ganz
besonders nahe liegen, ob sich nicht damit das wirtschaftliche Archiv
räumlich und vielleicht auch der Organisation nach vereinigen liefse.
Mittel und Wege gibt es, wie ersichtlich, mancherlei, um die be-
zeichneten Bestrebungen zu fördern, aber was auch geschehen möge,
ist alles zunächst nur ein Auskunftsmittel in Ermangelung von etwas
Besserem, solange die Tätigkeit des Sammeins nur nebenbei von
Personen besoi^ wird, denen ihr Beruf in erster Linie die Erfüllung
anderer Pflichten vorschreibt. Es handelt sich hierbei durchaus nicht um
— 227 —
eine Liebhaberei oder ein mechanisches Einreihen, sondern um eine
ernste, wissenschaftliche, ihrem Wesen nach neue Arbeit, die nur unter
Leitung eines allseitig qualifizierten Archivars geleistet werden kann,
und im wesentlichen sogar von ihm selbst geleistet werden mufe. Das
setzt aber voraus, da£s Wirtschaftliche Bezirksarchive bestehen und ihre
Vorstände hauptamtlich mit ihrer Verwaltung betraut sind. Die Eigen-
schaften, die ein solcher Archiworstand besitzen muls, sind recht
verschiedenartig. Er mufis erstens durchaus mit den Grundsätzen
geschichtlicher Forschung vertraut und namentlich in der Ausbeu-
tung archivalischen Materials geübt sein. Er mu(s zweitens allge-
meine wirtschaftsgeschichtliche Kenntnisse besitzen, die sich von den
praktisch -nationalökonomischen wesentlich unterscheiden, aber zu-
gleich der theoretisch-abstrakten Wirtschaftswissenschaft Verständnis
entgegenbringen. Er mu& drittens in technischer Hinsicht mit
dem Archivwesen vertraut sein und die liebevolle Hingabe an das
ihm anvertraute archivalische Material besitzen, die jedem Archivar
eignen soll. Aber viertens muis er auch Verständnis haben für die
Aufgaben des modernen Wirtschaftslebens, namentlich auch für die
Wechselwirkung zwischen Wirtschaft und Technik, sowie die Fähigkeit,
diese geschichtlich in den Zusammenhang einzureihen und das Wesent-
liche und Nebensächliche voneinander zu unterscheiden.
Wenn der Archivar diese Eigenschaften mit einem gewissen
Oi^anisationstalent vereinigt, dann ist die Gewähr vorhanden, daüs sich
ein Wirtschaftliches Bezirksarchiv gedeihlich entwickelt.
Sobald die äufsere Organisation vorhanden ist oder vielmehr schon
vorher, gilt es die weitere und schlieiislich für das Gelingen entschei-
dende Frage zu beantworten: Was und wie soll im Wirtschaft-
lichen Bezirksarchiv gesammelt werden?
Vor allem darf man nicht planlos verfahren; es darf nicht
dem Zufall überlassen bleiben, was gesammelt wird ; so sicher — nament-
lich im Anfang — alles dankbar entgegengenommen werden mufs,
was sich gerade darbietet, so selbstverständlich darf man sich nicht
auf diese Art der Erwerbung beschränken. Der Sammelarbeit mufs
vielmehr ein bestimmter Plan zugrunde liegen, und die Auf-
gabe des Archivars wird es sein, dem in jenem Plane verkörperten
Ideal möglichst nahe zu kommen; ihn völlig in Wirklichkiiym^usetzen,
wird ihm nicht gelingen. Ein solcher Plan wird je r "^'rt-
schaftsgebiet verschieden sein müssen und wird ^^'
— 328 —
vollständig entwickeln lassen ; er kann vielmehr nur oi^fanisch durch die
Sammeltätigkeit selbst entstehen und wird naturgemäfs im Laufe der Zeit
modifiziert werden; das Arbeitsgebiet wird gelegentlich sowohl Er*
Weiterungen als auch Einschränkungen erfahren müssen. Aber irgend-
welche Grundsätze — selbst auf die Gefahr hin, dafis sie sich in der Zukunft
als töricht erweisen, — mufs der Sammelnde stets beobachten, damit
die einzelnen, dem Archiv einverleibten Stücke von vornherein in
einem gewissen ideellen Zusammenhange miteinander stehen, und nicht
nur eine Menge isolierter Beobachtungen und Nachrichten darstellen.
In erster Linie ist das Augenmerk auf die Einzelunterneh-
mungen zu richten, und da sind die hervorragenden und für das be-
treffende Gebiet charakteristischen besonders zu berücksichtigen. Nicht
darauf kann es ankommen, dafs über Tausende von Firmen irgendwelches
schriftliches oder gedrucktes Material so, wie es der Zufall bringt, ange-
häuft wird, sondern dafs die innerhalb kleinerer Bezirke und innerhalb be-
stimmter Geschäftszweige typischen Unternehmungen mit besonderem
Eifer verfolgt werden, dafs man bei ihnen nach einer möglichst vollstän-
digen Beschafiung des Materials strebt. Am relativ leichtesten ist dies bei
den Aktiengesellschaften, deren Geschäftsberichte an sich schon
veröffentlicht werden, mithin jedem, der sie zu bekommen trachtet,
ohne weitere Schwierigkeiten zugänglich sind, aber die den Sachkun-
digen, wenn er sie in Masse durch Jahrzehnte hindurch vor sich hat,
recht wesentlich zu belehren vermögen. Und deren Tätigkeit voll-
zieht sich auch sonst mehr in der öfTentlichkeit , und die örtlichen
Zeitungen enthalten im Laufe eines Jahres immerhin manche auf
diese eine Firma bezügliche Notiz: werden auch diese gewissenhaft
gesammelt, mit Angabe der Herkunft aufgeklebt und zu einem Akten-
faszikel vereinigt, so entsteht in wenigen Jahren schon eine Sammlung
von Einzelnachrichten, deren jede für sich zwar belanglos und alltäg-
lich erscheint, aber in Verbindung mit anderen doch grofse Bedeutung
besitzt. Solche Zeitungsnotizen sind z. B. Nachrichten über gröfsere
Aufträge, gelegentliche Statistiken über die Arbeitsverhältnisse, wie
sie namentlich aus Anlafis von Polemiken und Ausständen veröffentlicht
zu werden pflegen, bauliche Veränderungen, Aufteilung neuer Maschinen
usw., aber auch der Anzeigenteil der Zeitungen ist nicht zu vergessen,
denn in ihm finden sich in vielen Fällen die frühesten literarischen
Zeugnisse für wirtschaftliche Neuerscheinungen. Zu diesen Zeitungs-
ausschnitten *) gesellen sich aber noch die besonders hergestellten
I) Die Masse bedruckten Papiers, die schon eine einzige moderne Tagesxeitnng
darsteUt, macht heate praktisch den vollständigen Jahrgang fast iuibenatd>ar. Deshalb
— 989 —
Drucksachen, Zirkulare, Preislisten und ähnliche VeröfTentlichungen»
die den Absatz und die Verbreitung gewisser Produkte durch Auf-
klärung des Publikums bezwecken, und darin sind oft auch wichtige
technische ßnzelheiten berührt. Auch diese Drucksachen, die von
einer Firma ausgegangen sind, stellen, wenn sie für einen längeren
Zeitraum vorliegen, eine beachtliche und objektiv zuverlässige Quelle
wirtschaftlicher Erkenntnis dar, namentUch aber in Verbindung mit den
systematischen jährlichen Mitteilungen und den Zeitungsausschnitten.
Bisher war nur von solchen gedruckten Kundgebungen der Einzel-
imtemehmung die Rede, die von vornherein fär die Öffentlichkeit
bestimmt sind. Sie zu erlangen ist bei einiger Mühe jedem möglich,
und die Schwierigkeit liegt vor allem in der anzustrebenden Voll-
ständigkeit. In der Gegenwart werden viele einzelne Firmen gern bei
der Zusammenstellung ihrer Drucksachen behilflich sein, denn auch
sie selbst haben dann die Mc^lichkeit, bei Bedarf im eigenen Inter-
esse rasch Einsicht zu nehmen. Zur Durchführung dieser Art von
Sammelarbeit ist nur eine fleiisige, umsichtige Tätigkeit des Archivs
nötig; sachliche Schwierigkeiten stehen bezüglich gleichzeitiger
Veröffentlichungen nicht entgegen. Aber auch nur aus dem letzten
Jahrzehnt lediglich die von einer Firma zu Reklamezwecken ausge-
gebenen Prospekte vollständig zusammenzubringen, wird fast un-
möglich sein. Das hat sich erst noch vor kurzem gezeigt, als der
Geschäftsführer des „Vereins der deutschen Textilveredelungsindustrie",
Dr. Tschierschky in Düsseldorf, die Mitglieder dieses Vereines unter
dem 14. März 1904 um derartiges Material bat, das in ein«r von ihm
vorbereiteten Geschichte der deutschen Textilveredelungsindustrie,
namentlich der letzten 100 Jahre in chemisch-technischer und wirt-
schaftsgeschichtlicher Beziehung verarbeitet werden sollte. Er hatte
dabei sechs Arten von Quellen unterschieden, nämlich i. persönliche
Aufzeichnungen erfahrener Industrieller und älterer Firmen, 2. Kopier-
und Lohnbücher, 3. Geschäftsberichte der Aktiengesellschaften, 4. Aus-
stellungsberichte, 5. Preis- und Geschäftszirinilare, 6. Jubiläumsschriften,
und die unter Nr. 3—5 genannten sind eben im wesentlichen solche
öffentliche geschäftliche Kundgebungen, wie sie oben charakterisiert
wurden. Wie derjenige, der die diesbezüglichen Verhältnisse einiger-
mafsen kennt, ohne weiteres annehmen wird, hat die Aufforderung
wesentlichen Erfolg nicht gehabt und konnte ihn nicht haben, weil
mnü das einzelne Blatt an jedem Tage geprüft und ausgeschnitten werden. So reHIhrt
hente jeder, der sich mit irgendwelchen Erscheinungen der Gegenwart wissenschi*"**
beschäftigt
— 280 —
der einzelne Fabrikant diese Dinge selbst nicht gesammelt hat und,
wenn sich solche nicht verausgabte Papiere wirklich noch in seinen
Geschäftsräumen finden sollten, sie nur schwer herauszusuchen vermag.
Tschierschky hat deshalb seinen ursprünglichen Plan ändern und sich
in höherem Mafise, als er von vornherein wollte, auf die Benutzung
bereits verarbeiteten Materials, wie es in den älteren Handelskammer-
berichten z. B. vorliegt beschränken müssen. Solche Erfahrungen sind
bedauerlich und sollten dazu anspornen, da{s es wenigstens von jetzt
an besser wird, und dals auch nach rückwärts für einige Jahrzehnte
das nachgeholt wird, was sich nachholen lä&t Das Kölner „Bilanz-
archivV hat bereits einen erfreulichen Anfang damit gemacht
Wichtiger noch als das eben charakterisierte Kleinzeug ist die
Gesamtheit der aus einem Betriebe hervorgegangenen Geschäfts-
bücher einschliefslich des Briefwechsels, die Dinge, an die
Tschierschky unter Nr. 2 denkt Nach der Vorschrift des Handels-
gesetzbuches müssen diese Bücher zehn Jahre lang aufbewahrt werden,
sie sind aber zugleich in ihrer Gesamtheit Geheimnis des Unter-
nehmers, da sich daraus wichtige geschäftliche und technische Vorgänge
ermitteln lassen, die der Unternehmer im Interesse seines Geschäftes
geheimhalten muls. Es fragt sich nur, für welchen Zeitraum
dieser Gesichtspunkt von Belang ist. Dies mag bei den verschiedenen
Betrieben recht verschieden sein, aber unbedenklich wird man aus-
sprechen dürfen, dais die Einsichtnahme in Geschäftsbücher seitens
UnbeteUigter nach Ablauf einer Frist von 25 — 30 Jahren höchstens
in ganz wenigen Ausnahmefallen noch eine Schädigung der betreffenden
Unternehmung von heute nach sich ziehen kann; sind erst 2 — 3 Jahr-
zehnte darüber hingegangen, dann dürfte in der Regel das geschäft-
lich-sachliche Interesse des Unternehmers an der soi^^tigen Geheim-
haltung seiner Bücher geschwunden sein. Umgekehrt dag^en haben
die Unternehmer als Personen ein grofses Interesse an jenen Büchern,
den lebendigen Zeugen, die von der Entfaltung des Geschäfts erzählen;
sie bedauern zwar, wenn das 50jährige Geschäftsjubiläum naht, den
Verlust der Bücher aus der Anfangszeit, lassen aber in demselben
Augenblicke die Bücher des vorletzten Jahrzehnts, die nur als Ballast
betrachtet werden, absichtlich vernichten! Das ist menschlich be-
greiflich, aber widersinnig, und die Erkenntnis, dafs darin ein Wider-
sinn liegt, wird sich immer mehr Bahn brechen, je mehr dank der Blüte
des gewerblichen Unterrichtswesens die Unternehmer für allgemeinere
geistige Interessen Verständnis gewinnen.
Als praktische Malsnahme wäre, um allen Interessen gerecht
— 231: -
zu werden, etwa folgendes vorzuschlagen. Finnen, die nicht selbst
über ein geschäftliches „Archiv" verfügen, und deshalb kaum Raum
für ihre alten Bücher haben, mögen diese vertrauensvoll als Eigentum
oder Depositum dem wirtschaftlichen Bezirksarchiv, wo ein solches besteht,
überweisen, und zwar mit der Befugnis, dafs dreifisig Jahre ') nach dem
Abschlufs der Bücher jede Bearbeitung wissenschaftlicher Art — Nach-
forschungen Unberufener aus reiner Neugier sind selbstverständlich
wie in jedem anderen Archiv von vornherein völlig ausgeschlossen —
gestattet wird.
Aber gerade die Gewähr, dafs vorher niemand Einsicht erhält,
wird für viele Firmen etwas Wesentliches sein ; sie werden vorher ihre
Bücher nicht gern aus den Händen geben, wenn sie sie nicht gut auf-
gehoben wissen. „Gut au^'ehoben" aber sind sie nach ihrer Meinung
dann, wenn sie bald nach Ablauf der zehnjährigen gesetzlichen Auf-
bewahrungsfrist eingestampft werden: das ist der Grund, warum es
in so verhältnismäfsig wenig Fällen überhaupt Geschäfts-
bücher, die zehn bis dreifsig Jahre alt sind, gibt! Wie
sehr das Einstampfen üblich ist, beweist eine in verhältnismäfsig kurzen
Zwischenräumen in der Kölnischm Zeitung wiederkehrende Annonce
der Papierfabrik C. F. Wachender ff in Bergisch-Gladbach , weldie
besagt, dafs von ihr „alte Akten, Briefe und Geschäftsbücher unter
Garantie des sofortigen diskreten Einstampfens" gekauft
werden. Es müssen sich also doch viele finden, die auf ein solches
Anerbieten eingehen, denn sonst würde ja eine solche Annonce nicht
lohnen. Namentlich bei der Auflösung von Geschäften wird eine
Massenvemichtung der Geschäftspapiere die Regel bilden. Um nun
solche jüngere Geschäftsbücher zu retten und zugleich vor mifsbräuch-
licher, dem Geschäft schädlicher Verwertung zu sichern, müfiste jede
Benutzung irgendwelcher Art, ja nur überhaupt die Öffnung
der Verpackung garantiertermafsen ausgeschlossen sein, ehe die auf
dreifsig Jahre oder unter besonderen Verhältnissen anders zu normie-
rende Sicherheitsfrist abgelaufen ist. Zu diesem Zwecke wäre nur
erforderlich, dafs der Unternehmer, der heute Geschäftsbücher und
i) Jeder Unternehmer wird mit ticfa sn Rate gehen wid durch Stichproben fettttellen
mOtsen, welche Frist etwa fttr aein Geachfift in Frage kommt Drei Jahrzehnte werden
im allgemeinen in der Tat als das Höchstmafs der Wartezeit gelten dürfen, aber am onan«
genehmen ZwischenfiÜlen rorzabengen , wird es zweckmälsig und sehr wohl angSngig
sein, dais bis zn 30 Jahren nach der Niederschrift alles einst geheime Material nnter
Verschlnfs gehalten, aach Tom Archi?ar selbst nicht eingesehen wid deshalb anch innerlich
nicht geordnet würde.
— 232 —
Briefe ausscheidet, um sie zum EinstampCen in die Papierfabrik zu
schicken, sie in einigermaisen geordnetem Zustande verpackt und ver-
siegelt dem Wirtschaftlichen Archiv übergibt und die Zeit anisen
angibt, bis zu der das Archiv sich verpflichtet, die Siegel nicht za
lösen. Auf diese Weise wäre allen Beteiligten geholfen, und die
betreffenden Firmen könnten sich stets nach Ablauf der zehnjährigen
Frist ihrer älteren Bücher entledigen, ohne sie für immer zu ver-
nichten.
Als Objekte der Forschung kommen, wie schon oben bei Auf-
zählung der Kammern betont wurde, nicht etwa nur kaufinännische
und groisindustrielle Unternehmungen in Betracht, sondern ganz in
gleicher Weise auch landwirtschaftliche Betriebe, gewerbliche Klein-
betriebe tmd das Handwerk ^). Landwirtschaftliche Betriebe berück-
sichtigt zweckmäfsigerweise auch Ehrenbetg, der schon im ersten Jahr-
gange des Thimen-Ärchivs (S. 133 — 146 imd 357 — 380) einen Beitrag
aus diesem Gebiete gibt, wenn er die Betriebsergebnisse eines
Mecklenburgischen Rittergutes 1846 — 1895 behandelt, ganz abg^esehen
davon, dafs Thünens Arbeiten mit Material operieren, das er selbst
als praktischer Landwirt durch Beobachtungen festgestellt hat '). Die
Berücksichtigung des Kleingewerbes ist schon als Gegenstück zur
Groisuotemehmung notwendig, und irgendein stichhaltiger Grund, der
g^en die sorgfältige Aufbewahrung der aus diesem Erwerisszweig
stammenden Quellen spräche, läCst sich nicht finden. Tatsächlich
wird allerdings aus der hinter uns liegenden Zeit wesentliches zusammen-
hängendes Material dieser Art kaum aufzutreiben sein ; doch dies darf
nicht davon abhalten, in der Gegenwart desto eifriger danach zu
fahnden. Ganz dasselbe gUt vom Handwerk, welches zwar durch die
industrielle Unternehmung einen bedeutenden TeU seines Spielraumes
verloren hat, aber trotzdem weiter besteht und sogar teUweise ganz
neue Triebe gezeitigt hat '). Gerade auch auf diesem Felde wird eine
exakte Forschung viele Irrtümer und Übertreibungen zurüdczuwdaen
haben, die aus der liberalen Tendenzliteratur der Mitte des XDC Jahr-
i) Auf die letzteren weist auch die Kölner Handelskammer in ihrer Antwort auf
die Düsseldorfer Rundfrage ausdrücklich hin.
1) Eine lehrreiche landwirtschaftliche Arbeit ist Heye, Die kütorüeke
Eniwiekdung der Landwirtsehaft auf RiUergut Trebsen aeü MüU des XVIIL Jakr^
hunderts (Hallische Dissert 1896). Der landwirUchafOiche Betrieb kommt dagegen
TU kurz bei Steffen, Bin aUmärkisehes Riäergut in zwei Jahrhunderten (Programm
des Kgl. Pidagogiums zu Putbus 1905, Nr. 169).
3) Vgl. Georg Adler, Über die Epochen \der deuteten BambmimpoHia
(Jena 1903).
— HS —
hnndetts imkoDtiolUert bis heote nacbgvsprocbeii werden, und weitet
rückwärts wird sogar auf die Zünfte des XVIII. und XIX. Jahrhunderts
unvermutet mancher Lichtstrahl fallen.
Aufser den privatwirtEchaftlicben Betrieben allerart fallen aber
in den Bereich wiitschaftswisscnGchafUicher Forschung auch alle Be-
strebungen und Einrichtungen, die der Sozialpolitik, der öffentlichen
Wohlfahrt and dem Verkehr dienen, soweit er sich aulserhalb privat-
wirtschaftlicher Uotemehmungen vollzieht. Alle diese Dioge können
nicht unberücksichtigt bleiben, sie müssen bekannt sein, da ste in die
Gesamtheit unseres wirtschaftlichen Lebens tief einschneiden, und
wenn auch darüber die öffentlichen Archive verhältnismäisig viel
Material eothalten, so kann eine ergänzende Sammlung auf Gnind der
Vorgänge im öffentlichen Leben durchaus nichts schaden.
In unserer staatlichen Ordnung nehmen die Handels-, Geweibe-,
Landwirtschafis- und Handwerkskammern eine ganz eigentümliche
Stellung ein. Sie sind berufen, die wirtschaftlichen Interessen gewisser
Bevölkerangskreise zu vertreten, besitzen aber zugleich ein Besteuenu^s-
recht und haben in gewissen Grenzen den Charakter von Behörden.
Sie bilden ein Mittel- und Bindeglied zwischen der Privatwirtschaft des
einzelnen und den staatlichen Oi^anen, die auf wirtschaftlichem Ge-
biete entscheidend eingreifen; bei ihnen laufen die Fäden von unten
und oben zusammen, und in Ihren Registraturen findet sich demgemäß
ein Niederschlag alles desjenigen, was die wirtschaftlichen Interessen
des Bezirks je berührt hat. Wichtig ist dabei vor allem, dafs die Re-
gistratur in zahheichen Fällen geheim zu behandelndes, der einzelnen
Unternehmung entstammendes Urmaterial enthält, auf Grund dessen
Denkschriften bearbeitet worden sind. Eiae solche Denkschrift, im
besten Sinne des Wortes eine Partei- bzw. Teadenzschrlft , soll In-
teressen verteidigen ; sie ist fUr die Veröffentlichung geeignet und be-
stimmt, das Urmaterial dagegen nicht, aber für die Feststellung der
Tatsachen nach Jahrzehnten , wenn über die Streitfragen des Tages
längst Gras gewachsen ist, für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung
ist das letztere entschieden besonders wertvoll, zumal da es meist
zugleich auch über ganz andere, von dem betreffenden Zwecke ab-
li^ende Materien Auskunft erteilt. Unter diesem Gesichtswinkel
erscheinen die Registraturen der Handelskammern in ihrem antiquiertea
Teile, wozu heute jedenfalls alle Akten aus der Zeit vor 1870 gehören,
als eine viel wertvollere geschichtliche Fundgrube als die Archive
der staatlichen Verwaltungsbehörden unterer Instanz. Ihnen mu& Jflk^L.
eine ganz besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden; sicij^T
— 284 —
auf jeden Fall vor willkürlicher Dezimierung und 2^rreiiJsung bewahrt
und zugleich der Wissenschaft zugänglich gemacht werden.
Manche Kammern verfugen aber heute kaum über den Raum,
um ihre alte Registratur gut und sicher unterzubringen — und das
ist fiir sie eine wesentliche Gefahr. Andrerseits fehlt es bis jetzt an
iigendeinem Orte, wo diese alten Registraturen Unterkunft finden
könnten, und gegen den Vorschlag, sie den Staatsarchiven einzuver-
leiben, würden wohl seitens der Kammern selbst mit Recht Einwände
erhoben werden. Ein Ort, wo die alten R^^traturen der Kammern
gut unterkommen und sachgemäis verwaltet werden, muis deshalb
gefunden werden, und keine Stelle würde sich dafür besser eignen als
das Wirtschaftliche Bezirksarchiv. Würde dieses jene Akten voo
allen in sein Bereich gehörigen Kammern aufnehmen, dann köimte
man dort zu zweckmäfsigen Kassationen schreiten, damit die so und
so vielmalige Aufbewahrung des gleichen allgemeinen Materials weg-
fallt, und in einem ganz überraschenden Mafse würden sich die einzelnen
Bestände gegenseitig ergänzen '). Deshalb mufs die Abgabe jener
Registraturen an das zuständige Bezirksarchiv bei dessen Gründung
sofort ins Auge gefafst werden, wenn auch hinsichtlich des 2^itpunkte8
und der Art der Ablieferung rücht sofort alles einzelne bestimmt za
werden braucht. Dies hat nicht allzu viel Eile, da man nicht allgemein
wird behaupten können, es sei Gefahr im Verzug. Für den Sammel-
betrieb dagegen gilt dies, und deshalb mufs dieser zuerst in die Wege
geleitet und organisiert werden. Ist er im Gange, dann wird die
Übernahme der ganzen Registratur einer Kammer — eine nach der
anderen — vor sich gehen können. Diese Registraturen werden gemäis
dem heute im Archivwesen fast allgemein angewandten Provenibnz-
prinzip so, wie sie eingeliefert werden, erhalten bleiben, so
dafs sich selbst die alten, im regelmäfsigen Geschäftsbetrieb ent-
standenen Aktenrepertorien noch weiter verwenden lassen und dals
auch fernerhin mit alten Bezeichnungen zitierte Akten ohne weiteres
aufiBndbar sind. Etwaige Kassationen — d. h. absichtliche Vernichtungen
überflüssiger, weU mehrmals vorhandener TeUe — bleiben dabei dauernd
als solche erkennbar.
In der Tat bedeutet jede Überführung einer „alten Regfistratur'*
in ein „Archiv" für diese selbst einen grofsen Fortschritt, denn so
erst wird sie in der Regel wieder benutzbar. In den Augen der
Bureaubeamten ist eine antiquierte Registratur bekanntlich immer nur
I) VgL oben S. 218-219.
— 236 —
I ein Haufen alter Akten, die recht häufig in dem Momente ganz un-
benutzbar werden, wo der alte Registrator stirbt, der einzige, der sich
[ bisher darin in Erinnerung an die 2^it, da die Registratur aktuell war,
noch zurecht fand.
Als Ergänzung der beiden Hauptabteilungen, die einerseits von den
Akten über einzelne Unternehmungen und andrerseits von den Kammer-
archiven dargestellt werden, würde das Bezirksarchiv noch eine dritte
Abteilung besitzen müssen, die Bücher und Broschüren, Ab-
schriften von Akten aus verschiedenen anderen Archiven
und bearbeitete Auszüge aus ganzen Beständen anderer
Archive enthalten soll. Diese Abteilung würde räumlich gewifs
die geringste Ausdehnung haben, sie würde vielfach auch zeitlich weiter
zurück, ins XVII. und XVIII. Jahrhundert, itihren und im engeren
Sinne wirtschaftsgeschichtlichen Charakter tragen. Geradediese
Sammlung würde vielfach besondere Mühe verursachen, sie ist aber
dringend notwendig, und da das Material, welches dafür in Betracht
kommt, zum grö&ten Teile sicher geborgen ist, so kann hier viel-
fach ein ausfuhrlicher Verweis auf Bestände anderer Archive schon
genügen, wenn grundsätzlich auch an einer möglichst umfassenden
Sammlung des Materials durch Abschriftnahme und Bearbeitung fest-
gehalten werden mufs.
*
Welche Arten von Quellen in einem Wirtschaftlichen Be-
zirksarchiv gesammelt werden sollen und wie dies geschehen kann,
wäre hiermit grundsätzlich ausgesprochen, wenn sich auch noch gar
mancheriei im einzelnen hinzufugen lieüse. Doch vorläufig handelt
es sich nur um die leitende Idee und den allgemeinen Plan, der
einem derartigen Archive zugrunde liegen soll. Im einzelnen kann
nur die praktische Arbeit lehren, ob die Voraussetzungen zutreffen
und ob die Vorschläge zweckmäisig sind oder nicht. Das Wichtigste,
die Hauptsache ist, daiis überhaupt etwas geschieht, und dafis die in
erster Linie daran Interessierten zu den hier aufgeworfenen Fragen
Stellung nehmen!
— 236 —
Mitteflungen
PersonalleiU — Der Privatdozent der Geographie Professor Alfred
Philippson in Bonn wurde als ordentlicher Professor der Geographie nach
Bern berufen ; der aufserordentliche Professor der Kunstgeschichte in Stiais-
bürg Franz Friedrich Leitschuh als ordentlicher Professor nach Frei-
burg i. B. In München wurden die Privatdozenten Michael Doeberl,
zugleich Professor am königlichen Kadettenkorps, und Karl Mayr za
Honorarprofessoren ernannt
Es habilitierten sich : in Greifswald FritzCurschmannfür Geschichte ;
in Heidelberg Karl Stählin für neuere Geschichte; in Berlin Krabbo
für Geschichte; in München Th. Schermann für Kirchengeschichte.
Es starben: lo. Dezember 1904 der ordentliche Professor der Geschichte
Jakob CarOy 68 Jahre alt, in Breslau; 13. Dezember 1904 der auiserorden^
liehe Professor der germanischen Altertumskunde und Mythologie Theodor
PyU 7S Jahre alt, in Greifswald; 5. Januar 1905 der Archivdirektor
Richard Schuster, 37 Jahre alt, in Salzburg; 9. Januar der Archivar
und Bibliothekar der Stadt Schlettstadt Joseph Geny, 43 Jahre alt;
30. Januar der ehemalige Direktor des königlich württembergischeo Geh.
Haus- und Staatsarchivs August v. Schlofsberger, 77 Jahre alt, in
Stuttgart; 6. Februar Eduard Richter (vgl. oben S. 186 — 189); 7. Febiuar
Franz Kindscher (vgl. oben S. 189 — 191); 14. Februar Bruno Geh-
h a r d t , der Herausgeber des bekannten Handbuchs der deutschen Gesehidik,
47 Jahre alt, in Berlin; im Februar Regierungspräsident a.D. Himlyin
Stade sowie der Direktor des Berliner Museums für Völkerkunde Adolf
Bastian, 78 Jahre alt, auf einer wissenschaftlichen Forschungsreise in Port
of Spain; 11. Februar der ordentliche Professor für deutsches Recht Tullius
Ritter von Sartori-Montecroce, 41 Jahre alt, in Innsbruck ; 15. Mäiz
der ordentliche Professor der Rechte und Geschichtschreiber Hermann
Hü ff er, 75 Jahre alt, in Bonn; 25. März der Stadtarchivar Karl Kopp-
mann, 66 Jahre alt, in Rostock; 4. April der aufserordentliche Professor
für mittelalterliches Latein Paul von Winterfeld, 32 Jahre alt, in Berlin;
2. Mai der frühere Vorsitzende des Hansischen Geschichtsvereins Senator
Wilhelm Brehmer, 77 Jahre alt, in Lübeck.
An Archiven sind folgende Veränderung^ unter den wissenschaft-
lichen Beamten nachzutragen : zum Archivar und Bibliothekar der Stadt Trier
wurde Dr. Kentenich, zum Stadtarchivar in Kohnar Ernst Hauviller
ernannt; die Leitung des Stadtarchivs zu Wien hat der bisherige zweite
Archivar Hango übernommen; an Stelle des in den Ruhestand tretenden
Archivrates Will wurde Joseph Rübsam mit der Leitung des fürstlich
Thum und Taxisschen Archivs zu Regensburg betraut; beim Geheimen und
Hauptarchiv in Schwerin trat Referendar K. von Pressentin als Hil6-
arbeiter ein; Stadtarchivar zu Mühlhausen i. Th. wurde Dr. Kunz Brunn
gen. V. Kauffungen, Direktor des Stadtarchivs in Braunschweig der
bisherige Archivar M a c k , Archivar des fürstlich Dohnaschen Majoratsarchivs
zu Schlobitten Christian Krollmann, Staatsarchivar in Zürich Hans
Nabholz; an Stelle des in den Ruhestand tretenden Oberst z. D. Exner
wurde Major z. D. Hottenroth mit der Leitung des königlich sächsischen
— 237 —
Kriegsarchivs in Dresden betraut; Direktor des steiermärkischen Landes-
aichiTS za Graz an Stelle des zurücktretenden Josef von Zahn wurde der
bisherige Adjunkt Anton Meli; zu Genys Nachfolger als Stadtarchivar in
Schlettstadt wurde Vikar Joseph CJaufs ernannt.
Die Beamten der preufsischen Archiwerwaltung sind zuletzt im i. Heft
'der Müieüungen der L preußischen ArchkverwaUung (Leipzig 1900), S.
3^ — 40, angezählt worden, und zwar gab es damals 78 wissenschaftliche
Beamte. Inzwischen sind zahlreiche Veränderungen eingetreten, imd die
Zahl hat sich mit Einschlufs eines Beurlaubten auf 81 vermehrt. Unter
Berücksichtigung derjenigen Versetzungen, die am i. April 1905 vor sich
gegangen sind, ist gegenwärtig der Personalbestand an wissenschaftlichen
Beamten und deren Verteilung auf die einzelnen Archive, wie folgt:
1. Geheimes Staatsarchiv in Berlin.
Dr. Reinhold Koser, Geh. Oberregierungsrat, Generaldirektor der Staats-
archive, Direktor ; Dr. Karl Sattler, Geh. Regierungsrat, zweiter Direktor
der Staatsarchive ; Dr. Anton Hegert, Geh. Archivrat, Geh. Staatsarchivar;
Dr. Ludwig Keller, Geh. Archivrat, Geh. Staatsarchivar; Dr. Paul Bailleu,
Geh. Archivrat, Geh. Staatsarchivar; Dr. Kari Kohlmann, Archivrat,
Archivar; Dr. Julius von Pflugk-Harttung, Archivrat, Archivar; Dr. Robert
Arnold, Archivrat, Archivar; Dr. Louis Erhardt, Archivar; Dr. Hermann
Granier, Archivar; Dr. Melle Klinkenborg, Archivassistent; Dr. Ernst
Salzer, Archivassistent.
2. Staatsarchiv in Aurich.
Dr. Franz Wächter, Archivrat, Staatsarchivar; Dr. Ferdinand Schultz,
Archivaspirant.
3. Staatsarchiv in Breslau.
Dr. Otto Meinardus, Archivrat, Archivdirektor; Dr. Bruno Krusch,
Archivrat, Archivar; Dr. Konrad Wutke, Archivar; Dr. Hans Spangenberg,
Archivassistent.
4. Staatsarchiv in Koblenz.
Dr. Heinrich Reimer, Geh. Archivrat, Staatsarchivar; Dr. Paul Richter,
Archivar; Dr. Martin Meyer, Archivar; Dr. Rudolf Martiny, Archivassistent.
5. Staatsarchiv in Danzig.
Dr. Max Bär, Archivrat, Staatsarchivar *); Dr. Joseph Paczkowski, Archivar;
Dr. Joseph Kaufmann, Archivar ; Dr. MaxFoltz, Archivassistent; Dr. Eduard
Reibstein, Archivassistent; Dr. Arnold Peters, Archivassistent.
6. Staatsarchiv in Düsseldorf.
Dr. Theodor Ilgen, Archivrat, Archivdirektor; Dr. Otto Redlich, Archivar;
Dr. Richard Knipping, Archivar; Dr. Friedrich Lau, Archivassistent.
7. Staatsarchiv in Hannover.
Dr. Richard Döbner, Geh. Archivrat, Archivdirektor; Dr. Hermann
Hoogeweg, Archivrat, Archivar; Dr. Johannes Kretzschmar, Archivar;
Dr. Jean Lulvte, Archivar; Dr. Viktor Loewe^ Archivassistent.
i) Warde ocMerdingi mm „Arduvdirektor''
— 238 —
8. Staatsarchiv in Königsberg i. Pr.
Dr. Erich Joachim, Geh. Archivrat, ArchiTdirektor; Dr. Paul Karge,
Archivar; Dr. Albeit Eggers, Archivassistent.
9. Staatsarchiv in Ma|gdeburg.
Dr. Eduard Ausfeld, Archivdirektor; Dr. Geozg Liebe, Archivar; Dr.
Felix Rosenfeld, Archivar; Dr. Ernst Müller, Archivassistent.
IG. Staatsarchiv in Marburg.
Dr. Gustav Könnecke, Geh. Archivrat, Archivdirektor; Dr. Friedrich
Küch, Archivar; Dr. Otto Merx, Archivar; Dr. Franz Gundlach, Arcbir-
assistent; Dr. Karl Knetsch, Archivassistent; Dr. Otto Grotefend, Archif-
assistent; Dr. Wilhelm Dersch, Archivassistent; Dr. Albert Hayskens,
Archivassistent.
11. Staatsarchiv in Münster.
Dr. Friedrich Philippi, Geh. Archivrat, Archivdirektor, ordentlicher
Honorarprofessor an der Universität; Dr. Emil Theuner, Archivar;
Dr. Robert Krumbholtz, Archivar; Dr. Adolf Brennecke, Archivassistent
12. Staatsarchiv in Osnabrück.
Dr. Georg Winter, Archivrat, Archivdirektor; Dr. Erich Fink, Archivar.
13. Staatsarchiv in Posen.
Dr. Rodgero Prümers, Geh. Archivrat, Archivdirektor, Professor an der
Akademie; Dr. Adolf Warschauer, Archivrat, Archivar, Professor an
der Akademie; Dr. Georg Kupke, Archivar; Dr. Kurt Schottmüller,
Archivassistent.
14. Staatsarchiv in Schleswig.
Dr. Georg Hille, Geh. Archivrat, Archivdirektor; Dr. Albert de Boor,
Archivrat, Archivar; Dr. Ernst Müsebeck, Archivassistent, behu£s Be-
schäftigung beim Kaiserlichen Bezirksarchiv in Metz bis auf weiteres
beurlaubt.
15. Staatsarchiv in Sigmaringen.
Altenhofi^ Regierungssekretär.
16. Staatsarchiv in Stettin.
Dr. Walter Friedensburg, Professor, Archivdirektor; Dr. Hermann von
Petersdorff, Archivar; Dr. Otto Heinemann, Archivar.
17. Staatsarchiv in Wetzlar.
Dr. Hermaim Veltmaim, Geh. Archivrat, Staatsarchivar.
18. Staatsarchiv in Wiesbaden.
Dr. Paul Wagner, Geh. Archivrat, Archivdirektor; Dr. Max von Domains,
Archivar; Dr. Emil Schaus, Archivar; Dr. Gustav Croon, Archivhilfisarbeiter.
19. Königlich Preufsisches Historisches Institut in Rom.
Dr. Paul Kehr, Geh. Regierungsrat, ordenüicher Professor an der Uni-
versität in Göttingen, beauftragt mit Wahrnehmung der Amtsgeschäfte
des ersten Sekretärs beim Historischen Institut; Dr. Karl Schellhafs,
Professor, Archivar, zweiter Sekretär; Dr. Emil GöUer, Assistent; Dr.
Fedor Schneider, Assistent; Dr. Arnold Meyer, Hilfsarbeiter; Dr. Hans
Niese, Hilfsarbeiter; Dr. Ludwig Cardauns, Hilfsarbeiter.
20. Prüfungskommission für Archivaspiranten in Berlin.
Dr. Koser, s. vorher, Vorsitzender; Dr. Bailleu, s. vorher, stellvertretender
Vorsitzender; Dr. Röthe, ordentlicher Professor an der Universität in
— 2B9 —
Berlm; Dr. Taogl, ordentlicher Professor an der Universität in Berlin;
Dr. Hintze, ordentlicher Professor an der Universität in Berlin; Dr.
Seckel, ordentlicher Professor an der Universität in Berlin.
Bei den Kgl. bayerischen Landesarchiven*) sind gegenwärtig 29 wissen-
schaftliche Beamte angestellt, die sich nach dem Stande vom i. Januar 1905
folgendermafsen verteilen.
1. Allgemeines Reichsarchiv.
Vorstand: Dr. Franz Ludwig Baiunann. Räte: Otto Rieder; Dr. Johann
Petz ; Dr. Joseph Huggenberger ; Dr. Franz Xaver Glasschröder. Assessoren :
Max Neudegger (mit dem Titel Reichsarchivrat); Dr. Franz Riedler;
Dr. Hermann Knapp; Dr. Jvo Striedmger. Sekretär: Hans Oberseider.
2. K. Kreisarchiv Amberg.
Kreisarchivar: Joseph Breitenbach. Sekretär: Viktor Lucas.
3. K. Kreisarchiv Bamberg.
Kreisarchivar Joseph Sebert (mit dem Titel und Rang eines Reichs-
archivrates). Sekretär: Dr. Alfred Altmann.
