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Full text of "Deutsche Geschichtsblätter"

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► 


Deutsche  GescMchtsblätter 

Monatsschrift 

zur 

f  öpdepung  de?  landesgesohiehtliehen  foFsohuDg 

unter  Mitwirkung  von 

Prot  Qaehmum-Prag,  Prof.  Breysig- Berlin,  Fror.  Brler-Mliotter  i.  W., 
Prof.  F'inke-Freibnrg  i.  B.,  ArchiTdireklor  Prof.  Hanaen-KÖln,  Prof.  t.  HeiKet-HfUichen, 
Prof.  Menner-Wünborg,  Seclionscbcf  v.  Inuna-StemCKB-Wieo,  Prof.  Kolde-Erlwigen, 

Prof-  Kas«iiiiia-BcrliD,  Arcbivrat  KriCKer-Karbrohe,  Prof.  I.unp^ech^LeipIig, 

Archivnt  W.  Lippert-Dresden,  Arcliiv»r  Mcrx-Osnabrilclc,  Prof.  HOblbACher-WicD, 

Pro£   T,  Ottenthal-lDiiibnick,  Prof.  Obw.  Redlich-Wicn,  Prof.  «.  d.  Kopp-Marborg, 

ProE.    A.  SchoIte-BoDD,  Archifrat  Sello-Oldcnburg,  Geh.  Archirrat  attlin-SRittgart, 

ArchWrat  Wtocbke-Zerbsl,  Prof.  Weber-Prag,  Prof.  Weock-Mu-bnrg, 

Archirrat  Wintei-Osnabrück,  Archivar  Witte-Schwerin. 

Prof.  V.  Zwiedineck-SQdenbont-Grai 

herausgegeben  von 

Dr.  Armin  Tille 

IV.  Baad 


Gotha 

Friedrich  Andreas  Perthes 

Aktia(*Hll«liaft 

1903 


STANFORr  UN'VERSITY 

STACKS 

JAN  2(  i^/u 


t)4G 


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I  '"»    ^''    ''"' 


Inltalt. 

Aufsätze :  seue 

Bergner«  H.   (Nischwitz,  Sacbsen^Altenbnrg) :   Landschaftliche  Glockenkunde  225 — 239 

BeffUng«  Karl  (DresdeD):  Altertümer-Ausstellungen  im  Königreiche  Sachsen  281  —  287 

Caro,  Georg  (Zürich):  Die  Hufe t 257—272 

Dwol^  Frans  (Grax):  Steiermarkische  Geschichtschreibung  im  Mittelalter    .  89 — loi 
„           „            „        Steiermärkische    Geschichtschreibung    vom    XVI.    bis 

XVIIL  Jahrhundert 288—298 

Käser»  Kort  (Wien):  Zur  Vorgeschichte  des  Bauernkrieges 301 — 309 

Liebeskind  (Münchenbemsdori) :  Literatur  zur  Glockenkunde 239 — 245 

Lippert,  Woldemar  (Dresden):    Hermcmn  Knotige   und  seine  Bedeutung 

für  die  oberlausitzische  Geschichtsforschung 150 — 159 

Ifiksebeck,  Ernst  (Metz) :  Zur  Geschichte  der  landesgeschichtlichen  Forschung 

in  Lothringen 33—43 

Richter,  Eduard  (Graz):  Der  historische  Atlas  der  österreichischen  Alpen- 

länder 145 — 150 

Sello,  Georg  (Oldenburg):  Roland- Rundschau 113 — 128  a.  159 — 171 

TQle,  Armin  (Leipzig):   Nachwort  zn   dem  Aufsatze   über   Steiermärkische 
Geschichtschreibung  vom   XVI.  bis  XVIIL  Jahrhundert  von 

Franzllwof 298 — 300 

Werner,  Heinrich  (Merzig):  Die  Reform  des  geistlichen  Standes  nach 

der  sogen.  Reformation  des  Kaisers  Sigmund 

im  Lichte  gleichzeitiger  ReformpUme     i — 14  u.  43 — 55 
„                „                 „         Die  Reform  des  weltlichen  Standes  nach 

der  sogen.  Reformation  des  Kaisers  Sigmund 
im  Lichte  der  gleichzeitigen  Reformbestre- 
bungen im  Reich  und  in  den  Städten    .     .  171  — 182 

u.  193 — 2x8 

Wol^  Gustav  (Freiburg  i.  B.) :  Forschungen  und  Forschungsaufgaben  auf 

dem  Gebiete  der  Gegenreformation     .   65 — 77    [falsche  Zählung:   81 — 93] 

u.  io2~  108 

Mitteilungen : 

Arthlologiscbe  Karten 318 — 319 

Arehhre  und  Kunstgeschichte  (R.  Hansen) 18 — 22 

Archhre :  Stadtarchiv  Strafsburg  (Winckelmann)  15 — 18;  Dritter  Archivtag  1902 
in  Düsseldorf  58—62;  Inventare  der  nichtstaatlichen  Archive  der 
Provinz  Westfalen  108— 110 ;  Archivberichte  aus  Kärnten  I  129 
bis  130;  Schwedische  Studien  über  das  Archivwesen  im  Aus- 
lande 130 — 13t;  Literatur  über  städtisches  Archivwesen  183; 
Staatliches  Archivwesen  in  Österreich  316 — 317;  Landesarchiv 
.^  Vorarlberg  317. 


Seite 

Berichtigungen 64,  144,  192,  256 

Bibliographie  der  Zeitschriftenliteratur 22—25 

Denkmalpflege:   Dritter  Tag  fUr  D.  1902  in  Düsseldorf  (Loersch)  55 — 58; 

vierter  1903  in  Erfurt  311. 
Eingegangene  Bücher  .     31 — 32,  62 — 64,  87 — 88  [fabche  Zählung:  103 — 104],  112» 

142—144,  192,  224,  256,  280,  320 

Familienforschung 272 — 274 

Fluriurten 249—252,  314 

Qesamtverein  der  deutschen  Qeschichts-  und  Altertumsvereine:  Ver- 
sammlung 1902  ifi  Düsseldorf  78 — 87  [falsche  Zählung:  94  bis 
103];  1903  in  Erfurt  309 — 310. 
Historische  Kommissionen:  WUrttembergische K.  fUr  Landesgeschichte  iio; 
H.  K.  für  Nassau  iio — iii;  H.  K.  bei  der  Kgl.  Bayerischen 
Akademie  der  Wissenschaften  140 — 141 ;  Badische  H.  K.  141; 
Kgl.  Sächsische  K.  fUr  Geschichte  222 — 223;  Gesellschaft  für 
Rheinische  Geschichtskunde  223 — 224. 

Historische  Ortsverzeichnisse  (Vancsa) 186—188 

Konferens  von  Vertretern  deutscher  Publikationsinstitute   .     .  182 — 183,  246 — 256 
Museen:  Niederösterreichisches  Landesmuseum  131  — 132;  kulturgeschichtliche 

Ortsmuseen  der  Niederlausitz  133 — 140. 
Nekrologe:   Franz  Krones  Ritter  von  Marchland    188 — 190;   Karl  Albrecht 
(Sorgenfrey)  319—320. 

Ortsgeschichte,  Zur  deutschen  (Albert) 312 — 316 

Personalien 188 — 192,  319—320 

Politische   und  sociale  Bewegung  im  deutschen  BOrgertum  des  XV. 

und  XVI.  Jahrhunderts    (Käser) 25 — 30 

Siegeltmischriften,  deutsche  (Vancsa) in  — 112 

TQrkenkrieg:  Neuere  Literatur  über  den  T.  von  1664 279 — 2S0 

Versammlung  deutscher  Historiker,  siebente  1903  in  Heidelberg  .   182  u.  219—222 
Versammlung  deutscher  Philologen   und  SchulmSnner,   siebenundvier- 
zigste 1903  in  Halle 311 — 312 

Zeitschriften:  Geschichtsblätter  für  Waldeck  und  Pyrmont  183  —  184; 
Jahrbuch  des  Historischen  Vereins  für  das  Fürstentum 
Liechtenstein  184 — 185;  Bibliothek  der  sächsischen  Geschichte 
und  Landeskunde  185;  Archiv  für  Kulturgeschichte  186; 
Vierteljahrschrift  für  Sozial^  und  Wirtschaftsgeschichte  186; 
Fuldaer  Geschichtsblätter  274 — 275;  Deutsch  •  amerikanische 
Geschichtsblätter  275 — 279. 
Zentralstelle  für  deutsche  Personen-  und  Familiengeschichte      ...  273 


Durch  einen  Irrtum  des  Setzers  enthält  dieser  Band  eine  irrtümliche  Seiten- 
zählung: auf  S.  64  folgt  statt  65  fälschlicherweise  mit  Überspringung  eines  Bogens  81. 
Im  folgenden  ist  die  richtige  2ählung  (vgL  Berichtigung  S.  144)  wieder  hergestellt.  Die 
richtigen  Seitenzahlen  sind  an  Stelle  der  fabchen  handschriftlich  einzutragen. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


fur 


Brdenmg  der  landesgescbichtlichen  Forschung 

IV.  Band  Oktober  xgoa  i.  Heft 


Die  Heform  des  geistlichen  Standes  nach 
der  sogen.  H^^ormation  des  Kaisers  Sig>^ 
mund  im  Iiichte  gleichzeitiger  H^^ormpläne 

Von 
Heinrich  Werner  (Merzig) 

Wie  ich  in  einer  Arbeit  Über  den  Verfasser  und  Geist  der  sog. 
Reformation  des  Kaisers  Sigmund  ^)  zeige,  sind  die  charakteristischen 
Leitgedanken  in  der  sogen.  Reformation  des  Kaisers  Sigmund ,  so  der 
Satz  von  der  Freiheit  jedes  Christen,  von  der  Scheidung  des  Geist- 
lichen vom  Weltlichen  und  die  Abwehr  gegen  die  Vermönchung  von 
kirchlichem  Amt  und  Besitz  u.  a.,  im  Zusammenhang  gleichzeitiger 
geistiger  Strömungen  und  Zustände  betrachtet,  nicht  revolutionär, 
sondern  nur  insofern  eigenartig,  als  sie  aus  einer  anderen  als  bisher 
angenommen  Gedankenwelt,  nämlich  der  eines  Laien,  Städtebürgers 
und  Stadtschreibers  erzeugt  sind.  So  sehr  es  auch  bisher  allgemeine 
Anerkennung  fand,  hinter  dem  Verfasser  einen  Pfarrer,  mindestens 
einen  Geistlichen  zu  suchen,  so  konnte  doch  ein  Beweis  dafür  mit 
glaubhaften  Gründen  nicht  beigebracht  werden.  Im  Gegenteil  konnte 
ich  bei  weitem  zahlreichere  und  sicherere  Gründe  vorbringen  •)  zu  der 
Annahme,  dafe  ein  Stadtschreiber  die  Reformschrift  verfaüst  hat  und 
zwar  Valentin  Eber  von  Augsburg;  freilich  eine  entscheidende 
Kontrolle  kann  nur  ein  hinreichender  archivalischer  Nachweis  liefern. 

Über  den  einzelnen  Reformvorschlägen  schwebt  nun  eine  ähnliche 
Unklarheit  und  nicht  minder  gespensterhaftes  Dunkel.  C.  Koehne 
hat  sich  in  seinen  Studien  zur  sogen,  Reformation  K.  S. ')  zuletzt 


1)  Historuche  Vierteljahrschrift,  (1902),  5.  Bd.  S.  467  ff. 

2)  Schon  in  dem  Anhang  tu  meiner  Schrift  Die  Flugschrift  ^onus  eccUsiae  (1519) 
mit  einem  Anhang  über  sozial^  und  kirchenpolitische  Prophetien.  Ein  Beitrag  zur 
^Steten-  und  Kulturgesch,  des  ausgehenden  MitUlalUrs,     (Giefsen  1901)  S.  87  ff. 

3)  Zeitachr.  fttr  Soxial-  und  WirtschafUgeschichte  VI.  B.  (1898),  S.  369—430. 

1 


—     2     — 

eine  eingehende  Behandlung  dieser  Schrift  vorgesetzt.  Sein  Ergebnis 
fuhrt  uns  aber  wenig  weiter,  da  der  zweite  Teil  seiner  Untersuchung, 
der  wichtigste,  nämlich  der  über  die  Quellen  der  einzelnen  Reform- 
forderungen, weder  tief  noch  breit  genug  ist. 

Drei  Behauptungen  tritt  hier  Koehne  entgegen;  erstens  als  seien 
vom  Verfasser  die  Anschauungen  und  Forderungen  der  niederen  Volks- 
schichten wiedergegeben,  zweitens  als  stimmten  die  vorliegenden  Re- 
formforderungen mit  den  auf  den  Reichstagen  zu  Regensburg  und 
Basel  vom  Jahre  1434  voi^ebrachten  Artikeln  überein,  drittens  als 
seien  sie  auf  husitische  Ideen  zurückzuführen.  Dies  geschieht  mit  gutem 
Glück,  weil  die  Gründe  zum  Teil  auf  der  Hand  liegen.  Der  positive 
Teil  der  Quellenimtersuchung  (von  S.  410  ab)  aber  ist  zu  kurz  ge- 
kommen. Koehne  kommt  dabei  zum  Schlüsse;  „Es  mufs  von  vorn- 
herein bemerkt  werden,  dafe  eine  bestimmte,  andere  Reformvorschläge 
enthaltende  Schrift,  aus  der  Priester  Friedrich  einzelnes  geschöpft  hätte,^ 
nicht  nur  nicht  nachzuweisen  ist,  sondern  auch  schwerlich 
existiert  hat."  Dafs  es  aber  noch  andere  Quellen  gibt,  sieht  auch 
Koehne,  indem  er  in  der  „Wissenschaft,  Umgebung  und  politischen 
Vorgängen"  der  Zeit  des  Verfassers  solche  sucht  Der  vorliegenden 
Refornischrift  ähnliche  Forderungen  hätten  z.  B.  die  Konzilien  zu  Kon- 
stanz und  Basel  aufgestellt,  sie  erwiesen  sich  aber  nicht  als  „einfache  Über- 
setzungen" trotz  aller  Anklänge  an  die  der  Reformschrift.  Da  ihm 
nirgends  eine  Quelle  mit  deutlichen  Zügen  zu  erkennen  ist,  so  glaubt 
Koehne  die  Reformpläne  aus  den  „Tendenzen,  in  denen  sich  der  Fort- 
schritt auf  dem  damaligen  Gebiete  verkörperte",  abzuleiten.  So  stehen 
wir  denn  vor  einer  neuen  unbekannten  Gröfee,  die  in  früheren  Unter- 
suchimgen  Radikalismus,  revolutionärer  Geist  hiefe  und  jetzt,  etwas  ge- 
mildert, „Fortschritt**  genannt  wird.  Wir  wollen  nun  im  Folgenden  den 
Verfasser  wieder  möglichst  beim  Worte  nehmen  und  dieses  in  zeit- 
genössischem Lichte  erscheinen  lassen,  so  dafs  es  von  dem  isolierenden 
Dunkel  verliert  und  an  Verständnis  gewinnt;  denn  nichts  bewundern 
und  nichts  verdammen,  sondern  verstehen,  ist  oberstes  Gesetz  der 
Wissenschaft. 

Der  Verfasser  der  Reformschrift  stellt  seine  Forderungen  in  Zusammen- 
hang mit  dem  Konzil  zu  Basel,  er  will  zeigen,  sagt  er  in  der  Einleitung, 
wie  das  heilige  konzil  zu  Basel  gesamnet  ist  *)  Femer  sind  nach  seinen 
eigenen  Worten  seine  Reformpläne  als  eine  Ordnung  gemachet  von 
hoher   meister  (=  Magister)    Weisungen,    gunst   und  willen    und 

i)  Sämtliche  Stellen  aus  unserer  Refonnschrift  sind  nach  der  Aasgabe  von  W.  Boehm, 
Friedrich   Reisers    Reformation   des  K,  Sigmund,    (Leipzig    1876)   angefUhrt     S.    162.. 


—     3     — 

lehre  von  latein  zu  deutsch  zu  einem  bekennen  allen  gemeinen 
Christen  in  der  Christenheit  ^),  und  diese  Urkunde  ist  mit  hohen  weisen 
erläutert*).  Dafs  wir  diese  Behauptung  des  Verfassers  wörtlich  neh- 
men müssen,  habe  ich  ebenfalls  in  meiner  letzten  Arbeit  schon  an- 
gedeutet Ebenso  habe  ich  bereits  auf  den  Kreis  hingewiesen,  wo 
ähnliche  Forderungen  aufgestellt  wurden,  und  auf  die  Veröffentlichung 
derselben  bei  Haller  *).  Es  sind  nämlich  eine  Reihe  von  Reformplänen 
in  Gestalt  von  motivierten  Anträgen  und  Amendements  zu  Konzil-  und 
Ausschufeberatungen,  wie  letztere  besonders  durch  den  sogenannten 
2.  Status  *)  der  Geistlichen  stattfanden,  als  Vorarbeiten  vorhanden,  welche 
die  Verschiedenheit  der  in  den  offiziellen  Konzilsbeschlüssen  verdichteten 
Stimmen  wieder  heraushören  lassen.  So  hat  unser  Verfasser  sein  ord' 
nungsbuch  als  Urkunde  von  hohen  Meistern  (Magistern)  erhalten, 
verdeutscht  und  erläutert  zu  allgemeinem  Verständnis  und  Bekenntnis 
veröffentlicht.  In  diesem  Zusammenhang  geben  die  einfachen  Worte 
des  Verfassers  einen  unzweideutigen  Sinn.  Aber  vergleichen  wir  einmal 
die  Reformforderungen  des  Verfassers  mit  den  allerdings  sehr  unvoll- 
ständig mitgeteilten  Reformpapieren  aus  jener  Reformbewegung,  so  läist 
sich  meine  Annahme  trotzdem  noch  zu  einer  gröfseren  Gewifsheit  er- 
heben. Femer  wird  aus  diesem  Vergleich  ersichtlich  werden,  dafs  die 
Forderungen  des  Verfassers  nicht  auf  offizielle  Beschlüsse,  sondern  auf 
private  zurückgehen,  da(s  also  gerade  im  Gegensatz  zu  Koehne 
unsere  Reformscbrift  Unterlagen  hat,  die  ihres  gelehrten  Ursprungs 
halber  lateinisch  sind,  aber  zu  ihrer  Massenverbreitung  verständlicher 
gemacht  und  verdeutscht  werden  mufsten.  Daneben  erscheinen  die  For- 
derungen selbst  in  neuem  und  hellerem  Licht  und  nur  als  eine  Stimme 
aus  dem  Wirrwarr  der  Meinungen  in  dem  damals  immer  heftiger  wer- 
denden Drang  nach  Reform.  Nur  seine  Erläuterungen  haben,  weü 
subjektiv,  ein  so  eigenartiges  Gepräge,  dafs  sie  von  neuem  auf  eine 
bestimmte  Persönlichkeit  als  Verfasser,  nämlich  auf  einen  Laien  und 
Stadtschreiber  hinweisen. 

Was  an  den  Reformplänen  des  geistlichen  Standes  sofort  auffallt, 
ist  die  Einhaltung  der  Reihenfolge,  wie  sie  durch  die  hierarchische 
Rangordnung  in  der  Kirche  voi^ezeichnet  ist.  Die  Reform  geht  vom 
Papste  zu  den  Kardinälen,  Bischöfen,  Pfarrern,  Prälaten,  Orden  bis  zu 


i)  Ebenda  S.  171. 

3)  Eine   andere   SteUe   lautet:    das   wird  nun    von   stuck   zu    stück    erläutert    zu 
einem  reckten  bekennen  gebracht»     Ebenda  S.  344. 

3)  Job.  Hai  1er,  Concilium  Basitiense  1896.     4  Bde. 

4)  Vgl.  Hiatorische  Vierteljahrtchr.  a.  a.  O.  S.  469  und  S.  475. 

1* 


—     4     — 

den  Laien  im  weltlichen  Teil,  also,  wie  er  selbst  sagt,  vom  haupt 
bis  zum  mindesten  herab.    In  dem  zweiten  Teile  über  den  weltlichen  \ 

Stand  hat  er  keine  derartige  strenge  Anordnung  innegehalten.  Der 
Grund  ist  einfach:  bei  der  geistlichen  Reform  hat  er  fest  geordnete 
Anträge  vor  sich  gehabt,  die  den  natürlichen  Gang  einer  Geschäfts- 
ordnung verraten  *).  In  dem  weltlichen  Teil  schreibt  aber  der  Verfasser 
über  seinen  eigenen  Stand  mit  praktischer  Erfahrung  und  eigener  Ge- 
dankenordnung; da  er  aber  als  Stadtschreiber  nur  Halbbildung  besitzt, 
so  sticht  jene  grell  genug  gegen  die  gelehrten  Entwürfe  zum  ersten 
Teile  ab.  Nur  in  seiner  Eigenschaft  als  städtischer  Diplomat  bringt  er 
mehr  Kenntnisse  für  weltliche  Dinge  mit,  die  ihm  kraft  seiner  TeU- 
nähme  an  Reichs-  und  Städtetagen  bekannt  sein  konnten.  Davon  ist 
denn  auch  der  zweite  Teil  der  Reformation  ein  buntes  Widerspiel. 
(In  einem  andern  Aufsatz  ist  darüber  demnächst  näheres  zu  finden.) 

Bei  jedem  kirchlichen  Amte  macht  er  nun  unter  immer  wieder- 
kehrenden Gesichtspunkten  seine  Forderungen  geltend :  seine  Reformen 
betreffen  hauptsächlich  die  Wahl  zu  jedem  Amte  und  die  dazu  not- 
wendige Ausbildung  und  Graduierung,  die  familia,  das  Einkommen 
jedes  hierarchischen  Beamten  und  die  Amtshandlungen  jedes  Klerikers.. 

Die  Wahl  zu  einem  jeden  Amte  soll  einheitlich  in  dem  Sinne 
reformiert  werden,  dafs  keine  kirchliche  Würde  von  einem  Ordensmann 
bekleidet  werden  darf.  Während  sich  offizielle  Vorschläge  *)  ausführ- 
lich mit  dem  Gange  der  Wahl  beschäftigen,  macht  unser  Verfasser  bei 
seinen  Vorschlägen  nur  den  praktischen  Gesichtspunkt  des  imbeteiligten 
Laien  geltend  und  in  so  scharfer  Weise,  dafs  darin  der  auch  sonst 
ausgesprochene  grofse  Unwille  gegen  die  Orden  einen  geradezu  ty- 
pischen Ausdruck  findet  Viele  Stimmen  aus  damaliger  Zeit ')  geben 
kund,  wie  die  Plage  des  Almosensammeins  und  der  Besitz  in  der  toten 
Hand  den  Städtebürgem  immer  mehr  ein  Dom  im  Auge  wurde.  Jeder 
Orden  sei  eine  parcialitas,  fahrt  unser  Verfasser  fort,  der  die  Univer- 
salität eines  jeden  kirchlichen  Amtes  widerstrebt  Denn  ein  aus  einem 
Orden  gewählter  Würdenträger  hat  nur  die  Interessen  seines  Ordens 
im  Auge  und  dispensiert  deshalb  die  Mitglieder  desselben  sehr  leicht 
von  geistlichen  Verpflichtungen.  So  entstehen  überall  Eingriffe  der 
Orden  in  kirchliches  Amt  und  kirchliches  Recht.     Eine  ähnliche  Her- 


i)  Denselben  Gmng  halten  auch  die  von  Haller  veröflfentlichten  gröfseren  Privat- 
anträge ein,  wie  z.  B.  die  des  Andreas  vonEscabor(I.  Bd.,  S.  214),  and  ebenso  soU  der 
Reforme  ntwnrf  Cesarinis  geordnet  gewesen  sein.    Vgl.  Ebenda. 

2)  Vgl.  Monumenta  conciUorum gener<Uium  saeculiXV,  2,  S.402  und  Hall e  r  I,  S.  190. 

3)  Vgl.  die  in  meiner  oben  genannten  Schrift  angeführten  SteUen  S.  87,  Anm.  3. 


Vorkehrung"  dieses  einen  Gesichtspunktes  über  die  Wahlreform  finden 
wir  bis  jetzt  nirgends,  sie  ist  also  dem  Verfasser  als  besonders  cha- 
rakteristisch und  als  ihm  allein  eigen  zu  betrachten.  Nur  aus  seiner  städte- 
bürgerlichen  Eigenschaft  ist  sie  hervorgegangen  und  steht  jedenfalls 
ohne  eine  gelehrte  Unterlage  in  der  Form  eines  Antrages  ver- 
einzelt da. 

Ganz  anders  liegt  es  bei  seinen  Forderungen  über  die  wissen- 
schaftliche Qualifikation.  Hiermit  haben  sich  offizielle  ^)  wie  private 
Reformbeschlüsse  beschäftigt,  und  unser  Verfasser  bekennt  sich  hier 
zu  ähnlichen  Anschauungen,  wie  sie  jene  vertreten.  So  soll  nach 
unserem  Verfasser  ein  Kardinal  ein  Doctor  in  der  heiligen  Schrift  und 
in  den  Rechten  sein,  ein  Bischof  Doctor  in  der  heiligen  Schrift  und 
in  decretis",  der  Pfarrer  soll  von  einer  hohen  Schule  Brief  und  Insiegel 
haben,  dais  erBaccalaureus  sei  *).  Hören  wir  nun,  was  andere  gleichzeitige 
Reformpläne  über  diesen  Punkt  vorschlagen .  Haller  veröffentlicht  einen  mo- 
tivierten Antrag"  auf  Ergänzungendes  Dekrets  über  die  Wahlen  (S.  190  ff.), 
in  dem  es  heilst :  cavendum  esse,  ut  de  cetero  nullus  promoveatur  in 
episcopum,  nisi  fuerit  doctor  vel  licentiatus  sacrae  paginae  vel  sac- 
rorum  canonum  vel  baccalarius  in  theologia/ormatus.  Bei  der  Wahl 
der  Bischöfe  müssen  im  Domkapitel  mindestens  24  Mitglieder  mitwirken, 
ja  sogar  auch  Laien,  etsi  non  omnis  multitudo  civitatis  tarnen  ad 
minus  aliquis  magnus  et  notabilis  numerus  bonorum  virorum.  Hier 
sehen  wir  eine  andere  Stimme  vertreten,  die  eher  „fortschrittlich"  ge- 
nannt werden  müfste  als  die  unseres  Verfassers. 

In  den  Reformanträgen  der  deutschen  Nation  vom  Jahre  1433  *), 
die  durch  den  Vikar  von  Freising  gestellt  sind,  wird  vor  allem  die 
Freiheit  der  kanonischen  Wahl  gefordert  und  ebenfalls  die  Gelehrsam- 
keit der  Geistlichen  hochgeschätzt,  die  in  generalibus  studiis  et  aliis 
patrimonia  sua  et  labores  su/>rum  consumunt  parentum  *)  et  quibus 
forsitan  per  ordinarios  eis  ignotis  minime  vel  sattem  tardius  pro- 
videretur. 

Ebenso  verlangt  die  Denkschrift  eines  Ungenannten  über  die 
Kirchenreform  *)  docti  pastores  und  freie  Wahl, 

Andreas  von  Escabor  macht  den  Vorschlag,  dafs  der  zum  Papst 


l)  Vgl.  Monumenta  conciliorum  generalium  saeculi  XV,  2,  S.  402. 
3)  Ausgabe  ron  Boehm,  S.  182. 

3)  Hallcr  m.  ».  O.  S.  195  ff. 

4)  Dieser  Text   erinnert  lebhaft   an   die  Worte   unseres   Verf.   Vgl.   Boehm   S.    182, 
Z.   II  aod  S.  183. 

5)  Haller  a.  a.  O.  S.  206  ff. 


—     6     — 

zu  Wählende  entweder  in  der  Theologie  oder  im  kanonischen  Recht 
graduiert  oder  de  ducali  aut  regalt  genere  procreatus  *)  sei. 
Die  Zahl  der  Kardinäle  soll  beschränkt  werden  und  sie  sollen  in  der 
Theologie  und  im  kanonischen  Recht  graduiert,  nicht  mit  Papst  und 
untereinander  verwandt  sein.  Die  Erzbischöfe  und  Bischöfe  sollen 
ebenfalls  vel  doctor  in  iure  canonico  vel  civili  vel  medicinae 
sein.  Für  die  Beleihung  von  Benefizien  und  Offizien  wird  gleichfalls 
eine  der  Höhe  der  Pfründe  entsprechende  wissenschaftliche  Stufe  ge- 
fordert, so  dafs  eine  förmliche  Skala  des  Pfründenwertes  dem  Mafse 
der  Gelehrsamkeit  entspricht.  Ein  Ordensmann  kann  vom  Papste  nicht 
zum  Bischof  ernannt  werden,  selbst  nicht  auf  die  Bitte  eines  Königs 
oder  einer  Gemeinde  hin,  weil  dieses  Amt  dem  Wesen  eines  Mönches 
widerspricht :  ne  habeat  occasionem  peccandi  et  vaga  n  di  et  officium 
pro  pecunia  exequendi,  ac  quod  magis  est,  ne  habeat  proprietatem 
et  oboedientiam  , .,  et  cogatur  in  opprobrium  dignitatis  episcopalis 
ubique  mendicare  *).  Andreas  vonEscabor  entwickelt  also  hier  einen  ähn- 
lichen Gedanken  über  die  Wahl  eines  Bischofs,  der  aber  nicht  bei  allen  kirch- 
lichen Ämtern  gleich  einheitlich  durchgeführt  ist,  im  Gegenteil  schon  bei 
dem  Bischofsamte  selbst  eine  Ausnahme  erleidet:  es  darf  nämlich  ein 
Ordensmann  Bischof  werden,  wenn  er  vom  Kapitel  mit  der  Erlaubnis 
von  Abt  oder  Provinzial  unter  der  Erfüllung  aller  anderen  Bedingungen 
gefordert  wird. 

Auch  die  Pfarrkirchen  sollen  je  nach  ihrem  Ertrag  an  minder  oder 
höher  Graduierte  verliehen  werden  Auf  die  Pfarrkirche  mit  dem  höch- 
sten Ertrag  von  200  Kammergulden  (S.  225)  hat  der  Doctor  oder 
Magister  im  kanonischen  Recht  oder  in  der  Medizin  das  Anrecht. 
Diesen  steht  gleich  der  vir  magnus  nobilis  ex  utroque  parente  de 
militari  genere  descendus. 

Die  Graduierung  spielt  auch  in  einem  anderen  Ausschufsantrag,  be- 
trefTend  die  Expektanzen-  und  Benefizienverleihung  (S.  223),  eine  grofse 
Rolle;  doch  nach  der  Meinung  des  anderen  Teüs  des  Aus- 
schusses soll  sie  ganz  wegfallen.  Wie  das  adlige  Element  ^)  den 
Vorrang  bei  Verleihung  von  Benefizien  haben  soll,  zeigt  auch 
dieser  Antrag,  indem  er  den  Genannten  vier  Benefizien  als  Maximum 
der  Benefizienzahl,  den  Magistern,  Doktoren  und  Lizentiaten  nur  drei 
Benefizien  zuerkennt.  Sicut  per  suprascripta  prohibetur  ascensus 
non  graduatis  et  non  nobilibus  ad  alta  et  magna  beneficia,  ita  vi- 

1)  Ebenda  S.  216. 

2)  Ebenda  S    221. 

3)  Verwandte  von  Königen  und  Fürsten.     Ebenda  S.  238  u.  393. 


detur  prohiberi  descensus  nobütbus  et  graduatis  ad  pauca  beneficia 
et  modica^  ut  etiam  substt  amplms,  de  quo  pauperibus  providere. 
Auch  für  das  Pfarramt  einer  Gemeinde,  ubi  stt  magntis  et  notabüis 
populus,  kann  nur  ein  magister  in  artibus  oder  baccalaurius  kandidieren, 
während  für  andere  Pfarrkirchen  solche  genügen,  die  lateinisch  lesen 
und  verstehen  können.  Im  übrigen  sollen  Adlige  und  Söhne  der 
Fürsten  den  Graduierten  gleichstehen. 

So  sehen  wir  denn  die  Frage  nach  dem  Wahlrecht^  welches 
das  Baseler  Konzil  schon  im  Dezember  1432  *)  beschäftigte,  in  mannig- 
facher Weise  beantwortet  Darin  stimmen  nun  alle  Anträge  überein, 
dafe  das  Wahlrecht,  welches  im  Laufe  der  Zeit  von  geistlichen  Re- 
servationen und  Provisionen  ganz  verdrängt  war,  den  zuständigen  Kör- 
pern zurückgegeben  werden  soll,  und  dabei  wird  dem  gelehrten  und 
adligen  Element  besondere  Vergünstigung  und  Bevorzugung  eingeräumt, 
ja  sogar  den  Laien  eine  gewisse  Teilnahme  zugestanden.  Davon  weifs 
unser  Verfasser  nichts.  Er  stellt  vielmehr  eine  eigene  ganz  charak- 
teristische Forderung  in  bezug  auf  die  Wahlen  auf,  die  an  eine  be- 
schränkte Forderung  des  Andreas  von  Escabor  zwar  erinnert,  aber  in 
dieser  Allgemeinheit  und  feindseligen  Konsequenz  nur  unserem  Verfasser 
eigen  ist  und  klar  seinen  städtebürgerlichen  Geist  verrät. 

Nur  den  Graduierten  erkennt  er  auch  ihre  Vorrechte  im  gewissen 
Sinne  zu,  weil  er  sie  in  seiner  Vorlage  erwähnt  sieht.  Aber  sie  sind 
so  nebensächlich  und  mit  so  feindseligen  Augen  betrachtet,  dafe  ihn 
seine  Halbbildung  in  den  viel  breiteren  Erläuterungen  zu  den  genannten 
Forderungen  zu  heftigen  Angriffen  auf  die  gelehrten  und  gewaltigen 
fortreifst.  Der  Verfasser  schliefst  aus  der  Gelehrsamkeit  für  die  Stellung 
eines  Klerikers  etwas  ganz  anderes.  Bei  den  übrigen  genannten  Vor- 
schlägen wird  die  Graduienmg  als  Bedingung  zu  einem  höheren  Amt 
und  besseren  Pfründe  angesehen,  bei  unserem  Verfasser  aber  ist  sie  die 
Voraussetzung  für  eine  schwerere  Pflicht  selbst  eines  niederen  Amtes 
wie  z.  B.  des  Pfarramtes.  Dieses  mufste  einem  Städtebürger,  nament- 
lich einem  in  der  städtischen  Verwaltung  so  hoch  Stehenden,  das  wich- 
tigste kirchliche  Amt  sein,  weil  es  den  Laien  mit  seinen  Funktionen 
bekleidet  von  der  Wiege  bis  zum  Grabe.  Während  die  anderen  An- 
träge im  grofsen  und  ganzen  nur  geringe  wissenschaftliche  Aufforde- 
rungen an  den  Pfarrkandidaten  stellen,  will  er  dieses  Amt  aus  recht 
praktischen  Gründen  gerade  an  gelehrte  Priester  übertragen  wissen, 
die  Ungelehrten  seien  noch  gut  genug  für  die  Dome  zum  blofeen  Singen 
und  Lesen.    Unwissende  Priester,  die  weder  predigen  noch  Sakramente 

i)  Vgl.  Malier,  II.  Bd.,  S.   iii. 


—     8     — 

spenden  können  '),  werden  nach  den  Ansichten  unseres  Verfassers  zur 
Amtsausübung  in  den  Pfarrkirchen  gegen  schenk  und  miet  bevorzugt, 
während  die  gelehrten  Priester  Jhre  Würde  und  Gelehrsamkeit  nur  zu 
einer  bequemen  Einnahmequelle  machen.  So  sei  denn  heute  die  theo- 
logische Gelehrsamkeit  unfruchtbar  geworden  *).  Gerade  die  gelehrten 
Priester  sollen  auf  die  Kirchen  gezwungen  werden,  sonst  würde  der 
keherglauben  in  den  städten  noch  mehr  um  sich  greifen  ^). 

Von  der  Bevorzugung  des  adligen  Elements  bei  der  Wahl  zu 
einem  höheren  kirchlichen  Amte  weifs  der  Verfasser  vollends  gar  nichts. 
Vielmehr  scheint  auch  hier  ein  bewufster  Gegensatz  vorzuliegen,  der 
sich  neben  einer  politischen  Spitze  ^)  in  dem  häufigen  Rufe  gegen  die 
„Gelehrten  und  Gewaltigen"  *)  Luft  macht.  Denn  nicht  nach  Gunst, 
sondern  nach  Kunst,  nicht  nach  Stand,  sondern  nach  Verstand  will  er 
die  Ämter  verteilt  haben,  deren  Wert  er  recht  charakteristisch  nach  dem 
Standpunkt  des  praktischen  Laien  einschätzt.  So  kommt  es  denn 
auch,  dafs  er  die  Prälaten  dem  Range  wie  der  Behandlung  nach  den 
Pfarrern  unterordnet. 

Von  seinen  Reformforderungen  über  die  Wahl  können  wir  uns 
also  ein  ganz  genaues  Bild  machen.  Die  Ablehnung  eines  Ordens- 
mannes als  Kandidaten  für  ein  kirchliches  Amt  ist  ihm  allein  eigen 
und  für  ihn  charakteristisch ;  sie  wird  sich  höchstens  an  ähnliche,  aber 
bei  weitem  nicht  so  konsequent  durchgedachte  Forderungen  wie  die 
des  Andreas  von  Escabor  angelehnt  haben.  Dies  erklärt  sich  aus  der 
Tatsache,  daCs  in  unserer  Schrift  die  einzigen  bis  jetzt  bekannten  Re- 
formpläne eines  humanistisch  ^)  gesinnten  und  städtebürgerlichen  Laien 
vorliegen.  Auch  über  die  Qualifikation  zu  einem  Amte  teilt  er,  wie 
schon  oben  erwähnt,  nur  kurz  und  oberflächlich  den  zu  gründe  liegen- 
den gelehrten  Antrag  mit,  um  durch  seine  eigenen  Erläuterungen  dazu 
um  so  kräftiger  den  Charakter  desselben  zu  verwischen  und  seine 
eigenen  städtebürgerlichen  Gesichtspunkte  geltend  zu  machen. 

Augenscheinlich  geht  auch  die  Forderung  über  die  familia  eines 
Prälaten  auf  einen  von  den  der  Schrift  zu  gründe  liegenden  Anträgen 
zurück:  so  soll  die  familia  eines  Kardinals  12  Personen  umfassen, 
nämlich   2  Kapläne,    i  Kammermeister,    i  Schreiber,   2  Edelknechte, 


1)  Vgl.  Bochm,  S.   183. 

2)  Ebenda  S.  192. 

3)  Vgl.  auch  das  unten  über  die  Provinzialsynoden  Gesagte. 

4)  Vgl.  Anbang  zu  meiner  obengenannten  Schrift,  S.  90. 

5)  Vgl.  Anhang,  S.  86,  Anm.  i. 

6)  Vgl.  Histor.  Vierteljahrschr.  5.  Bd.  (1902)  S.  474f. 


—     9     — 

4  Scbildknechte,  i  Marstaller  und  i  Koch.  Eines  Bischofs  familia  soll 
bestehen  aus  2  Priestern,  2  Schildknechten ,  i  Koch  und  i  Marstaller, 
ein  Suf&agan  soll  haben  i  Priester,  i  Schildknecht,  i  Schreiber, 
I  Koch  und  i  Marstaller.  Durch  Privatanträge,  wie  sie  Haller  S.  208 
mitteilt,  lälst  sich  dieser  Vorschlag  nicht  näher  beleuchten  als  durch 
die  eine  Stelle  daselbst,  wo  für  die  familia  eines  Kardinals  30  Personen 
gefordert  werden. 

Am  wichtigsten  aber  ist  die  Frage  über  das  Einkommen  der  Geist- 
lichkeit, die  lebhaft  auf  dem  Konzil  erörtert  wurde  und  zu  der  des- 
halb auch  eine  Reihe  von  Privatansichten  vorliegen.  Die  mittelalter- 
liche Kirche  war  in  ihrer  Blütezeit  ein  finanziell  und  wirtschaftlich 
hoch  entwickeltes  Institut  geworden;  die  Päpste  und  nach  ihrem  Bei- 
spiel die  übrigen  Würdenträger  der  Kirche  hatten  frühzeitig  die  Macht 
des  Kapitals  erkannt  und  zur  Erlangung  desselben  zahlreiche  Mittel 
und  Wege  gefunden.  Unter  allen  möglichen  Namen  wie  Annaten, 
Reservationen,  Provisionen,  Expektanzen,  Vakanzgeldem  und  Taxen 
aller  Art  flofis  reichlich  Geld  nach  Rom  und  anderen  geistlichen  Höfen  *, 
besonders  beliebt  war  ein  Mittel  zur  Bereicherung,  nämlich  die  An- 
häufung von  Pfründen  und  Bencfizien  in  einer  Hand,  die  sogen.  Plu- 
ralität  oder  Union  von  Pfründen.  Um  diese  zu  erlangen,  hatten  sich 
an  der  römischen  Kurie  solche  Pfründenjäger  unter  dem  später  best- 
gehafsten  Namen  der  Kurtisanen  aufgehalten,  die  in  ihrer  geistlichen 
Würde  oft  sehr  tief  standen,  häufig  gar  keine  besafsen. 

Sehon  unser  Verfasser  charakterisiert  dieses  Treiben  mit  den  Wor- 
ten: sie  leihen  unterweilen  Stallknechten  pfarreien  und  prälaten 
Pfründen  *).  Nicht  weniger  ärgemiserregend  war  die  Afterverleihung 
von  geistlichen  Einnahmen,  da  hierdurch  ganz  unwürdige  Priester  gegen 
ein  fettes  Entgelt  in  den  Besitz  von  Pfründen  und  Benefizien  kamen. 
Eine  Reform  mufste  also  damit  beginnen,  die  vom  Papste  angemaßten 
Einnahmen  aus  Pfründen  und  Reservationen  zu  beseitigen,  und  sie  den 
Ordinarien  wieder  zurückgeben;  andrerseits  mufste  die  Pluralität  ab- 
geschafft oder  auf  ein  Mindestmafs  beschränkt  werden.  Das  ist  auch 
der  W^,  den  die  offiziellen  Verhandlungen  über  diesen  Gegenstand 
nahmen.  In  dem  einen  Punkte  über  die  Annaten  erlangte  man  gerade 
durch  das  Drängen  der  deutschen  Nation  einen  durchgreifenden  Be- 
schlufs:  sie  wurden  abgeschafft.  Eine  Entschädigung  für  den  Ausfall 
wurde  versprochen,  aber  da  man  sich  über  die  Art  nicht  einigen 
konnte,  nicht  ausgeführt.  So  war  denn  Spielraum  genug  für  Privat- 
anträge gegeben,  und  einer  davon  liegt  auch  unserer  Schrift  zu  gründe. 

i)  Boehm,  S.  182. 


—     10     — 

Das  Einkommen  des  Papstes  und  seines  Hofes  soll  ein  Drittel  der 
Einnahmen  aus  dem  Patrimonium  Petri ,  also  aus  dem  Kirchenstaat, 
der  in  seinem  Umfang  kurz  angegeben  wird ,  betragen  *) ,  die  andern 
zwei  Drittel  sollen  dem  Kardinalskollegium  zugewendet  werden;  diese 
Einnahmen  werden  gleichsam  als  direkt  aus  dem  der  römischen 
Metropolitankirche  verliehenen  Kirchengut  fliefeend  betrachtet.  Da- 
gegen sollen  alle  indirekten,  durch  die  Amtsfunktionen  sich  eig'eben- 
den  Einnahmen,  also  alle  Taxen  und  Gebühren,  wegfallen:  ein  Brief 
von  der  Kurie  soll  deshalb  „nicht  mehr  kosten  als  das  Pergament 
wert  ist".  Alle  in  der  Rota  beschäftigten  Hofbeamten  dürfen  nicht 
mehr  mit  Kirchenverleihungen  und  den  damit  verbundenen  Inkor- 
porationen besoldet  werden,  sondern  ebenfalls  mit  den  Einnahmen  aus 
dem  Kirchenstaat  und  zwar  von  dem  Anteil  des  Papstes.  Die  Peni- 
tentiaren  sollen  keine  Laien,  sondern  Priester  sein.  Für  jeden  Kar- 
dinal erhofft  der  Verfasser  aus  den  zwei  Drittel  der  Einnahmen  aus  dem 
Kirchenstaat,  wenn  sie  ordentlich  verteilt  würden,  I2(xx:)  Gulden  jähr- 
lich. Dafür  sollen  sie  aber  keine  indirekten  Einnahmen  mehr  haben, 
etwa  aus  Pfründen,  sondern  höchstens  Vergütung  der  Spesen  auf 
Legationsreisen  *). 

Das  Einkommen  eines  Erzbischofs  hat  loooo  Gulden  rheinisch  zu 
betragen  und  das  eines  Suffragans  5 — 6ocx)  Gulden.  Wenn  auch 
hier  nicht  angegeben  ist,  woher  diese  Besoldung  genommen  werden 
soll,  so  liegt  es  im  Sinne  der  anderen  parallelen  Forderungen  des 
Verfassers,  auch  hier  die  Einnahmen  aus  dem  zur  Metropolitankirche 
gehörigen  Kirchengut,  also  dem  Herrschaftsgut,  als  den  Fonds  für  das 
Einkommen  eines  Erzbischofs  zu  bezeichnen.  Die  übrigen  —  indirekte 
Einnahmen  wollen  wir  sie  wieder  nennen  —  sollen  teils  beschränkt, 
teils  aufgehoben  werden:  so  soll  für  Bestätigung  eines  Suffragans  der 
Bischof  nur  icx)  Gulden  erhalten.  Die  Pfründenverleihung  soll  wieder 
den  Bischöfen  als  den  Ordinarien  zurückgegeben  werden,  nur  Erzbis- 
tümer und  gefürstete  Abteien  bleiben  dem  Papste  vorbehalten  (S.  182). 
Jeder  Bischof  darf  aber  bei  der  Verleihung  einer  Pfründe  nicht  mehr 
als  I  Gulden  nehmen,  wohl  auch  nur  zur  Deckung  der  dabei  ent- 
stehenden Unkosten.  Dagegen  darf  er  weder  schenk  noch  miet  nehmen 
und  keinem  mehr  als  eine  Pfründe  geben  (S.  183),  damit  er  sie  selbst 
„verdienen"  kann.  Auch  Geldstrafen,  wie  Konkubinatssteuer,  auf- 
zuerlegen, soll  dem  Bischof  verboten  sein  (S.  184).  Dafs  dies  oft  aus 
geitz  (=  avaritia)  geschah,  sagt  er   an   der  Stelle,  wo   es   heifst:  sie 

i)  s.  163  u.  174. 
2)  S.  177. 


—    11    — 

besl€U€m  sie  wegen  ihrer  konkuhin  (S.  187).  Die  Verleihung 
einer  Pfründe  soll  nur  an  denjenigen  erfolgen,  der  von  einer  hohen 
schule  durch  2  tnagister ,  Präsidenten  genannt,  geprüft  ist ,  und 
diesen  soll  der  Bischof  ohne  weiteres  beleihen.  Hiermit  wird  dem 
Gelehrtentum  eine  wichtige  Entscheidung  zugestanden.  Daraus  ist  aber 
auch  wieder  zu  erkennen,  dafe  der  Verfasser  hier  der  lehre  und  Weisung 
hoher  tneister  in  seiner  Vorlage  gefolgt  ist. 

Jede  Pfarrkirche  soll  mit  zwei  Priestern  versorgt  sein.  Ist  die  Pfarre 
zu  klein,  dann  sollen  zwei  vereinigt  werden,  denn  alle  Priester  sollen 
gleiche  Pfründe  haben.  Diese  betragen  für  jeden  80  Gulden  jährlich 
für  alle  dinge  (S.  189).  Nach  der  Einnahme  aus  dem  Pfarrgut  oder 
Herrschaftsgut  richtet  sich  die  Zahl  der  Priester  in  einer  Pfarrei.  Alle 
Nebeneinnahmen,  namentlich  die  aus  feierlichen  Begräbnissen  und 
Anniversarien,  fallen  weg,  da  diese  selbst  aufgehoben  werden.  An 
ihrer  Stelle  sollen  Geschenke,  die  in  Kirchengeräten  bestehen,  gegeben 
werden,  oder  andere  Opfergaben.  Aber  Geld  dürfen  sie  nicht  nehmen 
und  nichts  für  Geld  tun;  denn  die  Pfründe  soll  ihnen  in  einem  Stück 
gegeben  werden.  Das  Kirchengut  dürfen  die  Priester  selbst  bebauen 
und  Vieh  darauf  halten,  aber  alle  Gerechtigkeiten  auf  Häuser,  Acker 
und  Wiesen  der  Untertanen  sollen  je  für  ein  Schilling  ein  pfund  ^)  ab- 
gelöst Verden.  Der  Gesamterlös  hieraus  ist  in  einemStück  anzulegen,  das 
dann  zu  einem  Fonds  mit  den  Einkünften  aus  dem  Herrschaftsgut  zu- 
sammeng'eschlagen  wird.  Hieraus  erhält  dann  jeder  Priester  80  Gulden 
jährlich.  Mit  diesen  weltlichen  Dingen  haben  aber  die  Priester  nichts 
zu  tun^  dafür  soll  ein  Kirchenpfleger  mit  40  Gulden  Jahreseinkommen 
eingesetzt  werden.  Dieser  hat  jährlich  Rechnung  abzulegen  vor 
2  Priestern,  1  Vertreter  des  Bischofs  und  4  bis  5  Untertanen. 

Aus  diesen  Vorschlägen  läfst  sich  der  Verfasser  wieder  recht  deut- 
lich erkennen.  Abschaffung  der  feierlichen  Begräbnisse  und  Anni- 
versarien *),  Trennung  von  geistlichem  Amt  und  weltlicher  Verwaltung, 
Ablösung^  der  Gerechtigkeiten  und  Rechnungsablage  des  Kirchenpflegers 
selbst  vor  weltlichen  Untertanen  erscheinen,  ohne  Zusammenhang  be- 
trachtet, für  die  damalige  Zeit  als  etwas  Unerhörtes  und  im  Munde 
eines  Geistlichen  gesprochen  —  wie  seither  angenommen  —  etwas 
Revolutionäres  oder  Husitisches.  Ein  ganz  anderes  Gesicht  zeigen 
diese  Worte  aber,  wenn  man  sie  im  Geiste  des  mittelalterlichen  Städte- 
bürgertums  betrachtet :  nur  ein  Laie,  ein  Vertreter  des  mittelalterlichen 

1)  S.   190,    Der  Verf.  meint  scheinbar,  dafs  für  je   i   /f  laufende  Abgabe    eine    ein- 
malige Ablösungssomm  e  von  i  fö   bezahlt  werden  soll. 

2)  VgL  Auch  das  anten  über  ProvinziaUynoden  Gesagte. 


—     12     — 

Städtebürgertums,  das  namentlich  in  seiner  Verwaltung  dem  modernen 
Staatsbürgertum  vorbildlich  geworden  ist,  kann  solch  modern  er- 
scheinende Forderungen  aufstellen,  und  ein  in  dieser  Verwaltung  ge- 
schulter Stadtschreiber  war  dazu  in  noch  viel  höherem  Mafse  im  stände. 

Erst  nach  den  Pfarrern  kommt  der  Verfasser  mit  besonders  deut- 
licher Spitze  gegen  die  Prälaten  auf  die  Domherren  zu  sprechen:  sie 
sollen  nur  i  Pfründe  haben  und  keine  Pfarrei  daneben,  der  sie  doch 
nicht  vorstehen,  ihr  Einkommen  von  ihrer  Kathedralkirche  soll  je 
80  Gulden  betragen.  An  einer  Domkirche  sollen  nicht  mehr  als 
24  Prälaten  wirken ;  da,  wo  eine  gröfeere  Anzahl  vorhanden  ist,  sollen 
die  Überzähligen  in  die  Pfarrkirchen  geschickt  werden  (S.  193).  Hier 
fordert  der  Verfasser  in  seinem  tiefen  Groll  gegen  die  Gelehrten  mit 
grofser  Emphase  von  den  getreuen  Christen,  dafe  sie  die  gelehr- 
ten bezwingen  mögen  mit  gewalt,  damit  rechte  Ordnung  gehalten 
werde.  Ein  Domherr  in  einem  Kollegium  soll  nur  60  Gulden  haben 
und  diese  soll  er  selbst  verdienen,  denn  jedermann  soll  seine  arbeit 
tun  um  sein  tägliches  Brot  (S.  194).  Dieser  wiederholt  ausgesprochene 
Grundsatz  von  der  persönlichen  Leistung  gegenüber  dem  in  der  mittel- 
alterlichen Kirche  und  dem  Staat  eingerissenen  Unwesen  der  Vikariate 
und  Afterverhältnisse  ist  echt  städtebürgerlich  und  kennzeichnet  wie- 
derum den  Verfasser  nach  der  schon  öfters  betonten  Seite.  Mit  Geld- 
und  Gerichtssachen  soll  ein  Domherr  ebensowenig  etwas  zu  tun  haben 
wie  die  Pfarrer,  Zinsen  und  Zehnten  der  Domkirchen  sollen  ebenfalls 
abgelöst  und  die  Verwaltung  des  Erlöses  daraus  einem  Vogt  und 
Kellner  übertragen  werden,  welche  der  Gewalt  des  Bischofs  unterstehen 
sollen  (S.   19s). 

Den  Orden  ist  er  nun  vollends  feindselig  gesinnt :  vor  allen  den 
Benediktinern  und  Bernhardinern  soll  man  ihre  Güter  und  Kirchen 
nehmen  und  ihnen  die  alte  Regel  vorlegen,  wonach  sie  keinen  Besitz 
haben  dürfen.  Heute  sind  den  Klöstern  alle  zinsbar ,  Laien ,  Edle  wie 
Reiche*),  und  deshalb  dürfen  sie  treiben,  was  sie  wollen  (S.  197). 
Alle  zwing  und  benne,  Schlösser  und  Städte  sollen  ihnen  genommen 
und  dem  Reich  gegeben  werden;  dies  soll  es  den  rittern  und 
knechten  leihen,  die  es  verdienen,  und  ebenso  den  städten,  die  sich 
üben  in  dieser  sache  und  Ordnung  (S.  200).  Der  Besitz  in  der 
toten  Hand  war  ja  damals  schon  ins  Ungeheure  gestiegen  und  niemand 
sah  lange  schon  vor  der  Reformation  begieriger  darauf  als  die  Reichs- 
städter.    In  diesem  Sinne  will  auch  der  Verfasser  einen  Teil  des  dem 

i)  Die  kWster  haben  das  erdreich  inne  (S.  17^). 


—     13     — 

Reiche  zurückgegebenen  Kircheng^tes  verwendet  wissen.  Dabei  drückt 
er  sich  so  aus,  da(s  er  als  ein  Vertreter  dieser  Städte  seine  genaue 
Kenntnis  verrät;  denn  in  den  Worten:  die  städte  üben  sich  in 
dieser  sacke  und  Ordnung,  deutet  er  offenbar  auf  einschlägige  Re- 
formbestrebungen der  Städte  auf  Städtetagen  ^)  hin,  die  allerdings  wegen 
der  Mif^rnnst  der  gewaltigen  ergebnislos  verliefen. 

Ein  Abt  soll  an  Einkommen  haben  80  Gulden,  ein  Mönch  dieser 
beiden  Orden  je  40  Gulden.  Die  weltlichen  Geschäfte  soll  ein  Kasten- 
vogt für  jedes  Kloster  für  100  Gulden  jährlich  besorgen.  Außerdem 
sind  100  Gulden  für  die  Beköstigung  von  Gästen  aufzuwenden.  Um 
mit  diesem  geringeren  Einkommen  auszukommen,  ist  die  Zahl  der 
Mönche  eines  Klosters  zu  vermindern  und  zwar  so,  da(s  da,  wo  40 
sind,  man  sie  aussterben  lassen  soll  bis  auf  24  u.  s.  w.  bis  auf  8. 
überhaupt  sollen  alle  Orden  angehoben  werden  mit  Ausnahme  der- 
jenigen, die  von  Almosen  leben  und  die  ihr  bestimmtes  Pfründeein- 
kommen  haben  (S.  201),  allein  von  den  Almosen  sollen  die  vier  Bettel- 
orden leben  (S.  202),  ihre  Pfründen,  Gülden,  Anniversarien  sollen 
abgeschafft  sein.  Nur  aus  dem  UnwUlen  eines  Laien  lassen  sich  die 
Worte  begreifen:  Männer  und  Frauen  ohne  Unterschied  sollen  ihrem 
Gottesdienst  beiwohnen  dürfen  und  ihr  Almosen  sollen  sie  verdienen. 
In  den  Frauenklöstem  bekommt  eine  Äbtissin  von  jetzt  an  50  Gulden, 
jede  andere  Person  30  Gulden  jährlich;  im  übrigen  herrscht  dieselbe 
Ordnung  wie  bei  Männerklöstem. 

In  einem  gemeinsamen  kapitel,  auf  das  er  wiederholt  hmweist, 
wendet  er  sich  nochmals  dem  Einkommen  der  Pfarrer  zu  (S.  209  f.), 
wobei  nur  das  eine  noch  zu  bemerken  ist,  dafs  ein  etwaiger  Über- 
schufis  der  Pfründen  von  dem  Kirchenpfleger  zuni  Bau  und  zur  Aus- 
schmückung der  Kirche  verwendet  werden  soll.  Noch  einmal  fordert 
er  den  Heimfall  aller  Schlösser,  Festen  und  Städte  der  Geistlichen  an 
das  Reich,  also  eine  grolse  Säkularisation  zu  g^nsten  von  Herren, 
Rittern,  Knechten  und  Reichsstädten  (S.  212).  Und  gerade  die  Reichs- 
städte sollen  diese  Forderung  nüt  Gewalt  durchsetzen,  denn  von  den 
übrigen  damals  allein  geltenden  Reichsständen  erwartet  er  nicht  viel. 
Aber  gerade  deshalb,  weU  er  diese  nur  dem  Namen  nach  mit  nennt, 
ohne  ihnen  in  Wirklichkeit  eine  Bedeutung  in  der  von  ihm  verkün- 
deten Reform  zuzuschreiben  '),  charakterisiert  sich  der  Verfasser  wieder 
als  einen  hervorragenden  Vertreter  dieser  Städte  selbst. 


i)  Vgl.  Janssen,  Frankfurts  Reichskorrespondenz»     I.  Bd.  (1863),  S.  443. 
2)  Vgl.  Anhang,  S.  86,  Anm.  2. 


—     14     — 

Stellen  wir  die  Forderungen  des  Verfassers  noch  einmal  kurz  zu- 
sammen! Vor  allem  sollen  geistliche  und  weltliche  Geschäfte  peinlich 
geschieden  werden  *).  Für  letzteres  sind  eigens  dafür  besoldete  Organe 
zu  schaffen.  Dann  soll  für  die  Geistlichen  selbst  eine  förmliche  Be- 
soldung eintreten  in  der  Form  einer  bestimmten  Pfründe  für  die 
Person;  zur  Gewinnung  dieser  Besoldung  ist  erstens  das  Kirchengut 
und  zwar  als  Herrschaftsgut  heranzuziehen,  und  zweitens  sind  alle  Ge- 
rechtigkeiten am  Untertanengut  abzulösen  durch  eine  Summe,  die  eben- 
falls zum  Fonds  der  Einnahmen  aus  dem  Herrengut  geschlagen  wird; 
für  den  Fall  der  ÜberbUanz  ist  die  überschüssige  Summe  zum 
Kirchbau  zu  verwenden.  Eine  Unterbilanz  ist  vom  Verfasser  nicht 
ausdrücklich  ins  Auge  gefafst,  aber  jedenfalls  bei  Pfarrkirchen  durch 
Vereinigung  mehrerer  zu  einer,  bei  Klöstern  durch  Verminderung  der 
Mönche  auszugleichen.  Reichsgut  wie  Burgen,  Schlösser  und  Städte 
sollen  an  das  Reich  zurückfallen:  also  Stärkung  des  Reichsgedankens 
ist  auch  bei  dieser  Selbsthilfe  wie  bei  jeder  des  mittelalterlichen 
Städtebürgertums  bezeichnend  genug  für  den  überall  konservativen 
Charakter  der  Reichsstädte,  sowie  für  unseren  Verfasser  als  einen  ihrer 
Vertreter. 

Koehne  will  nun  in  betreff  des  Einkommens  „der  Kanoniker, 
besonders  der  Bischöfe,  denen  sowohl  alle  Hoheitsrechte  wie  Land- 
besitz und  Renten  genommen  werden,  annehmen,  dafs  unser  Autor  an 
Staatsbesoldung  gedacht  hat**  (S.  377).  Von  einer  Staatsbesoldung 
kann  in  dieser  Zeit  aber  noch  gar  nicht  die  Rede  sein;  wollte  man 
eine  Stadtbesoldung  annehmen,  so  gäbe  das  eher  einen  Sinn,  die 
Persönlichkeit  des  Verfassers  würde  eine  solche  Annahme  zulassen, 
doch  dies  ist  nirgends  angedeutet,  was  er  doch  gewifs  beim  Ein- 
kommen der  Pfarrer  getan  hätte.  Auch  ist  der  Landbesitz  den  ge- 
nannten Würdenträgem  gar  nicht  genommen,  ebensowenig  jede  Rente, 
nur  geht  mit  dem  Heimfall  des  Reichsgutes  auch  das  Fürstenamt  ver- 
loren. Das  beabsichtigt  ausdrücklich  der  Verfasser  mit  den  Worten : 
sie  (die  Bischöfe)  führen  auch  weltliche  gewalt  und  wissen ,  da/s 
es  wider  Gott  ist  (S.  181).  Aber  die  Einnahmen  aus  dem  Herrschafts- 
gut der  einzelnen  Kirche  und  die  Summe  aus  der  Ablösung  der  Ge- 
rechtigkeiten ergeben  einen  Fonds,  der  zm  Besoldung  auch  der  Bischöfe 
und  Prälaten  hinreichen  kann.  (Schlafs  folgt.) 


i)   Es  soll  sich  lauUr  in  allweg  scheiden  das  geutlich  und  das  weltlüh,    S.  231. 


—     15 


Mitteilungen 


ArehiTe«  —  Unter  den  Archiven  der  süddeutschen  Städte  steht  das 
Strafoburger  trotz  schwerer  Verluste,  die  es  im  Wandel  der  Zeiten  erlitten 
hat,  noch  in&mer  als  eins  der  reichhaltigsten  und  für  die  allgemeine  Geschichte 
wichtigsten  in  erster  Reihe,  dank  der  machtvollen  Stellung,  welche  die  Reichs- 
stadt als  Metropole  des  Oberrheins  und  als  Bollwerk  gegen  Frankreich  das 
ganze  Mittelalter  hindurch  und  bis  ins  17.  Jahrhundert  hinein  behauptet  hat. 
Die  Originale  der  ältesten  Stadtrechte  und  kaiserUchen  Privilegien  sind  frei- 
lich verloren  gegangen  und  auch  sonst  ist  die  2^1  der  Urkunden  aus  der 
Zeit  vor  1261  gering  (71);  die  älteste  erhaltene  Kaiserurkunde  ist  von  1205. 
£r^  vom  Jahre  1261  ab,  in  welchem  die  Stadt  den  Krieg  begann,  der  sie 
von  der  bischöflichen  Oberhoheit  befreite,  schwillt  das  urkundliche  Material 
mächtig  an.  Am  18.  März  1399  beschlofs  der  Rat  die  Einrichtung  be- 
sonderer feuersicherer  Archivräume;  allein  bald  reichten  diese  nicht  mehr 
aus,  so  dafe  die  Akten  tmd  Urkunden  teils  im  sogenannten  „Pfennigturm '% 
teils  in  der  „ Pfalz*'  und  im  Kanzleigebäude,  später  auch  im  sogenannten 
„Neubau '*,  dem  nachmaligen  Hotel  du  commerce,  untergebracht  werden 
muisten.  Die  Verwaltung  des  Archivs  unterstand  lange  Zeit  unmittelbar  dem 
Stadtschreiber;  als  der  Umfang  der  Geschäfte  aber  immer  mehr  wuchs,  wurde 
1594  ein  besonderer  Registrator  archivi  angestellt.  Der  erste  Inhaber  dieses 
Amts  war  Laurentius  Clussrath,  der  sich  ebenso  wie  sein  Nachfolger 
Joh.  Ulrich  Fried  redlich  imi  die  Ordnung  des  Archivs  annahm.  In- 
dessen wurden  sie  beide  bei  weitem  nicht  fertig  damit,  da  man  sie  allzu  häufig 
zu  andern  Geschäften  heranzog  und  schliefslich  in  höhere  Stellen  beförderte. 
Sehr  verdient  hat  sich  dann  der  wohlbekannte  Historiker  Jakob  Wen cker 
(1668 — 1743)  um  die  Ordnung  und  wissenschaftliche  Ausbeutung  der  städti- 
schen Archivahen  gemacht  ^).  Selbst  im  Besitz  der  höchsten  Würden ,  als 
Dreizehner  und  Ammeister,  hat  er  dem  Archiv  seine  liebevolle  Fürsorge  be- 
wahrt Auch  nach  seinem  Tode  bis  zmn  Ausbruch  der  Revolution  1789 
wurde  unter  steter  Aufsicht  des  Magistrats  viel  für  das  Archiv  getan,  wo- 
für noch  heute  zahlreiche  alte  Repertorien  zeugen,  die  allerdings  leider  zum 
Teil  unbrauchbar  geworden  sind.  Nur  einmal,  im  Jahre  1686,  hatte  das 
Archiv  durch  den  Brand  des  Kanzleigebäudes  empfindlichen  Schaden  ge- 
litten; vermutlich  fielen  damals  die  Missivbücher  und  ein  Teil  der  Proto- 
kolle den  Flanmien  zum  Opfer.  Doch  waren  diese  Verluste  geringfügig 
gegenüber  denen,  die  nun  durch  die  Revolution  und  ihre  Folgeerscheinungen 
eintraten.  Am  21.  Juli  1789  stürmte  der  Pöbel  das  Rathaus  und  warf  die 
Akten  in  blinder  Zerstörimgswut  massenhaft  aus  den  Fenstern  in  den  Strafsen- 
kot*  Manches  ist  damals  verschleppt  worden ;  das  meiste  aber  wurde  doch 
wohl  wieder  gesammelt  und  in  Sicherheit  gebracht,  wenn  auch  grofsenteils 
zerstampft,  zerrissen,  beschmutzt  und  in  einer  entsetzlichen  Unordnung,  die 
noch  heute  nicht  wieder  ganz  beseitigt  ist.  Das  war  aber  noch  nicht  das 
Schlimmste!  Am  20.  November  1793  wurden  auf  Anordnung  des  Maires 
Monet,  eines  Savoyarden,  und  des  berüchtigten  Eulogius  Schneider  zur  Ver- 
herrlichung  des  „Festes   des   höchsten  Wesens"  15    grofse   Wagenladtmgen 


i)  VgL  J.  Wenckcr,  Coüectanea  juris  publici  etc.  (1702).     Apparatus  et  instructus 
archworum  (17 13).     Collecta  archivi  et  cancellariae  jura,  (1715). 


—     16     — 

von  Akten  und  Protokollen  aus  dem  Stadt-  und  Bezirksarchiv  als  ,,  Zeug- 
nisse des  Aberglaubens  imd  der .  Sklaverei  *'  angesichts  des  Münsters  feier- 
lich verbrannt!  Hauptsächlich  sind  dabei  wohl  Finanz-  und  Rechnungs- 
sachen sowie  die  ältesten  Kontraktbücher  zu  gründe  gegangen,  vielleicht 
auch  die  zu  Wenckers  Zeit  noch  vorhanden  gewesenen  Ratsprotokolle  aus 
der  Zeit  vor  1539.  Dies  barbarische  Verfahren  hat  sich  zum  Glück  nicht 
wiederholt ;  doch  zeigte  die  Stadtverwaltung  noch  lange  eine  höchst  verderb- 
liche Gleichgültigkeit  gegen  die  Zeugnisse  der  Vergangenheit.  Gröfsere  Teile 
des  Archivs  wurden  ohne  Bedenken  an  andere  Behörden  ausgeliefert,  so 
1798  die  gesamten  alten  Gerichtsakten  an  das  Tribunal,  mit  dessen  Gebäude 
sie  1870  verbrannten,  femer  1806  ein  grolser  Teil  der  auf  kirchliche  Ver- 
hältnisse, namentlich  auf  die  Reformation,  bezü^chen  Akten  an  das  evan- 
gelische Konsistorium  behufs  Einverleibung  in  das  Archiv  des  St  Thomas- 
stiftes. Die  übrigen  Bestände  wurden  bei  wiederholten  Umzügen  und  „Sich- 
tungen'' durch  unwissende  oder  gewissenlose  Beamte  der  Mairie  teils  ver- 
zettelt, teils  in  immer  gröfsere  Unordnimg  gebracht  Als  dann  der  aus- 
gezeichnete Theologe  und  Historiker  Andreas  Jung  1826  die  Leitung 
der  Stadtbibliothek  übernahm,  kam  die  verhängnisvolle  Ansicht  auf,  dais 
die  Archivalien,  welche  für  die  städtische  Verwaltung  keinen  „aktuellen" 
Wert  hätten,  sondern  nur  historisches  Interesse  böten,  m  die  Bibliothek  ge- 
hörten. Glücklicherweise  wurde  dieser  Grundsatz  nicht  allzu  eifrig  befolgt; 
doch  ist  immerhin  eine  Anzahl  der  interessantesten  Stücke  in  die  Bibh'othek 
gekommen  und  mit  ihr  in  dem  Brande  von   1870  vernichtet  worden. 

Wenn  trotz  aller  dieser  Einbuisen  seit  1789  die  auf  die  Gegenwart  ge- 
retteten handschriftlichen  Schätze  noch  sehr  ansehnlich  und  inhaltlich  sehr 
wertvoll  sind,  so  kann  man  danach  auf  die  ehemalige  Bedeutung  des  Ganzen 
schliefsen.  Eine  dauernde  Besserung  für  das  Archiv  trat  erst  ein,  als  der 
gelehrte  Ludwig  Schneegans  1841  die  Leitung  übernahm.  Die  von 
ihm  begonnenen  Ordntmgsarbeiten  wurden  seit  1863  von  J.  Brucker  fort- 
geführt, der  durch  Fleifs  und  Gewissenhaftigkeit  ersetzte,  was  ihm  an  wissen- 
schaftlicher Vorbildung  abging.  Er  hat  vier  Quartbände  von  Inventaren 
herausgegeben  '),  die  allerdings  nichts  weniger  als  ein  Muster  für  derartige 
Veröffentlichungen  sind.  Man  mufs  aber  gerechterweise  berücksichtigen, 
dafs  Brucker  sich  durch  den  französischen  Ministerialerlafs  von  1857  über 
die  Ordnung  der  Gemeindearchive  in  seiner  Arbeit  gedrängt  imd  eingeengt 
glaubte,  imd  dafs  das  vorgeschriebene  Schema  wohl  für  den  Durchschnitt 
der  französischen  Provinzialstädte  passen  mochte,  nicht  aber  für  eine  alte 
selbständige  Reichsstadt.  Die  veröffentlichten  Bände  geben  sich  übrigens 
mit  Unrecht  als  das  vollständige  Inventar  der  zur  Serie  AA  (Ades  eafistitu- 
Ufa  et  politiques  de  la  commune)  gehörigen  Archivalien  aus;  tatsächlich 
sind  sehr  umfangreiche  und  wichtige  Bestände  darin  nicht  verzeichnet,  wäh- 
rend umgekehrt  manches  Aufnahme  gefunden  hat,  was  eigentlich  nicht  in 
diese  Serie  gehört.  Es  war  dies  eine  Folge  der  Übereilung,  mit  der  die 
Inventare  veröffentlicht  wurden,  lange  bevor  die  Ordnung  des  Archivs  voll- 
endet war.     Einstweilen  ist  denn   auch   von   dem  Unterzeichneten,   der  seit 


1)  J.  Bnicker,  Inventaire  sommaire  tUs  archives  dt  la  ville  de  Strasbourg.    4  vol. 
1878 — 86.    Vgl.  auch   desselben   Schrift  Les  archives  de  la   ville  de  Strasbourgs  187$. 


—     17     — 

Bmckers  Tode  1889  dem  Archiv  vorsteht,  auf  die  weitere  Drucklegung  von 
Inventaren  verzichtet  worden.  Für  die  Urkundenabteilung,  die  neuerdings 
ans  den  Akten  ausgesondert  worden  ist  und  mehr  ab  iiooo  Stücke  lun- 
faist,  sind  genaue  Regesten  in  Arbeit,  die  zur  Zeit  bis  1306  reichen.  In 
den  letzten  Jahrzehnten  hat  besonders  das  bis  1400  geführte  und  damit 
vorläufig  abgeschlossene  Urkundenbtich  der  Stadt  Stra/^hurg  ')  und  die 
PoliÜsehe  Korrespondenz  der  Stadt  Stra/^burg  im  Zeitalter  der  Beformation  *) 
den  Reichtum  des  Archivs  erschlossen. 

Seit  1890  hat  das  Archiv  die  alten  unzureichenden  und  feuergefähr- 
lichen Räume  im  Rathaus  verlassen  und  im  Gebäude  der  Stadtbibliothek 
eine  angemessene  und  bequeme  Unterkunft  erhalten^).  Im  Jahre  1893  ist 
es  gelimgen,  die  1806  dem  evangelischen  Konsistorium  übergebenen  Akten, 
soweit  sie  politischen  Inhalts  sind,  gröfstenteils  zurückzugewinnen.  Der 
Rest  des  Thomasarchivs,  der  für  die  Geschichte  des  Thomasstifts  und 
für  die  elsässische  Kirchengeschichte  überhaupt  eme  aufserordentlich  reiche 
Fundgrube  ist,  wurde  der  Stadt  1901  als  Depositum  tibergeben.  Zwei  Jahre 
TOrher  hatte  das  Bürgermeisteramt  die  bis  dahin  im  Standesamt  aufbewahrten 
Kirchenbücher  (600  Bände  Tauf-,  Hochzeits-  und  Sterberegister,  von  denen 
der  älteste  bis  1525  zurückreicht)  dem  Archiv  überwiesen.  Femer  kamen 
kürzlich  die  reichen  Archive  des  Stifts  Unser  Frauen  Werk  und  der 
Zivilhospizien  als  Deposita  in  die  städtische  Sanmüung.  Ersteres  lun- 
fafst  etwa  2000  Pergamenturkunden  (Schenkungsbriefe  tmd  sonstige  Rechts- 
titel) sowie  zahlreiche  Saalbücher,  Rechnungen  tmd  Akten  zur  Geschichte  des 
Frauenstifts,  aus  dessen  Mitteln  das  Strafsburger  Münster  gebaut  ist  und  noch 
heute  unterhalten  wird.  Zur  eigentlichen  Baugeschichte  bietet  das  Archiv 
jedoch  weniger,  als  man  hiemach  erwarten  sollte.  Dagegen  ist  zu  bemerken, 
dais  es  nicht  nur  für  einen  grofsen  Teü  des  Elsafs,  sondern  auch  für  die 
rechtsrheinischen  Gebiete  Beachtung  verdient,  weil  sich  der  Besitz  des  Stifts 
vor  der  Revolution  auch  auf  diese  Gegenden  erstreckte.  Das  Gleiche  gilt 
von  dem  stattlichen  Archiv  der  ZivUhospizien ,  das  gewöhnlich  als  Spital- 
archiv bezeichnet  wird.  Es  besitzt  allein  an  Pergamenturkimden ,  deren 
älteste  von  1143  ist,  etwa  14000  Stück.  Dieser  gewaltige  Umfang  erklärt 
sich  teils  aus  dem  hohen  Alter  und  dem  reichen  Gmndbesitz  des  Spitals, 
teils  daraus,  dafs  im  Lauf  der  Zeit  fast  alle  wohltätigen  Stiftungen  der 
Stadt  dem  Spital  angegliedert  wurden,  wie  die  Almosenstiftung  St.  Marx,  die 
Elendenherberge,  das  Gutleuthaus,  das  Blatterhaus  und  das  Waisenhaus.  Alle 
4iese  Institute  waren  gleich  dem  Spital  nicht  blofs  durch  private  Schenkungen 


i)   Sieben   Bände,   erschienen   von    1879^-1900,    bearbeitet  von    W.    Wiegand, 
A.  Schulte,  G.  Wolfram,  J.  Fritz  und  H.  Witte. 

2)  Bis  jetzt  3  Bände,  erschienen  von  1882-98,  bearbeitet  von  H.  Virck  und 
O.  Winckelmann.  Der  vierte  und  letzte  Band,  der  die  Jahre  1546  —55  umfassen  wird, 
ist  in  Vorbereitung.  Von  andern  Quellenwerken,  die  aus  dem  Archiv  geschöpft  sind, 
seien  noch  erwähnt:  Bruckcr,  Strafsburger  Zunft-  und  PoUzeiverordnungen  des  14.  und 
1$.  Jahrhunderts  (1%%^),  K.  Th.  Eheberg,  Verfassungs-^  Verwaltungs- und  Wirtschafts- 
geschichte der  Stadt  Straf shurg  bis  1681.  I.  Band:  Urkunden  und  Akten  (1899).  Ad. 
Seyboth,  Das  alte  Strafsburg  vom  13.  Jahrhundert  bis  zum  Jahre  1870,  Geschieht« 
liehe  Topographie  (1890). 

3)  VgL  Winckelmann,   Die  Neueinrichtung  des  Strafsburger  Stadtarchivs y    in 
der  Archivftlischen  ZeiUchrift  1893,  N.  F.  IV  S.   iii  ff. 

2 


—     18     — 

reich  geworden,  sondern  auch  durch  Zuwendung  von  Gütern  der  im  i6.  Jahr- 
hundert vom  Magistrat  aufgehobenen  Klöster.  Demgemäfs  findet  man  heute 
im  Spitalarchiv  eine  ganze  Reihe  alter  Klosterarchive  mehr  oder  weniger 
vollständig  beisammen.  Sehr  lehrreich  sind  u.  a.  die  im  Besitz  der  Zivil- 
hospizien  befindlichen  Akten  über  das  Armenwesen,  besonders  zur  Zeit  der 
Reformation.     Ihre  Publikation  ist  in  Aussicht  genommen. 

Es  ist  jedenfalls  vom  Standpunkte  der  Forscher  mit  Freude  zu  begrüfsen, 
dafs  alle  diese  genannten  Archive,  welche  bisher  getrennt  und  schwer  be- 
nutzbar waren,  nunmehr  mit  dem  Stadtarchiv  imter  einem  Dache  vereinigt 
sind  und  einer  einheitlichen  Verwaltung  unterstehen.     O.  VVinckelmann. 

Archire  und  Kunstgeschlehte.  —  Es  wäre  interessant,  wenn  man 
einmal  feststellen  könnte,  wie  \iele  von  einer  Gruppe  Besuchern,  die  durch 
ein  Schlofs  oder  eine  alte  Kirche  geführt  wird,  sich  nicht  mit  der  Be- 
wunderung des  Baues  und  der  aufgehäuften  Kunstwerke  begnügen ,  sondern 
nebenbei  auch,  wenigstens  bei  sich,  die  Frage  aufwerfen,  in  wessen  Gehirn 
der  ganze  Bau,  wie  im  Kern  der  Baum,  entworfen  war,  ehe  an  die  Aus- 
führung geschritten  wurde,  oder  wem  die  Skulpturen  und  Gemälde  zu  ver- 
danken sind.  Ich  glaube,  nur  in  bezug  auf  die  Gemälde  würde  die  Zahl 
der  Fragenden  eine,  wenn  nicht  grofse,  doch  nicht  ganz  verschwindend 
kleine  sein,  bei  den  Skulpturen  imd  den  Werken  der  Architekten  recht  gering. 
Es  ist  ein  wahres  Wort,  das  ich  einst  einen  Architekten  zu  einem  Dichter  sprechen 
hörte:  „Ihr  habt  es  gut;  euch  liest  man  nicht  nur,  sondern  will  auch  über  euer 
Leben  unterrichtet  sein ;  unseren  Bau  besieht  man  und  bewundert  ihn  vielleicht, 
aber  wer  ihn  gemacht  hat,  danach  fragt  man  nicht*'.  Im  Mittelalter  ist 
diese  Nichtachtung  der  Persönlichkeit,  der  wir  die  Bauwerke  und  Bilder  zu 
verdanken  haben,  entschieden  ebenso  grofs  gewesen;  ist  doch  die  Zahl  der 
Künstler,  die  in  den  Chroniken  erwähnt  werden,  eine  sehr  geringe.  Gerade 
deswegen  ist  es  aber  Pflicht  der  heutigen  Kunstforscher,  dieses  Versäumnis, 
soweit  es  möglich  ist,  wieder  gut  zu  machen,  und  es  ist  keineswegs  zu 
verkennen,  dafs  die  letzten  Jahrzehnte  in  dieser  Beziehung  recht  Erfreuliches 
geleistet  haben:  die  Kimstwerke  selbst  verraten  ihre  Schöpfer  meistens  nicht, 
es  sind  vielmehr  die  Archive,  deren  Durchforschung  für  die  Aufhellung 
manches  dunkeln  Punktes  überraschende  Dienste  geleistet  hat. 

Einige  Beispiele  mögen  zur  Illustrierung  des  Gesagten  beitragen.  Der 
schönste  Beleg  für  die  Wichtigkeit  auch  kleinerer  Archive  für  die  Kunst- 
geschichte ist  vor  kurzem  durch  die  Festrede  Alfred  Lichtwarks  bei  der 
Jubelfeier  des  Germanischen  Museums  zu  Nürnberg  allgemein  bekannt  ge- 
worden ;  ich  kann  mich  daher  kurz  fassen.  Aus  den  1 84 1  von  Lappenberg 
veröffentlichten  Nachrichten  *)  war  über  das  Leben  des  alten  Malers  und 
Bildhauers  Bertram  von  Minden  so  viel  bekannt  geworden,  dafs 
er  mindestens  seit  1367  bis  nach  14 10  in  Hamburg  tätig  war,  unter 
anderem  den  Hauptaltar  von  St  Petri,  der  ältesten  Bürgerkirche  Ham- 
burgs, ausgeführt  hatte  und  es  zu  behäbigem  Wohlstande  brachte.  Dafs 
Minden  in  Westfalen  seine  Vaterstadt  war,  ergab  sich  weiterhm  durch 
einen   Fund   im   Archive   dieser    Stadt:    denn    14 15     bemühten    sich    Ver- 


1)  Zeitschrift  des  Vereins  für  Hamburgische  Geschichte,  Jahrgang   1841. 


—     19     — 

wandte  Bertrams  um  den  Nachlafs  des  Meisters.  Doch  Werke  Bertrams 
schienen  nicht  erhalten,  denn  sie  waren  zwar  in  Kirchen  und  Museen  zu  sehen, 
aber  nicht  unter  seinem  Namen.  Da  brachte  die  Nachforschung  in  einem 
Archive  imerwartet  Aufklärung.  Im  vierten  Bande  seiner  treflfHchen  Dar- 
stellung der  Kunst-  und  Kulturdenkmäler  Mecklenburgs  ^)  hatte  Friedrich 
Schlie  erwähnt,  dais  der  schöne  Altar  von  1379  in  der  Stadtkirche  zu 
Grabow  ein  Geschenk  aus  Lübeck  sei.  Daraufhin  hatte  man  die  Grabower 
Akten  geprüft  und  gefunden,  dafs  der  Altar  nicht  aus  Lübeck,  sondern  1734 
von  der  PetrUdrche  in  Hamburg  der  neugebauten  Grabower  Kirche  gestiftet 
worden  ist  Mitteilung  von  dieser  hochinteressanten  Nachricht  machte  Schlie 
zuerst  auf  dem  letzten  Kunsthistorikertage  in  Lübeck :  es  war  sofort  klar,  der 
Grabower  Altar  war  das  von  Meister  Bertram  für  die  Hamburger  Petrikirche 
ausgeführte  Werk,  und  aus  stilistischen  Gründen  ergab  sich  femer,  dafs  auch 
der  schöne  Marienaltar  des  Museums  zu  Buxtehude  und  der  als  altflämisch 
bezeichnete  Apokalypsenaltar  des  South  Kensington-Museums  zu  London  der 
Hand  Bertrams  zuzuschreiben  seien.  Dazu  kommen  noch  mehrere  ver- 
wandte Ktmstwerke  in  mecklenburgischen  Kirchen,  die  man  für  Arbeiten 
Bertrams  halten  mufs.  So  hat  ein  Fund  im  Grabower  Archiv  die  Tätigkeit 
eines  namhaften  alten  deutschen  Meisters  aufgehellt. 

Ein  anderes  Beispiel:  Als  der  Verfertiger  des  berühmten  Altars,  in  der 
Domkirche  zu  Schleswig  ist  längst  Hans  Brügge  mann  bekannt;  wie  wenig 
Zuverlässiges  man  aber  von  seiner  Herkunft,  Jugendzeit  imd  AusbUdimg 
wufste,  ersah  man  aus  den  Schriften,  die  ihn  behandelten.  August  Sach 
nahm  an,  er  sei  in  Husum  um  1470  geboren,  da  er  um  1590  Husumensis 
genannt  wird,  dort  auch  ausgebildet  und  Meister  geworden.  Nun  prüfte 
Gymnasiallehrer  MagnusVofsin  Husum  ^)  die  sämtlichen  Urkunden  der  Stadt 
and  des  um  1440  errichteten  Siechenhauses  und  Gasthauses  St.  Jürgen,  in 
welchem  Brüggemann  nach  Heinrich  Ranzaus  Bericht^)  um  1540  in  grofser 
Armut  gestorben  ist,  tun  die  Spur  eines  Schnitzers  Johannes  oder  Hans  imd 
eines  Brüggemanns  zu  entdecken.  Aber  weder  Vermächtnisse  noch  Schatz- 
r^;ister  noch  Rentenverzeichmsse  und  dergl.  enthalten  einen  ähnlichen  Namen, 
und  Vofs  zieht  den  Schlufs,  Brüggemann  sei  erst  als  Meister  nach  Husum 
gekommen.  Vofs  selbst  konnte  die  Bestätigung  dieses  Schlusses  noch  in 
seiner  Schrift  mitteilen:  vom  Staatsarchiv  in  Hannover  wurde  eine  Original- 
urkunde aus  Walsrode  an  der  Aller  erworben  und  im  Sommer  1901  vom 
Archivdirektor  M.  Doebner  veröffentlicht ;  in  dieser  Urkunde  schliefsen  Propst, 
Rat  und  Ältcrleute  von  Walsrode  mit  Hans  Brüggemann  am  5.  August  1523 
einen  Vertrag,  nach  dem  Brüggemann  der  Kirche  zu  Walsrode  eine  Altar- 
tafel arbeiten  soll ;  die  Arbeit  soll  mit  5  5  Gulden  bezahlt  werden ;  ist  sie  nicht 
so  riel  wert,  so  soll  der  Künstler  sich  einen  Abzug  gefallen  lassen ;  wird  sie 
vertroüer  sein,  so  will  Brüggemann  das  Mehr  dem  Gotteshause  schenken, 
weil  er  ein  Walsroder  Kind  geboren  ist  imd  seine  freundlichen  lieben  eitern 
hei  uns  begraben   hat  . .     Geburtsort   des   Künstlers  war   also  Walsrode.  — 


i)  Vgl.  diese  Zeitschrift  i.  Bd.,  S.  283  and  2.  Bd.,  S.  96. 

2)  Vgl.  seine  vor  kurzem  erschienene  Chronik  des  Gasthauses  Mum  Ritter  St,  Jürgen 
in  Husum^  (Hosam  Friedr.  Petersen,   1902). 

3)  Westphalen,   Monumenta  inedita  rerum  Germanicarum    (Leipzig,  1739  ^0» 
1.  Bd.,  S.  42. 

2* 


—     20     — 

Vofs  nimmt  an,  dafs  Brüggemann  während  seines  Aufenthaltes  in  Husum  auf 
der  Husumer  Münze  imd  bei  wohlhabenden  Bürgern  als  Stempel-  imd  Siegel- 
schneider tätig  gewesen  ist.  Einen  direkten  Beweis  kann  er  dafür  zwar  nicht 
führen;  möglich  ist  es  aber  gewifs,  dafs  nach  der  Einführung  der  Reformation 
die  Aufträge  zu  gröfseren  Altararbeiten  ausblieben  imd  er  mit  gewöhnlicher 
Arbeit  zufrieden  sein  mufste. 

Wie  ein  zufälliger  Fund  die  Heimat  Brüggemanns  sichergestellt  hat,  so 
darf  man  auf  weitere  Funde  hoflfen,  durch  die  wir  über  seine  Schulung  und 
seine  weiteren  Arbeiten  die  nötige  Kimde  erhalten.  Bis  jetzt  gibt  es  darüber 
nur  Vermutungen.  Zu  entscheiden,  ob  der  Segeberger  Altar  von  ihm  her- 
rührt, wie  Ranzau  behauptet,  einige  neueren  Kritiker  bezweifeln,  darüber  wäre 
eine  sichere  archivalische  Ktmde  ebenfalls  höchst  erwünscht 

Man  braucht  nur  die  Denkmälerinventare  ')  zu  durchsuchen,  um  weitere 
Beispiele  für  die  wichtige  Aufklärung,  welche  die  Archive  der  kunstgeschicht- 
lichen Forschung  gegeben  haben,  aufzufinden.  So  war  die  Büdhauerfamilie 
der  Ringerink  oder  Ringeling  wenig  bekannt;  was  der  erste  von  ihnen,  der 
von  1583 — 1626  in  Flensburg  tätig  war,  ausgeführt  hat,  Sandsteinstatuen, 
Altäre,  Kanzeln,  Gestühle,  Epitaphien,  meist  in  der  Flensburger  Gegend,  die 
sich  durch  feine  Technik  auszeichnen,  würde,  da  er  nichts  mit  seinem  Namen 
bezeichnet  hat,  schwerlich  als  sein  Werk  bekannt  geworden  sein,  wenn  es 
nicht  durch  das  Flensburger  Archiv  *)  nachgewiesen  wäre.  Die  am  Kölner 
Rathaus  tätig  gewesenen  Bildhauer  Wühelm  Femuken  (Vemuken)  und  Henryck 
Vemeykken  finden  wir  auch  beim  Ausbau  des  Hauses  Horst,  Kreis  Reckling- 
hausen, beschäftigt  *).  Gerade  kleinere  Kirchen-,  Stadt-  und  Famüienarchive 
werden  noch  manche  derartige  Aufschlüsse  bieten. 

Fast  noch  schlimmer  als  mit  den  Bildhauern  ist  es  mit  den  Baumeistern 
bestellt.  Wenn  man  die  Register  über  Baumeister  prüft,  trifit  man  fistst 
nur  für  die  letzten  beiden  Jahrhunderte  zuverlässige  Angaben;  wer  die 
Schlösser  des  XVI.  und  XVII.  Jahrhunderts  gebaut  hat,  darüber  bieten  die 
Chroniken  oft  nicht  die  geringsten  Mitteüungen.  Die  Bauherren,  Fürsten 
und  Grafen  u.  s.  w.  kennen  wir  als  Schlofserbauer ;  wer  aber  die  Pläne 
entwarf,  war  den  Berichterstattern  meist  gleichgtütig.  Von  den  beim  Bau  des 
längst  verschwimdenen  Schlosses  zu  Husum  (errichtet  1577 — 82)  imd  der 
von  Herzog  Johannes  dem  Älteren  (+  1581)  errichteten  Hansborg  in  Haders- 
leben tätigen  Künstlern  weifs  man  wenig  mehr  als  nichts.  Beim  Schlofsbau 
in  Gottorp  waren  mehrere  Italiener  beteiligt,  wie  Antonius  Puppe  und  Thomas 
de  Orea,  man  kennt  aber  fast  nur  die  Namen.  Überhaupt  sind  bei  einer 
grofsen  Zahl  von  Schlofsbauten  bis  in  den  Norden  hinein  französische  und 
italienische  Künstler  neben  deutschen  tätig  gewesen;  nach  dem  bis  jetzt  vor- 
liegenden veröffentlichten  Material  ist  es  aber  kaimi  mögUch,  ein  zuverlässiges 
Büd  von  dem  Wirken  der  verschiedenen  Künstlergruppen   zu    geben.     Dafs 


i)  Vgl.  die  ZasammeDsteUoDg  von  Polaczek  in  dieser  Zeitschrift,  i.  Bd.,  S.  270 — 290 
und  3.  Bd.,  S.   137—144. 

2)  Haapt,   Bau-  und  KunstdenkmäUr  Schleswig-Holsteins  (Kiel   1887  f.),    2.  Bd., 
Anhmng,  Meister,  S.   14  f. 

3)  Vgl.  Armin  Tüle,   Obersicht   über   den   Inhalt   der   kleineren  Archive   der  Rhein* 
provinz  i.  Bd.  (Bonn  1899),  S.  122. 


—     21      — 

hier  noch  zahlreiche  handschrifÜiche  Quellen  vorhanden  sind,  ist  wohl  nicht 
zu  bezweifeln,  es  heifst  nur  suchen  und  sammehi. 

Wer  soll   aber   die  Kärrnerarbeit   des  Sammeins   und  Sichtens    leisten? 
Ein  Fachmann,    der   die  Bedeutung   auch   von   unbedeutendsten  Notizen   in 
Rechnungen,  Vermächtnissen,  sogar  in  den  Registern  über  Geldbufsen,  am 
leichtesten    zu   erkennen   vermag,   ist   unmöglich   zur   Durchmusterung  jedes 
Archivs    zur    Verfugung.      Selbst    der    Bearbeiter    einer    kunstgeschichtlichen 
Monographie  ist   nur  ausnahmsweise   in   der  Lage,    eine   gröfsere  Zahl   von 
Archiven  zu  besuchen,  imd  die  Forschung  im  Archiv  wird  meist  für  ihn  sehr 
zeitraubend  sein,  da  für  seine  bestimmten  Zwecke  naturgemäfs  nur  wenige  Akten- 
stücke   von   Belang,    aber    recht    viele    andere    vergebens  zu    durchmustern 
sind,     ehe     die     ersteren    gefunden    werden.      Systematische     Arbeiten     in 
Archiven    nehmen    aber    in    grofser   Zahl    Geschichtsforscher    zu    den    ver- 
schiedensten Zwecken  vor,  und  zwar  sind  dies  meist  Leute,  die  nicht  über 
eine  besondere  kunstgeschichtliche  Ausbildung  verfügen   und  für   deren   be- 
sondere Studien  jene  Notizen  über  die  Entstehung  der  verschiedenen  Kimst- 
werke  kaum   von  Belang   sind.     Diesen   weitesten  Kreis   der  Archivbenutzer, 
die  Archivare   und   die   in   den   sogenannten   kleinen  Archiven   systematisch 
Umschau  Haltenden   gilt  es  mithin  für   die   kunstgeschichtlichen  Quellen   zu 
mteressieren,  damit  sie  die  im  Vorübergehen  gefundenen  einschlägigen  Stellen 
selbst  veröffentlichen  oder  andere  Forscher  darauf  aufmerksam  machen.    Bei 
weitem  am  wichtigsten  und  inhaltlich  ertragsreichsten   dürften  Verträge   über 
anzufertigende  Arbeiten,   dann   auch   besondere  Rechnungen   über   Bauten  ') 
und  dergl.    sein:    bei    der   bis    ins  XVII.  und   XVIII.  Jahrhundert   üblichen 
Arbeitsorganisation  enthalten  ja  die  Rechnungen  selbst   in   vielen  Fällen   die 
Namen  der  einzelnen   am  Werke   tätigen  Personen   und  Angaben   über   ihre 
besonderen  Leistungen.     Eine   gröfsere  Reihe   von  Stadt-   und  Kirchenrech- 
nungen  ist    sogar  kaum   denkbar    ohne  in   dieses  Gebiet  fallende    Einträge. 
Es  kommt  hierbei  nur  darauf  an,    dafs  wie  das  Vorkonunen  der  Pest,    der 
frühen   Erwähnung   eines   Feuergeschützes    oder   des   Buchdrucks   an    irgend 
einem  Orte  —  wovon  heute  wohl  jeder  Forscher  Notiz  nimmt,   auch  wenn 
seine  Studien  ganz  anderen  Gebieten  gewidmet  sind  —  so  auch  auf  Kunst- 
ge schichtliches  das  Augenmerk  gerichtet  wird.     Den  Wert  jeder  Notiz 
für  die  Kimstgeschichte  zu   bestimmen,   ist  nicht  Sache   des  Finders;    viele 
werden  dies  auch  gar  nicht  können  und  in  der  Selbsterkenntnis,  dafs  ihnen 
die  Schulung  auf  diesem  Gebiete  fehlt,  auch  unterlassen.    Aber  nichtsdesto- 
weniger ist  es  Pflicht,  das  Gefundene  berufeneren  Händen  zur  sachgemäfsen 
Verwertung  zugänglich  zu  machen ;  solche  gelegentliche  Nachrichten  auf  Nach- 
bargebieten arbeitenden  Forschem  mitzuteilen,   mufs   sich   entschieden   noch 
mehr  einbürgern! 

i)  Solche  sind  schon  wiederholt'  veröffentlicht  worden,  eine  Reibe  ist  verKeichnet  in 
dieser  Zeitschrift,  i.  Bd.,  S.  65—66,  Anm.  l.  Ncuwirth  hat  aufser  den  dort  er- 
wähnten Rechnungen  über  den  Präger  Dombau  1372- 1378  (Prag  1890)  in  den  Mit- 
tdhmgeo  des  Vereins  für  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen,  30.  Jahrg.  (1892), 
S.  309—388,  einen  Auszug  aus  den  Brüxer  Rechnungen  {Drr  Bau  d^r  Stadtkirche  in 
BrOx  von  tsH — iS3^)  veröffentlicht:  als  leitender  Meister  kommt  neben  Hans 
Scharfrott  aus  Dresden  und  Jörg  von  Maulbronn  besonders  Jakob  von 
Schwein  für  t  aus  Annaberg  in  Betracht,  von  dem  Entwurf  und  Modell  herrühren  (S.  333^  — 
Veroftentlichiing  verdiente  u  B.  auch  die  Rechnung  über  den  Bau  der  Muldenbrücke  bei 
Grimma   (Kgr.  Sachsen)  im  Jahre   1548. 


—     22     — 

Mehr  oder  weniger  bleibt  die  Entdeckung  auch  wichtiger  Nachrichten 
auf  diese  Weise  immer  Sache  des  Zuüsdls,  und  das  ist  im  Interesse  der 
Wissenschaft  sehr  zu  bedauern.  Deshalb  wäre  es  wohl  wünschenswert»  dals 
grölsere  Archive,  die  vermutlich  fiir  die  Kunstgeschichte  noch  ungehobene 
Quellen  enthalten,  s)'stematisch  von  Fachmännern,  die  nicht  für  einen  be- 
stimmten Zweck  sanmieln,  sondern  alles  im  weitesten  Sinne  Kunstgeschicht- 
liche anziunerken  hätten,  durchforscht  würden.  Was  aus  den  Archiven  in 
Nürnberg,  Dresden  oder  München  in  früherer  Zeit  publiziert  wurde,  hat  sich 
neuerdings  alles  als  unzureichend  erwiesen;  die  neueren  Monographieen  über 
die  deutschen  Meister  der  Renaissance,  die  auf  eingehenden  systematisch 
vorgenommenen  Archivstudien  beruhen,  haben  gezeigt,  wie  wenig  vollständig 
die  älteren  Veröffentlichungen  sind:  das  gilt  z.  B.  von  Baaders  Beiträgen 
zur  Kunstgeschichte  Xümbergs  (Nördlingen  1860;  zweite  Reihe  ebenda  1862), 
die  bis  vor  wenigen  Jahren  kritiklos  als  zuveriässige  Quelle  dienten.  Bei 
kleineren  Archiven  sollte,  wenn  sich  zußillig  —  der  Zufall  spielt  meist  eine 
bedeutende  Rolle  —  ihre  Wichtigkeit  für  die  Kunstgeschichte  herausstellt, 
eine  fiaichmännische  Prüfung  der  Bestände  möglichst  bald  vorgenommen  werden. 
Die  Verbindung  dieser  Tätigkeit  mit  der  Inventarisation  der  Denkmäler  wäre 
wohl  am  zweckmäisigsten  gewesen,  aber  manche  Bearbeiter  jener  Inventare 
sind  doch  in  der  Archivbenutzung  nicht  genügend  bewandert,  um  sich 
rasch  imd  meist  ohne  fachmännische  Hilfe  in  den  Papieren  imd  Perga- 
menten zurecht  zu  finden.  Deshalb  wird  man  im  allgemeinen  zunächst 
mit  einer  gelegentlichen  Durchforschung  zufrieden  sein  müssen.  Eine  Zentral- 
stelle, an  welche  etwaige  Funde  zu  übermitteln  wären,  gibt  es  nicht,  ist  auch 
nicht  nötig.  Jeder  Forscher  ist  ja  leicht  in  der  Lage,  etwaige  Beiträge,  die 
ihm  wichtig  erscheinen,  der  Redaktion  einer  kunstgeschichtlichen  Zeitschrift 
einzusenden  oder  auch  einige  solche  Nachrichten,  die  im  Laufe  der  2^it 
aufgesammelt  wurden,  in  der  landes-  oder  ortsgeschichtlichen  Zeitschrift  zu 
veröffentlichen;  die  Redaktionen  werden  dann  schon  eventuell  notwendige 
sachliche  Ergänzungen  und  Erläutenmgen  geben.  Nur  darf  im  zweiten  Falle 
nicht  vergessen  werden,  durch  Übersendung  einiger  Sonderabzüge  sowohl 
einzelne  Kunsthistoriker,  in  deren  Gebiet  der  Stoff  gehört,  als  auch  einige 
Zeitschriften  von  der  Veröffentlichung  in  Kenntnis  zu  setzen. 

Dafs  es  auch  ohne  kunstgeschichtliche  Fachbildung  möglich  ist,  die 
entsprechenden  Notizen  als  wertvoll  zu  erkennen,  wird  unbedingt  zuzugeben 
sein,  jedenfalls  bei  der  Mehrzahl  der  Geschichtsforscher  wird  man  solche 
Fähigkeiten  voraussetzen  dürfen,  wenn  sie  nur  auf  den  Nutzen,  den  sie 
damit  stiften  können,  aufmerksam  geworden  sind.  Und  dazu  sollen  diese 
Zeilen  dienen.  R.  Hansen  (Oldesloe). 

Bibliographie   der  Zcitscliriftenliteratur.   —    Unabhängig   von 

dem  in  den  Kreisen  der  Geschichtsforscher  erwogenen  verhältnismäfsig  harm- 
losen Gedanken,  das  alte  Walther-Kon  ersehe  Re per torium  der  ge- 
schichtlichen Zeitschriftenliteratur  für  die  Zeit  von  1850 — 1900 
fortzusetzen  '),    ist  im  Kreise  der  Literarhistoriker  der  unvergleichlich  weiter 


I)  Vgl.    diese  Zeitschrift    2.  Bd.,   S.   17 — 22.     In  Verfolg   des    seitens   des  Gesamt- 
Vereins    der   deutschen  Gcschichts-  und  Altertumsvereine  1900   in   Dresden   gefafsten   Bc- 


—     23     — 

greifende  Plan  aufgetaucht,  systematisch  den  Inhalt  aller  Zeitschriften 
des  XVIII.  und  XIX.  Jahrhunderts  bibliographisch  zu  bearbeiten.  Unzweifel- 
haft wäre  die  Verwirklichung  dieser  Idee  für  alle  Wissenschaften  bedeutsam, 
fbr  die  Geschichte  aber  besonders ,  weil  das  geistige  Leben  in-  allen  seinen 
Erscheinungen  nirgends  einen  so  regelmäfsigen  Niederschlag  zu  finden  pflegt, 
wie  eben  in  der  periodischen  Presse  und  weil  die  Geschichte  dieser  selbst 
ab  Ganzes  im  Zusammenhange  mit  der  modernen  Kultur,  so  wichtig  und 
ergebnisreich  sie  sein  würde,  noch  keinen  Bearbeiter  gefunden  hat  und  beim 
jetzigen  Zustande  kaum  finden  kann  *). 

Wissenschaftlich  notwendig  ist  es  auf  jeden  Fall,  dafs  die  Zeitschriften 
belletristischer,  wissenschaftlicher  und  politischer  Art,  die  seit  dem  Ende  des 
XVn.  Jahrhunderts  in  Menge  mit  mehr  oder  minder  langer  Lebensdauer 
entstanden  sind,  ebmal  gründlich  durchgearbeitet  werden,  damit  das  darin 
Tcrborgene  Material  den  Interessenten  zugänglich  gemacht  wird.  Notwendig 
ist  dies  vor  allem  deshalb,  weil  der  einzelne  Forscher  hier  der  erdrückenden 
FüDe  des  Materials  ratlos  gegenübersteht:  die  Zeitschriften  sind  sehr  schwer 
zngan^ch,  schon  ihre  Auffindung  macht  Mühe,  und  der  Zeitaufwand,  den 
die  Durchsicht  von  hundert  Bänden  erfordert,  ist  recht  grofs  im  Verhältnis 
zu  der  Ausbeute.  Selbst  wenn  man  noch  nicht  so  weit  gehen  und  eine 
Bibliographie  der  einzelnen  in  den  Zeitschriften  enthaltenen  Beiträge  verlangen 

sdünsses  (ebenda  S.  58 — $9)  hat  im  Auftrage  des  tur  Beratang  eingesetjten  Ausschusses 
Armin  Tille  in  einer  Denkschrift  dargelegt,  wie  die  Aufgabe  etwa  zu  lösen  wäre.  In 
Freiburg  ist  1901  in  aller  Kürze  der  Plan  entwickelt  worden  (s.  diese  Zeitschrift  3.  Bd., 
S.  90),  und  jetzt  liegt  die  ganze  Denkschrift  gedruckt  vor  im  Korrespondenzblatt 
des  Gesamtvereins,  50.  Jahrgang  (1902),  S.  28—30. 

i)  Etwas,   wenn  auch  nicht  viel  besser,   steht  es  mit  der  Geschichte  der  Zei- 
tnng:    neben  den  zusammenfassenden  Versuchen  über  die  Entstehung  der  Zeitungen  von 
Opel  {Du  Anfänge  der  deutschtn  Zettungspresse  1609—1650  im  Archiv  für  Geschichte 
des  deutschen  Buchhandels.    N.  F.  3.  Bd  ,   1879)  und  Grasshof  f  (Z>jir  briefliche  Zeitung 
des  X  VI.  fahr  Hunderts.     Leipz.  Diss.   187  7)   kommt   Prutz,    Geschichte  des   deutschen 
fntmalismus  (I.  und  einziger  Teil,  Hannover  1845)  ^^^  Ludwig  Salomon,  Geschichte 
des  deutschen    Zeitungswesens   von   den    ersten   Anfängen    bis    zur    Wiederaufrichtung 
des  Deutschen  Reiches   (i.  und   bisher   einziger  Band,    das   XVI.   bis   XVTII.  Jahrhundert 
behandelnd,   Oldenburg,    Schulze    1900)    in    Betracht.     Den   heutigen    Bedürfnissen   ent- 
sprechen aoch  diese  Bücher  nicht,  es  mufs  vielmehr  die  Monographie  über  einzelne  Zei- 
tngen  und    das  Zeitnngswesen    an   bestimmten  Orten   und   eventuell   in   gröfseren   land- 
schafüicbeo  Gebieten  gepflegt  werden,    ehe  mit  einer  grofsen  Geschichte   der   deutschen 
Zeitung  gerechnet  werden  kann.     In  neuerer  Zeit  ist   in   dieser  Richtung   schon   manches 
geschehen:    Die  Basler  Mittwoch-  und  Samstag- Zeitung  1682-1796   von    Mangold 
(Basel,  Wittmer   1900)  geht  wesentlich  tiefer  auf  die  geschieh tliclien  und  volkswirtschaft- 
lichen Probleme   ein   als   sonstige   Arbeiten.     Recht  viele    mehr   und   minder  brauchbare 
Zeitongsgeschicbten  sind  in  neuerer  Zeit   als  Jubiläumsschriften   erschienen,    es    sei  z.  B. 
Eduard  Heyck,  Die  Allgemeine  Zeitung  1798—1898  und  Zum  150 jährigen  fubiläum 
der  LObeckischen  Anzeigen  1751   6.  Märt   1901   genannt.     Über   die  Zeitungspresse   ein- 
telner  Orte  ist  ebenfalls  schon  mehrfach  gehandelt  worden,  neuerdings  z.  B.  für  Stettin 
von   Heinemann    in    den    Baltischen    Studien,    N.    F.    4.    Bd.,    S.    193 — 210,    und    für 
Göttingen  von  Eberwien  in  den  Protokollen   über   die  Sitzungen   des  Vereins  für   die 
Geschichte   Göttingens  1900— 1901,    S.    28—46.     Eine  eigenartige   und    recht    nützliche 
Stadie   ist   die   von  Ludwig  Munzinger,   Die  Entwickelung  des  Inseratenwesens   in 
den  deutschen  Zeitungen  (Heidelberg,  Karl  Winter  1902).    In  allen  diesen  Schriften  liegt 
wertvolles  Material  vor,    das  nur  der  Sichtung,    planmäfsigen  Vervollständigung   und 
einheitlichen   Verarbeitung    harrt.    —    Zur   Orientierung    für   Interessenten    ist    ein    Anti- 
qairiaUkatalog  von  Max  Harrwitz  (Berlin  W.,  Potsdamerstrafse  41»)  über  periodische 
litcratnr  von  Belang. 


—     24     — 

wollte,  wäre  eine  Bibliographie  der  Zeitschriften  d.  h.  eine  Zu- 
sammenstellung der  Titel  mit  Angabe  der  Herausgeber,  der  Jahre  imd  Orte 
des  Erscheinens,  denen  eine  kurze  inhaltliche  Charakteristik  beizufügen  wäre, 
von  höchstem  Werte ;  natürlich  müfsten  auch  diejenigen  Bibliotheken  namhaft 
gemacht  werden ,  welche  Exemplare ,  deren  meist  ja  nur  wenige  vollständige 
erhalten  sind,  besitzen  *).  Schon  dies  wäre  eine  Arbeit,  die  die 
Kräfte  eines  einzelnen  Bearbeiters  übersteigt,  aber  sie  erscheint  nicht  nur  an 
sich  notwendig,  sondern  auch  die  Voraussetzung  für  eine  Bibliographie  der 
einzelnen  Beiträge. 

Nur  die  Organisation  wird  hier  helfen  können,  und  diese  ist  bereits 
entstanden  in  der  am  19.  April  1902  gegründeten  Deutschen  Biblio- 
graphischen Gesellschaft,  in  deren  Vorstand  meistens  Literarhistoriker 
sitzen,  z.  B.  Sauer  (Prag),  Elster  (Marburg),  Koch  (Breslau),  Litzmann 
(Bonn)  und  deren  Sekretär  der  Vater  des  Gedankens  Dr.  Ho  üben  (Berlin- 
Schöneberg,  Ebersstr.  91)  ist.  Der  Jahresbeitrag  des  Mitgliedes  beläuft  sich 
auf  6  Mk.,  wofür  die  Mitglieder  zum  Bezüge  der  in  Aussicht  genommenen, 
im  Verlage  von  B.  Behr  erscheinenden  Publikationen  *)  zu  einem  Vorzugs- 
preise (^/s  des  Ladenpreises)  berechtigt  sind.  Eine  grofse  Reihe  namhafter 
Personen  aus  den  verschiedensten  literarisch  interessierten  Kreisen  sind  be- 
reits der  Gesellschaft  beigetreten,  viele  davon  haben  sich  schon  vorher  gut- 
achtlich über  die  Pläne  geäufsert,  so  dafs  in  der  Tat  die  Aussichten  fiir  das 
Gelingen  des  Unternehmens  günstig  sind;  in  allen  solchen  Fällen  ist  ja  das 
Wesentliche,  dafs  die  Zahl  der  Teilnehmer  grofs  genug  ist,  um  die  unbedingt 
notwendigen  Kosten  durch  eine  verhältnismäfsig  niedrige  Beisteuer  des  Ein- 
zelnen zu  decken. 

Die  Gesellschaft  bezweckt,  wie  es  im  §  i  der  Satzungen  heifst,  „den 
einheitlichen  Zusammenschlufs  der  die  Literaturgeschichte  und  ihre  Grenz- 
gebiete betreffenden  bibliographischen  Arbeiten,  soweit  sich  diese  auf  periodische 
Erscheinungen  und  Sammelwerke  erstrecken".  Zeitschriften  und  Zeitungen, 
Briefwechsel  und  Memoiren,  Almanache  und  Elssaisammlungen  sind  es,  woran 
bei  „periodischen  Erscheinungen  und  Sammelwerken"  gedacht  wird.  Die 
erste  Aufgabe  ist  die  Schafifung  einer  Gesamt-Bibliographie  der 
periodischen  Erscheinungen  des  XVIIL  und  XIX.  Jahr- 
hunderts, und  zwar  wird  mit  den  Zeitschriften  der  romantischen  Epoche 
begonnen  werden;  die  jungdeutschen  Zeitschriften  sollen  sich  anschliefsen 
und  ihnen  werden  mehrere  grofse  Tageszeitungen  mit  ihren  wissenschaft- 
lichen   Beilagen   folgen,   so   dafs    auch   die  Gegenwart  schon   bald   Berück- 


i)  Für  die  politischen  Zeitungen  hat,  ohne  dafs  die  Anregung  von  Erfolg  begleitet 
gewesen  wäre,  bereits  auf  dem  Frankfurter  Historikertage  1895  l^rof.  Kaltenbrunner 
(Innsbruck)  einen  entsprechenden  Vorschlag  gemacht:  er  wollte  die  Bibliotheken  direkt 
um  Auskunft  darüber  bitten,  welche  Serien  politischer  Zeitungen  sie  besitzen,  und  die  so 
gewonnenen  Angaben  sachlich  eu  einem  Register  verarbeitet  wissen.  Vgl.  Bericht  über 
die  dritte  Versammlung  dentscher  Historiker  (Leipzig,  Duncker  &  Hurablot,  1895), 
S.  29.  —  In  Hamburg  wird  ein  Verzeichnis  der  periodischen  Literatur  geplant  (vgl. 
Zeitschrift  des  Vereins  flir  Hambnrgische  Geschichte,  10.  Bd.  [1899],  S.  273 — 288).  Ein 
Verzeichnis  der  gelehrten  Zeitschriften  Leipzigs  seit  1682  hat  Johann  Daniel 
Schulze,  Ahrifs  einer  Geschichte  der  Leipziger  Universität  im  Laufe  des  XVIIL  Jahr» 
hunderts  (Leipzig  1802)  S.   140 — 176  bearbeitet. 

2)  Der   I.   Band  soll  noch  im  Winter  1902 — 1903  zur  Ausgabe  gelangen. 


—     25     — 

achtigung  zu  erhoffen  hat  Die  Geschichtsforschung  im  weitesten  Sinne  wird 
den  Gewinn  aus  diesen  bibliographischen  Arbeiten  ziehen,  die  nicht  nur 
Hilfsmittel  sind,  sondern  an  sich  bereits  wissenschaftliche  Leistungen  dar- 
stdlen;  deshalb  mufs  es  aber  auch  als  Sache  der  Geschichtsforscher  be- 
trachtet werden,  das  Unternehmen  in  jeder  Weise  zu  fördern,  besonders  die 
Geschichtsvereine  sollten  recht  zahlreich  die  Mitgliedschaft  erwerben, 
am  von  vomhejein  ihren  Mitgliedern  verhältnismäfsig  billig  und  in  der 
weniger  drückenden  Form  jährlicher  Beisteuern  den  Besitz  der  Bibliographie 
zu  sichern.  Gerade  für  die  kleinere  Bibliothek  am  abgelegenen  Orte  sind 
derartige  Hilfsmittel  doppelt  wichtig,  weil  sie  dadurch  wenigstens  in  die  Lage 
kommen,  die  Wünsche  der  Benutzer  durch  Bestellung  von  auswärts  ')  zu  be- 
friedigen. 

Möge  die  Deutsche  Bibliographische  Gesellschaft  sich  gut 
entwickeln  und  in  recht  rascher  Folge  ihre  Veröffentlichungen  erscheinen  lassen ! 

Zur  polltlsehen  nnd  sozialen  Bewegung  Im  dentsehen  Bürger- 

tim  des  XY.  und  XYI.  Jahrhunderts.  —  Bereits  im  dritten  Bande 
dieser  Zeitschrift  S.  i  ff.  und  S.  49  ff.  habe  ich  Nachträge  und  Ergänzungen 
ZQ  meinem  1899  erschienenen  Buche  über  denselben  Gegenstand  mitgeteilt. 
Da  aber  bei  den  immer  weiter  fortgesetzten  Nachforschungen  sich  noch 
recht  viele  wichtige  Einzelheiten  ergeben  haben,  zögere  ich  nicht,  abermals 
einiges  darüber  zusammenzustellen  in  der  Hoffnung,  dafs  auch  diese  Ver- 
öfenüichung  wieder  dazu  beitragen  wird,  mir  aus  dem  Kreise  der  Forscher 
neue  Nachrichten   zuzuführen. 

Zunächst  gebe  ich  einige  Ergänzungen  zur  Geschichte  städtischer  Auf- 
stände in  der  ersten  Hälfte  des  XV.  Jahrhunderts.  Wie  bekannt,  haben  die 
Znnftkämpfe  des  XIV.  Jahrhunderts  sich  bis  ins  XV.  hinein  fortgesetzt. 
Im  Norden  Deutschlands  wurden  damals  neben  den  hansischen  besonders 
die  Städte  der  Mark  Brandenburg  von  der  demokratischen  Bewegung  stark 
in  Mideidenschaft  gezogen.  In  Berlin  liegen  von  ca.  1400 — 1450  das 
anstokratische  und  das  demokratische  Prinzip  miteinander  in  beständigem, 
wechsehrollem  Kampf.  Um  1450  hat  ersteres  gesiegt,  zugleich  aber  erscheint 
die  Stadt  völlig  unter  die  Gewalt  des  lAndesherm  gebeugt  *). 

Die  Verfassung  Berlins  hat  im  Laufe  des  XIV.  Jahrhunderts  allem  An- 
schein nach  ein  exklusiv  aristokratisches  Gepräge  erhalten.  Die  vornehmen 
Geschlechter,  vermutlich  dem  Handelsstande  angehörig,  beherrschen  den  Rat. 
Die  übrigen  Kreise  der  Bürgerschaft  sind  vom  Regimente  ausgeschlossen. 
Seit  1381  besitzen  indes  die  vier  Gewerke  der  Fleischer,  Bäcker,  Tuch-  und 
Schuhmacher  das  Recht  zu  beratender  Teilnahme,  und  seit  Beginn  des 
XV.  Jahrhimderts  regt  sich  das  Streben  der  Gewerbetreibenden  und  Kleinbürger 
nach  der  Ratsfahigkeit.  Schon  1 4 1 2  wird,  offenbar  von  demokratischer  Seite, 
an  Versuch   zum   Sturz   der   bisherigen   Verfassung    unternommen.      Immer 


1)  YgL  darüber  diese  Zeitschrift  2.  Bd.,  S.   164  —  174  und  239—240. 

2)  Sello,  Forschungen  zur  brandenburgisch  •  preufsischen  Geschichte,  Bd.  XVII, 
48—50,  53 — 55.  Priebatsch,  Die  deutschen  Städte  im  Kampf  mit  der  Fürsten- 
gf^ott^  Bd.  I:  Die  Hohenzollern  und  die  Städte  der  Mark  im  XV,  Jahrhundert, 
iBerün  1892.)  S.  7>  ff-  79-  86.  93.  218. 


—     26     — 

mehr  erweitert  sich  jetzt  der  Kreis  der  Eletaente,  die  mit  den  Patriziern  und  den 
von  ihnen  mehr  oder  minder  notgedrungen  zugelassenen  Gewerbsgenossen 
die  Herrschaft  zu  teilen  wünschen.  1431  erscheinen  auch  die  Meister  der 
Gilden,  d.  h.  der  aufserhalb  der  oberen  vier  Gewerke  stehenden  gewerb- 
lichen Korporationen  neben  den  „Werken".  Ein  Rückschlag  in  dieser 
demokratischen  Bewegung  erfolgte  1432  bei  der  Vereinigung  Berlins  mit  Köln. 
Die  neue  Bundesverfassung  bestimmte,  dafs  der  jährlich  scheidende  Rat  den 
neuen  zu  wählen  habe.  Die  höchste  Stadtmagistratur ,  die  bisher  gewohn- 
heitsmäfsig  in  den  Händen  der  Geschlechter  gewesen  war,  wurde  ihnen  jetzt 
statutarisch  überwiesen.  Das  dem  Rat  zur  Seite  gestellte  Kollegium  von 
16  Stadtverordneten  wollte  den  18  patrizischen  Ratsherren  gegenüber  wenig 
besagen.  „Die  Ordnung  von  1432  begründete  das  Übergewicht  des  das 
Kapital  und  die  Intelligenz  repräsentierenden  Patriziates  über  den  an  Zahl 
überlegenen,  aber  durch  Kriegsläufe  hart  bedrängten,  gemeinen  Mann" 
(Sello  S.  50). 

Nur  zehn  Jahre  indes  durften  sich  die  Geschlechter  ihres  Sieges  freuen. 
Die  Gewerke  beharrten  hier,  wie  anderswo,  auf  der  Forderung,  in  den  Rat 
aufgenommen  zu  werden,  und  übertrugen  1442  dem  Kurftirsten  Friedrich 
die  Entscheidung.  Dieser  verschafite  der  demokratischen  Sache  den  Sieg 
durch  die  Verordnung,  dafs  der  Rat  künftig  sunderliken  aus  den  vier 
Gewerken  und  aus  den  „Gemeinen"  besetzt  werden  solle,  machte  sich  aber 
zugleich  zum  Herrn  der  Stadt.  Dem  Groll  über  den  Verlust  der  Freiheit 
entsprang  die  neue  Bewegung  von  1447,  bei  der  die  Aristokratie  die  Füh- 
rung übernahm.  Der  Aufstand  endete  mit  der  Unterwerfung  Berlins  und 
Kölns  und  mit  der  Wiederherstellung  der  oktroyierten  Verfassung  von  1442. 
Die  vom  Kurfürsten  wieder  eingesetzte  Demokratie  vermochte  sich  indes 
nicht  dauernd  zu  behaupten.  Friedrich  wollte  die  Mitarbeit  der  politisch 
erprobten  und  erfahrenen  alten  Familien  nicht  entbehren,  und  so  kommt 
nach  145 1  die  Aristokratie  allmählich  wieder  ans  Ruder. 

Auch  in  anderen  Städten  der  Mark  erheben  sich  in  der  ersten  Hälfte 
des  XV.  Jahrhunderts  demokratische  Bestrebungen,  die  von  Kurfürst  Friedrich  I. 
unterstützt,  von  seinem  Stellvertreter,  dem  Markgrafen  Johann,  aufs  schärfste 
bekämpft  werden.  Friedrich  schlichtet  1420  eine  Entzweiung  zwischen  Rat 
und  Gemeinde  von  Frankfurt  a.  O.  und  gewährt  den  Bürgern  imter  anderem 
das  Recht,  durch  neun  von  ihnen  vorgeschlagene,  vom  Rat  gewählte  Ver- 
ordnete ihre  Interessen  vertreten  zu  lassen  *). 

Auch  in  Treuenbrietzen  stellte  der  Kurfürst  den  Frieden  zwischen 
Bürgern  und  Rat  wieder  her  und  erfüllte  ersteren  eine  Reihe  ihrer  Forde- 
rungen *).  In  Prenzlau  arbeitete  die  Gemeinde  1426  auf  den  Sturz  des 
Rates  hin  und  lieferte  die  Stadt  den  feindlichen  Pommern  in  die  Hände. 
Prenzlau  wurde  vom  Markgrafen  Johann  wieder  erobert  und  für  seinen  Verrat 
aufs  härteste  gestraft,  die  Verfassung  der  Stadt  wurde  geändert  ^). 

Neben  den  allgemeinen  demokratischen  Ansprüchen  machten  sich  in 
den  märkischen  Städten  auch  mehr  lokale,  durch  den  Augenblick  gezeitigte 
Tendenzen    geltend.      Das    Ansinnen,    an   der    Husitensteuer    teilzunehmen^ 

i)  Priebatsch  S.  66—67. 

2)  a    a.  O.  S.  67. 

3)  a.  a.   O.  S.  60. 


—     27     — 

weckte  1425  in  Frankfurt  a.  O.,  Havelberg,  Brandenburg  offene  Re- 
Tohition.  Wohl  mag  man  in  diesen  Unruhen  einen  Reflex  der  Husiten- 
stimne  erkennen.  Wenig  war  in  den  vom  Kriegsschauplatz  abgelegenen 
Marken  von  einem  Reichsbewufetsein  zu  spüren.  Nur  die  Überredungskunst 
des  Bischofs  von  Lebus  und  die  nahende  Gefahr  eines  Böhmeneinfalles  ver- 
mochten die  Städte  zur  Nachgiebigkeit  ^). 

Auch  über  die  Altmark  verbreitete  sich  die  Bewegung.  In  der  Neu- 
stadt Sabn^edel  verlangten  1429  die  Tuchmacher  das  Recht  des  Gewand- 
schnittes. In  Stendal  kam  es  im  gleichen  Jahre  aus  noch  nicht  aufgeklärtem 
Anlais  zu  lärmvollen  Unruhen,  die  den  widerstrebenden  Rat  imd  die  vor- 
nehmeren Gilden  mit  fortrissen  und  sich  auch  gegen  die  I^ndesherrschaft 
richteten.  Die  Empörung  wurde  hier  wie  in  Prenzlau  von  Johann  rasch  ge- 
dämpft. Stendal  blieb  auch  später  noch  ein  Herd  des  Aufruhrs.  1488 
artete  dort  die  Opposition  gegen  die  vom  Kurfürsten  Johann  Cicero,  gleich- 
£üb  einem  Gegner  der  Demokratie,  geforderte  Biersteuer  zu  greulichen  Pöbel- 
szenen aus.  Wieder  wurden  der  Rat  imd  die  vornehmeren  Gilden  von  den 
niederen  Gewerken  und  der  Gemeinde  fortgerissen,  diesen  daher  vom  Kur- 
föisten  der  Einflufs  auf  die  Stadtverwaltung  genommen.  Die  Bewegung,  die 
1530  in  Stendal  ausbrach,  war  religiöser  Natur.  Den  Anlafs  gab  die  Ver- 
jagung eines  lutherischen  Predigers.  Das  Stadtregiment,  das  sich  mit  dem 
Kurfürsten  nicht  überwerfen  wollte,  wurde  gestürzt,  das  neue  Bekenntnis 
eingeführt  *). 

Im  ganzen  sind  die  märkischen  Städtekämpfe  mit  dem  XV.  Jahrhundert 
abgeschlossen.  Ihre  Ergebnisse  sind  gering.  Bezeichnend  ist  die  regel- 
mSfsig  wiederkehrende  Einmischung  der  Landesherren,  die,  der  Demokratie 
im  allgemeinen  abhold,  diese  doch  gelegentlich  für  ihren  grofsen  Zweck  zu 
benutzen  wissen :  für  die  Beugung  der  Städte  unter  die  landesherrliche  Gewalt. 

Der  Breslauer  Aufstand  von  14 18  ist,  wie  Grünhagen  mit  Recht  be- 
merkt, nicht  in  die  Reihe  der  gewöhnlichen  Zunftkämpfe  einzuregistrieren. 
Er  verdankt  seinen  Ursprung  nicht  dem  gewöhnlichen  Gegensatz  zwischen 
Handwerker  und  städtischem  Patriziat.  Erstere  kämpfen  hier  nicht  um  die 
Teilnahme  am  Rat  Denn  diese  ist  ihnen  schon  seit  1390  gesichert.  Die 
Hauptschuld  an  der  Empörung  trägt  der  Groll  der  Bürger  über  die  Eingriife 
König  Wenzels  in  die  städtische  Autonomie,  über  die  mafslosen  Geldforde- 
lungen  des  Herrschers,  denen  gegenüber  sich  der  Rat  allzu  nachgiebig  zeigte, 
so  dais  das  städtische  Budget  in  Verwirrung  geriet,  die  Bürger  mit  Steuern 
hart  belastet  wurden  *).  (Vgl.  auch  meine  „Politischen  und  sozialen  Be- 
wegungen" S.  21.) 

hl  letzterer  Zeit  sind  auch  die  Verhältnisse  Naumburgs  *)  im  XV. 
und  XVL  Jahrhundert  zum  Gegenstand  einer  monographischen  Darstellung 
gemacht  worden.  Auf  dem  wirtschaftlichen  Leben  der  Stadt  lastete  seit  der 
Glitte  des  XV.  Jahrhunderts  eine  starke  Lähmung,  die  sich  besonders  deut- 
lich aus  dem  Stillstand  in  der  Steigerung  der  Steuereinnahmen  ergibt.     An- 


I)  8.  a.  O.  S.  61—62. 

2^  Priebatsch  S.  65.   170.   191. 

3)  S.  „Grenzboten"  1859,  Nr.   i,  S.  56flF. 

4)  E.  Hof  fm  ann,  Naumburg  a,  S.  im  Zeitalter  der  Reformation  [Leipziger  Studien 
aas  dem  Gebiet  der  Geschichte  VII,   i],  S.  38  ff.  und  S.  57—60. 


—     28     — 

fang  des  XVI.  Jahrhunderts  hat  sich  die  Lage  anscheinend  noch  verschlechtert. 
Teils  durch  Verschwendung,  teils  durch  wiederholte  Feuersbrünste  gerieten 
viele  Bürger  in  Not,  mufsten  ihre  mit  „Zinsen,  Geschofs  und  Schulden" 
belasteten  Häuser  verfallen  lassen  oder  nach  dem  Brande  auf  deren  Wieder- 
herstellung verzichten.  So  fehlen  auch  in  Naumburg  nicht  die  anderswo 
bemerkbaren  sozialen  Gegensätze:  hier  manche  Züge  von  Reichtum  und 
frohem  Lebensgenufs,  dort  tiefe  Verarmung  und  Elend,  ohne  dafs  sich  frei- 
lich ein  sicheres  Bild  der  Verteilung  von  Armut  und  Reichtum  gewinnen 
liefse.  Doch  waren  allem  Anschein  nach  die  Gegensätze  in  Naumburg  nicht 
so  schroff,  dafs  sie  sich  wie  an  anderen  Orten  in  heftigen  Konflikten  ent- 
laden hätten.  Nur  schwache  Anzeichen  deuten  seit  1450  auf  eine  leise 
Gärung  in  der  Bürgerschaft;  1460  und  1470  lehnen  sich  Bäcker  und  Brauer 
gegen  die  Markt-  und  Lebensmittelpolizei  des  Rates  auf,  doch  haben  diese 
Differenzen  nur  vorübergehend  zu  Unruhen  geführt  und  nie  einen  gröfseren 
Umfang  angenonmien.  Noch  mehr  spricht  für  eine  im  ganzen  ruhige  E-nt- 
wickelung  Naumburgs,  selbst  in  den  Jahren  der  Not,  dafs  die  Stürme  des 
Bauernkrieges  ohne  tiefere  Erschütterung  über  den  Ort  hingegangen  sind. 
Wohl  kommt  es  unter  Einflufs  Münzers  im  Frühjahr  1525  zu  einer  religiösen 
Bewegung,  das  soziale  Moment  aber  tritt  dank  der  Besonnenheit  des  Predigers 
Langer  und  der  klugen,  sicheren  Haltung  des  Rates  Park  zurück. 

Die  Kenntnis  der  Städteaufstände  zu  Beginn  des  XVL  Jahrhunderts» 
namentlich  im  unruhigen  Jahre  15 13,  ist  durch  eine  neuere  Untersuchung 
bereichert  worden  *).  Das  niederrheinische  Gebiet  erscheint  als  besonders 
gefährlicher  Aufruhrherd.  Zu  den  Bewegungen  in  Köhi,  Aachen,  Neufs, 
Andernach,  Lüttich  kommen  die  Aufstände  in  Duisburg,  Ahnveiler  und 
Linnich,  alle  drei  im  Jahre  15 13.  In  Duisburg  hat  die  Zurückweisung 
der  Gemeindevertreter,  der  sogenannten  Sechzehner,  Anlafs  zum  Aufstand 
gegeben,  durch  den  der  Rat  genötigt  wurde,  die  Forderungen  der  Gemeinde 
zu  erfüllen.  Über  die  Unruhen  in  Ahrweiler  und  Linnich  liefs  sich  Genaueres 
nicht  ermitteln.  Doch  dürfte  auch  hier  —  so  wie  in  Köln  u.  a.  O.  —  die 
Unzufriedenheit  der  Gemeinden  mit  der  Finanzgebarung  des  Rates  das  vor- 
nehmste Motiv  des  Aufstandes  gebildet  haben.  Auch  in  diesen  Städten  ist 
für  den  Ausgang  der  Bewegung  entscheidend  die  Einmischung  der  Landes- 
herren oder  der  benachbarten  Fürsten.  In  Andernach  und  Neufs  tritt  der 
Kölner  Erzbischof  Philipp  von  Heinsberg  als  Schiedsrichter  auf  und  befriedigt 
die  Wünsche  dtv  Bürger.  Die  Unruhen  in  Duisburg  erwecken  das  lebhafte 
Mifsfallen  des  Herzogs  von  Cleve.  Und  in  Aachen  wird  —  wie  neuerdings  klar- 
gestellt *)  —  durch  die  zähe  Politik  Herzog  Johanns  von  Jülich  nach  langwierigen 
Verhandlungen  die  Versöhnung  der  Zünfte  mit  der  Partei  des  alten  Rats 
herbeigeführt. 

Zum  Schlufs  noch  ein  Wort  an  meine  Kritiker!  Ich  habe  in  meinen 
„Politischen  und  sozialen  Bewegungen"  einen  Ausgleich  gesucht  zwischen 
den  widersprechenden  Ansichten  von  Lamprecht  und  Lenz  über  den  Charakter 
der  städtischen  Revolutionen    des   XV.  und  XVI.  Jahrhunderts    und   bin   zu 


1)  Redlich,    Herzog  Johann    von  Jülich    und  der  Aachefter   Aujstand  von    1513 
in  der  Zeitschrift  des  Aachener  Geschichtsvercins  Bd.  XXIII  (1901). 

2)  a.   a.  O. 


—     29     — 

dem  Ergebnis  gelangt,  dafs  die  Bewegung  nicht  einseitig  proletarisch- 
soziaKstbcher  Natur  sei,  dafs  sie  aber  ebensowenig  ausschliefslich  vom  Hand- 
werkerstände getragen  werde  und  nur  dessen  Interessen  dienstbar  sei  (vgl. 
S.  258/9).  Nun  behaupten  Stolze  und  v.  Below  *),  der  von  mir  angenom- 
mene Gegensatz  der  Ansichten  von  Lamprecht  und  Lenz  sei  nicht  vorhanden. 
Lenz  leugne  durchaus  nicht  die  Beteiligung  der  unteren  Schichten,  sondern 
behaupte  nur  gegen  Lamprecht,  dafs  die  Handwerker  die  „Träger  der  re- 
vohitionären  Forderungen"  gewesen  seien,  also  der  Bewegung  den  Stempel 
ihres  Geistes  aufgedrückt  hätten.  Nun  aber  sagt  Lenz  ausdrücklich:  „Nur 
ganz  verschwindend,  inuner  im  Anschlufs  an  sie  (die  Gewerke)  treten  hier 
und  da,  z.  B.  in  Frankfurt,  unzünftige  Elemente  auf,  die  dann  aber  auch 
keineswegs  verkonmiene  Proletarier  zu  sein  brauchen."  Und  an  einer  an- 
deren Stelle  erklärt  er,  dafs  in  den  städtischen  Revolten  der  Reformations- 
epoche „auch  nicht  die  leiseste  Spur  von  taboritischen  und  sozialistischen 
Forderungen  zu  finden  sei"  *).  Der  von  mir  angenommene  Meinungsgegen- 
satz besteht  also,  glaube  ich,  doch. 

Stolze  und  v.  Below  sind  mit  Lenz  der  Ansicht,  dafs  in  diesen  städti- 
schen Bewegungen  von  sozialistischem  Gehalt  wem'g  zu  spüren  sei.  v.  Below 
macht  mir  auch  die  Anwendung  des  Wortes  „sozialistisch"  zum  Vorwurf*). 
Das  Wort  ist  vielleicht  nicht  glücklich  gewählt  und  wäre  durch  „radikal" 
oder  „konununistisch"  zu  ersetzen.  Ich  glaube  aber  in  meinem  Buche  nach- 
gewiesen zu  haben,  dafs  Tendenzen  solcher  Art  seit  Ausgang  des  XV.  Jahr- 
hunderts und  besonders  in  der  Zeit  des  Bauernkrieges  in  zahlreichen  Städten 
der  verschiedensten  Gegenden  des  Reiches  aufgetreten  sind,  wenngleich  sie 
freilich  nicht  immer  in  so  präzise  formulierten  Programmen  vorliegen,  wie  die 
Forderungen  der  Handwerker  *).  Ohne  Zweifel  würden  ohne  das  Entgegen- 
kommen der  Räte  gegenüber  den  gemäfsigten  Trägem  der  Bewegung  und 
ohne  den  unglücklichen  Verlauf  des  Bauernkrieges  diese  radikalen  Ten- 
denzen noch  an  Ausdehnung  gewonnen  haben  und  noch  deutlicher  an 
die  Oberfläche  getreten  sein.  Aber  vorhanden  waren  sie  in  weitem  Umfange 
imd  in  nicht  zu  unterschätzender  Stärke,  sie  bereiteten  der  Obrigkeit  schwere 
Sorge,  und  es  geht  nicht  an,  ihre  Bedeutung  herabzusetzen  oder  gar  ihr  Dasein 
eiD^h  abzuleugnen,  diesen  Zug  aus  dem  Charakterbild  der  Bewegung  zu  tilgen. 

Diese  radikale  Strömung  aber  läfst  doch  auch  schliefsen  auf  das  Vor- 
handensein zahlreicher  besitzloser  oder  besitzarmer  Elemente  in  den  Städten, 
zwingt  uns  zur  Annahme  eines  städtischen  Proletariats,  das  v.  Below  zu 
leugnen  scheint  Gerne  freilich  gebe  ich  zu,  dafs  Verbreitung  und  Zusammen- 
setzui^  dieses  Proletariats  noch  eingehender  Untersuchung  bedürfen.  Die 
Städteaufistände  im  Zeitalter  der  Reformation  sind  nicht,  wie  die  Zunfticämpfe 
der  früheren  Zeit,  nur  eine  Mittelstandsbewegung,  die  sich  mit  politischen 
Reformen  begnügt,  sondern  sie  erstreben  —  zum  Teil  unter  Einflufs  der  religiösen 


1)  W.  Stolze,  Zur  Vorschickte  d^s  Bauernkrieges  in  Schmollers  Staats-  und 
»ozialirisseiuchafUichen  Forschnngen  Bd.  XVIII,  Heft  4,  S.  43 3,  v.  Below,  Historische 
Zeitsdmft,  N.  F.  53,  S.  looff. 

2)  H.  Z.,  N.  F.,  Bd.  XLI,  S.  397—399. 

3)  Stolze  in  „Mühlhänser  Geschichtsblättem "  I,  105;  v.  Below  a.  a.  O.  S.   10 1. 

4)  S.  mein  Bnch  S.  2r8ff.  Die  Wncht  der  radikalen  Bewegung  zeigt  sich  übrigens 
fast  noch  stärker  in  den  Aufständen  am  Ausgang  des  XV.  Jahrhunderts,  s.  S.  23 — 33. 


—     30     — 

Ideeen  —  in  ihrer  extremen  Richtung,  meist  in  den  rohesten  Formen,  den 
Umsturz  der  ganzen  sozialen  Ordnung.  Das  kommunistische  Wiedertäufer- 
reich in  Münster  bezeichnet  den  Höhepunkt  dieser  Entwickelung. 

Kurt  Käser  (Wien). 
Yerzeichnis  der  Stttdte,  tvo  toh  ea.  1400—1535  Unruhen  stattsrefunden  haben : 

Aachen  1450,  1477 1  ^$3^-  Admont  (Steiermark)  1525.  Ahrweiler  (Rheinprovinz) 
1513.  Alkmaar  (Niederlande)  1492.  Ammerschweier  (Elsafs)  1525.  Andernach  151 1. 
Annaberg  1525.     Aschaffenbarg  1525.     Aagsbnrg  1491,  1524,   1525. 

Bamberg  1525.  Basel  ca  1521— 1525.  Bergheim  (Elsafs)  1525.  Berlin  1400  bis 
1451.  Biberach  1525.  Boppard  1525.  Botwar  (Württemberg)  1525.  Brackenheim 
(Württemberg)  1525.  Braunschweig  1445,  1488,  15 13.  Bremen  1531.  Breslau  141 8. 
Brixen   1525.     Bruchsal  1525.     Brück  (Steiermark)  1525. 

Chemnitz  15 10  und   15 12  (Aufstand  gegen  die  Geistlichkeit)  *)  1525. 

Danzig  1525.  Dettelbach  (Ostfranken)  1525.  Deventer  151 2,  151 3.  Dinkelsbühl 
1525.     Dortmund   1525      Dresden   1520.     Duisburg   15 13. 

Ebelsberg  (Oberösterreich)  1525.  Ebern  (Ostfranken)  1525.  Eichstädt  1525.  Eisen- 
erz (Steiermark)  1525.  EUwangen  1525.  Elsafs-Zabem  1525.  Erfurt  1509  und  1525. 
Essen   1531  ff. 

Forchheim  1524.  Frankenhausen  1525.  Frankfurt  a.  M.  1525.  Frankfurt  a.  O.  1420, 
1425.     Freiburg  i.  B.  1525.     Fulda  1525. 

Gebweiler  (Ober -  Elsafs)  1525.  Gmünd  (Württemberg)  1525.  Görlitz  1525.  Göt- 
tingen  15 13.     Gotha  1524.     Graz  1525.     Günzburg  1525. 

Haarlem  1492.  Hall  (Württemberg)  151 1.  HaUe  1474.  Hamburg  1410,  14S3. 
Hannover  1531.     Heilbronn   1525.     Hersfeld   iS^S-     Höxter  1514. 

Joachimsthal   1525. 

Kaiserbberg  (Elsafs)  1525.  Kamenz  1508 — 151 1.  Kaufbeuren  1525.  Kiensheira 
(Elsafs)  1525.  Kitzingen  1525.  Köln  1482,  1513,  1525.  Kolmar  1525.  Konstanz 
1429,   15  IG. 

Langensalza  1525.  Leipheim  (Bayern)  1525.  Leipzig  1492  und  1514.  Leoben 
(Steiermark)  1525.  Limburg  1525.  Linnich  (Rheinprovinz)  15 13.  Lippstadt  1525. 
Lübeck  1513,   1529  ff.     Lüttich   1513. 

Magdeburg  1524,  1525.  Mainz  141 1 — 1444.  Markgröningen  (Württemberg)  1525. 
Marktbibart  (Ostfranken)  1525.  Meiningen  1525.  Memmingen  1525.  Mergentheim  1525. 
Minden  1525.  Mülhausen  i.  E.  1525.  Mühlhausen  i.  Th.  1525.  Münster  (Westfalen) 
1525.     Murau  (Steiermark)   1525. 

Naumburg  a.  S.  1460,  1470,  1525.  Neumarkt  (Steiermark)  1525.  Neufs  15 13. 
Nördlingen  1525.     Nordhausen   15 12,  1525.     Nürnberg  152$. 

Oberehenheim  (Elsafs)  1525.  Oberwelz  (Kärnten)  1525.  Ochsenfurt  (Unterfranken) 
1525.     Öhringen   1525.     Öttingen   1525.     Osnabrück  1488,  1525. 

Paderborn  1525.  Pirna  (Sachsen)  15 12,  15 19.  Pöfsneck  1525  *).  Prenzlau  (Bran- 
denburg)  1426. 

RappoltSN^^eiler  (Elsafs)  1525.  Regensburg  15 12  und  1513,  1525.  Reichenweiher 
Elsafs)  1525.     Rostock  1487  — 149 1.     Rothenburg  a.  T.  1525. 

Salzburg  1522,  1525.  Salzwedel  1429.  Sangershausen  1525.  Schladming  (Steier- 
mark) 1525.  Schlettstadt  1510,  1525.  Schmalkalden  1525.  Schneeberg  1524.  Schweid- 
nitz  1520.  Schwein  fürt  1513,  1525.  Soest  1525.  Speyer  1512,  1525.  Stadtschwarzach 
(Franken)  1525.  Suufen  (Breisgau)  1525.  Stendal  1429,  1488,  1530.  Stralsund  1532 
bis   1537.     Stuttgart  1525.     Sulz  (Elsafs)   1525. 

Treuenbrietzen  (Brandenburg)   1420.     Trient  1525.     Trier  1525. 

Ulm  15 12,   1525.     Utrecht  1525. 

Wassertrüdingen  (Bayern)  1525.  Weinsberg  1525.  Weifsenburg  i.  E.  152$.  Wimpfen 
1525.     Windsheim   1525.     Worms  1513,   1525. 

Zwickau  Anfang  des  XVI.  Jahrhunderts  und   1525. 

1)  C.  W.Zöllner,  Geschichte  der  Fabrik-  und  Handelsstadt  Chemnitz  {\%%o\  S.  165. 

2)  Kurfürst  Johann  zu  Sachsen  bestätigt  6.  Januar  1527  der  Stadt  Pöfsneck  ihre 
Rechte  und  Privilegien,  deren  sie  sich  durch  die  Teilnahme  am  Bauemanfruhr  verlustig 
gemacht  hatte.  S.  Joh.  Ad.  v.  Schultes,  Diplomatische  Geschichte  des  Fürstentums 
Sachsen-Coburg-Saal/eld.     Urkundenbuch  zum  I.  Bd.  (1820),  S.  112,  Nr.  CXI. 


—     31     — 

Billgegangene  Bficher. 

Krones,  Fr.  v.:  Styriaca  und  Verwandtes  im  Landespräsidialarchiv  und 
in  der  k.  k.  Studienbibliothek  zu  Salzburg  [=  Veröfifentlichungen  der 
Historischen  Landes  -  Kommission  für  Steiermark  XIV].  Graz  1901, 
63  S.  8«. 

Tclting,  A. :  Verslag  omtrent  de  oude  archieven  van  Suriname  en  Cura- 
re, uitgebracht  aan  den  minister  van  kolonien  [==  overdruk  uit  de 
„Verslagen  omtrent  's  Rijks  oude  archieven  1900"].     44  S.  8**. 

Derselbe:  Bronnen  voor   de  geschiedenis   van   de  Nederlandsche  Antillen 
in  het  Rijks-archief  te  's  Gravenhage,  Amsterdam,  J.  H.  de  Bussy,   1901. 
18  S.  8**. 

Tille,  Annin :  Zum  Zülpicher  Stadtrecht  [=  Annalen  des  Historischen  Vereins 
für  den  Niederrhein,  73.  Heft  (1902),  S.   i — 24]. 

Duncker,  Ludwig:  Fürst  Rudolf  der  Tapfere  von  Anhalt  und  der  Krieg 
gegen  Herzog  Karl  von  Geldern  (1507  — 1508)  [=  Mitteilungen  des  Ver- 
eins für  Anhaltische  Geschichte  und  Altertumskunde  IX.  Bd.  (1901}, 
S.  97—182]. 

Faulhaber,  Carl:  Über  Handel  und  Gewerbe  der  beiden  Städte  Branden- 
burg im  XIV.  und  XV.  Jahrhundert  [=  3 2./ 3 3,  Jahresbericht  des 
Historischen  Vereins  zu  Brandenburg  a.  d.  H.  (1901),  S.  5 — 62 j. 

Geschichtsblätter  für  Waldeck  und  Pyrmont,  herausgegeben  vom 
Geschichtsverein  für  Waldeck  und  Pyrmont,  i.  Band.  Mengeringhausen, 
Weigel,   1901.     145  S.  8^ 

Kogler,    Ferdinand:   Das   landesfürstliche   Steuerwesen   in   Tirol   bis    zum 
Ausgange  des  Mittelalters.     I.  Teil:   Die   ordentlichen   landesfürstlichen 
Steuern.     Wien,  Karl  Gerolds  Sohn,   1901.     294  S.  8^. 
Lindner,  Theodor:  Wel^eschichte  seit  der  Völkerwanderung.    Erster  Band: 
Der  Ursprung  der  byzantinischen,  islamischen,  abendländisch-christlichen, 
chinesischen  und  indischen  Kultur.    Stuttgart  und  Berlin,  J.  G.  Cottasche 
Buchhandlung,   1901.     479  S.  8*^.     M.  5,50. 
Merz,  Walther:  Die  Rechtsquellen  des  Kantons  Argau.    Erster  Teil:  Stadt- 
rechte.    ErsterBand:  Das  Stadtrecht  von  Arau.    Arau,  H.  R.  Sauer- 
länder &  Co.,   1898.  558  S.  8^    M.   12.    Zweiter  Band:  Die  Stadt- 
rechte  von  Baden   und  Brugg    (gemeinsam   mit   Friedrich   Emil  Welti). 
Ebenda,   1900.     449  und  346  S.  8^ 
Meyer,  Eduard:  Geschichte  des  Altertums.     Vierter  Band:  Das  Perserreich 
und  die  Griechen.     Drittes  Buch:  Athen  446 — 404  v.  Chr.     Stuttgart 
und  Berlin,  J.  G    Cottasche  Buchhandlung,  1901.     666  S.  8^    M.  12. 
^tteilungen   des  Historischen  Vereins   für  Donauwörth   und 
Umgegend,    i.  Jahrgang.    Donauwörth,  Ludwig  Auer,  1902.  66  S.  8^. 
Müller,    Eugen:    Der    echte    Hiob.      Hannover,    Fr.    Rehtmeyer,     1902. 

40  S.  8«^. 
Raab,  C.  von:  Die  von  Kaufiungen,  eine  historisch  -  genealogische  Studie 
[=  70.  und  71.  Jahresbericht  des  Vogtländischen  Altertumsforschenden 
Vereins  in  Hoheoleuben  (1901),  S.  i — 75]. 
Schabart,  F.  W. :  Der  Hesicusstein  an  der  SchloOskirche  zu  Ballenstedt 
[=  Mitteilungen  des  Vereins  für  Anhaltische  Geschichte  und  Altertums- 
kunde, 9.  Bd.   (1901),  S.  42 — 48]. 


—     32      — 

Schuster,  Richard :  Zum  heutigen  Stande  unserer  landeskundlichen  Kennt- 
nisse, Vortrag  gehalten  am  lo.  Januar  1901  in  der  Gesellschaft  für 
Salzburger  Landeskunde.     Salzburg,  1901.     12  S.  8®. 

Sello,  Georg:  Der  Roland  zu  Bremen.  Bremen,  Max  Nöfsler,  1901. 
69  S.  8^. 

Suhle:  Der  Einflufe  des  Reformationswerkes  in  Anhalt  auf  den  Besuch  der 
Universität  Wittenberg  [=  Mitteilungen  des  Vereins  für  Anhaltische 
Geschichte  und  Altertumskuode,  9.  Bd.  (1902),  S.  218 — 229]. 

Thalhofer,  Frz.  Xav. :  Donauwörths  Volksschulwesen  bis  zum  Ende  des 
18.  Jahrhunderts  [=  Mitteilungen  des  Historischen  Vereins  für  Donau- 
wörth und  Umgegend,   i.  Jahrg.  (1902),  S.  3 — 53]. 

Schöttle:  Das  Postwesen  in  Oberschwaben  bis  zum  Jahr  1806  [=  Sonder- 
abdruck aus  „Post  und  Telegraphie  im  Königreich  Württemberg,  Denk- 
schrift aus  Anlafs  des  Ablaufs  der  50  jährigen  Verwaltung  durch  den 
Staat".     Stuttgart,   1901.     S.   71—83]. 

Voretzch,  Max:  Altenburg  zur  Zeit  des  Kaisers  Friedrich  Barbarossa 
=  Beilage  zum  Programm  des  Herzogl.  Realprogymnasiums  zu  Alten- 
)urg  i.  S.-A.,  Ostern  1891].     27   S.  4®. 

Voretzch,  Max:  Die  Beziehungen  des  Kurfürsten  Ernst  imd  des  Herzogs 
Albrecht  von  Sachsen  zur  Stadt  Altenburg,  ein  Gedenkblatt  nach  vier 
Jahrhunderten.     Altenburg  i.  S.-A.,  Stephan  Geibel  &  Co.,   1900.  8®. 

Adler,  Sigmund:  Zur  Rechtsgeschichte  des  adeligen  Grundbesitzes  in 
Österreich.    Leipzig,  Duncker  &  Humblot  1902.     167  S.  8®.    M.  4,40. 

Anzeiger  des  Germanischen  Nationalmuseums.  Jahrgang  1902. 
Heft  I  (Januar  bis  März).     8». 

Dorr,  Robert:  Die  Gräberfelder  auf  dem  Silberberge  bei  Lenzen  und  bei 
Serpin,  Kreis  Elbmg,  aus  dem  V. — VIL  Jahrhundert  nach  Christi  Geburt. 
[=  Festschrift  der  Elbinger  Altertumsgesellschaft  zur  Feier  ihres  fünf- 
undzwanzigjährigen Bestehens].     Elbing,  C.  Meifsner,   1898.    29  S.  4^. 

Derselbe:  Die  Elbmger  Altertumsgesellschaft  1873 — 1898.     48  S.  8<>. 

G  a  d  e ,  H. :  Historisch-geographisch-statistische  Beschreibung  der  Grafschaften 
Hoya  und  Diepholz  mit  den  Ansichten  der  sämtlichen  Kirchen  und 
Kapellen  beider  Grafschaften.  Hannover,  M.  &  H.  Schaper,  1901. 
I.   Bd.:  600  S.  80.     2.  Bd:  660  S.  8«.     M.   12. 

Götze,  A. :  Die  Steinsburg  auf  dem  Kleinen  Gleichberge  bei  Römhild, 
eine  vorgeschichtliche  Festung  [=  Neue  Beiträge  zur  Geschichte  deutschen 
Altertums,  herausgegeben  von  dem  Hennebergischen  Altertumsforschenden 
Verein  in  Meiningen,  16.  Lieferung].  Meiningen,  Brückner  &  Renner, 
1902. 

Gradmann,  Robert:  Der  Dinkel  und  die  Alamannen  [=  Württembergische 
Jahrbücher  für  Statistik  und  Landeskunde,  herausgegeben  vom  K.  Württ. 
Statistischen  Landesamt,  Jahrgang  1901,  S.  103  —  158].  Stuttgart,  Kohl- 
hammer,  1902.     40. 

Haebler,  K. :  Le  soi-disant  Cisianus  de  1443  et  les  dsianus  allemands 
[=  Le  Bibliographe  moderne,  sixi^me  ann^e  (1902).     S.   i — 40]. 

Hausmann,  R.:  Livländische  archäologische  Funde  in  der  Feme  [=  Sitzungs- 
berichte der  Gesellschaft  für  Geschichte  und  Altertumskunde  der  Ostsee- 
provinzen Rufslands  aus  dem  Jahre  1901,  S.   125 — 145]. 

Herausgeber  Dr.  Annin  Tille  in  Leipzif.  —  Druck  und  Verlag  von  Friedrich  Andreas  Perthes  in  Gotha. 


Deutsche  Ceschichtsblätter 

Monatsschrift 


lur 


Forderung  der  landesgeschichtlichen  Forschung 

IV.  Band  November  1902  2.  Heft 


Zur  Geschichte   der  landesgeschichtlichen 

Forschung  in  Ltothringen 

Von 
Ernst  Müsebeck  (Metz)  ^). 

Jeder,  der  sich  mit  der  territorialen  Geschichte  Lothringens  be- 
schäftigen will,  sieht  sich  noch  jetzt,  solange  nicht  die  Urkunden 
oder  ausführliche  Regesten  zur  Entwickelung  der  einzelnen  Bestand- 
teile oder  Institutionen  des  Landes  vorliegen,  auf  die  vornehmsten 
Zeugen  lothringischer  Landesgeschichtschreibung  im  XVII.  und 
XVni.  Jahrhundert  angewiesen:  auf  Meurisse,  Calmet  und  die  Bene- 
diktiner Frangois  imd  Tabouillot  *).  Abgesehen  von  den  zahlreichen, 
seitdem  nicht  wieder  veröffentlichten  Urkunden  besitzen  sie  einen 
dauernden  Wert  als  Quelle:  sie  geben  eine  grofse  Anzahl  von  Über- 
resten jeder  Art  historischer  Tatsachen  oder  Zustände  wieder,  die 
seitdem  verloren  gegangen  sind,  und  berichten  über  sie.  Je  nachdem 
die  Verfasser  sich  den  Vorwurf  zu  ihrer  Arbeit  gewählt  haben,  tritt 
die  Darstellung  der  Geschichte  des  Bistums  Metz,  des  Herzogtums 
Lothringen  oder  der  Stadt  Metz  mit  den  zahlreichen  geistlichen  Stif- 
tungen in  den  Vordergrund  ihrer  Erzählung  und  ihrer  Quellensamm- 
lungen. Am  umfassendsten  gedachte  Dom  Calmet  seine  Aufgabe  zu 
lösen;  allein  was  seine  Arbeit  an  Ausdehnung  auf  die  einzelnen  poli- 
tischen Gebilde  gewann,  verlor  sie  an  Einheitlichkeit  der  Auffassung 

i)  Vgl.  über  die  periodische  Literatur  Lothringens  diese  Zeitschrift  Bd.  III, 
S.  121  ff.     Eingehender  konnte  hier  nur  die  Literatur  seit    1870  berücksichtigt  werden. 

2)  Meurisse,  Histoire  des  evesques  de  Ve'glise  de  Metz,  Metz  1634.  Dom 
Calmet,  Histoire  eccUsiasttque  et  civile  de  Lorraine,  3  Bde.,  Nancy  1728;  2.  Aufl. 
unter  dem  Titel  Histoire  de  Lorraine^  Nancy  1745  ff.;  sie  wurde  im  Auftrage  des  Herzogs 
Leopold  unternommen.  Histoire  de  Metz  par  des  religieux  ben^dtctins  de  la  congr^' 
gstion  de  St,'Vanne,  Metz  1769/ 1790.  Die  Geschichte  der  Stadt  ist  bis  zum  Jahre 
1733  geführt,  dem  Todesjahr  des  Bischofs  Coislin.  Die  3  letzten  Bände  enthalten  die 
im  3.  Bande  begonnenen  preuves  —  im  ganzen  2722  Quartseiten  —  bis  zum  Jahre 
1545.  —  Fär  die  Geographie  des  Landes  ist  noch  zu  erwähnen:  Durival  rain6, 
Description  de  la  Lorraine  et  du  BarroiSy  Nancy  1778/83,  3  Bde.  und  i  Ergänzungsband. 

3 


—     34     — 

und  Durchführung,  so  dafe  sie  an  historiographischem  Wert  hinter  der 
Geschichte  der  Stadt  Metz  zurücksteht. 

Im  Jahre  1790  erschien  der  sechste  Band  der  Histoire  de  Metz; 
1793  erfolgte  die  Auflösung  der  Acaddmie  royale  de  Metz.  Damit 
hatte  auch  die  territoriale  Geschichtschreibung  in  Lothringen  vor- 
läufig em  Ende  erreicht.  Die  Zeiten  der  Revolution,  des  Kaiserreichs 
und  der  Restauration  mit  ihren  auf  das  allgememe  gerichteten  Ten- 
denzen waren  nicht  im  stände,  der  landesgeschichtlichen  Forschimg 
die  Anregung  zu  geben,  die  von  dem  katholischen  Klerus  des  XVIII. 
Jahrhunderts  ausgegangen  war  und  der  wir  jene  Arbeiten  verdanken. 
Der  Gedanke  der  Zentralisation  hatte  die  Bevölkerung  zu  sehr  durch- 
drungen, als  dafe  in  ihr  noch  der  Wert  und  die  Bedeutung  der  histo- 
rischen Teile  des  Landes  erkannt  worden  wäre.  Erst  in  den  vierziger 
Jahren  regte  sich  in  den  Provinzen  der  Widerwille  gegen  diese  uni- 
forme Gestaltung,  die  keine  Rücksicht  auf  die  individuellen  Eigen- 
heiten der  Teile  nahm.  Damit  war  ein  Anstofs  zur  territorialen  Ge- 
schichtschreibung gegeben,  mochte  ihre  Bedeutung  zunächst  auch 
nur  in  ihrem  Verhältnis  zur  allgemeinen  Landesgeschichte  erkannt 
werden  *).  In  dieser  Einschränkung  liegt  zugleich  der  stark  subjektive 
Charakter  begründet,  der  allen  folgenden  zusammenfassenden  Dar- 
stellungen von  französischer  Seite  eigen  ist;  in  ihnen  tritt  mehr  oder 
weniger  der  französisch-nationale  Standpunkt  als  das  allein  berechtigte 
Prinzip  für  die  Darstellung  der  lothringischen  Landesgeschichte  hervor. 

So  konnte  Aug.  Digot  nach  der  Begründung  der  Socidte  d'ar- 
cheologie  lorraine  zu  Nancy  und  bei  dem  Interesse,  das  die  histo- 
rischen Studien  im  Gebiete  des  ehemaligen  Lothringen  fanden,  es 
unternehmen,  eine  umfassende  Geschichte  des  Landes  zu  veröffent- 
lichen *).  Seine  Arbeit  erlangte  für  die  folgenden  Jahrzehnte  die 
gleiche  Bedeutung  wie  die  Calmets  für  das  XVIII.  Jahrhundert.  Dessen 
weitläufige  Anlage  teilte  es  nicht;  die  Geschichte  der  Bistümer  blieb 
ganz  unberücksichtigt,  die  von  Bar  wurde  nur  in  ihren  ersten  Anfangen 
berührt.  Die  Entwickelung  des  Herzogtums  Lothringen  findet  in  aus- 
führlichster Weise  ihre  Darstellung,  so  dafe  die  Fülle  der  Einzelheiten 
oft  die  Erkenntnis  des  Zusammenhanges  vermissen  läfst.  Auf  ihn 
gehen  alle  folgenden  französischen  und  deutschen  Darstellungen  bis 
auf  Derichsweiler  zurück  ^). 

• 

i)  Vitct    bei    der   Anzeige   von   Haussonvilles   unten   angeführtem   Werk:   L'historte 
provinciale  bün  comprise  doit  servir  de  contröU  ei  de  preuve  ä  l'historte  genirale, 

2)  Aug.  Digot,  Histoire  de  Lorraine^  Nancy  1856,  6  Bde.,  bis   1766. 

3)  Es   seien   von   französischen  DarsteUtingen  nur  erwähnt:  Victor   de  Henrion^ 


—     35     — 

Mit  dem  Anspruch  eine  Geschichte  des  Landes  Lothringen  zu 
geben,  tritt  J.  B.  Ravold  auf  den  Plan*).  Cette  histoire  (de  l'an- 
cienne  LorraineJ  tCa  ^t^  jtisqu'ä  präsent  qu'artstocrattque  et  reit- 
gieuse,  si  je  puis  m'exprtmer  ainsi;  fai  pe?tsä  qu'il  serait  bon  de 
la  rendre  populatre,  c'est  ä  dire  de  faire  mar  eher  de  front  V  histoire 
de  la  nation  et  celle  des  princes,  qui  Vont  gouvernäe.  Von  einer 
Verwirklichung  dieser  Absicht  bleibt  seine  Arbeit  weit  entfernt.  Sie 
besteht  gröfstenteils  in  der  Aneinanderreihung-  von  Auszügen  anderer 
Werke,  besonders  von  Lepage,  B^in  und  Calmet,  die  durch  seine 
doktrinäre  politische  Anschauung  eines  ultraliberalen  Franzosen  zu- 
sammengehalten werden.  In  seiner  Einteilung  bringt  er  es  fertig,  auch 
die  Geschichte  der  Bistümer  den  Regierungszeiten  der  Herzöge  ein- 
zugliedern. Von  der  Auffassung  der  Geschichte  als  einer  Entwicke- 
lung  zeigt  sich  keine  Andeutung. 

Die  beste  Einleitung  in  die  politische  Geschichte  des  Herzogtums 
Lx}thringen  bildet  die  kleine,  unter  dem  anspruchslosen  Titel  Räcits 
lorrains  auftretende  Geschichte  Lothringens  und  Bars  von  dem  ehe- 
maligen recteur  de  Tacadimie  de  Nancy,  E.  Mourin,  durch  dessen 
Bemühungen  eine  Annäherung  der  Fakultäten  daselbst  zu  stände  kam. 
Freilich  beschränkt  sie  sich  vollkommen  auf  die  politische  Geschichte 
im  engsten  Sinne  *),  und  will  nur  ein  Bild  der  Vorgänge  geben,  unter  denen 
sich  der  allmähliche  Anfall  des  Landes  an  Frankreich  vollzogen  hat. 

Von  deutscher  Seite  war  bis  vor  kurzem  noch  keine  Arbeit  vor- 
handen, die  die  allgemeine  Geschichte  Lothringens  in  ihrem  Gesamt- 
iim£ang  in  originaler  Weise  dargestellt  hätte;  denn  Huhn  und  West- 
phal  begnügten  sich  damit,  die  erschienenen  französischen  Hauptwerke 
mit  einem  deutsch-patriotischen  Firnis  zu  überziehen  ^).  Erst  Derichs- 
wcüer  hat  diese  Aufjgabe  zu  lösen  versucht  *).    Eine  andere  Frage  ist 

Wxtoire  populatre  de  la  Lorraine  d/dt/e  ä  la  France,  Paris  1880,  nnd  vorher:  Victor 
deSaintManris,  £iudes  historiques  sur  Vancienne  Lorraine,  2  Bde.,  Nancy  1861.  — 
Zwttcfaea  Calmet  nnd  Digot  fällt  E.  A.  6  6giD,  Histoire  des  duchds  de  Lorraine  ei  de 
Bor  et  des  trois  evichis,  Nancy -Paris   1833. 

i)  J.  B.  Ravold,  Histoire  democratique  et  anecdotique  des  pays  de  Lorraine ,  de 
Bar  et  des  Trois-Ev^ches  depuis  les  temps  plus  recul/s  jusqu'ä  la  r Evolution  fr ancaue, 
4  Bde^  Paris -Nancy  1889/90. 

2)  Ernest  Moarin,  R/cits  lorrains.  Histoire  des  ducs  de  Lorraine  et  de  Bar, 
Pkris- Nancy  1895.  Von  kulturgeschichtlicher  Entwickelang  handelt  nur  Kapitel  II:  la 
conuDsne  en  Lorraine:  la  loi  de  Beaamont  (17  Seiten!). 

3)  H.  Th.  Huhn,  Geschichte  Lothringens,  2  Bde.,  Berlin  1877/78  und  Wcst- 
phal,  GeuhichU  der  Stadt  Metz,  3  Bde.,  Metz  1875/78. 

4)  H.  Derichswciler,  Geschichte  Lothringens,  2  Bde.,  Wiesbaden  1901 ;  vgl. 
<lie  nähere  Begrfindang  meines  Urteils  in  der  Historischen  Vierteljahrschrift  Jahrgang  1903. 

8* 


—     36      — 

es  jedoch,  ob  diese  seine  originale  Lösung*  eine  objektiv  richtige  Ant- 
wort gibt.  Von  einer  Geschichte  des  Landes  Lothringen  kann  auch 
hier  nicht  die  Rede  sein.  Der  Verfasser  gibt  im  wesentlichen  eine 
Geschichte  des  Herzogtums  Lothringen.  Der  Darstellung  der  zustand- 
liehen  Entwickelungsreihen  sowie  der  Geschichte  der  Bistümer,  der 
Stadt  Metz,  der  grofeen  Abteien  und  der  kleinen  Territorien  in  ihrer 
Eigenartigkeit  und  in  ihrer  Wirksamkeit  auf  die  Geschicke  des 
ganzen  Landes,  besonders  im  Mittelalter,  kommt  nicht  die  selbständig'e 
Bedeutung  zu,  die  ihr  gebührt.  Freilich  darf  nicht  aufser  acht  ge- 
lassen werden,  dafs  es  zu  ihrer  Feststellung  noch  weitgehender  Einzel- 
untersuchungen bedarf.  Die  Darstellung  der  politischen  Geschichte 
in  der  Neuzeit  leidet  aufserdem  stark  unter  der  verständnislosen  Ver- 
urteilung der  Reformation  und  ihrer  Folgen,  sowie  der  idealen  aber 
stark  subjektiven  Vorliebe  des  Verfassers  für  die  kaiserlich  habs- 
burgische  Politik  in  ihrer  angeblichen  nationalen  Selbstlosigkeit.  Trotz 
dieser  Mängel  bildet  die  Arbeit  Dericbsweilers  einen  bedeutenden 
Fortschritt  in  der  Historiographie  Lothringens,  weil  sie  zum  ersten  Male 
versucht,  die  Geschichte  des  Herzogtums  aufser  in  ihrer  eingehenden 
landesgeschichtlichen  Würdigung  in  ihrer  universalen  Bedeutung  zu 
erfassen  und  die  Bevölkerung  als  Nation  zu  verstehen.  Sie  wird  stets 
ihren  selbständigen  Platz  in  der  Geschichtsschreibung  Lothringens  be- 
haupten, auch  wenn  die  Bedeutung  des  Herzogtums  gegenüber  den 
Bistümern  und  der  Stadt  Metz  nach  weiteren  Forschungen  in  manchen 
Linien  für  die  allgemeine  Entwickelung  des  Landes  zurücktreten  wird. 
Nach  dem  Friedensschlüsse  von  1871  brachte  die  deutsche  Re- 
gierung von  Anfang  an  der  Erforschung  der  Vergangenheit  der  beiden 
Länder  grofees  Verständnis  entgegen.  Ihrer  Initiative  verdanken  sie 
es,  dafs  beide,  Elsafs  und  Lothringen,  auf  dem  Gebiete  der  Altertums- 
kunde eine  Beschreibung  ihrer  Denkmäler  besitzen,  die  in  einzelnen 
Stücken  berichtigt  werden  mag,  als  Ganzes  aber  ein  monumentales 
Denkmal  deutschen  wissenschaftlichen  Fleifses  bezeichnet.  Bereits  1873 
wurde  F.  X.  Kraus  von  dem  damaligen  Oberpräsidenten  v.  Möller 
damit  beauftragt,  ein  Inventar  der  Kunstdenkmäler  anzulegen  und  da- 
mit für  die  Altertumskunde  des  Landes  eine  dauernde  Grundlage  zu 
schaffen.     Unter    vielseitiger  Beihilfe   im   Lande  wurde   das  Werk  in 

jahrzehntelanger  Arbeit    vollendet  *).      Nicht    minder    wichtig   für  die 

i)  Fr.  X.  Kraus,  Kunst  und  Altertum  in  Elsa/s  -  Lothringen  ^  Bd.  3:  Kunst 
und  Altertum  in  Lothringen.  Strafsburg  1889.  —  Daru  noch  eine  vom  Ministerium 
reich  subvenüonicrte  Arbeit  von  W.  Schmitz,  Der  mittelalterliche  Profanbau  in 
Lothringen,  Düsseldorf  1898.  Vgl.  auch  die  kritische  Zusammenstellung  Über  die 
Denkmälerinveotare  von  Polaczek  in  dieser  Zeitschrift  L  Bd.,  S.  286. 


—     37     — 

Landesgeschichte  sind  die  Veröffentlichung-en  des  statistischen  Bureaus 
des  kaiserlichen  Ministeriums  für  Elsafs -Lothringen  in  dem  letzten 
Jahrzehnt.  Durch  sie  ist  die  politische  Geographie  und  die  Geschichte 
der  territorialen  Gestaltung  des  Landes  in  grofsen  Zügen  endgültig 
fcstgel^  *). 

So  wurde  und  wird  seitens  der  Regierung  alles  getan,  um  die 
Geschichte  des  lothringischen  Landes  nach  jahrhundertelanger  Trennung 
dem  Forschungsgebiete  der  deutschen  Wissenschaft  wieder  näher  zu 
bringen.  Dafe  diese  Bemühungen  nicht  von  so  schnellem  Erfolge 
wie  im  Elsafs  gekrönt  wurden,  liegt  einmal  an  der  innigeren  Ver- 
bindung des  Landes  mit  Frankreich  durch  Sprache,  Sitten  und  Kultur, 
dann  an  dem  Einflufs  der  Strafsburger  Hochschule  auf  die  Erforschung 
der  Geschichte  des  elsässischen  Landes,  die  von  den  Vertretern  der 
geschichtswissenschaftlichen  Fächer  von  Anfang  an  mit  zu  ihren  vor- 
nehmsten Aufgaben  gerechnet  wurde.  Erst  mit  der  Begründung  der 
Gesellschaft  für  lothringische  Geschieh  te  und  Altertums- 
kunde 1888,  die  sich  bald  zum  Mittelpunkte  aller  historischen 
Forschungen  des  Landes  herausbildete,  ist  eine  neue  Zeit  unbefangener, 
wissenschaftlicher  Tätigkeit  von  Einheimischen  und  Eingewanderten 
entfaltet  worden,  die  es  sich  angelegen  sein  lassen,  durch  Einzel- 
untersuchungen und  Quellenpublikationen  die  Basis  zu  einer  allgemeinen 
Geschichte  des  Landes  immer  mehr  zu  verbreitem. 

Es  kann  hier  nicht  die  Aufgabe  sein,  alle  einzelnen  Untersuchungen 
namentlich  aufzuführen.  Das  Jahrbuch  der  Gesellschaft  mit  seinen 
Verzeichnissen  von  neuen  Erscheinungen  zur  lothringischen  Geschichte 
und  seinen  Besprechungen  bietet  reiche  Anhaltspunkte  in  allen  Einzel- 
fragen.   Es  kommt  darauf  an,  einige  besonders  charakteristische  Unter- 


I)  Statutische  Mitteilungen  über  Elsa/s-Lothringen,  Heft  28 :  Die  alten  Territorien 
des  Bezirkes  Lothringen  nach  dem  Stande  vom  /.  Januar  164S.  L  Teil.  Strafsbarg 
1898.  —  Aofserdem  ist  ein  Lieferungswerk  im  Erscheinen  begriffen:  Das  Reichsland 
Etsafs' Lothringen.  Landes-  und  Ortsbeschreibung^  herausgegeben  von  demselben  Bureau; 
Strafsburg.  Es  wird  3  Teile  enthalten :  i)  Die  allgemeine  Landesbeschreibung  in  einzelnen 
AsfUlzea.  2)  Eine  Statistik  des  Landes.  3)  Statistisch  -  geschichtliches  Ortsverzeichnis. 
Der  erste  nod  der  zweite  Teil  sind  vollendet  Hingewiesen  sei  hier  vor  allem  aaf  die 
„Bcitrige  mr  Landesgeschichte",  S.  250 — 335,  die  von  dem  Ministerialrat  Freiherm 
da  Prel  bearbeitet  wurden  und  sich  (Ur  Lothringen  als  änfserst  sorgsam  nnd  inhaltsreich 
enrciseD.  Der  3.  Teil  ist  im  Erscheinen  begriffen.  —  Für  die  Topographie  des  Landes 
kommt  aniserdem  in  Betracht:  Dictionnaire  topographique  de  la  France:  Departement 
de  la  Moselle  par  de  Bonteiller,  Paris  1874,  de  la  Meurthe  par  Henri  Lepage, 
Paris  1862,  de  la  Meuse  par  F61ix  Li^nard,  Paris  1872. 


—     38     — 

suchungen  hervorzuheben,  die  bis  dahin  allgemeingültige  Anschauting'en 
widerlegt  und  der  Forschung  neue  Wege  gewiesen  haben. 

In  den  Vordei^rund  der  prähistorischen  Forschung  ist  seit  den 
Vorbereitungen  zum  Anthropologenkongrefs  1901  in  Metz  die  Frage 
nach  dem  Ursprung  und  der  Bedeutung  der  Briquetage  getreten,  deren 
Lösung  unter  dem  Aufwände  grofser  Mittel  seitens  der  Gesellschaft 
für  lothringische  Geschichte  und  Altertumskunde  in  Angriff  genommen 
wurde  und  noch  fortgesetzt  wird  ^).  Ihre  unausgesetzten  Nachfor- 
schungen ermöglichen  eine  immer  eingehendere  Kenntnis  der  kulturellen 
Verhältnisse  Lothringens  als  eines  Grenzlandes  in  römischer  und  früh- 
germanischer Zeit,  die  in  den  letzten  Jahrzehnten  durch  eine  Reihe 
von  Funden  auf  das  glücklichste  vermehrt  wurde  *). 

Wesentliche  Förderung  haben  in  dem  letzten  Jahrzehnt  die  ethno- 
graphischen Studien  erfahren,  die  die  allmählichen  Verschiebungen  der 
Nationalitätsgrenzen  festzustellen  suchen.  Während  This  durch  seine 
Untersuchung  die  jetzige  Sprachgrenze  zwischen  Germanen  und  Ro- 
manen feststellte,  unternahmen  es  Schiber  und  Witte  in  ihren  ver- 
schiedenen Arbeiten,  die  allmähliche  Verschiebung  der  Sprachgrenze, 
den  Verlauf  der  deutschen  Siedelung  in  Gallien  festzulegen,  bis  im 
XVI.  Jahrhundert   die    Gegenbewegung   einsetzte  *).     Mit  diesen   For- 


i)  Vgl.  die  AusfUhningen  J.  B.  Keunes  im  Jahrbach  der  Gesellschaft  XIII,  S.  366 ff. 
Das  Briquetage  im  oberen  Seilletal;  dazu  auch  Protokolle  der  Generalversamm- 
lung des  Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichts-  und  Altertumsvereine  zu  Metz^  Berlin 
i8go.  Auch  die  dort  behandelten  Mare  und  Mardellen  hat  die  Gesellschaft  von  neuem 
in  den  Kreis  ihrer  Untersuchungen  gezogen.     Vgl.  auch  diese  Zeitschrift  IIL  Bd.,  S.  88. 

2)  Im  einzelnen  sind  die  jährlichen  Fundberichte  im  Jahrbuch  zu  vergleichen.  Dazu 
die  zusammenfassende  Darstellung  von  R.  Forrer,  Zur  Ur^  und  Frühgeschichte  Elsa/s- 
Lothringens,  Strafsburg  1901.  Aufserdem  sei  im  einzelnen  hervorgcboben :  J.  B. 
Keune,  Gallo-römische  Kultur  in  Lothringen  und  den  benachbarten  Gegenden,  Jahr- 
buch IX.  G.  Wolfram,  Die  räumliche  Ausdehnung  von  Metz  zu  römisch -früh- 
mittelalterlicher Zeit ^  Jahrbuch  IX;  dazu  Wolfram,  Die  räumliche  Eniwickelung 
von  Metz  in  „Die  XXXII.  allgemeine  Versammlung  der  deutschen  Gesellschaft  für  An- 
thropologie, Ethnologie  und  Urgeschichte  in  Metz  1901**,  München  1902  und  seinen 
Fundbericht  im  Jahrbuch  XIII;  F.  v.  Fisenne,  Das  Mithräum  zu  Sarburg  in  Lo- 
thringen, Jahrbuch  VIII. 

3)  C.  This,  Die  deutsch-französische  Sprcuhgrenze  in  Lothringen,  Beiträge  zur 
Landes-  und  Volkskunde  von  Elsafs-Lothringen,  Heft  i,  Strafsburg  1889.  A.  Schiber, 
Die  fränkischen  und  allemannischen  Siedelungen  in  Gallien ,  Strafsburg  1894;  der».: 
Die  Ortsnamen  des  Metzer  Landes  und  ihre  geschichtliche  und  ethnographische  Be- 
deutung, Jahrbuch  IX;  ders. :  Germanische  Siedelungen  in  Lothringen  und  England, 
Jahrbuch  XII.  Hans  Witte,  Zur  Geschichte  des  Deutschtums  in  Lothringen,  Strafs- 
burger  Inaugural-Dissertation ,  Metz  1890;  ders.:  Deutsche  und  Keltoromanen  in  Lo- 
thringen, Beiträge  zur  Landes-  und  Volkskunde  von  Elsafs-Lothringen,    Heft  1$,   Strafs- 


—     39     — 

schimgen  berührt  sich  eine  Gruppe  von  Marburger  Dissertationen, 
die  augenscheinlich  der  Anregung*  von  Stengel  ihre  Entstehung  ver- 
danken, sowie  die  Arbeiten  Hoffmanns,  Keuffers  und  Zdliqzons  ^),  durch 
die  die  Berührung  und  gegenseitige  Durchdringung  germanischer  und 
romanischer  Dialekte  auf  dem  lothringischen  Boden  gekennzeichnet 
wird.  Einer  weit  geringeren  Anziehungskraft  erfreut  sich  bei  der 
neueren  Forschung  die  mit  der  Sprachgeschichte  so  eng  verknüpfte 
Sammlung  volkstümlicher  Sagen,  Sitten  und  Gebräuche,  die  Kultur- 
geschichte eines  Volkes  im  engeren  Sinne.  Nur  Lerond  hat  es  unter- 
nommen, in  seinen  Heften  die  verschiedenen«  Seiten  des  Volkslebens 
in  Lothringen  wiederzugeben  und  seine  in  ihrer  reichen  Mannig- 
faltigkeit so  schönen  Erscheinungen  einer  Epoche  zu  erhalten,  die  lange 
Zeit  darauf  ausging,  das  Individuelle  einzelner  Volksklassen  und  ein- 
zelner in  sich  geschlossener  Landschaften  zu  verwischen  *). 

Eine  wichtige  und  notwendige  Ei^änzung  erfahren  die  allgemeinen 
Darstellungen  der  lothringischen  Geschichte  durch  die  neuesten  rechts- 
geschichtlichen Publikationen  von  französischer  und  deutscher  Seite. 
Vor  allem  Bonvalot  imd  Sadoul  haben  es  sich  in  ihren  Studien  an- 
gelegen sein  lassen,  diese  Fragen  einer  eingehenden  Erörterung  zu 
unterziehen.  Leider  verraten  sie  eine  nicht  genügende  Kenntnis  der 
deutschen  Literatur,  die  bei  Bonvalot  zu  dem  verkehrten  Ergebnis 
führen  konnte,  dais  die  Gerichtsorganisation  Lothringens  eine  durch- 
aus originale  sei  *).     Mit  dem  staatsrechtlichen  Verhältnis  Lothringens 

borg  1891 ;  ders.:  Das  deutsche  Sprachgebiet  Lothringens  und  die  Wandelungen  in 
Fonchangen  zur  deutschen  Landes-  und  Volkskunde  ed.  Kirchhoff  VIU,  6;  ders.: 
Deatscbe  Geschichtsblätter  HI,  S.  153  ff.  Ortsnamenforschung  und  Wirtschaftsgeschichte, 
Diza  Wolfram,  Die  Entwickelung  der  Nationalitäten  und  der  nationalen  Grenzen 
in  Lothringen^  im  XXXIL  Jahresberichte  des  Anthropologentages  (s.  o.),  S.  7 8  ff. 

i)  L.  Z^liqzoo,  Lothringische  Mundarten^  Metz  1889  (Ergänzungsheft  zum  Jahr- 
buch I);  ders.:  PatoiS'Lieder  aus  Lothringen^  Jahrbuch  XIIT.  Dazu:  Chan  Heurlin  ou 
les  ßanfotUes  de  Fauchen,  poeme  en  patois  messin  (1785/87),  herausgegeben  von 
A.  Brandes  und  D.  Mory  mit  Ulustrationen  von  Victor  Masson,  Nancy  1900.  — 
K.  Hoffmann,  Laut*  und  Flexionslehre  der  Mundart  der  Moselgegend  von  Ober- 
kam  bis  zur  Rheinprorvinz,  Jahrbuch  XU.  Keuffer,  Die  Metzer  Stcultkanzleien  und 
ihre  Bedeutung  für  die  Geschichte  des  „Romans**,  —  Jene  Dissertationen  beschäftigen 
sich  vor  aUem  mit  Geste  des  Loherains, 

2)  Lerond,  Lothringische  Sammelmappe  I — X.    Metz,  1890 — 1901. 

3)  Edouard  Bonvalot,  Le  Tiers-Etat  d'apris  la  charte  de  Beaumont  et  ses 
ßUales,  Paris  1884;  ders.:  Les  feaute's  en  Lorraine,  Paris  1889  und  Htstoire  du  droit 
et  des  instituHons  de  la  Lorraine  et  des  trois  Evichü  (843—1789),  Paris  1895,  auch 
worden  von  ihm  herausgegeben :  „  Les  plus  principales  et  genirales  coustumes  du  duchi^ 
de  Lorraine *%  Paris  1878.  —  Charles  Sadoul,  Essai  historique  sur  les  institutions 
iudicitttres  des  duchds  de  Lorraine  et  de  Bar  avant  les   reformes  de  Leopold  /,   Paris- 


—     40     — 

zum  Deutschen  Reich  beschäftigt  sich  die  Arbeit  von  Fitte  ').  Die 
Verbindung  mit  der  Wirtschaftsgeschichte  stellt  Darmstädter  mit  seinen 
trefflichen  Untersuchungen  über  die  Aufhebung  der  Leibeigenschaft 
her,  die  sich  jedoch  auf  das  Herzogtum  beschränken,  weil  die  Ver- 
hältnisse im  Gebiet  des  Bistums  und  der  Stadt  Metz  sich  ganz  anders 
gestaltet  hatten  *).  Ähnliche  Fragen  für  das  Mittelalter  hatte  früher 
schon  Sauerland  in  seine  Untersuchung  über  die  Immunität  von  Metz 
hineingezogen  '). 

Von  eigentlichen  wirtschaftsgeschichtlichen  Arbeiten,  die  es  sich 
zur  Aufgabe  gesetzt  haben,  die  Zweige  dieses  weiten  Gebietes  in  Mono- 
graphieen  darzustellen,  liegt  nur  das  Buch  von  Marcus  über  die  Glas- 
fabriken des  Bitscher  Landes  vor  *).  Es  dürfte  dies  eins  der  Gebiete 
sein,  dem  sich  die  lothringische  Geschichtsforschung  zunächst  zuzuwenden 
hätte.  Für  die  Agrarverhältnisse  im  späteren  Mittelalter  bietet  das 
Bezirksarchiv  mit  seinen  zahlreichen  Klosterarchiven  reichhaltige 
Quellen  dar  *). 

Am  gesichertsten  sind  wohl  die  Resultate,  die  auf  dem  Gebiete 
der  politischen  Geschichtschreibung  des  Herzogtums  Lothringen  durch 
die  neueste  Forschung  erzielt  sind.  Die  enge  Verbindung  des  Mittel- 
reiches Lothringen  im  frühen  Mittelalter  mit  den  beiden  Nachbar- 
reichen bringt  es  mit  sich,  dafe  diese  Verhältnisse  in  den  grofsen 
französischen  und  deutschen  Publikationen  für  diese  Zeit  auf  das  ein- 
gehendste berücksichtigt  sind.  Es  braucht  von  deutscher  Seite  nur 
auf  die  Jahrbücher  der  deutschen  Geschichte  verwiesen  zu  wer- 
den.    Französischerseits   kommen   die  Darstellungen   von  Parisot  und 

Nancy  1898.     Aufserdem  sei   von    früheren  Arbeiten   erwähnt:   E.  Michel,   Biographie 
du  Parlement  de  Metz^  Met*  1852  und  Histoire  du  Parlement  de  Metz. 

i)  S.  Fitte,  DcLS  staatsrechtliche  Verhältnis  des  Herzogtums  Lothringen  zum 
Deutschen  Reiche  seit  dem  Jahre  1342,  Beiträge  zur  Landes-  nnd  Volkskunde  von  Elsafs- 
Lothringen,  Heft  14.  Strafsburg  1891 ;  dazu:  O.  Winckelmann,  Beiträge  zur  Ge- 
schichte der  staatsrechtlichen  Beziehungen  Lothringens  zum  Reich  im  16,  Jahrhundert^ 
Jahrbuch  II  nebst  Nachtrag  von  Wolfram. 

2)  P.  Darmstädter,  Die  Befreiung  der  Leibeigenen  in  Savoyen^  der  Schweiz 
und  Lothringen^  Strafsbnrg  1897. 

3)  H.  V.  Sanerland,  Die  Immunität  von  Metz  von  ihren  Anfängen  bis  zum 
Ende  des  XL  Jahrhunderts,  MeU  1877. 

4)  Ad.  Marcus,  Les  verreries  du  comte  de  Bitche,  Nancy  1887.  Nicht  so  syste- 
matisch durchgeführt  ist  P.  Weise,  Beiträge  zur  Geschichte  des  rämischen  Weinbaus 
in  Gallien  und  an  der  Mosel, 

5)  Es  sei  hier  für  das  französische  Gebiet  auf  den  umfassenden  Aufsatz  von 
A.  Bergerot  in  den  Annales  TEst  Bd.  XIII,  XIV,  XV  hingewiesen:  L' Organisation  et 
le  rigime  intirieur  de  chapitre  de  Rhniremont  du  XIII  au  XVIII  si^cle.  Für  das 
deutsche  Gebiet  fehlen  derartige  Untersuchungen  noch  völlig. 


—     41     — 

Lauer  in  Betracht  *),  die  beide  an  Zuverlässigkeit  nichts  zu  wünschen 
übiig  lassen;  bemerkt  sei  hier  ausdrücklich,  dafe  die  politische  Geo- 
graphie bei  Parisot  eingehend  berücksichtigt  wird.  Für  die  Geschichte 
des  Herzogtums  im  Mittelalter  bedarf  es  erst  noch  umfangreicher 
Quellenpublikationen ,  von  den  herzoglichen  Urkunden  liegen  bisher 
nur  die  des  Matthäus  IL  gesammelt  vor  ^).  Dagegen  hat  die  neuere 
Geschichte  des  Herzogtums  von  französischer  Seite  eingehende  Be- 
handlung gefunden,  es  genügt  hier  d'Haussonville ,  Baumont,  Robert, 
Boyi  und  Kaufmann  namentlich  anzuführen  *).  Für  die  mit  der  po- 
litischen Geschichte  engverbundene  Militärgeschichte  kommt  allein 
Lepage  *)  in  Betracht,  doch  sind  die  organisatorischen  Fragen  erneuerter 
Untersuchungen  bedürftig. 

In  ein  ganz  neues  Stadium  ist  seit  wenigen  Jahrzehnten  die 
Durchforschung  der  Geschichte  des  Bistums  Metz  und  der  kleinen 
Territorien  getreten.  Die  Arbeiten  Wichmanns,  Voigts  und  Sauer- 
lands geben  zum  ersten  Male  eingehende  Darstellungen  der  Geschichte 
einzelner  Bischöfe,  freilich  —  mit  Ausnahme  der  ersten  —  wohl  all. 
zusehr  in  ihrer  Beziehung  zur  politischen  Entwickelung,  und  Sauer- 
land nebst  Chatelain  suchen  in  ihren  Forschungen  den  Ursprung  der 
weltlichen  Macht  des  Bistums  aufzuhellen  *).  Einen  vielversprechenden 
Anfang  zur  Territorialgeschichte   der  kleinen  weltlichen   Gebilde  Lo- 


i)Rob.  Parisot,  Le  royaume  de  Lorraine  sous  les  Carolingüns  (843—923), 
Vasu  1899  nnd  Ph.  Lauer,  Le  Regne  de  Louis  IV.  d* Outre-Mer^  Paris  1900.  Selbst- 
verständlich sind  hier  alle  allgemeinen  Darstellungen,  vor  allem  anch  Calmet,  immer  in 
Betracht  zu  ziehen. 

2)  VgL  Dentsche  Geschichtsblätter  Bd.  III,  Hef^  5,  S.  124,  Anmerk.  2.  —  An 
Etnzelnntersnchangen  ist  zu  bemerken  H.  Witte,  Genealogische  Untersuchungen  zur 
Geschickte  Lothringens  und  des   Wesirich  im  Jahrbuch  V  und  VII. 

3)  Hanssonville,  le  comte  d',  Histoire  de  la  reunion  de  la  Lorraitte  ä  la 
Prtmce^  Paris  1854,  4  Bde.  F.  des  Robert,  Charles  IV  ei  Mazarin  1647  — 166 1, 
Naacj-Paris  1899.  H*  Kaufmann,  Die  Reunionskammer  zu  Metz,  Jahrbuch  XL 
H.  Baumont,  £tuäes  sur  le  rigne  de  Lhpold  duc  de  Lorraine  et  de  Bar  1697 — 1729, 
Paris-Nancy  1894.  P.  Boy6,  Stanislas  Leszczynski  et  le  troisüme  traite  de  Vienne, 
Paris  1898. 

4)  H.  Lepage,  Sur  l' Organisation  ei  les  instiiutions  miliiaires  de  la  Lorraine,  Paris 
1884.  Hingewiesen  sei  noch  auf  J.  Nollet-Fabert,  La  Lorraine  militairef  2  Bde., 
Nancy  1852,  Biographieen  der  aus  den  lothringischen  Departements  stammenden  Militärs. 

5)  Wichmann,  Adelöeri,  Bischof  v.  Metz  926 — 962.  Jahrbuch  III.  G.  Voigt, 
Bischof  Bertram  v,  Metz  1 1 80 —  1 2 1 2.  Jahrbuch  IV  u.  V.  Sauerland,  Geschichte 
des  Metzer  Bistums  wahrend  des  14,  fahrhunderts»  Jahrbuch  VI  u.  VI.  K.  Wein- 
mann, Bischof  Georg  von  Baden  und  der  Metzer  Kapitelstreit.  Jahrbuch  VI.  — 
Saaerland,  Die  Immunität  ^  vgl.  S.  40,  Anm.  3  und  V.  Chatelain,  />  comti  de 
Metz  et  la  vouerie  ipiscopole  du   VIIL  au  XIII  siecle,    Jahrbuch  X  u.  XlII. 


—     42     — 

thringens  bilden  die  Untersuchungen  von  Besler,  Ruppersberg,  Cha- 
telain  und  Lempfried  *) ,  während  sich  der  Fortschritt  der  Forschung" 
für  die  zahkeichen  bedeutenden  Abteien  des  Landes  nicht  so  günstig 
stellt  *).  Die  Untersuchungen ,  aus  früherer  Zeit ,  geben  mehr  bio- 
g-raphische  Notizen  einzelner  Äbte  als  ein  Bild  der  selbständigen  Ent- 
wickelung  dieser  kirchlichen  Gemeinwesen ,  suchen  archäologische 
Überreste  in  ihrer  lokalen  Bedeutung  festzuhalten  und  an  das  Tages- 
licht zu  fördern,  als  ihre  Stellung  in  der  Gesamtentwickelung  des  Lan- 
des darzulegen  ^).  In  der  französischen  Zeit  wandte  sich  die  Vorliebe 
der  Lokalforscher  oft  der  Geschichte  einzelner  Dörfer  oder  Ortschaften 
zu,  ohne  jedoch  das  Material  kritisch  zu  durchforschen.  Ein  zuver- 
lässiger und  sicherer  Führer  durch  die  Geschichte  der  Dörfer  um 
Metz  bietet  sich  in  der  Arbeit  Stünkels  dar,  die  hoffentlich  zu  weiteren 
Forschungen  auf  diesem  Gebiete  anregt  *). 

Eine  besondere  Stellung  in  der  Historiographie  Lothringens  nimmt 
die  Geschichte  von  Metz  ein.  In  ihr  zeigt  sich  am  deutlichsten  der 
Einflufs,  den  diese  Stadt  auf  die  Entwickelung  des  ganzen  Landes 
ausgeübt  hat.  Die  beiden  französischen  Geschichtsforscher  KlipflTel 
und  A.  Prost  haben  die  Grundlagen  zu  einer  kritischen  Geschichte  der 
Stadt  gelegt  *).     Auf  ihre  Arbeiten  werden  alle  Einzeluntersuchungen 

auch  in  Zukunft  zurückgreifen  müssen,  wenn  durch  Herausgabe  der 
Chroniken  der  Stadt  diese  Quellen  zu  ihrer  Geschichte  bis  zur  Ein- 
verleibung in  Frankreich  kritisch  gesichtet  und  untersucht  sind  *). 

i)  Besler,  Geschichte  des  Schlosses ^  der  Herrschaft  und  der  Stadt  Forbach, 
Forbach  1895.  Ruppersberg,  Geschichte  der  ehemaligen  Grafschaft  Saarbrücken, 
nach  Fr.  und  Ad.  Köllner  neu  bearbeitet  and  erweitert,  2  Bde.,  Saarbrücken  1899, 
1901.  V.  Chatelain,  Histoire  du  comte  de  Cr^hange,  Jahrbach  III,  IV,  V.  H.  L c m p - 
fried,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Herrschaft  Bitsch    1570— 1606.     Jahrbach  IV. 

2)  Urkondensammlungen  besitzen  wir  von  Gorze  in:  A.  D*Herbome%,  Cartalaire 
de  Vabbaye  de  Gorze,  Paris  1898  (Fondation  A.  Prost),  enthält  jedoch  keine  kritische 
Darchforschong  alles  Materials,  also  kein  Urkandenbach.  Über  St.  Amalf  vgl.  Wolfram, 
Kritische  Bemerkungen  zu  den  Urkunden  des  Arnulf sklosters ,  Jahrbuch  I  and  Müse- 
beck,  Die  Benediktinerabtei  St.  Arnulf  vor  Metz  in  der  ersten  Hälfte  des  Mittel- 
alters,  Jahrbach  XIII. 

3)  L.  Stünkel,  Ein  geschichtlicher  Streif zug  in  der  Umgegend  von  Metz 
(wissensch.  Beilage  zum  Jahresbericht  des  L3rzeams  zu  Metz  1898). 

4)  H.  Klipf  fei,  Les  parnizes  Messains,  Etüde  sur  la  republique  messine  du  XIII 
au  XVI  siicle,  Metz-Paris  1863;  ders. :  Une  episode  de  l' histoire  de  regime  municipal 
dans  les  villes  romanes  de  l'empire germanique,  1866.  A.  Prost,  Etudes  sur  l' histoire 
de  Metz,  Paris  1865;  ders.:  Le  patriciat  dans  la  citi  de  Metz,  Paris  1873;  ders.: 
Histoire  de  la  cathidrale  de  Metz  in  M^moires  de  la  soci^t6  d'arch6ologie  et  d'histoire 
de  la  Moselle  XVI ;  d  e  r  s. :  Les  institutions  judiciaires  dans  la  cite  de  Metz,  Paris-Nancy  1893. 

5)  Vgl.  S.  38,   Anm.  2    die  Arbeiten  Wolframs;    ders.:    Z>ie  älteste  Kathedrale  tu 


—     43     — 


Zum  Schlufs  sei  noch  für  genealogische  Forschungen  neben 
Siebmacher  auf  die  zahbreichen  französischen  Arbeiten  des  vorigen 
Jahrhunderts  und  die  neuen  trefflichen  Untersuchungen  von  Poirier 
hingewiesen  *). 


t^eform  des  geistliehen  Standes  naeh 
der  sogen.  (Reformation  des  Kaisers  SiQ^ 
mund  im  Iiiehte  gleiehzeitiger  t^eformpläne 

Von 
Heinrich  Werner  (Merzig) 

(Schlafs)  ^) 

Zum  Vergleich  seien  andere  Vorschläge  zur  Regelung  des  Ein- 
kommens der  Geistlichkeit  herangezogen. 

In  den  Reformanträgen  der  deutschen  Nation  ^)  wird  durch  den 
Vikar  von  Freising  die  Abschaffung  der  vacanciae,  die  zum  Vorteile 
der  Kurie  bestehen,  gefordert.  Papst  und  Kardinäle  sollen  entschädigt 
werden,  und  zwar  sollen  einige  in  dieser  Sache  erfahrene  Deputierte 
untersuchen,  si  patrtmonia  beati  Petri  eisdem  pro  sut  status 
decencta  ad  huiusmodt  onera  supportanda  sufficiat.  Sin  autem, 
provideatur  eis  per  regna  et  provincias  christianitatis.  Inwieweit 
diesem  Antrag  Rechnung  getragen  wurde,  wissen  wir  nicht,  aber  so  viel 
scheint  zuzutreffen,  dafe  die  Vertreter  der  deutschen  Nation  auch  später 
die  Einnahmen  aus  dem  Patrimonium  Petri  für  ausreichend  für  Papst 
und  Kardinäle  hielten;  denn  von  einem  Ersatz  dafür  durch  reiche 
und  Provinzen    sah    man    ab.     Für    unsere  Schrift    aber  hat  dieser 

MetZy  Jahrbach  IV  a.  Nene  Untersnchungen  über  das  Alter  der  Reiterstatuette  Karls  des 
Grolsen,  Jahrbach  in.  E.  Kleinwächter,  Der  Metzer  Reformaiionsversuch  1542 j 43. 
Teil  L  Marborg  1894.  O.  Winckelmann,  Der  Anteil  der  deutschen  Protestanten 
an  den  kirchlichen  Reformbestrebungen  in  Metz  bts  J543.     Jahrbuch  IX. 

i)  A.  Pelletier,  Nobiliaire  ou  Armorial  giniral  de  la  Lorraine  et  du  Barrois 
1758.  H.  Lepage  et  L.  Germaine,  Complement  au  nohilaire  de  Lorraine^ 
NaocjT  1885.  J.  Cayon,  Ancienne  chevalerie  de  Lorraine^  Nancy  1850.  C.  Lapais, 
Armorial  des  villes^  hourgs  et  villages  de  la  Lorraine^  Nancy  1877.  C.  de  Paradis, 
N«bilaire  de  Latraine  et  Barrois^  Nancy  1878.  J.  Aleide  Georgel,  Armorial  des 
famtäles  de  Lorraine,  Elbcrf.  1887.  —  J»  f«  Poirier,  Metz,  Documents  g^nSalogiques 
d'apres  les  rlgistres  des  fanoisses  1561  — 1792,  Paris  1899.  Für  Münzkunde  vgl. 
F.  de  Saalcy,  Recherches  sur  les  monnaies  des  ducs  hiriditaires  de Lorraine,  Metz  1841. 

2)  Vgl.  S.   I  — 14. 

3)  Hallcr  I,  S.  I95flf. 


—     44     — 

Antrag,  der  auf  Beschränkung  des  päpstlichen  Einkommens  auf  die 
Einnahmen  aus  dem  Patrimonium  Petri  abzielt,  einen  grofsen  Wert, 
denn  imser  Verfasser  mit  seinem  scheinbar  sonderbaren  Antrag  ist 
jetzt  nur  eine  Stimme  der  Vertreter  der  deutschen  Nation.  Die  Ur- 
kunde, die  ihm  für  die  genannte  Forderung  vorlag,  hat  er  von  einem 
Magister  der  auf  dem  Baseler  Konzil  vertretenen  deutschen  Nation  er- 
halten, sie  verdeutscht  und  in  seinem  Sinne  erläutert.  Ebenso  soll  das 
Einkommen  der  Kardinäle  behandelt  werden.  Sie  sollen  nämlich,  wie 
der  Antrag  der  deutschen  Nation  lautet,  an  den  gemeinsamen  fruchten 
der  apostolischen  kammer,  also  an  den  Einnahmen  aus  dem  Patri- 
monium Petri,  teilhaben,  3 — ^4000  Gulden  ein  jeder  jährlich  (S.  197). 

Charakteristisch  ist  eine  andere  Forderung  in  der  Denkschrift  eines 
Ungenannten  (Ebenda  S.  208).  Der  Papst  habe  mit  der  Verwaltung  und 
Verteidigung  weltlicher  Dinge  nichts  zu  tun.  Es  sollen  deshalb  Papst 
und  Kardinäle  zwölf  Männer  wählen,  die  sich  zum  Regieren  eignen  — 
also  Laien,  diese  sollen  einen  Senat  bilden,  der  ein  festes  Gehalt  be- 
zieht und  alle  weltlichen  Geschäfte  an  der  Kurie  ordnet.  Die  Ein- 
künfte des  Papstes  und  der  Kardinäle  sollen  aus  dem  Ertrag  des 
Patrimonium  Petri  durch  zwei  Schatzmeister,  von  denen  einer  vom 
Papst,  der  zweite  von  dem  Kardinalskollegium  gewählt  ist,  geregelt 
werden,  so  dafs  der  Papst  monatlich  1000  Dukaten  erhält.  Der  Über- 
schufs  aus  den  Einnahmen  soll  an  die  genannten  Senatoren,  Legaten 
und  Schatzmeister  verteilt  oder  zur  Verteidigung  der  Kirche  im  Kriege 
angewandt  werden.  Dieser  Senat  soll  auch  die  weltliche  Kriegführung 
der  Päpste  überwachen,  insofern  diese  nur  unter  Zustimmung  der  Mehr- 
heit der  Kardinäle  und  Senatoren  Krieg  führen  dürfen. 

Auch  jeder  Kardinal  soll  ein  bestimmtes  Gehalt  bekommen  und 
zwar  im  ganzen  4000  Dukaten  jährlich.  Davon  sind  zu  verwenden 
für  ein  Pferd  30  Dukaten,  1000  für  Geschenke  und  Almosen,  70  für 
jede  Person  seiner  familia.  Der  Verfasser  dieses  Dokuments  scheint 
auch  ein  Laie  zu  sein,  was  neben  der  scharfen  Scheidung  des  Geist- 
lichen vom  Weltlichen  aus  seiner  lebhaften  Klage  über  die  deformitates 
der  Kirche  ersichtlich  wird.  Diese  scheinen  nach  ihm  in  clero  non 
sine  gravi  scandalo  populi  christiani  insorduisse  (S.  206). 

Charakteristisch  und  übereinstimmend  mit  unserem  Verfasser  ist 
hier  wieder  die  Forderung  eines  fixen  Einkommens  der  geistlichen 
Würdenträger  und  namentlich  der  Vorschlag,  das  Weltliche  vom  Geist- 
lichen zu  scheiden.  Es  war  eben  durch  die  mittelalterliche  Ver- 
quickung von  geistlichem  Amt  und  territorialer  Gewalt  das  erstere 
unter  dem  Vorwiegen   der  letzteren  ganz  verkümmert  auf  Kosten  der 


—     45     — 

weltlichen  Laien.  So  rufen  denn  diese  am  lautesten  nach  Trennung*  des 
Geistlichen  vom  Weltlichen. 

Unter  den  ausgedehnten  Vorschlägen  des  Andreas  von  Escabor 
finden  sich  auch  mehrere  über  das  Einkommen  der  kirchlichen  Würden- 
träger. So  soll  ein  Drittel  der  Einkünfte  aus  der  päpstlichen  Kammer 
dem  Papste,  ein  Drittel  den  Kardinälen  und  ein  Drittel  der  Verwaltung 
und  Verteidigung  der  Kircbenländer  zugewiesen  werden  (S.  217).  Ab- 
gaben, wie  Zehnten  vom  Klerus  zu  erheben,  sei  es  durch  Geistliche 
oder  durch  Weltliche,  mufe  verboten  sein,  ebenso  sollen  alle  Sportein 
für  Sieg^el,  Bestätigung,  Weihen  und  andere  servitia  in  der  ganzen 
Kirche  wegfallen.  Es  sei  Simonie  (S.  218),  für  die  Übertragung  von 
Bene&zien  und  die  Verwaltung  der  Sakramente  Geld  zu  fordern,  selbst 
wenn  es  sich  der  Papst  erlaube.  Diese  Forderungen  sind  um  so  auf- 
fallender, als  der  Autor  derselben  damals  (1435/36)  in  Abhängigkeit 
von  der  Kurie  lebte  und  selbst  seinen  Anteil  hatte  an  dem  Milsbrauch, 
den  er  rügt ').  Seine  Beschäftigung  in  der  päpstlichen  Kanzlei  be- 
&higt  ihn  zu  ähnlichen  praktischen  und  ausführlichen  Vorschlägen  auf 
diesem  Gebiete  wie  das  Stadtschreiberamt  unseren  Verfasser.  So  soll 
für  Briefe  über  Benefizienverleihung  nicht  mehr  als  ein  Dukat  genommen 
werden,  ebenso  sollen  die  Abbreviatoren ,  Registratoren  und  BuUa- 
toren  für  andere  Dokumente  nicht  mehr  als  einen  halben  Kammer- 
gulden erhalten.  Alle  Kanzleibeamten  und  Pönitentiare  sollen 
nicht  verheiratete  Laien,  sondern  nur  Kleriker  mit  den 
niederen  Weihen  sein,  ne  laut  sciant  secreta  virorum  ecclesiastu 
corum  •).  Die  Taxen  der  Pönitentiare  sollen  ermäfsigt  werden ,  die 
minores  poenitentiarii  überhaupt  nichts  erhalten  aufser  ihrem  festen 
Gehalt  von  der  apostolischen  Kammer.  Das  Mindesteinkommen  eines 
Bischoüs  wird  auf  über  300  Kammergulden  festgesetzt;  das  schliefsen 
wir  aus  der  Forderung,  dafs  eine  Bischofskirche,  die  nicht  mehr  als 
300  Kammergulden  jährlich  abwirft,  mit  einer  anderen  vereinigt  werden 
soll  (S.  223). 

Ebenso  soll  sich  die  Zahl  der  Kanoniker ,  Benefiziaten  und 
Mönche  nach  dem  Mals  der  Einkünfte  des  einzelnen  Instituts  richten. 
Wenn   aber  die  Zahl  durch   Könige    oder   Päpste  festgelegt  ist,    so 

I)  Vgl.  Hall  er  I,  S.  114. 

%)  VgL  nnseren  Verftsscr,  der  ebenfalls  für  die  Pönitentiare  fordert,  dafs  sie  keine 
Laien,  sondern  Priester  sein  sollen  (S.  174  f. )>  aii<i  ^^ai*  ^^^^  ^\^^^  Begründang.  Dafs 
Wiscr  Verfasser  hier  die  Scheidung  des  Weltlichen  vom  Geistlichen  anerkennt  auch  lu 
gonsten  der  GetsÜichen,  ist  ein  Beweis,  dafs  ihm  dieser  Antrag  bei  Abfassung  seiner 
Sduift  Torlag.    Die  Begründung  des  Antrags  konnte  er  als  Laie  freilich  nicht  mitmachen. 


—     46     — 

soll  der  Ordinarius  die  Präbende  danach  einrichten  und  die  richtig-e 
Zahl  herstellen  (S.  224),  doch  je  eine  Person  soll  nur  eine  Präbende  haben. 

Auch  für  das  Einkommen  eines  Pfarrers  ist  ihm  die  Höhe  des 
Ertrags  einer  Pfarrkirche  mafsg-ebend,  und  er  stellt  je  nach  dem  Mafse 
dieses  Ertrages  wissenschaftliche  Anforderungen.  Die  Mendikanten  haben 
kein  Eigentum  und  dürfen  auch  nichts  für  die  Feier  von  Anniversarien 
nehmen.  Alle  Güter  der  Klöster  sollen  in  gleicher  Weise  dem  Oberen 
wie  den  Mitgliedern  gemeinsam  sein ;  einige  Klöster  haben  absichtlich 
nur  wenige  Insassen,  damit  der  Abt  die  Klostergüter  für  sich  allein 
verschlemmen  kann :  hier  mufs  die  Zahl  der  Mönche  entsprechend  den 
Einnahmen  vermehrt  werden.  Der  Abt  aber  soll  viermal  soviel 
haben  als  ein  Ordensbruder.  Das  Kloster,  das  looo  Goldgulden  Ein- 
künfte hat,  mufs  einen  Lehrer  in  der  Grammatik  und  in  dem  Studium 
Generale  haben  und  so  mit  jedem  Tausend  Einkommen  mehr  einen 
Lehrer  mehr.  Zehenten  und  primittae  sind  von  den  Laien  an  die 
Kirchen  zu  zahlen,  aber  kein  Fürst,  keine  Gemeinde  darf  eine  Abgabe 
von  einem  Kleriker  fordern.  Überhaupt  sollen  die  Laien  von  der  Unter- 
jochung des  Klerus,  wie  sie  in  dieser  Zeit  bestehe,  zurückgebracht 
werden  (S.  229  ff.).  Wir  sehen  hier  überall  die  Hand  des  Klerikers 
und  zwar  des  gelehrten  Klerikers,  der  seinen  Stand  geschützt,  von 
den  Laien  unterhalten  und  bei  reichen  Einkünften  einer  Kirche  oder 
eines  Klosters  vermehrt  und  mit  Wissenschaft  reichlicher  versehen 
haben  will,  ja,  der  zu  einer  Abwehr  gegen  das  Vordringen  des  Laien- 
elements namentlich  in  den  Bürgergemeinden  *)  der  Städte  den  Klerus 
aufruft.  Gewifs  tief  einschneidend  in  das  wirtschaftliche  Leben  der 
Städte  wäre  die  Durchführung  der  Forderung  gewesen :  keine  Gemeinde 
darf  eine  Abgabe  von  einem  Kleriker  verlangen,  wenn  man  sich  des 
lebhaften  Kampfes  der  Städter  gegenüber  der  Pfaffheit  in  bezug  auf 
das  Weinungeid  u.  a.  erinnert. 

Wie  ganz  anders  unser  Verfeisser!  Er  fordert  überall  reinliche 
Scheidung  des  geistlichen  Amtes  von  den  weltlichen  Geschäften,  Ab- 
lösung sämtlicher  Abgaben  an  Kirchen  und  Klöster,  Vermindenmg 
der  Mönche  und  Kanoniker  und  bessere  Ausnutzung  des  gelehrten 
Standes  in  einem  dem  städtebürgerlichen  Laien  praktischer  erscheinenden 
Berufe ,   in   der  Seelsorge   des  Pfarrers  *).     Und    trotzdem   finden  sich 


i)  Die  Städte  suchten  namentlich  in  dieser  Zeit  die  auf  weltliche  Streitsachen  aas- 
gedehnte Gerichtsbarkeit  der  Gei^ichen  durch  Verbesserung  der  eigenen  Rechtspflege  ru 
beschränken.     Vgl.  Joachimsohn,  Gregor  Heimburg  (1891),  S.  15. 

2)  Wie  wichtig  ihm  diese  ist,  geht  ans  dem  überschwenglichen  Lob  auf  die  Pfarr- 
kirche und  die  sieben  Sakramente  hervor. 


—     47     — 

\icle  Berührungspunkte  zwischen  beiden  Reform  entwürfen.  Unser  Ver- 
fiasser  stimmt  mit  dem  vorliegenden  überein  in  der  Dreiteilung  der  Ein- 
künfte der  apostolischen  Kammer,  in  der  Abschaffung  der  indirekten 
Einnahmen  aus  der  Amtsausübung  der  Geistlichen.  Ebenso  begegnen 
sieb  beide  in  der  Forderung  für  das  Kanzleiwesen  und  Herabsetzung 
der  Taxen  für  Vollzug  von  Papieren,  und  in  ihren  Wünschen  bezüg- 
lich der  Pönitentiare  stimmen  sie  sogar  vollkommen  überein.  Auch 
Bischöfe,  Äbte,  Mönche  und  Pfarrer  sollen  ihr  fixes  Einkommen  aus 
dem  Ertrag  des  Kirchengutes  geniefeen,  ihre  Zahl  sei  genau  danach  zu  be- 
stimmen, wenn  auch  von  ganz  verschiedenem  Standpunkte,  aber  um 
so  charakteristischer  für  die  Persönlichkeit  beider  Autoren:  während 
Andreas  von  Escabor  den  Fall  der  zu  geringen  Anzahl  von  Mönchen 
in  einem  Kloster  von  dem  Gesichtspunkte  eines  Klerikers  besonders 
ins  Auge  fafst,  berücksichtigt  unser  Verfasser  mit  dem  praktischen 
Blick  eines  Laien  nur  die  Überfüllung  der  damaligen  Klöster,  die  er 
nahezu  auf  den  Aussterbeetat  setzt. 

Von  dem  Studium  der  Mönche  bei  einem  bestimmten  hohen  Ein- 
kommen eines  Klosters  weifs  unser  Verfasser  nichts,  im  Gegenteil 
scheint  er  gerade  dagegen  Stellung  zu  nehmen,  wenn  er  es  den  Frauen 
in  den  Klöstern  in  echt  humanistischem  Geiste  zugesprochen  wissen 
will  *) ,  sie  mögen  besser  studieren  denn  die  männer.  Aber  beide 
stimmen  noch  überein  in  der  Forderung  für  die  Kanoniker,  dafs  jeder 
mcht  mehr  als  eine  Pfründe  haben  soll.  Kurzum  die  Übereinstimmung 
unseres  Verfassers  mit  den  vorliegenden  Entwürfen  ist  so  mannigfach 
und  so  auffallend,  namentlich  die  der  Dreiteilung  des  Einkommens 
des  Papstes  und  der  Kardinäle,  dafs  eine  Beziehung  zwischen  beiden 
Reformplänen  bestehen  mufs.  Jedenfalls  hat  unser  Verfasser  in  den  ge- 
nannten Forderungen  Vorlagen  gehabt  und  zwar  entweder  direkt  die  Ar- 
beiten des  Andreas  von  Escabor,  denen  gegenüber  er  allerdings  als  Laie 
in  seinen  Erläuterungen  einen  anderen  Standpunkt  einnimmt  *)  oder  es 
ist  eine  Vorlage  anzunehmen,  die  aus  dem  Kreise  jener  Reformer,  des 
sogen,  zweiten  status  nämlich,  gegen  die  Ausführungen  des  Andreas 
von  Escabor  polemisiert.  Schon  rem  äufserlich  haben  beide  Verfasser 
den  geistlichen  imd  den  weltlichen  Stand  in  den  Bereich  ihrer  Ver- 
besserungspläne gezogen,  ohne  dals  jedoch  unser  Verfasser  dem  Schema 
des  anderen,  nach  den  sieben  Gaben  des  heUigen  Geistes  seine  Forde- 


1)  Vgl  Boebm,  S.  203. 

2)  Eine  saubere  Scheidung  zwischen  den  zu  gründe  gelegten  Entwürfen  und  den 
Eriisterungen  des  Verfassers  wird  sich  wegen  der  Übersetzung  ersterer  ja  nie  bewerk- 
stelligen lassen  können. 


—     48     — 

ningen  aufzustellen,  gefolgt  wäre.  Genug  ist,  dafs  die  Reform- 
versuche unseres  Verfassers  unbedingt  eine  Vorlage  be- 
sitzen, dafs  sie  gar  nichts  Isoliertes  an  sich  haben,  sondern 
in  einem  breiten  Strom  von  Reformanschauungen  ihren 
Platz  finden  und  nur  teilweise  eine  besondere  Färbung 
und  Wendungen  zeigen,  die  von  der  Persönlichkeit  des 
Verfassers  als  eines  Laien  und  Stadtschreibers  herrühren. 

Sehen  wir  nun  noch,  welche  Klagen  unser  Verfasser  über  die 
Mifsbräuche  bei  Amtshandlungen  vorbringt  und  welche  Reformen  er 
zu  deren  Abstellung  eingeführt  wissen  will. 

Die  Bischöfe  sollen  überall  Frieden  machen  ^),  wenn  es  Papst  und 
Kardinäle  nicht  tun,  aber  sie  führen  lieber  selbst  Krieg  (Ebenda  S.  1 8 1  u.  1 78). 
Weit  entfernt,  den  übrigen  Klerikern  ein  Vorbild  zu  sein,  leben  sie  im 
Konkubinat  und  bannen  sogar  noch  ihre  Priester  wegen  Konkubinen 
(S.  181  u.  187).  Sie  dürfen  kein  Schlofs  oder  Feste  haben,  dagegen 
mufs  ihnen  die  Residenzpflicht  wieder  eingeschärft  werden. 

Ein  Bischof  soll  auch  ein  Gefängnis  für  einen  fehlenden  Priester 
besitzen,  den  er  auch  mit  zeitweiliger  oder  dauernder  Entziehung  seiner 
Pfründen  bestrafen  kann.  Jeder  Bischof  soll  jährlich  eine  Synode  halten 
und  die  Gesetze  und  Ordnung  derPfafTheit  vorlesen  und  fragen,  ob  jemand 
dagegen  gefehlt  hat  und  ob  ein  Priester  von  einem  Herrn,  Adeligen 
oder  sonstwie  geschädigt  worden  ist.  Im  gegebenen  Falle  soll  er  diese 
bannen  und  schätzen  nach  der  Schwere  des  Vergehens.  Auch  soll 
er  alle  Dechanten  fragen,  wie  es  in  der  Kirche  stehe  und  um  die 
sieben  Sakramente,  und  er  soll  der  Pfaffheit  verbieten,  jemandem  das 
Sakrament  (Abendmahl)  vorzuenthalten.  Mit  dieser  letzten  Forderung 
ist  die  prinzipielle  Frage  der  Voienthaltung  des  Abendmahls  zu  gunsten 
der  Laien  entschieden.  Gewifs  auch  ein  Hinweis  auf  die  Persönlichkeit 
unseres  Verfassers. 

In  allen  Bistümern  sollen  die  statuta  die  gleichen  sein  und  zwar 
die  vom  Baseler  Konzil  angenommenen  *).  Jedes  Jahr  soll  der  Bischof 
seine  Kirchen  visitieren  ^)  und  dabei  Streitigkeiten  zwischen  Pfarrern 
und  Kirchen  beilegen.  Nur  für  den  Fall  der  Erkrankung  oder  des 
hohen  Alters  soll  ein  Weihbischof  ihn  vertreten,  sonst  soll  der  Bischof 
seine  officia  selbst  tun. 

Den  Klöstern,  die  das  Begräbnis  an  sich  gerissen  haben,  ist  es 
völlig  zu  entziehen;   denn   es  ist  unnötig  (S.   189).     Man  soll  die  Un- 

i)  Vgl.  Monumenta  Concilorum  XV.  saeculi,  3,  527. 

2)  Vgl.  Monumenta  Conciliorum  XV.  saeculi,  3,  525  flf. 

3)  Ebenda  3,  526. 


—     49     — 

kosten  den  Verwandten  ersparen;  darüber  freue  sich  die  Seele  mehr 
als  durch  ein  Begräbnis.  Diese  Forderung-  ist  schroff  gfenug,  um  den 
Verfasser  als  Laien  zu  kennzeichnen.  Höchstens  darf  man  2mstatt 
emer  Begräbnisfeier  ein  Geschenk  an  die  Kirche  geben  in  Gestalt 
eines  Altartuches  oder  eines  Kleides  zu  Mefsgewändem  oder  ron 
Wachs  (S.  190)  und  Opfergaben  in  Naturalien,  aber  Geld  muis  aus- 
geschlossen sein. 

Das  Auftreten  der  Domherren  ist  weltlich.  Wie  Laien  gehen 
sie  in  weiisen  Schuhen,  in  Kleidern  von  Marderfellen  (S.  191).  Von 
Allerheiligen  bis  Ostern  sollen  sie  die  langen  schwarten  Kutten  tragen, 
zu  referendal  essen  tmd  auf  dem  Dormitorium  schlafen.  Es  herrscht 
heute  ein  besonderes  J^en  nach  Domhermpfründen:  sobald  einer 
Meister  (=  magister)  wird,  will  er  sich  eine  solche  erwerben.  Wenn 
man  aber  die  damit  verknüpften  Verpflichtungen  wüfste  und  sie  selbst 
befolgen  mülste,  so  würde  man  nicht  so  sehr  nach  einer  Pfründe  ver- 
langen. Aber  die  Domherren  halten  sich  jetzt  Kapläne,  die  für  sie 
singen  und  lesen,  während  sie  selbst  bei  Wein  und  Spielbrett  müfsig 
gehen.  Sie  haben  ihren  Namen  Kanoniker  ab  horis  canonicis:  diese 
sollen  sie  selbst  singen  und  lesen   und  nicht  ihre  Verweser  (S.  192 

»-  193). 

Grofse  Klagen  sind  gegen  die  Johanniter  und  deutsche  Ordens- 
heiren verbrieft.  Sie  werden  beide  zur  erde  gestoßen,  darum  ist 
eine  Neuordnung  derselben  nicht  nötig  (S.  196). 

Die  Benediktiner  und  Bernhardiner  üben  wider  ihr  Recht  Pfarr- 
gottesdienst aus,  sind  so  weltlich  wie  die  Laien,  mit  denen  man  sie 
bei  Spiel  und  Gesellschaft  findet  (S.  197).  Sie  soll  man  zur  festen 
Klausur  zwing^en,  und  nur  zum  Besuche  todkranker  Eltern  sollen  sie 
Urlaub  erhalten.  Der  Abt  soll  im  Konvent  essen,  auiser  wenn  ihn 
Krankheit  daran  hindert.  Die  Kleidungsstücke  sollen  allen  gemein- 
sam sein. 

Die  Bettelmönche  dürfen  weder  Beichte  hören  noch  predigen 
{S.  202):  für  sie  sollen  die  Terminier  betteln,  die  Laienbrüder  sein  müssen. 

Die  Domklosterfrauen  wie  zu  Lindau  und  St.  Stephan  (Wien  ?)  sind 
halb  weltlich,  halb  geistlich.  Sie  gehen  tanzen  und  nehmen  Männer 
und  singen  und  lesen  auch  wieder  in  der  Kirche.  Man  sagt,  sie  seien 
der  edlen  sfntaL  Sie  erben  allermeist  dieselben  kloster/rauen, 
(S.  204.) 

Die  Beghinen  und  NoUharten  wollen  die  dritte  Regel  des  heiligen 
Franziskus  befolgen  (S.  205),  sie  tragen  aber  den  Stadtklatsch  um, 
treiben  Kuppelei  (S.  207)  und  Aberglauben   mit  Kerzenlöschen ,   tun 

4 


—     50     — 

Wunder  und  geben  Ablafe.  Entweder  soll  man  ihre  Vereinigimg-en 
aufheben  oder  sie  in  strenge  Klausur  einschlielsen ,  damit  sie  durch 
Hilfeleistung  auf  dem  Krankenbett  ihr  Almosen  verdienen.  Der 
Messner  soll  morgens  tmd  abends  drei  Zeichen  auf  der  Pfarrkirche 
geben  so  lange,  da(s  man  fünf  Vaterunser  und  fünf  Ave  Maria  beten 
kann. 

Hören  wir  nun  noch  das  Wesentliche  hierüber  aus  den  Vorschlägen 
des  Andreas  von  Escabor. 

Auch  hier  wird  den  Bischöfen  klerikales  Auftreten,  persönliche 
und  jährliche  Visitation  ihrer  Kirchen  und  die  Residenzpflicht 
eingeschärft*).  Ihre  Erfahrungen  von  der  jährlichen  Diözesan - 
synode  sollen  sie  auf  der  alle  drei  Jahre  wiederkehrenden  Provinzial- 
synode  vorbringen.  Die  Mendikanten  dürfen  nicht  Beichthören  oder 
sonstige  pfarramtliche  Funktionen  ausüben,  es  sei  denn  mit  Erlaubnis 
der  Kuraten.  Es  sollen  vom  KonzU  (zu  Basel)  wiederrufen  werden  die- 
jenigen Religiösen  beiderlei  Geschlechts  (S.  226),  die  Bigwarden  oder 
Beghinen,  die  keine  von  der  Kirche  approbierten  Regeln  haben.  Sie 
sollen  gezwungen  werden,  sich  einer  bestehenden  Ordensregel  zu  unter- 
werfen oder  ihre  Wohnplätze  zu  verlassen,  ihre  Tracht  abzulegen,  zur 
Welt  zurückzukehren,  zu  arbeiten  und  nicht  weiter  zu  betteln,  damit 
nicht  so  viel  müfeiges  Volk  in  der  Kirche  gefunden  wird,  das  von 
fremder  Arbeit  und  Almosen  lebt  unter  dem  Schein  der  Frömmigkeit. 
Die  mobilia  bona  sollen  zwischen  Abt  und  Frieren  nicht  getrennt 
sein,  denn  dies  widerspricht  der  Ordensregel. 

In  dem  Angeführten  finden  sich  wieder  manche  Berührungspunkte 
zwischen  beiden  Reformversuchen,  namentlich  bei  den  Forderungen 
über  die  Beghinen.  Es  ist  offenbar,  dafs  unserem  Verfasser  hier  wieder 
Anträge  vorlagen,  die  im  Sinne  des  Andreas  von  Escabor  verfafet 
waren,  wenn  nicht  diese  selbst  in  freier  Weise  verdeutscht  und  er- 
läutert sind.  Aber  durch  den  Vergleich  unserer  Schrift  mit  diesem 
einen  Reformentwurf  lassen  sich  noch  nicht  alle  Klagen  und  Forde- 
rungen unseres  Verfassers  decken,  wir  müssen  vielmehr  noch  eine 
andere  Quelle  hinzuziehen,  und  das  sind  die  Beschlüsse  der  Provinzial- 
und  Diözesansynoden  aus  damaliger  Zeit  ^).  Es  erhält  dadurch 

i)  Haller,  S.  220. 

2)  Hier  eröffnet  sich  dem  L  o k alf o  rs c h  e  r  ein  weites  Feld  dankbarer  Arbeit.  Vor  allem 
wäre  eine,  modernen  Anforderungen  entsprechende  Veröffentlichung  der  Diözesan-,  Dekanats- 
u.  a.  Statuten  des  XV.  und  XVL  Jahrhunderts  sehr  wünschenswert.  Daraus  würden  sich 
sehr  wichtige  Ergebnisse  nicht  nur  fUr  die  Kirchengeschichte,  sondern  auch  für  die  Kultur- 
geschichte im  Allgemeinen  ableiten  lassen.  So  würde  aus  den  Beschlüssen  der  Partikular- 
konzilien ein  interessanter  Einblick  ermöglicht  werden,   wie   das  Laienelement   aUmählig^ 


—     51     — 

die  Stimme  unseres  Verfassers  gleichsam  einen  breiteren  Resonanzboden 
nnd  die  lokalen  Töne  in  der  Schrift  werden  erkennbarer. 

Schon  die  genehmigten  Beschlüsse  des  Generalkonzils  zu  Basel, 
die  erst  von  der  12.  Sitzimg  ab  für  die  Reform  des  geistlichen  Standes 
wichtig'  und  von  Einiiuls  auf  die  darauf  in  Deutschland  gehaltenen 
Provinzial-  und  Diözesankonzilien  waren,  namentlich  die  in  Gegenwart 
des  Kaisers  Sigmund  *)  gefafsten,  klingen  deutlich  an  die  Forderungen 
unseres  Verfassers  an,  ja  decken  sich  oft  völlig. 

Es  soll  danach  jährlich  in  der  Osterwoche  eine  Diözesansynode 
vom  Bischof  abgehalten  werden,  Ermahnung  über  Kirchenzucht,  Vor- 
lesung der  Statuten,  Unterricht  über  Verwaltung  der  Sakramente  und 
amtliche  Verrichtungen,  Untersuchung  über  eingeschlichene  Mife- 
brauche  und  Vergehen  der  Geistlichen  sollen  hier  Gegenstände  des 
Konzils  sein.  Allerdreijahre  soll  aber  ein  ProvinzialkonzU  stattfinden. 

Diese  Beschlüsse  sollen  in  den  Provinzial-  und  Diözesankonzilien  *) 
wiederkehren,  weU  sie  in  die  Akzeptationsurkunde  von  1439  auf- 
genommen wurden,  wenn  auch  mit  einigen  Änderungen.  Aber  gerade 
diese  Änderungen,  die  durch  die  lokalen  Unterschiede  veranlafst  sind, 
interessieren  uns  am  meisten.  Sie  führen  uns  durch  ihre  mannigfachen 
Einzelheiten  auch  in  die  unserer  Schrift  tiefer  ein. 

So  wissen  wir  von  einer  Salzburger  Synode  aus  dem  Jahre  1420, 
deren  Statuten  unter  heftigen  Klagen*)  Konkubinat,  Jagd,  Fechten, 
Turnen  und  Tanzen,  Würfel-  und  Kegelspiel  der  Kleriker  verbieten; 
ebenso  wird  die  Simonie,  für  Spendung  von  Sakramenten  und  Sakra- 
mentalien Geld  zu  fordern,  verurteilt.  Auch  soll  die  Absolvierung  von 
vorbehaltenen  Fällen  nicht  feü  geboten  *)  und  so  durch  Geldzahlungen 
erpreist  werden.  Unser  Verfasser  wül  deshalb  die  aus  dieser  Ver- 
weigerung der  Absolution  häufig  gefolgerte  Vorenthaltung  des  Abend- 


20  die  VerwaltoDg  der  Kirchengüter  einzudringen  sacht,  sowie  über  AnsäUe,  derartige 
Refonnideen  zu  Terwirklichen.  Der  Heraasgeber  dieser  Zeitschrift  hat  mich  bereits  güügst 
anf  einen  eigenen  Fond  aafinerksam  gemacht,  nämlich  den  Versach,  eine  Kirchenfabrik 
im  Anfang  des  XYL  Jahrhunderts  (1532)  in  Monreal  (Diözese  Trier)  aaf  Kosten  der  Vikariats- 
p€rtDden  zn  gründen  (Übersicht  über  den  Inhalt  der  kleineren  Archive  der  Rheinprovinz 
2.  Bd.,  S.  82,  Nr.  13.).  Ohne  Zweifel  sind  derartige  Versnche  anch  ander- 
wärts gemacht  worden  und  namentlich  den  Archivaren  bekannt 
f)  Unsere  Schrift  geht  ja  anter  diesem  Namen  in  die  Öffentlichkeit. 

2)  Das  behauptet  Binterim,  dem  ich  in  meinen  Mitteilungen  folge,  in  seiner  Prctg- 
tmatücken  Gesch,  der  deutschen  National- ^  Provinztal-  und  Diözesankonzilien  vom  IV, 
bis  XVI.  Jahrhundert,  (1848),  S.  210  ff. 

3)  Ebenso  die  Speyerer  Synode,  ebenda  S.  319. 

4)  Ebenda  S.  419  &• 

4* 


—     52      — 

mahls  vom  Standpunkte  des  Laien  abgeschaflfl  wissen.  Für  Anfertigung^ 
von  Formatbriefen  ist  höchstens  ein  Turoner  für  Schrift  und  Siegel 
zu  nehmen.  Auf  dem  Provinzialkonzil  zu  Trier  von  1423  wird  ebenso 
scharf  gegen  Konkubinat,  weltliche  Tracht  und  Betragen  der  Geistlichen 
vorgegangen,  namentlich  aber  über  die  Almosensammler  weitläufige 
und  unserer  Schrift  ähnliche  Klage  geführt.  Viele  derselben  betrögen 
die  Armen  auf  listige  Weise,  indem  sie  Ablässe  versprächen,  Strafe 
androhten  im  Namen  der  Heiligen  und  von  Gelübden  dispensierten. 
Es  soll  deshalb  kein  Laie  als  Almosensammler  angestellt  werden,  auch 
soll  gegen  solche  vorgegangen  werden,  die  gute  und  löbliche  Bräuche 
abschaßen  wollen,  wie  es  z.  B.  Bürgermeister,  Gemeinde  und  Zünfte 
jetzt  tun  bei  Begräbnissen  und  Anniversarien  (S.  460). 

Wir  finden  also  hier  von  klerikaler  Seite  deutlich  eine  Ablehnung- 
der  in  den  Städten  damals  herrschenden  und  deshalb  auch  von  unserem 
Verfasser  vertretenen  Ansicht  über  Begräbnis,  Anniversarien  und  über 
die  damit  verknüpften  Gebräuche. 

Das  Provinzialkonzil  zu  Bamberg  von  145 1  (S.  247)  sucht  Mifsstände 
abzuschaffen,  die  sicher  schon  20  Jahre  früher  eingerissen  waren.  Be- 
sonders werden  hier  wie  auch  auf  dem  Provinzialkonzil  zu  Mainz  (S.  284  f.) 
die  Grenzen  der  Amtstätigkeit  zwischen  Pfarrern  und  Mendikanten  von 
neuem  festgelegt.  Dabei  wird  lebhaft  über  letztere  geklagt,  dafe  sie, 
gestützt  auf  päpstliche  Privilegien,  ohne  bischöfliche  Befugnisse  mit 
Vorliebe ,  pfarramtliche  Funktionen  ausübten.  Die  energische  Forde- 
rung unseres  Verfassers  *),  keinen  kirchlichen  Würdenträger  aus  einem 
Orden  zu  wählen  wegen  des  daraus  entstehenden  Privilegierens ,  ist 
nichts  anderes  als  der  Widerhall  dieser  in  vielen  Diözesen  verbreiteten 
Erregung.  Auch  die  weitere  Schilderung  des  Treibens  von  falschen 
Religiösen  und  Bruderschaften  von  Laien  *)  beiderlei  Geschlechts ,  die 
husitische  Irrlehren  verbreiteten,  versetzt  uns  lebhaft  in  das  MUieu,  aus 
dem  auch  unser  Verfasser  seine  Ausfalle  gegen  das  Winklertum  und 
die  Befürchtung  schöpft,  es  möchte  in  den  Städten  der  Irrglaube  sich 
immer  weiter  ausdehnen  *).  Es  wird  z.  B.  auf  der  Konstanzer  Synode  den 
Gläubigen  verboten,  starke  arbeitsfähige  Lullarden,  die  anstatt  von 
Handarbeit  von  Almosen  leben  wollen,  mit  diesem  zu  unterstützen. 
Die  Landdechanten  werden  angewiesen,  das  Tragen  von  Skapulieren 
der  Mitglieder  des  sogen,  dritten  Ordens  durch  Laienpersonen  zu  ver- 


i)  Vgl.  oben  S.  4  bei  der  Reform  über  die  Wahl. 

2)  Vgl.  S.  304  u.  313. 

3)  Vgl.  oben  S.  8. 


—     53     — 

bieten ,  weil   sie   verheiratet  sind ,   in  der  Welt  bleiben  und  dadurch 
grolses  Ärgernis  err^en  (S.  313)  ^). 


Aus  alledem  ergibt  sich  folgendes:   Wir  müssen   die  Worte  des 
Verfassers  der  ReformatioA  Kaiser  Sigmunds  zu  Recht  bestehen  lassen, 
als  sei  seine   Schrift  als  Übersetzung  und   Erläuterung  von  Reform- 
antnigen   „hoher  Weiser  und  Magister*'    anzusehen.     Wie  weit    nun 
des  Verfassers  Übersetzung  und  Kunst  des  Übersetzens  reicht  —  sp 
sehr  auch  im  Humanistenkreis  zu  Augsburg  diese  geübt  wtirde  ^)  — , 
können  wir  nicht  absolut  feststellen,   solange   wir   nicht  die  Fassuqg 
kennen,   die   ihr  bestimmt  als  Vorlage  gedient  hat.     So  müssen  wir 
bis  jetzt  auf   einen  Vergleich  von  Wort   zu  Wort  mit  der  Vorlage 
verzichten   und  uns   mit  dem  Hinweis   auf  die  Übereinstimmung  von 
Inhalt  zu  Inhalt  begnügen.    Da  ergibt  sich  denn,  dafs  der  Verfasser 
die  in  der  Gegenwart  des  Kaisers  Sigmund  zu  Basel  gefafsten  General- 
bescblüsse,   die  Anträge  der  deutschen  Nation  (nach  Haller)  und  den 
Reformentwurf  des  Andreas  von  Escabor  unbedingt  gekannt  und  be- 
nutzt hat,  letztere  positiv  und  negativ.    Neben  diesen  groisen  Zügen 
der  Reform   über  Wahl,   Qualifikation   und  Einkommen   der  Kleriker, 
die  wir  aus  der  Konzilsarbeit  wieder  erkannten,  treten  uns  auch  noch 
kleinere,  aber  deshalb  nicht  minder  wichtige  entgegen  von  teils  lokaler, 
teils  persönlicher  Färbung.     Wir  konnten  hier  auf  den  Gleichlaut  von 
Klagen  und  Forderungen   über  die  Amtshandlungen  der  Kleriker  auf 
den  Proviozial-  und  Diözesankonzilien  jener  Zeit  hinweisen.    Also  auch 
in  diesem  Punkte  sind  Unterlagen  für  unsere  Schrift  von  Männern  zu 
konstatieren,  die  an  der  Reformarbeit  beteiligt  gewesen  und  wohl  die 
Gelehrten  aus  einer  Bischofs-  und  Universitätsstadt')  sind,  von  denen 
CT  auch  die  übrigen  Anträge  erhalten  hat.     Die  auf  diese  Unterlagen 
basierten  Forderungen  haben  denn  auch  nichts  Vereinzeltes,  Radikales 
mehr,  wie  oft  behauptet  wurde,  sondern  gehören  zu  den  in  den  General- 


i)  Und  viele  andere  Synoden  (namentlich  die  von  Aagsbnrg),  von  deren  Beschlüsse 
Bioterim  leider  nur  die  Kapitalüberschriften  mitteUt 

2)  Joachimsohn,  Humanistische  Gtschichtschreibung  (1895),  S.  14  a.  18.  Die 
Uteimacbeo  SteUen,  die  er  mit  in  seine  Schrift  genommen  hat,  sind  zum  Teil  schlecht 
fibcTMlxt,  ein  Beweis  für  die  Halbbildung  des  Verfassers.     Vgl.  Anhang  S.  88  Anm.  2. 

3)  Es  scheint  mir,  als  ob  es  Magister  der  Wiener  Universität  seien.  Der  grofse 
Einflids  der  Magister  einer  hohen  schule  auf  die  Verleihung  der  Pfarrstellen  und  die 
kbhafte  Schildemsg  der  Domherren,  die  von  der  „hohen  Schule'*  kommen,  legen  das 
Bibe.  Die  ErwShniing  der  Domfraoklöster  zu  St.  Stephan  scheint  auf  Wien  zu  fUhren,  zu- 
mal von  dort  der  Verfasser  Valentin  Eber  Papiere  fUr  den  Humanistenkreis  in  Augsburg 
besorgte.     VgL  Joachimsohn,  Humanistische  Geschichtschreibung,  S.  iS. 


—     54     — 

und  Partikularkonzilien  verdichteten  Stimmen.  Wir  haben  im  Gegen- 
teil g-esehen,  dafs  manche  parallele  Forderungen,  namentlich  die  des 
Andreas  von  Escabor,  die  Haller  *)  als  die  extremsten  bezeichnet,  viel 
weiter  gehen. 

Bei  weitem  aber  den  gröfsten  Teil  unserer  Schrift  nehmen  un- 
streitig die  Elrläuterungen  des  Verfassers  ein.  Sie  sind  für  die  Be- 
urteilung des  Laienstandes  der  Reichstädte  in  betreff  seiner  Anschauungen 
über  Reform  des  geistlichen  Standes  höchst  wichtig  und  charakteristisch. 
Hier  wird  in  dem  mutigen  Ton  eines  Städtebürgers,  und  sagen  wir, 
eines  ihrer  wichtigsten  Vertreters,  des  Stadtschreibers,  gesprochen,  der 
in  der  freimachenden  Luft  der  mittelalterlichen  Stadt  zur  Selbsthilfe 
geschult  ist  Und  wohltuend  wirkt  der  freie  Geist,  der  in  den  Reform- 
anträgen gegenüber  den  in  ausgetretenen  Bahnen  wandelnden  Zunft- 
gelehrten zu  Worte  kommt.  Er  bringt  es  allein  zu  neuen  Gedanken, 
die  aber  nur  insofern  neu  wirken,  als  sie  von  dem  weltlich-städtischen 
Gebiete  auf  das  kirchlich-feudale  übertragen  sind.  So  sind  die  Sätze 
von  der  peinlichen  und  reinlichen  Scheidung  des  Geistlichen  vom  Welt- 
lichen, vom  Heimfall  des  Reichsguts  und  von  damit  verknüpftem  Ver- 
lust des  weltlichen  Fürstenamtes  der  geistlichen  Herren,  von  der  Ab* 
wehr  gegen  die  Vermönchung  *)  des  kirchlichen  Amtes  und  Besitzes, 
von  der  Ablösung  der  Gerechtigkeit  und  Aufhebung  der  Leibeigen- 
schaft *)  zum  Teil  erst  in  neuerer  Zeit  verwirklicht,  haben  aber  durch- 
aus etwas  vom  Erdgeruch  der  freimachenden  Stadtorganisation  des 
Mittelalters  an  sich.  Das  Stadtbürgertum  ist  eben  vorbildlich  geworden 
für  das  moderne  Staatsbürgertum.  Seine  Forderungen  sind  aber  auch 
nicht  radikal,  revolutionär,  sondern  sehr  konservativ.  So  soll  die 
Säkularisation  des  von  der  Kirche  besessenen  Reichsgutes  wieder  an  das 
Reich  zurückfallen.  In  der  Kirche  sind  Papst  und  Kardinäle  die  Quelle 
des  Rechts,  Papst,  Bischöfe  und  Pfarrer  die  Säulen  der  Hierarchie. 
Wenn  der  Verfasser  sich  auch  zu  dem  Satze  bekennt,  dais  das 
allgemeine  Konzil  recht  eigentlich  die  Kirche  bilde  ^) ,  so  zeigt  er 
damit  nur,  wie  populär  diese  von  Konrad  von  Gelnhausen  noch  vor 
Heinrich  von  Langenstein  ausgesprochene  konziliare  Idee  damals 
schon  war. 


i)  A.  a.  o.  II,  S.  114. 

2)  Wie  die  mönchische  EinseUoDg  des  Zölibats  der  Verfasser  als  Humanist  bekämpft, 
vgl.  Histor.  Vierteljahrschr.  5.  Bd.,  S.  471. 

3)  Vgl.  ebenda  S.  485  f. 

4)  Vgl.  B  o  e  h  m  Cap. :    Wie  es  aufgestanden  ist^  dass  goii  will  einen  anderen  stand 
und  Ordnung, 


—     55     — 

Aber  der  Verfasser  vertritt  diese  Ideen  nicht  für  sich  allein,  sie 
sind  auch  ein  Produkt  seiner  Umgebung',  und  aus  jenen  lernen  wir  auch 
diese  kennen.  Wir  finden  sie  wieder  in  dem  Augsburger  Humanisten- 
kreis der  erst  jung  erstehenden  Laienbildung.  Aus  diesem  Kreis  ist 
unsere  Schrift  ein  kräftiges  Wort,  so  da(s  wir  Andreas  von  Escabor 
verstehen,  wenn  er  zur  Abwehr  gegen  das  Laienelement  den  Klerus 
aufnift »). 

Schon  auf  dem  Baseler  Konzil  werden  schliefslich  Laienstimmen 
immer  zahlreicher  und  lauter  ').  Unser  Verfasser  will  ja  auch  mit  seiner 
Schrift,  als  einem  allgemeinen  Bekennen  der  gemeinen  Christen^ 
die  Laienkreise  allgemeiner  und  lebhafter  in  die  damals  hochgehende 
Reforrabewegung  hineinziehen.  Die  vermittelnde  Rolle ,  die  der 
Stadtschreiber  durch  Übersetzungen  auf  dem  gelehrten  Gebiete 
spielte ') ,  nimmt  auch  tmser  Verfasser  als  Stadtschreiber  ein  durch 
die  Vermittelung  gelehrter  Reformentwürfe  an  die  damals  gebildeten 
Laienkreise  des  Städtebürgertums.  So  sehen  wir  denn,  dafs  dieses 
Bürgertum  noch  ganz  konservativ  auf  dem  Gebiete  der  Kirchenordnung 
denkt,  aber  sein  humanistisch  gebildeter  und  weltlich-städtebürgerlicher 
Geist  doch  schon  manches  freie  moderne  Wort  findet. 


Mitteilungen 


Yeraammluilgeil« — Der  dritte  Tag  für  Denkmalpflege^)  ist  am  25.  und 
36.  September  im  Ständehause  zu  Düsseldorf  abgehalten  worden.  Vor  dem 
Eintritt  in  die  Tagesordnung  widmete  der  Vorsitzende  kurze  Worte  der 
Erinnerang  dem  verstorbenen  Direktor  der  Mecklenburgischen  Sammlungen 
und  Museen   in  Schwerin,   Geh.  Hofrat  Dr.  Schlie.     Begrünungen  brachten 


1)  Vgl.  oben  S.  46. 

3)  Vgl  G.  Voigt,  Eoea  Silrio  Piccolomini,  I.  Bd.  1856,  S.  67.  68  a.  108.  Monu- 
menU  Conciliomm  saeciüi  XV.,  11,  693  laicis  comminantibus.  Vgl.  auch  Haller,  S.  204: 
it  köc  (oämlich  PlaraliUit  der  Pfründen)  et  alti  layci  conqueruntur.  Auch  war  „die 
«fgeregte  Stimmong  der  deutschen  Laien*'  ein  Argument  fUr  den  Papst,  das  Konzil  zu 
verlegen.  Vgl.  Bezold,  Vom  rheinischen  Bauernaufstand  im  Jahre  1431.  (Zeitschr. 
Ar  Gesch.  des  Oberrheins,  27.  Bd.,  S.   137. 

3)  ^S^-  Joachimsohn,  Gergor  Heimburg  (1891),  S.  114»  i^nd  derselbe  Verfasser, 
Humanistische  GeschichUchreibung  (1895),  S.  14. 

4)  Über  den  zweiten  1901  zu  Freiburg  i.  Br.  abgehaltenen  Tag  vgl.  diese  Zeitschrift 
m.  Bd.,  S.  61—63. 


—     56     — 

der  Vertreter  des  Preufsischen  Unterrichtsministers,  Geh.  Oberregierungsrat 
V.  Bremen,  der  Landeshauptmann  der  Rheinprovinz  Dr,  Klein,  die  Vertreter 
Österreichs  und  der  Schweiz,  Professor  Neuwirth  und  Professor  Zemp.  Nach 
dem  Bericht  über  die  Tätigkeit  des  Ausschusses  seit  der  letzten  Tagung 
kamen  in  gleichem  Mafse  Recht  und  Theorie,  Praxis  und  Technik  der  Denk- 
malpflege  in  einleitenden  Vorträgen  wie  in  den  daran  sich  anschliefsenden 
Verbandlungen  zu  ihrem  Recht. 

Ministerialrat  v.  Biegeleben  aus  Darmstadt  berichtete  über  das  nun- 
mehr am  I.  Oktober  d.  J.  in  Kraft  getretene  Hessische  Gesetz  vom  i6.  Juli 
1902  zum  Schutze  der  Kunstdenkmäler  und  über  die  dazu  gehörigen  Aus- 
führungsbestimmungen ,  Professor  Loersch  aus  Bonn  über  die  Annahme  des 
auf  dem  letzten  Tage  für  Denkmalpflege  von  ihm  erläuterten  Gesetzentwürfe 
durch  die  Volksabstinunung  vom  16.  März  1902  im  Kanton  Bern,  Professor 
Neuwirth  aus  Wien  über  den  augenblicklichen  Stand  der  Vorbereitimgen  für 
ein  Gesetz  über  Denkmalpflege  in  Österreich,  wo  auch  ein  Spezialgesetz  zur 
Erhaltung  des  Diokletianischen  Palastes  in  Spalato  in  Aussicht  genommen  ist. 

Die  einleitenden  Vorträge  über  die  Erhaltung  von  Baudenkmälern  und 
plastischen  Kunstwerken  hatten  Professor  Komelius  Gurlitt  aus  Dresden  und 
Professor  Borrmann  aus  Berlin  übernommen;  ihre  Berichte  wie  die  Ver- 
handlung zeigten,  dafs  für  die  Konserviervmg  des  Materials  sicher  wirkende 
Mittel  und  Verfahren  noch  immer  nicht  gefimden  sind.  Es  wurde  eine 
Konmiission  mit  der  Untersuchung  der  Verwitterungsvorgänge  und  der  da- 
gegen in  Anwendung  zu  bringenden  Mafsregeln  betraut  Im  Zusanunen- 
hang  mit  diesen  Fragen  wie  in  besonderer  Beratung  am  zweiten  Tage 
wurde  auch  die  Notwendigkeit  der  Bezeichnung  von  neuen  Werkstücken  bei 
Instandsetzung  von  Bauwerken  erörtert  und  ebenfalls  eine  Kommission  mit 
der  Vorbereitung  von  praktischen  Vorschlägen  auf  diesem  Gebiete  für  den 
nächsten  Denkmalpflegetag  beauftragt. 

Wichtige  theoretische  Fragen  kamen  wiederum  zur  Erörterung  in  der 
Verhandlung  über  die  Beseitigung  des  bisherigen  Westportals  des  Metzer  Doms 
und  dessen  Ersatz  durch  ein  gotisches,  ohne  dafs  jedoch  die  Debatte  über 
die  erneute  Begründung  und  Feststelltmg  der  sich  entgegenstehenden  An- 
sichten hinausgekommen  wäre.  Herr  Konservator  Hager  aus  München  legte 
an  der  Hand  praktischer  Beispiele  dar,  dafs  allgemeine  Grundsätze  kaum 
aufgestellt  werden  könnten,  dafs  vieknehr  von  Fall  zu  Fall  entschieden  werden 
müsse,  welches  Vorgehen  das  richtige  sei.  Die  Frage  der  Wiederherstellung 
des  Domes  zu  Meifsen  wurde  mehrfach  gestreift  Eine  Stellungnahme  zu 
solchen  Fragen  durch  Abstimmung  herbeizuführen,  ist  bekanntlich  in  den 
Veisanmüimgen  des  Tages  für  Denkmalpflege  nicht  üblich. 

Die  für  die  praktische  Denkmalpflege  so  überaus  wichtigen  Denkmäler- 
archive wurden  in  einleitenden  Vorträgen  durch  Direktor  v.  Bezold  aus  Nüm- 
beig  und  Professor  Ehrenberg  aus  Königsberg  behandelt,  ihre  Gestaltung 
\md  Einrichtung  dann  nach  verschiedenen  Richtungen  hin  erörtert  Geheimra;t 
Meydenbauer  besprach  noch  besonders  das  von  ihm  so  hoch  entwickelte 
Mefsbilderverfahren  für  Erlangung  unbedingt  richtiger  photographischer  Ab- 
bildimgen. 

Den  Höhepunkt  der  Verhandlungen  bildete  die  fiast  zweistündige  Rede 
des  Oberbürgermeisters  Struckmann  aus  Hildesheim  über  die  Aufgaben  der 


—     57     — 

Kommunalverwaltungen  auf  dem  Gebiete  der  praktischen  Denkmalpflege. 
Die  schöne  Form  des  Vortrags  und  die  Wärme  der  Begeisterung,  die  aus  den 
Worten  des  Redners  klang,  weckte  lebhafte  Zustimmung  in  der  Versammlimg. 
Mit  Recht  konnte  der  Redner  auf  den  bedauerlichen  Mangel  an  Teilnahme 
lunweisen,  der  sich  auf  seiten  der  Stadtverwaltungen  bis  jetzt  dem  Denkmal- 
pflegetag gegenüber  zeigte.  Er  wies  darauf  hin,  wie  das  Kunstleben  der  Städte 
geblüht  habe  und  wie  der  Sinn  für  die  Zeugen  der  Vorzeit  wach  gewesen 
sei,  solange  die  Städte  selbständig  waren,  wie  dieses  Kunstleben  und  dieser 
Sinn  sich  wieder  geregt  hätten  tmd  regen  könnten,  seitdem  nach  langer  Be- 
vormundung durch  den  Staat,  der  alles  an  sich  gerissen  habe,  die  Selbst- 
verwaltung den  Gemeinden  neue  Rechte  zugewiesen  habe.  Den  Rechten 
stünden  aber  auch  Pflichten  zur  Seite  tmd  die  Verwaltung  der  Kommtmen 
müsse  von  den  Bürgern  Pietätlosigkeit  gegen  die  Werke  der  Väter  fem  halten, 
rein  materielle  Bestrebungen  weise  beschränken,  Liebe  zur  Vaterstadt  und 
zn  ihren  Denkmälern  schon  in  der  Jugend  wecken.  Alle  Kräfte  müfsten 
hier  herangezogen  werden,  besonders  die  Kunst-  und  Geschichtsvereine,  nicht 
durch  bureaukratische  Mafsregeln,  sondern  durch  freie  Vorträge,  Besieh- 
tigangen  und  Belehrungen  sei  das  örtliche  Interesse  auch  an  solchen  Bau- 
imd  Konstdenkmälem,  die  fUr  die  Allgemeinheit  und  den  Staat  weniger  Be- 
deutjung  haben,  zu  wecken  und  zu  erhalten.  Aus  seiner  reichen  Erfahrung 
tmd  aus  der  von  ihm  mit  dem  herrlichsten  Erfolg  in  Hildesheim  geübten 
Prans  heraus  hatte  der  Redner  eine  Reihe  von  Sätzen  formuliert,  die  der 
Versammlung  gedruckt  vorlagen  und  unter  Heranziehung  zahlreicher  Beispiele 
im  einzelnen  erörtert  wurden.  Sie  ^den  nicht  nur  eingehende  Würdigung 
in  der  an  den  Vortrag  sich  anschliefsenden  Verhandlung,  an  der  sich  u.  a. 
Geheimrat  Stubben  und  Baurat  Heimann  aus  Köln,  sowie  Geheimrat  Hofs- 
idd  aus  Berlin  beteiligten,  sondern  auch  die  volle  Zustimmung  der  Ver- 
sammlimg, welche  den  Beschlufs  üdste,  dafs  diese  Leitsätze  durch  den 
geschäftsflihrenden  Ausschufs  den  Staatsregienmgen ,  sowie  den  gröfseren 
Provinzial-  tmd  Gemeindeverwaltungen  ziu-  Kenntnisnahme  und  mit  dem  Er- 
suchen, ihnen  entsprechend  verfahren  zu  wollen,  zugestellt  werden  sollen. 
Als  Ergänzung  zu  dem  Vortrage  des  Oberbürgermeisters  Struckmann  be- 
handelte Professor  Giemen  die  Stellimg  der  Provinzialverwaltungen  zur  Denk- 
malpflege, indem  er  insbesondere  die  Verhältnisse  im  Rheinlande  darlegte. 

Eine  geradezu  begeisterte  Au&ahme,  der  auch  Konservator  Hager  aus 
München  beredten  Ausdruck  gab,  hat  im  Schoise  der  Versammltmg  der  im 
Kamen  der  Rheinischen  Provinzialverwaltimg  an  die  Mitglieder  verteilte,  aufs 
reichste  mit  Abbildimgen  ausgestattete  Bericht   über  die   Tätigkeit  der   Pro- 
vinzialkommission  für  die  Denkmalpflege  im  Jahre  1901  gefunden.    Die  Ein- 
leitung zu  diesem  Bericht  gibt  nämlich  eine  Übersicht  über  die  Aufwendvmgen, 
die    die    Rheinprovinz    seit    dem    Inkrafttreten    des    Dotationsgesetzes    vom 
30.  April   1873  ^^  ^^  Zwecke  von  Kunst  und  Wissenschaft   gemacht   hat 
Die  Gesamtsumme  beträgt  4033204  Mk.     Von  dieser  Stmime  entfallen  auf 
die  allgemeinen  Ktmstangelegenheiten,  einschliefslich  der  Kosten  für  die  Er- 
rk:fatimg  der  beiden  Provinzialmuseen,  2661777  Mk. ;    allein  für  die  Erhal- 
tang  von  Denkmälern  sind  ausgegeben  worden  137 1426  Mk.     Diese  Zifiem 
bedürfen  keines  Kommentars.     Mehr  als   einmal  ist  während  der  Verhand- 
lungen    mit    Ausdrücken   lebhaften   Bedauerns    darauf   hingewiesen    worden» 


—     68     — 

dafs  die  Summe  von  looooo  Mk.,  welche  für  die  besonderen  Zwecke  der 
Denkmalpflege  in  dem  Preufsischen  Staatshaushaltsetat  für  1901  ausgeworfen 
war,  in  dem  für  1902  wieder  gefehlt  hat.  Es  wurde  darauf  hingewiesen, 
wie  wichtig  für  die  Weiterentwickelung  der  Denkmalpflege  diese  Bereitstellung 
staatlicher  Mittel  sei,  als  Ergänzung  der  von  Provinzen  und  Gemeinden  auf- 
gebrachten, wie  auch  das  Beispiel  des  gröfsten  deutschen  Staates  für  alle 
tibrigen  in  Betracht  komme.  Aus  diesen  Erwägungen  hat  die  Versammlung 
beschlossen,  die  Bitte  um  Wiedereinstellung  der  erwähnten  Summe  an  die  preufsi- 
schen Minister  des  Unterrichts  und  der  Finanzen  wie  an  die  beiden  Häuser 
des  preufsischen  Landtages  in  besonderer  Eingabe  zu  richten,  ebenso  aber 
bei  der  Übersendung  des  stenographischen  Berichtes  an  alle  deutschen  wie 
an  die  den  Tag  durch  Absendung  von  Bevollmächtigten  ehrenden  aufser- 
deutschen  Regierungen  um  tunliche  Vermehrung  der  für  die  Zwecke  der 
Denkmalpflege  in  den  Budgets  dauernd  bereit  gestellten  Summen  zu  bitten. 
Bezüglich  des  Handbuches  der  deutschen  Kunstdenkmäler'),  dessen 
Notwendigkeit  in  wiederholten  Besprechungen  von  Mitgliedern  der  Versamm- 
lung immer  wieder  aufs  lebhafteste  bestätigt  worden  ist,  konnte  der  Vor- 
sitzende nur  mitteilen,  dafs  die  Verhandlungen  mit  Verlegern  fortgesetzt  werden 
und  dafs  von  selten  des  Reichsamtes  des  Innern  eine  endgültige  Mitteilung 
darüber,  ob  die  vom  Reiche  erbetene  Unterstützung  in  den  Haushaltsetat  für 
1903  eingestellt  werden  könne,  noch  ausstehe.  Professor  Dehio,  der  be- 
kanntlich die  Ausarbeitung  des  Planes  für  das  Handbuch  übernommen  hatte 
und  Proben  desselben  vorlegte,  ist  aus  der  für  die  Verfolgung  der  Angelegen- 
heit in  Dresden  gewählten  kleinen  Kommission  ausgeschieden  und  Hofrat 
v.  Oechelhaeuser  aus  Karlsruhe  an  seiner  Stelle  gewählt  worden. 

Der  geschäftsführende  Ausschufs  wurde  durch  zwei  Mitglieder  verstärkt 
und  besteht  nunmehr  aus  den  Herren:  Geh.  Archivrat  Bailleu,  Direktor 
v.  Bezold,  Ministerialrat  Freiherr  v.  Biegeleben,  Professor  Giemen  (stellv. 
Vorsitzender),  Professor  Loersch  (Vorsitzender),  Professor  v.  Oechelhaeuser, 
Professor  Walld,  Regierungs-  und  Baurat  Tomow. 

Die  Versammlung  beschlofs,  den  nächsten  Tag  für  Denkmalpflege, 
wiederum  im  Zusammenhange  mit  der  Generalversammlung  des  Gesamtvereins 
der  deutschen  Geschichts-  und  Altertumsvereine,  im  Jahre  1 903  gegen  Ende 
September  zu  Erfurt  abzuhalten.  Es  dürfte  nützlich  sein,  darauf  hinzuweisen, 
dafs  für  die  Teilnahme  an  der  Versammlung,  zu  der  die  deutschen  Re- 
gierungen wie  Österreich  und  die  Schweiz,  ebenso  wie  die  Provinzialverwal- 
tungen  und  einzelne  Gemeinden  regelmäfsig  ihre  Vertreter  entsandt  haben« 
weder  die  Zugehörigkeit  zu  einem  Verein  noch  die  Leistung  eines  Beitrages 
Voraussetzung  ist.  Mögen  sich  diejenigen,  denen  die  Erhaltung 
der  Denkmäler  und  ihre  richtige  Pflege  am  Herzen  liegt,  recht 
zahlreich   auf  diesen  Tagen  einfinden!  Loersch  (Bonn). 

Der  dritte  deutsche  Archivtag*)  fand  am  22.  September  zu  Düssel- 
dorf statt,  und  zwar  wurden  zwei  Sitzungen  unter  dem  Vorsitze  von  Archiv- 

1)  VgL  hierüber  Gast.  v.  Bezold,  Ein  neues  Handbach  der  deatschen  Kaost- 
den  kmäler:  Beilage  zur  Allgemeinen  Zeitong  (München)  vom  12.  September  1902,  Nr.  209. 

2)  Über  den  zweiten  1900  in  Dresden  abgehaltenen  Archivtag  vgl.  diese  Zeitschrift 
U.   Bd.,  S.  60—61. 


—     59     — 

direktor  Ilgen   in   den  Räumen   des   neuen  Kgl.  Staatsarchivs   und  in  der 
Tonhalle    abgehalten;    über    60   Teilnehmer,    darunter    einige   Herren    aus 
Holland,    Belgien   und  Luxemburg,    hatten  sich    eingefunden.      Der    vierte 
Archivtag  wird   voraussichtlich  1904    in  Danzig  stattfinden,    der  bisherige 
Ausschufs  —  bestehend  aus  Geh.  Archivrat  Bai  Heu  (Berlin),  Geh,  Archiv- 
rat Grotefend   (Schwerin)   und   Archivdirektor  Wiegan d   (Strafsburg)  — 
wurde  wiedergewählt.     Das   vollständige   Protokoll   der  Verhandl.mgen   wird 
den  Teilnehmern  an  der  Versammlung  noch  zugehen,   deshalb  können  sich 
die  folgenden  Mitteilungen  über  die  Verhandlungen  auf  das  Wichtigste  beschränken. 
An    erster   Stelle    sprach    Stadtarchivar   Heydenreich   (Mühlhausen) 
über  Städtische  Archivbauten   und  forderte    vor  allem  Sicherheit  vor 
Feuer  und  Feuchtigkeit  für  die  zur  Aufbewahrung   der  städtischen  Archive 
bestimmten  Räume   sowie  Vermeidung  ihrer  Verwendung  zu  irgend  welchen 
anderen  Zwecken   und   schliefslich  eine   genügende  Gröfse,   um    eine   über- 
sichtliche Aufstellung  vornehmen  zu  können.     Unter  Hinweis  auf  die  häufig 
bis   in  neuste    Zeit   vorgekommene   Verwahrlosung    ganzer   Stadtarchive   will 
Redner   den  Stadtverwaltungen   die  Fürsorge   für  ihre  Archive  dringend  ans 
Herz  gelegt  wissen;   von  ihrer  Deponierung  in   den  Staatsarchiven  sollte  — 
so  meint  Heydenreich  —  nur  Gebrauch  gemacht  werden  bei  grofser  Finanz- 
not,   die    der  Gemeinde   gröfsere  Aufwendungen   unmöglich   macht.     Es   ist 
erst  eine  Errungenschaft  der  neusten  Zeit,  dafs  bei  Rathausneubauten  von 
vornherein  ein  geeigneter  Archivraum  vorgesehen  wird  oder  dafs  gar  eigene 
Archivgebäude  errichtet  werden :  als  treflfliches  Muster  für  Archive  von  mittlerer 
Gröfse   stellt  H.  das  in  Lüneburg   errichtete  Gebäude  hin.     Die  Aufgabe 
der  staatlichen  Aufsichtsbehörden   ist   es,   dauernd   die   Stadtgemeinden   zur 
Fürsorge   für   ihre  Archive   anzuhalten.  —  Als  Vorbereitung  für   die  bevor- 
stehende Besichtigung  des  neuen  Düsseldorfer  Archivgebäudes,  das  1899  bis 
1901    mit  Aufwand   von   einer  Viertelmillion  Mark  aufgeführt,    den  erst  vor 
dreißig  Jahren  errichteten  vollständig  ungenügenden  Bau  abgelöst  hat,  sprach 
Baurat  Bongard.     Wesentlich  ist  hieran,   dafs   das    Magazingebäude,   für 
dessen  Vergröfsenmg  die  Möglichkeit  besteht  und  das  6  niedrige  Geschosse 
aufweist,    nur   äufserlich   durch   einen   ins    dritte   Stockwerk  führenden  Ver- 
bindungsgang mit  dem  Gebäude  für  die  Beamten  verbunden  ist.     Die  Zentral- 
dampfheizung für  das  Magazin  soll  nur  an  ganz  kalten  Tagen  zur  Vermeidung 
von   Feuchtigkeit   in  Anwendung  kommen.     Der  Benutzersaal,   in   dem   die 
Handbibliothek   auf  besonders   praktischen   eisernen  Regalen   aufgestellt  ist, 
hat  Raum  für  18  Benutzer,  auch  ein  photographisches  Zimmer  ist  vorhanden. 
Im  Anschlufs   an   diese  Ausführungen  entspann    sich    eine   kurze  Erörterung 
über  praktische  Mafsnahmen   zu  Erhöhung   der  Feuersicherheit  und  der  Er- 
hellung der  Magazinräume ;  namentlich,  ob  durchbrochene  oder  feste  Decken 
—  in  Düsseldorf  sind  letztere  mit  weifscm  leuchtenden  Anstrich  verwendet  — 
zweckmäfsiger  seien,  wurde  erörtert    Gegen  Roststabdecken  machte  sich  eine 
unverkennbare  Strömung   geltend,   während   über  Glasdecken   offenbar  noch 
nicht  genügende  Erfahrungen  gesammelt  worden  sind.  —  Über  die  Bestände 
des  Düsseldorfer  Staatsarchivs  sprach  in  Kürze  Archivdirektor  Ilgen.     Das 
Archiv  dient  im  ganzen  den  Regierungsbezirken  Aachen,  Köln  und  Düssel- 
dorf und  umfafst  die  alten  Territorien  Erzstift  Köhi,  Jülich-Berg,  Cleve-Mark, 
Geldern   und   Mors   sowie   die   in  diesem  Gebiete   gelegenen   Reichsabteien, 


—      60     — 

Klöster  u.  s.  w  Im  XVIII.  Jahrhundert  waren  Bonn,  Düsseldorf,  Cleve  und 
Geldern  die  zuständigen  Archivsitze;  Düsseldorf  besafs  sein  Archiv  schon 
im  XV.  Jahrhundert,  während  das  Erzstiftisch  -  Kölnische  Archiv  erst  im 
XVII.  Jahrhundert  nach  Bonn  gebracht  wurde,  um  bei  der  Flucht  nach 
Westfalen  1794  erhebliche  Verluste  zu  erleiden.  Als  1820  die  Staatsarchive 
—  damab  Provinzialarchive  genannt  —  gegründet  wurden,  sah  man  für  die 
drei  Regierungsbezirke  zwei  Archive  in  Köln  und  Düsseldorf  vor,  aber  das 
erstere  ward  1832  bis  1835  auf  Lacomblets  Betreiben,  der  das  Düsseldorfer 
Archiv  gegründet  hat,  aufgelöst  Lacomblet  teilte  die  Bestände  in  Urkunden, 
Handschriften,  Akten,  Literalien  (Notbehelf  zur  Unterbringung  von  Pergament- 
aufzeichnungen,  die  keine  Urkunden  sind,  Fragmente,  Anfange  der  Korre- 
spondenzen und  sonstige  Verlegenheitsabteilung)  und  Karten  imd  führte  eine 
sachliche  Ordnung  ein.  Sein  Nachfolger,  der  kürzlich  verstorbene  Harlefs, 
hat  nicht  gewagt  dieses  Ordnungssystem  umzuwerfen,  aber  dies  ist  die  vor- 
nehmste Aufgabe  der  Zukunft,  um  das  Provenienzprinzip  zur  Durch- 
führung zu  bringen.  Dabei  wird  die  Abteilung  der  Literalien  und  der  Hand- 
schriften in  den  Akten  aufgehen. 

In  der  zweiten  Sitzung,  in  der  aus  Zeitmangel  die  Behandlung  der 
Kassationsfrage  durch  Grotefend  und  der  Vortrag  Wieg  and  s  über  Wert 
und  Bedeutung  der  Archivgeschichte  von  der  Tagesordnung  abgesetzt  werden 
mufsten,  sprach  an  erster  Stelle  Geh.  Archivrat  B  a  i  1 1  e  u  über  das  Provenienz- 
prinzip und  dessen  Anwendung  im  Geh.  Staatsarchive  zu  Berlin,  wo  es  1881 
das  bis  dahin  angewandte  sogenannte  physiographische  Prinzip  (d.  h.  Ordnung 
nach  dem  Inhalte)  abgelöst  hat.  Den  Grundstock  bildet  das  Archiv  des 
Etatministeriums  des  Brandenburg •  Preufsischen  Staats,  das  Kabinettsarchiv 
des  Königs  sowie  das  aus  dem  Generaloberfinanz-,  Kriegs-  und  Domänen- 
archiv erwachsene  Geh.  Ministerialarchiv :  sie  sind  organisch  aus  der  Behörden- 
organisation erwachsen,  und  Zugänge,  die  von  den  Behörden  kamen,  waren 
jederzeit  leicht  einzuordnen.  Als  nun  1807  die  neue  Staatsverwaltung  mit 
Ressortministerien  in  Kraft  trat  imd  das  Geh.  Staatsarchiv  das  Zentralarchiv 
des  Preufsischen  Staates  wurde,  hätten  vernünftigerweise  diese  Archive  ge- 
schlossen und  der  neuen  Behördenorganisation  entsprechend  neue  AbteUungen 
geschaffen  werden  sollen.  Dies  ist  jedoch  nicht  geschehen,  sondern  die 
neuen  Zugänge  wurden  jetzt  gewaltsam  in  die  einmal  vorhandenen  AbteÜimgen 
hineingezwängt,  wobei  natürlich  die  neuen  organisch  entstandenen  Registraturen 
zerrissen  wurden.  Auch  das  Archiv  der  Provinz  Brandenburg  wurde  auf 
diese  Weise  zum  Teil  aufgelöst,  und  so  wurde,  auch  infolge  des  alten 
Grundsatzes,  ein  Aktenstück,  das  mehrere  Jahre  umfafst,  immer  zum  Schlufs- 
jahr  zu  legen,  alhnählich  die  Auffindung  einzebier  Aktenstücke  sehr  er- 
schwert. Als  seit  1874  eine  Reihe  jüngere  Beamte  in  das  Archiv  kamen, 
wurde  der  Zustand  als  immer  unerträglicher  empfunden,  zunächst  die  Kabinetts- 
registratur König  Friedrich  Wilhelms  III.  wieder  zusammengebracht  und  1 88 1 
die  vollständige  Reinigung  der  alten  Bestände  und  Einrichtung  neuer  Registra- 
turen für  die  neuen  Behörden  beschlossen.  Es  ging  verhältnismäfsig  schnell, 
denn  die  Verschmelzung  war  vielfach  nur  äufserlich  geschehen,  und  in  einem 
Jahre  waren  die  alten  Gruppen  von  den  neuen  Zutaten  gereinigt,  und  diese 
selbst  wurden  dann  so  aufgestellt,  wie  die  Akten  bei  den  Behörden  entstanden 
waren.  —  An  letzter  Stelle  sprach  sodann  Archivrat  Sello  (Oldenburg)  über 


—     61      — 

Zapon  in  der  Archivpraxis.  Derselbe  gab  zunächst  der  Freude  darüber  Aus- 
druck,  dafs  die  rührige  Vereinigung  der  Niederländischen  Archivare  *)  sich 
bereits  eingehend  mit  der  Zaponfrage  befafst  habe,  und  dafs  der  Referent, 
Archivar  Schoengen-Leeuwarden,  nicht  nur  anwesend  sei,  sondern  auch 
seinen  soeben  im  Druck  vollendeten  bezüglichen  Bericht  den  Archivteilnehmern 
in  Sonderabztigen  mitgeteilt  habe.  Der  Versuch,  welchen  die  im  Herbste 
1899  vom  Sächsischen  Kriegsministerium  nach  Dresden  berufene  Archivar- 
Konferenz  *)  gemacht  hat,  die  auf  der  Konferenz  vertretenen  Staatsregierungen 
u,  s.  w.  zur  Einführung  des  Zaponverfahrens  in  die  Archivpraxis  von  Amts 
wegen  zu  veranlassen,  ist  gescheitert.  Die  meisten,  und  gerade  die  einflufs- 
reichsten  der  in  Frage  kommenden  Instanzen  haben  dem  ihnen  vom  Säch- 
sischen Staatsministerium  übermittelten  Beschlufs  der  Konferenz  keine  Folge 
gegeben,  vielmehr  ist  alles  weitere  dem  guten  Willen  der  einzelnen  über- 
hissen geblieben.  An  einzelnen  Archiven  hat  man  zwar  mit  Eifer,  doch  ohne 
Nutzen  für  die  Allgemeinheit,  experimentiert;  andererwärts  hat  man  sich  um 
die  ganze  Sache  wenig  oder  gar  nicht  gekümmert,  oder  selbst  ablehnend 
verhaken,  obwohl  es  keinem  Zweifel  mehr  unterliegt,  dals  derjenige  Archivar, 
welcher  sich  das  wirksame  und  einfache  Mittel  nicht  dienstbar  zu  machen 
sucht,  einen  Kunst  fehler  begeht  Es  handelt  sich  bei  der  ganzen  An- 
gelegenheit nicht  blofs  um  die  praktische  Frage,  in  dem  einen  oder  anderen 
Falle  irgend  ein  beschädigtes  Archivstück  zu  erhalten,  sondern  um  das  höchste 
Interesse  der  Archive,  um  die  Konservierung  der  Schriftdenkmäler 
unserer  vaterländischen  Geschichte.  Diese  beansprucht  die  gleiche 
Berücksichtigung  wie  die  Konservierung  der  Bau-  irad  Kunstdenkmäler.  Ehren- 
pflicht des  Archivtages  ist  es,  dieser  Aufgabe  sich  zu  widmen  und  den  Be- 
schhiis  der  Dresdener  Konferenz,  wenigstens  dem  Sinne  nach,  zur  Aus- 
ftorung  zu  bringen.  Dies  kann  aber  nicht  geschehen  ohne  Erledigung  einer 
Vorfrage.  Das  nach  Schills  Anweisung  aus  bekannten  Stoffen  hergestellte 
Normal -Zapon  besitzt  allerdings  die  gewünschten  konservierenden  Eigen- 
schaften in  hohem  Mafse  und  hat  keine  schädlichen  Nachwirkungen.  Das 
im  Handel  befindliche  Zapon  aber,  dessen  die  Praxis  nicht  entbehren  kann, 
insbesondere  auch  das  von  Schill  und  Posse  empfohlene  „Archiv-Zapon" 
einer  Berliner  Firma,  enthält  eingestanden ermafsen  unbekannte  Zusätze. 
Vor  den  hierin  möglicherweise  liegenden  Gefahren  mufs  der  Archivpraktiker 
geschützt  werden.  Es  ist  daher  die  nächste  Aufgabe  einer  etwa  vom  Archiv- 
tage einzusetzenden  Kommission,  auf  die  Feststellung  einer  bestimmten  Vor- 
schrift für  die  Zusammensetzung  eines  einwandfreien  und  zweckdienlichen 
Normal-Archivzapons  hinzuwirken.  Man  wird  sich  zu  diesem  Zwecke  mit 
berufenen  Vertretern  der  Chemie  in  Verbindung  setzen  müssen.  Die  Archive 
können  abdann  angewiesen  werden,  nur  garantiertermafsen  nach  dieser  Vor- 
schrift hergestelltes  Zapon  zu  verwenden,  es  mufs  aber  auch  fUr  eine  wissen- 
schaftlich-chemische Kontrolle  des  in  den  Handel  kommenden  Fabrikats 
gesorgt  werden.  Der  Vortragende  beschrieb  darauf  im  einzelnen  das  von 
ihm  mit  Rücksicht  auf  tunlichste  Einfachheit,  Raschheit,  Sicherheit  und 
Bü^keit  ausgebildete  und  im  Grofsherzoglich  Oldenburgischen  Haus-  und 
Zeo^alarchiv  erprobte,  von  der  Schillschen  Methode   mehrfach  abweichende 

i)  VgL  darüber  diese  Zeitschrift  III.  Bd.,  S.   109 — 112. 
2)  Vgl.  darüber  diese  Zeitschrift  I.  Bd.,  S.  58. 


—     62      — 

Verfahren  bei  der  Zapon-ImprägnieruDg.  In  der  an  den  Vortrag  sich  an- 
schliefsenden  kurzen  Besprechung  wurden  insbesondere  die  Bedenken,  welche 
der  Vortragende  gegen  die  zweifelhafte  Natur  des  käuflichen  Zapons  erhoben 
hatte,  durch  Mitteilungen  des  Archivdirektors  Wiegand  (Strafsburg)  unter- 
stützt. Alsdann  wurde  eine  aus  diesem,  dem  Geh.  Archivrat  Grotefend 
(Schwerin)  imd  Archivrat  S  e  1 1  o  (Oldenburg)  bestehende  Kommission  ernannt, 
um  im  Sinne  des  Vortrages  die  Einführtmg  des  Zaponverfahrens  zu  fördern. 
Am  Vormittage  des  27.  Septembers  fand  Archivrat  Sello  noch  Gelegenheit, 
im  Kgl.  Staatsarchive  vor  einer  Anzahl  von  Fachgenossen  seine  Methode 
mit  Hilfe  der  von  ihm  in  einem  handlichen  Kasten  zusammengestellten  Geräte 
in  allen  ihren  Einzelheiten  zu  demonstrieren. 

Eingegangene  Bficher. 

In  der  Maur,  Carl  v.:  Die  Gründung  des  Fürstentums  Liechtenstein 
[=  Jahrbuch  des  Historischen  Vereins  für  das  Fürstentum  Liechtenstein, 
Erster  Band  (Vaduz  1901),  S.  5 — 80]. 

Loesche,  Georg:  Bibliographie  über  die  den  Protestantismus  in  Öster- 
reich betreffenden  Erscheinungen  des  Jahres  1901.  [=  Jahrbuch  der 
Gesellschaft  für  die  Geschichte  des  Protestantismus  in  Österreich. 
22.  Jahrgang,  S.  222 — 240.] 

Munzinger,  Ludwig:  Die  Entwicklung  des  Inseratenwesens  in  den 
deutschen  Zeitungen.    Heidelberg,  Carl  Winter,  1902.  90  S.  8®.    M.  2,40. 

Sahm,  Wilhelm:  Geschichte  der  Stadt  Kreuzburg  (Ostpreufsen).  Königs- 
berg i.  Pr.,  Thomas  &  Oppermann,   1901.     281  S.  8®.     M.  4. 

Simenon,  Willem:  Gesrhiedenis  der  voormalige  heerlijkheid  Vlytingen, 
hoofdbank  der  elf  banken  van  St.  Servaas  [=  Publications  de  la  sod^^ 
historique  et  arch^ologique  dans  le  duch^  de  Limbourg,  tome  XXXVII., 
1901].     Maestricht,  Leiter-Nypels,   1901.     429  S.  S^, 

Üslar-Gleichen,  E.  Frhr.  von:  Das  Geschlecht  Wittekinds  des  Grofsen 
und  die  Immedinger.  Hannover,  Carl  Meyer,  1902.  115  S.  8<*. 
M.  3,60. 

Wintterlin,  Friedrich:  Geschichte  der  Behördenorganisation  in  Württem- 
berg, herausgegeben  von  der  Kommission  für  Landesgeschichte.  Erster 
Teil:  Bis  zum  Ende  des  18.  Jahrhunderts.  Stuttgart,  W.  Kohlhammer, 
190a.     165  S.  80.     M   1,50. 

Ahrens:  Antonius  Corvinus,  der  Reformator  von  Kaienberg  -  Göttingen 
[=  Protokolle  über  die  Sitzungen  des  Vereins  für  die  Geschichte 
Göttingens  1900 — 1901,  S.  83 — 91]. 

Bretholz,  B. :  Die  Pfarrkircke  St.  Jakob  in  Brunn,  herausgegeben  vom 
Gemeinderate  der  Landeshauptstadt  Brunn.  Brunn,  Rudolf  M.  Rohrer, 
1901.     206  S.  40. 

Buttmann,  Rudolf:  Nikolaus  Lorchs  Buina  PalatincUus  Bipontini,  heraus- 
gegeben, übersetzt  und  erläutert  [=  Mitteilungen  des  Historischen 
Vereines  der  Mediomatriker  für  die  Westpfalz  in  Zweibrücken  U]. 
Zweibrücken,  Kranzbühler,   1901.      126  S.  8®. 

Eberwien,  W.:  Zur  Geschichte  des  politischen  Zeitungswesens  in  Göttingen 
[==  Protokolle  über  die  Sitzungen  des  Vereins  für  die  Geschichte 
Göttingens   1900 — 1901,  S.  28 — 46]. 


—    6a    — 

Forrer,  R. :  Keltische  Numismatik  der  Rhein-  und  Donaulande  [=  Jahr- 
buch der  Gesellschaft  für  lothringische  Geschichte  und  Altertumskunde, 
Metz,  13.  Jahrgang  (1901),  S.   1—35]- 

Gurewitsch,  B. :  Die  Entwicklung  der  menschlichen  Bedürfnisse  und  die 
soziale  Gliederung  der  Gesellschaft  [=  Staats-  und  sozialwissenschafUiche 
Forschungen,  herausgegeben  von  Gustav  Schmoller.  XIX.  Bd.,  Heft  4]. 
Leipzig,  Duncker  &  Humblot,   1901.     139  S.  8^.     M.  3. 

Handbuch  der  Wirtschaftskimde  Deutschlands,  herausgegeben  im  Auftrage 
des  deutschen  Verbandes  ftir  das  kauftnännische  Unterrichtswesen. 
I.  Bd.     Leipzig,  B.  G.  Teubner,   1901.     331   S.  S^.     M.   12. 

Hartmann,  Ludo  M.:  Preufsisch-österreichische  Verhandlungen  über  den 
Crossener  Zoll  und  über  einen  General -Konmierz- Traktat  zur  Zeit 
Karls  VL  [=  Wiener  staatswissenschaftliche  Studien,  herausgegeben  von 
Edmimd  Bematzik  und  Eugen  von  Philippovich ,  3.  Bd.,  i.  Heft]. 
Tübingen  und  Leipzig,  J.  C.  B.  Mohr,   1901.     86  S.  8^.     M.  3,20. 

Hegel,  Karl  von:  Vergröfsemng  und  Sondergemeinden  der  deutschen 
Städte  im  Mittelalter  [=  Sonderabdruck  aus  der  Festschrift  der  Uni- 
versität Erlangen  zur  Feier  des  achtzigsten  Geburtstages  Sr.  Königlichen 
Hoheit  des  Prinzregenten  Luitpold  von  Bayern].  Erlangen  und  Leipzig, 
A.   Deichert  (Georg  Böhme),  1901.     16  S.  8<^.     M.  0,60. 

Hoff  mann,  Albrecht:  Geschichte  des  deutschen  Zollrechts  bis  zum 
bayerisch- württembergischen  Zollvereine  von  1828  [=  Deutsches  Zoll- 
recht, I.  Bd.  (Rechtsgeschichte),  i.  Abteilung].  Leipzig,  Rofsberg 
&  Berger,   1900.     164  S.  8^ 

Hey denr eich,  Eduard:  Bau-  und  Kunstdenkmäler  im  Eichsfeld  und  in 
Müblbausen,  Vortrag  gehalten  auf  der  Frühjahrs- Versammlung  des  ge- 
schäftsftihrenden  Ausschusses  der  Provinzial  -  Denkmälerkonmiission  der 
Provinz  Sachsen  in  Heiligenstadt  am  20.  Mai  1902.  Mühlhausen  in 
Thüringen,  Karl  Albrecht,   1902.     35  S.  4^^. 

Haber,  Paul:  Der  Haushalt  der  Stadt  Hildesheim  am  Ende  des  XIV.  und 
in  der  ersten  Hälfte  des  XV.  Jahrhunderts.  [=  Volkswirtschaftliche 
und  wirtschaftsgeschichtliche  Abhandlungen,  herausgegeben  von  W.  Sdeda, 
Erstes  Heft.]     Leipzig,  Jäh  &  Schunke,  1901.     148  S.  S^. 

Kawerau,  Gustav:  Die  Versuche,  Melanchthon  zur  katholischen  Kirche 
zurückzuftihren.  [=  Schriften  des  Vereins  ftir  Refonnationsgeschichte 
Nr.   73.]     Halle,  Max  Niemeyer,   1902.     88  S.  8^     M.   1,20. 

Kilian,  Eugen:  Samuel  Friedrich  Sauter,  ausgewählte  Gedichte,  eingeleitet 
und  herausgegeben  [=  Neujahrsblätter  der  Badischen  Historischen 
Kommission   1902].     Heidelberg,  Karl  Winter.     78  S.  8<^. 

Könnecke,  Max:  Die  evangelischen  Kirchenvisitationen  des  XVI,  Jahr- 
hunderts in  der  Grafschaft  Mansfeld.  [=  Mansfelder  Blätter,  Mitteilungen 
des  Vereins  ftir  Geschichte  und  Altertümer  der  Grafschaft  Mansfeld  zu 
Eisleben,  14.  Jahrgang  (1900),  S.  36  — 109.] 

Lc  gouverneur  d'un  prince,  Frdd^ric  C^sar  de  Laharpe  et  Alexan- 
dre I^  de  Russie,  d'apr^  les  manuscrits  inddits  de  F.  C.  de  Laharpe 
et  Ics  sources  russes  les  plus  r^centes.  Fribourg  en  Brisgau,  C.  Troemer 
(Ernst  Harms),  348  S.  8«. 

Lohmeyer,  Karl:    Kritisches  zur  altpreufsischen  Geschichtsforschung,  in 


—     64     — 

zwanglosen  Heften  herausgegeben,  II.  .  Königsberg  i.  Pr.,  Druck  von 
Leo  Krause  und  Ewerlien,   1901.     21   S.  8<*. 

Loesche,  Georg:  Geschichte  des  Protestantismus  in  Osterreich  in  Um- 
rissen, im  Auftrage  der  „Gesellschaft  für  die  Geschichte  des  Protestantis- 
mus in  Österreich".  Tübingen  und  Leipzig,  J.  C.  B.  Mohr,  1902. 
251  S.  8^     2  Kronen. 

Müsebeck,  E.:  Die  Benediktinerabtei  St.  Arnulf  vor  Metz  in  der  ersten 
Hälfte  des  Mittelalters  [=  Jahrbuch  der  Gesellschaft  für  lothringische 
Geschichte  und  Altertumskunde,   13.  Jahrgang  (1901),  S.   164 — 244]. 

Meli,  Anton:  Die  Anfänge  der  Bauembefreiimg  in  Steiermark  unter  Maria 
Theresia  und  Joseph  IL  [=  Forschungen  zur  Verfassungs-  und  Ver- 
waltungsgeschichte der  Steiermark,  5.  Bd.,  i.  Heft].  Graz,  Styria,  1901, 
243  S.  80. 

Nottrott,  L. :  Versuch  einer  römischen  „Reformation"  vor  der  Reformation 
[=  Schriften  für  das  deutsche  Volk,  herausgegeben  vom  Verein  für 
Reformationsgeschichte,  Nr.  XXXVIII].  Halle,  Max  Niemeyer,  1901. 
56  S.  80. 

Pallas,  K. :  Geschichte  der  Stadt  Herzberg  im  Schweinitzer  Kreise.  Herz- 
berg (Elster),  Selbstverlag  des  Verfassers,  1901.  i.  imd  2.  Liefenmg 
(je  0,50  M.).     96  S.  80. 

Sachsenland,  Das,  Monatsschrift  für  Sächsische  Geschichte  und  Literatur, 
Landes-  und  Volkskunde.  Herausgeber:  Rudolf  Zimmermann  in  Chemnitz, 
Verlag:  C.  Engelmann  Nachf.  in  Potschappel.  i.  Jahrgang  (1901). 
Nr.  2  (August,  S.  33 — 64).    Vierteljährlich  1,25  M.,  Einzelheft  50  Pfg. 

Schneider,  Eugen:  Stuttgart  im  Bauernkrieg  [=  Sonderabdruck  aus  den 
Wtirttembergischen  Vierteljahrsheften  für  Landesgeschichte,  Neue  Folge  X, 
1901.     S.  400 — 416]. 

Schnell,  H:  Heinrich  V.,  der  Friedfertige,  Herzog  von  Mecklenburg  1503  bis 
1552  [=  Schriften  des  Vereins  für  Reformationsgeschichte  Nr.  72]. 
Halle,  Max  Niemeyer,   1902.     72  S.  80.     M.   1,20. 

Schubart,  P. :  Die  Verfassung  und  Verwaltung  des  Deutschen  Reiches 
und  des  Preulsischen  Staates  in  gedrängter  Darstellung.  16.  Auflage, 
abgeschlossen  Oktober  1901.  Breslau,  Wilh.  Gottl.  Korn,  1901.  210 
und  42  S.  80.     Gebunden  M.   1,60. 

Sembritzki,  Johannes:  Memel  im  XIX.  Jahrhundert,  Festschrift  zum 
650jährigen  Jubiläum  der  Stadt  Memel,  i.  August  1902.  Memel, 
F.  W.  Siebert,   1902.     207  S.  80. 


Berichtigung 

In  dem  Aufsatze  Ortsflur ,  polnischer  Oemeindebexirk  und  Kirchspiel 
von  Rudolf  Kötzschke  im  dritten  Bande  dieser  Zeitschrift  S.  2 73 ff. 
ist  zu  lesen: 

S.  278,  Z.   21  statt  umgearbeitet:  umgestaltet, 
S.  290,  Anm.  2  statt  Miselche:  Miselohe, 
S.  292,  Anm.  2  statt  P.  Schom:  P.  Schoen. 

D.  Red. 

Heniasgeber  Dr.  Armin  Tille  in  Leipzig.  —  Druck  und  Verlag  von  Friedrich  Andreas  Perthes  in  Gotha. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


stur 


Forderung  der  landesgescMcbtlichen  Forscliung 

IV.  Band  Dezember  xgoa  3.  Heft 


Forsehungen  und  Forsehungsaufgaben  auf 
dem  Gebiete  der  Gegenrefortnation 

Von 
Gustav  Wolf  (Freiburg  i.  B.) 

Es  wird  wenige  Zeiträume  deutscher  Geschichte  geben,  für  welche 
die  Ziele  der    Geschichtsblätter  so  vollständig  mit  den  allgemeinen 
Forschungsaufgaben  zusammenfallen,  als  gerade  das  XVI.  Jahrhundert. 
Friedrich  der   GroCse  und  Bismarck  können  wenigstens    nach    vielen 
Richtungen  erschöpfend  gewürdigt  werden,  ohne  dafs  man  sich  in  das 
kleine  Getriebe   des   preußischen  Staatsorganismus  vertieft  und   ohne 
-dais  man  in  den  damaligen   inneren  Zustand   der  einzelnen  Provinzen 
eindringt.    Andrerseits  läfst  sich  die  organisatorische  Regententätigkeit 
Friedrich  Wilhelms  I.  von  Preufeen,  Josefs  II.  von  Österreich  und  vieler 
anderer  deutscher  Fürsten  auch  ohne  eingehende  Darlegung  des  Zu- 
sammenhanges mit  den  grofsen  Weltereignissen  in  ihrem  Wesen  und 
Zwecke  begreifen.    Für  die  Reformationsepoche  auf  eine  solche  Füh- 
lung zwischen  Lokalgeschichte  und  allgemeiner  Geschichte  verzichten, 
hiefise  sich  von  vornherein  der  wichtigsten  Resultate  begeben,  welche 
die    Forschung    auf  diesem    Gebiete    gewinnen    kann.      Die   Lebens- 
beschreibung eines  nur  räumlich  beschränkt  tätigen  Reformators,   die 
Schilderung  der  religiösen  Umwälzung  in  dieser  Stadt  und  jenem  Dorfe 
sinken  zur  Ansammlung  ziemlich  wertloser  Notizen   herab,    wenn   der 
Darsteller  es  nicht  versteht,  das  Typische  von  dem  individuell  Charakte- 
ristischen zu  scheiden,  auf  Schritt  und  Tritt  die  Wechselwirkung  zwischen 
den  g^ofeen  Begebenheiten  der  Geistes-  und  politischen  Geschichte  tmd 
seinem  Spezialthema  zu  verfolgen   und  so   den  von   ihm   erforschten 
Tatsachen  und  Gedanken   ihren  Platz   im  Rahmen  der  ganzen  vater- 
ländischen Entwickelung  einzuräumen.   Umgekehrt  verkennt  ein  Forscher, 
welcher  den  Gang  der  Dinge  nur  an  der  Hand   der  Reichsgeschichte 
oder  der  Schicksale   und  Meinungsäufserungen   Luthers,   Calvins   und 
Melanchthons  studiert,  vollständig  den  Hintergrund,    auf  welchem  die 

5 


—  -%%-  — 

Ereignisse  sich  abspielten  und  jene  Männer  wirkten,  und  weife  nichts 
von  den  Motiven,  Folgen  und  Grenzen  dieses  Geschehens  und  Empor- 
kommens. So  wird  uns  die  Ursache  des  Zusammenstofses  zwischen 
Karl  V.  und  den  deutschen  Fürsten  und  das  ganz  verschiedenartige 
Verhalten  beider  Faktoren  erst  begreiflich,  wenn  wir  sehen,  dafe,  was 
man  vorschnell  als  Kurzsichtigkeit  oder  Blindheit  der  Territorial- 
Obrigkeiten  tadelt,  nichts  anderes  als  das  natürliche  Produkt  einer 
seit  Generationen  bestehenden  Erziehung  und  Entwickelung  ist,  dals 
die  g^o&en  Monarchen  des  Abendlandes  und  die  deutschen  Landes- 
herren schon  nach  ihrem  Erkenntnisvermögen,  nach  ihren  anererbten 
Lebensgewohnheiten  inkommensurable  Gröfsen  waren.  So  kann  keiner 
das  heftige  Toben  und  Kritisieren  der  Theologen  richtig  erklären,  der 
nicht  durch  intensives  Studium  der  Orts-  und  Territorialgeschichte  das 
Gegenstück  dieser  scharfen  Fehden  in  den  zahlreichen  Übergängen, 
Halbheiten,  Unklarheiten  findet,  wie  sie  mit  solchen  konfessionellen 
Auseinandersetzungen  und  werdenden  Religionen  verbunden  sein  müssen 
und  nur  an  Symptomen  und  in  Einzelheiten,  selten  durch  offenkundige, 
weithin  sichtbare  Aufserungen  zu  Tage  treten. 

Derartige  Erwägungen  scheinen  auf  den  ersten  Blick  sehr  billig 
und  nahezu  selbstverständlich.  Aber  nicht  immer  folgt  die  praktische 
Nutzanwendung  der  Erkenntnis  plausibeler  Wahrheiten  auf  dem  Fufee 
und  sie  kann  das  häufig  auch  gar  nicht,  weil  die  Zusammenhänge 
zwischen  örtiichen  und  allgemeinen  Verhältnissen  oft  sehr  komplizierter 
Natur  sind.  So  verdankt  denn  auch  die  Wissenschaft  die  meisten  wissen- 
schaftlichen Fortschritte  dieser  Art  erst  einer  relativ  jungen  Ver- 
gangenheit. Die  systematische  Ausbeute  der  Archive,  wie  sie  erst 
die  sogenannten  Publikationsinstitute  ermöglicht  haben,  die  Veröffent- 
lichungen verwandter  Akten  aus  verschiedenen  Ländern,  welche  den 
Benutzern  früher  ungeahnte  Parallelen  geradezu  aufdrängen,  endlich 
das  grofsenteils  zuerst  an  der  Erforschung  anderer  Zeiträume  geschulte 
Verständnis  für  innere  finanzielle  und  organisatorische  Fragen,  an  denen 
man  früher  achüos  vorüberging,  haben  unseren  Gesichtskreis  erweitert, 
haben  dem  Historiker  Aufgaben  gestellt,  dafs  eine  Rundschau  über 
das,  was  geleistet  und  was  noch  zu  leisten  ist,  manche  unerwartete 
Belehrung  und  Anregung  gewähren  würde.  So  sehr  sich  meinem  per- 
sönlichen Wunsche  die  Anstellung  einer  solchen  Rundschau  gerade  in 
einem  Momente  aufdrängt,  wo  ich  darangehe,  als  Einleitung  zum 
zweiten  Bande  meiner  Deutschen  Geschickte  im  Zeitalter  der  Gegen- 
reformation einen  Überblick  über  die  Gesamtlage  der  deutschen  Terri- 
torien um   die  Mitte   des   XVI.  Jahrhunderts   zu   entwerfen,   so   treten 


(o^ 


einer  kompletten  Erfüllung  dieser  Aufgabe  nahezu  unüberwindliche 
Schwierigkeiten  durch  die  Masse  und  zum  Teil  schwere  Zugänglichkeit 
der  einschlägigen  Literatur  entgegen.  Da  überdies  der  mir  verfüg- 
bare Raum  zur  blosen  Aufzählung,  geschweige  denn  zu  einer  frucht- 
bringenden Besprechung  schon  der  mir  bekannten  Arbeiten  nicht  aus- 
reichen würde,  halte  ich  es  für  erspriefslicher,  eine  Auswahl  zu  treffen 
und  einige  instruktive,  sich  mir  ganz  besonders  aufdrängende  Beispiele 
herauszugreifen,  als  eine  doch  nicht  erreichbare  Vollständigkeit  an- 
zustreben. Ich  will  mich  dabei  heute  auf  die  katholische  Seite  be- 
schränken ;  über  die  protestantische  Seite  vielleicht  ein  anderes  Mal ! 
Die  These,  dafs  nach  dem  Verschwinden  Karls  V.  die  Habsburger 
als  die  mit  der  Kaiserkrone  begabten  Herren  der  österreichischen  Erb- 
staaten zu  betrachten  sind  und  das  Reich  nach  partikularistischen  Ge- 
sichtspunkten regiert  haben,  gehört  zu  den  banalsten  Weisheiten  all- 
gemeinen reformationsgeschichtlichen  Wissens.  Die  meisten  ober- 
flächlichen Kenner  werden  aber  zur  Begründung  dieser  Behauptung 
wenig  mehr  anführen  können,  als  dafs  die  habsburgischen  Reichs- 
oberhäupter aus  territorialem  engherzigen  Interesse  ihr  Hauptaugen- 
merk auf  die  energische  Abwehr  der  Türken  gerichtet,  die  nötigen 
Kontributionen  zum  hervorragendsten  Gegenstande  der  Reichstags- 
verhandlungen gemacht  und  die  Erledigung  anderer  wichtiger  Fragen 
darüber  vernachlässigt  hätten.  Wenn  diese  dann  emen  Blick  werfen 
anf  die  reichhaltigen  Literaturangaben,  welche  nicht  zu  den  geringsten 
Vomigen  der  österreichischen  Geschichte  von  Alfons  Huber  ^)  ge- 
hören, dann  werden  sie  erstaunen  über  die  mannigfaltigen  Fragen, 
welche  in  jener  Zeit  Ferdinands  I.,  Maximilians  II.  und  Rudolfs  II. 
die  Politik  der  Hofbui^  beherrscht  haben.  Die  Bestrebungen,  die 
Macht  der  Stände  einzuschränken,  die  Organisation  fester  Regierungs- 
kollegien, die  Bemühungen  um  Beseitigung  der  sittlichen  und  Ver- 
waltungsschäden des  Katholizismus  und  um  Hebung  des  geistigen 
Niveaus  der  Kleriker,  die  Ausbreitung  der  evangelischen  Lehre  in  den 
verschiedenen  österreichischen  Erbstaaten,  die  habsburgische  Erbfolge 
im  Reiche,  der  Wunsch,  letzteres  von  den  niederländischen  und  fran- 
zösischen Religionskämpfen  unbeeinflufst  zu  erhalten  und  im  Interesse 
einer  kräftigen  Türkenabwehr  vor  Zersplitterung  seiner  Hilfsmittel  zu 
behüten,  der  Gedanke  an  die  Ansiedelung  eines  Ritterordens  an  der 
ungarischen  Grenze,  sowie  der  Wunsch  nach  Gebietserweiterungen  und 
manche  andere  Probleme  ziehen  an  unserem  Auge  vorüber.  Ein  grofser 
Teil  dieser  Fragen  ist  erst  in  neuerer  Zeit  aufgeworfen,  ja  gerade  nach 

i)  Geschichte   Österreichs  Band  4  (Gotha  1892). 


—     .A4.     — 

Huber  erst  umfassender  in  Angriff  genommen  worden.  So  liegen,  um 
nur  das  Bekannteste  zu  erwähnen ,  für  Tirol  und  Vorderösterreich  das 
zweibändige  Werk  Hirns  über  Erzherzog  Ferdinand  ')  und  die  Abhand- 
lungen Freiherm  v.  Becks  und  Loserths  über  die  Wiedertäufer  im 
Archiv  fiir  österreichische  Geschichte,  für  Steiermark,  Krain  und  Kämthen 
die  noch  lange  nicht  abgeschlossenen  Studien  Loserths  •),  zu  denen 
eine  willkommene  Ergänzung  durch  Schellhafs'  Veröffentlichungen  aus 
den  vatikanischen  Papieren  (A  kten  zur  RefortntäHgkcit  Feltctan  Niguar- 
das  insbesondere  in  Bayern  und  Österreich  während  der  Jahre  1^72  bis 
'577  ^^  ^^^  Quellen  und  Forschungen  aus  italienischen  Archiven  und  Bib- 
liotheken, I — III),  geboten  wird,  fiir  Niederösterreich  die  ebenfalls  noch 
nicht  abgeschlossenen  Forschungen  ViktorBibls*)  vor.  Die  Tätigkeit 
Ferdinands  I.  für  Schlesien  hat  durch  Räch  fahl  (Die  Organisation  der 
Gesanttstaatsverwaltung  Schlesiens  vor  dem  Dreifsigjährigen  Kriege 
in  Schmollers  Staats-  und  sozialwisscnschaftlichcn  Forschungen  XIII) 
manche  Aufhellung  erfahren.  Alle  diese  Gelehrten  suchen  durch  sorg- 
fältige Archivbenutzung,  durch  die  oft  mikroskopische  Betrachtung 
einzelner  Forschungsgegenstände  und  auch  in  kleinem  Bereiche  wirk- 
samer Männer  unser  Wissensgebiet  zu  erweitem  und  vermitteln  uns 
Kenntnisse,  deren  wir,  wenn  wir  sie  einmal  erworben  haben,  nicht 
entbehren  können,  um  den  grofsen  Zusammenhang  der  deutschen  Ent- 
wickelung  zu  durchschauen.  Daneben  hat  uns  nun  andererseits  die  neue 
Studienordnung  für  die  juristischen  Fakultäten,  welche  österreichische 
Reichsgeschichte  als  obligatorischen  Unterrichtsgegenstand  *)  einfiihrte, 
eine  Reihe  ausgezeichneter  Lehrbücher  von  Huber-D op seh  ^öj/^r- 
reichische  Reichsgeschichte,  Geschichte  der  Staatsbildung  und  des 
öffentlichen  Rechts,  2.  Auflage,  1901),  Luschin  von  Ebengreuth 
(österreichische  Reichsgeschichte,  Geschichte  der  Staatsbildung,  der 
Rechtsquellen  und  des  öffentlichen  Rechts,    Bamberg  1896),  Wer- 

i)  Eruherzog  Ferdinand  II.  i'on  Tirols  Geschichte  seiner  Regierung  und  seiner 
Länder  (Innsbruck  1885—1888). 

2)  Besonders  die  Reformation  und  Gegenreformation  in  den  innerösterreichischen 
Ländern  (StnUgart  1898)  und  Akten  und  Korrespondenten  zur  Geschichte  der  Gegen- 
reformation in  Inneröstereich  (1578 — 1590)  in  den  Fontes  renim  Aastriacarom  Abt.  2,  Bd.  50 
(Wien  1898). 

3)  Besonders  die  Organisation  des  evangelischen  Kirchenwesens  im  Erzherzogtum 
Österreich  u,  d.  Enns  von  der  Erteilung  der  Religionskonuession  bis  zu  Kaiser  JHäxi- 
milians  IL  Tode  (Wien  1899).  Die  Einführung  der  katholischen  GegenreformcUion 
in  Niederösterreich  durch  Kaiser  Rudolf  IL  (1576— 1 580),  (Innsbruck  1900). 

4)  Wesen  und  Zweck  dieses  Unterrichtsgegeostandes ,  der  für  jeden  anderen  Staat 
vorbildlich  werden  könnte,  hat  in  dieser  Zeitschrift  II.  Bd.,  S.  97 — 108  v.  Voltelini 
gekennzeichnet. 


-li- 


misky  (Österreichische  Reichs-  und  Rechtsgeschichte,  Wien  seit 
1894  in  Lieferungen)  verschafift,  welche  zum  Teil  als  reifer  Abschlufs 
langjähriger  Studien  zu  betrachten  sind  und  welche  daher  gleichzeitig 
e^^e  und  fremde  Detailforscbungen  zu  einem  Gesamtbilde  verarbeiten 
wie  auch  wertvolle  Anr^imgen  zu  weitergehenden  Untersuchungen 
enthalten. 

Wir  wollen  nur  auf  einige  noch  zu  lösende  Probleme  hinweisen, 
welche  sich  erst  jetzt  durch  die  Entwickelung  der  österreichischen  Ge- 
scbichtsltteratur  aufwerfen.  Loserth  ist,  wie  ich  früher  einmal  aus- 
geführt habe,  von  seiner  ursprünglichen  Aufgabe,  eine  steirische  Ver- 
iassungs-  und  Verwaltungsgeschichte  unter  den  Erzherzögen  Karl  und 
Ferdinand  zu  schreiben,  allmählich  zur  Untersuchung  des  Verhältnisses 
zwischen  Fürst  imd  Landschaft,  zur  Lektüre  der  Landtagsakten,  zum 
Studium  der  damals  wichtigsten  territorialen  Frage  gelangt  und  hat 
sich  so  zuletzt  der  Reformationsbewegung  Innerösterreichs  gewidmet. 
Das  ist  kein  Zufall,  sondern  beruht  auf  dem  unzweifelhaft  vorhandenen 
innigen  Zusammenhange  dieser  Dinge,  welcher  noch  in  hellerem  Lichte 
erscheinen  wird,  wenn  erst  auch  die  anderen  Glieder  dieser  Kette  in 
ihrer  Eigenart  imtersucht  sind  und  ihnen  ihre  besondere  Stelle  im  gro&en 
Ganzen  angewiesen  werden  wird.  Durch  die  Erkenntnis  dieses  Zu- 
sammenhanges gewinnt  aber  nicht  nur  der  Ursprung  und  der  Verlauf 
der  steirischen  Reformationsgeschichte,  gewinnen  Charakter,  Interessen 
und  Anschauungen  der  beteiligten  Personen  und  Bevölkerungskreise 
eine  eigene  Motivierung  und  Färbung;  da  einzelne  dieser  Faktoren 
schon  vor  B^^inn  der  Reformation  ihre  Entwickelung  begonnen  oder 
gar  abgeschlossen  hatten,  ergibt  sich  aus  der  geschilderten  Ver- 
flechtung, dais  infolge  der  ganzen  konstitutionellen  und  sozialen  Ent- 
wickelung des  Landes  für  die  religiöse  Bewegung  von  vornherein  ganz 
q>ezieUe  fordernde  und  hemmende  Bedingungen  bestanden  haben. 
Man  kann  mit  anderen  Worten  eine  Reihe  frappanter  Züge  aus  der 
steierischen  Reformationsgeschichte  ohne  Kenntnis  früherer  historischer 
Vorgänge  und  Zustände  überhaupt  nicht  verstehen.  Die  Studien  von 
Krones  *)  und  Luschin  über  Steiermark  im  ausgehenden  Mittelalter, 
die  verschiedenen  Arbeiten,  welche  von  der  Verwaltungsreform  der 
habsburgischen  Erbstaaten  unter  Maximilian  I.  und  Ferdinand  I.  handeln, 

i)  Besonders  Verfassung  und  Verwaltung  der  Mark  und  des  Herzogtums  Steter 
von  ihren  Anfängen  bis  zur  Herrschaft  der  Habshurger  (Forschungen  zur  Verfassungs- 
umI  Verwaltnogsgeschichte  der  Steiermark  I)  und  Landesfürst  y  Behörden  und  Stände 
des  Henogiums  Steter  1283-1411  (ebenda  IV,  i).  Vgl.  auch  die  Rezension  von  Dopsch, 
Mttteilaog«n  des  Inst.  f.  österr.  Gesch.,  XXII,  666  ff. 


-M  - 


und  namentlich  diejenigen  unter  ihnen,  welche  die  eigenen  Gedanken 
der  beiden  Herrscher  und  die  einheimischen  Grundlagen  des  Ver- 
fassungswerkes betonen,  namentlich  auch  Belows  Aufsatz  von  der  land- 
ständischen Verfassung,  welcher  es  unternimmt,  auf  Grund  der  neuesten 
Forschungen  über  die  verschiedensten  Territorien  Vergleiche  anzustellen  *) , 
gewähren  hierfür  wertvolle  Fingerzeige.  Weder  die  Tatsache,  dafe  sich  in 
Österreich  und  Steiermark  früher  als  in  den  meisten  deutschen  Territorien 
die  landständische  Verfassung  entwickelt  hat,  noch  die  vielfachen  Erb- 
teilungen und  Zerwürfnisse  unter  den  Habsburgem  mit  der  dadurch 
bedeutend  gesteigerten  Macht  des  Adels,  noch  auch  der  Gegensatz, 
der  zwischen  Landherren  und  Rittern  einerseits  und  Städten  andererseits 
obwaltete,  noch  endlich  der  Umstand,  dafs  Maximilian  und  Ferdinand 
die  amtliche  Unabhängigkeit  ihrer  neuen  Regfierungsorgane  von  den 
Landschaften  hauptsächlich  durch  Anstellung  einheimischer  Adliger 
auf  den  wichtigsten  Posten  herbeiführten  und  damit  den  beherrschenden 
Einflufs  des  Adels  auf  die  Staatsgeschäfte,  den  sie  offiziell  brachen, 
tatsächlich  wiederherstellten,  dürfen  hierbei  übersehen  werden.  Auf 
dem  Hintergrunde  dieser  historischen  Gestaltung  der  politischen  Ver- 
hältnisse spielt  sich  dann  die  Reformationsbewegung  so  ab,  da(s  die 
Adeligen,  welche  infolge  des  Verfalles  der  Wiener  Hochschule  vielfach 
auswärts  studierten,  besonders  in  Wittenberg  und  Tübingen  die  neue 
Lehre  in  sich  aufnahmen,  dais  fiir  dieselben  der  Protestantismus  mit 
den  folgenden  Säkularisationen  auch  einen  materiellen  Gewinn  brachte, 
dafs  die  Herrscher  trotz  ihrer  persönlichen  kirchentreuen  Gesinnung 
ja  von  religiös  gleichgültigen  und  dem  Landscbaftsadel  entnommenen 
oder  nahestehenden  Räten  und  Hofleuten  umgeben  waren,  dafe  ebenso 
wichtige  Prälatenstellen,  besonders  in  der  Salzburger  Kurie  und  den 
von  ihr  abhängigen  Landesbistümem  von  Gurk,  Seckau  und  Lavant 
von  Mitgliedern  des  Adels  eingenommen  und  mehr  als  Pfründe  wie 
aus  Berufsfreude  verwaltet  wurden,  dafs  also  weder  die  Fürsten  noch 
der  Klerus  dem  Adel  mit  der  nötigen  Energie  entgegentraten.  Kommt 
dazu  die  Verwilderung  des  Priesterstandes  und  der  Seelsorge,  das 
Recht  des  Adels  zur  Besetzung  zahlreicher  Pfarren,  die  schweren  Finanz- 
sorgen der  Habsburger  und  die  Türkenabwehr,  welche  zwar  Fürst 
und  Untertanen  in  den  gleichen  Interessen  vereinigte,  aber  immerhin 
einer  geschickten  Führung  der  protestantischen  Adelspartei  eine  gute 
Karte   in  die  Hand  spielte,   so  lassen   sich  die  reifsenden  Fortschritte 

i)  In  Territortum  und  Siadt^  Aufsätze  zur  deutschen  VerfassungS'y  Verwaltungs- 
und  Wirtschaftsgeschichte  in  der  Historischen  Bibliothek  Bd.  ii  (München  and  Leipzig 
1900),  S.   161  ff. 


7f 

—     ^R-    — 

des  Luthertums  auf  einem  hierfür  scheinbar  nicht  besonders  g'eeig'neten 
Boden  mühelos  erklären.  Ebenso  leicht  wie  diesen  raschen  Aufschwung 
verstehen  wir  freUich  auch  den  schnellen  Niedergang.  Dieser  Adel 
war  sowohl  durch  seine  Lebensanschauungen  als  auch  durch  seine 
Interessen  und  Rücksicht  auf  politischen  Einflufs  viel  zu  sehr  mit  den 
Landesiiirsten  geschichtlich  verwachsen ,  um  es  auf  einen  langen  und 
erbitterten  Kampf  ankommen  lassen  zu  können.  Ferner  fehlte  der 
rechte  Zusammenhalt  zwischen  Adel  und  Städten,  welcher  allein  das 
nötige  geschlossene  Auftreten  der  Landschaft  gegen  den  entschiedenen 
Willen  der  Fürsten  verbürgt  und  letztere  gehindert  hätte,  sich  in  den 
Märkten  eine  Zufluchtsstätte  des  Katholizismus  und  einen  neuen  Aus- 
gangspunkt fiir  die  Gegenreformation  zu  sichern.  So  konnte  die  Pro- 
testantisierung  des  Landes  nur  dann  und  so  lange  fortschreiten,  als  die 
Obrigkeiten  nicht  das  nötige  Selbstgefühl  und  die  erforderliche  Ent- 
schlossenheit besafsen,  um  einen  eigenen  Willen  zu  bekunden. 

In  Niederösterreich  bestanden  ähnliche  Verhältnisse  und  verwandte 
Entwickelungsbedingungen ;  immerhin  regt  die  vergleichende  Lektüre 
von  Loserths  und  Bibls  Arbeiten  zur  Erwägung  an,  dals  einzelne  Ver- 
schiedenheiten auch  einen  etwas  abweichenden  Verlauf  der  Reformations- 
geschichte bewirkten.  So  wird  Niederösterreich  viel  mehr  als  die 
Steiermark  beherrscht  durch  die  innerprotestantischen  Streitigkeiten 
zwischen  den  Freunden  des  Melanchthon  und  Flacius.  Die  Städte  und 
Märkte  besalsen  in  den  nördlichen  Erbstaaten  eine  ungleich  gröfsere 
Wichtigkeit  als  in  den  südlichen.  In  Wien  stand  der  Adel  in  viel 
engeren  Beziehungen  zur  allgemeinen  Politik  und  zum  Reiche  ins- 
besondere als  in  Graz  und  den  zugehörigen  Gebieten.  Die  Nachbar- 
schaft Niederösterreichs  mit  Böhmen  und  Mähren  veranlafste  natur- 
gemäfs  häufigere  und  konstantere  Verbindungen  mit  diesen  ja  von  altersher 
in  einer  gewissen  Opposition  gegen  die  Kirche  befindlichen  Ländern. 
Endlich  hatten  die  Kaiser,  welche  ja  die  Landesherren  von  Nieder- 
österreich waren,  viel  mannigfaltigere  Rücksichten  zu  üben  als  die  in 
Graz  und  Innsbruck  residierenden  Erzherzöge.  Derartige  Wahrneh- 
mungen, welche  sich  bei  eindringender  Forschung  selbstredend  noch 
sehr  vermehren,  spezialisieren  und  modifizieren  liefsen,  zeigen  deutlich, 
da&  hier  noch  ein  reiches  Arbeitsfeld  für  den  Reformationshistoriker 
der  Bestellung  harrt. 

Wie  wichtig  diese  Bestellung  sowohl  territorial-  wie  allgemein- 
geschichtlich wäre,  dafür  sprechen  noch  einige  andere  Erwägungen. 
Wu  wissen  vom  hervorragenden  Einflüsse,  welchen  die  Hans  Hofmann 
nnd  Arco    und   Dietrichstein    und    Salm    und    Ungnad    und    so    viele 


ü- 


andere  Politiker  gespielt  haben,  und  die  gleichzeitigen  Korrespondenzen 
sind  mehr  oder  minder  erfüllt  mit  tadelnden  und  lobenden  Bemerkungen 
über  sie.  Aber  von  vielen  dieser  Männer  kennen  wir  nur  die  Tatsache 
dieses  Ansehens,  den  Namen  und  das  Amt,  dagegen  ein  lebendiges  Bild 
ihrer  Personen,  Fähigkeiten  und  Anschauungen  besitzen  wir  nicht.  Dürfte 
sich  auch  für  deren  Würdigung  schon  aus  einer  sorgfältigen  kritischen 
Quellenbeobachtung  und  aus  der  Berücksichtigung  meist  unbeachtet 
bleibender  Einzelheiten  mancher  Anhalt  gewinnen  lassen,  ein  erheblicher 
VorteU  wäre  es  doch,  wenn  wir  die  Schichten,  aus  welchen  die  be- 
treffenden  Männer  hervorgegangen,  in  ihrer  Eigenart  besser  begreifen 
und  unterscheiden  lernten.  Ich  hoffe,  dais  ein  geschulter  österreichischer 
Reformationshistoriker  z.  B.  noch  einmal  die  Biographie  einer  so  einfluis- 
reichen  Person  wie  Hans  Hofmanns  auf  Grund  eines  solchen  Aktenstudiums 
und  eines  derartigen  Eindringens  in  die  Anschauungen  des  steirischen 
Adels  liefern  wird,  ja,  dafis  wir  noch  einmal  durch  eine  Serie  solcher 
zugleich  territorial-  wie  reichsgeschichtlich  wertvoller  Charakteristiken 
die  verschiedenen  Strömungen  und  Meinungsgegensätze  in  der  nächsten 
Umgebung  der  habsburgischen  Herrscher  entdecken  werden. 

Wer  von  Beziehungen  zwischen  allgemeiner  Geschichte  und  Landes- 
geschichte in  der  Zeit  der  Gegenreformation  redet,  pflegt  unwUlkürlich 
zuerst  an  Bayern  zu  denken.  Gilt  doch  für  jene  Epoche  der  Mün- 
chener Hof  als  der  Mittelpunkt  aller  Bestrebungen,  welche  der  Ver- 
nichtung oder  wenigstens  dem  Zurückdrängen  des  Protestantismus 
dienten,  und  die  Geschicke  mehr  als  eines  deutschen  Territoriums 
werden  auf  Motive  zurückgeführt,  welche  in  den  Verhältnissen  und 
Daseinsbedingungen  des  bayerischen  Fürstenhauses  und  Landes  zu 
suchen  sind.  Unwillkürlich  haben  sich  daher  auch  die  Arbeiten  der 
Münchener  historischen  Kommission,  welche  der  wittelsbachischen 
Politik  zwischen  dem  Schmalkaldischen  Kriege  und  dem  Westfälischen 
Frieden  gewidmet  sind,  zu  reichshistorischen  Studien  erweitert,  und 
Männer  wie  Druffel,  Stieve,  Lossen,  Riezler  können  gleichzeitig  als 
Forscher  der  Haus-  und  Territorial-  wie  der  allgemeinen  Reformations- 
und Gegenreformationsgeschichte  gelten.  Tatsächlich  bestätigt  sich 
jedoch  bei  näherer  Betrachtung,  was  die  vielverzweigten  Beziehungen 
des  Münchener  Hofes  bereits  von  vornherein  erwarten  lassen,  da(s 
weite  Strecken  noch  geradezu  jungfräulicher  Boden  sind,  dais  für  die 
Berücksichtigung  oder  Vernachlässigung  der  verschiedenen  Momente 
der  Zufall  den  Ausschlag  gegeben  hat  und  namentlich  die  Verkettung 
der  einzelnen  Probleme  noch  sehr  wenig  untersucht  worden  ist. 

Wollen  wir  uns  diejenigen  Punkte  vergegenwärtigen,  durch  welche 


—    m    — 

die  Entwickelung  Bayerns  während  der  Gegenreformation  für  die  All- 
gemeinheit besonders  wichtig  geworden  ist,  so  stofsen  wir  vor  allem 
anf  vier  Ursachen.  Als  äufserliches  Zeichen  tritt  zunächst  der  Auf- 
schwung Bayerns  von  der  tiefen  Ohnmacht,  in  welcher  es  sich  um 
die  Mitte  des  XVI.  Jahrhunderts  befand,  zu  jener  ausschlaggebenden 
Rolle  unter  Kurfürst  Maximilian  entgegen.  Zweitens  mufs  die  Tätig- 
keit der  Herzöge  und  ihrer  Berater  für  die  innere  Wiedergeburt  des 
deutschen  Katholizismus  und  für  die  Reform  der  kirchlichen  Miß- 
stände gewürdigt  werden.  Als  dritter  und  vierter  Faktor  schliefeen 
sich  diesem  Streben  die  Bistumspolitik  des  Münchener  Hofes  und  die 
Opposition  gegen  die  neue  Lehre  an.  Diese  vier  Fragen  hängen  in 
der  mannigfaltigsten  Weise  aneinander.  So  ist  die  Bistumspolitik  zu- 
gleich auf  religiöse  Motive  und  das  finanzielle  Interesse  der  standes- 
gemäßen Versorgung  nachgeborener  Prinzen  zurückzuführen  und  be- 
rührt sich  daher  sowohl  mit  der  kirchlichen  Seite  als  auch  mit  dem 
Emporkommen  der  bayerischen  Territorialmacht  aufs  engste;  so  kann 
man  einen  großen  TeU  des  Zuwachses  an  Ansehen  auf  die  gegen- 
reformatorischen  Tendenzen  der  Münchener  Staatsmänner  zurückführen, 
und  es  wäre  gewiß  kein  undankbares  Thema,  diese  parallele  Entwicke- 
lung  als  eine  Art  Längendurchschnitt  durch  die  Jahrzehnte  vor  dem 
Dreißigjährigen  Kriege  zu  verfolgen.  Außerdem  muß  man  sich  natür- 
lich auch  bei  der  Elrörterung  dieser  Probleme  die  Tatsache  vergegen- 
wärtigen, daß  man  bei  einer  gründlichen  Lösung  nicht  mit  dem  Jahre 
1546,  1550  oder  1555  einsetzen  darf,  sondern  dafs  man  die  Wurzeln 
der  späteren  Entwickelung  in  die  erste  Hälfte  des  XVI.  Jahrhunderts 
und  teilweise  noch  weiter  zurückverfolgen  mufs. 

Da  tritt  uns  denn  von  vornherein  eine  Schwierigkeit  entgegen, 
welche  in  der  bayerischen  Geschichtschreibung  ganz  besonders  störend 
ist,  daß  für  die  einzelnen  Zeiträume  sehr  imgleichmäfsig  vorgearbeitet 
ist,  ja,  daß  wir  auf  große  Strecken  noch  ganz  im  dunkeln  tappen. 
Erst  neuerdings  ist  dem  Schaden  durch  den  vierten  Band  von  Ricz- 
lers  Geschichte  Bayerns  (Gotha  1898)  und  Goetz*  Beiträgen  zur  Ge- 
schichte Herzog  Albrechts  V.  und  des  Landsberger  Bundes  f=  Briefe 
und  Akten  zur  Geschichte  des  XVL  Jahrhunderts  Band  5,  München 
1898)  einigermaßen  abgeholfen  worden.  Aber  wenn  Riezlers  Werk  auch 
mehr  als  eine  kritische  Sichtung  und  Zusammenfassung  vorhandener  Einzel- 
arbeiten mit  gelegentlich  herangezogenem  ungedruckten  Material  ist,  wenn 
insbesondere  das  bayerische  Reichsarchiv  systematisch  ausgebeutet  worden 
zu  sein  scheint,  so  ließen  sich  derartige  Studien  angesichts  der  Masscn- 
haftigkeit  und  Unübersichtlichkeit    der  Münchener   Akten   niemals   so 


schicbtlicben ,   aber  sieb   des   allgemeinen  Zusammenhangs  bewu&ten 
Arbeiten  gewürdigt  werden. 

Erheblich  mehr  ist  auf  dem  Gebiete  der  bayerischen  Bistumspolitik 
geschehen.  Knüpften  die  betreffenden  Forschungen  zwar  an  konkrete 
Tagesiragen,  wie  den  Kölnischen  Krieg  an,  so  entsprach  es  doch  der 
Gewissenhaftigkeit  Lossens  und  Stieves,  sich  die  Persönlichkeiten  der 
bayerischen  Prinzen  Ernst  und  Ferdinand  in  ihrer  Eigenart,  Erziehung 
und  ganzen  Entwickelung  zu  vergegenwärtigen,  um  einen  festen  Boden 
für  ihre  speziellen  Arbeiten  zu  gewinnen,  und  dabei  mufeten  sie  auf 
dieses  dynastische,  grundsätzliche,  sich  praktisch  immer  wieder  durch- 
setzende Interesse  der  Münchener  Witteisbacher  hingelenkt  werden.. 
Aber  wie  ich  bei  meiner  Abhandlung  über  die  salzburgischen  Wirren  ^) 
darauf  aufmerksam  geworden  bin,  dafe  sich  diese  systematischen  Be- 
strebungen zeitlich  viel  weiter  zurückverfolgen  lassen  und  nur  vorüber- 
gehend durch  den  Mangel  an  geeigneten  Prinzen  unterbrochen  werden» 
so  glaube  ich,  dafs  bei  einem  tieferen  Eindringen  in  diese  Materie 
noch  manches  unerwartete  Ergebnis  herausspringen  wird.  Derartige 
Untersuchungen  müüsten  ja  von  Stift  zu  Stift  fortschreiten,  würden  da- 
her die  persönlichen  und  sachlichen  Verhältnisse  in  Passau,  Rc^ens- 
burg,  Eichstätt  u.  s.  w.  für  den  Bereich  mehrerer  Jahrzehnte  klar- 
legen und  besonders  auch  ein  wichtiges  Motiv  jeder  Territorialpolitik 
dieser  Zeit,  die  nachbarlichen  Beziehungen  des  Hofes  und  deren 
Voraussetzungen,  viel  bestimmter  hervortreten  lassen. 

Wie  Bayern,  so  steht  auch  Jülich-Berg  im  Vordergrunde  des 
Interesses  der  Gegenreformationshistoriker ,  freilich  teilweise  aus  kon- 
trären Ursachen.  Fesselt  der  Münchener  Hof  durch  seine  aktive  Rolle 
in  den  damaligen  religiösen  und  politischen  Streitfragen,  so  ist  es 
mehr  das  passive,  lange  Zeit  ungewisse  Schicksal  des  niederrheinischen 
Herzogtums  und  die  ausschlaggebende  Wichtigkeit  dieses  Schicksals» 
was  unsere  TeUnahme  erregt.  Denn  davon,  ob  diese  Gebiete  dem 
Katholizismus  erhalten  wurden  oder  nicht,  hing  zum  guten  Teile  die 
Machtstellung  beider  Konfessionen  in  Deutschland  und  in  den  Nieder- 
landen ab.  Zeitgenössische  Politiker  der  verschiedensten  Richtungen 
und  Staaten  haben  deshalb  den  dortigen  Menschen,  Dingen  und  Elnt- 
wickelungsmöglichkeiten  ihre  Aufmerksamkeit  gewidmet,  und  es  ist 
nicht  allein  die  von  seinen  früheren  Studien  mitgebrachte  Vorliebe 
für  dieses  Spezialthema ,   sondern  vor  allem  die  Erkenntnis  seiner  all- 

l)  Bayerische  Bistumspolitik  in  der  /.  HälfU  des  XVL  Jahrhunderts  mtt  besonderer 
Rücksicht  auf  SaUburg  in  den  Beiträgen  rur  bayerischen  Kirchengeschichte  VI,  4,  5. 
(Erlangen  1900). 


-Jl 


Ifemeingeschichtlichen  Tragweite,  welche  Moritz  Ritter  bestimmt 
hat,  in  seiner  Deutschen  Geschichte  im  Zeitalter  der  Gegenrefor- 
tfuUion  die  einschlägigen  Probleme  so  ausführlich  zu  behandeln. 
Dabei  ist  dann  der  Gedanke,  wie  wenig  interessant  eigentlich  die  un- 
bedeutende Person  des  Herzens  ist,  mehr  und  mehr  gegenüber  dem 
spannenden  Eindruck  gewichen,  welchen  die  sich  wechelseitig  kreu- 
zenden und  unterstützenden  Faktoren  mit  ihren  Gründen  und  Erfolgen 
auf  den  rückwärtsschauenden  Historiker  erwecken.  Derartige  Strö- 
mung^en  würden  wir  auch  bei  anderen  Höfen  und  in  anderen  Ländern, 
namentlich  in  den  geistlichen  Gebieten,  durch  tieferes  Studium  ge- 
winnen; es  würde  sich  vielfach,  was  bei  oberflächlicher  Betrachtung 
als  einheitlich  und  zusammengehörig  erscheint,  dem  schärferen  Be- 
obachter, ähnlich  wie  in  der  Astronomie,  in  ein  Durch-,  Gegen-  und 
Nebeneinander  ganz  verschiedener  Kräfte  auflösen.  Es  ist  darum  auch 
für  den  nicht  speziell  an  der  niederrheinischen  Geschichte  interessierten 
Gelehrten  wertvoll,  an  einem  besonders  instruktiven  Beispiel  zu  verfolgen, 
wie  sich  die  Konstellationen  und  Kontraste  gestalten  und  wie  Schwan- 
kungen und  Irrungen  oft  auf  die  Verschiedenheit  in  der  jeweüigen 
Starke  der  einzelnen  Faktoren  zurückgeführt  werden  müssen,  nicht 
aber  immer  der  persönlichen  Inkonsequenz  oder  Halbheit  eines  ein- 
zelnen Fürsten  oder  leitenden  Staatsmannes  zugeschrieben  werden 
dürfen.  Die  Möglichkeit,  dieses  Beispiel  für  die  Betrachtung  anderer 
Höfe  und  Territorien  zu  nutzen,  liegt  um  so  näher,  weil  in  den  letzten 
Jahrzehnten  verschiedene  Forscher  als  Führer  auf  diesem  Wege  er- 
standen sind.  So  hat  Keller  aus  verschiedenen  Archiven  seine 
dreibändige  Gegenreformation  in  Westfalen  und  am  Niederrhein, 
Aktenstücke  und  Erläuterungen  (1555 — 1609)  in  den  Publikationen 
aus  den  Preufsischen  Staatsarchiven  (Leipzig  1881  ff.)  zusammengetragen, 
so  hat  Ritter  die  Gesellschaft  für  rheinische  Geschichtskunde  zur  Tätigkeit 
gerade  auf  diesem  Gebiete  wiederholt  angespornt;  insbesondere  sind 
in  dieser  Richtung  Belows  Landtagsakten  von  fülich- Berg  i.  Bd. 
♦Düsseldorf  1895)  mit  ihren  mannigfachen  Vorarbeiten  und  Lossens 
Briefe  van  Andreas  Masius  und  seinen  Freunden,  j^j8 — 757 j 
in  den  Publikationen  der  Gesellschaft  für  rheinische  Geschichtskunde  II 
:Leq>zig  1886)  zu  nennen,  und  Redlichs  Kirchenpolitik  wird  wesentlich 
Vollständigeres  bieten.  (Schlufs  folgt.) 


n 

—    w    — 

Mitteilungen 

Yersaminlangeil»  —  Vom  22.  bis  25.  September  fand  in  Düssel- 
dorf die  Hauptversammlung  des  Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichts- 
und Altertumsvereine  ')  unter  dem  Protektorate  Sr.  Königl.  Hoheit  des 
Fürsten  Leopold  zu  HohenzoUern  tmd  unter  dem  Vorsitze  von  Geh. 
Archivrat  Bai  Heu  statt  Die  Industrie-,  Gewerbe-  und  Kunstausstellung 
hatte  diesmal  nach  der  rheinischen  Ktmststadt  gerufen:  167  auswärtige  Ver- 
treter der  Landes-  und  Ortsgeschichte  waren  der  Einladung  der  Stadt  *)  ge- 
folgt, während  sich  99  einheimische  Teilnehmer  einzeichnen  liefsen.  Von 
den  jetzt  im  Gesamtverein  verbundenen  153  Vereinen  —  die  Liste  nach 
dem  Stande  vom  23.  September  gelangte  zur  Verteilung  —  hatten  66  d.  h. 
23  mehr  als  1901  nach  Freiburg  und  2  mehr  als  1900  nach  Dresden 
eigene  Vertreter  abgeordnet  Eine  Reihe  Landesregienmgen  (Anhalt,  Baden, 
Bremen,  Hamburg,  Elsafs-Lothnngen,  Hessen,  Mecklenburg-Schwerin,  Schaum- 
burg-Lippe, die  Thüringischen  Regierungen,  Württemberg)  sowie  die  Preufsische 
Archiwerwaltung  und  4  Städte  (Breslau,  Dortmund,  Hildesheim,  München) 
hatten  eigne  Vertreter  entsandt,  aber  die  Reichsverwaltung  hat  diesmal  davon 
abgesehen.  Nach  der  organisatorischen  Seite  hin  wurden  in  der  Abgeordneten- 
sitzung Erwägungen  angestellt,  wie  sich  die  Einnahmen  des  Gesamtvereins 
vermehren  lassen  könnten,  und  dabei  allseitig  anerkannt,  dafs  eine  gröfsere 
Verbreitung  des  Korrespondenxhlattes  diesem  Zwecke  imd  zugleich  dem 
anderen,  sachlich  immer  weitere  Kreise  für  die  Bestrebungen  des  Gesamtvereins 
zu  interessieren,  am  besten  dienen  würde.  Vor  einer  Erhöhung  des  von  den 
Vereinen  jetzt  zufliefsenden  Beitrags  (15  Mark  vom  Verein)  wurde  dringend 
gewarnt,  dagegen  müssen  die  Vereine  immer  wieder  darauf  aufmerksam  ge- 
macht werden,  dafs  sie  für  einzelne  ihrer  Mitglieder  bei  5  Exemplaren  den 
ganzen  Jahrgang  (=  mindestens  27  Bogen)  für  3  Mark  erhalten.  Die  Her- 
stellung eines  Gesamtregisters  zu  den  abgeschlossenen  50  Jahrgängen  des  Korre- 
spondenzblattes ist  leider  nicht  möglich  geworden,  da  die  vom  Reiche  er- 
wartete Unterstützung  ausgeblieben  ist  Die  Versammlung  wird  1903  in  Erfurt 
stattfinden,  1904  vermutlich  in  Danzig  und  für  1905  wird  an  Bamberg 
gedacht.  Die  verhältnismäfsig  zahlreichen  Österreicher  sprachen  den  Wunsch 
aus,  dafs  die  Hauptversammlung  doch  auch  einmal  in  einer  Österreichischen 
Stadt  abgehalten  werden  möchte.  Bezüglich  der  Zeit  wurde  mit  Recht  be- 
tont, dafs  in  den  Tagen  nach  dem  20.  September  tatsächlich  die  höheren 
Schulen  in  keinem  deutschen  Staate  Ferien  hätten  und  dafs  sich  die  letzten 
September-  oder  ersten  Oktobertage  in  dieser  Beziehung  zweifellos  besser 
eignen  würden.  —  Der  rührige  Ortsausschufs  unter  dem  Vorsitz  von  Archivar 
Otto  Redlich,  dem  Vorsitzenden  des  „Düsseldorfer  Geschichtsvereins", 
hatte  eine  emsige  Tätigkeit  entfaltet,  um  die  von  der  Arbeit  freie  Zeit  den 
Gästen  so  angenehm  wie  möglich  zu  machen;  die  Stadt  hatte  für  die  Ver- 
handlungen die  prächtigen  Räume  der  Tonhalle  zur  Verfügung  gestellt  imd 
gab  dort  den  Versammlungsteilnehmern  eine  opulente  Abendfestlichkeit;  eine 

1)  Über  die  Tagung  in  Freiburg  i.  B.   1901   vgl.  Bd.  III,  S.  85  —  91. 

2)  Als  Festgabe  der  Stadt  wurde  jedem  auswärtigen  Teilnehmer  die  im  Auftrage 
des  Oberbürgermeisters  von  HansMeydenbauer  verfafste  reich  illustrierte  Festschrift  Di> 
Stadt  Düsseldorf  und  ihre  Verwaltung  im  Ausstellungsjahre  igo2  (244  S.  4®)  überreicht. 


grofise  Reihe   literarischer   Festgaben   konnten   die  Gäste  zur   dauernden  Er- 
innerung mit  nach  Hause  nehmen,  und  ein  Ausflug  nach  der  sehenswürdigen 
Krönungsstadt  Aachen,  deren  Kunstschätze  im  Münster,  Rathaus  nebst  Archiv 
und  Bibliothek  besichtigt  wurden,  schlössen  die  Festtage  ab.    Noch  verdient 
die  yon  Historienmaler  F.  Crem  er  entworfene  künstlerich  ausgeführte  Teil- 
nehmerkarte, welche  das  Bild  der  Stadt  Düsseldorf  von  1650  zeigt,  Erwähnimg. 
Die  Vorträge  der  Hauptversammlungen  eröffnete  Prof.  Delbrück 
(Berlin)  mit  recht  anschaulichen  Erörterungen  über  Römerfeldxüge  in  Germanien 
und   versuchte   darin    die  Wege   zu   zeigen,   wie  sich  an  der  Hand  des  all- 
gemeinen Wissens  über  Heeresorganisation  und  Strategie  der  Römer  und  mit 
genauer   Betrachtung    der   geographischen  Verhältnisse  die  Berichte   der  Ge- 
schichtschreiber,  vor   allem   die   des   Tacitus,    kritisch  untersuchen   lassen. 
En^leisimgen  in  Bezug  auf  geographische  und  strategische  Einzelheiten  sind 
bei  Tacitus  ebenso  häufig  wie  z.  B.   bei  Treitschke,  deshalb  müssen  wir  in 
betreff  der  Zahl  der  tatsächlich  kämpfenden  Germanen,  die  weit  überschätzt 
wird,   der  Wahrheit  näher  zu  kommen  suchen,   die  Verpflegungsverhältnisse 
und   die   Entfernungen   ins   Auge   fassen:    das   Ergebnis   ist   hier,   dafs   die 
Römer  ihre  Heere  nur  mit  Hilfe  des  Lebensmitteltransports  auf  dem  Wasser- 
w^e  verpflegen  konnten,  dazu  stand  ihnen  die  Ostsee  tmd  die  während  fünf 
Monaten  schiffbare  Lippe  zur  Verfügung,  und  deshalb  haben  sie  sich  immer 
diesem  Flusse  entlang  bewegt,  an  dessen  oberem  Teile  aber  grofse  Magazine 
errichtet,   von  denen  aus  die  Weser  in  wenigen  Tagemärschen  zu  erreichen 
war,    imd  dort  fanden  sie  neue  Vorräte,   welche  von  der  Nordsee  her  den 
Strom  herauf  kamen;   an  der  Wesermündung  stand  deshalb  ein  Kastell.  — 
Die  Entstehung  des  mittelalterlichen  Bürgertums  in  den  Rheinlanden  behandelte 
der  durch  Studien  über  die  frühmittelalterliche  Geschichte  namentlich  Kölns 
bekannte  Dr.  Oppermann  (Köln):  Der  in  der  Karolingerzeit  aufblühende 
Handel  brachte  den  alten  Römerstädten  in  den  Rheinlanden  einen  ersten  starken 
Bevölkerungszuwachs.  Ihr  Zusammenschluls  zu  einheitlichen  Gebilden  unter  der 
Herrschaft  der  Bischöfe  tmd  Burggrafen  erfolgte  tmter  dem  Druck  der  Normannen- 
not; durch  die  Ottonischen  Privilegien  erhielten  diese  Zustände  ihre  rechtliche 
Anerkennung.    Gleichzeitig  mit  den  Ottonen.  waren  im  Norden  die  flandrischen 
Grafen  emporgekommen,  und  beide  Dynastieen  begünstigten  den  neuen  Auf- 
schwung des  Handels,  der  jetzt  mit  veränderten  örtlichen  Rechtsverhältnissen  zu 
rechnen  hatte.    Freier  Grundbesitz  war  zum  Vorrecht  einer  kleinen  Minderheit 
geworden,   und  die  im  X.  Jahrhundert  sich  ansiedelnden  Kaufleute  mufsten 
Land  zu  Erbpacht  gegen  Zins  erwerben.     Dieses  Rechtsverhältnis  hatte  sich 
aus  prekarischen  Formen  entwickelt,  aber  während  von  denjenigen,  die  als  Entgelt 
für  prekarischen  Grundbesitz  Kriegsdienste  leisteten,  auch  die  Ministerialen 
trotz   unfreier  Herkunft   allmählich   zu   einem  bevorrechteten  Stande   empor- 
stiegen, der  insbesondere  in  wichtigen  Fällen  das  Recht  hatte,  sich  vor  Ge- 
richt statt  durch  Gottesurteil  durch  Eid  zu  reinigen,  blieben  die  Kaufleute, 
die   für  ihr   Land   Zins   zahlten,   obwohl   keineswegs  alle  unfreier  Herkunft, 
in    einer   politisch    tmtergeordneten   Stellung.      Für    die   Bestrebungen,    hier 
Wandel   zu   schaffen,   war  in  den  Gilden  eine  Organisation  gegeben,    deren 
politische  Bedeutung  bereits  um  1020  bei  den  Tieler  Kaufleuten  hervortritt  und 
unter  dem  Einflufs  des  lebhaften  Seeverkehrs  mit  England,  wie  ihn  die  Eroberung 
der   britischen  Insel   durch   Wilhelm  von   der  Normandie   zur  Folge   hatte. 


so 

—     an- 
wachsen mufste;  die  Statuten  der  Gflden  von  Saint- Omer  und  Valenciennes 
bieten   schon   für  das   ausgehende  XI.  Jahrhundert  lehrreiche   Einblicke  in 
diese  Verhältnisse.     Die  bischöflichen  Stadtherren   standen  dieser  Bewegung 
feindlich  gegenüber ;  doch  ÜEuid  das  Bürgertum  einen  Rückhalt  an  der  könig- 
lichen  Gewalt,    seitdem    Heinrich  IV.    in    immer    schärferen   Gegensatz   zu 
den   Reichsflirsten   geriet     Der   Köhier  Aufstand   von    1074  besafs  freilich 
auf  dem  platten   Lande    zu   wenig   Rückhalt,    um    seine   Ziele   durchsetzen 
zu   können;   eine  Reaktion  folgte,   tmd  die  kommtmale  Bewegung  in  Nord- 
frankreich   überhohe   die  Kölner.     In  Cambrai   nahmen   an   der  Kommune, 
die  um  iioo  errichtet  wurde,  auch  die  ritterlichen  Mannen  des  Erzbischofs 
teil,  und  der  durch  die  Revolution  geschaffene  Zustand  erhielt  sich  mehrere 
Jahre  lang.    Er  bietet  den  Schlüssel  zur  Beurteilung  der  Kölner  Verhältnisse, 
der  coniuratio  von  1 1 1 2 :   sie   ist  aufzufassen   als  ein  Zusammenschlufs  der 
zu  Erbpacht  in  der  Rheinvorstadt  angesiedelten  Kaufleute  mit  den  Altfreien 
und  Ministerialen  der  Altstadt.     Im  Sinne   emer  heimlich  vorbereiteten  Ver- 
schwörung braucht   die  coniuratio   nicht  gedeutet  zu  werden;    die  auf  dem 
Grundbesitz   beruhende  Interessengemeinschaft  aller,    die  Grundeigentum  aus 
erster  Hand  --  als  Freie,  als  Prekarie  gegen  Kriegsdienst  oder  als  Prekarie 
gegen  Zins  —  besafsen,   wird  man  als  Hauptfaktor   bei    dem  Werdeprozefs 
der  Stadtgemeinde  betrachten  müssen.    In  gleicher  Weise  wie  in  der  Vorstadt 
war   auch   in   der  Altstadt   der  Boden   durch  Parzellierung   imd  Vermietung 
an  die  Masse  der  Kleinhändler,  Handwerker  und  Tagelöhner  nutzbar  gemacht 
worden.     Die  Grofsbürgerschafl  der  Gnmdbesitzer ,  offiziell  einstweilen  noch 
durch  das  Schöffenkolleg  vertreten,  dessen  MitgUederzahl  sich  durch  Hinzu- 
tritt von  Bewohnern  der  Rheinvorstadt  verdoppelt  hatte,   ist  in  der  Bicher- 
zeche  organisiert,   und   nach   deren   Muster  wird   für  Inmiobiliarverträge   mit 
den  Mietern,  den  Kleinbürgern,  in  jedem  Kirchspiel  eine  Behörde  geschaffen ; 
es   ist  der  Ursprung   des  Kölner  Schreinswesens.     In   den  mittelrheinischeu 
Städten  (Mainz,  Worms,  Speyer),    deren  Handel  Binnenhandel  war  und  bei 
Strafsburg,  Regensburg,  Erfurt   seine  Grenze  fand,   hat   die  Kaufmannschaft 
eine    imgleich    geringere    Rolle    gespielt;    hier    blieb    während    des    ganzen 
XII.  Jahrhunderts  das  bischöfliche  Dienstrecht  die  Form,  in  der  das  öffent- 
liche Leben  sich  bewegte.    Aber  die  auf  dem  Grundbesitz  beruhende  Interessen- 
gemeinschaft, die  Ministerialen  und  hurgenses  zusammenführte  und  gegen  die 
ärmeren   Volksschichten   abschlofs,    war    auch    hier  vorhanden;     11 16    hat 
Heinrich  V.  an  Grofsbürger  und  Kleinbürger  von  Mainz  einen  Brief  gerichtet. 
Aber  wenn  es  auch  im  XII.  Jahrhundert  zur  Ausbildung  einer  selbständigen 
bürgerUchen  Organisation  am  Mittelrhein  nicht  gekonmien  ist,   so  trat  doch 
die  rheinische  Bürgerschaft  in  das  XIII.  Jahrhundert  allenthalben  als  einheit- 
licher Stand  hinüber,  der  sich  in  der  Ratsverfassung  nur  noch  eine  zweckmäfsige 
Organisation  zu  geben  brauchte.  —  An  Stelle  des  Vortrags,  den  der  am  Er- 
scheinen verhinderte  Museumsdirektor  Schuchhardt  (Hannover)  über  FiHh- 
geschichtlicJfe  Burgen  und  Wohnsitze  in  Nordwestdetäschland  angekündigt  hatte, 
sprach  Geh.  Archivrat  B  a  i  1 1  e  u  (Berlin)  über  Königin  Luise  und  die  preufsisdte 
Politik  im  Jahre  1810  und   zeigte    in  lichtvollster  Darstellung  an  der  Hand 
neu  aufgedeckter  Quellen,  welch  hervorragenden  persönlichen  Anteil  die  Königin 
damals  an  den  politischen  Aktionen  gehabt,  imd  wie  sie  sich  im  besonderen 
dem  Plane,  Schlesien  an  Napoleon  abzutreten,  energisch  widersetzt  hat. 


—    9^     — 

Die  Veihandlungen  der  ersten  und  zweiten  Abteilung,  zugleich 
die  des  Verbandstages  der  west-  und  süddeutschen  Vereine  für  römisch- 
gemutnische  Altertumsforschung  ')  eröfihete  Oberlehrer  Dr.  Klinkenberg 
(Köln)  mit  seinem  Vortrag  Die  ^  Ära  Ubiorum\und  die  Änfätige  Kölns.  Von 
den  zahlreichen  an  die  Ära  IThiorum  sich  knüpfenden  Fragen  ist  nur  die  nacti 
dem  Wesen  dieser  Institution  als  einer  Kultstätte  der  Roma  und  des  Au^/tistus 
^eich  der  berühmten  Jra  Lugdimensis  als  gelöst  zu  betrachten,  aber  die  Haupt- 
sadie,  ihre  Entstehung,  Bedeutung  und  geschichtliche  Entwickelung,  bedürfen 
noch  der  Klänmg.  Die  Ära  Ubiorum  ist  spätestens  gleichzeitig  mit  der  Ära 
Lugdunensis  im  Jahre  12  v.  Chr.,  wahrscheinlich  aber  noch  früher  als  der 
Angustosaltar  des  Ubierstammes  entstanden,  sollte  jedoch  9  n.  Chr.,  als  die 
geplante  Rhein-Elbprovinz  genügend  gesichert  schien,  zum  exzentrischen 
Mittelpunkt  des  Kaiserkultus  der  neuen  Reichsuntertanen  werden,  weshalb 
damals  zum  ersten  Male  ein  Nicht-Ubier  als  Priester  derselben  berufen  wurde. 
Die  Beweise  für  die  frühe  Entstehung  und  ursprüngliche  Bedeutung  des 
Ubieraltars  ündet  K.  teils  in  der  allgemeinen  Entwickelung  des  Kaiserkults, 
der  von  einzelnen  Stämmen  tmd  Städten  ausging,  tmd  in  der  zur  Adulation 
neigenden  Gesinnung  der  Ubier,  insbesondere  aber  darin,  dafs  letztere  nach- 
weisbar keinen  Anteil  an  der  Ära  Lugdunensis  hatten,  und  dafs  schon  gegen 
7  Y.  Chr.  sich  an  der  Elbe  ein  Augustusaltar ,  an  der  Lippe  ein  Altar  zu 
Ehren  des  Drusus  erhob.  Mit  der  varianischen  Niederlage  sank  die  Ära 
fJbiorum  allerdings  von  der  ihr  zugedachten  hohen  Bedeutung  wieder  zurück, 
aber  sie  blieb  das  vornehmste  Heiligtum  Kölns  und  der  Augustusaltar  der 
Provinz  Germania  inferior.  Darauf  weisen  nicht  nur  die  zahlreichen  Spuren 
des  ELaiserkultus  in  den  kölnischen  Denkmälern  hin,  sondern  vor  allem  der 
ältere  Name  der  Kolonie  Cohnkh  Claudia  Ära  Agrippinensis  oder  kurz 
.im ,  der  sich  sicher  bis  tief  ins  II.  Jahrhundert  hinein  erhalten  hat.  Um 
für  die  I^sung  des  schwierigsten  Frage,  der  nach  dem  Standorte  der  Ära, 
festen  Boden  zu  gewinnen,  ist  die  Schilderung  des  Tacitus  von  der  Meuterei 
der  I.  und  20.  Legion  beim  Tode  des  Augustus  mit  Rücksicht  auf  die  in 
ihr  enthaltenen  Angaben  über  die  Lage  des  oppidum  Ubiorum,  der  Ära 
und  des  Legionslagers  von  Belang.  Auf  Grund  eingehender  Untersuchungen 
über  die  Grabdenkmäler  und  Gräberfelder  Köbs  bezw.  über  die  älteste 
Topographie  und  Geschichte  der  Stadt  ergibt  sich,  dafs  die  literarische 
Überüefenmg  und  die  Denkmäler  zu  den  gleichen  Ergebnissen  führen: 
Das  nach  Osten,  Süden  und  Norden  ehemals  steil  abfallende 
Plateau  der  späteren  Colonia  Agrippinensis  hat  das  Legions- 
lager und  das  oppidum  Ubiorum  in  sich  geschlossen,  und 
zwar  nahm  das  Legionslager  den  östlichen,  das  unmittelbar 
anschliefsende  oppidum  den  westlichen  Teil  ein.  Der  für 
das  Lager  aus  dem  Laufe  der  uralten  Heerstrafsen  bestimmte  Raum    erwies 


t)  In   der  Abgeordnetensitznng    des  Verbandes  (vgL  diese  Zeitschrift  IL  Bd.,  S.  228 

bis  234)  wurde  beschlossen:  der  Verband  soll  auch  bei  denjenigen  Jahresversammlnngen 

^  Gesamtrereios    vertreten  sein,   die   etwa  im  Norden  oder  Osten  stattfinden.     Femer 

naftm  der  Verband    mit   dem  gröfsten  Interesse   von   der  Mitteilung   des  Archivdirektors 

Wolfram  fMetz)  über  die  Anffindang  eines  grofsen  Amphitheaters  in  Metz  Kenntnis  und 

t*aeüAneie  e»  einstimmig  als  dringend  wünschenswert,  dafs  die  mit  grofsen  Opfern  frei- 

'chcteo  Reste  des  Amphitheaters  sichtbar  erhalten  bleiben. 

6 


§- 


sich  annähernd  gleich  dem  Räume  des  Bonner  und  Neufser  Lagers  zusammen- 
genommen, in  die  bekanntlich  je  eine  der  Kölner  Legionen  verlegt  wurde. 
Die  Ära  Ubiorum  hat  nicht  im  Lager,  sondern  vor,  oder  —  am  wahr- 
scheinlichsten —  im  o^i^um  gestanden :  als  natürlichster  Standpunkt 
ergibt  sich  der  heutige  Neumarkt,  von  dem  die  beiden  wichtigsten 
Heerstrafsen  gegen  Westen  und  Südwesten  ausgingen.  An  ersterer  hat  sich 
noch  auf  dem  Neumarkt  selbst  der  Marmorkopf  einer  Borna  mit  einem  für 
die  Aufstellung  eines  Standbildes  bestimmten  Fundamente,  an  letzterer,  etwas 
weiter  entfernt,  sind  die  in  einer  Grube  niedergelegten  Reste  eines  dem  Kaiser- 
kulte dienenden  Tempels  gefunden  worden;  beide  Denkmäler  gehören  der 
älteren  Epoche  der  römischen  Herrschaft  an.  Als  eigendicher  Gründer  Kölns 
ist  der  das  ganze  Mittelalter  hindurch  festgehaltenen  Überlieferung  entsprechend 
M.  Vipsanius  Agrippa  zu  betrachten;  auf  ihn  geht  die  Anlage  der 
Heerstrafsen,  des  Lagers,  des  oppidum  und  mittelbar  wohl  auch  die  der 
Ära  Ubiorum  zurück.  —  Museumsdirektor  Lehner  (Bonn)  berichtete  über 
die  neuerdings  von  ihm  aufgedeckten  römischen  Befestigungen  von  Remagen. 
Die  linksrheinischen  Erdkastelle  augusteischer  Zeit  in  Obergermanien 
konnten  Ende  des  L  Jahrhunderts  eingeebnet  werden,  weil  der  rechtsrheinische 
obergermanische  Limes  die  Rolle  als  Grenzschutz  übernahm,  bis  er  um  die 
Mitte  des  III.  Jahrhunderts  verloren  ging;  dann  wurde  der  linksrheinische 
Festungsgürtel  wieder  hergestellt.  Dagegen  mufsten  die  linksrheinischen  Be- 
festigungen Untergermaniens  stets  ab  solche  bestehen  bleiben,  weil  sie 
niemals  durch  einen  rechtsrheinischen  Grenzschutz  abgelöst  wurden.  Dem 
entsprechend  fand  sich  bei  den  Ausgrabungen  in  Remagen,  deren  Abbildungen 
vorgelegt  wurden,  sowohl  das  Steinkastell  des  II.  als  auch  die  spätrömische 
Befestigung  des  III.  Jahrhunderts.  Während  das  ältere  Kastell  die  Form 
und  die  Verhältnisse  der  gleichzeitigen  Limeskastelle  aufwies,  war  die  spät- 
römische  Befestigung  unter  Benutzung  der  stehen  gebliebenen  3  m  hohen 
und  1,30  m  breiten  Kastellmauer  hergestellt,  indem  diese  durch  einen 
Vorbau  auf  die  Breite  von  3  m  und  durch  Erhöhimg  auf  die  Höhe  von 
mindestens  6  m  gebracht  wurde.  —  Prof  Bone  (Düsseldorf)  legte  sodann 
eine  Sammlung  antiker  Gläser,  insbesondere  Millefiorigläser ,  vor  und  be- 
sprach die  römischen  Glasarbeiten  im  Vergleich  mit  einheimischen  Fabri- 
katen, während  Domkapitular  Schnütgen  (Köln)  als  Erläuterung  zu  den  in 
der  kunstgeschichdichen  Abteilung  der  Ausstellung  zu  besichtigenden  rheinischen 
Glasmalereien  die  Entwickelung  der  Glasmalerei  vom  Anfang  des  XIII.  bis 
zur  Mitte  des  XVI  Jahrhunderts  behandelte. 

In  der  Sitzung  der  dritten  und  vierten  Abteilung  besprach  Prof. 
v.  Below  (Tübingen)  die  Theorie  vom  Ureigentum  und  zeigte,  wie  das  all- 
mählich gewonnene  Dogma,  als  ob  das  Gemeineigentum  an  Gnmd  und 
Boden  bei  allen  Völkern  der  ursprünglich  belegte  Zustand  sei,  durch  eine 
Reihe  von  Einzeluntersuchungen,  welche  die  angeblichen  Belege  kritisch  zer- 
pflückten, namentlich  im  letzten  Jahrzehnt  als  fadsch  erwiesen  worden  ist  — 
Recht  lehrreich  dafür,  wie  wichtig  die  Kirchenvogtei  für  die  Ausbildung  der 
Landesherrlichkeit  ist,  war  der  Vortrag  des  Essener  Stadtarchivars  K  o  n  r  a  d 
Ribbeck  über  die  Kölner  ErxbiscJiöfe  und  das  St  iß  Essen  von  1243  bis 
1288.  Fast  während  des  ganzen  XIII.  Jahrhunderts  haben  die  Kölner 
Erzbischöfe,    die    bereits    die   Herrschaft    über   die   beiden   anderen   reichs- 


t3 
—   ^  — 

unmittelbaren  Damenstifter  Westfalens  (Herford  und  Vreden)  besafsen,  nach 
dem  Besitze  des  Stiftes  Essen  gestrebt  Besonders  wertvoll  war  letzteres, 
weil  es  mit  seinen  am  Hellwege  bis  nach  Unna  sich  an  einander  reihenden 
Höfen  für  die  Erzbischöfe  die  Verbindung  mit  Soest  tmd  dem  Herzogtum 
Westfalen  herstellte.  Ob  schon  Engelbert  I.  (f  1225)  Absichten  auf  Essen 
gehabt  hat,  als  er  den  Kampf  gegen  die  Übergrifife  des  Stifbvogts  Friedrich 
Ton  Isenburg  in  die  Hand  nahm,  mufs  dahin  gestellt  bleiben;  jedenfalls  ist 
ein  solches  Bestreben,  falls  es  vorlümden  war,  zunächst  durch  den  Sturz  des 
IsenbuTgers  m'cht  gefordert  worden.  König  Heinrich,  der  Sohn  Friedrichs  11., 
lieis  sich  selbst  zum  Stiftsvogt  wählen  und  übertrug  die  Ausübung  der  Amts- 
pflichten bewährten  staufischen  Parteigängern.  Vielleicht  hat  zuletzt  dennoch 
Engelberts  Nachfolger,  Heinrich  von  Molenark,  die  Essener  Vogtei  an  sich  ge- 
bracht, denn  ihn  befehden  die  Söhne  Friedrichs  von  Isenburg.  Die  jülichsche 
Gefimgenschaft  des  Erzbischofs  Konrad  von  Hohstaden  1242  ermutigte  die 
Isenburger,  und  Dietrich,  der  älteste  Sohn  Friedrichs,  erbaute  mit  Unterstützung 
seines  Oheims,  des  Bischofs  von  Osnabrück,  die  Veste  Neu-Isenburg  bei  Relling- 
hausen  an  der  Ruhr:  zweifellos  hat  er  damab  die  Essener  Vogtei  wieder 
an  sich  gerissen.  Erzbischof  Konrad  wandte  sich  nach  der  Verständigung 
mit  Bei^  und  Jülich  mit  ganzer  Macht  gegen  die  westfälischen  Grafen,  er- 
oberte 1244  die  neue  Isenburg,  besetzte  Essen  und  liefs  seinen  Anhänger 
Gottfried  von  Sayn  zum  Vogt  wählen,  während  ihn  selbst  der  Papst  zum 
Konservator  des  Stifb  ernannte ;  die  Ummauerung  Essens  fallt  in  den  Rahmen 
der  zahlreichen  Stadtbefestigungen  Konrads.  Nach  Gottfrieds  Tode  nahm 
Konrad  die  Vogtei  selbst  an  sich  und  setzte  auf  die  Isenburg  einen  erz- 
bischöflichen Drosten,  der  zugleich  Richter  und  Vorsitzender  des  Rates  in  der 
Stadt  Essen  wurde.  Schliefslich  hat  der  Erzbischof  das  bisher  exemte  Stift  auch 
seiner  geistlichen  Gerichtsbarkeit  unterworfen.  Sein  Nachfolger  Engelbert  ü. 
(1261 — 74)  verzichtete  auf  die  kirchliche  Oberhoheit,  behauptete  aber  in 
gutem  Einvernehmen  mit  der  Äbtissin  und  deren  Bruder,  dem  Grafen  Gott- 
fried von  Arnsberg,  die  Vogtei,  und  Bissen  wurde  auch  unter  ihm  wie  eine 
erzstiftische  Stadt  behandelt;  Dietrich  von  Isenburg  ward  1272  durch  Be- 
willigung einer  Rente  an  das  kölnische  Interesse  gefesselt.  Nach  Engelberts 
Tode  suchte  sich  die  Äbtissin  der  erzbischöflichen  Botmäfsigkeit  zu  entziehen 
und  übertrug  die  Vogtei  dem  König  Rudolf.  Allein  Erzbischof  Siegfried 
(1275  —  97)  liefs  von  der  kölnischen  Partei  in  den  beiden  Essener  Kapiteln 
die  Wahl  umstofsen  und  sich  selbst  zum  Vogt  ernennen,  während  Rudolf, 
der  damab  die  Unterstützung  des  Erzbischofs  gegen  Ottokar  von  Böhmen 
nicht  entbehren  konnte,  die  Ausübung  der  Vogtei  ihm  ebenfedls  übertrug. 
Obwohl  sich  das  Verhältnis  des  Königs  zum  Erzbischofe  wieder  verschlechterte 
and  ein  gegen  ihn  gerichtetes  rheinisch-westfälisches  Adelsbündnis  entstand, 
so  be^ite  eine  Reihe  von  unerhörten  Glücksfällen  dennoch  Siegfried  von 
seinen  gefahrlichsten  Gegnern.  Als  der  König,  den  zunächst  die  Aufgaben  seiner 
Hau^K>litik  in  Anspruch  genonunen  hatten,  ins  Reich  zurückkehrte  und  sich 
ihm  der  Erzbischof  1282  in  Oppenheim  unterwarf,  wurde  die  Essener  An- 
gelegenheit dem  Urteil  eines  Schiedsgerichts  überlassen;  tatsächlich  behaup- 
tete sich  Siegfried  bis  1288  im  Besitze  der  Isenburg  und  der  Vogtei.  Erst 
die  Schlacht  bei  Worringen  führte  auch  hier  zum  Sturze  der  kökiischen 
.Machtstellung.  —  Über  die  Geschichte  des  Schlosses  Burg  an  der  Wupper 

6* 


—    iö&    — 


berichtete  schliefslich  Herr  Bibliothekar  Otto  Schell  (Elberfeld).  Das  jetzt 
im  Wiederaufbau  befindliche  Schlofs  Burg  vergegenwärtigt  die  Geschichte  des 
bergischen  Herrscherhauses  und  Landes  und  ist  kunstgeschichlich  von  Interesse, 
weil  vom  Xll.  bis  XVllI.  Jahrhundert  daran  gebaut  worden  ist.  Burg  trat 
im  XII.  Jahrhundert  an  Stelle  von  Altenberg,  das  die  Grafen  von  Werl- 
Altena  in  ein  Cistercienserkloster  umwandelten.  Schlofs  Burg,  schon  vor 
dieser  Zeit,  vielleicht  im  Ringe  einer  alten  Wallburg  erbaut,  hiefs  nun  „Neue 
Burg"  tmd  war  seit  1133  Lieblingssitz  der  bergischen  Grafen,  zuerst  wohl 
Adolfs  IL,  dessen  Sohn  Engelbert  I.  (f  1189)  sich  nach  seinem  Herrscher- 
sitze zu  benennen  pflegte  und  in  ihm  eine  Niederlassung  des  Johanniter- 
Ordens  begündete.  Sein  jüngerer  Sohn,  der  Kölner  Erzbischof  Ekigelbert 
(f  1225)  nahm  einen  vollständigen  Umbau  vor:  der  herrliche  Palas  mit 
seinen  Spitzbogenfenstem  im  Rittersaal  ist  sein  Werk.  Nach  Engelbert 
lösen  sich  die  engen  Beziehungen,  die  bisher  zwischen  dem  Erzbistum  Köln 
imd  den  Grafen  von  Berg  bestanden,  zum  Schaden  der  letzteren.  Unter 
den  nunmehrigen  Herzögen  Wilhelm  IL  (1475  —  ^Si^)  "^^  Johann  IIL 
(1511 — 1539)  wurde  bei  einer  neuen  durchgreifenden  baulichen  Veränderung 
der  Palas  umgebaut  und  mit  einem  neuen  Dach  versehen,  dessen  malerische 
Fachwerkaufbauten  möglichst  genau  wieder  hergestellt  worden  sind.  1528 
war  das  jetzige  Torhaus  vollendet.  War  noch  1526  die  Hochzeit  der  Herzogs- 
tochter Sibylla  mit  Herzog  Johann  Friedrich  von  Sachsen  hier  gefeiert  worden, 
so  kehrten  die  fürstlichen  Gäste  nun  immer  seltener  ein,  bis  kurz  nach  dem 
Abschlüsse  des  Westfälischen  Friedens  1648  der  Hauptteil  des  Schlosses 
von  der  bisherigen  Besatzung  unter  Oberst  Heinrich  von  Plettenberg  zerstört 
wurde.  Von  da  an  dienten  die  Überreste  Zwecken  der  Kellnerei,  im  XIX.  Jahr- 
hundert verschiedenen  industriellen  Unternehmungen,  bis  1849  ^'^  Balken  vom 
Dach  des  Palas  zum  Bau  des  Elberfelder  Landgerichts  verwendet  wurden.  Die 
Ruine  blieb  stehen,  und  1887  bildete  sich  „der  Verein  zur  Erhaltung  der 
Schlofsruine  Burg'*,  dem  es  gelungen  ist  das  Interesse  weitester  Kreise  an 
diesem  geschichtlichen  Denkmal  zu  erwecken  und  die  bauliche  Wiederher- 
stellung in  die  Wege  zu  leiten. 

Die  erst  1901  gegründete  fünfte  Abteilung  für  Volkskunde  tagte 
unter  dem  Vorsitze  ihres  Gründers,  des  Generalmajors  v.  Friesen  (Dresden) 
zum  ersten  Male.  Hier  mufste  es  als  die  wichtigste  Aufgabe  erscheinen^ 
das  Wesen  und  die  Aufgabe  der  geschichtlichen  Volkskunde  und  ihre  Eigen- 
schaft als  geschichtliche  Disziplin  zu  beleuchten,  und  dies  tat  Prof.  Brenner 
(Würzburg)  in  einem  Vortrage,  dessen  Ergebnis  er  schon  in  Thesen  bekannt 
gegeben  hatte.  Als  Aufgabe  der  wissenschaftlichen  Volkskunde  bezeichnet 
er  darin  a)  alle  Äufserungen  der  Volksseele  in  Wort  und  Werk,  soweit  diese 
von  höherer  Kultur  unberührt  ist,  darzulegen ;  b)  die  Äufserungen  im  Wandel 
der  Zeiten  geschichtlich  und  kritisch  zu  verfolgen;  c)  den  physiologischen 
und  geschichtlichen  Gründen  nachzugehen,  die  sie  hervorgebracht  und  haben 
wachsen  lassen.  Von  den  erfreulicherweise  schon  recht  zahlreichen  Vereinen, 
die  sich  ausschliefslich  der  Volskunde  widmen,  gehören  bis  jetzt  nur  vier 
dem  Gesamtverein  an,  nämlich  der  Verein  für  sächsische  Volkskunde  (Dresden), 
Der  Verein  für  Egerländer  Volkskunde,  Die  Kommission  für  die  deutschen 
volkstümlichen  Überlieferungen  in  Böhmen  (Prag)  und  Der  Verein  für  bayerische 
Volkskunde  und  Mundartenforschung  (Würzburg). 


—    im:    — 

In    den    vereinigten    Abteilungen    sprach    an    erster  Stelle    Armin 
Tille  (Leipzig)   über   Erschließung  tind  Ausbeutung   der  kleineren  Archive. 
Nach    kurzer  Übersicht  über  das,   was  bisher  in  dieser  Hinsicht  in  einigen 
deutschen  Landschaften   und   Österreichischen  Kronländern   geleistet   worden 
ist,   warnt   T.    vor   Überschätzung    der   Archivalien   imd   fordert  unter   Ver- 
meidung  einer   Inventarisation ,    die   Aufgabe    der   Archiveigentümer   bleiben 
mu£5,  systematische  Dmchsicht  aller  Archive  der  Gemeinden,  der  Pfarrämter 
mid   der   im  Privatbesitz   befindlichen   durch  die  zuständigen  geschichtlichen 
Organisationen.    Gegentiber  dem  früher  von  anderer  Seite  erhobenen  Vorwurfe, 
man  habe  die  Urkunden  allzusehr  vor  den  Akten  bevorzugt  und  sei  bezüg- 
lich der  Zeitgrenze  nicht  weit  genug  herabgegangen,  deren  Berechtigung  T. 
bis  zu  gewissem  Grade  anerkennt,  betont  er,  dafs  an  ersterem  die  mangel- 
hafte Entwickelung  der  Regestentechnik,  die  hier  eine  ganz  andere  sein  mufs 
als  im  grofsen  umfassenden  Zentralarchiv,  viel  Schuld  trägt  und  dafs  in  der 
Tat  je   vollständiger  die  Zentralarchive   werden,    desto  weniger   in    den   ört- 
lichen  zu    finden  ist.     Die  von  T.  aufgestellten  Forderungen,    die  eine  An- 
regimg   zu   praktischer  Betätigung   in   aUen  Landesteilen  sein  sollen,    fanden 
ihren  Ausdruck  in  der  von  der  Versammlung  angenommenen  Resolution: 
„Die  Jahresversammlung  des  Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichts- 
und Altertumsvereine  spricht   allen  den  Körperschaften,   welche  es  unter- 
nommen haben,    die  einer  fachmännischen  Leitung  entbehrenden  Archive 
ihres  Bezirks   systematisch   auf  ihren  Inhalt  untersuchen  zu  lassen,   ihren 
wärmsten  Dank  für  die  dadurch  der  Geschichtsforschung  geleisteten  Dienste 
aus  und  bittet  zugleich,  das  begonnene  Werk  fortzusetzen  und  womöglich 
die  Ergebnisse  vollständig  zu  veröffentlichen. 

Femer  gibt  sie  der  Hoffnung  und  dem  Wunsche  Ausdruck,  dafs  auch 
in  den  Landesteilen,  wo  eine  Untersuchung  der  kleineren  Archive  noch 
nicht  in  Angriff  genonmien  worden  ist,  die  berufenen  Vertreter  sich  bald 
emstUch  mit  der  Frage  beschäftigen,  wie  eine  solche  in  die  Wege  geleitet 
werden  kann. 

Als  geeignete  seitens  der  Geschichtsvereine  zu  ergreifende  Mafs- 
nahmen  dürften  etwa  folgende  Schritte  zu  betrachten  sein: 

a)  in  den  Versammlungen  der  Geschichtsvereine  immer  wieder  auf 
die  Wichtigkeit  der  kleineren  Archive  und  ihrer  Erschliefsung  hinzuweisen 
und  zur  Bearbeitung  ihrer  Inventare  aufzufordern, 

b)  in  den  Vereinszeitschriften  unter  den  Miszellen  regehnäfsig  über 
den  Inhalt  einzelner  Archive  Mitteilungen  zu  veröffentlichen, 

c)  die  staatlichen  und  kirchlichen  Oberbehörden  zu  entsprechenden 
Anordnungen  (Ordnung,  Verzeichnung,  sowie  feuersichere  und  trockene 
Aufbewahrung)  in  ihrem  Amtsbereiche  anzuregen, 

d)  Verzeichnisse  der  im  Privatbesitz  befindlichen  Archive  anzulegen 
mid  namentlich  den  Adel  zu  veranlassen,  die  Archive,  die  zugleich  das 
Material  für  die  Geschichte  der  einzelnen  Geschlechter  liefern,  durch- 
forschen und  inventarisieren  zu  lassen.  Wenn  die  Geschichtsvereine  dabei 
die  für  eine  solche  Tätigkeit  geeigneten  Personen  namhaft  machen, 
werden  sie  der  Sache  selbst  den  gröfsten  Dienst  erweisen."  — 

Die  Notwendigkeit,  jetzt  überall  an  die  Ausführung  geschichtlicher  Karten 
zu  gehen,   betonte   Prof  v.  Thudichum   (Tübingen)    mit  Hinweis   darauf, 


—     10»-    — 

dafs  die  Bewegung  zur  Herstelltmg  von  Grundkarten  jetzt  genügend  im  FluGs  ist 
und  es  vielmehr  darauf  ankommt,  dieselben  nutzbar  zu  machen.  Das,  was  Thudi- 
chum  vorschwebt,  ist  eine  Organisation  der  Art,  dafs  die  historischen  Koomiis- 
sionen  und  Vereine  je  (tir  ihre  Gebiete  Klarten  bearbeiten,  welche  es  ermöglichen, 
durch  Zusammenfligung  eine  einheitliche  geschichtliche  Karte  von  Deutschland 
für  die  Jahre  1789,  1654  und  1525  herzustellen.  Dem  Wunsche  des 
Redners  wurde  entsprochen  durch  den  Beschlufs,  alle  historischen  Konmiis- 
sionen  imd  Vereine,  sowie  alle  deutschen  Geschichts-  tmd  Altertumskundigen 
einzuladen,  sich  alsbald  an  der  Herstellung  handschriftlicher  historischer 
Karten  womöglich  über  die  Gebiets  Verhältnisse  in  den  Jahren  1789,  1654 
imd  1525  zu  beteiligen.  In  der  Erörterung  wurde  vornehmlich  betont, 
dafs  in  den  einzelnen  Landschaften  die  Zeitptmkte,  für  die  man  zweckmäfsiger- 
weise  Karten  herstellt,  verschieden  sind,  andrerseits  aber  mit  Recht  dem 
entgegengehalten,  dafs  jeder  solchen  Karte  ein  Text  mit  den  Quellennach- 
weisen beigefügt  werden  mufs  und  dafs  es,  wenn  Klarte  tmd  Text  vorliegen, 
verhältnismäfsig  einfach  sein  wird,  für  eine  ganz  Deutschland  umspannende 
Karte  die  Einträge  zu  modifizieren,  wenn  auch  den  Verhältnissen  der  einzelnen 
Landschaften  entsprechend  dort  zweckmäfsig  andere  Zeitpunkte  gewählt  werden. 
Jedenfalls  ist  es  aufser  Frage,  dafs  das  gröfste  allgemeine  Interesse  obwaltet, 
sorgfältig  bearbeitete  Karten  zu  erhalten,  welche  den  Zustand  Deutschlands 
kurz  vor  der  französischen  Revolution,  nach  der  Ausführung  der  Bestim- 
mungen des  Westfälischen  Friedens  und  vor  Beginn  der  Religionsveränderungen 
darstellen.  —  Die  versprochenen  Ausführungen  von  Rudolf  Kötzschke 
(Leipzig)  über  den  gegenwärtigen  Stand  der  historischen  Geo- 
graphie Deutschlands,  die  zweckmäfsigerweise  vor  dem  Thudichumschen 
Antrag  hätten  gehört  und  besprochen  werden  sollen,  mufste  der  Vortragende 
wegen  des  üblichen  Zeitmangels  auf  einige  kurze  Bemerkungen  zusammen- 
drängen, in  denen  er  die  wichtigsten  derzeitigen  Unternehmungen  historisch- 
kartographischer Art,  besonders  den  von  der  Gesellschaft  für  Rheinische 
Geschichtskunde  herausgegebenen  Geschichtlichen  Atlas  der  Rheinpratmix  und 
den  Historischen  Atlas  der  österreichiscfien  Alpenländer  *)  sowie  die  Bearbeitung 
der  historisch-kirchlichen  Geographie  nach  Inhalt  imd  Methode  charakterisierte.  — 
Bezüglich  der  geplanten  Fortsetzung  des  Walther-Coner'schen  Re- 
pertoriums  der  geschichtliccen  Zeitschriftenliteratur  im  Sinne  des  von  dem 
dazu  eingesetzten  Ausschusse  entworfenen  Planes  ^)  war  leider  nur  ein  nega- 
tiver Beschlufs  möglich,  da  kein  einziger  Verein  auch  nur  seine  Meinung 
bezüglich  der  ihm  zugemuteten  finanziellen  Opfer  geäufsert  hat.  In  der  be- 
absichtigten Form  läfst  der  Gesamtverein  seinen  Plan  fallen.  Dagegen  soll 
sich  der  Verwaltungsausschufs  mit  der  neuerdings  in  Berlin  entstandenen 
Bibliographischen  Gesellschaft^)  ins  Einvernehmen  setzen,  damit 
in  geeigneter  Weise  im  Rahmen  der  von  ihr  geplanten  Veröffentlichungen 
eine  Übersicht  über  die  geschichtliche  Zeitschriftenliteratur  seit  1850  her- 
gestellt wird.  —  Im  Auftrage  der  Regierung  legte  Archivdirektor  Wolfram 
(Metz)  der  Versammlung  die  ersten  fünf  Lieferungen  eines  neuen  historisch- 

i)  Vgl.  diese  Zeitschrift  II.  Bd.,  S.  217—227. 

2)  Vgl.  Korrespondenzblatt  des  Gesamtrercins  50.  Jahrg.  (1902),  S.  28—30. 

3)  Vgl.  über  die  Aufgaben,    die  sich  diese  Gesellschaft  gestellt  hat,  und  die  Mittel, 
durch  welche  sie  diese  zu  lösen  gedenkt,  oben  S.  22 — 25. 


-  &  - 


statistischen  Werkes  für  Ebafs •  Lothringen  vor:  Bas  Reichsland  Elsaß -Lo- 
lhri$igen,  Landes  und  Ortsbeschreibung,  herausgegeben  vom  Statistischen 
Bureau  des  Ministeriums  für  Elsafs-Lothringen  (Straisburg,  Ed.  Heitz,  1902. 
Vollständig  Mk.  15,40),  gliedert  sich  in  i.  eine  allgemeine  Landesbeschreibung, 
2.  eine  Statistik  des  Landes  und  3.  ein  statistisch -geschichtliches  Ortsver- 
zeichnis, soll  aber  vorzugsweise  der  Gegenwart  dienen.  Sind  auch  die  alten 
Herrschaftsgebiete  und  Verwaltungsbezirke  neben  den  modernen  aufgenommen, 
so  sind  doch  die  älteren  Namenformen  nur  zum  Teil  berücksichtigt  und  im 
allgemeinen  nur  die  gedruckten  Quellen  benutzt  worden.  Es  handelt  sich 
also  nicht  eigentlich  um  ein  Werk,  das  dem  im  lU.  Bande  dieser  Zeitschrift, 
S.  97  ff.  charakterisierten  vergleichbar  ist,  aber  doch  um  eins,  das  immerhin 
in  gewissen  Grenzen  dem  Geschichtsforscher  dienen  kann,  vorausgesetzt,  dafs 
die  einzelnen  mitgeteilten  Nachrichten  zuverlässig  sind:  das  Urteil  darüber 
steht  den  Spezialforschem  im  Reichslande  zu. 


Eingegangene  BBeher. 

Tayenthal,  Max  von:  Die  Gablonzer  Industrie  und  die  Produktions- 
genossenschaft der  Hohlperlenerzeuger  im  politischen  Bezirke  Gablonz 
[=  Wiener  staatswissenschaftliche  Studien,  herausgegeben  von  Edmund 
Bematzik  und  Eugen  von  Philippovich ,  2.  Bd.,  2.  Heft].  Tübingen 
und  Leipzig,  J.  C.  B.  Mohr,   1900.     90  S.  8<>.     M.  3,20. 

Skalsky,  Ad.:  Die  evangelische  Kirchenordnung  für  Teschen  vom  Jahre 
1584  [=  Jahrbuch  der  Gesellschaft  für  die  Geschichte  des  Protestantis- 
mus in  Österreich,  22.  Jahrgang,   1901,  S.   i  — 17]. 

Snsebach,  H. :  Zur  Geschichte  des  Postwesens  der  Stadt  Göttmgen 
[=  Protokolle  über  die  Sitzungen  des  Vereins  für  die  Geschichte 
Göttingens   1900 — 1901,  S.   115 — 143]. 

Vancsa,  Max:  Über  Landes-  und  Ortsgeschichte,  ihren  Wert  und  ihre 
Au%aben,  Vortrag  gehalten  am  i.  März  1902  bei  der  Festfeier  des 
Akademischen  Vereines  deutscher  Historiker  in  Wien  anläislich  des 
25.  Semesters  seines  Bestandes.  Wien,  Selbstverlag  des  Vereines,  1902. 
18  S.  80. 

Derselbe:  Niederösterreich  im  Mittelalter  [=  Das  Wissen  für  Alle.  Volks- 
tümliche Vorträge  und  populärwissenschaftliche  Rtmdschau  (Wien),  2.  Jahr- 
gang, Nr.  28  imd  29]. 

Benjes,  C. :  Zeittafel  zur  Mecklenburgischen  Geschichte  nebst  Stammbäumen 
und  Wappen.     Berlin,  Süsserott,   1899.     8  S.     M.  0,10. 

Bilfinger:  Das  germanische  Julfest  [=  Programm  des  Eberhard-Ludwig- 
Gymnasiums  in  Stuttgart,   1900 — 1901].     132  S.  4®. 

Branner,  Heinrich:  Grundzüge  der  deutschen  Rechtsgeschichte.  Leipzig, 
Duncker  &  Humblot,   1901.     298  S.  8^     Gebunden  M.  6,80. 

Carlebach,  Ephraim:  Die  rechtlichen  und  sozialen  Verhältnisse  der 
jüdischen  Gemeinden  Speyer,  Worms  und  Mainz  von  ihren  Anfangen 
bis  zur  Mitte  des  XIV.  Jahrhunderts.  Frankfurt  a.  M.,  I.  Kauffmann, 
1901.     90  S.  80. 

Deutsche  Gaue,  Zeitschrift  für  Heimatforschung  und  Heimatkunde,  her- 
ausgegeben von  Kurat  Frank,  Kaufbeuren.     10  Hefte  jährlich  M.  2,40. 


HU*       — 


Doehler,  Richard:  Diplomatarium  vallis  S.  Mariae  monasterii  sanctimo- 
niaÜum  ord.  eist.,  die  Urkunden  des  Königlichen  Jungfrauenstifts  und 
Klosters  Cisterdenser-Ordens  zu  St.  Marienthal  in  der  kgl.  sächs.  Ober- 
lausitz, nach  den  sämtlichen  Origbalen  des  Archivs  in  ausführlichen 
Regesten,  [=  Sonderabdruck  aus  dem  Neuen  Lausitzischen  Magazin 
Bd.  78].  138  S.  8». 
*  Gengier,  Gottfried  Heinrich:  Über  die  deutschen  Städteprivilegien 
des  XVI.,  XVn.  imd  XVIII.  Jahrhtmderts  [=  Sonderabdnick  aus  der 
Festschrift  der  Universität  Erlangen  zur  Feier  des  achtzigsten  Geburts- 
tages Sr.  Königlichen  Hoheit  des  Prinzregenten  Luitpold  von  Bayern]. 
Erlangen  tmd  Leipzig,  A.  Deichert  (Georg  Böhme),  1901.  44  S.  8^. 
M.   1,20. 

Gehrhard,  Heinrich  imd  Küstner,  Wilhelm:  Der  Dichter  und  Schriftsteller 
Karl  Geib  und  die  Familie  Geib  von  Lambsheim,  ein  Gedenk-  und 
Erinnerungsblatt  zum  50.  Todestage  des  Dichters  Karl  Geib,  heraus- 
gegeben auf  Veranlassung  des  Frankenthaler  Altertumsvereins.  Franken- 
thal, Friedr.  Albeck,   1902.      100  S.  8<>. 

Grautoff,  Ferdinand:  Die  Beziehimgen  Lübecks  zu  Christian  IV.  bis 
zum  30jährigen  Kriege,  Marburger  Dissert.      1899.     51   S.  8^ 

Grütter,  Fr.:  Der  Loin-Gau,  ein  Beitrag  zur  älteren  Geschichte  des  Fürsten- 
tums Lüneburg  [=  Veröffentlichungen  zur  niedersächsischen  Geschichte, 
herausg^eben  von  Jürgens,  4.  Heft].  Hannover,  M.  &  H.  Schaper, 
1901.     52  S.  8®.     M.   1,00. 

Hansen,  Reimer:  Wiedertäufer  in  Eiderstedt  bis  t6i6  [=  Schriften  des 
Vereins  für  schleswig-holsteinische  Kirchengeschichte.  11.  Reihe  (Bei- 
träge und  Mitteilungen)  2.  Bd.  (1901),  S.   175 — 238]. 

Heineck,  Hermann:  Brandenburg-Preufsen  und  Nordhausen  in  urkund- 
licher Darstellung,  zur  Feier  der  100 jährigen  Zugehörigkeit  der  Stadt 
Nordhausen  zur  Krone  Preufsen.  Nordhausen,  C.  Haacke,  1902. 
238  S.  80. 

Herre,  Paul:  Europäische  Politik  im  Cyprischen  Krieg,  1570 — 1573, 
I.  Teil:  Vorgeschichte  imd  Vorverhandlungen.  Leipzig,  Dieterich 
(Theodor  Weicher),   1902.      165  S.  S^.     M.  4,50. 

Hilliger,  Benno:  Die  Urbare  von  S.  Pantaleon  in  Köln  [=  Publikationen 
der  GeseUschaft  für  Rheinische  Geschichtskunde  XX:  Rheinische  Urbare, 
Sammlung  von  Urbaren  und  anderen  Quellen  zur  Rheinischen  Wirt- 
schaftsgeschichte],    Bonn,  Behrendt,   1902.     CIV  und  725  S.  8^ 

Keller,  Rudolf:  Die  Friedensverhandlungen  zwischen  Frankreich  und 
dem  Kaiser  auf  dem  Regensburger  Kurftirstentag  1630.  Bonner  Disser- 
tation.    Bonn,  Behrendt,   1902.     57  S.  8^ 

Kirchhoff,  Alfred:  Was  ist  national?  Halle,  Gebauer-Schwetschke,  1902. 
44  S.  8«.     M.  0,80. 

Kraus,  Joh.:  Die  Marken  (Fabrikzeichen) der  PorzellanmanuCaktur  in  Franken- 
thal (1756 — 1800).  Frankenthal,  Friedr.  Albeck,  1899.  45  und  XIII 
S.  80. 

Prähistorische  Blätter,  unter  Mitwirkung  von  Forschem  und  Freimden 
der  prähistorischen  Wissenschaft  herausgegeben  von  Prof.  Dr.  Julius 
Naue  in  München.     XIV.  Jahrgang  (1902),  Nr.   i.     16  S.  80. 

Herantgeber  Dr.  Armin  Tille  in  Leipcig.  —  Druck  nnd  Verlag  von  Friedrich  Andreas  Perdiet  in  Godia 


Deutsche  Geschichtsblätter 

.  Monatsschrift 


cur 


Fordening  der  landesgescMchtlicben  Forschimg 

IV.  Band  Januar  1903  4.  Heft 


Steiertnärkisehe    Gesehiehtsehreibung    itn 

JAitteialter 

Von 
Franz  Ilwof  (Graz) 

Wenn  hier  eine  Darstellung  der  steirischen  Historiographie  ver- 
sucht wird,  so  ist  diesem  nicht  allzu  leichten  Unternehmen  vorauszu- 
schicken, dafs  durchaus  nicht  an  eine  vollständige  Aufzählung  und 
Besprechung  aller  Schriften  zur  steirischen  Geschichte  gedacht  werden 
kann;  enthält  doch  Schlossar*s  Bibliotheca  Historico-Geographica 
Stiriaca^)  3733  Nummern,  obwohl  sie  nicht  lückenlos  und  seit 
äirer  Vollendung  manches  Neue  erschienen  ist.  Hier  kommt  es 
darauf  an,  das  Wichtigste  und  Bedeutendste,  das  ftir  die  betreffende  Zeit 
besonders  Charakteristische  und  vor  allem  das  ftir  die  Folge  Belang- 
reiche zu  besprechen. 

Die  Anfange  der  Geschichtschreibung  in  Steiermark  finden  sich 
in  dem  Benediktinerstifte  Admont  im  Ennstale.  Erzbischof  Gebhard 
von  Salzburg  gründete  es,  indem  er  1074  aus  St.  Peter  in  Salzburg 
zwölf  Mönche  dorthin  sandte,  der  neuen  Stiftung  als  Dotation  die  von 
<icr  heiligen  Hemma,  der  1045  verstorbenen  Gemahlin  des  Grafen 
Wilhelm  von  Friesach  und  Zeltschach  gewidmeten  Ländereien  über- 
gab und  auch  seinerseits  reiche  Schenkungen  hinzufügte.  Dafs  man 
in  dem  emporblühenden  Kloster  den  Stifter  nicht  vergafs,  beweist  die 
schon  am  Anfang  des  XII.  Jahrhunderts  von  einem  Admonter  Mönch 
entworfene  vifa  Gebhardi,  aber  der  nächsten  Generation  genügte  diese 
kurze  Lebensbeschreibung  nicht,  und  ein  anderer  Admonter  schilderte 
nun  eingehend  das  Leben  Gebhards  und  seiner  vier  nächsten  Nachfolger 
(Thiemo,  Konrad  I.,  Eberhard,  Konrad  II.)  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung ihres  wohlwollenden  Verhaltens  gegen  Admont  *).  Der  Autor 

i)  Aach  B.  d.  T.:    Die  Literatur  der  Steiermark   in   historischer^  geographischer 
'tndetkfwgraphischer  Besiehung.  Ein  Beitrag  zur  österreichischen  Bibliographie.  Graz  1886. 
2)  Gedruckt  in  den  Mooameota  Germaniae  Historica,  Scriptores  XI,  S.  25 — 33. 

7 


—     90     — 

nennt  die  ältere  Vita  und  die  mündliche  Überlieferung  als  seine 
Quellen  und  schliefst  mit  dem  Jahre  Ii8i;  eine  andere  Hand  setzt 
die  Geschichte  von  Admont  bis  zum  Abt  Konrad  1242  und  eine  dritte 
bis  zum  Abt  Friedrich   1259  fort. 

Auch  die  beiden  Fassungen  der  Passio  Thientonis  scheinen  in 
Admont  entstanden  zu  sein;  die  eine  in  Prosa  in  der  Mitte,  die  an- 
dere in  Versen  am  Ende  des  XU.  Jahrhunderts,  und  zwar  rührt  letztere 
von  einem  Begleiter  Thiemos  auf  dem  Kreuzzuge  her.  Da  an  diesem 
Abt  Gisilbert  von  Admont  und  gewifs  in  Begleitung  von  Mönchen 
und  Dienstmannen  seines  Klosters  teilnahm,  so  ist  es  nicht  unwahr- 
scheinlich, dafs  einer  der  zurückgekehrten  Admonter  das  Erlebte  und 
Gesehene  in  Versform  beschrieb  *).  Erzbischof  Thiemo  fand  auf  der 
unglücklichen  Kreuzfahrt  Herzog  Welfs  seinen  Tod;  in  seiner  Heimat 
wünschte  man  einen  Bericht  über  sein  Ende,  und  diesem  Wunsche 
entsprechend  beschrieb  ein  angeblicher  Augenzeuge  sein  grauenvolles 
Leiden  und  Sterben,  aber  schon  Otto  von  Freising  bezweifelt  seine 
Erzählung.  Diese  Schrift  ist  verloren  gegangen,  nur  zwei  verschiedene 
Bearbeitungen,  denen  sie  zu  gründe  liegt,  sind  erhalten,  und  eine  da- 
von ist  aus  Admont.  Man  besafs  hier  nach  Wattenbach  ^)  eine 
kurze  metrische  (beschichte  der  Salzburger  Erzbischöfe  bis  auf  diese 
Zeit,  knüpfte  an  diese  im  Anfange  des  XII.  Jahrh.  einige  kurze  Nach- 
richten über  Erzbischof  Gebhard  an  und  fügte,  dann  wieder  zur  Poesie 
übergehend,  das  Leben  und  Sterben  seines  Nachfolgers  Thiemo  hinzu, 
und  das  Ganze  gibt  eine  recht  gute  Probe  von  der  Formge- 
wandtheit, die  man  sich  damals  in  der  Admonter  Schule 
erwerben  konnte.  Lehrreicher  ist  ein  zweites  Leben  Thiemos, 
welches  die  Zeiten  vor  dem  Kreuzzuge  ausführlicher  behandelt ,  jedoch 
erst  um  die  Mitte  des  XII.  Jahrh.  verfafst  ist  und  daher  über  jene 
schon  ziemlich  fern  liegenden  Ereignisse  manches  F'ehlerhafte  enthält. 

Neben  diesen  Lebensschilderungen  für  Admont  bedeutungsvoller 
Persönlichkeiten  entstanden  dort  auch  Annale n.  Diese  beginnen  mit 
einer  Computatio  annorum  nach  Hieronymus,  bringen  Episoden  aus 
der  Welt-  und  Kirchengeschichte  und  eröffnen  die  Reihe  der  Admonter 
Ereignisse  mit  dem  Ciründungsjahre  1074;  mit  den  allgemeinen  Be- 
gebenheiten sind  dann  in  der  üblichen  Weise  Daten  aus  der  Geschichte 
des  Klosters  verflochten.  Der  Beginn  der  Niederschrift  mag  in  das 
Ende  des  XII.  Jahrh.  fallen;  die  Schriftzüge  der  ersten  Hand  reichen 

i)  Wichncr,  Kloster  Admont  und  seine  Beziehungen  zur  Wissenschaft  und  zum 
Unterricht,     (o.  O.  Selbstverlag  des  Verfassers   1892.)  S.   22  —  24. 

2)  Deutschlands  Geschichtsquellen  (4.  Aufl.  Berlin   1878),  II.,  S.  61—62. 


—     91     — 

bis  1205  und  zwei  andere  setzen  das  Werk  bis  1250  fort.  Unmittelbar 
unterrichten  diese  Annalen  über  die  Geschichte  des  Stiftes  selbst,  für 
diis  übrige  sind  die  Annalen  von  Salzburg,  Garsten,  Melk,  Ekkehard 
und  Otto  von  Freising  benützt.  Dafs  sie  von  Admonter  Mönchen 
stammen,  beweisen  mehrere  Stellen  in  ihnen  selbst  ^).  Die  Vita  Geb- 
hardi  und  die  Passio  Thienwnis  sind  erweitert,  und  die  Kloster- 
j^eschichte,  verbimden  mit  einigen  Angaben  über  die  Salzburger  Erz- 
bischöfe, wird  bis  \\^^  fortgeführt.  Später  hat  man  noch  ein  Exzerpt 
aus  den  Admonter  Annalen  bis  1231  hinzugefügt  und  die  Kloster- 
chronik von  da  bis   1259  fortgesetzt*). 

Streng  genommen  nicht  historischen  Inhalts,  aber  doch  hier  an- 
zuführen sind  zwei  Schriften  des  Abtes  Engelbert  von  Admont  (1297 
bis  1327),  das  Gedicht  de  electione  regis  Rudolphi  et  de  proelio  et 
cof^ictu  regis  Rudolphi  contra  regem  Bohemiae  Ottokarunt  ^)  und 
die  umfangreiche  politische  Abhandlung  de  ortu  et  fine  Romani 
imperii^)  die  in  der  Zeit  Heinrichs  VII.  nach  Empfang  der  Kaiser- 
krone geschrieben  ist.  Lorenz^)  sagt  von  letzterer,  sie  erzähle  über 
die  Entstehung  des  Kaisertums  nichts  Neues,  sei  aber  pessimistisch, 
tteü  das  Ideal  des  Verfassers  sich  von  der  Wirklichkeit  allzusehr  ent- 
ferne. In  der  Ansicht  über  die  Einheit  des  christlichen  Staates  und 
die  Pflicht  des  Kaisers,  den  Frieden  und  die  Eintracht  zwischen  allen 
Völkern  und  Staaten  herzustellen,  hat  Engelbert  viel  Ähnliches  mit 
Dante,  so  dafs  man  die  Kenntnis  der  Schrift  de  ntonarchia  bei  Engel- 
bert voraussetzen  darf,  zumal  dies  durch  die  Chronologie  der  Schriften 
durchaus  nicht  ausgeschlossen  ist. 

Mit  den  Annales  Adtnuntenses  endet  die  historiographische 
Tätigkeit  im  Kloster  und  in  der  Steiermark  überhaupt,  bis  zwei  nach 
Form  und  Inhalt  ganz  anders  beschaflfene  Geschichtswerke  in  deutscher 
Sprache  und  in  Versen  entstehen.  Eins  von  ihnen  ist  für  uns  eine 
hochwichtige  Geschichtsquelle,  für  die  Zeitgenossen  und  ihre  nächsten 
Nachkommen  aber  bildete  es  ein  Geschichtswerk,  aus  dem  sie  die  Er- 
eignisse, die  kurz  vorher  vorgegangen  waren  und  die  sie  miterlebt, 
kennen  lernen  und  Anregung,  Belehrung  und  Unterhaltung  schöpfen 


i)  Gedruckt  sind  die  Admonter  Annalen  in  Moo.  Germ.  Histor,  Scriptores  IX, 
S.  569 — 579,  uod  die  Conünuatio  S.  579  —  593.  Vgl.  Wattenbach  a.  a.  O.  II,  S.  235 
bi*  236. 

2)  Gedrackt  Scriptores  XI,  S.  30—55. 

3)  Hs.  in  der  Münchener  Hofbibliothek. 

4)  Herausgegeben  von  Brusch  1553. 

5)  Deutschlands  GeschichtsquelUn,     2.  Aufl.  (Berlin  1877)  II.  Bd.,  S.  297—298. 

7* 


—     92     — 

konnten:  es  sind  dies  Jansen  Enikels  Weltchronik  und  Fürsten- 
buch  und  Ottokars*)  des  Steiermärkers  Österreichische  oder 
steirische  Reimchronik, 

Enikels  Werke*)  besitzen  g^eringen  historischen  Wert ,  sind 
nicht  Geschichtswerke  in  engerem  Sinne,  sondern  Geschichtenbüchcr, 
die  unterhalten  wollen.  Hingegen  bietet  das  Landbuch  von  Öster- 
reich und  Steier,  die  Einleitung  zum  Fürstenbuche,  im  ersten  Teile 
die  sehr  wertvolle  Beschreibung  des  landesherrlichen  Besitzes  in  Öster- 
reich und  Steiermark  zur  Zeit  der  letzten  Babenberger,  der  herzog- 
lich  steirischen  Hausmacht  von  1122  bis  zur  Beerbung  der  Traun- 
gauer  durch  die  Babenberger,  die  Beschreibung  der  Grenzen  des  Herzog- 
tums  Osterreich  —  also  auch  der  Nordgrenze  der  Steiermark  — 
und  der  babenbergischen  Hausmacht  innerhalb  der  österreichischen 
Grenzen  bis  herauf  in  die  Zeit  Friedrichs  des  Streitbaren.  Dieses 
Landbuch  *)  dürfte  vor  1245  am  babenbergischen  Hofe  entstanden  sein. 

War  man  bis  vor  etwa  zehn  Jahren  auf  die  Ausgabe  von  Otto- 
kars Reimchronik  in  den  Scriptores  rerunt  austriacarum  von  Pez 
(Regensburg  1745)  angewiesen,  so  liegt  nunmehr  die  musterhafte  Edition 
derselben  von  Joseph  Seemüller*)  vor,  der  nicht  nur  durch  eine 
umfangreiche  Einleitung  und  eine  Übersicht  über  den  Inhalt  der  Reim- 
chronik die  Benützung  seiner  Ausgabe  ungemein  erleichtert,  sondern 
auch  alles  beigebracht  hat,  was  über  Ottokar  und  sein  Werk  über- 
haupt zu  erforschen  war  ^).  Danach  war  Ottokar  um  1265  in  der 
Steiermark  geboren,  wahrscheinlich  im  nordwestlichen  Teile,  und  ver- 
mutlich ein  Dienstmann  Ottos  IL  von  Liechtenstein.  Durch  einige 
Zeit  seines  Lebens  Fahrender,  lebte  er  stets  in  bescheidenen  Lebens- 
verhältnissen, hatte  weltliche  Bildung  genossen,  verstand  aber  Latei- 
nisch und  kannte  die  Bibel  sowie  die  deutsche  Dichtung  gut :  Hartmann 
von  Aue,  Wolfram  von  Eschenbach,  Konrad  von  Würzburg,  Walther  von 
der  Vogelweide,  Frauenlob  und  den  Prediger  Berthold  von  Regens- 
burg; Siegfried,  Dietrich  von  Bern,  Ermenrick,  Ecke,  Vasolt,  Horand, 

1)  Den  Namen  „von  Horneck^*  hat  Wolfgang  Lazios  erfanden,  er  ist  eine  willkürliche 
Mutmafsang. 

2)  Jansen  Enikels  Werke,  herausgegeben  von  Philipp  Straach.  Mon.  Germ,  histor. 
Deutsche  Chroniken  and  andere  Geschichtsbücher  des  Mittelalters  ^  Bd.  m.  (Hannover 
1900.) 

3)  Bei  Strauch,  S.  687—729. 

4)  In  Monumenta  Germaniae  Historica.  Deutsche  Chroniken  und  andere  Geschichts- 
bücher des  Mittelalters.     V.  Band.  (Hannover  1890 — 93.) 

5)  Diese  Einleitung  liegt  auch  dem  folgenden  zu  Grunde.  Vgl.  auch  Lorenz,  a.  a.  O.  I, 
209  —217. 


—     93     — 

Kriemhild  werden  von  ihm  ausdrücklich  genannt.     Die  Quellenunter- 
suchung  lehrt,  dafs  der  Reimchronist  manche  schriftliche  Quellen  be- 
nutzte'),   aber  aufser  diesen  müssen  ihm   noch   andere   umfangreiche 
schriftliche  Vorlagen  und  zahheiche  mündliche  Nachrichten  zugekommen 
sein,  Seemüller  vermutet  mit  Glück,  steirische  und  kärntnische  Adelige 
hatten  die  Niederschrift  des  Werkes  veranlafst,  ihm  mündliche  Nach- 
richten zukommen  und  für  ihn  Quellen  ausschreiben  lassen;  im  Mittel- 
punkte dieses  Kreises  dürften  die  steirischen  Liechtensteine  gestanden 
haben,  besonders  Otto  IL*)  und  seine  Söhne;    dieses  Geschlecht   war 
einflufsreich   genug,   auch   mit  den   politischen   Angelegenheiten   des 
Landes  vemoben,  um  dem  Chronisten  selbst  Urkunden  zu  verschaffen. 
Aber  auch  mündliche  Nachrichten  erhielt  der  Chronist  wahrscheinlich 
diutrh  die    Liechtensteine,   so   die   über   die  Verhandlungen  zu  Prefs- 
burg  (1291),  deren  Ergebnis,  die  Friedensurkunde,  der  Chronist  genau 
kennt,  und  die  über  des  Böhmenkönigs  Ottokar  Kreuzzug  nach  Preufsen, 
wobei  Otto  Marschall  war;  aber  wie  Otto  von  Liechtenstein,  so  haben 
gewifs  auch   andere   ihm  Nachrichten   geliefert.     Dabei   konnten  Ver- 
tauschung, Umordnung  und  Unordnung  der  Notizen  leicht  vorkommen ; 
zahlreiche  Anachronismen,  geschichtliche  Unrichtigkeiten,   Verwechs- 
lungen und  Mifeverständnisse,  die  unverständlich  wären,  wenn  Ottokar 
die  vollständigen  Quellen  vor  sich  gehabt  hätte,  dürften  sich  so  erklären. 
Die    bisher    von  Pez,    Schacht*),    Jacobi*),    Lorenz    und 
Krön  es  *)  verschieden  beant>vortete  Frage  nach  der  Zeit  der  Abfassung 
ist  nach  SeemüHer  dahin  zu  entscheiden,   dafs   die  Arbeit   etwa  1305 
begonnen  wurde  und  den  Verfasser  bis  nahe  an  1320  beschäftigt  hat. 
Die  Reimchronik  ist  ein  einheitliches  Werk  und  umfafst  die  Ge- 
schichte vom  Tode  Kaiser  Friedrichs  IL  bis  zur  Ächtung  der  Mörder 
König  Albrechts  1.  und  bis  zum  Aufstande  in  Niederösterreich  gegen 
Herzog  Friedrich  den  Schönen  (1309),  ist  aber  trotz  des  Umfangs  (98595 
\  erse)  nicht  lückenlos.    Sie  bietet  vorwiegend  eine  Fürstengeschichte, 
fiir  Österreich  mit  Steiermark  und  Kärnten  auch  Landesgeschichte,  für 
drei  gröfsere  Episoden   (aus   der  Geschichte  Venedigs,    von   der  Be- 
lagerung und  Zerstörung  Accons  und  von   den  Freiheitskämpfen   der 

1)  So  die  Salxborger  Annalen  and  andere  Salzborger  Aufzeichnungen,  die  Altaicher 
Azmaien  und  ihre  Fortsetzungen,  die  österreichischen  Annalen,  elsässische  Quellen,  und 
vielleicht  bat  es  auch  eine  uns  verlorene  Geschichte  des  Hauses  Habsburg  gegeben,  aus 
der  OUokar  schöpfte. 

2)  Otto  von  Liechtenstein  war  literarisch  gebildet,  Mitglied  der  Schreiberzunft  in  Wien . 

3)  Aus  und  üb€r  Ottokars  von  Horntck  Hetmchront'k»  {Mainz  1821). 

4)  Dt  Ottocart  chronica  austrüuo  (Vratislawiac   1839). 

5)  Allgemeine  Deutsche  Biographie  XXIV.  Bd ,  S.  774. 


—     94     — 

Häminge)  auch  Städtegeschichte.  Staatssachen  werden  erzählt,  rein 
private  Verhältnisse  nur  selten  berührt.  Synchronistische,  geographische 
und  stoffliche  Gesichtspunkte  leiten  den  Verfasser  bei  der  Stoffgliede- 
rung. Im  Mittelpunkte  steht  ihm  Österreich,  um  dasselbe  gruppieren 
sich  die  Nachbarländer  im  Westen,  Norden,  Osten  und  Süden;  doch 
ebenso  wichtig  ist  ihm  das  deutsche  Reich,  d.  h.  die  Unternehmungen 
der  Könige.  Aber  die  Auffassung  ist  durchaus  subjektiv,  so  dafs  sich 
eine  Charakteristik  der  politischen  Stellungnahme  des  Verfassers  wohl 
geben  läfst  ^).  Aber  die  Gedanken,  die  ihn  beherrschen,  sind  nicht 
erworbene  Prinzipien,  also  auch  nicht  Tendenzen,  sondern  passiv  durch 
Leben  und  Bildung  gewordene  und  erwachsene  Anschauungsformen, 
die  von  Fall  zu  F'all  das  Urteil  und  die  Auffassung  beeinflussen;  sie 
leiten  den  Verfasser,  nicht  er  sie. 

Die  Reimchronik  war  nicht  Ottokars  einziges  Werk ;  er  sagt  selbst 
in  der  Vorrede,  dafs  er  eine  Kaiserchronik,  buoch  der  keiser,  ge- 
schrieben habe  und  von  der  Arbeit  ausruhen  wollte,  als  er  von  denen 
die  liep  heten  ze  wissen  diu  tnaere,  was  hie  geschehen  waere, 
nahen  und  wtten  sit  keiser  fridrichs  ztten  gebeten  wurde,  auch  das 
darzustellen;  so  entstand  die  vorliegende  Reimchronik,  w-ährend  das 
verschollene  Kaiserbuch  eine  Weltchronik  war,  welche  mit  Assyrien 
beginnend,  über  Perser  und  Römer  hinweg  bis  zum  Tode  Friedrichs  II. 
ging.  Auch  ein  Buch  der  Päpste  wollte  er  verfassen,  also  Welt-  und 
Landesgeschichte,  wenn  auch  in  verschiedenen  Werken,  nebeneinander 
darstellen ,  wie  überhaupt  für  ihn  die  versuchte  und  durchgeführte 
Verbindung  von  Landes-  und  Reichsgeschichte  charakteristisch  ist  *). 

Die  Bedeutung  der  Chronik  für  ihre  Zeit  bezeichnet  am  besten 
die  Tatsache,  dafs  sie  wenige  Jahre  nach  Ottokars  Tode  der  gelehrte,  in 
politischen  Dingen  wohlerfahrene  Abt  Johannes  von  Viktring  zur 
Grundlage  für  einzelne  Teile  seines  eigenen  lateinischen  Werkes  machte. 

Johannes,  der  Abt  (13 15 — 1348)  des  Cistercienserklosters  Viktring 

i)  Im  Kampfe  zwischen  Kaiser  und  Papst  steht  er  entschieden  auf  Seiten  des  ersteren, 
in  rein  geistlichen  Dingen  ist  er  streng  kirchlich.  Die  Verbindung  zwischen  Land  und 
angestammtem  Herrscherhaus  ist  ihm  ein  geläufiger  Begriff  mit  sittlichem  Wert.  Ein 
lebhaftes  HeimatsgefUhl  weckt  bei  ihm  wahre  Liebe  zu  seinen  Steiermärkern,  neben  ihnen 
stehen  ihm  Leute  aus  Kärnten  und  Salzburg  nahe;  wenig  wohlwollend  ist  er  Böhmen  und 
Ungarn,  auch  Bayern  und  Tirolern. 

2)  Für  uns  liegt  ihr  Wert  sowohl  darin,  dafs  sie  (^)uelle  (lir  bestimmte  geschichtliche  Vor- 
gänge ist,  als  auch  in  ihrer  Eigenschaft  als  literarisches  Denkmal,  denn  sie  war  ein 
geschichtliches  Lesebuch  fiir  die  Zeitgenossen  und  wird  mit  ihren  anschaulichen  Schilde- 
rungen zu  einer  wichtigen  Quelle  für  die  Kenntnis  der  Zustände  in  Steiermark  zur  Zeit 
des  Verfassers. 


—     95     — 

bei  Kla^enfurt  in  Kärnten,  ist  zwar  kein  Steiermärker  und  hat  nicht 
in  diesem  I^nde  geschrieben;  aber  Kärnten  ist  das  nächste  Nachbar- 
g^ebiet  der  Steiermark,  mit  dieser,  besonders  im  späteren  Mittelalter 
und  noch  im  XVI.  Jahrhundert  vielfach  inni^  verbunden,  und  Johanns 
liber  certarutn  historiaruin  bringt  so  viele  Nachrichten  über  Vor- 
j^än^e  und  Ereig^nisse  im  Steierlande  und  erlitt  in  Leoben  eine  Um- 
arbeitung^, dafs  es  gewifs  nicht  mit  Unrecht  den  steiermärkischen  Ge- 
schichtsbüchern des  Mittelalters  anzureihen  ist  *).  Johannes  Victoriensis 
beginnt  sein  Werk  mit  der  Absetzung  Kaiser  Ottos  IV.  (1217)  und 
schliefst  es  mit  dem  Jahre  1344.  Dem  Herzog  Albrecht  II.  gewidmet, 
ist  es  eine  der  besten  historischen  Arbeiten  des  späteren  Mittelalters,  kunst- 
voll angelegt  und  mit  Einsicht  verfafst.  Die  ersten  Teile,  die  er  nicht 
als  Zeitgenosse  schildern  konnte,  beruhen  auf  Ottokars  Reimchronik;  für 
die  späteren  Teile  standen  ihm  seine  eigenen  Erfahrungen  und  allenfalls 
noch  originale  Berichte  von  Augenzeugen  der  Ereignisse  zur  Verfügung. 

Im  besonderen  von  Steiermark  handelt  Johanns  Erzählung  im 
I.  Buche,  wo  von  der  Erledigung  der  F*ürstentümer  Österreich  und 
Steier,  dem  Tode  Friedrichs  II.  und  der  Erwerbung  Österreichs  durch 
Markgraf  Ottokar  von  Mähren  die  Rede  ist.  Ferner  erzählt  er,  wie 
König  Bela  Steiermark  gewann  und  von  Ottokar  besiegt  wurde  sowie 
von  des   letzteren  Kampfe  mit  König  Stephan  von  Ungarn. 

Im  zweiten  Buche  wird  berichtet,  wie  König  Rudolf  seine  beiden 
Sohne  und  den  Grafen  Meinhard  zu  Herzögen  machte,  von  Rudolfs 
zweiter  Ehe  und  seinem  Sohne  Albrecht,  aber  es  ist  auch  viel  über 
Steiermark  und  Steiermärker  gesagt,  es  sind  über  Orte  und  Persönlich- 
keiten dieses  Landes  Mitteilungen  gemacht.  Wenn  Johann  von  den 
Westmächten,  Spanien,  Frankreich,  England  mancherlei  zu  erzählen 
weifs,  Italien  als  Sitz  des  Papsttums  besonders  berücksichtigt,  die 
Reihenfolge  der  Päpste  genau  verzeichnet,  über  ihre  wichtigsten  Hand- 
lungen, ihre  Politik,  ihr  Eingreifen  in  die  Geschichte  Unteritaliens  be- 
richtet, noch  ausführHcher  die  Ereignisse  in  Italien  behandelt,  das  je- 
weilige Reichsoberhaupt  auf  allen  Zügen  und  Unternehmungen  be- 
gleitet —  so  werden  in  zusammenhängender  Erzählung  doch  eigent- 
lich nur  diejenigen  Dinge  mitgeteilt,  deren  Schauplatz  jene  südöst- 
lichen  I^ndschaften  sind,  in  denen  Johann  zu  Hause  ist*). 

i)  Gedruckt  in  Böhmers  Fontes  rerum  Germanicarum  ^  I,  217  —  450.  Vgl.  dazu 
Foornicr,  Abt  Johann  von  Viktring  und  sein  Liber  certarum  historiarum,  Berlin, 
1875.     ^'nd  Lorenr  a.  a.  O.  I,   123,  209—217. 

2)  Frieden 5 bürg  in  der  Einleitung  zu  Johannes  von  Viktring  in  den  Geschicht- 
*chrcil>cm  der  deutschen  Vorzeit.     Bd.  VIII. 


—     96     — 

Eine  Handschrift  von  Johanns  Liber  certarunt  Aisioriarunt 
wurde  von  einem  unbekannten  Schreiber  umgearbeitet  und  durch  Auf- 
zeichnungen der  Leobner  Dominikaner  vermehrt ;  P  e  z  *)  hat  sie  als  Ano- 
nymi Leobiensis  Chronicon  herausgegeben,  eine  bis  dahin  unbekannte 
weitere  Handschrift  fand  v.  Zahn  in  der  Grazer  Universitätsbibliothek 
und  edierte  sie  als  Anonymi  Leobiensis  Chronicon  (Graz  1865).  Ob^ 
wohl  dieser  Anonymus  aus  vielen  bekannten  Quellen  schöpft,  bleibt 
eine  Anzahl  Stellen  übrig,  für  welche  er  der  einzige  Träger  ist.  Diese 
Stellen  betreffen  gerade  steiermärkische  Dinge  und  stehen  in  so  fester 
Reihenfolge  in  der  Chronik,  dafs  man  sie  nicht  übersehen  kann  und 
wegen  ihres  wertvollen  Inhalts  —  vornehmlich  Landes-  und  städttische 
Verhältnisse  betreffend  —  nicht  übersehen  darf*).  Zahn  nimmt 
an,  Verfasser  bezw.  Kompilator  der  Handschrift  sei  ein  Priester  des 
Dominikanerklosters  zu  Leoben  *). 

Eine  steirische  Fortsetzung  der  Melker  Annalen  sind  die  Neu- 
berger  Annalen,  welche  in  dem  Cistercienserkloster  Neuberg  im 
oberen  Mürztale  der  Steiermark  niedergeschrieben  wurden  und  Nach- 
richten von  den  Jahren   1325 — 1396  enthalten*). 

Wenn  die  mit  guten  Gründen  vorgebrachte  Vermutung  Franz 
Martin  Mayers*)  zutreffend  ist,  dafs  der  Verfasser  der  österreichi- 
schen Chronik,  welche  bisher  den  Namen  des  Matthaeus  oder 
Gregor  Hagen  trug,  der  Dekan  der  juridischen  Fakultät  an  der 
Universität  zu  Wien,  Johann  Sefner,  war,  so  gehört  diese  Chronik 
insoweit  der  Steiermark  an,  als  Sefner,  aus  Untersteiermark  gebürtig,, 
als  Pfarrer  zu  Rohats  (Rohitsch)  wirkte  und  erst  um  1391  nach  Wien 
kam,  wo  er  an  die  Abfassung  der  Chronik  gegangen  sein  mag.  Sie 
ist  besonders  für  die  älteste  Zeit  voll  haarsträubender  Fabeln,  die 
dennoch  oft  gläubig  nachgeschrieben  wurden.  Da  sie  aber  ohne 
geschichtlichen  Wert  ist,  darf  man  sagen,   dafe  es    in  Innerösterreich 


1)  Scriptores    rerum    Austriararnm    II.    Bd.    218  —  300   (Leipzig   und  Regensborg^ 

3  Bde.   1720— 1745). 

2)  Hierzu  gehören  namentlich  die  bisher  vergebens  gesuchten  Nachrichten  über  die 
Gründung  und  Dotation  von  Göfs,  die  Stiftungen  und  Schicksale  der  Dominikanerklöster 
zu  Fncsach  in  Kärnten  und  Leoben  in  Obersteiermark,  die  Versetzung  dieser  Stadt  und 
Brände  derselben. 

3)  Vgl.  dazu  die  umfassende  Untersuchung  von  Zahn,  Ober  den  Anonymus  Leobiensis 
in  den  Beiträgen  zur  Kunde  steicrmärkischer  Geschieht. •»quellen,  I.  Band.  (Graz  1864) 
47—102. 

4)  Mon.  Germ.  Histor.  Scriptorcs.  IX.  669—677. 

5)  Untersuchungen  über  die  ö:^U'r reichische  Chronik  des  Matthaeus  oder  Gregor 
Hagen.     Im  Archiv  für  österreichische  Geschichte.  60.  Band,  1^1880)  S.  295 — 342. 


—     97     — 

von  et^a  1350 — 1435  ganz  an  Chroniken  mangelt  *).  Dann  erst  tritt  die 
Cillier  Chronik  ein,  welche  in  der  zweiten  Hälfte  des  XV.  Jahrhunderts 
abge£afist  wurde  und  von  den  Ereignissen  der  Jahre  1437 — ^458  aus-^ 
fuhrlich  handelt  *). 

Von  der  gröfisten  Bedeutung  für  die  östlichen  Alpenländer  und 
fiir  das  Haus  Habsburg  war  das  Emporkommen  und  waren  die  Tat- 
handlungen der  Grafen  von  Cilli  in  der  ersten  Hälfte  des  XV.  Jahrh's. 
Sie  stammen  von  den  hochadeligen  vollfreien  Herren  von  der  San^ 
von  Saneck  und  lassen  sich  von  1130  an  nachweisen.  Bis  zur  habs- 
burgischen  Periode  liegt  ihre  Geschichte  im  Dunkel ;  von  da  an  treten 
die  überlieferten  Tatsachen  klarer  hervor  und  beginnen  sich  um  ein- 
zelne Persönlichkeiten  des  Geschlechtes  zu  konzentrieren.  Ulrich  I_ 
von  Saneck  war  ein  treuer  Anhänger  der  Habsburger,  wurde  1308 
ihr  Lehensmann  und  vermehrte  den  Güterbesitz  seines  Hauses.  Sein 
Sohn  Friedrich  erwarb  im  Erbgange  den  gröfsten  Teil  des  umfang- 
reichen Eigens  der  1322  ausgestorbenen  Heunburger,  darunter  Markt 
und  Burg  Cilli,  und  damit  war  die  Macht  der  Sanecker  begründet^ 
die  sich  in  Kürze  so  namhaft  vermehrte,  dafs  sie  Kaiser  Ludwig 
(München,  16.  April  1341)  zu  Grafen  von  Cilli  erhob.  Teilungen 
kamen  nicht  vor  und  schützten  vor  Zersplitterung  des  Besitzes.  Auf 
der  Heerfahrt  des  habsburgischen  Herzogs  Albrecht  IH.  erscheint  Her- 
mann I.  von  Cilli  als  der  vornehmste  Kämpe,  denn  er  erteilte  dem 
Herzog  den  Ritterschlag.  Sein  Sohn  Hermann  IL  stand  in  hohen 
Gnaden  bei  König  Sigmund,  der  ihm  Zagorien  verlieh,  ihn  zum  Banus 
von  Slavonien  und  der  windischen  Lande  machte  und  mit  der  ganzen 
Murinsel  und  der  Grafschaft  Csakathurn  belehnte.  1408  vermählte 
sich  König  Sigmund  mit  Barbara,  der  Tochter  Hermanns  II.  {\  143 S) 
von  Cilli.  Als  1420  die  reichen  Grafen  von  Ortenburg  ausstarben, 
fielen  die  ausgedehnten  Güter  derselben  in  Kärnten  und  Krain  den 
Cilliem  zu.  Hermann  II.  hinterliefs  den  vermehrten  Besitz  seinem 
Sohne  Friedrich  IL,  dessen  Güterbestand  sich  über  einen  weiten 
Länderkreis,  Steiermark,  Kärnten,  Krain,  Nieder-  und  Oberösterreich, 
Kroatien,  Slavonien  und  Südungarn  erstreckte;  ihre  Verwandtschaft 
and  Schwägerschaft  umspannte  die  bedeutendsten  Geschlechter  der 
östlichen  Alpenländer,  Bosniens  und  Serbiens  und  reichte  bis  in  die 
Herrscherhäuser    ersten  Ranges,    Luxemburg  und  Habsburg.     Daraus 

1)  Dem  modernen  Forscher   stehen   in    dieser  Zeit  Urkunden   und  Akten    in   reicher 
Ffiüe  zur  Verfiignng,  aber  die  darstellende  zeitgenössische  Geschichtserzählung   setzt   aus. 

2)  Krones  in  den  Beiträgen  zur  Kunde  steiermärkischer  Geschichtsquellen  VH.  Band,. 
(,870)  3—55. 


—      Ü8      — 

erklärt  es  sich,  dafs  Kaiser  Sigmund  die  Cillier  PViedrich  IL  und  dessen 
Sohn  Ulrich  II.  trotz  der  Einsprache  des  Habsburg-er  Herzogs  Fried- 
richs V.  1438  in  den  Reichsfürstenstand  erhob.  Damit  erhielt  das 
Geschlecht  immer  gröfseren  Einflufs;  Ulrich  II.  wurde  Gubernator 
Böhmens  und  1452  Vormund  des  nachgeborenen  Ladislaus  und  Regent 
in  dessen  Landen.  Dieser  glänzenden  Erhebung  folgte  rasch  der 
Sturz :  Ulrichs  II.  unbeschränkter  Einflufs  auf  Ladislaus  erbitterten  das 
in  Ungarn  mächtige  Haus  Ilunyadi  derart,  dafs  Ladislaus  Hunyadi, 
der  Sohn  des  grofsen  Johann  Hunyadi  und  Bruder  des  Mathias  Cor- 
vinus,  den  letzten  Cillier  Ulrich  II.  zu  Belgrad  nach  einer  Unter- 
redung mit  dem  Schwerte  angriff,  verwundete  und  durch  sein  Gefolge 
töten  liefs  (11.  November  1456).  Damit  war  das  Haus  der  Grafen 
von  Cilli  erloschen. 

Die  Geschichte  dieses  Geschlechtes  ist  in  einer  nahezu  gleich- 
zeitigen Chronik  erhalten ,  die  in  trefflicher  Ausgabe  vorliegt  *) ;  sie 
ist  für  die  Steiermark  von  höchstem  Belange,  denn  sie  erzählt  nicht 
nur  hochwichtige  Ereignisse,  sondern  ist  auch  für  die  Zeit  von  etwa 
1350  an  die  einzige  chronikalische  Aufzeichnung  in  Steiermark,  Kärnten 
und  Krain. 

Die  Cillier  Chronik  wurde  im  XVIII.  Jahrhundert  erst  von  Hahn  *) 
nach  einer  1  landschrift,  und  dann  von  Aquilinusjulius  Caesar  •) 
nach  vier  Handschriften  veröffentlicht;  Krone s  konnte  17  Hand- 
schriften benutzen.  Inhaltlich  handelt  es  sich  um  zwei  wesentlich 
verschiedene  Abschnitte :  der  erste  ist  die  Maximilianslegende ,  eine 
Verdeutschung  der  aus  dem  XIII.  Jahrhunderte  stammenden  Uta 
S,  Maxintiliani;  der  zweite  ist  die  Geschichte  der  Grafen  von  Cilli 
von  1341  bis  1456;  nur  letzterer  hat  historischen  Wert.  Zwei  Re- 
daktionen der  Chronik  sind  zu  unterscheiden,  die  ältere  stammt  noch 
aus  dem  XV.  Jahrhundert,  die  jüngere  ist  im  XVI.  Jahrhimdert  ent- 
standen. Jene  ältere  Redaktion  der  Cillier  Grafenchronik  ist  aber 
eine  Spezialquelle  selbständiger  Haltung:  nirgends  findet  sich  eine 
nachweisbare  Anlehnung  an  eine  ältere  Quelle  oder  stellenweise  Be- 
nützung einer  solchen,  ihr  Verfasser  ist  ein  Mönch  des  Minoriten- 
klosters  zu  Cilli,  welcher  die  Schlufsepoche  des  mächtigen  Grafen- 
geschlechtes miterlebte  und  wohl   schon  vor  dem  blutigen  Ausgange 

i)  Die  Freien  von  Saneck  und  ihre  Chronik  als  Grafen  von  Cilli.  Von  Dr.  Franz 
Krones  RiUer  von  Marchland.  (Graz  1883.)  —  Vgl.  dazu  Krones  in  den  Beiträgen  zur 
Kunde  steiermärkischer  GeschichtsqueUen.     VIII.  Bd.  (1871)  97  —  116. 

2)  Collectio  Monumeniortim  veterum  2.  Bd.  (Braunschweig  1726). 

3)  Annales  Ducafus  Styriae  3.  Bd.     (\N'ien   1777). 


—     99      - 

<ler  Cillier  den  Anfang  einer  Chronik  unter  die  Feder  nahm,  und  nach 
1461  diesen  Anfang  zu  einer  vollständigen  Chronik  des  berühmten 
Dynastenhauses  ergänzte.  Der  Verfasser  war  wohl  eine  Vertrauens- 
person der  letzten  Cillier  Grafen  und  gewissermafsen  ihr  Ilauschronist. 
Für  die  Geschichte  der  Cillier  als  FamiHe  und  Dynastie  ist  die  Chronik 
die  Hauptquelle,  enthält  manches  Besondere  und  dient  vornehmlich 
als  Korrektiv  jenen  Quellen  gegenüber,  die  auf  der  Gegenseite  stehen. 
Ihre  Angaben  sind  glaubwürdig,  wenn  sie  auch  mit  ganz  offenkundiger 
Wärme  für  die  Cillier  eintritt;  aber  es  ist  keine  Parteischrift,  denn  als 
der  Mönch  sein  Werk  abschlofs,  war  das  mächtige  Grafengeschlecht 
bereits  erloschen.  Schlicht  und  naiv,  ohne  aufdringliche  Beschönigung 
werden  auch  die  tiefen  Schlagschatten,  an  denen  die  Geschichte  dieser 
Familie  nicht  arm  ist,  der  Nachwelt  zur  Kenntnis  gebracht.  Zur 
inneren  Glaubwürdigkeit  dieser  Quelle  gesellt  sich  noch  die  durch 
epische  Lebendigkeit  anheimelnde  Darstellung,  welche  in  Verbindung 
mit  den  hier  und  da  vorkommenden  sachlichen  und  chronologischen 
Verstöfsen  beweist,  dafs  die  Aufzeichnung  aus  dem  Gedächtnisse  er- 
folgte, dafs  die  Erzählung  nach  dem  Erlebten  und  Gehörten,  nicht 
nach  genauen  annalistischen  Vorlagen  oder  fortlaufenden  tageartigen 
Notizen  gegeben  wurde. 

Auch  Aeneas  Sylvius  Piccolomini  (Papst  Pius  II.)  ist 
in  der  Reihe  der  steirischen  Historiographen  nicht  zu  vergessen,  da 
er  sich  einige  Zeit  in  diesem  Lande  aufhielt  und  in  seiner  Historia 
Friderici  Imperatoris  und  in  der  Historia  Bohentiae  über  viele 
Ereignisse,  welche  sich  unter  Herzog  Friedrich  V.  (dem  III.  als  Kaiser) 
in  Innerösterreich  zutrugen,  trefflich  berichtet :  so  über  die  Verbindung 
des  Grafen  Ulrich  von  Cilli  mit  dem  Führer  der  ständischen  Be- 
wegung in  Niederösterreich,  Ulrich  Eizinger,  über  die  Verhandlungen 
des  Königs  mit  dem  Altgrafen  Friedrich  von  Cilli,  über  die  Romfahrt 
des  Königs  von  Graz  über  Brück  an  der  Mur,  Leoben  und  weiter 
durch  Kärnten,  über  die  nach  der  Rückkehr  des  Kaisers  erfolgte  Be- 
lagerung von  Wiener-Neustadt  und  Baumkirchers  tapfere  Tat;  weiter 
über  den  Sturz  der  Cillier  und  den  Beginn  der  F'ehde  um  die  Erb- 
schaft dieser  Grafen.  1458  schlofs  Aeneas  Sylvius  seine  geschicht- 
schreibende  Tätigkeit ').  Er  war  mehrere  Male  in  Steiermark ,  und 
von  seinen  bis  jetzt  bekannten  Briefen  sind  nicht  weniger  als  92  aus 
Orten    dieses  Landes   datiert.     Er  weilte  hier   1443  zweimal,    1^44  zu 

1)  Kroncs,  Die  zeitgenössischen  Quellen  der  steiermärkischen  Geschichte  in  der 
t%ixittn  Hälfte  des  XV,  Jahrhunderts,  [Beiträge  zur  Kunde  steicrmärkischer  Gesclüchts- 
^jueUcn,  Vn.  Bd.  (1870)  3-55.] 


—     100     — 

Brück  an  der  Mur,  1447  zu  Radkersburg  und  1453  im  Sommer  und 
Herbst;  damals,  und  zwar  in  Graz,  schrieb  er  jene  berühmten  Türken- 
hriefe,  welche  den  Papst  und  alle  christlichen  Fürsten  zu  einträchtigem 
K«impfe  lije^en  den  Erbfeind  der  Christenheit  anfeuern  sollten.  Diese 
Briefe  werfen  auch  einiges  Licht  auf  die  Geschichte  der  Steiermark^ 
namentlich  auf  die  kirchlichen  Zustände  und  Verhältnisse.  Er  befand 
sich  auch  im  Cienusse  zweier  steirischen  Pfründen:  der  Einkünfte  der 
Pfarre  Irdning  im  obersteirischen  Ennstale  und  jener  der  Pfarre  Alten- 
markt bei  Windischgräz  im  unteren  Lande  *). 

Aus  dem  Ende  des  XV.  Jahrhunderts  sind  noch  ein  paar  kleine 
geschichtliche  Aufzeichnungen  zu  envähnen.  Johann  Manesdorfer 
ilc  Vienua,  artium  doctor ßirisque  pontificii  licentiatus,  1464  von  Abt 
Johann  Schachner  von  St.  Lambrecht  zum  Syndikus  dieses  Stiftes  er- 
nannt, verfafste  1482  eine  kurze  Geschichte  dieses  Klosters  und  1487 
eine  Darstellung  des  Ursprunges  des  Wallfahrtsortes  Maria  Zell  *).  — 
Wenig  später  tritt  uns  ein  Werk  entgegen,  welches  zwar  wie  das  des 
Johannes  von  Viktring  seinen  Ursprung  in  Kärnten  hat,  jedoch  aus- 
führlich und  verläfslich  die  gleichzeitigen  Elreignisse  in  Steiermark 
behandelt.  Es  ist  dies  die  österreichische  Chronik  des  Jakob  Unrest 
Vgeb.  zwischen  1420  und  1430,  gest.  1500^.  1469  Chorherr  zu  Gumitz 
und  Pfarrer  zu  St.  Martin  am  Techeisberge  bei  Pörtschach  in  Kärnten. 
Kr  verfafste  auch  eine  Kärtner  Chronik  ^\ ;  sie  ist  jedoch  nur  eine 
Nacher/;Uilung  geschichtlicher  und  s*igenhafter  Überlieferungen,  schliefist 
mit  der  Eroberung  Kärntens  vl335^  ""^^^  Tirols  ^  1363  t  durch  die  Habs- 
burL^er  und  h.it  keinen  historischen  Wert,  l'm  so  bedeutender  ist 
lue  Ösierrtickiscke  Chronik  ^' ,  liic  er  um  1470  begaim  und  1 500 
beenvieie.  Widmet  er  viel  Raum  seinem  iteburtsLmde  Kärnten,  so 
er.MhU  er  vleunoch  ausr\:hrlich  und  i> er.au  d:e  Begebenheiten,  welche 
sich  ju  seiner  /oi;  in  Steiermark,  Kr*uu,  Österreich,  ja  in  Böhmen 
und  l  nca'"  -utiUiren.  ur.vl  srreiit  auch  u:e  Erx"*^ r.:s>e,  deren  Schau- 
p*.a:.:  der  Osten  tiiul  Wcsteix  Kufv^pas  u,ij,  vienu  ,ils  seine  Haupt- 
.v;;i;>abe  In^ti achtete  e:.  vie  v»esv\VAhte  sonor  i'ot,  die  Henschertage 

i'   \\ci.>»     *,^t.wj«   ,S'\i*->    ,-V'.\^'«  ■•     X  v"-    ,^*  »o     .-"^  K    .W    ji.-r<    Lt^v~m    mmd   sein 
y  ,  ''»  s  X*     ,*,.      .;,   -^'w  it.    Vi  .  •'   »X  *..v,  l  ^ii*A>.  ^v*-*;  :^",    v><r  ><.r<  Wirksamkeit 

J    r*'ir   ^    ^  A^.*   V      •  ^-n  ,  *  ■  A  i  "i*       •»    •••  -    >.*  V  fc     ,-  >  >  ^  i    ,r»-.- V  T.  L    1 8<>4) 
»  V  *      1  *  k 

^    v<N':*,v,    ',v.     ,"*t\     V     X    .,.%  '*,     X    1  • ».  •        •  »1  '•^,\      Vr-i»-.>ci  ^  Ji^     1724.'^ 


-—       101       — 

Kaiser  Friedrichs    III. ,    zu    schildern  *).     Unrests   Chronik    ist    um    so 
wertvoller,  als  sie  begfinnt,  wo  andere  Quellen  versiegen,  und  als  sie 
fiir  die  Periode  von  1435  und  namentlich  von   1468  an  bis  1499  aus- 
fiihrUchen   und    meist    auch   einzigen   Bericht   über   die   Ereig^nisse   in 
Innerösterreich  g^ibt.     Er  erzählt  verläfslich  und  genau,  ist  erfüllt  von 
Liebe    für    sein  Vaterland    und    sein    Fürstenhaus,    tadelt   aber    nicht 
selten    seinen   Herrn,   Kaiser  Friedrich  III.,    ob   seiner   Saumseligkeit 
und  Tatenlosigkeit.     Obwohl  selbst  Priester,  findet  er  nicht  alles,  was 
von  hohen  Kirchenfürsten  ausgeht,    lobenswert   und   rügt  auch  deren 
Verhalten.     Von  etwa  1468  bis   1470  an  wird  seine  Darstellung  stoff- 
reicher, denn  er  schöpft  nun  aus  mündlicher  Kunde,  handschriftlichen 
und  gedruckten  fnären,  Zeitungen,  endlich  aus  öffentlichen  Urkunden, 
Mandaten,    Manifesten,   Abschieden   und  dergleichen    und  verarbeitet 
das  ihm  zur  Kenntnis  Gekommene  mit  klarem  Verstände  und  warmem 
Gemüte.     Der  humanistischen  Bildung  seiner  Zeit  stand  er  fern,  Zitate 
aus  den  Klassikern  würde    man   bei    ihm  vergeblich  suchen,    aber  er 
beruft  sich    einige  Male    auf  die   Bibel.     Sein   biederer  Sinn   für  ge- 
schichtliche Wahrheit  und  Recht  tritt  entschieden  hervor  und  ist  stets 
bemüht,    nach   bestem  Wissen    und  Können   die   ganze  Wahrheit   zu 
sagen.    Für  die  Geschichte  Innerösterreichs  in  den  Jahren  1468  bis  1499 
ist  Unrests  Chronik  von   unschätzbarem  Werte;    für   die    Baumkircher 
Fehde  und  für   die  Darstellung   der    furchtbar  verheerenden  Einfälle 
der  Türken  in  Steiermark,   Kärnten    und  Krain   in  der  zweiten  I^Iälfte 
des  X\^  Jahrhunderts   kommt   er   als  bestunterrichteter  Zeuge   in  Be- 
tracht. 

Von  Klosterannalen ,  von  Lebensbeschreibungen  der  Erzbischöfe 
von  Salzburg  im  XII.  Jahrhundert  ausgehend,  hat  sich  die  Historio- 
graphie der  Steiermark,  wenn  auch  nicht  so  reichhaltig  wie  die  anderer 
deutscher  Länder,  bis  gegen  das  Ende  des  Mittelalters  allmählich 
entwickelt;  sie  weist  Lücken  auf,  hat  aber  doch  so  bedeutende  Er- 
scheinungen, wie  den  Reimchronisten  Ottokar,  so  wertvolle  Chroniken, 
wie  die  Cillier  und  die  des  Jakob  Unrest  und  zeigt  in  einer  zwar  dem 
Lande  nur  teilweise  angehörigen  Persönlichkeit,  in  Aeneas  Sylvius 
Piccolomini,  auch  schon  die  Anfänge  des  Humanismus. 

l)  Krooes,  die  österreichische  Chronik  Jakob  Unrests  mit  Bezug  auf  die  einzige 
Msher  bekannte  Handschrift  der  känigL  Bibliothek  zu  Hannover,  (Archiv  Air  öster- 
reichische Geschichte,  48.  Bd.,  421—530.) 


102      -- 


Forschungen  und  Forschungsaufgaben  auf 
dem  Gebiete  der  Gegenreformation 

Von 
Gustav  Wolf  (Freiburg  i.  B.) 

(Schlufs)  I). 

Erheblich  schlechter  steht  es  mit  unserer  Kenntnis  der  Geschichte 
der  geistlichen  Stifter.  Von  Mainz  und  Trier  wissen  wir  so  gut 
wie  nichts.  Wir  besitzen  weder  einen  Einblick  in  das  innere  Getriebe 
der  dortigen  Stiftsregierung  und  Stiftsverwaltung  jener  Zeit,  noch 
können  wir  von  den  mafsgebenden  Personen,  die  wir  teilweise  nicht 
einmal  dem  Namen  nach  kennen,  eine  anschauliche  Charakteristik  ent- 
werfen, noch  endlich  haben  wir,  von  wenigen  Ausnahmen  abgesehen, 
Aufklärung,  welche  Fragen  denn  hauptsächlich  die  Erzbischöfe,  Dom- 
herrn und  sonstigen  Politiker  beherrscht  haben.  Dafs  hier  noch 
aufserordentlich  viel  zu  tun  ist,  ersehen  wir  aus  einigen  neueren  fleifsigen 
Untersuchungen,  wie  denjenigen  von  Burghard  über  Die  Gegen^ 
reformation  auf  dem  Eichsjeld  1^74 — /57p  (Zeitschrift  des  historischen 
Vereins  für  Niedersachsen ,  Hannover  1 890 —  1 89 1 ),  von  K  n  i  e  b ,  Geschichte 
der  Reformation  und  Gegenreformation  auf  dem  Eichsfeld  und  von 
Jakob  Schmidt,  Die  katholische  Restauratiofi  in  den  ehemaligen 
Kurmainzer  Herrschaften  Königstein  und  Rieneck  in  den  Erläuterungen 
und  Ergänzungen  zu  Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes  III,  1 
(Freiburg  1902).  Durch  diese  Arbeiten  werden  wir  nicht  nur  auf  einzelne 
Quellensortcn  aufmerksam,  welche,  wie  die  Domkapitelprotokolle  und 
die  Pfarrbestellungsakten,  bisher  so  gut  wie  gar  nicht  angerührt  worden 
sind,  sondern  die  Verfasser  waren  auch  genötigt,  eine  Anzahl  allgemeinerer 
Verhältnisse  und  Gesichtspunkte,  die  mit  ihrem  Spezialthema  eng  zu- 
sammenhingen, zu  berücksichtigen,  wenn  sie  sich  nicht  mit  einer  unver- 
arbeiteten Ansammlung  lokalhistorischer  Notizen  begnügen  wollten.  Ein 
bedeutend  besseres  Bild  gewährt  uns  die  reichhaltige  Literatur  über  das 
Erzstift  Köln.  Denn  einmal  gelten  die  Gründe,  welche  die  Historiker 
zur  Betrachtung  der  Jülich-Bergischen  Geschichte  bewogen  haben,, 
zum  Teil  in  noch  verstärktem  Mafsc  für  die  benachbarten  geistlichen 
Gebiete,  und  daneben  ist  es  der  zweimalige  Versuch,  das  Elrzstüt  in 
ein  evangelisches  Kuriurstentum  umzuwandeln»  welcher  die  kölnischen 
Dinge  in  den  Vordergrund  des  Interesses  gerückt  und  glücklicher- 
weise beide  Male  zum  Gegenstand   einer    mustergültigen  Monographie 

1^  Vgl    oben  S.  Si    -Q3. 


—     103     — 

gemacht  hat.  Endlich  hat  in  alten  und  neueren  Zeiten  die  Stadt- 
geschichte  von  Köln  während  jener  Dezennien  Einheimische  wie 
Fremde  mehr  gefesselt,  als  das  bei  Mainz  imd  Trier  der  Fall 
ist.  So  begegnen  wir  auf  dem  Gebiete  der  modernen  kölnischen 
Geschichtschreibung  einer  stattlichen  Reihe  angesehener  historischer 
Namen,  wie  Varrentrapp  (Herrman  von  Wicd  und  sein  Refor- 
mationsversuch  in  Köln,  Leipzig  1878),  Lossen  (Der  Kölnische 
Krieg,  Gotha  1882,  München  und  Leipzig  1897),  Hansen  (Nuntiatur- 
berichte  aus  Deutschland,  III.  Abteilung,  1.  Band,  Berlin  1894  und 
Rheinische  Akten  zur  Geschichte  des  Jesuitenordens  1^42 — 1^82 
in  den  Publikationen  der  Gesellschaft  für  rheinische  Geschichte,  XIV. 
Bonn  1896),  Ennen  (Geschichte  der  Stadt  Köln,  Köln  1863 — 1880), 
Ehses  und  Meister  (Die  Kölner  Nuntiatur  in  den  Quellen  und  For- 
schungen aus  dem  Gebiete  der  Geschichte,  in  Verbindung  mit  ihrem 
historischen  Institut  herausgegeben  von  der  Görresgesellschaft  IV,  VIL 
Paderborn  1895,  1899),  Höhlbaum-Lau  (Das  Buch  Weinsberg, 
Kölner  Denkwürdigkeiten  aus  dem  XVL  Jahrhundert,  in  den  Publi- 
kationen der  Gesellschaft  für  rheinische  Geschichtskunde  III,  IV,  XVL 
Leipzig  1886 — 1887,  Bonn  1898)  um  nur  die  wichtigsten  zu  nennen. 
Trotzdem  darf  man  nicht  glauben,  die  Arbeit  sei  auf  diesem  Gebiete  so 
gut  wie  getan.  So  dürfte  die  Geschichte  der  einzelnen  Pfarreien,  Amts- 
bezirke und  Dekanate,  die  Durchforschung  der  kölnischen  Landtags- 
akten, die  Biographie  hervorragender  Theologen  und  Politiker  im  da- 
maligen Erzstift  uns  noch  auf  manches  jetzt  ungeahnte  Resultat  von 
allgemeiner  Tragweite  hinführen ;  braucht  man  sich  in  letzterer  Hinsicht 
doch  nur  zu  vergegenwärtigen,  welchen  Wert  die  Arbeiten  von  Paulus, 
Post  in  a  (Der  Karmelitermönch  Eberhard  Billick,  Erläuterungen  und 
Ergänzimgen  zu  Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes  II,  Frei- 
burg 1901),  Schwarz  (Die Nuntiaturkorrespondenz Kaspar  Groppers 
nebst  verwandten  Aktenstücken  i^yj — ^57^>  io  den  Quellen  und  For- 
schungen aus  dem  Gebiete  der  Geschichte,  herausgegeben  von  der  Görres- 
gesellschaft Band  5,  Paderborn  1898)  nicht  blofs  für  unsere  Kenntnis  der 
betreffenden  Persönlichkeiten  besitzen,  um  zu  sehen,  dafs  wir  erst  durch 
eine  gröfeere  Anzahl  derartiger  Arbeiten  und  Publikationen  die  verschiede- 
nen k'u*chlichen  und  politischen  Kreise  nach  und  nach  kennen  lernen. 
Wenn  wir  im  status  quo  der  Forschung  über  die  Erzstifter  Mainz 
und  Trier  grofee  Lücken  konstatieren  mufeten,  so  ist  dies  angesichts 
der  archivalischen  Grundlagen  einigermafeen  erklärlich.  Ist  doch  be- 
sonders das  ehemalige  kurmainzische  Archiv  in  die  verschiedensten 
Orte,  nach  Aschaffenburg,  Wien,  Würzburg,  zerstreut  worden;  dabei 


—      104     — 

Ist    es    natürlich    mehr    oder    minder    schweren   Verlusten    ausgesetzt 
tind   derjenige   Teil   der  Akten,    welcher   in  Aschaffenburg  liegt,    der 
Benutzung    bis    in    die    neueste  Zeit   ziemlich   unzugänglich   gewesen. 
Weniger  begreiflich  dürfte  es  erscheinen,  dafs  es  mit  unserer  Kenntnis 
der  Bamberger    und   Würzburger  Reformationsgeschicbte   nicht 
sehr  viel  besser  steht.     Denn   das  Aktenmaterial   dürfte  gut   erhalten 
sein,  es  ist  für  jedes   der   beiden   Stifter   an  einer  Stelle   konzentriert 
und  sowohl  in  Ober-  wie  in  Unterfranken  gibt  es  tüchtige  Provinzial- 
zeitschriften ,    welche   auf  eine    stattliche  Reihe    von   Bänden    zurück- 
blicken.    Aber  der  selbständigen    modernen   Schriften,    die   eine    all- 
gemeinere Tragweite  besitzen,  sind  nur  wenige,  und  selbst  von  einem 
«o  prägnant  hervortretenden  Geistlichen,  wie  Bischof  Julius  Echter  von 
Würzburg,    mufste  Wegele  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Biographie 
berichten,    dafs    dieser  Mann   keine   erschöpfende   Darstellung    seines 
Wirkens  aufzuweisen  habe.    Nur  in  einzelnen  bedeutenderen  Momenten, 
wie  gelegentlich  der  Auseinandersetzung  mit  Albrecht  Alcibiades,  der 
Grumbachischen  Händel,  des  Streites  zwischen  Julius  Echter  und  Abt 
Balthasar   von  Fulda,    der   Gründung   der  Universität  tritt  die^  Würz- 
burger  Reformations-    und   Gegenreformationsgeschichte   etwas   klarer 
hervor.     Für   die  Bamberger  Reformationsgeschichte   liegt   neuerdings 
ein  kleiner  lehrreicher  Beitrag,  auf  soliden  Aktenstudien   fufsend,    von 
Erhard,   Die  Reformation  der  Kirche  in   Bamberg  unter  Bischof 
IVeigand  1^22 — t^^6  vor,  anscheinend  durch  Kolde  angeregt,  welch' 
letzterer  ja  teils  als  langjähriger  Lehrer  der  Kirchengeschichte  an  der 
Erlanger  Hochschule,  teils  als  Herausgeber  der  Beiträge  zur  bayerischen 
Kirchengeschichte   zu   verschiedentlichen   Forschungen  über   die   neu- 
bayerischen Provinzen  im  XVI.  Jahrhundert  den  Anlafs  gegeben  hat; 
wie  reiche  Bestände   im  Bamberger  Kreisarchiv  noch   vorhanden   sein 
müssen,    ersieht  man  durch  Erhards  Monographie  besonders  aus  dem 
Umstände,    dafs    die    schwäbischen    Bundesakten,    die    Rezefebücher 
(Verhandlungen  zwischen  Bischof  und  Domkapitel),   die  Reformations- 
akten eigene  Abteilungen  bilden.     So   ist   es  kein  Wunder,    dafe    die 
allgemeindeutsche   Wichtigkeit   des   Verlaufes,   den   die   religiöse   Be- 
wegung in  den  beiden  fränkischen  Stiftern  genommen  hat,  so  gut  wie 
gar  nicht  gewürdigt  wird.    Und  doch  war  es  einmal  an  sich  für  die  ge- 
samte Stellung   des  Katholizismus   nördlich   der  Alpen   nicht   einerlei, 
ob   er   in   zwei  Diözesen,    die  es  an  Reichtum   und  Macht  mit  Mainz 
und  Trier  sehr  gut  aufnehmen  konnten,  sich  behauptete  oder  unterlag. 
Ferner   aber  hätten   die  gegenreformatorischen   Tendenzen   des   Mün- 
chener Hofes  sich  niemals  so  extensiv  geltend  machen  können,  wenn 


—     105     — 

sich  zwischen  Bayern  und  die  Gebiete  des  rheinischen  Katholizismus 
die  protestantisierten  fränkischen  Diözesen,  sei  es  als  säkularisierte 
Fürstentümer,  sei  es  aufgeteilt  unter  die  benachbarten  evang^elischen 
Landesobrigkeiten,  wie  ein  Riegel  vorgeschoben  hätten.  Erst  wenn 
das  Ringen  des  neuen  Geistes  mit  dem  Herkommen  in  seinen  Einzel- 
heiten verfolgt,  wenn  das  Auf  und  Nieder  dieses  Kampfes,  wenn  die 
hierbei  tätigen  Elemente  unserem  Auge  deutlich  sichtbar  werden,  dann 
werden  sich  solche  Erwägungen  in  ihren  Grundzügen  und  praktischen 
Konsequenzen  von  selbst  aufdrängen  und  für  die  Kritik  der  Stärke 
der  verschiedenen  Faktoren  in  der  Reformationsgeschichte  ihre  Be- 
deutung gewinnen. 

Auch  für  die  anderen  Diözesen  des  heutigen  Königreichs  Bayern 
und  Salzburg  könnte  viel  mehr  geschehen.  Dies  erscheint  vielleicht 
wunderbar,  weil  einzelne  derselben  hervorragende  Vertreter  des  deut- 
schen Prälatenstandes,  wie  Passau  Wolfgang  von  Salm  *),  Augsburg  Kar- 
dinal Otto  Truchsefe  von  Waldburg  an  ihrer  Spitze  gesehen  haben. 
Aber  gerade  der  letztere  bietet  uns  ein  anschauliches  Beispiel,  wie  oft 
der  Zufall  für  die  Berücksichtigung  oder  Vernachlässigung  wissenschaft- 
licher Probleme  entscheidet.  Im  Innsbrucker  Statthaltereiarchiv  liegt 
der  wichtige  Briefwechsel  zwischen  den  Kardinälen  Otto  Truchsefs  und 
Madrucci,  freilich  in  italienischer  Sprache  und  wohl  darum  seither 
nur  von  Friedensburg  für  seine  Nuntiaturberichte  verwertet;  es  ist 
wohl  kein  Zweifel,  dafe  gerade  hier  eine  wichtige  Fundgrube  ihrer 
systematischen  Ausbeute  harrt.  Dafs  der  Kardinal  Otto  Truchsefs 
weiter  jahrelang  als  Protektor  der  deutschen  Nation  einen  hervorragen- 
den Mittelsmann  zwischen  der  Kurie  und  den  verschiedenartigsten 
deutschen  Angelegenheiten  abgegeben  hat,  wird  man  aus  den  Rat- 
schlägen ahnen,  die  er  für  die  Wiedergewinnung  der  Deutschen  dem 
Papste  Gregor  XIII.  gegeben  und  die  uns  Schwarz^)  mitgeteilt  hat; 
aber  wie  diese  Ratschläge  allmählich  im  Inneren  des  Kardinals  ent- 
standen, durch  welche  Personen  und  Wahrnehmungen  sie  hervor- 
gerufen sind ,  dieses  zugleich  landesgeschichtlich  wie  allgemein- 
geschichtlich interessante  Problem  ist  wohl  überhaupt  noch  nicht  auf- 
geworfen worden. 

Wenden   wir    uns   von   den   bayerischen  Diözesen   zu   den   ober- 

1)  Über  Wolfgang  ist  soeben  eine  kleine  Darstellung  von  Reichenberge r,  JVolf- 
gong  von  Salm,  Bischof  von  Passau  in  Granerts  Studien  und  Darstellungen  aus  dem 
Gebiete  der  Geschichte  II,  i  (Freiburg  1902)  erschienen,  welche  aber  noch  keinen  ab- 
Khlieisenden  Charakter  hat. 

2)  Briefe  und  Akten  »ur  Geschichte  Maximilians  IL     2.  Teil  (Paderborn  1891). 

8 


—     106     — 

rheinischen,  so  hat  Strafsburg  vermöge  des  dortigen  sogenannten 
Kapitelstreites  schon  seit  längerer  2^it  die  Gelehrten  beschäftigt.  Man 
bezeichnet  im  Gegensatz  zum  Säkularisationsversuch  von  Köln,  in  den 
die  mannigfachsten  anderen  Kontroversen  hineinspielten,  diesen  Strafe- 
burger  Kapitelstreit  vom  theoretischen  und  reichspolitischen  Stand- 
punkte aus  als  die  eigentliche  Kraftprobe  auf  die  praktische  Gültig- 
keit des  geistlichen  Vorbehalts ;  zudem  nötigte  das  Faktum,  dafe  viele 
Prälaten  zugleich  im  StraCsburger  und  Kölner  Domkapitel  safsen  und 
dafs  die  Stadt  Strafsburg  Jahrzehnte  hindurch  die  Führung  der  evan- 
gelischen süddeutschen  Kommunen  hatte,  weitere  Gelehrtenkreise  zur 
Beschäftigung  mit  der  Geschichte  des  Strafsburger  Stifts.  Und  trotz- 
dem ist,  abgesehen  vom  Kapitelstreit,  über  welchen  aufser  einigen 
Vorarbeiten  das  gründliche  Buch  von  Meister*)  vorliegt,  kauip 
ein  Gegenstand  der  Bistumsgeschichte  erschöpfend  dargestellt,  ja, 
wichtige  Fragen  und  Personen  nur  ganz  kursorisch  behandelt  worden. 
Was  wissen  wir  z.  B.  von  einem  Manne  wie  dem  Kanzler  Christoph 
Welsinger,  der  geraume  Frist  hindurch  unter  den  katholischen  Staats- 
männern eine  grofee  Rolle  gespielt  hat?  Was  wissen  wir  von  den  Be- 
ziehungen zwischen  dem  Domkapitel  und  dem  elsässischen  Adel,  von 
den  Wahlkapitulationen  und  den  für  die  Charakteristik  der  damaligen 
Bischöfe  so  wichtigen  Informationen,  die  über  die  Person  und  Ver- 
gangenheit der  Gewählten  an  die  Kurie  eingeschickt  wurden? 

Worms  und  Speier  nehmen  unter  den  deutschen  Bistümern  da- 
durch eine  aparte  Stellung  ein,  dafs  sie  an  das  angriffslustigste  evan- 
gelische Territorium,  die  Pfalz,  grenzten,  teUweise  mit  derselben  sogar 
im  Gemenge  lagen.  Anderseits  tritt  gerade  hier  die  Tatsache,  dafs 
scharfe  konfessionelle  Gegensätze  dicht  neben  Achsclträgerei  und  diplo- 
matischem Lavieren  imd  Schwanken  wohnen,  ganz  besonders  hervor. 
Diese  beiden  Motive  weisen  wiederum  auf  ein  Gebiet,  wo  Territorial- 
und  Reichsgeschichte  in  engste  Fühlung  kommen  und  gegenseitig  sich 
in  einer  bis  jetzt  kaum  gewürdigten  Spezialität  fördern  können.  Lä&t 
sich  eine  solche  Frage  wohl  nicht  anders  wie  von  Amt  zu  Amt,  von 
Ort  zu  Ort  verfolgen,  so  wäre  es  von  grofeem  Gewinn,  wenn  sich 
Lokalhistoriker  dieser  für  die  Allgemeinheit  wichtigen  Gesichtspunkte 
bewufst  bleiben,  wenn  unter  diesem  Horizonte  mehrere  parallele  Einzel- 
arbeiten entstehen  würden. 

Wir  haben  uns  in  unserer  bisherigen  Zusammenstellung  auf  die- 
jenigen   katholischen    Stände    beschränkt,    welche    eine    mafsgebende 

i)  Der  Strafsburger  Kapitelstreit  1583 — 1592,     Ein  Beitrag  zur    Geschickte   der 
Gegenreformation  (Strafsbarg  1899). 


—     107     — 

aktive  Rolle  in  der  damaligen  Reichspolitik,  namentlich  auch  auf  den 
Reichsversammlungen  gespielt  haben.  Es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  es 
außerdem  noch  eine  ganze  Reihe  territorialgeschichtlicher  Fragen  von 
allgemeinerer  Bedeutung  gibt.  Treten  auch  an  reichspolitischem  An- 
sehen die  mittel-  und  niederdeutschen  Bischöfe  hinter  den  süddeutschen 
und  rheinischen  Kollegen  meist  zurück,  so  spielt  hier  das  Auf  und 
Nieder  der  reformatorischen  Bewegimg  eine  ganz  andere  und  viel  aus- 
schlaggebendere Rolle.  Probleme,  die  zwar  auch  in  den  südlichen 
und  westlichen  Diözesen  nicht  fehlen,  begegnen  uns  hier  viel  häufiger 
und  in  oft  recht  verwickeltem  Mafse.  Diese  Bistümer  lagen  fast  alle 
inmitten  evangelischer  Distrikte,  waren  entweder  rechtlich  oder  faktisch 
von  mächtigeren  weltlichen  Nachbarn  abhängig,  die  neue  Lehre  hatte 
teils  im  Volke,  teils  in  den  Landschaften  und  in  den  Kapiteln  Fufs 
^efaist;  wo  dem  Katholizismus  nicht  von  auswärts  Stützen  geboten 
worden  sind,  ist  die  Augsburgische  Konfession  fast  allenthalben  un- 
aufhaltsam zum  Siege  gelangt.  Die  Entwickelung  ist  wiederholt  so- 
wohl populär  als  auch  wissenschaftlich  dargestellt  worden;  ich  greife 
als  Beispiel  für  die  volkstümliche  Behandlung  Erdmanns  Refor- 
mation und  Gegenreformation  im  Fürstentum  Hildesheim,  (Hannover 
1899)  für  die  gelehrte  Untersuchung  die  treflTliche  Schrift  von  Hoff  mann, 
Naumburg  im  Zeitalter  der  Reformation,  Leipziger  Studien  aus  dem 
GAiete  der  Geschichte  VII,  i  (Leipzig  19CX))  heraus,  und  über  einzelne 
Stifter  wie  Magdeburg  existiert  eine  ganze  Literatur.  Aber  auch  hier 
fehlt  es  nicht  an  ungelösten  Aufgaben;  ich  habe  in  meinen  Anfängen 
des  Magdeburgischen  Sessionsstreites  (Forschungen  zur  brand.  Gesch., 
Bd.  5,  Berlin  und  Leipzig  1893)  darauf  hingewiesen,  dafs  selbst  eine  so 
wichtige  reichspolitische  Frage  wie  diese  nicht  vom  Hintergrunde  der  nach- 
barlichen Grenz-  und  Interessenkonflikte  losgelöst  werden  darf,  dafs  erst 
durch  diesen  der  Mangel  an  geschlossener  Verteidigung  gegen  die  katho- 
lischen Fürsten  verständlich  wird.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  dafs 
diese  Verquickung  kleiner  und  grofser  Gesichtspunkte  erst  recht  in 
den  mneren  Angelegenheiten  der  Wahlen,  Personalien,  Religionskämpfe 
und  Religionskompromisse  besteht  und  verfolgt  werden  müfste. 

Dafs  femer  auch  die  kleineren  katholischen  Prälaten  nicht  über- 
sehen werden  dürfen,  lehrt  das  Exempel  des  Abtes  Balthasar  von 
Fulda  und  die  Biographie  Egloffsteins  *)  über  ihn.  Nach  dieser 
Rk^tung  dürfen  wir  wohl  besonders  für  die  schwäbische  Reformations- 
geschichte noch  manche  Aufklärung  erwarten ;  ist  doch  eine  so  wichtige 

I)  Fürstabt  Balthasar  von  Dermhach  und  die  katholische  Restauration  im  Erzstift 
Fulda  (Mönchen   1890). 

8* 


—     108     — 

Quelle  wie  die  Weingartenschen  Missivenbücher  im  Stuttgarter  Archiv 
bisher  nicht  systematisch  ausgebeutet  worden. 

Ein  fast  gar  nicht  angebautes  Feld,  welches  jedenfalls  noch  einmal 
reiche  Früchte  tragen  wird,  ist  endlich  die  Geschichte  der  verschie- 
denen Orden  in  Deutschland.  Nur  für  die  Jesuiten  sind  in  dieser 
Hinsicht  durch  Braunsbergers  epistolae  Canisü,  durch  Hansens  schon 
erwähnte  rheinische  Jesuitenakten,  ganz  neuerdings  auch  diurch  das 
sehr  instruktive  Werk  von  Bernhard  Duhr,  Die  Jesuiten  an  den 
deutschen  Fürstenhöfen  des  XVL  Jahrhunderts  (Erläuterungen  und 
Ergänzungen  zu  Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes,  II,  4,  Frei- 
burg 1901)  einige  Spatenstiche  getan.  Wohl  stehen  in  aktiver  Beteiligung 
am  religiösen  katholischen  Leben  damals  die  anderen  Orden  hinter  den 
Jesuiten  zurück ;  aber  wenn  uns  vielleicht  auch  die  Darstellung  der  Franzis- 
kaner und  Dominikaner  nicht  derart  in  das  Getriebe  an  den  Höfen 
einführen  wird  wie  das  Buch  von  Duhr,  ein  farbenreicheres  Bild, 
lebendigere  Anschauungen  würden  wir  sicher  gewinnen,  wenn  wir  die 
Organisation  der  verschiedenen  Klöster  imd  Klosterprovinzen  würden 
funktionieren  sehen,  wenn  wir  in  den  fortlaufenden  Briefwechsel  der 
verschiedenen  Instanzen  Einblick  hätten. 

So  dürfen  wir  uns  der  Hoffnung  hingeben,  da(s  auf  dem  Gebiete 
der  katholischen  Reformations-  und  Gegenreformationsgeschichte  die 
bewufste  Verbindung  allgemein-  und  territorialhistorischer  Gesichts- 
punkte, die  Fähigkeit,  sich  in  Einzelheiten  liebevoll  zu  versenken  und 
dabei  doch  die  grofsen  Zusammenhänge  nicht  aus  dem  Auge  zu 
verlieren,  die  Anpassung  gefundener  Resultate  in  den  groCsen  Rahmen 
und  umgekehrt  die  stete  Umarbeitung  dieses  Rahmens  nach  MaCsgabe 
der  neuen  Entdeckungen  noch  grofse  Bereicherungen  unseres  Wissens 
zur  Folge  haben  wird. 


Mitteilungen 

ArchiTe.  —  Von  den  hiventaren  der  nichtstaailichen  Archive  der  Provinx 
Westfalen  *)  ist  zu  Ende  des  Jahres  1901  das  zweite  Heft,  Kreis  Borken 
enthaltend,  erschienen  (Münster,  Aschendorff,  160  S.  8^),  welches  die  Ver- 
zeichnung der  Archivalien  genau  in  derselben  Weise,  wie  sie  in  Heft  i  be- 
gonnen worden  war,  weiterführt.  Über  die  Grundsätze  selbst  und  ihre 
Anwendung   wäre   hier  weiter   nichts   zu   sagen,   wenn  nicht,    hervorgerufen 


ij  Vgl.    über    das    erste   1899   erschienene  Heft    diese  Zeitschrift    I.  Bd.,    S.   85/86. 
Siehe  auch  Nederlandsch  Archtevenblad  1899— 1900,  S.   132/133. 


—     109      — 

durch  die  Bemerkungen  darüber  im  ersten  Bande  dieser  Zeitschrift,  eine 
Polemik  entstanden  wäre:  in  den  AnncUen  des  historisclien  Vereins  für  den 
Niederrhein f  70.  Heft  (1901),  S.  146  — 148  hat  der  Herausgeber  dieser 
Zeitschrift,  Prof,  Meister  in  Münster,  die  Übersicht  über  den  Inhalt  der 
kleineren  Archit'e  der  Rheinprovinz  Bd.  i  und  das  erste  Heft  der  west- 
^lischen  Inventare  einer  vergleichenden  kritischen  Betrachtung  unterzogen, 
in  der  im  wesentlichen  die  gegen  letztere  in  den  deutschen  Geschichtsblättern 
gdtend  gemachten  Bedenken  umgekehrt  gegen  die  Rheinische  Archivübersicht 
TOigebracht  wurden.  Der  Bearbeiter  der  letzteren  hat  sich  darauf  wesent- 
lich ausfuhrlicher  über  die  Methode  der  systematischen  Forschung  in  den 
sogenannten  kleineren,  d.  h.  den  einer  fachmännischen  Leitung  entbehrenden 
Archiven  in  der  Westdeutschen  Zeitschrift  Bd.  20,  S.  384  —  95  geäufsert 
und  vor  allem  das  von  ihm  tatsächlich  angewandte  Verfahren  begründet. 
Mit  einer  kurzen  nichtssagenden  Bemerkung  hat  Meister  im  74.  Heft  (1902), 
S.  199  der  genannten  Aimalen  darauf  geantwortet,  womit  diese  Angelegen- 
heit erledigt  ist 

Die  Inventare  der  Archive  des  Kreises  Borken  sind  von  Privatdozent 
Ludwig  Schmitz  bearbeitet,  der  Vorarbeiten  von  Prof.  Finke  benutzt 
imd  die  Berichte  des  letzteren  über  die  Schlofsarchive  zu  Anholt  *)  (S.  3 — 28 
md  S.  159 — 160),  Gemen  (S.  79 — 128)  und  Velen  (S.  146 — 158)  voll- 
ständig übernommen  hat.  Diese  drei  Archive  bergen  ein  sehr  umfangreiches 
und  in  jeder  Hinsicht  wertvolles  Material,  auf  das  in  dieser  Form  jetzt  zum 
ersten  Male  auftnerksam  gemacht  wird.  In  Anholt  sind  die  Privatkorrespon- 
denzen des  XV.  bis  XVIII.  Jahrhunderts  von  höchster  Bedeutung,  da  viele 
Qicder  des  Geschlechtes  Salm  hervorragende  Stellungen  bekleideten.  Wichtig 
sind  auch  die  Archivalien  der  Wild-  und  Rheingrafen,  femer  ein  Band  mit 
Chroniken  in  niederdeutscher  Sprache  (S.  20/21),  ein  gedruckter  Ablafsbrief 
von  1484,  der  als  Einband  dient  (S.  24),  sowie  vieles  über  das  Stift  Vreden. 
Zu  Gemen  ruhen  die  Archive  Gemen,  Raesfeld,  Ahausen,  Mengede,  Barns- 
feld,  Pröbsting,  Landsberg,  Imbsen,  von  denen  die  letzten  vier  aber  un- 
bedeutend sind:  es  überwiegen  hier  die  Regesten  der  bis  1400  vorhandenen 
Urkunden,  daneben  sind  noch  die  Handschriften  von  Belang.  Genannt 
seien  davon  die  in  zwölf  Bänden  vorliegenden  Tagebücher  eines  Feld- 
marschalls von  Landsberg  vom  Ende  XVII.  und  Anfang  XVIII.  Jahrhunderts 
(S.  102).  In  Velen  befinden  sich  Archivalien  über  Velen,  Raesfeld,  Bams- 
feld,  Botzlar,  Dülmen,  Dücking,  Engelrading-Heiden,  Rölinghof  und  Wester- 
haus  und  Emsländische  Besitzungen:  die  Urkundenregesten  bieten  hier  kaum 
allgemein  Wichtiges.  —  Bei  der  Mehrzahl  der  einzelnen  Kreisorte  ist  die 
Ausbeute  in  den  Pfarr-  und  Amtsarchiven  recht  gering,  jedenfalls  nicht  reicher 
ak  m  anderen  Gegenden:  Ausnahmen  bÜden  die  Archive  von  Stadt  und 
kath.  Pfistrramt  Bocholt  (S.  29  —  47)  und  Borken  (S.  48 — 67),  neben  denen 
Haus  Diepenbrock  (S.  68 — 78)  und  Haus  Rhede  (S.  139 — 145)  reichere  Archive 
besitzen.  Es  mögen  noch  einige  Einzelheiten  folgen :  in  Bocholt  beginnen  die 
Stadtrechnungen  1407  (S.  37) ;  ein  lateinisches  Lexikon  vom  Ende  des  XV.  Jahr- 

l)  AU  I.  Beiheft  der  Inventare  der  nichtstaatlichen  Archive  der  Provinz  Westfalen 
sind  die  Urkunden  des  fürstlich  Salm- Salmschen  Archivs  in  Anholt ^  bearbeitet  von 
Ladwig  Schmitz,  (Münster  1902)  erschienen;  ein  Rezensionsexemplar  ist  der  Redaktion 
Bicht  ZQgegangen. 


—     110     — 

Hunderts  besitzt  die  ehemalige  Kapuzinerkirche  zu  Borken  (S.  67) ;  wahrscheinlich 
Teile  der  Redin ghoven sehen  Sammlung  zur  niederrheinischen  Geschichte^ 
deren  Grundstock  die  Kgl.  Bibliothek  in  München  besitzt,  befinden  sich  in 
Haus  Rhede  (S.  139  flf.);  zwei  deutsche  Gedichte  als  Proben  S.  i6q.  — 
So  viel  auch  neues  Material  erschlossen  wird,  die  Mehrzahl  der  Urkunden- 
regesten  bietet  über  das  nächste  ortsgeschichtliche  Interesse  hinaus  doch 
recht  wenig  allgemein  Beachtenswertes;  störend  wirkt  für  den  an  moderne 
Publikationen  gewöhnten  Leser  vor  allem  die  Fraktur  bei  deutschem  Texte, 
der  direkt  den  Vorlagen  entnommen  ist.  Ein  Abweichen  von  dem  einmal 
eingeschlagenen  Verfehren  ist  freilich  jetzt  nicht  mehr  gut  möglich,  wenn 
auch  das  Urteil  darüber  kaum  verschieden  lauten  dürfte. 

Kommissionen.  —  Die  Württembergische  Kommission  für 
Landesgeschichte  ')  hielt  am  i.  Mai  1902  zu  Stuttgart  ihre  elfle  Sitzung 
ab.  Von  der  Korrespmidenx^  des  Ileixogs  Christoph  befindet  sich  der  dritte 
Band  im  Druck;  von  Wintterlins  Geschichte  der  Behördenorganisation  in 
Württemberg  liegt  der  erste  Teil,  der  bis  zum  Ende  des  XVIII.  Jahrhunderts 
reicht  (Stuttgart,  Kohlhammer,  1902.  165  S.  8®)  fertig  vor;  von  den 
GeschiddUcheH  Liedon  und  Sj/rikJien  aus  Württemberg  ist  das  dritte  Heft 
im  Druck  fertiggestellt.  Der  Druck  des  llcilbroimer  Urkundcnbuchs  y  das 
E.  Knüpfe r  bearbeitet  hat,  hat  wegen  anderer  Arbeiten  vollständig  geruht. 
Die  Inventarisation  der  kleineren  Archive  ist  wiederum  wesentlich  gefördert 
worden;  zu  den  im  letzten  Jahresbericht  genannten  dreizehn  völlig  erledigten 
Bezirken  ist  im  Berichtsjahre  der  Bezirk  Besigheim  hinzugekommen.  Eine 
ganze  Reihe  neuer  Veröffentlichungen  wurden  angeregt,  Fortsetzung  und  Er- 
gänzung der  Bibliographie  der  Württenibergisclien  Gescliielite  von  Heyd  von 
IG  zu  IG  Jahren  —  die  erste  Ergänzung  soll  1905  erscheinen  — ,  Bearbeitung 
der  Regesten  der  Grafen  von  Württemberg,  der  Politischen  Korrespondenz 
König  Friedrichs  und  der  württembergischen  Landtagsakten,  femer  Heraus- 
gabe der  württembergischen  Weistümer  und  Dorfordnungen,  der  Akten  zur 
Geschichte  der  Verfassung  und  Verwaltung  der  Stadt  Ulm  im  Mittelalter  und 
der  Tübinger  Matrikeln,  alter  württembergischer  Chroniken  und  eines  zweiten 
Bandes  des  Efslinger  Urkundenbuchs.  Endgültig  beschlossen  wurde  die  Her- 
ausgabe der  Haller  Chroniken  durch  Prof.  Kolb  sowie  die  Herstellung  von 
Grundkarten  im  Mafsstabe  i:ioggog  mit  Gemarkungsgrenzen  in  Gemein-. 
Schaft  mit  dem  Kgl.  Statistischen  Landesämt,  wenn  letzeres  zunächst  vier 
weitere  Karten  anfertigen  läfst  und  der  Kommission  eine  entsprechende  Anzahl 
von  Exemplaren  überläfst. 

Neu  eingetreten  sind  in  die  Kommission  Prof.  v.  Below  und  Dr.  Knapp, 
Vertreter  des  Vereins  für  Kunst  und  Altertum  in  Ulm  und  Oberschwaben. 
Den  Ausgaben  von  13  413  Mark  steht  eine  Einnahme  von  15386  Mark 
gegenüber. 

Die  Historische  Kommission  für  Nassau^)  hat,  nachdem  am 
28.  Juni  19G2  ihre  Hauptversammlung  stattfand,  ihren  fünften  Jahresbericht 

1)  Vgl.  diese  Zeitschrift  III.  Bd.,  S.   185-186. 

2)  Vgl    diese  Zeitschrift  Bd.  II,  S.   302—303. 


—    111    — 

ausgegeben :  der  Katxendnbogische  Erbfolgestreit,  herausgegeben  von  O.  M  e  i  - 
nardus,  liegt  jetzt  abgeschlossen  im  zweiten  Bande  der  Nassau- Oranischen 
Korrespondenxen  (Wiesbaden,  Bergmann,  1902.  113+377  S.  Mk,  13,00)  vor, 
und  zwar  geht  wie  beim  ersten  Bande  eine  Darstellung  den  mitgeteilten 
Briefen  und  Akten  (1538 — 1557)  voraus.  Fortgeschritten  sind  die  Arbeiten 
am  Eppsteiner  Lehnregister,  das  Archivdirektor  Wagner  bearbeitet, 
Archivar  Sc  haus  hat  die  Vorarbeiten  fiir  das  nassauische  Urkundenbuch 
nnd  Archivdirektor  Wagner  die  für  eine  Ausgabe  nassauischer  Weistümer 
fortgesetzt  Die  nassfimscfie  Bibliographie y  die  Bibliothekar  Zedier  bearbeitet, 
hat  nur  wenig  gefördert  werden  können,  und  „die  in  Aussicht  genommene 
loventarisation  der  nichtstaatlichen  Archive  des  Regierungs- 
beziiks  Wiesbaden  hat  im  Berichtsjahre  keine  Fortschritte  gemacht ;  es  steht 
aber  zu  hoffen,  dafs  die  auf  diesem  Gebiet  vorhandenen  Schwierigkeiten 
beseitigt,  und  mit  der  Arbeit  begonnen  wird,  der  dann  die  inzwischen  er- 
folgende gröfsere  Klärung  der  Ansichten  hinsichüich  der  Methode  der  In- 
ventarisation  zum  Nutzen  gereichen  dürfte/' 

Da  die  Kommission  als  Sektion  des  Vereins  für  nassauische  Altertums- 
kunde und  Geschichtsforschung  bisher  in  ihrer  Verfügungsfreiheit  gehemmt 
war,  hat  eine  Neugestaltung  der  Satzungen  Wandel  geschaht.  Die  Leitung 
der  Geschäfte  lag,  nachdem  Prof.  Otto,  durch  Krankheit  veranlafst,  vom  Amte 
des  Vorsitzenden  zurückgetreten  war,  in  den  Händen  von  Major  a.  D.  Kolb, 
bis  Archivdirektor  Wagner  zum  ersten  Vorsitzenden  gewählt  wurde.  Stifter  zählt 
die  Kommission  jetzt  4,  Ehrenmitglieder  i,  Gönner  9,  Freunde  27,  Mitglieder 
76;  den  Elinnahmen  von  4193  Mk.  stand  eine  Ausgabe  von  4142  Mk.  gegen- 
über, der  Bestand,  der  im  Vorjahre  7 1 1 2  Mk.  betrug,  ist  auf  7 163  Mk.  gestiegen. 


Die  ältesten  Siegelumschriften  in  deutscher  Sprache.  —  In  meiner 
kurzen  Zusammenfassung  der  bisher  gewonnenen  Forschimgsergebnisse  auf 
dem  Gebiete  der  deutschen  Urkundensprache  und  der  noch  notwendig  zu 
leistenden  Arbeit  in  dieser  Zeitschrift  III.  Bd.,  S.  11 7  habe  ich  auf  die  Verwen- 
dung der  deutschen  Sprache  bei  einigen  mit  den  Urkunden  in  mehr  oder  minder 
nahem  Zusanunenhang  stehenden  Erscheinungen  hingewiesen,  darunter  auf  die 
deutschen  Siegellegenden,  imd  als  Beispiel  die  Siegel  des  Reichshofgerichtes 
von  der  zweiten  Hälfte  der  XIII.  Jahrhunderts  an  erwähnt.  In  Österreich 
geht  jedoch  der  Gebrauch  deutscher  Siegelumschriften  noch  viel  weiter  zurück 
und  zwar  ist  es  merkwürdigerweise  der  Herzog  selbst,  welcher  sich  derselben 
bedient.  Im  Jahre  1197  bereits  findet  sich  an  einer  Urkunde  des  Baben- 
bcrger  Herzog  Leopolds  VI.  —  damab  Herzog  der  Steiermark  —  für  das 
Kloster  Heiligenkreuz  in  Niederösterreich,  gegeben  zu  Wien  am  9.  Dezember 
des  genannten  Jahres  *) ,  ein  herzogliches  Siegel  mit  der  Umschrift  f  Hei- 
"^ogt  .  Liufpolfd  vfon  .  Sfijyre,  Die  Einführung  eines  derartigen  vom  Ge- 
wohnten abweichenden  Siegels  dürfte  zu  jenen  verschiedenen  Mafsnahmen 
gehören,  welche  die  Babenberger  verfügten,  um  auch  äufserlich  die  Souveränität 
ihres  Territorialfürstentums  zu  markieren.  Dem  Beispiele  des  Landesfürsten 
folgte  bald  eine  Reihe  österreichischer  und  steirischer  Grafen  imd  Ministerialen, 


1)  Font.  rer.  Aastr.  2.  Abt.  XI,  30. 


—     112     — 

wie  die  Grafen  von  Ortenburg,  die  Kuenringer,  die  Pettauer,  die  Auersperge  ^)y 
und  so  scheint  die  Führung  von  Siegehi  mit  deutschen  Umschriften  eine 
Zeitlang  Mode  gewesen  zu  sein,  welche  sich  jedoch  im  XIII.  Jahrhundert 
wieder  allmählich  verlor,  um  im  XIV.  Jahrhundert  neu  und  allgemeiner  auf- 
zutauchen ^).  Aus  Deutschland  sind  aus  der  ersten  Hälfte  des  XUI.  Jahr- 
hunderts noch  zwei  Siegel  mit  deutschen  Umschriften  bekannt,  das  des 
"Gottfried  von  Bickenbach  (f  1244)  und  das  des  Kämmerers  Ludwig 
von  Meldingen  aus  dem  Jahre  1243  *),  doch  fallen  beide  später  als  die 
erwähnten  österreichischen  Beispiele.  Übrigens  ist  die  Siegelforschung  nach 
dieser  Richtimg  noch  nicht  systematisch  geführt  worden,  und  es  dürften  sich 
wohl  bei  genauerem  Studium,  das  hiermit  allen  Siegelbeschreibem  angelegent- 
lichst empfohlen  sei,  auch  hier  noch  neue  und  vielleicht  überraschende  Auf- 
schlüsse ergeben. 

Wien.  M.  Vancsa. 

£iiigegaiigene  Bttcher. 

Lavater:  Tagebuch  von  meiner  Reise  im  Junius  und  Julius  1774  [=  Mit- 
teilungen der  Deutschen  Gesellschaft  zur  Erforschung  vaterländischer 
Sprache  und  Altertümer  in  Leipzig.  Leipzig,  W.  Hiersemann.  9.  Bd.,. 
2.  Heft  (1902),  S.   59 — 136]. 

Mitteilungen  des  Kaiserlichen  und  Königlichen  Heeresmuseums  im  Artillerie- 
Arsenal  in  Wien,  herausgegeben  von  dem  Kuratorium  des  Kaiserlichen 
und  Königlichen  Heeresmuseums.  Wien,  Karl  Konegen.  i.  Heft 
(1902),  XXIX  und  200  S.  80. 
'  Rehm,  Hermann:  Das  landesherrliche  Haus,  sein  Begriff"  und  die  Zu- 
gehörigkeit zu  ihm  [=  Sonderabdruck  aus  der  Festschrift  der  Universität 
Erlangen  zur  Feier  des  achtzigsten  Geburtstages  Sr.  Königlichen  Hoheit 
des  Prinzregenten  Luitpold  von  Bayern].  Erlangen  und  Leipzig,  A. 
Deichert  (Georg  Böhme),   1902.     36  S.  8^.     M.   1,20. 

Rendtorff,  F.  M. :  Die  schleswig-holsteinischen  Schulordnimgen  vom  i6» 
bis  zum  Anfang  des  19.  Jahrhunderts,  Texte  imd  Untersuchungen  zur 
Geschichte  des  Schulwesens  und  des  Katechismus  in  Schleswig-Holstein 
[=  Schriften  des  Vereins  ftir  schleswig-holsteinische  Kirchengeschichte. 
I.  Reihe  (gröfsere  Publikationen)  2.  Heft].  Kiel,  Robert  Cordes,  1902. 
347   S.  80. 

Sartori-Montecroce,  Tullius  R.  v. :  Geschichte  des  landschaftlichen 
Steuerwesens  in  Tirol  von  K.  Maximilian  bis  Maria  Theresia  [=  Bei- 
träge zur  österreichischen  Reichs-  und  Rechtsgeschichte  II.].  Innsbruck, 
Wagner,   1902.     337  S.  8^.     Kr.  6,40. 

S  i  e  g  1 ,  Karl:  Materialien  zur  Geschichte  der  Egerer  Lateinschule  vom  Jahre 
1300 — 1629  nach  den  Urkunden  des  Egerer  Stadtarchivs*  Eger,  Ver- 
lag des  K.  K.  Staats-Obergymnasiums,   1902.      143  S.  4^^. 

i)  Siehe  Luschin,  Deutsche  Inschriften  ans  Krain  und  Steiermark  (Mitt.  der  k.  k. 
Zentral-Kommission  N.  F.  X,   1884,  S.  LXIX). 

2)  Vgl.  jetzt  Siegenfeld,   Das  Landeswappen  der  Steiermark   (Graz   1900),  S.  40 
und   146. 

3)  Hohenlo he- Waidenburg  im  Jahrbuch   der  heraldischen  Gesellsch.  „Adler" 
m  (1876),  S.   125. 

Herausgeber  Dr.  Armin  Tille  in  Leipzif.  —  Druck  und  Verlag  von  Friedrich  Andreas  Perthes  m  Gotha. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


für 


Forderung  der  landesgeschichtlichen  Forschung 


IV.  Band  Februar  1903  5.  Heft 


t^oland  ^  t^undsohau 

RoUnd  In  der  bildenden  Kunst  des  letzten  Jahres.    Roland-Feuille- 
tons: Neue  Deutungen.    Neues  und  Nachtrftgliches  aus  der  Spexial- 
literatur;  neue  Rolande.    Die  bAhmischen  Rolande.    Neueste  Lite- 
ratur.   Nachlese. 

Von 
G.  Sello  (Oldenburg) 

Die  Freunde  der  Deutschen  Geschichtsblätter  bitte  ich  noch 
einmal  um  Geduld  für  ein  Referat  über  die  Roland-Literatur.  Dieselbe 
ist  in  jüngster  Zeit  so  sehr  in  die  Breite  gegangen  und  die  2^1 
schreiblustiger  DUettanten,  welche  von  Verantwortlichkeit  dem  Pu- 
blikum gegenüber  nichts  wissen,  hat  in  ihr  derartig  zugenommen,  dais 
es  fast  firaglich  erscheint,  ob  es  einer  wissenschaftlichen  2^itschrift 
anstehe,  sich  damit  zu  beschäftigen.  Das  „Laienelement"  in  der  Be- 
handlung der  Roland-Frage  ist  aber  von  jeher  ein  so  erheblicher  Teü 
dieser  selbst  gewesen,  da(s  seine  einfache  Ignorierung  kaum  noch  an- 
gängig erscheint;  und  außerdem  haben  gewisse  Vorgänge  des  ver- 
flossenen Jahres  geradezu  elektrisierend  auf  die  Phantasien  und  die 
Federn  gewirkt  Außerordentliche  Ereignisse  rechtfertigen  auCser- 
gewöhnliche  Ma&nahmen;  darum  möge  für  diesmal  den  Herren  Ro- 
land-Fenilletonisten  ausfuhrlicher,  als  ihnen  für  die  Zukunft  zugesichert 
werden  kann,  auch  an  dieser  Stelle  das  Wort  vergönnt  werden.  Dais 
mir  alles  Erwähnenswerte  zu  Gesicht  gekommen,  wage  ich  nicht  zu  be- 
haupten, wennschon  Freunde  der  Sache,  denen  allen  dafür  mein  Dank 
hier  gesagt  sei,  mich  redlich  durch  Zusendungen  unterstützt  und  erfreut 
haben.  Aber  auch  so  dürfte  vielleicht  mir  entgegengerufen  werden: 
uU,  satis  superque/  Bei  späteren  Berichten  wird,  falls  dieselben  über- 
haupt noch  wünschenswert  erscheinen  sollten,  eine  Beschränkung  auf 
diejenigen  Publikationen  einzutreten  haben,  welche  tatsächlich  Neues 
zur  Spezialgeschichte  mitzuteilen  wissen.  Dais  gerade  hier  der  Tätig- 
keit der  redlichen  Lokalgeschichtsfretmde  noch  ein  mutmafslich  reiches 
Feld  der  Tätigkeit  harrt,    betone  ich  nicht  zum   ersten  Male.     Es  ist 

9 


—     114     — 

freilich  leichter  und  lockender,  aus  Lesefrüchten  und  handlichen 
Quellenstellen  eine  neue  Theorie  zu  weben,  als  etwa  eine  Reihe  von 
Jahrgängen  städtischer  Rechnungen  zu  durchmustern. 

Seit  meinem  letzten  Berichte  ^)  sind  ein  paar  Erscheinungen  auf 
künstlerischem  Gebiete  hervoigetreten,  welche  den  Eindruck  machen, 
als  könnten  sie  berufen  sein,  dem  kulturhistorischen  Roland«-Thema 
ein  neues  Kapitel  hinzuzufügen. 

Der  preisgekrönte  Elntwurf  H.  Lederers  für  die  Hamburger 
Bismarck-Statue'),  welcher  den  eisernen  Kanzler  im  Eisenkleide, 
barhäuptig,  mit  wallendem  Mantel,  auf  ein  riesiges  Schwert  sich  stützend, 
darstellt,  ist  unter  dem  Beifall  von  Presse  imd  Publikum  als  „Ro- 
land" bezeichnet  worden.  Im  Berliner  Tieigarten  ist  die  Hülle  von 
der  kolossalen  und  prächtigen  Brunnenfigur  Professor  O.  Les- 
sings ')  gefallen,  welche,  in  Erinnerung  an  den  alten  Berliner  Roland 
offiziell  auf  dessen  Namen  getauft,  trotzdem  nicht  den  Träger  des 
Roland-Mythus  der  norddeutschen  Städte  in  seiner  traditionell-ältesten 
fürstlich-richterlichen  Gestaltung  zur  Darstellung  bringt,  sondern  den 
halb  historischen,  halb  sagenhaften  Helden  von  Ronceval  in  einer  aus 
den  verschiedensten  Elementen  zusammengesetzten  Rittertracht,  im 
Detail  echt,  aber  in  seiner  Gesamtheit  ein  unecht  wirkendes  Kompromifs. 
Diesen  Eindruck  dadurch,  dais  er  dem  sonst  korrekt  gezeichneten 
Recken  einen  „Haby-Bart"  verlieh,  satyrisch  gesteigert  zu  haben,  ist 
gewissermafsen  ein  Verdienst  des  lustigen  Karrikaturisten  des  Berliner 
„Ulk"  (1902,  Nr.  29). 

Neben  diesen  beiden  öffentlichen  Denkmälern  ist  ein  denselben 
verwandtes  von  privater  Art  an  einem  Platze  entstanden,  vor  dem 
selbst  Akibas  Weisheit  zu  Schanden  werden  mu(s:  in  einem  neuen 
Prunkrestaurant  Berlins,  in  den  Räumen  des  „Kolonialhauses",  der 
historischen  Stätte  des  alten  Roland  ebenso  fem  wie  der  Tiergarten, 
empfängt  ein  neuer  „Roland  von  Berlin"  den  Gast:  eine  vom 
Kopf  bis  zum  Fu(s  gerüstete,  3  Meter  hohe  Ritterfigur  aus  getriebenem 
Kupfer  mit  dem  Porträtkopfe  Bismarcks  und  dem  angeblichen  mittel- 
alterlichen Stadtwappen  Berlins  im  SchUde. 

Die  historische  Kritik  hat  das  Recht  und  die  Pflicht,  auch  Schöp- 
fungen   wie    diese  nach   Form  und  Gehalt  zu   prüfen;    sie  stellt  be- 


I)  Vgl.  diese  Zeitschrift  m.  Band,  S.  33—48. 

a)  Mir  nnr  ans  einer  grofsen  Photographie  bekannt,  welche  ich  der  Liebenswttrdig« 
keit  des  Herrn  Senatssekret&r  Dr.  Hagedom  Tcrdanke. 

3)  Treffliche  Gesamt-  und  Teilanfoahmen  derselben  hat  das  photographische  Institut 
▼on  W.  Titzenthaler  in  Berlin  gefertigt 


—     116     — 

danemd  fest,  dafs  dabei  für  eine  Zelt,  welche  auf  ihre  „wissenschaft- 
fidie Beobachtung"  sich  soviel  zu  gute  tut,  etwas  zu  viel  künstlerischer 
^enwille,  und  etwas  zu  wenig  ernstes  Wollen  in  der  Richtung  ge- 
sduchtlicher  Wahrheit  Hand  in  Hand  gegangen  sind.  Sie  möchte 
aber  anch  nicht  verkennen,  dafs  sich  hier  vielleicht  ein  neuartiges 
Symptom  der  „versonnenen**  Liebe  des  norddeutschen  Volkes  zu 
seinem  uralten  Rolandmotiv  zu  erkennen  gibt;  da(s  wir  möglicher- 
weise am  Beginne  eines  neuen  Abschnittes  der  Roland -Geschichte 
stehen,  dessen  Wesen  etwa  in  der  spontanen  Anerkennung  eines  inner- 
halb gewisser  Grenzen  frei  sich  bewegenden  Roland-T>'pus  als  ge- 
meinsames Symbol  des  deutschen  Städtewesens  liegen  möchte;  so  etwa 
wie  in  der  Heraldik  die  unschöne  Abstraktion  der  Mauerkrone  verwand- 
tem Zwecke  dienen  sollte.  Einen  beachtenswerten  Fingerzeig  in  dieser 
Sichtung  hat  Moritz  Leopold  in  Charlottenburg  mit  seinem  zur  Aus- 
fihrung  angenommenen  Plakat,  für  die  deutsche  Städteaus- 
stellung 1903  in  Dresden  gegeben,  welches  im  Vordergrunde  einen 
„Roland''  mit  der  Stadtsilhouette  dahinter  zeigt 

Die  Zukunft  wird  lehren,  ob  die  neuen  Gebilde  wirklich  eine  Fort- 
eotwickelnng  bedeuten,  oder  ob  sie  mit  der  Laune ,  welche  sie  schuft 
wieder  vergehen  werden,  ein  Schicksal,  welches  ihnen  Theodor 
Wolff,  der  treffliche  Kenner  der  modernen  Volksseele,  voraussagt, 
wenn  er  in  einem  seiner  meisterhaften,  mit  liebenswürdigem  Lächeln 
<fie  ernstesten  Wahrheiten  kündenden  Feuilletons  (Berliner  Tageblatt 
1902,  Nr.  436)  in  der  Neuerrichtung  des  Berliner  Roland  nichts  als  die 
interessante  Erscheinung  sieht,  dafs  man  eine  tote  Symbolik  aus  ver- 
klimgenen  2Mten  heute  auferwecken  und  künstlich  wieder  beleben 
woDe.  Aber  auch  fiir  diesen  Fall  werden  die  neuen  Bilder  in  einer 
Ifin«cht  wenigstens  von  dauerndem  Nutzen  gewesen  sein. 

Dem,  der  sie  aufmerksam  miterlebte,  haben  sie  die  GewUsheit 
erbracht,  da&  eine  Reihe  scheinbar  imvermittelter  Übergänge  in  der 
R^dandgeschichte  seit  dem  XVI.  Jahrhimdert  gerade  wie  sie,  die  nur 
(fie  Wiederholung  jener  bilden,  logisch  nicht  zu  erklären  sind,  son- 
dern, unbeschadet  ihrer  Tatsächlichkeit,  einzig  und  allein  in  unkontrol- 
fierbaren  R^fungen  der  Volksseele  oder  der  Regisseure  derselben  ihre 
Veranlassung  haben. 

Wir  werden  jetzt  keinen  Anstols  mehr  daran  nehmen,  dais  das 
ffiU  Karls  des  Groisen  zu  Wedel,  der  Denkstein  Dietrichs  v.  Quitzow 
Z8  L^de,  der  „Römer"  auf  dem  Fischmarkt  zu  Erfurt,  ja  sogar  der 
gemalte  Christopborus  zu  Oschatz  volkstümlich  als  „Rolande"  be- 
werden;  dals  zahlreiche  „Rolande"  des  XVL  Jahrhunderts 


—     116     — 

nicht  mehr  die  typische,  fürstlich-richterliche  Tracht  des  XIII.,  XIV., 

XV.  Jahrhunderts  erhielten,  sondern  idealisiert,  im  antikisierenden  Helden- 
kostüm der  populären  Illustrationswerke  jener  Zeit ,  oder  veristisch  in 
der  Kriegstracht  ihrer  städtischen  Söldner  sich  zeigten;  dafs  neue 
„Rolande*',  gröfser,  prächtiger  als  ehemals,  errichtet  wurden,  wo  es 
keine  „Freiheit",  kein  Privilegium  mehr  gegen  fürstliche  Überfahrung 
zu  schützen  galt,  wo  selbst  die  Sage  verstummt  war,  und  nur  die 
Lust  an  dekorativer  Verherrlichung  einer  von  phantasievollen  Chro- 
nisten in  künstlicher  Beleuchtung  gezeigten  nebelhaften  Vorzeit  das 
Wort  führte. 

Dieselben    volkspsychologischen     Imponderabilien ,     welche     im 

XVI.  und  wiederum  im  XX.  Jahrhimdert  ein  Spielen  mit  dem  Roland- 
B^riflf,  dem  Roland-Namen,  dem  Roland-Typus  zulicfeen,  dürfen  wir 
als  vollgültige  Faktoren  in  der  frühesten  Roland-Geschichte  anerkennen« 
Die  volkstümliche  Umdeutung  in  ein  Symbol  der  nach  sächsischer 
Sage  von  Karl  dem  Groisen  gegönnten  „Freiheit",  die  nach  unserer 
Auffassung  eine  Statue  erfuhr,  welche  bei  Gelegenheit  einer  der 
ersten  deutschen  Städtegründungen  im  Sachsenlande  durch  König- 
Otto  I.  der  geistliche  Stadtherr  zum  Zeichen  ihm  verliehener  Stadt- 
gerichtsfreiheit unter  dem  BUde  eines  dies  Vorrecht  als  oberster  Richter 
schützenden  Königs  errichtete;  die  volkstümUche  Verkörperung  dieses 
unbequem  abstrakten  Symbols  zum  Abbilde  Rolands,  des  sagenhaften 
Schutzpatrons  der  Sachsenfreiheit;  die  volkstümliche  Umwertung  dieses 
Roland-AbbUdes  zu  einem  unpersönlichen  generellen  SinnbUd  städti- 
scher Freiheit  im  Sachsenlande  mit  dem  Gattungsnamen  Roland:  alle 
diese  Voraussetzimgen  werden  durch  den  Hamburger  Bismarck-Roland, 
den  Berliner  Tiergarten-Roland  von  dem  schwankenden  Boden  histo- 
rischer Hypothese  in  den  sicheren  Bereich  psychologisch  unanfecht- 
barer Möglichkeit  und  Wahrscheinlichkeit  hinübergefuhrt  So  lange 
die  tatsächlichen  Beobachtungen,  auf  die  sie  sich  stützen,  nicht  als 
irrig  nachgewiesen  sind,  werden  wir  sie  daher  als  zweifellos  richtig* 
gelten  lassen  dürfen. 

An  die  Stelle  der  Chronisten,  welche'  im  XVI.  Jahrhundert  das 
historische  RolandbUd  verwischen  halfen,  eines  Brotuff,  Angelus,  Po- 
marius,  Leuthinger,  sind  heute  die  Feuillctonisten  der  Tageszeitungen 
und  Wochenschriften  getreten,  Journalisten  von  Beruf,  Techniker» 
Kunstschriftsteller,  Naturkundige,  Geographen,  Philologen,  Juristen. 
Die  literarische  Spreu,  die  vorher  schon  bergehoch  lag,  da  jeder,  der 
einmal  einen  „Roland"  gesehen  und  irgendwo  etwas  darüber  g^elesen 
hatte,  sich  berufen  hält,  seine  Ansicht  zur  Rolandfrage  zu  äu&em,  ist 


—     117     — 

in  der  neuesten  Zeit  um  ein  Erkleckliches  gewachsen.  Ein  Satyriker 
könnte  daraus  der  hochgelobten  Bildung  unserer  Tage  einen  anmutigen 
Strohkranz  winden.  Uns  würde  der  Versuch  dazu  hier  zu  weit  fuhren; 
wir  müssen  uns  darauf  beschränken,  eine  kleine  Auswahl  der  neuesten 
Deutungen  vorzul^en. 

Carus  Sterne  (Ernst  Krause)  hat  eine  umfangreiche  ,,historisch- 
m3rthologische  Studie*'  geschrieben  „Die  Rolandsbilder"  (Vossische 
Zeitong,  Sonntagsbeilage,  1902,  Juli  20.  27) ').  Sie  beginnt  mit  einer 
TöUig  unzulänglichen,  kurzen  Zusammenfassung  dessen,  was  Rechts- 
gelehrte und  Geschichtsforscher  (er  nennt  R.  Schröders  Abhandlung 
▼OQ  1890,  Sohm  und  den  noch  zu  besprechenden  E.  A.  Müller)  über 
den  Ursprung  der  Rolandsbilder  ermittelt  haben.  Das  sei  „durch- 
aus unbefiriedigend  *',  weil  sie  trotz  J.  Grimms  Hinweisung  auf  die  Irmen- 
sanlen  und  der  Zustimmung  „verschiedener  genauer  Kenner  des  deut- 
schen Altertums,  wie  z.  B.  Mone  und  Holtzmann'*,  „  die  Mitarbeit  der 
Mythologen  verschmäht  haben".  „Auf  einem  weiten  Umwege  und 
ohne  beim  Aufbruch  von  diesen  Vorgängern  zu  wissen",  sei  er 
„zu  derselben  Schlufsfolgerung  (eines  näheren  Zusammenhanges  zwi- 
schen den  Irmensäulen  und  den  Roiandsäulen)  gelangt",  und  „hofTe 
sie  zu  einem  hohen  Grade  der  Wahrscheinlichkeit  bringen  zu  können". 
Um  zu  der  in  diesen  Worten  verheifsenen  Lösung  der  Roland- 
frage  zu  gelangen,  brauchen  wir  nicht  den  ganzen  weiten  Umweg 
oder  Irrw^  zu  wandeln,  den  Sterne  uns  nun  führen  wUl.  Nachdem 
wir  uns  etwa  bis  auf  die  fünfte  Spalte  durchgearbeitet,  stofsen  wir 
auf  eine  Art  von  Wegweiser :  „wir  werden  bald  sehen,  dafe  mit  gröfster 
Wahrscheinlichkeit  die  alten  Marktkreuze,  die  in  Gestalt  eines  Schwert- 
griffes aufjgerichtet  wurden,  und  aus  denen  die  Rolandssäulen 
hervorgegangen  sind  u.  s.  w."  Flugs  überschlagen  wir  das 
Wettere,  und  finden  bald,  was  wir  nach  dieser  Andeutung  ahnten: 
R.  Schröders  wohlbekannte  Marktkreuz  -  Theorie  von  1886.  Sterne 
hat  dieselbe,  die  er  nur  in  der  Fassung  von  1890  kennt,  in  seiner 
Einleitung  als  „die  wohl  vorherrschende  Meinung  in  neuerer  Zeit" 
bezeichnet,  aber,  wie  man  aus  seinen  weiteren  Ausführungen  schliefsen 
nntis,  zunächst  als  ebenfalls  „durchaus  unbefriedigend"  abgelehnt. 
Dann  ist  er  anderen  Sinnes  geworden;  da  er  das,  was  Schröder  ein- 
gebend zu  beweisen  gesucht  hat,  beweislos  als  Tatsache  hinstellt,  hat 
ihm  offenbar  die  Autorität  des  Rechtsgelehrten  —  dessen  Namen  er 
an  dieser  Stelle  nicht  nennt  —  für   diesmal  genügt.     Der  Ruhm  der 


i)  Mir  dorch  Herrn  Geh.  Archi?rat  Dr.  Baillen,  Berlin,  freundlichst  mitgeteilt. 


—     118     — 

Mythologea  und  J.  Grimms  „Fingerzeig'"  müssen  aber  nichtsdesto- 
weniger zu  ihrem  Rechte  kommen;  darum  der  „Umw^"  und  die 
ihn  in  mystisches  Halbdunkel  hüllende  gewaltige  Wolke  gelehrter 
Abschnitzel  aus  den  Mythologien  aller  alten  Kulturvölker.  Nachdem 
wir  den  leitenden  Faden  gefunden,  können  wir,  noch  einmal  b^^innend, 
diesen  Irrgarten  rascher  durcheilen.  Kaum  haben  wir  uns  zwischen 
den  altrömischen  Marktbildem,  „welche  nach  Bedeutung  und  Charakter 
durchaus  den  Rolanden  Norddeutschlands  entsprachen",  Vater  Lyaeus, 
pater  über,  Marsyas,  Silen,  des  Kaisers  Augustus  Tochter  Livia  mit  der 
freieren  Lebensauffassung,  Midas  und  dessen  Malern  aus  der  Renaissance- 
zeit, hindurchgewunden,  so  müssen  wir  mit  ansehen,  wie  nur  zum 
Zwecke  sofortiger  Widerlegung  die  Scheinbehauptung  angestellt  wird, 
„die  norddeutschen  Rolandsbilder  seien  Nachahmungen  der  italieni- 
schen Marsyasbilder,  die  mit  dem  römischen  Rechte  bei  uns  ein- 
gezogen seien".  Wir  erfahren  dabei,  dafs  „die  au%ehobene  Hand 
des  römischen  Marsyas  schon  einen  Hauptcharakter  der  Rolandbilder 
enthielt",  nehmen  zum  Beweise  der  Urverwandtschaft  der  römischen 
Götter  mit  den  altgermanischen  an  einer  interessanten  Konfrontation 
von  echten  (und  verdächtigen)  Hauptrepräsentanten  der  beiden  mytho- 
logischen Systeme  teil,  imd  sind  damit  dem  Ziele  ganz  nahe  ge- 
kommen. „Der  germanische  Rechtsgott  war  nun  der  aus  dem 
Himmelskämpfer  hervorgegangene  Schwertgott  Tiu  oder  2Uo,  der  alles 
auf  Erden  begangene  Unrecht  straft  und  gleichsam  den  Vorsitz  der 
unter  freiem  Himmel  vorgenommenen  Gerichtsverhandlungen  führte." 
Ihm  wurden  2Uo-Säulen  (Ziojodutes,  Tyodutes,  Jodutes,  d.  h.  Tius' 
Stamm)  errichtet,  die  mit  dem  Irminsäulen  einerlei  waren.  Be- 
weis dafür:  das  von  den  Thüringern  (!)  „um  530"  an  der  Unstrut 
errichtete  Siegesdenkmal  in  Gestalt  eines  dem  Herkules  ähnlichen 
starken  Mannes,  deo  sie  als  Mars,  d.  h.  als  den  noch  mit  einer  Keule 
bewaffneten  Kriegsgott,  bezeichneten,  den  aber  ein  guter  Mönch  des 
XII.  Jahrhunderts  in  -einem  Zusatz  —  zu  Widukinds  „Jahrbüchern  der 
Sachsen"?;  Sterne  scheint  das  zu  meinen  —  Hermes  nennt  (weil 
Wodan  =  Merkur  s=  Hermes  damals  „  bei  den  Sachsen  ond  anderen 
nordischen  Völkern"  an  die  Stelle  von  Zio-Mars  getreten  war)  und 
mit  Irmin,  dessen  Name  den  höchsten  Gott  der  Germanen  bezeichnete, 
schon  der  Namensähnlichkeit  wegen  gleichsetzte  ^).  Fernerer  Beweis : 
das    „Tyodute"- Standbild    am   Weifesholz    und    der   Weidenstumpf 

i)  Wer  die  wissenscfaalUiche  ZinrerlfiMigkeit  Sternes  prOfen  wiU,  möge  seine  Behand- 
lung der  historischen  Nachrichten  über  die  Scheidnnger  und  Eresbnrger  Irmensul  näher 
betrachten. 


—     119     — 

daselbst,  zur  Erinnerung'  des  Sieges  der  Sachsen  —  NB.  im  Jahre 
1115  —  über  des  Kaisers  Feldherm  Graf  Hoyer  von  Mansfeld,  der 
zu  YÖÜig  mythischer  Persönlichkeit  geworden  als  „angeborener  Sonnen- 
kampfer Tin- Donar -Siegfried",  d.  h.  als  „rothaariger  Gewitteigott"; 
sodann:  das  bei  Elias  Schedius  de  düs  Germanis  1648  und  in  Am- 
kiels  Cimbrischer  Heidenreligion  1691  mi^eteilte  als  Ermensul  be- 
zeichnete Bild  des  „Ritters  mit  dem  Hahn  "  ( ! ).  „Bevor  die  germanischen 
Stämme  fähig  waren,  hölzerne,  steinerne  oder  gar  metallene  Bildwerke 
herzustellen,  begnügten  sie  sich,  eine  hölzerne  oder  steinerne  Säule  zu 
errichten,  einen  Si^es-  oder  Gerichtsbaum,  der  das  fehlende  BUd  vertrat'* 
„  Den  einfachen  Pfahl  stattete  man  später  mit  zwei  Armen  aus,  namentlich 
an  den  Gerichtsstätten,  und  das  sollten  wohl  weniger  die  Arme  einer 
menschlichen  Gestalt  sein,  als  die  Parierstang'en  eines  in  der  Erde 
steckenden  Schwertes,  das  Zeichen  des  Schwertgottes,  der  als  oberster 
Richter  galt"  „Ein  solcher  Schwertbaum  der  Grerichtstätten  mufs 
—  man  beachte  den  einzig  durch  dieses  Wörtlein  geführten  schlagen- 
den Beweis  —  das  UrbUd  der  Marktkreuze  gewesen  sein,  aus  denen 
die  Rolande  hervorgegangen  sind."  Mit  den  Marktkreuzen  werden  die 
,,Slavischen  Kreuzbäume  "^nach  dem  Berichte  des  Theologen  Hilde- 
brand über  die  Lünebui^er  Wenden  aus  dem  Jahre  1672)  verglichen, 
auf  deren  Spitze  ein  eiserner  Hahn  steht  —  wir  erinnern  uns  dabei 
des  eben  erwähnten  Irmensul-Rittefs  mit  dem  Hahn.  Da  dieser  auch 
mythologisch  überaus  schätzbare  Vogel  dem  höchsten  Gott  der  Slaven, 
dem  Licht-  und  Kamp^ott  heilig  ist,  so  gleichen  also  diese  slavi- 
schen  Kreuzbäume  nach  Sinn  und  Ursprung  völlig  „den  Rechts- 
und Marktkreuzen  (WeichbUdem) ,  aus  denen  die  Rolande  hervor- 
g^angen  sind". 

Aus  dem  Wedeler  und  dem  Bramstedter  RolandsbUd  scheint  Sterne 
zu  schliefen,  dals  die  aus  den  Marktkreuzen  entstandenen  Statuen 
Kaiserbilder  gewesen  seien,  zunächst  Karls  des  Groisen,  dem  die  be- 
treffenden Länder  die  Einführung  des  Christentums  imd  eines  neuen 
Rechts  schuldeten;  die  Lösung  dafür,  dafs  an  ihre  Stelle  der  sagen- 
hafte Paladin  getreten  sei,  liege  wohl  darin,  dais  „fast  um  dieselbe 
Zeit,  in  welcher  die  alten  Marktkreuze  in  PersonenbUder  umgewan- 
delt wurden,  oder  nur  kurz  vorher  (im  XIL  Jahrhundert)  die  Ro- 
landlieder entstanden  sind",  welche  den  Paladin  zum  MusterbUde  der 
christlichen  Vasallentreue  erhoben. 

Sternes  Hineinziehen  der  slavischen  Mythologie  in  die  Roland- 
frage fuhrt  uns  hinüber  zu  der  „Studie"  des  früheren  Kuns^orzellan-^ 
fabrikanten,   jetzigen  Rentners,  Hugo  Lonitz,  Du  Rolandsäulen 


—     120     — 

(Neuhaldensleben,  Druck  von  Ernst  Pflanz.    28  SS.  8)  ^).    Dieselbe  ist 
wdtere  Ausfiihnmg  des  in  DGBl.    1901 ,   S.  46  ff,    nach  einem  Zei- 
tungsreferate   besprochenen  Vortrages  des  Verfassers  im  Aller- Verein 
zu   Neuhaldensleben.     Der  erste  Abschnitt  bringt  nach   einer  kurzen 
Statistik  folgenden  Definitionsversuch  (S.  i):    Unter  einem   „Roland^* 
ist    im    allgemeinen    zu    verstehen    eine  riesige    Ritterfigur   aus   Holz 
oder  Stein,   welche  auf  einem  Sockel  oder  hohen   Postamente  steht 
und  in  der  Rechten  ein  blankes  Schwert  aufrecht  trägt;  der  Schwert- 
träger hat  keine  Schwertscheide.     Die  linke  Faust  ist  meist  leer,  oder 
hält  ein  Trinkhom  oder  Schild.     Als  weitere  Attribute  kommen  vor: 
Fahne,   Reichsapfel  und  Doppeladler.     Als  Kopfbedeckung  kommen 
vor:    ein  Rasenstück  oder  Blumenkranz,    Stimreif  und  Krone,    selten 
ein  Helm.**     In  Abschnitt  2  und  3   wird  die  älteste   Geschichte,   in 
Abschnitt  4  und  5  die  Mythologie  der  Sachsen  und  Wenden  behandelt. 
„Als  Himmelskönig  der  Sachsen  hat  wohl  Wuotan  oder  Wodan  der 
Göttervater  gegolten**  (S.  10).     „Vor  dem  Angesichte  der  Bildsäule 
Wuotans  hielt  man  den  Gerichtstag  ab,  feierte  die  Volks-  und  Götter- 
feste   und  verband   damit  zugleich   den  Güteraustausch,    den  Markt** 
(S.  11).     „Swjatowit  war  der  Allgott  aller  Slawen,  der  Himmelskönig**. 
„    ie  Swjatowit-Säulen  (in  Holz  geschnitzte  Bilder  auf  hohem  Postament» 
mit  blankem  Schwert,   Trinkhom,   Reitzeug)   standen  schon  längst  in 
den  Hagen  (heiligen  Hainen,  Malstätten)  der  Slawen,  als  die  Sachsen 
g^en  die  Gegenden  der  Mittelelbe,   der  Ohre  und  Aller,   anrückten 
und  als  Nachbaren  der  Wenden  sich  ansiedelten**  (S.  13).     „Bei  der 
groisen  Ähnlichkeit  des  beiderseitigen  Götter-  und  Festkultus,  und  in- 
folge des  Jahrhunderte  langen  Verkehrs  zwischen  Wenden  und  Sachsen 
war  es  eine  natürliche  Folge,   dafe   die  gegenseitigen  Gebräuche  und 
besonders   die  Göttergestalten  und   die  damit  verbundenen  religiösen 
Begfriffe   von    diesen  Völkern    zum    gegenseitigen   Gemeingut  wurden 
und  auch  gegenseitig  nicht  nur  gern  geduldet,  sondern  auch  geachtet 
und  die  Feste  gegenseitig  und  gelegentlich  mitgefeiert  wurden.  Dieser 
Zustand  währte  ungefähr  bis  um  das  Jahr  748**   (S.  14).     Bei    den 
Sachsen    hatte    christliches    Bekehrungswerk    die    alten    Götterbilder 
gestürzt;   sie  mögen   damals  mit  besonderem  Interesse  das  Bild  des 
Swjatowit    angesehen   und    sich   zu   ihm   hingezogen   gefühlt   haben; 
„widerstand    doch    der    alte    heidnische  Swjatowit  noch  immer   dem 
bösen  Christengotte  **  (S.  16).     Die  Kirche  muiste  dem  Heidenglauben 
viele  Zugeständnisse  machen  (S.  17).   Aus  dem  leidenden,  gekreuzigten 
Christus,  welcher  den  kriegerischen  Sachsen  und  Wenden  unsympathisch, 

i)  Mir  Ton  Herrn  Dr.  med.  P.  Köhler,  Magdebnrg-Neiutadt,  freundlichst  mitgeteilt. 


—     121     — 

wurde  ,,der  jugendliche,  leuchtende  Held,  der  gegen  Sünde,  böse 
Gdster  und  die  Hölle  si^^eich  gekämpft  hat''.  Jeder  Gläubige  ist 
sein  „Mann**,  der  ihm  zur  Gefolgschaft  verpflichtet  ist  ^).  „Aus  der 
Verschmelzung  dieser  Christusvorstellung  mit  der  den  Sachsen  und 
Wenden  innewohnenden  Vorstellung  von  Wuotan  und  Swjatowit  ent- 
stand die  ritterliche  und  jugendliche  Elrscheinung  des  Himmelskönigs, 
welche  als  „ Roland*'  auf  uns  gekommen  ist,  eine  dreieinige  Kom- 
pronufisfigur  der  katholischen  Kirche  mit  Sachsen  und  Wenden  "  (S.  i8). 
„So  stand  nun  der  neue  riesige  Himmelskönig  in  den  uralten  Mal- 
statten, den  Friedhöfen  oder  Hagen  der  Wenden  und  Sachsen". 
Wahrscheinlich  nannten  ihn  die  Deutschen  „Himmelskönig"  oder 
schlechtw^,  „der  König",  „Kuning"  (S.  19).  Auch  im  Namen  „Ro- 
land" kann  man  nicht  ohne  Berechtigung  die  ursprüngliche  Benennung 
erblicken :  wend.  Rohld  (spr.  Rohljaa)  =  Acker,  Flur,  Rohldnt  =  der 
Flnrbesitzende ,  Flurbeherrschende  (S.  19).  „Dann  gewinnt  aber  die 
Voraussetzung  an  Wahrscheinlichkeit,  da&  die  Rolande  zuerst  bei  den 
Wenden  entstanden  seien."  Der  siav.  Rohlänt  wurde  von  den  Sachsen 
Q.  s.  w.  übernommen  und  in  Ruotland  umgewandelt.  Die  Vorstellung 
von  der  geistlichen  Gefolgschaft  des  streitbaren  Himmelskönigs  ver- 
blalste  in  der  Zeit  der  Albigenser,  der  Katharer,  der  Stedinger,  der 
Waldenser;  mit  ihr  verblafste  das  Ansehen  der  jene  Idee  personi- 
£aerenden  Rolandfigur.  Sie  wurde  nur  noch,  jener  kirchlichen  Be- 
deutung entkleidet,  als  Repräsentant  der  alten  angestammten  und  vor 
ihr  ausgeübten  Rechtsbräuche  angesehen.  Da  erst  entstand  in  Deutsch 
lasd  die  Sage  von  Roland  dem  Paladin  Karls  des  Grofsen;  in  den 
Rolandsäulen  wurde  von  nun  ab  nicht  mehr  der  Himmelskönig,  son- 
dern nur  jener  ritterliche  Held  der  Sage  erblickt.  „Die  Städte,  welche 
gewöhnlich  in  der  Nähe  der  alten  Hagen  mit  ihren  Märkten  sich  ent- 
wickelt hatten",  holten,  besonders  während  des  Interregnums,  „den 
das  Markt-  und  andere  Rechte  repräsentierenden  Roland  vom  Hagen 
in  die  Stadt  und  richteten  sein  Bildnis  auf  ihrem  Marktplatze  wieder 
auf.  So  entstand  aus  den  uralten  Himmelskönigen  Wuotan  und  Swja- 
towit der  Himmelskönig  Roland  innerhalb  freier  Landgemeinden" 
1-  8.  w.  (S.  21). 

Das  Bild,  welches  Lonitz  zeichnet,  entbehrt  nicht  künstlerischen 
Schwunges  und  plastischer  Rundtmg ;  leider  fehlt  ihm  jede  tatsächliche 
Grundlage. 

Auf  der  Seite  der  Mythologen  streitet  nach  wie  vor  unentwegt 
Professor   E.   Dünzelmann.     In    der   Historischen    Gesellschaft   zu 

i)  HelitDd-Rciiinmceiaen  des  belesenen  Verfassers. 


—     122     — 

Bremen  hat  er  am  i8.  Januar  1902  über  „Neue  Rolandforschungen*' 
referiert;  dabei  hat  er  seine  eigene  Meinung  (nach  dem  Bericht  der 
„Bremer  Nachrichten**  1902,  Nr.  20)  dahin  formuliert,  „dais  die 
Rolandsäulen  auf  eine  viel  frühere  2^it,  lange  vor  Karl  dem  Grofsen 
zurückgehen.  Sie  würden  demnach  (!)  von  den  Sachsen  gesetzt 
sein,  zu  Ehren  eines  Gottes  und  zur  Erinnerung  an  den  Sieg  des 
Arminius  über  die  Römer,  und  zwar  immer  im  Mittelpunkte  eines 
Gaues,  besonders  in  Ostfalen,  woraus  sich  die  häufigen  Rolandbild- 
nisse in  dieser  Gegend  erklären  würden.  Spätere  Sage  brachte  dann 
die  Statue  mit  Karl  dem  Grofsen  in  Zusammenhang  und  liefs  sie  ent- 
weder Roland  oder  einen  sonst  rätselhaften  Heiligen,  S.  Hulpe,  dar- 
stellen." Es  ist  in  der  Tat  unbegreiflich,  dafe  die  unermüdlichen 
Roland-Pioniere  nicht  längst  auf  Arminius  verfallen  sind.  Wir  wollen 
wünschen,  dafs  ihnen  demnächst,  etwa  aus  einem  günstig  im  Mittel- 
punkte eines  Gaues  belegenen  Moore,  ein  veritables,  kombiniertes 
Götter-  und  Arminiusbild  beschert  werde. 

In  der  an  Dünzelmanns  Bericht  sich  anknüpfenden  Diskussion  ver- 
suchte Professor  Gerd  es  ebenfalls  nicht  übel  „den  Roland  als  ein 
Wahrzeichen  für  gerodetes  Land  (Raland),  d.  h.  durch  Bann  abgegrenztes 
Königsgut  zu  erklären  ".  Diese  Deutung  berührt  sich  beinahe  mit  der  des 
Architekten  J.Oltmanns  (Hamburger Korrespondent,  1902,  die  Nummer 
fehlt  mir).  Die  Rolande  sind  danach  AbbUd  des  Kaiser  Karl,  „welche  er  wohl 
aufrichten  liefs  als  Wahrzeichen  seiner  Macht  und  seines  Willens  gerade 
an  den  Nordmarken  seines  Reiches,  nachdem  er  sie  sich  mit  blutiger 
und  eiserner  Faust  unterworfen  hatte."  „Bis  hierhin",  so  sollten  diese 
Marksteine  künden",  geht  Kaiser  Karls  Macht,  WUle  und  Rechtsspruch, 
bis  hierhin  reicht  Kaiser  „Karolus'  Land".  Aus  diesem  Karolus' 
Land  oder  Karoli  Land  wurde  KarolsLand,  und  als  er  abtrat  vom 
Schauplatz  seines  Wirkens,  und  Herrscher  mit  anderen  Namen  an  die 
Spitze  des  Reiches  traten,  wurde  den  späteren  Geschlechtem  aus 
Absicht  oder  Milsve-rständnis  der  Sinn  jener  Denkmalssäulen  ver- 
schleiert, und  aus  Karols  Land  wurde 

Karls    Roland. 
Man  mufs  dem  Verfasser  zugeben,  dafs  diese  Lösung  so  „einfach  und 
naheliegend "  ist  wie  2X2  =  4. 

Nach  dieser  kurzen  Abschweifung  kehren  wir  noch  einmal  auf 
„heiligen  Boden"  zurück.  In  der  Halbmonatsschrift  Niedersachsen 
(1902,  Nr.  4)  hatte  B.  Uhl -Münden  in  einem  Aufisatz  über  den 
„Löwenpudel"  in  Osnabrück,  welchen  er  ebenso  wie  einen,  im 
XVIII.  Jahrhundert  „Erich"  (=  Gesetzhalter)  genannten  romanischen 


/ 


—     123     — 

Löwen  in  Münden  für  ein  Hoheitszeichen  an  einer  Gerichtsstätte  er- 
Uäit,  geänfsert,  „er  halte  dies  alles  deshalb  fiir  besonders  wertvoll, 
veil  es  in  verschiedener  Hinsicht  Licht  verbreiten  könne  über  die 
Bedeutung^  der  Rolande,  für  die  es  bekanntlich  immer  noch  an  einer 
ansrdchenden  Erklärung  fehle".  Darauf  erhob  sich  E.  A.  Müller- 
Berlin  (a.  a.  O.  1902,  Nr.  8  Zur  Rolamis/rage)  und  erklärte,  die 
Rolaudfrage  „beantworten''  zu  können.  Denn  seine  Vorfiahren  hätten 
dem  uralten  Verbände  der  „Wetterfreien''  zur  Melle  angehört,  einer 
Verbindung  westfälischer  „Wehren",  die  sich  und  ihre  Gerichtsbarkeit 
für  niemand  Untertan  erachteten  als  dem  „Wetter"  und  der  Jung- 
frau Maria  zu  Herse  (welche  christlicherseits  der  Göttin  Freya  unter- 
geschoben), in  welcher  Verbindung  sich  die  Überlieferungen  germa- 
nischen Rechtswesens  aus  grauester  Vorzeit  bis  in  die  Gegenwart 
erhalten  hatten.  Auf  dem  „heilige  Boden"  der  Dingstätten  stand 
die  Figur  des  altgermanischen  Sonnengottes,  als  Sinnbild  des  Erleuch- 
ters  der  Menschen  und  der  Wahrheit.  Die  Dingstätte  selbst  wurde 
geh^  durch  Lanzen  ohne  Spitzen,  „Ruten"  von  6  Fufs  Länge,  aus 
deren  8  anf  dem  Boden  ein  Quadrat  von  12  Fuis  Seitenlänge  gebildet 
wurde.  Aus.  diesem  „ eingeruteten "  Land,  plattdeutsch  „roe  land", 
machte  „christliche  Idolatrie  und  Unverstand  einen  „Roland",  als 
diese  Gerichtstsätten  mitsamt  ihren  Sonnengöttern  „in  den  Städten 
bleibend  wurden",  und  nahm  „jene  unwürdige  Unterschiebung  mit 
jenem  Büttel  des  Frankenkaisers,  Roland",  vor.  Das  „Roe-Lands-BUd 
des  Sonnengottes"  stand  nun  in  den  Gerichtsstätten  auf  den  Markt- 
plätzen, wo  als  Ersatz  für  die  Laube  des  Baumes,  unter  dem  eigent- 
Bch  das  Gericht  stattfinden  sollte,  die  „steinernen  Gerichtslauben" 
errichtet  wurden. 

Es  ist  b^^eiflich,  dafs  Sterne  diese  „Vermutung"  Müllers  als 
„sehr  ansprechend"  bezeichnet.  Da  dieselbe  in  die  Rechtshistorie 
hinübergreift,  möge  nun  noch  ein  praktischer  Jurist  das  Wort  zur 
Sache  nehmen.  Nach  dem  mir  vorliegenden  Referat  einer  wahrschein- 
lidi  Hamburgischen  Zeitung  hat  der  Landgerichtsdirektor  Dr.  Föh- 
ring  am  28.  Februar  1902  im  Architekten-  und  Ingeiueurverein  einen 


i)  Ein  früherer  Aufsatz  Ton  H.  Theen  in  derselben  Zeitschrift  (,, NiedersAchsen '% 
Jahrg.  1S98/99,  S.  54ff.),  Du  Rolandssäulen,  ist  eine  wertlose  Kompilation.  Qir  ^i» 
Niresa  mag  durch  folgendes  Beispiel  charakterisiert  werden.  „Von  der  Rolands- 
a  Wedel  wird  behaoptet,  dals  sie  genaa  Karls  des  Grofsen  Bildnis  yorgestellt 
habe:  I>och  die  Ähnlichkeit,  wie  frappant  sie  auch  sein  mag,  sagt  an  and  für  sich  nicht 
ndj*    Unter  den  beig^ebenen  Abbildnngen  ist  eine  des  Bramstedter  Roland  nicht 


—     124     — 

Vortrag  über  den  fränkischen  und   den  deutschen  Roland  gehalten. 
Jener,  d.  h.  der  historische  Roland,  die  an  ihn  anknüpfenden  Sagen 
und  Lokalerinnerungen  Frankreichs,  interessieren  uns  hier  nicht.     Hin- 
sichtlich des  deutschen  Rolands  wird  ausgeführt,  dafs  die  deutschen  Städte 
im  Verlaufe  des  Mittelalters  verschiedene  ihre  Verwaltung  betreffenden 
Privilgien  erwarben,  die  Marktfreiheit  oder  das  Marktrecht,  das  Stapel- 
recht u.  a.  m.     Als  äufseres  Zeichen   dessen  pflegte  auf  dem  Markt- 
platze anstelle  eines  früher  daselbst  stehenden  „Weichbildes *'  (Stadt- 
wappen) ein  Kreuz  aufgestellt  zu  werden,   an  welchem  ein  Schild  mit 
Wappen  oder  Inschrift,    ein  Schwert  und  ein  Handschuh  angebracht 
und  zuweilen   auch   während  der  Dauer  des  Marktes   eine   rote  Fahne 
aufgesteckt  wurde.     „Hie  und  da  wurden  auch   nur  einfache  Säulen 
mit  der  roten  Fahne  aufgestellt.     Etwa  von  der  Mitte  des  XIII.  Jahr- 
hunderts und  von  der  Zeit  an,   wo  sich  die  Städte  vom  Kaiser  auch 
den  Blutbann,  d.  h.   die   Rechtsprechimg  und  den  Vollzug  in  Straf- 
sachen erwarben,  verschwanden  im  nördlichen  Deutschland  die  Kreuze 
und  die  Säulen,  und  an  ihre  Stelle  trat  als  Macht-  und  Hoheitszeichen 
die  Figur  eines  Schwert,  Schild,  oft  auch  Helm  tragenden  gepanzerten 
Kriegers."     „Für  diese   Figur  ist  nach   und  nach   der  Name  Roland 
gebräuchlich  geworden."     Aus  dem  Gedichte  des  Geistlichen  Konrad, 
im  Dienste  Heinrichs  des  Löwen  (!),  und  der  gröCseren  und  verbesser- 
ten ( ! )  Bearbeitung  desselben  durch  einen  anderen  Dichter  —  gemeint 
ist  der  Stricker   —   war  dem  deutschen  Volke  die  macht-  und  glanz- 
volle Gestalt  Rolands  entgegengetreten ;  da  war  nichts  natürlicher,  als 
dafs  das  Wort  Roland  bald  zu  einem  Eigenschaftsworte  wurde,  welches 
man  gebrauchte,  wenn  man  Macht  und  Hoheit  bezeichnen  wollte,  und 
dafs   es  dann  auf  ein  Symbol  übertragen  wurde,   welches  Macht  und 
Hoheit  bezeichnen  sollte.     In   der  Überzeugung  von  der  Richtigkeit 
dieser  Ansicht  wird  der  Verfasser  durch  den  Umstand  unterstützt,  dals 
sich  auf  einer  alten  Roland -Statue  von  Magdeburg  die  Inschrift  be- 
fand  „Rolandt   anno   778    gestorben".      Diese    Jahreszahl    mit   einer 
kurzen ,  aus  des  Marcantonius  Coccius  Sabellicus  (-j- 1 505)  Rhapsodiae 
historicae  entnommenen  Biographie  Rolands   wurde   bekanntlich    bei 
einer   Restauration    der    Statue  1539    auf  einer  metallenen  Tafel   am 
Sockel  angebracht! 

Fritz  Stahl,  der  furchtlose  und  scharfblickende  Kunstkritiker, 
den  wir  schon  früher  als  Roland-Feuilletonisten  kennen  gelernt  haben 
(vgl.  Jahrg.  1900,  S.  73  Anm.  2),  möge  unsere  Feuilleton-Rundschau 
beschlielsen  *).    In  einer  kurzen,  strengen  aber  gerechten  Besprechung^ 

i)  Der  Vollständigkeit   halber  erwähne   ich   noch   Hermann   Berdrow's   Aufsatz 


—     125     — 

des  neuen  Berliner  Roland  (Berliner  Tagebl.  1902,  Nr.  455)  trägt  er 
dne  eigenartige,  offenbar  auch  durch  die  Irmensul-Theorie  beeinflu&te 
Anacht  von  der  formalen  Genesis  der  Rolandstandbilder  vor.  Er 
nennt  sie  ^eine  Figur,  die  als  Säule  entstanden  ist,  und  diesen  Ur- 
^ning  nie  verleugnete*'.  So  wenig  man  dem  beipflichten  mag,  so 
wird  doch  für  den  Augenblick  der  Widerspruch  entwaffnet  durch  den 
treffenden  Sarkasmus  des  Schluissatzes,  in  welchem  es,  anknüpfend  an 
die  Charakterisierung  der  Lessingschen  Statue  als  Held  von  Ronce- 
val,  heilst:  „Dieser  Roland  braucht  kein  Hifthorn,  um  den  berühmten 
Hüfenf  zu  blasen  —  er  schreit  einfach  zum  Himmel." 


Der  tapfere  Versuch  R.  Schröders  und  weniger  anderer,  die  Roland- 
iage  in  wissenschaftliche  Bahnen  zu  lenken,  ist  auf  das  literarisch 
tätige  Publikum,  selbst  auf  diejenigen  darunter,  welche  in  ihrem  Be- 
rufe methodisches  Denken  gelernt  haben  sollten,  fast  ohne  Elinflufs 
geblieben.  Die  Musterkarte  der  Meinungen  ist  noch  bunter,  dieWill- 
kürlichkeit  und  Phantasterei  der  jede  solide  Grundlage  verschmähenden 
Kombination  immer  zügelloser  geworden. 

Man  darf  unter  diesen  Umständen  der  Untersuchung  des  Ger- 
manisten Professor  Jos  tes  in  Münster,  welche,  wie  gesprächsweise 
veriautet,  der  Veröffentlichung  entgegengeht,  um  so  erwartungsvoller 
entg^ensehen.  Vielleicht  gelingt  es  ihr,  die  besprochene  wohlfeile 
Jahrmarktsware  für  eine  Weile  wenigstens  auiser  Kurs  zu  setzen. 

Während  unsere  Rimdschau  sich  bereits  im  Druck  befand,  hat 
R.  Schröder^)  selbst  noch  einmal  kurz  das  Wort  zur  Rolandfrage  er- 
griffen; ebenso  S.  Rietschel*),  der,  nachdem  er  vor  5  Jahren  schon 
sich  gelegentlich  mit  den  Rolanden  befaist  (vgl.  DGBl.  II,  73.  III,  41), 
neuerdings  den  G^enstand  in  den  direkten  Bereich  seiner  Studien  ge- 
zogen hat  Über  beide  wird  zum  Schlüsse  berichtet  werden,  insbesondere 
über  Rietscbel,  dessen  Ausfuhrungen  in  ihrer  flüchtigen  archäologischen 
und  historischen  Begründung  als  verfehlt  bezeichnet  werden  müssen  '). 
Zunächst  sei  es  mir  gestattet,  mein  Referat  in  der  ursprünglichen 
Ordnung  weiterzuführen. 

Moiatub-SduUn  („Der  Tag«*,    1902,   no.  93),  welcher  das  VerständDis  der  „orginellen« 
BiMDWck-Roland-Idee  Lederers  erschlielsen  wilL 

1}  Lehrbuch  der  dentscheo  Rechtsgeschichte,  4.  Aufl.,  1902,  S.  626;  femer  ansfUhr- 
ficber  wi  HohetuolUm-Jahrhuchy  1902,  S.  207 — 211. 

2)  Ein   neuer  Beitrag  sur  RoUmdsforschung  ^   in   Hist.  Zeitschrift.   N.  F.   Bd.  53, 
S.  457  C,  Besprechung  meiner  Schrift  Der  Roland  zu  Bremen^ 

3)  Aach  F.  Kentgen  stellt  eine  neoe  Hypothese  anf  in  Deutsche  LiteraturMeitung^ 
1903  00.  2.  —  VgL  femer  G.  t.  Below  im  Literarischen  Zentralblatt,  1902,  Sp.  1639. 


—     126     — 

Wir  lassen  die  Spezialliterattir,  neu  Erschienenes  und  bisher  nicht 
registriertes  Älteres,  an  uns  vorüberziehen  und  haben  dabei  auch  einige 
„neuentdeckte"  Rolande  zu  verzeichnen. 

Folgen  wir  der  alphabetischen  Ordnung  —  die  böhmischen  sogen. 
Rolande  bilden  zweckmäfsigerweise  als  besondere  Gruppe  den  Schluls  ^) — 
so  macht  Berlin  den  Anfang,  das  ja  auch  sonst  in  diesem  Jahre  (1902) 
für  uns  im  Vordergrunde  der  Betrachtung  steht,  schon  durch  die  histo- 
rische Feststellung  aus  kaiserlichem  Munde,  dais  leider  von  dem 
alten  Berliner  Roland  keine  Abbildung  mehr  vorhanden  sei  (Bericht 
des  Berliner  Tagebl.  1902,  Nr.  430,  über  die  Enthüllung  des  Roland- 
brunnens am  25.  August).  Treffliches  war  von  dem  selbstverständlich 
besten  Kenner  der  Geschichte  Berlins,  Stadtarchivar  Dr.  Claus witz, 
zu  erwarten.  Er  hat  endlich  in  einem  Vortrage  im  Berliner  Geschichts- 
verein am  26.  April  1902  das  Wort  ergriffen.  Leider  liegt  nicht  der 
authentische  Text  seiner  Ausfuhrungen,  sondern  nur  ein  längeres  Re- 
ferat vor  (Mitteilungen  d.  Vereins  f.  d.  Gesch.  Berlins  1902,  Nr.  5). 
Danach  hat  Qauswitz,  nachdem  er  in  der  Einleitung  u.  a.  mich  abgetan,  zur 
Generalfrage  selbst  Stellung  genommen.  „Da  der  Roland  allenthalben 
ein  blofses  Schwert  in  der  Faust  trägt,  ohne  Scheide  an  der  Seite  *), 
und  auch  sonst  (!)  mit  Richterattributen  (!)  ausgestattet  wird,  meist 
ohne  Helm,  so  mufs  man  ihn  für  ein  Wahrzeichen  nicht  eines  Rechtes 
halten,  sondern  eines  Gerichts,  das  dort  abgehalten  wurde.  Die 
Rolande  waren  ein  Wahrzeichen  der  landesherrlichen  Gerichts- 
gewalt Das  alte  Sachsenland  ist  die  Stätte  der  Rolande;  nach  der 
im  Sachsenspiegel  sich  offenbarenden  Volksanschautmg  vrurde  Karl  der 
Grofse  als  Gesetzgeber  der  Sachsen  angesehen.  Die  Statue  Rolands 
steht  also  als  Vertreter  Karls  des  Grofsen  als  Wahrzeichen,  dais  an 
diesem  Platze  nach  Sachsenrecht  gerichtet  wird.  Hiermit  erklärt 
sich  die  Beschränkung  der  Bilder  auf  bestimmte  TeUe  Deutsch- 
lands. Da  der  Landesherr  überall  die  Gerichtsbarkeit  inne  hat,  so 
sind  sie  also  Wahrzeichen,  dafs  der  Landesherr  dort  nach 
Sachsenrecht  richten  liefs.  DafUr,  dais  man  nicht,  wie  in 
Wedel ^  die  Figur  Karls  des  Grofsen  selbst,  sondern  die  „des  Ro- 
lands** hinstellte,  mufis  die  Erklärung  in  Rolands  Volkstümlichkeit  ge- 
sucht werden.     Die  Rolandsage  nach  Strickers  Dichtung  verbreitete 


i)  Durch  während  des  Druckes  mir  xogekommenes  neues  Material,  insbesondere  aber 
durch  die  eigenartige  Kritik  RieUchels  Teranlafste  Aosftlhningen  Aber  die  Rolande  zu  Bonn, 
Elbing,  HaUe,  Hambnig,  Leitmeritz,  Perleberg,  Qaedlinbnrg,  werden  als  Nachtrag  folgen. 

2)  Der  Bramstedter  und  der  Nordhanser  tragen  noch  heat  die  Schwertscheide;  der 
Ton  Beigem  hat  sie  (samt  der  eisernen  Starmhaabe)  1756  rerioren. 


—     127     — 

sich  im  Sachsenlande  ^)  etwa  gleichzeitig  mit  Eickes  Sachsenspiegel ; 
dies  wird  zur  Erklärung  mit  heranzuziehen  sein.  „Was  nun  speziell 
den  Berliner  Roland  betrifft,  so  kann  man  darauf  hinweisen,  dafs  sämt- 
liche alte  Hauptstädte  der  Mark  ihren  Roland  besaCsen."  Zwei  Stellen 
im  Berliner  Stadtbuche  beweisen  unwiderleglich  die  Existenz  des  dortigen 
Rolands,  und  zweitens,  dals  er  um  1390  schon  (!)  stand,  wo  der  Landes- 
herr noch  die  Gerichtshoheit  hatte.  Sein  Platz  ist  nach  den  Angaben 
des  Stadtbuches  „rätselhaft**.  Nach  einer  Stelle  soll  er  einem  Eckhause 
des  Molkenmarktes  (in  Berlin)  gegenüberstehen,  nach  der  anderen  einem 
EIckhause  der  „Lappstraise**,  der  heutigen  Petristrafee  (in  Colin).  Der 
Berliner  Referent  bemerkt  hier,  da(s  man  in  der  daran  sich  knüpfen- 
den Besprechung  fast  geneigt  gewesen  sei,  das  Vorhandensein  von 
zwei  Rolanden  anzunehmen,  einen  für  Berlin  und  einen  für  Colin  '). 

i)  Der  Stricker  war  Österreicher  und  schrieb  im  reinen  Mittelhochdeutsch  des 
ynr    Jahrhunderts. 

2)  Das  Berliner  Stadtbach  (zuletzt  im  Auftrage  der  städtischen  Behörden  heraos- 
g^eben  von  P.  Claoswitz,  1883)  erwähnt  den  Roland  an  zwei  Stellen  (S.  22  einmal, 
S.  23  zweimal).  Ans  ihnen  ergibt  sich  mit  einer  Bestimmtheit,  wie  sie  gröiser  nicht 
gewünscht  werden  kann,  der  Standplatz  des  Roland  in  Berlin  auf  dem  Molkenmarkt. 
Nach  der  ersten,  den  Martini-Zins  behandelnden  SteUe,  begann  mit  einem  Eckhans  hart 
OH  sunte  Nicolaus  chore,  also  an  der  Nordostseite  des  Molkenmarkts,  eine  wohl  nach 
der  jetzigen  Poststralse  zn  gezählte  Reihe  von  acht  Hänsem,  zwischen  deren  fünftem  nnd 
sechstem  sich  ein  nnbenanntes  (nach  dem  Nikolaikirchhof  fiihrendes)  Gäfschen  befand, 
dessen  eines  Eckhaus  als  ke^en  den  Buland  bezeichnet  wird.  Im  zweiten  Abschnitt, 
▼om  Wortzins,  wendet  der  Verfasser  Ton  den  beiden  Eckhäusern  der  Stralaner  Strafse 
her  sich  nach  dem  „Alten  Markt *^;  hier  erwähnt  er  zunächst  das  negste  orthus  by 
dem  Ruland  (d.  h.  also  aof  der  Nordostseite  des  Platzes),  dann  kommt  er  znr  Läpp- 
straU  nnd  bezeichnet  das  eine  <ler  beiden  Eckhäuser  derselben  als  tugeste  ort  tu  den 
Ruiande  wart.  Nun  geht  er  zurück  in  die  Spandaner  Strafte,  welche  wieder  mit  einem 
Hanse  hart  an  sunte  Nicholaus  chore  b^innt  E^t  dann  schreitet  er  nach  CöUd  hin- 
ttber.  Die  in  diesem  Znsammenhange  genannte  „  Lappstrate '*  ist  danach  die  zuerst 
enrähnte  nnbenannte  Gasse,  welche  später  ihren  Namen  veränderte  nnd  jetzt  Molkenstrafse 
heifst.  Das  ist  die  einfache  Lösung  des  Rätsels,  nnd  der  Roland  des  brandenburgischen 
CöUo  ao  der  Ecke  der  Petristrafse  ist  Phantasterei.  —  Meine  Angabe  über  das  Fehlen 
des  Roland  im  Register  cn  Qanswitz'  Stadtbuchansgabe  (DGBL  III,  36,  Anm.  9)  ist  nicht 
ganz  richtig;  er  fehlt  nur  da,  wo  man  ihn  sucht,  im  „Sachenregister",  findet  sich  da- 
gegen im  „Personen-  nnd  Ortsregister"  unter  dem  Stichwort  „Berlin",  wo  er  nicht  gar 
leidit  zn  entdecken  ist  —  S.  Rietschel  meint  (Hist.  Zeitschr.  N.  F.  53,  S.  464),  ich 
wttrde  ihm  wohl  zugeben,  dafs  die  älteste  Berliner  Gerichtsstätte  auf  demselben  Platze 
lag,  wo  der  Roland  stand.  Ich  kann  das  für  die  kurze  Zeit  Ton  der  Gründung  der 
dentschen  Stadt  bis  zn  ihrer  Erweiterung,  bis  zur  Erbauung  des  neuen  Rathauses  nnd  der 
Gerichtslanbe.  Dafs  man  nachher  den  Roland  ruhig  auf  dem  Molkenmarkt  stehen  liefs, 
beweist  deutlich,  dafs  man  ihn  damals  nnd  rund  lY*  Jahrhunderte  weiter  in  Berlin  nicht 
ftr  ein  Zubehör  der  Dingstätte,   ein  Gerichtsbild,   oder  fUr  was  ihn  Rietschel  sonst  er- 


—     128     — 

Mit  einem  Hinweis  auf  den  neuen  Roland  am  Kemperplatze  schlofs 
der  Vortragende.  Der  Platz  der  Brunnenfigur  in  der  Nähe  der  branden- 
burgischen Markgrafen  sei  gut  gewählt.  Durch  ihre  Attribute  sei  sie 
als  Richter  und  zugleich  als  Krieger  charakterisiert  ^). 

Ein  kleiner  Aufsatz  von  R.  B^ringuier  in  dem  von  Georg  Bar- 
lösius  illustrierten,  vom  Berliner  Geschichtsverein  herausgegebenen 
„Berliner  Kalender"  für  1903  schliefst  sich  auf  das  engste  an  Claus- 
witz an.  Eigentum  des  Verfassers  ist  nur  die  im  Schlufssatz  aus- 
gesprochene, an  den  neuen  Berliner  Roland  anknüpfende  höfische 
Deutung  der  mit  mehr  als  einem  Tropfen  demokratischen  Öls  ge- 
salbten Rolandbilder:  „Möge  die  auf  Befehl  des  Deutschen  Kaisers 
errichtete  neue  Rolandstatue  wieder  sein,  was  die  Rolande  ursprünglich 
darstelle  sollten,  ein  Wahrzeichen  dauernder  landesherrUcher  Huld  und 
Gnade." 

E.  Friedel  dagegen,  Vom  Berliner  Roland  (Welt-Spiegel,  illu- 
strierte Halbwochenchronik  des  Berliner  Tageblatts  1902,  Nr.  69), 
berichtet  dankenswert  von  seinen  vergeblichen  Nachforschungen  nach 
archäologischen  Spuren  des  Roland  bei  Gelegenheit  der  tiefgehenden 
Kanalisationsarbeiten  auf  dem  Molkenmarkt,  und  von  der  eigentüm- 
lichen Vorgeschichte  des  neuen  Rolandbrunnen. 

Auch  in  Bonn  hat  man,  nach  gefälliger  Mitteilung  des  Herrn 
Dr.  Armin  Tille,  wenn  auch  keinen  Roland,  so  doch  wenigstens  eine 
Roland-Säule  ausfindig  gemacht. 


klüren  will,  ansah.    Somit  ist  es  ancb  „direkt  unwahrscheinlich^^,  dafs  er  als  der^leicheii 
in  Berlin  errichtet  and  wenige  Jahrzehnte  hindurch  verstanden  wurde. 

i)  Ihre  Charakteristik  als  Roland  von  Ronceval  dnrch  das  Hom  scheint  danadi 
dem  Vortragenden  entgangen  zn  sein.  —  Nachfmcht  des  Berliner  Roland-Rommels  iat 
die  Ton  C.  Kuhns  herausgegebene  Zeitschrift  für  Brandenbni^.-Preufs.  and  Niederdeatsobe 
Heimatskande ,  Der  Roland^  deren  i.  Nummer  vom  4.  Oktober  1902  in  der  Kopflciate 
ein  Bild  des  neaen  Berliner  Roland,  dann  ein  Gedicht  Roland  vom  Herausgeber,  eine 
nicht  sehr  treue  Zeichnung  des  Rolandbronnens  von  O.  Roick  und  einen  kurzen  An£uits 
Der  Roland  in  der  Volksauffassung  bringt,  welcher  nur  dadurch  bemerkenswert  ist,  cbds 
er  Paderborn  als  Rolandstadt  nennt.  Begreiflich  bt  es,  dafs  gerade  jetzt  auch  Leoo- 
cavallo  Ton  seiner  immer  noch  nicht  voUendeten  Oper  Der  Roland  von  Berlin  wieder 
reden  macht.  Es  verlautet,  dafs,  wie  bei  Alexis  und  Lauff,  die  Zerstörung  der  Statse 
durch  Markgraf  Friedrich  eine  grofse  Spektakelszene  bilden  soll. 

(Schlufs  folgt) 


»^^ß»>^>^^'^^^^ß^f^>^->^»>^-^*^i^ 


—     129     — 


Mitteilungen 

ArchiTe.  —  In  Kärnten  ist  man  nach  dem  Muster  von  Steiermark  ^ 
dtran  gegangen,  die  Inventare  von  Adelsarchiven  zu  veröffentlichen^  aber 
wählend  bei  dem  von  v.  Zwiedeneck  herausgegebenen  Inventar  des  Reichs- 
giiflich  Wurmbrand  sehen  Haus-  und  Familienarchivs  zu  Steyersberg  (Graz 
1S96)  ein  ansführliches  altes  Repertorium  benutzt  werden  konnte  tmd  die  Be- 
stände des  gräflich  Lambergschen  Familienarchivs  zu  Schlofs  Feistritz  bei  Hz, 
dessen  Inventar  bis  auf  eine  Nachlese  in  drei  Heften  (Graz  1897 — 99)  vor- 
liegt, abteilimgsweise  zur  Durchsicht  und  Verzeichnung  nach  Graz   gesandt 
imrden,   hat  August  von  Jaksch  mehrere  Sommer  lang   in  Gmünd   ge- 
aibeitet  und   als  Frucht  seiner  Tätigkeit  als  Archivberichte  aus  Kärnten  L 
Die  Graf  Lodronschen  Archive  in  Omünd  (Sonderabdruck  aus  dem  Archiv 
fo   vaterländische    Geschichte    und    Topographie    XIX,    Klagenfurt    1900. 
167  S.  8*)  veröffentlicht.     Trotz  des  den  Archivberichten  aus  Tirol*)  nach- 
gebildeten Haupttitels   handelt  es   sich  hier  um   etwas   voUständig   anderes, 
während    an    einer  Durchforschung    wenigstens    der    kleinen  geistlichen 
Archive   in  Kärnten  Norbert  Lebinger  tätig  bt,  wenn  er  auch  bis  jetzt 
im  Zosämmenhange   noch  nichts  veröffentlicht   hat      Jaksch  hat  die  Gräf- 
lidi  Lodronschen  Archive  vollständig  durchgearbeitet  und  ein  neues  Inventar 
hergestellt,  aber  leider  haben  Raum  und  Zeit  nicht  zur  Verfügung  gestanden, 
tm  die  Bestände   dem  Inventar  entsprechend  aufzustellen,   vielmehr  haben 
fiortlaofende  Hnks  von  den  Regesten  stehende  Nummern  nur  ideellen  Wert, 
während  die  rechts  stehenden  die  Ftmdstellen  jedes  Aktenstückes  in  Bruch- 
fbim  (der  2^ähler  nennt  die  Schublade,  der  Nenner  das  Faszikel)  bezeichnen: 
der  Druck  hätte  vielleicht  wesentlich  entlastet  werden  können,  wenn  letztere 
Befeichnnng  weggeblieben  wäre ;  ihre  Eintragung  in  das  handschrifUiche  Exem- 
plar wflrde  wohl  genügt  haben.    Von  allgemeinstem  Interesse  dürfte  aus  dem 
Lodronschen  Archiv  das  Material  über  die  Bergwerke,  namentlich  die  Eisen- 
gewinnimg  seit  1S38  sein  (vgl.  B  174,  C  115,   S.  121  tmten,  sowie  alles 
S.  150 — 167).    Für  die  Geschichte  der  Archivordnung  ist  C  114  von  Belang, 
fdr  die  des  Gmünder  Gemeindearchivs    S.   138  (1768),   für  die  Geschichte 
der  Gegenreformation  liegt  S.   121  ff.  Material  vor.    Über  einzelne  Vorgänge, 
dac  nch  f&r  die  Geschichte  der  Strafsen  und  des  Verkehrs  ausbeuten  lassen, 
berichtet  C  iS3  (15539    1569),   über  Markt,   Niederlage  und  Zoll  i553ff. 
C  158.     Akten  über  die  Landesgrenze  zwischen  Salzburg  und  Kärnten  seit 
dem  XVL  Jahrhundert  enthält  C  171.     Hier  haben   wir  es   mit  einem  im 
Drack  vorliegenden  wirklichen  Archivinventar  zu  tun;  so  nützlich  dessen 
Veröfiendichung  ist,   und  so  sehr  dem  Bearbeiter  Dank  für  die  entsagungs- 
vole  Arbeit  gesagt  werden  mufs,  es  will  scheinen,  als  ob  selbst  die  Lokal- 
forscboDg  uimiittelbar  nur  wenig  Nutzen    aus   den  MitteUungen    zu   ziehen 


1)  Hier  hat  die  „Historische  Landeskommission  für  Steiermark*'   die  Arbeit  in   die 
genommen   and   in  ihrer   2.  VeröffenÜidmng  (Graz  1896)   das  Wormbrandsche 

Arckif  M  Stcjersberg   sowie  in  der  4,  7.  and  11.  VeröffenÜichong  (Graz  1897,    1898, 
1899)  das  Gräflich  Larobergsche  zn  Sdilofs  Feistritz  beschrieben. 

2)  Bearbeitet  Ton  E.  t.  Ottenthai  and  Oswald  Redlich,    i.  Bd.  (Wien  1888). 
2.  Bd.  (Wieo  1896).     Vom  3.  Bd.  liegen  bisher  5  Hefte  (biii  Seite  320)  vor. 

10 


—      130     — 

vennag,  denn  in  jedem  einzelnen  Punkte  mufs  nochmals  auf  die  Archivalien 
selbst  zurückgegangen  werden.  Für  die  geschichtliche  Forschung  wäre  es 
jedenfalls  nützlicher  gewesen,  wenn  das  Inventar  nur  handschriftlich  —  viel- 
leicht in  zwei  Exemplaren,  eins  in  Gmünd  und  eins  im  Archiv  zu  Klagen- 
furt —  vorläge,  im  Druck  nur  ganz  knapp  die  Einteilung  mitgeteilt  wäre, 
dafür  aber  einzelne  Abteilungen,  z.  B.  die  Akten  über  die  Gegenreformation 
oder  sonstige  Gebiete,  eine  so  genaue  inhaltliche  Wiedergabe  gefunden  hätten, 
dafs  die  wichtigsten  Tatsachen  direkt  dem  Forscher  zu  nutze  kommen  könnten. 
Wir  wissen  ja,  wie  viele  Umstände  mitsprechen,  wenn  derartige  Arbeiten  zum 
Druck  befördert  werden,  und  es  ist  deshalb  imbillig,  mit  dem  Bearbeiter 
über  sein  Verfahren  zu  rechten,  aber  zweierlei  scheint  sich  mir  für  die  Ar- 
beiter, die  sich  mit  der  Erscbliefsung  der  einer  fachmännischen  Leitung  ent- 
behrenden Archive  beschäftigen,  aus  allen  neueren  Veröffentlichungen  zu 
ergeben  ') :  erstens  darf  nicht  eine  allzu  grofse  Masse  einzelner  Urkunden- 
regesten  mitgeteilt  werden,  die  den  Leser  nur  ermüden  und  im  allgemeinen 
zu  wenig  bieten,  —  hier  ist  sachliche  Auswahl  neben  der  kurzen  Charakte- 
ristik der  Abteilungen  am  Platze  —  imd  zweitens  unterbleibt  besser  ein 
Abdruck  des  ganzen  Inventars,  wenn  dessen  Angaben  nicht  zugleich  als 
Quellenveröffentlichimg  einen  gewissen  Wert  haben,  und  dann  müssen  sie 
schon  ziemlich  ausführlich  gestaltet  sein.  Dem  Benutzer  eines  grofsen  Archivs 
wird  immer  am  besten  eine  Arbeit  dienen,  wie  die  Übersicht  über  die  Be- 
stände des  K.  Staatsarchivs  zu  Hannover*)  von  Max  Bär  (=  Mitteilungen 
der  Kgl.  Preufsischen  Archivverwaltung,  Heft  3,  Leipzig  1900),  und  wo  kleinere 
Archive  in  gröfserer  Zahl  behandelt  werden,  dürfte,  wenn  man  nicht  sofort  so 
ausführliche  MitteUungen  machen  kann,  dafs  im  wesentlichen  der  Stoff  erschöpft 
wird,  das  Verfahren  zweckmäfsig  erscheinen,  welches  Georg  Winter  bei 
seinem  Aufsatze  Aus  pommerschen  Stadtarchiven  ')  eingeschlagen  hat. 

Eine  vorzügliche  Würdigung  hat  dem  deutschen  Archivwesen  neuerdings 
ein  trefflich  unterrichteter  Ausländer,  Samuel  Clason,  Archivar  am 
Schwedischen  Reichsarchiv  zu  Stockholm,  angedeihen»  lassen :  Studien  über 
das  Archivwesen  im  Auslände  ^)  nennt  er  seine  Arbeit,  die  als  Mitteilungen 
aus  dem  scJiwedischen  Staatsarchim,  Neue  Folge  2  erschienen  ist  und  nach- 
einander Frankreich  (S.  i — 53),  Belgien  (S.  54 — 74),  Holland  (S.  75  —  97), 
Preufsen  (S.  98—  122),  Vorkehrungen  in  deutschen  Ländern^ 
freistehende  Archive  zu  erhalten  (S.  123 — 152),  Archivbauten 
und  Archiveinrichtung  (S.  153 — 165  behandelt.  Sind  für  den  deutschen 
Archivar  bereits  die  MitteUungen  über  das  französische,  belgische  imd  hol- 
ländische Archivwesen  von  hohem  Interesse,  so  dafs  eine  Übersetzung  wohl 
lohnen  würde,  so  sind  die  Zusammenstellungen  über  die  deutschen,  im  be- 
sonderen preufsischen  Archiwerhältnisse ,  die  eine  völlige  Beherrschung  der 
archivalischen  Literatur  verraten,  schon  insofern  von  Wert,  als  sie  zeigen, 
wie  aufmerksam  im  Auslande  diese  Dinge  verfolgt  werden.    Sachlich  dürften 

i)  Vgl  oben  S.  loi. 

2)  Vgl.  diese  Zeitschrift  Bd.  U,  S.   185—186. 

3)  Vgl.  diese  Zeitschrift  III.  Bd.,  S.  249—261  uod  S.  295-306. 

4)  Studier   öfver  arkiväsendet   i  utlandet    af  Sam.  Clason   [Meddelanden  frän 
Svenska  riksarkivei,    Ny  föLjd  .  2.J.     Stockholm,  Norstcdt  &  Söner,  1902.     167  S.  8*. 


—     131     — 

die  Angaben  Clasons  in  jeder  Hinsicht  zuverlässig  sein ;  auch  für  den  deutschen 
Archivar  lehrreich  ist  besonders  die  Übersicht  über  die  Mafsnahmen  zur 
Erhaltimg  „freistehender  Archive",  wie  der  recht  treffende  Ausdruck  des 
Veifiissers  lautet,  denn  eine  ähnliche  bis  in  die  neuste  Zeit  führende  und 
geschicbdich  aufgebaute  Darstellung  der  einschlägigen  Verhältnisse  fehlt  bis- 
her in  Deutschland,  wenn  hier  auch  natürlich  noch  eine  Menge  einzelne 
Az^;aben  gemacht  werden  könnten,  die  dem  schwedischen  Forscher  auch 
xam  greisen  Teil  bekannt  waren,  aber  für  seinen  Zweck  zu  weit  geführt 
hätten,  denn  der  nächste  Zweck  der  von  Clason  auf  Staatskosten  ausgeführten 
Bereisung  europäischer  Archive  im  Jahre  1900  war  natürlich  der,  die  aus- 
wärtigen Verhältnisse  dahin  zu  prüfen,  ob  sie  sich  etwa  zweckmäfsigerweise 
in  Schweden  nachahmen  lassen  könnten. 

Xoseen.  —  Während  alle   österreichischen  Kronländer  im  Laufe  des 
XDL  Jahrhimderts   in  ihren   Hauptstädten  Landesmuseen   gegründet  haben, 
moCste  einzig  und  allein  Niederösterreich,  das  alte  Stammland  der  Monarchie, 
eine  so  wichtige  Sammlung  von  Kulturzeugen   bisher  entbehren.     Das  Vor- 
handensein mannigfialtiger  anderer  Museen  in  Wien,  der  beiden  Hofmuseen, 
des  Museums  für  österreichische  Volkskunde,  des  Museums  der  Stadt  Wien 
nnd  der  vielen  Privatsanmilungen  liefs  stets  den  irrigen  Gedanken  aufkonmien, 
als  ob  hier  ein  Landesmuseum  überflüssig  wäre,  wobei  man  aber  nicht  be- 
dachte, dafs  alle  jene  Sammlungen  die  spezifischen  Aufgaben  eines  Landes- 
museimis   auch  nicht  im  entferntesten  erfüllen.     Dafür  begannen  zumeist  in 
dem  letzten  Jahrzehnt  in  den  kleinen  Städten,  ja  Märkten  des  Landes  die 
Lokalmuseen  wie  Pilze  aufzuschiefsen,  und  so  wurde  das  Material,  welches 
ja  gerade  nur  in  gröfserer  und  systematischer  Zusammenstellung  und  Über- 
stcfadichkeit  seine  Bedeutung  gewinnen  kann,  zersplittert,  ja  geriet  nicht  selten 
in  dilettantenhafte  Hände,  die  es  völlig  entwerteten,  abgesehen  davon,  dafs 
solche  Sanmilungen  in   den   entlegenen   Orten   emer  wissenschaftlichen   Be- 
nutzung schwer  zugänglich  und  in  ihrem  Bestände  keineswegs  gesichert  sind. 
Schfiefslich  erwachte  in  den  ehrgeizigen  Lokalpatrioten  einzelner  dieser  sogar 
der  Ehrgeiz,  ihre  Sammlung  als  Landesmuseum  hinzustellen,  und  namentlich 
in  der  Stach  Baden  ging  anmafsender  Übereifer  so  weit,  nicht  nur  den  noch 
nicht  vergebenen  Titel   „Landesmuseum*'   der  blofsen  Lokalsammlung  bei- 
zakgen,  sondern  auch,  um  diese  Sanmilung  reichhaltiger  zu  gestalten,  noto- 
rische  Fälschungen    und  verdächtige   Gegenstände    in   dieselbe   einzureihen. 
Die  Aufdeckung   dieses   schwindelhaften    Gebarens  im  Juli  1902    führte   zu 
emer  Reihe  von  Aufsehen   erregenden  Gerichtsverhandlungen,  zugleich   aber 
kamen   die  Vertreter   der  Wissenschaft   und   alle  wahren   Landesfreunde   zu 
der  Einsicht,  dafs  angesichts  derartiger  beschämender  Vorgänge  die  Gründung 
eines  mederösteireichischen  Landesmuseums  mit  dem  Sitze  in  Wien  eine 
Notwendigkeit  sei.    Der  Leiter  der  Urgeschichtsforschung  in  Niederösterreich, 
Regiemngsrat  Dr.  Matthäus  Much,  der  Archäolog  Universitäts-Professor  Dr. 
Wilhelm  Kubitschek  und  der  Historiker  Universitäts-Professor  Dr.  Oswald 
Redlich   vereinigten   sich  daher  zur  Abfassung   einer  ausführlichen  Denk- 
schrift'),  welche   dem  Verein   für   Landeskunde   von  Niederösterreich,    der 

1)  Gedruckt    im    Monatsblatt   des    Vereins    fUr   Landeskunde    von    Niederösterreich, 
Nr.  fi  (aacfa  als  Sonderabdmck). 

10» 


—     132     — 

durch  sein  nunmehr  siebenunddreifsigjähriges  A^ken  in  erster  Linie  zur 
Lösung  einer  solchen  Aufgabe  berufen  erscheint,  vorgelegt  wurde.  Eine  aufser- 
ordenüiche  Generalversammlung  dieses  Veremes,  bei  welcher  eine  stattliche 
Reihe  hervorragender  Vertreter  der  Wissensclu^  anwesend  war,  hat. nun 
am  12.  November  1903  auf  Gnmd  dieser  Denkschrift  einstimmig  beschlossen, 
die  Errichtung  eines  niederösterreichischen  Landesmuseums  in  Wien,  „welches 
der  Veranschaulichung  imd  Erforschung  der  Vergangenheit  und  Gegenwart 
des  Landes  in  Natur  und  Kultur  zu  dienen  hat'S  anzuregen,  und  hat  den 
Ausschuis  des  Vereines  beaufbragt,  „im  Einvernehmen  mit  den  kompetenten 
Behörden,  Körperschaften  und  Vereinen,  sowie  mit  Unterstützung  geeigneter 
Persönlichkeiten''  die  vorbereitenden  Schritte  zu  imtemehmen.  Die  Aktion 
dürfte  wesentlich  dadurch  erleichtert  werden,  dafs  in  dem  niederösterreichischen 
Landesarchiv  und  der  Landesbibliothek  bereits  reiche  und  kostbare  Schätze 
an  Urkunden,  Handschriften,  Büchern  (die  gesamte  Spezialliteratur  des  Landes 
umfistssend) ,  Landkarten  und  Plänen,  topographischen  Ansichten,  Porträts 
tmd  dergleichen  mehr  vorhanden  sind  '),  welche  den  stattlichen  Grundstock 
eines  künftigen  Musetuns  bilden  können,  imd  dafs  man  in  deren  Beamten 
bereits  die  wissenschaftlich  geschulten  Kräfte  dafür  besitzt.  Zunächst  wurde 
zur  Durchführung  der  Beschlüsse  der  Generalversammlung  vom  Verein  für 
Landesktmde  ein  eigener  Musealausschufs  eingesetzt,  dem  auch  je  ein  Ver- 
treter des  Altertumsvereines,  der  Numismatischen  Gesellschaft,  der  anthro- 
pologischen Gesellschaft,  der  heraldisch-genealogischen  Gesellschaft  „Adler**, 
der  zoologisch -botanischen  Gesellschaft  tmd  des  Vereins  für  österreichische 
Volkskunde  angehört.  In  den  Händen  der  zuständigen  Behörden  und  der 
einflufsreichen  Faktoren  des  Landes  liegt  nunmehr  die  Entscheidung  darüber, 
ob  das  Versäumnis  des  XDL  Jahrhunderts  im  Lande  Niederösterreich  nach- 
geholt werden  wird  und  ob  es  zur  Gründung  eines  niederösterreichischen 
Landesmuseums  in  Wien  kommt  zur  Ehre  tmd  Zierde  des  Landes  tmd  zum 
Nutzen  tmd  Frommen  der  Wissenschaft  tmd  der  Heimatskunde. 


Die  Zeit,  in  der  nach  dem  Erstarken  des  nationalen  Bewufstseins  auch 
die  Erinnenmgen  an  die  Vorzeit  höheren  Wert  gewannen,  hat  die  älteren 
unter  den  fünf  kulturgeschichtlichen  Ortsmuseen  der  Niederlausitz, 
die  zu  Guben  tmd  Kottbus,  ins  Leben  gerufen.  Beide  haben  sich  aus 
einer  Sammhmg  vorgeschichtlicher  Gegenstände  entwickelt,  denen  sich  seit 
der  Begründtmg  der  Berliner  Gesellschaft  für  Anthropologie,  Ethnologie  tmd  Ur- 
geschichte *)  i.  J.  1869  an  vielen  Orten  die  Aufinerksamkeit  zuwandte,  in  der 
Niederlausitz  namentlich  durch  Virchows  wiederholte  Besuche  angeregt  Im 
Jahre  1874  erhielt  der  kleine  Bestand  an  vorgeschichtlichen  GefiUsen  beim 
Gymnasium  zu  Guben  gesonderte  Aufstelltmg  tmd  wuchs  schnell  durch  zahl- 


i)  Über  die  Bestände  dieser  Anstalt  siehe  Anton  Mayer,  Das  Archiv  und  die 
Registratur  der  n,  ä.  Stände  i^iS — 1848;  Van  es  a,  Über  tc^grapkische  Ansichten 
mit  besonderer  Berücksichtigung  Niederösterreichs  (beides  in  dem  nächstens  znr  Ausgabe 
gelangenden  I.  Jahrbuch  des  Vereins  fUr  Landeskunde,  sowie  aach  separat  erschienen) 
und  eine  tusammenfassende  Übersicht  im  Wiener  Fremdenblatt  vom  la.  November  190a. 

2)  Ihr  Organ  sind  die  Verhandlungen  der  Gesellschaft  für  Anthropologie^  Ethno- 
logie  und  Urgeschichte^   die  als  Anhang  sa   der  Zeitschrift  für  Ethnologie  erscheinen. 


—     133     — 

reiche  Zuwendtingen  aus  dem  damals  noch  ungeteilten  Verwaltungskreise.  Zehn 
Jihre später  trat  die  Niederlausitzer  Gesellschaft  für  Anthropologie 
and  Altertumskunde  ')  zusanmien  und  stellte  alsbald  im  Mittelpuiü:te 
der  Landschaft,  in  Kottbus,  das  allerdings  selbst  nur  vorübergehend  zur 
Niederlausitz  gehört  hat,  aber  am  leichtesten  von  allen  ihren  Teilen  her  zu 
eneichen  ist,  die  Ergebnisse  ihrer  Ausgrabungen  und  mehr&che  Ankäufe 
sisanmien.  In  den  westlichen  Kreisen  Luckau  imd  Calau  blieben  die  vor- 
geschichtlichen Funde  persönliches  Eigentum,  und  mit  den  Besitzern  zugleich 
haben  zwei  der  dort  entstandenen  Sammlungen  später  das  Fundgebiet  ver- 
lassen: gerade  dies  sollte  aber  dort  für  die  beteiligten  Kreise  eine  Anregung 
sein,  das,  was  in  Privatbesitz  noch  vorhanden  ist,  in  Stadt-  oder  Vereins- 
moseen  zu  vereinigen!  Dieser  westliche  Bezirk  ist  auch  in  dem  Museum 
zu  Kottbus  weniger  vertreten. 

Nach  dem  Muster  der  Niederlausitzer  Gesellschaft,  z.  T.  unter  ihrer  Em- 
wirkung,  bildete  sich  im  Jahre  1888  zu  Sorau  L  Lh  und  später  (1898)  in  der 
Scadt  Porst  L  L.,  die  als  selbständiger  Verwaltungsbezirk  aus  dem  Sorauer  Kreise 
ausschied,  je  ein  Geschichtsverein,  der  kulturhistorisch  bedeutsame  Gegenstände 
eiwaib  und  abbald  der  Öffentlichkeit  zugänglich  machte.  Als  jüngste  derartige 
Körperschaft  folgte  im  Jahre  1899  der  Museumsverein  in  Lübbenau,  der 
zur  Erhaltung  der  greifbaren  Niederschläge  des  Wendentums  im  Spreewalde 
cm  Museum  begründete. 

Alle  diese  Sammlungen  tragen  das  Gepräge,  das  ihnen  bei  ihrer  Ent- 
stehung gegeben  worden  ist,  noch  jetzt  ziemlich  unverwischt  an  sich:  noch 
jetzt  überwiegen  in  ihnen  diejenigen  Gruppen  von  Gegenständen,  denen  zu 
An&ng  ausschliefslich  oder  vornehmlich  die  Aufmerksamkeit  gegolten  hat; 
sie  sind  eben  aus  den  am  Orte  bestehenden  Verhältnissen  hervorgewachsen, 
imd  was  diese  boten,  haben  sie  aufgenommen.  Man  könnte  hiemach  ver- 
muten, dais  die  Sammlungen  in  den  Industrieplätzen  die  gewerbliche  Tätig- 
keit der  einzelnen  Städte  besonders  treu  wiederspiegelten,  abo  in  Sorau  die 
Leinen-  und  Wachsverarbeitung,  in  Forst  die  Tuch-,  in  Guben  die  Tuch-  und 
Hut&brikation  '),  in  Lübbenau  die  Fischerei  und  den  Gemüsebau  vorführten. 
In  der  Tat  pflegen  die  Nationalökonomen,  welche  die  vorhandenen  Samm- 
kmgsbestände  überblicken,  nach  alten  Geräten,  Stofiproben  und  Musterkarten 
zu  fragen,  aber  die  Beschaffung  derartiger  Reste  der  Vergangenheit  ist  mit 
zo  groisen  Schwierigkeiten  verbunden,  als  dafs  durch  unsere  Museen  bereits 
ein  Gesamtbild  des  der  Niederlausitz  eigentümlichen  Industrielebens  zu  ge- 
winnen wäre.  Dagegen  tritt  nach  einer  anderen  Seite  die  Besonderheit  der 
Landschaft  deutlich  hervor:  dies  sind  die  Spuren  der  nationalen  Ver- 
schiedenheit imd  der  Durchmischung  ihrer  Bevölkerung,  der  Verbindung 
deutscher  Kultur  mit  dem  Wendentum,  von  dem  teils  Reste  in  Sprache, 
Tracht  und  Geräten  fordeben,  teils  wenigstens  deutliche  Spuren  des  einstigen 
Daseins  geblieben  sind,  namentlich  in  Orts-  und  Flurnamen. 

Die  Wahrnehmung,  dafs  fUr  die  bezeichneten  beiden  Gruppen  von  land- 
schaftlich charakteristischen  Sammelgegenständen  der  vorhandene  Vorrat  nicht 

I)  Ihr  Orsfan  sind  die  NietUrlausttter  Mitteilungen^  von  deaen  7  Bände  abgeschlosseo 


2)  Die  SmmiliiDg  in  Kottbos  ist  insofern  von  anderer  Art,  als  sie  nicht  in  nnmittel- 
b«cr  Bcdelnng  snr  Stadt  steht,  sondern  die  gante  Landschaft  nmfafst. 


—     134     — 

mehr  sehr  umfänglich  ist,  hat  die  Erwägung  nahe  gelegt,  ob  sich  nicht  eine 
übersichtliche,  Einheimischen  wie  Fremden  das  Studium  erleichternde  Zu- 
sanmienfassung  des  Bestandes  in  einem  Nieder  lau  sitzer  Zentralmuseum 
oder  die  Anerkennung  einer  der  bereits  vorhandenen  Sammlungen  als  eines 
solchen  empfehlen  würde:  besteht  doch  für  die  Uckermark  zu  Prenzlau, 
für  die  Neumark  zu  Landsberg  a.  W.,  für  das  Wendentum  der  säch- 
sischen Oberlausitz  im  Wendenmuseum  zu  Bautzen  ein  derartiger  Mittel- 
punkt Es  fällt  bei  dem  meist  beschränkten  Mafse  der  Mittel  auch  die 
Erwägung  ins  Gewicht,  dafs  sich  die  Aufwendungen  verringern  würden,  wenn 
gleichartige  Gegenstände  nur  einmal  erworben  zu  werden  brauchten.  In 
unserer  Landschaft  haben  zwei  Bedenken  den  Ausschlag  gegen  eine  solche 
Zusammenziehung  gegeben:  auf  die  Verwertung  des  örtlichen  Interesses,  des 
Lokalpatriotismus  bei  den  Besitzern  geeigneter  Gegenstände  wollte  man  bei 
deren  Gewinnung  nicht  verzichten,  und  ebensowenig  auf  den  büdenden  Einflufs, 
der  von  den  Sammlimgen  ausgeht,  den  ethischen  Gewinn,  an  möglichst  vielen 
Stellen  das  Heimatgefühl  und  Heimatsliebe  in  den  Besuchern  angeregt  zu  haben. 
Einen  Ausweg  böte  allerdings  die  Verbindung  beider  Systeme  ^),  wenn  einem 
gröfseren  landschaftlichen  Museum  die  für  den  ganzen  Bezirk  charakte- 
ristischen Gegenstände  (z.  B.  die  vorgeschichtlichen  Gefäfstypen,  die  wendischen 
Trachten  und  Geräte,  die  nach  dem  Urteü  Sachverständiger  geschichtlich 
bemerkenswerten  Erzeugnisse  der  Ortsindustrieen)  zugeführt  würden,  um 
namentlich  Fremden  den  vergleichenden  Überblick  zu  erleichtem,  wenn  aber 
daneben  möglichst  viele  kleine  Sammlungen  dasjenige  au&ähmen,  was  in 
gleicher  Weise  an  vielen  einzelnen  Orten  als  bescheideneres  Denkmal  der 
Vergangenheit  zu  Tage  kommt,  z.  B.  die  grofse  Masse  der  verbreiteteren 
Formen  vorgeschichüicher  Gefäfse,  die  mittelalterlichen  Topfkacheln,  aufser 
Gebrauch  gesetzte  Münzen,  Geräte,  Trachten  dazu  alles,  was  nur  für  einen 
eng  begrenzten  Kreis  von  Interesse  ist,  wie  Bilder  von  Persönlichkeiten 
sowie  Ansichten  von  Städten  und  einzelnen  auffallenderen  Gebäuden:  hier 
würde  wie  in  einem  Ortsarchiv  niedergelegt,  was  von  mehr  örtlichem 
Interesse  ist. 

Diese  Scheidung  führt  zu  der  Frage  nach  dem  Inhalt  der  Nieder- 
lausitzer  Museen.  Von  ihnen  allen  wird  der  Gnmdsatz  festgehalten,  die 
Aufnahme  auf  diejenigen  Denkmäler  im  weiteren  Sinne  ^)  zu  beschränken, 
die  in  dem  Sammelbezirk  entweder  hergestellt  oder  in  Gebrauch  gewesen 
oder  wenigstens  als  einstiger  Gegenstand  des  Besitzes,  des  Interesses  der  Be- 
wohner, Licht  auf  ihr  geistiges  Leben  werfen. 

Für  den  der  Landschaft  femer  stehenden  Leser  ist  vieUeicht  ein  Über- 
blick über  den  Gesamtbestand,  wie  ihn  etwa  ein  Landschafbmuseum  geben 
würde,  von  Interesse,  imd  eine  kürzere  Charakteristik  der  einzelnen  Samm- 
Itmgen  mag  sich  anschliefsen. 

i)  Weiter  ansgeführt  ist  dieser  Vorschlag  hinsichtlich  der  vor-  und  frühgeschicbtlichea 
Altertümer  von  Jentsch  in  den  Niederlausitzer  Mitteilungen  Bd.  VI,  1899,  S.  17  ff:  Das 
Verhältnis  der  örtlichen  und  Vereinssammlungen  zu  den  Provinzial-  und  Landesmoseen. 

2)  „  Einer  abgelaufenen  Kulturperiode  entstammende  Gegenstände,  die  charakteristische 
Wahrzeichen  ihrer  Entstehungszeit  sind,  and  daher  für  deren  Verständnis  oder  aber  für 
die  Erinnerung  an  wichtige  Vorgänge  von  i^edeutung  sind/^  (Vgl.  die  Anleitung  für 
die  Pflege  und  Erhaltung  der  Denkmäler  in  der  Provinz  Brandenburg  von  Bluth 
(1896)  S.  9). 


—     135     — 

Bei  dem  Reichtum  der  ganzen  Niederlausitz  an  vorgeschichtlichen  Funden 
ist  es  begreiflich,  dafs  diese  in  allen  fünf  Museen  vertreten  sind,  die  aus 
der  steinzeidichen  Periode  —  ihrem  hier  überhaupt  nur  spärlichen  Vorkommen 
entsprechend  —  schwach,  am  mebten  noch  zu  Guben,  die  aus  der  Zeit 
des  sogenannten  Lausitzer  Typus  ^),  also  aus  dem  Ablauf  des  zweiten  imd 
dem  gröiseren  Teile  des  letzten  vorchrisdichen  Jahrhunderts  (die  Buckel- 
umen und  die  mannigfaltigen  zierlichen,  kleinen  Gefäfse)  reichlich,  nament- 
lich m  Rottbus  und  Guben.  Slavische  Stücke  aus  der  zweiten  Hälfte  des 
ersten  nachchrisüichen  Jahrtausends  führt  fast  ausschliefslich  Guben  vor. 
Die  Reste  aus  dem  späteren  Mittelalter  spiegeln  die  politischen  und  die 
Erwerbsverhältnisse  der  Niederlausitz  wieder.  Die  Niederlausitz  war  kein 
reiches  Land:  viel  Wasser,  Sand  und  Heide,  wenig  fruchtbarer  Boden;  von 
verschiedenen  Handelsstrafsen  durchzogen,  war  sie  kein  bedeutsames  Absatz- 
gebiet für  die  Einfuhr.  Sie  hat  femer  zu  der  Zeit  der  Vielherrschaft  in 
Deutschland  nie  einen  eigenen  Landesherm  gehabt,  sondern  hat,  in  der 
Mitte  zwischen  Böhmen,  Sachsen  und  Brandenburg  gelegen,  von  allen  dreien 
umworben,  den  Besitzer  verhältnismäfsig  oft  wechseln  müssen.  Eine  blühende 
Kulturentwickelung  ist  ihr  daher  nicht  beschieden  gewesen,  am  meisten  noch 
dort,  wo  reiche  Dynastengeschlechter,  wie  die  Bibersteine  und  Promnitze 
residierten,  und  auch  da,  wo  ein  geistlicher  Herr  über  gröfsere  Mittel  gebot, 
z.  B.  in  Neuzelle;  indessen  ist  hier  nach  der  Säkularisation  des  Klosters 
nicht  weniges  unbeachtet  verschwunden.  An  den  anderen  Orten  hatten  schon 
Torhcr  von  dem,  was  Kunst  und  Kunstgewerbe  gebildet,  Kriege  imd  Brände 
▼icks  vernichtet  Enthält  daher  die  Landschaft  überhaupt  nur  wenig  von 
wcTtrollcn  Schöpfungen  der  Architektur  imd  Skulptur  in  Holz  und  Stein, 
von  Malereien  und  Manuskripten  mit  Zierschrift,  so  sind  begreiflicherweise 
auch  die  Museen  arm  an  derartigen  Gegenständen  und  selbst  an  deren  Nach- 
nnd  Abbüdungen.  Aus  dem  XII.  bis  zum  begiimenden  XVI.  Jahrhundert 
finden  wir  als  Hauptstück  eine  gravierte  Bronzeschale  (Guben),  Münzen  (zumeist 
^akteaten,  auch  sogenannte  Wendenpfennige),  Eisengerät  wie  Schwerter,  Messer, 
Speerspitzen,  Sporen,  Kettenpanzer,  und  wie  aus  allen  Perioden  verschiedenes 
Tongeschirr,  dazu  Topfkacheln  und  Knochenarbeiten.  Durch  ähnliche  Funde 
ist  auch  noch  das  Reformationszeitalter  und  selbst  das  XVII.  Jahrhundert 
Tötreten :  es  kamen  Steinkugeln,  Schlüssel,  Wetterfahnen,  Armbrüste  und  andere 
Waffen  hinzu,  feineres  Geschirr,  Stickereien,  Drucksachen,  Büder. 

Reicher  vertreten  sind  erst  die  Gegenstände  des  XVIII.  Jahrhunderts: 
Abbildungen  damaliger  Bauwerke,  Grabsteine,  Zimmereinrichtungen  (Sorau, 
Goben,  Lübbenau),  Ziimgeschirr  imd  Porzellan  (Sorau,  Forst),  Schmucksachen, 
hämische  Druckschriften  z.  B.  Kalender  (Sorau).  Die  Niederschläge  des 
l€tzt?ergangenen  Jahrhunderts  betreffen  einerseits  geschichtliche  Vorgänge, 
<ße  Zeit  der  Kriege  sowie  nationaler  und  politischer  Bewegungen  (Guben, 
Sorau,  Forst),  andererseits  die  Umgestaltung  des  gewerblichen  Lebens  durch 
antritt  der  Fabriktätigkeit,  die  durch  billige  Massenherstellung  auch  hier 
die  ursprünglichen,  nicht  selten  unansehnlichen  Geräte,  die  Erzeugnisse  der 

I)  Durch  neuerdings  vorgenommene  Aosgrabongen  sind  Backelumen  bei  Mockan 
^BordoiUicii  von  Leipzig)  und  noch  etwas  weiter  westlich  bei  Gautzsch  (südlich  von  Leipzig) 
^^^^esteUt  worden.  Dies  sind  bis  jetzt  überhaupt  die  am  weitesten  westlich  gelegenen 
^^  wo  sieb  diese  Geföfse  des  Lansitzer  Typus  gefunden  haben. 


%  < 


—     136     — 

Hausarbeit,  verdrängte :  derartigen,  oft  recht  seltenen  Stücken  spüren  namentlich 
die  Verwaltungen  zu  Forst,  Guben  und  Sorau  nach.  Die  Wandlung  des 
Geschmackes  in  Tracht  tmd  Wohaungsausstattung  veranschaulichen  andere 
Stücke.  Erst  in  diesem  Zeitabschnitt  tritt  die  Besonderheit  des  Wendentums  ^) 
in  den  Museen  stärker  hervor,  weil  weiter  zurückreichende.  Reste  überaus 
selten  und  kaum  zu  haben  sind.  An  drei  Stellen  werden  sie  gesammelt: 
in  grösserem  Umfange  (Gewänder,  Putz,  Geräte,  Bilder,  Gedrucktes)  zu  Lübbenau, 
Trachtenproben  zu  Kottbus,  das  wenige,  was  sich  im  Wendendorfe  Homo, 
jetzt  dem  einzigen  im  ELreise  Guben,  erhalten  hat,  sowie  Nachklänge  wen- 
discher Omamentmuster  auf  Ostereiern,  zu  Guben. 

Treten  wir  schliefslich  den  einzelnen  Instituten  näher,  von  denen 
eins  (zu  Guben)  in  städtischem  Besitze  ist,  während  die  übrigen  Eigentum 
wissenschaftlicher  Vereine  sind,  deren  keiner  ein  eigenes  Grundstück  besitzt, 
einige  sogar  ftir  Miete  nicht  unbeträchtliche  Aufwendungen  machen  müssen. 
Für  Museumszwecke  feuersicher  tmd  licht  hergestellte  Räume  sind  nicht  vor- 
handen :  drei  Sammlungen  sind  in  städtischen  Gebäuden  —  zwei  in  Schulen, 
eine  (Guben)  bei  der  Lesehalle  imd  Volksbibliothek  —  zwei  in  den  ehe- 
malichen  stattlichen  Schlössern  zu  Sorau  und  Forst  untergebracht.  Staat- 
licher Zuschufs  wird  keiner,  mehreren  dagegen  (Guben,  Forst,  Sorau) 
städtische  Unterstützung  zu  teU;  der  Niederlausitzer  Gesellschaft  haben  die 
Brandenburgischen  Provinzialstände  alljährlich  eine  namhafte  Beihilfe  gewährt, 
die  Kommunalstände  der  Niederlausitz  dagegen  nur  einmal  zur  ersten  Ein- 
richtung. 

Das  Museum  zu  Kottbus,  Eigentum  der  letztgenannten  Gesellschaft, 
beschränkt  sich  in  der  Hauptsache  auf  vorgeschichtliche  Funde,  deren  es 
eine  grofse  Zahl  besitzt,  und  auf  wendische  Reste.  Unter  den  1800  Ton- 
gefäfsen,  die,  nach  den  10  Verwaltungskreisen  der  Landschaft  geordnet, 
innerhalb  der  einzelnen  aber  nach  den  Typen,  nicht  nach  den  Fundorten 
zusammengestellt,  einen  guten  Überblick  über  die  Keramik  der  vorslavbchen 
Bevölkerung  geben,  befinden  sich  terrinenförmige  und  schlichtere  Leichen- 
behälter, Buckelumen,  Tassen,  Schalen,  Kännchen,  Fläschchen  mannig£Eu:her 
Form,  geteilte  Gefäße,  darunter  auch  ein  dreifacheriges,  eine  siebartige,  ziem- 
lich grofse  Schale,  sogenannte  Räuchergefäfse ,  pokalförmig  mit  meist  von 
Fenstern  durchbrochenem  Fufse ;  femer  liegen  Spinnwürtel  aus,  Flachbeilchen 
aus  Feuerstein,  durchbohrte  Hämmer  aus  kristallinischem  Gestein,  Schaft- 
lappenzelte, die  Spiralplatten  einer  grofsen  Kreuznadel,  einfache  Ringe  tmd 
Nadeln  aus  Bronze,  zwei  Gufsformen  (für  ein  Messer  mit  Griff  und  eine 
Knopfsichel),  eine  lange  Goldspirale,  Eisengerät  aus  provinzialrömischer  Zeit, 
aus  den  Jahren  tmi  loio  ein  Münz-  und  Hacksilberfund  von  Ragow,  Kreis 
Calau  ^) ,  endlich  zahlreiche  wertvolle  Nachbildungen  der  Goldfunde  von 
Vettersfelde,  ELreis  Guben  (tmi  600  v.  Chr.),  Pietroassa  (aus  der  Gothenzeit) 
und  Hiddensöe  in  Pommern.  —  Die  wendische  Sammlung  enthält  auiser 
einer  genau  gearbeiteten  Trachtenpuppe   die  verschiedenen  Bestandteile  der 


i)  Die  Deoste  ümfasseDde  Besprecbnng  dieses  Volkstnms,  durch  zahlreiche  Abbildaogen 
erllintert,  bietet  das  Buch  von  F.  Tetzner,  DU  Slaven  in  Deutschland  (Brannschweig, 
1902)  S.  282 — 345.  Übersichüiche  Kärtchen  zeigen  das  wendische  Sprachgebiet  in  den 
verschiedenen  Zeiträumen. 

2)  Vgl.  Niederlausitzer  Mitteilungen  I,  S.  130. 


—     137     — 

männlichen  und  weiblichen  Kleidung,  einzelnes  Gerät,  auch  einen  Einbaum- 
kahn (von  Straupitz,  Elreis  Lübben).  Jüngeren  Zeiträumen  gehören  einige 
Münzfimde,  eine  kleine  Glocke  mit  tschechischer  Inschrift  (von  Finsterwalde^ 
Kreis  Luckau,  1597)  an.  Naturwissenschaftlich  bemerkenswert  sind  Proben 
des  Sumpfzypressenholzes  (iaacodium  distichum)  aus  den  Braunkohlenwerken 
bei  Grol^Räschen,  Kreis  Calau  ^),  und  die  Nachbildung  eines  Geweihs  des 
Riesenhirsches  fCervus  megaceros  Buffii)  aus  dem  diluvialen  Torflager  bei 
Klinge,  Kreis  KotÜ>us  '). 

Die  Sammlung  zu  Lübbenau  legt  ab  „Spree waldmuseum"  den 
Nachdruck,  wie  bemerkt,  auf  die  wendischen  Haus-  imd  Wirtschafts- 
gerate.  An  dergleichen  Stücken  sind  bis  jetzt  aufgestellt  —  farbig  gestrichen, 
mit  steifen  Blumen  bemalt  —  der  Geschirrschrank,  die  Lade,  das  Teller- 
brett, Holzstühle,  die  Kastenwiege  mit  Walzen,  die  hohe  Laterne  mit  Holz- 
rahmen,  Erzeugnisse  der  Bauemtöpferei  mit  Malerei  in  matten  Farben.  Über 
die  Kleidung,  namentlich  auch  die  bereits  um  die  Mitte  des  XIX.  Jahr- 
hunderts verschwundene  männliche,  unterrichten  z.  T.  recht  alte  TrachtenbUder. 
Ältere  Ansichten  der  Stadt  zeigen,  dafs  vormab  die  Strafsenverbindungen 
wie  noch  jetzt  in  einzelnen  Spreewalddörfem  in  Wasserarmen  bestanden.  Unter 
den  vorgeschichtlichen  Funden,  deren  Zahl  zwei  Dutzend  noch  nicht  über- 
steigt, ist  ein  Flachcelt  und  eine  dreieckige  Dolchklinge  der  ältesten  Bronze- 
zeit von  Tomow  (Kr.  Calau),  die  in  der  Literatur  noch  nicht  Erwähnung  ge- 
funden haben,  hervorzuheben. 

Der  Sammlung  in  Forst  ist  der  reiche  Vorrat  von  Erzeugnissen  der 
letzten  drei  Jahrhunderte  eigentümlich.  Feines  Porzellan  und  Glasgeschirr, 
Zinn-  und  Tonkrüge  (u.  a.  einer  mit  Kerbschnitt) ,  Metallgerät  fUr  Wirt- 
schaft tmd  Küche,  das,  wie  der  durchbrochene,  aus  Messing  gearbeitete 
Kohlentopf  (in  der  Niederlausitz  wie  von  Vofs  im  Siebzigsten  Geburtstag  die 
Feuerkieke  genannt)  aus  dem  Gebrauch  bereits  verschwunden  ist,  Gewerk- 
Zeichen  und  Fahnen,  veraltete  Musikinstnunente,  Waffen,  Münzen,  ein  aus 
Blechstreifen  künstlich  hergestellter  Kronenleuchter  der  Klempnerinnung,  die 
hölzerne  Kräuselvorrichtung  für  wendisch-bäuerliche  Halskragen,  allerlei  weib- 
liche Handarbeiten,  ein  kostbar  mit  Silber  gesticktes  Leichentuch,  kirchliche 
Geräte,  Stadtansichten,  Porträts,  Schreibhefte  aus  dem  Begiim  des  XIX.  Jahr- 
hunderts. Unter  den  vorgeschichtlichen  Gegenständen  sind  Steinhämmer, 
schwere  Bronzeringe,  tönerne  Klappern,  Buckelumen  verschiedener  Gestalt, 
ein  aulsen  und  innen  mit  ELreuz  gezeichneter  Gefafsboden,  Eisengerät  der 
provinzialrömischen  Periode  hervorzuheben. 

Dem  reichen  Familienbesitz  entsprechend,  der  sich  bei  einem  Teü  der 
Bürger  zu  Sorau  vererbt  hat,  ist  das  dortige  Museum  mit  wertvollen  Stücken 
ausgestattet  Ins  Auge  fällt  sogleich  ein  im  Stil  der  ersten  Hälfte  des  XVIII.  Jahr- 
hunderts geschmackvoll  möbliertes  Zimmer  mit  Tischen  und  Stühlen,  Schr^mken 
tmd  Schubladen,  Porzellan- und  Glasgeschirr,  Bildern  und  Nähzeug;  femer 
in  einer  grofsen  Glasvitrine  Kostümfiguren  vom  Ausgang  desselben  Jahrhunderts 
mit  städtischer  und  ländlicher  Tracht  In  einem  Vorzinuner  ist  ein  alter 
Prachtschlitten  aufgestellt  Auf  das  geistige  Leben  wirft  der  umfängliche 
Bücherbestand  aus   alten  Privatbibliotheken   Licht;    einzelnes   enstammt  der 

1)  Vgl  NiederUusiUer  MitteUangen  Bd.  IV  ^896)  S.  438  f. 

2)  EbcDda  S.  440. 


—     138     — 

Sorauer  Buchdruckerei,  der  ältesten  der  Landschaft,  als  deren  bekanntestes 
Erzeugnis  die  vollständige  Reihe  der  dortigen  Volks-  und  Wirtschaftskalender 
ausgelegt  ist  Grofse  Sammlungen  der  Landmünzen  sind  vorhanden,  aber 
auch  andere  Stücke,  die  vormals  hier  gangbar  waren.  Von  der  machtvollen 
Stellung  der  einstigen  Besitzer  der  grofsen  Herrschaft  Sorau,  der  Bibersteine, 
zeugen  die  Beweise  ihrer  Münzberechtigung,  die  schweren,  nach  unten  zugespitzten 
Münzstempel  aus  Eisen  und  mehrere  Urkunden.  Stadtbilder  und  Ansichten 
inzwischen  abgetragener  Gebäude,  aber  auch  des  Schlosses  selbst  schmücken 
die  Wandflächen.  Die  vorgeschichtiichen  Altertümer  —  etwa  200  Ton- 
gefäfse  und  einige  Metallgeräte  —  entstammen  den  Gräberfeldern  des  Kreises, 
die  übrigens  im  Königlichen  und  im  Märkischen  Museum  zu  Berlin  durch 
Funde  von  Güritz  und  Billendorf  besonders  stark  vertreten  sind. 

Einen  umfassenden  Plan,  der  gedruckt  ausgelegt  ist,  verfolgt  die  Sammel- 
arbeit des  Museums  in  Guben.  Zu  den  seit  30  Jahren  erworbenen  vor- 
geschichtlichen Funden  sind  namentlich  nach  der  Überführung  in  eigene 
Räume  zahlreiche  kulturgeschichdiche  Gegenstände,  zumeist  aus  den  letzten 
drei  Jahrhunderten,  getreten.  Der  Bestand  an  prähistorischen  Stücken  *) 
setzt  sich  zusammen  aus  40  Steinbeilen  aus  dem  Stadt-  und  Landkreise  Guben, 
150  Bronze-  und  einer  Zahl  von  Eisengeräten,  endlich  aus  etwas  mehr  als  2000 
Gefafsen  imd  anderen  Gegenständen  aus  Ton  —  Gräberfeldern  und  den  ihnen 
gleichzeitigen  unteren  Lagen  doppelschichtiger  Rundwälle,  namendich  des 
heiligen  Landes  bei  Niemitzsch  entstammend.  Von  den  keramischen  Erzeug- 
nissen ist  ein  Teil  unabhängig  von  den  Fundorten  als  Schau-  und  Lehr- 
sammlung nach  den  Typen  zusammengestellt,  während  alle  übrigen  nach 
den  Fundorten  gruppiert  sind.  Sie  geben  ein  übersichtliches  Bild  des 
Lausitzer  Formenkreises  einschliefslich  der  selteneren  Stücke  (Drillings-,  Etagen- 
gefafse,  Ton-Hömer  und  Klappern,  Deckeldosen,  z.  T.  mit  reicher  Verzierung, 
Bodenzeichnungen  u.  a.)  Aus  den  ersten  nachchristlichen  Jahrhunderten, 
der  provinzialrömischen  Periode,  ist  eine  Reihe  in  der  Umgegend  meist  einzeln 
gefundener  Münzen  hervorzuheben,  und  als  Beigabe  eines  kleinen  Sammelfundes 
von  Amtitz  ein  vortrefflich  erhaltener  Skarabäus.  Zur  Vergleichung,  und  um 
die  Übergänge  bestimmter  Formen  in  Nachbargebiete  zu  vergegenwärtigen, 
sind  Funde  aus  der  Mark,  Posen,  Schlesien  und  auch  aus  Sachsen  beige- 
geben, sowie  für  die  Stein-  und  ßronzesachen  zahlreiche  Abgüsse  charakte- 
ristischer Stücke,  vom  Berliner  Königlichen  Museum  für  Völkerkunde  über- 
wiesen im  Austausch  gegen  Eisengeräte,  deren  Sicherung  vor  Rostschaden 
sich  unter  den  gegebenen  Verhältnissen  als  unmöglich  erwiesen  hatte.  Aus 
slavischer  Zeit  liegt  hier  wohl  die  reichhaltigste  ZusammensteUung  von  Nieder- 
lausitzer  Funden  vor,  da  9  der  sehr  selten  wohlerhaltenen  Tongefäfse  und 
überaus  zahlreiche  Bruchstücke  mit  den  mannigfaltigsten  Verzierungsmustem 
aus  den  Rundwällen  aufbewahrt  werden,  überdies  Knochen-  und  Eisengerät, 
auch  ein  silberplattiertes  Beilchen  etwa  des  VIII.  Jahrhunderts.  Die  früh- 
geschichtiiche  Zeit  ist  aufser  durch  Bodenfunde  aus  Ton  und  Eisen  namentlich 
durch  eine  gravierte  Bronzeschale  des  XII.  Jahrhunderts  vertreten,    eine  der 

i)  Die  bis  1891  zusammengekommenen  Gegenstände  sind,  nach  den  Fundorten  ge- 
ordnet, in  5  Gubener  Gymnasialprograraraen  (DU  vorgeschichtlichen  Altertümer  der 
Gymnasialsammlung  zu  Guhen^  1883,  1885,  1886,  1889,  1892)  mit  5  Tafeln,  von  Jentsch 
ausführlich  besprochen. 


—     139     — 

dm  bis  jetzt  bekannt  gewordenen  mit  szenischen  Darstellungen  ^),  sodann  auch 
durch  Teile  eines  Brakteatenfundes  aus  der  Zeit  um  1300.  Die  zweite  Abteilung 
dieses  Museums  gliedert  sich  folgendermafsen :  i.  Darstellung  des  äufseren 
Slidibildesy  der  Bodenbeschaffenheit  (dabei  aussterbende  und  ausgestorbene 
Tiere  und  Pflanzen);  2.  Zusammensetzung  der  Einwohnerschaft,  Behörden 
und  öffentliche  Einrichtungen  (Urkunden,  Siegelstempel,  Stadtmünzen,  z.  T. 
recht  selten,  Aufrufe;  Feueiwehr;  Schützengilde);  3.  Verhältnis  der  Stadt 
zur  Landesregierung  und  Landesgeschichtliches  (Bilder,  Autographen  der 
Landesherren,  Wappen,  Münzen;  örtliche  Erinnerungen  an  nationale  Vor- 
gänge und  geschichtliche  Persönlichkeiten;  Kriegsandenken);  4.  Kirchliches 
aus  vor-  und  nachreformatorischer  Zeit  (das  Jungfrauenkloster;  Abbildungen 
Ton  Kirchgebäuden  und  deren  Ausstattung,  Sanduhr ;  Porträts  von  Geistlichen ; 
Gesangbücher,  u.  a.  das  sehr  seltene  von  Chr.  Peter,  Andacht  -  Oymbeln 
für  Qvben  1655;  Patenbriefe  seit  1708,  Ostereier,  gezeichnet,  mit  Nachklängen 
wendischer  Muster;  5.  Gerichtswesen  und  Gesundheitspflege  (Rechtsbücher, 
Urkunden,  Amtssiegel,  Richtschwerter,  steinernes  Sühnekreuz;  ärztliche  An- 
weisungen u.  a.  gegen  die  Pest,  Guben  1680;  Proben  ehemaliger  Apotheken- 
einrichtungen) ;  6.  Geistiges  Leben:  a)  Pflege  von  Wissenschaft  und  Kunst 
(Sdiukn,  Volksbildung,  mittelalterliches  Manuskript  mit  goldgehöhten  Initialen; 
der  literarische  Geschmack  in  den  Leihbibliothekskatalogen);  b)  Literarische 
Persönlichkeiten  in  Bildem,  Autographen,  Denkmünzen,  Andenken,  Denk- 
mälem  (der  geistliche  Dichter  Joh.  Franck,  Bürgermeister  zu  Guben  t  1677; 
Corona  Schröter,  Goethes  erste  Iphigenie,  in  Guben  geb.  1 7  5 1 ;  der  geist- 
liche Komponist,  J.  Crtiger  in  Grofsbreesen  geb.  1598;  Chr.  O.  Freiherr 
von  Schoenaich  auf  Amtitz,  der  Gegner  Lessings);  7.  Gewerbe  und  Ver- 
kehr (u.  a.  Innungen,  Wein-  und  Grubenbau,  Handwerkserzeugnisse,  z.  B, 
Voiffihrung  der  Flachsbearbeitung,  Modeltuch  v.  J.  1685,  Handel  —  eine  stark 
Tcrtietcne  Gruppe  gleich  der  folgenden :  8.  häusliches  Leben  (Wohnung,  Haus- 
fbraien,  Wetterfahnen  seit  1601,  Heizung,  Beleuchtung  —  fast  vollständig 
vertreten,  u.  a.  ein  Geweihkronenleuchter,  „der  Nonnenkopf"  v.  J.  1 5 11  mit 
4  Gesichtern  —  Ausstattung;  Trachten  und  Schmuck,  u.  a.  wendische  Reste; 
Nahrungs-  und  Genuismittel,  Rauchen,  Schnupfen ;  Geselligkeit,  Vereinsleben, 
Spiele,  Stanmibücher ,  Kalender).  9.  Waffen  (Ketten-  u.  a.  Panzer,  Helme, 
Speere,  Degen,  Schufswaffen  seit  Beginn  des  XVI.  Jahrhunderts).  Als  Be- 
^andteile  ehemaliger  Gubener  Privatsammlungen  sind  ethnologische  Gegen- 
stände teils  aus  dem  Altertum  (Ägypten,  Kleinasien,  Mykenä,  Pompeji),  teils 
ans  der  Gegenwart  aufgenonmien. 

In  der  vorstehenden  Übersicht  sind  die  mehr  äufserlichen  Fragen  un- 
berührt geblieben,  die  doch  für  Besucher  wie  für  Verwalter  der  Museen  nicht 
nnwesentÜch  sind,  z.  B.  Einrichtung,  staubdichter  Verschlufs  und  innerer  An- 
ttrich  der  Schränke :  verfehlt  ist  für  letzteren  die  Wahl  der  schwarzen  Farbe 
(Kottbus),  die  beständige  Spiegelung  des  Betrachters  bewirkt;  vorteilhaft  ist 
ge&>liches  Hellgrau  (Guben,  Forst) ;  das  wirksame  Ponceaurot  ist  bis  jetzt  noch 
nidit  verwendet. 

Als  zweckmäfsig   hat  sich  überall  die  Festsetzung  einer  Besuchszeit  er- 


i)  Eiogehend  besprochen  Niederlausitzer  Mitteilungen.     Band  VI  (1899)  S.  i  ff.  mit 
Abbddnogen. 


—     140     — 

geben;  die  Besichtigung  erfolgt  allenthalben  iinen^;eltlich.  Die  Schenkung 
geeigneter  Gegenstände  wird  überall  durch  Nennung  des  Gebers  vergolten. 
Mit  gutem  Erfolg  hat  Forst  die  Annahme  von  Leihgaben  —  dauernden  oder 
für  bestimmte  Zeit  zugewiesenen  —  eingeführt ;  die  Behörden  sind  in  der  Regd 
an  diese  Art  der  Überweisung  gebunden:  so  hat  die  Königliche  Schul- 
verwaltung in  Kottbus,  das  Kaiserliche  Reichspostamt  in  Guben  wertvolle 
Stücke  ausgestellt  Als  höchst  nützlich  hat  sich  die  Beigabe  kurzer  Auskunft 
über  Zweck  und  Alter  der  Gegenstände  (Guben,  Sorau)  erwiesen;  hierdurch 
wird  den  Museen  erst  der  erspriefsliche  Erfolg  der  Belehrung  gesichert  Einen 
kurzen  gedruckten  Katalog  hat  die  Sorauer  Sammlung  herausgegeben,  für  die 
erste  Abteilung  der  Gubener  liegt  ein  solcher  in  den  oben  erwähnten  Pro- 
gramm-Abhandlungen vor. 

Von  Interesse  ist  schliefslich  ein  Blick  in  die  Besucherlisten.  In  der 
Regel  zeigen  sie  ein  allmähliches,  aber  stetiges  Anwachsen,  insofern  nicht 
einmal  eine  äufserliche  und  ganz  zufällige  Störung  eintiitt.  Es  kommen  Hand- 
werker, die  aus  ihrem  Besitz  beigesteuert,  Lehrlinge,  die  Anregung  zum  Be- 
such erhalten  haben,  gelegentlich  eine  Schulklasse  unter  Führung  und  dann 
wiederholt  ihre  einzelnen  Angehörigen,  allmählich  Beamte  aller  Beru&zweige, 
hin  imd  wieder  Forscher  aus  weiter  Feme,  endlich  Vertreter  der  Behörden 
bei  gelegentlichen  Revisionsbesuchen  in  den  Städten. 

Es  scheint,  dafs  alle  Bevölkerungsklassen,  die  Kleinhändler  mit  Alter- 
tumsgegenständen nicht  ausgeschlossen,  den  Orts-  und  Vereinsmuseen  wohl- 
wollend gegenüberstehen ;  wenigstens  ist  bis  jetzt  aus  keinem  der  besprochenen 
ein  Fall  mutwilliger  Beschädigung  bekannt  geworden.  Die  Vorsteher  der  grofsea 
Provinzial-  und  Landesinstitute  haben  ihre  Berechtigung  anerkannt,  selbst- 
verständlich unter  der  Voraussetzung,  dafs  sie  nach  wissenschaftlichen  Ge- 
sichtspunkten geleitet  werden ;  die  Stadtverwaltungen  aber  sehen  in  ihnen  wohl 
nicht  mit  Unrecht  wie  ein  interessantes  und  wirksames  BUdungsmittel  für 
weite,  Elreise  so  einen  nützlichen  Anziehungspunkt  ihrer  Städte;  mögen  sie 
in  voUer  Würdigung  dieser  Eigenschaften  den  Museen  auch  überall  die 
wünschenswerte  materielle  Unterstützung,  vor  allem  unentgeltliche  geeignete 
Räume,  zu  teü  werden  lassen! 


Kommissionen.  —  Die  Historische  Kommission  beiderkgL 
Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften  ^)  hielt  am  ai.  bis  33. Mai 
1902  ihre  43.  Plenarversammlung  ab.  Neu  ausgegeben  wurden  im  Berichts- 
jahre dlt  Jahrbücher  des  deutschen  Reichs  unter  Otto  IL  von  Karl  Uhlirz  (Leipzig 
1902)  und  vom  46.  Bande  der  Allgemeinen  deutschen  Biographie  die  Liefe- 
nmgen  4  und  5.  Alle  Veröffentlichungen  haben  erfreuliche  Fortschritte  gemacht» 
tmd  zahlreiche  Werke  befinden  sich  schon  im  Druck.  In  die  Städte- 
chroniken sollen  nach  Vollendtmg  der  Lübecker  noch  die  Bremer,  Rostocker, 
Stralsunder,  Lüneburger  sowie  die  Konstanzer  Chroniken  Aufnahme  finden; 
sachlich  wurde  die  Herabsetzung  der  Zeitgrenze  fUr  wünschenswert  erachtet, 
womöglich  bis  1648,  aber  die  Beschlufsfassimg  im  einzelnen  bis  nach  Er- 
nennung eines  neuen  Redakteurs  verschoben.    Die  Nachträge  zur  Allgemeinen 


i)  Vgl.  Bd.  m,  s.  186. 


-       141     — 

Deutsehen  Biographie  werden  nunmehr  regelmäfsig  —  im  Jahr  zwei  Bände  — 
wieder  erscheinen.  Die  Abteiltmg  Bayerische  Landesckroniken  wird  die 
sogenannten  Vorläufer  Aventins,  Andreas  von  Regensburg,  Hans  Ebran 
▼OD  Wildenberg,  Ulrich  Fuetrer  und  Veit  Ampeck  enthalten.  In  den  Queüen 
und  Erörterungen  zur  bayerischen  und  deutschen  Geschichte  steht  zunächst 
die  von  Bitterauf  besorgte  Ausgabe  der  Freisinger  Traditionen  tmd  ihre 
Verarbeitung  nach  Caros  Vorgang  ')  zu  erwarten. 

Durch  Tod  hat  die  Kommission  die  Mitglieder  v.  Hegel  und  Scheffer- 
Boichorst  verloren,  die  Ergänzungswahlen  wurden  bis  zum  nächsten  Jahre 
▼erschoben. 


Die  31.  Plenarversammlung  der  Badischen  Historischen  Kom- 
mission^) fiamd  am  14.  und  15.  November  1902  in  Karlsruhe  statt  Neu 
ausgegeben  wurde  im  Berichtsjahre  die  5.  und  6.  Liefenmg  (Schluis)  des 
n.  Bandes  der  Regesten  der  Bischöfe  von  Konstanz,  die  i.  und  2.  Lieferung 
des  m.  Bandes  der  Regesten  der  Markgrafen  von  Baden  und  Hachberg, 
das  6.  Heft  der  fränkischen  Abteilung  der  Oberrheinischen  Stadirechte  so- 
wie der  I.  Band  des  Schlettstadter  Stadtrechts  imd  das  Neujahrsblatt  für 
1902  Samuel  Friedrich  Saider,  ausgewählte  Gedichte,  herausgegeben  von 
£.  Kilian.  Der  Druck  der  zweiten  Auflage  von  Kriegers  Topographischem 
Wörterbuch  des  Oroftherzogtums  Baden  hat  bereits  begonnen,  Prof.  Schulte 
bereitet  eine  zweite  Auflage  des  ersten  (darstellenden)  Bandes  seiner  Geschichte 
des  mittelalterlichen  Handels  und  Verkehrs  zvnschen  West -Deutschland  und 
Italien  mit  Ausschluß  von  Venedig  vor,  das  Register  zu  Band  i — 39  der 
Zeitsekriß  für  die  Geschichte  des  Oberrheins  bearbeitet  Fritz  Frankhauser. 
Archivrat  Obs  er  beschäftigt  sich  mit  einem  Nachtragsbande  zur  Politischen 
Korrespondenz  Karl  Friedrichs  von  Baden.  Der  Antrag  Tumbülts,  eine  Geld-  imd 
Münzgeschichte  der  im  Grofsherzogtum  Baden  vereinigten  Territorien  bearbeiten 
zu  lassen,  ward  einer  Unterkonmiission  zur  weiteren  Beratung  überwiesen. 
Von  den  Grundkarten  wurden  die  zwei  Doppelsektionen  Worms-Mannheim 
und  Miltenberg-Mosbach  fertiggestellt 

Proü  Beyerle  bt  infolge  seiner  Beruftmg  nach  Breslau,  Prof.  Car- 
tellieri  infolge  der  nach  Jena  als  aufserordentliches  Mitglied  der  Konmiission 
ausgeschieden.  Die  Arbeiten  des  letzteren  an  den  Regesten  der  Bischöfe 
von  Konstanz  hat  sein  bisheriger  Mitarbeiter  K.  Rieder  übernommen.  Femer 
wurde  beschlossen,  fortan  auch  „korrespondierende  Mitglieder**  zu 
ernennen:  zu  solchen  wurden  gewählt  Prof.  Beyerle  (Breslau),  Landgerichts- 
lat  Adolf  Birkenmayer  (Freiburg),  Pfarrer  Gustav  Bossert  (Nahem  in 
Württemberg),  Prof.  Alexander  Cartellieri  (Jena)  und  Stadtarchivar 
Joseph  Geny  (Schlettstadt).  Zu  aufserordentlichen  Mitgliedern  wurden 
Profi  Theodor  Ludwig  und  Profi  Heinrich  Witte  (beide  in  Strafsburg) 
ernannt,  mit  der  Geschäftsführung  für  weitere  5  Jahre  wurde  Geh.  Archivrat 
T.  Weech  betraut  Als  Oberpfleger  im  V.  Bezirk  ist  Dr.  Walter  (Mann- 
heim)  an  Stelle  von  Prof.  Wille  getreten. 

i)  Vgl.  Zur  Grundbesttzverteilung  in  der  Karolingerteit  in  dieser  Zeitschrift  Bd.  m, 
S.  65-76. 

a)  Vgl  Bd.  in,  S.  186—187. 


—     142     — 

Eingegangene  Bfieher. 

Schubert,  H.  von:  Ansgar  und  die  Anfange  der  schleswig-holsteinischen 
Kirchengeschichte  [=  Schriften  des  Vereins  für  schleswig-hobteinische 
Kirchengeschichte.  II.  Reihe  (Beiträge  und  Mitteilungen)  2.  Bd.  (1901), 
S.  145—174]. 

Schuller,  Friedrich:  Schrifteteller-Lexikon  der  Siebenbürger  Deutschen. 

4.  Bd.  (Ergänzungsband  zu  J.  Trausch,  Schriftsteller-Lexikon  oder  bio- 
graphisch-literarische Denkblätter  der  Siebenbürger  Deutschen).  Her- 
mannstadt, W.  Krafit,   1902.     575  S.  8^ 

Tille,  Armin:  Zwei  Waldordnungen  aus  dem  Herzogtum  Jülich  [=  Zeit- 
schrift des  Aachener  Geschichtsvereines,  23.  Bd.  (1901),  S.   i — 30]. 

Ancona,  Alessandro  d*:  Friedrich  der  Grofse  und  die  Italiener.  Deutsche 
Übersetzimg  von  Albert  Schnell.  Rostock,  Stiller,  1902.  201  S.  8^ 
M.  2,40. 

Arens,  Franz:  Die  Siegel  und  das  Wappen  der  Stadt  Essen  [=  Beiträge 
zur  Geschichte  von  Stadt  und  Stift  Essen.     22.  Heft  (1902),  S.  5  — 13]. 

Baier,  Johannes:  Geschichte  des  alten  Augustinerklosters  Würzburg. 
Mit  5  Abbildungen.     Würzburg,  Stahel,   1895.     9^  S.  80.     M.   1,50. 

Derselbe :  Ausgrabungen  bei  dem  alten  Augustinerkloster  Würzburg  im  Jahre 
1900,  zugleich  Nachtrag  zur  Geschichte  dieses  Klosters  vom  gleichen 
Verfasser.  Mit  7  Abbüdungen.  Würzburg,  Stahel,  1901.  36  S.  8®. 
M.  0,80. 

Becker,  Wilhelm  Martin:  Aktenstücke  zur  Gründungsgeschichte  der 
Universität  Giefsen  [=  Mitteilungen  des  Oberhessischen  Geschichts- 
vereins.    Neue  Folge  10.  Band  (1901),  S.  40 — 55]. 

Duijnstee,  Dominicus  Fr.  H.  P. :  Polemica  de  S.S.  eucharistiae  sacra- 
mento  inter  Bartholomaeum  Amoldi  de  Usingen  O.  E.  S.  A.  eiusque 
olim  in  universitate  Erphurdiana  discipulum  Martinum  Luthenun  anno 
1530.     Wirceburgi,  Stahel,   1903.     98  S.  8<>.     M.  2,50. 

Eskuche,  Gustav:  Sarcerius  als  Erzieher  und  Schulmann  [Programm  des 
Realg)'mnasiums  zu  Siegen,   1901].     74  S.  8^. 

Gruber,  Christian:  Deutsches  Wirtschaftsleben^  Mit  4  Karten.  [=  Aus 
Natur  und  Geisteswelt,  Sammlung  wissenschaftlich-gemeinverständlicher 
Darstellungen  aus  allen  Gebieten  des  Wissens.  42.  Bändchen.]  Leipzig, 
B.  G.  Teubner,   1902.      137  S.  8®.     Gebunden  M.   1,25. 

Hertzberg,  Gustav:  Geschichtlicher  Überblick  über  die  Entwicklung  des 
thüringisch  -  sächsischen  Geschichts-  und  Altertumsvereins  von  seiner 
Stiftung  bis  zur  Gegenwart  [=  Festschrift  des  Thüringisch-Sächsischen 
Geschichtsvereins,  Herrn  Geh.  Oberregierungsrat  Dr.  Ernst  Dümmler 
dargebracht    zu    der    Feier    seines    50  jährigen    Doktor  -  Jubiläums    am 

5.  August  1902.     Halle,  Ed.  Anton,   1902,  S.   i — 17]. 
Kästner,  Alexander:  Die  Kinderfragen,  der  erste  deutsche  Katechismus 

MDXXI,  herausgegeben  und  mit  einer  Einleitung  und  einem  Abrifs 
der  Brüdergeschichte  versehen  von  A.  K.  [=  Neudrucke  Pädagogischer 
S chriften  XVII].  Leipzig,  Friedrich Brandstetter,  1902.  77  S.  8^  M.  0,80. 
Knoth,  Ernst:  Ubertino  von  Casale,  ein  Beitrag  zur  religiösen  Literatur 
des  Franziskanerordens.     Marburger  Dissertation,   1901.     50  S.  8^ 


—     143     — 

Köhler,  Walther:  Der  Katzenelnbogische  Erbfolgestreit  im  Rahmeo  der 
allgemeinen  Reformationsgeschichte  bis  zum  Jahre  1530  [=  Mitteilungen 
des  Oberbessischen  Geschichtsvereins,  Neue  Folge  11.  Band  (Giefsen, 
Ricker,   1902),  S.   i — 30]. 

Ockel,  Hans:  Bayerische  Geschichte  [=  Sammlung  Göschen].  Leipzig, 
G.  J.  Göschen,   1902.      135  S.  8®.     Gebunden  M.  0,80. 

Oidtmann,  Heinrich:  Die  Schlacht  bei  Baesweiler  am  22.  August  1371 
=  Sonderabdruck  aus  dem  Kreis-Jülicher  Korrespondenz-  und  Wochen- 
blatt 1902]. 

Derselbe:  Das  Linnicher  Geschlecht  van  weyrdt,  ein  Beitrag  zur  Familien- 
geschichte des  Johann  von  Werth  [=  Annalen  des  Historischen  Vereins 
für  den  Niederrhein,  73.  Heft  {1902),  S.   123 — 153]. 

Ohlenschlager,  Friedrich:  Römische  Überreste  in  Bayern,  nach  Be- 
richten, Abbildungen  und  eigener  Anschauung  geschildert  und  mit  Unter- 
stützung des  Kaiserlich  Deutschen  Archäologischen  Instituts  heraus- 
gegeben. Heft  I  mit  3  Karten.  München,  J.  Lindauer,  1902. 
96  S.  8».     M.  4,00. 

Otto,  Eduard:  Das  Butzbacher  Wollwebergewerbe  im  XIV.,  XV.  und 
XVI.  Jahrhundert  [=  Mitteilungen  des  Oberhessischen  Geschichtsvereins. 
Neue  Folge   10.  Band  (1901),  S.  86 — 118]. 

Perlbach,  Max:  Über  eine  Sanunlung  Strafsburger  Ordnimgen  und  Mandate 
von  15 18 — 1673  *^s  der  Universitätsbibliothek  zu  Halle  [=  Festschrift  des 
Thüringisch-Sächsischen  Geschichts Vereins  zum  50jährigen  Doktor- Jubiläum 
Ernst  Dümmlers  5.  August  1902.    Halle,  Ed.  Anton,  1902,  S.  39 — 84]. 

Ribbeck,  Konrad:  Übersicht  über  die  Verfassung  der  Stadt  Essen  bis 
zum  Untergange  der  städtischen  Selbständigkeit  [==  Beiträge  zur  Ge- 
schichte von  Stadt  und  Stift  Essen,  22.  Heft  (1902),  S.   17 — 28]. 

Schädel,  Ludwig:  Über  die  „Kustodie"  Philipps  des  Grofsmütigen 
[=  Mitteilungen  des  Oberhessischen  Geschichtsvereins,  Neue  Folge 
II.  Band  (1902),  S.  31 — 56]. 

Schmidt,  O.  E.:  Kursächsische  Streifzüge.  Leipzig,  Grunow,  1902. 
351  S.  80.     M.  3,50. 

Schultze,  Walther:  Die  Thronkandidatur  Hohenzollem  und  Graf  Bismarck.. 
Halle  a.  S.,  Ed.  Anton,   1902.     55  S.  8®.     M.  0,80. 

Schultze,  Victor:  Waldeckische  Reformationsgeschichte.  Mit  56  Ab- 
bildungen.    Leipzig,  A.  Deichert  (Georg  Böhme),   1903.     459  S.  8®. 

Siegl,  Karl:  Hervorragende  Egerer  Künstier  und  Werkleute  im  XV.  Jahr- 


hundert 
Stieda,   Wi 


=  Egerer  Jahrbuch,  XXXIII.  Jahrgang  (1903),  S.  i — 18]. 
heim:  Ilmenau  und  Stützerbach,  eine  Erinnerung  an  die 
Goethe-Zeit  Leipzig,  Hermann  Seemann  Nachfolger,  1902.  97  S.  8<>. 
Viereck,  L. :  W.  Assmanns  Geschichte  des  Mittelalters  von  375 — 1517» 
dritte  neu  bearbeitete  Auflage.  Dritte  Abteilung:  Die  beiden  letzten 
Jahrhimderte  des  Mittelalters,  Deutschland,  die  Schweiz  und  Italien.  Erste 
Lieferung.  Braunschweig,  Vieweg  &  Sohn,  1902.  635  S.  8^.  M.  12,00. 
Wendt,  Oscar:    Lübecks  Schiffs- und  Warenverkehr   in   den  Jahren  1368 

Iund   1369,  in  tabellarischer  Übersicht  auf  Grund  der  Lübecker  Pfimd- 
zollbücher  aus  denselben  Jahren.     Lübeck,  Lübcke  &  Nöhring,   1902. 

*  64  S.   80.     M.  1,50. 

I 


I 


—     144     — 

Zwiedineck-Südenborst,  Hans  von:  Die  geschichtliche  Stellung  der 
Steiennark.     Graz,   1902.      13  S.  S^. 

Baier,  Johannes:  Dr.  Martin  Luthers  Aufenthalt  in  Würzburg.  Würs- 
bürg,  Stahel,   1895.     34  S.  8<>.     M.  0,60. 

Derselbe :  Geschichte  der  beiden  Kannelitenklöster  mit'  besonderer  Berück- 
sichtigung des  ehemaligen  Reurerinnenklosters  in  Würzburg.  Würzburg, 
Stahel,   1902.     136  S.  8®.     M.  2,50. 

Becker,  Reinhold:  Der  Dresdener  Friede  und  die  Politik  Brühls  [=  Biblio- 
thek der  sächsischen  Geschichte  und  Landeskunde,  herausgegeben  von 
Gustav  Buchholz.  i.  Band,  i.  Heft].  Leipzig,  S.  Hirzel,  1902. 
143  S.  8«.     M.  3,00. 

Beschorner,  H.:  Denkschrift  über  die  Herstellung  eines  Historischen 
Ortsverzeichnisses  flir  das  Königreich  Sachsen,  im  Auftrage  der  KgL 
Sächsischen  Kommission  fUr  Geschichte  ausgearbeitet  Dresden,  Baensch, 
1903.     68  S.  80. 

Doebner,  £.:  Bausteine  zu  einer  Geschichte  der  Stadt  Meiningen,  Au^ 
Sätze  und  Entwürfe  [=  Neue  Beiträge  zur  Geschichte  deutschen  Altertums, 
herausgegeben  von  dem  Hennebergischen  altertumsforschenden  Verein 
in  Meiningen,  17.  Lieferung].  Meiningen,  Brückner  &  Renner,  1902. 
III  S.  80. 

Heyne:  Über  Körperbau  und  Gesichtsbildung  der  alten  Niedersachsen 
[=  Protokolle  über  die  Sitzungen  des  Vereins  fUr  die  Geschichte 
Göttingens  im  zehnten  Vereinsjahre  1901 — 1902,  S.  4 — 7]. 

Höfer:  Fortschritte  in  der  Datierung  der  Steinzeit  [=3  Mühlhäuser  Geschichts- 
blätter, Zeitschrift  des  Mühlhäuser  Altertumsverebs  in.  Jahrgang  1902 
bis  1903,  S.  4 — 7]. 

Holder,  K.:  Das  Landrecht  von  Jaun  [=  Freiburger  Geschichtsblätter, 
herausgegeben  vom  deutschen  geschichtsforschenden  Verein  des  Kantons 
Freiburg  IX.  Jahrgang  (1902),  S.  i  —  73]. 

Ilgen,  Th.:  Die  Entstehung  der  Städte  des  Erzstifts  Köhi  am  Niederrhein 
[s=3  Annalen  des  Historischen  Vereins  ftir  den  ^^ederrhein,  74.  Heft 
(1902),  S.   I — 26]. 

Kraus,  Joh.:  Das  Jahr  1618  und  seme  schweren  Folgen  ftir  die  Stadt 
Frankenthal  [=  Monatsschrift  des  Frankenthaler  Altertumsvereins,  10.  Jahr- 
gang (1902)]. 

Berichtigung 

Im  dritten  Hefte  des  laufenden  Jahrganges  (Dezember  1902)  ist  die 
Seitenzfthlung  irrtümlich  um  einen  Bogen  vorausgeeilt,  obwohl  die  Bogen- 
bezeichnung  selbst  richtig  ist  Das  zweite  Heft  schliefst  mit  Seite  64,  das 
dritte  mufs  nach  richtiger  Zählung  die  Seiten  65  bis  88  tmifassen,  während 
das  vierte  wiederum  richtig  mit  Seite  89  einsetzt  Um  die  richtige  Zählung 
wieder  herzustellen,  wird  gebeten,  sofort  im  dritten  Hefte  derartig  die  Seiten- 
zählung  zu  berichtigen,  dafs  die  mit  83  bezeichnete  Seite  die  Nummer  67, 
die  mit  91  bezeichnete  die  Nummer  75  u.  s.  w.  erhält 

Die  Redaktion. 

H«rMUf«b«r  Dr.  Armio  TiUo  in  Ldpdg.  —  Drock  nad  Vtriag  von  Friedrich  AndreM  Pardiat  in  Oodn. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


nur 


Forderung  der  landesgeschichtlichen  Forscbung 

IV.  Band  März/April  1903  6./;.  Heft 


Der  historische  Atlas  der  österreiehisehen 

Alpenländer 

Von 
Eduard  Richter  (Graz) 

Von  berufener  Seite  eingeladen  beim  Historikertag  in  Heidelberg 
über  den  beabsichtigten  historischen  Atlas  der  österreichischen  Alpen- 
länder zu  sprechen,  habe  ich  eine  Ausstellung  veranstaltet,  welche, 
besser  als  Worte  vermöchten,  den  versammelten  Vertretern  der  Ge- 
schichtsforschung zeigen  sollen,  wie  wir  arbeiten,  und  wie  das  Werk 
allmählich  entsteht.  Da  ich  selbst  leider  nicht  in  Heidelberg  erscheinen 
kann,  möge  das  folgende  zur  Erklärung  jener  Ausstellung  dienen. 

Vorerst  ein  paar  Worte  über  Ziel  und  Absicht  des  Atlas  *).  Es 
gibt  bis  heute  (mit  Ausnahme  des  geschichtlichen  Atlas  der  Rhein- 
provinz) kein  Kartenwerk,  welches  die  geschichtlichen  Abgrenzungen 
in  einem  so  grofsen  Mafsstabe  darstellt,  wie  die  vorhandenen  Landes- 
aufnahmen der  Kulturstaaten  erlaubten.  Es  ist  bisher  noch  niemals 
versucht  worden  mittelalterliche  Abgrenzungen,  wie  sie  uns  in  so 
vielen  Grenzbeschreibungen  erhalten  sind,  in  einem  ihrer  Ausführlich- 
keit entsprechenden  Mafsstab  wiederzugeben.  Wir  haben  daher  das 
Verhältnis  i  :  200000  gewählt.  Eine  Neuerung  ist  ferner  die  Verwen- 
dung von  Karten  mit  Terrain;  ein  Punkt,  worin  wir  auch  von  dem 
rheinischen  Atlas  abweichen.  Eine  Karte  ohne  Geländezeichnung  bleibt 
immer  etwas  rätselhaft  und  unverständlich ;  vollends  in  den  Alpenländem 
dürfte  das  Gelände  nicht  vernachlässigt  werden. 

Die  Frage,  welche  Art  historischer  Abgrenzungen  dargestellt 
werden  soll,  beantwortet  sich  für  Österreich  ganz  anders  als  für  andere 
Teile  des  alten  Deutschen  Reiches,  insbesondere  den  Westen.  Während 
das  naturgemäfse  Ziel  des  rheinischen  Atlas  nur  sein  konnte,  alle  reichs- 
unmittelbaren  Territorien  und   ihre   einzelnen  Stücke   abzubilden,   kam 


i)  Vgl.  diese  ZeiUchrift   I.  Bd.,  S.  28  und  II.  Bd.  S.  217—227    (Kapper:    Der 
Werdegang  des  hietorisehen  Atlasses  der  österreichischen  Älpenländer). 

11 


—     146     — 

für  die  österreichischen  Länder,  deren  heutige  Grenzen  der  Hauptsache 
nach  bis  ins  13.  Jahrhundert  hinaufreichen,  nur  die  innere  Gliede- 
rung in  Betracht;  also  nicht  die  Abgrenzung  einzelner  Territorien, 
sondern  der  Gerichte.  Die  Landgerichte,  die  Einheiten  der  Kriminal- 
gerichts-Verwaltung  gehen  zurück  auf  die  alten  Grafschaften  und  diese 
wieder  auf  Zcnten  der  alten  Gaue.  Wir  streben  also  hauptsächlich 
danach  die  alten  Landgerichte  darzustellen,  die  bei  uns  bis  zu  der 
Reformzeit  nach  1848  oder  doch  bis  zur  napoleonischen  Periode  be- 
standen haben.  Ihre  Schicksale,  insbesondere  was  ihre  räumliche 
Ausdehnung  betrifft,  also  Spaltungen,  Zusammenlegungen  u.  s.  w. 
sollen  soweit  als  möglich  nach  rückwärts  verfolgt  werden;  und  dafs 
man  damit  bis  ins  hohe  Mittelalter  kommen  kann,  ist  schon  durch  die 
Tat  erwiesen  worden. 

Zur  Ermittelung  der  Abgrenzungen  der  einst  bestandenen  Land- 
gerichte gibt  es  zwei  Wege.  Einmal  die  Verwendung  alter  Grenz- 
beschreibungen, wie  sie  gedruckt  in  den  Weistümem,  oder  noch 
ungedruckt  stellenweise  in  Menge  in  den  Archiven  erhalten  sind.  Eine 
ganz  gewaltige  Archivdurchstöberung,  die  noch  keineswegs  beendet 
ist,  war  daher  die  erste  Lebensregung  der  neuen  Unternehmung.  Nicht 
in  allen  Ländern  sind  die  Archivalien  in  grofsen  Archiven  koncentriert; 
in  Österreich  ob  und  unter  den  Enns  z.  B.  sind  die  für  uns  wichtigen 
Dinge  nicht  blofs  in  einem  halben  Dutzend  der  grofsen  Wiener  Archive» 
sondern  in  unzähligen  Herrschafts-,  Stadt-  und  Marktarchiven  zerstreut. 
Nur  der  Sachkundige  wird  unseren  bescheidenen  Karten  ansehen,  welche 
Aktenmassen  ihretwegen  durchgesehen  worden  sind. 

Die  Angaben  der  Grenzbeschreibungen  können  nur  auf  Karten 
grofsen  Mafsstabes  mit  Terrain  aufgefunden  werden.  Das  scheint 
ohne  weiteres  einleuchtend ;  denn  je  gröfser  der  Mafsstab  der  Karte  ist 
und  je  mehr  Einzelheiten  sie  daher  enthält,  desto  mehr  Wahscheinlich- 
keit  ist  vorhanden,  die  Gehöfte,Waldränder,  Brücken,  Bächlein,  Zaunecken» 
Kapellen  und  sonstigen  Landmarken  zu  finden,  von  welchen  die  Be- 
schreibungen berichten.  Die  Karte  gröfsten  Mafsstabs  ist  auf  unserem 
Gebiete  die  Originalaufnahme  im  Mafs  i  :  25CXX);  leider  sind  die  Blätter 
zu  teuer  und  auch  zu  wenig  deutlich,  da  sie,  von  Natur  vielfarbig,  nur 
in  photographischer  Kopie  erhältlich  sind.  Für  die  Übergriffe  nach 
Bayern  habe  ich  mich  der  bayerischen  Positionsblätter  1  :  25  000  be- 
dient, die  sehr  viele  Einzelheiten  des  Terrains  und  der  Situation,  nur 
leider  viel  zu  wenig  Namen  enthalten.  Diese  mufs  man  durch  Be- 
gehungen oder  Anfragen  ergänzen.  Im  allgemeinen  benützen  wir  die 
Spezialkarte    der    österreichisch -ungarischen    Monarchie    im   Mafsstab 


—     147     — 

i'.JS^^oo  als  eigentliche  Arbeitskarte,  Unser  Arbeitsgebiet  umfafet 
ungefähr  140  Blätter  derselben.  Da  wir  die  Blätter  um  den  Vorzugs- 
pids  von  50  Hellem  beziehen,  so  brauchen  wir  uns  nicht  zu  sorgen, 
wenn  eines  zu  gründe  gerichtet  wird. 

Wie  man  auf  den  Gedanken  kommen  konnte,  Arbeitskarten  ohne 
Gelände,  und  mit  ganz  spärlicher  Situation  für  historische  Ein- 
tragungen zu  verwenden,  wie  die  Thudichum  sehen  Grundkarten  sind, 
ist  mir  unverständlich.  Wenn  man  auch  nur  einmal  mit  ihnen  zu 
arbeiten  versucht  hätte,  so  wäre  man  gewi(s  schon  in  der  ersten 
Viertelstunde  zur  Überzeugung  gelangt,  da(s  sie  unbrauchbar  sind. 
Denn  keine  moderne  Karte,  selbst  solche  im  gröfsten  Malsstab  nicht 
ausgenommen,  enthält  auch  nur  annähernd  so  viel  Detail  als  die  alten 
Grenzrügungen  darbieten.  In  manchem  wichtigen  Falle  können  daher 
erst  Katasterblätter  Aufschlug  geben.  Was  macht  man  da  mit  einem 
90  gut  als  leeren  Blatt  Papier? 

Die  alten  Grenzen  werden  also  in  die  Spezialkarten  eingetragen; 
da  diese  ziemlich    schwarz  gehalten  sind,   mit   bunten  Farben.     Wir 

unterscheiden  nur  zwei  Grenzsignaturen:   die  der  Landgerichte , 

und  der  Burgfrieden  (Hofmarken)  

Die  zweite  Gruppe  von  Quellen  für  die  historischen  Abgrenzungen 
ist  kartographischer  Natur.  Alte  Karten  gibt  es  nicht  viele;  aus  der 
Zeit  vor  dem  XVII.  Jahrhundert  sind  nur  vereinzelte  erhalten.  Aus 
dem  XVTI.  und  XVIII.  findet  man  sie  für  solche  Gebiete  wo  es  Grenz- 
streitigkeiten gab  ziemlich  häufig;  also  iiir  das  Tirolsche  Zillertal,  für 
Berchtesgaden,  an  den  Grenzen  gegen  Venedig.  Im  Binnenlande  hat 
man  vor  Peter  Anichs  Karte  von  Tirol,  also  vor  den  letzten  Dezennien 
des  XVIII.  Jahrhunderts  nichts  für  uns  brauchbares  hergestellt.  Anichs 
Karte  enthält  die  Landgerichtsgrenzen  und  auf  sein  Beispiel  hin  wurden 
anderswo  ähnliche  Aufnahmen  versucht ;  doch  alle  Arbeiten  dieser  Art 
helfen  uns  nicht  weit. 

Viel  wichtiger  ist  für  uns  die  Frage,  ob  und  wieviel  Historisches 
in  den  durch  den  Kataster  zum  erstenmal  um  1830  auf  Karten  fest- 
gelegten Gemeindegrenzen  steckt.  (Man  hat  hier  stets  an  die 
Steuergemeinden  zu  denken,  denn  die  politischen  oder  Ortsgemeinden 
stammen  in  Osterreich  erst  aus  1849  ^^^  ^^^  immer  gleich  einer  oder 
mehreren  Steuergemeinden.)  Das  Ergebnis  ist  für  die  einzelnen 
österreichischen  Länder  sehr  verschieden.  Man  findet  z.  B.  in  Kärnthen 
dnc  vollkommene  Übereinstimmung  der  Steuergemeinden  mit  den 
alten  „Jurisdiktionen",  d.  h.  Landgerichten  und  Burgfrieden  imd  zwar 
deshalb,  weil  bei  der  Josefinischen  Steuerregulierung  (1789)  die  einzelnen 

11* 


—     148     — 

Herrschaftsgebiete,  welche  Gerichtsbarkeit  besafsen,  zu  Steuergemeinden 
gemacht  worden  sind  und  man  1828  die  josefinische  Einteilung  wieder 
aufgenommen  hat  In  Steiermark  hingegen  ist  zwischen  den  Land- 
gerichten und  den  Steuergemeinden  gar  kein  Zusammenhang; 
diese  wurden  hauptsächlich  nach  Pfarren  abgegrenzt.  In  Salzburg 
stammen  die  Steuergemeinden  aus  dem  Jahre  1828  und  wurden  dort 
ohne  jede  Anknüpfung  an  frühere  Verhältnisse  von  dem  Geometer  und 
einem  „politischen  Kommissär*'  nach  Zweckmä&igkeitsrücksichten  ab- 
gegrenzt Trotzdem  sind  sie  für  die  Landgerichtsgrenzen  wichtig,  da 
jedes  Pfleggericht  zum  Steuerbezirk  eingerichtet  wurde,  und  daher  eine 
ganze  Zahl  von  Steuergemeinden  umfafste;  alle  Pfleggerichtsgrenzen 
laufen  daher  auf  Steuergemeindegrenzen ;  man  mulis  nur  wissen,  welche 
Gemeinden  zu  dem  Gerichte  gehört  haben,  was  leicht  festzustellen  ist. 

Nur  eine  eingehende,  keineswegs  leichte  Untersuchung  gibt  also 
Antwort  auf  die  Frage,  welchen  geschichtlichen  Wert  die  „Gemar- 
kungen" haben,  wie  sie  gegenwärtig  bestehen.  Sie  von  vornherein  als 
etwas  uraltes  anzusehen  ist  für  Österreich  in  den  Grenzen  des  eben 
Ausgeführten  ganz  ungerechtfertigt. 

Es  gibt  in  Österreich  „Übersichtskarten  der  Steuergemeinden", 
die  sich  von  den  Thudichum sehen  Grundkarten  fast  gar  nicht  unter- 
scheiden, sie  sind  ebenso  leer  und  differieren  nur  wenig  im  Mafsstab 
(1:115200  anstatt  i  :  100 000).  Ich  habe  mich  daher  schon  vor 
mehreren  Jahren,  als  ich  noch  nicht  durch  die  Erfahrung  von  der  Un- 
brauchbarkeit  der  Grundkarten  überzeugt  worden  war,  gegen  die  Aus- 
dehnung des  Grundkarten-Untemehmens  auf  Österreich  ausgesprochen, 
da  wir  hier  etwas  Entsprechendes  bereits  besafsen.  Aber  wir  können 
diese  Karten  auch  dort  nur  schwer  verwenden,  wo  ihre  Abgrenzungen 
für  uns  von  gröfstem  Werte  sind,  wie  in  Kämthen.  Denn  aus  einer 
terrainlosen  Karte  eine  Linie  in  eine  Terrainkarte  zu  übertragen  ist  ein 
waghalsiges  Unternehmen.  Jede  Grenze  knüpft  an  eine  Terrainform 
an,  und  wäre  es  auch  nur  ein  Feldrain ;  die  punktierte  Linie  auf  weifsem 
leeren  Papier  sagt  mir  aber  gar  nichts  über  ihren  Zusammenhang  mit 
der  Natur,  sie  ist  ein  wesenloses  Gespenst,  das  man  nicht  fassen  kann, 
und  das  nur  beunruhigt.  Wir  ziehen  daher,  wenn  wir  Gemarkungs- 
grenzen benutzen  müssen,  immer  noch  die  überaus  schwer  leserliche 
Eintragung  in  der  Spezialkarte  von  ( ) 

Also  auch  von  diesem  Gesichtspunkte  aus  hat  sich  die  Ver- 
wendung von  Karten  nach  dem  Typus  der  Grundkarten  durchaus 
nicht  bewährt. 

Wenn  der  Mitarbeiter   die   fertigen  Spezialkarten  an   die  Zentral- 


—     149     — 

stelle  (das  geographische  Institut  der  Universität  Graz)  eingeliefert  hat, 

so  werden    die  historischen  Abgrenzungen   auf  das   Mafs   i  :  200000 

reduziert    Das  k.  u.  k..  militäi^eographische  Institut  in  Wien  liefert  der 

Unternehmung  Abdrücke  der  Generalkarte  von  Mitteleuropa  im  Ma(se 

1 :  200000  in  mattem  blaugrauem  Tone.     Man  sieht  Terrain,  Situation 

(Straisen,  Flüsse,  Städte  und  Gehöfte  u.  s.  w.)  und  Schrift  genau,  aber 

sie  erscheinen  blafe.    In  diesen  „Blaudruck"  werden  nun  zunächst  die 

Grenzlinien  übertragen,  und  zwar  aus  freier  Hand,  nicht  mittels  eines 

mechanischen  Verfahrens,  da  die  Linien  dem  Terrain  angepaist  werden 

müssen,  welches  wegen  des  kleineren  Maisstabes  etwas  anders  gehalten 

ist,  als  das  der  Spezialkarte  1:75  000,  obwohl  es  auf  ihr  beruht.    Bei 

den  ersten  Blättern  wurde  diese  Übertragung  im  militäi^eographischen 

Institute  gemacht,  jetzt  machen  wir  sie  selbst. 