4. K. Kreisarchiv Landshut
Kreisarchivar: Heinrich Sommerrock. Sekretär: Dr. Heinrich Waltzer.
5. K. Kreisarchiv München.
Kreisarchivar: Franz Löher. Sekretäre: Dr. Franz Deybeck; Dr. Ludwig
Schraudner.
6. K. Kreisarchiv Neuburg.
Kreisarchivar: Otto Geiger. Sekretär: Dr. Otto Weber.
7. K. Kreisarchiv Nürnberg.
Kreisarchivar: Dr. Georg Schrötter. Sekretäre: Albert Gümbel; Dr..
Artur Brabant.
8. K. Kreisarchiv Speyer.
Kreisarchivar: Dr. Anton Müller. Sekretär: Hans Pregler.
9. K. Kreisarchiv Würzburg.
Kreisarchivar: Sebastian Göbl (mit dem Titel und Range eines Reichs-
archivrates). Sekretäre: Paul Glück; Alois Mitterwieser.
Eingegangene Bfieher.
Lamprecht, Karl: Moderne Geschichtswissenschaft. Fünf Vorträge. Frei-
burg i. Br., Hermann Heyfelder, 1905. 130 S. 8^. M. 2,00.
Schmidt, Otto Eduard: Kursächsische StreiÜEÜge. Zweiter Band: Wande-^
rungen in der Niederlausitz. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1904. 359 S. 8^..
M. 3,50.
Schnitze, Rudolf: Die baugeschichtliche Planentwickelung der Stadt Bonn
[ss Sonderabdruck aus: Der Städtebau, Heft 8, 1904]. 7 S. Grofs 4^
mit II Abbildungen.
Sothen, O. von: Vom Kriegswesen iin XDC. Jahrhundert Mit 9 Über-
sichtskäitchen [=» Aus Natur und Geisteswelt, 59. Bändchen.]. Leipzigs
B. G. Teubner, 1904. 137 S. 8^ Geb. M. 1,25.
i) Vgl. über die Organisation diese ZeiUchrüt i. Bd. S. 245^247.
— 240 —
Wächter, F.: Ostfriesland unter dem Einflnls der Nachbarländer [:^ Ab-
handlungen und Vorträge zur Geschichte Ostfrieslands, Heft n]. Aurich,
D. Friemann, 1904. 28 S. 8^.
Weerth: Das Papier und die Papiermühlen im Fürstentum Lippe [«=» Mit-
teilungen aus der lippischen Geschichte und Landeskunde, 2. Bd.
(Detmold, Hans Hinrichs, 1904), S. i — 130].
Averdunk, Heinrich: Die Duii^rger Börtschif&hrt, zugleich ein Beitrag
zur Geschichte des Gewerbes in Duisburg und des Handelsverkehrs
am Niederrhein [=» Schriften des Duisburger Museumsvereins H]. Duisburg,
Joh. Ewich, 1905. 241 S. 8^
Bericht über den fünften Verbandstag der west- und süddeutschen
Vereine für römisch-germanische Altertumsforschung zu Mannheim vom
6. bis 9. April 1904 [»= Sonderabdruck aus dem KorrespondenzblaU
des Gesamtvereins der deutschen Oeschichts- und AUeriumsvereine x 904].
91 S. 8<>.
Buchenau, H. : Die Münzstätte Oldisleben imd die in Thüringen geprägten
Hohlmünzen der Söhne Albrechts des Bären, ein Beitrag zur Landeskunde
des Grofsherzogtums Sachsen [<=» Sonderabdruck aus Nr. 297 der
Numismatischen Monatsschrift Blätter für Münz freunde , 39. Ji^rgang,
Dresden]. 14 S. S^.
Dorn, Hanns: Die Vereinödung in Oberschwaben. Kempten und München,
Jos. Kösel, 1904. 4 Pläne und 222 S. 8^ M. 5,40.
Haase, Albert: Brauns Städtebuch als Spiegel des Gewerbelebens im
XVI. Jahrhundert [= Mitteilungen des Vereins für Anhaltische Geschichte
und Altertumskunde, 10. Bd. (Dessau, Dünnhaupt, 1904), S. 46 — 72].
Hantschel, F.: Hauptregister für die Mitteilungen des Nordböhmischen
Exkursionsklubs. Jahrgang I bis XXV. Erster Teil: Sachregister.
Leipa, Verlag des Nordböhmischen Exkursionsklubs, 1904. 175 S. 8®.
Kästner, Gotthard: Generalmajor von Mayr und sein Freikorps in Kur-
sachsen. Meifsen, H. W. Schlimpert, 1904. 95 S. 8^ M. 1,50.
Meiuers, W.: Zur Volksschulpädagogik Friedrichs des Grofsen. Das
Reglement für die deutschen reformierten Schule in Cleve und Mark
vom IG. Mai 1782 und das General-Landschulreglement vom 12. August
1763 [ss Zeitschrift des Bergischen Geschichtsvereins, 37. Bd. (Ober*
feld, B. Hartmann, 1904), S. 224 — 236].
Nebelsieck, H. : Reformationsgeschichte der Stadt Mühlhausen i. Th.
[s= Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte in der Provinz Sachsen,
I. Jahrgang (Magdeburg, Holtermann, 1904), S. 59 — ns]«
P ichler, Fritz: Austria Romana, Geographisches Lexikon aller zu Römer-
zeiten in Österreich genannten Berge, Flüsse, Häfen, Inseln, Länder,
Meere, Postorte, Seen, Städte, Strafsen, Völker II (Lexikon) [— Qudlen
und Forschungen zur alten Geschichte und Geographie, herausgegeben
vonW.Sieglin,Heft 3]. Leipzig,£duard Avenarius, 1903. S. 103 — 442.
M. 8,80.
Sello, Georg: Zu Schutz und Trutz am 500 jährigen Jubiläum des Roland
zu Bremen. Mit 21 Tafeln und einer Kartenskizze. Bremen, Max
Nöfsler, 1904. 93 S. 8®.
Henuufeb«r Dr. Anain HU« ia Leipdf.
Drack und Verlag von Friedrich Andreas Perthes, AkdeageselUchafti Gotha.
<•
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
sar
Förderung der landesgescbichtliclien Forschung
VI. Band Juni X905 9. Heft
Die Brüder des gemeiAsamen Iiebens
in Deutsehland
Von
Gustav Boemer (Fürstenwalde)
Die „Bnider des gemeinsamen Lebens *' ^) ziehen deshalb die
Aufmerksamkeit auf sich, weil sie mit der im XV. Jahrhundert unter-
nommenen Klosterreform in enger Verbindung stehen und nach
weitverbreiteter Meinung den Boden für die lutherische Reformation
vorbereitet haben. Einen bedeutenden Anstofs zur Erforschung dieser
Genossenschaft hat Doebners genannte Veröffentlichung gegeben, die
auf etwa 400 Seiten einen fast ganz neuen Stoff für Erforschung des
HUdesheimer Bruderhauses und, was noch weit wichtiger ist, für die
münstersche Union, d. h. den Zusammenschlufs einer grofsen Menge
nordwestdeutscher Vereinigungen, bietet
Die Entstehung der „Brüder** geht auf den Niederländer Gerhard
Groot *) zurück, welcher im Jahre 1384 starb. Er stiftete in Deventer
zum Zwecke des frommen Lebens ') den ersten Kreis der „ Brüder
des gemeinsamen Lebens'* (der frcUres vitcLe communis). Hieraus
entwickelten sich zwei Richtungen, die klösterUche, welche nut der
Gründung des Klosters Windesheim bei ZwoUe in Holland im Jahre
1386 begann und schon 1395 zur Verbindung von 4 Klöstern unter
dem Namen „Windesheimer Kongregation** führte; diese umfaiste
i) Haaptdarstellungen: Delprat, De broederaehap van Chroote (hoUSndisch),
2. Aufl., Arnheim 1856, in vieler Hinsicht veraltet L. Schulze, Brüder de» gemein-
samen Lebens (Herzogs Real -Enzyklopädie f. protest Theol., 3. Aufl., 1897, ^i S.
472 — 507); s. die dortigen Literaturnachweise. Hauptquelle: Annalen und Akten
der Brüder des gemeinsamen Ld)en8 im Lüchtenhofe xu Hildesheim (QueUen und
DarsteUungen zur Gesch. Niedersachsens, Bd. DC), herausgegeben von R. Doebner,
Hannover 1903.
2) K. Grube, Gerhard Groot und seine Stiftungen, herausgegeben von der
Görres-Gesellschaft (Köln 1883).
3) Der Anfangszweck nachgewiesen von Gerretsen, Florentius Badewifns (hoUd.),
{Nym wegen 1891).
18
— 242 —
bald eine grobe Menge Klöster in den Niederlanden und in Deutsch-
land ^). Die andere Richtung, die freiere und mehr weltliche, lieis
ebenso eine Menge von Sitzen in beiden Nachbarländern entstehen.
Derjenige, welcher die Genossenschaft nach Deutschland ausbreitete»
ist Heinrich von Ahaus, der Gründer des Bruderhauses in Münster
im Jahre 1400 *). Neben den Bruderhäusem bestanden von Anfang-
an auch Vereinigungen von weiblichen Personen zu demselben Zwecke,
die Schwesterhäuser *). Unter den Häusern kam bald ein Bund zu-
stande, der im Jahre 143 1 von 3 Bruder- und 4 Schwesterhäusem gestiftet
wurde und nach dem Orte seiner Jahresversammlung das münstersche
Kolloquium {coUoquium Manasteriense) hieüs. Die Tätigkeit des Bundes
bezog sich auf jährliche Visitationen der einzelnen Häuser, Einsetzung
neuer Leiter (Rektoren) derselben im Falle der Erledigung der Stellen
und Beschlufsfassung über allgemeine Vorschriften. Dieses Kolloquium
hatte sich bereits im Jahre 143 1 ein knappes Bundesstatut geg^eben^
aber mit der Zeit drängte man auf festeren Zusammenschluß auf Grund
einheitlicher und strengerer Statuten, und nach mehreren gescheiterten
Versuchen entstand aus dem münsterschen Kolloquium im Jahre 1499
die grofee münstersche Union von vielen Bruder- und Schwester-
häusern im nordwestlichen Deutschland, die zugleich allgemeine Bundes-
statuten einftihrte ^). Vorbild für diese sind die Statuten der Windes-
heimer Klosterkongregation gewesen *).
Auf diese Zeit der höchsten Blüte *) folgte jedoch sehr bald der
i) Hauptwerk hierüber ist Aequo y, Bei klooster te Windesheim (Utrecht, 3 Bde^
1875— 1880), beruht jedoch zum gröfsten Teil auf den Schriften des onzaTerlässigeo
Priors Johannes Busch. Über dessen Leichtfertigkeit s. meine Schrift, Die Aamaien tuttf
AJden der Brüder des gemeinsamen Lebens im Lüehtenhofe xu BUdesheim (Fttrsten-
walde 1905), S. 22 — 41.
2) L. Schulze, Heinrich von Ahaus (Luthardts Zeitschr. HI, 38 — 48, 93 — 104V
Leipzig 1882.
3) Es ist ein grundloser Sprachzwang, von Frater- und Schwesternhänsem
Schwestern p L) zu reden ; auch im Holländischen heiist der Plural xusterhuixen^ „Schwester-
hSttser^ (xusier sg^ xusters pL; kuis sg., huixen pL).
4) Die Geschichte des Kolloquiums und der Union ist in den „Protokollen**
enthalten, s. Doebners Ausg. S. 248 — 282. Die Gründung der Union im Jahre 1499^
nachgewiesen von Boerner, a. a. O. S. 87.
5) Nachweis von Boerner, a. a. O. S. 81 — 87. (Die Windesheimer Statuten vor-
handen in der Straisburger Bibliothek.)
6) Aus den „Protokollen** ergibt sich bis zum Jahre 1476 die Zugehörigkeit voq
25 Häusern zur Union, obgleich die Mitteilungen unvollständig sind. Bruderhäuser (ii>
waren nach alphabetischer Ordnung in: Butzbach, Herford, Hildesheim, Kassel, Köln^
Königstein, Marburg, Marienthal, Münster, Rostock, Wesel; Schwesterhänser (14)
in: Ahlen, Borken, Bttderich, Dinslaken, Eldagsen, Essen, Herford, Kaikar, Koesfeld^
— 243 —
Verfall und die Auflösung der Genossenschaften, und zwar durch die
lutherische Reformation. Die Mitglieder wurden unbotmäfsig, nahmen
Frauen, entliefen und traten z. T. auch zum neuen Glauben über.
Für die Schilderung des Lebens in den Bruderhäusem diente
bisher die vergleichende Zusammenstellung der aus mehreren Orten ^)
erhaltenen (lateinischen oder deutschen) Statuten, wozu auch die in
einem Auszug von Miraeus im Jahre 1638 veröffentlichten ') gehören.
Er betrachtete sie als die Statuten der zu einer kleinen Union ver-
bundenen 3 Bruderhäuser von Münster, Köln und Wesel, ebenso wie
Doebner die von ihm herausgegebenen •) für den vollständigen Text
hält, aus dem Miraeus seinen kurzen Auszug machte^). In der Tat
jedoch liegen in beiden Fällen Statuten von viel höherem Werte vor,
nämlich die im Jahre 1499 von der münsterschen Union
angenommenen Bundesstatuten ^). Die Kenntnis des Lebens
der Brüder ist damit auf die einfachste und beste Grundlage gestellt,
die Abweichungen der sich vorfindenden Sonderstatuten einzelner
Häuser kommen für die äuisere Gesamtauffassung nicht mehr in Betracht.
Sie zeigen nur, daCs man von einer gewissen Lockerheit der Zucht zu
gröfserer Strenge tortgeschritten ist. Das Bild, das uns die Unions-
statuten liefern, ist einem klösterlichen sehr ähnlich.
Von den Mönchen unterscheidet die Brüder nur das Eine, dafs
sie ihren Lebensunterhalt durch ihrer Hände Arbeit erwerben: iU
Idbares tnaimum suarum numducefU^. Sonst ist nach den Unions-
statuten ein tatsächlicher Unterschied nicht mehr vorhanden. Wenn
auch für das Gelöbnis des in die Bruderschaft Eintretenden der Name
der klösterlichen professio vermieden ist, so bedeutet doch die prch
missio ^) dasselbe , nämlich die Übernahme der drei Klostergelübde
der Armut, der Keuschheit und des Gehorsams. Der Aufjgenommene
übergab sein ganzes Vermögen der Bruderschaft und verzichtete auf
LippsUdt, Schttttorf, Unna, VoUnnarten, Wesel. Die SchwesterhSmer wurden geringer als
die Braderhänser geachtet, s. Boerner. a. a. O. S. 69 A. 3. Die anderen bekannten
deutschen Hänser s. bei L. ScbaUe, a. a. O. S. 487 ff.
i) Aus Herford, Einsiedeln, Königstein und Batsbacfa.
3) A. Miraeas, Reguitie et eofuHMümes eierieorum in ecngregäiwne vi»eni4um
(Antwerpen 1638), p. 144-*! 50 (rorhanden in der KdnigL Bibliothek in Göttingen).
3) Doebners Ausgabe, S. ao9>-245.
4) Doebner XLII, 14 — 34.
5) S. Boerner, a. a. O. S. 75 — 81. Ober den Unterschied der beiden Ansgaben
s. ebenda S. 88—93.
6) S. Doebners Ansgmbe 55, 15.
7) S. Doebner 219, i v. n.
18*
— 244 —
jeden Anspruch an dasselbe selbst im Falle seines Austritts; er ver-
sprach Keuschheit, Eintracht (d. i. Gehorsam) und Enthaltung' vom
Eig^enbesitz *) ; die Strafe der Ausstofsung ist auf Ungehorsam geg^en
den Rektor , auf Unkeuschheit und Eigenbesitz gesetzt *). Hatte der
Novize nach der gewöhnlichen Probezeit den Eintritt in die Haus-
gemeinschaft vollzogen, so stand er unter der Diktatur des Rektors,
und ein Austritt war nur in Verbindung mit einem Übertritt in einen
Mönchsorden erlaubt '). Er war dem Zwangsleben für immer verfallen.
Nach dem Frühgottesdienst und den geistlichen Übtmgen in der Zelle
nahm ihn die Arbeit, besonders die des Buchschreibens und -bindens *),
von 7 Uhr morgens bis 7 Uhr abends in Anspruch, die nur durch
die Stundengebete und die zwei Mahlzeiten (um 10 und 5 Uhr) unter-
brochen wurde. Darauf folgten wieder geistliche Übungen in der
Zelle bis zum Schlafengehen um 8 Uhr. Selbst diese Übungen standen
noch unter dem Zwang, da jeder verpflichtet war, seine Vergehungen
hierin im Schuldkapitel ^) von selbst zu bekennen, und ihn die Strafe
für die gebeichteten Übertretungen nach der Entscheidung des Rektors
erwartete. Auch über die äu&ere Arbeit des Schreibens wurde Rechen-
schaft gefordert, da die Leistungen wöchentlich vorgelegt werden mufSsten
und Unfleifs bestraft wurde ®). An der vollen Klosterzucht (omnis
daustrcdis disciplina), die den Hildesheimer Brüdern nachgerühmt
wird ^, fehlte also nichts.
Dies ist die äufisere Haltung des „gemeinsamen Lebens*'; daneben
aber fehlt es nicht an der Betonung des Gemütslebens, worüber wir durch
andere Statuten, die Herforder ^), und besonders durch die Darlegxmgen
1) S. Doebner 220, i — 22, in Z. 4 — 6: vivam (Fat) eoste, amoordüer et in
comniuni abaque proprio,
2) Ebenda 223, 8 — 16.
3) Die Hildesheimer wahrten sich den freien AnstriU; s. hierfiber Boemer, a. a.
O. S. 89.
4) In den Schwesterhäosern wurden dafür weibliche Handarbeiten aasgefährt, als:
Nähen, Weben u. dgL
5) Die zu diesem Zwecke eigens abgehaltene Versammlung des Hauses.
6) S. Doebner 228, 25 — 31.
7) Johannes Busch, herausgegeben ▼. K. Grube (Halle 1886), 547, i v. u.
8) Herausgegeben in der Theol. Monatsschr. des bischöfl. Seminars su HüdffthHm,
Mainz 185 1, S. 543—582. — Die Statuten liegen in niederdeutscher Sprache vor, doch
sind sie die Übersetzung einer latein. Urschrift, wie man z. B. erkennt ans der Anwendung
des latein. Ablativs nach gebrueken (gebrauchen), indem hierauf folgt als Objekt:
imiüuUa, coUaÜcnilnu usw. (S. 569). Sie sind rerfafst zwischen 1439 (BuUe Eugens IV.
erwähnt S. 549, s. Boerner, S. 75) und 1499 (Die Errichtung des mfinsterschen General-
kapitels kann noch nicht stattgefunden haben).
— 245 —
des hildesheimischen Bniderrektors Dieburg ^) unterrichtet sind. Auf
diesem Gebiete erst wird die Bezeichnung der neuen Richtung als devotio
modema^) recht zutreffend, die „Innigkeit" ist die charakteristische
Eigenschaft der Brüder. Der Hochmut, als Hindernis bei der Er-
reichung dieses Zieles, wird verworfen, und die Demut und Niedrigkeit
gewählt; in Übereinstimmung mit diesem Grundsatz wird auf äu&eren
Glanz des Lebens, auf Einflufs, Vortrefflichkeit der Speisen und Pracht
der Kleider verzichtet, und gerade die Zurückgezogenheit und Ver-
achtung, Ärmlichkeit in Arbeit, Nahrung und Kleidtmg gesucht.
Aber das Herz soll dabei um so reicher sein. Stets gilt das Gebot,
Liebe gegen die Brüder zu üben und nicht zu zürnen, dem raschen
Zorn noch vor Nacht die Versöhnung folgen zu lassen. Das Gebet
soll aus dem inwendigen Herzen kommen und kein Lippenspiel sein,
die Fürbitte für andere auch herzlich geschehen. Als höchster und
immer erneuter Stoff der Betrachtung gilt das Leiden Christi, aber
auch die andere heilige Schrift und die Bücher der Kirchenväter sind
eifrig zu lesen als Wegweiser zur Seligkeit.
Welcher Weg aus ihnen gefunden wurde, zeigen in so denk-
würdiger Weise die Betrachtungen des erwähnten Rektors Dieburg ^), der
1494 starb. Bei den Sakramenten komme es weniger auf die äu&ere
Form als auf die innere Empfänglichkeit des Menschen an, und im Not-
falle genüge sogar das letztere. Christus sei der ausreichende Mittler
zwischen Gott und den Menschen, die Sündenvergebung werde erlangt
durch Reue und Glauben, jeder Gerechte sei Priester. Daus hier
ganz reformatorische Ansichten ausgesprochen sind, unterliegt keinem
Zweifel ; der Hauptpunkt der reformatorischen Lehren, die Rechtferti-
gung aus dem Glauben, ist schon fast ganz genau getroffen.
Ihren vollen Wert erhalten die Ausführungen Dieburgs dadurch,
dafis wir in ihnen die allgemein in Bruderkreisen herrschenden An-
sichten sehen müssen ^) , wofür auch die Übereinstimmung spricht,
welche sich zwischen ihm und dem Hauptvorgänger Luthers, Johann
Wessel, zeigt. Auch Wessel, der bei den Brüdern des gemeinsamen
Lebens in ZwoUe (Holland) erzogen ist, lehrt, nun aber unumwunden,
die Rechtfertig^g aus dem Glauben %
i) Diese Namensform ist der bisher gebräuchlichen fremdartigen (Dieppurch) vor-
zaziefaen, s. Boerner, S. a, A. i.
2) Eins der Werke des Johannes Busch trügt den Titel: Liber de origtne deto-
tioms modemae,
3) S. Doebner, S. 144 — 150 (I. Exkurs), dazu Boerner, S. 45 — 52.
4) S. auch Giemen, Histor. Zeitschr. 1905, S. 141.
5) Vgl Boerner, S. 51, A. i.
— 246 —
So haben wir in den „Bnidem** einen g'anzen mönchischen Stand
zu erblicken, in dem reformatorische Anschauungen schon vor Luthet»
Auftreten leben, und in dieser Vorbereitung für die Reformation liegt
ihre gröfste Bedeutung, wenngleich ihre Absicht dabei nicht auf einen
Gegensatz gegen die Kirchenoberen und die Kirchenlehre ging. Sie
wollten das Gebäude der orthodoxen Kirche erhalten und brachten
unbewuist deren Grundfesten ins Wanken.
Der Gehorsam, den sie willig den Vorgesetzten erzeigten, noch
mehr aber ihr bescheidenes Leben in einer Zeit der Entartung des
Klerus, verschaffte ihnen das Wohlwollen der kirchlichen Obrigkeiten,
der Bischöfe und Päpste. Aber sonst hat die neue Genossenschaft
keine Freunde gefunden. Die Orden sahen in der Einfochheit und
Niedrigkeit der „Brüder** eine beständige Anklage gegen ihre eigene
Zuchtlosigkeit, und die bürgerlichen Stände brachten ihnen dieselbe
Abneigung entgegen, die sie überhaupt gegen das Mönchtum hatten ^).
Verdient haben sich die Brüder des gemeinsamen Lebens ttm
die Bürgerschaft durch Jugendunterricht nur in geringem Mafee
gemacht, und dies erst durch fremden Anstols, durch den Humanismos
seit etwa 1450. Von einzelnen Häusern in den Niederlanden und in
Deutschland ist bezeugt, dafs die Brüder in den beiden alten Sprachen
die Jugend unterrichtet haben, daneben dann auch andere Schüler
in den Elementargegenständen unserer Volksschulen. Vordem (vor
1450) ging ihre pädagogische Wirksamkeit, wo sie vorkommt, nur auf
religiöse Zucht und Heranbildung zum geistlichen Stande ').
Anhaltisehe Akten zum Wiener Kongrefs
Von
Hennann Wäschke (Zerbst)
Auf der 8. Versammlung Deutscher Historiker 1904 in Salzburg-
hat Prof. August Fournier einen Vortrag über Neue QHtUm jnmr
Geschichte des Wiener Kongresses ') gehalten , der unter anderen wich->
1) VgL Boerner, S. 54—55.
2) S. E. Leitsmann, Überblick über die Oeeeh. und DarsMmg der pädagog.
Wirksamkeit der Brüder d, gemeine, Lebens (Leipsif, Diss. 1886).
3) Der Vortrag ist abgedrückt in der Österreiekisehen Rundschau 1. Bd., S. 140
bis 150. Vgl. darüber diese Zeitschrift oben S. 88 sowie den Beriehi über die 8, Ver-
sammlung Deutseher Historiker xu Salzburg 31, August bis 4, September 1904 (Leipiic
1905), S. 39-43.
— 247 —
ttgen Anregungen jedenfalls auch die Mahnung an die Archivverwal-
tungen enthält, das in den Archiven aufbewahrte Aktenmaterial zu
durchforschen und das fiir die Geschichte des Kongresses Bedeutsame
zu verzeichnen. In Anerkennung der Wichtigkeit jener Anregung, zu-
gleich auch um dem Wunsche des Herausgebers dieser Blätter zu
entsprechen, habe ich die im Herzogl. Anhaltischen Haus- und
Staatsarchiv aufbewahrten Kongrefsakten durchgesehen und erlaube
mir über das Ergebnis im folgenden zu berichten.
Anhalt bestand im Jahre 1814 aus drei gesonderten Herzog-
tümern: Anhalt-Dessau, Anhalt-Köthen, Anhalt-Bernburg; in
Dessau herrschte Leopold Friedrich Franz (1751— 1817), in
Köthen der noch minorenne „Prinz*' Emil (1812 — 1818), für welchen
der Herzog von Anhalt-Dessau die Regentschaft führte, in Bemburg
Alexius Friedrich Christian (1796 — 1834). In den äufseren
politischen Beziehungen bildeten die drei Länder nach dem Teilungs-
rezefs v. J. 1606 eine Einheit (Gesamtung), zu deren Vertretung der
jedesmalige Senior des Hauses, resp. der älteste der regierenden Herren,
berufen war.
Unter diesen Verhältnissen hatte der damalige Senior Herzog
Leopold Friedrich Franz von Anhalt-Dessau die Vertretung des
Gesamthauses Anhalt beim Wiener Kongrefs; da er aber wegen
hohen Alters (er war 74 Jahre alt) nicht selbst, wie er es wohl wünschte,
nach Wien reisen konnte, auch sein hoffnungsvoller einziger Sohn, der
Erbprinz Friedrich, der ihn bereits mehrfach in Semoratsgeschäften
vertreten hatte, erst vor kurzem, am 27. Mai 18 14, gestorben war, so
konnte zunächst an eine andere Vertretung als durch eine Gesandt-
schaft nicht gedacht werden. Günstiger lag die Sache im Juli des
Jahres 1814, denn damals befand sich der Herzog Alexius Friedrich
Christian von Anhalt -Bemburg in Wien; ihn hatten besondere
Interessen seines Hauses dorthin geführt, dabei war es ihm geglückt,
sehr schätzenswerte Bekanntschaften anzuknüpfen und namentlich mit
dem Fürsten v. Metternich in Beziehung zu treten. Er, der
Bruder der Fürstin Paul ine von Lippe, ein zwar eigennütziger aber
nicht ungeschickter Politiker, von dessen Persönlichkeit W. v. Kügelgen
in den Jugenderinnerungen eines alten Mannes, S. 183, eine kurze,
doch anziehende Charakteristik gibt, wäre gewiCs imstande gewesen,
uns über die Vorgänge beim Kongrefs die sichersten Nachrichten zu
übermitteln, beobachtete er doch überall mit offenem Auge die Dinge
und erkannte die hier und da zutage tretenden Mängel, so, um nur
e^ jp .fcmhnen, die Tatsache, dafs es in Wien, wo man doch eine
— 248 —
vollkommene Klarheit über alle deutschen Verhältnisse hätte erwarten
dürfen, es durchaus an statistischen Nachrichten von anderen Ländern
fehlte, also an der gegründeten Kenntnis der Machtmittel anderer,
auch der deutschen Staaten. Leider ging er gerade zu der Zeit, wo
schon die Vorbereitungen zum Kongrefs getroffen wurden, von Wien
fort und war bereits Ende Juli wieder in seinem Lande und seiner
Residenz eingetroffen. Ein wie grofeer Schade das für die Anhalti-
schen Fragen war, beklagt der diplomatische Vertreter Bemburgs in
Wien: „Für das Interesse Höchstdero Hauses wäre es zu wünschen,
dafs Ew. Herzogl. Durchlaucht sich auch unter diesen Fremden be-
finden möchten, denn bei einer solchen Gelegenheit wie die gegen-
wärtige, vermag die Gegenwart der Souverains mehr als der geschickteste
nigociateur." Der Herzog erwiderte darauf am 15. September: „Sehr
gern würde ich eine zweite Reise nach Wien unternehmen, wenn meine
Gesundheitsumstände mir solches verstatten wollten*', doch ohne dais
er damit eine Unterdrückung des Bedauerns erzielte, denn noch am
8. Oktober wird von Wien geschrieben: „Nur schade, dafe Ew. Her-
zogl. Durchlaucht nicht selbst hier sein können ; wer weife, welche gute
Folgen nicht hieraus entsprungen wären." Wir müssen uns angesichts
der Lage diesem Bedauern anschliefsen ; eine Erklärung für seinen
Weggang von Wien in so wichtiger Zeit haben wir in den Akten nicht
gefunden ; gewifs wird er seine Gesundheit nicht stark genug erachtet
haben, den geselligen und gesellschaftlichen Anforderungen voll zu
genügen, aber es lassen sich doch auf Grund unzweideutiger vertrau-
licher Bemerkungen aufserdem Gründe vermuten, die für seinen Ent-
schlufs die schwerwiegendste Bedeutung haben mufeten; wir rechnen
dazu die Rücksicht auf die Finanzlage des Hauses, femer die niemals
ganz ausgeglichene Rivalität mit dem Dessauer Herzogshause, zu dem,
als dem damaligen Inhaber das Seniorates, er in die Rolle eines
charg6 d'affaires hätte treten müssen, falls er in Wien bleiben und
Anhalts Interessen hätte vertraten wollen.
Da sich unter solchen Umständen die Entsendung eines besonderen
Gesandten notwendig machte, so hatte der Senior, der die ersten Schritte
im Einvernehmen mit Preufeen getan hatte, von Anfang an dazu den
Legationsrat Brenner in Regensburg ausersehen, der bisher die diplo-
matische Vertretung des Gesamtstaates zur Zufriedenheit der Herzöge
gehabt hatte; ihm wollte er als seinen besonderen Vertreten noch den
Regierungspräsidenten v. Wolfframsdorff aus Dessau beiordnen.
Doch da nach der Ansicht des Bemburger Herzogs, dem dieser Plsui
zur Genehmigung unterbreitet wurde, „das Gelingen des vorhabendes
* — 249 —
Geschäftes vorzüg-lich davon abhängig sei, dafs dazu ein Mann ge-
wählt werde, von dessen Kenntnissen, persönlichen Eigenschaften und
Konnexionen, besonders am Wiener Hofe, sich mit einiger Gewifsheit
hoffen lasse, dafs er die ihm erteilten Aufträge mit der gehörigen
Umsicht und Sachkenntnis schriftlich und mündlich beim Kongresse
überhaupt und bei den einzelnen Abgesandten insbesondere durch-
führen werde, weil bei der gro&en Entfernung des Kongrefsortes und
der Ungewifsheit des Geschäftsganges es nicht wohl möglich sein
möchte, den Bevollmächtigten auf alle möglichen Falle und eintretende
Umstände im voraus von hier aus zu instruieren", so erforderte die
Wahl eine besondere Sorgfalt. Er zweifle zunächst nicht, dafe Brenner,
den er persönlich nicht kenne, ein tüchtiger Mann sei, „besäfse er
aber auch alle nötige Geschicklichkeit und persönlichen Eigenschaften
dazu, so bezweifelte er, der Herzog, doch sehr, dafe er die erforder-
lichen Konnexionen am Wiener Hofe sich würde verschaffen können,
ohne die vielleicht das gan2e Geschäft mifelingen könnte. Er hätte
jedoch bei seiner Anwesenheit in Wien die Bekanntschaft eines Mannes
gemacht, dessen Kenntnisse und persönliche Eigenschaften sowohl als
die angesehenen Konnexionen, worin er mit den ersten Wiener Staats-
bedienten stände, ihm ganz dazu geeignet schiene, ihm die Besorgung
jedes wichtigen Geschäftes mit Zuversicht anzuvertrauen. Im Fall der
Senior auf diesen Mann in Hinsicht des in Frage befangenen Gesamt-
geschäfts mit zu reflektieren gesonnen wäre, so würde er nicht anstehen,
ihn namhaft zu machen und würde er alsdann nur vorschlagen, dafs wenn
der Senior den Regierungspräsidenten v. Wolfframsdorff noch in anderen
Absichten nach Wien zu schicken geruhen sollten, auf beide zugleich
das Kreditiv mit der gewöhnlichen solidarischen Klausel ausgefertigt
würde."
Auf Grund dieser Empfehlung bat der Senior am 26. August 18 14,
dafs der Herzog von Bemburg die angedeutete Persönlichkeit näher
bezeichne. Dieser antwortete am i. September; „Die zum Mitbevoll-
mächtigten für die gemeinschaftlichen Anhaltischen Angelegenheiten
auf dem Kongresse zu Wien in Vorschlag gebrachte Person wäre der
Baron v. Erstenberg-Freyenthurn, ein Schwager des ehemaligen
Köthenschen Oberhofmeisters v. Rieger; er hätte, da er ihm schon
seit mehreren Jahren auf eine vorteilhafte Art bekannt gewesen, seine
persönliche Bekanntschaft während seines Aufenthalts in Wien ge-
macht tmd in ihm einen geschickten und gewandten Mann kennen
lernen, der in den angesehensten Häusern Zutritt habe und besonders
bei dem Fürsten v. Mettemich wohlgelitten sei. Er wäre ein ganz
i
— 250 —
unabhängiger Mann, der von seinem Vermögen lebe und in keinen
anderen Dienstverhältnissen stände. Er hätte demselben zwar von einer
Übernahme von Gesamtgeschäften für das Haus Anhalt noch keine
Eröffnung gemacht, zweifelte aber nicht, dals er es sich zur Ehre
rechnen würde, wenn er auf dem bevorstehenden Kongresse für das
Haus Anhalt etwas zu bewirken imstande sein sollte/' Daus die Auf-
fassung des Herzogs über die Konnexionen des Freiherm v. Ersten-
berg-Freyenthurn richtig war, bestätigt ein Bericht des Regierungs-
referendars v. Salmuth, der im November sich in Wien angehalten
hatte. Er schreibt : „Seine — v. Erstenbergs — beim österreichischen
Ministerio gemachten Anträge finden nicht nur leichtem Eingang durch
die Begünstigung seines Freundes, des Baron v. Foulon, der bei
dem Fürsten Mettemich den Gesellschaftskavalier macht, sehr viel Ver-
trauen von ihm geniefst und in der französischen Korrespondenz für
ihn arbeitet, sondern es hat sich auch der Freiherr v. Erstenberg
den Fürsten durch Geldvorschüsse aus seinem Privatvermögen , das
nicht unbeträchtlich sein kann, unmittelbar geneigt zu machen gewufst.^*
Und dafis die persönlichen Beziehungen zum Fürsten v. Mettemich
wirklich von Vorteil waren, erweist v. Erstenbergs Bericht über
seinen Empfang beim Fürsten vom 28. Juli: „Da derselbe schon vorher
unterrichtet worden, dafs ich in Höchstdero Namen gekonunen, so
ward mir die ehrenvolle Auszeichnung, dals ich unmittelbar nach den
ex officio erschienenen vier Departementschefis mit Hintansetzung aller
in dem Vorsaale zahlreich versammelten Personen, unter welchen viele
von hohem Range, namentlich auch der Kaiserlich russische Botschafter
gewesen, vorgelassen wurde."
Der zweite vom Gesamthaus Anhalt zur Vertretung seiner Inter-
essen ausersehene Mann, der Regiemngspräsident v. Wolfframsdorff,
konnte sich anfangs einer gleich günstigen Beurteilung durch den Her-
zog von Bemburg nicht erfreuen. Dieser schrieb an den Freiherm
V. Erstenberg über den Genannten, „dessen Bravheit, aber Ängst-
lichkeit mir sehr gut bekannt ist"; und deutlicher am 15. September:
„Präsident v. WolfframsdorfT hat sich vorgenommen, künftigen Sonn-
abend oder Sonntag [= 17./ 18. Sept.] nach Wien abzureisen. Der*
selbe ist mir als ein sehr braver und geschickter Mann bekannt; mir
hat er nur etwas furchtsam gegen seinen Herrn erschienen." Da-
raus erkennt man mit genügoider Deutlichkeit die Grundlage des Ur-
teils, es wurzelt in der Rivalität mit Dessau und der Vermutung» dafis
ein treuer Beamter des Dessauer Herzogs vielleicht einseitig und engf-
heizig zu sehr die Ansprüche des Dessauer Hofes vortreten könnte.
— 251 —
Um so erfreulicher ist die Anerkennung, die v. Elrstenbergc diesem
Mann in der Folge zuteil werden liefe. Schon am 28. September,
nachdem v. WoUframsdoriT erst am 26. früh in Wien eingetroffen war,
berichtete v. Erstenberg dem Herzog: „Ich fand an ihm einen sehr
einsichtsvollen und richtig beurteilenden Mann, mit dem ich mich gern
in die Gesdiäfte teile"; und am 8. Oktober: „Herr Regierungspräsident
V. Wolf&amsdorff macht die Kurialien mit dem besten Erfolge und
findet allgemeinen Beifall; sein Benehmen zeichnet sich durch Klug-
heit und vollkommene Geschäftskenntnis sehr gut aus, so dals ich
vollkommen überzeugt bin, es wäre unmöglich, die Sachen besser zu
machen als derselbe tut/*
Die erhoffte gemeinschaftliche Vertretung Anhalts durch diese
beiden Männer erwies sich aber als unmöglich und zwar aus persön-
lichen Gründen. Noch ehe der Freiherr v. Erstenberg das ihm bereits
zngefertigte Kreditiv als Gesamtvertreter überreichen konnte, eröffnete
ihm der erste Obersthofmeister, Fürst v. Trautmannsdorf, am
22. September, „dais er mich Sr. K. K. Majestät zu der erledigten
K. K. Truchsessenstelle vorgeschlagen und als zu diesem Hofamte be-
sonders geeignet empfohlen habe, mit der Weisung, der Allerhöchsten
Resolution täglich zu gewärtigen und mich bereit zu halten, alsdann
sogleich in Funktion treten zu können/' Da ein solches Hofamt aus
verschiedenen Gründen mit dem Amte eines Geschäftsträgers nicht
vereinbar war, mu&te er also wenigstens öffentlich auf das letztere
verzichten. Trotzdem versprach er ein nicht öffentliches Zusammen-
wirken mit v. Wolfframsdorff und eiüpfahl, falls Anhalt noch einen
öffentlichen Vertreter seiner Interessen wünsche, als seinen Nachfolger
Karl V. Axt. Der letztere war, nach v. Erstenbergs Angaben, mehrere
Jahre hindurch bei zwei Missionen in Dresden und am spanischen Hofe
attachiert und schien „nach dem Umfang seiner Kenntnisse, seiner
Routine im GesandtschaftsOache, seines allgemein bewährten Charakters,
vorzüglich aber wegen der Gnade und des Wohlwollens, die er von
Sr. Durchlaucht dem Herrn Fürsten v. Mettemich zu geniefeen das
Glück hat, ganz zu diesem Geschäfte geeignet zu sein'^
Da der Herr v. Axt sowohl dem Dessauer als dem Bemburger
Hofe gänzlich unbekannt war, hielt man an der Zusage des Freiherm
V. Erstenberg-Freyenthum fest, ihn als nichtoffiziellen Vertreter neben
V. Wolfframsdorff anzunehmen. Aufserdem blieb der Herr v. Ersten-
berg der Geschäftsträger des Herzogs von Bembui^.
Das über diese Mission vorhandene Aktenmaterial findet sich in
der Abteilung Dessau, Sign. D 2* no 6 ff. ; es enthält in Vol. i : Be-
— 252 —
Schickung des Kongresses durch das Gesamthaus 1814; Vol. 2: Be-
richte der Gesandten 1814/15: Vol. 3: Berichte der Gesandten 1815
Vol. 4: Berichte der Gesandten, Allianztraktat, Bundesakte; Vol. $
Verhandlungen wegen Ratifikation der Wiener Kongreisakte 181S
Vol. 6 : Die nach Beendigung des Kongresses der Anhaltischen Ge-
sandtschaft bewilligten Geschenke ; Vol. 7 u. 8 : Kosten der Gesandt-
schaft.
Die von v. Wolffiramsdorff und v. Erstenbei^-Frcyenthurn gemein-
schaftlich abgefaßten und unterzeichneten Berichte sind — und ich
beschränke mich dabei auf die wichtigste Zeit — datiert vom 28. und
30. September, 5., 12., 15., 22. Oktober, i., 5., 16., 19., 26. November,
3., 7., 16., 23., 31. Dezember 1814, 7., 18., 25. Januar 1815.
Als Ergänzung dazu treten noch die Berichte v. Salmuths datiert
vom 3. Dezember und v. Matolays vom 24. Dezember 18 14. Der
bereits oben erwähnte Keg.-Referendar v. Salmuth, Sohn des Reg.-
Präsidenten v. Salmuth in Bemburg, hatte am 28. Oktober 18 14 beim
Herzog um die Erlaubnis nachgesucht, in der jetzigen so merkwürdigen
Epoche Wien besuchen zu dürfen, und erstattete nach seiner Heimkehr
am 3. Dezember 18 14 über seine Erlebnisse und Wahrnehmungen
Bericht, aus dem wir nachher einiges mitteilen werden (Abt. Bemburg,
Sign. D I^ no 72 fol. 197). Herr v. Matolay war früher diplomatischer
Agent des Bemburger Herzogshauses gewesen und 1793 im Januar
als Gesamtagent angenommen, sein Bruder Joseph Friedrich v. Matolay
war Legationsrat. Der von ersterem erstattete Bericht findet sich in
der Abt. Bemburg, Sig. DI** no 7^
Den Berichten sind teils im Abdruck, teUs abschriftlich einige
Beilagen angefügt, die für den Gang des Kongresses von Wichtig-
keit waren; nämlich:
Deklaration vom 8. Oktober 1814.
Note des Grafen v. Münster vom 12. Oktober 1814.
Deklaration vom i. November 18 14.
Bericht des Grafen v. Keller über seine Unterredung mit dem
Fürsten Mettemich vom 14. und 22. Oktober 1814.
Note der fürsüichen Deputierten vom 16. November 18 14.
Note des Grafen v. Münster und v. Hardenbergs vom 21. Ok-
tober 18 14.
Die 12 Artikel.
Protest des Königs von Sachsen.
Die I. und 2. Badische Note vom 16. November 18 14.
Die HohenzoUersche Note vom 24. November 1814.
— 253 —
Erste Note des Grafen v. Münster vom 25. November 1814.
Aufsatz von Schmidt-Phiseldeck vom 16. November 1814.
Note Nesselrodes an MetteiTuch und v. Hardenberg vom 11. No-
vember 1814.
Zweite Note des Grafen v. Münster vom Dezember 18 14.
Tableau über Bestand Preu&ens 1805.
Die Axmexe und Rekonstruktion PreuDsens.
Note Talleyrands über die Sächsische Frage.
Bitte der mediatisierten Reichsgräfin v. Wimpfen, geb. Prinzessin
Viktoria Amalie von Anhalt -Schaumburg, vermählten Reichsgräfin
von Wimpfen.
Schreiben v. Gagems an den Grafen Münster vom 13, Januar 18 15.
Den Berichten liegen femer bei einzelne Nummern der Wiener
Zeitung, nämlich vom 22., 23., 24., 26., 27., 28. September und 24. De-
zember 1814, sowie vom 23. und 24. Januar 1815.
Einen nicht unbedeutenden Raum beanspruchen die Berichte über
Festlichkeiten wie die Ankunft der Kaiserin von Ruisland am 2/. Sep-
tember, der Redoute am 2., der redoute par^e am 9., des Militärfestes
am 18. Oktober, des Balles beim Fürsten v. Mettemich, des grofsen
Karoussels am 23. November, des Konzertes am 22. Dezember, sowie
auch der von Talleyrand veranlaüsten ernsten Feier eines Totenamts
für Ludwig XVI.
Mit der vorher geschilderten Mission ist aber die diplomatische
Vertretung Anhalts noch nicht abgeschlossen. Schon m der ersten
Zeit, da der Gedanke an einen Kongrefe in Wien bekannt gegeben
war, wurde von einer Entsendung des Erbprinzen vcn Dessau an den
Wiener Hof gesprochen. Der Erbprinz Leopold Friedrich,
Sohn des 18 14 verstorbenen Erbprinzen Friedrich, Enkel des Herzogs
Leopold Friedrich Franz, war noch ein junger Mann von noch nicht
20 Jahren; er hatte in dem Heere des Ksdsers den Feldzug 181 3 und
18 14 gegen Frankreich mitgemacht und war im Mai des Jahres heim-
gekehrt, da ihn der Tod seines Vaters in die Heimat zurückrief. Es
war gewiüs ein glücklicher Gedanke, den jungen Fürsten, der bereits
Beziehungen zur österreichischen Armee und zum Kaiserhofe hatte,
nach Wien zu entsenden. „Wenn es die Gesundheitsumstände des
Erbprinzen zulassen, soll er nut dem Präsidenten v. Wolfframsdorff nadi
Wien gehen und sich einige Zeit dort aufhalten", wurde nach Bem-
burg geschrieben und am 15. September schreibt der Herzog Alexius
an V. Erstenberg: „Man spricht noch immer davon, dais der jetzige
Erbprinz von Dessau sich auch nach Wien begeben werde." Er imter-
— 254 —
nahm auch die Reise zwar nicht mit v. WolfTramsdorff, sondern einige
Tage später zusammen mit dem Herrn v. Stern egg. Dieser letztere
war anhalt-köthenscher Kammerherr,, und später im November 1813
mit Zurückdatierung des Patentes auf den 17. April 181 3 zum Hof-
marschall und Jägermeister ernannt, eine Ehniug, die er sich infolge
einer Mission nach Prag erworben hatte. Der Herzog von Bembuig
empfahl ihn dem Freiherm v. Erstenberg mit den ehrenden Worten :
„Da er mir schon von 1807 an als sehr aufrichtig bekannt ist*'; und
dieser schrieb am 8. Oktober: „Ebenso finde ich auch an dem Herrn
Hofmarschall Baron v. Steraegg einen sehr gewandten, tätigen, ein-
sichtsvollen und dem Interesse des Herzogl. Hauses völlig ergebenen
Mann."
Der Erbprinz Leopold Friedrich gelangte am 30. September
nach der Kaiserstadt. Der Herr v. Wolf&amsdorfT berichtet darüber
seinem Herzog und Herrn: „Dafs Se. Durchl. heut nachmittags um
6 Uhr im besten Wohlsein allhier angekommen sind. Dieselben haben
sofort eine Ihnen von mir vorbehaltene kleine nicht zu teure Wohnung
bezogen, welche noch überdem das Angenehme hat, dafis sie sich
gerade jener des Erbprinzen und Prinzen Philipp von Hessen-Hombuig
gegenüber befindet." Diese Bemerkung ist dem Schreiber und Emp-
fanger des Briefes aus dem Grunde wichtig erschienen, weil des Erb-
prinzen Mutter, Christiane Amalie, eine Tochter Ludwig Wilhelm
Christians Landgrafen zu Hessen-Homburg war, hier also der Verkehr
mit den nächsten Verwandten stattfinden konnte. Wie man erwartet
hatte, fand der Erbprinz auch die freundlichste Aufnahme am Kaiser-
hofe, das schreibt nicht nur v. Erstenbeig dem Senior, sondern auch
V. Salmuth dem Herzog von Bemburg: „Se. Durchl. der Erbprinz von
Dessau geniefst eine ausgezeichnete Behandlung in Wien, besonders
vonseiten des Österreichischen Hofes.
Nach der gegebenen Darstellung dürfen wir von den anhaltischen
Missionen eine ziemlich wertvolle Berichterstattung erwarten, denn dem
Erbprinzen wie dem Freiherm v. Erstenberg-Freyenthum waren die
Zugänge zur Kenntnis intimerer Vorgänge gewilis eröfihet, aber trotz-
dem entsprechen die Berichte den Erwartungen nicht Die Gründe
dafür liegen einerseits in der Unsicherheit der Postbeforderung, der
Freiherr v. Erstenberg klagt deshalb, und meint sie würden vom Diener
unterschlagen wegen des Portos; nur die er selbst zur Post getragen
habe, seien bisher richtig angekommen; anderseits wurde der Sicher-
heit wegen jede wichtige Tatsache für mündlichen Bericht zurück-
gestellt, wie das unterm 19. Oktober Herr v. Erstenberg ausdrüddich
— 255 —
bestätigt: „Prämissen . . ., die ich aber nicht schriftlich numerieren
kann und weshalben ich mich auf die dereinstigen mündlichen
Berichte der Freiherren v. Sternegg und v. Wolfframsdorff beziehe."
Hierzu kommt ferner die besondere Schwierigkeit, welche die Akkredi-
tierung der Gesandtschaft bei den Monarchen machte. Es erforderte
die strenge Etikette, „dafs keiner von der Dienerschaft eines Fürsten
an die Monarchen unmittelbar abgeordnet werden könne, der zugleich
an die Minister akkreditiert worden ; ein anderes sei es, wenn jemand
mit einer ganz bestimmten Sendung blofe an die Monarchen abgeschickt
werde, aber es sei nicht bekannt, dafe irgendeiner der sich hier be-
findenden vielen Deputierten der deutschen Fürstenhäuser unmittelbar
an die Monarchen gerichtete Schreiben mitgebracht und überreicht
haben**. Nachdem die Herzogl. Sächsischen Deputierten mit Kreditiv
beim Kaiser von Österreich versehen waren, suchte auch v. WoliTrams-
dorfT am i. Oktober eine Audienz beim Kaiser nach und wurde schon
am folgenden Tage empfangen; aber auf die allgemeine Lage der
Gesandtschaft hatte das natürlich keinen Einflufs, sie blieb nur an die
Minister akkreditiert, und über deren Besprechungen berichtet v. Ersten-
berg am 8. Oktober: „Die Besprechungen der vier Hauptminister
haben bereits begonnen, allein es transpiriert nicht das Ge-
ringste.** Damit ist aber sehr drastisch auch seine eigene Unkenntnis
der wichtigsten Vorgänge hinlänglich bekundet.
Wir können uns demnach keinen Augenblick der Hoffnung hin-
geben, dais die in den Akten enthaltenen Berichte in Summa irgend
etwas mehr bieten als Nachrichten aus zweiter und dritter Hand, wie
sie sich zumeist auch in ehrlicher Weise durch ein „man s^** oder
„es heifst** dokumentieren.
Wichtig aber sind sie vielleicht durch die Aufschlüsse, die sie
über die Versammlungen der fürstlichen Deputierten geben, z. B. über
die Versammlung beim Minister v. Gagem, über die Parteien unter
den fürstlichen Deputierten, über die Versuche Zulassung zum Kon-
grefs zu erhalten, über die Note der Deputierten an v. Mettemich und
V. Hardenberg mit interessanten Nachrichten über die Redaktion dieser
Note, namentlich w^en der Rechte der Landstände, über die Stellung
der fürstlichen Deputierten im Januar 1815 und die Versammlung bei
V. Marschall. Aber auch sonst ist vielleicht diese oder jene Nachricht
von Interesse, wie z. B. die über Aufnahme des Prinzen Eugen Beau-
bamais beim Fürsten Mettemich.
Um nach dieser Seite hin den vorhandenen StoF ^
einigermafsen zu charakterisieren, will ich dasjenige, wel
— 256 —
Durchlesen wichtig erschien, kurz andeuten, wenn manches davon auch
bereits hinlänglich bekannt ist.
Die Pracht, welche der Kaiserhof entwickelt, übertrifft alles bisher
Gesehene. Alle Monarchen, darunter auch die Könige von Dänemark,
Württemberg und Bayern, wohnen in der Hofburg, werden von Sr.
Majestät dem Kaiser von Österreich bewirtet, daher denn auch der
Aufwand ungeheuer ist, so da(s das Küchenamt allein für 8 Tage
einen Vorschuüs von 300000 Gld. verlangt hat (28. Sept.). Im Zu-
sammenhang damit steht die Verteuerung der Lebensbedürfnisse. „Die
Teuerung ist hier aufiserordentlich groüs, so dafis die gerii^ere Klasse
der Einwohner sehr wünscht, der Kongreüs möge bald zu Elnde sein.
Ein mäfsiges Quartier monatlich 100 Dukaten, ein Mietswagen, die
nicht mehr zu haben sind, bis 200 Gld. und so verhältnismäisig alles"
(30. Sept.). Einen Einblick in die Steigerung der Preise vermag das
ganz detaillierte Ausgabeverzeichnis des Herrn v. WoU&amsdorff zu
geben, das sich bei den Akten befindet Überraschend ist darin auch
die Höhe des Eintrittsgeldes zu den festlichen Veranstaltungen, meist
10 Gulden.
Der Zuflufs von Fremden wie Teilnehmern am Kongrefs war natür-
lich ein ganz ungeheurer. Schon im Juli hatte Fürst Wrede Quartier
bestellt. Am 31. August bestand das Gerücht, dafs auch der Papst
kommen werde. Eine Liste der am 21. September in Wien anwesen-
den Fürsten und Diplomaten, sowie der zum Ehrendienst komman-
dierten Personen liegt den Akten bei.
„Die innige Übereinstimmung, welche unter den hier in der Kaiser-
burg vereinigten Monarchen herrscht, wird auf die künftige Ruhe
Europas den wohltätigsten Einflufs äufsem (28. Sept).** „Nach dem
Äusseren zu schlielsen, sind die beiden Kaiser sehr einig. Der König
von Bayern hat beinahe immer jemanden der russischen Familie an
seiner Tafel." Der König von Preufsen bewährt viele Kondeszendens
gegen unsern Kaiser*' (8. Okt.).
„Der Kongrefs ist noch nicht einmal formUch konstituiert, in-
dem immer vorläufige Besprechungen einzelner Minister stattgefunden
haben" (28. Sept). „Man behauptet, der Kongrefs werde nun eist
am 16. Oktober eröffnet werden, da noch zu wenig vorgearbeitet sei"
(30. Sept.). „Der Kongrefis ist bis zum i. November angeschoben,
die hohen Fremden werden vermutlich noch bis tief in den Monat
November hier verweilen" (15. Okt.).
„Herr Graf Stadion, welcher auf dem Kongresse zu Chatülon
nebst dem Herrn Fürsten v. Mettenuch sich befand, wurde von den
— 257 —
diplomatischen Geschäften entfernt und zum Finanzminister ernannt.
Staatsrat v. Hudelist, Kanzleidirektor in der Staatskanzlei und erste
Person nach dem Minister, soll Chef der italienischen Kanzlei werden ;
ihn soll Herr Hofrat Mercy ersetzen, welcher erst kürzlich aus dem
Departement der Finanzen in die Staatskanzlei versetzt wurde" (21. Sept.).
„Graf Stadion wird nun auch wieder bei dem diplomatischen Fache
gebraucht" (23. Nov.).
„Fürst Hardenberg sieht es nicht gerne, wenn man sich an
Baron (v.) Stein wendet" (8. Okt.). In gleichem Sinne berichtet
V. Stemegg, „ dafs Herr v. Stein gänzlich en d^cadence ist, wer diesem
nur die Visite macht, hat es bei dem Fürsten v. Hardenberg ver-
dorben" (10. Okt). In Rücksicht darauf erscheint es dem Herrn
v. Erstenberg zur Austragung eines Streites des Bemburger Herzogs
und Nassaus wegen der Schaumburger Herrschaft wichtig, die Ver-
handlung mit dem Nassauischen Minister anzuknüpfen; „dieser Weg
würde kürzer als der Steinsche sein und die unter dermaligen Ver-
hältnissen nicht rätliche Zusammenkunft mit Baron Stein ganz unent-
behrlich machen" (15. Okt).
Die Vollmachten der Gesandten, sowie die Denkschriften, „alles
mufs in französischer Sprache abgefafst werden, weil die russi-
schen und englischen Herren Minister auf die deutsche Sprache sich
nicht verstehen". In den Vollmachten wünscht femer der Herzog von
Bemburg den Titel „sou veraine Herzöge" wegelassen zu sehen, „da
mir bekannt geworden, dafe die Minister der alliierten Mächte diese
Rückerinnerung an den Rheinbund miüsbiUigten, auch der Herzog
von Weimar und die meisten anderen deutschen Fürsten diesen fran-
zöschen Titel pure aufgegeben hätten".
„Man glaubt, dafis über die deutschen Angelegenheiten
in Paris die Grundzüge entworfen." „Über die Art des Kon-
gresses ist noch immer nichts ausgemacht, nach aller Wahrschein-
Uchkeit aber werden Österreich, Rufsland, England und Preuisen als
die hohen Allüerten eine einzige moralische Person bilden, welche
die Reklamationen jeder Art annehmen und entscheiden wird. Aus
diesem Grunde wird, weil Osterreich nur eine Stimme hat, es von
äufeerster Wichtigkeit sein, dafs Ew. Herzogl. DurchL auch Ruüsland
und Preuisen und England zu günstiger Gesinnung geneigt zu machen
sich beeilen. Man glaubt nicht, dals der Kongrefs über 4 — 5 Wochen
dauern wird. Nach dessen Schlufis soll noch ein Kongrefs der
deutschen Souvräns gehalten werden" (31. Aug.). „Für die
Deutschen scheint Osterreich die Hauptperson zu sein und sei'
19
— 268 —
Votum dürfte wohl überwiegend werden. Der englische Gesandte
nimmt die deutschen Sollicitanten nicht an, der preufsische ver-
weist sie an Österreich und selbst der russische gibt nur schwaches
Gehör** (8. Okt.).
„Für die deutschen Angelegenheiten ist eine Kommis-
sion niedei^esetzt , bestehend aus Hofrat v. Rademacher aus der
Staatskanzlei, Baron v. Frank, ehemaliger Reichsreferendar, und Baron
Spiegel. Bei derselben müssen alle Deutschland betreffenden Rekla-
mationen angebracht werden und diese gibt sie mit den nötigen Gut-
achten an die vier Minister, welche den Kongrefs ausmachen und
eigentlich entscheiden** (21. Sept.).
„Die Besprechungen der vier Hauptminister haben be-
reits angefangen, allein es transpiriert nicht das Geringste, doch will
man als ausgemacht halten, da(s Deutschland wieder einen Kaiser
bekommen werde** (8. Okt.). Die Schrift Deutschlands Wiedergeburt
von Schmidt-Phiseldeck erfährt durch Brenner eine Beurteilung,
die bei den Akten ist.
„Wie der Freiherr v. Erstenberg . . von dem Fürsten Mettemich
selbst gehört hat, sollen die Bestimmungen über die künftigen Militär-
verhältnisse in Deutschland so eingerichtet sein, dafe sie der
Landeshoheit der einzelnen Durchlauchtigsten Fürsten nicht wider-
sprechen.** Diese Äufserung Mettemichs war in Rücksicht auf eine
speziell anhaltische Angelegenheit und Anfrage erfolgt, die wieder in
der Rivalität der Bemburger mit dem Dessauer Hofe b^^ndet liegt
Die militärischen Angelegenheiten Anhalts waren immer unter dem
Gesichtspunkte der Landesverteidigung, die Inspektion der Truppen
demnach als Pflicht und Recht des Seniors angesehen worden. In den
Zeiten des Rheinbundes, da der Kaiser Napoleon wenig Wert auf über-
kommene Formen legte, wurde kurzer Hand betreffs des Anhalttschen
Kontingents bestimmt: „Les ducs d'Anhalt- Dessau auront la direc-
tion et l'inspection de ce contingent, lequel sera foumi immediatement
pour la präsente guerre**, mithin war das Kommando über die anhal-
tischen Truppen, auch über das im Kontingent vorhandene Bataillon
Anhalt-Bembui^, dem Dessauer Herzog zugesprochen. Diesem Zu-
stande nicht Dauer zu verleihen, nachdem der Rheinbund selbst zu
Ende gegangen war, femer auch die Gewilsheit, dais nach Ableben
des dermaligen Seniors das Seniorat an ihn übergehen mnlste, dies
beides bestimmte Alexius Friedrich Christian, auf eine Änderung der
Rheinbundsbestimmungen hinzuarbeiten und darüber die Ansicht der
leitenden Persönlichkeit zu erkunden.
— 269 —
„Ob Österreich in Deutschland künftig ausBchlieCslich der erste
sein, oder ob Freu fsen sich in diese Superiorität teilen wird, darüber
sind die Meinungen noch nicht vereiniget" (21. Aug.). „Über die
Verhandlungen wegen der künftigen Verfassung Deutschlands
berichtet etwas ausfuhrUcher und zusammenfassend der Referendar
V. Salmuth, wir teilen auch die betreffende Stelle ausführlich mit, um
den Wert auch dieser Quelle dem Urteile näher zu rücken.
„„Nachdem man zuerst auf den Gedanken gekommen, in Oester-
reich einen deutschen Kaiser anzunehmen, hat dieses erklärt, es wolle
die deutsche Kaiserwürde annehmen, aber verlange auch die
executive Macht des deutschen Landes zu seiner Disposition.
Darin hat Preufsen nicht einwilligen wollen, und der Fürst Harden-
berg vorgeschlagen, man wolle 2 Oberhäupter von Deutschland
in Oesterreich und Preufsen machen. Oesterreich hat darauf gesagt,
es würde dabey gegen Preufeen verUeren, denn alsdann würde es unter
seine Direction Bayern, Würtemberg und Baden erhalten, diese würden
aber wenig geneigt seyn, ihm Folge zu leisten, da gegen würde Preufeen
mit minder mächtigen Ländern in Verbindung treten, welche es leichter
für sein Interesse gewinnen könne. Darauf ist von Bayern und Wür-
temberg in Vorschlag gebracht, 5 Oberhäupter in Deutschland an-
zunehmen, welche Oesterreich, Preufeen, Bayern, Würtemberg und
Hannover seyn sollten. Auf diesen Vorschlag ist man eingegangen,
und Hannover hat die Königswürde angenommen. Aus den Verhand-
lungen der Minister dieser 5 Mächte sind die Sr. Herzoglichen Durch-
laucht bekannten 12 Artikel hervorgegangen. Am 14^ oder 15^ v. M.
haben diese Minister sich gänzlich unter einander veruneinigt, so dafs
die Conferenzen bis zum 17' ausgesetzt gewesen sind, wo der Fürst
Mettemich sie wieder bey sich versammelt und so weit die Einigkeit
unter jene hergestellt hat, dafe die Verhandlungen m der Nacht auf
den 17^ wieder ihren Anfang genommen haben. Rufeland hat wegen
der deutschen Verfassung eine Note übergeben, worin es der Ein-
theilung von Deutschland in Greise widerspricht, und die Un-
abhängigkeit aller deutschen Staaten will, sonst aber dem voto von
Oesterreich und Preufsen beytritt. Man glaubt, dafs die von den De-
putirten der deutschen Fürsten zuletzt übergebene Note einen guten
Eingang gefunden hat (Nov. 1814), und hofft davon ein glückliches
Resultat.""
„Die hier befindlichen Deputirten der niederen und mittlerep
Committenten sind beinahe durchgängfig der Meinung, dafe sie de
Zweck ihrer Sendungen nicht erreichen werden, indem die vier
19*
— 260 —
mächte nach ihrem eigenen Gefallen und ohne alle äufeere Rücksicht
über alles verfugen würden. * Auch kann sich noch kein einziger einer
bestimmten Zusicherung rühmen" (8. Okt.). „Di^ Deputirten der
deutschen Herzoge und Fürsten sind nicht gesonnen auf Entschä-
digungen oder sonstiger Ansprüche wegen Anträge zu machen, sie
begnügen sich das Entstehen, Wachsen und Gedeihen der künftigen
deutschen Verfassung teils stUl, teils von ferne mitredend zu be-
obachten" (v. Erstenberg, Ber. v. 15. Okt).
Über das allmähliche Eingreifen Frankreichs in die Diplo*
matie schreibt v. Erstenberg unterm 23. November: „Man bemerkt
seit einigen Tagen, dafs FüiBt Mettemich öffentlich mit Talleyrand
viel und mit auffallender Vertraulichkeit spricht." Aus jener Zeit
stammt die allgemeine SchUderung, die v. Salmuth von dem Kon-
gresse entwirft:
„Der Lord Castelreagh nennt den Wiener Congrefe einen Con-
gr^s dansant Jedoch scheint es, als wenn nicht die Feste und Ver-
gnügungen die endlichen Beschlüsse und Bestimmungen verhinderten ;
sondern man scheint bey den Verhandlungen zu keinem bestimmten
Resultate zu kommen, weil man über Hauptpunkte sich noch nicht
hat einigen können. Diese Puncte sollen besonders Polen und
Sachsen seyn. Rulsland und Preu&en sollen zwar über diese bey den
Gegenstände gleiche Meinung haben, indem das letztere seine An-
sprüche an Polen aufgeben, und dafür Sachsen erhalten solle; aber
die andern grofsen Mächte wollen in die Vernichtung Sachsens nicht
willigen; besonders setzt sich Frankreich dagegen und hat sich erst
neuerlich sehr bestimmt durch den in Wien angelangten Gesandten
Nailles, der dieserhalb Sr. M. dem Kaiser von Rufsland ein eigen-
händiges Schreiben Sr. M. des Königs von Frankreich übergeben
haben soll, darüber erklärt. Woluntemchtete Männer wollen behaupten,
dafs nur die Gegenwart und persönliche Freundschaft der Monarchen
einen Bruch unter den Mächten verhindern kann. Die Räumung
Sachsens durch die Russen soll auf Französischen Antrag veranlafst
worden sein, indem Ru&land nach den Tractaten und Frieden von
Paris schon früher seine Truppen hätte aus Deutschland ziehen sollen.
Diesem gemäs wird auch der General Bennigsen mit seinem G>rps
Hamburg und die umliegende Gegend verlassen.'*
Über die schroffe Behandlung Sachsens wird auf Grund von
Nachrichten aus Frankfurt, deren Quelle Herr v. Stein ist, berichtet:
„unter der Hand wird als Ursache genannt die den Franzosen ge-
machte Entdeckung des Operationsplanes der Allüerten, von welchem
— 261 —
der König bei seiner Anschliefsung an Osterreich Kenntnis bekommen''
(Juli 1814). Spätere Nachrichten über das Schicksal Sachsens ent-
halten folgendes: „Man sagt, der König von Sachsen werde Warschau
erhalten, Altsachsen aber unter Weimar und die andern Nachbarn
geteilt werden" (21. Aug.). Anfang Oktober kommt über Leipzig
nach Dessau die Nachricht, dais Ruisland von Sachsen 2 Millionen
fordere, davon soll Leipzig 500000 Taler zahlen. „Hieraus will man
schliefsen, da(s der König von Sachsen in sein Reich wieder ein-
gesetztwerden würde." Die Schrift „Über die Vereinigung Sachsens
mit Preuisen von einem patriotischen PreuCsen" soll auf Requisition
des Militärgouvemements in Halberstadt in Bemburg konfisziert werden ;
„die Schrift ist hier bis jetzt nicht bekannt, wird aber nunmehr wohl
ein Gegenstand der Neugierde werden". Aus Wien berichtet v. Ersten-
berg d. d. 23. November: „Vonseiten Sachsens zirkuliert eine sehr
gut gefalste Protestation gegen die provisorische Besitznahme. Man
sagt, der Königlich sächsische vormalige Gesandte werde nächstens
wieder als solcher erscheinen." Anhalt wollte die provisorische Be^
Setzung Sachsens durch Preufeen benutzen, um den Kanon für Walter-
Nienburg los zu werden und für die kursächsischen Dörfer in Anhalt
(die Enklaven Schierau, Priorau und Most) die Landeshoheit zu erwerben.
Über die Art und Weise, wie die Besetzung Sachsens von Bemburg
und Dessau aufgenommen wurde, geben die Akten einige interessante
Aufschlüsse, femer über Englands Stellung zur Frage, die öster-
reichische und preußische Partei, die Stellung der ftirstlichen Depu-
tierten, das Teilungsprojekt, den Eindruck der Schrift „Preufeen und
Sachsen", die Stellung Preufeens zu Anfang des Jahres 18 15 und die
Frankreichs und Englands.
Möchte diese kurze Charakteristik des in Zerbst vorhandenen
Materials dem Forscher wenigstens den Vorteil bringen, dafe er er-
kennt, nach welcher Richtung hin ihm und seiner Forschung von hier
aus ein Dienst geleistet werden kann. ^)
i) Von ^ofsem Werte würde es sein, wenn recht bald alle deutschen Staats-
archive eine Übersicht über ihre den Wiener Kongrefs betreffenden Bestände veröffent-
lichen würden! Die Redaktion.
— 262 —
Mitteilungen
Arehiye. — Über den Wert der Archivinventare für die Geschichts-
forschung ist heute kein Wort mehr zu verlieren; ihre Drucklegung in
einer geeigneten Gestalt macht allmählich gute Fortschritte » imd jedes neue
Werk wird dankbar entgegengenommen. Neuerdings liegt in einem statttichen
Lexikonoktavband das Beperiorium des Staatsarchivs zu Basel (Basel, Verlag
von Helbing & Lichtenhsdm 1905, LXVIII und 83a S.) vor, welches die
gesamten Bestände aufführt und ein sogenanntes „Übersichtsinventar^
darstellt. Das Werk entspricht seiner Anlage nach durchaus den von der
KgL Preufsischen Archiwerwaltung herausgegebenen Beschreibungen der in
den einzelnen Staatsarchiven ruhenden Bestände, wie eine solche zuletzt in
diesen Blättern (oben S. 132 — 133) angezeigt wurde.
Die Einleitimg beschäftigt sich zunächst mit der höchst lehrreichen
Geschichte des Staatsarchivs, welches sich seit 1487 einer guten Ordnung
erfreut; das damals von Hans Gerster, dem Stadtschreibersubstituten,
angefertigte zweibändige Inventar hat bis 1897 dem Archivgebrauche gedient.
Die Behandlung, die das Archiv seitdem durch die Stadtobrigkeit er&hren
hat , ist geradezu typisch für Stadtarchive , tmd entsprechende eingehende
Schilderungen der Zustände in anderen Städten werden, wenn sie erst b
gröfserer Zahl vorliegen, das Material liefern für die als Wissenschaft nocfa
auszubauende Archivgeschichte. — Die Beschreibung des heutigen Zu-
standes ist archivtechnisch von Interesse wegen der Auffassung des Provenienz-
prinzips, die hier Anwendimg gefunden hat ; sie ist ausgedrückt in dem Satze
(S. XLIII) : „ Das Archiv soll die Geschichte des Landes wiederspiegeln,
nicht die Geschichte der Landesverwalttmg; es soll ein Archiv sein, nicht
ein Nebeneinander alter Registraturen.'^ Das ist in gewissem
Grade ein Gegensatz zu der in den preufsischen Staatsarchiven zur Geltung
gelangten Auffassung des Provenienzprinzips, von dem Bai Heu auf dem
Düsseldorfer Archivtage (1902) sagte: „Nur die Ordnimg nach dem Provenienz-
system, die Ordnung nach den Registraturen, nach den Behörden,
wie sie im Laufe der Geschichte entstanden, gewachsen tmd untergegangen
sind, entsprach in gleichem Mafse unserem historischen Denken und unseren
archivalischen Erfahrungen *)." Der Widerspruch findet seine Löstmg in
der Verschiedenheit der Verhältnisse: was für territoriale Archive gut
und zweckmäfsig ist, braucht es nicht für städtische Archive zu sein, und der
Stadtstaat Basel wird sein Archiv deswegen sehr wohl anders behandeln dürfen
ab der Gesamtstaat Preufsen die seinigen. Wackemageb in Basel angewandtes
Prinzip hat auch der Unterzeichnete bei städtischen Archiven ab durchaus
zweckmäfsig erkannt; der Behördenorganisation kann da nicht in dem Maise,
wie es bei Territorialstaaten der Fall ist, Rechnimg getragen werden.
In der Einleitung sind noch beschrieben die Hilfssammltmgen, nämlich :
Handbibliothek, Drucksachensanmoltmg, Siegebanmilung, Stempelsanmilung,
Wappensammltmg , Bildersanunlimg , Plattensanmüung (photographische) imd
i) VgL Proiokotle des Dritten Deutschen Arehiciags (Sondertbdruck tos dem
Korrespondeozblatt des Gesamtvereins 1902), S. 55.
— 263 —
Historisches Grundbuch. Femer ist das neue Archivgebäude beschrieben;
3 Pläne und 8 Abbildungen veranschaulichen Äufseres und Einteilung.
Der Orientierung über den Inhalt des Archivs dienen 3 Hilfsmittel:
I. das Repertorium, das hier gedruckt vorliegt und bis auf die letzten
Unterabteilungen herabführt, aber keine materiellen Einzelheiten enthält, sondern
nur über die Organisation des Ganzen belehrt, 2. Regesten und 3. ein
alphabetisches Register über Namen und Materien; dieses
letztere muis, nachdem die neue Organisation durchgeführt ist, neu bearbeitet
werden. Der Gesamtbestand an Archivalien gliedert sich in das Haupt-
archiv (mit 124 Sektionen, 1244 Hauptabteilungen und 9787 Unterabtei-
lungen) d. h. das eigentliche Staatsarchiv, und 85 Nebenarchive, d. h.
selbständige Archive, die nur als solche dem Staatsarchiv einverleibt sind,
besonders Archive der Klöster, Stiftungen, Gemeinden, Zünfte, Universi-
tät usw.
Das im Druck vorliegende Repertorinm enthält die Überschriften der
letzten Unterabteilungen und vor allem genaue 2^itangaben, die vielfach bis
in neueste Zeit herabreichen; ein ausführliches Register (S. 607 — 832) er-
leichtert das Aufsuchen der Materien. Der Inhalt des Archivs und mithin
der des Repertoriums ist über alle Erwartung reichhaltig, und deshalb sollte
das Buch in der Handbibliothek gröfserer Archive nicht fehlen. An be-
lehrenden Einzelheiten seien folgende zur Charakteristik herausgegriffen. Es
gab in Basel tint Fabrikkommission, deren Protokolle 1748 — 181 1 vorliegen
(^* 34); diejenigen des Sanitätskollegiums beginnen 17 18 (S. 39). Die
Konzepte der abgegangenen Briefe des Rats (Misswen) beginnen 1409 und
füllen bis 1500 21 Bände; bis 1796 sind es 254. Die Nürnberger Brief-
bücher beginnen 1404, also iscsX gleichzeitig, und man wird deshalb einen
inneren Zusammenhang mit der Verwaltung vermuten dürfen, die eben in
gröfseren Städten seit etwa 1400 ein solches Verfahren notwendig machte.
Wichtig werden auch die Beziehungen zu fremden Fürsten, Grafen, Städten
und Dörfern für manchen Interessenten sein, die S. 96 — 109 in 3 alpha-
betischen Folgen aufgeführt sind: die Akten über Beziehimgen zu Anhalt
beginnen 1638, die zu Kur-Sachsen 1540, die zur Türkei 1677; bei den
Städten in gröfserer Entfernung ist es auffällig, wie spät Schriftenwechsel
auftritt, z. B. mit Köln erst 1516, mit Frankfurt a. M. 1550, mit Leipzig
171 1, mit Danzig 1770. Reich sind die Bestände über die deutschen Reichs-
tage bzw. Reichsabschiede seit 1383 (S. 123). Unter den Pfälzer Akten (S. 136)
sind z. B. auch solche über den Wildfangstreit 1666 — 1667. Die Rechnungen
über die Straisenbeleuchtung beginnen 1828 (S. 203), die Akten über die
Wasserversorgung 1545 (S. 210), die über Eisenbahnen 1838 (S. 235). Die
Stadtjahresrechnungen beginnen 1362 (S. 277), Wocheneinnahme- und Aus-
gabebücher 137 1. Verzeichnisse der im Privatbesitz befindlichen Vorräte
an Frucht sind seit 1444 vorhanden (S. 293). Sehr reichhaltig sind die
Akten über das Kontinentalsystem (S. 313 — 315) und vertriebene Glaubens-
genossen, meist aus Frankreich und Piemont 1603 — 1729 (S. 358). Die
ältesten Steuerlisten entstammen den Jahren 1377, 1378, 1429, 1446 usw.
(S. 414), Verzeichmsse der Hausbesitzer in der StHifeJitten seit 1590 vor
(S. 449), die erste Einwohnerzählung aber fand Die Urteils-
bücher des Schultheifsengerichts beginnen 1394
— 264 —
Dies seien einige Proben der im Repertorium enthaltenen Angaben.
Wenn dieses den Nutzen stiften soll, den es stiften kann, dann ist nur er-
forderlich, dais es recht fleifsig und zwar allerorts benutzt wird, und das
wollen wir ihm wünschen. A. T.
Eingegangene Bficher.
Adler, Georg: Über die Epochen der deutschen Handwerkerpolitik. Jena,
Gustav Fischer, 1903. 106 S. 8^
Baldauf, R. : Historie und Kritik, einige kritische Bemerkungen. I. Der
Mönch von St. Gallen. Leipzig, Dyk, 1903. 168 S. 8^.
Bieder, H.: Zur Geschichte des Volksschulwesens der Provinz Brandenburg,
insbesondere der Stadt Frankftirt a. O. [=» Mitteilungen des Historischen
Vereins fUr Heimatkunde zu Frankfurt a. O. , 22. Heft (1904),
S. 3—18].
Bloch, Iwan: Das erste Auftreten der Syphilis (Lustseuche) in der euro-
päischen Kulturwelt Gewürdigt in seiner weltgeschichdichen Bedeutung,
dargestellt nach Anfang, Verlauf und voraussichtlichem Ende. Vortrag,
gehalten in der Staatswissenschaftlichen Vereinigung zu Berlin am 12.
November 1903. Jena, Gustav Fischer, 1904. 35 S. 8^. M. 0,60.
Bredt, W. : Das Glockendonsche Missale der Nürnberger Stadd>ibIiothek
ein künstlerisches Kopialwerk [=> Mitteilungen des Vereins für Geschichte
der Stadt Nürnberg, 16. Heft (Nürnberg, J. L. Schräg, 1904),
S* 179 — 192].
Bruiningk, Hermann von: Messe und kanonisches Stundengebet nach
dem Brauche der Rigaschen Kirche im spSteren Mittelalter. Erstes
Heft [«= Mitteilungen aus der livländischen Geschichte^ 19. Bd. Riga,
Nicolai Kymmel, 1903]. 292 S. 8^.
Dändliker, K.: Schweizerische Geschichte [=» Sammlung Göschen Nr. i88j.
Leipzig, G. J. Göschen, 1904. 180 S. 8®.
Erben, Wilhehn: Zur Geschichte des österreichischen Kriegswesens iai
XV. Jahrhundert [=» Sonderabdruck aus den Müteüungen des k. tmd k,
Heeresmuseums im Artiüenearsenalin Wien, 2. Heft, 1903]. 29 S. 8*.
Fölckersahm, A. E. von: Über livländische Kirchenglocken des XV.
Jahrhunderts in Rufsland und über daselbst bis 1700 lebende deutsche
Metallarbeiter und Künstler [= Sitzungsberichte der Gesellschaft für
Geschichte und Altertumskunde der Ostseeprovinzen Rufslands aus dem
Jahre 1903 (Riga 1904), S. 59 — 64].