Der  Blaudruck  mit  den  Grenzen  geht  wieder  hinaus  an  den 
Mitarbeiter,  und  dieser  hat  nun  die  Schrift  einzutragen.  Weitaus 
die  Mehrzahl  der  einzutragenden  Namen  steht  bereits  auf  dem  Blau- 
druck, denn  die  meisten  historischen  Namen  von  Siedelungen  Flüssen, 
Bachen,  Bergen  u.  s.  w.  sind  ja  noch  heute  im  Gebrauch.  Diese  Namen 
werden  nun  entweder  mit  dunkler  Tinte  oder  Tusche  nachgezogen, 
oder  es  wird  durch  eine  bestimmte  Art  von  Unterstreichen  angedeutet, 
dafe  dieser  Name  auch  auf  der  historischen  Karte  erscheinen  soll.  Was  von 
der  blaugedruckten  Schrift  nicht  nachgezogen  oder  unterstrichen  wird, 
bleib  t  w  eg.  Was  endlich  an  Namen  auf  der  historischen  Karte  erscheinen 
soll,  und  nicht  im  Blaudruck  steht,  wird  jetzt  eingeschrieben ;  ebenso 
die  Signaturen  für  Landgerichtssitze,  Burgfriede  und  einiges  der  Art. 

Der  Blaudruck  mit  Terrain  verbürgt  die  richtige  Anpassung  der 
Grenzlinien  an  die  Bodenformen,  Flüsse  u.  s.  w. ;  er  bietet  einen  festen 
Anhaltspunkt  für  die  Schrift,  indem  er  erspart,  das  einzuschreiben,  was 
schon  in  der  modernen  Karte  steht,  und  zugleich  den  Mitarbeitern, 
welche  keine  Kalligraphen  und  Kartographen  sind,  sondern  Geschichts- 
forscher, die  schwere  Last  abnimmt,  die  Schrift  richtig  einzupassen  und 
anzuordnen.  Überhaupt  soll  nichts,  was  fachmäfsig  und  mit  den  Mitteln 
der  Technik  gemacht  werden  kann,  durch  Ungeübte  erstümpert 
werden. 

So  kommen  die  Blätter  abermals  an  das  k.  und  k.  militärgeographische 
Institut,  und  dort  wird  die  Schriftplatte  neu  hergestellt.  Von  dieser 
(schwarzgedruckten)  Schriftplatte,  dem  (braunen)  Terrainstein  und  dem 
(blauen)  Gewässerstein  der  Generalkarte  i :  200000  wird  schliefslich  die 
Landgerichtskarte  zusammengedruckt.  Es  wird  also  nur  das  neu  her- 
gestellt, was  nicht  auf  der  Generalkarte  vorhanden   ist,   die   Grenzen 


—     152     — 

i86i,  bis  zu  seiner  Berufung'  als  Professor  an  das  Kgl.  Kadettenkorps 
in  Dresden.  Die  Lehraufgabe  letzterer  Anstalt  bietet  in  pädagogischer 
Hinsicht  manche  Eigenheiten  und  Schwierigkeiten  dar,  die  anderen 
Lehrerstellen  nicht  eigen  sind;  die  aufserordentliche  Beschränkung', 
bezw.  der  fast  völlige  Mangel  an  direkter,  selbständiger  Strafgewalt 
verlangt  von  den  Zivillehrem  besonderes  Geschick,  sich  die  Aufmerk- 
samkeit ihrer  Schüler  zu  sichern  und  ihren  Fleifs  zu  wecken.  Knothe 
besafs  diese  Gabe  und  erfreute  sich  in  hohem  Grade  der  Liebe  seiner 
Zöglinge;  zahlreiche  Offiziere  der  sächsischen  Armee  gedenken  mit 
warmer  Verehrung  ihres  Lehrers.  Diese  Stellung  brachte  in  Knothes 
sonst  in  stiller  Gleichmäfsigkeit  dahinfliefsendes  Leben  auch  die  einzige 
stärkere  Aufregung  hinein:  im  Krieg  von  1866  verliefsen  die  nicht  der 
aktiven  Armee  überwiesenen  Kadetten  mit  ihren  Lehrern  am  16.  Juni 
Dresden  und  verlebten  nach  kurzem  Aufenthalt  in  Prag  den  Sommer 
und  Herbst  in  Wien  und  Liebenau  bei  Graz;  erst  am  28.  November 
traf  man  wieder  in  Dresden  ein.  Knothe  hat  diese  Zeit  anschaulich 
in  den  Kriegserlebnissen  eines  SoldcUenschtdmeisters  aus  dem  Jahre  1866 
(in  den  Bautzener  Nachrichten  1886  Nr.  35 — 38)  geschildert  Im  Jahre 
1880  trat  er  in  den  Ruhestand,  wobei  ihm  das  Ritterkreuz  L  Klasse 
des  Kgl.  Sachs.  Verdienstordens  zu  teil  wurde;  den  gleichen  Grad  des 
Albrechtsordens  hatte  er  bereits  1874  erhalten;  an  seinem  80.  Geburts- 
tage wurde  er  durch  den  Titel  eines  Geh.  Hofrats  erfreut.  Auch  an 
wissenschaftlichen  Ehrungen  fehlte  es  ihm  nicht:  die  Oberlausitzische 
Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Görlitz,  ')  der  er  seit  dem  11.  April 
1860  (nicht  1850,  wie  N.  L.  M  61,  348  steht)  angehörte,  ernannte  ihn 
am  8.  Okt.  1879  bei  der  Jubelfeier  ihres  hundertjährigen  Bestehens  zum 
Ehrenmitgliede,  und  die  Kgl.  Sachs.  Kommission  für  Geschichte  wählte 
ihn  als  Vertreter  der  lausitzischen  Geschichte  1897  zu  ihrem  Mit- 
gliede.  *)  Die  höchste  Anerkennung  aber,  die  ihm  zu  teil  wurde,  war 
das  ihm  1882  seitens  der  sächsischen  Regierung  gemachte  Anerbieten 
der  Direktorstelle  des  Kgl.  Sachs.  Hauptstaatsarchives,  eine  Stellung, 
die  sein  schlichter  Sinn  ihn  ablehnen  liefs,  da  die  neuen  Dienst- 
geschäfte ihn  seinen  oberlausitzischen  Studien  zum  Teil  entzogen  hätten. 
Er  blieb  in  Dresden,  an  welches  persönliche  Beziehungen  und  besonders 


i)  Über  diese  eigenartige,  der  Geschichtsforschung  dienende  Organisation  vgl.  Deat- 
sehe  Geschichtsblätter  III.  Bd.,  S.   18—22. 

2)  Bezeichnend  iiir  Knothes  Gewissenhaftigkeit  ist  es,  dafs  er  sich  in  seinen  letzten 
Jahren  mit  dem  Gedanken  trug,  die  Mitgliedschaft  niederzulegen,  weil  sein  hohes  Alter 
ihn  zu  selbsttätiger  Beteiligung  an  den  Kommissionsarbeiten  nicht  mehr  kommen  liefs 
und  er  es  (Ür  unrecht  hielt,  die  Publikationen  ohne  wirkliche  Gegenleistung  zu  empfangen. 


—     168     — 

die  reichen  wissenschaftlichen  Schätze  des  Hauptstaatsarchivs  und  der 
Kgl.  Bibliothek  ihn  fesselten.  Im  Verkehr  mit  Freunden  und  Fach- 
genossen  verlebte  er  hier  noch  über  zwei  Jahrzehnte  eines  behaglichen 
Alters,  nicht  aber  der  Arbeitsruhe,  denn  auf  seinem  historischen 
Forschungsgebiet  blieb  er  bis  zuletzt  ein  fleifsiger  Arbeiter.  Ein 
Unglücksfall  (er  wiurde  am  2.  März  1898  von  einem  Wagen  überfahren 
imd  erlitt  einen  doppelten  Schenkelbruch)  trübte  seine  letzten  Jahre; 
CT  genas  zwar,  war  aber  in  seinem  Bewegungsvermögen  stark  beein- 
trächtigt Am  8.  Februar  1903  starb  er  zu  Dresden  und  wurde 
hier  am  11.  Februar  auf  dem  Annenfriedhofe  bestattet;  er  war  un ver- 
mählt geblieben. 

Schon  als  Gymnasiast  und  ebenso  als  Student  hatte  er  sich  in 
seinen  Ferien  —  veranlafst  durch  Zeitereignisse  (einen  Rechtsstreit 
Sttaus  mit  Hirschfelde  von  1835  bis  1841  über  des  letzteren  Stadt- 
gerechtigkeit) —  mit  der  Vergangenheit  seiner  Heimat  befafst  und 
zwar  die  Kirchen-  und  Schöppenbücher  ordentlich  durchgearbeitet, 
eine  Beschäftigung,  die  schon  die  ernste,  streng  wissenschaftliche 
Richtung  seiner  Arbeiten  vorahnen  liefs.  Auch  sein  Vaterhaus  selbst 
om&te  ihn  zu  geschichtlichem  Nachdenken  anregen.  Bereits  im  Anfang 
des  XIV.  Jahrhunderts  besafs  der  Johanniterorden  eine  Kommende  zu 
Hirschfelde;  noch  bis  in  die  Neuzeit  tragen  gewisse  Äcker  den  Namen 
^Komthnräcker"  und  liegen  am  „Komthurweg",  die  Vergangenheit 
lebt  also  noch  im  Munde  der  Bewohner  in  diesen  Flurbezeichnungen 
fort  Der  Sitz  des  Komthurs  war  der  Pfarrhof,  der  1555  abbrannte, 
auf  dessen  erhaltenen  Grundmauern  aber  1593  das  neue  protestantische 
P£urhaas  erbaut  wurde.  Die  2^«  Ellen  starken  Mauern  des  alten  Baues 
m<^en  die  Phantasie  und  das  Interesse  des  Jünglings  oft  beschäftigt 
haben;  der  Johanniter-Commende  zu  Hirschfelde  ist  daher  seine  erste 
Studie  gewidmet,  die  1846  im  23.  Bande  des  Neuen  Lausitzischen 
Magazins  —  im  folgenden  abgekürzt  N.  L.  M.  —  erschien.  Ein  zweiter 
Aufsatz  desselben  Jahrgangs  zeigt  uns  bereits  Knothes  Neigung  zu 
reditBgeschichtlichen  Arbeiten:  er  behandelt  d(is  älteste  Schöppenbwih 
JM  Hirsehfdde.  Der  Geschichte  seines  Geburtsortes  ist  er.  auch  femer 
treu  geblieben;  ihr  ist  seine  erste  selbständige  Schrift,  die  Geschickte 
des  Fleckens  Hirsehfdde  in  der  kgl  sächsischen  Oherlausitz  (Dresden  185 1) 
gewidmet,  und  noch  1897  lieferte  er  Ergänzungen  dazu  in  dem  Aufsatze 
Die  ältesten  Ortsherrschaften  von  Hirsehfdde  (N.  L.  M.  73). 

Der  Oberlausitz  galt  aber  auch  fast  ausnahmslos  die  ganze 
wissenschaftliche  Lebensarbeit  Knothes  und  dieses  Gebiet 
um&iste   er  in   einer  erstaunlichen  Vielseitigkeit.     Es  gibt  kaum 


—     154     — 

zeitlich  eine  Periode,  örtlich  einen  Landesteil,  sachlich  einen  Gegen- 
stand der  politischen,  Wirtschafts-  und  Kulturgeschichte  der  Oberlausitz, 
den  er  nicht  wenigstens  einmal  in  seinen  zahlreichen  Schriften  behandelt 
oder  doch  berührt  hätte. 

Es  ist  nicht  die  Aufgabe  eines  Nekrologs  in  diesen  Blättern  eine 
vollständige  Bibliographie  aller  Bücher  und  Aufsätze  Knothes  zu  geben, 
deren  Zahl  sich  auf  weit  über  loo  Nummern  beläuft.  Nicht  wenige 
davon  sind  ja  auch  nur  kleinere  Mitteilungen  von  geringem  Umfang 
und  mäfsiger  Bedeutung  oder  Zeitungsartikel  zwar  von  mehr  Gehalt, 
als  er  dieser  sekundären  Literaturgattung  meist  anhaftet,  aber  doch 
ohne  höheren  wissenschaftlichen  Wert.  Eine  stattliche  Zahl  von  Ab- 
handlungen aber  ist  von  grundlegender  und  dauernder  Geltung  und 
wird  ständig  beachtenswert  bleiben,  wenn  auch  die  Beschaffung  neuen 
Quellenmaterials  oder  vertieftere  Auffassung  künftig  Ergänzungen  und 
Berichtigungen  seiner  Resultate  ergeben  wird.  Die  Mehrzahl  seiner 
Arbeiten  enthält  das  Neue  Lausüzische  Magazin  (die  spezielleren  An- 
gaben bringt  W.  v.  Böttichers  Register  über  die  ersten  75  Bände  des 
Magazins,  s.  Band  76,  S.  118,  119,  168),  andere  K.  v.  Webers  Archiv 
für  die  Sächsische  Geschichte  (s.  Verzeichnis  im  6.  Bande  der  Neuen 
Folge),  H.  Ermischs  Neues  Archiv  für  Sächsische  Geschichte  (s.  Ver- 
zeichnis Band  12),  die  Mitteilungen  des  Nordböhmischen  Exhursianshlubs, 
Briegers  und  Dibelius'  Beiträge  eur  sächsischen  Kirchengeschichte  (i,  2, 
4,  7),  die  Bautzener  Nachrichten,  einzelne  auch  andere  Zeitschriften 
(Mitteilungen  des  Dresdner  Geschichtsvereins  9,  Ersch  und  Grubers 
Allgemeine  Encyklopädie  42,  Löhers  Archivalische  Zeitschrift  4,  Mär- 
kische Forschungen  14,  Blätter  für  Münzfreunde  1890,  Herold  1893, 
Germania  I  (1894),  Zittauer  Nachrichten  1891,  Leipziger  Zeitung  1891 
u.  a.)  ^).  Ihnen  reihen  sich  noch  zahlreiche  Rezensionen  und  Referate 
über  neue  literarische  Erscheinungen  in  verschiedenen  Zeitschriften  an. 
Nur  die  wichtigeren  Schriften  seien  hier  genannt. 

Die  relativ  gröfste  Anzahl  gilt  der  Ortsgeschichte,  bei  der 
es  ihm  vor  allem  darauf  ankam,  die  Grundlinien  der  äufseren  Geschichte, 
die  Reihenfolge  der  Besitzer  von  Orten,  Herrschaften  oder  Sonder- 
gebieten festzustellen,  so  bei  Kamenz,  Königsbrück,  Pulsnitz,  Gabel- 
Lämberg,  Hainsbach,  Hoyerswerda,  Reichenau,  Schirgiswalde,  Schönau, 
Türchau  u.  a.,  bei  anderen   erweiterte   er   diese   Studien  zu    einer   als 


i)  Die  Stellen  sind  fUr  die  letzten  lO  Jahre  aus  Jechts  jährlichen  Literatlirüber- 
sichten im  N.  L.  M.  und  fiir  die  letzten  20  Jahre  aus  Ermischs  Übersichten  im  Neuen 
Archiv  fUr  Sachs.  Geschichte,  sowie  aus  den  Jahresberichten  der  Geschichtswissenschaft 
leicht  za  ersehen. 


—     166     — 

selbstäadiges  Buch  erschienenen  Ortsgeschichte,  so  für  Hirschfelde 
(s.  oben),  ferner  in  der  Geschickte  der  Dörfer  Rohnau,  BosetUhal  und 
Sduirre  in  der  Kgl.  Sachs.  Oberlausitz  (Zittau  1857),  der  Geschichte  der 
Dörfer  Burkersdarf  und  Schlegel  (Zittau  1 862),  der  Geschichte  des  Eigen- 
sehen  Kreises  in  der  Kgl.  Sachs.  Oberlausite  (Dresden  1870,  auch  als 
Aufsatz  im  N.  L.  M.  47).  Bei  wieder  anderen  behandelte  er  einzelne 
Zeitabschnitte  oder  besondere  Elreignisse,  so  bei  Bautzen,  Görlitz,  Karlsfried, 
Kirschau,  Kosel,  Seifhennersdorf,  Seidenberg*  (Reibersdorf) ,  Weifeen- 
berg,  Wilthen,  oder  ihre  geistlichen  Verhältnisse,  so  für  Bautzen 
(Ftäpste  des  CoUegiatstiftes  S.  Petri  eu  Bautzen  1221-^1562,  im  Neuen 
Archiv  für  Sachs.  Gesch.  1 1),  die  Pfarreien  Göda  und  Grottau,  desgl  auch 
die  Nonnenklöster  Marienstern,  dem  ein  besonderes  Buch,  Urkundliche 
Gesdiichte  des  Jungfrauen- Klosters  Marienstem  ....  iis  Anfang  des 
XVI.  Jahrhunderts  (Dresden  187 1)  gewidmet  ist,  und  Marienthal,  die 
Cölestiner  des  Oybin,  die  Klöster  zu  Lauban,  Löbau  und  Kamenz,  das 
Zittauer  WeichbUd  u.  a. 

Neben»  diese  mehr  das  lokalgeschichtliche  Element  betonenden 
Studien  zur  Oberlausitzer  Kirchengeschichte  treten  dann  noch 
Aufeätze  allgemeineren  Gehalts,  so  2wr  Geschichte  der  Feier  des 
Gregariusfestes  (N.  L.  M.  39),  über  die  Meißner  Bistumsmatrikel  (N. 
L.  Bl  56),  die  geistlichen  Güter  in  der  Oherlausitz  (N.  L.  M.  66),  die 
Stellung  des  erxpriesterlichen  Stuhls  SarcM  unter  die  Präpositur  Bautzen 
(Beiträge  zur  sächsischen  Kirchengeschichte  7).  Mit  der  Pflege  der 
geistigen  Kultur  befassen  sich  Zusammenstellungen  über  die  Oher- 
hmsUzer  auf  Universitäten  während  des  Mittelalters  und  iis  1550  und 
spezieller  über  die  Oberlausitzer  auf  der  Universität  Leipzig  von 
1420 — 1550  (N.  L.  M.  7 1  und  77),  sowie  über  das  Schulwesen  auf  den 
Dörfern  des  Weichbilds  Zittau  bis  1835  (N.  L.  M.  70). 

Der  Ortsgeschichte  dient  auch  Knothes  gröfete  Quellenver- 
öffentlichung; einzelne  Urkunden  hat  er  ja  vielfach  in  Aufsätzen 
oder  Schriften  mit  beigefügt,  als  besondere  Urkundenpublikation  aber  gab 
er  das  Urkundenbuch  der  Städte  Kamenz  und  Löbau  (Leipzig  1883,  als 
Band  7  des  2.  Hauptteiles  des  Codex  diplomaiicus  Saxoniae  regiae)  heraus. 

Die  Beschäftigung  mit  der  Ortsgeschichte,  besonders  mit  den 
Bentz-  und  Herrschaftsverhältnissen  mufste  Knothe  von  selbst  hinüber- 
fihren  zur  Pflege  der  Genealogie.  Eine  Reihe  dankenswerter  Unter- 
suchungen hat  er  in  einzelnen  Abhandlungen  den  Familien  —  d.  h. 
soweit  sie  der  Oberlausitz  angehören  oder  sie  mit  berühren  —  Dohna, 
Kamenz,  Berka  von  der  Duba,  Gersdorf,  Hochberg,  Metzrad,  Schafi"  (d.  i. 
Scfaa^otsch),  Schleinitz  imd  einigen  Bürgerfamilien   gewidmet  (s.  N. 


—     156     — 

L.  M.  39,  41,  43,  44,  45,  49,  64,  69).  Eine  Verbindung  der  Adels- 
und Ortsgeschichte  bietet  Knothes  umfänglichstes  Werk,  die  Geschichte 
des  Oberlausüzer  Adels  und  seiner  Gruter  vom  XIIL  bis  gegen  Ende 
des  XVL  Jahrhunderts  (Leipzig  1879),  ein  Buch,  das  für  die  Adels- 
geschichte Sachsens,  der  Lausitzen,  Schlesiens  und  Böhmens  von 
mafsgebender  Bedeutung  ist  und  in  einer  umfassenden  Einleitung  auch 
die  rechts-,  wirtschafts-  imd  kulturgeschichtlichen  Seiten  dieser  Aul- 
gabe berücksichtigt.  Eine  Fortsetzung  für  die  folgende  Zeit  bis  1620 
brachte  unter  sonst  gleichem  Titel  ein  Aufsatz  des  N.  L.  M.  63.  In 
einer  wesentlichen  Hinsicht  liefs  allerdings  das  Werk  zu  wünschen 
übrig:  die  Heraldik,  die  in  einer  Adelsgeschichte,  besonders  der 
zusammenfassenden  Adelsgeschichte  eines  geschlossenen  Territoriums 
wegen  ihrer  Bedeutung  für  den  ursprünglichen  Zusammenhang  später 
getrennt  erscheinender  Familien  von  Wichtigkeit  und  oft  grofsem 
Nutzen  ist,  war  ganz  beiseite  gelassen.  Mit  Recht  machte  ihm  dies 
Mülverstedt  zum  Vorwurf,  mit  dem  er  über  Wappenfragen  sowie  über 
die  Nationalität  einzelner  Familien  eine  literarische  Fehde  auszufechten 
hatte  (N.  L.  M.  67,  68,  69).  Um  diesem  Mangel  abzuhelfen,  beschrieb 
Knothe  die  ältesten  Siegel  des  oherlausitzischen  Adels  (N.  L.  M.  67  mit 
Abbildungen);  doch  läfst  sich  nicht  verhehlen,  dafe  er  mit  heraldischen 
Dingen  weniger  vertraut  war. 

Der  allgemeinen  Landesgeschichte  der  Oberlausitz 
kommen  einige  Aufsätze  zur  Geschichte  des  angehenden  XV.  Jahr- 
hunderts, besonders  aber  zur  Geschichte  des  XVH.  Jahrhunderts  zu 
gute,  so  über  die  Bemühungen  der  Oberlausüs  um  einen  Majestäts- 
brief 1609—1611  (N.  L.  M.  56),  den  Anteil  der  Oberkmsite  an  den  An- 
fängen des  30jährigen  Krieges  1618—1623  (N.  L.  M.  56),  die  Oberlausüe 
während  der  Jahre  1623—1631  (N.  L.  M.  65),  ferner  über  die  verschiedenen 
Benennungen  des  jetzigen  Markgrafentums  Oberlausitz  (Webers  Archiv, 
N.  F.  i),  das  Landeswappen  der  Oberlausitz  (N.  Arch.  f.  Sachs.  Gesch.  3)  u.  a. 

Sehr  verdienstlich  sind  Knothes  Arbeiten  auf  dem  Gebiete  der 
oherlausitzischen  Rechtsgeschichte,  wo  aufser  mehreren  Auf- 
sätzen, von  denen  nur  die  über  die  Hausmarken  in  der  Oberlausitz 
(N.  L.  M.  70)  und  Ein  Görlüzer  Hofgerichtsbuch  von  1406-1423  (N. 
L.  M.  74)  erwähnt  seien,  seine  Urkundlichen  Grundlagen  zu  einer 
Rechtsgeschichte  der  Oberlausitz  von  ältester  Zeit  bis  Mitte  des 
XVL  Jahrhunderts  (N.  L.  M.  53,  auch  als  Buch  erschienen,  Görlitz 
1877)  sich  entschiedener  Anerkennung  zu  erfreuen  hatten. 

Nicht  minder  gilt  dies  von  verschiedenen  Arbeiten  wirtschafts- 
geschichtlicher Art,  unter  denen  die  auch  als  Buch  (Dresden  1885) 


—     157     — 

eiscliieneiie  über  die  Stellung  der  Chäsunterthanen  in  der  OberlausUg 
tu  ihren  Grtdsherrschaflen  van  den  äUesten  Zeiten  bis  zur  Ablösung  der 
Snsen  und  Dienste  (N.  L.  M.  6i)  die  wichtigste  ist.  Bei  dem  Mangel 
einer  ausgiebigen  Quellensammlung  besonders  für  die  ländlichen  Ort- 
schaften wäre  kaum  ein  anderer  ebenso  in  der  Lage  gewesen,  die 
Fülle  des  Stoffes  zusammenzubringen  und  zu  durchdringen,  die  hier, 
wie  auch  in  den  Grundlagen  zur  Rechtsgeschichte,  verarbeitet  ist,  als 
ein  Mann,  der  in  jahrzehntelanger  Arbeit  das  Quellenmaterial  sich  zu 
e^en  gemacht  hatte.  Für  die  Wertschätzung  dieses  Buches  sei  hin- 
gewiesen auf  das  Urteil  des  kompetentesten  deutschen  Fachmanns, 
A.  Meitzens,  in  den  Göttingischen  Gelehrten  Anzeigen  (1887,  Nr.  2, 
S.  66 — 73),  der  S.  66  schreibt:  „Für  den,  der  in  der  Oberlausitz  be- 
kannt ist,  bedarf  es  kaum  der  Erwähnung,  dafs  schlechthin  niemand 
fiir  die  Aufjg^abe  besser  ausgerüstet  gewesen  wäre,  und  dafe  sie  auf 
das  Zuverlässigste  und  Wohlbegründetste  und  zugleich  in  durchaus 
anschaulicher,  energisch  die  lebendigen  Tatsachen  zusammenfassender 
Weise  gelöst  ist.  Knothe  beherrscht  das  gesamte  vorhandene  Material 
in  einer  solchen  Weise,  dais  er  kurz  sem  kann'*  u.  s.  w.  Ergänzend 
stehen  auch  diesem  Werke  andere  Aufsätze  zur  Seite,  wie  der  über 
die  Auskaufungen  von  Bauergütem  in  der  Oberlausite  (N.  L.  M.  72)^ 
über  die  verschiedenen  Klagen  slavischer  Höriger  in  den  wettinischen 
Landen  wahrend  der  Zeit  vom  XI.  bis  zum  XIV.  Jahrhundert  (N.  Arch. 
f.  Sachs.  Cjesch.  4).  Femer  seien  von  kulturgeschichtlichen  Arbeiten 
genannt  die  Abbandlungen  Zur  Geschichte  der  Juden  in  der  Ober- 
lausiiß  während  des  Mittelalters  und  Die  Entstehung  und  Bildung 
bürgerlicher  Familiennamen  . .  .  bis  gegen  Ende  des  XIV.  Jahrhunderts 
(N.  Arch.  f.  Sachs.  Gesch.  2  und  14).  Auch  die  Handwerks- 
geschichte ging  nicht  leer  aus,  die  Geschichte  des  Tuchmacher^ 
hamdwerks  in  der  Oberlausitz  bis  Anfang  des  XVI I.  Jahrhunderts 
(N.  L.  M.  58)  ist  eine  sehr  schätzbare,  grundlegende  Studie. 

Die  ganze  reiche  Lebensarbeit  des  fleifsigen  Mannes  beschränkt 
sich  aber,  wie  des  Näheren  gezeigt  ist,  fast  ausschließlich  auf  die 
Oberlausitz.  Die  wenigen  Ausnahmen,  einige  meist  kurze  Aufsätze 
über  angrenzende  Orte  und  Gegenden  des  nordöstlichen 
Böhmens*)  sowie  der  südöstlichen  Niederlausitz*)  beruhen 
aoch  auf  gewissen  lokalen  oder   sachlichen   Beziehungen    zur  Ober- 

i)  So  aber  Pfarrei  Grottaa,  Herrschaft  Gabel  •  Lämberg ,  über  das  SchleiniUer 
Liodcben. 

i)  Über  Sorau,  Beetkow,  Storkow  im  Besitz  sächsischer  Fürsien,  in  den  Nieder- 
Isuitscr  Mitteil.  3. 


—     158     — 

lausitz,  und  auch  die  auf  meifsnische  Geschichte  bezüglichen  Aufsätze 
in  sächsischen  Zeitschriften  zeigen  stets  einen  ähnlichen  Zusammenhang  '). 

Auch  die  literarges chichtliche  Abhandlung  über  den  Barden 
Bhingidphf  den  Dichter  Karl  Friedrich  Kretschmann  (Zittauer  Gym- 
nasialprogramm 1858),  die  sachlich  mit  der  Oberlausitz  nichts  zu  tun 
hat,  ist  nur  dadurch  veranlafst,  dafs  Kretschmann  aus  Zittau  stammte, 
hier  lebte  und  starb. 

Knothe  war  also  provinzialgeschichtlicher  Spezialist  von  so  aus- 
Schliefelich  oberlausitzischer  Tendenz,  wie  das  in  anderen  Territorien 
bei  entsprechender  Vielseitigkeit  auf  allen  Teilgebieten  der  Geschichts- 
wissenschaft und  ihrer  Hilfsdisziplinen  und  bei  gleichem  Fleifse  nicht 
häufig  sich  wiederholen  wird.  Er  wufete  und  fühlte  es  auch  selbst, 
dafs  hierin  seine  Stärke,  aber  auch  seine  Schwäche  lag.  Wenn  von 
ihm,  wie  es  nicht  selten  von  minder  in  seine  Eigenart  Eingeweihten 
geschah,  eine  Auskunft  über  niederlausitzische  Dinge  erbeten  wurde, 
so  wies  er  das  entschieden  und  halb  scherzend,  halb  ernsthaft  un- 
willig über  eine  solche  in  seinen  Augen  eigentlich  ungehörige  Zu- 
mutung ab:  „Ist  Niederlausitz!  geht  mich  nichts  an!'*  Allen  seinen 
Arbeiten  ist  emsiger  Fleife,  redlichstes  Bestreben  nach  wahrer  Er- 
kenntnis und  zuverlässiger  Wiedergabe  der  gewonnenen  Ergebnisse, 
ohne  jede  der  historischen  Objektivität  widerstreitende  Nebenabsicht, 
eigen  —  vgl.  seine  Polemik  mit  Pastor  Scheuffler  über  religiöse 
Fragen,  N.  L.  M.  57,  58,  obwohl  Knothe  selbst  ein  treuer  Protestant 
war;  damit  verbinden  sich  schlichte  Klarheit  des  Ausdrucks  und 
bescheidener  Sinn,  wenn  er  auch  im  Gefühl  seiner  umfassenden  Kennt- 
nisse, seiner  Beherrschung  des  gesamten  oberlausitzischen  Geschichts- 
gebiets und  seiner  vielen ,  meist  sehr  gut  beurteilten  Arbeiten  *)  et- 
waigen Widerspruch  gelegentlich  schwer  verwinden  konnte.  Solche 
kleine  Schwächen  sind  ja  eben  leicht  den  Vorzügen  gepaart  und 
sogar  durch  sie  hervorgerufen.  Die  deutsche  Provinzialgeschichte  hat 
in  ihm  einen  ihrer  würdigsten  Vertreter  verloren,  von  dessen  Arbeiten 


i)  So  über  die  politischen  Beziehungen  zwischen  der  Oberlausitz  und  Meißen 
in  Webers  Archiv  12,  über  die  Vereinharungen  zmschen  König  Johann  von  Böhmen, 
Herzog  Heinrich  txm  Jauer  und  Bischof  Withego  von  Meißen  1319  in  Webers 
Archiv  8,  über  die  Kragensche  Fehde  im  N.  Arch.  f.  Sachs.  Gesch.  7. 

2)  Verschiedene  seiner  Abhandlangen  waren  preisgekrönte  Bearbeitungen  der  von 
der  Oberlaosiiser  GeseUschaft  der  Wissenschaften  aasgeschriebenen  Themen,  so  die  ^e- 
schichte  des  Eigenschen  Kreises  (1870),  Die  Grundlagen  zu  einer  Bechtsgesehiehte 
der  Oberlausitz  (1877),  Der  Anteil  der  Oberlausitz  an  den  Änßngen  des  30jähr%gen 
Krieges  (1880),  Die  Stellung  der  Gutsunterihanen  (1885). 


—     159     — 

gar  manche  auch  über  den  provinziellen  Interessenkreis  hinaus  bisher 
stets  Beachtung  gefunden  haben  und  sie  auch  femer  wahrlich  ver* 
dienen  *). 


t^oland  ^  l^undsohau 

Von 
G,  Seile  (Oldenburg) 

(Schlufs) «) 

Mein  Schriftchen  über  den  Roland  zu  Bremen*),  auf  welches 
ich  im  verflossenen  Jahre  hinwies,  hat  die  Historische  Gesellschaft  zu 
Bremen,  die  es  herausgegeben  hat,  nun  auch  im  XX.  Band  ihres- 
Bremischen  Jahrbuches  1902,  S.  i  ff.,  wiederholt.  Ich  verweise  be- 
sonders auf  die  darin  veröffentlichte  neue,  in  Heliogravüre  ausgeführte 
photographische  Aufnahme  des  Roland  mit  dem  Rathause  als  Hinter- 
grund. Sachlich  zu  bemerken  ist,  dafe  meine  Angabe  S.  7,  der  Bremer 
Roland  sei  sowohl  historischer  Überlieferung  als  formaler  Bildung  nach 
das  älteste  dei^  in  Norddeutschland  bekannten  Bilder,  sich  selbstver- 
Btändlicfa,  wie  auch  aus  dem  ganzen  Zusammenhange  hervorgeht,  nur  auf 
die  erhaltenen  Rolandstatuen  bezog.  Die  überhaupt  erste  urkund- 
liche Erwähnung  eines  städtischen  Roland  ist  die  des  Hamburger 
im  Jahre  1342*);  —  Femer  schreibt  mir  Herr  Professor  Dr.  O.  Schroeder, 
da(s  der  Dom  zu  Verona  nicht  dem  heUigen  Zcno  geweiht  ist  (S.  21),- 
sondern  von  der  Kirche  S.  Zeno  eine  halbe  Stunde  entfernt  liegt.  —  Bald 

i)  Als  Gnmdlageo  der  vorstehenden  Lebeosskizze  and  literarischen  Würdigung, 
dienten:  der  Nekrolog  seines  Vaters  K.  F.  Knotbe  im  N.  L.  M.  33  (1857),  448 f.; 
Bemerknngen  Knothes  selbst  in  der  Geschichte  des  Fleckens  Hirschfelde  (s.  oben), 
•ovie  andere  Angaben  in  verschiedenen  Bänden  des  N  L.  M.;  W.  Haan,  Sächsisches- 
SeknfUUOer-Lexikon  (Leipzig  1875),  S.  i66f.;  A.  Meitzen,  Die  Oberlausitz  und 
Hermann  Knothe  (in  den  Götting.  Gelehrten  Anzeigen  1887,  Nr.  2,  S.  66 f.); 
O.  Friedrich,  Album  des  Gymnasiums  tu  Zittau  (Zittau  1886),  S.  87,  183; 
B.  Poten,  Cteschichte  des  Mihtär-Erziehungs-  und  Bildungswesens  in  Sachsen 
(Berlin  1897),  S.  134;  mündliche  and  schriftliche  Mitteilangen  von  Freunden  und  Be- 
kannten Knothes,  sowie  persönliche  langjährige  Bekanntschaft. 

2)  Vgl.  oben  S.  113— 128. 

3)  I}er  Roland  mu  Bremen,  Von  Georg  SeUo.  Mit  i  Heliogravüre  und  11  Ab- 
büdnngcn  im  Text.  Heransgegeben  von  der  Historischen  GeseUschaft  des  Künstlervereins- 
»  Bremen.  Max  Nössler  1901.  69  S.  8.  Aus  der  allgemeinen  Einleitung  der  Schria 
habe  ich  anf  AniTordernng  der  Redaktion  einen  Aufsatz  über  Entstehung  und  Bedeutung: 
öer  Rolande  för  die  Gartenlaube  (1902,  no.  29)  geformt. 

4)  Von  demselben  wird  später  noch  die  Rede  sein. 


—     160     — 

nach  der  Ausgabe  meines  Büchleins  ging  die  Bremer  Bauverwaltung* 
daran,  ihren  Roland  einer  gründlichen  Reinigung  zu  unterziehen  und 
einige  völlig  verwitterte  Teile  unter  sorgfältigster  Nachbildung  des  Altea 
zu  erneuern.  Dabei  kamen  mancherlei  Reste  der  letzten  Bemalimg  zu 
Tage  und  es  konnte  mit  Hilfe  des  aufgeschlagenen  Gerüstes  festgestellt 
werden,  dafs  der  ganze  Kopf  einer  ziemlich  späten  Restauration  angehört 
(vgl.  meine  Bemerkungen  über  den  auffälligen  Schnitt  des  Profils  S.  67» 
Anm.  130)  ').  Bei  dieser  Gelegenheit  wurde  die  stilgerechte  Restauration 
der  Bekrönung  der  Statue  (welche  etwa  um  1800  in  ganz  ungeschickter 
Weise  unter  Benutzung  alter  Teile  erneuert  worden  ist)  und  die  Wieder- 
herstellung ihrer  alten  Bemalung  erwogen.  Hoffentlich  kommt  die- 
selbe bis  zum  500jährigen  Jubiläum  der  Statue  im  Jahre  1904  zur 
Ausführung.  Gewisse  Kreise  der  Bremer  Bevölkerung  finden  daran 
vorläufig  kein  Gefallen;  ein  „eingesandtes"  Gedicht  (Bremer  Nachrichten 
1901,  Nr.  353)  läfst  den  Roland  bitten: 

Man  een  Ding  doht  mi  nich  to  leed, 
Smeert  mi  nich  an  med  Klör! 
De  unnerliggt  de  „Mode"  so, 
Ick  bin  dor  gor  nich  för; 
Eikeen  hat  sin'  Gesmack  fÖr  sick. 
Ick  bin  man  'n  groven  Mann: 
Treckt  mi  biet  keen  karreerde  Büx 
Un  keen  Busruntje  an! 

Wie  der  Bremer  Roland  in  der  französischen  Zeit  zu  einem  Hei- 
ligen umgestempelt  wurde,  so  hat  er  schon  viel  früher  zu  einem  Hei- 
ligen Modell  gestanden.  Im  Jahre  1448  gofs  Gerd  Klinge  eine  Glocke 
für  die  Stiftskirche  S.  Alexandri  im  uralten  oldenburgischen  Widukinds- 
städtchen  Wildes  hausen.  Auf  dieser  Glocke  sollte  der  Stiftsheilige 
dargestellt  werden;  da  dem  Künstler  für  die  Erscheinung  des  bescheidenen 
Märtyrerknaben  jeder  Anhalt  fehlte,  machte  er  naiv  genug  aus  dem 
Träger  eines  so  heroischen  Namens  einen  Krieger,  den  er  seinem 
heimischen  Rolande  nachbildete,  nur  mit  dem  Unterschiede,  dafe  er 
die  Spitze  des  Schwertes  gegen  den  Boden  kehrte.  Damit  schuf 
er  ein  Bild,  welches  dem  Hamburger  Bismarck-Roland  bemerkenswert 
ähnelt.  Dafs,  abgesehen  von  dieser  ihnen  übrigens  verborgenen  Roland- 
vetterschaft des  heiligen  Alexander,  die  Herausgeber  der  Bau-  und 
Kunstdenkmäler  des  Herzogtums  Oldenburg  in  Wildeshausen  auf  Grund 
einer  „sagenhaften"  Irmensul-Erinnerung  einen   „mittelalterlichen  Ro- 


i)  Nach  geföUigen  Mitteilnngen  des  Herrn  SUdtbaarat  Weber,  welche  dorch  Zeich- 
Dangen  und  pbotographische  Detailaufnahroen  erläutert  waren. 


—     161     — 

hnd"  gesucht  haben  (1896),  ist  bereits  im  Jahre  1901  (S.  41)  von 
mir,  unter  Nachweis  der  ganz  unsinnigen  Entstehungsursache  dieser 
angeblichen  SaLge^  mi^eteilt  worden.  Der  sich  nicht  nennende  Heraus- 
geber der  letzten  Auflage  der  „  Oldenbtirger  Spaziergänge  und  Aus- 
fioge*'  (Oldenburg  19CX)),  welcher  mit  einem  Mitgliede  der  Denkmäler- 
Inventarisationskommission  identisch  sein  dürfte,  hat  nun  zwar  den 
Roland  wieder  gestrichen,  von  der  Irmensul  sich  aber  nicht  zu  trennen 
vennocht  Sie  soll  gestanden  haben,  wo  der  Bnmnen  vor  dem  Rat- 
hause  sich  befindet,  und  vom  Christ  gewordenen  Widukind  zerstört  sein  ^). 

Der  oben  (S.  159,  Anm.  3)  erwähnte  Aufisatz  in  „der  Garten- 
laobe''  hat  mir  eine  Reihe  amüsanter  Reklamationen  über  von  mir 
, vergessene"  oder  mir  „imbekannte"  Rolande  eingetragen,  welche 
wiederum  das  zu  beweisen  scheinen,  was  ich  eingangs  die  „versonnene" 
Liebe  der  Norddeutschen  zu  ihrem  Rolandmotiv  nannte.  So  bricht 
2.  B.  ein  Perleberger  eine  ritterliche  Lanze  iiir  den  Roland  seiner 
Heimatstadt,  welcher  „einer  der  ältesten  und  besterhaltenen"  sei;  er 
hatte  offenbar  die  Jahreszahl  1546  am  Stützpfeiler  der  Statue  und  das 
Kostüm  übersehen;  wie  der  Perleberger  Roland  1871  seine  Nase 
verlor  und  für  53  Thlr.  23  Sgr.  wieder  erhielt,  hat  GeorgBufs  in  der 
Zeitschrift  „Zur  guten  Stunde"  (1892,  S.  207)  ganz  lustig  erzählt  Aus 
Bdgem  kamen  gleich  fiinf  Postkarten  mit  Ansicht,  auf  deren  einer 
CS  vorwurfisvoll  hiefs,  der  dortige  Roland  sei  doch  einer  der  gröfsten, 
während  ein  Anderer  nur  meinte,  derselbe  sei  doch  „gewifs  hübsch". 

Corbach  in  Waldeck  war  mir  schon  vor  längeren  Jahren  als 
Rolandort  genannt  worden ;  mein  inzwischen  verstorbener  sphragistischer 
Gewährsmann  hatte  mich  aber  auf  eine  ganz  falsche  Fährte  gebracht. 
Nun  hat  mich  Herr  Professor  A.  Leifs  in  Wiesbaden  auf  das  liebens- 
würdigste und  ausführlichste  schriftlich  orientiert  und  in  den  Ge- 
schichtsblättem  für  Waldeck  und  Pyrmont  (II,  1902,  S.  iii  ff.)  selbst 
ein  Referat  gegeben.  Am  Südportal  der  Pfarrkirche  St.  Küian 
(früher  auf  der  Spitze  des  Giebels,  jetzt  in  einer  Nische  des  östlich 
flankierenden  Strebepfeilers)  befindet  sich  (nach  mir  vorliegender  Photo- 
graphie) die  mittelgrofse  Figur  eines  Kriegers  mit  Plattenharnisch 
und  Helm,   mit   der  Linken    sich   auf  einen   Schild   stützend,  in   der 

i)  Anhäoger  der  RoUnd-Irmensol-Tbeorie  mache  ich  darauf  aufmerksam,  dafs  bei  dem 
mtgmts  lopis  in  foro  Wildeshusensi  Kaufverträge  abgeschlossen  wurden  (Urkunde  yom 
28.  April  1281,  H.  Sudendorf,  Beiträge  z.  Gesch.  d.  Stifts  Wildeshausen,  in  Ztschr.  f. 
▼itcrläod.  Gesch.  o.  Altertumskunde,  herausgeg.  von  Erhard  und  Gehrken.  VL  Münster 
1S43,  S.  269;  dgL  Yom  22.  Mai  1310,  ungedr.,  Oldenburg.  Arch.).  Es  dürfte  leicht 
icia,  daraus  and  aus  der  2^ichnung  bei  Balth.  Voigtländer  (vgl.  DGBl.  II,  41,  Anm.  t) 
«ioea  regelrechten  Irmin-Roland-Kultus  zu  konstruieren.  - 

12 


—     162     — 

Rechten  anscheinend  eine  Fahne  haltend.  Ältere  Leute  bezeichnen 
dieselbe  als  ^ Roland'^.  M.  Stephanus  Ritter,  Rektor  des  Corbacher 
Gymnasiums,  sagt  darüber  in  seiner  Cosmographia  prosometrica  (Mar- 
burg* 1619,  S.  524):  templum  s.  Kiliant  in  urbe  veteri,  portatn  ob^ 
iinens,  qnae  forum  resptci't,  sculptiltbus  eleganter  exornatam,  tnter 
quae  etiam  est  statua  Rolandt,  istum  in  locum  e/oro  trans- 
lata.  Auf  diesen  ^.Roland"  als  Freiheitswahrzeichen  berief  sich  die 
Stadt  Corbach  in  einer  beim  Reichskammergericht  gegen  den  Grafen 
anhängig  gemachten  Klage  wegen  Eintreibung  neuer,  ungebräuchlicher 
und  unverbindlicher  Abgaben,  wogegen  der  gräfliche  Kanzler  Zacharias 
Vietor  am  16.  Juni  1620  in  der  Klagebeantwortung  erwiderte,  dals  die 
Bürgerschaft  dessen  nit  ein  einzigen  Schein  oder  Buchstaben  jetnat 
vorzeigen  können;  nur  was  cUte  Weiber  von  einem  unsichtbaren 
und  in  Ewigkeit  unerfindlichen  Roland  etwa  geträumet  haben, 
läßt  man  sie  gut  darvor  sein  *).  Auf  den  lebhaften  Wortstreit  der 
älteren  Lokalbistoriker :  ob  Roland?  ob  nicht?  ist  es  unnötig  einzu- 
gehen, da  in  demselben  sachlich  nichts  Neues  beigebracht  wird.  Die 
Figur,  einem  St.  Moritz  gleichend,  mag  ursprünglich  als  Brunnenfigur 
auf  dem  Marktplatz  gestanden  haben. 

Einen  ebensolchen  ehemals  als  Brunnenfigur  dienenden,  jetzt  am 
grofeherzoglichen  Schlosse  eingemauerten  „Roland'^  wUl,  wie  er  mir 
im  Frühjahr  1902  mündlich  mitzuteilen  die  Freundlichkeit  hatte,  Herr 
Professor  Haupt  in  Eutin  gefunden  haben. 

Den  von  Götze  erwähnten  Roland  in  Königsberg,  Ostpreulsen, 
hat,  wie  mir  Herr  Professor  Dr.  H.  Ehrenberg  nachzuweisen  die  Liebens- 
würdigkeit gehabt  bat,  Steffenhagen  entdeckt  (Königsberger  Hartungsche 
Zeitung  1863,  BeUage  zu  Nr.  143.  146;  Altpreufe.  Monatsschrift  1864^ 
S.  155 — 158),  irre  geleitet  durch  eine  Notiz  in  „Erläutertes  Preufeen" 
II,  Stück  19,  1724,  S.  499  (auch  in  Caspars  Steins  Beschreibung  der 
Stadt  Königsberg,  XVII.  Jahrhundert,  in  deutscher  Übersetzung  bei 
A.  Bötticher,  Die  Bau-  und  Kunstdenkmäler  der  Provinz  Ostpreu&en» 
VII,  Königsberg  1897,  S.  216):  „an  denen  Wänden  (des  alten  Junker- 
hofes in  Königsberg)  stehen  einige  Statuen,  als  z.  E.  des  Arturi  Königs 
von  Engeland,  des  grofsen  Rolands  im  Harnisch  und  blolsem  Schwert 
mit  einem  Mantel,  Caroli  Magni,  Herculis  . . .,  Sebastiani".  Das  Ge- 
bäude ist  längst  abgebrochen;  es  wurde  samt  den  Statuen  an  die 
Pinnauer  Fabrik  für  Mehl,  Graupe  etc.  verkauft.  Die  Bildsäulen  gingen 
auf  dem  Transport   entzwei;   die   des  Roland   wurde  von  den  Fabrik- 

I)  Gräffliche  Waldeckische  Ehreorettnng,  Frankfart  a.  M.   1624.     Beilage  Nr.  XXDC» 

s.  343. 


—     163     — 

arbeitem  allmählich  zu  Schleifstemen  verbraucht.  Es  liegt  auf  der 
Hand,  dafs  es  sich  hier  um  eine  reine  Dekorativfigur  handelte,  welche 
für  unsere  Frage  gar  nicht  in  Betracht  kommt. 

Den  reitenden  Roland  zuNeuhaldensleben  hat  Lonitz  im  Anhange 
zu  seiner  schon  besprochenen  Studie  Die  Rolandsäulen  (s.  oben 
S.  1 19 — 120)  behandelt.  Er  ist  ihm  einer  der  ältesten,  vielleicht  der  älteste 
aller  Rolande  auf  sächsischem  Gebiet ;  denn  er  hat  die  ursprüngliche 
Bezeichnung  „Himmelskönig"  oder  „König"  getragen.  Der  Beweis 
dafür,  bei  welchem  des  Verfassers  frühere  Ausführungen  Voraussetzung 
sind,  ist  überwält^end.  Er  geht  aus  von  der  bei  Neuhaldensleben 
gelegenen  Anhöhe  „Kinnikenberg",  im  Jahre  172 1  „Königesberg". 
Im  Ohretale  bei  Haldesleve  war  jedenfalls  schon  seit  uralten  Zeiten 
eine  Malstätte,  erst  der  Langobarden,  dann  der  Wenden,  dann  der 
Mischbevölkerung  von  Sachsen,  Franken  und  Wenden.  Hier,  am 
Schlüsselpunkt  zum  Wendenlande,  war  der  Ort,  wo  die  Kirche  zuerst 
den  Weg  des  Kompromisses  einzuschlagen  sich  genötigt  sah.  „Hier, 
entfernt  von  der  alten  heidnischen  Malstatt,  welche  von  den  katho- 
lischen Priestern  nun  „Teufelsküche"  genannt  wurde,  wurde  der  erste 
hölzerne  Himmelskönig  errichtet.  Es  ist  nicht  unmöglich,  dafs  säch- 
sischer Einfluis  auch  Wuotans  Pferd  Sleipner  Recht  verschaffte,  und 
daher  dieser  erste  Himmelskönig  zu  Pferde  steigen  mulste,  was  später 
nicht  mehr  (als  zu  entlegen  dem  Christusbegriff)  gestattet  worden  ist." 
Ringsherum  lag  der  Hagen  für  den  Volks-  und  Marktverkehr,  mit  der 
Hauptquelle  für  das  Volk,  dem  „Quickbom",  einer  zweiten  Quelle, 
und  dem  Aufenthaltsort  der  Priester,  dem  „Papenberg**.  Nachdem 
die  Stadt  1224  das  Magdeburger  Recht  erhalten  hatte,  „wurde  der 
König  vom  Königesberg  im  Jubel  eingeholt  und  auf  dem  Marktplatz, 
das  Antlitz  nach  Morgen,  aufgerichtet  Damit  hörte  wohl  auch  die 
Bezeichnung  , König*  auf  und  der  , Roland*  wurde  modern". 

Bei  diesem  Phantasiereichtum  ist  es  begreiflich,  dafs  dem  Ver- 
fasser das  Jahr  der  Errichtung  der  jetzigen  Statue,  1528  *),  ganz  un- 
bekannt ist  2^it  wäre  es,  dafs  die  Ortshistoriker  endlich  die  Richtig- 
keit der  Notiz  von  Behrends,  dais  der  Neuhaldensleber  Roland  1419 
in  einem  „alten  Ratsbuche"  erwähnt  werde,  feststellten  *). 

Über  den  Nordhausener  Roland  hatte,  wie  ich  1900  (S.  45) 
berichtet  habe,  Karl  Meyer-Nordhausen  im  Feuilleton  der  Nordhäuser 

i)  G.  Torquatos,  Anoal.  Magdeb.  et  Halberstad.,  1574,  bei  Boysen,  Monum, 
ined,  red,  Gtrm,^  praecipue  Magdeburguarum  ei  Halber stadensium  I  (1761),  S.  165. 

2)  VgL  dazu  meinen  Aufsatz  im  Montagsbl.  der  Magdeb.  Zeitung  1890,  unter  Neu- 
htldensleben. 

12* 


—     164     — 

Zeitung  vom  30.  August  1899  *)  einen  Aufsatz  geschrieben,  in  dem  es 
ihm  gelungen,  dessen  urkundliche  Existenz  bis  in  das  Jahr  141t  hinauf- 
zurücken.  Dieser  Aufsatz  ist  danach  in  die  Zeitschrift  des  Harzvereins 
Rir  Geschichte  und  Altertumskunde  •)  übernommen  worden,  mit  einigen 
redaktionellen  Änderungen  und  mit  zwei  Zusätzen,  welche  hier  zu  er- 
wähnen sind.  Meyer,  der,  wie  vorausgeschickt  werden  mufs,  zu  Ein- 
gang seines  Aufsatzes  das  in  Platens  Osterprogramm  1899')  zusammen- 
getragene Beweismaterial  als  bei  weitaus  den  meisten  Rolandsorten 
genügend  erklärt,  um  der  Annahme  einstiger  Donarsverehrung  an  ihnen 
einen  hohen  Grad  von  Wahrscheinlichkeit  zu  verleihen,  hatte  in  dem 
Nordhäuser  Domlehns-  und  Zinsbuche  von  1322  für  ein  Gehöft  in  der 
Nähe  des  alten  Kaufhauses  (und  Rathauses)  die  Bezeichnung  curia 
contra  truncum  gefunden.  Diesen  „truncus"  oder  Baumstumpf  (Holz- 
säule) hielt  er  für  die  älteste  Rolandssäule  der  Stadt  Nordhausen,  <Ue 
damals  noch  nicht  die  Gestalt  eines  Königs  hatte.  Eine  bedeutsame 
Holzsäule  müsse  sie  gewesen  sein,  sonst  hätte  man  nicht  die  Lage 
eines  Hofes  nach  ihr  bezeichnet.  „Ist  meine  Annahme  richtig,  so 
fuhr  er  fort,  und  ich  glaube  das,  so  ist  die  Existenz  einer  Rolandssäule 
in  Nordhausen  im  Jahre  1322  urkundlich  bezeugt."  Diese  „Sachlage 
und  Vermutung"  teilte  er  an  R.  Platen  mit,  und  dessen  Antwort  vom 
9.  September  ist  nun  dem  Abdruck  des  Feuilletons  in  der  Harzvereins- 
Zeitschrift  eingefügt.  Darin  heifst  es:  „Die  von  Ihnen  aufgefundene 
Nachricht  über  den  , truncus*  im  Jahre  1322,  den  ich  wie  Sie  mit 
vollster  Überzeugung*)  auf  den  Vorgänger  des  Rolandes  be- 
ziehe, ist  meines  Erachtens  von  weittragendster  Bedeutung  für  die 
ganze  Rolandsfrage"  ...  „Es  ist  nunmehr  ein  Punkt  von  wunder- 
barer Festigkeit  gewonnen.  Da  1322  noch  nicht  die  Bezeichnung 
, Roland'  an  dem  Bilde  haftet,  so  läfst  sich  meines  Erachtens  der 
Übergang  des  Namens  Roland  auf  die  alten  Zeichen  mit 
ziemlicher  Bestimmtheit  in  die  Zeit  zwischen  1322  und  1341,  Er- 
wähnung des  Halleschen  Rolands,  verlegen.  Weiter  aber  und  vor 
allem  scheint  mh:  die  ältere  Bezeichnung  , truncus*  von  höchster  Be- 
deutung" —  es  folgt  nun  der  „truncus"  =  Irminsul  des  Rudolf  von  Fulda. 

i)  Das  von  mir  dort  angegebene  Jahr  1900  ist  ein  Schreibfehler.  ^ 

2)  XXXn.  Jahrg.  1899,  Wernigerode  1899,  S.  625     631. 

3)  Von  dieser  Arbeit  liegt  bisher  immer  noch  der  erste  Teil  aUein  gednickt  tof, 
aber  demnächst  wird  das  Ganze  —  der  erste  Teil  nochmals  mit  —  veröffentlicht  werden 
unter  dem  Titel:  Der  Ursprung  der  Rolande  von  Paul  Platen,  aus  Anlass  der  deut- 
schen Städteausstellung  tu  Dresden  igoj  veröffentlicht  vom  Vereine  für  Geschichte 
Dresdens. 

4)  Diese  nnd  die  folgenden  Sperrungen  sind  von  mir  vorgeschrieben. 


—     165     — 

„Ich  messe  der  von  Ihnen  au^efiindenen  Nachricht  gro&e  Bedeutung 
iur  die  Rolandsfrage  bei."  Dals  dieser  Punkt  von  wunderbarer  Festig- 
keit bei  richtiger  Übersetzung  des  in  mittelalterlichen  Quellen  un- 
gezählte Male  vorkommenden  truncus  zerrinnt,  braucht  hier  nicht 
wiederholt  zu  werden.  Platen  insbesondere  hätte  sich  übrigens  bei 
dem  von  ihm  so  liebevoll  in  Schutz  genommenen,  von  anderen  „so 
hart  beurteilten"  Zöpfl  vorher  Rats  erholen  sollen  (Altertümer  des 
deotschen  Reichs  und  Rechts  I,  S.  54  S  13  yJ^Qi  Stock.  Diebstock", 
vgl.  S.  60).  So  recht  hat  freilich  auch  dieser  die  Sache  nicht  be- 
griffen, denn  er  versteht  darunter  ein  „Gefängnis";  das  ist  aber  immer 
noch  erträglicher  als  die  Meyer -Platensche  Übersetzung  Irmensul- 
Roland. 

Im  Jahre  1708  hatte  Melissantes  den  Nordhäuser  Roland  gehamischt 
und  im  Helm  beschrieben,  Berckenmeyer  1709  aber  mit  der  Krone 
auf  dem  Haupte.  Hierauf  bezieht  sich  der  zweite  Zusatz  Meyers.  Die 
Unrichtigkeit  der  ersteren  Angabe  will  er  durch  ein  einheimisches 
Zeugnis  nachweisen.  Der  Nordhäuser  Chronist  Kindervater  teile  in 
seiner  171 5  erschienenen  Nordhusa  ülustrü  ein  „weit  über  hundert 
Jahre  altes  Gedicht"  mit,  nach  welchem  der  Roland  Krone  und 
Schwert  trug.  Dazu  mag  bemerkt  werden,  dafs  die  Datierung  von 
Kindervaters  Quelle  zu  unbestimmt  und  unsicher  ist,  um  mit  ihrer 
Hilfe  präzise  Kritik  zu  üben,  und  dafis,  wenn  man  genauer  zusieht, 
die  von  Melissantes  gegebene,  1708  gedruckte  Beschreibung  sehr 
wohl  auf  dem  Befund  einer  früheren  Besichtigung  beruhen  kann. 
Bis  auf  weiteres  liegt  also  kein  hinreichender  Grund  vor,  die  sach- 
liche Richtigkeit  der  Melissantesschen  Angabe  in  Zweifel  zu  ziehen; 
ihre  chronologische  Zuverlässigkeit  erscheint  auch  sonst  fraglich  *), 

Wir  wenden  uns  nun  den  böhmischen  Rolanden  zu.  Infolge 
meines  vorjährigen  Berichts,  in  welchem  (S.  34)  Aufklärung  über  die 
Prager  Brunswicksäule  erbeten  wurde,  sind  an  die  Redaktion  ver- 
schiedene Beschwerden  von  Nordböhmen  darüber  ergangen,  dafs  die 
ans  deutschem  Samen  geborenen  Rolande  ihrer  Heimat  in  der  Roland- 
torschung  des  Stammlandes  nicht  die  genügende  Berücksichtigung  ge- 
funden hätten.  In  ihrer  Allgemeinheit  ist  diese  Behauptung  nicht  ganz 
richtig.  Was  über  die  Rolande  zu  Prag,  Leitmeritz,  Komotau,  Aman 
bei  Zöpfl,  Götze,  Müller  und  Mothes  (Archäologisches  Wörterbuch), 
R.Schroeder  und  in  meiner  Abhandlung  von  1890  mitgeteilt  war,  ge- 
Qugte  durchaus,  um  zu  erkennen,  dafs  die  fraglichen  Bildwerke  schwer- 


I)  In  meioem  Roland  zu  Bremen  S.  1 7  ist  dem  nicht  genügend  Rechnung  getragen. 


—     166     — 

lieh  in  irgendeiner  Weise  für  die  Lösung  der  Rolandfrage  bedeutsam 
seien.  Freilich  fehlte  der  Roland  zu  Eger  darunter,  der  einzige,  welcher 
im  XVI.  Jahrhundert  einmal  gelegentlich  diesen  Namen  führt ;  es  wird 
sich  aber  zeigen,  dafs  auch  er  nicht  bedeutungsvoller  ist. 

Seit  in  Deutschland  die  Rolandfrage  in  Flufs  gekommen,  haben, 
soweit  ich  zu  sehen  vermag,  die  Deutsch  -  Böhmen  sich  darüber  nie 
mit  unserer  Wissenschaft  ins  Vernehmen  gesetzt;  meinem  durch  jene 
Reklamationen  angeregten  Wunsche,  die  deutsch  -  böhmische  Roland- 
literatur  gründlicher  kennen  zu  lernen,  sind  von  kollegialer  und  von 
buchhändlerischer  Seite  ganz  unerwartete  Schwierigkeiten  bereitet 
worden ;  nur  der  glücklichen  Hand  des  Herrn  Dr.  Armin  TUle  ist  es 
gelungen,  durch  die  grofee  Gefälligkeit  des  Herrn  Ankert  in  Leitmeritz 
eine  Reihe  recht  willkommener  Nachrichten  zu  erhalten. 

Danach  hat,  einem  kurzen  Referat  in  den  Mitteilungen  des  Nord- 
böhmischen Exkursionsklubs  (IV,  127)  zufolge,  Oberlehrer  Grunert  in 
der  Generalversammlung  des  Konoyeser  Lokalklubs  einen  Vortrag  über 
die  Rolandsäulen,  die  uralten  Zeichen  des  einstigen  Magdeburger 
Rechtes,  gehalten.  Die  Richtung  der  dortigen  Lokalforschung  liegt 
hierin  programmatisch  ausgedrückt.  Sehen  wir,  wie  es  um  die  monu- 
mentalen Stützen  derselben  im  einzelnen  bestellt  ist. 

Als  böhmische  Rolande  werden,  von  Westen  nach  Osten  fort- 
schreitend, links  der  Elbe,  am  Südrande  des  Erzgebirges,  im  Gebiet 
der  Eger,  genannt  Eger,  Saatz,  Komotau;  an  der  Mündung  der 
Eger  in  die  Elbe,  im  „böhmischen  Paradies",  Leitmeritz;  rechts 
der  Elbe,  am  Fufse  des  Riesengebirges,  Arn  au;  südlich  von  dieser 
leicht  nach  Norden  geschwungenen  Linie  Prag.  Saatz  und  Komotau 
dürfen  von  vornherein  ausscheiden.  Erstere  Stadt  betreffend  hat  der 
verstorbene  Leitmeritzer  Stadtarchivar  Professor  Dr.  W.  Katzerowsky 
in  einer  handschriftlichen  Notiz  lediglich  die  Frage  aufgeworfen,  ob 
die  dortige  Brunnensäule  in  der  Nähe  des  Rathauses  nicht  als  Ge- 
richtssäule anzusehen  sei,  die  zur  Erinnerung  an  die  der  Stadt  von 
König  Ottokar  1266  verliehene  freie  Gerichtsbarkeit  errichtet  wurde; 
ein  Roland  in  Komotau  wird  kurz  in  der  Leipziger  Ulustrierten  Zeitung 
(1902,  Juli  23.  Briefwechsel  mit  Allen  für  Alle)  erwähnt;  Herr  Ankert 
weifs  nur  anzugeben,  dafs  dort  noch  heute  eine  Anhöhe  „Roland- 
höhe"  heifse.  Für  Eger  liegt  eine  recht  fleifeige  Arbeit  von  J.Trötscher 
vor  [Das  Brunnenstandbild  auf  dem  oberen  Marktplatze,  mit  zwei 
Abbildungen,  Egerer  Jahrbuch,  Kalender  für  das  Egerland  und  seine 
Freunde,  XXIV.  Jahrgang  1894).  Nach  dem  städtischen  Ausgabebuche 
zum  Jahre  1528   und   der  Krieglsteinischen  Chronik  zum  Jahre  1529 


—     167     — 

fert^e  Mathes  Maler  auf  dem  Röhrkasten  des  Marktbrunnens  einen 
,,hölzemen  Mann**,  der,  weil  er  am  Martini-Abend  aufgestellt  wurde  und 
dem  alten  Barth  Tischer  (Tischler)  ähnelte,  den  Spitznamen  „Marti 
Barth  Tischer**  erhielt.  Am  4.  August  1581  erbot  sich  der  Bildhauer 
Wolf  Hampf  (Henf,  aus  Helberg) ,  für  den  steinernen  Röhrkasten  ein 
gewapneUs  streitpares  mannsbüd  zu  fertigen,  der  ganzen  gemeinen 
Stadt  zur  ehr,  ihm  selbst  zum  rühm.  Laut  Ratsprotokoll  vom  14.  Sep- 
tember 1584  erhielt  der  Künstler  für  Anfertigung  des  steinernen  Ro- 
land vom  Röhrkasten  ein  Geschenk;  nach  einer  Notiz  des  Gerichts- 
herm  Andr.  Baier  (Gradl ,  Chroniken  der  Stadt  Eger ,  S.  900)  wurde 
der  von  Meister  Wolf  gemachte  steinerne  mann  am  29.  Juli  1591  auf 
den  steinernen  Röhrkasten  gesetzt.  Die  1,84  Meter  hohe  Figur  zeigt 
einen  Gehamischten  in  der  Rüstung  des  ausgehenden  XVI.  Jahrhunderts, 
barhäuptig,  mit  Vollbart,  in  der  Rechten  eine  Lanze  (an  der  eine  Fahne 
befestigt  gewesen)  haltend,  mit  der  Linken  sich  auf  den  Wappenschild 
der  Stadt  Eger  stützend,  dessen  Ende  auf  einem  Löwen  ruht.  Neben 
den  rechten  Fufe  ist  die  0,47  Meter  hohe  Figur  Davids  mit  dem 
Haupt  des  Goliath  angebracht.  Am  Sockel  befindet  sich  die  Jahres- 
zahl der  Errichtung  der  ersten  hölzernen  Figur,  1528.  Im  Volksmunde 
hei&t  das  Standbild  der  Brunnen-Wastl.  Trötscher  kommt  selbst 
zu  dem  Resultat,  dafs  dasselbe  mit  dem  herkömmlichen  Typus  der 
Rolande  (welche  „Wahrzeichen  der  städtischen  Gerichts-  und  Märkt- 
freiheit sind ")  nichts  gemein  hat,  insbesondere  erscheint  ihm  statt  des 
blanken  Schwertes  der  Spiefs  mit  Banner  auffallig.  Er  meint  indessen : 
„was  sonst  das  Schwert  anzeigt,  nämlich  die  Gerichtsbarkeit  über  Leben 
und  Tod  oder  den  Blutbann,  das  deutet  die  gleichsam  zum  Ersatz  an- 
gebrachte kleine  Figur  mit  dem  Schwert  in  der  einen  tmd  dem  ab- 
geschlagenen Haupte  in  der  anderen  Hand  an.  Wir  haben  also  in 
dem  bewaffneten  aufrecht  stehenden  Manne  mit  unbedecktem  Haupte, 
mit  Hambch  und  Beinschienen,  immerhin  eine  Art  Roland,  der 
zugleich  Wappenhalter  ist,  vor  uns.  Es  ist  eine  eigenartige 
Gestaltung  der  Rolandsäule ,  die  ein  Egerer  Meister  des  XVL  Jahr- 
hunderts seiner  Zeit  angepafst  hat."  Dafs  für  die  Geschichte  der 
stadtischen  Rolande  diese  Brunnenfigur  mit  dem  Davidfigürchen ,  ob- 
wohl der  Rat  sie  einmal  im  XVL  Jahrhundert  per  analogiam  Roland 
nemit,  belanglos  ist,  bedarf  keiner  weiteren  Ausführung. 

Über  den  Roland  zu  Leitmeritz  befindet  sich  ein  Aufsatz  mit 
Abbildung  in  dem  „Jahrbuch  Comoto via"  (Komotau  1877,  S.  108 — iio), 
der  mir  nicht  erreichbar  gewesen  ist.  Herr  Ankert  beschreibt  das 
Bildwerk  wie  folgt:  „Am  nördlichen  Strebepfeiler  des  Rathauses,  am 


—     168     — 

Ringplatze,  steht  der  Leitmeritzer  Roland.  Es  ist  dies  ein  kleiner,  in 
einen  Kettenpanzer  gekleideter,  also  geharnischter  Mann  (aus  Stein) 
mit  einer  Kettenhaube.  In  dieser  knapp  anliegenden  Tracht  sieht  er 
fast  nackt  aus.  Die  Linke  stützt  sich  auf  einen  (neueren)  Schild,  welcher 
als  Wappenbild  eine  Geldbörse  zeigt.  Die  Rechte  trägt  eine  Steinkeule 
(bis  1854  eine  hölzerne).  Die  Figur  steht  auf  einem  hohen,  im  Re- 
naissancestil erbauten  Postament,  welches  Medaillons  (Männer  und  ge* 
flügelte  Engelsköpfe)  und  das  Leitmeritzer  Stadtwappen  trägt.  Der 
Sockel  wurde  laut  Inschrift  1539  erbaut.*'  Lippert  [Geschichte  der 
Stadt  Leitmeritz,  Prag  1871,  S.  32)  hält  diesen  „Roland'',  welcher 
mindestens  so  alt  sei  als  die  südliche  gothische  Hälfte  des  Rathauses, 
für  ein  Zeichen  des  Stapelrechts.  Herr  Ankert  bemerkt  dem  gegen- 
über, dals  nach  den  Aufzeichnungen  der  Leitmeritzer  Ratsschreiber 
(Stadtarchiv)  1598  das  Elbewasser  bis  zu  dem  Hute  des  Bradacz  (am 
„alten  Markt"  an  der  Elbe)  gereicht  habe.  Bradacz  sei  =  Roland; 
es  müsse  also  mindestens  damals  zwei  „Rolande"  in  Leitmeritz  ge- 
geben haben.  Ein  Überrest  des  Bradacz  sei  höchstwahrscheinlich 
der  verstümmelte  Steinkopf  in  der  Ufermauer  der  Mühlinsel  nächst  der 
groisen  Elbebrücke.  Dem  ist  wieder  entgegenzuhalten,  dafs  Brada£: 
Grofsbart  heilst,  imd  dafs  diesen  Namen  auch  eines  der  ältesten 
Wahrzeichen  der  Altstadt-Prag  führt,  ein  in  Stein  gehauenes  altes 
bärtiges  Männerantlitz  an  der  Außenseite  des  Bogens,  welcher  den 
kleinen  Platz  neben  dem  Altstädter  Brückenturm,  auf  welchem  die  neue 
Statue  Karls  IV.  steht,  gegen  die  Moldau  stützt  ^). 

Also  auch  hier  wieder  der  Wunsch  der  Vater  des  Gedankens. 
Der  „Roland"  am  Leitmeritzer  Rathause  ist  ein  HerkulesbUd,  wie  es, 
auf  einen  Schild  mit  Stadtwappen  sich  stützend,  1728  an  der  Rathaus- 
treppe und  in  einer  NachbUdung  von  1738  auf  dem  unteren  Markt- 
brunnen zu  Eger  aufgestellt  wurde,  um  als  „wUder  Mann"  für  einen 
„rätselhaften  deutschen  Heldenkönig  Aleman"  erklärt  zu  werden  (Prökl, 
Eger  und  das  Egerland  I,  491).  Herkulesdarstellungen,  auch  in  Zu- 
sammenstellung mit  dem  Roland  des  Stadt -Mythus  oder  der  karo- 
lingischen  Heldensage,  scheint  die  städtische  Kunst  früherer  Zeit  ge- 
schätzt zu  haben.  Wir  sahen  eine  solche  am  alten  Junkerhofe  in 
Königsberg  (Ostpreufsen) ;  am  Sockel  des  Perleberger  Rolands  sind 
Relieis  aus  der  Herkulesmythe  angebracht  (AbbUdung  bei  L.  Schneider, 
Der  Roland  von  Berlin,  „Berliner  Denkmäler",  Tafel  4,  S.  18);  auch 
Berlin  wird  nächstens  seinen  Herkulesbrunnen  erhalten. 

i)  Die  OsteiTeich.-Ungar.  Monarchie  in  Wort  aod  Bild.    „Böhmen.*'    i.  Abt.  S.  201 
(J.  A.  Frb.  V.  Helfer t,  Die  alU  KönigssUdt  Prag). 


—     169     — 

Zu  Arnau  befinden  sich  am  Rathausturtn,  iS^^  über  der  Erde, 
xwei  17 N^  hohe  bärtige  Steinriesen,  Wahrzeichen  der  Stadt,  in  Panzer 
und  Helm  barock-römischen  Kostüms,  Arbeiten  des  XVIII.  Jahrhunderts. 
„Sie  scheinen  Nachbildungen  älterer  Rolandsbilder  zu  sein'*  ').  Nach 
der  vorliegenden  flüchtigen  Zeichnung  stützt  sich  die  eine  Figur  mit 
der  Linken  auf  einen  Schild  mit  Löwenwappen  imd  hält  in  der  Rechten 
ein  mit  der  Spitze  nach  unten  gekehrtes  Schwert ;  die  andere  stützt  sich 
mit  der  Rechten  auf  einen  Adlerschild;  was  ihre  Linke  hält,  ist  nicht 
zu  erkennen.  Im  Archäologischen  Wörterbuch  von  Müller  und  Mothes 
(Stichwort  „Roland **)  ist  von  einem  „gemalten"  Roland  zu  Aman  die  Rede» 

Den  Beschlu(s  macht  Prag,  wo  seit  C.  Heideloff*)  ein  Bildwerk 
an  der  Moldaubrücke  für  einen  Roland  angesprochen  wird.  Dieses 
„Freistandbild  der  Spätgothik,  derzeit  gänzlich  durch  eine  moderne 
Nachbildung  ersetzt",  erhebt  sich  auf  dem  Vorhaupte  des  Brücken- 
pfeflers  auf  der  Insel  Campa.  In  seiner  jetzigen  Gestalt  zeigt  es  auf 
reich  ornamentiertem  Sockel  einen  jugendlichen  Mann  in  kanelliertem 
Plattenhamisch  mit  Helm,  in  der  Rechten  das  blofise  Schwert  aufrecht 
tragend.  Nicht  sein  Schild  zeigt  das  Stadtwappen,  sondern  der  Ritter 
dient  dem  mächtigen  Wappen  der  Stadt  als  Stütze,  als  Wappen- 
halter. Das  ist  seine  ganze  formale  Bedeutung,  wenn  er  auch  „heute 
als  Rolandsäule,  als  altes  Symbol  der  Stapelgerechtigkeit  be- 
trachtet und  vom  Volke  alsBrunzliksäule  bezeichnet  wird,  die  dem 
Andenken  eines  sagenhaften  Beherrschers  Böhmens  gelten  soll*'  ^). 

Den  sog.  Rolanden  zu  Eger  und  Aman  legt,   soweit  ersichtlich, 


1)  Mitteilnngen  der  K.  K.  Zentralkommission  f.  ErforschaDg  u.  Erhaltimg  d.  Bau- 
denkmale XV,  1870,  S.  LXIV.     Danach  besprochen  in  meiner  Abhandlmig  von  1890. 

2)  Die  Ornamentik  des  Mtiielalters ,  Nürnberg  1847,  ^  (?);  ^ßl-  ^öpfl  S.  309. 
Aach  B.  Graeber,  Die  Kunst  des  Mittelalters  in  Böhmen  IV,  1879,  S.  133  sagt,  dafs 
d»  Prager  Bildwerk  ein  Zeichen  der  Marktfreiheit,  mithin  eine  sog.  „ Rolandsäule *'  seL 
Heidelofis  imd  Gmebers  genannte  Werke  sind  auf  den  Bibliotheken  meines  Wohnorts  nicht 
vorhanden.  Ersterer  ist  ein  eifriger  Rolandfinder  gewesen;  einen  angeblichen  Roland  zu 
Heilbronn  unter  einem  Tabernakel  hat  ZöpfL  S.  308  ihm  zweifelnd  entlehnt;  ans 
Drexels  Aufsatz  über  den  Brunnen  auf  dem  Fischmarkt  zu  Regensburg  (1900,  S.  16 
des  Sep.-Abdr.)  entnehme  ich,  dafs  es  sich  um  zwei  gerüstete  behelmte  Schildhalter  auf 
der  Freitreppe  des  Heilbronner  Rathauses  handelte.  Demselben  Gewährsmann  zufolge 
behauptet  Heideloff,  dafs  eine  einfache  Rolandsäule  (ohne  Standbild)  im  Kreuzgange  des 
Domes  zu  Regensburg  aufbewahrt  werde.  Niemand  dort  kennt  sie.  Über  die  sog. 
Predigtsanle  vor  dem  St.  Peterstore  daselbst  als  angebliche  Nachfolgerin  einer  Irmensänle 
«{L  die  Bemerknngen  a.  a.  O. 

3)  Berühmte  Kunstitätten  Nr.  8.  Prag,  von  Jos.  Neuwirth  (Leipzig  u.  Berlin  1901,) 
S.80. 81,  Abb.  S.  75.  Die  Mitteilungen  v.Helferts  in:  Die  Österreich.-Ungar.  Monarchie  etc. 
(s.  oben),  S.  201,  sind  unerheblich. 


—     170     — 

die  Lokaltradition  keine  besondere  stadtrechtliche  Bedeutung^  bei;  die 
zu  Leitmeritz  und  Prag  und  der  angeblich  einst  in  Komotau  vorhandene 
werden  in  der  neueren  Literatur  Wahrzeichen  des  Stapelrechts  genannt 
Ob  diese  Auffassung  schon  in  älterer  Zeit  sich  findet,  oder  das  Produkt 
modemer  Gelehrsamkeit  ist,  würde  die  Lokalforschung  zu  ermitteln 
haben.  Aber  auch  im  ersteren  Falle  würde  es  sich  nur  um  eine  ten- 
denziöse Deutung  bereits  vorhandener  Bildwerke  handeln.  Dasselbe 
war  der  Fall  bei  den  Stapelrechts  -  Streitigkeiten  Magdeburgs  mit  den 
Herzogen  von  Braunschweig-Lüneburg  1569,  mit  Hamburg  1609,  mit 
Kursachsen  1658.  Bei  der  Bedeutung  des  Magdeburgischen  Rechts 
für  die  deutsch- böhmischen  Stadtgemeinden  lag  es  nahe,  auf  dieses 
redende  Beispiel  zurückzugreifen. 

Zum  Schlufs  sei  noch  der  sog.  Rolande  zu  Bartfeld  (ungarisch 
Bartfa)  *)  in  Nord-Ungarn  an  der  galizischen  Grenze,  und  zu  Hermann- 
stadt (ungarisch  Nagy-Szeben)  in  Siebenbürgen,  nördlich  vom  Roten- 
Tor-Pafs,  gedacht,  von  denen  L.  Götze  {Urkundliche  Geschichte  der 
Stadt  Stendal,  1873,  S.  307  Anm.)  nach  Photographie  resp.  Zeichnung 
genügende  Beschreibungen  gegeben  hat.  In  der  Rolandgeschichte  ist 
kein  Platz  für  dieselben,  ebensowenig  wie  für  die  sog.  Rolande  in 
Niederösterreich  *),  Tyrol  •),  Schweiz  *),  Holland  ^)  und  die  angeblichen 
Rolande  Mittel-,  Süd-  und  Westdeutschlands,  welche  aufzuzählen  zwecklos 
ist.  Dafür  möge  als  erheiternder  Epilogus  eine  gelehrte  Zeitungs- 
notiz (Berliner  Tageblatt  1902,  Nr.  446,  3.  September)  folgen,  welche 
zeigt,  wie  das  Hifthorn  des  neuen  Berliner  Roland,  gleich  dem  Oberons, 
seine  sinnverwirrende  Kraft  schon  auszuüben  beginnt.  Nachdem  eine 
Korrespondenz  des  Mailänder  Corriere  dellasera  mitgeteilt,  nach  welcher 
König  Viktor  Emanuel  die  Begrüfeungsrede  des  Oberbürgermeisters 
von  Berlin  nicht  verstanden  habe,  wcU  derselbe  „zu  stark  berlinisch" 
gesprochen,  wird  wörtlich  fortgefahren:  „Interessant  ist  noch  eine 
andere  Mitteilung,  die  ein  italienischer  Korrespondent  anläislich  der 
Berliner  Festtage  an  sein  Blatt  schrieb.  Sie  lautet:  , In  der  Siegesallee 
ist  vor  wenigen  Tagen  das  Rolanddenkmal  enthüllt  worden.     Dieser 

i)  In  meinem  „Roland  zu  Bremen''  S.  48.  steht  infolge  eines  Drnckfehlers : 
Gr.  Bortfeld. 

2)  Drosendorf,  Grafendorf  (Alt-  ?,  Ober-  ?),  Hollenburg,  Stierndorf  (?), 
s.  Mitteilungen  der  K.  K.  Zentralkommission  etc.  X  (1884),  S.  CLX;  Mitteilungen  des 
Altertnmsvereins  £u  Wien  XX,  96.   129.     Zöpfl  S.  311. 

3)  Hall,  Marmorfigur  von  1522,  Mitteilung  des  Herrn  Oberpfarrer  Wemicke-Loborg. 

4)  Weite,  Kanton  St.  GaUen,  s.  Ed.  Zetsche  in  Leipz.  iUustr.  Zeitung  1895, 
Nr.  2772,  S.   199. 

5)  Amsterdam,  s.  Götze  a.  a.  O.  S.  307. 


—     171     — 

Roland  ist  eine  halb  legendäre  Figur  aus  jener  Zeit,  in  der  die  Mark 
Brandenburg  von  den  Wenden  überflutet  war  und  Polen  sich  ge- 
wöhnt hatte,  sie  als  ein  polnisches  Lehen  zu  betrachten.  Roland  hat 
dem  kräftig  entgegengewirkt  und  so  ist  sein  Denkmal  die  symbolische 
Antwort  des  Kaisers  und  Deutschlands  auf  die  polnische  Feier  der 
Sdilacht  von  Tannenbeig!'  Wenn  wir  es  von  dem  Italiener  auch 
nicht  verlangen  können,  dafs  er  in  die  Geheimnisse  der  deutschen 
Dialekte  und  Dialektanklänge  eingeweiht  ist  —  wer  Orlando  war, 
sollte  der  Landsmann  Ariostos  doch  wissen/' 

Nachwort 

Die  in  der  Überschrift  S.  113  am  Schlufs  angekündigte  iVa^A/^j^, 
auf  die  auch  im  Laufe  der  Darstellung  mehrfach  verwiesen  wurde,  hat 
einen  Umfang  angenommen,  dafs  im  gegenwärtigen  Augenblicke  von 
ihrer  Veröflentlichung  abgesehen  werden  mufs.  Sie  wird  jedoch  zur 
gi^benen  Zeit  folgen ;  damit  soll  aber  dann  auch  endgiltig  das  Thema 
der  Rolande  für  diese  Zeitschrift  abgetan  sein. 


(Reform  des  inreltliehen  Standes  nach 
der  sogen.  (Reformation  des  Kaisers  Sig^* 
mund  im  Iiiehte  der  gleichzeitigen  (Reform^ 
Bestrebungen  im  t^eieh  und  in  den  Städten 

Von 
Heinrich  Werner  (Merzig) 
Mit  meinen  früheren  Arbeiten  über  die  sogen.  Reformation  des 
Kaisers  Sigmund  *)  glaube  ich  die  von  dem  Abte  Trithemius  erweckte 
und  bereits  traditionell  gewordene  Annahme,  wonach  der  Verfasser  der 
genannten  Reformschrift  hussita  potins  quam  christiantis  *)  gewesen  sei, 
endgültig  widerlegt  zu  haben.    Voraussetzung  für  die  richtige  Beurtei- 

i)  In  der  Historischen  Vierte^jahrsschrifl,  5.  Bd.  S.  467  ff.  und  in  den  Deutsefien 
OttdMUsUättem,  IV.  Bd.  S.  1  —  14  and  S.  43  -55- 

2)  Aschbach,  Geschichte  Kaiser  Sigmunds.  4.  Bd.  S.  425.  Anm.  6.  In  neuerer 
Zeit  hat  man  sogar  einen  „  ursprünglichen  Entwurf"  der  Schrift  konstruiert,  der  womög- 
lich „noch  viel  schärfer  formuliert  und  von  hussitischem  Geiste  durchtränkt  war".  Vgl. 
Heinrich  Boos,   Geschichte  der  rheinischen  Städtehdttir.     2.  Bd.  (1897)  S.  455. 


—     172     — 

lung  der  Reformforderungen  über  den  geistlichen  Stand  im  ersten 
Teile  der  Schrift,  und  für  die  Auffindung  der  Quellen  dazu  war  die 
Lösung  der  Frage  nach  dem  Verfasser:  dies  war  um  so  wichtiger, 
als  einzelne  Gedanken  von  verblüffender  Eigenart  sind  und  leicht  zu 
einer  falschen  Beleuchtung  verleiten  konnten. 

Die  Erkenntnis,  wer  der  Verfasser  ist,  wird  durch  seine  Forderungen 
in  Bezug  auf  eine  Reform  des  weltlichen  Standes  durchaus  ge- 
stützt. Dafs  dieser  Teil  desselben  Ursprungs  ist  wie  der  erste  und 
mit  diesem  organisch  zusammenhängt,  ist  aus  denselben  charakte- 
ristischen Wendungen  zu  ersehen,  in  denen  sich  der  Verfasser  als 
Stadtbürger  und  Stadtschreiber  verrät,  ganz  abgesehen  von  der  in  der 
Einleitung  angegebenen  und  dann  oft  wiederholten  Disposition  der 
ganzen  Schrift.  Der  Verfasser  will  nämlich  sprechen  von  den  beiden 
gröfsten  gepresten:  an  den  geistlichen  liegt  große  Simonie  und  an  den 
welÜichen  liegt  der  gaitz  (=  avaritia)  *).  Auch  dem  ersten  Beurteiler 
der  Schrift,  Wolfgang  Aytinger  lagen  schon  bei  der  Abfassung 
seines  Methodiuskommentars  vom  Jahre  1496  beide  Teile  zusammen 
vor:  er  redet  mit  grofsem  Lob  von  dem  darin  gemachten  Versuch 
totum  ecclesiasticum  staium  et  saectdarem  zu  reformieren.  Für  einen 
und  denselben  Verfasser  sprechen  deutlich  eine  Reihe  von  charakte- 
ristischen Erörterungen,  die  sich  in  beiden  Teilen  wiederholen.  So 
führt  die  im  ersten  Teil  durchgeführte  Scheidung  des  Geistlichen  vom 
Weltlichen  zu  der  im  zweiten  Teile  gestellten  Forderung,  den  Geist- 
lichen und  Ordensleuten  das  Zollregal  zu  entziehen  ^)  zu  Gunsten  der 
Reichsstädte  und  zu  dem  prinzipiellen  Satz:  es  soll  sich  alleweg  sehet- 
den  das  geistlich  vom  weltlich.  Der  einheitliche  Geist  der  ganzen 
Schrift  wird  auch  erkannt  in  der  übereinstimmenden  Erklärung  der 
Zünfte  im  zweiten  und  der  Orden  im  ersten  Teil,  die  beide  eine  parcia- 
litas  seien  und  der  Gemeinsamkeit  widersprächen.  Ebenso  wiederholt 
sich  der  Verfasser  im  ersten  und  zweiten  Teil  über  die  Insiegel  und 
Instrument.  ^).  Ferner  stimmt  das  Kapitel  von  den  Insiegeln  im  zweiten 
Teile  stellenweise  mit  den  Worten  der  geistlichen  Reformation  über- 

i)  Nach  der  Ausgabe  Boehms  S.  162.  Auch  S.  171.  241.  249  f.  wird  der  Gegen- 
satz zwischen  dem  geistlichen  und  weltlichen  Stand  als  Einteilungsgrnnd  angeführt. 

2)  Vgl.  ßoehm  214. 

3)  Im  ersten  Teil  heifst  es  hierüber  S.  164:  sie  (die  Klöster)  sehreiben  gen  hof, 
wir  seien  rerprunnefi,  icir  haben  krieg y  wir  seien  xer stört  und  finden  Ursache  das 
alles  erlogen  ist.  Im  zweiten  Teil  drückt  sich  der  Verfasser  S.  231  ganz  ähnUch  ans, 
nämlich:  ron  den  instrumenten ,  die  von  den  klÖstem  gen  hof  geschickt  werdetit  .  .  . 
da  schreiben  sie  in  die  insirument  ihr  klag  und  ihre  gepresten ,  das  eitel  lüge  sind. 


—     173     — 

ein:  mtm  ninrnd  auch  geU  von  den  insigel,  das  in  aller  weit  die 
wahrheU  beseidmet. . .  Das  eeichen  der  Wahrheit  ist  das  insigel,  das 
niemand  taufen  oder  verkauffen  soU,  das  ist  offen  umcher  ^).  N^ben 
diesen  gerade  für  die  Persönlichkeit  des  Verfassers  als  eines  Stadt- 
schreibers charakteristischen  Erörterungen,  liefsen  sich  noch  andere 
glcidilautende  anfuhren  *).  Soviel  ist  hieraus  ersichtlich :  Die  Schrift 
ist  von  einem  Verfasser,  aber,  was  ich  gleich  zeigen  will,  nicht  aus 
einem  Gusse. 

Der  erste  Teil  ist  mit  Rücksicht  auf  die  Abhängigkeit  der  vor- 
gebrachten Reformpläne  von  anderen  gleichzeitigen  *)  und  namentlich 
durch  die  scharfe  Stellung  gegen  Simonie  und  Konkubinat*)  den 
Jahren  1433 — ^434  zuzuweisen.  Der  Entwurf  zur  Reform  des 
weltlichen  Standes  ist  im  Hinblick  auf  die  politische 
Aktion  der  Städte  und  die  prophetische  Konstellation*) 
1438  entstanden  und  1439  als  Ganzes  hervorgetreten. 
Also  sind  die  beiden  Jahre  1434  und  1440,  zwischen  denen  Goldast 
ursprünglich  schwankte,  nicht  „von  vornherein  als  ganz  unmöglich  ab- 
zulehnen "  ^.  Auf  das  Jahr  1440  verfiel  Goldast  wegen  der  Notiz, 
der  Priester  Friedrich  sei  in  Basel  gewesen:  diese  bezieht  er  in  einer 
Randbemerkung  zu  seiner  Ausgabe  unserer  Schrift ')  auf  den  nach- 
folgenden Kaiser  Friedrich. 

Aber  nicht  nur  die  Abfassimgszeit  beider  Teile  liegt  von  einander 
ab,  sondern  auch  die  äufsere  Gestaltung  beider  ist  sehr  verschieden. 
Während  sich  bei  den  Reformentwürfen  des  geistlichen  Standes  durch- 
gehends  Ordnung  in  den  Vorschlägen  nach  einer  programmmäfsigen 
Unterlage  findet,  die  auf  gelehrte  Entwürfe  zurückgeht,  sind  im  zweiten 
Teile  Gedanken  lose  an  einander  gereiht,  die  offenbar  aus  der  prak- 
tischen Erfahrung  erwachsen,  von  einem  durchaus  unscholastischem 
Geiste  vorgetragen  werden.  Freilich  ist  die  Reform  des  weltlichen 
Standes  hier  nicht  so  verkümmert  wie  bei  dem  höheren  Kleriker,  bei 
Andreas   von  Escabor,   dem  jene  ferner  lag,  aber  auch  nicht  so 

i)  Ebenda  S.   175,  vgL  daza  S.  230  Z.  8  n.  10. 

2)  So  S.  179  Z.  23  a.  24,  vgl.  zQ  S.  227  Kapitel  vom  rechtsprechen  umb  eigen 
und  erb.  Vgl.  auch  die  Forderung,  die  Klöster  sollen  ganz  zerstört  werden.  S.  222 
wnd  S.  169. 

3)  VgL  Deutsche  Geschichtsblätter,  IV.  Bd.  2.  H.  S.  48. 

4)  VgL  Histor.  Vierteljahrsschrifl,  5.  Bd.  S.  475  f. 

5)  VgL  Anhang  S.  81  ff.  zu  meiner  Schrift:  „Die  Flugschrift  onus  ecclesiae  mit 
einem  Anhang  über  sozial-  und  kirchenpolitische  Propheten.'*     1901. 

6)  Boehm  S.  97. 

7)  VgL  Statuta  et  Rescripta,  4.  Bd.  (17 13)  S.  198. 


-     174     -        . 

systematisch  behandelt  wie  die  des  geistlichen,  dafe  sie  etwa  den 
Stufen  der  Würden  oder  den  Reichsständen  folgte.  Hier  fehlten  dem 
Stadtschreiber  eben  die  Vorlagen  von  Zunftgelehrten.  Er  drückt  das 
auch  an  zwei  Stellen  aus;  während  er  in  der  Einleitung  zur  Reform 
des  geistlichen  Standes  sagt:  han  ich  von  hoher  meister  (Magister) 
Weisung ,  gunst  und  willen  und  lehr  diese  Ordnung  gemachet  und  von 
latein  zu  deutsch^),  so  spricht  er  vom  zweiten  Teile  folgendermafsen: 
wir  thun  jsu  wissen,  dass  wir  mit  hohen  wisen  diese  urhund  erläutert 
haben  *).  Hier  hört  man  also  nichts  mehr  von  Übersetzung  und  Ma- 
gistern, sondern  es  wird  der  Glaube  erweckt,  als  läge  eine  Urkunde 
Sigmunds  über  die  Reform  des  weltlichen  Standes  vor,  die  der  Verfasser 
mit  dem  Beirat  verständiger  Männer  erläutert  hier  vorlegt.  So  kommen 
wir  denn  zu  einer  der  Hauptfragen,  die  wir  uns  im  Vorliegenden  zu 
stellen  haben:  In  welcher  Beziehung  steht  Sigmund  zu  unserer 
Schrift? 

Dafs  sie  als  Entwurf  irgend  einem  Reichstag  zur  Beratung  oder 
Annahme  vorgelegt  worden  sei ') ,  hat  man  schon  lange  nicht  ge- 
glaubt. Koehne  *)  hat  untersucht ,  ob  die  Forderungen  mit  den  auf 
den  Reichstagen  zu  Regensburg  und  Basel  (1434)  vorgelegen  Artikeln 
übereinstimmen  und  findet,  dafs  nirgends  Beschlüsse  oder  Vorschläge 
von  jenen  Reichstagen  wörtlich  übernommen  sind.  Aber  welchen 
Eindruck  hätte  der  Verfasser  der  Reformschrift  bei  den  Städten  ge- 
macht, hätte  er  die  offiziellen  Anträge  —  zu  Beschlüssen  kam  es  auf 
beiden  Reichstagen  gamicht  —  in  der  bereits  stereotyp  gewordenen 
Form  einfach  übernommen?  Wie  hätte  er  eine  grofse  Aktion  des 
gesamten  städtischen  Elements  durch  Proklamierung  offizieller  Be- 
schlüsse, in  denen  auch  die  Wünsche  der  Herren  berücksichtigt  sind, 
gegen  die  Herren  selbst  in  Szene  setzen  können?  Dazu  waren  ge- 
rade diese  beiden  Reichstage  für  die  Reichsreform  am  unfruchtbarsten. 
Zuletzt  hat  sich  L.  Quid  de')  über  die  Reformschrift  geäufsert:  er 
hält  sie  für  eine  „private  politische  Schrift**  und  deshalb  gehöre  sie 
nicht  zu  den  Reichstagsakten.  Soviel  Interesse  die  Schrift  auch  „für 
die  Beurteilung  der  Frage,  um  die  es  sich  damals  bei  der  Reichs- 
reform handelt  und  für  die  Auffassung  der  Bestrebungen,  die  sich  an 
Sigmunds   Namen    knüpfen  **,    habe ,    zu    einem  Wiederabdruck   kann 

i)  Boehm  S.   171. 

2)  Ebenda  S.  244. 

3)  Aschbach  a.  a.  O.     4.  Bd.  S.  426. 

4)  Zcitschr.  für  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte,  5.  Bd.  (1897)   S.  369—430. 

5)  Deutsche  Reichstagsakten,  Bd.  XU  (1900)  S.  XLVII. 


—     175     — 

sich  Quidde  doch  nicht  entschliefsen  '),  da  sie  „doch  in  keiner  auch 
noch  so  indirekten  Weise  mit  den  Verhandlungen  irgend  eines 
bestimmten  Reichstages  zusammenhängt**.  Nach  Koehnes  Studien 
sollte  man  zu  dieser  Ansicht  neigen.  Aber  die  Schrift  wird  hier  an 
einer  falschen  Seite  angefafst:  sie  ist  ja  überhaupt  an  die  Öffentlich- 
keit getreten,  weil  die  Häupter  und  gewaltigen  sich  gegen  eine 
Reform  sperren.  Da  wird  sie  doch  nicht  die  häufig  gar  nicht  ernst 
{gemeinten  Projekte  der  Fürsten  oder  die  auf  Reichstagen  gefa&ten 
Kompromi&beschlüsse  einfach  übernehmen!  Man  hat  in  ihr  nicht 
wörtliche  Wiedergabe  derselben  zu  suchen,  sondern  nur  Reflexe,  die 
Nachwirkungen  der  Vorschläge  und  Beschlüsse,  und  zwar  hier  wieder 
nur  von  solchen,  die  besonders  das  innerste  Wesen  des  Städtebürger- 
tums, die  städtebürgerlichen  Freiheiten,  berührten.  Auch  eine  flüch- 
tige Durchsicht  der  Reform  des  weltlichen  Standes  zeigt  überdies  so- 
fort, dafe  viele  der  vorgebrachten  Vorschläge  gar  nicht  vor  das  Forum 
eines  Reichstages  gehören ;  viele  Kapitel  behandeln  Gegenstände  rein 
städtischer,  verwaltungstechnischer  Natur,  die  höchstens  auf  Städte- 
tagen zur  Beratung  gestellt  werden  konnten,  so  die  Abschnitte  über 
^e  Zünfte,  den  Stadtschreiber,  die  Arztordnung,  die  städtischen  Siegel, 
die  Kaufmannschaft,  die  Monopole  u.  a.  Nun  wissen  wir  aber  von 
rührigen  Bestrebungen  der  Städte  im  Jahre  1438  auf  mehreren  Städte- 
tagen '),  wo  besonders  über  die  städtischen  Bedürfhisse,  die  zum  Teil 
den  fürstlichen  direkt  gegenüberstanden,  beraten  wurde.  Das  Neue 
hieran  ist,  dafs  die  Städte  gemeinsam  über  innere  Angelegen- 
heiten ratschlagten  und  zwar,  wie  es  heifst,  nach  jeglicher  Stadt  not- 
iwrft  *).  Leider  sind  wir  über  die  Einzelheiten  noch  nicht  unterrichtet 
—  und  die  Heranziehung  alles  über  jene  Verhandlungen  vorhandenen 
Quellenmaterials  wäre  dringend  nötig  — ,  aber  unsere  Schrift  gibt 
ohne  Zweifel  städtische  Ansichten  über  die  auf  dem  Ulmer  Städte- 
tage gepflogenen  Erörterungen  über  städtische  Bedürfnisse  wieder.  Schei- 
den wir   nun   diese   rein  städtischen  Fragen  aus,   so  bleibt  uns  noch 


i)  Ein  Wiederabdruck  von  bewährter  Haod  hätte  besonders  den  zweiten  Teil  ganr 
andefB  als  er  bei  Boehm  vorliegt,  anordnen  müssen.  So  mnfs  S.  202  Z.  4  nach 
ngeordoet  ist*'  weitergefahren  werden  mit  „darumb  wa  sich  des  gemeinen  volks**  auf 
S.  208  Z.  1 7.  —  S.  209  Z,  8  „  rechte  totsünd  <'.  Anfserdem  gehört  an  S.  208  Z.  8 :. 
S.  209  Z.  9 — 13.  An  S.  208  Z.  17  gehört  S.  211  Z.  29  bis  S.  212  Z.  4.  Zu  S.  218- 
^  23  gehört  S.  220  Z.  15  hw  S.  221.  Z.  22. 

2)  Namentlich  ra  Ulm  and  Konstanz.  Vgl.  Janssen,  Frankfurts  Reickskorre" 
Mpondenx,  L  Bd.  (1863)  No.  810  und  No.  824. 

3)  Jaosten  a.  a.  O.     No.  810  art.  3. 


—     176     — 

der  Teil   über   die  Reichsreform  übrig,    der  allein  zu  Reformtätigkeit 
Sigmunds  in  Beziehung  stehen  könnte. 

Zu  der  Reform  des  städtischen  Wesens  gehört  vor  allem  das 
Kapitel  von  den  Zöllen  *).  Das  Zollwesen  hat,  soweit  wir  sehen,  bei 
den  Reichstagen  Sigmunds  nicht  auf  der  Tagesordnung  gestanden, 
wohl  aber  wissen  wir,  dafe  auf  dem  Städtetag  zu  Ulm  auf  den  An- 
trag Nürnbergs  auch  über  den  Zoll  *)  geratschlagt  wurde.  Ob  wir  in 
unserer  Schrift  eine  dort  vorgetragene  Meinung  vor  uns  haben,  läfst 
sich  bis  jetzt  nicht  entscheiden:  es  mufe  genügen,  an  dieser  Stelle 
auf  einen  naheliegenden  Zusammenhang  hingewiesen  zu  haben!  Der 
Klage  von  der  Übersetzung  aller  Länder  und  Städte  mit  Zöllen  folgt 
über  die  Abstellung  dieses  Mifsstandes  ein  Vorschlag,  der  sich  auf 
eine  genetische  Erörterung  über  den  Ursprung  des  Zolles  stützt. 
Diese  Art  des  Zurückgehens  auf  die  Urgeschichte  von  Orten  und 
Einrichtungen  mich  alten  Chroniken ')  ist  ein  deutliches  Kennzeichen 
für  den  in  dem  damals  sich  bildenden  Augsburger  Humanistenkreis  *) 
herrschenden  Geist.  Auch  seine  Ausführungen  im  einzelnen  lassen 
die  persönlichen  Züge  des  Verfassers  als  eines  Reichsstädters  scharf 
hervortreten.  Kaiser  und  Päpste  haben  nämlich  zuerst  der  gemeinen 
wdt  SU  hilf  und  nutz  den  Zoll  erlaubt.  Dem  Reich  allein  gehören 
die  Zölle,  die  Herren  haben  sie  nur  lehensweise  inne ;  Priester,  Ordens- 
leute, Ritter,  Knechte  sollen  nickt  zoll  geben  (d.  h.  verleihen).  Die 
Städte  dürfen  Zoll  erheben,  wenn  die  schwere  der  wege  ihn  notwendig 
macht  —  denn  nur  zum  Wegbau  ist  er  erlaubt  — ,  halten  ihn  aber 
die  Geistlichen,  so  soll  man  denselben  nehmen,  und  die  Stadt  als 
Vertreterin  des  Reichs^)  soll  ihn  an  sich  reifsen.  Zum  Schlufs 
fügt  der  Verfasser  einen  offenbar  städtischen  Vorschlag  zu  einer  Weg- 
ordnung hinzu,  über  den  wohl  auf  dem  Ulmer  Städtetag  beraten 
wurde:  Es  soll  danach  jede  Stadt  zwei  Wegebeschauer  wählen,  die 
für  Bau  und  Instandhaltung  der  Wege  zu  sorgen  haben.    Naiv  klingt 


i)  Boehm,  S.  212  f. 

2)  VgL  Janssen  a.  a.  O.     No.  810   arL  3. 

3)  Boehm,  S.  215:  also  findet  man  es  lauter  in  den  alten  Chroniken, 

4)  Vgl.  Joachimsohn,  Anfange  der  humanistischen  Oeschichtschreibung, 
1.  Heft  Sigmund  Meisterlin,  S.  12.  Da  man  diesen  Zusammenhang  seither  nicht  be- 
achtete, so  nannte  man  die  Ausführungen  des  Verfassers  „ganz  wunderliche  Ansichten 
über  die  Rechtsverhältnisse  und  die  historische  Eotwickelung  der  Reichsverfassnng",  die 
natürlich  „im  Wesen  des  Radikalismus  begründet'^  sein  sollen.  Vgl.  dazu  H.  Boos, 
Geschichte  der  rheinischen  Städtekultur  von  ihren  Anfängen  bis  xur  Otgenwart  mit 
besonderer  Berücksichtigung  der  Stadt  Worms.    II.  Bd.  (1897)  S.  447. 

5)  Vgl.  Boehm,  S.  214  Z.  27  u.  28. 


—     177     — 

uns  die  Begründung"  zu  dem  Vorschlag,  die  Unzuchtgelder  für  den 
Wegbau  zu  verwenden:  so  wirf  das  sündig  geU  zu  gutem  bracJU  und 
«M  die  sünd  vertreten  ^). 

Zu  der  städtischen  Reform  gehört  auch  das  Kapitel  von  den 
emflen  in  den  stetten  ^).  Hier  ist  der  Gedankengang  ähnlich  dem  bei 
der  Kritik  der  Orden;  die  Zunft  wird  auch  eine  parcialiUis  genannt, 
beide  sind  sehr  gewaltig  geworden  •)  Wie  ein  aus  einem  Orden  ge- 
wählter kirchlicher  Würdenträger  nur  das  Interesse  seines  Ordens 
durch  leichtfertiges  Dispensieren  im  Auge  hat,  so  halten  die  Mitglieder 
einer  Zunft  zusammen  *)  und  eine  Zunft  hüft  wieder  der  anderen  *). 
Die  2^nfte  machen  Gesetze,  bringen  ihre  Mitglieder  in  den  Rat  und 
betrügen  die  Gemeinde  durch  Verabredung  von  Lieferungen  schlechter 
Waren  unter  Aufrechterhaltung  eines  hohen  Preises;  dazu  mufs  man 
die  Zünfte  noch  gröblich  kaufen.  Deshalb  sollen  sie  abgeschafft  wer- 
den, denn  sie  widersprechen  einer  rechten  gemeinsamkeit ,  wie  sie  in 
einer  Stadt  herrschen  soll.  Wenn  nämlich  in  einer  Stadt  alle  dinge 
gemein  wären,  herren  und  jedermann  wären  ihnen  auch  gemein,  d.  h. 
sie  würden  Städter  werden.  Es  ist  alles  in  der  Stadt  Übersetzt,  und 
itnd  herm  und  landleut  darumb  den  Städten  gram.  Laß  man  es  in 
gemeinsam  kommen,  es  soU  sicher  niemand  gereuen.  Denn  dann  aufjfeten 
{=  vergröfsem)  sich  die  städt  großeMich.  Dieses  stolze  politische 
Bewufistsein,  sowie  den  Zusammenhang  dieser  Worte  mit  dem  ganzen 
Programm  hat  man  bis  jettt  ganz  übersehen :  Der  Verfasser  glaubt 
durch  Abschaffung  der  Zünfte  und  des  hohen  Eintrittsgeldes  zu  den- 
selben, der  Verallgemeinerung  städtischen  Wesens  *),  das  ist  aber  der 
städtischen   Freiheit,   bei   Herren    und   Landleuten   Vorschub 


i)  Boehm,  S.  216. 

2)  Ebenda  S.  216. 

3)  Vgl  :  Die  kWster  haben  das  erdreich  innc. 

4)  Wirt  einer  erzürnet  in  einer  'xunftj  so  ist  die  ganxe  zunfl  erxiimet.   S.  217. 

5)  So  hilft  dick  eine  xunfl  der  anderen ^    als  ob  ich  spräche:    hilf  mir,   ich 
kdfedir. 

6)  Dieser  Gedanke  der  „Geroeinsamkeit''  unter  allen  Ständen  wird  wiederholt  ans- 
Sesprochen,  so  auch  noch  S.  233:  nun  ist  auch  xu  gedenken  die  allemtäxest  ord- 
nmtg  umb  fried  und  rechte  gemainsami  xehaben  unter  herren  und  stetten  und  auf 
dem  Umd,  Diese  Forderung  der  „Gemeinsamkeit''  hat  man  irrtümlich  als  Proklamiemnj^ 
^  „Gleichheit"  hingestellt.  Vgl.  H.  Boos  a.  a.  O.  S.  446  u.  451.  Und  zwar  wolle 
«ucr  RcTolotiooär  mit  der  Abschaffung  der  Zünfte  die  „  Demokratisierung  der  Gemeinde  ". 
Aber  unser  Verfasser  will  gar  nicht  die  Zünfte  ausschliefslich  deshalb  abgeschafft  wissen, 
«tfl  sie  „die  armen  Leute"  durch  Erhebung  eines  hohen  Eintrittsgeldes  vom  Beitritt 
atsschliefscn ,  sondern  es  sind  auch  die  Herren  bei  diesem  Vorschlag  berücksichtigt. 
Dvrch  die  Abschaffung  der  Zünfte  und  die  Erleichterung  der  Bürgeraufnahme  durch  Herab- 

13 


—     178     — 

7M  leisten.  Diese  Ausbreitung  der  städtischen  „Gemeinsamkeit''  soll 
aicb,  wie  unten  noch  gezeigt  wird,  von  innen  nach  aulsen  vollziehen 
durch  Proklamierung  der  städtischen  Freiheit  für  alle  feudal  Ab- 
hängigen und  von  aufsen  nach  innen  durch  Verleihung  des  Bürger- 
rechts an  alle  Aufsbürger.  Den  Zusammenhang  seines  Reformvor- 
schlags zur  ganzen  Ordnung  stellt  der  Verfasser  auch  selbst  her: 
Dieser  rat  ist  gut  und  wiU  euch  sagen,  wie;  wenn  diese  Ordnung  ge^ 
halien  muß  werden,  so  sucht  es  sich  im  rechten  selber,  daß  es  nicht 
bestehen  mag.  Bei  der  Durchfuhrung  dieser  Reform  also,  die,  wie 
wir  sehen  werden,  hauptsächlich  die  städtische  Freiheit  zur  All- 
gemeinheit erheben  will,  wird  es  den  rechten  Weg  von  selbst  nehmen» 
nämlich  über  die  Zünfte  hinweg. 

Der  stimmungsvolle  Bericht  über  den  Terrorismus  der  Zünfte  er- 
innert lebhaft  an  Augsburg,  das  ja  alle  seine  Bewohner  in  eine  poli- 
tische Zunft  aufnahm  und  das  im  Gegensatz  zu  dem  patrizischen 
und  oligarchischen  Nürnberg  als  besonders  „zünftisch''  ')  bezeichnet 
wird.  Wie  aktuell  übrigens  damals  das  demokratische  Treiben  in  den 
schwäbischen  Städten  war,  zeigt  uns  auch  eine  Urkunde  Sig^munds^ 
welche  dieser  nach  seinem  Aufenthalt  in  Augsburg  (vom  3.  bis  12.  Sep- 
tember 143 1)*)  auf  seiner  Reise  nach  Basel  in  Feldkirch  am  19.  Sep- 
tember 143 1  zeichnete.  Dieser  fiir  die  Städte  bedeutungsvolle  Erlais 
ist  gerichtet  besonders  an  die  Vereinigung  von  Ulm  und  des  oberen 
Bundes,  also  auch  an  Augsburg,  das  ihn  aber  erst  am  17.  Dezember 
erhält.  Darin  heifst  es:  uns  ist  fürkommen  von  guter  unterweisunge, 
wie  etlich  in  den  städten  bei  euch,  beide  Zunftmeister  und  ander  in  den 
Zünften  besonder  samenunge  hohen  und  heimlich  gesprech  und  rete  fiir 
sich  nehmen  ohne  wissen  und  befehJnus  eines  rechten  rats,  das  uns  so- 
viel dester  mehr  wider  und  wißfeUig  ist,  so  wir  verstehen  und  eigentlich 
merkefi,  daß  denselben  unsem  stetten  kein  nutz  noch  ehr  sunder  gans 
Unordnung,  Zwietracht  und  Verderbnisse  daraus  entstehen  als  sich  dann 
in  Konstanz  *')  ...  und  viel  anderen  stetten  leider  wohl  beweist  hat,  was 
aus  solchen  Sonderheiten  und  heimlichen  gesprechen  und  reten  entstanden 
ist.    Der  Kaiser  hofft,  dafs  er  nach  seiner  Rückkehr  aus  den  welschen 


setxong  der  Gebühren  soll  nur  diejenige  Gemeinsamkeit  gefördert  werden,  die  darin  be- 
steht, dafs  möglichst  viele  der  städtischen  freiheü  teilhaftig  werden. 

1)  Joachimsohn,   Die   humanistische    Oesehiehtsschreibimg y    i.  Heft    (1895) 
S.  152. 

2)  Vgl.  Reiehsiagsakteny  IX.  Bd.  No.  467  Anm.  i. 

3)  VgL  Aschbach,  3.  Bd.  S.  355.     In  Konstanz   setzte  Sigismand  Dezember  1430- 
die  dorch  die  Zünfte  vertriebenen  Geschlechter  wieder  in  ihre  Rechte  ein. 


—     179     — 

Landen  die  Städte  noch  in  gtäem  toesen  finden  und  kinfiir  sktiglick 
Ane  aOs  neuigkeit  behauen  werde. 

Auch  BurchardZink')  klagt  über  ähnliche  demokratische  Aus- 
artungen in  AugsburgTinter  etwas  fortgeschritteneren  sozialen  Verhält- 
nissen: es  sind  dock  erschrecklich  ding,  daß  die  minderweisen  und  die 
armen  die  reichen  regieren  tvoUen,  also  sieht  es  noch  und  toeiß  niemand, 
wbä  es  bleiben  mag.  dcis  gsmein  volk  will  nU  ungeU  geben  und  wiU 
große  Steuer  auf  die  reichen  setsen.    Damit  werden  die  reichen  als  arm. 

Der  Verfasser  unserer  Reformschrift  schreibt  offenbar  aus  diesem 
Milieu  heraus,  aber  sein  Bericht  ist  nur  als  persönlicher  Ratschlag* 
anzusehen,  was  er  ausdrücklich  betont:  Dieser  rai  ist  gut  und  wiU 
ich  euch  sagen,  wie. 

Ejnen  unbedingt  städtischen  Charakter  haben  die  nun  folgenden 
Kapitel  von  dem  Handel  und  Gewerbe.  Hierher  gehört  zunächst  das 
Kapitel:  daß  jeder  sein  handwerh  und  gewerbe  treiben  soll^).  Jeder 
soll  nur  ein  Handwerk  ausüben  und  zwar  nach  kaiserlichem 
Rechte,  denn  so  mag  sich  jeder  ernähren;  bei  der  kaiserlichen 
Ungnade  und  einer  Strafe  von  40  Mark  Goldes  soll  die  Ausübung 
mehrerer  Gewerbe  durch  eine  Hand  verboten  sein.  „Reiser  will", 
80  unterschiebt  Boos  (S.  452),  „dafs  keiner  mehr  verdiene  als  er  zum 
Leben  nötig  hat."  Wenn  der  Verfasser  sich  so  ausgedrückt  hätte, 
läge  darin  allerdings  eine  „sozialistische  Tendenz".  Doch  der  Ver- 
fasser fordert  nur  Gelegenheit  des  Erwerbs  für  alle,  die  ihm  ge- 
acherter  erscheint,  wenn  einer  nur  ein  Gewerbe  treibt.  Über  die 
Höhe  des  Erwerbs  aus  einem  Gewerbe  sehen  wir  nirgends  eine 
Forderung.  Das  nächste  Kapitel  von  der  kaufleut  Ordnung  ^)  versetzt 
ans  lebhaft  in  den  schon  damals  fast  international  gewordenen  Güter- 
austausch. Gerügt  wird  vor  allem  die  übliche  Preisverabredung  zwi- 
schen den  Kaufherren,  die  auf  eine  Hochhaltung  der  Preise  abzielt; 
die  Kaufleute  seien  dick  eins,  es  sei  ^u  Venedig  oder  anderswo,  sodafs 
man  den  Preis  der  Spezereien  zu  Wien  *)  weifs ,  wie  mans  hie  kauft. 
Dagegen  sei  folgendermafsen  aufzukommen :  In  jedem  Hafen  soll  alle 
Kaufmannsware  bei  ihrer  Ankunft  aus  den  fernen  Ländern  mit  dem 
Insiegel  des  römischen  Reichs  versiegelt  und  damit  der  Einkaufs- 
preis der  Ware  verbrieft  werden.  Dann  sollen  alle  Waren  ans  Land 
gebracht  und   in  ein  gemeinsames  Kaufhaus  übergeführt  werden,  wo 

i)  Vgl  Städtecbronikcn,  V.  Bd.     Angsbnrg.    II.  Bd.  S.   121. 

2)  BoehiD  S.  21S. 

3)  S.  220. 

4)  Au  Wien  erhielt  ja  Valenün  Eber  Nachrichten  und  Papiere. 

13* 


—     180     — 

ein  Oberster  in  einer  Stadt  mit  zwei  oder  drei  aus  dem  Rat  den  Brief 
liest,  und  dann  soll  vom  Tage  der  oben  genannten  Verbriefung  für 
jeden  folgenden  Tag  der  Warenführung  8  Schilling  4  Pf.  als  Verdienst 
pro  100  Gulden  Warenwert  auf  den  verbrieften  Einkaufspreis  der 
Ware  geschlagen  werden.  So  sozialistisch  dieser  interessante  Vor- 
schlag klingt,  so  ist  er  dennoch  aus  dem  Geiste  des  mittelalterlichen 
städtebürgerlichen  Sozialismus  entsprungen;  eine  ähnliche  Festlegung 
des  Preises  namentlich  von  Handwerkserzeugnissen  wurde  schon  durch 
die  Zünfte  ausgeführt. 

Unmittelbar  hierher  gehört  auch  das  Kapitel  vom  furkauffen  >). 
Das  Vorkaufen  oder  Autkaufen  —  bekanntlich  dem  ganzen  Mittel- 
alter, das  den  möglichst  direkten  Verkehr  zwischen  Produzent  und 
Konsument  mit  Ausschaltung  des  berufsmäfeigen  Händlers  für  Landes- 
ware wünscht,  ein  Greuel  —  fände,  so  heifst  es,  gern  bei  partiell 
schlechten  Ernten  statt  ^).  Deshalb  soll  in  jeder  Reichsstadt  von  jedem 
Handwerk  ein  weiser  mann  d.  h.  ein  Sachverständiger  gewählt  wer- 
den; diese  sollen  einen  Überschlag  über  Korn-  und  Weinertrag  in 
einem  Jahre  machen  und  danach  den  Preis  bestimmen,  wie  auch  für 
jedes  Handwerksprodukt  einen  Lohn  festsetzen  *). 

Das  Kapitel  von  den  großen  gesellschafien  fuhrt  uns  unmittelbar 
zu  einer  bestimmten  Einrichtung  und  Örtlichkeit.  Die  grofsen  Handels- 
kompagnien, die  sich  einander  helfen,  damit  sie  nicht  verlieren,  soUen 
ab  sein;  weder  Bürger,  noch  Reichsstädte  noch  Adlige  sollen  ein 
solches  Bündnis  eingehen  bei  der  Ungnade  des  Reichs.  Offenbar 
hat  der  Verfasser  die  große  geseUschaft  von  Ravensburg,  wie  sie  sich 
selbst  nannte,  oder  die  compagnia  grande,  wie  sie  in  Mailand  hiefs  *), 
vor  Augen.  Als  seit  1419  das  Geschlecht  der  Huntpifs  die  leitende 
Macht  der  Kaufmannschaft  wurde,  verbreitete  sie  sich  nicht  nur  über 
die    schwäbischen    Städte    Memmingen ,    Ulm ,    Konstanz  *)    und    die 

1)  S   234. 

2)  Vgl.  Reichstagsakten,  XU.  Bd.  S.  48.  In  einem  Schreiben  Ravensburgs  an  Ulm 
steht  die  Notiz:  von  des  fleisches  und  pfragnens  wegen  derer ,  die  das  vteh  kaufen 
auf  gewinn. 

3)  Boos  sagt  a.  a.  O.  S.  453  darüber:  „Diese  Wünsche  entsprechen  vöUig  den 
im  Mittelalter  herrschenden  Ansichten ^\  was  insofern  nicht  richtig  ist,  als  hier  nicht  für 
eine  bestimmte  Stadt,  sondern  für  eine  ganze  Landschaft,  ja  womöglich  das  ganze 
Reich  ein  einziger  Preis  festgesetzt  werden  soll. 

4)  Vgl.  W.  Heyd,  Die  große  Ravensburger  Oesellscha ft  {StutigBri  1890). 

5)  Vgl.  W.  Heyd,  S.  12- f.  Hier  wurde  sogar  während  der  Zunftaufstände  am 
1425 — 1429  dasselbe  beschlossen,  was  unser  Verfasser  fordert,  nämlich  die  Handels- 
gesellschaften  abzuschaffen.  Vgl.  Schulte,  Geschichte  des  mittelalterliehen  Handels 
und  Verkehrs  zwischen  Westdeutschland  und  Balien,     i.  Bd.,  S.  608. 


—     181     — 

Schweiz,  sondern  auch  bis  nach  Mailand  und  nach  Barcelona  ^).  Mit 
den  Ulmer  Kauthäusern  bestand  eine  enge  Geschäftsverbindung,  aber 
in  den  gröfeeren  Handelsstädten,  Augsburg  und  Nürnberg,  machte 
sich  das  Bedürfnis  eines  Anschlusses  an  eine  fremde  Handelsgesell- 
schaft weit  weniger  fühlbar  *).  Das  dürfte  der  Grund  sein,  warum  über 
die  grofse  Gesellschaft  ziemlich  kurz  hinweggegangen  wird. 

Während  der  erste  Teil  des  Kapitels :  von  zmng  und  benne  nach 
kaiserlichen  rechten  *)  zur  Reichsreform  gehört,  weist  der  zweite  Teil  ohne 
Zweifel  auf  die  Beziehungen  zwischen  Stadt  und  Land  hin.  Es  wird  hier 
von  den  Bannrechten  an  Holz,  Flur  und  Wasser  auf  dem  Lande,  die 
sämtlich  als  der  Abschaffung  würdig  erscheinen,  gehandelt.  Auffallend 
ist  dabei,  dafs  die  Forderung  in  kein  Verhältnis  zu  der  grofsen  so- 
zialen Erregung  unter  den  Bauern  um  diese  Zeit,  nämlich  zu  der  im 
Jahre  143 1,  gebracht  ist.  Das  Landvolk  um  Worms  hatte  nämlich 
im  Jahre  143 1  das  früheste  Vorspiel  des  grofsen  Bauernkrieges*) 
jf^eben,  indem  es  mit  bewaffneter- Hand  die  Auslieferung  der  Juden 
forderte.  Das  erregte  grofsen  Schrecken  bei  allen  Städten  *) ,  sodafs 
man  in  dieser  Angelegenheit  einen  allgemeinen  Städtetag  plante: 
die  elsässischen  und  mittelrheinischen  Städte  luden  auch  Nürnberg 
und  Augsburg  am  22.  Januar  1432  dazu  ein.  Die  Städte  betonten, 
dafe  die  Bewegung  nicht  nur  gegen  die  Juden,  sondern  gegen  jede 
Ehrbarkeit,  geistlich  und  weltlich,  gerichtet  sei;  es  sei  geradezu  eine 
Lebensfrage  für  alle  Reichsstädte,  auf  Mittel  zur  Abwehr  und  Dämpfung 
zu  sinnen.  Der  Aufstand  war  also  nicht  lokaler  Natur,  aber  trotzdem 
finden  sich  keine  Beziehungen  darauf  in  der  sogenannten  Reformation : 
nur  die  Abschaffung  der  Bannrechte  wie  der  Leibeigenschaft  über- 
haupt wird  aus  dem  freien  städtebürgerlichen  Bewufstsein  heraus  ge- 
fordert. Das  zeigt  zugleich  wieder,  dafs  diese  Auslassung  ganz  pri- 
vater Natur  ist,  und  die  Proklamierung  unserer  Schrift  als  „Trompete 
des  grofsen  Bauernkrieges  "  ^)  fällt  in  sich  zusammen.  Die  Abschaffung 
der  Bannrechte  haben  auch  die  Bauern  in  den  Jahren   1524  bis  1525 

1)  Ebenda  S.  33. 

2)  Ebenda  S.  46. 

3)  Boehm  S.  221  fif. 

4)  Vgl.  von  Bezold,  Vom  rheinischen  Bauernaufstand  im  Jahre  1431^  in  der 
Zdtscbrift  für  Geschichte  des  Oberrheins.  27.  Bd.  (1875)  S.  129  fif. 

5)  Wie  man  sich  in  Nürnberg  dafUr  interessierte,  zeigen  die  neaerdings  bei  San- 
<ier,  Die  reiehssiädiisehe  Haushaltung  Nürnbergs  (Leipzig  1902)  z.  B.  S.  554  oder  585 
oütgctcflten  Auszüge  aus  den  Stadtrechnongen ,  die  Kosten  für  Bolen  nach  Worms  be- 
treffen. 

6)  Boos  a.  a.  O.  S.  455  macht  sich  diese  Bezeichnung  za  eigen. 


—     182     — 

gefordert,  doch  ein  direkter  Zusammenhang  der  damaligen  Forde- 
rungen mit  den  in  der  sogenannten  Reformation  Kaiser  Sigmunds  auf- 
gestellten ist  ebensowenig  zu  entdecken,  wie  die  Anregung  zu  irgend 
welchen  anderen  Neuerungen,  die  unsere  Schrift  auf  rechtlichem  und 
politischem  Gebiete  in  der  Folgezeit  gegeben  haben  soll  '). 

(Fortsetzang  folgt.) 


Mitteilungen 

YorsanilllluilSteil.  —  Seit  dem  sechsten  Historikertage  ^)  sind  drei 
Jahre  vergangen,  und  nunmehr  steht  die  VII.  Versammlung  deutscher 
Historiker  vor  der  Tür,  die  vom  14.  bis  18.  April  zu  Heidelberg  statt- 
finden wird.  Das  soeben  ausgegebene  Programm  verspricht  folgende  Vor- 
träge: Prof.  Eduard  Meyer  (Beiiin)  über  Kaiser  Äugustus,  Prof.  Georg 
von  Below  (Tübingen)  über  die  Entstehung  des  modernen  Kapitalismus, 
Archivdirektor  GeorgWolfram  (Metz)  über  Neuere  Forschungen  über  die 
Beiterstatuette  Karls  des  Grofsen,  Prof.  Karl  Neumann  (Heidelberg)  über 
Byzantinische  Kultur  und  Benaissancckultur,  Prof.  Erich  Marcks  (Heidel- 
berg) über  Ludwig  Häusser,  Prof.  Johannes  Haller  (Marburg)  über  den 
Ursprung  der  galUhmischen  FreihfAten,  Prof.  Eberhard  Gothein  (Bonn) 
über  VorderOsterreich  unter  Maria  Theresia  und  Joseph  IL,  Prof.  Friedrich 
Gottl  (Brunn)  über  die  Grenzen  der  Geschichte.  Ferner  wird  über  den  Plan, 
die  Korrespondenz  Karls  V.  zu  bearbeiten  *),  berichtet  und  eine  Reihe  kleinere 
wissenschaftliche  Mitteilungen  gemacht  werden.  Neben  einem  Rundgang  durch 
das  Schlofs  unter  der  sachkundigen  Führung  von  Prof.  Karl  Pf  äff  ist  ein 
Ausflug  ins  Neckartal  sowie  am  18.  April  ein  Besuch  des  Schlosses  zu 
Bruchsal  und  des  Klosters  Maulbronn  in  Aussicht  genommen.  Alle  Sitzungen 
finden  in  der  Universisät,  die  Vorträge  in  der  Aula  statt;  für  die  erfahrungs- 
gemäfs  ausgedehnten  gemütlichen  Zusammenkünfte  werden  Räume  im  „Museum" 
(Städtischer  Saalbau)  freigehalten.  Teilnehmen  können  alle  historischen  Fach- 
genossen und  Fachverwandten  sowie  Freunde  geschichtlicher  Forschung,  die, 
soweit  sie  nicht  dem  „Verband  deutscher  Historiker"  (Jahresbeitrag  5  Mk.) 
angehören,  eine  Teilnehmergebühr  von  5  Mk.  entrichten.  Gegenwärtiger 
Vorsitzender  des  Verbandes  ist  Prof.  ErichMarcks  (Heidelberg,  Scheffel- 
strafse  7),  Vorsitzender  des  Ortsausschusses  Oberbibliothekar  Prof.  J.  Wille 
(Heidelberg,  Bunsenstrafse  9),  welche  beide  auf  besondere  Anfragen  gern 
Auskunft  erteilen. 

Gleichzeitig  wird  wie  gewöhnlich  die  Konferenz  von  Vertretern 
deutscher  Publikationsinstitate   tagen.     Als   hauptsächlichster   und  vor- 

1)  Koehne  a.  a.  O.  S.  430. 

2)  Vgl.  den  Aufsatz  Die  Historikertage  im   i.  Bande  dieser  Zeitschrift  S.  137 — 145 
sowie  im  besonderen  den  Bericht  über  die  Tagung  zu  Halle  ebenda  S.   199 — 204. 

3)  Vgl.  diese  Zeitschrift  I.  Band,  S.  241  —243. 


—     183     — 

knfig  ebziger  Gegenstand  soll  die  Frage  erörtert  werden :  Wache  Methoden 
sind  eur  Lösung  histtmech^gtographiacher  Probieme,  insbesondere  auch  eu 
denn  kartographischer  Bewältigung  ausetibilden  und  anzuwenden?  Za 
diesem  Behofe  werden  die  Gesellschaft  für  Rheinische  Geschichtskunde,  die 
Kommission  für  den  historischen  Atlas  der  österreichischen  Alpenländer  *), 
die  Historische  Kommission  der  Provinz  Sachsen  sowie  die  Kgl.  Sächsische 
Kommission  für  Geschichte  das  Material  ausstellen,  was  sie  bis  jetzt  ge- 
wonnen haben,  um  damit  eine  Probe  ihrer  Arbeitsweise  zu  geben.  Natür- 
fich  wäre  es  besonders  dankenswert,  wenn  auch  andere  Institute  sich  durch 
AossteUung  eines  Materiales  beteiligen  wollten,  das  ihre  bisher  getibte  oder 
demnächst  in  Aussicht  genommene  Praxis  vollständig  beleuchtet. 

ArchlTC.  —  Gelegentlich  des  dritten  deutschen  Archivtages 
hat  Prof.  Heydenreich  (Mühlhausen)  über  Städtische  Archivbauten*)  gc- 
sprodien.  Nachdem  die  Protokoll  des  dritten  deutschen  Ärchivtages  eu 
DUssddorf  1902  vollständig  im  Korrespondenzblatt  des  Gesämtvereines  der 
deutschen  Geschichts-  und  Altertumsvereine  50.  Jahrgang  (1902)  gedruckt 
erschienen  und  auch  im  Sonderabdruck  ausgegeben  worden  sind,  mag  noch 
einmal  die  Aufmerksamkeit  auf  jenen  Vortrag  gelenkt  werden,  dessen  Inhalt 
dem  Hörer  nicht  so  bedeutsam  erschienen  sein  dürfte  wie  dem  Leser.  Eine 
ganz  aufserordentliche  Fülle  von  Material  hat  H.  zusammengebracht  nnd  vor- 
züglich gruppiert,  und  besonderen  Wert  weit  über  den  unmittelbar  berührten 
Gegenstand  hinaus  verleiht  seiner  Veröffentlichung  der  Umstand,  dafs  in  114 
Anmerkungen  genaue  Angaben  über  die  Herkunft  der  einzelnen  Mitteilungen 
gemacht  sind.  Dieser  Teil  der  Arbeit  bietet  gewisse rmafsen  eine  Bibliographie 
der  arcbivalischen  Literatur  aus  dem  ganzen  deutschen  Sprachgebiet,  denn, 
wo  nur  irgend  Mitteilungen  über  den  Zustand  städtischer  Archive  aufzufinden 
waren,  da  hat  sie  H.  aufgespürt,  und  für  diese  Sammelarbeit  schuldet  ihm 
der  Archivar  nicht  minder  Dank  als  der  historische  Forscher. 

Zeitschriften.  —  Seit  der  letzten  die  periodische  Literatur  behandelnden 
Mitteilung  ^)  haben  wieder  eine  Reihe  neue  Zeitschriften  zu  erscheinen  be- 
gonnen, von  denen  einige  allgemeine  Aufmerksamkeit  verdienen. 

Im  Jahre  1862  bat  der  damalige  Gymnasialdi rektor  zu  Corbach,  Louis 
Curtze  einen  „Historischen  Verein  der  Fürstentümer  Waldeck  und  Pyrmont** 
ins  Leben  gerufen,  der  aber  nach  Curtzes  Tod  (1868)  allmählich  einschüef. 
Die  ansehnlichen  Sammlungen  des  Vereins  blieben  ganz  ohne  Aufsicht,  bis 
sich  seit  etwa  1895  Stimmen  regten,  die  eine  Erneuerung  des  Vereins 
befürworteten.  Am  28.  Okt.  1900  kam  dieselbe  durch  eine  Versammlung 
zu  Corbach  zu  stände,  und  mit  dem  Sitze  in  Arolsen  besteht  seitdem  der 
„Geschichtsverein  für  Waldeck  und  Pyrmont",  dessen  Schrift- 
fuhrer  Realgymnasialoberlehrer  R  u  d  o  1  f  F 1  a  d  e  ist  Im  Jahre  1 90 1  erschien 
bereits  der  f.  Band  der  Gesnhichtsblätter  für  Wfädeck  und  Pyrmont  (Menge- 
rioghausen,  Kommissionsverlag   von  Weigel)   unter  Redaktion  von  Victor 

i)  Vgl.  den  Aufsatz  an  der  Spitze  dieses  Heftes! 

2)  Vgl.  den  Bericlit  oben  S.  59. 

3)  Vgl  IL  Band,  S.  188—190. 


—     184     — 

Schultze,  Prof.  der  Kirchengeschichte  in  Greifswald,  auf  dessen  Wald- 
eckische  Beformationsgeschichte  (Leipzig,  A.  Deichert  Nachfolger,  1903,  459  S. 
8  ^)  an  dieser  Stelle  vorläufig  hingewiesen  sei.  Die  neue  Zeitschrift  eröffiiet 
«in  gröfserer  Aufisatz  aus  dem  Nachlasse  des  verstorbenen  Prof.  Bosch  (Ufeld) 
über  die  Geschichte  des  Klosters  Arötsen  (S.  i  — 114).  Die  ältere  Ge- 
schichte der  Siedlung  Arolsen  ist  hier  naturgemäfs  einbezogen,  und  besonders 
die  Anfänge  des  Klosters,  die  bis  zu  Anfang  des  XII.  Jahrhunderts  hinauf- 
führen, sind  ausführlich  und  gründlich  behandelt  Die  weitere  Entwickelung 
war  offenbar  mangels  reicherer  QueUen  schwer  zu  beleuchten,  und  die  Dar- 
stellung wird  daher  erst  mit  der  Schüderung  des  Verfalls  im  XV.  Jahrhundert 
wieder  breiter,  gegen  dessen  Ende  —  wohl  1492  —  die  Antoniter  einziehen 
tmd  das  Kloster  in  jeder  Hinsicht  reformieren.  Da  diese  Erneuerung  des 
klösterlichen  Lebens  eine  .Allgemeinerscheinung  ist,  so  verdient  die  eingehende 
DarsteUung  dieser  Verhältnisse  in  Arolsen  besondere  Beachtung.  Auch  die 
Einziehung  (1526)  bietet  manche  Belehnmg.  —  Zwei  kleinere  Beiträge  be- 
schreiben dann  die  Sammlungen  im  fürstlichen  Residenzschlosse  zu  Arolsen 
(S.  115 — 122),  die  sich  in  Antikensammlung,  Gewehrkammer  und  Hofbiblio- 
thek gliedern,  und  die  waldeckischen  Archive  (S.  134 — 138),  und  in  ihrem 
Wortlaut  mitgeteUt  ist  die  christliche  Unterweisung  ^  die  Gräfin  Anna  Katha- 
rina zu  Waldeck  1655  ihren  in  fremde  Kriegsdienste  ziehenden  Söhnen 
Christian  Ludwig  und  Josias  erteilte  (S.   123  — 133). 

Im  Fürstentum  Liechtenstein  ist  am  10.  Februar  1901  ein  histo- 
rischer Verein  ins  Leben  getreten,  dem  der  regierende  Landesfürst  Johann 
einen  jährlichen  Beitrag  von  200  Kronen  gewährt  Auch  dieser  Verein  ist 
sofort  mit  deip  ersten  Bande  eines  Jahrbuchs  des  Historischen  Vereins  für 
das  Fürstentum  Liechtenstein  (Vaduz,  Selbstverlag  des  Vereins,  1901)  an  die 
Öffentlichkeit  getreten.  KarlvonlnderMauer  eröfifhet  den  Band  mit  dem  Auf- 
satze Die  Gründung  des  Fürstentums  Liechtenstein  (S.  5 — 39),  die  in  das  Jahr 
1 7 1 9  fällt,  beleuchtet  aber  auch  die  Geschichte  der  Grafen  von  Hohenems,  die 
vor  den  Liechtensteinern  Vaduz  und  Schellenberg  besafsen,  um  in  einem 
dritten  Abschnitte  die  Geschichte  des  Hauses  Liechtenstein  vorzuführen. 
Mehrere  Aktenstücke  sowie  eine  Stammtafel  der  Fürsten  von  Liechtenstein 
(S.  41 — 80)  schliefsen  sich  an.  Mit  der  Tätigkeit  des  liechtensteinischen 
Landtages  1862 — 1873  beschäftigt  sich  Albert  Schädler  (S.  81  — 176) 
und  bietet  darin  recht  interessante  Einblicke  in  das  Leben  des  kleinen  Landes, 
das  natürlich  nicht  ohne  Rücksicht  auf  die  Nachbarstaaten  darzustellen  ist 
Als  dritte  Darbietung  kommt  eine  i.  Folge  der  Begesten  zur  Geschichte  der 
Herren  von  Schellenberg  von  Johann  Baptist  Büchel,  die  Zeit  von 
1000 — 1433  in  321  Nummern  umfassend,  in  Betracht  (S.  180 — 268):  wenn 
mit  derartigen  fieifsigen  Sammelarbeiten  jeder  Verein  seine  Tätigkeit  beginnen 
wollte,  so  würde  dies  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  dafs  zunächst  nur  imvoU- 
ständiges  geboten  werden  kann,  einen  grofsen  Fortschritt  bedeuten! 

Das  Kaiserliche  und  Königliche  Heeresmuseum  in  Wien 
gibt  seit  kurzem  Mitieüungen  heraus,  deren  i.  Heft  (Wien,  in  Kommission 
bei  Karl  Konegen,  1902)  vorliegt  und  neben  einem  geschäftlichen  Teil 
(29  Seiten)  einen  wissenschaftlichen  (S.   i — 200)    enthält     Der  Konservator 


—     185     — 

des  Museums,  Wilhelm  Erben,  bietet  hier  eine  gröfsere  Quellenveröffent- 
tichimg  (S.  33 — 200)  mit  vorzüglicher  Einleitung  (S.  i — 32):  Kriegsartikel 
md  Beglemenis  als  Quellen  zur  Geschichte  der  k.  und  k.  Armee.  Der  Ver- 
&sser,  der  bereits  1900  im  6.  Ergänzungsband  der  Mitteilungen  des  Insti- 
tuts für  österreichische  Geschichtsforschung  den  Ursprung  und  die  Entwicke- 
kmg  der  deutschen  Kriegsartikel  sachkundig  dargestellt  hat,  zeigt  hier,  wie 
ake  Exerzierreglements  mehr  sind  als  Kuriositäten  und  wie  sie  sich  für  die 
Geschichte  des  Heeres  selbst  als  Quellen  benutzen  lassen.  Die  Reglements 
and  verhältnismäfsig  jung,  sie  sind  erst  im  XVII.  Jahrhundert  (S.  9 — 10) 
zur  Regelung  des  praktischen  Dienstes  verwendet  worden  und  zwar,  um  dem 
Laodesaufgebot  eine  brauchbare  Gestalt  zu  geben :  Landgraf  Moriz  von  Hessen 
hat  um  1600  das  erste  Reglement  verfafst,  indem  er,  wie  und  was  weis  man 
die  Soldaten  exerciren  solle,  niederschrieb  *.  In  Osterreich  ist  die  früheste 
entsprechende  Ordnung  bald  danach  in  Tirol  entstanden.  Im  XVUI.  Jahr- 
hundert mehren  sich  die  Reglements,  die  sich  immer  an  ältere  anlehnen,  aber 
in  der  Regel  einige  Neuerungen  enthalten,  es  bilden  sich  zugleich  allgemein 
für  das  ganze  Heer  giltige  Exerzierordnungen  aus,  während  die  früheren  immer 
nur  für  ein  Regiment  galten,  und  somit  wird  die  Grundlage  für  die  ent- 
sprechenden, im  XIX.  Jahrhundert  geltenden  Vorschriften  gewonnen.  Der 
Forschung  erwächst,  nachdem  hier  vortrefflich  die  Bedeutung  jenes  Quellen- 
materials gewürdigt  ist,  die  Aufgabe,  nachzuspüren,  wo  etwa  solche  Exer- 
aeneglements  erhalten  sind,  und  sie  auf  ihre  Abhängigkeit  von  anderen  be- 
kannten zu  untersuchen.  Abgedruckt  ist  bei  Erben  Das  Exercier-Beglement 
f6r  die  Tiroler  LandesdefensUm  von  1653  (S.  75 — 114)  und  das  Infanterie" 
Beffiement  des  Freiherm  von  Ogilvy  aus  dem  Jahre  1690  (S.  115 — 200). 
Aof  ein  handschriftlich  überliefertes  Exerzierreglement  kaim  hierbei  hingewiesen 
werden :  es  findet  sich  in  einem  Sammelband,  der  Befehle,  Berichte,  Einblatt- 
drucke enthält,  welche  1640  bis  1651  dem  im  Regimente  des  Obersten  Niven- 
heiift  dienenden  Leutnant  Martin  Henriques  von  Strevestorff*  dienstlich  zu- 
gegangen sind  *. 

Zur  Belebung  der  geschichtlichen  Studien  im  Königreich  Sachsen  und 
namentlich  zur  Veröffentlichung  gröfserer  Arbeiten  hat  Gustav  Buch  holz 
die  Herausgabe  einer  Bibliothek  der  sächsischen  Geschichte  und  Landeskunde 
(Leipzig,  S.  Hirzel)  begonnen.  Der  Herausgeber  hat  die  Absicht,  „  das  weit 
▼erbreitete,  aber  sachlich  unbegründete  Vorurteil  Lügen  zu  strafen,  als  werm 
manche  Teile  der  sächsischen  Geschichte  besser  der  Bearbeitung  ganz  ent- 
legen würden",  er  will  Arbeiten  aus  allen  Gebieten  der  sächsischen  Ge- 
schichte Aufnahme  gewähren  und  denkt  zugleich  an  gelegendiche  Publikation 
von  Briefwechseln  u.  dgl.  Das  bis  jetzt  allein  vorliegende  i.  Heft  des  ersten 
Bandes  enthält  Reinhold  Becker,  Der  Dresdener  Friede  und  die  Politik 
Brühls  (Leipzig,  S.  Hirzel,   1902,   143  S.  8"). 

'i)  Es  wäre  eine  sehr  verdienstliche  Arbeit,  wenn  namentlich  für  die  der  Union  an- 
getörenden  Territorien  im  einzelnen  untersucht  würde,  in  wie  weit  das  Landvolk  ge- 
MftcTt  und  militärisch  ausgebildet  worden  ist!  Die  allgemein  geschichtliche  Bedeutung 
<tiese$  Vorgangs  kennzeichnet   unter  Anführung   der  wichtigsten  Litteratur  Erben  S.   12. 

2)  Vgl.    Obersicht  über  den  Inhalt  der  kleineren  Archive    der  Bheinprovim, 
IL  Bd.  I.  Heft  (Bonn  iQor),  S.  41  No.  37. 


—     186     — 

Die  Ausgabe  der  im  Verlag  von  Emil  Felber  erschienenen  T^itsrhrift 
für  Kulturgeschichte,  herausgegeben  von  Georg  Steinhausen,  sowie  der 
Zeiischri/i  für  Social'  und  Wirtschaftsgeschichte,  herausgegeben  von  Stephaa 
Bauer  und  L.  Moritz  Hart  mann,  war  seit  langem  unregelmäfsig  erfolgt, 
die  Herausgeber  haben  daher  ihre  Verträge  gelöst  und  die  Fortsetzung  ihrer 
Unternehmen  in  neuer  Gestalt  begonnen.  Georg  Steinhausen,  jetzt  Stadt- 
bibliothekar in  Kassel,  läfst  seit  Beginn  des  Jahres  ein  Archiv  für  Kultur^ 
geschichte  im  Verlag  von  Alexander  Duncker  in  Berlin  erscheinen,  das 
jährlich  vier  Hefte  im  Umfang  von  zusammen  30 — 32  Bogen  zum  Preise 
von  12  Mark  umfassen  soll.  Im  Verlag  von  C.  L.  Hirschfeld  in  Leipzig 
wird  vom  i.  April  ab  eine  Vierteljahrschrift  für  Sozial-  und  Wirtschafts- 
geschichte erscheinen,  deren  Herausgeber  Stephan  Bauer  (Basel),  Georg 
von  Below  (Tübingen)  und  L.  Moritz  Hartmann  (Wien)  sind,  in  deren 
Auftrag  Kurt  Käser  (Wien)  die  Redaktionsgeschäfte  führt.  Die  Vierteljahr- 
schrift soll  viermal  jährlich  in  Heften  zu  je  10  Bogen  erscheinen,  die  Bei- 
träge können  in  deutscher,  englischer,  französischer  oder  italienischer  Sprache 
abgefafst  sein. 

Historische  OrtsTcrzclchnlsse.  —  Seitdem  bei  der  Jahresversamm- 
lung des  Gesamtvereines  des  deutschen  Geschichts-  und  Altertumsvereines 
zu  Dresden  im  Jahre  1900  die  modernen  Grundsätze  zur  Abfassung  histo- 
rischer Ortsverzeichnisse  festgelegt  worden  sind  *),  regt  es  sich  erfreulicherweise 
auf  diesem  Gebiete  allenthalben  *).  Reimer,  selbst  Mi^lied  des  engeren 
Ausschusses  zur  Abfassung  dieser  Grundsätze,  hat  bereits  nach  dem  auf- 
gestellten Muster  Proben  für  ein  historisches  Ortsverzeichnis  von  Hessen 
ausgearbeitet  und  im  Druck  vorgelegt.  Die  einzelnen  Artikel  halten  sich 
auf  das  Knappeste,  man  wird  wohl  finden,  allzu  knapp  und  bedauern,  dafs 
das  durchforschte  Material  nicht  doch  noch  zu  weiteren  Aufschlüssen  ^ver- 
wendet wird.  Mit  Recht  hat  daher  die  Sächsische  Kommission  für 
Geschichte,  als  sie  sich  zu  Ende  des  genannten  Jahres  1900  demselben 
Unternehmen  zuwandte,  sich  etwas  weitere  Grenzen  gesteckt.  H.  Beschorner, 
welcher  schon  früher  in  eingehender  Weise  den  Gegenstand  mit  besonderer 
Rücksicht  auf  Sachsen  behandelt  hatte  '),  wurde  mit  der  Ausarbeitung  einer 
eigenen  Denkschrift  betraut,  die  er  nunmehr  der  Öffentlichkeit  übergeben 
hat  *).  Auch  er  war ,  wie  sich  ja  Jeder ,  der  ein  solches  Unternehmen  in 
Angriff  nimmt,  wird  überzeugen  müssen,  genötigt,  die  Sache  individuell  zu 
erfassen,  d.  h.  nicht  nur  dem  historischen  Charakter  des  Landes  angemessen, 

1)  Mitgeteilt  in  der  Zeitschrift  II.  Bd.,  b.  92  —  94. 

2)  Zu  dem  Gegenstande  vergl.  meinen  ausführlichen  Aafsatx  Über  historische  TopO' 
graphie  mit  besonderer  Rückncht  auf  Niederösterreich  in  dieser  Zeitschrift  111.  Bd., 
S.  97 — 109  ond  129  137.  Ich  trage  hier  nach,  dafs  auch  die  Thüringische  Historische 
Kommission  seit  ihrer  Gründung  im  Jahre  1896  die  Abfassung  eines  historischen  Orts- 
verteichnisses  in  ihr  Arbeitsprogramm  aufgenommen  hat,  wozu  man  allerdings  über  Vor- 
arbeiten bis  jetzt  noch  nicht  hinausgekommen  ist.  —  Über  die  Landes-  and  Ortsbeschreibung 
von  EUaf^-Lothrin(^en  vgl.  oben  S.  87  (falsche  Zählung  S    103). 

3)  Stand  und  Aufgaben  der  historischen  Topographie  in  Scushsen  [Neues  Archiv 
für  Sächsische  Geschichte  XXI,  (1900),  S.   138  ff.]. 

4)  Denkttchrift  Ober  die  Herfdeilung  eines  historischen  Ortsverseichmsses  für 
das  Königreich  Sachsen  (Dresden,  1903). 


—     187     — 

sondern  auch  nach  dem  Stande  der  bisherigen  Vorarbeiten.  In  bezug  auf 
die  Bau-  und  Kunsttopographie,  die  kirchliche  Topographie  und  die  Ver- 
zeichnisse der  prähistorischen  Funde  ist  z.  B.  Sachsen  bereits  bestens  ver- 
sorgt, dagegen  hält  Beschorner  die  Sammlung  der  Flurnamen  und  die 
Anlage  eines  Wüstungsverzeichnisses  flir  unerläfsliche  Vorarbeiten,  bevor  an 
die  Abfassung  eines  historischen  Ortsverzeichnisses  geschritten  werden  kann. 
Ihnen  sind  daher  die  zwei  ersten  Abschnitte  der  Denkschrift  gewidmet. 
(Man  beachte  auch  den  Fragebogen  zur  Ermittelung  älterer  Flurverhältnisse 
im  Anhang!)  Bezüglich  des  eigendichen  Ortsnamensverzeichnisses  ist  es, 
wie  gesagt,  von  Bedeutung,  dafs  Beschorner  die  Vorschläge  des  Dresdener 
Tages  vielfach  umwandelt.  Einerseits  will  er  für  die  Artikel  die  zusammen- 
hängende Darstellung  anwenden,  andrerseits,  damit  das  Werk  nicht  zu  sehr 
anschwillt,  die  2.  und  3.  Gruppe  der  Vorschläge,  nämlich  die  Sammelartikel 
über  Gerichts-,  Münz-,  Zollstätten  u.  s.  w.  und  über  die  Einteilung  des  Landes 
in  politischer  und  kirchlicher  Hinsicht  weglassen,  jedoch  eine  Einleitung  über 
terntoriale  Entwickelung,  politische  und  kirchliche  Einteilung,  über  Statistik  und 
namentlich  über  die  benutzte  Literatur  vorausschicken  und  ein  Sachregister 
begeben.  Der  einzelne  Artikel  würde  demnach  enthalten:  L  den  heutigen 
Namen  (offiziell  und  volkstümhch),  Angabe  des  Ortscharakters  und  der  Lage ; 
n.  die  Namensentwickelung  (mit  Quellenbelegen) ;  IIL  Historisch-topographische 
Nachrichten  (u.  zw.  i.  Gründung  des  Ortes,  2.  Erhebung  zur  Stadt  oder  Ver- 
leihung von  Marktprivilegien,  3.  bei  Wüstungen  Zeit  und  Art  des  Wüstwerdens, 
4.  Eingemeindungen,  5.  Burgen  und  Rittergüter,  6.  adlige  Familien,  7.  kirch- 
liche Verhältnisse,  8.  GerichtsstäUen,  9.  Münz-,  Zoll-  und  Geleitstätten, 
10.  Mühlen,  11.  Bildungsanstalten,  12.  industrielle  Anlage,  13.  politische 
Zogehörigkeit,  14.  Naturereignisse,  kriegerische  Vorgänge,  15.  statistische 
Angaben).  Da  über  das  Wesen  der  historischen  Ortsverzeichnisse  und  ihre 
Angaben  vielfach  sehr  unklare  Vorstellungen  herrschen,  so  ist  es  sehr  dankens- 
wert, dafe  Beschorner  sein  geplantes  Werk  präzisiert  (S.  26)  als  ein  „lexi- 
kalisch gefafstes  handliches  Nachschlagewerk,  das  den  Histo- 
riker für  jede  Epoche  der  Geschichte  über  das  Land  im  all- 
gemeinen, seine  Einteilung  und  seine  Wohnstätten  kurz  auf- 
klärt'*. Er  veranschlagt  den  Umfang  des  Werkes  auf  einen  Band  und  will  es 
ohne  Mitarbeiterschatt  allein  abfassen.  So  sehr  die  Denkschrift  gezwungen  ist,  in 
jedem  Funkte  auf  die  spezifisch  sächsischen  Verhältnisse  Rücksicht  zu  nehmen, 
so  wird  sie  dennoch  für  alle  derartigen  Unternehmungen  eine  höchst  will- 
kommene Vorlage  bilden,  denn  es  werden  auch  viele  allgemeine  Fragen, 
namentlich  in  bezug  auf  die  praktische  Seite  der  Durchführung  erörtert.  — 
Von  der  Topographie  von  Niederösterreich  ist  das  i.  Heft  des 
VL  Bandes  im  Umfange  von  16  Bogen  (Buchstabe  M)  fertiggestellt.  Die 
weitschichtige  Anlage  dieses  ganzen  Werkes,  an  welchem  gegenwärtig  fünf- 
nndzwanzig  Mitarbeiter  beschäftigt  sind,  bedingt  einige  wesendiche  Verschieden- 
heiten von  den  in  Ausführung  begriffenen  oder  auf  Grund  der  Dresdener 
Vorschläge  geplanten  historischen  Ortsverzeichnissen  in  Deutschland,  die  eben 
Dar  ab  Hand-  und  Nachschlagebücher  gedacht  sind,  während  hier  eine  Samm- 
lung ausführlicherer  Ortsgeschichten  geboten  werden  soll.  Um  auch  sonst 
kein  Miisverständnis  aufkommen  zu  lassen,  betone  ich  nochmals,  wie  ich 
dies  bereits  in  meinem  oben  erwähnten  Aufsatz  getan,  dafs  auch  ich  selbst- 


—     188     — 

verständlich  mit  vielen  eigentümlichen  Verhältnissen  des  Landes  Niederöster- 
reich  rechnen  mufste  und  bei  dem  schon  weit  vorgeschrittenen  Stadium 
des  Erscheinens  an  gewissen  bisher  eingebürgerten  Einrichtmigen  des  Werkes 
auch  fernerhin  festzuhalten  gezwungen  war.  Aufserdem  werden  manche 
schwierigere  Reformen,  die  längerer  Vorbereitungen  bedürfen,  erst  im  weiteren 
Verlaufe  durchgeführt  werden  können,  da  in  dem  Erscheinen  des  Werices 
keine  Unterbrechung  eintreten  durfte. 

Wien.  M.  Vancsa. 

Personalien.  —  Am  17.  Oktober  1902  starb  Dr.  Franz  Krones 
Ritter  von  Marchland,  k.  k.  Hofrat,  o.  ö.  Professor  der  österreichischen 
Geschichte  an  der  Universität  zu  Graz,  ein  hochverdienter  Gelehrter,  erfolg- 
reicher Lehrer,  eifriger  Forscher  und  fruchtbarer  Schriftsteller.  Am  19.  No- 
vember 1835  7'^  Ungarisch  -  Ostrau  in  Mähren  geboren,  besuchte  K.  1844 
bis  1852  das  Gynmasium  zu  Brunn  und  bis  1856  die  Universität  zu  Wien, 
wo  er  vorzugsweise  historisch-geographische  und  germanistische  Studien  trieb» 
Mitglied  des  1855  gegründeten  Instituts  ftir  österreichische  Geschichtsforschung 
war  und  zum  Dr.  phil.  promoviert  wurde.  Erst  21  Jahre,  1856,  zum  Supplenten 
der  Lehrkanzel  ftir  österreichische  Geschichte  an  der  damals  deutschen 
Rechtsakademie  zu  Kaschau  in  Ungarn  ernannt,  ward  er  dort  1857  zum 
aufserordentlichen  Professor  dieses  Faches  bestellt  und  blieb  in  diesem  Amte, 
bis  durch  den  völligen  Umschwung  der  politischen  Verhältnisse  in  Ungarn 
(186 1)  alle  von  der  Wiener  Regierung"  seit  1849  dorthin  entsendeten  Be- 
amten ihre  Stellen  aufgeben  mufsten.  Seinen  Aufenthalt  in  Ungarn  benutzte 
K.  zur  vollständigen  Erlernung  der  ungarischen  Sprache  und  erwarb  sich 
dadurch  das  Mittel  zu  seinen  späteren  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der 
Geschichte  Ungarns. 

Von  Kaschau  nach  Wien  zurückgekehrt,  1861  als  Professor  an  das 
erste  Staatsgymnasium  in  Graz  gesendet,  habilitierte  er  sich  1862  an  der 
Universität  daselbst  und  wurde  1865  zum  o.  ö.  Professor  ernannt,  welche 
Stelle  er  bis  zu  seinem  Tode  bekleidete.  Wesenüichen  Anteil  nahm  er  an 
der  Gründung  des  historischen  Seminars  (1866/67),  nicht  minder  an  den 
Arbeiten  des  historischen  Vereins  ftir  Steiermark,  dessen  Ausschufsmitglied 
er  durch  lange  Zeit  war,  und  zu  dessen  Ehrenmitglied  er  bei  dem  ftinfzig- 
jährigen  Jubiläum  desselben  (1900)  ernannt  wurde.  Zweimal  bekleidete  er 
die  Würde  eines  Dekans  der  philosophischen  Fakultät  (1869  und  1873), 
1877  w^*"  ^^  Rektor  der  Universität,  seit  1874  korrespondierendes  Mitglied 
der  kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien  und  später  auch  der 
königl.  ungarischen  Akademie  zu  Buda-Pest.  Seit  1865  hielt  K.  auch  als 
Honorardozent  der  Geschichte  an  der  k.  k.  technischen  Hochschule  Vor- 
lesungen, von  1873  ^^s  1874  leitete  er  das  in  Graz  gegründete  Mädchen- 
lyzeum, die  erste  derartige  höhere  Lehranstalt  ftir  das  weibliche  Geschlecht 
in  Österreich,  als  prov.  Direktor  und  wirkte  durch  mehr  als  zwanzig  Jahre 
als  Fachmann  im  steiermärkischen  Landesschulrate.  Als  Auszeichnungen 
wurden  ihm  der  Orden  der  eisernen  Krone  IIL  Klasse,  die  Erhebung  in 
den  Ritterstand  mit  dem  Prädikate  „von  Marchland"  und  die  Verleihung 
des  Titels  eines  k.  k.  Hofrats  zu  teil. 

Als  Forscher  hat  K.  vor  allem  die  Geschichte  Ungarns,  die  Geschichte 


—     189     — 

• 

der  Steiermark  und  Innerösteireichs,  sowie  die  allgemeine  österreichische  Ge- 
schichte an  der  Wende  des  XIX.  Jahrhunderts  bereichert,  indem  er  entweder 
Dcoes  archivalisches  Material  zur  Kenntnis  der  Fachgenossen  brachte,  dessen 
Verarbeitung  erst  noch  zu  erfolgen  hat,  oder  mit  Verratung  endegener  ge- 
dmckter  Quellen  Untersuchungen  interessanter  Fragen  anstellte,  die  zur  Auf- 
hellung und  Klärung  einzelner  Zeiträume  beitragen.  Zu  dieser  Gruppe  seiner 
literarischen  Arbeiten  zählen  wir  die  Abhandlungen  Der  Kampf  des  Anjou- 
^ektn  Königtums  mit  den*  Oligarchie  (1863);  Zur  Geschichte  Ungarns  im 
ZeitaUer  fhram  Rakocxys  IL  (1870);  Zur  Qescfiichte  des  deutschen  Volks- 
tums m  den  Karpathen  (1878);  Vorarbeiten  zur  Quellenkunde  (1865 — 69)  und 
Materialien  zur  Oesehiclite  des  mittelalterlicfien  Landtagswesens  der  Steierfnark 
(1879);  ^^  Freien  von  Saneck  und  ifire  Chronik  (1883);  Qraf  Hermann  IL 
ron  OilU  (1873);  Zur  Gesdiichi^  dei"  Steiermark  vor  und  in  den  Tagen 
der  Baumkircherfehhie  (1869);  Zeugenverhör  über  Andreas  Bau/mkirchers 
Taten^  Leben  und  Ende  (187 1);  Aktenmäßige  Beiträge  zur  Geschichte  des 
Tattenbacltisehen  Prozesses  (1862);  Verfassung  und  Verwaltung  der  Mark 
und  des  Herzogtums  Steter  (1893);  Landes  fürst,  Behörden  und  Stände  des 
Herzogtums  Steier  1282 — 1411  (1901);*  Geschichte  der  Kari-Franzens-Ühi- 
rersüät  in  Graz  (Jubiläumsschrift  1886  mit  Fortsetzung  1895);  ^''  Geschichte 
ösienreidis  1792—1816  (1886);  Tirol  1812-1816  und  Erzherzogs  Johann 
ron  Österreich  (1890);  Aus  dem  Tagebuche  Erzherzogs  Johanns ,  Aus  Öster- 
reichs stillen  und  bewegten  Tagen  1810—1812,    1813—1815   (1891,   1892). 

Zu  diesen  letztgenannten  Studien  aus  dem  Gräflich  Meranschen  Archiv 
m  Graz  gesellen  sich  die  Monographieen  Feldzeugmeister  Josef  Freiherr  von 
Simbsehen  1810—1818  (1891)  und  Moritz  von  Kaiserfeld  (1888). 

Grofse  Verbreitung  hat  das  Handbuch  der  Ge^chicJäe  Österreichs  (5  Bde., 
1876 — 1879)  gefunden,  das  bis  zur  Vollendung  des  Huberschen  Werkes  durch 
Oswald  Redlich  das  einzig  brauchbare  Nachschlagewerk  bleiben  wird,  tmd  dessen 
bibliographische  Hinweise  dem  Historiker  unentbehrlich  geworden  sind.  Kom- 
pÜatorischen  Charakter  haben  die  Geschichte  österreicJis  für  die  reifere  Jugend 
(2  Bde.),  der  Grundri/h  der  österreichischen  Geschichte  ynit  be^sonderer  Bück- 
fficht  auf  Quellen-  und  Literaturkunde  (188 1),  die  Geschichte  der  Neuzeit 
Österreichs  (1879),  während  die  Umrisse  de^  Geschichtslebens  der  deuisch-öster- 
reichischen  Ländergruppe  (1863)  und  Die  österreichisdten ,  böhmischen  und 
ungarischen  Länder  im  letzten  Jahrhundert  vor  ihrer  dauernden  Vereinigung 
(1864)  vielfach  auch  selbständige  Anschauungen  zum  Ausdruck  bringen. 

Mit  diesen  Werken  sind  die  Leistungen  des  rasdosen  und  emsig  schaffen- 
den Mannes  nicht  erschöpft;  mehr  als  fünfzig  Aufsätze  im  Archiv  für  öster- 
reichische Geschichte,  in  den.  Mitteilungen  und  Beiträgen  des  Historischen 
Vereines  und  in  den  Veröffentlichungen  der  Historischen  Landes-Kommission  für 
Steiermark  müfeten  noch  aufser  einer  stattlichen  Anzahl  selbständiger  Brochüren, 
Volksbücher  u.  dgl.  m.  aufgezählt  werden,  um  eine  vollständige  Bibliographie 
von  K.  zu  bieten.  Was  unermüdlicher  Fleifs  und  liebevolle  Vertiefung  in 
<iie  Denkmäler  heimatlicher  Geschichte  hervorzubringen  vermögen,  das  findet 
nun  in  allen  seinen  Arbeiten;  scharfe  Kritik,  die  Durchdringung  politischer 
oder  kulturhistorischer  Probleme  war  seine  Sache  nicht.  Es  genügte  ihm, 
oeuc  Wege  durch  das  Dickicht  der  Aktenfaszikel  eingeschlagen,  Ausblicke 
nach  den  verschiedenen  Richtungen  geschaffen  und  damit  seine  zahlreichen, 


—     190     — 

mit  inniger  Verehrung  an  ihm  hängenden  Schüler  zur  Nacharbeit  angeeifert 
zu  haben.  Seine  Lehrtätigkeit  wurde  am  wesentlichsten  durch  seine  liebens- 
würdige Persönlichkeit  und  seine  wahrhaft  kollegiale  Gesinnung  unterstützt, 
die  ihm  bei  Allen,  die  zu  seinen  Füfsen  gesessen  sind  oder  mit  ihm  das 
Vereinsleben  gefördert  haben,  eine  dankbare  Erinnerung  bewahren  wird. 

An  deutsche  Universitäten  wurden  berufen:  der  Leipziger  Privatdozent 
Karl  Sapper  als  aufserordentlicher  Prof.  der  Geographie  nach  Tübingen; 
der  aufserordentliche  Prof.  der  Geschichte  in  Marburg  Karl  Brandi  als 
ordentlicher  Prof  nach  Göttingen;  der  aufserordentliche  Prof.  der  Geschichte 
in  Göttingen  Otto  Krauske  als  ordentlicher  Prof  nach  Königsberg  i.  P. ; 
der  ordentliche  Prof.  der  alten  Geschichte  in  Halle  Eduard  Meyer  in 
gleicher  Eigenschaft  nach  Berlin;  der  aufserordentliche  Prof  der  deutschen 
Rcchtsgeschichte  in  Freiburg  i.  B.  Konrad  Beyerle  in  gleicher  Eigen- 
schaft nach  Breslau ;  der  ordentliche  Prof  der  Geschichte  in  Königsberg  L  F. 
Georg  Erler  in  gleicher  Eigenschaft  nach  Münster  i.  W.;  der  bisherige 
Assistent  am  Kgl.  Preufs.  historischen  Institut  in  Rom  J.  Haller  als  aufser- 
ordentlicher Prof  nach  Marburg;  der  aufserordentliche  Prof  der  National- 
ökonomie in  Freiburg  i.  B.  Heinrich  Sieveking  in  gleicher  Eigenschaft 
nach  Marburg ;  der  Archivar  und  Privatdozent  der  Kunstgeschichte  in  Königs- 
berg i.  P.  Hermann  Ehrenberg  als  aufserordentlicher  Prof  der  Kunst- 
geschichte nach  Münster  i.  W. ;  der  Sekretär  an  der  Hof-  und  Staatsbibliothek 
in  München  Franz  Kampers  als  aufserordentlicher  Prof  der  Geschichte 
nach  Breslau;*  der  ordentliche  Prof  der  alten  Geschichte  in  Würzburg 
Ulrich  Wilcken  in  gleicher  Eigenschaft  nach  Halle ;  der  ordentliche  Profi 
der  Geschichte  in  Heidelberg  Dietrich  Schäfer  in  gleicher  Eigenschaft 
nach  Berlin;  der  aufserordentiiche  Prof  der  Geschichte  in  Bonn  Karl 
Hampe  als  ordentlicher  Prof  nach  Heidelberg;  der  aufserordentliche  Prof. 
der  Geschichte  in  Heidelberg  Alexander  Cartellieri  in  gleicher  Eigen- 
schaft nach  Jena;  der  aufserordentliche  Prof  der  Geschichte  in  Halle  Felix 
Rachfahl  als  ordentlicher  Prof  nach  Köm'gsberg  L  P.  Unter  Verbleiben 
an  ihrem  Wohnsitz  wurden  der  aufserordentliche  Prof  der  Kunstgeschichte 
Adelbert  Matthaei  in  Kiel  sowie  die  aulserordentlichen  Pioff.  der  Ge- 
schichte Anton  Chroust  in  Würzburg,  O.  Hintze  in  Berlin,  Span- 
nagel imd  Aloys  Meister  in  Münster  i.  W.  zu  Ordinarien  ernannt. 
Domkapitular  AlexanderSchnütgen  in  Köb  erhielt  die  Ernennung  zum 
Honorarprofessor  für  christliche  Kunstgeschichte  in  Bonn.  —  In  Berlin  wurde 
eine  aufserordentliche  Professur  für  „deutsche  Archäologie  und  germanische 
Altertumskunde",  wie  sie  in  neuerer  Zeit  öfter  gefordert  worden  ist,  begründet 
und  damit  die  erste  selbständige  Professur  dieses  Faches  ins  Leben  gerufen ; 
berufen  wurde  dafür  im  Juli  1902  Gustav  Kossinna,  ein  Schüler  Müllen- 
hoffs,  früher  Bibliothekar  an  der  Kgl.  Bibliothek  in  Berlin,  der  seit  langer 
Zeit  auf  diesem  Felde  erfolgreich  tätig  gewesen  ist. 

Für  Geschichte  habilitierten  sich:  in  Greifswald  Albert  Werming- 
hoff;  in  Strafsburg  i.  E.  Robert  Holtzmann;  in  Wien  J.  Lechner; 
in  München  Beckmann  und  Jansen;  in  Karlsruhe  (Technische  Hoch- 
schule) Karl  Brunner;  in  Leipzig  Richard  Scholz  und  A.  Doren; 
in  Berlin  Norden;  in  Innsbruck  für  österreichische  Reichsgeschichte  Kogler. 


—     191     — 

—  Für  Kunstgeschichte  habilitierten  sich:  in  Berlin  L.  Justi  und 
CX  Wulff;  in  Stuttgart  (Technische  Hochschule)  Karl  Franck;  in  Wien 
(Technische  Hochschule)  H.  Egg  er. 

Es  starben:  7.  Mai  1902  Adolf  Beer,  Prof.  an  der  Technisches 
Hochschule  in  Wien,  Ver&sser  der  Geschichte  des  Welthandels  (1860)^ 
71  Jahre  alt;  xi.  Mai  Prediger  Henri  Tollin  zu  Magdeburg,  der  rer- 
Aenstvolle  Erforscher  der  Geschichte  französischer  Hugenottengemeinden  in 
Fnmkfurt  a.  Ö.,  Magdeburg,  Berlin,  Halberstadt,  Celle,  Mannheim,  Oranien* 
barg,  seit  1890  Herausgeber  der  Geschiehtsblätter  des  deutschen  Hugenotten^ 
Vereins i  69  Jahre  alt;  23..  Mai  in  München  Reichsarchivassessor.  Franr 
Schnei  de  rwirth,  ein  geborener  Westlaie,  43  Jahre  alt;  4.  Juni  in  Dussel* 
dorf  der  frühere  langjährige  Leiter  des  dortigen  Staatsarchivs  Woldemar 
Harless,  74  Jahre  alt  (vgl.  II.  Bd.,  S.  94 — 95);  8.  Juni  der  Heidelberger 
Obeibibliothekar  Karl  Zangemeister,  der  Wiedergewinner  der  Manessischen 
Handschrift,  der  Förderer  Heidelberger  Orts-  tmd  Schlofsgeschichte  sowie 
der  römischen  Altertumsforschung  auf  deutschem  Boden  und  Vorsitzende  des 
geschäftsführenden  Ausschusses  der  Reichs-Limeskommission ,  64  Jahre  alt; 
7.  Juli  der  Archivar  und  Bibliothekar  der  Stadt  Trier  M  ax  Keuffer,  46  Jahre 
ah;  10.  Juli  der  Innsbrucker  Rechtshistoriker  Julius  Ficker,  76  Jahre 
ah;  2f.  Juli  in  Kissingen  der  Direktor  des  grofsherzoglichen  Museums  in 
Schwerin,  Friedrich  Schlie,  63  Jahre  alt;  im  Juli  der  Privatdozent  der 
Geschichte  an  der  deutschen  Universität  in  Prag  Oskar  Wanka  Edler 
TonRodlow,  28  Jahre  alt;  Anfang  September  in  München  Ferdinand 
Kaltenbrunner,  Prof.  der  geschichtlichen  Hilfswissenschaften  in  Innsbruck,. 
56  Jahre  alt.  10.  September  in  Friedrichroda  Ernst  Dümmler,  Vor- 
sitzeoder der  Zentraldirektion  der  Monvmenta  Germaniae  historica,  73  Jahre 
ah;  17.  September  in  München  der  Rechtshistoriker  Konrad  von  Maurer, 
79  Jahre  adt;  10.  Oktober  der  Stadtarchivar  von  Dorpat  Lichtenstein; 
X2.  Oktober  der  Direktor  des  Trierer  Provinzialmuseums  Felix  Hettner, 
Mitherausgeber  der  Westdeutschen  Zeitschrift,  51  Jahre  alt;  24.  November 
der  Direktor  des  Kgl.  Bayerischen  Reichsarchivs  in  München  Edmund 
von  Oefele,  58  Jahre  alt;  27.  Dezember  Prof.  ¥.  Otto  in  Wiesbaden,  em- 
siger Forscher  in  Nassauischer  Geschichte,  76  Jahre  alt;  i.  Januar  1903  Geh» 
Archivrat  Ernst  Friedländer  in  Berlin,  61  Jahre  alt;  4.  Januar  Major  a.  D. 
Wegen  er,  Konsen'ator  des  städtischen  Museums  in  Braunschweig,  72  Jahre 
ah;  13.  Januar  der  Leiter  der  Universitätsbibliothek  und  Prof.  der  Biblio- 
thekswissenschaft in  Göttbgen  KarlDziatzko,  60  Jahre  alt;  13.  Januar 
Staatsarchivar  a.  D.  Labhart-Labhart  in  Zürich,  79  Jahre  alt;  im  Januar 
der  Stettiner  Stadtbibliothekar  TheodorMünster,  40  Jahre  alt ;  8.  Februar 
der  Archäolog  Lycealprofessor  Joseph  Führer  in  Bamberg,  45  Jahre  alt; 
10.  Februar  CarlAdolfCornelius,  eins  der  letzten  Mitglieder  des  Frank- 
furter Parlaments,  84  Jahre  alt. 

Im  KgL  Preufsischen  Archivdienst  wurden  die  Assistenten  Lau  von 
Stettin  nach  Düsseldorf  und  Loewe  von  Berlin  nach  Hannover,  die  Hilfs- 
arbeiter Ther Stappen  von  Königsberg  nach  Breslau  und  Eggers  von 
Schleswig  nach  Königsberg  versetzt.  —  Zum  Direktor  des  Kgl.  Bayerischen 
Reicbsarchivs  in  München  wurde  Reichsarchivrat  Franz  Ludwig  Bau  mann 
ernannt;  nach  dem  Tode  von  Oefeles  war  der   dienstälteste   Reichsarchivrat 


—     192     — 

Pius  Wittmann,  der  im  Sommer  1902  gerade  25  Jahre  am  Reichsarchtr 
tätig  war,  mit  der  Geschäftsführung  betraut.  Der  Kreisarchtvar  Glasschröder 
in  Speier  wurde  als  Reichsarchivassessor  nach  München  berufen ,  an  seine 
Stelle  in  Speier  trat  Kreisarchivsekretär  A.  Müller.  —  Zum  Staatsarchivar  des 
Kantons  Zürich  wurde  Dr.  Häne-Wegelin  ernannt,  Stadtarchivar  in  Augs- 
burg wurde  Dr.  Dirr,  in  Efslingen  Architekt  A.  Benz.  —  Prof.  Hey  den- 
reich,  Stadtarchivar  zu  Mühlhausen  i.  Th.,  wurde  als  Hilfsarbeiter  in  das 
Ministerium  des  Innern  zu  Dresden  berufen  zur  Bearbeitung  der  Adelsangelegen- 
heiten und  Einrichtung  eines  Adelsbuches. 

Prof.  L.  Kämmerer,  Assistent  am  k.  Kupferstichkabinett  in  Berlin, 
wurde  zum  Direktor  des  Provinzialmuseums  in  Posen  gewählt,  zum  Konser- 
vator der  Kunstdenkmäler  im  Herzogtum  Anhalt  Dr.  Ostermayer,  bisher 
in  Danzig,  zum  Konservator  für  Ostpreufsen  Dethlefsen,  für  Hessen 
von  Drach.  H.  Dragendorff,  aufserordentl.  Prof.  der  klassischen  Philo- 
logie und  Archäologie  in  Basel,  wurde  zum  Direktor  der  römisch-germanischen 
Konmiission  des  kais.  archäologischen  Instituts  mit  dem  Wohnsitze  in  Frank- 
furt a.  M.  ernannt. 

Eingegangene  Bfleher. 

Lutsch,  Hans:  Verzeichnis  der  Kunstdenkmäler  der  Provinz  Schlesien, 
Band  VI:  Denkmälerkarten  (für  jeden  Regierungsbezirk  eine). 
Breslau,  Gottl.  Korn,  1902.     M.  9,00. 

Meier,  P.  J. :  Untersuchungen  zur  Geschichte  der  Stadt  Wolfenbtittel 
[Sonderabdruck  aus  dem  „  Braunschweiger  Jahrbuch"  1902].    37  S.  8®. 

Nentwig,  Heinrich:  Silesiaca  in  der  Reichsgräflich  Schaflfgottsch'schen 
Majoratsbibliothek  zu  Warmbrunn.   2.  Heft.  Leipzig,  1902.  S.  233  -  576. 

Ohr,  Wilhelm:  Der  Karolingische  Gottesstaat  in  Theorie  und  Praxis. 
Leipziger  Dissertation.     Leipzig,  Gustav  Fock,   1902.     80  S.  8^. 

Oidtmann,  Heinrich:  Die  Hubertusschlacht  bei  Linnich  in  Dichtung, 
Sage  und  Geschichte  [Sonderabdruck  aus  dem  Kreis- Jülicher  Korre- 
spondenz- und  Wochenblatt,   1902].     32  S.  8®. 

Overmann,  Alfred:  Die  ersten  Jahre  der  Preufsisehen  Herrschaft  in 
Erf'rt  1802  — 1806,  veranlafst  und  unterstützt  von  der  Stadt  Erfurt. 
Erfurt,  Keyser  1902.     145  S.  S^. 

Pfau,  W.  C. :  Grundzüge  der  älteren  Geschichte  des  Dorfes  Seelitz  und 
seiner  Kirche  [=  Einzelheiten  aus  dem  Gebiet  der  Rochlitzer  Geschichte, 
Lieferung  2].     Rochlitz  i.  S.,   1902.     67  S.  8®. 

Derselbe:  Zur  Geschichte  des  Tabaks  in  der  Rochlitzer  Pflege  [==  Einzel- 
heiten aus  dem  Gebiete  der  Rochlitzer  Geschichte ,  Lieferung  3 ,  S.  5 
bis  10].     Rochlitz  i.  S.,   1902. 


Berichtigung 

Auf  Seite  135    auf  Zeile  6  ist  statt:   „des  letzten  vorchristlichen  Jahr- 
hunderts" zu  lesen:  „des  letzten  vorchristlichen  Jahrtausends". 

Die  Red. 


U«^r4UJ(eeher  Dr.  Armin  Tille  in   Leipzig. 
Druck  und  Verlag  von  Friedrich  Andrea«  Perthes  AkdengeselUchaft  Gotha. 


Deutsche  Ceschichtsblätter 

Monatsschrift 


rar 


Forderung  der  landesgeschichtlichen  Forschung 

IV.  Band  Mai  1903  8.  Heft 


Die  {Reform  des  mreltliehen  Standes  naeh 
der  sogen,  t^eformation  des  I^aisers  Sig^ 
mund  im  Iiiehte  der  gleiehzeitigen  t^eform^ 
Bestrebungen  im  t^eieh  und  in  den  Städten 

Von 
Heinrich  Werner  (Merzig) 

(Fortsetzung.) 

Nun  folgt  eine  Reihe  von  Kapiteln,  die  sich  auf  das  Polizeiwesen 
und  den  diplomatischen  Verkehr  der  Städte  beziehen.  Zu  der  Po- 
lizei, d.  h.  im  Mittelalter  zu  der  gesamten  öffentlichen  Wohlfahrts- 
pflege, gehören  zunächst  die  Kapitel  über  das  Arzneiwesen,  im  be- 
sonderen den  Arzt  *).  Leider  sind  die  Polizeiverordnungen  der  Städte 
aus  jener  Zeit  noch  sehr  lückenhaft  veröffentlicht;  auch  würden  die 
Beratungen  des  Ulmer  Städtetages,  wenn  deren  Protokolle  dem  Drucke 
übergeben  werden  könnten,  gröfseres  Licht  auf  diese  Vorschläge 
werfen,  namentlich  auch  auf  die  beiden  Kapitel:  ein  poUtten*),  und 
daß  man  den  pfundzoU,  d.  h.  Wertzoll,  geben  soll ').  Neben  dem  Zoll- 
wesen soll  auch  das  Geleite  Gegenstand  der  Beratung  in  Ulm  ge- 
wesen sein:  der  Vorschlag,  einen  Stadtpafs  einzufuhren,  dürfte  daran 
erinnern. 

Die  Kapitel  über  den  diplomatischen  Verkehr  einer  Reichsstadt 
sind  höchst  charakteristisch  für  die  Person  des  Verfassers.  Es  sind 
das  die  Kapitel  von  insigeln,  eine  reichssiaU  soU  ewei  insigel  hm,  ein 
dadtschreiber  sdU  publicus  notaritis  sein,  kein  priester  soU  notarius  sein. 
Zunächst  fallt  hier  auf,  dafs  die  Bemerkungen  über  die  Insiegel  fast 
mit  denselben  Worten  in  beiden  Teilen  wiederkehren,  und  dafs  dieses 
Thema  so  ausführlich  behandelt  ist,   dafs  es  in  keinem  rechten  Ver- 


1)  Boehm  S.  aa6f. 

2)  Ebenda  S.  331. 

3)  Ebenda  S.  236. 

14 


—     194    — 

hältnis  zu  den  übrigen  Reformvorschlägen  steht.  Dazu  gelten  diese 
breiten  Ausfuhrungen  fast  nur  dem  Stadtschreiberamt,  denn  nur  an 
einer  Stelle  wird  auch  der  „kaiserliche  Schreiber"  *)  erwähnt  —  wohl 
infolge  der  Bekanntschaft  des  Verfassers  mit  dem  zwischen  Städten 
und  kaiserlicher  Kanzlei  üblichen  diplomatischen  Verkehr;  der  Ver- 
fasser nennt  sich  ja  selbst  einmal  r(U  des  kaisers  '),  er  konnte  auch  als 
städtischer  Gesandter  wohl  einmal  in  den  Rat  des  Kaisers  gelangen  '). 
Wie  die  Art  der  Behandlung,  so  zeigt  auch  der  Inhalt  der  Forde- 
rungen, welches  Interesse  der  Verfasser  dem  Stadtschreiberamt  ent- 
gegenbringt: es  ist  offenbar  ein  von  tiefem  Groll  und  verletztem 
eigenen  Interesse  diktierter  Protest,  der  zur  Vermeidung  eines  Ein- 
griffs geistlicher  Personen  bei  der  Besiegelung  weltlicher  Sachen 
Scheidung  des  Geistlichen  vom  Weltlichen  auf  der  ganzen  Strecke 
verlangt.  Das  Insiegel  sei  das  Zeichen  der  Wahrheit,  diese  soll  weder 
verkauft  noch  gekauft  werden,  wie  es  geschehe,  das  sei  offener  Wucher. 
Wie  im  ersten  Teile  die  Beseitigung  aller  geistlichen  Taxen  und 
Schreibgebühren  gefordert  wurde,  so  soll  auch  kein  Geistlicher  eine 
weltliche  Sache  versiegeln:  es  soU  sich  lauter  in  alweg  scheiden  das 
geistlich  und  dcLS  weUlich.  Nur  konsequent  ist  diesem  die  folgende 
Forderung,  dafs  kein  priester  weder  stadtschreiber,  noch  notari  sein  sott, 
es  gehört  lauter  ihrem  ^att  nit  zu,  als  ihr  doch  in  viel  stetten  ist.  So 
wissen  wir  von  Nürnberg,  dafs  dort  Heinrich  Leubing,  Pfarrer  von 
St.  Sebald ,  Stadtschreiber  *)  war  und  ebenso  Sigmund  Meisterlin  in 
Öttingen  *).  Im  eigenen  Interesse  ist  dann  namentlich  auch  die  For- 
derung gestellt,  dafs  in  allen  Reichsstädten  ein  Stadtschreiber  sei  ^, 
der  alle  Instrumente  machen  soll  als  putiicus  notarius.  Man  soll 
keinen  anderen  aufsuchen,  denn  ihm  ist  hoher  eu  trauen  denn  den 
andern.  Auch  sollen  nicht  mehrere  sein ,  sondern  nur  einer  in 
einer  Stadt. 

Auch  soll  jede  Reichsstadt  zwei  Siegel  haben,  ein  sigiUum  secre- 
tum,  mit  dem  nur  dasjenige,  was  heimlich  dem  reich  zugehört,  versiegelt 
wird,  und  ein  anderes  Siegel  mit  dem  Zeichen  der  Stadt  für  städtische 
und  Reichsangelegenheiten.  Dazu  bemerkt  Goldast  in  einer  Rand- 
note: „Solche  zwei  Siegel  hat  die  Stadt  Nürnberg ** ').    Eine  Kontrolle 

i)  Boehm  S.  231. 

2)  Vgl.  Histor.  Vicrtcljahrschrift,  5.  Bd.  S,  482. 

3)  Das  zeigt  Deuisehe  Reiehstagsiikien  12.  Bd.    No.  90. 

4)  Joachimsohn,  Gregor  Heimburg  (1891)  S.  108. 

5)  Derselbe,  Humamstisehe  QesekiehUaekreibung,  i.  Heft  (1895)  S«  ^'o* 

6)  Boehm  S.  232. 

7)  A.  «.  O.  S.  194. 


—     196     — 

dieser  Behauptung  wäre  insofern  wichtig,  als  im  Falle  ihrer  Bestä- 
ttgnng  ein  neuer  Hinweis  auf  die  Verhandlungen  des  Städtetages  zu 
Ulm  gegeben  wäre,  denn  dort  soll  auf  Antrag  Nürnbergs  über  Zoll 
und  Geleit  und  nach  jeglicher  Stadt  notdurft  beraten  worden  sein. 

Überschauen  wir  nochmals  das  zuletzt  Gesagte:  wie  kann  man 
hier  einen  Geistlichen  als  Verfasser  vermuten  wollen  ?  Die  Breite  der 
Ausführung,  das  sittliche  bis  zum  Protest  gehobene  Pathos  zeigen, 
wie  persönlich  der  Verfasser  an  diesem  Thema  des  Stadtschreiber- 
amts interessiert  ist;  die  Hebung  seiner  Stellung,  die  Ausdehnung 
seines  Wirkungskreises,  die  Erlangung  einer  Monopolstellung  als 
öffentlicher  Notar  und  die  Verdrängung  des  geistlichen  Elementes  aus 
beiden  Ämtern  liegt  ihm  am  Herzen :  da  wird  es  sogar  undenkbar,  dafs 
ein  geistlicher  Stadtschreiber  dies  geschrieben  hat,  es  mufs  ein  Laie 
gewesen  sein. 

Hiermit  schliefst  die  vorgeschlagene  Reform  des  städtischen 
Wesens;  jedenfalls  liegt  ihr  ein  Entwurf,  der  dem  Ulmer  Städtetag 
vom  Jahre  1438  vorgelegt  wurde,  zu  Grunde.  Der  Verfasser  scheint 
selbst  darauf  hinzuweisen,  indem  er  die  Verwirklichung  der  Reform 
für  das  Jahr  1439  in  Aussicht  stellt ,  das  nun  da  sei  ^).  Eben  dahin 
gehören  die  Worte:  die  städte  üben  sich  in  dieser  Ordnung^)» 

Was  jetzt  noch  von  Vorschlägen  zur  Reichsreform  übrig 
bleibt,  ist  sehr  gering;  es  sind  die  Kapitel:  von  etoing  und  benne  nach 
haiserlicken  rechten,  von  dem  ritterlichen  statt,  von  dem  gerickt  und 
redU  sprechen  umb  eigen  und  erb,  man  soU  niemand  bannen  umb  geU- 
scJmdd,  es  soUent  sein  4  vikari  des  reichs,  dcfß  man  fried  mach,  daß  eine 
jede  reichstaU  mag  burger  aufnehmen  und  van  der  muntg.  Das  sind 
alles  Fragen,  die  auch  1438  auf  den  Städtetagen  als  Vorbereitung  zu 
den  Nürnberger  Reichstagen  gelöst  werden  sollten,  die  aber  schon 
anter  Sigmund  aktuell  waren.  Wie  kommt  es  nun,  dafs  der  Verfasser 
seine  Reformschrift  als  eine  Urkunde  Sigmunds  hinstellt ,  welche  er 
wnt  koken  wisen  erläutert ')  haben  will  ?  Nachdem  nun  die  Reichstags* 
akten  aus  der  Regierung  Sigmunds  abgeschlossen  vorliegen,  ist  es  an 
der  Zeit,  den  formellen  und  ideellen  Zusammenhang  unserer  Schrift 
mit  den  unter  Sigmund  nachweislich  gepflogenen  Verhandlungen  end- 
gültig zu  prüfen.  Der  Verfasser  wirft  eine  ähnliche  Frage  selbst  auf 
und  gibt  auch  eine  Antwort  darauf  in  dem  Kapitel :  une  es  aufgestanden 


1)  Boehm  S.  339:  eUieh  rdehstaUf  die  hand  erwerben  in  den  vordem  Jahr 
(ako  143S)  umb  diese  Ordnung  und  meineni  auch  daxu  xu  tun, 

2)  Vgl.  DenUche  GeschichtsbläUer,  IV.  Bd.     S«  13. 

3)  Boehm  S.  244. 

14* 


—     196    — 

ui  eu  dem  ersten  ^),  das  goU  will  ein  ander  stat  und  Ordnung.  Bisher 
hat  man  den  hier  erzählten  Traum  für  ein  pamphletartiges  Einschiebsel 
betrachtet  •),  aber  erst  die  Feststellung-,  wo  dieser  Traum  stattfand  und 
welche  Stimmung  ihm  zu  Grunde  liegt,  dürfte  genügenden  Anhalt 
geben,  um  den  geschilderten  traumhaften  Zustand  zu  einem  tatsäch- 
lichen in  Verbindung  zu  bringen. 

Der  Verfasser  verlegt  den  Traum  Sigmunds  nach  Prefeburg  •), 
wo  dieser  krank  zu  Bette  liegt  und  eben  die  Sonne  frühmorgens  in 
sein  Schlafgemach  dringt:  Da  hört  er  denn  eine  Stimme  vom  Himmel, 
die  ihn  als  den  Wegbereiter  des  grofsen  Reformators  —  d.  i.  unseres 
Verfassers  —  hinstellt.  Sigmund  redet  dann  mit  eigenen  Worten: 
als  unr  das  hörten,  da  umrden  wir  betrübt  van  herzen  .  .  .  doch  wart 
uns  ein  bekantnuß,  daß  wir  ein  weg  bereiten  sollten,  gewunnen  wir  ein 
groß  anfenthaU  und  ein  leichterung  . . .  dazu  (zur  Reform)  unr  arbeitten 
und  alles  unser  vermugen,  in  siechtagen  und  gesundheit  ^)  •  •  .  nun  tun 
wir  (der  Verfasser)  aber  eu  wissen,  daß  wir  mü  hohen  wisen  diese 
Urkunde  (nämlich  Sigmunds),  als  sie  an  ihr  selbst  besdiehen  ist,  er- 
leutert  halben.  Offenbar  hat  der  Verfasser  hier  den  Bericht  einer  Rede 
Sigmunds  vor  sich  gehabt,  in  der  eine  melancholische,  niedergeschla- 
gene Stimmung  vorherrscht.  Nach  einem  kurzen  unbefriedigten  Rück- 
blick auf  seine  Bestrebungen  zur  Reform  der  Kirche  in  Konstanz, 
Pavia,  Siena  und  Basel,  und  zwar  in  kranken  und  gesunden  Ts^en, 
wird  ihm  eine  Erleichterung  in  der  Erkenntnis,  dafs  er  nur  ein  Weg- 
bereiter zur  grofsen  Reform  sein  soll.  Unser  Verfasser,  der  eigent- 
liche Reformator,  dem  Sigmund  nur  ein  Vorläufer  war,  läfst  deshalb 
eine  Urkunde  Sigmunds  erläutern  und  zu  einem  rechten  bekennen^) 
bringen.  ' —  Nun  hielt  Sigmund  im  Jahre  1429  (vom  4.  bis  13.  De- 
zember) in  Wirklichkeit  einen  Reichstag  zu  Prefsburg  •)  ab,  namentlich 
auf  Veranlassung   und  in  Gegenwart    der   Städte.     Dieser  Reichstag 


1)  Boehm  S.  141.  Dieses  Kapitel  gehört  mlso  nickt  hierher,  sondero  an  den  An- 
fang der  weltlichen  Reform.    Bald  darauf  heilst  es  wieder:  xu  dem  allerersten, 

2)  Ich  habe  bereits  in  Die  Flugschrift  'onus  eeelesiae'y  S.  91  Anm.  3  auf  die 
gleichlautende  Einkleidiing  dieser  Vision  mit  einer  anderen  Sigmunds,  die  dem  Angs- 
burger  Dmck  Yom  Jahre  1497  beigegeben  ist,  hingewiesen. 

3)  Ebenda  S.  14>. 

4)  Ebenda  S.  S43. 

5)  Ebenda  S.  S43  Z.  2. 

6)  Unsere  Reformschrift  nennt  das  Jahr  1403.  Diese  Zahl  wird  aber  Yom  Heraus- 
geber als  lückenhaft  beteichnet.  Sigmund  war  vom  39.  Mfirs  bis  Schlnfs  des  Jahres  in 
Prefsburg,  also  auch  an  dem  erwähnten  Auflahrtstag.  Vgl.  Aschbach,  Oesekiehte  des 
K.  Sigmund,  3.  Bd.  (1841)  S.  468. 


—     197     — 

verlief  nicht  nur  wegen  der  Abwesenheit  der  Fürsten,  sondern  auch 
wegen  Krankheit  des  Kaisers  selbst  ergebnislos.  Über  den  Gang 
der  Verhandlungen  sind  wir  nun  zufallig  durch  zwei  städtische  Ge- 
sandtschaftsberichte besser  unterrichtet  als  über  irgend  einen  anderen 
Reichstag  ^).  Namentlich  der  neu  herausgegebene  Bericht  des  Regens- 
burger Gesandten  Lucas  Ingolstetter  (?)  überliefert  „manche  Einzel- 
heiten'' und  läfist  „die  Motive  imd  Stimmungen  der  Versammelten 
recht  deutlich  erkennen".  „König  und  Städte  begegnen  sich  in  dem 
dringenden  Wunsche,  dafs  endlich  einmal  Ordnung  im  Innern  des 
Reichs  gemacht  werde.  Besonders  ist  es  der  König,  welcher  alle 
anderen  Fragen,  sogar  die  Abwehr  der  Husiten,  dieser  nachsetzt.'* 
Das  Milieu  cUeses  fuhrt  also  schon  deutlich  hinüber  zu  dem  in  der 
Vision  geschilderten.  Der  Gesandte  berichtet  weiter  von  einer  langen 
Rede  des  Königs ') ,  die  sofort  die  gekennzeichnete  melancholische 
Stimmung  verrät.  Sie  beginnt  mit  einem  Rückblick  auf  die  Reform- 
tatigkeit  Sigmunds  ')  mit  ganz  ähnlichen  Worten  und  Wendungen  ^) 
und  ei^eht  sich  weiter  in  melancholischen  Betrachtungen,  denen  Ärger 
und  Verstimmung  wegen  des  schlechten  Fortgangs  der  Reform  zu 
Grunde  liegen.  Dabei  stehen  ihm  auch  die  Kurfürsten  und  Fürsten 
im  Wege,  wie  in  der  Vision  die  hohen  Häupter  als  die  Widerspen- 
st^en  bezeichnet  werden.  Aber  Sigmund  will  mit  aller  Macht  auf 
seiner  Mission  bestehen  und  Ordnung  schaffen  ^) :  wie  krank  er  auch 
war  ...er  uhM  auf  allen  vieren  dahin  kriechen,  damü  er  ah  römischer 
hmig  mü  eren  in  sein  grub  kam.  Nun  kommt  die  wichtigste  Stelle 
in  dem  Berichte:  (der  König)  wulU  auch  seiner  begerung  gern  ein  ge- 
sekriß  machen  lassen  und  ihnen  die  toeisen  und  daß  sie  die  pesserien, 
wenn  dessen  not  war,  und  dqfl  sie  also  van  ihm  geweüt  (ss  ausgebreitet, 
bekannt  gemacht)  wmd  und  darauf  zugeschrieben,  dem  also  nacheugehn. 
Hier  finden  wir  also  genau  das  Vorbild,  nach  dem  die  sogenannte 
Reformation  gearbeitet  ist.  Der  Gesandtschaflsbericht  von  Augsburg 
ist  bis  jetzt  noch  unbekannt,  aber  jedenfalls  hat  unserem  Verfasser 
ein  städtischer  Gesandtschaftsbericht  über  diesen  Presburger  Tag  vor- 
gel^en,  woraus  er  den  Vorsatz  Sigmunds  kennen  lernte,  eine  Reform- 
schrift abfassen  zu  lassen,  den  Ständen  sie  vorzulegen,   die  dann  sie 


i)  Vgl.  Deiäseht  Beiehstagsaktm,  9.  Bd.  (1887)  S.  341  ff. 

2)  VgL  Deutsche  Eeiehstagaakten,  S.  358. 

3)  Dafii  in  miserer  Schrift  noch  die  weiteren  Konzilien  bis  Basel  hinxngefttgt  sind, 
gehört  zur  EriMtening  des  Verfassers. 

4)  Ebenda  No.  286  Art  3. 

5)  No.  a86  Art  11.  12.  23  u.  26. 


—     198     — 

verbessern  könnten;  wie  denn  der  Verfasser  auch  sagt:  war  auch 
jemand  also  tveis,  der  dehain  stuck  in  der  Ordnung  gepessren  mochi  nach 
jeglichen  landes  gelegenheü  .  .  .  dem  soU  es  piUich  vergunstet  sein,  also 
für  sich  au  nehmen  und  fürzubringen  für  unsem  herm  den  könig  ^). 
Auch  will  er  sie  verbreiten  su  einem  allgemeinen  (oder)  rechten  he^ 
kennen  oMen  gemeinen  Christen,  und  jeder  ist  verpflichtet,  diese  Ord- 
nung SU  halten,  und  namentlich  sollen  die  reichstett  das  schwert  daeu 
gebrauchen.  Auch  deckt  sich  die  beiderseitige  Verstimmung  gegen 
Kurfürsten  und  Herren,  weil  sie  sich  gegen  die  Reform  sperren.  So 
kann  der  Verfasser  auch  die  Form  des  Berichtes,  den  Traum,  aus 
einer  ausführlicheren  schriftlichen  oder  mündlichen  Mitteilung  eines 
in  Prefeburg  Anwesenden  vernommen  haben.  Dafs  die  Rede  Sigmunds 
den  städischen  Gesandten  sehr  gefiel,  besagt  auch  ein  anderer  Ge- 
sandtschaftsbericht *).  Dafs  der  König  einen  Traum  erzählen  und  ihm 
solche  Bedeutung  beimessen  konnte,  dafür  spricht  sein  krankhafter 
Zustand  damals  zu  Presburg,  das  Podagra,  und  der  ganze  Zeitgeist. 
Jedenfalls  bedeutet  der  Presburger  Reichstag  den  Höhepunkt  im  Ver- 
hältnis zwischen  den  Städten  und  dem  König,  der  mit  jenen  insgeheim 
unterhandelt  und  zu  ihnen  gesagt  haben  soll:  „Bei  den  Städten  sei 
eigentlich  nur  noch  das  Reich,  wenn  sie  nicht  wären,  würde  er  nicht 
weiter  mehr  die  römische  Königskrone  tragen  wollen "  *).  Unser  Ver- 
fasser kennt  den  Vorsatz  des  Kaisers,  eine  Reformschrift  machen  zu 
lassen,  sieht  ihn  aber  unausgeführt  und  von  ihm  selbst  unausführbar 
—  denn  er  ist  ja  tot  — ,  da  knüpft  er  an  diesen  Vorsatz  an  und  nennt 
seine  Schrift  ein  ordnungsbuch,  in  dem  er  eine  Urkunde  Sigmunds  er- 
läutert und  allgemein  verbreitet.  So  ist  Sigmund  der  Wegbereiter, 
und  er  der  eigentliche  Reformator,  der  letzte  Vollstrecker  seines  Wil- 
lens und  zugleich  der  Absichten,  welche  die  mit  dem  Kaiser  im 
innigen  Einverständnis  gestandenen  Reichsstädte  hegten.  Doch  das 
Verhältnis  zwischen  beiden  blieb  nicht  immer  so  innig ;  die  Politik 
Sigmunds  ging  nicht  in  so  gerader  Linie  weiter,  und  auch  das  hat 
seinen  Niederschlag  in  unserer  Sckrift  zurückgelassen. 

Schon  1430  beim  Aufenthalt  des  Königs  in  Schwaben  wurde  es 
getrübt  und  immer  gespannter  *) ;  das  Pfahlbürgertum  hatte  viele  Land- 
bewohner dem  Steuer-  und  Gerichtsbann  der  Herren  entzogen,  und 
die  Fürsten  verkehrten  deshalb  bei  dem  König  mehr  als  den  Städten 

i)  Boehm  S.   171  f. 

2)  Eine  lange  erber  vernünftig  und  treffliche  redde.  Reichstagsakten  a.  a.  O.  S.  367. 

3)  Vgl.  Aschbach  a.  a.  O.  3.  Bd.  S.  311. 

4)  Rcichstagsakten,  9.  Bd.  S.  494. 


—     199     — 

lieb  war  ^).  Namentlich  hatten  die  Ritter  sich  an  den  König  gewandt, 
um  ein  allgemeines  Verbot  des  Püahlbürgertums  zu  erwirken  und  um 
so  die  häufigen  Zwistigkeiten  wegen  entlaufener  Untertanen  zu  besei- 
tigen. Die  Herren  hatten  das  geschriebene  Recht  für  sich,  die  Städte 
das  Herkommen  ^),  den  ritterschaftlichen  Entwurf  nahm  der  König 
nicht  in  der  schroffen  Form  an,  sondern  suchte  die  gegen  die  Städte 
gerichtete  Spitze  abzubrechen,  aber  es  genügt,  dafs  er  tatsächlich 
das  Pfahlbürgerverbot  auf  dem  Reichstag  zu  Nürnberg  im  Jahre  143 1 
erliefs  ').  Damit  hat  sich  Sigmund  für  immer  den  Ruhm  einer  wahren 
Städtefreundlichkeit  verscherzt;  die  Städte  fühlten  dieses  auch  und 
wurden  zurückhaltender  ^).  Kurzum  das  Verhältnis  zwischen  den 
Städten  und  dem  König  hat  auf  diesem  Reichstag  einen  Tie^unkt 
erreicht.  Den,  wenn  auch  nur  sachlichen  Widerschein  davon,  zeigt 
die  sogenannte  Reformation  besonders  in  dem  Kapitel,  daß  jede  reichS" 
Stadt  mag  bürget  aufnehmen  %  In  letzterem  wird  deutlich  auf  die 
Streitigkeiten  zwischen  Herren  und  Städten  um  das  Pfahlbürgertum  Bezug 
genonmien  *).  Die  Reichsstädte  haben  die  Freiheit  der  Bürgerauf- 
nahme van  angende;  dies  hat  bestätigt  Jcaiser  Sigmund  aUen  reichstetten 
(Us  ein  mehrer  des  reichs,  der  aUe  freiheit  geit  und  nimmt  nach  der 
Sachen  statt.  Denn  die  Erteilung  des  Bürgerrechts  geschieht  nach 
dem  Urteil  unseres  Verfassers  von  des  hl.  reichs  wegen,  daß  ^  (die 
Reichsstädte)  das  sterkten  ^).  Die  Einzelheiten  über  die  Bedingungen 
zur  Aufnahme  eines  Bürgers  zeigen  den  Stadtschreiber  und  sind  dem 
Stadtrecht  einer  Reichsstadt  entnommen.  Aber  noch  ein  anderer  sach- 
licher Gegensatz  gegen  das  Pfahlbürgerverbot  ist  zu  entdecken  in  dem 
Kapitel:  van  ewing  und  benn  nach  kaiserlichen  rechten.  In  der  kaiser- 
lichen Urkunde  steht  eine  Bestimmung  über  die  Ansprechung  von 
Leuten  als   eigen  ^.     Gegen  diese  Besetzung  einer  Person  als  sein 


i)  Reichttagsakten,  No.  394. 

2)  Hans  Ehioger  drückt  das  in  seinem  Bericht  über  den  Reichstag  sa  Nttrnberg 
1431  an  Ulm  ans.     Ebenda  No.  430. 

3)  VgL  Ebenda  No.  427,  429  o.  429h. 

4)  Wie  grofs  die  Spannung  zwischen  den  StSdten  nnd  dem  König  wurde,  zeigt  die 
Besorgnis  Nürnbergs.     Ebenda  S.  502. 

5)  Ebenda  S.  236  f. 

6)  Die  Herrn  dürfen  nü  gedenken,  daß  ihnen  ihr  xwing  und  bann  mehr  helfen 
eoüeni  kriegen,  sie  Hand  bisher  auf  solches  gehalten  und  hand  dick  krieg  aufgetrieben 
umb  ein  varUmtx, 

7)  Ebenda  S.  237. 

8)  Reichstagsakten,  9.  Bd.  No.  429  Art  2h:  tcill  einer  eine  person  für  sein  eigen 
person  besetxen. 


—     200     — 

eigen,  also  gegen  die  Leibeigenschaft,  ist  das  genannte  Kapitel  des 
Verfassers  ein  feierlicher  Protest,  der  eingeleitet  wird  mit  den  Worten*): 
es  ist  eine  ungehörte  s(ju:h,  daß  man  es  in  der  hi.  chrisienheii  öffnen 
muß  das  groß  unrechi.  so  gar  für  gai,  daß  einer  so  geherzt  ist  vor 
gott,  daß  er  gedar  (=  wagt)  sprechen  zu  einem:  du  bist  mein  eigen . . . 
Christus  hat  uns  durch  seinen  tod  gefreit  und  von  aUen  banden  ge- 
löst,  wer  getauft  ist  und  gelaubt,  die  sind  in  Christo  glieder  gezählt^ 
darumb  wiß  jedermann,  wer  der  ist,  der  seinen  mitchristen  eigen  spricht, 
daß  der  nit  Christen  ist  Wir  sehen  also,  welchen  Hintergrund  diese 
feierliche  Absage  und  Kriegserklärung  gegen  die  Leibeigenschaft  hat: 
sie  ist  zurückzufuhren  auf  den  Ansturm,  den  die  feudalen  Geburts- 
stände gegen  die  Freiheit  der  städtebürgerlichen  Berufsstände  und 
ihren  Grundsatz:  „Wer  das  Weichbild  der  Stadt  betritt,  ist  frei",  unter- 
nahmen, indem  sie  sich  vom  Kaiser  ein  Verbot  des  Pfahlbürgertums 
erwirkten.  Aus  diesem  Gedankengange  erklärt  sich  auch  die  hier  und 
wiederholt  verkündete  Freiheit  jedes  Cluisten:  sie  ist  nicht  die  der 
Revolution,  der  Sozialdemokratie,  wie  Boehm  gemeint  hat,  sie  ist  also 
keine  Phantasmagorie ,  sie  ist  vielmehr  eine  Freiheit,  die  tatsächlich 
bestanden  hat,  und  zwar  in  der  mittelalterlichen  Stadt,  von  der  sie 
der  moderne  Staat  übernommen  hat.  Nur  diese  Freiheit  meint  der 
Verfasser,  die  im  Gegensatz  steht  zur  Leibeigenschaft,  wie  er  es  auch 
sonst  ausdrückt:  u^er  woUt  wider  sich  selbst  sein  und  lieber  eigen  sein 
denn  frei  •).  Koehne  stellt  die  Forderung  der  Freiheit  mit  dem  Evan- 
gelium •)  zusammen.  Doch  von  dem  Evangelium  spricht  der  Ver- 
fasser nirgends;  wohl  führt  er  die  Freiheit  jedes  Christen  auf  den  Tod 
Christi  zurück  *),  und  das  hängt  mit  seiner  eigentümlichen  Auffassung 
von  dem  Ursprung  der  reichsstädtischen  Freiheit  zusammen :  ihr  wir^- 
dige  reichstett,  sagt  er,  ihr  habt  eure  freiheit  von  äer  Christenheit j  ihr 
seid  des  hl.  glaubens  schirmer  und  recht  vogt  ^).  Es  wird  hier  der  gött- 
liche Ursprung  der  kaiserlichen  Würde  im  Mittelalter  geradezu  mit 
denselben  Worten  auf  die  Bedeutung  der  Reichsstädte  übertragen  •). 
darunib  ihr  edlen  reichsstett  sind  ermahnt  bei  gott  dem  vater,  bei  Jesu 
Christo,  bei  seinem  rosenfarben  bUU  . . .  dqß  «Ar  ansehent,  wie  wir  vcn 
gott  gefreiet  seien  ^.     Diese    fromme  Ausschmückung  ist  an  sich  im 

i)  Boehm  S.  221. 

2)  Boehm  S.  247. 

3)  A.  a.  O.  S.  380  ff. 

4)  Boehm  S.  221. 
5;  Ebenda  S.  168. 

6)  Vgl.  dazn  ebenda  S.  224  Z.  4  ff. 

7)  Ebenda  S.  162. 


—     201     — 

Mittelalter,  wo  für  alles  Denken  „die  Religion  die  unentbehrliche 
Lebensluft  ist"  %  nicht  auffallend,  nur  die  Beziehung  auf  die  Reichsstädte 
ist  eigenartig  und  charakterisiert  aufs  neue  die  Stellung  des  Verfassers. 
Steht  unsere  Schrift  auch  im  sachlichen  Gegensatz  zu  diesem 
Stüdc  städtefeindlicher  Politik  Sigmunds,  so  ist  doch  nichts  von  einem 
persönlichem,  der  in  Wirklichkeit  neben  dem  ersteren  einher- 
^t*),  zu  merken;  im  Gegenteil,  das  Recht  der  Reichsstädte,  Pfahl- 
bü^er  aufzunehmen,  wirdr  gerade  auf  Sigmund  zurückgeführt!  Der 
Grund  liegt  darin,  dafs  sich  von  jetzt  ab  wieder  allmählich  eine  An- 
näherung zwischen  Städten  und  König  vollzieht,  die  kurz  vor  dem 
Tode  Sigmunds,  also  auch  kurz  vor  der  Abfassung  unserer  Schrift, 
nochmals  einen  Höhepunkt  erreicht,  und  zwar  durch  die  Donauwörther 
Angelegenheit,  bei  der  sich  die  sogenannte  Städtefreundlichkeit  Sig- 
munds wieder  im  hellen  Lichte  zeigt.  Es  mufste  den  Städten  als  eine 
sonderbare  Zumutung  Sigmunds  erscheinen,  zur  Erhaltung  der  Reichs- 
immittelbarkeit  Donauwörths,  die  durch  den  Herzog  von  Bayern  ge- 
fihrdet  war,  mit  den  eben  noch  gegen  eine  ihrer  Hauptfreiheiten  auf- 
getretenen Rittern  des  St.  Georgenschildes  einen  Landfriedensbund 
einzugehen.  Diese  Angelegenheit  spielt  lange  auf  den  Reichstagen 
10  Basel  *),  Ulm  *)  und  Regensburg  (im  Jahre  1434  *)  eine  wichtige 
Rolle.  Die  Vereinigung  scheiterte  an  den  widerstrebenden  Interessen 
von  Rittern  und  Städten ;  jemehr  sich  Sigmund  dabei  interessiert  zeigte 
nnd  den  Städten  entgegenkam  •),  um  so  offener  traten  letztere  an  ihn 
mit  der  Forderung  heran,  das  Pfahlbürgerverbot  nicht  durchzuführen. 
Denn  sollte  das  Verbot  in  Kraft  treten,  so  beUeben  gar  wenig  hd  an 
attenreichssiädien  und  das  wäre  allen  stäMen  ein  schlag,  die  sie  niemmer 
mAr  überwinden,  klagen  die  schwäbischen  Städte.  Der  Grundgedanke 
von  Sigmunds  Politik  war,  die  Städte  politisch  niederzuhalten,  sie  nur 
zur  Befriedung  des  Landes  heranzuziehen  und  das  nur  in  Gemeinschaft 
mit  dem  niederen  Adel.  An  die  Spitze  des  Bürgertums  sich  zu 
stellen,  lag  ihm  ferne  —  er  hätte  die  Donauwörther  Angelegenheit  sonst 
nicht  den  Städten  selbst  überlassen  — ,   aber  seine  finanzielle  Kraft 

i)  Vgl.  TOD  Bezold,  Die  armen  Leute  und  die  detUsche Litteraiur  des  späteren 
MiUdaiiers,  in  Sjbek  Histor.  Zeitschrift.    N.  F.     5.  Bd.  (1879)  S.  i. 

2)  Dafs  die  Städte  im  AngeDbUck  nichts  Yom  König  so  erwarten  haben,  drttckt  ein 
Scfcrca>en  Ulms  an  Nördlingen  ans:  denn  es  isi  not,  daß  goU  die  ding  naeh  noidiurft 

und  jedermann  xu  sieh  selbst  sehe.    Reichstagsakten,  9.  Bd.  No.  484. 

3)  Y^  Rcichstagsakten,  11.  Bd.  No.  loi,  103  a.  117. 

4)  Ebenda  S.  381  ff. 

5)  Ebenda  No.  240. 

6)  Ebenda. 


—     202     — 

wollte  er  sich  nutzbar  machen.  So  mufste  Donauwörth,  als  der  Herzog 
es  frei  g^b,  eine  frühere  Schuld  Sigmunds  streichen,  die  Zehrungs- 
kosten  des  Kaisers  in  Ulm  mit  13000  Gulden  bezahlen  und  sein  in 
Basel  versetztes  Silbergeschirr  im  Werte  von  5140  Gulden  auslösen^). 
Die  langen  Verhandlungen  über  eine  Vereinigung  der  Ritter 
Schwabens  mit  den  Reichsstädten  haben  offenbar  dem  Verfasser  eine 
Behandlung  des  Ritterstandes  nahe  gelegt.  Es  ist  schon  auffallend, 
dafs  er  diesem  Stand  allein  von  allen  Reichsständen  ein  eigenes  Ka- 
pitel widmet,  dafls  er  aber  die  Ritter  als  die  natürlichen  Verbündeten 
der  Städte  betrachtet,  weist  auf  den  genannten  Zusammenhang  hin. 
Im  einzelnen  g^bt  er  zunächst  eine  Entstehungsgeschichte  des  Ritter- 
standes in  echt  frühhumanistischem  und  nicht  revolutionären  Geiste: 
seine  Gründung  geht  auf  den  sagenhaften  ersten  Kaiser  Mimus  zurück. 
Der  Grund,  der  diesem  Kaiser  dazu  bewog,  ist  offenbar  mit  Rück- 
sicht auf  die  Gegenwart  des  Verfassers  gewählt:  als  er  nämlich  mii 
seiner  Jcrafl  das  kaisertum  nicM  regieren  noch  behaupUn  mocM,  damit 
die  Ritter  in  des  Kaisers  Namen  gebieten  sollten.  So  regierte  der 
Kaiser  wohl  bis  auf  Konstantin  den  Grofsen,  der  vom  Papst  die  kaiser- 
liche Gewalt  lehensweis  empfing  als  ein  staUhaUer  und  schirmer  des 
hl.  christenlichen  glaübens.  Da  wurden  denn  auch  die  hl.  reichsteU 
geordnet  und  gefreiet  .  .  .  und  wurden  ihnen  geistliche  und  welüiche 
recht  empfohlen  als  dem  Jcaiser  das  reich  .  ,  .  da  wurden  die  riUer 
erst  recht  gesetgt  .  .  .  und  sachend  an,  daß  die  vordem  kaiser  oh$%e 
die  riüerschafl  nicht  mochten  gewdlMglich  regieren  .  ,  .  do  wurden  sie 
(nämlich  die  Ritter)  gewirdigt  und  bas  (=  besser)  erhöht,  denn  vor. 
Nun  hand  sie  sere  abgdan  und  ton  gar  blind  eu  der  großen  verfallmuß 
alles  rechtes  an  geistlichen  und  weltlichen  statt.  Nun  scUent  sie  doch 
erkennen,  wie  sie  vereint  sind  mit  den  reichsstetten  . . .  daß  sie  wachend, 
wenn  es  tut  not.  das  geistlich  recht  ist  krank,  das  kaisertum  und  aües, 
was  ihm  augehört,  statt  eu  unrecht,  man  muß  es  mit  kraft  durchbrechen. 
Wenn  die  großen  schlaffen,  so  müssent  die  kleinen ')  uHuihen,  daß  es 
doch  je  gan  muß. 

Aus  den  angeführten  Stellen  klingt  des  Verfassers  Absicht  mit 
diesem  Kapitel  klar  durch:  die  Ritter  sind  die  Stützen  der  kaiser- 
lichen Gewalt.  Den  Städten  ist  geistliches  und  weltliches  Recht  em- 
pfohlen wie  dem  Kaiser  das  Reich.  Da  nun  das  geistliche  Recht 
krank  ist  und  das  Kaisertum  zu  Unrecht  steht,  müssen  es  die  Städte 
jetzt  ihre  natürlichen  Verbündeten,  wie  sie  es  ehemals  bei  dem  Kaisertum 

1)  Vgl.  Aschbach  a.  a.  O.  4.  Bd.  S.  230. 

2)  Wer  diese  „Kleiaen<<  sind,  zeigt  mein  Anhang.     S.  86. 


—     203     — 

verbessern  und  in  rechte  Ordnung  bringen.  Dabei  sind  die  Ritter 
waren.  Wir  sehen  also  neben  der  schon  erkannten  Verherrlichung 
der  Städte,  dafe  der  Ritter  hier  nach  der  damaligen  landläufigen  An- 
schauung nicht  nur  der  öffentliche  Rechtsanwalt  ist,  der  Witwen  und 
Waisen  beschützt  und  den  Städten  die  Kriege  führt,  sondern  auch  der 
geborene  Verbündete,  wenn  es  gilt,  das  Unrecht  in  weltlichem  und 
geistlichem  Stand  bei  der  geplanten  Reform  mit  krafl  zu  durchbrechen. 

Die  innere  Reichsreform  tritt  auf  den  Reichstagen  dieser 
Zeit  ganz  zurück.  Es  sind  aufser  dem  Streit  mit  Donauwörth  und  der 
Verhandlung  um  die  Vereinigung  zwischen  den  schwäbischen  Städten 
und  den  Rittern  des  St.  Georgen -SchUdes  hauptsächlich  Angelegen- 
heiten der  äufseren  Politik  und  der  Kirchenpolitik,  die  nach  dem 
Presburger  Reichstag  die  politischen  Köpfe  erfüllen,  „Den  Regens- 
burger Reichstag  haben  Reichsangelegenheiten  offenbar  nicht  beschäf- 
tigt" *).  Auf  den  darauffolgenden  Frankfurter  Tagen  (1434  Dezember 
und  1435  Mai  und  Juni)  waren  16  Artikel  zur  Beratung  in  Aussicht 
genommen,  darunter  befanden  sich  solche  über  Frieden,  Gericht  und 
Beseitigtmg  wirtschaftlicher  Schäden.  „Doch  die  ganze  grofs  ange- 
legte Aktion  des  Kaisers  ist  kläglich  gescheitert "  *).  Augsburg  läfst 
sich  wegen  seines  Ausbleibens  feindschaß  halber  *)  entschuldigen,  viele 
andere  schwäbische  Städte  fehlen,  und  selbst  der  Kaiser  sendet  nicht 
einmal  einen  Gesandten.  So  ist  von  vornherein  anzunehmen,  dafs 
diese  Tage,  deren  Vorschläge  und  Beschlüsse  Koehne  auf  unsere 
Schrift  hin  prüft,  keine  Spur  in  ihr  zurückgelassen  haben.  Der  Erfolg 
war  durchaus  negativ,  die  Unordnung  wuchs,  die  Verhältnisse  des 
Reichs  werden  immer  unhaltbarer,  der  Glaube  an  die  Zentralgewalt 
immer  schwächer  und  der  Drang  nach  Reform  heftiger  *). 

Zu  dieser  rafft  sich  Sigmund  zum  letztenmal  auf  dem  nun  folgen- 
den Reichstag  zu  Eger  auf  und  zwar,  wie  es  scheint,  auf  Drängen  der 
Kurfürsten.  Denn  schon  vor  den  eigentlichen  Reichstagsverhandlungen 
zeigen  sich  letztere  verstimmt,  indem  sie  „ihm  die  unbefriedigenden 
Zustände  des  Reichs  vorhalten"*).  Sigmund  antwortet  hierauf  „nicht 
ohne  Bittericeit"  und  läCst  nun  eine  Einladung  nach  Eger  ergehen  mit 
einem  Vorschlag  von  vier  Punkten,  nämlich  über  die  Reform  von 
Gericht,  Acht  und  Aberacht,  Landfrieden  und  Münze.    Die  Kurfürsten 


1)  Reichstagsakten,  ii.  Bd.,  S.  491. 

2)  Ebenda  S.  492. 

3)  Ebenda  No.  260. 

4)  Näheres  darüber  vgl.  Aschbach    a.  a.  O.,  4.  Bd.  S.  306 ff. 

5)  Reichstagsakten,  12.  Bd.,  S.  XXXVII.     Vgl.  aach  ebenda  No.  31  [lo]. 


—     204     — 

fügen  in  ihrer  Antwort  diesen  vier  Artikeln  noch  einen  fünften  hmzu : 
vom  rieh,  daß  es  sehr  versplissen,  verpfand  ist,  nun  virkauft  toird. 
Sigmund  ist  über  diesen  Vorwurf  sehr  ungehalten  und  sucht  mifstrauisch 
gegen  die  Kurfürsten,  die  ihn  immer  mehr  aus  Deutschland  zu  ver- 
drängen suchen,  den  Angriff  zu  parieren,  indem  er  ihnen  die  Voll- 
macht erteilt,  einen  Reichstag  zur  Vornahme  der  Reform  abzuhalten, 
aber  nicht  etwa  als  Zeichen  des  Vertrauens,  oder  im  Glauben,  diese 
könnten  ohne  seine  Autorität  doch  nichts  ausrichten  ^),  sondern  er 
wendet  vielmehr  wieder  die  von  ihm  oft  beliebte  Politik  an,  einen 
Reichsstand  gegen  den  anderen  auszuspielen.  Da  Sigmund  die  scharfen 
Interessengegensätze  zwischen  den  Städten  und  Herren  kennt,  so  schlägt 
er  sich  diesmal  zu  ersteren,  um  letztere  im  Zaume  zu  halten.  Daher 
rührt  eine  neue  gro(se  Einmütigkeit  zwischen  König  und  Städten,  und 
der  Einflufs,  den  die  Verhandlungen  in  Eger  auf  unsere  Schrift  geübt 
haben,  läfst  sich  wiederum  erkennen. 

Offenbar  waren  die  Kurfürsten  noch  vor  dem  Reichstag  bemüht, 
einige  Propositionen  Sigmunds  in  ihrem  Sinne  eigenmächtig  zu  lösen; 
der  Kaiser  hört  davon  und  wendet  sich  bezeichnenderweise,  um  Atis- 
kunft  über  ihr  Verhalten  zu  erlangen,  an  die  Städte :  so  fragt  er  Nürn- 
berg nach  den  geheimen  Plänen  der  Fürsten.  Dieses  weife  aber  nur 
von  einem  Tag  derselben  in  Lahnstein  zu  berichten,  wo  über  die 
Münze  beraten  werden  sollte  *). 

Wie  sehr  der  Kaiser  die  Städte  in  sein  Vertrauen  zieht,  zeigen 
auch  andere  Berichte  ') :  so  sind  einige  Städteboten  auch  der  Augs- 
burger, dessen  Bericht  aber  leider  fehlt,  dem  Kaiser  nach  Prag  ent- 
gegengeritten *) ,  wo  sie  diesen  in  einer  Unterredung  offenbar  wieder 
über  die  Fürsten  ausforscht.  Der  Frankfurter  Gesandte  gibt  dann 
einer  Besorgnis  ^)  Ausdruck,  die  sich  auch  im  Laufe  der  Verhandlungen 
bestätigen  sollte  und  die  auch  im  voraus  ein  Licht  wirft  auf  den  Grund 
der  Uneinigkeit  der  Fürsten  mit  den  Städten  in  ihren  beiderseitigen 
Reformentwürfen  auf  dem  Egerer  Reichstage  *). 

i)  Reichstagsakten,  I3.  Bd.,  S.  XXXVII,  wie  Qnidde  meint. 

3)  Vgl.  Reichstagsakten,  12.  Bd.,  No.  68.  Übrigens  hatten  die  Städte  Grand  ge- 
nug, über  das  Vorgehen  der  Fürsten  betreffs  der  Mtinze  sa  wachen.  Wie  wir  unten 
sehen  werden,  erfolgt  nach  dem  Tode  Sigmunds  sofort  ein  Angriff  der  Knrfflrsten  gegen 
das  Münzrecht  der  Städte. 

3)  Ebenda  No.  75. 

4)  No.  78. 

5)  Ebenda  No.  83. 

6)  Ich  besorge,  schreibt  er  an  Frankfurt,  kommt  der  kaiser,  daß  den  «iedffi 
wUckn  zugemutet  werde,  dcfi  guten  ratee  den  stedin  not  wäre;  denn  die  fitrtten 


—    406    — 

Mehrfach  stimmt  man  deshalb  schon  vor  den  eigentlichen  Ver- 
handlongen  von  städtischer  und  königlicher  Seite  seine  Erwartungen 
über  den  Erfolg  derselben  tief  herab  ^).  Sofort  mit  dem  Zusammen- 
tritt des  Reichstags  kommen  die  gegensätzlichen  Interessen  zum  Vor- 
sdiein.  So  meint  der  Nürnberger  Gesandte  *) ,  der  Ratschlag  der 
Fürsten  über  die  vier  kaiserlichen  Propositionen  sei  zu  weit  und  zu 
viel  enthaltend ,  dardt$rch  aüer  statte  freiheii  schwerlich  gekrenkt  würde. 
Die  Antwort  der  Städteboten  an  den  Kaiser  über  den  Entwurf  der 
Fürsten  nimmt  derselbe  beifallig  auf;  der  Berichterstatter  glaubt,  daCs 
Fürsten  und  Städte  sich  hc^t  einen,  wann  jedermann  sucht  seinen  vor- 
teily  die  Städteboten  seien  aber  aUe  eins  und  das  sei  ihr  glück  '). 

Auch  der  Frankfurter  Stadtschreiber,  der  uns  über  diesen  Tag  am 
ausführlichsten  berichtet,  nennt  die  Erklärung  der  Fürsten  einen  langen 
begriff y  ebenso  äufsert  sich  nach  ihm  der  Kaiser  zu  den  Städteboten: 
der  Begriff  sei  in  etlichen  stücken  wüde  und  wid.  Auch  bei  einer  Be- 
sprechung des  ßirstlichen  Ratschlags  im  einzelnen  zwischen  Sigmund 
und  den  Städteboten  ward  es  letzteren  immer  klarer,  dafs  mehrere 
Artikel  desselben  wider  kaiserliche  und  andere  Rechte  und  ihre 
Freiheit  und  Herkommen  wären.  Die  kurze  Gegenschrift  der  Städte- 
boten gefiel  dem  Kaiser  besser  als  der  Fürsten  Verzeichnis ;  es  wurde 
dann  eine  Kompromifsschrift  verfafst  unter  Leitung  eines  kaiserlichen 
Bevollmächtigten,  der  sich  ebenfalls  nach  der  Meinung  der  Städte 
richtete.  Der  Kaiser  machte  noch  den  Vorschlag  über  einen  Land- 
frieden und  die  lande  in  4  teüe  m  teilen  ^) ;  die  Fürsten  glauben  mit 
dem  Beschlossenen  genug  getan  zu  haben.  Sigmund  nimmt  dies 
etwas  weigerlich  auf,  die  Städteboten  dagegen  erklären  sich  bereit,  auf 
alle  kaiserlichen  Vorschls^e  einzugehen,  falls  die  Kreiseinteilung  noch- 
mals beraten  werden  sollte.  Der  Kaiser  dankt  für  die  Untertänigkeit 
der  Städte  mit  der  B^^ndung,  er  wäre  auch  immer  ihr  gnädiger 
herr  gewesi  und  wollte  es  auch  noch  sein.  Der  kenig  warb  noch  oft 
darwn,  nämlich  um  Landfrieden  und  Kreiseinteilung,  sagt  der  Frank- 
furter Berichterstatter,  doch  aUes  blieb  liegen.    Deutlich  erkennbar  ist 


migertide  emg^uiben  un$  nach  gewaU  gu  fragen  und  sehen  gern,  defi  man  an  den 
gereekUn  anhübe;  dann  die  in  aUen  landen  nU  bestcdt  sind,  ah  büge  were  und  ein 
mmme  gemein  recht  hestaU  uford,  dffi  aw^  getnein  Hed  boten  kein  gefäUn  han;  dann 
mBe  er  und  unBer  freiheit  dardorch  viemechtgU  wordin. 
i)  VgL  ReichsUgstkten,  12.  Bd.,  No.  86  a.  87. 

2)  Ebenda  No.  88. 

3)  VgL  anch  No.  91. 

4)  Ebeoda  Artikel  16. 


—     206     — 

hiernach  ein  gutes  Einvernehmen  der  Städte  unter  sich  und  mit  dem 
König,  ein  starkes  Betonen  ihrer  Freiheit  und  des  kaiserlichen  Rechts, 
ein  bereitwilliges  Eintreten  für  den  kaiserlichen  Plan  einer  Teilung  des 
Reichs  in  vier  Kreise  zum  Zwecke  des  Landfriedens. 

Sehen  wir  uns  nun  die  Kompromifsbeschlüsse  zwischen  Herren 
und  Städte  näher  an!  Von  dem  Hofgericht,  mit  dessen  Bestellung 
die  Kurfürsten  zum  Schein  ihrer  Arglosigkeit  gegen  den  Kaiser  ihren 
Entwurf*)  beginnen,  ist  hier  nicht  mehr  die  Rede,  sondern  vor  allem 
vom  Landfrieden :  die  der  Acht  und  Aberacht  Verfallenen  sollen  nach 
dem  bestehenden  Rechtsgebrauch  behandelt  werden;  auch  sollen  alle 
Reichsstände  alle  ihre  Gerichte  und  Rechte  aufrecht  und  redlich  halten 
nach  Recht  und  Herkommen.  Es  wird  also  von  einer  Neuordnung  des 
Rechtsverfahrens  bei  Schuldforderungen  ganz  abgesehen.  Dagegen  ist 
noch  ein  Zusatz,  offenbar  von  den  Städten  im  Gegensatz  zu  dem 
fürstlichen  Austragssystem  durchgesetzt  worden:  doch  jedermann  in 
seinen  rechten  und  freiheiten  in  dUen  sachen  unscJiedelichen.  Abgesehen 
von  der  Anerkennung  der  Vchme  in  ihren  rechtlichen  Grenzen  wurde 
auch  die  von  den  Herren  allein  gestellte  Forderung  über  herrenlose 
Knechte  aufgenommen.  Von  der  Münzordnung  weiis  dagegen  der 
fürstliche  Vorschlag  nichts,  wohl  weil  sie  diese  Angelegenheit  eigen- 
mächtig ordnen  wollten  und  im  voraus  gegen  das  Münzrecht  der 
Städte  waren.  So  kommt  es  denn  auch,  dals  sie  den  städtischen  Vor- 
schlag über  die  Münze,  dafs  die  iQkaratige  Goldmünze  als  gemeine 
Landeswährung  gelten,  die  silberne  dagegen  nach  jedes  Landes  Gre- 
wohnheit  ordentlich  geschlagen  werden  soll,  einfach  über  sich  ergehen 
lassen.  Kurzum  es  werden  alle  vom  Kaiser  angeregten,  von  den 
Fürsten  z.  T.  gar  nicht  berührten  Punkte  erledigt  und  zwar  mit  grofser 
Anpassung  an  den  Vorschlag  der  Städte. 

Sehen  wir  nun,  wie  sich  unser  Verfasser  zu  diesen  Verhandlungen 
verhält.  Die  vier  Artikel  der  Egerer  Reichstagsverhandlungen  sind 
ohne  Zweifel  deutlich  in  unserer  Schrift  angeschlagen,  so  vor  allem 
in  dem  Kapitel  von  dem  gericht  und  vom  rechtsprechen  um  eigen  und 
erb  *).  Letzteres  war  in  dem  Ratschlag  der  Fürsten  ausdrücklich  von 
einer  Behandlung  ausgenommen  und  bei  der  Besprechung  des  ersteren 
weifs  er  nichts  von  dem  Austragssystem,  das  von  den  Fürsten  geplant 
war.  Es  werden  nur  praktische  Gesichtspunkte,  wie  die  Forderung- 
eines  guten  Leumundes  des  Richters,  über  den  Instanzenzug  u.  a.  gel- 


i)  In  No.  93. 

2)  Vgl.  Boehm,  S.  227  f. 


—     407     — 

teod  gemacht  und  nicht  prinzipielle  wie  auf  dem  Egerer  Reichstag. 
Nur  private  Ansichten  liegen  den  Forderungen  des  Verfassers  zu  Grunde, 
die  offenbar  städtische  Einrichtungen  teils  kritisieren,  teils  kopieren. 
Besonders  wichtig  für  eine  Reichsstadt  war  auch  die  Frage  nach  der 
Kompetenz  der  geistlichen  und  weltlichen  Gerichtsbarkeit.  „  Die  Aus- 
dehnung der  geistlichen  Gerichtsbarkeit  auf  rein  weltliche  Streitsachen, 
von  den  Laien  lange  Zeit  gebilligt,  führte  damals  zu  häufigen  Konflikten. 
Besonders  die  Städte  suchten  diesen  Übergriffen  durch  Verbesserung 
der  eigenen  Rechtspfl^e  einen  Damm  entgegenzusetzen**  *).  Unser  Ver- 
£user  bestimmt  in  dieser  Beziehung :  das  geistliche  Recht  soll  in  geist- 
lichen Gerichten  herrschen,  das  kaiserliche  bei  den  weltlichen,  be- 
sonders an  den  Hauptgerichten  soll  über  Blutschuld  nach  dem  kaiser- 
lichen Rechisbuch  gerichtet  werden. 

An  den  Streit  über  die  Kompetenz  des  geistlichen  Gerichts  schliefst 
das  Kapitel  an :  man  soU  niemand  bannen  umb  geUschuld  ^).  Es  ist  be- 
kannt, welcher  Miisbrauch  mit  der  geistlichen  Gewalt  gerade  bei  welt- 
lichen Angelegenheiten  im  ausgehenden  Mittelalter  getrieben  wurde. 
Namentlich  brach  in  den  Städten  häufig  Streit  aus  zwischen  der  Pfaff- 
beit  und  dem  Rat  wegen  rein  wirtschaftlichen  Fragen,  so  z.  B.  wegen 
des  Wetnungelds  *).  Der  Bischof  exkommunizierte  aus  solcher  Ver- 
anlassung oft  die  Stadt,  und  Sperrung  des  Gottesdienstes  war  dann  die 
Folge.  Es  fordert  deshalb  der  Verfasser,  dafs  um  Geldschuld  nicht 
mehr  gebannt  werden  soll.  Auch  wegen  anderer  Verbrechen,  Avie 
wegen  Sakrileg,  Wucher  und  Ehebruch,  die  sich  ein  oder  zwei  Per- 
sonen zu  schulden  kommen  lassen,  den  goUesdienst  gu  hindern,  sei 
dAädUek.  Nur  bei  grö&erer  Beteiligung  an  schweren  Vergehen  soll 
man  mit  verschlahen  der  kirchen  und  niederlegen  des  goUesdienstes  vor- 
gehen. Auch  das  an  dieser  Stelle  getadelte  Unrecht  der  Bischöfe, 
ni^erechte  Steuern  auf  die  Pfaffheit  zu  legen,  um  Kri^  zu  führen, 
le^  der  Verfasser  in  demselben  Lichte,  wie  im  ersten  Teile  seiner 
Schrift.  Denn  weltliche  Sachen  und  der  Besitz  von  Lehen  will  er  den 
Bischöfen  abgenommen  wissen.  Mit  diesen  Klagen  des  Verfassers 
werden  wir  aber  lebhaft  in  das  Augsburg  von  damals  versetzt.   Burchard 


1)  Joachimsohn,  Chregor  Heimburg  (1891)  S.  15. 

2)  Boehm,  S.  229.  —  Anch  der  genannte  Ratschlag  der  Ftlrsten  bertthrt  diese 
Fra^:  d4nß  die  geistUehen  geriehte  nicht  richten  noch  arme  Jeute  mit  laden pannen 
oder  wtU  proMceee  hcMchweren  in  weltlichen  sw^ien,    Artikel  [10]. 

3)  Beisptele  geben  H.  Boos,  Geschichte  der  rheinischen  Städtehultw,  2.  Teil 
(1897),  S.  2380.  für  Worms,  und  H.  Hegel,  Verfaseungsgeschichte  von  Mainz  im 
MOUkMer  (1882X  S.  40  dir  Mainx. 


—     208     — 

Zink  ^)  berichtet  ßir  das  Jahr  141 8  von  einem  skandalösen  Streit  der 
Stadt  Augsburg  mit  dem  Bischof  Neuninger,  dem  bei  der  Wahl  wohl 
die  Pfaffheit ,  aber  nicht  der  Rat  anhing.  Der  Bischof  bannte  *)  die 
Stadt,  und  die  Pfaffheit  verliels  dieselbe,  weil  sie  nicht  mehr  lesen 
wollte.  Doch  hold  waren  wieder  viele  pfaffen  da  und  ward  alles  schlechi, 
die  Augsburger  beklagten  sich  beim  König  über  den  Neuninger,  der 
die  Augsburger  gegen  Rom  wegen  des  Weinungeides  und  des  Pflaster- 
zolles laden  liefe.  Zink  verurteilt  auch  diesen  geistlichen  Übergriff 
scharf  mit  den  Worten:  das  doch  weltlich  sach  war  und  daß  mam  sie 
um  kein  wdttich  sach  fw  ein  geistlich  gericht  mit  laden  stelU,  denn  das 
sei  verbrieft  von  Kaiser  und  Königen  '). 

Auch  die  Frage  des  Landfriedens  mu&te  den  Verfasser  als  Städter 
beschäftigen.  In  einem  eigenen  Kapitel  ^)  fordert  er  vor  allen  die 
Reichsstädte  auf,  sich  gegenseitig  zum  Frieden  zu  mahnen.  Aber  auch 
die  Frage  nach  der  Einteilung  des  Reiches  in  vier  Teile,  die  vom 
Kaiser  selbst  zur  besseren  Handhabung  des  Landfriedens  auf  dem  letzten 
Egerer  Reichstag  angeregt  wurde,  erörtert  unser  Verfasser  in  dem  Ka- 
pitel :  man  soll  4  vikari  des  reidis  seUsen  %  Jeder  soll  Reichsgewalt 
haben  und  soll  residieren  in  einem  der  vier  Teile  der  Christenheit, 
nämlich  in  Österreich,  Mailand,  Savoyen  und  Burgund.  Diese  sollen, 
ein  jeder  in  seinem  Bezirk,  ein  Schiedsgericht  bilden,  vor  dem  alle 
Rechtshändel  des  einzelnen  Sprengeis  ausgetragen  werden.  Wer  sich 
dem  nicht  unterwirft,  wird  von  allen  Reichsständen  befehdet;  die  Hel- 
fershelfer werden  wie  diejenigen,  die  im  Ungehorsam  verharren,  in 
contumaciam  prozediert,  und  zwar  bezeichnenderweise  wieder  von  den 
Reichsstädten.  Ebenso  sollen  die  Reichsstädte  den  Brand- 
schatzem  land  und  sfwinge  gewinnen  und  dem  reiche  schwören  und 
dienen.  Ob  hier  der  vom  Kaiser  zu  Eger  gemachte  Vorschlag  vom 
Verfasser  mit  eigenen  Gedanken  umschrieben  wiederg^eben  ist,  läist 
sich  nicht  kontrollieren ;  jedenfalls  decken  sich  seine  Forderungen  mit 
anderen  ähnlichen  Vorschlägen  in  dem  sogleich  darauffolgenden  Jahre 
unter  Albrecht  nicht.  Genug  ist,  dais  damals  die  Städte  gerade  wie- 
der auf  diese  Vierteilung  des  Reiches  mit  ausdrücklicher  Beziehung  auf 
Sigmunds  Ratschlag  zu  Eger  zurückgreifen. 

Auch  den  vierten  und  letzten  Artikel  des  städtischen  Ratschlags 

i)  VgL  Chroniken  der  Städte,  5.  Bd.  (Angsborg  2.  Bd.  1866),  S.  77. 

2)  s.  79. 

3)  Ebenda  S.  86. 

4)  Vgl.  Boehm,  S.  234. 

5)  Vgl.  ebenda  S.  232  ff. 


—    40Ö     — 

und  des  gemeinsamen  Kompromiisbeschlusses  zu  Eger  (Mr.  94  u.  95) 
von  der  Münze  hat  unser  Verfasser  in  seinem  Kapitel  über  die  müme  ^) 
behandelt  Die  Münze  sei  schlecht,  weil  äos  gold  geschwächt  wird 
teils  durch  nach  der  Prägung  vorgenommene  äufsere  Manipulationen) 
teils  durch  ursprünglich  schlechte  Prägung  *) :  man  soll  deshalb  die 
Münzfälscher  verbrennen  und  sie  des  Münzrechtes  berauben.  Aber 
auch  aüe  fireüieü  der  münss  sott  ab  sein  ').  Das  Münzregal  soll  dem 
Könige  zurückgegeben,  der  Gold-  und  Silbergehalt  der  Münzen  durch 
buOe  %md  brief  festgelegt  werden.  Alle  Münzen  sollen  auf  dem  Avers 
des  reiches  geichen,  auf  dem  Revers  der  herm  oder  städte  zeichen  tragen, 
damit  der  Fälscher  erkannt  wird.  Dieser  soll  das  Münzrecht  verlieren 
und  100  Goldgulden  in  die  kaiserliche  Kammer  zahlen.  Diese  Art 
der  Münzreform  geht  ofTenbar  weiter  als  der  Egerer  Reichstagsbeschlufs, 
der  sich  an  den  städtischen  Ratschlag  sehr  eng  anlehnt.  Die  Forde- 
rungen sind  hier  bestimmter  und  genauer  und  hätten  eine  Umgestal- 
tung des  Münzwesens  zu  Gunsten  der  Reichsgewalt  bedeutet :  es  drückt 
sich  hierin  wieder  der  einheitliche  Zug  unserer  Schrift  nach  der  ganz 
bestimmten  Richtung  des  Verfassers  als  eines  Reichsstädters  aus.  Wie 
er  im  ersten  TeU  von  der  Reform  des  geistUchen  Standes  Heimfall 
alles  Reichsguts  der  Geistlichen  an  das  Reich  verlangt,  das  den  Reichs- 
städten verliehen  werden  soll  ^),  so  vindiziert  er  auch  das  Zollregal 
dem  Reiche  und  die  Übertragung  der  von  den  Geistlichen  besessenen 
Zölle  an  die  Städte,  als  die  Vertreterinnen  des  Reichs.  So  soll  jetzt 
wieder  das  Münzregal  dem  Reiche  zurückerstattet  und  jede  Münze 
zum  Teil  als  Reichsmünze  geprägt  werden.  Kaiserliches  Recht 
nach  dem  kaiserlichen  Rechtsbuch  soll  herrschen,  das  Reich  überall 
gestartet  werden.  Dafür  sind  die  Reichsstädte  nicht  nur  von  Anfang 
an  gesetzt,  sondern  haben  auch  jetzt  wieder  bei  der  bevorstehenden 
Neuordnung  einzutreten.  Diese  hohe  politische  Wertschätzung  der 
Reichsstädte  deckt  sich  aber  mit  der  von  Kaiser  Sigmund  wenn  auch 
mir  zur  Schau  getragenen  Auffassung  über  die  Bedeutung  der  Reichs- 

i)  Vgl.  Boehm,  S.  247. 

2)  VgL  den  Auftrag  Nürnbergs  an  seinen  Gesandten  in  Eger.  Reichstagsakten, 
12.  Bd^  No.  84.  Er  soU  dem  Kaiser  erklären,  dafs  es  bisher  reäUeh  die  müns  ge- 
halten  habe  und  daß  unsere  herm  die  furaten  umb  uns  eine  geringere  iiKünse  darein 
meinen  eu  schiahen  und  jetet  scMahen,  daß  die  nicht  allein  uns  und  unsere  Stadt, 
mmdem  lant  und  leuten  grqfien  edtaden  sei.  Vgl.  anch  ebenda  No.  51.  Ulm  schreibt 
an  Nördlingen  Dezember  1436  betreffend  Schädigung  der  sUbemen  münz  durch  die 
Miinxen  Berns  und  Überlingens. 

3)  VgL  Boehm,  S.  248. 

4)  VgL  Deutsche  Geschichtsblätter,  IV.  Bd.  S.  12. 

16 


—     210     -- 

Städte.  Auch  die  Donauwörther  Angelegenheit  warf  ein  den  Presburg^er 
Äufserungen  ähnliches  Licht  auf  diese  hohe  Auffassung  des  Kaisers 
von  den  Reichsstädten.  Es  soll  nach  dem  Abschied  eines  schwä- 
bischen Städtetages  ')  die  Meinung  des  Kaisers  über  den  Eintritt 
Donauwörths  in  den  schwäbischen  Städtebund  gewesen  sein,  daß  die 
Städte  sie  (nämlich  Donauwörth)  bei  dem  heiligen  römischen  reich  je 
handhaben  und  behalten  sollen  seiner  kaiserlichen  gnade  m  toUlen,  dem  * 
römischen  reiche  zu  umrden  und  ehren  und  des  M.  röm.  reichs  zu 
nutzen  und  sterkung  ...  als  des  hl.  röm.  reichs  ein  tröstlich  schloß  und 
thore  zum  Bayemlande,  da  es  vor  Zeiten  den  Reichsstädten  zu  schwerem 
Abbruch  von  dem  römischen  Reiche  entfrenidet  worden  sei.  Auf  dem 
letzten  Reichstag  des  Kaisers  kam  dann  nochmals  das  innige  Einver- 
nehmen der  Reichsstädte  mit  dem  Kaiser  zum  deutlichen  Ausdruck. 
Da  ist  es  denn  verständlich,  dafs  gerade  ein  Städtebürger  unter  dem 
Namen  Sigmunds  gleichsam  als  Vollender  und  Vollstrecker  eines  Ver- 
mächtnisses des  Kaisers  ein  Reformprojekt  herausgibt  und  zu  dessen 
Vollzug  gerade  die  Reichsstädte  herausfordert. 

Aber  das  gute  Einvernehmen  Sigmunds  mit  den  Städten  auf  dem 
letzten  Egerer  Reichstag  traf  gerade  mit  einem  auch  von  Sigmund 
vereitelten  Angriff  der  Herren  auf  die  Freiheiten  der  Städte  zusammen. 
Es  war  somit  von  neuem  unter  dem  Namen  dieses  Kaisers  den  Städten 
gleichsam  die  Parole  gegeben,  zu  einer  energischen  Abwehr  gegen 
die  nun  unter  Albrecht  sich  wiederholenden  Angriffe  der  Herren  auf  ihre 
Freiheiten  zu  schreiten.  Dafs  ein  versteckter  hochgradiger  Gegensatz 
zwischen  Herren  und  Städten  auf  dem  Egerer  Reichstag  bestand,  ohne 
dafs  direkte  Berichte  darüber  vorliegen,  ist  durch  einen  Rückschlufs 
von  den  Handlungen  der  Fürsten  nach  dem  Tode  Sigmunds  auf  die 
Gesinnungen  derselben  noch  zu  dessen  Lebzeiten  namentlich  auf  dem 
genannten  Tage  unabweisbar.  Bei  der  Prüfung  der  nun  unmittelbar 
folgenden  Schritte  der  Herren  sowohl  als  der  Städte,  sehen  wir  wiederum 
diurch  Rückschlufs  die  grofee  Einigkeit  der  Städte  mit  Sigmund  zu  Eger 
ausdrücklich  ausgesprochen,  ebenso  die  dort  unter  dem  Einverständnis 
desselben  Kaisers  beschlossenen  Artikel  als  das  Mindestmafs  ihrer  Re- 
formforderungen angesehen.  Vor  allem  aber  bricht  aus  allen  diesen 
politischen  Akten  der  Fürsten  das  heftige  Verlangen  hervor,  anstatt 
das  Reich  zu  reformieren,  endlich  den  Städten  die  Freiheiten  zu  nehmen. 
Da  mufe  es  denn  wieder  selbstverständlich  sein,  wenn  ein  Reichs- 
städter  den   von  Sigmund  unter  dem  Beifall  der  Städte  wiederholt  in 


i)  VgL  Reichstagsakten,  ii.  Bd.,  No.  244« 


—     211     — 

Angfriff  geüommenen  Plan  einer  Reichsreform  in  dessen  Naraeü  auf* 
greift  und  gerade  städtisches  Wesen  und  städtische  Freiheit  nicht  nur 
zu  rechtfertigen,  sondern  zu  verallgemeinem  sucht. 

Bald  nach  Sigmunds  Tod   (9.  Dez.  1437)  treten   die   Kurfürsten 
in  einer  Landfriedenseinigung  geschlossen  auf  *).    Der  Gesandte  Frank- 
furts   berichtet  dann   über   die  „Werbungen"  der  Kurfürsten  bei  dem 
neuen  König  Albrecht,    die  gar  grtißelichen  sind  tmder  euch  besonders 
und  aJle  anderen  reichsstett  ^).    Denn  sie  bezwecken  nichts  anderes  als : 
primo  den  stetten  ihre  freiheiten  zu  widerrufen,   die  nickt  redlich  sind. 
Item   besonders  d€fß  sie  nirgends  eu  recht  stehen  seilen,  denn  bei  ihnen, 
item   betreffend  ihre  müfize,  die  etliche  haben  *).     So  haben   wir  denn 
hier  klar  ausgesprochen,  was  die  Herren  mit  ihrer  Reichsreform  wäh- 
rend der  Regierung  Kaiser  Sigmunds   wollten,   nichts   anderes  als  die 
Widerrufung  der  städtischen  Freiheiten  aber  namentlich  der  Freiheiten 
des   eigenen  Gerichts  und   der  eigenen   Münzen:   kurzum   der  Kampf 
des    territorialen  Fürstentum  um   die  Reichsunmittelbarkeit  der  Städte 
wird  immer  akuter.    Zugleich  wird  aber  auch  durch  dieses  post  hoc  zu 
der  wichtigsten  Frage  über  den  Egerer  Reichstag,  weshalb  die  Städte 
so  auiserordentlichen  Anstols  an  den  Vorschlägen  der  Herren  genommen 
haben,   ein  propter  hoc  in  dem  Sinne  der  bereits  von  Quidde  mit  an- 
deren Gründen    versuchten  Lösujig  geschaffen.     Das   fürstliche  Aus- 
tragsystem sollte  ofTenbar  die  städtische  Gerichtsbarkeit  durchlöchern, 
und  nicht  weniger  gab  das  Münzrecht,  zu  dessen  Reform  der  fürstliche 
Ratschlag  schweigt,  den  Grund  zu  einem  latenten  Gegensatz  zwischen 
Herren  und  Städten. 

Aber  auch  auf  städtischer  Seite  macht  man  mobil  mit  Vorstel- 
lungen bei  dem  neuen  König.  So  schreibt  Speier  an  Köln  wegen 
einer  städtischen  Zusammenkunft,  um  zu  beraten,  wie  man  dem  König 
die  not  und  gebrechen  der  städte  verlegen  soll,  und  hoffl,  dafs  Albrecht 
gegen  ungiemlichkeiten  und  unredliche  wege  der  fiirsten  stehen  werde  *). 
Als  nun  der  König  nach  Nürnberg  einen  Reichstag  *)  wegen  der  drei 
Punkte:  gemeiner  Frieden,  Münz  und  Gericht  ausschreibt,  da  be- 

i)  Vgl.  Janssen,  Frankfurts  BeicJukorre^pondene,  No.  794. 

2)  Ebenda  No.  800. 

3)  Ebenda  No.  801.  April  1438.  In  der  Instraktion  der  kurfürstlichen  Gesandt- 
schaft soU  gestanden  haben:  Item  cds  wohl  wissentlich  tat,  daß  mancherlei  freiheit 
die  etädte  erworben  ?u»n,  die  unziemlich  und  unredlich  sind,  daß  mit  dem  eu* 
künßigen  könig  geredet  würde,  wifilicher  zu  bedenken,  w(u  eu  bestätigen  sei  oder 
nit  mit  rat  seiner  kurfürsten  und  anderer  fürsten. 

4)  Ebenda  No.  805. 

5)  Ebenda  No.  807. 

15* 


-   äli   — 

bchlie&en  die  Städte  auf  einem  vorberatenden  Tage  zu  Ulm  i)  bei 
den  Artikeln  zu  Eger  (1437)  bleiben  zu  wollen;  2)  sich  wegen 
ihrer  Freiheiten  und  Rechte  besser  zusammenzutun  w^en  man- 
cherlei ivilden  landsläufen  und  Artikel  über  diese  Vereinigung  jedem 
Rate  zu  übergeben,  3)  sei  auf  Antrag  Nürnbergs  auch  über  Geleit  und 
Zoll  geratschlagt  worden  und  nun  anderes  nach  jeglicher  Stadt  Not- 
durft *).  Auf  diesem  Tage  waren  Ulm  und  Augsburg  auch  vertreten. 
Die  obengenannten  Artikel  über  eine  festere  Einigung  der  Reichsstädte 
liegen  nun  von  Augsburg  und  der  schwäbischen  Bundesstädte  vor,  sie 
zeichnen  eine  feste,  detaillierte  Organisation  der  genannten  Städte 
gegen  Angriffe  von  einer  dritten  Seite,  das  ist  von  selten  der  Fürsten, 
namentlich  zum  Schutze  ihrer  freiheiten,  als  sie  von  dem  hl.  reiche  her- 
kommen wäre  *).  Ravensburg  schlägt  vor,  alle  Streitigkeiten  unter  sich 
zu  lassen  oder  durch  ein  Schiedsgericht  untereinander  zu  schlichten  *). 
Als  nun  die  beiden  Reichstage  zu  Nürnberg  (Juli  und  Oktober  1438) 
zu  Stande  kommen,  da  schlagen  die  königlichen  Räte  zur  Handhabung 
des  Landfriedens  die  von  Sigmund  vorgeschlagene  Teilung  des  Reiches 
vor,  aber  nicht  in  vier,  sondern  in  sechs  Kreise^).  Die  Städte 
bleiben  bei  der  von  Sigmund  vorgeschlagenen  Teilung  in  vier  und 
beziehen  sich  ausdrücklich  auf  die  Einigkeit  mit  Sigmund  in  diesem 
Punkte.  Das  zeigt  der  Abschied  des  vorberatenden  Städtetages  zu  Kon- 
stanz, wo  gerade  von  selten  Augsburg  und  Ulms  geltend  gemacht 
wird,  auf  dem  zweiten  Reichstag  zu  Nürnberg  bei  den  sseUdn  des 
Egerer  tags  von  1437  0u  bleiben  und  darinnen  tmserm  herm  den  kaiser 
(Sigmund)  seliger  gededUnas  gu  anhoarten  ganz  eins  gewesen  sind  % 

Unser  Verfasser  bat  nun  auch  die  Vierteilung  des  Reiches  bei- 
behalten und  dem  Vorgang  der  Städte,  stimmt  aber  mit  den  örtlichen 
Bezirken  dieser  vier  TeUe  mit  den  von  den  Städten  dort  vereinbarten 
nicht  überein:  es  ist  eben  in  unserer  Schrift  nur  eine  der  in  Konstanz 
in  einem  Gesamtbeschlufe  untergegangenen  Einzelstimmen.  Auch  die 
ausführlichen  Verhandlungen  zu  Nürnberg  über  Gericht,  Austragver- 
fahren  *)  und  Münze  ^)  stimmen  in  keiner  Weise  mit  den  von  unserem 
Verfasser    über    dieselben    Punkte    gegebenen   Vorschlägen    überein. 


1)  VgL  Janssen,  No.  810. 

2)  Ebenda  S.  446. 

3)  Ebenda  S.  447* 

4)  VgL  Wencker  a.  a.  O.,  S.  340. 

5)  Janssen  a.  a.  O.,  S.  45^  f. 

6)  Vgl.  Wencker  a.  a.  O.,  S.  343  u.  349. 

7)  Ebenda  S.  357  u.  359. 


—     218     — 

Boehm,  der  jene  im  emzelnen  mitteilt  ^),  konstruiert  eine  Übereinstim- 
mung, ist  aber  selbst  am  Schlusse  derselben  von  ihrer  Unhaltbarkeit 
äberzeugt  Es  sind  vielmehr  die  Vorschläge  unseres  Verfiusers,  wie 
gesagt,  eine  Einzelstimme  zu  den  vorbereitenden  Verhandlungen  auf 
den  Städtetagen  zu  Ulm  und  Konstanz.  Die  wiederholt  auf  diesem 
Tage  zum  Ausdruck  gekommene  Übereinstimmung  mit  Sigmund  und 
namentlich  auch  von  selten  Augsburgs  in  der  Frage  der  Teilui^  des 
Reiches  und  der  Reichsreform  überhaupt  und  die  ausdrückliche  Er- 
klärung bei  dieser  mit  Sigmund  zu  Eger  vereinbarten  notkin  bleiben 
zu  wollen,  fuhren  zu  der  Angabe  des  Verfassers,  als  vollziehe  er  nur 
die  Reform  des  genannten  Kaisers,  der  nur  ein  Wegbereiter  gewesen 
sei,  ganz  abgesehen  davon,  dafs  sie  das  von  uns  oben  schon  bewie- 
sene Einverständnis  zwischen  Kaiser  und  Städten  zu  Eger  von  neuem 
klar  l^en.  Namentlich  die  in  Ulm  zur  Vorberatung  gelai^^ten  Gegen- 
stände über  Zoll  und  Geleite  und  sonstiger  Notdurft  der  Städte  sind 
offenbar  die  Unterlagen  zu  unserer  Schrift  in  ihrem  zweiten  Teile. 
Eine  städtische  Instruktion  zu  diesen  Tagen,  auf  denen  die  Städte  bei 
der  von  Sigmund  b^onnenen  Reichsreform  bleiben  wollen,  hat  ohne 
Zweifel  unserem  Verfasser  vorgel^en  und  er  hat  sie  erläutert  im 
reichsstädtischen  Geist  und  Interesse.  Wenn  man  sich  diese  Einzel- 
heiten namentlich  das  zu  Eger  bei  der  Reichsreform  zu  Tage  getretene 
Einverständnis  zwischen  Städten  und  Sigmund  und  auch  die  spätere 
Betonung  desselben  fest  vor  Augen  hält,  dann  versteht  man  allein 
den  Sinn  der  Worte  unseres  Verfassers  über  die  Herkunft  seiner  Re- 
form des  weltlichen  Standes:  tvir  thun  aber  m$  wissen,  dtf/l  unr  mit 
hohem  und  weisen  diese  urhmd  (nämlich  Sigmunds)  als  sie  an  ihr  selbst 
hesdtehen  ist,  erläutert  haben  und  finden  darin  daß  wahrlidh  gottes  um»- 
fmng  ist,  was  wir  nun  van  stOch  su  stück  erJdert  haben  und  wird  m 
emem  reckten  bekennen  bracht. 

Aber  auch  von  der  Rührigkeit,  womit  damals  die  Städte  die 
bürgerlichen  Zustände  zu  verbessern  streben,  ist  unsere  Schrift  ein 
hervorragendes  Zeugnis.  Der  Verfasser  deutet  ganz  offen  auf  die  Re- 
formbestrebungen der  Städte  im  Jahre  1438  hin;  an  der  Stelle,  wo 
er  vom  jüngsten  Propheten  spricht,  der  einen  kleinen  Geweihten  als 
den  Reformator  für  das  Jahr  1439  verhelfst,  sagt  er:  daß  in  dem 
neunten  Jahr  (d.  i.  1439)  dieses  aufgehen  soUe,  das  ist  nun  beschehen, 
offenbar  mit  der  Abfassung  und  Verkündung  seiner  eigenen  Reform. 
Gleich  darauf  fährt  der  Verfasser  fort:   wann  etUch  reichslädt  haben 

i)  a,  n.  O.,  S.  95  ff. 


^     214     — 

geworben  in  dem  vordem  jähr  um  diese  Ordnung  und  vermeinen  auch 
dojsu  zu  ihun.    Dieses  vordere  Jahr  ist  also  1438  und  die  Werbung 
um   diese  Ordnung   ist  nichts   anderes  als  die  Beratung  der  Städte  zu 
Ulm  imd  Konstianz.    Dieselbe  Rührigkeit  bezeichnet  auch  der  Verfasser 
mit  den  Worten:    die  städte,  die  sich  üben  in  dieser  sache  und  Ord- 
nung *).     Aber  sie   hat  auch   ihren   Grund    in   dem   Gefühle    der   Bc- 
dröhimg  von  seiten  der  Fürsten  *) ;  die  Städte  wollen  deshalb  bei  dem 
neuen  König  den  Werbungen   der  Fürsten  zuvorkommen.     Schon   bei 
der  Beratung  des  Landfriedens  zu  Nürnberg  1438,  als  man  sich  nicht 
einigen  konnte,   liefsen  die  Städte  soM^  abscheidung  des  tags  an  seine 
Majestät  gleich  bald  gelangen,   damit  die  kurfürsten  mit  ihrer  noitel 
ihnen  nicht  zuvorkämen ').     Auch  bei  dem  zweiten  Reichstag  zu  Nürn- 
berg wollen   die  Städte  noch  vor  Ankunft  des  Königs  daselbst,  den- 
selben  über  alles  unterweisen,  ehe  dann  daß  die  fürsten  gemeinUch  jau- 
kommen   werden  ^).     Der  Abschied    dieses    Städtetages    zu   Nürnberg* 
fordert  dann  eine  sehr  eilige  und  notwendige  Abordnung  an  den  König 
von  mancherlei  Sachen  wegen,  die  etile  alles  lantes  nicht  zu  schreiben  ge- 
bühren und  jetzt  notdürftiger  als  vop-mals  ^).    Und  all  diese  Hast  dreht 
sich  um  die  Erhaltung  ihrer  Freiheiten,,  die  sie  nun  wiederholt  seit 
dem  Egerer  Reichstag  betonen  *).     Wir  sahen ,   wie   die   Städte  sich 
zum  Schutze  derselben  enger  zusammentun  wollen,  ja  einige,  nämlich 
Mainz,  Strafsburg,  Worms   und  Speier  schliefen   kurz   vor  dem  Ab- 
sterben Kaiser  Albrechts  ^)  ein  Bündnis,  weil  die  kurfürsten  und  andere 
fürsten  darauf  gelegen  und  vermeint,  daß  die  stadie  zu  viel  freiheU 
haben,   sottten  sie  einen  römischen  konig  kiesen,  dann  würden  sie  ihn 
verbinden,  ohne  Zweifel  diese  Freiheiten  abzutun.    Diese  Städte  haben 
sich  auch  in  gegenseitiger  treue  und  liebe  verschworen,  keinen  römischen 
könig  gehorsam  sein  zu  woUen,  wenn  er  nicht  vorher  ihre  freiheU,  rechte 
und  gute  gewohnheit  bestätigt.    Wir  sehen  also,  wie  die  Herren  darin 
einig  sind,  die  zukünftigen  Vertreter  der  Zentralgewalt  gegen  die  Städte 
zu  binden  und   wie  anderseits   die  Städte  erkennen,  dafs  die  Reform 
der  Herren   nur   die  Vernichtung   der  städtischen  Freiheiten  bezweckt 
und  so   ebenfalls   den  zukünftigen   römischen  König  zur  unbedingten 


i)  VgL  Boehm  a.  a.  O.,  S.  300. 

2)  Vgl.  Janssen  a.  a.  O.,  No.  817. 

3)  Wencker  a.  a.  O.,  S.  338  ff. 

4)  Janssen,  No.  825. 

5)  Ebenda  No.  834. 

6)  Darauf  macht  Wencker  besonders  aafmerksam  auf  S.  354> 

7)  Vgl.  Wencker  a.  a.  O.,  S.  354  f. 


—     215     — 

Anerkennung  ihrer  Freiheiten  binden  wollen.  Die  Gegensätze  sind  bis 
zu  der  Krklärung  offenen  Ungehorsams  und  gewaltsamen  Widerstandes 
zugespitzt  ^).  Dabei  sind  die  Städte  einig,  und  die  Erinnerung  an  die 
einstig'e  Einigkeit  mit  Sigmund  in  der  Reichsreform  gibt  ihnen  den 
Mut  eines  hohen  politischen  Bewußtseins,  die  Kraft  der  Selbsthilfe.  Der 
Augenblick  dazu  ist  wieder  gekommen  und  er  wird  von  unserem  Ver- 
fasser kraftvoll  au^egrifTen  mit  dessen  Appell  an  die  Reichsstädte, 
die  von  den  Herren  auf  ein  falsches  Gebiet  geleitete  Reform  in  ihrer 
Art  durchzuführen.  Dazu  pafst  femer  die  Drohung,  mit  Gewalt  und 
dem  Schwert  nicht  nur  die  Freiheiten  der  Städte  zu  behaupten, 
sondern  auch  die  städtische  Freiheit  überhaupt  iiir  alle  zu 
proklamieren  und  zwar  mit  Hilfe  des  zu  erwartenden  und  aus  städtischen 
Kreisen  hervorgegangenen  Priesterkönigs  Friedrich  *). 

Wie  denkt  sich  nun  unser  Verfasser  selbst  den  Vollzug  seiner  Neu- 
ordnung?    Genau  so  wie  die  Vorlagen,   auf  denen  seine  Forderungen 
beruhen;   denn   wie  ihm   bei   der  Erläuterung  des  ersten  Teils  seiner 
Reformschrift   hauptsächlich  motivierte  Anträge  imd  Amendements  zu 
den  Konzilsberatungen  zu  Basel  vorgelegen  haben,  so  liegt  im  zweiten 
Teil  im  grofsen  und  ganzen  offenbar  eine  städische  Instruktion  zu  dem 
Uimer  Städtetag  (1438)  zu  Grunde,  wo  vorberatend  und  mit  ausdrücklicher 
Übereinstimmung   mit  Sigmunds  zu  Eger  (1437)   begonnenen  Reichs- 
reform  über  diese  selbst  sowie  über  rein  städtische  Bedür&isse  nach 
jeglicher  stadi  notdurfl  Beratung  gepflogen  wurde.    Dazu  standen  dem 
Stadtschreiber  viele  Papiere   des  diplomatischen  Verkehrs   der  Städte 
unter  sich  und  namentlich   mit  Sigmund  von  dem  Reichstag  zu  Pres- 
burg   (1429)   und  über  das  Pfahlbürgerverbot  zur  Verfügung.     Also 
die    Reformtätigkeit    am    Konzil    zu  Basel    sowie   die   der 
Städte  im  Jahre  1438  sind  in  seiner  Schrift  erläutert  und 
erweitert.     So  konnte   unser  Verfasser  auch   von  der  weiteren  Re- 
formtätigkeit des  Kaisers  Friedrich   sagen:    Viel  andere  Ordnung  mrd 

i)  Für  diese  Zeit  schreibt  der  Chronist  za  Augsburg,  Burcbard  Zink  (1444) 
a.  a.  O.,  S.  1 76,  8 :  €8  war  eine  gemeine  eag,  daß  die  Jierm  den  wiüen  hatten,  sie 
ufolUen  äUe  reichsstädte  verderben  und  unterdrücken,  gott  ist  herr  Über  uns  aUe,  er 
behüte, 

2)  Offenbar  versetzt  uns  die  letzte  Redaküon  unserer  Schrift  in  die  Zeit  des  Inter- 
regnums zwischen  Albrecht  und  Friedrich  m.  Es  scheinen  mir  folgende  Worte  darauf 
hinzuweisen:  dein  zom  ist  offen,  uAr  gangen  als  die  schaf  ohne  einen  hirten. 
(Boehm^  S.  161.]  Ebenso  fafst  der  Verfasser  auch  das  Reichs-Vikariat  ins  Auge 
auf  S.  172  und  stellt  auch  deshalb  die  kurze  Frist  von  nur  i  Monat  für  den  Beitritt  zu 
seiner  Ordnung,  weil  er  die  prophetische  Kombination  auf  das  Jahr  1439  braucht  und 
nach  Albrechts  Tod  von  diesem  Jahre  nicht  viel  mehr  übrig  ist. 


—     216     — 

man  noch  verhandeln,  die  jetzt  nicht  notdürftig  sind  jsu  erzählen,  die 
toerden  den  reichsstädten  empfohlen,  ein  teil  in  ein  cancUi  geschlagen. 
Also  die  Reichsstädte,  die  ja  nach  ihm  an  Reiches  Stelle  stehen,  und 
ein  Konzil  sind  die  zur  Vornahme  der  Reform  berufenen  Korpo- 
rationen,  toann  ein  jeglich  concüi  ist  nun  recht  bezeichnet  die  heiligen  kirchen. 
Dafe  der  VerCausser  an  einen  Vollzug  seiner  Reform  wirklich  ge- 
dacht hat,  zeigt  er  selbst  an.  Er  fordert  zunächst  alle,  Herren,  Ritter, 
Knechte  und  besonders  die  Reichsstädte  auf:  in  einem  monat  frist  nach 
dieser  Verkündigung  und  Offenbarung,  wo  ihr  innen  werd,  daß  des  reichs 
banner  aufgesteckt  werde  mit  Qraf  Friedrichs  banner,  so  trettent  zu  und 
spar  sich  niemand.  Ja  mit  Gewalt  soll  jeder,  besonders  aber  wieder 
die  im  Jahre  1438  ja  besonders  fest  organisierten  Reichsstädte  wider 
denjenigen  ziehen,  der  himder  thet.  Wenn  es  denn  not  tourd,  daß  sie 
ermahnt  werden  mit  unser  geschrift  und  ordnungsbuch,  wie  die  botten 
zu  ihnen  kommen,  daß  sie  dieselben  in  schirm  setzen  und  geleiten  in 
ihrer  eigenen  kosten  und  wären  sie  in  etwas  notdürftig,  daß  sie  daran 
dienen  tincJ  also  verhüten  für  unterdrücken  und  hinderung  dieser  sdigen 
und  heiligen  Ordnung.  Dies  gebieten  wir  bei  unseres  reichs  hulden  und 
bei  der  penne  100  M.  goldes  ').  Bem  es  soü  auch  ein  jeglicher  fürst 
oder  herr,  land  oder  stadt,  diese  Ordnung  in  einem  buch  behalten  und 
schndl  lassen  abschreiben.  Es  soll  also  nichts  anderes  als  der  diplo- 
matische Verkehr  bei  Reichs-  oder  Städtetagverhandlungen  nachgeahmt 
werden.  Unsere  Schrift  gibt  sich  außerdem  durchaus  als  eine  offizielle, 
alle  Stände  bindende  aber  hauptsächlich  den  Reichssädten  geltende 
Kundgebung  und  ist  nur  insofern  „ privat*'  als  sie  offizielle  Ratschläge 
und  Beschlüsse  von  einem  rein  persönlichen  Standpunkte,  nämlich 
von  dem  eines  Stadtschreibers  und  Mitgliedes  des  Augsburger  Huma- 
nistenkreises  erläutert  darbietet.  Der  Verfasser  fragt  sich  selbst  über 
die  Möglichkeit  der  Diurchfiihrung  seiner  Reform,  sowie  über  die  An- 
erkennung des  Priesterkönigs  Friedrich  aus  städtebürgerlichen  Kreisen : 
Nun  möcht  man  gedenken,  wie  möcht  es  zugehen,  wenn  es  sei  unmög- 
Uch,  den  gang  zu  haben.  Des  mag  man  wohl  verstehen  und  hören. 
Nun  kommt  die  ideale  Spekulation  des  Verfassers:  wenn  die  gemeine 
weit  bekennen  wird  unsere  freiheit  (d.  h.  die  städtebürgerliche  und  nicht 
irgend  eine  revolutionäre,  wie  wir  oben  zeigten),  so  ist  den  gewaltigen 
häuptem  ihre  kraft  genommen.  Denn  u^er  woUt  lieber  wider  sich  selbst 
sein  und  lieber  eigen  sein  (=  leibeigen)  als  frei?  Also  der  Verallge- 
meinerung der  städtebürgerlichen  Freiheit')  traut  der  Verfasser 

i)  Boehm,  S.  168. 

2)  nod  nicht  der  Freiheit  ttberhanpt  wie  noch  Boos  a.  a.  O.,  S.  454 f.  glaubt 


—     217     — 

soviel  Zugkraft  zu,  dais  man  sich  bei  ihrer  Verkündung  allgemein  zu 
einer  Reform  in  städtebürgerlichem  Sinne  und  zu  einem  Reformkaiser 
der  „  Kleinen "  (d.  i.  der  Reichsstädter)  dem  feudalen  Fürstentum  zum 
Trotz  erklären  wird.  Das  ist  offenbar  ein  noch  deutlicheres  Zeichen  des 
starken  politischen  BewuCstseins  der  Städte  als  wir  es  oben  in  der 
Forderung  fanden,  Zünfte  und  Pfahlbürgerverbot  abzuschaffen,  damit 
sich  die  Städte  großeckUch  auffeten  (=  vermehrten).  Also  nicht  nur 
äo&erlich  sollen  die  Städte  wachsen  durch  Zuzug  vom  Lande  und  so 
dem  städtischen  Freiheitsprinzip  weitere  Kreise  gewonnen  werden,  son- 
dern auch  die  städtische  Freiheit  soll  dem  bleibenden  Rest  hinaus- 
getragen werden.  Der  Gedanke  ist  kühn  und  zeigt  von  dem  freien 
Horizont  des  Verfassers  sowohl  als  der  damaligen  Laien,  namentlich 
der  in  dem  Augsburger  Humanistenkreis. 

Aber  die  Spekulation  ist  als  verfehlt  zu  bezeichnen.  Von  ihrer 
unmittelbaren  Verwirklichung  sehen  wir  nichts.  Das  hat  einmal  seinen 
Grund  darin,  dafs  der  Verfasser  die  politische  Kraft  des  Städtebürger- 
tums seiner  Zeit  überschätzt.  Denn  diese  hat  bereits  ihren  Höhepunkt 
überschritten :  die  Tage  der  kraftvollen  Selbsthilfe  der  Städte  im  Bunde 
mit  Fürsten  und  dem  Kaiser  sind  vorüber.  Anderseits  unterschätzt 
er  die  krafl  der  gewaiUigen  Häupter,  der  Fürsten:  gerade  diese  ist  es, 
die  jetzt  politisch  in  aufisteigender  Richtung  begriffen  ist.  Dem  Fürsten- 
tum gehört  die  unmittelbare  Zukunft,  und  bei  seinem  Aufstieg  zur 
Höhe  im  i6.  Jahrhundert  übernimmt  es  auch  kulturell  das  Erbe  des 
Städtebürgertums.  Aus  dieser  Überschätzung  der  städtebürgerlichen 
Kraft  ist  es  denn  auch  zu  verstehen,  dafe  der  zweite  Teü  weniger  der 
Reform  des  weltlichen  Standes,  wie  er  es  sein  will,  als  vielmehr  der 
des  städtischen  Wesens  gewidmet  ist.  Nur  für  die  Städte  ist  an- 
g^cben,  was  auf  Städtetagen  durchgeführt  werden  soll,  das  Fürsten- 
tum aber  ist  ganz  ausgeschieden.  Oder  sollte  der  Verfasser  gewufst 
haben ,  dafs  die  von  den  Fürsten  damals  angestrebte  Reform  es  nur 
auf  die  Vernichtung  städtischer  Freiheiten  abgesehen  hatte,  und  hat 
er  deshalb  diese  in  den  Vordergrund  seiner  Reform  gestellt,  ja  die 
Verallgemeinerung  der  städtischen  Freiheit  gefordert?  Jedenfalls  be- 
steht ein  Widerspruch  zwischen  der  Einsicht  in  die  Verhältnisse  und 
der  notwendigen  Tatkraft,  um  Wandel  zu  schaffen.  So  sind  die  Re- 
formpläne  unseres  Verfassers  von  vornherein  totgeboren. 

Aber  unsere  Schrift  ist  nicht  nur  ein  hervorragendes  Zeugnis  von 
der  Höhe  bürgerlicher  Kultur  im  ausgehenden  Mittelalter,  sondern  auch 
ein  Beweis  dafür,  wie  sehr  der  Reichsgedanke  schon  bürgerlich 
geworden  ist    Wie  überall  das  Reich  in  seine  ursprüngliche  Macht- 


—     Ä18     — 

Vollkommenheit  eingesetzt  werden  und  der  Kaiser  und  kaiserliches 
Recht  überall  vorherrschen  soll,  so  sind  die  Reichsstädte  auch  überall 
die  Stellvertreter  dieses  Reiches.    Diesen  ist  geistliches  und  weltliches 
Recht  von  Anbeginn  empfohlen,    wie   dem  Kaiser  das  Reich.     Ntm 
steht  das  Jcaisertum  und  alles,  tcas  ihm  eugehort,  zu  unrecht,  man  muß 
es  mit  hraft  durchbrechen;  wenn  die  großen  schlafen,  müssen  die  kleinen 
wachen,  daß  es  doch  gehen  muß.     Diese  „Kleinen**  sind  die  Bürger 
und   mit  ihnen   als   ihre   natürlichen  Verbündeten   die  Ritter.     Darum 
soU  der   namen    des   Jcönigs   Friedrich   von  Landnau  sein   oder  graf 
Friedrich  *).  Dieser  Reformkaiser  ist  ebenfalls  ein  „Kleiner**,  d.  h.  Städte- 
bürger und  dazu  ein  geweihter;  denn  er  wird  stMcer  pussiUus  genannt 
Als  Städtebürger  und  Stadtschreiber  mit  niederen  Weihen  hat  unser 
Verfasser  diese  Eigenschaften.     Ebenso  ist  er  damals  noch  jung,   wie 
er  es  auch   vom  Reformkaiser  Friedrich   verlangt,   indem  er  ihn  ver- 
gleicht mit  dem  söhn  eines  haisers  von  India,  dem  gott  in  jungen  tagen 
toeisheU  gab.    Dasselbe  wird  gefordert  in  dem  Gleichnis  des  Verfassers 
aus  Matthäus:  es  sei  denn,  daß  ihr  werdent  als  der  jung.    Wenn  alle 
diese  Forderungen  als  „religiöse**  *)  hingestellt  werden,  so  ist  das  im 
Mittelalter   nichts  Auffallendes   und   am   wenigsten   ein  Beweis   für  die 
Persönlichkeit  ihres  Urhebers.    Wie  man  sich  hierin  in  die  Irre  führen 
liefs,   so  hat   man   auch   seither  die  wichtigsten  staatsrechtlichen  Ge- 
danken unserer  Schrift  falsch  gewertet     Der  Verfasser  spricht  keine 
radikalen    Ideen    aus,    sondern   nur  Worte   einer  damals   fast  all- 
gemein gewordenen  Erregung  und  im  Bürgertum  geltende  Gnmdsätze. 
Nur  als  Ausdruck   dieser  hat   unsere  Schrift  zu   gelten  und  nicht  als 
Programm   einer   „gewünschten   Revolution**'),   die   dann   im  Bauern- 
krieg ausbrach.     So  gereizt  auch   ihr  Ton  ist,  so  hat  sie  doch  keine 
aufireizende  Wirkung  gehabt  *).     Es   hat   sich   vielmehr  auch    für  das 
mittelalterliche  Bürgertum  bestätigt,  was  Ranke  vom  Bürgertum  über- 
haupt sagt  dafs  in  ihm  alle  liberalen  Ideen  wurzeln. 


iWn  dieser  Usarpaüoo  des  Adels  durch  noseren  V.  ist  passcod  der  mn  diese  Zeit 
enrachende  Dünkel  der  httTQJti  aas  der  Kanxlei  aosgesprochen ,  die  sich  spater  ^ofiFen 
mit  dem  Adel  aaf  eine  Stmfe  stellen"  (TgL  Boos  a.  a.  O«  S.  394). 

2\  VgL  Koehnc  a.  a.  O^  S.  370. 

3)  VgL  Boos  a.  a.  O.,  S«  455,  wo  dieser  falsche  ^Ji^ammmhang  niletxt  aafrecht 
erhallen  ist. 

4^  UamiiteibAre  Wirkuut;  aui'  den  Onuig  nach  Ncnordning  hatten  nur  die  hier  firisch 
und  vcnrcj^n  mm  Aasdnick  gekommenen  Stichxrörter  der  Propbetien.  Das  zeigte  ich 
in  dem  Anhang  i«  meiner  Schrift:  diu  Flmgsdl/rift  * 9mm$  aedesMM*  an  der  voiüegenden 
Reformtchrift  sowie  an  einer  Reihe  andeter.     VgL  S.  94C 


—     219     — 

Mitteilungen 

Yersainillllingeil«  —  Die  siebente  Versammlung  deutscher 
Historiker  hat  so  wie  es  nach  dem  oben  mitgeteilten  Programm  (vgl. 
S.  182)  geplant  war,  vom  14.  bis  18.  April  in  Heidelberg  stattgefunden, 
und  192  Namen  waren  in  der  Teilnehmerliste  verzeichnet.  Die  Vorträge 
boten  einen  reichen  Wissensstoff,  aber  entschieden  zu  bedauern  ist,  dafs  die 
Aussprache  über  die  angeregten  Fragen  zeitlich  so  sehr  beschränkt  war. 
Es  machte  beinahe  den  Eindruck ,  als  ob  gerade  die  am  ehesten  zur  Dis- 
kussion anregenden  Vorträge  so  anberaumt  worden  seien,  dafs  die  Stunde 
der  Mahlzeit  kommen  mufste  und  der  Hunger  die  Teilnehmer  von  dannen 
trieb.  Dabei  waren  die  Vorträge  sämtlich  mit  Ausnahme  der  beiden  „öffent- 
lichen", über  die  eben  von  vornherein  eine  Aussprache  nicht  vorgesehen  war 
(Marcks:  Ludwig  Häusser  und  Gothein:  Vorderösterreich  unter  Maria 
Theresia  und  Josef  II.),  zu  Auseinandersetzungen  auch  über  allgemeine  und 
grundsätzliche  Fragen  recht  wohl  geeignet,  und  es  zeigten  sich  auch  mehr- 
fach die  Ansätze  dazu.  Doch  bei  diesen  ist  es  auch  geblieben,  da  sich 
unter  den  ntm  einmal  obwaltenden  Verhältnissen  nur  ganz  wenige  Redner 
zum  Worte  zu  melden  wagten.  Wünschenswert  wäre  es  entschieden, 
wenn  künftig  so,  wie  es  bei  den  ersten  fünf  Historikertagen 
der  Fall  war'),  unter  Ansetzung  einer  genügenden  Zeit  der 
Diskussion  ein  breiterer  Raum  gewährt  und  die  Vortrags- 
themen wenigstens  teilweise  —  am  liebsten  als  Referat  und 
Gegenreferat  —  so  gewählt  würden,  dafs  sie  Anregung  zu 
erspriefslicher  Erörterung  auch  allgemeiner  Fragen  gaben. 
Nach  dem  Vortrag  über  die  Grenzen  der  Geschichte  von  Gottl  sollte  eine 
Auseinandersetzung  über  die  Grenze  zwischen  Geschichte  und  sogenannter 
Vorgeschichte  selbstverständlich  sein,  denn  auf  der  einen  Seite  sind  die 
meisten  Historiker  darin  einig,  dafs  vorgeschichtliche  Funde  im  gegebenen 
Falle  praktisch  verwertet  werden  müssen,  während  andrerseits  doch  viele 
einen  grundsätzlichen  Gegensatz  zwischen  Geschichte  und  Vorgeschichte 
konstruieren.  Hier  und  in  vielen  anderen  Fällen  wird  sich  durch  Rede  und 
Gegenrede  viel  eher  ein  Ergebnis  und  eine  Klärung  der  Ansichten  bei  dem 
einzelnen  zeitigen  lassen  als  durch  literarische  Erörterung.  Mögen  die  Leiter 
des  8.  Historikertages,  der  im  September  1904  in  Salzburg  stattfinden  soll, 
bei  Aufstellung  des  Programms  diese  Anregung  beherzigen:  recht  viele  und 
angesehene  Teilnehmer  haben  in  den  Heidelberger  Tagen  im  Privatgespräch 
der  hier  vertretenen  Anschauung  Ausdruck  verliehen. 

Im  einzelnen  wird  über  die  Verhandlimgen  der  wie  früher  im  Auftrag  des 
Ausschusses  des  Verbarides  deutscher  Historiker  bearbeitete  Bericht  Auskunft 
erteilen ;  hier  müssen  wir  uns  auf  einige  kurze  Mitteiltmgen  beschränken  und 
dürfen  dies  um  so  eher  als  von  den  Vorträgen,  die  dargeboten  wurden, 
einige  ihrem  Gegenstande  nach  aufserhalb  des  Rahmens  dieser  Zeitschrift 
bUen.  Eduard  Meyer  (Berlin)  stellte  den  Kaiser  Augustus  inseiner 
Charakteristik    als    überzeugten   Republikaner    hin    und    durchaus    nicht  als 

i)  Schon    in    dem    Bericht    über   die   Tagung    in  Halle   wurde   dieser  Wunsch   aus- 
gesprochen.    Vgl.  diese  Zettschrift  i.  Bd.,  S.  199. 


—     220     — 

Heuchler,  wie  er  gewöhnlich  aufgeSafst  wird  und  wie  es  von  anderer  Seite 
in  der  kurzen  Debatte  aufrecht  erhalten  wurde.  —  Halle r  (Marburg)  suchte 
die  gallikanischen  Freiheiten  als  Nachbildung  des  in  der  Rirchen- 
verfassung  des  mittelalterlichen  England  vorliegenden  Musters  zu  erweisen.  — 
V.  Below  (Tübingen)  sprach  über  die  Entstehung  des  modernen 
Kapitalismus,  beschränkte  sich  aber  dabei  auf  eine  Kritik  des  Werices 
von  Sombart,  Der  moderne  Kapitaliemus  (1902),  so  weit  dessen  Darstellung 
sich  mit  dem  Aufkommen  der  ersten  gröfseren  Vermögen  in  den  Städten 
des  Mittelalters  beschäftigt:  Sombart  sieht  darin  vor  allem  akkumulierte 
Grundrente,  v.  Below  vielmehr  durch  Kleinhandel  und  Gewerbebetrieb  erzielte 
Überschüsse.  Die  angeschnittene  Frage  verdient  eingehende  Untersuchung 
an  einzelnen  Beispielen,  dürfte  sich  aber  kaum  auf  so  einfache  Art,  wie  die 
beiden  Gegner  es  wollen,  beantworten  lassen,  vielmehr  wird  der  B^;riff 
„Kapital"  für  jene  Zeiten  gewisse  begriffliche  Modifikationen  erüthren  müssen; 
den  Spezialforschem  in  den  Städten,  wo  reicheres  Material  vorliegt,  ist  hier- 
mit jedenfalls  Anregung  zu  Arbeiten  gegeben,  die  grolsen  Nutzen  versprechen. — 
Der  nunmehrige  Göttinger  Kimsthistoriker  Karl  Neu  mann,  ein  ausgezeich- 
neter Kenner  byzantinischer  Geschichte  imd  Verfasser  der  WeltsieUung  des 
byzantinischen  Reiches  vor  den  Kreuxxügen  (Leipzig  1894),  stellte  in  seinen 
Ausführungen  über  byzantinische  Kultur  und  Renaissancekultur 
einen  Vergleich  an  zwischen  den  auf  byzantinischem  und  den  auf  italienischem 
Boden  erwachsenen  Erneuerungen  der  Antike  im  Laufe  des  Mittelalters  tmd 
gewann  durch  diesen  Vergleich  einen  Mafsstab  zur  Beurteilung  der  sogen. 
Renaissancekultur:  in  Byzanz  ist  die  Antike  gewissermafsen  erstarrt  erhalten 
geblieben,  aber  nur  in  einer  kleinen  hochgebildeten  Oberschicht  der  Gesell- 
schaft ;  doch  diese  Kultur  blieb  unfiuchtbar,  da  sie  die  Masse  der  barbarischen 
Untertanen  überhaupt  nicht  berührte  und  sich  auch  mit  dem  Christentum 
nur  äufserlich  verband.  In  Italien  war  die  Antike  lange  Zeit  imbekannt, 
gelangte  aber  aufs  neue  zu  Anerkennung  in  einer  Epoche,  die  sich  durch 
ein  tieferes  Gemütsleben  auszeichnet,  in  erster  Linie  jedoch  als  naturgemäfse 
Fortsetzung  mittelalteriicher  Kultur  charakterisiert  ist  Demgemäis  überwiegt  im 
Zeitalter  der  italienischen  Renaissance  zunächst  das  Neue,  das  aus  einer 
gegenseitigen  Befruchtung  von  Christentum  und  Barbarentum  hervorgeht,  und 
diese  erste  Periode  der  Renaissance  ist  die  kulturell  fruchtbare  Zeit  Als 
dann  in  einer  zweiten  Periode  die  mehr  mechanische  Wiederbelebung  der 
Antike  in  den  Vordergrund  trat,  bedeutete  das  für  Italien  eine  kulturelle 
Gefahr,  während  die  Renaissance  nördlich  der  Alpen  als  neues  germanischem 
Wesen  beigemischtes  Kulturelement  ganz  anders  fruchtbringend  gewirkt  hat 
Das  Verhältnis,  in  das  bei  den  verschiedenen  Renaissancen  die  Antike  zu  bar- 
barischem Wesen  und  Christentum  getreten  ist,  war  das  Entscheidende  für  die 
kulturelle  Bedeutung  und  die  schöpferische  Kraft  der  jeweiligen  Renaissance: 
nicht  die  Antike  als  neu  zutretendes  Element,  sondern  4ie  Kultur,  mit  der  sie 
sich  verbinden  soll,  ist  dabei  für  den  Erfolg  das  wesentliche.  —  Archivdirektor 
Wolfram  (Metz)  sprach  über  die  Reite  rstatuette  Karls  des  Grofsen 
aus  Bronze,  die  dem  Metier  Domschatz  entstammt  und  sich  jetzt  im  Mus^ 
Camavalet  zu  Paris  befindet,  und  suchte  vor  allem  gegenüber  Giemen,  der 
sie  als  Werk  karolingischer  Renaissance  betrachtet,  durch  angehende  Analyse 
der  Darstellung,  namentlich  hinsichtlich  des  Retdisq>fels,  zu  erweisen,  dafs 


-    iil    — 

dfie  Statuette  erst  1507  auf  BesteUung  des  Metzer  Domkapitels  vom  Metzer 
Goldscfamied  Fran^ois  hergestellt  sei  und  zwar  nach  einer  Abbildung,  die 
Kall  den  Kahlen  darstellt,  früher  aber  allgemein  als  Darstellung  Karls  des 
Groisen  angesehen  wurde.  In  der  Debatte  trat  Lamprecht  (Leipzig)  für 
den  abwesenden  Giemen  ein  und  führte  die  zu  dessen  Gunsten  sprechenden 
Momente  vor,  erklärte  aber  ausdrücklich,  dais  nur  eine  chemische  Unter- 
suchung der  Bronce  den  endgiltigen  Beweis  fUr  die  Richtigkeit  dieser  oder 
jener  Ansicht  zu  erbringen  vermöge.  —  Erich  Marcks  (Heidelberg)  zeich- 
nete ein  treffliches  Bild  des  Pf^er  Historikers  Ludwig  Häusser  (1818 
bis  1867),  dessen  Wirksamkeit  als  Forscher,  Lehrer  und  Politiker  der  Redner 
eingehend  darstellte;  auch  Häussers  Lehrer  Schlosser  liefs  er  in  der  £b- 
kttung  eine  gediegene  Würdigung  zu  teil  werden.  —  Eberhard  Gothein 
(Bonn)  schil<krte  die  Zustände  Vorderösterreichs  unter  Maria  The- 
resia und  JosefIL,  die  von  dem  Geiste  der  Reformbestrebtmgen  beherrscht 
▼idiach  für  die  Entwicklung  Badens,  an  das  der  Breisgau  später  fiel,  ent- 
scheideiid  geworden  sind.  Hatte  Maria  Theresia  die  alten  Eigentümlichkeiten 
des  Landes  noch  geschont  und  nur  behutsam  eingegriffen,  so  begann  Josef  II. 
sofort  energisch  mit  Neuerungen,  hatte  aber  wenig  Glück,  denn  imter 
Leopold  II.  wurde  vieles  wieder  beseitigt,  und  erst  längere  Zeit  nach  dieser 
Reaktion  sind  die  josefinischen  Ideen  im  badischen  Liberalismus  lebendig 
geworden.  —  Den  Abschlufs  der  Tagung  bildete  der  Vortrag  von  Gottl 
(Brunn)  über  die  Grenzen  der  Geschichte,  in  dem  er  das  naturwissen- 
schafUiche  Ericennen,  welches  das  Sein  ordnet,  dem  geschichtlichen 
Erkennen,  welches  Geschehen  erschliefst,  gegenüberstellte  und  die 
Denkweisen  beider  Arten  des  Erkennens  in  den  denkbar  schärfsten  Gegen- 
satz zueinander  brachte.  Gegenüber  der  Historik  ab  Wissenschaft  der 
Geschichte  bezeichnet  G.  die  naturwissenschaftlich-geschichtlichen  Disziplinen, 
wie  Geologie  und  Biologie,  in  ihrer  Gesamtheit  alsMetahistorik  und  will 
beide  nach  Arbeitsgebiet  und  Methode  aufs  schärfste  geschieden  wissen. 
Edoard  Meyer  (Berlin),  Kaufmann  (Breslau),  Windelband  (Strafsburg)  stimmten 
dem  Redner  im  wesentlichen  zu,  dagegen  aber  sprach  energisch  Lamp- 
recht  (Leipzig),  der  einen  grundsätzlichen  Wesensunterschied  zwischen  natur- 
wissenschaftlichem und  geschichtlichem  Erkennen  nicht  zugibt  und  ein  völliges 
Begreifen  der  in  Personen  namentlich  weit  zurückliegender  Zeitalter  sich  voll- 
ziehenden seelischen  Vorgänge  seitens  des  modernen  Forschers  für  aus- 
geschlossen hält:  nur  näher  kommen  kann  der  einzelne  den  Motiven  des 
Handelns,  die  jene  geschichtlichen  Persönlichkeiten  bestimmten,  völlig  er- 
kennen kann  er  sie  nie ;  das  Seelenleben  eines  Papua  bleibt  ihm  ebenso  ver- 
schlossen, wie  er  sich  in  ein  Kristall  nicht  hineinzuversetzen  vermag. 

Als  Heidelberger  Stimmungsbild  teilte  Alfred  Stern  (Zürich)  einen 
von  ihm  im  BerUner  Geheimen  Staatsarchiv  als  Beilage  zu  dem  Bericht  des 
Fretherm  t.  Otterstedt,  preufsischen  Gesandten  in  Karlsruhe,  aufgefundenen 
Brief  des  Juristen  Thibaut  vom  26.  Mai  1832  mit  Der  Brief  ist  unmittelbar 
▼or  dem  Hambacher  Fest  geschrieben  und  stellt  sich  ab  eine  Art  von 
Verteidigang  der  Heidelberger  Hochschule  dar,  die,  wie  Freiburg,  der  preu- 
ftbdien  Regierung  damals  so  verdächtig  geworden  war,  dafs  an  ein  Verbot 
ihres  Besuchs  durch  preufsische  Untertanen  gedacht  wurde. 

Iq  Halle  war  1900  eine  Kommission  eingesetzt  worden,  um  zu  beraten, 


n 


—    i2i   - 

und  zwar  in  vier  Gruppen  (geistliche  Personen,  geistliche  Korporationeü, 
weltliche  Korporationen,  weltliche  Personen)  sowie  die  Herausgabe  von 
Urkunden  und  Akten  xur  Rechts-  und  Wirtschjaflsgeschichte  der  kleineren 
rheinischen  Städte,  Die  Leitung  beider  Arbeiten  liegt  in  den  Händen  des 
Archivdirektors  Ilgen  (Düsseldorf),  mit  der  Ausführung  sind  Dr.  Ewald 
und  Dr.  Lau  beauftragt. 

Stifter  zählt  die  Gesellschaft  gegenwärtig  7 ,  von  denen  3  verstorben 
sind,  Patrone  118  (3  mehr  als  im  Vorjahr),  Mitglieder  175.  Die  Gesamt- 
einnahme im  Jahre  1902  betrug  39  50oMk.,  die  Ausgabe  26175  Mk.  Das 
Vermögen  beziffert  sich  einschliefslich  der  Mevissen-Stiftung  (41825  Mk.)  auf 
110 150  Mk.  Für  die  Preisaufgabe,  Darstellung  der  durch  die  fran- 
zösische Revolution  in  der  Rheinprovinz  bewirkten  agrarwirtschaftlichen  Ver- 
änderungen, ist  rechtzeitig  eine  Bearbeitung  eingegangen,  deren  Prüfung  aber 
noch  nicht  abgeschlossen  ist. 

Eingegangene  Bficher. 

Rosenthal,  Ludwig:  Antiquariatskatalog  104  (Newe  Zeytungen,  Relatf<men 
und  Briefliche  Mitteilungen  des  XV. — XVIIL  Jahrhunderts),  München, 
Hildegardstrafse  16.     72  S.  8^. 

Rühlmann,  Paul:  Die  öffentliche  Meinung  in  Sachsen  während  der  Jahre 
1 806  — ^1812  [=  Geschichtliche  Untersuchungen ,  herausgegeben  von 
Karl  Lamprecht,  i.  Heft].  Gotha,  Friedrich  Andreas  Perthes,  1902. 
121  S.  8». 

Rüthning,  Gustav:  Geschichte  der  Oldenburgischen  Post,  Denkschrift 
zur  Eröffnung  des  Dienstbetriebes  im  neuen  Reichspost-Gebäude.  Olden- 
burg i.  Gr.,  Gerhard  Stalling,   1902.     91  S.  8<^. 

Salomon,  Ludwig:  Geschichte  des  Deutschen  2^itungswesens  von  den 
ersten  Anfängen  bis  zur  Wiederaufrichtung  des  Deutschen  Reiches. 
2.  Band  (Die  deutschen  Zeitungen  während  der  Fremdherrschaft  1792 
bb   1814).     Oldenburg  und  Leipzig,  Schulze,   1902.     272  S.  8<^. 

Schäfer,  Rudolf:  Die  Marie  Altenstad  [Mitteilungen  des  Oberhessischen 
Geschichtsvereins,  Neue  Folge  10.  Band  (1901),  S.  i — 39]. 

Schierse,  Bruno:  Das  Breslauer  Zeitungswesen  vor  1742.  Breslau, 
J.  U.  Kern,  1902.     138  S.  8^.     M.  3,00. 

Schnürer,  Franz  und  v.  Bertele,  Carl:  Radmer,  Gedenkblätter  zur 
Dreijahrhundertfeier  der  Kirche.    Wien,  Karl  Fromme,  1902.    61  S.  4*^. 

Sello,  Georg:  Des  PfiEiffen  Konemann  Gedicht  vom  Kaland  zu  Eilenstedt 
am  Huy  [Zeitschrift  des  Harzvereins  fUr  Geschichte  und  Alterttmis- 
kunde  XXUI  (1890)].     72  S.  8«. 

Siebert,  Hermann:  Das  Tanzwunder  zu  Kölbigk  und  der  Bemburger 
Heiige  Christ,  Festschrift  dem  Verein  für  Geschichte  und  Altertums- 
kunde zu  Bemburg  anläfslich  seines  25  jährigen  Bestehens  am  2.  De- 
zember 1902  gewidmet.     Leipzig,  Richard  Siebert,   1902.      18  S.  8<^. 

Tille,  Armin:  Zwei  Waldordnungen  aus  dem  Herzogtum  Jülich  [Zeitschrift 
des  Aachener  Geschichtsvereins  23.  Band  (1901),  S.  i — 30]. 

Derselbe:  Vom  Kappbusch  bei  Brachelen  [=  Zeitschrift  des  Aachener  Ge- 
schichtsvereins.    24.  Band  (1902),  S.  232 — 257]. 

Heraufgeber  Dr.  Armin  Tille  in  Leipzig. 
Druck  und  Verlag  too  Friedrich  Andreas  Perthes,  Akdengesellschaft,  Gotha. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


Forderung  der  landesgescbichtlichen  Forschung 

IV.  Band  Juni  1903  9.  Heft 


Iiandsehaftliohe  Gloekenkunde 

Von 
H.  Bergner  (Nischwitz,  Sachsen -Altenburg) 

Die  Glockenkunde  ist  (lir  den  ersten  Blick  einer  der  leichtesten 
Wege,  um  in  das  Studium  der  Altertümer  einzudringen.  Denn  für  den 
Anfänger  ist  es  schon  in  hohem  Grade  reizvoll,  die  Glocken  eines 
kleineren  Kreises,  etwa  der  heimatlichen  Umgebung  au&unehmen, 
die  Inschriften  epigraphisch  genau  zu  sammeln,  Gröfsen-  und  Ton- 
Verhältnisse,  Verzierungen  und  Giefser  festzustellen  und  etwa  aus 
Archivalien  ältere  Berichte,  Verträge,  Rechnungen  und  dergl.  aus- 
zugraben, aus  der  Volksüberlieferung  Glockensagen,  Klangreime,  Spott- 
veiBe  aufzulesen  und  das  so  gewonnene  Material  nach  berühmten 
Mustern  leidlich  lesbar  abzurunden.  Auch  die  kleinste  derartige  Vor- 
arbeit wird  der  allgemeinen  Glockenkunde  zu  Gute  kommen  und  der 
Zweck  dieser  Zeilen  ist  es,  hierzu  anzuregen  und  die  nötigen  Hilfs- 
mittel und  Gesichtspunkte  anzugeben.  Von  der  Vertiefung  der  Forschung 
gilt  dann  allerdings  der  Vers :  „  Ihr  Fortgang  aber  bringt  Gefahr. "  Denn 
einzelne  ältere  Stücke  finden  sich  überall,  die  durch  unlösbare  Inschriften 
oder  rätselhafte  Bilder  an  sprachliche,  ikonographische  oder  heral- 
dische Kenntnisse  nicht  geringe  Anforderungen  stellen.  Vollends  der 
^ystematiker ,  der  das  Fazit  langjährig  erörterter  Verhandlungen  zu 
ziehen  und  gewisse  letzte  Fragen  zu  beantworten  sucht,  wird  oft  genug 
mit  einem  resignierten  nan  liquet  schliefsen  und  das  Ende  jenes 
Verses  von  der  Glockenkunde  anzuwenden  geneigt  sein:  „Ihr  Ende 
Nacht  und  Grauen." 

Der  unentbehrliche  Leitfaden  für  den  Anfanger  ist  Ottes  Oloekev^ 
hmde  (Leipzig,  Tauchnitz  1884,  I^^^*  6)>  worin  der  Altmeister  der 
deutschen  Archäologie  in  seiner  gründlichen  und  gediegenen  Art  die 
Grenzen  des  Forschungsgebiets  ziemlich  weit  mit  Einbeziehung  z.  B.  der 
Schallbretter  und  Kuhschellen  gezogen  hat.  Wer  dieses  Buch  zuerst 
in  die  Hand  nimmt,  ist  doch  erstaunt,  wie  vielseitig  in  liturgischer, 

16 


—     226     — 

technischer  oder  kulturgeschichtlicher  Hinsicht  das  Interesse  angferegi: 
wird,  mag*  er  sich  nun  in  den  mannigfachen  Gebrauch  und  das  Rechts- 
verhältnis der  Glocke,  in  den  dichterisch  verklärten  Entstehungsprozefs, 
in  die  eigene  Poesie  ihrer  Inschriften,  in  die  oft  wunderlichen  Schick- 
sale einzelner  Stücke  oder  die  Leistungen  der  grofsen  Giefser  vertiefen. 
Das  Material ,  mit  welchem  Otte  arbeitet ,  ist  ja  verhältnismäfsig  sehr 
lückenhaft  Er  spricht  über  die  Glocken  der  ganzen  Welt,  der  altea 
Römer,  der  Chinesen  nnd  Russen,  der  Franzosen  und  Engländer  nach 
dürftigen  Berichten.    Genauere  statistische. Angaben  ^)  lagen  ihm  jedoch 


i)  Ehe  die  wissenschaftliche  Arbeit  beginnen  kann,  mofs  natürlich  die  Sammlang^ 
des  Materials  erfolgen.  Dies  geschieht  gegenwärtig  durch  die  in  allen  Landschafteo 
in  Angriff  genommene  Inventarisaüon  der  Knnstdenkmäler.  Den  Stand  der  Dinge  muf 
diesem  Gebiete  kennzeichnet  folgende  Mitteilung  von  Ernst  Polaczek  (Strafsborg) : 

Die  Behandlang  der  Glocken  in  den  deutschen  Denkmäler -Verzeichnissen  ist  ähnlicfar 
Terschieden,  wie  die  Anlage  der  Verzeichnisse  selbst.  Dafs  sogar  Inventarisatoren,  die 
sonst  sehr  zuverlässig  sind,  den  Glocken  gegenüber  zuweilen  versagen,  ist  leicht  erldärlicb.. 
Zu  ebener  Erde  giebt  es  selten  genaue  Abschriften,  und  der  Mühe-  und  Zeitaufwand  einer 
Turmbesteigung  steht  für  den  meist  zu  rascher  Arbeit  genötigten  Denkmalsbeschreiber 
oft  nicht  im  Verhältnis  zum  Resultat.  Es  ist  nicht  jedermanns,  insbesondere  nicht  des- 
mit  Jahren  reichlich  Belasteten  Sache,  auf  steilen  Treppen  und  schwanken  Leitern,  durch* 
Falltüren  nnd  über  morsche  Bretterböden  hinweg  den  Glockenstuhl,  der  meist  aach- 
Taubenhaus  ist,  zu  erklimmen,  den  erhitzten  Leib  der  Zugluft  zwischen  den  stets  geöffneten^ 
SchalULöchem  auszusetzen  und,  eingekeilt  in  drangvoll  fürchterliche  Enge,  im  halben. 
Dunkel,  mit  Kerzen  und  anderen  künstlichen  Aufhellungsmitteln  eine  gotische  Minuskel- 
inschrift  durch  Abtasten  und  Abdrücken  festzustellen.  Zuweilen  sind  die  Glockenränme 
überhaupt  nicht  ohne  Lebensgefahr  zugänglich.  Die  folgenden,  nach  der  amtlichen  Reihe- 
der  deutschen  Bundesstaaten,  bezw.  der  preufsischen  Provinzen  geordneten  Notizen  geben, 
soweit  dies  ohne  Nachprüfung  am  Orte  möglich  ist,  Aufschlufs,  wie  die  Denkmäler -Ver^ 
zeichnisse  die  Forderungen  der  Glockenspezialisten  erfüllen.  Es  sollen  und  wollen  keine  Zen- 
suren sein.  Das  Fehlen  von  Registern  ist  nur  bei  fertigen  Inventaren  notiert.  Die  genaueni 
Titel  der  Inventare  sind  in  Bd.  I,  S.  170  und  Bd.  III  S.  137  dieser  Zeiuchrift  genannt. 
Ostprenben«     Keine  Mafse.  Bei  älteren  Glocken  (bis  XVI.  Jahrhundert)  sind  die  Inschriftem 

in  extenso  wiedergegeben,  bei  neueren  nur  die  Jahreszahl.     Kein  Register. 
Wettprenbea«     Keine  Mafse;  sehr  sorgfältige  Wiedergabe  der  Inschriften. 
Bnuidenborgr*     Z^f^^i  Teil  sehr  genau;  anderwärts  ganz  ungenau.     Kein  Register. 
Berlin«     Sehr  sorgfaltig,  jedoch  ohne  Mafse. 

Pommern«     In   den   ältesten  Heften   ungenau;   in   den   neueren  sehr  sorgfältig  mit  aus- 
führlicher Beschreibung  und  Mafsangabe. 
Posea«    Malse  angegeben.   Z.  T.  Inschriften  sehr  sorgfältig  in  extenso ;  jedoch  kein  Register» 
Sehleslen«     Mafse  und  Inschriften  sehr  sorgfaltig. 
Saehtea«     Ausführliche  Beschreibung;  zuweilen  auch  Mafse. 

Sehleswlg'-HolstelB«  Mafsangabe  fehlt.  Bei  den  älteren  Glocken  ist  die  Inschrift  in  extenso- 
wiedergegeben;  bei  neueren  nur  Jahreszahl  und  Giefser.  Sehr  ausführliche  Register : 
Die  Glocken  in  Gruppen  nach  ihrer  Ejitstehungszeit  und  innerhalb  dieser  alphabetisclk 
nach  den  Orten.     Die  Giefser  alphabetisch  mit  Verzeichnissen  ihres  Gesamtwerkes. 


—     227     — 

nur  fiir  Mitteldeutschland  und  auch  da  nur  für  das  Gebiet  der  Provinz 
Sachsen  vor,  wo  sich  an  dem  ungewöhnlichem  Reichtum  alter  Glocken 
schon  seit  etwa  1830  ein  gewisses  Glockeninteresse  entzündete,  wie  denn 
auch  das  sächsische  Inventar  nach  G.  Sommers  Vorgang  den  einzelnen 
Heften  eine  besondere  „Glockenschau'*  beigegeben  hat  Das  Kindes- 
alter statistischer  Kenntnis  tritt  besonders  an  dem  Giefserverzeichnis 
Ottes  zu  Tage  (S.  180 — 219),  welches  doch  heut,  wo  die  Inventarisation 
noch  lange  nicht  abgeschlossen  ist,  schon  für  Deutschland  allein  reich- 
lich um  das  Vierfache  erweitert  werden  könnte.  Otte  hat  noch  ein- 
mal am  Ende  seines  reichgesegneten  Lebens  das  Wort  „zur  Glocken- 

LnMBlrar;^«     Ähnlich,  nur  knapper. 

KsBBOTer«     Durchmesser.     Wortlaut  der  Inschrift,  Schriftart,  Anordnung. 

WestIkleB«     Das  ältere  Inventar  ungenau;   das  neuere,  obwohl  nicht  ganz  gleichmäfsig, 

gibt  bei  älteren  Glocken  die  Mafse,   bei  allen  den  Wortlaut  der  Inschriften  paläo- 

gn^hisch  getreu  wieder.    Abbildungen. 
Benea-Kaasail.    Das  ältere  Kasseler  Verzeichnis  sehr  unvollständig;  das  neuere  beschreibt 

ausführlich,   nennt   oberen   und  unteren  Durchmesser  und  Höhe,  gibt  Inschriften  in 

extenso;  auiserdem  Abbildungen. 

Das  filtere  Wiesbadener  Verzeichnis   ist  in  der  Behandlung  der  Glocken  nicht 

ganz  koosequeot;  das  neue  in  Mafsangabe  und  Inschriftwiedergabe  ausführlich. 
BheiaprOTlBS,     Ohne  Mafse.     Die  Inschriften  wörtlich,   die  Abbreviaturen   aufgelöst 

Verzeichnisse  der  Glocken,  nach   der  Eatotehungszeit  geordnet;   die  Gieiser  nach 

dem  Alphabet. 
H^heBX^em«     Sorgfaltig,  jedoch  ohne  Mafse.    Kein  Regbter. 
Bftjera.     Das  Inventar  verzeichnet  die  Glocken  nicht 
Mafse  und  Inschriften  ausführlich. 
WillkflrUch. 
Ohne  Maisangabe.     Die  Kraus'schen  Hefte  sind   insbesondere   in  Bezug   auf 

spätere  Glocken  sehr  summarisch;   die  älteren  Inschriften  hingegen  sehr  genau  nach 

Schriftart  und  Wortlaut     Die   von  Adolf  v.  Oechelhänser   bearbeiteten  Hefte   sehr 

ausführlich,  doch  ebenfalls  ohne  Mafse. 

Mafse,  sowie  ausführliche  Beschreibung  und  Inschrift  •Wiedergabe. 
Meeklfln^vrg^Sellwerlll.     Sehr  sorgfältig,  jedoch  ohne  Mafse. 

TkflrlBgVB«      Ausführliche  Beschreibung  der  Dekoration;   genaue  Wiedergabe  der  In- 
schriften. 
Bekirarzbnrf  «SoBdenhaiisen.    Sehr  sorgfaltig,  ohne  Mafse. 
6ellMaibar|r*I«IpP®«     Beschreibung   sorgfältig;    Mafsangaben;    Inschriften    in    extenso. 

Kein  Register. 
Oldeoborir«     Ausführliche  Beschreibung  der  Dekoration;  genaue  Inschriften -Wiedergabe» 

Keine  Mafse. 
Bnurasehwelfr»     Angabe   von  Höhe  und  Durchmesser.     Sorgfaltige  Beschreibung  und 

genaue  Wiedergabe  der  Inschriften.  Die  jüngeren  Glocken  sind  etwas  kürzer  behandelt. 
AsluUt»     Genaue  Angaben  der  Inschriften,  Dekoration  und  Mafse. 
Elnfii-IiBthliBg6]l«    Wo  sich  Angaben  finden,  fast  immer  auf  Grund  fremder  Abschriften. 

Offenbar  sehr  unvollständig;  das  Register  nennt  70  Orte  mit  Glocken  und  16  Giefser! 

16» 


—     228     — 

künde"  ergriffen  (Halle  1891)  in  einem  Weihnachtsheftchen  des  thür.- 
sächs.  Altertumsvereins,  worin  er  einige  der  ältesten  Glocken  bespricht. 
Der  Tod  nahm  ihm  mitten  in  der  Arbeit  die  Feder  ans  der  Hand, 
doch  ist  das  BmchstUck  nach  seinen  Aufzeichnungen  von  seinem  ver- 
trauten Freunde  E.  Wemicke  vollendet  worden.  Es  richtet  sich  — 
unausgesprochen  —  gegen  die  etwas  magistrale  Sicherheit,  womit  sich 
Schoenermarck  über  „die  Altersbestimmung  der  Glocken"  (Berlin  1889) 
ausgesprochen  hatte.  In  vieler  Beziehung  musterhaft  ist  sodann  die 
Monographie  von  W.  Schub art  Die  Glocken  des  Hersogtums  ÄnhaU 
(Dessau  1896,  Mk.  30).  Schubart  hat  eine  ganz  vortreffliche  Tabelle  er- 
fanden, welche  in  kurzen  knappen  Angaben  gestattet,  eine  Übersicht 
über  den  Bestand  zu  gewinnen  und  er  hat  alle  älteren  Inschriften  und 
Bilder  mittels  Durchreibung  faksimiliert ,  wodurch  der  Befund  unab- 
hängig von  subjektiven  Eindrücken  festgelegt  ist.  Sonst  ist  die  &- 
örterung  freilich  ungemein  umständlich.  Wir  werden  nicht  nur  mit 
den  Resultaten  bekannt  gemacht,  sondern  auch  mit  den  verschiedenen 
Wegen,  auf  denen  der  Verfasser  dazu  gelangt  ist.  Und  in  Bezug 
auf  Lesung  und  Erklärung  hat  Schubart  die  Grundsätze  nüchterner 
Kritik  weit  überschritten,  so  dafs  sein  mit  grofsen  persönlichen  Opfern 
entstandenes  Weric  an  bedauerlichen  Entgleisungen  keinen  Mangel 
leidet.  Tadellos  in  jeder  Hinsicht  ist  die  Arbeit  W.  Effmanns 
Die  Glocken  der  Stadi  Freiburg  i.  Schw.  (Strafsburg  1899,  Mk.  5) 
mit  zahlreichen  photographischen  Aufiiahmen  und  einigen  interessanten 
Aktenstücken.  Auch  ein  Aufsatz  von  H.  Pfeifer  Kirckenglocken  im 
Hereogtwn  Braunschiceig  (Denkmalpflege  III,  113)  mit  zahlreichen  Ab- 
bildungen verdient  Beachtung  w^en  der  auffällig  variablen  Glocken- 
formen, die  sich  dort  finden.  Endlich  darf  ich  noch  auf  meine  eigenen 
Versuche  hinweisen:  Zur  Glockenkunde  Thüringens  (Jena,  F.  Strobel, 
1896,  Mk.  2)  und  Die  Glocken  des  HenfogUnns  S.'Meiningen  (ebenda 
1898,  Mk.  3.60),  worin  ich  glaube,  wenigstens  die  zahlreichen  Irrtümer 
Lehfeldts  in  den  foti-  und  Kunstdenkmälem  berichtigt  und  die 
thüringische  Giefsergeschichte  auf  sicheren  Boden  gestellt  zu  haben. 
Eine  Ergänzung  ist  in  Kurzem  vom  Oberpfarrer  Liebeskind  in  München- 
bemsdorf  zu  erwarten,  welcher  die  Glocken  des  Neustädter  Kreises 
(S.- Weimar)  aufjgfenommen  hat 

Es  braucht  wohl  nicht  bemerkt  zu  werden,  dafs  die  Glocken- 
forschung sehr  grofse  Opfer  an  Zeit  und  Geld  erfordert  und  buch- 
händlerischen Gewinn  schlechterdings  nicht  abwirft.  Dagegen  ist  der 
ideale  Gewinn,  die  Entdeckerfreude,  die  Lust,  auf  unbetretenen  Pfaden 
zu  wandeln,   blödsinnige  Irrtümer  zu  beseitigen  und  neue  Wahrheiten 


—     229     — 

ans  Licht  zu  bringen,  so  voll  von  reinen  Freuden  und  innerer  Be- 
fined^[ung'9  dais  man  mit  gutem  Gewissen  zur  Arbeit  auffordern  darf. 
Zumal  strebsame  jüngere  Geistliche  werden  sich  leicht  in  das  inter- 
essante Grenzgebiet  zwischen  Theologie  und  Altertumskunde  ein- 
arbeiten. 

Wenn  wir  nunmehr  versuchen»  die  Methode  der  Forschung  zu 
umschreiben,  so  hat  die  Arbeit  natürlich  zuerst  mit  der  Aufnahme  der 
Denkmäler  ,Jioch  in  des  Turmes  Glockenstube"  zu  beginnen.  Die 
Ausrüstung  ist  einfach:  ein  2^11stock,  einige  Bogen  weifses  Papier, 
ein  Farbstein  und  etwa  noch  einige  Blätter  Staniolpapier  mit  einer 
Kleiderbürste.  Zuerst  wird  die  Grö&e  und  Form  der  Glocken  fest- 
gestellt Bei  neueren  Glocken  genügt  es  meist,  den  unteren  Durch- 
messer von  Schärfe  zu  Schärfe  anzugeben,  da  die  Rippen  nur  selten 
Abweichungen  vom  gewöhnlichen  Schema  (der  sogen,  gotischen  oder 
deutschen  Rippe)  zeigen.  Bei  älteren,  romanischen  Glocken  von  un- 
gewöhnlicher Form  wird  man  wenigstens  noch  die  Höhe  bis  zur  Krone 
messen  und  auch  die  Ktirve  der  Flanke  durch  einige  Hilfsmessungen 
annähernd  feststellen  und  nach  dem  Profil  aufzeichnen,  wie  es  z.  B. 
Pfeifer  mit  bestem  Elrfolg  bei  den  braunschweigischen  Glocken  getan 
hat  Denn  wirklich  genaue  Schnitte  von  Rippen,  bei  denen  auch  die 
innere  Wandung  metrisch  aufgenommen  werden  mufs,  lassen  sich  nur  mit 
Hilfe  eines  groCsen  Zirkels,  wie  ihn  Glockengiefser  benutzen,  abstechen. 
Sodann  ist  eine  genaue  Abschrift  der  Inschriften  zu  machen,  natürlich 
mit  allen  Schreib-  und  Gu(sfehlem  imd  mit  Bezeichnung  der  Fundstelle 
z.  B.  „am  Hals  zwischen  Linien,  Doppellinien,  Stricklinien,  an  der  Flanke 
vom  und  hinten,  am  Schlag",  wobei  auch  sorgfaltig  auf  die  Inter- 
punktion und  Trennungszeichen  (Punkte,  Schwanzpunkte,  Glöckchen, 
Kleeblätter,  Kreuzchen  etc.)  zu  achten  ist.  Inschriften  bis  ca.  1500 
wird  man  daneben  immer  abzuklatschen  haben.  Hierbei  legt  man 
eben  Bogen  gewöhnlichen  Papiers  auf  die  Buchstaben,  fährt  mit 
einem  blauen  oder  roten  Farbstein  darüber,  bis  die  Schrift  vollkommen 
sichtbar  ist  und  setzt  die  Fortsetzung  Zeile  für  Zeile  untereinander. 
Man  erhält  so  typisch  genaue  Urkunden,  welche  zu  Haus  am  Schreib- 
tisch verglichen  und  nach  den  verschiedenen  Giefsern  klassifiziert 
werden  können.  Denn  genau  so  wie  die  Inkunabeln  des  Buchdrucks 
nach  der  „Type"  den  verschiedenen  Offizinen  zugeordnet  werden, 
ebenso  darf  man  die  Glocken  nach  der  „Type"  der  Gicfser  behandeln. 
Denn  bis  ca.  1450  gehört  es  immerhin  zu  den  Ausnahmen,  dafs  sich 
der  Meister  regelmäfsig  und  auf  allen  seinen  Glocken  nennt;  oft  be- 
genügt  er  sich  mit  seinem  Monogramm,  wie  der  Erfurter  Heinrich 


—     230     — 

Ziegler,  der  h.  c.  und  H.  C.  zeichnet,  oder  mit  einer  Marke «  oder  er 
verschweigt  seinen  Namen  ganz.  Namenlose  Gie&er  kann  man,  wie 
es  in  der  Geschichte  des  Kupferstichs  geschieht,  zunächst  ruhig  nach 
irgend  welchen  Eigenheiten  z.  B.  Giefeer  mit  den  Lilien,  Schwertern  etc. 
benennen.  Entdeckt  man,  dafe  ein  Giefser  verschiedene  Typen  oder 
zwei  Meister  dieselbe  benutzten,  um  so  interessanter  ist  es.  Den  Grund 
wird  man  leicht  finden:  in  ersterem  Fall  kann  die  wechselnde  Grö&e 
der  Glocken  oder  die  fortgeschrittene  Zeit,  im  zweiten  ein  Schüler- 
oder Verwandtschaftsverhältnis  in  Betracht  kommen.  Ich  habe  dieses 
Verfahren  zuerst  in  Thüringen  angewandt  und  z.  B.  den  ausgezeichneten 
Meistern  Marc  Rosenberger,  Johannes  Kantebom,  Peter  Koreis  u.  a.  ihre 
zugehörigen  Werke  mit  einer  bisher  bewährten  Sicherheit  zuschreiben 
können.  Bei  wachsender  Erfahrung  sieht  man  den  meisten  Stücken 
schon  auf  den  ersten  Blick  an,  aus  wessen  Hand  sie  stammen. 

Die  Aufnahme  des  Dekors  und  des  Bilderschmuckes  setzt  aller- 
dings einige  Übung  im  Zeichnen  voraus.  Doch  kann  man  sich  auch 
dabei  mit  Durchreibungen  oder  Staniolabzügen  helfen  ').  Letztere  werden 
so  hergestellt,  dafs  man  ein  entsprechend  groises  Staniolplättchen 
auf  die  meist  flachen  Medaillons  legt  und  mit  einer  weichen  Bürste 
solange  klopft,  bis  das  Relief  durchtritt.  Die  Abzüge  mufs  man 
wenigstens  auf  dem  Transporte  am  besten  in  einem  Zigarrenkistchen 
vor  Druck  schützen.  Um  sie  dann  länger  aufzubewahren,  empfiehlt 
es  sich,  die  Rückseite  mit  Wachs  suszugiefsen.  Sehr  erhabene  Sachen 
lassen  sich  mechanisch  nicht  leicht  abformen;  sind  sie  besonders 
schön  oder  bezeichnend,  so  wird  man  sie  photographisch  aufnehmen 
müssen.  Der  Dekor  ist  ja  bis  zum  XVI.  Jahrhundert  meist  sehr  ein- 
fach. Es  kommen  wohl  nur  Spitz-  und  Kreuzbogenfiiese  am  Halse 
und  etwa  ein  Laubstab  am  Schlage  vor.  Dagegen  im  XVII.  und  XVIII. 
Jahrhundert  finden  sich  ungemein  reiche  und  vielgestaltige  Friese,  und 


i)  Oberpfarrer  Liebeskind  verfahrt  nach  seiner  freundlichen  Mitteiltrag  folgender 
Mafsen  und  hat  damit  befriedigende  Ergebnisse  erzielt:  ein  schmaler  Streifen  von  nicht 
za  weichem  Papier  (Seidenpapier  auf  keinen  Fall)  wird  auf  die  Inschrift  gelegt,  mit  dem 
Finger  werden  die  einzelnen  Buchstaben  abgedrückt,  und  dann  wird  nochmals  mit  staubiger 
Hand  darüber  hingefahren,  damit  die  Buchstaben  Gnmd  bekommen.  Daheim  zieht  man 
mit  Feder  und  Tusche  die  Konturen  nach  und  hat  so  ein  ganz  getreues  Bild  der  Typen. 
Ebenso  wird  bei  Reliefs  das  Staniolblättchen  aufgelegt  und  mit  dem  Finger  auf  aUe 
SteUen  fast  aufgedrückt,  wobei  auch  der  feinste  Strich,  Gufsfehler  u.  dgl.  ganz  deutlich 
zum  Vorschein  kommt  Die  Rückseite  wird  am  besten  an  Ort  und  SteUe  auf  Stearin 
oder  Wachs  ausgefüUt,  und  die  Gefahr  einer  Beschädigung  auf  dem  Transport  ist  ver- 
mieden. Um  das  Nachzeichnen  zu  erleichtem,  empfiehlt  es  sich,  so  wie  bei  den  Inschriften 
auch  noch  einen  Papierabdruck  des  Reliefs  zu  nehmen.  Anm.  d.  Red. 


—     231     — 

rein  künstlerisch  angesehen  kann  man  die  Zeit  nach  dem  3ojäbrigen 
Kri^e  als  die  Blütezeit  der  Gieiskunst  bezeichnen.  —  Schließlich 
wird  man  auch  der  Gestalt  der  Krone  und  der  Bügel,  des  Klöppels 
nnd  dem  Glockenstuhl  und  seinen  Inschriften  Aufmerksamkeit  schenken 
tmd  —  was  ja  eigentlich  die  Hauptsache  an  dem  tönenden  Gefafse 
ist  —  den  Ton  und  die  Beitöne  feststellen.  Auch  mu(s  gleich  an  Ort 
und  Stelle  den  mündlichen  Überlieferungen  über  Glockensagen,  Klang- 
reime, Aberglauben  und  im  Pfarrarchiv  etwaigen  Aufzeichnungen  über 
ältere  Glocken,  Rechnungen,  Gieiserverträgen  u.  s.  w.  nachgespürt 
werden  *). 

Bei  der  Ausarbeitung  beginnt  man  naturgemäfs  mit  der  Einzel- 
beschreibung,  die  am  besten  nach  der  alphabetischen  Reihenfolge 
der  Ortschaften  angelegt  wird,  und  läfst  die  Glocken  unbekümmert 
um  das  Alter  nach  der  Gröfse  folgen.  Verständige  Kürze  und  feste 
Ordnung  werden  dem  Verfasser  und  dem  Leser  höchst  dienlich  sein. 
Statt  weiterer  Regeln  sei  es  mir  gestattet  einige  Beispiele  aus  den 
„Glocken  Meiningens"  beizubringen. 

Saalfeld.  Johanniskircbe.  6  Glocken,  a.  Fest-  und  Feuer- 
glocke. 165  cm.  Ton  E.  1500  [H.  Ziegler].  Am  Hals  zwischen 
Stricklinien:  (Hier  ist  ein  Faksimile  der  Type  eingesetzt)  Anncdni* 
m*cccc'  confolor  *  viva  *  Fleo  *  mortua  *  pello  •  nociva  *  sancte*iohannes*ora* 

i)  Die  Akten  über  die  Herstellung  von  Glocken,  im  besonderen  die  mit  dem 
Clockengieiser  teitent  der  Pfarrgemeinden  abgeschlossenen  Verträge  tlber  Nea-  oder 
Umgnfs  Ton  Glocken  verdienen  die  gröfste  Beacbtang,  da  sie,  für  ein  bestimmtes  Gebiet 
in  dnigcr  Anxahl  znsammen  gebracht,  in  verschiedener  Richtung  wichtige  AnlschlQsse  so 
geben  rermögen :  neben  der  Zeitbestimmung  sind  die  Bedingungen  und  Kosten 
4tT  Lieferung,  aber  auch  die  Dauer  und  nicht  zuletzt  der  Ort  der  HersteUung  von 
Belang.  Diese  Nachrichten  sind  natürlich  um  so  interessanter,  je  älter  sie  sind,  aber  die 
entsprechenden  natürlich  viel  zahlreicheren  Akten  ans  dem  XVn.  bis  XDC.  Jahrhundert 
■sind  durchaus  nicht  weniger  wertvoll.  In  Pfarrarchiven  finden  sich  Glockenguisakten 
ziemlich  häufig,  im  Rheinland  z.  B.  zu  Helenabrunn  bei  München -Gladbach  von  1743 
{Übergieki  über  den  JMtaÜ  der  kleineren  Arehite  der  Rheinprovinx,  L  Bd.  S.  49  Nr.  6), 
za  Marienberghausen  bei  Gummersbach  von  1699  (Ebenda  S.  296  Nr.  5),  zu  Gevenich 
bei  Erkelenz  von  171 1  (Ebenda  II.  Bd.  S.  iio  Nr.  11),  in  Westfalen  zu  Borken  mehrere 
einschlägige  nicht  näher  bezeichnete  Papiere  des  XV.  Jahrhunderts  {Inventare  der  nieht- 
etaaÜiehen  Arehite  der  Provinx  Westfalen.  I.  Bd.  2.  Heft  (1901)  S.  56).  In  Erkelenz 
bei  Aachen  erzählt  die  Chronik  zum  Jahre  1434  von  einem  Glockengufs,  den  Meister 
Johann  zu  Aachen  ausgeführt  hat:  dieser  erhielt  einen  auf  je  100  Pfund  Glockenspeise 
berechneten  Giesslohn,  die  alte  Glocke  wog  2600  Pfund  und  dazu  werden  vom  koper- 
Sieger  Meister  Simon  noch  19 14  Pfund  Glockenspeise  gekauft;  auch  die  Kosten  des  Trans- 
ports von  Erkelenz  nach  Aachen  und  zurück  sind  angegeben  (Annalen  des  historischen 
Vereins  (^  den  Niederrhein  5.  Heft  (1857)  S.  10).  Ebenso  berichtet  der  Chronist  der 
Stadt  Hof  über  Alter  —  die  älteste  ist  von  1374  —  und  Inschriften  der  dortigen  Glocken 


—     232     — 

pro  •  nobis  -  deü.  (Im  Jahre  des  Herrn  1500.  Ich  tröste  das  Lebendige, 
ich  beweine  das  Tode,  ich  vertreibe  das  StMdUche,  heäiger  Johannes, 
bat  Gott  für  uns.)  Die  Worte  sind  durch  Schwanzpunkte  und 
Kreuzchen  getrennt,  b  in  nobis  steht  verkehrt  Die  T)rpe  ist  die 
Heinrich  Zieglers;  ebenso  dessen  beliebte  Medaillons:  an  der  Flanke 
vom  im  Rechteck  Maria  in  der  Glorie  (etc.  folgt  Beschreibung  der 
Bilder).  —  b.  Schlagglocke  oder  Seier.  140  cm.  Ton  G.  1353. 
Am  Hals  zwischen  doppelten  Stricklinien  +  ^BB©  *  ^Bj2F  •  Jß  *  (Z^JZ^iZ^ 

Jß>?;F?  •  B©B  •  §im  '  ^^SS© '  3E>?e35ß  •  Ä©B?Sa  •  Ice3ä»ja5l$f  • 

S'^i^Äjfi^Jpni  •  (folgt  Übersetzung  und  Faksimile  sowie  Beschreibung 
der  12  Medaillons)  —  f.  Bergglocke.  54  cm.  1713  Joh.  Rose.  Am 
Hals  in  zwei  ZeUen  i.  GOTTES  WORT  BLEIBET  EWIG  ANNO 
MDLXXXin  2.  ANNO  MDCCXIU  UMGEGOSSEN  DURCH  JOHANN 
ROSEN  IN  VOLCKSTiED,  darunter  Rankenfries.  An  der  Flanke 
Saalfelder  Stadtwappen  mit  S.  P.  Q.  S.  (senatus  populusque  Saal- 
feldensis)  und  lOH.  lACOB  SCHLEGEL  D.  BURGERM.  lOH.  HEIN. 
GELLER  KASTENVORSTEHER,  anderseits  das  Monogramm  JE, 
des  Herzogs  Josias  Ernst 

Es  empfiehlt  sich,  wenn  irgend  möglich,  die  Inschriften  gleich  in 
den  charakteristischen  Typen,  Majuskel,  Minuskel  und  Antiqua,  drucken 
zu  lassen,  weil  dadurch  für  die  weitere  Benutzung  die  bessere  Über- 
sicht gewahrt  wird  und  beim  Verfasser  wie  beim  Leser  die  Freude  an 

(Quellen  xur  Geschichte  der  Stadt  Hof,  herausgegeben  von  Christian  Meyer.  I.  Bd.  (1894) 
S.  44).  —  Aach  die  Rechtsverhältnisse  der  Glocken,  namentlich  die  Tielfach  bestehende 
Verpflichtung  der  2^hntherren,  sie  zu  beschaffen,  finden  oft  aktenmäisige  Beleuchtung;  zu. 
Sittard  z.  B.  wird  diese  Frage  in  einem  interessanten  Prozels  1542 — 1558  erörtert  (Über- 
sicht tlber  den  Inhalt  u.  s.  w.  II.  Bd.  S.  155  Nr.  13)  oder  ähnlich  zu  Beggendorf  bei 
Geilenkirchen  (Ebenda  S.  125  Nr.  5 — 7).  —  Die  Person  des  Giefsers  und  seine  gewerb- 
liche SteUung  ist  nicht  minder  wichtig:  so  scheint  z.  B.  in  Leipzig  gegen  Ende  des 
XV.  Jahrhunderts  der  Beruf  des  Glockengiefsers  noch  nicht  selbständig  zu  sein,  sondern 
der  Gnss  wird  von  den  Kupferschmieden  zugleich  mit  besorgt  (Berlit,  Leipxdger 
Bmungsordnungen  des  XV,  Jahrhtmderte,  S.  12  im  Programm  des  Nikolaigymnasiums  ra 
Leipzig  1886).  Aus  der  Zahl  der  Glocken,  die  als  etwa  gleichzeitig  von  einem  Giefser 
hergesteUt  erwiesen  werden,  wird  sich  auf  die  Gröise  seines  Betriebes  schliefsen  lassen; 
die  Lieferung  oder  Nichtlieferung  des  Rohmaterials  wird  zeigen,  ob  sich  der  Giefser  noch 
^  gegen  Lohn  arbeitender  Handwerker  oder  schon  als  Unternehmer  fählt;  ersteres  ist 
entschieden  1434  Meister  Johann  in  Aachen.  Ist  in  einem  gröfseren  Gebiet  ftir  jede 
Glocke  Zeit  und  Ort  der  Herstellung  bekannt,  so  dürften  sich  daraus  oil  überraschende 
wirtschaftsgeschichtliche  Erkenntnisse  gewinnen  lassen,  insofern  immer  nur  relativ  wenige 
Orte  fUr  den  Glockengufs  in  Frage  kommen  und  nicht  nur  die  Veränderungen  in  der 
wirtschaftlichen  Leistungsfähigkeit  einzelner  Städte,  sondern  vor  allem  auch  stattfindende 
Verschiebungen  ihre«  wirtschaftlichen  Wirkungskreises  erkennbar  werden. 

Aniii*  cL  Rad. 


—     23S     — 


diidomatischer  Genanig^keit  wächst.  Die  Übeisetzung  der  lateinischen 
Texte  ist  man  den  Kreisen  schuldig,  die  sich,  wie  z.  B.  Volksschal- 
lehrer,  sehr  gern  mit  den  Glocken  wenigstens  der  Heimat  beschäftigen. 
An  die  Beschreibung  der  noch  vorhandenen  Glocken  wird  man  dann 
die  Nachrichten  über  ältere»  sowie  Läuteordnungen,  Gielserverträge  und 
dergleichen  anzufügen  haben. 

Zur  Übersicht  wird  man  zwei  Tabellen  au&tellen,  die  eine  kürzere 
nach  Ottes  Entwurf  über  den  Bestand: 


Diöscse 

Orte 

Zahl 

ohne 
Inschrift 

ohne 
Datum 

14 

Jahrhondert 
15    16    17    i8    19 

Inschriften  in 
Maj.      Min. 

I.  Salzimgeii 

41 

38 

4 

^"*» 

-~ 

I 

— 

3 

9 

21 

— 

I 

Die  andere  ausführlichere  nach  Schubarts  Schema 


Ort 

M^ 

Dnrchm. 

Ton 

Jahr      Giefscr 

Themar 

I 

150 

d 

1520         — 

2 

120 

e 

1507  |P.  Koreis 

3 

100 

eis 

■"     1      "■ 

Inschrift 


Veraiemng  and  Bilder 


matheos,  marcns  etc. 
maria  som  nominata  etc. 

}saM^ßus  etc. 


Barbara,  Bartholomäus 


Hieran  schliefsen  sich  nun  einige  Abschnitte  mit  den  allgemeinen 
Erörterungen.  Zunächst  über  Inschriften,  deren  Technik  und  Inhalt  (un- 
leserliche, Scbutzinschriften,  liturgische  oder  biblische  Texte,  Zeit-  und 
Gufsangaben,  Klangreime,  Siglen,  Jahreszahlen,  Chronogramme  etc.)  und 
über  Bilder  und  Dekor;  dann  über  die  Geschichte  der  Glocken 
(älteste  Schicksale  einzelner  Stücke,  Haltbarkeit  der  Geläute,  Stiftungen 
und  dergleichen)  und  über  die  Giefser,  vobei  die  einzelnen  nach  ihren 
Eigenheiten  zu  charakterisieren  sind.  Sehr  reichlich  pflegt  das  Material 
sodann  über  Namen,  Gebrauch  und  Recht  der  Glocke  zu  fliefsen  und 
auch  über  Sagen  und  Volksglauben  wird  man  immer  noch  einige  neue 
und  interessante  Züge  beibringen  können.  Den  Schlufs  bildet  ein 
alphabetisches  Verzeichnis  der  Giefser  mit  Angabe  ihrer  Wirkungszeit 
und  der  ihnen  zugehörigen  Glocken,  wobei  man  die  umgegossenen 
passend  mit  einem  Kreuzchen  bezeichnet. 

Wie  bemerkt  ist  es  hocherwünscht,  dals  alle  älteren  Inschriften 
iaksimiliert  und  dem  Texte  im  verkleinertem  Malsstabe  eingedruckt 
werden.  Wo  dies  indefs  wegen  zu  hoher  Kosten  nicht  durchführbar 
ist,  sollte  wenigstens  jede  der  vorkommenden  Typen  einmal  bildlich 
dargestellt  werden.  Es  empfiehlt  sich  die  AbbUdimgen  auf  folgende 
Weise  anzufertigen.  Die  Abklatsche  werden  mit  schwarzer  Tusche 
ausgezogen  und  entweder  ganz  oder  in  ausgewählten  Proben  auf  die 


—     284     — 

Wand,  eine  Tür  oder  eine  Pappe  geheftet,  wobei  dicht  unter  jede 
Schriftprobe  das  metrische  Maus,  etwa  lo  cm,  aufgezeichnet  wird.  Der 
ganze  Komplex  wird  photographiert  und  dabei  auf  V«  oder  */$  der 
natürlichen  GröCse  verkleinert,  auf  Umdruckpapier  kopiert  und  darauf 
•einer  Kunstanstalt  zur  Atzung  in  Zink  übergeben.  Die  Kosten  sind 
hierbei  verhältnismäfsig  sehr  gering.  Da  ein  Verlagsbuchhändler  das 
Risiko  der  Drucklegung  für  eine  solche  Monographie  von  beschränktem 
Absatz  wohl  kaum  übernehmen  wird,  so  wird  man  die  Arbeit  am 
besten  dem  altertumforschenden  Vereine  des  fraglichen  Gebiets  zur 
Veröffentlichung  übergeben. 

Die  weitere  Belehrung  über  Einzelheiten  des  Faches  wird  der  an- 
gebende Forscher  in  Ottes  Glockenkunde  suchen  müssen.  Ich  gestatte 
mir  nur  einige  Bemerkungen  zu  machen,  zu  denen  die  neueren  Arbeiten 
Veranlassung  gegeben  haben. 

Zunächst  über  das  Material.  Bekanntlich  weife  Theophilus,  der 
kunstreiche  Mönch  Rugkerus  v.  Helmershausen,  in  seiner  schedula  di- 
i^ersarum  artium  noch  nichts  von  Silberbeimischung  zum  gewöhn- 
lichen Glockengut.  Doch  schon  in  dem  angehängten  Breviarium  wird 
bemerkt,  dafs  ein  Zusatz  von  Silber  oder  Gold  den  Ton  ,, schärfer, 
«tärker  oder  lieblicher**  mache.  Von  „Silberglocken**  wird  dann  weiter 
in  Glockensagen  oft  berichtet.  Ein  Beweis  durch  die  chemische  Analyse 
ist  aber  bisher  nicht  erbracht  worden.  Vielmehr  zeigten  angebliche 
-„Silberglocken**  die  gewöhnliche  Bronzemischung  mit  einem  so  ge- 
ringen Silbergehalt,  wie  er  sich  oft  in  Rohkupfer  findet.  Nun  fand 
Effmann  ein  Schreiben  der  „Herren  von  Freiburg**  an  die  „Gesell- 
schaft zu  Memmingen**,  dafs  diese  zum  Gufe  der  Zionsglocke  ver- 
schaffe  um  160  Ctr.  guots  kupfers  u.  um  48  Qr.  engelsch  eins  guo 
ir  gloggen,  dessglichen  si  an  40  mark  (V*  Ctr.)  Silbers,  das  werden 
inen  min  Tierren  erberlich  zaUen,  Effmann  hat  das  als  ersten  voll- 
gültigen Beweis  angesehen,  leider  aber  die  Glocke  nicht  analysieren 
lassen.  Aus  dem  Text  folgt  m.  E.  durchaus  noch  nicht,  dafs  das 
Silber  auch  zum  Glockengufs  bestimmt  war:  die  Herren  von  Freiburg 
konnten  es  bei  der  passenden  Frachtgelegenheit  fiir  die  städtische 
Münze  bestellen.    Die  Sache  ist  also  fraglich  nach  wie  vor. 

Eiserne  Glocken  der  Frühzeit  sind  selten.  Es  sind  bis  jetzt  drei 
aus  Blech  zusammengenietete  bekannt,  der  „Saufang**  aus  St.  Cäcilien 
im  Museum  zu  Köhi,  das  „Kolumbansglöckchen**  im  Schatz  von 
St.  Gallen  und  ein  Glöckchen  zu  Ramsach  in  Oberbayem.  Guiseiseme 
Glöckchen  in  Halbkugelform  etwa  XV.  Jahrhundert  sind  in  Oberbayem 
mehrfach  nachgewiesen,  häufiger  in  ganz  Deutschland  seit  dem  30jährigen 


—     236     — 

Krieg-,  die  jetzt  noch  von  Rost  zerfressen  und  gesprungen  da  und  dort 
als  altes  Inventar  aufbewahrt  werden. 

Ein  sicheres  Rezept  für  die  Altersbestimmung  der  romanischen 
Glocken,  soweit  sie  des  Datums  entbehren,   gibt  es  auch   heut  noch 
nicht     Nur  aus  der  Form  der  Glocke  und  der  Technik  der  Inschriften 
lassen  sich  etwa  folgende  Beobachtungen  zusammenstellen.     Bis  Ende 
<les  XII.  Jahrhunderts  arbeitete  man  in  einer  Form,   welche  Otte  als 
Bienenkorb  treflfend  bezeichnet  hat.     Der  Typus   wird    am   besten 
durch  die  sogen.  LuUusglocke  in  Hersfeld  von  ca.  1059  vertreten.   Diese 
ist  mehr  breit  als  hoch,  die  Flanke  fällt  fast  senkrecht  ab,  die  Haube 
ist  rund  gewölbt,  der  Schlag  ladet  nur  wenig  aus  und  die  Schärfe  ist 
nicht  spitz  zugeschnitten,  sondern  breit  rechteckig.    Hierzu  gibt  es  aber 
zahlreiche  Varianten,  indem  das  Profil  meist  ohne  rechten  Absatz  aus 
-der  Haube  in  die  geschwungene  Flanke  und  den  wulstigen  Schlag  über- 
geführt wird.     Die  Inschriften  sind  ausnahmslos  vertieft,  da  sie  in  das 
Wacbshemd  rechtläufig  und  vertieft  eingegraben  wurden,  wie  es  Theo- 
philus  beschreibt.     Aufserdem  rät  dieser  noch   zur  Verbesserung  des 
Schalles   am  Hals   2 — 4  dreieckige   Löcher  (foramina)    anzubringen. 
Doch  sind  Glocken  und  Schalllöcher   nicht  gerade   häufig.     Mir  sind 
folgende  bekannt:  die  LuUusglocke  in  Hersfeld,  aus  Graitschen  S.  W. 
im  Germ.  Mus.   zu  Nürnberg,   2  im  Dom   zu  Augsburg,   2  aus  Dies- 
xJorf  und  Elsdorf  im  Prov.  Mus.  zu  Halle,  Taufglocke  in  Roslau,  Godewins- 
glocke  in  Glentorf,  je  eine  im  Dom  zu  Merseburg,  im  diözes.  Mus.  zu 
Köln,    im    Ferdinandeum    zu   Innsbruck    und    aus    dem   Münster    im 
Museum  zu  Basel.     Neben  den  Bienenkorb   tritt  schon  im  XII.  Jahr- 
inmdeit  eine  gerade  entgegengesetzte,  die  „Zuckerhutform",  bei 
welcher  der  Umrife  bis  zum  Kegel  gesteigert  ist  und   der  Schlag  so- 
"weit  ausladet,   dafe  er  gegen  den  Hals  im  Verhältnis  von  2  :  i    steht. 
Zuckerhüte  sind  noch  sehr  zahlreich  erhalten,  einige  mit  barbarischem 
Flechtomament  bedeckt,   die  meisten  inschriftlos.     Die  Form   scheint 
sich  noch  weit  bis  ins  XIV.  Jahrhundert  hinein  gehalten  zu  haben,  wie 
auch    wohl    unfähigen    Giefsern    noch    später   Bienenkörbe    gelangen. 
Der  Ton   beider   Formen   ist   schlimm    in    allen   Variationen,    schrill, 
jammernd,  weinerlich  oder  blechern,  jedenfalls  so  absonderlich,    dafs 
man  sie  sofort  aus  einem  Geläute  heraushört. 

Die  normale,  klangreiche  „gotische"  Rippe  hat  sich  im  Laufe 

des  XIII.  Jahrhunderts  gebildet.    Damals  erkannte  man  die  noch  heute 

geltende  Regel,  dafe  eine  Glocke  drei  harmonische  Töne  von  sich  geben 

müsse,  den  Grundton  am  Schlag  und  die  Beitöne  der  Oktav  am  Hals, 

•der  grofeen  oder  kleinen  Terz  oder  auch   der  Quart  an  der  Flanke. 


—     236     — 

Diese  günstige  Klangmischung  ergibt  sich  aber  nur  bei  einer  ganz 
genau  der  Gröfse  und  dem  Gewicht  entsprechenden  Rippe,  die  etwa  als 
Kompromifs  zwischen  Bienenkorb  und  Zuckerhut  bezeichnet  werden 
kann.  Das  Verhältnis  des  Zuckerhuts  (unterer  Durchmesser  zum  Hals 
=  2 :  i)  wurde  beibehalten,  die  Höhe  aber  wesentlich  verringert,  die 
Flanke  verdünnt  und  etwa  von  der  Mitte  an  elegant  nach  aufsen  ge- 
schwungen, der  Schlag  aber  verdickt  und  nach  unten  zu  einer  Schärfe 
zugespitzt,  wodurch  sich  noch  ein  günstiger  Beiton,  die  Unter- 
oktave,  ergab. 

Als  älteste  mit  einem  Datum  versehene  Glocke  galt  bisher  die- 
jenige von  Iggensbach  in  Bayern,  ein   formloser  Bienenkorb   mit   der 
Inschrift:  Anno  MCXLIÜI  (i  144)  ab  incamcUiane  Domini  fusa  est  cam- 
pana.     Diesem  weitberühmten  Gefäfse  hat  nun  Schubart  nicht  ohne 
patriotisches  Behagen  die  Ehre  genommen,  indem  er  eine  Qlocke    in 
Drohnsdorf  „als  älteste  nicht  nur  Deutschlands'*  proklamiert.    Er  liest 
nämlich  aus  der  Inschrift  f  AM .  IirDRFSAST  MI  II  COC I II  V  MCFD 
„nach  langem  vergeblichem  Sinnen"  das  genaue  Datum  30.  Sept  1098: 
Anno  MIIC  die  post  festum  archangeli  Michaelis  IL  Caiendas  Odobris, 
in  honorem  virginis  Mariae  genetricis  Dei.     Man  kann  zugeben,  dafs 
die  Auflösung  der  4  ersten  Zeichen :  AMIIC  durch  Anno  MIIC  tnil- 
lesimo  dtMdecentesimo  oder  nonagesimo  octavo  möglich  ist,   dagegen 
die  ganze  folgende  Auflösung  ist  völlig  gegen   den  Geist  frühmittel- 
alterlicher Epigraphik,  welche  sich  nie  derartig  in  Siglcn  bewegt.    Viel- 
mehr darf  man   den  Text   ruhig  zu   den   ungelösten  imd  unlö3baren 
Rätseln  legen  wie  die  Inschrift  der  Lullusglocke. 

Die  Zahl  schwieriger  Inschriften  wächst  von  der  Zeit  an,  wo  man 
die  Inschriften  nicht  mehr  in  das  Hemd,  sondern  in  den  Mantel  grub. 
Um  ein  richtiges  Schriftbild  im  Gufs  herzustellen,  mufs  die  Eingrabung 
„im  Negativ"  d.  h.  rückläufig  und  verkehrt  geschehen.  Im  andern 
Fall  erscheint  die  Schrift  im  Spiegelbild.  Welche  Vexierfiragen  hierbei 
entstehen  können,  dafür  bietet  ein  evidentes  Beispiel  die  sogen.  Silber- 
glocke in  Pöisneck.  Am  Hals  fand  sich  in  dünner  Linienmajuskel  folgende, 
Inschrift:  EROHTEB  •  TAMIN  TSYEG  ESOB  NSAD  EKOH  •  TVL- 
EGEN  •  AM  •  OW  •  SNV  •  KOV  •  TOG  •  TIB  •  SUEMOHTKAB  •  EREH  • 
KEGLYEH  f,  an  der  Flanke  TON  SVRIM  KOO  ONV  IHTOG  FUH. 
Natürlich  waren  alle  Forscher  verzweifelt  und  ich  wollte  nach  vielen 
vergeblichen  Versuchen  die  Sache  auch  schon  beiseite  legen,  als  ich 
bemerkte,  dafs,  trotzdem  die  Buchstaben  so  wie  hier  im  Druck  recht- 
läufig stehen,  der  Text  doch  linksläufig  angelegt  ist,  wobei  konstant 
R  durch  K  ersetzt  wurde.    So  kam  denn   der  schöne  deutsche  Text 


—     237     — 

herans:  Heyiger  here  Barihohmeus,  bit  got  vor  uns,  wo  mane  gelvt 
horej  daen  hose  gegst  nimant  hetkore  und  hilf  got  hi  und  dort  mir  us  not. 
Wirklich  unleserliche  Sachen,  denen  auch  der  Verferüger  keinen 
Sinn  nnterl^rte,  beginnen  doch  erst  seit  Anfang  des  XIV.  Jahrhunderts, 
wo  der  Gie&er  sich  vom  Schreiber  unabhängig  machte,  seine  Lettern  aus 
Wachs  in  Holztäfelchen  preiste  und  auf  das  Hemd  klebte.  War  er  selbst 
des  Lesens  imkundig,  so  klebte  er  die  Buchstaben  in  wilder  Mischung  auf, 
wie  sie  ihm  unter  die  Hand  kamen.  In  dieser  naiven  Kunst  glänzte 
Q.  a.  ein  Giefser  in  Jena  um  1350,  der  eine  ganze  Reihe  von  Glocken 
hinterlassen  hat,  auf  denen  sich  sinnlose  Buchstabenreihen  finden,  sog, 
Kryptogramme. 

Hiermit  dürfte  auch  die  Frage  der  ABC-Glocken,  an  deren  Vor- 
kommen Otte  noch  zweifelt,  im  Zusammenhang  stehen.    Es  sind  davon 
bisher  12  Beispiele  bekannt,  in  Mennsdorf  A — ^F,  in  Marisfeld  A — G, 
in  Je&nitz  A — T,  in  Gelnhausen  Ratsglocke  A — Z,  in  Kicklingen  bei 
Wertingen  a.  Donau  A — ^V,  in  Gomesfeld  b.  Donauwörth,  in  der  Pfarr- 
kirche zu  Biel   A  —  K  und  A  —  D ,    in  Luzem  E — M ,    sämtlich  in 
Biajuskeln  XIII.  und  XIV.  Jahrhunderts,  dann  in  Minuskeln  in  Rödelwitz 
S.  M.  a — z,  das  Vesperglöckchen  in  Villingen  a — z  (lückenhaft),  in  der 
Gertrudsldrche  zu  Stettin,   in  Schmilkendorf  b.  Wittenberg.     Es  lä&t 
sich  ja  sehr  gut  denken,  dafs  man  schon  in   der  blofeen  Buchstaben- 
reihe eine  Art  Zauberformel  sah,   durch  welche  die  Kraft  der  Glocke 
g^en   feindliche  Mächte  verstärkt  wurde,    wie  ja  auch    der  Bischof 
bei  der  Kirchweih  auf  zwei  kreuzweis  auf  den  Boden  der  Kirche  ge- 
streute Aschenstreifen,  das  griechische  und  lateinische  Alphabet  zu 
schreiben  hatte.   Neuerdings  sind  auch  einige  wenige  Beispiele  äufserer 
Bemalung  von  Glocken  bekannt  geworden.  Jos.  Branis  wies  zuerst  eine 
solche  im  Glockenturm  auf  dem  Friedhof  bei  Vidic  in  Böhmen  (Mitt. 
K.K.  C.C.  XIX.  70)  1599  von  Thomas  Klabal  in  Kuttenberg  gegossen, 
nach,  woran  sich  reicher  Figurenschmuck  weifs,  rot  und  grün  emailliert 
und  künstlich  oxydiert  findet.  Und  in  Münster  fand  Hertel  3  Glocken,  die 
Lambert!-  und  Katharinenglocke  mit  Bildern  der  Namensheiligen  und  die 
Marien-  oder  Totenglocke  mit  dem  Bild  des  Todes  in  Ölfarben  bemalt. 
Dazu  kommt  eine  umgegossene  Zeitglocke  des  Nikolausturms  in  Freiburg 
Schw.y  welche  nach  Ausweis  der  Seckelmeisterrechnungen  1484  von 
einem  Meister  Hans  für  40  Mk.   bemalt  wurde.     Es  wäre  interessant, 
diese  merkwürdige  Sitte  durch  weitere  Beispiele  zu  belegen.    Man  ver- 
gleiche dazu  die  Inschrift  einer  Glocke  in  Lübnde  von  1278:  me  fudit 
Thideridts  VL  Kai.  Novembr.  et  me  pinxit  Hermanntis  plebanus,  welches 
Otte  auf  die  Gravierung  der  Bilder  deutet. 


—     238     — 


Die  Inschriften,  namentlich  in  katholischer  Zeit,  bewegen  sieb 
grofsenteils  in  ganz  festen  Formeln,  Sprüchen,  liturgischen  oder  poetischen  ' 

Sentenzen,  gereimten  (leoninischen)  Hexametern  und  dieser  Zustand 
erleichtert  dem  Anß^nger  die  Arbeit  ungemein.  Er  wird  die  Formeln, 
auch  in  schlechten ,  gedrückten,  beim  Gufe  mifslungenen  Typen  oder  in 
augenscheinlicher  Verballhornung  wiedererkennen  und  sich  mit  den  vor-  j 

kommenden  Abbreviaturen  leicht  befreunden.  Kommen  freie  Texte 
in  schwieriger  Form  vor,  so  ist  es  immer  rätlicher,  das  Faksimile  in 
Bescheidenheit  nur  mit  Vorschlägen  zu  begleiten  als  sich  auf  eine 
subjektiv  ausgeklügelte  Lesung  zu  kaprizieren,  deren  man  sich  später 
zum  Gaudium  aller  Mitarbeiter  nicht  wenig  zu  schämen  pfl^t.  Mit 
Beispielen  könnte  man  reichlich  aufwarten. 

Ebenso  mufe  vor  voreilig   aufgefaßten  Giefsernamen  gewarnt 

werden.     Wie   oft  tritt  hinter  der  frommen  Sentenz  noch  ein  Name 

wie  Johannes,  Petrus  auf.    Es  ist  dies  aber  nicht  der  Name  des  Giefeers,, 

sondern  der  Glocke.     Ganz  verführerisch  lautet  z.  B.  eine  Inschrift  in 

Gellershausen  1403 : 

maria  heis  mich 

cristus  der  schuf  mich, 

insofern  man  fast  genötigt  wird,  einen  Giefser  Cristus  anzunehmen. 
Aber  hier  ist  der  zweite  Satz  nicht  auf  die  Glocke,  sondern  auf  Maria 
zu  beziehen  nach  dem  dichterisch  so  oft  verherrlichten  Geheimnis^ 
dafs  der  Sohn  der  Jungfrau  auch  ihr  Vater  und  Schöpfer  sei. 

In  dieser  Hinsicht  steht  auch  der  Hallesche  Giefser  Jahr  (Jar, 
Jaur)  warnend  am  Wege.  Dieser  vielseitige,  fruchtbare  und  langlebige 
Mann  ist  durch  Schubart  in  die  Wissenschaft  eingeführt  worden.  In 
der  Provinz  Sachsen  und  in  Anhalt  gibt  es  eine  ganze  Reihe  Glocken 
mit  gleicher  Type  und  dem  Halleschen  Wappen  (zwei  Sterne,  dazwischen 
ein  Halbmond),  manchmal  auch  mit  Giefserzeichen  (Weinblatt)  Schon 
Otte  hatte  darauf  aufmerksam  gemacht,  aber  der  Mann  blieb  namenlos. 
Da  fand  Schubart  eine  Glocke  in  Sollnitz  mit  der  Inschrift :  f  anno  • 
domini  *  m  *  ccccc  *  iaur  und  in  Bobbau  mit  f  anno  *  domini  *  m  -  ccccc  * 

i  '  iar  —  „Es  wäre  somit  der  Name   dieses  Meisters hierdurch 

ermittelt,  nämlich  Jaur  oder  Jar".  Und  dann  werden  ihm  die  frag 
liehen  Stücke  von  1475  — 15 19  zugeschrieben.  Ist  die  Wirksamkeit 
des  Meisters  Jaur  schon  hierbei  etwas  ausgedehnt,  so  kann  sie  vorwärts 
und  rückwärts  noch  verlängert  und  über  ganz  Deutschland  ausgedehnt 
werden.  In  Jena  findet  sich  eine  Schlagglocke  mit  Anno  dni.  m^  ccc(fi 
xl  u  iii  iare  (1448),  eine  noch  ältere  in  Bobeck  S.  A.,  die  umgegossen 
ist,  hatte  die  Inschrift:  anno  domini  m  cccc  xi  iar  (141 1),  eine  andere 


—     239     — 

in  Jena  mit  anno  ixu  in  dem  itd  gar  gegos  (1546).  Hier  ist  nun  der 
Irrtum  auch  dem  Laien  klar.  Jar,  jaur,  gor  ist  das  deutsche  „Jahr*V 
das  trotz  des  vorausgehenden  anno  doniini  nachklappt  und  so  auch  in. 
Bau-  und  GeßLlsinschriften  vorkommt.  Übrigens  wäre  es  grausam,  den 
,, Meister  Jaur"  wieder  in  der  Versenkung  verschwinden  zu  lassen^ 
Man  kann  ihm  ruhig  die  Glocken  wenigstens  mit  dem  Weinblatt  lassen, 
bis  einmal  der  wahre  Name  gefunden  wird. 

Ich  schliefse  mit  dem  Wimsche,  dafs  die  Glockenkunde  zu  den 
alten  immer  mehr  neue  Freunde  finde,  welche  mit  der  edlen  Leiden- 
schaft des  Suchens  und  Entdeckens,  mit  der  opferfreudigen  Hingabe 
an  einen  schönen  und  weitverzweigten  StofT  die  nötige  Nüchternheit 
des  Urteils  und  den  demütigen  Stolz  auf  kleine  aber  sichere  Ergebnisse 
verbinden.  Schliefslich  ist  doch  der  hohe  Genufs  der  Arbeit  schon. 
ein  „Lohn  der  reichlich  lohnet*'. 


üiteratur  zur  Gloeketikutide  ^) 

zusammengestellt  von 
Oberpfarrer  Liebeskind  (Münchenbemsdorf) 

L  Allgemeines. 

Biringoccio,  Piroteduiia,  Vinegia,  2.  Ausg.  1558  (in  der  UniYen.-Bibl.  ni  Göttingexk 
[An  mUit.  183]  Fol.  94 — 100).    Die  älteste  gedrackte  Anweisung  xur  Glockengiefserei. 

Hieronymi  Magii  Anglariensis  de  tintinnabolis  Über  posthnmus  com  notis  Fran- 
dsci  Swertü,  Amstelodami  1664,  sninpt.  Andreae  Frisii;  abgedruckt  in  A«  H.  de  Sallengre^ 
Noths  thesanms  antiquitatiun  Romanamm  Tom.  2.  Halae  Comitiun  1718,  p.  1156 
bis  1200;  im  letasten  Separatabdmck  heraosgeg.  von  A.  Lazzarini,  Rom  1822.  (Diese 
älteste  Monographie  über  die  Glocken  wurde  vom  Verfasser  während  seiner  türkischen  1 
Gefangenschaft,  in  der  er  1572  oder  1573  ermordet  wurde,  nächtlicherweile  voU- 
endet  Sie  ward  die  Quelle  für  die  zahlreichen  Dissertationen  des  17.  und  18.  Jahrh.. 
fiber  diesen  Gegenstand.) 

Rocca,  Angelns,  de  campanis  commentarius  ad  sanctam  ecd.  cathol. ,  Romae  16 12.. 
4.  Abgedruckt  bei  Sallengre  a.  a.  O.  p.  1233  ff.;  auch  in  Thesaurus  pontif.  sacrarum* 
que  antiquitatum,  ed.  U.  Romana,  Romae  1745.     Tom.  I.  p.  151 — 196. 

Stockflet,  Arn.,  de  campanarum  usu.     Altdorf  1665.     12. 


i)  Diese  Zusammenstellung  soll  die glockenkundliche  Bibliographie  in  O  ttes  Oloeken- 
bmde  ergänzen.  Einen  Anspruch  auf  Vollständigkeit  erhebt  sie  nicht,  aber  manchem. 
Leser  dürfte  sie  willkommene  Fingerzeige  für  seine  Forschungen  geben.  Da  Otte  nicht 
aSen  Lesern  zur  Hand  sein  wird,  sind  die  bei  ihm  zu  findenden  bis  1884  ziemlich  voll- 
ständigen Nachweise  hier  nochmals  mit  aufgenommen. 


—     840     — 

Reimann,  Joh.  Chr.,  DisserUtio  de  campanis,  Isnad  1679  (HaUescbe  UiiiTert.*Bibl. : 
Kefersteinscbe  Sammlong  Bd.  293). 

Bierstfidt,  Alexins,  Dissert  de  campananun  materia  et  forma,  Jena  1685. 

Der».,  Dissert.  de  origine  et  nomine  campanamm,  Jena  1685. 

Storhias,  Joh.  Manr. ,  Dissert.  de  campanis  templomm.  Ups.  1692. 

Pacicbeliiy  J.  B.,  de  tintinnabnlo  Nolana  Incnbratio.    Napoli  1695. 

Wall  er  ii,  Harald.,  Dissert  de  campania  et  praecipois  eanmi  nsibns,  Holm.  1694. 

Mi  zier,  H.  A.,  de  campanis.     Viteb.  1695. 

Thiers,  J.  B.,  Trait6  des  clocbes.  Paris  1719.  Abgedruckt  in  Tezier,  Dictionnaire 
d'orKtrerie.     Paris  1857.     p.  391—435. 

Irenins  Montanas,  Histor.  Nachrichten  von  den  Glocken,  deren  Ursprung.  Materie, 
Nutzen  und  Miisbranch.     Chemnitz  1726. 

Stedman,  Fab.,  Tintinnalogia  or  the  art  of  ringing  1668  und  bis  1680  in  3.  Aafl. 
Campanologia  improved  or  the  art  of  ringing  made  easj.    London  1733* 

Franke,  Dan.  Chr.,  Programma  von  den  Glocken,  Mtthlheim  a.  Rh.  1736. 

Eschenwecker,  Job.  Mich.,  Dissert.  de  eo  quod  iustnm  est  circa  campanas.  Vom 
Recht  der  Glocken.     HaL  Magd.  1739  (Halleiche  Univers.-BibL  a.  a.  O.  Bd.  24). 

Baulacre,  Recherches  sur  les  horloges  et  sur  les  doches  des  6glises,  im  Journal 
Helv6tique  1750/51. 

W.  C  J.  (Chrysander)  Antiquar.  Nachrichten  von  den  Kirchenglocken;  in  der  Zugabe 
zu  den  Hannoverschen  gelehrten  Anzeigen  vom  J.  1754.  Sp.  69 — 196.  (Auch 
Rinteln  1755.) 

Carr6,  Remi,  Receuil  curieux  et  6düUnt  sur  les  clocbes.    Cologne  1757. 

Roujoux,  Der  kfinstliche  und  harmonische  Glockengiefser.     Augsburg  1766. 

Hahn,  J.  H.  Gottfr.,  Campanologie  oder  Anweisung,  wie  Laut-  und  Uhrglocken  ver- 
fertigt werden.    Erfiirt  1802. 

Cancellieri,  F.,  le  due  nnove  campane  di  Campidoglio.    Rom  1806. 

Ober  die  wichtige  Erfindung,  gesprungene  Glocken  ohne  Umguls  zum  Gebrauche  wieder- 
herzustellen. Vorangehend:  Gemeinnützige  Belehrungen  Aber  die  Glocken  über- 
haupt etc.     Quedlinburg  182 1.  * 

Lannay,  Der  vollkommene  Glockengiefser.    Aus  dem  Französischen.    Quedlinburg  1834. 

Barraud,  Notice  sur  les  doches  (in  de  Canmort,  Bulletin  monumentaL  VoL  X.  1844. 
p.  93— "9). 

Cvatty,  Alfr. ,  the  Bell,  its  origin,  history  and  uses,  London  1848. 

Pfnor,  Ober  die  Akustik  der  Glocken,  in  den  Verhandlungen  des  hessischen  Gewerbe- 
vereins (Darmstadt)  1848. 

Otte,  H.,  Ober  Alter  und  Technik  der  Glockeninschriften,  im  deutschen  Kunstblatt  1852, 
S.  409. 

Ellacombe,  H.  T.,  Paper  and  Beils,  in  Report  of  Bristol  Architectural  Sodetj.  1850. 
Angezeigt  im  Quarterly  Review.    Nr.  CXC.    Sept.  1854.    p.  308 — 337. 

•(Zehe,  B.)  Ober  die  Glockengiefserkunst  und  die  Guisstahlglocken,  im  Organ  für  dirist- 
liehe  Kunst  1853.    Nr.  11. 

S k,  Ober  eheroe  Glocken  und  Gufsstahlglocken.    Ebd.  Nr.  14  u.  15. 

Harzer,  Fr.,  Die  Glockengiefserei  mit  ihren  Nebenarbeiten.    Weimar  1854. 
Perrey,  Ed.,  Montage  des  doches  et  construction  des  be&ois,  in  der  Revue  de  Tarchi- 
tecture,  1855. 

Ellacombe,  H.  T.,  An  affectionate  adress  to  ringers  in  everj  church  and  parish. 
London  1855. 


—     241     — 

Corblet,  Jales,  iituigie  des  doches.     Amiens  1855. 

Den^  Notice  historiqae  et  litorgiqiie  sor  les  doches.    Paris  1857. 

Lokis,  W.  C,  An  mcconnt  of  diiirch-bells.     London  and  Oxford  1857. 

Die  Glocken.  (Aussog  aas  Barraad,  Abhandlung  sor  les  dodies  in  Didron,  Annales  ar- 
di^L  VoL  Xn.  Livr.  6 sqq.  und  Jules  Corblet,  Notice  historiqne  et  liturgique 
sur  les  doches,  in  der  Refue  de  l'art  chrötien,  Livr.  2 sqq.,  sowie  ans  mehreren  in 
der  englischen  Zeitschrift  The  Builder,  Jahrg.  1856,  enthaltenen  Abhandlungen).  Im 
Organ  fiir  christliche  Kunst,  herausgeg.  von  F.  Bandri.  Köln  1857.  Nr.  ii  — 14,  16, 
17  n.  23.    1858,  Nr.  2  u.  12. 

Die  Glocke.  Eine  archäologische  Studie,  in  der  Wiener  Zeitung  und  Abendblatt  1857.  Nr.  173. 

Kr  als,  J.  M.,  Ein  Beitrag  zur  Geschichte  der  Glocken,  im  Organ  für  christliche  Kunst 
1858  Nr.  6.     S.  64. 

Smeddingk,  Erste  chronologische  Glockengiefser-Reihe,  im  Organ  fUr  christliche  Kunst 
1858  Nr.  13 — 21. 

(Smnvcter)  Essay  sur  le  symbolisme  de  la  doche.     Bayonne  1859. 

Billon,  Epigraphie  campanaire.    Paris  1860. 

Über  Glocken,  deren  Alter,  Form,  Inschriften  und  Schicksale,  besonders  in  Deutschland, 
in  der  Angsburger  Postzeitung  1861.     Beilage  zu  Nr.  40  u.  41. 

Glockeninschriften,   im  Anzeiger  für  die  Kunde   der   deutschen  Vorzeit,    8.   Bd.   (1861) 

S.  159.  304. 

Edel,  F.  W.,  Von  den  Glocken.     Strafsburg  1862. 

Endert,  van.  Ober  Glocken,  im  Organ  fUr  christliche  Kunst  1863  Nr.  7. 

Nene  Beiträge  zur  Glockenkunde,  ebd.  1866  Nr.  2. 

E.,  Die  Glocke   einer  Erfindung   des  christlichen  Nordens,   im   christlichen   Kunstblatt, 

herausgeg.  von  Grilneisen  etc.     1866,  Nr.  6  u.  7. 
Ders^  Glockeninschriften  als  Zeugen  kirchlichen  Glaubens.     Ebd.  Nr.  10 — 12. 
Sommer,  G.,  Zur  Glockenkunde,  im  Anzeiger  des  Germanischen  Museums  1867,  Nr.  9. 

Sp.  274—277. 
Stein,   A.  G.,   Fingerzeige   für  Kirchenvorstände   bei  Anschaffung   neuer  Glocken,   im 

Organ  fUr  christliche  Kunst,  1867,  Nr.  9  u.  10. 
Nordhoff,  J.  B.,  Ober  das  Leben  und  die  Arbeiten  des  V^olter  Westerhues,  Glocken* 

giefsers  in  Münster.     Ebd.  1868,  Nr.  4  u.  1869,  Nr.  2. 
Schafhäutl,  Ober  die  Töne  der  Glocken  und  die  Kunst  des  Glockengiefsers  überhaupt, 

im  Kunst-  u.  Gewerbeblatt  für  Bayern  1868. 
Zar  älteren  Glockenkunde,  im  Katholik.     Herausgeg.  von  Heinrich  und  Moufang.     1869. 

Heft  II  u.  12. 
C  0.,  Geschichtliche  und   artistische  Notizen  über  Glocken,   im  Organ   für   christliche 

Kunst,  187 1,  Nr.  11 — 13. 
Hg,  Alb.,   Theophilus  Presbyter,   schedula  diversarum   artium,   in  Quellenschriften   zur 

Kunstgeschichte  VIL     Wien  1874. 
Bantrazler,  G.,  Wert  der  Glockenkunde,   im  Kirchenschmuck  (Sekkau).     Graz    1872, 

Nr.  8—12;  1873,  Nr.   1—5. 
Cassel  P.,  Turm  und  Glocke.     Berlin  1877. 
Blavignac,  J.  Dan.,  La  cloche.     Etudes  sur  son  histoire  et  sur  les   rapports  avec  la 

sod6t6  aux  diff^rents  äges.     Gen^ve  1877. 
Lederle,  Die  Kirchenglocken,  ihre  Geschichte  etc.,  für  die  Pfarrämter,   Bauämter  etc. 

Karlsruhe,  Badenia. 
Pas  ig,  G.,  Glockeosagen.    Kottbus,  Gotthold-E^edition,   1880. 

17 


—     242     — 

Lascbin  v.  Ebengrentb,  A. ,    Münzen   als  Glockenzierrat ,    in   den    Mitteilungen    der 

k.  k.  Zentralkommission.     Nene  Folge.     1880.     6,  LXXlff. 
Colas,  Alph.,  Les  cloches  an  point  de  vne  s^colier.     Paris  1881. 
Die   Glocke   und   ihre   Bedeutung   in   der  kathol.    Kirche,    12   Kanzelvorträge.      3.   Aufi^ 

Donauwörth  1881. 
Boeckeler,   H.,   Beiträge   zur  Glockenkunde.     Mit  28   autogr.   Tafeln.     Aachen    1882. 
Hach,  Th. ,  Münzen  und  Denkmünzen  als  Glockenzierrat,  im  christlichen  Kunstblatt  1883. 

Nr.  I,  S.  9—14. 
Geiges,  F.,  Unsere  plocken,  im  „Schau  ins  Land"  (Zeitschr.  des  Breisgau- Vereins)  1883. 

X,  S.  3—9. 
Otte,  H.,  Handbuch  der  kirchl.  Kunstarchäologie,  5.  Aufl.,  I,  S.  352 — 359.    Leipzig  1883.. 
Ders.,  Glockenkunde,  2.  Aufl.     Leipzig  1884. 

N  o  rd  h  o  f  f,  Zur  Erzgiefserkunst,  in  den  Bonner  Jahrbüchern.  76.  Heft  (1883),  S.  1 76  bis  186.. 
Der  Glockengiefser   Dillmann  von   Hackenburg    145 1  — 1482,   in   den   Geschichtsblättem 

für  die  mittelrheinischen  Bistümer,     i.  Jahrg.,  4.  Heft,  1883/84. 
Hach,  Th.,  Die  Schiedglocke,  sowie  die  Trinitatis-   und  Fronlcichnamsglocke ,  in   der 

Zeitschr.  für  kirchl.  Wissenschaft  und  kirchl.  Leben,   1885.     XI,  592,  614. 
Schönermarck,   G.,  Die  Altersbestimmung  der  Glocken,  mit  3  Tafeln.     Berlin  1889. 
Sommer,    G.,    Über  das  T.  in  Glockeninschriften,   in   der  Zeitschr.    des    Harz -Vereins. 

XXm,  1890,  S.  492—497. 
Ruetschi  &  Co.,  Anfertigung  von  Kirchengeläuten  und   deren  Unterhalt.     Aarau   1890.. 
Otte,   H.,   Zur  Glockenkunde,    nachgelassenes   Bruchstück,   heransgeg.    von   der  Histor.^ 

Kommission  der  Provinz  Sachsen.     Halle  1891. 
Krause,  Tb.,  Bronze  oder  Gufsstahl?     Ein  Gutachten    über  Kirchenglocken,   im  Sonn- 
tagsblatt des  Reichsboten,  1892,  Nr.  45. 
Wachler,  K.,  Zur  Glockenkunde,  im  christlichen  Kunstblatt,  1892,  2. 
Steffens,  A.,  Kirchweihe  und  Glockensegnung  nach  dem  römischen  Pontifikale.  Essen  1893.. 
Meier,  Dr.,  Eine  merkwürdige  Glockeninschrift,  im  christlichen  Kunstblatt,  1894,  Nr.  4. 
Rein,  B.,  Anschauungstafel  für  den  Glockengufs  unter  besonderer  Berücksichtigung  von 

Schillers  Lied  von  der  Glocke.     Gotha  1894. 
Schnbart,  Alphabet-Glocken,  in  der  Monatsschrift  ftir  Gottesdienst  und  kirchliche  Kunst  II,  16. 
Hertel,  Über  die  Bemalnng  der  Glocken,  im  Westfälischen  Merkur.     1897,  ^r.  194. 
Appunn,    Über   die  Gefahr   des  2^rspringens   der    Glocken,    im    Centralblatt   der   Bau- 
verwaltung.    Berlin  1898.     S.  588. 
Nachrichten  über  Inschriften,  welche  in  Österreich  von  zersprungenen  und  umgegossenen 

Glocken  genommen  worden,  in  den  Mitteilungen  der  k.-k.  Zentralkommission  XVUI, 

S.  66;  XX,  S.   176;  XXI,  63  und  202- 
P.  Lehfeldt,    Über    den   Glockennamen    Susanna   in  der  Zeitschrift   des  Vereins   für 

Thüringische  Geschichte  und  Altertumskunde  XVII,  S.  664. 
W.  Schubart,  0  rex  gloriae,  ein  uraltes  Glockengebet.     Dessau  1898. 
Bergner,  H.,  Grundrifs  der  kirchlichen  Kunstaltertümer  (Göttingen  1900)  S.  261  ff. 
Effmann,  W, ,  Die  Glocken  der  Stadt  Freiburg  i.  d.  Schweiz.     Strafsburg  1899. 

Aufserdem  sind  zu  vergleichen  die  betreflFenden  Artikel  in  Enzyklopädieen  etc.,  be- 
sonders: Hallesche  Enzyklopädie  (Sekt.  I,  Bd.  70)  die  Artikel  Glocke  und  Glockengut 
von  C  Rcinwarth;  Prechtls  Enzyklopädie,  Bd.  7,  Art.  Glocke  von  K&rmarsch;^ 
Viollet  le  Duc,  Dictionnaire  de  l'architecture  fran^aise  Tom.   3. 


—     243     — 
II.  Landschaften  und  Orte  0. 

Aaehen.  Boeckeler,  H.,  Die  Mnttergottesglocke  der  Münsterkirche  in  Aachen.  Aachen 
1882.  —  Loersch,  H.,  Meister  nnd  Entstehangszeit  der  grofsea  Glocke  Ton 
St.  Peter  za  Aachen,  in  der  Zeitschrift  des  Aachener  Geschichtsvereins  1882. 
4,  318 — 333.  —  Die  Glockengiefserfamilie  ,|Ton  Trier*'  in  Aachen,  in  der  Zeitschr. 
des  Aachener  Geschichtsvereins,  6.  Bd.,  1884,  S.  239. 

All^Q.  Werner,  C,  Beiträge  zur  Glockenknnde  im  Allgäa,  im  Allgäuer  Geschichts- 
freund.    13.  Jahrg.     1900.     S.  145—154. 

Altenbnr^*  Lobe,  Beitrag  zu  den  Glockeninschriften,  in  den  Mitteilungen  der  Ge- 
schichtsforschenden  Gesellschaft  des  Osterlandes  Vn.  2.     Altenbnrg  1869. 

Anhalt.  Schab art,  F.  W.,  Die  Glocken  im  Herzogtun  Anhalt,  Dessau  1896.  Ders. : 
Askanische  Glocken  in  der  2^itschr.  des  Harzvereins  XXDC  (1896)  S.  1  —  24. 

Baselland*  Birmann,  Über  die  Glocken  von  Baselland,  in  den  Blättern  zur  Heimat- 
kunde von  ßaselland,  Liestal  1875. 

Bayern.  Die  Glockenkunde  in  Alt-Bayern,  in  der  Augsburger  Postzeitung  1858.  Nr.  65.  — 
G.  Kr  aus  s,  über  gufseiseme  Glocken  in  Oberbayern  im  Oberbayrischen  Archiv 
48.  Bd.  S.  522. 

Berlin.  Die  Glocken  der  Kaiser- Wilhelm-Gedächtnisldrche  in  Berlin,  im  „Daheim**  1895. 
Nr.  38.  —  Die  Glocken  für  die  Gnadenkircbe  in  Berlin,  ebd.   1895.     S.  480. 

Beim.     Nüscheler-Usteri,  Glockeninschriften  im  reformirten  Teile  des  Kantons  Bern, 
im  Archiv  des  historischen  Vereins  des  Kantons  Bern.  1882.  IX.  3.  —  G.  Studer 
Über   die   lateinische  Umschrift   der  Glocke   des  Dominikanerklosters   in    Bern,    im 
Archiv  des  histor.  Vereins  des  Kantons  Bern  V.  Bd.     1863.,   S.  373  ff. 

BVbmen.     Müller,  Prof.  Rud.,  Glockeninschriften  aus  Böhmen  gesammelt,  Reichenberg. 

Brandenbnrg  a*  H.  Wem  icke,  E.,  Beiträge  zur  Glockenkunde  aus  Brandenburg  a.  H., 
im  „Bär**,  1876  Nr.  20  u.  21. 

BraunsehwellT»  Voges,  Mittelalterliche  Glockeninschriften  aus  dem  Herzogtum  Brann- 
schweig, im  Anzeiger  des  Germanischen  Museums  1876  Nr.  7.  —  Der  Glocken- 
giefser  Gerhardt  de  Wou  aus  Kampen;  und:  Zur  Geschichte  der  Kirchenglocken  in 
ßraunschweig ,  im  Beiblatt  zur  Magdeburger  Zeitung  1889  Nr.  22  und  1890 
Nr.  21.  —  Voges,  Th.,  Niederländische  Glocken  in  Wolfenbüttel,  in  der  Zeit- 
schrift des  Harz -Vereins  XXV,  250.  1892.  —  H.  Pfeifer,  Kirchenglocken  im 
Herzogtum  Braunschweig,  Denkmalpflege  III,  113. 

Dänemark.  Nyrop,  C,  Om  Danmarks  Kirkeklokker  og  dere  Stöbere,  in  Kirke- 
historiske  Samlinger,  Bd.  IV,  157—302,  Kopenhagen  1882.    1883. 

Elsafe-Lothringen.  Straub,  A.,  Nachlese  zur  Glockenkunde  aus  dem  Elsais,  im 
Organ  fttr  christliche  Kunst.  1863.  Nr.  6.  —  Wernicke,  E.,  Lothringische  Glocken- 
giefser  in  Deutschland,  im  Jahrbuch  der  Gesellschaft  für  lothringische  Geschichte  und 
Altertumskunde  m,  40I  und  IV,  2.  —  de  Marsy,  Lothringische  Glockengiefser  in 
Holland  im  Journal  de  la  soci6t6  d'arch^ologie  lorraine.     Nancy  1886. 

£ngland.  North,  Th.,  The  church  bells  of  Bedfordshire:  Their  founders,  inscriptions, 
traditions  and  peculiar  uses  etc.  London  1883.  —  Lynam,  Ch. ,  the  church  bells 
of  the  connty  of  Stafford,  mit  136  Tafeln,  London  1889. 


i]  Die  Inventare  der  Bau-  und  Kunstdenkmäler  fiir  die  einzelnen  Länder  und  Pro- 
vinzen (vgl.  diese  2^itschrift  i.  Bd.  S.  270 — 290)  enthalten  natürlich  auch  viel  Material 
zur  Glockenkunde.     Vgl.  oben  S.  226  —  227. 

17* 


—     244     — 

Blfnrt«  Tettaa,  W.  J.  A.  t.,  Der  Meister  und  die  Kosten  des  Gusses  der  grofsen 
Domglocke  m  Erfurt.  1866.  —  Ders.,  NichtrÜge  hierzu,  im  Sonderabdruck  aus  den 
Mitteilungen  des  Vereins  fttr  die  Geschichte  und  Altertumskunde  von  Erfurt.  2,  1 29  ff. 
1868.  -*  Gleite,  K.  A.,  Geschichtliches  ttber  die  grofse  Glocke,  die  übrigen  Glocken 
des  Domes  und  einige  Glocken  der  Severikirche  zu  Erfurt;  desgl.  über  die  Stimmung 
und  Harmonie  dieser  Glocken.  Erfurt  1867.  36.  Aufl.  1892. 
FniBkroich.     Vallois,  les  doches  de  P6ronne  1865.  —  Deogny,  les  doches  du  pajrs 

de  Bray  I.  IL  1863.     1866. 
Frelb^rg  !•  8*     Glockengiefser  Martin  Hilger  zu  Anfang  des  XVI.  Jahrh.  in  den  Mitteilungen 
des  Vereins  für  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen.  30.  Jahrg.  (1892),  S.  128  u.  338. 
Freibnrf  \.  d.  Behwels.     Effmann,  W.,  Die  Glocken  der  Stadt  Freiburg  i.  d.  Schweiz, 

Strafsburg  1899. 
FriesUuid«     ▼.  Borssum-Waalkes,  G.  H.,   Friesche  Klokke-Opschriften   in   de  Voije 

Fries  XVI.  XVm.  XIX.     Leeuwarden  1885.     1892.     1895. 
Halbentadt«     Nebe,  G. ,   die  HalberstXdter  Glocken,   in  der  Zeitschrift  des  Harz-Ver« 
eins  1876.   XIX,  286.  •—  Otte,  H.,  Alte  Glocke  in  HalbersUdt  Ton  1251,  in  Zeit- 
schrift des  Harz-Vereins  1878.    XI,  401. 
Haaibmrg«     Hamburger  Glockengiefser,  in  Mitteil,  des  Vereins  für  Hamburger  Geschichte 

Bd.  U,  I.  2;  IV. 
HumoTdr«     Plath,  G.,  Vier  alte  Glocken  in  LiederstSdt,  in  der  Zeitschrift  des  Harz- 

Vereins  XXIV,  272.     1891. 
H6886n.     Schäfer,   Hessische  Glockeninschriften,   im  Archiv   für  hessische  Geschichte 

und  Altertumskunde«  XV,  S.  475—544.  1884. 
HUdetheiin«  Kratz,  M.,  Historische  Nachrichten  über  die  Glocken  im  Dom  zu  Hildes- 
heim, in  der  Zeitschrift  des  historischen  Vereins  für  Niedersachsen.  1865.  S.  357  ff. 
H<Mfll«  H.  G.  V.  Die  Glocken  von  Hom  in  der  Hunsrücker  Zeitung.  1902,  Biai  27. 
HOTBI«  Röder,  V.  v.,  Die  Kirchenglocken  zu  Hoym,  in  der  Zeitschrift  des  Harz -Ver- 
eins XXVn,  314.  1894. 
I^lun.     A«  Nowak,   Glocken   der   Iglauer   Pfarrkirche   in   den   Mitteilungen   der   k.   k. 

Zentralkommission  XX,  S.  139- 
KnÜB«     Hitzinger,   Zur  Geschichte   alter  Glocken  in  Krain,   in  den  Mitteilungen  des 

Historischen  Vereins  für  Krain.     Jahrg.  1862. 
Lübeck,     Hach,  Th.,   Beiträge  zur  Lübeckischen  Glockenkunde,  in  der  Zeitschrift  det 

Vereins  für  Lübeckische  Geschichte.     1872.     3,  593  ff. 
Mansfalder  Seekrels«     Grössler,  H.,  Glocken  des  Mansfdder  Seekreises,  in  der  Zdt* 

Schrift  des  Harz-Vereins  1878.     XI,  26—46.     Mit  3  Tafeln. 

Hark*     Niemöller,   Glocken  der  Grafschaft  Mark,   in   dem  Jahrbuch   des  Vereins  für 

die  evangelische  Kirchengeschichte  der  Grafschaft  Mark.    i.  Jahrg.    S.  27 — 62.    1899. 

HerMburg*     Otte,  H.,  Mittelalterliche  Glocken  im  Stift  Merseburg,   in  der  Zeitschrift 

für  christliche  Archäologie  und  Kunst,   herausgeg.  von  Ferd.  v.  Quast  und  H.  Otte, 

Bd.  L  1856.     S.  81—85;  Bd.  IL  i8s8.    S.  35—37. 

Mltt^lmaik«     Ledebur,  L.  v.,    Beiträge  zur  Glockenkunde   in  der  Mittelmark,    in  den 

Märkischen  Forschungen  Bd.  6.     S.  122  ff.     1858. 
Mtsieil«      Ledebur,   L.   v.,   Glocken    im   Fürstentum   Minden   und    in   der   Gralschaft 
Ravensberg,    in  seinem  Allgemeinen    Archiv    für    die    Gesdüchtskunde    des    Preuft. 
Staates  Bd.  VIIL     S.  7«  ff-     »S32. 
Hoflkm««     Montferrand,  Aug.  de.,   Description   of  the  great  l>dl  of  Moscou.     With 
appendix:  The  bells  of  the  cathedrale  church  of  St  Isaac  at  St  Petersburg. 


—     245     — 

HiMter.  Zehe,  B.,  Historische  Notizen  über  die  Glockcngiefserkunst  des  Mittelalters, 
groistenteiU  gesammelt  ans  den  Glockeninschriften  der  Diöcese  Münster.   Münster  1857. 

ICInber^.  Nürnberger  Glockengufs,  in  den  Mitteilungen  des  Vereins  für  Geschichte 
der  Stadt  Nürnberg.  5.  Heft  (1884),  S.  218^223;  7.  Heft  (1886),  S.  259-265; 
lo.  Heft  (1893),  S.  67. 

Osterland.     Vgl.  AUenburg. 

SefUMbarg.  Schnegraf,  Kurze  Geschichte  der  Erfindung  der  Glocken,  insbesondere 
geschichtliche  Nachrichten  über  die  ältesten  Glocken  und  Glockengicfscr  der  Stadt 
Regensburg,  in  den  Verhandlungen  des  historischen  Vereins  von  Oberpfalz  und 
Regensburg.     Bd.  IX  (N.  Folge  Bd.  I)  1845.  S.  294—308- 

Buft^ek.     W.  Effmann,   Die  Glocken  der  Marienkirche  zu  Rostock  in  der  Zeitschrift 

f^  christliche  Kunst  VII,  81. 

B^tteB^arg.  Buse,  C.  A.,  Zur  Glockcnkunde ,  im  katholischen  Kirchenblatt  fiir  die 
Diöcese  Rottenburg.  1866.  Nr.  31  f.  (vgl.  hierzu:  Pastoralblatt  dieser  Diöcese. 
1882.     Beüage  Nr.  i  f.) 

Saeksea,  Kgr,     Gurlitt,   Zur  Geschichte   der  Kirchcnglocken  im  Königreich  Sachsen 
im  35.  Jahresbericht  des  Vereins  ftlr  kirchliche  Kunst  1898,  14—19  "^^^  ^^  Neuen 
.Archiv  fUr  sächsische  Geschichte  und  Altertumskunde  1900,  S.  259. 

Sftdlfleil,  PrOTinx.  Eisenhardt,  H.,  Kirchenglocken  aus  gotischer  Zeit  aus  der  Um- 
gegend von  Magdeburg.  Zur  Glockenkunde  in  der  Provinz  Sachsen,  im  Beiblatt  zur 
Magdeburgischen  Zeitung  1889  Nr.  45.  46;  1891  Nr.  18.  —  Sommer,  G.,  Zur 
Glockenkunde  in  der  Provinz  Sachsen,  im  Beiblatt  der  Magdeb.  Zeitung  1889  Nr.  51. 

Saeksen-Meilliniren.  Bergner,  H.,  Die  Glocken  des  Herzogtums  S.-Mciningen,  Jena 
1899  (Separatabdruck  aus  den  Schriften  des  Vereins  für  S.-Mciningische  Geschichte 
und  Landeskunde  Heft  33). 

Sebweiz«  Tissot,  Ch.Eug.,  Les  vieilles  cloches  de  Valangin,  im  Mus^  Nenchatelois  1878. 
i^  97—108.  —  Brandstet ter,  Repertorium  über  die  in  Zeit-  und  Sammelschriften 
der  Jahre  1812 — 1890  enthaltenen  Aufsätze  schweizergeschichtlichen  Inhalts.  Basel  1893. 
S.  249.  Darin  sind  zu  finden:  v.  Szadrowski,  Glocken  der  Stadt  St.  Gallen.  — 
Nüscheler-Usteri,  Glocken  im  Kanton  Glarus,  Schafihausen,  Tessin,  Appenzell. 
Sulzb erger,  Die  Glocken  des  Kantons  Thurgau,  vgl.  auch:  Thurgauische  Beiträge 
zur  vaterländischen  Geschichte,  12.  Band  1875.  —  Aufserdem:  v.  Vantrey,  Glocken 
des  bemischen  Jura,  vgl.  auch  La  semaine  catholique,  Fribourg,  seit  1881. 

SiebealMIrsr^n»  Müller,  F.,  Zur  älteren  siebenbürgischen  Glockenkunde,  im  Archiv  des 
Vereins  für  siebenbürgische  Landeskunde.     Neue  Folge  IV.  2.     1860. 

SiMidal.  Wrede,  H.,  Berühmte  Glocken  in  Stendal,  im  Beiblatt  der  Magdeb.  Zeitung 
1889.  Nr.  19. 

Thlringen.  Bergner,  H.,  Zur  Glockenkunde  Thüringens,  Jena  1896.  —  H.  S.,  Die 
ältesten  Glocken  Thüringens,  im  Erfurter  Allgemeinen  Anzeiger  1903.  Nr.  60.  2. 
Beiblatt  —  Liebeskind,  P.,  Noch  einmal  die  „ältesten"  Glocken  Thüringens, 
ebd.  1903  im  Februar. 

Torarlberir.  S.  Jenny,  Glocken  in  Vorarlberg  in  den  Mitteilungen  der  k.  k.  Zentral- 
kommission XXI,  139  u.  230. 

Wcraigerode,  Jacobs,  Ed.,  Alte  Glocken  der  Grafschaft  Wernigerode,  im  christ- 
lichen Kunstblatt  1869,  Nr.  9  (vgl.  auch  Zeitschrift  des  Harz-Vereins  1869.     i,  39). 

Wirttenberg,  KUnzinger,  C,  Zur  Glockenkunde  in  Württemberg,  in  den  Württem- 
bergischen Jahrbüchern  1857.     Heft  2. 


—     246     — 


Mitteilungen 

YersammlllDgen»  —  Qeicbzeitig  mit  dem  Historikertag  fand  unter  dem 
Vorsitz  von  Professor  Lamprecht  (Leipzig)  am  15.  und  16.  April  die  fünfte 
Konferenz  von  Vertretern  deutscher  Publikationsinstitute 
in  Heidelberg  statt.  ^)  Zwei  Sitzungen  wurden  abgehalten  und  darin,  ab- 
gesehen von  einigen  organisatorischen  Fragen,  historisch-geographische 
Probleme  erörtert.  Um  einen  Überblick  über  das  auf  diesem  Gebiete  in 
den  verschiedenen  Landesteilen  bisher  Geleistete  zu  gewinnen,  war  eine  Aus- 
stellung von  Arbeitskarten  und  fertigen  Karten  veranstaltet  worden,  die  das 
von  den  verschiedenen  Bearbeitern  eingeschlagene  Arbeitsverfahren  erläutern 
sollten  und  in  der  Tat  in  dieser  Richtung  Belehrung  und  Anregung  zu  geb^n 
geeignet  waren.  Kartenmaterial  hatten  vorgelegt:  i.  Die  Gesellschaft  fiir 
Rheinische  Geschichtskunde;  2.  die  Historische  Kommission  für  die  Provinz 
Sachsen  und  Anhalt;  3.  die  Kommission  zur  Bearbeitung  eines  historischen 
Atlasses  der  österreichischen  Alpenländer;  4.  die  Kgl.  Sächsische  Kommission  für 
Geschichte;  5.  dasWürttembergische  Statistische  Landesamt;  ö.Prof.Dr.Lorentzen 
(Oberrealschule  Heidelberg)  von  ihm  für  pädagogische  Zwecke  entworfene 
Karten.  Die  Leipziger  Zentralstelle  für  Grundkarten  hatte  ein  vollständiges 
Exemplar  der  erschienenen  Grundkarten  Deutschlands  tmd  Hollands  ausgestellt. 

Einleitend  bemerkte  Prof.  Lamprecht,  dafs  die  Herstellung  der  Grund- 
kalten  jetzt  im  wesentlichen  überall  gesichert,  ihr  Charakter  als  Arbeits- 
karten vielseitig  aneriiannt  und  die  Frage  nach  dem  geschichtlichen  Wert  der 
Gemarkungsgrenzen  in  Klärung  begriffen,  die  Zentralstelle  für  Grundkarten 
in  Leipzig  in  Tätigkeit  getreten  *)  und  dafs  es  bei  dem  gegenwärtigen 
Stand  der  Forschung  die  wichtigste  Aufgabe  sei,  die  hier  und  dort  gemachte 
Erfahrungen  praktisch- technischer  sowohl  als  wissenschaftlicher  Natur  aus- 
zutauschen, um  sich  gegenseitig  zu  fördern  und  dort,  wo  man  etwa  die 
Arbeit  neu  in  Angriff  nähme,  nicht  erst  lange  experimentieren  zu  müssen. 
Zudem  seien  die  Arbeiten  teuer,  sodafs  sich  durch  rechtzeitige  Berichtigung  der 
FragesteUung  grofse  Summen  ersparen  lassen.  Das  jetzt  immer  stärker  auf- 
tretende wissenschaftliche  Problem  sei  die  Darstellung  der  Fläche  in  einem 
bestimmten  geschichtlichen  Zustand,  während  bisher  immer  wesentlich  die 
Linien  d.  h.  in  diesem  Falle  die  Gebietsgrenzen  aDein  zur  Darstellung  ge- 
langt sind.  Und  zweitens  komme  es  darauf  an,  die  hier  und  dort  fest- 
gestellten Forschungsergebnisse  nach  Möglichkeit  so  zu  gestalten,  dafs  sie 
unter  sich  x-erglcichbar  werden. 

In  die  materielle  Ervirtemng  eintretend  berichtete  zunächst  Archivdirektor 
Prof.  Hansen  ^Köln^  über  die  «eitlich  am  weitesten  zurückreichenden  histo- 
risch-geographischen Arbeiten  in  der  Rheinpro^nnx,  als  deren  Frucht  bis  jetzt 
4  Karten  des  (^rÄ^^^'»^*K*V^••l  JfAucjsrcf  i^  /iV#/ir-^.^rtn^  (Bonn,  Behrend,  1894  ff.) 
erschienen  sind,  nämlich  i,  die  Rheinj^rvMin*  unrer  französisciier  Herrschaft 
1813  (Konstantin  Sohultris,  i  :  5000VX*,  *4  4.50^;    2.  die  politische   xmd 

i\  CSer  die  xk-rte  Kv^ahrrwu  yltWlK  l^oo^  >i|ct  lV«;»cfec  GesdbcktsbL  i,  B<L,  S.  201 
Ins  «05. 

a^  Yjt  <i*r*b<T  dw»  \«ii*u  ron  Kc»ti»cl»i.e  ua  Kc^rres^pocdgiubUtt  des  Gesamt* 
^ercutt  d<T  devt^Wo  G^^^-yaciiU-  »»d  Aheft«is»t*re«>«k     t«»a^  Nr.  7  &. 


—     247     — 

• 

administrative  Einteilung  der  heutigen  Rheinprovinz  1789  (Wilhelm  Fabricius, 
7  Blätter,  i  :  160000  und  Übersicht  der  Staatsgebiete,  i  :  500000,  Ji  34.50) ; 
3.  Übersicht  der  Kreiseinteilung  der  Rheinprovinz  1789  (W.  Fabricius, 
1:500000,  M^  4.  50);  4.  die  Rheinprovinz  unter  preufsischer  Verwaltung 
18 18  (Konstantin  Schulteis,  i  :  500000,  jH  4.  50).  Femer  sind  Erläute- 
ftmgen  zum  Geschichtlichen  Atlas  der  Rheinprovinz  erschienen,  von  denen 
der  erste  Band  die  Karten  von  18 13  und  18 18  {Ji  4.50),  der  zweite 
{JH  18)  die  von  1789  behandelt  Mit  dem  dritten  Bande,  W.  Fabricius: 
Das  Hochgericht  Rhaunen  [Ji  4.  80)  beginnen  typische  Spezialuntersuchungen, 
die  notwendig  sind,  um  bei  dem  Zurückgehen  über  1789  klarere  Einsicht 
in  die  Verhältnisse  zu  gewinnen.  Als  4.  Band  ist  eine  in  diesem  Sinne  aus- 
geführte Arbeit  über  das  Gebiet  der  vormaligen  Reichsabtei  Prüm  von  Archivar 
a.  D.  Forst  (Zürich)  ganz  kürzlich  erschienen,  während  eine  andere  von 
Archivar  Knipping  (Düsseldorf)  über  das  Amt  Rheinberg  in  Vorbereitung 
ist  Abgeschlossen  ist  ferner  die  Darstellung  der  Kirchenkarte  der  Rhein- 
provinz nach  der  Reformation  (imi  16 10)  in  4  Blättern,  von  denen  drei 
schon  gedruckt  sind. 

Im  einzelnen  berichteten  über  ihre  Forschungen  Wilhelm  Fabricius, 
Archivar  Forst  imd  Archivar  Knipping  persönlich.  Ersterer  führte  aus: 
Die  bbher  im  Rheinland  befolgte  Arbeitsmethode  ging  von  dem  Grundsatze 
aus,  dafs  die  jetzigen  Gemarkungsgrenzen  bei  der  Konstruktion  alter  Grenzen 
für  Territorien,  Ämter,  Gerichte,  Diözesen,  Dekanate,  Kirchspiele  zu  Grunde 
zu  legen  sind ,  soweit  nicht  etwa  gute  alte  Karten ,  die  auf  wirklicher  geo- 
metrischer Aufiaahme  beruhen,  oder  Grenzbeschreibungen  ein  besseres  Hilfs- 
mittel bieten.  Es  wurde  also  aus  den  Amtsbeschreibungen,  Rechnungen, 
Ortsverzeichnissen  imd  sonstigen  Akten  der  Umfang  und  Bestand  eines  jeden 
Bezirks  festgestellt,  die  Enklaven  imd  Exklaven  ermittelt  imd  für  jede  Ortschaft 
ein  2^ttel  angelegt,  auf  dem  die  festgestellten  Punkte  nach  Rubriken  ein- 
getragen wurden.  Alte  Karten  wurden  kopiert  und  die  Grenzen,  die  sich 
dort  fanden,  in  Mefstischblätter  und  andere  Karten  mit  Gemarkungsgrenzen, 
die  z.T.  erst  aus  den  etwa  1800 — 1830  bearbeiteten  Gemeindeübersichtskarten 
eingetragen  wurden,  eingezeichnet.  Wo  diese  Grenzen  nicht  ausreichten,  sind 
die  Flurgrenzen  des  jetzigen  Katasters  eingetreten,  die  aber  nicht  immer  auf  alter 
Grundlage  beruhen,  sondern  sogar  meist  aus  Bedürfnissen  der  Katasteraufnahme 
hervorgegangen  smd.  Dies  stellte  sich  jedoch  erst  heraus,  als  ich  nach  Fertig- 
stellung der  jetzt  erschienenen  Karten  zu  der  systematischen  Bearbeitung  der 
alten  Grenzbeschreibungen  überging.  Die  sich  ergebenden  Spezialkarten  auf 
Pauspapier  wurden  dann  von  einem  Zeichner  auf  den  Mafsstab  und  die 
Blattgröfse  der  zu  druckenden  Karten  reduziert  und  dann  lithographiert.  Seit 
mir  Grundkarten  zur  Verfügung  stehen,  zeichne  ich  die  Vorlagen  für  den 
Lithographen  selbst  in  diese  ein.  Die  Reduktion  und  Zusammensetzung  der 
Xartenblätter  besorgt  die  lithographische  Anstalt;  für  den  Farbendruck  lasse 
ich,  wenn  die  Situation  und  Grenzen  fertig  sind,  auf  einen  Abdruck  davon 
unter  meiner  Aufsicht  eine  Vorlage  herstellen.  —  Bei  der  Bearbeitung  von 
mittelalterlichen  Karten  sind  alte  Karten  nicht  mehr  zu  benutzen ;  es  müssen 
dafür  die  Grenzbeschreibimgen  ausgebeutet  werden,  deren  systematische  Durch- 
arbeitung aber  ohne  die  Benutzung  der  Flurkarten  des  Katasters  unmöglich  ist 
Das  Quellenmaterial,  das  neben  den  Grenzbegehungsprotokollen  in  Frage  kommt. 


—     248     — 

Urbare,  Zins-  und  Lehenbücher,  Urkunden  u.  s.  w.  ist  aber  so  reich,  dafs 
dessen  Sammlung  und  Durcharbeitung  nur  möglich  ist,  wenn  man  dabei 
kleinere  Gebiete  (Grafschaften,  Ämter,  Landgerichte)  berücksichtigt;  die  Auf- 
gabe ist  überhaupt  nur  auf  dem  Wege  monographischer  Bearbeitung  solcher 
Landesteile  zu  lösen.  —  Die  jetzt  übliche  Einteilimg  der  Gemarkung  beruht 
wenigstens  zum  grofsen  Teil  auf  geschichtlicher  Grundlage,  die  heutigen  Ge- 
markungsgrenzen decken  sich  in  sehr  vielen  Fällen  mit  alten  Grenzen.  Da 
aber  nicht  von  vornherein  zu  sagen  ist,  wo  Veränderungen  eingetreten  sind, 
mufs  die  Übereinstimmung  oder  Abweichung  von  Fall  zu  Fall  festgestellt 
werden.  Das  Material  dafür  in  den  Akten  ist  reichhaltig,  aber  nur  in  be- 
sonderen Arbeiten  über  diese  Fragen  für  die  verschiedenen  Gegenden  kann 
es  ganz  ausgebeutet  werden,  ebenso  wie  das  Schicksal  von  Wüstungen,  Forsten 
und  gemeinen  Marken,  von  selbständigen  Einzelhöfen  und  Wildhufen  in  bezug 
auf  ihre  Eingemeindung  aktenmäfsiger  Aufklärung  bedarf. 

Forst  hat  bei  seiner  Untersuchimg  des  Territoriums  der  Abtei  Prüm 
gefunden,  dafs  sich  die  Grenzen  der  lokalen  Gerichts-  und  Verwaltungsbezirke  — 
hier  Höfe  oder  Schultheifsereien  genannt  —  für  das  XVL  Jahrhundert  genau 
bestimmen  lassen  und  Rückschlüsse  auf  die  frühere  Zeit  bis  ins  X.  Jahr- 
hundert gestatten;  sogar  die  Grenze  eines  im  Jahre  8i6  der  Abtei  zu- 
gesprochenen Bannforstes  ist  noch  genau  festzustellen,  da  sie  mit  den  Hilfs- 
grenzen des  XVL  Jahrhunderts  zusammenföUt.  Die  Hilfsgrenzen  decken  sich 
meist,  jedoch  nicht  immer,  mit  den  heutigen  Gemeindegrenzen  oder,  wenn 
ein  Hofbezirk  mehrere  Ortschaften  umfafste,  mit  den  entsprechenden  Teil- 
strecken der  heutigen  Ortsgrenzen.  Wo  sich  Abweichungen  finden,  lälst  sich 
meist  auch  die  Ursache  dieser  ermitteln.  Bei  den  Hofbezirken,  die  mehrere 
Ortschaften  umfafsten,  war  es  nicht  möglich,  die  Grenzen  der  einzelnen  Orte 
innerhalb  des  Hofbezirks  genau  festzustellen.  Es  hat  vielmehr  den  Anschein, 
als  ob  die  Wälder  und  ödländereien  noch  im  XVIII.  Jahrhundert  Gemeingut 
der  im  Hofbezirk  vereinten  Orte  gewesen  und  erst  unter  französischer 
Herrschaft  aufgeteilt  worden  seien,  als  man  die  alten  Hof  bezirke  auflöste 
imd  die  Einzelgemeinde  zur  Grtmdlage  der  Verwaltung  machte.  Die  in  den 
Grenzbeschreibungen  der  Höfe  genannten  Ortlichkeiten  liefsen  sich  zum  gröfsten 
Teile  mit  Hilfe  der  Flurkarten  und  der  Mefstischblätter  ermitteln  und  in  die 
Grundkarten  eintragen;  die  Mefstischblätter  selbst  bieten  zu  wenig  Raum  für 
diese  Eintragungen,  und  aufserdem  treten  darauf  die  Grenzen  der  Einzel- 
gemeinden nicht  genügend  gegenüber  den  Grenzen  der  modernen  Verwaltungs- 
bezirke (Landbürgermeistereien)  hervor.  Die  Flurkarten,  auf  denen  man  die 
Namen  der  einzelnen  Flurteile  findet,  können  nur  auf  den  Katasterärotem 
selbst  benützt  werden,  aber  Übersichtskarten  einzelner  Gemeinden  des  Regienmgs- 
bezirks  Koblenz  sind  bei  der  Regierung  käuflich;  sie  sind  grofs  genug,  um 
darauf  die  Namen  der  Flurteile  einzutragen,  und  es  würde  sich  empfehlen, 
eine  Sammlung  dieser  Übersichtskarten  anzulegen. 

Knipping  betonte,  dals  bei  der  Bearbeitung  politischer  Karten,  auf 
die  es  ftir  die  nächste  Zukunft  im  Rheinland  allein  ankommen  kann,  eine 
Änderung  der  Arbeitsmethode  eintreten  müsse,  denn  bei  den  von  ihm  und 
Archivar  Redlich  (Düsseldorf)  ausgeftihrten  Einzeluntersuchungen  habe  sich 
gezeigt,  dafs  das  Aktenmaterial  so  umfangreich,  der  wirklich  kartographisch 
verwendbare  Stoff  aber  so  gering  imd  lückenhaft  sei,  dafs  man  an  eine  Prüfung 


—     249     — 

der  Stabilität .  der  Gemarkungs-,  Gerichts-,  Amts-  und  Territorialgrenzen,  wie 
bisher  geschehen,  gar  nicht  denken  könne.  Deshalb  seien  künftig  nur  die 
äu&eren  Territorialgrenzen  kritisch  rückwärts  zu  verfolgen,  die  inneren  Grenzen 
müsse  man  jedoch  aus  der  Karte  von  1789  herübemehmen  und  ihre  Stabilität 
voraussetzen,  obwohl  sich  oft  bei  der  Arbeit  Verschiebungen  ergeben  hätten. 
Dort,  wo  Mefstischblätter  vorliegen,  die  ja  die  Gemarkungsgrenzen  enthalten,. 
seien  die  Grundkarten  überflüssig. 

An  zweiter  Stelle  erstattete  als  Erläuterung  zu  der  von  der  Histori- 
schen Kommission  für  die  Provinz  Sachsen  veranstalteten  Aus- 
stellung Dr.  Kötzschke  (Leipzig)  Bericht  an  Stelle  des  erkrankten  Vertreters 
der  Kommission,  Oberbürgermeisters  Dr.  Brecht  (Quedlinburg),  dem  vor 
allem  die  Anregung  imd  Förderung  der  vorgelegten  Arbeiten  historisch-karto- 
graphischer Art  zu  danken  ist.  Die  provinziabächsische  Kommission  hat  die 
historisch-geographischen  Probleme  von  seiten  der  Besiedelungsgeschichte 
angeüafst  imd  ist  so  auf  das  für  die  Fluren  vorhandene  und  historisch  ver- 
wertbare Quellenmaterial  zurückgegangen.  Die  Aufgabe ,  die.  man  sich  zu- 
nächst stellte,  ist  die,  nach  einem  neuen  und  gründlichen  Verfahren  die  Flur- 
namen und  die  Wüstungen  möglichst  umfassend  zu  ermitteln  imd  kartogra- 
phisch genau  zu  fixieren.  Aus  den  Separationskarten  und  anderem  Material 
werden  die  historisch  belangreichen  Gregenstände  (frühere  und  jetzige  Ge- 
meindegrenzen, sämtliche  Namen,  die  Landgräben  und  Landwehren,  Wüst- 
ungen u.  s.  w.)  in  die  Mefstischblätter  des  Generalstabs  in  i  125  000  über- 
tragen. Femer  wird  für  ein  jedes  Mefstischblatt  ein  Wüstimgsbuch  herge- 
stdlt,  in  dem  die  auf  das  Gebiet  jenes  Blattes  bezüglichen  Pausen  solcher 
Fhuteile  der  Separationskarten,  wo  Wüstungen  nachweisbar  sind  oder  ver- 
mutet werden,  sich  gesammelt  finden.  Ebenso  wird  für  jedes  Mefstischblatt 
ein  Feld¥rannenbuch  angelegt,  in  dem  die  zu  den  betr.  Ortschaften  ge- 
hörigen Namen  von  Feldwannen  verzeichnet  werden.  Ist  so  ein  reiches 
handschriftliches  Material  als  Grundlage  für  mannigfache  historisch-topo- 
gr^hische  Studien  beschafft  worden,  so  hat  die  Kommission  auch  einige 
Karten  im  Druck  veröffientlicht :  für  den  Nordthüringgau  ist  als  Beigabe  zu 
einer  urkimdlich-quellenmäfsigen  Publikation  (herausgeg.  von  Hertel)  über 
die  Wüstungen  eine  Wüstimgskarte ,  von  G.  Reischel  im  Mafsstabe  der 
Gcneraktabskarten  i  :  100  000  gezeichnet,  veröffientlicht  worden  (mit  Höhen- 
scbichten);  ebenso  erscheint  jetzt  eine  zweite  für  die  Kreise  Duderstadt,  Worbis, 
Heiligenstadt  und  Mühlhausen  (auch  mit  Einzeichnung  von  Strafsen);  da- 
neben sind  geschichtliche  Karten  herausgegeben  worden,  die  aufserdem  Ein- 
tragungen betreffs  des  Baustils  der  Kirchen  (durch  farbige  Unterstreichung  der 
Ortsnamen)  enthalten;  so  baugeschichtliche  und  Wüstungskarten  für  die 
Kreise  Ziegenrück  und  Schleusingen. 

An  diitter  Stelle  folgte  die  Besprechung  des  zum  Behufe  eines  histo- 
rischen Atlasses  der  österreichischen  Alpenländer  gesammelten 
und  ausgestellten  Materials.  In  Abwesenheit  des  Leiters  jenes  Unternehmens, 
Prof,  Richter  (Graz),  wiederholte  Prof.  v.  Zwiedineck-Südenhorst  an  seiner 
Stelle  dasjenige,  was  Richter  selbst  in  dieser  Zeitschrift  zu  diesem  Zwecke 
mitgeteilt  hat  ').    Lediglich  im  Punkte  des  für  die  Alpenverhältnisse  nicht  ver- 

1)  Vgl.  oben  Heft  6/7,  S.  145—150.  Jeder  Teilnehmer  an  der  Versammlung  deutscher 


— •    250     — 

wendbaren  Begriffs  der  „Gemarkungsgrenze",  der  Gegenden  mit  Dorf- 
siedelung  entnommen  ist,  wurden  einige  Erörterungen  angestellt:  in grofsen Teilen 
■der  Rheinprovinz  z.  B.  kann  als  Gemarkung  nur  das  Gebiet  einer  „Honnschaft"  in 
Frage  kommen,  deren  5  und  mehr  oft  eine  „Gemeinde"  bilden,  und  in 
den  Alpenländem  entspricht  der  „Gemarkung"  das  zu  einem  Einzelhof  ge- 
hörige Gebiet  oder  die  oft  noch  erkennbaren  Unterabteilungen  der  den  mo- 
dernen Steuergemeinden  am  nächsten  verwandten,  vor  den  Josefinischen  Re- 
formen bestehenden  Gemeinden.  (VgL  Armin  Tille,  Die  bäuerliche  Wirt- 
sckaßsverfassung  des  Vintschgaues  [Innsbruck  1895]  besonders  Kap.  10: 
Die  Gemeindebildung  S.  242 — 264.) 

Als  vierter  Berichterstatter  erklärte  Archivdirektor  Stalin  (Stuttgart)  zu- 
nächst die  Karte  der  Herrschaftsgebiete,  die  das  heutige  Württemberg  im 
Jahre  1801  ausmachten,  imMafsstabe  i  :  260000.  In  Verbindung  mit  Topograph 
Bechtle  hat  Redner  sie  selbst  1896  im  Auftrage  des  Kgl.  wtirttembergischen 
statistischen  Landesamts  im  Anschlufs  an  eine  ältere  Karte  seines  Vaters  her- 
ausgegeben. Diese  Karte  ist  an  der  Hand  des  einschlägigen  Aktenmaterials 
auf  Grund  von  Gemarkungskarten  aufgebaut  —  stellt  also  insofern 
die  Verwirklichung  eines  Ideals  historisch-geographischer  Arbeit  dar  —  und 
enthält  ztmächst  nur  die  Namen  der  einzelnen  Gemeinden  mit  ihren  Grenzen. 
Wenn  einzelne  Parzellen  von  Gemeinden  jedoch  zur  genannten  Zeit  anderen 
Herrschaften  zustanden  als  die  ftir  den  jetzigen  Gesamtgemeindenamen  mafs- 
gebende  örtlichkeit,  so  sind  auch  diese  Parzellen  mit  der  ftir  die  betreffende 
Herrschaft  gewählten  Farbe  bezeichnet.  Ein  erklärender  Text  (28  S.)  ist 
dieser  Karte  beigegeben.  Zweitens  besprach  Stalin  die  gleichfalls  vom  statisti- 
schen Landesamt  herausgegebene  Gemarkungskarte  des  Königreichs  — 
dort  „Markungskarte"  genannt  —  im  Mafsstabe  i  :  350000,  in  der  nach  den 
Angaben  des  Oberstudienrates  Hartmann  einzelne  Verhältnisse,  die  für  die 
Landesbesiedelung  von  Interesse  sind  (Orte  mit  vorrömischen  und  alemannisch- 
fränkischen Altertümern,  Orte  auf  —  ingen.  Orte  mit  fränkischen  Kirchen- 
heiligen, vor  1000  genannte  Orte  u.  s.  w.),  mit  Farbe  bezeichnet  worden 
sind.  Im  Anschlufs  an  die  Denkschrift  von  Beschomer  *)  weist  Stalin  noch 
darauf  hin ,  dafs  für  Württemberg  15572  sogen.  Rurkaxten  im  Maisstabe 
I  :  2500  existieren,  in  die  auch  die  Namen  der  einzelnen  Fluren  und  Wüstungen 
eingezeichnet  sind,  und  von  denen  Abdrücke  einzeln  käuflich  erworben  werden 
können;  der  Preis  beträgt  bei  amtlicher  Benutzung  ^  o.  30,  für  Privatkäufer 
J^  o.  90,  zu  beziehen  sind  sie  vom  Katasterbureau  in  Stut^art  Auf  Grund 
dieser  Flurkarten  ist  ein  Zettelkatalog  der  württembergischen  Flur-  und  Wüstungs- 
namen angelegt  worden,  der  beim  statistischen  Landesamt  aufbewahrt  wird.  Sehr 
viel  einschlägiges  Material  enthalten  auch  die  64  teilweise  in  zweiter  Auflage 
erschienenen  Beschreibungen  der  einzelnen  württembergischen  Oberämter  '). 

Ebenfalls  Dr.  Kötzschke  (Leipzig)  berichtete  zuletzt  über  die  noch 
in  dem   ersten  Vorbereitungsstadium  befindlichen  Unternehmungen  der  Kgl. 


Historiker  hat  dieses  Heft  als  Geschenk   erhalten;   die  Orientienmg   des   einzelnen    über 
<i»s  Verfahren  in  Österreich  war  demnach  wesentlich  erleichtert. 

1)  Vgl  oben  S.  1S6/S7.  Dort  ist  insofern  ein  Irrtum  untergelaufen,  als  angenommen 
worden  ist,  Beschomer  wolle  ein  sächsisches  Ortsveneichnis  selbst  bearbeiten,  dies  ist 
aber  nirgends  aasgesprochen 

2)  VgL  darüber  Deutsche  G«schichtsbL  3.  Bd.,  S.  9S. 


—     251     — 

Sächsischen  Kommission  für  Geschichte.  Er  gab  zunächst  einen 
Überblick  über  die  älteren  Hauptwerke  der  Kartographie  Kursachsens,  um 
den  QueHenbefund  für  die  jetzt  zu  schaffenden  Arbeiten  nach  dieser  Seite 
bin  zu  charakterisieren;  dabei  ging  er  besonders  ausfuhrlich  auf  die  eigen- 
artige und  als  Quelle  höchst  wertvolle  Landesaufnahme  aus  der  Zeit  Kurfürst 
Augusts  und  seiner  Nachfolger  ein  (um  1600;  M.  Oeder  und  B.  Zimmer- 
mann). £r  schilderte  sodann,  wie  sich  die  Stellung  historisch-geographischer 
Probleme  innerhalb  der  sächsischen  Geschichtskommission  ')  entwickelt  hat : 
zunächst  Schaffung  einer  für  die  verschiedenartigen  Aufgaben  historisch-karto- 
grs^hischer  Art  brauchbaren  zeichnerischen  Grundlage  in  den  Grundkarten, 
zugleich  Plan  eines  Flurkartenatias ,  der  die  wichtigsten  Flurtypen  mit  agrar- 
geschichtlichen  Erläuterungen  vorführen  sollte;  daran  schlofs  sich  der  Plan 
einer  Behandlung  der  Grenzen  des  Kurstaats,  der  sofort  zu  der  Aufgabe 
einer  Ermittelung  der  Amts-  und  Gerichtsbezirke  führte ;  weiterhin  aber  stellte 
sich  das  Bedürfnis  eines  historischen  Ortsverzeichnisses  ein,  imd  dabei  wieder 
traten  als  nächste  wichtige  Aufgaben  die  Sammlung  der  Flurnamen  lind  die 
Wüstungsforschung  heraus;  auch  die  Bearbeitung  der  Ämter  in  Wort  und 
Kartenbild  erweist  sich  ohne  die  des  Ortsverzeichnisses  als  undurchführbar 
oder  doch  höchst  unpraktisch.  Die  Kommission  ist  so  aus  den  allmählich 
gewonnenen  Erfahrungen  heraus  dazu  gekommen,  an  erster  Stelle  das  für  die 
Fluren  des  Landes  vorhandene  Material  möglichst  gründlich  imd  vielseitig 
verarbeiten  zu  lassen  und  hat  auf  Vorschlag  Prof.  Lamprechts  beschlossen, 
zunächst  versuchsweise  für  mehrere  Amtshauptmannschaften  in  der  Umgegend 
von  Dresden  und  Leipzig  die  aus  der  Zeit  vor  den  Zusammenlegungen 
(1835  ff.)  vorhandenen  älteren  Flurkrokis  'für  ihre  Zwecke  reproduzieren 
zu  lassen;  in  diese  Karten  soll  dann  der  für  historische  Zwecke  in 
Betracht  konamende  Stoff  eingetragen  werden;  die  von  der  Kommission 
als  notwendig  erkannte  Methode  ist  also  die,  ihre  sowohl  den  politisch- 
historischen, wie  auch  kulturgeschichtlichen  Problemen  dienende  karto- 
graphische Arbeit  auf  den  kleinsten  hierfür  in  Betracht  kommenden  Boden- 
abschnitten, den  Ortsfluren,  aufzubauen.  —  Ausgelegt  waren  zur  Ver- 
anschaulichung dieser  Erfahrungen  imd  Pläne  aufiser  Beispielen  der  Karte 
um  1600  einige  die  Verwertung  von  Grundkarten  zeigende  Karten,  Versuche 
der  Amterdarstellung  imd  die  Anfange  der  Flurkartenreproduktion. 

Aus  allen  fünf  eingehenden  und  durch  die  vorgelegten  Karten  imd  Texte 
eriäuterten  Berichten  ergibt  sich  bei  aller  Verschiedenheit  der  Arbeits- 
weise und  der  Aufgaben  die  Notwendigkeit,  auf  die  Einheiten  der  Be- 
siedelung  zurückzugehen  und  aus  diesen  von  unten  herauf  Entstehung 
bezw.  Zusammensetzung  der  gröfseren  Komplexe  darzustellen.  Die  Einheiten 
sind  die  Gemarkungen  bezw.  die  zu  Einzelhöfen  gehörigen  Flurbezirke. 
Zwar  haben  diese  manche  Veränderungen  erfahren  —  namentlich  in  Gegenden, 
wo  sich  zahheiche  Wüstungen  finden  — ,  und  diese  müssen  in  jedem  ein- 
zelnen Falle,  wo  sie  urkundlich  belegt  sind,  von  der  Forschung  berücksichtigt 
werden;  wo  aber  urkundliche  Belege  fehlen,  ist  die  Geltung  des  heutigen 
Verlaufs  subsidiär  anzunehmend  Als  Arbeitsgrundsatz  ergibt  sich  daraus 
neben  dem  schon  seit  langem  anerkannten,   dafs  rückläufig  von  der  Gegen- 


i)  Vgl.  oben  s.  223. 


~     252     — 

wart  aus  gearbeitet  werden  muls,  der  zweite:  eine  Sammlung  des 
Urmaterials,  der  Flurkarten  aus  der  Zeit  vor  der  Separation, 
mufs  den  Ausgangspunkt  der  Forschung  bilden.  Wird  die  ein- 
zelne Flur  in  dieser  Weise  untersucht  und  in  emem  Textbuch  alles  Zu- 
gehörige eingetragen,  so  wird  zugleich  die  Geschichte  der  Flurverfassung 
und  die  Feststellung  der  Flurtypen  sehr  erleichtert,  ebenso  die  Erforschung 
der  Flurnamen,  aber  zugleich  wird  —  und  das  ist  das  wichtigste  —  eine 
dauernde  Grundlage  geschaffen  für  den  Betrieb  der  geschichtlichen 
Geographie  als  Wissenschaft 


Die  praktisch  zunächst  zu  erstrebenden  Ziele  begründete  Dr.  Kötzschke 
(Leipzig)  in  der  zweiten  Sitzung  in  seinem  Antrag: 

„Die  Konferenz  deutscher  Publikationsinstitute  wolle  beschliefsen,  eine 
Denkschrift  ausarbeiten  zu  lassen,  in  der  untersucht  wird,  inwieweit  bei 
der  künftigen  Bearbeitung  für  den  Druck  bestimmter,  historischer  Karten- 
werke grofsen  Mafsstabes  in  Deutschland  einheitliche  Grundsätze  beobachtet 
werden  können." 

Die  Kernpunkte   seiner  Auseinandersetzung   hatte   er  bereits   den   Teil- 
nehmern durch  den  Druck  zugänglich  gemacht,  sodafs  er  sich  im  wesentlichen 
auf  eine  Erläuterung  seiner  „  Begründung "  beschränken  konnte.    Diese  lautet : 
Die    derzeitige    Lage    der    historischen    Kartographie    im    deutschen 
Reichsgebiet  ist  dadurch  gekennzeichnet,  dafs,  mit  einziger  Ausnahme  der 
Rheinprovinz,    Veröffentlichungen,    die  den  gesteigerten  wissenschaftlichen 
Ansprüchen  der  Gegenwart  genügen  und  den  in  grofsen  Mafsstäben  aus- 
geführten  topographischen,   geologischen   und   anderen   modernen   Karten 
ebenbürtig  sind,    heute  noch  nicht   vorliegen,    wohl   aber   Bestrebungen, 
ähnliches  zu  schaffen,  mannigfach  sich  geregt  haben  und  auch  Vorarbeiten 
dazu  ins  Werk  gesetzt  worden  sind. 

Der  Zeitpunkt  scheint  darum  geeignet  zu  sein,  emmal  der  Frage 
näher  zu  treten,  ob  bei  der  Bearbeitung  historischer  Kartenwerke  inner- 
halb der  deutschen  Bundesstaaten,  an  die  in  absehbarer  Zeit  an  der  einen 
oder  andern  Stelle  bestimmt  herangetreten  wird,  gemeinsame  Grundsätze 
hinsichtlich  des  Forschungsverfahrens,  wie  der  bildlichen  Darstellung  be- 
obachtet werden  können;  der  Zeitpunkt  ist  günstig,  weil  einerseits  heute 
schon  eine  Summe  von  Erfahrungen  auf  dem  Gebiete  historisch  -  karto- 
graphischer Arbeit  in  Österreich,  in  den  Rheinlanden,  auch  in  Württemberg, 
in  Sachsen,  in  Brandenburg  und  anderwärts,  gemacht  sind,  die  es  ermög- 
lichen, nicht  blofs  theoretische  Forderungen  zu  stellen,  sondern  einen 
genügenden  Einbb'ck  in  die  Wege  praktischer  Ausführung  gestatten,  zum 
andern  aber  weil  heute  in  der  Praxis  durchaus  noch  die  Möglichkeit  be- 
steht, bei  der  Ausarbeitung  der  künftig  erscheinenden  historischen  Karten- 
werke einheitliche  Grundsätze,  soweit  deren  Beachtung  überhaupt  möglich 
oder  erwünscht  ist,  auch  wirklich  zu  betätigen.  Erfolgt  erst  an  mehreren 
Stellen  in  Deutschland  ein  ganz  selbständiges  Vorgehen  einzelner  landes- 
geschichtlicher Kommissionen  oder  Vereine,  so  ist  bei  der  Kostspieligkeit 
kartographischer  Unternehmungen  das  Versäumte  auf  Jahrzehnte  hinaus 
gar  nicht  wieder  gut  zu  machen. 


—     253     — 

Die  Lösung  historisch- kartographischer  Probleme  ist  durch  land- 
schaftliche Verschiedenheit  aufserordentlich  stark  bedingt :  Hochalpennatur, 
KGttelgebirge  und  Hügelland,  Hoch-  und  Tiefebene,  Dorf-,  Hof-  und 
Weileisiedlung,  die  Wegsamkeit  eines  Landstrichs,  die  politischen  Schicksale 
und  die  Besonderheiten  der  Verwaltungsgeschichte,  die  Entwickelung  der 
Gnmdbesitzverhältnisse  und  der  Flurverfassung,  die  Eigenart  der  Gemeinde- 
bildnng,  die  Förderung  der  Landesaufnahme,  wie  der  Landesbeschreibimg 
und  infolge  davon  Alter,  Reichtum  und  Wert  der  besonderen  historisch- 
geographischen Quellen,  dies  alles  und  andres  mehr  schafft  bei  gewissen 
gemeinsamen  Grundzügen  die  manigfachsten  Bedingungen  für  die  Arbeiten 
zur  historischen  deutschen  Landeskunde  iu  Wort  und  Kartenbild:  wie 
sollte  nicht  gerade  auf  diesem  Forschungsfelde  jenes  Merkmal  deutscher 
Landes-  und  Volksnatur,  die  reiche  Ausgestaltung  des  landschaftlich  und 
örtlich  Besonderen,  aufs  stärkste  zur  Erscheinung  kommen?  Die  historisch- 
kartographischen Probleme  werden  daher  eine  nach  den  deutschen  Land- 
schaften mannigfach  verschiedene  Lösung  finden  müssen;  das  landschaftliche 
Sondertum  hat  in  diesen  Dingen  sein  gutes  Recht 

Aber  gibt  es  darum  nicht  mancherlei,  worüber  eine  Verständigung 
möglich  und  dringlich  ist?     Ich  weise  auf  folgende  Punkte  hin: 

1.  Die  zurzeit  bestehenden  geschichtlichen  Publikationsinstitute  ent- 
falten ihre  Wirksamkeit  zu  einem  guten  Teile  innerhalb  modemer  Staats- 
oder Provinzgrenzen.  Liegt  es  nicht  nahe,  dafs  diese  oft  recht  jungen 
Grenzen  auch  den  Rahmen  des  historischen  Kartenwerkes  abgeben 
werden?  In  der  Tat  ist  die  Gesellschaft  für  Rheinische  Geschichtskunde 
so  vorgegangen,  und  es  ist  bekannt,  dafs  auch  anderwärts  ein  entsprechendes 
Verfahren  jedenfalls  im  Bereiche  der  nächsten  Möglichkeit  liegt.  Hier 
entsteht  eine  Frage,  die  gründlich  erörtert  werden  mufs:  ist  die  Ver- 
öffentlichung historischer  Kartenwerke  nach  Abgrenzungen,  die  oft  genug 
die  historischen  Gebilde  zerstören,  wirklich  das  zweckmäfsigste ?  Wenn 
ja,  wie  lassen  sich  die  damit  verbundenen  unleugbaren  Nachteile  vermeiden? 
Wenn  aber  nein,  wie  läfst  sich  ein  zweckdienlicheres  Verfahren  in  die 
Wege  leiten? 

2.  Eine  weitere  Frage,  die  sich  erhebt,  ist  die  nach  dem  zu  wählenden 
Mafs Stabe,  nicht  nur  für  Arbeitskarten,  sondern  für  die  Veröffent- 
lichungen selbst.  Ich  bin  nicht  der  Meinung,  dafs  einige  Abweichungen 
bei  der  Wahl  der  Mafsstäbe  für  territoriale  Spezialatlanten  (z.  B.  i :  looooo, 
I  :  80  000,  1:115  000)  an  sich  die  Benutzung  sehr  erschweren  würden ; 
nur  bei  Flächenmessungen  wäre  der  Übelstand  empfindlich.  Aber  es  ist 
doch  klar,  dafs  Abweichungen,  für  die  nicht  gewichtige  Gründe,  wie 
z.  B.  die  Natur  des  Landes,  die  Siedlungsweise  imd  Flurgröfse,  starke 
Splittening  der  Gerichtsbezirke  u.  a.  oder  auch  die  Art  der  kartographischen 
Quellen  mafsgebend  sind,  vermieden  werden  sollten.  Ich  halte  es  nicht 
für  einfach,  diese  Frage  nach  dem  Mafsstäbe  allseitig  befriedigend  zu 
lösen;  ohne  eingehende  vergleichende  Studien  für  die  verschiedenen 
deutschen  Territorien  ist  dies  nicht  möglich.  Die  Erfahrungen  der  öster- 
reichischen Fachgenossen  sprechen  für  i  :  200000  bei  der  historischen 
Spezialkarte ;  es  wäre  in  mancher  Hinsicht  die  idealste  Lösung,  wenn 
dieser  Mafsstab  für  ganz  Deutschland  angenonmien  würde,  und  Erwägungen 


—     264     — 

in  dieser  Richtung  sind  jedenfalls  am  Platze ;  auch  die  rheinischen  Karten 
für  1789  in  I  :  160000  (auf  Grund  einer  Arbeitskarte  in  1:80000) 
kommen  ihm  nahe ;  indessen  bedarf  die  Frage  durchaus  noch  gründlicher 
Untersuchungen  für  die  typischen  Fälle  historischer  Kartographie  in  Deutsch- 
land. Für  Übersichtskarten  wird  man  sich  wohl  leicht  auf  i  :  500  000 
verständigen  können. 

3.  Die  wichtigste,  von  den  Bearbeitern  •  des  historischen  Atlasses  der 
österreichischen  Alpenländer  angeregte  Frage  ist  die  nach  der  Aufnahme 
der  Gelände  darstellung  in  die  historischen  Karten.  Es  ist  gan^ 
unleugbar,  dafs  für  die  älteren  Zeiten  die  Bodenbeschafifenheit  zum  mindesten 
die  gleiche,  meist  aber  noch  eine  erhöhte  Bedeutung  für  das  Menschen- 
dasein hat  als  heute,  und  dafs  somit  eine  historische  Karte,  die  diese  mit 
zum  Ausdruck  bringt,  ihre  grofsen  Vorzüge  für  das  Verständnis  der  Vor- 
zeit birgt.  Es  ist  gut,  dafs  dies  Problem  von  Österreich  gestellt  worden 
ist ;  und  es  scheint  mir  an  sich  allerdings  sehr  erwünscht,  dafs  man  jeden- 
falls irgend  welche  historische  Karte  mit  Terraindarstellung  für  eine  jede 
deutsche  Landschaft  zur  Verfügung  hat.  ^)  Es  läfst  sich  aber  nicht  leugnen, 
dafis  auch  die  Darbietung  von  buntem  Flächen-  und  Streifenkolorit  für  die 
bildliche  Wiedergabe  historischer,  oft  sehr  zerstreuter  und  vermengter 
Lebenserscheimmgen  bisweilen  sehr  geeignet,  ja  einzig  möglich  ist;  und 
so  wird  es  auch  hier  eingehender  landschaftlicher  Studien  bedürfen,  um 
in  dieser  Hmsicht  zu  einem  Ergebnis  zu  kommen,  inwieweit  vielleicht  ge- 
meinsame Grundsätze  bezüglich  der  Aufnahme  der  Geländezeichnung,  auch 
der  Darstellungsart  (Schraffen,  Höhenlinien,  Schummerung)  in  die  historischen 
Karten  befolgt  werden  können. 

4.  Auch  die  Frage  einheitlicher  Zeitpunkte  für  die  Herstellung 
historischer  Karten  taucht  auf.  Ich  messe  ihr,  was  die  historischen 
Territorialkarten  betrifft,  keine  so  erhebliche  Bedeutung  bei;  es  ist  z.  B. 
ganz  gut  möglich,  eine  Karte  für  Kursachsen  von  1720  und  Brandenburg- 
Preufsen  von  1740  nebeneinander  zu  benutzen,  wenn  auch  das  Jahr  nicht 
stinmit ;  es  ist  dies  m.  £.  weniger  bedenklich,  als  wenn  man  einer  theoretisch 
geforderten  Einheitlichkeit  zu  Liebe  etwa  dem  Quellenbefund  Gewalt  antun 
wollte.  Bei  Übersichtskarten  für  ganz  Deutschland  oder  wenigstens  für 
gröfsere  Teile  wird  sich  der  einheitliche  Zeitpunkt  natürlich  einstellen 
müssen.  Indes  ist  eine  Untersuchuug  darüber,  inwieweit  sich  auch  schon 
für  territoriale  Spezialatlanten  einheitliche  oder  wenigstens  annähernd 
stimmende  Zeitpunkte  finden  lassen,  doch  recht  erwünscht,  damit,  wenn 
im  übrigen,  die  Gründe  gleich  sind,  die  Rücksicht  auf  die  Termine  der 
Nachbarstaaten  den  Ausschlag  gibt. 

Diese  vier  Punkte  erschöpfen  nicht  die  Summe  der  Fragen,  die  für 
die  Gewinnung  einzelner  gemeinsam  bei  der  künftigen  Bearbeitung  histo- 
rischer Kartenwerke  im  deutschen  Reichsgebiet  zu  beobachtender  Grund- 
sätze aufzuwerfen  wären ;  sie  sollen  nur  andeuten,  dafs  hier  ein  wichtiges, 
der  Erörterung  harrendes  Problem  vorliegt  Zum  Schlüsse  sei  betont, 
dafs  es  sich  bei  der  angeregten  Frage  imi  die  Herausbildung  wissenschaft- 


ij  Bei  der  mündlichen  Begründung  ging  K.  in  diesem  Znsammenhange  noch  besonders 
anf  die  fUr  ebene  Gegenden  so  wichtige  Aufnalime  der  Walddarstellong  ein. 


—     255     — 

Hcher  Grundsätze  handelt,   nicht  um   eine  Organisationsfrage.     Nicht   ein 
historischer  Spezialatlas  des  Deutschen  Reiches  wird  unter  zentralisierender 
Leitung   zu   bearbeiten   sein,    sondern   eine   Reihe    deutscher   Territorial- 
kartenweike.      £s   wird   aber   dafür   gesorgt   werden   müssen,    dafs   diese 
nicht  in  den   einzelnen  Landschaften   nach   zufalligen  Umständen   hier  so 
und  dort  so  ausfallen,  sondern  dafs  sie,  insofern  gemeinsame  Grundsätze 
bei  der  Bearbeitung  befolgt  werden  können,  auch  danach  geschaffen  werden. 
Nachdem  noch  einige  Teilnehmer  sich  zu  Einzelheiten  dieser  Erörterungen- 
z.  B.  über  die  Zeitpunkte,  für  die  Karten  über  gröfsere  Gebiete  herzustellen 
sind  (Hansen:  erst  durch  die  Arbeit  können  diese  gefunden  werden!)  und 
über    die   kartographische   Fixierung   der  Veränderung  in   den  Waldgebieten 
(Krieger,  Curschmann)  geäufsert,   Knipping   noch    auf  die  für  West- 
deutschland   schon    erschienene    Generalstabsübersichtskarte    in    i  :  20000a 
hingewiesen  hatte,  die  das  Terrainbild  enthält  tmd  deshalb  am  besten  geeignet 
sei  gleich  der  österreichischen  desselben  Malsstabes  als  Publikatipnskarte  zu 
dienen,  —  wurde   der  Antrag  Kötzschke  in  folgender  Form  zum  Beschlufs 
erhoben : 

„Die  Konferenz  beschliefst,  eine  Denkschrift  ausarbeiten  zu  lassen, 
in  der  untersucht  wird,  inwieweit  bei  der  künftigen  Bearbeitung  für  den 
Druck  bestimmter  historischer  Kartenwerke  grofsen  Mafsstabes  in  Deutsch- 
land einheitliche  Grundsätze  beobachtet  werden  sollen,  beauftragt  Herrn 
Dr.  Kötzschke  mit  ihrer  Abfassung  und  bittet  ihn,  zunächst  durch  Aus- 
gabe von  Fragebogen  bei  den  verschiedenen  Instituten  über  die  ge- 
machten Erfahrungen  Erkundigungen  einzuziehen." 

Zur  Bestellung  einer  Hilfskraft  bei  dieser  Arbeit  werden  Herrn  Dr.  Kötzschke 
aas  den  vorhandenen  Mitteln  der  Konferenz  150  Mark  bewilligt. 


In  Verfolg  der  früher  gepflogenen  Verhandlungen  über  kirchlich-hjstorisch- 
gcographische  Studien  berichtete  Prof.  M  e  i  n  e  c  k  e  (Strafsburg)  kurz  über  den 
gegenwärtigen  Stand  der  Arbeiten,  und  auf  seinen  Antrag  wurde  beschlossen : 
„Die  Konferenz  macht  die  in  ihr   vertretenen  Institute   auf  das  be- 
vorstehende Erscheinen   der   historisch  -  geographischen  Bearbeitungen   der 
Diözesen  Brandenburg  und  Meifsen  aufmerksam  und  empfiehlt  ihnen 
entsprechende  Arbeiten  für  ihre  Gebiete,  wo  es  nicht  schon  geschehen  ist,, 
anzuregen  und  zu  unterstützen.' 


cc 


Um  die  lose  Verfassung  der  Konferenz  etwas  zu  konsolidieren,  wurde  aur 
Antrag  ihres  bisherigen  Leiters,  Prof.  Lamprecht,  beschlossen 

1.  „Die  Geschäftsführung  der  Konferenz  wird  Herrn  Dr.  Kötzschke 
als  Sekretär  im  Ehrenamt  ständig  übertragen." 

2.  „Der  Vorsitzende  wird  in  jeder  Konferenz  von  den  anwesenden 
Mitgliedern  dieser  auf  die  Dauer  der  Tagung  mit  einfacher  Mehrheit  in 
schriftlicher  Abstimmung  gewählt.  Jedes  vertretene  Publikationsinstitut  hat 
eine  Stimme." 

Nachdem  noch  v.  Zwiedineck  mit  allseitiger  Zustimmung  angeregt 
hatte,  die  Beratung  über  einige  der  früher  verhandelten  Gegenstände  (Anlage 
von  Urkundenbüchem  u.  s.  w.)  künftig  wieder  aufzunehmen  uod  Kötzschke 


—     256     — 

den  Wunsch  ausgesprochen  hatte,  es  möchten  nicht  nur  rechtzeitig  etwaige 

Verhandlungsgegenstände  von  den  Instituten  angeregt,  sondern  auch  Bericht- 
erstatter vorgeschlagen  und  sonstige  Vorbereitungen  getroffen  werden,  wurde 

die  überaus  anregende  Versammlung  geschlossen. 

Die  nächste  Tagung  wird  bereits  in  i  Vj  Jahren,  September  1 904,  gleich- 
zeitig mit  dem  8.  Historikertag  in  Salzburg  stattfinden,  während  seit  der  letzten 

drei  Jahre  verflossen  waren.     Seit  der  Begründung  der  Konferenz  deutscher 

Publikationsinstitute  auf  dem  Historikertag  in  Leipzig  (1894)  haben  sich  fol- 
gende Institute  an  ihren  Bestrebungen  beteiligt: 

Berlin:  Verein  für  Geschichte  der  Mark  Brandenburg. 

Brüssel:  Commission  royale  d*histoire  de  Belgique. 

Dan  zig:  Westpreufsischer  Geschichtsverein. 

Graz:  Historische  Landeskommission  für  Steiermark  und  Historischer  Ver- 
ein für  Steiermark. 

Halle:  Historische  Kommission  für  die  Provinz  Sachsen  und  Anhalt 

Hannover:  Historischer  Verein  für  Niedersachsen. 

Jena:  Thüringische  Historische  Kommission. 

Karlsruhe:  Grofsherzoglich  Badische  Historische  Kommission. 

Köln:  Gesellschaft  für  Rheinische  Geschichtskunde. 

Königsberg:  Verein  für  Geschichte  Ost-  und  Westpreufsens. 

Leipzig:  Königlich  Sächsische  Kommission  für  Geschichte. 

Metz:  Gesellschaft  für  Geschichte  und  Altertumskunde  Lothringens. 

Münster  i.  W. :  Historische  Kommission  für  die  Provinz  Westfalen. 

Posen:  Historische  Gesellschaft  für  die  Provinz  Posen. 

Prag:  Verein  für  die  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen. 

Riga:  Gesellschaft  für  Geschichte  und  Altertumskunde  der  Ostseeprovinzen. 

Schwerin:  Kommission  für  Herausgabe  des  Mecklenburgischen  Urkunden- 
buches. 

Stettin:  Gesellschaft  für  Pommersche  Geschichte  und  Altertimiskunde. 

Stuttgart:  Kgl.  Württembergische  Kommission  für  Landesgeschichte. 

Utrecht:  Historisch  Genootschap. 

Wien:  K.  u.  K.  Kriegsarchiv  (ausgeschieden). 

Wiesbaden:  Verein  für  Nassauische  Altertumskunde  und  Geschichts- 
forschung. 

Zürich:  Allgemeine  Geschichtsforschende  Gesellschaft  der  Schweiz. 

Eingegangene  Bttcher. 

Tschierschky,  Siegfried:  Die  Wirtschaftspolitik  des  Schlesischen  Kommerz- 
koUegs  17 16  —  1740.  [=  Geschichtliche  Studien,  herausgegeben  von 
Dr.  Armin  Tille,  i.  Band,  2.  Heft.]  Gotha,  Friedrich  Andreas  Perthes, 
1902.     132  S.  8^.     M.  2,40. 

Uhde-Bernays,  Hermann:  Catharina  Regina  von  Greiflfenberg  (1633 
bis  1694),  ihr  Leben  und  ihre  Dichtung.  [=»  Anzeiger  des  Germanischen 
Nationalmuseums,  Jahrgang  1902,  S.   77 — 93]. 

Berlchtlgang.  Unter  dem  Titel  Die  Reform  des  tveltlieken  Standes  u.  s.  w.  S.  193  mafs 
es  statt  Fortsetzung  heifseo:  Schlufo.  Der  Hinweis  auf  den  ersten  Teil  des  Auf- 
satzes ist  ebenfaUs  irrtümlich  weggeblieben,  er  steht  S.   171 — 182.  D.  Red. 

HerauüKeher  Dr.  Armin  Tille  in  Leipzig. 
Dnick  und  Verlag  von  Friedrich  Andreas  Perthes,  Aktiengesellschaft,  Godia. 

Hiena  als  Beilagen:  i)  Lagerkatalog  Nene  Folge  Nr.  100  von  Oswald  Weigels  Antiqaariom 
in  Leipzig,  enthaltend  Allgemeine  und  Deutsche  "^  >rreich-Ungarn,  Schweiz.  — 

2)  Prospekt  der  Verlagsbuchhandlung  R.  Oldent  n  und  Berlin,  betr.  Hand- 

finrK    r1(»p   miffMaUftrlirhen   nnrl    npiier^n    fi#»«rhii  .hen   von    O.   v.    Relow^   und 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


tur 


Förderung  der  landesgescbichtlicben  Forschimg 

IV.  Band  Juli  1903  10.  Heft 


Üie  Hufe 

Von 
Georg  Caro  (Zürich) 

Die  Ansichten  von  der  Hufe,  welche  als  die  g^enwärtig"  allgemein 
geltenden  betrachtet  werden  dürfen,  hat  Waitz  in  der  Abhandlung 
-,,übcr  die  altdeutsche  Hufe"  *)  niedergelegt  und  sind  im  wesentlichen 
folgende.  Buba  oder  hoba,  gleichbedeutend  mit  sors,  portio,  angel- 
rsächsisch  hida,  nordisch  hol,  in  den  lateinischen  Quellen  mansfis,  be- 
zeichnet im  frühen  Mittelalter  „den  Komplex  von  Land  und  dazu 
^hörigen  Rechten,  den  regelmäfsig  der  einzelne  hat  tmd  dessen  er 
für  seine  Bedürfhisse  als  Landbauer  bedarf".  Die  Hufe  genügt,  „um 
-die  Arbeit  eines  Landbauers  mit  einem  oder  zwei  Knechten  in  Anspruch 
xa  nehmen  und  um  ihn  und  die  Seinen  ausreichend,  wie  es  die  Ge- 
irobnheit  forderte,  zu  ernähren".  'Zur  Hufe  gehörte  dreierlei:  „Der 
Hof  mit  dem  Wohnhaus,  das  Ackerland  und  das  Nutzungsrecht  an 
einem  ungeteilt  belassenen  Teil  des  Grundes  und  Bodens." 

Die  Hofstätte,  mansus  in  der  ursprünglichen  Bedeutung  des  Wortes, 
umfalste  Wohnhaus  und  Nebengebäude,  Scheunen,  Ställe,  dazu  den 
<jarten  und  wohl  auch  einen  Weinberg.  Sie  war  durch  einen  Zaun 
abgeschlossen;  ihre  Lage  im  Dorfe  wird  durch  Aufführung  der  an- 
stolsenden  Grenznachbam  bestimmt.  Das  Ackerland,  die  Hufe  im 
engeren  Sinne,  lag  in  der  Flur  verstreut.  Es  war  nämlich  die  DorfHur 
nach  Mafsgabe  der  BodenbeschafTenheit  in  eine  Anzahl  von  Vierecken 
(Gewanne  oder  Kampe)  geteilt,  deren  jedes  in  ebensoviel  Ackerstreifen 
zerfiel,  als  das  Dorf  Hufen  zählte,  und  die  wiederum  entsprechend  den 
Anforderungen  der  Dreifeldenvirtschaft  zu  drei  grofsen  Feldern  (Schlägen, 
Helgen,  arcUura)  zusammengefafst  waren.     So  befanden  sich  die  zur 


l)  Abhmndlimgea  der  k.  Gesellschaft  der  Wissenscbaflea  zn  Göttingeo  Bd.  6  (Gdt- 
tingen  l8$6),  S.  179  ff.  und  S.  A.;  Nendrock  in  Gesammelte  Abhandlangen  von  G.  Waitz 
Bd.  I,  Abhandlongen  rar  Deutschen  Verfassnngs-  nnd  Rechtsgeschichte,  heransgeg.  ron 
£.  Zenmer  (Göttingen  1896),  S.  123  ff. 

18 


—     258     — 

Hufe  gehörigen  Äcker  in  jedem  der  drei  Felder  und  in  allen  Gewannen.. 
Die  Lage  der  Hufe  konnte  daher  nicht  wie  die  der  Hofistätte  nacb 
den  Nachbarn  bestimmt  werden.     Ihre  Gröüse  betrug  etwa  30  oder 
40  Morgen,   die  gerade   ausreichend  zur  „Grundlage   einer  einfachen^ 
bäuerlichen  Existenz'*,  „mit  einem  Pflug  und  einem  Gespann  und  den 
dabei   üblichen  Knechten'*   sich   bewirtschaften  lielsen.     Indem    aber 
schon  das  Flächenmais  des  Morgens,  als  des  Landes,   das  man  „an. 
einem  Tage  oder  Morgen  mit  einem  Pfluge  und  einem  Joch  beackern 
konnte",  erhebliche  Verschiedenheiten  aufwies  und  vielleicht  selbst  in 
der  gleichen  Gemarkung  wechselte,   je   nach    der    schwereren    oder 
leichteren  Pflügbarkeit  des  Bodens,  finden  sich  in  den  Quellen  mannig- 
fach von  einander  abweichende  Angaben  über  die  Gröfse  der  Hufen. 
Wenn  gleichwohl  die  Ausdrücke  Hufe  und  Morgen  als  Mafseinheit  auf 
Land  angewendet  wurden,  das  noch  nicht  in  Kultur  genommen  war, 
so  ist  dabei  an  den  in   der  betreffenden  Gegend   oder  in   dem  Dorfe* 
üblichen  Hufenumfang  zu  denken.    Der  Bestand  der  Hufen  blieb  nicht, 
unverändert.    Aufser  Teilungen  in  Hälften  und  Drittel  kam  Abtrennung 
einzelner  Morgen  bereits  früh  vor.     Es  „konnte  eine  Hufe  vermindert 
werden,  eine  andere  Zuwachs  erhalten,  und  die  alte  Regelmäfsigkeit 
der  Zustände  ward  durchbrochen;  sodafs  es  fast  mehr  zu  verwundem 
ist,  dafs  aus  späterer  und   selbst  neuerer  Zeit  noch  so  viele  Belege 
von    derselben   übrig   sind,    als    dafs    sich    zahlreiche  Abweichungen, 
finden."    Neben  dem  Ackerland  gehörten  Wiesen  zur  Hufe,  die  in  die 
Gesamtzahl  der  Morgen   eingerechnet,  oder  häufiger  gesondert  auf- 
geführt werden.    Der  dritte  Hauptbestandteil  der  Hufe,  „die  Teilnahme* 
an  der  Nutzung  des  gemeinen  Landes",  wird  aus  den  älteren  Urkunden, 
nicht  so  deutlich  ersichtlich  als  aus  den  späteren  Quellen,   vor  allem, 
den  Weistümem.     Aufgeführt  sind  in  jenen  als  Zubehör  Wasserläufe, 
W^e,  Weiden,  Wald  und  speziell  auch  das  Recht  zur  Schweinemast 
im  Walde.     Aufserdem  kommt  die  Befugnis  zum  Roden  in  Betracht. 
Die  Rechte  sind  „an  die  Hufe  oder  an  den  Hof  gebunden"  und  gehen, 
mit  ihnen  auf  jeden  Besitzer  über. 

Inhaber  der  Hufe  ist  in  Konsequenz  der  Auffassungfsweise  von 
Waitz  der  Freie ,  sodafs  ursprünglich  auf  je  einen  Gemeinfreien  eine 
Hufe  entfiel,  die  ihm  zu  Eigentum  gehörte.  Daher  äufserte  Waitz  die 
Vermutung,  dafs  der  Wert  der  Hufe  und  die  Höhe  des  Wergeides 
des  Freien  mit  einander  im  Zusammenhang  ständen.  Die  Hufen  der 
Hörigen  oder  Knechte  haben  sich  ursprünglich  vielfach  in  der  Hand 
eines  Freien  befunden  und  sind  „bei  der  Vereinigung  gröfseren  Grund- 
besitzes in  einer  Hand  von  dem  Eigentümer  an  abhängige  Leute  aus- 


—     269     — 

getan*'  worden.  Es  werden  hobcte  (mansi)  serviles,  lidiles,  ingenuäes 
(tributales)  unterschieden  „nach  der  Verschiedenheit  (des  Standes)  der 
Inhaber  oder  doch  ihrer  ursprünglichen  Bestimmung  für  verschiedene 
Inhaber".  Diese  drei  Arten  von  fnansi  vestUi  stehen  wiederum  im 
G^ensatz  zu  den  nichtbesetzten  mansi  äbsi,  und  zur  hoba  saiica  das 
ist  der  Hufe  des  Herrn,  die  dieser  von  seiner  saia  (=  Haus)  aus  (im 
Eigenbetrieb)  bewirtschaftete,  und  die  ursprünglich  „in  vielen  Fällen 
nichts  anderes  ist  als  eine  der  mehreren  Hufen  im  Dorfe'^  Die  Ver- 
einigung mehrerer  Hufen  in  der  Hand  eines  einzigen  Eigentümers  ist 
für  später  fast  als  Regel  anzusehen.  Die  Zahl  der  Hufen  in  einem 
Dorf  war  anfanglich  nicht  sehr  grofs  und  dürfte  kaum  mehr  als  höchstens 
fünfzig  betragen  haben. 

Von  der  gleichen  Auffassung  der  Hufe  ist  Waitz  in  seiner  deutschen 
Verfassungsgeschichte  ausgegangen.  Indem  er  von  späteren  Zuständen 
auf  die  älteren  zurückschliefst,  nimmt  er  schon  für  die  Zeit  des  Tacitus 
das  Bestehen  der  Hufenverfassung  an  ^).  Zur  Merowingerzeit ')  hätten 
in  deutschen  Landen  die  alten  Zustände  fortgedauert  und  seien  viel- 
fach „auch  auf  die  später  eingenommenen  Gebiete  übertragen,  wo  die 
Ansiedelungen  der  Deutschen  zahlreich  und  zugleich  mit  einer  gewissen 
Regelmäisigkeit  stattgefunden  haben.  Hier  (in  Alamannien,  Bayern) 
sind  Dörfer  angelegt,  das  Land  nach  Hufen  ausgeteUt,  Ackerland  und 
Land»  das  als  Wald  und  Weide  in  näherer  Gemeinschaft  blieb,  ge- 
sondert". „Der  Bestand  ^)  der  alten  Gemeindeordnuug  ward  auch 
dann  nicht  gestört,  wenn  ein  TeU  der  Hufen  an  ein  geistliches  Stift 
oder  einen  höheren  weltlichen  Herrn  gekommen  war  und  nun  von 
abhängigen  Leuten  bewohnt  und  bewirtschaftet  ward." 

Die  eben  dargelegte  Ansicht  von  der  Hufe,  die,  wie  bereits  be- 
merkt, der  Hauptsache  nach  noch  jetzt  in  Geltung  ist,  beruht  in  zwei 
wesentlichen  Stücken  auf  dem  BUde  von  der  sozialen  Entwickelung 
des  deutschen  Volkes,  welches  einst  Moser  entworfen  hatte.  Der  Ver- 
fasser der  patriotischen  Phantasieen  hat  die  Anschauung  aufgebracht, 
dafs  Hufenbesitz  und  staatsbürgerliche  Rechte  bei  den  Germanen  aufs 
engste  zusammenhingen.  Indem  er  den  altdeutschen  Staat  als  Gesell- 
schaft der  Hufenbesitzer  ansah,  fafste  er  den  manstis  als  Landaktie 
auf  ^),  die  zum  Anteil  am  gemeinsamen  Vorteil  und  Schaden  berechtigte 

f )  Waitz,  Deutsche  Verfassnngsgeschichte  i  ^,  126  ff. 

2)  Ibid.  2.  I  •,  277. 

3)  Ibid.  394. 

4)  Jattas  Moser,  Patriotische  Phantasieen,   in  Sämtliche  Werke  heransgeg.  von 
Abeken,  Bd.  3  (Berlin  1892),  S.  291  ff.,  nr.  LXm,  DerBanerhof  als  eine  Aktie  betrachtet 

18* 


—     260     — 

und  verpflichtete,  übrigens  aber  in  verschiedenen  Staatsvereinigungen 
verschieden  grois  war.  Moser  hat  femer  den  Untergang  der  gemeinen 
Freiheit,  den  er  in  die  Karolingerzeit  setzte,  auf  die  Weise  vor  sich 
gehen  lassen,  dais  die  Hufen  an  abhängige  Leute  kamen.  Ursprüng- 
lich war  ^)  „noch  mehrenteils  jeder  deutsche  Ackerhof  mit  einem 
Eigentümer  oder  Wehren  besetzt,  kein  Knecht  oder  Leut  auf  dem 
Heerbannsgute  gefestet".  Ludwig  der  Fromme  „und  Schwache'* 
opferte  die  Gemeinfreien  „den  Geistlichen,  Bedienten  und  Reichs- 
vögten" auf.  Bischof  und  Graf  „besetzten  die  erledigten  mansos  mit 
Leuten  und  Knechten,  und  nötigten  die  Wehren,  sich  auf  gleiche  Be- 
dingungen zu  ergeben".  Hinsichtlich  der  staatsrechtlichen  Bedeutung 
der  Hufe,  als  Grundlage  fiir  die  Stellung  des  Freien  im  Gemeinwesen, 
und  ihres  Überganges  vom  freien  Eigentümer  an  den  g^rundherrlichen 
Hintersassen  ist  also  Waitz  —  und  mit  ihm  die  geltende  Ansicht  — 
der  Auflassung  Mosers  gefolgt  Während  aber  Moser  sich  nach  west- 
fiLlischem  Muster  die  Hufe  ab  Einzelhof  vorstellte,  hielt  Waitz  die 
dorfrnäfisige  Siedelang  für  die  dem  germanischen  Agrarwesen  eigen- 
tümliche, im  Anschluls  an  die  Untersuchungen  des  Dänen  Olufsen, 
wdche  Haussen  fiir  die  Ericenntnis  der  Urzeit  verwertet  hatte  *). 

Gleich  Moser  ist  Olu&en,  nach  den  Ausflihnmgen  Hanssens,  von 
den  agrarischen  Zuständen  seiner  Zeit  an^fegangen.  Feldgemeinschaft 
und  entsprechende  Gestaltung  der  Feldmaßen  in  Dänemark,  die  er 
aus  praktischer  Beschäftigung  als  Fddmesser  genau  kennen  gelernt 
hatte,  frmd  er  in  den  „alten"  däniscfaen  Gesetzen  (des  Xm.  Jahrhunderts) 
wieder  und  konstruierte  nun  ans  dem  aktuellen  Befund  und  geschichts- 
philosophischen  Erwägungen  den  Hergang  bei  der  ursprünglichen  An- 
steddung,  fiir  die  eine  Zeitbestimmung  nicht  einmal  versucht  ist.  Als 
die  Niederlassung  sich  vollzog,  sd  noch  Fanstrecht  „das  einzigste  Ge- 
setz" gewesen.  Es  kam  den  Ansiedlern  darauf  an,  für  Person  und 
Eigentum  giöistmögliche  Sicherhdt  zu  erlangen.  Daher  vereinigten 
sich,  kraft  des  menschlichen  Geselhgkdtstriebes,  mehrere  Familien,  „um 
mit  vereinten  Kräften  eine  so  grolse  Strecke  Landes  an£nibauen,  als 
für  hinlänglich  zu  ihrer  Ernährung  angesehen  wurde".  Audi  bauten 
sie  ihre  Wohnungen  nahe  aneinander,  um  nöt^cn£aUs  sich  Beistand 
leisten  XU  können«  So  seien  die  Dörfer  und  gemetnschaftfichen  Fddmarken 
entstanden.     Wenn  nun  ein  Verein  von  Familien  ein  Doff  bauen  und 


1)  Jvstas  M^ser,  0$MibrtK:kx»cb«  Ge»cluclite«  ibid.  B.  6,  S.  Xff. 

3)  G.  Haassen,  Acr»riii«tMvcl»«  Abkaftücrv^r»  Bd.  I,  Lequ^  iS8o,  S.  I  ff^  An- 
skirteü  ibcr  dms  A£i«w<wtn  der  Vonciti  xverst  crscKvczies  io  Falds  Ni 
IkftKfi  Mufmun,  Bd.  3  ».  6  (i$35 — 37V 


—     261     — 

Äcker  in  Kultur  nehmen  wollte,  war  die  Verteilung^  der  Ackerfläche 
unter  die  einzelnen  Interessenten  das  erste  Geschäft.  „Alle,  welche 
an  dem  Unternehmen  teilnahmen,  hatten  gleiche  Rechte  und  gleiche 
Pflichten,  hatten  gleiche  Schwierigkeiten  zu  überwinden,  um  dasselbe 
Ziel  zu  erreichen,  nämlich  mit  gleicher  Kraft  in  den  Stand  gesetzt  zu 
werden,  eine  Familie  zu  ernähren/'  Demnach  mu&ten  alle  Teilnehmer 
ein  gleich  gutes  Landlos  erhalten.  Da  aber  formliche  Taxation  oder 
Bonitierung  des  Landes  nicht  möglich  war,  schon  weil  sie  Erfahrung 
durch  vorherigen  Anbau  erfordert  hätte,  sei  nur  die  Anlage  der  Ge- 
wanne übrig  geblieben.  „Jeder  Teil  der  bauiahigen  Landstrecke,  welcher 
w^en  der  Beschaflenheit  des  Terrains  und  sonstiger  physischer  Be- 
ziehung von  dem  übrigen  Lande  abwich,  wurde  zu  einem  besonderen 
Kamp  (=  Gewann)  gemacht  Nach  der  an  beiden  Enden  aufgenommenen 
Breite  wurde  ein  solcher  Kamp  in  kleinere  Teile  geteilt,  in  Striemen, 
die  jetzt  sogen.  Acker,  von  denen  dann  ein  jeder  Dorfsmann  (Los- 
interessent) so  viel  als  der  andere  erhielt."  „Eine  notwendige  Folge 
von  der  Teilung  der  Ländereien  war,  dafs  alle  Boole  (=  Hufen)  in 
Feldgemeinschaft  lagen,  oder  dais  jede  Boole  ihre  Ländereiea  Acker 
um  Acker  mit  den  übrigen  Boolen  im  Dorf  besafs." 

1  ndem  Haussen  der  Ansicht  beipflichtete, ,  ,dals,  wo  wir  Dörfer  mit  Feld- 
gemeinschaft vorfinden,  diese  auch  gleich  bei  der  ersten  Kultivierung  des 
Bodens  so  eingerichtet  worden  sind",  verwarf  er  die  Meinung  Mosers  von 
einer  ursprünglichen  Ansiedelung  in  Einzelhöfen  mit  arrondierten  Äckern, 
und  sachte  nun ,  über  Olufisen  hinausgehend,  auf  Grund  der  Berichte  von 
Qisar  und  Tacitus  über  den  Wechsel  des  Baulandes  bei  den  Germanen 
eine  stufenweise  Entwickelung  festzustellen  vom  Gemeinbesitz  am  Grund 
und  Boden  bis  zu  dem  Grade  des  Sondereigentums,  den  die  späteren 
Quellen  aufweisen.  Hierin  ist  ihm  Waitz  nicht  gefolgt,  der  vielmehr 
schon  für  die  Urzeit  das  Bestehen  von  Privateigentum  am  Acker 
annahm  ^) ,  während  die  neuere  Forschung  vielfach  nach  Analogieen 
für  das  gemeinschaftliche  Grundeigentum  der  Germanen  gesucht  hat  *), 

In  der  Auffassung  der  Hufe  stimmen  wesentlich  mit  Waitz  die 
fast  gleichzeitigen  Werke  von  Landau')  und  Maurer*)  überein.    Je- 

1)  D.  V.  G.  I  ',  124.  Für  die  Zeit  der  lex  salica  t.  Waitz,  Das  alte  Recht  der 
uliacben  Franken  (Kiel  1846),  S.  117. 

2)  W^en  des  MÜseifolgs  dieser  Bestrebungen  vgL  Below,  Das  korze  Leben  einer 
vielgenannten  Theorie,  Beilage  rar  Allgemeinen  Zeitung,  1903,  nr.  11  n.  12. 

3)  G.  Landau,  Die  Territorien  in  Bezog  auf  ihre  Bildung  und  ihre  Entwickdnng 
(Hamburg  n.  Gotha  1854). 

4)  G.  L.  T.  Maurer,  Einleitung  zur  Geschichte  der  Mark-,  Hof-,  Dorf*  und  Stadt- 
ferÜMsnng  und  der  öffentlichen  Gewalt  (München  1854). 


—     262     — 

doch  unterscheidet  Landau  nach  der  Lage  der  Äcker  verschiedene 
Hufengattungen,  von  denen  Waitz  blofe  die  mit  Verteilung  der  Äcker 
über  die  Gewanne  als  ursprünglich  anerkennen  will.  Maurer  hat  er 
die  Verwechselung  von  Gewannen  und  Zeigen  vorzuwerfen.  Neuere 
Untersuchungen  sind  nicht  sowohl  Waitz  in  der  Interpretation  der  ur- 
kundlichen Zeugnisse  gefolgt,  als  da(s  sie  unter  Benutzung  der  Flur- 
karten die  OIufsen-Hanssenschen  Theorieen  weiter  auszubauen  suchten. 
Nachdem  schon  Haxthausen  ^)  über  Gewanneinteilung  und  Hufen- 
verfassimg  für  deutsche  Landschaften  zu  ganz  ähnlichen  Ergebnissen 
gelangt  war,  wie  Olufsen  für  Dänemark,  hatte  Jacobi  *)  nationale  Unter- 
schiede in  der  Anlage  der  Dörfer  und  Fluren  bei  Deutschen  und 
Slaven  ermittelt.  Zur  Erläuterung  agrarischer  Zustände  zogen  See- 
bohm  •)  für  England  und  Lamprecht  *)  für  die  Mosellande  Flurkarten 
heran.  Zuletzt  hat  Meitzen  ^)  in  umfassendem  Mafsstabe  die  Flurkarten 
verwandt,  um  die  ursprünglichen  Ansiedelungsformen  der  Germanen 
zu  erkennen  ^). 

Eben  den  durch  Waitz  festgestellten  Begriff  der  Hufe  setzt  Meitzen 
voraus.  In  den  germanischen  Dörfern  „ist  die  Hufenverfassung  die 
Grundlage  der  Eigentumsverteilung**.  Unter  der  Hufe  verstand  man  ^ 
„eine  ländliche  Besitzung,  welche  von  dem  Hausvater  mit  seiner  Familie 
und  wenigem  Gesinde  bestellt  werden  konnte  und  dabei  hinreichend 
war,  um  demselben  den  nötigen  Unterhalt  und  die  Mittel  zu  gewähren, 
die  üblichen  öfTenUichen  Lasten  zu  tragen.  Sie  stellte  ein  Bauerngut 
dar,  welches  unter  primitiven  Umständen  und  Ansprüchen   im   stände 


I)  AogQst  Freiherr  t.  Haxthaasen,  Über  die  Agrar ver f— «qng  in  Nord- 
deQtschUod  und  deren  Konflikte  in  der  g^enwlrtigen  ZeiL  Teil  i ,  Band  i.  Über  die 
Agrairerfassnng  in  den  FiirstentuLmem  Paderborn  und  Correj  (Berlin   1829). 

3)  Victor  Jacobi,  Forschungen  ober  das  Agranresen  des  Altenbnrgischen  Oster- 
andes  mit   besonderer  Berücksichtigung   der  AbManmiungsrerhältnisse   der  Bewohner,    in 
ninstrierte  Zeitung  Bd.  5  (Lcipiig  1S45). 

3)  F.  Seebohn,  Die  ethische  Dorigei&eiode ,  nach  der  3.  Auflage  ans  dem 
Englischen  öbertragen  tob  Tk  v.  Bansen  (Heidelberg  1SS5V 

4)  K.  Lamprecht,  Deatsches  Wiitschaibleben  im  MitteUUer,  Bd.  i,  T.  I,  S.  331  ff. 

5)  A.  Meitzen,  Wanderungen,  Anbau  und  Agrarrecht  der  Völker  Eoropas  nörd- 
lich der  Alpen,  l.  Abu  Siedelung  and  Agrarvesen  der  TVestgemanen  and  Ostgermanen, 
der  Kelten,  Römer,  Finnen  and  Slawen,  4.  Bd.  (Berlin  iSofV. 

6)  I>ie  frtiheren  auf  den  gleichen  Gegenstand  t>ecligUclieo  Eimdabhandlaogen 
Meitiens  sind  dort  1^30  m.  i  TerteichneL  Auf  die  Haie  besiefat  sich  Tor  aDem 
««Volkshufe  and  KiSnigshale  in  ihren  allea  MarsTeHOtltms^cii*,  in  der  Festgabe  ftr  Georg 
Hanssen  «ura  31.  Mai  iSSg,  Täbingen  1SS9,  S,  l  C 

7)  So  Meitxen  im  Handw<j>rteTbach  der  SualUaisjeiwc^ften,  heraasg^.  von 
Conrad  etc,  2.  Aafl.,  Bd.  4*  Je«a  igoo,  AftÄel  Hafc,  S  1*31, 


—     263     — 

-war»  selbständig  aus  seinen  eigenen  Kräften  zu  bestehen''.  Die  Grölse 
•der  Hufen  war  je  nach  Ort  und  Umständen  eine  sehr  verschiedene. 
^^Dag^en  waren  die  Hufen  derselben  Gemarkung  bei  den  volksmä&igen 
Anlagen  stets  gleich  groiis/'  Jede  Dorfgemarkung  zerfiel  also  „in  eine 
^wisse  Zaid  unter  einander  gleich  gedachter  Hufen,  welche  ihrem 
Wesen  nach  ideelle  Anteile  an  den  zur  Kultur  verteilten  wie  an  den 
tmgeteilten  Ländereien  der  Gemarkung  bildeten''.  Die  Hufenanteile 
wurden  „auf  dem  altgermanischen  Kulturlande  stets  in  Gemenglage 
.als  verhältnismälsige  Unterteile  zahlreicher  Gewannabschnitte  ange- 
wiesen". Daher  sei  es  in  der  Regel  möglich,  „aus  den  Grölsenver- 
hältnissen  der  Unterteile  in  den  einzelnen  Gewannen  die  Zahl  der  in 
ihnen  gemachten  gleichen  Anteile,  und  aus  der  Übereinstimmimg  dieser 
Zahl  in  den  verschiedenen  Gewannen  die  (ursprüngliche)  Anzahl  der 
Hufen  im  Dorfe  festzustellen". 

Indem  nun  Meitzen  ein  Gebiet  nationaler,  germanischer  Siedelung 
zwischen  Weser  und  Saale  ausscheidet,  das  nie  unter  fremden  Einflufs 
kam,  gelangt  er  dazu  (in  Übereinstimmung  mit  Waitz),  die  Verteilung 
der  Äcker  über  die  Gewanne  und  die  hufenartige,  des  festen  Grund- 
plans entbehrende  Anlage  des  Dorfs  als  die  ursprüngliche  Form  der  Nieder- 
lassung zu  bezeichnen«  Jüngerer  Entstehung  sind  die  Marschdörfer  der 
Nordseeküste,  deren  Gehöfte  in  einer  Reihe  an  der  inneren  Seite  der 
Deiche  liegen,  während  die  zugehörigen  Äcker  in  langen  schmalen  Streifen 
durch  die  ganze  Flur  sich  erstrecken.  Auf  keltischen  Ursprung  fuhrt 
Meitzen  das  Einzelhofisystem  westlich  der  Weser  zurück.  Im  Osten 
unterscheidet  er  zwei  slavische  Typen,  die  Runddörfer  und  die  Straßen- 
dörfer, und  dazu  die  späte  Kolonisationsform  der  Reihendörfer  mit 
Waldhufen,  in  denen  die  Gehöfte  zu  beiden  Seiten  einer  Stra&e  durch 
die  glänze  Gemarkung  sich  hinziehend  jeweils  auf  dem  zugehörigen 
Lande  erbaut  sind,  und  dieses  in  emem  Streifen  von  der  Strafse  bis 
zur  Flurgrenze  reicht,  vom  Tal  bis  zur  Höhe  oder  quer  durch  das 
TaL  Für  Oberdeutschland,  alemannisches  und  bayrisches  Stammes- 
gebiet, konstatiert  Meitzen  das  Vorhandensein  der  volkstümlichen  Ge- 
wanndörfer und  schliefst  daraus,  dafs  alle  eindringenden  deutschen 
Stämme  „bei  der  ersten  stürmischen  Besitznahme  der  keltorömischen 
Landgebiete  die  Besiedelung  unter  den  alten  nationalen,  aus  der  Heimat 
hergebrachten  Ideen  ausführten.  Diese  aber  beruhten  wesentlich  auf 
genossenschafUicher  Grundlage  und  entwickelten  überall,  wo  sie  zur 
Geltung  kamen,  geschlossene  Dörfer,  Gemenglage  der  Grundstücke 
und  gleiche  Hufen  in  der  Flur".  In  solcher  Weise  habe  schon  die 
Ansiedelung  der  Vangionen,  Nemeter  und  Triboker  auf  dem  linken 


—     264     — 

Rheinnfer  zur  Zeit  des  Ariovist  stattgefunden.  Die  besonders  in  bergigen 
elenden  verbreiteten  Weiler  charakterisiert  Meitzen  als  Gruppen  voa 
wenigen  Höfen,  oder  Hufen,  deren  Fluren  in  blockförmigen  Stücken 
au^eteilt  waren,  und  betrachtet  sie  als  grundherrliche  Gründungen,, 
indem  er  von  ihnen  noch  die  romanischen  Einzelhöfe  in  den  Alpen 
unterscheidet. 

Auf  Grundherrschaft  und  grundherrlichen  Wirtschaftsbetrieb  kommt 
Meitzen  des  öfteren  zurück.  Der  Abschnitt,  den  er  speziell  der  „Ent* 
mckelung  der  Gnmdherrlichkeit,  der  Lehne  und  der  Siedelungen  auf 
Landleihe"  widmet*),  schildert  die  Vorgänge  wesentlich  im  Anschluis 
an  die  herrschende  Ansicht.  So  hält  er  auch  daran  fest,  dals  in  der 
FlureinteUung  und  dem  Wirtschaftsbetrieb  der  Dörfer  erhebliche  Ände- 
rungen nicht  eintraten,  wenn  einzelne  Bauerngüter  an  Grundherren  ge- 
langten, und  selbst  wenn  eine  ganze  Dorfischaft  hörig  wurde,  habe  die 
alte  Dorfverfassung  fortbestanden.  Grundherrliche  Neugründungen 
von  Dörfern  seien  in  der  volkstümlichen  Gestalt  mit  Gewannfluren, 
erfolgt,  aber  auch  in  anderen  Formen,  mit  blockförmiger  Geschlossen- 
heit der  einzelnen  Besitzstücke,  wie  sie  bei  den  Weilern  üblich  war, 
mit  Wald-  und  Hagenhufen,  deren  Ackerland  in  einem  Stück  zusammen- 
lag, und  im  Norden  mit  den  analogen  Marsch-  oder  Moorhufen.  Eine 
Ausnahme  von  der  ursprünglichen  Allgemeingültigkeit  der  Hufen- 
verfassung will  Meitzen  nur  für  Friesland  gelten  lassen,  in  dessen  west- 
lichen TeUen  sie  erst  durch  fränkischen  Einflufs  eingeführt  worden 
sei,  während  für  Ostfriesland  „weder  in  den  Urkunden  des  früheren 
oder  späteren  Mittelalters,  noch  in  den  neueren  Zins-  und  Steuerregistern 
oder  im  Sprachgebrauch  Hufen  vorkommen  *)". 

Wesentlich  im  Anschlufs  an  Olufsen-Hanssen,  Waitz  und  Meitzen: 
sind  von  den  Rechtshistorikem  die  Grundeigentumsverhältnisse  dar- 
gestellt worden  ^),  Die  Wirtschaftshistoriker  bringen  nur  wenig  ab- 
weichendes. Inama  -  Stemegg  will  die  ursprüngliche  Gleichheit  des- 
Grundbesitzes, die  aus  der  Hufenverfassung  sich  ergibt,  blofs  in  sehr 
bedingter  Weise  anerkennen  %  während  er  im  übrigen  den  gangbaren 
Meinungen  über  das  Hufensystem  folgt,  welches  die  Karolingerzeit  in. 

i)  Meitten,  Agrarwesen  2,  371  ff. 

2)  Ibid.  2,  50. 

3)H.  Branner,  DeaUche  Rechtsgeschichte  Bd.  i  (Leipxig  1887),  S.  194 £ 
{25.  R.  Schröder,  Lehrbuch  der  dentschen  Rechtsgesch. ,  4.  Aufl.  (Leipzig  1902)^ 
i  88,  S.  202  ff.  F.  Dahn,  Die  Könige  der  Germanen,  Bd.  7,  T.  2  (Leipzig  1894V 
S.  13  ff:,  Bd.  9  (1902),  S.  447  ff. 

4)  K.  Th.  T.  Inama-Sternegg,  Deutsche  TWirtschafUgeschichte,  Bd.  i  (Leipzig: 
1879),  S.  IIa  ff. 


—     266     — 

Deutschland  noch  intakt  übernommen  habe  ^).  Lamprecht ')  geht 
mehr  auf  den  Verfall  der  Hafenverfassung  (im  späteren  Mittelalter)  ein 
als  auf  deren  Entstehung.  Übrigens  bestreitet  er  die  Annahme,  „dafs- 
der  Morgen  in  verschieden  abgestufter  Gröüse  die  stehende  Teilungs- 
einheit der  Gewanne  gebildet  habe,  und  daüs  jede  Gewanne  stets* 
Stücke  jeder  Hufe  enthalten  habe').*'  Wenn  neuerdings  Hildebrand 
beiläufig  die  Meinung  geäufsert  hat,  dafs  „die  sogen.  Hufen  Verfassung 
ihrem  Ursprünge  nach  keine  sehr  alte  Einrichtung  sein  kann  ^)",  so 
geschah  das  ohne  näheren  Nachweis  auf  Grund  jener  vergleichenden 
Methode,  die  gar  leicht  zu  Trugschlüssen  führt  ^). 

Es  herrscht  also  in  der  Auffassung  von  Wesen  imd  Bedeutung  der 
Hufe  £ast  völlige  Übereinstimmung.  Um  so  gröfser  war  meine  Ver- 
wunderung, als  ich  bei  dem  Versuch,  aus  urkimdlichen  Quellen  der 
Karolingerzeit  den  Bestand  kleiner  freier  Gnmdeigentümer  nachzuweisen^),, 
die  Hufendörfer  nicht  antraf,  welche  nach  der  herrschenden  Meinung  über 
g^anz  Deutschland  verbreitet  waren.  Dörfer,  in  denen  alle  oder  auch  nur 
ein^e  Bewohner  als  freie  Leute  je  eine  Hufe  inne  hatten,  die  frei  von 
grundherrlichem  Nexus  war,  ihnen  zu  Eigentum  gehörte  und  durch  sie  mit 
Hnfe  ihrer  Familie  oder  von  Knechten  im  Eigenbetrieb  bewirtschaftet  wurde,, 
solche  Dörfer  konnte  ich  nicht  finden,  weder  in  der  Nordostschweiz,  noch 
in  Oberschwaben,  noch  in  Unterelsafs,  oder  überhaupt  im  alamannischen 
Stammesgebiet,  auf  welches  zunächst  meine  Untersuchungen  sich  be- 
schränkten.    Gerade  die  Traditionen  an  Kirchen,   die  augenscheinlich 

i)  n>id.  311. 

2)  Dentschet  >^^rtsdiafUleben  a.  a.  O. 

3)  Ihid.  I.  I,  337. 

4)  R.  Hildebrand,  Recht  und  Sitte  aaf  den  verschiedenen  wirtscbafUichei» 
Roltnntnfen  (Jena  1896),  S.  146  n.  i. 

5)  K.  Weller,  Die  Besiedelang  des  Alamannenlandes ,  in  Württembergische 
Yierteljahnhefte  fUr  Landesgeschichte  N.  F.  7  (1898),  S.  337  läfst  das  Hafendorf  erst 
Back  der  Ansiedelong  sich  ans  dem  orsprttnglichen  Gesdilechtsdorf  entwickeln,  hfilt  aber 
daran  fest»  dafs  „die  Hofe  als  das  spätere  Dnrchschnittsmals  des  Besitzes  der  Gemein- 
freien  beseichnet  werden  kann*'.  Für  die  Schweiz  nimmt  ganz  im  Sinne  der  herrschen- 
den ÄDSchannngen  das  Bestehen  von  Dörfern  mit  freien  Hafen  an  F.  v.  Wyss,  Die 
schweizerischen  Landgemeinden  in  ihrer  historischen  Entwickelnng ,  in  Abhandlangen  zor 
Geschichte  des  schweizerischen  öffentlichen  Rechts  (Zürich  1892),  S.  10  fl. 

6)  S.  meine  „Stadien  zn  den  älteren  St  Galler  Urkunden"  im  Jahrbach  für 
Schwetzeriache  Geschichte  Bd.  26  (1901),  S.  205  ff.,  Bd.  27  (1902),  S.  185  ff.;  „Die 
Grvndbesitzrerteilnng  in  der  Nordostschweiz  and  angrenzenden  alamannischen  Stammes- 
gebieten ZOT  Karolingeneif  in  Conrads  Jahrbüchern  für  Nationalökonomie  nnd  Statistik,. 
3.  Folge,  Bd«  21  (1901),  S.  474 ff-;  und  „Zwei  Elsäfser  Dörfer  znr  Zeit  Karls  dea 
Grofsen^y  in  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins,  N.  F.,  Bd.  17,  S.  450  ff.  n. 
S.  563  ff. 


—     266     — 

von  kleineren  freien  Grundeigentümern  herrühren,  bezeichnen  das  tra« 
<lierte  Objekt  nicht  als  Hufe  oder  Teil  einer  solchen,  sondern  wenden 
Umschreibungen  an,  die  unbegreiflich  wären,  wenn  das  Normalmafs 
^er  Hufe  als  Anteils  an  der  Dorfgemarkung  sich  auf  den  Besitz  der 
Tradenten  hätte  anwenden  lassen.  Der  den  Urkundenschreibem  wohl- 
bekannte Ausdruck  Hufe  (oder  mansus)  wird  nur  gebraucht,  um  ab- 
hängige Landgüter  zu  bezeichnen,  höchstens  auch  für  das  im  Eigen- 
betrieb des  Grundherren  befindliche  Salland,  das  gelegentlich  hoha  saUca 
-genannt  wird,  im  Gegensatz  zu  den  vestierten,  mit  freien  oder  unfreien 
Hintersassen  besetzten  Hufen. 

Waitz  ist,  entgegen  seiner  sonstigen  Arbeitsweise,  bei  der  Be- 
trachtung der  urkundlichen  Quellenzeugnisse  von  dem  ihm  von  vorn- 
herein feststehenden  Begriff  der  Hufe  ausgegangen,  den  er  nur  aus 
dem  reichlich  vorhandenen  Material  näher  zu  erläutern  suchte.  Hierbei 
«ah  er  ganz  darüber  hinweg,  ob  es  sich  um  grundherrliche  Hufen 
handelt  oder  nicht,  denn,  ebenfalls  vermöge  vorgefaCster  Meinung,  hielt 
-er  die  grundherrlichen  Hufen  mit  den  (hypothetischen)  der  freien 
Bauern  für  identisch,  und  bezog  ohne  Unterschied,  was  von  ersteren 
ausgesagt  wurde,  auf  letztere  *).  Wenn  man,  anstatt  einzelne  Quellen- 
stellen ohne  Rücksicht  auf  den  Zusammenhang  mehr  oder  minder  will- 
kürlich herauszugreifen,  die  Gesamtheit  des  zur  Verfügung  stehenden 
Materials  berücksichtigt,  so  ergibt  sich  ein  ganz  anderes  Bild  der  Ver- 
hältnisse, als  nach  der  Hufentheorie  zu  erwarten  steht.  Die  Traditionen 
an  St.  Gallen  liefsen  sich  nicht  in  solche  von  ein,  zwei  oder  mehr 
Hufen  einteilen  *).  Für  die  von  freien  Leuten  bewohnten  Dörfer  war 
schlechterdings  eine  Hufenzahl  nicht  zu  ermitteln  *).  Wohl  mochten 
sich  die  Besitzungen,  wie  das  bei  den  Hufen  der  Fall  ist,  aus  einem 
Gehöft  im  Dorf,  Äckern  und  Wiesen  in  der  Flur  und  Anteil  an  der 
gemeinen  Mark  zusammensetzen;  aber  sie  waren  nach  Belieben  des 
Eigentümers  teilbar.  Recht  häufig  werden  einzelne  Bestandteile,  Acker 
und  Wiesen,  veräulscrt  Des  öfteren  müssen  selbst  kleinere  Freie 
Besitz  an  mehreren  Orten  gehabt  haben.  Hätte  je  für  ihr  Eigengut 
die  Hufenverfassung  gegolten,  so  wäre  dieselbe  überaus  schnell  in 
Verfall  geraten ;  und  doch  erschienen  zur  selben  Zeit  die  wirklich  nach- 
weisbaren Hufen,  die  gnindherrlichen,  noch  so  fest,  dafs  selbst  Halbie- 
rungen äufserst  selten  sind.  Die  Voraussetzung  mnb  faüsch  sein,  deren 
.^ ^_^ _ .  _   • 

I)  A«ch  Grimn«  Dcstsche  Reditsaltcitimtr  (i.  Aift.,  Götttac«  iSaS)   a,  5S4  ff>« 
war  Mf  deo  UntvncKwd  nicht  «iDgeganKtn, 

a)  S.  dk  Ihibelleo  im  jakrb.  f.  Sckw.  Gc9clk  a^  K7  ^ 
3)  S.  die  ZttsuMMnsteUttugeft  ibid.  a?»  atgfi. 


—     267     — 

NichtzutrefTen  bei  Anwendung^  auf  konkretes  Material  sich  herausstellt. 
Der  gangbare  Begriff  der  Hufe  ist  zu  modifizieren.  Unter 
Hufe  wird  eben  im  Sprachgebrauch  der  St.  Galler  und 
Weifsenburger  Urkunden  ein  abhängiges  Landgut  im  Ver- 
bände einer  (grofsen  oder  kleinen)  Grundherrschaft  ver- 
standen, das  ausreichte,  den  Hintersassen  und  seine 
Familie  zu  ernähren  und  die  ihm  vom  Grundherrn  auf- 
erlegten Lasten  zu  tragen. 

Die  Umformulierung  des  Hufenbegriffs  zieht  für  die  gesamte  Auf- 
fassung von  der  älteren  deutschen  Wirtschafts-  und  Verfassungs- 
geschichte nicht  unwesentliche  Modifikationen  nach  sich.  Die  Ergeb- 
nisse der  Flurkartenforschung  bleiben  nur  insoweit  unberührt,  als  sie 
auf  tatsächlicher  Grundlage  beruhen,  also  die  Gestaltung  der  Fluren 
im  XVIII.  und  am  Anfang  des  XIX.  Jahrhunderts  betreffen.  Für  die  daraus 
gezogenen  Rückschlüsse  auf  die  Urzeit  wird  das  Urteil  von  Knapp  *) 
volle  Geltung  behaupten:  „Gemarkungskarten  zeigen  deutlich  die  Lage 
der  Äcker,  aber  die  Lage  der  Menschen  geht  aus  anderen  Urkunden  her- 
vor." Die  Streifenteilung  der  Gewanne  hat  Knapp,  unter  Verwerfung 
der  „rationalistischen**  Annahme  von  der  ursprünglichen,  planmäfeigen 
Anlage,  aus  allmählicher  Entstehung  zu  erklären  gesucht,  also  aus  gemein- 
samer BeteiliguDg  der  Dorfnachbarn  an  der  Ausdehnung  der  Flur  über 
früheres  Almendland.  Von  einer  Gütergleichheit  bei  den  alten 
Germanen  mufs  gänzlich  abstrahiert  werden.  Dergleichen 
findet  sich  wohl  in  der  Grundherrschaft  bei  den  Hintersassen,  die  ab- 
hängige Güter  bauen,  aber  nicht  bei  den  freien  Leuten,  die  auf  eigenem 
Grund  und  Boden  sitzen.  Jedenfalls  ist  in  der  Zeit,  über  welche  die 
Urkunden  Aufschlufs  geben,  keine  Spur  von  einer  Gleichheit  des  Besitz- 
tums vorhanden,  und  die  auf  frühere  Zeiten  aus  der  Hufenverfassung 
gezogenen  Schlüsse  sind  hinfällig. 

Wenn  Moser  anerkanntermafsen  die  Zustände  des  späteren  Mittel- 
alters auf  die  Urzeit  zurückübertragen  hat,  unter  Herstellung  eines 
freien  Bauernstandes,  so  genügt  es  nicht,  die  Züge  aus  dem  von  ihm 
entworfenen  Gemälde  zu  entfernen,  welche  in  offenbarem  Wider- 
spruch zu  den  Quellen  stehen,  sondern  man  mufs  eben  völlig  von 
seiner  in  den  älteren  Quellen  nicht  begründeten  Auffassimgsweise  sich 
loslösen.  Die  Stellung  der  Vollhufher  in  der  späteren  Dorfverfassung 
unter  der  Grundherrschaft  beweist  nicht  das  geringste  für  die  Verhält- 
nisse der   freien  Leute   früherer  Epochen,   von  denen  sie  keinesfalls 

i)  G.  F.  Knapp,  Siedelang  and  Agrarwesen  nach  A.  Meitzen,  in  der  Beilage 
2ar  Allgemeinen  Zeitnng,  Jahrg.  1896,  nr.  249,  vgl.  WeUer  L  c.  S.  338. 


—     268     — 

direkt  herzuleiten  sind;  denn  dafs  auch  der  (angebliche)  Unteigangp 
der  freien  Bauern  nicht  einfach  durch  Eingliederung  ihrer  Hufen 
(richtiger  Besitzungen)  in  die  Grundherrschaften  erfolgt  sein  kann, 
habe  ich  bereits  früher  zu  zeigen  gesucht  *).  Diejenigen  Grundherr- 
schaften, deren  Entstehung  unmittelbar  nachweisbar  ist,  die  geistlichen,, 
beruhen  guten  Teils  auf  den  vor  ihnen  vorhandenen  weltlichen.  Wohl 
mochte  durch  Tradition  zu  frommem  Zweck  gar  manches  Eigengut 
kleiner  Freier  in  immittelbare  Nutzniefsung  einer  Kirche  übergehen 
und  ist  dann  etwa  bei  Neueinrichtung  von  Hufen  iiir  Hintersassen  mit 
verwandt  worden,  ganz  wie  ja  auch  auf  Rodland  neue  gnmdherrliche 
Hufen  angelegt  wurden ;  aber  die  Vorstellung  ist  abzuweisen,  dafe  der 
Freie,  der  sein  tradiertes  Eigengut  zu  Prekarie  zurückempfing '),  damit 
in  das  gleiche  Verhältnis  zum  grundherrUchen  Frohnhof  trat,  in  dem 
sich  der  Hufner  befand.  Leihe  zu  Hofrecht  und  Leihe  zu  Prekarie 
waren  imd  blieben  verschieden  •) ,  auch  wenn  durch  Ausdehnung  der 
Immunität  obrigkeitliche  Rechte  der  Grundherren  über  die  Inhaber  der 
freien  Leih^^ter  begründet  wurden. 

Gerade  auf  alamannischem  Stammesgebiet  haben  die  alten  Zu- 
stände nur  sehr  langsam  sich  geändert.  Als  BestandteUe  der  Frohn- 
höfe  erscheinen  noch  in  den  späteren  Urbaren  Salland  und  Hufen  ^)» 
Ersteres  wurde  nach  Aufhören  des  grundherrlichen  Eigenbaues  vom 
Kellner  gegen  feste  Abgaben  auf  eigene  Rechnung  bewüischaftet.  Zu 
den  Hufen  sind  als  dienende  Güter  im  Frohnho£sverband  die  (kleineren) 
Schupposen  hinzugetreten.  Auiserdem  aber  sind  die  2Unsgüter  nachweisbar,, 
die,  wie  sie  nicht  nach  Hofrecht  innegehalten  wurden,  so  auch  in  der  Regel 


i)  Vgl.  Jahrb.  f.  Schweix.  Gesch.  27,  343  ff. 

2)  Das  Wesen  der  Prekarie  im  Gegensatz  zum  Beneficinm  beleuchtet  nenerdings- 
Seeliger,  Die  soziale  und  politische  Bedeuttmg  dm'  Orundherrsehaft  im  früheren 
MiäelaÜer  [=  Abhandlungen  der  phU.-hist.  Klasse  der  königL  Sächsischen  Gesellschaft 
der  Wissenschaften  22.  Bd.]  Leipzig  1903. 

3)  Wegen  der  Entstehung  der  freien  Leihe  ans  der  Prekarie  s.  Rietschel, 
Die  Entstehung  der  freien  Erbleihe,  in  Zeitschrift  der  Savigny*Stiftung  für  Rechtsgeschichte,. 
germ.  Abt.  Bd.  22  (1901),  S.  181  ff. 

4)  VgL  die  SL  Galler  Rodel  bei  Wartmann,  Urkundenbuch  der  Abtei  St  Gallen^ 
Bd.  3,  St  Gallen  1882,  S.  746  E  Das  Habsburgische  Urbar,  herausgeg.  von  R.  Maag, 
in  Quellen  zur  Schweizer  Geschichte  Bd.  14  und  15  (Basel  1894,  99).  Das  Üteste  Eia> 
Siedler  Urbar,  herausg^.  von  P.  Gall  Morel  in  Der  Geschichtsfrennd,  Mitteüungen  des. 
historischen  Vereins  der  fünf  Orte,  Bd.  19  (1863),  S.  93  ff.  Das  Einsiedler  Urbar  von 
1331,  herausgeg.  von  P.  Odilo  Ringholz,  ibid.  Bd.  45  (1890),  S,  i  (L  Ein  Rheinaner 
Urbar  des  XIV.  Jahrhunderts,  herausgeg.  ron  J.  M  e  7  e  r ,  in  Alemannia,  Zeitschrift  f&r  Sprache,. 
Litteratur  und  Volkdmode  des  TOsassrt  und  Oberrhtins,  herausgeg.  von  A.  Birlinger^ 
Bd.  4  (1877),  S.  106  fi:^  212  ff. 


—     269     — 

nicht  als  Hufen  oder  Schupposen  bezeichnet  werden  ^) ,  ebensowenig* 
wie  das  Eigengnt  freier  Bauern  *).  An  diesen  Verhältnissen  hat  der 
Wechsel  der  Zeiten  nichts  geändert.  Die  Hufenverfassung  war  im 
Xn.  und  XIII.  Jahrhundert  so  wenig  allgemein  durchgeführt,  als  in  der 
Karolingerzeit.  Ihre  Auflösung  ist  ein  Vorgang,  der  nicht,  wie  bisher 
wohl  angenommen  werden  mufete,  sich  über  mehr  als  ein  halbes  Jahr- 
tausend ausdehnte  ^),  sondern  der,  aufs  engste  zusammenhängend  mit 
den  Veränderungen  in  der  Verfassung  der  Grundherrschaften,  im 
südlichen  Alamannien  kaum  vor  dem  XIII.  Jahrhundert  begonnen  hat 
tmd  in  der  Weise  sich  vollzog,  dais  die  nach  Hofrecht  zu  Erbe  sitzenden 
Inhaber  der  Hufen  das  Nutzland  teilten  oder  auch  Stücke  davon  ver- 
änüserten.  Die  seit  der  Karolingerzeit  durch  Ablösung  der  Frohnden 
in  Abgaben  verwandelten  grundherrlichen  Lasten  wurden,  (als  Grund- 
zins) auf  den  Boden  radiziert,  mit  diesem  geteUt,  sodals  schlie&lich 
Hufen  (und  auch  Schupposen)  zu  ideellen  Belastungseinheiten  im  Rahmen 
der  Grundherrschaft  herabsinken  konnten^). 

Inwieweit  die  aus  der  Betrachtung  eines  lokal  begrenzten  Quellen- 
kreises gewonnenen  Ergebnisse  allgemeine  Geltung  beanspruchen  dürfen, 
wird  sich  erst  durch  weitere  spezielle  Untersuchungen  ermitteln  lassen. 


i)  VgL  meine  AusfÜhningeii  über  die  Dörfer  Mari  und  Wohlen  (nach  den  AcU 
llnrcnsia,  QoeUen  cur  Schweiz.  Gesch.  Bd.  3,  T.  3)  in  dem  Aufsatz  „Zar  Agrargeschichte 
<ler  Nordostschweis  and  angrenzenden  Gebiete  vom  10.  bis  13.  Jahrbondert**  in  Conrads 
Jahrbttchem  für  Nationalökonomie  and  Statistik,  3.  Folge,  Bd.  24  (1903),  S.  601  ff., 
s.  S.  615  f. 

3)  VgL  ibid.  S.  611  wegen  der  Besitzungen  des  freien  Banem  Rözo. 

3)  So  Terlegt  Inama-Sternegg,  D.  W.  G.  i,  313  den  Anfang  bereits  ins 
Vm.  Jahrhimdert  and  läftt  ibid.  3.  i.  22$  ff.  die  Aaflösang  der  (gmndherrlichen)  Hufen- 
onfamng  ganz  besonders  im  XIV.  Jahrhundert  vor  sich  gehen. 

4)  Besonders  deutlich  ersichtlich  ist  die  Hufenteilung  in  dem  oben  S.  268,  Anm.  4 
erwähnten  Rheinaner  Urbar,  wo  für  die  einzelnen  Höfe  das  Zubehör  an  Hufen,  Schup- 
posen etc.  mit  der  darauf  ruhenden  Belastung  angegeben  wird,  und  dann  die  Teilinhaber  der 
Haien  und  ihre  Abgaben  aufgeführt  sind.  Sehr  stark  zersplittert  erscheinen  die  Hufen  in 
einem  den  Statuten  des  GrofsmOnsterstifts  Zürich  von  1 346  beigefügten  Einkünfteverzeichnis 
^Stadtbibliothek  Zürich  Msc  C.  10 a).  So  ist  ibid.  f.  240  von  Albisrieden  gesagt,  dafs 
Niemals  dort  3Vt  Hufen  vorhanden  waren,  die  proeessu  temparum  ex  vendicumibuSy 
iontUicmbua  ei  permutaiiombus  adeo  partieulariter  nmt  divise,  quod  vtx  vel  ttmquam 
rtmUgrari  pos9%mt.  Für  Schwamendingen  werden  (f.  251)  aufser  dem  Kelnhof  loy,  Hufen 
«od  6  Schupposen  aufgeführt  (ebenso  im  Habsburger  Urbar  1.  c.  14,  252),  die  schon  stark 
zerstOckelt  sind,  während  in  einem  Urbar  des  XVL  Jahrhunderts  die  Hufenverfassung  wieder- 
hergestellt erscheint,  und  die  Dorföffnung  von  1533  Teilung  der  Hufen  oder  Abverkauf 
von  ParzeUen  verbietet,  eine  Bestimmung,  welche  die  älteren  Weistttmer  des  Dorfs  noch 
nicht  enthielten,  s.  Hotz,  Zur  Geschichte  des  Grofsmttnsterstifts  Zürich  und  der  Mark 
Schwamendingen,  Bd.  i,  Urkundenbuch  (Zürich  1865),  S.  38  nr.  45  und  S.  39  nr.  46. 


—     270     — 

Gewife  waren  die  Verhältnisse  nicht  in  allen  deutschen  Landschaften 
die  gleichen ;  aber  gerade  da,  wo  gnindherrlicher  Besitz  überwog,  sind 
auch  die  Hufen  besonders  häufig  zu  finden  ^).  Anderwärts  ist  die 
doppelte  Bedeutung  des  Wortes  mansus  zu  beachten,  das  vor  allen 
in  den  Lorscher  Traditionen  vielfach  ausschließlich  die  Hofstätte  be» 
zeichnet.  Gesondert  aufgeführte  Pertinenzen  des  manstis  entsprechen 
dann  sehr  wenig  dem  herkömmlichen  Begriff  der  Hufe  ^).  Aus  den 
Urbaren  der  Karolingerzeit  können  über  die  Beschaffenheit  des  Grund- 
eigentums freier  Bauern  keine  Aufschlüsse  gewonnen  werden,  da  in 
ihnen  nur  grundherrlicher  Besitzstand  verzeichnet  ist ').  Gerade  die 
Urbare  schildern  jedoch  so  deutlich  die  Hufe  als  Nutzungs-  und  Be- 
lastungseinheit im  Frohnhofsverband ,  dafs  allein  schon  die  in  ihnen 
massenhaft  vorhandenen  Zeugnisse  jeder  anderen  Auffassung  der  Hufe 
die  gröfeten  Schwierigkeiten  bereiten. 

Die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Hufe  hat  einschneidende  Bedeu- 
tung für  die  gesamte  Auffassung  von  der  sozialen  und  wirtschaft- 
lichen Entwicklung  des  deutschen  Volkes.  Eine  Lösung  kann 
sie  nicht  finden  durch  Abstraktionen  und  Rückschlüsse,  welche  achtungs- 
los über  die  Wandlungen  im  Verlauf  einer  mehr  als  tausendjährigen  Ge- 
schichte hinweggehen.  Nur  eindringende  lokalhistorische  Forschung 
vermag  all  die  Veränderungen  nachzuweisen,  welche  die  scheinbar  so« 
stabilen  agrarischen  Zustände  erfahren  haben.  Aus  Nordfrankreich  liegt 
wichtiges  Material  zum  Vergleich  vor  *).   Die  reichhaltigen  Quellen  Eng- 


i)  Über  die  Gnindbesitzyerteilang  znr  Karolingerzeit  in  Deutschland  und  das  ftir 
die  Ermittelang  derselben  verwendbare  Material,  vgl.  meinen  Aufsatz  in  dieser  Zeitschrift 
Bd.  3  (1901),  S.  65  fif.  Sehr  bemerkenswert  ist  z,  B.  im  breviarium  des  Abts  Urolf  von 
Niederalthaich  in  Bayern  (Monumenta  Boica  Bd.  11,  S.  13  ff.)»  ^^  ^  ^^  Schenkungen, 
welche  der  Herzog  machte  oder  die  aus  Herzogsgut  herrührten,  die  Zahl  der  mansi  an- 
gegeben wird.  Bei  den  Traditionen  der  nobiles  heifst  es  nur,  dafs  sie  Erbgut  des  Tra- 
denten  an  dem  und  dem  Orte  betrafen. 

2)  Das  hat  schon  Landau,   Territorien  S.  5  fi^,  erkannt  und  mit  Beispielen  belegt. 

3}  Ober  Urbare  vgl.  J.  Susta,  Zur  Geschichte  und  Kritik  der  Urbarialaufzeich- 
nungen,  Sitzungsberichte  der  Wiener  Akademie,  phiL  hist  Klasse,  Bd.  138  (1898).  Aufser 
den  vom  Lamprecht  2,  59  ff.  behandelten  Prümer  und  Metlacher  Urbaren  sind  besonders 
interessant,  auch  w^en  der  Möglichkeit  des  Vergleichs  mit  Urkunden,  die  jedenfalls  auf 
karolingische  Grundlage  zurückgehenden  Aufzeichnungen  von  Weifsenburg  und  Lorsch. 
Erstere  bei  Zeufs,  Traditiones  possessionesque  Wizenburgenses  (Speier  1842),  S.  269  ff.,  vgl. 
W.  Hart  t er.  Der  Güterbesitz  des  Klosters  Weifsenburg  i.  E.  2.  Teil,  Gymnasialprogramm, 
Speier  1893/4;  letztere  im  Lorscher  Traditionskodex,  Codex  principis  olim  Laureshamensis 
diplomaticus,  ed.  Academia  Palatina  (Mannheim  1768),  Bd.  3,  S.  175  ff.,  nr.  3651  ff. 

4)  Für  Nordfrankreich  hat  Gu^rard  in  den  Erläuterungen  zum  polyptichum  Ir- 
minonis  den  Begriff  des  mansus  festgestellt  nach   dem  Gebrauch   des  Wortes   in   diesen» 


—     271     — 

lands  würden  erneute  Durchsicht  verdienen  ^),  Erst  wenn  es  gelungem 
ist,  die  Entwickelung  bis  zu  ihrem  durch  positive  Zeugnisse  erkenn- 
baren Ausg^angspunkt  zurückzuverfolgen,  können  Vermutungen  über 
die  dunkle  Vorzeit  gewagt  werden. 

Auf  einen  Umstand  möchte  ich  noch  hinweisen.  Vollkommen 
durchgeführt  erscheint  die  Hufenverfassung  im  deutschen  Kolonisations- 
g^biet  östlich  der  Elbe.  Dort  sind  die  Ansiedelungen  in  Dörfern  er- 
folgt, das  Land  wurde  in  Hufen  ausgeteilt,  Acker  und  gemeine  Mark 
blieben  gesondert;  aber  gerade  die  ostelbischen  Ansiedelungen  tragea 
durchgehends  grundherrlichen  Charakter  >).  Es  haben  nicht  die  zu- 
ziehenden Bauern  den  Boden  als  Eigentum  okkupiert,  sondern  ihui 
von  den  Eigentümern  zu  Erbzinsrecht  'angewiesen  erhalten.  Die  inv 
Mutterlande  ausgebüdeten  Formen  von  Dorfverfassung  und  Gnmd- 
herrschaft  wurden  auf  die  Kolonieen  übertragen  mit  denjenigen  Modi- 
fikationen in  Bezug  auf  persönliche  Freiheit  der  Hintersassen  und  häufige 
auch  geringere  Höhe  der  speziell  grundherrlichen  Belastung,  welche 
dem  freiwilligen  Eintritt  in  das  Leiheverhältnis  und  der  Leistung  der 
Beliehenen  für  Nutzbarmachung  des  Landes  entsprachen.  Kaum  glaub- 
Uch  erscheint,  dals  germanische  Krieger,  die  im  wilden  Ansturm  den 
römischen  Grenzwall  durchbrachen  und  das  Schilddach  der  Legionen 
sprengten,  auf  dem  Boden  eroberter  Provinzen  ebenso  fein  säuberlidt 
ihre  zum  notdürftigen  Unterhalt  der  Familie  gerade  ausreichenden 
Äckerlein  sollen  abgezirkelt  haben,  wie  das  an  Untertänigkeit  gewöhnte 
Bauern  taten,  welche  nach  dem  Osten  auswanderten,  um  mehr  Land 


UrbAT  des  Klosters  Saint-Germain-des-Pr^,  s.  Poljptyque  de  Tabb^  Irminon,  ed.  Gn^rard,« 
Bd.  I  (Paris  1844),   S.  577  ff.     Seine  Begrifftbesümmnog  „on  doit  entendre,  en  g6n^ral, 
par  mause  iine  sorte  de  ferme  oa  nne  habitation  mrale  k  laqneUe  ^tait  attacb6e,  4  per-- 
pteit6,  nne  qnaoüt^  de  terre  d6termiii6e  et,  eo  principe,   invariable **  war  weit  gefafst,. 
SB  anfser  den  mit  Hintersassen  besetzten  mansi  aach  dem  mansns  dominicos  einsaschliefsen. 
Von  letzterem  sieht  Fnstel   de  Conlanges   aosdrücklich   ab,   wenn  er  anter   dem  mansas 
„ranit^  de  tennre"  rersteht  (Histoire  des  institntions  politiqnes.     L'aUen  et  le   donuune- 
rvaly  Paris  1889,  S.  367)  uid  ibid.  371  sagt,  „les  hobae  sont,   en  g6n^ral,   des  manses- 
d'esdares  on  de  Utes."    Mit  Rücksicht  auf  westfränkische  Veriiältnisse  ist  jedenfalls   die 
Bedentnng  des  mansns  in  den  karolingischen  Kapitularien  zu  erklären ;  vgL  ilbrigens  meine - 
demnächst  in  der  Historischen  Vierteljahrschrift  erscheinende  Abhandlung  über  „Die  Land- 
gfiter  in  den  fränkischen  Formelsammlungen". 

i)  VgL  fiber  die  flir  das  ältere  englische  Agrarwesen  streitigen  Fragen  W.  J.  Ashley,, 
Ab  introdnction  to  English  economic  history  and  theory,  Bd.  i ,  The  middle  ages 
(London  1888). 

2)  Vgl.    besonders   Meitzen,   Urkunden   schlesischer  Dörfer   zur   Geschichte   der 
ländlichen  Verhältnisse  und  der  Flureinteilung  insbesondere   [=  Codex  diplomaticus  Sile- 
■iae,  Bd.  4  (Breslau  1863)]. 


—     272     — 

tind  bessere  Bedingungen  zu  finden,  als  die  übervölkerte  Heimat  zu 
bieten  vermochte.  Es  ist  vielmehr  ein  g'anz  ung'eheuerer 
Anachronismus,  die  Formen  der  g'ermanischen  Ansiede- 
lungen auf  römischem  Boden  in  der  Völkerwanderung's- 
^eit  gleich  zu  setzen  mit  denen,  welche  bei  der  deutschen 
Kolonisation  imOsten  über  ein  halbes  Jahrtausend  später 
üblich  waren,  und  die  Bodenverteilung  in  den  deutschen 
.Stammesgebieten  zur  Merovingerzeit  sich  unter  dem  Bilde 
vorzustellen,  welches  die  Landbücher  des  XIV.  Jahr- 
hunderts von  Brandenburg  und  Schlesien  gewähren.  Und 
•  doch  würden  zu  solchen  Folgerungen  die  geltenden  Anschauungen  von 
der  Hufe  fuhren,  indem  sie  über  den  tiefgreifenden  Unterschied  von 
Eigengut  der  Freien  und  dienenden  Gütern  der  Hintersassen  in  der 
'Grundherrschaft  mittels  einer  durch  die  Quellen  nicht  bestätigten 
Fiktion  hinweggleiten. 


Mitteilungen 

Famillenforsehung.  —  Die  Bedeutung  einer  nach  wissenschafUichen 
Grundsätzen  betriebenen  Familien  forschung  —  d.h.  der  Untersuchungen, 
die  über  Jahrhimderte  hinweg  eine  Famüie,  ihre  Wanderungen ,  die  Berufe 
ihrer  Glieder  u.  s.  w.  verfolgen,  —  läfet  sich  heute  keinen  Augenblick  ver- 
kennen, und  ihre  Zusammengehörigkeit  bezw.  Interessengemeinschaft  mit  der 
Ortsgeschichte  wurde  bereits  früher  nachdrücklich  betont^).  Aber  gerade 
auf  diesem  Felde  sind,  da  das  allerindividuellste  Gebiet  geschichtlichen 
Lebens,  die  einzekie  meist  nicht  weiter  hervortretende  Person,  Forschungs- 
objekt ist,  die  Schwierigkeiten  ganz  besonders  grofs  und  für  den  einzelnen 
(äst  unüberwindlich.  Zwar  beschäftigen  sich  heute  viele  einzelne  Personen 
mit  der  AufheUung  ihrer  Familiengeschichte,  aber  ihre  Arbeit  pflegt  der  All- 
gemeinheit verloren  zu  gehen,  da  eben  nur  die  im  besonderen  daran  Inter- 
essierten davon  Kenntnis  nehmen  und  der  Forscher,  den  aus  rein  sachlichen 
Gründen  eine  bestimmte  Person  und  ihre  Herkunft  interessiert,  selbst  dann, 
wenn  die  entsprechenden  Nachforschungen  bereits  einmal  angestellt  worden 
sind,  selten  etwas  davon  erßLhrt  oder  sie  sich  gar  zu  nutze  machen  kann. 
Und  kommt  er  selbst  in  diese  glückliche  Lage,  dann  sind  die  ihm  vor- 
liegenden Angaben  vielfach  zu  ungenau  tmd  entsprechen  nicht  seinen  kri- 
tischen Anforderungen,  sodaüs  er  doch  selbst  aufis  neue  an  die  Arbeit  gehen 
mufs.  Das  sind  Mifsstände,  die  sich  bei  dem  heutigen  Stande  der  For- 
schung immer  empfindlicher  fühlbar  machen,  und  wenn  sich  Mittel  finden 
liefisen,  um  sie  zu  beseitigen,  so  wäre  dies  für  die  gesamte  Geschichtsforschung, 

i)  VergL  diese  ZeiUchrift  3.  Bd.,  S.  182  —  185. 


—    273    — 

nameadich  Tom  XVI.  bis  XIX.  Jahrhundert  ein  unschätzbarer  Gewinn.  £in 
Versuch  dazu  wird  jetzt  von  Leipzig  aus  unternommen;  eine  der  brei- 
testen Öffentlichkeit  zugängliche  Zentralstelle  fOr  deutsche  Per- 
sonen- und  Familiengeschichte  soll  gegründet  und  zu  deren  Begründung 
zunächst  ein  Verein  ins  Leben  gerufen  werden.  Der  Verein  ist  hier  nur 
Mittel  zum  Zweck ;  den  Mitgliedern  werden  natürlich  bei  der  Auskunfterteilung 
besonders  günstige  Bedingungen  gewährt,  aber  auch  jedem  anderen  Frager 
soll  die  Zentralstelle  ofifen  stehen.  Ihre  Aufgabe  besteht  zimächst  darin,  das 
weitschichtige  gedruckte  Material  auszubeuten  und  in  Zettelkatalogen  nieder- 
zulegen, und  daraus  jedem  Frager  gegen  geringes  Entgelt  Auskunft  zu  gewähren, 
sowie  eigene  Forschungen,  auch  im  Auftrage  der  Interessenten,  anzustellen. 
Neben  der  freiwilligen  Mitarbeit  der  Vereinsmitglieder  soll  aber  dauernd  die 
eines  historisch-wissenschaftlich  geschulten  Beamten  —  später 
mehrerer!  —  für  diese  Zwecke  nutzbar  gemacht  werden,  und  hierin  liegt 
gegenüber  ähnlichen  Versuchen  eine  beachtenswerte  Besonderheit  und,  wenn 
es  gelingen  sollte,  einigermafsen  Mittel  dafür  zusammenzubringen,  die  Gewähr 
für  ein  glückliches  Fortschreiten,  da  nicht  allein  auf  die  zufällige  oft  versagende 
Id&beTeitschaft  einzelner  gerechnet  wird. 

DreiunddreÜsig  Personen  jeglichen  Berufis,  die  sich  über  ganz  Deutsch- 
land verteilen  und  unter  denen  sich  zahlreiche  Mitglieder  der  Vereine  „Herold** 
und  „Roland**  befinden,  haben  einen  soeben  verbreiteten  Aufruf  unterzeichnet, 
den  wir  vollständig  folgen  lassen: 

Wiederholt  ist  in  den  letzten  Jahren  in  den  Kreisen  der  Genealogen 
und  Familiengeschichtsforscher  der  Gedanke  angeregt  worden,  die  grofsen 
Schwieri^eiten ,  welche  die  ungeheure  Zersplitterung  des  Materials  ihren 
Art>eiten  in  den  Weg  legt,  dadurch  zu  überwinden,  dafs  die  in  Urkunden- 
büchem,  Universitätsmatrikeln,  Bürgerlisten  und  anderen  gedruckten  und 
ungedruckten  Quellen  zerstreuten  Angaben  planmäfsig  gesanunelt  und  an 
einer  Stelle  der  Benutzung  weiterer  Kreise  zugänglich  gemacht  werden. 
Es  ist  dabei  meist  ausschliefslich  an  freiwillige  Betätigung  der  zahlreichen 
Interessenten  gedacht  worden,  und  wenn  auch  heute  schon  eine  Reihe  von 
Vereinigungen  besteht,  die  ihren  MitgUedem  solche  Forschungen  zu  er- 
leichtem suchen,  so  fehlt  es  doch  noch  immer  an  einem  Mittel,  um  jedem 
Fragenden  über  alle  tatsächlich  angestellten  Ermittelungen  Auskunft  zu  geben. 
Die  Unterzeichneten  sind  der  Überzeugung,  dafs  das  erstrebte  Ziel,  die 
Begründung  einer  Zentralstelle  für  deutsche  Personen-  und  Familiengeschichte 
nur  erreicht  werden  kann,  wenn  zu  der  freiwilligen  Arbeit  der  Interessenten, 
auf  die  gerade  in  einem  solchen  Falle  gar  nicht  verzichtet  werden  kann, 
die  Mitarbeit  historisch  geschulter  Arbeitskräfte  tritt,  deren  es  vor  allem 
bedarf  zur  systematischen  Durcharbeitung  des  schon  gedruckt  vorliegenden 
QueUenmaterials ,  um  das  Material  zu  ergänzen  und  auszubauen,  das  der 
einzelne  freiwillige  Mitarbeiter  seiner  Neigung  oder  seinem  Berufe  gemäfs 
bearbeitet  Zur  Beschafitmg  der  Mittel  für  die  zunächst  nötigen  Bücher, 
Schreibmaterialien  und  Zettelkästen,  sowie  für  die  nötigen  Arbeitskräfte, 
haben  die  Unterzeichneten  beschlossen,  einen  Verein  zur  Begründung  imd 
Erhaltung  einer  solchen  2^ntralstelle  ins  Leben  zu  rufen,  dessen  Mitglieder 
durch  einen  regelmäisigen  Jahresbeitrag  und  nach  Kräften  durch  Einsendung 
korrekt  ausgefüllter  Zettel  zu  dem  bezeichneten  Zwecke  mitwirken  sollen. 

19 


—     274    — 

Sie  richten  deshalb  aa  alle  Freunde  ÜEuaufieogeschichtlicher  Forschung  die 
Bitte,  das  Zustandekonunen  des  Unternehmens  durch  den  Beitritt  zu  diesem 
Verein  zu  unterstützen. 

Als  Grundlage  einer  solchen  Zentralstelle  soll  dann  ein  alphabetisdi 
geordneter  Zettelkatalog  geschaffen  werden,  dessen  einzelne  Zettel  enthalten 
sdkn:  Geburts-  bezw.  Taufzeit  und  Ort,  Todeszeit  und  Ort,  Angaben  über 
Wohnort  und  Lebensstellung,  Verheiratung,  Eltern  imd  Kinder  unter  genauen 
Angaben  der  Quellen  und  bei  Zetteln,  die  von  Mitgliedern  eingesandt  sind, 
die  Angabe  des  Einsenders.  Ausgeschlossen  sollen  alle  die  Personen  sein, 
über  welche  bereits  genaue  biographische  Angaben  in  allgemein  zugäng- 
lichen gedruckten  Werken  vorhanden  sind,  die  Zentralstelle  würde  aber  fUr 
solche  Personen  die  gedruckte  Literatur  nachweisen,  auf  Anfragen  Auskunft 
erteilen  und  gegen  geringes  Honorar  Abschriften  des  in  ihren  Zetteln  vor- 
handenen Materials  liefern.  Es  ist  nicht  zu  leugnen,  dals  eine  so  aus- 
gestattete Zentralstelle  nicht  nur  flir  die  Familien-  und  Personengeschichte, 
sondern  auch,  für  die  Orts-  und  Namensforschung,  die  Geschichte  der 
inneren  Wanderungen  und  der  Stämme  von  gröfster  Wichti^eit  sein  würde. 
Die  Schwierigkeiten,  die  dem  Unternehmen  entgegenotehen,  verhehlen  sich 
die  Unterzeichneten  nicht,  sie  weisen  aber  darauf  hin,  da&  eine  ähnliche 
Einrichtung  kleineren  Maßstabes  besteht  bei  der  Commission  de  Vkütok-e 
des  SgUaes  tcaUonnes  in  Leyden  (Holland),  die  Kircbenbuchauszüge  fran- 
zösisch-reformierter  Gemeinden  in  Belgien,  Holland,  Deutschland  u.  s.  w. 
besitzt  und  davon  gegen  geringe  Gebühr  Abschriften  liefert 

An  die  Verwirklichung  des  Planes,  eine  Zentralstelle  ftir  deutsche 
Personen-  tmd  Familiengeschichte  zu  schaffen,  kann  nur  gegangen  werden, 
wenn  die  zugesagten  B^eiträge  eine  genügende  Höhe  erreichen,  und  die 
Zeichner  von  Jahresbeiträgen  sollen  deshalb  bis  zum  i.  Januar  1904  an 
ihre  Zusage  gebunden  bleiben.  Bis  dahin  wird  ihnen,  wenn  das  Zustande- 
kommen der  Zentralstelle  gesichert  ist,  eine  entsprechende  Mitteilung  zu- 
gehen und  der  Beitrag  von  ihnen  erhoben  werden. 

Als  jährlicher  Mindest-Beitrag  sind  fünf  Mark  festgesetzt  worden. 

Zuschriften  und  Sendungen  werden  zunächst  erbeten  an  Rechtsanwalt 
Dr.  Breymann  in  Leipzig,  Neumarkt  29. 

Allen  Freunden  der  Geschichte,  im  besonderen  den  Genealogen  mufs 
die  Beteiligung  an  diesem  Unternehmen  empfohlen  werden.  Es  ist  nicht  von 
vornherein  zu  grofsartig  angelegt,  kann  mit  einigen  Tausend  Mark  jährlich 
wohl  seine  Täti^eit  beginnen,  aber  die  Organisation  gestattet  auch  leicht 
eine  Ausdehnung  und  Vergröferung  des  Betriebes,  wenn  das  Interesse  und 
damit  die  finanzielle  Grundlage  wächst 

ZeltoclurlftolU  —  Der  Fuldaer  Geschichtsverein  veranlafst  seit 
1 902  die  Herausgabe  der  FuZdaer  Oesehieht^UUtef',  die  der  Stadt- 
archivar Dr.  Josef  Karteis  redigiert  imd  die  mit  dem  Untertitel  Zeüschrift 
für  OeschiebU,  Kunst-,  Kultur-  und  Wirtsehaßsgtsokkhte,  insbesondere  des  ehe- 
makgen  Fürstentums  Fulda  als  MonsUsbeilage  zur  Fuldaer  Zeitung  erscheinen. 
Der  erste  Jahrgang  (1901)  liegt  jetzt  abgeschlossen  vor  (192  S.  S^)  imd 
zeigte  wie  ein  Verein  ohne  grofse  Kosten  sich  ein  Organ  schaffen  und  — 


—    «76     — 

noch  mehr  ist  *—  zugleich  auf  die  weiteren  Kreise  wirken  kann,   da 
eben   in   der  Beäage  zur  Tageszeitung  mancher  Dinge  liest,  die  ihm  sonst 
nie   zu  Gesicht  kommen  würden  ^).     Beiträge ,   die   auch  für  die  allgenieine 
Forschmig  belangreich  sind,  stellen  die  Wieiertäuferhewegiing  im  ehemoHgen 
HoeksUft  FiMa  von  Karteis  (S.  3 — 20)  und  Fulda  im  Bauernkriege  von 
Antoni  (8.  33 — 41,  49 — 59,  65 — 72)  dar:  beide  Verfasser  benutzen  neben 
der  Literatur  Akten   des  Marburger  Staatsarchivs.     Recht  lehrreich  ist  auch 
der  Au£ntz  über  die  Lebensmittelpreise  in  Fkäda  (S.  8x^—88,   97 — 109), 
in   dem  Karteis  die  Polizeibestimmungen  geschickt  mit  den  Ergebnissen  der 
Rechnungen  verbindet:   die   ganz  allgemein  übUche  Tabelle,   nach  der  das 
Gewicht  eines  Groschenbrotes  mit  dem  Kompreis  variiert  (S.  102),   nicht 
wie   heute  der  Preis   für  ein  feststehendes  Gewicht,   verdient  bei  ähnlichen 
Stadien  zum  Vergleich  herangezogen  zu  werden.    Von  eigentümlichem  Reize 
und  für  die  Geschichte  der  Chronistik,  ganz  abgesehen  von  den  Nachrichten, 
die  sie  bringt,  wertvoll  ist  die  den  Jahren  1637 — 1667  entstammende  Chrcmik 
eines  Stausenbacher  Bauern,  die  id,  fünf  Stüdcen  vollständig  mitgeteilt  wird: 
eine    ganz   drastische  Schilderung  erfährt   der  Besuch  eines  Wolfe  im  Dorfe 
Stansenbach  und  seine  Verfolgung   am    16.  Mai    1643;   u*  ^  E^^^  damus 
hervor,   daüs  der  Bauer  auch  damals  noch  nackt  im  Bett  zu  liegen  pflegte 
(S.  130).     Eine   grö&ere  Zahl  MiszeUen   berichtet  über  die  verschiedensten 
Vorgänge  meist  durch  Mitteilung  von  Aktenstüdcen :   bemerkenswert  ist  das 
Verzeichnis  der  Fuldaischen  Bürger  von  1525 — 27:  es  sind  370  (S.  22 — 27); 
16 18  werden  auf  dem  Wdhnachtsmaikte  zu  Fulda  von  Auswärtigen  Honig- 
kuchen feilgeboten  (S.  191).    Recht  verdienstvoU  ist  schliefslich  der  Versuch, 
eine  Fuldaische  Bibliographie  zusammenzustellen,  der  in  8  Studien  gemacht 
wird;    diesem   löbHchen  Unternehmen  sollten  alle  Geschichtsvereine  für  ihr 
Gebiet  besondere  Aufinerksamkeit  zuwenden  und  vor  allem  verstreute  Zeit- 
schriftenaufeätze  sämdich,  wie  es  hier  geschieht,  mit  Titel  und  genauer  An- 
gabe der  Fundstelle  aufiühren!     Die  Leistung  des  Fuldaer  Geschichtsvereäis 
und  des  Redakteurs  verdient  die  vollste  Anerkennung,  denn  mit  bescheidenen 
Mitteln  ist  hier  viel  erreicht:   die  Beiträge  sind  voUcstümlidi  und  jedermann 
verstftndHch  und  doch  zugleich  sachUch  wertvoll,   sodafs  jeder  Forscher  für 
seine  Zwecke  hier  brauchbares  Material  finden  kann  und  die  Zeitschrift  einer 
Durchsicht  würdigen  solke. 


Von  der  bereits  früher  *)  erwähnten  Vierteljahrschrift  iDeUiSCh'AMS' 
rikamtBehe  Ges^^UchtäbUtMer,  die  die  Deutsch-Amerikanische 
Historische  Gesellschaft  von  Illinois  herausgibt,  hegen  jetzt  zwei 
Jahrgänge,  1901  und  1902,  abgeschlossen  vor  und  zeigen,  daft  'die  deutsche 


i)  Ganz  ähnlich  steht  es  mit  den  Blättern  fUr  lippische  HeimaÜcimde,  die  als 
monatliche  Beilage  der  Lippischen  Landeszeitnng  in  Detmold  erscheinen,  aber  ohne  dafs 
tto  Verein  dahinter  steht.    Vgl.  2,  Bd.,  S.  189. 

2)  VgL  diese  Zeitschrift  3.  Bd.  S.  311 — 312.  —  £•  gibt  anch  eine  „Gesellschaft 
filr  die  Geschichte  der  Deutschen  in  Maryland^^  mit  dem  Site  in  Baltimore,  aber  eine 
Zeitschrift  hat,  wie  es  scheint,  nur  die  Deutsch-Amerikanische  Gesellschaft  von  Illinois, 
die  aber  nicht  nur  Illinois,  sondern  das  gante  Gebiet  der  Vereinigten  Staaten  als  ihr 
Aibeitagebiet  betraditot. 

19* 


—     276     — 

Geschichtsforschung  allen  Grund  hat,  nicht  achtlos  an  dieser  VeröfientUchung 
vorüberzugehen.  Es  ist  ein  Stück  deutscher  Geschichte,  dessen  Aufdeckung 
sich  die  Gesellschaft  zum  Ziel  gesetzt  hat,  denn  sie  will  den  Anteil  des 
deutschen  Volkes  an  der  Kolonisation  und  dem  Ausbau  des  Staats-  imd 
Wirtschaftslebens  in  den  Vereinigten  Staaten  erforschen,  und  das  ist  eine 
Notwendigkeit,  da  von  der  offiziellen  und  vorherrschenden  englisch  gefärbten 
Geschichtschreibung  dieser  Anteil  absichtlich  und  unabsichtlich  vernach- 
lässigt worden  ist  Für  die  Geschichte  der  deutschen  Landschaften  sind 
diese  Blätter  so  wichtig,  weil  sie  zu  einer  individuellen  Charakteristik  des 
Auswanderertums ,  das  in  der  Regel  in  Deutschland  nur  statistisch  begriffen 
wird,  fortschreiten  und  so  den  Verlust,  den  das  Mutterland  durch  Abgabe 
so  vieler  seiner  Kinder  erlitten  hat,  verstehen  lehren.  Die  Persönlichkeit  und 
die  Arbeit  der  Auswanderer,  die  Mühe  und  die  Not  der  Kolonisten  wird 
in  zahlreichen  Einzelbeispielen  geschildert,  und  die  alte  Heimat  bildet  dabei, 
wenn  irgend  nähere  Kenntnis  davon  vorliegt,  den  Ausgangspunkt 

Die  Zeitschrift  erscheint  vierteljährlich,  aber  leider  nicht  so,  dafs,  wie 
wir  es  in  Deutschland  gewöhnt  sind,  vier  Hefte  einen  Jahrgang  und  Band 
mit  einem  Titelblatt  bilden,  sondern  jedes  Heft  steht  mit  einer  selbständigen 
Seitenzählung  für  sich;  das  im  je  vierten  Hefte  veröffentlichte  Inhalts-  und 
Namenregister  kann  den  Mangel  nicht  ersetzen,  und  jedenfalls  sollte  daneben 
eine  systematische  Inhaltsübersicht  nicht  fehlen.  Ein  alphabetisches  Register 
folgt  besser  nach  Abschlufs  von  etwa  fünf  Jahrgängen  und  mufs  dann  den 
gesamten  mitgeteilten  Stoff  zu  einer  Einheit  zusanunenzufassen  suchen.  An 
der  Form  der  Beiträge  ist  vielleicht  für  manchen  Leser  störend,  dafs  die 
einzelnen  Aufsätze  offenbar  absichtlich,  um  sofort  recht  viel  verschiedenes  zu 
bieten,  recht  klein  sind,  so  dafs  der  Stoff  allzusehr  zerstückelt  wird.  Wird 
eine  Mitteilung  zunächst  zurückgelegt  imd,  wenn  eine  kleine  Zahl  verwandter 
Arbeiten  vorliegt,  mit  diesen  zugleich  veröffentlicht,  so  verliert  jede  mitgeteilte 
Tatsache  die  Eigenschaft  des  Kuriosiuns,  denn  dann  tritt  im  Einzel&ll  das 
Typische  hervor.  Ein  so  herrUches  Stück  wie  Börstlers  Tagebuch  sollte 
höchstens  in  zwei  oder  drei  Abschnitten  mitgeteUt  werden;  jetzt  liegt  es  in 
sieben  Stücken  vor  und  ist  noch  nicht  abgeschlossen.  Im  Einzelnen 
könnten  die  positiven  Angaben  genauer  sein :  z.  B.  läfst  sich  I,  3,  S.  40  aus 
dem  Zusammenhange  nicht  erkennen,  im  April  welchen  Jahres  das  deutsche 
Theater  in  Chikago  eröfhet  worden  ist;  es  kann  1857  ebensogut  wie  1858 
gemeint  sein.  Büchertitel  sollten  stets  so  vollständig  imd  genau  sein,  dafs 
der  Leser  sie  ohne  weiteres  in  einer  Bibliothek  bezw.  beim  Buchhändler  zu 
bestellen  und  dieser  sie  zu  identifizieren  vermag.  Diese  Bemerkungen  sollen 
nur  vom  deutschen  Standpunkte  aus  auf  einige  formale  Mängel  aufinerksam 
machen,  sollen  aber  niemandem  die  Freude  am  Inhalt  verkümmern! 

*  Wert  und  Ziel  der  deutsch-amerikanischen  Geschichtsforschung  behandelt, 
wie  billig,  der  erste  Beitrag  (I,  i,  S.  4 — 8),  und  Wilhelm  Vocke  hat  mit 
wenigen  kräftigen  Zügen  hier  die  Beziehungen  klargelegt,  die  zwischen  den 
Deutschen  in  den  Vereinigten  Staaten  und  den  Deutschen  im  Mutterlande 
bestehen.  Eme  Ergänzung  dazu  bildet  die  Zuschrift  von  H.  A.  Ratter- 
mann (Cincinnati)  an  den  Verein  (I,  i,  S.  11 — 12),  die  um  so  wertvoUer 
ist,  als  der  Verfasser,  entschieden  der  eifrigste  deutsch-amerikanische  Ge- 
schichtsforscher, bereits  in  den  dreizehn  Jahrgängen  seiner  Zeitschrift  Pionier 


—     277     — 

dne  FfiUe  einschlägiger  Arbeiten  veröffentlicht  hat.  Der  Weit  der  Arbeit,  die 
der  Verein  leisten  will,  wird  aber  nicht  nur  von  den  schriftstellerisch 
tätigen  Deutsch- Amerikanern  anerkannt,  sondern  eine  ganze  Reihe  am 
Schlosse  der  ersten  Hefte  unter  Aus  unsrer  Briefmappe  mitgeteilte  Zu- 
schriften beweisen,  dafs  sich  Angehörige  aller  Kreise  lebhaft  daftir  interes- 
sieren und  ihre  z.  T.  ererbten  Aufzeichnungen  aus  der  Vergangenheit  zur 
Verfügung  steUen.  Nicht  minder  legen  die  zahlreichen  Geschenke  für  die 
Bibliothek  Zeugnis  davon  ab,  die  zusammen  mit  der  Verzeichnung  deutsch- 
amerikanischer Geschichtslitteratur  manchen  in  Erstaunen  darüber  setzen 
dürften,  wie  viel  Material  bereits  ausgegraben  ist,  das  nur  der  Ergänzung 
und  vor  allem  Ausbeutung  bedarf.  —  Von  den  Beiträgen  können  hier  nur 
die  charakteristischen  genannt  werden,  sie  mögen  ein  Bild  davon  geben,  was 
für  den  Deutschen  hier  zu  suchen  ist.  Natürlich  wird  den  Deutschen,  die 
sich  nachgewiesenennafsen  zuerst  an  diesem  oder  jenem  Orte  niedergelassen 
haben,  besondere  Aufinersamkeit  geschenkt,  und  ihre  Lebensschicksale  werden 
mit  Recht  z.  T.  einzeln  dargestellt,  denn  nur  so  lassen  sich  bestimmte  be- 
gründete Anschauungen  über  das  typische  Einwandrergeschick  gewinnen. 
Eine  wiederholt  zu  machende  Beobachtung  ist  z.  B.  die,  dafs  die  Einwandrer 
nacheinander  an  recht  vielen,  oft  weit  voneinander  entfernten  Orten  ihr 
Glück  versuchen,  ehe  sie  dauernd  sefshaft  werden.  Die  Geschichte  der 
Deutschen  Quinc/s  wird  von  I,  2  an  in  sieben  Abschnitten  geschildert  und 
ist  damit  noch  nicht  zu  Ende  geführt :  Der  erste  Deutsche  ist  Michael  Mast, 
1797  zu  Forchheim  geboren,  der  181 6  auswanderte  imd  sich  1829  hier 
mederUefs.  Der  erste  Deutsche  in  Chikago  hiefs  Matthias  Meyer  und  kam 
1831  dort  an  (I,  i,  S.  38  und  I,  3,  S.  17).  Die  Einwandrung  von  drei 
Banemfamilien  aus  der  Nähe  von  Aschaftenburg  1837  wird  nach  der  Er- 
zählung der  Beteiligten  anschaulich  geschildert  (I,  i,  S.  33 — 35).  Für  uns 
.ist  bei  diesen  Feststellungen  vor  allem  die  Gegend  Deutschlands,  aus  der 
die  Einwandrer  stammen,  von  Interesse  und  nicht  minder  die  2^t,  wo  sie, 
und  die  Verhältnisse,  unter  denen  sie  die  neue  Heimat  aufsuchten:  oft  ist 
eme  Rrisenepoche  die  Veranlassung,  namentlich,  wenn  eine  gröfsere  Zahl 
^chzeitig  von  dannen  zieht;  andre  meiden  als  politische  mehr  oder  weniger 
freiwillige  Flüchtlinge  die  Heimat  tmd  gehen  über  das  Meer,  und  wieder 
andre  locken  besonders  günstige  Aussichten,  von  denen  die  Kunde  zu  ihnen 
dringt,  oder  auch  gewissenlos  erweckte  Hofibungen.  In  letzterer  Hinsicht 
ist  die  Einwandrung  westfälischer  Bergleute  aus  der  Gegend  von  Musen 
nach  Virginien  17 14  von  Interesse:  40  Leute  unter  Führung  ihres  Ober- 
steigers harrten  im  Herbst  17 13  in  London  der  Überfahrt;  unter  diesen 
be£uid  sich  auch  Johann  Kemper,  dessen  Nachkoiomen  in  einer  neu  er- 
schienenen sich  über  elf  Generationen  erstreckenden  Familiengeschichte  diese 
wichtigen  Nachrichten  veröffentlicht  haben.  Die  Gründung  dieser  Bergleute, 
die  zur  Eisenschmelze  einen  heute  noch  vorhandenen  Hochofen  erbauten, 
war  die  jetzt  verschwtmdene  Stadt  Germana,  die  aber  bereits  vor  1724 
wieder  verlassen  wurde  (II,  4,  S.  28 — 32);  denn  die  Deutschen  zogen  weiter 
nordwärts  und  gründeten  das  heute  ebenfalls  wieder  eingegangene  German- 
town,  nicht  zu  verwechseln  mit  der  1833  gegründeten  gleichnamigen  Kolonie 
im  nordwestlichen  Louisiana  (I,  4,  S.  82 — 83)  und  der  ebenso  genannten 
am  Ende  des  ,XVII.  Jahrhunderts  gegründeten^  Ansiedlung  in  Pennsylvaniea 


—     278     — 

(ly  I  S.  48).   Woher  die  Weinstock,  Flachs  und  Webstuhl  iniAringenden  „Hoch- 
teutsden**  stammten,  die  1^84  bereits  in  Pennsylvanien  lebten,  ist  aus  den 
entsprechenden   Mitteilungen   nicht   zu    ersehen.     Einwandrer    aus  Drachen- 
bronn  im  Unterelsafs  kamen  seit    1833   ^  Menge  über  Havre  nach  Mac 
Henry  County  (I,  2,  S.  20);   seit  1841  treten  hier  Leute    aus  der  Eifel  auf 
(II,  4,  S.  58),  und  Oldenburgische  Jeverländer  liefsen  sich  seit  1849  in  Will 
County  nieder  (II,  i,  S.  33):  den  Anstofs  dazu  gab  der  Schulmeister  Fried- 
rich Heinrich  Luhrs  in  Norder-Schweiberg,  der  andere  nach  sich  zog.    Die 
1836  am  Missouri  angelegte  und  bis  heute  ein   deutsches  Gemeinwesen  ge- 
bliebene Stadt  Hermann  ist  die  Gründung  einer  Gesellschaft  von  Deutschen, 
die,  meist  kurz  vorher  eingewandert,  sich  in  Philadelphia  zusanunenfanden 
(I,  4,  S.  41).     Bei  weitem  am  lehrreichsten  ist  die  bereits   oben   erwähnte 
Autobiographie    und    das    Tagebuch     (noch    nicht    ganz    vollständig)     des 
Christian  Börstler:  er  stanmite  aus  Glanmünchweiler  in  der  RheinpÜEÜz, 
war  Schulmeister  und  Wundarzt  und  wanderte  1784  aus  nebst  70  Personen 
aus  seiner  G^end;    diese  fuhren  den  Rhein  hinunter  und  schifiten  sich  in 
Rotterdam  ein,  wo  gleichzeitig  drei  Schiffe  mit  180,   136  und  300  Deutschen, 
die  Kinder  ungerechnet,  nach  Amerika  abgingen  (I,  i,  S.  20).  —  Nach  einer 
gelegentlichen  Angabe  (I,  2,  S.  56)  existiert  bereits  eine  um^greiche  Samm- 
lung  der  Namen  von  Leuten,   die  vom  XVII.   bis  XIX.  Jahrhundert  aus 
Deutschland  eingewandert  sind,  aber  der  Titel  und  Erscheinungsjahr  ist  leider 
nicht  angegeben.     In  neuerer  Zeit   finden   sich  Angaben  über   die  Heiktmft 
der  Leute  in  den  Kirchenbüchern:  mitgeteilt  werden  solche  z.  B.  aus  den 
Trauregistem  der  protestantbchen  Gemeinde  in  Chikago  1861 — 71  (1, 3,  S.  45), 
woraus  sich  ergibt,  dais  die  Mehrzahl  aus  Hannover  stammt,  sowie  aus  allen 
Registern    der    Jahre    1838 — 39    (I,  4,  S.  64 — 78).     Von  ausgewanderten 
Achtundvierzigern  werden  Gustav  Adolf  R Osler  aus  Öls  (n,  2,  S.  39)  und 
Christian  Essellen  (11,  i,  S.  45 — 47)  aus  Hamm  behandelt,  ja  sogar  das 
Frankfurter  Attentat  vom  3.  April  1833  nach  den  Berichten  der  daran  be- 
teiligten Bunsen  und  Körner  (U,  i,  S.  i — 15). 

Nicht  weniger  interessant  ist  die  Schilderung  amerikanischer  Zustände 
in  früherer  Zeit  unter  deutschem  Einflufs  und  im  Kreise  der  Einwanderer. 
Da  wird  vom  Schulwesen  (I,  i,  S.  13 — 17),  vom  Schützenwesen  (I,  2, 
S.  48 — 51),  von  der  Rechtspflege  ^,  2,  S.  35 — 47 ;  n,  2,  S.  40)  erzählt,  die 
Geschichte  der  Juden  in  Illinois  (I,  3,  S.  30 — 38),  die  Gründung  des  deutschen 
Hauses  und  des  Theaters  in  Chikago  (I,  3,  S.  38 — 43)  verfolgt  Die  An- 
fänge des  kirchlichen  Lebens  (I,  2,  S.  24 — 29)  und  das  Predigerleben  in  den 
über  viele  Meilen  ausgebreiteten  Pfsurbezirken  (II,  i,  S.  47 — 49,  1841)  werden 
geschildert.  Besonderes  Interesse  bieten  auch  die  Arbeiten  über  die  Bau* 
kunst  im  Staate  Illinois  (I,  i,  S.  25 — 32)  und  die  Erlebnisse  eines  deutschen 
Ingenieurs  1867 — 1885,  die  in  sechs  Abschnitten  von  I,  3  bis  n,  4  mit- 
geteilt sind.  Auch  die  deutsche  Litteratur  ist  nicht  vergessen:  das  Leben 
des  Dichters  Johann  Oottlieb  Dönitz^  zu  HaUe  a.  S.  181 1  geboren  und 
1894  auf  seiner  Farm  in  Illinois  gestorben,  wird  kurz  (I,  i,  S.  53 — 55)  ge- 
schildert und  einige  seiner  Gedichte  sind  mitgeteilt  Wir  er&hren,  wie  im 
Rebellionskriege  1861  das  deutsche  Soldatenlied  erklungen  ist  (I,  4,  S.  29 — 31) 
and  wie  das  deutsche  lied  nicht  nur  gepflegt,  sondern  auch,  wie  es  inner* 
halb  der  deutsch-amerikanischen  Dichtung  geschätzt  wird  (I,  2,  S.  33-^3 9). 


—     2W     — 

Dn  deutsche  Elemeott  imierbalb  des  ameriksiiischen  Wirtschafb-,  Geistes«- 
und  Staatslebeos  zu  würdigen»  seine  Spnren  zu  rerfolgen  und  somit  den 
deutschen  Anteil  am  Amerikanertum,  der,  wie  schon  gesagt,  von  den  Angel- 
sachsen mannigÜEich  geschmälert  imd  herahgedrückt  worden  ist,  zur  allseitigen 
Anerkeimung  zu  verhelfen  —  das  ist  das  Bestreben  der  DetUsch^Amerikamschen 
OeaehichisbUUter.  Die  Geschichtsforschung  ist  hier  also  so  recht  in  den  Dienst 
der  Nationalität  getreten  und  hat  in  kurzer  Zeit  eine  Fülle  Ton  Arbeit  geleistet 
und  vor  allem  Anregung  gegeben.  Von  hoher  Bedeutung  ist  z.  B.  noch 
die  mit  groiser  Wahrscheinlichkeit  zutreffende  Feststellung,  dais  der  Präsident 
Lmeoin  deutscher  Abkunft  und  sein  Name  nur  en^isch  Yerstümmdt  ist, 
da  sein  Grofsrater  noch  1780  amtlich  als  Abraham  lAnkhom  bezeichnet 
wird  (I,  2,  S.  54). 

Als  schöne  Aufgabe  der  Deutsch-Amerikanischen  Historischen  Gesell- 
schaft für  die  Zukunft  mu(s  es  gelten,  einmal  eine  Bibliogn^hie  der  im 
Piomer  Terüffmdichten  historischen  Arbeiten  zu  bearbeiten  und  als  not« 
weodigerweise  erstrebenswertes  Ziel  stets  die  Schaffung  einer  grofsen  tun- 
üissenden  deutsch -amerikanischen  Bibliographie  im  Auge  zu  bebaken.  Eine 
wichtige  Vorarbeit  dazu  wäre  die  sorgsame  Sammlung  aller  deutschen 
Zeitungen:  schon  die  Feststellung  der  Titel  mit  den  Angaben  der  Jahre, 
in  denen  jede  erschienen  ist,  dürfte  oft  Schwierigkeiten  machen,  viel  gröisere 
aber  die  Beschaffung  vollständiger  Jahrgänge  ipid  ganzer  Reihen  von  diesen. 
Die  wicfat%sten  Zeitungen  zum  wenigsten  sollten  in  der  Bibliothek  der  Gesell- 
schaft vorhanden  sein,  denn  darm  wird  auf  die  Dauer  die  um&ssende 
Gnmdlage  ftir  die  amerikanische  Geschichtsforschung  liegen.  A.  T. 

Neuen  Idtentur  ttber  den  TBrkeiikrieg  y<Ni  1664  %    Unsere 

Kenntnis  der  politischen  und  militärischen  Vorgänge,  welche  mit  dem  Frieden 
von  Vasvar  im  September  1664  ihren  Abschlufs  banden,  ist  durch  einige  in 
den  letzten  Jahren  erschienene  Werke  wesentlich  erweitert  und  vertieft  worden. 
Zani<^i8t  hat  die  Direktion  des  K.  und  K.  Kriegsarchivs  in  Wien  eine  Aus- 
wähl  der  Schriften  Montecuccolis  in  deutscher  Übersetzung  herausgegeben  '). 
Diese  Sammlung  enthält  aufser  den  bereits  bekaonten  Memoiren  des  Generals 
dne  Reihe  wichtiger,  bisher  imgedruckter  Aufsätze  aus  seinem  Nachlasse.  Für 
(fie  Gesdiichte  des  Türkenkrieges  besonders  wertvoll  sind  die  in  Band  III 
nntgeteSten  Bemerkungen  zu  den  Schriften  des  Abb^  de  Noires  und  des 
Grafen  Gualdo  Priorato,  sowie  diejenigen  zu  veuetianischen  Berichten  in 
Band  IV,  femer  militärische  Gutachten  aus  dem  Jahre  1663  und  Aufzeich- 
mmgen  über  Verhandlungen  in  Regensburg  im  März  und  April  1664.  Leider 
sbd  die  zahlreichen  amtlichen  Schreiben,  die  Montecuccoli  aus  dem  Feld- 
lager abgehen  liefs,  in  diese  Sammlung  nicht  aufgenommen. 

Genaue  Nachrichten  über  das  braunschweigische  Kontingent,  welches 
sich  unter  dem  von  der  Rheinischen  Allianz  dem  Kaiser  gestellten  IClfscorps 
befimd,  gibt  O.  £lster  ^.    £r  berichtigt  dabei  die  Irrtümer,  welche  sich  in 


1)  VgL  diese  ZeiUchrift  i.  Bd.,  S.  76—88  and  S.  176. 

2)  Anigewählte  ScIurifteD  des  Rumnnd  Fürsten  Montecuccoli,  bearbeitet  von  Alois 
Ydtz^,  4  Binde.    Wien  und  Leipzig,  W.  BranmOller,  1899—1900. 

3)  Geschichte  der  stehenden  Trappen  im  Herzogtam  Braonschweig-Wolfenbtlttel  von 
1600^1714.    Leipzig,  M*  Heinsios  Nachfolger,  1899.    Elsters  Arbeit  habe  ich  flir  meinen 


—     280     — 

die  älteren  hannoverschen  Darstellungen  (v.  d.  Decken  und  Sichart)  ein- 
geschlichen haben.  Zugleich  bringt  er  wichtige  Mitteilungen  über  die  nieder- 
sächsischen Kreistruppen. 

Die  Teilnahme  Bayerns  an  dem  Kriege  ist  erschöpfend  behandelt  in 
den  beiden  einander  ergänzenden  Werken  von  M.  Doeberl  ^)  und  K.  Stau- 
dinger').  Doeberl  schildert  die  Politik,  die  Bayern  dem  Kaiser  gegenüber 
verfolgte,  Staudinger  aber  die  Taten  und  Schicksale  der  bayerischen  Truppen 
Sehr  dankenswert  wäre  es,  wenn  gleich  sorg^ltige  Untersuchungen  über  die 
Kontingente  des  schwäbischen  und  fränkischen  Kreises  angestellt 
würden.  Vor  allen  verdienen  ein  solches  literarisches  Denkmal  die  Württem- 
berger, die  sich  nach  dem  Zeugnis  des  Reichsfeldmarschalls  ebenso  wie 
die  bayerischen  und  niedersächsischen  Reiter  „gar  wohl  gehalten  haben*'. 

Eine  Biographie  des  türkischen  Oberfeldherm,  des  Grofswesirs  Achmed 
Köprili,  gibt  M.  Brosch  ')  hauptsächlich  nach  Berichten  venetianischer  Diplo 
maten.  Wenngleich  der  Krieg  in  Ungarn  dabei  nur  kurz  berührt  wird,  so 
ist  Broschs  Arbeit  doch  von  hohem  Werte  für  den  Forscher,  der  sich  über 
die  Zustände  im  türkischen  Reiche  unterrichten  will. 

Hermann  Forst  (Zürich). 

Eingegangene  Bficher. 

Voltelini,  Hans  von:  Die  ältesten  Statuten  von  Trient  imd  ihre  Über- 
liefenmg.     Wien,  Karl  Gerolds  Sohn,   1902.     187  S.  8^ 

Vancsa,  Max:  Über  topographische  Ansichten  mit  besonderer  Berück- 
sichtigung Niederösterreichs  [Sonderabdruck  aus  dem  „Jahrbuch  des 
Vereines  für  Landeskimde  von  Niederösterreich",  1902].     21  S.  8®. 

Vassileff,  Matthäus:  Russisch-französische  Politik  1689—1717  [=  Ge- 
schichtliche Studien,  herausgegeben  von  Dr.  Armin  Tille,  i.  Band, 
3.  Heft].    Gotha,  Friedrich  Andreas  Perthes,  1902.    108  S.  8^   M.  2,40. 

Werner,  Victor:  Urspnmg  und  Wesen  des  Erbgrafentums  bei  den  Sieben- 
bürger Sachsen  [=  Geschichtliche  Untersuchungen,  herausgegeben  von 
Karl  Lamprecht,  2.  Heft].  Gotha,  Friedrich  Andreas  Perdies, 
1902.     66  S.  8^ 

Wustmann,    Gustav:    Der   Wirt    von    Auerbachs    Keller,    Dr.   Heinrich 
Stromer  von   Auerbach,    1482 — 1542.     Mit   7    Briefen   Stromers    an« 
Spalatin.     Leipzig,  Hennann  Seemann  Nachfolger,  1902.     100  S.    8®. 


AofsaU  Die  deutsehen  Eetehstruppen  im  Türkenkriege  2664  (Mitteilangen  des  Instituts 
für  österreichische  Geschichtsforschung,  Ergänzungsband  VI,  S.  634 ff.)  noch  benutzen 
können.  Aufserdem  habe  ich  dort  einige  bisher  unbekannte  Notizen  über  die  Truppen 
des  westfälischen  Kreises  mitgeteilt.  Dagegen  sind  mir  die  beiden  bayerischen  Werke 
erst  später  zu  Gesichte  gekommen. 

i)  Bayern  und  Frankreich,   vornehmlich  unter  Kurfürst  Ferdinand  Maria  (München, 
C.  Haushalter,  1900). 

2)  Geschichte   des  kurbayerischen   Heeres    insbesondere  unter  KurfUrst   Ferdinand 
Maria  (München,  Lindauer,  1901). 

3)  Geschichten  aus  dem  Leben  dreier  Grofswesire  (Gotha,  Perthes,  1899). 

Harausgeher  Dr.  Anoin  Tille  in  Leipzif . 
Druck  und  Verlag  von  Fnedrioh  Andreas  Perthes,  AknenceselUchaft,  Gotha. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


rar 


Brdenmg  der  landesgescbichtlichen  Forschung 

IV.  Band  August/September  1903  11./ 12.  Heft 


iUtertütner^^Ausstellungen  im  Königreiehe 

Saehsen 

Von 
Karl  Berling  (Dresden) 

Der  Deatsche  hat  lange  Zeit  kein  rechtes  Verständnis  gehabt  für 
den  Wert  seiner  alten  heimischen  Kunst.  Er  zeigte  nur  stumpfe  Gleich- 
gültigkeit oder  spottete  über  den  „spleenigen  Engländer '%  der  den 
verbrauchten  Altväterhausrat  oder  die  alten  Kirchen-  und  Ratsschätze 
für  „Unsummen",  seiner  Meinung  nach,  in  Wahrheit  um  wenig  mehr 
als  ein  Nichts  an  sich  brachte  und  ins  Ausland  schleppte. 

Von  den  Erzeugnissen  des  einst  so  blühenden  deutschen  Kunst- 
handwerkes  ist  nur  wenig  im  Lande  geblieben.  Das  meiste  ist  in  den 
Kriegen  zu  gründe  gegangen;  es  wurde  eingeschmolzen,  verbrannt, 
mutwillig  zerstört.  Viel  ist  aber  auch  durch  Freund  und  Feind,  be- 
sonders von  den  Schweden,  Franzosen  und  Russen  in  deren  Heimat 
entfiihrt  worden.  Von  dem,  was  uns  die  Kriegsstürme  gelassen,  kam 
dann  noch  ein  groiser  TeU  in  Friedenszeiten  durch  Verkauf  ins  Aus- 
land. So  sind  wir  denn  durch  Unglück  imd  Unverstand  arm  geworden 
an  unseren  alten  Ktmsterzeugnissen.  Da  aber  dieser  Fehler  uns  schon 
lange  zum  Bewußtsein  gekommen  ist,  hat  hier  eine  völlige  Umwertung 
stattgefonden.  Und  wenn  wir  auch  heute  noch  nicht  mit  den  Millionen 
der  Amerikaner  konkurrieren  können,  so  haben  wir  uns  doch  bereits 
zu  hüten,  dals  wir  nicht  gelegentlich  ins  GegenteU  verfallen,  denn  viel- 
fach erscheint  heute  schon  die  Wertschätzung  einzelner  Dinge  eine 
zu  hohe  geworden  zu  sein.  Wenn  man  bei  unserer  augenblicklichen 
Geldnot  von  den  staunenswerten  Preisen  hört,  die  auf  den  letzten 
Auktionen  z.  B.  für  „Altmeissen'*  bezahlt  worden  sind,  so  möchte 
man  meinen,  dals  ein  Rückschlag  gar  nicht  ausbleiben  kann. 

Das  Gesagte  gilt  natürlich  nur  für  einige  wenige  künstlerisch  be- 
sonders hervorragende  Stücke.  Das  meiste  hat  auch  heute  noch  einen 
bescheidenen,  häufig  genug  auch  gar  keinen  Marktpreis.    Aber  gerade 

20 


—     282     — 

dadurch  sind  solche  Dinge  vor  allem  dem  Untergänge  leicht  gewdht 
Die  gro&e  Masse  hat  hierfür  noch  immer  kein  rechtes  Verständnis. 
Das  Möbelstück,  das  nicht  mehr  zeitgemäis  erscheint,  wird  gelegentlich 
durch  ein  neues  ersetzt  Es  wandert  darm  auf  den  Boden,  wo  es  von 
den  Würmern,  Motten,  dem  Rost  oder  von  der  Kinderhand,  der  man 
es  zum  Spiele  überläfet,  zerstört  wird. 

Wohl  sind  schon  seit  langer  Zeit  private  und  öffentliche  Samm- 
lungen angel^  worden,  die  auch  von  den  bescheideneren  Kunst- 
werken retten,  was  zu  retten  ist  Aber  noch  immer  gilt  es,  in  den 
breiten  Schichten  der  Bevölkerung  ein  größeres  Verständnis  fiir  diese 
Dinge,  eine  gröfisere  Liebe  für  den  ererbten  Besitz  zu  erwecken.  Als 
ein  vortreffliches  Mittel  zur  Erreichung  dieses  Zweckes  sind  im  König- 
reiche Sachsen  die  Altertümer-Ausstellungen  in  den  kleinen 
Städten  erkannt  worden,  weshalb  auch  die  hier  in  Frage  kommende 
staatliche  Behörde,  die  Königl.  Kommission  zur  Erhaltung  der  Kunst- 
denkmäler,  sie  nach  Kräften  unterstützt.  Über  die  Au^ben  und  die 
Erfolge  der  bis  jetzt  veranstalteten  Ausstellungen  in  Sachsen  ')  sollen 
hier  einige  Mitteilungen  gemacht  werden. 


i)  Wohl  in  keinem  Lande  und  in  keiner  Landschaft  sind  AltertfimeranssteUnngeD 
bisher  in  solcher  Anzahl  Teranstaltet  worden  wie  gerade  im  Königreich  Sachsen,  aber 
dennoch  sind  sie  auch  anderwärts  nicht  anbekannt.  In  Essen  z.B.  fand 
im  September  nnd  Oktober  1901  eine  ,. ortsgeschichtliche  Ansstelluig '*  statt,  und  im 
Sommer  1903  sind  dicht  an  Sachsens  Grenze  in  Weifsenfeis  nnd  Bitterfeld,  im  Sttden 
in  Feachtwangen  solche  veranstaltet  worden.  In  H  n  s  a  m  hat  anläfslich  der  Dreihondert- 
jahrfeier  der  Stadt  eine  Kmistansstellong  stattgefunden,  aber  nähere  Mitteilungen  darfiber 
waren  leider  nicht  zu  erlangen.  Ans  Essen  liegt  der  gedruckte  Katalog  Tor:  danadi 
war  das  Ganze  eingeteilt  in  Stift  Essen  (Bildnisse;  Wappen,  Ordensinsignien  a.  s.  w. ; 
Karten;  Mtinsterkirche  and  ihr  Schatz;  Ansichten  aas  dem  Stift  and  der  Umgegend; 
Uiiomden  and  Drackschrifien ;  Münzen;  Erinnerungen  an  die  letzten  Äbtissinnen)  nnd 
Stadt  Essen  (Urkunden  und  Aktenstücke;  Siegel  und  Wappen;  Stadtpläne;  Stadt- 
ansichten; Alte  Häuser  nnd  Stadtg^enden;  Bildnisse;  Stammbäume  nnd  Wappen  Essener 
Familien;  Möbel  und  Hausgeräte;  Zur  Geschichte  des  Buchdrucks  in  Essen;  Rheinisch- 
westfälische Zeitung;  femer  Gegenstände  der  Kirchengemeinden  und  Schriftstücke  darüber; 
ebenso  über  das  Gymnasium,  Ebener  Gelehrte,  die  Gufsstahlfabrik  von  Friedrich  Krupp, 
über  die  Wildpferde  im  Emscherbmch ;  Waffen;  Gewehre;  Pistolen;  Schützenwesen; 
Städtische  Altertümer  aus  Essen  und  Steele).  Die  Besitzer  der  ausgestellten  G^enstände 
sind  sämtlich  namentlich  genannt,  und  es  ist  erfreulicherweise  eine  recht  grofse  ZahL 
Wie  schon  die  Aufzählung  der  Abteilungen  beweist,  ist  hier  der  geschichtliche  Gesichts- 
punkt stärker  betont  worden  als  der  kunstgeschichtliche:  dies  wird  aber  in  dem  Umfange 
nur  möglich  sein  bei  einer  Stadt,  die  eine  namhafte  äufsere  Geschichte  besitzt.  —  In 
Bitterfeld  hat  im  Oktober  1902  der  Zweigverein  des  allgemeinen  deutschen  Sprach- 
vereins eine  „Ausstellung  zur  Wappen-,  Familien-  und  Ortskunde  der 
Kreise   Bitterfeld   und  Delitzsch**   veranstaltet,   deren  Kosten   (480  Mk.)  durch 


—     283     — 

Wenn   wir   von    den  gröfeeren,    hier  nicht   hergehörigen  Unter- 
nehmungen in  Dresden  (1875)  und  Leipzig  (1879)  absehen,  so  finden 

di€  Beihilfen  und  das  erhobene  Eintrittsgeld  bis  auf  einen  Rest  von  9  Mk.  gedeckt 
worden  sind.  Ausgestellt  hatten  Behörden  und  Privatpersonen,  nnd  ein  Teil  der  Aos- 
steQuigsg^enstände  ist  der  bereits  bestehenden  städtischen  Sammlung  für  Heimatkiinde 
aod  Geschichte  des  Kreises  Bitterfeld  überwiesen  worden;  ein  Katalog  wurde  nicht 
gedruckt.  Die  ersten  sieben  Abteilnngen  enthielten  die  Wappen  der  Landesherren,  Städte 
Bod  Adelsgeschlechter,  die  natürlich  eine  Menge  geschichtlicher  Erinnerungen  anklingen 
lassen;  bemerkenswert  ist  darunter  besonders  das  Wappen  der  „Fläminger  Societät'% 
einer  Acker-  und  Waldgenossenschaft  angeblicher  niederländischer  Kolonisten  des  XIL  Jahr- 
hunderts, die  bis  1873  bestanden  hat.  Bürgerliche  Wappen  und  Stammbäume,  Ehren- 
bflrgerbriefe,  Familienstammbücher  und  Familienchroniken,  Siegel,  Biographieen,  Portraits, 
Antographieen ,  Ansichten,  Karten,  Kunstgewerbliche  Gegenstände  und  Orts-  und  heimat- 
kandliche  Literatur  reihten  sich  an.  Auch  hier  ist  also  der  Nachdruck  auf  das  geschriebene 
Wort  und  das  Bild  gelegt  worden,  die  Gegenstände  treten  dem  gegenüber  mehr  zurück.  — 
In  Weifsenfeis  bildete  im  Juni  1903  eine  vom  Verein  für  Natur-  und  Alter- 
tumskunde veranstaltete  Ausstellung  einen  Anziehungspunkt.  Die  G^enstände,  den 
vendiiedensten  Eigentümern  gehörig,  waren  in  elf  Abteilungen  geschieden,  nämlich :  Bilder 
der  Stadt,  benachbarter  Orte  und  einzelner  Gebäude  seit  dem  XVI.  Jahrhundert;  Kirch- 
liche Altertümer  aus  Stadt  und  Umgegend;  Andenken  an  die  Zeit  der  Herzöge  von 
Sadisen-Weilsenfels  (1657 — 1746);  Werke  und  Bilder  von,  sowie  Andenken  an  Müllner, 
Novalis  und  Luise  Brachmann;  Waffen;  Musikinstrumente;  Zimmergeräte  des  XVIIL  bis 
XDL  Jahrimnderts ;  Innungsgegenstände;  Zinn-  und  Porzellangeschirr;  Familienandenken 
(Stammbäume,  Stammbücher,  Urkunden);  Vorgeschichtliches.  —  In  Feuchtwangen 
endlich,  einer  Stadt  mit  künstlerisch  bedeutenden  geschichtlichen  Erinnerungen,  hat  die 
Ausstellung  —  das  Werk  des  Bezirkshauptmanns  Fischer,  dem  der  Münchener  Maler 
Rnschbeck  als  Arrangeur  des  Ganzen  zur  Seite  stand  — ,  zur  Gründung  einer 
dauernden  Sammlung  geführt  und  zu  deren  Förderung  einen  Verein  ins  Leben  gerufen. 
Der  Staat  hat  letzterem  finanzielle  Unterstützung  gewährt,  300  Mitglieder  sind  ihm  bei- 
getreten, und  die  Stadt  hat  vorläufig  Räumlichkeiten  im  alten  Spital  zur  Verfugung  gesteUt, 
die  aber  durch  geeignetere  in  einem  jetzt  der  Rentmeistereiregistratur  dienenden  roma- 
msdien  Krenzgang  ersetzt  werden  sollen.  Die  Einteilung  der  Ausstellung  ist  aus  den 
mir  vorli^enden  Angaben  nicht  zu  erkennen,  dagegen  geben  zahlreiche  photographische 
Anfhahmen  der  Ausstellungsobjekte  eine  direkte  Anschauung  von  diesen  selbst:  es  finden 
sich  da  zahlreiche  Gegenstände  der  kirchlichen  Konst,  eine  Bauernstube,  eine  Patrizier- 
stsbe»  einzelne  hervorragend  schöne  Möbelstücke,  ein  Rokokoschlitten,  Zunf^erinnerungen, 
sowie  eine  Sammlung  von  Fayence-  und  Zinnkannen  und  Gläsern.  Der  Reichtum  Süd- 
deutschlands  an  Erzeugnissen  der  Kunst  und  des  Kunstgewerbes  tritt  gegenüber  der 
Armitt,  die  Mitteldeutschland  daran  auszeichnet,  deutlich  zu  Tage.  —  Oberall  sind,  wie 
wir  hier  sehen,  die  Freunde  der  heimatlichen  Geschichte  dabei,  weiteren  Kreisen  zu  zeigen, 
was  die  Heimat  an  geschichtlichen  Erinnerungen  besitzt  So  verschieden  die  Ausstellungen 
nach  Anordnung  und  Zweck  den  örtlichen  Verhältnissen  entsprechend  auch  sind,  sie  ar- 
beiten alle  dem  gleichen  Ziele  entgegen,  den  Sinn  und  die  Achtung  für  die  heimischen 
geschichtlichen  Denkmäler,  so  unscheinbar  sie  auch  sein  mögen,  wach  zu  halten.  Wir 
dürfen  heute  hoffen,  dais  mit  der  Zeit  in  allen  Landschaften  ähnliche  Versuche 
angestellt  werden  nnd  dafs  sich  Altertumsausstellungen  zu  regelmäfsigen  in  grölseren  zeit- 
lichen Zwischenräumen  wiederkehrenden  Einrichtungen  gestalten.  Anin.  d.  Red. 

20* 


—     284     — 

wir  die  älteste  derartige  Veranstaltung  in  Plauen  i.  V.,  wo  im  Mai 
1876  eine  Altertümer- Ausstellung  stattfand.  Gegen  400  Gegenstände 
hatte  der  dortige  Altertumsverein  zusammengebracht,  von  denen 
nahezu  die  Hälfte  dem  Vereine  dauernd  zur  Verfügung  gestellt  wurde. 
Hierdurch  ist  der  Grund  zu  einer  bleibenden  Sammlung  gelegt  worden. 
Der  Besuch  dieser  Ausstellung  war  so  zahlreich,  dafs,  obwohl  kein 
Eintrittsgeld  erhoben,  sondern  nur  eine  Sammelbüchse  für  freiwillige 
Gaben  aufgestellt  worden  war,  nach  Abzug  aller  Unkosten  noch 
eine  Summe  von  100  Mk.  für  einen  gemeinnützigen  Zweck  abgeliefert 
werden  konnte. 

Nach  langer  Pause,  erst  1885,  folgte  der  Geschichtsverein  in 
Annaberg  mit  einer  „lokalhistorischen  Ausstellung",  zu  der  der  da- 
malige Bürgermeister  Voigt  die  Anregung  gegeben  hatte.  Die  Be- 
schickung (über  1000  Stück  im  Katalog)  und  der  Besuch  der  Aus- 
stellung waren  überraschend  stark.  Da  viele  Besitzer  sich  bereit  er- 
klärten, das  Ausgestellte  schenk-  oder  leihweise  dem  genannten  Vereine 
zu  überlassen,  so  gab  die  Annaberger  Ausstellung  die  Veranlassung, 
hier  ein  Museum  zu  begründen,  und  dieses  konnte  im  Jahre  1887  der 
Öffentlichkeit  übergeben  werden. 

Auch  die  auf  Anregung  und  unter  Leitung  des  Direktors  Sandt 
im  Mai  1894  unternommene  Altertümer- Ausstellung  zu  Lob  au  hatte 
die  Gründung  eines  Museums  zur  Folge.  Gegen  450  der  ausgestellten 
Gegenstände  wurden  zu  diesem  Zwecke  der  Stadtgemeinde  geschenkt, 
die  sich  dadurch  veranlafet  sah,  eine  der  Öffentlichkeit  zugängliche 
städtische  Altertümer-Sammlung  ins  Leben  zu  rufen. 

Im  April  1899  veranstaltete  im  Rathaussaale  zu  Pegau  der  dortige 
Gewerbeverein  eine  Ausstellung  von  Altertümern,  die  im  Besitze  von 
Pegauem  sind  oder  auf  die  Geschichte  Pegaus  und  seiner  Umgebung 
Bezug  haben.  Die  Beschickung  und  der  Besuch  der  Ausstellung 
waren  außerordentlich  befriedigend;  der  Eindruck,  den  sie  machte, 
höchst  erfreulich.  Dies  beruhte  nun  nicht  etwa  darauf,  da(s  die  Zahl 
der  kunstgewerblich  wertvollen  Gegenstände  besonders  beträchtlich 
gewesen  wäre,  sondern  auf  der  überall  erkennbaren  Liebe  vieler  für 
ihren  er  erbten  Besitz  und  auf  der  Steigerung  seiner  Wertschätzung. 
Auch  hier  gab  die  Ausstellung  die  Veranlassung  zur  Gründung  eines 
Museums,  das,  seit  Ostern  1900  in  einem  städtischen  Räume  unter- 
gebracht, der  Öffentlichkeit  zugänglich  ist.  Die  Pegauer  Ausstellung 
wurde  von  einem  Mitgliede  der  Kommission  zur  Erhaltung  der  Ktmst- 
denkmäler  besucht,  auf  dessen  Bericht  hin  die  Kommission  den  Alter- 
tums- und  Gewerbevereinen  in  mittleren  und  kleinen  Städten  Sachsens 


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—     285     — 

das  Beispiel  Pegaus  zur  Nachahmung  anempfahl.    Der  Erfolg  war  der, 
dals  folgende  Ausstellungen  abgehalten  wurden: 
in  Würzen  im  Oktober  1899, 

Döbeln  im  Oktober  und  November  1899, 

Penig  im  April  1900, 

Mügeln  b.  O.  im  Mai  19CX), 

Grimma  im  Juli  I9CX>, 

Waidenburg  im  September  1900, 

Zittau  im  Juni  190 1, 

Groisenhain  im  Juli  1901, 

Buchholz  im  Juli  1901  (gelegentlich  eines  Heimatsfestes). 
Die  genannten  Ausstellungen  wurden  durch  ein  Mitglied,  die 
letztere  durch  einen  Vertrauensmann  der  Kommission  besucht.  Auf 
Gnmd  der  bei  den  ersten  gemachten  Erfahrungen  wurden  von  der 
Kommission  BcUadUäge  bei  Veranstaltungen  von  ÄÜertümer-ÄussieUungen 
bearbeitet  und  denjenigen  Vereinen  zugesandt,  die  ein  solches  Unter- 
nehmen in  Aussicht  stellten.  Sie  sind  auch  jetzt  noch  kostenfrei 
von  der  genannten  Kommission  (Dresden,  Königl.  Ministerium  des 
Inneren)  zu  erhalten. 

Im  Jahre  1902  sind  derartige  Ausstellungen,  soweit  mir  bekannt 
geworden  ist,  nicht  veranstaltet  worden.  In  diesem  Jahre  hat  man  in 
Rochlitz  gelegentlich  eines  vom  11.  bis  14.  Juli  abgehaltenen  Heimats- 
festes Altertümer  der  letzten  80  Jahre  zu  einer  Ausstellung  vereinigt. 
Bei  dem  in  Pegau  im  Juni  mit  Erfolg  veranstalteten  Heimatsfest  hat  das 
nunmehr  bestehende  Museum  eine  über  Erwarten  gro&e  Anziehui^^ 
kraft  auf  die  einstigen  Pegauer  ausgeübt.  Auch  andere  sächsische 
Städte,  wie  z.  B.  Pulsnitz,  gehen  mit  dem  Gedanken  um,  bei  sich 
Altertümer-Ausstellungen  ins  Leben  zu  rufen. 

Dafe  ein  derartiges  Unternehmen  sehr  viele  und  aufopferungsvolle 
Arbeit  erfordert,  steht  au&er  aller  Frage.  Man  mag  das  Komitee 
noch  so  grois  wählen,  die  Hauptlast  bleibt  doch  auf  den  Schultern 
einiger  weniger  ruhen.  Aber  die  meisten  Veranstalter  werden  sich 
durch  das  stetig  wachsende  Interesse  ihrer  Mitbürger,  durch  deren 
vollste  Zufriedenheit  und  Überraschung  über  das  günstige  und  reich- 
haltige BUd  in  hohem  Maise  belohnt  finden.  Auch  die  pekuniäre  Seite 
war  bei  den  meisten  Ausstellungen  nicht  tmgünstig,  dürfte  sich  aber 
in  Zukunft,  wenn  man  sich  an  der  Hand  der  erwähnten  „Ratschläge** 
die  Erfahrungen  andrer  Städte  zu  nutze  macht,  noch  vorteilhafter  ge- 
stalten. Fehlbeträge  hatten  nur  zu  verzeichnen :  Annaberg  (287  Mk.), 
Mügeln  (62   Mk.),  Würzen  (28  Mk.),  Waidenburg  (4736  Mk.).    Bei 


—     286     — 

Döbeln  glichen  sich  Ausgaben  und  Einnahmen  aus.  Von  Löbau  er- 
fuhr ich  nur,  dafs  das  „finanzielle  Ergebnis  günstig*'  gewesen  sei. 
Überschüsse  erzielten:  Penig  (6  Mk.),  Pegau  (22  Mk.),  Plauen  (100  Mk.), 
Grimma  (600  Mk.),  Grofeenhain  (880  Mk.),  Zittau  (1500  Mk.). 

In  vielen  Fällen  veranlafste  die  Drucklegung  eines  Kataloges 
eine  Hauptarbeit  und  -ausgäbe.  Die  Kommission  riet  nach  den  von  ihr 
gemachten  Erfahrungen  von  dessen  Herausgabe  ab.  Der  Wert  solcher 
rasch  und  von  Leuten,  die  meist  nicht  genügend  fachmäfsige  Schulung 
besitzen,  hergestellten  Kataloge  steht  in  der  Regel  zu  dem  Aufwand  an 
Arbeit  und  Kosten  in  keinem  rechten  Verhältnisse,  und  das  Publikum 
wird  über  dessen  Fehlen  kaum  imglücklich  sein.  Statt  dessen  wurde  eine 
möglichst  weitgehende  Bezettelung  dringend  angeraten.  Die  Leiter 
der  Zittauer  Ausstellung  schlugen  noch  einen  anderen  Weg  ein,  der 
für  ähnlich  liegende  Verhältnisse  nur  empfohlen  werden  kann:  es 
wurde  in  den  „Zittauer  Nachrichten"  nach  und  nach  ein  „Wegweiser 
durch  die  Ausstellung**  veröffentlicht  Dieser  wurde  möglichst  rasch 
geschrieben,  sofort  gesetzt  und  als  Sonderabdruck  in  der  Ausstellung 
für  10  Pf.  verkauft.  Ein  solcher  Wegweiser,  der  nur  auf  die  Haupt- 
gegenstände aufmerksam  macht  und  daher  allgemeine  Gesichtspunkte 
angibt,  erscheint  mir  für  den  Besucher  aufserordentlich  nutzbringend, 
nicht  aber  die  Nummer  für  Nummer  vorgenommene  trockene  Auf- 
zählung aller  Stücke,  wie  es  die  meisten  Kataloge  taten. 

Stellt  man  sich  nun  die  Frage,  was  ist  durch  solche  Ausstellungen 
erreicht  worden?  so  mufe  die  Antwort  lauten,  dafs  sie  in  ihrer  Ge- 
samtheit —  einige  natürlich  mehr,  andere  weniger  —  einen  vollen 
Erfolg  bedeuten. 

Wollte  man  allerdings  diese  Veranstaltungen  lediglich  vom  Stand- 
punkte des  Kunsthistorikers  auffassen,  so  würde  man  dabei  kaum  seine 
Rechnung  finden.  Bisher  unbekannte  Kunstwerke  ersten  Ranges  sind 
durch  die  Ausstellungen  kaum  ans  Tageslicht  gefördert  worden.  Un- 
möglich wäre  aber  natürlich  auch  dies  keineswegs,  denn  irgend  ein 
glücklicher  Zufall  kann  immerhin  dazu  führen.  In  der  Hauptsache 
haben  aber  das  Wesentliche  bereits  einerseits  die  staatliche  Inventari- 
sation  bekannt  gemacht,  andrerseits  die  Spürnasen  der  Antiquitäten- 
händler ausgekundschaftet.  Aber  in  der  Entdeckung  grofser  Kunst- 
werke darf  auch  die  Hauptaufgabe  solcher  Ausstellungen  nicht  ge- 
sucht werden.  Für  die  doch  im  Beschauen  meist  recht  ungeschulten 
Besucher  würde  das  sogar  nicht  allzuviel  bedeuten;  ihr  Verständnis 
wird  besser  gepackt  durch  Dinge,  die  ihren  Gesichtskreisen  näher 
liegen,    durch  den  Altväterhausrat,    durch  das,  womit  sie  selbst,  ihre 


—     287     — 

Väter  oder  Grofeväter  gearbeitet,  gespielt  oder  woran  sie  sich  erfreut 
haben. 

Von  diesem  Gesichtspunkte  aus  betrachtet,  also  mehr  in  ethischer 
Beziehung,  sind  die  Ausstellungen  von  grofsem  Werte  für  die  Stadt, 
ja  für  den  ganzen  Bezirk  geworden,  denn  sie  erhöhten  das  Heimats- 
gefiihl  und  die  Empfindung  der  Zugehörigkeit  zur  Scholle.  Sie  waren 
vortrefflich  dazu  geeignet,  den  Sinn  und  das  Verständnis  für  den  er- 
erbten Familienbesitz  zu  wecken  und  zu  heben,  für  die  Heimatskunde 
bedeutungsvolle  Gegenstände  ans  Tageslicht  zu  fördern,  ihre  Besitzer 
über  deren  Wesen  und  die  Notwendigkeit  ihrer  Erhaltung  aufzuklären 
und  so  der  unnötigen  Verschleppung  und  Verschleuderung  heimat- 
licher Altertümer  zu  steuern. 

Und  dafs  diese  Erfolge  nicht  nur  vorübergehende,  sondern  von 
bleibendem  Werte  für  die  Gegend  werden,  dafür  sorgen  in  den  meisten 
Fällen  die  Altertümermuseen.  Denn  in  den  Orten,  in  denen  Museen 
bereits  bestanden,  wie  in  Zittau,  haben  die  Ausstellungen  deren  dauern- 
den Bestand  erhöht  und  das  Interesse  hierfür  bedeutend  gehoben,  in 
den  anderen  Orten  wurde  aber  die  Ausstellung  Veranlassung,  ent- 
weder wie  in  Plauen,  Annabei^,  Löbau,  Pegau,  Döbeln,  Waidenburg, 
Mügeln,  Grimma  ein  Museum  zu  gründen  oder,  wie  in  Würzen 
und  GroCsenhain,  die  Gründung  eines  solchen  in  Aussicht  zu  nehmen. 

Endlich  mag  noch  ein  VorteU  solcher  Ausstellungen  hier  erwähnt 
werden,  der  vor  allem  den  Umstand  begründet,  dafs  die  mehrfach 
erwähnte  Königl.  Kommission  zur  Erhaltung  der  Kunstdenkmäler 
sie  nach  Kräften  unterstützt  hat:  die  Kommission  durfte  sich  wohl 
bewuist  sein,  daiis  ihr  durch  solche  Veranstaltungen  und  durch  die 
ihnen  meist  folgende  Gründung  von  Museen  in  deren  Leitern  eine  An- 
zahl von  Leuten  erwächst,  die  die  bewufste  Absicht  hegen,  im  ge- 
wissen Sinne  imd  in  einem  eng  begrenzten  Gebiete  einen  Teil  ihrer 
Aufgaben  lösen  zu  helfen.  Diese  sich  über  das  ganze  Königreich  er- 
streckenden Angaben  sind  aber  so  zahlreich,  so  vielseitig  und  doch 
noch  immer  von  so  wenigen  in  ihrem  eigensten  Wesen  richtig  ver- 
standen, dafs  jede,  auch  die  kleinste  Mitarbeiterschaft  am  Werke  der 
Erhaltung  des  Volkstumes  und  der  alten  Kunstdenkmäler  dankbar  be- 
grüist  werden  mufs,  und  gerade  die  Ausstellungen  sind  es,  durch  die 
vielfach  weitere  Kreise  erst  auf  solche  geeignete  Personen  aufmerksam 
werden. 


—     288     — 


Steiertnärkisehe  Gesehiehtsehreibung  vom 

XVI.  bis  XVm.  Jahrhundert 


Von 
Fran2  Uwof  (Graz) 

Im  Jahre  iSii  wurde  in  Graz  durch  Erzherzog  Johann  das  Joan- 
neum  gegründet  und  damit  beginnt  seine  groisartige,  alle  Zweige  der 
geistigen  und  materiellen  Kultur  in  sich  schlielsende  Tätigkeit  für  die 
Steiermark,  die  auf  allen  Gebieten  der  Wissenschaft,  so  auch  auf  dem 
der  Geschichtsforschung  einen  Aufschwung  mit  sich  brachte;  schoa 
die  Errichtung  der  Bibliothek  und  des  Archivs  an  diesem  Institute, 
aber  nicht  zuletzt  das  persönliche  Einwirken  des  Erzherzogs  selbst 
war  dafür  mafsgebend.  Bis  zu  jenem  denkwürdigen  Zeitpunkte  soll 
daher  diese  Skizze  geführt  werden,  aber  die  Zahl  der  Publikationen 
steigt  in  dieser  Periode  derart,  dafs  noch  mehr  als  bei  der  steiermär- 
kischen  Geschichtschreibung  im  Mittelalter  ^)  nur  das  Wichtigste,  Be- 
deutendste, besonders  Charakteristische  Erwähnung  finden  kann. 

An  der  Spitze  der  Historiographen  des  XVI.  Jahrhunderts  steht 
Sigmund  Freiherr  von  Herberstein.  Als  Spröisling  eines  schon 
seit  1301  nachweisbaren  Edelgeschlechtes  am  24.  August  i486  zu 
Wippach  in  Krain  geboren,  studierte  er  seit  1497  ^^  ^^^  damals  hu- 
manistischen Universität  zu  Wien,  ward  Baccalaureus  und  liefs  durch 
sein  Latein  und  mancherlei  klassische  Reminiszenzen  seine  gelehrte 
Bildung  hervortreten.  Er  starb  28.  März  1566  zu  Wien,  berühmt  als 
Krieger,  Staatsmann,  Gelehrter  und  Reisender,  der  aulser  anderen 
grofsen  Reisen  durch  ganz  Europa,  zweimal  (1516 — 1518,  1525 — 1526) 
als  kaiserlicher  Gesandter  Rulsland  besuchte  und  die  Commentarii  rerum 
Moscaviticartmi  (Wien  1549,  sodann  in  weiteren  zehn  Auflagen,  in 
deutscher  Bearbeitung  1557  und  in  weiteren  neun  Auf  lagen)  verfafste: 
dadurch  ist  er  der  geistige  und  wissenschaftliche  Entdecker  Osteuropas 
geworden ').  Unmittelbar  die  Geschichte  der  Steiermark  betreffen 
Herbersteins   Darstellungen   seines    eigenen   Lebenslaufes   tmd    seiner 

i)  Vgl.  diese  Zeitschrift  oben  S.  89 — loi. 

2)  Krones,  Sigmund  von  Herberstem,  In  den  Mitteilungen  des  historischen 
Vereins  fttr  Steiermark.  XIX  (1871),  S.  2 — 76.  —  Ludwig  Geiger  in  der  Äügememen 
Deutschen  Biographie,  XII,  S.  35 — 39.  —  Wnrzbach,  Biographisches  Lexikon  des 
Kaisertums  Österreich,  XII,  S.  342—343.  [Eine  Frucht  vielseitiger  Beobachtungen  und 
umfassender  Stadien  hat  das  Buch  den  Namen  Herberstein  in  Westeuropa  ebenso  wie  in 
Rnisland  unsterblich  gemacht ;  flir  jeden,  der  Über  das  weite  Gebiet  vom  Schwarzen  Meere 
bis  zum  Weifsen  für  die  Zeit  bis  zum  XVL  Jahrhundert  geographische,  ethnographische. 


—     289     — 

Dienstleistungen,  sowie  solche  seiner  Brüder,  Verwandten  und  Vor- 
fahren, denen  Urkunden  beigegeben  sind,  wodurch  sie  besondere  Be- 
deutung erlangen  und  ein  Stück  Herbersteinscher  Familienchronik 
bilden  ^).  Hierher  gehört  auch  die  Selbstbiographie  Sigmunds  von 
Herberstein  *)  und  dessen  Familienbuch  *) ,  zu  welchen  beiden  v.  Lu- 
schin wertvolle  Nachträge  und  Ergänzungen  geliefert  hat^). 

Das  XVI.  Jahrhimdert  und  die  drei  ersten  Jahrzehnte  des  XVII., 
wie  in  anderen  deutschen  Ländern,  so  auch  in  Innerösterreich  die  Zeit 
der  Reformation  und  Gegenreformation,  haben  innerhalb  der  theo- 
logischen Literatur  auch  beachtenswerte  geschichtliche  Nachrichten 
überliefert:  so  enthält  eine  Schrift  des  Wittenberger  Professors  David 
Rungius  kurze,  allgemein  gehaltene  Mitteilungen  über  den  Verlauf  der 
Gegenreformation  in  Innerösterreich*).  Die  Gegenschrift  ®)  des  Jacob 
Rosolenz  erzählt  vom  fanatisch  katholischen  Standpunkt  aus  alle 
Taten  der  Religions-Kommissionen,  denen  die  Durchführung  der  Gegen- 
reformation zufiel,  imd  stellt  sie  in  das  glänzendste  Licht.  Eine  cha- 
rakteristische Episode  in  der  traurigen  Blütezeit  der  Rekatholisierung 
bildet  das  Vorgehen  gegen  den  evangelischen  Prediger  Paulus  Odon- 
tius,  Erzieher  der  jungen  Freiherren  Christoph  und  Friedrich  von 
V^ndischgrätz.  Trotz  des  allgemeinen  Ausweisungsbefehles  fiir  alle 
Piädikanten  verharrte  er  auf  dem  freiherrlichen  Schlosse  Waldstein  bei 
seinen  Zöglingen,  im  Vertrauen  darauf,  dafs  er  sich  im  Gebiete  eines 

poliüsche  nnd  natnrhistorische  Stadien  anstellen  will,  bildet  dieses  Werk  eine  anentbehr- 
Ikhe  Gmndlage;  niemand  hat  vor  ihm  ähnliches  geliefert  and  seit  ihm  ist  niemand 
entanden,  der  so  viel  neaen  Stoff  gesammelt  and  in  ein  organisches  Ganze  ver- 
woben  hat] 

i)  Die  langatmigen,  ihrer  Zeit  entsprechenden  Titel  s.  bei  Krones  a.  a.  O. 
Sw  64 — 72  and  bei  Schlossar,  Bibliotkeca  historico-geographica  Siiriaca  (Graz  1886) 

S.  14—15- 

2)  Herausgegeben  von  Th.  G.  von  Karajan  in  Fontes  rerum  Äu$tnaearum^ 
L  Scriptores  i  Bd.  (1855),  S.  69—396. 

3)  Heraosgegeben  von  Zahn   im  Archiv   für   österreichische  Geschichte,    39.  Bd., 

S.  293—415- 

4)  In  den  BeitrSgeo  xar  Kande  steiermärldscher  GeschichtsqaeUen ,  24.  Bd.  (1892), 
S.  69—122. 

5)  Berieht  tmd  Erinnerung  von  der  Tyrannischen  Bäpsiischen  Verfolgung  des 
k  Bcangeüi  in  Stegermarkt,  KUmten  und  Krain  (Graz  1601). 

6)  Orändlieher  Oegenberiehi  Auff  den  falschen  Bericht  und  vermainte  Erinne- 
rung Davidis  Rungü  .  .  .  von  der  Tgrannisdten  Bäpsiischen  Verfolgung  des  K  Bvan- 
gdü  m  StejfermarJä,  Kärnten  und  Orain  ...  ht  welchem  mit  Qrund  der  Wahr- 
heit aussfUhrUeh  dargethan  und  erwiesen  wird^  daß  solch  Berieht  ein  lauters  Liigen- 
hyeh,  IdUterkatien  und  Famoss/ehrift  seg  .  ,  .  Oestellet  durch  Jaeobum,  deß  LobHehen 
Stißs  Stayntx  in  Steyr  Frohsten.    (GräU  1607.) 


—     290     — 

landständischen  Edelherrn,  dem  die  Übung  des  lutherischen  Bekennt- 
nisses gestattet  war,  befinde,  und  dafs  er  den  Schutz  der  einflufs- 
reichen  Familie  Windischgrätz  geniefse.  Auf  Befehl  des  Erzherzogs 
Ferdinand  bemächtigte  sich  eine  Abteilung  Söldner  ii.  April  1602 
des  Schlosses  Waldstein  und  nahm  Odontius  gefangen ,  der  zum 
Tode  verurteilt,  jedoch  vom  Landesfürsten  zu  lebenslänglicher  Galeeren- 
strafe begnadigt  wurde.  Auf  dem  Transporte  nach  Triest  entfliehend, 
gelangte  er  in  das  Reich,  wurde  ein  Jahr  später  Pfarrer  zu  Odern 
in  Sachsen  und  beschrieb  dann  die  Geschichte  seiner  Verfolgung  und 
Rettung  *). 

Im  XVIII.  Jahrhundert  finden  sich  Versuche,  die  Geschichte  der 
Protestanten  in  Innerösterreich  zusammenfassend  darzustellen  in  den 
Werken  von  Raupach  ^)  und  Waldau  *),  Auszug  und  Fortsetzung 
des  erstgenannten. 

Die  Erben  des  lutherischen  Adels,  der  ausgetrieben  und  re- 
katholisiert  wurde,  waren  in  den  innerösterreichischen  Ländern  die 
Jesuiten,  die  schon  1572  durch  Erzherzog  Karl  in  Graz  eingeführt, 
bald  die  geistige  und  zum  guten  Teile  auch  die  weltliche  Herrschaft 
an  sich  rissen  und  in  der  1586  gegründeten  Universität  bis  zur 
Aufhebung  ihres  Ordens  (1773)  dominierten.  Eine  Fülle  von 
geistigen  und  materiellen  Kräften  ging  den  innerösterreichischen 
Ländern  durch  die  Austreibung  der  Protestanten  verloren.  Jede  Be- 
rührung der  Deutschen  in  Österreich  mit  den  Deutschen  des  Reiches 
war  und  blieb  unterbunden;  die  Zeit  des  geistigen  und  wirtschaft- 
lichen Quietismus  fügte  den  österreichischen  Alpenländern  unersetz- 
lichen Schaden  zu. 

Obwohl  die  mafsgebenden  Faktoren  an  der  Universität  zu  Graz 
und  im  ganzen  geistigen  Leben  der  Länder  Steiermark,  Kärnten  und 
Krain,  so  haben  die  Jesuiten  doch  nirgendwo  etwas  Namhaftes  auf  dem 
Gebiete   der    vaterländischen  Geschichte   geleistet:    Die  von  1573  bis 


i)  Kurtxe  und  War  haßige  Historische  Erxehlung,  Wie  und  welcher  gestaU 
Paulus  Odontius  y  gewesener  Evangelischer  Prediger  %u  Waldstein  in  Steyennark, 
wegen  der  Lehr  und  Predigt  des  heil.  Euangdij  von  der  Orätxerischen  Inquisition 
gefenglich  eingexogeUf  auch  .  .  .  xweg  mal  xum  Tode  verurtheüet,  aber  .  .  .  triderumh 
aus  der  feinde  hende  und  bamlen  wunderbarlicher  weise  loß  und  ledig  worden.  Mies 
.  .  .  beschrieben  ron  ihme  selbsten  M,  Paulo  OdontiOy  jtxiger  xeit  Pfarrherm  xu 
Odem  (Dresden  1603.  —  Magdeburg  1603  u.  1620.  —  Lübeck  1714-) 

2)  Evangelisches  Oesterreieh.  (Hamburg  1732.)  —  Erläutertes  evangelisches  Oester^ 
reich.     (Hamburg  1738  mit  £wei  Fortsetzungen.     Hamburg  1738.  1740.) 

3)  Oeschichte  der  Protestanten  in  Oesterreieh  y  Steiermarkty  Kärnten  wid  Ämm 
vom  Jahr  1520  bi.s  auf  die  neueste  Zeit.     (2  Bde.    Anspach  1 784.) 


—     291     — 

1773  von  Jesuiten  und  deren  Schülern  in  Graz  verfafeten  Schriften*) 
—  es  sind  ihrer  778  —  enthalten  nur  sehr  wenige  Beiträge  zur  Ge- 
schichte der  Steiermark :  Gabriel  Hevenesi  (1656 — 1715),  Professor 
der  Theologie ,  verfafste  ein  kleines  Büchlein  ') ,  selbst  für  seine  Zeit 
ohne  Wert,  und  zur  Feier  des  ersten  Jahrhunderts  der  Grazer  Univer- 
sität erschien  eine  Festschrift  von  Paul  Hansiz*)  (1645 — 1721). 
EIntschieden  wertvoller  ist  die  Schilderung  der  Stadt  Graz  von  Jo- 
hannes Macher*)  (1661 — 1704),  eine  in  gutem  Latein  geschriebene 
und  mancherlei  historische  Mitteilungen  enthaltende  Topographie  der 
Landeshauptstadt,  ausgestattet  mit  zahlreichen  vortrefflich  hergestellten 
Kupferstichen,  die  wichtigsten  Gebäude  der  Stadt  darstellend.  —  Von 
Alexander  Szöreny  (1664 — 1719)  stammt  eine  kleine  Schrift  *), 
die,  nach  den  wissenschaftlichen  Fächern  gruppiert,  und  in  diesen  alpha- 
betisch geordnet,  die  kurzen  Biographieen  aller  jener  Jesuiten  vorfuhrt, 
deren  Berufstätigkeit  mit  der  Grazer  Hochschule  zusammenhing  und 
deren  Werke  der  Bibliothek  des  Jesuitenkollegiums  (jetzt  der  Univer- 
sitätsbibliothek in  Graz)  angehörten. 

Mit  der  Geschichte  der  Universität  Graz  beschäftigten  sich  natur- 
gemäfis  die  Jesuiten  auch:  so  Anton  Sporeno®)  (1683' — i75o)i 
Georg  Neumayr,  S.  J.  ^  (1681 — I75S)  und  Theophilus  Thon- 
hausen  *)  S.  J.  (1690 — 1757);  diese  Arbeiten  berichten  jedoch  nur  von 
den  äufiseren  Ereignissen,  namentlich  von  den  Festlichkeiten  an  der 
Grazer  Hochschule  von  1586 — 1641. 

Von  gröfeerer  Bedeutung,  namentlich  für  die  älteste  Kirchen- 
geschichte, sind  die  Arbeiten  von  Sigmund  Pusch^)  (1669 — 1735), 


i)  Peinlich,  Geschichte  des  Gymnasiums  in  Grax.  11 :  CoUegiuim,  Gymna- 
sium und  Universität  unter  den  Jesuiten,  Im  Jahresbericht  des  k.  k.  Obergymna- 
sinms  zu  Graz  1869,  S.  81  —  loo. 

3)  Styriae  dueum  memoria  ab  Ottocaro  usque  ad  Leopoldum  L    (Graz  1685.) 

3)  Styria  gloriosa  seu  serenissimcrum  Styriae  ducum  memoria  fracto  ealamo 
adumbraia  anno  fundatae  Universitaiis  Graecensis  saeculari,     (Graz  1685.) 

4)  Graeeimny  inciyii  ducatus  Styriae  metropolis.    (Graz  1700.) 

5)  Propylaeum  Bibliotheeae  almae  ae  ceteberrimae  Universitaiis  Graeeensisy 
quo  seripiores  hie  quondam  seu  diseentes  seu  docentes  eorumque  opera  recenseniur, 
fGras  1703.) 

6)  Lustrum  L  Universitatis  Graecensis.  (Graz  17 19.)  —  lAtstrum  IV.  et  V.  Uni- 
versitaiis Graecensis.    (Graz  1719.) 

^)  IL  et  m.  Lustrum  Universitatis  Graecensis.    (Graz  1719.) 

8)  Lustrum  VI.  VIL  et  VUI.  Universitatis  Graecensis.  (Graz  1723.)  —  Ijusirum 
DL  X.  et  XL  Universitatis  Graecensis.    (Graz  1724.) 

9)  Chronologiae  sacrae  ducatus  Styriae  Pars  I.  ab  origine  nascentis  eeclesiae 
ad  usque  Cktocari  I.  ducis  gubemium  deducta.    (Graz  1715)  —    Chronologia  indyti 


—     292     — 

die  Octavius  Bucellini  (1674 — 1752)  fortsetzte*).  Der  Wiener 
Jesuit  Karl  Granelli  (1671 — 1739)  verfafete  ein  umfangreiches  topo- 
graphisches Werk  über  die  deutsch -österreichischen  Länder*);  sein 
Grazer  Ordensgenosse  Anton  Freiherr  von  Erber  exzerpierte  es, 
so  weit  es  Steiermark  behandelt,  und  lieferte  damit  eine  Topographie 
dieses  Landes  ^). 

Endlich  sei  noch  des  Karl  Freiherrn  von  Andrian  (1680  bis 
1745)  Geschichte  der  Herzoge  von  Steiermark  genannt  *). 

Nicht  nur  ein  ausgezeichneter  Gelehrter,  sondern  auch  durch 
seine  Schriften  und  sonstige  Tätigkeit  ein  Förderer  der  Wissenschaft 
wurde  Erasmus  Frölich.  Geboren  1700  zu  Graz,  trat  er  in  den 
Orden  Jesu,  studierte  zu  Graz,  Leoben  und  Wien,  lehrte  in  Klagen- 
furt und  Wien  Mathematik,  Geschichte  und  Münzkunde,  wurde  1746 
Bibliothekar  und  Professor  der  Geschichte  und  der  Altertümer  am 
Theresianum  zu  Wien,  sowie  Aufseher  des  Münzkabinettes  imd 
starb  1758.  Das  Hauptgebiet  seiner  Forschung  war  die  Numismatik, 
aber  auch  zwei  Schriften  zur  steiermärkischen  Geschichte  liegen 
von  ihm  vor  *) ;  auch  gab  er  die  Sammlung  von  Urkunden  zur  Kirchen- 
geschichte der  Steiermark  von  Pusch  vermehrt  und  teilweise  neu  be- 
arbeitet heraus  *). 

Sind  diese  Jesuitenschriften  mit  wenigen  Ausnahmen  für  die  Ge- 
schichte der  Steiermark  inhaltlich  von  geringem  Belange,  so  legen  sie 
doch  anderseits  formell  beredtes  Zeugnis  davon  ab,  dafis  die  Wieder- 
erweckung der  humanistischen  Studien  nicht  umsonst  gewesen  ist. 

Aufserhalb  der  Universitätskreise  regte  sich  in  dieser  Periode  in 
Klöstern,  bei  Adeligen,  in  städtischen  Kanzleien  der  Trieb,  vergangenes 
und  gegenwärtiges  aufzuzeichnen,  um  es  der  Zukunft  zu  erhalten.  In 
dem  Franziskanerkloster  zu  Graz  wurde  von  145 1 — 1776  jeweilig  von 


ducatua  Siyriae  ab  Oitocaro  duce  L  usque  ad  excessum  Leopoldt  /.,  Duois  UL  sive 
ab  anno  MCLXXX  usque  ad  MCCXXX,    (Graz  1 720.) 

1)  Chronologiam  saoram  Ducatus  Styriae  per  P.  Sigümundum  Pusch  &  J,  ab 
angine  ad  Ottoearum  U,  perductam  ad  excessum  Leopoldt  L  cofUinuavü  Buceüini 
OetamuSy  S.  J.    (Graz  1720.) 

2)  Germania  Austriaca  seu  Topographia  omnium  Oermaniae  provinciarum 
domui  austriaci  subfectarum,    (Graz  1727.) 

3)  Topographia  Ducatus  Styriae  Caroli  Oranelli.    (Graz  1727.) 

4)  Historia  dueum  Styriae  in  tres  partes  divisa,    (Graz  1728.) 

5)  Dialogus,  quo  disceptaiur:  anne  Rudolphus  Regi  Bohemiae  OUocaro  ab  ob^ 
sequiis  fuerit,  eundemque  tentorio  lapsili  deluseril.  (Vieonae  1755.)  —  Oenealogiae 
Sounekiorum  Comüum  Oelefoe  ei  Comitum  de  Heunburg  duo  spedmina.  (Vicnnae  1 755.) 

6)  Diplomataria  sacra  Ducatus  Styriae.    II  Partes,    (Vicnnae  1757,) 


—     293     — 

den  verschiedenen  Guardianen  desselben  eine  Chronik  geführt  *), 
die  Berichte  über  Vorfälle  im  Konvente,  auch  über  lokale  Verhältnisse 
in  der  Stadt,  über  Ereigiiisse,  die  für  das  Land  und  dessen  Haupt- 
stadt von  Belang"  waren ,  femer  über  die  Beziehungen  dieses  Klosters 
zu  anderen  und  über  manches  kunsthistorisch  Merkwürdige  bietet.  — 
Wolf  Andreas  von  Steinach  (1563 — 1615),  Besitzer  der  Herr- 
schaft Steinach  im  Ennstale  der  oberen  Steiermark,  schrieb  eine 
Chronik  *) ,  die  zuerst  eine  Abschrift  von  Unrests  Kärntner  Chronik, 
sodann  eine  solche  des  Stiftes  Admont  und  die  österreichische  Chronik 
des  Gregor  oder  Matthäus  Hagen  enthält  *).  Einen  gewissen  Wert  hat 
die  Admonter  Chronik;  zwar  strotzt  sie  von  Märchen,  historischen 
Zerrbildern  und  chronologischen  Fehlern,  aber  sie  liefert  Notizen,  die  das 
Gepräge  der  Glaubwürdigkeit  an  der  Stime  tragen,  und  Urkunden  sind  ein- 
geschaltet, deren  Originale  längst  verloren  gegangen  sind ;  für  die  Zeit 
ihrer  Abfassung  ist  sie  eine  brauchbare  Quelle.  Sie  beruht  im  wesent- 
lichen auf  dem  von  dem  Admonter  Mönche  Theodosius  Lang  abgefaisten 
Liber  mannscriptus  I.  (Handschrift  in  Admont),  wobei  jedoch  der  Ver- 
fasser der  Strahower  Abschrift  manches  änderte,  hinwegliefs,  hinzusetzte 
und  für  die  Jahre  1589 — 1596  eine  selbständige  Fortsetzung  anfügte. 
„Landeshauptmannschroniken"  sind  Aufzeichnungen,  die  sich  mit 
den  Landeshauptleuten  als  solchen  beschäftigen,  indem  sie  deren 
Reihenfolge  nennen,  die  wichtigsten  Momente  ihrer  politischen  Wirk- 
samkeit hervorheben  und  soweit  es  tunlich,  auf  ihre  Privatverhältnisse, 
Genealogie  u.  s.  w.  Bedacht  nehmen.  Eine  der  wertvollsten  unter  diesen 
befindet  sich  im  steiermärkischen  Landesarchiv  (Papier-Hs  Nr.  471,  fol.); 
sie  stammt  aus  der  Wende  des  XVI.  und  XVII.  Jahrhunderts  *)  und 
beginnt  mit  den  Landeshauptleuten,  die  nach  dem  Tode  Herzog  Fried- 
richs des  Streitbaren  in  Steiermark  durch  Kaiser  Friedrich  II.  eingesetzt 
wurden.  Jedem  Landeshauptmanne  ist  ein  eigenes  Blatt  gewidmet; 
als  Quellen  dienten  dem  uns  unbekannten  Verfasser  Chroniken,  Ge- 
schichtswerke und  Urkunden;  alle  Angaben  sind  vollkommen  richtig; 
diese  Chronik  bringt  eine  Fülle  interessanter  Personalnotizen  in  kritisch 

i)  Auszüge  cn4s  der  Hausehranik  des  Franxiskanerklosters  xu  Graz.  Abschrift 
im  steiermärkischen  Landesarchive.  Abgedruckt  in  Zahns  steiermärkischen  Geschichts- 
blättem,  3.  Bd.,  S.  74—106. 

2)  Osterreiekis^  Ckromea,  Handschrift  im  Prämonstratenserkloster  Strahow  in 
Prag.  S.  Wichner,  Ein  altes  Ohromkenbueh  in  den  Beiträgen  zur  Kunde  steiermär- 
kischer  Geschichtsqnellen,  19.  Bd.,  S.  74  —  91. 

3)  VgL  diese  Zeitschrift  oben  S.  96. 

4)  Kümmel,  Über  eine  Landeshauptmannsehromk  des  XVI.  Jahrhunderts.  In 
den  Beiträgen  zur  Kunde  steiermärkischer  Geschichtsquellen,  15.  Bd.,  S.  67 — 73. 


—     294     — 

gesichteter  Form,  wobei  wohl  hie  und  da  auch  auf  allgemeinere  Ver- 
hältnisse ein  Streiflicht  fällt.  Ihr  Autor  ist  ein  tüchtiger  Geschichts- 
kenner; es  gibt  keine  andere  gleichzeitige  Chronik,  in  der  eine  so 
vielseitige  gründliche  Forschung,  gepaart  mit  einsichtsvollem  politischen 
Urteil  zu  Tage  tritt. 

Das  älteste  Kloster  in  Steiermark  ist  das  adelige  Frauenstift 
Göfs  bei  Leoben;  eine  späte  Chronik  desselben,  im  Besitze  der 
Pfarre  Göfs  *),  wurde  1652  begonnen,  wahrscheinlich  von  einem  adeligen 
sogenannten  Schaffer  d.  h.  Hof-  und  Rentmeister  des  Stiftes,  dessen 
Nachfolger  sie  fortsetzten,  und  erzählt  die  Geschichte  des  Stiftes  von 
seiner  Gründung  (1004)  bis  zur  Aufhebung  (1782)  durch  Joseph  II.  — 
Auch  das  Zweitälteste  Kloster  in  Steiermark,  St.  Lambrecht,  hat  seinen 
Chronisten.  Es  ist  der  Konventuale  Peter  Weixler*)  (1603 — 1675); 
sein  Werk  ist  betitelt:  Brevis  annotatio  vicissihidinis  circa  ordinem 
St  ßenedidi,  praeciptce  vero  monasterium  Si.  LamhertL  Da  er  immer 
den  ganzen  Orden,  alle  Benediktinerklöster  ins  Auge  fafst,  beginnt  er  mit 
der  Geburt  des  HeUigen  Benedikt  und  schliefst  mit  dem  Jahre  1636. 
Neben  allgemeineren  Quellen  ist  besonders  der  reiche  Urkundenschatz 
seines  Klosters  fleifsig,  wenn  auch  nicht  erschöpfend,  ausgebeutet. 
Die  Chronik  ist  vornehmlich  Geschichte  des  Klosters,  sie  bringt  aber 
auch  einige  die  allgemeine  Landesgeschichte  betreffende  Daten. 

Im  XVII.  Jahrhundert  entstand  in  Steiermark  eine  Kompilation, 
die  sogenannte  Stetermärkische  Chronik,  deren  Verfasser  Jakob  Anton 
von  Cerroni  sein  soll:  sie  ist  in  zahlreichen  Abschriften  verbreitet 
(die  Grazer  Universitätsbibliothek  besitzt  deren  drei,  das  steiermärkische 
Landesarchiv  vier),  enthält  die  sonderbarsten  Erfindungen  und  ist  eine 
durchaus  unlautere  Quelle  '). 

Der  Stadtschreiber  zu  Brück  an  der  Mur  Michael  Francken- 
berg er*)  verfafste  in  den  letzten  Dezennien  des  XVII.  Jahrhunderts 
eine  Geschichte  des  Hauses  Habsburg ;  er  versichert,  dafs  er  zu  diesem 
Behufe  über  3(X)  Bücher  exzerpiert  habe,  legte  sein  Werk  der  Zensur- 

1)  Abschrift  im  steiermärkischen  Landesarchiv.  Abdnick  in  Zahns  steiermärkischen 
Gcschichtsblättcrn,  5.  Bd.,  S.  1—42,  65—103,   129 — 167,  195—218. 

2)  Zahn,  Über  Peter  Weixlers  Chronik  von  St.  Lambrecht,  In  den  Beiträgen 
zur  Kunde  steiermärkischer  Geschichtsqnellen,  10.  Bd.,  S.  i — 23.  —  Original  der  Chronik 
im  Archiv  des  Süftes  St.  Lambrecht  Im  Aaszage  abgedruckt  in  Zahns  steiermärkischen 
Geschichteblättem,  6.  Bd.,  S.   1  —  27,  65  —  79,   129— 161. 

3)  Krön  es  in  den  Mitteilangen  des  historischen  Vereins  für  Steiermark,  17.  Bd., 
S.  121.  —  Krones,  Die  Freien  von  Sanek  und  ihre  Chronik.  (Graz  1883.)  IL  Abt.,  S.  7. 

4)  Kümmel,  Mn  verloren  gegangenes  Qeschicktswerk  in  den  Beiträgen  zur  Kunde 
steiermärkischer  Geschichtsquellen,   15.  Bd.,  S.   129 — 134. 


—     295     — 

behörde  vor  und  seitdem  blieb  es  verschollen.  Aus  einer  vorhandenen 
Eingabe  Franckenbergers  an  Kaiser  Leopold  I.  ist  zu  ersehen,  dafs 
sein  Werk,  der  Geistesrichtung  der  österreichischen  Geschichtschreibung' 
des  XVII.  Jahrhunderts  entsprechend,  in  jenem  panegyrischen  Tone 
gehalten  war,  der  die  meisten  historiographischen  Werke  über  Oster- 
reich und  das  Haus  Habsburg  jener  Zeit  charakterisiert. 

Auf  Ansuchen  der  steiermärkischen  Stände  (173 1)  verfaiste  Franz 
Leopold  Wenzel  Freiherr  von  und  zu  Stadl  (geb.  1678, 
gest.  1747),  Verordneter  der  Stände  und  Amtspräsident  der  Landschaft 
in  Steyer,  den  Ijhrenspiegel  des  Herzogtums  Speyer  ^)  in  neun  starken 
Foliobänden  imd  bietet  nach  den  Adelsfamilien  geordnet  eine  Fülle 
von  historischen  Mitteilungen,  eine  grofse  Anzahl  von  Abschriften, 
Wappenbriefen,  Adelsdiplomen,  dann  Kopieen  von  Siegeln,  Wappen 
und  Inschriften,  Abbildungen  von  Schlössern,  Grabmälem,  welche  sich 
auf  die  betreffenden  Familien  beziehen;  597  Edelgeschlechter  werden 
in  solcher  Weise  in  diesem  Sammelwerke  behandelt.  Es  ist  eine  wich- 
tige Quelle  für  die  Geschichte  des  Adels  in  Steiermark  tmd  somit  für 
das  ganze  Land,  die  prächtige  Handschrift  ruht  im  steiermärkischen 
Landesarchiv.  —  Ein  anderes  handschriftliches  Werk  Stadls  findet 
sich  ebenfalls  dort,  doch  nur  in  einer  jüngeren  im  XIX.  Jahrhundert 
angefertigten  Abschrift,  die  Ada  der  Familie  der  Freiherren  van  SkuU, 
vier  Foliobände  (Original  im  Schlosse  Birkenstein  bei  Birkfeld  in  der 
östlichen  Steiermark).  Was  Stadl  in  dem  Ehrenspiegel  für  alle  übrigen 
steirischen  Edelgeschlechter  geleistet,  das  vollführte  er  in  den  Ada 
für  seine  eigene  Familie,  indem  er  alle  dieselbe  betreffenden  Urkunden 
imd  Akten,  soweit  sie  ihm  zugänglich,  in  genauen  Abschriften  zu- 
sammenstellte. Er  bewährte  sich  somit  als  hervorragender  Sammler 
und  eifriger  Arbeiter  auf  dem  Gebiete  der  steiermärkischen  Landes-, 
insbesondere  der  Adelsgeschichte;  was  man  zu  s.  Z.  darin  leisten 
konnte,  das  hat  er  vollbracht  und  heute  noch  bieten  seine  Arbeiten 
dem  Forscher  reiches  und  willkommenes  Material. 

Leopold  Ulrich  Schiedlberger,  geb.  1647,  seit  1694  Markt- 
scbreiber  zu  Eisenerz  *)  verfaiste  17 13  eine  Chronik  des  Marktes  Eisen- 
erz (Handschrift  im  steiermärkischen  Landesarchiv),  die  mit  dem  Jahre 
der  Welt  3039  beginnt,  „dem  Oeburtsjahre  des  Homer,  der  in  seinen 


i)  S.  die  von  mir  verfkfste  Biographie  Stadls  in  dct  Aügemeinen  Deutschen  Bto- 
graphie,  35.  Bd.,  S.  376—378. 

2)  F.  M.  Mayer,  Leopold  Ulrich  Schiedlbergers  Aufxeichmingen  %ur  Oesehiehte 
von  Eisenerz,  In  den  Beiträgen  zur  Kunde  steiermärkischer  Geschichtsquellen,  17.  Bd., 
S.  3—32. 


—     296     — 

Mnterlassenen  Schriften  des  Bergwerkes  Eisenere  gedenkt^'.  Der  Verfasser 
geht  rasch  über  die  Vorg'eschichten  hinweg,  wird  in  der  Darstellung 
des  XV.  und  XVI.  Jahrhunderts,  wo  er  den  sicheren  Boden  urkund- 
lichen Materials  unter  sich  hat,  ausführlicher  und  bringt  einige  ziemlich 
belangreiche  Beiträge  zur  Geschichte  der  Reformation  des  Marktes. 
Die  Chronik  schliefst  mit  dem  Jahre  1570.  Im  Jahre  1709  stellte 
Schiedlbeiger  das  IngedenJdnich  oder  Bepertarium  aUer  in  des  kayser- 
tmd  landtsfwrstUchen  uralt  gefreyten  Marckts  Eysenartzts  Registratur  und 
Archiv  befindlichen  Original  und  andern  glaubwürdigen  schri/ften  zu- 
sammen, seine  wertvollste  Arbeit;  er  registriert  darin,  was  sich  an  ur- 
kundlichem, heute  verlorenem  Material  in  Original  oder  Abschrift  im 
Marktarchive  damals  noch  vorfand.  Schiedlbergers  drittes  Werk  vom 
Jahre  17 10  war  der  Ehrenrueff  des  in  ganz  Europa  beriehnUen  Hertzog- 
thurnbs  Steyermarkt  .  .  .  aus  bewerten  Scribenten  zusammen  getragen, 
eine  stattliche  Leistung  (1449  S.  fol.),  die  man  eine  Landeskunde  von 
Steiermark  nennen  könnte.  Im  letzten  Kapitel  handelt  er  von  dem 
fast  in  gante  Europa  bekannt  und  von  Gott  reichgesegneten  edlen  Eysen- 
stain  im  Innemberg  des  Eysenäriztes,  dessen  Ursprung,  Vortpflanzung 
und  Regierung  des  gantzen  lobl,  Haubtgewerkschafßs  -  Weesens  *). 

An  Memoiren,  besonders  aus  dem  XVII.  und  XVIII.  Jahrhundert, 
an  denen  Frankreich  sehr  reich  ist,  fehlt  es  anscheinend  sehr  in  den 
deutschen  Landen  —  oder  sollten  sie  nur  noch  nicht  ausgegraben 
sein?  Zwei  Niederschriften  dieser  Art  hat  die  Steiermark  dennoch 
aufzuweisen:  die  erste  ist  das  j5aus&uc&  der  Frau  Marie  Elisabeth 
Stampfer  (geb.  1638),  zuerst  behandelt  von  Adam  Wolf*)  in  einem 
geistreichen  Essay,  herausgegeben  von  J.  v.  Zahn').  Marie  Elisabeth 
war  die  Frau  des  Hochofenbesitzers  Adam  Stampfer  in  Vordemberg 
und  führte  ihr  Hausbuch  von  1666 — 1694.  Aufgezeichnet  ist  darin 
alles,  was  sie  und  ihre  Familie  in  Glück  und  Unglück  berührte,  aber 
es  finden  sich  auch  Notizen  allgemeinen  Inhalts  über  die  Pest  von  1669 
und  1670,  über  die  Stimmung  der  Bewohner  der  Steiermark  zur  2^it 
der  grofeen  Türkennot  von  1683,  u.  a.  —  Einer  ihrer  Nachkommen, 
Johann  Gottlieb,  wurde  wegen  seiner  Verdienste  um  den  Bergbau  in 
Ungarn  (1731)  in  den  Grafenstand  erhoben,  seine  Familie  starb  jedoch 


1)  Valentin  Preitenhuebers  Castrum  Styrense  (Wien  165 1)  und  AnncUes  Siyrenses 
nach  des  Verfassers  Tod  ersclaenen  (Nürnberg  1 740),  betreffen  nicht  die  Steiermark,  son- 
dern die  Burg  und  die  Stadt  Steier  in  Oberösterreich. 

2)  OeschichÜiehe  Bilder  aus  Österreich,    (Wien  1880.)    2.  Bd. 

3)  Der  Frau  Marie  Elisabeth  Stampfer  aus  Vordemberg  Hausbuch,  Auf  Ver- 
anlassung des  Grafen  Franz  von  Meran  herausgegeben  von  J.  v.  Zahn.     (Wien  1887.) 


—     297     — 

«cbon  1807  mit  seinem  Urenkel  aus.  —  Das  andere  dieser  Familien- 
bücher ist  das  Gedenkbuch  der  Frau  Maria  Cordula  Freiin  von 
Pranck,  verwitweten  Hacke,  g-eborenen  Radhaupt,  das  die  Jahre  1595 
bis  1707  umfafst  *)  und  wichtige  Nachrichten  über  die  steirischen  Edel- 
geschlechter  enthält.  Der  angesehenen  Grazer  Familie  Radhaupt  zum 
Rosenberg  entstammend,  war  sie  in  erster  Ehe  vermählt  mit  dem 
kaiserlichen  Kapitänleutnant  Gerhard  Johann  Hacke,  der  1659  bei  der 
Belagerung  von  Demin  in  Pommern  fiel,  in  zweiter  Ehe  mit  Hans  Sig- 
mund Freiherrn  von  Pranck,  aus  dem  im  Murtale  der  oberen  Steier- 
mark begüterten  Geschlechte. 

Ist  die  Periode  von  der  Gegenreformation  an  bis  in  die  zweite 
Hälfte  des  XVIII.  Jahrhunderts  als  die  Zeit  geistiger  Öde  und  unfrucht- 
baren Quietismus  zu  bezeichnen  und  fehlt  es  in  der  Tat  an  irgend 
welchen  hervorragenden  Leistungen  der  Geschichtsschreibung,  so  ändert 
sich  dies  allmählich,  seitdem  unter  Maria  Theresia  und  Joseph  II.  wirt- 
schaftlich, geistig  und  politisch  ein  anderes  Leben  begann.  Zur  Zeit 
<ier  grofsen  Kaiserin  entstand  der  Steiermark  ihr  erster  wirklicher  Ge- 
schichtsforscher und  Geschichtschreiber,  der  die  Geschichte  des  ganzen 
Landes  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zu  seinen  Tagen  gründlich  durch- 
forschte, formell  befriedigend  darstellte  und  soweit  es  nach  den  da- 
mals gegebenen  Verhältnissen  möglich  war,  kritisch  behandelte: 
Aquilin  Julius  Cäsar,  regulierter  Chorherr  im  Stifte  Voran  (geb. 
1720,  gest  1792),  ein  unermüdlicher  Mann,  der  mit  eisernem  Fleifs 
arbeitete,  treffliches  leistete  und  dies  nicht  nur  für  seine  Zeit,  denn 
seine  Werke  *)  braucht  heute  noch  jeder,  der  die  Geschichte  der  Steier- 
mark erforschen  und  bearbeiten  will. 

Und  sehr  bald  wurde  in  einer  Reihe  kleiner  Schriften  ')  der  von 
Ihm  zusammengetragene  Stoff*  popularisiert. 


i)  Heraosgegeben  io  Zahns  Stetermärkischen  Oeschichtsblättem ,   2.  Bd.  (1881), 
S.  9—29. 

2)  Antiales  Dtseatus  Stiriae.  ('s  Bde.  Vindobonae  1768,  1773, 1777.)  Der  vierte  Band 
wurde  der  Zensorbehörde  in  Wien  ttberreicht,  Cäsar  starb  inzwischen  und  die  Handschrift 
dieses  Bandes  ging  verloren.  —  Besehreibung  des  Hßrxogthums  Steyermark.  (2  Bde. 
<5rar  1773.)  —  Beschreibung  der  k,  k.  Hauptstadt  Orätx.  (3  Teile.  Sakburg  1781.)  — 
StaaiS'  und  Kirchengeschichte  des  Eerxogthums  Steyermark.   (7  Bde.  Graz  7185  — 1788.) 

3)  Baumeister,  Joseph  EdLv.:  Versiuh  einer  StcuUsgeschichte  von  Steyer- 
mark bis  1246.  (Wien  1780.)  —  Majer,  Karl  Wilhelm:  Versuch  Ober  steige- 
märkisehe ÄUerthümer  und  einige  merkwürdige  Oegenstände,  (Graz  1782.)  —  Kinder- 
joann,  Jos.  C:  Historischer  und  geographischer  Abriß  des  Hemagthums  Steyermark, 

(2.  Aufl.    Graz  1787.)    —   Derselbe:  Beiträge  zur  Vaierlandskunde  für  hmeröster- 
reiche  EinuH>hner,    (Graz  1790.)  —  Derselbe:  Repertorium  der  steiermärkischen 

21 


—     298     — 

Aus  dem  ersten  Jahrzehnt  des  XIX.  Jahrhunderts  ist  noch  heute 
beachtenswert  Joseph  Pilipps  (geb.  1752),  Dechanten  in  Eisenerz, 
später  zu  St.  Lorenzen  im  Mürztale,  Monographie  über  die  für  ganz 
Steiermark  und  auch  noch  viel  weiter  hin  hochwichtige  Erzgewinnungs- 
und Eisenbereitungsstätte  Eisenerz  im  Innemberg  ^).  Johann  Bap- 
tist von  Winklern  (geb.  1768),  Pfarrer  zu  St  Johann  im  Saggau- 
tale, sammelte  reichhaltiges  biographisches  Material  über  steiermär- 
kische  Schriftsteller  und  veröffentliche  es  in  einem  Büchlein  *),  welches 
jetzt  noch  sehr  brauchbar  ist. 

Am  Anfange  der  humanistisch  belebten  Periode  steiermärkischer 
Geschichtschreibung  steht  der  Name  eines  Berühmten,  Sigmund  von 
Herbersteins;  es  folgt  die  bewegte  Zeit  der  Reformation  und  Gegen- 
reformation; ihr  Ergebnis  ist  die  geistige  Öde  von  etwa  1630  bis  1760. 
Vom  Kaiserthrone  herab  dringt  dann  neues  Leben  und  Licht  anregend 
und  erfrischend  ins  Volk  und  auch  auf  dem  Gebiete  der  Geschicht- 
schreibung schliefst  ein  bedeutender  Forscher  und  Darsteller,  Aquilin 
Julius  Cäsar,  mit  dem  XVIIL  Jahrhundert  die  vorwiegend  vom" 
Geiste  der  Antike  beherrschte  Zeit  steiermärkischer  Geschichtsdar- 
stellung. 

Nachwort 

Solche  Studien,  wie  im  Vorstehenden  eine  geboten  wird,  dürfen 
nicht  nur  bei  den  Forschem,  die  sich  mit  der  Geschichte  Steiermarks 
oder  wenigstens  der  der  habsburgischen  Länder  überhaupt  beschäftigen, 
auf  Teilnahme  rechnen;  sie  sollen  vielmehr  in  erster  Linie  Beiträge 
zur  Geschichte  der  Geschichtschreibung  sein  und  zur  immer 
weiteren  Ausbildung  dieses  noch  so  rückständigen  Forschungszweiges 
beitragen.  Bereits  früher  wurde  in  dieser  Zeitschrift ')  im  Anschlufe 
an  eine  andere  Arbeit  dieser  Gesichtspunkt  geltend  gemacht,  und  das 
dort  Gesagte  wäre  hier  zu  wiederholen.  Das  Ziel  solcher  Untersuchung 
ist  es  zu  ergründen,   wie  in   einem  bestimmten  Zweige  der  Literatur, 


Oeachiehte,  Tupographte,  Statistik  und  Naturhistorie.  (Graz  1798.)  —  Geist  Ca- 
jetan:  VtUerländische  Oesekiehte  Steyermarks.  (Wien  1803)  —  Knmar,  Josef 
Angnst:  Versttch  einer  vaterländischen  Oesehichte  Ottokars  VI.,  ersten  Herzogs  von 
Steyermark.    (Graz  1808.) 

i)  Das  18.  Jahrhundert  im  Innernberge  des  Eisenerzes.    (Graz  1801.) 

2)  Biographische  und  literarische  Naehriehten  von  den  SehriftsteUem  und  KOnst- 
lern,  welche  in  dem  Herxogthume  Steyermark  geboren  sind  und  in  oder  außer  dem- 
selben  gelebt  haben  und  noch  leben.    (Graz  t8io.) 

3)  Vgl.  Bd.  n,  S.  182—184. 


—     299     — 

eben  dem  der  Geschichtschreibungf,  die  geistige  Disposition  einer  Zeit 
zum  Ausdruck  kommt,  um  damit  diesem  Geistesleben  selbst  näher  zu 
kommen.  Für  das  frühe  und  selbst  das  spätere  Mittelalter  sind  diese 
Probleme  als  reizvoll  wohl  allgemein  anerkannt,  aber  für  die  Zeit  vom 
XVI.  bis  XIX.  Jahrhundert  sind  sie  es  in  vielleicht  noch  höherem  Grade, 
und  dabei  ist  hier  ihre  Lösung  schon  wegen  der  massenhaften  lite- 
rarischen Produktion,  in  der  das  Bahnbrechende  und  Neue  vor  allem 
ausgesucht  und  gewürdigt  werden  mufs,  viel  schwieriger.  Die  Arbeit 
wird  hier  gegenüber  der,  die  sich  auf  frühere  Perioden  erstreckt,  auch 
verwickelter,  denn  es  ergeben  sich  aus  den  allgemeinen  Bedürfriissen 
der  Geschichtsforschung  wie  anderer  Wissenschaften  noch  eine  ganze 
Menge  Sonderaufgaben:  geschichtlich  ist  die  Quellenkritik  am 
wichtigsten,  für  die  bereits  bei  einer  Darstellung  des  XVI.  Jahrhunderts 
das  für  die  Untersuchung  mittelalterlicher  Annalen  entwickelte  Schema 
nicht  mehr  genügt,  und  von  anderen  Wissensgebieten  zieht  die  so- 
genannte Weltanschauungsgeschichte  den  gröfeten  Nutzen,  da 
bewuist  oder  unbewuOst  bestimmte  philosophische  oder  religiöse  An- 
schauungen die  geschichtliche  Darstellung  zu  beeinflussen  pflegen  und 
eben  daraus  deren  Wirkung  auf  weitere  Kreise  erkennbar  wird. 

Vom  allgemeinsten  geschichtlichen  Interesse  ist  für  Deutschland 
die  umfassende  Beantwortung  der  Frage:  Wie  hat  sich  die  durch 
das  Wort  „Humanismus"  oder  „Studium  der  Alten**  ge- 
kennzeichnete Bildung,  die  durch  die  Lateinschule  hin- 
durch vom  XVI.  bis  XVIII.  Jahrhundert  so  gut  wie  aus- 
schliefslich  das  deutsche  Geistesleben  aller  Kreise  be- 
herrscht und  als  deren  Ausflufs  die  Blüte  der  deutschen 
Literatur  seit  der  Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts  zu  be- 
trachten ist,  in  der  Geschichtschreibung  geäufsert?  Die 
Beantwortung  ist  nur  möglich  auf  Grund  einer  ausgedehnten  Sammel- 
und  Sucharbeit,  die  zu  leisten  die  Lokalforschung  berufen  und 
allein  befähigt  ist.  Die  Charakteristik  der  von  mehr  oder  weniger  ge- 
lehrten Leuten  seit  dem  XVI.  Jahrhundert  verfafsten  Ortschroniken 
und  Landeskunden  mit  ihren  vielen  Wunderlichkeiten  und  der  Sucht, 
gelehrt  zu  erscheinen  oder  vielmehr  mit  Schulweisheit  zu  prunken, 
erscheint  unter  diesen  allgemeinen  Gesichtspunkten  als  eine  recht 
lohnende   Aufjgabe  *).      Ganz    ähnlich    steht    es    mit    den    im    ganzen 

i)  Für  die  Landeskunde  ist  bereits  in  dem  Aufsatz  Ton  Hantesch  in  dieser 
Zeitschrift,  Bd.  I,  S.  18—22  und  S.  41 — 47  eine  kurze  Zusammenstellung  der  Werke 
des  XVI.  Jahrhunderts  versucht  worden.  Recht  dankenswerte  einschlägige  Monographieen 
sind  z.  B.  Alfred  Berg,  Oeorg  Torquatus  als  ältester  Halberstädter  Topograph  (Mit- 

21* 


—     300     — 

naiveren  und  der  B^rifiswelt  des  anstehenden  Mittelalters  näher 
stehenden  Selbstbiographieen  und  Gedenkbüchem  von  Bürgern  und 
Bauern  *),  die  als  Literaturdenkmale  und  Quellen  oft  gleichen  Wert 
besitzen.  Die  oben  für  die  Steiermark  erfolgte  Feststellung  hinsichtlich 
der  geschichtlichen  Forschertätigkeit  der  Jesuiten  sollte  zur  An- 
stellung von  Vergleichen  Anlafs  geben,  denn  in  anderen  Landschaften 
wird  es  vielfach  anders  gewesen  sein,  und  in  ähnlicher  Weise  wäre  zu 
verfolgen,  welche  Anregungen  der  Geschichtschreibung  etwa  von  be- 
stimmten Universitäten  oder  kirchlichen  Gemeinschaften  aus  zuteil  ge- 
worden sind. 

Das  sind  nur  einige  besondere  Aufgaben,  recht  zahlreiche  andere 
gesellen  sich  ihnen  zu.  Wenn  die  Lokalforschung  dieses  Gebiet  des 
Geisteslebens,  das  vielfach  mit  der  Schulgeschichte  verquickt  ist  und 
namentlich  für  den  Lehrer  an  den  höheren  Schulen  in  kleineren  Städten 
ein  dankbares  Arbeitsfeld  darstellt,  systematisch  bearbeiten  wollte,  so 
könnte  sie  Grofses  leisten  und  zwar  zugleich  für  den  engeren 
und  den  weiteren  Kreis:  jenem  wird  die  genauere  Kenntnis  der 
heimischen  Geschichtsquellen  vermittelt,  diesem  ein  Beitrag  zum  Ver- 
ständnis deutschen  Geisteslebens  seit  dem  XVL  Jahrhundert  geboten. 
A.  T. 

teilangen  des  Vereins  für  Erdkunde  zu  Halle,  1901 ,  S.  17 — 45);  Reimer  Hansen, 
Der  dühmarsische  Chronist  Johann  Russe  und  seine  Vorgänger  (Zeitschrift  der  Gesell- 
schaft für  Schleswig-holsteinisch-laaenborgische  Geschichte  29.  Bd.  (1899)  sowie  Kiel  1901); 
Hermann  Pieper,  Der  märkische  Chronist  Andreas  Engel  (Angelus)  aus  Strausberg 
(Programm,  Berlin  1902);  Lutze,  Die  Chronikenschreiber  der  Stadl  Sondershattsen 
(Programm  der  Realschule  zu  Sondershausen  1901);  Kolb,  Des  Haller  Chronisten 
Oeorg  Widman  Leben  (f  1560)  und  die  Handschriften  der  Widmanschen  Chronik 
(Wilrttembergisch  Franken.  Neue  Folge,  6.  Bd.,  Schwäbisch-Hall  1897).  Als  Muster  einer 
zusammenfassenden  Darstellung  für  einen  Ort  wäre  Ludwig,  Die  Konstanxer  Geschichts- 
schreibung bis  zum  X  Vlll.  Jahrhundert  (Strafsburg  1894)  oder  Albert,  Die  Oeschiehts- 
schreibung  der  Stadt  Freiburg  in  alter  und  neuer  Zeit  [Zeitschrift  für  die  Geschichte 
des  Oberrheins.  Nene  Folge,  16.  Bd.  (1901)]  zu  nennen.  Was  fUr  das  XVL  Jahrhundert 
gesagt  wurde,  gilt  in  vieler  Beziehung  auch  schon  fUr  das  XV.  Jahrhundert:  Chroniken 
dieser  Zeit  aus  Leutkirch  und  Kempten  sind  z.  B.  im  Allgäuer  Oeschichisfreund 
7.  Jahrgang  (1894)  und  8.  Jahrgang  (1895)  charakterisiert. 

i)  Üwof  nennt  oben  S.  296  zwei  Oedehkbücher.  Zwei  andere  sind  z.  B.  oben 
S.  275  (das  eines  Fuldaer  Bauern  1637— 1667)  und  S.  278  (das  des  1784  nach  Amerika 
ausgewanderten  Rheinpfalzers  Börstler)  erwähnt.  Eine  Bibliographie  dieser  Literatur- 
gattnng  wäre  bei  der  verstreuten  Veröffentlichung  sehr  wünschenswert  und  die  Voraus- 
setzung für  eine  umfassende  Charakteristik. 


—     301     — 


Zur  Vorgeschichte  des  Bauernkrieges 

Von 
Kurt  Käser  (Wien) 

Die  bisherige  Forschung  über  die  Geschichte  des  Bauernkrieges 
ist  von  einer  gewissen  Einseitigkeit  nicht  frei  zu  sprechen.  Sie  hat 
bisher  vorwiegend  den  äulseren  Verlauf  der  Bewegiuig  zu  erfassen,  die 
Verhandlungen  zwischen  Bauern  und  Herren,  die  Kriegs-  und  Plünde- 
rungszüge des  empörten  Landvolkes,  die  entscheidenden  Schlachten, 
die  Gestalten  einzelner  hervorragender  Führer  beider  Parteien  dar- 
zustellen gesucht,  darüber  jedoch  die  ungleich  wichtigere  Vorgeschichte 
der  Bewegung  einigermafeen  vernachlässigt.  Man  hat  sich  lange  Zeit 
mit  dem  Material  begnügt,  das  man  im  Vorbeigehen  mitnehmen  konnte. 
Und  doch  ist  es  ein  viel  höheres  Ziel,  diejenigen  Momente  in  der 
bäuerlichen  Entwickelung  klarzustellen,  die  den  konservativsten  aller 
Stände  zu  allgemeiner  Empörung  trieben,  als  mit  peinlicher  Sorgfalt 
die  Einzelheiten  in  den  äu&eren  Hergängen  einer  Bewegung  zu  er- 
forschen, die,  so  bedrohlich  und  machtvoll  sie  auch  begann,  doch 
schliefslich  die  Grundlinien  des  bäuerlichen  Lebens  nicht  zu  verrücken 
vermochte. 

Erst  in  neuerer  Zeit  hat  man  begonnen,  mit  gröfeerer  Aufmerk- 
samkeit den  Ursachen  der  bäuerlichen  Aufstände  nachzuspüren,  ge- 
nauere Untersuchungen  über  die  Lage  des  süddeutschen  Bauernstandes 
im  XV.  und  XVI.  Jahrhundert  anzustellen  ^).  Noch  immer  jedoch 
harren  für  die  Vorgeschichte  des  Bauernkrieges  wichtige  Probleme  der 
Lösung,  die  gewaltigen  Stoffmassen  der  Archive  gilt  es  zu  bearbeiten. 
Noch  aber  fehlt  die  notwendige  Organisation  der  Arbeit,  und  ins- 
besondere der  landes-  und  ortsgeschichtlichen  Forschung  erschliefst 
sich  hier  ein  weites,  ergiebiges  Feld.  Zweck  dieser  Zeilen  ist,  eine 
Art  Programm    zur  Vorgeschichte    des   Bauernkrieges    zu    entwerfen. 


i)  Ich  nenne  hier  nur  einige  der  wichtigsten:  Gothein,  Die  Lage  des  Bauern- 
standes am  Ende  des  MiUelaÜers,  vomehmlteh  in  Südwestdeutsehland,  Westdeutsche 
Zeitschrift  IV  (1885),  S.  i  and  Wirtschaftsgeschichte  des  Schwarzwaldes,  Bd.  I;  Lamprecht, 
WirtsehafUiehe  und  soxdale  Wandhmgen  vom  XIV, — XVI.  Jahrhundert.  Zeitschrift 
f.  Soz.-  n.  Wirtsch.-Geschichte,  Bd.  I  (1893);  M.  A.  Höfsler,  Zur  Enistehungsgesehiehte 
des  Bauernkrieges  in  SüdwestdeutsckUmd  (Leipzig.  Diss.  1893);  ^*  Heerwagen,  Die 
Lage  der  Bauern  Mir  Zeit  des  Bauernkrieges  in  den  Taubergegenden  (Heidelberger 
Diss.  1899);  W.  Stolze,  Zur  Vorgesehiehte  des  Bauernkrieges  (Schmoller,  Staats-  nnd 
tozialw.  Forschungen  XVm,  4,  1900);  Grapp,  Die  Ursachen  des  Bauernkrieges,  Hist.- 
pol.  Blätter,  Bd.  CXXIV,  199. 


—     802     — 

Insbesondere  soll  das  Interesse  der  Lokalforschung  hingelenkt  werden 
auf  die  ErschlieCsung  oder  Bereicherung  gewisser  wertvoller  Quellen- 
kreise, sowie  auf  etliche  neuere  Untersuchungen  über  besonders  wich- 
tige, in  unser  Gebiet  einschlagende  Fragen,  die  der  weiteren  Arbeit 
zur  Anregung  und  als  Muster  dienen  sollten. 

Der  Bauernkrieg  löst  sich  auf  in  eine  Kette  von  Einzelaufständen, 
die  innerhalb  bestimmter  Territorien  sich  abspielen  *) ,  miteinander  oft 
gar  nicht  in  nähere  Berührung  kommen,  eine  sehr  verschiedene  Fär- 
bung zeigen.  Die  neueren  Forscher,  die  sich  mit  dem  eigentlichen 
Bauernkrieg  beschäftigen,  haben  diesen  Verhältnissen  Rechnung  tragend 
sich  zu  territorialer  Arbeitsteilung  entschlossen.  Auch  für  die  Vor- 
geschichte des  Bauernkrieges  wird  man  bei  der  keineswegs  gleich- 
mäfsigen  Gestaltung  der  bäuerlichen  Verhältnisse  in  den  einzelnen  Ländern 
diesen  Weg  einschlagen  müssen,  den  ja  einzelne  Forscher,  wie  Höfsler, 
Heerwagen,  Stolze  u.  a.  auch  schon  betreten  haben.  Aber  auch  die 
bisherigen  Arbeiten  hüten  sich  nicht  immer  genug  vor  Verallgemei- 
nerungen, suchen  oft  auf  Grund  einseitiger  oder  eklektischer  Quellen- 
benutzung ein  Gesaratbild  der  bäuerlichen  Lage  zu  entwerfen,  das  vor 
genauer  Prüfung  nicht  immer  bestehen  kann.  Hier  eben  wäre  der 
Punkt,  wo  die  Pfleger  der  Orts-  und  Landesgeschichte  mit  ihrer  Tätig- 
keit einsetzen  und  der  zusammenfassenden  Forschung  die  Wege  ebnen 
könnten.  Innerhalb  der  landschaftlichen  oder  lokalen  Grenzen  aber 
hätte  dann  eine  weitere  Spezialisienmg  der  Arbeit  nach  bestimmten 
Aufgaben  einzutreten. 

Von  diesen  Aufgaben  nun  möchte  ich  im  Folgenden  einige  nennen, 
die  noch  gar  nicht  oder  noch  nicht  genügend  bearbeitet  sind,  und 
deren  Behandlung  mir  als  besonders  wünschenswert  und  lohnend 
erscheint. 

Eine  Hauptursache  der  bäuerlichen  Unzufriedenheit  liegt  in  den 
Neuerungen,  die  im  XV.  und  XVI.  Jahrhundert  den  Bauern  zu  Ab- 
bruch und  Beschwerde  eingeführt  wurden.  Ein  grofser  Teil  ihrer 
Klagen  richtet  sich  gegen  die  willkürliche  Steigerung  der  Dienste, 
Zinsen  und  Steuern,  gegen  die  „neuen  Fündlein";  sie  wollen  bei  ihrem 
alten  Recht  und  Herkommen  bleiben.  Die  beste  Einsicht  in  Art  und 
Mals  dieser  Neuerungen  gewähren  uns  die  urkundlichen  Aufzeichnungen 

i)  Vor  allem  gilt  es  im  einzelnen  festzusteUen,  welche  besonderen  Mifsstände  an 
«inem  bestimmten  Ort  za  Aafmhr  oder  wenigstens  zu  Streitigkeiten  gef^ihrt  haben.  In 
Graach  an  der  Mosel  macht  z.  B.  mn  1500  der  Aosschlnfs  der  Bauern  von  der  Eichel- 
mast in  einem  klösterlichen  Walde  böses  Blut  Vgl.  Tille,  Die  Benediktinerabtei 
St.  Martin  bei  Trier  (Trierisches  Archiv,  Heft  4,  1900),  S.  82. 


—     303     — 

bäuerlicher  Pflichten,  die  Urbare,  Salbücher,  Zinsrodel  u.  dgi.  An  der 
Hand  dieser  Dokumente  läfet  sich  die  Entwickelung  der  Bauemlasten 
für  die  einzelnen  Güter  durch  bestimmte  Zeiträume  hindurch  verfolgen. 
Freilich  auch  sie  geben  uns  nicht  immer  volle  GewiCsheit.  Denn  es 
kam  vor,  dais  Grundherren  die  Abgaben  ihrer  Untertanen  über  das 
in  den  Urbaren  festgesetzte  Mafs  hinaus  steigerten,  ohne  da(s  die 
Neuerung  im  Urbar  eingetragen  wurde  *).  Immerhin  liefern  diese  Auf- 
zeichnungen einen  Malsstab  für  die  Höhe  imd  für  die  Veränderungen  der 
bäuerlichen  Pflichten  und  können  als  Kontrole  der  vorgebrachten  Be- 
schwerden dienen  *).  Die  Weiterarbeit  an  der  Publikation  von 
Urbarien,  Zinsregistern  und  ähnlichen  Dokumenten  des 
bäuerlichen  Rechts-  und  Wirtschaftslebens  wäre  also  eine 
Aufgabe,  durch  deren  Lösung  die  landes-  und  ortsgeschichtlichen  Or- 
ganisationen sich  den  lebhaften  Dank  aller  daran  interessierten  For- 
scher verdienen  würden. 