Lechner, Johann: Reichshofgericht und königliches Kammergericht im
XV. Jahrhundert [ss Mitteilungen des Instituts ftir österreichische Ge-
schichtsforschung. Vn. Ergänzungsband. (Iimsbruck, Wagner, 1904),
S. 44—186].
Siebert, Hermann: Altes und Neues über Burg und Dorf Anhalt [&=> Mit-
teilungen des Vereins ftir Anhaltische Geschichte und Alteitustfkunde,
10. Bd. (Dessau, Düanhaupt, 1904)» S. 28 — 45].
Wichmann, Friedrich: Untersuchungen z\ir älteren Geschichte des Bistums
Verden [==> Sonderabzug aus der Zeitschrift des Historbchen Vereins
ftir Niedersachsen]. Hannover, Gebr. Jänecke, 1904. 139 S. 8^
- ! ■ I
Heratuceber Dr. Armin Ulle in Leipsig.
Druck und Verlaf Ton FViedrich AndrMii Perthtt, Aktiengesellschaft, Gotha.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
rar
Förderang der landesgeschichtUchen Forschung
VI. Band JuU 1905 10. Heft
Die lateinisehe Iiiteratur des Mittelalters
Von
Max Maniüus (Radebeul bei Dresden)
Wenn ich es in den folgenden Zeilen unternehme , einiges über
die lateinische Literatur des Mittelalters zusammenzustellen, so tue
ich das hauptsächlich zu näherer Orientierung über den Begriff" dieser
Literatur für die weiteren Kreise, welche an dieser Zeitschrift Interesse
nehmen.
Unter dem Mittelalter verstehen wir Abendländer diejenige Zeit,
in welcher das Christentum von Südeuropa langsam nach dem Norden
und Osten unseres Erdteils vordrang und sich die germanische wie
slawische Welt unterjochte. Im Gefolge der christlichen Kirche aber
hielt den gleichen siegreichen Einzug die lateinische Sprache, welche
durch die Werke der Kirchenväter und durch die lateinische Bibel-
übersetzung untrennbar mit der Kirche verbunden war. An den
Grenzen Rufslands und an denen der griechischen Welt mufete sie
freilich Halt machen, denn die Rezeption des Christentums in Rufisland
hing mit griechischen und südslawischen Elementen zusammen, und
in der griechischen Hälfte des römischen Reiches wich seit der schärferen
Trennung des Gesamtreiches durch Theodosius den Grofsen der Ge-
brauch des Latein immer mehr zurück, indem die griechische Welt
gegen die seit Jahrhunderten eingedrungene Fremdsprache heftig
reagierte und sie schliefslich verdrängte.
Aber für das Abendland wurde infolge des internationalen
Charakters des Christentums das Latein zur allgemeinen, zur Welt-
sprache. FreUich nicht das Latein, welches als die klassische Schrift-
sprache der Römer gilt, denn diese ist ohnehin wohl nie wirklich ge-
sprochen worden. Die Kirche hatte sich längst ihre eigene Sprache
gebildet. Das Christentum als solches verlangte ja in frühen Zeiten
nicht nach äufsercr Eleganz, sondern ist der weltlichen Verfeinerung
eher entgegengetreten, und daher begnügte sich die Kirche mit der
kunstlosen Sprache des Volkes, die vielfältig gegen die Lehren der
20
— 266 —
Grammatik verstiefs und von der glänzenden Stilistik klassischer
Schriftsteller nichts kannte. So verraten die Werke der frühen latei-
nischen Kirchenväter stets deren Heimat durch die Färbung der Sprache,
und die Bibelübersetzung des Hieronymus, ein sprachgewaltiges Werk,
läfst in ihrer Hinneigung zu Provinzialismen und besonders zum dichte-
rischen Ausdruck recht deutlich das volkstümUche Wesen des Bibei-
werkes hervortreten. Auf dieser Grundlage wurde weitergebaut, und
wenn man auch in der Schule Grammatik und Rhetorik nach allen
Regeln der Kunst erlernte, so hatte man doch schon im V. Jahrhundert
im allgemeinen eine so feststehende Sprache und Terminologie in
der christUch-lateinischen Welt, dafs nur noch ganz vereinzelt der
Versuch gemacht wird, sich dem klassischen Ausdruck zu nähern.
Nur die Dichtung macht hier wohl für längere Zeit eine Ausnahme,
da poetische Sprache, Metrik und Prosodie ein festeres Gefüge büdeten,
das nicht so leicht umgestofsen wurde.
Aufserdem kommt hierzu die Überflutung des Reiches durch die
germanischen Völkerstämme. Indem sie eine Provinz nach der anderen
und schliefslich Italien selbst besetzten und eroberten, hinterliefsen sie
der römischen Sprache für immer eine Menge Barbarismen in Wortschatz
und Grammatik und beschleunigten dadurch den Auflösungsprozeß, der
das Latein aber auch ohne ihr Dazwischentreten betroffen hätte. Mit der
Begründung des germanischen Volksstaats auf ehemals römischem Boden
aber sinkt der allgemeine Bildungsgrad und mit ihm die sprachliche Schu-
lung auf ein recht tiefes Niveau herab. So versichert Gregor von Tours,
der aus sehr vornehmer römischer Familie stammte, dais die gespreizte
Sprache eines Rhetors nur noch von wenigen verstanden werde, da-
gegen die Rede eines Landmanns allen verständlich sei. Und trotzdem
Gregor der höheren Bildung seiner Zeit teilhaftig geworden ist, so
gesteht er doch selbst, dafs er in der Grammatik wenig bewandert
sei. In seiner Sprache zeigt er recht deutlich, da(s man in Gallien
zu jener Zeit ungefähr in derselben Weise schrieb, wie man sprach,
d. h. ohne das Gefühl für die Bedeutung der Flexionsendungen, nament-
lich in der Deklination. Mit Gregor von Tours sind wir aber schon
ins eigentliche Mittelalter getreten, auf dessen Literatur wir nun einen
Blick zu werfen haben. Es sei jedoch noch vorausgeschickt, dafe
eine solche sprachliche Barbarei, wie sie im merowingfischen Zeitalter
überhandnahm, in den späteren Zeiten des Mittelalters nur provinziell
und sporadisch auftritt. Nachdem nämlich Karl der Grofse die Hebung-
der allgemeinen Bildung durch eine grofse Reihe von Gesetzen und
Verordnungen tatsächlich erreicht hatte, ist die grofse geistige An-
— 267 —
regung, die von ihm ausgegangen war, doch nie wieder ganz in Ver-
gessenheit geraten, sondern seit der karolingischen Zeit hebt sich der
Stand der Schulen merklich. Er sinkt freilich wieder zurück, aber noch
hatte die Kirche im X. und XL Jahrhundert die Kraft, die Wissen-
schaften von neuem zu pflegen und zu einer gewissen Blüte zu bringen.
Damit aber war die lebendige Tradition besserer grammatischer
Schulung gerettet, und die ältere lateinische Kirchensprache erhielt
sich in steter Anlehnung an die Bibel und an die Werke der Kirchen-
väter, bis im XIV. Jahrhundert der Beginn des italienischen Humanismus
das Studium des klassischen Altertums von neuem erweckte. Seitdem
war es das Bestreben der gebildeten ICreise, das Latein in möglichst
reiner, dem antiken Stil sich nähernder Form zu gebrauchen. Dies
Bestreben hielt während der ganzen Reformationszeit an, und noch
im XVII. Jahrhundert zeigen die Artikel des Westfälischen Friedens das
Latein als abendländische Weltsprache lebendig.
Diese einleitenden Bemerkungen mögen hinsichtlich der Sprache
genügen, in welcher die nun aufzuführende Literatur abgefafst ist.
Wir beginnen mit der Theologie, denn sie umfaCst in den früheren
Zeiten das literarische Schaffen überhaupt. Zur Belehrung der Geist-
lichkeit hatten die Kirchenväter ihre zum Teil ungemein weitschichtigen
Kommentare zu den biblischen Büchern geschrieben, um deren Ver-
ständnis zu erleichtern. Die SchafTensfreudigkeit , welche den Klerus
zur Zeit Karls des Grofsen beseelte, veranlafste einzelne Gelehrte,
aus diesen Kommentaren synoptische Auszüge herzustellen und die
gepriesenen Werke der Vorzeit ineinander zu arbeiten. Jahrhunderte-
lang haben sich diese Bestrebungen erhalten und nach und nach eine
ungeheure exegetische Literatur hervorgebracht, deren innerer Wert
oft keineswegs dem äufseren Umfange entspricht.
Mit noch gröfserer Verehrung hing das frühere Mittelalter an den
dogmatischen Werken der Kirchenväter, sie waren durch ihr hohes
Alter und durch die in ihnen offenbarte Gelehrsamkeit und christliche
Gesinnung geheiligt. Manches davon stand allerdings in weniger
grofsem Ansehen, aber diese ganze gewaltige Literatur wurde doch
später in einer Unzahl von Auszügen, Kommentaren und Zusätzen
sowie in Neubearbeitungen lebendig erhalten. Freilich tauchten, wie
einst im christlichen Altertum, auch später nicht wenig Sekten und
Häresien auf, und da war es nun die Aufgabe der zeitgenössischen
gelehrten Theologen, die Irrlehren und Neuerungen zu prüfen, Gutachten
darüber zu verfassen und sie in Streitschriften anzugreifen. Dadui'^liiMiirit-
sächlich hat die dogmatische Literatur stets neue Nahrung er!
5>r
— 268 —
dieser Zweig der mittelalterlichen Dogmatik ist es, der uns besonders tiefe
Einblicke in das religiöse wie theologische Leben der Zeit gestattet.
An Umfang noch gewaltiger, als die eben besprochenen Zweige
der christlichen Literatur, ist die Masse der Predigtsammlungen aus
dem Mittelalter. Auch hier knüpfte man an die Werke der Patristik
an, indem man die alten Homilien und Sermonen mehr oder weniger
zeitgemäfs umgestaltete, neue Beweisstellen aus der Bibel brachte,
wirklich gehaltene Predigten und Ansprachen aufschrieb und schliefe-
lieh ganze grofse Sammlungen anlegte. Hauptsächlich bedeutend sind
diejenigen Predigten, welche geist- und sprachgewandten Klerikern
beim Eintreten grofeer Ereignisse, wie von Kriegen und Kreuz-
zügen, oder zu Zeiten bedeutender Unglücksfalle gehalten >Ä'urden.
Predigtsammlungen wie diejenigen des Paulus Diaconus, des Bernhard
V. Clairvaux, des Anselm v. Canterbury, des David von Augsburg
und des Nikolaus von Lira erfreuten sich der gröfsten Beliebtheit.
Sehr vieles freilich aus dieser allmählich bis ins ungemessene an-
schwellenden Literatur ist noch ungedruckt. — Gleich hier sei wegen
des persönlichen Elementes der Brief angeschlossen. Seit den Zeiten
Ciceros wurden Briefsammlungen bedeutender Männer dem Mittelalter
überliefert. Die Briefe der Kirchenväter sind nicht nur wegen ihrer
Form, sondern auch wegen des mannigfachen, wichtigen Inhalts dem
folgenden Jahrtausend ununterbrochen ein Beispiel und Muster gewesen.
Natürlich legte man auch selbst Sammlungen an, und diese dienen
der Erhellung der Zeitgeschichte manchmal in sehr hohem üradc,
wenn auch viele Stücke einen ganz unpersönlichen Inhalt haben, in-
dem sie sich mit allerhand theologischen Fragen beschäftigen. Der
mittelalterliche Brief steht daher oft in der Mitte zwischen theologischer
und historischer Literatur, aber auch ein anscheinend recht unwichtiges
Dokument ist oft imstande, wichtige Aufschlüsse zu gewähren.
Einen weiteren Zweig der theologischen Literatur bilden die
Heiligenleben. Sie sind die früheste mittelalterliche Form des Romans
und nehmen hauptsächlich von dem Leben des hl. Martin, beschrieben
von Sulpicius Severus, ihren Ausgang. Die Wundersucht früherer
2^iten fand hierin ausgiebige Befriedigung, und der Hang zum Aber-
glauben, dem die Römer so stark ergeben waren, ist eine wesentliche
Ursache für die Entstehung dieser ganzen Ltteraturgattung gewesen,
die schon in der Merowingerzeit üppig ins Kraut schoüs. Es sind zwar
früh genug Stimmen gegen die Heiligenverehrung laut geworden,
aber sie wurden stets wieder mundtot gemacht. Der Mangel an Kritik,
der das frühere Mittelalter auszeichnete, die geistige Mundschaft, welche
— 269 —
die Kirche über die Massen ausübte, eine gewisse Ähnlichkeit der
alten heidnischen Vorstellungen mit dem Heiligenkult, — das sind
wichtige Ursachen für das Überhandnehmen des letzteren. Und damit
wuchs die Heiligenbiographie zu einem höchst bedeutenden Literatur-
zweig empor, denn ein jedes Kloster wollte das Leben seines Stamm-
heiligen in möglichst lesbarer Form und mit vielen Wundem aus-
geschmückt besitzen. So wurde der grofse Vorrat an Heiligenleben,
den die Vorzeit geschaffen hatte, im IX. Jahrhundert meist stilistisch
überarbeitet und konnte dann verschiedenen kirchlichen Zwecken
*
dienen. Mit der Ausbreitung der Kirche über das ganze Abendland
mehrte sich natürlich die Zahl der heUig gesprochenen Geistlichen
und Laien, von welchen Lebensbeschreibungen notwendig wurden,
und die ungeheure Zahl von Heiligenbiographien, die in den Ada
Sandorum der Bollandisten abgedruckt sind und werden, beweist, ein
wie beliebtes Gebiet der schriftlichen Darstellung der Heiligenroman
gewesen ist.
Die vielfach zur Dichtung neigenden und auch in Dichtform dar-
gestellten Heiligenleben fuhren uns ins Gebiet der lateinischen Poesie
des Mittelalters. Sie gehört allerdings nur zum Teil zur Theologie,
da das Lehrgedicht sich nach romischem Vorgang fast aller Wissen-
schaften bemächtigt hat und das Epos teils im Reiche der eigentlichen
Dichtung schwelgt, teils auch historische Stoffe behandelt Wie auf
anderen Gebieten hat sich das Mittelalter noch lange an den christ-
lichen Epen aus der Zeit der Kirchenväter begeistert und daher fürs
erste in der poetischen Paraphrase von biblischen Büchern wenig Neues
geschaffen. Dafür wurde seit dem Ende des XII. Jahrhunderts der Inhalt
der ganzen Bibel mehrfach in Verse umgesetzt, welche mehr oder minder
kräftig gereimt sind. Dagegen war die Dichtung über dogmatische
Stoffe nach dem Vorgang des Prudentius lange Zeit beliebt, und der
versifizierte Heiligenroman wird in unserer ganzen Periode zuweilen
in gröfetem Umfange gepflegt. Auf antiker Grundlage beruhte der
äulserst beliebte Brief in Versen, und diese Gattung der lateinischen
Poesie enthält nicht wenig anmutige Denkmäler, wie auch das Ge-
legenheitsgedicht zuweilen recht hübsche Stücke aufweist. Dem frühen
Mittelalter ganz fremd ist die Satire; sie wird später durch die Ent-
artung der Kirche und der Geistlichkeit hervorgerufen und durch die
römische Satire stark beeinflufst. Hauptsächlich bedeutend entwickelt
sie sich in England und im englischen Frankreich und fliefst hier oft
mit der allegorisch-philosophischen Dichtung zusammen. Um ^»A«»Älir
gewinnt sie an Boden, je mehr die Geistlichkeit verw-^
— 270 —
sie verbindet sich eng mit einem der germanischen Welt eigentümlichen
Produkte, der Tiersage. Wie sie von der Geistlichkeit ausgeht, so
heftet sie sich an deren litterarische Werke, indem sie die Auswüchse
der Zeit ironisierend verspottet. Bezeichnend sind in dieser Beziehung
satirische Nachbildungen von Evangelienstellen oder das Leben des
heiligsten und ruhmwürdigsten Niemand. — Ungemein reich, wenn
auch vielfach nach festem, typischem Schema gearbeitet, ist die
lateinische Lyrik des Mittelalters. Sie trägt, wenn man von den
Schüler- und Vagantenliedern absieht, einen ausgesprochen religiösen
oder kirchlichen* Charakter und läfet daher die eigentliche Volks-
tümlichkeit vermissen. Eine grofse Zahl der lyrischen Dichtungen
zeigt namentlich in Verbindung mit der Musik einen feierlich ernsten
oder auch religiös innigen Ton, bei anderen wieder überwiegt das
rhetorische Element, das sich ja schon in frühen Zeiten bei der römischen
Poesie geltend macht. Ihre Formen leiht diese religiöse Lyrik haupt-
sächlich von der römischen Volkspoesie, auf welche schon der Be-
gründer der Hymnik, Ambrosius, zurückgegangen ist. Die Bedeutimg
dieses Mannes für die ganze spätere Zeit brachte es mit sich, dais
nicht wenige der entstandenen Gedichte ambrosianische Hymnen ge-
nannt werden. Eine eigenartige, durch musikalische Gesetze bedingte
Form der Lyrik in künstlichen, verschlungenen Mausen ist die Sequenz.
Im Ausdruck lehnt sich die Lyrik oft an die Psalmen und verwandte
Stoffe an, sie besingt meist die christlichen Feste, die Tage der
Märtyrer und Heiligen, besonders geweihte Stunden des Tages, Teile
des Credo und andere Stoffe, die dem christlichen Vorstellungskreisc
entnommen sind. Zuweilen nähert sich der Hymnus der Epik, so
dafs die christliche Ballade erscheint, die, wie vieles andere, schon
auf Prudentius zurückgeht.
An zweiter Stelle sei ein kurzer Überblick über die Philosophie
gegeben. Fast zu derselben Zeit, als Justinian die Philosophenschule
in Athen schliefsen liefe, starb derjenige Römer, der wie kein anderer
durch seine Übersetzungen und Kommentare die logischen Schriften
des Aristoteles und des Porphyrius der späteren 2^it übermittelte.
Nämlich ohne die Schriften des Boethius hätte das frühe Mittelalter
von der griechischen Philosophie nur wenig überkommen. Denn in
Cicero verehrte man mehr den glänzenden Stilisten und groüsen Redner
als den Philosophen, wie auch seine phUosophischen Werke in den
Bibliothekskatalogen des IX. Jahrhunderts nur ganz vereinzelt auftreten.
Was man von Plato wufste, ging in der Hauptsache auf die Über-
setzung und Erklärung des Timäus durch Chalcidius und auf die
— 271 —
nicht eben sehr verbreiteten Schriftei^ des Apulejus zurück. Boethius
aber, der schon am Anfange des von uns zu betrachtenden Zeitraumes
steht, hatte das ganze aristotelische Organon übersetzt oder kommentiert,
und er ist der eigentliche Vermittler der alten Philosophie an die
späteren Jahrhunderte. Hiergegen wollte auch die unmittelbare Kenntnis
der griechischen Sprache, die sich bei den Iren erhielt und von diesen
auf die Angelsachsen übertragen wurde, nicht viel bedeuten; auch in
Italien, namentlich im Süden war das Griechisch nicht ganz erstorben,
war doch der Exarch zu Ravenna der Statthalter des oströmischen
Kaisers und der römische Papst des letzteren Untertan. Griechisch
trieb man am Langobardenhofe zu Pavia wie später am Hofe Karls
des Grofsen, und die Heirat Ottos II. mit Theophano verpflanzte
sogar die Kenntnis der fremden Sprache nach Sachsen. Auch in den
g^ofeen Klöstern wie St. Gallen konnte man im IX. Jahrhundert noch
etwas Griechisch lernen. Aber solche vereinzelte Spuren lassen keines-
wegs auf einen weiteren Umkreis der Kenntnisse im Griechischen
schliefsen, zur Beschäftigung mit den grofeen Philosophen reichten
sie ohnehin nicht aus, und lange Zeit war das Mittelalter in dieser
Beziehung an Boethius gebunden. Erst nachdem unter den salischen
Kaisem Süditalien teilweise dem deutschen Reiche angegliedert worden
war und die Hohenstaufen den ganzen Süden der Halbinsel mit Sizilien
erobert hatten, wurde das Verhältnis anders. Zunächst allerdings
traten die Araber als Vermittler auf, welche längst die Werke des
Aristoteles in ihre Sprache übersetzt hatten. Durch sie hauptsächlich
wurde die Christenheit mit dem groisen Griechen bekannt. Das trat
aber noch auf einer anderen Linie ein, indem die Franzosen vom
benachbarten Spanien aus die Kenntnis griechischer Werke erhielten.
Und nachdem die ältere, mehr grammatisch-philologische Hochschule
von Orleans durch Paris seit dem Beginn des XII. Jahrhunderts über-
flügelt war, stellte sich die Sorbonne an die Spitze des geistigen
Lebens im ganzen Abendlande. Paris wurde die theologische und
philosophische Hochschule von Europa, von hier gingen die grofeen
Lehrer und Leuchten der Wissenschaft aus, die meist französischer
oder englischer Abstammung waren. Seit den Zeiten des Johannes Scotus,
der tmter der Regierung Karls des Kahlen lebte und ein erst nach fast
vier Jahrhunderten von Rom als ketzerisch verdammtes philosophisches
Werk IleQi g^uog fiBQiafiod schrieb und das Werk De caeUsti hierarchia
des Dionysius Areopagita aus dem Griechischen übersetzt hatte, war
für die Entwickelung der eigentlichen Phflosophie nicht viel geschehen,
denn in den Schulen kam man über die Lektüre der Ccdegoriae und der
— 272 —
•
Schrift De interpreUäione des Aristoteles nach der Übersetzung des Boethhis
nicht hinaus, nur dafs daneben auch die Isagoge des Porphyrios zu
den Kategorien ebenfalls in des Boethius Übertragung gelesen wurden.
Es fehlen daher wirklich philosophische Werke, höchstens da(s zu
den alten Kommentaren neue schulmäfsige Erklärungen geschrieben
wurden. Und auch als man angefangen hatte, Philosophie zu studieren,
hielt man sich doch in mäfsigen Grenzen, denn es waren zunächst
nur die logischen Schriften des Aristoteles, die in neuen Übersetzungen
der lateinischen Welt bekannt wurden. Auch ein neuer Kommentar
zu Piatons Timaeus wurde herausgegeben, aber es ist doch bezeichnend
für die Zeit, dafs Wilhelm von Conches sein umfassendes Werk über
Philosophie nach dem orthodoxen Standpunkt umarbeitete und in der
Neubearbeitung von sich sagte : Ich bin ein Christ und kein Anhänger
der Akademie. Zu einer vorurteilsfreien Würdigung der Metaphysik
der Griechen war die 2^it noch nicht reif, indem die Philosophie in
engem Zusammenhang mit der Theologie stand und dieser imtergeordnct
wurde. Erst die bedeutende Tätigkeit des Thomas von Aquino und
Alberts des Grofsen, die durch ihre Übersetzungen und Erklärungen
aristotelischer Werke Aufeerordentliches geleistet haben, liefs eine ein-
gehendere Beschäftigung mit philosophischen Dingen zu; sie kam
aber doch im grofsen und ganzen mehr der Theologie zustatten.
Nur in England konnte ein freierer Geist gedeihen, wie die Werke
des Roger Baco beweisen, und hier wurde durch die Verbindung von
Philosophie und Theologie durch Wilhelm von Occam und John Wiclef
nicht nur der Sturz der Scholastik, sondern auch des herrschenden
Kirchensystems vorbereitet.
In den mathematischen Wissenschaften hatten die Römer
kaum ein selbständiges Werk hervorgebracht; sie kamen einerseits
über das gewöhnhche Rechnen nicht hinaus und andrerseits diente
ihnen die Astronomie lediglich zur Astrologie. Höchstens entwickelten
sie cinigermafsen die Feldmefskunst , die sie für die häufigen Acker*
Verteilungen und Bodenanweisungen nötig brauchten. Auch hier waren
die Griechen überall die Gebenden, die Römer die Nehmenden. Von
bedingendem Einfiufs für das Mittelalter sind einige grofse Kompilationen
von Feldmesserwerken, verbunden mit geometrischen und arithmetischen
Traktaten, sowie die mathematischen Werke des Boethius geworden.
Die christliche Welt brauchte aber aufserdem wegen der Bestimmung
der Feste genaue Ostertafeln, und an der Hand des römischen Kalenders
und orientalischer Berechnungen entwickelte sich die mittelalterliche
Chronologie. Von derf mathematisch geschulten Iren hat Beda seine
— 273 —
Gelehrsamheit entnommen, der durch seine kurzen Lehrbücher einen
sehr groisen Einflufs bezüglich astronomischer und mathematischer
Kenntnisse auf das Mittelalter gewann. Gröfeere Selbständigkeit er-
hielten die mathematischen Studien erst im IX. und X. Jahrhundert,
aus welcher Zeit zwei gröfeere Lehrbücher der Geometrie stammen,
die auf den alten Feldmesserhandschriften beruhen. Gerbert, der
grofse Gelehrte, hat dann eine weitere Geometrie geschrieben und für
die Rechenkunst, welche damals noch keine Verbindung mit der
arabischen besafs, Regeln zum Rechentisch, dem damals allgemein
gebrauchten Abakus, aufgestellt. Dagegen stammt die sogenannte
Geometrie des Boethius erst aus dem XI. Jahrhundert. Später wurde
der Euklid aus dem Arabischen ins Lateinische übertragen und damit
eine festere Grundlage für das Studium der Geometrie gewonnen, als man
sie bisher gehabt hatte. Und nun wurde die lateinische Welt mit der
äufeerst intensiv betriebenen Tätigkeit der Araber auf mathematischem
und astronomischem Gebiet bekannt, indem die Übersetzungen der
Werke eines Archimedes, Ptolemäus und Heron aus dem Arabischen
ins Latein übertragen wurden und sich dadurch langsam das Verständnis
für die griechische Wissenschaft anbahnte. Während aber die ge-
lehrten Mathematiker und Astronomen wie Johannes Hispalensis,
Jordanus Neraorarius und Wilhelm von Moerbek, der grofse Aristoteles-
iibersetzer, in die Wissenschaft selbst eindrangen und dadurch die
Werke eines Hermannus Contractus und Radulius Laudunensis schnell
überholt wurden, bemühte man sich fortdauernd, eine praktisch taug-
liche Rechenmethode zu finden, da der gewaltige Aufechwung des
Handels seit den Kreuzzügen dieses Bedürfnis als immer dringender
hinstellte. Die Lösung dieses wichtigen Problems erfolgte aber erst
am Ende des eigentlichen Mittelalters.
Ganz besonderen Schwierigkeiten war die Entwickelung der
Naturwissenschaften und der Medizin ausgesetzt. Die Römer
hatten keinen Sinn für beide Disziplinen gehabt, und ihr angeborner
Aberglaube überwucherte alles das, was sie aus den Übersetzungen
griechischer Werke lernen konnten. Der einzige medizinische Schrift-
steller Roms, der mit verständiger Klarheit die Griechen benutzt hat,
Cornelius Celsus, blieb aber im Mittelalter so gut wie unbekannt;
nur von Gerbert wird er einmal beiläufig erwähnt, Vinzenz von Beauvais,
der grofee Polyhistor, scheint ihn nicht zu kennen. Wohl waren vom
VI. — VIII. Jahrhundert manche wichtigen Werke griechbcher Ärzte ins
Lateinische übersetzt worden, und Schriften von Galen und Hippokrates
fanden sich daher in den gröfeeren Bibliotheken des IX. Jahrhunderts,
— 274 —
aber von dem emsigen Betrieb der Medizin durch die Araber, der
sich nach Unteritalien und sogar nach Montpellier verbreitete, ist in
den nördlichen Gebieten nichts bekannt. Die Kräuterbücber des
Pseudo-Apulejus und des Dioskorides sowie das Gedicht des Q. Serenns
und die sogenannten Dynamidia des Hippokrates bildeten fast die
einzigen verbreiteten Bücherschätze der Arzneikunde im früheren
Mittelalter. Wohl besafs man in der karolingischen Zeit noch etwas
mehr, und das hübsche Gedicht Walahfnds über den Gartenbau lafst
erkennen, wie man im Kloster die Freude an der Schönheit der Blnmea
mit der nützlichen Anwendung der Gewächse zu Heilzwecken zu ver-
binden wufste, was ja auch Karls des GroOsen Capüulare de vUHs
bezeugt. Aber vom eigentlichen Betrieb der Wissenschaft hört man
im lateinischen Abendland auiser zu Salemo und zu Montpellier nur
ganz Vereinzeltes, wie gelegentlich in den Satiren des Amarcius. Die
mystisch-allegorische Betrachtungsweise der Natur überwog eben ganz
zu einer Zeit, da man auch aus den Worten der Bibel neben dem
eigentlichen Sinn mindestens noch einen Nebensinn herausholen
wollte, und dazu gaben hauptsächliche Anregung die Etymologieo
Isidors und noch mehr der hierin benutzte Physiologus, eine Schrift,
die dem Orient entstammt und allerhand Besonderheiten der Tierwelt
mit wundersamer Phantastik menschlich oder christlich umdeutet
Natürlich wurde auch die Medizin von dem Mystizismus stark berührt
und was hierin im XII. Jahrhundert an Seltsamkeiten geleistet werden
konnte, davon geben die Physik der heiligen Hildegard von Bingen
und deren Causae et curcte ein recht deutliches Bild. Von ganz
ähnlicher Richtung ist das berühmte allegorisch-mystische Gedicht
des Marbod über die Edelsteine, wozu in letzter Linie eine Stelle der
Apokalypse die Veranlassung gab. Und so sind auch gröfsere zu-
sammenfassende Werke über die Natur und die natürlichen Dinge
gehalten. Hingegen beruht das poetische Werk des Odo Magdunensis —
der mittelalterliche Macer — und das weitschweifige Gedicht De antidcÜs
des Agidius zum Teil auf den alten Kräuterbüchem und auf der
Tradition der üblichen Hausmittel. Ein Wandel konnte erst geschaffen
werden, nachdem die zahlreichen Übersetzungen des Konstantin von Monte
Cassino aus dem Arabischen, Griechischen und Hebräischen sich
langsam verbreiteten; weitere Übersetzungen aus dem Arabischen
folgten, und die Ärzte zu Salemo besonders haben durch zahlreiche
Schriften, die auf der alten Medizin fufsten, nicht wenig zur Verbreitung
ihrer Wissenschaft beigetragen. Hierzu kamen dann die Übersetzungen
aristotelischer Werke, welche den Naturwissenschaften staricen Vor-
— 275 —
Schub leisteten, und es konnte im XIII. Jahrhundert ein so vielseitiger
und begabter Mann wie Albert der Grofee mit seinen Werken eine
neue Periode der Wissenschaft inaugurieren. Und doch pflanzten sich
die neuen gro&en Errungenschaften nur langsam fort, weil die Kirche
vielfach hemmend eingriff und es im Norden so sehr an Hochschulen
fehlte. Der regere Geist, der die Wissenschaften im XII. und XIII. Jahr-
hundert ergriffen hatte» erlahmte häufig wieder unter dem Druck der
• äufeeren Verhältnisse , wozu die Bettelorden nicht wenig beigetragen
haben. So kann man von wesentlichen Fortschritten erst wieder am
Ende unserer Periode sprechen, nachdem eine Mehrzahl von Universitäten
begründet worden war.
Kürzer können wir uns über die Jurisprudenz fassen, da ihre
Werke weniger zur eigentlichen Literatur gehören. Die Entwickelung
des Rechts gehörte zur wirklichen Domäne Roms, und die Geschichte
der Rechtswissenschaft lehrt, wie die alten Volksrechte nach und nach
vom römischen Rechte aufgesogen worden sind. Bei dem Fortbestand
des römischen Kaisertums ist das ohnehin selbstverständlich, denn
unsere alten Könige zogen ja als Kaiser über die Alpen, in der einen
Hand das Schwert, in der anderen das Gesetzbuch Justinians. Was
Theodorich dem Grofsen für Italien auf kurze Zeit gelungen war, gelang
Karl dem Grofsen für das weite Frankenreich nicht, die Herstellung der
Rechtseinheit, die der gewaltige Frankenherrscher sehnlichst herbei-
wünschte. Und hätte er sie durchführen können, so wäre ihre lange
Dauer bei den partikular divergenten Interessen der einzelnen grofsen
Germanenstämme höchst problematisch gewesen. Ohnehin genofs die
festeste Institution seines Reiches, die Kirche, römisches Recht« und
schon dieser Zwiespalt mufste störend wirken. So erhielten trotz der
bedeutenden amtlichen Gesetzgebung die Volksrechte doch wieder
ihre alte Geltung, freilich waren sie schon früh mit römischen Rechts-
bestimmungen durchsetzt, da ja die meisten Stämme sich früher oder
später auf römischem Boden niedergelassen hatten. Neben das welt-
liche Recht hatte sich aber längst das geistliche, das kanonische, ge-
setzt, und wir hören mehrfach in unserer alten Geschichte, dais der
Staat mit seinem Strafrecht nicht auskommen zu können glaubte und des-
halb zu geistlichen Rechtsbestimmungen greifen mufste. Mit dem Wachs-
tum der päpstlichen Macht kam schon im IX. Jahrhundert die berühmte
Fälschung der pseudoisidorischen Dekretalen ins kanonische Recht.
Die Kirche bewahrte natürlich in den Klöstern ebenso die geschriebenen
und teUweise kommentierten Volksrechte auf, wie sie die TeUe des
Corpfis iuris besafs. Eine eigentliche Rechtsgelehrsamkeit finden wir
— 276 —
aber auf dem Boden des römischen Reiches zunächst nur in Italien,
da die anderen romanischen Reichsteile in die Gewalt der Germanen
gekommen waren. Bologna wurde der Hauptsitz der Jurisprudenz.
Hier lehrte man das römische Recht, und hier entstanden die vielfaltigen
Glossen und Kommentare, die sich auf weltliches wie geistliches Recht
bezogen. Beeinflufst werden diese mittelalterlichen juristischen Schriften
durch Gedanken und Anschauungen, welche aus den Werken der
Kirchenväter zum Gemeingut des Volksbewufstseins geworden waren;
aber sie gehören weniger zur literarischen Entwickelung , und wir
gehen daher zur Historiographie über.
Für alle Richtungen innerhalb der Geschichtschreibung gab
es schon in der Zeit der Kirchenväter tüchtige Vertreter, auiser für
die Annalen — indes auch diesen könnte man ja die alten Konsular-
fasten vergleichen. Und diese Vertreter blieben lange Zeit die Vor-
bilder, denen man nachstrebte und an die man sogar das eigene Werk
anzuknüpfen suchte. Welche aufserordentliche Bedeutung haben doch
die Chronik des Hieronymus und verwandte Arbeiten gehabt, wenn
auch später der Begriff der Chronik teilweise ein anderer wurde.
Und die Weltgeschichte des Orosius ist in gewisser Weise ebenso
typisch für die Folgezeit geworden, wie das Leben des heiligen Martin
von Sulpicius Severus. Viel weniger Einflufs hat die antike Geschicht-
schreibung auf das Mittelalter ausgeübt, obwohl es auch hier an Bei-
spielen nicht fehlt, wie Einharts Leben Karls beweist. Im VI. und VII.
Jahrhundert finden sich die Anfange mittelalterlicher Geschichtschreibimg.
Sie sind äufserlich roh und entbehren aller Kunst, man weils noch
nichts von dem Ideal späterer Zeiten, von der philosophischen Durch-
dringung des Stoffes. Dagegen hebt sich, unter namhafter Begünstigung
durch philosophische Studien, die Historiographie zur Zeit Karls des
Grofsen formal ungemein. Namentlich gilt dies von den Werken,
die aus den Kreisen hervorgingen, welche der Person des Königs
nahe standen. Aber dieser Aufschwung hat nicht lange angehalten
und obwohl die Darstellung der Reichsgeschichte noch längere Zeit
im Vordergrund des Interesses stand, so trat doch eben das Kirchen-
latein schnell wieder in seine Rechte. Die Reichsgeschichte wird dann
durch die Landesgeschichte abgelöst, da seit dem Verfall des Gesamt-
reiches das politische Leben der einzelnen Stämme wieder stark hervor-
trat, das durch Karl in engen Grenzen gehalten wurde. Wie fest man
sich auf den heimischen Standpunkt stellte, zeigt z. B. das Werk
Widukinds von Korvei, in welchem der Papst nicht einmal genannt
wird. Im XI. Jahrhundert erhebt man sich dann zur Universalgeschichte,
— 277 —
deren Darstellung zwar der früheren Zeit auch nicht ganz fremd ge-
wesen ist, aber doch bisher nicht in solchem Umfange gegeben wurde.
Und als dann der grofse Kampf zwischen Kirche und Staat ausbrach,
und der naive Glaube früherer Jahrhunderte damit ein Ende erreichte,
finden sich sogar schon die Anfänge vom Kundgeben der ößentlichen
Meinung. Man hat in der reichen Streitliteratur, die sich damals ent-
wickelte, mit Recht die ersten Anfange der Zeitung gesehen, die Flug-
schriften wurden der Tummelplatz der Parteien ^). Auch die bald darauf
beginnenden Kreuzzüge haben die Geschichtschreibung stark beeinflufst:
wie sie von so manchen römischen Praktiken die Hülle wegzogen,
so haben sie das Interesse der Geschichtschreiber auf fremde Schau-
plätze gelenkt und dadurch wesentlich zur Erweiterung des Horizontes
beigetragen. Während der Periode der Kreuzzüge aber erwachte das
regere Studium der Philosophie, und dies brachte der Historiographie
eine tiefere Auffassung. Es entstanden jetzt Werke wie die Chronik
des Otto von Freising, die sich auch als schriftstellerische Leistungen
sehen lassen können. Freilich ist wieder anderwärts die geschichtliche
Forschung noch so geringwertig, dafs gerade jetzt Werke entstehen,
die alle möglichen Fabeln über die Vorzeit enthalten. Und gerade
diese Werke spielen in späterer Zeit, als ein neuer Niedergang des
geschichtlichen Sinnes erfolgte, eine besonders grofse Rolle, ihre
Fabeleien verbreiteten sich und setzten sich seitdem als geschichtliche
Tatsachen fest. Während sich nun in der englischen Geschicht-
schreibung seit Beda ein gewisser einheitlicher Zug geltend macht,
der auf die Darstellung der Reichsgeschichte ausgeht, tritt die politische
Zersplitterung, die in Deutschland und Italien mit den Jahrhunderten
wuchs, auch in der Historiographie beider Länder deutlich hervor.
Immer mehr kommt hier das landschaftliche Element zur Geltung,
so dafs wir es in den letzten Jahrhunderten grofsenteUs nur noch mit
Chroniken der Territorien und der Städte zu tun haben. Erst in der
humanistischen ^eit und besonders mit dem Beginn der Kirchen-
reformation tritt eine Wendung zum Besseren ein.
An letzter Stelle ist dann die Tätigkeit des Mittelalters auf
philologischem Gebiete zu betrachten. Bei der Wende des Alter-
tums zum Mittelalter wurden die Rhetorenschulen mehr oder weniger
überflüssig, da sie von den jungen Römern hauptsächlich wegen ihrer
künftigen Beteiligung am politischen Leben besucht worden waren.
Wer später Sinn für höheres geistiges Leben besafs, ging ins Kloster,
i) Vgl. diese Zeitschrift, oben S. 65.