Zur  Steigerung  der  Lasten  war  eine  Minderung  der  bäuerlichen 
Rechte  gekommen.  Grund-  und  Landesherrschaft  haben  den  Bauern 
das  Eigentum  und  die  Nutzimg  an  Wasser,  Wald,  Weide  und  Jagd 
entzogen  oder  geschmälert  *).  Die  Motive  dieses  Vorgehens  gilt  es 
klarzulegen  und  zwar  vorurteilslos:  sie  liegen  in  der  Zunahme  der 
Bevölkerung,  die  eine  Begrenzimg  der  Nutzungsrechte  des  einzelnen 
notwendig  machte,  in  dem  Verlangen  der  Grund-  und  Landesherren 
nach  ungehinderter  Übung  ihres  Jagdrechts,  in  der  Einbürgerung  eines 
strengeren  Eigentumsbegrifis,  endlich  aber  in  der  Rücksicht  auf  eine 
rationelle  Forstwirtschaft,  die  der  Verwüstung  des  Waldes  durch  bäuer- 


i)  Vgl.  F.  M.  Mayer,  Der  innerösterreichische  Bauernkrieg  des  Jahres  1515 
(Archiv  f.  österr.  Gesch.,  Bd.  LXV,  1884),  S.  6oflF. 

2)  Derartige  Verwertung  von  Zinsregistern  s.  bei  Höfsler  S.  17 ff.  and  Alfred 
Grand,  Die  Veränderungen  der  Ibpographie  im  Wiener  Walde  und  Wiener  Becken 
(Geographische  Abhandlangen,  heransgeg.  von  A.  Penck.  VIII,  i.  Leipzig  1901),  S.  199, 
Anm.  3. 

3)  Dabei  kommt  aber  in  Betracht,  dafs  das  Recht  zu  stärkerer  Natzang  vielfach 
dem  Grundherrn  gar  nicht  bestritten  werden  konnte,  dafs  der  Baaer  aber  trotzdem  die 
wieder  wachsende  Eigenwirtschaft  namentlich  klösterlicher  Grandherren  recht  ttbel  em- 
pfand. Vgl.  Tille,  Die  Benediktinerabiei  St.  Mariin  bei  Trier,  S.  70  and  dazu  die 
Bemerkung  von  Ludwig  in  der  Historischen  Vierteljahrschrift,  4.  Jahrgang  (1901),  S.  291, 
der  fHr  Südwestdeutschland  die  gleiche  Beobachtung  gemacht  hat.  Überhaupt  ist  es  sehr 
wichtig  festzustellen,  wo  und  im  welchem  Malse  die  Grundherren  schon  im  XV.  und 
XVL  Jahrhundert  zum  Eigenbetrieb  zurückgekehrt  sind,  wie  weit  sich  die  folgenschwere 
Umwandlung  der  Grundherrschaft  zur  G u t  s  herrschaf t  damals  schon  vorbereitet  hat. 
Manche  Klagen  der  Baaem,  z.  B.  über  Steigerung  der  Frohnden,  würden  dann  ihre 
Erklärung  finden. 


—     304     — 

liehe  Unvernunft  vorzubeugen  suchte ').  Eine  Veröffentlichung  der 
zahlreichen  Waldordnungen  des  XV.  und  XVI.  Jahrhunderts  würde 
die  Motive  dieser  grund-  und  landesherrlichen  Forstpolitik  deutlicher 
erkennen  lassen.  Von  Wert  wäre  auch  eine  weitere  Sammlung  solcher 
Dokumente,  die  über  die  Ursprungszeit  jener  Herrenrechte  an  der 
Allmende  Auüschlufs  gäben.  Man  würde  dann  klarer  sehen,  ob  die 
früher  schon  gegen  die  Freiheit  der  Allmende  gerichteten  Tendenzen 
der  Herrschaften  in  der  Zeit  unmittelbar  vor  dem  Bauernkriege  eine 
Steigerung  erfahren  haben,  ob  die  Klagen  der  Bauern  über  Schmäle- 
rung der  Allmende  also  durch  kürzlich  erfolgte  Mafsregeln  der  Herren 
oder  nur  durch  die  Erinnerung  an  weit  zurückliegende,  längst  verlorene 
Rechte  verursacht  sind  *). 

Für  die  gesamte  Auffassung  der  Bewegung  erscheint  mir  von 
entscheidender  Wichtigkeit  die  Frage :  wie  verhielt  sich  die  Leistungs- 
fähigkeit des  Bauern  zu  .allen  jenen  Beeinträchtigungen  ?  War  er  im 
Stande,  eine  Mehrbelastung  zu  ertragen,  oder  drückte  sie  ihn  zu  Boden? 
Die  Ermittelung  der  bäuerlichen  Vermögens-  und  Besitz- 
verhältnisse ist  daher  eine  der  wichtigsten,  aber  auch  eine  der 
schwierigsten  Aufgaben,  die  den  Forscher  auf  diesem  Gebiete  erwarten. 
Das  Material,  das  einstweilen  vorliegt,  ist  noch  äufeerst  dürftig,  zeigt 
aber  doch  die  Richtung  an,  in  der  sich  die  künftige  Forschung  wird 
bewegen  müssen.  Von  unschätzbarem  Werte  für  die  Erkenntnis  des 
bäuerlichen  Vermögensstandes  sind  die  Verzeichnisse  der  Güter 
entwichener  Bauern  und  femer  Steuerlisten,  in  denen  uns  eme 
wohl  zuverlässige  Schätzung  bäuerlicher  Vermögen  geboten  wird.  Ein 
solches  Güterverzeichnis  für  Stadt  und  Amt  Weinsberg  aus  dem  Jahre 
1525  hat  Baumann*)  mitgeteUt.  In  der  „Zeitschrift  für  Geschichte 
des  Oberrheins  *'  *)  finden  sich  Statistiken  bäuerlicher  Vermögen  zum 
Zweck  der  Steuererhebung  aus  dem  Gebiet  von  Überlingen  (Ende  d^ 
XV.  Jahrhunderts)  und  aus  den  Ämtern  Weinsbei^,  Neustadt  am  Kocher 


i)  Vgl.  Armin  Tille,  jSwei  Waidorditwigen  aus  dem  Herxogium  Jülich  sowie 
Vom  Kappusch  bei  Braehelen  (Zeitochrift  des  Aachener  Geschichtsvereins,  Bd.  XXIH 
[1901],  S.  1—30  und  Bd.  XXIV  [1902],  S.  232—257). 

2)  Jnama- Sternegg,  Deutsche  WirisehaftsgesehichUt  Bd.  m,  i,  S.  2370:.  lu 
S.  285  fif.  ist  gezeigt,  wie  im  XIV.  Jahrhundert  bereits  ein  voUes  Eigentumsrecht  der  Grand- 
herren  an  Wald  ond  Allmende  ausgebildet  and  eine  rationelle  Forstpolitik  im  Zuge  war. 

3)  Akten  xur  OesehiMe  des  deutsehen  Bauernkrieges  aus  Obersehwahen,  n.  417. 
Vgl  auch  S.  392  u.  393. 

4)  Bd.  XDC,  S.  loff.  Für  den  Kanton  Zttrich  hat  Ciaassen,  Schwerer  Bauern- 
poUtik  im  Zeitalter  Ulrich  Zicinglis  (Weimar  1S99),  die  Verteilung  der  bänerlichea 
Vermögen  berechnet  (S.  ii9flf.). 


—     305     — 

und  Möckmühl  (1505).  Auf  die  ErmitteluDg  von  solch  statistischem 
Material  mu(s  die  Aufmerksamkeit  der  Forscher  ganz  besonders  ge- 
richtet sein.  Auf  dieser  Basis,  nicht  auf  Grund  der  unsicheren,  ein- 
ander oft  widersprechenden  Nachrichten  der  zeitgenössischen  Schrift- 
steller wird  das  Urteil  über  die  wirtschaftliche  Lage  des  süddeutschen 
Bauernstandes  im  XV.  und  XVI.  Jahrhundert    gefällt  werden  müssen. 

Den  wichtigsten  Faktor  des  bäuerlichen  Vermögens  bildete  der 
Grundbesitz,  der  in  der  Regel  nicht  im  vollen  Eigentum  des  Bauern 
stand,  aber  doch  als  die  Grundlage  seiner  Existenz  zu  betrachten  ist. 
Von  dem  Ausmals  des  Grundbesitzes  wird  unser  Urteil  über  bäuer- 
liche Vermögensverhältnisse  wesentlich  bedingt  sein,  und  es  wird  sich 
darum  handeln,  die  Verteilung  von  Grund  und  Boden  inner- 
halb der  einzelnen  süddeutschen  Landschaften  festzustellen.  Auch 
dieses  Feld  der  Forschung  ist  noch  lange  nicht  ausgebaut. 

Über  die  Besitzverhältnisse  in  Stadt  und  Amt  Weinsberg  belehrt 
uns  das  früher  zitierte  Güterverzeichnis.  Über  die  Gliederung  des  Be- 
sitzes im  südwestlichen  Deutschland  hat  Höüsler  ^) ,  im  Taubergebiet 
Heerwagen  "),  im  Kanton  Zürich  Ciaassen  ^)  Untersuchungen  angestellt. 
Weitere  Angaben  über  BodenverteUung  in  den  süddeutschen  Terri- 
torien gibt  Jnama-Stemegg  *).  Diese  Arbeiten  bieten  der  weiteren  For- 
schung wertvolle  Fingerzeige.  Vor  allem  müfste  man  auch  hier  auf 
die  Sammltmg  reichlichen  statistischen  Materials  bedacht  sein,  wie  es 
namentlich  in  den  Güterbeschreibungen  der  Urbarien  und  Weistümer 
enthalten  ist.  Gothein  bezeichnet  den  Bruchrain,  die  Ortenau  und  das 
württembergische  Neckartal  als  die  Gebiete  äufserster  Güterzersplitte- 
rung *).  Diese  Angabe  sollte  durch  die  Spezialforschung  noch  fester 
fimdamentiert  werden.  Solche  Studien  könnten  auch  eine  klare  Vor- 
stellung geben  von  dem  Verhältnis  bäuerlichen  Klein-  und  Grofs- 
betriebes. 

Um  die  bäuerliche  Vermögenslage  richtig  zu  bewerten,  mufe  man 
neben  dem  Ausmafs  auch  die  Ertrags fähigkeit  des  Bodens  zu  er- 
mitteln trachten.  Dieses  Unternehmen  ist  freilich  mit  groisen  Schwierig- 
keiten verknüpft.  Eine  Buchführung  über  ländlichen  Wirtschaftsbetrieb 
ist  nicht  auf  uns  gekommen,  wohl  deshalb,  weil  der  Bauer  damals 
überhaupt  nicht  das  Bedürfnis  empfand,  sich  in  dieser  Weise  über  die 


1)  S.  8ff. 

2)  S.  III. 

3)  s.  65-67. 

4)  m,  I,  s.  215  ff. 

5)  Lage  des  BaoernstaDds  S.  5. 


—     306     — 

Ergebnisse  seiner  Wirtschaft  Rechenschaft  zu  geben  *).  Man  wird  sich 
also  neben  Feststellung  der  etwa  vorkommenden  Meliorationen,  an- 
gewandter Düngung  usw.,  damit  begnügen  müssen,  nach  den  Angaben 
der  Quellen  für  möglichst  weite  Zeiträume  Preistabcllen  der  landwirtschaft- 
lichen Produkte  zu  konstruieren.  Diese  Tabellen  werden  freilich  meist 
lückenhaft  bleiben,  weil  die  Chronisten  fast  stets  nur  ausnahmsweise 
—  in  Fällen  besonderer  Teuerung  oder  besonderer  Billigkeit  —  Preise 
der  Mitteilung  für  wert  halten.  Für  die  Getreidepreise  und  Münzverhält- 
nisse Niederösterreichs  im  XIV.  und  XV.  Jahrhundert  hat  Grund  in 
seiner  früher  erwähnten  Arbeit  derartige  Tabellen  entworfen  imd  zeigt 
uns  mit  ihrer  Hilfe  den  Ruin  des  niederösterreichischen  Bauernstandes 
im  XV.  Jahrhundert  *).  Infolge  der  sinkenden  Kaufkraft  des  Geldes, 
welcher  der  Bauer  nicht  durch  entsprechende  Steigerung  der  Getreide- 
preise nachzukommen  wufete,  verminderte  sich  der  Bodenertrag,  wäh- 
rend die  dem  Bauern  notwendigen  Erzeugnisse  des  Handels  und  Hand- 
werkes vielfach  im  Preise  stiegen.  So  sah  sich  der  niederösterreichische 
Bauer  der  Verarmung  preisgegeben,  und  hätte  nicht  die  blühende 
Weinkultur  ihm  eine  Zufluchtsstätte  geboten,  so  wäre  sein  Ruin 
vollständig  gewesen.  Es  ist  dringend  zu  wünschen,  dafe  die  bäuer- 
lichen Produktionsverhältnisse  anderer  Territorien  bald  eine  ebenso 
scharfsinnige  und  gründliche  Aufhellung  erfahren  mögen,  wie  die  Nieder- 
österreichs durch  A.  Grund. 

Aber  auch  noch  aus  anderen  Gründen  ist  die  Arbeit  dieses  For- 
schers, wiewohl  im  wesentlichen  geographischen  Zielen  zugewendet, 
für  den  Historiker  höchst  beachtenswert.  Sie  eröffnet  die  Aussicht  auf 
neue  wirtschaftsgeschichtliche ,  speziell  agrarhistorische  Erkenntnisse, 
die  durch  eine  Verbindung  geographischer  und  historischer  Studien 
gewonnen  werden  können.  Grund  hat,  gestützt  auf  eine  Fülle  der 
sorgsamsten  Beobachtungen,  gezeigt,  in  welch  hohem  Maise  die  Wider- 
standsfähigkeit des  Bauern  gegenüber  wirtschafüichen  Krisen  durch 
BodenbeschafTenheit,  Klima  und  Bevölkerungsdichte  bedingt  ist  ^).  Ich 
würde  mir  für  die  Vorgeschichte  des  Bauernkrieges  reichen  Gewinn 
versprechen,    w*enn    diese  Methode    auch    auf  andere   Territorien    an- 

i)  Vogt,   Vorgeschichte  des  Bauernkrieges,  S.  23. 

2)  S.  211  ff.  Wenigstens  im  XVI.  Jabrhandert  gibt  es  auch  fortlaufende  Listen, 
die  den  Getreidepreis  in  seinem  Wechsel  verfolgen,  z.  6.  für  Düren  seit  1541,  and 
solches  Material  mUfste  statistisch  and  in  Verbindung  mit  dem  Feingehalt  der  Münzen  so 
bearbeitet  werden,  dafs  für  jeden  Zeitpunkt  die  Kaufkraft  von  i  Gramm  Feinsilber  er- 
kennbar wird. 

3)  S.   121  ff. 


—     307     — 

gewandt,  wenn  man  versuchen  würde,  aus  den  gfeographischen  Be- 
dingungen heraus  für  die  Produktionskraft  des  Bodens,  für  den  Grad 
der  wirtschaftlichen  Leistungsfähigkeit  des  Bauern  gewisse  Anhalts- 
punkte zu  gewinnen. 

Den  Erträgnissen  der  bäuerlichen  Wirtschaft  standen  mannigfache 
Ausgaben  gegenüber.  Hier  kommen  neben  den  Leistungen  für  Grund- 
herrschaft, Staat  und  Kirche  besonders  Arbeitslöhne  und  Schuldzinsen 
in  Betracht.  Welchen  Platz  nahmen  die  Löhne  für  die  „Ehehalten** 
im  bäuerlichen  Etat  ein?  Janssen  ist  der  Ansicht,  die  zahlreiche  Klasse 
der  landwirtschaftlichen  Lohnarbeiter,  die  ohne  eigenes  Besitztum  von 
ihrer  täglichen  Arbeit  leben  mufste,  sei  selten  materiell  so  günstig 
gestellt  gewesen  als  vom  Ende  des  XIV.  bis  in  die  ersten  Jahrzehnte 
des  XVL  Jahrhunderts  ').  Vogt  hat,  auf  Grund  der  Angaben  Janssens, 
die  Meinung  ausgesprochen,  dafs  die  Arbeitslöhne  das  bäuerliche  Ein- 
kommen wesentlich  geschmälert  hätten  *).  Nun  stammen  aber  die  Be- 
lege, die  Janssen  für  seine  Behauptung  beibringt,  ausschliefslich  aus 
Norddeutschland,  aus  dem  Herzogtum  Sachsen,  der  Gegend  des  Nieder- 
rheins, oder  aus  Niederösterreich,  oder  aus  Städten,  wie  Augsburg  und 
Aachen,  also  aus  Gegenden,  die  vom  Bauernkrieg  wenig  oder  gar 
nicht  berührt  wurden.  Überhaupt  betrachtet  Janssen  mit  Vorliebe  die 
Lage  ländlicher  Lohnarbeiter,  die  im  Dienste  grofser  Herrschaften 
—  des  Stiftes  Klostemeuburg ,  des  Erzstiftes  Mainz,  des  Schenken 
Erasmus  zu  Erbach,  des  Grafen  von  Öttingen  —  standen  und  sich  einer 
trefflichen  Behandlung  erfreuten.  Damit  ist  aber  doch  wohl  noch 
nichts  bewiesen  für  die  Lebensbedingungen  der  Ehehalten  im  Dienste 
der  kleinen  Bauern.  Untersuchungen  über  Zahl  und  Entlohnung 
des  bäuerlichen  Gesindes,  besonders  in  der  Gegend  der  Bauern- 
kriege, sind  also  ein  ebenso  dringendes  Erfordernis,  wie  Studien  über 
die  Entwickelung  der  Preise  landwirtschaftlicher  Produkte. 

Elementarschäden  und  andere  Unglücksfalle,  wirtschaftliche  Krisen, 
vielleicht  auch  das  Bedürfnis  nach  Meliorationen  haben  vielfach  zu 
einer  Überschuldung  des  bäuerlichen  Grundbesitzes  Anlafs  gegeben. 
Es  wäre  aufserordentlich  wichtig,  die  Motive  der  Verschuldung,  sowie 
das  Verhältnis  der  Schuldenmasse  zum  Wert  der  Bauerngüter  im  ein- 
zelnen kennen  zu  lernen.  Für  den  Kanton  Zürich  hat  Ciaassen  diese 
Untersuchung  ausgeführt  und  dabei  eine  starke  Überlastung,  besonders 
der  kleineren  Bauerngüter ,   gefunden  ').     Auch  die  Fragen  nach  dem 

i)  Bd.  I  (1897),  S.  371  ff. 

2)  Vorgeaehiehie  des  Bauernkrieges.  S.  24  u.  25. 

3)  S.  95  ff. 


—     308     — 

Stande  der  Gläubiger  —  ob  Christen  oder  Juden,  Bürger  oder  Grund- 
herren —  und  nach  der  Stellung  der  Grundherren  zur  Beschuldung- 
des  Bodens  sind  noch  nichtvöllig  geklärt  '). 

Gelingt  es  nun,  Ausmals  und  Ertrag  des  bäuerlichen  Grundbesitzes 
zu  bestimmen,  andrerseits  mit  der  gleichen  Genauigkeit  den  Abgang 
an  Grund-  und  Schuldzinsen,  Zehnten,  Steuern  und  Betriebskosten  zu 
berechnen,  so  ergibt  sich  ein  klares,  zuverlässiges  Bild  der  bäuer- 
lichen Vermögensverhältnisse.  Das  Muster  einer  derartigen  Zusammen- 
fassung bietet  wieder  Ciaassen  für  den  Kanton  Zürich  (S.  122).  Ist 
es  dann  noch  weiter  möglich,  einen  Vergleich  zu  ziehen  zwischen  dem 
Ertrag  des  bäuerlichen  Bodens  und  den  Preisen  der  für  den  bäuer- 
lichen Haushalt  unentbehrlichen  Produkte  des  Handels  und  Handwerks, 
wie  dies  Grund  für  Niederösterreich  getan  hat,  so  wird  über  die  Auf- 
fassung der  wirtschaftlichen  Lage  des  Bauern  vollends  kein  Zweifel 
mehr  übrig  bleiben,  wird  man  über  die  Ursachen  der  Bauembewegung 
gröfeere  Klarheit  gewinnen. 

Wie  die  Verhältnisse  der  Bauern,  so  bedürfen  auch  die  der  Herren 
noch  eingehender  Untersuchungen.  Sie  bieten  uns  ja,  zum  Teil  we- 
nigstens, die  Erklärung  für  die  erhöhten  Ansprüche,  welche  die  Herren 
im  XV.  und  XVI.  Jahrhundert  an  ihre  Untertanen  stellten.  Man  spricht 
davon,  dafs  der  weltliche  Adel  damals  wirtschaftlich  zurückgegangen^ 
der  Reichtum  der  Klöster  dagegen  gestiegen  sei.  Aber  man  hat,  soweit 
ich  sehe,  noch  nicht  versucht,  diesen  Prozefe  in  seinen  Einzelheiten 
zu  verfolgen.  Die  besten  Aufschlüsse  über  ungünstige  Veränderungen 
in  den  Besitzverhältnissen  des  Adels  geben  wohl  Urkimden  über  Kon- 
trahierung von  Darleihen,  über  Verkauf  und  Verpfandung  von  Adels- 
gütem,  über  fromme  Stiftungen  an  Klöster,  während  gelegentlich 
erhaltene  ritterliche  Haushaltrechnungen  zeigen,  wie  wenig  „herren- 
mäfsig**    die  kleinen  Grundherren  lebten  und  wie  schwer  selbst  ihnen 


i)  StoUe  (S.  50  a.  51)  meint,  von  einer  Ubermäfsigen  Verscbaldong  des  Baaem  an 
das  städtische  Kapital  könne  nicht  die  Rede  sein.  Es  sei  nicht  zn  denken,  dafs  die 
Städte  den  Bauern  ansgewnchert  hätten.  Da£s  man  aber  zar  Zeit  des  Bauernkrieges  wenig* 
stens  an  einen  starken  Druck  des  städtischen  Kapitals  auf  den  Bauern  glaubte,  beweist 
das  charakteristische  Gespräch  Von  der  Oiilt  (etwa  1520)  bei  Baur,  DetUschUmd  in 
den  Jahren  1517—1525  y  betrachtet  im  Lichte  gleichzeitiger  anonymer  und  pseudo^ 
nymer  deutscher  Volks-  und  Flugschriften,  S.  50 ff.  Auch  dürfte  sich  Stolze  darin 
täuschen,  dafs  der  Einflufs  der  Grundherren,  die  sich  tatsächlich  selbst,  soweit  sie  auf  rein 
agrarischer  Grundlage  wirtschafteten,  in  wenig  beneidenswerter  Lage  befanden,  einer  Ver- 
schuldung der  Bauern  ernstlich  hätte  steuern  können.  1535  ist  Ton  der  Ablösung  bäuer- 
licher Schuldzinsen  noch  od  genug  die  Rede.  Auch  scheint  mir  Stolze  Schuld-  und  Grund» 
Zinsen  miteinander  zu  verwechseln. 


—     309     — 

der  Absatz  ihrer  Überschüsse  auf  dem  städtischen  Markte  war.  Das 
Fürstenbergische  Urkundenbuch  z.  B.  bietet  für  die  Beleuchtung  dieser 
Verhältnisse  ein  schätzbares  Material,  dafs  aber  nach  allen  Richtungen 
hin  noch  der  Bereicherung  bedarf.  Die  Lokalforschung  würde  sich 
ein  grofses  Verdienst  erwerben,  wenn  sie  die  Geschichte  ein- 
zelner Adels familien  auf  ihren  wirtschaftlichen  Verlauf  hin  an 
der  Hand  der  Urkunden  prüfen,  ebenso  das  Wachstum  des  geist- 
lichen Besitzes  auf  Grund  der  klösterlichen  Gültbücher,  Güter- 
verzeichnisse etc.    verfolgen  würde. 

Damit  glaube  ich  auf  einige  der  wichtigsten  Vorarbeiten  hin- 
gewiesen zu  haben,  die  für  eine  Vorgeschichte  des  Bauernkrieges  die 
Fundamente  liefern  müssen.  Der  Zweck  dieser  kleinen  Abhandlung 
wäre  erreicht,  wenn  die  landes-  und  ortsgeschichtliche  Forschung  daraus 
die  Anregung  schöpfen  würde,  das  zur  eingehenden  Bearbeitung  ge- 
eignete örtlich  bekannte  Material  vorzulegen  und  damit  jene  Probleme 
zu  fördern,  deren  Lösung  allein  uns  zum  vollen  Verständnis  der  bäuer- 
lichen Bewegungen  führen  kann. 


Mitteilungen 


Yersammlungeil.  —  Die  diesjährige  Hauptversammlung  des  Gesamt- 
vereins der  deutschen  Geschichts-  und  Altertumsvereine  *)  wird  in 
den  Tagen  vom  27.  bis  30.  September  in  Erfurt  stattfinden  und  damit  so 
im  Herzen  Deutschlands  wie  es  nicht  aUzu  oft  der  Fall  ist.  Hoffentlich  wird 
dieser  günstige  Umstand  genügend  gewürdigt,  sodafs  nicht  nur  die  Beteiligung 
der  Personen,  sondern  vor  allem  auch  die  der  Vereine  dem  entspricht. 
Die  im  Gesamtverein  miteinander  verbundenen  Vereine  sind  immer  zahl- 
reicher geworden,  es  sind  über  150,  aber  es  ist  bis  jetzt  noch  nicht  so  weit 
gekommen,  dafs  auch  nur  die  Hälfte  auf  den  Versammlungen  vertreten  ge- 
wesen wäre.  Und  dabei  gibt  es  bedauerlicherweise  sogar  Vereine,  die 
nicht  niu:  das  eine  oder  andere  Mal  fehlen,  sondern  solche,  die  seit  langen 
Jahren  nicht  mehr  an  eine  Beschickung  gedacht  haben.  Nicht  eindringlich 
genug  kann  deshalb  die  Mahnung  an  alle  Vereinsvorstände  ergehen: 
entsendet  bevollmächtigte  Abgeordnete,  die  daheim  über  die  Ver- 
handlungen berichten«  und  dadurch  Anregungen  zu  weiterer  Arbeit 
im  heimischen  Verein  mitbringen! 

Ein  vierghedriger  Ortsausschufs  mit  dem  Oberbürgermeister  Dr.  Schmidt 
an  der  Spitze   hat  sich   gebildet,   und   die  beiden   als  Forscher   bekannten 


i)  Ober  die  Versammlang    in   Düsseldorf  1903   TgL    oben   S.  78 — 87  (fehlerhmfter 
Zählung:  94— 103). 


—     310     — 

Herren,  Sanitätsrat  Zschiesche  und  Stadtarchivar  Overmann  sind  dann 
vertreten.  Die  Verhandlungen  finden  in  der  Ressource  statt.  Neben  der 
Besichtigung  der  Stadt  und  ihrer  Kunstwerke  lockt  eine  besondere  kunst- 
geschichtliche Ausstellung,  die  Gegenstände  aus  Kirchen,  Schlössern, 
Rathäusern  und  Privatsammlungen  Sachsens  und  Thüringens  enthält  *),  sowie 
ein  Ausflug  nach  Arnstadt  am  30.  September;  ein  Fest  der  Stadt  Erfurt 
für  die  Teilnehmer  ist  am  29.  September  vorgesehen. 

Für  die  Hauptversammlungen  sind  folgende  Vorträge  angemeldet : 
Prof.  Lindner  (Halle)  über  die  Stellung  Sachsens  und  Thüringens  in  der 
deutschen  Geschichte,  Prof.  Mogk  (Leipzig)  über  die  Volkskunde  im  Rahmen 
der  Kulturentwickelimg  der  Gegenwart  und  Stadtarchivar  Overmann  (Erfurt) 
über  Erfurt  in  Geschichte  und  Kunst.  In  den  Abteilungssitzungen  wird  über 
folgende  Gegenstände  verhandelt  werden :  Die  SammlungvonFlurnamen 
(Beschomer-Dresden),  HandelsgeschichtlicheProbleme  (Keutgen-Jena), 
Die  Eroberung  Thüringens  durch  die  Franken,  neue  Aufgaben 
für  die  Altertumsforschung  (Rubel-Dortmund),  Das  vorgeschicht- 
liche Thüringen  (Götze-Berlin),  Die  Besiedlung  Südwestdeutsch- 
lands in  der  Hallstattzeit  (Soldan-Darmstadt),  Das  vorgeschicht- 
liche Erfurt  (Zschiesche  -  Erfurt) ,  Die  neuesten  Ausgrabungen  in 
Haltern  (Dragendorff- Frankfurt  a.  M.),  Die  Hauptgattungen  alter 
Befestigungen  in  Deutschland  und  England (Schuchhardt-Hannover), 
Die  Erforschung  der  altdeutschen  Kaiserp  falzen(Plath-Wiesbaden), 
Die  sprachliche  Bedeutung  unserer  mittelalterlichen  Urkunden 
und  Handschriften  (Thiele-Erfurt),  Das  Bursenwesen  der  mittel- 
alterlichen Universitäten,  insbesondere  Erfurts  (Oergel-Erfurt), 
Volksdichtung  und  volkstümliche  Denkweise  (Petsch-Würzburg), 
Die  Bestrebungen  des  „Ausschusses  zur  Pflege  heimatlicher 
Bauweise  in  Sachsen  und  Thüringen"  (Finanz- imd  Baurat  Schmidt- 
Dresden).  Die  letztgenannte  Organisation  hat  noch  eine  Sonderausstellimg 
veranstaltet.  Die  Gesellschaft  für  Lothringische  Geschichte  und  Altertums- 
kunde hat  noch  zwei  Anträge  gestellt,  nämlich  i)  Die  Forschung  über 
den  Einflufs  der  römischen  Kultur  auf  diejenigen  Gegenden 
Deutschlands,  die  nicht  dem  römischen  Herrschaftsbereich 
angehörten,  ist  vom  Gesamtverein  einheitlich  zu  organisieren 
und  einer  Spezialkommission  zu  unterstellen;  hierüber  werden 
Wolfram-Metz,  Höfer-Wernigerode,  Lemcke-Stettm,  Prümers-Posen  und  Seger- 
Breslau  berichten.  2)  Der  Gesamtverein  wolle  veranlassen,  dafs 
über  die  Befestigung  römischer  Städte,  wie  sie  im  IIL  Jahr- 
hundert überall  nachweisbar  ist,  einheitliche  Untersuchungen 
angestellt  werden;  Berichterstatter  Wolfram-Metz. 

Es  ist  ein  reiches  und  vielseitiges  Programm,  das  man  aufgestellt  hat 
Die  Erfahnmg  hat  gelehrt,  wie  erspriefslich  und  anregend  für  alle  Beteiligten, 
auch  für  die  dem  besonderen  Gebiete  femer  Stehenden,  solche  Besprechungen 
zu  werden  vermögen;  deshalb  kommt  recht  zahlreich,  ihr  Geschichtsforscher 
imd  Geschichtsfreimde  nach  der  thüringischen  Metropole! 


i)  Vgl.  dazu  den  Aafsatz  an  der  Spitze  dieses  Heftes! 


^ 


.    —     311     — 

Wie  üblich  findet  in  Verbindung  mit  der  Tagung  des  Gesamtvereins  der 
Tag  für  Denkmalpflege  ^)  statt;  es  ist  diesmal  der  vierte,  zu  dem  für  den 
25.  und  26.  September  der  Vorsitzende,  Loersch-Bonn,  einladet.  Die 
entsprechenden  Ausschüsse  werden  berichten  über  die  Behandlung  der 
Steinerhaltung  und  die  Kennzeichnung  von  wiederherge- 
stellten Teilen  eines  Bauwerkes.  Über  die  Erhaltung  von 
farbigen  Altertümern  (Wandmalereien,  plastischen  Werken)  spricht  Prof. 
Borrmann,  über  die  mit  der  Wiederherstellung  des  MeifsnerDoms 
zusammenhängenden  Fragen  KomeUus  Gurlitt,  über  die  wegen  des 
Handbuchs  der  deutschen  Denkmäler  unternommenenSchritte 
V.  Oechelhäuser ,  über  die  den  Denkmalschutz  betreffende  Gesetz- 
gebung in  Österreich  Neuwirth,  in  Italien  Loersch  imd  über  die 
Ausführung  des  hessischen  Gesetzes  vom  16.  Juli  1902  v.  Biege- 
leben. Über  die  Erhaltung  von  Altertumsfunden  berichtet  Prof. 
Rathgen,  über  die  Vorbildung  zur  Denkmalpfege  Lutsch  tmd  Dehio, 
einen  Teil  des  Hamburger  Denkmälerarchivs  legt  Direktor  Brinck- 
mann  unter  Darlegung  der  bei  dessen  Zusammenstellimg  befolgten  Grundsätze 
vor,  über  das  Verhältnis  der  Altertumsmuseen  zur  Denkmal- 
pflege spricht  Prof.  Ehrenberg,  die  Bedeutung  der  Gestaltung  der 
Strafsenfluchtlinien  in  den  Städten  vom  Standpunkt  der  Denk- 
malpflege erörtern  Stubben,  Gurlitt  tmd  Hofifmann,  und  eventuell  soll  noch 
über  die  Aufnahme,  Sammlung  und  Erhaltung  der  Kleinbürger- 
häuser mittelalterlicher  Städte  (Berichterstatter:  Stadtbauinspektor 
Stiehl)  verhandelt  werden.  Auch  hier  lockt  also  die  Aussicht  auf  praktisch 
wertvolle  und  fiir  jeden  Kunst-  und  Altertumsfreund  wichtige  Belehnmg. 

In  Halle  a.  S.  findet  vom  6.  bis  10.  Oktober  die  47.  Versammlung 
deutscher  Philologen  und  Schulmänner  statt  Das  aufserordentlich 
reichhaltige  Programm  bietet  aber  für  den  Forscher  auf  dem  Gebiete  der 
deutschen  Geschichte  nur  ganz  wenig,  nachdem  die  zuletzt  mit  Erfolg 
tätige  bibliothekarische  Sektion  ^)  sich  abgetrennt  tmd  selbständig  gemacht 
hat  und  Anmeldungen  für  Vorträge  in  einer  unter  dem  Vorsitz  von  Prof. 
Lind n er  geplanten  Sektion  für  mittelalterliche  und  neuere  Geschichte  völlig 
ausgeblieben  sind.  Die  historisch -epigraphische  Sektion  wird  sich  nur  mit 
Problemen  der  alten  Geschichte  befassen.  In  den  Allgemeinen  Sitztmgen  wird 
Prof.  Bruno  Keil  (Strafsburg)  über  einen  vergessenen  Humanisten  sprechen, 
aber  seinen  Namen  verrät  er  im  Progranune  nicht.  Für  die  deutsche  Namen- 
forschung wird  der  von  Prof.  Meyer-Lübke  (Wien)  angekündigte  Vortrag 
Die  romanischen  Personennamen  in  ihrer  historischen  Bedeuiung  von  Belang 
sein;  er  schliefst  sich  offenbar  an  die  Äufserungen  an,  die  Hirt  und  Schröder 
früher  über  Völker-  und  Personennamenbildung  getan  haben  *).  Einen  den 
Lesern  dieser  Blätter  bekannten  Ideenkreis  dürfte  der  Vortrag  von  Prof. 
Lübbert  (Halle)  Die  Verwertung  d&r  Heimat  im  Unterricht  berühren,  für 
die  Sozialgeschichte  wichtig  ist  entschieden  der  Vortrag  von  Prof.  Wunderlich 

i)  Vgl.    den    Bericht   über    die    Düsseldorfer    Tagung    in    dieser    Zeitschrift    oben 

s.  55-58. 

2)  Vgl  diese  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  63  —  64. 

3)  Vgl.  diese  Zeitschrift  i.  Bd.,  S.  61—63  und  2.  Bd.,  S.  295. 


—     312     — 

(Berlin) :  Dk  deutsche  Oememsprache  in  der  Bauembewegung  des  XVI.  Jakr- 
hwnderts,  für  die  Klärung  der  deutschen  urgeschichtlichen  Probleme  belang- 
reich der  von  Prof.  H  o  o  p  s  (Heidelberg) :  Die  Baunmamen  und  die  Heimai 
der  Indogermanen, 

Zur  deatschen  Ortsgeschichte.  —  Seitdem  ich  das  letzte  Mal  in 
diesen  Blättern  *)  über  den  Stand  der  Deutschen  Ortsgeschichtsforschung  be- 
richtet habe,  sind  mir  einige  neue  Arbeiten  auf  diesem  Gebiete  zu  Gesicht 
gekommen,  die  eine  nähere  Würdigung  verdienen,  da  sie  zeigen,  dafs  dieser 
Zweig  der  Geschichtswissenschaft,  wenn  auch  noch  von  mancherlei  Fesseln 
gehemmt,  doch  stetig  und  gedeihlich  seinem  wahren  Ziele  zu  vor-  und  auf- 
wärts schreitet.  Der  gröfste  Feind  der  Ortsgeschichte  ist  nach  wie  vor  wie 
der  Geschichtsschreibung  überhaupt  der  schon  in  meinem  genannten  Bericht 
hinlänglich  gekennzeichnete  Dilettantismus,  der  „Fluch  des  Zeitalters". 
Keine  Wissenschaft  hat  vielleicht  so  viel  von  ihm  zu  leiden,  wie  die  historische, 
da  sie  einerseits  scheinbar  der  einfachste  und  leichteste  aller  schriftstellerischen 
Betriebe  ist,  andrerseits  mehr  als  jede  andere  die  Aufgabe  hat,  im  gröfseren 
Umkreis  allgemein  belehrend  und  bildend  zu  wirken,  wozu  sich  von  jeher 
allzuviele  fälschlich  berufen  glauben.  Es  ist  immer  bedenklich,  wenn  Leute 
auch  von  besserer  und  höherer  Schulbildung,  wie  Lehrer,  Pfarrer,  Ärzte, 
Juristen  die  Pflege  der  Geschichte  an  sich  reifsen,  ohne  sich  Zeit  und  Mühe 
zu  der  erforderlichen  fachmännischen  Ausbildung  zu  nehmen.  Um  so  öfter 
und  dringender  erscheint  deshalb  die  Abwehr  geboten  und  die  immer 
schärfere  Abgrenzung  der  Geschichtschreibung  als  Wissenschaft  und  als  Ver- 
suchsfeld für  unreife  und  unklare  Köpfe. 

Zu  den  ungenügenden  ortsgeschichtlichen  Versuchen  der  letzten  Jahre 
gehört  ein  Büchlein  von  dem  Pfarrer  R.  Kaiser,  das  sich  als  GeschicßUe 
des  Orts  und  der  Pfarrei  Höp fingen  bezeichnet  *) ,  in  Wahrheit  aber  weiter 
nichts  ist  als  eine  ziemlich  magere,  mit  Kapitelüberschriften  versehene  Ma- 
terialiensammlung zur  Geschichte  dieses  Ortes.  Auf  48  Seiten  werden 
25  verschiedene  Abschnitte  gemacht  und  der  ganze  Stoff  in  einer  Weise 
zerlegt  und  erörtert,  wie  man  etwa  Schulkindern  Geschichtchen  erzählt. 

Dagegen  nennt  sich  die  von  Fr.  Schnürer  und  K.  v.  Bertele 
zur  Dreijahrhundertfeier  der  Kirche  zu  Radmer  in  Steiermark  veröffentlichte 
historische  und  kunsthistorische  Abhandlung  viel  zu  bescheiden  nur  Gedenk- 
blättert) j  da  sie  ihren  Gegenstand  umfassend  und  erschöpfend  behandelt. 
Mit   Geschick  und   feinem    Verständnis   für   alles    Schöne   in   Natur,    Kunst 


i)  3.  Bd.  (1902),  S.  193 — 208.  Zu  meiner  Freude  hat  Ermisch  im  Neuen  Archiv 
für  Sächsische  Geschichte,  Bd.  24  (1903)»  S.  191  eine  Besprechung  mehrerer  Ortsgeschichten 
damit  eingeleitet ,  dafs  er  den  Verfassern  solcher  die  Lektüre  meines  Aufsatzes  empfiehlt. 
Die  geschichtliche  Literatur  über  einzelne  Orte  wächst  ganz  aofserordentlich ;  was  auf 
diesem  Felde  erscheint,  zeigt  die  Zusammenstellung  kleinerer  Ortsgeschichten 
im  Historischen  Jahrbuch,  wo  sich  z.  B.  im  Jahrgang  1902  dreimal,  S.  209,  420  und  681 
eine  solche  findet.  Eingehende  sachkundige  Besprechungen  aber  sind  noch  immer 
selten,  aber  auch  sie  beginnen  sich  zu  mehren,  vgl.  z.  B.  die  Anzeige  eines  Buches  von 
Juffinger,  Kundl,  Oesehiehie  eines  Dorfes  im  ünterinntal  (München  1902)  durch 
Straganz  im  JMgemeinen  LitercUurblatt  12.  Jahrg.  (1903)  Nr.  14,  S.  432. 

2)  Tauberbischofsheim  1900. 

3)  Wien  1902.     61  S.    4*. 


—     318     — 

und  Leben  des  kleinen  Hochgebirgsortes  lassen  die  Verfiisser  in  gedrängter, 
aber  inhaltreicher  Rede  die  gesamten  Geschicke  Radmers,  in  eingehender 
und  durch  viele  und  treftliche  Bilder  ^)  veranschaulichter  Weise  die  der 
Kirche,  ihrer  Erbauung,  Ausschmückung  imd  Renovierung  an  uns  vorüber- 
ziehen. Wie  ernst,  tief  und  erbauend  sie  ihre  Sache  aufgefafst  haben,  be- 
weisen folgende  Sätze,  die  ihrer  Trefiflichkeit  wegen  hier  eine  Stelle  finden  mögen. 

„Es  läist  sich  nicht  leicht  eine  reizvollere  Anfgabe  denken,  als  der  Geschichte  einer 
kleinen  Ortschaft,  eines  Dorfes,  eines  Marktfleckens,  einer  Kleinstadt  nachzugehen,  wie 
sie  sich  etwa  aas  den  Lokalchroniken,  Pfarrgedenkbüchem ,  alten  Urkunden,  Urbarien, 
Weistümem  und  dergleichen  ergibt.  Während  in  den  grofsen  Zentren  der  Knltar  die  be* 
dentsamen,  weltgeschichtlichen  Ereignisse  in  die  Erscheinung  treten,  Könige  und  Kaiser 
ihren  Hof  halten ,  die  Geschicke  ganzer  Staaten  entschieden  werden ,  spiegeln  die  ent- 
femteren  Ansiedelungen  mehr  das  innere,  das  Kleioleben  der  Zeit  wieder.  Die  groisen 
historischen  Geschehnisse  kräuseln  oft  nur  leichthin  das  stille  Leben  und  Weben  solcher 
anscheinbaren  Orte,  wie  grofse  Flutwellen  in  abgelegenen  Buchten  leise  verebben,  während 
anderseits  Vorkommnisse,  die  in  grofsen  Städten  kaum  beachtet  vorübergehen,  oft  tiefe 
Forchen  in  das  Leben  der  Kleinstadt  und  ihrer  Bewohner  ziehen  und  zu  Marksteinen  in 
der  Entwicklung  der  Gegend  werden  können.  Die  Erbauung  einer  Kirche,  die  Gründung 
einer  Schule,  die  Errichtung  einer  Fabrik  und  dergleichen  —  was  besagt  das  in  der 
Grolsstadt  ?  Und  wie  sind  solche  Ereignisse,  über  die  der  lokale  Teil  der  Zeitungen  mit 
einer  kurzen  Meldung  hinweggeht,  oft  von  umwälzender  Bedeutung  fUr  die  Bewohner  einer 
kleinen  Ortschaft  am  flachen  Lande,  eines  ganzen  Tales!  Wenn  die  Gegend  „in  der 
Radmer'*,  von  der  es  im  Jahre  1600  heilst,  dafs  „grobes  Gesindel  und  unartiges  Volk*' 
dort  wohnte,  unter  das  sich  eine  Regierungskommission  kaum  unter  dem  Schutze  von 
80  Musketieren  zu  begeben  traute,  wenn  diese  selbe  Gegend  heute  ein  blühendes  Tal 
mit  einer  arbeitsamen,  friedfertigen,  fleifsigen  Bevölkerung  ist,  so  hat  dazu  sicher  zu  aller- 
erst die  von  Ferdinand  II.  gestiftete  Kirche  beigetragen,  die  einen  Mittelpunkt  der  Sitte 
und  Bildung  abgab,  ans  dem  heraus  die  in  jedem  Menschenherzen  schlummernde  Sehn- 
sucht nach  dem  Besseren,  Höheren  —  der  Volksseele  ist  ftir  diesen  Trieb  kein  reinerer 
nnd  ihr  zusagenderer  Ausdruck  gegeben,  als  die  Religion  und  der  Gottesdienst  —  Be- 
friedigung und  Erfüllung  fand.  Das  ist  ja  eine  der  wichtigsten  Seiten  der  grofsen  Kul- 
tnrmission,  die  das  Giristentum  auf  Erden  eHUllt,  dafs  es  dem  Naturmenschen  die  Mög- 
lichkeit gibt,  einen  Ausdruck  zu  flnden  für  die  ihm  innewohnenden  seelischen  Bedürfhisse, 
dafs  es  seinen  Geist  erftillt  mit  dem  Begriffe  einer  ewigen  Gerechtigkeit  und  Heiligkeit, 
mit  der  Verehrung  eines  allmächtigen,  allweisen,  allgütigen  Gottes  .  .  ,**• 

Will  die  Schrift  über  Radmer  mehr  der  Bau-  und  Kunstgeschichte 
dienen,  so  tun  dies  zwei  andere  mehr  nach  der  Seite  der  Volkskunde.  Die 
eine,  Alis  Oro/kmühlingens  Vergangenheit  *),  ein  Beitrag  zur  Volkskunde  des 
ehemaligen  Nordthüringgaus,  von  dem  dortigen  Pastor  F.  Loose  läfst  den 
rein  geschichtlichen  Teil  stark  zurücktreten  tmd  schöpft  dafür  desto  reich- 
licher aus  der  Fülle  des  volkskundlichen  Stoffes.  „Mit  ihm  ist",  wie  es  im 
Vorwort  heÜst,  „für  die  Volkskunde  Belangloseres  verbunden  worden,  um 
den  Mühlingem  nicht  blofs  zu  zeigen,  dafs  ihr  Dorf  ein  Altertum  ersten 
Ranges  ist,  sondern  sie  mit  der  Vergangenheit  überhaupt  bekannter  zu 
machen  und  dadurch  ihre  Liebe  zur  Heimat  fördern  zu  helfen".  Dabei 
schlägt  der  Verfasser  Saiten  an,  die  alles  Lob  verdienen. 

In  noch  erheblich  höherem  Mafse  gilt  dies  von  der  andern  Arbeit,  von 
der  Geschichte  und  Volkskunde  des  Egerländer  Dorfes  Oberlohma  von 
A.  John  *).    Sie  ist  aus  einem  von  mir  bereits  erwähnten  *)  Vortrage  heraus- 

i)  5  Heliogravüren,  19  Textillustrationen. 

2)  Dessau  1903.     46  S.  Lex.-8^  mit  14  Abb. 

3)  Beiträge  t.  DeuUch..böhm.  Volkskunde.  IV.  Bd.,  2.  Heft.  Prag  1903.  Gr.  8*». 
X,  196  S.  mit  3  Phototypieen,  3  Plänen  und  i  Kartenskizze. 

4}  Diese  Zeitschr.  3.  Bd.,  S.  204. 

22 


—     314     — 

gewachseOf  erfüllt  ihren  Zweck  anfe  beste  und  kann  in  mancher  Hinsicht 
geradezu  musterhaft  genannt  werden.  Der  Verfasser  hat  die  Geschichte 
seiner  Heimat  in  zwei  völlig  getrennte  Teile  geschieden«  in  einen  geschidit- 
Hchen  und  Tolkskundlichen  und  betrachtet  jenen  ,,  eigentlich  nur  als  Ein- 
leitung  und  Voraussetzung^^  für  diesen.  Trotzdem  ist  auch  dieser,  den  er 
in  6  Abschnitte  zeri^^t,  durchaus  wohlgelungen  und  verdient  alle  Anerkennung 
und  Achtung.  Der  volkskundliche  Teil  ergibt  sich  dem  Verfiisser  „als  not- 
wendige Folge  aus  der  Geschichte  der  Hufenver£assung  und  Besiedlung  *^ 
Er  um&fst  Haus  und  Hof,  Nahrung  und  Tracht,  Sitten  und  Gebräuche, 
Aberglaube,  Volksdichtung  und  Namen  der  Gemeinde  Oberlohma  aus  den 
Jahren  1850 — 1900,  aus  der  Zeit  des  Übergangs  also,  des  allmählichen  Ver- 
Schwindens  der  alten  tmd  der  Entstehung  neuer  wirtschaftlicher  und  sozialer 
Formen  volkstümlichen  Lebens.  Mit  verständiger  Beschränkung  auf  das 
Wesendiche  und  Charakteristische  hat  hier  John,  was  doppelt  verdienstlich 
ist,  fUr  Deutsch-Böhmen  die  erste  mustergültige  Geschichte  und  Volkskunde 
eines  Dorfes  geliefert,  wofür  ihm  der  Dank  aller  Vaterlandsfreunde  gebührt 

Hier  sei  auch  nicht  unterlassen,  auf  eine  ältere  Darstellung  von  H.  v.  Z  w  i  e  - 
dineck-Südenhorst  hinzuweisen:  Dorfleben  im  XVIII.  Jahrhundert,  kultur- 
historische Skizzen  aus  Innerösterreich  '),  welche  zeigen,  wie  reich  das  Volks- 
leben auf  dem  Lande  auch  nach  der  politischen  Richtung  sein  und  wie  es 
wohl  auch  von  höheren  Gesichtspunkten  aus  betrachtet  und  verwertet  werden 
kann.  Wie  sehr  trifft  der  Verfasser  die  Wahrheit,  wenn  er  hervorhebt,  „wie 
der  Bauer  zu  allen  Zeiten  den  härtesten  Kampf  ums  Dasein  zu  führen  hat, 
wie  alle  Resultate  höherer  Kultur  auf  seiner  Lebtung  beruhen,  wie  alle  Lasten 
des  gröfseren  Besitzers  auf  seine  Schultern  überwälzt  werden,  tmd  wie  er 
doch  selbst  in  den  Ansprüchen,  die  er  an  den  Staat  macht,  stets  der  be- 
scheidenste bleibt .  .  .** 

Erhöhte  Bedeutung  haben  die  beiden  Arbeiten  von  Loose  und  John 
auch  wegen  der  von  ihnen  besonders  berücksichtigten  und  durch  Karten  er- 
läuterten DorfHur.  Ich  selbst  habe  der  Geschichte  meiner  Heimat  Steinbach 
(bei  Mudau)  eine  mit  Gelände  und  Situation  versehene  Flurkarte  im  Maß- 
stab von  r  :  20000  der  natürlichen  Gröfse  beigegeben  und  damit  ein  ge- 
treues und  jedermann  zugängliches  Bild  der  seit  700  Jahren  unveränderten 
Flurverfassung  des  Dorfes  geliefert.  Es  sei  eine  unerläfsliche  For- 
derung an  jede  Ortsgeschichte,  eine  gute  Gemarkungskarte 
zu  bringen,  und  auf  diese  Weise  zur  endlichen  Klärung  und 
Lösung  der  Siedlungsprobleme  beizutragen*)! 

Haben  Schnürer  und  v.  Bertele  auf  die  Kunst  des  platten  Landes, 
Loose  und  John  auf  die  Kultur  ihr  Hauptgewicht  gelegt,  so  macht  nunx&ehr 
eine  Dissertation  von  H.  Duncker  eine  neue  Äufserung  des  deutschen  Dorf- 
lebens, das  mittelalterliche  Dorfgewerbe  nach  den  Weisiumsüberlieferungen  •), 


1)  Wien  1877.  IV,  178  S.  8«. 

2)  Vgl.  daza  diese  Zeitschrift  oben  S.  251/253.  Zahlreiche  and  z.  T.  als  TjpeD 
beachtenswerte  Flarkarten  finden  sich  z.  B.  mitgeteilt  bei  Kttstermann,  ÄUgeographische 
und  topographische  Streif xüge  durch  das  Hochstift  Merseburg  [=  Neue  Mitteilungen 
ans  dem  Gebiet  historisch-antiqoarischer  Fortchangen,  Halle,  Bd.  16  (1883),  S.  161 — 352; 
Bd.  17  (1889),  S.  339—497  and  Bd.  18  (1894),  S.  188—240]. 

3)  Leipzig  1903.    XI,  137  S.  gr.  8». 


—     315     — 

zum  Gegenstände  der  Untersuchung.  Er  behandelt  vornehmlich  die  Ver- 
fertigung von  Hilfsstoffen  und  Gerätschaften,  also  das  Holz-,  Ton-,  und  Eisen- 
gerätgewerbe sowie  das  Bau-  imd  das  Bekleidungsgewerbe,  die  ja  auch  dem 
städtischen  Wirtschafts-  und  Rechtskörper  zur  Grundlage  dienen,  und  eröf&et 
neue,  fruchtbringende  Bahnen  für  die  Betrachtung  des  Volkslebens  und  der 
Volksbeschäftigung  auf  dem  Lande.  Arbeiten  wie  die  von  v.  Zwiedineck 
und  D  u  n  ck  e  r  sind  insofern  so  lehrreich,  weil  sie  geeignet  sind,  dem  Geschichts- 
schreiber eines  Ortes  eine  Menge  Aufgaben  zu  stellen,  die  er,  wenn  er 
sie  einmal  erkannt  hat  tmd  das  Quellenmaterial  einigermafsen  vollständig 
beherrscht,  unschwer  und  mit  grofsem  Nutzen  zu  lösen  vermag. 

Inzwischen  ist  aber  auch  der  Dilettantismus  nicht  müssig  gewesen, 
sondern  sogar  hinsichtlich  der  Technik  aus  seiner  Reserve  getreten  und  hat 
sich  erdreistet,  Gnmdsätze  aufzustellen  und  Regeln  zu  entwickeln,  wie  man 
Ortsgeschichte  schreiben  soll.  Bemheims  Lehrbuch  der  historischen  Methode, 
unlängst  (Leipzig  1903)  in  3.  und  4.  Auflage  erschienen,  ist  dadurch  überholt  tmd 
veraltet,  und  Bemheim  wird  gut  tun,  seine  Methode  neu  zu  fassen  und  zu  diesem 
Zwecke  bei  Herrn  Landgerichtsdirektor  Zehnter  in  Mannheim  in  die  Schule 
zu  gehen.  Anknüpfend  nämlich  an  eine  von  mir  in  der  „Alemannia^*  ') 
gebrachte  Besprechung  seiner  Oeschichte  des  Ortes  Messelhausen  hat  Zehnter 
in  den  seit  An^Emg  dieses  Jahres  hier  erscheinenden  Monatsblättem  des  Ver- 
eins für  ländliche  Wohlfahrtspflege  in  Baden  gegen  die  bisher  übliche  fach- 
männische Auf&ssung  über  die  Ziele  und  den  Betrieb  der  Ortsgeschicht- 
schreibung Stellimg  genommen.  Ich  hatte  seine  Geschichte  des  Ortes  Messel- 
hausen mit  unverhohlener  Freude  begrüist  und  sie  durchaus  gerecht  und 
günstig  gewürdigt,  allerdings  auch  ihre  Fehler  und  vorab  ihre  breite  Ge- 
schwätzigkeit  gerügt  und  den  unfertigen  Urkundenanhang  bemängelt  %     Ich 

hatte  gesagt: 

„Möchten  doch  alle,  welche  sich  popnlär-wisseoschaftlich  xn  schreiben  vornehmen, 
dabei  stets  als  obersten  Grundsatz  im  Auge  behalten,  dals  das  Volk  gerade  gut  genug 
ist,  ihm  das  Beste  zu  bieten.  Dann  darf  man  ihm  aber  nicht,  wenn  man  ihm  einen 
Konstschrein  zimmern  will,  das  sämtliche  Holz  vorlegen,  mit  Abfall,  Sägemehl  und  Spähnen. 
Denn  ein  Geschichtswerk  muis  immer  auch  ein  Kunstwerk  sein:  nur  harmonisch  gestimmt, 
wird  es  auch  harmonisch  und  bildend  wirken,  fesseln  und  überzeugen  und  dem  wahren 
Zweck  der  Wissenschaft  dienen.  Zu  diesem  Ende  aber  darf  der  Verfasser  nicht  das 
ganze  Rüstzeug  seiner  Studien  und  Vorarbeiten  zum  besten  geben,  sondern  mufs  sich  auf 
das  wirklich  Wissenswerte  beschränken.  Fliefst  der  Stoff  tatsächlich  so  Überreich  wie 
scheinbar  hier  (bei  der  Geschichte  von  Messelhausen),  so  mufs  eine  weise  Sichtung  und 
Scheidung  vorgenommen  und  nur  das  Wichtige,  das  durch  die  Untersuchung  gesicherte 
Ergebnis  darstellerisch  verarbeitet  werden.  Alles  andere  kann  man  etwa  in  Zeitschriften 
niederlegen,  damit  es  dem  Kleinforscher  nicht  vorenthalten  bleibt.  Aus  dem  gleichen 
Grunde  soll  auch,  was  die  Urkunden  selbst  Wissens-  und  Erwähnenswertes  enthalten ,  in 
dM  Darttellnng,  und  zwar  womöglich  in  ihrer  eigenen  Sprache  aufgenommen,  alles  Übrige 
beiseite  gelassen  werden  .  .  .** 

Dagegen  wendet  sich  mm  Zehnter  '),  unterstützt  von  einem  schwachmütigen 
Urteile  des  Würzburger  Professors  Henner,  der  seine  Arbeit  sans  phrase 
musterhaft  genannt  hat,  indem  er  behauptet,  dafs  die  Ortsgeschichte  vor 
allem  belehrende   und  ethische  Zwecke   zu  erfüllen  habe,  imd  verlangt,  dafs 

1)  Zeitschrift    f.   alemannische   u.    fränkische   Geschichte,    Volkskunde,    Kunst    und 
Sprache.     N.  F.  i  (Freiburg  i.  Br.   1900),  281-384. 
3)  Vgl.  auch'  diese  Zeitschr.  3.  Bd.,  S.  201. 
3)  Dorf  und  Hof.     i.  Jahrg.,  Freiburg  i.  Br.  1903.     S.  104—108. 

22* 


—     316     — 

die  Frage  ,,  nicht  TOm  Standpunkt  und  nach  dem  Maisstab  des  zünftigen 
Gelehrten  oder  des  Mannes  der  Wissenschaft,  sondern  in  erster  Reihe  Tom 
Standpunkt  der  Ortsangehörigen,  ftir  die  die  Ortsgeschichte  zunädist  ge* 
schrieben  ist,  entschieden  werden  solle'S  Zu  deutsch  heifst  das  also:  der 
Lehrer  soü  die  Schüler  lehren  und  erziehen,  aber  nicht  Tom  Standpunkt  der 
Schule,  sondern  von  dem  der  Schüler  aus.  Merkwürdiges  Veriangen  eines 
deutschen  Juristen  und  Politikers!  In  dieser  ungereimten  Weise  verlaufen 
auch  die  übrigen  Darlegungen  Zehnters,  der. die  Begriffe  „ Ortsgeschichte ^ 
und  „Ortschronik''  völlig  vermengt  und  durcheinanderwirft  und  in  bezug  auf 
das  Urkundenedieren  und  andere  Forderungen  der  Wissenschaft  geradezu 
erheiternd  wirkende  Ansichten  entwickelt.  Dafs  er  dies  aüen  Ernstes  und 
öffentlich  in  einer  Zeitschrift  tut,  keimzeichnet  ihn  als  unverbesseriichem 
Delittanten.  Ich  bin  hier  auf  seine  Auslassungen  zu  sprechen  gekommen, 
nicht  um  sie  zu  wideriegen,  deim  das  verdienen  sie  nicht,  sondern  nur 
um  auf  die  Absondeilichkeit  eines  akademisch  gebildeten  Mannes  des 
XX.  Jahrhunderts  auftnerksam  zu  machen.  Seine  Ortsgeschichte  von  Messd- 
hausen  hat  sich  stillschweigend  mein  i'/s  Jahre  zuvor  erschienenes  Steinbacft 
bei  Mudau  zum  Muster  genommen :  wo  sie  es  tut,  ist  sie  musterhaft,  wo  sie 
diese  Bahn  verläist,  irrt  sie  uferlos  im  Sumpfe  des  Dilettantismus. 

P.  Albert  (Freiburg  i.  Br.) 

ArchlTe.  —  In  Österreich  sind  die  grofsen  Archive  der  gemein- 
samen Reichsbehörden,  Haus-,  Hof-  und  Staatsarchiv,  sowie  das 
Hofkammerarchiv  vorzüglich  geleitete  Anstalten,  aber  merkwürdigerweise 
stehen  diese  in  so  gut  wie  keinerlei  Beziehung  zu  den  Landesarchiven  der 
einzelnen  Kronländer,  von  denen  jedes  ein  Sonderdasein  ftihrt;  nicht  einmal 
alle  Kronländer  verfügen  über  ein  solches  Landesarchiv.  Dafs  dieser  orga> 
nisatorische  Mangel  schädigende  Folgen  hat,  ist  leicht  verständlich,  tmd  auch 
die  zunächst  Beteiligten  empfinden  dies  lebhaft  Der  Vorsteher  des  Inns- 
brucker Archivs,  Professor  Michael  Mayr,  hat  diese  Übelstände  unlängst 
öffendich  besprochen  %  tmd  die  positiven  Vorschläge  für  eine  künftige  Or- 
ganisation, die  er  dort  macht,  verdienen  wiederholt  zu  werden  nicht  nur 
im  Hinblick  auf  die  österreichischen  Verhältnisse,  die  gebessert  werden 
sollen,  sondern  vor  allem  auch,  weil  sie  geeignet  sind  das  noch  vielfach  man- 
gelnde Verständnis  für  das  staatliche  Archivwesen  imd  seine  doppelten  Auf- 
gaben (verwaltungstechnische  und  wissenschaftliche)  zu  wecken.  Es  heifst 
dort:  „Wesen  und  Aufgaben  der  gleichartigen  Archive  sind  im  grofsen  imd 
ganzen  überall  dieselben.  Anerkannt  erprobte  Muster  sollten  deshalb  auch, 
wenigstens  in  ihren  Grundzügen,  für  uns  mafsgebend  sein.  Am  nächsten 
liegt  uns  wohl  die  preufsische  oder  bayerische  Organisation,  welche  übrigens 
von  jener  anderer  Kulturstaaten  nicht  erheblich  abweicht.  Auch  bei  uns 
werden  endlich  Kronlandsarchive  bei  allen  Landesregierungen  erstehen  müssen. 
Diese  haben  allmähb'ch  die  Archivalien  nicht  blofs  der  politischen,  sondern 
aller  staatlichen  Landesbehörden  aufzunehmen  und  zu  verwalten.  Die  Über- 
nahmen müfsten  periodisch  geschehen  und  sich  bis  auf  ungefähr  die  letzten 

i)  Über  aUuUliches  Archivwesen  in   Österreich  in   der  Zeitschrift    (Ur  Volkswirt- 
tchaft,  Sozialpoliük  und  Verwaltnog  12.  Bd.  (1903),  S.  116—119. 


—     317     — 

dreifsig  Jahre  erstrecken,  damit  die  verschiedenen  Registraturen  entlastet 
werden  und  Behörden  und  Parteien  für  alle  mehr  als  ein  Menschenalter  zu- 
zückliegenden  Fragen  stets  auf  raschen  tmd  gründlichen  Aufschlufs  vom 
Archiv  rechnen  könnten.  Nur  der  Praktiker  vermag  zu  ermessen,  wieviel 
Zeit  und  Arbeit  durch  eine  derartige  Einrichtung  erspart  wird.  Die  geringen 
Kosten  derselben  würden  sich  von  selbst  decken.  Diese  Provinzialarchive 
hätten  auch  belebend  und  beispielgebend  auf  das  Landes-,  Gemeinde-  imd 
Privatarchivwesen,  dessen  Wichtigkeit  auch  bei  ims  mehr  und  mehr  erkannt 
wird,  einzuwirken  imd  selbstverständlich  ihre  eigene  wissenschaftliche  Aufgabe 
nicht  zu  vernachlässigen.  In  zweiter  Linie  sollten  die  heute  zerstreuten  und 
wohl  auch  ungenügend  untergebrachten  Archive  der  verschiedenen  Zentral- 
stellen zu  einem  Archiv  der  k.  k.  Ministerien  vereinigt  werden,  wodurch 
die  jetzige  komplizierte  Verwaltung  wesentlich  vereinfacht  tmd  verbilligt,  die 
Benützung  für  alle  Interessenten  sehr  erleichtert  würde.  —  Die  Oberleitung 
der  Provinzialarchive  imd  des  Archives  der  k.  k.  Ministerien  wäre  wie  bei 
allen  Fachanstalten  einem  aus  ein  bis  swei  Fachmännern  bestehenden 
Direktorium  der  k.  k.  Staatsarchive  anzuvertrauen;  denn  nur  auf  diese  Weise 
ist  es  möglich,  den  einzelnen  Anstalten  Geist  und  Leben  einzuhauchen  und 
ihrer  Tätigkeit  ein  richtiges  Ziel  zu  geben.  Für  wissenschaftliche  Fragen 
hätte  der  bereits  bestehende  Archivrat  als  Beirat  des  Direktoriums  zu  fun- 
gieren. —  Da  die  Provinzialarchive  und  das  Archiv  der  k.  k.  Ministerien 
Urkunden  und  Akten  aller  Staatsbehörden  verwalten,  erscheint  es  selbst- 
verständlich, dafs  die  ganze  Organisation,  respektive  das  Direktorium,  nach 
preufsischen  Muster  dem  Ministerratspräsidium,  nicht  mehr  dem  Ministerium 
des  Innern  unterzuordnen  wäre.'* 

So  berechtigt  die  hier  ausgesprochenen  Forderungen  sind,  ihre  Ver- 
wirklichung scheint  doch  im  weiten  Felde  zu  liegen.  Vorläufig  ist  es 
besser,  sich  über  Fortschritte  zu  freuen,  die  in  einzelnen  Kronländem  aus 
eigener  Kraft  gemacht  worden  sind,  wie  in  Vorarlberg.  Erst  im  Jahre 
1898  wurde  hier  durch  Vereinbarimg  zwischen  der  Staatsverwaltung  imd  dem 
Vorarlberger  Landtage  die  Vereinigung  der  bis  dahin  in  verschiedenen  Re- 
gistraturen verstreuten  archivalischen  Schätze  zu  einem  Landesarchive 
bewerksteUigt,  das  sich  unter  der  Leitung  von  Viktor  Kleiner  zu  Bregenz 
befindet  Neben  acht  staatlichen  Archiven  ruht  hier  das  Archiv  der  Vorarl- 
berger Landstände  1789 — 1808,  während  dessen  älterer  Teil  (1404 
bis  1788)  noch  im  Magistratsarchiv  zu  Feldkirch  verwahrt  wird,  aber  auch 
übergeführt  werden  soll  Eine  eigene  Gruppe  bilden  die  zur  Aufbewahrung 
hinterlegten  Archive  von  bis  jetzt  sechs  Gemeinden,  denen  sich  dem- 
nächst andere  beigesellen  werden.  Die  Bedeutung  dieser  Archive  liegt  nach 
sachkundigem  Urteile  weniger  auf  dem  geschichtlichen  Wert  als  vielmehr  in 
dem  Nutzen,  den  die  Gemeinde  durch  die  Ordnung,  d.  h.  zugleich  Nutz- 
barmachung, für  administrative  Zwecke  erzielt.  Wie  die  Gemeinden,  so  hat  auch 
die  Stadt-  und  Landpfarrei  Bregenz  hundert  Pergamenturkunden  (1 196—  1700) 
als  Depositum  hinterlegt,  die  das  staatliche  Archiv  des  vormaligen  Klosters 
Mehrerau,  dem  die  meisten  Benefizien  in  Bregenz  gehörten,  wesentlich  er- 
gänzen. Durch  Geschenke,  Ablieferung  seitens  der  Behörden  und  depo- 
sitarische Hinterlegung  mehren  sich  die  Bestände  fortwährend,  und  es  ist 
hier  mithin  eine  erfreuliche  Neugründung  zu  verzeichnen,  die  lehrt,  dafs  auch 


—     318     — 

dort,  wo  ein  Archiv  für  eine  Landschaft  fehlt,  bei  gutem  Willen   sehr   wohl 
ein  solches  begründet  werden  kann. 

ArchSologische  Karten.  —  Die  Notwendigkeit,  die  Ergebnisse  der 
vor-  und  frtihgeschichtlichen  Forschung  in  Karten  einzutragen,  und  sie  so 
der  Anschauimg  zugänglicher  zu  machen  und  zugleich  die  Zusanmienhänge 
der  Kulturstätten  mit  den  topographischen  Eigentümlichkeiten  aufzudecken, 
ist  heute  allgemein  anerkannt,  imd  um  eine  gewisse  Einheitlichkeit  dabei  zu 
erzielen,  sind  bestinmite  Fundzeichen  vereinbart  worden  ').  Für  die  Her- 
stellung solcher  Karten,  die  natürlich  nicht  mit  einem  Male  erfolgen  kann, 
sondern  allmählich  gefordert  werden  mufs,  wird  den  Museumsvorständen,  denen 
in  den  meisten  Fällen  die  Arbeit  zufiallen  dürfte,  vielleicht  eine  Mitteilung 
willkommen  sein,  die  in  den  Süzungsberichien  der  Oeselisehaft  für  Geschichte 
und  Alteriuniskuruie  der  Ostseeprovinxen  Rufslands  aus  dem  Jahre  1902 
(Riga  1903),  S.  105  anläfslich  des  Vorschlages,  eine  neue  archäologische 
Karte  der  Ostseeprovinzen  herzustellen,  gemacht  wird.  Es  heifst  dort :  „  Da 
es  sich  darum  handeln  würde,  die  seitherigen  Forschungsresultate  einerseits 
übersichtlich,  andrerseits  aber  vollständig  und  genau  zu  fixieren,  mufs  eine 
Karte  in  grofsem  Mafsstabe  als  Grundlage  dienen,  wozu  für  Livland  die 
groise  Rücker'sche  Karte  von  1839  wohl  geeignet  sein  dürfte,  doch  würde  zur 
Zeit  nicht  eine  Vervielfältigimg  der  projektierten  Karte,  sondern  nur  die  Her- 
stellung eines  einzigen,  für  das  Museum  bestimmten  Exemplars  ins  Auge 
zu  fassen  sein,  nach  dem  Vorbilde  der  im  dänischen  National- 
museum zuKopenhagen  befindlichen  grofsen  archäologischen 
Karte  von  Dänemark.  Hier  sind  mit  überraschendem  Erfolge 
die  zu  markierenden  Punkte  anstatt  durch  aufgetragene  Zei- 
chen mittels  eingesteckter  Nadeln  hervorgehoben.  Die  ver- 
schiedenen Farben  der  Nadelköpfe  (Glas  oder  Lack)  ermög- 
lichen Unterscheidungen  in  grofser  Zahl,  die  sich  vom  Kar- 
tenbilde deutlich  abheben;  auch  hat  diese  Art  der  Markierung 
den  Vorzug,  dafs  Korrekturen  und  Ergänzungen  sich  leicht 
ausführen  lassen.  Als  höchst  lehrreich  und  gleichfalls  leicht 
ausführbar  erweist  sich  die  Andeutung  der  alten  Heer-  und 
Handelsstrafsen  durch  angeheftete  Messingdrähte.  Da  die 
Herstellung  emer  derartigen  Karte  in  grofsem  Mafsstabe  genaue  Ortskenntnis 
erfordert,  würde  es  sich  empfehlen,  die  nach  einheitlichen  Gesichtspunkten 
auszuführende  Arbeit  unter  den  auf  archäologischem  Gebiete  tätigen  Gesell- 
schaften der  Ostseeprovinzen  regional  zu  verteilen.  Schliefslich  hätte  ein 
Austausch  der  Resultate  und  deren  Übertragung  auf  die  Generalkarte  der 
Ostseeprovinzen  stattzufinden.  Dank  dem  Umstände,  dafs  in  den  archäo- 
logischen Karten  von  C.  Grewingk  (1884)  und  J.  Sitzka  (1896),  sowie 
in  den  Arbeiten  von  Professor  R.  Hausmann  und  Ant.  Buchholtz 
bedeutende  Vorarbeiten   bereits  vorliegen,   endlich   aber  K.   v.    Löwis   of 

I)  Vgl.  darüber  diese  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  237 — 242.  Dort  sind  S.  237/38  anch  eine 
Reihe  solcher  Karten  aufgeführt;  nachzntragen  wäre  die  archäologische  Karte  für  den 
Kanton  Schaffhansen,  die  mit  einem  Kommentar  (S.  9 — 55)  in  den  Beiträgen  %t4r 
vaterländischen  Geschichte,  herausgegeben  vom  Historisch-antiquarischen  Verein  des 
Kmntons  Schaffhausen,  7.  Heft  (1900)  enthalten  bt. 


—     319     — 

M  e  n  a  r  die  auf  den  erwähnten  Karten  fehlenden,  für  den  vorliegenden  Zweck 
so  sehr  wichtigen  Burgberge  und  Ringwälle  der  Eingeborenen  in  möglichster 
Vollständigkeit  kartographisch  fixiert  hat,  dürften  keine  allzugrofsen  Schwierig- 
keiten zu  überwinden  sein.  Unter  Annahme  dieses  Antrages  wurde  beschlossen, 
sich  wegen  dessen  Ausführung  mit  den  anderen  Gesellschaften  in  Benehmen 
zu  setzen.** 

Die  Bewerkstelligung  der  Eintragung  auf  der  Arbeitskarte  durch  Nadeln 
anstatt  durch  Einschreibung,  ist  ja  auch  sonst  nicht  ungewöhnlich,  aber  es 
würde  sich  fragen,  ob  nicht  die  Nadelköpfe  zugleich  die  vereinbarten  Fund- 
zeichen tragen  könnten,  etwa  aus  Pappe  oder  auch  aus  Metall:  wenn  der- 
artige Hilfsmittel  dem  Bearbeiter  zur  Verfügung  stünden,  würde  die  Arbeit 
wesentlich  rascher  fortschreiten  und  vor  allem  die  Korrektur  des  einzelnen 
Eintrags  ohne  weiteres  ermöglichen.  Denkt  man  sich  die  Arbeitskarte  auf 
einer  Korkunterlage  befestigt  imd  Nadeln  mit  den  entsprechenden  Fundzeichen 
als  Köpfen  in  genügender  Menge  vorhanden,  dann  wäre  vor  aUem  die  Über- 
tragung von  Karten  aufserordentlich  erleichtert.  Es  würde  nur  darauf  an- 
konmien,  solche  Nadeln  relativ  biUig  in  Masse  herzustellen! 

Personalien.  —  Unerwartet  ist  am  Ende  des  vorigen  Jahres  ein  Ge- 
lehrter aus  dem  Leben  geschieden,  der  für  die  Geschichte  seiner  Heimat 
eine  hervorragend  tüchtige  Arbeit  hinterlassen  hat:  Prof.  Dr.  Karl  Albrecht 
in  Colmar  i.  Elsafs.  Geboren  zu  Lübeck  am  3.  Januar  1846  war  A.,  vor- 
gebildet auf  einer  Privatrealschule,  zunächst  als  Ellementarlehrer  tätig  gewesen, 
hatte  als  Autodidakt  die  klassischen  Sprachen  betrieben  und  war  dann  nach 
kurzem  Besuche  der  Prima  des  Katharineums  und  bestandener  Reifeprüfung 
nach  Leipzig  gegangen,  um  Philologie  zu  studieren.  Hier  schlofs  er  sich 
besonders  an  Curtius  und  Zamcke  an,  promovierte  mit  einer  Abhandlung  über 
den  Akkusativus  cum  Infinitivo  bei  Homer,  bestand  im  August  187 1  die 
Staatsprüfung  und  wurde  erst  als  Probekandidat,  dann  als  Lehrer  an  dem 
Nicolaigymnasitun  zu  Leipzig  beschäftigt.  Michaelis  1872  in  das  Reichsland 
berufen,  war  A.  bis  1875  ^^  ^^^  Kollegium  zu  Gebweiler,  darauf  bis  zu 
seinem  Tode  am  Lycetun  zu  Colmar  als  Oberlehrer,  später  als  Professor 
tätig.  Hier  wandte  er  sich  der  Landesgeschichte  seiner  neuen  Heimat  zu. 
Seit  1877  widmete  er  sich  der  Bearbeitung  eines  Urkundmbucks  der  ehe- 
maUgen  Herrschaft  EappoUstein,  In  fünf  stattlichen  Bänden  hat  A.  mit  Unter- 
stützung der  Landes-  und  Bezirksvertretung  einen  reichen  Schatz  von  Urkimden 
und  Regesten  dem  Forscher  zugänglich  gemacht.  Die  ältere  Linie  der  Herren 
von  Rappoltstein  ist  schon  1157  im  Mannesstanune  erloschen,  ihre  Be- 
sitztmgen  sind  dann  an  den  Gatten  der  Erbtochter,  einen  Urslingen  aus 
Schwaben,  übergegangen,  dessen  Oheim  Konrad  in  Italien  vom  deutschen 
Kaiser  mit  dem  Herzogtum  Spoleto  belehnt  worden  war.  Weit  über  die 
Grenzen  des  Elsafs  hinaus  haben  die  Rappoltsteiner  im  deutschen  Reiche 
eine  bedeutende  Rolle  gespielt  und  mit  der  Schweiz,  der  Freigrafschafl  Burgund, 
mit  den  Herzogen  von  Lothringen  und  dem  Bistum  Metz  mit  allen  Fürsten 
und  Städten  des  südwestlichen  Deutschlands  mannigfache  freundliche  wie 
feindliche  Beziehungen  tmterhalten.  Die  jüngere  Linie  der  Herren  von  Rappolt- 
stein starb  1673  aus  imd  ihr  Besitz  fiel  an  den  Schwiegersohn  des  letzten 
Grafen,  den  PfaJzgrafen  Christian  von  Birkenfeld.     Eine  Enkelin   aus   dieser 


—     320     — 

Ehe,  die  Landgräün  Henriette  Karoline  von  Hessen-Darmstadt  war  die  Ur- 
grofsmutter  des  Kaisers  Wilhelm  I.  und  der  Kaiserin  Augusta.  Die  Erbtochter 
Rappoltstein  war  die  Ahnfrau  des  bayrischen  Königshauses,  der  letzte  Graf 
von  Rappoltstein  der  nachmalige  König  Max  I.  von  Bayern.  Diese  weite 
Verzweigung  von  Beziehungen  hat  es  nötig  gemacht,  den  Stoff  aus  5  7  Archiven 
Deutschlands,  Österreichs,  Frankreichs,  der  Schweiz  und  Italiens  zu  sammeln. 
Kein  geringerer  als  der  Heidelberger  Historiker  E.  Winkelmann  hat  es  s.  Z. 
ausgesprochen,  dafs  A.s  Werk  als  Denkmal  einer  ganz  erstatmlichen  Arbeits- 
kraft wird  gelten  dürfen.  Aber  es  bedeutet  mehr:  es  ist  eine  fast  imer- 
schöpfliche  Fundgrube  für  kulturgeschichtliche  tmd  wirtschafbgeschichtliche 
Beziehungen,  ein  trübes  Bild,  welches  zeigt,  wie  es  kommen  konnte,  dafs  an 
der  Wes^renze  Deutschlands  niemals  eine  starke  kaiserliche  oder  landes- 
herrliche Macht  entstanden  ist,  wie  Schenkungen  an  Klöster  und  Bistümer, 
Lehnsauftragungen  an  den  Krummstab  die  Zersplitterung  vollendeten.  Die 
Urkimden  zu  verwerten  war  A.  nicht  beschieden.  Nur  zwei  der  bedeutendsten 
Rappoltsteiner  Anselm  II.  und  Brimo  hat  A.  in  der  Allgemeinen  Deutschen 
Biographie  behandelt ;  über  letzteren  als  den  bekanntesten  Rappoltsteiner  und 
über  den  Widerstreit  zwischen  Sage  und  Forschung  in  betreff  der  ältesten 
Generationen  der  Rappoltsteiner  hat  er  sich  gelegentlich  in  Vorträgen  ver- 
breitet :  dafs  er  nicht  dazu  gekonmien  ist,  der  so  interessanten  Persönlichkeit 
Smafsmanns  eine  besondere  Darstellung  zu  widmen,  ist  sehr  zu  bedauern. 
Andere  Untersuchungen  galten  der  älteren  Linie  der  Rappoltsteiner  und  dem 
Stammvater  der  jüngeren  Linie,  Egenolf  von  Urslingen.  Den  Beziehtmgen 
des  Elsafs  zum  Reiche  ging  A.  in  einer  auch  im  Druck  erschienenen  Festrede 
nach:  Besuche  deutscher  Könige  und  Kaiser  in  Colmar,  zu  der  dann  Er- 
weiterungen imd  Nachträge  die  Beilage  zum  Programm  der  Lyceums  1886 
brachte.  Bei  allen  diesen  Studien  ist  A.  seinem  Berufe  als  Gymnasiallehrer 
mit  ganzer  Kraft  gerecht  geworden:  nur  einige  Jahre  hindurch  wurde  ihm 
durch  Minderung  der  Pflichtstundenzahl  eine  Erleichterung  zu  teil,  vielleicht  ist 
es  aber  für  seine  historischen  Studien  von  besonderem  Vorteil  gewesen,  dafs 
er  ganz  gegen  seinen  Willen  in  seiner  Tätigkeit  auf  die  mittleren  Klassen 
beschränkt  blieb.  Nie  hat  er  den  Schulmann  hinter  dem  Forscher  zurück- 
stehen lassen.  Allzu  früh  für  die  Geschichte  des  Elsafs  ist  A.  am  18.  Dezember 
1902  durch  einen  Schlaganfall  der  Wissenschaft  und  den  Seinen  entrissen 
worden.  Sein  Name  wird  unter  den  Forschem  der  elsässischen  Geschichte 
nie  vergessen  werden.  Sorgenfrey. 

Eingegangene  Btteher. 

Hertel,  Gustav:  Die  Wüstungen  im  Nordthüringgau  (in  den  Kreisen  Magde- 
burg, Wolmirstedt,  Neuhaldensleben ,  Gardelegen,  Oschersleben,  Wanz- 
leben, Calbe  und  der  Grafschaft  Mühlingen),  herausgegeben  von  der 
Historischen  Kommission  der  Provinz  Sachsen.  Mit  einer  Wüstungskarte 
vom  Nordthüringgau  in  Farbendruck,  entworfen  von  Dr.  G.  Reischel 
I  :  100 000.  Halle,  Otto  Hendel,  1899.  559  S.  8<>.  M.  16  [=  Geschichts- 
quellen der  Provinz  Sachsen  und  angrenzender  Gebiete.     38.  Bd.]. 

Rautenstrauch,  Johannes :  Die  Kalandbrüderschaflen,  das  kulturelle  Vorbild 
der  sächsischen  Kantoreien,  ein  Beitrag  zur  sächsischen  Musikpfiege  in  vor- 
tmd  nachreformatorischer  Zeit     Dresden,  Ramming,   1903.    45  S.  S^. 

HerausKeher  Dr.  Annin  Tille  in  Leipzig. 
Druck  und  Verlag  von  Friedrich  Andreas  Perthes,  Akriengesellschaft,  Gotha. 


Deutsche  GescMchtsblätter 

Monatsschrift 

fövdepuog  den  landesgesehiehMiGheD  f  ovsohuog 

unter  Mitwirkung  von 

Prof.  Bachmaim-Prag,  Prof.  Brayvig-Berlin,  Prof.  Bilor-MäDitcr  i.  W., 

Prot  Pinka-FreibiiTg  i.  B.,  Archttdirektor  Prof.  Huiaen-KälQ,  Prof.  t.  MsiKel-MUndieD, 

Frol  Humer-WUizbarg,  Sektionichef  t.  Inkma-StemeKK-Wien,  Prof.  Kolde-Erltngeii, 

Prof.  KomilniM-Berlin,  Archivraf  Knegei-Karlsrahe,  Prof.  L«mprecht-L«iptJ£, 

Archirrkt  W.  Upport-Droden,  Archivdirektor  Prof.  M,  M«jrr.Inn£bniclc, 
ArchiTtT  Ueix-OmabrUck,  Prof.  t.  Ottenthol-WicQ,  Prof.  Oaw.  Radlich-Wien, 
Prof.  T.  d.  Ropp-Muburg,  Prof.  A.  Schulte-Bonn,  Archivrat  Sollo -Oldenburg, 
Geb.  Archiirat  StUiD-StDltgart,  Archivrat  WUchke-Zerbat,  Prof.  Wvber-Prac, 
Prot  WMiek'Marbnrg,  Archivrat  Winter-Oioabrilck,  Archi»ar  Witte-Schwerin, 
Prof.  V.  Zwi«din«d(-Badetihor«t-Graz 

herausgegeben  von 

Dr.  Armin  Tille 


Gotha 

Friedrich  Andreas 

AkÜHieiellielult 
1904 


Inlialt. 

Aufsätze :  se»« 

Beyerle,  Konimd  (Breslau):  Netu  Veröffentlichungen  deuUeher  Stadtrechte  i — 15 

«.  48—5^ 

Caemmerer»  Bruno  (Arnstadt):  Arnstädter  Tauf-  und  Famihennatnen ^    »  245 — 261 

u.  296—315 

Caro,  Georg  (Zürich):  Zur  Bevölkerungsstatistik  der  Karolingerzeit     .    ^  195 — 202 

Erben,  Wilhelm  (Innsbruck) :  Heeresgeschichte 33 — 47 

Forst,  Hermann  (Zürich):   Die  Geschichtschreihung  im  Bistum   OsnabrOci 

bis  zum  Ende  des  XVII,  Jahrhunderts 117  — 127 

Frankfurter,  Salomon  (Wien):  Limesforschung  in  Österreich 286 — 295 

Qiannoni,  Karl  (Wien):  Staatliches  Archivwesen  in  Österreich     .     ^     .     •  97 — 116 

Ilwof^  Frans  (Graz):  Steiermärkische  Geschichtschreibung  von  1811  bis  1850  202 — 213 
Ments,  Ferdinand  (Strafsborg  i.  E.):  DialektwörterbUcher   und  ihre  Be- 

deutung  für  den  Historiker ^,  169 — 189 

Pagel,  Julius  (Berlin):  Medizinische  Kulturgeschichte      , 145  —  156 

Tille,   Armin  (Leipzig):   Nachwort  zu   dem  Aufsätze  über    Wendische  Be- 

Völkerungsreste  im  westlichen  Mecklenburg  Ton  HansWitte  235 —  237 
Vancsa,  Blas  (Wien):  Zur   Geschichte   der  Besiedelung   von  Nieder»  und 

Oberösterreich 275 — 286 

WSschke,    Hermann   (Zerbst):    Die    UmdesgeschichtUche    Forschung    in 

Anhalt , 65 — 74 

Witte,  Hans  (Schwerin) :   Wendische  Bevölkerungsreste  im  westlichen  Meck- 

lenburg ,     .     .     . 219 — 235 

Mitteilungen : 

Archive:  Gesetzliche  Bestimmungen  über  die  städtischen  ArchiTe  in  den 
östlichen  Provinzen  Preufsens  30 — 31 ;  Niederösterreichisches 
Landesarchiv  59 — 60;  St.  Gallische  Gemeindearchive  60 — 62; 
Adrefsbuch  der  wichtigsten  Archive  Europas  von  Bettler 
164—167;  Stadtarchiv  Saalfeld  (Ernst  Devrient)  213—216; 
Stadtarchiv  Grimma  217—218;  Stadtarchiv  Wernigerode  237; 
Inventare  Kölner  Pfarrarchive  264 — 265 ;  Zum  österreichischen 
Archivwesen  (Michael  Mayr)  315 — 330. 

Archivtag,  vierter  deutscher 262 

Berichtigung 4  194 

Denkmalpflege:  Vierter  Tag  fUr  D.  1903  in  Erfurt  (Robert  Brück)  56—59; 

Fünfter  Tag  für  D.  1904  in  Mainz  263. 
Eingegangene  Bücher  32, 64, 93—96,  i44, 167—168, 194,218,243—244, 273—274,330. 


Seite 

Oesamtverein  der  denttchen  Qeschichts-  und  Alteitumsvereine :  Ver- 
sammlong  1903  zn  Erfurt  74 — 82;  Programm  der  Versammlung 
1904  zu  Danzig  361 — 262. 

Onmdk«rten,   der  gegenwSrtige  Stand   der  Veröffentlichung  von   (R. 

Kötzschke) 82—87 

Heimatechats 163 — 164 

Helmatskiinde :  Literatur  zurH.  TonStörzner,Koischwitz,Thalhofer, 

Schwarz 1S9  — 193 

Historische  Kommissionen:  H.  K»  für  Sachsen-Anhalt  31—32  und  267; 
H.  K.  für  Hessen  und  Waldeck  32  und  266 ;  Württembergische 
K.  für  Landesgeschichte  87 — 88;  H.  K.  bei  der  Kgl.  Bayerischen 
Akademie  der  Wissenschaften  88 ;  Badische  H.  K.  88 ;  Deutsche 
K.  bei  der  Kgl.  Preufsischen  Akademie  der  Wissenschaften 
237 — 241;  KgL  Sächsische  K.  für  Geschichte  265—266;  Ge- 
sellschaft für  rheinische  Geschichtskunde  267 — 268. 
Hundert  Jahre  preofsisch:  Nordhansen,  Mühlhansen,  Essen,  Münster,  Er- 
furt, Quedlinburg  (Armin  Tille) 26—30 

Museen:  Thüringische  Ortsmuseen  in  Nordhansen,  Gera,  Kahla,  Arnstadt, 
Mühlhausen,  Langensalza,  Wachsenburg,  Weimar,  Weida,  Nieder- 
pöllnitz,    Hafsleben,    Laucha,    Kamburg,    Pöfsneck,    Stadtilm,  * 

Lauscha,  Lauenstein,  Jena  (Paul  Weber) ,     .  16 — 25 

Nelcrologe :  für  Engelbert  Mühlbacher  (Harold  Steinacker)  90 — 93 ;  für  Levin 
▼on  Wintzingeroda  -  Knorr  93. 

Neuhochdeutsche  Schriftsprache « 237—243 

Neujahrsblätter:  der   historischen   Kommission    der   Prorinz   Sachsen,    der 

badischen  Historischen  Kommission,   aus  Anhalt  (Armin  Tille)      131 — 139 

Ortsbeschreibung,  Geschichtliche 88—90 

Ortsverseichnisse,  Historische:  Westpreufsen 128— 131 

Personalien 90—93 

Publikationsinstitute,  Konferens  von  Vertretern  deutscher 264 

Vereine:  Gesellschaft  für  neuere  Geschichte   Österreichs    139 — 144;   Ober- 
lausitzische Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Görlitz  268  —  270 ; 
Kgl.  Akademie  gemeinnütziger  Wissenschaften  zu  Erfurt  270 — 73. 
Versammlung  deutscher  Historiker:   Programm   der  achten  V.  d.  H.   zn 

Salzburg  1904 263 — 264 

Wandtafeln  vorgeschichtlicher  Funde:  Westpreufsen,  Hannover,  Westfalen, 
Provinz  Sachsen,  Mitteldeutschland,  Oberlausitz,  Rhein-  und 
dcQtsches  Donaugebiet,  Elsafs  -  Lothringen,  Österreich -Ungarn, 

Niederlande  (Hugo  Jentsch) 156 — 163 

Zeitschriften :  JahrJmch  des  Geschichtsvereins  für  das  Herzogtum  Braun- 
schweig 62 — 63;  Mitteilungen  aus  der  Lippischen  Geschichte 
und  Landeskunde  63 — 64. 


Monatsschrift 


zur 


f  öpderung  der  laodesgesGhichtlicheQ  f  orschung 

herausgegeben  von 

Dr.  Armin  Tille 

,—  erscheinen  seit  Oktober  1899  ■— 

* 

Die  komplett  vorliegenden  fünf  ersten  Bände  im  Um- 
fang von  99  Bogen  werden  von  jetzt  ab  zum  Preise  von 

— ^^^  20  Mark    '       — 


geliefert 

Der  Bezug  erfolgt  einzig  und  allein  durch  den 

Sortimentsbuchhandel, 

doch  kann  dieses  billige  Angebot  nur  bis  31.  Dezember  1 904 
aufrechterhalten  werden. 

Gotha,  August  1904. 

Friedrich  Andreas  Perthes 

Aktiengesellschaft. 


PROSPEKT. 

Deutsche  Geschichtsblätter 

* 

Monatsschrift 

zur 

f  öpdepuog  der  landesgeschichtlißhen  f  orschung 

unter  Mitwirkung-  von 

Piiof.  Bachmann-Prag,  Prot  Breyaig-Bcrlin,  Prof.  Erler-Miinster  i.  W., 

Prof.  Finke-Frciburg  i.  B.,  Arcbivdirektor  Prof.  Hansen-Köln,  Prof.  v.  Heigel-Münchcn, 

Prof.  Henner- Würzburg,  Sectionschcf  v.  Inama-Stemegg-Wien,  Prof.  Kolde-Erlangcn, 

Prof.  Kossinna-Berlin,  Archivrat  Krieger-Karlruhe,  Prof.  Lamprecht-Leipzig, 

Archivrat  W.  Lippert-Drcsdcn,  Archivdirektor  Prof.  M.  Mayr-Innsbruck, 

Archivar  Merz-OsnabrUck,  Prof.  v.  Ottenthal-WieD,  Prof.  Osw.  Redlich-Wien, 

Prof.  V.  d.  Ropp-Marburg,  Prof.  A.  Schulte-Bonn,  Archivrat  Sello-Oldenburg, 

Geh.  Archivrat  Stälin-Stuttgart,  Archivrat  Wäschke-Zerbst,  Prof.  Weber-Prag, 

Prof.  Wenck-Marbnrg,  Archivrat  Winter-Osnabrück,  Archivar  Witte-Schwerin, 

Prof.  V.  Zwiedineck-SÜdenhorst-Gras 

herausgegeben  von 

Dr.  Armin 


Der  Jatirgang  im  Omfango  von  20  Bogen  kostet  nnr  6  Mk. 

Zu  beziehen    durch    alle  Buchhandlungen   und  Postanstalten    An    Orte, 
wo   keine    Buchhandlung^    ist,    erfolgt    direkte    Zusendung   vom   Verlag 

ohne  Preisaufschlag. 


JTünf  Jahrgänge  der  Deutschen  GeschicMsbläUer  liegen  jetzt  ab- 
geschlossen vor;  die  Zeitschrift  ist  nicht  mehr  jung  zu  nennen,  so 
dafs  sie  ihre  Berechtigung  erst  erweisen  müfste,  sie  ist  vielmehr  er- 
freulicher Weise  in  allen  Teilen  des  Deutschen  Sprachgebietes  ver- 
breitet und  nicht  nur  in  den  Mittelpunkten  geistigen  Lebens,  sondern 
auch  in  recht  vielen  Orten,  die  weit  abseits  vom  greisen  Verkehr 
liegen.     Was  die  Zeitschrift,   deren   Preis   so   billig   \Tie  nur   denkbar 


bemessen  ist  ^,  dem  Leser  bietet,  das  zeigt  am  besten  die  unten  mit- 
geteilte Übersicht  über  den  Inhalt  der  erschienenen  Jahrgänge:  wer 
diese  durchmustert,  wird  sich  überzeugen,  dafe  das  geschichtliche 
Forschungsgebiet  den  Objekten  nach  in  keiner  Weise  beschränkt  ist, 
sondern  dafe  alle  Erscheinungen  des  geistigen,  wirtschaftlichen  und 
staatlichen  Lebens  gebührende  Berücksichtigung  finden. 

Die  Pflege  der  Landes-  und  Ortsgeschichte  neben  der  allge- 
meinen Geschichte  bedarf  heute  keiner  besonderen  Rechtfertigung 
mehr.  Hier  haben  sich  im  Laufe  der  letzten  Jahre  die  Anschauungen 
wesentlich  geläutert,  und  ein  friedliches  Nebeneinander  beider  Forschungs- 
zweige, die  sich  immer  mehr  und  mehr  gegenseitig  ergänzen,  ist  an 
Stelle  der  vormals  teilweise  feindlichen  Befehdung  getreten.  Der 
Verein,  der  sich  die  Aufgabe  gestellt  hat,  die  Vergangenheit  eines 
gewissen  geographischen  Gebietes  in  jeder  Hinsicht  zu  erschliefsen,  ist 
zu  einem  allseitig  anerkannten  Faktor  innerhalb  der  Geschichtsforschung 
geworden,  den  niemand  mehr  gern  missen  möchte,  und  der  seit  1852 
bestehende  Gesamtverein  der  deutschen  Geschichts-  und 
Altertumsyereine,  in  dem  mehr  als  150  einzelne  Vereine  —  wenn 
auch  nur  lose  —  organisiert  sind,  hat  unverkennbar  im  Laufe  der 
letzten  Jahre  erheblich  an  Einflufs  gewonnen.  Nicht  mehr  darum 
handelt  es  sich  heute,  die  Berechtigung  und  Notwendigkeit  gewisser 
Organisationen  zm:  Pflege  der  landes-  und  ortsgeschichtlichen  For- 
schung zu  erweisen,  wie  G.  v.  Bessert  es  vor  zwanzig  Jahren  tun  nciufete*, 
sondern  um  die  praktische  Förderung  und  Vertiefung  der 
Arbeit  jedes  einzelnen  Geschichtsforschers,  welches  ört- 
liche oder  sachliche  Spezialgebiet  er  auch  bearbeiten  mag. 

An  dieser  Stelle  suchen  die  DetUschen  GeschichtsbläUer  den  Hebel 
einzusetzen,  sie  wollen  ein  unentbehrliches  Hilfsmittel  für 
den  geschichtlichen  Forscher  sein  und  ihn  in  seiner  ent- 
sagungsvollen, aber  wichtigen  und  schliefslich  lohnenden  Arbeit  fördern. 
Die  Zeitschrift  verzichtet  deshalb  auf  eingehende  Darstellung  geschicht- 
licher Ereignisse  und  auf  Quellenverößentlichungen  —  dafür  gibt  es 
Organe  genug  — ,  sondern  sie  will  dem  Forscher  das  Handwerkszeug 


1)  6  Mk.  fUr  den  Jahrgang  bei  „mindestens  18  Bogen"  Umfang.  Der  I.  Band 
nmfaist  19,  der  iX,  Band  19I  und  der  III.  nnd  IV.  Band  20,  der  V.  Band  20 j^  Bogen,  so 
dafs  gegenwärtig  der  Druckbogen  in  vorzüglicher  Ausstattung  mit  weniger  als  30  Pfennigen 
bezahlt  wird.  Für  die  Zukunft  ist  eine  noch  weitere  Erhöhung  des  Umfanges  ohne  Preis- 
erhöhung geplant,  wenn  der  Abnehmerkreis  sich  in  dem  bisherigen  Mafse  zn  vergröfsem 
fortfährt 

2)  Die  historischen  Vereine  vor  dem  Tribunal  der  Wissenschaft.  (Heilbronn  1883.) 


liefern  und  zwar  auf  jede  nur  denkbare  Weise :  diesem  Zwecke  dieneo 
vor  allem  die  Beleuchtung-  geschichtlicher  Aufgaben  durch  kurze  Aus- 
einandersetzungen über  den  Stand  gewisser  Forschungen,  knappe 
Literaturübersichten  und'  Würdigung  nachahmenswerter  Arbeiten  aus 
engen  Gebieten.  Die  ganze  Zeitschrift  vom  i.  Hefte  des  i.  Bandes 
an  bis  zur  Gegenwart  ist  dabei  als  eine  Einheit  zu  betrachten,  nicht 
als  eine  Sammlung  grundsätzlich  verschiedenartiger  Dinge;  ein  geistiges 
Band  hält  alle  Beiträge  zusammen,  und  die  Anknüpfung  an  frühere 
Aufsätze  bildet  die  Regel. 

Es  ist  eine  erfreuliche  Tatsache,  dafs  sich  heute  nicht  nur  aka- 
demisch gebildete  Historiker,  sondern  Mitglieder  aller  Berufszweige 
mit  sehr  verschiedener  Vorbildung  an  der  geschichtlichen  Forschimg 
beteiligen.  Trotz  grofsen  Fleifses  werden  daher  heute  noch  vielfach 
recht  dilettantische  Arbeiten  veröffentlicht,  die  z.  T.  geeignet  sind  die 
ortsgeschichtliche  Forschung  selbst  in  Mifsachtung  zu  bringen.  Dies 
läfst  sich  nur  vermeiden,  wenn  den  Dilettanten  der  Ernst  der  Aufgabe 
vor  Augen  gestellt  wird,  so  dafs  sie  vielleicht  von  ihrem  Vor- 
haben ablassen,  und  wenn  ihnen  Gelegenheit  gegeben  wird,  die  Menge 
kleiner  Kunstgriffe  der  Forschung,  die  sich  der  Schüler  eines  histo- 
rischen Seminars  bei  entsprechender  Begabung  in  kurzer  Zeit  spielend 
aneignet ,  kennen  zu  lernen :  auch  diese  Aufgabe  sucht  die  Zeit- 
schrift, so  gut  es  eben  im  Vorbeigehen  geschehen  kann,  zu  erfüllen. 
Von  denen,  die  auf  der  Universität  geschichtliche  Studien  getrieben 
haben,  sind  viele  in  einen  stillen  Winkel  verschlagen,  wo  ihnen  die 
Hilfsmittel  zur  Fortsetzung  der  Arbeit  fehlen,  ja  wo  sie  sich  nicht  ein- 
mal über  neuere  Literatur  und  neuere  Forschungsergebnisse  zu  unter- 
richten vermögen.  Auch  ihnen  —  und  das  sind  vor  allem  die 
Lehrer  an  den  höheren  Schulen  in  kleinen  Städten  —  soll  die  Zeit- 
schrift die  Möglichkeit  gewähren,  sich  auf  dem  Laufenden  zu  erhalten. 

So  verschieden  die  Gruppen  der  Forscher  sind,  denen  die  Deutschen 
Gescliicldshlätter  praktisch  dienen  sollen,  das  Ziel  ist  ein  einziges:  Ver- 
tiefung der  örtlich  begrenzten  Forschung.  Dazu  ist  zuerst 
die  Kenntnis  der  allgemeinen  Literatur  erforderlich ^  aus  der 
allein  die  richtige  F'ragestellung  zu  gewinnen  ist,  und  auf  Grund  deren 
allein  der  F^orscher  jeder  örtlich  als  tatsächlich  festgestellten  Erschei- 
nung ihren  richtigen  Platz  in  der  Gesamtentwicklung  anzuweisen  und 
ihre  Bedeutung  abzuschätzen  vermag.  Die  genauere  Besprechung 
guter  Einzeluntersuchungen  soll  nicht  nur  die  zweckmäfsige 
Arbeitsmethode  kennzeichnen,  sondern  vor  allem  auch  zur  Untersuchung 
derselben  Probleme  in   anderen  Gegenden   anspornen,   damit  auf 


diese  Weise  möglichst  untereinander  vergleichbare  Ergebnisse  ge- 
Wonnen  werden.  Die  vergleichende  Zusammenstellung  verwandter 
Einzeluntersuchungen  und  Feststellung  ihrer  Hauptergebnisse 
soll  die  Benutzung  der  Spezialuntersuchuneen  durch  die  Vertreter  der 
allgemeinen  Forschung  erleichtem  und  führen  erfahrungsgemäfs  meist 
zugleich  zu  einer  neuen  Problemstellung. 

Die  Deutschen  GeschichtsbläUer  wenden  sich  an  jeden,  der  ge- 
schichtlich arbeitet,  nicht  zuletzt  an  die  Vertreter  der  geschichtlichen 
Nebenbetriebe,  wie  Ahertumswissenschaft,  Kunst-  undLiteraturgeschichte, 
Geographie  und  Volkskunde,  vor  allem  aber  suchten  sie  ihre  Freunde 
im  Kreise  der  arbeitenden  Mitglieder  der  Geschichtsvereine 
und  im  Kreise  der  Lehrer  an  höheren  Lehranstalten.  Nament- 
lich die  Vorstandsmitglieder  der  Geschichtsvereine,  die  für  Vorträge 
zu  sorgen  und  Zeitschriften  zu  redigieren  haben,  sollen  in  den  Deutschen 
Geschichtsblättern  eine  Unterstützung  finden,  mit  Hilfe  deren  sie  auch 
wenig  umfangreiches  und  oft  lückenhaftes  örtliches  Quellenmaterial  aus- 
zunutzen und  manche  scheinbar  unwesentliche  Ereignisse  und  Vorgänge 
in  den  gröfseren  geschichtlichen  Zusammenhang  einzuordnen  vermögen. 
Dem  Lehrer  der  Geschichte  aber  gibt  die  Zeitschrift  die  Möglich- 
keit, sich  über  die  schwebenden  Probleme  der  Geschichtsforschung  zu 
unterrichten,  sein  Wissen  dem  Stande  der  Forschung  gemäfs  in  ein- 
zelnen Punkten  zu  berichtigen  und  zugleich  zu  vertiefen;  fühlt  er  sich 
dadurch  veranlafst,  an  seinem  Wohnsitz  oder  in  seiner  Landschaft 
selbsttätig  in  die  Forschung  einzugreifen,  so  wird  er  aus  der  Zeitschrift 
doppelten  Gewinn  ziehen. 

Gotha  und  Leipzig. 

Verlag  und  Herausgeber 

der 

„Deutschen  Geschichtsblätter" 
FrMricl  Minis  PirtiBS,  Aktliiiuillulan.    Dr.  Arnli  Tllli. 


MaMkrudAkr 


•  fl 


kfte. 


'Terrttorud^€9cktdKU   'mit  arüfiLrHcfccr  ErörtcniDf   über   <fic  Ge- 

»/',h^'/r*:*v±rt;b''*.aig  Ostpr^nii^ms'.     Von  K^irt  Breysig      .     .     .      ~    i 

/)4X«  Ert^»we»em  mUUhVerUrJi/er  Städte.    Von  Georg  Liebe.  12 

I/U   landeihmäikk^  LitUraimr   Leuti^hlantb  im  Befonmaiiom»- 

gedaii^  L    Von  Viktot  Hantesch iS 

Bßtteümmgen:  a)  Versammlungen  'Gesamiicidn  der  drnrscfaen 
Gev:h>cbt$-  and  AÄerr-UDSTcreiEC ,  45-  Versammhmg  deistsc^cr 
VLiW:o^€a  und  Schdmänner  in  Bremen);  b)  ArchiTe  (erster 
Ar^*rrüd£,er  deuticher  Archirag,  Th'.:nnger  Ardtnlag,  Scadt- 
archir  \i*iT,2a:iS'tn  L  Th.,  Staatsarchir  £)ecmold,  Inrentari- 
jadoc  kl^rinerer  Archire;;  c)  Kommissionen  (Historiscbe 
K^/iorori*aon  für  Hessen  und  Waldeck,  Historische  Landes- 
komnii^^^ion  fir  .Stdermark,  Konunission  zur  Heiaa^abe  von 
Akten  und  KoircspK/ndeazen  zur  neueren  Geschichte  Osterreidis, 
R.cic b^konmussion  für  römisch-germanische  Altertumsforscfaong) ; 
d;  Historischer  Atlas  der  österreichischen  Alpen- 
länder;  e)  Person  alicn  f^N'ekrolog  für  ZeÜsberg,  für  Melissen, 
Habi Jtation  r'^m  Historik  era/,  f;  Z  e  i  t  s  c  h  r  i  f t  e  n  (Tiierisciies 
Archivy;  gj  Eingegangene  Bücher 23 

2.  Heft  (N'ovemr^cr   r899;: 

/Jar  OrganL$aikm  der  Grun^Jk/irienforschung.  Von  Karl  Lamprecht  33 
X^ic   Uxndeskundlkht  Litttrafur   Deutschlands   im   Beformatum»- 

zeitfiUer  (Schlufi;.     Von   Viktor  Hantzsch 41 

Der  gegenvoürtuje  Stand  der  lamlesgeschiddlichen  Forschung  in 

Württemberg,    Von  Karl  WclJer 4; 

MitfeffHn(/en :  a)  Versammlungen  (Konferenz  deutscher  Archi- 

rarc  in  Dresden   und    der   erste    deutsche  Archiitag   in  Strais- 

burg,  45.  Vcrsammjjng  deutscher  Philologen  und  Schulmänner); 

b)  Eingegangene  Bücher 57 

3,  Heft  (Dezember   1899): 

Stadtrechnungen.     Von  Armin  Tille 65 

Der  Rcichskrieg  gegen  die  Türken  im  Jahre  1664.  Von  Her- 
mann Forst 67 

Mitteilungen :  a)  V  c  r  s  a  rn  m  1  u  ti  g  e  n  (Gesamtverein  der  deutschen 
Geschichts-  und  Altertumsvercin*  in  Strafsburg);  b)  Archire 
(Gemeinschaftlich  Hennebergisches  Archiv,  Invcntare  der  nicht- 
staatiichen  Archive  der  Provinz  Westfalen ,  Mitteilungen  der 
Königl.  Preufsischen  ArchirverwaltungJ ;  c)  Vereine  (Rügisch- 


•i 


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1 


Seit« 

Pommerscher  Geschichtsvereio,  Vereine  für  Sammlung  sächsischer 
Altertümer);  d)  Personalien;  e)  Eingegangene  Bücher       8i 

4»  Heft  (Januar  1900): 

Über  Traditionsbücher.    Von  Oswald  Redlich 89 

Die  landeagesehichUiche   Forschung  in  Pommern   tvährend   des 

letzten  Jahrsehnts  I.    Von  Martin  Wehrmann 98 

Mitteikingen :  a)  Kommisjsionen  (Historische  Kommission  bei 
der  ^  KönigL  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften,  Thürin- 
gische Historische  Kommission,  Badische  Historische  Kommission, 
KöoigL  Sächsische  Kommission  für  Geschichte,  Historische 
Kommission  der  Provinz  Westüsden,  Altertumskommission  för 
Westfalen);  b)  Archive  (Stadtarchiv  Lüneburg,  Bonn,  Ständige 
Archivausstellung  in  Mühlhausen  i.  Th.) ;  c)  Denk m^a  1  p  f  1  e  g  e ; 
d)  Ausgrabungen;  e)  Zeitschriften  (Nassovias,  Anzeiger 
für  Schweizer  Geschichte);  f)  Personalien;  g)  Einge- 
gangene Bücher 104 

5.  Heft  (Februar  1900): 

Die  Technik  der  Grundkarteneinzeichnung,  Von  Rudolf  Kötzschke     113 
Die  landesgeschichtliche   Forschung   in   Bommern   während   des 
letzten  Jahreehnts  (Schlufs).    Von  Martin  Wehrmann     .     .     .     132 
^  Mitteilungen:  a)  Historikertag  und  Konferenz  deutscher 

Publikationsinstitute;  b)  Vereine  (Verein  fUr  historische 
Waffenkunde,  Mannheimer  Altertumsverein,  Oberländischer  Ge- 
schichtsverein, Altertumsverein  für  Mühlhausen  i.Th.);  c)  Biblio- 
graphie; d)  Eingegangene  Bücher  .......     133 

6,/7,  Heft  (März/ April  1900): 

Die  Historikertage,     Von  Armin  Tille.     ...  ....     157 

Studien  zur  Geschichte  der   deutsch -romanischen  Sprachgrenze, 

Von  Hans  Witte \     .     .     .     .     145 

Die  Verwertung  der  Kirchenbücher,  Von  Julius  Gmelin  .  .  .  157 
Mitteilungen:  a)  Archive  (Mitteilungen  der  KgL  Preufsischen 
Archiwerwaltung,  Mitteilungen  aus  dem  Stadtarchiv  von  Köln, 
Staatsarchiv  Hamburg,  Generallandesarchiv  Karbruhe,  Archiv 
der  Universität  Freiburg  i.  B.);  b)  Vereine  (Uckermärkischer 
Musetuns-  und  Geschichtsverein  in  Prenzlau,  Geschichts-  und 
Altertumsverein  in  , Alsfeld,  Altertums-  und  Musemnsverein  in 
Delitzsch,  Historischer  Verein  in  Reichenhall,  Museumsverein 
in  Harburg,  Historische  Sektion  des  Naturwissenschaftlichen 
Vereins  für  Lippe -Detmold);  c)  Nachtrag  von  Hermann 
Forst  zu  seinem  Auf  satze  „Der  Reichstag  gegen  die  Türken 
im  Jahre  1664'';  d)  Personalien;  e)  Eingegangene  Bücher     171 

8.  Heft  (Mai  1900): 

Archivbenuizungsordnungen.     Von  Pius  Wittmann 181 

JAmesforschung  in  Österreich.     Von  S.  Frankfurter      .     .     .     .     195 
Mitteilungen:   a)  Versammlungen   (Die  sechste  Versammlung 
•  deutscher  Historiker,  Vierte  Konferenz  von  Vertretern  deutscher 

landesgeschichtlicher  Publikationsinstitute,  Versammlung  des 
Hansischen  Geschichtsvereins);   b)   Eingegangene  Bücher     199 


■ 


Seit« 

9«  Heft  (Juni  1900): 

Wer  war  um  1430  der  reichste  Bürger  in  Schwaben  und  in  der 
Schweiß?     Von  Aloys  Schulte 205 

Zur  landesgeschichtlichen  Forschung  in  Schleswig-Holstein,  Von 
R.  Hansen ...äii 

Mitteilungen:  a)  Historische  Museen  deutscher  Städte 
(Frankfurt  a.  M.,  Köln,  Leipzig,  Breslau);  b)  Heinrich  Theodor 
Flathe  und  seine  Stellung  in  der  sächsischen  Ge- 
schichtsschreibung; c)  Archive  (Staatsarchiv  für  West- 
preufsen  in  Danzig);  d)  Eingegangene  Bücher.     .     .     .     214 

IG.  Heft  ü^  1900): 

Fünfzig  Jahre  oberrheinischer  Geschichtsforschung.     Von  Karl 

Brunner  " 229 

Mitteilungen:  a)  Versammlungen  (Hansischer  Geschichtsverein 
in  Göttingen);  b)  Denkschrift  von  Paul  Kalkoff  (Breslau) 
über  die  Bearbeitung  der  politischen  Korrespon- 
denz Karls  V.;  c)  Archive  (Benutzung  der  Preußischen 
Staatsarchive,  Staatsarchiv  Hamburg,  Bayerische  Archive,  Archiv- 
ausstellung Mühlhausen,  Thüringer  Arqhivtag,  Fürstl.  Landes- 
archiv Sondershausen) ;  d)  Museen  (der  geschichtlichen  Vereine 
in  Stade  und  Arnstadt,  das  des  Vereins  Camuntum);  e)  Per- 
sonalien; f)  Eingegangene  Bücher 239 

IX.  12.  Heft  (August/September  1900): 

Ortsnamenforschung,     Von  Hermann  Wäschke 253 

iJie    Denkmäler 'Inventarisation    in    Deutschland,      Von    Ernst 

Polaczek 270 

Mitteilungen:  a)  Versammlungen  (Gesamtverein,  Tag  für  Denk- 
malspflege, Archivtag);  b)  Archive  (Stadtarchive  Breslau,  Frank- 
furt a.  M.,  Reval,  Staatsarchiv  Zürich,  Stadtarchive  Pforzheim, 
Eger) ;  c)  Kommissionen  (Historische  Kommission  für  Hessen 
und  Waldeck,   Gesellschaft   für   Rheinische   Geschichtskunde) ; - 

d)  Sammlung   von   Reiseberichten  und  Tagebüchern; 

e)  Personalien;  0  Eingegangene  Bücher 291 


I.  Heft  (Oktober  1900): 

Zur  Litteratur  der  Boland- Bildsäulen  l.     Von  G.  Sello  ...  i 

Deutsche  Wirtschafts-  und  Münegeschichte.  Von  Alfred  Köberlin  12 
Mitteilungen:  a)  Bibliographie  der  historischen  Zeit- 
schriftenlitteratur;  b)  Eine  archäologische  Reise 
durch  Teile  Norddeutschlands.  Von  Gustaf  Kossinna; 
c)  Archive  (Staatliches  Archivwesen  in  den  Königreichen 
Sachsen  und  Württemberg);  d)  Eingegangene  Bücher      .       17 

a.  Heft  (November  1900): 

J'artial'Kirchengeschichte,     Von  Otto  Giemen 33 

Zur  Litteratur  der  Boland- Bildsäulen  (Fortsetzung).    Von  G.  Sello       40 


S«ite 

JiRtteilungen :  a)  Versammlungen  (Generalversammlung  des 
Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichts-  und  Altertumsvereine 
in  Dresden,  Erster  Tag  für  Denkmalpflege);  b)  Archive  (Zweiter 
allgemeiner  deutscher  Archivtag  in  Dresden,  Stadtarchiv  in 
Freiburg  i.  B.);  c)  Eingegangene  Bücher 57 

3.  Heft  (Dezember  1900): 

Zur  Litteratur  der  Eoland-Büdsä/ulen  (Schlufe).     Von  G.  Sello       65 
Mitteilungen:    a)   Archive    (Stadtarchiv   Mannheim,    Staatliches 
Archivwesen  in  Baden);    b)  Geschichtliche  Ortschafts- 
verzeichnisse;   c)    Personalien;    d)    Eingegangene 
Bücher;  e)  Berichtigung 90 

4.  Heft  (Januar  1901): 

Die  österreichiscJie  EeicJisgeschichte ,   ihre  Aufgaben  und  Ziele, 

Von  Hans  v.  Voltelini 97 

Litteratur  eur  Geschichte  Schleswig-Holsteins  I.  Von  A.  Lorenzen  108 
Mitteilungen:  a)  Ausgrabungen  (Antike  Brote);  b)  Museen 
(Guben,  Lübbenau);  c)  Klostergeschichte  (Aufruf,  Preis- 
ausschreibung einer  Geschichte  des  Klosters  Schiffenberg); 
d)  Zeitschriften  (Pommersche  Jahrbücher,  Mühlhäuser  Ge- 
schichtsblätter); e)  Eingegangene  Bücher 114 

5.  Heft  (Februar  1901): 

Zur  Ortsnamenforschung.     Von  Gustav  Hey 121 

Nachwort.     Von  Hermann  Wäschke 131 

Litteratur    sur   Geschichte   Schlesung  •  Holsteins   (Schlufs).      Von 

A.  Lorenzen 134 

Mitteilungen:  a)  Archive  (Archivwesen  im  Herzogtume  Braun- 
schweig ,  Stadtarchiv  Saalfeld) ;  b)  Zeitschriften  (Ludwigs- 
burger Geschichtsblätter,  Jahrbuch  des  Vereins  für  die  Evan- 
gelische Kirchengeschichte  der  Grafschaft  Mark);  c)  Kommis- 
sionen (Kommission  zur  Herausgabe  lothringischer  Geschichts- 
quellen, Historische  Kommission  in  Österreich);  d)  Berich- 
tigung       138 

6./7.  Heft  (März 'April   1901): 

Theatergeschichte.     Von  Christian  Gaehde 145 

Der  auswärtige  Leihverkehr  der  preufsischen  BibliofJieken.    Von 

Walther  Schnitze ' 164 

Geschichtliche  Forschung  in  Stadt  und  Bistum  Worms  im  XV. 

und  XYL  Jahrhundert.     Von  W.  Roth 174 

Nachwort.     Von  Armin  Tille 182 

Mitteilungen:  a)  Archive  (Stadtarchiv  Speier,  Mitteilungen  der 
Kgl.  Preufsischen  Archiwerwaltung) ;  b)  Museen  (Historisches 
Museum  der  Pfalz,  Leipaer  Museumsverein);  c)  Zeitschriften 
(Mannheimer  Geschichtsblätter,  Mitteilungen  des  Histor.  Vereins 
der  Mediomatriker  für  die  Westpfalz  in  Zweibrücken,  Blätter  für 
Lippische  Heimatkunde) ;  d)Komniissionen  (Württembergische 
Kommission  für  Landesgeschichte,  Histor.  Kommission  bei 
der  Kgl.  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften) ;  e)  E  i  n  - 
gegangeneBücher 184 


Seite 

8.  Heft  (Mai  1901): 

VerkehrsgeschicJUe.     Von  Armin  Tille 193 

Zur  Partialkirchengeschichte,     Von  Peter  P.  Albert     ....     203 
Mitteilungen:    a)   Archive   (Herzogl.   kurländisches    Archiv    in 
Mitau,  Stadtarchiv  Rosenheim);  b)  Kommissionen  (Historische 
Kommission    für    die    Provinz    Sachsen);    c)    Personalien; 
d)  Eingegangene  Bücher 210 

9.  Heft  (Juni  1901): 

Der  Werdegang  des  historischen  Atlasses  der  österreichischen 
Älpenländer.     Von  Anton  Kapper 217 

Der  erste  Verbandstag  der  west-  und  süddeutschen  Vereine  für 
rämisch'germanische  Altertumsforschung,     Von  E.'  Anthes  .     .     328 

Mitteilungen:  a)  Archive  (Anhaltisches  Haus-  imd  Staatsarchiv); 
b)  Kommissionen  (Kgl.  sächsische  Kommission  für  Ge- 
schichte, Badische  Historische  Kommission,  Thüringische 
Historische  Kommission);  c)  Zum  auswärtigen  Leihver- 
kehr der  Bibliotheken;  d)  Eingegangene  Bücher     .     235 

IG.  Heft  (Juli  1901): 

Die  Juden  im  deutschen  Mittelalter  I.     Von  Bruno  Klaus  .     .     241 
Das  Verfahren  hei  Aktenkassationen  in  Sachsen.    Von  Woldemar 

Lippert 249 

Mitteilungen:  a)  Vereine  (Donauwörth) 264 

XI./12.  Heft  (August/September  1901): 

Landes-  und  Heimatsgeschichte  im  Unterrichte  der  höheren 
Schulen»     Von  Martin  Wehrmann 265 

Die  Juden   im    deutschen   Mittelalter   (Schlufs).     Von    Bruno 

Klaus     .     .     .     . 273 

Lüteraturubersicht 2S9 

Mitteilungen:  a)  Versammlungen  (Hansischer  Geschichts- 
verein, Hauptversanmilung  des  Gesamtvereins,  46.  Versammlung 
deutscher  Philologen  und  Schulmänner);  b)  Archive  (Weg- 
weiser durch  die  historischen  Archive  Thüringens,,  Die  Be- 
deutung der  Stadtarchive,  Thüringer  Archivtag);  c)  Wachs- 
tafeln; d)  Kommissionen  (H.  K.  für  Hessen  imd  Waldeck, 
H.  K.  für  Nassau,  Gesellschaft  tür  Rheinische  Geschichts- 
kunde}; e)  Vereine  (Schwabach,  Braunschweig -Wolfenbüttd, 
für  hessische  Kirchengeschichte,  Barmen,  Stade)  ;OPreufsisches 
Historisches  Institut  in  Rom;  g)  Eingegangene 
Bücher 292 


TTT,  ^and. 

X.  Heft  (Oktober  1901): 

Zur  politischen  und  sozialen  Bewegung  im  deutsehen  Bürgertum 

des  XV,  und  XVI.  Jahrhunderts  I.     Von  Kurt  Käser     .     .  i 

Die   OherlausUzische   Gesellschaft    der    Wissenschaften    und  ihr 

Neues  Lausitzisches  Magazin,     Von  Woldemar  Lippert     .     .        18 


MiUeüungm:  a)  Archive  (Inventare  des  (kossherzogl.  Badischen 
Generallandesarchivs,  Urkunden  des  Heiliggeistspitals  zu.  Frei- 
bürg i.  B.);  b)  Kommissionen  (Städtische  histor.  Kom- 
missionen in  Duisburg  xmd  Heidelberg);  c)  Personalien 
(Ludwig  Leiner);  Eingegangene  Bücher 22 

a«  Heft  (November  1901): 

Nachträgliches  und  Neues  eur  Litteratur  der  Boland-Büdsäulen. 
Von  G.  Sello .       53 

Zur  polUischen  und  soMuUen  Bewegung  im  deutschen  Bürgertum 
des  XV.  und  XVI.  Jahrhunderts  II.     Von  Kurt  Käser    .     .       49 

Mitteilungen:  a)  Versammlungen  (Zweiter  Tag  für  Denkmal- 
pflege, 46.  Versammlung  deutscher  Philologen  und  Schulmänner); 

b)  Eingegangene  Bücher &       61 

3.  Heft  (Dezember  1901): 

Zur  Grundbesit/sverteüung  in  der  KarolingereeU.  Von  Georg  Caro       65 
Aus  dem  Budget  zweier  Schuhmachergesdlen  des  XVIL  Jahr- 
hunderts,    Von  G.  Schnapper-Arndt     ........       77 

Mitteilungen:  a)  Versammlungen  (Tagung  des  Gesamtvereins 
in  Freiburg  i.  B.);  b)  Archive  (Stadtarchiv  Wien);  c)  Per- 
sonalien (Gustav  Veesenmeyer,  Josef  Edmund  Jörg) ;  d)  E  i  n  • 
gegangene  Bücher  85 

4.  Heft  Qanuar  1902): 

Historische  Topographie  mit  besonderer  Berücksichtigung  Nieder- 
Österreichs  I.     Von  Max  Vancsa 97 

Mitteilungen:  a)  Archive  (Vereeniging  van  archivarissen  in 
Nederland,  Inventar  des  Archivs  zu  Hermannstadt) ;  b)  L  a  n  d  e  s- 
geschichte     im     Unterricht     (Hamburg,     Steietmark); 

c)  Deutschals  Urkundensprache;  d)  Eingegangene 
Bücher 109 

5.  Heft  (Februar.  1902): 

Zur  Geschichte  der  landesgeschichtlichen  Forschung  in  Lothringen, 
Von  Ernst  Müsebeck 121 

Historische  Topographie  mit  besonderer  Berücksichtigung  'Nieder- 
österreicJis  II.     Von  Max  Vancsa 129 

Der  Fortgang  der  deutschen  Denkmälerinventarisation.  Von 
Ernst  Polaczek 137 

Mitteilungen:  a)  Eingegangene  Bücher 144 

6./7.  Heft  (März/ April  1902): 

Betäschlands  neolithische  Altertümer,    Von  Moriz  Hoemes  .     .     145 

Ortsnamenforschung  und  Wirtschaftsgeschichte  I.  Von  Hans 
Witte 153 

Der  Verein  für  Geschichte  der  Deutschen  in  Böhmen  (zu  seinem 
40jährigen  Jubiläum).     Von  Ottocar  Weber 167 

Mitteilungen:  a)  Archive  (Hermannstadt,  Mitteilungen  der  KgL 
Preufs.  Archiwerwaltung  V,  Fürstlich  Castellsches  Archiv); 
b)  Vereine  (V.  Itir  Geschichte  Leipzigs,  V.  für  Rochlitzer  Ge- 
schichte);   c)    Landesgeschichtliche    Bibliographie; 

d)  Familienforschung;  e)  Kommissionen  (Württemberg, 


S«tt« 

Bayern,  Baden,  Kgr.  Sachsen);  f)  Personalien  (Nekrologe 
für  Gengier  und  Hegel,  Verschiedene  Personalverändeningen) ; 
g)  Eingegangene  Bücher;  h)  Berichtigungen  .     .     .      172 

8.  Heft  (Mai  1902): 

Ortsgeschichte,     Von  Peter  P.  Albert 193 

Ortsnamenforschung  und  Wirtschaftsgeschichte  II.  Von  Hans  Witte     209 
Mitteilungen:  a)  Archive    (Kölnische    Pfarrarchivinventare ,    Ur- 
kunden des  Altenburger  imd  Bomaer  Stadtarchivs);  b)  Kom- 
missionen    (Westfalen);     c)     Eingegangene     Bücher; 

d)  Berichtigung  und  Nachtrag  (Merian  imd  Zeiller)  217 

9.  Heft  (Juni  1902): 

Landesgeschichtliche  Lehr-  und  Lesebücher,  Von  Martin  Wehrmann     225 
Mitteilungen:  a)  Archive  (Sorge  für  die  Gemeindearchive  in  der    ^ 
Pfalz);  b)  Fundzeichen;  c)  Kommissionen  (Lothringen, 
Rheinprovinz);    d)   Personalien    (Nekrolog    für    Köberlin); 

e)  Eingegangene  Bücher;  f)  Berichtigung   ....      235 

IG.  Heft  (Juli  1902): 

Aus  pommerschen  Stadtarchiven  I.     Von  Georg  Winter   .     .     .  249 

Das  Germanische  Museum.     Von  Armin  Tille 261 

Mitteilungen:  a)EingegangeneBücher 271 

11./12.  Heft  (August/September  1902): 

Ortsfiur,  politischer  Gemeindeheeirk  tmd  Kirchspiel,  ein  Beitrag 

mr  Gemarkungsgrenzfrage.  Von  Rudolf  Kötzschke  .  .  .  273 
Aus  pommerschen  Stadtarchiven  II.  Von  Georg  Winter  .  .  295 
Mitteilungen:  a)  Versammlungen  (Hauptversammlung  des 
Gesamtvereins  in  Düsseldorf,  dritter  Archivtag,  dritter  Tag  für 
Denkmalpflege);  b)  Vereine  (Verein  für  Thüringische  Geschichte 
und  Altertumskunde,  Deutsch-Amerikanische  Historische  Gesell- 
schaft von  Illinois);  c)  Kommissionen  (Hist.  Kommission 
für  Sachsen- Anhalt,  Hessen  und  Waldeck,  Thüringische  H.  K.) ; 
d)  Die  Franzosenkrankheit;  e)  Eingegangene  Bücher; 

f)  Nachtrag  (Martin  Zeiller) 306 


1.  Heft  (Oktober  1902): 

Die  Reform  des  geistlichen  Standes  nach  der  sogen.  Reformation 
des  Kaisers  Sigmund  im  Lichte  gleichzeitiger  Reformpläne  L 
Von  Heinrich  Werner i 

Mitieiluivgen :  a)  Archive  (Strafsburger  Stadtarchiv) ;  b)  A  r  c  h i  v  e 
und  Kunstgeschichte;  c)  Bibliographie  der  Zeit- 
schriftenliteratur; d)  Zur  politischen  und  sozialen 
Bewegung  im  deutschen  Bürgertum  des  XV.  und 
XVI.  Jahrhunderts;  e)  Eingegangene  Bücher       .     .        15 

2.  Heft  (November   1902): 

Zur  Geschichte  der  landesgeschichtlichen  Forschung  in  Lothringen* 

Von  Ernst  Müsebeck 33 


Seite 

Die  Reform  des  geistlichen  Standes  nach  der  sogen,  JRefomiiation 
des  Kaisers  Sigmund  im  Lichte  gleichzeitiger  Heformpläne  IL 
Von  Heinrich  Werner 43 

Mitteihmgen:  a)  Versammlungen  (Dritter  Tag  für  Denkmal- 
pflege, Dritter  deutscher  Archivtag  zu  Düsseldorf);  b)  Ein- 
gegangene Bücher;  c)  Berichtigung 55 

3.  Heft  (Dezember  1902): 

Forschungen  und  Forschungsaufgaben  auf  dem  Gebiete  der  Gegen' 

reformation  L     Von  Gustav  Wolf 65 

Mitteilungen:  a)  Versammlungen  (Tagung  des  Gesamtvereins 
der  deutschen  Geschichts-  und  Altertumsvereine  in  Düsseldorf) ; 
b)  Eingegangene  Bücher      ..........        78 

4.  Heft  (Januar  1903): 

Stetermärkische  Geschichtschreibung  im  Mittelalter,  Von  Franz  Ilwot       8 9 
Forschungen  und  Forschungsaufgaben  auf  dem  Gebiete  der  Gegen- 
reformation LL     Von  Gustav  Wolt 102 

Mitteilungen:  a)  Archive  (Inventare  der  nichtstaatlichen  Ar- 
chive der  Provinz  Westfalen);  b)  Kommissionen  (Württem- 
berg, Nassau);  c)  Die  ältesten  Siegelumschriften  in 
deutscher  Sprache;  d)  Eingegarngene  Bücher     .     .      108 

5.  Heft  (Februar  1903): 

Roland'Bundschau  L,     Von  G.  Sello 113 

Mitteilungen:  a)  Archive  (Archivinventare  aus  Kärnten  und 
Steiermark,  Schwedische  Studien  über  das  Archivwesen  im  Aus- 
land); b)  Museen  (Niederösterreichisches Landesmuseum,  Orta< 
museen  der  Niederlausitz)  ;c)  Kommissionen  f  Hist.  K.  bei  der 
Kgl.  Bayerischen  Akademie  der  Wissenschaften,  Badische  H.  K.); 
d)  Eingegangene  Bücher;  e)  Berichtigung  ....      129 

6./7,  Heft  (März/ April   1903): 

Ber  historische  Atlas  der  österreichischen  Alpenländer,  Von 
Eduard  Richter * 145 

Hermann  Knothe   und  seine  Bedeutung  für  die  ober  lausitzische 

Geschichtsforschung.     Von  Woldemar  Lippert 150 

Boland'Rundschau  IL     Von  G.  Sello 159 

Die  Beform  des  weltlichen  Standes  nach  der  sogen.  Beformation 
des  Kaisers  Sigmund  im  Lichte  der  gleichzeitigen  Befor^rnftestre- 
bungen  im  Beich  und  in  den  Städten  L    Von  Heinrich  Werner      i  7  i 

Mitteilungen:  a)  Versammlungen  (7.  Versammlung  deutscher 
Historiker,  Konferenz  von  Vertretern  deutscher  Publikations- 
institute); b)  Archive;  c)  Zeitschriften  (Geschichtsblätter 
fiir  Waldeck  und  Pyrmont,  Jahrbuch  des  Hist.  Vereins  für  das 
Fürstentum  Liechtenstein,  Mitteilungen  des  k.  u.  k.  Heeresmuseums 
in  Wien,  Bibliothek  der  sächs.  Geschichte  und  Landeskunde,  Archiv 
fiir  Kulturgeschichte  und  Vierteljahrschrift  für  Sozial-  und  Wirt- 
schaftsgeschichte); d)HistorischeOrtsverzeichnisse;  e)  Per- 
sonalien (Nekrolog  für  Krones,  Personalveränderuogen) ;  f )  B  e  - 
richtigung ' 182 


t 


Seite 

8.  Heft  (Mai  1903): 

Die  Beform  des  weltlichen  Standes  nach  der  sogen,  Beformaiion 
des  Kaisers  Si^und  im  Lichte  der  gleicheeitigen  Beform- 
bestrebungen  im  Beich  und  in  den  Städten  II.  Von  Heinrich 
Werner %     .     193 

MOteüimgen :  a)Versammlungen  (Siebente  Versammlung  deut- 
scher Historiker  in  Heidelberg);  b)  Kommissionen  (KgL 
Sächsische  Kommission  für  Geschichte,  Gesellschaft  für  Rheinische 
Geschichtskunde);  c)  Eingegangene  Bücher     ....     219 

9,  Heft  (Juni  1903): 

Landschaftliche  Glockenhunde.     Von  H.  Bergner    .     .     .     .     .     225 

Literatur  eur  Glockenkunde.     Von  Liebeskind 239 

Mitteilungen:   a)  Versammlungen   (Konferenz  von  Vertretern 

deutscher  Publikationsinstitute) ;  b)  Eingegangene  Bücher; 

c)  Berichtigung 246 

IG.  Heft  (Juli  1903): 

Die  Hufe.     Von  Georg  Caro 257 

Mitteilungen:    a)    Familienforschung;    b)    Zeitschriften    , 
(Fuldaer  Geschichtsblätter,    Deutsch -amerikanische  Geschichts- 
blätter);   c)  Neuere  Literatur   über  den  Türkenkrieg 
von  1664;  d)  Eingegangene  Bücher 272 

XX. /x2.  Heft  (August/September  1903): 

Altertümer-Ausstellungen  im  Königreiche  Sachsen.  Von  Karl  Berling     281 
Steiermärkische  Geschichtschreibung  vom  XVL  bis  XVIIL  Jahr- 
hundert.    Von  Franz  Ilwot 288 

Nachwort 298 

Zur  Vorgeschichte  des  Bauernkrieges.  Von  Kurt  Käser  .  .  .  301 
Mitteäungen :  a)  Versammlungen  (Gesamtverein  der  Deutschen 
Geschichts-  und  Altertumsvereine,  Tag  für  Denkmalpflege,  Ver- 
sammlung deutscher  Philologen  tmd  Schulmänner);  b)  Zur 
deutschen  Ortsgeschichte;  c)  Archive  (Staatliches 
Archivwesen  in  Österreich,  Landesarchiv  in  Vorarlberg) ;  d)  A  r- 
chäologische  Karten;  e)  Personalien;  f)  Einge- 
gangene Bücher 309 


X.  Heft  (Oktober  1903): 

Neue  Veröffentlichungen  deutscher  Stadtrechte  L     Von  Konrad 

Beyerle i 

MiUeüungen:  a)  Thüringische  Ortsmuseen;  b)  Hundert 
Jahre  preufsisch  (Nordhausen,  Mühlhausen,  Essen,  Münster, 
Erfurt,  Quedlinburg);  c)  Archive;  d)  Kommissionen 
(Sachsen -Anhalt,  Hessen  und  Waldeck);  e)  Eingegangene 
Bücher : 16 

2.  Heft  (November  1903): 

Heeresgeschichte,     Von  Wilhekn  Erben 33 


Seite 

I^eue  Veröffentlichungen  deutscher  Stadtrechte  IL  Von  Konrad 
Beyerle 48 

Mitteilungen:  a)  Versammlungen  (Vierter  Tag  lür  Denkmal- 
pflege) ;  b)  A  r  c  h  i  V  e  (Landständisches  Archiv  von  Nieder- 
Östef reich,  St.  Gallische  Gemeindearchive) ;  c)  Zeitschriften 
Qahrbiich  des  Geschichtsvereins  für.  das  Herzogtum  Braun- 
schweig, Mitteilungen  aus  der  lippischen  Geschichte  und  Landes- 
kunde); d)EingegangeneBücher. 56 

3.  Heft  {Dezember  1903): 

Die  landesgeschichtliche  Forschung  in  Anhalt,  Von  Hermann 
Wäschke 65 

Mitteilungen:  a)  Versammlungen  (Tagung  des  Gesamtvereins 
in  Erfurt);  b)  Der  gegenwärtige  Stand  der  Veröffent- 
lichung von  Grundkarten;  c)  Kommissionen  (Württem- 
berg, Bayern,  Baden);  d)  Geschichtliche  Ortsbeschrei- 
bung; e)  Personalien  (Nekrolog  für  Mühlbacher  und 
V.  Wintzingeroda-Knorr) ;  f)  Eingegangene  Bücher      .     .       74 

475.  Heft  (Januar/Februar  1904): 

Staatliches  Archivwesen  in  Österreich.  Von  Karl  Giannoni  .  .  97 
Geschichtschreibung    im  Bistum   Osnabrück  bis  zum  Ende  des 

XVI L  Jahrhunderts.     Von  Hermann  Forst 117 

Mitteilungen:  a)  Historische  Ortsve^-zeichnisse  (Westpreufsen); 
b)NeujahrsbJätter  (Provinz  Sachsen,  Baden,  Anhalt) ;  c)  Ver- 
eine (Gesellschaft  für  neuere  Geschichte  Österreichs);  d)  Ein- 
gegangene Bücher 128 

6.  Heft  (März  1904): 

Medizinische  Kulturgeschichte.  Von  Julius  Pagel  T  .  .  .  .  145 
Mitteilungen:  a)  Wandtafeln  vorgeschichtlicher  Funde 
(Westpreufsen,  Hannover,  Westfalen,  Provinz  Sachsen,  Mittel- 
deutschland, Oberlausitz,  Rhein-  und  deutsches  Donaugebiet, 
Elsafs-Lothringen,  Österreich-Ungarn,  Niederlande);  b)  Heimat- 
schutz; c)  Archive  (Adrefsbuch  der  wichtigsten  Archive 
Europas);  4)  Eingegangene  Bücher 156 

7.  Heft  (April  1904): 

Dialektwörterbücher    und    ihre    Bedeutung    für    den   Historiker. 

Von  Ferdinand  Mentz 169 

Mitteilungen:  a)  Heimatskunde  (Störzner,  Koischwitz,  Thal- 
hofer,  Sebald  Schwarz ;  b)  Eingegangene  Bücher;  c)  Be- 
richtigung  1^9 

8.  Heft  (Mai  1904): 

Zur  Bevölkerungsstatistik  der  Karolinger  zeit.  Von  Georg  Caro  195 
Steiermärkische    Geschichtschreibung   von   1811  bis   1850.     Von 

Franz  Ilwof     . ^^'^ 

Mitteilungen:     a)    Archive    (Stadtarchiv    Saalfeld,    Stadtarchiv 

Grimma);  b)  Eingegangene  Bücher 213 


V  '  •* 


Seite 

9.  Heft.  (Juni   1904): 

We^ulische  licvöll'erungsr'este  im  westlichen  Mecklenburg,    Von 

Hans  Witte      . 219 

Nachtvort i 235 

Mitteilungen :  a)  Archive  (Stadtarchiv  Wernigerode) ;  b)  Kom- 
missionen (Deutsche  Kommission  der  preufsischeu  Akademie 
,   der  Wissenschaften);  c)  Eingegangene  Bücher       .     .     .     237 

10.  Heft  (Juli   1904): 

Arnsfädter  Tauf-  und  Familiennamen  I.  Von  Bruno  Caemmerer  245 
Mitteilungen:  a)  Versammlungen  (Gesamtverein,  Archivtag, 
Tag  für  Denkmalpflege,  Versammlung  deutscher  Historiker,  Kon- 
ferenz von  Vertretern  landesgeschichtlicher  Publikationsinstitute) ; 
b)  Archive  (Inveatare  Kölner  Pfarrarchive);  c)  Kommis- 
sionen (Kgl.  Sächsische  Kommission  für  Geschichte,  Historische 
Kommission  für  Hessen  und  Waldeck,  Historische  Kommission 
für  Sachsen- An  halt,  Gesellschaft  für  Rheinische  Geschichtskunde); 
d)  Vereine  (Oberlausitzische  Gesellschaft  der  Wissenschaften 
zu  Görlitz,  Kgl.  Akademie  gemeinnütziger  Wissenschaften  zu 
Erfurt;  e)  Eingegangene  Bücher      .     .     .     .  .     .        261 

11./12.  Heft  (August/September  1904): 

Zur  Geschichte  der  Besiedelung  von  Nieder-  und  Oberösterreich, 

Von  Max  Vancsa 275 

Limesforschung  in  Österreich.     Von  Salomon  Frankfurter      .     .286 
Arnstädter  Tauf-  und  Familiennamen  II.    Von  Bruno  Caemmerer     296 
•    Mitteilungen:   a)    Archive    (Zum    österreichischen   Archivwesen 

von  Michael  Mayr);b)  Eingegangene  Bücher.     .     .     315 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


nur 


P?>rderung  der  landesgeschicbtliclien  Forschung 

i  = 

V.  Band  Oktober  1903  i.  Heft 


Veröffentliehungen  deutseher  Stadtreehte 

Von 
Konrad  Beyerle  (Breslau) 

• 

Durch  die  Rechtseinheit,  welche  das  Bürgerliche  Gesetzbuch  dem 
deutschen  Volke  auf  dem  Gebiete  des  Privatrechts  brachte,  ist  eine 
Fülle  von  Rechtsquellen  des  Land-  und  Stadtrechts  aufser  Kraft  ge- 
setzt worden.  Aus  Grundlagen  des  wirklichen  Rechtslebens  wurden 
Denkmäler  der  Rechtsgeschichte.  Freilich  wird  die  wissenschaftliche 
Behandlung  des  neuen  Reichsrechts  immer  auf  die  älteren  Gesetz- 
bücher imd  auf  das  römische  Recht  als  auf  die  Vorbilder  seines  in 
eklektischem  Verfahren  zusammengeschweifstenGedankeninhalts  zurück- 
greifen  müssen.  Aber  der  Rechtsgeschichte  steckte  die  Epoche  einer 
neuen  Zeit  neue  erweiterte  Ziele.  Der  Kampf  zwischen  den  juristischen 
Schulen  der  Romanisten  und  Germanisten  verliert  zusehends  an  Schärfe 
und  Bedeutung.  Historischen  Rechtsquellen  gegenüber  lebt  der  Ge- 
lehrte stiller  Forschertätigkeit. 

Indes  auch  für  die  früheren  Perioden   deutscher  Rechtsgestaltimg 
ist  die  Arbeit  noch  lange  nicht  abgeschlossen.    Rechtszersplitte- 
,      rung  charakterisiert  die  alte  Zeit,  vornehmlich  bis  zur  Aufnahme  des 
;      römischen  Rechts.     Da   mufste  der  Rechtshistoriker  sich  vielfach  mit 
älteren,  ungenauen  und  lückenhaften  Ausgaben  der  Quellen  als  Unter- 
lagen seiner  Forschungen  begnügen.    Das  ist  anders  geworden.    Mehr 
und  mehr  werden  uns  die  einzelnen  Quellenkreise  in  abgeschlossenen 
Publikationen  zugänglich  gemacht,  wird  durch  kritische,  kommentierte 
Edition    die  Schärfe    und  Sicherheit    des  juristischen  Erkennens   ge- 
fördert.   Man  ist  nicht  mehr,  wie  früher  vielfach,  genötigt,  auf  grofser 
blühender  Wiese    hie    und  da   ein   Blümlein   zusammenhangslos    ab- 
zureiisen   und  zu   einem   leidlichen   Ganzen   zu   binden.     Wir  können 
jetzt  mehr  imd  mehr  uns  an  einer  Ecke  festsetzen,  die  Rechtsbildungen 

1 


—     2     — 

eines  Ortes  in  genetischem  Zusammenhange  überschauen  nnd  erfassen, 
die  typischen  Züge  der  Gesamtrechtsgeschichte  einreihen. 

Während  Jakob  Grimm  Bahnbrecher  für  die  Sammlung  nnd  Ver- 
öffentlichung der  ländlichen  Rechtsquellen  war,  wendet  sich  heut- 
zutage das  Interesse  vor  allem  den  Städten  zu.  Nicht  als  ob  man 
für  Weistümer  und  Hofrechte  die  Arbeit  als  getan  ansehen  würde. 
Vielmehr  ist  von  mehreren  staatlichen  Kommissionen  die  umfassende 
Neuherausgabe  auch  der  Weistümer  geplant,  Österreich  ist  hierin  be- 
reits mit  Glück  vorangegangen,  die  Rheinprovinz  hat  die  Wissenschaft 
jüngst  mit  einem  ersten  Bande  ihrer  Dorfrechte  erfreut.  Es  sind  andere 
Gründe,  welche  zunächst  den  Stadtrechtspublikationen  den  Vorrang  ein- 
geräumt haben.  Einmal  sind  die  Fragen,  die  sich  an  die  Entstehung 
und  Ausbildung  unserer  deutschen  Städte  anknüpfen,  Tagesfragen  der 
Rechts-  und  Verfassungsgeschichte  geworden,  deren  Aufhellung  sich 
die  hervorragendsten  Kräfte  zuwandten.  Was  Wunder,  wenn  bei  dem 
gesteigerten  Interesse  auch  umfassende  Neuausgaben  stadtrechtlicher 
Quellenkreise  auf  dem  Plane  erschienen  sind?  Sodann  liegen  die 
städtischen  Quellen  meist  archivalisch  beisammen  und  sind  daher  mit 
geringeren  Vorarbeiten  der  Edition  zugänglich. 

Allenthalben,  nicht  zuletzt  in  der  befreundeten  Schweiz,  stoisen 
wir  auf  neue  Veröffentlichungen  deutscher  Stadtrechte,  die  für  die 
deutsche  Rechtsgeschichte  des  späteren  Mittelalters  und  der  neueren 
Zeit  einen  starken  Antrieb  zu  erneutem  Forschen  geben  werden.  Auf 
lange  Jahre  hinaus  wird  die  Gemeinde  deutscher  Rechtshistoriker  mit 
der  Buchung  des  reichen,  hier  offengelegten  Quelleninhaltes  zu  tun 
haben.  Die  verfassungsgeschichtliche  Seite  deutschen  Städtetums  ist 
ja  in  den  letzten  fünfzehn  Jahren  mehr  und  mehr  in  ihren  vielfach 
gemeinsamen  Grundlinien  festgestellt  worden.  Für  die  Gebiete  des 
Privatrechts,  des  Rechtsgangs,  des  Strafrechts,  des  Verwaltungsrechts 
harrt  aber  nun  ein  reiches  Feld  der  Schnitter. 

Die  Umschau,  die  wir  im  Nachfolgenden  unter  diesen  neueren 
Stadtrechtspublikationen  halten  wollen,  ergibt  sofort  eine  auffällige  Ver- 
schiedenheit in  der  Behandlung  dessen,  was  wir  historische  Ein- 
leitung nennen.  Textkritisch  stehen  sie  zumeist  auf  der  Höhe  der 
Zeit;  auch  der  Handschriftenbestand  und  seine  Überlieferung  pflegen 
genau  mitgeteilt  zu  sein.  Dagegen  enthalten  sich  einzelne  Ausgaben 
fast  jeder  historischen  Angabe  über  Verfassungs-  und  Rechtsgeschichte 
der  fraglichen  Stadt,  andere  bringen  einen  kurzen  Abrifs,  wieder  andere 
setzen  den  Quellen  eine  ziemlich  breit  ausgeführte  Verfassungsgeschichte 
voran.     Die  Ansichten  darüber  gehen  auseinander,  welcher  Weg  hier 


—     3     — 

wohl  der  beste  ist.  Es  ist  der  Standpunkt  vertreten,  Quellenausgaben 
seien  auf  Quellen  zu  beschränken.  Denn  nur  diese  hätten  dauernden 
Wert,  während  alle  verfassungsgeschichtlichen  Einleitungen  bestenfalls 
den  Stand  der  Forschung  zur  Zeit  der  Herausgabe  widerspiegelten. 
Das  zum  Verständnis  der  lokalen  Rechtsentwickelung  dienende  Ur- 
kundenmaterial  sei  nicht  zu  verarbeiten,  sondern,  soweit  es  nicht  direkt 
zum  Abdruck  gelangt,  in  zuverlässigen  Regesten  unterzubringen,  eigener 
Stellungnahme  habe  sich  der  Editor  zu  enthalten.  Ich  will  zugeben, 
dafs  die  Beigabe  mehr  oder  weniger  ausgearbeiteter  Verfassungs- 
geschichten aufserhalb  des  Zweckes  der  Quellenpublikation  liegt  und 
diese  mit  Ballast  beschwert.  Anderseits  bin  ich  stets  für  eine  kurze 
orientierende  Einleitung  dankbar  gewesen.  Sie  erleichtert  dem  Frem- 
den, dem  die  Menge  der  örtlichen  Beziehungen  unbekannt  ist,  das 
Erfassen  eines  selbständigen  neuen  Quellenkreises  in  hohem  Mafse. 
Sie  braucht  nicht  mehr  zu  bieten,  als  knappe  historische  Daten  über 
Entstehung  der  Stadt,  über  den  Stadtherm,  über  Marktrecht  und  Stadt- 
gericht, über  Gemeindebildung,  Rat  und  städtische  Ämter,  über  Stadt- 
rechte und  Stadtrechtsfiamilien.  Das  lälst  sich  alles  bequem  auf  ein 
paar  Seiten  zusammendrängen,  wird  den  meisten  Benutzem  höchst 
willkommen  sein  und  kann  nicht  als  eine  Belastimg  der  Ausgabe  mit 
der  Veraltung  unterworfenen  subjektiven  Anschauungen  in  Betracht 
kommen.  Gewifs  ist  z.  B.  die  Keutgensche  Sammlung  von  Ur- 
kunden zur  städtischen  Verfassungsgeschichte  *)  ein  hervorragendes  Er- 
kenntnismittel für  die  Geschichte  des  deutschen  Städtewesens.  Sollte 
ich  eine  Ausstellung  daran  machen,  so  wäre  es  nur  die,  da(s  sie  auch 
die  knappsten  Hinweise  auf  die  verfassungsgeschichtlichen  Grundlagen 
der  einzelnen  Städte  unterläßt,  wie  sie  z.  B.  beim  Ortsregister  sehr 
gut  hätten  angebracht  werden  können.  Wer  wie  ich  das  Buch  als 
Chrestomathie  bei  Seminarübungen  benutzt  hat,  wird  mir  darin  recht 
geben.  Was  aber  von  einer  solchen  Urkundensammlung  gilt,  gilt 
viel  mehr  von  der  gesammelten  Herausgabe  der  Rechtsquellen  einer 
einzelnen  Stadt. 

Noch  in  einem  zweiten  Pimkte  weisen  die  zu  besprechenden  Neu- 
erscheinungen eine  grolse  Verschiedenheit  auf,  nämlich  in  der  äu(seren 
Disposition  des  zur  Veröffentlichung  gelangenden  QuellenstofTes.  Die 
rein  chronologische  Anreihung  überwiegt,  sie  scheint  mir  auch  die 
vorzüglichste  zu  sein.  Wenigstens  gewährt  sie  bei  Quellenkreisen 
kleinen  und  mittleren  Umfanges  die  beste  Übersichtlichkeit.     Nur  bei 


i)  Berlin,  Einil  Felber,  1901. 


—     6     — 

gehoben,  den  Büig'ern  von  Walldürn,  Buchen  und  Lauda,  vermutlich 
auch  von  Mergentheim ,  wurde  als  Strafe  für  ihre  Teilnahme  am 
Bauernkriege  sogar  die  Freizügigkeit,  das  Palladium  aller  mittelalter- 
lichen Stadtrechte,  genommen,  sie  sanken  in  eine  beschränkte  Leib- 
eigenschaft zurück  (aufgehoben  erst  1667).  Der  Inhalt  des  Heftes  ist 
fast  ausschliefslich  ungedrucktem  Material  entnommen.  Aus  dem  In- 
halt möchte  ich  besonders  nennen:  die  durch  Konrad  von  Düren 
erfolgte  Erhebung  von  Amorbach  zur  Stadt  im  Jahre  1253,  die  Be- 
Widmung  des  Dorfes  Külsheim  mit  Frankfurter  Recht  unter  Einräumung 
von  Markt  und  Befestigung  durch  König  Adolf  im  Jahre  1292,  Stadt- 
recht (1447)  und  Stadtordnung  (1492)  von  Walldürn,  endlich  die  ge- 
nannten Stadtordnungen  des  Erzbischofs  Albrecht  von  Mainz  für  die 
einzelnen  Städte  (1527/1528). 

Heft  4  (erschienen  1898,  168  Seiten)  enthält  die  Rechtsquellen 
von  Miltenberg,  das  nach  Aschaffenburg  zu  Haupte  ging,  während  es 
um  sich  die  Städtchen  Buchen,  Külsheim,  Obemburg,  Wörth  am  Main, 
Stadiprozelten  und  König  im  Odenwald  in  Tochterstellung  versammelte. 
Da  Buchen  und  Külsheim  schon  im  3.  Heft  Aufnahme  gefunden  hatten, 
kam  von  den  Tochterrechten  nur  noch  Obemburg  in  Betracht,  die 
übrigen  Tochterstädte  besitzen  zum  Teil  nichts  Mitteilenswertes,  zum 
Teil  fallen  sie  aufserhalb  des  Aufnahmegebietes  der  oberrheinischen 
Stadtrechte.  Im  weiteren  enthält  das  Heft  die  Quellen  der  Odenwald- 
städte Hirschhorn,  Neckarsteinach  (Oberhof  Ladenburg)  und  Wein- 
heim (Oberhof  Heidelberg),  sodann  diejenigen  der  Städte  Sinsheim 
und  HUsbach.  Die  Publikation  beruht  fast  ausschliefslich  auf  hand- 
schriftlicher Grundlage.  Aus  dem  Inhalte  sind  hervorzuheben:  MUten- 
berger  Ratssatzungen  aus  den  Jahren  1379 — 1434,  sowie  Miltenberger 
Stadtbucheinträge  (1440 — 1459);  eine  umfangreiche  Aufzeichnung  der 
Rechte  zu  Neckarstemach  (1537);  das  PrivUeg  Ottos  III.  für  Kloster 
Lorsch  über  die  Verleihung  von  Markt,  Zoll  und  Bann  in  Weinheim 
(1000);  femer  eine  Stadtordnung  des  Pfalzgrafen  Philipp  für  Weinheim 
aus  dem  Jahre  1489;  der  Marictbrief  Heinrichs  IV.  für  den  Grafen 
Zeizolf  über  die  Gründung  des  Marktes  zu  Sinsheim  (1067),  eine  Ur- 
kunde Heinrichs  VI.  von  1 192  über  Erwerbung  der  Hälfte  der  öffent- 
lichen Einkünfte  zu  Sinsheim  durch  den  König;  endlich  ein  gröfseres 
Sinsheimer  Weistum  von  1563. 

Heft  5  (erschienen  1900,  211  Seiten)  führt  uns  in  die  Perle  der 
Pfalz,  nach  Heidelberg.  Heidelberg  war  Oberhof  für  Weinheim  (vgl. 
Heft  4)  und  Neckargemünd.  Aufserdem  sind  in  diesem  Hefte  die 
Rechtsquellen  der    pfäkdschen  Städte  Mosbach,    Neckargemünd   und 


—     7     — 

Adelsbeim  niedergelegt.  Zum  gröfsten  Teil  wird  auch  hier  ungedrucktes 
Material  veröfTentlicht  Der  Rechtsstoff  Heidelbergs  erscheint  allerdings 
durch  die  Zerstörung  stark  dezimiert.  Ältestes  Stück  ist  eine  Stadt- 
ordnung Pfalzgraf  Ruprechts  I.  von  1375.  Weiter  sind  zu  nennen  eine 
zweite  Stadtordnung  von  1465  und  ein  umfangreiches  landesherrliches 
Privileg  des  Pfalzgrafen  Friedrich  I.  von  147 1,  endlich  ein  Privileg 
des  Kiurfürsten  Karl  Theodor  von  1746.  Mosbach  besitzt  ein  grö&eres 
Stadtrechtsbuch  von  1526. 

So  ist  in  verhältnismäfsig  kurzer  Zeit  der  Rechtsstoff  einer" groisen 
Zahl  fränkischer  Städte  badischen  Anteils  der  Forschung  zugänglich 
gemacht.  Es  steht  zu  hoffen,  dafs  in  ebenso  rascher  Folge  die  wei- 
teren fränkischen  Städte  der  alten  Pfalz,  des  Bistums  Speier  und  der 
Markgrafschaft  Baden  (-Durlach  und  -Baden)  folgen  werden.  Sollten 
sich  die  Herausgeber  entschliefsen  können,  die  oben  angeregten 
kurzen  tatsächlichen  Mitteilungen  den  einzelnen  Quellenkreisen  voran- 
zuschicken, so  würden  sie  damit,  wie  ich  zuversichtlich  hoffe,  den 
Wünschen  weiter  interessierter  Kreise  in  hohem  Maise  entgegen- 
kommen. 

Wir  wenden  uns  der  elsässischen  Abteilung  der  oberrheinischen 
Stadtrechte  zu.  Hier  ist  vor  Jahresfrist  in  zwei  umfangreichen  Halb- 
bänden das  Recht  der  alten  Reichsstadt  Schlettstadt,  bearbeitet  vom 
Schlettstadter  Stadtarchivar  Joseph  G^ny,  veröffentlicht  worden^). 
Weitaus  das  Meiste  davon  beruht  auf  handschriftlichem  Material.  Der 
Bearbeiter  hat  der  Ausgabe  eine  Einleitung  vorangeschickt,  welche 
über  die  verfassungsgeschichtlichen  Grundlagen  von  Schlettstadt  orien- 
tiert und  den  Handschriftenbestand  klarlegt.  Leider  lä(st  die  histo- 
rische Einleitung  die  wünschenswerte  juristische  Schärfe  vermissen. 
Wir  entnehmen  derselben,  da(s  am  Schlettstadter  Boden  seit  dem 
XI.  Jahrhundert  grundherrschaftlich  begütert  waren  das  Domkapitel 
und  der  Dompropst  von  Straisburg  einerseits  und  die  von  der  süd- 
französi§chen  Benediktinerabtei  Conques  abhängige  Propstei  S.  Fides 
in  Schlettstadt  selbst  anderseits.  Die  überwiegenden  Rechte  müssen 
in  der  Hand  der  letzteren  Anstalt  gelegen  haben,  wie  mit  Sicherheit 
aus  der  vom  Bearbeiter  viel  zu  wenig  gewürdigten  Tatsache  hervor- 
geht, dafs  die  Propstei  S.  Fides  Markt-,  Zoll-  und  Scbankrecht  zu 
Schlettstadt  im  Jahre  1095  bereits  antiquissima  iraduAane  besaft.    Es 

i)  Sehlettstadier  Stadireehte,   bearbeitet  von  Joseph  G^ny,   Gymnasialprofessor 
in  Schlettsudt,   i.  and   2.  Hälfte.    [Oberrheinische  SUidireehie,   3.   Abt.:   Elsässisch^ 
BeehU,  ▼eröffentlicht  von  der  Kommission  snr  Hermosgabe  elsässischer  Gescfaiditsqaellen  ^ 
Heidelberg,  Kail  Winter,  1902.    XXVIII  und  1173  S.    8*.    36  Mk. 


—     8     — 

ist  sehr  bedauerlich,  dafs  G^ny  diesen  .Marktbrief  nicht  aufnahm,  die 
Note  I  auf  S.  VI  beweist  mir,  dafe  er  sich  der  Trag^weite  der  Ur- 
kunde nicht  bewufst  wurde.  Durch  Vertrag  vom  Jahre  12 17  tauscht 
Friedrich  II.  vom  Propst  von  S.  Fides  gegen  Überlassung  von  Königs- 
gut zu  Schlettstadt,  Burner  und  Kinzheim  den  Bannwein,  das  Schank- 
recht,  die  Fronden,  den  halben  Zoll  und  die  Hälfte  der  Gerichts- 
gebühren von  Schlettstadt  dem  Reiche  ein:  Schlettstadt  rückt  damit 
in  die  Reihe  der  elsässischen  Reichsstädte  ein.  Schultheis  und 
Zoller  werden  fortan  gemeinschaftlich  von  König  und  Propst  ernannt. 
Die  weitere  Entwickelung  von  Schlettstadt  kennzeichnet  sich  dturch 
folgende  Daten:  1292  Einsetzung,  1358  demokratische  Umgestaltung 
des  Rates,  1402  Erwerb  des  Blutbanns,  1404  Ankauf  des  SchultheiCsen- 
amtes  durch  die  Stadt,  zunächst  als  Pfand. 

Den  grofsen,  ausschliefslich  dem  Schlettstadter  Stadtarchiv  ent- 
nommenen QuellenstofT  gliedert  der  Bearbeiter  sachlich  in  drei  Teile. 
Der  erste  Teil  umfafet  die  königlichen  und  kaiserlichen  Privilegien, 
welche  Verfassung  und  Verwaltung  bestimmen,  sowie  die,  Grund-  und 
Hoheitsrechte  berührenden  Verträge  der  maisgebenden  Gewalten 
(212  Nummern  auf  267  Seiten).  Im  zweiten  Teil  folgen  die  Satzungen 
und  Ordnungen  der  autonomen  Reichsstadt  und  zwar,  soweit  sie  in 
für  sich  abgeschlossenen  Statuten-  und  Ratsbüchern  vorliegen,  in  ihrer 
Gesamtheit,  zerstreut  überlieferte  Sätze  nur,  soweit  sie  der  Zeit  vor 
dem  Jahre  1500  entstammen,  eine  m.  E.  mechanische  Zeitgrenze.  Ich 
will  jedoch  sofort  hinzufügen,  dafs  der  Bearbeiter  in  allgemein  sehr 
verständiger  Weise  die  Quellen  auch  der  neueren  Zeit,  speziell  fran- 
zösische Gesetze  und  Erlasse  aufgenommen  hat,  namentlich  gilt  das 
von  Teil  I  und  Teil  III.  Dieser  letztere  dritte  Teü  enthält  unter  dem 
Titel  Ordnungen  die  Eidesformeln  und  Amtsordnungen  der  städtischen 
Behörden  und  Beamten,  sodann  in  Auswahl  die  Bürger-  und  Gewerbe- 
ordnungen, endlich  die  von  der  Stadtbehörde  genehmigten  Hand- 
werker- und  Zunftordnungen.  Der  Bearbeiter  geht  sogar  über  das 
Mafe  des  Üblichen  bedeutend  hinaus,  indem  er  in  diesen  dritten,  den 
zweiten '(grölseren)  Halbband  füllenden  Teil  auch  Achtbücher,  Bufeen- 
register,  Bürger-  und  Ratslisten,  Zollordnungen  und  Rentenverzeichnisse 
über  städtische  Schulden  und  Forderungen  aufnimmt.  Gegen  die  von 
dem  Herausgeber  gewählte  alphabetische  Anordnung  habe  ich  mich 
bereits  oben  im  Prinzip  ausgesprochen.  Der  dadurch  geschaffene 
Mangel  chronologischer  Übersichtlichkeit  hätte  zum  mindesten  durch 
eine  kurze  chronologische  Tabelle  aller  Stücke  ausgeglichen  werden 
müssen.     Auch   wird   es  sich  fühlbar  machen,    dafs   die   zahlreichen 


—     9     — 

Stücke  des  zweiten  Halbbandes  nicht  ziffernmälsig  durchgezählt,  son- 
dern in  kleineren  Sachrubriken  vereinigt  sind. 

An  anderer  Stelle^)  habe  ich  sodann  auf  einen  Mifsstand  hin- 
gewiesen, der  eine  prinzipielle  Aussprache  erfordert.  Bekanntlich 
pflegen  nur  die  Satzungsbücher  den  Rechtsstoff  in  kleine,  für  Über- 
sieht  und  Zitierung  unerläfsliche  Abschnitte  zu  teilen,  wie  sie  unseren 
modernen  Gesetzesparagraphen  entsprechen.  Dagegen  häufen  die  Ur- 
kunden oft  die  umfangreichsten  und  verschiedenartigsten  Bestimmungen 
ohne  Abschnitte  und  Überschriften  aufeinander,  wodurch  die  Benutzung 
und  vor  allem  die  Zitiermöglichkeit  ungemein  erschwert  ist.  Ich  halte 
es  nun  für  eine  übertriebene  archivalistische  Forderung,  solche  um- 
fangreichen Urkunden  ohne  äufsere  Einteilung  in  kleinere  übersicht- 
liche Abschnitte  abzudrucken  lediglich  deshalb,  weU  die  Vorlage  solche 
nicht  enthält.  Ich  denke,  diese  mit  so  grofsem  Aufwände  an  Geld 
und  Mühen  hergestellten  Stadtrechtspublikationen  sollen  doch  vor- 
nehmlich der  Rechtsgeschichte  zur  Förderung  dienen.  Da  mufs  aber 
der  Jurist  mit  Entschiedenheit  bitten,  dais  ihm  nicht  viele  Seiten  lange 
Texte  ohne  jeden  Abschnitt  vorgesetzt  werden,  sondern  dafs  da,  wo 
die  Vorlage  keine  Abschnitte  aufweist,  der  Herausgeber  sie  nach 
bestem  Ermessen  selbst  anbringe.  Es  versteht  sich  von  selbst,  dais 
solche  in  der  Vorlage  nicht  vorhandenen  Abschnitte  als  vom  Heraus- 
geber herrührend  (durch  eckige  Klammem)  kenntlich  zu  machen  sind. 
Dann  hat  aber  die  Sache  vom  Standpunkte  der  genauen  Textwiedergabe 
nichts  Bedenkliches  an  sich  *).  Haben  wir  doch  auch  längst  verzichtet, 
die  alte  mangelhafte  Interpunktion  unserer  Texte  aufzunehmen.  Die 
Lektüre  einer  ganzen  Reihe  von  Stüdcen  der  Schlettstadter  Stadtrechts- 
publikation hat  mir  diese  Forderung  als  dringendes  Bedürfnis  für  eine 
leichte  und  sachgemäfse  Benutzung  erwiesen.  Man  vergleiche  die  Ur- 
kunden Nr.  52,  60,  72,  89,  103,  104,  115,  161,  175. 


1)  Deutsche  LitercUurxeitung  1903,  Nr.  29,  S.  1792. 

2)  Verstäodigcrweisc  so  verfahren  ist  z.  B.  schon  K  o  r  t  h ,  der  in  den  Annalen  des 
historischefi  Veretfis  für  den  Niederrhein  y  Heft  51  (1891)  und  Heft  62  (1896),  als 
Vorarbeit  für  eine  künftige  Ausgabe  eine  Reihe  von  Vrkuttden  xur  Verfassungsgeschichte 
niederrheinischer  Landstädte  herausgegeben  hat. 

Es  sei  bei  dieser  Gelegenheit  bemerict,  dafs  seit  kurzem  die  Herausgabe  der  Stadt- 
rechtlichen  Urkunden  der  kleineren  Städte  der  Rheinprovinz  von  Seiten  der  Gesellschall 
für  Rheinische  Geschichtskunde  beschlossen  worden  ist  Vgl  diese  ZeiUcbrift  4.  Bd., 
S.  224.  —  In  Thüringen  ist  die  Historische  Kommission  ebenfalls  mit  der  Veröffent- 
lichung von  Sudtrechten  beschäftigt,  und  diejenigen  der  Städte  Eisenach  und  Saal- 
feld dürften  bald  erscheinen.     Vgl.  diese  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  314.  D    ""^ 


—     10     — 

In  der  orthographischen  Textwiedergfabe  huldigt  Geny  freieren 
Grundsätzen.    Mir  sind  einzelne  offenbar  verlesene  Stellen  aufgefallen. 

Die  beiden  Bände  bieten  ein  reiches  Material  zur  Rechts-,  Wirt- 
schafts-, Finanz-  und  Kulturgeschichte  der  elässischen  Reichsstadt  dar. 
Hier  kann  nur  auf  die  wichtigsten  Stücke  hingewiesen  werden.  Unter 
den  Urkunden  steht  im  Vordergrunde  die  Handfeste  König  Adolfs  von 
1292,  welche  in  74  Abschnitten  ein  den  Stadtrechten  von  Freiburg  i.  Br., 
Breisach  (25.  VIII.  1275)  und  Kolmar  (29.  XII.  1278)  entnommenes 
Recht  bietet  und  damit  Schlettstadt  in  die  grofse  zähringische  Stadt- 
rechtsfamilie einreiht.  In  sehr  verständiger  Weise  hat  G^ny  die 
Parallelstellen  in  Anmerkungen  bezeichnet.  Durch  die  folgenden 
Könige,  insbesondere  durch  Karl  IV.  (1347),  hat  die  Handfeste  mehr- 
fache Erweiterungen  erfahren.  Eine  Reihe  von  Bündnissen  verbindet 
schon  im  XIV.  Jahrhundert  die  Stadt  Schlettstadt  mit  anderen  elsässi- 
schen  Städten,  insbesondere  mit  Strafsburg  und  Kolmar,  in  mannig- 
fachen Rechtsbeziehungen.  Die  Geleitsurkunde,  die  Schlettstadt  im 
Jahre  1438  von  Bischof  Wilhelm  von  Strafsburg  für  das  bischöfliche 
Gebiet  erwirkte  (Nr.  121)  ist  im  Regest  als  solche  nicht  genügend  ge- 
kennzeichnet, auf  S.  139  Zeile  15  v.  o.  mufe  es  wohl  „torne*'  statt  des 
unverständlichen  „nome"  heifsen.  Für  die  Reaktion  Süddeutschlands 
gegen  die  westfälischen  Femgerichte  ist  Nr.  129  zu  beachten.  Juden- 
rechtlich von  Interesse  ist  die  Urkunde  Karls  V.  von  1521  (Nr.  154), 
worin  den  Bürgern  von  Schlettstadt  verboten  wird,  auf  Li^enscfaaften, 
Handschriften  oder  auf  Treu  und  Glauben  von  den  Juden  Geld  zu 
entleihen.  Für  die  im  XVI.  Jahrhundert  eingeführte  Ablösbarkeit  der 
Ewigrenten  sind  die  Privilegien  Karls  V.  von  1526  und  1530  (Nr.  164 
und  165)  zu  vergleichen.  Asylrecht  genofs  zu  Schlettstadt  der  Hof 
der  Propstei  von  S.  Fides  (Nr.  177).  Von  Versailles  datiert  eine  Ver- 
waltungsverordnung Ludwigs  XV.  für  den  Magistrat  zu  Schlettstadt 
(1756,  Nr.  205).  Noch  unter  französischer  Herrschaft  befiehlt  der 
königliche  Intendant  im  Eisais  zur  besseren  Steuereinschätzung  die  An- 
legung von  Grundsteuerkatastem  im  Jahre  1777  (Nr.  207),  nicht  von 
Grundbüchern  im  juristischen  Sinne!  Das  umfangreiche  Statutenbuch 
der  Stadt  Schlettstadt  stammt  in  seiner  Anlage  aus  dem  Jahre  1374; 
es  übernimmt  ältere  Satzungen  und  wird  in  jüngeren  Handschriften 
durch  das  XV.  Jahrhundert  fortgesetzt  Aus  dem  zweiten  alphabetisch 
geordneten  Halbbande  notiere  ich  folgende  Stücke:  Bürgerbriefe 
(S.  409 ff.),  Bestallungsurkunden  von  Stadtärzten  (S.  430 ff.),  Bau- 
ordnungen (S.  471  ff.),  Bürgerannahme  (S.  505 ff.)  mit  Bürgerlisten, 
Eheordnung  (S.  520),  Klostertod  (S.  523),  Ächterverzeichnisse  (S.  588 ff.), 


—    11    — 

Bufsregrister  (S.  593  ff.),  Zivilprozefeordnung^  von  1503  (S.  642  ff.), 
Hexenprozesse  (S.  663 ff.),  Gewerfregister  (S.  682 ff.),  Stadtrechnungen 
(S.  751  ff.),  Verhältnisse  der  Geisüichkeit  (S.  813  ff.,  vgl.  dazu  die  Ur- 
künden  Nr.  112,  145,  146,  161,  171,  174  des  I.Teiles),  Schulmeister 
(S.  931  ff.),  Ratslisten  (S.  826  ff.),  Spitalordnung  (S.  945  ff.),  Wechsler- 
wesen (S.  loiiff.),  umfangreiche  Bestimmungen  über  Weinverkauf  und 
Wirte  (S.  1 014 ff.),  städtische  Zinsregister  (S.  1050 ff.),  Zollordnungen 
(S.  1063  ff.).  Wenn  wir  damit  vom  Schlettstadter  Stadtrecht  Abschied 
nehmen,  so  tun  wir  es  nicht  ohne  das  Gefühl  aufrichtigen  Dankes 
gegenüber  dem  unermüdlichen  Herausgeber  eines  grofeen  Quellenstoffes. 
Vom  Elsafs  wenden  wir  unsere  Blicke  auf  die  schwäbische  Reichs- 
stadt Rottweü.  Prof.  Grein  er  hat  von  ihren  reichen  Rechtsquellen 
in  Ergänzung  des  ürkundenbtichs  der  StacU  Rottweü  (Württembergische 
Geschichtsquellen  III)  eine  Satzungshandschrift,  das  sogen.  Rote  Buch, 
tmter  dem  Titel:  „Das  ältere  Recht  der  Reichsstadt  Rottweil"  ver- 
öffentlicht *).  Die  Ausgabe  ist  mit  den  bescheidenen  Mitteln  des  Rott- 
weiler Altertumsvereins  im  Druck  gegeben  und  nimmt  in  der  Reihe 
der  hier  zu  besprechenden  Neuerscheinungen  eine  gewisse  Sonder- 
stellung ein.  Der  Herausgeber  glaubte  ihr  auiser  einer  ziemlich  um- 
fangreichen geschichtlichen  auch  eine  sprachliche  Einleitung  voraus- 
schicken zu  sollen.  Das  letztere  war  sicherlich  nicht  vonnöten.  Aber 
auch  die  geschichtliche  Einleitung,  in  der  ich  gerne  eine  für  einen 
Nichtberufsjuristen  recht  anerkennenswerte  Leistung  erblicke,  greift 
über  die  oben  angedeutete  Beschränkung,  die  bei  Quellenausgaben 
walten  sollte,  sehr  erheblich  hinaus.  Sie  unterrichtet  zunächst  über  die 
RottweUer  Satzungsbücher.  Eine  ältere  Aufzeichnung,  die  zu  Anfang 
des  XIV.  Jahrhunderts  angesetzt  wird,  ist  verloren.  In  der  Haupt- 
sache haben  dann  nur  zwei  Redaktionen  stattgefunden.  Das  hier 
publizierte  Rote  Buch  einerseits  (552  Sätze:  Satz  i — 231  die  älteren 
Satzungen  bis  zum  Jahre  1425  enthaltend,  von  Satz  232 — 323  folgen 
Bestimmungen  des  XV.  Jahrhunderts,  von  weiteren  Händen  nachgetragen, 
sodann  ab  Satz  398  Zusätze  des  XVI.  Jahrhunderts  bis  zum  Jahre 
1535)»  dessen  Anlage  zwischen  1498  und  1503  fällt,  und  eme  um- 
fangreiche, in  zwei  Peigamentbänden  enthaltene  Reformation  des  Rott- 
weiler Stadtrechts  von  1546.  Von  der  Praxis  bis  1865  angewandt  und 
von  der  Rechtsgeschichte  (besonders  durch  Wächter)  verwertet  wurde 
bisher  nur  diese  jüngere  Redaktion,  so  dafs  sich  der  Herausgeber 
durch  die  Drucklegung  der  älteren  Statutensammlung  ein  offent 

I)  Greiner,  Das  äitere  Recht  der  Reichsstadt  Rottweü,    Mü  gmUBÜHe? 
sprachlicher  Einleitung.    (Stattgsrt,  Kohlhammer,  1900.     373  S.  kL 


—     12     — 

Verdienst  erwirbt.   Im  zweiten  Kapitel  seiner  Einleitung*  bandelt  Grei- 
ner von  der  „Entstehung  der  Stadt  und  Entwickelung  der  städtischen 
Verfassung  im  Zeitrahmen  des  Roten  Buches".     Er  scheint  sich  dabei 
der  Hoffnung  hingegeben  zu   haben,   durch  eine  breitere  historische 
Darstellung  auch  dem  Laien  sein  Rottweiler  Rechtsbuch  nahezubringen. 
Für  den  Rechtshistoriker  hätte  eine  kürzere  und  straffere  Orientierung- 
viel  mehr  Wert  gehabt.     Die  Reichsstadt  RottwcU  geht  auf  römischen 
Ursprung,   direkt   auf  eine  Karolingische  Königsvilla  zurück,   aus  der 
da»  „Dorf",   die   Altstadt  Rottweil   entstanden   ist.     Markt   und   Stadt 
entstanden  erst,  als  die  Grafschaftsrechte  der  Gegend  nachweisbar  um 
I  IOC  an  die  städtegründenden  Herzoge  von  Zähringen  gekommen  waren. 
Dabei  werden  die  21ähringer  gewifs  auch  grundherrschaftlich  den  Rott- 
weiler Boden   in   die   Hände   bekommen    haben,    denn   die   Annahme 
Greiners,  sie  hätten  die  Marktgründung  Rottweil  lediglich  auf  Grund 
ihrer    Grafenrechte    unter    Zustimmung    der    königlichen    Grundherren 
vorgenommen,   widerspricht   allen   gemeingültigen  Beobachtungen  der 
Rechtsgeschichte.    Die  S.  28,  Nr.  i  mitgeteilte  Vermutung  von  Heyck, 
dafs    der    im  XIII.  Jahrhundert   nachweisbare   Grundbesitz   der  Habs- 
burger zu  Rottweil   aus   der  zähringischen  Erbschaft  stammt,   scheint 
mir  dabei  der  Wahrheit  viel  näher  zu   kommen.     Die   äufsere  Anlage 
der   „Neustadt"   Rottweil    zeigt,    übereinstimmend   mit  VUlingen   und 
Freiburg  i.  Br.,    den    zähringischen   Stadtplan,    durchzogen   von  zwei 
grofsen   sich   kreuzenden   Strafsen.     Das  Wesen   des   Hofstättenzinses, 
der  an  den  Stadtherrn  entrichtet  wurde,   ist  Grein  er  nicht  klar  ge- 
worden.    Er   weifs   zwar,    dafs   damit   keine   hofrechtliche   persönliche 
Abhängigkeit  der  Marktansiedler  gegeben  war,   erklärt  aber  dieselben 
für  Nichteigentümer,  für  in  dinglicher  Abhängigkeit  stehende  Pächter; 
der  Gegensatz   von   städtischer  Erbleihe   und  Gründelleihe,   der  mehr 
öffentlich-rechtliche  Charakter  der  letzteren,  sind  ihm  entgangen.    Die 
Ausbildung  der  städtischen  Ämter  zu  Rottweil   weist  folgende  Haupt- 
daten auf:   Schultheifs   und  Rat  erscheinen  urkundlich   seit  1265,   ein 
erweiterter  grofser  Rat  seit  13 14,  das  Amt  des  Bürgermeisters  ist  seit 
1290  belegt.     Das  Schultheifsenamt   kam  zuerst  1341  durch  Verpfän- 
dung in  den  Besitz   der  Stadt,   den  Blutbann   erlangte  RottweU   1359. 
Die   wichtige  Frage   der  ursprünglichen  Trennung  der  Marktgemeinde 
von   der   Hofgemeinde   der  Altstadt  wird  S.  32    nur  in   der  Note  er- 
wähnt.    Durch   gute  Belege   erhärtet  Grein  er  im  weiteren  den  Satz, 
dafis   zähringisches ,    insonderheit  Freiburger  Recht   auf  dem   Umwege 
über  Villingen  in  Rottweil  Eingang  fand.     Mit  Villingen  und  Freiburg, 
namentlich  aber  auch  mit  Schaffhausen   hatte  Rottweil  im  XIV.  Jahr- 


—     13     — 

hundert  Bündnisverträge  geschlossen.  Eine  förmliche  Oberhofstellung 
von  Freibui^  oder  Villingen  über  Rottweil  ist  jedoch  nicht  nach- 
gewiesen. Eine  demokratische  Umgestaltung  der  Verfassung  fand  im 
Jahre  1378  durch  Einfügung  eines  zünftischen  Zweiundzwanzigeraus- 
schusses statt.  Jahrhundertelange  Beziehungen  verknüpften  Rottweil 
mit  der  Eidgenossenschaft.  RottweU  wurde  15 19  zum  ewigen  Eid- 
genossen aufgenommen  und  als  zugewandter  Ort  anerkannt.  Es 
besuchte  bis  1630  die  eidgenössischen  Tagsatzungen.  Tochterstädte 
von  RottweU  waren  Donauwörth,  Weifsenhom  und  Reutlingen,  letztere 
Stadt  seit  1377.  Auf  den  Einzelinhalt  des  veröffentlichten  Stadtrechtes 
kann  hier  nicht  eingegangen  werden.  Es  weist  in  zahlreichen  Stücken 
die  zähringische  Färbung  auf.  Leider  fehlt  der  Ausgabe  ein  Sach- 
register. Die  salvatorische  Klausel,  die  sich  der  Herausgeber  auf 
S.  102,  Nr.  I  vorbehält,  kann  ihn  davon  nicht  entbinden,  ebensowenig 
die  unter  Anlehnung  an  die  spätere  Redaktion  in  zwölf  Abschnitten 
gegliederte  Inhaltsübersicht.  Alles  in  allem  wird  man  die  Veröffent- 
lichung des  RottweUer  Roten  Buches  zwar  begrüfsen,  aber  nicht  als 
eine  auf  der  Höhe  rechtsgeschichtlicher  QuellenpublUcation  stehende 
Ausgabe  gelten  lassen  können. 

Ehe  wir  uns  den  hervorragenden  Veröffentlichungen  schweizerischer 
Stadtrechte  zuwenden,  sei  der  Tätigkeit  gedacht,  welche  die  historische 
Kommission  für  Westfalen  auf  unserem  Gebiete  entfaltet.  Bis  jetzt 
li^  in  einem  Band,  bearbeitet  von  Stadtarchivar  Dr.  A.  Overmann 
in  Erfurt,  das  Stadtrecht  von  Lippstadt  im  Drucke  vor  ^).  Einer  Vor- 
bemerkung von  Dr.  F.  Philippi  ist  zu  entnehmen,  dafs  die  west- 
fälische historische  Kommission  schon  bei  ihrem  ersten  Zusammen- 
treflTen  neben  anderen  Quellen  auch  die  Rechtsquellen  in  ihren  Ver- 
öffentlichungen zu  berücksichtigen  beschlofs.  Mit  Recht  wird  darauf 
hingewiesen,  dafs  die  vorbildliche  Bedeutung  der  Städte  Westfalens 
für  die  nördlichen  und  östlichen  Städte  gerade  eine  umfassende  Be- 
arbeitung der  westfälischen  Stadtrechte  besonders  rechtfertige.  Die 
westfälischen  Städte  gliedern  sich  in  zwei  Gruppen,  Bischofs-  und 
Stiftsstädte  mit  ihren  Tochtergründungen  einerseits,  laienfürstliche 
Gründungen  anderseits.  An  der  Spitze  der  letzteren  steht  Soest,  eine 
Tochter  Kölns.     Für  die  Aufhellung  der  Verfassungsverhältnisse   der 

i)  Veröfifentlichangen  der  historischen  Kommission  für  Westfalen.  Rechtsquellen. 
Westfälische  Stadtrechte.  Abteilung  I:  Die  Stadtrechte  der  Grafschafl  Mark.  Heft  i. 
Lippstadi,  bearbeitet  von  Dr.  A.  Overmano,  Stadtarchivar  in  Erfart.  Mit  Unter- 
stützang  der  Stadt  Lippstadt.  Münster  i.  W.,  Kommissionsverlag  von  Aschendorff,  1901. 
III  bzw.  150  S.  and  3  Beilagen. 


—      14     — 

ersten  Gruppe  sowie  von  Soest  selbst  ist  bereits  so  viel  geschehen, 
dafe  die  westfälische  Kommission  zunächst  von  der  Publikation  dieser 
Rechtsquellen  Abstand  nahm  und  sich  dem  bisher  ziemlich  vernach- 
lässigten Kreise  der  Städte  in  der  Grafschaft  Mark  zuwandte.  Ihr 
Recht  entstammt  mittelbar  Soest.  Hamm,  die  Hauptstadt  der  Grafschaft 
und  Mutterstadt  aller  übrigen  Städte  in  derselben,  erhielt  das  Soester 
Recht  auf  dem  Wege  über  Lippstadt.  So  kam  die  genannte  Kommission 
dazu,  mit  den  Rechtsquellen  von  Lippstadt  ihre  rechtsgeschichtliche 
Publikationsserie  zu  eröffnen,  zumal  Lippstadt  seit  1376  im  Teilbesitz 
der  Grafen  von  der  Mark  gewesen  ist. 

Auch  der  Veröffentlichung  des  Lippstadter  Rechts  ist  eine  um- 
fangreiche Übersicht  über  die  Entwickelung  der  Stadtverfassung  und 
Stadtverwaltung  vorausgeschickt.  Für  meinen  Geschmack  ist  dieselbe 
in  dieser  Breite  hier  nicht  am  Platze.  Sie  beruht  allerdings  allent- 
halben auf  eindringendem  Studium  und  verrät  ein  gutes  Verständnis 
für  verfassungsgeschichtliche  Fragen.  Aber  sie  greift  über  eine  orien- 
tierende Übersicht  für  den  Quellenbenutzer  sehr  erheblich  hinaus  und 
belastet  so  in  der  Tat  die  Quellenpublikation,  der  sie  an  Umfang  fast 
gleichkommt,  mit  einem  dem  Wandel  der  Anschauungen  unterworfenen 
Abrifs  der  Verfassungsgeschichte  von  Lippstadt.  Schon  heute  sind 
manche  Ausführungen  nicht  einwandfrei. 

Lippstadt  ist  Dynastengründung  Bernhards  von  Lippe  vom  Jahre 
1168.  Der  Grund  und  Boden  der  Stadt  und  Feldmark  war  iippisches 
Eigengut,  nur  einzelne  Teile  der  Feldmark  waren  kurkölnische  Lehen. 
Ja  es  scheint,  dafs  die  ganze  Herrschaft  der  Lippe  ein  durch  Auf- 
tragung des  Gründers  von  Lippstadt  begründetes  Lehen  der  Kölner 
Kirche  war.  Die  Herren  von  Lippe  erscheinen  unter  diesem  Gesichts- 
punkt als  besonders  freie  Vogteiinhaber.  Der  Punkt  ist  in  der  Ab- 
handlung nicht  deutlich  genug  gemacht,  obwohl  die  Einleitung  des 
ältesten  Stadtrechts  dazu  besonders  auffordern  mufste.  Die  Bewohner- 
schaft Lippstadts  gliedert  sich  in  Bürger  und  sogen.  Medewoner,  die 
ohne  politische  Rechte  an  den  städtischen  Lasten  teilnahmen.  Aufser- 
halb  der  Gemeinde  standen  Geistliche,  nichtverbürgerte  Ministerialen 
und  Juden.  Die  Bestimmungen  der  alten  Privilegien  über  Aufnahme 
Höriger  sind  mifsverstanden.  Der  Satz  der  Bestätigungsurkunde  Bern- 
hards III.  von  1244,  dafs  ein  Jahr  und  Tag  unangesprochen  in  der 
Stadt  wohnender  Höriger  als  Bürger  aufgenommen  werden  könne, 
besagt  gegenüber  dem  entsprechenden  Satze  des  ersten  Privilegs 
nichts  neues,  ist  vielmehr  nur  eine  deutlichere  Fassung  des  bekannten 
Rechtsprinzips.     Die    weiter    aufgestellte  These,    dafs    sicher   Grund- 


—     15     — 

besitz  in  Lippstadt  zur  Erwerbung*  des  Bürgerrechts  nicht  genügt  habe, 
ist  nicht  bewiesen  und  scheint  mir  für  die  ältere  2^it  höchst  zweifel- 
haft. Der  Grundbesitz  zu  Lippstadt  war  zu  Weichbildrecht  gegen 
Wortzins  ausgetanes  Herrenland. 

Stadtherren  von  Lippstadt  waren  ursprünglich  allein  die  Edel- 
herren  von  Lippe.  1376  verpfändete  Simon  zur  Lippe  die  Stadt  für 
8000  Mark  Silber  an  Graf  Engelbert  von  der  Mark.  Durch  Vertrag 
zwischen  den  Herren  von  Cleve  und  von  Lippe  vom  Jahre  1445 
wurde  ein  Condominium  beider  Dynastengeschlechter  über  Lippstadt 
vereinbart.  Seitdem  stand  die  Stadt  unter  der  Samtherrschaft  von 
Cleve-Mark  (seit  1609  resp.  1666  Brandenburg -Preufsen)  und  Lippe. 
Erst  im  Jahre  1850  fand  die  völlige  Vereinigung  Lippstadts  mit  Preufsen 
statt.  Die  Verfassungsentwickelung  von  Lippstadt  zeigt  zunächst  ein 
jahrhundertelanges  Erstarken  der  selbständig  werdenden  Stadtgemeinde, 
die  jedoch  stets  Landstadt  blieb.  Infolge  der  Reformation  griffen  die 
Stadtherren  im  Jahre  1535  in  die  Entwickelung  hemmend  ein,  Lipp- 
stadt wurde  in  den  neueren  Jahrhunderten  mehr  und  mehr  der  landes- 
herrlichen Bevormundung  unterworfen. 

Im  weiteren  behandelt  Ov ermann  die  Hoheitsrechte  und  grund- 
herrschaftlichen Befugnisse  der  Stadtherren.  Hoheitsrechte  waren  vor 
allem  Gerichtsbarkeit,  Markt,  Zoll,  Münze,  Anspruch  auf  Huldigung. 
Die  Ausführungen  des  Verfassers  entbehren  hierin  der  jiuristischen 
Schärfe.  Als  Grundherren  bezogen  die  Stadtherren  von  den  städti- 
schen Hofstätten  Wortzins,  von  den  Liegenschaften  der  Feldfliu:  Morgen- 
kom,  sie  verfügten  über  die  Almende,  gewährten  ihren  Ministerialen 
Freiheit  von  städtischen  Abgaben,  behielten  sich  Fischerei  und  Mühlen 
vor.  An  landesherrlichen  Beamten  besafs  Lippstadt  Verwaltungsbeamte 
(Amtmann,  auch  Droste  genannt)  und  Gerichtsbeamte  (Samtrichter). 
Der  Bürgergemeinde  legte  der  Gründer  die  Ratsverfassung  in  die  Wiege. 
Ursprünglich  wurden  die  Ratmänner  vom  Stadtherm  unter  Zustimmung 
der  Bürgerschaft  ernannt.  Neben  dem  regierenden  Rat  spielte  der 
alte  Rat  eine  Rolle.  Als  selbständiger  Ratsausschufs  tritt  der  Magistrat 
erst  in  jüngerer  Zeit  hervor.  Die  Stadt  Lippstadt  besafs  von  vorn- 
herein zwei  Büi^ermeister  (tnagisiri  civium,  seit  dem  XV.  Jahrhundert 
proconsules),    Zunftbildungen  treten  spät,  die  erste  1396  auf. 

(Schlnfs  folgt.) 


—     16     — 


Mitteilungen 

Thflringische  Ortsmuseen.  —  In  allen  Teilen  Deutschlands  beginnt 
sich  die  Bewegung  für  Begründung  ortsgeschichtlicher  Sammlungen  auszu- 
breiten. Das  ist  gut  so.  Es  gibt  unzählige  Dinge  in  jeder  Stadt,  an  jedem 
gröfseren  Orte,  die  aus  künstlerischen,  historischen  oder  anderen  Gründen 
dringend  der  Erhaltung  für  die  Öffentlichkeit  bedürfen,  die  aber  nur  inner- 
halb des  Rahmens  des  betreffenden  Ortes  Anspruch  auf  Beachtung  machen 
können.  In  den  Museen  der  gröfseren  Städte  würden  diese  Dinge  nur  als 
störender  Ballast  wirken  und  bedeutungslos  erscheinen,  während  sie  in  der 
heimatlichen  Umgebung  unschätzbare  Anregungen  imd  mannigfaltige  Beleh- 
rungen vermitteln.  Dahin  gehören  die  Zunftaltertümer:  Siegel,  Fahnen, 
Herbergszeichen,  Meisterbriefe,  Innimgsladen ,  Gewerkschaftsabzeichen  der 
alten  Innungen  mit  ihrer  ganzen  Fülle  von  lokalen  Beziehungen;  dahin  die 
städtischen  Altertümer:  Stadtpläne,  Siegel,  Stempel,  Mafse  und  Ge- 
wichte, Münzprägungen,  Urkunden,  städtische  Hoheitszeichen,  Ratsladen, 
Stadtfahnen,  Stadttorschlüssel  des  betreffenden  Ortes,  Funde  aus  dem  Boden 
der  Stadt,  die  Überreste  des  städtischen  Zeughauses ;  drittens  gewerbliche 
und  häusliche  Gegenstände:  künstlerisch  verzierte  Wetterfahnen,  Ofen- 
platten, Schmiedearbeiten  aus  dem  Orte,  Hausgerät,  künstlerische  Teile  von 
abgebrochenen  Bauten,  Zeugnisse  der  dort  in  alter  Zeit  heimisch  gewesenen 
Industrieen  und  vieles  andere  derart  Endlich  alles  Lokalgeschichtliche: 
Bildnisse  berühmter  Söhne  der  Stadt,  Abbildungen  von  Ereignissen  aus  der 
Geschichte  der  Stadt,  genealogische  und  ortsgeschichtliche  Aufzeichnungen, 
Ansichten  der  Stadt  und  Aufnahmen  der  verschwundenen  oder  ziun  Abbruch 
bestimmten  Baulichkeiten. 

Es  ist  nur  mit  Freude  zu  begrüfsen,  wenn  jetzt  allenthalben  die  Städte 
sich  auf  den  Wert  dieser  Erbschaft  aus  vergangenen  Zeiten  besinnen,  der 
bisherigen  Verschleppung  in  alle  Winde  vorzubeugen  suchen  und  für  sach- 
gemäfse  Sammlung,  Ordnung  und  Aufstellung  derselben  Sorge  tragen.  Wo 
einmal  ein  Anfang  in  dieser  Richtung  gemacht  worden  ist,  wächst  der  Be- 
stand meist  aufserordentlich  schnell.  Viele  Einwohner  sind  glücklich,  irgend 
ein  interessantes  Altertum,  das  bisher  unbeachtet  in  emem  Winkel  ihres  Hauses 
steckte,  der  Allgemeinheit  auf  diesem  Wege  zugänglich  machen  zu  können; 
unzählige  Dinge  werden  dadurch  überhaupt  erst  in  ihrem  kultur-  oder  orts- 
geschichtlichen Werte  erkannt,  dafs  die  Besitzer  sie  in  einem  gröfseren  Zu- 
sammenhange eingeordnet  sehen.  Bei  dem  immer  lebhafteren  Interesse  un- 
serer Zeit  für  alles  Heimatkundliche,  Volkskundliche,  Volkstümliche  werden 
die  Ortsmuseen  eine  grofse  Zukunft  haben.  Mögen  sich  auch  mancherlei 
Reibungen  mit  den  grofsen  Museen  und  andere  Schwierigkeiten  ergeben,  der 
Nutzen,  der  durch  die  Heimatmuseen  gestiftet  wird,  überwiegt  nach  meiner 
Überzeugung  bei  weitem  den  der  grofsen  sogen.  „Kunstmuseen".  Und 
nach  kurzer  Zeit  des  Versuchens  und  Hin-  und  Hertastens  pflegt  doch  in 
allen  menschlichen  Dingen  die  richtige  Mittellinie  herausgefunden  zu  werden. 
Einstweilen  kann  man  nur  jedem  Orte  von  einiger  Bedeutung  den  Rat  geben, 
die  Zeugen  seiner  Vergangenheit  fleifsig  und  gewissenhaft  zu  sanmieln  und 
zu  bewahren.     Die  Organisation  im  Grofsen,   die  Abgrenzung  der  Sanmiel- 


—     17     — 

gebiete,  die  Überführung  der  wissenschafüich  wertvollsten  Stücke  in  Kreb- 
oder  Landesmoseen  wird  sich  dann  schon  von  selber  mit  der  Zeit  heraos- 
bilden.  Wir  müssen  doch  unseren  Söhnen  und  Enkeln  auch  etwas  zu  tun 
übrig  lassen,  sonst  langweilen  sie  sich.  Und  das  wäre  doch  gerade  auf 
einem  so  zukunftsfähigen  Gebiete  doppelt  zu  bedauern. 

Da&  in  Thüringen  die  Bewegung  für  Ortsmuseen  besonders  kräftig 
eingesetzt  hat,  ist  verständlich.  Alle  Kulturbewegungen  in  diesem  buntesten 
Teile  der  deutschen  Landkarte  stehen  ja  unter  dem  Zeichen  der  iüeinstaatereL 
Den  Ortsmuseen  war  hier  der  Weg  noch  nicht  verbaut  durch  größere  Pro- 
▼inzial-  und  Landesmuseen.  Um  eigene  gröfsere  Landesmuseen  zu  schaffen 
sind  die  Staaten  zu  klein,  die  Städte  zu  unbedeutend.  Was  sollte  man  auch 
von  einem  schwarzburg-rudolstädtischen,  was  von  einem  schwarzburg-sonders- 
hausenschen,  von  einem  Reufs-Geraer  oder  Reufs-Greizer  Landesmuseum 
erwarten?  Die  Gruppierung  nicht  nach  politischen,  sondern  landschaftlichen 
Grenzen,  wie  das  z.  B.  mit  dem  „hennebergischen**  Museum  in  Meiningen 
oder  mit  der  Sammlung  des  „vogtländischen  altertumsforschenden  Vereines** 
in  dem  Schlosse  Reichen fels  bei  Hohenleuben  (Fürstentum  Reufs  j.  L.) 
vor  Jahrzehnten  versucht  worden  ist,  wäre  schon  viel  verständlicher.  Aber 
da  eine  und  dieselbe  thüringische  Landschaft  oft  unter  die  verschiedensten 
Souveräne  geteUt  ist,  so  steUen  sich  der  Durchführung  auch  dieses  Prinzipes 
die  gröisten  Schwierigkeiten  entgegen.  Vollends  aussichtslos  hat  sich  bis  jetzt 
auch  jeder  Versuch  erwiesen,  ganz  Thüringen  in  einem  Museum  zu  umftissen. 
Schon  aus  dem  Grunde,  weil  kein  Mensch  bestimmen  kann,  was  denn  eigent- 
lich zu  Thüringen  gehört.  Ein  Teil  unserer  Kleinstaaten  vereinigt  ausgesprochen 
thüringisches  und  ausgesprochen  fränkisches  Gebiet  in  seinen  Grenzen,  andere 
reichen  ins  Vogtland  hinein,  wieder  andere  ins  hessische  Volksgebiet,  und 
das  beste  Stück  von  Thüringen  mit  den  wichtigsten  Städten  gehört  seit  Be- 
ginn des  XDC.  Jahrhunderts  zur  preufsischen  Provinz  Sachsen  und  gravitiert 
infolgedessen  kulturell  durchaus  nach  Preufsen  hin.  Die  eiozige  Stadt  in 
Thüringen,  die  ihrer  Lage,  Vergangenheit  und  Bedeutung  nach  geeignet  wäre 
den  Mittelptmkt  für  die  thüringischen  Lande  zu  bUden,  Erfurt,  kommt  in- 
folgedessen dafür  nicht  mehr  in  Betracht 

Ein  grofses  Ortsmuseum  ist  für  Erfurt  geplant.  Bedeutende  Mittel  sind 
von  der  Stadt  und  von  Privatleuten  für  Erbauung  desselben  bereits  zur  Ver- 
ftlgung  gesteUt.  Wegen  der  zahlreichen  und  interessanten  städtischen  Alter- 
tümer, die  sich  aus  Erfurts  Vergangenheit  erhalten  haben,  und  die  jetzt  an 
verschiedenen  Stellen,  zum  Teü  recht  ungenügend,  untergebracht  sind,  kann 
dieses  Museum  aufserordentlich  wertvoll  —  innerhalb  seines  ortsgeschicht- 
lichen Rahmens  —  werden.  Sobald  es  diesen  Rahmen  überschreitet,  wird 
seine  Einheitlichkeit  dahin  sein,  ohne  dafs  doch  etwas  Ganzes  für  Gesamt- 
thüringen erreicht  wird.  Jedes  Unternehmen,  das  ganz  Thüringen  umfassen 
wiU,  stolpert  bei  den  jetzigen  politischen  Verhältnissen  über  die  unzähligen 
Grenzsteine  und  bricht  sich  dabei  unfehlbar  die  Beine. 

Das  zeigt  sich  auch  bei  dem  vor  fünf  Jahren  begründeten  „thürin- 
gischen Museum'*  in  Eisenach.  In  der  Hauptsache  besteht  es  jetzt 
aus  Leihgaben  weimarischer  Dorfkirchen,  daz>vischen  einige  prähistons 
Altertümer  von  da  und  dort  her,  stadt-eisenachische  Erinnerungsstücke,  k 
gewerbliche  Gegenstände  allerverschiedenster  Herkunft  und  Zwer»-' — ^— 


—     18     — 

und  das  alles  zusammeogedrängt  in  einem  einzigen  Räume.  Bei  den  finan- 
ziellen Verhältnissen  der  Einzelstaaten  in  der  Gegenwart  ist  wohl  auf  Jahre 
lunaus  kaum  auf  tatkräftige  Unterstützung  des  Unternehmens  zu  rechnen. 

Unter  solchen  Verhältnissen  ist  das  Vorgehen  der  Städte,  die  B^;rtin- 
düng  möglichst  zahlreicher  Ortsmuseen  der  gewiesene  Weg.  Thüiingen 
marschiert  in  dieser  Beziehung  jetzt  wohl  an  der  Spitze.  Namendich  die 
letzten  drei  Jahre  haben  hierin  viel  geschafft  Einige  Orte  haben  schon 
vor  längerer  Zeit  nach  dieser  Richtung  zu  arbeiten  begonnen,  so  Nord- 
hausen, dessen  städtisches  Museum  1903  die  Feier  des  35  jährigen  Be- 
stehens begangen  hat,  bei  welchem  Anlaft  eine  kleine  Festschrift  mit  der 
Schilderung  seines  Entwickelungsganges  erschienen  ist;  so  Gera,  dessen 
städtisches  Museum  etwa  das  gleiche  Alter  hat.  Merkwürdigerweise  sind 
beide  Museen  trotz  ihrer  reichen  Bestände  und  trotz  der  grofsen  Einwohner- 
zahl der  betreffenden  Städte,  nur  selten  allgemein  zugänglich.  Das  Nord- 
häuser Museum  ist  nur  Donnerstag  nachmittags  2  Stunden  geöfihet,  an  an- 
deren Tagen  aber  wenigstens  gegen  Eintrittsgeld  zu  besichtigen.  Das  Geraer 
Museum  dagegen,  das  in  dem  ehemaligen  städtischen  Waisenhause  unter- 
gebracht ist  und  dort  eine  ganze  geräumige  Etage  fÜUt,  ist  nur  an  Sommer- 
sonntagen vonnittags  2  Stunden  geöffnet  In  allen  übrigen  Fällen  mufs  man 
sich  zu  dem  weit  entfernt  wohnenden  Museumsleiter  bemühen  und  diesen 
bitten  mitzukommen.  Es  zeigt  sich  also:  die  älteren  Gründungen  entbehren 
des  frischen  Zuges,  den  die  Gegenwart  mit  ihrem  lebhaften  sozialen  Em- 
pfinden derartigen  Fragen  entgegenbringt  Aus  diesem  Grunde  sind  auch  die 
Bestände  dieser  Museen  viel  weniger  bekannt,  als  sie  verdienten.  Die  des 
Nordhäuser  Museums  habe  ich  seit  einer  Reihe  von  Jahren  nicht  mehr  ge- 
sehen und  weifs  daher  ihre  Gruppierung  nicht  mehr  genau  anzugeben.  Das 
Geraer  enthält  zahlreiche  alte  Stadtansichten,  eine  grofse  prähistorische  Samm- 
lung (1800  Nummern),  eine  naturwissenschaftliche  Sammlung  (6000  Nummern), 
4500  Porträts,  5300  Urkunden,  1500  Trachtenbilder,  einige,  zum  Teil  sehr 
schlimm  restaurierte,  Schnitzaltäre  aus  den  Kirchen  der  Umgegend,  allerlei 
kunstgewerbliche  Altertümer,  eine  Münzsammlung  von  3500  Nummern  und 
vielerlei  zmn  Teil  recht  interessante  Gegenstände  aus  der  Vergangenheit  des 
reufsischen  Landes.  Die  Stadt  stellt  die  Räumlichkeiten  zur  Verfügung 
und  leistet  einen  jährlichen  Zuschufs  von  1000  Mk.,  dazu  200  Mk.  für  die 
Verwaltung. 

Etwas  jünger  an  Jahren  ist  die  kleine  Sammlung,  welche  der  Altertums- 
verein für  Kahla  tmd  Roda  in  Kahla  zusammengebracht  hat.  Früher  auf 
der  Leuchtenburg,  dann  im  Kahlaer  Rathause  untergebracht,  trauern  jetzt  die 
Sammlungsgegenstände  in  einer  Dachkammer  des  Schulhauses  und  harren 
sehnsüchtig  auf  ein  würdiges  Ausstellungslokal,  zu  dessen  Hergabe  sich  die 
Stadtgemeinde  hoffentlich  bald  entschliefst  Für  die  Allgemeinheit  ist  die 
Sammlung  zurzeit  natürlich  nicht  zugänglich.  Sie  umfafst  einige  Waffen, 
einen  Schnitzaltar,  eine  kleine  Münz-  und  Siegelsammlung,  wenige  städtische 
Altertümer,  einen  grofsen,  nicht  uninteressanten  paläontologischen  Fund, 
eine  ziemUch  umfangreiche  Bibliothek  und  ediche  Bilder.  Da  Kahla  eine 
alte  und  reich  entwickelte  Porzellanindustrie  besitzt,  so  wäre  ein  städtisches 
Museum  nach  dieser  Richtung  hin  lehrreicher  Ausgestaltung  fähig.  An  Be- 
suchern würde  es  nicht  fehlen,    da  Kahla  Ausgangspunkt   für   den  Besuch 


—     19     — 

der  bekannten  Leuchtenburg  ist,   die  alljährlich   yon  vielen  Tausenden  von 
Fremden  besucht  wird. 

In  Arnstadt  hat  das  Ortsmuseum  nach  mehreren  Umzügen  in  drei 
genügend  groüsen  Räumen  des  Rathauses  ein  Unterkommen  gefunden.  Neben 
Porträts,  Autographen,  Münzen,  Fahnen  und  anderen  stadtgeschichtlidien  Er- 
innerungen ist  auch  das  moderne  Gewerbe  Arnstadts  vertreten.  Jedes  Stück 
ist  mit  einer  grofsen  Ntmuner  versehen ;  den  Besuchern  wird  ein  ausführlicher 
gedruckter  Katalog  zur  Verfügung  gestdh. 

Grofser  Entwickelung  fähig  ist  der  sehr  bescheidene  An&ng  eines  städ- 
tischen Museums  in  Mühlhausen  in  Thüringen.  Die  ehemalige  Reichs- 
stadt besitzt  noch  eine  Fülle  wertvoller  städtischer  Altertümer,  die  nur  der 
geeigneten  Ordnung  und  Au&teüung  bedürfen,  um  ein  sehr  interessantes 
Museum  zu  bUden.  Die  Mehrzahl  derselben  steckt  zurzeit  noch  in  den  gänz- 
lich ungenügenden  Räumen  des  städtischen  Archives.  Der  Grundstock  des 
„städtischen  Museums'*  aber  ist  im  Bauhofe  untergebracht  Er  enthält  kunst- 
gewerbliche Gegenstände,  namentlich  Kunstschlosserarbeiten  aus  alter  und 
neuer  Zeit,  einige  Ztmftaltertümer,  Bürgerwehrstücke,  Kriegserinnerungen,  etwas 
Keramik  und  den  Anfang  einer  Kupferstichsammlung. 

In  dem  benachbarten  Langensalza  erwuchs  das  städtische  Museum 
aus  einer  Ausstellung  von  Kriegserinnerungen,  die  dort  im  Jahre  1898  ver- 
anstaltet wurde.  Gegenstände,  welche  sich  auf  das  Treffen  bei  Langensalza 
vom  Jahre  1866  beziehen,  bilden  den  Hauptbestandteil,  dazu  Erinnerungs- 
stücke aus  früheren  und  späteren  Kriegen,  einige  Innungssachen,  eine  kleine 
prähistorische,  eine  ethnographische  und  eine  naturhistorische  Sammlung. 
Die  Kulturgeschichte  der  Stadt  und  nächsten  Umgebung  ist  bisher  in  der 
Sammlung  noch  wenig  berücksichtigt.  Die  Stadt  hat  zwei  gröfsere  Räume 
im  ehemaligen  Augustinerkloster  zur  Verfügung  gestellt  und  zahlt,  vorläufig 
auf  drei  Jahre,  einen  jährlichen  Zuschufs  von  100  Mark.  Aufserdem  hat  sich 
ein  Museumsverein  gebildet,  dessen  Mitglieder  einen  Beitrag  von  jährlich 
mindestens  i  Mark  entrichten. 

In  der  Hauptsache  aus  Waffen  und  Kriegserinnerungen  besteht  auch  das  höchst 
interessante  und  reichhaltige  Museum  auf  der  Wachsenburg,  einer  der  „Drei 
Gleichen"  bei  Gotha.  Den  Grundstock  bilden  die  Bestände  des  früheren  Gothaer 
Zeughauses.  Dazu  kamen  zahlreiche  Geschenke  von  Mitkämpfern  aus  den 
Jahren  1848,  1849,  1864,  1866,  1870,  aus  dem  chinesischen  Feldzuge  und 
aus  afrikanischen  Kriegen.  Aber  auch  allerhand  Landes-  tmd  Ortsgeschicht- 
liches, Thüringer  Trachten,  Bilder  und  Hausgeräte  haben  sich  zusammengefunden. 

Die  Stadt  Weimar  besitzt  em  „städtisches  naturhistorisches  Museum^^ 
Bis  vor  kurzem  enthielt  es  nur  prähistorische  und  ethnographische  Gegenstände. 
Aber  das  Interesse  für  Heimati[;unde  tmd  Ortsgeschichte  wirkt  neuerdmgs  auch 
hier  ein.  Jetzt  werden  auch  Altertümer  gesammelt,  welche  sich  auf  die  Geschichte 
der  Stadt  Weimar  beziehen.  Dafs  (^es  ein  weites  tmd  lohnendes  Sammel- 
gebiet ist  und  neben  dem  grofsherzoglichen  Kunstmuseum  wie  neben  den 
Sanmüimgen  des  Goethehauses  noch  recht  wohl  bestehen  kann,  ist  ohne  wei- 
teres ersichtlich.  Aufserdem  hat  Generaloberarzt  Dr.  Schwabe  dem  Museum 
seine  überaus  reichhaltigen  Sammltmgen  vermacht.  Sie  erstrecken  sich  auf 
alle  Gebiete,  die  überhaupt  sammelnswert  sind,  darunter  auch  vieles  orts- 
geschichtlich Wertvolle. 

2* 


—     20     — 

Auf  dem  Vereinswege  will  die  Stadt  Weida  ein  Ortsmuseum  zu- 
stande bringen.  Die  nahe  Nachbarschaft  des  oben  erwähnten,  schon  seit 
Jahrzehnten  bestehenden,  vogtländischen  Altertumsmuseums  in  Hohenleuben- 
Reichenfels  ist  der  Entstehung  eines  Ortsmuseums  in  Weida  natürlich  nicht 
sonderlich  günstig.  Vorläufig  wird  ohne  besondere  Rücksicht  auf  Ortsgeschichte 
alles  gesammelt,  was  einigermaßen  Altertumswert  hat.  Die  etwa  50  Mitglieder 
des  ortsgeschichtlichen  Vereines  zahlen  einen  Jahresbeitrag  von  je  2  Maik. 
Auch  sind  einige  Zuwendungen  gemacht  worden.  Die  etwa  100  Nmnmem 
umfassende  Sammlung  ist  jetzt  im  Caf^  Museum  (Schützenstrafse)  gegen 
20  Pfg.  Eintrittsgeld  der  Öffentlichkeit  zugän^ch  gemacht  wordeiL 
^^  Nahe  dabei,  in  Niederpöllnitz ,  hat  der  Ortspfarrer  Koch  in  seiner 
Kirche  ein  „Dorfoiuseum*'  eingerichtet,  dessen  Inhalt  mir  noch  nicht  bekannt 
ist,  —  eine  Idee,  die  auch  anderwärts  schon  Boden  gefafst  hat.  Denn  auch 
Hafsleben  und  L»aucha  in  Thüringen  haben  Dorfinuseen  tmd  andere  Orte 
werden  in  Bälde  folgen. 

Die  Stadt  Kamburg  a.  d.  Saale  plant  ein  kleines  städtisches  Museum, 
das  aber  noch  nicht  über  Anfänge  hinaus  gediehen  ist.  In  Saalfeld  wird 
das  städtische  Museum  wohl  noch  im  Laufe  dieses  Jahres  der  Öffentlichkeit 
übergeben  werden.  Die  Stadt  hat  einen  Flügel  des  ehemaligen  Franziskaner- 
kreuzganges hinter  der  Münzkirche  zu  seiner  Aufoahme  herrichten  lassen  tmd 
zahlt  einen  jährlichen,  zurzeit  noch  ziemlich  bescheidenen,  Beitrag  für  die 
Vergröfserung  der  Sanmilungen.  Die  alte  Berg-  und  Handelsstadt  Saalfeld 
mit  ihrer  reichen  geschichtlichen  Vergangenheit  wird  sicher  mit  der  Zeit  ein 
recht  sehenswertes  Ortsmuseum  zustande  bringen.  Material  dazu  ist  in  Fülle 
vorhanden.  Schon  jetzt  sind  eine  Reihe  schöner  Innungsgegenstände  vor- 
handen, eine  umfassende,  höchst  wertvolle  und  vortrefflich  geordnete  Samm- 
lung aller  im  meiningischen  Lande  geprägten  Münzen,  vielerlei  städtische 
Altertümer,  Bilder,  Schriften,  Bauteile  und  gewerbliche  Gegenstände.  Hier 
müfste  vor  allem  die  berühmte  Saalfelder  Schnitzwerkstatt  reiche  Ver- 
tretung finden,  die  in  den  letzten  Jahrzehnten  vor  der  Reformation  geblüht 
und  die  Umgegend  weithin  mit  künsüerisch  hervorragenden  Schöpfungen  kirch- 
licher Kunst  versehen  hat.  Allerdings  sind  in  Saalfeld  selbst  von  diesen  Schnitz- 
altären und  Einzelfiguren  nur  wenige  erhalten  geblieben.  Aber  bei  der  Bedeu- 
tung der  Saalfelder  Schnitzwerkstatt  für  die  allgemeine  Kunstgeschichte  kann  in 
diesem  Falle  der  ÜberfÜhnmg  einiger  Schnitzaltäre  aus  den  Kirchen  der  Um- 
gegend in  das  Museum  ausnahmsweise  das  Wort  geredet  werden,  während 
es  sonst  im  allgemeinen  gewifs  richtiger  ist,  wenn  die  Kirchen  ihre  alten 
Altäre  behalten,  sofern  für  deren  sachgemäfse  Erhaltung  und  Aufstellung 
genügend  Sorge  getragen  wird. 

Nur  eine  kurze  Strecke  von  Saalfeld  entfernt  liegt  die  alte  Tuchmacher- 
stadt Pöfsneck.  Hier  ist  im  Herbste  vergangenen  Jahres  in  drei  Räumen 
eines  städtischen  Gebäudes  ein  von  der  Stadt  unterstütztes  Museum  eröffiiet 
worden,  das  schon  jetzt  recht  viel  Interessantes  imd  Wertvolles  enthält,  wenn 
auch  ein  grofser  Teil  der  Gegenstände  vorläufig  noch  Leihgaben  sind.  Am 
meisten  Beachtung  verdienen  die  originellen  Zimftaltertümer,  vor  allem  die 
der  einst  hochberühmten  Tuchmacherzunft.  Auch  die  bis  ins  XVIII.  Jahr- 
hundert zurückreichenden  Zeugnisse  der  Pöfsnecker  Porzellanindustrie  werden 
hier   sorgfältig  gesammelt.     Die  herrlichen   mittelalterlichen   Rüstungen   und 


—     21     — 

Waffen  der  Bürgerwehr,  welche  sich  im  Rathause  bis  vor  wenigen  Jahrzehnten 
erbalten  hatten,  sind  zwar  zum  gröfsten  Teile  nach  Schlofs  Landsberg  in  den 
Besitz  des  Herzogs  von  Meiningen  gelangt,  der  sie  dadurch  seinerzeit  vor 
Verschleuderung  schützte,  aber  einige  Stücke,  darunter  zwei  prachtvolle  Zwei- 
händer,  sind  zurückgeblieben  und  dienen,  zusammen  mit  allerlei  anderem 
alten  Gewaffen,  dem  Museum  zur  besonderen  Zierde.  Würde  es  der  Stadt 
gelingen,  ihre  ganze  ehemalige  Rüstkanmier  zurückzuerlangen,  so  würde  sie 
«inen  unter  den  thüringischen  Städten  wohl  einzig  dastehenden  Schatz  ihrem 
Museum  einverleiben  können. 

Auch  eine  kleine  prähistorische  Sammlung,  eine  alte  Apothekeneinrich- 
tung, Stadtansichten,  Pläne,  Bücher  imd  Urkunden  fehlen  im  Pöfsnecker 
Museum  nicht,  wie  sie  sich  ja  in  den  meisten  Heimatmuseen  anzusammeln 
pflegen. 

In  Stadtilm  bildet  die  Privatsammlimg  des  Dr.  Sy,  bereichert  durch 
Schenkungen  und  Leihgaben  aus  dem  Orte  und  aus  der  Umgegend,  den 
An£uig  eines  Heimatmuseums.  Porzellane,  Gläser,  Krüge,  Münzen  aus  Thü- 
ringen, Hausgeräte  und  Raritäten  aller  Art  füllen  ein  grofses  Zimmer  in  einem 
Gasthofe,  der  vor  den  Toren  der  Stadt  liegt. 

Privatsammlungen  sind  wohl  der  Ausgangspunkt  der  meisten  Ortsmuseen 
gewesen.  *  Denn  von  Vereinswegen  geschieht  nichts  Ganzes  in  der  Welt 
Immer  gehört  die  einzelne,  für  die  Sache  begeisterte,  Persönlichkeit  dazu, 
um  den  Karren  ins  Rollen  zu  bringen,  und  wo  diese  fehlt,  da  geht's  eben 
nicht  vorwärts.  Das  ist  ja  auch  die  grofse  Gefahr  bei  vielen  der  jetzt  überall 
emporschiefsenden  Ortsmuseen,  dais,  wenn  einmal  der  „ Betreffende *\  „die 
Seele  des  Ganzen'*  gestorben  ist,  Verwahrlosung  und  Unordnung  einreifst 
Da  ist  es  Pflicht  der  Stadtbehörden,  die  Hand  darüber  zu  halten.  Unsere 
studierende  Jugend  aber  sollte  sich  fleifsig  mit  Heimatgeschichte,  Volkskunde 
und  Volkskunst  vertraut  machen,  damit  sie  einst,  wenn  sie  als  Beamte,  P&rrer, 
Lehrer  draufsen  in  den  kleinen  Städten  sitzt,  dieses  wichtige  Erbe  verständnis- 
voll zu  übernehmen  bef^'gt  ist 

Ich  erwähne  noch  als  recht  beachtenswerte  thüringische  Privatsammlungen 
die  des  Apotheker  Thiel  in  Lauscha  auf  dem  Thüriuger  Walde,  welche 
hauptsächlich  Hausaltertümer  umfafst,  und  die  des  Dr.  Mefsmer  auf  Burg 
Lauenstein  bei  Probstzella.  Dr.  Mefsmer  hat  diese  alte  thüringisch -frän- 
kische Grenzwarte  angekauft,  hergestellt  und  ausgebaut  und  in  den  zahlreichen 
Räumen  der  um&ngreichen  Burg  eine  Fülle  von  Kunstwerken  und  Altertümern 
des  Mittelalters  und  der  Renaissance  mit  viel  Geschmack  und  Sachkenntnis 
zusammengebracht.  Mit  der  Erweiterung  der  Sammlungen  ist  er  unausgesetzt 
beschäftigt 

Wenn  zum  Schlufs  etwas  ausführlicher  über  das  jüngste  aller  Thüringer 
Ortsmuseen,  das  am  i.  Februar  1903  eröffnete  städtische  Museum  in  Jena 
berichtet  wird,  so  geschieht  dies  erstens  auf  besonderen  Wunsch  der  Schrift- 
leitung dieser  Blätter,  imd  zweitens  weil  in  diesem  Museum  eine  Reihe  von 
Versuchen  in  die  Praxis  umgesetzt  worden  sind,  welche  von  dem  Wunsch 
geleitet  wurden,  verwandten  Unternehmungen  manchen  Umweg  zu  ersparen. 

Das  Jenaer  Museum  beschränkt  sich  grundsätzlich  darauf,  das  zu  sam- 
meln, was  sich  auf  die  Geschichte  der  Stadt  Jena  und  ihrer  Bewohner  bezieht 
Die  zum  Stadtbezirke  gehörigen  Dörfer  werden  insoweit  berücksichtigt,   als 


—     22     — 

sie  für  die  Geschichte  der  Stadt  von  Wichtigkeit  sind.  Die  Durchführung 
dieses  Grundsatzes  wird  dem  Jenaer  Museum  dadurch  erleichtert,  dais  alles 
naturhistorische 9  ethnographische,  prähistorische  Material  von  den  betreffen- 
den Abteilungen  der  Uniyersitätssaöunlungen  an  sich  gesogen  wird,  mithin 
nicht  störend  zwischen  den  ortsgeschichtlichen  Gegenständen  untergebracht 
werden  mufs,  wie  das  sonst  in  Ortsmuseen  die  Regel  ist. 

Als  zweiter  Grundsatz  ist  im  Jenaer  Museum  durchgeführt,  dafs  jeder 
Raum  ein  einheiüiches,  in  sich  geschlossenes  Ganze  bildet  und  nur  solche 
Gegenstände  enthalten  darf,  die  mit  dem  Grundgedanken  des  betreffenden 
Raumes  in  direkter  Beziehimg  stehen.  So  tmi&ist  also  das  „Zinmier  der 
Stadt '^  nur  allgemein -städtische  Altertümer,  das  „Zimmer  der  Zünfte*'  nur 
Zunf^egenstände,  das  „Zimmer  der  Universität '*  nur  Dinge,  die  sich  auf  die 
Geschichte  der  Universität  beziehen  usw.  Auf  diese  Weise  ist  es  möglich, 
das  verwirrende  und  ermüdende  Vielerlei  und  Durcheinander  von  Gegen- 
ständen zu  vermeiden,  das  den  Besuch  der  meisten  Altertümermuseen  so  un- 
erquicklich  macht  und  ihnen  den  Charakter  von  Raritätensammlungen  aufprägt 
Anderseits  gewinnt  auch  das  an  sich  Unbedeutende  durch  straffe  logische 
Einordnung  in  einen  gröfseren  Zusammenhang  sofort  an  Bedeutung.  Rein 
künstlerisch  betrachtet  sind  ja  die  meisten  der  Gegenstände  in  klein- 
städtischen Sammlungen  von  geringem  Werte.  Da  mufs  ihnen  der  kultur- 
geschichdiche  Zusammenhang  ihre  Bedeutung,  ihre  Daseinsberechtigung  in 
einem  Museum  verieihen. 

Als  ein  besonderer  Voiteü  ergab  sich  für  das  Jenaer  Museum  der  Um- 
stand, dafs  es  in  einer  Zimmerflucht  untergebracht  werden  mufste,  welche 
ursprünglich  zu  Wohnzwecken  bestimmt  war.  Die  Abmessungen  bürgerlicher 
Wohnräume  sind  tatsächlich  der  günstigste  Rahmen  für  eine  ortsgeschichtliche 
Sammlung.  Kleinbürgerüche  Gegenstände  woUen  nicht  in  grofsen  Sälen,  son- 
dern intim,  aus  nächster  Nähe,  in  schlichter  Umgebung  betrachtet  sein.  Wenn 
für  das  Jenaer  Museum  im  Laufe  der  Jahre  einmal  ein  eigenes  Heim  erbaut 
werden  soUte,  was  bei  dem  überaus  schnellen  Wachstum  der  Sammlungen 
bald  zur  Notwendigkeit  werden  wird,  so  könnten  die  neuen  Räume  kaum 
wesendich  anders  gestaltet  werden,  als  die  im  jetzigen  provisorischen  Heim 
(zweites  Geschofs  des  neuen  „Stadthauses"). 

Das  Gedeihen  eines  derartigen  Unternehmens  hängt  wesentlich  davon 
ab,  dafs  es  häufig,  womöglich  täglich  dem  Besuche  offen  steht.  Das  Jenaer 
Museum  ist  Sonntags  und  Mittwochs  nachmittags  unentgeltÜch  geöffiiet,  aufser- 
dem  noch  in  den  Wintermonaten  Sonnabend  abends  bis  9  Uhr  speziell  für 
die  Arbeiter,  an  aUen  übrigen  Tagen  von  früh  9  Uhr  bis  zur  Dunkelheit 
gegen  ein  mäfsiges  Eintrittsgeld.  Der  Sonntag  Nachmittag  ist  die  wichtigste 
Zeit  für  den  aUgemeinen  Besuch.  Kein  Museum,  das  der  AUgemeinheit  wirk- 
lich nützen  wiU,  soUte  vor  den  Schwierigkeiten  zurückschrecken,  gerade  diesen 
Nachmittag  freizugeben.  Der  Bürger,  der  Gewerbetreibende,  der  Arbeiter 
haben  nur  da  wirklich  Zeit  Auch  das  Landvolk  der  Umgegend  kommt  nur 
da  ins  Museum.  An  regnerischen  Sonntagnachmittagen  ist  der  Besuch  regel- 
mäfsig  geradezu  überwältigend. 

Die  Durchführung  dieser  Grundsätze  wurde  erleichtert  durch  das  Ent- 
gegenkommen der  städtischen  Behörden  Jenas,  die  in  richtiger  Erkenntnis 
der  Bedeutung  eines  derartigen  Unternehmens  für  die  allgemeine  Belehrung 


—     23     — 

und  Kldung  und  zugleich  für  das  Ansehen  der  Stadt,  nicht  nur  das  ganze 
zweite  GescJiofs  des  Stadthauses  (zehn  Räume  und  einen  grofsen  Korridor)  und 
die  Dienerwohnung  im  dritten  Stock  kostenlos  überliefsen,  sondern  auch  einen 
jährlichen  Zuschufs  von  1500  Mark  hewilUgten,  der  allerdings  im  wescntHchm 
für  Unterhalt  und  Inventar  aufgebraucht  wird.  Die  Ankäufe  werden  von  frei- 
willigen Zuschüssen  bestritten.  Der  Ertrag  der  Eintrittsgelder  ist  verhältnis- 
mäfsig  gering,  obgleich  das  Museum  in  den  sechs  Monaten  seit  seiner  Er- 
öffioiung  von  fast  8000  Personen  besucht  worden  ist  Diese  verteilen  sich 
eben  in  der  Überzahl  auf  die  freien  Besuchstage. 

Soviel  über  die  äuisere  Organisation.  Was  nun  die  Sammlungen  selbst 
betrifit,  so  bildet  den  Kern  derselben  die  von  der  Stadt  im  Jahre  1900  er- 
worbene Privatsammlung  eines  hiesigen  Einwohners,  der  seit  etwa  20  Jahren 
Jenensia  aller  Art  gesammelt  hatte  (nmd  1200  Nummern).  Zu  diesem 
Grundstock  kamen  dann  im  Laufe  der  letzten  zwei  Jahre  mehrere  tausend 
Nummern  von  Geschenken  und  Leihgaben  aus  der  Bürgerschaft,  von  Ver- 
einen, Innungen  und  Instituten,  imd  etwa  ebensoviele  Ankäufe.  Durch 
regelmäfsig  erfolgende  ausführliche  Berichte  über  die  Neiuugänge  in  der 
Zeitung  wurde  und  wird  die  Schenkfreudigkeit  stetig  rege  erhalten,  sodais 
noch  jetzt  der  monatliche  Zugang  etwa  100  Nimmiem  beträgt,  —  ein  Zeichen, 
wie  nötig  und  nützlich  die  Einrichtung  eines  Ortsmuseums  ist  Denn  sonst 
würde,  wie  bisher,  Unschätzbares  imd  Unzähliges  durch  den  Händler  nach 
auswärts  verschleppt  und  somit  der  Heimatgeschichte  entzogen  werden.  Natür- 
lich befindet  sich  hier  wie  anderwärts  unter  den  Geschenken  manches,  was 
einer  geeigneten  Ausstellung  Schwierigkeiten  bereitet.  Aber  bei  der  Mannig- 
fiedtigkeit  der  Gesichtspunkte,  nach  welchen  ein  Ortsmuseum  sich  ausgestalten 
läist,  findet  doch  sclüiefslich  das  Meiste  irgendwo  sein  passendes  Plätzchen. 
JedenfoUs  sollte  ein  Ortsmusetmi  im  Anfang  prinzipiell  nichts  zurückweisen. 
Magazinräiune  sind  natürlich  unentbehrlich. 

Durchwandern  wir  einmal  flüchtig  die  Räume  des  Jenaer  Museums,  lun 
die  Anordnung  zu  überschauen:  Im  ersten  Räume,  dem  „Zimmer  der  Stadt'*, 
finden  wir  die  alten  Ratsladen,  Stadtsiegel,  Stadttorschlüssel,  die  städtischen 
Maise,  Gewichte,  Münzstempel,  Brenneisen,  eine  prachtvolle  Bürgermeister- 
Portechaise  aus  dem  XVIII.  Jahrhundert,  die  Ansichten  und  Pläne  der  Stadt 
vom  Mittelalter  bis  zur  Gegenwart,  die  aus  den  Jenaer  Kirchen  entbehrlich 
gewordenen  kirchlichen  Altertümer  und  einige  Erinnerungen  an  das  kurzlebige 
Herzogtum  Sachsen-Jena,  das  von  1662  — 1692  bestand. 

Das  ,', Zimmer  der  Zünfte *'  enthält  die  Laden,  Fahnen,  Siegd,  Statute, 
Meisterbriefe,  Innungshumpen,  Herbergszeichen  und  Namensbänder  der  Jenaer 
Zünfte,  soweit  dieselben  zu  erlangen  waren.  In  einem  Aktenschranke  ist  jeder 
aufgelösten  oder  noch  bestehenden  Innung  ein  Fach  für  ihre  Urkunden 
eingeräumt  Aufserdem  beginnt  in  diesem  Räume  die  Reihe  der  zahl- 
reichen, in  Wechselrahmen  ausgestellten,  fitrbigen  und  photographischen  Auf- 
nahmen aller  baugeschichdich  wertvollen  Bürgerhäuser  und  Gebäudegruppen 
der  Stadt  Denn  zweifellos  ist  es  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  eines  Orts- 
muaeums,  die  in  imseren  Tagen  immer  schneller  verschwindenden  Bauten  der 
Altstadt  im  Bilde  der  Nachwelt  zu  überliefern  und  damit  zugleich  den  Sinn 
für  deren  pietätvolle  Erhaltung  zu  wecken. 

Das  dritte  Zimmer,  ein  saalartiger  Raum,  ist  den  Erinnerungen  an 


-      24     — 

unglückliche  Schlacht  von  Jena  gewidmet  Preufsische  und  französische 
Waffen,  Helme,  Unifonnen,  Sättel,  Kugeln,  die  ganze  Literatur  über  die 
Schlacht,  alle  Abbildungen  derselben,  ein  Relief  des  Schlachtfeldes,  die 
Schlachtpläne,  Tagesbefehle  Napoleons,  Gedichte,  Flugblätter  und  Aufrufe 
aus  jener  Zeit  sind  hier  vereinigt,  aber  als  Gegengewicht  auch  Erinnerungen 
an  die  Befreiungskriege  und  an  die  Feldzüge  von  1864,  1866  und  1870. 

Das  Zimmer  der  Universität  zeigt  uns  zahlreiche  Bilder  von  Jenaer 
Professoren  des  XVI.  bis  XX.  Jahrhunderts,  die  ältesten  Jenaer  Drucke, 
Medaillen  aus  der  Geschichte  der  Hochschule,  Bilder  aus  der  Geschichte  der 
in  Jena  gerundeten  deutschen  Burschenschaft,  Erinnerungen  an  Ludwig  Sand, 
den  Jenaer  Burschenschaftler,  der  durch  die  Ermordimg  Kotzebues  den  Sturm 
der  Verfolgung  über  die  junge  Gründung  heraufbeschwor,  Jubiläumsbilder 
der  Universität  u.  dgl. 

Das  Goethe-Schiller-Zimmer  ist  ganz  im  Geschmacke  der  klassi- 
zistischen Zeit  eingerichtet  imd  birgt  zahlreiche  Erinnerungen  an  Goethe, 
Schiller,  Karl  August  und  den  Jenaer  Kreis  jener  Tage.  Daran  schliefst  sich 
ein  Zimmer  der  Jenaer  Künstler,  in  welchem  die  in  Jena  geborenen 
oder  längere  Zeit  hier  gelebt  habenden  und  noch  lebenden  Künstler  mit 
mannigfaltigen  Schöpfungen  vertreten  sind,  darunter  der  Kupferstecher  Jakob 
Wilhelm  Roux  (geb.  1771  in  Jena,  f  1831),  Oehme,  Geiling,  Ludwig  Hefs, 
Luise  Seidler,  Adolf  HUdebrand,  Edmund  Kanoldt,  Namen  von  gutem  Klange. 
Diese  rein  künstlerische  AbteUung  des  Museums  soll  mit  der  Zeit  eine  be- 
sonders stattliche  Ausgestaltung  erfahren  und  dadurch  den  Mangel  eines 
Kunstmuseums,  der  in  Jena  recht  fühlbar  ist,  einigermafsen  ersetzen. 

Im  „Bürgerstübchen**  sind  Erinnerungen  an  das  Jahr  1848  ver- 
einigt, Porträts  stadtbekannter  Jenaer  Originale,  Abbildungen  verschwundener 
Teile  der  alten  Stadt,  „Was  unser  Marktplatz  erlebt  hat*',  „Bismarck  in 
Jena'%  und  eine  Sanmüung  „Von  der  Wiege  bis  zur  Bahre**. 

Das  Karzerzimmer  ist  errichtet  aus  Teüen  des  abgebrochenen  alten 
Jenaer  Universitätskarzers,  über  tmd  über  bedeckt  mit  Malereien  und  Namen 
einstiger  „Gäste'^  Hier  sind  auch  die  Jenaer  Studentenstammbücher,  Mensur- 
bilder, eine  Entwickelung  des  Mensurspeeres,  Bierkrüge,  Allotria  und  andere 
Gegenstände  „zur  Geschichte  des  Jenaer  Studentenlebens'*  imtergebracht 

Damit  ist  die  Reihe  der  Einzelräume  zu  Ende.  Auf  dem  langgestreckten 
Flur  ist  das  Jenaer  Gewerbe  und  Kunstgewerbe  vertreten:  Ofen- 
platten, Wetterfahnen,  Kunstschmiedearbeiten,  Lebkuchenformen,  eine  „Ge- 
schichte des  Beleuchtungsgerätes'',  Jenaer  Kostüme  aus  der  Rokoko-  und 
Empirezeit,  Funde  von  den  benachbarten  Burgen,  Waffen  der  Bürger« 
wehr  aus  früherer  Zeit  und  von  1848,  eine  „Entwickelung  des  Schreib- 
zeuges", die  in  einer  Universitätsstadt  auf  besonderes  Interesse  rechnen 
darf,  u.  ähnl. 

Als  Beschlufs  reihen  sich  einige  Schränke  mit  kunstgewerblichen  Gegen- 
ständen an,  die  zwar  auch  meist  aus  Jenaer  Privatbesitz  stammen,  aber  doch 
nach  allgemeineren  Gesichtspunkten  geordnet  sind :  Porzellane,  Krüge,  Qäser, 
Fächer,  Stickereien,  Metallarbeiten,  Trachten.  Hier  ist  der  einzige  Punkt, 
wo  das  Museum  über  den  ortsgeschichtlichen  Rahmen  etwas  hinausgeht 
Das  läfst  sich  schon  deshalb  nicht  vermeiden,  weil  viele  dieser,  zum  Teil 
sehr  wertvollen,  Gegenstände  als  Geschenke  dem  Museum  zugekonmien  sind. 


—     25     — 

Vielleicht  läfist  sich  später  eine  von  der  ortsgeschichtlichen  Sammlung  getrennte 
rein  kunstgewerbliche  Abteilung  daraus  bilden,  die  in  einer  so  gewerbtätigen 
Stadt  wie  Jena  durchaus  am  Platze,  ja  geradezu  ein  Bedürfiiis  ist  und  selbst- 
ständiger Entwickelung  bedarf.  Dagegen  sind  als  Erweiterung  der  ortsgeschicht- 
lichen Abteilung  noch  wünschenswert :  ein  Raum  „  Geschichte  der  Reforma- 
tionszeit in  Beziehung  auf  Jena'%  eine  historische  Jenaer  Studentenbude,  ein 
Jenaer  Bürgerzimmer  der  Schillerzeit,  ein  Jenaer  Gelehrtenzimmer.  Viele 
dahin  gehörige  Gegenstände  schlummern  schon  jetzt  in  den  reich  gefüllten 
Magazinräumen  des  Museums  und  harren  des  Tages,  wo  ein  eigenes  Haus, 
ganz  auf  die  speziellen  Bedürfhisse  dieses  Unternehmens  zugeschnitten,  er- 
stellt werden  küm. 

Gewifs  hat  das  Jenaer  Ortsmuseum  gegenüber  vielen  verwandten  Grün- 
dungen einen  besonderen  Vorzug  durch  die  vielbewegte  Vergangenheit  der 
Stadt  und  ihrer  Hochschule,  durch  die  zentrale  Stellung  Jenas  im  deutschen 
Geistesleben  vergangener  Tage,  durch  die  Beziehimgen  der  Stadt  zu  Luther, 
Melanchthon,  Johann  Friedrich  dem  Grofsmütigen,  zu  Schiller,  Goethe,  Hum- 
boldt, Fichte  und  fast  allen  grofsen  Geistern  der  neueren  Zeit,  andrerseits  zur 
Schmach  der  napoleonischen  Zeit  und  der  glorreichen  Erhebung  Deutschlands 
im  XIX.  Jahrhundert  (deutsche  Burschenschaft,  Fritz  Reuter),  wie  schliefs- 
lich  zum  Begründer  des  neuen  Reiches,  Bismarck,  der  in  Jenas  Mauern  denk- 
würdige Tage  verlebt  hat  Aber  bedeutungsvolle  Schicksale,  wenn  vielleicht 
auch  von  weniger  zentralem  Interesse,  hat  doch  wohl  jede  ältere  deutsche 
Stadt  zu  verzeichnen,  und  kaum  einer  wird  es  an  Zeugnissen  für  die 
Eigenart  der  heimischen  Lebensweise,  des  künstlerischen  Geschmackes  ihrer 
Bewohner,  der  besonderen  Gewerbe  des  Ortes  fehlen.  Das  ganze  Bestreben 
der  Ortsmuseen  müfste,  meines  Erachtens,  darauf  gerichtet  sein,  dieses  In- 
dividuelle herauszuarbeiten  auf  ortsgeschichtlicher  und  kulturgeschicht- 
licher Grundlage,  und  alles  Nebensächliche  diesen  Hauptgesichtspunkten  unter- 
zuordnen. Denn  in  der  Art  der  Ausstellungsstücke  wird  sich  viel^h  eine 
gewisse  Gleichförmigkeit  herausbilden,  die  das  Durchwandern  mehrerer  Orts- 
museen nacheinander  etwas  langweih'g  machen  dürfte.  Die  Zusammenfassung 
unter  gröfsere  Gesichtspunkte  aber  wird  jedem  ein  individuelles  Gepräge  zu 
geben  vermögen.  Selbst  wo  dies  nicht  möglich  sein  soUte,  werden  die  Orts- 
museen doch  für  die  engere  Heimat  vielfältigen  Nutzen  und  manche  An- 
regung vermitteln,  mehr,  —  um  dies  noch  einmal  zu  wiederholen  — ,  ab 
die  Kunstmuseen  der  Grofsstädte.  Möchten  unsere  gebildeten  Kreise  dies 
beizeiten  erkennen!  Prof.  Paul  Weber  (Jena). 

Vorstehender  Aufsatz  ergänzt  den  bereits  früher  in  dieser  Zeitschrift,  4.  Bd.,  S.  132 
bis  140,  veröffentlichten  Bericht  über  die  entsprechenden  Bestrebungen  in  der  Nieder- 
lansitz.  Wie  sich  die  Gründang  von  Ortsmuseen  durch  Veranstaltang  von  Aasstel- 
Inngen  begünstigen  läfst,  hat  an  dem  Beispiele  des  Königreichs  Sachsen  Berling  in 
dieser  Zeitschrift  4.  Band,  S.  aSi — 287,  gezeigt  Bezüglich  des  vielfach  betonten  und  doch 
nur  scheinbar  vorhandenen  Gegensatzes  zwischen  Lokal-  und  Zentral  mnseum  vgl.  diese 
Zeitschrift  3.  Band,  S.  271.  Der  Vorstand  des  Provinzialmuseums  in  Halle,  Major  a.  D. 
Dr.  Förtsch,  hat  sich  noch  in  seinem  Bericht  über  die  jüngste  Zeit  (Frühjsihr  1903) 
über  die  „heimlich  auftretende  Konkurrenz  öffentlicher  wie  privater  Sammlungen''  be- 
klagt Der  Leiter  der  städtischen  Sammlung  zu  Bitterfeld,  Emil  Obst,  erklärt  dem- 
gegenüber am  Schlüsse  seines  kürzlich  erschienenen  lehrreichen  Führers  durch  die 
Sammlung,  dals  er  jedenfalls  zu  diesem  in  amtlicher  Form  erhobenen  Vorwurf  keinen 
Anlafs  gegeben  habe.  D.  Red. 


—  .  26     — 

Hundert  Jahre  pren&iseh.  —  Die  Gepflogenheit,  die  Jahrhundert- 
feiern geschichdicher  Ereignisse  dadurch  zu  begehen,  dafs  die  Ereignisse  selbst 
in  ihrem  Verlauf  geschildert  und  so  dem  Volke  selbst  näher  gebracht 
werden,  verdient  vom  Standpunkte  des  Geschichtsfreundes  ungeteilte  Anerken- 
nung, denn  es  ist  ein  Mittel,  um  bei  diesen  äufseren  Anlässen,  wo  mancher 
zu  einem  Buche  greift,  der  es  sonst  nicht  tut,  zur  Verbreitung  geschichtlichen 
Wissens  beizutragen  und  zugleich  manche  Aufklänmgen  über  Bestehendes  zu 
geben.  Aber  es  läfst  sich  leider  nicht  in  Abrede  stellen:  die  Schriften,  die 
belehren  sollen,  sind  recht  oft  so  dürftig  und  mangelhaft,  dafs  sie  nicht  nur 
ihren  Zweck  nicht  erfüllen,  sondern  eher  Schaden  anrichten.  Der  Grund 
dafür  liegt  teib  in  der  EUe,  mit  der  an  die  Arbeit  gegangen  werden  muls, 
tmd  teils  an  dem  Mangel  geschichtlicher  Allgemeinbildung  und  Forscher- 
fahigkeit  bei  denen,  die  mit  der  Aufgabe  betraut  werden  oder  sich  selbst  zu 
ihrer  Lösung  berufen  fühlen.  Es  ergibt  sich  für  jeden,  der  solche  Literatur 
kennt,  die  unabweisbare  Forderung :  soll  ein  Ereignis  der  Vergangen- 
heit würdig  gefeiert  und  durch  eine  Festschrift  weiteren 
Kreisen  näher  gebracht  werden,  dann  ist  es  die  Pflicht  der 
Auftraggeber,  wenigstens  ein  bis  zwei  Jahre  vorher  sich 
schlüssig  zu  machen,  den  wissenschaftlich  befähigten  Ar- 
beiter auszuwählen  und  die  relativ  —  im  Vergleich  etwa  zu  den 
Kosten,  die  ein  Festzug  verursacht  —  recht  geringen  Aufwendungen 
für  die  Arbeit,  Druck  und  würdige  Ausstattung  zweckent- 
sprechend anzuwenden.  Es  ist  dabei  stets  zu  bedenken,  dafs  derartige 
Festschriften  weit  verbreitet  und  noch  auf  lange  Zeit  hinaus  gelesen  zu  werden 
pflegen ! 

Derartige  Gedanken  drängen  sich  auf,  wenn  man  die  reiche  Literatur 
überblickt,  die  anläfslich  der  Hundertjahrfeier  der  Einverleibung  vormals 
reichsstädtischer  und  geistlicher  Gebiete  in  Preufsen  ent- 
standen ist  Die  Einverleibung  war  die  Ausfühnmg  der  im  Frieden  von 
Luneville  (9.  Februar  1801)  getroffenen  Vereinbarungen,  sie  ist  ein  bedeut- 
sames Ereignis  für  Städte  und  Landschaften  und  verdient  unstreitig  eine  orts- 
geschichüiche  Würdigung,  die  gerade  in  solchen  Fällen  die  Darstellung  der 
allgemeinen  Geschichte  wohltuend  zu  ergänzen  vermag.  Alle  diejenigen 
Schriften,  die  der  Redaktion  dieser  Zeitschrift  zugegangen  sind  —  es  sind 
längst  nicht  alle  erschienenen  — ,  sollen  hier  kurz  charakterisiert  werden  und 
wir  beginnen  mit  Nordhausen,  das  sich  rühmen  kann,  zwei  Festschriften 
hervorgebracht  zu  haben. 

Am  6.  Juni  1802  wurde  Nordhausen  preufsisch;  Magistrat  imd  Stadt- 
verordnete beschlossen  im  Januar  1901  eine  Festschrift  ausarbeiten  zu  lassen, 
die  besonders  die  gegenseitigen  Beziehungen  zwischen  dem  preufsischen  Staate 
und  der  Stadt  darstellen  sollte,  imd  im  Oktober  1901  erhielt  der  Mittel- 
schullehrer Hermann  Heineck  den  Auftrag  zur  Abfassung  derselben*). 
Die  Zeit  war  gewifs  recht  kurz,  aber  da  der  Beauftragte  in  der  Geschichte 
seiner  Heimatstadt  gut  bewandert  und  zudem  Stadtarchivar  ist,  so  konnte 
sie  zur  Not  genügen.     Und  in  der  Tat  merkt  man   dem  Buche   die   rasche 


i)  Brandenburg-Preußen  tmd  Nordhattsen  in  ttrkundlieher  Darsteüungj  Nord« 
hausen,  Kommbsionsverlag  von  C.  Haackes  Buchhandlung,  1902.     238  S.     8^ 


—     27     — 

Entstehung  nicht  an,  es  zeichnet  sich  aus  durch  eine  verständige  Berührung 
der  grofsen  politbchen  Vorgänge,  ohne  dafs  der  nächste  Zweck  auch  nur 
einen  Augenblick  vergessen  wäre.  Die  Reichsstadt  Nordhausen,  seit  1650 
von  brandenburgisch-preufsischem  Gebiete  umgeben,  ist  nattiriich  schon  längst 
vor  1802  in  engere  Berührung  mit  dem  aufstrebenden  Staate  gekommen,  und 
die  Einverleibung  am  6.  Juni  d.  J.  schliefst  deshalb  nur  einen  Prozeis  ab, 
der  mit  dem  Entschädigungsanspruch  beginnt,  den  der  Grofse  Kurfürst  am 
26.  JuH  1680  beim  Reiche  für  seine  Opfer  in  den  Reichskriegen  erhob. 
Bei  diesem  Punkte  muiste  die  Erzählung  einsetzen ;  es  wird  dann  anschaulich 
die  käufliche  Erwerbung  der  Reichsvogtei  und  des  Reichsschultheifsenamts 
in  Nordhausen  durch  Kurbrandenburg  von  Kursachsen  1698  geschildert,  die 
preufsische  Okkupation  der  Stadt  1703  imd  ihre  Leiden  im  Siebenjährigen 
Kriege.  Dann  erfahren  wir  näheres  über  das  innerstädtische  Leben,  über  das 
Aufboten  kirchlicher  Sektierer  1751  — 1766,  sowie  über  Verfiissung,  Ver- 
waltung und  Leben  in  der  Reichsstadt  am  Ende  des  XVIII.  Jahrhunderts 
(S.  69 — 107).  Die  Einverleibung  in  Preufsen  selbst  und  der  Besuch  des 
Königspaares  1805  oaufste  natürlich  etwas  ausführlicher  behandelt  werden, 
als  ihm  an  sich  zukommt  (S.  108  —  142);  die  Fremdherrschaft  1806 — 1813 
und  die  Befreiungskriege,  nach  denen  18 15  Nordhausen  wieder  preufsisch 
ward,  sowie  die  äufseren  Ereignisse  bis  1852  (S.  143 — 187)  werden  durch- 
aus angemessen  so  geschildert,  dafs  die  Stadt  selbst  immer  der  Gegenstand 
bleibt  und  alles  andere  nur  den  Hindergrund  bildet  Die  preuisischen  Könige 
als  Gäste  der  Stadt  (S.  188 — 199)  behandelt  ein  besonderes  Kapitel,  das 
wir  als  ein  Zugeständnis  an  das  gröfsere  Publikum  zu  betrachten  haben, 
während  die  knappe  Vergleichung  der  Zustände  1852  und  1902  (S.  200 
bis  211)  geradezu  als  vorbildlich  für  eine  Stadtgeschichte,  die  bis  zur  Gegen- 
wart geführt  wird,  gelten  kann.  Zum  Schlufs  sind  Anmerkungen  und  ur- 
kundliche Beilagen  (S.  312 — 238)  mitgeteilt  Eine  Nachprüfung  der  Dar- 
stellung ist  dem  Berichterstatter  natürlich  nicht  möglich,  aber  überall  herrscht 
Klarheit  und  ein  Verständnis  für  die  Ereignisse  und  Zustände  der  Vergangen- 
heit, die  2^ichen  einer  wirklichen  geschichüichen  Bildimg.  Der  Bürger  von 
Nordhausen,  für  den  das  Buch  zunächst  geschrieben  ist,  aber  auch  jeder 
Geschichtsfreund  muis  es  mit  Befriedigung  lesen  und  kann  sein  geschicht- 
liches Wissen  daraus  vermehren. 

Aufiallenderweise  ist  nun  neben  dieser  im  Auftrag  der  städtischen  Be- 
hörden verfiaifsten  und  würdig  ausgestatteten  Schrift  noch  eine  andere  er- 
schienen: Nardhausen  und  Preußen,  Festbeitrag  xur  Jubelfeier  der  hundert- 
jährigen Zugehörigkeit  NorcUiausens  zu  Preuften  am  6.  Juni  1902,  nach 
wrkwndUchen  Qu^le^i  x/usammengestellt  von  K.  Heine,  Mittelschulrektor  in 
Nordhausen  (Nordhausen,  L.  Homickel  1902.  119  S.  8®).  Der  Inhalt  ist 
natüriich  im  grofsen  und  ganzen  derselbe,  wie  in  der  oben  besprochenen 
Schrift,  nur  ist  es  dem  Verfisisser  nicht  gelungen,  ein  einheitliches  Bild  zu 
zeichnen,  und  auf  Schritt  tmd  Tritt  macht  sich  das  Fehlen  einer  allgemeinen 
geschichtlichen  Bildung  und  der  Mangel  eines  Verständnisses  für  die  Zu- 
stände des  XVIII.  Jahrhunderts  geltend.  Viel  zu  viel  Aktenstücke  sind  im 
voUen  Wortlaut  im  Texte  mitgeteilt,  bei  denen  eine  kurze  und  klare  Angabe 
des  Inhalts  am  Platze  gewesen  wäre.  Die  ganze  Unfertigkeit  der  Schrift  be- 
zeichnet schon  das  voranstehende  Quellenverzeichnis,  in  dem  in  biblio- 


—     28     — 

graphisch  unverantwortlicher  Fassung  die  örtliche  Literatur  untermischt  mit 
einigen  Aktenstücken  aus  Dresden,  Berlin  und  dem  Nordhäuser  Stadtarchiv 
verzeichnet  ist  Wie  im  Text  Lesser-Förstemann  und  die  übrige  orts- 
geschichtliche Literatur,  namentlich  eine«  Festschrift  von  1852,  in  ungebühr- 
licher Weise  ausgeschrieben  ist,  so  ist  die  Einleitung  geradezu  ein  literarisches 
Unikum,  da  sie  wörtlich  aus  Damus,  Danxiga  Eintritt  in  den  preufsischen 
Staat  im  Jahre  1793  (2.  Aufl.  1894)  —  im  Quellenverzeichnis  mit  fal- 
schem Titel  angeführt  —  abgeschrieben  und  nur  Dan  zig  durch  Nord- 
hausen ersetzt  ist  Eine  derartige  Weitherzigkeit  in  bezug  auf  die  Benutzung 
geistigen  Eigentums  anderer  mufs  allerdings  und  besonders  bei  einem  Schul- 
manne Bedenken  erregen. 

Für  Mühlhausen  ist  eine  entsprechende  Schrift  von  dem  auf  dem  Ge- 
biete der  Stadtgeschichte  vielfech  tätigen  Professor  R.  Jordan  erschienen  *), 
die  aber  nicht  zur  Besprechung  vorliegt;  jedoch  verrät  der  Preis  (0,80  Mk.), 
dafs  es  eine  kleine  Schrift  ist,  die  wohl  nur  den  Vorgang  selbst  erläutert. 
Preufsisch  ist  Mühlhausen  am  23.  Mai  1802  geworden,  und  Ende  Juni  1803 
stattete  das  Königspaar  der  Stadt  einen  Besuch  ab.  Dieses  Ereignis  hat 
Bai  Heu  zu  einem  Erinnerungsblatte  benutzt  und  kurz,  aber  ansprechend  in 
einem  Aufsatze:  Königin  Luise  und  die  Stadi  Mühlhausen  (=  Mühlhäuser 
Geschichtsblätter,  Jahrgang  III,  1 902/1 903,  S.  i — 4)  die  Ereignisse  geschildert, 
die  mit  dem  Übergang  der  Stadt  an  Preufsen  in  Zusammenhang  stehen.  Be- 
merkenswert ist  dabei  vor  allem,  dafs  die  Mühlhäuser  gern  preufsisch  wurden, 
so  dafs  Wartensleben  am  6.  August  berichten  konnte:  „Die  Aufiiahme  und 
Stimmung  der  Einwohner  war  aufserordentlich  gut.'*  Die  Königin  Luise  hat 
Mühlhausen  nochmals  am  Unglückstage  von  Jena  und  Auerstädt  (14.  Oktober 
1806)  berührt 

Ausschliefslich  um  die  Erinnerung  an  die  Ereignisse  von  1802  in  weiteren 
Kreisen  wachzurufen,  sind  zwei  kleine  Schriften  über  die  Gebiete  der  vor- 
maligen Abteien  Essen  und  Werden  entstanden.  Die  Vereinigung  des 
Stiftes  und  der  Stadt  JEssen  mit  dem  preußischen  Staate,  Festschrift  zur 
1 00jährigen  Jubelfeier  am  3.  August  1902,  von  K.  Ribbeck,  Stadtarchivar, 
(36  S.  16^)  ist  eine  aus  dem  vollen  schöpfende  Darstelltmg  der  Ereignisse, 
die  sich  die  Aufgabe  stellt,  zu  zeigen,  wie  für  Essen  mit  jenem  Tage  eine 
neue  Zeit  beginnt.  Die  knappe  Übersicht  über  die  Geschichte  der  Stadt 
und  Abtei  und  die  Schilderung  der  Zustände  im  Stift  vor  dessen  Auflösung, 
namentlich  auch  mit  Hinsicht  auf  Gewerbe  imd  Industrie  —  Essen  besafs 
schon  damals  eine  angesehene  Gewehrindustrie  —  mufs  als  Muster- 
leistung gelten ;  wenigstens  würde  mancher  andere  kaum  in  einem  Bande  von 
500  Seiten  so  viel  allgemein  Wissenswertes  darzubieten  vermögen.  In  Werden 
hat  der  Historische  Verein  ftir  das  Gebiet  des  ehemaligen  Stiftes  Werden  als 
Beilage  zu  dem  8.  Heft  seiner  „  Beiträge '*  eine  Festschrift  erscheinen  lassen, 
die  zugleich  der  vor  iioo  Jahren  erfolgten  Gründung  Werdens  und  der  vor 
100  Jahren  erfolgten  Einverleibung  in  Preufsen  gedenkt  (37  S.  8**).  Gerade 
ein  Jahrtausend  hat  die  Abtei  Werden  bestanden,  ihr  Anfang  und  ihr  Ende 

i)  Der  Übergang  MühÜutusens  an  die  Herrschaft  Preußens,  MühlhanscD  i.  Tb., 
Danner,  1902.  Hierher  gehört  auch  G.  Thiele,  Hundert  Jahre  unier  Preußens  Aar! 
1802^1902,  Festschrift  zur  Feier  der  100  jährigen  Zugehörigkeit  des  iMndkreises 
MOhihausen  i.  Thiir.  xur  Krone  Preußen.     Mühlhaasen,  Albrecht,  1902. 


—     29     — 

werden  hier  kurz  und  volkstümlich  geschildert.  Steht  die  Darstellung  auch 
nicht  auf  der  Höhe  der  Essener  Festschrift,  da  sie  sich  mehr  an  die 
äufseren  Erscheinungen  hält,  so  ist  sie  doch  höchst  dankbar  zu  begrüisen. 
Die  kurze  vergleichende  Übersicht  über  die  Kulturfortschritte  tmter  preufsischer 
Herrschaft  ist  ansprechend  und  lehrreich,  und  eine  Reihe  Abbildungen  (aulser 
den  Bildern  der  Königspaare  von  1802  und  1903,  Werden  zur  2^it  der  Auf- 
hebung der  Abtei,  Bildnis  des  letzten  Abtes,  MUnsterkirche  nach  der  Restau- 
ration 1893,  Königsbrücke,  Werden  1902)  beleben  die  Darstellung. 

Das  weltliche  Territorium  des  Bischofs  zu  Münster  hörte  wie  alle 
anderen  auf  zu  sein,  und  der  östliche  Teil  mit  der  Stadt  Münster  fiel  an 
Preufsen.  Die  damit  zusammenhängenden  Ereignisse  beschreibt  lebendig 
P&rrer  Stenger  in  dem  Aufsatze:  Wie  das  Münsterland  preu/kisch  wurde 
(=r  Jahrbuch  des  Vereins  fUr  die  evangelische  Kirchengeschichte  der  Graf- 
schaft Mark,  4.  Jahrg.,  1902,  S.  i  — 15).  Das  Besitzeigreifungspatent  vom 
6.  Juni  1802  wurde  in  Münster  zur  höchsten  Überraschung  der  Beteiligten 
erst  am  28.  Juli  mit  einem  Schreiben  des  Ministeriums  vom  24.  Juli  bekannt. 
Dieser  Aufsatz  ist  ein  ganz  erfreulicher  Beitrag,  der  gleichzeitige  Tagebücher  be- 
nutzt und  die  wichtigsten  Aktenstücke  mitteilt,  aber  der  Verfasser  hat  gar  nicht 
die  Absicht,  den  ganzen  Vorgang  geschichtb'ch  zu  würdigen,  und  beschränkt 
sich  meist  auf  tatsächliche  Mitteilungen.  Dies  ist  entschieden  besser,  als 
wenn  die  Zustände,  worauf  es  bei  einem  Gesamtbilde  vor  allem  ankommt, 
nur  oberflächlich  charakterisiert  werden. 

Unzweifelhaft  die  bedeutendste  der  Jubiiäumsschriften  ist  die  auf  Ver- 
anlassung der  Stadt  Erfurt  erschienene,  die  Stadtarchivar  Overmann  be- 
arbeitet hat  Sie  zeichnet  sich  durch  eine  mustergültige  vornehme  Ausstattung 
aus,  die  im  äufseren  Umschlage  das  feine  Buch  von  1802  geschickt  nach- 
ahmt. Der  Verfasser  beschränkt  den  Gegenstand  und  beschreibt  nur  Die 
ersten  Jahre  der  preußischen  Herrschaft  in  Erfurt,  1802 — 1806  (Mit  6  Ab- 
bildungen, Erfurt,  Keyser,  1902,  145  S.  8<^).  Hier  haben  wir  es  mit  einer 
ganz  ausgezeichneten  Monographie  zu  tun,  die  unter  der  Eigenschaft  als  Ge- 
legenheitsschrift nicht  im  mindesten  leidet,  wie  man  es  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  sonst  wohl  in  den  meisten  Fällen  beobachten  kann.  Gewifs  war  es 
eine  schöne  Aufgabe,  eine  solche  Übergangszeit,  in  der  altes  imd  neues  mit- 
einander kämpfen,  gerade  für  eine  Stadt  von  der  Bedeuttmg  und  Vergangen- 
heit Erfurts  darzustellen,  aber  andrerseits  ist  die  Aufgabe  so  grofs  imd  der 
zu  bewältigende  Stoff  so  reich,  dafs  Entsagung  und  Geschick  dazu  gehört, 
um  sich  ihrer  in  angenehmer  Form  auf  anderthalbhundert  Seiten  zu  ent- 
ledigen. Der  Verfasser  beginnt  mit  der  Schilderung  der  Besitzergreifung 
durch  Preufsen  und  schliefst  mit  einer  kurzen  Zusammenfassung  der  über 
Erfiirt  schwebenden  unmittelbaren  Herrschaft  Napoleons  1807— 18 14.  Seine 
wesentliche  Aufgabe  aber  sieht  er  darin,  zu  schildern,  wie  Erfurt  1802  aus- 
sah, was  Preufsen  in  den  vier  kurzen  Jahren  bis  zur  Katastrophe  von  Jena 
für  die  Stadt  getan  und  wie  sich  diese  in  dieser  Zeit  selbst  umgestaltet 
hat.  Wir  verfolgen  die  interimistische  Verwaltung,  die  staatliche  Organisation 
des  Gebietes  in  Rechtspflege,  Stadtverfassung,  Wirtschaft,  sowie  Kirchen-  und 
Schulwesen,  und  eine  eingehende  Charakteristik  des  geistigen  Lebens  schliefst 
das  Ganze  ab.  Das  Ende  der  alten  Zeit,  namentlich  Dalbergs  einsichtsvolles 
Walten,  tritt  deutlich  vor  das  Auge;  die  herausfordernde  Haltung  des  Gouver- 


—     30     — 

neurs  von  WarteDsieben  gegenüber  der  Bürgerschaft,  die  trotzdem  im  ganzen 
preu&enfireundliche  Stknmung  der  Bevölkerung  werden  lebendig  geschildert^  und 
keinen  Augenblick  kann  das  Interesse  des  Lesers  erlahmen. 

Noch  eine  andere  Schrift  mag  hier  angereiht  werden,  die  den  bereits 
1698  erfolgten  Eintritt  Quedlinburgs  in  den  brandenburg-preuisischen  Staat 
behandelt ').  Es  ist  eine  Festschrift  zur  200jährigen  Jubelfeier  der  preufsi- 
sehen  Königskrönung,  in  der  die  Festveranstaltungen  vom  Januar  1701,  die 
zugleich  die  erste  Huldigung  der  Stadt  für  den  neuen  Landesherm  darstellen, 
ansprechend  geschildert  werden.  Die  Zustände  Quedlinburgs  am  Ende  des 
XVII.  Jahrhunderts,  die  Ereignisse,  die  zu  dem  Verkauf  von  Stift  und  Stadt  seitens 
Kursachsens  an  Kurbrandenburg  führen,  die  Besitzergreifung  selbst  imd  die 
ersten  brandenburgischen  Regierungsmafsnahmen  werden  schlicht  beschrieben, 
aber  der  Verfasser  verrät  dabei,  dafs  er  die  Geschichte  der  Stadt  und  die 
geschichtlichen  Probleme  des  XVII.  und  XVIII.  Jahrhunderts  beherrscht, 
und  so  wird  auch  diese  Jubiläumsschrift  zu  einem  erfreulichen  Zeichen  fttr 
die  Vertiefung  der  eng  begrenzten  ortsgeschichtlichen  Studien  unserer 
jüngsten  Vergangenheit  »A.  T. 

ArchlTe.  —  E>ie  heute  vielfach  erörterte  Frage,  welche  gesetzlichen 
Bestimmungen  hinsichtlich  der  Archive  gelten,  hat  neuerdings  Archivrat 
Lippert  (Dresden)  für  die  Städte  der  östlichen  Provinzen  Preufsens  — 
Ost-  und  Westpreufsen,  Posen,  Pommern,  Brandenburg,  Schlesien,  Sachsen  — 
beantwortet  *).  Die  Materie  wird  geregelt  durch  die  preufsische  Städte- 
ordntmg  von  1853  und  das  Zuständigkeitsgesetz  von  1883,  aber  verschiedene 
Ministerialerlasse  und  Obenrerwaltungsgerichtsentscheidungen  sind  zur  Er- 
läuterung und  Ergänzung  heranzuziehen.  Nachdem  schon  182 1  Hardenberg 
den  Städten  die  Abgabe  ihrer  Urkunden  an  das  Geheime  Staatsarchiv  an- 
geboten hatte,  stellte  1827  ein  Reskript  des  Ministeriums  des  Innern  fest, 
dafs  die  Erhaltung  der  städtischen  Archive  zu  den  Pflichten  der  städtischen 
Beamten  gehört  und  dafs  die  vorgesetzten  Regierungen  das  Recht  haben, 
diese  zu  Erfüllung  dieser  Pflicht  anzuhalten,  und  in  dem  Zirkularreskript 
des  Ministeriums  des  Innern  vom  3.  März  1832  heifst  es:  „Es  ist  eine 
unzweifelhafte  Pflicht  der  Kommunalbehörden,  über  die  Er-  ' 

haltung  des  städtischen  Eigentums  zu  wachen;   und  da  Akten  % 

und  Urkunden  ein  sehr  wichtiger  Teil  dieses  Eigentums  sein 
können,  so  mufs  von  den  vorgesetzten  Behörden  darüber  Auf- 
sicht geführt  werden,  dafs  sie  dieser  Pflicht  auch  in  Hinsicht 
der  städtischen  Archive  nachkommen.  Schon  hier  ist  deutlich 
ausgesprochen,  dafs  das  Archiv  ein  Teü  des  Stadtvermögens  ist;  die 
Städteordnung  von  1853  bringt  dasselbe  zum  Ausdruck,  aber  verfügt  auch, 
dafs  der  Magistrat  über  alle  TeUe  des  Vermögens  ein  Lagerbuch  zu  führen 
hat,  und  damit  ist  die  Inventarisation  der  Stadtarchive  gesetzlich 
als   notwendig   anerkannt.     Zur  Veräufsenmg  oder  wesentlichen  Veränderung 

i)  Hermann  Lorenz,  Die  Einführung  der  Brandenburg- Preußischen  Landes- 
hoheit in  die  Siadt  Quedlinburg  und  die  Feier  des  Krönungstages  daselbst  am  17.  und 
18.  Januar  1701.     Quedlinburg,  Vieweg,   1901.     32  S.  8**. 

2)  Die  für  die  Niederlausiix  geltenden  Bestimmungen  über  die  Stadtarchive  in 
den  Niedcrlansitzer  Mitteilungen  7.  Bd.  (1903),  S.  383—397. 


—     31     — 

von'  Sachen ,  welche  einen  besonderen  wissenschaftlichen ,  historischen  oder 
Ktinstwert  haben,  namentlich  von  Archiven  oder  Teilen  derselben,  seitens 
der  Stadtgemeinde  ist  nach  S  50  der  Städteordnung  die  jedesmalige  Zu- 
stimmung des  Regierungspräsidenten  erforderlich,  und  das  Zuständigkeits- 
gesetz von  1883  hat  diesen  Grundsatz  übernommen.  Eine  Entscheidung 
des  Oberverwaltungsgerichtes  von  1898/99  hat  aufserdem  festgestellt,  dafs 
die  Obhut  über  das  Archiv  lediglich  dem  Magistrat  zusteht  und  zwar  in 
seiner  Eigenschaft  als  Stadtobrigkeit  und  nicht  in  der  eines  ausführenden 
Organs  der  Gemeindeverwaltung,  dafs  mithin  der  Stadtverordnetenversammlung 
eine  Mitwirkung  nicht  zukommt,  auiser  für  den  Fall,  dafs  finanzielle  Auf- 
wendungen erforderlich  sind.  Aus  dieser  Dariegung  ergibt  sich  mit  vollster 
Klarheit  die  Pflicht  des  Stadtmagistrats,  flir  sein  Archiv  zu  sorgen;  wie  dies 
zu  geschehen  hat,  bezw.  wie  es  geschehen  kann,  darüber  wird  im  einzelnen 
Falle  entschieden  werden  müssen,  aber  die  allgemein  mafsgebenden  Gesichts- 
punkte stehen  unverrückbar  fest. 

KommlfiSlolien.  —  Aus  dem  Berichte  über  die  29.  ordentliche 
Sitzung  der  Historischen  Kommission  für  Sachsen -Anhalt,  die  am 
23.  und  24.  Mai  1903  in  Erfurt  stattfand,  ist  folgendes  mitzuteilen  ^).  Der 
vierte  Band  des  Urkundenbuchs  der  Stadt  Goslar  (1336 — 1364)  ist  nahezu 
druckfertig,  die  Vollendung  des  Urkundenbuchs  des  Klosters  Unser  Lieben 
Frauen  in  Halberstadt  steht  in  Aussicht,  vom  Urkundenbuch  des  Klosters 
Pforta  ist  auch  die  zweite  Hälfte  des  ersten  Bandes  im  Druck  vollendet 
Gefördert  worden  sind  die  Arbeiten  für  die  Herausgabe  des  Erfurter 
Varietatum  varüoquus  und  der  Qnedlinburger  Paurgedinge,  Rats-  und 
Kirchenordnungen  sowie  die  der  Kirchenvisitationsprotokolle  des  Kurkreises 
von  1528  bis  1592  durch  Archidiakonus  Pallas  in  Herzberg.  Dagegen 
sind  die  Verhandlungen  über  Bearbeitung  eines  Urkundenbuchs  des  Hoch- 
stifb  Zeitz  noch  nicht  abgeschlossen,  während  die  Bearbeitung  eines  Ur- 
kundenbuchs von  Neuhaldensleben  in  Angriff  genommen  und  die  des 
Eichsteldschen  Urkundenbuches  wieder  aufgenommen  worden  ist  —  Als 
Neujahrsblatt  für  1903  ist  eine  Schrift  von  Archivrat  Wäschke  über  die 
Dessauer  EWbrücke  erschienen.  —  Von  den  Beschreibungen  der  Bau-  und 
Kunstdenkmäler  ist  Halberstadt  erschienen,  der  Stadtkreis  Naumburg 
ist  im  Druck  und  Stadtkreis  Aschersleben  ist  druckfertig,  während  in 
Wernigerode  die  Arbeiten  im  Gange  sind.  —  An  den  geschicht- 
lichen und  vorgeschichtlichen  Karten,  sowie  den  Grundkarten 
ist  rüstig  weiter  gearbeitet  worden.  Desgleichen  wurden  die  Arbeiten  an 
den  Flurkarten  *)  fortgeführt  Von  den  vorgeschichtlichen  Wandtafeln 
sind  bis  jetzt  3928  Stück  abgesetzt  worden.  —  Zur  Veröfifentlichung  des 
hochwichtigen  Brakteatenfundes  von  Seega  (Schwarzburg- Rudolstadt), 
welche  die  Historische  Kommission  für  Hessen  und  Waldeck  veranlafst,  leistet 
die  Kommission  einen  Beitrag. 

Zu  Mitgliedern  der  Kommission  an  SteUe  von  Dümmler  und  v.  Win- 
tzingerode-Knorr  wurden  der  Direktor  des  Provinziafanuseums  Förtsch 


i)  Über  die  27.  und  28.  Sitzung  Tgl.  dieie  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  312 — 313. 
2)  Vgl.  diese  Zeitschrift  4.  Bd.,  S.  249. 


—     32     — 

und  Privatdozent  Heldmann  in  Halle  ernannt;  die  Sitzung  im  Jahre  1904 
wird  in  Genthin  stattfinden. 

Dem  sechsten  im  Mai  1903  erstatteten  Jahresbericht  der  Historischen 
Kommission  für  Hessen  und  Waldeck  ^)  ist  über  den  Fortgang  der 
Arbeiten  folgendes  zu  entnehmen.  Ausgegeben  konnte  auch  in  diesem  Jahre 
eine  Publikation  nicht  werden,  aber  die  dritte  Lieferung  des  Hessischen 
Trachtenbuchs  liegt  fertig  vor,  und  die  Herstellung  der  vierten  wird  sich 
unmittelbar  anschliefsen.  Alle  anderen  begonnenen  Publikationen  sind  trotz 
vielfacher  Behinderung  der  Bearbeiter  erheblich  gefordert  worden.  Für  die 
Bearbeitung  der  Landgrafenregesten  ist  in  O.  Grotefend  eine  EGllfskraft 
gewonnen  worden,  unter  Leitung  von  Prof.  Höhl  bäum  wurde  die  Bear- 
beitung eines  Urkundenbuchs  der  Stadt  Wetzlar  in  Angriff  genommen. 
Als  Vorarbeit  für  das  hessische  Münzwerk  wurde  die  Publikation  des  um  12 10 
vergrabenen  Münzfunds  von  Seega,  dessen  Hebung  Dr.  Buchenau 
im  Juli  1902  gelang,  beschlossen  imd  mit  Unterstützung  der  Historischen 
Kommission  für  Sachsen- Anhalt  so  gefördert^  dafs  der  Versammlung  bereits 
einige  Probetafeln  vorgelegt  werden  konnten.  Das  ganze  Weric,  das  1904 
fertig  vorliegen  wird,  soll  25  Tafeln*  mit  je  20  Abbüdungen  und  den  nötigen 
Beschreibungen  tunfassen.  Ein  dreigliederiger  Ausschufs  wurde  schliefslich 
beauftragt,  der  nächsten  Versammlung  einen  Plan  zur  Herausgabe  von  Quellen 
%wr  Geschichte  des  geistigen  und  kirchlichen  Lebens  in  Hessen  und  Wcddeek 
vorzulegen. 

Zu  Mitgliedern  wurden  gewählt  Superintendent  Wissemann  (Hof- 
geismar), die  Professoren  Haller,  Tröltsch,  Vogt  imd  Wiegand 
(Marburg)  und  Archivassistent  Knetsch  (Wiesbaden).  Der  Jahreseinnahme 
von  6509  Mk.  steht  nur  eine  Ausgabe  von  1849  ^^*  gegenüber,  der  Kassen- 
bestand weist  die  Sunune  von  1 7480  Mk.  auf. 

Eingegangene  Bfieher. 

Hansen,  R. :  Wiedertäufer  in  Eiderstedt  bis  16 16  [=s  Schriften  des  Vereins 
für  schleswig-holsteinische  Kirchengeschichte  IL  Reihe,  2.  Bd.,  S.  175  bis 

238  und  344—399]- 

Ilwolf,   Franz:   Karl  Gottfried  Ritter  v.  Leitner.     Graz  1893.     60  S.  8<>. 

John,  Alois:  Oberlohna,  Geschichte  und  Volkskunde  eines  egerländer 
Dorfes  [=»  Beiträge  zur  deutsch-böhmischen  Volkskunde,  FV.  Bd.,  2.  Heft]. 
Prag,  J.  G.  Calve'sche  k.  u.  k.  Hof-  und  Universitätsbuchhandlung 
(Josef  Koch),  1903.     195  S.  8^. 

L  o  o  s  e ,  F. :  Aus  Grofsmühlingens  Vergangenheit,  ein  Beitrag  zur  Volkskunde 
des  ehemaligen  Nordthüringgaus.   Dessau,  C.  Dünnhaupt,  1903.   46  S.  S^, 

Prall:  Der  Norderdithmarscher  Kaland  [=  Schriften  des  Verems  für  schleswig- 
holsteinische Kirchengeschichte  II.  Reihe,  2.  Bd.,  S.  400 — 40 5J. 

Redlich,  Oswald:  Tirolische  Geschichtsquellen  des  Mittelalters  [Sonder- 
abdruck aus  der  Festschrift  des  akademischen  Historiker-Klubs  in  Inns- 
bruck zum  30.  Stifhmgsfest  1903].     8  S.  8<^. 


i)  Über  den  Stand  der  Arbeiten  1902  vgl.  diese  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  313. 


Herausseher  Dr.  Annin  Tille  in  Leiptif. 
Druck  und  Verlag  ron  Friedrich  Andreas  Perthes,  AktieageselUchaft,  Gotfia. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


lur 


Förderung  der  landesgescMchtlichen  Forschung 

_  ■       _  11^  I  ■      -  _■---_ -         -    — 

V.  Band  November  1903  2.  Heft 


Hceresgesehiehte 

Von 
Wilhelm  Erben  (Innsbruck) 

Durch  geraume  Zeit  hat  die  heeresgeschichtliche  Literatur,  soweit 
sie  das  Gebiet  des  alten  deutschen  Reiches  betrifil,  sich  vorwiegend  mit 
der  Geschichte  einzelner  Truppenkörper  befafet.  Das  war  weniger  in 
den  Eigentümlichkeiten  des  darzustellenden  Gegenstandes  begründet 
als  in  den  Antrieben,  welche  bei  der  historischen  Betätigung  mais- 
gebend waren.  Der  Offizier,  welcher  Armeegeschichte  treibt,  sieht  in 
ihr  vor  allem  einen  starken  Hebel  zur  Förderung  des  kriegerischen 
Geistes  im  Heere  und  er  empfindet  den  Zusammenhang  mit  den  Taten 
seiner  Vorfahren  im  gleichen  Berufe  um  so  lebhafter,  je  enger  der 
Kreis  ist,  der  ihn  mit  jenen  vereint.  Das  sind  die  wohlberechtigten 
Gründe,  welche  in  den  letzten  Jahrzehnten  eine  so  überaus  gro&e 
Zahl  schriftstellernder  Offiziere  auf  das  Gebiet  der  Regimen ts- 
geschichte  gelockt  und  es  bewirkt  haben,  dafs  im  Deutschen  Reiche 
wie  in  Österreich  eine  schwer  zu  überblickende  Menge  von  Darstellungen 
dieser  Gattung  emporgewachsen  ist  *). 


i)  Pohler  hat  im  3.  Bande  seiner  Bibltotheea  hiitoriea  müitarU  (Cassel  1895) 
in  der  Abteilang  Eeeres-  und  Tnippengesehiehte  ^  S.  347^439  «och  die  Regiments- 
geschichten berücksichtigen  wollen.  Aber  seine  Liste  ist,  wenigstens  was  Österreich  be- 
trifft, auch  för  den  damaligen  Stand  sehr  lückenhaft.  Eine  annähernd  vollständige  Anf- 
sählang  der  österreichischen  Regimentsgeschichten  bietet  der  3.  Band  des  KaUUoges  der 
Bibliothekabteüung  des  k.  und  k.  Kriegsarchiva  (Wien  1896,  mit  in  Conponform  ge- 
druckten Nachträgen,  S.  561 — 587).  Referate  über  die  neaen  Erscheinungen  aaf  diesem 
Gebiete  bringen  jetzt  fast  nur  die  militärischen  Fachblätter.  Es  wäre  Tcrdienstlich,  wenn 
auch  die  grölseren  historischen  Organe,  wie  es  einst  in  der  Historischen  Zeitsehriß 
Brancfa  war  (rgh  Bd.  37,  3816.  and  550;  46,  317  ff.;  57,  552)  von  Zeit  za  Zeit  Be- 
sprechungen über  nea  erschienene  Bücher  dieser  Art  bieten  and  aaf  diese  Weise  das  red- 
liche Streben,  das  sich  in  vielen  offenbart  ond  das  doch  natorgemäls  oftmals  der  Scholong 
in  geschichtswissenschafUichen  Dingen  bedarf,  darch  wohlmeinende  Kritik  bestärken  ond 
da  ond  dort  aaf  den  richtigen  Weg  leiten  würden. 

3 


—     36     — 

Sorgfalt  verwandt  ist  *).  Aber  das  ist  eine  Eigenheit,  für  welche  wieder 
nicht  der  Autor  allein  verantwortlich  zu  machen  ist,  da  sie  auch 
anderen  VeröfTentlichungen  derselben  Anstalt  anhaftet.  Es  liegt  hierin 
eine  Verkennung  des  wissenschaftlichen  Bedürfnisses.  Verschmähen 
es  monumentale  Editionen  wie  die  Monumenta  Germaniae  oder  die 
VeröfTentlichungen  anderer  gelehrter  Gesellschaften  nicht,  sich  mit  der 
vorausgegangenen  Literatur  auseinanderzusetzen,  so  kann  auch  der  offi- 
zielle Charakter  der  vom  Kriegsarchive  herausgegebenen  Geschichts- 
werke, soweit  sie  auf  wissenschaftlichen  Wert  Anspruch  erheben,  nicht 
von  dieser  Verpflichtung  entbinden.  Sie  ist  nicht  etwa  löbliches 
Herkommen  oder  Höflichkeitssache,  sondern  die  notwendige  Voraus- 
setzung wissenschaftlichen  Fortschrittes  und  es  ist  bedauerlich,  dals 
auch  die  Geschichte  der  Wehrmacht  dieser  Sachlage  nicht  vollkommen 
Rechnung  trägt. 

Mit  Belegen  archivalischer  Art  ist  Freih.  v.  Wrede  erfreulicher- 
weise ziemlich  reichlich  vorgegangen;  aber  auch  hier  bleibt  manches 
zu  wünschen  übrig.  So  sind  beispielsweise  die  für  die  Benennung  der 
Regimenter  mafsgebenden  Reihen  der  Inhaber  und  jene  der  Obersten 
zwar  vielfach,  aber  doch  selbst  fürs  XVII.  Jahrhundert  durchaus  nicht 
überall  mit  der  Anführung  des  Patentes  oder  der  Bestallung  nebst 
Archivsignatur  versehen;  häufig  fehlt  die  Signatur,  häufig  auch  jeder 
Beleg.     Ist,  wo  dies  zutrifft,  die  betreffende  Urkunde   nicht   mehr   er- 

i)  Mit  Unrecht  sagt  F er d.  Wagner  in  den  Mitteütmgen  des  Instituts  für  österr, 
Geschiehtsforsehung  23,  701,  es  sei  in  der  Geschichte  der  Wehrmacht  neben  den  hand- 
schriftlichen QueUen  „aach  die  gedruckte  Literatur  im  vollen  Umfange  berücksichtigt". 
Werke  über  den  Dreifsigjährigen  Krieg  finden  sich  allerdings  oftmals  angeführt,  aber 
keineswegs  überall,  wo  es  zu.  erwarten  wäre,  and  zudem  in  recht  sorgloser  Weise.  So 
werden  mehrbändige  Werke  ohne  Band-  und  ohne  Seitenangabe  zitiert  (2,  112:  „Ge- 
schichte  des  Infanterie •  R^iments  Nr.  8";  3,  409:  „Heilmann,  Kriegsgeschichte  von 
Baiem*^),  so  wird  mit  Vorliebe  die  Bandzahl  weggelassen  (2,  25  und  3,  388  wird:  „Förster, 
Waldsteins  Briefe  p.  140**  resp.  p.  132  usw.  angeführt;  damit  ist  der  erste  Band  von 
Förster,  Albrechts  von  Wallenstein  Briefe  gemeint;  ebenso  3,  431  und  433  mit 
„Hallwich  S.  564,  S.  60":  Hallwich,  Wallensteins  Ende  i,  564  resp.  i,  60).  Auch 
an  unrichtigen  Zitaten  ist  kein  Mangel;  2,  57  Anm.  4  wird  „Hallwich  p.  233"  angeftUirt; 
gemeint  ist  wohl  das  schon  angefahrte  Werk  von  Hall  wich  2,  lai.  Statt  „Hallwich  p.  264'* 
(2y  51,  Anm.  k)  könnte  man  Hallwich  i,  371  lesen,  wobei  aber  der  Monat  nicht  über- 
einzustimmen scheint  Falsch  sind  auch  die  Zitate  aus  Förster,  welche  Wrede  3,  390, 
Anm.  I  und  3,  430,  Anm.  2  anftlhrt.  Sehr  bedauerlich  ist  es  femer,  dafs  im  spezieUeo 
Teil  die  Regimentsgeschichten  nicht  angeführt  sind.  Wrede  zitiert  Patente  und  Kapitu- 
lationen nur  mit  der  Archivsignatnr  auch  dsuin,  wenn  diese  Stücke  in  der  Regimentsgeschichte 
gedruckt  sind,  so  etwa  i,  117  und  130  die  Kapitulationen  vom  19.  Aug.  171 5,  ge- 
druckt bei  Pizzighelli,  Oeseh,  des  Mf-Regts.  Nr.  7,  S.  15  ff.  und  Stanka,  Oesek. 
des  iif,'Begts,  Nr.  3,  2,  121  ff.  usw. 


J 


—     37     — 

halten,  so  wäre  es  nötig  gewesen,  anzuführen,  aus  welchen  ander- 
weitigen Quellen  der  eingetretene  Namenswechsel  erschlossen  worden 
ist  ^),  was  freilich  manchmal  zu  ziemlich  breiten,  aber  jedenfalls  nütz- 
lichen Erörterungen  Anlais  gegeben  hätte,  in  anderen  Fällen  aber 
durch  den  Hinweis  auf  die  betreffende  Regimentsgeschichte  kurz  zu 
erledigen  gewesen  wäre.  Wo  aber  Patent  oder  Bestallung  vorliegen, 
da  würde  man  gerne  stets  auch  das  Tagesdatum  beigefügt  sehen; 
auch  das  mag  Schwierigkeiten  verursachen,  da  die  Daten  in  den  Kon- 
zepten korrigiert  oder  in  scheinbar  zusammengehörigen  Stücken  ver- 
schieden sein  können ;  aber  die  Lösung  solcher  kleiner  chronologischer 
Fragen  oder  die  offene  Darlegung  der  in  den  Quellen  sich  ergebenden 
Widersprüche  hätte  sicherlich  zu  lohnenden  Ergebnissen  geführt.  Mit 
blolser  Andeutung  des  Zweifels  *)  ist  die  wissenschaftliche  Aufgabe 
nicht  erledigt. 

In  dem  knappen  Rahmen,  an  den  sich  die  Geschichte  der  Wehr- 
macht mit  militärischer  Pünktlichkeit  hält,  waren  freilich  kritische  Er- 
örterungen, wie  ich  sie  hier  als  nötig  bezeichne,  kaum  unterzubringen ; 
sie  hätten  die  Geschichten  der  ältesten  Regimenter  und  namentlich 
jene  der  schon  im  XVII.  Jahrhundert  aufgelösten  Truppenkörper  un- 
verhältnismäfsig  anschwellen  lassen  und  von  selbst  das  Schema  der 
regimenterweisen  Ordnung  gesprengt  und  zu  einer  zusammenfassenden 
chronologisch  fortschreitenden  Behandlung  der  gesamten  Armee- 
geschichte oder  doch  der  einzelnen  Truppengattungen  geführt.  Dafs 
diese  zusammenfassende  Form  der  Darstellung  sich  wenigstens  bei 
kleineren  Armeen  für  die  ältere,  der  Erkenntnis  gröfsere  Schwierig- 
keiten bietende  Zeit  sehr  gut  eignet,  das  beweist  zur  Genüge  der 
erste  Band  der  Geschichte  des  bayerischen  Heeres,  herausgegeben  vom 
Königl.  bayer.  Kriegsarchiv,  welcher  unter  dem  Sondertitel  Geschichte 
des  hurbayerischen  Heeres  unter  Ferdinand  Maria,  verfafst  von  Oberst 
Karl  Staudinger,  im  Jahre  1901  erschienen  ist  (München,  Lindauer). 

i)  Zameist  wird  dabei  an  Standestabellen ,  Qnartierlisten  n.  dergL  zu  denken  sein, 
aber  auch  diete  erfordern  kritische  Behandlung,  wie  Loewe  in  seiner  Besprechung  in  der 
Hiat.  Ztitsehr.  85,  la;  f.  mit  Recht  andeutet.  —  Wenn  Loewe  aber  Wredes  Werk  „nicht 
sowohl  eine  Geschichte  als  vielmehr  eine  möglichst  systematische  Sammlnng  von  Quellen** 
nennt,  so  mufs  das  tu  Mifsverständnissen  führen.  Als  Anhang  zu  dem  Werke  Wredes 
hätte  eine  Quellensammlung  oder  Qnellenpublikation  recht  wohl  Platz  finden  können,  tat- 
sächlich aber  findet  sich  hierzu  in  dem  ganzen  Werke  bisher  nicht  der  geringste  Ansatz. 

3)  Man  vergleiche  Bemerkungen  wie:  „doch  erscheint  das  Regiment  noch  1639 
genannt  Vielleicht  Verwechslung../*  (3,  64);  „nach  einem  anderen  Ausweis  wäre"  ein 
anderer  Oberst  zu  setzen  (2,  68);  „nicht  ganz  sichergestellt*'  oder  „nicht  ganz  authen- 
tisch** (2,  72,  78  f.). 


—     38     — 

Das  ist  zweifellos  die  beste,  wissenschaftlich  am  höch- 
sten stehende  deutsche  Heeresgeschichte,  die  wir  be- 
sitzen, und  es  ist  kein  Zufall,  dafs  in  diesen  Dingen  Bayern  vor 
anderen  einen  so  g^ofisen  Vorsprung  erreicht  hat  Anger^  durch 
den  um  die  Geschichtswissenschaft  so  hoch  verdienten  König  Maxi- 
milian IL  haben  dort  seit  Jahrzehnten  ernste,  mit  der  wissenschaft- 
lichen Welt  in  Verbindung  stehende  Offiziere,  wie  Würdinge r, 
Heilmann  und  Erhard,  die  Kriegsgeschichte  des  Landes  durch 
das  ganze  Mittelalter  hindurch  und  bis  in  die  Zeit  des  Dreiisigjährigen 
Krieges  hinein  verfolgt.  So  ist  in  München  eine  kriegsgeschichtliche 
Schule  erwachsen,  welche  die  schwierige  Aufgabe  einer  Armeegeschichte 
mit  Geschick  vorbereiten  und  ihr  einen  wahrhaft  wissenschaftlichen 
Charakter  geben  konnte. 

Die  von  Erhard  entworfene  Einleitung  (S.  i — 126)  behandelt  in 
gro&en  Zügen  die  Anfänge  des  bayerischen  Heeres  bis  zu  seiner  in 
den  Jahren  1649  und  1650  eingetretenen  vollständigen  Auflösung.  Für 
diese  neuerlich  auch  von  Riezler*)  ziemlich  ausführlich  dargestellte 
Periode,  ist  vorwiegend  die  bisherige  Literatur  und  sind  nur  stellen- 
weise neue  Quellen  benutzt.  Dagegen  beruht  die  folgende  aus  der 
Feder  Staudingers  geflossene  Darstellung  auf  einem  weitschichtigen 
Quellenmaterial,  über  dessen  Wert  oder  Unwert  der  Leser  Schritt  für 
Schritt  aufgeklärt  wird.  Neben  den  gleichzeitigen  Akten,  welche  zu- 
meist den  Münchener  Archiven  entnommen  sind,  werden  auch  ältere 
gedruckte  Quellen,  wie  Meurers  Mefsrelationen  oder  das  Theatrum 
Europäum  und  seine  Ausschreiber  kritisch  benutzt,  oder  wenn  die 
Umstände  es  erfordern,  ihre  Fehler  erwähnt  und  erklärt.  Daneben 
läuft  eine  sorgfaltige  Berücksichtigung  neuerer  heeresgeschichtlicher 
Arbeiten,  deren  Verdienst  mit  feinem  Takt  hervorgehoben,  deren  Ver- 
seben und  Mängel  aber  allezeit  gewissenhaft  zurückgewiesen  werden. 
Auch  handschriftlich  erhaltene  Arbeiten  zur  Heeresgeschichte,  die  be- 
kanntlich, wenn  sie  unter  den  Akten  des  Archivs  aufbewahrt  werden, 
leicht  zu  Ansehen  und  Einflufs  gelangen,  werden,  wo  es  not  tut,  in 
die  Kritik  einbezogen  und  selbst  die  älteren  Jahrgänge  des  offiziellen 
MUitärhandbuches   für  das  Königreich  Bayern  werden  nicht  mit  der 


I)  Riezler,  Qeachichte  Baiems,  6.  Bd.  (Gotha  1903)  S.  136—170  behandelt 
das  Heerwesen  von  1508 — 1651.  Andere  Teile  der  europäischen  Staatengeschichte,  wie 
etwa  Habers  Geschichte  Östetreiehs,  haben  es  in  Ermangelang  geeigneter  Vorarbeiten 
an  einer  entsprechend  aasflihrlichen  Darstellung  des  Wehrwesens  fehlen  lassen  müssen 
and  auch  die  bekannten  Lehrbücher  der  österr.  Reichsgeschichte  behandeln  aas  demselben 
Grande  das  Heerwesen  nar  süefinUtterlich. 


—     39     — 

Berichtigung  verschont,  wenn  es  gilt,  irgendeine  Einzelheit  der  Heeres- 
geschichte, wie  der  Autor  in  einem  Falle  sagt,  „endgültig  von  allen 
ihr  angehängten  historischen  Schlacken  zu  reinigen".  In  der  Tat, 
Bolche  sorgfältige  und  allseitige  Benutzung  und  Berichtigung  der  Quellen 
und  der  Literatur  ist  der  einzige  zuverlässige  Weg,  um  der  Erkenntnis 
die  Wege  zu  ebnen.  Möge  sie  in  heeresgeschichtlichen  Arbeiten  auch 
anderwärts  eifrige  und  verständnisvolle  Nachachmung  finden! 

Bei  solcher  Methode  und  Denkweise  steht  der  Autor  dem  begreif- 
lichen Streben  anderer,  die  Stämme  der  Regimenter  recht  weit  zurück* 
zuverfolgen,  mit  voller  Unabhängigkeit  gegenüber,  und  es  gelingt  ihm 
der  überzeugende  Beweis,  dafs  kein  bayerischer  Truppenkörper  den 
DreiCsigjährigen  Krieg  um  mehr  als  zwei  Jahre  überlebt  und  dafe  erst 
in  den  Jahren  1664/65  und  1672 — 1675  die  Anfänge  des  neuen  baye- 
rischen Heeres  gelegen  sind.  Indem  nun  die  Versuche  und  Verhand- 
lungen, welche  diesen  Neuaufstellungen  vorangingen,  die  Schwierig- 
keiten, die  sie  begleiteten,  dann  das  allmähliche  Wachsen  und  Erstarken 
der  Formationen  und  in  besonderen  Abschnitten  die  Art  der  Werbung, 
die  Bekleidung  und  Ausrüstung,  die  Verwaltung  und  Verpflegung,  die 
gesamten  Dienstverhältnisse  und  endlich  die  Feldzüge  von  1657  bis 
1674,  zusammenhängend  vorgeführt  werden,  erhalten  wir  von  der  Ent- 
wickelung  dieses  überaus  wichtigen  Zweiges  staatlichen  Lebens  ein 
klares  Bild,  wie  es  die  schematische  Darstellungsweise  der  österreichi- 
schen Heeresgeschichte  doch  nicht  ganz  zu  bieten  vermag. 

Als  eine  überaus  wertvolle  Zutat  des  bayerischen  Werkes  sind 
endlich  die  Beilagen  zu  begrüfeen.  Hier  wird  in  der  Art  eines  Ur- 
kundenbuches  eine  Reihe  der  wichtigsten  in  der  vorausgehenden  Dar- 
stellung benutzten  archivalischen  Quellen  im  Wortlaut  abgedruckt. 
Der  Wert  dieser  Quellensammlung  reicht  in  manchen  Stücken  über 
die  bayerische  Heeresgeschichte  hinaus  *) ,  hier  ist  der  Punkt,  wo  nüt 
Erfolg  die  vergleichende  Betrachtung  der  verschiedenen  deutschen 
Armeen  jener  Zeit  einsetzen  kann,  wo  es  sich  zeigen  mufs,  inwiefern 
in  dem  Deutschland  jener  Tage  eine  Einheit  der  militärischen  Ein- 
richtungen bestand  und  inwiefern  dieser  oder  jener  Staat  aus  eigenem 


i)  Hervorgehoben  seien  die  Garnison-Vorschriften  der  Festung  Braunaa  Ton  1675, 
die  Werbongs-  nnd  Mosternngsinstroktionen  TOn  1657,  1658,  1661,  1673,  die  Ver- 
pflegsordonanzen  Ton  1657  und  1679,  die  Quartierordnong  Ton  1657;  aach  der  Ab« 
dnick  des  Kriegs-Exerzitien  -  Mannais  (gedruckt  zn  Mflnchen  1674)  nnd  des  Artikelsbriefes 
von  1672  (Lttnig,  Corp.  iuris  mil.  2,  788,  vgl.  jedoch  meine  Bemerkungen  in  den  Mit- 
teilungen des  Institiäs  für  österr,  Qeschidhtsforachung  6.  Ergbd.,  493  'd 
sehr  willkommen. 


i 


—     40     — 

Antriebe  oder  von  auswärts  beeinflufst  über  das  alte  Herkommen  hinaus 
neue  Formen  entwickelt  hatte.  Auch  in  dieser  Hinsicht  also  darf  das 
Werk  des  bayerischen  Kriegsarchives ,  dem  jeder  eine  ebenbürtige 
Weiterfiihrung'  wünschen  wird,  äholichen  Arbeiten  als  Muster  em- 
pfohlen werden. 

Von  den  in  jüngster  Zeit  erschienenen  Heeresgeschichten  der 
deutschen  Kleinstaaten  sei  hier  die  von  dem  Premierleutnant  a.  D. 
O.  Elster  verfafste  Geschichte  der  stehenden  Truppen  im  Hereog^ 
tum  Braunschweig- Wolfenbüttel  angereiht,  deren  erster  Band  (Leip- 
zig, Heinsius,  1899)  die  Zeit  von  1600 — 17 14  umfafst,  während 
der  zweite  (ebenda  1901)  bis  zum  Jahre  1806  herabreicht  In  der 
Anordnung  des  Stoffes  zeigt  dieses  Werk  eine  Verwandtschaft  mit 
dem  bayerischen,  indem  in  chronologisch  fortschreitenden  Kapiteln 
die  Geschichte  dieser  kleinen  aber  früh  entwickelten  Truppenmacht 
einheitlich,  also  nicht  regimenterweise  verfolgt  wird.  Innerhalb  der 
durch  die  Regierungen  der  einzelnen  Herzöge  gegebenen  Zeitgrenzen 
werden  jedesmal  die  Formationen  und  die  kriegerischen  Aktionen  ab- 
gehandelt. Für  beide  Richtungen  sind  gedruckte  und  ungedruckte 
Hilfemittel  benutzt  und  angeführt,  so  die  Publikationen  des  Grafen 
von  der  Decken,  v.  Sicharts  und  des  Freiherrn  v.  Reitzenstein,  ältere 
handschriftlich  erhaltene  Arbeiten  und  die  Akten  des  Wolfenbüttler 
Landeshauptarchivs ,  vereinzelt  auch  Archivalien  in  Berlin,  Marburg, 
Haag  und  Wien.  Manches  wertvolle  aus  diesen  Quellen  ist  im  Wort- 
laut oder  in  Auszügen  mitgeteilt  so  I,  S.  45  bis  54  (wohl  aus  einem 
gleichzeitigen  Druck)  die  Verpflegsordonanz  des  Herzogs  August  vom 
Jahre  1640 ;  femer  II,  S.  144  bis  158  die  1737  von  Herzog  Karl  er- 
lassenen, 1744  etwas  abgeänderten  Exerziervorschriften;  II,  S.  162  f 
eine  den  Gamisondienst  regelnde  Verordnung  vom  Jahre  1743;  dann 
einige  Berichte  über  den  Türkenkrieg  von  1663  und  1664  *),  über  die 
Schlacht  bei  Entzheim  (4.  Oktober  1674)  und  über  die  im  veneziani- 
schen Dienst  1687/88  unternommene  Elxpedition  nach  Griechenland 
und  viele  Stellen  aus  dem  auf  den  Siebenjährigen  Krieg  bezüglichen 
Teil  der  Tagebücher  des  Leutnants  und  späteren  Kriegsiates  Heinrich 
Urban  Cleve.     Der  Leser  verfolgt  mit  Teilnahme   wie  auch  eine   so 


i)  Hermann  Forst,  der  in  dieser  Zeitschrift  i.  Bd.,  S.  76 ff.  n.  176,  sowie 
4.  Bd.,  S.  279  f.  QneUen  und  Literatur  ilber  den  Türkenkrieg  yon  1664  in  sehr  dankens« 
werter  Weise  zusammengestellt  hat,  konnte  Elsters  Pablikation  schon  für  seinen  im 
6.  Ergbd.  der  Mitteiluigen  des  Insütnts  für  österr.  Geschichtsforschung  S.  634  ff.  ver- 
öffentlichten Aufsatz  über  die  deutschen  Reichstruppen  im  Tfirkenkrieg  1664  mit  Nutzen 
heranziehen. 


—     41     — 

kleine  Trappenmacht  in  die  Welthandel  in  Ost  und  West  nach 
Kräften  eingreift,  und  jeder  billig  Denkende  wird  dem  Verfasser  von 
Herzen  zustimmen  in  seinem  Streben,  diese  Kriegsfahrten  der  Ver- 
gessenheit zu  entreifsen  ^).  Sie  bilden  für  das  kleine  Land  eine  Quelle 
selbstbewufisten  Strebens,  eine  Quelle,  die  durch  künstlich  angefachte 
Begeistenmg  für  fremde  Taten  nie  ersetzt  werden  kann. 

Aber  nicht  so  sehr  in  solchen  Beiträgen  zur  Kriegsgeschichte 
wird  der  Wert  dieser  und  anderer  auf  die  Geschichte  kleiner  Kon- 
tingente bezüglicher  Geschichtswerke  zu  suchen  sein.  Ihr  vornehmstes 
wissenschaftliches  Ziel  mufs  auf  einer  anderen  Seite  gesucht  werden : 
es  liegt  in  der  übersichtlichen  Zusammenstellung  der 
Namen  aller  jener  Männer,  welche  als  Offiziere  oder 
sonst  in  bemerkenswerter  Stellung  der  betreffenden  Ar- 
mee angehört  haben.  Gleich  den  Regimentsgeschichten,  in  denen 
erfreulicherweise  immer  mehr  Sorgfalt  auf  Erreichung  einer  voll- 
ständigen Offiziersliste  des  Regimentes  verwandt  wird,  werden  auch 
solche  kleinere  Heeresgeschichten  der  Wissenschaft  den  gröfsten  Dienst 
durch  Herstellung  eines  zuverlässigen  Personallexikons  leisten 
können.  Welchen  Nutzen  solche  Namenlisten  der  neuerlich  auf- 
blühenden Familienforschung  •)  gewähren  können ,  das  liegt  auf  der 
Hand ;  sie  findet  schon  in  der  bisher  erschienenen  heeresgeschichtlichen 
Literatur  reiches  Material  aufgespeichert  und  sie  darf  hoffen,  auch  femer 
in  den  Regimentsgeschichtsschreibem  sehr  nützliche  Mitarbeiter  zu 
finden.  Aber  das  auf  diese  Art  zustande  kommende  Namenmaterial 
besitzt  nicht  blols  für  den  Familienforscher  im  engeren  Sinn,  welcher 
einzelne  Familiengeschichten  studiert,  Wert  und  Bedeutung,  sondern 
es  kann  richtig  benutzt  zu  weittragenden  Folgerungen  führen.  Die 
Fn^e  nach  der  jeweiligen  Zusammensetzung  des  Offizierkorps  ist  eines 
der  wichtigsten  Probleme  heeresgeschichtlicher  Studien.  Es  ist  für 
die  Abschätzung  einer  Armee  von  gröfetem  Belange  zu  wissen,  ob 
ihre  OfiSziere  dem  eigenen  Lande  oder  ob  sie  auswärtigen  FamUien 
angehörten,  ob  und  bis  zu  welchem  Grade  unter  ihnen  der  Adel  über- 
wog. Vor  Beantwortung  dieser  Frage  gelangen  wir  weder  zur  richtigen 
Vorstellung  des  Verhältnisses,  das  zwischen  Heer  und  Land  besteht, 
noch  zu  einem  Mafsstab  für  die  Einwirkung  auswärtiger  Beispiele.  Eine 
zusammenfassende,  die  vorliegenden  Namenlisten  als  statistische  Grund- 
lage verwertende  Untersuchung  ist  daher  für  die  Geschichte  kleinerer 

1)  Dafs    es    dabei   ohne   scharfe   Seiteohiebe   auf   preu(sische   Geschichtsanffassnng 
nicht  abgeht  (vgl.  i,  131,  179;  2,  371  fit.),  kann  kaum  wundernehmen. 

2)  Vgl.  diese  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  182  ff.  u.  4.  Bd.,  S.  272  ff. 


—     42     — 

Armeen  eine  geradezu  unerläfeliche  Bedingung,  für  jene  der  grofsen 
Heere  aber  eine  Sache  von  höchstem  Interesse.  Naturgemäß  spiegeln 
sich  die  äufseren  Geschicke  des  Staates,  Gebietszuwachs  und  -Verlust, 
in  den  Listen  des  Offizierkorps;  aber  die  Übergänge  werden  mannig- 
fach abgestuft  durch  den  sehr  verschiedenen  Grad,  in  welchem  diese 
oder  jene  Provinz  zur  Führung  des  Heeres  beigesteuert  hat.  So 
hat  beispielsweise  die  österreichische  Armee  noch  lange  nach  dem 
Untergang  des  alten  Reiches  einen  guten  Teil  ihres  Offizierskorps  aus 
dem  Reiche  bezogen;  ja  in  diesem  Sinn  wirken  noch  heute  die  Be- 
ziehungen Österreichs  zu  seinen  schwäbischen  Vorlanden.  Grofe  war 
zu  Zeiten  der  Einflufs  der  Niederländer,  welchen  Österreich  hervor- 
ragende militärische  Kräfte  zu  danken  hat.  Andere  Kronländer  sind 
erst  im  Laufe  des  XIX.  Jahrhunderts  mehr  und  mehr  in  die  Reihen 
des  österreichischen  Offizierskorps  eingedrungen  und  keineswegs  alle 
im  gleichen  Mafs.  Je  mehr  sie  sich  aber  nun  der  Armee  anschlössen 
und  je  mehr  die  bevorzugte  Stellung  des  Adels  im  Offizierskorps 
schwindet,  umsomehr  gewinnt  ihre  Bevölkerung  in  dem  Offiziersstand 
eine  Gelegenheit,  aus  ärmeren  Schichten  in  bessere  Lagen  aufzusteigen. 
Die  Armee  verwächst  mit  dem  Lande,  sie  wird  eines  jener  Medien, 
durch  welche  die  unverdorbene  Volkskraft  des  Landes  in  die  Kreise 
höherer  Kultur  emporsteigen  kann,  um  an  der  Leitung  des  Staates 
und  der  Gesellschaft  teilzunehmen. 

Solchen  Untersuchungen,  wie  sie  hier  angedeutet  sind,  ebnet  jener 
die  Wege,  der  im  Rahmen  der  Regiments-  oder  Truppengeschichte 
die  Personallisten  zusammenträgt.  Seine  trockene  Arbeit  dient  der 
historischen  Erkenntnis  besser  als  manche  auf  Darstellung  kriegs- 
geschichtlicher Details  angewandte  Mühe. 

Elster  hat  der  Zusammensetzung  des  Offizierskorps  Beachtung  ge- 
schenkt, indem  er  im  Text  eine  lange  Reihe  von  Offizierslisten  mit- 
teilt und  jedem  Bande  überdies  alphabetische  Namensverzeichnisse  bei- 
fügt Auf  eine  eigentliche  Verarbeitung  dieses  ungefähr  1700  Namen 
umfassenden  Materials  hat  er  sich  allerdings  nicht  eingelassen,  aber 
trotzdem  gewährt  sein  Buch  eine  Vorstellung  von  den  Elementen, 
welche  das  braunschweig -wolfenbüttelsche  Heer  zu  leiten  hatten.  Es 
sind  in  weitaus  überwiegender  Zahl  deutsche  und  zwar  norddeutsche 
Namen;  während  des  XVIII.  Jahrhunderts  tauchen  einzelne  Franzosen 
auf,  aber  ihre  Zahl  überschreitet  kaum  zwanzig;  weit  geringer  sind 
andere  Nationen  vertreten,  am  stärksten  noch  im  Baufach.  Unter  den 
deutschen  Namen  kehren  etwa  hundert  viermal  oder  noch  öfter  wieder, 
ein  Beweis  wie  sehr  sich  das  Offizierskorps  aus  bestimmten,  vorwiegend 


—     43     — 

adeligen  Familien  rekrutierte.  Es  wäre  iiir  den,  der  mit  norddeutscher 
Familiengeschiclite  vertraut  ist,  gewife  leicht  und  lohnend,  weitere  Be- 
obachtungen an  diese  Namenlisten  zu  knüpfen  und  es  wäre  nament- 
lich zu  wünschen,  da(s  ähnliche  Zusammenstellungen  für  andere  deutsche 
Armeen  des  XVII.  imd  XVIII.  Jahrhunderts  gemacht  und  dadurch  ein 
Vergleich  über  die  Struktur  des  Offizierskorps  in  diesem  und  in  jenem 
Staate  ermöglicht  würde  *). 

Indem  hier  zu  ähnlichen  Arbeiten  angeregt  wird,  darf  aber  nicht 
verschwiegen  werden,  dafs  die  Art,  wie  Elster  seine  Namenlisten  vor- 
legt, nicht  die  beste  ist.  Es  war  vor  allem  kein  glücklicher  Gedanke, 
an  den  Schluis  der  Bände  drei  verschiedene  alphabetische  Reihen  zu 
stellen,  eine  für  die  Zeit  vor  1666,  eine  zweite  für  1666  bis  1714 
und  eine  dritte  für  die  weitere  Folge  bis  1806.  Ein  einziges  alphabetisches 
Verzeichnis  wird  jedem  Benutzer  lieber  sein.  Ein  weiterer  Nachteil 
ist  es ,  dais  den  alphabetischen  Verzeichnissen  die  Hinweise  auf  jene 
Stellen  des  Buches  fehlen,  an  denen  die  betreffenden  Namen  vor- 
kommen. Die  alphabetische  Liste  kann,  wenn  sie  nicht  ihre  Übersicht- 
lichkeit einbüfsen  soll,  nicht  alle  wissenswerten  Daten  über  den  ein- 
zelnen enthalten,  die  dem  Autor  zur  Verfügung  stehen.  Elster  hat 
zumeist  das  Datum  des  ersten  Vorkommens  nebst  der  betreffenden 
Charge,  dann  die  Daten  des  Avancements  und  die  Art  des  Abgangs 
dem  Namen  beigefügt;  man  vermifst  im  zweiten  Bande  die  Angabe 
des  Regiments  und  man  vermifst  durchaus  die  Quelle,  aus  welcher 
der  Name  geschöpft  ist.  Hätte  Elster  durch  Beifügung  der  Seiten- 
zitate eine  Verbindung  zwischen  seinem  Text  und  seinen  Registern 
hergestellt,  so  hätte  er  dadurch  die  Vollständigkeit  des  Reg^ters  einer 
nützlichen  Kontrolle  unterzogen  imd  —  falls  er  im  Text  die  Quelle 
seiner  Standeslisten  von  Fall  zu  Fall  angeführt  hätte  —  indirekt  auch 
dem  Register  die  quellenmäfsige  Begründung  gegeben.  Es  wird  dann 
von  den  Umständen  abhängen,  ob  im  Text  oder  im  Register  oder 
auch  an  beiden  Stellen   noch  weitere  Anhaltspunkte  zur  Bestimmung 

i)  Aach  dem  österreichischen  and  dem  bayerischen  Werk  sind  Namelnisten  bei- 
gefügt, aber  sie  eignen  sich  nicht  gat  zom  Vergleich  mit  jenen  Elsters.  Die  am  Schlofs 
jedes  Bandes  der  Geschichte  der  k.  and  k.  Wehrmacht  stehenden  Verzeichnisse  bachen 
nnr  die  Namen  der  Inhaber  and  Kommandanten,  die  grofse  Masse  des  Offizierskorps 
bleibt  hier  wie  in  dem  ganzen  Werke  selbst  onberflcksichtigt  and  sie  wird  voraassichtlich 
mach  in  dem  7.  (Schlafs-)Band ,  welcher  die  Gesamtregister  bringen  soll,  keinen  Platz 
finden.  Staadinger  bietet  drei  sehr  wertvolle  Verzeichnisse,  in  welchen  er  die  Personen- 
namen, die  Ortsnamen  and  die  behandelten  Gegenstände  getrennt  aasweist;  im  Personen- 
verzeichnis erscheinen  aber  natargemäfs  neben  den  Offizieren  aach  andere  in  dem  Bach 
genannte  Persönlichkeiten. 


—     44     — 

der  Persönlichkeit  Aufnahme  finden  können.  Jedenfalls  wird  es  gut 
sein,  die  Standestabellen  vollständig  auszubeuten  und  was  sie  etwa 
über  das  Alter  und  die  Herkunft  der  einzelnen  Offiziere  anführen,  vor 
allem  aber  stets  die  Taufnamen  mit  aufzunehmen.  Die  durchgängige 
Beobachtung  dieser  Grundsätze  wird  allen  heeresgeschichtlichen  Ar- 
beiten, den  Regimentsgeschichten  sowohl  als  jenen,  welche  die  Ent- 
stehung ganzer  Armeen  verfolgen,  ohne  allzugrofse  Mehrbelastung  doch 
bedeutenden  Wert  verleihen. 

Es  würde  zu  weit  fuhren,  alle  einschlägigen  Arbeiten  auch  nur 
der  jüngsten  Jahre  in  ähnlicher  Weise,  wie  es  nun  an  drei  Beispielen 
geschehen  ist,  vorzunehmen  *).  Aber  ein  Wort  über  den  gegen- 
wärtigen Stand  der  preufsischen  Heeresgeschichte  wird 
am  Schlüsse  dieser  Erörterungen  doch  nicht  unterdrückt  werden  können. 
Bei  dem  Vorhandensein  einer  so  grofs  angelegten  österreichischen 
und  einer  so  vorzüglichen  bayerischen  Heeresgeschichte  und  besonders 
bei  dem  eigentümlichen  Parallelismus,  welchen  sonst  die  kriegs- 
geschichtlichen Arbeiten  des  österreichischen  und  des  preufsischen 
Generalstabs  aufweisen,  mag  es  wundernehmen,  dafe  an  dieser  Stelle 
einer  neuen  preufeischen  Heeresgeschichte  nicht  zu  gedenken  ist.  In 
klagendem  Ton  hat  denn  auch  V.  Loewe,  der  tüchtige  Kenner  des 
Wallensteinschen  Heeres,  die  Frage  aufgeworfen,  wann  denn  endlich 
„der  Staat,  der  auf  die  stolzeste  Kriegsgeschichte  der  neuen  Zeit*' 
zurückblicke  „für  Erschliefsung  und  Bearbeitung  der  Quellen  seiner 
Heeresgeschichte  in  freiem  wissenschaftlichen  Geiste  in  gleich  groß- 
artiger Weise  Sorge  tragen"  werde  *).  Ohne  die  Verhältnisse  genauer 
zu  kennen,  glaube  ich  doch,  sagen  zu  dürfen,  dais  der  in  diesen 
Worten  enthaltene  Vorwurf  schwerlich  ganz  berechtigt  sein  dürfte.  Ks 
ist  richtig,  dafs  es  in  Preufsen  an  einer  neueren  einheitlichen  Heeres- 

i)  Erwähnt  seien  folgende  Arbeiten  über  das  Heerwesen  kleiner  deutscher  Staaten: 
Müll  mann.  Zur  Geschichte  des  Kurtrierischen  Militärs  im  i.  Ergänzungshefte  des 
Trierischen  Archivs  S.  60  ff.  —  Erhard,  Studie  über  die  kurfürstlich  pfälKische  Armee 
1610  bis  1778  in  den  Darstellungen  aus  der  bayerischen  Kriegs-  und  Heeresgeschichte, 
I.  Heft  —  Henle,  Das  Heerwesen  des  Hochstifts  Würxburg  im  18.  Jahrhundert, 
ebenda  7.  Heft.  —  Das  stehende  hessiscite  Heer  1670  bis  1866  j  in  der  Zeitschrift 
Hessenland  1900,  S.  59  ff.  —  Zur  Geschichte  des  lippeschen  Kontingents  1516  bis  1867 
in  den  Blättern  für  lippische  Heimatskunde  (Monatl.  Beilage  der  lippischen  Landeszeitong) 
I,  Nr.  10 ;  ein  Vortrag  Yon  Kiewning  behandelt  das  lippische  Kontingent  bis  l8o6, 
Referat  darüber  in  den  Mitteilungen  aus  der  lippischen  Geschichte  und  Landeskunde 
I.  Bd.  (Detmold  1903),  S.  184 — 187.  —  Gaedechens,  Das  Hamburgische  Militär 
(Hamburg  1889).  —  Pocke,  Das  bremische  Stadimilitär  vom  Ende  des  16.  Jahrhunderts 
bis  a/uf  die  napoleonische  Zeit  im  Bremischen  Jahrbuch  19.  Bd. 

2)  Historische  Zeitschrift  85,  128. 


—     45     — 

geschichte  fehlt,  aber  es  fehlt  keineswegs  an  Einzelarbeiten  auf  diesem 
Gebiet.  Man  scheint  dort  zu  empfinden,  was  man  sich  anderwärts 
vielleicht  zu  wenig  gegenwärtig  hält,  dafs  es,  um  zu  einer  befriedigen- 
den Gesamtdarstellung  zu  gelangen,  erst  zahlreicher  Vorarbeiten  in 
verschiedener  Richtung  bedürfe.  Solcher  Vorarbeiten  aber  besitzt 
Preufeen  eine  sehr  ansehnliche  Reihe.  Die  bedeutenden  Studien 
von  Lehmann^)  und  Schmoller*),  die  Arbeiten  des  Freiherm 
V.  Schroetter^)  und  des  Oberleutnants  Jany*)  ersetzen  zum  Teil 
eine  zusammenfassende  Heeresgeschichte  und  können  ähnlichen  Werken 
in  vieler  Hinsicht  als  Muster  dienen.  Ganz  besonders  zu  rühmen  aber 
ist,  dafe  sich  die  preufsische  heeresgeschichtliche  Forschung  in  neuester 
Zeit  mit  verstärkter  Kraft  der  Erforschung  der  Quellen  zuwendet. 
Für  den  Offizier,  wie  für  jeden,  der  von  fremdem  Arbeitsgebiet  her- 
kommend sich  geschichtlichen  Studien  widmet,  mag  die  Quellen- 
forschung zunächst  wenig  verlockendes  bieten,  sie  mag  wie  ein  Hinder- 
nis erscheinen,  das  möglichst  rasch  überwunden  werden  mufs,  um 
die  lohnende  Hauptarbeit,  die  Darstellung  selbst,  in  Angriff  zu  nfchmen. 
Um  so  erfreulicher  ist  es,  wenn  auch  hier  die  Erkenntnis  durchdringt, 
dafs  es  hingebender  Beschäftigung  mit  den  Quellen  bedarf,  um  den 
Boden  für  die  Darstellung  zu  ebnen. 

Ganz  besonders  gepflegt  wird  diese  Richtung  in  den  seit  1901 
in  Mittlers  Verlag  erscheinenden  Urkundlichen  Beiträgen  und  For^ 
schungen  eur  Geschichte  des  preußischen  Heeres,  wovon  der  grolse 
Generalstab  (Kriegsgeschichtliche  AbteUung  II)  bisher  fünf  Hefte  in 
zwangloser  Folge  erscheinen  liefs.  Schon  diese  kleine  Reihe  läfst  er- 
kennen, welch  manigfaltige  Quellen  der  Kriegs-  und  Heeresgeschichte 
noch  der  Ausbeutung  harren.  Mit  den  offiziellen  Berichten  und  mit 
den  Erlässen  der  höchsten  Instanzen  ist  es   hier  so   wenig  getan   als 


1)  Werbung  und  Wehrpflieht  im  Heere  Friedrich  Wilhelm  /.,  Hist.  Zeitschr. 
67.  Bd. 

2)  Die  Entstehung  des  preußischen  Heeres  von  1640  bis  1740 y  jetzt  abgedruckt 
in  Schm ollers  Umrissen  und  Untersuchungen  xur  Verfcusungs-,  Verwathrngs- und 
Wirtsehaftsgesehiehie  (Leipzig  1898). 

3)  Die  brandenburgiseh' preußische  Heeresverfassung  unier  dem  Großen  Kur- 
fürsten (Staats-  und  socialwissenschaftliche  Forschangeo  herausgegeben  von  Scbm oller 
XI,  5,  Leipzig  1892)  und  Über  die  Entwicklung  des  Begriffs  Servis  in  den  ForschiiDgen 
zur  brandenbnrgisch-prenfsischen  Geschichte,  13.  Bd. 