— 278 —
denn Kassiodor hatte es den Jüngern des heiligen Benedikt zur Pflicht
gemacht, sich mit den Wissenschaften zu beschäftigen. Erst waren
es die Iren, dann die Angelsachsen, welche das geistige Erbe Roms
antraten, und die nahe Verbindung, die Karl der Grofee mit den Ge-
lehrten jenes Inselvolkes anknüpfte, wurde zum gröfisten Segen für das
Frankenreich, in welchem Bildung und Wissen noch auf sehr tiefer
Stufe standen. Die Erneuerung der Hofschule, die Begründung einer
Akademie am Hofe, der rege Verkehr des fränkischen Klerus mit
Italien, dem grofsen Büchermarkt der Welt, das Beispiel von Lerneifer,
das Karl selbst gab, die Begründung und reiche Ausstattung neuer
Bischofssitze und Klöster, das alles gab dieser Zeit einen ungeahnten
Aufschwung, der sich darin am besten dokumentiert, dafs Karl sogar
daran gedacht hat, den allgemeinen Schulzwang einzufuhren. Jetzt
wurden die Handschriften der klassischen Autoren aus Italien geholt,
und wenn auch stets einzelne Stimmen gegen die profanen Studien
laut wurden, so erblühte doch in den meisten grofsen Klöstern eine
ungemein rege Beschäftigung mit den Wissenschaften. Die alten Autoren
wurden abgeschrieben und verbreitet, wozu die Ausbildung der schönen
karolingischen Minuskel nicht wenig beitrug. Besonderen Wert legten
manche Gelehrte auf die Herstellung eines möglichst reinen Textes,
und wenn auch vielerlei Irrtümer damals in die Überlieferung der
römischen Klassiker gekommen sind, so ist es doch immerhin erstaun-
lich, was in jener Zeit alles geleistet wurde. Wir können heutzutage
die meisten dieser Autoren nicht mehr über die karolingische Zeit
hinaus urkundlich verfolgen, indem wir ihre ältesten Handschriften
jenem karolingischen Humanismus verdanken. Und man kann wohl
mit einiger Gewiisheit behaupten, dafs damals alle Klassiker abgeschrieben
worden sind und dafis auch diejenigen unter ihnen, welche heute nur
noch auf jüngerer Überlieferung beruhen, wie Cato, Varro, Plautus,
Catull und Properz, den karolingischen Gelehrten nicht fremd waren.
Wir wissen auch, dafs im IX. Jahrhundert noch einige wichtige Werke
aus dem Altertum vorhanden waren, welche heute verloren sind.
Hauptsächliche Dienste leisten zur Aufhellung dieser Dinge die alten
Bibliothekskataloge, von denen alljährlich wieder neue aufgefimden
werden ^). Solch intensive philologische Tätigkeit hielt sich in einigen
Klöstern wie St. Gallen, Korvei, St. Amand, Auxerre, St. £vrc bei
Toul und in Bobio ziemlich lange, und an einer Reihe von Bischofs-
sitzen schlugen die Wissenschaften ebenfalls ohne Unterbrechung ihren
I) VgL darüber oben S. 24—27.
— 279 —
Sitz auf, aber im allgemeinen haben die rauhen Zeiten des ausgehenden
IX. und des X. Jahrhunderts diese frühe Blüte der Wissenschaft ge-
knickt. Erst gegen Ende des X. Jahrhunderts erhob die Wissenschaft
unter der Begünstigung der Ottonen wieder ihr Haupt, und ein Schrift-
steller und Gelehrter wie Gerbert von Aurillac nennt solche seltene
Autoren wie Manilius und Cornelius Celsus. Überhaupt war im all-
gemeinen Frankreich das Land, in welchem die philologischen Studien
am meisten blühten, und so entstand in Orleans eine Schule , welche
lange Zeit die hervorragendste blieb und nur von Paris später verdunkelt
wurde. Auch England leistete besonders im XII. und XIII. Jahrhundert
Hervorragendes, da es hier sehr alte und reiche Klöster mit grolsen
Bibliotheken gab. Freilich bildete sich nach und nach ein fester Umkreis
von Schulschriftstellern aus, der sich reger Behandlung erfreute und
über den man nicht oft hinausging. Das waren von Prosaikern Cicero,
Sallust, Seneka, Donat und Priszian, von Dichtem Terenz, Vergil,
Horaz, Ovid, Lukan, Statius, Persius, Juvenal und Klaudian. Nament-
lich stellte man aus diesen Dichtern gern Florilegien zusammen, die
vielfach eine moralische Tendenz zeigen, aber auch die Prosaiker
wurden zu solchen Blütenlesen benutzt. Die Florilegien wurden neben
den Autoren selbst dem Unterricht zugrunde gelegt und bildeten meist
den MemorierstofT; daher kommt es, dafs die mittelalterlichen Schrift-
steller gar gern mit poetischen Zitaten prunken. Hiemeben ging die
gelehrte Erklärung der Autoren her, mit welcher schon die karolingische
Zeit in reichstem Ma&e begonnen hatte, denn nicht wenig grofse
Scholiensammlungen zu den römischen Dichtem gehen auf das IX.
Jahrhundert zurück. Zu diesem Behufe wurden die alten und echten
Kommentare aus dem Altertum verkürzt und ausgezogen und hierzu
allerhand unbedeutende Zusätze gemacht. Solche Sammlungen wurden
später wieder verdünnt und mit Eigenem bereichert, so dafe in den
SchoUen des XII. und XIII. Jahrhunderts meist auiserordentlich wenig
Antikes und sehr viel Mittelalterliches steckt Da man nun sehr viel
darauf gab, sich in der Dichtkunst zu üben, die Verslehre aber all-
mählich eine ganz andere geworden war — vor allem waren die
verschiedenartigsten und künstlichsten Reime in den Hexameter ge-
kommen — , so mufste man auch neue Poetiken haben, die von
Eberhard von B^thune, Galfredus de Vinosalvo und von Konrad de Mure
geschrieben wurden. Schon im XII. Jahrhundert war man so weit
gekommen, dafs man sehr viele Briefe in Versen schrieb und auch
ganze poetische Briefsteller verfafste. Bei diesen rein formalen Leistungen
ging nun freilich die frühere wissenschaftliche Behandlung der Klassiker
— 280 —
zurück, doch legte man zu jener 2^it noch grofee Glossarien an, wie
z. B. der Mönch Osbern seine Pafwrmia, in welcher die klassische
Literatur sehr stark zu Rate gezogen wird. Ja ein Albericus schrieb
noch im XIII. Jahrhundert den sog. Mffthographus Vaiicanus III und
die Schrift De deorum imaginibus, Werke, die noch von einer tüchtigen
Benutzung reicher Literatur zeugen. Längst schon hatten sich einige
besonders beliebte Dichtungen wie die Fabeln Avians und die Disticha
CcUanis Umdichtungen und Zusätze gefallen lassen müssen, durch
welche die echten Werke verdrängt wurden. Namentlich beliebt aber
waren Auszüge aus den klassischen Schriftstellern, wie schon oben
erwähnt wurde, und mit solchen Exzerpten begnügte man sich viel-
fach. Schliefelich kam dann noch das Zeitalter der Übersetzungen,
welche von antiken Werken in die Volkssprachen gemacht wurden.
Solche Arbeiten waren nichts Neues, schon König Alfred und Notker
von St. Gallen hatten auf dem Gebiete Hervorragendes geleistet
Aber erst mit dem XIII. Jahrhundert beginnt die Übersetzungstätigkeit
im grofeen, und hierin zeichnete sich vor allem Frankreich aus.
Bedeutende lexikalische Arbeiten, die sich auf der reichen Glossen-
literatur früherer Jahrhunderte aufbauten, erleichterten diese Tätigkeit
Als Lexikographen waren besonders die Italiener Papias und Hugutio
hervorragend. Aus alledem wird erkennbar, dafe die Beschäftigung
mit den Werken des Altertums selbst stark nachgelassen hatte.
Umdichtungen, .Exzerpte, Florilegien und Übersetzungen waren an
deren Stelle getreten. Auch hatte man für die römischen Autoren
vielfach zufallig entstandene Beinamen erfunden und somit die alte,
echte Überlieferung getrübt; so war für den Verfasser der Utas kUina
der Name Pindarus Thebauus aufgekommen, Statins hatte den Beinamen
Surculus erhalten, Martial den Beinamen Coquus, Properz wurde Propertius
Aurelius Nauta genannt, aus Calpumius hatte man Scalpurius gemacht
u. a. m. Demgemäfe war auch die literargeschichtliche Forschung auf
einen sehr tiefen Stand herabgekommen, wovon man sich aus dem
Fabularius des Konrad de Mure, eines Züricher Kanonikus, leicht über-
zeugen kann.
Im allgemeinen hatte Italien in den späteren Jahrhunderten des
Mittelalters sowohl für die Überlieferung wie für die Bearbeitung der
Klassiker am wenigsten geleistet, es war hierin am meisten zurück-
geblieben. Das geht auch schon daraus hervor, dafe die Sprache
der italienischen Urkunden, die päpstlichen einbegriffen, einen viel
höheren Grad von Barbarei zeigt, als sie sich sonst findet. Aber im
XIV. Jahrhundert trat hier eine kräftige Reaktion ein, indem von Florenz
— 281 —
der Humanismus ausging, welcher im Sammeln, Siebten und Korrigieren
der Klassikerhandschriften, in der Bearbeitung der alten Autoren und
in der möglichsten Wiederherstellung des klassischen Lateins als
Gelehrtensprache seine hohen Ziele fand. Die ausserordentlich grofse
humanistische Literatur steht in der Mitte zwischen der mittelalterlichen
und neuzeitlichen und leitet zur letzteren hinüber, und wir können
daher hiermit unsere Betrachtungen schliefen.
Am Schlüsse aber sei an die Leser dieser Zeitschrift die Bitte
gerichtet, an keinem auch noch so unbedeutend erscheinenden,
unbekannten Denkmal der mittelalterlichen lateinischen Literatur vor-
überzugehen, sondern den Verfasser obiger Zeilen mit irgendwelcher
Nachricht darüber zu erfreuen.
Mitteilungen
Archlye. — Das Stadtarchiv in Frankfurt a. M. zerfiel seit
dem Jahre 1863 in zwei Abteflimgen: I. das Historische Archiv bis 18 13
einschliefslich , U. das Verwaltungsarchiv von 1814 ab bis in die neueste
Zeit ; die Hauptbestandteile des letzteren büdeten die Akten des freistädtischen
Senates 18 14 — 1868 (er blieb auch nach der Annexion von 1866 noch
beinahe zwei Jahre als rein kommtmale Verwaltungsbehörde in Tätigkeit)
imd die Akten des Magistrates vom 29. Februar 1868 ab. Diese U. Ab-
teüung des Stadtarchivs ist jetzt aufgehoben worden; die Akten des frei-
städtischen Senates wurden der I. Abteütmg zugewiesen, die jetzt die amtliche
Bezeichmmg „Stadtarchiv" führt, während aus den Magistratsakten von
1868 ab eine besondere „Magistrats-Registratur" im Anschlufs an
die Stadtkauzlei gebüdet wurde. Das Stadtarchiv umfiedst also jetzt sämtUche
Archivalien aus der reichsstädtischen (bis 1806), fürstlichen (1806 — 18 13)
und freistädtischen (1814 — 1866) Zeit.
Kommissionen. — Die sogenannten „Landesgeschichtlichen
Publikationsinstitute", deren hervorragendste Veitreter die „Histori-
schen Kommissionen" sind, haben sich wieder einmal um ein neues ver-
mehrt Denn am 17. Dezember 1904 hat eine aus den drei Franken
beschickte Versammlung zu Nürnberg die Gründung einer Gesellschaft
für firfinkische Geschichte nach dem Muster der Gesellschaft für rheinische
Geschichtskunde beschlossen, und am 6. Mai 1905 ist die Gründung zu
Bamberg wirklich erfolgt Für die Patrone ist eine jährliche Beisteuer von
50 Mk. vorgesehen; die jährlichen Mitgliederversammlungen werden ihren
Versammlungsort wechseln.
Die Aufgaben der neuen Gesellschaft umschreibt eine kleine Denk-
schrift in folgender Weise:
„Als Aufgabe der , Gesellschaft für fränkische Geschieh
21
— 282 —
wurde im allgemeinen bezeichnet: die bisher unveröffent-
lichten Quellen zur Geschichte Frankens den modernen An-
forderungen der Geschichtswissenschaft entsprechend heraus-
zugeben und einschlägige Forschungen auf dem Gebiet der
fränkischen Geschichte anzuregen und zu fördern.
1. Im besonderen sollen auf dem Gebiete der erzählenden Quellen
die jüngeren chronikalischen Aufzeichnungen, namentlich der fränki-
schen Städte ins Auge gefafst imd gewissermaisen als Fortsetziing der
nunmehr abgeschlossenen Reihe der deutschen Städtechroniken zur Ver-
öffentlichung gebracht werden, wobei besonders Aufzeichnimgen aus dem
Zeitalter der Reformation, des Bauernkrieges, der fränkischen Fehden (Maik-
grafenfehde, Gnunbachsche Händel) und, soweit sie sich über das Typische
erheben, des Dreifsigjährigen Krieges beachtet werden sollen. Entsprechend
dem Nachdruck, den die Gesellschaft für fränkische Geschichte auf wirt-
schaftsgeschichtliche Forschungen legen will, sollen auch lokale Aufzeich-
nungen wirtschaftsgeschichtlicher Natur, wenn sie z. B. einer Geschichte der
Preise dienen können, entsprechende Beachtung finden. — Unter anderem
wird auch zu erwägen sein, ob eines der Hauptwerke der älteren fränkischen
Geschichtschreibung, des Lorenz Fries Chronik der Bischöfe von Wün-
burg, einer neuen Ausgabe würdig ist
2. Die wichtigste imd umfangreichste Aufgabe der Gesellschaft für
fränkische Geschichte wird in der Herausgabe der Urkunden der frän-
kischen Kollegiatstifter und Klöster bestehen. Auf diesem Gebiet
ist noch nahezu alles zu tun. Und dabei ist die Zahl der Stifter und
Klöster und der Niederlassungen der Ritterorden in Franken sehr grofs und
deren Urkundenvorrat in mannigfacher Überlieferung verhältnismäfsig gut er-
halten, so dafs der Herausgeber nicht durch den Mangel, sondern durch
die Überfülle des Stoffes bedrängt wird. Aus den Urkunden dieser Klöster
zusammen mit den fränkischen Hochstiftsurktmden in den Monumenta Boka
und mit denen geistlicher Stiftungen, z. B. des Heil. Geist-Spitals in Nürnberg,
dürfen wir Aufschlüsse über das ganze politische, kulturelle und wirtschaftliche
Leben Frankens erwarten, voraussichtlich auch eine nennenswerte Bereiche-
nmg unserer Kenntnisse von der gemeindeutschen Geschichte. Ganz be-
sonderen Gewinn wird aus der Veröffentlichung und Würdigung dieser Urkunden
die für die ältere Zeit noch gar sehr im argen liegende Genealogie der
grofsen fränkischen Geschlechter und ihrer Verzweigungen ziehen. —
Geringer zwar an Zahl, aber in Hinsicht auf die Verfassungs- und Wirt-
schaftsgeschichte nicht weniger bedeutend dürften sich die Urkunden der
städtischen Gemeinwesen in Franken erweisen. Allerdings haben wir
in nächster Zeit von berufener Seite ein Urkimdenbuch der Stadt Nürnberg
zu erwarten, wie wir ein solches der Stadt Schweinfurt schon besitzen; aber
die kleineren fränkischen Reichsstädte wie Rotenburg, Weifsenburg, Winds-
heim entbehren einer solchen Sanmilung ebenso wie die landesfürstlichea
Städte von der Bedeutung Würzburgs, Bambergs, Baireuths, Eichstätts,
Aschaffenburgs u. a. — Der Inhalt der Archive des fränkischen Adels
ist kaum bekannt, geschweige denn veröffentlicht Und doch würde gerade
der fränkische Adel daraus den gröfsten Gewinn ziehen, namentlich wieder
in Hinsicht auf die Genealogie und die Gütergeschichte. Erfreulich wäre.
— 283 —
wenn das Beispiel des Hohenloheschen und des Castellschen Urkundenbuches
andere noch blühende fränkische Dynastengeschlechter zu einer gleichen
Veröffenüichung oder wenigstens zu einer Ordnung ihrer Archive durch die
Hand eines Fachmannes veranlassen würde. — Auch die HohenzoUemschen
Gebiete in Franken ermangeln noch, wenn wir von den Monumenta Zollerana
absehen, eines Urkundenbuches imd damit der wissenschaftlichen Grundlage
für ihre Territorialgeschichte ; namentlich eine Geschichte des *" Burggrafen-
tums Nürnbergs wird von sachkimdiger Seite als besonders wünschenswert
erklärt.
3. Dringend nötig sind femer Regesten der Bischöfe von Würz-
burg und von Bamberg; das kleine Eichstätt erfreut sich bereits eines
solchen Unternehmens an den Leffladschen Regesten, die jetzt bis ins
Xm. Jahrhundert reichen und noch fortgesetzt werden sollen.
4. Nicht minder wichtig sind Veröffentlichungen von Quellen und
Bearbeitungen solcher aus dem Gebiete der Wirtschaftsgeschichte der
Städte und des flachen Landes. Hier handelt es sich fast durchwegs
um Bergimg noch ungesichteten wertvollen Materiales, das in den Rechenbüchern
der Städte (z. B. in den Bambergbchen Stadtrechnimgsbüchem von 1437 —
1583), in den Urbaren, Sal-, Zins- und Lehenbüchem der Herrschaften ruht.
Von den Lehenbüchem umfassen z. B. die des Hochstifts Würzburg die
Zeit von 1303 — 1803. Auch von Wald- und Forstordnimgen sind namentlich
aus Oberfranken noch umfangreiche tmd bis in den Anfang des XV. Jahr-
hunderts zurückreichende Denkmäler erhalten. — Beinahe noch wichtiger
erscheint die Sammlimg und Veröffentlichung der fränkischen Weistümer,
Ehehaften imd Dorfordnungen einerseits, der Stadtrechte, Rats- und
Znnftbücher andrerseits.
Welche Quellen zur Geschichte des städtischen Handels und
der städtischen Gewerbe in den Archiven der fränkischen Reichsstädte, vor
allem in denen der ersten Industriestadt Süddeutschlands, Nümberg, ruhen,
ist noch gar nicht zu übersehen ; besonders eine Sammlung der Nürnberger
Handwerksordnungen wird baldigst ins Auge zu fassen sein. Dafs
auch die neuerdings mit so viel Eifer verfolgte Geschichte des städtischen
und des ländlichen Eigentums bei jeder Gelegenheit gebührend beachtet
werden wird, versteht sich von selbst.
5. Von den Quellen der Gerichtsverfassung in franken harren
noch die vornehmsten der Auferstehung. Wohl ist die Ausgabe des Zent-
buches von Würzburg von der Savigny-Gesellschaft bereits in Angriff ge-
nonmien; aber andere Aufzeichnungen, die sich, wie die Bamberger Stadt-
gerichtsbücher (1306 — 1546) oder wie die Protokolle des Landgerichtes
für das Herzogtum Franken in Würzburg (1333 — 1470), über Jahrhunderte
erstrecken, sind noch ungehobene Schätze, gleich wertvoll für die Geschichte
des Rechtes imd des Rechtsverfahrens wie für Kulturgeschichte und Genealogie.
6. Auch die Verwaltungsgeschichte der verschiedenen fränkischen
Territorien und Städte, die Organisation der Behörden und Ämter bedarf
der Berücksichtigung. Sanders treffliches Buch über den Haushalt der
Stadt Nümberg zeigt uns, wie reichlich die Quellen besonders für die Ge-
schichte der städtischen Verwaltung fliefsen. Vor allem aber wäre eine
Sammlung der landesherrlichen Mandate in den verschiedenen Territorien
'21*
— 284 —
anzustreben, wie dies für das Würzbarger und Kulmbacfaer Gebiet schon im
XVUI. Jahrhundert geschehen ist
7. Von der Geschichte der Landstände in Franken ist Gut mcbts
bekannt. Eine Bearbeitung der Landtagsakten der verschiedenen Teni-
torien Frankens wird unter den Aufgaben einer GeseUsdiaft fiir £ränki8<±e
Geschichte nicht fehlen dürfen.
8. Auch die Kirchengeschichte Frankens bedarf noch gar seiir
der Aufhellung. Für die ältere Zeit wird die planmäfsige Erforachang ötr
Register des vatikanischen Archivs in Rom erforderlich sein; für die spStere
Zeit wird es der Veröfifentlichung oder wenigstens der Bearbeitung der
Kapitelstatuten und Kapitelprotokolle, überhaupt des reichen Inhalt»« <|er
verschiedenen, leider meist noch ungeordneten Diözesanarchive bedüifen,
die zugänglich und benutzbar zu machen an sich schon ein namhal^ Ver-
dienst um die fränkische Geschichte bedeuten würde. Für die Gesdnchte
der religiösen Bewegung im XVI. Jahrhundert sind besonders die A^sitaticms-
berichte ins Auge zu fiassen, die z. B. in der Diözese Eichstätt bis ins
XV. Jahrhundert zurückreichen.
9. Ein von den Fachmännern seit langem gehegter Wunsch geht anf
die Erforschung der Geschichte und Organisation des fränkischen
Kreises, über den die Forscher des XVUI. Jahrhunderts besser unter-
richtet waren als wir heutzutage. Es wird sich dabei um die Bearbeitong
der in vollständigen Reihen erhaltenen Akten der Kreistage nnd der Korre-
spondenzen der Kreisobersten und Adjunkten handeln, besonders im
Hinblick auf die Verwaltung der Kreisfinanzen, auf die KrdspoUzd und die
Kreistruppen.
10. Wieweit sonst das Kriegswesen in den fränkischen Territorien,
besonders in den grofsen, Gegenstand der Bemühungen der Gesellachafk f&
fränkische Geschichte werden kann, wird von dem For^;ang einschlägiger
Arbeiten abhängen, die von anderer Seite unternommen werden.
11. Gänzlich vernachlässigt ist die Geschichte der kleineren Reichsstinde
in Franken, besonders die Geschichte der fränkischen Ritter-
schaft, obgleich die Akten der Tagungen der Gesamtritterschafi und der
einzelnen Ritterkantone, die Korrespondenzen der Ritterliaiq>tietite und Ritter-
räte gleichfalls wohl erhalten sind. Untersuchungen über dfe OrganisatioB
der fränkischen Ritterschaft und über deren Beziehungen zom Kaiser und
zu den anderen Reichsständen, besonders zu den grofsen Territoiialherren,
werden eine Lücke in unserer Kenntnis der Verfiusungsgeschichte in den
letzten Jahrhunderten des alten Reiches ausfüllen. — Auch die Rezesse der
fränkisdien Grafenbank und der Bank der fränkischen Reichsstädte verdtenen
die bisher fehlende Beachtung.
la. Die Herstellung eines historischen Atlas des fränkischen
Kreises wäre ein für die historische Geographie Deutschlands bedeutsames
Ereignis. Diese allerdings kostspielige Aufgabe, die vieler Vorarbeiten be-
darf, wird von der Gesellschaft für fiünkische Geschichte von Anhng an
im Auge behalten werden müssen. Auch die Heiansgabe eines historisch-
topographischen Lexikons des fränkischen Kreises wäre in diesem
Zusanmienhang in Erwägung zu ziehen.
13. Nicht die letzte Aufgabe der Gesellschaft fiir fränkische Geschichte
— 285 —
wird in der Herausgabe politischer Korrespondenzen ujid ge-
lehrter Briefwechsel bestehen. Bei den ersteren wird in vorderster
Reihe an die Korrespondenz des Nürnberger Rates aus dessen Brief büchem
zu denken sein, die bis zur Schwelle des XV. Jahrhunderts zurückreichen,
femer an die Briefwechsel hervorragender Fürsten aus der Reihe der branden-
burgischen Markgrafen, der Bischöfe von Würzburg und Bamberg oder
anderer bedeutender aus Franken stammender oder in Franken wirkender
Persönlichkeiten, die als Staatsmänner, als Gelehrte, als Künstler, eine frucht-
bare Wiiksamkeit entfiedtet haben. Die reichen, zum geringsten Teil er-
schlossenen Privatarchive des fränkischen Adels bergen von solchen Schätzen
mancherlei, so das gräflich Schönbomsche Archiv in Wiesentheid den Brief-
wechsel der Fürstbischöfe aus dem Hause Schönbom. Auch eine Sammlung
von Briefen des Balthasar Neumann oder des bedeutenden Geschichtschreibers
Michael Ignaz Schmidt wäre ein für die Kunst- und Geistesgeschichte Frankens
wichtiges Unternehmen.
14. Für die Geschichte des Unterrichtes in Franken, des ele-
mentaren wie des gelehrten, gibt es eigentlich nur zerstreute Notizen trotz
eines umfangreichen Quellenmaterials. Besonders die Geschichte des frän-
kischen Unterrichts- und Erziehungswesens im Zeitalter der Aufklänmg dar-
zustellen, ist eine wichtige Aufgabe, die sich die Gesellschaft für fränkische
Geschichte nicht entgehen lassen darf. — Auch die Geschichte der
Universitäten in Franken ist noch lückenhaft. Nur die Universität
Würzburg besitzt eine neuere DarsteUung ihrer Geschichte ; wegen der anderen
Universitäten, wie Erlangen, Bamberg, Altdorf, Aschaffenburg, ist man auf
die alten Darstellungen angewiesen. Von keiner Universität ist bisher die
Matrikel veröffentlicht worden; und doch würden die Matrikehi von Würz-
burg und Altdorf auch der Geschichte der fränkischen Familien reiches
Material liefern.
15. Wünschenswert wäre endlich eine Münzgeschichte des fränki-
schen Kreises und seiner einzelnen Territorien; dazu laden die reichen
Münzsammlungen, besonders die in Würzburg befindlichen, ein.
16. Auch der Heraldik soll im Zusammenbang mit der Genealogie
der fränkischen Geschlechter gebührende Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Überhaupt wiU die Gesellschaft fUr fränkische Geschichte ihr Arbeits-
feld nicht ängstlich begrenzen. Jede Art menschlicher Betätigung, soweit
sie sich durch die Mittel geschichtlicher Forschung erfassen und begreifen
läist, soll mit der gegebenen räumlichen Beschränkung auf den fränldschen
Kreis heute bayerischen Anteils und auf das Fürstentum Aschaffenburg in
den Kreis der Wiricsamkeit der Gesellschaft gezogen werden können und
Beachtung, unter Umständen auch Bearbeitung finden — natürlich nach
Maisgabe der vorhandenen Mittel und der verfügbaren Arbeitskräfte im
Lauf der Jahre.''
Nach diesem Programm soll gearbeitet werden. Die Satzungen bezeichnen
ab Zweck der Gesellschaft, „die Forschungen über die Geschichte der Ge-
biete des alten fränkischen Kreises bayerischen Anteils einschliefslich des
Fürstentums Aschaffenbuag dadurch zu fördern, dafs sie die Quellen der
politischen Geschichte, wie der Ver£assungs-, Verwaltungs- und Wirf
geschichte der Städte und des flachen Landes in diesen Gebietstf
— 286 —
Einschlufs der Kirchen-, Kunst- und Kulturgeschichte, der Münzkunde, Gene-
alogie und Heraldik in einer den Anforderungen der Wissenschaft ent-
sprechenden Weise bearbeiten läfst imd herausgibt, und zur Verwertung der
Forschungsergebnisse in abgerundeten Darstellungen anregt* ^ Sitz der Ge-
sellschaft ist Würzburg; die Mitglieder setzen sich zusammen aus Stiftern,
Patronen und Wahlmitgliedem. An der Spitze steht ein neunzehngiiedriger
Ausschufs, zu dessen Vorsitzenden Regierungspräsident Freiherr v. Wels er
(Ansbach) bestimmt wurde, während Prof. Chroust (Wttrzburg) das Amt
des geschäftsführenden Sekretärs übernommen hat. Die von der Ge-
sellschaft veranlafsten Arbeiten sollen unter dem gemeinsamen Titel Ver^
öffenilichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichie erscheinen, und
^s Neujafirsblätier sollen weiteren Kreisen abgerundete Darstellungen aus
der fränkischen Geschichte geboten werden. In materieller Hinsicht ist zn
bemerken, dafs Prinz-Regent Luitpold der jungen Gesellschaft einen Stif-
tungsbeitrag von 5000 M. hat zuteil werden lassen, während die Prinzen
Ludwig, Rupprecht, Leopold und Arnulf der Gesellschaft als Patrone bei-
getreten sind.
Yereine. — Der Vogtländische Altertumsforschende Verein zu
Hohenleuben begeht am 16. Juli festlich die Feier seines achtzig-
jährigen Bestehens. Er gehört zu den ältesten deutschen Geschichts-
vereinen überhaupt, hat 1852 den Gesamtverein der Deutschen Geschichts-
und Altertumsvereine mit gründen helfen und bis zum heutigen Tage sich
jugendliche Frische erhalten. Das rechtfertigt es, wenn auch an dieser
Stelle ein kurzer Rückblick auf die Tätigkeit des Vereins in acht Jahrzehnten
geworfen wird.
Die Anregung zur Gründung des Vereins, die am 29. Dezember 1825
erfolgt ist, hat bezeichnenderweise ein Arzt gegeben, und in diesem Um-
stände wird es wenigstens z. T. begründet sem, dafs der Verein von vorn-
herein den vorgeschichtlichen Altertümern, ihrer Sammlung und Ausgrabung
besondere Obacht geschenkt hat. Der Gründer hiefs Johann Julius
Schmidt, war Arzt in Hohenleuben und hat 46 Jahre lang bis zu seinem
Tode am 21. Mai 1872 den Vorsitz im Vereine geführt; unter ihm ist
dieser gewachsen, und in einer historisch-geographischen Schrift, Medicimsch'
physikalischrslatisHsche Topographie der Pflege Eeichenfels (Leipzig 1927,
166 S.) hat der Arzt die Früchte seiner eigenen Forscherarbeit niedergelegt.
An der Gründung des Vereins waren nur 15 Personen beteiligt, aber schon
bei der ersten Jahresversammlung (1826) zählte der Verein 63 Mitglieder,
am Schlufs des dritten Vereinsjahrs (1828) 181, im Jubiläumsjahre 1875:
334, und wenn die Zahl heute auf 212 gesunken ist, so darf nicht ver-
gessen werden, dafs an manchen anderen Orten des Vogtlandes Vereine,
die sich der Geschichte der Heimat widmen, und Museen entstanden sind,
die das Arbeitsgebiet des Hohenleubener Vereins und damit den Rekru-
tiertmgsbezirk für seine Mitglieder räumlich eingeschränkt haben.
Charakteristisch ist es für diesen Verein, dais er seinen Sitz auf einem
Dorfe hat, wenn dieses auch in reizvoller Gegend Uegt und Station der
Eisenbahnlinie Weida-Mehltheuer ist. Wohl hat es — namentlich bald nach
Schmidts Tode — nicht an Versuchen gefehlt, den Sitz des Vereins nadi
— 287 —
einer benachbarten Stadt zu verlegen, aber diese sind erfreulicherweise
bis heute gescheitert. In seinen jungen Jahren hat sich der Verein der
besonderen Huld der Landesfiirsten, der Fürsten von Reuis jüngerer Linie,
sowie der der übrigen Glieder des reuisischen Fürstenhauses erfreut. Sie
nahmen in der Regel an den im Schlofs zu Hohenleuben abgehaltenen
Jahresversanmilungen, die im Sommer stattfanden und schon vormittags ihren
Anfang nahmen, teil und stellten dem Vereine Räiunlichkeiten für seine
Sammlungen zur Verfügung. Letztere erhielten anfangs, und zwar bis 1853,
im Schlofs zu Hohenleuben Unterkunft, wurden dann einige Jahre im Orte
untergebracht und noch vor 1860 nach der nahegelegenen, dem Fürsten
Reufs-Köstrite gehörigen Ruine Reichen fels überführt. Dort befinden
sie sich noch heute im oberen Stockwerk eines ehemaligen Wirtschafb-
gebäudes, dessen untere Räume der MuseumskasteUan , zugleich Gastwirt,
})ewohnt.
Seit 1842 fanden aufser den auch aus gröfserer Feme besuchten Jahres-
versanunlungen noch andere, mehr örtliche Zusammenkünfte der Vereinsmit-
glieder statt, imd gegenwärtig sind Monatsversammlungen daraus geworden,
die Gelegenheit zum Anhören von Vorträgen und zu mannigfacher Aussprache
geben. Das Arbeitsfeld ist von Anfang an so weit gewesen wir nur denkbar;
vor allem auch die heute unter dem Namen „Volkskunde** zusammengefafsten
Forschungszweige haben stets Berücksichtigung gefunden. An die Aufzeich-
nung sprachlicher Denkmäler (Sprüche, Lieder, Sagen) , Beschreibung von
Gebräuchen u. dgl. ist hier früh gedacht worden. Aber die Ausgrabung
und Sammlung vorgeschichtlicher Funde hat doch namentlich in früherer
Zeit im Mittelpimkte gestanden, und die Sammlung von Gegenständen aus
der jüngeren Vergangenheit ist darüber vielleicht etwas vernachlässigt worden,
obgleich nach heutigem Empfinden gerade diese Dinge einen ganz besonderen
Wert namentlich als Bildungsmittel für Schule und Publikum besitzen. Da-
gegen wurde der Denkmalpflege und der Denkmalverzeichnung früh Aufmerk-
samkeit geschenkt, und demgemäfs sind Zeichnungen beachtenswerter Denk-
mäler dem Vereinsarchiv einverleibt und alte Inschriften abgeschrieben worden.
Schon im Jahre 1842 hat der Verein einen besonderen Ausschufs eingesetzt,
der für Erhalttmg und Pflege der altertümlichen Bauwerke, Denkmäler und
Ruinen des Vogtlandes Sorge tragen sollte. Anlafs dazu bot die Zerstörung
bzw. der Zerfall der Widenkirche in Weida, der Kirche zu Veitsberg und
der Klöster zu Mildenfurth und Kronschwitz. Die Mitglieder des Denkmal-
pflege-Ausschusses haben die Denkmäler dauernd besichtigt, nach Kräften
für ihre Schonung gesorgt, sie beschrieben und teilweise abgezeichnet; viele
Aufsätze in den Jahresberichien sind die Früchte dieser Tätigkeit. — Am
Schlüsse des dritten Vereinsjahres (1828) bereits wurde das ganze Arbeits-
gebet des Vereins — das Vogtland — in 1 5 Bezirke (Geschäfbführerkreise)
eingeteilt, von denen gegenwärtig einer, der zu Schleiz, noch ab „Zweig-
verein ** ^) besteht. Der jetzt längst selbständig gewordene Altertumsverein
zu Plauen i. V. ist einst ebenfalls als Zweigverein des Hohenleubener Vereins
i) Die Zweigvereine lieferten V^ ihrer Mitgliederbeiträge an den Htaptverein ab;
daftr war ihr Vorsitzender Vorttandsmitglied des Haaptvereins, der aach den Jahresbericht
des Zweigvereius unentgeltlich mitdmckte.
— 288 —
entstanden, während die jetzt in Gera, Weida und Zeulenroda be-
stehenden Vereine als seine Tochtervereine bezeichnet werden müssen.
Von den Arbeiten und Leistungen des Vereins in den vergangenen
Jahrzehnten legen die Jahresberichte Zeugnis ab; der erste erschien 1828
im Druck, und zuletzt ist der 74. und 75. in einem Doppelhefte (267 Seiten)
ausgegeben worden. Ein Register über den Inhalt sämtlicher Bände gibt
es leider nicht. Nächst den Veröfifentlichungen , die das geistige Band
zwischen allen Bestrebungen bilden und die bereits 1875 >™ Austauscb-
verkehr 103 fremden Vereinen zugänglich gemacht wurden ^), hat der Verein
seine Aufmerksamkeit den Sammlungen zugewendet. Sie ghedem sich
in Archiv, Bibliothek und Gegenständliche Sammlungen, ^t^
wie schon gesagt, zumeist vorgeschichtliche Funde enthalten; doch sind
auch die Bestände an Siegeln (979 Nummern) und Münzen (1991 Nmnmem)
nicht unbedeutend. Das Archiv enthält 173 Urkunden vom XII. — XIII.
Jahrhundert, deren Regesten im 72./73. Jahresbericht veröffentlicht sind,
sowie die verschiedenartigsten schrifthchen Au&eichnungen über Ereignisse
und Zustände aus älterer und neuerer Zeit, u. a. auch Abbildungen von
Bauwerken u. dgL Die Bibliothek enthielt 1828 im ganzen 112 Bücher;
1875 waren es 4000 Bände geworden und gegenwärtig sind es 9000.
Stellen den gröfsten Teil davon auch die im Austauschverkehr erworbenen
Schriften dar — im Jahre 1903/04 gingen 275 Bände auf dem Wege des
Austausches ein — , so ist doch allmählich in Reichenfels eine für die
Geschichte des Vogüandes recht reichhaltige Bibliothek entstanden, und in
dem zuletzt genannten Jahre wurden durch Kauf 8 Bände erworben; dies
ist flir einen Verein, der nur etwas über 11 00 M. Jahreseinnahme hat,
immerhin anerkennenswert.
Das Museum wird jetzt jährlich von etwa 800 Personen besucht Es
ist der augenfälligste Teil der Sammlungen und befindet sich in drei Zimmern
des genannten Gebäudes; der Katalog der Gegenstände zählt 2005, ^^
über Bilder, Karten usw. 1267 Nummern. Dieses Museum dürfte wohl
das älteste Dorfmuseum') überhaupt sein. Es beruht jedoch, wie an-
gesichts der Zeit, da es entstanden ist, begreiflich erscheint, nicht auf
systematischen Sammlungen; es sind auch nicht nur Fundgegenstände aus
einem bestimmt abgegrenzten Vereinsgebiet darin enthalten, sondern ganz
Thüringen und auch andere deutsche (z. B. die Rheinlande) und atiiser-
deutsche Länder (z. B. Italien und Babylonien) haben dazu beigesteuert.
Jeder Gegenstand trägt seine Etikette, auf der Katalognununer, Fundort und
Geschenkgeber verzeichnet ist, und zwar sind die Etiketten bei vogtländischen
Gegenständen von grüner, bei aufservogtländischen von roter und bei
solchen, deren Fundorte unbekannt sind — es sind nicht allzuviel — ^ von
weifser Farbe. Unter den bedeutenden vorgeschichtlichen Funden werden
so ziemlich alle für Mitteldeutschland überhaupt in Betracht konunenden
Typen vertreten sein. Ihnen hat Virchow, der beim 50 jährigen Vereins-
jubiläum 1875 ^^c Sammlung besuchte, besondere Aufmerksamkeit geschenkt
1) Gegenwärtig ist deren Zahl 145.
2) VgL diese Zeitschrift 5. Bd., S. 16 ff. die Mitteilung über Thüringische Orts-
museen! S. 20 ist besonders von Dorfmuseen die Rede.
— 289 —
und an den Schädeln Messungen vorgenommen, kraft deren er die Urbe-
wohner Ostthüringens bestimmt als Germanen und nicht als Slawen in An-
spruch nehmen zu sollen glaubt. Auf seine Veranlassung hat der Verein
1876 auch einen Teil der Funde gelegentlich der in Jena tagenden Ver-
sammlung der Deutschen anthropologischen Geselbchait dort ausgestellt
Aus geschichtlicher Zeit enthält das Museum Kirchengeräte des Mittelalters,
Folterwerkzeuge, Waffen u. dgl. , bezüglich der Gebrauchsgegenstände aus
den letzten zwei Jahrhunderten dagegen bedarf, wie schon oben bemerkt,
die Sammlung noch sehr der Vervollständigung.
Das Leben und die Tätigkeit des Vogtländischen Altertumsforschenden
Vereins in acht Jahrzehnten ist vielgestaltig gewesen, und die Früchte seiner
Arbeit liegen in greifbarer Gestalt vor. Möge er sich so weiter entwickeln,
wie es bisher der Fall gewesen ist!
Die gegenwärtig an leitender Stelle wirkenden Personen, namentlich
der Vorsitzende (seit 1901) Pastor Jahn (Hohenleuben), und die besonders
dir das Museum sorgenden Herren Robert Ei sei imd Rektor Auerbach
(Gera) bemühen sich in jeder Weise um den Verein, der erst neuerdings
wieder an den Ausgrabimgen des Klosters Kronschwitz in Verbindung mit
dem Schleizer, Geraer, Weidaer und Plauener Verein tätig ist ; dabei handelt
es sich um Feststellung des Grundrisses der Klosterkirche und die Ermitte-
lung der Begräbnisstätten der Vögte von Weida durch Beseitigung der Schutt-
massen, und bis jetzt sind auch recht befriedigende Ergebnisse erzielt worden.