4)  Preußische  Heeresgeschiekte  im  XVU.  Jahrhundert  in  den  Forschungen  znr 
brandenbnrgisch-preafstschen  Geschichte  10.  Band  und  Die  Anfänge  der  aÜen  Armee, 
L  7M,  in  den  Urkundlichen  Beiträgen  und  Forschungen  zur  Geschichte  des  preafsischen 
Heeres,  i.  Heft. 


—     46     — 

anf  anderem  geschichtlichen  Grebiet.  Ein  volles  wahres  Bild  erhält 
erst,  wer  auch  die  tiefer  stehenden,  die  unverantwortlichen  Teilnehmer 
der  Ereignisse  um  ihre  Meinung  fragt,  welche  die  Lage  des  Augen- 
blicks zwar  manchmal  nicht  ganz  überblicken,  aber  in  unbefangener 
und  in  verständlicherer  Sprache  zu  uns  späteren  sprechen.  In  diesem 
Sinne  sind  die  von  einzelnen  Truppenkommandanten  erstatteten  Be- 
richte über  die  Kämpfe  bei  Auerstädt,  Jena,  Halle  und  Lübeck  und 
die  daran  geknüpften  Auszüge  aus  den  Tagebüchern  beteiligter  OflS- 
ziere  von  Wert,  welche  die  „Gefechtsausbildung  der  preufsischen  In- 
fanterie von  1806"  zu  beleuchten  bestimmt  sind  *).  Sehr  willkommen 
sind  ferner  die  preußischen  Soldatenbriefe  aus  den  Jahren  1756  und 
1757,  welche  in  die  Gedanken  des  gemeinen  Mannes  Einblick  ge- 
währen *).  Mögen  solche  Beispiele  in  anderen  Armeen  Nachahmung 
finden!  Sicher  schlummern  auch  anderwärts  in  den  Archiven  der  Re- 
gimenter und  im  Privatbesitz  zahlreiche  Quellen  ähnlicher  Art,  vor 
allem  Briefe  und  Tagebücher  der  Offiziere,  welche  nicht  so  sehr  als 
Beitrag  zur  Geschichte  der  kriegerischen  Operationen,  denn  als  Quelle 
für  die  Erkenntnis  der  Menschen  und  der  Zustände  im  Heer  von  un- 
schätzbarem Werte  sind.  Ihre  Veröffentlichung  bietet  dem,  den 
Beruf  und  Neigung  zur  Kriegsgeschichte  führt,  ein  dankbares  Feld 
der  Tätigkeit. 

Dafs   auch  bei  solchen  Quellen  mit  dem  blofsen  Abdruck  die 


1)  Jany  begleitet  diese  Pablikaüon  (Heft  5  der  Urk.  Beiträge  nnd  Forachongen) 
mit  einer  sehr  instmktiTen  Einleitung,  welche  zeigt,  wie  nötig  es  ist,  das  ans  den  Vor- 
schriften einer  Zeit  gewonnene  Bild  der  Heeresverfassnng  mit  Hilfe  anderer  Quellen  nach- 
zuprüfen nnd  zu  ergänzen.  Auch  Liebe  in  einer  Anzeige  meiner  im  i.  Hefte  der  Mit' 
teilungen  des  k,  ti.  k,  Heerea-Museuma  (Wien,  Konegen,  1902)  yeröffentlichten  Studien 
ttber  Kriegaartikel  und  Reglements  als  Quellen  xur  Geschichte  der  K,  und  K  Armee 
hat  diesen  Gedanken  angedeutet  (Hist  Vierteljahrschrift  6,  296),  aber  er  irrt,  wenn  er 
meint,  dafs  ich  diesem  Umstand  nicht  gebührend  Rechnung  getragen  hätte;  die  ein- 
leitenden Sätze  meines  angeführten  Aufsatzes  und  auch  jene  zu  meinem  Aufsatz  ttber 
Ursprung  und  Entwiekelung  der  deutschen  Kriegsartikel  in  den  Mitteilungen  des  In- 
stituts für  österr.  Geschichtsforschung  6.  Ergbd.  4  74  f.  bewahren  mich  vor  dem  Vorwurf^ 
die  Bedeutung  der  Vorschriften  überschätzt  zu  haben.  Trotzdem  halte  ich  nach  wie  vor 
die  Kenntnis  der  Vorschriften  und  ihres  Zusammenhangs,  wie  ich  ihn  für 
die  deutschen  Kriegsartikel  überhaupt  und  dann  auch  für  die  österreichischen  Reglements 
in  den  angeführten  Arbeiten  dargel^  habe,  für  die  erste  Bedingung  aller  anf 
die  Zustände  der  Heere  gerichteten  Forschung.  —  Einen  neuen  Beitrag  zur 
Geschichte  der  österreichischen  Reglements  bietet  Oswald  Redlich,  Ein  Exerzier- 
reglement aus  der  Zeit  Prinx  Eugens  in  den  Mitteilungen  des  k.  n.  k.  Heeresmuseums, 
2.  Heft,  S.  55  ff. 

2)  Urkundl.  Beiträge  nnd  Forschungen,  2.  Heft. 


—     47     — 

Arbeit  de3  Historikers  nicht  erledig^  ist,  versteht  sich  von  selbst.  Der 
Benutzer  mufs  genaue  Auskunft  verlangen  über  die  Beschaffenheit  der 
Handschriften,  über  die  Entstehungszeit  und  über  alles,  was  irgendwie 
den  Wert  der  Quelle  beeinflussen  kann.  Und  hier  ist  es  wiederum 
eine  Arbeit  von  Jany,  die  für  ähnliche  Angaben  als  Muster  empfohlen 
werden  kann.  Die  Art,  wie  dieser  Offizier  das  für  die  Geschichte  des 
Siebenjährigen  Krieges  so  bedeutsame  Tagebuch  des  General- 
leutnants Gaudi  nach  seiner  recht  verwickelten  Überlieferungsart, 
nach  seiner  Entstehungszeit,  den  benutzten  Quellen  und  der  ihm  zu- 
kommenden Glaubwürdigkeit  untersucht  hat  *) ,  verdient  volles  Lob, 
In  neuester  Zeit  hat  sich  auch  die  österreichische  Forschung  dieser 
Richtung  zugewandt.  Im  zweiten  Hefte  der  von  dem  Wiener  Heeres^ 
museum  herausgegebenen  Mitteilungen  ^)  veröffentlicht  Wilhelm  John 
zwei  dem  Regimentsarchiv  des  k.  u.  k.  55.  Infanterieregiments  ent- 
nommene gleichzeitige  Aufzeichnungen  aus  der  Zeit  der  Be- 
freiungskriege. Der  Herausgeber  hat  diese  für  den  Geist  des 
österreichischen  Heeres  jener  Zeit  sehr  bezeichnenden  Quellen  nicht 
nur  mit  sachlichen  Erläuterungen,  sondern  auch  mit  einer  kritischen 
Einleitung  versehen,  welche  die  Grundsätze  der  Quellenkritik  auf  da& 
kriegs-  und  heeresgeschichtliche  Gebiet  anwendend  zu  einer  schönen 
Würdigtmg  der  beiden  Stücke  gelangt*).  Zahlreiche  verwandte 
und  oft  benutzte  kriegsgeschichtliche  Quellen  harren 
noch  ähnlicher  Behandlung.  Mögen  diese  Zeilen  dazu 
beitragen,  dafs  auch  sie  bald  die  verdiente  Untersuchung 
finden  und  dafs  das  weite  Gebiet  der  Heeresgeschichte 
immer  mehr  in  den  Betrieb  geschulter  wissenschaftlicher 
Arbeit  einbezogen  werde! 


i)  Das  Qaudisehe  Journal  des  Siebenjährigen  Krieges,  Feldxüge  1756  und 
1757.     UrkundL  Beiträge  und  Forschungen,  3.  Heft. 

2)  Vgl.  diese  Zeitschrift  4.  Bd.,  S.  184  f. 

3)  In  einer  längeren  Anmerknng  za  S.  So  bietet  John  eine  Znsammenstellong  ver^ 
wandter  in  den  Archiven  anderer  österreichischer  Regimenter  nachweisbarer  handschriftt 
Ucher  QneUen  (zameist  Regimentstagebttcher  aus  der  zweiten  Hälfte  des  XVUL  und  der 
ersten  des  XIX.  Jahrhunderts).  —  Sehr  zvl  beherzigen  sind  auch  Johns  Ansftlhningen  über 
den  in  der  'militärhistorischen  Literatur  so  oft  ignorierten  Unterschied  zwischen  Quelle 
und  Literatur,  seine  kritischen  Bemerkungen  Über  Rangslisten  und  Schematismen,  endlich 
die  einleitenden  Worte,  in  denen  er  den  bisherigen  Stand  der  österr.  Kriegsgeschichte 
kennzeichnet  und  ihre  Lostrennnng  von  didaktischen  Tendenzen  fordert 


48 


]4eue 
Veröff entliehungen  deutseher  Stadtreehte 

Von 
Konrad  Beyerle  (Breslau) 

(Schlafe)  1) 

Der  folgende  Abschnitt  über  die  Gerichtsverfassung  leidet  vor 
allem  an  dem  Mangel,  da(s  das  ordentliche  Stadtgericht,  das  alte  Markt- 
gericht, nicht  genügend  in  den  Vordergrund  gestellt  ist  Die  Behaup- 
timg, dafe  die  Bildung  eines  selbständigen  Gerichtsbezirks  für  die  Stadt 
Lippstadt  erst  längere  Zeit  nach  der  Gründung  durch  Eximierung  vom 
Landgericht  erfolgt  sei,  schwebt  in  der  Luft.  Selbstverständlich  ist 
schon  der  judex  des  ältesten  Privilegs  (S  6)  der  ordentUche,  Stadt- 
herrUche  Richter  der  Bürgerschaft  für  den  engeren  Stadtbezirk.  VgL 
S.  70,  Noten  i  u.  2.  Für  die  Wende  des  XV.  Jahrhunderts  weist 
Overmann  das  Bestehen  von  acht  Gerichten  in  Lippstadt  nach: 
das  stadtherrliche  ordentliche  Gericht  (wegen  des  Condominiums  von 
Lippe  und  Mark  Sandgericht  genannt),  dessen  Umstand  der  Rat  bil- 
dete, dessen  örtliche  Zuständigkeit  bis  an  die  Stadtmauern  reichte,  das 
sachlich  auf  bürgerliche  Rechtsstreite  und  freiwillige  Gerichtsbarkeit 
beschränkt  war,  da  die  Entscheidung  über  die  niederen  Straffälle  schon 
durch  die  Handfeste  des  Gründers  dem  Rate  als  Gemeindeoi^an  zu- 
gewiesen wurde.  Tatsächlich  war  freiUch  die  Besetzung  dieses  zweiten 
Gerichts  dieselbe  in  dem  einmal  jährlich  stattfindenden  Bruchtengericht 
über  Frefel.  Art.  i  der  Handfeste  zeigt  ja  deutlich,  dafe  die  Absicht 
des  Stadtherm  lediglich  war,  die  Frefelbufsen  der  Bürgerschaft  für 
den  Mauerbau  zukommen  zu  lassen.  Drittes  Gericht  ist  das  Kriminal- 
gericht in  Blutfällen,  ebenfalls  gehegt  durch  den  landesherrUchen 
Samtrichter  (in  alter  Zeit  vom  Stadtherm  oder  seinem  Amtmann?), 
den  Umstand  bildet  auch  hier  der  Rat,  die  örtliche  Zuständigkeit  soll 
anfangs  auf  den  Mauerring  beschränkt,  später  zum  Nachteil  des  landes- 
herrlichen Gogerichts  auf  die  Feldmark  ausgedehnt  worden  sein.  Das 
Gogericht,  welches  an  vierter  Stelle  zu  nennen  ist,  wird  von  Over- 
mann als  öffentliches  landesherrliches  Gericht  für  das  Gebiet  aufser- 
halb  der  Stadtmauer  mit  umfassenden  Kompetenzen  erwiesen;  die 
ursprüngliche  Bezeichnung  Vogtgericht  wird  mit  der  Kölner  Lehns- 
hoheit in  Verbindung   gebracht.     Als    fünftes   Gericht   sind    auf   der 


i)  VgL  oben  S.  i— 15. 


—     49     — 

Lippstädter  Markung'  auch  zwei  Freistüble  nachweisbar.  Gemeinde- 
gerichte  waren  das  Burgericht  (jede  der  vier  städtischen  PÜEUieieii 
besafe  zwei  Bnrrichter),  welches  richterMche  (Feldfrevel,  Grenzstrdtig- 
keiten)  und  polizeiliche  Funktionen  (Aufsicht  über  alles  Gemeinde- 
eigentum) verband,  und  das  Ratsgericfat,  dem  schon  die  Handfeste 
des  Gründers  die  Entscheidtmg  über  rechtes  Mafs  und  Gewicht,  über 
Frevel  und  in  solchen  sonst  zur  Zulässigkeit  der  Borrtchter  gehörigen 
Sachen  zuwies,  welche  die  Kenntnisse  der  Burrichter  überschritten. 
Letztes  (achtes)  Gericht  zu  Lippstadt  war  das  geistliche  Sendgericht 

Mit  einer  Skizze  über  die  Stadtverwaltung,  welche  besonders  ein- 
gehend die  Finanzverwaltung  behandelt,  beschliefst  Ov  er  mann  seine 
verfassungsgeschichtliche  Einleitung.  Ein  dem  undatiert  überlieferten 
(im  Faksimile  beigegebenen)  ersten  StadtrechtsprivUeg  gewidmeter 
Exkurs  kommt  zum  Elrgebnis,  dafs  die  meisten  Gründe  dafür  sprechen, 
die  Handfeste,  übrigens  bereits  das  kodifizierte  Elrgebnis  einer  längeren 
Rechtsentwickelung,  um  1220  anzusetzen. 

Der  zweite  TeU  des  Bandes  ist  dem  Abdruck  der  Quellen  ge- 
widmet. Dabei  werden  dieselben  vom  Herausgeber  in  mehrere  sach- 
liche Gruppen  gebracht.  Zunächst  gelangen  „Privilegien  und  Recesse** 
teils  im  Vollabdruck,  teils  in  Regestform  zur  Wiedergabe.  Im  Vorder- 
grunde steht  das  bekannte  Privileg  des  Gründers  von  um  1220  (Nr.  i). 
Aus  dem  weiteren  Inhalt  dieser  Abteilung  notiere  ich  den  Rezefs  von 
153S9  welcher  die  städtischen  Freiheiten  starker  Beschränkung  unter- 
wirft (Nr.  41);  eine  Gerichtsordnung  des  Lippstadter  SamtgerichtB 
(siehe  oben)  von  1559  (Nr.  45);  eine  Sendgerichtsordnung  von  1591 
(Nr.  51);  Rezesse  über  das  Gerichtswesen  von  1599  (Nr.  52)  und  1691 
(Nr.  54).  In  einem  zweiten  Abschnitt  gelangen  „Statuten  und  Wil- 
küren"  zum  Abdrucke.  Hervorzuheben  ist  ein  erstmals  zum  Druck 
gelangendes  sogen,  zweites  Stadtrecht  (aufgezeiehnet  zwischen  1309 
und  1327)  in  29  Paragraphen;  sodann  eine  aus  d^^elben  Zeit  stam- 
mende Aufzeichnung  über  Hergewete  und  Gerade;  eine  amtliche  Mit- 
teUung  des  Lippstadter  Stadtrechts  an  Detmold  von  1575  (44  SS); 
eine  Verfahrensordnung  in  peinlichen  Fällen  aus  dem  XVII.  Jahr- 
hundert. In  der  dritten  Abteilung  sind  unter  dem  Gesamttitel  Zunft- 
sachen gewerbliche  Ordnungen  zusammengesteUt.  Ratslisten  von 
1230 — 1560  und  Worterklärungen,  an  denen  Prof.  Dr.  Jos t es  mit- 
gewirkt hat,  beschliefsen  den  Band.  So  sehr  wir  die  westfälische 
historische  Kommission  und  den  Herau^eber  zu  diesem  ersten  Werke 
einer   vielversprechenden  Serie  beglückwünschen,    können   wir   doch 

den  Wunsch  nicht  unterdrücken,  dafs  in  Zukunft  verfassungsgeschicht- 

4 


—     50     — 

liehe  Einleitungen  auf  das  Notwendigste  beschränkt,  dagegen  jedem 
Band  die  für  die  Benutzung  durch  den  Juristen  unumgänglichen  Sach- 
register beigegeben  werden  mögen.  Besonders  in  letzterer  Hinsicht 
können  die  mustergültigen  Ausgaben  schweizerischer  Stadtrechte  zum 
zum  Vorbild  dienen,  die  wir  uns  jetzt  kurz  ansehen  wollen. 

Der  hohe  Wert  der  schweizerischen,  von  fremdrechtlichen  Ein- 
flüssen verhältnismäfsig  ireigebliebenen  Rechtsquellen  für  die  deutsche 
Rechtsgeschichte  ist  längst  erkannt.  Hervorragende  Forscher  haben 
der  Erschliefeung  ihres  Gedankeninhalts  ihr  Lebenswerk  gewidmet. 
Bluntschli,  v.  Wyfs,  Heusler,  Huber,  Planta  sind  Namen 
vom  besten  Klange.  Neuerdings  hat  nun  der  rührige  schweizerische 
Juristenverein  im  Jahre  1894  beschlossen,  eine  den  heutigen  Anforde- 
rungen der  Wissenschaft  entsprechende  Sammlung  der  schweizerischen 
Rechtsquellen  herauszugeben.  Im  weitesten  Umfange  soll  der  rechts- 
geschichtliche Quellenschatz  bis  herab  zur  Helvetik  der  Forschung 
zugänglich  gemacht  werden.  Die  Leitung  des  grofeen  Unternehmens 
liegt  in  Händen  einer  Kommission,  bestehend  aus  Prof.  Andreas 
Heusler-Basel,  Prof.  Eugen  Huber-Bem  und  Bundesrichter  Charles 
Soldan-Lausanne.  Die  Sammlung  wird  sich  nach  den  heutigen  Kan- 
tonen der  Schweiz  gliedern.  Innerhalb  jedes  Kantons  sollen  die  Quellen 
nach  drei  sachlichen  Kategorien  geordnet  werden,  es  sollen  nämlich 
jeweils  eine  Gruppe  für  sich  bilden  Stadt-  und  Landrechte,  Herrschafts- 
und Amtsrechte,  bäuerliche  und  grundherrschaftliche  Rechte  (Weis- 
tümer).  Für  die  meisten  Kantone  sind  umfangreiche  archivalische  Vor- 
arbeiten nötig.  Dagegen  konnte  die  Herausgabe  der  reichen  Rechts- 
quellen des  Kantons  Argau  bereits  in  Angriff  genommen  werden, 
deren  Erhebung  und  Ordnung  schon  seit  Jahren  durch  Dr.  W.  Merz 
durchgeführt  wurde. 

Als  ersten  Band  ihrer  Sammlung  legte  demgemäfe  die  schweize- 
rische Kommission  im  Jahre  1898  das  Stadtrecht  von  Arau  vor,  be- 
arbeitet und  herausgegeben  von  Dr.  Walther  Merz*),  eine  in  Aus- 
stattung, Anordnung  und  Textwiedergabe  gleich  treffliche  Publikation. 
Die  typographische  Ausstattung  ermöglicht  die  denkbar  beste  Über- 
sichtlichkeit, die  Anordnimg  ist  streng  chronologisch  ohne  Spaltung 
des  Quellenstoffs  in  Einzelgruppen,   die  Textwiedergabe  ist  bis  1500 


i)  Sammlung  schweizerischer  Rechlsqueüen ,  herausgegeben  auf  Veranlassung  des 
schweizerischen  Joristenvereins  mit  Unterstützung  des  Bundes  und  der  Kantone.  XVI.  Ab- 
teilung :  Die  Rechtsquellen  des  Kantons  Argau.  Erster  Teil :  Stadtrechte.  Erster  Band : 
Das  Stadtrecht  von  Arau,  bearbeitet  und  herausgegeben  von  Dr.  Walther  Merz 
(Arau.  H.  R.  Sanerländer  &  Co.,  1898.     XXVII  und  558  S.). 


—     51     — 

buchstäblich  getreu,  erst  von  da  ab  läfet  der  Herausgeber  eine  Verein- 
fachung der  Orthographie  eintreten.  Die  Einleitung  tmterrichtet  über 
den  Handschiiftenbestand ,  das  folgende  Inhaltsverzeichnis  erleichtert 
eine  rasche  Kenntnisnahme  vom  Stoff  der  430  gröfstenteils  im  Voll- 
abdruck wiedergegebenen  Stücke.  Eröffnet  wird  die  Quellenserie  durch 
die  Handfeste  König  Rudolfis  von  Habsbuig  vom  4.  März  1283.  Die 
historische  Einleitung  dazu  belehrt  uns,  da(s  die  argauischen  Stadt- 
rechte zwei  Gruppen  angehören,  der  zähringischen  und  der  habs- 
burgisch- österreichischen.  Prototyp  der  ersteren  Gruppe  ist  bekannt- 
lich das  Stadtrecht  von  Freiburg  i.  Br.,  Prototyp  der  zweiten  das  Stadt- 
recht von  Winterthur  von  1264.  Das  letztere  ist  zwar  weniger  reich 
entwickelt  als  das  zähringische  Recht,  jedoch  ganz  selbständig;  von 
den  zähringischen  Stadtfreiheiten  unterscheidet  es  sich  namentlich  durch 
das  Streben,  die  habsburg^chen  Städte  durch  landesfürstliche  Beamte 
zu  beherrschen,  die  habsbui^ischen  Gründer  gaben  das  Recht  der 
Schultheifsenwahl  tmd  das  Kirchenpatronat  nicht  aus  den  Händen.  Die 
Arauer  Handfeste  geht  direkt  auf  die  Winterthurer  Vorbilder  von  1264 
und  1275  zurück,  denen  gegenüber  sie  einige  Einschränkungen  auf- 
weist Sie  selbst  wurde  das  Vorbild  für  die  Stadtrechte  von  Brugg, 
Sursee,  Lenzburg  und  Rotenburg.  Zu  beachten  ist,  dafs  die  Hand- 
feste Rudolfs  I.  für  Arau  vom  Jahre  1283  nicht  den  Beginn  städtischen 
Wesens  daselbst  markiert.  Schon  vorher  tritt  Arau  als  städtisch  organi- 
siertes Gemeinwesen  auf.  Allerdings  muls  ich  meiner  Verwunderung 
darüber  Ausdruck  geben,  dafs  nach  Ansicht  des  Herausgebers  (S.  3) 
erst  die  Rudolfina  der  Stadt  Arau  das  Marktrecht  verliehen  habe.  Es 
heifst  in  Art.  i  der  Handfeste  (=  Winterthur  1264  I)  ausdrücklich,  dafs 
nüt  Willen  des  Königs  der  Friedekreis  der  Stadt  Arau  stets  Marktrecht 
haben  soll  „nach  der  stat  sitte  und  gewonheit*^  Ein  gewohnheits- 
rechtlich bereits  bestehender  Zustand  wird  also  unter  königlichen 
Schutz  gestellt  Sodann  bedeutet  Marktrecht  nicht,  wie  der  Heraus- 
geber meint,  ein  Programm,  d.  h.  ein  bestimmtes  Mindestmafs  stadt- 
rechtlicher Freiheiten,  ist  vielmehr  ganz  konkret  als  dingliche  Freiung 
des  Marktlandes  zu  verstehen.  Der  Friedekreuze  Einschlufs  soll  Markt- 
recht haben  nach  der  Bürger  Gewohnheit  heilst  nicht  mehr  und  nicht 
weniger  als:  Das  Marktareal  unterliegt  freier  Verfügung  seiner  frei- 
zügigen Besitzer,  der  Arauer  Bürger.  Vgl.  das  RadoUzeller  Privileg 
von  iioo:  Partem  ville  .  .  .  sub  jure  fori  donavimtts,  eo  viddicet 
iure  et  lihertate,  tU  ipsa  terra  omni  homini  cuiuscumque  condicianis 
liceret  emere,  vendere  et  libere  in  dUodio  possidere.    Bereits  ein  zweites 

Stadtrecht  von  Arau  vom  Jahre    1301   zeigt  uns   den   eigentümlichen 

4* 


—     52     — 

Prozefis  des  Eindringens  zähringischer  Rechtssätze  in  liabi^uigisches 
Stadtrecht,  welches  die  schweizerische  Rechtsgeschichte  jener  Zeit  be- 
lebt. Die  Bestimmungen  von  1301  stellen  gleichzeitig  die  ersten  auto- 
nomen Satzungen  der  Stadt  Arau  dar.  Eine  noch  stärkere  Rezeption 
zähringischer  Rechtssätze  in  Arau  enthält  die  von  Merz  vor  dem 
Jahre  1309  angesetzte  sogen,  gröfeere  Handfeste  (58  Sätze),  welche 
inhaltlich  eine  Übernahme  des  zähringisch  gefärbten  Stadtrechtsbrie£s 
Rudolfs  von  Habsburg  für  Bremgarten  von  um  1250  ist.  Aus  dem 
weiteren  reichen  Inhalt  des  Bandes  möchte  ich  auf  folgende  Stücke 
aufmerksam  machen:  Eine  Reihe  von  Urkunden  betreffen  die  ding- 
liche Freiung  der  Herrschaftsburg  Rore  in  Arau,  den  Bürgern  stets  cm 
Dom  im  Auge  (vgl.  S.  34,  39,  79,  84,  89,  131,  177).  Genau  belegt 
ist  die  Einfügung  der  Vorstadt  Arau  in  das  Bürgerrecht  d.  h.  die 
Aufsaugung  der  hofrechtlichen  Ansiedelung  durch  die  Marktstadt 
Vgl.  S.  37  und  94.  Umfangreiche  Ordnungen  und  Satzungen  besitzt 
Arau  aus  der  Zeit  um  1510;  eine  nochmalige  Erneuerung  fand  im 
Jahre  1572  statt.  Es  ist  nicht  möglich,  hier  weiter  auf  den  in  jeder 
Beziehung  reichen  Inhalt  des  Bandes  einzugehen,  die  Benutzung 
desselben  ist  für  jedermann  durch  ein  sorgfaltiges  Register  sehr  er- 
leichtert. 

Schon  nach  Jahresfrist,  1899,  ^^^  ^^^  schweizerische  Kommission 
in  der  angenehmen  Lage,  in  einem  stattlichen  Doppelbande  die  Rechts- 
quellen der  argauischen  Städte  Baden  und  Brugg  der  Öffentlichkeit  zu 
übergeben,  die  ersteren  bearbeitet  von  Dr.  Friedrich  EmilWelti, 
die  letzteren  von  dem  genannten  Bearbeiter  des  Arauer  Rechts, 
Dr.  Walther  Merz*).  In  der  Heranziehung  des  Stoffes  steckte  der 
Bearbeiter  des  Badener  Rechts  mit  Recht  den  Rahmen  besonders 
weit,  indem  er  zahlreichen  kulturgeschichtlich  interessanten  Verofd- 
nimgen  der  Gesundheits-  und  Sittlichkeitspolizei  aus  der  Rechts- 
vergangenheit der  schweizerischen  Bäder-  und  Versammlungsstadt  Auf- 
nahme gewährte.  Über  den  Handschriftenbestand  tmterrichtet  das  Vor- 
wort. Das  Inhaltsverzeichnis  weist  580  Stücke  auf  Die  Grundlagen 
des  Badener  Stadtrechts  sind  in  der  quellengeschichtlichen  Einleitung 
zum  Stadtbuche  von  1384  dargelegt.  Danach  geht  das  Badener  Redit 
unmittelbar  auf  Winterthur  zurück,  die  einst  vorhandene  habsbto^^isdie 
Handfeste  ist  im  Jahre  1369  im  Original  verbrannt,  eine  Abschrift  ist 

I)  Sammiimg  sehweixeriseher  Rechisquellen  (wie  oben  Nr.  18).  Arganische  Stadt- 
rechte IL  Band.  Die  Stadtreehte  von  Baden  und  Brugg  ^  bearbeitet  und  herausgegeben 
Ton  Dr.  Friedrich  Emil  Welti  and  Dr.  Walther  Mers  (Arau,  H.  R.  Saueriändcr 
1^  Co.,  1899.     XXIV  and  449  S.  and  bezw.  Xm  and  346  S.). 


—     53     — 

sieht  zurückgeblieben.  Mit  guten  Gründen  weist  der  Herausgeber  die 
Bewidmung  von  Baden  mit  Winterthurer  Recht  in  die  Jahre  1297  bis 
1298;  kurz  vorher  erst  mufs  Baden  zur  Stadt  erhoben  worden  sein. 
In  einer  Wettinger  Urkunde  von  1298  spricht  Herzog  Albrecht  I.  von 
Österreich  von  cppidum  nosirum  navum  Baden.  Das  Stadtbuch  von 
1384  ist  eine  offizielle  Aufzeichnung  des  in  Baden  geltenden  Rechts 
durch  die  städtische  Behörde.  Die  Verwandtschaft  der  ersten  18  Sätze 
mit  den  Winterthurer  Handfesten  ist  überall  deutlich  gemacht.  Die 
Sätze  19 — 115  sind  autonome  Stadtrechtsergänzungen,  die  Zusammen- 
steUung  diente  mit  den  Ergänzungen  bis  in  den  Anfang  des  XVI.  Jahr- 
hunderts als  ofSzielles  Satzungsbuch  und  nimmt  beim  Fehlen  der  ur- 
q>rünglichen  Handfeste  den  wichtigsten  Platz  unter  den  Badener  Rechts- 
queUen  ein.  Eine  Revision  erfuhr  dasselbe  bald  nach  1503  durch  den 
Stadtschreiber  Ulrich  Dirsch.  An  umfassenderen  Quellen  des  Badener 
Rechts  sind  femer  hervorzuheben  ein  Eidbuch  der  städtischen  Be- 
amten usw.  von  um  1520,  sowie  eine  Blutgerichtsordnung  von  1641. 
Von  dem  rechts-  und  kulturgeschichtlich  reichen  Inhalt  nenne  ich  noch 
folgende  Stücke:  Erbauung  von  Marktlauben  1353  (Nr.  6),  Errichtung 
zweier  Jahrmärkte  1363  (Nr.  11),  Elrrichtung  einer  Wechselbank  1369 
(Nr.  14),  Stadt  Baden  erwirbt  das  Scher-  und  Schröpfamt  und  das 
heifee  Bad  1430  (Nr.  45),  Erwerb  des  Blutbanns  1442  (Nr.  49), 
Schüttungsordnung  1496  (Nr.  75),  Von  der  badstuben  1496  (Nr.  78), 
Sittenpolizei  1501  (Nr.  90),  Ordnung  für  den  Badknecht  1560  (Nr.  100), 
Strafe  der  Selbsthilfe  1518  (Nr.  128),  Sittenpolizei  in  den  Bädern  1520 
(Nr.  14s),  Verbot  des  Getreidekaufs  nach  dem  Kurs  1541  (Nr.  176), 
Welsche  Krämer  1558  (Nr.  211)  usw.  Für  Stoffanordnung,  typo- 
graphische Ausstattung  und  Register  war  das  besprochene  Arauer 
Stadtrecht  Muster  und  Vorbild.  Auch  diese  Publikation  ist  zu  den 
besten  unter  den  besprochenen  Neuerscheinungen  zu  rechnen. 

In.  gleicher  Weise  befriedigt  alle  Anforderungen  die  den  zweiten 
Ualbband  füllende  Bearbeitung  des  Stadtrechts  von  Brugg.  Dr.  Walther 
Merz  befolgte  bei  seiner  Herausgabe  im  allgemeinen  dieselben  Grund- 
sätze, die  ihn  beim  Arauer  Stadtrecht  leiteten.  Eine  gewisse  Ein- 
scluiänkung  in  der  Auswahl  des  Stoffes  ist  nur  insofern  eingetreten, 
ah  vom  XVII.  Jahrhundert  ab  unbedeutendere  Quellen  ganz  weg- 
gelassen wurden;  die  vereinfachte  Orthographie  ist  hier  schon  von 
145 1  an  zur  Verwendung  gekommen.  Die  nur  in  jüngerer  deut- 
scher Fassung  überlieferte  Handfeste  Rudolfs  I.  für  Brugg  von  1284 
bietet  dem  Herausgeber  Gelegenheit,  mit  der  Echtheitsfrage  dieses 
Rechtsdenkmals  die  Untersuchung  seiner  Vorlagen  zu  verbinden.    Be- 


—     54     — 

züglich  des  ersten  Punktes  kommt  Merz  zum  Ergebnis,  dais  das 
wahrscheinlich  im  Jahre  1444  verloren  gegangene  Original  der  Hand- 
feste nach  dem  verwandten  Arauer  Stadtrechtsbrief  wiederhergestellt 
wurde,  inhaltlich  also  echt  ist,  mit  Ausnahme  der  Zeugenreihe  und 
des  Datums,  welche  dem  Arauer  Brief  direkt  abgeschrieben  sind,  und 
mit  Ausnahme  des  weitausgedehnten  Friedekreises,  der  in  der  Re- 
konstruktion des  XV.  Jahrhunderts  an  Stelle  des  Marktumfanges  alte 
Weidegrenzen  einer  grofeen  Markgenossenschaft  angibt.  Gegen  das 
Jahr  1284  als  Zeit  des  Privilegs  werden  Einwendungen  nicht  erhoben. 
Der  Herausgeber  weist  indes  gleich  Arau  auch  für  Brugg  nach,  dafe 
schon  vor  diesem  Jahre  der  Ort  städtische  Verfassung  besafs.  Schon 
1232  nennt  Rudolf  von  Habsburg  den  W.  tnonetarius  civis  noster  in 
Brucge.  Ihrem  Inhalte  nach  enthält  die  Handfeste  habsburgisches 
Winterthurer  Recht,  das  über  Arau  nach  Brugg  verpflanzt  wurde.  Frei- 
lich nahm  auch  Brugg  vor  dem  Jahre  1309  gleich  Arau  im  Wege 
autonomer  Satzung  zähringisches  Recht  auf;  von  dieser  Rezeption  sind 
Fragmente  als  sogen,  gröfseres  Stadtrecht  erhalten  (Nr.  4).  Im  übrigen 
möchte  ich  aus  den  chronologisch  durchgezählten  211  Stücken  der 
Brugger  Rechtsquellen  namentlich  die  umfangreichen  Satzungen  von  1512 
bis  15 13  und  deren  Erneuerung  von  1620  bis  1621  hervorheben.  Durch 
ein  trefi*liches  Register  wird  auch  der  Inhalt  dieses  Quellenbandes  dem 
Benutzer  nahe  gebracht. 

An  letzter  Stelle  ist  des  im  Jahre  1902  erschienenen  ersten  Bandes 
des  Bemer  Stadtrechts  zu  gedenken,  den  Dr.  Friedrich  Emil  Welti 
bearbeitet  und  herausgegeben  hat ').  Die  quellengeschichtliche  Ein- 
leitung hierzu  hatten  bereits  Schnell  und  S türler  mit  ihrer  im 
Jahre  1871  erschienenen  „Übersicht  der  älteren  Rechtsquellen  des 
Kantons  Bern  mit  Ausschlufs  des  Jura",  sodann  Hub  er  in  seiner  Ab- 
handlung „Die  Satzungsbücher  der  Stadt  Bern"  in  der  Zeitschrift  des 
Berner  Juristenvereins  geliefert.  Der  Herausgeber  verzichtet  daher,  ob 
ganz  mit  Recht,  scheint  mir  fraglich,  unter  Verweisung  auf  jene  früheren 
Aufsätze  auf  jede  Übernahme  des  Inhalts  jener  Nachweisungen.  Man 
sollte  bei  einer  so  monumentalen  Quellenedition  ein  paar  Seiten  oder 
Bogen  nicht  sparen  und  den  Benutzer  nicht  nötigen,  zur  quellen- 
geschichtlichen Orientierung  nach  anderen  vielleicht  nicht  überall  zu- 
gänglichen Aufsätzen  zu  suchen.     Die  Ausstattung  des    vorliegenden 

i)  Sammlung  schweixerischer  RechtsqueUen  U.  Abteilung:  Die  Rechtsqaellen  dc8 
Kantons  Bern.  Erster  Teil:  Stadtrechte.  Erster  Band:  Das  Stadtrecht  ton  Bern  I 
(1218 — 1539),  bearbeitet  und  herausgegeben  von  Dr.  Friedrich  Emil  Welti  (Arao, 
H.  R.  Sauerländer  &  Co.,  1902.     LXXXII  und  428  S.). 


—     55     — 

Bandes  ist  dieselbe  treflFliche  wie  in  den  vorangegangenen  Pubikationen. 
Hinsichtlich  der  Stoflfanordnung  ist  insofern  das  rein  chronologische 
System  durchbrochen,  als  die  sehr  umfangreichen  drei  Redaktionen 
des  Berner  Stadtrechts  allein  schon  einen  Band  zu  füllen  in  der  Lage 
waren,  während  die  übrigen  in  Urkunden  und  Rechtsbüchem  usw. 
niedergelegten  Quellen  in  chronologischer  Anreihung  den  zweiten  Band 
der  Bemer  Stadtrechte  ausmachen  werden.  Bis  jetzt  liegen  daher  nur 
im  Druck  vor  drei  Quellen,  nämlich  die  vom  15.  April  12 18  datierte 
Berner  Handfeste,  das  in  seiner  ausfuhrlichsten  Überlieferung  350  Sätze 
enthaltende  Satzungenbuch  (Satzungen  aus  der  Zeit  von  1283  bis  1487 
bezw.  1535),  endlich  die  revidierte  Stadtsatzung  von  1539  in  270  Ar- 
tikeln. Das  Satzungsbuch,  welches  als  hervorragendste  Quelle  für  die 
Erkenntnis  der  Berner  Rechtsentwickelung  gelten  mufs,  war  bisher  un- 
gedruckt. 

In  umfangreicher  kritischer  Untersuchung  prüft  der  Herausgeber 
die  Echtheitsfrage  der  Bemer  Handfeste  von  1218  nach,  bekanntlich 
eine  der  berühmtesten  und  umstrittensten  Fragen  der  schweizerischen 
Rechtsgeschichte.  Er  gelangt  zu  negativem  Ergebnis  und  erklärt  in 
eindringender,  sorgfältiger,  wohlüberlegter  Beweisführung  das  Denkmal 
für  eine  Fälschung  der  Bemer,  deren  Entstehimgszeit  in  das  8.  Jahr- 
zehnt des  XIII.  Jahrhunderts  verlegt  wird.  Unter  den  Gründen  gegen 
die  Echtheit  stehen  im  Vordergmnd:  i)  die  Form  der  Handfeste,  die 
von  den  Urkunden  Friedrichs  II.  in  allen  Stücken  abweicht  und  sehr 
salopp  gehalten  ist;  2)  die  Tatsache,  dals  die  Handfeste  den  Bernem 
ewige  Steuerfreiheit  zusichert,  während  das  von  Schwalm  im  Neuen 
Archiv  edierte  Reichssteuerverzeichnis  von  1241  die  Stadt  Bern  der 
ordentlichen  Steuer  von  40  Mark  Silber  unterwirft;  3)  die  für  12 18  in 
dieser  Form  unmögliche  Verleihung  der  Reichsunmittelbarkeit ;  4)  die 
den  Bürgem  gewährte  echte  Lehnsfahigkeit ,  die  anderwärts  nirgends 
vor  dem  Interregnum  erlangt  wurde;  5)  die  freie  Wahl  aller  Stadt- 
beamten, welche  die  Handfeste  einräumt,  während  nachweisbar  nach 
121 8  Geistliche  und  Schultheifsen  zu  Bern  noch  vom  Stadtherm  er- 
nannt wurden;  6)  insbesondere  die  Tatsache,  dafs  die  Handfeste  auf 
das  Recht  von  Freiburg  i.  Br.  in  dessen  Weiterbildung  im  sogen. 
Stadtrodel  zurückgeht,  die  Entstehung  des  letzteren  aber  von  Merz 
mit  guten  Gründen  unter  das  Jahr  12 18  herab  angesetzt  wird. 

Die  älteste  Handschrift  des  Satzungenbuches  enthält  von  erster 
Hand  geschrieben  204  Sätze,  deren  letzter  datierter  dem  Jahre  1403 
angehört. 

Auf  den  reichen  Inhalt  der  drei  hier  veröfTentlichten  Rechtsdenk- 


—     56     — 

mäler  kann  im  emelnen  nicht  eingegangfcn  werden.  Sicher  werden 
auch  sie  treffliche  Hilfsmittel  der  schweizerischen  und  allgemein  deut- 
schen rechtsgeschichtlichen  Forschung  sein,  deren  Zi^änglichkeit  durch 
ein  sorgfältig  gearbeitetes  Register  erheblich  gesteigert  wird. 

Die  Umschau,  die  wir  unter  den  neuesten  StadtrechtsveröSent- 
lichungen  gehalten  haben  und  hiermit  beschlie&en,  berechtigt  zu  den 
schönsten  Hoffnungen  für  die  Zukunft.  Welche  Fülle  von  Rechtsstoff 
harrt  schon  jetzt  der  Verarbeitung  und  wächst  von  Jahr  zu  Jahr !  Die 
Rechtshistoriker  des  deutschen  Mittelalters  haben  auf  lange  Zeit  voll- 
auf zu  tun,  um  aus  den  geförderten  Erzen  das  edle  Metall  der  Rechts- 
gedanken zu  schmelzen.  Das  Rechtsgebäude  des  deutschen  mittel- 
alterlichen Rechts  wird  aus  ungezählten  partikularrechtlichen  Sonder- 
bildungen immer  deutlicher  als  ein  einheitliches  Denkmal  deutscher 
Sittlichkeit  und  deutschen  Geisteslebens  emporsteigen  und  in  dem 
Reichtum  imd  der  Tiefe  seiner  Sätze  dem  gefeierten  Altmeister  auf 
dem  Basler  Lehrstuhle  recht  geben. 


Mitteilungen 

Yersammhutgeil.  —  Am  25.  September  nahm  der  vierte  Tag 
für  Denkmalpflege  ^)  in  der  Ressource  zu  Erfurt  semen  Anfang ;  gegen 
150  Teilnehmer  aus  Deutschland  und  Österreich  waren  dazu  erschienen. 
Die  königlich  preufsische  und  die  königlich  sächsische  Staatsregiening  hatten 
Vertreter  entsandt.  Nachdem  durch  die  Vertreter  der  preufsischen  Regierung, 
der  österreichischen  Zentralkommission  und  der  Stadt  Erfurt  Begrüfsungen 
stattgefunden  hatten ,  berichtete  der  Vorsitzende,  Geheimer  Justizrat  Professor 
Loersch  (Bonn)  über  die  Tätigkeit  des  geschäftsfUhrenden  Ausschusses.  Be- 
sonders wichtige  Punkte  waren  u.  a.,  dafs  der  preufsische  Staatshaushalt 
den  Fonds  für  Denkmalpflege  von  33000  Mark  auf  50000  Mark  erhöhte, 
und  dafs  einem  Spruche  des  preufsischen  Obenrerwaltungsgerichtes  zufolge, 
die  Ortsbehörden  verpflichtet  sind,  wertvolle  Kunstalterttimer  nicht  nur 
zu  behalten,  sondern  auch  zu  pflegen  und  zu  erhalten. 

Den  ersten  Vortrag  hielt  Prof.  Giemen  (Bonn)  über  das  Verhältnis 
der  Altertumsmuseen  zur  Denkmalpflege,  wobei  er  besonders  den  Grundsatz 
betonte,  dafs  alles,  was  an  Ort  und  Stelle,  z.  B.  in  der  Kirche  oder  dem  Rat- 
hause gut  bewahrt  sei,  daselbst  verbleiben  möge,  was  aber  gefährdet  er- 
scheine soü  einer  und  wenn  möglich  einer  gröfseren  Sanmilung  einverleibt 
werden. 


i)  Über  den  dritten  1903  in  Düsseldorf  vgL  diese  Zeitschrift  4.  Bd.,  S.  55 — 58. 


—     57     — 

Direktor  Brinckmann  (Hamburg)  wies  darauf  hin,  dafs  es  kleinen 
Museen  meist  an  geschulten  Kräften  fehle  und  deshalb  durch  unverständiges 
Restaurieren  und  durch  Ankäufe  gefälschter  Gegenstände  viel  Schaden  ent- 
stünde. An  den  Beispielen  der  Museen  zu  Hildesheim,  Göttingen,  Minden 
und  Stade  zeigte  Oberbürgermeister  Struckmann  (Hildesheim),  welchen 
Wert  auch  kleine  Museen  besitzen  können,  die  sich  vor  Fälschern  hüteten 
und  nur  solche  Gegenstände  sammelten,  welche  für  den  betreffenden  Bezirk 
kulturgeschichtlich  wichtig  sind. 

Der  hierauf  folgende  Vortrag  des  Herrn  Konservator  Hager  (München) 
über  die  Erhaltung  von  Wandmalereien  war  überaus  lehrreich  und  bot  auif 
Grund  gründlichster  Forschungen  ein  in  jeder  Beziehung,  besonders  in 
technischer  Hinsicht,  höchst  wertvolles  Material. 

Hofrat  von  Oechelhäuser  (Karlsruhe)  stellte  in  Aussicht,  bei  der 
nächstjährigen  Sitzung  des  Denkmalpflegetages  die  ersten  Bogen  des  wissen- 
schaftlichen Handbuches  der  Deutschen  Denkmäler  ^),  dessen  Umfang  sein 
Bearbeiter  Prof.  Dehio  auf  5  Bände  berechnet,  vorlegen  zu  können,  ob- 
wohl bislang  vom  Reiche  noch  keine  Unterstützung  zugesagt  worden  ist. 

In  längerer  durch  Abbildimgen  erläuterter  Rede  berichtete  Hofrat 
Cornelius  Gurlitt  (Dresden)  über  die  mit  der  Wiederherstellung  des 
Meifsner  Domes  zusammenhängenden  Fragen.  Nach  der  historischen  Dar- 
legung der  Baugeschichte  besprach  der  Redner  den  vom  Dombauverein  zur 
Ausführung  gestellten  Schäferschen  Plan  imd  wies  darauf  hin,  dafs  dieses 
Projekt  weder  in  seiner  Totalität  noch  in  Einzelheiten,  weder  für  die  2^it 
noch  den  Ort  charakteristisch  sei.  Hieran  schlofs  sich  eine  sehr  erregte 
Auseinandersetzung.  Zunächst  erklärte  Bau-  und  Finanzrat  Schmidt  (Dresden), 
dafs  es  der  Meifsner  Dombauverein  nicht  an  Ernst,  Fleifs  und  Gewissen- 
haftigkeit habe  fehlen  lassen.  Dann  ergriff  Oberbaurat  Schäfer  (Karisruhe) 
das  Wort,  tun  darzutun,  dafs  die  Dreiturmanlage  nur  eine  Marotte  eines 
Architekten  des  XV.  oder  XVI.  Jahrhunderts  gewesen  sei.  Professor  Dehio 
(Strafsburg)  vertrat  die  Ansicht,  dafs  der  Meifsner  Dom  überhaupt  nicht 
ausgebaut  werden  sollte,  der  Dombau  stehe  in  grellem  Widerspruch  zu  dem 
Gedanken  der  Denkmalpflege.  Reg.  Baumeister  Stiehl  (Steglitz)  bemerkte, 
dafs  der  Meifsner  Dom  ursprünglich  zweitürmig  geplant  gewesen  sei  und 
deshalb  Schäfer  mit  Recht  sich  in  seinem  Entwürfe  hieran  gehalten  habe. 
Geh.  Rat  Hofsfeld  (Berlin)  glaubte,  dafs  es  dem  Meifsner  Stadtbild  zum 
Vorteil  gereiche,  wenn  der  Dom  seine  Türme  erhielte.  Zuerst  sei  auch  er 
Anhänger  der  Dreiturmanlage  gewesen,  später  aber  Anhänger  des  Schäferschen 
Entwurfes  geworden.  Hof  rat  Gurlitt  bemängelte  das  Verfahren  der  Denkmal 
pflege,  die  bei  gröfseren  Aufgaben  sich  immer  noch  nicht  von  dem  theoretisch 
längst  überwundenen  alten  Standpunkt  frei  machen  köime.  Oberbaurat  Schäfer 
erwiderte  darauf  meist  in  persönlicher  Weise.  Nachdem  Prof.  Lichtwark 
(Hamburg)  erklärte,  dafs  in  solchem  Tone  die  Erörterung  nicht  weitergehen 
könne,  hob  der  Vorsitzende,  Geheimer  Justizrat  Lorsch,  die  Versaromlung  auf. 

Den  nächsten  durch  Lich^ilder  erläuterten  Vortrag  hielt  Professor 
Rathgen  (Berlin)  über  Erhaltung  von  Alterumsfunden  durch  Entfeuchtung 
von  Steinen  und  Entfernung  des   so   schädlichen   salzhaltigen  Niederschlags, 


I)  Vgl.  4.  Bd.,  S.  58. 


—     58     — 

was  durch  die  Vorführung  dementsprechend  behandelter  babylonischer  Ton- 
tafeln vorzüglich  illustriert  wurde.  Bodo  Ebhar dt  (Berlin)  berichtete  über 
die  Kennzeichnung  von  wiederhergestellten  Teilen  eines  Bauwerks  durch 
Steinmetzzeichen,  Architektenmarken  oder  dergl. ,  die  an  jedem  einzelnen 
Steine  angebracht  werden  müfsten.  Zu  dieser  Sache  sprachen  Geh.  Rat 
Lutsch  (Berlin),  Geh.  Oberbaurat  Hofmann  (Darmstadt),  Oberbürger- 
meister Struckmann  (Hildesheim)  imd  Professor  Dehio  (Strafsburg). 

Über  das  hessische  Gesetz  für  Denkmalpflege  vom  i6.  Juli  1902  be- 
richtete Ministerialrat  von  Biegeleben  (Darmstadt) ,  worauf  Prof.  Dehio 
(Strafsburg)  zu  dem  Thema  „Vorbildung  zur  Denkmalpflege"  das  Wort  er- 
griff. Redner  machte  auf  den  Gegensatz  zwischen  dem  Architekten  tmd 
Kunsthistoriker  aufmerksam.  „Der  Kunsthistoriker  ist  ein  Gelehrter,  der 
Architekt  ein  Künstler ;  der  Kimsthistoriker  will  erforschen ,  der  Architekt 
schoflen."  Dehio  führte  daraufhin  aus,  dafs  die  Denkmalpflege  ein  besonderes 
Fach  innerhalb  der  historischen  Disziplin  sei,  die  somit  den  Architekten 
nur  als  technischen  Gehilfen  brauche.  Nur  in  dem  Falle  könne  der 
Architekt  als  Denkmalpfleger  in  Frage  kommen,  wenn  er  in  seiner  ganzen 
Denkrichtung  Historiker  geworden  sei  und  auf  jedes  eigene  Schaffen 
Verzicht  leiste.  Dem  entgegnete  Geh.  Rat  Lutsch  (Berlin)  in  längerem 
Vortrage,  betrachtete  die  künstlerische  Erziehung  unserer  Jugend  von  der 
Kinderstube  bis  zur  Universität  und  indem  er  auf  die  weitere  Ausbildung 
Bezug  nahm,  hob  er  hervor,  dafs  ein  Gegensatz  zwischen  Architekt  und 
Kunsthistoriker  nicht  zu  bestehen  brauche.  „Wichtiger  als  die  Vorbildung 
sei  die  Praxis,  alles  hänge  hier  wie  auch  sonst  im  Leben  von  der  Persön- 
lichkeit ab."  Einigkeit  aber  sei  dringend  nötig,  denn  die  Bestrebungen  der 
Denkmalpflege  seien  noch  lange  nicht  so  populär  geworden,  wie  dies  als 
Bedingung  geradezu  geboten  sei.  Über  die  Hamburgische  Inventarisation, 
die  sich  wesentlich  von  der  der  anderen  Staaten  dadurch  unterscheidet,  dafs 
sie  bis  in  die  unmittelbare  Gegenwart  reicht,  sprach  Direktor  Brinck- 
mann,  indem  er  das  Hamburger  Denkmälerarchiv  und  die  Grundsätze  für 
dessen  Zusammenstellung  erklärte. 

Den  letzten  Tag  füllten  Beratungen  über  „  die  Bedeutung  neuer  Strafsen- 
fluchtlinien  in  alten  Städten  vom  Standpunkte  der  Denkmalpflege"  aus. 
Hierüber  hielt  Geh.  Baurat  Stubben  (Köln)  einen  inhaltlich  tmd  technisch 
glänzend  zu  nennenden  einleitenden  Vortrag,  worauf  zu  dieser  Frage  noch 
Geh.  Oberbaurat  Hofmann  (Darmstadt),  Hofrat  Cornelius  Gurlitt 
(Dresden)  und  Professor  Frentzen  (Aachen)  sprachen.  Letzterer  verlangte 
energisch  für  unsere  alten  Rathäuser,  Kirchen  und  sonstigen  Baudenkmäler 
eine  gesetzlich  festgelegte  Schutzzone,  damit  die  schönen  Strafsenbilder  nicht 
durch  die  berüchtigten  Kjlsten  aus  Spiegelglas  imd  Eisen  so  empfindlich  ge- 
schädigt werden  könnten. 

Auf  dem  nächsten  Tage  für  Denkmalpflege,  der  1904  in  Dan  zig  statt- 
findet, soll  u.  a.  über  die  Frage  der  Bauordnung  im  Dienste  der 
Denkmalpflege  beraten  werden.  Hiermit  nahm  der  an  Anregungen  so 
reiche  vierte  Tag  der  Denkmalpflege  seinen  Abschlufs. 

Die  Pausen  zwischen  den  Vorträgen  und  die  sonst  verfügbare  freie  Zeit 
benutzten  die  Teilnehmer  am  Denkmalpflegetag  zur  Besichtigung  der  im  Kreuz- 
gange  und  einigen  anderen  Räumen  des  Erfurter  Domes  reizvoll  untergebrachten 


—     59     — 

kunstgeschichtlichen  Ausstellung,  die  für  die  Geschichte  der  sächsisch- 
thüringischen Kunst  von  allerhöchster  Bedeutung  war.  Aus  allen  Teilen  des 
Landes,  aus  vielen  abgelegenen  und  deshalb  £ast  unbekannten  Kirchen  waren 
Kunstwerke  herbeigeschafft  worden,  um  die  Entwickelung  der  Kunst  und  die  Ent- 
stehung der  Renaissance  in  diesen  Landen  dem  Auge  des  Beschauers  vorführen 
zu  können.  Malerei  und  Plastik,  besonders  eine  grofse  Anzahl  schöner  Schnitz- 
altäre, sowie  Erzeugnisse  des  Kunstgewerbes,  u.  a.  kirchliche  Gef^se  und 
Geräte,  Stickereien  und  Goldschmiedearbeiten,  waren  gleichmäfsig  gut  ver- 
treten. Diu-ch  die  Vereinigung  aller  dieser  Kunstschätze  wird  sicher  noch 
manches  für  die  Kunstgeschichte  wertvolle  Resultat  zutage  treten.  So  war 
es  z.  B.  sehr  erfreulich  in  dem  Gemälde  von  Lucas  Cranach  d.  Ä.  vom 
Jahre  1503  (Nr.  131  des  Kataloges),  Bildnis  einer  sitzenden  Frau  in  rotem 
Kleide,  das  aus  dem  Fürstlichen  Schlosse  Heidecksburg  (Rudolstadt)  ent- 
liehen wurde,  das  Gegenstück  zu  Cranachs  Bildnis  des  Kanzlers  „Reufs*' 
zu  entdecken.  Robert  Brück  (Dresden). 

Archive.  —  Die  Landesarchive  der  österreichischen  Kxonländer  ^) 
sind  z.  T.  aus  landständischen  Archiven  erwachsen,  stellen  also  An- 
stalten dar,  die  ihrem  Ursprünge  nach  den  Interessen  der  Stände,  die  sich 
als  Repräsentanten  des  Landes  betrachteten,  gegenüber  denen  der  Landes- 
fürsten dienen  sollten,  und  diese  Eigenschaft  wirkt  nicht  nur  vielfach  bis  heute 
nach,  sondern  erklärt  vor  allem  den  Gegensatz  zu  den  Archiven  der  Staats- 
behörden. Um  den  gegenwärtigen  Zustand  eines  solchen  Archivs  zu  ver- 
stehen, ist  es  deshalb  nötig,  seine  auch  materiell  vielfach  interessante  Geschichte 
zu  verfolgen,  wie  ja  die  Archivgeschichte  überhaupt  erst  den  Schlüssel 
zum  Verständnis  des  modernen  Archivwesens  gibt  und  zugleich  mancherlei 
Vorgänge  des  öfifentlichen  Lebens  verständlich  macht.  In  dieser  Erkenntnis 
hat  der  niederösterreichische  Landesarchivar  AntonMayer  eine  Geschichte 
des  landständischen  Archivs  von  Niederösterreich,  soweit  von  einem  solchen 
die  Rede  sein  kann,  nämlich  von  15 18  bis  1848'),  bearbeitet  und  damit 
einen  recht  wichtigen  Beitrag  zur  Archivgeschichte,  wie  zur  Geschichte  des 
Landes  Niederösterreich,  geliefert 

Entstanden  ist  das  Archiv  der  niederösterreichischen  Landstände,  nach- 
dem sie  15 13  ein  eigenes  Haus  zur  Abhaltung  der  Landtage,  Uoterbringung 
der  Kanzleien  usw.  erworben  hatten:  jetzt  wurde  auch  ein  briefgewöW  ge- 
schaffen, und  in  dieses  wanderten  1 5 1 8  die  Urkunden  der  Stände,  die  vorher 
meist  auf  dem  Schlosse  des  jeweiligen  LandesmarschaUs  untergebracht  gewesen 
waren.  Vor  den  Türken  wurde  das  Archiv  1529  nach  Kloster  Melk,  1532 
nach  Schlofs  Aggstein  und  1543  nach  Schlofs  Pümstein  (Oberösterreich, 
Mühlviertel)  geflüchtet  Inventare  wurden  angelegt  1542,  1566  (fehlt  jetzt), 
1576  und  161 1;  in  letzterem  Jahre  beschlofs  man  auch  die  Anlage  eines 
Kopiars.  Aber  die  Feuchtigkeit  des  Archivgewölbes  beschädigte  die  Perga- 
mente; manche  Stücke  wurden  verliehen  und  kehrten  trotz  mannigfacher 
Schreiben  an  die  Entleiher  und  ihre  Erben  nicht  wieder  zurück.    Wenn  sich 


i)  Vgl.  darüber  diese  ZeiUchrift  4.  Bd.,  S.  316. 

3)  Das  Archiv  und  die  Registratur  der  niederösterreichischen  Stände  von  1518 
bis  1848  [■>  Separatabdnick  ans  dem  Jahrbuche  des  Vereins  für  Landeskunde  von  Nieder- 
österreich.    190a.     79  S.  8®]. 


—     60     — 

heute  bisweilen  Aktenstücke  in  Archiven  finden,  wo  sie  niemand  venaotet, 
dann  mag  oft  ein  derartiges  Entleihen  die  letzte  Ursache  der  Verschleppung 
sein.  Im  Briefgewölbe  lagen  nur  die  Urkunden.  Die  Akten  des  heutigen 
Landesarchivs  dagegen  gehen  auf  die  zuerst  1580  bezeugte  Registratur 
der  Stände  zurück,  die  seit  1654  selbständig  neben  der  Kanzlei  bestand  und 
deren  Beamten  die  Aufsicht  über  das  Archiv  zugleich  mit  oblag.  Die  Tätig- 
keit der  einzelnen  Archivbeamten  seit  der  Mitte  des  XVII.  Jahrhunderts  wird 
eingehend  geschildert,  ihre  namentlich  seit  den  sechziger  Jahren  erneute  Sorg- 
falt tritt  uns  anschaulich  entgegen :  es  wird  inventarisiert  und  Ordnung  geschafit, 
aber  immer  wieder  sind  Klagen  über  fehlende  Stücke  und  eingerissene  Un- 
ordnung zu  vernehmen.  In  den  Jahren  1696  bis  1706  wurde  eine  grofse  Ma- 
trikel aller  Angehörigen  der  beiden  adligen  Stände  angelegt  und  dabei  wurden 
3799  Urkunden  sorgfaltig  ausgezogen;  ein  neues  Inventar  enstand  1734.  Die 
grölste  Sammlung  des  gesamten  Archivinhalts  ist  der  Codex  provindaHs,  der 
1723  mit  vier  Foliobänden  begonnen  wurde  und  dessen  Fortsetzung  1779 
bis  18 19  in  zehn  Bänden  bearbeitet  worden  ist  Mit  der  Errichtung  des 
neuen  Landhauses  1832  erhielt  endlich  auch  das  Archiv,  dem  nunmehr  auch 
die  Registratur  bis  1792  einverleibt  war,  entsprechende  Räumlichkeiten,  und 
in  diesem  Gebäude  befindet  es  sich  heute  noch.  Aufser  dem  Archiv  fiir 
alle  Stände  gab  es  auch  noch  Sonderarchive  für  den  Prälaten-,  Herren-  tmd 
Ritterstand,  die  von  deren  Vorständen  verwaltet  wurden  und  ebenfisdls  im 
heutigen  Landesarchiv  ruhen. 

Wohltuend  wirkt  in  Mayers  Darstellung  die  im  allgemeinen  recht  grofse 
Fürsorge,  die  die  Stände  ihren  Privilegien  und  Akten  zuteil  werden  liefsen, 
und  die  oft  zum  Ausdruck  gebrachte  richtige  Erkenntnis  von  ihrem  Werte, 
dem  entsprechend  oft  nicht  unbedeutende  finanzielle  Aufwendungen  gemacht 
wurden.  Die  Geschichte  des  Archivs  zeigt  dem  modernen  Benutzer,  warum 
das  eine  Aktenstück  sich  hier  befindet  tmd  das  andere  fehlt;  sie  erst  gibt 
einen  Mafsstab  dafür,  wie  vollständig  die  Archivalien  erhalten  sind,  sowie 
darüber,  was  überhaupt  existiert  hat,  und  liefert  damit  im  einzelnen  Falle 
eine  wichtige  Grundlage  für  eingehende  Quellenkritik.  Der  Arbeit  Mayers 
entspricht  bis  jetzt  in  Norddeutschland  allein  die  Geschichte  des  Kgl.  Staats- 
arehivs  xu  Hannover  von  Max  Bär  *),  die  in  dieser  Zeitschrift  bereits  früher 
(i.  Bd.,  S.  171)  gewürdigt  wurde.  In  mancher  Hinsicht  mehr,  in  anderer 
weniger  als  Mayer  für  sein  Archiv  bietet  Richard  Krebs  in  der  Archiv- 
geschickte  des  Hauses  Leiningen  ^). 

Bei  der  Frage  nach  dem  Stande  der  sogenannten  Inventarisation 
der  kleineren  Archive  —  den  letzten  Bericht  darüber  enthält  der  Vor- 
trag von  Armin  Tille  gelegentlich  der  Düsseldorfer  Versanmilung  des 
Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichts-  und  Altertumsvereine  1902,  gedruckt 
im  Korrespondenxblait  des  Gesamivereins  51.  Jahrgang  (1903),  S.  71 — 75: 
Erschließung  und  Ausbeutung  der  kleineren  Archive  —  ist  bisher  merk- 
würdigerweise der  entsprechenden  Arbeiten  in  der  Schiveiz  gar  nicht  gedacht 


i)  MitteiloDgen  der  Kgl.  Preufsischen  Archiwerwaltang.     Heft  2.     1900. 
2)  S«paratabdnick  aas  den  Mitteilangen  des  historischea  Vereins  der  Pfals.    23.  Heft 
(Spcier  1898.     46  S.  8*»). 


—     61     — 

worden,  obwohl  diese  verhältnismäf^  recht  weit  zurüGkreichen.  Als  Probe 
schweizerischer  ArchiTerschliefsung  Uegt  irns  Tor  St  OcUlische  Qememde- 
Archwe,  herausgegeben  vom  HiatoriBohen  Verein  des  Kantons  St,  Oaüen,  Der 
Hof  WidnaU'Haslach  (Politische  Gemeinden  Widnau  und  Au  und  Ortsgemeinde 
Sekmitter),  bearbeitet  von  Hermann  Wartmann.  St.  Gallen,  In  Kom- 
mission bei  Huber  &  Co.  (E.  Fehr),  1887.  C  und  312  S,  8».  Der  Plan 
ist  von  vornherein  ein  anderer  und  vor  allem  tunfiaissenderer  als  der,  welcher 
den  Durchmusterungen  der  kleinen  Archive  in  Baden,  dem  Rheinland  oder 
Westfalen  zugnmde  liegt:  nicht  der  Bestand  der  Örtlichen  Archive  wird  hier 
untersucht,  sondern  alles  nur  irgend  auf  die  betreffenden  Gemeinden  bezüg- 
liche Material,  wo  es  auch  ruhen  mag,  wird  zusammengebracht,  und  bei 
dieser  Gelegenheit  werden  naturgemäfs  auch  die  an  den  Orten  selbst  befind- 
lichen Archivalien  mit  ausgebeutet ;  denn  bei  einer  blofsen  Verzeichnung  be- 
ruhigt man  sich  nicht  und  schreitet  zu  einer  Verarbeitung  fort,  die  in  vieler 
Beziehung  einer  Ortsgeschichte  sehr  nahe  kommt.  Der  Gegenstand  lud  freilich 
hier  dazu  ein,  derm  Wartmann  behandelt  in  dem  vorliegenden  und  einem 
vorhergehenden,  nicht  vorliegendem  Bande,  Gebiete,  die  einst  zu  den  beiden 
im  Rheintale  gdegenen  Königshöfen  Kriessern  und  Lust n au  gehörten. 
Das  Gebiet  des  letzteren  veranschaulicht  eine  ELarte  1:75  ^^^  °^^  ^^^  Grenze 
des  Jahres  15 10  neben  der  an  einigen  Stellen  abweichenden  modernen. 
£rst  1303  tritt  uns  Widnau,  erst  1345  Haslach  urkundlich  entgegen,  und  von 
dieser  Zeit  an  schildert  Wartmann  eingehend  auf  38  Seiten  und  62  Seiten 
zugehörigen  Anmerkungen  die  Geschichte  der  Gemeinden.  Die  331  Urkunden, 
deren  ausführliche  Regesten  nebst  Erläuterungen  den  Hauptteil  und  Anhang 
bilden,  umfassen  die  Zeit  von  1303  bis  1805  und  entstanmien  dem  Staats-, 
Stifts-,  Spital-  und  Stadtarchiv  zu  St.  Gallen,  den  Staatsarchiven  zu  Zürich 
imd  Luzem,  aber  vielfach  sind  auch  nur  die  Eidgenössischen  Abschiede  als 
Vorlage  bezeichnet.  Die  genannten  Archive  liefern  bei  weitem  die  Mehrzahl 
der  Stücke,  und  nur  in  relativ  geringer  Zahl  finden  sich  solche  aus  den  ört- 
lichen Archiven  zu  Widnau  (zuerst  1441),  Schmitter  (zuerst  1582)  und  Au 
(zuerst  1600),  womit  wohl  die  Gemeindearchive  gemeint  sind;  femer 
ist  einmal  das  Pfarrarchiv  Widnau  (1619)  und  einmal  das  Archiv  der 
evangelischen  Schule  (Nr.  227)  genannt.  Ob  sich  die  Bezeichnung 
„Lade  der  evangelischen  Schule'*  ohne  Ortsbezeichnung  unter  Nr.  167  auch 
auf  letzteres  bezieht,  ist  nicht  ohne  weiteres  zu  ersehen.  Als  in  Privat- 
besitz befindlich  werden  Nr.  62,  80,  104  und  152  bezeichnet,  aber  es 
ist  nicht  angegeben,  wer  der  glückliche  Besitzer  ist  Über  diese  letzteren 
örtlichen  Archive  wären  zweifellos  einige  genauere  Angaben  hinsichtlich  des 
Alters,  der  Zusammensetzung,  des  Aufbewahrungsortes  usw.  willkommen  ge- 
wesen. Das  ganze  Buch  stellt  sich  als  eine  recht  gründliche  Materialsamm- 
Itmg  zur  Ortsgeschichte  dar,  die  auch  bereits  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
Verarbeitung  gefunden  hat..  Ein  ausführliches  Namen-  und  ein  vielleicht  zu 
knappes  Sachregister  (nur  eine  Seite)  erleichtem  die  Übersicht  Aufikllig  ist 
schÜefslich  nur  der  Titel,  der  in  gewissem  Mafse  irre  leitet,  denn  ,',Gemeinde- 
archiv**  soll  hier  nicht  wörtlich  verstanden  sein,  sondem  im  Sinne  von 
„Materialsammltmg  zur  Geschichte  der  Gemeinde  X*S  Es  fragt  sich,  wenn 
man  alles  überblickt,  vielleicht,  ob  nicht  eine  reine  Darstellung,  eventueü 
mit  reichlichen  Beigaben,   den  Zweck  noch   besser  erfüllt  hätte,   aber  die 


—     62     — 

VeröfifenÜichuDg  ist  trotz  alledem  höchst  dankenswert,  wenn  es  auch  fraglich 
erscheinen  mufs,  ob  es  angängig  ist,  jeder  Gemeinde  des  Kantons  ein  der- 
artiges geschichtliches  Quellenwerk  zu  widnien. 

ZeitschrUten.  —  Die  Umwandlung  des  Braunschweig-Wolfenbütteler 
Ortsvereins  des  Harzvereins  für  Geschichte  und  Altertumskunde  in  einen 
Geschichtsverein  für  das  Herzogtum  Braunschweig,  die  An- 
fiang  1902  erfolgt  ist,  wurde  bereits  früher  erwähnt  *).  Jetzt  liegt  die  erste 
Publikation  des  Vereins  vor:  Jahrbuch  des  Oeschichtsvereins  für  das  Herzog- 
tum Braunschioeig,  herausgegeben  von  PaulZimmermann.  Wolfenbüttel, 
In  Kommission  bei  Julius  Zwifsler,  1902.  148  S.  8<^.  Den  Band  eröfihet 
eine  Abhandlung  von  P.  J.  Meier,  in  der  er  zuerst  die  Grundlagen  für  die 
Entstehung  der  Stadt  Wolfenbüttel,  nämlich  einen  Übergang  der  Strafse  an 
dieser  Stelle  über  die  Oker,  bespricht  und  dann  die  Tätigkeit  des  Herzogs 
Julius  für  die  Stadt  in  der  zweiten  Hälfte  des  XVI.  Jahrhunderts  würdigt 
Der  Herzog  hat  1 5  7 1  den  Plan  gefafst,  die  Stadt  zu  erweitem,  die  Strafsen 
gerade  zu  legen  und  bei  dieser  Gelegenheit  alte  Häuser  neu  zu  bauen;  wie 
dies  letztere  im  einzelnen  geschehen  ist,  zum  Vorteil  der  Bürger  und  zum 
dauernden  Nutzen  des  Herzogs,  der  das  Abreifsen  und  Neuerrichten  der 
Häuser  auf  seine  Rechnung  besorgte  und  sich  die  Differenz  im  Werte  mit 
5  %  verzinsen  liefs,  das  wird  hier  eingehend  beleuchtet.  Archivrat  Zimmer- 
mann verbreitet  sich  über  Merians  Topographie  der  Herzogtümer  Braun- 
schweig und  Lüneburg  (S.  38 — 66)  und  zeigt  in  recht  dankenswerter  Weise, 
w  i  e  Merian  und  Zeiller  in  Wirklichkeit  gearbeitet  haben.  In  den  Braunschweig- 
Lüneburgischen  Landen  wurden  sie  durch  die  Landesherren  besonders  energisch 
unterstützt,  und  als  Schöpfer  der  gerade  in  diesem  Gebiete  recht  zahlreichen 
Abbildungen  wird  KonradBuno  erwiesen.  Die  vorliegende  Arbeit  fördert 
das  Verständnis  für  das  grofse  Werk  der  beiden  Männer  *)  in  ganz  unge- 
ahnter Weise.  Franz  Tetzner,  der  verdienstliche  Verfasser  des  Buches 
Die  Slaven  in  Deutschland  (Braunschweig  1902)  bespricht  das  Polabische 
Wörterbuch  (S.  67—96).  Die  Polaben  haben  ihre  wendische  Sprache  erst 
seit  einem  Jahrhundert  völlig  aufgegeben,  und  die  Versuche,  den  polabischen 
Wortschatz  zu  verzeichnen,  die  seit  dem  Ende  des  XVII.  Jahrhunderts  gemacht 
worden  sind,  werden  hier  anschaulich  geschildert.  Die  Mitteilungen  sind  ein 
Beleg  dafür,  wie  sich  seit  der  zweiten  Hälfte  des  XVII.  Jahrhunderts  erst  der 
Sinn  für  eine  anders  geartete  Bevölkerung  bei  Gelehrten  und  Vertretern  der 
Landespolizei  entwickelt,  denn  die  früheste  Schilderung  des  polabischen 
Volkstums  überhaupt  stammt  erst  aus  dem  Jahre  1672  und  findet  sich  in 
dem  Bericht  des  Obersuperintendenten  Hildebrand  über  eine  Kirchenvisitation. 
Martin  Wehrmann,  ein  Kenner  der  Pommerschen  Geschichte,  teilt  aus 
dem  Staatsarchive  zu  Stettin  das  Verzeichnis  der  Gegenstände  mit,  welche 
die  Braunschweig -Lüneburgische  Prinzessin  Anna  bei  ihrer  Vermählung  mit 
Herzog  Barnim  von  Pommern  1525  als  Aussteuer  erhielt:  kultur-  und  be- 
sonders handelsgeschichtlich  sind  die  Angaben  wichtig,  weil  wir  hier  den- 
selben Stoffen  (Damast,  Atlas,  Sammet)  begegnen,  die  uns  sonst  als  Handelsware 


i)  Vgl.  ft.  Bd.,  S.  305. 

2)  Vgl.  über  sie  diese  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  223 — 224  and  320. 


—     63     — 

entgegentreten,  aber  zu  Kleidern  verarbeitet.  Bei  den  Silbergeräten  ist  das 
Gewicht  jedes  einzelnen  Stückes  angegeben.  Kurze  veröfifentlicht  einen 
bemerkenswerten  Brief  des  humanistisch  gebildeten  Braunschweiger  Arztes 
Euricius  Cordus  aus  dem  Jahre  1523,  der  nicht  nur  das  Verhältnis  des 
Verfassers  zu  den  übrigen  Humanisten  verrät,  sondern  auch  wichtige  Mit- 
teilungen über  Braunschweig  enthält.  £inen  Blick  in  das  literarische  Leben 
des  XVIII.  Jahrhunderts  gewährt  ein  von  W.  Brandes  mitgeteilter  Brief  von 
Boie  (t  r8o6)  an  Jeannette  v.  Voigt  (f  18 14)  von  1781,  dem  der  Heraus- 
geber einige  kurze  Mitteilungen  über  die  Männer  des  Hannoverschen  Kreises 
hinzufügt.  Den  Schlufs  bildet  eine  anziehende  Schilderung  der  Wirksamkeit 
von  Caroline  Neuber  in  Braunschweig  von  Karl  Schüddekopf,  der  u.  a. 
den  Beweis  erbringt,  dais  die  Künstlerin  ihre  Bühnenlaufbahn  bei  der  Spiegel- 
berg'schen  Truppe  begonnen  hat. 

Mannigfaltig  ist  der  Inhalt  dieses  Bandes.  Das  Land  Braunschweig 
steht  überall  im  Mittelpunkte,  aber  die  Beiträge  sind  sämtlich  würdige 
literarische  Leistungen  von  bleibendem  wissenschaftlichen  Werte  und  doch 
zugleich  für  jeden  Gebildeten  im  Lande  ein  ansprechendes  Mittel  zur  Be- 
lehrung und  Unterhaltung.  Mögen  die  künftigen  Jahrbücher  würdige  Nach- 
folger des  ersten  werden! 

Die  Organisation  der  landesgeschichtlichen  Forschung  in  Lippe -Det* 
mold,  über  die  wir  früher  *)  als  geplant  berichteten,  ist  im  Jahre  1900  Tat- 
sache geworden  durch  die  Errichtung  einer  „Geschichtlichen  Abteilung  des 
Naturwissenschaftlichen  Vereins  in  Detmold".  Nunmehr  ist  die  letztere  be- 
reits mit  einer  Veröflfentlichung,  Miäeüungen  aus  der  lippischen  Geschichte  und 
Landeskunde  Bd.  I  (Detmold,  Hans  Hinrichs,  1903.  200  S.  8<>),  an  die 
Öffentlichkeit  getreten,  die  neben  vier  gröfseren  Aufsätzen  auch  fUnf  kleinere 
Mitteilimgen ,  Bücherbesprechimgen  und  Berichte  über  die  Vereinssitzungen 
enthält  Die  letzteren  zeigen,  wie  in  zehn  Sitzungen  —  vom  7.  November  1900 
bis  5.  März  1902  —  die  geschichtliche  Abteilung  tätig  gewesen  ist;  aus 
den  Vorträgen,  soweit  sie  nicht  als  Aufsätze  vollständig  gedruckt  sind,  wird 
das  wesentliche  mitgeteilt,  so  über  Lemgos  Blütezeit  (2.  Hälfte  des 
XVI.  Jahrhunderts),  die  Erinnerungen  des  Grafen  Ferdinand  Christian 
zur  Lippe  (löög — 1686),  Entstehung  und  Entwickelung  des  lippischeu 
Kontingents  bis  zur  Auflösung  des  Deutschen  Reichs,  die  Geschichte  der 
Landesbibliothek  seit  1614,  die  lippischen  Papiermühlen,  die 
Fruchtbringende  Gesellschaft  u.  a.  Mitgeteüt  werden  ein  Juden- 
schutzbrief  von  1500,  sodann  einige  lu-kundliche  Nachrichten  über  den  gräf^ 
liehen  Maler  (Cantrafeiter)  JohannTilemann,  den  Vater  des  Bremischen 
Malers  Simon  Peter  Tilemann,  1599 — 1605,  ^^  ungedruckter  Brief  Freilig- 
raths  von  1838  sowie  der  Titel  eines  Lemgoer  Drucks  von  1603,  der  eine 
Kirchenordnung  der  kleinen  evangelischen  Gemeinde  Bruchhausen  enthält. 
Die  gröfseren  Beiträge  betreffen  ebenfalls  die  verschiedensten  Gegenstände. 
An  erster  Stelle  handelt  O.  Weerth  über  die  Uffenburg  bei  Bremke^ 
macht  die  Existenz  eines  Edlen  Uffo  im  IX.  Jahrhundert  höchst  wahrschein- 
h'ch,  beschreibt  die  Anlage  der  Burg  und  fUgt  einen  Situationsplan  bei,  wie 


I)  Vgl.  I.  Bd.,  S.  176, 


—     64     — 

er  sich  nach  den  1900  vorgenommenen  Ausgrabungen  herstellen  liefs. 
Mauerreste  wurden  dabei  nicht  in  bescheidenstem  Umfange  aufgedeckt,  aber 
wohl  Tonscherben,  die  dem  IX.  bis  X.  Jahrhundert  angehören  können,  und 
die  mutmafslichen  verkohlten  Reste  von  Holzplanken.  Die  Vermählung  des 
Grafen  Simon  Heinrich  zur  Lippe  mit  Gräfin  Amalia  von  Dohna  schildert 
Stegmann  (S.  12 — 39)  und  zeichnet  damit  ein  Bild  des  Lebens  an  einem 
kleinen  fürstlichen  Hofe  nach  der  Mitte  des  XVII.  Jahrhtmderts ,  denn  die 
Ehe  wurde  1666  geschlossen.  Der  jimge  Graf  hatte  seine  spätere  Gemahlin« 
die  Tochter  des  Burggrafen  Christian  Albrecht  von  Dohna,  am  kurfürstlichen 
Hofe  zu  Berlin  kennen  gelernt;  der  Kurfürst  selbst  aber  betrieb  die  Ver- 
bindimg,  weil  er  hoffte,  auf  diese  Weise  den  Erben  des  Uppischen  Landes 
enger  an  sich  zu  fesseln;  die  Hochzeit  ward  am  kurfürstlichen  Hofe  zu  Cleve 
gefeiert.  Interessant  sind  ganz  besonders  die  Erlebnisse  des  jungen  Grafen 
auf  einer  Reise  durch  Süddeutschland,  die  ihn  vom  28.  September  1665 
bis  Sommer  1666  von  Berlin  über  Dessau,  Leipzig,  Dresden,  Prag,  Mün- 
chen, Augsburg,  Regensburg,  Nürnberg,  Heidelberg,  Mainz,  Frankenberg  und 
Marburg  nach  Detmold  zurückführte:  Kiewning  behandelt  S.  39  —  62  den 
lippischen  Fürstenbrief  von  1720,  d.  h.  die  Ereignisse,  die  mit  der  Erwerbung 
des  Reichs fürstenstandes  durch  die  Grafen  von  Lippe  zusammenhängen 
und  die  um  so  interessanter  sind,  weil  die  Standeserhöhungen  seit  der  zweiten 
Hälfte  des  XVII.  Jahrhimderts  eine  so  grofse  Rolle  spielten.  Mit  den  Ver- 
fassungsstreitigkeiten in  Lippe  1817  — 1820  befafst  sich  an  der  Hand 
der  ungedruckten  Briefe  der  Fürstin  Pauline  M.  Weerth  und  schildert,  wie 
die  Fürstin  vergebens  an  Stelle  der  alten  Landstände  eine  Volksvertretung 
einzuführen  versuchte  (S.  63 — 136).  Da  die  lippische  Verfassungsfrage  auch 
die  Bundesversammlung  beschäftigt  hat,  greift  der  vorliegende  Beitrag  in  die 
allgememe  deutsche  Geschichte  über  und  ist  geeignet,  die  Schwierigkeiten 
zu  beleuchten,  mit  denen  Verfassungsreformen  in  jener  Zeit  zu  kämpfen 
hatten. 

Auch  diesem  neuen  Organ,  das  für  die  Zukimft  den  Mittelpunkt  der 
lippischen  Geschichtsforschung  bilden  wird,  können  wir  nur  eine  günstige 
Weiterentwickelung  wünschen. 

Eingegangene  Bficher. 

Rolfs,  C.:  Das  Vikarien-,  Zeiten-  und  Memorienregister  der  Kirche  zu 
Heide  vom  Jahre  1538  [=  Schriften  des  Vereins  für  schleswig-holsteinische 
Kirchengeschichte  IL  Reihe,   2.  Bd.,  S.  289 — 326]. 

Schumacher,  Bruno:  Niederländische  Ansiedlungen  im  Herzogtum  Preufsen 
zur  Zeit  Herzog  Albrechts  (1525 — 1568).  Dissertation,  Königsberg  L  Pr., 
1902.     44  S.  8^ 

Wäschke,  H. :  Die  Dessauer  Eibbrücke  [==  Neujahrsblätter,  herausgegeben 
von  der  Historischen  Kommission  für  die  Provinz  Sachsen  und  das 
Herzogtum  Anhalt  27].     Halle,  Otto  Hendel,   1903.     34  S.  8^. 

Arbuso  w,  L. :  Die  Visitationen  im  Deutschen  Orden  in  Livland  [=  Sitzungs- 
berichte der  Gesellschaft  für  Geschichte  tmd  Altertumsktmde  der  Ostsee- 
provinzen Rufslands  aus  dem  Jahre  1902  (Riga  1903),  S.  179 — 192]. 

Herausgeber  Dr.  Armin  Tille  in  Leipzig. 
Druck  und  Verlag  Ton  Friedrich  Andreas  Perthes,  Akdengesellsehaft,  Godia. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


Förderung  der  landesgeschichtlichen  Forschung 

V.  Band  Dezember  1903  3.  Heft 


Die  landesgesehiehtliehe  Forschung  in 

Anhalt 

Von 
Hermann  Wäschke  (Zerbst) 

Mehrfach  schon  ist  in  diesen  Blättern  über  den  Stand  der  landes- 
geschichtlichen Studien  Bericht  erstattet  und  damit  ein  überaus  in- 
teressanter Einblick  in  einen  Teil  des  wissenschaftlichen  Lebens  der 
Gegenwart  gegeben  worden.  Wenn  ich  nun,  einer  freundlichen 
Aufforderung  des  Herausgebers  entsprechend,  den  Versuch  mache, 
einen  ähnlichen  Bericht  über  den  Stand  der  landesgeschichtlichen 
Studien  in  Anhalt  zu  geben,  so  darf  ich  versichern,  dafs  ich  diesen 
Versuch  nicht  ohne  einiges  Bedenken  unternommen  habe;  denn  das 
ist  ja  von  vornherein  ersichtlich,  dafs  in  einem  kleben  Staate  in  dieser 
Richtung  wissenschaftlicher  Tätigkeit  nur  mit  geringeren  Mitteln  und 
mit  jedenfalls  der  Zahl  nach  geringeren  Kräften  gerechnet  und  ge- 
arbeitet werden  kann,  und  dais  daher  das  von  jener  wissenschaftlichen 
Tätigkeit  entworfene  Bild,  zu  nahe  an  jene  gröfeeren  Gemälde  heran- 
gerückt, schon  durch  den  blofsen  Kontrast  unbedeutender  erscheinen 
dürfte,  als  es  an  und  für  sich  ist. 

Gleichwohl  mufste  der  Versuch  unternommen  werden,  um  dem 
an  sich  so  schönen  Gedanken  einer  umfassenden  Berichterstattung  über 
alle  Territorien  des  Reiches  an  unserm  Teile  zu  dienen,  zumal  auch 
er  auf  ein  gewisses  Interesse  rechnen  darf,  denn  die  Geschichte  An- 
halts birgt  in  sich  eine  Reihe  allgemein  wichtiger  Gegenstände.  Durch 
Anhalt  zieht  in  der  Elb  -  Saal  -  Linie  die  alte  Grenze  gegen  die 
Wenden,  und  in  der  Richtung  des  Eiblaufes  von  Coswig  nach  Aken 
zurzeit  die  Sprachgrenze  zwischen  Hoch-  und  Niederdeutsch.  Das 
Land  ist  eriiillt  von  wichtigen  prähistorischen  Stätten,  deren 
Bedeutung  u.  a.  aus  der  Aufstellung  eines  besonderen  Bernburger 
Urnentypus  erhellt;  es  hat  besondere  Bedeutung  in  der  Geschichte 
der  Kolonisation  und  Reformation,  der  Erweckung   deut- 

5 


—  Ge- 
sehen Nationalgefühls,  der  Schulreform,  und  von  seinen 
Fürsten  haben  viele  durch  die  Förderung  allgemeiner  Interessen  im 
Lande  wie  im  Dienste  fremder  Staaten  anerkannt  Gro(ses  geleistet,  so 
dafe  in  ihnen  der  Zusammenhang  der  Landesgeschichte  mit  der  Reichs* 
geschichte  unmittelbar  gegeben  ist. 

Die  einheimische  Geschichtschreibung  freilich  hat  diese  im  Stoffe 
selbst  liegende  Richtung  auf  die  Reichsgeschichte  nicht  genügend  ge- 
würdigt und  sich  meist  auf  eine  fast  chronikartige  Darstellung  der 
Geschichte  des  Fürstenhauses  beschränkt,  in  der  das  allgemein  Wich- 
tige noch  nicht  genügend  losgelöst  ist  vom  Minderwichtigen  und  Gleich- 
gültigen. Der  Grund  dafür  liegt  in  dem  Umstände,  dafe  die  Arbeiten 
über  Anhaltische  Geschichte  in  überraschender  Einmütigkeit  alle  von 
dem  bekannten  Werke  Beckmanns,  Historie  des  Fürstenthums  AnhaU 
(Zerbst  17  lo),  abhängig  sind  und  sich  nur  durch  das  gröfsere  oder 
geringere  Mafe  der  Kritik  und  der  Ausdehnung  eigener  Studien  imter- 
scheiden.  Die  meisten  dieser  Werke  sind  heute  veraltet,  von  denen, 
die  jetzt  noch  in  Betracht  kommen  können,  sind  zu  nennen :  H.  Lindner, 
OeschidUe  und  Beschreibung  des  Landes  Anhalt  (Dessau  1833)  und 
Ferd.  Siebigk,  Das  Hereogthum  AnhaU  (Dessau  1867).  Beide  bieten 
neben  einem  historischen  Abrifs  der  Geschichte  des  Fürstenhauses  die 
Beschreibung  des  Landes;  Lindner,  dessen  Darstellung  übrigens  von 
Siebigk  genügend  ausgenutzt  ist,  hat  dazu  reiches  literarisches  Material 
kritisch  verwertet,  Siebigk  aufserdem  Archivalien  benutzt.  Den  Ver- 
such, die  Anhaltische  Geschichte  als  eine  Landes-,  nicht  nur  Fürsten- 
geschichte darzustellen,  bietet  H.  Wäschke,  Abriß  der  AnhaUischen 
Geschichte  (Dessau  1895). 

Eine  wirklich  auf  den  Quellen  und  Eigebnissen  der  neueren 
Forschung  ruhende  Geschichte  Anhalts  wollte  die  Anhaltische  Geschickte 
(Dessau  1893)  von  Fr.  Knoke  bieten;  es  liegen  davon  4  Hefte  des 
ersten  Bandes  (bis  1162)  vor,  da  aber  seit  1893  kein  weiteres  Hefl 
erschienen  ist,  wird  man  das  Unternehmen  wohl  als  aufgegeben  an* 
sehen  müssen.  Ob  sobald  ein  anderes  derartiges  Werk  in  Erscheinung 
treten  könne,  darf  aus  zwei  Gründen  hauptsächlich  in  Frage  gezogen 
werden.  Der  erste  ist  das  immerhin  ziemlich  kleine  Publikum,  welches 
sich  für  eine  derart  wissenschaftliche  und  umfangreiche  Darstellung 
der  Landesgeschichte  interessiert  und  durch  seine  Teilnahme  dem 
Verleger  das  Risiko  von  vornherein  allzu  grofs  erscheinen  läfist. 
Ich  glaube  wohl,  dafe  man  diesen  Grund  in  gröfeeren  Terri- 
torien mit  einem  Gefühl  materieller  Überlegenheit  belächeln  wird, 
doch  für  unsere  Verhältnisse  ist  es  in   der  Tat  einer  der  wichtigsten 


—     67     — 

Gründe,  die  ein  Unternehmen  von  gröfeerer  Ausdehnung  in  Frage 
stellen,  da  Organisationen,  die  ein  solches  Unternehmen  materiell 
zu  stützen  und  zu  tragen  imstande  wären,  vorläufig  noch  nicht  vor- 
handen oder  erst  in  der  Bildung  begriffen  sind.  Aber  selbst  wenn 
die  Aussichten  nach  dieser  Richtung  hin  verhältnismäfsig  günstiger 
lägen,  so  würde  eine  durchaus  auf  den  Quellen  ruhende,  rein  wissen- 
schaftliche Leistung  aus  einem  zweiten  Grunde  nach  meiner  Ansicht 
zur  Zeit  nicht  recht  möglich  sein,  weil  nämlich  vorläufig  eine  aus- 
reichende Grundlage  in  QuellenpubUkationen  und  darauf  ruhenden 
Monographien  nicht  vorhanden  imd  durch  die  umfassendsten  Studien 
eines  Einzelnen  in  absehbarer  Zeit  nicht  zu  gewinnen  ist. 

Die  bisherigen  Quellenpublikationen  sind  im  einzehien  wohl 
hoch  achtbare  und  anerkannt  gediegene  Leistungen,  aber  sie  erstrecken 
sich  nur  auf  verhältnismäfsig  geringe  Zeiträume.  Den  Anfang  machte 
Fr.  Kindscher  mit  einer  UrJcundenscMnmlung  0tir  Geschichte  van 
AsüiaU,  wovon  aber  nur  die  Einleitung,  Peier  Beckers  derbster  Chronik^ 
herausgegeben  von  Franz  Kindscher  (Dessau  1858)  erschienen  ist;  eine 
Fortsetzimg  hat  diese  Sammlung  meines  Wissens  nicht  erfahren.  Ihm 
folgte  G.  Krause  mit  den  ürhwnden,  Aktenstücke  und  Briefe  eur  Gte- 
schichte  der  ÄnhcUtischen  Lande  und  ihrer  Fürsten  unter  dem  Drucke  des 
Dreißigjährigen  Krieges  (5  Bde.,  Leipzig  1861 — 1866).  Es  ist  dies  zwar 
ein  Werk  grofsen  Fleifees,  doch  ist  die  diplomatische  Treue,  auf  die  der 
Herausgeber  damals  noch  besonderen  Wert  legte,  im  einzelnen  anfecht- 
bar, und  überdies  enthält  es  zum  gröfsten  Teil  nur  die  Archivalien  aus 
dem  Besitz  des  Fürsten  Ludwig  von  Cöthen,  ist  also  trotz  der  1 5000  Akten-  • 
stücke,  die  zur  Verfügung  standen,  doch  unvollständig.  Im  Jahre 
1864  (Leipzig,  Dyk)  erschien  femer  der  Codex  diplonuMcus  minor 
von  einem  Anonymus,  der  darin  die  vornehmsten  Landtagsabschiede, 
Rezesse  usw.  „des  Fürstentums  Anhalt  de  anno  1547  bis  1727  samt 
deren  nötigsten  Beylagen  bei  müfsigen  Stunden  in  guter  Ordnung  zu- 
sammengetragen anno  1727".  Es  ist  das  eine  verdienstvolle  Arbeit, 
aber  leider  die  eines  Dilettanten,  der  sich  in  vielen  Lesefehlern  und 
Mifeverständnissen  verrät.  Im  Jahre  1867  begann  Otto  v.  Heine- 
mann die  Herausgabe  des  CJodex  Diplomaticus  Änhaltinus  auf  Befehl 
Sr.  Hoheit  des  Herzogs  Leopold  Friedrich.  Dieses  Werk,  welches  in 
5  Bänden  die  Urkunden  von  936—1400  und  im  6.  Bande  ein  aus- 
führliches Orts-  und  Personenregister  enthält,  hat  im  Jahre  1883  seinen 
Abschlufs  gefunden  und  bildet  nun  die  hervorragendste  Grundlage  fiir 
Darstellung  der  älteren  Anhaltischen  Geschichte. 

Die   neueren  Publikationen  sind  von    dem  Herzoglichen  Haus- 
se 


—     68     — 

und  Staatsarchiv  und  dem  Stadtarchiv  in  Zerbst  ausgegangen, 
sie  bieten  teils  Ergänzungen  zum  Cod.  Dipl.  ÄnhaU.,  teils  andere 
wertvolle  Dokumente,  von  denen  wir  ausdrücklich  hervorheben :  Neu- 
bauer, Das  aUesie  Schöffenlmch  der  Stadt  Zerbst,  dessen  Herausgabe 
von  R.  Siebert  fortgeführt  wurde  ^);  R.  Siebert,  Das  eweite  Schöffen- 
buch  der  Stadt  Zerbst  ^) ;  derselbe,  Lehnbuch  Graf  ACbrechts  1.  von  An- 
halt und  seiner  Nachfolger  (1307 — 1470)^).  Als  eine  Fortsetzung  des 
Cod.  Dipl.  Anhalt,  erschien  vor  kurzem  das  erste  Heft  der  JRegesien  der 
Urkunden  des  Herzogl.  Hattö-  und  Staatsarchivs  aus  den  Jahren  1401  bis 
1500  von  H.  Wäschke  (Dessau,  Kommissionsverlag  von  Dünnhaupt). 

Auf  Grund  des  urkundlichen  Materials  sind  auch  mehrere  Mono- 
graphien entstanden,  so  Blume,  Heinrich  L,  Crraf  von  Ascharien 
und  Fürst  von  Anhalt  (Cöthen  1895)  eine  Schrift,  die  sich  an  wissen- 
schaftlichem Gehalt  den  Werken  v.  Heinemanns,  Markgraf  Gero 
(Braunschweig  1860),  und  Albrecht  der  Bär  (Darmstadt  1864)  eben- 
bürtig zur  Seite  stellt  Wenn  man  nun  auch  durch  diese  drei  Werke  die 
Geschichte  der  Anhaltischen  Lande  bis  zur  Begründung  des  eigent- 
lichen Fürstentums  Anhalt  im  ganzen  als  genügend  erforscht  ansehen 
kann,  so  dais  sich  eine  umfassende  Darstellung  darauf  aufbauen  lieise, 
so  fehlen  doch  von  dem  genannten  Zeitraum  ab  noch  ausreichende 
Vorarbeiten. 

Solche  Vorarbeiten  erfordern  aber  eine  gröfeere  Zahl  von  Mit- 
arbeitern ,  die  sich  zu  einem  Zwecke  in  die  Hände  arbeiten ;  dieser 
Mitarbeiter  sind  nur  wenige,  und  selbst  wo  sie  vorhanden  sind,  fehlt 
es  doch  mehrfach  an  dem  Streben  zur  Einheit,  zur  Einfügung  der  in- 
dividuellen Kraft  in  den  Dienst  der  gemeinsam  als  notwendig  an- 
erkannten Aufgabe.  Hier  gilt  es  Selbstverleugnung  zu  üben,  und  das 
ist  nicht  jedermanns  Sache,  denn  leichter  ist  es  ja,  nach  eigenem  Be- 
lieben zu  ernten  auf  bebautem  Boden,  als  den  Boden  selbst  in  harter 
Arbeit  für  anderer  Ernte  vorzubereiten.  Darum  zeigt  ein  Überblick 
über  das,  was  bisher  auf  dem  Gebiete  Anhaltischer  Geschichte  ge- 
leistet ist,  eine  gewisse  Planlosigkeit  des  Anbaus,  an  manchen  Stellen 
grölsere,  an  anderen  Stellen  geringere  Tätigkeit,  ganze  Perioden  harren 
noch  der  Bearbeitung.  Es  ist  fast,  als  ob  Zufall  und  Neigung  allein 
für  den  Anbau  entscheidend  gewesen  wären. 

Verhältnismäisig  am  besten  ist  noch   die  Kirchengeschichte  er- 

i)  Enthalten  in  den  Mitteüungen  des  Vereins  für  AnkdUische  Oesehiehte  und 
AÜertumskunde  7.  und  8.  Bd. 

2)  Ebenda. 

3)  Ebenda  9.  Bd. 


—     69     — 

forscht,  und  zwar  für  das  Zeitalter  der  Reformation,  wo  die  un- 
mittelbaren Beziehungen  der  Fürsten  und  des  Landes  zu  den  Refor- 
matoren zur  Darstellung  reizten.  Auiser  den  Aufsätzen  Stenzels, 
über  die  nachher  noch  gehandelt  werden  soll,  und  den  von  Stier 
angelegten  Regesten  aus  Luthers  Briefen,  ist  namentlich  hinzuweisen 
auf  C.  Krause,  MelanffkmiafM,  Begesten  und  Briefe  über  die  Be- 
gehungen MelancMhons  zu  AnhaU  und  dessen  Fürsten  (Zerbst  1885). 

Aus  den  Tagen,  da  man  in  Anhalt  den  Schlufsstein  der  Union 
der  evangelischen  Kirchen  legen  wollte  und  als  Unionskatechismus 
den  lutherischen  Katechismus  in  Aussicht  nahm,  gibt  es  mehrere 
Schriften,  die  das  Recht  des  reformierten  Bekenntnisses  in  Anhalt  be- 
stritten oder  verteidigten ;  unter  ihnen  ragt  durch  ergiebige  Ausnutzung 
archivalischen  Materials  hervor:  Duncker,  AnhaiUs  Bekenntnisstand 
u>ährend  der  Vereinigung  der  Fürstentümer  unter  Joachim  Ernst  und 
Johann  Georg  1570 — 1606  (Dessau  1892).  Derselbe  Verfasser  hat 
femer  geschrieben:  Nachwort  fsu  der  Schrift  AnhaMs  Bekenntnisstand 
usw*  (Dessau  1892),  worin  er  teils  die  von  der  Kritik  erhobenen  Be- 
denken zurückzuweisen  sich  bemüht,  teils  die  Geltung  seines  Gesamt- 
urtcils  noch  zu  erweitern  sucht. 

In  neuerer  Zeit  haben  namentlich  Pastor  Becker  in  Lindau  und 
Schulrat  Dr.  Suhle  in  Dessau  durch  eingehende  und  auf  den  besten 
Quellen  ruhende  Darstellungen  die  Einführung  der  Reformation  in  den 
einzelnen  Landesteilen  genauer  festgestellt,  die  Anfange  einer  Pfarr- 
chronik gegeben  und  die  Entwickelung  des  Schulwesens,  der  Gymnasien 
wie  der  Volksschulen,  klargelegt.  Ein  Werk  von  grundlegender  Be- 
deutung, Die  reformatorischen  Kirchenordnungen  Anhalts,  von  Prof. 
Dr.  Sehling  in  Erlangen,  befindet  sich  gegenwärtig  im  Druck. 

Die  hundertjährige  Jubelfeier  der  „Hauptschule**  in  Dessau  (1885) 
veranlafste  zwei  wichtigere  Publikationen:  Wörtlicher  Abdruck  urJcund- 
Ucher  Gedenkschriften  aus  dem  ersten  Halbjahrhundert  (1763 — 1835) 
des  Bestehens  der  Herzoglichen  Hauptschule  usw.  (Dessau  1885).  Der 
anonyme  Herausgeber  war  der  Lehrer  O.  Scjieuer.  Femer  O.  Franke, 
Geschichte  der  Hereoglichen  Hauptschule  zu  Dessau  1785—1856  (Dessau 
1885).  Aus  gleichem  Anlafe,  der  Zentenarfeier,  erschien  die  Geschichte 
des  Zerbster  Francisceums  von  Prof.  Dr.  Sickel  (Zerbst  1903). 
Über  das  Philanthropin  hat  vor  allem  das  Werk  des  Franzosen 
Pin  loche  eine  ausführliche  und  gute  Darstellung  gebracht,  die  jetzt 
auch  in  deutscher  Übersetzung  vorliegt.  Eine  gediegene  Vorarbeit 
bildet  der  in  den  Verhandlungen  der  Dessauer  Philologenversamm- 
lung (1884)  abgedruckte  Vortrag  von  L.  Gerlach. 


—     70     — 

Erneute  Behandlung  erfuhr  auch  die  „Fruchtbringende  Ge- 
sellschaft" in  einem  hübsch  geschriebenen  Buche  von  Fr.  Zöllner, 
Einrichtung  und  Verfassung  der  Fruchibringenden  OeseUschaft^  vor- 
nehmlich unier  dem  Fürsien  Ludwig  £u  ÄnhäU'Cöihen  (Berlin  1899). 

Die  wichtigen  Beziehungen  der  Bemburger  Fürsten  zur  Geschichte 
der  Union  und  des  Dreifsigjährigen  Kri^es  haben  Darstellung  ge- 
funden in  den  Schriften:  G.  Krause,  Ttxgebuch  Christian  d,  J., 
Fürsien  von  Anhalt  (Leipzig  1858),  Krebs,  Christian  von  Anhalt  und 
die  kurpfälßische  Politik  (JLeipzig  1872);  Zwiedineck-Südenhorst: 
Fürst  Christian  von  AnhaU  und  seine  Beeiehungen  zu  Österreich  (Graz 
1874).  Freilich  liegen  diese  Schriften  alle  schon  weit  zurück  wie  auch 
die  von  Ferd.  Siebigk  besorgte  Ausgabe  einer  Selbsänograjohie  des 
Fürsten  Leopold  von  Anhalt-Dessau  von  1676  bis  1703  (Dessau  1860). 
Die  neueren  und  neuesten  Untersuchungen  und  Arbeiten  zur  Landes- 
geschichte sind  meist  in  den  nachher  genauer  zu  schildernden  J£tf- 
ieUungen  enthalten.  Ein  trefflicher  Aufsatz  von  Otto  Krauske» 
Friedrich  Wilhelm  L  und  Leopold  von  AnhaU- Dessau,  findet  sich  in 
Sybels  Hist.  Zeitschr.  N.  F.,  Bd.  39,  S.  19  ff. 

Das  Studium  der  Lokalgeschichte  hat  ebenfalls  mehrere 
Werke  gefördert:  O.  Härtung,  Geschichte  der  Siadt  Cöthen  bis  mm 
Beginn  des  19.  Jahrhunderis  (Cöthen  1900);  Würdig,  Chronik  der 
Siadt  Dessau  (Dessau  1876);  Graf,  Gesdiichte  der  Siadt  Oranienbaum 
(Oranienbaum  1899).  Wäschke,  Geschichte  der  SicUU  Dessau  (JDesaBxi 
1901)  mit  einem  Anhange  Urkunden  des  Stadtarchivs  eu  Dessau  von 
demselben  und  mehrere  Monographien  zur  Stadtgeschichte  von  ver- 
schiedenen Verfassern.  Namentlich  ist  eine  Verfügung  des  HerzogL 
Konsistoriums,  die  Pfarrarchive  betreffend,  Ursache  mehrerer  lokal- 
geschichtlicher Schriften  geworden,  unter  denen  die  des  Pastors  Heine 
in  Wörbzig  über  Mühlingen  und  über  Wörbzig  echt  wissenschafk- 
liches  Gepräge  tragen.  Die  Geschichte  des  Dorfes  Mehringen  von 
Pastor  E.  Kühne  (2.  Bearbeitung,  Dessau  1899)  »»^  «"^^  ebenfalls  be- 
deutende Leistimg,  und  nicht  minder  gilt  dies  von  den  Schriften  über 
Grofs-Mühlingen  von  Loose  (1903)  *)  und  über  Gröna  von  Grimmert 
Es  wird  aus  den  vorstehenden  Bemerkungen  und  Schriftenver- 
zeichnissen ersichtlich,  dafis  nur  die  politische  Geschichte  eine  einiger- 
mafsen  ergiebige  Behandlung  erfahren  hat,  das  grofee  Gebiet  der 
wirtschaftlichen  Entwickelung  Anhalts  ist  aufeer  in  kleineren 
Aufeätzen    des  Verfassers    Zur  Wirtschaftsgeschichte  der  Anhdltisehen 


i)  Vgl.  diese  ZeiUchrift  4.  Bd.,  S.  313. 


—     71     — 

Lamde^)  und  in  einem  umfangreichen  hochachtbaren  Werke:  A.  Kraas, 
JBßuemgtii  und  Frohndiensie  in  AnhaU  vom  Jß.  his  man  19.  Jahr- 
hundert (Jena  1898),  bisher  unangebaut  geblieben. 

Gelegentliche  Ausblicke  auf  die  Geschichte  des  wirtschaftlichen 
Lebens  eröffnen  die  Berichte  der  Handelskammer,  der  städtffichen  Ver- 
waltungen, sowie  die  der  statistischen  Bureaus.  Eine  besonders  ein- 
gehende Darstellung  hat  die  Geschichte  des  Eisenbahnverkehrs  in 
Die  Eisenbahnen  im  Herstogthum  AnhaU  heim  Beginn  des  20.  Jahr» 
kunderts  von  Schultz-Niborn  (als  Manuskript  gedruckt,  Magde- 
burg 1900)  gefunden. 

Aufser  den  oben  bereits  genannten  Arbeiten  über  die  Geschichte 
der  Kirche  in  Anhalt  haben  wir  noch  eine  Reihe  von  Schilderungen 
einzelner  Kirchen  und  Gemeinden  zu  erwähnen,  so  W.  Sickel,  &e- 
schichie  der  St.  Trinitatiskirche  tm  Zerbst  (Zerbst  1896);  Reich- 
mann,  Die  Kirche  und  Gemeinde  leu  St.  Nicolai  in  Zerbst  (Zerbst 
1894);  O.  Härtung,  Geschickte  der  reformierten  Stadt-  und  Käthe- 
draUcirche  fsu  St.  Jacob  in  Cöthen  (Cöthen  1898);  G.  Heine,  Bilder 
und  Skizeen  aus  der  Geschickte  der  lutherischen  Kirche  und  der  St.  Agnus- 
Gemeinde  in  Cöthen  (Cöthen  1898). 

Ein  ganz  vorzügliches  und  durch  die  Verlagsbuchhandlung  von 
P.  Baumann  in  Dessau  trefflich  ausgestattetes  Werk  ist  Schub art,' 
Die  Glocken  im  Herzogtum  AnhaU  usw.  (Dessau  1896);  es  ist  nicht 
nur  ein  Schatz  für  unsre  Landesgeschichte,  sondern  in  seinen  all- 
gemeinen Elrgebnissen  von  grundlegender  Bedeutung  fiir  die  Glocken- 
kunde überhaupt  *). 

Ferner  liegt  eine  Arbeit  über  Anhalts  Bau-  und  Kunst- Denk- 
mäler vor  von  Dr.  Büttner,  Pfanner  zu  Thal,  die  bereits  im  i.  Bd. 
der  Deutschen  Geschichtsblätter  S.  285  eme  anerkennende  BeurteUung 
erfahren  hat.  Gleichwohl  wird  diese  Arbeit  bei  einer  etwaigen  Neu- 
ausgabe eine  vollständige  Umarbeitung  und  abgesehen  von  manchen 
anderen  Änderungen  mindestens  eine  Ausscheidung  der  ganz  unwissen- 
schaftlichen Literaturangaben  und  des  in  dieser  Arbeit  ganz  unan- 
gebrachten Wüstungsverzeichnisses  erfahren  müssen. 

Der  Arbeitskraft  imd  Forscherfreude  kommender  Zeiten  bleibt 
also  noch  ein  geräumiges  Feld  zur  Betätigung  offen,  wofern  eben  nur 
das  Interesse  für  derartige  Studien  in  ausreichendem  Malse  wach  gehalten 
wird.     FreUich  kann  ich  vorläufig  nur  das  bestätigen,  was  in  einem 


i)  Id  den  BÜtteilimgen. 

a)  Vgl.  darüber  diese  ZeiUchrift  4.  Bd.,  S.  aaS. 


—     72     — 

der  im  ersten  Bande  dieser  2^itschrift  gfelieferten  Berichte  angedeutet 
wird,  dafs  wir  uns  augenblicklich  in  einem  Niedergange  der  landes- 
geschichtlichen Studien  befinden.  Gründe  genereller  und  individueller 
Art  sind  dort  mehrere  beigebracht,  um  diese  beklagenswerte  Tatsache 
zu  erklären,  den  nach  meiner  Überzeugung  wichtigsten  Grund  hat  man, 
so  viel  ich  sehe,  nicht  angeführt:  es  ist  die  moderne  Denkart,  das 
sich  steigernde  geschichtslose  Leben  und  Wirken  in  und  für  den  Augen- 
blick, oder  gar  das  vom  geschichtlich  Gewordenen  bewufet  sich  ab- 
wendende Träumen  in  ZukunftshoflFnungen.  Doch  dürfen  wir  einer 
künftigen  Besserung  der  Verhältnisse  gewife  sein,  da  sich  bereits  an 
zwei  Punkten  verheifsungsvoUe  Ansätze  finden:  schon  geht  die  Schule 
daran,  mehr  und  mehr  das  allgemeine  geschichtliche  Wissen  auf  der 
Kenntnis  der  Landesgeschichte  aufzubauen,  und  von  anderer  Seite 
wirkt  das  Interesse  an  der  Familiengeschichte  anregend  und 
fördernd  auch  auf  die  landesgeschichtlichen  Studien  ein. 

Auch  wir  in  Anhalt  müssen  demnach  beklagen,  da(s  mehrere  der 
früher  eifrigen  Forscher  in  der  Landesgeschichte  uns  entrissen  sind, 
wie  der  Pfarrer  Th.  Stenzel,  der  treffliche  Schriften  zur  Genealogie 
und  Münzkunde  des  Fürstenhauses,  sowie  über  Wüstungen  und  Kh-chen 
Anhalts  im  M.-A.  veröffentlicht  hat,  wie  Hofrat  Dr.  W.  Ho  saus,  der 
namentlich  das  Leben  und  Wirken  des  Fürsten  Franz  nach  allen 
Richtungen  hin  zum  Gegenstand  seiner  Forschung  machte.  Und  wie 
der  Kreis  der  Mitarbeiter,  so  hat  sich  auch  der  Kreis  derer  vermindert, 
die  an  den  Ergebnissen  landesgeschichtlicher  Forschung  Interesse 
hatten.  Die  Zahl  der  historischen  Vereine  war  zurückgegangen  wie 
die  Zahl  der  Mitglieder  in  den  einzelnen  Vereinen. 

Gegenwärtig  bestehen  noch  der  Verein  für  Anhaltische 
Geschichte  und  Altertumskunde  in  Dessau,  gegründet  am 
6.  März  1875,  der  Altertumsverein  in  Bernburg,  gegründet 
am  2.  Dezember  1877  ^^^  der  Verein  für  Landeskunde  in 
Dessau.  Von  diesen  Vereinen  hat  nur  der  Anhaltische  Geschichts- 
verein ein  ständiges  Organ,  die  Mitteilungen  des  Vereins  für  AnhaiU. 
Geschichte  und  ÄÜertumshunde ,  von  denen  acht  Bände  gedruckt  vor- 
liegen, vpm  neunten  Bande  das  sechste  Heft  in  diesen  Tagen  ausgegeben 
ist.  In  diesen  Mitteüuagen  befindet  sich  so  ziemlich  alles  vereinigt,  was 
seit  1875  an  Arbeit  zur  Landesgeschichte  geleistet  ist.  Der  Altertums- 
verein in  Bernburg  hat  sich  vor  allem  um  den  Aufschlufs  prä- 
historischer Stätten,  wie  des  Stockhofs  und  des  Spitzen -Hochs  ver- 
dient gemacht  hat  und  eine  Sammlung  prähistorischer  Altertümer  an- 
gelegt, die  wegen  des  oben  schon  erwähnten  besonderen  Umentypus 


—     73     — 

wichtig  erscheinen  muis.  Der  Dessauer  Verein  steht  in  enger 
Beziehung  zu  der  Sammlung  geschichtlicher  Denkmäler  im  Herzog- 
lichen Schlosse  zu  Grofe-Kühnau,  die  zwar  an  sich  hoch  bedeutsame 
Funde  birgt,  wie  die  Hoymer  Hausume,  aber  teils  durch  die  Ent- 
fernung von  Dessau,  teils  wegen  der  noch  fehlenden  umfassenden 
wissenschaftlichen  Ordnung  wenig  nutzbar  ist. 

Aus  der  gegebenen  Schilderung  mag  die  Au%abe  der  nächsten 
Zukunft  auch  ohne  besonderen  Hinweis  hervorgehen.  Es  gilt  vor 
allem  eine  Organisation  zu  schaffen,  die  imstande  ist,  neues  Leben 
hervorzurufen.  Durch  Verfügung  des  Herzoglichen  Staatsministeriums 
ist  nun  eine  Zentralleitung  der  Anhaltschen  Vereine  für  Geschichte 
und  Landeskunde  ins  Leben  gerufen  werden,  mit  dem  Zweck,  die  bisher 
getrennten  Vereine  in  einer  Organisation  zusammenzufassen,  neue  Kreis- 
vereine zu  begründen  und  durch  diese  wieder  Ortsgruppen  oder 
wenigstens  Vertrauensmänner  in  den  einzelnen  Ortschaften  aufzustellen. 
Die  Zentralleitung  wird  gebildet  durch  ein  Mitglied  der  Regierung, 
den  Staatsarchivar  und  je  ein  Mitglied  der  angeschlossenen  Vereine. 
Sic  hat  ferner  die  Aufgabe,  geschichtliche  Studien  und  Arbeiten  an- 
zuregen, aus  dem  vom  Herzogl.  Staatsministeriura  zur  Verfügung  ge- 
stellten Fonds  für  diesen  Zweck  je  nach  Bedürfnis  Unterstützung  aus- 
zuwürken  und  die  Ausführung  der  unternommenen  Arbeiten  zu  über- 
wachen. Die  einzelnen  Vereine  behalten  im  übrigen  ihre  volle  Selb- 
ständigkeit, ihr  volles  Eigentum  an  ihren  Sammlungen  usw.  und  sind 
nur  gehalten,  in  ihrem  Kreise  die  Organisation  weiter  auszubauen, 
landeskundliche  Studien  energisch  zu  pflegen,  regelmäfsig,  und  zwar 
mindestens  einmal  im  Jahre,  Bericht  über  ihre  Tätigkeit,  sowie  regel- 
mäfsig über  prähistorische  Funde  einen  Fundbericht  an  die  Zentral- 
leitung einzusenden.  Die  Zentralleitung  hat  diese  Berichte  zu  sammeln 
und  für  deren  Abdruck  in  den  MitteUungen  Sorge  zu  tragen. 

Eine  weitere  Anregung  der  historischen  Studien  ist  dadurch  ge- 
geben, dafs  durch  Verfügung  des  Herzogl.  Staatsministeriums  im  Jahre 
1901  ein  Anschlufs  der  diesseitigen  Vereine  an  die  Historische 
Kommission  der  Provinz  Sachsen  erfolgt  ist,  und  zwar  gehören 
dieser  Kommission,  den  Satzungen  derselben  entsprechend,  an:  ein 
Mitglied  der  Herzogl.  Regierung,  der  Staatsarchivar  und  ein  Mitglied 
des  Dessauer  Vereins  für  Anhaltische  Geschichte. 

Der  Erfolg  dieser  Organisation,  die  erst  vor  drei  Jahren  begründet 
wurde,  wird  sich  erst  in  der  Zukunft  zeigen  können,  doch  bestehen 
gegründete  Aussichten,  Geschichtsvereine  wieder  in  allen  Kreisstädten 
und  kleineren  Städten  erstehen  zu   sehen.     Gegenwärtig  hat   der  An- 


—     74     — 

haltische  Geschichtsverein  Ortsgruppen  in  Dessau,  Roislau,  Coswig  und 
2^rbst  mit  insgesamt  400  Mitgliedern. 

Augenblicklich  steht  das  Interesse  an  der  prähistorischen  For- 
schung- im  Vordergrunde,  das  ja  auch  von  der  Teilnahme  eines 
gröfeeren  Publikums  getragen  wird.  Der  Bemburger  Verein  führte 
im  Vorjahre  eine  gröfsere  Ausgrabung  auf  dem  Schneiderberg  bei 
Baiberge  aus  und  hat  dabei  überraschende  Funde  gemacht.  Das  um- 
fangreiche  Urnenfeld  auf  der  Soi^e  bei  Lindau  hat  vollkommenen  Auf- 
schluß und  wissenschaftliche  Bearbeitung  durch  Pastor  Becker  in 
Lindau  erfahren.  Die  „Zentralleitung**  wird  für  umfangreichere 
Publikationen  aus  den  Archiven  sorgen  und  namentlich  auch  die 
Erschliesung  und  die  Inventarisierung  der  Privatarchive  in  die  Wege 
leiten. 

Weitere  Anregung  ist  von  der  Bildung  städtischer  Museen  zu 
erwarten.  Bemburg  und  Zerbst  sind  darin  vorausgegangen,  für  Dessau 
wird  ein  solches  geplant. 

Möge  von  diesen  Veranstaltungen  aus  der  historische  Sinn  in 
breiteren  Schichten  der  Bevölkerung  wieder  rege  werden! 


Mitteilungen 

Yersammlungen.  —  Vom  27. — 30.  September  fand  in  Erfurt  die 
diesjährige  Jahresversammlung  des  Gesamtvereins  der  deutschen  Ge- 
schichts-  und  Altertumsvereine  *)  statt.  Der  Tag  für  Denkmalpflege, 
über  den  schon  im  vorigen  Hefte  berichtet  wurde,  war  vorhergegangen,  und 
die  reiche  kunstgeschichtliche  Ausstellung  bot  den  Besuchern  beider  Ver- 
sammlungen vielseitige  Belehrung  imd  Anregung.  Die  Teilnehmerliste  zählte 
97  auswärtige  und  10 1  Erfurter  Teilnehmer;  von  den  dem  Gesamtverein 
angehörigen  165  Vereinen  waren  aber  nur  56  durch  Abgeordnete  vertreten  — 
ein  Zeichen,  dafs  der  wiederholte  Appell  an  die  Vereine,  wie  er  auch  in 
dieser  Zeitschrift,  4.  Bd.,  S.  309,  erhoben  wurde,  noch  nichts  gefruchtet 
hat  und  dafs  die  Bedeutung  der  Versammlungen  für  die  Arbeit  jedes 
Vereins  noch  nicht  genügend  gewürdigt  wird.  In  der  Vertreterversammlung 
wurde  über  den  günstigen  Kassenstand  und  eine  erfreuliche  Zunahme  der 
Abonnenten  des  Korrespondenzblattes  berichtet.  Bei  der  satzungsgemäfs 
stattfindenden  Neuwahl  des  Vorstandes  wurden  Bailleu,  v.  Pfister  und 
Zimmermann  wiedergewählt,  aber  an  Stelle  der  ausscheidenden  und  satzungs- 


I)  Vgl.  Ober  die  Tagimg  ia  Düsseldorf  1902,  4.  Bd.,  S.  94—103. 


—     75     — 

gemä&  nicht  wieder  wählbaren  Beisitzer  Ermisch  und  PrUmers  fiel  die 
Wahl  auf  Grotefend  (Schwerin)  und  ▼.  Zwiedineck-Südenhorst (Gras): 
einem  öfter  ausgesprochenen  Wunsche  gemäfs  ist  nun  auch  Österreich  durch 
ein  Mitglied  im  Vorstand  vertreten.  Für  1904  ist  der  Gesamtverein  nach 
Danzig  dngeladen,  wo  Denkmalpflegetag  und  Archivtag  ^eichzeitig  statt- 
finden werden,  und  1905  nach  BÜnberg.  —  Für  die  Versammlungen  waren 
die  Räume  der  städtischen  Ressource  zur  Verfügung  gestellt  worden;  um 
die  Organisation  und  Leitung  der  Veranstaltungen  hatten  sich  besonders  die 
einheimischen  Herren  Stadtarchivar  Overmann  und  Sanitätsrat  Zschiesche 
verdient  gemacht;  ein  Ausflug  nach  Arnstadt  schlofs  die  Veisammfamg  ab, 
während  die  Teilnehmer  am  Abend  des  29.  September  Gäste  der  Stadt 
£tfiirt  waren. 

In  den  Hat^)tversanmllungen  sprach  an  erster  Stelle  Geh.  Rat.  Prof. 
Lindner  (Halle)  über  die  Stellung  Sachsens  und  Thüringens  in 
der  deutschen  Geschichte  und  erzählte  fesselnd  in  einem  knappen 
Überblicke  über  die  gesamte  deutsche  Geschichte,  wie  das  deutsche  Volk 
allmählich  aus  germanischen  Stämmen  zusammengewachsen  ist  und  wie  gerade 
Sachsen-Thüringen  bei  diesem  Prozefs  als  Übergangsglied  eine  wesentliche 
Vermitderrolle  gespielt  hat  —  Prof.  Mogk  (Leipzig)  sprach  an  zweiter 
Stelle  über  die  Volkskunde  im  Rahmen  der  Kulturentwickelung 
der  Gegenwart  imd  führte  etwa  folgendes  aus:  Obgleich  Herder  schon 
1777  die  Forderung  aufgestellt  hat,  dafs  die  Beschäftigung  mit  der  Volks- 
dichtung eine  der  Wissenschaft  würdige  Aufgabe  sei,  ist  die  Volkskunde 
doch  erst  in  den  letzten  Jahrzehnten  zu  einer  akademischen  Wissenschaft 
erhoben  worden.  Die  mythologisierende  Methode  hatte  sie  in  Mifskredit 
gebracht;  erst  durch  das  Aufblühen  der  Völkerkunde,  der  Kultur-  und  Lokal- 
geschichte wurde  sie  alhnählich  zur  historischen  Wissenschaft,  und  zwar  zur 
Kulturwissenschaft.  Als  solche  hat  sie  die  Aufgabe,  die  Erscheinungen  des 
Volkslebens  vor  ihrem  Untergange  aufzuzeichnen  und  diese  im  Laufe  der 
Zeiten  in  ihrem  Werden  und  Entwickeln  geschichtlich  zu  erforschen.  Allein 
die  Volkskunde  hat  noch  eine  zweite,  eine  praktische  Aufgabe.  Da  sie  sich 
mit  dem  Seelenleben  imseres  Volkes  beschäftigt,  soll  sie  auch  in  die  nationale 
Entwickelung  des  Volkes  eingreifen  und  diesem  zu  erhalten  suchen,  was  ge- 
sund und  lebensfähig  ist.  Vor  aUem  soll  sie  der  Entfiremdung,  die  im 
Laufe  der  Zeit  zwischen  den  Gebildeten  und  dem  gemeinen  Manne  ein- 
getreten ist,  en^egenwirken.  Sie  will  aber  nicht  die  imteren  Schichten  der 
Bevölkerung  in  eine  höhere  Sphäre  ziehen,  sondern  will,  dafis  die  Gebildeten 
sich  mit  dem  Seelenleben  des  Volkes  bekaimt  machen.  Um  dies  erreichen 
zu  können,  mufs  zunächst  vom  akademischen  Katheder  der  Student  über  die 
Erscheinungen  imseres  Volkslebens  aufgeklärt  werden,  damit  er  in  seinem 
Berufe  später  für  diese  ein  offenes  Auge  hat  Verwerten  können  aber  fiast 
alle  höheren  Stände  in  ihrem  Berufe  die  Volkskunde.  Besonders  mufs  der 
Geistliche  in  ihr  heimisch  sein,  wenn  er  erfolgreich  in  seiner  Gemeinde 
wirken  soll.  Diese  Tatsache,  die  vor  allem  Drews  klar  erkazmt  hat,  mufis 
den  Theologen  nachdrücklichst  vor  die  Seele  geführt  werden.  Femer  mufs 
der  Lehrer  in  der  Volkskunde  bewandert  sein,  sowohl  der  Volksschullehrer 
als  der  Gymnasiallehrer.  Durch  seine  Lehre  allein  kaim  der  verderben- 
bringende Aberglaube   geheilt,   durch   ihn  kann   den  Kbdem  der   höheren 


—     76     — 

Stände  Verständnis  für  das  Leben  des  einfachen  Mannes  beigebracht  werden. 
Geschieht  dies  auf  dem  Gymnasium,  dann  ist  auch  zu  hoffen,  dals  unsere 
Richter,  imsere  Polizeibehörden  mehr  mit  den  Volksanschauungen  rechnen 
und  ihnen  gerecht  werden.  Unsere  heutige  Rechtsprechung  hat  fast  alle 
Fühlung  mit  dem  Volke  verloren;  sie  wieder  zu  gewinnen,  ist  eine  der 
wichtigsten  Forderungen  der  Zeit.  Allerorten  müssen  wir  darnach  streben, 
dem  Volke  seine  alten,  volkstümlichen  Feste  wiederzugeben,  seine  Behaglich- 
keit und  Freude  an  Haus  und  Wohnung,  damit  der  schlichte  Mann  wieder 
Freude  am  Dasein  imd  damit  zugleich  am  Volks-  und  Staatsleben  erlange.  — 
Stadtarchivar  Overmann  verbreitete  sich  als  dritter  Redner  über  die  Ge- 
schichte der  engeren  Heimat  in  dem  Vortrage  Erfurt  in  Geschichte 
und  Kunst,  in  welchem  fein  und  verständnisvoll  ohne  Überladung  mit 
Einzelheiten  den  Ortsfremden  die  Versammlungsstadt  geschichtlich  mit  groisem 
Erfolg  näher  gebracht  wurde. 

In  den  sehr  gut  besuchten  Sitzungen  der  ersten  und  zweiten 
Abteilung  unter  dem  Vorsitz  von  Sanitätsrat  Zschiesche  wurde  eine 
Anzahl  von  Vorträgen  gehalten,  die  für  weitere  Kreise  von  Bedeutung 
sind.  Aus  der  Vorgeschichte  Thüringens  machte  A.  Götze  (Berlin) 
ausführliche  Mitteilungen,  wobei  besonders  wohltuend  die  warme  Würdigung 
berührte,  die  der  Vortragende  seinem  Lehrer  Klop fleisch  zuteil  werden 
liefs ,  einem  Mann ,  der  den  Wert  vorgeschichtlicher  Forschungen  bereits  zu 
einer  Zeit  erkannt  hat,  in  der  man  für  diese  Dinge  meist  nur  Spott  übrig 
hatte.  Die  ältesten  Ansiedlungen  auf  dem  engeren  Gebiet  von  Erfurt 
schilderte  Zschiesche  (Erfurt),  dessen  Verdienste  um  die  Erforschung  der 
Prähistorie  seiner  Heimat  bekannt  sind.  Bedeutendes  Aufsehen  erregten  die 
Ausführungen  von  S c hu chhar dt  (Hannover)  über  die  Hauptgattungen 
alter  Befestigungen  in  Deutschland  und  in  England.  Auf  zwei 
Studienreisen  nach  England  hat  der  eifrige  Forscher  höchst  wertvolles  Vergleichs- 
material gesammelt,  mit  dem  er,  im  einzelnen  vielleicht  etwas  zu  radikal, 
den  seitherigen  Anschauungen  über  die  Entstehungszeit  der  imzähligen  Burg- 
wallanlagen in  Mitteldeutschland  zu  Leibe  ging.  Er  hat  gewifs  recht,  wenn 
er  die  Forderung  aufstellt,  dafs  zunächst  bei  der  Beurteilung  der  Ring- 
wälle imd  ähnlicher  Anlagen  das  ausgeschieden  werde,  was  sich  irgendwie 
als  frühgermanisch,  d.  h.  als  nachrömisch  erweisen  lasse.  Und  dafs  dies 
nicht  gerade  wenig  ist,  vermochte  Schuchhardt  an  zahlreichen  Beispielen  zu 
zeigen,  wo*  durch  seine  und  vor  allem  durch  Rübeis  Forschungen  im  nieder- 
sächsischen Gebiet  gar  manche  dieser  Anlagen  als  karlingisch  erwiesen  wurde, 
die  man  früher  als  vorgeschichtlich  bezeichnen  zu  dürfen  glaubte.  Der 
Vortrag  wird  mit  Abbildungen  und  Grundrissen  seinem  Wortlaut  nach  im 
Korrespondenzhlatt  des  Gesamtverebs  erscheinen  und  sicher  überall  klärend 
und  anregend  wirken.  —  Immer  noch  steht  für  die  nächsten  Jahre  die 
römische  Forschung  in  Deutschland  im  Vordergrund  des  Interesses,  zumal 
nach  der  glücklichen  Erledigung  der  Limesarbeiten  sich  ein  überraschend 
reiches  Arbeitsgebiet  bei  dem  westfälischen  Haltern  aufgetan  hat.  Die 
neuesten  Ergebnisse  der  dortigen  Grabungen  schilderte  einer  der  Mitarbeitenden, 
Dragendorff  (Frankfurt),  der  Direktor  der  neugegründeten  römisch- 
germanischen Kommission  des  Archäologischen  Instituts.  Nach  kurzem 
Überblick   über   das   bisher   geleistete   ging   er  näher   ein   auf   die   erst   vor 


—     77     — 

kurzem  genau  ausgegrabene  Erdbefestigung  zwischen  dem  antiken  Landeplatz 
und  der  jetzigen  Stadt  Haltern,  deren  wichtige  Einzelheiten  jetzt  im  dritten 
Heft  der  westüUischen  Mitteilungen  yeröffentlicht  worden  sind. 

Im  Laufe  der  nach  einheitlichen  Gesichtspunkten  durchgeführten  Limes- 
arbeit hat  sich  das  Bedürfnis  herausgestellt,  die  römische  Kultur  in  Deutsch- 
land auf  breiterer  Grundlage  zu  erforschen,  ab  es  der  Limeskommission  aus 
natürlichen  Gründen  möglich  war.  Zwei  besonders  wichtige  Punkte  wurden 
diesmal  zum  Gegenstand  von  Resolutionen  gemacht,  denen  der  beste  Er- 
folg zu  wünschen  ist.  Der  erste  betrifft  die  Bedeutung  und  Ausbreitung  der 
östlich  vom  Limes,  also  im  freien  Germanien  gemachten  Römerfimde;  auf 
Antrag  von  Wolfram  (Metz),  dem  als  Korreferenten  Höfer  (Wernigerode) 
und  Prümers  (Posen)  zur  Seite  standen,  wurde  folgender  Wortlaut  be- 
schlossen : 

„Der  Gesamtverein  fordert  die  Geschichts-  und  Alter- 
tumsvereine auf,  der  Forschung  über  den  Einfiufs  rö- 
mischer Kultur  auf  das  Gebiet  östlich  vom  Limes  be- 
sondere Aufmerksamkeit  zuzuwenden,  alljährlich  auf  der 
Hauptversammlung  des  Gesamtvereins  über  die  Ergebnisse 
zu  berichten  und  durch  Veröffentlichung  der  jeweiligen 
Untersuchungen  im  Korrbl.  des  Ges.-Ver.  sich  gegenseitig 
in  der  Arbeit  zu  fördern.  Der  Gesamtverein  spricht  die 
Hoffnung  aus,  dafs  die  römisch-germanische  Kommission 
auch  ihrerseits  diese  Bestrebungen  in  geeigneter  Weise 
unterstützt" 

Die  Forschungen  der  letzten  Jahre  besonders  auf  dem  linken  Rheinufer 
haben  die  Wichtigkeit  der  römischen  Befestigungsanlagen  der  Zeit  ergeben, 
in  der  das  rechte  Rheinufer  aufgegeben  und  die  römische  Verwaltung  genötigt 
war,  zur  Sicherung  ihres  Besitzes  jenseits  des  Stroms  neue  Festungen  anzulegen« 
Bedeutsame  Ergebnisse  sind  für  diese  „Diokletianischen"  Anlagen  schon  ge- 
wonnen, aber  die  auf  Wolframs  Antrag  angenommene  Resolution  wünscht 
auch  hier  ein  einheitliches  Vorgehen,  durch  das  beim  Limes  so  erfreuliches 
erreicht  worden  ist.     Sie  lautet: 

„Der  Gesamtverein  beantragt  bei  der  Reichskommission 
für  röm.-germ.  Forschung  und  bei  dem  Verband  der  süd- 
westdeutschen Vereine,  dafs  über  die  römische  Befestigung 
aus  der  späteren  Kaiserzeit,  insbesondere  der  Städte,  ein 
heitliche  Untersuchungen  angestellt  werden." 

In  der  Sitzung  der  dritten  und  vierten  Abteilung,  bei  der  Stadt- 
archivar Overmann  den  Vorsitz  führte,  erörterte  zuerst  Gymnasialdirektor 
Thiele  (Erfurt)  die  sprachliche  Bedeutung  unserer  mittel- 
deutschen Urkunden  und  Handschriften.  Wie  alle  Wissenschaften, 
so  meinte  der  Vortragende,  sollten  vor  allem  Geschichte  und  Sprachwissen- 
schaft einander  tatkräftig  imterstützen.  Diese  Unterstützung  wäre  besonders 
notwendig  auf  dem  Gebiete  des  Mitteldeutschen,  da  diese  Sprachform 
ebensowenig  in  ihrer  Art  genau  gekannt,  wie  in  ihrer  Bedeutung  bisher  aus- 
reichend gewürdigt  sei.  Nachdem  er  in  kurzen  Zügen  das  Wesen  des  Mittel- 
deutschen, seine  räumliche  Ausdehntmg  und  seine  zeitliche  Entwickelung  dar- 
gelegt, betonte  er  die  Verwendung  des  Mitteldeutschen  in   der  kaiserlichen 


—     78     — 

Kanzlei  und  in  den  Kanzleien  bedeutender  ReichsfUrsten,  wie  der  sächsiachen 
Kurfürsten  und  Herzöge,  die  Benutzung  dieses  Dialekts  auf  den  Reichstagen, 
wo  man  nur  offiziell  lateinisch  verhandelt  habe,  und  seine  dadurch  vermittelte 
Bdcanntschaft  in  allen  Teilen  Deutschlands.  Luther  hat  diese  Sprachfbrm  in 
den  Schriften  der  Jahre  1520  und  1521  sowie  bei  der  Übersetzung  des 
Neuen  Testaments  1522  benutzt,  tmd  das  Mitteldeutsche  ist  unter  diesem 
günstigen  Stern  die  dialektische  Grundlage  des  Neuhochdeutschen 
geworden.  Literarisch  ist  das  Mitteldeutsche  nur  vereinzelt  im  Mittelalter 
benutzt  worden  —  die  hauptsächlichsten  Werke  werden  aufgeführt  —  die 
wichtigsten  sprachlichen  Zeugnisse  sind  vielmehr  die  Urkunden  des  be- 
treffenden Sprachgebiets,  die  bis  jetzt  aber  nur  zum  kleinen  Teile  in  Urkunden- 
büchem  und  sonst  bekannt  geworden  sind  imd  die  im  engeren  Sinne  sprach- 
lich fast  noch  gar  nicht  durchforscht  sind.  Hier  müssen  die  Geschichts- 
vereine eingreifen  und  dafür  sorgen,  dafs  die  Urkunden  wie  als  Quelle,  so 
auch  als  sprachliche  Denkmäler  gewürdigt  werden.  Ebenfalls  ein  wichtiges 
Hilfsmittel  zur  Kenntnis  des  Mitteldeutschen  dürfte  es  sein,  wenn  die  Be- 
sonderheiten der  mittelhochdeutschen  Handschriften,  soweit  sie  von  mitteldeutschen 
Schreiben  herrühren,  bei  der  Publikation  mehr  beachtet  würden,  so  mühsam 
solche  Untersuchungen  auch  zum  Teil  sein  mögen.  In  der  anschlieisenden 
Erörterung  fand  die  Anregung  allgemeine  Teilnahme,  und  in  einer  Resolution 
wurde  es  als  wünschenswert  bezeichnet,  es  möchten  die  oft  nur  ver- 
einzelt vorhandenen  wichtigeren  mitteldeutschen  Urkunden 
in  historischem  und  sprachlichem  Interesse  mehr  als  bisher 
wissenschaftlich  zuverlässig  in  lokalen  Publikationen,  nament- 
lich in  den  Programmen  höherer  Lehranstalten  veröffentlicht 
und  eingehend  sprachlich  behandelt  werden.  —  Konrad 
Plath  (Wiesbaden)  besprach  die  Erforschung  der  altdeutschen 
Kaiserpfalzen  imd  schilderte  die  Entwickelung  des  Pfalzenwesens  bei  den 
Römern  und  daran  anschlieisend  in  den  germanischen  Staaten  nach  der 
Völkerwanderung,  bei  den  Ost-  und  Westgoten,  Alemannen  und  Burgundern, 
Angelsachsen,  Vandalen  und  Langobarden,  sowie  auch  bei  Iren  und  Bretonen, 
Dänen,  Norwegern  imd  Schweden ;  insbesondere  dann  aber  bei  den  Franken, 
deren  Könige,  nach  Chlodovechs  genialer  Staatsschöpfung  zuerst  ein  System 
königlicher  Pfalzen  schufen,  und  die  gesammte  Staatsverwaltimg  darauf  grün- 
deten. So  kennen  wir  allein  aus  den  so  trümmerhaft  erhaltenen  Schrift- 
quellen der  fränkischen  Zeit  über  150  königliche  Paläste  der  Merowinger 
und  Karolinger,  die  über  das  ganze  Gebiet  des  fränkischen  Reiches,  von 
Nimwegen  bis  Benevent,  von  St.  Jean  d'Angely  bei  Bordeaux  bis  Baden 
bei  Wien  verteilt  waren.  Nachdem  der  Redner  dann  den  weiteren  Ausbau 
dieser  bedeutsamen  Einrichtung  unter  den  späteren  deutschen  Herrscher- 
geschlechtem  und  seine  Entwickelung  bis  zum  Ende  des  Mittelalters  verfolgt, 
legte  er  den  Einflufs  der  deutschen  Pfialzorte  auf  das  deutsche  Heidentum, 
wie  auf  die  Ausbreitung  der  christlichen  Kirche,  auf  die  letzte  Blüte  der 
römischen  Poesie,  wie  auf  den  Aufwuchs  einer  nationalen  Dichtung,  auf  die 
Ausbildung  der  Sage,  wie  der  geschichtlichen  Aufzeichnungen,  auf  die  Aus- 
breitung eines  zielbewufsten  Landbaues,  wie  auf  die  Ausbildung  des  Forst-  und 
Jagdwesens,  auf  die  Gestaltung  des  Rechtes  und  der  Sprache  der  bildenden 
Künste,  der  Baukunst,  Malerei  und  Bildhauerkunst,   wie  der  Musik  und  des 


—     79     — 

Gesanges,  der  Wissenschaft  and  Handwerke,  wie  des  Heerwesens  und  der 
Flotte  dar,  und  zeigte,  wie  nach  all  diesen  Richtungen,  bis  zur  Buchdrudcer- 
kunst,  dem  Humanismus  und  der  Reformation  die  deutsche  Kulturentwicke* 
lung  Yon  den  königlichen  P£aüzen  ausging,  und  an  die  Pfalzorte  sich  anschlofs. 
Sie  treten,  in  diesem  Zusanmienhange  betrachtet,  als  eine  der  fruchtbarsten 
und  folgenreichsten  Gründungen  der  Weltgeschichte  hervor.  Aber  wie  die 
Pfalzorte  so  als  die  Keimstellen  imserer  gesamten  nationalen  Kultur  erscheinen, 
so  reicht  ihre  Bedeutung  zugleich  weit  in  die  vorgeschichtliche  Zeit  hinauf. 
Ihre  einheitliche,  vergleichende,  planmäfsige  Erforschung  erweist  sich  als  eine 
der  furchtbarsten  archäologischen  Unternehmungen,  die  nach  allen  Seiten  hin 
Licht  verbreitend  vor  allem  über  die  Entwickelung  der  eigenen  nationalen 
Kultur  aus  fernen  Uranfängen,  die  überraschendsten  und  beiehrendsten  Auf- 
schlüsse darbietet  Heute,  wo  die  deutsche  Kultur  die  Kultur  der  Welt  wird, 
wird  es  von  weltgeschichtlichem  Interesse,  den  Wurzehi  der  deutschen 
Bildung  auch  unter  der  Erde  nachzuspüren.  In  dieser  Überzeugung  hat  der 
Redner  seit  sechzehn  Jahren  die  örtliche  Erforschung  und  Ausgrabung  der 
altdeutschen  Königspfalzen  mit  Unterstützung  des  Königlich  Preufsischen 
Kultusministeriums  vorbereitet  und  zum  Teil  bereits  durchgeführt  Die  überall 
dabei  erzielten  Erfolge  lassen  es  jetzt  an  der  Zeit  erscheinen,  die  nationale 
Unternehmung  als  Reichssache  in  weiterem '  Umfange  und  mit  erhöhten 
Mitteln  fortzuführen,  um  so  mehr,  als  in  immer  steigendem  Mafse  die  un- 
schätzbaren Zeugen  unserer  Kulturentwickelung  unrettbar  dahinschwinden. 
So  sei  denn  auch  den  deutschen  Altertumsvereinen  diese  Angelegenheit  zu 
gemeinsamer  Förderung  dringend  zu  empfehlen.  Zur  Erläuterung  des  Vor- 
trages wies  Dr.  Plath  am  Schlufs  auf  die  bei  seinen  Reisen  und  Aus- 
grabimgen  von  ihm  hergestellten  photographischen  Aufnahmen  hin,  von 
denen  ungefähr  300  neben  Karten,  Plänen  und  Zeichnungen  an  den  Wänden 
des  grofsen  Sitzungssaales  zur  Ausstellung  gebracht  waren  und  eine  lebendige 
Anschauung  von  dem  bisher  auf  diesen  Felde  Erreichten  darboten.  —  Als 
dritter  Redner  sprach  Pastor  0er gel  (Erfurt)  über  das  Bursenwesen  der 
mittelalterlichen  Universitäten,  insbesondere  Erfurts,  mufste 
sich  aber  bei  dem  bekannten  Zeitmangel  auf  die  Hauptsachen  beschränken; 
die  Veröffentlichung  des  Vortrags  wird  sicher  auch  über  diesen  Gegenstand 
neue  Belehrung  bringen. 

In  der  fünften  Abteilung  (für  Volkskunde)  sprach  Privatdozent  Robert 
Petsch  (Würzburg)  über  Volkstümliches  Denken  und  Dichten 
und  suchte  hierbei  der  zurzeit  brennenden  Frage  nach  der  Berechtigung  zur 
Annahme  einer  eigendichen  Volkspoesie  von  der  psychologischen  Seite  aus 
näher  zu  treten.  Volkspoesie  ist  im  Grunde  jene  Poesie,  die  mit  der  Vor- 
stellungs-  tmd  Gefühlswelt  der  grofsen  Masse  der  mechanisch,  nicht  will- 
kürlich Denkenden  arbeitet,  wobei  freilich  zu  berücksichtigen  ist,  dafs  auch 
die  Träger  der  höchsten  Bildung  immer  wieder  in  jene  mechanische  Denk- 
weise zurückfallen  (Aberglaube,  unerlaubtes  Generalisieren  usw.),  so  dafs 
schhefslich  die  Grenze  zwischen  höherem  und  niederem  geistigen  Leben  und 
dementsprechend  zwischen  Volks-  imd  Kunstpoesie  im  ganzen  fiiefsende 
bleiben.  Im  Einzelnen  wies  der  Redner  die  volkstümliche  „Denkweise** 
nach  an  der  starken  Wirkung  sinnlicher  Eindrücke,  an  dem  Haften  am 
eigenen  Ich  (egozentrisches  Denken),  an  der  beherrschenden  Stellung   einer 


—     80     — 

einzelnen  Vorstelluog  oder  eines  einmal  gefMlten  Urteils,  wodurch  das  Ver- 
halten zu  früheren  und  zu  neuen  Eindrücken  auf  das  Stärkste  beeinflufst 
wird  (monarchistische  Bewufstseinsverfassimg).  Die  Neigung  zur  extremen 
Darstellung,  zur  möglichst  starken  Verdeutlichung  und  vollen  Ausschöpfimg 
einzelner  Eindrücke  läfst  sich  dann  bis  in  den  Stil  der  Volkspoesie  hinein 
verfolgen,  wo  alles  nach  Deutlichkeit,  sinnlicher  Anschaulichkeit  und  voller 
Gefühlswirkung  hindrängt 

In  der  Sitzung  der  fünf  vereinigten  Abteilungen,  die  Ober- 
regierungsrat  Ermisch  (Dresden)  leitete,  erstattete  zuerst  Prof.  Anthes 
(Darmstadt)  Bericht  über  die  Tätigkeit  des  Verbandes  west-  und  süddeutscher 
Vereine  für  römisch-germanische  Altertumsforschung.  Hierauf  nahm  das  Wort 
Archivsekretär  Beschorner  (Dresden)  zu  seinen  Ausflihrtmgen  über  das 
Sammeln  von  Flurnamen').  Nachdem  er  auf  die  Bedeutung  der  Flur- 
namen für  die  verschiedensten  Zweige  der  Wissenschaft  und  auf  die  nicht 
unerhebliche  sich  mit  ihnen  beschäftigende  Literatur  hingewiesen  hatte,  legte 
er  die  verschiedenen  Mittel  dar,  die  Flurnamen  eines  Landes  möglichst  voll- 
ständig imd  zuverlässig  zusammen  zu  bekommen:  Ausbeutung  guter  Karten, 
namentlich  der  überall  vorhandenen  Katasterkarten  mit  zugehörigen  Flur- 
verzeichnissen, Ausnutzung  des  archivalischen  Materials,  persönliche  UmfrsLgt 
bei  den  Bewohnern,  Versendung  von  Fragebogen  an  die  Gemeindevorstände, 
Geistlichen  usw.,  Heranziehung  der  aus  Landgemeinden  stammenden  Schüler 
der  Gymnasien  und  Mittelschulen,  desgleichen  der  Geometer  bei  Neuvermes- 
sung  des  Landes.  Sodann  erläuterte  er  an  der  Hand  eines  aus  verschiedenen 
Gegenden  Deutschlands  zusammengebrachten  Anschauungsmaterials,  in  welcher 
Weise  das  auf  den  angegebenen  Wegen  gewonnene  Material  am  praktischsten 
in  Flumamenverzeichnissen  und  vervielfältigten  Katasterkarten  oder  in  beiden 
gemeinsam  übersichtlich  gesanmielt  werden  könne.  Auf  die  Bearbeitung  der 
fertigen  Flumamensammlungen  in  sprachlicher,  geschichtlicher  und  kultur- 
geschichtlicher Hinsicht  ging  Redner  nicht  ein,  da  diese  eine  Sache  für  sich 
ist;  dagegen  streifte  er  noch  kurz  die  äufserst  schwierige  Frage  des  Ver- 
öfifentlichens  der  tunfknglichen  Flumamenverzeichnisse. 

Anschliefsend  wies  Stadtarchivar  Prof.  Tschirch  (Brandenburg),  der 
eine  Karte  des  Planer  Sees  ausgestellt  hatte,  auf  die  zahlreichen  interessanten 
Namen  für  Fischereibezirke  in  den  Gebieten  grofser  Seen  hin  und 
machte  Vorschläge  zur  Lösung  der  besonders  schwierigen  Aufgabe,  diese  zu 
sammeln.  Um  dem  reifsend  schnellen  Verschwinden  der  Flurnamen  Einhalt 
zu  tun,  riet  Hofrat  Mirus  (Leisnig),  die  GrundbuchfÜhrer  zu  veranlassen, 
neben  den  Katastemununem  auch  die  Flurnamen  wieder  in  die  Grundbücher 
aufzunehmen,  wie  dies  in  der  Leisniger  Gegend  bereits  geschehen  sei.  Im 
Anschlufs  an  die  Ausfühnmgen  des  Vortragenden  befürwortete  Privatdozent 
Petsch  (Würzburg),  die  Lehrer,  namentlich  die  Volksschullehrer,  zum  Sammeln 
der  Flurnamen  anzuregen  imd  zu  diesem  Zwecke  kurze,  in  den  Gegenstand 
einführende  Aufsätze  in  den  von  allen  Lehrern  gelesenen  Zeittmgen  und  IZeit- 
schriften  (in  Bayern  in  den  Mitteilungen  und  Umfragen  zur  bayrischen  Volks- 
kunde und  der  Bayrischen  Lehrerzeilung)  zu  veröffentlichen.  Aufserdem 
warnte  er  davor,  in  die  Sammlungen,  wie  vorgeschlagen  sei,  nur  die  eigent- 
lichen Flur n a m e n  aufzunehmen  und  die  Flur bezeichnungen  („ sekundären 
Flurnamen")  wegzulassen.    Da  den  Vertretern  von  Volkskunde  von  Wert  sei. 


—     81     — 

zu  wissen,  nach  welchen  Flurnamen  (heidnischen  oder  nicht  heidmschen) 
das  Volk  die  Flurbezeichnungen  wählte,  müfsten  die  sekundären  Flurnamen 
den  primären  wenigstens  in  Klammem  beigefügt  werden.  In  längerer  Aus- 
führung berichtete  Oberbürgermeister  a.  D.  Dr.  Brecht  (Quedlinburg)  über 
seine  Erfahrungen,  die  er  sich  bei  jahrzehntelangem  Sammeln  der  provinzial- 
sächsischen  Flurnamen  angeeignet  hat,  und  forderte  namenüich  noch  genauere 
Erwägimg  der  bei  Veröffenüichung  der  Flumamensammlungen  zu  befolgenden 
Grundsätze.  Nachdem  noch  Dr.  Ahrends  (Arnstadt)  für  weiteren  Ausbau 
der  im  „Korrespondenzblatte**  begründeten  Zentralstelle  für  Orts-  und  Flur- 
Damenforschung  eingetreten  war,  wurde  die  Erörterung  mit  folgender  Reso* 
lution  geschlossen: 

Die  fünf  vereinigten  Abteilungen  halten  es  für  in  hohem 
Grade  wünschenswert,  dafs  in  allen  deutschen  Landschaften 
möglichst  ungesäumt  an  die  Sammlung  der  von  Jahr  zu  Jahr 
mehr  verschwindenden  Flurnamen  herangetreten  werde. 
Sie  ersuchen  den  Herrn  Berichterstatter,  eine  Anweisung 
für  die  Sammlung  von  Flurnamen  zu  entwerfen  und  Herrn 
Archivrat  Dr.  Wäschke  (Zerbst)  von  Zeit  zu  Zeit  im  Korre- 
spondenzblatt über  denFortgang  der  Flurnamenforschung 
zu  berichten. 

In  dem  sich  anschliefsenden  Vortrage  über  handelsgeschichtliche 
Probleme  empfahl  Prof.  Kentgen  (Jena)  nicht  nur  zahlreiche,  die  Ge- 
schichte des  Strafsenwesens,  der  Zölle,  der  bisher  eigentlich  nur  für 
Italien  gut  bearbeiteten  Handelsgesellschaften  und  der  Münzpolitik 
betreffende  Aufgaben  der  lokalen  Geschichtsforschung,  sondern  wies  gleich- 
zeitig auch  auf  einige  bei  Behandlung  der  genannten  Themen  leicht  vor- 
kommende Fehler  hin.  Häufig  begegne  man  z.  B.  den  irrigen  Vorstellungen, 
dafs  die  Zölle  im  Mittelalter  mit  dem  Wachsen  der  Entfernungen  gestiegen 
seien  oder  dafs  die  Unterscheidung  zwischen  Grofs-  und  Kleinhandel  auf  der 
Höhe  des  Umsatzes  beruhe,  während  lediglich  die  Art  des  Betriebes  mafs- 
gebend  ist  Für  die  Strafsenforschung  stellte  Redner  die  Arbeiten  von  Aloys 
Schulte^)  und  Simon  ^)  als  vorbildlich  hin.  Als  dankbare  zollgeschicht- 
liche Aufgaben  bezeichnete  er  Untersuchungen  über  die  Höhe  der  Zölle 
und  den  Mafsstab  ihrer  Berechnung  (Wert  der  Waren,  Mafs  und  Gewicht, 
Herkunft),  über  die  Belastung  des  Handels  durch  die  Zölle  und  den  Unter- 
schied zwischen  Grofs-   und  Kleinhandel  in   dieser  Beziehung.     Hinsichtlich 


i)  Die  Sammlang  der  Flarnamea  ist  nar  ein  Teil  der  umfassenden  Flarforschong, 
für  die  in  den  Flarkarten  das  Vormaterial  vorliegt.  Vgl.  darüber  den  Bericht  über 
die  Verhandlungen   der  Vertreter   deutscher   landesgeschichtlicher  Pablikationsinstitute   im 

4.  Bd.  dieser  Zeitschrift  S.  251—252. 

1)  Oesrhiehie  des  mitteUüferltcken  Handels  und  Verkehrs  xwischen  Westdeutseh- 
Umd  und  Italien  mit  Ausschluß  von  Venedig.  Leipzig  1900,  2  Bde.  Eine  zweite  Auf- 
lage ist  in  Vorbereitung.     Das  Bach  ist  eingehend  gewürdigt  in  dieser  Zeitschrift,  2.  Bd. 

5.  193 — 202,  und  dort  sind  auch  einige  Aufgaben  (Ur  die  weitere  Forschung,  namentlich 
Anlage  Ton  Strafsenkarten  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  Zollstätten,  sowie 
Sammlung  der  Zolltarife  besprochen  worden. 

2)  Die  Verkehrsstraßm  in  Sachsen  und  ihr  Einfluß  auf  die  Städteentwiekekmg 
bis  xum  Jahre  1500  [■«  Forschungen  zur  deutschen  Landes-  und  Volkskunde,  7.  Bd. 
2.  Heft,  1892]. 

6 


—     82     — 

der  Müiiq)olitik  emp£EÜü  er,  namentlich  den  Münzvemiien,  den  einzelnen 
Münz-  und  Kursstätten  und  den  Münzn^scbriften  Beachtung  zu  schenken. 
Endlich  riet  er,  Vergleichungen  zwischen  der  Handelsgeschichte  des  deutschen 
Volkes  und  der  benachbarter  oder  ausländischer  Staaten  anzustellen,  mit  denen 
die  Deutschen  Handelsbeziehungen  unterhidten. 

Eine  Aussprache  über  die  zahlreichen  Anregungen  konnte,  so  erwünscht 
sie  war,  aus  Mangel  an  Zeit  nicht  stattfinden.  Die  Versammlung  beschränkte 
sich  daher  darauf,  den  Vortragenden  in  einer  Resolution  zu  ersuchen,  seinen 
für  die  Landes-  und  Ortsgeschichte  durch  die  Aufstellung 
einer  Fülle  handelsgeschichtlicher  Probleme  reichen  Vor- 
trag im  Korrespondenzblatt  drucken  zu  lassen. 

Der  gegenwSrtIge  Stand  der  YerOlfe&tliehviig  ron  Gmnd- 

karten«  —  Die  Herstellung  von  Grundkarten  nach  Thudichums  Vorgange  und 
die  Ansanmilung  von  je  einer  Anzahl  der  fertig  gewordenen  Blätter  an  der 
Leipziger  Zentralstelle  für  Grundkarten  zum  Vertriebe  an  die  Interessenten  ist 
seit  dem  letzten  ausführlichen  Berichte,  den  ich  im  Korrespondenzblatt  des 
Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichts-  imd  Altertumsvereine,  Jahrgang  1902, 
Nr.  7/8,  S.  125  ff.  darüber  erstattet  habe,  weiter  for^eschritten.  Es  wird 
zweckmäfsig  sein,  auch  in  den  „Deutschen  Geschichtsblättem'S  die  ja  ein 
Mittelpunkt  für  die  Pflege  landesgeschichtlicher  Bestrebungen  in  den  ver- 
schiedensten Teilen  des  deutschen  Volksgebietes  sind,  ein  Verzeichnis  der- 
jenigen Blätter  der  Grundkarten  zu  veröffentlichen,  die  zurzeit  erschienen  imd 
von  denen  Exemplare  auf  der  Leipziger  Zentralstelle  vorrätig  sind,  welche  von 
da  (Adresse :  Universität,  Historisch-Geographisches  Institut,  Bomerianum,  Erd- 
geschofs  rechts)  zum  Preise  von  30  Pfg.  flir  das  Blatt  (Doppebektion)  und 
gegen  Erstattung  der  Portokosten  bezogen  werden  können.  Ich  ordne  sie 
nach  den  historischen  Kommissionen,  Vereinen  und  Gesellschaften  an,  welche 
Grtmdkarten  für  ihre  im  wesentlichen  nach  politischen  Gesichtspunkten  ab- 
gegrenzten Gebiete  veröffentlicht  haben ;  die  Nummern  bezeichnen  die  Sektionen 
der  Karte  des  deutschen  Reiches  in  i  :  100  000  (der  sogen.  Generabtabs- 
karten). 

I.  Gesellschaft  für  Rheinische  Geschichtskunde.  Die  Ge- 
sellschaft hat  zunächst  nur  für  ihre  eigenen  Unternehmungen  Karten  im  Mafs- 
stabe  der  Liebenowschen  Karte  Rheinlands  und  Westfalens  i  :  80  000  aus- 
geführt; doch  ist  sie  bereit  nach  Verbrauch  des  jetzigen  Bestandes,  neue 
in  dem  sonst  allgemein  angenommenen  Mafsstabe  i  :  100  000  anfertigen  zu 
lassen.  Die  Sektionseinteilung  der  jetzt  vorhandenen  Grundkarten  weicht  von 
der  der  Reichskarte  in  i  :  100 000  ab;  ich  zähle  aber  die  Blätter  im  ff. 
nach  den  Nummern  und  Sektionsbezeichnungen  der  i  :  100  000  Karte  auf 
und  füge,  wo  die  Sektionsbezeichnung  der  rheinischen  Karten  abweicht, 
diese  in  ()  bei;  Generalstabskartensektionen,  von  denen  nur  ein  kleiner  Teil 
auf  der  entsprechenden  rheinischen  sich  findet,  werden  mit  *  bezeichnet 

327:  Kleve.  —  328:  Bocholt. 

352:  Geldern.  —  353:  Wesel.  —  '354:  ReckUnghausen  (Dorsten- 
Schermbeck). 

377:  Kaldenkirchen  (Straelen).  —  378:  Krefeld.  —  379*.  Elberfeld 
(Schwelm).  —  '380:  Iserlohn. 


—     83     — 

402 :  Erkelenz.  —  403 :  Düsseldorf.  —  404 :  Soliagen.  —  405  :  Lüden- 
scheid. 

428:  Aachen.  —  429:  Düren  (Jülich).  —  430:  Köln.  —  431 :  Wald- 
broeL  —  *432i  Siegen. 

455:  Eupen.  —  456:  Euskirchen  (ZUlpich).  —  457 :  Bonn.  —  458: 
Altenkirchen.  —  459  t  Dillenburg.  —  (Greifenstein).  —  460 :  Gieisen  (Wetzlar). 

480:  Malm^dy.  —  481:  HiUesheim  (Aremberg).  —  482:  Mayen.  — 
483:  Koblenz.  —  484:  Limburg.  —  485:  Friedberg  i.  H.  (Krafbolms). 

502:  Neuerburg.  —  503:  Prüm.  —  504:  Cochem.  —  505:  Boppard^ 

522 :  Mettendorf.  —  523 :  Trier.  —  524:  Bemcastel. —  525 :  Simmem.  — 
*526:  Mainz  (Kreuznach). 

540:  Saarburg  i.  Rhld.  —  541:  Birkenfeld.  —  542:  Knsel  (Bftum- 
holder). 

554:  Saarlouis.  —  555:  St  Wendel.    ^ 

569:  St  Arnold  (Ludweiler).  —  570:  Saarbrücken. 

n.  Gesellschaft  für  Lothringische  Geschichte  und  Alter- 
tumskunde. 

539/553:  Ewringen-Diedenhofen.  —  554:  Saarlouis. 

568/584:  Metz-Solgne.  —  569/585/600:  St  Amold-Chäteau-Sahns- 
Bourdonnaye.  —  570/586:  Saarbrücken-Ptalzburg.  —  571/587:  vgl.  III. — 
Sektion  Nancy. 

III.  Gesellschaft  für  die  Erhaltung  der  geschichtlichen 
Denkmäler  des  Elsafs. 

571/587:  Pirmasens-Hagenau  (im  Verein  mit  der  Lothringischen  Gesell* 
Schaft).  —  572/588'-  Landau  in  der  RheinpÜEÜz-Rastatt 

601/615:  Saarburg  i.  L.-Schirmeck.  —  602/616:  Strafsburg  i.  E.- 
SchlettsUdt 

IV.  Herausgegeben  von  Fried r.  Thudichum:  a)  mit  Unterstützung 
der  Grofsherzogl.  Hessischen  Regierung;  b)  mit  Unterstützung  der 
Wedekindstiftung  zu  Göttingen.  —  c)  Desgl.  sowie  des  Vereins 
für  Geschichte  zu  Frankfurt  a.  M. 

460/485:  Giefsen-Friedberg  i.  H.  —  461/486:  Grünberg-Büdingen.  — 
462/487:  Fulda-Schlüchtem. 

506/526:  Wiesbaden-Mainz.  —  507/527:  Frankfurt  a.  M.-Darmstadt  — 
508/528:  Hanau-Aschafifenburg. 

543I557:  Kirchheimbolanden-Neustadt  a.  d.  Haardt 

V.  Grofsherzoglich  Badische  Historische  Kommission. 
544/558:  Worms-Mannheim.  —  545/559 :  Miltenberg-Mosbach. 

VI.  Königl.  Bayerische  Akademie  der  Wissenschaften^). 
510/530:  Schweii^rt- Würzburg. 

Vn.  Königl.  Württembergisches  Statistisches  Landesamt 

574/590:  Heilbronn-Stuttgart 

Vin.  Historische  Kommission  für  Westfalen. 

304/328:  Vreden-Bocholt  —  305/329:  Ahaus-Krefeld.  —  306^330: 
Burgstemfurt-Münster.  —  307/331:  Iburg-Warendorf.  —  308/332:  Bielefeld 
Gütersloh. 


i)  Die  Sektion  659:  Konstanx,  ist  von   dem  Verein   fUr  Geschichte   des  Bodensees 
hei^^estellt  worden. 

6* 


—     84     — 

353/379*  Recklinghausen-Elberfeld.  —  355/380:  Dortmund-Iserlohn.  — 
356/381:  Soest-Amsberg. 

*4o6/433:  Attendorn- Siegen. 

IX.  Historische  Kommission  für  die  Provinz  Sachsen  und 
Anhalt 

365/290:  Gardelegen-Neuhaldensleben. 

314/338:  Magdeburg-Bemburg.   —  315/339«  Loburg-Dessau. 
363/388:   Eisleben-Querfurt   —   364/389:  Zörbig-Halle.   —  365/390: 
Düben-Leipzig.  —  366/381:  Torgau-Oschatz. 

X.  Königl.  Sächsische  Kommission  für  Geschichte. 
415/441 :  Borna- Altenburg.  —  416/442:  Döbeln- Chemnitz.  —  417/443: 

Dresden-Dippoldiswalde.  —  418/444:  Bischofswcrda-Königstein.  —  419/445: 
Bautzen-Zittau.  —  420/446:  Görlitz-Hirschfelde. 

467/492:  Greiz-Hof.  —  468/493:  Zwickau- Johanngeorgenstadt.  — 
469*494:  Annaberg- Wiesenthal.  —  470:  Sayda.  —   471:  Fürstenau. 

514:  WunsiedeL  —  515«  Mammersreut. 

XI.  Verein  für  Geschichte  der  Mark  Brandenburg. 
213/241:    Perleberg- Havelberg.    —    214242:    Wittstock   a.   d.    Dosse- 

Neu-Ruppin.  —  215/243:  Rheinsberg-Oranienburg.  —  216/244:  Templin- 
Eberswalde. 

267/282:  Rathenow-Brandenburg  a.  d.  Havel.  —  268/293:  Spandau- 
Potsdam.  —  269/284:  Berlin-Köpenick. 

XU.  Provinzial-Kommission  zur  Förderung  wissenschaft- 
licher, künstlerischer  und  kunstgewerblicher  Bestrebungen 
in  der  Provinz  Schleswig-Holstein.    (Herausgegeben  von  R.  Haupt.) 

5 :  Witting.  —  6 :  Gramm.  —  7 :  Hadersleben. 

1 1/2 1/20:  Röm-Hoyer- Westerland.  —  12/22:  Lügumkloster-Tondem.  — 
1 3/ 1 4/24/2  3 :  Apenrade-Tarup- Augustenburg-Flensburg. 

36/55:  Föhr-Eiderstädt  —  37/56:  Bredstedt-Husmn.  —  38/57:  Schles- 
wig-Rendsburg. —  39/58:  Kappeln-Kiel.  —  56:  Lütjenburg.  —  40/60/84: 
Markelsdorf-Oldenburg-Grömitz. 

83/114:  Eutin-Lübeck. 

[XIII.    Grofsherzogl.    Mecklenburg- Schwerinsche    Regierung. 

85/116:  Kröpelin-Wismar.  —  86/117:  Rostock-Güstrow  *).] 

Die  zuletzt  erschienenen  Blätter  der  Historischen  Kommission  für  West- 
falen veranlassen  mich,  eine  Bitte,  die  ich  schon  früher  einmal  ausgesprochen 
habe,  zu  wiederholen.  In  meinem  Aufsatze  „Ortsflur,  politischer  Gemeinde- 
bezirk und  Kirchspiel"  (in  den  Deutschen  Geschichtsbl.  III,  S.  2  73flf.)  hatte 
ich  auf  die  Bedeutung  des  Unterschiedes  der  Bezirke  politischer  Gemeinden 
und  der  Steuerbezirke  oder  der  Ortsfluren  für  die  Grundkartenbenutzung  hin- 
gewiesen. Für  die  rheinischen  Grundkarten  sprach  ich  die  Vermutung 
aus,  dais  sie  nicht  die  Bezirke  der  politischen  Gemeinden  darstellen,  sondern 
die  der  Katastralgemeinden ,  ähnlich  wie  in  Sachsen.  Das  Erscheinen  der 
Sektion  379,  Elberfeld,  der  Grundkarten  der  Westfälischen  Kommission, 
die  laut  ausdrücklicher  Angabe  die  politischen  Gemeindebezirke  enthalten, 
zeigt  nun  in   der  Tat  mannigfache  Abweichimgen   von   den   entsprechenden 


i)  Diese  Blätter  sind  bis  auf  weiteres  anverkäaflich. 


—     86     — 

rbeinischeD  Blättem:  freilich  keinen  verschiedenen  Verlauf  der  Grenzlinien, 
die  Überhaupt  in  den  beiderlei  Karten  sich  fiodeni  Kataatralgemeindegrenzen 
and  Grenzen  politischer  Gemeinden  schneiden  sich  hier  nicht,  wohl  aber 
sind  öfter  mehrere  Katastralgemeindcn  zu  einer  politischen  zusammengefalst. 
Es  wird  somit  hier  in  der  Praxis  bestätigt,  dafs  der  Historiker,  wenn  er 
Gmndkaiten  benutzen  will,  durch  eine  ausdrückliche  Angabe,  wie  sie  die 
westfälischen  Karten  aufweisen,  Bescheid  erhalten  mufs,  um  was  fUr  Grenzen 
es  sich  bei  den  eingetragcDen  roten  Linien  handelt. 

Für  die  Richtigkeit  des  Gedankens,  aus  dem  das  Grundkartenunter- 
nehmen  hervorgegangen  ist,  mehren  sich  neuerdings  die  Beweise  von  bisher 
unbeteiligter  Seite  her.  Es  ist  nämlich  zu  beobachten,  dafs  bei  Geographen 
und  Statistikern  die  Notwendigkeit  mehr  und  mehr  anerkannt  wird,  für  eine 
Reihe  von  Aufgaben  auf  die  Gemarkung  als  verwendbarste  Einheit  zurück- 
zugehen.  So  hatte  Herrn.  Losch  („Einige  Bemerkungen  über  Wirtschafis- 
stadstik,  Wirtschaftsgeld raphie  und  kartographische  Darstellung"  in  Hettners 
Geographischer  Zeitschrift  VII,  1901]  unter  Hinweis  auf  die  württembergische 
„Gemeindestatistik"  und  „Gewerbetopographie"  aus  geographischen  Gesichts- 
punkten die  Forderung  gestellt,  mehr  als  bisher  Üblich,  statistische  VerQffent- 
lichungen  auf  die  Gemeinden  zu  gründen.  Ein  schönes  Zeugnis  fUr  die  Ver- 
wertbarkeit der  Gemarkungen  liegt  jetzt  aus  der  Praxis  vor:  sehr  ausgiebig 
sind  sie  nämlich  in  Otto  Schlüters  kürzlich  erschienenem  Werke  Über  die 
Siedelungen  im  nordöstlichen  Thüringen  verwendet  worden.  Schlüter  ent- 
scheidet sich  dafür,  die  Gemarkungen  seiner  Volksdichtekarte  zugrunde  zu 
legen  (wie  dies  früher  schon  von  E.  Friedrich  in  einer  Arbeit  für  den  Re- 
gierungsbezirk Danzig  geschehen  war],  weil  sich  keine  bestimmte  feststellbare 
Fläche  finden  läfst,  mit  der  die  Bevölkerung,  alles  in  allem  genommen,  inniger 
verwachsen  wäre.  Auf  derselben  Grimdlage  sind  dann  kartographisch  dar- 
gestellt: der  Gnmdsteuerreinertrag  der  Gemeinden,  Veränderungen  der  Ein- 
wohneriahlen  der  Gemeinden  in  dem  Zeitraum  von  1852—95;  die  Ge- 
schichte der  Besiedelung;  die  äufsere  Gestalt  der  Siedelungen  nebst  den  Ver- 
kehrswegen um  das  Jahr   1750  (im  Drucke  im  Mafsstab    i  :  200000). 

Ab  SeitenstUck  zu  dieser  Leistung  sei  hier  auch  auf  eine  Arbeit  hin- 
gewiesen, die  als  erste  auf  Gmndkarten  beruhende  Veröffentlichung  im  König- 
reich Sachsen  beweist,  dafs  das  Unternehmen  hier  anfängt,  seine  Früchte  zu 
zeitigen:  es  sind  dies  zwei  Karten  der  Verbreitung  der  wendischen  und 
deutschen  Sprache  im  östlichen  Sachsen,  die  das  Statistische  Bureau  im 
laufenden  Jahrgang  seiner  Zeitschrift  hat  erscheinen  lassen. 

Aufserhalb  des  Deutschen  Reiches  ist  die  Herstellung  von  Grundkarten 
in  Holland  in  die  Wege  geleitet  worden,  und  es   ist   dort  mit   besonderer 
Energie,   freilich  auch  unter  geringeren  Schwierigkeiten   als   hier 
die  Ausführung  der  Kartenblätter  gefördert  und  deren  Nutzbannacb 
Znsammenwirken  einer  Reihe  von  Gelehrten  angebahnt  worden.    Die 
riscb-Statistiscbe  Schetskaart",   die   durch   die  Centra 
missie   voor   de  Historisch  -  Statistische   Kaarten   in 
land  herausgegeben  wird,   ist  auf  30  Blatt  berechnet,    die  im  F 
den  deutschen  Grundkarten  abweichen  und  gelbe  Gemeindegrenzen 
Ecschienen  sind  bisher  die  Hälfte  aller  Sektionen,  nämlich: 

I.  (Titelblatt.)  —  2.  (Ameland.)  —  3,  (Schictmonnikoog.)  — 


—     86     — 

und  Vidand.)  —  6.  (Sneek  und  Leuwarden.)  —  7.  (Groningen.)  —  9.  (Alk- 
Byyu-.)  —  10.  {Stavoren,  Urk.)  —  11.  (ZwoUe,  Kämpen.)  —  13.  (*s  Giaven- 
hage.)  —  14.  (Amsterdam  und  Utrecht.)  —  15.  (Haiderwijk  und  Amen- 
foort.)  —  19.  (Rotterdam.)  —  20.  (Schoonhoven,  Dordrecht,  Breda.)  — 
21.  ('s  Hertogenbosch,  Wijk  bij  Duurstede.)  Auch  eine  Übersichtskarte  in 
I  :  600000  ist  bereits  ausgegeben  worden. 

Eine  Zentralstdle  für  die  niederländischen  Grundkarten  besteht  in  Hattem 
unter  Leitung  von  Herrn  F.  A.  Hoefer.  Ein  Fortschritt  ist  nun  dadurdi 
erzielt  worden,  daß  sich  berdts  mehrere  Forscher  des  Landes  zur  Bear- 
beitung bestinmiter  Themata  mit  Hilfe  von  Grundkarten  haben  bereit  finden 
lassen:  Münzorte  tmd  Münzfunde  (Dr.  de  Dompierre  de  Chaufepi^),  Gau- 
grenzen (Prof.  Blök),  Landgrenzen  (Dr.  Bannier),  Deiche  (Beekman),  Rechts- 
geschichte  (Rollin  Couquerque),  Eintragungen  für  Limburg  (Prof.  Goossens). 
Im  Znsammenhang  mit  diesem  praktischen  Vorgehen,  dessen  Erfolg  wohl 
besonders  dem  Leiter  der  Zentralstelle  zu  danken  gewesen  ist,  steht  es  nun 
auch,  dafe  eine  Anregung,  die  ich  selbst  früher  einmal  gegeben  habe  (Deutsche 
Geschbl.  I,  S.  113^)9  in  Holland  zu  einem  greifbaren  Ergebnis  gefuhrt  hat, 
w^Üu-end  sie  in  Deutschland  bisher  Anregung  geblieben  ist.  Es  ist  nämlich 
ein  Heftchen  (Wenken  voor  het  bewerken  der  schetskaarten  voor  historisch- 
statistische liggers)  ausgegeben  worden,  das  Zeichen  für  die  Eintragungen  in 
Grundkarten  angibt :  Buchdruckereien,  Deiche,  Fabriken,  Grenzen,  Rittersitze, 
Kirchen,  Kirchtürme,  Klöster,  Mühlen,  Münzorte,  Märkte,  Siedelungen, 
Schulen,  Gelände,  Stadtrechte,  Festungen,  Zölle,  Wege  u.  a.,  alles  in  alpha- 
betischer Ordnung  angeführt.  Es  sind  gewifs  darin  viele  Zeichen  vor- 
geschlagen, die  brauchbar  und  gut  sind,  tmd  auch  in  Deutschland  wird  man 
diese  Arbeit  der  holländischen  Fachgenossen  mit  Nutzen  einsehen,  wenn 
man  eine  Anleitung  zur  Einzeichnung  in  Grundkarten  zu  haben  wünscht. 
Aber  von  Einzelheiten  abgesehen  —  z.  B.  das  Zeichen  für  Universität,  die 
Fackel  (die  wie  eine  Mohrrübe  aussieht !)  wird  sich  so  wenig  wie  die  Kerze 
der  Lateinschule  empfehlen  — ,  möchte  ich  gegen  die  Vorschläge  ganz  im 
allgemeinen  einwenden,  dafs  mir  die  Grenze  des  kartographisch  darstellbaren 
hier  nicht  eingehalten  zu  sein  scheint.  Zeichen  im  Kartenbild  müssen  ent- 
weder Elemente  enthalten,  die  das  Erinnerungsbild  dessen,  was  sie  bedeuten, 
anzuregen  vermögen  oder  sehr  leicht  imd  einfach  tmterscheidbar  sein.  Den 
Versuch,  die  Jahrhunderte  durch  kleine  Unterschiede  in  den  Zeichen,  noch 
dazu  durch  verschiedenerlei  bei  Kirchbauten,  Stadthäusern,  Märkten,  an- 
zudeuten oder  nun  gar  die  Unterschiede  von  vielen  Dutzenden  geistlicher 
Orden  mit  einer  Fülle  an  sich  nichtssagender  Formen  und  ergänzender  Ziffer- 
bezeichnung halte  ich  für  wenig  glücklich.  Ich  bin  der  Ansicht,  dais  man 
viel  mehr  mit  Farbenimterschieden  arbeiten  mufs  (so  bei  Wiedergabe  der 
Jahrhunderte)  und  auf  Zeichenunterschiede,  wenn  sie  zu  einem  so  kompli- 
zierten System  führen  wie  bei  den  geistlichen  Orden,  lieber  verzichten  solL 

In  Deutschland  sind  die  Versuche,  zu  einem  System  von  vereinbarten 
Zeichen  zu  kommen,  ztmächst  einmal  grundsätzlich  zurückgestellt  worden, 
und  ich  glaube,  für  unsere  Verhältnisse  mit  vollem  Recht  Man  hat  es  vor- 
gezogen, flir  diej^iigen  konkreten  Einzelaufgaben,  die  schon  jetzt  Verein- 
barungen erfordern,  wie  z.  B.  für  die  Funde,  auf  Grund  ausreichender  prak- 
tischer Erprobungen  ein  Einvernehmen  anzubahnen.    Vor  allem  aber  hat  die 


—     87     — 

ErörteruDg  der  wissenschaftlichen  Vorfragen  für  kritisch  einwandsfreie  Grund- 
kartenverweitung  und  überhaupt  fiir  die  Aufarbeitung  des  auf  die  Gemarkungen 
bezüglichen  Materials  eine  Zeitlang  im  Vordergrund  des  Interesses  gestanden 
und  naturgemäfs  rein  technische  Fragen,  wie  die  Zeichenvereinbarung, 
zurückgedrängt  Mag  die  so  eingetretene  Verzögerung  in  den  Fortschritten 
des  Grundkartenuntemehmens  in  mancher  Hinsicht  ab  unliebsam  empfunden 
werden:  ich  meine,  sie  ist  mit  der  erreichten  Klärung  und  Vertiefung  der 
Probleme  historischer  Kartographie  in  Deutschland  nicht  zu  teuer  erkauft. 

Leipzig.  R.  Kötzschke. 

Kommissionen.  —  Die  Württembergische  Kommission  für 
Landesgeschichte  hielt  am  i.  Mai  1903  ihre  zwölfte  Sitzung  ^)  zu  Stutt- 
gart ab.  Von  der  Korrespondenz  des  Herzogs  Christoph  bt  der  dritte 
Band  im  Druck  vollendet;  der  Bearbeiter,  Dr.  Ernst,  scheidet  zwar  aus 
dem  Dienste  der  Kommission,  wird  aber  seine  Arbeit  fortsetzen.  Von  den 
Oeschichilichefi  Liedern  und  Sprüchen  aus  Württemberg  liegt  das  vierte  Heft 
vor,  das  vom  Beginn  des  XVU.  bis  zur  Mitte  des  XVIÜ.  Jahrhunderts  reicht. 
Von  der  Haller  Chronik  des  G.  Widmann,  deren  Ausgabe  Prof.  Ko  1  b  besorgt, 
liegen  6  Bogen  gedruckt  vor.  Von  den  im  vorigen  Jahre  geplanten  Unter- 
nehmungen ist  die  Fortsetzung  der  Bibliographie  der  Württembergischen  Oe- 
schichte  endgültig  beschlossen  worden;  die  Bearbeitung  übernimmt  Th.  Schön. 
Die  Herausgabe  der  Tübinger  Matrikeln  übernimmt  unter  Leitung  von  Prof. 
Busch  Dr.  Hermelink.  Die  Veröffentiichung  der  Ulm  er  Geschichtsquellen 
wird  durch  die  Herausgabe  des  Roten  Buchs,  die  Dr.  Mo  11  wo  besorgt,  er- 
öffnet; die  Herausgabe  der  Rechnungen  übernimmt  Dr.  KöUe.  Über  die 
Grundsätze  für  die  Ausgabe  der  Weistümer  und  Dorfordnungen  ist  Einigkeit 
erzielt  worden,  die  Geschichte  der  Behärdenorganisation  in  Württemberg  von 
Win tt erlin  wird  fortgesetzt  und  für  die  Bearbeitung  des  zweiten  Bandes 
des  Eßlinger  Urkundenbuchs  hat  die  Stadt  Efslingen  einen  Posten  in  ihren 
Haushalt  einzustellen  versprochen.  Andere  der  früher  besprochenen  Arbeiten 
(Landtagsakten,  Weingartner  Missivbücher)  müssen  vorläufig  noch  zurück- 
gestellt werden,  aber  wieder  sind  neue  Wünsche  ausgesprochen  worden,  so 
Urkundenbücher  der  klemeren  Reichsstädte,  Geschichte  der  Bettelklöster  in 
den  Reichsstädten,  Württembergische  Kulturgeschichte  von  der  Zeit  Herzog 
Christophs  bis  zum  Ende  Johann  Friedrichs,  Geschichte  der  Gnmdentlastung 
in  Württemberg  mit  besonderer  Berücksichtigung  der  Vorgänge  des  Jahres  1848. 
Letztere  Arbeit  soll  als  Preisarbeit  ausgeschrieben  werden.  Die  unter  Leitung 
von  sechs  Kreispflegem  durch  einheimische  Kräfte  besorgte  Inventarisation 
der  kleineren  Archive  schreitet  rüstig  fort  imd  ist  schon  in  manchem  Be- 
zirke ganz  vollendet. 

Als  ordentliche  Mitglieder  sind  durch  königliche  Ernennung  in  die 
Konmiission  eingetreten  Prof.  v.  Funk,  Prof.  Riet  sc  hei,  Rektor  Knapp, 
Prof.  Müller,  Prof.  Günter  in  Tübingen,  sowie  Prof.  Sixt  in  Stuttgart; 
zu  aufserordentlichen  Mitgliedern  wurden  gewählt  Amtsrichter  a.  D.  Beck 
(Ravensburg),  Archivassessor  Kr  aufs   und  Privatdozent  Marx  in  Stuttgart. 


i)  Über  den  Bericht  von  1902  vgl.  diese  ZeiUchrift  4.  Bd.,  S.  iio. 


—     88     — 

Das  Rechnungsjahr  1902  schlofs  mit  einem  Überschufs  von  6483  Mk.,  der 
der  Ausgabe  von  10827  Mk.  an  Einnahmen  17309  Mk.  gegenüberstanden. 

Die  Historische  Kommission  bei  der  kgl.  Bayerischen 
Akademie  der  Wissenschaften  hielt  am  3.  bis  5.  Juni  1903  ihre 
44.  Plenarversammlung  ^)  ab.  Neu  ausgegeben  wurde  im  Berichtsjahre: 
Jahrbücher  des  Deutschen  Reiches  unter  Otto  FL.  und  Otto  UL  i.  Bd.  (Leipzig 
1902],  in  dem  Uhlirz  Otto  II.  behandelt;  femer  von  den  Jahrbüchern 
unter  Heinrich  IV.  und  Heinrich  V.  der  4.  Bd.  (Leipzig  1903),  in  dem 
Meyer  von  Knonau  die  Geschichte  der  Jahre  1085 — 1096  darstellt; 
Chroniken  der  deutschen  Städte  28  Bd.  (Leipzig  1903),  worin  Kopp  mann 
den  3.  Band  der  Lübecker  Chroniken  veröffentlicht;  Quellen  und  Erörte- 
rungen 9Mr  bayerischen  und  deutschen  Geschichte,  Neue  Folge  i.  Bd.:  Andreas 
von  Eegensburg,  sämtliche  Werke,  herausgegeben  von  Leidinger  (München 
1903);  von  der  Allgemeinen  Deutschen  Biographie  ist  der  47.  Bd.  und  vom 
48.  die  erste  Lieferung  (Leipzig  1903)  erschienen.  Alle  begonnenen  Unter- 
nehmungen sind  rüstig  fortgeschritten.  Über  die  Ausdehnimg  der  Städte- 
chroniken wird  erst  nach  Gewinnung  eines  neuen  Redakteurs  Beschlufs  ge- 
fafst  werden.  Da  alle  Mittel  der  Kommission  festgelegt  sind,  konote  die 
Inangriffnahme  neuer  Veröffentlichimgen  nicht  beschlossen  werden. 

Zu  ordentlichen  Mitgliedern  wurden  neu  ernannt  Prof.  v.  Below 
(Tübingen),  Geh.  Rat  Hauck  (Leipzig),  Geh.  Rat  Brentano  (München) 
imd  zu  aufserordentlichen  Privatdozent  Beckmann  (München)  imd  Dr.  Herre 
(München). 

Die  22.  Plenarversammlung  der  Badischen  Historischen  Kom- 
mission fand  am  6.  imd  7.  November  1903  in  Karlsruhe  statt  ^).  Im 
Berichtsjahr  erschienen  ist  der  erste  Halbband  des  Topographischen  Wörter- 
buchs in  zweiter  Auflage,  vom  Oberbadischen  Oeschlechterbuch  die  fünfte 
Lieferung,  als  Neujahrsblatt  für  1903  Finke:  Bilder  vom  Eonstanzer  Konzil. 
Die  Inventarisierung  der  Gemeinde-  und  Pfarrarchive  ist  in  den  meisten  Be- 
zirken vollendet,  die  der  gnmdherrlichen  Archive  ist  in  gutem  Fortgang  be- 
griffen, wie  die  grolse  Mehrzahl  der  übrigen  Veröffentlichungen.  Gemäfs 
eines  im  Vorjahre  gestellten  Antrages  wurde  beschlossen,  für  die  Bearbeitung 
einer  Münz-  und  Oeldgeschichte  der  im  Groftherzogtum  Baden  vereinigten 
Territorien  einen  eingehenden  Arbeitsplan  ausarbeiten  zu  lassen ;  femer  wird 
Karl  Rieder  Römische  Quellen  zur  Konstanzer  Bischofsgeschichte  ver- 
öffentlichen, und  Archivrat  Obser  wird  die  Herausgabe  der  Denkwürdigkeiten 
des  Markgrafen  Wilhelm  von  Baden  besorgen. 

Infolge  seiner  Berufung  nach  Berlin  ist  Geh.  Rat  Schäfer  aus  der 
Kommission  ausgeschieden. 

Geschieht! iche  Ortsbesehreibang.  —  Das  Wesen  der  geschicht- 
lichen Landesbeschreibung,  mag  sie  als  eine  Sammlung  von  Orts- 
geschichten in  lexikalischer  Form  oder  als  eine  systematische  Darstellung 
erscheinen  oder  beides  verbinden,  ist  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  hinreichend 

i)  Über  die  43.  Versamrolnog  vgl.  4.  Bd.,  S.  140— 141. 

2)  Über  die  Tagung  1902  vgl  diese  Zeitschrift  4.  Bd.,  S.  141. 


—     89     — 

bekannt ').     Wie  dort  für  eine  Landschaft,  so  läfst  sich  auch  für  einen  Ort 
das  Ergebnis  der  historischen  Forschung  auf  topographischer  Grundlage 
zusammenstellen,  und  dann  haben  wir  die  geschichtliche  Ortsbeschrei- 
bung.   Ansätze  dazu  finden  sich  in  jeder  Stadtgeschichte,  da  es  ja  bei  einer 
solchen  in  erster  Linie  immer  darauf  ankonunt,  den  Schauplatz  genauer  zu  unter- 
suchen,   den  jeweiligen  Umfang   der   Stadt  und   etwaige    Stadterweiterungen 
festzustellen;  und  im  weiteren  Verlauf  der  Darstellung  gibt  es  tausend  Gelegen- 
heiten, wo  eine  in  den  Quellen  genannte  örtlichkeit  näher  bestimmt  werden 
mufs.     In  manchen  Städten  hat  man  auch  Häuserchroniken  angelegt,   wenn 
sie  als  Ganzes  wohl  auch  noch  nirgends  veröffentlicht  worden  sind.    In  den 
bezeichneten  Richtungen  ist  man  nun  in  Freiburg  i.  B.  zu  systematischer 
Arbeit  fortgeschritten,   und  es  liegt  jetzt   die   GesckiehÜiche  Ortsbeschreibung 
der  Stadt  Freiburg  im  Breisgau  in  zwei  Bänden  (Freiburg  i.  B.,  Fr.  Wagner, 
1891  und  1903,    170  und  417  S.)  vor.     Als  zweiter  und   vierter  Teil   der 
Veröffentlichufigen  aus   dem  Archiv  der  Stadt  Freiburg   im   Breisgau  ^)   ist 
die  Arbeit  erschienen,  die  Bearbeitung  des  ersten  hat  der  frühere  Stadtarchivar 
A.  Poinsignon,  die  des  zweiten  der  jetzige,  P.  P.  Albert,  geleitet;  die 
endgiltige  Gestalt  hat  dem  zweiten  Bande  unter  Benutzung  der  Arbeiten  von 
Korth   und   Karteb   Hermann   Flamm   gegeben.      In    dem    ersten  Teile 
werden  S.   i — 34  die  Bauperioden   beschrieben,   S.  35 — 55    der  Stadtbann 
und   zwei  vormals   dörfliche  Gemarkungen,    femer    S.  56  —  72    die  Wasser- 
versorgungsanstalten, S.  73 — 74  die  Friedhöfe   imd   schliefslich   die  Strafsen 
und  Plätze  in  alphabetischer  Ordnung.    In  der  letzten  Abteilung  sind  jetzige 
tmd  ehemalige  Strafsennamen  aufgeführt,  der  Name  wird  sachlich  erklärt  und 
die  Dauer  seines  Gebrauches  festgestellt;    das   ist   für   den  Forscher   in  der 
Freiburger  Geschichte  natürlich   ein   ganz   vorzügliches   Hilfsmittel.     Wir    er- 
fahren  z.  B.,    dafs   die  Kaiserstrafse   seit   einem   Besuche  Kaiser  Josephs  IL 
1777    ihren  Namen   trägt,   als   auch   der  Gasthof  „Zum  Storchen",    wo  er 
wohnte,    in   „Römischer  Kaiser"   umgetauft   wurde.      Die   neue  Münzgasse 
ist  benannt  nach  dem  städtischen  Münzhaus,  das  1567  dorthin  verlegt  wurde ; 
der  Rottecksplatz   ist    1865    angelegt  und   nach    dem   bekannten   Historiker 
benannt.     Von  allgemeinem  Interesse   ist  die  Geschichte  der  Friedhöfe  und 
der  Wasserversorgung:  die  Verlegung  des  ersteren  aufserhalb  der  Stadt  ist  15 14 
von  Maximilian  angeordnet  worden;   1333  bereits  existieren  Leitungen,  die  den 
Brunnen  Wasser  zufuhren.      Wie   anderwärts   werden    auch    hier    1349    die 
Juden    der  Brunnenvergifhmg  beschuldigt,   und  der   angestellte    Prozefs   gibt 
nähere  Auskunft   auch    über    die  Brunnen,    wenn    auch    gerade    das    inter- 
essanteste,  die  Stelle,  von  wo  das  Wasser  bezogen  wird,  unbekannt  bleibt 
Die  Brunnenmeister  werden  wiederholt  vom  Rate   nach    auswärts   verliehen, 
so  schon  1407  nach  Basel;   1501  werden  die  bis  dahin  verwendeten  Holz- 
röhren teilwebe  durch  irdene  verdrängt;    1535    werden   20   öffentliche   und 
II  private  Brunnen  gezählt.     Wir  haben  hier  ein  schönes  Material  vor  uns, 
das  zum  Vergleich  mit  anderen  Städten  •)  reizt:    es  wäre  eine   schöne  Auf- 

1)  Vgl.  den  Aufsatz  von  Vancsa  im  3.  Bd.,  S.  97—109  und  129—137  sowie  die 
Ergänzung  von  demselben  im  4.  Bde.,  S.  186 — 188. 

2)  Über  Teil  i  und  3  dieser  Veröffentlichung  vgl.  3.  Bd.,  S.  23/24. 

3)  Über  Dresden   gibt    das   Material  Richter,   VerwaUungageschichie   der  Stadt 
Dresden  i.  Abteilung  (Dresden  1891),  S.  209. 


—     90     — 

gäbe  einmal  für  wenigstens  20  Städte  die  Wasserversorgung  bis  ia 
das  XVI.  Jahrhundert  darzustellen. 

Der  zweite  Band  übermittelt  uns  den  Hänserbestand  von  1400  bis  1806, 
und  zwar  mit  unendlichem  Fleifse  aus  den  verschiedensten  Archivalien  zu- 
sammengetragen:  am  wichtigsten  sind  die  Grundbücher  (FertigungsprotokoU^ 
und  die  Herrschaftsrechtsbücher  d.  h.  6kt  Verzeichnisse  der  von  den  Häusern 
an  den  Stadtherren  zu  entrichtenden  Abgaben;  daneben  ist  die  1565  erst 
diu-chgefiihrte  Häuserbenennung  durch  Namen  von  Wichtigkeit,  die  1770 
durch  die  Numerienmg  abgelöst  wird.  Auch  das  ist  eine  für  die  Anschau- 
ungsweise der  Zeiten  wichtige  Frage,  die  vergleichende  Behandlung  verdient: 
werden  die  Häuser  nach  ihren  Besitzern  bezw.  örtlichen  Eigentümlichkeiten 
mit  Namen  oder  mit  Nummern  bezeichnet  und  wann  treten  in  verschiedenen 
Städten  Änderungen  ein?  Der  Hauptteil  bietet  dann  die  Strafsen  in  alpha- 
betischer Folge  wie  im  modernen  Adrefsbuch,  imd  innerhalb  der  Strafse 
wird  von  Haus  zu  Haus  fortschreitend  der  alte  Name  (in  Fettdruck)  ange- 
führt, und  darauf  folgen  die  l^amen  der  bekannten  Besitzer  mit  den  Jahres- 
zahlen, sowie  bei  den  den  Herrschafbrechtsbüchem  entnommenen  Angaben 
die  Beträge  der  auf  jedem  Hause  lastenden  Steuer.  Zwei  Register  über  die 
Häusemamen  sowie  Orts-  und  Personennamen  (S.  294 — 417)  schliefsen  das 
Buch  ab  und  machen  es  fUr  den  Geschichtsforscher  der  Stadt  in  ausgiebigster 
Weise  nutzbar.  Dem  ersten  Bande  sind  zwei  Stadtpläne  von  1589  und 
1744,  dem  zweiten  einer  von   1685  in  vorzügücher  Ausführung  beigegeben. 

Für  den  Humor  in  der  Häuserbenennimg  liegt  ein  reiches  Material  vor, 
was  gewifs  auch  für  die  Personennamenforschung  Beachtung  verdient;  einige 
heute  komisch  wirkende  Bezeichnungen  sind  z.  B. :  Zum  Affentanz ,  Zum 
schwarzen  Bauer,  Zum  Kuhschwanz,  Zur  grofsen  Geige,  Zum  kalten  Licht, 
Zur  geilen  Nonne,  Zum  faulen  Pelz,  Zur  blauen  Sau,  Zum  roten  oder  schwarzen 
Stiefel,  Zmn  gelben  Zopf. 

Personalien.  —  Am  17.  Juli  1903  starb  in  Wien  Engelbert  Mühl- 
bacher. Der  äufsere  Rahmen  seines  reichen  Lebens  ist  rasch  gegeben. 
Am  4.  Oktober  1843  ^^  Gresten  geboren,  trat  er  1866  in  das  Augustincr- 
Chorherrenstift  Hl.  Florian  ein,  studierte  1872 — 1874  als  Schüler  Fickers  in 
Innsbruck,  wo  er  mit  einer  Dissertation  über  <§e  streitige  Papstwahl  von  1 1 30 
den  Doktorgrad  erlangte,  dann  1874 — 1876  als  Schüler  Sickels  am  Institut 
für  österreichische  Geschichtsforschung  zu  Wien,  habilitierte  sich  1878  für 
historische  Hilfswissenschaften  in  Innsbruck  und  wirkte  von  1881  als  aufser- 
ordentlicher,  von  1896  als  ordentlicher  Professor  und  Vorstand  des  Institutes 
für  österreichische  Geschichtsforschung  an  der  Universität  Wien.  1885  wurde 
er  korrespondierendes,  1891  wirkliches  Mitglied  der  Wiener  Akademie,  die 
er  vom  gleichen  Jahr  an  mit  Luschin  v.  Ebengreuth  (Graz)  in  der  Zentral- 
direktion der  Monumenta  Germaniae  vertrat,  1896  korrespondierendes  Mit- 
glied der  Münchener  historischen  Kommbsion,  1903  Ehrendoktor  der  juris- 
tischen Fakultät  von  Bern. 

Mühlbacher  ist  einer  warmen  Würdigung  gerade  in  den  Deutschen 
Geschichtsblättem  wert,  deren  besondere  Ziele  sich  Seines  Verständnisses  und 
seiner  Mitwirkung  erfreuten.     Seine  Erstlingsarbeiten  *)  galten  der  Geschichte 

I)  Zur   ältesten  Kirchengeschickte   des  Landes  ob   der  Enns  und   Zur  KriUk 


—     91     — 

einer  deutschen  Landschaft,  seiner  engeren  Heimat  Oberösterreich.  AUen 
deutschen  Landschaften  aber  —  mit  Ausschluis  etwa  des  ostelbischen  Neu- 
landes, also  allen  altdeutschen  Landschaften  — ^  brachten  seine  Werke  reiche 
Förderung  ihrer  Geschichte.  Denn  wie  die  innere  Entwickelung  dieser  Ge- 
biete in  Wirtschaft,  Recht  und  Verfassung  von  gemeinsamer  karolingischer 
Grundlage  ausging,  so  knüpft  ihre  Geschichte  allüberall  an  die  der  karolin- 
gischen  Zeit  an.  Und  diese  dankt  in  den  letzten  Jahrzehnten  niemandem 
mehr  als  Mühlbacher  und  seinen  drei  Hauptwerken,  den  Karolinger- 
regesten, der  Deutschen  Geschichte  unter  den  Karolingern  und  seiner  Aus- 
gabe der  Karolingerdiplome. 

Die  Palme  gebührt  dem  ersten  dieser  drei  Werke,  den  Regesten  *).  In 
ihnen  hat  Mühlbacher  die  kritischen  Errungenschaften,  die  das  diplo- 
matische Genie  Sickels  in  den  Acta  regum  et  imperatorum  Karolmormn  der 
Wissenschaft  schenkte,  in  selbständig  nachschafifender  Arbeit  unter  Heran- 
ziehung des  ganzen  nichturkundlichen  Quellenstoffes  in  unmittelbare  his- 
torische Erkenntnis  umgeprägt,  in  eine  Fülle  einzelner  geschichtlicher  Er- 
gebnisse ausgemünzt.  In  staunenswerter  Bewältigung  der  gesamten  ein- 
schlägigen Literatur  hat  er  alle  wissenschaftlichen,  insbesondere  alle  rechts- 
geschichtlichen Ergebnisse,  unter  denen  er  namentlich  die  Brunners  hoch 
bewertete,  der  landschaftlichen  Einzelforschung  vermittelt.  Für  die  ganze 
Folge  der  Neubearbeitungen  von  Böhmers  Regesta  Imperii,  wie  auch  für 
die  ganze  jüngere  Regestenliteratur,  deren  grundlegende  Bedeutung  für  die 
Landeskunde  immer  deutlicher  erkannt  wird^  sind  Mühlbachers  Regesten 
das  unbestrittene  Vorbild  geworden. 

Seine  Deutsche  Geschickte  unter  den  Karolingern  (Bd.  II  der  Bibliodiek 
deutscher  Geschichte  1896)  beruht  auf  erschöpfender  Verwertung  des  für 
die  Regesten  kritisch  durchgearbeiteten  Quellenmateriales  und  darf  als  Muster- 
leistung gelten,  wenn  man  an  ein  darstellendes  Werk  zwei  Forderungen  stellt : 
aus  den  Quellen  Alles  zu  gewinnen,  was  in  ihnen  enthalten,  und  Nichts, 
was  in  ihnen  nicht  enthalten  ist.  Mit  Erfüllung  der  zweiten  dieser  Forde- 
rungen war  eine  gewisse  Zurückhaltung  gegen  die  heute  beliebten  „grofsen 
Zusammenhänge",  namentlich  der  „zuständlichen"  Welt  gegeben,  die  man 
bemängelt  hat.  Man  wird  vielleicht  anders  darüber  urteÜen,  wenn  einmal 
der  sich  von  verschiedenen  Seiten  vorbereitende  Umsturz  in  unseren  An- 
schauungen über  die  fränkische  Rechts-  und  Wirtschaftsgeschichte  vollzogen 
sein  wird.  Und  dann  —  das  Zurücktreten  der  zuständlichen  Faktoren  vor 
der  oft  sehr  subjektiven  psychologischen  Vertiefung  in  die  handelnden  Persön- 
lichkeiten mag  immerhin  als  Einseitigkeit  gelten.  Aber  das  Persönliche  in 
der  Geschichte  kongenial  zu  empfinden  und  empfinden  zu  lehren,  das  bleibt 
das  hHlsame  Vorrecht  kräftiger  und  ursprünglicher  Persönlichkeiten,  wie  es 
Mühlbacher  als  Forscher  wie  als  Lehrer  war. 

Die   Ausgabe   der  KLarolingerdiplome   für   die  Monumenta  Germaniae  ^) 

der  Legenden   des    HL  Florian   beides   in   Bd.    21    (1868)   der   [LinzerJ  Theol.-prakt 
Qoartalschritt. 

1)  Die  Regesten  des  Kaiserreiches  anter  den  Karolingern  751 — 918.  Nach  J.  Fr. 
Böhmer  neu  bearbeitet  von  Engelbert  Mühlbacher.  L  1880  — 1889.  I.  i  in  2.  Aafl , 
1899.  I.  2  bis  aaf  die  Register  vollendet  wird  bald  erscheinen.  Ftir  den  II.  Teil,  der 
die  aoiserdeotschen  Karolingfer  zu  omfassen  hätte,  hat  MUhlbacher  seit  Jahren  gesammelt. 

2)  Mon.  Germ.  Diplomaia  Karolmarum  I.     Der  die  Urkunden  Karls  des  Greisen 


—     92     — 

vollendet,  was  die  Regesten  begonnen  haben  und  läfst  erkennen,  was  Mühl- 
bachers Bedeutung  für  die  Urkundenlehre  ausmacht.  Mühlbacher  durfte  den 
Druck  der  Beiträge  xur  ürkundenlehre  seines  Lehrers  Ficker  als  erster 
Leser  begleiten;  er  ist  aber  zugleich  der  älteste  und  bedeutendste  Diplo- 
matiker  aus  der  Schule  Sickels.  So  vollzog  sich  in  seinen  Regesten  und 
seiner  Lehrtätigkeit  zuerst  die  Synthese  der  beiden  Hauptrichtungen  diplo- 
matischer Forschung,  —  jene  Synthese,  um  die  sich  insbesondere  die  durch 
das  Institut  für  österreichische  Geschichtsforschung  hindurchgegangenen  Schüler 
Fickers  verdient  gemacht  haben  und  die  durch  das  lehrende  Wort  Mühl- 
bachers als  lebendige  Tradition  weitergegeben  worden  ist.  Mit  Freude 
hat  er  im  Vorwort  zur  2.  Auflage  der  Regesten  auf  die  stattliche  Reihe 
diplomatischer  Arbeiten  seiner  Mitarbeiter  hingewiesen,  die  bis  damals  im 
Zusammenhang  mit  seiner  Ausgabe  entstanden  waren  und  die  den  Weg 
wandeln,  den  er  in  den  Regesten  und  sonst  gewiesen:  die  Vereinigung 
spezial  -  diplomatischer  Methode  und  allgemein-historischer  Kritik  des  inhalt- 
lichen. Wie  sehr  Mühlbacher  die  Diplomatik  vom  Speziellen  zum  Uni- 
versellen zu  führen  trachtete,  lehrt  auch  sein  Aufsatz  Papsiurkunde  und 
Kaiserurkunde  (Mitteil.  d.  Instit.  Erg.-Bd.  IV,  1893),  das  Juwel  unter  seinen 
kleineren  diplomatischen  Arbeiten.  Trotz  mancher  ßerichtigtmg  im  einzelnen 
wird  diese  Studie  ihre  Bedeutung  als  ein  erster  Versuch  vergleichender  Diplo- 
matik stets  behalten. 

Aber  nicht  nur  als  Forscher  und  Lehrer,  auch  als  Leiter  und  Organi- 
sator wissenschaftlicher  Arbeit  war  Mühlbacher  hervorragend  tätig.  In  Öster- 
reich, dessen  erste  historische  Zeitschrift,  die  Mitteilungen  des  Institutes  für 
österreichische  Geschichtsforschung,  er  von  Anbeginn  (1879)  redigierte,  hatte 
er  als  Obmann  der  historischen  Kommission  der  Akademie,  als  Mitglied  des 
Archivrates,  als  Geschäftsleiter  der  Kommission  fhr  neuere  Geschichte  Öster- 
reichs in  den  letzten  Jahren  die  Leitung  der  wichtigsten  historischen  Ar- 
beiten in  Händen.  Nur  imi  die  Sache  der  Wissenschaft  war  es  ihm  dabei 
zu  tun.  So  wenig  er  aber  jemals  für  sich  einen  äufseren  Erfolg  als  Lohn 
dieser  Mühe  angestrebt  hat,  so  gut  wufste  er  die  Förderung  sachlicher  In- 
teressen mit  warmer  Fürsorge  für  seine  Schüler  zu  verbinden.  Die  eigenen 
schweren  Anfänge  und  langjährige  unverdiente  Zurücksetzxmg  koimten  sein 
natürliches  Wohlwollen  wohl  mit  der  rauhen  Schale  der  Schroffheit  umgeben, 
nicht  aber  mindern  und  imterdrücken. 

Indes,  für  die  österreichischen  Historiker  war  Mühlbacher  nicht 
nur  der  Leiter  der  heimischen  Arbeit.  In  ihm  verkörperte  sich  ein  Teil 
unseres  Zusammenhanges  mit  dem  deutschen  Geistesleben.  Er  stand  an  der 
Spitze  der  Böhmerschen  Regesta  Imperii,  eines  den  ganzen  Bereich  deutscher 
Geschichte  umfassenden  Unternehmens ;  er  war  Vorstand  der  einzigen  in  Öster- 
reich befindlichen  Abteilung  der  Monumenta  Germaniae.  So  war  er  der 
Träger  jenes  Anteiles,  den  die  österreichische  Wissenschaft  an  diesem  letz- 
teo  grofsdeutschen  historischen  Unternehmen  beanspruchen  darf  und  mufs. 
Der  Verstorbene  selbst  hatte  —  er  war  ein  Schüler  Fickers  —  lebhaften 
Sinn    für    die   Notwendigkeit   ergänzenden   Zusanmienhaltens    der   Historiker 


umfassende,   seit  Jannar  1903   fertig   gedruckte   Band   wird  nach  Absclilufs   der  Register 
durch  die  Mitarbeiter  MUhlbachers  herausgegeben  werden. 


—     93     — 

aller  deutschen  Lande.  Diesem  Motiv  entsprang  seine  Mitwirkerschaft  an 
dieser  Zeitschrift  und  seine  Teilnahme  an  den  deutschen  Historikertagen, 
deren  nächster  (1904  zu  Salzburg)  unter  seinem  Vorsitz  hätte  stattfinden  sollen. 
Nun  hat  ihn  aus  all  seiner  mannigfaltigen  Wirksamkeit  ein  plötzlicher 
Tod  abberufen,  zu  früh  für  ihn  selbst,  der  erst  spät  an  den  verdienten  Platz 
gekommen  war  und  zu  früh  für  die  deutsche  Geschichtswissenschaft,  die 
noch  manche  reife  Frucht  seiner  tmgebrochenen  Arbeitskraft  erhofifen  durfte. 

Wien.  Harold  Steinacker. 

Eine  Lebensskizze  des  am  27.  Juni  1902  verstorbenen  Freiherm  Levin 
V.  Wintzingeroda-Knorr  gibt  Ferdinand  Wagner  in  den  Protokollen 
über  die  Sitzungen  des  Vereins  für  die  Geschichte  Oöttingens  im  elften  Ver" 
emsjahre  1902 — 1903 ^  S.  10  —  14.  Der  Verstorbene  war  am  17.  Januar  1830 
in  Adelsbom  auf  dem  Eichsfelde  geboren,  besuchte  die  Klosterschule  zu 
Rofsleben,  studierte  die  Rechte,  wiu-de  1857  Landrat  des  Kreises  Mtihl- 
hausen,  1872  Landarmendirektor  der  Provinz  Sachsen  in  Merseburg,  später 
als  Landesrat  Stellvertreter  des  Landesdirektors,  schied  1884  aus  Gesundheits- 
rücksichten aus  dem  Dienste  der  Provinz  und  lebte  auf  seinem  Stammgut 
Wehnde,  zuletzt  in  Göttingen.  Als  Geschichtsforscher  ist  der  Verwaltungs- 
beamte zuerst  mit  den  Schriften,  Die  Kämpfe  und  Leiden  der  Evangelischen 
auf  dem  Eichsfelde  während  dreier  Jahrhunderte:  i.  Heft:  Jieforniation 
und  Gegenreformation  bis  xu  dem  Tode  des  Kurfürsten  Daniel  von  Mainz 
(21.  März  1582);  2.  Heft:  Die  Vollendung  der  Gegenreformation  und  die 
Behandlung  der  EvangeliscJien  seit  der  Beendigung  des  drei fsig jährigen 
Krieges  [=  Schriften  des  Vereins  für  Reformationsgeschichte  Nr.  36  und 
42.  Halle,  Niemeyer,  1892  und  1893]  hervorgetreten,  und  dieser  Gegen- 
stand lag  ihm  besonders  nahe,  da  die  Wintzingeroda  neben  den  Hanstein 
die  einzige  adlige  Familie  des  Eichsfeldes  gewesen  sind,  deren  Hintersassen 
den  evangelischen  Glauben  bewahren  konnten  und  im  Westfälischen  Frieden 
gewährleistet  erhielten.  Lange  aber  hatte  er  schon  an  dem  Verzeichnis  der 
Wüstungen  in  den  Eichsfeldischen  Kreisen  Heiligenstadt,  Worbis,  Duder- 
stadt und  Mühlhausen  gesammelt,  wenn  er  auch  erst  während  der  letzten 
Jahre  in  Göttingen  die  Bearbeitung  dieses  Werkes,  das  die  Historische  Kom- 
mission für  Sachsen-Anhalt  herausgegeben  hat,  abschliefsen  konnte.  Seine 
Fertigstellung  im  Druck  hat  er  freilich  nicht  mehr  erlebt,  aber  es  ist  eine 
bedeutende  Forscherleistung,  über  die  in  gröfserem  Zusammenhange  bald  in 
dieser  Zeitschrift  ausführlich  die  Rede  sein  wird. 

Eingegangene  Bücher. 

Bächtold,  C.  A. :  Die  Schaffhauser  Wiedertäufer  in  der  Reformationszeit 
[=  Beiträge  zur  Vaterländischen  Geschichte,  herausgegeben  vom  Historisch- 
antiquarischen Verein  des  Kantons  SchafThausen.  7.  Heft  (1900),  S.  71 
bis  118]. 

Bericht  des  Provinzial-Konservators  der  Kimstdenkmäler  der  Provinz  Schle- 
sien über  die  Tätigkeit  vom  i.  Januar  1900  bis  31.  Dezember  1902, 
erstattet  an  die  Provinzial-Konmiission  zur  Erhaltung  und  Erforschung 
der  Denkmäler  Schlesiens   \=  Veröffentlichungen  der  Provinzial-Kom- 


—     94     — 

mission    zur  Erhaltung   und  Erforschung   der   Denkmäler  der   Provinz 
Schlesien  IV].     Breslau,  Groft,  Barth  &  Co.  (W.  Friedrich).    53  S.  8*. 

Bittner,  Ludwig:  Die  Geschichte  der  dirdcten  Staatssteuem  im  Erzstifte 
Salzburg  bis  zur  Aufhebung  der  Landschaft  unter  Wolf  Dietrich.  I :  Die 
ordendichen  Steuern.     Wien,  Karl  Gerolds  Sohn,  1903.     83  S.  8^ 

Bon  dam,  A.  C:  Verslag  omtrent  oude  gemeente-en  waterschaps-archieven 
in  Noordbrabant,  uitgebracht  aan  de  Gedeputeerde  Staten  dier  provinde. 
's-Hertogenbosch,  Juni  1903.     19  S.  8®. 

Bruiningk,  H.  v. :  Der  Einflufs  der  Heiligenverehrung  auf  die  Wahl  der 
Taufnamen  in  Riga  im  Mittelalter  [=  Sitzungsberichte  der  Gesellschaft 
für  Geschichte  und  Altertumskunde  der  Ostseeprovinzen  Rufslands  aus 
dem  Jahre   1902  (Riga  1903).     S.   77 — 83]. 

Die  hl,  W. :  Beiträge  zur  Schulgeschichte  der  Herrschaft  Eppstein  [=  An- 
nalen  des  Vereins  fUr  Nassauische  Altertumskunde  und  Geschichtsforschung. 
33.  Bd.  (1902),  S.  42 — 61]. 

Führer  durch  die  Sammlung  des  Duisburger  Altertumsvereins,  im  Auftrage 
des  Vorstandes  herausgegeben.    Duisburg,  Joh.  Ewich,  1902.    in  S.  8®. 

Gutmann,  Karl:  Fränkische  Steinsärge  in  Bergholz  (mit  Abbildungen)  [=  Bul- 
letin du  musde  historique  de  Mulhouse.    XXVI.  annde  (1902).  S.  5 — 16]. 

Häne,  Johannes:  Das  Familienbuch  zweier  rheintalischer  Amtmänner  des 
XV.  und  XVI.  Jahrhunderts  (Hans  Vogler,  der  Reformator  des  Rhein- 
tals) [=  Jahrbuch  für  Schweizerische  Geschichte,  herausgegeben  auf 
Veranstaltung  der  allgemeinen  geschichtsforschenden  Gesellschaft  der 
Schweiz.     25.  Bd.  (Zürich   1900),  S.  43 — 80]. 

Heldmann,  August:  Die  Reichsherrschaft  Bretzenheim  a.  d.  Nahe,  ihre 
Inhaber  und  Prätendenten  [=  Antiquarisch-historischer  Verein  zu  Kreuz- 
nach, XVII.  Veröffentlichung].  Kreuznach,  Ferd.  Harrach,  1896.  70  S.  8". 

Jochumsen,  H. :  Referat  über  den  am  9.  Juli  1902  im  Dom  zu  Riga 
gemachten  Münzfund  [=  Sitzimgsberichte  der  Gesellschaft  für  Geschichte 
und  Altertumskunde  der  Ostseeprovinzen  Rufslands  aus  dem  Jahre  1902 
(Riga  1903),  S.  93—99]. 

Keufsler,  Friedrich  v. :  Die  Deeters'sche  Familienchronik  [=  Sitzungsberichte 
der  Gesellschaft  für  Geschichte  und  Altertumskunde  der  Ostseeprovinzen 
Rufslands  aus  dem  Jahre  1902   (Riga  1903),  S.  46 — 48]. 

Knaflitsch:  Einiges  über  die  schauspielernde  Tätigkeit  der  Troppauer 
Ordensleute  [=  Zeitschrift  des  Deutschen  Vereines  für  die  Geschichte 
Mährens  und  Schlesiens.     6.  Jahrgang  (Brünn   1902),  S.  301 — 311]. 

Kranz,  G. :  Der  dreifsigjährige  Streit  um  den  Brehm  zwischen  Stift  und 
Stadt  Werden  von  1618  bis  1648  [=  Beiträge  zur  Geschichte  des  Stiftes 
Werden,  herausgegeben  von  dem  Historischen  Verein  für  das  Gebiet 
des  ehemaligen  Stiftes  Werden.     8.  Heft  (1901),  S.   152 — 175]. 

Lang,  Robert:  Der  Kanton  Schaff  hausen  im  Revolutionsjahre  1798 
[=  12.  Neujahrsblatt  des  Historisch  -  antiquarischen  Vereins  tmd  des 
Ktmstvereins  der  Stadt  Schaffhausen.      1903.     S.   i — 49]. 

Mannhardt,  Emil:  Deutsches  Blut  in  den  Vereinigten  Staaten  und  in  Illinois 
im  XIX.  Jahrhundert  [«>  Deutsch-amerikanische  Geschichtsblätter,  Viertel- 
jahrsschrift, herausgegeben  von  der  deutsch-amerikanischen  Historischen 
Gesellschaft  von  lUinois.     3.  Jahrgang  (1903),  3.  Heft,  S.   12 — 31]. 


—   %   — 

Obst,  Emil:  Dritter  Bericht  über  die  städtische  SammloDg  zu  Bitterfeld  für 
Heimatskunde  mid  Geschichte  des  Kreises  Bitterfeld.  Bitterfeld  1903. 
36  S.  8<>. 

Otto,  F.:  Nassamsche  Studenten  auf  Universitäten  des  Mittelalters  [«■  An- 
nalen  des  Vereins  fiir  Nassauische  Altertumsktmde  und  Geschichtsforschung. 
33.  Bd.  (1902),  S.  62 — 98]. 

Pfau,  C. :  Festschrift  zum  Rochlitzer  Heimatsfest  vom  11.  bis  14.  Juli  1903. 
Rochlitz,  Bode,  1903.     60  S.  8**.     0,50  Mk. 

Eedienbuch  van  allem  empfcmgh  vnd  auj^geben  im  jar  1582,  Soester  Stadt- 
rechming,  herausgegeben  von  Vogeler  [=  Zeitschrift  des  Vereins  ftlr  die 
Geschichte  von  Soest  und  der  Börde.     18.  Heft  (1901),  S.   i — 126]. 

Reumont,  H. ;  Zur  Chronologie  der  Gorzer  Urkunden  aus  karolingischer 
Zeit  [=  Jahrbuch  der  Gesellschaft  für  lothringische  Geschichte  und 
Altertumskunde.     14.  Jahrgang  (1902),  S.  270 — 289]. 

Schmidt,  K.  Ed.:  Die  Tagebücher  des  Grafen  Ernst  Ahasverus  Heinrich 
von  Lehndorf  [=  Mitteilungen  der  Literarischen  GeseUschaft  Masovia. 
8.  Heft  (Lötzen  1902),  S.   119 — 176,  vi/erte  Fortsetzung]. 

Schramm -Wolfram-Keune:  Das  grofse  römische  Amphitheater  zu  Metz. 
[s=s  Jahrbuch  der  Gesellschaft  für  lothringische  Geschichte  und  Alter- 
tumskimde.     14.  Jahrgang  (1902),  S.  340 — 430]. 

Soldan,  W. :  Die  Niederkissimg  aus  der  Hallstattzeit  bei  Neuhäusel  im 
Westerwald,  Nachtrag  [=  Annalen  des  Vereins  ftir  Nassauische  Alter- 
tiunskunde  und  Geschichtsforschung.     33.  Bd.  (1902),  S.  35 — 41]. 

Stiglmayer,  Hans:  Ps^st  Liberius,  ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Arianis- 
mus.  Wien,  Verlag  des  Akademischen  Vereins  Deutscher  Historiker  ia 
Wien,  1900.     82  S.  8«. 

Unger:  Über  eine  Wiedertäuferhandschrift  des  XVIL  Jahrhonderts  [=  Jahr- 
buch der  GeseUschaft  für  die  Geschichte  des  Protestantisnms  in  Öster- 
reich.    20.  Jahrgang  (1899),  S.   193 — 208]. 

Waldburger,  Augast:  Rheinau  und  die  Reformation,  ein  Beitrag  zur 
schweizerischen  Reformationsgeschichte  [=  Jahrbuch  für  Schweizerische 
Geschichte,  herausgegeben  von  der  allgemeinen  geschichtsforschenden 
Gesellschaft  der  Schweiz.     25.  Bd.  (Zürich  1900),  S.  81 — 360]. 

Wiepen,  Eduard:  Palmsonntagsprozession  und  Palmesel,  eine  kultur-  und 
kunstgeschichtlich-volkskündliche  Abhandlung  zum  Köhier  Palmesel  der 
kunsthistorischen  Ausstellung  zu  Düsseldorf  1902  (Sammlung  Schnütgen). 
Bonn,  P.  Hanstein>  1903.     58  S.  8<>. 

Bodewig,  R. :  Vorrömische  Dörfer  in  Braubach  und  Lahnstein  [=  Annalen 
des  Vereins  für  Nassauische  Altertumskunde  und  Geschichtsforschung. 
33.  Bd.  (1902),  S.  1—34]. 

Bruiningk,  H.  v.:  Ein  liturgisches  mittefcilterliches  Bronzebecken,  die  so- 
genannte Kaiser -Otto -Schale  im  Dommuseum  der  Gesellschaft  für  Ge- 
schichte und  Altertumskunde  der  Ostseeprovinzen  zu  Riga  (mit  2  Tafeln) 
[==  Sitzungsberichte  der  Gesellschaft  für  Geschichte  und  Altertumskunde 
der  Ostseeprovinzen  Ruislands  aus  dem  Jahre  1902  (Riga  1903), 
S.  108 — 149]. 
Hefs,  Ignaz:   Der  Grenzstreit  zwischen  Engelberg  und  Uri,  historisch-topo- 


—     96     — 

graphische  Studie  (mit  topographischer  Karte)  [=  Jahrbuch  für  Schweize- 
rische Geschichte,  herausgegeben  von  der  allgemeinen  geschichtsforschen- 
den  Gesellschaft  der  Schweiz.  25.  Bd.  (Zürich  1900),  S.  i — 42]. 
Lang,  Robert:  Die  Schicksale  des  Kantons  Schaffhausen  in  den  Jahren 
1802  und  1803  bis  zur  Mediation  [=  12.  Neujahrsblatt  des  Historisch- 
antiquarischen Vereins  und  des  Kunstvereins  der  Stadt  Schaffhausen  1903]. 

38  S.  4«^. 

Mettig,  C.:  Die  Gilde  der  Losträger  und  die  mit  ihr  verwandten  Ämter 
in  Riga  [=  Sitzungsberichte  der  Gesellschaft  ftir  Geschichte  und  Alter- 
tumskunde der  Ostseeprovinzen  Rufslands  aus  dem  Jahre  1902  (Riga  1903), 
S.  56—69]. 

Schiber,  Adolf:  Zur  deutschen  Siedlungsgeschichte  und  zur  Entwicklung 
ihrer  Kritik  in  den  letzten  Jahren  [=  Jahrbuch  der  Gesellschaft  ftir  loth- 
ringische Geschichte  und  Altertumskunde.  14.  Jahrgang  (1902),  S.  449 
bis  461]. 

Zösmair,  Josef:  Zur  ältesten  vergleichenden  Geschichts-  und  Landeskunde 
Tirols  und  Vorarlbergs  [=  Programm  des  k.  k.  Staatsgymnasiiuns  in 
Innsbruck   1902/ 1903].     Innsbruck,  Wagner,   1903.     38  S.  8^ 

E  i  c  h  h  o  1  z ,  P. :  Die  Burg  der  Erzbischöfe  von  Mainz  zu  Eltville  [=  Annalen 
für  Nassauische  Altertumskunde  und  Geschichtsforschung.  33.  Bd.  (1902), 
S.  99 — 146]. 

Mettig,  C.:  Über  die  silberne  Statuette  des  Ritters  St.  Georg  im  Silber- 
schatze der  Schwarzen  Häupter  zu  Riga  [=  Sitzungsberichte  der  Gesell- 
schaft für  Geschichte  und  Altertumskunde  der  Ostseeprovinzen  Rufslands 
aus  dem  Jahre  1902  (Riga  1903),  S.  84 — 86]. 

Schlosser,  Heinrich:  Das  abgegangene  Dorf  Trimlingen  im  eigentlichen 
Eichelthale  mit  einem  Rückblick  auf  die  übrigen  in  jener  Gegend  ver- 
schwundenen Orte  [=3  Bausteine  zur  Elsafs-Lothringischen  Geschichts- 
und Landesktmde,  VII.  Heft].     Zabem,  A.  Fuchs,  1903.     65  S.  8«. 

Erhard,  Otto:  Geschichte  von  Hohenaltheim  auf  Gnmd  archivalischer 
Studien  in  Einzelbildern  dargestellt  Erlangen,  Fr.  Junge,  1903.  1 16  S.  8^. 
Mk.   1,50. 

Tille,  Armin:  Aktenstücke  zur  Kurkölnischen  Stcucrgcschichte  [=  Bonner 
Jahrbücher  iio.  Heft  1903)  S.  214 — 242] 

Trauer,  Eduard:  Chronik  des  Dorfes  Marieney  i.  VogtL  bis  zur  Ein- 
führung der  Sächsischen  Landesverfassung.  Plauen  i.  V.,  A.  Kell,  1903. 
III  S.  80. 

Sorgen  fr  ey,  Theodor:  Chronik  der  Stadt  Neuhaldensleben.  Dritte,  der 
Neubearbeitung  zweite  Auflage.  Neuhaldensleben,  Ernst  Pflanz,  1902. 
293  S.  8®. 

Arens,  Franz:  Geschichte  des  Klosters  und  der  Schule  der  Congregatio 
B.  M.  V.  in  Essen  1652  — 1902  [=  Beiträge  zur  Geschichte  von  Stadt 
und  Stift  Essen  25.  Heft  (1903)   74  S.  8"]. 

Feldhaus,  Franz  M.:  Lexikon  der  Erfindungen  und  Entdeckungen  auf  den 
Gebieten  der  Naturwissenschaft  und  Technik  in  chronologischer  Über- 
sicht mit  Personen-  und  Sachregister.  Heidelberg,  Karl  Winter,  1904. 
144  S.  S^.     Mk.  4. 

Herausgeber  Dr.  Armin  Ulle  in  Leipzig. 
Druck  und  Verlag  von  Friedrich  Andreas  Perthes,  Aktiengesellschaft,  Gotha. 

Hierza  als  Beilage :   Prospekt   der  Verlagsbuchhandlang  R.  Oldenbonrg  in  Manchen  und 
Berlin,     betr.    Loser th,     Geschichte    des    späteren    Mittelalters    von    1197    bis    1493, 

u.  a.  Verlagswerke. 


Deutsche  Ceschichtsblätter 

Monatsschrift 


fur 


Förderung  der  landesgescMchtlichen  Forscbung 

V.  Band  Januar/Februar  1904  4-/5 .  Heft 


Staatliehes  Arehivweseti  in  Österreieh 

Von 
Karl  Giannoni  (Wien) 

Die  Redaktion  dieser  Zeitschrift  wünschte  dem  wissenschaftlichen 
Publikum  Deutschlands  eine  Übersicht  des  österreichischen  staatlichen 
Archivwesens  zu  geben,  die  in  Kürze  eine  Orientierung  über  dessen 
Oiganisation  und  über  den  Inhalt  der  einzelnen  Archive  bieten  sollte. 
Der  gewesene  Oberarchivar  der  Stadt  Wien,  jetzt  Professor  an  dm 
Universität  Graz,  K.  Uhlirz,  der  diese  Aufjgrabe  übernommen  hatte, 
wurde  durch  seine  Berufung  an  ihrer  Ausfuhrung  verhindert,  ersuchte 
mich  im  Einvernehmen  mit  der  Redaktion  an  seine  Stelle  zu  treten 
und  stellte  mir  in  dankenswerter  Weise  einige  Notizen,  die  er  gesammelt, 
zur  Verfügung. 

Es  kam  mir  bei  dieser  Arbeit  darauf  an,  vornehmlich  den  Zu- 
sammenhang der  Archive  mit  der  Behördenorganisation  zu 
betonen,  was  kaum  Sache  der  Archiv-Hand-  imd  -Adressbücher  (Bnrk- 
hardt,  Minerva)  sein  kann.  Immerhin  bieten  diese,  für  die  organi- 
sierten Archive  die  wichtigsten  Anhaltspunkte,  und  in  den  Archiven 
;selbst  erhält  der  fremde  Forscher  ja  fachkundigen  Rat.  Anders  steht 
es  aber  bezüglich  jener  staatlichen  Archivalien,  welche  nicht  archivarisch 
verwahrt  werden.  Bei  der  leider  gro&en  Anzahl  solcher  Bestände  bei 
den  verschiedensten  Behörden  in  Osterreich  schien  es  mir  um  so 
dringender  geboten,  die  Fundstellen  solcher  Archivalien  zu  nennen,  als 
es  bisher  hierfür  eine  Auskunftstelle  überhaupt  nicht  gibt,  und  es 
insbesondere  für  den  fremden  Forscher  kaum  möglich  ist,  sich  darin 
zurechtzufinden.  Ich  habe  daher  auch  eine  kurze  Übersicht  über 
4te  in  nichtstaatlichen  Archiven  und  die  in  keinerlei  Archiv  befind- 
liehen  staatlichen  Archivalien  zu  geben  versucht,  um  wenigstens  in 
allgemeinster  Art  einen  zusammenfassenden  Überblick  zu  vermitteln. 
Natürlich  haften  ihr  auch  zahlreiche  Mängel  an,  schon  infolge  der  un- 
.gleichmä&igen  Nachrichten,   die  mir  für  die  verschiedenen  Länder  .zu 

7 


—     98     — 

Gebote  standen.  VielCacb  unmöglich  wäre  mir  die  Arbeit  gewesen, 
ohne  die  gütigen  Auskünfte  zahkeicher  Archivare  und  Konservatoren 
der  k.  k.  Zentralkommission  für  Kunst-  und  historische  Denkmale,  denen 
allen  ich  hiermit  herzlichst  danke  ^). 

Es  ist  zunächst  nötig,  sich  kurz  über  den  Begriff  „Archiv**,  wie 
er  im  folgenden  verwendet  werden  soll,  zu  verständigen.  Ohne  hier 
irgendwie  in  eine  Erörtenmg  des  prinzipiellen  Wesensunterschiedes 
zwischen  Registratur  und  Archiv  einzugehen,  sei  nur  festgestellt,  dais 
als  „Archive**  nur  als  solche  organisierte,  von  den  Registraturen  völlig 
getrennte,  und  von  Fachleuten,  d.  h.  historisch  wissenschaftlich  ge- 
bildeten  Beamten  verwaltete  Amter  bezeichnet  werden  sollen;  im 
übrigen  wird  von  „Archivalien**  bei  Behörden  die  Rede  sein. 

Das  dualistische  Gefuge  der  Monarchie  bedingt  (seit  1867)  Be- 
hörden für  die  gemeinsame  Verwaltung  und  solche  für  die  jedes  Einzel- 
Staates.  Den  ersteren  unterstehen  die  Archive  jener  ehemaligen  Zen- 
tralstellen,  deren  Ingerenz  sich  auch  über  Ungarn  erstreckte.  Sie 
stehen  in  keinem  Zusammenhange  und  werden  einzeln  besprochen 
werden.  Nur  auf  Österreich  im  engeren  Sinne  (Zisleithanien)  bezieht 
sich,  was  im  folgenden  bezüglich  der  Organisation  des  österreichischen 
Archivwesens  gesagt  wird. 

Dieselbe  ist  keine  einheitliche  und  steht  erst  in  ihren  Anfangen, 
sie  geht  im  allgemeinen  auch  nicht  von  dem  Standpunkte  der  Archive 
und  ihrem  Zusammenhange  aus.  Daher  besitzen  die  österreichischen 
Zentralstellen  kein  gemeinsames  Archiv  wie  die  preufsischen  oder  bay« 
rischen,  dem  die  Provinzialarchive  unterstellt  wären,  sondern  die  Archive 
der  verschiedenen  Zentralstellen  bestehen  gesondert  und  ohne  Kontakt 
untereinander.  Es  gibt  daher  auch  kein  für  die  Archive  fes^esetztes 
Normaljahr,  welches  ihre  Bestände  von  denen  der  Registraturen  scheidet; 
auch  bringt  da  die  verschiedene  Natur  der  Bestände  Verschiedenheiten 
mit  sich.  Im  allgemeinen  kann  man  sagen,  dals  die  Mehrzahl  der 
Archive  das  bis  vor  einigen  Jahren  gewöhnliche  historische  Normaljahr 
1848  zu  verlassen  beginnt  und  dafür  das  historisch  wichtige  Jahr  der 
staatsrechtlichen  Neugestaltung  Österreichs  1867  als  Schlufisjahr  setzt. 

i)  Ganz  besonders  habe  ich  hier  m  nennen  die  Herren:  Archivdirektor  Böttner 
in  Zara,  Arcbivdirektor  Reg.-Rat  Dr.  Fellner  in  Wien,  Landesgericbtsrat  ▼.  Grosser 
in  Wien,  Landesarchivar  v.  Jaksch  in  Klagenfurt,  Konservator  Kobler  in  Krainbnrg» 
Landesarchivar  Prof.  Kürschner  in  Troppaa,  Konservator  Prof.  Petri  in  Ci^odistria, 
Univ.-Prof.  Dr.  Redlich,  der  mir  die  Benützung  des  fUr  die  Mitteilungen  der  Archiv- 
Sektion  der  k.  k.  Zentral -Kom.  {ür  Kunst-  und  histor.  Denkmale  vorbereiteten  Akten* 
materials  gütig  gewährte,  Archivdirektor  Dr.  Schuster  in  Salzburg,  Archivdirektor  Dr^ 
Starzer  in  Wien. 


—     99     — 

Für  einen  Teil  der  Archive  indessen  ist  der  Weg  der  Organisation 
betreten  worden,  und  zwar  zunächst  für  die  Archive  bei  den  politischen 
Verwaltungsbehörden,  nämlich  dem  Ministerium  des  Innern  und  den 
Landesregierungen.  Bei  diesem  Ministerium  besteht  seit  1894  als  iach- 
männischer  Beirat  für  das  Archivwesen  sämtlicher  k.  k.  Zentralstellen 
und  ihrer  Unterbehörden  der  k.  k.  Archivrat.  Der  Vorsitzende  ist 
der  Minister  des  Innern,  seine  ordentlidien  und  korrespondierenden 
Mitglieder  gehören  den  historischen  Fachkreisen  der  Universität  und 
der  Archive  (auch  der  nichtstaatlichen)  an.  An  seinen  Sitzungen 
nehmen  teil,  die  ordentlichen,  fallweise  auch  korrespondierende  Mit- 
glieder, seitens  des  Ministeriums  des  Innern  dessen  ständiger  Archiv- 
referent sowie  Vertreter  der  übrigen  Zentralstellen.  Aus  seinen  An- 
regungen und  Beratungen  sind  die  folgenden  organisatorischen  Mafs- 
nahmen  hervorgegangen. 

Das  Archiv  des  Ministeriums  des  Innern  und  die,  welche  bei  den 
Landesregierungen  bestehen,  wurden  zu  einem  Gesamtstatus  vereinigt. 
Die  Ernennungen  des  Personals  vollzieht  der  Minister  des  Innern ;  das- 
selbe wird  nach  Bedarf  den  einzelnen  Archiven  der  Landesregierungen 
zugewiesen ;  diesen  unterstehen  die  Provinzialarchive  in  dienstlicher  Hin- 
sicht. Für  diese  Archive  wurden  vom  Archivrate  „Grundsätze  einer 
Archiv-Ordnung"  ausgearbeitet,  sowie  „Grundsätze  betreffend 
die  Vorbildung  und  Stellung  der  Beamten  in  den  staatlichen 
Archiven",  welche  heute  fast  bei  allen  österreichischen  Archiven  (auch 
den  niditstaatlichen)  bei  Neuanstellungen  in  Geltung  sind.  Damach  haben 
Bewerber  um  Archivstellungen  entweder  den  Nachweis  der  Staatsprüfung 
des  Instituts  für  österreichische  Geschichtsforschung  oder  des  Doktorates 
der  Philosophie  in  der  historischen  Fachgruppe  oder  der  Lehramts- 
prüfung dieser  Gruppe  oder  des  juristischen  Doktorates  oder  der 
juristischen  Staatsprüfungen,  wozu  in  den  vier  letzteren  Fällen  eine  Er- 
gänzungsprüfung aus  den  historischen  Hilfswissenschaften  kommt,  zu 
liefern.     Ein  praktischer  Archivkurs  besteht  nicht. 

Die  Archivbeamten  gehören  zum  Konzeptspersonale;  die  Bezüge 
der  in  dem  oben  erwähnten  Status  des  Ministeriums  des  Innern  befind- 
lichen Beamten  (ausschlie&lich  der  Praktikanten)  bewegen  sich  zwischen 
einem  Gehalte  von  2200  Kronen  mit  einer  nach  der  Ortskategorie 
verschieden  bemessenen  Aktivitätszulage  von  400 — 800  Kronen  und 
einem  Gehalte  von  6000  Kronen  mit  der  Aktivitätszulage  von  700  bis 
1400  Kronen.  Ganz  ähnlich  sind  die  Bezüge  der  Archivbeamten  bei 
den  übrigen  österreichischen  Zentralstellen;  ungleich  besser  gestellt  sind 
die  Beamten  der  Archive  der  gemeinsamen  Zentralstellen. 

7* 


—     100     — 

Der  Gesamtaufwand  des  österreichischen  (mit  Ausschluis  des  ge- 
meinsamen) Archivwesens  beträgt  gegenwärtig  143  580  Kronen,  wobei 
jedoch  zu  bedenken  ist,  daSs  mit  den  meisten  Archiven  die  Bibliotheken 
waltungsbehörden  verbunden  sind,  welche  einen  bedeutenden  Teil  des 
Personals  absorbieren,  so  dais  die  tatsächlich  für  das  Archivwesen  auf- 
gewendete Summe  sich  hierdurch  verringert. 

Der  Einflufe  des  Archivrates  hat  auch  zur  Aufstellung  wichtiger 
Normen  bezüglich  der  Aktenskartierung  (Aktenkassation)  geführt,  in 
dem  Sinne,  dafs  dieselben  stets  nur  nach  Begutachtung  der  Archive 
vorgenommen  werden  sollen , .  wie  dies  z.  B.  bezüglich  aller  dem  Fi- 
nanzministerium unterstehenden  Behörden  der  Fall  ist.  Ebenso  wur- 
den die  Gerichte  aller  Kronländer  angewiesen,  Aktenskartierungen  be- 
stimmten staatlichen  Archiven  oder  in  Ermangelung  von  solchen  den 
Landesarchiven  der  autonomen  Behörden  anzuzeigen  und  die  ihnen  ent- 
behrlichen, jedoch  historisch  wicht^en  Akten  an  dieselben  abzugeben.  — 
Auch  Grundzüge  für  die  Bearbeitung  und  Veröffentlichung  von  Archir- 
inventaren,  die  in  Österreich  noch  mangeln,  hat  der  Archivrat  aus- 
gearbeitet. 

Stellt  dieser,  wenn  auch  nur  als  Beirat  geschaffen,  eine  Art  von 
Oberleitung  des  staatlichen  Archivwesens  dar,  so  gibt  es  in  der 
Archivsektion  der  k.  k.  Zentral-Kommission  für  Kunst- 
und  historische  Denkmale  noch  eine  parallele,  in  ihrer  Tätigkeit 
allerdings  auch  beschränkte  Zentralstelle  für  das  österreichische  Archiv- 
wesen, deren  Arbeitsgebiet  aber  das  gesamte  Archivwesen,  auch  das 
der  Gemeinden  und  Korporationen  mit  umfafst.  Ihre  Tätigkeit  kommt 
der  Erforschung  und  Erhahimg  hauptsächlich  jener  Archivalien  zugute, 
welche  noch  keinem  Archive  angehören.  In  den  Mitteilungen  der 
Archivsektion  hat  sie  ein  Organ  fiir  das  Archivwesen  Österreichs  — 
das  einzige  hier  bestehende  —  geschaffen,  dessen  auch  der  Arcfaivrat 
sich  bedient  und  das  sich  gegenwärtig  zu  einem  wirklichen  Zentral- 
organ für  das  österreichische  Archivwesen  ausgestaltet. 

Dies  ist  in  den  Hauptzügen  dasjenige,  was  über  die  österreichische 
Archivorganisation  zu  S2^n  ist. 

Die  wichtigsten  Arcbivbildenden  und  -verändernden  Momente  sind 
in  der  Geschichte  der  Behördenorganisation  gegeben:  Die  zentralisti- 
schen  Organisationen  Maximilians  I.  und  besonders  Ferdinands  I.,  die 
Länderteilungen  mit  ihrer  dezentralisierenden  Wirkung  gegenüber  dem 
Gesamtstaate,  aber  zugleich  ihrer  Neuschaffung  von  Zentralstellen  und 
damit  von  Archivzentren  für  die  oberösterreichische  Ländergruppe  ^) 

i)   Zur  Zeit  Maximilians  L  bestanden   folgende   L&ndergrnppen :   Niederösterrei^ 


—     101     — 

in  Innsbruck  und  für  Innerösterreich  in  Graz,  die  neuerlichen  2^ntrali- 
sierungen  Maria  Theresias  und  Josephs  IL,  sowie  die  Neugestaltung 
Österreichs  im  Jahre  1849  ™^^  'Aier  vollständigen  Beseitigung  der 
feudalen  Bildungen  kommen  hier  in  betracht.  Andererseits  haben  be- 
sondere Verfügungen  seit  Maximilian  I.  ohne  Änderung  in  der  Be- 
hördenorganisation direkt  die  Archive  betroffen  und  dazu  geführt,  dafs 
aus  den  Beständen  der  Stellen  zu  Innsbruck,  Wien,  Wiener  Neustadt 
und  Graz  schliefslich  1749  das  Hauptarchiv  Österreichs,  das  Haus- 
Hof-  und  Staatsarchiv  hervorgegangen  ist. 

Dieses  zweite,  direkt  archivorganisatorische  Moment  hat  vom 
Schlüsse  des  XVIII.  bis  gegen  den  Schlufs  des  XIX.  Jahrhunderts 
sehr  gemangelt,  und  besonders  in  den  fünfziger  Jahren  des  letzteren 
herrschte  trostlose  Verständnislosigkeit,  welche  der  Verwaltung  wie  der 
Wissenschaft  gleich  grolsen  Schaden  zugefügt  hat.  In  der  Gegenwart 
macht  sich  ein  erfreulicher  organisatorischer  Aufschwung  in  den  Pro- 
vinzarchiven  geltend  durch  die  Tendenz  zur  Schaffung  von  Kronlands- 
archiven,  welche  das  gesamte  archivalische  Material  je  eines  Landes 
enthalten  sollen,  sei  es,  dafs  diese  Archive  staatliche  sind  oder  solche 
der  autonomen  Behörden ;  wo  beide  nebeneinander  bestehen,  teilt  sich 
zumeist  das  einzubeziehende  Material  nach  seiner  staatlichen  und  nicht- 
staatlichen Herkunft. 

Das  im  ganzen  hoch  entwickelte  Archivwesen  der  autonomen 
Landesbehörden  fallt  aus  dem  Rahmen  dieser  Darstellung;  nur  der 
Bestand  eines  „Landesarchives**  —  auch  wenn  es  keine  staatlichen 
Archivalien  enthält  —  wird  vermerkt  werden. 

Es  kann  sich  hier  nicht  darum  handeln,  Inventarauszüge  der  ein- 
zelnen Archive  —  wenn  auch  noch  so  summarischer  Art  —  zu  geben ; 
ebensowenig  ist  hier  der  Platz  für  eine  Geschichte  der  einzelnen  Be- 
hörden und  ihrer  Archive.  Für  den  Zweck  dieser  ZeUen  mufs  es  ge- 
nügen, die  Hauptbestände  der  einzehien  Archive  zu  nennen  und  ihr 
Verhältnis  zur  historischen  Behördenorganisation  anzudeuten  ^) ,   sowie 

(■a  Österreich  unter  nnd  ob  der  Eons,  Steiermark,  Kärnten,  Krain),  Oberösterreich 
(—  Tirol,  Görier  Besitz,  Vorarlberg,  schwäbischer  Besitz),  Vorderösterreich  (—  Besitz  im 
Elsafs,  Breisgau  nnd  Schwarzwald).  Nachmals  bUdete  sich  noch  die  Gmppe  Inneröster- 
reich (s*  Steiermark,  Kärnten,  Krain,  Istrien,  Triest) 

x)  Ich  möchte  bei  dieser  Gelegenheit  aussprechen,  dais  ich  ein  genaoet  Schema 
der  österreichischen  Behördenfiliation  von  Maximilian  L  bis  heute,  das  für  alle 
Gattnogen  and  Wandlangen  der  Behörden  aUer  Kronländer  die  gegenwärtige  Aafbewahnmgs* 
steUe  ihrer  Archivalien  genaa  erkennen  liefse,  für  eine  der  wichtigsten  Aufgaben  halte, 
welche  die  staatlichen  Archive  vereint  zu  lösen  hätten.  Hierdurch  erst  wttrden  die  Lttcken 
nod  die  Zeraplittenmg  des  österreichischen  Archivwetens  erkannt ,  die  Notwendigkeit  von 


—     102     — 

die  übrigen  Fundstellen  staatlicher  Archivalien  —  mit  Ausnahme  der 
Handschriften  in  Bibliotheken  —  nachzuweisen. 

A.    Archive  bei  den  k.  und  k.  Oemeinsamen  (österreiohiBoh-imgariaohen) 

ZentralBtellen  (in  Wien)  ^). 

I.  K.  u.  k.  Haus-  Hof-  und  Staatsarchiv. 

Über  dieses  gröfste  und  wichtigste  Archiv  Österreichs,  für  das 
1902  ein  prächtiger,  der  modernsten  Archivtechnik  entsprechender 
Bau  vollendet  wurde,  soll  in  dieser  Zeitschrift  ein  eigener  Artikel  er- 
scheinen. Ich  bescheide  mich  daher,  hier  seine  Stellung  ganz  all- 
gemein zu  kennzeichnen.  Von  Maria  Theresia  als  Archiv  des  kaiser- 
lichen Hauses  und  der  geheimen  Haus-,  Hof-  und  Staatskanzlei  ge- 
gründet, bewahrt  es  Archivalien  des  Kaiserhauses,  des  Römischen 
Reiches  deutscher  Nation  in  den  Beständen  des  Reichshofrates  und 
des  Erzkanzlerischen  (Mainzer)  Archives.  Als  österreichisches  Staats- 
archiv entstand  es  aus  der  Einbeziehung  der  wichtigsten  Bestände  der 
Provinzialarchivalien ;  ein  allgemein  österreichisches  Archiv  wurde  es 
durch  den  Umstand,  dafe  es  —  lange  Zeit  das  einzige  organisierte 
Archiv  in  Österreich  —  eine  Sammelstelle  für  Archivalien  der  ver- 
schiedensten Art  wurde,  die  man  vom  Untergange  retten  wollte.  Das 
Archiv  untersteht  dem  k.  und  k.  Ministerium  des  kaiserlichen  Hauses 
und  des  Äufseren.  Literatur  bei  Burckhardt,  dazu  bes.  Winter  G.,  die 
Gründung  des  k.  u.  k.  Haus-  Hof-  und  Staatsarchivs,  1749 — 1762. 
Archiv  f.  öst.  Gesch.  92,  iff.  (1902). 

II.  Archiv  des  k.  und  k.  (gemeinsamen)  Reichs-Finanz- 
ministeriums („Hofkamm  er- Archiv"). 

Das  Archiv  enthält  die  Akten  und  Urktmden  der  Hofkammer,  die 
als  Zentralbehörde  nicht  nur  für  die  österreichischen  Erblande,  sondern 
auch  für  Böhmen  und  Ungarn  seit  1527  bestand.  Von  Akten  der 
Länderkammem  befinden  sich  nur  die  der  niederösterreichischen 
Kammer,  die  1635  ^^^  ^^^  Hofkammer  vereinigt  wurde,  in  dem 
Kompetenzumfange  für  Österreich  unter  und  ob  der  Enns  im  Hof- 
kammerarchiv, während  die  innerösterreichische  und  oberösterreichische 
Hofkammer  als  Zentralbehörden  früher  selbständiger  Ländergruppen 
erst  1709  der  Hofkammer  in  Wien  untergeordnet  wurden  und  ihre 


VereiaigODgen    dargetan,    und   zugleich  die  Richtung,   in   der  sich   tolche   zn  bew^en 
hätten,  gegeben  werden. 

I)  Ober   die  staatlichen  Archive  in  Wien  vgl.  Wolfs  nicht  dorchaos  zaTerlltsige 
und  teilweise  veraltete  OesehiMe  der  k,  k.  Arehwe  m  Wien  (Wien  1871). 


—    loa   — 

Bestände  sich  in  Graz  und  Innsbruck  befinden.  Die  Universal-Bankali- 
tät  (seit  17 14)  und  die  geheime  Finanzkonferenz  (bis  1741),  deren 
Akten  sich  im  Hofkammerarchive  befinden,  standen  neben  der  Hof- 
kammer als  zentrale  Finanzbehörden.  Der  Wirkungskreis  der  Hof- 
kammer wurde  1749 — 1762  auf  den  Hofstaat  und  Ungarn  eingeschränkt, 
da  die  gesamte  Verwaltung  im  Directorium  in  Publicis  et  Cameralibus 
vereinigt  wurde.  Die  Finanzakten  desselben  aus  diesen  Jahren  sind 
aber  nicht,  wie  Wolf  (S.  122)  berichtet,  im  Archive  des  Ministeriums 
des  Innern,  sondern  sind  verschollen. 

Im  Jahre  1762  wurde  die  Hofkammer  reaktiviert  fiir  alle  Agenden 
der  Kameralgeschäfte  und  Landtagskontributionen  —  die  Kredits- 
deputation besorgte  das  Staatsschulden-  und  Kreditwesen  (Akten  eben- 
falls im  Hofkammerarchiv)  —  und  blieb  mit  vorübergehenden  Ver- 
änderungen in  der  Josephinischen  Zeit  bis  1848  bestehen,  wo  sie  in 
dem  Finanzministerium  aufging. 

Das  Hof  kammerarchiv  bewahrt  auch  Akten  des  Römischen  Reiches 
deutscher  Nation  (hauptsächlich  Steuersachen)  femer  die  Archivalien 
der  Hof  kammer  in  Münz-  und  Berg^ivesen  (seit  1745)  und  der  Kommerz- 
stelle (seit  1746  mit  wechselnder  Bezeichnung  und  Angliederung),  so- 
wie eine  groise  Reihe  von  Beständen  einzelner  Unterbehörden  und 
Kommissionen.  Besonders  hingewiesen  sei  auf  die  Gedenkbücher 
(Reichsgedenkbücher  und  solche  für  die  Länder  der  heutigen  österr.- 
ung.  Monarchie)  vom  XV. — XVIII.  Jahrhundert,  welche  die  Kopien 
vieler  Akten  enthalten,  die  in  keiner  anderen  Überlieferung  mehr 
existieren,  auf  die  aus  den  Hauptbeständen  gesonderten  „Herrschafts- 
akten'' und  die  gro&e  Urbariensammlung  (seit  dem  XIV.  Jahrh.).  Das 
Hofkammerarchiv  ist  eines  der  gröfsten  und  wichtigsten  Archive  in 
Österreich  und  es  gibt  selten  eine  historische  quellenmäfsige  Arbeit 
über  österreichische  Verhältnisse  aus  der  Zeit  seit  dem  späten  Mittel- 
alter, die  sich  nicht  an  dieses  Archiv  zu  wenden  hätte.  Seine  Be- 
stände sind  teUs  chronologisch,  teils  nach  Ländern,  teils  nach  Materien 
geordnet. 

III.  K.  und  k.  Kriegsarchiv. 

Bei  dem  seit  1556  (wenn  auch  nicht  gleich  unter  dieser  Bezeich^ 
nung)  bestehenden  Hofkriegsrate,  dessen  Kompetenz  sich  auf  die 
österreichischen  Erblande,  Böhmen  und  Ungarn  erstreckte  ^),  wurde  über 
Antrag  des  Prinzen  Eugen  von  Savoyen  1711  ein  Archiv  begründet, 

i)  Der  telbatändige  innerösterreichische  Hofkriegsrat  (seit  1578)  wnrde  dem  zu 
Wien  1705  untergeordnet  und  verschwand  (1749)  ebenso  wie  die  Selbstfindigkeit  des  Inns* 
bmcker  Geheimrats-KoUegioms  in  Kriegssachen. 


—     104     — 

mit  welchem  1776  die  Geaieämtlicheii  Archivalien  vereinigt  wurden« 
Schon  durch  Joseph  II.  wurde  die  Verwertung  seiner  Bestände  zu 
kriegsgeschichtlichen  Arbeiten  inauguriert.  Neben  diesem  Archive 
wurde  1801  über  Intervention  des  Erzherzogs  Karl  ein  „Kriegsarchiv" 
für  rein  militärische  Archivalien,  die  aus  dem  Hofkriegsratsarchive 
ausgeschieden  ¥mrdeny  mit  einer  eigenen  kriegsgeschichtlichen  Ab- 
teilung, unter  der  Verwaltung  von  Offizieren,  gegründet.  Der  Rest 
des  Hofkriegsratsarchivs  („Kanzleiarchiv'*),  das  später  an  die  Registra- 
tur des  Kriegsministeriums  fiel,  wurde  erst  1889  wieder  mit  dem 
Kriegsarchive  vereint,  das  1876  neu  organisiert  und  wieder  mit  dem 
eine  Zeitlang  abgetrennten  Bureau  für  Kriegsgeschichte  verbunden 
wurde.  Das  Kriegsarchiv  hat  auch  durch  Erwerbungen  der  Militaria 
aus  anderen  Archiven  und  durch  Einziehung  der  historischen  Akten 
von  den  Korpskommanden  seine  Bestände  erweitert  Es  teilt  sich 
in  die  kriegsgeschichtliche-,  die  Schriften-,  Karten-  und  Bibliotheks- 
abteilung. 

Seine  wichtigsten  Bestände  sind  die  Akten  des  Hofkriegsrates 
(1557 — 1815),  des  innerösterreichischen  Hofkriegsrates  (1578— 1749), 
des  Prager  Hofkriegsrates  (Kriegskanzlei  Rudolüs  II.),  die  General- 
Kriegs-Kommissariats- Akten ,  die  Feld-  und  Armee- Akten  (Akten  der 
operierenden  Kommanden),  die  Kabinettsakten  (schriftlicher  Verkehr  des 
Hofes  mit  der  Militärleitung,  XVII. — XDC.  Jahrh.) ;  die  KartenabteUung 
(XVI. — XDC.  Jahrh.)  enthält  auch  reiches  topographisches  Material. 

Das  Kri^i^archiv  untersteht  durch  den  Chef  des  Generalstabes 
dem  Kriegsministerium.  Seine  Beamten  sind  Offiziere,  welche  zu  ihrer 
iachmäisigen  Ausbildung  einen  zweijährigen  Kurs  im  Institute  für  öster- 
reichische Geschichtsforschung  absolvieren.  Es  publiziert  seit  1876 
„Mitteilungen  des  k.  und  k.  Kriegsarchivs",  und  eine  bedeutende 
Reihe  zum  Teile  sehr  umfangreicher  Quellenwerke  (Feldzüge  des 
Prinzen  Eugen  von  Savoyen;  der  österr.  Erbfolgekrieg  1740 — 1748). 
Das  Kriegsarchiv  gehört  zu  den  ältesten  Archiven  Österreichs  und 
steht,  bezüglich  seiner  Organisation,  welche  die  wissenschaftliche  Be- 
arbeitung der  Bestände  durch  das  Archivpersonal  vorschreibt,  an  erster 
Stelle.  [Langer,  J.,  Das  k.  u.  k.  Kriegsarchiv  von  seiner  Gründung  bis 
zum  Jahre  1900.     Wien  1900.] 

B.    Archive  der  k«  k«  (öiterreiohisohen)  Zentralstellen  (in  Wien). 

I.  Archiv  des  k.  k.  Ministeriums  des  Innern. 

Dieses  Archiv  ist  entstanden  aus  den  Aktenbeständen  der  öster- 
reichischen und  böhmischen  Hofkanzlei,  welche  es  vom  XVI.  Jahr- 


—     105     — 

Inndert  an  enthält  Für  letztere  sind  die  Bestände  aus  dem  XVI 
Jahrhundert  sehr  spärlich;  erst  seitdem  miter  Ferdinand  IL  die  böh- 
mische Hofkanzlei  definitiv  nach  Wien  kam,  liefen  hier  alle  Akten, 
die  sich  auf  Böhmen  bezogen. 

Die  österreichischen  Angelegenheiten  wurden  unter  Ferdinand  L 
in  seiner  von  ihm  aufgestellten  Hofkanzlei  zugleich  mit  den  Geschäfts- 
stücken besorgt,  die  von  ihm  als  Römischem  König  in  das  Reich 
gingen.  Als  Ferdinand  I.  1558  Kaiser  wurde,  hörte  seine  Hofkanzlei 
auf  zu  existieren;  die  österreichischen  Angelegenheiten  wurden  in  der 
Reichskanzlei  besorgt.  Daraus  entstand  eine  österreichische  Abteilung 
derselben,  deren  Akten  in  diesem  Archive  sind.  Diese  Abteilung 
wurde  1620  selbständig  gestellt  als  österreichische  Hofkanzlei,  bei 
der  alle  Zivilagenden  der  österreichischen  Länder  bis  auf  das  Finanz- 
wesen geleitet  wurden,  seitdem  16 19  und  1665  auch  die  oberöster- 
reichische Hofkanzlei  aus  Innsbruck  und  die  innerösterreichische  aus 
Graz  nach  Wien  gebracht  und  der  österreichischen  Hofkanzlei  unter- 
stellt wtirden. 

Im  Jahre  1742  erfolgte  die  Abtrennung  der  Staatskanzlei  von  der 
Hofkanzlei  und  1753  ihre  Ausgestaltung  zur  geheimen  Haus-  Hof- 
und  Staatskanzlei,  an  welche  nachmals  die  Akten,  welche  die  Familie 
des  Herrscherhauses  und  die  auswärtigen  Angelegenheiten  betrafen, 
extradiert  wurden.  Im  Jahre  1749  wurden  die  österreichische  und  die 
böhmische  Hofkanzlei  aufgehoben,  die  Justiz  von  der  Verwaltung  ge- 
trennt (oberste  Justizstelle),  und  ein  Directorium  in  Publicis  et  Camerali- 
bus  —  seit  1762  wieder  Vereinigte  böhmisch-österreichische  Hofkanz- 
lei —  besorgte  nun  die  oberste  politische  Verwaltung,  die  Kultus-  und 
Unterrichtsangelegenheiten  und  bis  1762  auch  das  Finanzwesen  der 
österreichisch-böhmischen  und  der  weiters  an  Österreich  anfallenden 
Länder.  Mit  kurz  dauernden  Veränderungen  und  Wiederherstellungen 
währte  dieser  Zustand  bis  1849,  wo  die  Agenden  und  Akten  betreffend 
Kultus  und  Unterricht  an  das  hierfür  errichtete  Ministerium  übergingen. 
Später  wurden  noch  die  Militärakten  (mit  Ausnahms  der  Konskriptions- 
akten) an  das  Kri^fsarchiv  abgetreten,  während  die  Akten  der  Polizei- 
und  Zensurhofistelle  (1780— 1848)  zuwuchsen. 

Die  Originalurkunden  des  Archives  reichen  bis  zur  Mitte  des  XV. 
Jahrhunderts  zurück,  die  zahlreichen  Kopien  bis  935.  Erwähnt  sei 
auch  die  bedeutende  Patenten-  und  Zirkulariensammlung. 

Seit  1820  begann  mit  der  Ordnung  der  Archivalien  die  allmähliche 
Ausgestaltung  dieses  Archives,  das  zu  den  wichtigsten  Archiven 
Österreichs  zählt.    Die  Bestände  desselben  sind  bis  1827  nach  Materien 


—     106     — 

und  Ländern,  von  1827 — 1848,   dem  Schlu&jahre  des  Archives,   nur 
nach  Materien  geordnet. 

II.  Adelsarchiv  des  k.  k.  Ministeriums  des  Innern. 

Aus  den  Archivalien  der  Hofkanzlei  wurden  alle  Akten  und  Ur- 
kunden über  Adels-  und  Wappenangelegenheiten  (beginnend  mit  dem 
XV.  Jahrh.)  ausgeschieden  und  1834  zu  einem  Adelsarchive  für 
Österreich  vereinigt,  das  auch  die  Akten  über  Verleihung  des  Reichs- 
adels enthält,  sowie  zahlreiche  Urkundenkopien  (bis  ins  X.  Jahrh.  zu- 
rück), femer  Bestände  betreffend  den  Deutschen  Ritterorden,  den 
Johanniterorden,  adelige  Damenstifte  und  adelige  Präbenden.  Im  Ar- 
chive wurde  ein  Adelsverzeichnis  angelegt,  das  über  200000  adelige 
Familien  aufweist.  [Pöttickh  v.  Pettenegg  G.  Graf,  Über  das  k.  k. 
Adelsarchiv,  Mittlgn.  der  Archivsektion  der  Zentral -Kom.  für  Kunst- 
u.  histor.  Denkmale  IV,  302  ff. ;  Goldegg  H.  v..  Die  Tyroler  Wappen- 
bücher im  Adelsarchive  des  k.  k.  Ministeriums  d.  Innern,  Ztschrft.  d. 
Ferdinandeums  1875,   1876.] 

III.  Archiv  des  k.  k.  Ministeriums  für  Kultus  und  Unterricht. 

Dieses  1895  organisierte  Archiv  ging  aus  den  diesbezüglichen 
Aktenbeständen  der  Hof kanzlei  ^) ,  der  1760  ins  Leben  gerufenen 
Studicnhofkommission  und  der  Stiftungs-Hofbuchhandlung  hervor  imd 
enthält  das  Kultus-  und  Unterrichtswesen  betreffende  Akten  in  der  Haupt- 
masse aus  dem  XVIII.  und  XIX.  Jahrhundert  (aber  zurückreichend  bis 
zum  XV.  Jahrhundert)  und  Originalurkimden  bis  ins  XII.  Jahrhundert. 

IV.  Archiv  des  k.  k.  (österreichischen)  Finanzministeriums. 

Dieses  1892  organisierte  Archiv  ging  aus  der  „alten  Registratur" 
der  Hofkammer  hervor  und  stellt  die  direkte  Fortsetzung  des  „Hof- 
kammerarchives"  (Archiv  des  k.  u.  k.  [gemeinsamen]  Reichs-Finanz- 
ministeriums) und  seiner  Abteilungen,  welche  die  ganze  Finanzverwal- 
tung umfassen,  dar.  Seine  Bestände  sind  daher  in  der  Hauptsache 
solche  des  XIX.  Jahrhunderts;  ältere  Teile  weisen  die  kleinen  Akten- 
bestände der  ehemaligen  Klagenfurter  Bergdirektion  und  die  Inner- 
berger  Akten  (bis  ins  XVI.  Jahrh.),  die  der  Grazer  Berg-  und  Forst- 
direktion, der  aufgelassenen  Montanwerke,  die  Tranksteuerakten,  die 
Akten  der  Tabakgefällsdirektion  und  einiger  ehemals  staatlichen  Fabriken 
PCVIII.  u.  XIX.  Jahrh.)  auf. 

Das  Archiv  des  k.  k.  Eisenbahnministeriums  fällt,  der  Natur 
der  Sache  nach,  heute  noch  aus  dieser  Übersicht  hinaus  und  es  ge- 
nügt der  Vollständigkeit  halber,  seine  Erwähnung. 

i)  Vgl.  oben  Archiv  des  Ministeriams  des  Iiuiern. 


—     107     — 

Kein  Archiv,  aber  Archivalien  befinden  sich  im  k.  k.  Justiz- 
ministerium, nämlich  Akten  der  1790  begfründetea  Gesetzgebungs- 
Hofkommission,  sowie  Reste  von  Archivalien  der  Obersten  Justizstelle. 

Erwähnt  seien  hier  auch  die  Archivalien  des  dem  k.  k.  Finanz- 
ministerium unterstehenden  k.  k.  Haupt-Münzamtes,  das  auch  eine 
sehr  wertvolle  Münzen-  und  Medaillenstempelsammlung  besitzt  (seit  dem 
XV.  Jahrh.).  [Katalog  der  Münzen-  und  Medaillenstempelsammlung 
des  k.  k.  Hauptmünzamtes  in  Wien.    2  Bde.  (mit  Abbildungen)  Wien 

1901/02.] 

C.    Archive  der  österreiohisohen  Kronlander  ^). 

(In  der  Reihenfolge  ihrer  Vereinigung  mit  Osterreich.) 

I.  Niederösterreich. 

Das  staatliche  Kronlandsarchiv  des  Stammlandes  Öster- 
reichs ist  das  „k.  k.  Archiv  für  Niederösterreich**  bei  der  niederöster- 
reichischen Statthalterei  in  Wien,  als  Archiv  organisiert  seit  1893.  ^ 
enthält  die  Archivalien  der  niederösterreichischen  Regierung  —  jedoch 
nicht  in  dem  Smne  der  fünf  niederösterreichischen  Lande  (vgl.  imten 
Steiermark),  und  ausschliefslich  der  Akten  des  durch  Joseph  II.  auf- 
gehobenen Justizsenates  der  Regierung  —  hauptsächlich  vom  XVI. 
Jahrhunderte  an  bis  1849  (Präsidialakten  bis  1867),  des  niederöster- 
reichischen Klosterrates  von  15 68 — 1713,  der  niederösterreichischen 
Lehenstube  von  Maximilian  I.  an  bis  zur  Allodialisieruug,  der  nieder- 
österreichischen Stiftungsbehörde  mit  über  25000  Stiftbriefen  vom 
XIII.  Jahrhundert  an,  die  Akten  der  Grundentlastungs-Kommission  von 
1853 — 1868.  Abtretungen  wichtiger  Archivalien  seitens  der  Regierung 
an  das  Haus-  Hof-  und  Staatsarchiv  und  an  das  Archiv  des  Ministeriums 
des  Innern  haben  1844  ^^^  ^881  stattgefunden,  und  sinnlose  Skar- 
sierungen  haben  die  Bestände  dezimiert.  Das  Archiv  erweitert  sich  aber 
seiner  Gründungsidee  gemäfs  immer  mehr  zu  einem  Depositorium  der 
Archivalien  der  gesamten  staatlichen  Verwaltung  des  Kronlandes.  Es 
wurden  bisher  einbezogen  die  Akten  der  bestandenen  vier  Kreisämter 
von  1763  — 1849,  ^^s  Versatzamtes  von  1707 — 1840,  der  Patrimonial- 
herrschaften  aus  dem  XVIII.  und  XIX.  Jahrhundert,  soweit  sie  po- 
litischen Inhalts  sind.  —  Die  Akten  der  Zivil-  und  Kriminaljustiz 
blieben  bei  den  Kreis-  und  Bezirksgerichten ;  die  Urbar-,  Grund-,  Satz-, 
Gewähr-,  Waisenamtsbücher,  Inventur-  und  Testamentsprotokolle  (vom 
XVI. — XVill.  Jahrhundert)  der  Grundherrschaften,  die  in  den  Spren- 

i)  Vgl.  „Die  unter  dem  Ministerinm  des  Innern  stehenden  Archive  in  den  einzelnen 
österreichischen  Ländern*',  österr.  Zeitschr.  für  Verwaltung,  1883  (XVI),  119  f.  u.  i2^fL 
(jetzt  Tielfach  veraltet). 


—     108     — 

g^ln  der  heutigen  Kreisgeiichte  Korneubaig  und  Krems  liegen;  die 
gleichen  Bücher  der  Sprengel  der  Kreisgerichte  St.  Polten  und  Wiener- 
Neustadt  befinden  sich  noch  bei  diesen,  die  des  Wiener  Sprengeis 
beim  Landesgerichte  in  Wien.  [Die  Einrichtung  eines  Archives  bei  der 
k.  k.  Statthalterei  in  Niederösterreich.  Mitteil.  d.  III.  (Archiv-)  Sektion 
der  Zentral-Koon.  f.  Kunst-  u.  histor.  Denkmale  II,  241  ff.] 

Staatliche  Archivalien  in  nicht  archivmäüsiger  Verwaltung 
befinden  sich  bei  den  Bezirkshauptmannschaften  (Herrschafts- 
akten) beim  Oberlandesgerichte  (für  Niederes terr.,  Oberösterr.  und 
Salzburg)  in  Wien,  beim  Landesgerichte  in  Zivilrechtssachen  in 
Wien  (Gerichtsorganisationsakten,  Akten  des  Landrechtes,  Abhand- 
lungsakten des  Obersthofmarschallamtes  und  der  nö.  Regierung,  des 
Wiener  Magistrates  und  des  Militäigerichtes,  hauptsächlich  des  XVIII. 
und  XDC.  Jahrhunderts.  Amtsbücher  —  besonders  Urbare  und  Grund- 
bücher der  im  Wiener  Sprengel  bestandenen  Grundherrschaften  vom 
XV. — XIX.  Jahrhundert),  bei  den  Kreisgerichten  Wiener -Neu- 
stadt und  St.  Polten  (hauptsächlich  die  gleichen  Bücher  der  in  diesen 
Sprengein  vorhanden  gewesenen  Grundherrschaften  vom  XV. — XIX.  Jahr- 
hundert) und  bei  den  meisten  Bezirksgerichten  (hauptsächlich  jüngere 
Grundbücher  der  Herrschaften),  bei  der  nö.  Finanzlandesdirektion 
in  Wien  (Akten  betr.  die  veräufserten  Staatsgüter,  XVIII.  u.  XDC.  Jahrh.) 
und  der  k.  k.  Forst-  und  Domänendirektion  (für  Niederösterr., 
Steiermark,  Böhmen  u.  die  oberösterr.  Religionsforste  Reichraming  u. 
Weyer)  in  Wien.  (Akten  über  die  nicht  veräufeerten  Staat^jüter,  Reste 
der  Archivalien  des  ehemaligen  nö.  Waldamtes,  steirische  Wald- 
tomi.) 

In  Niederösterreich  besteht  auch  ein  Landesarchiv,  das  durch 
seine  Verbindung  mit  topographischen  und  anderen  Sammlungen,  so- 
wie mit  dem  Verein  für  Landeskunde  von  Niederösterreich  das  Zentrum 
der  landeskundlichen  Forschung  in  Niederösterreich  ist. 

II.  Oberösterreich. 

In  diesem  Lande,  das  eine  selbständige  Landesregierung  erst 
1784  erhielt,  ist  es  nicht  zur  Entwickelung  eines  staatlichen  Archives 
gekommen.  Das  Archivwesen  des  Landes  beginnt  sich  in  dem  1896 
gegfriindeten  Landesarchive  zu  konzentrieren,  neben  welchem  derzeit 
noch  das  Archiv  des  Museums  Francisco  Carolinum  sich  befindet.  Von 
staatlichen  Archivalien  hat  das  Landesarchiv  1901  die  Urkunden 
und  Akten  der  Statthalterei  in  Linz  (mit  ganz  geringen  Ausnahmen) 
übernommen,   sowie  solche  des  Landesgerichtes  in  Linz  und  des  Be- 


—     109     — 

zirksgerichtes  in  Engelszell  pCVII. — XIX.  Jahrb.)  [Czemy  A.,  Das  oeue 
Landesarchiv  in  Linz  und  seine  Ausgestaltung  in  der  Zukunft.  Mit* 
teilungen  der  IIL  (Archiv-)  Sektion  der  Zentral-Kooa.  f.  Kunst-  u. 
histor.  Denkmale  IV,  60 ff.;  Krackowizer,  Das  oberösterr.  Landesarchiv 
zu  Linz.    Seine  Entstehung  u.  seine  Bestände.    Linz  1903.J 

Staatliche  Arcbivalien  befinden  sidi,  soweit  eruierbar,  noch 
beim  Landesgerichte  in  Linz,  daselbst  auch  solche  der  Kreis- 
gerichte Steyr  imd  Wels,  beim  Kreisgerichte  Ried  (Archivalien 
des  bayrischen  Innviertels)  bei  einzelnen  Bezirksgerichten  und 
bei  der  Finanzprokuratur  in  Linz,  nveist  nur  des  XVIII.  und 
XIX.  Jahrhunderts,  bei  den  Salinenverwaltungen  in  Hallstadt  und 
Ischl  (u.  a.  Urbare  des  XVI. — ^XVIII.  Jahrh.)  bei  der  Domänenver- 
waltung in  Mattighofen  (XVI. — XIX.  Jahrh.). 

III.  Steiermark. 

Steiermark,  1192  an  Österreich  gefallen,  schied  sich  von  diesem 
wieder  durch  die  Länderteilungen  von  1379,  um  nach  der  1493  ^^' 
folgten  Wiedervereinigung  durch  die  Länderteilung  von  1564  abermals 
als  Kemland  der  innerösterreichischen  Ländergruppe  (Steiermark, 
Kärnten,  Krain,  Istrien,  Triest)  sich  zu  sondern.  In  Graz  kam  es  da- 
her zur  Errichtung  von  eigenen  Zentralstellen  und  Mittelbehörden  für 
die  mnerösterreichischen  Lande,  die  Archivalien  aus  der  Verwaltung 
der  fiinf  niederösterreichischen  Lande,  zu  denen  Steiermark  gehört 
hatte,  ausgefolgt  bekamen  und  deren  Wirksamkeit  das  Jahr  der 
Wiedervereinigung  1619  noch  lange  überdauerte.  Der  Vorort  dieser 
Ländergruppe  war  Graz.  Bei  der  Regierung  daselbst  befamd  sich 
der  archivalische  Niederschlag  der  jene  gro&e  Ländergruppe  um- 
fassenden Verwaltung.  Obwohl  davon  seit  Maria  Theresia  sehr  be- 
deutende Extradierungen  an  das  Haus-  Hof-  und  Staatsarchiv  imd 
das  Hofkammerarchiv  in  Wien  stattfanden,  blieb  doch  noch  ein  Be- 
stand von  über  9000  Faszikeln  vom  XV. — XIX.  Jahrhundert  reichend, 
von  grofeer  inhaltlicher  Wichtigkeit  bei  der  Statthalterei  in  Graz,  leider 
noch  nicht  zu  einem  Archive  organisiert,  sondern  nur  schwer  zugäng- 
lich und  daher  wenig  benützt.  [Kapper,  A.,  Mitteilungen  aus  dem  k.  k. 
Statthaltereiarchive  zu  Graz,  mit  Verzeichnis  der  Bestände  u.  Regesten 
über  die  „Miscellanea".  Veröffentlidxungen  der  Histor«  Landes-Com- 
oiisnon  für  Steiermark  XVI,  Graz  1902.] 

Das  nicbtstaatliche  Archivwesen  der  SteiermaiiE  besitzt  dagegen 
ein  Musterinstitut  eisten  Ranges  in  dem  Landesarchive  zu  Graz  seit 
iSfOt  das  auch  eine  Reihe  ataatlicher  Arcbivalien  gdK>xgen  hat. 


—     110     — 

so  die  Archivalien  der  ehemaligen  k.  k.  Innerberger  Hauptgewerkschafl, 
des  Bergamtes  Leoben  (älterer  Teil),  der  Saline  Aussee,  die  landesfiirst- 
lichen  Lehenakten  von  der  Finanzprokuratur  in  Graz  (Ende  des  XV. 
Jahrh.  beginnend),  die  Grundbücher  und  sonstigen  Amtsbücher  der 
Herrschaften  von  den  Gerichten  (1893  waren  es  4620  Nummern),  die 
Archivalien  des  Landrechtes  und  der  Schranne  (vom  XVI.  Jahrh.  an), 
vom  k.  k.  Landesgerichte  in  Graz  (mit  Ausnahme  der  Fideikommiis- 
akten).  [Zahn,  Das  Steiermärkische  Landesarchiv  in  Graz.  Zum  25. 
Jahre  seines  Bestehens,  Graz  1894.] 

Staatliche  Archivalien  befinden  sich  aufserdem  noch  bei 
der  Finanz-Landesdirektion  in  Graz  (Grundsteuer-,  Forst-  u.  Do- 
mänenakten, XVIIL  u.  XIX.  Jahrh.). 

IV.  Kärnten. 

Dieses  1335  mit  Österreich  vereinigte  Land  besitzt  ebenfalls  kein 
staatliches  Archiv  und  erst  seit  wenigen  Tagen  (i./i.  1904)  ein  organi- 
siertes Landesarchiv.  Die  vortrefflich  geleitete  Archivzentrale  ist  seit 
1844  ^^  noch  weiterhin  bestehen  bleibende  Archiv  des  kärnti- 
schen Geschichtsvereines  im  Museum  zu  Klagenfurt.  Es  enthält 
folgende  staatlichen  Archivalien:  Klosteraufhebungs-  und  franzö- 
sische Invasionsakten  der  Landesregierung,  Archivalien  des  Villacher 
Kreisamtes  (XDC.  Jahrh.),  Verlassenschaflsakten  (XVII.— XVIII.  Jahrh.), 
Urbarien  und  fianzösische  Justizakten  des  Landesgerichtes,  Kärntner  Akten 
der  Finanzlandesdirektion  in  Graz,  Archivalien  der  Finanzdirektion  imd 
Finanzprokuratur  in  Klagenfurt  (Lehenakten  XIV. — XVIII.  Jahrh.).  Die 
Archivalien  der  Gerichte  Kärntens,  der  Forst-  und  Domänenverwaltimg 
Tarvis  und  Ossiach,  des  Landeszahlamtes  sind  dem  Geschichtsvereins- 
archive  bereits  zugewiesen,  aber  wegen  Platzmangel  noch  nicht  über- 
nommen. 

Archivalien  des  XVIII.  selten  des  XVII.  Jahrhunderts  befinden 
sich  auch  bei  den  Bezirkshauptmannschaften,  und  bei  der  Berg- 
hauptmannschaft (für  Steiermark,  Kärnten,  Tirol  u.  Vorarlberg, 
Krain,  das  Küstenland  u.  Dalmatien)  vom  XV.  Jahrh.  an. 

V.  Krain. 

Auch  dieses,  1335  mit  Österreich  vereinigte  Land,  besitzt  kein 
staatliches  Archiv.  Das  Archiv  des  Landesmuseums  in  Laibach 
hat  das  Vizedomarchiv  übernommen,  die  Archivalien  des  Laibacher 
Kreisamtes  und  solche  der  Finanzprokuratur  in  Laibach  (u.  a.  Urbarien). 
Bei  der  Landesregierung,  von  welcher  Extradienmgen  nach  Graz  und 


—    111    — 

Triest  stattgefunden  haben,  und  ihren  Unterbehörden,  sowie  bei  den 
Finanzbehörden  befinden  sich  nur  Archivalien  vom  Ende  des 
XVIII.  Jahrhunderts  an,  beim  Landesgerichte  in  Laibach  und  beim 
Kreisgerichte  in  Rudolfswert  auch  ältere  (u.  a.  einige  Urbarien). 

VI.  Küstenland  (Görz  u.  Gradisca  seit  1500,  Istrien  seit  1374, 

Triest  seit  1382  mit  Österreich  vereinigt). 

Auch  hier  befindet  sich  kein  organisiertes  Staatsarchiv.  Dagegen  be- 
steht inGörz  einLandesarchiv  und  ein  Archiv  desLandesmuseums, 
ein  Landesarchiv  in  Parenzo  (Istrien)  ist  in  Bildung  begriffen. 

Staatliche  Archivalten  der  politischen  Verwaltung  (Statt- 
halterei  in  Triest)  befinden  sich  zum  Teile  bei  dieser,  zum  Teile  im 
Görzer  Landesarchiv,  das  auch  Archivalien  der  Finanzdirektion 
in  Triest  und  der  Forst-  und  Domänendirektion  (für  Kärnten,  Krain, 
Küstenland  und  Dalmatien)  in  Görz  geborgen  hat. 

VII.  Tirol  und  Vorarlberg. 

Tirol  ist  in  bezug  auf  Archivwesen  das  am  weitesten  vorgeschrit- 
tene Kronland  Österreichs.  Im  Jahre  1363  an  Österreich  gefallen, 
wurde  es  alsbald  wieder  durch  die  Länderteilung  von  1379  von  diesem 
und  1386  auch  von  Innerösterreich  gesondert  und  blieb  es  unter  seinen 
selbständigen  Landesfürsten  bis  1493,  um  nach  der  Teilung  von  1564 
wieder  in  derselben  Sonderung  bis  1665  zu  bleiben.  Gleichwie  in 
Innerösterreich  blieben  auch  nach  der  dauernden  Vereinigung  die  durch 
die  Scheidung  in  Innsbruck  entstandenen  Zentralstellen  iiir  die  ober- 
österreichische Ländergruppe  (Tirol,  Vorarlberg  und  die  Vorlande)  be- 
stehen (bis  1752).  Diese  Stellung  Tirols  prägt  sich  in  seinem  Archive 
aus,  und  in  der  Zeit  der  Ländervereinigung  unter  Maximilian  I.  fa(sten 
die  Archivzentralisierungspläne  dieses  Herrschers  zunächst  auch  Inns- 
bruck ins  Auge.  Hier  erwuchs  das  bis  zur  Gründung  des  Haus-  Hof-- 
und  Staatsarchives  in  Wien  (1749)  gröfste  und  bedeutendste  Archiv 
Österreichs.  Die  Geschichte  der  Entstehung  des  Statthaltereiarchives 
in  Innsbruck,  die  massenhaften  Extradierungen  nach  Wien,  Freiburg, 
Strafsburg  und  München,  sowie  die  Übersicht  über  seine  Bestände  hat 
1894  Mayr,  M.,  Das  k.  k.  Statthaltereiarchiv  zu  Innsbruck,  Mittlgn.  d. 
Archivsektion  d.  Zentral-Kom.  etc.  II,  141  ff.  ausführlich  dargestellt  zum 
Teile  auf  Grund  der  Ausführungen  Schönherrs  in  den  Mittlgn.  d. 
Zentral-Kom.  N.  F.  10  u.  11  und  in  erweiterter  Form  in  Löhers  Ar- 
chival.  Zeitschr.  11  (1886).  Ausführliche  Angaben  bietet  in  diesem 
Falle  auch  Burkhardt,  dessen  Zahlen  durch  die  Jahrgänge  7  u.  10  der 
„Minerva"  berichtigt  werden. 


—     112     — 

Deshalb  kann  es  hier  genügen,  die  Veränderungen  zu  besprechen 
und  sonst  nur  darauf  hinzuweisen,  dais  das  Siatthaltereiarchiv  in  Inns- 
bruck eine  über  Tirol  hinausreichende  Bedeutung  besitzt  und  in  der 
Hauptsache  aus  den  Archiven  der  Landesfiirsten  aus  den  Häusern 
Görz  und  Habsburg,  und  jenen  der  säkularisierten  Fürstentümer  Trient 
und  Brixen  besteht. 

Die  Unterbringung  in  einem  1873  vollendeten  und  igoo  erweiterten 
eigenen  Archivgebäude  hat  diesem  Archive  aber  auch  eine  höchst  be- 
deutende Ausgestaltung  zu  einem  staatlichen  Archive  für  das  Land 
Tirol  möglich  gemacht  Es  wurden  in  dasselbe  übernommen:  die 
Akten  der  sämtlichen  Bezirkshauptmannschaften  des  Landes  (bis  1868), 
der  Bezirksgerichte  (bis  1815,  Verfachbücher  bis  1700),  femer  das 
sehr  bedeutende  historische  Gerichtsarchiv  beim  Obeilandesgerichte 
in  Innsbruck  (beginnend  mit  dem  XVI.  Jahrh.).  [Über  dasselbe  Mages,  A. 
Frh.  v.,  Bericht  über  die  Anlegung  eines  histor.  Gerichtsarchives  für 
Deutsch-Tirol,  Mittlgn.  d.  Archivsektion  d.  Zentral-Koon.  11,  49 ff.] 
In  Vorarlberg  wurden  die  Archivalien  der  politischen  und  Gerichts- 
behörden vom  Landesarchive  übernommen,  das  in  dieser  Beziehung 
dem  Innsbrucker  Statthaltereiarchive  unterstellt  ist  —  der  einzige  Fall 
bisher  in  Österreich,  dafs  (wie  in  Bayern  die  Regel)  ein  Archiv  einer 
Fachbehörde,  nämlich  wieder  einem  Archive  untersteht  [Kleiner,  V., 
Das  Vorarlberger  Landesarchiv  im  41.  Jahresber.  d.  Vorarlberger  Mn- 
seumsver.]  In  gleicher  Weise  ist  die  Errichtung  eines  grolsen  Notariats- 
archives  für  Italienisch-Tirol  vom  XV.  Jahrhundert  bis  1827  als  Filiale 
des  Innsbrucker  Archives  beabsichtigt 

Femer  wurde  das  Archiv  der  Marktgemeinde  Neumarkt  (beginnend 
mit  Anf.  XIV.  Jahrh.)  und  das  Familieaarchiv  der  von  Vintlerschen 
Hauptlinie  übernommen.  [Mayr,  M. ,  Das  k.  k.  Statthaltereiarchiv  in 
Innsbruck,  Mittlgn.  der  Archivsektion  d.  Zentral-Koon.  IV,  275  ff.] 

Staatliche  Archivalien,  die  noch  nicht  archivalisch  ver- 
wahrt werden,  befinden  sich  in  Tirol  nur  noch  bei  der  Finanzlandes- 
direktion und  der  Finanzprokuratur  in  Innsbruck  (XVII.  u.  XVIII. 
Jahrh.)  und  einigen  Bergwerken.  Die  Salinenverwaltung  in  Hall  hat 
ihre  Archivalien  teils  dem  StatthaHereiarchive  in  Innsbruck,  teils  dem 
Haus-  Hof-  und  Staatsarchive  und  dem  Hauptmünzamte  in  Wien  über- 
geben.    In  Innsbruck  besteht  auch  ein  Landesarchiv. 

VIII.  Böhmen. 

Für  dieses  Kronland  stehen  mir  nur  ui^enügende  Angaben  za 
Gebote,  da  ich  vergeblich  versucht  hatte,  ans  Prag  ausreichende  Nadi- 


—     113     — 

richten  zu  erlangen.  Für  Böhmen  besteht  ein  Statthaltereiarchiv, 
das  die  Archivalien  der  bestandenen  obersten  Landesbehörden  seit 
der  Vereinigung  Böhmens  mit  Österreich  (1526),  namentlich  die  der 
politischen  Landesstelle  und  der  Kammer  enthält  Mit  Ausnahme  von 
Urkunden,  die  bis  1250  zurückreichen,  befinden  sich  dort  keine  Archi- 
valien aus  der  Zeit  vor  1526.  —  In  Prag  besteht  auch  ein  Landes- 
archiv. 

Staatliche  Archivalien  finden  sich  bei  den  Bezirkshaupt- 
mannschaften —  die  der  Bezirkshauptmannschaft  Pardubitz  pCVI. 
bis  XIX.  Jahrh.)  wurden  dem  Museum  dieser  Stadt  zur  einstweiligen 
Verwahrung  übergeben  —  und  bei  der  Finanzlandesdirektion 
in  Prag  (XVIII.  u.  XDC.  Jahrh.).  Die  Bezirksgerichte  haben  mehr- 
fach Grundbücher  an  das  Landesarchiv  in  Prag  abgegeben. 

IX.  Mähren  (1526  mit  Österreich  vereinigt). 

In  diesem  Kronlande  befindet  sich  kein  staatliches  Archiv,  das 
Archivwesen  des  Landes  konzentriert  sich  im  Landesarchive  in 
Brunn.  Dasselbe  hat  1897  die  Archivalien  der  Statthalterei  in  Brunn 
(1636 — 1785)  übernommen,  nachdem  diese  schon  1856  einzelne  Be- 
stände, darunter  ca.  600CX)  Stück  Akten  und  Urkunden  der  1773 
aufgehobenen  Klöster  in  Mähren  und  Schlesien  an  das  Landesarchiv 
übergeben  hatte  (ein  kleiner  Teil  kam  181 1  in  das  Haus-  Hof-  und 
Staatsarchiv).  Ein  Verzeichnis  der  historisch  wichtigen  Akten  in  alpha- 
betischer Folge  der  Namen  und  Sachbetreffe  verfafste  Schräm,  W., 
Das  k.  k.  Statthaltereiarchiv  in  Brunn,  Mittlgn.  d.  Archivsektion  der 
Zentral-Kom.  IV,  i  ff. 

Staatliche  Archivalien  befinden  sich  ferner  bei  den  Bezirks- 
hauptmannschaften (Akten  der  ehemaligen  Kreisämter),  beim 
Oberlandesgerichte  in  Brunn  (Akten  des  kgl.  Tribunals  bzw.  des 
mäbr.-schles.  Kriminalobergerichtesu.  Appellationsgerichtes,  1636 — 1783, 
Originalreskripte  u.  Normalien  1628 — 1862),  von  denen  die  historisch 
wichtigen  ebenfalls  Schräm,  W.,  Das  k.  k.  Oberlandesgerichtsarchiv 
in  Brunn ,  Mittlgn.  d.  Archivsektion  etc.  W ,  203  ff.  verzeichnet  hat, 
femer  bei  der  Finanzlandesdirektion  in  Brunn  (Staatsgüterakten, 
PCVIII.  u.  XDC.  Jahrh.)  und  der  Finanzprokuratur  in  Brunn  pCVIII. 
u.  XDC.  Jahrh.). 

X.  Schlesien  (1526  an  Österreich  gelangt). 

Hier  besteht  kein  staatliches  Archiv  und  die  nach  der  Aufhebung 
der  Gemeinsamkeit  der  mährischen  und  schlesischen  Verwaltung  von 
Brunn  an  die  selbständige  Landesregierung  in  Troppau  aus- 

8 


—     114     — 

gelieferten  Archivalien  bei  dieser  reichen  nur  bis  zur  Mitte  des 
XVIII.  Jahrhunderts  zurück.  Noch  jünger  sind  die  bei  den  Be- 
zirkshauptmannschaften befindlichen  Archivalien  der  ehemaligen 
Kreisämter.     In  Schlesien  besteht  ein  Landesarchiv. 

XI.  Galizien  (seit  1773  bei  Österreich). 

Hier  gibt  es  kein  organisiertes  staatliches  Archiv,  dagegen  die 
bedeutenden  Landesarchive  der  Grodgerichtlichen-  und  Terrestral- 
akten  in  Krakau  (XIV.- XVIII.  Jahrh.)  und  Lemberg  (XV.— XVIII. 
Jahrh.). 

Staatliche  Archivalien  befinden  sich  bei  der  Statthalterei 
in  Lemberg  (1773 — 1848),  bei  der  Bezirkshauptmannschaft  in 
Krakau  (Akten  des  Senates  des  Freistaates  Krakau,  der  ehemaligen 
Kreisbehörde  und  Bezirksämter,  1796 — 1853),  im  Hypothekenamte  des 
Kreisgerichtes  in  Przemyäl  von  der  Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts 
an  mit  Urkundenabschriften,  die  ins  XIV.  Jahrhundert  zurückreichen» 
bei  der  Finanzlandesdirektion  in  Lemberg  (Staatsgüterakten, 
XVIII.  u.  XIX.  Jahrh.),  der  Finanzprokuratur  in  Lemberg  (XVTII, 
u.  XDC.  Jahrh.  u.  a.  Fassionen  aller  Pfarren),  der  Finanzdirektion  in 
Przemyöl  (XIX.  Jahrh.),  sowie  bei  den  zahlreichen  Salinenverwal- 
tungen des  Landes  (XVIII.  u.  XIX.  Jahrh.).  [Dudik,  B.,  Die  Ar- 
chive im  Kgr.  Galizien  und  Ladomerien,  Archiv  f.  österr.  Gesch. 
39,  I  ff.,  Bericht  über  die  amtliche  Reise  der  Korrespondenten  der 
k.  k.  Zentralkommission,  St.  Kryzanowski  u.  St.  Estreicher  in  den 
Mittlgn.  d.  Archivsektion  d.  Zentral-Kom.  IV,  281  ff.] 

XII.  Bukowina  (seit  1775  bei  Österreich,  zunächst  mit  Galizien 

vereinigt). 

Hier  besteht  kein  Archiv ;  staatliche  Archivalien  befinden  sich 

bei  der  Landesregierung.     Im  übrigen  stehen  mir  keine  Daten  zur 

Verfügung. 

XIII.  Salzburg. 

Durch  Säkularisierung  des  Erzstiftes  kam  Österreich  1805  ^  ^^^ 
Besitz  Salzburgs,  den  es  1809  an  Bayern  verlor  und  181 5  wieder- 
gewann. In  dem  Archive  der  Landesregierung  in  Salzburg 
findet  sich  —  wenn  auch  vielfach  nur  in  Resten  —  der  Niederechlag 
der  erzstiftlichen ,  bayrischen  und  österreichischen  Verwaltung  des 
Landes  in  reichen  Beständen,  der  ehemaligen  Zentralstellen  und  ihrer 
Unterbehörden,  aus  denen  hier  nur  das  wichtigste  hervorgehoben  sei 
und  das,  was  als  Berichtigung  oder  Ergänzung  zu  den  Notizen  bei 
Burkhardt  (2.  Aufl.)  sich  ergibt. 


—     115     — 

Die  bedeutendsten  und  wichtigsten  Bestände  sind  jene  der  alt- 
salzburgischen  Hofkammer  und  ihrer  Unterämter  (Hofbauamt,  Wald- 
meisterei,  Bei^behörde  etc.)  mit  zahhreichen  Urbaren  und  Grund- 
büchern, das  „alte  Archiv 'S  die  Reste  des  Domkapitelischen  Archives, 
die  Akten  des  Lehenhofes.  Die  Abteilung  „Politicum"  ist  vor  der 
kurfürstlichen  (toskanischen)  Zeit  (1803 — 1806)  durch  sinnlose  Skar- 
tierung  in  den  50er  Jahren  ungemein  verringert,  wie  auch  die  Akten 
des  Konsistoriums  (das  Meiste  im  Konsistorialarchive)  und  des  Hof- 
kriegsrates sehr  spärlich  sind.  Die  jüngeren  politischen  Akten  sind 
bis  1860  (nicht  1850)  im  Archive.  Dasselbe  wurde  schon  durch  seine 
Geschichte  auf  den  allein  richtigen  Weg  gewiesen,  nämlich  ein  Gesamt- 
archiv des  Landes  zu  werden.  Bisher  wurden  einbezogen  die  Archivalien  der 
alten  Pfleggerichte  (jetzt  meist  Bezirksgerichte)  oft  im  XVI.  Jahrhundert 
beginnend:  GoUing,  Hallein,  Lofer,  Mittersill,  Moosham,  Tamsweg, 
St  Mchael,  Gastein,  Taxenbach,  St.  Gilgen,  Lichtenberg  (Saalfelden) 
Werfen  und  Wartenfels  (Talgau)  und  die  Archivalien  der  Forst-  und 
Domänendirektion  in  Salzburg.  Das  Archiv  des  Landesausschusses 
wurde  mit  dem  Regierungsarchiv  vereinigt,  das  auch  Archive  be- 
deutender Familien:  das  gräflich  Platzsche,  gräflich  Uiberackersche 
and  gräflich  Khuenburgsche  Archiv  enthält.    [Literatur  bei  Burkhardt, 

2.  Aufl.] 

XIV.  Dalmatien. 

Das  staatliche  Archivwesen  dieses,  bleibend  seit  18 14  mit  Oster- 
reich vereinigten  Landes  befindet  sich  in  besserem  Zustande  als  das 
vieler  anderer  Kronländer.  Das  Statthalteiarchiv  in  Zara  ist 
eines  der  bedeutendsten  Provinzialarchive  und  vereinigt  im  Haupt- 
archive die  Akten  der  venetianischen  Landesverwaltung  von  1409  bis 
1797,  der  ersten  österreichischen  Periode  von  1797 — 1806,  der  fran- 
zösischen Herrschaft  von  1806— 18 13  und  der  zweiten  österreichischen 
Periode  seit  18 14.  Erfreulicherweise  erweitert  sich  aber  dieses  Archiv 
zu  einem  Sammelorte  für  die  staatlichen  und  nichtstaatlichen  Archi- 
valien des  Landes.  Einverleibt  sind  die  Archive  (bezw.  deren  Reste) 
von  Spalato  (1343 — 181 3;  venetianische  Korrespondenz  (ab  1683), 
Curzola  (beg.  1338),  Cattaro  (beg.  1309),  Nona  (beg.  1244),  Almissa, 
ein  Teil  des  Archives  von  Macarsca  (1798 — 18 14),  ein  Teil  der  Archi- 
valien der  Kreishauptmannschaft  in  Zara  (1798 — 1820),  das  venetianische 
Archiv,  das  sich  beim  Bezirksgerichte  in  San  Pietro  della  Brazza  be- 
fand, die  Archivalien  des  Oberlandesgerichtes  in  Zara  (1798 — 1814), 
auiserdem  eine  Reihe  von  Archiven  aufgehobener  Klöster  (beg.  986) 
und  von  Familienarchiven.   Das  Archiv  veröffentlicht  eben  Übersichten 

8* 


—     116     — 

und  Inventare  seiner  Bestände.  [Böttner,  S.,  L'Archivio  degli  Atti 
antichi  presse  la  I.  R.  Luogotenenza  Dalmata.] 

Ein  sehr  wichtiges  staatliches  Archiv  besteht  seit  1895  auch 
in  Ragusa.  Es  vereinigt  die  vorher  bei  der  Bezirkshauptmannschaft, 
dem  Kreisgerichte,  der  Finanzbezirksbehörde  und  dem  Hafen-  und 
Seesanitäts-Kapitanat  in  Ragusa  und  bei  dem  Bezirksgerichte  zu  Stagno 
befindlichen  Archivalien  der  bis  1808  bestandenen  Republik  Ragusa, 
mit  Urkunden  vom  XI.  Jahrhundert  an  und  Büchern  von  1278 — 18 14, 
Gerichtsbüchem  und  Akten  von  1280  an,  215  Bänden  betreffend  die 
Domänenverwaltung,  Kultusangelegenheiten,  Zünfte,  Münz-  und  ZoU- 
wesen  der  Republik,  endlich  solche  bezüglich  des  Quarantainewesens 
derselben.  [Jirecek,  J.  C. ,  Die  Archive  von  Dalmatien.  Mttlgn.  d. 
Archivsektion  der  Zentral-Kom.  IV,  141  ff.] 

Staatliche  Archivalien  befinden  sich  noch  beim  Landes- 
gerichte in  Zara  (Notariatsarchiv,  ins  XIII.  Jahrh.  zurückreichend), 
bei  den  Kreisgerichten  in  Cattaro,  Sebenico  und  Spalato  und  bei 
der  Finanzprokuratur  in  Zara  (Venetianische  Lehenakten,  XV.  bis 
XVm.  Jahrh.). 

* 

Dieser  Übersicht  über  das  staatliche  Archivwesen  Österreichs  seien 
nur  noch  wenige  zusammenfassende  Worte  hinzugefügt  In  neun 
Kronländem  besteht  noch  kein  staatliches  Archiv,  während  die  Menge 
der  staatlichen  Archivalien,  die  überhaupt  in  keinem  Archive  deponiert 
oder  zersplittert  ist,  eine  sehr  bedeutende  und  vielfach  von  groiser 
Wichtigkeit  ist.  Diese  und  andere  Übelstände  wurden  unlängst  kurz 
erörtert  *)  und  einige  wichtige  Reform  vorschlage  gemacht ;  auf  solche 
werde  ich  vielleicht  an  anderer  Stelle  zu  sprechen  kommen.  Diese 
Zeilen  sollen  nur  einen  Beitrag  zur  Kenntnis  des  österreichischen 
Archivwesens  liefern;  aus  dieser  ergibt  sich  die  Notwendigkeit  einer 
Reform  und  ihre  Richtung. 


i)  Mayr,  M.,  Über  siaatltehes  Arehwweaen  in  Österreieh  (-»  Zeitschrift  für  Volks- 
wirtschaft, Sozialpolitik  and  Venraltang  XII,  116  ff.).  Vgl.  diese  Zeitschrift  4.  Bd., 
S.  316—317. 


—     117     — 


Die  Gesehiehtsehreibung 
itn  Bistum  Osnabrüek  bis  zum  Ende   des 

XVn.  Jahrhunderts 

Von 
Hermann  Porst  (Zürich) 

In  Osnabrück  hat,  wie  anderwärts,  die  Geschichtschreibung  damit 
begonnen,  da(s  man  kurze  Notizen  über  bemerkenswerte  Ereignisse 
in  die  bei  der  Kathedralkirche  aufbewahrte  Ostertafel  eintrug.  Solche 
Notizen  sind  uns  für  den  Zeitraum  vom  Jahre  772  bis  11 10  erhalten, 
allerdings  nicht  in  der  Urschrift,  sondern  in  einem  Auszuge,  den  der 
Chronist  Ertwin  Ertman  um  das  Jahr  1480  angefertigt  hat  ^).  Ertman 
hielt  dabei  irrtümlich  den  Ostertag,  hinter  dem  die  Notiz  stand 
—  meist  handelt  es  sich  um  den  Tod  eines  Bischofs  —  für  den  Tag 
des  Ereignisses.  Dieses  Verhältnis  hat  F.  Philippi  scharfsinnig  nach- 
gewiesen und  zugleich  gezeigt,  dafe  die  uns  jetzt  verlorene  Ostertafel 
in  Köln  angelegt  und  von  dort  wohl  erst  nach  dem  Jahre  785  nach 
Osnabrück  gebracht  worden  ist  *). 

Für  lange  Zeit  blieben  diese  kurzen  Notizen  das  einzige  Geschichts- 
werk, das  in  Osnabrück  entstand.  Ein  für  die  ganze  Diözese  wichtiges 
Ereignis,  die  Erwerbung  der  Reliquien  des  heiligen  Alexander  für  die 
Kirche  in  Wildeshausen,  konnte  von  keinem  einheimischen  Kleriker 
literarisch  dargestellt  werden ;  zwei  Mönche  des  Klosters  Fulda  mufsten 
diese  Aufgabe  lösen  •).  Der  Grund  dafür  ist  wohl  darin  zu  suchen, 
dafs  Osnabrück  ein  sehr  armes  Bistum  war.  Die  in  jener  Zeit  be- 
deutendsten kirchlichen  Einkünfte,  die  Pfarrzehnten,  kamen  infolge  be- 
sonderer Verhältnisse  in  einem  grofsen  Teile  der  Diözese  nicht  dem 


i)  Zuerst  Teröffentlicht  von  C.  J.  B.  Stüve  in  den  Miäeütmgen  des  historischen 
Vereins  xu  Osnabrück,  Bd.  vn  (1864),  S.  4 ff.,  dann  von  F.  Philippi  in  den  Osna- 
briieker  OesehiehisqueUen,  Bd.  I  (Die  Chroniken  des  Mittelalters,  heraosg.  von  F.  Phi- 
lippi nnd  H.  Forst,  Osnabrück  1891),  S.  i. 

2)  In  Bd.  XV  der  angeführten  „Mitteilungen"  (Osnabrflck  1890),  S.  217—231. 
Seit  1882  lautet  der  Titel  dieser  ZeiUchiift  Mitteihmgen  des  Vereins  für  Geschichte 
und  Landeskunde  von  Osnabrück,  Wir  werden  sie  im  folgenden  einfach  als  „Mittei- 
lungen" anführen. 

3)  üranslaiio  S.  Älexandri  ed.  Pertz,  Mon.  Germ.  Script,  2.  Bd.,  S.  673  &,  VgL 
die  bei  Potthast,  Bibliatheea  histariea  (2.  Aufl.,  Berlin  1896),  Bd.  II,  S.  1151  an- 
geftihrten  Erläuterungsschriften. 


—     118     — 

Bischöfe  zu,  sondern  den  auswärtigen  Klöstern  Korvey  und  Herford  ^). 
Das  Bistum  konnte  daher  nicht  mehr  Geistliche  unterhalten,  als  zur 
Besorgung  der  laufenden  Geschäfte  erforderlich  waren;  zu  literarischen 
Arbeiten  hatte  niemand  Mufse.  Wohl  legen  zahlreiche  Urkunden 
Zeugnis  ab  von  der  Tätigkeit  der  Bischöfe  im  IX.  und  X.  Jahrhundert; 
aber  wir  vermissen  eine  zusammenhängende  Darstellung  der  Begeben- 
heiten, besitzen  auch  nicht  die  Biographie  eines  einzigen  Bischofs. 
Osnabrück  blieb  in  dieser  Beziehung  lange  Zeit  gegenüber  anderen 
Diözesen  im  Rückstande.  Allerdings  erhielt  die  Stadt  im  Jahre  loi  i 
durch  Bischof  Detmar  *)  eine  zweite  Kollegiatkirche ,  das  Stift  St.  Jo- 
hann ;  aber  noch  mehrere  Menschenalter  vergingen,  bis  sich  auch  hier 
der  Sinn  für  den  Wert  geschichtiicher  Aufzeichnungen  entwickelte. 

Der  Investiturstreit  brachte  dem  Bistume  einen  beträchtlichen 
Zuwachs  an  Einkünften.  Bischof  Benno  II.  (1068 — 1088)  war  ein 
treuer  Anhänger  des  Königs  Heinrich  IV.,  während  das  Kloster  Korvey 
unter  dem  besonderen  Schutze  des  Sachsenfürsten  Otto  von  Nord- 
heim stand.  Man  weifs,  welche  bittere  Feindschaft  zwischen  diesem 
Manne  und  dem  Könige  herrschte.  Nun  benutzte  Bischof  Benno  ge- 
schickt die  politische  Lage,  um  gegen  Korvey  einen  Prozefs  anzu- 
strengen. Er  forderte,  dafs  die  Zehnten  von  den  in  seiner  Diözese 
gelegenen,  dem  Kloster  aber  seit  alter  Zeit  inkorporierten  Pfarreien 
nicht,  wie  bisher,  an  das  Kloster,  sondern  an  den  Bischof  entrichtet 
Avürden.  Diese  Forderung  war  schon  von  seinen  Amtsvorgängem 
mehrfach  erhoben  worden.  Sie  entsprach  dem  kanonischen  Rechte; 
aber  Korvey  konnte  sich  dagegen  auf  ältere  kaiserliche  und  königliche 
PrivUegien  berufen,  in  denen  ihm  der  Besitz  jener  Einkünfte  ausdrücklich 
zugestanden  war.  Jetzt  legte  Benno  seinerseits  einige  Urkunden  vor, 
laut  deren  schon  die  letzten  Karolinger  und  später  die  Ottonen  den 
Streit  zu  gunsten  des  Bistums  entschieden  hatten  ^).  Auf  Grund  dieser 
Urkimden  fällte  ein  von  Heinrich  IV.  berufenes  'Fürstengericht  im 
Jahre  1077  ^^  Urteil,  dafs  die  Zehnten  fortan  dem  Bistume  zufliefsen 
sollten. 


i)  Vgl.  die  ausführliche  Darlegung  von  Philippi  in  der  Einleitung  zum  OttUh' 
hrücker  ürkundenbuek,  Bd.  I  (Osnabrück  189a),  S.  Xff. 

2)  Wir  gebrauchen  die  niederdeutsche,  in  Osnabrück  eingebürgerte  Namaisformy 
um  diesen  Bischof  von  seinem  Zeit-  und  Amtsgenossen,  dem  bekannten  Geschichtschreiber 
Thietmar  von  Merseburg,  zu  unterscheiden. 

3)  Diese  Dokumente  waren  gefiüscht;  es  fragt  sich  nur  noch,  wer  der  Fälscher 
gewesen  ist  VgL  Meyer  v.  Knonan,  Jahrbücher  des  deutsehen  Reiches  unier  Hern- 
rieh  IV.,  Bd.  IV  (Leipzig  1903),  S.  55^— 55». 


—     119     — 

Durch  die  Erwerbung*  dieser  Zehnten,  sowie  durch  andere  wirt- 
schaftliche Malsregeln  hatte  Benno  seine  Einkünfte  derart  gesteigert, 
dafs  er  im  Jahre  1082  unmittelbar  neben  seinem  Schlosse  Iburg  ein 
Kloster  errichten  und  mit  Gütern  ausstatten  konnte.  Hier  ward  er  be- 
graben; hier  scheint  auch  ein  Teil  seines  Nachlasses  verblieben  zu 
sein.  In  der  Klosterbibliothek  bewahrte  man  noch  lange  Zeit  eine 
Streitschrift  auf,  welche  auf  Bennos  Veranlassung  der  Dompropst  Wido 
im  Jahre  1084  verfafst  hatte,  um  die  Rechte  des  Königs  gegen  den 
Papst  zu  verteidigen.  Hier  sind  die  Gesichtspunkte  dargelegt,  die 
Bennos  Verhalten  in  dem  Kampfe  der  beiden  Mächte  bestimmt  haben. 
Leider  ist  das  Original  untergegangen,  wahrscheinlich  bei  dem  grofsen 
Brande,  der  im  Jahre  1581  die  Bibliothek  verzehrte.  Erhalten  hat  sich 
nur  ein  Auszug,  den  etwa  um  das  Jahr  11 20  ein  Osnabrücker  Kle- 
riker seinen  Freunden  in  Bamberg  mitteilte.  So  kam  dieser  Auszug  in 
die  von  dem  Bamberger  Kleriker  Udalrich  angelegte  Briefsammlung  *), 

Eine  Ehrenpflicht  für  das  Kloster  war  es,  das  Andenken  seines 
Stifters  zu  pflegen.  Daher  verfafete  der  Abt  Norbert  in  der  Zeit 
zwischen  1090  und  iioo  eine  Biographie  Bennos.  Dieses  Schriftchen 
ist  dann  im  XVII.  Jahrhundert  von  dem  Abte  Maurus  überarbeitet 
und  mit  zahlreichen  Zusätzen  versehen  worden,  und  lange  Zeit  war 
nur  diese  interpolierte  Fassung  bekannt  *).  Da  nun  manche  Angaben 
darin  den  urkundlich  festgestellten  Verhältnissen  widersprechen,  so 
erklärte  F.  Philippi  die  ganze  Biographie  für  eine  im  XVI.  Jahr- 
hundert angefertigte  Kompilation  *) ,  fand  aber  damit  wenig  Zustim- 
mung; besonders  trat  ihm  Scheffer-Boichorst  entgegen*).  Dann 
entdeckte  H.  Brefslau  eine  Abschrift  des  ursprünglichen  Textes.  Bei 
der  Vergleichung  ergab  sich,  dafs  Abt  Maurus  nicht  blofe  Zusätze 
gemacht,  sondern  auch   ganze   Abschnitte  des  Originals   unterdrückt 


i)  Bei  Jaff6,  Bibliotheea  rerum  Oermanicarunif  vol.  V  (Berlin  1869),  S.  328 ff., 
neuerdings  anch  in  den  Ldbelli  de  lue  imperatorum  et  pontificumy  i.  Bd.,  S.  461  ff. 
Eine  Obersetzang  gibt  H.  Hartmann  in  der  nnten  anzuführenden  Lebensbeschreibung 
Bennos. 

2)  Zuerst  gedruckt  bei  Eccard,  Corpus  historicum  medii  aevi,  (1723)  voLII, 
S.  2i6iff.,  dann  (von  R.  Wilmans)  in  den  Mon.  Germ.  Script  XII,  S.  58 ff.  Eine 
deutsche  Übersetzung  veröffentlichte  H.  Hartmann  (Osnabrück  1866),  die  auch  in  den 
„Mitteilungen«  Bd.  Vm  gedruckt  ist. 

3)  F.  Philippi,  Norberts  Vita  Bennonis  eine  Fälschung?  (Neues  Archiv  der 
Gesellschaft  für  ältere  deutsche  Geschichtskunde,  25.  Bd.  1900,  S.  767  ff.) 

4)  Scheffer-Boichorst,  Norberts  Vita  Bennonis  Osnabrugensis  episeopi 
eine  Fälschung?  (Sitzungsberichte  der  Akademie  der  Wissenschaften  zu  Berlin  190X, 
Heft  Vn,  S.  I32ff.) 


—     120     — 

hatte.  Daher  mu(s  der  von  Breislau  veröfTentlichte  Text  die  Grund- 
lage für  alle  weiteren  Forschungen  bilden  *). 

Wohl  erst  durch  das  Beispiel  Norberts  wurden  auch  die  Kano- 
niker von  St.  Johann  angeregt,  eine  Biographie  des  Bischofs  Detmar 
zusammenzustellen.  Diese  Biographie  selbst  ist  uns  nicht  mehr  er- 
halten ;  doch  finden  sich  bei  Ertwin  Ertman  längere  Auszüge  aus  ihr  '). 
Diese  Auszüge  beweisen  aber,  dais  der  Biograph  nicht  mehr  aus 
lebendiger  einheimischer  Überlieferung  schöpfen  konnte,  sondern  sein 
Material  mühsam  aus  literarischen  Quellen,  vor  allem  aus  der  Chronik 
Thietmars  von  Merseburg,  zusammensuchen  mulste.  Der  Verlust  des 
Werkes  ist  daher  nicht  besonders  zu  bedauern. 

Osnabrück  gehörte  zu  denjenigen  Bistümern,  welche  im  Investitur- 
streit am  längsten  auf  der  königlichen  Seite  standen;  erst  im  Jahre 
1118  drang  auch  hier  die  gregorianische  Idee  von  der  Freiheit  der 
Bischoüs wählen  durch  und  veranla&te  ein  Schisma.  Der  Kaiser  mufste 
endlich  nachgeben  und  den  von  der  Opposition  gewählten  Bischof 
Thiethard  anerkennen.  Ein  literarisches  Zeugnis  von  dem  Umschlage 
der  Stimmung  sind  die  Iburger  Annalen,  von  denen  freilich  auch  der 
grölste  Teü  untergegangen  ist.  Nur  zwei  Pergamentblätter  der  Original- 
handschrift sind  erhalten.  Sie  stammen,  wie  die  Schriflzüge  beweisen, 
aus  dem  XII.  Jahrhundert;  eine  genauere  Bestimmung  ist  nicht  möglich, 
da  sich  bis  jetzt  keine  von  derselben  Hand  geschriebenen  Urkunden 
auffinden  liefsen.  Selbständigen  Wert  als  historische  Quelle  besitzt 
nur  das  zweite  Blatt;  es  bietet  Nachrichten  über  die  Jahre  1072  bis 
1085  *).  Dabei  zeigen  sich  auffallende  Anklänge  an  diejenigen  Werke, 
welche  nach  Scheffer-Boichorsts  Untersuchungen  auf  den  uns  jetzt  ver- 
lorenen Paderbomer  Annalen  beruhten.  SchefTer-Boichorst  nahm  des- 
wegen an,  dafis  auch  der  Iburger  Chronist  sein  Material  grölstenteUs 
aus  diesen  geschöpft  habe.  Die  Paderbomer  Annalen  waren  in  der 
Zeit  von  1109  ^^^  1^44  entstanden;  also  konnten  die  Iburger  erst 
nach  II 44  geschrieben  sein  ^). 

i)  Viia  Bennonü  U.  episeopi  Osnabrugenais  auetore  Noriberto  abbaie  Iburgensi 
recogn.  H.  Brefslaa.  Hannover  und  Leipzig,  Hahnache  Bachhandlang,  1902  (Scrip- 
tores  reram  Germanicaram  in  osom  scholanun).  Vgl.  dazu  Brefslaos  Aoftatz  im  Neuen 
Archiv,  28.  Bd.  (1902),  S.  S2[fL 

2)  Oanabrüeker  Oeschiehisquellen,  i.  Bd.  S.  45  und  Einleitung  dazu  S.  LIH. 

3)  Der  Text  beider  Blätter  wurde  zuerst  veröffentlicht  von  L.  Perger  in  der 
(westfälischen)  Zeitschrift  fttr  vaterländische  Geschichte,  18.  Bd.  (Münster  i.  W.  1857), 
S.  277 ff.,  dann  von  Pertz  in  den  Mon.  Genn.  Script.  XVI,  S.  434 ff.,  endlich  von  mir 
in  den  Osnabrücker  Oesehiehtsqueüm,  i.  Bd.,  S.  17$  ff. 

4)  Scheffer-Boichorst,  Annales  Patherbrunnenses  (Innsbruck  1870),  S.  388. 


—     121     — 

Nun  finden  sich  unter  den  Notizen  Ertirin  Ertmans  einige  Nach* 
richten  über  die  Jahie  iiio  bis  1119,  welche  ebenfalls  auffiadlend  an 
jene  aus  den  Paderbomer  Annalen  abgeleiteten  Werke  anklingen,  ihnen 
jedoch  nicht  entnommen  sein  können  ^).  Schon  Pertz  und  Stüve  ver- 
muteten, dals  diese  Nachrichten  aus  dem  uns  verlorenen  letzten  Teile 
der  Ibuiger  Annalen  stammten.  Diese  Vermutung'  habe  ich  dann 
naher  b^^ründet  und  daraufhin  die  Abfassung  der  Iburger  Annalen  in 
die  Zeit  zwischen  1122  und  1137  gesetzt').  Dann  aber  konnte  nicht 
der  Ibuiger  Annalist  den  Paderbomer  benutzt  haben,  sondern  sein 
Werk  mufste  umgekehrt  die  Quelle  des  Paderbomers  gewesen  sein. 

Schon  Perger  hatte  darauf  hingewiesen,  dafs  der  Benediktiner 
Bernhard  Witte,  der  um  das  Jahr  1520  seine  Geschichte  Westfalens 
abschlois,  den  Iburger  Annalen  einige  Sätze  wörtlich  entlehnt  hat. 
Neuerdings  zeigte  dann  F.  Philippi,  dafs  Witte  den  Iburger  Annalen 
keine  über  das  Jahr  1090  hinausreichenden  Nachrichten  entnommen 
hat,  und  folgerte  daraus,  dafs  die  Annalen  mit  diesem  Jahre  endeten, 
Ertmans  Notizen  über  iiio  bis  1119  dagegen  aus  einer  anderen 
Quelle  stammten  *). 

Umgekehrt  hat  Scheffer-Boichorst  in  seinem  letzten,  nach  seinem 
Tode  von  A.  Cartellieri  veröffentlichten  Aufsatze*)  anerkannt,  dafs 
jene  eigentümlichen  Nachrichten  Ertmans  mit  Recht  als  Exzerpte  aus 
den  Iburger  Annalen  in  Anspruch  genommen  worden  sind.  Zugleich 
aber  brachte  er  neue  Gründe  vor,  die  dafür  sprechen,  dafs  der  Iburger 
Annalist  jünger  war  als  der  Paderbomer  und  diesen  benutzt  hat.  Er 
gab  dabei  zu,  daCs  die  erste  Redaktion  der  Paderbomer  Annalen  be- 
reits mit  dem  Jahre  1137  geschlossen  habe,  der  Iburger  also  sie  schon 
vor  1144  einsehen  konnte. 

Diesen  neuen  Argumenten  gegenüber  darf  ich  meine  frühere  An- 
sicht von  der  Priorität  des  Iburgers  nicht  mehr  aufrecht  halten,  son- 
dern muis  Scheffer-Boichorst  beipflichten.  Sicher  ist,  dafs  die  von 
Ertman  benutzten  Annalen  nicht  über  das  Jahr  1125  hinausgingen, 
sondern  mit  dem  Siege  des  Bischofs  Thiethard  schlössen. 

Neben  diesen  Annalen  und  der  Ostertafel  war  anscheinend  noch 
ein  Verzeichnis  vorhanden,  welches  die  Summe  der  Regierangsjahre 


1)  Vcröflfentlicht  zntni  ton  C.  J.  B.  Stüre  in  den  „Mitteilungen"  7.  Bd.   (1864), 
S.  9  ff.  dann  von  mir  in  den  Osnabrflcker  Geschichtsqaellen  I,  S.  184. 

2)  Osnabrflcker  GefchichUqneUen  I,  EinL  S.  XLVUff. 

3)  Philippi  in   dem   oben  angeführten  Aufsätze   ttber   die  Vita  Bennonis  (Neuea 
Archiv  35.  Bd.,  S.  770 ff.). 

4)  Neues  Archiv  27.  Bd.  (1903),  S.  689  ff. 


—     122     — 

jedes  Bischofs  angab  *).  Dieses  Verzeichnis  reichte  aber  wohl  nicht 
über  das  Ende  des  XII.  Jahrhunderts  hinaus;  denn  von  da  an  zeigt 
sich  in  der  einheimischen  Überlieferung  eine  Lücke,  die  in  späterer 
Zeit  durch  Sagen  ausgefüllt  wurde. 

Erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  XIII.  Jahrhunderts  begann  man 
im  Stifte  St.  Johann  kurze  historische  Notizen  in  das  Totenbuch  ein- 
zutragen *).  Der  Domscholaster  Jordanus  verfafete  um  das  Jahr  1280 
einen  theologisch  -  politischen  Traktat;  doch  enthält  dieser  Traktat 
nichts  über  die  Geschichte  des  Bistums ;  der  Verfasser  beschäftigt  sich 
nur  mit  den  grofsen  Fragen,  welche  damals  die  gesamte  abendländische 
Christenheit  bewegten  ^). 

Auch  im  XIV.  Jahrhundert  hat  Osnabrück  keinen  Geschieht' 
Schreiber  hervorgebracht;  doch  bestand  über  die  Kämpfe  jener  Zeit 
eine  verhältnismäfsig  sehr  getreue  mündliche  Überlieferung.  Einige 
Züge  daraus  fafste  um  das  Jahr  1428  der  Domvikar  Albert  Su ho  in 
seinem  Spectdum  futurorum  temporum  zusammen  ^).  Dann  dichtete 
unter  Bischof  Konrad  III.  (1456— 1481),  wohl  auf  Veranlassung  dieses 
Fürsten,  ein  Ungenannter  in  niederdeutscher  Sprache  eine  kurze  Reim- 
chronik, die  mit  Konrads  Vorgänger  Rudolf  schlofe  *).  Diese  Reim- 
chronik liefs  Konrad  auf  einer  Tafel  im  Dome  anbringen.  Ebenso 
liefe  er  die  Gebeine  des  Bruders  Reyner,  der  im  XIII.  Jahrhundert  als 
Rekluse  in  einer  Zelle  beim  Dome  gestorben  war,  im  Jahre  1465 
feierlich  erheben  und,  ebenfalls  in  niederdeutscher  Sprache,  das  Leben 
Reyners,  sowie  die  an  seinem  Grabe  geschehenen  Wunder  beschreiben  •). 

Den  Ansprüchen  der  Gelehrten  genügten  solche  populäre  Werk- 
chen nicht.  Daher  begann  im  Jahre  1480  der  Bürgermeister  und 
bischöfliche  Rat  ErtwinErtman  (gestorben  1 505)  die  Ausarbeitung  einer 
lateinischen  Chronik  des  Bistums  ^).   Ertman  war  Jurist  und  hatte  in  Erfurt 


i)  Osnabrücker  Geschichtsqaellen  I,  EinL  S.  XIII. 

2)  Diese  Notizen  hat  Philipp  i  veröfifentlicht  in  den  Osnabrücker  Geschichtsquellen 
I,  S.  3it 

3)  Über  Jordanus   vgl.  Osw.  Redlich,   Rudolf  von  Habsburg  (Innsbruck  1903), 
S.  423  fr. 