An Aufgaben fUr die Zukunft mangelt es nicht. Vor allem gilt es, den
Museumskatalog durch den Druck zu veröffentlichen, denn erst durch
einen gedruckten Katalog würde die ganze Sammlung wissenschaftlich be-
nutzbar werden und zugleich an erzieherischem Wert gewinnen. Dann mufs
der Verein aber auch daran denken, seinen Sanmilvmgen ein neues Heim
zu schaffen, denn die jetzigen Räume genügen nicht mehr entfernt, und
überdies würde bei Feuersgefahr der leichte Fachwerkbau recht bald ein
Raub der Flanunen werden, so dafs mit ihm der wertvolle Inhalt verloren
wäre. Möge der Verein bald einen gangbaren Weg finden, damit die jetzt
mit Recht gehegten Besorgnisse gegenstandslos werden!
Christian Schlag (Weida).
Eing;egang;ene Bficher.
Fraknöi, Wilhelm: Papst Innocenz XI. (Benedikt Odescalchi) imd Ungarns
Befreiung von der Türkenherrschaft. Aus dem Ungarischen übersetzt
von Peter Jekel. Freiburg i. Br., Herder, 1902. 288 S. 8^. M. 4,50.
Gierl, J. v. G. : Geschichtliches aus den Nuisdorfer Matrikeln [^ Dm
Bayerische Oberland am lfm, Organ des „Historischen Vereins Rosen-
heim", 3. Jahrg. (1903), S. 39—44].
Herbert, Heinrich : Die Gegenreformation in Hermannstadt zur Zeit Karls VI.,
Mitteilungen aus den Hermannstädter Magistratsprotokollen [«b Archiv
des Vereins ftir siebenbürgische Landeskunde. Neue Folge, 29. Bd.
(Hermaimstadt 1899), S. 25 — 113]-
Köberlin, Alfred: Landbuch von Bayreuth-Kulmbach aus der Mitte f*
XV. Jahrhunderts [= Sonderabzug aus dem Archiv für OeschichiA 1
Altertumshwnde von Oberfranken, 22. Bd. (1904)].
— 290 —
Jellinek, Arthur L. : Bibliographie der vergleichenden Liteniturgeschichtr.
Erster Band. Berlin, Alexander Duncker, 1903. 76 S. 8^.
Kramer: Zur Geschichte des Zittauer Volksschulwesens im XVII. und
XVIII. Jahrhundert [= Mitteilungen der Gesellschaft für Zittaiter Ge-
schichte, Jahrg. 3 (1902) Nr. 3].
Kuske, Bruno: Das Schuldenwesen der deutschen Städte im MitteUker
[= Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, herausgegeben von
K. Bücher, Ergänzungsheft XII]. Tübingen, H. Laupp, 1904.
92 S. 8^ M. 2,50.
Losch, Philipp: Zwei Kasseler Chroniken des XVUL Jahrhunderts, ein
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173 S. 8*^. M. 2,50.
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H«ntiug«ber Dr. Annin lllle in Leipsic.
Druck nnd VerUg tod FViodrich Andr«ui Parthet, Aktieaftts«lUcbaft, Godia.
Deutsche Geschichtsblätter
Monatsschrift
nur
Forderung der landesgeschicbtlichen Forschimg
VI. Band August/September 1905 11./ 12. Heft
Das Gesangbuch und die Heimatkunde
Von
Superintendent Wilhelm Nelle (Hamm i. W.)
Dann und wann begegnet uns im Sprechsaal oder sonstwo in
unseren Zeitungen ein Stoisseufzer über die Gesangbuchsnot in Deutsch-
land, d. h. über die groise, übergrofse Zahl verschiedener Gesang-
bücher, die in den verschiedenen Provinzial- und Landeskirchen im
Gebrauche sind. Beamte und andere Leute, die oft aus einer Gegend
in die andere versetzt werden, geraten — es ist begreiflich — in
eine gewisse Aufregung, wenn sie alle paar Jahre ihre Familienglieder
mit anderen Gesangbüchern versorgen sollen. Der Übebtand ist grofs.
Fh. Dietz hat kürzlich (Marburg 1904) eine Tabellarische Nachtveisung
des Liederbestandes der jetzt gebräuchlichen Landes- und Provinstiai-
gesangbOcher zusammengestellt Er legt da 39 Bücher zugrunde; drei
davon, der Eismacher Entwurf, das Militärgesangbuch und das
Bunsen-Fischersche Gesangbuch, gehören nicht zu den „Provinzial-
und Landesgesangbüchem". Die übrigen 36 aber bilden mitnichten
den ganzen Bestand der in den evangelischen Kirchen des Deutschen
Reiches heute eingeführten Gesangbücher. Deren Zahl mag wohl
über hundert sein. Das kleine Harzgebiet z. B. hat drei verschie-
dene Stolbergische, dazu das Provinz -Sächsische, das Hannoverische
und das Braunschweigische Gesangbuch, also mindestens sechs auf
430 engem Räume. Das Wuppertal, d. h. allein die beiden Städte
Elberfeld und Barmen mit einer unablässig hin und her ziehenden
Arbeiterbevölkerung, hatte bis vor kurzem vier verschiedene landes-
kirchliche Gesangbücher im Gebrauch! Und anderwärts ist es viel-
fach nicht anders. Der Ruf nach einem einheitlichen deutschen
-evangelischen Reichsgesangbuch scheint eine so wohlbegründete, seine
Schaffung und Einftihrung eine so einfache Sache zu sein. Der Ruf
ist denn auch dann und wann erhoben worden, nicht g|y[ in Sprech-
^aalergüssen politischer Zeitungen, nein, z. B. im Jr' -^er
Preu&ischen Generalsynode, in grofser Stunde,
— 294 —
Gesangcbuch ist ein Heimatbuch. Es zeigt jedem Gau, jedem
Stamme, was Gott Besonderes im heiligen Liede ihm gab, und
damit zeigt es ihm auch, in welcher Eigentümlichkeit das kirchliche
und christliche Leben sich bei ihm ausgeprägt hat. Haben doch alle
Gaue gewetteifert im heiligen Liede! Von der Maas bis an die
Memel, von der Etsch bis an den Belt ist kein Gebiet, das nicht
seine Sänger hervorgebracht hätte. Wenn in einem Gesangbuche
alles stehen sollte, was die Rheinländer von ihren Lampe und
Tersteegen, die Sachsen von ihrem Geliert, die Schlesier von
ihren Schmolck und Woltersdorf, die Schwaben von ihrem
Hiller alles singen wollen, um nur diese Beispiele zu nennen, so würde
solch ein Buch Tausende von Liedern enthalten müssen. Darum wird
es denn wohl, wenn wir nicht für das einzelne Land und die einzelne
Provinz in unserem kirchlichen Liederbestande verarmen sollen, bei
einer gewissen Mannigfaltigkeit der Gesangbücher sein Bewenden be-
halten müssen. Diese Mannigfaltigkeit ist kein Mangel,
sondern ein Reichtum. Wir wollen gewifs alles tun, dafs der
Liederbestand in den Gesangbüchern nach Auswahl und Text- und
Melodiengestalt ein möglichst einheitlicher werde, aber wir wollen
auch alles tun, um jedem Gau die ihm seit Menschenaltem oder seit
Jahrhunderten besonders ans Herz gewachsenen Lieder, die vielleicht
für alle anderen Gaue nur geringe oder überhaupt keine Bedeutung
haben, zu erhalten. Zu beidem müssen nicht nur die Hymnologen,
nicht nur die Geistlichen, sondern die Gemeinden, das christliche Volk
mitwirken. Ihm gilt's, mit Luther zu reden, auch hierbei „auüs Maul
sehen*'. Wenn wir dann in Deutschland einige Dutzend verschiedene
Gesangbücher behalten, so wird darüber kein Verständiger klagen.
Und was die Kosten angeht, die die Anschaffung neuer Gesangbücher
beim Verziehen von Land zu Land oder von Provinz zu Provinz ver-
ursacht, so möchten wir daran erinnern, wie viel Geld — jetzt einmal
von den vorhin berührten Schulbüchern und sonstigen Lehrmitteln
ganz abgesehen — doch sonst für literarische Zwecke, für die Tages-
presse z. B. von reich und arm aufgewendet wird. Was wollen da ein
paar Mark für ein paar Gesangbücher sagen?
Die Gesangbücher, wie wir sie seit den Tagen der Reformation,
d. h. also seitdem es überhaupt ein Gesangbuch in der Hand unseres
christlichen Volkes gibt, besitzen, zeigen ein doppeltes Gesicht.
Machen wir den Querschnitt, so finden wir von Gebiet zu Gebiet, oft
von Stadt zu Stadt, andere Gesangbücher. Machen wir aber den
Längsschnitt, so finden wir gewöhnlich nach längstens fünfiög Jahren,
— 295 —
oft aber schon nach einem Menschenalter, in demselben Gebiete ein
neues Gesangbuch. Zwar manches Gesangbuch hat sich jahrhunderte-
lang erhalten. Aber dann hat es ihm wenigstens an Anhängen allerart
von neuen Liedern nicht gefehlt Im ganzen aber behält KlausHarms
recht mit seinem Ausspruche, alle fünüzig Jahre komme ein neues Gesang-
buch auf. Daus diese Tatsache in der Natur des kirchlichen und christ-
lichen Lebens, wenn dieses wirklich ein Fluis und kein Sumpf sein soll,
begründet ist, haben wir hier nicht zu erörtern. Die Erfahrung der Jahr-
hunderte, des XIX. zumal, bestätigt diesen Harmsschen Satz vollauf.
Mögen wir nun aber in der Gesangbuchsgeschichte den Längs-
schnitt oder den Querschnitt machen : auf jeden Fall erweist sie sich
uns als eine unvergleichliche Quelle für die Heimatkunde. Unser
evangelisch kirchliches Leben hat sich ja in einer Beziehung recht
einheitlich entwickelt: dem Heldenzeitalter der Reformation folgte in
allen Gebieten eine gewisse Versteifung und Erstarrung des kirchlichen
Lebens, dem blutgedüngten Acker des Volks- und Kirchenlebens zur
Zeit des Dreiisigjährigen Krieges folgte die Saat-, Blüte- und Ernte-
zeit des Pietismus ; dieser mündete um die Mitte des XVIII. Jahrhunderts
in den Rationalismus aus, und auf dessen religiöse Verflachung folgte
im XIX. Jahrhundert ein neues und tieferes Erfassen der Geheimnisse
unseres Glaubens. Kein Gebiet unseres evangelischen Deutschlands
hat sich diesen verschiedenen Bewegungen entziehen können: dort
leuchten sie flammender, dort in ruhigerem Glühen auf. Vorhanden
sind sie überall, nur dafs sie sich je nach der Stammeseigentümlich-
keit früher oder später, leidenschaftlicher oder stiller Bahn gebrochen
haben. Das erkennen wir zum g^ten Teil , oft zum besten Teil , aus
der Geschichte der Gesangbücher. Sie sind der Niederschlag dessen,
was in Zucht und Sitte, in Glauben und Beten die einzelnen Volks-
stämme errungen und behauptet haben. In dieser wunderbar viel-
seitigen Ausprägung ein und derselben kirchlichen Entwickelung je
nach dem Temperament, der Begabung, den natürlichen, politischen,
sozialen Lebensbedingungen eines Gebietes liegt eine der anziehendsten
Seiten unserer Volksgeschichte. Hier sehen wir die Geschichte unseres
christlichen Volkes gleichsam von unten; nicht von oben, aus dem
Gesichtspunkte der Herrscher, der Führer auf staatlichem oder geistigem
oder geistlichem Gebiete, sondern aus dem Gesichtspunkte dissen,
woran das Volk sich hielt und aufrichtete, was ihm zu Herzen ging
und von Herzen kam.
Die alten Gesangbücher bieten uns nun für die Kirchen- '
Volkskunde, für das sittliche und Kulturleben weit mehr als ur
— 296 —
heutigen. Diese beschränken sich meist auf die ledigliche Wieder-
gabe der Lieder, meist noch dazu ohne Noten. Ohne Noten! Das
haben wir immer wieder laut zu beklagen. Ohne Noten, das meinen wir
aber jetzt einmal in einem anderen Sinne, nicht im Sinne von Musik-
noten. Nein, wie die alten geschriebenen Kirchenbücher über Taufen,
Trauungen, Begräbnisse, so bieten auch die alten gedruckten Gesang-
bücher an Beigaben allerart so vielerlei, dafs man nach verschiedenen
Seiten hin die kirchliche wie die allgemeine Heimatkunde daraus
lebensfrisch und farbenhell machen kann.
Wir wollen im folgenden vier Gebiete aufweisen, für die die
Gesangbuchkunde als Heimatkunde von hohem Werte ist, i) die Ge-
schichte des kirchlichen Lebens, 2) die Geschichte des christ-
lichen Lebens, 3) die Geschichte der Kirchenliederdichtung,
4) die allgemeine Kulturgeschichte.
Die Geschichte des kirchlichen Lebens
So unendlich mannigfaltig die in jedem Zeiträume hervorgetretenen
Gesangbücher auch sind, zuweilen ei^bt ihre Vergleichung doch eine
überraschende Familienähnlichkeit. Es lassen sich da förmlich Ge-
sangbuchfamilien mit ihren Stammbäumen feststellen, und diese Stamm-
bäume erstrecken sich wohl gar über Jahrhunderte. Eine derartige
Verwandtschaft hat oft etwas höchst Überraschendes. DaCs der za
Wittenberg 1 524 hervorgequollene Liederstrom alsbald in ganz Deutsch-
land flutet, dafs die Wittenberger Lieder allerorten den Grundstock
der Gesangbücher bilden, wundert uns bei der Bedeutung Wittenbergs
und Luthers nicht. Aber wie kommen z. B. die Strafsburger Lieder
schon so früh in die plattdeutschen Gesangbücher, schon 1525 nach
Rostock usw. ? Nun wäre es ja verkehrt, in allen Fällen, wo die Gesang-
bücher eines Gebietes von denen eines anderen abhängig sind, ohne weite-
res eine Beeinflussung auch in allen anderen religiösen Fragen und An-
schauungen behaupten zu wollen. Aber wo eine solche Gesangbuchsver-
wandtschaft stattfindet, wird man wenigstens Anlafis und Pflicht haben, den
übrigen kirchlichen Beziehungen sorgsam nachzuspüren. Oftistesdie
Gesangbuchkunde, die den ersten Anstofs gibt, zu fragen,
ob und wie das eine Gebiet vom anderen reformatorisch an-
geregt, kirchlich und christlich befruchtet worden ist.
Einige Beispiele mögen das Gesagte beleuchten. Eine der trefflich-
sten Gesangbuchgeschichten ist die von J. Bachmann über Mecklen-
burg (Rostock 1881). In dieser durch Sorgfalt und Weitblick gleich
ausgezeichneten Untersuchung wird zum ersten Male der höchst an-
— 297 —
ziehende Stammbaum der plattdeutschen, vor allem der Rostocker
Gesangbücher sozusagen erschöpfend dargestellt. Keine andere Tat-
sache vermag die hervorragende Bedeutung der damals in vorderster
Reihe stehenden Handels- und Universitätsstadt Rostock für das weite
niederdeutsche Gebiet so mit einem Schlage ins Licht zu stellen, wie
die Verbreitung der Rostocker Gesangbücher. Das zweite Rostocker
Gesangbuch, das von 1531, hat sechzehn mehr oder weniger ver-
änderte Wiedergaben (Neudrucke) erlebt, und zwar in Rostock selbst,
in Lübeck, Wittenberg, zumeist in Magdeburg. Eine viel weitere Ver-
breitung fand ^ Rostocker Gesangbuch von 1577. Fünfundzwanzig
Drucke sind von demselben bekannt, die in einem Zeiträume von
etwa 70 Jahren, meist mit nur geringen Veränderungen des Lieder-
bestandes, vorgenommen sind. Es erschien in Neudrucken in Witten-
berg seit 1580, in Magdeburg seit 1584, in Dortmund 1585, in Greifs-
wald seit 1587, in Hamburg seit 1607, in Stettin 161 1, in Lüneburg
gleichfalls seit 161 1 und zuletzt dort noch 1649. So schlang sich
ein Band der Einheit der Anbetung im heiligen Liede um das evan-
gelische Volk in Sachsen, Pommern, Mecklenburg, Hamburg, Lüne-
burg, Westfalen. Aber das Buch ist nicht nur bis 1649 in plattdeutscher
Sprache an all den genannten Orten sozusagen nachgedruckt; es ist
auf zwei Jahrhunderte hinaus für mehrere der bedeutendsten nieder-
rheinisch-westfalischen Gesangbücher ma&gebend gewesen, mafsgebend
sowohl, was die Anordnung, als auch was den Grundstock der Lieder
angeht. Auf der Grundlage dieses Gesangbuches ruhen, wie ich in
meinen Untersuchungen über diese Gesangbücher nachgewiesen habe
(im Jahrbuche des Vereins für die Evangelische Kirchengeschichte der
Chrafschaft Mark 3. Bd., Gütersloh 1901), das Essener Gesangbuch von
1614, <^ Dortmunder von 1630, das Soester von 1714, und das der
Graüschaft Mark (vor 1721 erschienen). Seine Lieder finden sich aber
zum guten Teile auch in den übrigen westfälischen Gesangbüchern
des XVIII. Jahrhunderts. Bis dahin hatte man bei dem Essener
Gesangbuche von 1614fr. immer nur die Abhängigkeit von dem
Bonnischen Gesangbuche betont. So, der nicht überall gut unter-
richteten Vorrede des Essener Gesangbuches vom Jahre 1700 folgend,
Qrecelius (Zs. d. Berg. Gesch.- Verein V, S. 286) und noch Simons (Theol.
Arbeiten I, Bonn 1897, S. 65 f.). Meine Nachweisungen haben er-
geben, dafs das Essener Buch in ungleich gröiserer Abhängigkeit von
dem Rostocker, als von dem Bonner Buche, wenn von dieser über-
haupt die Rede sein kann, sich befindet. So neu und überraschend es war,
man mufste sich seitdem in die unbestreitbare Tatsache finden, dafis das
— 298 —
westfälische und auch das Essener kirchliche und kultische Leben im
XVI. und XVII. Jahrhundert nicht aus der rheinischen Kirche, die
doch im ganzen unter reformiertem Einflüsse stand, sondern aus
den Gebieten niedersächsisch-lutherischen Kirchentums seine
Nahrung gezogen hat.
Nicht weit von Essen dagegen, in Düsseldorf, wehte ein ganz
entgegengesetzter Wind. Die Schaffung des Essener Gesangbuches
von 1614 ist im Gegensatze zu dem Düsseldorfer von 161 2 erfolgt,
das ein Nachdruck eines reformierten, eines Herbomischen Gesang-
buches war. Die vollständige Darstellung der Geschichte der Her-
bomer Gesangbücher (seit 1589) ist ebe anziehende Aufgabe, die
noch der Lösimg harrt. Auch hier handelt es sich um eine grofse
Gesangbuchsfamilie, die hin und her im reformierten Westdeutschland
ausgebreitet war. Auf einen der interessantesten Züge im Antlitze
dieser Familie will ich doch im Vorbeigehen hinweisen, weil er noch
nirgends Erwähnung gefunden hat. Ich habe in meiner Geschichte
des Kirchenliedes (S. 81 f.) daraufhingewiesen, dafs die reformierten
Gesangbücher um 1600 an manchen lutherischen Liedern, namentlich
an denen zu den fünf Hauptstücken, Umdichtungen vornahmen.
Das von den zehn Geboten mufste sich auf die reformierte Zählung der
Gebote einrenken lassen, in den Glauben wurde eine Strophe ein-
gefügt, weil bei Luther der II. Artikel zu kurz gekommen sei, aus
„Vater unser" wurde „Unser Vater", auch dichtete man eine Strophe
hinzu, weil Luther den Lobpreis („Denn dein ist das Reich . . .*')
nicht berücksichtigt hatte. Auch sein Tauflied wurde geändert, am
auffalligsten aber sein Abendmahlslied „Jesus Christus unser HeUand".
Manche dieser Änderungen treten in den Herbomer Büchern zuerst
auf. Aber es ist höchst interessant zu sehen, wie die einen refor-
mierten Bücher diese Änderung ablehnen, die anderen jene, so dais
hier in den reformierten Gesangbüchern Westdeutschlands (Kassel,
Frankfurt u. a.) und den Herbomem selbst keine Übereinstimmung
herrscht. Woher diese Verschiedenheiten? Zufällig sind sie gewüs
nicht. Jedenfalls beleuchtet diese Tatsache aber die verschiedene,
dem Luthertume hier geneigter, dort feindseliger gegenüberstehende
Haltung der Reformierten jener Gebiete und Zeiten.
Im Zeitalter Rists und Gerhardts macht sich auf einem ganz
anderen Gebiete eine eigentümliche Familienähnlichkeit gewisser Gesang-
bücher geltend. Seit dem Jahre 1646 gaben Gesenius und De nicke
in Hannover die verschiedenen Ausgaben jenes merkwürdigen Gesang-
buches heraus, das nicht etwa aus Gründen der Lehre, sondern ledig-
— 299 —
lieh des Geschmacks an manchen bekannten Liedern die einschnei-
dendsten Veränderungen vornahm. Weit und breit in Nord- und
Nordwestdeutschland eignete man sich diese Veränderungen an. Noch
im XIX. Jahrhundert haben sie in vielen Büchern dieser Gebiete, zum
Teil bis in die achtziger und neunziger Jahre geherrscht. Es bedarf noch
der Untersuchung, ob die Gebiete, die sich diese Hannoverischen
Veränderungen aneigneten, sich nicht ziemlich genau decken mit
denen, die im XVI. Jahrhundert und bis in die Zeit des Dreifeigjährigen
Krieges durch die Gemeinsamkeit plattdeutscher Gesangbücher
bemerkenswert sind. Die obersächsischen und oberdeutschen Lande
nahmen von diesen Hannoverischen Liederumgestaltungen keine Notiz.
Im Zeitalter der Aufklärung ist Berlin das grofse Licht, das den
Tag dieser wunderlichen Aufklärung regiert. Das Diterichsche Ge-
sangbuch vom Jahre 1780 ist in vielen Ausgaben hin und her in den
preufsischen Landen teils verändert, teUs unverändert ausgegangen,
meist ohne Angabe seines Ursprunges. Die Sonderausgabe führte
sich gewöhnlich als Original in der betreffenden Gegend ein, ja es
kam vor, dafs jemand um einiger Zusätze willen, die er dem Buche
gegeben hatte, sich für seinen Urheber ausgab! Berlin war ton-
angebend auf diesem Gebiete, auch zu der Zeit, als Weimar längst
auf dem Gebiete der Literatur die anerkannte und überragende Autorität
war. Was Herder von Weimar aus über das Volkslied seinen Deutschen
in Zungen verkündigt hat, ist im XIX. Jahrhundert der Grundstein für
den Aufbau der Hymnologie, für eine neue Betrachtung des Kirchen-
liedes geworden. Damals hörte von den Gesangbuchsmachern niemand
darauf. Ja Herder selbst gab in dem Weimarer Gesangbuche vom
Jahre 1795 zwar einen ersten Teil mit unveränderten Liedern, dann
aber einen zweiten, der nach Auswahl und Textgestalt so seicht war,
wie Berlin, das Berlin Nicolais und Diterichs, es nur wünschen konnte.
Gesangbücher sind Gottesdienstbücher. Die Gesangbücher vor
der Zeit des Rationalismus geben durch die beigefügten Überschriften
zu den Liedern, durch die oft zahlreichen Register, durch die Art des
Druckes der Lieder uns die wertvollsten Aufschlüsse über Form und
Art der Gottesdienste in den verschiedenen Gebieten der deutschen
evangelischen Christenheit. Vielfach sind die Lieder als Wechsel-
gesänge gedruckt. Zwischen deutschen Strophen wurden lateinische,
die lateinischen Lieder wurden wechselweise Strophe um Strophe so
gesungen, dafe etwa der Chor (Schülerchor) die lateinische Strophe,
die Gemeinde dann ihre deutsche Übersetzung sang. Gewisse Gebiete
hatten eine besondere Vorliebe für den lateinischen Volksgesang, hier
— 800 —
und da sogar reformierte. Andere wieder haben sich der lateinischen
Lieder früh entäufsert. Die Register zu den Gesangbüchern sind nicht
selten eine wahre Fundgrube für die Kunde der für jeden einzelnen
Gottesdienst des Kirchenjahres vorgeschriebenen Lieder, auch für die
Kunde von der Bedeutung der einzelnen Sonn- und Festtage selbst
Ob und seit wann der Karfreitag, der jetzt gewissermaCsen als unser
höchster Festtag gut, aus der Zahl der übrigen Tage der stillen Woche
sich heraushob (in den meisten Gegenden ist es sehr spät, erst im
XVIII. Jahrhundert geschehen), ob und wo die Marientage und die
Aposteltage als kirchliche Feiertage begangen wurden (meist war es
bis tief ins XVIII. Jahrhundert der Fall), welche besonderen Feiern in
einer Gegend gehalten wurden, z. B. jährliche Friedens- oder Hagel-
feiern, seit wann der Neujahrstag als solcher begangen wird, seit wann
die dritten Feiertage zu Weihnachten, Ostern, Pfingsten in Abgang
gekommen sind, das sind Fragen, auf die ein sorgfaltiges Studium
der Gesangbücher für die einzelnen Gebiete oft eingehende Antwort
zutage fördert.
Die Geschichte des christlichen Lebens
Wackemagel sagt einmal irgendwo, er könne die alten, oft mit
den merkwürdigsten Spuren des Gebrauches behafteten Gesangbücher
nicht ohne Andacht betrachten; er müsse der Augen gedenken, die
auf diesen Liedern geruht, die sich in Freud und Leid daran erbaut
haben. Ja, das christliche Leben vergangener Zeiten wird durch die
Gesangbücher wohl ebenso hell beleuchtet wie das kirchliche. Der
Typus der Frömmigkeit ist für verschiedene Gebiete unseres Volkes
sehr verschieden gewesen. Die Kirchenakten sagen darüber zumeist
nichts. Es gibt keine Statistik der Frömmigkeit, der Erbauung, des
Kämmerleinchristentums. Kirchenrechnungen und Protokollbücher über-
Uefern darüber nichts. Die Gesangbücher der verschiedenen Gebiete
aber geben manchen Fingerzeig für die Beurteilung des christlichen
Lebens ihrer Bewohner. Welche Bücher waren im Gebrauche? Wann
drang der Pietismus in die Gesangbücher ein ? Welcher Anhang oder
welche Neubearbeitung brachte zuerst die „Hallischen Lieder'* ins
Gesangbuch? Erschlofs man sich, erschlofs man die kirchliche Er-
bauung dem Pietismus früh oder spät, willig oder widerwillig, still oder
unter Aufruhr, drang der Pietismus ein wie ein stilles, sanftes Sausen,
oder wie Sturm, Feuer, Erdbeben, kam es dabei zu Separationen und
Sekten, nahmen die Bücher nur die edlen Blüten aus dem pietistischen
Dichtergarten auf oder auch die Wucherblumen der chiliastischen und
— 301 —
babelstürraerischen Lieder? Wurden die Lieder Paul Gerhardts schon
vor der Zeit des Pietismus (die ersten pietistischen Gesangbücher er-
schienen etwa seit 1692 oder 1697) oder erst während derselben in
die Gesangbücher in guter und der Bedeutung des Dichters ent-
sprechender Auswahl angenommen?
Und wie war es in der Zeit des Rationalismus? Hatte man es
eilig, nach Diterichs (1765) oder Zollikofers (1766) Voi^ange ein radi-
kales Gesangbuch herzustellen? Und wenn ja: welche Lieder von
Luther oder anderen alten Sängern blieben darin, unverändert darin?
Wenn nein: hat man das alte Gesangbuch durch die ganze Zeit des
Rationalismus glücklich durchgewintert? Oder hat es einen Anhang
mit neuen Liedern bekommen? Hat die Einführung eines rationa-
listischen Gesangbuches Revolutionen in der Gemeinde zur Folge ge-
habt? Geschahen diese lediglich aus treuem Festhalten am Glauben
der Väter oder etwa auch aus Geiz, weil man die Kosten für die
neuen Liederbücher nicht aufwenden wollte? Wann ist es gelungen,
die rationalistischen Gesangbücher abzuschaffen? (In der Gemeinde
Unterbarmen schon 1824, im Braunschweigischen erst 1902.)
Manches, was in unserer Literatur über Kirchenlieder gesagt ist,
gewinnt seinen Hintergrund erst durch die hymnologische Heimat-
forschung. Der Stofsseufzer des Matthias Claudius über unveränderte
Kirchenlieder tritt ins rechte Licht, wenn wir uns die Gesangbuch-
einfuhrungen in Hamburg (1778) und Schleswig- Holstein (1779) ver-
gegenwärtigen und ins einzelne erfahren, wie man in den neuen
Büchern den Luther, Gerhardt und anderen mitgespielt hat.
In E. M. Arndts Erinnerungen atis meinem äußereren Leben
wird jedem Leser die Stelle eindrücklich gewesen sein, wo er vom
Auswendiglernen der Kirchenlieder unter Leitung seiner Mutter spricht.
Da erfahrt man denn mit Freuden aus Mohnikes Hymnologischen
Forschungen f dafs das Gesangbuch, welches in Arndts Eltemhause
und Heimatgemeinde ohne Zweifel gebraucht wurde, das für Neu-
vorpommern und Rügen, ein gar treffliches Buch war, unter dessen
652 Liedern sich mehr als 70 von P. Gerhardt befanden, und das auch
glücklich durch das ganze Zeitalter des Rationalismus durchgewintert
wurde (Mohnike, Hymnologische Forschungen I, i (1835), S. XXVI ff.;
3, S. I— 59).
Die Geschichte der Kirchenliederdichtung
Der weitaus gröfste Teil unserer Kirchenliederdichter sind Leute,
von denen die Kirchengeschichte lange keine Notiz genommen hat.
— 302 —
Männer der geringen Dinge und Tage. Ihre Lebensläufe müfeten im
Dunkel bleiben, wo nicht die landes- und ortskirchengeschichtlicbe
Forschung sich ihrer angenommen hätte und annähme. Wer auf die
Quellen blickt, die Koch in seiner Geschichte des KirchenUedes^
Tümpel in seinem Kirdienliede des XV IL Jahrhunderts auffuhrt, der
sieht, wie aufserordentlich viel die Hymnologie oder, um das umständ-
lich-altfränkische Wort hier einmal zu gebrauchen, die Hymnopoeo-
graphia, der Landes- und Ortskirchengeschichte verdankt Aber viel
Schätze ruhen noch ungehoben, manches Lebens- und Charakterbild
eines Kirchenliederdichters ist uns kaum in seinen allgemeinsten Um-
rissen bekannt. Erst seit wenig Jahren wissen wir Geburts- und Todes-
jahr und etwas von dem Leben eines Mannes wie Heinrich Held.
Und von Paul Gerhardt gar wissen wir über die Jahre von seiner
Geburt {1607) bis zu seiner Anstellung in Mittenwalde (165 1) und
dann wieder von dem letzten Jahrzehnt seines Lebens (1666 — 1676)
beschämend wenig ^). Ob es überhaupt noch möglich sein wird, Quellen
dafür fliefsen zu machen? Nur der Ortskirchengeschichtsforschung
könnte es gelingen!
Die Kulturgeschichte
Ein wie wesentlicher Teil der Kulturgeschichte die Geschichte
des Buchdruckes, der Einrichtung und Ausstattung, des Bilderschmuckes,
des Einbandes der Bücher ist, braucht hier nicht erörtert zu werden.
Ebensowenig, wie wichtig für dieses Gebiet der Kulturgeschichte die
Gesangbücher sind, die neben Bibel, Katechismus, Gebetbuch und
Kalender oft die einzigen Bücher waren, die für einen Verleger oder
„Buchführer" (Buchhändler) in Betracht kamen. Ob die Bücher Noten
hatten oder nicht, ob sie in vier- oder mehrstimmigem Satze und
grofsem Formate für den Chor bestimmt waren oder in handlichem
kleinem Formate für die Gemeinde, ob auch Instrumentalstimmen bei-
gedruckt waren, ob die Lieder in abgesetzten Verszeüen gedrudrt
waren, ob der Titel oder auch andere Teile des Buches Bilderschmuck
aufwiesen, das sind Fragen, deren Beantwortung auch auf die Bildungs-
geschichte der Zeit und des Gebietes Licht wirft. Nicht wenige Ge-
sangbücher trugen vorn das Bild der Stadt; so haben wir es bei
Büchern aus Königsberg, Berlin, Soest, Essen, Homburg vor der Höhe
i) In Bitlerfeld — Gerhardts Geburtsort Gräfenhainichen liegt im Kreise Bitterfeld
— rüstet man sich, am 1907 den dreihundertsten Geburtstag des Dichters wttrdig u
begehen, und der Vorsteher des dortigen Museums, Emil Obst, hat sich schon seit
Jahren bemüht, eine Sammlung von Gerhardt*Erinnemngen zu gründen.
— 303 —
und verschiedenen anderen gesehen. Nicht selten war aufser dem Bilde
der irdischen Heimat auch das der himmlischen, ein Bild des oberen
Jerusalem beigefügt. Oft zeigten die Gesangbücher das Bildnis des
Landesherrn, auch wohl zugleich das der Landesmutter; auch Luthers
Bildnis, oder in reformierten Büchern das von Calvin und von Lob-
wasser, findet sich wohl. Die gereimten Sprüche unter dem Städte-
bilde, namentlich auch die Widmungen der Bücher an den Magistrat
oder an den Landesherrn zeigen, wie man in dem mit groisen Kosten
hergestellten Buche eine Art Wahrzeichen und Denkmal der Herrlich-
keit und Selbständigkeit der Stadt oder des Landes sah. Monumen-
tale Kirchen zu bauen lag nicht im Bedürfnisse noch auch im Ver-
mögen des XVI., XVII. und XVIII. Jahrhunderts. Statt dessen
schuf man sich im Gesangbuche ein Bild der Bedeutung des Gemein-
wesens.
Bemerkenswert ist auch, wie kurzweilig tmd unterhaltend viele
Gesangbücher waren durch die Aufnahme von allerlei Spruchweisheit
und Lebensregeln, z. B. den verschiedenen „Güldenen ABC", oder
durch Derbheiten konfessioneller Polemik, vor allem aber dadurch,
dafs die Lieder, wenigstens soweit sie aus dem XVI. Jahrhundert
und aus vorreformatorischer Zeit stammen, in nichts an gereimte Pre-
digten oder gereimte Dogmatik erinnern, sondern in frischer und
blühender Mannigfaltigkeit des Versbaues und des Rhythmus, in der
Anschaulichkeit und Knappheit der Sprache, auch wohl in epischem
und dramatischem Vortrag der Heilsgeschichte, sich als echte Volks-
lieder darstellen.
Wir müssen abbrechen. Wir haben diese Gesichtspunkte hier
geltend gemacht, um anzudeuten, nach welchen Seiten hin die Gesang-
bücher zu erforschen sind im Interesse der Heimatkunde. Nicht als
glaubten wir den Gegenstand erschöpft zu haben. Im Gegenteil, wir
haben absichtlich jede systematische Vollständigkeit gemieden, weil
wir nur anregen wollten. Wie fem von jeder Vollständigkeit zu bleiben
wir uns bewu&t sind, mögen folgende Fragen beweisen, die wir seither
nicht berührt haben , die sich uns aber noch aufdrängen , ohne da&
wir in ihrer Aufwerftmg irgend den Gegenstand erschöpfend glaubten
behandelt zu haben. Wir wollen vielmehr nur zeigen, wie unerschöpf-
lich er ist.
1. Was sagen die Vorreden der Gesangbücher über Kirche und
Christentum, über die Zeitläufe in Welt und Staat?
2. Sind Bücher zu dem Gesangbuche als geschichtliche oder
sachliche Erläuterungen erschienen (wie das von Mähler — 1762 — zu
— 304 —
den Singenden und klingenden Bergen, das von Grischow und Kirdiner
— 1771 — zum Freylinghausen) ?
3. Sind den Liedern die Namen der Dichter beigefügt? Ist ein
besonderes Verzeichnis der Dichter im Buche selbst enthalten oder
nur als besonderes Büchlein gedruckt?
4. Wie grofe ist die Zahl der Lieder? Aus wieviel Teilen, die
in verschiedenen Zeiten entstanden sind, besteht das Buch?
5. Gibt es von dem Buche eine Ausgabe mit tauben Nummern,
d. h. mit einer Anzahl Nummern, bei denen das Lied nicht abgedruckt
ist? (Eine scheufsliche Art von Gesangbuchsauszug, wie sie in der
rationalistischen Zeit bisweilen vorkommt.)
6. Fehlen grofse und bedeutende Lieder im Buche? Etwa im
XVIII. Jahrhundert solche von P. Gerhardt? Stehen auch folgende
vier Lieder darin: „Jerusalem du hochgebaute Stadt", „Ach bleib
mit deiner Gnade", „Macht hoch die Tür", „Such wer da will ein
ander Ziel"? (Sie fehlen in vielen Büchern bis 1700 oder 1750.)
7. Stehen sämtliche Lieder Luthers darin? Welche fehlen?
8. Seit wann hat das Gebiet ein offiziell eingeführtes Kirchen-
gesangbuch? Seit wann wurden die Lieder mit Stiften auf Tafeln
an der Kirch tür angezeigt? Seit wann gibt es Nnmmertafeln ?
9. Wann zeigen sich zuerst Veränderungen in den Texten imd
welche ?
10. Was ist aus Archiven, Protokollen, Rechnungen, was aus der
Literatur, auch der schönen Literatur über einzelne Bücher zu ermitteln?
11. Besondere Segensspuren des Buches?
12. Welche Privatgesangbücher wurden neben den eigentlichen
Kirchengesangbüchern gebraucht ?
13. Wie teuer wurde das Buch verkauft? Wem fiel der Rein-
gewinn zu?
Wir könnten diese Fragen leicht vermehren. Und wir halten es
für wichtig, dafs die Freunde und Pfleger einzelgeschichtlicher For-
schung sie und manche andere dazu sich bei ihren Arbeiten stellen.
Denn es handelt sich hier nicht um die Geschichte alter Bücher so-
wohl, als vielmehr um die Geschichte kirchlichen und christlichen,
öffentlichen und häuslichen Lebens, vor allem um Kultus- und Kultur-
geschichte.
In welchem Maise das seither schon erkannt ist, soll die folgende
Bibliographie zeigen. Wir können sie , die Frucht mühsamer Arbeit,
nicht veröffentlichen, ohne an ein Zweifaches zu erinnern. Zunächst
setzen die in ihr aufgeführten Bücher durchweg die grofsen hynmo-
— 305 —
logischen Werke als bekannt voraus; deshalb haben wir diese auch
in einer möglichst knappen Übersicht vorausgeschickt. Diese gro&en
Werke bieten für die Einzelforschung au&erordentlich viel. In Wacker-
nagels bibliographischen Arbeiten über das XVI. Jahrhundert sind
z. B. nahezu alle Gesangbücher deutscher Zunge aus jener Zeit be-
schrieben ; er hat uns anderen allen da nur eine sehr spärliche Nach-
lese übriggelassen.
Sodann aber müssen wir darauf hinweisen, dals die unter II. auf-
geführten Werke zur landesgeschichtlichen Gesangbuchforschung ihren
Gegenstand sehr ungleichmäfsig behandeln. Das liegt an der Be-
schafTenheit des Stoffes : dem einen flössen die Quellen reichlich, dem
anderen aufs dürftigste. Es liegt aber auch an dem Interesse des
Bearbeiters: der eine behandelt seinen StofT trocken, bibliographisch,
lexikalisch, der andere unter sorgfältiger Berücksichtigung aller Mo-
mente der inneren Geschichte; der eine bietet nur ein Gerippe, der
andere gibt Fleisch und Blut. Diese Schriften gehen längst nicht sämt-
lich auf die Gesichtspunkte alle ein, die ich in meinen Ausführungen
geltend gemacht habe. Ich bin natürlich weit entfernt, irgendeiner
Schrift irgend den geringsten Vorwurf daraus zu machen. Niemand
kann für das bisher oft mit unsäglicher Mühe auf diesem Gebiete Er-
mittelte dankbarer sein als ich. Es lag mir nur an, für zukünftige
Arbeiten gewisse Richtlinien zu zeigen, damit sowohl die Hymnologie
als auch die Heimatkunde den rechten und vollen Gewinn aus diesen
Arbeiten ziehen könne.