4)  Vgl.  F.  Runge,  Albert  Suho  als   Quelle  für  den  Osnabrücker   Chronisten 
Lilie  (Mitteilungen   16.  Bd.  [Osnabrück  1891],  S.   173  ff.). 

5)  Herausgegeben  zuerst  von  C.  J.  B.  Stttve  (Mitteilungen  7.  Bd.,  S.  iff.)f    ^>^° 
von  mir  in  den  Osnabrücker  Geschichtsquellen  I,  S.  7  ff. 

6)  Leben  des  Bruders  Reiner,   herausgegeben   von  C.  Httdepohl  (Mitteilungen 
I.  Bd.  Osnabrück  1848,  S.  289  ff.). 

7)  Ertwini  Ertmanni    Croniea  sive  catalogus    episcoporum    Osnaburgensium, 
herausgegeben  zuerst  von  Meibom  (Rerum  Germanicarum  T.  II  1688,  p.  193),  dann  von 


—     123     — 

studiert  Seine  Kenntnis  des  kanonischen  Rechtes  verwertet  er,  freilich 
nicht  immer  glücklich,  zu  historischen  Kombinationen.  Daneben  aber 
sucht  er  eifrig  Material  zusammen :  die  Urkunden  des  Domarchivs  hat 
er  sorg&ltig  durchgesehen  und  viele  Auszüge  daraus  mitgeteilt.  Manche 
Pergamente,  die  unbeachtet  unter  den  Chorstühlen  lagen,  wurden  auf 
seine  Veranlassung  hervorgeholt  und  erwiesen  sich  als  historisch  inter- 
essante Schriftstücke.  Ihm  verdanken  wir  die  einzige  uns  erhaltene 
Abschrift  der  Reimchronik  und  die  früher  angeführten  Auszüge  aus 
der  Ostertafel,  den  Iburger  Annalen  und  der  Biographie  Detmars  — 
lauter  uns  jetzt  verlorenen  Quellen.  Ebenso  forschte  er  in  den  Chro- 
niken der  benachbarten  Diözesen  Minden,  Münster  und  Utrecht,  sowie 
der  Erzdiözese  Köln,  und  nahm  ganze  Abschnitte  aus  ihnen  in  seine 
Darstellung  auf).  Wir  freilich  würden  gerne  auf  diese  Erweiterung 
seines  Buches  verzichten;  denn  er  wurde  dadurch  gehindert,  die  Ge- 
schichte seiner  eigenen  Zeit  zu  behandeln.  Sein  Werk  ist  unvollendet 
geblieben,  aber  es  ist  ein  frühes  literarisches  Zeugnis  gelehrter 
historischer  Forschung  in  Deutschland,  wie  sie  nur  ein  humanistisch 
gebildeter  Geist  betreiben  konnte.  Bezeichnender  Weise  ist  der  Ver- 
fasser Jurist,  und  nicht  wie  die  Mehrzahl  seiner  geschichtsschreibenden 
Vorläufer  Theologe. 

Die  kleineren  Klöster  des  Hochstiftes  waren  von  Bischof  Konrad  III. 
sämtlich  nach  der  Bursfelder  Regel  reformiert  und  der  Au&icht  des 
Abtes  von  Iburg  unterstellt  worden.  Dabei  sammelte  man,  was  von 
Stiftungslegenden  und  historischen  Notizen  zu  finden  war.  Die  Le- 
genden der  Klöster  Rulle  und  ösede  sind  uns  noch  erhalten,  freilich 
nur  in  Bearbeitungen  aus  dem  XVI.  Jahrhundert  *).  Dafis  der  Bene- 
diktiner BernhardWitte,  der  in  der  Diözese  Münster  im  Kloster  Lies- 
born lebte,  die  Iburger  Annalen  für  seine  Geschichte  Westfalens  be- 
nutzte,  ist  schon  oben  erwähnt.     Ob   es   gelingen   wird,   aus   diesem 


mir  (Osnabrücker  Geschieh tsqnellen  I,  S.  19  ff.)*    ^S^-  Vildhaut,  Handbuch  der  Quellen- 
künde  xur  deutsehen  Oeschichte,  Bd.  n  (Arnsberg  1900),  S.  399. 

i)  Für  Köln  benutzte  er  die  am  das  Jahr  1370  abgefafste  Orontca  prestdwn  et 
archiepiseoporum.  Da  diese  Chronik  auch  von  dem  Verfasser  des  als  Chronicon 
magnum  Belgicum  bekannten  Sammelwerkes  (vgl.  Vildhaut  a.  a.  O.  S.  361)  benatzt 
wurde,  so  stimmte  Ertmans  Erzählung  meist  wörtlich  mit  dem  ChrMB  üderein.  Doch 
hat  Ertmann  das  ChrMB  selbst  nicht  benutzt. 

2)  Die  drei  Legenden  vom  Kloster  %u  Btdle,  herausgegeben  von  C.  Raven  (Mit- 
teilungen I.  Bd.,  S.  364ff.).  F.  Philippi,  Von  der  SHflung  der  Kirche  und  Etn- 
weihtmg  der  Altäre  %u  Oesede  (Mitteilungen  14.  Bd.,  S.  59  ff.). 


—     124     — 

Werke  die  Iburger  Annalen  in  gröiserem  Umfange  zu  rekonstruieren, 
ist  heute  noch  eine  offene  Frage  ^). 

In  der  Stadt  Osnabrück  setzte  man  zunächst  die  Rehnchronik 
fort;  man  brachte  den  Lebenslauf  Konrads  III.  und  seiner  beiden 
Nachfolger  in  Verse.  Diese  Gedichte  wurden  dann  auf  der  Tafel  im 
Dome  hinter  der  Reimchronik  eingetragen.  Auch  den  Bürgeraufruhr 
vom  Jahre  1488  hat  ein  Zeitgenosse  dichterisch  behandelt*).  Ein 
Domgeistlicher  stellte  um  das  Jahr  1508  Auszüge  aus  älteren  Chro- 
niken zusammen  *).  Die  historischen  Notizen  im  Nekrologium  des 
Stiftes  St.  Johann  werden  zahlreicher  und  ausführUcher  *).  In  dem 
kleinen  Kloster  Marienstette  verfaiste  ein  Ungenannter  um  das  Jahr 
1532  kurze  Aufzeichnungen  über  die  Begebenheiten  der  letzten  drei 
Jahrzehnte  *). 

Durch  die  Annahme  der  Reformation  gewann  die  Stadt  kirchlich 
wie  politisch  mehr  Selbständigkeit  gegenüber  den  Bischöfen.  Ein 
Zeichen  von  erhöhtem  Selbstgefühl  ist  es  wohl,  dafs  der  Rat  in  den 
Jahren  1550  bis  1555  die  Chronik  Ertmans  ins  Niederdeutsche  über- 
setzen liefs,  um  sie  auch  den  Ungelehrten  näher  zu  bringen,  wenn 
sie  auch  nicht  gedruckt  wurde.  Der  Übersetzer  hiefs  Bernhard 
von  Horst.  Zugleich  schrieb  in  Iburg  der  Mönch  Dietrich 
Lilie  eine  Fortsetzung  bis  zum  Tode  des  Bischofs  Franz  im  Jahre 
1553.  Lilie  hatte  während  des  Interims  im  Jahre  1548  eine  Pfarr- 
stelle in  Osnabrück  versehen,  dabei  aber  nach  Ansicht  der  Alt- 
gläubigen den  Lutheranern  zu  viel  Entgegenkommen  bewiesen.  Auch 
zeigt  seine  Darstellung  ein  gewisses  Schwanken  im  Urteil  über  Luther; 
die  Vergleichung  der  verschiedenen  Handschriften  ergibt ,  dafs  Lilie 
unter  dem  Drucke  seiner  Oberen  manche  Sätze  nachmals  geändert  hat. 

In  den  meisten  Handschriften  sind  Horsts  und  Lilies  Arbeiten  so 
eng  verbunden,   dafs   man  lange  Zeit  Lilie   für  den  Verfasser  beider 


i)  Vgl.  darüber  die  Bemerlrongen  von  Scheffer-Boichorst,  Annal.  Patherbnum. 
S.  44,  Anm.  3  and  F.  Philipp!  im  Neuen  Archiv  25.  Bd.,  S.  770.  Ober  Wittes  Leben 
und  Werke  orientiert  der  von  P.  Bahlmann  verfafste  Artikel  in  der  Aügemeinen 
Deutschen  Biographiey  Bd.  43,  S.  587. 

2)  Ober  diese  in  der  niederdeutschen  Übersetzung  von  Ertmans  Chronik  erhal- 
tenen Gedichte  vgL  F.  Runge  in  den  Osnabrttcker  Geschichtsquellen  2.  Bd.,  S.  XLVIff. 
3)H.  Veltman,  Exxerpte  atis  anscheinend  verloren  gegangenen  Osnabrücker 
Chroniken  (Mitteilungen  Xu,  S.  383  flf.) 

4)  Osnabrücker  Geschichtsquellen  I,  S.  4  ff. 

5)  C  J.  B.  Stttve,  Ein  bei  den  Marienstetter  Akten  befindliches  kieines  Heft 
(Mitteilungen  2.  Bd.,  S.  166 ff.).  Darin  findet  sich  n.  a.  eine  Notiz  über  den  Tod 
Ertwin  Ertmans. 


—     125     — 

Teile  hielt.    Erst  der  neueste  Herausgeber  F.  Runge  hat  den  wahren 
Sachverhalt  festgestellt  ^). 

Weniger  durch  äuisere  Rücksichten  beeinfiu&t  als  Lilie  zeigt  sich 
der  humanistisch  gebildete  Edelmann  Kaspar  Schele  in  seinen 
Denkwürdigkeiten.  Dieselben  sind  in  lateinischer  Sprache  abgefaist 
und  behandeln  die  Zeit  von  1530  bis  1549*).  Viele  wichtige  Nach- 
richten über  diese  Zeit  gibt  auch  der  lutherische  Theologe  Hermann 
Hamelmann,  ein  geborener  Osnabrücker,  Sohn  eines  Klerikers  von 
St.  Johann  •).  Ferner  besitzen  wir  eine  Anzahl  Aufzeichnungen  von 
ungenannten  Verfassern,  wohl  städtischen  Beamten  oder  Geistlichen, 
über  Verfassung  und  Schicksale  der  Stadt  im  XVI.  und  XVII.  Jahr- 
hundert. Diese  kurzen  Notizen  können  nicht  als  Geschichtswerke  im 
eigentlichen  Sinne  betrachtet  werden ;  doch  sind  sie  zuverlässig  ^).  Im 
Jahre  161 7  gründete  Martin  Mann  die  erste  Druckerei  in  Osnabrück, 
und  aus  dieser  Offizin  ging  schon  im  Jahre  16 19  eine  von  Rudolf 
Bellinckhausen  verfafete  Chronik  in  deutschen  Versen  hervor.  In 
der  Folgezeit  erschienen  hier  zahlreiche  Flugschriften  über  Tages- 
ereignisse *). 

Eine  kurze  Geschichte  des  Nonnenklosters  Malgarten  schrieb  im 
Jahre  1601  der  Beichtvater  Johann  Veltman.  Lange  Zeit  galt  dieses 
Werk  fiir  verloren  *).  Neuerdings  aber  ist  die  Originalhandschrift  von 
einem  süddeutschen  Antiquar  zum  Kaufe  ausgeboten  worden  und  be- 
findet sich  jetzt  in  Privatbesitz  ^. 

i)  Zuerst  erschienen  beide  Teile  im  Druck  unter  dem  Titel  Oesehichte  des  Fürsten- 
ttiiTis  und  Hochstifts  Osnabrück  (Osnabrück  1 792)  in  vier  Bändchen ;  davon  enthält  das 
erste  die  Übersetzung  Ertmans,  das  zweite  die  Fortsetzung  von  Lilie,  das  dritte  und 
vierte  eine  Zusammenstellung  kleinerer  historischer  Aufzeichnungen  aus  dem  XVI.  und 
XVII.  Jahrhundert.  Der  Text  Lilies  ist  hier  nach  einer  stark  interpolierten  Handschrift 
wiedergegeben.  Für  kritische  Untersuchungen  darf  daher  jetzt  nur  die  neue,  von 
F.  Runge  besorgte  Ausgabe  (Osnabrücker  Geschichtsquellen  2.  Bd.,  Osnabrück  1894) 
benutzt  werden. 

2)  Mitteilungen  I,  S.  85  ff. 

3)  Allgemeine  Deutsche  Biographie  Bd.  X,  S.  474 ff.,  sowie  Hermann  Hamel- 
mann,  eine  Skixxe  seines  Lebens  und  seiner  Schriften  von  Emil  Knodt  (Herbom) 
in  dem  Jahrbuch  des  Vereins  für  die  Evangelische  Kirchengeschichte  der  Grafschaft  Mark, 
I.  Jahrg.  (1899),  S.  1—93. 

4)  Zusammengestellt  sind  diese  Aufzeichnungen  in  Teil  III  und  IV  der  Oesehichte 
des  Fürstentums  und  Hbehstifts  Osnabrück  (s.  oben). 

5)  Vgl.  H.  Runge,  Oesehichte  des  Osnabrücker  Buchdrucks  (Mitteilungen  17.  Bd. 
1893).     Das  Verzeichnis  der  Drucke  beginnt  daselbst  S.  322. 

6)  O.  Lorenz,  Deutschlands  Oesehichtsquelleny  2.  Bd.  (3.  Aufl.  1886),  S.  82. 

7)  Vgl  die  Notiz  darüber  in  den  Osnabrücker  GescMchtoquellen  3.  Bd.  (1895), 
S.  259  (s.  unten). 


—     126     — 

Die  von  Köln  ausgehende  Gegenreformation  fand  in  Osnabrück 
einen  energischen  Vorkämpfer  an  Bischof  Franz  Wilhelm  (1625  bis 
1661).  Man  wei(s,  dafe  die  Vertreter  dieser  Richtung  den  Protestan- 
tismus ebensosehr  mit  geistigen  Waffen  wie  mit  physischen  Zwangs- 
mitteln bekämpften.  Zu  ihren  geistigen  Waffen  aber  gehörte  vor 
allem  die  kirchengeschichtliche  Forschung.  So  verdanken  wir  einem 
Gehilfen  Franz  Wilhelms,  dem  Kölner  Gelehrten  Ägidius  Gelenius, 
die  neuerdings  von  H.  Breislau  entdeckte  Abschrift  der  unverfälschten 
Vita  Bennanis.  Auf  Franz  Wilhelms  Veranlassung  wurden  auch  Bio- 
graphien der  beiden  als  Lokalheilige  geltenden  Bischöfe  Wiho  und 
Adolf  zusammengestellt ;  doch  haben  diese  für  uns  keinen  selbständigen 
Wert,  da  sie  nur  auf  noch  vorhandenen  Quellen  beruhen  *). 

In  das  Kloster  Iburg  trat  im  Jahre  1653  als  Novize  Maurus 
Rost,  der  Sohn  eines  englischen  Emigranten.  Maurus  zeichnete  sich 
unter  seinen  Ordensbrüdern  so  aus,  dais  er,  kaum  33  Jahre  alt,  im 
Jahre  1666  zum  Abte  gewählt  wurde.  Die  Vermögensverhältnisse  des 
Klosters  waren  zerrüttet;  Maurus  mufste  sich  bemühen,  entfremdete 
Güter  wieder  zu  erwerben,  vergessene  Rechte  neu  geltend  zu  machen. 
Dies  führte  ihn  zum  Studium  der  Urkunden  und  zu  dem  Entschlüsse, 
eine  Geschichte  des  Klosters  zu  schreiben.  Seine  in  lateinischer 
Sprache  abgefafsten  Annalen  umfassen  die  Zeit  von  der  Gründung 
Iburgs  bis  zum  Jahre  1700  *).  Für  die  ersten  Jahrhunderte  sind  sie 
nur  mit  Vorsicht  zu  benutzen;  denn  Maurus  wollte  nachweisen,  dafis 
die  bischöfliche  Burg,  die  neben  dem  Kloster  stand,  ursprünglich  auf 
Klostergut  erbaut  sei.  Diesem  Zwecke  dienen  auch  gewisse  Inter- 
polationen, die  Maurus  in  die  Vita  Bennonis  hineinbrachte.  Die  alten 
Iburger  Annalen  hat  er  nicht  mehr  gekannt;  sie  waren  also  zu  seiner 
Zeit  schon  verloren.  Selbständigen  Wert  gewinnt  seine  Darstellung 
erst  mit  dem  XV.  Jahrhundert;  denn  hierfür  konnte  er  noch  manche 
jetzt  verschwundene  Quellen  benutzen.  Für  seine  eigene  Zeit  be- 
schränkt er  sich  nicht  mehr  auf  die  Lokalgeschichte,  sondern  zieht 
auch  die  auswärtigen  Ereignisse  in  den  Kreis  seiner  Betrachtung:  so 
die  Kriege  Ludwigs  XIV.,  der  Türkenkrieg  von  1683  bis  1697,  die 
englische  Revolution  von  1688.  Freilich  kann  er  nur  berichten,  was 
er  aus  den  damals  so  zahlreich  erscheinenden  Flugschriften  erfuhr; 
doch  ist   es  interessant  zu    sehen ,    wie   ein  in    die   Geheimnisse  der 


i)  Vgl.  Osnabrücker  G^schichUqneUen  l.  Bd.,  S.  UEL 

2)  Annalea  monoHoni  S,  Ciementü  m  Iburg  coUectcre  Mauro  ahbate^  heraus- 
gegeben Ton  C.  StttTe  (Osnabrücker  GeschichtsqaeUen  3.  Bd.,  Osnabrück  1895). 


—      127     — 

hohen  Politik  nicht  eingeweihter  katholischer  Prälat  jene  Vorgänge 
beurteilt. 

Fürstbischof  von  Osnabrück  war  seit  1662  der  Herzog  (später 
Kurfürst)  Ernst  August  von  Hannover.  Dieser  hat  mit  seiner  Ge- 
mahlin Sophie  anfangs  in  Iburg,  später  von  1672  bis  1680  in  Osna- 
brück residiert.  Sophie  hat  diese  glücklichste  Epoche  ihres  Lebens 
in  ihren  Memoiren  eingehend  geschildert  *).  Dafs  auch  Abt  Maurus, 
der  strenge  Katholik,  sich  dem  Zauber  dieser  hochgebildeten  philo- 
sophischen Fürstin  nicht  entziehen  konnte,  zeigen  einige  Bemerkungen 
in  seinem  Werke. 

Im  Bistum  Osnabrück  war  Maurus  der  letzte  Vertreter  der  alten 
naiven  Geschichtschreibung,  welche  im  engen  Anschlufs  an  die  zu- 
fallig vorhandenen  Quellen  einheimische  und  auswärtige  Begebenheiten 
durcheinander  erzählte  *).  Die  kritische,  sich  auf  die  Landesgeschichte 
beschränkende  Forschung  hat  dort  erst  mit  dem  18.  Jahrhundert  be- 
gonnen, veranlafst  durch  einen  Angriff  auf  die  Echtheit  der  angeblich 
ältesten  Urkunden  des  Stiftes  ^).  Zugleich  wandte  damals  ein  anderer 
Gelehrter,  der  Gymnasialrektor  Zacharias  Götze,  seine  Aufmerk- 
samkeit den  im  Lande  gefundenen  Überresten  aus  römischer  Zeit  zu  ^). 
Auf  Grund  dieser  Vorarbeiten  erst  konnte  Justus  Moser  versuchen, 
die  Landesgeschichte  von  den  ältesten  Zeiten  an  darzustellen,  während 
die  älteren  Lokalhistoriker  nicht  über  Karl  den  Grofscn  und  Wittekind 
zurückgegangen  waren.  Wohl  hat  Ertman  seine  Kenntnis  des  römischen 
Rechtes  auch  bei  seinen  geschichtlichen  Forschimgen  gelegentlich  ge-^ 
zeigt;  Kaspar  Schele  und  Maurus  Rost  bemühen  sich,  ein  schul- 
gerechtcs  klassisches  Latein  zu  schreiben;  aber  erst  Moser  hat  die 
humanistischenStudien  systematisch  für  die  Osnabrücker  Landes- 
geschichte verwertet  *). 


i)  Memoiren  der  Berx4)gm  Sophie,  nachmals  Kurfitrstin  von  Hannover,  heraas- 
gegeben  von  A.  Köcher  (Pablikationen  ans  den  K.  PrenfsUchen  Staatsarchiren  4.  Bd.„ 
Leipzig  1879). 

3)  Die  kurzen  Aofzeichnongen  des  Rentmeisten  Schmitman  ans  den  Jahren  1661 
bis  1666  (MitteUungen  26.  Bd.  [1902],  S.  277  ff.)  können  nicht  als  eigentliches  Geschichts« 
werk  betrachtet  werden. 

3)  Vgl.  Philippi  in  Osn.  US.  I,  Einl.  S.  K. 

4)  Nachrichten  über  Götze  enthält  das  Programm  des  Ratsgymnasiams  1869,  S.  25ff.^ 
▼gl.  dazu  F.  Runge,  QesehichU  des  Baisgymnasiums  (Osnabrück  1895),  S*  55* 

5)  Damit  ist  lUr  Osnabrück  die  in  diesen  Blfittern,  4.  Bd.,  S.  299,  aofgeworfene- 
Frage  beantwortet,  soweit  dies  auf  Grund  des  gedruckten  Materials  möglich  ist 


%^^>^N^>^^»i^>^»M^*^»^>^'^^>^>^" 


—     128     — 

Mitteilungen 

OrtSTeneichnisse*  —  Wie  es  mit  derartigen  Werken 
ü!»  ^<t9cbM%ikae&  Teden  Deutschlands  steht,  ist  bereits  früher  wiederholt 
^t^^^e^Mt  «onikn  *).  Neuerdings  ist  nun  auch  in  Westpreufsen  eine 
iiltotokc^^<  V^rOd^ndicbimg  angeregt  worden,  die  auch  insofern  von  Bedeutung 
te4^  ,^  sJbDe  Amtgang  dazu  Ton  dem  1901  neu  gegründeten  K^  Staats- 
ji  *  >:  h  X  ^  <u  l^aniig  ausgegangen  ist,  das  damit  seine  wissenschaftliche  Tätig- 
IciC  N^uuftt  Darlegungen  über  das  Unternehmen  Tom  Staatsarchivar  Bär, 
vhc  *uclx  auj&erhalb  der  Provinz  —  namentlich  überall  dort,  wo  slavische 
^HcuMimeo  vorhanden  sind,  also  bis  westlich  der  Elbe  —  Beachtung  und 
^,1«^  Vcihäitnissen  entsprechende  Würdigung  verdienen,  finden  sich  in  den 
\ii:u4iuH4^'n  tk^  Westpreußischen  OeschiciUsvereins  (3.  Jahrgang  Nr.  i  := 
Yaaiu&r   1904)»  die  wir  deshalb  hier  im  wesentlichen  wiedergeben  wollen: 

„Weit  schwieriger  als  in   irgendeiner  Provinz   gestaltet   sich  in  West- 
picufken  jede  Feststellung  über  die   historische  Benennung   und  die  geo- 
graphische Zugehörigkeit  der  Dörfer  imd  örtlichkeiten.    Den  Grund  hierfür 
bietet  die  in  dieser  Allgemeinheit  sonst  in  keiner  Provinz,  auch  in  keiner 
Uec    ö^hchen  Provinzen  wahrnehmbare  Tatsache,  dafs   die   meisten  Orte 
iiu   l'Aufe   der   Jahrhunderte    wenigstens   zwei    verschiedene   Namen    oder 
U<.Hh  Namenformen  gehabt  haben,  eine  deutsche  und  eine  polnische. 
AUc  OxKt  aber  weisen  darüber  hinaus  mehrere  Entwickelungsformen  ihrer 
Ueut^^hen  bezw.  polnischen  Namen  auf,  die  jede  Lokalisierung  im  Einzd- 
tiaiie  au  einer  schwierigen  tmd  sehr  oft  tmlösbaren  Aufgabe  gestalten.    Sie 
wirü   fUr   spätere  Zeiten  —  wenn   nicht  jetzt  eine  Festlegung   eintritt  — 
ucKh  viel   schwieriger  werden,   weil   die    seit   einigen  Jahrzenten    übliche 
v.>it:u)ainenänderung  wieder  neue  Namen  den  alten  und  den  bestehenden 
huuut\i^t«      Diese   neuen  Namen  sind  nun,   wie   anerkannt  werden  mufs, 
vicUach   unter  Berücksichtigung   der  alten   deutschen  Bezeichnung  gewählt 
^vuU^u  uud  es   ist   nicht   zu  verkennen,   dafs   hier  die  für   einige  Kreise 
vivi:tvii^i  Ihovinz  vorhandenen,  mit  geringer  Ausnahme  musterhaften  Kreis- 
gv^vbichten  von  gutem  Einflufs  gewesen  sind.    Aber  ebenso  oft  sind  jene 
N^vucuv^udeningen    ohne  jene   Rücksicht,    ohne   historisches   Gefühl    imd 
s^hv\c    Not   gaiu    willkürlich   vorgenommen   worden.      Einige   Beispiele 
xvKU  vUt\u   angeführt.     Das  Gut  Dziemiony  im  Kreise  Thom  *)  hiefs  zur 
V^uku^^cit  Simnau,  der  dementsprechende  polnische  Name  Dziemiony  ist 
sU  u^  vu  uuMcien  Tagen  in  Dreilinden  umgeändert,  der  historisch-sprachliche 
'  uiu^uvvhhaug   also    ohne   Not  unterbrochen  worden,    weil   es   richtiger 
<swsx\vw  wAu\  die  alte  deutsche  Fonn  Sinmau  wieder  zu  Ehren  zu  bringen. 
y  Sik^^sv   yt^ihalt   es   sich   mit  Pygrza  im  Kreise  Thom.      Der  Ort  wurde 
.*-     N^-styMvisMt    Wppingsee   und   Poppmgsee    genannt    und    hat   mm   seit 
>   •>*    KvOs^   \v\»  Jahren   den  Namen  Emstrode   erhalten.     In   demselben 

^^  V;^     i    IM.»   S,  97—109   und    129—137   sowie   4.  Bd.,    S.  186—187.    Ent- 
^*     V   \\^  <v  k«^ci>  Baden   and  Elsafs   sowie  Württemberg,   wenn  aach  in  anderer 
^  ,\^'y  HA*  *'^v^si^i^4bungen),  gearbeitet  wird  an  solchen  in  Hessen- Waldeck,  in  Thü- 
^    «i^  s     M   V>v,^,^^^.^  Sachsen  und  Niederösterreich. 

^  ^  ^  ^  H  ^  ♦  I X   beschichte   der  ländlichen    Ortschaften  usw.  des   Kreises  Thom, 


—     129     — 

Kreise  Thorn   hiefsen   die  Orte  Slomowo,   Kamionken  und  Grzywno  zur 
Ordenszeit  Slumme,    Kemmenig  und   Griffen    und  wurden  unter    Nicht- 
beachtung   des    historisch -sprachlichen   Zusammenhanges   in   Rydigsheim, 
Steinau  und  Stemberg  umgeändert     Es  würde   femer  fUr  Szramowo  im 
Kreise   Strasburg    statt  des    neuerdings    gewählten   Namens   Niedeck   die 
Wiederherstellung   des  alten  ordenszeitüchen  Schrammendorf  und  für  Jab- 
lonowo  im  Kreise  Strasburg  statt  Gofslershausen  der  einstige  Name  Gabelnau 
zu    empfehlen    gewesen    sein.      Hiemach   wird    man    zugeben ,    dafis   die 
Schaffung   eines  Ortslexikons   und   die  Feststellung  der  Ortsnamenformen« 
von  erheblichem  Einflufs  für  diese  ganze  Frage  sein  wird.     Sie  wird,  wie 
diese  Beispiele   gezeigt  haben,   in   erster  Linie   sich   brauchbar   erweisen, 
wenn  es  sich  bei  Verändemng  eines  polnischen  Ortsnamens  daram  handeln 
kann,    eine   bereits   früher    gebräuchlich  gewesene   deutsche   Bezeichnung 
wieder  anzunehmen,  sei  es  dafs  der  wiederanzunehmende  Name  ursprüng- 
lich  deutsch  war   oder   durch  Umfomiung   tmd  Eindeutschung  eines   ur- 
sprünglich polnischen  Namens  ein  deutsches  Gewand  erhalten  hatte.    Aber 
auch  wenn  wir  die  Kenntnis  der  einstigen  deutschen  Form  eines  Namens 
nicht  besitzen,   kann  das  Ortslexikon  sich  als  ein  brauchbares  Hilfsmittel 
für  die  vorliegende  Frage  dadurch  erweisen,  dafs  wir  aus  ihm  die  Gesetze 
kennen  lernen^  nach  welchen  in  früheren  Jahrhunderten  die  Polonisierung 
deutscher  Ortsnamen  und  die  Eindeutschung   polnischer  Ortsnamen   statt- 
gefunden hat.     Können  wir  dann  beim  Mangel   älterer  Quellen  oder  weil 
ein  Ort  überhaupt  erst  zu  polnischer  Zeit  besiedelt  worden  ist,  eine  ältere 
deutsche  Namensform  überhaupt  nicht  mehr  feststellen,  so  werden  wir  in 
vielen  Fällen  in  der  Lage  sein,   durch  Beobachtung  jener  Gesetze,   nach 
denen  die  alte  Sprache  Namen  polonisiert  bezw.  eingedeutscht  hat,  auch 
heute   noch    polnischen   Ortsnamen   ein    deutsches   Gewand   künstlich   zu 
geben,  wie  es  früher  die  lebendige  Sprache  von  selbst  getan  hat  bei  ihrer 
gröfseren,    durch  keine   Schriftsprache   und   keine   amtliche   Schreibweise 
eingeengten   Bewegungsfreiheit.     Einige  Beispiele   werden   das  Gesagte  er- 
läutern, wobei  im  voraus  zu  bemerken  ist,  dafs  es  im  einzelnen  Falle  nur 
selten  möglich  ist,   mit  Genauigkeit  zu  sagen,   ob  der  deutsche  oder  der 
polnische   Name   der   ältere   und   ursprüngliche   gewesen  ist.     In   einigen 
Fällen  hat  geradezu  eine  Übersetzung  aus  der  einen  in  die  andere  Sprache 
stattgefunden.     Im   heutigen   Kreise   Strasburg  ^)   hiefs   zur  Ordenszeit  ein 
Ort  Roddin  und  Roden,  dessen  polnischer  Name  Karczewo  sich  als  eine 
Übertragung   durch  karczowac   =   roden   darstellt     Ebenso   entsprechen 
einander  als  Übersetzungen   Piecewo  imd  Ofen,   Nowawies  und  Neudorf, 
Czystochleb  und  Schönbrot,  Zielen  und  Grunenberg,  Lipnica  und  linde, 
Srebmiki  und  Silbersdorf.     Daraus  folgt,  dafs  in  solchen  Fällen,  wo  eine 
Feststellung  der  emstigen   deutschen  Namensform  nicht  mehr  möglich  ist, 
auch   die  Verwendung   einer  Übersetzung   zur  Wahrung   des   sprachlichen 
Zusammenhanges  berechtigt  sein  kann.    Meist  allerdings  ist  die  sdte  Sprache 
anders  verfahren,  sie  hat  das  fremde  Wort  sich  selbst  mtmdgerecht  gemacht, 
wofür  auch   der   eben    zuletztgenannte   Ort   Srebmiki   =   Silbersdorf  ein 
Beispiel  bietet,  denn  tatsächlich  ist  Silbersdorf  erst  eine  spätere  Bezeichntmg, 


i)  Plehn,  Ortsgeschichte  des  Kreises  Strasburg,  Königsberg  1900. 

9 


—     130     — 

während  der  Ort  zur  ganzen  Ordenszeit  Schrebemik  genannt  worden  ist 
Der  oben  schon  genannte  Ort  Jablonowo  heifst  in  der  ältesten  Form 
Jabloyo  imd  war  eine  der  zerstörten  Burgen,  die  der  Herzog  Konrad 
von  Masowien  1222  dem  Bischof  Christian  von  Preufisen  schenkte.  1295 
erscheint  der  Name  schon  in  verdeutschter  Form  Gobilnau  und  dann  Gabehiau, 
bis  im  16.  Jahrhundert  der  pobiische  Name  Jablonowo  Platz  greift  und  der 
Besitzer  Nildas  v.  Eicholz  den  Namen  Jablonowski  annimmt  Die  Beobachtung 
nun,  dafs  die  polnische  Endung  ow  und  owo  einem  deutschen  au  ent- 
spricht, läfst  sich  so  oft  machen,  dafs  sie  in  der  rein  sprachlichen  Mode« 
lung  als  die  Regel  erscheint ')  und  es  entsprechen  Pi^tkowo  =  Pindcau, 
Gronowo  =  Grünau,  Rogowo  =  Rogau.  Andere  viel  vorkommende 
polnische  Endungen  yca,  ica,  ice,  ycz  entsprechen  dem  deutschen  itz, 
ieniec  einem  deutschen  enz  z.  B.  Tyhce  =  Thilitz,  Rybieniec  =  Ribenz 
imd  Reibnitz,  die  polnischen  Endungen  in,  yn  werden  zum  deutschen  en 
abgeschlififen,  z.  B.  Radzyn  =  Rehden,  Lasin  =  Lessen,  L^zyn  =  Lansen 
imd  W^zyn  =  Wansen,  die  polnischen  Endungen  sk  und  sko  entsprechen 
dem  deutschen  seh  z.  B.  Radowisko  =  Redewisch,  Targowisko  =  Targe- 
wisch  und  Therwisch.  Daneben  kommen  bei  allen  diesen  Endungen  aber 
auch  freiere  Umbildungen  vor,  so  dafs  Gawlowice  und  Gabelndorf,  Pilewice 
imd  Pfeilsdorf,  Galczewo  und  Galsdorf,  Gotartowo  und  Gottersdorf,  Dzia- 
lowo  und  Salendorf,  Szramowo  und  Schrammendorf,  Szymkowo  und 
Schenkendorf  einander  entsprechen.  Wie  für  die  Schlufssilben,  so  werden 
sich  auch  für  die  Anfangssilben  und  namendich  für  die  Umsetzimg  der 
Konsonanten  gewisse  Regeln  ergeben  und  es  ist  kein  Zweifel,  dafs  ihre 
Beobachtung  und  ihre  Anwendung  in  den  Fällen,  in  denen  die  Umände- 
rung eines  Ortsnamens  für  wünschenswert  gehalten  wird,  dazu  führen  kann, 
den  historischen  und  sprachlichen  Zusammenhang  mehr,  als  es  vielfach 
bisher  geschehen  ist,  zu  wahren. 

Mit  dem  hier  gesagten  soll  nun  nicht  etwa  behauptet  werden,  dafs 
die  Frage  der  bei  uns  üblichen  Ortsnamenänderung  etwa  allein  die  Be- 
arbeitung eines  historisch-geographischen  Ortslexikons  rechtferigen  könnte» 
sondern  es  sollte  damit  nur  sein  Nutzen  überhaupt  nach  einer  besonderen^ 
auf  unsere  westpreufsischen  Verhältnisse  hinweisenden  Richtung  erläutert 
werden. 

Der  Plan  der  Anlage  eines  solchen  Ortslexikons  würde  sich  in  folgende 
Sätze  begreifen  lassen. 

1 .  Das  historisch-geographische  Ortschaftverzeichnis  der  Provinz  West- 
preufsen  hat  die  Aufgabe,  in  lexikographischer  Form  von  den  örtlichkeiten 
der  Provinz  diejenigen  Nachrichten  zu  geben,  welche  die  Entwickelung 
des  Namens,  die  Lage,  Entstehung  und  jeweilige  Zugehörigkeit  zu  poli- 
tischen oder  kirchlichen  Bezirken  klarstellen. 

2.  Aufgenonmien  werden  Ortschaften,  Burgen,  Schlösser,  Gutsbezirke» 
Einzel-Höfe  und  -Mühlen,  aufserhalb  der  Ortschaften  liegende  Kapellen, 
Wüstungen,  Flurnamen,  Berge,  Wasserläufe,  Seen  und  Wälder,  soweit  sie 
urkundlich  genannte  Namen  haben. 


i)  Betüglich  einer  AnfsteUung  solcher  Regeln  ist  das  hierfür  wichtige  Werk 
Wojciech  K^tnyaskis  zu  vergleichen:  O  Indoosci  Polskiej  w  Prosiech  niegdys  krxyjackicK 
S.  92  ff. 


—     131     — 

3.  Unter  dem  einzelnen  Artikel  ist  anzugeben:  Der  heutige  Name 
in  amtlicher  Schreibweise  mit  HinzufUgung  des  Amtsgerichtsbezirkes;  die 
Namensformen  9  soweit  sie  einen  Fortschritt  in  der  Namenentwickelung 
bedeuten  imter  Angabe  der  Zeit;  geschichtüche  Nachrichten  über  Ent- 
stehimg, Zusammensetzung  imd  topographische  Entwickeltmg  (also  Grün- 
dung, Handfeste),  Erhebung  zur  Stadt,  Eingemeindungen,  im  Orte  liegende 
Burgen,  Schlösser,  Kirchen,  Klöster,  femer  Familien,  welche  das  Dorf 
oder  Gut  besessen  tmd  dergl ;  die  Entwickelung  der  politischen  Zugehörig- 
keit (terra,  Komturei,  Starostei,  Powiat,  landrätlicher  und  steuerrätlicher 
Kreis,  heutiger  Kreis  und  die  älteren  Gerichtsbezirke);  die  kirchliche  Zu- 
gehörigkeit; Literatur  über  einzelne  Ortschaften. 

Die  Bearbeitung  eines  solchen  Werkes  wird  naturgemäfs  eine  erheb- 
liche 2^it  tmd  die  dauernde  Tätigkeit  einer  vollen  Arbeitskraft  auf  mehrere 
Jahre  in  Anspruch  nehmen,  auch  wenn  man  die  Auswahl  der  durch- 
zuarbeitenden Quellen  vorher  durch  Sichtung  beschränkt.  Unerläfslich 
aber  wird  es  sein,  die  gesamte  rein  urkundliche  Überlieferung  der  älteren 
Zeit  heranzuziehen,  namentlich  aber  femer  die  Zins-  und  Hausbücher  des 
deutschen  Ordens  als  vornehmste  Quelle  für  die  Namen  jener  Zeit,  femer 
die  Lustrationen  der  Starosteien,  die  Eintragungen  in  die  Gerichtsbücher, 
die  Gmndbücher,  und  die  im  hiesigen  Staatsarchiv  verwahrten  berühmten 
Akten  der  Friderizianischen  Landesau&ahme ,  endlich  die  gesamte  für 
diesen  Zweck  in  Betracht  kommende  gedmckte  Literatur. 

Natürlich  wird  die  Bearbeitung  auch  Kosten  vemrsachen.  Aber 
gleichzeitig  mit  der  Berühmng  dieser  meist  unangenehmen  Frage  kann 
ich  erfreulicherweise  mitteilen,  dafs  diese  Frage  für  uns  schon  kaum 
noch  eine  Frage  ist,  insofem  es  mir  gelungen  ist,  die  Mittel  zunächst 
für  einige  Zeit  und,  wie  ich  hofife,  bis  zur  Beendigung  der  Arbeit  bereit 
gestellt  zu  erhalten.  Vom  i.  Januar  oder  vom  i.  April  an  wird  ein 
junger  Gelehrter  nach  Ablegung  des  Archiv-Staatsexamens  hierher  gesandt 
werden,  um  nach  einem  vorher  im  Staatsarchiv  festzustellenden  Plane  die 
Arbeit  zu  übemehmen.  Der  späteren  Dmcklegung  und  Veröffentlichung 
aber  wird  hoffentlich  der  Westprenlsische  Geschichtsverein  sein  fürsorg- 
liches Interesse  nicht  versagen.** 

Ne^JahrsbUtter,  —  Die  Tätigkeit  der  geschichtsforschenden  Gesell- 
schaften läuft  bei  dem  heutigen  Stande  der  Forschung  namentlich  darauf 
hinaus,  neues  Quellenmaterial  zu  erschliefsen  und  der  Bearbeitung  zugänglich 
zu  machen,  da  die  Arbeitsleistung  des  einzelnen  Privatmannes  hierzu  nicht 
ausreicht.  Innerhalb  der  geschichtsforschenden  Organisationen  haben  wiederum 
die  meist  mit  öffentlichen  Mitteln  ausgestatteten  sogenannten  „Publikations- 
institute", meist  Historische  Kommissionen,  ganz  vorwiegend  die 
Veröffentlichung  umfangreicher  Quellen  in  die  Hand  genommen,  tmd  ihre 
Betätigimg  hat  infolge  davon  einen  streng  wissenschaftlichen  Charakter  ge- 
wonnen. Trotz  alledem  läfst  sich  nicht  verkennen,  dafs  kritische  Quellen- 
edition doch  nur  Vorarbeit,  wenn  auch  unbedingt  notwendige  Vorarbeit, 
darstellt  imd  dafs  sie  aufserdem  weniger  aus  inneren,  wissenschaftlichen 
Gründen,  sondem  als  Ausflufs  des  wirtschaftlichen  Prinzips  der  Arbeitsteilung 
gesondert    betrieben    wird:    Ziel    der    Geschichtsforschung   bleibt 

9* 


—     132     — 

trotzdem     die     abgerundete     künstlerische    Darstellung    ge- 
schichtlichen Geschehens  und  geschichtlicher  Zustände. 

Dieser  Gedanke  besagt  etwas  an  sich  selbstverständliches,  aber  er  muis 
ausgesprochen  werden,  um  angesichts  der  unermüdlichen  Quellenerö&ung 
nicht  die  Meinung  aufkommen  zu  lassen,  als  ob  die  Vertreter  der  wissen- 
schaftlichen Geschichtsforschimg  darin  ihre  Hauptaufgabe  erblickten.  Und 
zum  Glück  findet  dieser  Satz  in  den  Tatsachen  seine  Bestätigung,  insofern 
nämlich  wenigstens  zwei  der  historischen  Kommissionen  (Sachsen-Anhalt 
imd  Baden)  in  dem  Bewufstsein  ihrer  Pflicht,  auch  der  Darstellung  zu 
ihrem  Rechte  zu  verhelfen,  tmd  in  der  Absicht,  auch  auf  weitere  Kreise  ein- 
zuwirken, jährlich  ein  Neujahrsblatt  erscheinen  lassen.  Diese  kleinen 
Darstellungen  aus  dem  Arbeitsgebiete  der  beiden  Kommissionen  sind  auf 
gediegener  Quellenkenntnis  aufgebaute  Arbeiten,  die  Forschungsergebnisse  in 
ansprechender  Form  dem  grofsen  Publikum  geniefsbar  machen,  aber  zu^eich 
die  geschichtliche  Erkenntnis  mehren  sollen.  Indem  sie  diesen  Zweck  er- 
füllen, helfen  sie  aber  auch  dazu,  das  Wissen  von  der  Landesgeschichte  zu 
mehren  und  den  gelehrten  Instituten,  die  sie  herausgeben,  in  weiteren  Kreisen 
Freunde  zu  gewinnen.  Dies  letztere  ist  ein  Gegenstand  von  höchster  Be- 
deutung, der  in  jeder  Landschaft  den  Gedanken  nahe  legen  sollte,  ob  sich 
nicht  ähnliches  ins  Leben  rufen  liefse,  und  die  Frage  ist  überall 
da  besonders  brennend,  wo  die  Haupttätigkeit  des  Instituts  im  engeren  Sinne 
wissenschaftlicher  Natur  ist  Der  Vorteil,  den  es  gewährt,  wenn  eine  fort- 
laufende Serie  um  eine  Menge  von  Einzelarbeiten  ein  gemeinsames  Band 
schlingt  tmd  wenn  das  herausgebende  Institut  eine  Gewähr  fUr  die  Qualität 
der  Darbietungen  übernimmt,  liegt  auf  der  Hand.  Was  mit  den  Neujahrs- 
blättem  geleistet  werden  kann,  mag  ein  Überblick  darüber  zeigen,  was  in  der 
Provinz  Sachsen  und  in  Baden  in  den  letzten  Jahren  in  dieser  Richtung 
tatsächlich  geleistet  worden  ist;  und  eine  ihrem  Zwecke  nach  gleichartige 
aber  von  privater  Seite  ins  Leben  gerufene  neue  Publikation,  die  für  das 
Herzogtum  Anhalt  ähnliche  Ziele  verfolgt,  möge  schliefslich  als  Beispiel 
dafür  dienen,  dafs  in  jeder  Landschaft  —  mögen  die  Verhältnisse  sein,  wie 
sie  wollen  —  etwas  den  Bedürfnissen  entsprechendes  geleistet  werden  kann. 

Neujahrshläitery  heraitsgegeben  von  der  Historischen  Kommission  für  die 
Provinz  Sachsen,  erscheinen  im  Verlag  von  Otto  Hendel  in  Halle  seit  1877; 
28  Hefte  mannigfaltigen  Inhalts  gibt  es  bis  jetzt,  von  denen  die  beiden 
jüngsten  zur  Besprechung  vorliegen.  Die  Historische  Kommission  hat 
seit  1900  in  ihr  Arbeitsgebiet  auch  das  Herzogtum  Anhalt  einbezogen 
und  demgemäfs  ihren  Namen  erweitert,  und  diese  Erweiterung  tritt  im 
27.  Neujahrsblatt  insofern  zutage,  als  darin  ein  anhaltischer  Gegenstand  zur 
Behandlung  kommt,  nämlich  die  Dessauer  Eibbrücke  ^).  Die  Geschichte 
dieses  wichtigen  Eibüberganges  wird  hier  sachkundig  von  Hermann  Wä s c  hk e 
dargestellt  und  damit  dem  Bau  der  mitteldeutschen  Verkehrsgeschichte  ein 
neuer  wichtiger  Stein  eingefügt.  Dessau  wird  1180  zuerst  urkundlich  erwähnt, 
imd  seine  Anlage  nach  Weise  eines  Strafsendorfes  macht  es  wahrscheinlich,  dafs 
die  Entstehung  der  Siedlung  eben  auf  den  Flufsübergang  zurückzuführen  ist, 
denn  die  Strafse,  an  die  sich  der  Ort  anlehnt,  läuft  von  Norden  nach  Süden 


I)  H.  Wäschke,  Die  Dessauer  Elbbrüeke  (Halle,  Otto  Hendel,  1903,  34  S.  S^ 


—     133     — 

in  derselben  Richtung,  in  der  man  den  Strom  überschreiten  mufste.  Der 
Eibübergang  selbst  liegt  bei  Rofslau,  aber  wegen  der  engen  Beziehung  zu 
Dessau  wird  er  als  der  bei  Dessau  bezeichnet.  Doch  erst  im  ersten  Drittel 
des  XIV.  Jahrhunderts  ist  dies  der  Fall,  während  vorher  der  Muldenüber- 
gang wichtiger  war,  als  der  über  die  Elbe.  Eine  Elbföhre  in  Anhalt  ist  zu- 
erst zwischen  Aken  tmd  Steutz  1362  zu  finden,  d.  h.  dort,  wo  man  auf 
dem  Wege  von  Zerbst  über  Köthen  nach  Halle  die  Elbe  überschreitet;  bei 
Roislau  ist  dasselbe  erst  um  1437  der  Fall,  wenn  auch  wohl  anzunehmen 
ist,  dafs  die  Fähre  damals  schon  einige  Zeit  bestand.  Die  Brücke  bei  Dessau 
entstand  aber  erst  1583  imd  erst  damit  ward  der  Verkehr  von  Norden  nach 
Süden  über  diese  Stelle  geleitet,  so  dafs  nun  der  ältere  Flufsübergang  Aken- 
Steutz  seine  Bedeutung  verlor.  Im  Jahre  1584  entstand  dann  die  als  Fort- 
setzung der  Eibbrücke  gedachte  Muldenbrücke;  Schöpfer  des  Baues  waren 
die  Baumeister  Peter  und  Bernhard  Niuronn.  Wie  nach  Erbauung  der 
Brücke  der  Verkehr  gestiegen  ist,  läfst  sich  annähernd  zahlenmäfsig  verfolgen ; 
dafs  sie  auch  als  strategisch  wichtiger  Punkt  erkannt  wurde,  beweist  die  Tat- 
sache, dafs  die  Kaiserlichen  bereits  seit  23.  Dezember  1625  die  Brücke  besetzt 
hielten  und  sich  dort  verschanzten,  während  die  Schlacht  imi  die  Verschan- 
zung erst  am  25.  April  1626  geschlagen  wurde.  Auch  nach  der  Schlacht 
wurde  der  Dessauer  Eibübergang  von  den  kriegführenden  Parteien  inmier  im 
Auge  behalten  und  befestigt,  nach  dem  Falle  Magdeburgs  aber  liefs  Tiüy 
die  Dessauer  Brücke  abbrennen.  Den  Verkehr  vermittelte  dann  bis  1682 
wiederum  eine  Fähre,  die  dann  eine  Schiftbrücke  ablöste;  1735  ward  eine 
Pontonbrücke,  und  1739  abermals  eine  stehende  Brücke  errichtet,  die  im 
siebenjährigen  Kriege  wiederum  als  wichtig  erkannt  wurde.  Sie  ist  dem  in 
allen  Teilen  Deutschlands  so  verheerenden  bekannten  Eisgang  von  1784 
zum  Opfer  gefaUen,  aber  schon  1787  imd  zwar  in  gröfsercr  Höhe  neu  er- 
standen. Diese  Brücke  ist  von  den  Preufsen  auf  ihrem  Rückzug  nach  der 
Schlacht  bei  Jena  am  18.  Oktober  1806  zerstört  worden.  Wieder  mufste  nun 
die  Fähre  dienen,  bis  im  April  1813  die  Verbündeten  vorübergehend  eine 
neue  Brücke  schlugen,  wie  wiederum  der  Dessauer  Eibübergang  eine  gewisse 
Rolle  in  den  kriegerischen  Operationen '  bildet.  Die  jetzige  stehende  Brücke 
ist  erst  1834 — 1836  erbaut  worden,  und  über  sie  läuft  seit  1841  auch  die 
Eisenbahn.  —  In  den  verschiedensten  Richtungen  sind  diese  Darlegungen 
wertvoll,  weil  sie  die  Voraussetzung  für  die  Entwickelimg  einer  Stadt  in  dem 
gröfseren  Rahmen  des  Verkehrs  vorführen.  Nichts  wäre  wünschenswerter, 
ab  wenn  wir  entsprechende  verkehrsgeschichtliche  Überblicke  an  recht  vielen 
einzebien  Orten  auf  Grund  des  örtlichen  Materials  erhielten:  jede  solche 
monographische  Darstellung  hilft  das  Bild  der  Verkehrsgeschichte  vervoll- 
ständigen. Im  Vorübergehen  wird  noch  S.  14  eine  wichtige  sprachgeschicht- 
liche Bemerkung  gemacht,  nämlich  die,  dafs  sich  die  Sprachgrenze  zwischen 
Mittel-  und  Niederdeutsch  zugunsten  des  Mitteldeutschen  in  Dessau  zwischen 
1408  und  1433  verschoben  hat. 

Auf  ein  ganz  anderes  Feld  führt  uns  das  28.  Neujahrsblatt.   Prof.  Höfer 
handelt  hier  über  Archäologische  Probleme  in  der  Provinz  Sachsen'), 


I)  P.  Höfer,  Archädogüche  Probleme  in  der Provinx  Sachten  (Halle,  O.  Hendel, 
1904,  29  S.  %•). 


—     134     — 

stellt  zunächst  in  aller  Kürze  das  Gesamtergebnis  der  vorgeschichtlichen 
Forschungen  zusammen  und  entwickelt  im  besonderen,  welche  Aufgaben 
den  Forschern  in  der  Provinz  Sachsen  beim  jetzigen  Stande  des  Wissens 
gestellt  sind.  Das  ganze  Schriftchen  stellt  für  jeden  Freund  des  Alter- 
tums, mag  er  wohnen,  wo  er  will,  ein  Mittel  dar,  um  Wesen  imd  Auf- 
gabe der  gesamten  Archäologie  kennen  zu  lernen,  und  vermittelt  eine  grofse 
Menge  tatsächlichen  Wissens,  wie  es  so  kurz  nur  derjenige  mitzuteilen  ver- 
mag, der  die  fast  unübersehbare  Literatur  kennt  und  den  gesamten  Stoff 
überblickt.  Die  Provinz  Sachsen  kommt  dabei  insofern  zu  ihrem  Rechte, 
als  bei  jeder  Gattung  von  Funden,  die  ihrem  Wesen  und  ihrer  Bedeutung 
nach  im  allgemeinen  charakterisiert  worden  sind,  im  einzelnen  erörtert 
wird,  in  welcher  Zahl  und  mit  welchen  Besonderheiten  ausgestattet  sie  sich 
in  der  Provinz  vorfinden.  Besonders  anschaulich  sind  die  Steinkanunem  der 
jüngeren  Steinzeit  imd  der  Kulturzustand  der  Menschen  jener  Epoche  ge- 
schildert, immer  in  enger  Anlehüung  an  die  Funde  der  Provinz ;  die  Datierung 
dieser  Kulturperiode  tmd  die  Besprechung  der  Herkunft  der  zugehörigen  Be- 
völkerung zeichnen  sich  dadurch  aus,  dafs  der  Gedankengang,  der  zu  den 
einzelnen  Behauptimgen  geftihrt  hat,  wiederholt  wird  und  ein  Literaturverzeich- 
nis am  Schlufs  auch  dem  Neuling  den  Weg  zeigt,  um  in  die  Einzelheiten  einzu- 
dringen. Etwas  kürzer  ist  dann  an  der  Hand  der  Funde  die  Frage  der  ger- 
manischen Einwanderung  und  germanischen  Siedelung  behandelt  (S.  i8 — 24), 
und  zum  Schlufs  sind  eine  Reihe  einzelner  Probleme  aufgeftihrt,  deren  Lösung 
durch  eindringendes  Studium  der  Funde  möglich  werden  kann:  die  Aus- 
grabimgen  von  Kulturresten  erweisen  sich  selbst  ftir  verhältnismäfsig  späte 
Perioden  vielfach  wichtiger  als  die  geschichtliche  Überlieferung,  das  Sprach- 
gut und  selbst  als  die  Ortsnamen.  Höfers  Schrift  fafst  in  glänzender  Weise 
die  Ergebnisse  eigener  und  fremder  Forschungen  zusammen,  und  jede  solche 
Zusammenfassung  ist  an  sich  bereits  eine  Tat,  die  nicht  nur  Kenntnis,  son- 
dern auch  Mut  erheischt.  Sie  ist  aber  zugleich  eine  Programmschrift,  die 
das  Zusammenarbeiten  der  einzelnen  verwandten  Disziplinen  schildert  imd 
eine  dauernde  gegenseitige  Befruchtung  und  Ergänzung  fordert.  Eindringlich 
wird  die  Forschung  durch  Beispiele  daran  gemahnt,  dafs  alle  Spezialisierung 
nur  dann  segensreich  zu  wirken  vermag,  wenn  der  einzelne  Forscher  die 
allgemeinen  Ziele  stets  im  Auge  behält  und  an  den  Forschungsergebnissen 
des  benachbarten  Spezialisten  nicht  achtlos  vorübergeht 

In  Baden  sind  von  1891 — 1897  Badische  Neujahrsblätter  erschienen, 
aber  seit  1898  tragen  sie  ein  neues  Gewand  und  hcifstn  Neujahrsblätter  der 
Badischen  Historischen  Kommission  (Heidelberg,  Karl  Winter),  wovon  die 
letzten  vier  Hefte  zur  Besprechung  vorliegen.  Peter  P.  Albert,  Baden 
xvnschen  Neckar  und  Main  in  den  Jahren  1803 — 1806  [=  Neujahrsblätter 
der  Badischen  Historischen  Kommission,  Neue  Folge  4.  Heidelberg,  Karl 
Winter  1901,  91  S.  8®]  bietet  ein  einheitliches  Kulturbild  in  einem  fUr  das 
Werden  des  modernen  badischen  Staates  höchst  wichtigen  Zeitpunkte  und 
teilt  es  in  fünf  Abschnitte:  Land  und  Leute  (S.  3 — 20),  Staats-  imd  Rechts- 
verhältnisse (S.  21 — 40),  Kirche  und  Schule  (S.  40  —  51),  Wirtschaftliche 
Verhältnisse  (S.  52  —  70),  Volkswohl  imd  Bildung  (S.  70—85).  Ein  solcher 
geschichtlicher  Querschnitt  berührt  naturgemäfs  die  verschiedensten  Gebiete, 
gibt  überall  neue  Aufschlüsse,  aber  ermöglicht  es  vor  allem  auch  dem  Laien 


—     135     — 

—  und  das  ist  eine  wichtige  pädagogische  Aufgabe  der  Geschichtsdarstellung  — 
sich  in  die  Zustände  vergangener  Zeiten  hineinzudenken;  die  Ereignisse  und 
Vorgänge  dienen  in  solchem  Falle  nur  als  Erläuterung  der  Zustände.  Der 
gesamte  Inhalt  von  Alberts  Schrift  läfst  sich  hier  auch  nicht  andeuten  — 
leider  fehlt  eine  gegliederte  Inhaltsübersicht  — ,  wir  müssen  uns  damit  be- 
gnügen einige  Einzelheiten  hervorzuheben  und  zwar  vor  allem  solche,  deren 
Erörterung  der  femer  stehende  hier  kaum  suchen  dürfte.  Wir  erhalten  ein 
Bild  von  Dalbergs  Person  und  Herrschaft  (8.  28),  besonders  aber  sind  es 
die  Zustände  in  dem  Fürstentum  Leiningen,  das  nur  drei  Jahre  bestanden 
hat,  die  dem  Leser  vertraut  werden:  eine  Vermesstmg  und  topographische 
Landesbeschreibung  wurde  ins  Werk  gesetzt  (S.  38),  schon  1803  ein  Lei- 
ningisches  Intelligenzblatt  ins  Leben  gerufen  (S.  80 — 81).  Der  Landwirtschaft 
wird  Fürsorge  zugewendet,  und  besonders  zeichnet  sich  der  Lehrer  Haueisen 
als  werktätiger  Förderer  des  Bauern  aus  (S.  5 9 ff.);  der  Kleeanbau  (S.  58.  61) 
und  der  der  Kartoffel  (S.  57 — 58)  werden  erörtert.  In  Baden  wurde  bei 
der  Neugestaltung  der  religiösen  Verhältnisse  auch  der  Judenschaft  1809 
eine  Organisation  gegeben,  die  das  ganze  Land  umfafste  (S.  62).  Die 
Dürftigkeit  des  Schulunterrichts  wird  treffend  gezeichnet  (S.  48 ff.),  die  Zu- 
sanmienstellung  der  die  einzelnen  Gemeinden  drückenden  Kriegslasten  (S.  54) 
verdient  besondere  Beachtung.  In  Mosbach  befand  sich  seit  1756  eme 
Saline  im  Betrieb,  auch  eine  Papierfabrik  und  seit  1770  eine  Fayencefabrik 
bestand  dort  (S.  66),  während  einige  andere  industrielle  Unternehmungen  bereits 
wieder  eingegangen  waren.  Die  Verwirrung,  die  im  Mafs  \md  Gewicht  herrschte, 
und  in  der  die  Vielherrigkeit*  des  Landes  zum  Ausdruck  konmit,  ist  S.  69  ge- 
schildert; schliefslich  finden  wir  eine  interessante  Bemerkung  über  das  Ver- 
schwinden der  Volkstracht  (S.  74),  sobald  sich  der  französische  Geist  nach  der 
Gründung  des  Rheinbundes  Geltung  verschaffte.  Jeder  Freund  der  Geschichte  wird 
dies  Büchlein  mit  Genufs  lesen  und  wer  sich  mit  dem  Deutschland  befafst,  wie 
es  beim  Untergang  des  alten  Reiches  war,  fUr  den  bUdet  es  infolge  der  sorg- 
ftQtig  ausgebeuteten  und  gut  verarbeiteten  Aktenmassen  eine  reiche  Fundgrube. 

Das  Neujahrsblatt  für  1902  bildet  Samuel  Friedrich  Sanier,  Ausgewählte 
Gedichte,  eingeleitet  und  herausgegeben  von  Eugen  Kilian  (XXXI  und  78  S.  8^). 
Ein  in  weiteren  Kreisen  kaum  bekannter  Dichter,  der  Dorfschulmeister  S auter 
zu  Flehingen,  der  1766  geboren  wurde  imd  1846  starb,  wird  hier  zu  neuem 
Leben  erweckt;  sein  Wesen  imd  Wirken  ist  in  der  Einleitung  anschaulich 
geschildert  \md  in  Verbindung  mit  der  zeitgenössischen  Literatur  gewürdigt, 
imd  der   Leser  mufs    es   als  Verdienst   anerkennen,   dafs   ein  von   anderen 

—  namentlich  von  Ludwig  Eichrodt,  der  Das  Buch  Biedermaier 
schrieb,  —  vielfach  stark  benutzter  Dichter  zu  seinem  Rechte  kommt,  dessen 
Gedichte  sogar  vielfach  den  Charakter  des  Volksliedes  angenommen  haben. 
Die  sämtlichen  Dichtungen  sind  zugleich  Kulturbilder  aus  der  ersten  Hälfte 
des  XIX.  Jahrhunderts  und  verdienen  als  solche  schon  Beachtung:  so  z.  B. 
Das  Kaffeeweib  (Nr.  25),  worin  die  Stimmung  des  Volkes  bei  Einführung 
der  Kontinentabperre  zum  Ausdruck  kommt,  oder  Aufruf  xur  Lamdwekr  (Nr.  2  7), 
in  dem  sich  schon  etwas  vom  Geiste  der  Freiheitskriege  spüren  läfst,  obwohl 
das  Vordringen  der  Franzosen  1794  den  Anlafis  dazu  gegeben  hat.  Auch  der 
Abschied  der  Attswanderer  nach  Amerika  (Nr.  20)  von  1830,  ein  Gegenstück 
zu  Freiligraths  Gedicht  von  1832,  greift  in  die  Ereignisse  des  Tages  hinein. 


—     136     — 

Büder  vom  Konsianxer  Konzü  von  Heinrich  Finke  bilden  das  Neu- 
jahrsblatt 1903  (98  S.  8^).  In  zwei  Abteilungen  behandelt  der  Verfasser, 
der  sich  ganz  besonders  mit  dem  Konstanzer  Konzil  beschäftigt,  die  Flucht 
und  die  Schicksale  des  Papstes  Johannes  XXIU.  in  badischen  Landen 
(S.  7  —  59)  und  das  literarische  Leben  und  Schaffen  auf  dem  Konzil  zu 
Konstanz  (S.  60 — 98).  Treten  in  dem  ersten  Abschnitt  neben  der  Person 
des  Papstes  die  ätiiseren  Ereignisse  mit  besonderer  Berücksichtigung  der 
örtlichkeiten,  wo  Johann  Aufenthalt  nahm,  (Schafifhausen,  Waldshut,  Laufen- 
buiig,  Freiburg,  Breisach,  Neuenburg,  Mannheim)  in  den  Vordergrund,  so 
wird  in  dem  zweiten  Abschnitt  ein  vorzügliches  Bild  von  dem  geistigen  Leben 
in  Konstanz  zur  Zeit  des  Konzils  gegeben  und  damit  dessen  kulturelle  Be- 
deutung in  das  rechte  Licht  gesetzt  Mit  der  humanistisch-schöngeistigen 
Richtung,  soweit  sie  sich  imter  den  Gästen  der  Stadt  Konstanz  verfolgen  läfst, 
werden  wir  hier  vertraut  gemacht.  Als  Sekretär  in  der  päpstlichen  Kanzlei 
weilt  der  Humanist  Poggio  in  Konstanz;  er  nimmt  aber  nicht  teil  an  den 
eigentlichen  Verhandlungen,  sondern  widmet  sich  vor  allem  dem  Bücher^ 
sammeln.  Abschreiben  und  Verbessern,  besucht  mit  seinen  Freunden  die 
Bibliothek  des  Klosters  St  Gallen  tmd  entdeckt  u.  a.  ein  Exemplar  von 
Quintilians  Institutionen;  ja  manches  Buch  aus  deutschen  Bibliotheken 
—  so  ein  Ammianus  Marcellinus  —  ist  damals  nach  Italien  entführt  worden. 
Das  Griechische,  das  zuerst  Chrysoloras  pflegte,  vertritt  nach  seinem  Tode 
in  Konstanz  Cenci,  und  so  traten  noch  eine  Reihe  anderer  Humanisten  auf^ 
von  denen  einer,  Vergerio,  dauernd  diesseits  der  Alpen  und  zwar  im  Gefolge 
Sigmtmds  blieb.  Eine  wichtige  Tat  ist  die  Übersetzung  von  Dantes  Göttlicher 
Komödie  tmd  die  Verfassung  eines  Kommentars  dazu  von  Giovanni  da  Serra- 
valle  14 16,  und  König  Sigmund  hat  das  Werk  gelesen.  Das  Konzil  selbst 
hat  anregend  auch  auf  deutsche  Dichter  gewirkt,  wenn  sie  auch  keine  Meister- 
werke geschaffen  haben,  so  auf  Thomas  Prischuh  aus  Augsburg  imd  Johannes 
Engelmar  tmd  vor  allem  Oswald  von  Wolkenstein,  den  „letzten  Minnesänger ^^ 
der  entgegen  Richentals  Behauptung  von  einer  wesentlichen  Preissteigenmg 
der  Lebensmittel  zu  berichten  weifs.  In  Konstanz  selbst  ist  aber  auch  noch 
eine  eigene  dem  Humanismus  eigene  Literaturgattimg  grofs  geworden,  die 
Schmähschriftenliteratur,  denn  für  deren  Entfaltung  boten  die  Zustände  tm- 
veikennbar  den  günstigsten  Boden.  Zustände  tmd  Personen  werden  in  gleich 
scharfer  Weise  befehdet,  die  Päpste  dauernd  mit  Spitznamen  belegt,  vor 
allem  aber  König  Sigmtmd,  dessen  geschichdiches  Bild  Finke  ganz  vorzüglich 
mit  wenigen  Strichen  zeichnet,  wird  ztu:  Zielscheibe  des  Witzes  fUr  die  Spötter, 
tmter  denen  der  französische  Staatssekretär  Jean  de  Montreuil,  einer  der  ersten 
französischen  Humanisten,  oben  ansteht  Andrerseits  zeitigt  das  Zusammen- 
leben der  Nationen  auch  zahlreiche  Ergüsse  wenig  freundlicher  Art  überein- 
ander, namentlich  kommen  die  Franzosen  dabei  schlecht  weg.  Als  Spafs- 
macher  tmd  Beobachter  der  Konstanzer  Zustände  ist  auch  der  spanische 
Ho&arr  Mossen  Borra  von  Belang,  der  sich  im  Gefolge  König  Sigmtmds 
be£uid  und  seinem  Könige  Alfons  V.  Bericht  zu  erstatten  pflegte.  Wohl 
im  ganzen  Mittelalter  ist  nie  gleichzeitig  an  einem  Orte  eme  so  internationale 
Gesellschaft  beisammen  gewesen  wie  in  Konstanz,  und  eben  dieser  Umstand 
gibt  den  literarischen  Produkten,  die  dort  und  im  Zusammenhange  mit  den 
dortigen  Ereignissen   entstanden   sind,   eben  besonderen  Wert.     Finke   gibt 


—     137     — 

Uer,  ganz  abgesehen  davon,  daüs  dadurch  neues  Licht  auf  die  konziliaren  Er- 
eignisse lallt,  einen  wertvollen  Beitrag  zu  der  noch  sehr  vernachlässigten 
Literaturgeschichte  des  Mittelalters,  Literatur  in  dem  weiteren  Sinne  verstan- 
den und  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  die  Produkte  lateinisch  oder  in  einer 
nationalen  Sprache  verfafst  sind. 

Im  jüngsten  badischen  Neujahrsblatt  behandelt  Friedrich  Panzer 
die  Deutsche  Heldensage  im  Breisgau  (Heidelberg,  Karl  Winter,  1904. 
90  S.  8^).  Den  Ausgangspunkt  für  die  vorliegende  Untersuchung  bietet  die 
Tatsache,  dafs  in  einer  späten  Einleitung  zu  einem  Heldenbuch  der  Breis- 
gau und  das  Land  um  Breisach  als  das  Gebiet  der  Harlungen,  der  Nefifen 
des  Königs  Ermanerich  bezeichnet  wird,  deren  Vormund  der  geirutoe  Eckhart 
ist  Dieser  gilt  als  derjenige,  der  nebst  Dietrich  von  Bern  die  allgemeinen 
Kämpfe  überlebt  und  vor  Frau  Venus'  Berg  Wache  hält,  um  alle  zu  warnen, 
die  in  den  Berg  wollen.  Diese  Erzählung  ist  deshalb  so  bedeutsam,  weil 
bei  Freiburg  tatsächlich  ein  Eckardtsberg,  1139  und  1185  bereits  mit  diesem 
Namen  genannt,  existiert.  Eine  sich  im  wesentlichen  damit  deckende  Erzählung 
enthält  eine  nordische  Saga,  die  in  einzelnen  Zügen  wieder  durch  die  Qued- 
linburger Annalen,  das  Gedicht  von  Bieterolf  und  Dietleib,  Saxo  Grammati- 
kus  und  andere  nordische  Sagen  ergänzt  wird,  im  ganzen  aber  eine  jüngere 
Form  der  Sage  aufweist.  Indem  Panzer  dann  den  geschichtlichen  Kern  der 
Sage  zu  cnthüUen  sucht,  betont  er,  dafs  nicht  das  geringste  dafür  spricht, 
(fc  Harlungen  als  Heruler  zu  deuten,  da  der  Harlungenberg  bei  Branden- 
barg diesen  Namen  bewahre  (S.  46 — 47),  denn  Berge  dieses  Namens  und 
zwar  stets  mons  Harlungorüm  imd  nicht  mons  Herulorum  finden  sich  auch 
in  Gegenden,  die  nicht  von  Herulem  bewohnt  werden.  Das  Auftreten  des 
getreuen  Eckart  in  dem  deutschen  Volksglauben  seit  dem  XV.  Jahrhundert 
hat  eine  Reihe  gemeinsamer  Züge,  die  darauf  hindeuten,  dafs  er  in  das 
wütende  Heer  gehört.  Aber  auch  die  Harlunge  selbst  gehören  dazu,  und 
da  die  wilde  Jagd  bekanntermafsen  in  einem  örtlich  immer  bestimmt  be- 
zeichneten Berge  ihren  Sitz  hat,  so  sind  die  „  Harlungenberge  *'  in  den  ver- 
schiedenen Gegenden  genügend  erklärt,  und  sie  sind  ihrem  Wesen  nach 
identisch  mit  dem  Venus-,  Hörsei-  oder  Eckardsberg.  „Harlunge"  wird 
mit  dem  Worte  „Heer"  überzeugend  in  Zusammenhang  gebracht  (S.  57). 
Dagegen  ist  die  Sage  gewifs  schon  um  800  im  Breisgau  lokalisiert,  da  die 
Namen  der  Sage  dort  häufig  wiederkehren,  und  sie  hat  dort  auch  weiter- 
gelebt, da  tun  iioo  bereits  gesagt  wird,  die  Harlunge  hätten  die  Burg 
Breisach  einst  besessen.  Gerade  zu  Breisach  aber  sei,  so  heifst  es  im  Wolf- 
dietrich, Eckhart  geboren,  derselbe,  der  in  Alphards  Tod  als  Hüter  des 
Hauses  erscheint.  Andrerseits  nennt  Sebastian  Münster  die  Bewohner  des 
Breisgaues  selbst  Harelunger.  Wird  gefragt,  warum  gerade  die  Lokalisierung 
der  Sagen  im  Breisgau  besonders  stark  hervortritt,  so  hat  dies  seinen  Grund 
gewifs  zum  Teil  darin,  dafs  das  dortige  Fürstengeschlecht  der  Zähringer 
persönlichen  Anteil  an  der  Pflege  der  Heldensage  genommen  hat  Die  Sage 
brachte  dieses  Fürstenhaus  selbst  mit  Dietrich  von  Bern  in  Verbindung,  und 
so  kann  es  nicht  auffallen,  dafs  bei  dieser  örtlichen  Verbindung  die  Har- 
lungensage  mit  der  von  Ermanerich  und  Dietrich  zusammengebracht  und  ver- 
schmolzen wurde.  Somit  wäre  hier  auf  Grund  sorgfältiger  exakter  Unter- 
suchung einmal  schlagend  gezeigt,  auf  welche  Weise  eine  in  bestimmter 


—     138     — 

Gestalt  überlieferte  Sage  entstanden  ist  und  aus  welchen  Elementen  sie  sich 
zusammensetzt.  Solche  Untersuchungen,  die  über  das  Gebiet  der  Literatur- 
geschichte im  gewöhnlichen  Sinne  weit  hinausgehen,  aber  mit  den  Hilfsmitteln 
dieser  Wissenschaft  die  Sagengeschichte  bezw.  Stotfgeschichte 
pflegen  imd  dem  Inhalte  jedes  Literaturprodukts  das  Hauptgewicht  beilegen, 
sind  fiir  die  Beurteilung  des  deutschen  Geisteslebens  im  Laufe  der  Jahr- 
hunderte von  höchstem  Interesse,  und  wir  können  ihrer  noch  recht  viele  ge- 
brauchen. Die  Geschichte  im  engeren  Sinne  vermag  aufserordentlich  viel  lehr- 
reiches daraus  zu  gewinnen. 

In  Anhalt  endlich  sind,  wie  schon  oben  angedeutet,  gegenwärtig  iVeu- 
jakrsblätter  aus  AnJialt,  herausgegeben  von  Hermann  Wäschke  als  buch- 
händlerisches Unternehmen  (Dessau,  Paul  Baumann)  ins  Leben  getreten,  da 
oiTenbar  eine  wissenschaftliche  Körperschaft  daftir  nicht  zu  haben  war.  Wenn 
der  Verein  für  Anhaltische  Geschichte  und  Altertumskunde  diese  fruchtbare 
Idee  zu  der  seinigen  machte,  dann  könnte  entschieden  viel  geleistet  werden 
imd  für  gute  anhaltische  Monographien  wäre  dann  eine  geeignete  Sammel- 
stätte vorhanden !  Das  erste  Heft  hat  der  Herausgeber,  den  wir  schon  oben 
als  den  Geschichtschreiber  der  Dessauer  Eibbrücke  kennen  lernten,  selbst 
verfafst  und  zeitgemäfs  behandelt  er  Anhalt  vor  hundert  JaJiren  (1904, 
32  S.  8®).  Wir  lernen  hier  das  im  ganzen  in  der  neueren  Geschichte  wenig 
genannte  Land  Anhalt  in  dem  Zeitalter  kennen,  das  dem  Frieden  von  Lüne- 
ville  folgte  und  sehen,  dafs  selbst  dieses  Land  an  der  EHbe  von  den  grofsen 
Umwälzungen  nicht  völlig  unberührt  geblieben  ist;  ist  doch  die  Vertauschung 
der  Fürsten-  mit  der  Herzogs  würde  seitens  der  Landesherren  in  letzter 
Linie  mit  darauf  zurückzuführen.  Die  vorliegende  Arbeit  tritt  der  oben  ge- 
nannten von  Albert,  aber  ebenso  den  früher  ^)  besprochenen  zur  Seite, 
die  sich  mit  den  Erwerbungen  Preufsens  in  jenem  kritischen  Zeitpunkte  be- 
fassen. Wir  lernen  die  anhaltischen  Teüfürsten  des  XVI 11.  Jahrhunderts 
kennen,  die  Verfassung  des  Gesamthauses  und  die  daraus  sich  ergebenden 
Schwierigkeiten  bei  der  Teilung  des  Zerbster  Fürstentums,  dessen  letzter  Herr 
1793  gestorben  war;  es  sind  alles  recht  kleine,  ja  kleinliche  Verhält- 
nisse, aber  gerade  das  ist  so  charakteristisch  daran.  Die  innere  Politik 
der  Fürsten  beschäftigte  sich  in  erster  Linie  mit  der  Einziehung  der  noch 
im  Umlauf  befindlichen  Zerbster  Münzen ;  dann  galt  es  einer  Viehseuche  zu 
steuern,  und  dabei  wurde  ein  Vieh- Assekuranz  ins  Leben  gerufen ;  schliefslich 
ward  auch  das  Steuerwesen  reorganisiert.  Die  auswärtige  Politik  der  Fürsten 
bezw.  die  Teilnahme  an  den  Angelegenheiten  des  Reiches  ist  geradezu  ein 
Spiegelbild  der  gesamten  deutschen  Verhältnisse  im  Kleinen.  Die  demütige 
Verbeugung  aller  Diplomaten  vor  den  in  Regensburg  anwesenden  französischen 
Abgesandten  und  deren  gelegentliche  Bestechung  (Bürger  Matthieu)  läfst  sich 
gerade  hier  unter  diesen  kleinen  Verhältnissen  recht  gut  verfolgen  und  alles 
tritt  in  um  so  helleres  Licht,  weü  die  Angelegenheiten  Anhalts  selbst  so  unbe- 
deutend sind.    Das  Gesamthaus  Anhalt  hatte  keinen  eigenen  Abgesandten  in 


i)  Vgl.  oben  S.  26—30:  Hundert  Jahre  preußisch.  Unter  den  Erfurter  Fett- 
schriften ist  noch  der  Vortrag  von  Richard  Thiele,  Die  Schicksale  der  Erfurter  Aka- 
demie nüixlicher  (gemeinnütxiger)  Wissenschaften  nach  der  ersten  Besitznahme  Erfurts 
durch  Preußen  (1802— 1803)  [=  Jahrbücher  der  Kgl.  Akademie  gemeinnütziger  Wissen- 
schaften zn  Erfurt,  N.  Folge,  Heft  XXVIUJ  zu  nennen. 


—     139     — 

Regensburgy  sondern  liefs  sich  durch  den  Württembergischen  Gesandten  ver- 
treten, beteiligt  war  es  an  dem  Entschädigungsverfahren  insofern,  als  sich 
Gernrode  unter  den  Preufsen  zugedachten  Entschädigungen  befand  und  das 
Amalienstift  zu  Dessau  Güter  auf  dem  linken  Rheinufer  bei  Kreuznach  ein- 
gebüfist  hatte.  Andrerseits  suchte  Anhalt  selbst  Ansprüche  auf  Aschersleben 
und  Lauenburg  geltend  zu  machen,  während  es  wiederum  fürchten  mulste, 
andere  Besitzungen,  die  bischöflich  bambergische  Lehen  waren ,  an  Bayern, 
dem  das  Bistum  Bamberg  zufiel,  zu  verlieren.  Das  Amalienstift  wurde  tat- 
sächlich durch  eine  jährliche  Rente  von  2000  Talern  entschädigt,  im  übrigen 
aber  hatte  Anhalt  wenig  Glück.  Doch  nicht  das  Ergebnis,  sondern  die  Art 
der  Unterhandlung  und  der  Wirrwarr  von  Einzelangelegenheiten,  der  die 
Politik  ausmacht,  ist  es,  was  uns  interessiert. 

Es  war  eine  lange  Reihe  von  Arbeiten  und  zwar  mit  recht  verschiedenem 
Inhalte,  die  wir  vorüberziehen  liefsen,  aber  allen  ist  das  Zeugnis  auszustellen, 
daüs  sie  dem  Zweck,  den  die  Neujahrsblätter  erfüllen  sollen,  tatsächlich  ent- 
sprechen. Sollen  solche  Arbeiten  für  weitere  Kreise  interessant  imd  jedem 
Gebildeten  verständlich  sein,  dann  dürfen  sie  nicht  wissenschaftUche  Mono- 
graphien im  engeren  Sinne  darstellen,  sondern  ein  relativ  grofses  Gebiet  muis 
den  Gegenstand  bilden  und  Beziehungen  zur  Gegenwart  müssen  womöglich 
darin  zutage  treten.  Ist  dies  der  Fall,  dann  werden  solche  Arbeiten  im 
besten  Sinne  populär-wissenschaftlichen  Charakter  tragen  und  mit  der  Zeit 
sehr  wohl  ihr  Publikum  finden.  In  dieser  Überzeugung  sollten  die 
Kommissionen  und  gröfseren  Vereine,  deren  Arbeitsgebiet 
ein  ganzes  Land  oder  eine  Provinz  bildet,  mit  sich  zurate 
gehen,  ob  sie  nicht  dem  Beispiele  der  Provinz  Sachsen,  Badens 
und  Anhalts  nachfolgen  können!  A.  T. 

Vereine.  —  Im  Jahre  1901  ist  in  Österreich  eine  staatliche  Kom- 
mission für  die  Herausgabe  von  Akten  und  Korrespondenzen 
zur  neueren  Geschichte  Österreichs  ins  Leben  getreten*)  und  hat 
aufser  einer  kritischen  Ausgabe  der  österreichischen  Staatsverträge,  die  be- 
reits durch  einen  Übersichtsband  (bearbeitet  von  M.  Bittner)  eingeleitet  wurde, 
zunächst  eine  Bearbeitung  der  Korrespondenz  Karls  V.  mit  Margarete,  Maria 
imd  Ferdinand  aus  den  Jahren  1519  bis  1530  ins  Auge  gefafst ').  Daneben 
aber  sind  in  umfassender  Weise  Untersuchungen  darüber  angestellt  worden, 
was  von  Material  vorhanden  ist,  dessen  Herausgabe  Aufgabe  der  Kommission 
sein  würde,  und  es  hat  sich  dabei  herausgestellt,  dafs  nicht  nur  aufserordent- 
lich  viel  wichtiges  Material  vorliegt,  sondern  vor  allem,  dafs  es  in  recht 
sehr  vielen  Archiven  verstreut  ist  und  dafs  dieser  Umstand  die  Herausgabe 
recht  erschwert  Zu  den  mannigfaltigen  Aufgaben,  deren  Lösung  der  Kom- 
mission zufällt,  steht  freilich  die  staaüiche  Jahresdotation  von  6000  Kronen 
in  einem  grofsen  Mifsverhältnis ,  und  die  Kommission  bedarf,  wenn  sie  er- 
spriefsliches  leisten  soll,  wesentlich  reicherer  Mittel.  Um  ihr  nun  diese  zu 
verschaffen,  nicht  minder  aber  auch,  um  weitere  Kreise,  deren  Hilfe  nicht 
zu  entbehren  ist,  für  die  entsprechenden  Arbeiten  zu  interessieren,  ist  soeben 


i)  Vgl.  diese  Zeitschrift  a.  Bd.,  S.  143—144. 
3)  Vgl.  4.  Bd.,  S.  323. 


—      140     — 

eine  Gesellschaft  für  neuere  Geschichte  Österreichs  ins  Leben  ge- 
treten, die  ähi^ch  der  Gesellschaft  für  rheinische  Geschichtskunde  organisiert 
ist  und  sich  aus  Stiftern,  die  einmal  oder  in  zehn  Jahresbeiträgen  500 
Kronen  beisteuern,  und  Mitgliedern,  die  jährlich  10  Kronen  Beitrag 
leisten,  zusammensetzt.  EHese  erhalten  die  Veröffentlichungen  der  Kommis- 
sion zu  einem  Vorzt^preise.  Der  Zweck  der  Gesellschaft  ist  „die  in 
öffentlichen  und  privaten  Archiven,  Bibliotheken  und  son- 
stigen Sammlungen  erhaltenen  Quellen  für  die  neuere  Ge- 
schichte Österreichs  der  wissenschaftlichen  Forschung  zu- 
gänglich zu  machen  und  deren  Veröffentlichung  und  Ver- 
arbeitung zu  unterstützen^S  \md  dieser  Zweck  soll  erreicht  werden 
durch  Ordnungsarbeiten  in  Privatarchiven;  durch  Veranlassung 
und  Untersttitzung  von  Forschungsarbeiten  in  in-  und  ausländischen 
Archiven,  Bibliotheken  imd  sonstigen  Sammlungen;  durch  Zuwendung  eines 
Teiles  der  Mittel  der  Gesellschaft  an  die  vom  k.  k.  Ministerium  für  Kultus 
mnl  Unterricht  eingesetzte  „Kommission  für  neuere  Geschichte  Österreichs** 
fiir  bestimmte,  von  beiden  Körperschaften  zu  vereinbarende  wissenschaftliche 
Unternehmungen,  insbesondere  für  Veröffentlichung  von  Korrespondenzen 
der  österreichischen  Herrscher  und  Angehöriger  des  österreichischen 
Herrscherhauses,  sowie  der  in  öffentlichen  Diensten  Österreichs  verwendeten 
Staatsmänner,  Offiziere,  Gelehrten;  sowie  endlich  durch  Veranstaltung  von 
Vorträgen  aus  dem  Gebiete  der  neueren  und  neuesten  Geschichte  Öster- 
reichs. 

Die  Anregung  zu  dieser  Vereinsgründung  hat  der  1903  gewählte  Präsident 
der  Kommission  Fürst  Franz  von  und  zu  Liechtenstein  gegeben;  der 
Gedanke  wurde  weiter  entwickelt  von  Prof.  v.  Zwi edineck- Südenhorst 
(Graz),  der  in  einer  Denkschrift  noch  besonders  die  Notwendigkeit  der 
Herausgabe  der  Korrespondenzen  österreichischer  Herrscher  nachwies.  Sie 
enthält  eine  solche  Fülle  tatsächlichen  Materials,  dafs  sie  hier  in  ihrem 
vollständigen  Wortlaut  folgen  soll.  Man  darf  wohl  annehmen,  da&  auch 
in  aufserösterreichischen  Archiven,  an  die  bisher  kaum  gedacht  worden  ist, 
wichtiges,  für  diese  Korrespondenzen  zu  verwertendes  Material  ruht,  worauf 
die  Kommission  aufmerkssun  gemacht  werden  kann.  Die  Bedeutung,  die 
den  zahheichen  Privatarchiven,  namentlich  denen  der  bekannten  öster- 
reichischen Adelsgeschlechter  zukommt,  tritt  dadurch  in  das  rechte  Licht 
aber  ebenso  können  in  jedem  anderen  Lande  die  berufenen  Vertreter  der 
Geschichtsforschung  die  Lehre  daraus  ziehen,  dafs  sie  in  ihrem  Gebiet  diesen 
Archiven  ihre  besondere  Aufmerksamkeit  zuzuwenden  haben  ^). 


i)  In  einem  anderen  Berichte  der  österreichischen  Kommission  heifst  es: 
,,In  manchen  Familienarchiven  herrscht  eine  vortreffliche  Ordnung,  finden  sich 
ausreichende  Repertorieo  and  Inhaltsangaben,  in  anderen  sind  einzelne  Bestände  in  gater 
Verfassung,  andere  in  chaotischem  Zustande  oder  es  ist  die  einst  hergestellte  Ordnnng  zerstört : 
es  finden  sich  zwar  Repertorien,  aber  die  Akten  sind  durcheinander  geworfen.  Nicht  selten 
konnte  man  sich  von  dem  Vorhandensein  grofser  und  wertvoller  Aktenmassen  ttberzengen,  sie 
sind  aber  in  Kisten  verpackt  oder  wegen  Raummangels  sehr  schwer  zugänglich,  sodafs  ihrer 
Benützung  die  Ordnung  und  Sichtung  notwendig  vorausgehen  mufs.  Einzelne  Familienarchive 
weisen  einen  überraschenden  Umfang  auf,  sie  zählen  nach  hunderten  von  Faszikeln,  die 
zum  gröfsten  Teil  völlig  unberührt  sind ;  aus  den  Repertorien  oder  aus  den  vorgenommenen 
Stichproben  konnte  man  sich  überzeugen,  dafs  ihr  Inhalt  ein  aufserordentlich  bedentungs- 


—      141     — 

Die  angezogene  Denkschrift  über  die  Herausgabe  der  Korrespondenzen 
österreichischer  Herrscher  lautet: 

„Unter  den  noch  unbearbeiteten  und  deshalb  ttovenrerteten  Quellen 
zur  neueren  Geschichte  östeneichs  muis  den  Korrespondenzen  öster- 
reichischer Herrscher  mit  Mitgliedern  des  kaiserlichen  Hauses,  mit  fremden 
Fürsten  und  mit  Staatsmännern  die  gröfste  Bedeutung  zugesprochen  wer- 
den. Sie  finden  sich,  abgesehen  von  den  Beständen  des  k.  u.  k.  Haus-, 
Hof-  und  Staatsarchiyes,  in  überraschend  grofser  Zahl  in  öffent- 
lichen und  Privatarchiven. 

Nach  den  von  der  Kommission  für  neuere  Geschichte  Österreichs 
eingeleiteten  Erhebungen  in  den  Archiven  des  historischen  Adels 
wurden  Korrespondenzen  österreichischer  Herrscher  sowie  Mitglieder  des 
kaiserlichen  Hauses  bereits  nachgewiesen  in  den  Archiven  der  Grafen 
Thum,  Bleiburg  in  Kärnten,  Fürsten  und  Grafen  Trauttmansdorff  früher 
Bischof-Teinitz,  jetzt  Wien;  Grafen  Coronini  (zugleich  Grafen  Cobentzl  und 
Rabatta),  Cronberg  bei  Görtz ;  Fürsten  und  Grafen  Starhemberg,  Efferding, 
Oberösterreich;  Grafen  Künigl,  Ehrenburg,  Tirol;  Grafen  Lamberg  (zu- 
gleich Grafen  Brenner),  Feistritz  bei  Ilz,  Steiermark;  Grafen  Herberstein 
(zugleich  Fürsten  E^genberg),  Graz;  Grafen  Meran,  Graz;  Grafen  Dietrich- 
stein, Hollenburg,  Kärnten;  Grafen  Hoyos-Sprinzenstein,  Hom,  Nieder- 
österreich; Grafen  Wrbna  imd  Kaunitz,  Jarmeritz,  Mähren;  Fürsten  und 
Grafen  Rosenberg,  Klagenfurt;  Fürsten  und  Grafen  Dietrichstein,  Nikols- 
burg,  Mähren;  Grafen  Lamberg,  Ottenstein,  Niederösterreich;  Etirsten  und 
Grafen  Collalto  (zugleich  Freiherm  v.  Teuffenbach) ,  Pimitz,  Mähren; 
Fürsten  Lobkowitz,  Raudnitz,  Böhmen;  Fürsten  Porcia,  Spittal,  Kärnten; 
Grafen  Wurmbrand,  Steyersberg,  Niederösterreich;  Fürsten  lamberg,  Steyr, 
Oberösterreich;  Fürsten  und  Grafen  Fürstenberg,  Weitra,  Niederösterreich; 
Fürsten  Liechtenstein,  Wien,  Liechtenstein-Zentralarchiv;    Grafen  Harrach, 

voUer  and  für  die  historische  Wissenschaft  sowie  fUr  die  Erkenntnis  der  Politik  des 
Hauses  Habsburg  und  die  diplomatischen  Beziehungen  seiner  Länder  zu  den  übrigen 
europäischen  Staaten  vielversprechend  genannt  werden  kann.  Es  darf  wohl  schon  heute 
auf  die  archivalischen  Schätze  von  NikoUburg,  Jarmentz,  Austerlitz,  Pimitz,  Wittingau, 
Tachau,  Raudnitz,  Steyr,  Steyersberg,  Ottenstein,  Klagenfurt  (Go^),  Wicsentheid,  Wien, 
(Liechtenstein,  Trauttmansdorff,  Harrach),  hingewiesen  werden,  deren  Bearbeitung  für 
viele  Epochen  der  neueren  österreichischen  Geschichte  noch  ungeahnte  Aufklärungen  und 
Ergänzungen  bieten  kann/' 

Unter  Bezug  darauf  sagt  dann  die  Denkschrift,  die  Mitglieder  für  die  neue  Gesell- 
schaft werben  soll,  weiter :  „  E^  ist  aber  meist  nicht  die  Schuld  der  Archivbesitzer,  dafs  der 
Inhalt  ihrer  Archive  der  wissenschaftlichen  Verwertung  nicht  zugeführt  werden  kann.  Viele 
von  ihnen  würden  sofort  die  Ordnung  ihrer  Aktensammlungen  vornehmen  lassen,  wenn  sie  ohne 
allzugrofse  Kosten  die  nötigen  Kräfte  daftlr  bekämen,  wenn  Fachmänner  deren  Arbeiten 
organisieren  und  überwachen  würden.  Der  Einzelne  kann  sich  die  Bürgschaft,  dafs  die  von 
ihm  gebrachten  Opfer  auch  ein  entsprechendes  Resultat  ergeben,  nur  in  den  seltensten  Fällen 
verschaffen."  —  Auch  Deutschland  besitzt  genug  reiche,  aber  einer  fachmännischen  Lei- 
tung entbehrende  Archive.  Es  sei  z.  B.  an  das  fürstlich  Salm-Salmsche  Archiv  zu 
Anholt  in  Westfalen  erinnert,  über  dessen  Inhalt  jetzt  in  den  Inventuren  der  nichtstaat' 
liehen  Archive  der  Provinx  Westfalen  2.  Heft  (1901),  S.  3  ff.  eine  Übersicht  vorliegt: 
vielleicht  kommt  dieses  Archiv  sogar  (Ur  die  Korrespondenz  Karls  V.  in  betracht,  sicher 
aber  für  die  des  Kaisers  Leopold,  wie  überhaupt  für  das  XVn.  und  XVIII.  Jahrhundert. 
Für  das  Hatzfeldsche  Archiv  zu  Calcum  bei  Düsseldorf  fehlt  eine  eingehende  orientie- 
rende Obersicht  leider  noch  immer,  aber  es  werden  sich  dort  voraussichtlich  ebenfalls 
Korrespondenzen  vorfinden. 


—     142     — 

Wien,  Harrach- Archiv;  Grafen  Schönbom,  Wiesentheid,  Bayern;  Fürsten 
SchwaFzenberg,  Wittingau,  Böhmen. 

Aulserdem  werden  ohne  Zweifel  die  gro&en  Korrespondenz -Samm- 
lungen der  Fürsten  Windisch-Graetz,  Tachau,  Böhmen,  und  Grafen  Königs- 
eck, Aulendorf,  Württemberg,  zahlreiche  Briefe  von  Kaisem  und  Erz- 
herzoginnen enthalten. 

Von  ausländischen  Archiven  sind  bis  heute  in  dieser  Richtung 
sechs  italienische  Staatsarchive,  die  Haus-  und  Staatsarchive  von  Brüssel 
und  Dresden  eingehender  behandelt  worden. 

Mailand  enthält  Briefe  von  Erzherzog  Sigismund,  Kaiser  Maximilian  L 
und  Kaiser  Ferdinand  I. ;  Turin  Briefe  von  Kaiser  Albrecht  11.  und  lücken- 
los von  Maximilian  I.  bis  Franz  II.  tmd  Kaiserin  Karoline  Auguste ;  Genua 
Briefe  aller  Kaiser  von  Karl  V.  bis  Franz  II.  (1795)  und  vieler  Erz- 
herzoge ;  Florenz  Briefe  von  Kaiser  Maximilian  L  und  Kaiser  Karl  V.,  von 
den  Erzherzoginnen  Klaudia,  Anna,  Isabella,  Klara  Eugenia  und  Maria 
Leopoldina,  von  den  Erzherzogen  Ferdinand  Karl,  Sigismtmd  Franz  und 
Leopold;  Modena  eine  fortlaufende  Serie  von  Briefen  von  Friedrich  111.(1452) 
bis  Erzherzogin  Maria  Beatrix  (1791);  Venedig  eine  fortlaufende  Serie  von 
Karl  V.  (1546)  bis  Franz  II.  (1797),  darunter  besonders  viele  von  Fer- 
dinand II.  und  Karl  VI. 

Brüssel  steht  an  hervorragender  Stelle  durch  die  Sammlungen: 
Correspondance  du  Charles  Quint  avec  le  Roi  Ferdinand  (1522 — 1531, 
1 543 — 1551»  '553 — ^556)»  Correspondance  de  TArchiduchesse  Marguerite 
avec  TArchiduc  Ferdinand,  Correspondance  de  la  Reine  Marie  de  Hongrie 
avec  le  Roi  des  Romains  Ferdinand  (1537 — 1556),  Lettres  diverses  de 
et  ä  Charles  V,  4  Vol.,  Lettres  de  Marie  de  Hongrie  ä  Ferdinand 
(1528 — 1543),  Lettres  de  Ferdinand  ä  Marie  de  Hongrie  (1528 — 1543). 

Aufserdem  sind  fast  alle  späteren  österreichischen  Herrscher  mit 
Briefen  im  Brüsseler  Staatsarchiv  vertreten. 

Diese  Aufzählungen,  die  noch  der  Ergänzung  aus  den  anderen  grofsen 
Archiven  Europas  bedürfen,  genügen,  um  die  Tatsache  festzulegen,  dafs 
die  Korrespondenzen  der  österreichischen  Herrscher  ein  aufserordentlich 
tunfangreiches  Material  fUr  die  Vertiefung  der  historischen  Forschung  bieten ; 
sie  werden  sämtliche  Kaiser  und  Könige,  die  meisten  Erzherzoge  sowie 
zahlreiche  Kaiserinnen  und  Erzherzoginnen  betreffen.  Der  Inhalt  der  ein- 
zelnen Briefe  wird  sich  ohne  Zweifel  zwischen  sehr  verschiedenen  Wert- 
stufen bewegen;  dafs  er  in  vielen  Fällen  ganz  neue  Aufschlüsse  gewähren 
imd  zu  historischen  Entdeckungen  von  gröfster  Tragweite  führen  kann, 
geht  aus  den  Stichproben  hervor,  deren  Ergebnisse  bisher  vorliegen. 

Denn  nichts  anderes  als  Stichproben  sind  es,  was  bis  jetzt  aus  der 
Korrespondenz  des  österreichischen  Herrscherhauses  veröffentlicht  wurde, 
aus  sehr  verschiedenen  Veranlassungen,  mit  mehr  oder  weniger  glücklicher 
Auswahl,  aber  stets  ohne  VoUständigkeit,  weder  in  Hinsicht  einer  Person, 
noch  in  Hinsicht  eines  Zeitraiunes. 

Aber  weder  die  Auffindung  irgend  einer  Briefserie  in  einem  Archivs- 
faszikel, noch  die  Herausgabe  einer  aus  dem  Zusammenhange  der  histori- 
schen Denkmäler  einer  Zeit  herausgerissenen  Korrespondenz  kann  den 
Anspruch  erheben,   eine  wissenschaftliche  Leistung  zu   sein.     Geschichts- 


—      143      — 

wisseDschaftliche  Probleme  werden  erst  dann  zu  lösen  sein,  wenn  eine 
systematische  Behandlung  der  nebeneinanderlaufenden  Korrespondenzen, 
also  eine  Durchdringung  des  Gedankenverkehrs  möglich  wird,  der  zwischen 
geschichtlich  handelnden  Personen  stattgefunden  hat. 

Die  Bearbeitung  der  Korrespondenzen  möglichst  vieler  gleichzeitig 
wirkender  Personen  wird  zu  einer  wahren  und  bedeutsamen  Förderung 
unserer  geschichtlichen  Erkenntnis  führen.  Den  Mittelpunkt  solcher  Korre- 
spondenzen wird  in  der  deutschen  und  österreichischen  Geschichte  die 
Korrespondenz  der  Herrscher  aus  dem  Hause  Habsburg  bilden. 

Was  wir  heute  aus  der  Korrespondenz  Karls  V.  und  seiner  Ge- 
schwister Ferdinand  I.  und  der  Königin  Maria  von  Ungarn  kennen  (vor- 
zugsweise aus  der  sehr  unvollständigen  Sammlung  von  Karl  Lanz)  berech- 
tigt zu  dem  Schlüsse,  dafs  ein  Gesamtüberblick  über  diese  Korrespondenz 
erst  das  reifere  Verständnis  der  Entstehung  unseres  Staatswesens  begründen 
wird.  Hier  ist  also  der  Beginn  imserer  Sammeltätigkeit  und  der  sich 
daran  anschliefsenden  Bearbeitung  wissenschaftlich  geboten.  Er  wird  aber 
auch  durch  das  hohe  Interesse  gerechtfertigt,  das  sich  den  Persönlichkeiten 
zuwendet,  deren  Gedankenaustausch  uns  durch  die  Bekanntschaft  mit 
ihren  Briefen  vor  Augen  gerückt  werden  soll.  Die  Gröfse  der  historischen 
Erscheinung  Karls  V.  ist  heute  noch  nicht  erfafst,  sie  konnte  nicht  er- 
fafst  werden,  weil  wir  mit  seinen  politischen  Ideen,  mit  seiner  Weltanschau- 
ung, mit  den  inneren  Gründen  seiner  Entschliefsungen  noch  viel  zu  wenig 
vertraut  sind. 

Von  der  deutschen  Geschichtsforschung  ist  die  Forderung  (durch 
Baumgarten,  Bezold,  Varrentrapp,  Brandi,  Bemays,  zuletzt  sehr  eindring- 
lich auf  dem  Historikertag  zu  Halle  1900  durch  Kalkoflf)  erhoben  worden, 
es  solle  endlich  mit  vereinten  Kräften  eine  Korrespondenz  Elarls  V.  ge- 
schaffen werden.  Die  österreichische  Geschichtsforschung  hat  mehr  als 
eine  Veranlassung,  das  Ihrige  zur  Erfüllung  dieser  Forderung  beizutragen ; 
sie  hat  dies  durch  ihre  in  Halle  anwesenden  Vertreter  auch  sofort  an- 
erkannt 

Die  Kommission  für  neuere  Geschichte  Österreichs  hat  daher  meinem 
Antrage  zugestimmt,  jenen  Teil  der  Korrespondenz  des  grofsen  Kaisers» 
der  mit  der  österreichischen  Geschichte  am  nächsten  zusammenhängt,  die 
Korrespondenz  Ferdinands  I.  mit  Karl  V.  in  Angriff  zu  nehmen.  Nach 
den  Berichten,  die  in  der  Sitzung  vom  4.  Jänner  1903  von  Prof.  Dr.  Hirn 
über  die  Vorarbeiten  im  Wiener  Staatsarchiv  und  von  dem  Unterzeichneten 
über  seine  Erhebimgen  im  Staatsarchiv  zu  Brüssel  erstattet  werden  konnten,, 
wurde  der  Beschlufs  gefafst,  zunächst  die  Epoche  von  15 19  bis  1530, 
sozusagen  die  Geburtsstunde  Österreichs,  zum  Gegenstande  der  Forschung 
zu  machen.  Die  aus  dieser  2^it  stammenden  Korrespondenzen,  die  sich 
im  Wiener  Staatsarchiv  vorfinden,  sollen  gesammelt,  durch  die  Brüsseler 
Bestände  ergänzt  und  zur  Herausgabe  vorbereitet  werden.  Die  Grundsätze 
für  die  Herausgabe  selbst,  bei  der  alle  Erfahrungen  der  letzten  Jahrzehnte 
über  Aktenpublikationen  berücksichtigt  werden  müssen,  sind  von  einem 
Sonderausschusse,  der  auch  die  Arbeiten  leitet,  für  die  Beschlufsfassung^ 
in  der  Konmiission  vorzuberaten.  Die  Kommission  hat  geleistet,  was  ihr 
die  vom  k.  k.  Minbterium  für  Kultus  und  Unterricht  gebotenen  Mittel  ge^ 


» 

4 


—     144     — 

statten,  sie  wird  aber  nicht  mit  der  erwünschten  Raschheit  ihr  Ziel  er- 
reichen, wenn  sie  nicht  auch  von  anderer  Seite  Unterstützung  findet 
Wenn  die  Epoche  von  1519  bis  1530  allseitig  beleuchtet,  wenn  alle 
politischen  Fäden  der  europäischen  Geschichte  dieser  Zeit  mit  den  Ent- 
schlüssen tmd  Unternehmungen  Karls  V.  und  seiner  Geschwister  in  Be- 
ziehung gebracht  werden  sollen,  dann  müssen  namentlich  die  Archive  von 
Simancas  (Spanien)  und  Lille  besucht,  dann  müssen  die  Korrespondenzen 
in  den  italienischen  Archiven  (namentlich  in  Rom,  Neapel,  Genua,  Venedig 
und  Modena)  zur  Stelle  geschafil,  dann  müssen  auch  die  zugehörigen  noch 
nngedruckten  Aktenbestände  studiert  werden. 

Das  Resultat  könnte  ein  sehr  bedeutungsvolles  werden,  denn  es  würde 
darin  bestehen,  die  Erscheintmg  Karls  V.  darzustellen  beim  Antritte  der 
Reichsregierung,  auf  der  ersten  Stufe  der  Reformation  als  politischer  Be- 
wegung, inmitten  des  Versuches  der  Wiederbelebung  einer  grofsartigen 
Kaiserpolitik  in  Italien  imd  während  der  Gründung  Österreichs  durch 
Vereinigtmg  der  ungarischen  und  böhmischen  Krone  mit  den  alten  deutschen 
Erbländem. 

Österreich  würde  mit  einem  Werke,  das  —  wie  nie  zuvor  —  auf 
•der  Kenntnis  der  wichtigsten  gleichzeitigen  archivalischen  Quellen  aufzubauen 
wäre,  ein  nachahmenswertes  Beispiel  intensiver  Beschäftigung  mit  einem  der 
grofsartigsten  historischen  Probleme  der  Neuzeit  geben,  es  würde  allen 
anderen  Staaten  vorauseilen,  denen  ebenfalls  die  Pflicht  obliegt,  ihr  Ver- 
hältnis zu  jenen  folgenreichen  Ej-eignissen  und  Entwicklungen  klarzustellen, 
es  würde  die  Aufmerksamkeit  der  Vaterlandsfreimde  auf  eine  Zeit  lenken^ 
wo  der  Zug  nach  Zentralisation  der  staatlichen  ELräfte  alle  Gegenbewegungen 
überwunden  hat" 


Eingegangene  Bflcher. 

Apell,  Franz:  Zur  Münzgeschichte  Erfurts  (mit  drei  Tafeln)  [=  Mitteilungen 
des  Vereins  fUr  die  Geschichte  imd  Altertumskimde  von  Erfurt  24.  Hefl, 

2.  Teil,  S.   123 — 134]. 

Bibra,  Reinhard  v. :  Bodenlauben  bei  Bad  Kissingen,  Geschichte  der  Burg 
imd  des  Amtes.   Kissingen,  Friedrich  Wemberger.    146  S.  i6*.   Mk.  1,50. 

Borchardt,  Paul:  Der  Haushalt  der  Stadt  Essen  am  Ende  des  16.  und 
Anfang  des  17.  Jahrhunderts  [=  Beiträge  zur  Geschichte  von  Stadt  imd 
Stift  Essen  24.  Heft  (1903).      124  S.  8^.] 

Eitner,  Theodor:  Erfurt  und  die  Bauernaufstände  im  XVI.  Jahrhundert 
[=  Mitteilungen  des  Vereins  für  die  Geschichte  und  Altertumskunde 
von  Erfurt  24.  Heft,  2.  Teil,  S.   i — 108]. 

Michael,  Oskar:  Die  Annaberger  Hospitalordnung  vom  Jahre  1550  [=  Mit- 
teilungen des  Vereins  für  Geschichte  von  Annaberg  und  Umgegend  2.  Bd., 

3.  Heft,  S.   157 — 162]. 

Simson,  Paul:  Geschichte  der  Stadt  Danzig.  Danzig,  L.  Saunier,  1903. 
202  S.  80. 

Well  er,  Karl:  Die  Weiber  von  Weinsberg  [=  Württembergische  Vierteljahrs- 
hefte für  Landesgeschichte  N.  F.  Xu  (1903),  S.  95  —  136]. 

HermusKeber  Dr.  Annin  Tille  in  Leipxif. 
Dnick  und  VerUg  von  Friedrich  Andreas  Perdiea,  Akdengesellschaft,  Gotha. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


Förderung  der  landesgeschichtlichen  Forschung 

V.  Band  Marx  1904  6.  Heft 


Medizinisehe  I^ulturgesehiehte 

Von 
Julius  Pagel  (Berlin) 

Längst  ist  der  Begriff  der  „Medizinischen  Kulturgeschichte'*  klar 
erkannt  und  formuliert.  Wir  bezeichnen  damit  die  zahlreichen  Wechsel- 
beziehungen, welche  die  Heilkunst  oder  Heilkunde  im  engeren  Sinne 
im  Laufe  ihrer  Jahrtausende  währenden  Entwickelung  mit  und  zu  allen 
übrigen  Zweigen  menschlicher  Gesamtkultur  gewonnen  hat.  Man  stelle 
sich  die  Medizin  als  eine  Kreisfläche  vor  und  diese  durchschnitten  von 
einer  Reihe  von  anderen,  die  einzelnen  Kultursphären  repräsentierenden 
Kreisen:  die  innerhalb  der  medizinischen  Peripherie  so  entstandenen 
neuen  Ringe  —  sie  bilden  das  Gebiet,  auf  dem  wir  unsere  neue  Wissen- 
schaft verfolgen  und  ihren  Spuren  nachgehen  wollen.  Wohin  die  ge- 
schichtliche Medizin  ihre  Fühler  ausstreckt,  glaube  ich  bereits  vor  zehn 
Jahren  in  einer  Anzeige  von  Ischers  Monographie  über  den  bekannten 
Arzt  Johann  Georg  Zimmermann  (Deutsche  Medizinal -Zeitung  1894) 
gezeigt  zu  haben,  wobei  ich  gleichzeitig  die  Notwendigkeit  einer 
gesonderten   Darstellung    betonte  ^).     Bei    einer   ähnlichen    Gel^oi- 


i)  Die  besttgUche  Stelle  laatet  folgendermafsen :  ,)Die  sahireichen  Bertthraogspiuikte 
and  Bedehaogen,  welche  die  Geschichte  der  Meditin  mit  der  allgemeinen  Welt-  nnd 
Knltorgeschichte  verknüpfen,  von  der  jene  ja  einen  integrierenden  Bestandteil  bildet,  können 
natnrgemftfs  nur  in  gröfseren  Lehrbttchem  der  medizinischen  Geschichte  zur  Sprache 
kommen,  nnd  selbst  da  wird  dieser  Gegenstand  meist  nur  in  knappen  and  oberflächlichen 
Hinweisen  gleichsam  als  Appendix  gestreift.  Eine  aosfUhrliche  and  sasammenhängende 
DarsteUang  in  einem  ansschlieislich  diesem  Thema  gewidmeten,  umfassenden  Spesialwerk 
an  dem  es  bisher  in  der  Literatur  fehlt,  würde  im  einseinen  sa  schildern  haben,  ob  and 
inwieweit  etwa  Weltgeschichte  and  Entwickelungsgang  der  Medizin  sich 
gegenseitig  beeinflafst  haben  [im  Original  nicht  gesperrt],  in  welchem  Malse 
Natnrforschang,  Philosophie,  Kirchenlehren,  schöne  Literatur  (s.  B.  auch  die  Roman« 
literatar)  und  andere  Wissenschaften,  Künste,  Handel  nnd  Gewerbe,  Sprachen  und  Sitten 
der  Völker,  Lebensgewohnheiten,  Rechtsprechung,  Nationalwohlstand,  mit  einem  Worte 
aUe  nur  irgend  denkbaren  Seiten  des  Menschendaseins   von   der  Medizin  and   diese  von 

10 


—     146     — 

heit^)  habe  kii  »eines  Wissest  zum  eisteaMaledkekt  den  TenBffius,, Medi- 
zinische Kulturhistorie''  s^ebraucht,  um  die  mehr  äuüserlichen  Angel^en- 
heiten  des  ärztlichen  Berufs-  und  Standeslebens  zu  kennzeichnen,  soweit 
sie  den  Arzt  mit  den  iibrigen  Kulturaphären,  mit  Staat  und  Gesellschaft 
m  Berührung  bringen.  Wenn  J.  Bloch  in  einer  schönen  Artikelreihe  ') 
den  Begriff  limitieren  und  ihn  nur  für  die  Einwirkungen  der  Medizin 
auf  die  ubngen  Wissenschaften,  nicht  aber  umgekehrt,  gelten  lassen 
will,  so  zeigt  das  oben  verwendete  Bild  von  den  Kreisen,  wie  schwer 
durchführbar  eine  solche  Trennung  ist.  Hier  flutet  das  Material  so  in- 
und  durcheinander,  dafs  eine  Unterscheidung  zwischen  dem  genomme- 
nen tmd  g^ebenen  Anteil  so  wenig  möglich  ist,  wie  an  der  Mündungs- 
stelle eines  grofsen  Stromes  die  genauen  Grenzen  zwischen  diesem  und 
dem  Meer  fiestzustellen.  Die  Beziehungen  zwischen  Medizin  und  Kultur 
hidsen  sich  so  innig  gestaltet,  <fie  gegenwartige  Durchdrii^fung  und 
Befiruditnng  ist  eine  so  tiefe  und  so  reiche,  dafe  der  Versuch  einer 
Trenaong  dessen,  was  die  Medizin  hier  gegeben  von  dem,  was  sie  ge- 
nommem  hat,  schwer  gelingen,  sicher  aber  nur  eine  einseitige  Beleuch- 
tung des  Gegenstandes  bewirken  würde.  Beide  gehcmn  zusammen 
mid  beide  verkörpern  Nehmer  und  Geber,  die  Gleichui^  geht  ohne 
Rest  auf.  Die  Editiones  principes  der  griechischen  Klassiker-Arzte,  von 
-den  philologischen  Medizinern  der  Renaissanceperiode  ins  Werk  gesetzt, 
sind  ebenso  der  philologischen  wie  der  medizinischen  Foischung  zu- 
gute gekommen,  der  Anteil  der  dabei  geleisteten  Arbeit  und  der  Ge- 
wion für  die  Wissenschaft  wiegt  nach  beiden  Seiten,  nach  der  philo- 
logischen,  wie  nach  der  medizinischen,  gleidi  viel.  Die  Belebung  des 
Eiperiroeats,  zu  der  die  Philosophie  des  RelbrmatoiB  der  Methode, 
Bacons,  den  Anstols  im  XVII.  Jahrhundert  lieferte,  führte  Medizin  und 
Naturwissenschaft  auf  neue  Bahnen,  und  die  hierbei  gewonnenen  Er- 
gebnisse haben  ihrerseits,  wenn  auch  erst  in  einer  späteren  Zeit,  zur 
Läuterung  der  Philosophie  beigetragen,  indem  diese  abgedrängt  von  der 


jenen  gefedert  worden  tind,  «ie  wttrde  a«ch  gewitte  Attfserlldikeiten  <ii  berSeksiditifeQ 
liäben,  z.  B.  d»  Eindringen  der  medisinisclien  Terminologie  in  weite  VoHcskreüe  «nd  die 
tJbertngttng  «nf  mndere  Gebiete  (man  denke  an  Worte,  wie  Kreidteof,  BasiUnB),  «ie  wttrde 
eingdiend  Kspitd  tn  bebandeln  haben,  wie  „die  Knntt  in  der  Mediiin*',  „die  Medisin 
in  der  Ktntt^  und  fihnlithe,  tie  wttrde  den  Nachweis  tm  llihren  faiben,  wie  weit  Arzte 
ds  sogen.  Polyhistoren,  als  Politiker,  Dichter,  Schriftsteneri  Kttnstler,  Sammler,  Nnmia» 
matiker,  Reisende,  Naturforscher,  Anthropologen,  Sdidngeister,  Pbflanthropen,  indnttrieQe 
Ofganistoren  etc.  etc.  Bedenbrng  imd  Eänflais  anch  anfserhalb  ihrer  eigenttichcn  Bem^ 
sphftre  gewonnen  haben." 

i)  Btidhr.  f.  mn4ale  Msd,,  heraaig.  ▼.  Oldendorff,  Bd.  I,  Heft  6  (Leiptif  1S96). 

3)  Med,  Wot^  ed.  Meifsner  Berlin,  1900,  Bl.  36—73. 


—     147     — 

rein  xaetaphymacben  und  tsanssendentalen  Sidttnng  aUmäfaUch  leellere, 
exaktere  Grundlageoi  gewann  und  sich  selbst  wiedergegeben  wurde. 
Ja  selbst  für  die  tiieologisdie  Metaphysik  dürfen  wir  von  der  modernen 
naturwissenschaftlichen  Beobachtung  einen  heüsamen  Umschwung  er- 
warten. Die  nicht  zu  leugnende  Wirksamkeit  der  psychischen  Heil- 
faktoren zeigt,  wie  verwaidisen  mit  dem  menschlicben  Wesen  der 
Glaube  an  eine  höhere  Macht  ist,  und  so  wird,  dürfen  wir  hoffen,  fiir 
die  Immanenz  des  Göttlichen  im  Menschlichen  (ich  «precfae  nicht  vom 
Konfessionellen,  das  ja  mir  in  einer  wediselnden  und  nicht  essentiellen 
Kuhusfbrm  seinen  Ausdruck  findet)  in  gewissem  Sinne  gerade  durch 
die  Medizin  ein  neues,  exaktes,  materialistisches  Beweismaterial 
beigebracht  werden. 

Doch  ¥rie  dem  auch  sei,  das  eine  ist  sicher,  da&  nur  «der  geschicht- 
lichen Betrachtung  der  Hdlkunde  die  Kenntnis  von  einem  Wege  2u 
verdanken  ist,  für  den  sie  gleichzeitig  die  erfoxderlichen  Weiser  ge- 
liefert und  den  sie  allein  gangbar  gemacht  hat  Der  wahre  Histt)- 
riker  der  Medizin  ist  Kulturhistoriker.  Es  ergeht  ihm,  wie 
dem  Beschauer  eines  Vexierbildes :  je  länger  man  es  betrachtet,  desto 
schärfer  treten  die  versteckten  Umrisse  des  zweiten  Bildes  hervor,  desto 
mehr  hebt  es  sich  aus  dem  Hintergründe  heraos,  tmd  schlielslich  sieht 
man  nur  dieses.  Jede  Seite  der  medizinischen  Geschichte  aeigt  ein 
solches  Doppelbild.  „Die  Stellung  der  Heilkunde  in  dem  Kreise  des 
gesamten  menschlichen  Wissens  und  Könnens  iät  vergleichbar  dem 
Verhältnis  unseres  Planeten  ^  ACkrokosmus)  zum  ganzen  Sonnen- 
system (sst  Makrokosmus).  Wie  die  Erde  änre  Eigenbewegung  beatzt, 
sbcr  zugleich  eine  vollständige  Rotation  um  die  Sonne  volHiäict,  so 
sind  auch  von  dem  Glanz  der  Medizin,  welche  als  Wissenschaft  ihre 
eigenen  Wege  geht,  nicht  wen^  Strahlen  axf  die  täbrigen  Zweige 
unserer  Kultur  gefallen;  umgekehrt  ist  auch  die  tidUoende  bekanntlich 
in  hohem  Grade  von  Philos(q>hie,  Natniforschmig  und  allen  librigen 
Künsten  und  Wissensdiaften,  vor  allem  jd»er  von  ie%iösen,  poHtiBchen 
und  sozialen  Verhältnissen,  von  dem  Verlauf  der  weltgeschichtlichen 
Ereignisse,  kurz  von  dem  Gang  der  Gesamtkultiir  beeinflulst  worden*'  ^). 
Wie  frachtbar  die  Betrachtung  der  Medizin  vom  kulturhistorischen  Ge- 
stditspunkte  ist,  bevmst  am  besten  die  von  ihr  erzeugte  literarische 
Arbelt.  Hier  kann  man  fast  von  einer  Hyperproduktivität  reden. 
Seit  1898  Referent  für  den  historischen  Teil  in  dem  grofsen  Virchow- 
schen  (jetzt  Waldeyer-Posnerschen)  Jahresbericht  über  die  Fortschritte 


I)  Pagel,  Emfiiknmg  m  die  QescikiekU  der  Medixdn  (Berlin  iB^. 

10* 


—     150     — 

die  rohempirisdte  Heilkonst  zur  HeiUrande.  Auch  die  Medizin  als 
Wissensdiaft  darf  sich  rühmen  von  dem  Tantahngeschlecht  der 
göttlichen  Phäosophie  abzustammen,  mehr  vieUeicht,  als  so  mandie 
Wissenschaft.  Aus  ihrem  Scho&e»  zwischen  ihren  Knieen  ist  sie 
geboren,  an  ihren  Brüsten  gesäugt  und  fort  und  fort  zieht  sie,  auch 
in  der  gegenwärtigen,  ns^nrwissenschaftUchen  Ära,  aus  ihrem  Blute 
das  erforderliche  Nährmaterial.  Von  der  Naturphilosophie  der  alten 
Griechen  bis  zu.  derjenigen  der  modernen  Zeit  läuft  ganz  parallel  mit 
der  mystischen  Bewegung  die  rationelle,,  wissenschaftliche  Richtung 
der  Medizin,  und  maat  mtUste  ein  ganzes  Lehrbuch  der  medizinischen 
Geschichte  hier  reproduzwren,  wollte  man  im  Einzelnen  die  Belege 
dafür  liefern.  In  dem  Kapitel  Philosophie  und  Medizin  prägt  sich  Ge- 
wicht und  Umfang  der  gegenseitigen  Anleihen  ganz  besonders  aus, 
des  Lehngntes,  das  eme  Disziplin  der  anderen  verdankt  Und  wenn 
die  Religion  oder  meinetwegen  die  Theologie  der  Weisheit  Anfang 
bedeutet,  sicher  baig  für  die  Heilkunde  die  Philosophie  nach  der 
Meinung  zahlreicher  Ärzte  aller  Zeiten  der  Weisheit  letzten  Schluis. 
Philosophie  und  Medizm  sind  blutsverwandt  bis  auf  die  Knochen.  Von 
Hippokrates  bis  auf  Lotze,  Helmholtz,  Virchow  g^iit  das  alte  Wort 
Sti.  yäq  6  g>iX6ao^og  latQÖg  iaziv  lad&eog.  Und  dafs  in  puncto  „Ethik'' 
der  Zusammenhang  beider  Disziplinen  nie  wird  gelockert  werden  können 
und  dürfen,  wird  auch  der  banausischste  Mediziner  nicht  in  Abrede 
stellen  wollen  ^). 

Kurz  sei  noch  auf  den  Zusammenhang  zwischen  Recht  sprechung 
und  Medizin  hingedeutet,  der  in  jüngfster  Zeit  recht  innig  geworden  ist. 
Die  überraschenden  Ergebnisse  der  Naturforschung  haben  der  Lehre 
von  der  Gesundheitspflege  eine  exakte  Grundlage  gegeben:  von  hier 
aus,  d.  h.  von  der  Erkenntnis,  wie  notwendig  die  Berücksichtigung  der 
somatischen  Faktoren  ßk  das  Gedeihen  des  Staats-  und  Völkerlebens 


i)  Betläafis  bemerkt  ist  die  Behtaptnng,  d«fs  die  neuere  Medizin  in  der  Ar«  des 
ICsterialismiis  philosopfaiscbem  Denken  entfremdet  oder  abhokl  gewesen  sei,  eine  dreiste 
EotsteUuig  der  Tatsacken.  Nor  eine  ihrer  Meinung  nach  Terkehrte  nnd  Terinte  Plnlo- 
topkie  hat  die  Medisin  damals  nnd  für  aUe  Zeiten  jetst  hoffentlich  endgütig  abgelefant. 
Seit  wann  ist  denn  der  Materialismns  keine  Philosophie?  Steckt  in  einer  Wissenschaft- 
UdMn  Bescfatftigmg  mit  ihm  kein  phüosophisches  Erkenntnisstreben  ?  Und  wenn  weiter 
behanptet  wird,  dals  jetst  aUraMhüch  eine  Wiederkehr  der  Neigung  m  Beschiltigang  der 
(natarwissenschaftUchen)  Geister  aiit  philosophischen  FrobleaMn  si^  geltend  mache,  so 
beweist  gerade  diese  Tatsache  die  Irrtftmiirhkeit  der  Torigen  Behanploiig.  In  Wahrheit 
hat  die  philosophische  Arbeit  bei  den  malsgebenden  Medizinern  nie  geruht;  denn  wir« 
sie  bereits  nicht  mehr  Torhanden,  bereits  tot  gewesen,  so  hätte  sie  nicht  wiederkehren 
können.    Sie  befand  sich  höchstens  in  einem  Stadium  vorübergehender  Liatens,  die  za 


—     151     — 

istt  wurde  die  Brücke  zw^hea  Medizia  und  Recht  gescfalagfea.  Dte 
soziale  Gesetzgebung',,  dk  StaatsfÜrsorge  für  die  grofren  Maasea  betnkl 
auf  der  modemeft  hygiemscbenEckeBdBtnis.  Durch  die  staatliche  Kranken-, 
Un£Edl-  und  Invaliden -Vefsicheraogs- Gesetzgebung  sind  Rechtsfiragen 
an^etaucht,  die  in  gleicher  Weise  Juristen  wie  Medizinern  zml  schaflni 
machen,  die  Rechts-  wie  die  Heiiwissenschaft  in  gleichem  Mafse  fi)rdenL 
Die  staatlichen  Ehrengerichte»  mit  denen  man  neuerdifigs  den  atigtUcbe» 
Stand  beglückt  hat,  bilden  den  Anstofs  zu  einem  neuen  Zweige  der 
Rechtsprechung.  Die  Rechtswissenschaft  hat  sich  femer  mit  ärztlichen 
Kunstfehlem»  mit  der  Aburteilung  von  Körperverletzungen  durch  s)l>M- 
litische  Infektion  und  ähnlichen  Frs^en  zu  beschäftigen.  Man  kann 
aber  dabei  ebensogut  von  gerichtlicher  Medüzia,  wie  (nach  dem  Beispid 
der  Engländer)  von  „medical  jurisprudence"  sprechen.  Die  Kreise 
berühren  und  schneiden  sich  in  weitem  Umfange.  In  einem  neueren 
Werke  von  Wilhelm  Rudeck,  Medissm  und  Beekt,  Q€sehleckiM)em 
tmd  KrankbeiieH  in  mediginisel^jmristisel^Tm^  Bedeutung 

(Berlin  1902),  wird  diese  Materie  zum  Teil  erörtert  —  Von  den  Be- 
ziehungen zu  Handel,  Gewerbe  und  Technik,  ebenso  zu  den  Natur- 
wissenschaften im  allgemeinen  soll  hier  nicht  die  Rede  sein,  weil  da- 
mit der  Rahmen  dieses  Aufsatzes  weit  überschritten  werden  mübte. 
Dieser  Teil  mag  dem  von  mir  geplanten  Spezialwerk  vorbehalten 
bleiben.  Hier  wird  auch  die  Beziehung  zwischen  Kunst-  und  Medizin- 
geschichte  zu  erörtern  sein,  die  in  einigen  Prachtwerken,  von  Rieh  er 
(Paris  1902),  von  Eugen  Holländer  in  Berlin  (Stuttgart  1903)  und 
R.  Müllerheim  in  Berlin  {Die  Wockemiube  m  der  Kunst,  Festgabe 
liir  W.  A.  Freund,  Berlin  1905)  im  Laufe  der  letzten  zwei  Jahre  von 
neuem  literarisch  in  Angriff  genommen  ist.  Leider  können  wir  hier 
auch  nur  andeutungsweise  die  innigen  Beziehungen  berühren,  die 
zwischen  Medizin,  Sprache  und  Volkskunde  bestehen:  wie  sehr  diese 


▼erstehen  und  za  rechtfertigen  ist  ans  dem  Ansturm  der  Fülle  neuer  Tetsmchen,  welche 
die  netorwissenschaftliche  An  brachte,  der  Einzelforschnng  u  viel  Arbeit  gab  and  die 
Geister  erdrückte.  Jetzt,  wo  die  Flut  sich  verlaufen,  kommt  die  Selbstbesinnung  wieder 
und  die  philosophische  Arbeit  setzt  von  neuem  mit  frischer  Kraft  und  von  neuen  Gesichts- 
punkten ein.  Die  Neigung  zu  philosophieren  steckt  dem  einsichtigen  Mediziner  heredttir 
und  mit  nnvertilgbaren  Keimen  im  Blute;  die  Mediain  als  Wissenschaft  vom 
Menschen,  als  Anthropologie  und  Kosmogonie  ist  die  nattirlichste 
Grundlage  aller  Philosophie.  In  der  deutschen  Literatur  fehlt  ea  meioea  Wisatm 
an  einem  groiaen,  zusamwutifassenden  Werk  über  Medizin  und  Philoa^hia.  Ober  iü^ 
deewm  et  pküoeopku  erschien  am  9.  Noiv.  I9a3  eine  L]poner  I>r.4>isatslatio«  von  Avgiwlt 
Eym  i  n  (259  S.  stark),  ia  der  leider  der  Beaiehungeii  Spinozas  sor  Natur-  und  madirinisrha« 
Wissenschaft  nur  mit  wenigen  Worten  gedacht  iit 


—     162     — 

Wissenschaften  sich  g^egenseitig  gefördert  haben,  dafiir  sind  die  klas- 
sischen Arbeiten  von  M.  Höfler  (Tölz)  der  schlagendste  Beweis '). 

Und  nun  zum  eigentlichen  Thema,  zum  Verhältnis  zwischen  Ge- 
schichte und  Medizin  zunächst  im  allgemeinen.  Es  ist  unbestreitbar, 
dals  die  Weltpolitik ,  die  Bewegungen  der  Staaten  und  Völker  auch 
den  Gang  der  medizinischen  Wissenschaft  zu  allen  Zeiten  nicht  un- 
wesentlich beeinfluist  haben.  Der  Parallelismus  von  Staatenblüte  und 
Verfall  mit  wissenschaftlichem  Aufschwung  und  Niedergang  ist  un- 
schwer auch  für  die  Medizin  zu  erweisen.  Nicht  immer,  aber  meist 
ging  die  politische  Hegemonie  mit  der  wissenschaftlichen  Hand  in  Hand. 
In  der  napoleonischen  Ära  und  im  ersten  Drittel  des  vorigen  Jahr- 
hunderts wanderten  deutsche  Ärzte  scharenweise  nach  Paris,  um  dort 
ihre  Ausbildung  zu  erlangen.  Die  politische  Machtstellung,  welche 
Deutschland  seit  den  Ereignissen  von  1 870/71  im  Konzert  der  Völker 
erreicht  hat,  traf  gewifs  nicht  durch  Zufall  zusammen  mit  ungeahnten 
Fortschritten  der  Medizin,  unter  denen  die  in  der  Bakteriologie  und 
Hjrgiene  erreichten,  obenan  stehen,  und  diese  bewirkten  einen  Zuflufs 
ausländischer  Arzte,  wie  ihn  vorher  Deutschland  nicht  gekannt  hatte. 
Die  deutsche  medizinische  Literatur  erreicht  im  Auslande  jetzt  selbst 
den  Absatz  der  englischen,  wenn  sie  ihn  nicht  bereits  überflügelt  hat. 
Um  aber  auf  ältere  Zeiten  zu  exemplifizieren,  sei  auf  die  erhabene 
Periode  der  Renaissance  abermals  hingewiesen.  Die  Kulturphase,  die 
die  religiöse  Reformation,  die  Buchdruckerkimst,  die  Entdeckung  der 
neuen  in  und  über  die  alte  Welt  brachte,  leitete  auch  für  die  Medizin 
eine  solche  ein.  Es  ist  wohl  kein  zufälliges  Zusammentreffen,  dafs  die 
Reformation  der  Medizin  in  allen  ihren  Teilen,  in  der  Anatomie,  der 
innerlichen  und  äufseren  (wundärztlich  -  geburtshilflichen)  Praxis  sich 
chronologisch  deckt  mit  der  religiösen  Reformation.  Die  Geister  waren 
eben  frei  geworden,  die  Macht  der  Kirche  begann  zu  wanken,  die 
Schranken  des  Autoritätsglaubens  und  Dogmas  fielen,  in  der  ganzen 
Linie  siegten  über  sie  freie  Forschung,  selbständige  Nachprüfung  und 
Kritik.  Die  Entdeckung  Amerikas  brachte  die  Kenntnis  und  den  Im- 
port neuer  Heildroguen;   dies  verlockte  zahlreiche  Auswanderer,  die 


i)  DeuUehea  Erankhmisnamen-Bueh  (Mttochen  1899),  ein  gnmdioses  Werk,  du 
den  besflglichen  Arbeiten  von  E.  Littr6  dreist  an  die  Seite  gesteUt  werden  kann,  femer 
DoB  Jahr  im  oberbayeriaehm  Volksleben  mü  beeonderer  Berüekeiehttgung  der  Volk9' 
medix^n  (Beitrige  nir  Anthropologie  nnd  Urgeschichte  Bayerns.  XUI,  Heft  i — 3). 
Mflnchen  1899.  Weitere  bedeutende  VerÖflfentlichangen  von  Höfler  sind  in  Tersdiiedenea 
Zeitschriften 9  im  „Globns'^,  „Janas"  (intemation.  Archiv  ftr  Geschichte  d.  Med^ 
Amsterdam)  uid  anderswo  erschienen. 


—     153     — 

ebenfalls  glückliebe  Finder  werden  wollten  oder  zu  werden  bofilen, 
za  weiteren  Forschungen;  so  wurde  mit  der  Erweiterung  des  Gesichts- 
kreises, mit  der  Inaugurierung  der  Weltpolitik,  auch  das  praktische 
Rüstzeug  ärztlicher  Kunst  in  überraschender  Weise  bereichert. 

Was  von  den  grofsen  Menschheitsbewegungen  gilt,  trißl  auch  itir 
kleinere  Verhältnisse  zu.  Die  literarische  Arbeit  gerade  in  den  jüngeren 
Jahren  hat  gezeigt,  wie  von  der  ärztlichen  Geschichte  kleiner 
Länder,  Städte  und  Gemeinden,  der  Institute  (Krankenhäuser  und 
Universitäten)  und  Regentenhäuser  zahlreiche  Fäden  hinführen  zu  den 
bezüglichen  poUtischen  Verhältnissen,  so  dals  für  das  gewöhnliche  Ver- 
ständnis beides  nicht  getrennt  werden  kann.  Die  schöne  Zusammen- 
stellung von  Hermann  Vierordt  (Tübingen)  unter  dem  Titel: 
Medijsinisches  aus  der  GresckicMe  (2.  Auflage,  Tübingen  1896)  Uefert 
in  zahlreichen  Beispielen  die  Beweise  dafür,  wie  durch  die  medi- 
zinisch-naturwissenschaftliche, oder  besser  anthropologische  Betrachtung 
der  Grölsen  in  Literatur  und  Politik  ungeahnte  Aufschlüsse  über  ihre 
Personen  und  Leistungen  zu  gewinnen  sind,  wie  so  manches  Rätsel  ge- 
löst, so  mancher  der  hohen  Würdenträger  menschlich  uns  näher  ge- 
rückt und  für  eine  allseitige  Bewertung  uns  zugänglich  gemacht  ist. 
Die  „geschichtliche  Medizin'*  (im  engeren  Sinne)  hat  durch  die 
Betrachtung  von  Personen  und  Vorgängen  unter  biologisch -patholo- 
gischen Gesichtspunkten,  mit  den  Hilfsmitteln  der  Methodik,  mit 
den  Anregungen,  Fragen  und  Problemen,  wie  sie  Medizin  und  Natur- 
wissenschaften bieten,  oft  eine  ganz  unerwartete  Beleuchtung  erfahren; 
die  bisherige  geschichtliche  Auffasstmg  und  Angabe  hat  sich  in  vielen 
Beziehungen  Korrekturen  gefallen  lassen  müssen.  Dürfte  ich  in  diesen, 
vornehmlich  der  deutschen  Geschichtsliteratur  gewidmeten  Blättern  auch 
ausländische  Publikationen  heranziehen,  so  wäre  in  erster  Linie  an  die 
ungemein  zahlreichen  französischen  zu  denken.  Besondere  Zeitschriften 
(„La  Chronique  medicale"  von  Cabante  und  Minime  „M^decine  anecdo- 
tique,  historique  et  literaire  *')  sind  ihnen  gewidmet.  Ich  müfste  nament- 
lich auf  das  bedeutende  Werk  des  1898  verstorbenen  Philologen  Au- 
guste Brächet,  zuletzt  Professor  der  deutschen  Literatur  an  der  poly- 
technischen Schule  in  Paris,  eines  Schülers  von  Diez  und  EmUeLittrd,  hin- 
weisen, das  Ergebnis  einer  15jährigen  Arbeit:  dort  wird  zu  dem  Kapitel 
„Cäsarenwahn",  die  mit  der  Inzucht  verbundene  allmähliche  geistige 
Entartung  an  durch  6  Jahrhunderte  hindurch  (852  — 1483)  verfolgten 
Erblichkeitsverhältnissen  bei  Ludwig  XI.  in  gründlicher  Weise  dargetan  *). 

1}  Das  TOD  der  Witwe  des  VerfaMen  herausgegebene  Werk  führt  den  Titel:  Patko^ 
logie  mentale  des  roia  de  Franee  Lome  XI.  ei  sea  aaeendcmte.     üne  vie  huma/me 


—     164     — 

lodessen  dem  Plane  dieser  Blätter  gemäis  mvds  ich  mich  auf 
deutsche  Arbeiten  beschränken,  und  daran  ist  ebenfalls  kein  Mangel. 
Es  sei,  bevor  wir  auf  sie  eingehen,  noch  ein  äufseres  Moment  betont, 
das  die  Besprechung  zwischen  Medizin  und  aUgemeiner  Menschheits- 
geschichte so  glücklich  beleuchtet:  die  Förderung  der  ge- 
schichtlichen Quellenforschung  überhaupt.  Alte  Dokumente 
sind  hervoi^eholt  worden,  ewiger  Vei^essenheit  anscheinend  rettungs- 
los anheimgefallene  Archive  haben  sich  vor  uns  aufgetan,  und  der 
Gewinn,  den  die  lokale  Geschichte  davon  erhalten  hat,  läfst  sich  noch 
nicht  im  entferntesten  abschätzen  und  übersehen.  Man  lese  nur  die  Studien 
von  Becker^)  über  HUdesheim,  die  umfassendere  von  Th.  Schön*) 
über  Stuttgart  oder  die  von  Peters'),  und  man  wird  überall  auf 
Kreuz-  und  Seitenwege  stolsen,  die  in  geradezu  blickverwirrender  und 
überwältigender  Zahl  immer  wieder  zu  den  allgemein  lokalpolitischen 
und  kommunalen  Zuständen  bezw.  kulturellen  Verhältnissen  führen,  aus 
denen  heraus  ja  erst  die  medizinischen  (und  umgekehrt)  zu  erklären 
sind.  Dasselbe  gilt  mutatis  mutandis  von  den  Arbeiten  der  H.  Laehr  *) , 

HudiSe  ä  travers  six  sielet  cTMrSdite  852—1483.  Paris  1903.  CCXDC  o.  694  S.  Anch 
eine  Arbeit  tod  Kekal6  t.  Stradonits,  Untemtehung  von  Vererbtmgsfragen  und 
die  Degeneration  der  Spanischen  Habsburger  [Archiv  fttr  Ptjchiatrie  and  Nenren- 
krankheiteo  35.  Bd.  (1902),  S.  787—814]  ist  heranzuziehen. 

i)  Geschickte  der  Med.  in  Hildesheim  während  des  Mittelalters ^  in:  Zeitschr.  f. 
klin.  Med.  1899;  Hüdesheimer  Chirurgen  in  alter  Zeit,  in:  Arch.  f.  klin.  Chirur- 
gie 1902. 

2)  Die  Entwiekelung  des  Krankenha/uswesens  und  der  Krankenpflege  in  Württen^ 
herg  (WOrtt.  ärztl.  Korrespondenzblatt  1901 — 1903). 

3)  Der  Arxt  und  die  Hsilhmst  in  der  deutschen  Vergangenheit  [«-  Monographien 
inr  dentschen  Koltargeschichte  3  Bd.,  Leipzig  1900]. 

4)  Auf  eine  bibliographisch  genaue  Titelregistriemng  im  einzelnen  mvSs  an  dieser 
Stelle  verzichtet  werden;  für  weitere  Forschungen  sei  auf  meine  oben  erwähnten  Jahres- 
berichte verwiesen,  wo  im  Abschnitt  XV  und  zum  Teil  im  Abschnitt  m  und  XVI  die  be- 
treffenden Publikationen  annähernd  vollständig  aus  der  Weltliteratur  und  mit  exakten  Titd- 
angaben  zusammengestellt  sind.  Fttr  die  ältere  Zeit  sei  auf  meine  Einfuhrung  in  die 
Oesehiehte  der  Medixin  (Berlin  1898)  und  den  bibliographischen  Anhang  aufmerk- 
sam gemacht 

Bei  dieser  Gelegenheit  möchte  ich  die  bereits  in  Zamckes  Literarischem  Zentral- 
blatt 1898  ausgesprochene  Bitte  um  freundliche  Unterstützung  durch  Obersenduog 
▼  on  Sonderabzügen  und  geeigneten  Hinweisen  wiederholen.  NamentlSck 
wären  mir  solche  ans  den  Schriften  der  lokalen  Geschichtsvereine  sehr  wichtig, 
die  mir  nicht  zugänglich  sind.  Gerade  für  den  vorliegenden  Zweck  kann  der  Lokalforacher 
noch  viel  bisher  unbeachtetes  Material  zusammentragen:  so  sind  u.  a.  in  den  Schriftet^ 
des  Vereins  für  Geschichte  der  Neumark  13.  Bd.  (Landsberg  a.  W.  1902),  S.  151  <üc 
Kamen  von  Krankheiten  ans  den  Totenregistem  zusammengestellt,  die  ab  Todes- 
orsachen  genannt  sind. 


—     165     — 

Möbius,  Gerber,  Rahmer,  Gottbold  Ludwig  Mamlok  (BevUa) 
u.  V.  a.  (über  Shakespeare,  Rousseau,  Goethe,  Sdiopenhaoes,  Heine, 
Friedrich  den  Grofiien).  Die  Arbeiten  selbst  der  letzten  drei  Jahre 
sind  so  zahlreich,  dais  hier  nur  in  Bausch  und  Bogen  darauf  verwiesen 
werden  kann.  Auf  eine  ganz  hervorragende  sei  jedoch  besonder»  auf- 
merksam gemacht,  die  sich  ganz  im  Sinne  und  Geiste  der  obtn  er- 
wähnten von  Brächet  bewegt,  nämlich  auf  die  Publikation  von  Dr.  med 
H.  Naegeli-Akerblom  in  Virchows  Archiv  1902,  Band  170,  S.  151 
bis  362  über  Die  Oeminitäi  in  ihren  erUiehen  Beziehungen,  His" 
tariache  KrUik  falscher  Angäben.  Eine  Kette  von  Regentenhäuser- 
geschichten und  -Stammbäumen  wird  hier  mit  zahlreichen  Diagrammen 
und  Tabellen  vorgeführt,  die  von  der  erstaunlichen  Tie%Tündigkeit  der 
Untersuchung  zeugen  und  zugleich  ein  glänzendes  Beispiel  für  die  Not- 
wendigkeit der  Kombination  allgemein  historischer  und  spezieller  medi- 
zinischer Forschung  behufs  Beantworttmg  biologischer  und  historischer 
Fragen  bieten.  Es  gibt  für  Aufgaben  dieser  Art  leicht  kein  geeigneteres 
Material,  als  das  aus  weiten  Zeiträumen  der  Geschichte  selbst  her- 
geholte. Arbeiten,  wie  die  von  Brächet  und  Naegeli,  die  sich  auf  die 
dynastische  Pathologie  oder  auf  die  pathologischen  Dynastien  stützen, 
weisen  nur  zu  deutlich  auf  die  Wege  hin,  die  einzuschlagen  oder  doch 
zuhilfe  zu  nehmen  sind,  wenn  man  zu  einer  wissenschaftlichen,  besser 
naturwissenschaftlichen,  Ermittelung  und  Begründung  des  ErbUchkeits- 
gesetzes  kommen  will. 

Es  gibt  aber  nicht  nur  eine  Pathologie  der  Dynastien  und  der 
Regentenhäuser,  es  gibt  auch  eine  solche  der  Völker.  Das  zeigt  die 
Seuchengeschichte.  Psychische  und  somatische  Seuchen  haben  die 
Menschheit  zu  allen  Zeiten  heimgesucht,  niemals  aber  mehr  als  im 
Mittelalter,  und  gerade  dessen  niedriges  Kultumiveau  zu  beurteilen 
und  zu  begründen  —  und  somit  in  einem  weiteren  Beispiel  die  Existenz 
der  „geschichtlichen  Medizin"  darzutun,  dafür  bietet  die  medizin- 
geschichtliche Forschung  die  beste  Handhabe,  indem  bekanntlich  in 
dieser  Periode  medizinwissenschaftliche  Versumpfung  und  kultureller 
Verfall  parallel  gehen,  beide  als  Töchter  einer  Mutter.  Es  braucht  nur 
an  den  schwarzen  Tod,  den  „schwarzen  Mann  der  Welt-  und  Mensch- 
heitsgeschichte", erinnert  zu  werden,  der  nahezu  eine  vollständige  Auf- 
lösung der  menschlichen  Gesellschaft  erzeugte.  Wenn  wir  dabei  an  die 
Erzählungen  des  Boccaccio  denken,  die  ebenfalls  ein  Produkt  dieser 
Zeit  smd,  so  dürfte  der  Übergang  zu  einer  anderen,  in  neuerer  Zeit 
viel  gepflegten  Literaturgattung  nicht  so  schroff  sein:  von  Boccaccio 
führt  zu  der  erotischen  Literatur  in  der  Gegenwart  kein  kühner  Sprung, 


—     156     — 

sondern  wir  können  nnr  ein  sanftes  Hinäbef]^leiten  beobachten.      Es 
ist  ein  ebenso  unbestreitbares,  vie  bleibendes  Verdienst  v€m  Eng-en 
Dühren  (pseodonym  für  J.  Bloch),    dieser  ganzen   Literataxg^ttmig^ 
dorcb  seine»  mit  einem  ungeheueren  literaiischen  Apparat  und    einer 
bewundernswerten  Belesenheit  aus   allen  Wissensgebieten  g^earbetteten 
Schriften  ^)  den  gro&en,  idealen  Zug  ins  Kultnriiistorische  gegeben  zu 
haben;  in  durchaus  wissenschaftlichem  Geiste  hat  er  zugleich  gezeigt, 
wie  die  in  dem  Geschlechtsleben  hervortretenden  ,,documents  humains" 
erst  durch  anthropologisch-historisch-kompaiative  Analyse  in  das  rich- 
tige Licht  rücken.    Derselbe  Forscher  hat  in  seinem  klasaschen  Werk : 
Ursprung  der  Sf^hiUs  (Jena  1901)  ein  altes  medizinisches  Problem  durch 
Verwertung  verschiedener  nicht  rein  medizinischer  Quellen  einer  end- 
glitten  Lösung  näher  geführt  und  dargetan,  wie  Medizin-  und  Welt- 
geschichte als  HilBswissenschaflen  aufeinander  angewiesen  sind.   Auf  die 
Notwendigkeit  und  den  Wert  eines  solchen  gegenseitigen  Austausches  hat 
im  einzelnen  gerade  bei  der  Besprechung  der  eben  erwähnten  Schrift  der 
Herausgeber  dieser  Blätter  (Band  III,  Heft  11/ 12,  S.  314—320)  nach- 
drücklich hingewiesen«    Beide,  Welt-  und  Medizingeschichte  in  weiterem 
Umfange  sind  dazu  berufen,  sich  unentbehrliche  Dienste  in  der  For- 
schung zu  leisten.   „Getrennt  marschieren  —  vereint  schlagen."   Dieser 
strategische  Grundsatz  gilt  auch  von  den  ^^^enschaften.    Sollen  greise 
Probleme  gelöst  werden,  so  müssen  die  sonst  getrennten  emsigen  Detail- 
forscher der  einzelnen  Wissensgebiete  sich  verbinden,  die  Zunftschranken 
zwischen  ihnen  müssen   fallen,   die  Schatztruben  müssen  sich  öffnen, 
und  der  kostbare  Inhalt   muCs  sich  gefallen  lassen,   gelegentlich   als 
Lehngut  verwertet  zu  werden. 


Mitteilungen 

Wandtafeln  Toi^schlehtlieher  Funde.  —  iSmt  der  frühesten  Be- 
tätigungen des  wissenschaftlichen  Betriebes  yorgeschichtlicher  Untersuchungen^ 
die  lange  genug  phantastischen  Liebhabern  überlassen  geblieben  waren,  wurde 
die  Anlegung  von  Fundkarten'),  d.  h.  die  Eintragung  gewisser  Zeichen 


i)  Studien  xur  OesehiehU  des  menaehliehen  QesMeehtslebens  (Berlin  1901  —1904): 
Marquu  de  Sode  (3.  Anfl.  1901),  Oeaehlechisleben  in  England  (3  Bäode),  Neue  For- 
gehungen  über  Marquis  de  Sode  etc. 

3)  VgL  diese  ZeiUchrift  3.  Bd.,  S.  237—238. 


—     167     ~ 

für  die  einzelnen  Aiten  yon  Denkmälern  der  Vorzeit  in  Landkarten:  über 
Form  und  Farbe  dieser  Zeichen  ist  indessen  eine  durchgreifende  Einigung 
auch  jetzt  noch  nicht  eifolgt,  obwohl  die  Arbeit  für  einzelne  Gegenden  bereits 
fertiggestellt  ist 

Neben  diese  Fimdkarten,  welche  der  örtlichen  Einordnung  der  einzelnen 
Niederschläge  femer  Vergangenheit  dienten,  sind  später  als  Darstellung  der 
zeitlichen  Gruppierung  Fundtafeln  getreten,  die  mit  jenen  ersteren  nicht 
verwechselt  werden  dürfen.  Durch  Darstellung  der  in  bestimmten  Beziiken 
vorkommenden  typischen  Stücke  geben  sie  eine  stmimarische  Übersicht 
des  vorgeschichtlichen  Inventars  der  einzelnen  Gebiete  meist  nach  der  gegen- 
wärtigen politischen  Abgrenzimg.  Sie  waren  ursprünglich  bestimmt,  dem  Be- 
dürfiiis  der  Belehrung  weiterer  Kreise  zu  dienen,  namentlich  derjenigen  Be- 
standteile der  Bevölkerung,  die  mit  den  Fundstücken  am  ersten  in  unmittel- 
bare Berühnmg  kommen,  und  von  deren  Interesse  für  ihre  Erhaltung  es  in 
den  meisten  Fällen  abhängig  ist,  ob  sie  baldiger  Zerstörung  anheim  fallen 
oder  wissenschaftlicher  Verwertbarkeit  zugeführt  werden. 

Denn  da  sich  der  etwa  zu  derselben  Zeit  angeregte  Gedanke,  durch  kleine 
Mustersammlungen  vorgeschichtlicher  Gegenstände  deren  Kenntnis  an  mög- 
lichst vielen  Stellen  ins  Volk  zu  tragen,  als  unausführbar  erwies,  erschien  es 
geboten,  auf  andere  Weise  tunlichst  weite  Verbreitung  der  Bekanntschaft  mit 
den  Resten  der  Vorzeit  bis  in  alle  Dorfschulen  hinein  anzustreben,  und  es 
schien  ausreichend,  wenn  auf  die  hauptsächlichsten  Gruppen  der  Funde  die 
Aufmerksamkeit  durch  anschauliche  Darstellung  gelenkt  würde  nach  dem 
Gnmdsatz:  Mehr  Bilder  in  die  Schule  imd  unter  die  Leute!  Die  Tafeln 
waren  also  in  den  Dienst  der  Denkmalpflege  gestellt  und  sollten  verhüten, 
dafs  der  Wissenschaft  die  Niederschläge  einer  fernen  Vergangenheit  aus  Un- 
kenntnis verloren  gingen;  denn  zumeist  ist  diese  und  nicht  böser  Wille  der 
Grund  der  Vernichtung.  Von  einer  vollständigen  Vorführung  der  Typen 
konnte  man  dabei  absehen,  auch  brauchte  der  Fundort  der  abgebüdeten  Stücke 
nicht  angegeben  zu  werden;  dagegen  war  wesentlich  die  Ausführung  in  den 
natürlichen  Farben  und  wo  möglich  in  einer  Gröfise,  die  den  wirklichen 
Mafsen  nahe  kam;  überdies  empfahl  sich  die  Aufnahme  typbcher  Ftmdstätten, 
um  von  vornherein  für  deren  Beachtung  die  Aufmerksünkeit  zu  schärfen. 

Wie  sich  aber  bei  dem  schlichten  Denkmälerinventar  leicht  die  Neigung 
zu  künstlerischer  Ausführung  einstellt,  so  lag  es  auch  hier  sehr  nahe,  die 
Tafeln  zugleich  der  Wissenschaft  selbst  dienstbar  zu  machen  tmd  durch  sie 
die  Verbreitung  der  einzelnen  Fimdtypen  vor  Augen  zu  führen.  In  immittel- 
baren  Zusammenhang  mit  der  Forschimg  traten  sie  von  selbst  durch  das  für 
die  Anordnung  der  einzelnen  Zeichnungen  zu  wählende  Prinzip:  das  einzige 
wissenschaftlich  mögliche  war  das  chronologische.  Seit  durch  Anknüpfung 
der  nordischen  Funde  an  verwandte  Formen  in  Ländern,  auf  die  früher  das 
Licht  der  Geschichte  gefallen  ist,  nicht  nur  eine  relative,  sondern  bis  zu 
einem  gewissen  Grade  von  Sicherheit  auch  die  absolute  Zeitbestimmung  mög- 
lich geworden  ist,  hat  ja  eine  wissenschaftliche  Vertiefung  der  vorgeschicht- 
lichen Arbeiten  stattgefunden,  die  sich  nicht  mehr,  wie  früher,  mit  schlichter 
Beschreibimg  und  mit  der  Vergleichung  verwandter  Funde  begnügen.  Da- 
durch ist  den  Ausgrabungsergebnissen  auch  in  solchen  Kreisen,  die  sich 
früher  gegen   die  Schlüsse   aus  ihnen   ablehnend  verhielten,  Beachtung   ge- 


—     168     — 

«cfaezt  worden«  Diese  xeitttche  Anocdmoig  der  FnndUkler  ist  «nf  den  «eisten 
—  mdkt  jUen  —  Karten  sorgfiJtig  Ins  ins  einzelne  dntchgefiüirt,  nicfat  mir 
mit  BerHrksirfatigmig ^  sondern  mit  ansdrüddicher  K^imrtnrhmmg  da  Über- 
gangsfonnen.  Die  Benennung  der  einzelnen  Perioden  ist  allerdingB  nidit 
durchweg  diesdbe« 

Ein  weiterem  Riiigrhm  auf  wissmBchaftfirhe  Ansprüche  erib^te  dadnrdi, 
daft  nidit  nur  ein  oder  der  andere  Vertreter  der  einzelnen  Fundgnq>pen 
TorgeMut,  sondern  Vollständigkeit  der  Typen  angestrebt  wurde,  ffier- 
duich  kdnnca  die  Taüeln  zu  einem  wichtigen  Hil&mittel  fiir  diefenigen 
werden 5  die  an  cmem  kleineren  Orte  ohne  wissenschaffiiche  Bücher-  und 
andere  Sammlungen  Funde  bestimmen  und  die  eigenen  Schätze  oder  die 
Bestände  einer  Vereinssammhing  nach  den  Knlturperioden  ordnen  wollen; 
zugleich  sind  sie  eine  bequeme  erste  Anleitung  zu  vergleichenden  Studien 
und  eine  Anregung  zu  tieferem  Eingehen  auf  die  Fragen  nadi  ahen  Kultur- 
beziehnngen,  Bezugsquellen,  Handebverbindungen  und  Völkerbewq;ui^;ea. 
Es  ist  selbstrerständUch,  dafs  eine  Sammlung  tou  Akertümem ,  sei  sie  im 
Besitz  eines  Vereins,  einer  Stadt  oder  eines  Privatmannes,  die  Fundtafeln 
des  Gebietes,  dem  die  Funde  angehören,  aushängen  haben  muis.  Bei  der 
Inventaiisierung  und  Aufstellung  der  Sanmüung  werden  für  deren  Vorsteher 
aber  auch  die  Fundtafeln  der  übrigen  Gebiete  Ton  greisem  Nutzen  sein,  und 
deshalb  s<^te  jede  Sammlung  möglichst  über  mehrer«  derartige  Abbildungs- 
werke Terfligen. 

Was  die  geschichtliche  Entwickelung  dieser  Tafeln  betriffi,  so  war  in 
Preufsen  vom  Ministerium  der  geistlichen  usw.  Angelegenheiten  nach  Angabe 
des  bereits  erwähnten  Planes,  systematische  Mustersammlungen  an  gee^eten 
Orten  aufiEUStellen ,  empfohlen  worden,  für  die  einzelnen  Provinzen 
derartige  Fundtafeln  herzustellen«  Die  Entwürfe  wurden  im  Jahre 
1893  der  24.  deutschen  Anthropologenversammlung  zu  Hannover  im  dortigen 
Provinziafanuseum  zugänglich  gemacht  In  Wien  nahm  die  k.  k.  2^entral- 
kommission  zur  Erforschung  und  Erhaltung  der  Kunst-  und  historischen  Denk- 
mäler, in  anderen  Gebieten  einzelne  Forscher  und  Verleger  die  Sache  in  die 
Hand.  Es  ergab  sich  bald,  für  Preuisen  schon  bei  der  bezeichneten  Aus- 
stdhmg,  dafs  zwar  in  der  Hauptsadie  dieselbe  Einteilung  der  Gruppen  be- 
folgt, dafii  aber  die  Weite  des  Rahmens  redit  verschieden  ausgefieülen  war. 
Dies  wurde  bei  der  VervielfiÜtigung  durch  den  Druck  z.  T.  verhängnisvoll: 
rie  kam  flir  die  6  Westpreufsischen  Tafeln  nach  mehreren  vergeblichen  Ver- 
sudien  erst  durch  die  Opferwilligkeit  eines  einzelnen  Mannes,  des  Konsids 
H.  Brandt,  zustande;  für  die  5  Pommerschen  hat  sie  bis  jetzt  noch  nicht 
erfolgen  können  ^).  Dieser  Gruppe  sdiÜefst  sich  die  jüngste  Veröfienüichung 
von  P.  Benndorf  in  4  Tafeln  mit  vorgeschichtlichen  Gegenständen  ans 
Mittddeutschland  an.  Leichter  gestaltete  sudi  die  Herausgabe  derauf  einem 
Blatt  zusammengefidsten  Entwürfe.     Ifier  ist  die  Qiedenmg  in  Perioden  teils 


i)  Sie  ttod  verkkiaert  der  VerCflenttidlimBg  von  H.  ScImhiDanB,  Die  S^Umr 
Pommenu  m  v<trg$»ehiokUichtr  Zeü,  mit  $  Tafeln  naoh  Entwurf  und  Zetcknoog  ipon 
A.  Stabearaach  {fiaUisehe  Studien  Nene  Folge  I,  Sonderdruck  Bedin  b.  Mittler  1897) 
beigegeben,  mit  Angabe  der  Fundorte  der  einzelnen  Stücke.  Taf.  i  flttirt  die  Stein-, 
Taf.  3,  3  die  Bronze-  und  fiaUstattzeit,  Taf.  4  die  ältere  Eisenzeit,  d.  h.  die  La  T^e- 
md  proTinikl-römiscbe  Periode,  Taf.  5  die  jflngere  £iten-(Weoden')Beit  tot. 


—     169     — 

^rch  wigerochte  TveDnung  (Hannover,  Sadisen),  teils  durch  senkrechte 
Linien  kenntlich  gemacht;  beide  Arten  der  Sondenmg  kombiniert  die  Ober- 
lausitzer  Karte.  Im  ganzen  scheint  die  senkrechte  Gruppientng  die  Übersicht 
SU  erleiditem.  I^  Breite  des  ^fuegels  der  Tafeln  sdiwankt  zwischen  64}- 
und  X08  cm,  die  Höhe  vom  oberen  Rande  der  Überschrift  bis  zur  unteren 
Randlinie  zwischen  $o^  und  88 {  cm. 

Wenden  wir  uns  jetzt  den  etnsdnen  Veröffestlichnngen  zu! 

Vargeschichiliche  WamUafdn  für  Weeipreufsetif  entworfen  im  West- 
preu&ischen  Provinztalmuseum  ^).  Bei  den  umfassenden  und  gründlichen 
Voraibdten,  deren  auch  der  Prospekt  vom  JiAre  1898  gedenkt,  und  bei  der 
socgfiütigen  Ausführung  ist  die  Aufiuhme  aller  bis  zur  Zeit  der  Herstellung 
ermittelten  Typen  selbstverständlich.  G^äte,  Gefil&e,  Schmuck  und  Waffen 
werden  vor  Augen  g^&rt  und  in  einem  unteren  Streifen  zeigen  Landschafls- 
bilder  —  zw»  von  ihnen  farbig  —  die  Beschaffenheit  der  Fundstellen,  na- 
mendich  die  Bestattungsweise,  und  zwar  auf  Tafl  I  aus  der  Steinzeit,  auf 
Taf.  n  aus  der  älteren  und  jüngeren  Bronzezeit,  auf  Tafl  m  aus  der  jüngsten 
Bronze-,  der  Hallstattperiode :  hier  werden  Vertreter  der  flir  die  Provinz  am 
meisten  charakteristischen  Gesicfatsumen  daigestellt,  ihre  verschiedenen  Foimen, 
die  Mützendeckel,  Veraerungen  und  die  angefügten  Schmucksachen.  Taf.  IV 
um&fst  die  vorrömische  £iseszeit  (die  La  T^ne-Periode),  Taf.  V  die  provinziid- 
römische  mit  besonderer  Berücksiditigung  der  Fibelformen,  Taf.  VI  die 
Arabisch-Nordische  Ztk  mit  slavisdien  Gefäistypen.  Die  Anordnung  ist  über- 
sichtlich, die  AusAihrung  nidit  mir  deutlich,  sondern  dem  Ruf  der  Kunst^ 
anstatt  von  Troitsch  entsprechend  trefflich  gdungen.  Ein  Teil  der  ab^ 
gebildeten  Stücke  ist  hier  zum  ersten  Male  verttffenthcht  Die  Fundorte  sind 
nicht  angegeben,  dagegen  die  Bezeidmung  der  einzdnen  Geräte.  Den  Be- 
schluls  bildet  die  Mahnung  zur  Aufbewahrung  der  Funde  und  eine  An^ 
weisimg,  wie  sie  zu  bergen  sind. 

Vor-  und  frühgeaMchÜiehe  AUeriümer  aus  der  Provinz  Bonnoner, 
herausgegd>en  von  der  Provinzialkommission  zur  Erfiuschung  und  Erhaltung 
«ier  Kunstdenkmäler  in  der  Provinz  Hannover^.  In  wagerecht  abgeteilte 
•Gn^pen  auf  einer  Tafel  geg^dert,  werden  in  halber  GrOfse  und  in  charak- 
teristischen Farben  118  Funde  L  der  Stein-,  IL  der  älteren  Metall-  und  III.  der 
jtti]^eren  (i.  römischen,  3.  sächsisdiea,  3.  fränkisdien)  Metallzeit  vorgeführt 
Die  Funde  smd  chand^rislisch  ausgewählt  und  in  übersichüicher  Anordnung 
anschaulich  dargestdh.  Als  eigpenartig  ist  das  sädnische  GefiÜs  mit  Buckeln 
zu  beachten.  Vier  Begräbnisformen  sind  ddzziert  Interessant  würde  die  Dar- 
steUnng  eines  Moorieicheniundes  sein. 

Die  für  We&ifaien  vom  dortigen  Provinzialkonservator  Baunit  Ludorf f 
im  Sdbstverlage  des  Provinziaknuaeums  zu  Münster  herausgegebenen  beiden 


i)  Berlin  W.  HoMCnniMostitat  von  O.  Troitich.  6  Tafdii.  a.  Anfl.  1898.  Prei« 
—  ftr  omnifgezogeDe  BMtter  -^  10  Mk.  Breite  70,  HObe  88  cm.  Die  Tafeln  sind 
■chon  seit  geraumer  Zeit  veegriflen  and  werden  mobt  wieder  gedrackt  Bin  Bxemplar  iit 
in  Berlin  im  König!.  Moseam  fltr  Völkerknnde  ansgestelH. 

s)  I  Tafel  in  Faibendmck  aoit  1 18  AbWMangen  and  erliatemdem  Tnta.  Hannover. 
Theodor  Schnlxes  Bachhandlaag,  Otterttralse  85.   Preis  i  Mk.   Breite  64I,  Höbe  88|  cm. 

3)  1898.  Lith.  Druck  von  P.  Sobwars  in  Halle  a.  S.  Tedag  von  Tansch  and  Grosse« 
Preis  I  Mk.  50  PC    Breite  8i|,  Höhe  61^  cm. 


—     160     — 

Tafeln  sind  nur  für  Schulen  bestimmt  imd  der  Besprechung  entzogen.  Auch 
in  der  Zentralstelle  für  Preufsen,  dem  KönigL  Museum  für  Völkerkunde,  ist 
kern  Exemplar  ausgestellt 

Vor-  und  Fruhge&cMdMiche  OegenstOnde  aus  der  JPravlnz  Sachsen^ 
herausgegeben  von  der  Historischen  Kommission  für  die  Provinz  Sachsen  ^) : 
in  wagerecht  gegliederten  Gruppen  werden  I.  die  Steinzeit  (vormetallische  Zei^, 
U.  die  Bronze-  und  Hallstattzeit,  III.  die  entwickelte  Eisenzeit  (La  Tdne-Zeit), 
die  römische  Kaiserzeit,  IV.  die  Zeit  der  Völkerwanderung,  Fränkisch-Merowin- 
gische,  Slavische  Funde  dargestellt,  in  verschiedenem  Maisstabe  je  nach  der 
Gröfse  der  Gegenstände  und  der  Art  der  Verzierung.  Den  tatsächlichen  Verhält- 
nissen entsprechend  treten  die  Tongeföfse  mehr,  als  auf  den  bisher  be^ro- 
chenen  Taieln  hervor:  sie  sind  in  Gruppen  vereinigt  unter  Hinzunahme 
seltenerer  Formen,  z.  B.  der  vogelförmigen  Tonklapper,  der  dreiföcherigen 
Dose,  der  Flasche  mit  B-förmigem  Henkel;  die  einem  Teile  dieses  Gebietes 
eigentümliche  Erscheinung,  die  Hausumen,  sind  durch  ein  Exemplar  vertreten, 
in  kleinerem  Mafsstabe  dargestellt,  vielleicht  dem  beschränkten  Vorkommen 
entsprechend.  Die  Fundorte  der  einzelnen  Stücke,  auch  der  selteneren,  sind 
nicht  angegeben.  —  Das  Gesamtbüd  ist  sehr  reichhaltig  und  doch  zugleich 
noch  übersichtlich;  aber  es  ist  wohl  die  höchstmögliche  Ausnutzung  des 
Raumes  im  Interesse  der  Vollständigkeit  erfolgt,  und  in  der  Tat  ist  keine 
wesentliche  Einzelheit  zu  vermissen:  in  Abschnitt  III  i  hätte  höchstens  die 
eiserne  Schieberspange  der  La  T^e-Zeit  mitberücksichtigt  werden  können, 
weü  ihre  Verbreitung  nach  Osten  von  der  Provinz  Sachsen  aus  erfolgte. 
Die  Zwischenräume  zwischen  den  einzelnen  Gegenständen  sind  daher  auch 
verhältnismäisig  nur  klein,  die  einzelnen  Büder  selbst  aber  sind  charakteristisch 
und  deutUch.  Ein  begleitender  Text  gibt  die  Bezeichnung  der  verschiedenen 
Stücke  und  unterrichtet  in  kürzester  Fassung  über  die  Kulturperioden.  Auf 
die  Darstellung  einer  Grabeinrichtung  ist  verzichtet. 

Tafeln  vorgeschichtlicher  Oegemtände  aus  JUJUteldeutsehUM/nd^  her- 
ausgegeben von  P.  Benndorf).  In  der  vorzüglichsten  Ausführung  und  bei 
gerätunigen  Abständen  werden  in  sehr  übersichtlicher  Anordnung  mit  photo- 
graphischer Treue  in  natürlicher  Gröfse  und  sorgfältigster  Farbenwiedergabe, 
mit  kurzer  Charakteristik  der  Kultuiperioden  und  unter  Angabe  des  Fund- 
ortes, auf  Taf.  I  Gegenstände  der  Stein- ,  auf  Taf.  U  der  Bronzezeit  (hier 
auch  einzelne  Tonarbeiten),  auf  Taf.  III  Gefäfse  dieser  beiden  Perioden,  auf 
Taf.  IV  Geräte  und  GeMse  der  vorrömischen  Eisen-,  Hallstatt-  imd  La  T^e-, 
sowie  der  römischen  Kaiserzeit,  der  Völkerwanderungs-  und  der  slawischen 
Periode  vorgeführt;  die  Darstellung  eines  Grabes  aus  der  Bronzezeit  ist  am 
Schlüsse  beigefügt  Auf  der  sehr  umfassenden  vierten  Tafel  hätte  sich  viel- 
leicht eine  äufsere  Gliederung  der  Kulturperioden  und  —  aufser  Trennung  der 
Hallstattzeit  (die  auch  früher  anzusetzen  sein  wird,  als  geschieht)  von  den 
Niederschlägen  der  La  T^ne-Kultur  —  als  Einzelheit  die  Aufnahme  der  mitt- 
leren La  T^ne-Fibel  empfohlen.  Auf  derartige  Fragen  ist  minderes  Gewicht 
gelegt,   da  der  ursprüngliche  Zweck  solcher  Tafeln,  überhaupt  erst  die 

i)  Verlag  Ton  Friedrich  Brandstaetter  in  Leipzig,  1903.  Preis  14  Mk.  Breite  73, 
Höhe  50^  cm. 

2)  Druck  Ton  C.  A  Starke,  Königl.  Hoflieferant,  Görlitz.  2.  Aufl.  1900.  Preis 
3  Mk.  —  Breite  108,  Höhe  65^  cm. 


—     161     — 

Aufinerksamkeit  der  Laien  dorch  ansdiattliche  Darstellung  auf  die  vorgeschicht- 
lichen Fände  hinzulenken,  festgehalten  ist 

Tafel  vargeschichüicher  AUertümer  der  OberUMUsUz ,  herausgegeben 
▼on  dtn  Kommonalständen  des  preu&ischen  Madtgrafentums  Oberiausitz, 
bearbeitet  von  L.  Feyerabend,  gezeichnet  von  J.  Schurig  ').  Die 
Funde  sind  &rbig  in  drei  senkrecht  getrennten  Gruppen  dargestellt,  deren 
erste  und  zweite  je  zwei,  deren  dritte  drei  wagerecht  geschiedene  Unter- 
abteilungen  enthält,  nämlich:  die  Stein-  imd  Bronze-,  —  die  ältere  und  jüngere 
Lausitzer  2^t,  —  die  provinzial-römische,  die  Burgwall-  und  die  aiabbche 
Zeit.  Bei  allen  Stücken  ist  der  Maisstab  und  der  Fundort  angegeben.  Eine 
Grabanlage  iind  eine  Heidenschanze  sind  abgebildet  Ein  unten  abgetrennter 
Streifen  unterriditet  über  die  Kulturentwickelung  der  Landschaft  und  mahnt 
zur  Erhaltung  der  Funde  und  zur  Ablieferung  an  eine  öffentliche  Sammlung. 
Der  Scheidung  der  zweiten  und  dritten  Gruppe  (Bronzezeit  —  ältere  Lausitzer 
Zeit)  liegt  wohl  eigentlich  die  Sonderung  der  Einzel-  und  Depotfunde  von 
den  Gnd>einschlüssen  zugrunde,  was  in  der  Überschrift  nicht  zum  Ausdruck 
kommt:  sind  doch  einige  Stücke  der  zweiten  Gruppe  denen  der  dritten 
(^eichzeitig.  Die  Auswahl  der  Gegenstände  und  die  Ausführung  im  einzelnen 
ist  zweckmäfeig,  die  Gruppierung  recht  geräumig  und  darum  übersichtlich 
und  gefällig. 

AUertümer  aus  tmserer  Heimat  (Mheh^  und  deutsches  JDonou^ 
gebiet)  ^).  Durch  senkrechte  Lmien  ist  die  vorrömische  2^it  der  Kelten  und 
Germanen,  die  römische,  die  im  Vergleich  mit  anderen  Tafeln  einen  ver- 
hältnismäisig  breiten  Raum  einnimmt,  und  die  alamannisch  -  fränkische  ge- 
schieden. Die  Anordnung  ist  übersichtlich,  der  Maisstab  iür  die  einzelnen 
Gegenstände  verschieden.  Das  Ganze  macht  einen  fiubenfrischen  Eindruck, 
wobei  der  Ton  des  angerosteten  Eisens  besonders  gut  getroffen  ist  Ab 
charakteristisch  tritt  in  allen  Kolumnen  das  edelste  Stück  der  Ausrüstung, 
das  Schwert  hervor,  zu  dessen  Seiten  die  übrigen  Funde  gruppiert  sind. 
Gräber  imd  Bauanlagen  sind  nicht  mitabgebildet  Der  Fundort  der  ras 
dargestellten  Objekte,  die  zu  beiden  Seiten  der  Tafel  bezeichnet  und  be« 
narmt  sind,  ist  nicht  angegeben.  Ein  unten  abgetreimter  Streifen  «ithäh  eine 
gut  unterrichtende  Übersicht  über  die  älteste  Geschichte  des  Landes;  unter 
dem  oberen  Rande  sind  die  gesetzlichen  Bestimmimgen  und  eine  technische 
Anleitung  fUr  die  Behandlung  der  Erdfimde  abgedruckt 

R.  Forrer,  Zur  Ur-  u/nd  I\ruhgesehiehU  JElsafS'^lAMyH^ 
Eine  um&ssende,  durch  senkrechte  Erlegung  sehr  übersichtlich  geordnete 
Darstellung  der  Funde,  mit  sorg^tiger  Abwägung  der  Chronologie  imter  Her- 
vorhebung der  Übergangsformen,  die  durch  eigenartige  Emgliederung  kermt- 
Uch  gemacht  sind.  Bei  der  Vollständigkeit  der  192  wiederg^ebenen  Typen 
sind  auch  Schlüsse  e  silentio  zulässig.     Es  werden  unterschieden  die   ältere 

i)  Ein  Blatt  mit  Abbüdnn^n  in  acht  Farben  gedruckt  nebtt  karzem  Randtext  (Grö&e 
69:87  cm).  Entworfen  and  geseichnet  von  E.  t.  Tröltsch,  Königl.  wttrtt.  Major  a.  D. 
Stuttgart,  Verlag  von  W.  Kohlhammer.  Preis  angesogen  aaf  Leinwand  mit  StSben  ond 
Schlaafen  com  Anfhfingen:  x  Mk.  80  PfL,  imaafgesogcn  i  Mk.  (Bereits  in  3.  Auflage 
erschienen.)    Breite  nach  den  S.  159  angegebenen  Messungen  84^,  Höhe  65 1  cm. 

a)  Nebst  ror-  and  friihgeschichtlicher  Fandtafel  mit  192  Abbildongen  in  Licht-  and 
Farbendrnck.  Strafsboig,  Verlag  Ton  K.  J.  Trttbner,  ipor.  Preis  3  Mk.  Breite  78^ 
Höhe  63  cm. 

11 


—     162     — 

und  jüngere  Steinzeit ,  der  sich  die  Kupfetfunde  anscUielsen,  die  ältere 
Bronzezeit,  die  mitdere  und  jüngere,  die  nicht  gesondert  sind,  die  ältere  und 
jüngere  Eisenzeit  (Hallstattepoche  und  LaT^eperiode),  die  frühe  Römerseit,  die 
nicht  gesonderte  mittlere  und  spätere  Kaiserzeit,  endlich  die  Völkerwanderung»- 
zeit  mit  den  Funden  der  Alemannen  und  Franken,  sowie  der  Merowinger. 
Zwei  charakteristische  Grabeinrichtungen  sind  beigegeben.  Der  Mafsstab  ist 
verschieden,  bei  kleineren  Gegenständen  die  natürliche  Gröise,  während  er 
bei  TongefiUsen  bis  zu  V>^  herabgeht  Ein  Beg^eitheft  von  46  Seiten  legt 
nnt  Quellenangaben  die  Kulturentwid^elung  des  Landes  dar.  Das  Ganze  ist 
in  gleichem  Maise  als  Lehrmittd  fUr  das  Volk,  wie  als  wissenschaftliches 
Hilfsmittel  angelegt 

Vofr-  und  frühgesekiehtliche  Denkmähr  aus  Österreich*  Ungarn  ^). 
Die  Tafel  ist  in  sechs  Kolumnen  geteilt,  welche  L  die  Stein-,  II.  dk 
Bronze-,  lU.  IV.  die  Eisenzeit  und  zwar  gesondert  in  die  Hallstatt-  und  die 
La  T^e-Periode,  V.  die  Römerherrscbaft,  VI.  die  christliche  Zeit  umfassen ; 
den  Schluis  der  letzteren  bilden  die  slawischen  Schläfenringe,  Töpfe  mit  Wellen- 
linien und  Krüge.  Durchweg  sind  charakteristische  Gegenstände  unter  ge* 
legentlicher  Berücksichtigung  vereinzelt  stehender  Stücke  (z.  B.  in  der  letzten 
Periode  ein  silberplattiertes  Eisenbeil)  ausgewählt.  Der  Maisstab  ist  an- 
gegeben, der  Fundort  nicht  ') ;  die  Farben  sind  hell  gehalten.  Ein  unten  ab* 
getrennter  Streifen  benennt  die  verschiedenen  Stücke ;  eme  beigegebene  Über- 
sicht (4  S.  4^)  schildert  unter  Bezugnahme  auf  die  einzelnen  Funde  die 
Kulturentwickelung  des  Ländergebietes  imd  gibt  am  Schlüsse  Verhaltungs- 
r^eln,  deren  letzte  ')  zeigt,  wie  frei  von  aller  Engherzigkeit  ihr  Verfasser  iaiL 

Anhangsweise  sei  schliefslich  auf  die  von  dem  Nederlandsche  Oud- 
heidkundige  Bond  herausgegebene  Wandkarte  hingewiesen,  zu  der 
R.  Jesse,  Konservator  am  Holländischen  Reichsmuseum  in  Leyden,  einen 
kurzen  erklärenden  Text  geschrieben  hat  ^). 

Die  jüngste  Zeit  hat  einen  bedeutsamen  weiteren  Schritt  in  der  Erforschung 
der  vorgeschichtlichen  Niederschläge  g^an,  insofern  jetzt  gleichsam  die  Fund- 
karten  und  Fund  tafeln  zu  einem  neuen  Kulturbilde  vereinigt  werden,  zu 
Typenkarten,  aus  denen  ersichtlich  werden  soll,  woher  die  Fundgegen* 
stände  mit  ihren  mannigfachen  Formen  und  Verzierungen  ursprünglich  stammen, 
auf  welchen  Wegen  und  wie  weit  sie  sich  verbreitet  haben,  wie  sie  mn- 
gestaltet  worden  sind,  und  mit  welchen  anderen  Dingen  sie  gleichzeitig  in 
Gebrauch  waren.     Der  bereits  1900  gegebenen  Anregung  des  Geh.  R^e- 


i)  Im  Auftrage  des  hohen  k.  k.  Ministeriumt  für  Koitus  und  Unterricht  herausgegeben 
▼on  der  k.  k.  Zentralkommission  Ittr  Kunst-  und  historische  Denkmale,  entworfen  und  er- 
Itetert  Ton  Dr.  W.  Much.  Aquarelle  Ton  Ludwig  Hans  Fischer.  Verlag  Toa 
Ed.  Hölzeis  Verlagsbuchhandlung.  Wien  IV,  Lnisengasse.  Preis  2  Mk.,  auf  Leinwand 
mit  Holxleisten  3  Mk.  80  Pf.   -   Breite  84I,  Höhe  69  cm. 

3)  Wer  sich  hierüber  unterrichten  wül,  findet  die  erforderlichen  Angaben  im  Knnat- 
historischen  Atlas,  herausgeg.  Ton  der  k.  k.  Zentralkommission,  L  Abt.  redigiert  Ton 
Dr.  M.  Mach.    Wien  1889. 

3)  „y^tT  sich  nicht  selbst  wissenachaftUoh  mit  diesen  Funden  beschäftigt  oder 
nicht  die  Mittel  besitzt,  ihnen  eine  dauernde  Pflege  und  der  Forschung  xngfingliehe  Zo» 
fluchtsstätte  zu  gewfihren,  erfüllt  eiiie  Pflicht,  wenn  er  sie  dem  .  .  .  oder  dem  .  .  . 
Museum  schenkt  oder  Terkauft.** 

4)  Verlag  Ton  Joh.  Müller  in  Amsterdam.    Preis  i  Gulden. 


—     IM     — 

niiigsnUes  Vofs  za  Berlin  folgend,  hat  die  deutsdie  anthropologische  Gesell- 
sdiaft  bei  ihrer  34.  Versammlnng  za  Wonns  1903  beschlossen,  durch  eine 
Kommission  unter  VonitE  des  Prof.  Lissauer  zu  Berlin  alljährlich  eine 
Zahl  TOD  Fundtypen  in  der  Art  bearbeiten  zu  lassen,  dais  in  die  zwei  nur 
schwach  anzudrackenden  Blätter  des  Kiepertschen  Handatlasses  Ton  Deutsch- 
land  und  Europa  2^ichen  für  jene  Typen  eingetragen  werden:  die  Yerschiedenen 
Fonnen  je  eines  Gerätes  und  überdies  die  Varianten  einzdner  seiner  Teile 
sind  als  Schlüssel  fUr  die  Terwendeten  Zeichen  in  den  Eckstücken  der  Karten 
daigestellt ').  Das  erste  ^att  vergegenwärtigt  fünf  Arten  von  Radnadeln  mit 
acht  Varianten,  das  zweite  die  Flachcdte  in  acht  Formen  mit  neun  Varianten 
des  Bahnendes  und  sieben  der  Schneide,  vermittelt  also  eine  sehr  genaue 
Vorstellung  der  Funde. 

Je  mehr  diese  Untersuchungen  ins  einzelne  geführt  werden,  um  so  enger 
wird  der  Kreis,  für  den  das  gesamte  Material  bestimmt  ist;  aus  ihm  werden 
a&erdings  später  Ergebnisse  hervorgehen,  die  in  ihrer  Vollständigkeit  und 
Sicherheit  das  Interesse  aller  Gebildeten  in  Anspruch  nehmen  dürfen. 

Hugo  Jentsch  (Guben). 

nelmatsclmtz.  —  Um  die  l^wirkungen  zu  bekämpfen,  die  in  neuester 
Zeit  unnötig  und  kurzsichtig  viel&ch  die  Denkmäler  der  Natur  vernichtet 
haben,  kurz  um  dem  staatlichen  Schutze  der  historischen  Denkmäler  einen 
solchen  der  Naturdenkmäler  zur  Seite  zu  stellen,  wird  gegenwärtig  ein 
Aufruf  zur  Gründung  eines  Bundes  Heimatschutz  verbreitet  Als  Zweck 
wird  bezeichnet :  Ergänzung  der  staadich  organisierten  Denkmalpflege ;  Pflege 
der  überlieferten  ländlichen  und  bürgerlichen  Bauweise,  Erhaltung  des  vor- 
handeuen  Bestandes;  Schutz  der  landschafffichen  Natur  einschliefslich  der 
Ruinen;  Rettung  der  einheimischen  Tier-  und  Pflanzenwelt  sowie  der  geolo- 
gischen Eigentümlichkeiten;  Pflege  der  Volkskunst  auf  dem  Gebiete  der  be- 
weglichen Gegenstände;  Pflege  der  Sitten,  Gebräuche,  Feste  und  Trachten. 
Unter  Einschlufs  dessen,  was  die  Vereine  für  Volkskunde  sammeln  imd 
zu  erhalten  streben,  wird  hier  das  Augeimierk  auf  die  Gesamtheit  der  Elemente 
gerichtet,  die  zusammen  einer  Landschaft  ihr  eigeutümliches  Gepräge  ver- 
leihen, und  vor  allem  die  Tier-  und  Pflanzenwelt,  die  Gestaltung  von  Wald 
xmd  Berg  ist  nicht  vergessen.  Das  Ziel  ist  allem  Anschein  nach  weniger 
wissenschaftliche  Arbeit  —  dafür  ist.  ja  vidfach  schon  gesorgt  —  sondern 
in  erster  Linie  tatkräftiges  Handeln,  um  die  Natur  vor  gewaltsamen 
Schädigungen  zu  bewahren.  Der  Gedanke,  der  in  den  beiden  letzten  Jahr- 
zehnten hinsichtlich  der  Kunstdenkmäler  so  überraschend  schnell  Anerkennung 
gefunden  hat,  soll  hier  auf  alle  Eigentümlichkeiten  der  Natur  undKunst 
ausgedehnt  werden.  Mögen  die  Bestrebungen  von  günstigem  Erfolge  be- 
gleitet sein! 

Vor  allem  die  Geschichtsvereine,  für  die  es  in  mancher  Gegend 


i)  Die  Arbdt  wird  also  mit  derselben  bis  ins  einzelne  gehenden  Genaniglceit 
gefthrt  werden,  mit  der  nach  einheitlichem  Plane  Dialektkmrten  Hir  je  eins  der 
Wörter  in  40  Mnsters&tzen  entworfen  werden,  über  die  im  Jahre  1879  ErhebimgeQ 
in  gane  Deutschland  angesteUt  worden.  Vgl.  die  Mitteilongen  von  Wrede  im  An^ 
xeiger  d&r  ZeUatknfi  fiir  dtHtsohea  Altertum  bis  snm  Jahre  1903.  Siehe  Mch 
diese  Zeitschrift  a.  Bd.,  S.  a9a — 293. 

11* 


—     16i     — 

und  mancher  Stadt  nur  vorteilhaft  sein  kann,  wenn  sie  sich  an  immi^lh^r 
praktischen  Aufgaben  beteiligen  können,  sollten  sich  diesen  Bestrebungen  gegen- 
über zu  tatkräftiger  Unterstützung  entschliefsen.  Durch  eine  eventuelle  Er- 
weiterung ihres  Arbeitsgebietes  würden  sie  nicht  nur  der  Sache  dienen,  son- 
dern auch  die  nächsten  und  ursprünglichen  Aufgaben  in  mancher  Beziehung 
fördern  können.  —  Nähere  Auskunft  erteilt  allen  Interessenten  Robert 
Mielke  in  Charlottenburg  5,  Römerstrafse  i8. 

ArchiTe.  —  Im  Jahre  1903  ist  die  archivalische  und  historische  Welt 
mit  einem  Adreßbuch  der  wichiigaien  Archive  Europas,  erster  Teil :  Deutsches 
Eeieh  ohne  Preußen,  beschenkt  worden.  Da  ein  sach-  tmd  zeitgemäis  be- 
arbeitetes Archivadrefsbuch  imstreitig  ein  recht  verdienstvolles,  aber  für  den 
Bearbeiter  zugleich  entsagungsvoUes  Werk  wäre  und  das  Publikum  annehmen 
mufs,  dafs  nur  ein  unterrichteter  Faehmann  an  eine  solche  Aufgabe  heran- 
geht, ist  es  dringend  notwendig  darauf  hinzuweisen,  da&  das  vorliegende 
Buch  ^)  den  zu  stellenden  Anforderungen  in  keiner  Weise  ge- 
nügt, und  vor  dem  Ankauf  zu  warnen.  Schon  Preis  tmd  Bezugs- 
bedingungen erwecken  gerechtes  Bedenken,  aber  für  Sachkenner  wird  es  be- 
sonders bezeichnend  sein,  dafs  von  denjenigen  Archiven  bezw.  Interessenten, 
die  das  Adrefsbuch  vorausbestellt  haben,  die  Königl.  Preufsischen  Staats- 
archive zu  Marburg,  Osnabrück  und  Stettin,  sowie  das  Fürstl.  HohenzoUemsche 
Haus-  und  Domänenarchiv  zu  Sigmaringen  das  Büchlein  zurückgesandt 
haben.  Und  gewüs  hätten  den  gleichen  Weg  gern  noch  andere  eingeschlagen« 
wenn  sie  nicht  schon  voreilig  das  Buch  der  Bibliothek  einverleibt  hätten, 
ohne  von  seinem  traurigen  Inhalte  Kenntnis  zu  nehmen. 

Die  Person  des  Verfassers  ist  insofern  von  Interesse,  als  das  Buch- 
händler-Börsenblatt seit  Jahren  eine  Reihe  wertvoUer  Beiträge  zu  seiner  Bio- 
graphie enthält,  wodurch  die  von  ihm  befolgten  Geschäftsmaximen  in  das 
redite  Licht  treten.  Hettler  ist  von  Haus  aus  Buchhändler,  seine  Verlags- 
artikel werden  aber  durch  den  organisierten  Buchhandel  nicht  vertrieben 
und  sind  deswegen  nur  direkt  zu  beziehen.  In  dieser  Weise  ist  erschienen 
eine  Zeüsckrift  für  den  geographischen  Unterricht,  eine  Zeitschrift  für  den 
geschichtlichen  Unterricht,  ein  Historisches  Literaturblatt,  eine  Zeitschrift  für 
alte  Geschichte,  eine  Neuphilologische  Bundschau,  wobei  dieselben  Auifsätze, 
weim  es  der  Inhalt  einigermafsen  zuläfst,  in  mehrere  dieser  Organe  Auf- 
nahme gefunden  haben.  Wie  viel  von  jeder  einzelnen  dieser  Zeitschriften 
wirklich  erschienen  ist,  wird  sich  nur  sehr  schwer  angeben  lassen ;  aber  alle 
zeichnen  sich  dadurch  aus,  dafs  zu  einem  horrend  hohen  Preise  recht  wenig 
geliefert  wird  und  dafs  das  begonnene  Werk  sehr  bald  ins  Stocken  geräL 
Vom  Historischen  Literaturblatt  ist  wohl  im  Frühjahr  1900  das  letzte  er- 
schienen,  Titel  und  Inhalt  zu  Bd.   i  und  2  fehlen  noch  immer;   und  jetzt 


i)  Adreßbuch  der  wichtigsien  Archive  Europas.  Mü  Angaben  über  die  Be" 
nutxungsxeiten^  die  wissensehaftliehen  Beamten  und  die  ekuehlägige  Literaker,  Herant- 
g^eben  Ton  Angnst  Hettler.  Erster  Teil:  Deutsches  Reich  ohne  Umißen,  Jem 
1903,  Selbstverlag  des  Heraasgebers.  Vm  und  167  S.  kleinsten  OlrtaTS.  Preis 
10  Mark,  Vorzugspreis  (bis  zu  bestimmten  Tagen)  5  Mark,  Ramponierte  Exemplare  bieten 
Baumert  und  Ronge  in  Grolsenhain  im  Dezember  1903  bei  direkter  BesteÜvng  binnen 
6  Tagen  für  6  Mark  an. 


—     166     — 

taacht  nim  plötzlich  eine  erste  Nummer  des  3.  Bandes  dieses  Organs  an!, 
die  —  la  Seiten  stark  —  50  Pfennige  kostet,  aber  sich  wesentlich  auf  die 
Reklame  für  die  neuen  archiiralischen  Veröffentüchimgen  beschränkt,  jeden£dls 
nicht  das  bringt,  was  man  nach  dem  Titel  von  dem  Inhalte  erwarten  sollte : 
wir  lesen  eine  Ankündigung  eines  Arohivcdiaehen  Aknanaehs  —  wieder  ein 
neues  Werk  —  imd  auch  die  Namen  derer,  die  darauf  hineinge&llen  sind 
und  Yorausbestellt  haben,  sodann  eine  Rezension  des  Archivadreisbuches  von 
Heydenreich,  die  richtig  gelesen  durchaus  nicht  etwa  besonders  anerkennend 
ist,  aber  immerhin  manchem  Leser  als  eine  Empfehlung  erscheinen  kann;  es 
folgt  eine  Bibliographie,  dann  Personali«!  (Nekrolog  fUr  den  dänischen  Reichs- 
archivar Bricka)  imd  schliefsUch  die  Anzeige  des  2.  Teiles  des  Archivadrefs* 
buches  (Preufsen),  sowie  als  dessen  „Ergänzung**  ein  Jahrbuch  der  420 
deutschen  historiMhen  Kommiaaionen,  Institute  und  Vereine  des  deutschen 
Seichs  und  der  deutschen  Sprachgebiete  des  Auslands,  i.  Jahrg.  1903,  einige 
Textproben  daraus  und  wiederum  ein  Verzeichnis  der  VorausbesteUer  des 
Jahrbuchs.  Dieses  letztere  ist  ein  neues  verheißungsvolles  Unternehmen,  vor 
dem  ebenüeüls  gewarnt  sein  möge.  Seitdem  Hetder  sich  so  intensiv  mit  dem 
Archivwesen  beschäftigt,  gibt  er  auch  in  „zwanglosen**  Nunmiem  ein  Archivar 
Hsches  ZeräraibUxtt,  Organ  für  die  Oescemtinteressen  des  Jrchivwesens  heraus, 
dessen  erste  Nummer  am  15.  August  1903  ausgegeben  worden  ist  Diese 
—  6  Seiten  stark  und  mit  einem  Inhalt,  der  niemanden  interessiert,  —  kostet 
eine  Mark.  Ob  überhaupt  und  was  etwa  von  dem  Zentralblatt,  dem  Jahr- 
buch, dem  Almanach  oder  dem  2.  Teil  des  Adrefsbuchs  erschienen  ist, 
weifs  ich  nicht;  mir  sind  diese  Dmge  alle  nur  aus  den  Ankündigungen  im 
Historischen  Literaturblatt,  3.  Bd.  i.  Heft,  und  den  ersten  beiden  Nummern  des 
Zentralblatts  bekannt  Als  Kuriosum  sei  nur  erwähnt,  dafs  das  2.  Heft  des 
Archivalischen  Zentralblattes  sich  fiast  ganz  inhaltlich  mit  dem  i.  Hefte  des 
literaturblattes  deckt  Vor  mir  Hegt  nur  der  erste  Teil  des  Adrefsbuches, 
der  natürlich  nicht  zur  Besprechung  eingegangen,  auch  nicht  etwa  gekauft 
worden  ist,  sondern  von  einem  der  voreiligen  Vorausbestdler  gütigst  zur  Ver* 
ftigUQg  gestellt  wurde.  Der  Hinweis  auf  Hettlers  sonstige  literarischen 
Machwerke  war  imbedingt  nötig,  um  das  jüngste  Verfieihren  voll  zu  würdigen. 
Was  Burkhardt  mit  semem  Handr  und  Ädrefibuch  der  Deutschen 
Archive  (2.  Aufl.,  Leipzig  1887)  geleistet  hat,  das  weiis  jeder  Archivar  und 
jeder  Archivbenutzer.  Die  Fortsc^tte,  die  seitdem  das  Archivwesen  überaH 
und  in  jeder  Richtung  gemacht  hat,  sind  aber  nicht  minder  bekannt;  dadurch 
ist  einerseits  eine  Neubearbeitung  erleichtert  worden  —  es  sei  z.  B.  an  den 
Wegweiser  durch  die  historischen  Archive  Thüringens  von  Mitzschke  er- 
innert *),  —  aber  andrerseits  sind  auch  die  Ansprüche  gestiegen,  denn  manche 
Archive  sind  gewissermaisen  neu  erstanden  bezw.  neu  entdeckt,  recht  viele, 
namentlich  &chmännischer  Leitung  entbehrende,  neugeordnet  worden,  so  dafs, 
wie  die  Sache  heute  liegt,  sich  wohl  nur  unter  Mitarbeit  vieler  und  einheitlicher 
Redaktion  einer  alle  Interessen  abwägenden'  Person  oder  etwa  Kommission 
eine  dritte  Auflage  von  Burkhardts  Buch  schaffen  läfst  Wird  ein  solches 
Buch  bearbeitet,  dann  mufs  es  für  lange  Zeit  die  Grundlage  bilden  und 
bedarf  deshalb    sorgf^tigste  Redaktion.     Vielleicht  beschäftigt  sick 

i)  Vergl  diese  Zeitschrift  8.  Bd.  S.  296. 


—     166     — 

der  nächste  ArchiTtag  inDanzig  einmal  mit  dieser  Frage!  Als 
leitende  Gesichtspunkte  würden  zum  wenigsten  dabei  die  folgenden  zu  be* 
trachten  sein:  i.  Es  muis  deutUch  von  ««historischen^*  Archiven gesfMrochea 
werden,  um  literarische  und  sonstige  immer  reichlicher  entstehende  Ardnve 
und  auch  die  reinen  Verwaltungsarchive  auszuschliefsen ;  2.  Der  Nachdruck 
ist  auf  die  Bestände  zu  legen  und,  tun  über  diese  zu  unterrichten,  ist  neben 
einer  schematischen  Übersicht  die  Geschichte  des  Archivs  kurz  zu  behandehi. 
3.  Alles  übrige  ist  relativ  nebensächlich.  Am  wichtigsten  fiir  die  Benutzer 
ist  noch  die  Benutzungsordnung  (wer  gibt  die  Erlaubnis?  Etwaige  Zdtgrenze. 
Wird  versandt?),  während  die  Dienststunden  usw.  leicht  wechseln  und  die 
Personalangaben  im  Augenblick  des  Erscheinens  bereits  veraltet  sein  können. 
Um  der  Vollständigkeit  willen  gibt  man  wohl  solche  Dinge  mit  an,  aber 
besser  unterrichtet  ja  in  diesen  Fällen  die  Minerva  bezw.  bei  Personalangaben 
auch  Kürschners  Deutscher  Ldteratur-Kaiender,  die  eben  deshalb,  weil  sie 
jährlich  erscheinen,  alle  Verändenmgen  bald  bringen  können.  Freilich  ist 
dazu  erforderlich,  dafs  die  Archivare  noch  mehr  als  es  bisher  geschehen  ist, 
ihre  Personalien  für  den  Literatur- Kalender  einsenden  und  sachliche  Ver- 
änderungen (Dienststtmden  usw.)  der  Minerva  anzeigen.  Auf  diese  Weise 
erledigt  sich  auch  von  selbst  die  schriftstellerische  Tätigkeit  der  Ardiivbeamten» 
über  die  naturgemäß  jeder  gerne  Aufschluis  erhält,  und  selbst  die  Bezeich- 
nung des  Arbeitsgebietes  bei  der  einzelnen  Person,  wie  sie  Burkhardt  gibt, 
wird  dann  überflüssig.  Die  Literaturangaben  über  das  einzelne  Archiv  müssen 
sich  auf  die  speziell  archivalischen  Arbeiten  beschränken,  die  entweder 
die  gesamten  Archivbestände  oder  einzelne  Gruppen  beschreiben,  die  Zu- 
sammensetzung und  Geschichte  des  Archivs  schildern  oder  sidi  mit  sonstigen 
archivalischen  Angelegenheiten  beschäftigen;  diese  müssen  aber  unbedingt 
vollständig  sein.  Absurd  ist  es  dagegen,  alle  Publikationen  aufftihren  zu 
woüen,  die  Material  aus  den  betreffenden  Archiven  enthalten  oder  verarbeiten: 
dies  läfst  sich  nicht  durchführen  und  hat  auch  recht  geringen  Wert,  da  jedem 
Sachkenner  viel  bessere  und  vollständigere  literarische  Hil£nnittel  zur  Ver- 
fügung stehen. 

Hinsichtlich  dessen,  was  ein  neues  Archivadrefsbuch  heute  leisten  mufs 
und  was  minder  wichtig  oder  überflüssig  ist,  mögen  die  Ansichten  der  Fach- 
leute im  einzelnen  auseinandergehen,  aber  die  soeben  entwickelten  Gesichts- 
punkte dürften  wohl  in  das  Gebiet  fallen,  worin  alle  übereinstimmen.  Will 
man  nun  daran  etwa  die  Leistung  des  Hettlerschen  Elaborats  messen,  so  «> 
weist  es  sich  als  durchaus  ungenügend. 

Ein  vernünftiger  Gesichtspunkt  hinsichtlich  der  Archive,  die  aufgenommen 
worden  sind,  läfst  sich  überhaupt  nicht  erkennen,  es  sind  vielmehr  „mitver- 
hältnismäisig  geringen  Ausnahmen  nur  diejenigen  Ardiive  au%enommen,  von 
denen  gedruckte  Inventare  vorliegen  oder  über  welche  irgend  etwas  im  Dnick 
erschienen  ist  bezw.  aus  denen  Veröfientlichungen  hervorgegangen  sind'S 
Träfe  dies  zu,  so  müfste  fast  die  gesamte  historische  Literatur  benutzt  tmd 
herangezogen  sein,  mindestens  aber  jede  Stadtgeschichte,  die  das  mehr  oder 
minder  reiche  Stadtarchiv  benutzt;  dies  ist  aber  längst  nicht  der  Fall,  viel- 
mehr fehlen  sogar  nicht  wenige  bei  Burkhardt  aufgeführte  Archive  völlig. 
Andrerseits  kann  die  Tatsache,  dafs  über  ein  Archiv  etwas  Gedrucktes 
vorliegt,   auf  keinen  Fall   für  dessen  Aufnahme  entscheidend  sein:   das  Ur- 


—     167     — 

material  muis  doch  anbedingt  durch  direkte  Anfrage  bei  den  Archiwor« 
ständen  beschafit  werden,  wenn  es  2ii?erlässig  und  vollständig  sein  soll;  Ver- 
öflentlichungen  haben  in  den  meisten  Fällen  doch  einen  bestimmten  sach- 
lichen Zweck  «nd  woBen  nicht  nur  registrieren.  Ein  Archivadrefsbuch  soll 
gerade  im  Gegenteil  die  Wege  ebnen  helfen,  um  die  Schätze  zu  ersdüiefsen, 
und  dazu  ist  es  vor  allem  nötig,  dafs  auf  die  Charakteristik  der  Gesamt- 
bestände das  Haup^;ewicht  gelegt  wird,  die,  wie  schon  oben  gesagt,  ganz  auiser 
acht  gelassen  ist.  Da  auch  Heydenreich  in  seiner  Kritik  dies  hervorhebt, 
so  wird  für  den  preufstschen  Teil  Berücksichtigui^  der  Bestände  in  Aussiebt 
gestellt  Ob  dies  gelingen  wird,  ist  recht  zweifelhaft,  denn  dazu  ist  grofser 
Fleifs  und  viel  Sachkenntms  notwendig.  Zwar  behauptet  Hettler  kühn,  Burk- 
hardt  und  Mitzschke  habe  er  „ohne  erheblichen  Nutzen '*  zur  Vergleichung 
herangezogen,  aber  merkwürdig  ist  doch  die  sachliche  Übereinstimmung  mit 
diesen  Büchern,  wo  nicht  ganz  offen  etwas  neueres  vorliegt.  Bei  dem  Fürst- 
lichen Haus-  und  Landesarchiv  in  Detmold  z.  B.  wird  S.  io8  ein&ch  wieder- 
holt, was  bei  Burkhardt  über  die  Benutzungserlaubnis  steht,  ohne  zu  fragen, 
ob  dies  noch  gilt  Tatsächlich  erteilt  seit  27.  Juni  1901  der  Archiworstand 
die  Erlaubnis  flir  wissenschaftliche  Zwecke  bis  1848.  Das  ist  doch  etwas 
ganz  anderes!  Wie  einfältig  geradezu  „literaturangaben''  sind,  zeigt  eben 
da  ein  Hinweis  auf  diese  Zeitschrift  i.  Bd.,  S.  26,  wo  mit  ganzen  4  ZeUen 
die  Anstellung  des  jetzigen  Archiworstandes  erwähnt  wird.  Und  lun  so  einer 
Nachricht  willen  wird  ein  Leser  veranlafst,  dort  nachzuschlagen,  da  er  ver- 
muten mufs,  dafs  an  dieser  Stelle  etwas  wesentliches  über  das  Archiv  zu 
finden  sei !  Während  sonst  absolut  nicht  Hergehöriges  aufgeführt  wird  —  z.  B. 
unter  Königreich  Sachsen  S.  120 — 122  der  Inhalt  des  ganzen  Codex  diplomaticus 
Saxaniae  regiae  und  wie  recht  oft  so  unter  Lübeck  S.  109  das  Frscheinungs- 
jahr  jedes  der  1 1  Bände  des  ürkundenbuehs  der  Stadt  Lübeck,  denn  solche 
Dinge  sind  bequem  abzuschreiben  und  füllen  nett  die  leeren  Seiten,  —  fehlt 
bei  Lippe  selbst  die  BibUogmphia  lAppiaca,  die  als  Nachschlagewerk  unendlich 
viel  ersetzt  Die  ganze  Art  der  Literaturbearbeitung  ist  zwecklos,  oder  gibt 
es  nicht  ein  durchaus  falsches  Bild,  wenn  S.  126 — 127  gerade  12  Bücher 
verzeichnet  sind,  die  Material  aus  dem  Köni^  Hauptstaatsarchiv  Dresden 
verarbeiten?  Nach  meiner  Ansicht  ist  es  durchaus  töricht,  solche  Bücher 
aufzuführen,  aber  wenn  man  es  tut,  dann  müisten  billig  noch  hunderte 
folgen.  £>ie  reinste  WiUkür,  der  Zu£dl,  dem  der  Sachuakundige  naturgemäis 
ausgesetzt  ist,  hat  allein  bei  der  Auswahl  entschieden  und  das  Ergebnis  ist 
entsprechend  ansgefiallen.  Niemand  hat  einen  Nutzen  davon ;  denn  das,  was 
der  Leser  findet,  kann  er  an  anderen  Stellen  besser  und  vollständiger  haben, 
und  was  er  sucht,,  das  findet  er  nicht 

Mögen  die  deutschen  Archivare  und  Historiker  einmütig  die  Zumutung 
ablehnen,  ein  solches  Machwerk  zu  kaufen!  A.  T. 

Eingegangene  Btteher. 

Friedensburg,  Walter:  Die  Herzöge  von  Pommern  und  die  hansisch- 
niederländische Konföderation  von  16 16  [«>■  Ponmiersche  Jahrbücher 
4.  Bd.  (Greifswald  1903),  S.  91  —  138]. 

Günther,  Arno:  Sachsen  und  die  Gefiethr  einer  schwedischen  Invasion  im 
Jahre  1706.     Leipzig,  Dissertation,  1903.     96  S.  8^ 


—     168     — 

Kraus,  Job.:  Aus  dem  Leben  eines  Frankentbakr  Lateinscbulrektors  im 
17.  Jabrbundert  [=»  Zur  Erinnerung  an  die  Eröflhung  des  neuen  Pror 
gynmasiums  in  Frankentbai  am  30.  September  1903]. 

Mayr,  M«:  Veste  Hobenweifen«  ein  gescbicbdicber  Fübrer,  mit  Foto- 
grafien imd  2^cbnungen  von  A.  Weber,  Architekt  Innsbruck,  Wagner, 
1903«     75  S.  8^     I  Krone. 

Neder,  Emil ;  Gescbicbte  der  Kircbe  zu  Höflitz  bei  Bensen  1234 — 1903. 
Selbstverlag  des  Verfassers.     42  S.  8^ 

Oergel,  G.:  Das  ehemalige  Erfurtische  Gebiet  (mit  einer  Karte)  [=  l^fit- 
teilungen  des  Vereins  fUr  die  Geschichte  und  Altertumskunde  Erfurts 
24.  Heft  (Erfurt  1903),  S.   159 — 190]. 

Schultz,  Alwin:  Das  häusliche  Leben  der  europäischen  Kulturvölker  vom 
Mittelalter  bis  zur  zweiten  Hälfte  des  XVUI.  Jahrhunderts  [t=s  Handbuch 
der  mittelalterlichen  und  neueren  Geschichte,  herausgegeben  von  G.  v. 
Below  und  F.  Meinecke].  München  und  Berlin,  R.  Oldenbourg,  1903. 
432  S.  8«.     Mk  9. 

Thiele,  R. :  Rede  zur  Feier  der  vor  100  Jahren  erfolgten  ersten  Vereinigung 
Erfurts  mit  Preufsen  in  der  Aula  des  Kgl.  Gymnasiums  zu  Erfurt  am 
21.  August  1902.     Erfurt,  Fr.  Bartholomäus,   1903.     12  S.  8^. 

Schwieters,J. :  Das  Kloster  Freckenhorst  und  seine  Äbtissinnen.  Waren- 
dorf i.  W.,  J.  Schnell,  1903.     288  S.  8«.     Mk.  4. 

Zschiesche:  Funde  aus  der  merovingischen  Zeit  in  Erfurt  und  der  Um- 
gegend [=  Mitteilungen  des  Vereins  für  die  Geschichte  und  Altertums- 
kunde von  Erfurt  24.  Heft,  2.  Teil,  S.   191 — 204]. 

Zollinger,  Fr.:  Johann  Jakob  Redinger  (1619 — 1688)  weiland  Rektor 
der  Lateinschule  zu  Frankenthal  [««  Zur  Erinnerung  an  die  Erö&ung 
des  neuen  Progymnasiums  in  Frankenthal  am  30.  September  1903]. 

Schrohe,  Heinrich:  Kurmainz  in  den  Pestjahren  1666 — 1667  [e=>  Erläu- 
terungen und  Ergänzungen  zu  Janssens  Geschichte  des  deutschen  Volkes« 
herausgegeben  von  Ludwig  Pastor  III.  Bd.,  5.  Heft].  Freibuig  i.  B.» 
Herder,  1903.     133  S.  8^     Mk.  2,50. 

Mitzschke:  Johann  Andreas  Ebenbart  [«»  Allgemeine  Deutsche  Biographie 
Bd.  48,  S.  301— 3  Jf?]- 

Oechelhäuser,  Adolf  v. :  Das  Heidelberger  Schlofs,  bau-  und  kunst- 
geschichdicher  Führer,  2.  Aufl.  Heidelberg,  J.  Höring,  1902.  196  S.  i6^. 

Riehl,  W^  H. :  Kulturstudien  aus  drei  Jahrhimderten,  6.  Aufl.  Stuttgart  und 
Berlin,  J.  G.  Cotta  Nachfolger,  1903.     446  S«  S^. 

Roll,  Louis:  Erfurt  in  Thüringen  [«»  Europäische  Wanderbilder  Nr.  141 
und  142].     Zürich,  Oreü  Füfsli.     in  S.  8^ 

Störzner,  Bernhard:  Wie  ist  in  den  Gemeinden  der  Sinn  fUr  die  Geschichte 
der  Heimat  zu  wecken  und  zu  pflegen?  2.  Aufl.  Leipzig,  Arwed 
Strauch.     27  S.  S^. 

Veen,  J.  S.  V. :  De  pest  en  bare  bestrijding  in  Gelderland,  in  hed  bij- 
zonder  te  Amhem.  [Overgedrukt  uit  Bijdragen  en  Mededeelingen  der 
Vereeniging  'Gelre*  deel  VI.].     66  S.  8«. 

Henustgeber  Dr.  Annin  Ulle  in  Leiptif. 
Dniek  und  Varlmg  von  Friedrich  AndroM  PertliM,  AktienfeMlUchait,  Godi«. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


tur 


Förderung  der  landesgeschichtlichen  Forschung 


V.  Band  April  1904  7.  Heft 

Dialektvy^örterbüeher    und    ihre  Bedeutung 

für  den  Historiker 

Von 
Ferdinand  Mentz  (Strasburg  i.  £.) 

Edward  Schröder  hat  in  seinen  „Urkundenstudien  eines  Germanisten"  *) 
den  Beweis  erbracht,  „dafs  auf  dem  Gebiete  der  mittelalterlichen  Quellen- 
kunde das  Handwerkszeug  oder,  wo  dies  fehlt,  der  Beirat  des  Ger- 
manisten öfter  als  seither  aufgesucht  werden  mufe",  und  hofft,  dafe 
sich  ein  regerer  Verkehr  zwischen  den  Urkundenforschern  und  den 
deutschen  Philologen  anbahnen  werde.  Da  sich  Schröders  Studien  nur  auf 
lateinische  Urkunden  beziehen,  kamen  für  ihn  nur  in  diesen  vorkomm  enden 
deutschen  Eigennamen  in  Betracht :  er  zeigt ,  wie  aus  deren  gramma- 
tischen Eigentümlichkeiten  auf  das  Alter  der  Urkunden,  ihr  Verhältnis 
zueinander  u.  dgl.  geschlossen  werden  könne.  Doch  dürfte  auch  beim 
Studium  deutscher  Urkunden  und  Chroniken  —  und  zwar  nicht  blofs 
des  Mittelalters,  wo  dieselben  ja  ohnedies  den  lateinischen  gegenüber 
zurücktreten,  sondern  auch  späterer  Zeit  —  der  Historiker  häufig  in 
die  Lage  kommen,  sich  bei  dem  Germanisten  Rats  erholen  zu  müssen. 
Grammatische  Fragen  werden  da  allerdings  seltener  für  ihn  wichtig 
werden,  desto  öfter  aber  wird  er  in  Zweifel  sein  wegen  der  Wort- 
bedeutung. Es  ist  jedem  Germanisten  bekannt,  dafe  im  Mittelhoch- 
deutschen viele  Worte  einen  durchaus  anderen  Sinn  haben,  als  in 
heutiger  Zeit,  dafe  heute  verpönte ,  ja  obszöne  Bezeichnungen  damals 
durchaus  harmlos  waren  usw.  Was  aber  vom  Mittelhochdeutschen  dem 
Neuhochdeutschen  gegenüber  gilt,  das  gilt  in  ebensolchem  oder  noch 
höherem  Mafse  von  den  deutschen  Mundarten  gegenüber  der  Schrift- 
sprache. Wenn  man  in  einem  elsässischen  Laden  etwas  verlangt  und 
der  Verkäufer  erwidert  einem,  es  sei  „wirklich**  nicht  da,  so  wird  man 
als  Nord-  oder  Mitteldeutscher  versucht  sein,  zu  sagen,  dafs  man  ihm 


I)  Mitteilangen  des  lostitats  f.  ötterr.  GetchichUforachnng  18  (1897),  S.  i  ß. 

12 


—     170     — 

auch  ohne  eine  so  nachdrückliche  Versicherung  glaube,  während  der 
Mann  doch  nur  ausdrücken  wollte,  dais  das  Gewünschte  gegenwärtig' 
oder  augenblicklich  nicht  vorhanden  sei.  Ähnlich  wird  in  vielen 
deutschen  Mundarten  bereits  statt  fast  gesagt,  so  daCs  emem  ein 
böses  Miisverständnis  zustofsen  kann,  wenn  man  erfahrt,  eine  Person 
sei  „bereits  tot"  und  man  dies  nach  schriftdeutscher  Weise  aufifiEifst. 
Andere  Dialekte  wieder,  besonders  ostmitteldeutsche,  verwenden  aber 
für  oder  und  umgekehrt.  Vielleicht  noch  mehr  Abweichungen  finden 
sich  bei  den  Substantiven:  „Schmutz**  bedeutet  im  Elsässischen  „Fetf 
oder  „Ku(s*S  aber  selten  oder  nie  das,  was  es  in  der  Schriftsprache 
bezeichnet;  ein  „Reiter**  bezeichnet  manchenorts  ein  Sieb,  anderswo 
(in  Hessen)  ein  „belegtes  Brot**,  „Pappe**  sagt  man  im  Elsals  für 
Brei  oder  Teig,  kurz,  die  Beispiele  liefsen  sich  bis  ins  Unendliche 
vermehren.  Selbstverständlich  finden  sich  diese  in  den  heutigen 
Mundarten  bestehenden  Abweichungen  auch  in  Urkunden  und  Chroniken 
früherer  Zeit  ^),  da  diese  fast  alle,  wenn  auch  nicht  völlig  im  Dialekt  ge- 
schrieben, so  doch  (besonders  die  Privaturkunden)  stark  durch  ihn  be- 
einflufist  sind,  und  sie  können  dem  Historiker  fast  das  Schlimmste  zu- 
fügen, was  ihm  passieren  kann,  nämlich  ihn  verleiten,  seine  Quellen 
falsch  zu  verstehen.  Ein  ergötzliches  Beispiel  solchen  Mifisverständ- 
nisses  erwähnt  der  Kolberger  Prediger  J.  E.  Müller,  der  sich  um  die 
Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts  auf  die  Sammlung  der  in  der  Kolberger 
Gegend  gebräuchlichen  Idiotismen  legte.  Ein  eingewanderter  Kolberger 
Schulrektor  hatte  zu  den  Worten  Henric  van  dages  decanus  einer  Ur- 
kunde angemerkt,  eine  Familie  van  Dages  könne  er  nicht  nachweisen. 
Er  wufste  nicht,  dafs  van  (wan)  dages  im  Niederdeutschen  so  viel  ist, 
wie  „weiland**  oder  „vorzeiten**')! 

Viel  harmloser  sind  demgegenüber  diejenigen  Worte,  die  dem,  der 
nur  das  heutige  Deutsch  kennt,  zunächst  überhaupt  unverständlich  sind, 
denn  sie  machen,  wenn  sich  ihr  Sinn  nicht  zweifellos  aus  dem  Zusammen- 
hange ergibt,  den  Gebrauch  des  Wörterbuchs  unumgänglich  und  schützen 
so  vor  Milsverständnissen.  Sehr  viele  solcher  Wörter  finden  ihre  Er- 
klärung in  Benecke-Müller-Zamckes  grofsem  mittelhochdeutschen  Wörter- 
buche oder  in  Lexers  grofsem  Wörterbuche,  das  nach  jenem  und  zur  Er- 
klärung und  Ergänzung  von  jenem  gearbeitet  ist,  ja  selbst  Lexers  mittel- 
hochdeutsches Taschenwörterbuch  (6.  Aufl.  1901)  wird  oft  sehr  gute 
Dienste  leisten.    Für  Quellen  aus  späterer  Zeit,  etwa  dem  Reformations- 

i)  So  beitpielsweiie  aber  fUr  oder  in  den  Briefen  Johann  Friedrichs  des  Grofs- 
mtttigen  (vgl.  G.  MenU,  Job.  Friedr.  d.  GrofsmUtige  I,  S.  99). 

2)  Vgl.  Jahrboch  des  Vereins  f.  niederd.  Sprachforschong  13  (1887),  S.  35. 


—     171     — 

Zeitalter  oder  dem  des  30 jährigen  Krieges,  ist  höchst  wertvoll,  aber 
nicht  handlich,  das  grofse  Deutsche  Wörterbuch  der  Brüder  Grimm; 
leider  ist  es  aber  noch  nicht  ganz  vollständig,  denn  es  geht  nur  bis 
W  und  ist  auch  bis  dahin  nicht  ohne  Lücken.  Oft  genug  aber  werden 
alle  diese  und  ähnliche  Hilfsmittel  versagen :  einmal ,  weil  bei  ihnen, 
wie  es  in  der  Natur  der  Sache  liegt,  der  Wortschatz  der  schönen  Lite- 
ratur mehr  herangezogen  ist,  als  der  der  Rechts-  und  Geschäflssprache, 
dann  aber  auch,  weil  bei  ihrer  Abfassung  viele  heute  gedruckt  vor- 
liegende Geschichtsquellen,  besonders  Urkunden,  noch  gar  nicht  zu- 
gänglich waren  und  deshalb  nicht  berücksichtigt  werden  konnten. 
In  solchen  Fällen  können  oft  die  Dialektwörterbücher  helfend 
eintreten,  sei  es,  dafs  das  in  den  anderen  Lexicis  fehlende  oder  un- 
genügend erklärte  Wort  in  heutigen  Mundarten  noch  lebendig  ist,  sei 
es,  dais  sie,  wie  häufig  der  Fall  ist  und  eigentlich  immer  sein  sollte, 
auch  die  älteren  Perioden  des  Dialektes  und  daher  entlegenere  Quellen 
berücksichtigen,  die  in  den  grofsen  allgemeinen  Wörterbüchern  über- 
gangen werden  mufsten.  So  steht  beispielsweise  in  Heinrich  Hugs 
Villinger  Chronik ,  herausgegeben  von  Roder  ^) :  die  von  WaUehüU, 
die  toarend  uff  die  selben  jdä  im  harte  .  .  .  Das  Register  (S.  257) 
bemerkt  dazu:  „Hartz,  streit  (?)."  In  den  Wörterbüchern  von  Grimm, 
Lexer  usw.  findet  sich  das  Wort  nicht.  Wendet  man  sich  nun  an 
die  mundartlichen  Wörterbücher,  so  gibt  es  leider  ein  Idiotikon  speziell 
für  die  Mundart  von  VUlingen  oder  überhaupt  für  das  rechtsrheinische 
Alemannien  noch  nicht,  man  mufs  es  deshalb  mit  dem  Wörterbuche 
des  angrenzenden,  gleichfalls  alemannischen  Schweizerischen  versuchen. 
Da  steht  denn  im  Schweizerischen  Idiotikon  (s.  unten),  TeU  II,  Sp. 
1657:  Jiarziereii  =  einen  Streifzug  machen,  aus  Vadians  Schriften, 
allerdings  ebenfalls  mit  einem  Fragezeichen  versehen.  Indessen  erhebt 
diese  an  beiden  Stellen  vorhandene  Wahrscheinlichkeit  die  vermutliche 
Deutung  des  Wortes  nahezu  zur  Gewifsheit;  das  Schweizerische  Idiotikon 
hilft  uns  also  die  Villinger  Chronik  verstehen,  diese  wiederum  erhärtet 
eine  in  jenem  ausgedrückte  Vermutung.  Hervorragend  praktisch  für 
das  Aufsuchen  rätselhafter  Wörter  sind  aber  viele,  besonders  neuere, 
mundartliche  Wörterbücher  deshalb,  weil  in  ihnen  die  einzelnen  Artikel 
nicht,  wie  sonst,  nach  dem  Alphabet  aller  Buchstaben  der  be- 
handelten Wörter,  sondern  nach  Wortstämmen  geordnet  sind,  oder, 
genauer  gesagt,  nach  dem  Konsonantengerippe  des  Wortstammes,  ohne 
Rücksicht  auf  die  Vokale.    Es  steht  also  z.  B.  Tuch  vor  Tag,  Buch 


i)  Bibliothek  dea  literar.  Vereins  in  Stuttgart  164,  S.  102  (Tübingen  1883). 

12* 


—     172     — 

vor  Bank  usw.  Wortstämme,  die  sieb  nur  in  den  Vokalen  vonein- 
ander unterscheiden,  sind  natürlich  nach  der  alphabetischen  Reihen- 
folge dieser  geordnet,  also  Bach  steht  vor  Buch.  Diese  Anordnung 
ist  deshalb  getroffen  worden,  weil  in  den  verschiedenen  Untergebieten 
einer  Mundart  häufig  die  Vokale  ein  und  desselben  Wortes  wechseln, 
während  die  Konsonanten  im  allgemeinen  unveränderlich  sind.  Es  ist 
auf  diese  Weise  möglich,  die  Bedeutung  eines  Wortes  zu  finden,  auch 
wenn  dasselbe  in  der  betr.  Quelle  einen  anderen  Vokal  zeigt,  als  im 
Wörterbuche.  Ein  Beispiel  wird  dies  deutlicher  machen:  In  Hans 
Stoltz'  Büchlein  Von  Ursprung  und  Anfang  der  Stadt  Gebweiler,  heraus- 
gegeben von  See  (Colmar  187 1),  steht  auf  Seite  19:  In  disem  jar 
[1504]  uHiren  so  gar  vil  g ecken,  die  übel  stinkhen,  in  der  kürchen,  in 
äUen  fenstem  vnnd  in  den  mauern  .  .  .  Das  Wort  gechen  ist  bei 
Grimm,  Lexer  und  sonst  nicht  verzeichnet,  aus  dem  Zusammenhange 
geht  hervor,  da(s  damit  entweder  ein  Ungeziefer  oder  eine  Art  Schwamm 
gemeint  sein  muls.  Sehen  wir  nun  in  dem  Wörterbuche  der  elsässi- 
sehen  Mundarten  von  Martin  und  Lienhart,  das  in  der  oben  geschU- 
derten  Weise  angelegt  ist,  die  Wortstämme,  die  aus  g  +  Vokal  +  ch 
bestehen,  durch,  so  finden  wir  zwar  nicht  gechen,  wohl  aber  auf  S.  197 
des  I.  Bandes  angegeben  gauch  =  Baumwanze  imd  noch  dazu  als 
Beispiel  stitüce  wie  ne  gauch.  Dais  dies  gauch  zu  dem  obigen  gechen 
der  Singular  ist,  würde  zweifellos  sein,  auch  wenn  man  nicht  noch  in 
Klammern  dabei  lesen  könnte,  da(s  es  im  Oberelsafs  koiche  imd  kaich 
ausgesprochen  wird.  Dies  gauch  steht  allerdings  auch  bei  Grimm 
(IV,  I,  I,  Sp.  1531),  aber  wer  denkt  daran,  die  Erklärung  für  ein  Wort 
gechen  unter  gauch  zu  suchen,  wenn  er  nicht  durch  die  Anordnung 
des  Wörterbuches  selbst  darauf  hingeführt  wird  ^)  ? 

Ein  Wort  aber,  welches  ganz  besonders  die  Wichtigkeit  der  Mund- 
artenkenntnis für  die  Erklärung  und  Kritik  der  Quellen  illustriert,  ist 
das  Sachenspiegelwort  cUtvil  (Ssp.  I,  4),  von  jeher  eine  Crux  der  Ju- 
risten tmd  der  Deutsch-Philologen.  Während  man  dasselbe  früher  als 
„Zwitter*'  auffaCste  (so  bekanntlich  schon  die  Glossatoren  des  Sachsen- 
spiegels), vertritt  neuerdings  Thudichum  *)  die  schon  von  Sachfee  imd 
K.  J.  Th.  Haupt  gegebene  Erklärung  „Elfenkind**  (d.  i.  Diminutivum  von 


i)  Zufallig  tiod  wir  allerdings  in  der  Lage,  diese  Stellen  ans  StolU  anch  darch  die 
grofse  Tbanaer  Chronik  (Annales  oder  Jahrs- OeschicfUen  der  Baar faseren ..  ,xu  Thann . . . 
durch  Malachiam  Tschamser,  1724  [Heraosg.  ▼.  Zimberlin,  Colmar  1864])  erklären  zu 
können,  wo  anf  S.  705  des  ersten  Bandes  dasselbe  Ungeziefer  gauehen  genannt  und  mit 
lat.  blaüa  identifiziert  wird.     Das  beweist  aber  nichts  gegen  die  obigen  AasHihningen. 

2)  Die  Rechtssprache  in  Grimms  Wörterbach  (Stuttgart  1898),  S.  4. 


J 


—     173     — 

<^Vf  df)  und  will  deshalb  mit  der  Hälfte  der  Sachsenspiegelhand- 
schriften altoile  schreiben.  Dies  ist  jedoch  aus  zwei  Gründen  unmöglich. 
Erstens  müfste  das  Wort,  wenn  es  Diminutivum  von  alf  oder  df  wäre, 
nicht  aUoile,  sondern  ehoüe  lauten,  d.  h.  das  a  müfste  durch  das  folgende 
i  umgelautet  sein.  Eben  dieser  fehlende  Umlaut  zwingt  uns,  das  Wort 
fiir  eine  Zusammensetzung  anzusehen.  Zweitens,  und  das  ist  die  Haupt- 
sache, ist  das  Wort  im  heutigen  Niederdeutschen  vor  nicht  langer  Zeit 
wieder  entdeckt  worden  ^)  und  heilst  da  aUviL  Damit  ist  der  Beweis 
erbracht,  da(s  die  Lesung  almle  falsch  ist ;  das  Wort  ist  somit  ein  Bei- 
spiel dafür,  dafs  durch  die  heutigen  Mundarten  auch  textkritische  Fragen 
gelöst  werden  können.  Sehr  interessant  ist  dabei  noch,  dafs  aUvü 
im  heutigen  Niederdeutschen  „Wechselbalg'*  bedeutet;  Sachfse  und 
Haupt  haben  also  den  Text  richtig  interpretiert,  und  nur  die  etymo- 
logische Begründung  ihrer  Deutung  ist  falsch.  Auf  diese  hier  näher 
einzugehen,  würde  zu  weit  fuhren;  ich  denke  die  richtige  Ableitung  an 
anderer  Stelle  zu  bringen. 

Jedenfalls  zeigt  das  Vorstehende,  wie  wichtig  für  die  historischen 
Quellenforscher  die  Kenntnis  der  Mundarten,  besonders  ihres  Wort- 
schatzes, ist.  Ich  glaube  deshalb  manchem  einen  Gefallen  zu  er- 
weisen, wenn  ich,  einer  Anregung  des  Herausgebers  folgend,  hier  die 
wichtigsten  Mundartenwörterbücher  —  auch  die,  welche  erst  vorbereitet 
werden,  —  aufführe  *).  Der  Vollständigkeit  halber  fuge  ich  auch  die 
Wörterbücher  der  luxemburgischen,  niederländischen  und  friesischen 
Mundarten  hinzu :  der  beiden  ersteren,  weü  sie,  obgleich  politisch  nicht 
zu  denen  des  deutschen  Reiches  gehörig,  dennoch  sprachlich  nicht  von 
ihnen  zu  trennen  sind,  der  letzteren,  weil  sie,  zum  TeU  wenigstens,  inner- 
halb des  deutschen  Reiches  gesprochen  werden,  wenn  ihnen  auch  von 
den  meisten  Germanisten  eine  selbständige  Stellung  gegenüber  den 
deutschen  Mundarten  zugewiesen  wird.  Auch  einzelne  allgemeinere  Wörter- 
bücher, die  jedoch  auf  die  Mundarten  Bezug  nehmen,  glaubte  ich  mit 
angeben  zu  sollen.  Aus  praktischen  Rücksichten  —  da  diese  Angaben 
fiir  Historiker,  nicht  für  Germanisten  bestimmt  sind  —  ordne  ich  die  Titel 
in  der  Weise,  dafs  ich  zuerst  einige  allgemeine  Werke  anführe,  dann 


i)  Vgl.  Korrespondenzbl.  des  Vereins  f.  niederd.  Sprachforschong,  5.  Bd.  (1S80), 
S.  17  f. 

a)  Ein  möglichst  ToUstXndiges  Verzeichnis  der  Literatur  über  die  deutschen  Mund- 
arten (Bibliographie  der  deutschen  Mundartenforsehung)  habe  ich  189a  als  3.  Band  der 
▼on  Otto  Bremer  heraofg.  Sammhtng  kurzer  Orammaiiken  deuUeher  Mundarten 
(Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel)  erscheinen  lassen  and  in  der  Zeitschrift  Deutsche  Mund' 
arten  (Wien,  Fromme)  fortgesetzt. 


—     174     — 

diejenigen,  welche  die  Mundarten  des  ober-  und  mitteldeutschen  Sprach- 
gebietes (die  sogen,  hochdeutschen  Mimdarten)  behandeln,  dann  die 
über  die  Mundarten  des  niederdeutschen  Sprachgebietes.  Innerhalb 
des  Hochdeutschen  und  des  Niederdeutschen  folgen  sich  die  Werke, 
ohne  Rücksicht  auf  feinere  mundartliche  Unterschiede,  nach  dem 
politischen  Gebiet,  welchem  die  jeweils  behandelte  Mundart  ganz  oder 
gröistenteüs  angehört,  im  allgemeinen  in  der  Richtung  von  West  nach 
Ost.  Umfassendere  Wörterbücher  stehen  stets  vor  den  spezielleren, 
die  letzteren,  soweit  sie  überhaupt  angeführt  sind,  reihen  sich  nach 
dem  Alphabet  der  behandelten  Gegenden  oder  Orte.  Sind  mehrere 
Idiotiken  eines  und  desselben  Gebietes  zu  nennen,  so  wird  dasjenige, 
welches  wissenschaftlichen  Anforderungen  am  meisten  entspricht,  zu- 
erst genannt.  Bei  denjenigen  Werken,  die  auCser  der  lebenden  Mund- 
art auch  ältere  Perioden  derselben  berücksichtigen,  habe  ich  dies,  so- 
fern es  nicht  aus  dem  Titel  selbst  hervorgeht,  ausdrücklich  vermerkt. 
Wo  ich  über  den  Wert  eines  Buches  nichts  sage,  bitte  ich  an- 
zunehmen, dais  ich  es  entweder  für  gut  halte,  oder  da(s  wenigstens 
nichts  Besseres  da  ist;  über  die  Vollständigkeit  kann  man  sich  nach 
den  beigefügten  Seitenangaben  meist  ein  ungefähres  Urteil  bilden.  Die 
Angaben  der  Wortbedeutungen  dürften  in  den  meisten  Idioticis,  da  sie 
doch  fast  stets  von  Leuten  verfafst  sind,  die  mit  der  Mundart  von  klein 
auf  vertraut  sind,  zuverlässig  sein,  die  Etymologien,  in  denen  sich  be- 
sonders ältere  Lexika  gefallen,  sind  mit  grofser  Vorsicht  zu  benutzen, 
für  den  Historiker  aber  auch  kaum  von  Belang.  Die  in  den  Mundarten 
(z.  T.  auch  in  der  Schriftsprache)  phonetisch  zusammenfallenden  Kon- 
sonanten, wie  b  und  p,  d  und  t,  g  und  k,  f  und  v,  werden  in  den 
Wörterbüchern  oft  zusammen  behandelt.  Von  den  Vorteüen  der  häufig 
angewandten  Anordnung  der  Wörter  nach  Stämmen  ist  schon  oben 
die  Rede  gewesen. 

Allgemeines. 

Diefenbach,  Lor.,  ti.  Wülcker,  Ernst,  Hoch-  und  niederdeutsches  Wörterbuch 
der  mittleren  und  neueren  Zßit,  Zur  Ergänzung  der  vorhandenen  Wörterbücher,  ins- 
besondere des  der  Oebr.  Orimm.    (Basel,  B.  Schwabe,  1885.  8".    2  Bl.,  X  S.,  930  Sp.,  i  S.) 

Höfler,  M.,  Deutsches  Krankheitsnamenbuch.  (München,  Piloty  &  Loehle  1899. 
8^  XI,  932  S.) 

Pritzel,  G.,  a.  Jessen,  C,  Die  deutschen  Volksnamen  der  Pflanxen,  Neuer 
Beitrag  xum  deutschen  Sprachschätze,  Aus  allen  Mundarten  und  Zeiten  xusammen- 
gesteUt.     (Hannover,  Ph.  Cohen,  1882.  8^  i  Bl.,  VIII,  701  S.) 

Ein  umfassendes  Wörterbuch  der  deutschen  Bechtsspraehe  wird  seit  1897  durch 
die  preulsische  Akademie  der  Wissenschaften  unter  Leitung  von  Prof.  Richard  Schröder 
in  Heidelberg  vorbereitet.    Dasselbe  berücksichtigt  die  ganze  irgendwie  in  Betracht  kom- 


—     176    — 

mende  Literatur  des  ganzen  deutschen  Sprachgebietes  (einschl.  der  Niederlande)  ans  Mittel- 
alter and  Neuzeit  sowie  anch  die  heutigen  Mundarten ,  wird  somit  für  den  Juristen  wie 
fUr  den  Historiker  und  Germanisten  eine  unschätzbare  Fundgrube  und  ein  hervor- 
ragendes Hilfsmittel  zum  Verständnis  der  Quellen  sein  und  die  Lücke  bezüglich  der  Rechts- 
sprache im  Grimmschen  Wörterbuch,  auf  die  1898  Thudichum  i)  hingewiesen  hat,  völlig 
ausfüllen.    Vgl.  auch  diese  Zeitschrift  i.  Bd.,  S.  340. 

Hochdentsche«  Gebiet. 

(Ober-  and  mitteldeutsche  Mundarten.) 
Schweiz. 

Sehtoeixerisehea  ItHoiihon,  Wörterbuch  der  aehweixerdeutaehen  Sprache,  Oe- 
aammelt  auf  Veranstaltung  der  Antiquarischen  OeseUaehaft  in  Zürich  unter  Beihilfe 
au8  allen  Kreisen  des  SchweixervoOces.  Herausgegeben  mit  Unterstützung  des  Bundes 
und  der  Kantone.  Band  L  Bearbeitet  von  Frdr.  Staub  und  Ludw.  Tob  1er.  (Frauen- 
feld, J.  Huber  1881.  4^  i  Bl.,  XXX,  1344  Sp.)  IL  Bearb.  von  denselben  und  Rudolf 
Sc  ho  eh.  (Ebd.  1885.  2  BL  1840  Sp.)  IIL  Bearb.  von  den  vorigen,  A.  Bachmann 
und  H.  Bruppacher.  (Ebd.  1895.  '  BL,  1574  Sp.)  IV.  Bearb.  von  A.  Bachmann*, 
R.  Schoch,  H.  Bruppacher,  E.  Schwyzer,  E.  Hoffmann-Krayer.  (Ebd.  1901. 
2  BL,  2038  Sp.)  Auiserdem  sind  bis  Ende  1903  vom  V.  Bande  erschienen  Bogen  i — 51 
=  Sp.  1^816  =  Heft  43—48  des  ganzen  Werkes,  sowie  als  Heft  47a:  Verxeiehnie  der 
literarischen  Quellen  mit  den  dafUr  gebrauchten  Äbkürxungen,  Samt  einem  ergänxten 
Verzeichnis  der  abgekiirxten  Ortsbexeiehnungen,    (66  S.) 

Das  Idiotikon  umfafst  das  Gebiet  der  deutschen  Schweiz  und  ihre  Kolonien  im 
Süden  des  Kantons  Wallis.  Aufser  der  gegenwärtigen  schweizerischen  Volkssprache  ist 
auch  die  ältere  schweizerdentsche  Literatur  berücksichtigt  Das  Werk  sammelt  i.  alle 
schweizerdeutschen  Ausdrücke,  welche  der  gegenwärtigen  neuhochdeutschen  Schriftsprache 
nicht  angehören  oder  in  Form  oder  Bedeutung  erheblich  von  ihr  abweichen;  2.  alle  im 
Schweizerdeutschen  eingebürgerten  Fremdwörter;  3.  die  Eigennamen,  deren  appellative 
Natur  noch  deutlich  erkennbar  ist  und  zur  Erklärung  oder  Ergänzung  reiner  Appellativa 
beitragen  kann;  4.  die  Kose-  oder  Kurzformen  der  Personennamen.  Die  Wörter  sind, 
wie  in  den  später  zu  besprechenden  bayrischen  Wörterbüchern  von  Schmeller,  nach  Stämmen 
geordnet  >),  die  in  der  Mundart  zusammenfallenden  Konsonanten,  z.  B.  b  und  p,  sind  zu- 
sammen behandelt.  Die  Ausdehnung  dieses  unstreitig  umfangreichsten  aller  bis  jetzt  vor- 
handenen mundartlichen  Wörterbücher  kann  man,  abgesehen  von  den  oben  angegebenen 
Spaltenzahlen  der  einzelnen  Bände,  daraus  ermessen,  dafs  das  in  Heft  47a  enthaltene 
Verzeichnis  nur  der  literarischen  Quellen  60  enggedruckte  dreispaltige  Quartseiten  um- 
fafst. —  In  den  bis  jetzt  erschienenen  Teilen  und  Lieferungen  des  Werkes  werden  die 
mit  Vokalen,  sowie  mit  den  Konsonanten  F  bis  N,  B  und  P  beginnenden  Stämme  und 
ihre  Ableitungen,  Zusammensetzungen  usw.  behandelt. 

Stalder,  Frz.  Jos.,  Versuch  eines  Sehu>eixerischen  Idiotikon  mit  etymologischen 
Bemerkungen  untermischt.  Samt  einer  Sldxxe  einer  schweizerischen  Dialektologie,  L  IL 
(Basel  und  Arau,  S.  Flick  1806;  Aarau,  H.  R.  Sauerländer  1812.  8^  507  S.  und  XII, 
528  S.,  2  BL) 

Hunziker,  J.,  Aar  gauer  Wörterbuch  in  der  Lautform  der  Leerauer  Mundart, 
Im  Auftrage  der  Kantonalkonferenz  verfafst  Aarau,  H.  R.  Sauerländer  1877.  8^  CXXXIX,  331 S. 


1)  Die  Rechtssprache  in  Grimms  Wörterbuch.  Stuttgart,  Fr.  Frommann  (E.  Hauff) 
1898.  8*    56  S. 

2)  Ober  die  Vorteile  dieser  Anordnung  s.  o. 


1 

I 

I 

I 

I 


—     176     — 

Tobler,  Titos,  Äppenxelliaeher  Sprtichsekatx.  Eine  Sammlung  (^pen- 
xeUücher  Wärter,  Redensarten,  nebst  analogischer,  kistarischer  und  etymohgiseher 
Bearbeitung  einer  Menge  von  Landeswörtem  .  .  .  (Zürich,  Orell,  Fttssli  &  Co.  1837. 
8».  LVm  S.,  I  BL,  464  S.) 

Schmidt,  Sam.,  Idiotieon  Bernense.  Mitgeteilt  von  Titas  T o b  1  e r.  Närnberg 
1857.  8^  I  Bl.,  82  S.  Erschien  zuerst  in  der  Zeitschrift  Die  deutschen  Mundarten, 
Bd.  n— IV. 

Btthler,  V.,  Davos  in  seinem  Walserdialekt  ...  I.  Lexikographischer  Teil. 
Heidelberg,  Selbstveriag  (Comm.:  Aarao,  H.  R.  Saaerländer)  1870.  8^  XUV,  358  S. 

Elsafs. 

MartiD,  E.,  und  Lienhart,  H.,  Wörterbuch  der  elsässischen  Mundarten.  Im 
Auftrage  der  Landesverwaltung  von  Elsafs-Lothringeo.  L  Band.  A.  E.  L  O.  U.  F.  V.  G.  H.  J. 
K.  L.  M.  N.  (Strafsborg,  K.  J.  Trübner,  1899.  2  Bl.,  XVI,  799  S.)  Das  grofs  angel^te 
Werk  lehnt  sich  in  seiner  Einrichtung  an  das  oben  erwähnte  schweizerische  Idiotikon  und 
and  mit  diesem  an  das  Moster  aller  Dialektwörterbücher,  das  Ton  Schmeller  (s.  o.),  an. 
Es  „soll  den  Wortschatz  der  heotigen  Volkssprache  in  den  Bezirken  Ober-  ond  Unter- 
elsafs  —  abgesehen  Ton  den  kleinen  Gebieten  mit  romanischer  Sprache  —  wissenschaftlich 
bearbeitet  zosammenfassen ;  es  soll  besonders  die  von  der  Schriftsprache  abweichenden 
Wörter  ond  Wendongen  dieser  Dialekte  verzeichnen  ond  in  aller  Kürze  erklären.'*  Sind 
gegenwärtige  Aosdrücke  schon  in  früherer  Zeit  literarisch  belegbar,  so  sind  die  Zeugnisse 
dafür  gesammelt,  sonst  sind  im  ganzen  die  vergangenen  Sprachverhältnisse  nicht  be- 
rücksichtigt.   Für  letztere  sind  vielmehr  die  drei  folgenden  Werke  besonders  heranzuziehen. 

Johannis  Georgii  Scherzi i  Glossarium  Oermanieum  medii  aevi,  potissimum 
dialecti  Suevicae,  edidit  illostravit  sopplevit  Jeremias  Jacobos  Oberlinos.  Tomos  L  IL 
(Argentorati ,  Lorenz  et  Scholer  1781,  1784.  fol.  X  S.  o.  2148  Sp.)  Das  Werk  ist  be- 
sonders für  das  Elsafs  von  Interesse  wegen  der  fleifsigen  Benotzong  der  damaligen  Strafs- 
borger Handschriften. 

Schmidt,  Charles,  Historisches  Wörterbuch  der  elsässischen  Mundart  mit  be- 
sonderer Berücksichtigung  der  fruh-neukoehdeutschen  Periode.  Aos  dem  Nachlasse. 
Strafsborg.  J.  H.  Ed.  Heitz  [Heitz  &  Mündel]  1901.  XV,  447  S.)  Das  Boch  ist,  wie 
von  den  Heraosgebern  in  der  Vorrede  ausdrücklich  gesagt  wird,  Brochstück  ond  erhebt 
aof  Vollständigkeit  keinen  Ansproch.  Aof  S.  XI— XV  sind  die  benotzten  Texte  angeführt, 
aof  S.  Vin — IX  diejenigen,  deren  Benotzong  dem  Verf.  dorch  seinen  Tod  onmögbch  ge- 
macht worde.  Trotz  dieser  Lücken  ond  trotzdem,  dafs  der  Verfasser  kein  gescholter  Ger- 
manist (sondern  Theologe)  war,  ist  das  Werk  für  jeden,  der  sich  mit  älteren  elsässischen 
Texten  beschäftigt,  onentbehrlich. 

Schmidt,  Charles,  Wörterbuch  der  Straßburger  Mundart.  Ans  dem  Nachlasse. 
Strafsborg,  J.  H.  Ed.  Heitz  [Heitz  &  Mündel]  1896.  8^  XX,  124  S.)  Mit  dem  Porträt  des 
VerL  als  Titelbild.  Behandelt  nor  die  Strafsboiger  Mondart  ohne  Berücksichtigong  der 
übrigen  elsässischen  Dialekte,  aber'mit  reichlicher  Zoziehong  älterer  Schriftsteller  ond  Urkonden. 

Ergänzongen  zo  Schmidts  Wörterboch  gibt  Edoard  Halter  in:  Die  Alemannische 
Mundart  Hagenau- Straßburg.  (Strafsborg  [Selbstverl.]  1901.  8^  208  aotogr.  S.  [Wörter- 
verzeichnis: S.  135 — 197.]) 

Vgl.  aoch  das  Glossar  zo  den  Strafsborger  Chroniken  von  C.  Schröder  (Die 
Chroniken  der  deutschen  Städte  IX,  S.  1079— 11 34). 

Henry,  Victor,  Le  dialeete  alaman  de  Cdmar  (Haute'Alsaee)  en  1870.  Gram- 
maire  et  Lexiqoe.  [■■  Universitö  de  Paris.  Biblioth^qae  de  la  Facolt^  des  Lettres  XL] 
(Paris,  F.  Alcan  1900.  XIV,  244  S.  80.) 


—     177     — 

Lothringen. 

Die  Gesellschaft  für  lothr.  Gesch.  o.  Altertnmsknnde  hat  einen  Anfnif  zur  Her- 
stellong  eines  Wörterbachs  der  dentsch-lothr.  Mundarten  erlassen.  (VgL  Der  Schnlfreand. 
Pädagog.  Ztschr.  f.  Els.-Lothr.  30,  1900,  S.  145.)  Der  als  Kenner  der  lothr.  Mundart 
bekannte  Prof.  FoUmann  in  Mets  hat  die  Herausgabe  übernommen.  Die  Berücksichtigung 
der  Urkunden  ist  ausdrücklich  in  Aussicht  gestellt.   Vgl.  auch  diese  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  242. 

Luxemburg. 

Ein  Ton  dem  Zahnarst  Dr.  Jos.  Weber  aus  Luxemburg  verfafstes  Wörterbuch  des 
Luxemburger  Dialektes  ist  bis  jetzt  nur  handschriftlich  vorhanden,  doch  ist  der  Druck  mit 
staatlicher  Unterstützung  in  Aussicht  genommen.  Vgl.  darüber  Ons  Himeeht,  Organ  des 
Vereins  für  Luxemburger  Oeeehichte,  lAUeratur  und  Kunst  3,   1897,  S.  397  f.  und 

574—578. 

Anfserdem  ist  zu  erwähnen:  Essai  de  lexicologte  hußembourgeoise  (Ons  H^mecht  2, 

1896,  S.  23  ff.). 

Baden. 

Heilig,  Otto,  Beiträge  zu  einem  Wörterbuch  der  ostfränkisehen  Mundarten  des 
Taubergrundes,  Progr.  der  Grofish.  Bad.  Realsch.  zu  Heidelbeig.  (Leipzig,  Breitkopf 
&  Härtel  1894.  4^-  20  S.) 

Lenz,  Phil.,  Der  Handschuhsheimer  Dialekt  I.  Wörterrerzeichnis.  (Progr.- 
BciL  Konstanz  1887.  4^.  55  S.)  Nachtrag  in  Progr. -Beil.  von  Heidelbeig.  (Darmstadt 
1892.  4«.  IV,  20  S.) 

Württemberg  (einschl.  Bayerisch-Schwaben). 

Fischer,  Hermann,  Schwäbisches  Wörterbuch.  Auf  Qrund  der  von  Ädelbert 
V.  Keller  begonnenen  Sammlungen  und  mit  UnterstiÜxung  des  Württembergischen  Staates 
bearbeitet.  Lief.  i~8.  K  ^polteren,  (Tübingen,  H.  Laupp  1 901— 1904.  4^  1280  Sp.) 
Die  8.  Lief,  ist  fUr  Frühjahr  1904  angekündigt.  Das  Wörterbuch  umfafst  die  Sprache 
des  gesamten  Königreichs  Württemberg,  der  Hohenzollerischen  Fürstentümer,  des  Grofs- 
herzogtums  Baden  östlich  einer  Linie  von  Tuttlingen  zum  Oberlinger  See,  der  K.  bayerischen 
Provinz  Schwaben  westlich  der  Wömitz  und  des  Lechs,  von  Tirol  des  nördlichsten  Lech- 
tals  und  des  Tannheimer  Tab.  Neben  der  heutigen  Mundart  dieser  Gegenden  ist  auch 
die  ältere  Sprache  vom  Xm.  Jahrh  an  verzeichnet,  soweit  ihre  Denkmäler  mit  Sicherheit 
jenen  Gegenden  zugewiesen  werden  können.  Die  Wortordnung  ist  die  der  gewöhnlichen 
Wörterbücher,  also  nicht,  wie  z.  B.  bei  Schmeller  (s.  u.),  nach  Stämmen,  doch  sind  die- 
jenigen Mitlauter,  die  in  der  Mundart  zusammenfallen,  z.  B.  anlautendes  b  und  p,  zusammen 
behandelt:  die  mundartliche  Form  hochdeutsch  mit  p  beginnender  Wörter  ist  unter  b  zu 
suchen. 

Schmid,  Joh.  Chrph.  v..  Schwäbisches  Wörterbuch^  mit  etymologischen  und 
historischen  Anmerkungen,  2.  Ausg.  (Stuttgart,  E.  Schweizerbart  1844.  8^  XVI,  630  S.) 
Berücksichtigt  auch  die  ältere  Mundart. 

Birlinger,  Anton,  Schwäbisch- Äugsburgisches  Wörterbuch,  Im  Verlag  der  K.-B. 
Akademie  d.  Wiss.  (München,  Franz  1864.  8^  Vm,  490  S.)  Bringt  hauptsächlich  älteres 
Material,  grofsenteils  aus  Handschriften,  zum  Sprachschatze  derjenigen  schwäbischen  Lande, 
die  jetzt  unter  bayerischer  Krone  sind,  oder  des  alten  Augsburger  Bistumgebietes. 

Für  Augsburg  ist  auch  zn  vergleichen  das  Glossar  zu  den  Augsburger  Chroniken 
von  Math.  Lexer.  (Die  Chroniken  der  deutschen  Städte  IV,  S.  357—400,  V,  S.  441 
bis  488)  und  von  Fr.  Roth  (ebd.  XXU,  S.  530—549,  XXm,  S.  471— 5i3i  XXV,  S,  410—443.) 

Schneller,  C,  Idiotikon  der  Volksmundart  im  Lechtal,  (Zeitsch.  des  Ferdinan- 
deums  21,  1877,  S.  70 — 92.) 


—     178     — 

Bajern. 

Schneller,  J.  Andr^  Batferisekeg  WorterbudL  8ammkm§  wm  Wariam  und 
ÄMudrüdcenf  die  in  den  lebenden  Mundarten  wwokl,  als  m  der  äUanen  und  äUeeten 
Provmeidl'LiUeratMir  de»  Känigreiehs  Bayern,  bee,  eemer  äüeren  Lande,  tm-kommem, 
und  in  der  heutigen  aUgemetn-deutsehen  Sekriftspraeke  entweder  gar  niekt,  oder  nkki 
in  denselben  Bedeutungen  üblieh  emd,  mit  urkundl.  Bdegen,  nad^  den  Siammsgtten 
etymologiseh^phabetiseh  geordnet.  L  (Stuttgart  und  TfibingeD,  CotU  1837.  8«.  XYIHy 
640  S.)  IL  (Ebd.  1828.  8*  I  BL,  722  S.)  ra.  (E2>d.  1836.  8*  VI  S.,  1  BL,  69t  S.) 
IV.  (Ebd.  1837.  8^  I  BL,  310  n.  XXX  n.  2  S.)  ~  Dasselbe,  zweite,  mit  des  VeifiMsen 
Nachtragen  vermehrte  Ausgabe.  Auf  Veranlassung  und  mit  Uoterstfitzang  seiner  Ifajestit 
des  Königs  Blaztmilian  IL  heransg.  durch  die  hist  Kommission  bei  d.  Kön.  Ak.  d.  W., 
bearb.  von  G.  K.  Frommann.  i.  Bd.,  enth.  Teil  I  a.  II  der  i.  Ausg.  (Mfinchen,  Oldeobovg 
1872.  4*.  XV  n.  I  S.  Q.  1784  Sp.)  2.  Bd.,  enth.  Teil  m  n.  IV  der  i.  Aosg.  (Ebd.  1877. 
4»    XXm  n.  I  S.,  1264  Sp.) 

Dies  Wörterbuch  ffihre  ich  deshalb  in  i.  and  2.  Anflage  an,  weil  es  för  die  deatsche 
Blondartenforschnng,  speziell  fiir  die  Bearbeitung  mundartlicher  Wörterbficher,  epodie- 
machend  gewirkt  hat,  nicht  nur  durch  seine  strengwissenschafUiche  und  zugleich  hödist 
praktische  Anordnung  (nach  Wortstämmen;  s.  darüber  oben  in  der  EinL),  sondern  aach 
durch  die  Genauigkeit  der  Aussprachebezeichnung  und  die  weite  Ausdehnung  des  bear- 
beiteten Feldes.  Es  ist  Torbildlich  geworden  fUr  alle  neueren  grofsen  Dialektwörterbfid^r. 
Zur  Erleichterung  des  Znrechtfindens  auch  für  Nicht- Germanisten  ist  dem  Bndie  ein  ge- 
naues, rein  alphabetisches  Register  beigegeben. 

Rockinger,  Ldw.,  Wörterbuch  xu  dem  Urkundenwerke  *Die  tMaierisehen 
landständiechen  Freibriefe  mit  den  Landes freiheitserklärungefi ,  (München,  Druck  Ton 
C.  Wolf  &  S.  1853.  8^  2  BL  159  S.)  Als  weiteren  Zweck  des  Buches  gibt  der  Verf. 
an:  „Viele,  namentlich  juristisch-technische  Ausdrücke  unseres  Mittelalters  in  einem  be- 
stimmten Quellenzusammenhange  nachzuweisen  und  so  zum  Verständnisse  nicht  Uoft  ein- 
zelner, sondern  einer  grofsen  Masse  Ton  Urkunden  über  verwandte  und  ähnliche  Zustände 
einen  nicht  unwesentlich  erleichternden  Beitrag  zu  liefern.'* 

Femer  kommen  für  Bayern  in  Betracht  die  Glossare  zu  den  Chroniken  von 
Nürnberg  (von  Math.  Lexer  [Chroniken  der  deutsehen  Städte  I,  S.  477  —  501,  II, 
S.  535-574»  m«  S.  417—442,  XI,  S.  821—859]),  Regensburg,  Landshnt,  Mfihl- 
dorf,  München  (v.  Albr.  Wagner  [ebd.  XV,  S.  584—607]). 

Pfalz. 

Antenrieth,  Pfälxisehes  Idiotikon.  Ein  Versuch.  (Zweibrücken,  Lehmann  1899. 
8«.    197  S.) 

Osterreich. 

Höfer,  M.,  Etymologisches  WörterbucJi  der  in  Oberdeutseßdand,  vorzüglich  ixber 
in  Österreich  üblichen  Mundart.  L— HI.  (Linz,  J.  Kastner  1875.  i  BL,  342  S.,  i  BL; 
362  S.,  I  BL;  344  S..  36  BL 

Mareta.  H.,  Proben  eines  Wörterbuches  der  österreichischen  Volkssprache  mit 
Berücksichtigung  der  älteren  deutschen  Mundarten.  (Progr,  des  Schottengymn.  in  Wien 
1861.  S\  S.  m-X,  I  BL  u.  S.  1—65;  und  1865.  8«.  XU,  72  S. 

Scheuchenstnel,  C.  v.,  Idiotikonder  österreichischen  Berg-  und  Hüttenspraehe. 
Wien,  Braumüller  1856.  8<».  VIU,  270  S. 

TiroL 
Schöpf,  J.  B.,    Tirolisches  Idiotikon.    Nach  dessen  Tode  vollendet  von  Anton 


—     179     — 

J.  Hofe  r.    Heraosg.  auf  Veranl.  und  darch  UnterstüUang  des  Ferdinandenms  (Innsbrock, 
Wagner  1866.  8».    XVI,  835  S.). 

Anfserdem  enthält  der  IV.  Band  (S.  789—954)  von  Die  HroUschen  Weüthümerf 
im  Anftr.  der  Kais.  Ak.  d.  Wiss. ,  heraosg.  von  Ignaz  V.  Zingerle  n.  K.  Theodor  von 
Inama-Sternegg  (Ost.  Weisth.  V.  Wien,  Braamüller,  1888.  8^.)  ein  von  Jos.  Egger 
verfaultes  Glossar. 

Salz  barg. 

Ein  Sahburguches  Idiotikon  von  K.  £.  Frhr.  v.  Moll  ündet  sich  in  L.  Hühners 
Beschreibung  des   Erxstiftes    u.   EeichsfUrstenthums  Salzburg ,   III   (Salzburg    1796), 

s.  955-984. 

Ferner  kommt  hier  in  Betracht  des  Glossar  zn: 

Die  Sahburgisehen  Taidinge.  (Osten*.  Weisthttmer  L)  Im  Auftrage  der  K.  Akad. 
d.  Wiss.  heraosg.  von  Heinrich  Siegel  o.  Karl  Tomasche k.  (Wien,  W.  Braomttller 
1870.  8^)  Das  von  Tomaschek  verfafste  Glossar  steht  aof  S.  349 — 432. 

Niederösterreich. 

Castelli,  I.  F.,  Wörterbuch  der  Mundart  in  Österreich  unter  der  Enns,  eine 
Sammhmg  der  Wörter ^  Ausdrücke  und  Redensarten,  welche  von  der  Hochdeutschen 
Sprache  abteeiehend,  deni  niederösterreiehischen  Dialekte  eigentümlich  sind,  samt  bei- 
gefügter Erklärung  und  so  viel  möglich  auch  ihrer  Abstammung  tmd  Verwandtschaft, 
beigegeben  grammatische  und  dialektologische  Bemerkungen  über  diese  Mundart  über- 
ha/upL     (Wien,  Tendier  &  Co,  1847.  8^    Vm,  281  S.) 

Kärnten. 

Lexer,  TJ;  :ibias  Kämtisches  Wörterbuch,  Mit  einem  Anhange:  Weihnacht'Spiele 
ond  Lieder  aos  Kärnten.     (Leipzig,  S.  Hirzel  1862.  4^    XVO  S.,  340  Sp.) 

Zo  vergleichen  ist  aoch :  Steirische  und  hämthische  Jhidinge,  im  Auftrage  der  K. 
Akad.  d.  Wiss.  heraosg.  von  Ferd.  Bischoff  u.  Ant.  Schönbach,  (österr.  Weisth.  VL 
Wien,  BraumttUer  1881.  8^)     Darin  S.  543—670  ein  Glossar  von  Ant.  Schönbaeh. 

Steiermark  (s.  a.  bei  Kärnten). 

Unger,  Theod.,  Steirischer  Wortschatx,  als  Ergänzung  zu  Schmellers  Bayerischem- 
Wörterbuch  gesammelt  von  Th.  U. ,  für  den  Druck  bearb.  und  herausg.  v.  Ferd.  KhuU. 
Gedruckt  mit  Unterstützung  der  kaiserl.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien.  (Graz,  Leuschner 
u.  Lubensky  1903.  XXIV,  662  S.  Mk.  12.50.)  Mit  reicher  Benutzung  auch  der  älteren  Lite- 
ratur und  besonders  der  handschriftlichen  Materialien  des  steiermärkischen  Landesarchivs. 
Deutsche  Sprachinseln  im  italienischen  Sprachgebiet. 

Schmeller,  Joh.  Andr.,  Sogenanntes  Oimbrisches  Wörterbruch,  d,  i,  deutsches 
Idiotikon  der  FZT.  und  XTTT,  eomuni  in  den  venetianischen  Alpen,  Mit  Einleitung  ond 
Zusätzen  im  Auftrage  der  Kais.  Ak.  d.  Wiss.  herausg.  von  J.  Bergmann.  (Wien,  Hof- 
und  Staatsdruckerei  1855.  8^    212  S.) 

Zingerle,  Ignaz  V.,  Lusemisches  Wörterbuch,  (Innsbruck,  Wagner  1 869.  S^,  VI,  80  S.) 

Gottschee. 

Schröer,  Karl  Julius,  Wörterbuch  der  Mundart  von  Oottschee,  .  .  [Aus  dem 
Oktoberhefte  des  Jahrganges  1868  und  dem  Maihefte  des  Jahrganges  1870  der  Sitzungs- 
berichte der  philos.-hist  Kl.  der  Kais.  Ak.  d.  W.  besonders  abgedr.]  (Wien,  Hof-  und 
Staatsdruckerei  1879.  8^  3  Bl.,  244  S.)  Das  eigentliche  Wörterbuch  umfafst  nur  die  Seiten 
35—122  und  130—241.     Die  ältere  Sprache  wird  ebenfalls  berücksichtigt. 

Ungarn. 

Schröer,  Karl  Julius,  Beitrag  xu  einem  Wörterbuehe  der  deutsehen  Mundarten 
des  ungrischen  Berglandes,    (Sitzber.  der  K.  Ak.  d.  Wiss.  in  Wien  25,   1857,  S.  213 


—     ISO     — 

bis  372.  27,  1858,  S.  174—218.    Aach  besonders  ersch. :   Wien  1858.  8^  136  S.,  i  BL 
Nachtrag  daza  ebd.  31,  1859,  S.  245—292  und  besonders  ersch.  Wien  1859.  8^    51  S.) 

Siebenbürgen. 

Ein  Wörterbuch  der  siebenbürgisch-deutschen  Mandart  wird  seit  langem  vorbereitet, 
ttber  die  Fortschritte  desselben  im  Korrespondenzblatt  des  Vereins  lUr  siebenbttrgiscfae 
Landeskunde  berichtet.  Nach  dem  Berichte  in  der  44.  Versammlung  deutscher  PhilologCD 
in  Dresden  im  Herbst  1897  waren  damab  zn  dem  in  J.  Wolfiis  Nachlafs  befindlichen  Gmnd- 
stock  etwa  40000  Beiträge  ans  der  lebenden  Mandart  gesammelt  worden;  die  Ansarbeitnog 
sollte  im  folgenden  Winter  begonnen  werden. 

Von  Einzelarbeiten  seien  erwäl^nt: 

Keintzel,  Gg.,  Nömer  Idiotismea.  (Festgabe  der  Stadt  Bistritz,  1897.  S.  45—80). 

Kisch,  Gast,  Nosner  Wörter  und  Wendungen.  Ein  Beitrag  xiwi  avhenbürgiBeh- 

sächsischen  Wörterbuch,    Progr.  des  ev.  Obergymn.     (Bistritz  1900.    178  S.  Mk.  1.20.) 

f  Kram  er,  Frdr.,  Idiotismen  des  Bistriixer  Dialectes.    Beitrag  xu  einem  sieben- 

bürgisch-sächsischen Idiotikon.  (Progr.  d.  er.  Obergymn.  in  Bistritz  1876, 1877.  8^  147  S.) 

Böhmen. 

Neabaaer,  Johann,  AÜdeuische  Idiotismen  der  Egerländer  Mundart.  Mü\einer 
kurxen  Darstellung  der  LautverhäUnisse  dieser  Mundart.  Ein  Beitrag  »u  einem 
Egerländer  WMerbuche.  (Wien,  C.  Gracscr  1887.  8«.  115  S.  Nene  [Titel-]  Auflage  1898.) 

Rheinland. 

Müller,  Jos.,  a.  Weitz,  Wilh.,  Die  Aachener  Mundart.  Idiotikon  ndfst  einem 
poetischen  Anhange.     (Aachen  ond  Leipzig,  Mayer  1836.  8^   XU,  278  S.) 

[Wegeier,  J.]  Wörterbuch  der  Coblenxer  Mundart.  (Rhein.  Antiqaarios m,  14, 
1869,  S.  698—759.  Aach  bes.  ersch.:  Coblenz,  R.  F.  Hergt  1869.  8^.    2  Bl.,  68  S.) 

T o  n n a r,  Aug.,  n.  Et e rs ,  Wilh.,  Wörterbuch  der  Eupener  Sprache,  mit  sprach- 
vergl.  Worterklärungen  Ton  Wilh.  Altenbar g.  (Enpen,  C.  Braselmann  1899.  8^  VmS., 
I  Bl.,  267  S.) 

Honig,  FriU,  Wörterbuch  der  Kölner  Mundart.  Nebst  Einleitung  von  F.  W. 
.Wahlenberg.     (Köln,  F.  Heyn  1877.  8^    174  S.) 

Vgl.  aach  das  Glossar  zn  den  Kölner  Chroniken  von  Ant.  Birlinger.  (Die  Chro- 
niken der  deutschen  Städte  XU,  S.  388—430  u.  XIV,  S.  967—1007.) 

Heinzerling,  Jak.,  Probe  eines  Wörterbuches  der  Siegerländer  Mundart. 
(Beil.  zum  54.  Jahresber.  des  Realgymn.  zu  Siegen.     1891.  8*^.  39  S.) 

Mit  Materialsammlong  für  ein  Wörterbuch  der  Solinger  Volkssprache  beschäftigte 
sich  Anfang  der  70  er  Jahre  des  XIX.  Jahrh.  ein  Herr  C.  A.  Lüttgen  in  Solingen.  Die 
Anzahl  der  vollständigen  Artikel  belief  sich  damals  auf  3000,  die  Zahl  der  Redensarten 
und  Sprichwörter  auf  etwa  1500.  VgL  Monatsschrift  f.  rhein.-westföl.  Geschichtsforschung 
3.  Bd.  (1877),  S.  330  f.     Leider  ist  das  Werk  bis  jetzt  nicht  erschienen. 

Schmidt,  Karl  Chrn.  Ldw.,  Westerwäldisches  Idiotikon  oder  Sammlung  der  auf 
dem  Westencalde  gebräuchlichen  Idiotismen,  mit  etymologischen  Anmerkungen  und 
der  Vergleichung  anderer  alten  und  neuen  Germanistiken  Dialekte.  (Hadamar  und 
Herbom,  Neue  gelehrte  Buchhdl.  1800.  8^    XXVI,  384  S.) 

Hessen. 

Vilmar,  Aug.  Frdr.  Chrn.,  Idiotikon  von  Kurhessen.  (Marburg  und  Leipzig, 
Elwert  i868.  8».    VIII,  479  +  i  S.  —  Neue  billige  Ausg.  Marburg  1883.) 

Als  Ergänzungen  dazu  sind  erschienen: 

Bech,  Fedor,  Beiträge  xu  Vümars  Idiotikon  von  Kurhessen.  (Progr.  des  KgL 
Stiftsgymn.  zu  Zeitz  1868.  4^    1  Bl.,  XXVI  S.) 


—     181     — 

P  fister,  Herrn,  v..  Mundartliehe  und  stamtnkeüliehe  Naehiräge  za  A.  F.  C. 
Vilmars  Idiotikon  tod  Heiseo.    Mit  einer  Karte.    (Marbnrg,  Elwert  1886.  8«.    XVI,  360  S.) 

V  i  I  m  a  r  und  P  f  i s  t  e  r ,  Idiotikon  von  Hessen,  i.  a.  2.  Erg.-Heft  durch  Herrn,  v.  Pfiiter. 
(Marburg,  Elwert  1889.  1894.  80.    XII,  32  n.  49  S.) 

Femer  ist  fUr  Hessen  xn  erwähnen: 

Kehr  ein,  Jos.,  Volkssprache  und  VoUcssiüe  in  Nassau.  Ein  Beitrag  zu  deren 
Kenntnis.  [L]  (Weilborg,  Lang  1860.  8«.  2  Bl.,  XII,  464  +  64  S.  ~  Nene  Titelaoflage 
Bonn,  Habicht  1872.  8».  [S.  31—464  n.   1—64:  Wörterbuch.]) 

Crecelias,  Wilh.,  Oberhessisches  Wörterbuch,  Auf  Orund  der  Vorarbeiten 
Weigands,  Diefenbachs  und  Hainebachs  sowie  eigener  Materialien  bearb.  im  Auf- 
trage des  Historisehen  Vereins  für  das  Oroßherxogtum  Hessen.  (Darmstadt,  A.  Berg- 
sträfser  in  Komm.  1897.  8*.  951  S.)  Nachträge  dazu  von  A.  Roeschen  in  Quartab- 
bl&tter  d.  hist  Ver.  f.  d.  Grofsh.  Hessen  1901,  S.  857-860. 

Schröner,  Gast.,  Spexialidiotikon  des  Sprackschatxes  von  Eschenrod  (Ober- 
hessen)  .  .  .  (Giefsener)  Inaog.-Dis.  (Heidelberg,  K.  Winter  1903.  8^  114  S.)  S.-A.  ans 
Zeitschr.  f.  hochd.  Mundarten  1902  u.  1903. 

Thüringen. 
H  e  r  t  e  1 ,  L.,  Thüringer  SprachschcUx.  Sammlung  mundartlicher  Ausdrücke  aus 
Thüringen^  nebst  Einleitung ,  Sprachkarte  und  Sprachproben.  Mit  Unterstützung  des 
Thüringerwald-Vereins  herausgegeben.  (Weimar,  H.  Böhlaus  Nachf.  1895.  8^  VII,  268  S.) 
Das  Buch  gibt,  wie  in  der  Vorrede  gesagt  ist,  keinen  vollständigen  Sprachschatz  fUr  ganz 
Thüringen,  doch  ist  aus  allen  vier  Himmelsgegenden  und  der  Mitte  des  Landes  die  Mund- 
art je  eines  oder  mehrerer  wichtiger  Orte  vertreten :  aus  Nordthüringen  die  Mundart  von 
Ebeleben  und  von  Stiege,  aus  Ostthüringen  die  von  Altenbnrg,  Naumburg  und 
Rndolstadt,  aus  dem  Süden  die  von  Salzungen,  Rnhla  und  Winterstein,  aus 
dem  Westen  die  von  Nordhausen,  Mühlhausen  uod  der  Vogtei,  aus  der  Mitte 
die  von  Erfurt  Es  sind  nicht  nur  die  ftir  die  genannten  Orte  vorhandenen  Darstellungen 
benutzt,  sondern  auch  die  mundartlichen  Gedichtsammlungen  ausgezogen  worden;  urkund- 
liches  Material   ist  nicht   berücksichtigt. 

Reinwald,  W.  F.  H.,  Hennebergisehes  Idiotikon,  oder  Sammlung  der  in  der 
gefürsteten  Grafschaft  Henneberg  gebräuchlichen  Idiotismen,  mit  etymologisehen  Anmer- 
hingen  und  Vergleiehung  anderer  alten  und  neuen  Germanischen  Dialekte.  [I.]  IL 
(Berlin  und  Stettin,  F.  Nicolai  1793,  1801.  8^  XVI,  115  S.  und  171  S.). 

Provinz  Sachsen  (vgl.  auch  Niederd.  Gebiet). 

Jecht,  Rieh.,  Wörterbuch  der  Mansfelder  Mundart.  Im  Selbstverlag  des  Heraus- 
gebers.    (Görlitz,  Druck  d.  Görlitzer  Nachrichten  und  Anzeiger.  1888.  8^  VIII,  129  S.) 

Bruns,  Kari,  Volkswörter  der  Provinx  Sachsen  (OsUeü)  nebst  vielen  geschieht' 
lieh  merkwürdigen  Ausdrücken  der  sächsischen  Vorzeit.  Herausg.  im  Auftr.  des  Zweig- 
vereins Torgau  des  Allg.  Dt  Sprachvereins.  (Torgau,  F.  Jacobs.  1901.     8*.  31  S.) 

Hierher  gehört  auch  das  von  Hertel  bearbeitete  Glossar  zum  2.  Bde.  der  Magde- 
burger Chroniken.    (Die  Ohron.  der  deutsehen  Städte  XXVn,  S.  237—265). 

Königreich  Sachsen. 

Albrecht,  Karl,  Die  Leipziger  Mundart.  Grammatik  und  Wörterbuch  der 
Leipziger  Volkssprache,  Zugleich  ein  Beitrag  zur  Schilderung  der  Volkssprache  im 
Allgemeinen.  Mit  einem  Vorwort  von  Rud.  Hildebrand.  (Leipzig,  Arnold  1881.  8^ 
XVin  S.,  I  Bl.,  243  S.)     S.  1—69  Gramm.,  S.  71—243  Wörterbuch. 

Anton,  Karl  Gottlieb,  Alphabetisches  Verzeichnis  mehrerer  in  der  Oberlausitz 
üblichen,  ihr  zum  Theil  eigenihümlichen  Wörter  und  Redensarten.  Stück  i — 19.  (Gör- 


—     184     — 

andere  uitdrukkingen  uü  vlaamaehe,  hrabantsehe  en  limbtsrgsehe  oorkonden.  Uitgegeven 
vanwege  de  MaaUchappij  der  Nederl.  Letterkonde  te  Leiden.  Deel  I.  A— Hawen  [i=  Afl. 
1—8].  (Uiden,  E.  J.  BriU  1890.  8».  4  BL,  XVÜI,  634  S.)  Deel  H.  AH.  9-12.  Yd  bis 
Overdrach.    Ebd.  1891  ff.  330  S.     Die  erste  Lieferung  des  Werkes  erschien  1886. 

Cornelissen,  P.  Joief,  en  Vervliet,  J.  B.,  Idiotiean  van  het  ÄrUwerpseh 
dialeet  (stad  Antwerpen  en  antwerpscke  kempen),  (Uitg.  d.  koninkl.  vlaanuche  Academie 
voor  taal-  en  letterkonde,  VIe  reeks,  no.  3i.)  Afl.  i — 3.  (Gent,  A.  Siffer  1899 — 1900. 
8^  S.  1—784.) 

Draaij  er,  W.,  WoordenboeJ^  van  het  Deventerseh  dialeet,  (Haag,  M.  Nijhoff 
1896.  8».  1,75  fl.) 

Dijkstra,  Waling,  Friesek  tcoordenboek  (Lexicon  Frisicum).  Deel  L  A — H. 
II.  I— P.  Leeuwarden,  Meijer  &  Schaafsma  1900.  1903.  2  BL,  XDC,  545  S.  a.  398  S. 
An  den  ersten  10  Lieferungen  (bis  Bacbst.  D)  war  aach  F.  Buitenrust-Hettema  be- 
teiligt. Das  Werk  umfafst  die  heutige  Volkssprache  der  niederl.  Provinx  Friesland.  —  An- 
dere friesische  Wörterbücher  s.  bei  Hannover  (Ostfriesland). 

Gall^e,  J.  H.,  Woordenboek  van  het  Oeldfireeh-Overijsselech  dialeet. 
('s  Gravenhage,  M.  Nijhoff  1895.  8«.  XXVII,  77  S.) 

Molema,  H.,  Wörterbuch  der  Oroningenschen  Mundart  im  XIX,  Jahr- 
hundert, [=  Wörterbücher,  heraasg.  v.  Verein  f.  nd.  Sprachforschung  III.]  (Norden  u. 
Leipzig,  Soltau  1888.  8«.  VHI,  583  S.) 

Schnermans,  L.  W. ,  Algemeen  Vlaamsch- Idiotiean,  (Leuven  1865  —  1870.) 
Dazu  ein  Bijvoegsel  1883.     2  Teile.  8*^.  902  S. 

De  Bo,  L.  L.,  Westvlaamseh  Idiotieon,  (Brügge,  E.  Gaillard  &  Comp.  1873.  gr. 
8*^.  XV,  1488  S.)  Mit  einer  Karte  von  Westflandern.  Ein  neuer  Abdruck  in  kleineren 
T3rpen,  herausg.  v.  Jos.  Saroyn,  unter  Verwendung  der  Zusätze  aus  De  Bos  Hand- 
exemplar, erschien  1892  in  Gent  bei  Siffer.  (4*^.  XIV,  1335  S.) 

Boekenoogen,  G.  J.,  De  Zaanaehe  volkstaal.  Bijdrage  tot  de  kennis  van 
den  woordmsehat  in  Noord-HoUand,    Leiden,  Sijthoff  1897.  8^.  CLIII,  1368  Sp.) 

Westfalen. 

W  o  e  s  t  e ,  Fr.,  Wörterbuch  der  Westfälischen  Mundart,  [Nach  d.  Tode  d.  Verf. 
herausg.  v.  Crecelius  u.  Lübben.]  (Wörterbücher,  herausg.  v.  d.  Verein  f.  nieder- 
deutsche Sprachforschung  I.)  (Norden  und  Leipzig,  Soltau  1882.  8<>.  4  BL,  331  S.)  Be- 
zieht sich  vorwiegend  auf  die  Mundart  der  Grafschaft  Mark. 

Koppen,  Heinr.,  Verxeiehnis  der  Idiotismen  in  plattdeutscher  Mundart^  volks- 
tümlieh  in  Dortmund  und  dessen  Umgegend,  Veröffentlicht  von  seinen  [d.  i.  des 
Verfassers]  Freunden  und  Verehrern.  Als  Manuskript  gedruckt  (Dortmund,  Köppensche 
Buchhdlg.  1877.  80.  67  S.) 

Waldeck. 

Bauer,  Karl,  Waldeekisches  Wörterbuch  nebst  Dialektproben,  Herausg.  v.  Herrn. 
Collitz.  (Wörterbücher,  herausg.  v.  Verein  f.  ndd.  Sprachf.  IV.)  (Norden  und  Leipzig, 
SolUu  1902.  XXVI,  105  u.  320  S.  gr.  S\     M    8.) 

Braunschweig. 

Damköhler,  Eduard,  Probe  einee  nordostharxischen  Idiotikons,  (Wiss.  Beil. 
z.  d.  Schulnachrichten  des  Herzogl.  Gymn.  zu  Blankenburg  a.  H.  1893.  Blankenburg 
a.  H.,  Otto  Kircher  1893.  4^-  3^  ^0  Behandelt  die  Gegend  von  Kattenstedt  bei 
Blankenburg. 

Beck,  H.,  Idiotikon  von  Nordsteimke  bei  Vorsfelde,  (Jahrb.  d.  Ver.  f.  niederd. 
Sprfg.  23,  1897,  S.  131—154  u.  24,  1898,  S.  113— 128. 


—     186     — 

Vgl.  auch  die  Glossare  zu  den  Chroniken  roo  Braonschweig  von  Karl  Schiller 
(Die  Chroniken  der  deutschen  Städte  VI,  S.  482—501)  und  von  Hänselmann  (ebd. 
XVI,  S.  567—640). 

Hannover. 

Schambach,  Georg,  Wörterbuch  der  niederdeutschen  Mundart  der  Fürsten- 
thümer  Qöttingenund  Orubenhagenoder  Oöttingtsch-Orubenhagensches Idiotikon, 
(Hannover,  K.  Rümpler  1858.  8^  XVI,  333  S.)  Nachträge  dasa  von  Sprenger  im 
Jahrbach  des  Vereins  f.  niederdeutsche  Sprachforschang  8,  1882,  S.  27 — 32 ;  femer  im  Korre- 
spondenzblatt desselben  Vereins  14,  1889— 1890,  S.  77—  78  and  18,  1894 — 1895,  S>  ^^ — 27* 

Der  IV.  Band  des  Urkundenbuches  der  Stadt  Hildesheim  (Hildesheim,  Gersten- 
berg  1897)  enthält  ein  von  Herrn.  Brandes  bearbeitetes  Glossar  ttber  die  ersten  vier 
Bände  des  Urkandenbaches. 

Strodtmann,  Joh.  Chrph.,  Idiotieon  Osnabrug-ense.  (Leipsig  and  Altona, 
Körten  1756.  8«.  XVI,  392  S.) 

Stürenbarg,  Cirk  Hnr.,  Ostfriesisches  Wörterbuch,  (Anrieh,  L.  Spielmeyer 
1862.  80.  xn,  356  S.) 

Doornkaat-Koolman,  J.  ten,  Wörterbuch  der  Ostfriesischen  Sprache 
Bkymologisch  bearbeitet.  I.  A — gtttjen.  (Norden,  Braams  1879.  XX,  710  S.)  II.  H  bis 
pAtwater.  (Ebd.  1882,  2  Bl.,  781  S.)  UI.  Q—Z  nebst  Nachtrag  and  Indices.  (Ebd.  1884, 
2  Bl.,  635  S.)  Ergänzungen  daza  von  W.  Lüpkes  in  dem  Jahrbach  d.  Ges.  f.  bild.  Kanst 
u.  vaterl.  Altertümer  za  Emden  ii,  1895,  S.  157 — 171. 

Richthofen,  Karl  Freiherr  v.,  Ättfriesisches  Wörterbuch,  (Göttingen,  Dieterich 
1840.  4^  S.  581— 1 165.)  Die  Seitenzählong  schliefst  an  die  von  R.s  Friesischen  Rechts- 
qaellen  an,  mit  welchen  das  Wörterbach  arsprUnglich  einen  Band  bilden  sollte. 

Bremen. 
[T  i  1  i  n  g  und  D  r  e  y  e  r ,]  Versuch  eines  Bremisch-Niedersächsischen  Wörterbuchs, 
worin  nicht  nur  die  in  und  um  Bremen,  sondern  auch  fast  in  ganx  Nied^sachsen 
gebräuchliche  eigeniümliehe  Mundart  nebst  den  schon  veralteten  Wörtern  und  Redens- 
arten in  bremischen  Gesetzen,  Urkunden  und  Diplomen,  gesammelt,  zugleich  auch 
Tutch  einer  behutsamen  Sprachforschung ,  und  aus  Vergleichung  alter  und  neuer  ver- 
wandter Dialekte  erkläret  sind,  herausgegeben  von  der  bremischen  deutschen  Gesellschaft. 
I.  U.  (Bremen,  G.  L.  Förster  1767.  8«.  8  Bl.,  903  S.)  lU.  IV.  (Ebd.  1768,  1770.  8«. 
4  Bl.,  1132  S.)  V.  (Ebd.  1771.  80.  i  Bl.,  467  S.)  VI.  [auch  mit  dem  Titel:  Versuch  eines 
Bremisch-Nieders.  Wörterbuchs  .  .  .  VI.].  2.  Nachtrag,  enthaltend  Zusätze  und  Verbesse- 
rungen. (Bremen,  K.  Tannen  1869.  8®.  VII,  424  S.)  —  Neue  [Titel-]  Aufl.  von  VI:  Bremen, 
Haake  1881,  1886,  8°.  424  S.  pie  Bearbeitung  von  I— V  besorgten  Eberhard  Tiling 
und  dessen  Bruder,  der  Pastor  Tiling.  Vgl.  Bd.  VI,  Vorrede,  S.  V.  Den  VL  Bd.  bearb. 
der  Lehrer  Dreyer.]  Das  Buch  war  bis  zum  Erscheinen  des  mittelniederdeutschen  Wörter- 
buchs von  Schiller  und  Lttbben  (s.  o.)  das  beste  Hilfsmittel  zum  Verständnis  des  Mittel- 
niederdeutschen. 

Hamburg. 

Richey,  Michael,  Idiotieon  Bamburgense  oder  Wörterbuch  zur  Erklärung  der 
eigenen,  in  und  Um  (!)  Hamburg  gebräuchlichen.  Nieder- Sächsischen  Mund-Art,  Jetxo 
vielfaltig  vermehret , . .  nebst  einem  Vierfachen  Anhange . . .  Hamburg,  K.  König  1754. 
80.  5  Bl.,  LU,  480  S.  —  Eine  neue  Ausgabe  mit  dem  Bilde  des  Verfassers  erschien  ebd. 
1755.  Die  letztere  Ausgabe  ist  ohne  die  Anhänge  wieder  abgedruckt  in  Thesaurus  iu- 
ris provincialis  et  stcUutarii  illustrati  Oermaniae  I,  Giesen(!)  1756.  40.  S.  129-424. 
Die  allererste  Ausgabe  erschien  Hamburg  1743  und  war  nur  XIV,  48  S.  stark. 

18 


—     186     — 

Schleswig-Holstein. 
In  Kiel  hat  sich  ein  aas  Professoren   and  Lehrern  bestehender  Aoischofs  gebildet, 
der  sich  die  Aafgabe  gestellt  hat,  ein  schleswig-holsteinisches  Wörterbuch  heraaszogeben. 
(Vgl.  Lit.  CbL  1903,  Sp.  502.) 
Anlserdexn  ist  za  erwfihnen: 

Schütze,  Joh.  Frdr.,  Eolsteintsches  Idiotikon^  ein  Beitrag  xur  VoUcsiUen- 
geschickte;  oder  Sammlung  plaüdetäseher,  alter  und  neugetnldeter  Worte,  Wortformen, 
Redensarten, . . .  der  alten  und  neuen  Holstemer,  Mit  Holzschnitten.  I.  Nebst  Einleitung 
über  den  Plan  and  die  Grandideen  des  Werkes  (Hamborg,  H.  L.  Villaome  1800.  8*. 
XXIV,  342  S.)  n.  (Ebd.  1801.  2  Bl.,  370  S.)  IIL  (Ebd.  1802.  1  Bl.,  346  S.)  IV.  und 
letzter  Teil  (Altona  1806.     4  BL,  391  S.) 

Mecklenburg. 
[Chytraeas,  Nathan,]  Nomenclator  Latinosaxonieon.  LatimsehvndePtaddütseh 
Vokabelnboek,     (Rostock  11582.   8^   and   öfter.)     Berücksichtigt  besonders   die   Mecklen- 
barger  Mandart     Ober  die  versch.  Aasgaben  vgl.  Lisch  in  Jahrbücher    des  Vereins   för 
Meckl.  Gesch.  23,  1858,  S.  139—142. 

Mi  [Pseadonym  fUr  Sibeth,  C  G.],  Wörterbuch  der  Meektenburgiseh-vorpommer- 
sehen  Mundart,    (Leipzig,  C.  A.  Koch  1876.  8^  2  BL,  iio  S.} 

Pommern. 
Dähncrt,   Joh.  Carl,  PkUt- Deutsches  Wörterbuch,  nach  der  alten  und  neuen 
Pömmerschen  und  Bügischen  Mundart.  (Stralsund,  C.  L.  Strack  1781.  4^  4  BL,  562  S.) 
Das  Werk  ist  fUr  seine  Zeit  aasgezeicbnet   Es  berücksichtigt  sowohl  die  damab  gesprochene 
als  aach  die  ältere  Mandart  and  läfst  dabei  Etymologien  klagerweise  aas  dem  Spiele. 

Altmark. 
Danneil,    Joh.   Friedr.,    Wörterbuch  der  altmärkiseh-plattdeuischen  Mundart. 
(Salzwedel,  J.  D.  Schmidt  1859.  8^  XI,  299  S.) 

Parisias,  L.,  Zusätxe  xu  J,  F.  Danneils  Wörterbuch  der  altmärkisch  -  pkUt- 
deutschen  Mundart.  (Jahresber.  d.  altmärk.  Ver.  f.  vaterl.  Gesch.  a.  Indastrie.  AbtL 
f.  Gesch.  19,  1879,  S.  37—80.) 

Provinz  Sachsen  (vgl.  aach  Hochdeatsehes  Gebiet). 
Sprenger,  R.,  Versuch  eines  Quedlinburger  Idiotikons,    (Jahrbach  des  Vereins 
f.  niederd.  Sprachf.  29,  1903,  S.  139-160.)     Unter  Benatzang  der  Aafzeichnangen   von 
Joh.  Chr.  Friedr.  Gats-Maths  and  des  verst.  preafs.  Kaitarministers  Rob.  Bosse. 

Hierher  gehört  aach  das  Glossar  von  Jan  icke  zam  i.  Bde.  der  Magdeburger 
Chroniken.  (Die  Chron,  der  deutschen  Städte  VII,  S.  434—484.) 

Mark  Brandenbarg. 
Meyer,   Hans,   Der  richtige  Berliner  in  Wörtern  und  Redensarten,    5.  AafL 
Berlin,  H.  S.  Hermann  1904.  8».  XVIH,  169  S. 

Kollatz,  C,  and  Adam,  P.,  Berliner  Wortschatx  xu  den  Zeitefi  Kaiser  Wil- 
helms I,  Aaf  Grand  der  Sammiaogen  des  verstorbenen  C.  K.  and  P.  A.  bearbeitet  von 
Hans  Brendicke.     (Schriften  des  Vereins  f.  d.  Gesch.  Berlins  33,  1897,  S*  69—196.) 

Preafsen  (Provinz). 
Frischbier,  H.,  Preußisches  Wörterbuch,  Ost-  und  u^estpreußische  Promnxia- 
lirnnen  in  alphabetischer  Folge.    L  A  — K.    Berlin,  T.  C.  F.   Enslin    1882.    8r   XVI, 
452  S.     IL  L-~Z.     Nachträge  and  Berichtigungen.     Ebd.  1883.  8^.  i  BL,  355  S. 

Hennig,  G.  E.  S.,  Preußisches  Wörterbuch,  worvnnen  nicht  nur  die  in  Preußen 
gebräuchliche  eigentümlieke  Mundart  und  was  sie  sonst  mit  der  niedersächsisehen 
gemein  hat,  angexeigt,  sondern  auch  manche  in  preußischen  Schriftstdlem,  Urhmden, 


—     187     — 

Dokumenten  und  Verordnungen  vorkommende  veraUete  Tl^Örter,  Redensarten,  Oehräuehe 
und  Altertümer  erklärt  werden,  im  Namen  der  Eönigliehen  Deutsehen  Qesellsehaft 
XU  Königsberg  herausgegeben.    (Königsberg,  Dengel  1785.  8®.  8  BL,  340  S.) 

Fischer,  E.  L.,    Grammatik  und  Wortschatz  der  plattdeutschen  Mundart  im 
preussischen  Samlande.    (Halle,  Waisenhaas  1895.  8^  XXIV,  360  S.) 

Rassische  Ostseeprovinxen. 

Gatzeit,  W.  v.,  Wortersehaix  der  deutsehen  Spraehe  IMamds.  (Riga,  N.  Kjm- 
mel  1859 ff.  8^)  Die  erste  Lieferang  dieses  sehr  reichhaltigen,  aber  leider  tuiToUendeteo 
Werkes  erschien  1859.  Bis  20m  Schlosse  des  Jahres  1898  erschienen  in  den  Jahren 
1864,  1887,  1889,  1893,  1894  and  1898  die  Avtikel  A— Getreibe,  H— Schwartbrett,  T  bis 
Todesgemch,  V— verschränken ,  ferner  1886  Nachträge  ra  A— F,  1889  dgl.  sa  H  —  L, 
1893  dgl.  za  A-R,  1894  dgl.  za  A— S  and  V,  1898  dgl.  za  A— V. 

[Hapel,  Aog.  Wilh.,]  Idiotikon  der  deutsehen  Sprache  in  lAef-  und  Ehstland, 
Nebst  eingestreaeten  Winken  für  Liebhaber.  (Riga,  Hartknoch  1795.  80.  XX,  373  S.) 
[Abgedmckt  aas  Hapels  Neuen  Nordischen  Mbcellaneen  Stück  ii,  I3,  1795.  Nachträge 
ebd.  Stück  17,  S.  335  —  335  and  in  J.  C.  Petri,  Esthland  and  die  Esthen  II,  Gotha 
t8o3,  S.  83  -  104.] 

Sallmann,  Karl,  Leadkaüsehe  Beiträge  Mur  deutschen  Mundart  in  Estland, 
[Jenenser  Diss.]  (Leipzig,  Gnunbach  1877.  8*.  88  S.) 

Ders.,  Neue  Beiträge  %ur  deutsehen  Mundart  in  Estland.  Gedruckt  mit  Unter« 
Stützung  der  estl.  literar.  Gesellschaft.     (Reval,  F.  Kluge  1880.  8*^.  3  El.,  160  S.) 

Ders.,  Eine  Nachlese  %ur  deutschen  Mundart  in  Estland.  (Baltische  Monatsschr. 
34,  1888,  S.  463-471.) 

Eine  gewisse  Verwandtschaft  mit  den  Mnndarten  haben  die  Sprachen  einzelner 
Stände  und  Gewerbe,  sowie  die  Gauner-  (Rotwelsche)  und  Judensprache.  Auch  die  Wörter- 
bücher dieser  Spracharten  können  dem  Historiker  gelegentlich  fttr  das  Verständnis  seiner 
Quellen  von  grofsem  Nutzen  sein.  E4n  allen  wissenschaftlichen  Anforderungen  entsprechendes 
Wörterbuch  des  Rotwelschen  wird  uns  hoffentlich  Friedrich  Kluge  bescheren;  die  älteren 
einschlägigen  Werke  aufzuzählen,  würde  hier  zu  weit  führen. 

Es  lieget  auf  der  Hand,  dafs  die  Benutzung  obiger  Wörterbücher 
am  nötigsten  ist  für  den  Lokalhistoriker,  denn  er  hat  am  meisten  mtmd- 
artliche  Quellen  zu  studieren.  Ist  er  in  der  betr.  Gegend  fremd,  so 
wird  er  ihnen  ohne  diese  Hilfsmittel  oft  ratlos  gegenüberstehen,  aber 
auch  der  Einheimische  wird  nicht  selten  einer  HUfe  bedürfen.  Von  beson- 
derem Nutzen  ist  es  daher  immer,  wenn,  wie  auch  häufig  geschieht, 
bei  Ausgabe  lokaler  Urkunden  und  Chroniken  in  der  Ein- 
leitung oder  sonstwo  auf  die  mundartlichen  Wörterbücher 
hingewiesen  wird,  die  für  das  Verständnis  derselben  vor- 
zugsweise heranzuziehen  sind.  Natürlich  wird  sich  oft  ergeben, 
dafs  die  Idiotika  nicht  vollständig  sind.  Dies  wird  dem  Historiker 
Gelegenheit  bieten,  Ergänzungen  und  Berichtigungen  beizubringen 
und  dadtirch,  gewisserma&en  als  Entgelt  für  den  atis  der  germanistischen 
Wissenschaft  gezogenen  Nutzen,  ihr  seinerseits  in  sehr  erheblichem 
Mafise  zu  dienen.     Denn  jeder  Beleg  eines  Wortes  aus   einer 

18* 


—     188     — 

Zeit,  aus  der  man  es  noch  nicht  kannte,  oder  aus  einer 
Gegend,  in  der  man  es  nicht  vermutete,  kann  für  die 
deutsche  Wortforschung  von  höchstem  Werte  sein,  jede 
neue  Bedeutung  oder  auch  nur  Bedeutungsnuance  eines 
Wortes  auf  die  Geschichte  desselben,' ja  seiner  ganzen 
Sippe,  ein  überraschendes  Licht  werfen,  ein  Licht,  das 
dann  seinerseits  oft  neue  kulturgeschichtliche  Erkennt- 
nisse vermittelt.  Sehr  interessant  ist  es  beispielsweise,  dafe  das 
aus  dem  Litauischen  stammende  Wort  toOcer  (=  Dolmetscher)  sich  auch 
in  Strafsburger  Geschichtsquellen  findet ') ;  nicht  minder  merkwürdig,  dais 
ebenda  *)  die  mitteldeutsch-niederdeutsche  Form  haniqtiehle  (=  Hand- 
tuch) vorkommt,  während  sonst  im  Oberdeutschen  twehd  oder  zwehd 
(heute  elsässisch  ewehl)  gebräuchlich  ist.  Dafs  das  Wort  geche  in  dieser 
Form  noch  nicht  lexikalisch  gebucht  ist,  haben  wir  schon  oben  ge- 
sehen; noch  wichtiger  ist  aber,  dafs  in  der  grofeen  Thanner  Chronik 
an  der  oben  erwähnten  Stelle  (I,  705)  für  dasselbe  Tier  auch  der  Name 
Unke  (unekhen)  verwendet  wird,  der  sonst  nur  als  Bezeichnung  für 
„Kröte"  und  „Schlange"  bekannt  ist. 

Eine  besonders  reiche  Beute  an  neuen  Worten  oder  an  Berichti- 
gungen ist  natürlich  immer  zu  erwarten  bei  der  Herausgabe  von  Ine- 
ditis.  Und  hier  sei  es  gestattet,  einen  Vorschlag  zu  machen,  wie  man 
die  Glossare,  die  man  den  Neuausgaben  beizufügen  pflegt,  und  in  denen 
naturgemäß  auch  die  Ergänzungen  und  Berichtigungen  zu  den  mund- 
artlichen Wörterbüchern  ihre  Stelle  zu  finden  hätten,  zweckmäfsiger 
als  bisher  einrichten  könnte.  Dieselben,  auch  die  höchst  wertvollen, 
von  namhaften  Germanisten  bearbeiteten  Glossare  zu  den  Chroniken 
der  deutschen  Städte,  bringen  bis  jetzt  in  ununterbrochener  alpha- 
betischer Reihenfolge  sowohl  die  Worte,  deren  Erklärung  zwar  zum 
Verständnis  des  Textes  nötig  ist,  die  aber  besonderen  germanistischen 
Interesses  entbehren,  als  auch  die,  welche  für  die  Germanistik  von 
Belang  sind.  Man  muis  also,  um  den  aus  der  Quelle  der  Germanistik 
zufliegenden  Gewinn  zu  erkennen,  das  ganze  Wörterbuch  durchsuchen. 
Es  wäre  viel  praktischer,  wenn  man  das  Wortregister  in  mehrere  Ab- 
schnitte teilte:  an  erster  Stelle  hätten  etwa  die  Worte  zu  stehen,  die, 
ohne  besondere  germanistische  Bedeutung,  nur  für  das  Verständnis 
des  Textes  wichtig  wären;  dann  könnten  die  folgen,  die  sonst  nicht 
oder  nur  in  anderen  Mundarten  oder  aus  anderen  Zeitperioden  belegt 


i)  Z.  B.  Strafsb.  Urkundenbach  IV,  2,  S.  9. 
2)  StraOib.  Urkb.  IV,  3,  S.  164. 


—     189     — 

sind;  an  dritter  Stelle  diejenigen,  die  in  einer  anderen  als  der  bisher 
bekannten  Bedeutung  vorkommen;  zuletzt  hätten  die  zu  folgen,  deren 
Sinn  sich  nicht  oder  nicht  genügend  hat  ermitteln  lassen.  Ein  so  ge- 
teiltes Glossar  würde  den  Gewinn  für  die  deutsche  Wortkunde  sofort 
erkennen  lassen.  Scheut  man  sich  vor  dieser  Teilung,  die  allerdings 
den  Übelstand  mit  sich  bringen  würde,  dafsderBenutzer  des  Wörterbuches 
ein  ihm  unbekanntes  Wort  häufig  an  vier  Stellen  suchen  müfste,  dann 
könnte  man,  anstatt  verschiedene  Abschnitte  zu  machen,  die  durch- 
gehende alphabetische  Reihenfolge  beibehalten  und  die  den  verschie- 
denen Kategorien  zugehörigen  Worte  durch  verschiedenen  Druck  oder 
durch  sonstige  in  die  Augen  fallende  Merkmale  (etwa  Sterne)  kennt- 
lich machen.  Auch  so  würden  die  für  den  Germanisten  wichtigen 
Worte  leicht  zu  finden  sein. 

Allerdings  würde  die  Schaffung  eines  derartigen  Wortregisters  dem 
Historiker  etwas  viel  germanistische  Studien  auferlegen;  fiir  gröisere 
Publikationen  wäre  es  deshalb  stets  das  beste,  einen  Germanisten  hin- 
zuziehen, wie  dies  ja  ohnedies,  häufig,  z.  B.  eben  bei  den  Städtechro- 
niken, beim  Hansischen  Urkundenbuche,  bei  dem  Hildesheimer  Urkunden- 
buche, geschehen  ist.  Auch  bei  der  Oberleitung  des  oben  erwähnten 
Wörterbuchs  der  deutschen  Rechtssprache  ist  ein  Deutschphilologe 
beteiligt. 

Damit  sind  wir  wieder  an  unserm  Ausgangspunkte  angelangt,  dem 
Wunsche  nach  einem  regen  Verkehr  zwischen  Historikern 
und  Deutschphilologen.  Ihn  hervorzurufen  und,  soweit  er  bereits 
vorhanden,  zu  beleben  und  zu  kräftigen  und  dadurch  beiden  Wissen- 
schaften einen  Dienst  zu  leisten,  war  der  Zweck  dieser  Zeilen. 


Mitteilungen 


HeimatsklUlde.  —  Von  ganz  verschiedenen  Seiten  und  in  ganz  ver- 
schiedener Absicht  wird  heute  erfreulicherweise  der  Blick  auf  die  engere 
Heimat,  die  Landschaft,  die  der  einzelne  Sefshafte  aus  eigener  Anschauung 
kennt,  hingelenkt,  imd  anerkennenswerte  Erfolge  sind  in  dieser  Richtung 
bereits  erzielt  worden.  Und  trotzdem  ist  es  von  vornherein  klar,  dafs  diese 
Bemühungen  nur  dann  einen  nachhaltigen  Einfiufs  auf  die  Volksbüdung  ge- 
winnen können,  wenn  die  weitesten  Kreise  des  Volkes  darüber 
aufgeklärt  werden,  worauf  es  ankommt.  Denn  der  Bauer,  der 
dauernd  auf  seinem  Dorfe  lebt,  der  Bürger  der  Kleinstadt,  der  nicht  weit 
herumkommt,  und  selbst  derjenige  Gebüdete,  der  nicht  wesentlich  über  die 
Grenzen  seines  Heimatlandes  oder  seiner  Provinz  hinausgekommen  ist  und  die 


—     190     — 

Unterschiede  wesentlich  anders  gearteter  Landschaften  aus  eigener  Anschauang 
nicht  kennt,  kann  von  vom  herein  gar  nicht  den  Blick  dafür  besitzen,  was  an 
der  ihm  geläufigen  Landschaft  charakteristisch  ist,  was  im  weiteren  Sinne  Kunst- 
denkmäler sind  und  worin  man  Erinnerungen  geschichtlicher  Art  zu  erblicken 
hat.     Der  Sinn  dafür  mufs  erst  anerzogen  werden. 

Für  das  Königreich  Sachsen  ist  ein  solches  kurzes  für  die  weitesten 
Kreise  bestimmtes  populäres  Schriftchen   1901  erschienen,  das  seit  1903   in 
zweiter  Auflage  vorliegt,  Bernhard  Störzner;   Wie  ist  in  den  Oemem- 
den  der  Sinn  für  die  Geschichte   der  Heimat   xu  wecken  und  xu  pflegen? 
(Leipzig,  Arwed  Strauch,  27  S.  8®.)    Wichtig  und  lehrreich  sind  bereits  die 
Abbildungen:    auf  dem  Umschlag  sieht  man  den  Markt  zu  Meüsen    1850, 
S.   II  den  Aschmarkt  zu  Freiberg  1830,  S.  24  den  Markt  zu  Brand  1830, 
drei  ganz  charakteristische  Bilder;  das  Titelblatt  bringt  sofort  zwei  Steinmetz- 
zeichen  von  der  Kirche  zu  Lommatzsch ;  femer  finden  wir  das  Schlofs  zu 
Planitz  (1604),  ein  datiertes  (1506)  Sims  aus  Altzella^  die  Kirche  zu  Koswig 
1840,  eine  Sanduhr,    das  Epitaphium  des  Albrecht  von  Miltitz  auf  Munzig, 
ein  Landfuhrmannshaus,  das  Bomkinnel  von  1637  zu  Bärenwalde,  ein  Altar* 
gemälde,  einen  Taufstein,  ein  Sakramentshäuschen,  einen  Kelch  1480,  ein 
Kirchenportal,  ein  altes  Stadttor,  ein  Siegel  und  nicht  zuletzt  einige  Qocken- 
Inschriften.     Das  ist  auf  wenigen  Seiten  e'm  so  reichhaltiges  und   vielseitiges 
Material,   wie  es  sich  nur   denken   läfst,    und   es   deutet  kurz  alles  das  an, 
worauf  der  Mensch  ohne  jede  Fachbildung  achten  mufs  und  kann,  wenn  er 
Verständnis  für  die   geschichtlichen  Erinnerungen   seiner  Heimat  bekommen 
will.    Der  Text  ist  einfach  gehalten,  so  dafs  ihn  jeder  verstehen  kann,  und  fidst 
die  in  der  Fachliteratur  weiter  ausgeführten  und  in  Fachkreisen  allseitig  be- 
kannten Gedanken  knapp  zusammen.    Der  Verfasser  erläutert  zuerst  an  einigen 
Beispielen  der  engeren  und  weiteren  Heimat,    dafs  jeder  Gegenstand,  jeder 
Zustand,  jeder  Glaube  und  jede  Vorstellung  geschichtlich  interessant  ist  bezw. 
sein  kann;  er  fragt  dann,  wem  die  Aufgabe  zukommt,  alles  zu  hegen  und  zu 
sammeln,  und  beantwortet  sie  für  die  ländlichen  Verhältnisse:    dem  Pfarrer, 
dem  Lehrer,  dem  Gemeindevorsteher;    hinsichtlich  der  Mittel,  um  den  Sinn 
für  die  Geschichte  in  den  Gemeinden  zu  wecken,   gibt  er  manchen  Finger- 
zeig für  die  berufenen  Vertreter  der  Dorfheimat     Besonders  sei  darauf  ver- 
wiesen,  dafs  auch  in  sächsischen  Dörfern   bereits  Ortsmuseen   existieren 
(S.  22).     Den  Schlufs   bildet   die  Erörterung   der  Bedeutung,   den   die    an- 
gedeuteten Bestrebungen  in  Anspruch  nehmen  dürfen. 

Dieses  Schriftchen  dürfte  für  jeden,  der  lesen  kann,  einen  gewissen  Wert 
besitzen  und  das  Interesse  an  den  geschichtlichen  Denkmälern  wachrufen; 
es  ist  klar  und  einfach,  vermeidet  alle  Schwierigkeiten  und  fafst  knapp  zu- 
sammen, was  sich  sagen  läfst  imd  in  der  Fachliteratur  gesagt  ist,  vereinigt 
vor  allem  glücklich  allgemeine  Gedanken  mit  konkreten,  dem  örtlichen  Kreise 
entnommenen  Angaben.  Vorbildlich  kann  es  gewifs  insofem  werden, 
als  es  den  Weg  zeigt,  wie  für  eine  Landschaft  ein  ganz  billiges,  zur  Massen- 
verbreitung geeignetes  Heftchen  hergestellt  werden  kann.  Sache  der  ein 
Land  oder  eine  Provinz  umfassenden  Vereine  dürfte  es  sein,  das  Verfahren 
eines  Privatmanns,  des  Kantors  zu  Amsdorf^  nachzuahmen! 

Hierbei  handelt  es  sich  im  wesentlichen  um  kulturgeschichtliche  Nieder- 
schläge in  Gegenständen,  die  jedem,  der  mit  offenem  Auge  die  heimaüiche 


—     191     — 

Flur  durchmifst,  entgegentreten  können,  und  die  Schätze  der  Erde,  die  Über- 
reste Yorgeschichtlicher  Kuliur  ^) ,  sind  dabei  noch  ganz  beiseite  gelassen. 
In  der  Schule  und  bei  mancher  Gelegenheit  auch  in  weiteren  Kreisen  ent- 
steht aber  auch  das  Bedürbis,  einen  Überblick  über  die  heimische 
Geschichte  zu  gewinnen,  und  dies  ist  zugleich  die  Vorstufe,  um  das,  was 
sich  dem  Auge  darbietet,  zu  verstehen  und  dem  Ganzen  richtig  einzuordnen. 
Dieses  Bedürfnis  mufs  das  Lesebuch  der  Heimatkunde,  welches  als  Ergänzung 
des  allgemeinen  Schullesebuches  und  zugleich  des  Geschichtslehrbuches  zu  be- 
trachten ist,  erfüllen  %  Ein  solches  für  die  Bewohner  von  Jauer  und  Umgegend 
bestimmtes  Schriftchen  liegt  gegenwärtig  vor:  Otto  Koischwitz,  Leaehudi  für 
die  Heimaikunde  (Jauer,  Oskar  Hellmann.  3 1  S.  8*').  Hier  handelt  es  sich  darum, 
ein  einfaches,  auch  dem  Verständnis  des  Kindes  angepafstes  Bild  der  Ereig- 
nisse zu  geben,  die  der  Allgemeingeschichte  angehörend  den  heimischen 
Boden  im  besonderen  berührt  haben,  eine  heimatsgeschichtliche  Ergänzung 
zum  Geschichtsunterricht  Es  wird  da  ganz  kurz  die  germanische  und 
slavische  Vorzeit  geschildert;  es  folgt  die  deutsche  Einwanderung,  wobei 
dem  Ortsnamen  eine  entsprechende  Würdigung  zuteil  wird,  und  nun  wird 
speziell  auf  das  slavische  Dorf  Jauer  eingegangen,  neben  dem  sich  die  deutsche 
Stadt  entwickelt,  und  deren  Anlage  besprochen.  Der  Stadtplan  und  eine 
Karte  des  Kreises  Jauer  sind  am  Schlufs  beigegeben.  Der  Mongolenschlacbt 
von  Wahlstatt  wird  gedacht,  femer  der  zwei  in  topographischen  Bezeichnungen 
fortlebenden  piastischen  Herzoginnen  Hedwig  und  Agnes;  Ratshaus,  Stadt- 
recht und  Bürgertum  werden  unter  Heranziehung  der  ortsgeschichtlichen 
Nachrichten  beschrieben,  es  folgt  die  Einführung  der  Reformation  und  als 
Episode  der  Peterwitzer  Bauernaufstand.  Die  Ereignisse  des  Dreifsigjährigen 
Krieges,  die  Schlacht  bei  Hohenfriedberg ,  Franzosenzeit  und  Befreiungs- 
kriege (Katzbach),  soweit  sie  die  Gegend  von  Jauer  berührt  haben,  werden 
in  dzs  Gedächtnis  gerufen,  und  dazwischen  schiebt  sich  die  nach  dem  West- 
fälischen Frieden  gestattete  protestantische  Religionsübung  und  die  Entwicke- 
lung  der  evangelischen  Schule.  Die  Ereignisse  und  Zustände  des  XIX.  Jahr- 
hunderts sind  schliefslich  in  einen  „Geographischen  Anhang*'  zusammen- 
gedrängt, in  dem  nach  einer  Schilderung  des  geographischen  Zustandes  die 
Industrie,  die  Eisenbahn,  die  Kasernen  und  die  Wobltätigkeitsanstalten  kurz 
beschrieben  werden.  Dann  ist  die  Entstehung  der  Kolonie  Grögersdorf,  an- 
gelegt nach  einem  Brande  1590,  erwähnt,  und  als  Schlufs  wird  ein  Gedicht 
auf  dem  Ratsturm  von  1811  mitgeteilt 

Es  ist  zweifellos  eine  anerkennenswerte  Leistung,  auf  so  wenigen  Seiten 
so  viel  örtlich  gefärbte  allgemeine  Geschichte  mitzuteilen,  aber  dennoch  wird 
der  Leser  manches  vermissen,  und  das  Doppelte  des  Umfanges  hätte  das 
Büchlein  wohl  haben  dürfen,  ohne  seinen  Zweck  zu  verfehlen.  Über  die 
Stadtverfassung  hätte  man  gern  auch  nähere  und  bestimmtere  Angaben  aus 
späterer  Zeit,  ebenso  über  die  Zünfte  (wieviel  gab  es  im  XIV.  Jahrhundert 
und  wie  änderte  sich  ihre  Zahl?).  In  neuerer  Zeit  vermifist  man  etwas  über 
die  Post;  über  die  Eisenbahn  hätte  mehr  gesagt  sein  können.    Gewerbe  und 

i)  Vgl.  darüber  diese  Zeitschrift  oben  S.  156—163  (Wandtafeln  vorgeachichtlicher 
Funde). 

2)  Vgl.  darüber  Wehrmaoo:  Landesgeschiehtliche  Lehr-  und  Lesebücher  in 
dieser  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  225     235. 


—     192     — 

Industrie  kommen  zu  kurz  weg,  und  vor  allem  fehlt  eine  Tabelle  der  Ein- 
wohnerzahlen etwa  von  Jahrzehnt  zu  Jahrzehnt  Noch  manches^Hefse  sich 
anreihen,  aber  an  einigen  Stellen  hätten  auch  Weglassungen  nichts  geschadet. 
Zur  Charakteristik  des  Reisens  im  XVIII.  Jahrhundert  hätte  wenigstens  ein 
schlesisches  Beispiel  erwählt  werden  müssen,  die  Beschreibung  des  mili- 
tärischen Dienstes  S.  29  ist  überflüssig.  Manches,  was  derselbe  Verüisser  in 
seiner  Schrift  Jauer,  ein  Wegweiser  durch  die  Heimat  (Jauer,  O.  Hellmann. 
139  S.  i6<^),  die  eine  Beschreibung  des  modernen  Zustandes  mit  geschicht- 
lichen Rückblicken  gibt,  niedergelegt  hat  —  z.  B.  einige  Dialektgedichte  — 
hätte  wohl  auch  hier  Aufiiahme  finden  köimen.  ^ne  neue  Bearbeitung,  in 
der  kein  Wort  zu  viel  stünde  imd  deren  Umfang  doch  etwa  doppelt  so  grois 
wäre,  könnte  für  viele  deutsche  Städte  vorbildlich  werden,  denn  jetzt  ist  es 
an  der  Zeit,  dafs  jede  deutsche  Kreisstadt  zum  wenigsten  ihr 
heimatskundliches  und  heimatsgeschichtliches  Lesebuch  be- 
kommt. Bearbeiten  kann  ein  solches  aber  nur  derjenige,  der  die  ganze 
Heimatsgeschichte  durch  und  durch  kennt  und  von  seinem  Wissen  nur  das 
Hundertstel  mitteilt,  das  nach  seiner  Meinung  notwendig  jeder  Schüler  und 
jeder  Einwohner  kennen  mufs!  Einen  ähnlichen  Zweck  verfolgt  eine  von 
der  Gegenwart  ausgehende  und  in  die  Vergangenheit  zurückschweifende  Be- 
schreibung von  Donauwörth:  Thalhofer,  Führer  durch  die  Stadt  Donau- 
wCrth,  deren  Geschichte  und  Umgebung  (Donauwörth,  Ludwig  Auer,  1904, 
64  S.  8<^).  Abweichend  von  der  vorigen  Arbeit  stehen  die  Zustände  und 
Einrichtungen  der  Stadt,  ihre  Bauten  und  Denkmäler,  im  Vordergrunde,  die 
äufseren  Ereignisse  werden  nur  nebenbei  gestreift.  Andrerseits  geben  eine 
grofse  Anzahl  trefifliche  Abbildtmgen  auch  dem,  der  die  Wanderung  nicht  selbst 
unternehmen  kann,  ein  gutes  Bild  von  dem,  was  er  zu  sehen  bekommen  würde. 
Wir  haben  nicht  einen  modernen  Wegweiser  mit  geschichtlichen  Rückblicken 
vor  uns,  sondern  eine  geschichtliche  Beschreibung  der  Stadt,  Jdie  sich  der 
äufseren  Form  des  Wegweisers  bedient  und  dem  geschichtlich  interessierten 
Fremden  wohl  auch  als  solcher  dienen  kann.  Thalhofer  vereinigt  fiir  seine 
Heimat  in  gewissem  Sinne  das,  was  Störzner  für  Sachsen  tat,  mit  dem,  was 
Koischwitz  in  seinen  beiden  angeführter  Schriften  für  Jauer  erstrebt,  aber  in  ^ 
der  allseitigen  Beherrschung  des  Stoffes  imd  in  der  Fähigkeit,  dieTeinzelne 
Erscheinung  zu  bewerten,  ist  er  beiden  überlegen.  Für  Jauer  hat  einen  Teil 
des  entsprechenden  Stoffes  in  durchaus  ansprechender  und  zweckdienlicher 
Weise  G.  Schönaich,  der  auch  eine  Stadtgeschichte  bearbeitet,  in  einem 
Vortrage  dargestellt :  Die  alte  Jauersehe  Stadtbefestigung  (Jauer,  Oskar  Hellmann, 
1903,  18  S.  8®).  Eine  reproduzierte  Gesamtansicht  der  Stadt  von  1562  ist 
ganz  bedeutend  zu  nennen,  das  Bild  der  Stadt  aus  dem  Anfamg  des  17.  Jahr- 
hunderts ist  mindestens  interessant,  und  die  Geschichte  der  Stadtbefestigung 
ist  zugleich  die  des  Stadtbildes. 

Eine  andere,  aber  nicht  minder  wichtige  Frage  ist  die,  wie  Landes- 
und Heimatsgeschichte  im  Unterrichte  der  höheren  Schulen 
zu  handhaben  sei  ^).    Unmittelbar  aus  der  Praxis  des  Unterrichts  schöpfend. 


i)  Vgl.    darüber  den  Aufsatz  von  Weh rm an  11  in  dieser  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.   265 
bis  273  und  3.  Bd.,  S.   113— 115. 


—     193     — 

gibt  zu  diesem  Kapitel  einen  höchst  beachtenswerten  Beitrag  Sebald  Schwarz 
in  der  Zeüschrifl  für  laleinlose  höhere  Schulen,  15.  Jahrgang  (1903).  Utk  2: 
Vergangenheit  und  Qegemoart.  Aus  der  Praxis  des  Oeschichtsunterrichts  an 
den  mittleren  Klassen  der  Realschule,  Nicht  nur  jeder  Geschichtslehrer,  sondern 
überhaupt  jeder  Lehrer  sollte  die  ganz  kurzen  Ausführungen  (8  Seiten)  ein- 
dringend lesen,  denn  das  Gebiet,  um  welches  es  sich  hier  handelt,  gehört  schliefs- 
lieh  zu  j  e  d  e  m  Unterrichtsgegenstande  und  kommt  auch  jedem  zugute.  Der  Ort, 
wo  der  Verfasser  wirkt,  ist  Blankenese,  und  niedersächsisches  Wesen  ist  es 
daher ,  womit  er  sich  vorwiegend  abzugeben  hat.  Seine  These  ist  einfach 
die:  an  möglichst  vielen  Stellen  des  Geschichtsunterrichts 
ist  auf  Gegenstände  und  Erscheinungen  Bezug  zu  nehmen, 
die  uns  an  die  Vergangenheit  erinnern  und  uns  doch  noch  in 
der  Gegenwart  lebendig  vor  Augen  stehen,  während  andrer- 
seits bei  Beobachtungen  der  Gegenwartszustände  stets  die 
Frage  nach  dem  warum?  zu  stellen  und  die  Erklärung  in  den 
Zuständen  der  Vergangenheit  zu  suchen  ist.  Die  Beispiele,  an 
denen  Schwarz  sein  System  veranschaulicht,  sind  aufserordentlich  lehrreich  imd 
lassen  sich  für  jede  Gegend,  falls  der  Lehrer  daselbst  heimisch  und  zugleich 
in  ihrer  Geschichte  bewandert  ist,  entsprechend  ausgestalten.  Von  den 
Worten,  die  an  Örtlichkeiten  haften  geblieben  sind  und  uns  von  deren 
Vergangenheit  erzählen,  geht  er  aus,  dabei  die  irreleitenden  Volksetymologien 
streifend:  Reste  der  germanischen  Rechtsverfassung  entdeckt  er  noch  in  der 
modernen  Sprache  (Ableitungen  von  ding)^  über  die  Ansiedelungsformen  der 
Vorfahren  belehrt  eine  Flurkarte.  Dabei  werden  Schilderungen  aus  dem 
Lesebuche  und  sonstigen  bekannteren  Werken  der  Literatur  zur  Veranschau- 
lichung  herangezogen;  die  Brücke  zwischen  Vergangenheit  und  Gegenwart 
schlägt  z.  B.  bei  der  FlurverfassuDg  die  Erläuterung  der  modernen  Grund- 
stückszusammenlegung, mit  der  Friedrich  der  Grofse  begann.  Die  Auswahl 
des  Stoffes  ist  für  Schwarz  etwas  wesentliches,  da  er  das  zunächstliegende 
immer  bevorzugt  „Für  uns  ist  nicht  Bonifa cius,  sondern  Ansgar  der 
Typus  des  Heidenbekehrers ,  dessen  Statue  auf  der  Trostbrücke  im  nahen 
Hamburg  steht."  »«Wir  nehmen  daher  uns  sogar  die  Zeit,  sehr  eingehend 
auf  die  Geschichte  Hamburgs  einzugehen;  nicht  nur,  weil  es  wünschenswert 
ist,  dafs  die  Schüler  von  dem  Leben  und  Werden  unserer  Städte  ein  Bild 
gewinnen,  sondern  vor  allem,  weil  sie  hierbei  einmal  im  Zusammenhang 
sehen  können,  dafs  Geschichte  nicht  nur  im  Geschichtsbuche 
steht,  sondern  dafs  die  Gegenwart  sie  auf  tausend  Seiten  dem  offenen 
Auge  zeigt.  Und  eben  als  ein  Beispiel  dafür,  wie  man  die  Augen  dafür 
öffnen  kann,  möchte  ich  den  Gang  imserer  Betrachtungen  hier  ausführlicher 
skizzieren.'*  Ganz  derselbe  Weg  läfst  sich  durch  jede  irgendwie  bedeutendere 
Stadt  einschlagen,  und  bei  Klassenausflügen  bietet  sich  dazu  auch  die  Ge- 
legenheit, wenn  nur  die  allgemeinen  Voraussetzungen  vorher  gewonnen  sind« 
Auf  das  speziell  Pädagogische  in  den  Ausführungen  von  Schwarz  sei  hier 
nicht  weiter  eingegangen,  es  genüge  der  Hinweis  und  eine  Andeutung,  wie 
ein  Schulmann  das  geschichtliche  Wissen  in  seinem  Unterricht  verwertet 


—     194     — 

Eingegangene  Bfieher. 

Zahn,  W. :  Geschichte  der  Annen-  und  Krankenpflege  in  der  Altmark,  Fest- 
schrift zur  Versammlung  des  Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichts- 
imd  Altertumsvereine  und  des  Vereins  zur  Erhaltung  der  Denkmäler  der 
Provinz  Sachsen  am  25. — 30.  Sept.  1903  in  Erfurt,  gewidmet  von  dem 
Altmärkischen  Verein  für  vaterländische  Geschichte.      132  S.  8®. 

Aus^ld,  Eduard:  Übersicht  über  die  Bestände  des  K.  Staatsarchivs  zu 
Coblenz  [=  Mitteilungen  der  K.  Preufsischen  Archivverwaltung  Heft  6]. 
Leipzig,  Hirzel,  1903.     227  S,  8®. 

Bergner,  Heinrich:  Kirchliche  Kunstalterttimer  in  Deutschland,  Lieferung  i. 
Leipzig,  Chr.  Herm.  Tauchnitz,  1903.     112  S.  Lex.-8®.     M.    5,00. 

Caro,  G.:  Zwei  Elsässer  Dörfer  zur  Zeit  Karls  des  Grofsen  [=  Zeitschrift 
für  die  Geschichte  des  Oberrheins,  N.  F.   17.  Band,  S.  450 — 587]. 

Dietz,  Alexander:  Das  Frankfurter  Zinngiefsergewerbe  und  seine  Blütezeit 
im  18.  Jahrhundert  [==  Festschrift  zur  Feier  des  25jährigen  Bestehens 
des  Städtischen  Historischen  Museums  in  Frankfurt  a.  M.,  dargebracht 
vom  Verein  für  Geschichte  und  Altertumskunde  (1903)  S.  149  — 180.  4**]. 