Das Verzeichnis kann auf Vollständigkeit keinen Anspruch machen.
Aber es regt vielleicht die geneigten Leser dieser Blätter zur Mit-
arbeit an seiner Vervollständigung an. Ich würde für jede Mitteilung
aufrichtig dankbar sein.
I.
Die wichtigsten allgemeinen Werke über Hymnologie, die
für die Heimatforschung in Betracht kommen.
Heerwagens Literaturgeschichte der ev. Kirchenlieder. Neustadt a. d.
Aisch 1792. — J. A. Rambachs Anthologie christlicher Gesänge. Altona
und Leipzig 1817 — 1822, 4 Bde. — Dessen Heiliger Gesang der Deutschen.
Ebenda 1832 — 1833, ^ ß^^- — P^* Wackernagel, Das deutsche Kirchen-
lied. Stuttgart 1841. — Dessen Bibliographie. Frankfurt a. M. 1855. —
Dessen Deutsches Kirchenlied. Leipzig i864flf., 5 Bde. — £. £. Koch,
Geschichte des Kirchenliedes und Kirchengesanges. Stut^art 1 866 ff., 8 Bde. —
W e 11 e r , Annalen zur Geschichte der deutschen Nationalliteratur. — K.Gödeke,
Literaturgeschichte, 2. Aufl. — J. Zahn, Die Melodien der ev. Kirchen-
— 306 —
lieder. Gütersloh iSSqAT., 6 Bde., bes. Bd. VI („Die Quellen"). —
W. Bäumker, Das katholische deutsche Kirchenlied in seinen Singweisen«
3 Bde. Freiburg i. B. i886fr. — A. Fischer, Kirchenliederlexikon,
2 Bde. Gotha iSySf., Supplement i886. — John Julian, A dictionary
of hymnology. London 1892. — R. v. Liliencron, liturgisch -musi-
kalische Geschichte der ev. Gottesdienste von 1523 bis 1700. Schlesw^
1891. — J. Smend, Die ev. deutschen Messen. Göttmgen 1896. —
Ph. Dietz, Die Restauration des ev. Kirchenliedes. Marburg 1903. —
W. Tümpel (t A. Fischer), Das deutsche ev. Kirchenlied des XVII. Jahr-
hunderts. Gütersloh 1904^. (bis jetzt 2 Bde.).
Die Zeitschriften: Siona (seit 1876), Blätter für Hymnologie
(1883 — 1889. 1894), Monatschrift für Gottesdienst und kirch-
licheKunst (seit 1896, nachstehend abgekürzt : MGkK.). Dazu die I^andes-
und Provinzialzeitschriften flir Geschichte und für Kirchengeschichte.
II.
Die hymnologischen Forschungen zur Landes- und
Provinzialkirchengeschichte.
Wir beginnen mit den beiden Gebieten, in welchen die ersten *)
Forschungen dieser Art hervorgetreten sind, Pommern (1830. 1831)
und Rheinland-Westfalen (1843). Daran schlieCsen sich die
übrigen preufsischen Provinzen, dann die deutschen Länder, endlich
das deutsche Ausland.
Pommern.
G. Mohnike, Hymnologische Forschungen I, Geschichte des Kirchen-
gesanges in Neuvorpommem. Stralsund 1831. Die Dichter, Lieder
und Melodien des Stralsund. Gb. Stralsund 1830. Die Lieder, Dichter
und Melodien des Gb. für Neuvorpommem und Rügen. Stralsund 1830.
Rheinland- Westfalen.
C. H. E. von Oven, Die ev. Gbb. in Berg, Jtilich, Cleve und der Graf-
schaft Mark seit der Reformation. Düsseldorf 1843.
A. Wolters, H. Wilcken und die Kirchenordnung von Neuenrade (1564),
Zeitschrift des Berg. Gesch. -Vereins II, 1865.
W. Crecelius, Die ältesten protest Gbb. am Niederrhein. Zeitschrift des
Berg. Gesch.- Vereins V, 1868.
K. Kr äfft, J. Neander. Theol. Arbeiten des Rhein. Predigervereins IV.
Elberfeld 1880, 46 (enthält Wertvolles zur Rheinischen Gb.Geschichte).
K. K rafft, Hymnologische Studien zum alten (1835) ^^^ neuen rheinisch-
westfälischen Gb. Ebenda 1892, ti8.
W. Nelle, Das Ev. Gb. von 1835 hymnologisch untersucht (enthält die
Geschichte dieses Gb.). Essen 1883.
i) Es soU nicht nnenfrähnt bleiben, dafs bereits Torher ein katholisches Schrifl-
chen: Johann Wolf, Kurze Oeaehiehte dea deutseken Kirchengeaang$ im EichafeUe
(Göttingen 181 5, 95 S.) erschienen ist.
— 307 —
W. Nelle, Das £v. Gb. und die Gemeinde. Dortmund 1890 (enthält einen
Überblick über die Geschichte der rhein.-westf. Gbb.).
W. Nelle, Gerhard Tersteegen. Gütersloh 1897 (enthält Untersuchungen
über (fie Privatgesangbücher am Niederrhein).
W. Nelle, Meier und Gesenius. Jahrbuch des Vereins f. Kirchengesch.
d. Grafsch. Mark I, 1899 (enthält eben Überblick über (fie Lieder-
geschichte Westfidens).
W. Nelle, H. Wilcken und die Kirchenordnung von Neuenrade. Ebenda
n, 1900.
W. Nelle, Die Gbb. von Dortmund und Essen. Ebenda III, 1901.
W. Nelle, Die Gbb. von Soest und Lippstadt. Ebenda IV, 1902.
H. Rothert, Das Soester Gb. von 1723. Ebenda VI, 1904, 172.
H. Rothert, Eine Gb.-Revolution. Ebenda VII, 1905, 195.
Simons, Ein vergessenes luth. Gb. aus dem Rheinland [Essen 1616].
Theol. Arb. des Rhein. Predigervereins. Neue Folge I. Freiburg 1897, 95.
Simons, Ein Herbomer Gb. von 1654 und seine Verwandtschaft mit
niederrhein. und Straftb. Gbb., MGkK. II, 1898, 311 (d. Düsseldorfer
Gb. von 16 12).
Berlin. Provinx Brandenburg.
J. F. Bachmann, Zur Geschichte der Berliner Gbb. Berlin 1856.
J. F. Bachmann, Die Gbb. Berlins. Ein Vortrag. Berlin 1857.
J. Zahn, Crügers Praxis pietatis. Bl. f. Hymnol. 1889, 71.
Sachsen«
A. Fischer, Kirchenlieder-Lexikon I, 1878, XV — XXm (Mitteilungen Über
die Gbb. der Provinz Sachsen).
Ed. Jacobs, Ein Magdeburger niederdeutsches Gb. Geschichtsblätter für
Magdeburg 1871, H. 2.
Götze, Ein Magdeburger Gb. von 1543. Ebenda 1870, H. 3.
A. Fischer, Das Franckesche Gb. von 1588. Ebenda 1869, H. 3»
A. Fischer, Das Magdeburger Gb. von 1654. Ebenda 1871, H. 3.
A. Fischer, Ein Magdeburger Gb. von 1621. Bl. f. Hymnol. 1886, 78.
A. Fischer, Das Magdeburger Gb. von 1805. Ebenda 1888, 3.
A. Fischer, Das Gb.-Wesen in Magdeburg. Ebenda 1889, 36.
G. Schulze, Denkschrift über das Altmärkisch -Prieisnitzsche Gb. Salz-
wedel 1884.
J. Wegener, Das erste Wittenberger Gemeinde-Gb. MGkK. IV, 1899, 7.
Ost- und V^^estpreufsen*
F. Zimmer, Königsberger Kirchenliederdichter und Kirchenkomponisten.
Altpreufs. Monatschrift XXII, H. i und 2.
Posen.
Schlesien.
J. Mut Zell, Geistl. Lieder von Dichtem aus Schlesien, I. Braunschweig 1858.
G. Koffmane, Zur schlesischen Hymnologie. Korrespondenzblatt des Ver-
eins f. Gesch. d. ev. Kirche Schlesiens I, 1882, 27.
23
— 808 —
G. Ellinge r, Angelus Silesius' Cherubinischer Wandersmann. Haue a. S.
G. Ellinger, Angelus Silesius' Heilige Seelenlust. Haue a. S. 1901.
Hannover.
L. Baetge, Historische Nachricht von dem Ltinebuiger Gb. 1794.
Röbbelen, Die Entstehung des Hannoverischen und Lüneburgischen Gb.
Petris Zeitblatt 1849.
Sarnighausen, Das Hannoverische Gb. Viertel). Nachrichten, 1853. 1855.
W. Bode, Die Singweisen des Hannov. Gb. Viertel). Nachrichten 1871.
W. Bode, Quellennachweis über die Lieder des Hannov. und des Lüneb.
Gb. Hannover 1881, bes. S. i — 32.
W. Bode, Das Lüneburgische Gb. Hannov. Volksschulbote 1867.
W. B o d e , Zur Geschichte des einheimischen Choralbuchwesens. Ebenda 1875.
W. Bode, Ergänzungen über Lüneburger Dichter und Tonkttnstler. Siona.
1892, 95—132 ff.
Schleswig-Holstein.
W. Möller, Schleswig-Hobteins Anteil am deutsch-ev. KirchenUede. Zeitschr.
d. Gesellschaft f. Schleswig- Holstein -Lauenburgische Geschichte XII^
1887, IS9-
Carstens, Die geistL Liederdichter Schleswig-Holsteins. Ebenda XVII.
C. J. Brandt, Vore danske Kirke-Salmeböger fra Reformationen til Nu-
tiden, Kjobenhavn 1886.
Nassau.
Über die Herborner Gbb. s. W. Crecelius a. a. O.; K. Krafft
a. a. O.; W. Nelle, BL f. Hymnol. 1885, 171; A. Fischer, ebenda
1886, 23; W. Nelle, ebenda 1886, 87; Simons, MGkK. II, 311.
Prankfurt a. M.
W. Diehl, Ein Gb. aus der Drackerei von W. Han in Frankfurt a. M.
(1550—1562). MGkK. IV, 1899, 255.
Hessen-Kassel. Hessen-Darmstadt
E. Ranke, Das Marburger Gb. von 1549. 1862.
A. F. C. Vilmar, Abrifs einer Geschichte der niederhessischen Gbb. bis
zum Jahre 1770. Zeitschrift des Verebs für Hessische Geschichte und
Landeskunde. Neue Folge I. 1867, 204.
W. Diehl, Das Catzenelenbogener Gb. von 1633 und die Marburger Gbb.
von 1635 — 1668. MGkK. VI, 1901, 13.
W. Diehl, Zur Geschichte der Gb. -Bewegung in Hessen -Dannstadt 1771
bis 1773. Ebenda 225.
W. Diehl, J. J. Rambachs neueingerichtetes Hessen - Darmstädtisches
Kirchen-Gb. Ebenda V, 1900, 254.
Hamburg.
J. Geffcken, Die Hamburgischen niedersächsischen Gbb. des XVL Jahrh.
. . . mit einer Einleitung über ... die Gbb. in Hamburg seit der Re-
formation. Hamburg 1857.
— 309 —
J. H. Hock, Bilder aus der Geschicfate der Hamburgischen Kirche seit
der Reformation. Hamburg 1900.
J. H. Hock, Die Hamburgischen Liederdichter im Hamburgischen Gb.
(Vortrag.) Hamburg 1901.
Bremen.
Ev. Gb. der Bremischen Gemeinden. Bremen 1873, Vorwort S. V — ^Xin.
J. Fr. Iken, Der Bremische Kirchenliederdichter L. Laurenti. 1887 (in
einer Bremer Zeitschrift).
Lübeck.
C. W. Pauli, Geschichte der LUbeckischen Gbb. Lübeck 1875.
Oldenburg.
Mecklenburg.
C. M. Wiechmann-Kadow, J. Slüters ältestes Rostocker Gb. Schwerin
1858.
C. M. Wiechmann, Mecklenburgs altniedersächsische Literatur. Schwerin
1864 fif.
J. Bachmann, Geschichte des Ev. Kirchengesanges in Mecklenburg, ins-
besondere der Mecklenburgischen Gbb. Rostock 1881.
Braunschweig.
Schauer, Ev. Hymnologie des Herzogtums Braunschweig. Reuters Allg.
Repertorium. Berlin 1855.
Chr. Oberhey, Erster Beitrag zur Geschichte der Gesangbuchsreform im
vor. Jahiii. Braunschweig 1880.
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Braunschweig 1898.
Waldeck.
C. Curtze, Geschichte des ev. Kirchengesanges und der ev. Gbb. im
Fürstentum Waldeck. Arolsen 1853.
Thüringen.
J. Vahrenkamp, Thüringens Kirchenliederdichter. Magdeburg 1885.
J. Vahrenkamp, Kirchenlieder-Musterkasten. Erfurt 1887.
W. Tümpel, Die Gb.-Frage in Thüringen. Bl. f. Hymnologie 1886, 93.
98. 116.
Sachsen-Altenburg.
W. Tümpel, Zur Altenburgischen Hymnopöographie. Bl. f. Hymnologie,
1885 — 1889 und Siona 1892.
W. Tümpel, Zur Geschichte der Altenburgischen Gbb. Mitteilungen des
Vereins für Geschichts- und Altertumsktmde zu Kahla und Roda. IV,
1894, 503.
[Frank] Das Altenburgische Gb. Altenbuig 1855.
F. Berghänel, Zurückweisung unbegründeter Herabwürdigung. A)<v'
1855-
28*
— 310 —
Sachsen-Weimar.
J. G. Herders Werke, heratisgeg. von B. Suphan. XXXI. Berlin 1889,
S. 707 (3 Vorreden zu Weimarischen Gbb.).
Schauer, Herders Weimarisches Ob. v. J. 1795. TheoL liteiaturUatt
zur Allg. Kirchenzeitung. Darmstadt 1856.
Sachsen-Coburg-Goüia.
W. Tümpel, Geschichte des ev. Kirchengesanges im Herzogtum Gotha.
I. Geschichte des Gothaischen Gb. Gotha 1889. n. Die Gothaischen
Kirchenlieddichter. Gotha 1895.
Königreich Sachsen.
F. Dibelius, Zur Geschichte der luth. Gbb. Sachsens seit der Reformation.
Beiträge zur Sächsischen Kirchengeschichte, i. Heft. Leipzig 1882.
J. Linke, Das Zittauer lateinische Gb. Bl. f. Hymnologie 1885, 162.
Ho ff mann, Die ältesten Gbb. Leipzigs. Leipzig 1904.
Bayern.
A. Fischer, Liederdichter des Nürnberger Gb. von 1676. BL t Hym-
nologie 1889, 67. 89.
M. Herold, Alt -Nürnberg in seinen Gottesdiensten. Em Beitrag zur Ge-
schichte der Sitte tmd des Kultus. Gütersloh 1890.
Württemberg.
Süskind, Zur Geschichte des Württembergischen Gb. von 1791. £▼.
Kirchen- und Schulblatt f. Württemberg. 1855. 1856.
R. Günther, Unser Württembergisches Gb. [1842] vom Standpunkt der
neueren Gb.-Bewegung. Waiblingen 1904.
Baden.
A. Eisenlohr, Das neue Gb. für die ev. Kirche im Groüiherzogtum Baden.
Bl. f. Hymnologie 1883, 165.
Konstanz.
Fr. Spitta, Die Lieder der Konstanzer Reformatoren. L MGkK. n, 1898,
350. n. A. Blaurer. Ebenda 370. III. J. Zwick. Ebenda in, 323.
Fr. Spitta, Das Konstanzer Gb. in räto-romanischer Gestalt. Ebenda m,
178.
F. Cohrs, Ein Liederbuch von J. Zwick. MGkK. II, 1898, 346.
Elsafs. Strafsburg.
F. Hubert, Die Straftburger liturgischen Ordnungen im Zeitalter der Re-
formation nebst einer Bibliographie der Strafsburger Gbb. Göttingen 1900.
F. Hubert, Butzers Gb. (1541). MGkK. III, 52.
K. Budde, Zum Straftburger Gb. im XVIIL Jahrhundert Ebenda V, 220.
Fr. Spitta, „Allein zu dir, Herr Jesu Christ**. Ein Beitrag zur bymno-
logischen Geschichte des Elsasses. Ebenda Vm, 1903, 232.
— 811 —
[Gerold namens der Gb.-Konunission], Plan zu einem neuen Ob. fiir Elsaß-
Lothringen. Stra&burg 1897.
[Die Kommission], Rechenschaftsbericht. [Stra&burg 1898.]
Die Schweiz.
H. Weber, Der Kirchengesang Zürichs. Zürich 1866.
H. Weber, Geschichte des Kirchengesanges in der deutschen reformierten
Schweiz seit der Reformation. Mit genauer Beschreibung der Kirchen-
Gbb. des XVI. Jahrhunderts. Zürich 1876.
Chr. J. Riggenbach, Der Kirchengesang in Basel seit der Reformation.
Basel 1870.
Th. Odinga, Das deutsche Kirchenlied der Schweiz. Frauenfeld 1889.
Böhmen«
Jirecek, Hymnologia bohemica. Prag 1878.
R. Wölk an, Das deutsche Kirchenlied der böhmischen Brüder. Prag 1891.
J. Linke, Das Niemeser Gb. zur Förderung der Gegenreformation in
Böhmen (i7i5). Bl. f. Hymnologie 1885, 137.
Kurland.
G. Seesemann, Zur Geschichte des deutschen Gb. in Kurland in den
letzten 50 Jahren. Mitteilungen und Nachrichten für die ev. Kirche
in Rufsland, 41. Band. Riga 1885, 531.
Deutsehe Siedelungen in der Provinz Posen
Von
Kurt ' Schottmüller (Posen)
In einem Nachwort zu Wittes Aufsatz: Wendische Bevotkerungs-
reste im westlichen Mecklenburg hat der Herr Herausgeber dieser
Zeitschrift *) die Notwendigkeit betont, die Geschichte der Kolonisation
und Germanisation des östlichen Deutschland noch eingehender zu
ei^ründen. Auf das Fehlen einer Gesamtdarstellung dieses wichtigen
Prozesses wie der dafür nötigen Vorarbeiten wies er hin und gab
selbst Fingerzeige, wie etwa Einzeluntersuchungen in engerer terri-
torialer und zeitlicher Begrenzung namentlich in den ostelbiscben
Gebieten vorzugehen hätten. Wie sehr überhaupt diese Fragen das
Interesse weiter Kreise von Geschichtsfreunden in Anspruch nehmen,
zeigte sich einige Monate später: auf der Hauptversammlung des Ge-
samtvereins deutscher Geschichts- und Altertumsvereine beschäftigten
sich am 9. August 1904 zu Danzig mit der Erforschung der deutschen
I) VgL 5. Bd., s. 235—237.
— »12 —
Siedelung in dem einst slawischen Osten nicht weniger als drei grofee
Referate. Von Warschauer, Schumacher und van Nissen'),
deren jeder auf einem anderen provinziellen Arbeitsgebiete, nämlich in
Posen, Preufsen und Pommern, tätig ist, wurden die wichtigsten für
Einzeluntersuchungen in Betracht kommenden Fragen auf diesem Arbeits-
felde formuliert. Und dies geschah jetzt noch eingehender und unter
noch verschiedenartigeren Gesichtspunkten, als dies der Altmeister
agrarhistorischer Forschung, August Meitzen, auf dem Nürnberger
Historikertag 1898 getan hatte *).
Wenige Wochen nach der Danziger Versammlung — noch ehe
jene drei Vorträge im Wortlaut vorlagen — erschien ein Buch, das
den in Danzig gestellten Forderungen zwar nicht allgemein, aber
doch zu einem groCsen Teile auf territorial begrenztem Gebiet gerecht
zu werden suchte: Schmidt, G^eschickte des Deutschtums im Lande
Posen unter polnischer Herrschaft (Bromberg, Mittlersche Buchhand-
lung [A. Fromm], 1904. XII, 442 S., 25 Abb. und 2 Karten). Der Ver-
fasser dieser fieifsigen und gründlichen Arbeit hatte die Entwickelung
des deutschen Volkstums in Posen durch einen Zeitraum von 600
Jahren zu verfolgen; zu den Schwierigkeiten, die wegen des Quellen-
materials schon jede siedelungs- und bevölkerung^geschichtliche Unter-
suchung darbietet, traten hier noch zwei besondere. Einmal war die
Zahl der verwendbaren Vorarbeiten auf diesem Gebiete ziemlich be-
schränkt, nur für die erste Hälfte seiner Darstellung lagen sie vor,
für die zweite Hälfte des' Buches, die Zeit vom XVI. bis XVIII. Jahr-
hundert, mulste erst in längeren archivali^chen Studien das Quellen-
material herbeigeschafft und verarbeitet werden. Die zweite Schwierig-
keit liegt in dem Inhalt der Aufgabe: denn von vornherein ist zu
betonen, dafs das Posener Land in den Ergebnissen deutscher Siede-
lung abseits von den anderen ostelbischen Kolonialgebieten steht:
während Brandenburg, Mecklenburg, Pommern, Schlesien und Preufsen
allmählich doch den völligen Sieg der deutschen Rechts- und Wirt-
schaftsformen erlebten und in ihrer nationalen Zugehörigkeit über-
wiegend deutsche Länder wurden, behaupteten in Posen doch wichtige
soziale Klassen ihre alten slawischen Rechtsanschauungen und Rechtsein-
richtungen; und vor allem der enge politische Zusammenhang mit dem
Polenreicb blieb gerade in den bedeutungsvollen Jahrhunderten für
i) KorrcspondeoxbUtt det Gesamtvereins der deutschen Geschichts- and Altertums-
▼ereine Jahrg. 53, Sp. 1—23.
2) Ebenda Jahrg. 46, S. 76 ff. Vgl. anch Bd. 6 seines Werkes Der Boden und die
landwirtsehaflliehen Verhältnisse des preußischen SkuUes, 1896.
— 813 —
die nationale Geltung dieser Gegenden nach aufeen maisgebend.
Posen ist eben seinerzeit nie völlig germanisiert worden, und das legte
die Notwendigkeit nahe, viel eingehender als bei den anderen ost-
elbischen Siedelungsgebieten die Rechts- und Verfassungsverhältnisse
und die nationalen Strömungen der slawischen Bevölkerung zu be-
trachten, die dem Deutschtum hier hemmend entgegentraten. Aus
diesen Schwierigkeiten erklärt es sich, dafs in dieser Arbeit nicht alle
der von Warschauer u. a. in Danzig angestellten programmatischen
Fragen beantwortet und berührt worden sind, dafs einige auch hier
imaufgehellt blieben. Das Buch, als erste Gesamtdarstellung von den
Schicksalen unseres Volkstums im Posener Land durch sechs Jahr-
hunderte hindurch und als wichtiger Beitrag der allgemeinen deutschen
Siedelungsgeschichte, hat aber auch in dem, was es bietet, — es ist
des Neuen genug — gewifis Anspruch auf unsere dankbare An-
erkennung.
Den Hauptinhalt bilden die beiden grofsen deutschen Einwande-
rungen im XIIL/XrV. und XVII./XVIII. Jahrhundert und die weiteren
Schicksale dieser Deutschen im Posener Lande. Als Einleitung dazu
wird die vorhergehende Zeit kurz beleuchtet. An die Darlegung der
geologischen und prähistorischen Verhältnisse Posens knüpft die der
ersten Beziehungen zu den westlichen Nachbarn, den Deutschen an.
Das zur Ottonenzeit ihm aufgezwungene Verhältnis der Abhängigkeit
von den deutschen Herrschern lockert das Polenreich bei seinem Er-
starken unter so tatkräftigen Fürsten, wie Boleslaus Chrobry, immer
mehr, um es nach Friedrich Barbarossas Posener Feldzug — der
letzten Geltendmachung deutscher Lehnsobergewalt — ganz abzustreifen.
Wie sehr die Loslösung der polnischen Kirche aus dem deutschen
Diözesanverbande durch Otto III. hier unheilvoll mitgewirkt hat, wird
auch von Schmidt natürlich betont. Nach den auswärtigen Beziehungen
werden die inneren Zustände Altpolens dargelegt: die Entwickelung
der Staatsverfassung zu einer absoluten Fürstengewalt, die soziale
Gliederung in Opelebauem und Leibeigene, das Eindringen des durch
die Deutschen vermittelten Christentums als der ersten und einzigen
Kulturmacht der Zeit, der Kirche als der bedeutungsvollsten damaligen
Organisation. Allerdings die deutschen Pioniere dieser Kultur, Kleriker,
Handwerker, Bauern sind in ihrer Vereinzelung fern der Heimat dem
eigenen Volkstum verloren und im Polentum aufgegangen.
Weit bedeutungsvoller aber als dieser erste Einschlag deutschen
Wesens wurden im XIII. und XIV. Jahrhundert d«' " Einwanderer-
scharen, in denen deutsche Bürger und Bar zogen;
— 314 —
diese starke Bevölkerungsverscbiebung erklärt Schmidt aus gewissen
wirtschaftlichen und sozialen Erscheinungen in Polen und Deutschland.
Die seit den Kreuzzügen in Westeuropa, den Mittelmeerländem und
in Deutschland einsetzende Verschiebung der wirtschaftlichen Ver-
hältnisse, der beg^nende Übergang von der Natural- zur Geldwirt-
schaft, das Aufkommen ganz neuer Bedürfnisse nach vervollkommneter
Lebensführung macht sich auch in Polen bemerkbar, wo Fürst und
Grundherren aber von ihren Untertanen gemäOs ihrer rein natural-
wirtschaftlichen Arbeit stets nur Naturalleistungen, nie Geldzins er-
warten durften. Einnahmen in Bargeld lieisen sich da nur von
kapitalkräftigen Kolonisten erwarten, von deren Einwanderung beretlB
der Ungarkönig Geisa in seinem Lande grofsen Nutzen gezogen
hatte. Dieser polnischen Nachfrage nach wertschaffenden Arbeits-
kräften kam zu gleicher Zeit ein starkes Angebot produktiver Mensdien-
bände aus Deutschland entgegen, wo bei steigender Kultur und
namentlich bäuerlichem Wohlstande, bei sehr starker Bevölkerungs-
zunahme, bei der Besetzung alles rodungs- und anbaufähigen Bodens
der Nahrungsspielraum viel zu knapp wurde und zur Auswanderung
trieb. Auf die Frage, ob diese Scharen schon unterwegs auf dem
Marsche organisiert waren, etwa gefuhrt von dem späteren Lokator,
dem beauftragten Unternehmer, geht Schmidt nicht ein. Ihrer Her-
kunft nach erklärt er diese Kolonisten — allerdings ohne besondere
Begründung — iür Zuwanderer aus Schlesien. Da nun die Kirche
die einzige umfassende internationale Organisation war, so nahmen
die Polenfürsten zur Gewinnung der Kolonisten geistliche Vermittelung
in Anspruch; vornehmlich die der deutschen Zisterzienserklöster im
Lande, die mit grofsem Grundbesitz dort beschenkt waren und zu
dessen Urbarmachung und rationellster Bebauung sie deutscher Ar-
beitskräfte benötigten. Zum ersten Male ist von der Ansetzung deut-
scher Bauern die Rede im Jahre 1210, als Herzog Wladislaw Odonicz
zu diesem Zwecke dem Zisterzienserabt Winemar. von Pforta Land-
stücke bei der Burg Priment überwies. Schlesische Klöster, wie Leubus
und Heinrichau, aber auch grofispolnische , wie Lekno, folgten dem
Beispiel der Meliorationen durch deutsche Bauern. Den deutschen
Bürgern errichtete der Polenherzog Heimstätten in Gnesen, Powidz,
Kostschin (1243 und 125 1), die als deutsche Städte besiedelt wurden,
und denen sich zwei Jahre darauf die deutsche Gründung Posens, der
Landeshauptstadt, als bedeutungsvollste anschlofs. Als neue Zister-
zienserklöster mit aus Deutschland zugewanderten Mönchen entstanden
Obra, Paradies, Biesen und Priment, umgeben von Grundbesitz und
— 316 —
deutschen blühenden Dörfern; als neue Städte zu deutschem Rechte:
Schrimm, Meseritz, Bentschen, Schwerin a. W., Exin, Inowrazlaw u. a. ;
auf dem platten Lande, namentlich durch Stifter und Klöster begründet,
eine kaum übersehbare Menge von Dörfern ; die adeligen Grundherren
begannen erst später, etwa seit 1270, mit der Anlage deutscher Dorf-
siedelungen. Die Zusammenstellungen Schmidts von deutschen Dorf-
gründungen im XIII. Jahrhundert an der Hand des Codex d^hnuUicua
Maiaris PoUmi(»e sind doch immerhin umfangreicher als die Roepells ^),
dem jene Urkundenveröffentlichung noch nicht vorgelegen hat. Der
von Schmidt zusammengebrachte Stoff spricht doch sehr fUr War-
schauers in Danzig allgemein ausgesprochene Vermutung, da£s in
den ersten Jahrzehnten die deutschen Dorfansiedelungen sich über-
wiegend auf kirchlichem Grund und Boden fiamden, weil die dortigen
Exemtionen allein den Rechtsboden für die neuen Ankömmlinge
boten, die nicht den Lasten und Fronden des polnischen Rechts
imterstehen wollten *). Daraus ergibt sich auch, dafis später jeder An-
setzung von Bauern zu deutschem Rechte auch auf weltlichem Grunde
erst eine Befreiung des zu besiedelnden Bodens von allen Pflichten
des polnischen Rechtes vorherzugehen hatte, denn der Kolonist brachte
eben aus der deutschen Heimat den Grundsatz mit, dafs derjenige,
der aus wüster Einöde Kulturland schuf, sich dadurch die persönliche
Freiheit gewann, worin Schmidt die ursprüngliche Bedeutung des
deutschen Rechtes als der Vorbedingung jeder deutschen Ansiedelung
sehen wUl. Dafs die Träger dieses ins iheutonicum wirklich Deutsche
waren, beweist Schmidt aus häufigen ausdrücklichen Angaben der
Urkunden; daüs daneben in die Ansiedelungen einzelne polnische
Kmeten zuweUen aufgenommen und der deutschen Rechtswohltaten
teilhaftig geworden sind, ist nicht ausgeschlossen ; die von den Fürsten
mit den Werbungs- und Ansiedelungsgeschäften betrauten Unter-
nehmer oder Lokatoren hält Schmidt ihrem Berufe nach für deutsche
Kaufleute, die durch ihre Handelsreisen das Land g^t kannten. Die
Gegenüberstellung der Rechte und Pflichten der Lokatoren zeigt, wie
gewinnreich ein solches Unternehmen im Falle guten Gelingens sein
konnte. An der Dorfgemeinde fallt zumeist der genossenschafUiche Geist
bei Handhabung der Wirtschaftsordnung auf und die völlige Freiheit von
Diensten während des XIII. Jahrhunderts ; als alleinige Pflicht gegen
den Staat gilt die Kriegshilfe im Falle feindlichen Einbruch^
minder wichtig war der Lokator bei den Städtegründunge
1) QuehiehU Polens I, Beilage 18.
2) KorrespondensblaU des Gesamtvereins usw., Jahrg. 53, Sp. ^
t^^i.
— 316 —
den Dörfern das erbliche Schulzenamt, so erhielt er in den Städten
die Vogtei, auf Jahrzehnte hinaus die einflufsreichste Stellung'. Es
erscheint der Vogt in den Magistratslisten stets an erster Stelle,
denn das Bürgermeisteramt läfst sich erst im XIV. Jahrhundert nach-
weisen. Lehnt sich die Stadtverfassung dieser neuen Städte £ast ganz
an die heimische deutsche an, so ist doch hier in der Fremde, wo
der Widerstand althergebrachter Verhältnisse eben wegfiel, manch
schnellere Weiterentwickelung zu beobachten: so handhabte das
Schöffengericht in Grofispolen im Gegensatz zur alten Heimat nicht
bloüs die niedere Gerichtsbarkeit, sondern sogar den Blutbann. Für
die rechtliche Seite der Stadtgründungen ist es wichtig, dals zu An*
fang der Einwanderungen den Ansiedlem in allgemeinem Ausdruck
das deutsche Recht {ius thetäanicale) verliehen wird, dessen einzelne
Bestimmungen damals vor seiner schriftlichen Aufzeichnung eben auch
den Polenherrschern unbekannt waren. Die späteren Kodifikationen
werden im Posener Land als Neumarkter Recht 1238, als Magde-
burger Recht erst 1253 in Verleihungen genannt. Für die ersten
deutschen Ansiedler galten als Inhalt des „deutschen Rechts'* in Polen
nach Schmidt „die drei Grundsätze: i) Befreiung von allen Lasten
des polnischen Rechts, 2) persönliche Freiheit, 3) die Befugnis, das
öffentliche Leben bis zu einem gewissen Grade selbständig zu ordnen".
Den charakteristischen Bebauungsplan in der Anlage der Posener
Städte führt Schmidt auf das Vorbild niedersächsischer Marktansiede-
lungen wie Magdeburg, Merseburg, Naumbui^, Stendal zurück; in
noch weiterer Verfolgung des Ursprungs dieses Schemas hat War-
schauer letzthin ') auf mancherlei Übereinstimmungen mit den römischen
Feldlagern hingewiesen.
Gegen diese deutschen Masseneinwanderungen regt sich schon
vor Ablauf des XIII. Jahrhunderts als Reaktion auf slawischer Seite
eine starke nationale Abneigung bei den zwei bedeutendsten polnischen
Ständen: als Wortführer des deutschfeindlich gesinnten Klerus weist
der Gnesener Erzbischof Jakob Swinka die römische Kurie auf die
Gefahrdung Polens durch diese deutschen stammfremden Massen hin,
und der polnische Adel widersetzt sich mit Erfolg dem Eindringen
seiner deutschen Standesgenossen; beide deuten auf das Schicksal
des gastfreien und so rasch germanisierten Schlesien hin. Und auch
der Landesherr König WladislawLokietek (1306 — 33), der durch deutsche
Einflüsse jahrelang seinem Erbe femgehalten war, sah in nationalem
i) Korrespondenzblatt Jahrg. 53, Sp. 4.
— 317 —
Eifer in den Deutschen nicht nur die Feinde seines persönlichen Herr*
Schaftsbesitzes, sondern seines ge&hrdeten Volkstums. Wenn er nun
auch — zumal seit dem Ahfaü seiner Stadt Posen von ihm — selbst
deutsche Dorf- und Stadtanlagen in Grofspolen vermieden hat, so
waren doch die wirtschaftlichen Erwägungen bei seinem Klerus und
Adel stärker als die nationalen. Die umfangreiche Zusammenstellung
Schmidts von geistlichen und adeligen Gründungen aus dem XIV. Jahr*
hundert beweist dies zur Genüge. Des Königs deutschfreundlicher Sohn
und Nachfolger, Kasimir der Grofse (1333 — 70), schätzte die deutschen
Siedler und ihre Verbreitung als wirtschaftlich wertvolle Kräfte wohl,
aber den nationalen Zusammenhang der Städte mit dem Mutterlande
suchte er geschickt durch Verbot der Berufung an den Magdeburger
SchöfTenstuhl und den politischen Einfluis der Deutschen durch Be-
schränkung der freien Ratswahl und der vogteilichen Befugnisse zu
unterbinden. Mehrfach war die freie Ratswahl in dieser Zeit der
Kaufjpreis, um die Vogtei in städtische Gewalt zu bringen, wie ja in
der Stadtverfassung im XIV. Jahrhundert auch durch das Hervor-
treten des Bürgermeisteramtes eine bedeutsame Veränderung vor sich
ging. Von den Stadtgründungen unter Kasimir dem Groisen hat sich
infolge der sehr bevorzugen Lage und der zahbreichen königlichen
Gunstbeweise Bromberg am glücklichsten entwickelt. Mit Kasimirs
Tod 1370 gelangt die erste grolse deutsche Einwanderung zum Ab-
schlüsse. Bei der Rückschau auf den damaligen Besitzstand der
Deutschen in Stadt und Land stellt Schmidt fest, dafs trotz des ge-
ringeren deutschen Zustroms im XIV. Jahrhundert die städtische Be-
völkerung ganz überwiegend deutsch gewesen ist, wie Stichproben
aus den fast durchweg deutschen Ratslisten ergeben, die uns in War-
schauers Posener Stadtbuch vorliegen. Weniger glücklich als die Städter
haben im XFV. Jahrhundert die Bauern in ihren kleineren Gemeinden
Deutschtum und Freiheit bewahrt. Bei den Dorfsiedelungen zu deut-
schem Recht sind in dieser 2^it, wo die Einwanderung nachliefs, oft-
mals auch Polen nach dem neuen Recht auf der heimischen Scholle
angesetzt worden; beim Fortfall der Werbung beschränkte sich die
Aufgabe des Lokators nun auf die einfache Aufteilung des angewiesenen
Landes, und dementsprechend war bei bedeutend geringerem Entgelt
auch die spätere Stellung des Lokators als Schulzen weniger einflufs-
reich. Die den Einwanderern im XIII. Jahrhundert zugesagte Freiheit
versuchten die Grundherren jetzt bereits zu beschränken und ihnen
erfolgreich auf dem Umwege der ursprünglich von den Bauern frei-
willig geleisteten Bittdienste einzelne Lasten des polnischen Rechte
— 318 —
aufzubürden. Hatten die deutschen Bürge
städtefreundlichen Königs Ludwig (1370 — 82
wurden die Thronfolgekämpfe nach seinem 1
voll. In diesen Wirren wandte der verwUdei
Vorliebe seine Gewalttätigkeiten gegen die
wie gehafsten Städter — zahlreiche von Sc
illustrieren diese Tatsache. Und zu derselb
ein fianatischer Deutschenhals gegen die Stai
ständigkeit und Wohlhabenheit der bishei
Reaktion, deren gleichzeitiges Erscheinen :
gegenseitiger böhmisch -polnischer militari
Ordens- und Hussitenkriegen Schmidt mi
klassischer Zeuge dieser polnischen Stimmui
XVI. Jahrhundert ist der gelehrte Johann v<
würdige „Reformationsschrift*' Caro bereits
Besonders unheilvoll für die Deutschen wai
Spitze dieser schlieCslich allmächtigen Strömu
bisherige Litauerfürst Wladislaw Jagiello (138
kämpfung des Deutschen Ordens und deutsc
Beruf seines Volkes sah. Die Grundherren
Gewinns mit Städtegründungen noch fort, ab
zige, nicht entwickelungsfahige Gemeinwesen.
Verwaltung der älteren Städte wiederholten sie
die Deutschen, durch die Gesetzlosigkeit u
geschüchtert, sich gegen Scharwerksdienst
zügigkeit zu wehren suchten; die gröfserei
loren alle politische Bedeutung auf den I
wurden schon jetzt polonisiert, was nicht n
bewirkten, sondern auch die schon den
sehen in Polen eigene Neigung, zwecks G
wirtschaftlicher Wohlhäbigkeit auf jede
Betätigung zu verzichten. Die Zeitpunkte
Schiebungen in den gröfseren Städten, z. I
u. a., hat Schmidt in sehr überzeugende!
polnischen Namen in den Rats- und Bi
treten polnischer bzw. deutscher Amtssprac
den Ratsprotokollen festgestellt. Was die '
Kaufleute, Handwerker und Künstler in <
i) Zeitschrift des Westpreofsischen Geschichtsverei
— 319 —
auch in diesen schwierigen Zeiten der Jagellonenepoche an Kultur*
werten zu schaffen verstand, lehrt das interessante 3. Kapitel Schmidts
in seinem dritten Buche. Wie gegen die deutschen Büiger richtete
sich der nationale Übereifer der Polen auch gegen die deutschen
Mönche; die blühenden wichtigen Zisterzienserklöster wurden durch
gewaltsame Einsetzung polnischer Abte und Vertreibung deutscher
Insassen polonisiert. Der deutsche Bauer, in seiner Vereinzelung am
wenigsten widerstandskräftig, sank in dieser Zeit immer tiefer und
tiefer; abgesehen von den märkisch-posener Grenzstrichen hatte er im
ganzen Lande längst Freiheit und Volkstum eingebüfst, die Grund-
herren zogen Bauern* und Schulzengüter unter dem Vorwand des
Steuerrückstandes ein und bedrückten gleich ihren Hörigen nun auch
den deutsch gewesenen Bauern so sehr mit sich steigernden Fron*
diensten, dafs die Verzweiflung grofse Mengen dieser Unglücklichen
zur Flucht in die Feme trieb. Der drohenden Entvölkerung des
flachen Landes konnten die Grundherren aber nur durch frische Zu-
führung neuer auswärtiger Arbeitskräfte begegnen.
Diese zweite grofse deutsche Einwanderung nach Posen unter-
scheidet sich, wie dies Schumacher*) auch für Preulsen nachgewiesen
hat, von der früheren im XIII. Jahrhundert ganz wesentlich; es fehlt
ihr, da die Zuwanderer nicht in groisen Massen, sondern langsam un-
merklich in vielen kleinen Trupps — oftmals als Obdach heischende
Flüchtlinge — kamen, der grofise selbstbewußte und nationale Zug.
Als kolonisierende Macht erscheint nur der Adel; Landesherr und
Kirche geben nicht wie im XIII. Jahrhundert das Vorbild ; der erstere
verfugte nicht mehr über g^öfseren Grundbesitz, hatte ihn im I^ufe
der Jahrhunderte verschenkt oder an Starosten übertragen, die als
Niefsbraucher doch ihn wie Eigenbesitz verwalteten. Dem katholischen
Klerus erschien — von verschwmdenden Fällen abgesehen — doch
das protestantische Bekenntnis der Kolonisten als Hindernis, den polo-
nisierten Klöstern fehlte auch der dem XIII. Jahrhundert eigene Unter-
nehmungsgeist und die rasche Betriebsamkeit.
In Schmidts Buch sind gerade die Kapitel über die Kolonisation
im XVII. /X VIII. Jahrhundert besonders wertvoll; denn die Behand-
limg dieses Gebietes war bisher über wenige lokale Vorarbeiten nicht
hinausgekommen und hat eine zusammenhängende Untersuchtmg und
Darstellung zum ersten Male eben hier durch Schmidt gefunden. Den
Anlafs für diese deutschen Wanderungen bildeten in der Heimat
i) Korrespondenxblatt Jahrg. 53, Sp. 6.
— 320 —
religiöse Bedrückung und Kriegselend. Glaubensverfolgung durch die
Spanier führte noch im XVI. Jahrhundert viel reformierte Niederländer
über die See nach Osten, zuerst nach Danzig, von wo sie, als g^e*
schickte Wasserbautechniker im Überschwemmungsgebiet geschätzt, siidi
im Weichseltal niederliefsen und nach Schumachers Untersuchungen ^)
in vielen Niederlassungen in Ost- und Wes4>reuisen ansiedelten, und
sich auch, wie Schmidt im einzelnen genau nachweist, in dem benach-
barten Bromberger, Deutsch-Kroner und Filehner Gebiet verbreiteten.
Sie haben das bis dahin unbetretene, mit Waldsümpfen bedeckte Netze-
land urbar gemacht und besiedelt und dann nach Süden bis in das
Herz der heutigen Provinz Posen hinein sich ausgedehnt Ihrer Her-
kunft nach sind nur wenige, vielleicht die allerersten Ankömmlinge,
in der Brahe- und Weichselgegend wirkliche Holländer gewesen; sie
waren schon sehr früh stark mit Deutschen durchsetzt, wie denn (Ue
Lokationsprivilegien fast durchweg niederdeutsche Namen enthalten.
Die Bezeichnung ihrer Dörfer als Holländereien gUt nicht ihrer ethno-
graphischen Zugehörigkeit, sondern der Feststellung ihrer eigenartigen
Gemeindeverfassung und ihrer unabhängigen Rechtsstellung gegenüber
dem Grundherrn, was sie vor den anderen, minder begünstigten deut-
schen Dörfern auszeichnete.
Einige Jahrzehnte später flüchteten im Dreüsigjährigen Kriege vor
dem Glaubenszwang der Habsburger viele protestantische Schlier
und vor den Brandschatzungen durch die kaiserlichen und schwedi-
schen Heere viele märkische und pommersche Bauern nach Posen, das
damals allen als das Land der Ruhe und Duldung erschien. Die
Grundherren begnügten sich nicht nur mit der Aufriahme dieser ans
eigenem Antriebe Nahenden, sondern warben auch durch verteUte
Reklameblätter und Auswanderungsagenten zur Ansiedelung auf ihrem
Grund und Boden, und das mit solchem Erfolg, dais die Stände und
Amtleute der benachbarten Neumark den Kurfürsten von Brandenburg
zu lebhaftem Proteste bei der Krone Polen gegen diese Verlockungen
zur Auswanderung veranlaüsten, da eine Entvölkerung der märkischen
Grenzgebiete zu befürchten sei. Wie alle diese Zuwanderer, sei es
von Norden, sei es von Westen her, das Land mit ihren Ansiedelungen
durchsetzten, zuerst das ganze Netzetal und dann in nordsüdlicher
Richtung in zwei breiten parallelen Strichen rechts und links der
Warthe, zumal in den Kreisen Neutomischel imd Grätz, das sucht die
I) Niederländische Ansiedehmgen im Herxogttitn Preußen vwr Zeit Berxog JI*
hreehts (1526—1668). Leipzig 1903.
— 321 —
im Anhang beigefugte Karte zu veranschaulichen. Hinsichtlich ihrer
Rechtsstellung unterscheidet Schmidt bei diesen neuen Niederlassungen
zwei Gruppen: die obenerwähnten HoUändereien und die wegen der
einflufsreichen Stellung der Schulzen von ihm so genannten Schulzen*
dörfer. Nur letztere sind, wie im XIII. und XIV. Jahrhundert üblich,
durch g^nindherrliche Mittelspersonen, durch Lokatoren, angelegt worden,
die die Wartung und Bodenaufteilung besorgten. Bei der Feststel-
lung der Rechtsverhältnisse beriefen sich die Grundherren oftmals
ausdrücklich in den Urkunden auf das magdeburgische oder deutsche
Recht; die Niederlassungsprivilegien entsprachen in Form und Inhalt
zumeist denen des XIV. Jahrhunderts, nur wurde doch mehr als
damals die bäuerliche Freiheit durch ausbedungene Scharwerks-
dienste eingeengt. Das Besitzverhältnis war wie damals auf ein Erb-
zinsrecht gegründet, das, wie einst im XV. und XVI. Jahrhundert, die
Grundherren zur Beschränkung und Aufhebung der Freizügigkeit der
Bauern auszunutzen verstanden. Die alten Befugnisse der Gesamt-
gemeinde im Dorfe waren jetzt ganz zurückgetreten gegen die jetzt
alles überragende Stellung des Erbschulzen, der — zumeist auch
Lokator des Dorfes — als der Beauftragte und Vertreter des Grund-
herrn dessen Vorteil in erster Linie wahrzunehmen und die Recht-
sprechung und Polizei zu handhaben hatte. Im Dorfgericht standen
ihm natürlich die Schöffen, wie einst, zur Seite. Eine Berufung war
von dort nur an den adeligen Grundherrn möglich, der also in Rechts-
und Verwaltungssachen seinen Untertanen gegenüber allmächtig war,
meistens sehr zu ihrem Schaden. Weit günstiger und unabhängiger
gestellt waren die HoUändereien. Sie verhandelten vor ihrer Nieder-
lassung mit dem Grundherrn nicht durch dessen Lokator, sondern
durch ihre eigenen Abgesandten, sie bedingten sich stets vor allem
Freiheit von jedem Scharwerksdienste aus. Grofse Bedeutung besafs
bei ihnen noch der Gemeindeverband, die sogenannte Nachbarschaft.
Sie wählte jährlich sich Schulzen und Schöffen als ihre Beamten, und
auCserdem vertrat diese Nachbarschaft ein straffes Genossenschafts-
prinzip mit dem Grundsatz: „Einer für alle und alle für einen '\ ein
erfreuliches festes Zusammenhalten, so dafs diese Ansiedelungen viel
länger gegen die Übergriffe ihrer Grundherren geschützt blieben als
die Schulzendörfer; das blieb allerdmgs nicht auf die Dauer , denn
wie im Mittelalter, so wurden auf dem Umwege der Bittdienste auch
jetzt den Holländern Scharwerksdienste aufgebürdet. Aber trotz häu-
6erer Eineiriffe und Vertraersbrüche seitens der Grundherrschaften und
— 822 —
folge der häufigen Kii^leiden, haben doch alle diese Dörfer ihr
Deutschtum bis zur preufisischen Besitzergreifung gewahrt
Nicht minder bedeutungsvoll als diese Zuwanderer von Norden
und Westen waren die protestantischen Schlesier, die habsburgischer
Glaubenszwang im Beginne des Dreifisigjährigen Krieges über die
Posener Grenze trieb und die zuerst dort im Süden der heutigen
Provinz eine Reihe Städte, wie Schlichtingsheim, 2^borowo, Rawitsch,
Bojanowo, anlegten, dann aber auch weiter im Innern, wie Schwersenz,
Schönlanke u. a. Als ein typisches Beispiel dieser Zeit hat Schmidt
den Hergang der Gründung der noch heute in ihrem Gewerbefleiis
bedeutenden Stadt Rawitsch beschrieben. In einer Menge älterer
Städte wurde durch diesen starken Zustrom die deutsche Einwohner»
Schaft vermehrt; dem Handwerk gab die mitgebrachte verbesserte
Technik der Tuchweberei neuen Anreiz und glücklichen Aufschwung.
Bei den neuen Stadtanlagen hielt man auch jetzt an dem bekannten
mittelalterlichen rechtwinkligen Bebauungsplan fest. Aber auch im
XVIII. Jahrhundert regt sich wie einst im XV. eine Reaktion auf
polnischer Seite gegen diese deutsche Selbständigkeit und wirtschaft-
liche Blüte; zu dem Deutschenhafs tritt nun noch religiöse Unduld-
samkeit, um diese stammesfremden Mitbürger zu bedrücken, wobei
Posen und Schrimm — sehr zum Schaden des eigenen wirtschaft-
lichen Gedeihens — sich unrühmlich hervortaten. In schematischer
Verleihung deutschen Rechtes an ihre polnischen Untertanen haben
auch im XVIII. Jahrhundert viele Grundherren aus finanziellen Gründen
neue Städte angelegt, die aber als klägliche Nester längst wieder zu
Dörfern geworden sind. War die wirtschaftliche Lage der Deutschen
in den anderen Städten infolge Ungunst der Zeiten und des Willkür-
regiments der Grundherren keine erfreuliche, so haben diese Bürger
doch ebenso wie die Bauern im XVIII. Jahrhundert ihr Volkstum sich
gewahrt und so bis zur preufsischen Zeit die nationale Kräfteverteilung
im Lande festgehalten, die ihm die zweite grofse deutsche Einwande-
rung im XVII. Jahrhundert gegeben hatte.
Mit der preußischen Besitznahme des Landes schliefet diese Dar-
stellung ab, um dann noch in einem kurzen Rückblick die einzelnen
Stadien der durchlaufenen Entwickelung, die Anfänge, das Wachstum,
den Rückgang, die Neupflanzung und den Fortbestand deutscher
Siedelungen im Posener Lande zu streifen. Vielleicht hätte es sich
bei dieser Gelegenheit verlohnt, auf die Gründe einzugehen, die den
Erfolg der deutschen Einwanderung in Posen im XIII. Jahrhundert
— 323 —
Gewiüs war von Bedeutung*, dals die deutsche Geistlichkeit hier nicht
ein heidnisches Land vorfand, sondern eine gefestigte Nationalkirche,
die die politisch einfluCsreichen höchsten Würden festhielt, so da(s den
Deutschen nur die politisch weniger wichtigen, wenn auch wirtschaft-
lich wertvollen Klosterstellen verblieben. Und ebenso hat das Aus-
bleiben der deutschen Ritterfamilien die völlige Germanisation mit
verhindert; der polnische Adel hat es stets vereitelt, dafs deutsche
Standesgenossen in die nächste Umgebung des Herrschers gelangten
und das Recht zur Ansiedelung im Lande selbst erhielten, wie in
Schlesien und Pommern ; die wenigen Adelsfamilien an den westlichen,
nördlichen und südlichen schmalen Grenzstrichen haben in ihrer Ver-
einzelung nie Einflufs gehabt DaCs schliefslich die Sonne landesherr-
licher Huld den Deutschen in Posen viel zu wenig geleuchtet hat,
um ihnen solche dauernden Erfolge wie in Schlesien, Pommern, Meck-
lenburg zu ermöglichen, das hat Schmidt ja allerdings an verschie-
denen Stellen seines Buclies hervorgehoben.
Mitteilungen
Yenamilllllllgeil» — In diesem Jahre wird der Gesamtverein der
Deutschen Qeschichts- und Altertumsvereine seine Versammlung in
Bamberg halten, und zwar in den Tagen vom 35. bb 29. September.
Zeit und Ort sind so gewählt, dais die Teilnahme vielen Freunden der Ge-
schichtsforschung mög^ch sein wird, die sonst wegen allzu weiter Entfernung
des Versammlungsorts und ungünstiger Zeit der Versammlung fem bleiben
müisten. Vor allem ist es die Sache der Vorstände der Geschichtsyereine,
dais sie sich zu einer Beschickung des Tages durch einen Abgeordneten
entBchlieisen in der rechten Erkeimtnis, dafs jeder Verein für seine
besondere Tätigkeit bei dieser Gelegenheit Anregung findet,
die daheim nur in Taten umgesetzt werden mufs.
An der Spitze des Ortsausschusses steht Bürgermebter Lutz in Bamberg,
dem sich Domkapitular Lahner und Reichsarchivrat Sebert zugesellen.
Sämtliche Sitzungen finden in den Luitpoldsälen statt, wo sich auch
vom 35. September an das Bureau befindet. Am 37. September veran-
staltet die Stadt Bamberg zu Ehren der Teilnehmer ein Burgfest auf der
Altenburg; am 28. September findet ein Ausflug nach der ehemaligen Zister-
zienserabtei Ebrach statt, und Geh. Hofrat v. Bezold (Nürnberg) wird dabei
einen erläuternden Vortrag halten. Für den 39. September endlich ist eine
Fahrt nach Nürnberg vorgesehen, wo sich die Teilnehmer trennen werden;
dort wird der Verein für Geschichte der Stadt Nürnberg die Versammlung
VkA/»«4i^*«« * Atn* ITAl^rf i«vm Alm Q^^A*- Amr" TiMott^Vt Arno T^tv/^I^ArKatva*« «««««4
— 324 —
wird sich anschlieüsen. Diese Aussichten allein werden für viele schon einen
genügenden Reiz zur Beteiligung abgeben, ganz abgesehen von dem rdchen
wissenschaftlichen Programm.
In den allgemeinen öffentlichen Versammlungen werden folgende
Vorträge stattfinden: Prof. Fester (Erlangen) über Franken und die
Kreis Verfassung, Archivsekretär Altmann (Bamberg) über das Bistum
Bamberg als Staat, Gymnasialprofessor Wolfram über Fürstbischof
Franz Ludwig von Erthal. Der Schwerpunkt der Verhandlungen htg^
jedoch wie immer in den Abteilungssitzungen. In den vereinigten
fünf Abteilungen wird berichten Prof. Rubel (Dortmund) über das fränkische
Eroberungs- und Siedelungssystem in Oberfranken und seine Be-
deutung für die älteste Geschichte der Babenberger und der Babenberger
Fehde, Prof. v. Zwiedineck-Südenhorst (Graz) über Neue Methoden
genealogischer Forschung in Österreich und Armin Tille (Leipzig)
über Organisation und Publikationen der deutschen Geschichtsvereine. —
Besonders reich ist das Programm, das in der vereinigten i. und 3. Ab-
teilung abgehandelt werden soll; deren Tagung gilt bekanntlich zugleich als
solche des Verbandes west- und süddeutscher Vereine fUr römisch-germanische
Altertumsforschung ^). Es werden vortragen: Anthes (Darmstadt) Über
Liegende Menschen unter wilden Tieren auf römischen Skulpturen, Harbauer
(Diidngen) über einen noch zu bestimmenden Gegenstand, Helmke (Friedbeig)
über Neues aus Friedberg, Lamprecht (Regensburg) über die Chronologie
der römischen Friedhöfe in Regensburg, Lemcke (Stettin) über Spuren
römischer Kultur in Pommerns vorgeschichtlicher Zeit, Müller (Darmstadt)
über einen seltenen Typus bronzezeitlicher Armringe, Sartori (Bamberg)
über die wichtigsten prähistorischen Fundstellen in der Umgegend von
Bamberg, Seh Hz (Heilbronn) über Römische und vorrömische VeriLehrs-
wege im Grenzwallhinterland des Neckargaus, Wolff (Frankfurt a. M.) über
Römisch-germanische Altertumsforschung und Denknudpfiege und Anthes
über Ringwallforschung. — In der verewigten 3. und 4. Abteilung koount
zu Worte Archivrat Mummenhoff (Nürnberg) über Freie Kunst und Hand-
werk in Nürnberg und Pfeiffer (Bamberg) gibt einen Überblick über den
gegenwärtigen Stand der Bamberger Historiographie. — Die 5. Abteünng
endlich — die für Volkskunde — wird folgende Vorträge darbieten: Prof.
Brenner (Würzburg) über Vorbereitung der Hausbaustatistik, Wolfram
(Metz) über Wegekreuze, Freiherr v. Friesen (Dresden) über Flurnamen-
forschung, Kronfufs (Bamberg) über Fränkische Volkstümlichkeit einst und
jetzt und Becker (Ludwigshafen) über das Lied vom Jäger aus Kurpfiüz.
Dieses Programm ist gewifs reichhaltig und vielseitig genug, so dais
jeder Teilnehmer seine Rechnung finden wird. Hoffentlich stellen sich
recht viele ein und vor allem recht zahlreiche Vereinsabgeordnete!
Am 35. September, also an dem Tage, an dem abends die Vorbe-
grüfsung der Gesamtvereinsteilnehmer stattfindet, wird ebenfiüls in Bamberg
— 326 —
der Fünfte deutsche Archivtag abgehalten werden, zu welchem die An-
meldungen bis 15. September an Reichsarchivrat Sebert (Bamberg) zu
richten sind.
Das Programm sieht folgende Verhandlungsgegenstände vor: Gemäfs
des vom vierten Archivtag *) ge£afsten Beschlusses wird der damals eingesetzte
Ausschuis (Bär, Ermisch, Knapp, Wolfram) über die Frage des
Schutzes kleinerer Archive berichten, Reichsarchivrat Sebert be-
handelt das Bamberger Kreisarchiv, und an diesen Vortrag schliefst sich
eine Besichtigung des Archivs und der ausliegenden Pläne und Zeichnungen
an. Femer spricht Geh. Archivrat Prümers über die Papierfeinde aus dem
Insektenreiche und Stadtarchivar Overmann (Erfurt) sowie Geh. Archivrat
Grotefend (Schwerin) behandeln die Archivbenutzung zu genealogischen
Zwecken. Schlieüslich wird Geh. Archivrat Sello aufserhalb der Tages-
ordnung über seine neuen Erfahrungen mit Zapon Mitteilungen machen.
Gerade eine Woche nach den Bamberger Versammlungen wird in
den Tagen vom 3. bis 6. Oktober in Hamburg die 48. Versammlung
deutscher Philologen und Schulmänner stattfinden. Auch das dafür
ausgegebene Programm ist aufserordentlich reichhaltig, und im besonderen
auch an geschichdichen Gegenständen, von denen wenigstens einige hier
angeführt sein mögen. Prof. Koepp (Münster i. W.): Die Ausgrabungen
bei Haltern; Prof. Lenz (Berlin): Ziel und Charakter der Politik Napoleons I.;
Prof. Wotke (Wien): Die Entwickelung des österreichischen Lehrerstandes
bis 1848; Privatdozent Mensing (Kiel): Über das Schleswig-Holsteinische
Idiotikon; Prof. Hitzigrath (Hsunburg): Hamburgischer Handel im XVIII.
Jahrhundert; Prof. Eduard Meyer (Berlin): Alexander der Grofse tmd die
absolute Monarchie; Prof. Lidzbarski: IMe Namen der Alphabetbuchstaben.
Femer finden gleichzeitig und zwar am a. Oktober die Jahresver-
sammlung des deutschen Gymnasialvereins und die Abgeord-
netenversammlung des Verbandes deutscher Vereine für
Volkskunde statt; hinsichtlich der letzteren sind etwaige Anfragen an
Prof. A. Strack (Giefsen) zu richten.
Kommissionen« — Am 8. Dezember 1904 hielt in Leipzig die
Königlich Sächsische Kommission für Geschichte ^) ihre 9. Jahres-
versammlung ab. Neu erschienen sind von den Publikationen der Kommission
die Doppelsektionen der Grundkarte 416/442 und 417/443, Döbeln-
Chemnitz und Dresden-Dippoldiswalde, sowie der Schlufs des zweiten, bis
Ende 1546 reichenden, Bandes der PoUtiachen Korrespondenz des Herzogs
tmd Kurfürsten Moritz von Sachsen, herausgegeben von Erich Branden-
burg. Die übrigen Unternehmungen sind zimi gröfsten Teile fortgeschritten
und bei einigen steht die Vollendung in naher Aussicht. Nur die Bearbei-
tung der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte Leipzigs hat vor-
läufig eingestellt werden müssen, da der mit dieser Aufgabe betraute Armin
i) Vgl. oben S. 17.
2) Vgl. 5. Bd., S. 365—266.
24»
— 326 —
Tille der Kommission diesen Auftrag zurückgegeben hat. Von den historisch-
geographischen Arbeiten ist zwar die Geschichte der Ämter des Landes
zurückgestellt worden, aber die Vorarbeiten zu einem Historischen Ortsver-
zeichnis hat Alfred M e i c h e übernommen, die Bearbeitung eines Flurkarten-
atlasses Prof. Kötzschke. Für die photographischc Reproduktion
der Flurkarten hat die Ökonomische Sozietät zu Leipzig 5000 M. zur Verfügung
gestellt, und so konnte unter der Voraussetzung, dafs «uch noch von anderer
Seite eine Unterstützung gewährt wird, die Vollendung des Werkes, das 1904
eine Fortsetzung nicht erfahren hat, beschlossen werden. An die Sammlung
der Flurnamen ist inzwischen der Verein für sächsische Volkskunde
herangetreten und hat dadurch die Kommission entlastet Schlieislich sind
folgende neuen Veröffenthchimgen beschlossen worden: die Herausgabe des
Briefwechsels zwischen dem Grafen Brühl und Karl Heinrich
von Hein ecken, die Prof. Ed. Schmidt (Meilsen) besorgt, (bc Ver^
öffentlichimg älterer sächsischer Karten 1550-^1593 durch Viktor
Hantzsch (Dresden) tmd die Bearbeitung eines Werices über sächsische
Miniaturen, das Robert Brück (Dresden) vorbereitet
Aus der Zahl der ordentlichen Mitglieder der Kommission sind aas-
geschieden durch Tod Prof. S. Rüge (Dresden) und Prof. Ratzel (Leipzig);
neu eingetreten ist an Stelle des aus seinem Amte geschiedenen Oberst-
leutnants z. D. Exner als Vertreter des Königl. Kriegsarchivs Major z. D.
Hottenroth (Dresden).
Die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskundc ^) hielt
ihre 24. Jahresversammlung am i. März 1905 ab, wobei der Bericht über
das Kalendeijahr 1 904 vorgelegt wurde. Neu erschienen sind Die romamaeken
Wandmalereien der RheinUmde, herausgegeben von Paul Giemen, Tafel-
band mit 64 Tafeln (Düsseldorf 1905, Ladenpreis: 75 M.). Afle anderen
Arbeiten wurden mehr oder weniger gefördert. Als neue Publikation wurde
aufgenommen die von Archivar Redlich (Düsseldorf) besorgte Ausgabe
von Urkunden und Akten über die Jülich-Bergische Kirchenpolitik
im XV. und XVI. Jahrhundert; der erste, die Zeit 1400 — 1553 umfassende
Band befindet sich bereits im Druck. Die Publikation der Queüen xMtr
BechtS' und Wirtschaftsgeschichte niederrhemischer SiOdie ist jetzt auch auf
den südlichen Teil der Provinz ausgedehnt worden, und Archivar Richter
(Koblenz) hat zunächst die Bearbeitung des Materials fUr die Städte Boppard
und Oberwesel übernommen.
Stifter zählt die Gesellschaft gegenwärtig 7, von denen 3 geworben sind,
Patrone 115, Mitglieder 188. Die Gesamteinnahme des Jahres 1904 betrug
35988 M. , die Gesamtausgabe 26 115. Das Vermögen beziffert sich ein-
schhefslich der Mevissen-Stiftung (42611 M.) auf 117 984 M. — Von der
Übersicht über den Inhalt der kleineren Archive der Rheinpravim Uegt ab
Beilage zum Jahresbericht das i. Heft des 3. Bandes vor, das, 89 Seiten
— 327 —
Dem achten im Mai 1905 erstatteten Jahresbericht der Historischen
Kommission für Hessen und Waldeck') ist folgendes zu entnehmen.
Im Berichtsjahre wurden ausgegeben: ZJrJamdenbuch der Stadt Friedberg,
beari)eitet von M. Foltz, Band i (Marburg, Elwert 1904), Hessisches
TrOiCktenbueh von Ferdinand Justi, SchluMeferung, so dafs jetzt das
ganze Weric (Marburg, Elwert 1899 — 1904, M. 24) vorliegt, Die Bildnisse
Philipps des Orofimütigen, bearbeitet von Alhard von Drach und Gustav
Könnecke (Marburg, Elwert 1905, M. ao). Von den Gnmdkarten ist
die Sektion Ziegenhain-Fritzlar erschienen.
Durch den Tod verlor die Kommission drei Patrone bzw. Mitglieder
(Bürgermeister Heraeus, Hanau, Graf Otto zu Solms-Rödelheim und
Exzellenz von Weyrauch, Marburg); an Stelle des verstorbenen Prof. Höhl-
baum wurde vom Oberhessischen Geschichtsverein Prof. Behaghel (Giefsen)
in den Vorstand entsandt. Neugewählt wurden als Mitglieder Prof. Bauer
(Marburg), Oberlehrer Helmke (Friedberg), Prof. Heymann (Marburg),
Oberlehrer M. G. Schmidt (Marburg) und Prof. Roeschen (Giefsen).
Der Jahreseinnahme von 9595 M. steht eine Ausgabe von 19078 M.
gegenüber, und infolge davon ist der Kassenbestand, der sich im Mai 1 904
auf 15545 M. bezifferte, auf 6062 M. zurückgegangen.
Yerelne. — Der Vogtländische Altertumsforschende Verein zu
Hohenleuben, über dessen Entwickelung und Tätigkeit oben 8. 286 — 289
berichtet wurde, hat mit der diesjährigen Jahresversanmilung zusammen zu*
gleich sein 80. Stiftungfest am 16. Juli abgehalten. Der öffentliche,
wissenschaftliche Teil * konnte unter freiem Himmel stattfinden und wurde
durch einen Vortrag des Vereinsvorsitzenden, Pastor Jahn, ausgefüllt, der
die Geschichte des Schlosses Reichenfels zum Gegenstande seiner Ausfüh-
rungen gewählt hatte. Da das Schlofs urkimdlich erst 1356 erwähnt wird,
aber doch vielleicht schon im XII. Jahrhundert entstanden ist, so läfst sich heute
über die frühere Geschichte weniger aussagen als man bisher geglaubt hat.
Aus dem Jahresbericht sei erwähnt, dafs für die Sammlungen des Vereins
374 verschiedene Gegenstände (Münzen, BUder usw.) imd 38 Bücher geschenkt
worden sind. Durch Ankauf wurden 17 Bücher erworben. An Tausch-
schriften von auswärtigen Vereinen sind 330 Bände eingegangen, und zwar
von 151 Vereinen. Mitglieder zählt der Verein 218; die Einnahme betrug
1531 M. , die Ausgabe 1475 ^«t ^^ Vereinsvermögen beziffert sich auf
778 M.
In Eisenach ist am 11. April 1904 eine Gesellschaft fOr Geschichte
und Literatur der Landwirtschaft gegründet worden, deren erster Jahres-
bericht vom Ende 1904 vorliegt. Erster Vorsitzender ist Geh. Hofrat Prof.
Wilhelm Kirchner, Direktor des Landwirtschaftlichen Instituts der Uni-
versität Leipzig, zweiter Vorsitzender Ökonomierat Wilsdorf in Chemnitz
und Geschäftsführer Rittergutsbesitzer Dr. Max Güntz in Weimar, Erfurter
Str. 30. Letzterer ist der Herausgeber der jetzt im vierten Jahrgang stehen-
i) Vgl 5. Bd., S. 266.
— 328 —
den Monatsschrift LimdunrtsehaflHch^HUtarische Blätter, die zum Organ der
GeseUschaft erklärt worden sind und jedem Mitgliede für seinen Jahresbei-
trag von 3 M. umsonst geliefert werden, und von ihm ist der Plan, eine
neue über das ganze deutsche Sprachgebiet verbreitete Gesellschaft zu gründen,
die sich mit der geschichtlichen Erforschtmg der Landwirtschaft beschäftigt,
ausgegangen.
Gegenwärtig zählt die Gesellschaft allerdings erst etwas über loo Mit-
glieder, und dies sind zum gröfsten Teil praktische Landwirte und Lehrer
an landwirtschaftlichen Schulen, während man Agrarhistorik er vergeblich
in der Liste sucht. Diese aber sollten hier in erster Linie Anschlufs suchen,
weil die GeseUschaft eine Fühlung mit der Praxis ermög^cht, die bei den
meisten wirtschaftsgeschichtlichen Problemen, namendich solchen der neueren
Zeit, zur richtigen Beurteilung der Dinge unerläfslich ist. Auch die Geschichts-
ve reine, im besonderen die für Länder und Provinzen, werden in ihrem
eigensten Interesse gut tun, Beziehimgen mit der jungen Gesellschaft anzo»
knüpfen: so wird es allmählich gelingen, die vielen agrargeschichtlichen
Arbeiten der Vereinszeitschriften den in erster Linie sachlich interessieiten
Kreisen, den Vertretern und Freunden der wissenschaftlichen Landwirtschaft,
näher zu bringen. Für das Gebiet der wissenschaftlichen Landwirtsdiafts-
forschimg kann durch die Tätigkeit der genannten Gesellschaft sehr wohl
dasjenige erreicht werden, was in dem Aufsatz Neuere Wirtsehaftsgesehiehte ^)
ganz allgemein als für die wirtschaftswissenschaftliche Forschung
notwendig bezeichnet worden ist, die intensive Beschreibung des einzelnen
Betriebes und die Nutzbarmachung der modernen Buchführung für wissen-
schaftliche Untersuchungen. Darum ist es wünschenswert, dafs sich die Ver-
treter der Volkswirtschaft tmd der Geschichtsforschung gleich-
mäfsig tun die Gesellschaft für Geschichte und Literatur der Landwirtschaft
kümmern, sie unterstützen und für ihre eigenen Arbeiten aus ihr Nutzen ziehen.
Das Gesellschafborgan hat zwar gegenwärtig noch einen geringen Um-
fang, und die Beiträge sind meist nur kurze Mitteilungen über einzelne
Vorgänge, Zustände und Ereignisse, während die einzige gröfsere Arbeit
Der IcmdmrtschaftHche Beirieb in Deutschland im XVII. Jahrhundert von
Güntz in 29 kleinen AbteUungen vom Oktober 1902 bis Mai 1905 ver-
öffentlicht worden ist, aber darin liegt eben das Material für umfassendere
Arbeiten, und es wird sich vor allem darum handeln, dafs jede einzelne
Notiz künftig stets da herangezogen wird, wo sie inhaltlich erwähnt werden
kann. Aufserdem dürfte es sich empfehlen, bestimmte Fragen au£ni-
werfen, damit sich hinsichtlich der geographischen Verbreitung gewisser
Kulturerscheinungen durch Mitteilungen aus vielen Gegenden Klarheit
gewinnen läfst. So eine Frage wäre z. B. die: seit wann wird nach-
weislich Mais angebaut? Bei der Beantwortung ist natürlich genaue
Angabe der Quelle, aus der die Mitteüung fiiefst, die Hauptsache,
und dann ist nach Möglichkeit darauf Bedacht zu nehmen, dafs audi die
näheren Umstände mitgeteilt werden, unter denen der erste Anbau vor sich
flreffanflren ist. namentlich der äufsere Anlafs der Neuenino-. ihre Anfiiahm«
— 829 —
Kachrichten sind für die Forschung das Wichtigste, und diese könaec immer
nur aus der Praxis fliefsen bzw. aus den über die WrtschaftsfUhiUDg niedcT-
geschriebcnen Schriftstücken. Die Ai^ben in der allgemeinen liteiatur
bedürfen dringend der Nachprüfung, und örtlich feststehende Tatsachen
dürfen nicht leichthin verallgemeinert werden. Bei den meisten Neuerschei-
nungen im landwirtschaftlichen Betriebe wird sich, wenn nnr scharf zugesehen
wird, der Weg nachweisen lassen, auf dem sie sich verbreitet haben, und
das ist für die Gesamtkultur etwas recht Wesentliches.
Aufser durch die genannte Zeitschrift will die Gesellschaft auch noch
durch Sammlungen für die Aufhellung der Geschichte der Landwirtschaft
wirken. Es bt da in erster Linie an eine Bibliothek gedacht, und diese Be-
strebung hat sogar im Namen der Gesellschaft („literatur") Ausdruck gefunden.
Das ist um so mehr zu begrUfsen, als tatsächlich die massenhafte BUcherproduk-
tion der Gegenwart die Errichtung von Fachbibliotheken zur unabweisbaren
vissenschafdichen Notwendigkeit macht. Daneben soll ein Archiv entstehen,
welches ganz in dem Sinne der in dieser Zeitschrift enüialtenen '} Aus-
ftihrungen ein Wirtschaftsarchiv fUr die deutsche Landwirtschaft weiden
dürfte. Nur scheint es fraglich, ob nicht eine Zentralisation in diesem Falle
verfehlt ist; besser jedenMs würde es sein und zugleich wissenschafUich-
sachlich in höherem Mause berechtigt, wenn etwa fUr jedes Gebiet, das eine
Landwirtschaftskammcr besitzt, im Anschlufs an diese ein landwirtschaft-
liches Bezirksarchiv entstände! Schlielslich ist auch an ein landwirt-
schafUiches Museum gedacht worden, und dieser Gedanke verdient deswegen
besondere Fördemng, weil etwas ähnliches völlig fehlt und hier eine Zen-
tralisation tatsächlich am Platze wäre. Jedes unserer zahlreichen geschicht-
Ucben Museen bis herab zu den kleinen ortsgeschichtUchen enthält natur-
gemäfs auch einige dem landwirtschafdichen Betriebe entstammende Stücke,
aber alles ist vereinzelt und auch nur wenig systematisch durchforscht. Es
lä&t sieb kaum absehen, welchen Gewinn die Forschung ziehen würde, wenn
sie die Typen des Pfluges, des Hufeisens und aller nur mC^cben im
Ackerbau verwendeten Geräte in annähernder Vollständigkeit an einer
Stelle beisammen fänden; natUrUch wäre dabei die Mitteilung der Gegend,
aus der ein Stück stammt, und die Angabe der Zeit, in der Geräte gerade
dieses Typus verwendet wurden, die Hauptsache, wie Örtliche und zeitiicbe
Bestimmung jeder Erscheinung überhaupt der erste Schritt zu kulturgeschicht-
licher Matenalsammlung ist.
Die Gesellschaft für Landwirtschaftsgeschichte hat ein weites Arbeitsfdd,
und sie verdient die allergröfstc Beachtung auch der Staatsbehörden und ihrer
Organe. Möge ihr nicht nur Beachtung, sondern auch Förderung und
materielle Unterstützung seitens der malsgebenden Kreise zuteil werden
Harabnivlsches rrkoDdenbnch. — Vom ersten Bande des Bavi'
bwgixken Urkundmbvcha, der von Lappenberg bearbeitet, 1841 erschien,
^bt es im ganzen nur hundert Exemplare, da der gröfste Teil der Auflage
bei dem grofsen Brande im Mai 1S41 zugrunde gegangen isL Seit etnigen
Jahren ist die Fortsetzung und Neubearbeitung des Urkunde nbuchs ins Auge
i) Vgl. oben S. »15.
— 880 —
ge&fst worden, und die Sammlung des Materials für das XIV. Jahrhundert
ist gegenwärtig vollendet. Um den Urkundenstoff möglichst schnell zu be-
wältigen, ist neuerdings der Beschlufs ge&Ust worden, von einer Neubearbeitung
des ersten Bandes abzusehen, dafür aber eine anastatische Reproduktion
desselben unter Benutzung der Photolithographie Torzunehmen und später
in einem Anhang die notwendigen Verbesserungen und Ergänzungen hinzu-
zufügen. Die Kosten für die Reproduktion, die 7000 M. betragen, sind
im Juli 1905 bewilligt worden. Der zweite Band, welcher die Uricunden
der ersten Jahrzehnte des XIV. Jahrhunderts enthalten wird, soll im Laufe
der Jahre 1906 und 1907 im Druck hergestellt werden; die dafür nötigen
Mittel sind ebenfisdb kürzlich bereit gestellt worden.
Eingegangene Bflcher.
Agats, Arthur: Der hansische Baienhandel [= Heidelberger Abhandlungen
zur mittleren und neueren Geschichte, 5. Heft]. Heidelberg, Cari Winter,
1904. 120 S. 8^ M. 3,60.
Bieder: Graf Adam Ton Schwarzenberg (1587 — 1641), vornehmlich in
seinen Beziehungen zu Frankfurt a. O. [= Mitteilungen des Historischen
Vereins für HeimaÜLunde zu Frankfurt a. O., 22. Heft (1904), S. 39 — 42].
Boerner, Gustav: Die Annalen und Akten der Brüder des gemeinsamen
Lebens im Lüchtenhofe zu Hildesheim, eine Grundlage der Geschichte
der deutschen Bruderhäuser und ein Beitrag zur Vorgeschichte der
Reformation. Fürstenwalde (Spree), Johannes Seyfarth, 1905. iii S. 8®.
M. 3,40.
Dieckmann, Friedrich: Etie lothringischen Ahnen Gottfrieds von BouiUon
[eai Jahresbericht der höheren Mädchenschule zu Osnabrück 1904].
Osnabrück, Kisling, 1904. 35 S. 4^
Ehwald, R.: Ein Kuriosum aus der Druckgeschichte Gothas [=s Mit-
teüungen der Vereinigung für Gothabche Geschichte und ^teitums-
forschung, Jahrg. 1903, S. 49 — 54].
Gümbel, Albert: Sebald Schreyer und die SebalduskapeUe zu Schwäbisch-
Gmünd [s= Mitteüungen des Vereins für Geschichte der Stadt Nürnberg,
16. Heft (Nürnberg, J. L. Schräg, 1904), S. 135 — 150].
Handwerker, Otto: Geschichte der WürzWger UniversitätsbibliothdL bis
zur Säkularisation. Würzburg, Oskar Stahel, 1904. 147 S. 8^
Kohl, O. : Photolitbographie des römischen Mosaüu bei Kreuznach und
kurze Erläuterung desselben [=r Nachtrag zur 16. Veröffentlichung des
Antiquarisch-Historischen Vereins zu Kreuznach]. Kreuznach, R. Voigt-
länder, 1895. 4 S. 8^
Loebl, Alfred H. : Zur Geschichte des Türkenkriegs von 1593 — 1606,
II. Teü [as Prager Studien aus dem Gebiete der Geschichtswissenschaft,
herausgegeben von Ad. Bachmann, Heft X]. Prag, RohUöek und
Sievers, 1904. 151 S. 8^
Lory, Cari: I^etzsche als Geschichtsphilosoph, eine QueUenstudie [=s Die
netie W#^ltAnsr.hauunflr. Beiträfir« y.ii ihrer G€»srhirhte und VnUrniHmwr in
^I^^^^^^^AMftik
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Stanford University libnudes
Stanford, California
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