G ö ring ,  P. :  Beitrag  zur  Forstrechtsfrage,  als  Manuskript  gedruckt.  München, 
Kastner  und  Lossen,  1902.     82  S.  8**. 

Hauck,  Karl:  Karl  Ludwig,  Kurfürst  von  der  Pfalz  161 7  — 1680  [=  For- 
schungen zur  Geschichte  Mannheims  und  der  Pfalz  IV,  herausgegeben 
vom  Mannheimer  Altertumsverein].  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel,  1903. 
334  S.  8^     M.  5,00. 

Haushof  er,  M.:  Bevölkerungslehre  [==  Aus  Natur  und  Geisteswelt,  50. 
Bändchen].     Leipzig,  B.  G.  Teubner,  1904.     128  S.  8^  geb.   1,25  M. 

Hofmann,  Wilhelm:  Die  Politik  des  Fürstbischofs  von  Würzburg  und  Bam- 
berg Adam  Friedrich  Grafen  j«on  Seinsheim  1756 — 1763,  ein  Bei- 
trag zur  Geschichte  des  siebenjährigen  Krieges.  München,  M.  Rieger 
(G.  Himmer),   1903.     102  S.  8**.     M.   1,60. 

Jaeger,  Johannes:  Klosterleben  im  Mittelalter,  ein  Kulturbild  aus  der  Glanz- 
periode des  Cistercienserordens.  Würzburg,  Stahel,  1903.  90  S.  8^  M.  1,50. 

Kalk  off,  Paul:  Die  Anfänge  der  Gegenreformation  in  den  Niederlanden. 
I.  Teil.  [=  Schriften  des  Vereins  für  Reformationsgeschichte  Nr.  79]. 
Halle,  Max  Niemeyer,   1903.     112  S.  8®.     M.   1,20. 

Katalog  der  Druckschriften  über  die  Stadt  Breslau,  heraus- 
gegeben von  der  Verwaltung  der  Stadtbibliothek.  Breslau,  E.  Morgenstern, 
1903.     509  S.  Lex.-8^ 

Kiewning,  Hans:  Die  auswärtige  Politik  der  Grafschaft  Lippe  vom  Aus- 
bruch der  französischen  Revolution  bis  zum  Tüsiter  Frieden.  Detmold, 
Hans  Hinrichs,   1903.     370  S.  8^     M.  5,50. 

Berichtigung 

Auf  S.  159 — 160  ist  eine  Verschiebung  der  Anmerkungen  vorgekommen, 
welche  beztigUcb  der  bibliographischen  Angaben  irreleiten  kann.  Die  Anmerkung  3)  au( 
S.  159  gehört  zu  i)  auf  S.  160,  und  die  nächsten  drei  haben  dann  fUr  je  das  nächste 
Werk  Geltung.  Übrigens  bezeichnet  der  Erscheinungsort  schon  für  sich  die  Zu- 
gehörigkeit: die  Wandtafeln  für  die  Provinz  Sachsen  sind  in  Halle,  die  für  Mittel- 
deutschland in  Leipzig,  die  für  die  Oberlausitz  in  Görlitz,  die  für  das  Rhein-  und 
Donaugebiet  in  Stuttgart  erschienen. 


Herausgeber  Dr.  Armin  Tille  in  Leipzig. 
Druck  und  Verlag  von  Friedrich  Andreas  Perthes,  Aktiengesellschaft,  Gotha. 

Hierzu    als  Beilage :    Einladung   zum  Bezug   der  Zeitschrift  „Deutsche  Erde*^   (Verlag 

von  Justus  Perthes,  Gotha). 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsscbrift 


sar 


Förderang  der  landesgeschichtlichen  Forschung 

V.  Band  Mai  1904  8.  Heft 


Zur  Bevölkerungsstatistik  der  Karolingerzeit 

Von 
Georg  Caro  (Zürich) 

Die  Bevölkerungsziffer  der  Länder  Europas  im  früheren  Mittelalter 
ist  wegen  der  Beschaffenheit  der  Überlieferung  in  tiefes  Dunkel  ge- 
hüllt Es  fehlte  den  Menschen  jener  Zeiten  der  Sinn  für  die  Zahl. 
Angaben  über  die  Stärke  von  Heeren  oder  Verluste  in  Schlachten, 
wie  sie  etwa  in  den  Quellen  vorliegen,  tragen  in  der  Regel  den 
Charakter  der  Unglaubwürdigkeit. 

Um  gleichwohl  eine  zahlenmäßige  Anschauung  vom  Stande  und 
Wachstum  der  Bevölkerung  nach  dem  Untergang  des  Römerreichs  zu 
gewinnen ,  hat  die  neuere  Forschung  ^)  zweierlei  Wege  eingeschlagen. 
Lamprecht  *)  nahm  zur  Grundlage  seiner  für  das  Moselland  angestellten 
Berechnungen  die  Ortsstatistik.  Er  wies  nach,  welche  Ortschaften  je- 
weils im  VIII.,  IX.  und  in  den  folgenden  Jahrhunderten  neu  in  den 
Quellen  auftauchen,  und  setzte  die  wachsende  Zahl  der  Ortschaften  in 
Proportion  zur  Vermehrung  der  Bevölkerung.  Unmittelbarer  auf  über- 
lieferte Zeugnisse  stützen  sich  Schätzungen,  die  schon  früher  der  fran- 
zösische Gelehrte  Gu^rard  in  der  Einleitung  zu  dem  von  ihm  heraus- 
gegebenen Güterverzeichnis  der  Abtei  S.  Germain  des  Pr&,  dem 
Polyptychum  Irminonis  abbatis  •),  vom  Anfang  des  IX.  Jahrhunderts 
vorgenommen  hatte.  In  demselben  sind  nicht  nur  die  dem  Kloster 
gehörigen  Höfe  und  Dörfer  beschrieben,  sondern  auch  die  dort 
wohnenden  freien  und  unfreien  Hintersassen  des  Klosters  namentlich 
aufgezählt.  Es  lag  also  nahe,  daraus  Schlüsse  auf  die  Dichtigkeit  der 
Bevölkerung  zu  ziehen*). 

i)  VgL  Beloch,  die   Be?ölkenmg   Europas   im   Mittelalter,  Zschr.    L   Sozialwiften- 
schait  3,  405  ff. 

3)  Deutsches  Wirtschaftsleben  im  Ma.  i,  161  ff.,  3,  17  ff. 

3)  Polyptyque  de  Tabb^  Irminon,  pabl.  B.  Gnörard,   B.  I  (Paris  1844),   S.  358  ff. 

4)  Vgl.  dazu  E.  Levassenr,  la  popolation  fraogaise  i,  135  ff.    Die  Toa  Beloch  a.  a.  O. 

14 


—     196     — 

So  mühsam  und  verdienstvoll  besonders  das  von  Lamprecht  ein- 
geschlagene Verfahren  sein  mag,  seine  Mängel  sind  doch  unschwer 
erkennbar.  Es  hängt  sehr  wesentlich  vom  Zufall  der  Überlieferung 
ab,  in  welchem  Jahrhundert  ein  Ort  zuerst  erwähnt  wird,  und  es  kann 
die  durchschnittliche  Bewohnerzahl  eines  Ortes  im  Jahre  800  auch 
nicht  annähernd  die  gleiche  gewesen  sein  wie  ein  Jahrtausend  später. 
Das  Polyptychum  Irminonis  andrerseits  gibt  nur  über  die  —  ganz  oder 
teilweise  —  der  Abtei  S.  Germain  des  Pres  gehörigen  Orte  Auskunft; 
es  verzeichnet  nur  die  servi,  liti  und  coloni  des  Klosters,  nicht  aber 
die  vom  grundherrlichen  Verbände  unabhängigen  Freien,  und  doch 
würde  es  das  erheblichste  Interesse  bieten,  gerade  vom  Stande  der 
freien  Leute  eine  numerische  Anschauung  zu  gewinnen. 

Auf  dem  freien  Manne  beruhte  die  karolingische  Reichsverfassung, 
nur  der  Freie  wurde  zum  Heerbann  aufgeboten  und  leistete  der  Ladung 
zur  Gerichtsversammlung  Folge.  Wenn  es  nicht  gelingt,  einen  Begriff 
zu  bekommen  von  der  Zahl  der  Freien,  die  aus  den  Gauen  und 
Hundertschaften  zu  Kriegszügen  und  zum  Placitum  sich  einfinden 
konnten,  bleiben  alle  Vorstellungen  Vom  Heeres-  und  Gerichtswesen 
schattenhaft.  Erst  die  zahlenmäßige  Grundlage  vermag  die  Ergebnisse 
der  rechtshistorischen  wie  der  wirtschaftsgeschichtlichen  Forschungen 
zu  voller  Anschaulichkeit  zu  erheben. 

So  wird  es  nicht  unangebracht  erscheinen,  auf  einen  dritten  Weg 

hinzuweisen,  von  dem  ich  zwar  nicht  behaupten  möchte,  da(s  er  zu 
unanfechtbaren  Ergebnissen  führt,  der  aber  doch  vielleicht  sich  noch 

als  ausbaufähig  erweisen  kann.  Um  in  dunklen  Zeiten  bis  zu  zahlen- 
mäfs^er  Anschauung  vorzudringen,  mufe  schlielislich  jedes  irgend  mög- 
liche Mittel  benutzt  werden. 

Im  zweiten  Teil  meiner  Arbeit  über  die  S.  Galler  Urkunden  *) 
habe  ich  versucht,  das  Vorkommen  der  gröfeeren  und  kleineren  Grund- 
besitzer, die  ans  Kloster  Traditionen  machten,  in  den  Zeugenlisten 
nachzuweisen.  Die  Zusammenstellungen  enthalten  viel  hypothetisches. 
2kir  Karolingerzeit  führte  jede  Person  nur  einen  Namen,  Familiennamen 
waren  noch  nicht  vorhanden;  so  liefs  sich  die  Identifikation  von  Per- 
sonen gleichen  Namens  mit  einiger  Sicherheit  nur  vornehmen,  wenn 
der  Name  zur  gleichen  Zeit  an  einem  Ort  oder  wenigstens  in  derselben 
Gegend  mehrfach  wiederkehrt.  Zu  beachten  war  dabei  freilich,  dafe  die 
gleichen  Namen  recht  häufig  von  mehreren  Angehörigen  derselben  Fa- 


angefUhrte   Schrift   von  Salvioli   in  Atti   della   r.   accademia  Palermo    1899  bringt   nicht 
prinzipiell  neue  Gesichtspunkte. 

i)  Jahrbuch  f.  Schweizer.  Gesch.  B.  27,  S.  187  ff. 


—     197     — 

milie  getragen  wurden.  Gleichwohl  erschien  es  in  nicht  ganz  wenigen 
Fällen  angängig,  eine  Person  einige  Zeit  hindurch  zu  verfolgen.  Mittels 
anderer  Zusammenstellungen  habe  ich  versucht,  die  Grundbesitzver- 
teilung in  einzelnen  Ortschaften  zu  ermitteln.  Aus  den  Urkunden,  die 
sich  auf  Rechtsgeschäfte  mit  Grundbesitz  an  einem  Orte  beziehen, 
Hefsen  sich  die  dortselbst  begüterten  Personen  feststellen,  und  nicht 
ganz  selten  gelang  es  deren  Namen  in  Zeugenlisten  wiederzufinden. 
Bei  der  Streulage  der  Besitzungen  ist  es  nicht  ohne  weiteres  erlaubt, 
jeden,  der  Grundeigentum  an  einem  Orte  hatte,  als  Bewohner  des 
Ortes  aufzufassen.  Immerhin  zeigte  sich,  dafs  an  benachbarten  Orten 
wieder  andere  Personen  Grundeigentum  besafsen. 

In  den  Zeugenlisten  finden  sich  nun  noch  viele  Namen  von  Leuten, 
deren  Besitzverhältnisse  ganz  unbekannt  bleiben,  weil  sie  nicht  an 
S.  Gallen  tradiert  haben,  oder  weil  die  betreflfenden  Urkunden  zufällig 
nicht  erhalten  sind.  Nach  den  Normen,  die  allgemein  zur  Karolingerzeit 
für  die  Fähigkeit  als  Urkundenzeuge  zu  dienen  in  Geltung  waren  ^),  mufis 
angenommen  werden,  dafs  ausschliefslich  freie  Leute  und  in  der  Regel 
Grundeigentümer  in  den  Zeugenlisten  aufgeführt  sind.  Manche  der 
Namen,  besonders  solche,  die  obenan  stehen  und  sehr  häufig  wieder- 
kehren, mögen  Klostervögten  oder  Hundertschaftsvorstehem  angehören, 
denen  die  Amtsbezeichnung  nicht  immer  beigefügt  wurde  *).  In  den 
meisten  Zeugen  jedoch  sind  Gutsnachbarn  der  Aussteller  zu  erblicken, 
Bewohner  des  Orts,  an  dem  das  tradierte  Objekt  lag,  oder  doch  in 
der  näheren  Umgebung  ansässige  Leute  *).  Auf  den  so  gewonnenen 
Grundlagen  läfst  sich  nun  weiter  bauen.  Es  wird  nicht  als  ganz  ver- 
gebliche Mühe  erscheinen,  wenn  ich  die  in  den  Urkunden  genannten 
Namen  dazu  verwende,  für  die  Bewohnerschaft,  nicht  gerade  einzelner 
Ortschaften,  aber  doch  kleinerer  Bezirke  Zahlen  zu  ermitteln. 

Goldach,  bei  Rorschach  in  der  Nähe  des  Bodensees,  im  alten 
Arbongau  gelegen,  ist  Ausstellungsort  von  drei  Urkunden,  die  dem 
gleichen  Jahrzehnt  angehören  und  Rechtsgeschäfte  mit  Grundbesitz  zu 
Goldach  betreflfen  *).     In  den  drei  Urkunden  sind  im  ganzen   28   ver- 

i)  Lex.  Alam.  tit.  I.  i,  vgl.  Capit.  leg.  add.  818/9  cap.  6  (M.  G.  Capit  i,  282) 
nod  Capit  Worin.  829  cap.  6  (ibid.  2,  19). 

2)  Vgl.  £.  B.  Jahrb.  f.  Schw.  Gesch.  27,  195  wegen  Perahtgar  nnd  Wolfhard 

3)  Die  Zeugen  sind  darcbgängig  Handlungszengen,  vgL  Bresslan,  Urk.  lehre  S.  807. 
Für  eine  Unterscheidung  nach  Parteien,  vgl.  Erben,  in  Mitth.  d.  Ges.  f.  Sakb.  Landes- 
kunde B.  29  (1889),  S.  458  E,  finde  ich  keinen  Anhalt. 

4)  Wartmann,  Urkondenbnch  der  Abtei  S.  Gallen,  Nr.  444.  S.  855/50,  Nr.  451. 
S.  856/7,  Nr.  466.  S.  859. 

14» 


J 


—     198     — 

schiedene  Namen  auljfefiihrt,  26  von  Männern,  2  von  Frauen  *);  ein  Name 
findet  sich  in  allen  drei  Urkunden,  11  Namen  in  je  zwei,  die  übrig-en 
nur  in  einer.  Schwerlich  waren  alle  die  genannten  Personen  Bewohner 
von  Goldach  selbst,  11  von  ihnen  finden  sich  auch  in  einer  Urkunde 
von  847  (Nr.  402),  die  sich  auf  das  benachbarte  Gommerswil  be- 
zieht und  „in  confinio  Coldaun**  ausgestellt  ist.  In  einer  zu  Steinach 
ausgestellten  Urkunde  (Nr.  398.  846)  erscheinen  sogar  15  von  den  28, 
während  allerdings  nur  sehr  wenige  in  Urkunden  sich  finden,  die  zwar 
Grundbesitz  zu  Goldach  betreifen,  aber  an  entlegenen  Orten  (Langdorf 
und  Winterthur)  ausgestellt  sind  (Nr.  471.  860,  514.  865).  Immerhin 
ist  anzunehmen,  dafs  die  28,  wenn  nicht  alle  in  Goldach,  so  doch  in 
der  näheren  Umgebung  ansässig  waren.  Dafür  ist  auch  ein  ganz  po- 
sitives Zeugnis  vorhanden.  Eine  Aufzeichnung  über  Schlichtung  eines 
Grenzstreites  zwischen  dem  Kloster  S.  Gallen  und  dem  Bistum  Kon- 
stanz vom  Jahre  854  führt  42  Personen  auf,  welche  die  althergebrachte 
Grenze  der  beiderseitigen  in  der  Nähe  von  Goldach  gelegenen  Be- 
sitzungen bezeugten^).  Es  liegt  auf  der  Hand,  dafs  die  42  zu  den 
bejahrteren  Anwohnern  gehört  haben  müssen.  Gleich  die  ersten  10 
von  ihnen  finden  sich  unter  den  26  von  Goldach,  aufserdem  noch  5, 
und  von  den  übrigen  27  sind  10  in  anderen  Urktmden  aus  dem  Arbon- 
gau  wiederzuerkennen.  Drei  in  der  Liste  nebeneinander  angeführte 
Namen  kommen  nur  in  Urkunden  vor,  die  sich  auf  den  Ort  Berg  be- 
ziehen. Es  wäre  nicht  undenkbar,  dafs  die  Namen  der  42  Zeugen 
nach  Wohnsitzen  geordnet  sind;  jedenfalls  bildeten  sie  einen  erheb- 
lichen Teil  der  in  der  Nachbarschaft  angesessenen  freien  Grundeigen- 
tümer. Mehr  als  die  Hälfte  von  ihnen  ist  in  Urkunden  aus  der  gleichen 
Zeit  und  Gegend  nachweisbar.  Schon  die  Zeugenlisten  allein  vermögen 
also  mit  einem  ganz  erheblichen  Teil  der  Bewohnerschaft  eines  Be- 
zirks bekannt  zu  machen.  Die  Zahl  derer,  die  unbekannt  bleiben, 
weil  sie  —  zufallig  —  nicht  zu  Zeugen  für  Urkunden  herangezogen 
wurden,  darf  nicht  gar  sehr  hoch  angeschlagen  werden.  Dazu  stimmt 
die  allgemein  anzustellende  Beobachtung:  Je  mehr  Urkunden  vom 
gleichen  Ort  und  aus  der  gleichen  Zeit  vorliegen,  um  so  öfter  kehren 
die  gleichen  Namen  wieder,  während  Zeugenlisten  aus  entfernt  von- 
emander  gelegenen  Ortschaften,  oder  vom  gleichen  Ort,  aber  aus  er- 
heblich verschiedener  Zeit,  nur  sehr  geringe  Verwandtschaft  aufweisen. 

i)  In  Nr.  444  die  Tradeotin,  ein  Klostenrogt,  14  Zeugen  (abgesehen  von  den 
Mönchen);  in  Nr.  451  der  Tradent,  »eine  Frau,  ein  Klostenrogt,  7  Zeugen;  in  Nr.  466 
der  Tradent,   14  Zeugen. 

2)  S.  G.  U.  B.  3,  687,  Anhang  Nr.  7. 


—     199     — 

Setzt  man  die  wirkliche  Zahl  der  freien  Eigentümer  eines  Bezirks 
gleich  der  durch  Auszählung  zu  gewinnenden  Minimalzahl  a  plus  der 
wegen  Nichterwähnung  der  Personen  unbekannt  bleibenden  Gröise  x, 
so  kann  unter  x  kemesfalls  eine  a  mehrfach  übertreffende  Ziffer  ver- 
standen werden.  Es  dürfte  sich  also  wohl  verlohnen,  alle  Namen  ab- 
zuzählen, die  in  Urkunden  aus  einem  Bezirk  von  bestimmt  gegebener 
Abgrenzung  auftreten.  Den  Versuch  habe  ich  für  den  Argen-  und 
Nibelgau  *)  unternommen  und  teile  das  Ergebnis  im  folgenden  mit. 

Der  Argengau  erstreckte  sich  am  Nordufer  des  Bodensees  von 
Bregenz  über  Lindau,  Wasserburg,  Langenargen  bis  nach  Buchhom 
(Friedrichshafen);  landeinwärts  reichte  er  nur  wenige  Meilen.  Von  den 
Urkunden,  die  sicher  dem  Argengau  angehören,  sind  vier  zu  Langen- 
argen ausgestellt,  zwölf  zu  Wasserburg,  sechs  zu  Leiblach  und  sieben  an 
verschiedenen  Orten  innerhalb  des  Gaues.  Der  Zeit  nach  verteilen 
sie  sich  ziemlich  gleichmäfsig  über  etwa  vier  Menschenalter  (769  bis 
885).  In  den  29  Urkunden  sind  im  Kontext  und  den  Zeugenlisten 
zusammen  237  verschiedene  Namen  genannt,  davon  137  nur  je  ein- 
mal, 56  doppelt,  20  dreifach,  11  vierfach,  13  mehrfach;  33  der  Namen 
kommen  im  ganzen  Urkundenbuch  nur  einmal  für  Freie  vor. 

Von  den  237  sind  8  Geistliche  und  8  Frauen.  Unter  den  übrig 
bleibenden  221  Namen  für  freie  Männer  weltlichen  Standes  verbergen 
sich  einige  Personen  mehr.  11  Namen  finden  sich  doppelt  in  einer 
oder  mehreren  Listen,  können  also  nicht  auf  nur  eine  Person  sich  be- 
ziehen ;  auch  sind  manchmal  die  zeitlichen  Abstände  zwischen  dem  Auf- 
treten desselben  Namens  zu  erheblich,  als  dafs  die  Beziehung  auf  die 
gleiche  Person  für  wahrscheinlich  erachtet  werden  könnte.  Rechnet 
man  also  noch  30  hinzu,  so  ergeben  sich  rund  250  freie  Grundeigen- 
tümer, oder  für  das  Menschenalter  kaum  viel  mehr  als  60.  Die  Zahl 
ist  erstaunlich  gering;  aber  auch  durch  ein  umfangreicheres  Material 
könnte  sie  nicht  sehr  wesentlich  erhöht  werden.  Das  zeigen  gerade 
einige  auf  den  Argengau  bezügliche  Urkunden,  die  bei  der  Berechnung 
aulser  acht  geblieben  sind,  weü  ihr  Ausstellungsort  nicht  genannt  ist 
oder  nicht  im  Gau  lag  Berechnungen  für  den  benachbarten  Nibelgau 
fuhren  zu  einem  ganz  ähnlichen  Ergebnis.  In  26  Urkunden,  von  766  bis 
879  reichend,  treten  195  Personen  auf  (davon  10  Frauen  und  4  Geist- 
liche). 40  kommen  überhaupt  nur  im  Nibelgau  vor,  53  Namen  er- 
scheinen zugleich  im  Nibel-  und  Argengau,  aber  allerdings  vielfach  in 


i)  Vgl.  die  Gankarte  bei  F.  L.  Baumann,  Die  Gaugrafschaftcn   im  wirtembergischcn 
Schwaben,  Stuttgart  1879. 


—     200     — 

so  erheblichem  zeitlichen  Abstände,  dafs  an  Identität  der  Personen 
nicht  zu  denken  ist.  Der  Durchschnitt  nach  Menschenaltem  wäre  fiir 
den  Nibelgau  noch  geringer  als  für  den  Argengau,  und  doch  ist  die 
Zahl  der  Urkunden  nicht  viel  kleiner,  während  die  einzelnen  Zeugen- 
listen  eher  länger  sind.  Wollte  man  selbst  die  Zahl  der  unbekannt 
bleibenden  freien  Grundeigentümer  auf  das  Doppelte  der  bekannten 
veranschlagen,  was  doch  gewifs  hoch  g^friffen  ist,  so  erhielte  man 
immer  noch  eine  recht  niedrige  Ziffer  für  die  gleichzeitig  lebenden 
pagenses,  denen  die  Pflichten  der  karolingischen  Reichsverfassung  ob- 
lagen. 

Die  gesamte  Bewohnerzahl  des  Gaues  mufis  allerdings  erheblich 
höher  gewesen  sein  als  die  der  freien  Grundeigentümer.  Es  sind  die 
Familienangehörigen,  die  servi  domestici  und  casati  und  auch  die 
freien  Hintersassen  hinzuzurechnen,  deren  Anzahl  sich  nicht  annähernd 
schätzen  läfst,  und  vage  Vermutungen  aufzustellen  ist  zwecklos.  Da- 
gegen wäre  wohl  noch  auf  einen  Gesichtspunkt  hinzuweisen.  Die 
Hundertschaft  ist  in  Alamannien  nach  der  viel  angefochtenen,  aber 
recht  wahrscheinlichen  Ansicht  von  Brunner  ^)  nicht  alten  Urspnmgs, 
sondern  erst  unter  fränkischer  Herrschaft  eingeführt  worden.  Da  liegt 
denn  die  Vermutung  nahe,  daCs  der  Name  nicht  zufällig  die  Zahl  aus- 
drücke. Nicht  einstmals  in  nebelgrauer  Vorzeit  hat  die  Hundertschaft 
ICO  Mann  umfafist,  sondern  bei  ihrer  Einführung  in  Alamannien.  Die 
zu  einer  Hundertschaft  vereinigten  Hundert  waren  freie  Leute,  Grund- 
eigentümer, denen  unter  Hinzurechnung  ihrer  Familien,  Unfreien  usw. 
eine  beträchtlich  höhere  Kopfzahl  entsprochen  haben  muis,  und  die 
auch  ein  nicht  gar  zu  eng  begrenztes  Gebiet  bewohnten.  Eine  Hundert- 
schaft konnte  immerhin  eine  ganze  Anzahl  Dörfer  und  Weiler  mit  zu- 
gehörigem Markland  umfassen.  Die  Erklärung  des  Namens  durch  die 
Zahl  macht  die  Flüssigkeit  der  territorialen  Einteilungen  im  Karolinger- 
reich verständlich.  Wenn  die  Bevölkerung,  das  ist  die  Zahl  der  voll- 
berechtigten Freien,  zu  stark  angewachsen  war,  wurden  neue  Hundert- 
schaften ausgeschieden  und  Gaue  geteilt.  Daher  benannte  man  auch 
die  Hundertschaften  in  Alamannien  nicht  nach  Flüssen  oder  sonstigen 
geographischen  Begriffen,  sondern  nach  den  Vorstehern  Walthrams- 
huntare,  Hattenhuntare  usw.  ^). 


i)  Deutsche  Rechtsgeschichte  i,  117;  dagegen  WeUer  in  Württemb.  Vierteljahrs- 
hefte  N    F.  7  (1898),  S.  312. 

2)  Vgl.  die,  übrigens  sehr  anfechtbare,  Geschichte  der  Alamanneo  als  Gaogeschichte 
▼on  J.  Crmmer,  in  Gierkes  Untersnchnngen  sar  deutschen  Staats-  und  Rechtsgeschichte 
H.  57,  Breslan  1899. 


—     201     — 

Der  Argen-  und  der  Nibelgau  waren  allerdings  wohl  zu  klein,  als 
dais  sieb  eine  Einteilung  in  Hundertschaften  annehmen  Heise.  Für  den 
grofsen  Thurgau  vor  Abtrennung  des  Zürichgaues  ist  die  Zahl  der 
Hundertschaften  auf  zehn  bis  zwölf  veranschlagt  worden  ^),  das  würde 
etwa  locx) — 1200  freie  Leute  und  vielleicht  noch  keine  locxx)  Be- 
wohner für  ein  Gebiet  ergeben,  welches  gegenwärtig  in  den  Kantonen 
Zürich,  Thurgau  und  S.  Gallen  mehr  als  die  siebzigfache  Zahl  auf- 
weist. Solche  Schätzungen  mögen  auf  schwankender  Grundlage  be- 
ruhen, dennoch  lassen  sie  den  Schlufs  zu,  dafs  vor  mehr  als  tausend 
Jahren  relativ,  im  Vergleich  zur  Gegenwart,  und  absolut  das  Land 
außerordentlich  dünn  bevölkert  gewesen  sein  mufs.  Noch  bUdete 
Ackerbau  fast  die  einzige  Nahrungsquelle  für  die  Bewohner,  noch 
waren  weite  Strecken  des  Bodens,  mit  Wald  und  Sumpf  bedeckt,  dem 
Anbau  entzogen.  Es  wäre  interessant  zu  beobachten,  wie  mit  dem 
Steigen  der  Bevölkerungszahl  die  Fortschritte  der  Landeskultur  zu- 
sammengingen. Indessen  versagt  für  die  späteren  Jahrhunderte  der 
Anhalt  völlig,  den  die  Zeugenlisten  der  Urkunden  bieten.  Eigentlich 
erst  mit  dem  XV.  Jahrhundert  beginnt  in  der  Schweiz  ein  Akten- 
material, das  statistische  Berechnungen  der  Landbevölkerung  zuläfst  *). 
Für  die  Karolingerzeit  aber  lielsen  sich  wohl  auch  aus  anderen  Ur- 
kundengruppen ähnliche  Ermittelungen  anstellen,  wie  aus  den  S.  Galler. 
So  ergibt  sich  aus  Fuldenser  Traditionen  eine  doch  nicht  ganz  un- 
beträchtliche   Anzahl   von   Bewohnern    der   Stadt   Mainz  *) ,    und    die 


i)  S.  F.  V.  Wyss,  AbhandluDgen  zur  Geschichte  des  schweizerischen  öffentlichen 
Rechts,  ZOrich  1892,  S.  288  n.  i;  vgl.  G.  Meyer  ▼.  KnooM,  Ein  thnrganiiches  Schult- 
hcilsengeschlecht  des  IX.  und  X.  Jahrhunderts,  in  Jahrbuch  f.  Schweiz.  Gesch.  B.  2 
(1877),  S.  109  f. 

2)  Solche  sind  schon  im  XVIU.  Jahrh.  angestellt  worden  von  J.  H.  Waser,  Be- 
▼ölkerung  des  löbl.  Kantons  Zürich  in  verschiedenen  Zeitaltern,  in  Schlözers  Briefwechsel, 
meist  historischen  und  politischen  Inhalts,  B.  6  (H.  32),  S.  102 ff.,  2.  Aufl.,  Göttingen 
1780;  vgl.  Sophie  Daszynaka,  die  Bevölkerung  von  Ztlrich  im  XVIL  Jahrh.,  Züricher 
Diss.  1891 ;  s.  auch  F.  Buomberger,  Bevölkemngs-  und  Vermögensstatistik  der  Stadt  und 
Landschaft  Freiburg  i.  Ü.,  in  Zeitschr.  f.  Schweiz.  Statistik,  36.  Jahrgang,  1900,  S.  20$  tL; 
und  A.  Lütolf,  zur  Geschichte  der  Vermögenszustände  im  Kanton  Luzem,  XIV.  und  XV. 
Jahrb.,  im  Geschichtsfrennd  (Mitteil,  des  bist  Vereins  der  5  Orte)  B.  19  (1863),  S.  301  ff. 
Ein  Vermögensverzeichnis  der  Bewohner  von  Appenzell  bei  2^weger,  Geschichte  des 
appenzdlischen  Volkes,  Urkunden,  B.  i,  T.  i,  S.  265,  Nr.  118,  n  1378/9. 

3)  Vgl.  S.  Rietschel,  Die  Civitas  auf  deutschem  Boden  bis  zum  Ausgang  dar 
Karolingerzeit,  Leipzig  1894,  S.  78  f.  Statistisch  verwertbar  sind  auch  die  Verzeichnisse 
der  bei  den  Verfolgungen  anlässlich  des  i.  Krenzzuges  (1096)  und  sonst  erschlagenen  Juden,  in 
Quellen  zur  Geschichte  der  Juden  in  Deutschland,  B.  3,  das  Martyrologinm  des  Nttm* 
berger  Memorbuches,  hg.  v.  S.  Salfeld,  Berlin  1898,  ftlr  Mainz  s.  S.  113  ff. 


—     202     — 

Lorscher  Traditionen  *)  zeigen ,  dais  im  fruchtbaren  Rheinfranken    die 
Bevölkerung  eine  viel  dichtere  war  als  in  der  Nordostschweiz. 


Steiermärkisehe  Gesehiehtsehreibung 

von  1811  bis  1850«) 

Von 
Franz  Ilwof  (Graz) 

Im  Jahre  1811  erfolgte  durch  das  Zusammenwirken  Erzherzog- 
Johanns  und  der  Stände  der  Steiermark  die  Gründung  des  Joannen  ms. 
Schon  in  seinen  ersten  Anfangen  bestand  es  aus  einer  Bibliothek, 
einem  Archiv,  einem  Münz-  und  Antikenkabinett,  einem  naturhistori- 
schen Museum  und  einem  botanischen  Garten,  bald  wurden  auch 
wissenschaftliche  Vorträge  gehalten  und  Lehrkanzeln  errichtet.  Dieses 
Ereignis  begünstigte  das  geistige  Leben  und  führte  zu  einem  Auf- 
schwung, wie  er  in  der  Steiermark  seit  dem  XVI.  Jahrhundert  nicht 
dagewesen  war,  und  auch  in  der  steiermärkischen  Geschichtsforschung 
und  Geschichtschreibung  beginnt  damit  ein  neuer  Abschnitt,  den  man 
billigerweise  bis  dahin  rechnen  darf,  wo  —  um  die  Mitte  des  XIX.  Jahr- 
hunderts —  der  Historische  Verein  für  Steiermark  ins  Leben  trat 

In  diesem  Zeiträume  und  fast  noch  zehn  Jahre  länger,  bis  zu 
seinem  Tode  (1859),  stand  Erzherzog  Johann  im  Mittelpunkte  dieser 
geistigen  Bewegung;  vieles  ging  unmittelbar  von  ihm  aus,  anderes, 
von  anderen  getan,  wurde  von  ihm  gefördert  und  begünstigt,  so  dafe 
man,  ohne  den  Vorwurf  des  Byzantinismus  furchten  zu  dürfen,  sagen 
kann:  Erzherzog  Johann  war  der  Reformator  der  Steiermark,  er  hat 
das  Land  auf  dem  Gebiete  der  geistigen  und  materiellen  Kultur  aus 
dem  Zustande  der  Erschlaffung,  des  Quietismus,  dem  es  durch  die 
Gegenreformation  verfallen  war,  emporgehoben,  so  dafe  es  jetzt  allen 
Ländern  der  alten  Monarchie,  der  es  seit  mehr  als  700  Jahren  ange- 
hört, und  auch  vielen  anderen  deutschen  Gebieten  in  kultureller  Be- 
ziehung ebenbürtig  zur  Seite  steht. 


i)  Im  Codex   principis   olim  Laureshamensis   abbatiae  diplomaticos ,   ed.   Academia 
Palatina,  3  Tom.,  Mannheim  1768. 

2)  Vgl.  die  beiden  früheren  Aufsätze  im  4.  Bde.,  S.  89—101  and  S.  288—398. 


—     203     — 

Erzherzog  Johaon  entwarf  selbst  das  Statut  für  das  Joanneum 
und  forderte  in  erster  Linie  die  Pflege  der  vaterländischen  Geschichte. 
Zunächst  verlangte  er  eine  Sammlung  des  Quellenmaterials  ^)  und  die 
Anlage  diplomatisch  getreuer,  beglaubigter  Abschriften,  die  im  Joan- 
neum niedergelegt  werden  sollten,  um  sie  „durch  diese  Verdoppelung 
den  Unfällen  und  dem  Zahne  der  Zeit"  um  so  sicherer  zu  entreifsen. 
Ein  chronologisches  Verzeichnis  soll  über  ihren  Inhalt  berichten.  Sodann 
sollen  gesammelt  werden  „alle  im  Lande  vorfindliche  Denkmäler  der 
Vorzeit,  Meilen-  und  Grabsteine,  Inschriften,  Statuen,  Basreliefs  usw.  usw., 
die  inländischen  Münzen  von  allen  Metallgattungen";  ferner  soll  eine 
möglichst  vollständige  Wappen-  und  Siegelsammlung  der  inneröster- 
reichischen Adelsgeschlechter  angelegt  werden.  „Inzwischen  ist  zu 
jenem  Zwecke",  schreibt  der  Erzherzog,  „noch  mehr  erwünschlich. 
Bei  der  Auflösung  so  vieler  Dom-  und  Ritterstifte  und  Orden,  bei  so 
rapidem  Wechsel  von  Besitz  und  Verfassung  infolge  feindlicher  In- 
vasionen sind  unzählige,  in  Erbschafts-  und  Filiationsangelegenheiten 
hochbedeutende  Dokumente  der  edelsten  Häuser  in  Verlust  geraten. 
Wie  erwünscht  demnach,  hier  die  Adelstitel,  Diplome,  Lehenbriefe 
und  Stammbäume  der  adeligen  Geschlechter  Innerösterreichs  zu  deren 
eigenem,  unverkennbaren  Bestem  in  beglaubigten  Kopien  beisammen 
zu  sehen."  Endlich  werden  als  Gegenstände  der  Sammlung  bezeichnet 
„historische  Manuskripte,  gedruckte  Werke,  welche  die  Geschichte  und 
Statistik  Innerösterreichs  und  seiner  Nachbarlande  im  ganzen  und  einzelnen 
betreffen  und  schliefslich  die  Porträtsreihe  der  Landesfürsten  und  bio- 
graphische Züge  der  auf  irgendeine  Weise  um  Innerösterreich  verdienten 
oder  aus  seinem  Schofse  entsprungenen,  im  öffentlichen,  Geschäfts-  oder 
im  wissenschaftlichen  Leben  ausgezeichneten  Männer." 

Was  der  Erzherzog  selbst  an  Büchern,  Akten,  Urkunden  usw.  usw. 
seit  Jahren  gesammelt  hatte,  überliefs  er  geschenkweise  dem  Joanneum 
und  veranlasste,  daüs  durch  die  Regierungsbehörden  all  das,  was  an 
historischen  Denkmälern,  Dokumenten,  Schriften  usw.  in  und  aufserhalb 
der  Steiermark  für  ihre  Geschichte  wichtig  sei,  erhoben  werden,  im 
Originale  oder  in  Abschriften  dem  Joanneumsarchiv  zukommen  sollte. 
So  entstand  das  reichhaltige,  für  die  Forschung  in  Steiermärkischer 
Geschichte  hochwichtige  Joanneumsarchiv  *) :  zu  einem  Teile  und  wesent- 


1)  ÄUe  ofuf  irgendein  erhebliehee  Ltmdesinteresse  bexughabenden  Urkunden 
mu  den  ttändischen^  bischöflichen^  städtisehenf  montanistiachen  und  Privatarchiten  und 
BibHotheken,  vorx/üglieh  Verträge  mit  ÄUHcärtigen,  Oränx-BexesBe,  Landtagsverhand- 
lungen,  allgemeine  Landeafreiheiien  usw.  usw,  von  den  ältesten  bis  auf  die  neuesten  Zeiten. 

2)  Ilwof,  Enherzog  Johanni  BedeutoDg  fUr  die  Pflege  ftteiermärkischer  Getchichte 


—     204     — 

lieh  früher  schon  verwirklicht  es  für  die  Steiermark  dasjenige,  was 
dem  Freiherrn  von  und  zu  Aufsefs  bei  seinem  Genera Irepertorium 
im  Germanischen  Museum  zu  Nürnberg  vorschwebte  *). 

Die  gesammelten  Materialien  sollten  auch  bearbeitet  werden.  Der 
Elrzherzog  beschlofs  daher  eine  Preisfrage  für  die  Geschichte  Inner- 
österreichs auszuschreiben,  setzte  sich  mit  den  Geschichtschreibem 
Hormayr  und  Kurz  in  Verbindung,  führte  (1812)  einen  ausgedehnten 
Briefwechsel  mit  den  namhaftesten  Historikern  Deutschlands,  so  mit 
Joachim  Jäck,  der  die  Geschichte  von  Stadt  und  Gebiet  Bamberg 
erforschte,  mit  Friedrich  Wilken  in  Heidelberg,  dem  Verfasser  der 
Geschichte  der  Kreuzzüge,  mit  Lorenz  von  Westenriederin  München, 
mit  Konrad  Mannert  in  Landshut  und  mit  Karl  Georg  Dümge  in 
Heidelberg,  dem  ersten  Herausgeber  des  Archivs  für  ältere  deutsche 
Geschichtskunde.  Das  Ergebnis  dieser  Bemühungen  war  die  Aus- 
schreibung einer  Preisfrage  (12.  Februar  18 12),  welche  die  quellenmäfsige 
Erforschung  und  Darstellung  der  historischen  und  geographischen  Ver- 
hältnisse der  Steiermark,  Kärntens,  Krains  und  Istriens  von  der  Zeit 
Karls  des  Grofsen  bis  zum  Aussterben  der  Traungauer  forderte.  Die 
Frage  war  so  umfassend  und  griff  so  tief,  dafs  ihre  vollständige  Be- 
antwortung bei  dem  damaligen  Stande  der  Quellenforschung  einem 
einzelnen  unmöglich  war.  Eine  das  ganze  in  der  Aufgabe  umschriebene 
Gebiet  behandelnde  Arbeit  lief  auch  nicht  ein,  aber  wohl  zehn  Ab- 
handlungen, die  TeUe  dieser  Frage  behandelten  und  manches  neue 
Elrgebnis  zutage  brachten:  von  diesen  sind  besonders  hervorzuheben 
die  Untersuchungen  von  Hormayr*)  und  von  Blumberger •).  Diese 
zehn    Aufsätze    erschienen    teils    in    Hormayrs  Archiv,    teils    in    den 


(MiUeiloDgen  des  Historischen  Vereins  für  Steiermark,  XXX,  3 — 34.)  —  llwof,  Enherxog 
Johann  and  der  Historische  Verein  für  Steiermark.  Rede,  gehalten  in  der  Festversamm- 
lang  des  Historischen  Vereins  fUr  Steiermark  bei  der  Feier  seines  50jährigen  Bestandes 
am  13.  Dezember  1900.  Als  Manuskript  gedruckt.  Graz,  1900,  SelbstTorlag  des  Yer* 
fauers.  —  Kümmel,  Erzherzog  Johann  and  das  Joanneamsarchiv  (Mitteilungen  dea 
Historischen  Vereins  Hir  Steiermark,  XXIX,  106 — 140). 

i)  Vgl.  diese  Zeitschria  3.  Bd.,  S.  364. 

3)  Beiträge  xur  Oesehichie  InnerÖsterreiehs.  —  Die  Sachsen  in  Infierästerreieh.  — 
Neustadt  tmd  Steyer. 

3)  Über  hmerösterreiehs  QesehickU  mut  Geographie  im  MUteiaUer  mui  über 
die  Genealogie  der  traungauischen  Ottokare.  —  Stellen  des  Göttweiher  SaaXbußhes  über 
die  traungauischen  Ottokare,  —  Über  den  eigentlichen  Zeitpunkt  der  Folge  der  Spon' 
heimer  auf  die  Mürxthaler  im  Herxogthume  Kärnten.  —  Beiträge  zur  Lösaog  der 
Preisfrage  des  durchlauchtigsten  Erzherzogs  Johann,  fUr  Geographie  und  Historie  Ihb«- 
Österreichs  im  Mittelalter.  L  und  IL  Heft.  (Besonders  abgedruckt  und  unentgeltlich  Ter- 
teilt  den  Freunden  der  Vaterlandsgeschichte.)     Wien  1819.     GednickI  bei  Anton  Stranft. 


—     205     — 

Wiener  Jahrbüchern  der  LUeratur  und  wurden  später  auf  des  Erzherzogs 
Kosten  veröffentlicht. 

Die  eifrigsten  und  erfolgreichsten  Mitarbeiter  des  Erzherzogs  bei 
der  Gründung  des  Joanneums  und  des  Archivs  waren  Johann  Ritter 
von  Kalchberg  und  Josef  Wartinge  r.  Kalchberg  '),  der  ständische 
Ausschuisrat  und  Verordnete,  war  nicht  nur  in  dieser  wichtigen  Stellung 
und  als  Kurator  des  Joanneums  ungemein  tätig  und  einflufsreich,  er 
lieferte  auch  mehrere  für  seine  Zeit  bemerkenswerte  Untersuchungen 
verfassungsgeschichtlichen  Inhalts,  so  über  Ursprung  und  Verfassung 
der  Stände  der  Steiermark  ^)  und  über  Ursprung  und  Beschaffenheit  der 
Urbarialabgaben  in  Innerösterreich  ^).  Weit  bedeutender  waren  die 
Leistungen  Wartingers  *).  Er  war  der  Begründer  und  Förderer  des 
Unterrichtes  in  der  Steiermärkischcn  Geschichte  an  den  Mittelschulen 
des  Landes*),  wurde  Archivar  der  Stände,  bereiste  zum  Behufe  der  • 
Aufsuchung  und  Erwerbung  historischer  Denkmäler  das  ganze  Land, 
brachte  reiche  Urkundenschätze  in  das  Joanneumsarchiv,  ordnete  das- 
selbe, schrieb  eine  kleine,  aber  treffliche  Kurggefaßte  Geschichte  der 
Steiermark  ®),  veröffentlichte  die  Privilegien  der  Städte  Graz,  Brück  an 
der  Mur,  der  Märkte  Vordernberg,  Tüffer  und  Eisenerz,  sowie  die 
Landhandfeste  Kaiser  Karls  des  Sechsten  für  das  Herjsogtum  Steiermark 
vom  Jahre  1731  und  verfaiste  zahlreiche  kleinere  und  gröfsere  Aufsätze. 
Alle  seine  Arbeiten  beruhen  auf  gründlicher  Durchforschung  der  Quellen 
und  zeugen  von  scharfem  kritischem  Geiste. 

An  die  Veröffentlichung  der  Landhandfeste  knüpften  sich  lang- 
wierige Verhandlungen  zwischen  den  Ständen  und  der  Regierung,  die 
so  charakteristisch  sind,  dafs  sie  eine  Erwähnung  verdienen.  Wartinger 
überreichte  1835  den  Ständen  einen  Antrag  auf  Neudruck  der  stei- 
rischen  Landhandfesten,  d.  i.  die  Sammlung  jener  Urkunden,  welche 
die  landständische  Verfassung  des  Herzogtums  Steiermark  darstellten 
und  zu  deren  Bestätigung  der  Herzog  von  Steiermark   bei   der  Erb- 


1)  Schlossar,  Johann  Ritter  von  Kalchberg.  (Mitteilungen  des  Historischen 
Vereins  für  Steiermark  XXVI,  3—57.)  Kalchbergs  sämmtliche  Werke.  9  Bde.  Wien, 
1816— 1817.  —  Kalchbergs  gesammelte  Schriften.  Herausgegeben  von  A.  Schlossar. 
4  Hde.     Wien,  1878- 1880.  — 

2)  Abgedruckt  in  den  sämtlichen  Werken,  V,  3—83;  in  den  gesammelten  Schriften 
III,  195—260. 

3)  Abgedruckt  in  den  gesammelten  Schriften  III,  261  —  378. 

4)  S.  die  von  mir  verfafate  Biographie  Wartingers  mit  Aufzählung  aller  seiner 
wisseoschaftlichen  Arbeiten  in  der  Allgemeinen  Deutschen  Biographie  XLI,  202—207. 

5)  S.  diese  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  115  — 117. 

6)  I.  Aufl.  1815,  2.  AufU  1827,  3.  Aufl.   1853. 


J 


—     206     — 

huldigung'  den  landesfiirsüichen  Eid  ablegte.  Eiae  solche  Sammlung' 
war  seit  1697  nicht  mehr  erschienen,  und  die  von  Wartinger 
beabsichtigte  neue  Ausgabe  sollte  durch  die  bisher  ungedruckte,  ja 
ganz  unbekannt  gebliebene  Landhandfeste  Kaiser  Karls  VI.  vom 
8.  Oktober  1731,  die  letzte  Verfassungsurkunde  der  Steiermark  bis 
zur  LandesordnuDg  vom  26.  Februar  1861,  vermehrt  werden.  Der 
ständische  Ausschuls  nahm  diesen  Antrag  an  uud  bat  die  Regierung 
zu  genehmigen,  dafs  die  Druckkosten  aus  dem  ständischen  Fonds  bezahlt 
würden.  Da  erhob  die  Zensurbehörde  Bedenken,  und  nach  weitläufigen 
Verhandlungen  forderte  die  kaiserliche  Hofkanzlei  von  den  Ständen,  sie 
sollten  Wartinger  eine  Rüge  erteilen,  weil  er  eine  so  wichtige  Urkunde 
von  staatsrechtlicher  Bedeutung  dem  ständischen  Archive  entnommen 
habe,  um  sie  zur  Drucklegung  und  Veröffentlichung  zu  befördern,  und 
ihn  in  Zukunft  besser  überwachen.  Die  Stände  traten  jedoch  für  ihren 
Archivar  ein,  erklärten,  er  sei  einer  ihrer  treuesten  und  ergebensten 
Diener,  der  weder  eine  Rüge  verdiene,  noch  der  Überwachung  bedürfe, 
und  erneuten  ihre  Bitte  um  Genehmigung  der  Drucklegung,  die  nunmehr 
von  der  Regierung  gestattet  wurde  '). 

Die  Erfahrungen,  die  Erzherzog  Johann  mit  der  Preisaufgabe  gemacht 
hatte,  brachten  ihn  zur  Erkenntnis,  dafs  es,  ehe  an  die  Abfassung 
einer  quellenmäfeigen  Geschichte  von  Innerösterreich,  ja  auch  nur  von 
Steiermark  gedacht  werden  könne,  vieler  Vorarbeiten,  zahlreicher 
Spezialuntersuchungen  und  der  Erforschung  einzelner  Partien  der  Ge- 
schichte und  Geographie  des  Landes  bedürfe.  So  entstand  in  ihm 
der  Plan  einer  wissenschaftlichen  Zeitschrift  in  und  für  Steiermark. 
Schon  im  Jahresberichte  der  Joanneums  von  18 17  ist  davon  die  Rede. 
Die  Zeitschrift  sollte  das  Land  mit  allen  neuen  und  wichtigen  literarischen 
und  artistischen  Erscheinungen  Österreichs  und  des  Auslandes  bekannt 
und  die  Bewohner  von  Inncrösterrcich  mit  allen  Kulturfortschritten  auf 
heimischem  Gebiete  vertraut  machen.  Der  Erzherzog  selbst  erwirkte 
von  seinem  Bruder,  Kaiser  Franz,  die  Bewilligung  zur  Herausgabe  dieser 
Zeitschrift.  Als  Organ  hierzu  bediente  er  sich  des  Ausschusses  des  am 
Joanneum  bestehenden  Lesevereins,  welcher  alle  namhaften  Kapazitäten 
von  Graz  zu  seinen  Mitgliedern  zählte  und  nun  als  Redaktion  der  neuen 
Zeitschrift  hervortrat.  Der  Erzherzog  selbst  erliefs  eigenhändig  ge- 
fertigte Einladungen  zur  Einsendung  von  Aufsätzen,  und  so  konnte  schon 

i)  Ijandhandfesie  Kaiser  Karls  des  Sechsten  für  das  Berxogtum  Steiermark 
rom  Jahre  173J,  o.  O.  u.  J.  Vorwort  gezeichnet:  Vom  steiermärkisch  ständischen  vcr. 
ordneten  Rathe.  Grats,  am  21.  July  1842.  88  S.  Anhang:  Der  Erbvertrag  des  letzten 
Tranogauers  Otakar  mit  Herzog  Leopold  V.  von  Österreich  am  17.  Angnst  1186. 


—     207     — 

i82i  das  erste  Heft  dieses  für  die  wissenschafdichen  Interessen  der 
Steiermark  so  wichtigen  Organs  unter  dem  Titel :  bteyermärkische  Zeit- 
schrifly  herausgegd>en  vom  Ausschüsse  des  Lesevereins  am  Joannetim 
veröfTentlicht  werden.  Von  ihr  erschienen  von  182 1  bis  1834  zwölf 
Hefte  'und  von  1834  bis  1848  als  Neue  Folge  neun  Jahigänge  zu  je 
zwei  Heften  (vom  neunten  Jahrgang  nur  ein  Heft).  Arbeiten  aus  den 
verschiedensten  Gebieten  des  Wissens  fanden  darin  Aufnahme  und 
Berücksichtigung:  Geschichte,  Geographie,  Ästhetik,  Geognosie  und 
Mineralogie,  Kunstgeschichte,  Poesie,  Mechanik,  Astronomie,  Naturge- 
schichte usw.,  am  reichsten  jedoch  ist  die  vaterländische  Geschichte 
vertreten;  noch  heute  beachtenswerte  Beiträge  lieferten  besonders 
Muchar  und  Wartinger. 

Von  Machar  Hegen  vor :  Das  aUkeUische  Norikum  oder  Urgeschichte  von  Ösierreiehy 
Saixburgf  Kämtenund Krain  (I,  3-72,  II,  i — 85,  in,  1—63,  IV,  i  -84);  Versuch  einer 
Oeschiehte  der  slavischen  Völkerschaften  an  der  Donau  y  um  die  erste  Einwanderung 
und  Festsetzung  der  Slaven  in  der  Steyermark,  in  Kärnten  und  Krain  xu  bestimmen 
und  XU  erweisen.  Von  der  Zeit  des  Kaisers  Augtutus  bis  in  die  Mitte  des  siebenten 
Jahrhunderts  nach  Christus  y  unmittelbar  <ms  den  lateinischen  und  griechischen 
Quellen  bearbeitet.  (VI,  1-57,  VIl,  17-47,  vm,  72-125,  IX,  135—156,  X,  51-83); 
Beiträge  xu  einer  urkundlichen  Oeschiehte  der  altnorischen  Berg-  und  Satxwerke 
(XI,  1—56);  die  Gründung  der  Universität  xu  Qrätx  (W.  F.  I,  2,  S.  27  —  61); 
Oeschiehte  und  innere  Einrichtungen  der  alten  Universität  und  des  Lyxeums  xu 
Qrätx  (II,  2,  S.  20  —  58);  die  ältesten  Erfindungen  und  die  frühesten  Privilegien 
für  industriellen  Fleiß  in  Innerösterreich  (N.  F.  IV,  2,  S.  3  — 19);  efer  steyermärkische 
Eisenberg,  vorzugsweise  der  Erxberg  genannt,  nebst  einer  Übersicht  über  den  Besitx- 
standeS'Weehsel  der  Eisenschmelxwerke  in  Vordemberg,  wie  derselbe  aus  den  Ur- 
kunden des  Vordernberger  Archives  bisher  erhoben  worden  ist  (V,  i,  S.  3-78); 
äUere  Institutionen  in  Orätx,  I.  ältere  Regierung  und  Munidpal- Einrichtung, 
n.  das  ältere  Religionswesen  in  Orätx,  Ol.  die  älteren  Wohlthätigkeitsanstalten ,  der 
Handel  und  die  Industrie  in  Orätx  (Vm,  i,  S.  4  — 30);  Oeschiehte  des  steiermärkischen 
Eisenwesens  am  Erxberge  vom  Jahre  1550^1590  (Vin,  2,  S.  14-81). 

Weniger  umfassende  Darstellungen  lieferte  Wartinger,  jedoch  eine  Reihe 
kleinerer,  aber  filr  die  Geschichte  und  Kulturgeschichte  des  Landes  wichtiger,  bemerkens- 
werter Notizen  und  Beiträge,  von  denen  wir  nur  einige  nennen  wollen:  Büchercensur- 
anstcUt  in  Orätx  im  16.  Jahrhundert,  —  Domitians  Münxe  auf  TUus*  Vergötterung.  — 
Äuexug  aus  der  Wolkensteiner  Landgerichtsordnung  vom  J,  1478.  —  Über  das 
Befugnis  der  Juden  in  Steiermark  mit  Oetreide  xu  handeln.  —  Beiträge  xum  steier- 
märkischen  Taxwesen,  —  Musikanten- Compagnie  in  Orätx.  —  Silberhaltiges  Blei- 
bergwerk in  Pusterwalde,  —  Leibeigene  Stadtbewohner  im  XTV,  Jahrhunderte  (VIII, 
145-162);  ältere  pUutische  Künstler  in  Steiermark  (XI,  97—100»);  Ursprung  von 
Spital  am  Semering  (N.  F.  I,  i,  S.  82—86);  Beitrag  xu  des  Oeographen  Vischer 
Lebendfeschreibung  (N.  F.  I,  2,  S  76—78);  War  Leibnix  je  eine  Stadt?  (N.  F.  n,  i, 
S.  19-22);  3iärkte  in  Steiermark,  die  einst  StädU  waren  (II,  2,  S.  92—96);  frühere 
Besitzer  des  Joanneumsgebäudes  (N.  F.  m,  i,  S.  86—88);  Entstehung  des  Landhauses 
oder  Ständehauses  (N.  F.  V,  i,  S.  118-125). 


—     208     — 

Wartinger  und  Muchar  sind  die  bedeutendsten  Forscher  in  der 
steiermärkischen  Geschichte  in  jener  Zeit.  Was  in  der  zweiten  Hälfte 
des  XVIII.  Jahrhunderts  Aquilinus  Julius  Cäsar,  das  leisteten  Wartinger 
und  Muchar  in  der  ersten  Hälfte  des  XIX.  Jahrhunderts ;  ihre  Arbeiten 
ruhen  durchaus  auf  gründlicher  Quellenforschung  und  waren  für  ihre 
Zeit  von  staunenswertem  kritischem  Geiste  getragen.  Die  allgemeine 
Bildung  beider  Männer  ruhte  auf  den  klassischen  Studien,  und  beide 
beherrschten  die  alten  Sprachen,  Wartinger  besonders  das  Griechische. 

Aufser   diesen   beiden  historischen  Haaptmitarbeitem  der  Steiermärkiscken  Zeii' 
Schrift   haben  aber   noch   viele   andere   dort   wertvoUe  Beiträge  veröffentlicht:    so  Josef 
von  Hammer  (später  Freiherr  von  Hammer-Pargstall,   der  berühmte  Orientalist)  über  die 
Einfalle  der  Türken  in  Sleiermark  (VI,   58-64,  Vll,    i— 16,  XÜ,  75—86),  über  die 
Grafen  von  PurgstaU  (N.  F.  IV,  i,  S.  71—96),  über  den  Ursprung  der  Sage  von  den 
feindlichen  Brüdern,  über  die  Benennung  von  Lichtenegg j  über  die  drei  ältesten  Ur- 
kunden und  die  Reihe  der  Besitzer  von  Biegersburg  (VL  2.,  S.  102—108),  Äbul  Feda's 
und  Hrisis'j  der  arabischen  Geographen  Stellen  über  die  norischen  Eisenbergwerke  und 
Oratx  (N.  F.  VII,  I,  S.  134— 136).  —  W  i  n  kl  h  o  (er ,  Historische  Darstellung  einiger  Kirchen- 
gründungen   und  Priesterfundierungen  in  Salzburg j   Steiermark  und  Kärnten,  vor- 
züglich im  Mittelalter  (IX,  1  —  43).  —  Richter,  über  das  konzentrische  Zusammen- 
icirken  der  intierösterreichischen  Geschichtsforschuug  (N.   F.   I,    i,   S.    19  —  24),   der 
Lavanter  Bischof  Stobäus  von  Palmburg  in  Schlesien  oder  Rückblicke  auf  die  Politik 
Innerösterreichs   (N.  F.    III,   2,   S.    126—139).   —  Leitner,   die  Heimführung   der 
Herzogin  Maria  von  Baiern  durch  den   Erzherzog  Karl   von  Österreich  zu   Grätx 
im  Jahre  1571  (N.  F.   I,  i,  S.  31 — 49),   i'd)er  den  Einfluß  der  Landstände  au f  die 
Bildung   in  Steiermark  (N.  F.  11,  i,  S.  94 — 131).  —  Johann  Gabriel  Sei  dl,  Römer- 
steine  bei  Töplitx  (N.  F.  I,  2,  S.  62  —  66) ,  Maria  Rasty  monographische  Skizze  (N.  F. 
n,  I,  S.  23-40),  zur  Geschichte  der  Stadt  Cilli  (N.  F.  VH,   2,  S.    5—25),    Thomas 
von  Cilli.    Eine  biographische  Skizze  (N.  F.  Vni,  2,  S.  i  — 13).  —  Macher,  Bruch- 
stücke aus  der  Geschichte  der  Stadt  Hartberg  und  ihrer   Umgebungen  (N.  F.  I,  2, 
S.  123—134),  Abriß  einer  Geschichte  der  Stadt  Hartberg  (N.  F.  VI,  i,  S.  29—74).  — 
Hoffbauer,    Welche   Sieiermärker  wirkten    zunächst   auf  Weltbegebenheiten   (N.  F. 
II,  2,  S.  130—133).  —  Graf,  die  Stadt  Leoben  in  Obersteiermark  (IV,  2,  S.  59—66)^ 
historische  Notixen  über  Brück  an  der  Mur  (N.  F.  IX,  i,  S.  140 — 153).  —  Winklern, 
Biographien  denkwürdiger  Sieiermärker  (N.  F.   VI,  i ,  S.  82 — 139,  VI,  2,  S.  27 — 80, 
VII,    I,  S.    52  —  114).  —   Ungcr,  die  Heuschrecken xüge  in  Steiermark  (S.  F.  VII,  i, 
S.    115 — 133).    —   Hofrichter,    Ein  Beitrag   zur  Kirchengeschichte  und  Statistik 
der  Steiermark  (N.  F.  VI,  2,  S.  108 — 130).  —  D.  T.,  über  das  geistige  und  poetische 
Leben   der    Slaven    in    Steiermark   (N.  F.    VIII,    i,    S.   95 — 113).    —   Ungenannt, 
Geschichtliche  Notizen    des   vormaligen  Chorherrenstiftes  Pöllau   im   Grätxer  Kreise 
(N.  F.  Vm,  2,  S.  90—101).  —  Tangl,    Wo  lag   die  Burg  des  Priwina?  (N.  F.  IX, 
I,  S.  1—25).  —  Göth,  das  Schloß  Feistritz  und  dessen  Besitxa-  (N.  F.  IX,  i,  63—77). 

Wollten  wir  auch  sonst  nichts  weiter  berücksichtigen,  die  Gründung 
des  Archivs  am  Joanneum  und  die  durch  27  Jahre  (1821 — 1848) 
erfolgte  Herausgabe  der  Steiermärkischen  Zeitschrifi  allem  würden 
genügen,   um    das  Urteil  zu   begründen,   dafs   das   geistige  Leben  in 


—     209     — 

der  Steiermark  und  im  besonderen  die  Geschichtsforschung^  und 
Geschichtschreibung  in  der  ersten  Hälfte  des  XDC.  Jahrhunderts 
einen  bedeutenden  Aufschwung  genommen  hat,  so  dafs  beide  eine 
ganz  andere  Gestalt  zeigten,  als  im  Jahrhundert  vorher.  Aber  nicht 
blofs  jene  beiden  die  Wissenschaft  fördernden  Tatsachen  fallen  in 
die  Periode  von  1811 — 1850,  auch  einzelne  Personen  haben  nicht 
Unbedeutendes  geleistet. 

Hierher  gehören  vor  allen  das  hisioriach- topographische  Lexikon 
von  Steyermark.  4  Teile.  Gratz  1822 — 23  von  Karl  Schmutz 
und  dctö  römische  Norihum  oder  Österreich,  Steyermark,  Salzburg, 
Kärnten  und  Krain  unter  den  Römern  von  Albert  von  Muchar. 
2  Teile.     Grätz  1825—26. 

Das  Werk  von  Schmutz  *)  war  eine  ebenso  mühevolle  Arbeit, 
wie  es  auch  noch  heutzutage  in  vielen  Teilen  wertvoll  ist:  es  enthält 
in  alphabetischer  Ordnung  die  Namen  jeder  örtlichkeit  (Stadt,  Markt- 
flecken, Dorf,  Gemeinde,  Herrschaft,  Schlois,  Stift,  Kirche,  Berge, 
Alpen,  Weinhügel,  Flüsse,  Bäche,  Seen,  Mineralwässer,  Bergwerke, 
Hammerwerke  usw.),  und  jeder  Artikel  beschreibt  alles  Wissenswerte, 
was  von  dem  betreffenden  Objekte  zu  ermitteln  war.  Bei  den  Grund- 
und  Bezirksherrschaften  wird  die  Reihe  ihrer  Besitzer  so  weit  wie 
möglich  zurück  angegeben ;  es  folgen  die  Namen  der  Ämter,  in  denen 
die  Herrschaft  Untertanen  besafe,  die  Zehnten  sind  genannt,  und  Land- 
gerichte, Vogteien  oder  Patronate  im  Besitze  einer  Herrschaft  auf- 
geführt. Dann  kommen  die  Namen  der  Bezirksgemeinden  mit  Angabe 
der  verschiedenen  Kategorien  des  Grund  und  Bodens,  der  Wohnplätze, 
der  Bevölkerung,  des  Viehstandes.  Bei  den  einzelnen  Dörfern  wird 
angegeben,  welchen  Herrschaften  sie  dienstbar,  wohin  sie  bergrecht-  und 
zehentpflichtig  waren.  Bei  den  Pfarreien  erfährt  man  die  Art  ihrer 
Gründung,  ihr  Alter,  wer  Patron,  wer  Vogtherr  ist,  welche  Grabmäler 
sich  in  ihren  Kirchen  befinden.  Femer  ist  der  Name  jeder  adeligen 
in  Steiermark  begüterten  Familie  verzeichnet,  und  historische  Notizen 
über  die  Glieder  dieser  Familien  sind  beigefügt.  Endlich  ist  jeder 
Name  eines  Schriftstellers  oder  Künstlers  eingetragen,  der  in  der 
Steiermark  geboren  wurde,  mit  Hinzufügung  biographischer  Daten.  — 
Schmutz'  Lexikon  ist  ein  Werk  riesigen  Fleifses  und,  obwohl  achtzig 
Jahre  seit  seinem  Erscheinen  verflossen  sind,  jetzt  noch  für  den 
Geschichtsforscher  der  Steiermark  sowie  für  den  Archivar  unentbehr- 
lich,  besonders   wegen   seiner  geographischen  Artikel,   der  Angaben 


i)  VergL  diese  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.   135. 


—     210     — 

über  die  Herrschaften  und  Pfarreien,  die  diesen  unterstehenden  Unter- 
tanen —  das  Untertanenverhältnis  wurde  ja  erst  1848/49  aufjg-e- 
hoben  — ,  die  zugehörigen  Zehnten  und  sonstigen  Abgaben. 

Muchar  lieferte  in  dem  Bömischen  Norihum  eine  Fortsetzung 
seines  altkeltischen;  was  er  Bemerkenswertes  über  diese  römische 
Provinz  in  den  Schriften  der  Klassiker  fand,  trug  er  eifrigst  zusammen 
und  entwarf  ein  Bild  des  politischen  und  wirtschaftlichen  Lebens  in 
jenem  Lande,  wie  es  nach  dem  damaligen  Stande  der  Forschung  und 
der  Wissenschaft  möglich  war. 

Diesen  beiden  Männern  reihen  sich  manche  andere  an,  von  denen 
nur  einige  wenige  genannt  seien. 

Eine  ungemein  fleifsige,  jetzt  noch  brauchbare  Arbeit  ist  die 
Chronologische  Geschichte  der  Steiermark  von  Winklern  (Graz  1823); 
auf  gründlicher  Forschung  beruht  die  Geschichte  der  steirischen  Otto- 
Jcare  von  Pritz  (Linz  1846);  nennenswert  sind  auch  die  Schriften  des 
geistvollen,  aber  exzentrischen  Historikers  Julius  Schneller:  Öster- 
reichs und  Steiermarhs  Tatkraft  vor  dem  Vereine  mit  Ungarn,  Böhmen 
und  unter  sich  (Graz  18 18),  Bundes -Anbeginn  von  Ungarn,  Böhmen, 
Österreich,  Steiermark  von  1526 — 1714  (Graz  18 19)  sowie  Geschichte  von 
Österreich  und  Steiermark  (Dresden  1828,  4  Bändchen). 

Auch  eines  historischen  Romanes  mufe  gedacht  werden:  Die 
GaUerinn  auf  der  Riegersburg.  Historischer  Roman  mit  Urkunden, 
Von  einem  Steiermärker  (Darmstadt  1845 »  3  Teile).  Sein  Verfasser 
ist  der  bedeutende  Orientalist  Josef  Freiherr  von  Hammer-Purgstall, 
die  Heldin  des  Romans  ist  die  Schlofsherrin  der  merkwürdigen  Felsen- 
feste Riegersburg,  Elisabeth  Katharina  Freiin  von  Galler  (gest.  1672); 
von  besonderem  geschichtlichem  Interesse  sind  die  Darstellung  der 
vielen  Prozesse,  welche  sie  führte,  die  Schilderung  des  Hexen- 
unwesens in  Feldbach  und  die  zadilreichen  mitgeteilten  Urkunden  und 
Akten. 

Die  Ortsgeschichtsforschung,  auf  deren  Bedeutung  in  diesen 
Blättern  (4.  Bd.,  S.  312 — 316)^)  hingewiesen  wurde,  ist  in  Steiermark 

I)  Zu.  der  dort  ans  Schnürer  and  Bertele,  GedenkbUüter  zur  Dreikundert- 
jahrfeier  der  Kirche  in  derRadmer  bei  Eisenerx  in  Obersteiermark  (Wien  1903)  zitierten 
SteUe  ist  za  bemerken:  Das  grobe  Gesindel  und  unartige  Volk,  das  sich  1600  in 
Radmer  fand,  bestand  aus  wackeren,  arbeitsfreadigen  Bergknappen  evangelischen 
Bekenntnisses,  and  die  Regierangs>Kommission,  die  30  Masketiere  za  ihrem  Schatze  bedarfte, 
war  eine  jener  Gegenreformations-Kommissionen,  welche  Innerösterreich  aof  Befehl  Erz- 
herzog  Ferdinands  darchzogen,  am  mit  Waffengewalt  die  Rekatholisierang  darchzasetzen. 
Schnttrer  and  Bertele  folgten  offenbar  einer  anlaateren  katholischen  Qaelle  and  ent- 
stellten  dadarch  den  historischen  Hergang. 


—     211     — 

schon  in  der  ersten  Hälfte  des  XIX.  Jahrhunderts  nicht  ohne  Erfolg 
gepflegt  worden.  Einige  der  damals  erschienenen  Ortsgeschichten  mögen 
wenigstens  ihrem  Titel  nach  erwähnt  werden:  Graf,  N(ichrichien  über 
Leoben  und  die  Umgang  (Graz  1824);  Macher,  Histarisch-iGpogrO' 
phische  Darstellung  des  berühmien  Wallfahrtsortes  Maria  ZeU  (Wien 
1830);  Göth,  Varderhberg  in  neuester  Zeit  (Wien  1839);  Leithner, 
Versuch  einer  Monographie  über  die  k.  k.  Kreisstadt  Judenburg  (Juden- 
burg 1840);  Hofrichter,  Die  Privilegien  der  k.  k.  landesfOrstUchen 
Stadt  Badker^Hirg ,  nebst  einer  kuregefa/Uen  Geschichte  und  Beschreib 
bung  dieser  Stadi  (Radkersburg  1842);  Schreiner,  Oräig,  einnatur- 
historisch' statistisch 'topographisches  Oemöhlde  dieser  Stadt  und  ihrer 
Umgebungen  (Grätz  1843),  ^^  vorzügliches  Buch,  das  heute  noch  für 
jeden,  der  über  was  immer  die  Landeshauptstadt  betreffendes  forscht 
und  arbeitet,  eine  reiche  Fundgrube  darstellt;  Sonntag,  Knittdfeld 
in  Obersteiermark  (Graz  1844),  Puff,  Marburg  in  Steiermark  (Graz 
1847);  Hofrichter,  Luttehberg  in  üntersteier  (Graz  1850). 

Am  Schluis  des  Zeitraumes,  über  den  wir  hier  berichteten,  erschien 
ein  grofses  Werk  über  die  Geschichte  der  Steiermark  und  erfolgte  die 
Gründung  des  innerösterreichischen  Geschichtsvereins.  Jenes  ist 
Muchar,  Geschichte  des  Herzogtums  Steiermark  (Graz  1844— 1867);  vier 
Teile  hat  der  Verfasser  selbst  (1844 — 48)  herausgegeben,  nach  seinem 
Tode  (1849)  wurde  die  Herausgabe  der  Bände  5  —  8(1850 — 1867)  von 
Prangner  und  vom  Ausschusse  des  Historischen  Vereins  für  Steiermark 
besoi^.  Ist  von  dem,  was  Muchar  gearbeitet  hat,  auch  heute  schon  vieles 
veraltet  und  nahezu  nicht  mehr  brauchbar,  so  enthalten  doch  besonders 
die  letzten  Bände  ein  reiches,  von  Muchar  erst  gesammeltes  Material, 
aber  auch  nur  ein  solches,  und  keine  Bearbeitung.  Das  weitschichtige 
bis  1558  reichende  Werk  bildet  sonach  namentlich  für  die  letzten 
Jahrhunderte  des  Mittelalters  eine  fast  nie  versagende  Fundgrube  selbst 
bis  in  die  kleinsten  Details  der  steirischen  Geschichte  und  ist  für  jeden 
Forscher  in  der  Landesgeschichte  als  Nachschlagebuch  unentbehrlich. 
Als  solches  aber  ist  das  Werk  erst  zu  gebrauchen,  seitdem  der  Hi- 
storische Verein  für  Steiermark  in  einem  9.  Bande  ein  474  dreispaltige 
Seiten  umfassendes  Alphabetisches  Register  der  in  Muchar^s  Oesdiichte 
der  Steiermark,  Band  I-^VUI  vorkommenden  Namen  von  Personen^ 
Orten  uy^  Sachen,  bearbeitet  von  Georg  Göth,  (Graz  1874),  heraus- 
gegeben hat. 

Bei  der  Gründung  des  Geschichtsvereines  für  Inneröster* 

reich  war  wieder  Erzherzog  Johann  ausschlaggebend.    Vier  Freunde 

der  vaterländischen  Geschichte,  Ludwig  Crophius  Edler  von  Kaiser 

15 


—     212     — 

sieg,    Abt   des  Zisterzienserstiftes  Rdn,  Albert  von  Muchar,   Josef 
Wartinger  und  Karl  Gottfried  Ritter  von  Leitner  traten  im  Jahre 
1840  in  Graz  zusammen  und  berieten  eingehend  über  die  Mittel,  wie 
in  Verbindung  mit  gleichgesinnten  Persönlichkeiten  in  Kärnten  und  in 
Krain    die   reichen  archäologischen    und    archivalischen   Schätze    des 
Joanneums  und  ähnlicher  Sammlungen  in  Klagenfurt  und  Laibach  am 
besten  für  die  Wissenschaft  und  für  die  Förderung  der  vaterländischen 
Altertums-    und    Geschichtskunde   nutzbringend    zu    verwerten   wären. 
Sie  überreichten  dem  Erzherzog  eine  Denkschrift,  in  der  sie  die  Bitte 
aussprachen,   er  wolle  seine  Fürsorge   auch   der  Pflege   der  vaterlän- 
dischen  Geschichte   durch   die   Gründung   eines   historischen  Vereines 
für  die  durch  zahllose  Beziehungen  innigst  verbundenen  und  historisch 
zusammengehörigen  Länder  Steiermark,  Kärnten  und  Krain  unter  dem 
Namen  „.Innerösterreichischer  Geschichtsvercin"  zuwenden. 
Der  Erzherzog    nahm   diese  Denkschrift    in   zuvorkommender   Weise 
entgegen  und  stellte  sich   als  Präsident   an   die  Spitze   des  Vereines. 
Die   kaiserliche  Genehmigung  tmd  die  Sanktion  der  Statuten  erfolgte 
am   27.   April    1843:  die  Zentralleitung,   bestehend  aus  Ausschuismit- 
gliedern  aller  drei  Länder,  hatte  ihren  Sitz  in  Graz  und  jeder  Landes- 
verein eine  selbständige  Direktion  in  der  Hauptstadt  des  betreflenden 
Landes.     Der  Erzherzog   selbst  erliefe   die  Aufforderung  zum  Beitritt, 
und  nach  Jahresfrist  betrug  die  Zahl  der  Mitglieder  bereits  964. 

Am  26.  Febr.  1845  konstituierte  sich  der  steiermärkische  Aus- 
schuis  des  innerösterreichischen  Geschichtsvereins,  am  3.  Dez.  1845 
fand  in  Graz  die  erste  Versammlung  der  Zentralleitung  unter  dem 
Vorsitze  des  Erzherzogs  statt,  der,  wenn  er  in  Graz  anwesend  war, 
stets  selbst  den  Sitzungen  beiwohnte.  Alljährlich  wurde  eine  Ver- 
sammlung des  historischen  Landesvereins  für  Steiermark  abgehalten. 
An  Schriften  veröffentlichte  der  innerösterreichische  Verein  nur  ein 
Heft,  aber  dieses  enthält  als  Beitrag  aus  Steiermark  Richard  Knabls 
grundlegende  Arbeit  über  Flavium  Solveuse  mit  zahlreichen  Abbil- 
düngen  von  dort  gefundenen  plastischen  und  Inschriftsteinen,  Gefa(sen, 
Geräten,  Schmucksachen  u.  dgl. :  die  auf  dem  Leibnitzer  Felde  süd- 
lich von  Graz  gelegene  Kömerstadt  hielt  man  früher  für  Muroela, 
während  man  Flavium  Solvense  oder  Solva  auf  das  Zollfeld  in  Kärnten 
verlegte. 

Nur  einmal  und  zwar  zu  Graz  am  4.  April  1848  versammelte 
sich  der  Geschichtsverein  für  Innerösterreich  zu  einer  allgemeinen 
Sitzung.  Die  dabei  gemachten  Wahrnehmungen  gaben  die  Veran- 
lassung dazu,  dafs  bei  der  am  20.  März  1849  unter  dem  Vorsitze  des 


—     218     — 

Erzherzogs  stattfindenden  Sitzung  des  steiermärkischen  Landesvereins 
der  Antrag  gestellt  wurde,  den  innerösterreichischen  Verein  freiwillig 
in  drei  voneinander  unabhängige  Vereine  aufzulösen.  Die  Landes* 
vereine  von  Kärnten  und  Krain  stimmten  diesem  Beschlüsse  zu,  so  erfolgte 
die  Trennung  des  grofsen  Vereins,  und  aus  einem  der  drei  bisherigen 
Landesvereine  entstand  der  „Historische  Verein  für  Steier- 
mark'', der  wieder  unter  dem  Präsidium  des  Erzherzogs  Johann  am 
2.  Dezember  1850  seine  erste  Versammlung  hielt. 

In  der  ganzen  Periode  von  1811—1850  steht  der  Prinz  an  der 
Spitze  der  geistigen  Bewegung  zur  Pflege  und  Förderung  der  vater- 
ländischen Geschichte:  181 1  durch  die  Errichtung  des  Joanneums, 
des  Archivs  und  der  Bibliothek  dortselbst,  1850  durch  die  Gründung 
des  Historischen  Vereins  fiir  Steiermark,  über  dessen  Wirksamkeit  und 
Arbeiten  später  berichtet  werden  soll. 


Mitteilungen 

Archive.  —  Unter  den  thüringischen  Städten  hat  aufser  Erfurt,  Mühl- 
hausen und  Nordhausen  wohl  keine  andere  mit  Recht  die  Geschichtsforscher 
so  beschäftigt  wie  Saalfeld  ^).  Im  Laufe  einer  tausendjährigen  Geschichte 
haben  hier  Kaiser  und  Könige,  Herzöge  und  Grafen,  Bischöfe  und  Äbte, 
Beamte  und  Gelehrte  gewirkt  und  Spuren  ihrer  Tätigkeit  in  Verwaltung  und 
Bauten  hinterlassen,  auch  die  großen  imd  kleinen  Bewegungen  der  Volks- 
massen, wie  die  Kriege  der  Staaten  haben  oft  die  Stadt  berührt.  Und  seit 
dem  Anfange  des  XVII.  Jahrhunderts  hat  fast  jede  Generation  der  Forscher 
in  dieser  Geschichte  Arbeit  gefunden.  Die  Namen  SUvester  Liebe,  Kaspar 
Sagittarius,  Christian  Schlegel,  Joh.  Melch.  Lochmann  sind  in  der  thüringi- 
schen Geschichtsschreibung  wolü  bekannt  Die  urkundlichen  Grundlagen  hat 
ihnen  hauptsächlich  das  Stadtarchiv  geliefert,  soweit  es  den  grofsen  Brand 
von  151 7  überstanden  hatte.  Später  jedoch,  als  die  meisten  Urkunden  ihre 
unmittelbare  praktische  Bedeutung  verloren,  ist  das  Archiv  durch  lange  Ver- 
nachlässigung in  einen  derartigen  Verfall  geraten,  dafs  es  bis  vor  kurzem  nur 
mit  grofsem  Zeitverlust  und  Gefahr  für  die  Gesundheit  der  Beamten  und 
Forscher  benutzt  werden  konnte.  Zwar  hatte  die  memingische  Regierung 
seit  1839  wiederholt  Ordnung  und  Verzeichnung  der  Reposituren  anbefohlen« 
aber  bei  den  engen  Verhältnissen  der  damaligen  kleinen  Landstadt  waren 
diese  Arbeiten  über  eine  notdürftige  Einteilimg  der  gangbaren  Akten  nicht 
hinausgekommen.  Nur  die  auf  Verfassung  und  Gerechtsame  der  Stadt  be- 
züglichen Urkimden  wurden  in  zehn  kleinen  Kisten  aufbewahrt,  die  wiederum 
in  eine  Kiste  gebracht  imd  mit  kurzen  Inhaltsangaben  versehen  waren.  Im 
übrigen   wurde   das  Archiv   nur  als  Rumpelkammer  für  lästige  Papiermassen 


1)  Vgl.  diese  ZeiUchrift  3.  Bd.,  S.  139—140. 

15* 


—      214     — 

angesehen.  Der  Dreifsigjährige  Krieg,  dem  man  oft  alles  Unheil  zuschiebt, 
hat  dem  Archiv  nicht  so  viel  geschadet  wie  die  Gleichgültigkeit  der  neueren 
Zeiten.  Erst  im  Jahre  1899  gelang  es  dem  Ersten  Bürgermeister  Liebscher, 
die  Zustimmung  des  Gemeinderats  zu  einer  um^senden  Neuordnung  zu  er- 
langen. Durch  Vermittelung  des  Thüringer  Archivtages,  in  dessen  Namen 
zunächst  Archivrat  Mitzschke  das  Archiv  besucht  und  ein  ausführliches  Gut- 
achten darüber  abgegeben  hatte,  wurde  die  Arbeit  dem  Unterzeichneten 
übertragen. 

Das  Archiv  ist  in  zwei  starken  Gewölben  im  Rathaus  untergebracht,  von 
denen  das  eine  zu  ebener  Erde  liegt  und  früher  als  Folterkammer  gedient 
haben  soll.  Durch  eine  enge  steinerne  Wendeltreppe  gelangt  man  in  das 
zweite  Gewölbe  im  ersten  Stockwerk.  Beide  Räume  sind  durchaus  feuer- 
sicher und  architektonisch  merkwürdig.  Neben  dem  oberen  liegt  ein  kleines 
Arbeitszimmer,  durch  das  man  auch  auf  die  Haupttreppe  und  so  in  die  Ge- 
schäftsräimie  im  zweiten  Stock  gelangen  kann. 

Diese  drei  Archivräume  waren  gefüllt  mit  wüsten  Massen  von  Papier, 
Staub  und  Moder  und  belebt  von  zahlreichen  Mäusen.  Bei  dem  Fehlen  von 
Repertorien  mufste  nun  im  Notieren  eine  ganz  äufserliche  Reihenfolge  ge- 
macht werden,  wie  die  Akten  einem  in  die  Hände  kamen:  Kriegssachen, 
Stiftungen,  Stiafsenreinigung,  Kleinkinderbewahranstalt ,  Reichstag  — ,  alles 
durcheinander.  Das  Durchsehen  aller  dieser  Papiere  erforderte  viel  Zeit,  ge- 
währte aber  auch  interessante  Einblicke.  Die  gänzliche  Formlosigkeit  der 
Masse  liefs  dem  Ordner  völlig  freie  Hand  in  der  Gestaltung,  die  aber  erst 
nach  einem  halben  Jahre  beginnen  konnte,  als  alles  auf  ca.  5000  Zetteln  ver- 
zeichnet war.  Die  Zettel  wurden  in  eine  sachliche  Ordnung  gebracht  und 
dann  danach  die  Akten  umgestellt.  Dies  nahm,  durch  bauliche  Verbesse- 
rungen im  unteren  Gewölbe  einigermafsen  aufgehalten,  ebenfalls  viel  Zeit  in 
Anspruch.  Fortwährend  ging  daneben  die  Arbeit  des  Buchbinders  her,  der 
recht  viel  zu  tun  hatte  mit  Einheften  und  Kleben.  Auch  mufsten  viele  Stücke, 
die  von  der  Feuchtigkeit  der  Wände  und  des  Fufsbodens  gelitten  hatten,  mit 
Zapon  behandelt  werden.  Auch  Maurer,  Tischler  und  Schlosser  bekamen 
Arbeit :  ein  Fenster  wurde  erweitert,  einige  Stufen  bequemer  gelegt,  der  untere 
Fufsboden  zementiert,  und  im  ganzen  Archiv  die  Reposituren  von  den  Wänden 
abgerückt  und  mit  eisernen  Stangen  in  freier  Stellung  befestigt,  auch  die  nur 
zum  Legen  der  Akten  eingerichteten  Fächer  durch  höhere  zum  AufeteUen 
der  Pakete  ersetzt.  Gegen  die  Mäuse  konnte  ein  erfolgreicher  Vemichtungs- 
kampf  geführt  werden. 

Nachdem  die  Übersicht  über  den  ganzen  Bestand  gewonnen  war,  mufste 
ein  grofser  Teil,  etwa  800  Nummern,  wieder  der  Registratur  zugewiesen 
werden.  Dadurch  wurde  die  künftige  Erhaltung  der  Ordnung  gesichert; 
denn  die  Vermengung  von  Archiv  und  Registratur  war  eme  Hauptursache 
der  eingerissenen  Verwirrung  gewesen.  Ein  Normaljahr  für  die  Scheidung 
anzunehmen  schien  nicht  rätlich,  die  Entscheidung  wurde  in  jeder  Abteilung 
nach  besonderen  Erwägungen  getroffen;  manche  Stücke  von  1880  liegen 
schon  im  Archiv,  während  auch  solche  von  1870  noch  der  Registratur  vor- 
behalten sind.  Im  allgemeinen  scheint  mir  für  klebe  städtische  Behörden 
ein  2^tTaimi  von  33  Jahren  die  Akten  in  der  Registratur  entbehrlich  zu 
machen.    Dem  Bestreben  der  unteren  Verwaltungsbeamten,  die  Papiere  mög- 


—     215     — 

liehst  schnell  loszuwerden,  darf  jedoch  nicht  zu  leicht  nachgegeben  werden. 
Etwa  IOC  Stücke  des  Archivs  konnten  zur  Vernichtung  ausgeschieden  werden. 
Auf  Antrag  des  Ordners  wurden  vorher  aufser  der  vorgeschriebenen  Ge- 
nehmigung des  Ministeriums  auch  noch  bei  den  lokalen  Gerichts-,  Kirchen-, 
Schul-  und  Verwaltungsbehörden  etwaige  Bedenken  gegen  die  Vernichtung 
durch  Umlauf  erbeten. 

Das  ganze  Archiv  zerfällt  nun  in  drei  Abteilungen:  Urkunden,  Akten 
und  Bücher. 

A.  Die  Urkunden  sind  einfach  chronologisch  geordnet,  jede  in  einer 
Hülle  von  mattroter  Pappe,  alle  in  einem  grofsen  Eichenschrank,  der  schon 
vorhanden  war  und  nur  mit  Luftlöchern  versehen  werden  mufste.  Über  jede 
Urkunde  ist  ein  Regest  angelegt  worden,  das  bis  zum  Jahre  1600  alle  in 
der  Urkunde  vorkonmienden  Namen,  später  nur  die  wichtigeren  enthält.  Es 
sind  im  ganzen  weit  über  700  Nummern  von  13 13  bis  1889,  darunter  223 
aus  der  Zeit  bis  1600.  Die  wichtigsten  sind  die  städtischen  Privilegien  von 
1493,  1558  usw.,  die  Handwerksinnungen  (fast  voUständig),  die  Stifhingen, 
unter  denen  besonders  das  Testament  des  wohlverdienten  Bürgermeisters 
Kelz  von  1555  und  die  Tryllerstiftung  von  16 17  historisch,  juristisch  und 
diplomatisch  äufserst  interessant  sind. 

B.  Die  Akten  sind  sämtlich  im  oberen  Gewölbe  aufgestellt,  wo  auch 
der  Urkundenschrank  steht.  Bei  der  Einteilung  konnte  ganz  selbständig  ein 
rein  sachliches  System  angewendet  werden.  Das  Provenienzprinzip  wurde 
nur  soweit  beachtet,  als  die  Akten  der  einverleibten  Gemeinden  eine  Ab- 
teilung für  sich  bilden ,  und  sonst  auf  jedem  Stück  die  Herkunft  vermerkt 
ist:  Akttn  des  Stadtrats,  des  Schulamts,  der  Kircheninspektion,  des  Justiz- 
amts, des  Landratsamts  usw.  Die  Unterabteilungen  sind  im  übrigen  ledig- 
lich nach  den  verschiedenen  Geschäftszweigen  der  Gemeindeverwaltung  an- 
gelegt worden.  Aus  ihrem  Umfange  läfst  sich  die  bisherige  Wichtigkeit  der 
einzelnen  Zweige  erkennen.  Einige  sind  noch  klein,  werden  aber  mit  der 
2Mt  stärker  wachsen  als  die  älteren  Abteilungen.  Überall  ist  Raum  für 
den  Zuwachs  gelassen.  Die  Einteilung  ist  folgende:  L  Städtische  Behörden 
und  Beamte  seit  1533;  II.  Weichbild  und  Stadtgericht  seit  1483;  III.  Ein- 
verleibte Gemeinden  seit  181 7;  IV.  Städtischer  Besitz  seit  1539;  V.  Städtische 
Privilegien  seit  1541;  VI.  Bürgerrecht,  Privilegien  einzelner  Personen  und 
Häuser,  Lehnssachen  seit  1587;  VII.  Rechnungswesen,  Steuersachen  seit 
XV.  Jahrhundert;  VUI.  Stiftungen  seit  XVI.  Jahrhundert;  IX.  Armenwesen 
seit  1694;  X.  Medizinalwesen  seit  1558;  XI.  Feuerpolizei  und  Löschwesen 
seit  1678;  XII.  Bausachen,  Strafsen-  und  Feldpolizei  seit  1524;  XIII.  Melde- 
wesen, Heimat-,  Fremden-  und  Familiensachen  seit  1557;  XIV.  Ordnungs-, 
Sicherheits-  und  Sittenpolizei  seit  1562;  XV.  Landwirtschaft,  Handel  und 
Industrie,  allgemeine  Gewerbesachen  seit  1587;  XVI.  Handwerk  seit  Mitte 
des  XVI.  Jahrhunderts;  XVII.  Arbeiter-  und  Gesindesachen  seit  18 14; 
XVIII.  Vermischte  Polizeisachen  seit  1807;  XIX.  Presse,  Literatur,  Wissen- 
schaft seit  1709;  XX.  Kirche  seit  1406;  XXI.  Schule  seit  1593;  XXII.  Aus- 
wärtige Beziehungen  und  Verkehr  seit  1487;  XXIII.  Herzogliches  Haus  und 
Landesbehörden  seit  1524;  XXIV.  Reichsangelegenheiten,  nationale  Feste 
seit  1777;  XXV.  Militaria  seit  15 10.  Ursprünglich  schwebte  eine  EinteUung 
nach  den  drei  grofsen  Gruppen  der  städtischen  Verwaltung:  Gemeindesachen, 


—     216     — 

Polizeisachen,  öffentliche  oder  Staatssachen,  vor.    Doch  bald  tiberzeugte  ich 
mich  davon,  dafs  diese  zwar  den  Registraturen  der  Gemeindevorstände  sehr 
zu  empfehlen,  in  Archiven  aber  nicht  genau  durchführbar  ist.     Die  Reihen- 
folge der  Abteilungen   imd   danach   die  örtliche  Verteilung  schliefst  sich  ihr 
zwar  an  (i :  I— IX,  2:  X— XIX,  3:  XX— XXV):   aber  der  Inhalt  der  ein- 
zelnen Abteilungen  ist  nur  selten  einer  der  Gruppen  allein  zugehörig,  da  im 
Laufe    der   Zeit   sich    oft   der   Charakter   der  Behörden  geändert   hat.     Die 
Reihenfolge  der  Stücke  je   einer  Abteilung  ist  im  allgemeinen  chronologisch 
(nach  dem  Anfangsjahr).     Nur  unter  V,    VIII  und  XVI   sind  noch  kleinere 
sachliche  Gruppen   gebildet.     Für   den   Rechts-  und  Lokalhistoriker 
bieten  die  Abteilungen  I,  II,  V,  VI  viel  Material;  Genealogen  werden  in 
Abteilung  VIII  sehr  viel  Stoff  finden,  da  die  Stiftungsberechtigten  meist  zur 
Familie   der  Stifter  gehören   müssen;    Wirtschaftshistorikern    gewährt 
Abteilung  XVI  Stoff.     Die  X.  Abteilung   enthält  manche  interessante  Stücke 
über    die    Bekämpfung    der    Pest    und    die    Besetzung    des   Stadtphysikats. 
Kirchen-  und  Schulakten  sind  leider  nicht  sehr  ergiebig,  doch  werden 
die   letzteren   vielfach   durch   die   vom  Herzogl.  Realgymnasium  aufbewahrte 
Matrikel  des  alten  Lyzeums  ergänzt.    Grofse  Aktenmassen  der  Superintendentur 
liegen  noch  ungeordnet  in  den  Schränken  des  Pfarramtes.    Aus  Abteilung  XXIII 
sind  besonders  die  aus  der  Kanzlei  des  bekannten  Amtmanns  Hans  von  Dolzigk 
herrührenden  Papiere  zu  erwähnen,  die  namentlich  bezüglich  der  Bergwerks- 
angelegenheiten des  XVI.  Jahrhunderts  der  Bearbeitung  eines  Fach- 
mannes  empfohlen  seien.     Aufserordentlich   reichhaltig   sind   schliefslich    die 
Kriegsakten,  die  zur  Geschichte  den  Wehrverfassung,  des  Dreifsigjährigen, 
des  Siebenjährigen,  der  Napoleonischen  und  auch  noch  der  neueren  Kriege 
eine   zwar   schon   viel   benutzte,   aber   noch   nicht  erschöpfte  Quelle  bieten. 
Unter  Vorbehalt  des  Eigentums  ist  der  Aktenabteilung  das  Archiv  des  Ritter- 
gutes Unterwirbach  zugeteilt,  das  manche  Nachrichten  über  benachbarte 
Adelsfamilien  enthält. 

C.  Die  Bücher  haben  im  unteren  Gewölbe  Aufstellung  gefunden  und 
zwar  in  vier  Abteilungen:  I.  Register  und  Geschäftsbücher  seit  1485  ;  II.  Rech- 
nungen seit  1491;  III.  Protokolle,  Kopialbücher,  Sammlungen  seit  dem 
XIV.  Jahrhundert;  IV.  Bücher  der  einverleibten  Gemeinden  seit  1540.  In 
diesen  Büchern  liegt  noch  eine  Menge  Stoff  zur  Rechts-,  Verwaltungs-,  Kultur- 
imd  Familiengeschichte  unbehoben.  Von  allgemeinerem  Interesse  ist  nament- 
lich die  III.  Abteilung,  die  aufser  der  alten  Stadtrechtsaufzeichnung  das  sogen. 
Salbuch,  die  Salfeldographia  von  Silvester  Liebe,  viele  Jahrgänge  der  Rats- 
protokolle usw.  enthält. 

Für  die  Akten  und  die  Bücher  wurde  je  ein  Band  Repertorium 
angelegt,  und  ein  alphabetisches  Register  gibt  Auskunft  über  sämt- 
liche Namen  und  die  wichtigsten  Sachen  aller  drei  Verzeichnisse. 

Über  die  älteren  Bestände  des  Archivs  gewähren  auch  eine  Übersicht 
die  eben  im  Erscheinen  befindlichen  Saalfeldischen  Historien  von  Kaspar 
Sagittarius  *).  Dort  sind  alle  Urkunden  bis  15 17  im  Regest  gegeben, 
später  nur  die  wichtigeren  als  Quellen  angeführt.  E.  Devrient 


i)  Im  Auftrage  der  Stadt  Saalfeld  tum  ersten  Male  herausgegeben  von  Dr.  Ernst 
Devrieot.  Vn  u.  395  S.  —  Pr.  4  Mk.,  zu  bezichen  durch  die  Buchhandlungen  von 
Niese   und  Boltze  in  Saalfeld  a.  S. 


—  217   — 

In  vieler  Beziehung  den  in  Saalfeld  herrschenden  Verhältnissen  ähnlich 
waren  die  eines  anderen  Stadtarchivs,  das  im  Laufe  der  Jahre  1902  und 
1903  von  dem  Herausgeber  dieser  Zeitschrift  geordnet  und  neu  aufgestellt 
>vorden  ist :  es  ist  dies  das  Archiv  der  Stadt  Grirama  an  der  Mulde.  Seit 
dem  Ende  des  XVII.  Jahrhunderts  ist  das  Archiv  mehrmals  geordnet  worden, 
und  mehrere  ältere  Inventare  der  Bestände  liegen  vor,  aber  keins  davon 
umfafst  in  der  Tat  die  Gesamtheit  der  Archivalien,  und  die  Aufstellung 
entsprach  bisher  durchaus  nicht  der  Anordnung  der  Inventare.  Zudem 
waren  in  neuerer  Zeit  die  Archivbestände  wiederholt  in  andere  Räume 
gebracht  worden,  so  dafs  die  AufBndung  bestimmter  Stücke  recht  erschwert 
war.  Am  gründlichsten  hat  das  Stadtarchiv  seit  Mitte  des  XIX.  Jahr- 
hunderts Lorenz  durchforscht,  der  eine  für  ihre  Zeit  ganz  vorzügliche 
Stadtgeschichte  ')  verfafst  hat,  aber  manches  Aktenstück,  das  er  noch  benutzt 
hat,  ist  heute  verschollen,  während  andrerseits  nicht  unbedeutende  Stücke 
vorliegen,  die  er  völlig  unbenutzt  gelassen  hat;  bei  seiner  sonstigen  Gründ- 
lichkeit mufs  man  daraus  schliefsen,  dafs  ihm  diese  Archivalien  überhaupt 
nicht  zu  Gesicht  gekommen  sind.  Seither  war  und  ist  leider  auch  noch 
heute  das  Archiv  zugleich  „alte  Registratur'^  in  die  von  den  Beamten  gern 
möglichst  viel  abgeschoben  wird:  schon  jetzt  sind  beispielsweise  die  Belege 
zu  den  Stadtrechnungen  von  1902  im  Archiv  untergebracht.  Eine  wirkliche 
Trennung  von  Archiv  und  alter  Registratur  liefs  sich  aus  Raummangel  auch 
jetzt  noch  nicht  durchführen;  es  konnte  lediglich  ein  Aktenrepositorium 
reserviert  werden,  auf  dem  die  Zugänge  Platz  finden,  bis  sie  zusammen, 
etwa  emmal  im  Jahre,  dem  Archive  selbst  einverleibt  werden.  So  weit  es 
der  Raum  gestattet,  smd  bei  allen  den  Unterabteilungen,  die  Zuwachs  erhalten, 
Fächer  für  die  Zugänge  freigelassen  worden. 

Das  ganze  Archiv  zerfällt  nunmehr  in  vier  Hauptabteilungen :  Urkunden; 
Handschriften  und  Drucke;  Karten  und  Pläne;  Akten.  Die  ersten 
drei  sind  verhältnismäfsig  wenig  umfangreich  und  befinden  sich  sämdich  in 
einem  geräumigen  Schranke,  der  im  Arbeitszimmei  steht,  während  die  Akten- 
abteUtmg  in  fast  1000  Fächern  untergebracht  ist:  diese  verteUen  sich  auf 
zwei  Räume,  von  denen  einer  auch  ein  Mittelrepositorium  besitzt,  und  einen 
Gang.  Die  sämtlichen  Gelasse  liegen  im  Erdgeschofs,  sind  ziemlich  hell, 
und  der  Fufsboden  ist  mit  Ausnahme  des  Arbeitszimmers  mit  Steinfliefsen 
belegt.  Ein  erst  neuerdings  in  die  Mauer  eingesetzter  Ventilator  sorgt  für 
Luftzufuhr.  Die  Akten  sind  zu  Packeten  fest  zusammengeschnürt;  die  fort- 
laufenden Reihen  der  Rechnungen  und  Belege,  die  gebunden  sind,  stehen 
dagegen  auf  Regalen,  aber  auch  hier  laufen  die  Nummern  an  den  Repositorien 
in  gleicher  Weise  wie  bei  den  Aktenfächem  fort. 

Die  Urkunden  sind  getrennt  in  a)  solche  verschiedenen  Inhalts, 
73  Stück  1287  bis  1792,  deren  ältere  im  Urkundenbuche  der  Stadt  Grimma 
(Leipzig,  1895,  T^'^  ^^s  Ck)d€x  dipUymaticus  Saxoniae  regiae)  abgedruckt 
sind,  und  b)  die  Ratsbestätigungen,  die  1491  bis  17 17  fast  vollständig  vor- 
liegen. Die  Handschriften  und  Drucke  gliedern  sich  in  a)  solche  zur 
Stadt-  und  Gerichtsverfassung  (8  Stück,  ältestes  Stadtbuch  1372  begonnen), 
b)  Chroniken,  c)  Archivinventare,  d)  verschiedenen  Inhalts,  e)  ältere  Drucke. 


i)  Lorenz,  Die  Stadt  Grimma,  historisch  besehrieben.    (Leipzig,  1856— 1871). 


—   218  - 

Karten  und  Pläne  finden  sich  im  ganzen  nur  vier  Nummern.  Die  dem 
Umfange  nach  weitaus  gröfste  und  dem  Inhalte  nach  entschieden  wertvollste 
Abteilimg  bilden  die  Akten,  die  naturgemäls  auch  hinsichtlich  der  Stadtver- 
fassung neben  den  Urkunden  und  Handschriften  viel  wichtiges  Material  enthalten 
und  unter  denen  sich  auch  zahlreiche  Urkunden  in  Abschriften  finden.  Gemäfs 
der  in  der  modernen  Verwaltung  üblichen  Einteilung  der  Funktionen  des  Stadt- 
rats in  solche,  welche  Staatsangelegenheiten  und  solche  welche  Gemeinde- 
angelegenheiten betreffen,  sind  auch  die  Akten  nach  diesen  Gesichtspunkten 
gegliedert;  denn  die  modernen  Akten  müssen  sich  ja,  wie  wir  oben 
sahen,  dem  System  bequem  einfügen.  Denmach  gliedern  sich  nun  die 
I.  Staatsangelegenheiten  (Fach  i — 76)  in:  i.  Landtagsakten,  2.  Wahlen 
zu  verschiedenen  Körperschaften,  3.  Gesetze  und  Verordnungen,  4.  Besondere 
Äufserungen  der  Landeshoheit,  5.  Statistik,  6.  Militärwesen,  7.  Kreis- 
8.  Bezirksangelegenheiten,  9.  Versicherungswesen.  Die  U.  Gemeinde- 
angelegenheiten (Fach  77 — 704)  gliedern  sich  in:  i.  Verfassung  und 
Verwaltung  der  Stadt,  2.  Rechte  und  Privilegien,  3.  Der  Rat,  4.  Die  Ge- 
meindevertretung, 5.  Städtische  Beamte  und  AngesteUte,  6.  Einwohnerschaft, 
7.  Städtischer  Besitz  an  Häusern  und  Grundstücken,  8.  Vermögen  und 
Schulden  der  Stadt,  9.  Besondere  städtische  Anstalten  und  Fonds,  10.  Steuer- 
wesen, II.  Finanzverwaltung.  Als  selbständige  Hauptgruppen  ohne  weitere 
Unterteilung  schlieisen  sich  daran  an  III.  Kirchenwesen  (Fach  705  bis 
726).  IV.  Schulangelegenheiten  (Fach  727  —  768).  V.  Gerichts- 
wesen (Fach  769 — 784).  VI.  Polizeiwesen  (Fach  785 — 912).  VII.  Ge- 
werbe, Handel,  Verkehr  (Fach  913 — 955).  VIII.  Korporationen, 
einzelne  Personen,  besondere  Vorfälle  (Fach  956 — 961). 

Eine  eingehendere  Charakteristik  des  Archivinhalts  mufs  an  dieser 
Stelle  füglich  unterbleiben.  Wie  in  den  meisten  kleineren  Städten  werden 
auch  hier  die  Bestände  erst  mit  dem  XVI.  Jahrhundert  reichhaltiger,  imd  vor 
allem  bieten  die  seit  1505,  anfierngs  allerdings  mit  Lücken,  später  meist  in 
mehreren  Exemplaren  vorliegenden  Stadtrechnungen  eine  reiche  Fund- 
grube. Wichtig  und  reichhaltig  sind  aber  auch  die  Akten  über  die  Brau- 
gerechtsame der  Stadt  und  ihr  Privilegium  des  Bierschanks  sowie  über  die 
Rechte  auf  den  Handel  mit  Flofsholz.  Für  die  Reformationsgeschichte  fällt 
auch  manches  ab,  aber  die  Hauptmasse  der  Akten,  wenn  wir  auch  von 
denen  des  XIX.  Jahrhunderts  absehen  wollten,  harrt  trotz  Lorenz'  fleifsiger 
Arbeit  noch  des  künftigen  Ausbeuters.  Immerhin  ist  es  ein  bedeutender 
Fortschritt,  dafs  dieses  schöne  sächsische  Stadtarchiv  jetzt  der  Benutztmg 
zugänglich  gemacht  worden  ist.  Zur  Orientierung  dient  die  Systematische 
Übersicht  über  den  Inhalt  des  Fatsarchivs  xu  Grimma,  die  dem  geschicht- 
lichen Forscher  bei  dem  relativ  geringen  Umfange  der  letzten  Unterabteilungen 
genügen  wird,  aber  daneben  ist  für  den  praktischen  Gebrauch  namentlich 
der  jüngeren  Bestände  auch  noch  einAktenrepertorium  angelegt  worden. 

Eingegangene  Bficher. 

Eid,   Ludwig:   Die  städtischen   Sammlungen     Rosenheim   im   Jahre    1902. 

14  S.  und  6  Tafehi  8". 
Gm  elin :  Hall  in  der  zweiten  Hälfte  des  16.  Jahrhunderts  [=  Württembergisch 

Franken,  Neue  Folge  VIII  (1903),  S.   141 — 201]. 

Herausgeber  Dr.  Annin  Tille  in  Leipsig . 
Dnick  und  Verlag  von  Friedrich  Andreas  Perthes,  Akdengesellschaft,  Godia. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


nur 


Förderung  der  landesgescbichtlichen  Forscbung 

V.  Band  Juni  1904  9.  Heft 


Wet^disGh^  Bevölkerungsreste  im  mrest^ 

liehen  Mecklenburg ') 

Von 
Hans  Witte  (Schwerin) 

Die  Frage,  wie  die  einst  unser  ganzes  Land  erfüllenden  Wenden 
so  vollständig,  fast  spurlos  und  plötzlich,  wie  es  auf  den  ersten  Blick 
scheint,  aus  Mecklenburg  verschwinden  konnten,  hat  schon  häufig  die 
Gedanken  nicht  nur  forschender  Gelehrter,  sondern  auch  so  manches 
für  unsere  geschichtliche  Vergangenheit  interessierten  Laien  auf  sich 
gezogen. 

In  der  kurzen  Spanne  Zeit  von  1160  an,  wo  Heinrichs  des  Löwen 
Macht  die  Wenden  überwunden  und  deren  Fürst  Niklot,  aus  seiner 
Burg  Werle  bei  Schwaan  ausfallend,  den  Tod  gefunden  hatte,  bis  etwa 
zur  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts,  also  im  Laufe  von  kaum  mehr 
als  hundert  Jahren,  ist  aus  einem  slawischen  Lande  ein  deutsches  ge- 
worden, in  dem  anscheinend  nur  noch  ganz  unbedeutende  Reste  des 
altansässigen  Wendenvolkes  inmitten  einer  erdrückenden  Überzahl  ein- 
gewanderter Deutscher  übrig  geblieben  waren. 

Ein  so  schneller  und  gründlicher  Wandel  der  Bevölkerung  imd 
Sprache,  wie  er  durch  diese  enge  Zeitbegrenzung  nicht  nur  für  Mecklen- 
burg, sondern  in  ähnlicher  Weise  auch  für  die  weiten  Gebiete  des 
ganzen  aus  slawischer  Hand  zurückgewonnenen  deutschen  Nordostens 
«rsichtlich  ist,  forderte  eine  Erklärung.  Und  sie  ist  ihm  auch  in  der 
verschiedensten  Art  geworden. 

Der  Breslauer  Professor  C.  F.  Fabricius  ^)  konnte  sich  in  seiner 
1841  erschienenen  Studie  über  das  frühere  Slawentum  der  zu  Deutsch- 


i)  Vortrag,  gehalten  za  Schwerin  am  26.  April  1904  aaf  der  69.  GeneralTersamm« 
long  des  Vereins  fUr  mecklenburgische  Geschichte  and  Altertamskande  —  Es  sind  in 
Terkttrzter  Fassung  die  beiden  einleitenden  Kapitel  einer  in  Vorbereitung  befindlichen 
^öfseren  Arbeit  über  die  Wendenreste  Mecklenburgs. 

2)  Die  Literatur  ist  zusammengestellt  bei  Bachmann,  Die  landeskundliche  Literatur 

16 


—     220     — 

land  gehörigen  Ostseeländer  diesen  Umschwung  nur  erklären,  indem 
er  annahm,  die  Slawen  Ostelbiens  hätten  nur  als  herrschende  Rasse 
über  einem  „deutsch  bleibenden  Hauptstamm  der  Bevölkerung  gesessen, 
dessen  Volkstum  die  slawischen  Herren  allmählich  gegen* ihr  eigenes 
eintauschten",  ähnlich  wie  es  die  Franken,  Goten  und  Langobarden 
in  Gallien  und  Italien  den  eingesessenen  Romanen  gegenüber  taten. 
So  wurde  an  Stelle  des  offensichtlichen  Wechsels  der  Bevölkerung  ein 
seit  der  vorgeschichtlichen  Zeit  unuifterbrochener  Bestand  einer  germa- 
nischen Bevölkerungsmasse  gesetzt,  die  als  niedere,  bäuerliche  Schicht 
auch  noch  unter  den  bis  an  die  Kieler  Föhrde  und  über  die  Elbe 
hinaus  vordringenden  Slawen  fortbestanden  haben  sollte.  Sobald  die 
nur  dünne  slawische  Herrenschicht  vernichtet  war,  mufete  also  das  Land 
mit  einem  Schlage  seinen  ursprünglichen,  im  Grunde  niemals  ge- 
wandelten, sondern  nur  durch  Überlagerung  dieser  fremden  Schicht 
vorübergehend  niedergehaltenen  deutschen  Charakter  wiedererlangen.  — 
Das  ist  keine  Erklärung,  sondern  eine  Ableugnung  des  Bevölkerungs- 
wechsels ! 

Diese  sogenannte   Urgermanentheorie    ist   längst  widerlegt; 
ein  näheres  Eingehen  auf  sie  ist  daher  überflüssig. 

Im  schärfsten  Gegensatz  zu  ihr  steht  die  Meinung  derer,  die  nicht 
nur  eine  rein  slawische  Bevölkerung  bis  auf  Heinrichs  des  Löwen 
Zeiten  annehmen,  sondern  sie  auch  noch  diese  Zeit  der  Kämpfe  über- 
dauern lassen  und  in  den  heutigen  Bewohnern  Mecklenburgs  imd  Ost- 
elbiens nichts  anderes  als  Slawen  mit  deutscher  Sprache  sehen  wollen. 
In  voller  Krafeheit  wird  diese  Ansicht,  die  ich  kurz  die  Germani- 
sationstheorie  nennen  möchte,  heute  wohl  nur  von  Laien  geteilt, 
vor  allem  in  Süddeutschland,  wo  man  gern  den  vermeintlich  lediglich 
germanisierten  Ostelbiern  gegenüber  ein  angeblich  reineres  Deutsch- 
tum herauskehrt.  Wer  sich  mit  der  Frage  quellenmäCsig  oder  auch 
nur  durch  Studium  der  einschlägigen  Literatur  beschäftigt,  dem  kann 
der  starke  deutsche  Einwandererstrom  ja  unmöglich  entgehen,  der  sich 
seit  der  zweiten  Hälfte  des  XII.  Jahrhunderts  in  diese  Lande  ergossen 
hat;  ebensowenig  wie  ihm  die  furchtbare  Schwächung  des  einheimischen 
Wendentums  in  dem  voraufgegangenen,  von  unversöhnlichstem  National- 
hafe  geschürten  Vernichtungskampfe  verborgen  bleiben  kann. 

Aber    wer    alles    dies    erwägt,    kann    immer    noch    im    Zweifel 
bleiben,    welches    Volkstum    zu    der    in    Mecklenburg    hiemach    er- 


üher  die  Oroßherxogiümer  Mecklenburg,  (Güstrow  1889),  S.  159  ff.,  worauf  ich  im 
aUgemeinen  verweise.  Der  Aofsatz  von  Fabricios  ist  abgedruckt  in  den  Jahrbüchern  de& 
Vereins  für  Meckl.  Gesch.  (Jb.)  VL  (1841),  1—50. 


—     221     — 

wachsenen  deutschen  Bevölkerung  das  überwiegende  Material  bei- 
gesteuert hat.  Und  hierin  haben  noch  vor  kurzem  weitgehende 
Meinungsverschiedenheiten  bestanden.  Ein  so  vorzüglicher  Kenner 
unserer  gesamten  urkundlichen  und  archivalischen  Überlieferung,  wie 
G.  C.  F.  Lisch  es  war,  hat  z.  B.  der  Germanisation  einen  breiten 
Raum  beim  Erwachsen  unserer  Landesbevölkerung  zugewiesen.  In 
seinen  Familiengeschichten  hat  er  bei  jeder  Gelegenheit  scharf  betont, 
dais,  wie  bekanntlich  unser  Fürstenhaus  wendischen  Ursprungs  ist,  so 
auch  „die  eigentlichen  alten  Adelsgeschlechter  Mecklenburgs  ...  aus 
alten  wendischen  edlen  oder  Dynastcngeschlechtern**  herzuleiten  seien  *). 
Und  die  Erhaltimg  eines  so  zahlreichen  slawischen  Adels  würde  wohl 
kaum  zu  denken  sein  ohne  die  Erhaltung  einer  entsprechenden  slawi- 
schen Bevölkerungsmasse.  Nach  Lisch  hat  noch  der  Landsyndikus 
Ahlers  in  seinem  Aufsatz  über  das  bäuerliche  Hufenwesen  in  Mecklen- 
burg die  Meinung  vertreten,  dais  bei  der  Kolonisation  „eine  starke, 
in  einzelnen  Gegenden  (aufserhalb  der  Grafischaft  Schwerin)  wohl  über- 
wiegende wendische  Bevölkerung  auf  dem  platten  Lande  zurückblieb  *)**, 
die  dann  sehr  bald  mit  der  deutschen  verschmolz,  nachdem  sie  durch 
Ansetzung  zu  deutschem  Recht  zehnt-  und  zinspflichtig  gemacht 
worden  war. 

In  der  jüngstverflossenen  Zeit  ist  dagegen  in  der  Literatur  eine 
weiter  gehende  Richtung  fast  allein  zu  Wort  gekommen,  die  dem 
Wendentum  überhaupt  keinen  nennenswerten  Anteil  am  Aufbau  der 
mecklenburgischen  Bevölkerung  zuerkennen  will.  Nach  Heinrich 
Ernst')  wurde  auch  nach  der  vollendeten  Beugung  der  Slawen  unter 
die  deutschen  Waffen  ein  wahrer  Vemichtungskampf  gegen  sie  fort- 
geführt: in  Massen  wurden  sie  von  ihrem  angestammten  Grund  und 
Boden  vertrieben,  den  man  danach  Deutschen  zur  Besiedelung  über- 
wies. Ihnen  wurde  „das  deutsche  Recht  tmd  damit  die  Germani- 
sierung versagt"  (II,  ii).  Wo  immer  deutschrechtliche  Formen  in 
Erscheinung  treten,  ist  daher  für  Ernst  das  Vorhandensein  einer  deut- 
schen Bevöikerungsmasse  eine  ausgemachte  Sache ;  wo  z.  B.  Urkunden 
von  der  TeUung  des  Zehnten  eines  ganzen  Landes  handeln,  steht  ihm 

i)  So  in  der  öeschiehte  und  Urkunden  des  Geschlechts  Rahn^  (1844),  L  Band  S.  19 
nnd  in  der  Urkundltehen  Geschichte  des  Geschlechts  v.  Oertxeny  (1847),  ^-  '^^^  S*  23. 

2)  Jb.  51  (1886)  S.  67. 

3)  Heinrich  Ernst,  Die  Kolonisation  Mecklenburgs  im  XU,  und  Xlll,  Jahr- 
hundert  (Schimnachcrs  Beiträge  ü,  S.  1—130,  Rostock  1875).  I.  —  Derselbe,  Die 
Kolonisation  von  Ostdeutschland,  Übersicht  und  Literatur.  Erste  Hälfte  (Progr.  d.  Real- 
gymnasiums zu  Langenberg  1888).  II.  —  Derselbe,  Mecklenburg  im  XlII.  Jahrhundert 
(Progr.  des  Realg3rmnasinms  £u  Langenberg  1894).  HI. 

16* 


—     222     — 

die  gänzliche  Vertreibung'  der  Slawen  aus  demselben  (I,  28)  fest  Elr 
hält  jeden  Ort,  der  in  Hufen  liegt  und  Zehnten  entrichtet,  für  voa 
Deutschen  besiedelt  (I,  55).  Slawische  Bevölkerungsreste  zu  vermuten, 
scheint  ihm  nicht  zulässig,  wo  solche  „nicht  ausdrücklich  ge- 
nannt sind"  [!],  und  „diese  Fälle  sind  sehr  gering  an  2^hl"  fährt  er 
fort.  „In  Mecklenburg  sind  es  das  Land  Jabel,  ein  oder  mehrere 
Slawen  im  deutschen  Dorfe  Jassewitz  bei  Grewismühlen ,  die  Wenden 
in  Wismar,  Rostock  und  Wendisch -Wiek  bei  Rostock,  die  ...  13 15 
in  Hohenfelde  und  Stülow  und  die  bei  der  Gründung  von  Friedland 
genannten ;  wahrscheinlich  auch  einige  Dörfer  in  den  Ämtern  Wreden- 
hagen  und  Lübz,  wo  sich  die  Namen  der  slawischen  Ritter  am  längsten 
hielten,  und  Kohlhasen -Vilen  bei  Broda"  (I,  57).  Angesichts  so  gering- 
fügiger Slawenreste,  wie  sie  nach  Emsts  Meinung  allein  der  „systema- 
tischen Verdrängung"  entgangen  sind,  meint  er  denn  auch,  dafs 
„der  Ausdruck  , Germanisierung'  für  diese  Länder  nicht  mehr  gebraucht 
werden"  (II,  6)  sollte. 

Wer  hat  nun  recht?  Die  Germanisations-  oder  die  Ausrottungs- 
theorie, wie  ich  die  zuletzt  skizzierte  zurzeit  herrschende  Meinung 
nennen  möchte? 

Schon  oben  hat  sich  gezeigt,  da(s  der  in  ihnen  zum  Ausdruck 
kommende  Gegensatz  kein  diametraler  ist.  Bei  Licht  besehen  schrumpft 
er  dahin  zusammen,  daCs  die  Germanisationstheorie  die  Erhaltung  be- 
trächtlicherer, ja  die  deutsche  Einwanderung  wenigstens  in  bestimmten 
Gegenden  überwiegender,  die  Ausrottungstheorie  dagegen  nur  ganz  ver- 
schwindender slawischer  Bevölkerungsreste  annimmt.  Diese  Kluft  ist  nicht 
so  weit,  das  sie  die  Möglichkeit  der  Überbrückung  von  vornherein  aus- 
schlösse, zumal  da  die  Wahrheit  erfahrungsgemäfs  ein  gewisses  Streben 
nach  der  Mitte  hat.  Von  vornherein  einer  der  beiden  Meinungen  den 
Vorzug  zu  geben,  dafür  liegt  keinerlei  Veranlassung  vor,  da,  soweit 
ich  sehe,  bisher  ein  Beweis  von  keiner  Seite  erbracht  worden  ist. 

Wie  soll  nun  aber  entschieden  werden,  welche  von  beiden  Mei- 
nungen richtig  ist,  oder  auf  welcher  mittleren  Linie  ungefähr  der  tat- 
sächliche Zustand  sich  mit  einiger  Sicherheit  erkennen  läfst?  —  Dazu 
kann  kein  anderes  Mittel  führen,  als  das  von  Heinrich  Ernst  kühl  ab- 
gelehnte Forschen  nach  dem  Vorhandensein  slawischer  Bevölkerungs- 
reste aufser  den  wenigen,  die  in  unserer  lückenhaften  urkundlichen 
Überlieferung  mit  dürren  Worten  als  solche  gekennzeichnet  sind.  Ohne 
mich  hier  auf  eine  Erörterung  der  Methode  einzulassen,  wUl  ich  dies 
im  folgenden  an  einem  konkreten  Falle  zeigen,  wobei  die  gestellte 
Frage  zwar  noch  nicht  in   ihrem  vollen  Umfange   beantwortet  wird, 


j 


—     223     — 

wohl  aber  bestimmte  Richtung-slinien  für  eine  neue  Beurteilung  dieser 
Dinge  gewonnen  werden. 

* 

Am  Schlüsse  seiner  berühmten  Slawenchronik  berichtet  uns  Hel- 
mold  zum  Jahre  1171,  dafs  nach  den  furchtbaren  Verwüstungen, 
durch  die  in  den  Vemichtungskämpfen  der  sechziger  Jahre  unsere 
Slawenlande  „gänzlich  zu  einer  Einöde"  geworden  waren,  und  nach  der 
darauf  erfolgten  deutschen  Masseneinwanderung  das  ganze  Slawenland 
von  der  Eider  an,  zwischen  dem  baltischen  Meer  und  der  Elbe,  bis 
nach  Schwerin  gleichsam  in  eine  einzige  Sachsenkolonie  verwandelt 
worden  sei :  omnis  enim  Slavorum  regio  indpiens  ab  Egdora  ,  .  ,  ,  et 
extendüur  inier  mare  BaUhicum  et  Albiam  per  longissimos  tradus  nsque 
Zverin  ....  tota  redada  est  veluti  in  unam  Saxonum  coloniam  ^). 

Diese  Stelle  ist  je  nach  dem  Standpunkt  der  Forscher  verschieden 
behandelt  worden.  Ernst  setzt  in  sie  volles  Vertrauen;  mit  ausdrück- 
licher Berufung  auf  sie  schreibt  er:  „ii/i  war  das  Land  westlich 
vom  [Schweriner]  See  ganz  deutsch  *)."  Der  pommersche  Forscher 
W.  von  Sommerfeld  dagegen  findet  Helmolds  Angabe  „nicht  ganz 
ohne  Übertreibung**  *).  Dafs  dieser  Satz  wenigstens  in  einzelnen 
Punkten  einer  Berichtigung  bedarf,  konnte  übrigens  auch  Ernst  nicht 
verborgen  sein,  da  er  ja  das  Ratzeburger  Zehntenregister  von  1230*) 
kannte.  Dieses  Zehntenregister  umfafst  den  von  der  Ostseeküste  des 
westlichen  Mecklenburg  bis  zur  Elbe  sich  erstreckenden  Sprengel 
des  Bistums  Ratzeburg,  also  ungefähr  gerade  den  westlich  des  Schweriner 
Sees  gelegenen  Teil  Mecklenburgs,  der  nach  Helmold  schon  im  Jahre 
1171  eine  einzige  Sachsenkolonie  darstellte,  nebst  einigen  benachbarten 
lauenburgischen  Gebietsteilen  (den  Ländern  Ratzeburg  und  Sadelband). 
Es  zählt  die  einzelnen  Ortschaften  dieses  Gebietes  auf  und  erwähnt 
dabei,  wieviel  vom  Zehnten  der  Bischof  als  Lehen  ausgetan  und  wieviel 
er  für  sich  behalten  hatte.  Der  Zehnte  trat  in  diesen  Gebieten  als 
christlich-deutsche  Abgabe  auf;  die  Slawen  zahlten  anstatt  seiner  eine 
besondere  auf  den  Haken  liegende  Abgabe,  die  sogenannte  Biscopnitza. 
So  kommt  es  denn,  dafe  in  einigen  Orten  von  keinem  Zehnten  die 
Rede  ist.    Und  dafs  in  diesen  in  der  Tat  noch  Slawen  gewohnt  haben. 


i)  Mon.  Germ.  Script.  XXI,  S.  99. 

2)  A.  a.  O.  II,  S    12. 

3)  W.  von  Sommerfeld,  Geschichte  der  Oermanisierung  des  Herxogtums 
Pommern  oder  Slavien  bis  xum  Ablauf  des  XJH.  Jahrhunderts.  (Leipzig,  Duncker 
nnd  Humblot,  1896),  S.  136. 

4)  M.  ü.  B.  I,  Nr.  375. 


—     224     — 

wird  durch  den  im  Zehntenregister  regelmäisig  boig-efügten  Zusatz 
Sclavi  sunt,  nuUum  beneficium  est  (oder  ähnlich)  über  jeden  Zweifel 
erhoben. 

Es  leuchtet  auf  den  ersten  Blick  ein,  welche  aufserordentliche  Be- 
deutung dieser  leider  einzigartigen  Urkunde  für  die  Geschichte  der 
Germanisation  unseres  Landes  und  besonders  auch  für  die  Auffindung- 
der  bei  ims  verbliebenen  slawischen  Bevölkerungsrückstände  innewohnt. 
Durch  sie  scheint  die  Mitteilung  Helmolds  von  der  Sachsenkolonie  mit 
einem  Schlage  richtig  gestellt  oder  doch  beträchtlich  eingeschränkt 
werden  zu  können. 

Kein  Wunder,  dafe  eine  solche  Urkunde  schon  frühzeitig  die  Auf- 
merksamkeit auf  sich  gezogen  hat.  Der  Revisor  beim  Engeren  Aus- 
schufs,  Joachim  Heinrich  Neuendorf f,  hat  sie  1832  seiner  Schrift 
über  Die  Stiftsländer  des  ehemaligen  Bisthums  Bateehurg  mit  zu- 
grunde gelegt  und  durch  eine  beigegebene,  von  Hofmarschall  D.  L 
von  Oertzen  entworfene  Karte  zu  anschaulicher  Darstellung  gebracht. 
Später  (1848)  hatBolP)  sie  noch  eingehend  verwertet.  Hinsichtlich 
des  in  der  Urkunde  selber  hervortretenden  Tatbestandes  kann  ich 
nuch  auch  heute  noch  vollständig  an  diesen  bewährten  Forscher  an- 
lehnen, der  wohl  als  erster  die  historische  Nationalitätsfrage  unseres 
Landes  mit  eindringendem  Verständnis  behandelt  und  so  brauchbare 
Ergebnisse  gewonnen  hat,  wie  sie  sich  bei  dem  damals  erst  in  so  un- 
zureichendem Mafse  zugänglichen  Quellenmaterial  überhaupt  gewinnen 
liefsen.  Im  wesentlichen  weiche  ich  nur  durch  genauere  Ortsangaben 
von  Bolls  Darstellung  des  Tatbestandes  dieser  Urkunde  ab. 

So  völlig  leer  von  Slawen,  wie  es  nach  Helmolds  Darstellung 
schon  um  das  Jahr  1171  gewesen  sein  müfste,  war  das  Land  westlich 
vom  Schweriner  See  auch  im  Jahre  1230  noch  nicht.  Im  Norden  lassen 
sich  zwar  nur  noch  versprengte  Reste  dieses  Volkes  aus  dem 
Zehntenregister  herausschälen:  im  Lande  Ratzeburg  werden  unter 
125  Ortschaften  nur  4  als  von  Slawen  bewohnt  angeführt;  es  sind 
Villa  Elisabet  im  Kirchspiel  Schlagstorf,  vielleicht  das  heutige 
Neuhof  am  Ostufer  des  Ratzeburger  Sees  auf  Strelitzer  Gebiet,  sowie 
Schiphorst  (jScipÄors^)  westl.  Ratzeburg,  Klein-Berkentin  (Scfown- 
cum  ParJcetin)  nordwestl.  Ratzeburg  und  Wendisch-Pogeez  (Sclavi^ 
cum  Pogatse)  nördl.  Ratzeburg,  dem  eben  erwähnten  Neuhof  gegen- 
über; die  letzten  drei  liegen  auf  Lauenburger  und  Lübecker  Gebiet. 

Im  Lande  Wittenburg  bezeichnet  das  Zehntenregister  unter 
93  Ortschaften  ebenfalls  nur  4  als  von  Slawen  bewohnt:  nämlich  Viez 

I)  Jb.  Xm  (1848),  S.  57  flf.;  hier  kommt  besonders  S.  68  f.  in  Betracht. 


—     226     — 

(Vis)  nordöstl.  Hagenow  im  späteren  Amte  Bakendorf,  Gör  slow 
(Qoreelawe)  südwestl.  Hagenow,  S etzin  (Getsin)  etwas  weiter  nördlich 
gelegen  und  ein  jetzt  nicht  mehr  vorhandenes  Scarbenowe^  das 
gleich  den  beiden  vorgenannten  Orten  zum  Kirchspiel  Pritzier  ge- 
hörte. 

Das  Land  Gadebusch  wie  auch  der  zum  Ratzeburger  Sprengel 
gehörige  nordwestliche  Teil  des  Landes  Schwerin  (8  Orte)  weisen 
keine  einzige  von  Slawen  bewohnte  Ortschaft  mehr  auf,  das  Land 
Dassow  (Darisawe)  dagegen  unter  29  Ortschaften  3  mit  slawischen 
Bewohnern:  Pötenitz  (Wotenie)  am  Dassower  Binnensee  östlich  vom 
Priwall,  femer  das  nicht  mehr  vorhandene  unmittelbar  benachbarte 
Wendisch  -  Harkensee  (Erkense  Sdavicum),  aus  dem  vielleicht 
Rosenhagen  oder  Barendorf  hervorgegangen  ist  ^) ,  endlich  einen  im 
Kirchspiel  Mummendorf  im  Anschlufs  an  Roggenstorf  (viUa  Beintoardi) 
ohne  Namenangabe  genannten  Ort:  in  eisdem  agris  est  sdavica  viUa; 
ntdlum  heneficium  est. 

Etwas  dichter  erscheint  die  slawische  Bevölkerung  noch  im  Lande 
Bresen,  das  sich  etwa  von  Grevesmühlen  bis  nach  Wismar  er- 
streckte. Unter  74  genannten  Ortschaften  sind  dort  12  von  Slawen 
bewohnt,  nämlich  im  Kirchspiel  Hohenkirchen  ein  nicht  mehr  genauer 
festzustellender  Ort  Marmotse,  im  Kirchspiel  Proseken  Wolters- 
dorf (ViUa  WaÜeri)  an  das  sich  Barnekow  (Bamekowe)  und  Klein- 
Krankow  (Sclavicum  Crankowe)  vom  Kirchspiel  Gresse,  femer  viHa 
Mauricii,  vielleicht  das  heutige  Schulenbrook ,  Klüssendorf  (viUa 
CUtseJj  Schar fstorf  (viÜa  Zscarhue)  und  Harmshagen  (viUa 
Hermanni)  anschliefsen,  zwei  in  sich  ziemlich  zusammenhängende  sla- 
wische Grappen  bildend,  deren  gröfeere  sich  an  den  Burgwall  Mecklen- 
burg anlehnt.  Dazu  kommen  im  Kirchspiel  Grevesmühlen  noch  die 
Slawenorte  Gostorf  (villa  Gozwini),  Warnow  (LuUehen  Wamawe), 
sowie  zwei  jetzt  nicht  mehr  genau  festzustellende  Orte ,  Villa  (7on- 
radi  und   Vulniistorp. 

Das  benachbarte  Land  Klütz  erscheint  dann  wieder  völlig  frei 
von  Ortschaften  der  Slawen,  die  sich  dagegen  im  Südwesten  unseres 
Landes,  dort,  wo  die  Grafschaft  Dannenberg  mit  den  Landschaften  Dar- 
zing,  Jabel  und  Weningen  über  die  Elbe  hinübergriff,  noch  in  einer 
dichten  zusammenhängenden  Masse  erhalten  haben.  Schon  im 
ausgehenden  XII.  Jahrhundert*)  hatte  Bischof  Isfried  von  Ratzeburg 
mit  dem  Grafen  Heinrich  von  Dannenberg  einen  Zehntenvertrag  über 

i)  M.  U.  B.  rv,  Ortsregister  S.  22  unter  Erkense  Sclavicum 
2)  [1190^1195]  M.  U.  B.  I,  Nr.  150. 


—     226     — 

die  Lande  Jabel  (inter  Zudam  ei  Waierotve)  undWeningen  (inier 
WcUerawe  d  AHnam  et  Eldenam)  geschlossen  in  der  Art,  dafe,  solang-e 
Weningen  von  Slawen  bewohnt  bleiben  würde  (quamdiu  Sclavi  illatn 
terram  incolerent),  der  Bischof  dort  die  Biscopnitm  haben  sollte 
(super  omnes  Sclavos  suo  sdavico  iure  gauderet);  wenn  aber  dort 
deutsche  Bauern  angesiedelt  sein  und  Zehnten  leisten  würden,  so  sollte 
der  Graf  den  Zehnten  erhalten.  Der  Graf  verpflichtete  sich  femer,  das 
Land  Jabel  binnen  zehn  Jahren  zehntpflichtig  zu  machen,  worauf  der 
Zehnte  zu  gleichen  Teilen  unter  beide  Vertragschliefeende  geteilt 
werden  sollte.  Es  war  wohl  vor  allem  die  Dürftigkeit  dieses  unfrucht- 
baren Landstriches,  die  der  Heranziehung  deutscher  Bauern  und  damit 
der  Erfüllung  des  letzten  Teiles  dieses  Vertrages  ein  unüberwindliches 
Hindernis  entgegenstellte.  Im  Jahre  1230  wenigstens  war  die  beschlossene 
Besiedelung  des  Landes  Jabel  mit  deutschen  Bauern  noch  nicht  einmal 
begonnen ;  das  Ratzeburger  Zehntenregister  läfet  den  vorerwähnten  Ver- 
trag noch  deutlich  als  unerfüllt  erscheinen  und  zeigt  uns  dies  Land 
noch  eingenommen  von  einer  slawischen  Bewohnerschaft  (medio  vero 
tempore  Sclavis  ibidem  existentibus). 

Vom  Lande  Weningen  heifst  es  im  Zehntenregister  nur,  dafe 
die  Grafen  den  Zehnten,  abgesehen  von  wenigen  bischöflichen  Gütern, 
haben  sollen  (häbdmnt).  Die  Stelle  ist  verschieden  erklärt  worden: 
Neuendorff  ist  der  Ansicht,  dafs  wie  Jabel  so  auch  Weningen  im 
Jahre  1230  „noch  fast  ganz  von  Wenden  bewohnt**  wurde  (S.  66). 
Ernst*)  dagegen  hält  das  Land  Weningen  schon  für  vollständig- 
kolonisiert,  d.  h.  unter  Vertreibung  der  Wenden  mit  Deutschen  be- 
siedelt. Der  Text  des  Zehntenregisters,  das  im  ganzen  Lande  Weningen 
erst  ein  einziges  zehntpflichtiges  Dorf  Malus  ( Villa  Mdzog)  und  einige 
wenige  bischöfliche  Besitzungen  (Maik,  eine  Mühle  und  Bresegard)  er- 
wähnt, scheint  mir  erst  recht  bescheidene  Anfänge  einer  deutschen 
Kolonisationstätigkeit  erkennen  zu  lassen.  Die  Entscheidung  *)  dieser 
Frage  dürfen  wir  von  den  später  heranzuziehenden  Materialien  er- 
warten. 

Vom  Lande  Darzing,  dem  späteren  hannoverschen  Amte  Neu- 
haus, sagt  das  Zehntenregister  wieder  ausdrücklich,  da(s  dort  noch 
Slawen  wohnten ;  nur  zwei  Grundbesitzer  tragen  deutsche  Namen,  Rabodo 
und  Gerung.  So  gewannen  die  Slawen  des  Landes  Jabel  durch  das 
Mittelglied  des  Landes  Darzing  einen  unmittelbaren  Zusammenhang  mit 

i)  Ernst  a.  a.  O.  I,  S.  27  f. 

2)  Sie  wird  in  meiner  zu  erwartenden  gröfseren  Arbeit  erfolgen  und  zwar,  wie  ich 
schon  jetzt  sagen  kann,  zugunsten  der  Nenendorfiischen  Auffassung. 


j 


—     227     — 

der  kompakten  Slawenmasse  des  hannoverschen  Wendlandes,  mit  der 
zusammen  sie  demnach  eine  einheitliche,  ziemlich  ausgedehnte  Sprach- 
insel darstellten.  Neben  der  Dürftigkeit  der  Jabeler  Heide  ist  es  wohl 
hauptsächlich  dem  durch  diese  Zugehörigkeit  zu  einer  noch  ununter- 
brochenen gröiseren  Slawenmasse  erlangten  Rückhalt  zuzuschreiben, 
dais  die  Slawen  des  Landes  Jabel  sich  noch  Jahrhunderte  über  die 
2^it  des  Ratzeburger  Zehntenregisters  hinaus  erhalten  konnten. 

Was  dies  Register  über  das  nach  Westen  zu  angrenzende  Land 
Boizenburg  mitteilt,  ist  leider  sehr  verstümmelt.  Angaben  über 
dort  etwa  noch  vorhandene  Slawendörfer  finden  sich  nicht.  Ernst  be- 
trachtet dies  Land  „als  schon  zu  Ende  des  XII.  Jahrhunderts  völlig 
kolonisiert'*  ^).  In  dem  noch  weiter  westlich  in  Lauenburg  gelegenen 
Lande  Sadelband  dagegen  werden  noch  slawische  Reste  erwähnt, 
und  zwar  ausschlie&lich  im  Kirchspiel  Siebeneichen.  Dort  erscheinen 
die  sclavice  viUe:  Lelecawe,  Wankelowe,  EUnhorst,  Cemerstorp,  Qra- 
howe,  Chrave,  SdavioAm  Pampowe. 

So   lä&t  |das  Ratzeburger  Zehntenregister  immerhin  manche  von 

Slawen  bewohnte  Ortschaften  erkennen,   die,   meist  zerstreut  oder  in 

lockeren   Gruppen  gelagert,    sich  nur  im  südwestlichen  Winkel  un- 

•  seres  Landes  zu    einer   zusammenhängenden,    noch    ziemlich    unver- 

mischten  Masse  zusammenballen. 

Diesen  Orten,  die  ausdrücklich  als  slawisch  bezeichnet  sind,  steht 
eine  erdrückende  Überzahl  solcher  gegenüber,  bei  denen  ein  Zusatz 
über  slawische  Bewohnerschaft  fehlt.  Aus  diesem  Tatbestande  haben 
schon  Neuendorff  und  Boll  den  Schlufs  gezogen,  dafe  diese 
überwiegende  Masse  von  Orten,  die  sich  aufserdem  noch  durch  die 
Hufeneinteilung  und  Zehntpflicht  von  der  Minderheit  abheben, 
damals  schon  von  einer  deutschen  Bevölkerung  eingenommen  war. 
Auch  die  Dörfer  der  Mehrheit,  die  durch  ein  vorgesetztes  Slavicum 
von  gleichnamigen  Orten  unterschieden  waren,  z.  B.  Sdavicum  Karlowe, 
Sei  Turowe,  Sd.  Tsachere,  Sei  Sähorp,  Sei  Sakkeran,  Sd.  Sirikes- 
velde,  Sd.  Sarawe,  Sei  NicfUharp,  Sei  Nesowe,  Sei  BrtUsekowe  und 
manche  andere  im  Zehntenregister  genannte,  wurden  ausdrücklich  in 
diesen  Schlufe  einbezogen;  da  sie  „als  zehntpflichtig  aufjgeführt  werden, 
so  müssen  auch  sie  bereits  in  den  Besitz  der  deutschen  Anbauer  über- 
gegangen sein.  Den  Beinamen  „slawisch"  hatten  diese  Dorfschaften 
behalten,  weil  sich  beim  Beginn  der  deutschen  Einwanderung  die  Slawen, 
ehe  sie  gänzlich  den  Deutschen  weichen  mufsten,  in  diese  Ortschaften 


I)  A.  a.  O.  I,  S.  65. 


—     228     — 

zurückgezogen  hatten,  die  zur  Unterscheidung  von  dem  g-leich- 
namigen  deutschen  Dorfe  diesen  Beinamen  auch  noch  behielten,  nach- 
dem sie  längst  von  den  Slawen  gänzlich  geräumt  waren**  *).  Dieser 
Auffassung  Bolls  hat  sich  Ernst  vollinhaltlich  angeschlossen  *) ,  und 
gewifs  ist  der  letzte  Satz  in  seiner  allgemeinen  Fassung  auch  richtig. 
Ob  er  aber  schon  für  das  Jahr  1230  mit  zwingender  Notwendigkeit 
erschlossen  werden  mufe,  darüber  wird  sich  im  weiteren  Fortgang  dieser 
Untersuchung  ein  Urteil  finden  lassen.  Jedenfalls  springt  in  die 
Augen,  dafs  schon  zur  Zeit  des  Zehntenregisters  die  Ortsnamen  für 
die  Bestimmung  der  damaligen  Nationalität  der  Ortsbevölkerung 
völlig  versagen :  sicher  war  damals  wenigstens  im  westlichen  Mecklen- 
burg wohl  schon  die  grofse  Mehrzahl  der  Orte  mit  slawischen  Namen 
von  Deutschen  bewohnt,  und  unter  den  als  von  Slawen  bewohnt  be- 
zeugten Ortschaften  fuhren  manche  reindeutsche  Namen  wie  Sciphorä, 
Vulntistorp,  Elmhorst,  denen  die  latinisierten,  mit  Personennamen  und 
viUa  gebildeten  Formen  entschieden  auch  zuziu-echnen  sind. 

Bisher  ist  das  Ratzeburger  Zehntenregister  nur  aus  sich  selbst 
erklärt  worden.  Das  hatte  auch  eine  gewisse  Berechtigung,  solange 
unser  urkundliches  Material  einer  allgemeineren  Benutzung  erst  in  sehr 
unvollkommener  und  lückenhafter  Weise  zugänglich  gemacht  war.  Seit- 
dem aber  das  Mecklenburgische  Urkundenbuch  auf  mehr  als  zwanzig 
stattliche  Bände  angewachsen  ist,  läfst  sich  die  Pflicht,  für  eine  so  wich- 
tige Urkunde  nach  weiteren  beleuchtenden  Tatsachen  zu  suchen,  nicht 
länger  mehr  aufschieben.  Und  es  findet  sich  auch  mancherlei  in 
unserem  Urkundenwerk,  wodurch  das  für  sich  allein  so  klar  und  un- 
zweideutig erscheinende  Zehntenregister  in  eine  überraschende  Beleuch- 
tung gesetzt  wird. 

InGägelow  westlich  von  Wismar  wird  im  Jahre  1281  ein  Ämokhis 
Sclavus^)  genannt:  ein  Slawe  mit  Namen  Arnold*).  Ob  damals  dort 
noch  mehr  Slawen  waren,  lässt  sich  nicht  mit  Sicherheit  entscheiden, 
da  uns  nur  dieser  einzige  Personenname  überliefert  ist.  Es  liegt 
aber  durchaus  im  Bereich  der  Möglichkeit,  da  Gägelow  in  unmittel- 
barer Nähe  der  uns  aus  dem  Ratzeburger  Zehntenregister  bekannt  ge- 
wordenen Gruppe  von  Slawenorten  bei  Wismar  gelegen  ist,  wo  sich 
noch  weitere  und  deutlichere  Spuren  slawischer  Bevölkerungsreste  finden 


i)  BoU  im  Jb.  XUI,  S.  68. 

2)  A.  a.  O.  I,  S.  27. 

3)  M.  ü.  B.  m,  Nr.  1575. 

4)  Deutsche  Namen  sind  bei  Slawen  damals  keine  Seltenheit  mehr. 


—     229     — 

werden.  In  dem  nur  wenig  westlicher  gelegenen  Jassewitz  nennt 
eine  zwischen  1260  und  1272  anzusetzende  Urkunde  ^)  neben  den  Bauern 
Johannes,  Gerardus,  Rembertus  und  Wenemarus  auch  einen  Albertus 
Slavus «). 

Die  gleiche  Urkunde  erwähnt  in  Upahl  bei  Grevesraühlen  unter 
mehreren  Einwohnern  einen  Träger  des  unzweifelhaft  slawischen  Namens 
Scrahbek.  In  Weitendorf  bei  Proseken  erscheint  1452*)  unter  drei 
genannten  Einwohnern  einer  mit  dem  slawischen  Zunamen  Toysan. 
In  Rankendorf  bei  Dassow  wird  1368*)  genannt  eine  curia  .  .  .  . 
qtiatn  ccluü  Prystaf,  also  ebenfalls  der  Träger  eines  entschieden 
slawischen  Namens. 

Abgesehen  von  Upahl  und  Rankendorf  kommen  alle  diese  Orte  im 
Ratzeburger  Zehntenregister  vor;  aber  ohne  jede  Hindeutung  auf  sla- 
wische Einwohnerschaft.  Nun,  vielleicht  handelte  es  sich  in  ihnen  nur  um 
kleinere  slawische  Minderheiten,  deren  Ausfallen  einen  Zweifel  an  der 
allgemeinen  Zuverlässigkeit  des  Zehntenregisters  noch  nicht  rechtfertigen 
würde.  Aber  es  lassen  sich  noch  weitere  und  schwerer  wiegende 
Fälle  dieser  Art  nachweisen. 

Eine  Urkunde  aus  dem  Jahre  1277^)  bringt  uns  zugleich  für 
mehrere  Ortschaften  schätzbares  Material:  ein  Hince  Tessiken  filius 
aus  Käselow  (Coselowe)  südwestlich  von  Wismar  war  wegen  einer 
Ausschreitung  gefänglich  eingezogen  worden.  Bei  seiner  Entlassung 
schwuren  er  und  die  Seinen  dem  Rat  von  Wismar  Urfehde,  und  zwar 
aus  Käselow  aufser  ihm  seine  Brüder  Tessike  d  Mertin  fratreSy  femer 
Otto  patruus,  noch  ein  zweiter  Hince  Tessiken  filius,  Dargag  und 
Hince  Volseken  fiUus;  aus  Büttlingen  (BuÜingin)  südlich  von  Greves- 
mühlen :  der  Schulze  mit  Namen  Eadazce,  Hinricus  Xander  filius  und 
Ciren;  aus  Mall  entin  nordwestlich  von  Grevesmühlen  einer  mit  Namen 
Tribus;  endlich  aus  Plüschow  südöstlich  von  Grevesmühlen  ein  Ber- 
nardus  und  aus  HoÜorpe  (wohl  Holdorf  nordwestlich  von  Gadebusch) 
Oerhardus  et  Radolf.  Unter  den  Namen  aus  Käselow  fallen  die  sla- 
wischen Formen  (Tessike,  Dargaa,  vielleicht  auch  Volseke)  auf,  die 
mit    deutschen  Vornamen    (Hince,   Otto)  eigenartig    verbunden    sind. 


I)  M.  U.  B.  IV,  Nr.  2677. 

3)  übrigens  kommen  Zunamen  bei  den  in  dieser  Urkunde  genannten  vielen  Bauern 
erst  aosnabmsweise  vor.  Das  obigen  in  der  Urkunde  zerstreuten  Namen  dort  zugefügte 
de  Jaxtervix  (lauch  Jaxtervix)  ist  kein  Zuname,  sondern  zeigt  lediglich  den  Wohnort  an. 

3)  Geh.  u.  Hauptarchiv  zu  Schwerin:  Schuldverschreibungen  (Urkk.)  Fase.  6  Nr.  143. 

4)  M.  U.  B.  XVI,  Nr.  9826. 

5)  Ebendort  II,  Nr.  1425. 


—     230     — 

Das  deutet  schon  sehr  bestimmt  auf  slawische  Nationalität  der  Träg^er, 
die  aber  aufserdem  noch  ausdrücklich  dadurch  bezeugt  wird,  dafis  in 
der  gleichen  Urkunde  Benedikt  von  Bamekow  von  Hince  Tessiken 
filit4S  als  von  stu>  Slavo  spricht,  eine  Bezeichnung,  die  ja  von  selber 
auf  dessen  zumal  slawische  Namen  führende  Verwandten  mit  zu  be- 
ziehen ist.  Deutsche  Vornamen  waren,  wie  schon  die  Beispiele  aus 
Gägelow  und  Jassewitz  zeigten,  bei  wendischen  Bauern  keine  Selten- 
heit mehr;  zur  Bildung  von  Familiennamen  patronymischer  Art  zeigen 
sich  hier  erst  schwache  Ansätze.  Unter  einem  allein  mit  deutschem 
VornamenbenanntenBauern  kann  also  zujenerZeitsehr  wohl 
ein  Slawe  verborgen  sein.  Und  wenn  schon  der  Vater  eines  solchen 
einen  deutschen  Vornamen  führte,  so  konnte  der  wendische  Sohn,  zumal 
in  einer  Gegend  mit  stark  überwiegender  deutscher  Bevölkerung,  leicht 
zu  einem  deutschen  patronymischen  Familiennamen  kommen.  Die  wen- 
dischen Personennamen  zeigen  daher  nur  das  unbedingt  sichere  Mini- 
mum der  wendischen  Bevölkerung  eines  Ortes  an;  darüber  hinaus 
können  sehr  wohl  unter  den  Einwohnern  mit  deutschen  Namen  noch 
Wenden  verborgen  sein.  Darum  müssen  auch  die  vereinzelt  vor- 
kommenden slawischen  Personennamen  überall  gesammelt  werden,  weU 
sie  vielleicht  nur  der  deutlich  erkennbare  Kern  einer  in  Wirklichkeit 
am  Orte  verbreiteteren  wendischen  Bevölkerung  sind. 

Aus  diesen  Gründen  ist  es  auch  nicht  ausgeschlossen,  dafe  die 
drei  in  Plüschow  und  Holdorf  genannten  deutschnamigen  Bauern 
Wenden  waren ;  um  so  weniger,  als  auch  sie  jedenfalls  Verwandte  des 
als  Slawen  nachgewiesenen  Hince  Tessiken  waren.  Ich  will  aber  darauf 
kein  Gewicht  legen,  sondern  mich  streng  auf  wirklich  beweiskräftige 
Anzeichen  slawischer  Bevölkerung  beschränken.  Solche  liegen  au&er 
für  Käselow  noch  für  Büttlingen  wie  für  Mallentin  in  den  oben  mit- 
geteilten slawischen  Personennamen. 

Das  Ergebnis  der  Urkunde  ist  also,  dafs  in  Käselow  sieben  er- 
wachsene männliche  Personen  genannt  sind,  die  ausnahmslos  Slawen 
waren.  Da  Käselow  nach  dem  Ratzeburger  Zehntenregister  (S.  373)  nur 
sechs  Hufen  hatte,  ist  hierdurch  für  einen  sehr  erhebUchen  Teil  der 
Ortsbevölkerung,  wenn  nicht  für  die  Gesamtheit,  slawische  Nationalität 
erwiesen.  Ein  Gleiches  ist  wohl  schon  wegen  des  slawischen  Schulzen 
(Badazce)  für  Büttlingen  anzunehmen.  Ob  und  wie  stark  aber  in 
Mallentin  aufeer  dem  allein  genannten  slawischen  Bauern  (Tribus)  das 
Slawentum  noch  vertreten  war,  darüber  läfst  sich  natürlich  keine  Ver- 
mutung aufstellen :  vielleicht  ist  Mallentin  die  sclavica  viUa,  die  das  Ratze- 
burger Register    ohne    Namensnennung    im    Kirchspiel   Mummendorf 


—     231     — 

hinter  Roggensdorf  anführt  (S.  372)  '),  da  der  Name  Mallentin  in  diesem 
Register  nicht  vorkommt  und  die  Lage  des  Ortes  dem  nicht  entgegen- 
zustehen scheint 

Unbedeutende  Spuren  slawischer  Reste  zeigen  dann  noch  Wen- 
dorf bei  Wismar,  wo  in  einer  zu  1357 — ^367  anzusetzenden  Urkunde  *) 
unter  sieben  Einwohnern  ein  Henneke  Janekens  erscheint.  Janekens  ist 
ein  patronymischer  Familienname  nach  deutscher  Art  vom  slawischen 
Janeke  gebildet  In  Rolofshagen  nördlich  von  Grevesmühlen  wird 
noch  im  Jahre  1356')  ein  Wendfeld  erwähnt,  das  aus  zwei  Hufen 
und  fünf  Ackers tücken  bestand.  In  Sievershagen  südlich  der  ge- 
nannten Stadt  finden  sich  1346^)  unter  acht  Einwohnernamen  drei  auf 
Slawen  deutende:  Johannes  Janeke,  Hinricus  Sümse  und  Thidericus 
Went,  Im  benachbarten  Pieverstorf  wird  im  'Jahre  1326^)  ein 
Radeco  Slavi  genannt  In  Pöterow®)  bei  Gadebusch  .erscheint  im 
gleichen  Jahre  unter  sieben  Bauemnamen  einer  in  der  Form  Tri- 
bechd.  Das  östlich  Boizenburg  gelegene  Düssin  zeigt  13 19')  unter 
zwölf  namentlich  genannten  Einwohnern  zwei  mit  slawischen  Namen, 
G-us  und  Tribue,  abgesehen  von  Formen  wie  Glasin  und  Pinnaw. 

Alle  diese  Orte  liegen  ausnahmslos  in  dem  Teile  des  Landes, 
der  im  Ratzeburger  Zehntenregister  von  1230  behandelt  ist  Von 
ihnen  sind  Büttlingen,  Wendorf,  Sievershagen  und  Pieverstorf  im  Zehnten- 
register nicht  erwähnt,  ebensowenig  Mallentin,  wenn  es  nicht,  wie  viel- 
leicht angenommen  werden  darf,  mit  dem  oben  näher  bezeichneten 
namenlosen  Wendenort  gleichzusetzen  ist.  In  diesem  Falle  wäre  Mallentin 
der  einzige  Ort,  in  dem  bisher  der  urkundliche  Befund  mit  dem  des 
Zehntenregisters  übereinstimmen  würde.  Alle  übrigen  hat  man  nach 
der  bisherigen  Auffassung  des  Zehntenregisters,  da  sie  dort  in  Hufen 
liegend  und  zehntpflichtig  erscheinen  und  nichts  über  slawische  Be- 
völkerung gesagt  ist,  für  deutsch  halten  müssen.  Sogar  eine  so  aus- 
gesprochen slawische  Bevölkerung,  wie  sie  nach  unserem  urkundlichen 
Befunde  noch  fast  ein  halbes  Jahrhundert  später  in  Käselow  bestand, 
läfst  sich  auf  Grund  des  Zehntenregisters  gar  nicht  vermuten. 

Aber  es  finden  sich  noch  weit  gröfeere  Abweichungen  zwischen 
den  Urkunden   und  dem  Zehntenregister  oder  vielmehr  dessen   bis- 

1)  Vgl.  oben  S.  225. 

2)  M.  U.  B.  XIV,  Nr.  8427. 

3)  M.  U.  B.  XIV,  Nr.  8240. 

4)  M.  U.  B.  X,  Nr.  6658. 

5)  Ebd.  VII,  Nr.  4771. 

6)  Ebd.  Nr.  4775. 

7)  Ebd.  VI,  Nr.  4040  S.  409. 


—     232     — 

hcriger  Auffassung.  Wölzow  südöstlich  von  Wittenburg  wird  noch 
in  einer  dem  Jahre  1333  angehörenden  oder  nur  wenig  früheren  Ur- 
kunde ein  slawisches  Dorf  genannt:  viUam  totam  slavicaiem  WeUsow 
didam ').  Dies  slavicalis  lässt  sich  nicht  auffassen  als  Bestandteil 
des  Ortsnamens:  Wendisch-W.  im  Gegensatz  zu  Deutsch-W.  Dann 
müfete  es  im  Text  heifeen  slavicale  anstatt  slavicaiem;  dann  müfste 
es  ferner  zwei  Orte  des  Namens  Wölzow  geben.  Es  gibt  aber  nur 
dies  eine  Wölzow,  das  für  das  Jahr  1333  urkundlich  als  slawisch  be- 
zeugt ist,  dasselbe,  das  auch  im  Ratzeburger  Zehntenregister  (S.  367) 
als  zehntpflichtig,  in  Hufen  liegend  und  ohne  jeden  Hinweis  auf  sla- 
wische Bevölkerung  auftritt. 

Genau  ebenso  verhält  es  sich  mit  dem  westlich  von  Wittenburg 
gelegenen  Pamprin.  Dies  wird  im  Jahre  1326  ein  slawisches  Dorf 
genannt:  totam  villam  Pamper  in  slavicaiem  *).  Im  Zehntenregister 
(S.  366)  erschemt  auch  dieses  als  zehntpflichtig,  aber  ohne  Angabe 
der  Hufenzahl  und  ohne  ausdrücklichen  Hinweis  auf  slawische  Bevöl- 
kerung.- Nur  dafs  dort  die  Hälfte  des  Zehnten  an  den  Träger  eines 
slawischen  Namens,  Blisemer  verliehen  ist,  gibt  zu  denken. 

Auch  im  Lande  Boizenburg,  wo  das  Zehntenregister  kein  A^eichen 
slawischer  Bevölkerung  mehr  erkennen  liefe,  wird  von  Karren tin 
(Carpentin)  im  Jahre  1244  als  von  einem  slawischen  Dorfe  berichtet: 
in  slavicali  villa  ^). 

Diese  Beispiele  genügen  vollständig,  um  Klarheit  über  das  Ratze- 
burger Zehntenregister  in  seiner  Eigenschaft  als  Quelle  für  die  Natio- 
nalitätsverhältnisse der  damaligen  Zeit  zu  gewinnen.  Das  war  von 
vornherein  anzunehmen  tmd  läfet  sich  auch  jetzt  nicht  anfechten,  dafe 
die  Orte,  die  in  diesem  Register  ausdrücklich  als  von  Slawen  bewohnt 
bezeichnet  werden,  dies  auch  wirklich  waren.  Aber  der  daraus  ge- 
zogene und  bisher  für  richtig  gehaltene  Schlufs,  dafe  alle  übrigen 
Orte,  bei  denen  ein  solcher  Vermerk  über  slawische  Bewohnerschaft 
fehlt,  für  von  Deutschen  bevölkert  angesehen  werden  müfeten,  kann 
jetzt  nicht  mehr  aufrecht  erhalten  werden,  nachdem  sich  vier  der  nach 
dem  Register  bisher  als  deutsch  betrachteten  Orte  (Käselow,  Wölzow,  Pam- 
prin und  Karrentin)  als  slawisch  erwiesen  haben,  um  ganz  zu  schweigen 
von  den  viel  zahlreicheren  Orten,  die  im  Register  nicht  genannt  waren 
oder  bei  denen  sich  zum  wenigsten  slawische  Minderheiten  erkennen 
Uefeen. 


1)  M.  U.  B.  Vm,  Nr.  5435. 

2)  M.  U.  B.  VII,  Nr.  4708. 

3)  Ebd.  X,  Nr.  7169. 


—     233     — 

Selbstverständlich  darf  man  nun  auch  die  mit  Slavkum  zusammen- 
gesetzten Ortschaften. des  Registers,  soweit  ihnen  der  Vermerk  über 
slawische  Bevölkerung  fehlt,  nicht  mehr  ohne  weiteres  als  schon  dem 
Deutschtum  anheimgefallen  betrachten.  MögUch  ist  es  natürlich  ,^ 
dafs  auch  von  dieser  Ortskategorie  schon  manche  deutsch  geworden 
waren;  aber  das  Ratzeburger  Zehntenregister  bietet  keine  Handhabe 
mehr,  dies  zu  beweisen. 

Die  Slawenbevölkerung,  die  ich  hiermit  aufserhalb  der  ausdrück- 
lich als  von  Slawen  bewohnt  bezeichneten  Orte  des  Ratzeburger  Zehnten- 
registers nachgewiesen  habe,  lebte  in  Orten,  die  in  Hufen  lagen  und 
zehntpflichtig  waren,  d.  h.  unter  deutschem  Recht.  Man  kann  also- 
jetzt  nicht  mehr,  wie  Ernst  es  noch  vielfach  getan  hat,  aus  dem  blofsea 
Vorhandensein  der  Hufeneinteilung  und  der  Zehntpflicht  auf  deutsche 
Besiedelung  schliefeen.  Die  Verleihung  deutschen  Rechts  an  Slawea 
war  auch  in  Mecklenburg  nicht  etwas  so  ausnahmsweises  und  auf  die 
eine  oder  zwei  urkundlichen  Erwähnungen  beschränkt,  wie  dieser 
Forscher  meinte.  So  sagt  z.  B.  auch  die  soeben  angezogene  Urkunde 
über  Karrentin  ausdrücklich,  dafe  in  diesem  slawischen  Dorfe  ge- 
zehntet  wurde,  und  aufser  den  oben  angeführten  Orten  finden  wir 
noch  im  Jahre  1253  in  nächster  Nähe  von  Zarren tin  ein  Slawendorf 
urkundlich  erwähnt  (vülam  slavicam  .  .  .  WoJcendorpe  nuncupcUam)^ 
das  nach  Hufen  eingeteUt  und  zehntpflichtig  war  *).  Im  Zehntenregister 
fehlt  dieser  Ort. 

Die  Einführung  der  Zehntpflicht  wie  auch  die  Einteilung  des 
Dorfackers  in  Hufen  konnte  mithin  auch  ohne  Vertreibung  der  alt- 
eingesessenen slawischen  Bewohnerschaft  geschehen.  Und  wenn  auch  die 
Tatsache  solcher  Vertreibungen  selbstverständlich  nicht  bestritten  wer- 
den kann  und  soll,  so  kann  dies  Vorgehen  doch  schon  nach  dem  oben 
Mitgeteilten  nicht  so  radikal  und  bis  zur  völligen  Ausmerzung  der 
Slawen  durchgeführt  worden  sein,  wie  unsere  neueren  Forscher  es  an- 
nehmen. So  stark  war  eben  der  deutsche  Zuzug  doch  nicht,  dafs 
man  in  so  kurzer  Zeit  mit  dem  Wendentum  hätte  völlig  aufräumen 
können.  Und  schliefslich  war  ja  der  Ertrag  der  Dörfer  für  Landes- 
herrschaft, Geistlichkeit  und  Adel  derselbe,  mochten  sie  von  deutschen 
Einwanderern  oder  mit  deutschem  Recht  ausgestatteten  Slawen  besetzt 
sein.  Dieser  Gesichtspunkt  des  materiellen  Nutzens,  durch  den  in  der 
ersten  Zeit  ohne  Frage  die  Slawenaustreibungen  sehr  gefördert  wurden, 
ist  später,  nachdem  durch  das  Nebeneinanderwohnen  der  nationale  Gegen- 
satz an  Schärfe  verloren  hatte,  der  Erhaltung  der   übrig  gebliebenen 

I)  M.  u.  B.  n,  Nr.  727. 


—     234     — 

Wendenreste  zugute  gekommen ,  zumal  seitdem  nach  Aufhören  der 
Massenemwanderung  deutscher  Ersatz  doch  wohl  in  dem  notwendig'en 
Maise  nicht  mehr  zu  erlangen  war. 

Ganz  vorüber  scheint  die  Zeit  der  Slawenaustreibungen  aber  auch 
im  Jahre  1230  noch  nicht  gewesen  zu  sein.  Das  zeigt  der  im  Zehnten- 
register beim  slawischen  Marmotse  vorhandene  Zusatz:  dum  Teutonid 
intraverinty  Wartus  II  hahebit  usw.  (S.  373).  Häufig  wird  aber  die 
Austreibung  damals  nicht  mehr  gewesen  sein,  da  ja  schon  in  manchen 
Orten  Slawen  zu  deutschem  Recht  salsen  und  damit  der  Weg  gehm- 
den  war,  auf  dem  unter  Erhaltung  der  wendischen  Einwohnerschaft  der 
Ertrag  ihrer  Dörfer  mit  dem  der  Deutschen  in  Einklang  gebracht  wer- 
den konnte. 

Das  allgemeine  Ergebnis  dieser  Untersuchung  ist  also  ein  nega- 
tives :  die  Auffassung,  daCs  das  Zehntenregister  über  die  damalige  Natio- 
nalität aller  in  ihm  aufgezählten  Orte  des  Ratzeburger  Sprengeis,  teils 
«ie  ausdrücklich  als  slawisch  bezeichnend,  teils  stillschweigend  und  nur 
die  Einteilung  in  Hufen  und  die  Zehntpflicht  erwähnend,  Auskunft  er- 
teile, läfet  sich  jetzt  nicht  mehr  aufrecht  erhalten.  An  der  Natio- 
nalität hatte  das  Register  nur  insoweit  ein  Interesse,  als  durch  sie 
irgendwo  der  Zehnte  in  Fortfall  kam.  ,Das  war  in  den  Slawenorten  der 
Fall,  in  denen  die  alte  Bevölkerung  noch  nach  ihrem  nationalen  Recht 
lebte;  diese  smd  im  Zehntenregister  auch  sämtlich  als  von  Slawen  be- 
wohnt ausdrücklich  gekennzeichnet.  Aber  ob  in  den  übrigen,  also 
zehntpflichtigen  Orten  diese  Abgabe  von  Deutschen  oder  von  zu  deut- 
schem Recht  angesiedelten  Slawen  geleistet  wurde,  das  hatte  für  eine 
Aufzeichnung,  die  lediglich  dem  materiellen  Interesse  des  Bistums 
diente,  keine  Bedeutung. 

Wenn  somit  die  für  den  westlichen  Teil  unseres  Landes  schein- 
bar schon  gelöste  Nationalitätenfrage  von  neuem  anklopft  und  Lösung 
heischt,  so  hat  uns  ja  das  Zchntenregister  selber,  das  trotz  allem  immer 
noch  die  bei  weitem  wichtigste  Urkunde  für  unsere  einstmaligen  Natio- 
nalitätsverhältnisse bleibt,  schon  so  manchen  festen  Anhaltspunkt,  der  zur 
Beantwortung  dienen  kann,  gespendet;  andere  habe  ich  aus  unserem 
Urkundenschatze  hinzugefügt.  Aber  die  sich  jetzt  aufdrängende  Frage : 
Welche  von  den  nach  dem  Ratzeburger  Zehntenregister 
bisher  für  deutsch  gehaltenen  Orte  waren  dies  wirklich, 
welche  waren  wendisch?  ist  damit  noch  nicht  erschöpfend  beant- 
wortet. Das  ist  mit  unserem  immerhin  lückenhaften  Urkundenvorrat  über- 
haupt nicht  zu  erreichen.  Wir  stehen  jetzt  erst  am  Anfang  der  aus 
der  Kritik  des  Zehntenregisters  neu  erwachsenden  Aufgabe :  die  Frage 


—     236     — 

nach  dea  Resten  des  Wendenvolks,  besonders  den  durch  das  deutsche 
Recht  verborgenen,  ist  hiermit  eigentlich  erst  aufgerollt  Sie  kann 
aber  jetzt  —  und  das  ist  der  eigentliche  Fortschritt  gegenüber  dem 
bisherigen  Zustand  —  mit  zuversichtlicher  Hoffnung  auf  einen  guten 
Erfolg  in  Angriff  genommen  werden.  Und  zu  ihrer  Lösung  kann 
jeder  Kenner  unseres  Volkes  —  auch  ohne  besondere  wissenschaft- 
liche Vorbildung  —  beitragen ,  indem  er  z.  B.  dahin  wirkt ,  dafe  die 
hier  und  dort  in  unserer  Landbevölkerung  noch  lebenden  Überliefe- 
rungen über  längere  Dauer  wendischer  Ansässigkeit  aufgezeichnet 
werden,  ehe  sie  vor  dem  zerstörenden  Hauch  unserer  modernen  Ent- 
wicklung völlig  dahingeschwunden  sind;  oder  indem  er  auf  körper- 
liche Eigentümlichkeiten  aufmerksam  macht,  wie  sie  sich  in  manchen 
Gegenden  finden  und  vielleicht  ein  Licht  auf  die  einstmalige  Verteilung 
der  Nationalitäten  in  unserer  Heimat  werfen  könnten. 

Ich  schliefe  mit  dem  Wunsche,  dafe  der  jetzt  zu  lösenden  Auf- 
gabe recht  zahlreiche ,  mitten  im  Volksleben  stehende  Mitarbeiter  er- 
wachsen mögen.  Dann  wird  sie  gewife  zu  einem  guten  Ende  geführt 
werden. 

Nachwort. 

Die  Geschichte  der  Kolonisation  und  Germanisation  des 
östlichen  Deutschland  bedarf  noch  sehr  der  Aufklärung.  Es  fehlt  noch 
durchaus  an  einem  Versuch ,  den  Prozefs  in  seiner  Gesamtheit  darzu- 
stellen ,  und  nicht  minder  an  zeitlich  und  örtlich  begrenzten  Einzel- 
untersuchungen. Als  im  I.  Bande  dieser  Zeitschrift  ^)  die  Verschiebungen 
in  der  deutsch-romanischen  Sprachgrenze  zusammenfassend  ge- 
schildert worden  waren,  da  sollte  sofort  die  entsprechende  Arbeit  für 
die  Ostgrenze  vorgenommen  werden,  aber  es  erwies  sich  bald  als 
unmöglich,  hier  gesicherte  Ergebnisse  zusammenfassend  mitzuteilen. 
Dafe  der  Untersuchimg  der  deutsch-slawischen  Sprachgrenzen  und 
ihrer  Verschiebungen  im  Zusammenhange  mit  der  Kolonisation  sich 
wesentliche  Schwierigkeiten  in  den  Weg  stellen  würden,  war  von 
vornherein  klar,  schon  wegen  der  räumlichen  Ausdehnung  des  Gebietes, 
der  Zeitdauer  und  der  manichfachen  Rückgewinnung  bereits  deutsch 
gewordener  Gebiete  durch  die  Slawen,  aber  der  Zustand  der  ein- 
schlägigen Literatur  ist  in  der  Tat  viel  schlechter  als  man  von  vorn- 
herein vermuten  sollte,  und  deshalb  mufs  eine  zusammenfassende 
Skizzierung   der  Sprachgrenzen  vom  XII.   bis  XIX.  Jahrhundert  vor- 


i)  Witte,    Studien    xur    Oesehiehte    der  ckutsch- romanischen  Sprachgrenze, 

s.  145—157. 

17 


—     236     — 

läufig    unterbleiben,   da  selbst  ein  schwacher  Versuch  angesichts  der 
mangelnden  Vorarbeiten  ein  unzeitgemäfses  Beginnen  wäre. 

Damit  wir  uns  aber  diesem  Ziele  nähern,  gilt  es  zunächst  in  allen 
ostelbischen  Landesteilen  im  einzelnen  Untersuchungen  anzustellen, 
die  bei  schärferer  Fassung  der  Fragestellung  die  gesamte  Überlieferung 
eines  engeren  Gebietes  und  zunächst  beschränkten  Zeitraumes  auszu- 
beuten suchen,  und  als  Anregung  zu  entsprechenden  Arbeiten 
soll  vorstehender  Aufsatz  in  erster  Linie  dienen.  Hoffentlich 
wird  es  bald  möglich  werden  über  mehrere  einschlägige  Arbeiten 
zusammenfassend  zu  berichten,  und  kleinere  Aufsätze  über  die  Ger- 
manisation und  Kolonisation  einzelner  Landschaften,  die  sich  ihrer 
ganzen  Anlage  nach  für  diese  Zeitschrift  eignen  —  d.  h.  solche,  die 
zu  greifbaren  Ergebnissen  und  zur  Berichtigung  älterer  verbreiteter 
Ansichten  gelangen  und  methodisch  als  Muster  für  ähnliche  Unter- 
suchungen dienen  können  —  werden  in  den  Detäschen  GreschicUs- 
bläHem  gern  Aufnahme  finden. 

Dabei  mufs  das  Augenmerk  sowohl  auf  die  ältere  Zeit  als  auch 
auf  die  neuere  gerichtet  werden,  denn  wo  sich  eine  slawische  Kolonie 
inmitten  deutschen  Gebietes  bis  ins  XVIIL  Jahrhundert  erhalten  hat, 
da  wird  ihr  Bestand  sich  meist  auch  quellenmäfeig  weiter  zurück- 
verfolgen lassen.  Wie  zahlreich  solche  Kolonien  selbst  westlich  der 
Elbe  sind,  das  zeigt  die  Zusammenstellung  der  einschlägigen  Nach- 
richten in  dem  Buche  von  Franz  Tetzner:  Die  Slawen  in  Deutsch- 
land *).  Ohne  auf  die  Ausstellungen  einzugehen ,  die  gegen  die  An- 
ordnung dieses  Werkes  und  gegen  die  Einbeziehung  nichtslawischer 
Völkerschaften  in  der  Kritik  kleinlich  breitgetreten  worden  sind,  soll 
hier  nur  hervorgehoben  werden,  dafs  dieser  erste  Versuch,  unser 
Wissen  über  die  Gesamtheit  der  im  Deutschen  Reiche  vorhandenen 
Slawen  zusammenzufassen,  schon  als  solcher  dankbar  zu  begrüfisen  ist 
Die  angedeuteten  Mängel  der  Ausführung,  von  denen  der  eine  ja 
lediglich  eine  jedenfalls  nicht  wertlose  Zugabe  bedeutet,  sind  nicht 
so  grofe  wie  es  der  Ton  mancher  Kritik  vermuten  läfst,  und  die  ge- 
wählte Anordnung  läfst  sich  sehr  wohl  verstehen.  Jedenfalls  aber  sind 
diese  Dinge  ohne  jede  Bedeutung,  wenn  es  sich  darum  handelt,  die 
fleifsige  Arbeit  Tetzners,  die  für  jedes  Gebiet  unermüdlich  die  Einzel- 
heiten zusammenbringt,  als  Grundriis  zu  benutzen  für  die  umfassende 
historische  Forscharbeit,  die  für  unseren  ganzen  einstmals  slawischen 
Osten  noch  zu  leisten  ist.     Der  Anfänger  auf  diesem  jungen,   erst  im 


i)  Braunschweig  1902. 


—     237     — 

Westen  des  deutschen  Sprachgebietes  zu  einigermafsen  abschließenden 
Ergebnissen  gebrachten  Forschungsfelde  wird  vielleicht  am  besten 
fahren,  wenn  er  zunächst  in  Anknüpfung  an  die  durch  Tetzner  zu- 
sammengestellten Tatsachen  oder  die  ihm  etwa  durch  Volksüberlieferung 
bekannt  gewordenen  Anhaltspunkte  rückwärts  schreitend  zu  arbeiten 
beginnt.  So  wird  er  sich  am  leichtesten  mit  dem  eigenartigen  von 
Landschaft  zu  Landschaft  naturgemäis  nach  Überlieferung  und  Inhalt 
verschiedenartigen  Quellenmaterial  bekannt  machen  und  besonders 
auch  vor  der  namentlich  im  Anfangsstadium  nur  zu  leicht  verhängnis- 
vollen Enttäuschung  des  „Nichtsfindens"  bewahrt  bleiben.  Es  ist  keines- 
wegs nötig,  solche  Forschungen  stets  mit  den  Urkunden  zu  beg^innen, 
•denn  auch  in  Landschaften,  wo  die  slawische  Sprache  schon  vor 
Jahrhunderten  verstummte,  werden  doch  die  inhaltsreicheren  Akten  — 
namentlich  Steuer-  usw.  Register  —  in  der  Regel  mehr  Ausbeute 
liefern.  Der  Verfasser  obigen  Aufsatzes  wenigstens,  der  das  gesamte 
einschlägige  Material  des  Schweriner  Geh.  und  Hauptarchivs  ausgebeutet 
und  zum  gröfsten  Teil  schon  bearbeitet  hat,  mufstc  bekennen,  da(s 
sein  urkundliches  Material,  von  dem  oben  eine  kleine  Probe  ge- 
geben ist,  neben  dem  aus  den  Akten  gewonnenen  geradezu  ver- 
^schwindet.  Näheres  hierüber,  wie  über  das  Quellenmaterial  und  die 
Methode  wird  sich  in  seiner  bald  zu  erwartenden  gröfseren  Arbeit 
über  die  wendischen  Bevölkerungsreste  in  Mecklenburg  finden. 

Mögen  sich  auch  für  die  anderen  ostelbischen  Landesteile  bald 
Arbeiter  finden,  die  uns  erzählen,  wie  diese  Gebiete  deutsch  geworden 
«ind!  A.  T. 


Mitteilungen 

Archive.  —  In  Wernigerode  am  Harz  wurde  die  Neuordnung  des 
Stadtarchivs  beschlossen,  und  die  Arbeit  Dr.  Hans  von  Wurmb  übertragen, 
der  soeben  die  Ordnungsarbeiten  im  Fürstlichen  Landesarchiv  zu  Sondershausen 
vollendet  hat. 

Kommissionen.  —  Als  die  Kgl.  Preufsische  Akademie  der  Wissen- 
schaften 1900  die  Feier  ihres  zweihundertjährigen  Bestandes  beging,  da 
wurden  in  beiden  Klassen  neue  Stellen  gegründet,  und  zwar  in  der  philoso- 
phisch-historischen mit  der  Mafegabe,  dafs  die  neuen  Kräfte  vorzugsweise  der 
Pflege  der  deutschen  Sprache  zugute  kommen  sollten.  Schon  seit  1897 
hatte  die  Akademie  die  Arbeiten,  die  Konrad  Burdach  (damals  Professor 
an  der  Universität  Halle)  behufs  Vorbereitung  einer  Geschichte  der  neuhoch- 
deutschen Schriftsprache  im  Zusammenhang  mit  der  gesamten  geistigen  Bildung 

17* 


—     238     — 

von  sich  aus  in  Angriff  genommen  hatte,  materiell  unterstützt,  aber  nunmehr 
wurde,  nachdem  inzwischen  Burdach  als  ordentliches  Mitglied  der  Akademie 
in  die  neu  errichtete  Stelle  für  deutsche  Sprachwissenschaft  berufen  worden 
war,  eine  besondere  Deutsche  Kommission  geschaffen,  der  zurzeit  Bu  r d  a  ch, 
Diels,  Dilthey,  Koser,  Roethe  imd  Erich  S c h m i d t  als  Mi^lieder 
angehören.  Diese  junge  Kommission  hat  zu  Beginn  des  laufenden  Jahres 
zum  ersten  Male  über  ihre  Tätigkeit  berichtet,  und  naturgemäis  handelt  es 
sich  dabei  gegenwärtig  noch  vorwiegend  um  Pläne  und  Absichten.  Die  im 
Schofse  der  Kommission  entwickelten  Gedanken  sind  jedoch  in  hervorragen- 
dem Mafse  geschichtlicher  Natur,  ja  man  darf  wohl  überhaupt  aus- 
sprechen, dafs  die  namentlich  von  Burdach  *),  aber  auch  von  Schönbach 
(Graz)  u.  a.  schon  seit  längerer  Zeit  und  wiederholt  geforderte  engere  Ver- 
bindung der  deutschen  Philologie  mit  der  Geschichte  jetzt  nur  von  der 
Akademie  als  eine  ihrer  Lösung  harrende  Aufgabe  anerkannt  worden  ist  Deshalb 
mufs  an  diefser  Stelle  die  Aufmerksamkeit  der  Historiker  unbedingt  auf  die 
neuen  Pläne  gelenkt  werden,  zumal  da  sich  nach  Lage  der  Sache  gerade 
dem  Historiker  vielfach  Gelegenheit  bieten  wird,  die  grofse  Sammelarbeit 
der  Kommission  zu  unterstützen. 

Als  ihr  letztes  Ziel  betrachtet  die  Deutsche  Kommission  eine  dar- 
stellende Geschichte  der  neuhochdeutschen  Sprache  und  die 
Herausgabe  eines  grofsen  Thesaurus  linguae  Germanicae,  tmd  för 
beide  Aufgaben  gilt  es  jetzt  eine  genügend  breite  Gnmdlage  zu  schaffen. 
Da  die  älteren  deutschen  Literaturdenkmale  fast  vollständig  publiziert  sind, 
kommt  es  auch  unter  diesem  Gesichtspunkte  vor  allem  darauf  an,  die 
deutschen  Handschriften  des  späteren  Mittelalters  und  der  älteren  neuhoch- 

i)  So  schon  in  der  Vorrede  zu  Vom  Mittelalter  xur  Reformatfon  (Halle  a.  S. 
1893).  I"  ^^^  Vorrede  zu  seinem  Walther  von  der  Vogelweide  i.  Teil  (Leipzig 
1900),  S.  XXn  wird  die  Verbindung  der  deutschen  Philologie  mit  der  Geschichte 
des  Mittelalters  kurz  als  „mittelalterliche  Philologie  der  Zukunft*'  be- 
zeichnet. Ebendort  fordert  der  Verfasser«  von  den  Philologen,  dafs  sie  gegebenen 
Falls  auf  die  primären  Quellen  des  Mittelalters  zurückgreifen  und  sich  nicht  mit  der 
Benutzung  modemer  historischer  Darstellungen  begnügen,  eine  Forderung,  die  ebenso 
umgekehrt  ftlr  den  Historiker  Geltung  hat,  wenn  er  literarische  Quellen  verwerten  wilL 
Burdachs  Buch  über  Walther  erftillt  diese  Forderung  im  höchsten  Mafse  und  bietet  ebenso 
viel  neues  zur  Kenntnis  der  deutschen  Reichsgeschichte  um  1200,  wie  es  das  Wissen 
über  die  Person  und  die  Dichtung  Walthers  auf  eine  neue  Grundlage  stellt;  die  Ge- 
schichtsforschung ist  hier  in  der  Tat  unmittelbar  in  den  Dienst  der  Philologie  getreten, 
und  die  rein  geschichtliche  Erkenntnis  wird  wieder  umgekehrt  durch  die  neue  Interpretation 
der  politischen  Dichtung  Walthers  wesentlich  gefördert.  —  Am  bündigsten  hat  schliefslich 
Burdach  seine  Forderung  formuliert  in  seiner  Rede  beim  Eintritt  in  die  Akademie  (3.  Juli 
1902),  indem  er  von  der  deutschen  Philologie  sagt:  ,, Sie  wird  sich  lösen  müssen 
von  der  Hausgenossin  ihrer  Jugend,  der  vergleichenden  Sprachwissen- 
schaft, deren  Ziele  nicht  die  ihrigen  sind.  Sie  wird  dafür  engere 
Fühlung  mit  den  angrenzenden  geschichtlichen  Fächern  eintauschen: 
mit  der  Geschichte  der  deutschen  Kirche  undReligion,  des  deutschen 
Rechts,  des  deutschen  Staates,  der  deutschen  Kunst,  vor  allem  mit  der 
Geschichte  des  Nachlebens  und  Neulebens  lateinischer  Sprache  und 
Literatur  in  Kirche  und  Schule,  in  den  wiederholten  Renaissancen 
der  mittleren  und  neueren  Zeiten,  endlich  mit  der  Geschichte  der 
romanischen  Bildung.'^  Es  sind  Gedanken  und  Ziele,  wie  sie  in  verwandter  nur 
noch  umfassenderer  Weise  Lamprecht  ausgesprochen  und  in  seiner  Deutschen  Oesekiehte 
zu  verwirklichen  gesucht  hat*  das  geschichtliche  Leben  ist  einsl 


—     239     — 

deutschen  Zeit  besser  kennen  zu  lernen,  und  zwar  mit  Einschluis  der  Unter- 
haltungs-,  Erbauungs-  und  Lehrliteratur,  damit  wir  zunächst  deutlicher  sehen, 
an  wdchen  Punkten  und  in  welcher  Literaturgattung  neue  Sprachelemente 
zuerst  auftauchen. 

Das  Problem  einer  Geschichte  der  neuhochdeutschen  Schriftsprache,  die 
zugleich  das  gröfste  Stück  einer  deutschen  Volksgeschichte  werden  mufs, 
zerftUlt  in  drei  Teile.  Es  sind  die  Fragen  zu  beantworten:  i.  Wie  gestaltete 
sich  ihr  Ursprung  und  Emporkommen  im  XIV.  bis  XVL  Jahrhtmdert?  2.  Wie  voll- 
zog sich  die  Einigung  im  XVn.  und  XVIII.  Jahrhundert?  3.  Wie  entstand  die 
moderne  Literatursprache  ?  Zur  Beantwortung  der  ersten  Frage  ist  es  vor  allem 
nötig,  dafs  wir  die  Kanzleisprache  einzelner  Fürsten  imd  Städte  untersuchen  ') ; 
hinsichtlich  der  zweiten  ist  der  überall  sich  wiederholende  Kampf  zwbchen 
Hochdeutsch  und  Dialekt,  sein  Verlauf  und  nicht  zuletzt  seine  zeitliche  Fest- 
legung von  Interesse:  dies  aber  sind  beides  Punkte,  zu  deren  Aufhellung 
die  landschaftliche  Geschichtsforschung  manches  beizutragen  vermag,  während 
die  dritte  Frage  im  wesentlichen  durch  fachmännische  Bearbeitung  der  ein- 
flufsreichsten  Schriftsteller  des  XVIII.  Jahrhunderts  ihrer  Lösung  näher  ge- 
bracht werden  wird.  In  dieser  Hinsicht  hat  die  Kommission  zunächst  eine 
kritische  Gesamtausgabe  von  Wielands  Werken  geplant,  die  Bernhard 
Seuffert  (Graz)  besorgen  wird.  Die  grofse  Lücke  in  unserer  Kenntnis  der 
spätmittelalterlichen  und  frühneuhochdeutschen  Literatur  (etwa  1250 — 1500) 
soll  durch  Publikation  einschlägiger  Werke  —  eine  grofse  Zahl,  unter  anderem 
Rudolf  von  Ems,  sind  schon  in  Bearbeitung  —  aUmählich  geschlossen 
werden:  die  Sammlung  erscheint  unter  der  Leitung  von  Roethe  und  wird 
den  Titel  ftlhren  Deutsche  Texte  des  Mittelalters,  Um  fUr  diese  Veröfient- 
lichtmgen  aber  eine  genügend  sichere  Grundlage  zu  gewinnen,  ist  zunächst 
von  der  Kommission  die  Inventarisierung  der  literarischen  Hand- 
schriften deutscher  Sprache  in  Angriff  genonmien  worden').  Es 
handelt  sich  dabei  nur  tun  literarische  Handschriften,  d.  h.  Akten  und 
sonstige  geschäftliche  Handschriften  bleiben  aufser  Betracht.  Aber  alles, 
was  nicht  zu  letzteren  gehört,  wird  berücksichtigt,  so  vor  allem  wissenschaft- 
liche Arbeiten,  technische  Anweisungen  (wie  Formelbücher),  Briefe,  Rezepte, 
Segen,  Gebete  usw.,  insbesondere  alle  Aufseichnungen  in  gebundener  Rede. 
Nach  1500  sollen  nur  noch  solche  Handschriften  berücksichtigt  werden,  die 
Werke  des  Mittelalters  enthalten,  alle  schöne  Literatur,  nebst  Briefen,  Memoiren, 
Segen  des  XVI.  und  XVII.  Jahrhunderts,  sowie  mittel-  imd  neulateinische 
Handschriften  bis  ins  XVIII.  Jahrhundert.  Um  diese  Arbeit  zu  bewältigen, 
bedarf  es  natürlich  einer  grofsen  Anzahl  von  Mitarbeitern,  für  die  eine  be- 
sondere ins  einzelne  gehende  Arbeitsanweisung  ausgearbeitet  worden  ist  Alle 
einlaufenden  Handschriftenbeschreibtmgen  werden  zu  einem  Handschriften- 

i)  In  dieser  Hinsicht  ist  schon  manches  geschehen.  Eine  Reihe  von  Untersuchangen 
einzelner  Kanzleisprachen  wurde  bereits  im  3.  Bande  dieser  Zeitschrift  S.  118 — 120  auf- 
geftihrt  Ergänzend  wären  noch  zu  erwähnen:  Kemmer,  Versuch  einer  Darstellung 
des  Lautstandes  der  Äsehaffmburger  Kanzleisprache  in  der. ersten  Hälfte  des  XVI.  Jahr' 
hunderte  (Programm,  Dillingen  1897/98  und  1898/99);  O.  Böhme,  2kir  Kenntnis  des 
Oberfränkisehen  im  12.,  13.  und  14.  Jahrhundert  (Leipz.  Dissert.  1893). 

3)  Über  den  Plan  im  einzelnen  vgl.  Bardachs  Aufsatz  im  Zentralblatt  (Ur  Biblio- 
thekswesen, 21.  Jahrg.  (1904),  S.  183 — 187:  Die  Inventarisierung  älterer  deutscher 
Handschriften. 


—     240     — 

archiv  der  Königl.  Akademie  in  Berlin  vereinigt,  und  auf  Grund  des  |iier 
aufgehäuften  Materials  soll  später  eine  Handschriftenkunde  des  deuis^n 
Mittelalters  geschaffen  werden.  Ganz  abgesehen  von  dem  statistischen  Wert, 
den  eine  solche  Sammlung  besitzt,  —  man  wird  oft  schon  an  der  Zahl  der 
erhaltenen  Handschriften  erkennen,  ob  und  wie  lange  ein  Buch  viel  gelesen 
wurde,  —  wird  es  mit  Hilfe  des  Handschriftenarchivs  in  Zukunft  möglich 
sein,  ohne  besondere  Mühe  die  für  eine  Edition  oder  Benutzung  brauch- 
barste Handschrift  eines  Werkes  kennen  zu  lernen,  was  bisher  meist  mit 
grofser  Mühe  verbunden  war.  Manches  ganz  neue  Buch  wird  wenigstens 
ftir  die  breitere  Öffentlichkeit  ans  Tageslicht  kommen,  manches  verkannte  und 
falsch  registrierte  wird  ins  rechte  Licht  gerückt  werden.  Deshalb  mufs  die 
Förderung  dieses  Inventarisationsuntemehmens ,  das  sich  mit  der  von  Seiten 
der  landesgeschichtlichen  Publikationsinstitute  eingeleiteten  Durchforschung 
der  sogenannten  „kleinen  Archive"  behufs  systematischer  Sammlung  des 
landesgeschichtlichen  Quellenmaterials  *)  vergleichen  läfst  und  manche  Be- 
rührungspunkte damit  besitzt,  den  Geschichtsforschern  angelegentlichst  em- 
pfohlen werden.  Vor  allem  wird  es  darauf  ankommen,  dafs  auf  Handschriften, 
die  sich  im  Privatbesitz  befinden,  oder  solche,  die  in  kleinen  Vereinssamm- 
lungen ruhen,  aufmerksam  gemacht  wird.  Nützlich  erweisen  würde  es  sich 
auch,  wenn  jeder,  der  Handschriften  zu  welchem  Zwecke  auch  immer  be- 
nutzt, bei  der  Veröffentlichung  eines,  wenn  auch  ganz  kleinen  Stückes  aus 
dem  Inhalt  nicht  nur  mit  lakonischer  Kürze  andeuten  wollte,  was  ihm  als  Vor- 
lage gedient  hat,  sondern  die  Handschrift  vollständig  beschriebe  und  auch 
aufzählte,  was  sonst  etwa  noch  darin  enthalten  ist. 

Die  Drucklegung  der  Handschriftenkataloge  imserer  Bibliotheken  schreitet 
erfreulicherweise  rüstig  fort,  und  die  Beschreibung  wird  immer  ausftihrlicher 
und  sorgfältiger  *),  aber  für  recht  viele  Bibliotheken  fehlt  etwas  entsprechen- 
des noch.  Das  Unternehmen  der  Kommission  wird  hoffentlich  an  mancher 
Stelle  dazu  anregen,  diese  Arbeit  auch  auszuführen,  aber  ihre  Hauptaufgabe 
ist  und  bleibt  die  systematische  Registrierung  und  Vereinigung  nach  dem 
Inhalt:  das  Handschriftenarchiv  wird  einst  einen  sachlich  geordneten  Zettel- 
katalog aller  deutschen  Handschriftensanmilungen  darstellen.  Was  sich  bei 
solcher  systematischer  Forschung  gewinnen  läfst,  das  hat  Burdach  selbst 
in  seinem  einfach  erzählenden  Bericht  über  Forschungen  zum  Ursprung  der 
neuhochdeutschen  Schriftsprache  und  des  deutschen  Humanismus  *)  dargelegt. 

i)  Die  jüngste  Zusammenstellung  über  den  Stand  der  Erschliefsung  der  „kleioeo 
Archive  *'  findet  sich  im  Korrespondenzblatt  des  Gesamtvereins  der  deutschen  Geschicbts- 
und  Altertumsvereine,  51.  Bd.  (1903),  S.  71 — 76. 

2)  Eine  ganz  vorzügliche  und  ihrer  Ausführlichkeit  wegen  in  recht  vieler  Hinsicht 
brauchbare  Arbeit  ist  z.  B.  das  Beschreibende  Verzeichnis  der  Handschriften  der 
Stadibibliothek  xu  Trier,  von  dem  MaxKeuffer  fünf  Hefte  (Trier,  LinU  1888— 1900) 
bearbeitet  hat.  653  Handschriften  sind  hier  beschrieben,  kleinere  Einträge  sofort  abge- 
druckt;  wo  es  irgend  möglich  war,  ist  die  Provenienz  ermittelt,  und  so  wird  mancher 
wichtige  Aafschlufs  über  den  Bestand  alter  Bibliotheken  gewonnen.  Der  Abschlufs  der 
theologischen  Handschriften  ist  frühestens  1905  zu  erwarten.  Eine  Ergänzung  zu  dieser 
Publikation  bildet  das  Verxeichnis  der  Handschriften  des  historischen  Archivs  der 
Stadt  Trier y  wovon  6  Bogen,  je  einer  als  Anbang  zum  Trierischen  Archiv  (1899  flf.), 
gedruckt  sind. 

3]  Abhandlungen  der  Königl.  Preufs.  Akademie  der  Wissenschaften  vom  Jahre  1903, 
S.  631—693. 


—     241     — 

Eine  Fülle  feiner  Beobachtungen  und  Gedanken  ist  neben  der  Mitteilung  des 
rein  Tatsächlichen  darin  enthalten,  und  jeder,  der  sich  mit  den  Problemen 
der  Geistesgeschichte  beschäftigt,  mufs  hier  Anregung  imd  Belehrung  finden. 
Als  unmittelbare  Frucht  dieser  Arbeiten  steht  binnen  kurzem  die  Veröflfent- 
lichung  einer  sprachgeschichtlich  wichtigen  Handschrift  zu  erwarten:  es  ist 
eine  Olmützer  Sanmielhandschrift  von  rund  1400;  sie  stammt  aus  dem  Schüler- 
kreise Johanns  von  Neumarkt,  der  als  Gehilfe  Karls  IV.  vor  allem 
die  königliche  Kanzlei  reformierte  und  den  Stil  der  lateinischen  und  deutschen 
Urkunden  umbildete,  und  wird  jetzt  von  Burdach  nud  Willy  Scheel 
publiziert.  Die  Olmützer  Handschrift  enthält  Stücke,  die  auf  Petrarcas  Ver- 
ehrung und  Nachahmung  im  Kreise  der  Schüler  und  Nachfolger  Johanns, 
also  auf  die  ersten  Regungen  des  mährischen  Humanismus,  und  auf  die 
literarischen  Beziehungen  Johanns  zu  Karl  IV.  neues  Licht  werfen.  Es  sind 
unbekannte  und  bekannte  Prosatraktate  und  Gedichte  Petrarcas  uud  un- 
bekannte  Briefe  Johanns   an   Karl  IV.,   die  in    Olmütz  zu  einer  Sanmilung 

vereinigt  wxirden. 

*  * 

* 

Bei  dieser  Gelegenheit  sei  auf  Forschungen  zur  älteren  neuhochdeutschen 
Schriftsprache  aufmerksam  gemacht,  die  ein  anderer  Gelehrter  seit  einem 
Jahrzehnt  betrieben  hat,  über  die  aber  noch  nichts  an  die  breitere  Öffent- 
lichkeit gekommen  ist.  Als  im  Jahre  1893  die  Fürstlich  Joblonowskische 
Gesellschaft  zu  Leipzig  auf  Anregung  Lamprechts  die  Preisaufgabe  stellte: 
AllmählicheEinführung  der  deutschenSprache  in  öffentlichen 
und  privaten  Urkunden  bis  zur  Mitte  des  XIV.  Jahrhunderts  *), 
da  beschäftigte  sich  auch  Realschuldirektor  Prof.  Emil  Gutjahr  in  Leipzig 
mit  diesem  Stoffe  und  begann  die  Bemühungen  Karls  IV.  und  Johanns  von 
Neumarkt  um  die  neuhochdeutsche  Schriftsprache  sowie  die  Grundlagen 
dieser  Sprache  selbst  zu  untersuchen.  Die  Früchte  dieser  Arbeit  werden 
biimen  kurzem  in  einer  gröfseren  Arbeit,  die  sich  mit  dem  in  der  kaiserlichen 
Kanzlei  Karb  IV.  herrschenden  Urkundenwesen  und  der  dort  geschriebenen 
Sprache  beschäftigt:  Zur  Entstehung  der  neuhochdeutschen  Schriftsprache, 
Studien  xur  deutschen  Hechts-  und  Sprachgeschichte ,  (Leipzig,  Dieterich'sche 
Verlagsbuchhandlung  [Theodor  Weicher])  der  Öffentlichkeit  zugänglich  ge- 
tnacht  werden. 

Schon  Ostern  1897  legte  der  Verfasser  seine  Ergebnisse  in  dem  ztmächst 
fertiggestellten  umfangreichen  Manuskripte  des  IL  Teils,  Die  Urhunden 
deutscher  Sprache  in  der  kaiserL  Kanxüi  Karls  IV.^  Theodor  Lindner 
(Halle)  vor,  der  sich  in  der  Hauptsache  zustimmend  aussprach.  Seit  1897 
aber  behandelte  G.  die  ältesten  Urkunden  deutscher  Sprache  aus  allen 
Gegenden  unseres  Vaterlandes  nach  ihrer  kulturellen  Stellung,  besonders 
nach  ihrem  mundartlichen  bez.  gemeinsprachlichen  Werte,  und  kam  dabei 
zu  dem  Ergebnb,  dafs  die  Sprache  der  ältesten  ostmitteldeutschen  Urkunden 
Obersachsens,  insonderheit  Halles  a.  S.,  als  die  Wiedergabe  der  ost- 
mitteldeutschen Patriziersprache,  ja  auch  als  die  erste  Wiedergabe  unserer  neu- 
hochdeutschen Schriftsprache    anzusehen   ist.      Die  Umgangs-  bezw.  Schrift- 

i)  Den  Preis  erhielt  die  Arbeit  von  Vancsa:  Das  erste  Auftreten  der  deutschen 
Sprache  in  den  Urkunden  (Leipzig,  Hirzel  1895). 


—     242     — 

spräche  des  ostmitteldeutschen  Schöffen  Patriziat  es  im  XI. — XIII.  Jahr- 
hundert, die  auch  schon,  mehr  aristokratisch  gefärbt  fmtn,  hüs,  lüte;  dampf, 
klopfen),  die  Originalsprache  des  zweifellos  beim  Obergericht  Halle  ent- 
standenen Sachsenspiegels  und,  mehr  demokratisch  nuanciert  (mein, 
haus,  leute;  damp,  kloppen)  *),  auch  die  Originalsprache  des  sog.  sächsischen 
Weichbildrechts  ist,  zeigt  im  XIV.  Jahrhundert,  als  das  Schöffenpatriziat 
sich  in  ein  Innungspatriziat  mit  reiner  Zunftverfassung*),  wie  z.  B.  in 
Augsburg  und  Braunschweig,  oder  mit  gemischter  Verfassung,  wie  z.  B. 
in  Nürnberg  '),  Frankfurt  und  in  den  meisten  Städten  des  kolonialen  Ostens 
(z.  B.  Prag)  wandelte,  wohl  noch  die  patrizischen  Laute  in  dampf,  klopfen, 
aber  daneben  schon  die  streng  zünftlerischen  (nhd.)  ei,  au^  eu,  in  mein, 
haus,  leute.  Diese  neuen  ,synthetischen'  Laute  stammen  wohl  ursprünglich 
kaum  aus  Bayern-Österreich,  wie  man  anzunehmen  sich  gewöhnt  hat,  sondern 
vom  Niederrhein  und  sind  erst  durch  die  gewerbliche  Kolonisation  von  da 
nach  den  ostdeutschen  Städten  übertragen  worden.  AugustMeitzen,  dem  G. 
das  Manuskript  seines  I.  Teiles,  Des  Sachsenspiegels  Ursprung,  Heimat  und 
Sprache  in  Halle  a.  S,,  im  Sommer  1900  zu  Wernigerode  vorlegen  durfte, 
stand  dieser  Annahme  mit  Reserve,  doch  sympatisch  gegenüber.  Merkwürdig 
ist,  dafs  das  deutsche,  durchaus  national  empfindende  Innungspatriziat  der 
Hauptträger  jener  deutschen  Schriftsprache,  die  in  den  Urkimden  seit  dem 
XIII.  Jahrhundert  in  immer  zunehmender  Fülle  überliefert  ist,  gleichzeitig 
des  Humanismus  und  des  römischen  Rechtes  bester  Förderer  war.  Dieses 
auffällige  Zusammentreffen  lehrt  ja  zunächst  nur,  dafs  dem  engdeutschen  und 
strengdeutschen  Wesen  des  Schöffenpatriziates  und  seinem  nurdeutschen 
Rechte  gegenüber  im  deutschen  Innungspatriziat  zugleich  mit  der  gröfseren 
Geistesbildung  auch  eine  weitsichtigere  Auffassung  der  Dinge  platzgegriffen  hatte. 
Auf  die  ungleich  lebensfrischere  und  gebildetere  Gesellschafbchicht  des 
Innungspatriziates,  dem  die  zwischenstädtische  Femwirkung  und  Kommunikation, 
gesteigert  bis  zur  politischen  Bündnislust  der  Hansen,  nochmals  Erbe  vom 
alten  grofskaufmännischen  Schöffenpatriziat  geblieben  war,  stützte  Karl  IV. 
seine  fein  berechnete,  besonders  auf  die  Städte  und  ihre  Innungspatriziate 
abzielende  Interessenpolitik.  Johann  von  Neumarkt,  der  Hofkanzler 
Kaiser  Karls  IV.  und  der  Organisator  seiner  Kanzlei,  aber  wufste  auch  die 
Schriftsprache  der  kaiserl.  Kanzlei  trefilich  den  Bedürfhissen  der  Zeit,  insonder- 
heit der  Politik  seines  Herrn  anzupassen.     Man  verwendete  deshalb  in   den 


i)  In  der  Mundart  des  niederen  Volkes  in  Ostmitteldeatschland  heifst  es  noch  heaie : 
dampf  kloppen. 

2)  Lamprecht,  Deutsche  Geschichte,  4.  Bd.,  S.  aoo. 

3)  Eine  bemerkenswerte  Urkunde  in  deutscher  Sprache,  von  der  auch  neuerdings 
wieder  behauptet  worden  ist  (s.  Karl  Hoffmann-Charlottenhurg  in  Zs.  „Deutsche  Arbeit*' 
n.  Heft  1 1  S.  860),  sie  gehöre  voll  der  kaiserlichen  Kanzlei  Karls  IV.  an,  ist  die  Urkunde 
der  Sudt  Nürnberg  vom  13.  September  1367,  Prag  (Huber,  Regesten  nr.  4549;  Deutsche 
Reichstagsakten  unter  König  Wenzel,  ed.  Weizsäcker,  I  n.  27  S.  56).  Die  Urkunde  ist  aber 
nach  Formular  und  Mundart  (s.  Uk.  a.  1375  Okt.  20  bei  Huber,  Regesten  nr.  5514;  Nieder- 
rhein. U.B.  m,  674;  vgl.  MaxVancsa,  Das  erste  Auftreten  der  deutschen  Sprache  in 
den  Urkunden^  S.  102)  eine  reine  Parteiurkunde  und  vom  Innungspatriziat  Nürnbergs  und 
seiner  Kanzlei  ausgegangen,  das  Diktat  (Konzept)  wie  die  Ausfertigung  gehört  voll  dieser 
Partei  als  Empfängerin  an,  nur  die  Besiegelnng  wurde  von  der  kaiserlichen  Kanzlei  zu 
Prag  vorgenommen  (s.  Vancsa  a.  a.  O.  S.  64). 


—     243     — 

Urkunden,  welche  voll  der  kaiserl.  Kanzlei  angehören,  sobald  man  mit  der 
exklusiv- reaktionären  Welt  der  höheren  Geistlichkeit,  des  Ritterttuns  und 
des  ritterlichen  Schöffenpatriziates  geschäftlich  durch  Urkunden  deutscher 
Sprache  | verkehrte,  die  soziale  früh-nhd.  Mundart  des  Schöffenpatriziates 
(i,  ü,  ü;  mpfy  pf),  sobald  man  aber  mit  der  bürgerlich- fortschrittlichen 
Welt^der  Innungspatriziate  schriftlich  verkehrte,  schrieb  man  nhd.  (ei,  au, 
eu;  mpf,  pf).  Solche  Konzessionen  der  Rechts-  und  Geschäfbsprache 
waren  nicht  neu :  schon  die  frühneuhochdeutsche  Sprache  des  Sachsenspiegels 
(c.  1235)  bekundet  im  Landrecht  strengreaktionär-schöfienpatrizische  bezw.agra- 
risch-ritterliche  Tendenz  (%,  ü,  ü;  mpf,  pf),  während  gleichzeitig  die  Sprache  des 
sog.  sächsischen  Weichbildrechts,  mehr  bürgerlich-fortschrittlich,  nicht  ein- 
mal nur  strenginnungspatrizische  Idiome  aufweist,  sondern  auch  andere, 
selbst  gemeinbürgerliche  nebenbei  (ei,  au,  eu  neben  i,  ü,  ü;  mpf,  pf  neben  mp, 
pp)  verwendet;  auch  des  Lehnrechtes  ostmitteldeutsche  Origin^üsprache  im 
Sachsenspiegel  hält  ungefähr  dieselbe  Mitte  ein.  Gemeinbürgerliches  kloppen 
verwendet  Johannes  Noviforensis  ab  redactor  in  der  Königlichen  Kanzlei 
Karls  IV.  a.  1347  April  3  Purglein  (Huber,  Regesten  nr.  666;  Cod.  Bohem. 
I.  nr.  48  S.  72).  Ähnlich  wie  der  Verfasser  des  Weichbildrechtes  und 
Lehnsrechtes  verhält  sich  der  nhd.  Sprache  gegenüber  Johann  von  Neumarkt 
als  Verfasser  des  Heil.  Heronymu^  (ed.  Benedict  1880);  auch  er  verwendet 
ei,  au,  eu  neben  t,  ü,  ü  (S.  XLVI.  XLVII) ;  mpf,  pf  neben  mp,  pp,  ja  hie 
und  da  läufl  sogar  ein  niederdeutsches  anlaut.  p  (plichlig,  geplantxet)  mit  tmter 
(S.  L).  Durchaus  modern  aber  im  innimgspatrizischen  Sinne  ist  sowohl  das 
böhmische  Deutsch  im  Buche  der  Malerschaft  zu  Prag  (a.  1348),  wie  die  Sprache 
im  Ackermann  aus  Böhmen  (a.  1399).  Für  Luthers  nhd.  Sprache  war  sonach 
die  erste  Grundlage  das  Schöfifendeutsch  der  ostmitteldeutschen  bürgerlich- 
patrizischen  Rechtssprache  des  XIII.  Jahrhunderts,  die  weder  im  XVI.  Jahr- 
hundert etwa  durch  „Keiser  Maximilian  tmd  Kurfürst  Friedrich,  Herzog  zu 
Sachsen,  im  römischen  Reiche,  also  in  eine  gewisse  Sprache  gezogen*' 
(s.  Luther,  Tischreden  c.  69),  noch  im  XIV.  Jahrhundert  durch  die  kaiserl. 
Kanzlei  Karls  IV.  als  Schriftsprache  hervorgerufen  wurde,  sondern  schon  in 
der  ersten  Hälfte  des  XIII.  Jahrhunderts  im  Sachsenspiegel  und  mehr  noch 
im  sächsischen  Weichbüdrechte  vorlag. 

Eingegangene  Bflcher. 

Bachmann,  Adolf:  österreichische  Reichsgeschichte.  Geschichte  der  Staats- 
bildung und  des  öfifentlichen  Rechtes.  Zweite  verbesserte  Auflage.  Prag, 
Rohliöek  und  Sievers,   1904.     428  S.  8^     M.  7,00. 

Bader,  Karl :  Turm-  und  Glockenbüchlein,  eine  Wanderung  durch  deutsche 
Wächter-  und  Glockenstuben.  Giefsen,  J.  Ricker  (A.  Töpelmann),  1903. 
3  22  S.  8^     M.  4,00. 

Beck,  P.:  Diöcesanarchiv  von  Schwaben,  Organ  für  Geschichte,  Altertums- 
kunde, Kunst  und  Kultur  der  Diöcese  Rottenburg  und  der  angrenzenden 
Gebiete.     17.  bis  20.  Jahrgang.     Stuttgart  1899  —  1902. 

Bon  in,  Daniel:  Die  Waldensergemeinde  Pragela  auf  ihrer  Wanderung  ins 
Hessenland  [=  Programm  des  Grofsherzoglichen  Gymnasiums  und  der 
Realschule  zu  Worms  1901].     63  S.  8^ 


—     244     — 

Boehmer-Romundt:    Die    Jesuiten    [=    Aus    Natur    und    Geisteswelt, 

49.  Bändchen].    Leipzig,  B.  G.  Teubner,  1904.     164  S.  8^    M.   1,35. 
Kleiner,    Victor:    Der  hofeteigische   Landsbrauch   [=    41.   Jahresbericht 

des  Vorarlberger  Museums -Vereines   über  das  Jahr  1902/03  (Bregenz), 

S.   125  —  180]. 
Kolde,   Theodor:    Das   bayerische   Religionsedikt   vom    10.   Januar   1803 

und  die  Anfänge  der  protestantischen  Landeskirche  in  Bayern,  ein  Ge- 
denkblatt. Zweite  Auflage.   Erlangen,  Fr.  Junge,  1903.   44  S.  8^  M.  0,90. 
Krebs,  Richard:  Die  Weistümer  des  Gotteshauses  und  der  Gotteshausleute 

von  Amorbach   [=   Alemannia,   Neue  Folge  Band   3,  S.   106  fif   und 

Band  4,  S.   193  ff]. 
Lahn,  J.  J.  O. :  Depressions-Perioden  und  ihre  einheitliche  Ursache.    Brooklyn 

1903.     94  S.  8^ 
Lindner,   Finnin:   Albtun  Augiae   Brigantinae.     Album  von  Mehrerau  bei 

Bregenz,  enthaltend  die  Äbte  und  Mönche  der  ehemaligen  Benediktiaer- 

abtei  Mehrerau  vom  Jahre  1097  bis  zu  ihrem  Aussterben  (1856)  und 

deren    literarischen  Nachlafs   [=   41.   Jahresbericht    des    Vorarlberger 

Museums- Vereines  über  das  Jahr  1902/03  (Bregenz,  Teutsch),  S.  30 — 108]. 
Lippert,  Waldemar:  Die  deutschen  Lehrbücher,  Beitrag  zum  Registerwesen 

und  Lehnrecht  des  Mittelalters.    Leipzig,  B.  G.  Teubner,  1903.    184  S.  8^. 
Löscher,  Friedrich  Hermann:  Die  Entwicklung  des  Gefühls  für  die  Natur- 
schönheiten des  Erzgebirges.    Schneeberg,  Verlag  des  Erzgebirgsvereins. 

43  S.  8«. 
L  o  e  w  e ,  Victor:  Neue  Wege  und  Ziele  der  landesgeschichtlichen  Forschung 

in   Deutschland   [=   Sonntagsbeilage    Nr.    45    zur   Vossischen  Zeitung 

Nr.  525,  8.  November  1903]. 
Lutsch,   Hans:    Verzeichnis    der   Kunstdenkmäler    der  Provinz  Schlesien. 

Band  V:  Register  zu  den  Bänden  I— IV.    Breslau,  W.  G.  Korn,  1903. 

812  S.  8^     M.   12,00. 
Bonin,    Daniel:    Die   Waldenscr- Kolonie  Rohrbach,    Wambach  und  Hahn 

[=   Geschichtsblätter   des   deutschen   Hugenotten  -  Vereins.     Zehnt   IV, 

Heft  I  und  2.     Magdeburg  1894].     45  S.  8^ 
Kart  eis,   J. :    Die    kirchliche    Visitation    des   Chorherrenstifb   Surbtug    im 

Jahre    1604   [=    Sonderabdruck   aus   dem  Straßhurger  Diöxesanhlatt^ 

Strafsburg  1903].     40  S.  8®. 
Schwerzenbach,   Carl  von:    Bauliche  Überreste  von  Brigantium  [=  41. 

Jahresbericht  des  Vorarlberger  Museums- Verein  es  über  das  Jahr  1902/03 

(Bregenz,  Teutsch),  S.   13 — 30]. 
Winter,    Gustav:    Das   neue    Gebäude   des   k.   imd   k.    Haus-,   Hof-   und 

Staatsarchivs   zu   Wien.      Mit    15    Tafeln.     Wien,    in   Kommission   bei 

Karl  Gerold's  Sohn,   1903.     25  S.  fol. 
Hausen,  Clemens  Freiherr  von:  Der  Fürstenzug  auf  dem  Sgraffito-Fries  am 

Königlichen  Schlosse  zu  Dresden.   Dresden,  C.  Heinrich,  1 903.    2  5  4  S.  8^ 

M.  5,00. 
Kart  eis,  Joseph:  Rats-  und  Bürgerlisten  der  Stadt  Fulda,  im  Aufbage  des 

Fuldaer  Geschichtsvereins  bearbeitet  und  herausgegeben.    Fulda,  Fuldaer 

Aktiendruckerei,   1904.     272  S.  8^ 

Herausgeber  Dr.  Armin  Tille  in  Leipiig. 
Druck  und  Verlag  von  Friedrich  Andreas  Perthes,  Aktiengesellschaft,  Gotha. 


J 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatssclirift 


snr 


Förderung  der  landesgeschichtlichen  Forschung 

V.  Band  Juli  1904  10.  Heft 

Arnstädter  Tauf^  und  F^niüiennatnen 

Von 
Bruno  Caemmerer  (Arnstadt) 

Unsere  Orts-  und  Personennamen  stammen  zum  grolsen  Teil  aus 
fremden  Sprachen :  aus  dem  Keltischen  z.B.  die  Ortsnamen  Rhein, 
Main,  Worms,  Remagfen,  aus  dem  Slawischen  die  Ortsnamen  Berlin, 
Potsdam,  Leipzig,  Zeitz,  Strelitz,  Kamenz,  oder  die  Personennamen  Olga, 
Putkamer,  Muschik  und  Noack,  aus  dem  Hebräischen  die  Per- 
sonennamen Johannes,  Joseph,  Simon,  Maria,  aus  dem  Griechischen 
Alexander,  Theodor,  Georg,  Dorothea  tmd  aus  dem  Lateinischen 
Köln  und  Koblenz  und  Max,  Paul,  Beate,  Klara.  Die  Personennamen 
deutscher  Herkunft  haben  im  Laufe  der  Zeiten  vielfache  Änderungen 
erfahren,  und  die  Feststellung  der  ihnen  etymologisch  zukommenden 
Bedeutung  und  ursprünglichen  Form  gelingt  oft  nur  tmter  grofsen 
Schwierigkeiten.  Die  Personennamen  sind  entweder  Vornamen  (=»  Ruf. 
oder  Tauftiamen)  oder  Zunamen,  die,  wenn  sie  sich  vom  Vater  auf  die 
Kinder  vererben,  zu  Familiennamen  werden.  Erstere  gehen  bis  in  die 
vorchristliche  Zeit  zurück  ^) ,  die  letzteren  sind  erst  mit  dem  Empor- 
kommen des  Bürgerstandes  seit  dem  XII. — XTV.  Jahrhundert  allge- 
mein üblich  geworden,  während  eine  Person  bis  dahin  und  vereinzelt 
noch  später  nur  einen  Namen  führte.  Zu  Vornamen  —  das  Wort 
hat  natürlich  erst  einen  Sinn,  seitdem  es  Zunamen  bezw.  feste  Zunamen 
(sB  Familiennamen)  gibt  —  verwendete  man  gebräuchliche  deutsche 
und  fremdsprachliche  Namen,  aber  dieselben  Formen  kehren  auch  als 
Zunamen  wieder,  so  dals  eine  feste  Grenze  zwischen  Vor-  und  Zu- 
namen hinsichtlich  des  Namenschatzes  nicht  existiert:  Friedrich, 
Günther,  Heinrich,  Bruno,  Beate  kommen  teils  als  Tauf-,  teils  als 
Familiennamen  vor. 

Die  Erforschung  der  Namen  ist  ein  recht  wesentlicher  Zweig  der 


I)  Vgl.  meme  Arbeit  in  Ält-Amstadt,  I.,  (Arnstadt  1902),  S.  118. 

18 


—     246     — 

Sozialgeschichte,  da  jeder  einzelne  Mensch  einen  Namen  trägt  und 
hier  leicht  Masscnvorstellimgen  gewonnen  werden,  die  wiederum 
einen  Rückschlufs  auf  das  geistige  Leben  der  jeweiligen  Gesellschaft 
zulassen.  Es  ist  bekannt,  dafs  das  Mittelalter  an  einer  bedenklichen 
Namen armut  leidet.  Nicht  als  ob  aus- dem  Laufe  eines  Jahrtausends 
nicht  eine  ganz  riesige  Masse  verschiedener  und  uns  vielfach  seltsamer 
Namen  überliefert  wäre;  dies  ist  wohl  der  Fall,  aber  in  ii^endeiner 
bestimmten  Generation  und  Gegend  ist  die  Zahl  der  belegten  Namen  stets 
aufserordentlich  geringe  wenige  Modenamen  herrschen  unverhältnismälsig 
vor,  d.  h.  der  jeweilige  Namenschatz  ist  klein  ^).  Oft  haben  bekanntlich 
sogar  Geschwister  gleiche  Namen :  in  manchen  Geschlechtem  gibt  es  nur 
wenige  oder  wie  bei  den  Gliedern  der  fürstlichen  Häuser  Reu(s  gar 
nur  einen  zulässigen  Vornamen,  nämlich  Heinrich.  Wie  schon  an- 
gedeutet, spielt  andrerseits  die  Mode  eine  sehr  grofse  Rolle  bei  der 
Namengebung,  und  manche  Kultureinflüsse  verraten  sich  in  dem  plötz- 
lichen Auftauchen  fremder  Namen,  man  denke  nur  an  den  Einfluis 
Spaniens  (Ferdinand)  und  Frankreichs  (Louis,  Henriette,  Charlotte). 
Wer  einmal  die  Sittengeschichte  unserer  Zeit  schreibt,  wird  ebenüalls 
nicht  umhinkönnen,  diese  typische  Erscheinung  mit  ihrem  sozialen 
Untergrunde  zu  schildern. 

Sachgemäfs  sollte  der  Personenname  kein  leerer  Schall  sein,  son- 
dern die  Art  des  ihn  tragenden  Einzelwesens  widerspiegeln.  Weil 
letzteres  aber  zu  der  Zeit,  da  es  in  der  Regel  benannt  wird,  noch  ein 
unbestimmtes  Etwas  darstellt,  ist  es  unmöglich,  ihm  einen  Namen  als 
Inb^IxifT  seiner  Haupteigenschaft  beizulegen.  So  kommt  es,  dafe  die 
den  Kindern  bald  nach  der  Geburt  erteilten  Namen  in  der  Tat  keine 
reale  Grundlage  haben,  meist  nur  einen  Segenswunsch,  den  Ausdruck 
der  Freude  oder  den  Hinweis  enthalten,  dafs  der  Sprölslingdereinst  seinem 
Namen  Ehre  machen,  die  darin  ausgedrückten  Eigenschaften  im  Leben 
verwirkUchen  solle.  Jedes  Volk  hat  von  Haus  aus  eine  ihm  eigentüm- 
liche Art  der  Namengebung :  fiir  die  Ägypter  *) ,  Hebräer ,  Inder» 
Iranier  *),  Griechen,  Römer  und  Slawen  *)  u.  a.  sind  die  daftir  gelten- 
den  Grundsätze    schon    mannigfach   untersucht.     Das    etymologische 

i)  Vgl.  darüber  St  ein  hausen,  Die  Namenarmtä  im  ausgehenden  MittelaUer 
in  der  Zeitschrift  för  deutschen  Unterricht  Vm,  S.  ^i6ff.  und  Tille,  Weibliehe  Vor- 
namen im  MiUekUter  in  der  Zeitschrilt  fUr  Knitargeschichte,  5.  Bd.  (1898),  S.  173  ff. 

2)  H.  Bragsch,  Sonntagsbeil,  zur  „Vossischen  Zeitung*',  1892. 

3)  Justi,  Lranisehes  Namenbuch  (Marburg  1895). 

4)  Einleitung  tu  meiner  Arbeit  Über  die  thüringisehen  Familiennamen  (2  Teile, 
1885— 1886).  Vgl.  diese  ZeiUchrift  2.  Bd.,  S.  127  sowie  Miklosich,  Die  Bildung 
der  slawischen  Personennamen  (Wien  1860). 


j 


—     247      — 

Durchdringen  und  Verständnis  dieser  Namen  lehrt  uns  in  der  Tat  das 
Denken,  Fühlen,  WoUei^  und  Wirken  des  Volkes,  den  Stern  und  Kern 
seines  Charakters  entdecken  und  erfassen.  Einen  spärlichen  Vorrat  an 
Namen  hatten  z.  B.  die  Römer,  und  ihre  Namen  sind  recht  haus- 
backen *),  während  die  der  Israeliten  und  noch  mehr  die  der  Griechen 
sehr  zahlreich  sind  und  meist  einen  recht  schönen  Sinn  geben.  Am 
reichsten  und  tiefsten  war  aber  ohne  Zweifel  von  jeher  der  Namen- 
schatz der  Germanen.  Von  dem  hohen  Fluge  der  Gedanken  und  der 
bei  ihnen  üblichen  Schätzung  der  Tugenden  legen  die  Namen,  die 
ältesten  Denkmäler  unserer  Sprache,  ja  vielfach  die  ältesten  geschicht- 
lichen Denkmäler  überhaupt,  ein  ebenso  glänzendes  wie  beredtes  Zeug- 
nis ab. 

Die  germanischen  Namen  sind  in  der  Regel  zweistämmig  und  — 
in  dieser  Beziehung  den  griechischen  verwandt,  ja  völlig  gleich  — 
aus  zwei  Wörtern  zusammengesetzt,  von  denen  jedes  einen  bestimmten 
Sinn  gibt,  wie  Ariovist,  CaitAalda,  Theoderich,  Gtmdakar,  Ansgar,  Os- 
waU.  Doch  gibt  es  auch  eine  Anzahl  schon  im  grauen  Altertume  ein- 
stämmiger Namen,  die  also  überhaupt  nicht  zusammengesetzt  vor- 
kommen, oder  deren  einfache  Form  die  spärlichen  Zusammensetzungen 
oder  Ableitungen  durchaus  überwiegt«  wie  Nctöua,  bei  Cäsar  erwähnt 
und  als  Naso  verbreitet '),  Bisino  und  Bisina,  Anno  und  Anna  (deutsch, 
nicht  der  hebräische  Name  Anna),  Otto,  Fatto  u.  a. ,  doch  sind  damit 
nicht  die  sehr  zahlreichen  Koseformen  oder  Kurznamen,  Kürzungen 
aus  zweistämmigen  Personennamen,  zu  verwechseln  *).  Das  bisher  noch 
offene  Problem,  ob  die  Zweistämmigkeit  ursprünglich  sei,  oder  Ein- 
stämmigkeit voraussetze,  hat  der  bald  nach  Erscheinen  seines  treff- 
lichen Werkes:  Mittelhochdeutsches  Namenbtuih.  Nach  oberrheinischen 
Quellen  des  XII.  und  XIII,  Jahrhunderts  (Basel  1903)  leider  zu  früh 
(Februar  d.  J.)  verstorbene  Baseler  Professor  Adolf  Socin  in  treffender 
Weise  gelöst.  Sein  Gedankengang  ist  folgender.  Stark  vermutete  am 
Schlüsse  seiner  Beiträge  zur  Kunde  germanischer  Personennamen*), 
dafs,  wenn  in  geschichtlicher  Zeit  die  zweistämmigen  Namen  das  Ur- 


i)  Ich  erinnere  nnr  an  die  Namen  FahitiSy  Lenttdua,  PorctuSj  die  Bohnenmann, 
Linsemann,  Schweinezüchter  bedeaten. 

3)  Dafs  dieser  Name  germanisch  und  nicht  lateinisch  ist,  wnrde  in  Haapts  Zeit- 
schrift  XXII,  S.  328   nachgewiesen.     Umgekehrt    ist  Ärminius  lateinischen  Ursprungs. 

3)  Vgl.  Stark,  Die  Kosenamen  der  Oermanen  (Wien  1868)  and  meine  Abhand- 
lang I,  Einleitang. 

4)  Sitzongsber.  der  Wiener  Akademie  der  Wissenschaft,  hist.-phil.  Kl.,  Bd.  23 
(1857),  S.  654 ff. 

18» 


—     248     — 

sprüngliche,  die  einstämmigen  dagegen  sekundär  sind,  es  sich  in  vor- 
geschichtlicher Zeit  umgekehrt  verhalten  haben  müsse:    da  seien  die 
Namen  anfanglich  einfach  gewesen  und  die  zusammengesetzten  seien 
erst  allmählich  aus  ihnen  entstanden,  da  man  versucht  hätte,  die  Namen 
der  Eltern  und  Verwandten  mit  denen  der  Kinder  zu  vereinigen.    Diese 
Vermutung  wird   in  ihrer  Hauptsache  dadurch  widerlegt,   dafs  Fick, 
Die  griechischen  Personennamefi  (Göttingen  1874)   für  das  Griechische 
die  Ursprünglichkeit  der  zweistämmigen  Vollnamen  nachgewiesen  hat. 
Wie  im  Germanischen   z.  B.  Gerhart  zu   Gero,  Gundakar  zu   Gundo 
(nochmals  verkürzt  Gundizo,  Gunzo  *)),  Sigebert  zu  Sizzo,  Sitto  •)  wird 
oder   ein    Sifridus    cognomento  Sicco  998  •)  vorkommt ,    so   wird   im 
Griechischen  JrifxoyLQatriq  im  Jfjfxog  gekürzt,  OeQivtyoog  zu  Oeorig,  £<dj- 
&ea  (von  göttlicher  Gestalt,   os  humerasque  deo  simüis,  sagt  Ve^l), 
zu  Eidd,  JafioyiQcov  zu  riqtavy  nokvXaidag  zu  ^didag,  IIol^dwQog  zu 
Iloliidag,  IloXikpafiog  zu  Ilokikpag,  Jriiioa&ivrig  (germanisch  FoVchart) 
zu  Jr^fioa&äg  (Ftüco).    Den  gleichen  Grundsatz  weist  Justi,  a.  a.  O., 
für  das  altpersische  Namensystem  nach :  Darayawahu  wird  zu  JaQÜog 
oder  —    aus  dem  zweiten  BestandteU  —   zu  ^ii^og   verkürzt.     Es  ist 
also  diese  Bildungsweise  schon  uralt,  indogermanisch. 

Wir  sehen  zugleich  schon  aus  diesen  wenigen  Beispielen,  dafs  ¥rie 
in  anderen  indogermanischen  Sprachen  bei  den  germanischen  Namen 
der  erste  Stamm  den  besonderen  eigenschaftlichen  Teil,  der  zweite  in 
der  Regel  den  allgemeinen  Begriff  enthält :  in  Qerhart  ist  ger  das  Be- 
sondere, die  besondere  Waffe,  hart  der  allgemeine  Begriff  (=  stark) ; 
ebenso  besteht  Reinhart  aus  ragin  (=  Rat)  und  hart  (=»  stark),  be- 
deutet  also  „stark  im  Rat*',  wogegen  Kuonrat,  Conrad,  zusammen- 
gezogen Kurtj  griechisch  QqaaißovXog^  die  entg^engesetzte  Bildung 
aufweist.  Die  Koseform  dazu  ist  Ktumo,  Kuno.  Es  liegt  auf  der  Hand, 
dals  die  alten  Namen  mit  der  Zeit  umgestaltet  und  verigidert,  durch 
den  vielen  Gebrauch  verstümmelt  und  verderbt  worden  sind.  Die  oft 
Jahrhunderte  währende  Fortpflanzung  der  Personennamen  durch  münd- 
liche Überlieferung,  der  fortwährende  Wechsel  in  den  Anschauungen 
des  Volkes,  vor  allem  die  Veränderung  und  Entwickelüng  unserer 
Muttersprache,  Verschiedenheiten,  Verdrängungen  und  Vermischungen 
der  Mundarten  haben  hierzu  natürlich  in  mancher  Weise  beigetragen. 
Ihre  Bedeutung,  der  tiefere  Sinn,  der  ihnen  allen  ursprünglich  zugrunde 

i)  OundakoTy  qui  et  Ounxo  aot  d.   J.  1014  bei  J.  Grimm,  Gramm.  IV,    1338 
(3.  Aufl.). 

3)  Ebend.  S.  1239. 
3)  Ebend.  S.  1240. 


—     249     — 

lag,  ihre  Anmut  und  Schönheit  wurde  zwar  nicht  mehr  vom  Volke 
verstanden  und  gewürdigt,  aber  trotzdem  hielten  sich  die  Namen  als 
dunkle,  schemenhafte  Gestalten,  sie  blieben  bestehen  aus  Gewohnheit 
und  Familienrücksichten.  Ulrich,  Uodalric,  im  VIII.  Jahrh. ,  von 
uodal,  odal,  ahd.  uodil  (=  Erbgut  oder  Heimat),  alts.  oäil,  ags.  eäd 
und  rieh  *),  got  reiks  (=  mächtig,  vornehm),  ahd.  rihhi,  mhd.  riche, 
also  den  Erbgutreichen,  den  Herrscher  über  seinen  Erbsitz,  nannte 
man  im  ausgehenden  Mittelalter,  ohne  sich  dabei  etwas  zu  denken, 
einen,  der  als  armer  Teufel  durchs  Leben  ging,  Wolfram  (Wolfhrahan, 
VII.  Jahrhundert),  nach  den  heiligen  Tieren  Wotans,  dem  Wolf  und 
dem  Raben  (ahd.  hraban,  räban,  hram,  ahd.  u.  mhd.  ram),  einen, 
der  ein  guter  Christ  war.  Nach  wie  vor  wurde  der  Name  Bern- 
hard, der  Bärenstarke  {Berinhard,  VIII.  Jahrhundert)  gebraucht,  ob- 
schon  das  heilige  Tier  Donars  in  Deutschland  längst  ausgerottet  und 
der  Träger  des  Namens  vielleicht  ein  schwacher  und  recht  fried- 
liebender Mann  war;  Bluoma  ^),  Rosa,  Minna  (die  Liebreiche),  Tiura 
(die  Teure),  Holda  (IX.  Jahrhundert),  Vreuda,  Wunnegebe  (XIII.  Jahr- 
hundert) bezeichneten  weibliche  Wesen,  die  vielleicht  nie  Sonnenschein 
ins  eheliche  Leben  brachten. 

Aus  Gewohnheit  und  Familienrücksichten,  sagte  ich,  wollte  man 
den  Namen  des  Vaters,  Ahnen  oder  Urahnen  nicht  missen,  und  hielt 
oft  jahrhundertelang  daran  fest.  Neben  den  alten  Namen  bildeten 
sich  aber,  besonders  in  Familien  mit  zahlreicher  Kinderschar,  immer 
neue:  die  Römer  halfen  sich  nüchtern  mit  einfachen  Zahlennamen, 
wie  Secundus,  Quinius,  Sextus,  Sepümus,  Oeiavus,  Nont^^  Decimus% 
und  auch  unseren  deutschen  Voreltern  ist  dieses  Auskunftsmittel  nicht 
entgangen ;  belegt  sind  die  entsprechenden  Namen  Sipunia  (VIII.  Jahr- 
hundert), Niunta  (VIII.  Jahrhundert),  Einciho  (IX.  Jahrhundert)  und 
Einicho  (X.  Jahrhundert).  Aufeerdem  wurden  die  Koseformen  oder 
Kurznamen  immer  zahlreicher.  Auch  Abkürzungen,  Umstellungen  der 
alten  Namen  traten  ein:  aus  Winirich  (VIII.  Jahrhundert),  der  Freunde 
Fürst,    wird   Bichwin    (kein   Imperativname!),    aus   BcMwin,   Balduin 


i)  Dad  rieh  kein  germanisches  Wort,  sondern  aus  dem  Keltischen  entlehnt  sei, 
wird  jetzt  last  allgemein  (auch  von  Socin  S.  3io)  angenommen.  Ich  kann  dieser  An- 
sicht nicht  beipflichten,  denn  es  ist  doch  wohl  nur  Sprachverwandtschaft,  auch  mit  lat. 
rex,  anzunehmen:  Ämaiarichy  Hermanarieh  im  Gotischen. 

2)  J.  Grimm,  Über  Frauennamen  (ms  Blumen  (Berlin  1853). 

3)  Eine  unter  den  der  Legende  nach  mit  der  heiligen  Ursula  von  Britannien  nach 
Köln  gekommenen  Märtjrrerinnen  befindliche  ündeeimilla  ist  der  Anlafs  zur  Entstehung 
der  Sage  von  den  dftausend  (undeeim  müia)  Jungfrauen  geworden. 


—     250     — 

kühner  Freund,  WihbaU,  WimbaÜ,  Wimpel,  aus  Berthar:  Herbert^  aus 
HiUhurg :  BurghiU.  Schliefslich  kommen  auch  Umstellungen  und  Ab- 
kürzungen innerhalb  derselben  Silbe  vor:  hret  entsteht  aus  beri,  ferd 
aus  frifhu,  fridu,  fred  (Ferdinand  aus  Fridunand),  mhd.  berM  aus  ahd. 
beraJU  (glänzend). 

Und  selbst  heutzutage  hat  die  BUdung  neuer  Namen   noch  nicht 
aufgehört,  und  der  herrliche  germanische  Namenschatz  wird  noch  immer 
bereichert.    Freilich  ist  die  Tatsache  nicht  wegzuleugnen,  dafs  auch  viele 
fremdsprachige  Namen,  zunächst  solche  der  Heiligen  '),  mit  der  Aus- 
breitung des  Christentums  und  Einbürgerung  des  Kalenders  mit  seinen 
Märtyrertagen  bei  uns  eingedrungen  sind,  und  da(s  der  Völkerverkehr, 
besonders   seit  Ausgang  des  Mittelalters,    uns  auch  eine  grolse  Zahl 
Namen   zugeführt  hat.     Die  Neubildung  von  Namen  und  die  Anwen- 
dung und  Verbreitung  der  alten  ist  dadurch  zweifellos  aufjgehalten  und 
vielfach  verhindert  worden.    Aber  für  die  Neuzeit  läfst  sich  bereits  der 
Beweis  erbringen,  dafs  besonders  in  der  evangelischen  Bevölkerung  die 
national-deutschen  Namen  nach  der  Reichsgründung  mehr  imd  mehr 
Aufnahme  gefunden  haben  '). 

Diesen  wenigen  Andeutungen  liegt  nicht  die  Absicht  zugrunde, 
die  Probleme  der  Namensforschung  erschöpfend  vorzufuhren.  Sie  sollen 
vielmehr  als  Anregung  dazu  dienen,  die  Namenkunde  einer  bestimmten 
Gegend  •)  als  Hilfsmittel  zu  deren  geschichtlichen  Verständnis  zu  ver- 


i)  VgL  V.  Briuningk,  Der  Einfluß  der  Heüigenverekrung  auf  die  WM  der 
Taufnamen  in  Riga  im  Mittelalter  (vgl.  Sitzungsberichte  der  Gesellschaft  für  Geschichte 
and  Altertumskunde  der  Ostseeprovinzen  Rufslands  ans  dem  Jahre  1903,  S.  77 — 83). 

2)  Vgl.  Pulvermacher,  Programm  des  Lessinggymnasinms,  Berlin  1903.  —  Die 
1886  in  Görlitz  üblichen  Rufnamen  steUte  Je  cht  im  Neuen  Lausitzischen  Magazin  Bd.  62, 
S.  149 — 154  zusammen. 

3)  Untersuchungen  über  die  Personennamen  in  einzelnen  Städten  und  Gegenden 
gibt  es  bereits  eine  ziemliche  Zahl,  aber  sie  nutzen  sämtlich  das  Material  nicht  genügend 
geschichtlich  aus.  Es  seien  hier  genannt:  Je  cht,  Beiträge  xur  Oörlitxer  Namen^ 
künde,  (Neues  Laus.  Magazin,  Bd.  68,  1892);  Knothe,  Die  Entstellung  und  Bildung 
bürgerlicher  Familiennamen  in  der  Oberlausitx  bis  gegen  Mitte  des  XIV.  Jahr*- 
hunderts  (Neues  Archiv  für  sächsische  Geschichte  und  Altertumskunde  XIV,  1893, 
S.  312  —  323);  Göpfert,  Annaberger  Familiennamen  (Mitteilungen  des  Vereins  für 
Geschichte  von  Annaberg  und  Umgegend,  V.  Jahrbuch,  1896—1898);  Koch,  Saalfelder 
Familiennamen  und  Familien  (1877  — 1878)  ;Kleemann,  Die  Familiennamen  QuedUn- 
burgs  und  der  Umgegend  (i  89 1 ) ;  H  e  s  s  e  1 ,  \Die  deutsehen  Familiennamen  und  ihr  Zusam- 
menhang mit  der  deutsehen  Kultur ^  erläutert  an  den  in  Krewunaeh  vorkommenden  Namen 
(Kreuznach  1869);  Leithäuser,  Die  ältesten  Wupperthaler  Vornamen  (Monatsschrift 
des  Bergischen  Geschichtsvereins,  III,  1896,  S.  146  — 160);  Glöel,  Die  Familiennamen 
Wesels  (Wesel  1901).  —  Im  Vorübergehen  werden  die  Namen  z.  B.  behandelt  fUr 
Kaschan  im  Archiv  'für  Kunde  Österreichischer  GesehiehtsquelUn,    30.  Bd.,  (1863), 


—     251     — 

wenden  —  da  die  Namensform  zu  bestimmten  Zeiten  eine  bestimmte 
Gestalt  hat,  ist  die  Namensforschung  auch  ein  Hilfismittel  der  Quellen- 
kritik! —  und  in  diesem  Sinne  Forschungen  anzustellen,  sie  sollen  aber 
auch  einer  speziellen  Untersuchung  über  die  Arnstädter  Namen 
von  704  bis  zum  Ausgang  des  Mittelalters,  die  hier  folgt, 
den  allgemeinen  Hintei^irund  geben  und  ihre  Einzelheiten  verständlich 
machen.  Nur  so  wird  es  möglich  werden,  die  Fülle  von  Beobachtungen, 
die  sich  darbieten,  zu  bemeistem  tmd  wissenschaftlich  das  Gebiet  der 
deutschen  Namenwelt  zu  erschlieisen ,  von  dem  ich  mit  Anlehnung 
an  L.  Tieck  sagen  möchte: 

Mondbeglänzte  Zaubemacht, 
Die  den  Sinn  gefangen  hält, 
Steige  auf  in  aher  Pracht, 
Wundervolle  Namen  weit! 


Der  Stadt  Arnstadt  gebührt  in  Hinsicht  des  Alters  unbedingt  der 
Preis  unter  den  Städten  Thüringens  *).  Schon  704,  etwa  25  Jahre  nach 
dem  -Auftreten  Kilians  und  15  Jahre  vor  Bonifatius'  Ankunft  in  Thü- 
ringen, regierten  in  Thüringen  imd  dem  heutigen  Franken  eigene 
Herzöge,  die  in  einem  ziemlich  losen  Abhängigkeitsverhältnisse  zu  den 
£ränkischen  Königen  standen,  und  ihre  Residenz  war  Würzburg '). 

Einer  von  ihnen,  Heden  der  Jüngere,  stellte  hier  am  i.  Mai  704 
eine  Urkunde  aus,  laut  welcher  er  dem  Bischof  Willibrord  zu  Utrecht 
Güter  in  Arnstadt  (AmeskUi),  in  casteUo  Muienberge  (j.  Mühlberg, 
Rgb.  Erfurt)  und  in  curte  —  nuncupante  Monhore  (j.  Ostermondra, 
Grofemondra  bei  Sangerhausen)  schenkungsweise  überliefe. 

Die  ersten  Träger  von  Namen,  die  uns  mit  dem  Anfange  des 
VIII.  Jahrhunderts  in  den  Arnstädter  Urkunden  entgegentreten,  sind 
der  genannte  Erlauchte  Mann  Heden,  Herzog  von  Thüringen,  der  uns 

S.  33—44;  für  die  Mark  Brandeobarg  (XIV.  Jahrhundert)  bei  Klöden,  Diplomen 
tiaehe  öeaehiehie  des  Markgrafen  Waldemar  von  Brandenbitrg  L,  (1844),  S.  131  &, 
395ff.;  fUr  Braanschweig  bei  Haremann,  Otachiehte  der  Lande  Braunaehweig 
und  Lüneburg  L,  (1853),  S.  331 ;  fdr  Leipzig  bei  Wastmann,  Quellen  zur  Oe- 
aehichte  Leipzigs  L,  (1889),  S.  46,  71 ;  fUr  Halle  bei  Hertzberg,  Geschichte  der 
Stadt  Haue  o.  S.  L,  S.  210,  213,  424;  für  Erfart  bei  Kirchhoff,  Erfurt  im 
XTTI,  Jahrhundert  (Berlin  1870)  S.  49—54. 

i)  Thuringasnes  laatet  der  Name  726  im  ürkundenbuoh  der  Stadt  Arnstadt  704  bis 
1495,  heraosg.  von  Barkhart  (Jena  1883)  —  im  folgenden  abgekürzt  A.  U.  —  S.  2.  VgL 
Dr.  Ladwig  Friedrich  Hesse,  Arnstadts  Vorxeit  und  Oegenwctrt,  184s,  Heft  r,  S.  2. 

2)  Virednsreh,  A.  ü.  i,  S.  2,  J.  704. 


—     262     — 

als  Uedenus  vir  illuster,  als  Hedenus  dux,  vir  illuster,  auch  blois  Hede- 
nus  (704)  oder  Illuster  vir  Hedenus  (726  im  Testamente  Willibrords; 
gestorben  ist  Heden  wahrscheinlich  schon  716)   entgegentritt.     Seine 
Gemahlin  heilst  Theodrada  (cum  ctmiuge  mea  darissima  TheodradaJ, 
und  der  Sohn  beider  Thuringus  (Thuringus^  fUius  Hedeni).    In  der- 
selben  Urkunde  werden  erwähnt  der  Bischof  von  Utrecht,  WüUbrardus 
episcapus,  und  am  Schlüsse  in  der  Datierung  der  Frankenkönig  Childebert. 
Es  ist  herzerfrischend,  gleich  in  diesen  hohen  Kreisen  so  schönen 
und  seltenen,  und  zwar  echt  germanischen  Namen  zu  b^egnen.    Der 
Stammvater  Hedens   ist  Chamarus  ^).     Diese  Form  ist  echt  fränkisch 
wegen  des  scharfen  Hauchs  im  Anlaut  statt  Hamar(us)  *),  und  einfach 
ein    im    Sprachschatze    vorhandenes   Appellativum ,    keine   Koseform, 
ebensowenig    wie    StaJud,    Magan,    Groß    (VIII.    Jahrh.)    und   Nagal 
(DC.    Jahrh.),     aber    wie    diese    letzteren    Namen    ein    Sinnbild    der 
Festigkeit  und  Kraft,    und  bedeutet  „Hammer'',  wobei  man  wohl  an 
den    nordisch    Miölnir    benannten    Hammer   Donars,    den   Blitzstrahl, 
denken  darf  ^).     Dessen  Sohn   führt  den  Namen  Badulf  aus  ahd.  und 
mhd.   rät  („Rat"),   ein  Wort,   das   sich  seit  dem  V.  Jahrh.   in  Per- 
sonennamen findet,  und  ulf,  olf  (^=a.  wolf),  Ratswolf,  d.  h.  also  vielleicht 
soviel  wie  der  nach  Rat  Gierige.      Dieser  Name  ist  nicht  identisch 
mit  Rudolf  (=»  Hruodölf,  Ruhmeswolf,  der  nach  Ruhm  Gierige).    Seine 


i)  Hedens  Geschlechtstafel  ist  nach  Eckhard,  Commeniar.  de  reb.  Franc,  orieni. 
I,  325,  abgedrückt  bei  Hesse,  a.  a.  O.,  S.  81,  folgende: 

Chamarus 


Radolf  (Rudolf,  Ruodo),  Gemahlin: 

Herzog  von  ThOringen,  630      Kunigunde. 


Heden  (Hedene;  Hethan)  der  ältere,  Herzog,  gest.  651 
I.  Gem.,  unbekannt  2.  die  heil.  Bilhildis 

Aus  I.  Ehe:  Aus  2.  Ehe: 

Sohn  mit  unbekanntem  Namen,         Theobald  oder  Gozbert,  Sigebert, 

dessen  Gem.  Geilana  Herz.  v.  Thür.,  687  als  Kind  gest. 

Gem.  Geilana, 
Witwe  seines  Bruders. 


Heden  (Hethan,  Hetan)  der  jüngere,  Herzog  von  Thüringen, 

704.  716.     Gemahlin  Theodrada 

, fs , 

Thuringus,  704.  716  Die  heil.  Irmina. 

2)  Bei  Förstemann,  Altd.  Namenbuch  I'  wird  Hamar  erst  im  VIEL  Jahrh. 
erwähnt ;  Eamerard  (Vm  Jahrh.)  und  Hamarolf  (DC  Jahrh.)  sind  Vollnamen,  aber  m.  E. 
erst  sekundäre,  jüngere  Bildungen. 

3)  Als  Analogie  wäre  heranzuziehen  Makkabäar  vom  hebr.  Makaph  (Hammer)  und 
Karl  Marteü,  wo  letzteres  Wort  nur  Zuname  ist. 


—     253     — 

Gemahlin  beiist  Kumgunde  aus  chuni,  abd.  kunni,  chunni  (Geschlecht) 
und  gund  (Kampf),  und  dies  ist  ein  echter  „Walkürenname 'S  wie 
MüUenhoif  die  al^ermanischen  Frauennamen  einmal  genannt  hat 
Beider  Sohn  ist  Heden  vom  ahd.  hetan,  Hedin  (VI.  Jahrb.),  fränkisch 
Chedin,  Heden(us).  Die  Bedeutung  des  Stammes  ist  noch  unklar;  den 
Stamm  selbst  bat  Grimm  (Ztschr.  f.  deutsch.  Altert.  II,  2)  erkannt; 
an  eine  Verwandtschaft  mit  dem  Stamme  Aat^n  (nach  Förstemann 
=  Häuptling  über  Landbewohner,  später  heidnische  Urbewobner)  ist 
nicht  zu  denken,  und  an  den  Stamm  hcUhu,  hadu  (Krieg,  Hader)  mit 
Suffix  in  (vgl.  Irminl),  der  in  Hedwig  aus  Hathuwic  lebt,  ebensowenig  ^). 
Hedens  zweite  Gemahlin  hieis  Bühüdis  aus  hil  (ahd.,  mhd.  Streitaxt, 
unser  Beil;  vgl.  aber  auch  gr.  (piXo^  und  den  alten  Stamm  hil  im 
Sinne  von  Billigkeit,  Recht)  und  hilt  (ahd.  hiUjay  alts.  Mld  =  Kampf)  *). 
Ein  Sohn  Hedens  unbekannten  Namens  aus  erster  Ehe  war  vermählt 
mit  Geilana,  verkürzt  Gaila^),  Dieser  Name  ist  abgeleitet  von  geü 
(ahd.  gaü,  keü,  mhd.  geil,  übermütig,  lustig),  imd  die  männliche  Form 
würde  Geilo  lauten.  Mit  demselben  Stamme  sind  gebildet  GeUmci, 
GaUrat  und  Gailrada,  GeUwib,  die  alle  im  VIII.  Jahrb.  belegt 
sind^).  Der  andere  Sohn,  Theobald  (=:  Thieodbald  =  Theudobald, 
ahd.  Dietpcid,  vom  Stamme  theuda,  got.  thiuda,  ahd.  diot  Volk)  und 
b(üd  {baU,  boU,  kühn),  oder  Gozberi  —  sekundäre  Bildung  aus  der 
Koseform  Gojso  zu  god  (Gott)  und  bert  glänzend  (ahd.  peraJU)  —  ver- 

i)  Ein  altgennanischer  und  zwar  einstämmiger  Name  ist  Heden,  Bedan,  Hetan 
jedenfalls.  Als  Familiennamen  haben  wir  ihn  heute  noch  in  Meiningen  und  Dresden. 
Der  Name  des  berühmten  schwedischen  Reiseoden  und  Forschers  Sven  Hedin  (HedirmJ 
erinnert  an  den  nordischen  Stamm  hedhinn  „Rock,  Kleid ^^  in  OundhetaUf  Wolfhetan, 
MardhetiHf  Bjamheddin  und  im  Angels.  üolfhedan  IX.  und  X.  Jahrh.  =>  Hede- 
ntdfuSy  die  Umkehrung,  wie  in  Kemot  »o  Nötker,  Wolfgang  »o  Qangolf  (unser  thttring. 
GangloffiBömmem  -■  Gangolfss.),  Nanttcie  und  Wicnant,  Ntthart  und  Hartntt,  Es 
könnte  m.  E.  hedan,  hedm  tropisch  «»  der  Schütxende  sein;  vgl.  ags.  hedan  hüten,  be- 
hüten, das  altgerm.  heim  und  hat  (englisch  ■■  Hut).  Auch  an  den  Namen  Theiudane 
(bei  Förstemann)  zu  thiuda  (Volk),  der  wie  eine  Partiiipialform  aussieht,  möchte  ich 
erinnern. 

2)  Bühüdis  mit  ausgefallenem  t,  bez.  «;  nrspr.  Büihüd  (-ts  -ay  im  VL,  VIL  und 
Vm.  Jahrh.,  neben  BilehiU  und  Bilhüd  im  VIII.  Jahrh.  Büihüd  ist ,  was  mir  bei  den 
nahen  Beziehungen  zwischen  dem  fränkischen  Königshanse  und  der  thüringischen  Herzogs- 
familie nicht  nnerwähnenswert  scheint,  auch  der  Name  der  Gemahlin  des  Königs  Theode- 
bert  IL  (VI.  Jahrh.)  und  des  Königs  ChUderich  U.  (VU.  Jahrh.). 

3)  Qeratrudis  Mi  Oeüa,  traditiones  Wizenburgenses  im  Jahre  7X7(Förstemannl' 
567)  ist  durchaus  nicht  dem  Sinne  nach  dasselbe  trotz  sibi  statt  eive;  vielmehr  ein  gar 
nicht  dem  VoUnamen  Gertrud  verwandter  einstämmiger  Name;  im  übrigen  entsprechen 
solche  Beispiele  mit  sive  (aeu)  den  doppelten  Taufnamen. 

4)  Förstemann,  a.  a.  O.,  S.  567f. 


—     254     — 

mahlte  sich  mit  der  Witwe  seines  Bruders,  der  eben  erwähnten  Gei- 
lana (Oaila,  Geila).  Dieser  Namenwechsel  deutet  den  Übertritt  zum 
Christentume  an  ^) ;  in  anderen  Fällen  vollzieht  er  sich  beim  Eintritt 
in  den  geistlichen  Stand;  so  wird  Winfrid  zu  einem  Bonifatius,  Oer^ 
heri  als  Papst  zu  einem  Sylvester.  Förstemann  denkt  an  zwei  verschie- 
dene Herzöge:  Thetidobald  im  VII.  Jahrh.  und  Goi^>ert  ebenfalls 
im  VII.  Jahrh.,  wenn  er  Gaila,  die  Tochter  des  Thüringerherzogs 
Gozbert^)  nennt 

Aus  zweiter  Ehe  stammt  der  bereits  ab  Kind  verstorbene  dritte 
Sohn  Hedens  des  älteren,  Sigebert  von  sig  (got.  sigis,  ahd.  sigu,  sigi, 
mhd.  sige,  sie  „Sieg**,  seit  dem  I.  Jahrh.  in  Namen:  Segimer  (statt 
Sigimer,  Sigmar),  Segimundus,  Segestes  bei  Tacitus)  und  bert*), 
Hedens  des  älteren  zweiter  Sohn  und  Erbe  ist  unser  neden(us)f 
Heden,  der  jüngere.  Seine  Gemahlin  Theodradä,  aus  thieod  =  ihiuda  *), 
diet  und  rada  von  rat  mit  der  ahd.  und  lat  Endung  -a,  ist  die 
„Volksberaterin**.  Bei  Förstemann  findet  sich  auch  die  Femininform 
Gtmderat  ohne  a,  echt  deutsch,  denn  im  ahd.  bildet  man  männliche 
und  weibliche  Personennamen  mit  -ratj  wie  mit  -/rö,  -lauby  -nmot, 
'Sint  und  -ung  (z.  B.  Hedtoig,  männlich  und  weiblich;  als  Familien- 
name, also  männlich,  findet  sich  Hedwig  noch  jetzt),  und  nur  die  weib- 
lichen Kosenamen  haben  in  der  Regel  die  ahd.  und  lat.  Endung  -a, 
mhd.  -ß.  Theodrat  schenkte  ihrem  Gemahl  zwei  Kinder,  einen  Sohn, 
Thuringus,  und  eine  Tochter,  Irmina,  d.  i.  die  heilige  Irmina,  Kloster- 
jungfrau zu  Karlburg.  Mit  ihnen  erlischt  das  erlauchte  Geschlecht. 
Thtmng(tis),  d.  i.  ahd.  Thwring,  Turinc,  Durinc,  Dttring,  (der  Thüring, 
Thüringer,  unser  Familienname  Döring)  ist  vom  Volksnamen  her- 
genommen, —  urspr.  Hermunduren,  d.  h.  die  grolsen  Düren,  also  ein 

i)  Nadi  anderer  Erklänmg  Oox  vom  Stamme  gatix^  (Gote). 

2)  Sonst  auch  Oaud  (Gote);  die  Stämmen  füefiien  zusammen  (so  Ooxheltn  neben 
Ootahelm) ;  jenes  zu  Oauta  (Qctud),  dieses  zn  Oud  „  Gott  *'*'  gezogen  bei  Förstem. 

3)  Die  Verkürzung  im  i.  Teile  der  Zusammensetzung  aig  statt  ngts  (Sigfrid  statt 
Sigisfiridy  Sigmund  statt  Stgtsmund,  Sigmar)  ist  uralt;  so  ad  verkürzt  ans  adal  schon 
frühzeitig  (Adabraht  »  Adalbraht,  Förstemann  I',  163,  Ädamar  850,  Adarieh, 
Adolf,  Adbold  816,  Adbraht,  Adwin  ebd.),  uod  verkürzt  und  uodai  (Uoddbraht  X.  Jahrh.); 
am  aus  amal;  eg  aus  egil,  egis;  gis  aus  gial,  gisal;  erm  oder  irm  aus  ermen, 
irmini  Irmina  -«  Irma  —  im  Ungar,  aber  Bma  ■■  Marie  per  mekUhesin  —  im- 
gart  aus  Lmingart;  vgL  Lmintrui;  erk  aus  erkan  (Erehanger  und  Ereaharius,  Ere- 
mar)]  fruoch  aus  fruochan^  wdeh  aus  wolchan;  is  aus  tsan  (banbert)',  it  aus  üis 
(Ba,  Ha),    Vgl.  Henning,  Haupts  ZUchr.  XXXVn,  S.  312. 

4)  So  enthält  die  Form  Leopold  nicht  den  roman.  N.  leo  (Löwe),  sondern  leo  ist 
eine  Verstümmelung  aus  dem  altd.  Stamme  Hut,  ags.  ISode  Leute,  Volk,  P.  N.  Leodegar. 
Romanischer  Einflufs  ist  aber  nicht  ganz  auszuschliefsen. 


—     255     — 

nomen  gerUäe;  es  ist  zugleich  die  älteste  patronymische  Form  in  un- 
serem später  auf  Durioheim  beschränkten  Gebiet  und  nicht  etwa  eine 
einstämmige  Kürzung,  welche  Dura  lauten  müfste.  Die  Vollnamen 
ThuringbraJU  oder  Turind)ert,  Thüringer  und  Thurringarius  statt  Thu- 
ringger,  Turincwart,  die  im  VIII. —  IX.  Jahrh.  vorkommen,  halte 
ich  für  sekundäre  Bildungen  nach  Art  der  alten  zweistämmigen  Per- 
sonennamen. So  lauten  die  alten  Formen  Baiar,  Burgunt  (fem.?), 
Charlinch^),  Fine  (Beowulf),  Francho,  Freaso  oder  Friso  (Friese), 
Griwsing,  Htiso  und  Hesso,  Scuihso,  Mar,  Si4ab,  TTitmng,  Wifdd  und 
sind  einstämmig,  während  die  Vollnamen  Blacfin,  Oodfifmus  und  SU 
gifin,  MoroU,  Hasulf  usw.  sekundär  sind  *). 

Irmina,  d.  h.  die  Höchste ,  Hermine  ■) ,  vom  Stamme  irmin,  Ir- 
min,  bezeichnet  den  kriegerisch  dargestellten  höchsten  Gott  Wotan 
(oder  Halbgott:  Ermin,  Innin,  Grimm,  Mythol.,  S.  325),  überhaupt 
das  Höchste;  der  Name  ist  gebildet  wie  Basina;  dies  war  die  Tochter 
des  Bisinus,  des  Königs  von  Thüringen  (V.  Jahrh.)  und  Gemahlin 
des  Frankenkönigs  Chüderich.  Irmina  ist  wieder  der  einstämmige 
alte  Name;  die  Vollnamen  dazu  sind  Ermandrud  (VI.  Jahrh.)  oder 
Irmindrud,  Ermengard  oder  Irmingari,  Ermehgundis  (VII.  Jahrh.). 
Die  ganze  Sippe  Hedens  zeichnet  sich  durch  echt  germanische  Namen 
aus.  Aber  auch  Childä)ert,  das  ist  Childebert  IL,  König  der  Franken 
(695 — 711),  hat  einen  germanischen,  durch  die  Aspirata  im  Anlaut  als 
fränkisch  charakterisierten  Namen :  child  (ahd.  Mit)  und  bert,  neuhoch- 
deutsch Hubert,  Hilpert,  bedeutet  kampfglänzend,  der  glänzende  Kämpfer. 

Wiüibrord  ist  ein  ebenfalls  deutscher  Name  und  besteht  aus  tviUi, 
(got.  ioilja,  ahd.  müo,  mhd.  tviUe  „Wille,  Gesinnung")  imd  ahd.  prort, 
prot,  ags.  brarä  „Rand,  Schildrand"  (auch  Schiffsrand),  dann  —  totum 
pro  parte  —  der  Schild  selbst,  oder  die  Spitze  (des  Schwertes ,  dem 
Sinne  nach  =  or{).  Das  ursprüngliche  ;  des  Suffixes  ja  erhielt  sich 
in  Wilia  *)  —  und  Wilie  —  das   auf  dem  Wege  der  AssimUation  zu 

i)  Thuring  ist  Volksnftme,  Charlineh,  »ach  Kerline  in  den  Urkunden  (-■  Karo- 
linger) Geschlechtsname :  Carl,  Karl  (karel),  d.  h.  der  Gemeinfreie  ist  zum  „Kerl"  geworden. 

2)  So  ist  Smido  älter  als  Smidhart  and  Smidirat,  also  nicht  die  Koseform  dazu; 
es  sind  erst  aus  jenem  entstandene  Neubildungen;  so  ist  Karl  älter  als  Karlman,  die 
Zosammensetzong  in  diesem  Falle  also  wieder  sekandär;  so  ist  VoenuM  (Volcman)  jünger 
als  Voceo,  Wopeman  jünger  als  WoppOy  Woffekint  jünger  als  Woffo, 

3)  Lrmina  und  Ermina  sind  gleichbedeutend:  Ermina  heifst  schon  im  VIL  Jahr- 
hundert eine  Tochter  König  Dagoberts  II.  Auch  der  Volksname  Herminones  und  imAn- 
schlnfs  daran  die  JBermunduri  gehören  hierher. 

4)  Der  einstämmige  Name  Wilia  findet  sich  im  V.  Jahrh.  Statt  des  SufEzes 
ja  zeigen    auslautendes   i  schon   im  Gotischen    die  N.    Tkeudi  =  Thntdeis^  Waei  ■■ 

Wakjis,  Neudi  =  Niudeis,  Albi  —  Älbeis,   Vgl.  Wrede,  Sprache  der  Ostgoten,  S.  181. 


—     256     — 

Wüla  —  (seit  VII.  Jahrb.),  WiUi  —  (seit  Vni.  Jahrb.)  und  WiUe-, 
daraus  Wila-,  Wili-,  Wile-,  endlich  Wil-  wurde.  Der  Name  WiUi' 
brord  bedeutet  etwa  den  „willenskräftigen  Beschützer**.  Ein  solcher 
war  er  dem  Christentum,  das  laut  unserer  Urkunde  um  diese  Zeit 
schon  in  Thüringen  verbreitet  war.  Seine  Anwesenheit  in  Thüring^en 
ist  durch  Urkunden  auch  sonst  beglaubigt.  Dazu  treten  am  Schlüsse 
der  Urkunde  Laurentius  indignt^s  presbyter,  der  Schreiber  bezw.  Verfasser 
der  Urkunde,  und  wohl  als  Zeugen,  ohne  jeden  Zusatz :  J.  Rocchus.  DodcL 

Laurentius  ist  ein  kirchlicher  lateinischer  Name  und  heifst  ,,der 
Lorbeerbekränzte**.  Der  kirchliche  Träger  des  Namens,  der  heilige 
Laurentius,  war  im  III.  Jahrh.  Diakon  zu  Rom  und  ward  als  Mär- 
tyrer auf  einem  Roste  verbrannt ;  presbyter  bezeichnet  einen  Geistlichen 
höheren  Grades  als  sacerdos,  wiewohl  beide  Bezeichnungen  unserem 
„Priester**  entsprechen.  Der  Buchstabe  J.  ist  die  Abkürzung  eines 
Namens  und  als  aufserordentlich  frühes  Zeugnis  einer  solchen  Abkür- 
zung bemerkenswert;  es  kann  damit  sowohl  der  Name  Jacdbus  als 
auch  Johannes  bezeichnet  sein,  wiewohl  ersterer  Name  zu  «7a.,  letzterer 
als  Jo.  abgekürzt  zu  werden  pflegte  *). 

Bocchus  ist  vom  Stamme  hroc,  got.  hrukjan,  ahd.  rohon,  rugire, 
wohl  mit  Bezug  auf  den  Schlachtruf  [ßor^  dya&dg!)  gebildet;  der  Be- 
deutung wegen  ist  schwerlich  mit  Förstemann  an  roc  =  ruah,  ruoh 
„Sorge,  Ruhe**  zu  denken.  Crocus  hiefs  schon  im  IV.  Jahrh.  ein 
Alamannenkönig  —  Hrocus  lautet  die  Form  bei  Gregor  von  Tours;  es  ist 
ein  einstämmiger  Name;  an  den  Bischof  Rochus,  Rocho  von  Bourges,  der 
um  jene  Zeit  lebte  (697  —  737),  ist  in  unserer  Urkunde  wohl  nicht  zu 
denken.  Doda,  ebenfalls  deutschen  Ursprungs  und  dasselbe  wie  Dodo, 
ist  ein  mehrfach  für  Bischöfe  im  VI.  und  VII.  Jahrh.  bezeugter 
Name;  für  unsere  Zeit  käme  vielleicht  Bischof  Dodo  von  Toul  in  Be- 
tracht (705).  Dodo  ist  entweder  ein  „  Lallname  **  (Socin)  von  toh  =  pa- 
trinus,  tcUa  =  Vater,  oder  es  gehört  zu  thiuda,  diot  Doda  als  msc. 
kommt  nur  hier  und  in  der  Vita  Meinwardi  episcopi  (Mon.  Germ.  S.S. 
Bd.  13,  122  u.  129)  vor,  aber  als  Duda,  auch  bei  Cassiodor.  Sonst 
erscheint  Doda  nur  als  Frauenname,  ist  aber  als  solcher  im 
VII.— IX.  Jahrh.  sehr  häufig. 

Zu  diesen  Namen  gesellen  sich  neue  erst  im  X.  Jahrh.;  denn 
für  die  letzten  drei  Viertel  des  VIII.  *),  das  ganze  IX.    und   mehr  als 

x)  Zum  Kapitel  der  Namensabkürzangen  vgl.  Socin,  a.  a.  O.,  S.  43. 

2)  In  dem  A.  U.  findet  sich  S.  12  zum  Jahre  1266  auch  Karuku  impenUor,  Kart 
der  Grofse,  erwähnt  Bii  zum  Anfange  des  X.  Jahrhunderts  —  wohl  noch  vor  Heinrich  I.  — 
gehörte  Arnstadt   der  Abtei  Echternach,   und  Karl  der  Grofse  bekleidete   selbst    fast  ein 


—     257     — 

die  erste  Hälfte  des  X.  Jahrh.  sind  die  Geschicke  unseres  ÄmeakUi 
in  Dunkel  gehüllt.  Es  liegen  aus  dem  VIII.  nur  zwei,  aus  dem 
DC.  keine,  aus  dem  X.  zwei,  aus  dem  XII.  iiinf,  aus  dem  XIII  51, 
aus  dem  XIV.  188  und  aus  dem  XV.  Jahrh.  (bis  zum  Jahre  1496) 
641  Urkunden  vor;  es  bedeutet  dies  erst  äu&erste  Seltenheit,  dann 
Häufigkeit  und  schlieislich  Überflufs  an  Namenmaterial. 

Das  Jahr  954  erst  lüftet  den  Schleier  ein  wenig  und  gibt  ims 
^wieder  Kunde  von  Arnstadt  und  seiner  wachsenden  Bedeutung.  Laut 
Urkunde  vom  17.  Dezember  wird  nach  dem  Tode  des  Erzbischofs 
Friedrich  von  Mainz  (dompjnus  Frühuricus  sandae  Mogontiacensis 
ecclesiae  archiepiscapus),  Wilhelm,  Wülidmus,  der  Sohn  Kaiser  Ottos  I. 
und  einer  slawischen  Fürstin,  die  als  Gefangene  am  Hofe  seines  Vaters 
Heinrich  lebte,  im  Alter  von  26  Jahren  auf  der  Reichsversammlung 
zu  Arnstadt  (in  loco  Aranstedt,  in  A.  U.  S.  4  in  AmesUxt)  zum  Erz- 
bischof von  Mainz  ernannt  und  daselbst  Friede  inter  regem  OtUmem 
et  fUium  eius  Liadolfum  geschlossen. 

Alle  vier  Namen  sind  echt  deutsch.  Frühuricus  kommt  vom 
Stamme  frid,  ahd.  fridu,  mhd.  vride,  „  Friede,  Waffenstillstand,  Schirm 
und  Schutz  "  und  ric  (rieh)  vom  Stamme  rikja ;  dies  findet  sich  schon 
in  vorgermanischer  Zeit  bei  Namen  im  Sinne  von  rex,  keltisch  rig, 
worauf  z.  B.  der  Ortsname  Migomagus  (jetzt  Remagen)  zurückgeht ,  in 
dem  Namen  Boiorix  (II.  Jahrh.  v.  Chr.),  dann  denen  der  Goten- 
könige Ämalarieh,  Hermanarieh,  Älarieh.  Rieh  ^)  ist  got.  reiks,  König, 
tmd  ebenso  reiki  reich,  ahd.  rihhi,  es  hat  also  eine  Spalttmg  in  rika 
nnd  rikja  stattgefunden,  von  denen  das  erstere  mehr  als  Grundwort, 
das  zweite  mehr  als  Bestimmungswort  Geltung  zu  beanspruchen  scheint. 
Der  Name  Frithuric  ist  seit  dem  V.  Jahrh.  beglaubigt  und  bedeutet 
„der  Friedefurst'S  hebr.  Salomo.  Das  auslautende  u  des  ersten  Teils  ist  in 
unserer  Urkunde  noch  beibehalten,  vom  XII.  Jahrh.  an  heilst  es 
Friihericus  (Fredericus),  heute  =  Friedrich :  Fridu,  Frida,  Fride,  Frid  *), 


Jahr  die  Würde  eines  Abtes  dieses  Klosters.  Der  Name  selbst  ist  ein  altgerm. ,  einst 
vom  St  Karl  (ahd.  karal,  mhd.  karl,  der  Mann,  der  Mannhafte,  der  Held,  lat.  Carolas 
Vn.  Jahrhundert,  Karolus,  Oarlns,  tlberaU  oft;  ans  ahd.  karal  anklingend  Caralns  oder 
Karolos  selten,  ebenfalls  selten  unsere  Form  Karulus,  verd.  aus  Karoliu;  die  Form  Kamins 
findet  sich  bei  Landulf,  hist  Mediol.  und  in  St.  GaUer  Urk.  des  Vm.  Jahrhunderts,  auch 
in  Bayern,  scheint  also  m.  £.  vom  Süden  aus  eingedrungen  und  mehr  die  Gelehrtenform 
zu  sein;  griechisch  KäQOvXog  bei  Theophanes  (Forste mann  1',  S.  359).  —  Vgl.  auch 
S,  255,  Anm.  I. 

i)  Vgl.  oben  S.  249  Anm.  i. 

2)  So  wird  Hadu-  zu  Häel'. 


—     268     — 

« 

Fred  und  ric  (rieh)   bezeichnen   die   chronologische  Reihenfolg-e    der 
Namensformen. 

Wülielmtis  von  toiUi  (s.  oben)  und  heim  (got.  hihns,  ahd.,  mhd.  heim 
Helm,  d.  i.  Schützender),  WiOaMm  VII.  Jahrh.,  WiUahalm  VIII.  Jahrb., 
dann  WiUihelm,  WiUihalm ;  in  WiUielmtis  haben  wir  zwar  die  lateinische 
Endung  und  Ausfall  des  h,  aber  sonst  die  deutsche  Schreibweise, 
GruiUemus  ist  die  auf  romanischem  Boden  erwachsene  lateinische 
Form. 

Otto  ist  einstämmiger  Name  (Kürzung?),  abgeleitet  vom  Stamme 
od,  ot,  alts.  od  „  ererbter  Besitz,  Reichtum ",  ^ot  aud  (vgl.  atidctgs  = 
selig,  ahd.  ötag  =  reich,  begütert,  glücklich  und  den  zweiten  Teil 
unseres  Wortes  „Kleinod")  mit  der  Endung  o. 

Lit4dolf(us)  aus  liud,  ahd.,  mhd.  liut  Volk  und  olf,  identisch  mit 
lAudtdff  IV.  Jahrh.,  Volkswolf,  d.  h.  der  das  Volk  zum  Siege  Füh- 
rende, der  Name  lebt  noch  im  heutigen  Familiennamen  Leitholf  (Erfurt) 
mit  unorganischem  Ä,  oder  Leithoff, 

Für  das  XI.  und  den  gröfsten  Teil  des  XII.  Jahrh.  schweigen  die 

Urkunden  abermals;  erst  das  Jahr  1176  hat  uns  eine  bewahrt  und  mit 

ihr  folgende  Namen:  Ekkenbert  ist  Geistlicher  in  Arnstadt,  Heinrich  Vogt 

daselbst  und  sein  Bruder  heilst  EdeJhertis  von  Amstete;  ferner  wird  der 

Adelige  Albert  von  Qrumbixch  genannt.     Der  erste,  zweite  und  vierte 
kommen  auch  11 84  vor. 

Ekkenbert  gehört  zum  Stamme  (ig,  ahd.  ekka,  mhd.  ecke,  d.  h. 
Spitze,  Schwertschneide,  dem  Sinne  nach  =  ort  und  wie  dieses  in 
Namen  mit  der  allgemeinen  Bedeutung  „Schwert"  (pars pro  Mo) \  die 
schwach  flektierte  Form  zu  (ig  ist  iigin,  daraus  wird  durch  Umlaut 
eciken,  und  der  Name  bedeutet  so  viel  wie  der  Schwertglänzende. 

Heinrich  gehört  zu  hagan,  hagin,  der  erweiterten  (schwachen)  Form 
von  hag,  mhd.  hoc,  Zaun,  Einfriedigung,  umhegtes  Gut  ^),  Dorf,  Stadt, 
und  ric,  rih  =  Haganrih,  VII.  Jahrh.,  der  Fürst  des  umhegten  Ortes, 
später  seit  Anfang  des  IX.  Jahrh.  zusammengezogen  zu  Heinrich,  ht. 
Heinricus,  Henricus. 

Eddherus  kommt  vom  Stamme  addl,  ahd.  adal,  mhd.  add  Ge- 
schlecht, edles  Geschlecht,  verwandt  mit  ahd.  iwdil,  Elrbsitz,  Heimat, 
und  hari,  umgelautet  her,  got.  harjis,  ahd.  hari,  heri,  mhd.  here,  Heer, 


x)  Nach  Tacitas,  Germ.  16  herrschte  bei  den  Germanen  die  Gewohnheit,  ihre 
Gehöfte  mit  andarchdringlichen  Domwällen  absuschliefsen.  So  wehrte  man  im  Mittel- 
alter den  Zugang  za  den  Borgen  durch  einen  Verhau,  ein  Palisadenwerk,  das  hämUi 
Schulze,  Das  höfische  Leben,  P,  S.  16. 


—     259     — 

auch  Kämpfer,  und  ist  belegt  als  AdaXhar  im  VIII.  Jahrb.  und  Ädaiheri; 
die  Kürzung  Ethüo,  Edüo  findet  sich  im  DC.  Jahrh. 

Albert,  meist  in  der  lateinischen  Form  Älberhts  und  in  der  deut- 
schen AJbrekt  (AJbreeht)  bel^t,  besteht  aus  adal  und  hert,  und  be- 
deutet „der  durch  Besitz,  Reichtum  Glänzende". 

Im  Jahre  1182  werden  genannt  Sifridus  (=  Sigirid),  Abt  von 
Hersfeld*),  Oraf  Heinrich  van  Buch,  Vogt  des  Klosters  Memleben, 
und  am  Schlüsse  Kaiser  Friedrich  L,  der  Rotbart  (regnanie  gloriasis- 
simo  Bomanorum  imperatare  Friderico  huitts  naminis  primo).  Sifridt^ 
vom  Stamme  sig,  im  VII.  Jahrh.  Sigifrid,  bedeutet  der  siegreiche 
Friedensfürst,  und  der  Name  lautet  heute  Siegfried  oder  Seifert;  Sifri- 
dus  ist  die  zusammengezogene  Form  aus  Sigifridus,  Sigefridus. 

Ebenfalls  im  Jahre  1182  treten  auf  Adekild,  Abt  in  Pforta,  Be- 
ringer,  Schultheife  von  Amstete,  und  sein  Sohn  Gottfried  —  die  beiden 
letzten  als  2^gen;  1184  und  1196  Ccnrad^  Erzbischof  von  Mainz; 
1196  Oebhard,  Vorsteher  des  Walpurgisklosters  zu  Arnstadt. 

Der  Name  AdeMd  aus  adal  und  oU  <»  tvaid,  toalt,  waltend,  lautet  im 
VII.  Jahrh.  AdcUoald  (Langobardenkönig)  und  Addtoald;  Addold  ist 
zuerst  849  im  Chronicon  Hildeshemense  belegt.  Beringer,  aus  herin, 
der  schwachen  Form  von  her,  ahd.  hero,  mhd.  her,  Bär,  das  in  Namen 
tapferer  Mann,  Held  bedeutet,  und  ger  (=  gar,  ahd.  mhd.  gir,  Wurf- 
speer) zusammengesetzt,  bezeichnet  den,  der  „wie  ein  Bär  kämpfte"  '). 
Beringar  ist  die  zuerst  im  VIII.  Jahrh.  in  Urkunden  belegte  Form. 

Gottfried  (Gotefridus,  Gotfrü)  gehört  zum  Stamme  god,  got,  guth, 
ahd.  mhd.  got,  „Gott",  nach  Luther,  dem  wir  übrigens  das  älteste 
deutsche  Namenbüchlein  —  Aliquot  Germanarum  namina  prapria 
(Wittenberg  1537)  —  verdanken,  der  Gute,  ursprünglich  der  An- 
gerufene, wie  bei  den  Indem  (Veda)  Indra  puruhüta,  der  viel  Gerufene, 
heilst,  und  bedeutet  etwa  „der  durch  Gott  Schützende". 

Conrad  ist  ahd.  Kuonräi,  lat.  Canradus,  und  daher  mit  Verkürzung 
des  Selbstlautes  Conrad.     Gehhard,   aus  Gab,  Geh,  Gib,   got.  gihan, 


i)  Arnstadt  stand  seit  Wülibrords  Tode  zur  Hälfte  anter  den  Äbten  von  Echter- 
nach,  dann  anter  denen  von  Hersfeld  bis  sam  Jahre  1306;  der  andere  Teil  gehörte  den 
Grafen  von  Keremborg-Schwarzbarg. 

2)  Starke  and  schwache  Formen  ein  and  desselben  Stammes  kommen  mehrfach 
gleichzeitig  nebeneinander  vor:  so  arin,  am  (schwach)  neben  ar  (stark),  berin,  bern 
(schwach)  neben  6er  (stark);  Beringar,  Berinhard,  Berinher,  Bemeold  schon  im 
Vin.  Jahrhandert,  aber  gleichzeitig  auch  Beraward  (Berwardus,  Bervoart);  Beringer  ist 
älter  als  Berigarius,  amgelaatet  Berger.  Diese  Fälle  sind  natürlich  von  den  oben  er- 
wähnten  Verkürzungen  streng  za  scheiden. 


—     260     — 

ahd.  g'ä>an,   mhd.  geben,  geben,   lautet  im  IX.  Jahrh.  Gebahard  und 
bedeutet  der  sehr  Freigebige. 

Zu  keiner  Zeit  —  das  zeigen  uns  schon  die  bisher  besprochenen 
Namen  —  hat  die  Neubildung  einen  Stillstand  au&uweisen,  und  selbst 
im  X.  und  XL  Jahrh.,  wo  die  aus  den  Urzeiten  überlieferten  altgerma- 
nischen Namen  ausklingen,  hat  man  nicht  etwa  nur  vom  vorhandenen 
Kapital  gezehrt.  Die  Neuschöpfung  zeigt  sich  in  der  Erweiterung- 
des  ersten  Teiles  der  Zusammensetzung :  man  sagt  z.  B.  jetzt  GodSberct 
statt  Gotbert,  GunddlperM  statt  Gimdperht,  GerinhoU  statt  GeroU, 
Gcfteshdm  statt  Goihelm,  Grodesscalh  statt  Gotscäth  usw.  ^).  Sie  zeigt 
sich  aber  auch  in  der  Verkürzung  des  ersten  Kompositionsteiles :  Heinrieh 
ist  aus  Haganrih  (VII.  Jahrh.),  MeinhcNrd  aus  Magihhard  (VII.  Jahrh.), 
Bembcldus  aus  Beginboldas,  Sifridus  aus  Sigefridus,  Älberhis  aus  Ädd- 
berius,  ÄdaiberaJU  (VIII.  Jahrh.),  Ulrich  aus  Udelrih,  GHbertus  aus 
Giselbertus  geworden,  während  Sigebertus  ^—  Sigd^eM,  Albertus  — 
AUbrekt,  Htmbertus  —  Humbreht,  Wolperhis  —  Wolprehi  nur  parallel 
lateinische  und  deutsche  Formen  darstellen  *).  Die  Neuschöpfung  zeigt 
sich  endlich  tiuch  in  der  Doppelnamigkeit,  die  bei  uns  im  letzten 
Viertel  des  XII.  Jahrh.  einsetzt.  Die  comües  und  nobües  viri,  der  Hoch- 
adel wie  der  Adel,  nehmen  Zusätze  zu  den  einfachen  Taufinamen  an: 
Graf  (cames)  Heinrieh  van  Buch,  Heinrich,  Vogt  (cidvocatus)  von 
Arnstadt,  und  Eddherus  von  Amstete,  Beringer,  der  Schultheiis  (scuUetus) 
von  AmsteU,  und  sein  Sohn  Gottfried  sind  Glieder  der  adeligen  Familie 
in  und  au&erhalb  unserer  Stadt.  Dazu  kommt  A1bert(us)  von  (de) 
Grrwnibach.  Dieser  Brauch  ist  also  vom  alten  Adel  ausgegangen, 
und  die  Geschlechtsnamen  sind  auch  bei  uns  von  den  Stammsitzen 
entlehnt.  Zu  den  Familiennamen  aber,  die  von  Amt,  Beschäftigung 
und  Stand  hergenommen  wurden,  leiten  zu  gleicher  Zeit  die  Zusätze 
„Vogt"  und  „ Schultheifs "  (Schulze)  über. 

Alle  bisher  aufgezählten  Namen  sind  Taufnamen,  später  bald  als 
Vor-,  bald  als  Familiennamen  gebraucht,  und  alle  Stände,  die  Kaiser 
und  Könige,  Herzöge  und  Grafen,  der  Adel  und  die  hohe  Geistlich- 
keit, wie  auch  die  Bürgerlichen  haben  germanische  Taufnamen; 
nur  einen  Geistlichen,  Laureniius,  ziert  ein  fremder  Taufname ,   wäh- 


i)  VgL  So  ein,  S.  210 ff. 

2)  Vgl.  Socio,  S.  44.  Nicht  zu  verwechseln  mit  diesen  Vertretern  einer  zeit- 
lichen Entwickelung,  vielmehr  ganz  anders  zu  beurteilen  and  weit  älter  sind  die  oben 
angeführten  althochdeutschen  Verkürzungen.  Dahin  gehört  auch  unser  Eckinberi, 
Eckenbert  (=-  Äginbert,  Agüperht  im  Xu.  Jahrhundert),  die  ältere  ahd.  Form  fUr  das 
später  übUche  Ag-,  Eg-,  Ekk-,  Eckbert. 


—     261     — 

rend  alle  übrigen  Kleriker  gleich  den  Laien  germanische  Taufhamen 
tragen.  Bis  zum  Ende  des  XII.  Jahrhunderts  sind  von  26  in  den  Ur- 
kunden vorkommenden  Taufnamen  25  germanischen  Ursprungs  (24 
männliche,  i  weiblicher),  fremden  Ursprungs  nur  einer,  also  rund  96  0/0 
g^en  4*/j>.  (SchlüÄ  folgt). 


Mitteilungen 

Yersammlaugen»  —  Früher  als  in  anderen  Jahren  wird  dieses  Mal 
die  Jahresversammlung  des  Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichta- 
und  Altertumsvereine  stattfinden,  und  zwar  in  den  Tagen  vom  8.  bis 
Tl.  August  in  Danzig.  Was  diese  Versammlungen  für  die  Pflege  der 
Geschichtsforschung  in  den  deutschen  Landschaften  bedeuten,  ist  oft  genug 
ausgesprochen  worden,  und  es  bleibt  nur  übrig  die  Vereins  vorstände  an 
ihre  Pflicht  zu  erinnern,  damit  sie  recht  zahlreich  Abgeordnete  ents^den, 
wenn  auch  gerade  dieses  Mal  die  für  die  meisten  Vereine  recht  weite  Ent- 
fernung die  Kosten  etwas  erhöht 

Das  fünfundzwanzigjährige  Jubiläum  des  „Westpreufsischen  Geschichts- 
vereins" ist  der  unmittelbare  Anlafs,  dafs  diesmal  Danzig  die  Versammlung 
aufnimmt  Neben  Oberbürgermeister  Ehlers  steht  Stadtschulrat  Damus 
an  der  Spitze  des  Ortsausschusses;  die  Sitzungen  finden  im  Franziskaner- 
kloster statt,  aber  für  die  Begrüfsung  durch  die  Stadt  am  Abend  des  8.  August 
ist  der  Artushof  ausersehen,  wo  sich  auch  an  diesem  Tage  von  6  Uhr  abends 
an  das  Empfangsbureau  befindet  Drei  Ausflüge  nach  Oliva,  Zoppot  und 
der  Marienburg  sind  vorgesehen,  und  für  den  12.  August  hat  der  Verein 
zur  Hebung  des  Fremdenverkehrs  in  Ostpreufsen  noch  zu  einem  Besuche 
von  Königsberg  und  Umgebung  eingeladen.  Femer  werden  unter  der 
sachkundigen  Führung  von  Prof.  Conwentz  das  westpreufsische  Provinzial- 
museum  und  die  Sehenswürdigkeiten  der  Stadt  besichtigt 

Für  die  Hauptversammlungen  sind  folgende  Vorträge  angemeldet:  Stadt- 
schulrat Damus  (Danzig)  über  Danzig  in  Geschichte  und  Kunst; 
Prof.  Krauske  (Königsberg)  über  König  Friedrich  Wilhelm  I. ; 
Archivrat  Bär  (Danzig)  über  die  geschichtliche  Entwickelung  der 
Provinz  Westpreufsen.  In  den  Abteilungssitzungen  werden  folgende 
Gegenstände  verhandelt:  Das  vorgeschichtliche  Ostpreufsen  (Prof. 
Bezzenberger ,  Königsberg);  Das  Erdlager  bei  Kneblinghausen  in 
Westfalen  (Prof.  Dragendorfl*,  Frankfurt  a.  M.);  Die  „römische  Pe- 
riode" (Kustos  Kemke,  Königsberg);  Römische  Münzen  in  Ost- 
preufsen (Privatdozent  Peiser,  Königsberg);  Die  Vorgeschichte  des 
Samlandes  (BaugewerkschuUehrer  Hollack,  Königsberg);  Der  west- 
preufsische Geschichtsverein  (Stadtschulrat  Damus);  Stand  der 
Geschichtsforschung  in  Ostpreufsen  und  die  Tätigkeit  des 
Vereins  für  die  Geschichte  von  Ost- und  Westpreufsen  (Archiv- 
direktor Joachim,  Königsberg);  Wesen  und  Aufgaben  der  Leipziger 
Zentralstelle  für  deutsche  Personen-  und  Familiengeschichte 

19 


—     262     — 

(Armin  Tille,  Leipzig);  Die  Danziger  Stadtverfassung  im  i6.  and 
I  7.  Jahrhundert  (Oberlehrer  Simson,  Danzig);  Die  Gründung  des 
Verbandes  deutscher  volkskundlicher  Vereine  (Freiherr  von 
Friesen,  Dresden) ;  Sage  und  Geschichtswissenschaft  im  wechsel- 
seitigen Dienste  (Lehrer  Schmidkonz,  Würzburg);  Die  Erforschung 
der  Geschichte  der  deutschen  Kolonisation  im  Osten  (Archiv- 
rat Warschauer,  Posen);  Grundsätze  der  Orts- und  Personennaznen- 
forschung  (Archivrat  Wäschke,  Zerbst);  Die  Erforschung  der  Ge- 
schichte der  periodischen  Presse  in  Deutschland  (Armin  Tille, 
Leipzig). 

Das  Programm  ist  wahrlich  reichhaltig  und  vielseitig  genug,  so  dais 
jeder,  der  kommt,  gewifs  ist,  auch  für  seine  Person  im  besonderen  etwas 
Interessantes  zu  gewinnen,  und  nicht  zum  geringsten  dürfte  manchen  die 
Aussicht,  die  Marienburg  mit  eigenen  Augen  zu  sehen,  zur  Teilnahme 
an  der  Tagung  anlocken! 


^e  es  nach  der  Praxis  der  letzten  Jahre  zu  erwarten  ist,  wird  in 
Danzig  unmittelbar  vor  der  Tagung  des  Gesamtvereins  am  Montag,  den 
8.  August,  der  Vierte  deutsche  Archivtag  stattfinden  ^),  und  zwar  in  den 
Räumen  des  Kgl.  Staatsarchivs  (Hanseplatz  5),  das  einer  eingehenden  Be- 
sichtigung tmterzogen  werden  wird.  Zur  Besprechung  werden  folgende  Gegen- 
stände gelangen:  Staatsarchivar  Bär  (Danzig):  Über  eine  gesetzliche 
Regelung  des  Schutzes  von  Archivalien  und  der  Beaufsichti- 
gung nicht  fachmännisch  verwalteter  Archive  und  Registraturen, 
hl  Anschlufs  daran  finden  Korreferate  von  Er  misch  (Dresden)  tmd  Knapp 
(München)  statt  Archivar  Erhardt  (Berlin):  Die  Hauptphasen  der 
Entwickelung  des  Geheimen  Staatsarchivs  in  Berlin.  Staats- 
archivar Bär:  DieBegründung  des  Staatsarchivs  zu  Danzig.  Fabrik- 
besitzer Perl  (Berlin):  Die  allgemeine  Verwendung  des  Zapons 
in  der  Industrie.  Archivrat  Seil o  (Oldenburg):  Bericht  über  die  bei 
der  Zaponverwendung  gemachten  Erfahrungen. 

Der  Archivtag  hat  sich  zweifellos  gut  bewährt,  und  er  hat  sich  als  ein 
brauchbares  Mittel  erwiesen,  um  unter  der  verhältnismäfsig  kleinen  Beamten- 
gruppe der  Archivare  einen  engeren  Zusammenhalt  herbeizuführen.  Leider 
steht  eine  nicht  unbeträchtliche  Zahl  von  Archivaren  noch  immer  abseits, 
von  der  zu  hoffen  ist,  dafs  sie  sich  noch  eines  Besseren  besinnt  Noch 
recht  wenig  vertreten  waren  bisher  auch  diejenigen,  welche  die  Verwaltung 
eines  Archivs  im  Nebenamt  besorgen.  Die  Zahl  dieser  wächst  ständig, 
und  gerade  für  sie  ist  es  von  hohem  Werte,  die  Äufserung  der  berufsmäfsigen 
Vertreter  der  Archivpraxis  und  Archivwissenschaft  zu  hören  und  sich  für 
ihre  besonderen  Verhältnisse  hier  Rat  bezw.  Anregung  zu  neuer  Tätigkeit  zu  holen. 


Zeit  imd  Ort  der  Tagung  des  Gesamtvereins  hat  es  mit  sich  gebracht. 


i)  Der  dritte  warde  1902  in  Düsseldorf  abgehalten.    Vgl.  diese  Zeitschrift  4.  Bd., 
S.  58-62. 


—     263     — 

dafs  sich  der  Tag  für  Denkmalpflege  ^),  der  bisher  schon  viermal  gleich- 
zeitig stattfand,  dieses  Mal  getrennt  hat:  (Üeser  ruft  seine  Freunde  vielmehr 
für  Ende  September  nach  Mainz.  Aufser  den  Berichten  der  Ausschüsse 
für  die  Fragen  der  Steinerhaltung  imd  der  Bezeichnung  hergestell- 
ter Bauteile  sowie  für  Herstellung  eines  Handbuchs  der  deutschen 
Kunstdenkmäler,  die  auf  frühere  Verhandlungen  Bezug  nehmen,  werden 
folgende  Gegenstände  besprochen  werden:  Die  Vorbildung  für  die 
Denkmalpflege  (Baurat  Tomow  und  Geh.  Rat  v.  Oechelhäuser) ;  Er- 
haltung des  Berliner  Opernhauses  (Prof.  Wall^);  Inventarisierung 
beweglicher  Kunstgegenstände  im  Privatbesitz  (Geh.  Rat  Cornelius 
Gurlitt);  Aufnahme,  Sammlung  und  Erhaltung  der  Kleinbürger- 
häuser mittelalterlicher  Städte  (Stadtbauinspektor  Stiehl);  Städtische 
Bauordnungen  im  Dienste  der  Denkmalpflege  (Prof.  Frentzen  und 
Geh.  Rat  Stubben). 

Auch  dieses  Programm  ist  reichhaltig  genug,  und  das  allgemein  ge- 
schichtliche Interesse  an  den  Bestrebungen  der  Denkmalpflege  liegt  so  deutlich 
zutage,  dafs  deren  Bedeutung  für  die  Geschichtsforschung  nicht  weiter  hervor- 
gehoben zu  werden  braucht 


Gemäfs  dem  Beschlüsse  der  Heidelberger  Tagung  Ostern  1903  wird 
die  Achte  Versammlung  deutscher  Historiker  in  Salzburg  stattfinden, 
imd  zwar  in  den  Tagen  vom  31.  August  bis  4.  September;  die  Leitung 
liegt  in  den  Händen  von  Prof.  Oswald  Redlich  (Wien).  Mittwoch,  den 
31.  August  ist  der  übliche  Begrüfsungsabend,  Donnerstag,  Freitag  und  Sonn- 
abend sind  den  Verhandlungen  gewidmet,  die  wesendich  nur  die  Vormittage 
in  Anspruch  nehmen  werden;  am  Donnerstag  und  Freitag  Abend  finden 
öffendiche  Vorträge  statt.  Für  Sonntag,  den  4.  September,  ist  ein  Ausflug 
nach  Schlofs  Hohenwerfen  in  Aussicht  genommen.  Die  Verhandlungen 
finden  in  Schlofs  Mirabell  statt.  In  den  beiden  vorgesehenen  öffentlichen 
Sitzungen  sprechen  Prof.  Riegl  (Wien)  über  Salefmrgs  Bedeutung  in  der 
KunstgeschUMe  und  Prof.  Busch  (Tübingen)  über  Das  deutsche  Hauptquar- 
tier 8u  VersaiUes  und  der  Streit  Über  die  Bekämpfung  von  Paris  1870. 
Für  die  Verhandlungen  mit  nachfolgendem  Meinungsaustausch  sind  Vorträge 
angekündigt  von  Prof.  R.  Joh.  Neumann  (Strafsburg)  über  Die  Entstehung 
des  spartaniscJhen  Staates ^  Prof.  Finke  (Freiburg  i.  B.)  über  Philipp  den 
Schönen,  von  Prof.  Dop  seh  (Wien)  und  —  als  Korreferenten  —  Privat- 
dozent Kötzschke  (Leipzig)  über  Herausgabe  der  Quellen  eur  Agrar^ 
geschickte  des  Mittelalters  j  Prof.  v.  Voltelini  (Innsbruck)  über  Die  Ent- 
stehung der  Landgerichte  auf  ba^frisch- österreichischem  Rechtsgebiet  und 
Prof.  F  o  u  r  n  i  e  r  (Wien)  über  Neue  QueUen  zur  Geschichte  des  Wiener  Kongresses. 

Im  Stift  St  Peter  wird  Prälat  Willibald  Hauthaler  eine  Ausstellung 
von  Urkunden  und  Handschriften  veranstalten.  Das  Empfangsbureau  be- 
findet sich  im  ersten  Stock  des  Mirabellschlosses;  Auskunft  in  Wohnungs- 
angelegenheiten erteilt  der  Verein  für  Fremdenverkehr  in  Salzburg. 
Andere  Auskünfte  erteilt  der  derzeitige  Vorsitzende  des  Verbands  deutscher 


I)  Vgl.  über  die  leUte  Tagung  in  Erfurt  diese  ZeiUchrift,  oben  S.  56—59. 

19» 


—     264     — 

Historiker  Prof.  Oswald  Redlich  (Wien  I.  Universität)  sowie  der  Obmann 
des  Ortsausschusses  Archivdirektor  Richard  Schuster  in  Salzburg. 


Am  31.  August  (Mittwoch)  wird  bereits  die  mit  den  Historikertagen 
üblicherweise  verbundene  Konferenz  von  Vertretern  landesgeschicht- 
licher  Publikationsinstitute  ^)  ihre  erste  Sitzung  abhalten ;  eine  zweite  wird 
an  einem  der  nächsten  Tage  zu  noch  zu  bestimmender  Stunde  folgen.  £s 
wird  über  folgende  Gegenstände  verhandelt  werden:  i.  Austausch  der  Er- 
fahrungen über  Verlag  und  Druck  der  Publikationen.  2.  Mafsnahmen 
behufs  Erschliefsung  der  agrargeschichtlichen  Quellen.  3.  Die 
Anlage  der  Urkundenbücher  tmd  die  Behandlung  des  in  ihnen  zu  veröffent- 
lichenden Materiab.  4.  Über  Herausgabe  von  Münz-  und  Sie  gel  werken. 
5.  Die  Fortschritte  des  Historischen  Atlasses  der  österreichischen  Alpen- 
länder. Mitteilungen  über  historisch -geographische  Unternehmungen  im 
Deutschen  Reich. 


Arehiye.  —  Die  vom  Historischen  Verein  für  den  Niederrhein  bewirkte 
Drucklegung  von  Archivinventaren  hat  wiederum  einen  Zuwachs  erhalten,  tmd 
zwar  sind  im  76.  Hefte  der  von  genanntem  Verein  herausgegebenen  Ännalen 
(Köln,  Boisserde  1903,  263  S.  8®)  die  Inventare  der  Pfarrarchive  von 
St.  Andreas,  St.  Ursula  und  St.  Kolumba  in  Köln  mitgeteilt  Ein 
dritter  Band  wird  voraussichtlich  die  Mitteilungen  über  die  noch  ausstehenden 
8  Pfarrarchive  zum  Abschlufs  bringen.  Bearbeitet  hat  den  vorliegenden  Band 
wie  den  zuletzt  veröffentlichten  im  71.  Hefte  der  Annalen  —  vgl.  darüber 
diese  Zeitschrift  3.  Bd.  S.  217  bis  219  —  wiederum  Heinrich  Schäfer. 
Das  Äufsere  entspricht  durchaus  den  früheren  Publikationen,  tmd  wie  bei 
jenen  ist  auch  jetzt  im  einzelnen  nicht  zu  e^ennen,  wo  die  Worte  des  Be- 
arbeiters beginnen  und  die  aus  der  Yoriage  direkt  und  buchstabengetreu 
mitgeteilten  Stellen  aufhören.  Dies  sollte  aber  mit  Rücksicht  auf  den  Zweck 
unbedingt  der  Fall  sein;  denn  hier  handelt  es  sich  um  eine  besondere  Art 
der  Qu  eilen  Veröffentlichung  durch  ausführliches  Regest  und  nicht  lun  ein 
Inventar  für  Zwecke  der  Archiwerwaltung. 

In  der  Tat  ist  wiederum  ein  aufserordentlich  reicher  und  vielseitiger 
Quellenstoff  mitgeteilt  Dafs  für  die  Geschichte  der  Stadt  Köln  recht  viel 
daraus  zu  gewinnen  sein  wird,  leuchtet  ohne  weiteres  ein;  auch  dafs  recht 
viele  Orte  in  der  näheren  imd  weiteren  Umgebimg  Kölns  genannt  imd  orts- 
geschichtlich wichtige  Einzelheiten,  namentlich  solche  kirchh'cher  Natur,  mitgeteilt 
werden,  ist  bei  dem  Charakter  der  Archive  verständlich,  aber  auch  darüber 
hinaus  bietet  die  Veröffentlichung  inhaltlich  manche  wichtige  Notiz.  Zwei  un- 
bekannte Urkunden  des  Andreasstifts  aus  dem  11.  Jahrhundert  hat  Schäfer 
bereits  im  75.  Hefte  der  Ännalen,  S.  106  —  iii  veröffentlicht  Von  drei 
im  Archiv  von  St  Andreas  ruhenden  Königsurkunden  (Nr.  40,  152,  158) 
ist  die  mittelste  —  1357»  Aug.  18  —  in  den  Itegesta  imperU  (1877)  S.  219 


i)  Vgl.   ttber   die  letzte  VersAumilaiig  den  aasfUhrlichen  Bericht  in  dieser  Zeitschrift 
4.  Bd.,  S.  246—256. 


—     265     — 

nicht  verzeichDet.  S.  i6  Nr.  76  ist  1323  von  einer  Rente  im  Betrag  von 
zwei  Mark  alten  Gewichts  die  Rede;  S.  18  Nr.  88  erscheint  in  einem 
Testament  (1328)  neben  einem  breviarium  die  Legenda  lombardica;  der 
Durchschnittswert  des  Malters  Weizen  wird  1342  S.  22  Nr.  109  zu  18  Mark 
Kölnisch  gerechnet;  den  Königsgulden  bezeichnet  1345  eine  Urkimde 
vulgariter  reyoü  S.  23  Nr.  115;  1354  wird  ein  Stiftshof  auf  18  Jahre 
für  jährlich  66  Malter  Weizen  verpachtet  S.  27  Nr.  143;  1362  werden- 
30  solidi  und  30  grossi  Turonenses  aniigui  in  Gold  oder  Silber  einander 
gleichgesetzt  S.  30  Nr.  163;  von  päpstlicher  Besteuenmg  des  Klerus  handeln 
S.  32  Nr.  171  (1364)  S.  39  Nr.  220  und  221  (1386);  1378  ist  Stroh- 
düngung des  Ackers  bezeugt  S.  36  Nr.  198;  das  Gewicht  der  Brote  und 
die  Zahl,  die  142 1  und  i486  aus  einem  Malter  gebacken  wird,  bestimmen 
die  Urkimden  S.  49  Nr.  277  und  S.  123  Nr.  42 ;  ein  doctor  im  kaiser- 
recht  wird  1496  S.  65  Nr.  386  genannt;  Akten  über  die  Verbreitung 
des  Kalvinismus  in  Köln  durch  Boxharn  finden  sich  S.  82  Nr.  3;  1350 
wird  Wein  gestiftet,  der  den  Kommunikanten  in  cäUce  ad  potum  post 
eommunicationem  gereicht  werden  soll  S.  83  Nr.  3 ;  das  Familienbuch  eines 
Kölner  Krämers  1422  ff.  ist  S.  iioNr.  i  aufgeführt;  1426  wird  der  Pfarr- 
gemeinde von  St  Kolumba  die  Wahl  ihres  Pfarrers  durch  einen  Ausschufs 
zugestanden  S.  159  Nr.  56/58,  1478  wird  in  der  Praxis  danach  verfahren 
S.  168/69  Nr.  98/99,  1542  ebenso  S.  193  Nr.  233;  1543  wird  eine  Rente 
gestiftet  für  zwei  ständige  Predigten  im  Dom  am  Mittwoch  und  Freitag  S.  194 
Nr.  239;  in  einem  Sammelband  von  Dmcken  sind  neben  vielen  Predigten 
von  Luther  Reformationsstreitschriften  enthalten,  auch  das  Gescmgbuch  des 
Nicolaus  Herman  im  Jochimstal  von  1570  (Wittenberg,  Joh.  Schwertel) 
S.  249  Nr.  50;  eme  Reihe  kaufinännischer  und  privater  Rechnungsbücher 
sind  S.  258  ff.  verzeichnet. 

Dies  mag  genügen,  um  den  Beweis  zu  erbringen,  dafs  hier  tatsächlich 
ein  reicher  Quellenstoff  erschlossen  worden  ist,  der  nicht  nur  der  Köber  Orts- 
geschichte, sondern  der  Geschichtsforschung  im  weitesten  Sinne  zugute  kommt 

Kommissionen»  —  Am  12.  Dezember  1903  hielt  in  Leipzig  die 
K  öniglich  Sächsische  Kommission  für  Geschichte  *}  ihre  8.  Jahres- 
versammlung ab.  Im  Laufe  des  letzten  Jahres  ist  veröffentlicht  worden  der 
erste  Band  der  Dresdener  Bilderhandschrift  des  Sachsenspiegels  (Leipzig, 
Hiersemann  1902),  herausgegeben  von  Karl  Amira,  von  der  PolUischen 
Korrespondens  des  Herzogs  und  Kurfürsten  Moritz ,  herausgegeben  von 
Erich  Brandenburg,  die  erste  Hälfte  des  zweiten  Bandes  und  Luthers 
Tischireden  in  der  MathesiscJien  Sammlung,  herausgegeben  von  Ernst 
Kroker  (beide  Leipzig,  B.  G.  Teubner  1902).  Unmittelbar  nach  der  Jahres- 
versammlung wurde  das  Lehnbuch  Friedrichs  des  Strengen  vom  Jahre  1349, 
herausgegeben  von  Woldemar  Lippert  und  Hans  Beschorn er  (Leipzig 
1 903),  ausgegeben.  Alle  anderen  Unternehmungen  erftihren  im  Berichtsjahre  eine 
entsprechende  Förderung,  so  dafs  ftir  die  nächste  Zeit  der  Abschlufs  einer 
Reihe  von  Arbeiten  zu  erwarten  ist.  Von  der  Grundkarte  des  König- 
reichs Sachsen  ist  die  Doppelsektion  467/492  (Greiz-Hof)  ausgegeben  woidcn. 

')  Vgl.  4.  Bd.  S.  222—223. 


—     266     — 

so  dafi  nun  nur  noch  die  Herstellung  einiger  Halbsektionen  an  den  Grenzen 
in  Frage  kommt.  Femer  sind  fUr  die  historisch-geographischen,  sowie  fiir 
die  schon  früher  geplanten  agrargeschichdichen  Arbeiten  der  Kommission  die 
Flurkarten  aus  den  dreifsiger  tmd  vierziger  Jahren  des  XIX.  Jahrhundeits  für 
die  Amtshauptmannschaften  Dresden- A.,  Meifsen,  Dippoldiswalde ,  Freiberg, 
Leipzig  und  teilweise  Borna  und  Grimma  photographisch  reproduziert  und 
mit  koloristischer  Bezeichnung  der  Kulturarten  versehen  worden.  Die  so 
hergestellten  Karten  sind  zunächst  für  den  inneren  Dienst  der  Kommission 
bestimmt;  doch  können  sie  auch  anderen  Benutzern,  wie  Archivalien,  zu- 
gänglich gemacht  werden.  Herr  Dr.  Beschornerin  Dresden  hat  sodann  Vor- 
studien für  eine  systematische  Sammlung  der  sächsischen  Flurnamen  gemacht. 
Um  diese  zu  fördern,  smd  Fragebogen  zur  Ermittelung  der  älteren  Flurver- 
hältnisse an  die  Gemeinden  imd  Gutsbezirke  des  Landes  ausgegeben  worden, 
deren  Beantwortung  wenigstens  teilweise  wertvolle  Ergebnisse  zutage  ge- 
fördert hat 

Neu  traten  in  die  Kommission  ein  Prof.  Buchholz  und  Prof.  Branden- 
burg (Leipzig),  durch  Tod  schied  Prof.  Knothe  aus.  Die  Zahl  der  Sub- 
skribenten, denen  die  Veröffentlichungen  der  Kommission  zu  einem  Vorzugs- 
preise geliefert  werden,  beträgt  202 ,  ist  aber  gegen  das  Vorjahr  lun  5  zu- 
rückgegangen. 


Dem  siebenten  im  Mai  1 904  erstatteten  Jahresbericht  der  Historischen 
Kommission  für  Hessen  und  Waldeck  ^)  ist  folgendes  zu  entnehmen. 
Ausgegeben  wurde  im  Berichtsjahr  nur  die  dritte  Lieferung  des  Hessischen 
Trachtenbuchs  (Marburg,  Elwert  1 903),  aber  die  Arbeit  an  den  anderen  Publi- 
kationen ist  rüstig  fortgeschritten.  In  Ausführung  des  vorjährigen  Beschlusses 
wurde  die  Herausgabe  Urkundlicher  Quellen  zur  Geschichte  des  geistigen 
und  kirchlichen  Lebens  in  Hessen  und  Waldeck  endgültig  beschlossen  und 
Privatdozent  Köhler  (Giefsen)  mit  der  Bearbeitung  eines  ersten  Teils  betraut 
Femer  wurde  die  Herausgabe  von  Quellen  zur  Geschichte  der  Landschaft  an 
der  Werra,  wofür  auf  fünf  Jahre  ein  besonderer  Beitrag  von  iioo  Mk. 
seitens  Beteiligter  zugesagt  wurde,  beschlossen  und  Dr.  Huyskens  zunächst 
damit  betraut,  die  Archive  der  Klöster  jener  Landschaft  zu  bearbeiten.  Von 
den  Grimdkarten,  die  im  Auftrag  des  Vereins  für  hessische  Geschichte  und 
Landeskunde  General  Eisentraut  bearbeitet,  liegen  die  Sektionen  Berleburg 
und  Marburg  fertig  vor. 

Durch  Tod  verlor  die  Kommission  ihre  Mitglieder  Hartwig  (Marburg), 
H ö h  1  b a u m  (Giefsen)  imd  Schneider  (Fulda).  Neugewählt  wurden  Archiv- 
assistent Dersch  (Marburg),  Pfarrer  Die  hl  (Hirschhorn),  Direktor  Fabarius 
(Witzenhausen),  Archivassistent  Grotefend  (Marburg),  Oberlehrer  He r rman n 
(Darmstadt),  Rektor  Lürssen  (Wetzlar),  Archivar  Merx  (Marburg)  tmd 
Oberlehrer  Wintzer  (Marburg).  Der  Jahreseinnahme  von  6626  Mk.  steht 
eine  Ausgabe  von  8560  Mk.  gegenüber,  aber  der  Kassenbestand  weist  die 
Summe  von  15545  Mk.  auf. 


i)  VgL  oben  S.  32. 


—     267     — 

Aus  dem  Berichte  Ub«r  die  30- ordentliche  Versammlung  der  H  i  s  to  T  i  5  c  beo 
Kommission  fttr  Sacbseo-Anhalt ,  die  in  Freyburg  a.  U.  stattfand,  ist 
folgendes  mitzuteilen ').  Vom  TTrkundetibuche  des  Klosters  Pforta,  das 
Prof.  Böhme  bearbeitet,  wird  der  zweite  Halbband  des  ersten  Teiles  dem- 
nächst erscheinen,  ebenso  der  vierte  Band  des  ürlntndeti^nickea  der  Stadt 
ihslar  von  Bode  (Biaunschwcig).  Bezüglich  des  Urkundenbuches  des  Hoch- 
stifts Zeitz  wurde  beschlossen,  es  mit  dem  des  Stiftes  Naumburg,  das  Archi»- 
assistent  Rosenfeld  (Magdeburg)  bearbeitet,  zu  vereinigen.  Die  Heraus- 
gabe des  Erfurter  Varidalun  varib>guus  hat  an  Stelle  von  Prof.  Heyden- 
reich  Gymnasialdirektar  Thiele  (Erfurt)  übernommen.  Dagegen  sind  die 
nahezu  vollendeten  Vorarbeiten  fUr  das  Urkundenbuch  des  Erzstiftes  Magde- 
burg durch  den  Tod  des  Prof.  Hertel  unterbrochen  worden.  Als  neue 
PubUlcation  wurde  ein  Urkundenbuch  der  Stadt  Aschersleben  in  Aussicht 
genommen.  Als  Neujahrsblatt  1904  tiscbita  Ärckdoloffische  R-obhme  in  der 
Provitu  Sachsen  von  Prof.  Höfer,  ein  Schriftchen,  das  in  gröfserem 
Zusammenhange  bereits  oben  S.  134  besprochen  wurde;  fUr  1905  steht  eine 
Arbeit  von  Archivar  Liebe  über  die  sanitären  und  hmnanitären  Etorichtungen 
in  der  Provinz  Sachsen  zu  erwarten.  Von  den  Beschreibungen  der  Bau-  imd 
Kunstdenkmälcr  ist  der  Stadtkreis  Naumburg  von  Bergner  und  der 
Stadtkreis  Aschersleben  von  Brinkmann  (Zeitz)  erschienen,  das  Manu* 
skript  zum  Landkreis  Naumburg  liegt  druckfertig  vor.  Von  den  vorgeschicht- 
lichen Altertümern  hegt  das  12.  Heft:  Zschiesche,  Die  vorgesckichtlichen 
Burgen  und  WäUe  in  Th^-ingen,  vollendet  vor.  Von  der  vom  Provinzial- 
museum  herausgegebenen  Jahreasehrifl  für  die  Vorgeschichte  der  sächsisch- 
ikttringischen  Länder  steht  das  Erscheinen  des  dritten  Bandes  bevor.  Die 
Arbeit  an  den  geschichtlichen  und  vorgeschichdichen  Karten  sowie  an  den 
Flurkarten  ist  rüstig  fortgeschritten. 

Die  nächstjährige  Versanomlung  findet  in  Genthin  statt. 


Die  Gesellschaft  für  Rheinische  Geschicbtskunde  *}  hielt  ihre 
33.  Jahresversammhmg  am   9.  März   ab,   und   dem   bei   dieser  Gelegenheit 
erstatteten  Bericht   über  das   Jahr    1903  ist  folgendes  zu  entnehmen.     Aus- 
gegeben wurde:  Ernst  Voulliäme,  Der  Buchdruck  KOlns  bis  Mum  Ende 
des  fünfjiehnien  Jah'hunderts  (Bonn,  Behrendt  1903,  Mk.  15,00),  Hermann 
Forst,  Das  FBrstentum  Prüm  [=  Erläuterungen  zum  eeschichUichen  Atlas 
der  Rheinprovinz,   Bd.  4]    (Bonn,   Behrendt    190^ 
Fabricius,  Kirchliche  Organisation    und    VerteHt 
Bereieh  der  heutigen  Bheinpromnr  um  das  Jahr  l 
Bonn,  Behrendt  1903,  Mk.  18,00).    Alle  anderen  be| 
mehr   oder  weniger   gefördert     Ab   neues  Unteme 
gäbe  eines  von  Dr.  Otto  (f)  begonnenen  Corpus 
beschlossen;  das  Direktorium  der  preufsischen  Staa 
Publikation  einen  namhaften  Zuschufs,  die  Bearbeit 
von  Prof.  Menadier  (Beriin)  und  Frdherm  v.  Sc 


—     268     — 

Stifter  zählt  die  Gesellschaft  gegenwärtig  7,  von  denen  3  yerstorben 
sind,  Patrone  118,  Mitglieder  178.  Die  Gesamteinnahme  im  Jahre  1903 
betrug  35  750  Mk.,  die  Gesamtausgabe  2  7  36oMk.  Das  Vermögen  be- 
ziffert sich  einschliefslich  der  Mevissen-Stiftung  (43180  Mk.)  auf  106570  Mk« 

Der  seitens  der  Mevissenstiftung  ausgesetzte  Preis  von  4000  Mk.  ist 
dem  Stadtarchivar  Hermann  Keussen  für  seine  Historische  Topographie 
der  Sicidt  Köln  im  Mittelalter  zuerkannt  worden;  das  Werk  ist  im  Druck 
mid  wird  in  zwei  Quartbänden  erscheinen,  zu  den  Kosten  des  Druckes  hat 
die  Stadt  Köln  einen  Zuschufs  von  2000  Mk.  gewährt.  Für  die  beiden  am 
31.  Januar  1904  f^Uigen  Preisaufgaben  (Organisation  und  Tätigkeit  der 
Brandenburgischen  Landesverwaltung  in  Jülich-Kleve;  Entstehung  des  mittel- 
alterlichen Bürgertums  in  den  Rheinlanden)  sind  Bearbeitungen  nicht  ein- 
gegangen.    Der  Termin  wurde  bis  31.  Januar  1906  verlängert. 

Gleichzeitig  mit  dem  Jahresbericht  ist  nach  ebjähriger  Pause  wiederum 
ein  Heft  der  Übersicht  Ober  den  Inhalt  der  kleineren  Archive  der  JRhetn- 
provinM  veröffentlicht  worden;  es  ist  bearbeitet  von  Johannes  Kru de wig 
und  schliefst  den  zweiten  Band  (Bonn,  Behrendt  1904,  385  S.  8®)  ab. 
Es  sind  in  diesem  Bande  Mitteilungen  über  525  Archive  in  sieben  Kreisen, 
von  denen  6  dem  Regierungsbezirk  Aachen  und  einer  dem  Regierungsbezirk 
Koblenz  (Mayen)  angehören,  enthalten.  Im  ganzen  sind  jetzt  in  den  beiden 
Bänden   28  Kreise  und  1301  Archive  bearbeitet. 

Yereine.  —  Den  Geschichtsvereinen  mit  beschränktem  Arbeitsgebiet 
wird  in  der  künftigen  Geschichte  des  wissenschaftlichen  Lebens  im  XIX.  Jahr- 
hundert eine  Würdigung  nicht  versagt  werden  können,  und  diejenigen,  die  am 
frühesten  ins  Leben  getreten  sind,  werden  sich  vor  den  übrigen  auszeichnen. 
Wir  wissen  schon  jetzt,  dafs  Vereine  mit  dem  ausgesprochenen  Zwecke,  die 
Geschichte  bestimmter  Landschaften  zu  pflegen,  erst  im  zweiten  Jahrzehnt 
des  XIX.  Jahrhunderts  ins  Leben  getreten  sind,  und  wenn  imter  den  heute 
blühenden  Vereinen  einige  sind,  die  auf  ein  wesentlich  höheres  Alter  zurück- 
blicken können,  so  dürfen  wir  nicht  vergessen,  dafs  sich  bei  diesen  eine 
gewisse  Wandlung  hinsichtlich  des  Arbeitsgebietes  vollzogen  hat,  dafs  die 
ursprünglich  allgemeineren  Bestrebungen  allmählich  zugunsten  der 
besonders  nahe  liegenden  geschichtlichen  und  vornehmlich  landesgeschichtlichen 
Studien  zurückgetreten  sind.  Darin  aber  findet  ein  wichtiger  Vorgang  in  der 
Geschichte  der  deutschen  Wissenschaft  seinen  Ausdruck. 

Fast  gleichzeitig  haben  zwei  Vereine  der  letzteren  Art  ihre  Jubiläen 
feiern  können:  am  21.  April  blickte  die  1779  gegründete  Oberlausitzische 
Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Görlitz  auf  eine  125jährige  Tätig- 
keit zurück,  und  die  Königliche  Akademie  gemeinnütziger  Wissen- 
schaften zu  Erfurt  beging  am  i.  und  2.  Juli  das  Fest  ihres  150jährigen 
Bestehens.  Im  Namen  der  beiden  Anstalten  ist  noch  von  den  „ Weisse n - 
8 c hafte n'*  im  aUgemeinen  die  Rede,  und  darin  lebt  noch  ein  Stück  geistiges 
Leben  aus  der  Zeit  ihrer  Entstehung.  Bezüglich  der  Oberlausitzischen 
Gesellschaft  hat  die  Vielheit  der  Bestrebungen  WoldemarLippertin  dieser 
Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  18 — 19  treffend  gekennzeichnet  und  auch  den  Um- 
wandlungsprozefs ,  der  zur  Beschränkung  auf  die  Landesgeschichte  gefühlt 
hat,  anschaulich  geschildert    Die  Erfurter  Akademie  verfolgt  zwar  auch 


—     269     — 

heute  noch  manDigfaltige  Ziele,  aber  die  geschichtlichen  Disziplinen  stehen 
doch  stark  im  Vordergrund,  so  daüs  auch  sie  unter  den  Organisationen  zur  Pflege 
geschichtlicher  Forschung  genannt  werden  mufs.  Die  Festschrift  gur  Feier  des 
150 jährigen  Bestehens  der  Kgl.  Akademie,  die  als  30.  Heft  der  neuen 
Folge  der  Jahrbücher  der  KÖniglicJ^en  Akademie  gemeinnüteiger  Wissen- 
Schäften  mu  Erfurt  (Erfurt,  Karl  Villaret  1904,  652  S.  Lex.-8)  erschienen 
ist,  liefert  den  besten  Beweis  dafür. 

Im  80.  Bande  des  Neuen  Lausiteischen  Magaeins  —  vgl.  darüber  den 
oben  angezogenen  Aufsatz  von  Lippert  —  veröffentlicht  Richard  Jecht, 
der  verdienstvolle  Leiter  der  Gesellschaft  imd  Redakteur  des  Magazins,  einen 
Kurzen  Wegweiser  durch  die  Geschichte  der  OberlausUeischen  Gesellschaft 
der  Wissenschaften  eu  Görlitz  van  1779 — 1904.  Er  beschränkt  sich  hierbei 
auf  die  äufseren  Verhältnisse  und  gibt  namentlich  ein  Bild  der  gegenwärtigen 
Zustände,  aber  für  die  künftige  Geschichte  der  Gesellschaft  ist  darin  trotz- 
dem das  Wesentlichste  enthalten.  Bezeichnenderweise  stehen  als  Gründer 
der  Historiker  und  Sprachforscher  Karl  Gottlob  von  Anton  und  der 
Naturforscher  Adolf  Traugott  von  Gersdorf  an  der  Spitze.  Der 
Name  lautete  zuerst  „Oberlausitzische  Gesellschaft  zur  Beförde- 
rung der  Natur-  und  Geschichtskunde'S  änderte  sich  1779  in 
„Gesellschaft  der  Wissenschaften  in  der  Oberlausitz'',  1792 
in  „Oberlausitzische  Gesellschaft  der  Wissenschaften'',  wurde 
1803  durch  „Kurfürstlich  Sächsische  .  . ."  ergänzt  und  ist  seit  18 15  der  jetzige. 
Seit  1807  ist  die  Gesellschaft  Eigentümerin  eines  Hauses,  das  ihr  von  Anton 
geschenkt  wurde.  Von  Anfang  an  wtirden  reiche  Sammlungen  (Steine, 
Pflanzen,  Vögel,  Münzen,  Altertümer  und  namentlich  Bibliothek)  angelegt, 
aber  neben  den  naturwissenschaftlichen  und  geschichtlichen  Studien  auch 
gemeinnützige  Bestrebimgen  —  wie  Hilfeleistung  für  Ertrunkene,  Erfrorene 
und  Erhenkte  —  gefördert.  Das  Vereinsleben  blühte  namentlich  in  der  Zeit 
zwischen  1790  und  1804,  dann  aber  trat  eine  Erschlafiung  ein,  und  es 
wurden  verschiedene  Versuche  gemacht,  durch  Verbindung  mit  anderen 
Unternehmungen  der  Gesellschaft  wieder  aufzuhelfen;  imter  diesen  Plänen 
verdient  der  18 16  von  Anton  der  Preufsischen  Regierung  gemachte  Vorschlag, 
die  Universität  Wittenberg  nach  Görlitz  zu  verlegen,  besondere 
Erwähnung.  Dann  beginnt  bald  neues  Leben:  1819  erscheint  ein  gedruckter 
zweibändiger  Bibliothekskatalog,  1821  beginnt  das  Neue  Lausiteische  Magagin 
zu  erscheinen,  1825  wird  von  Personen,  die  fast  sämtlich  der  Gesellschaft 
als  tätige  Mitglieder  angehörten,  der  Kgl.  Sächsische  Altertumsverein  gegründet, 
1826  beginnt  der  Schriftenaustausch,  1830  wird  der  Gewerbeverein  ins  Leben 
gerufen  und  übernimmt  einen  Teil  der  bisher  der  Gesellschaft  zufaUenden 
Aufgaben,  seit  1838  finden  monatliche  wissenschaftliche  Versammlungen  statt; 
damab  ward  auch  ein  Joumallesezirkel  begründet.  Auch  zu  verschiedenen 
Veröffentlichungen  aufserhalb  der  Zeitschrift  wird  jetzt  fortgeschritten,  unter 
denen  die  Scriptores  rerum  Lusaticarum  (4  Bde.  1839,  1841,  1852,  1870)  und 
der  Codex  diplamaticus  Lusatiae  superioris  Bd.  i  ( 1 8  5 1 , 2 .  Atifl.  1856)  besondere 
Erwähnung  verdienen.  Heute  zählt  die  Biblioüiek  gegen  70000  Nummern; 
daneben  gibt  es  ein  Archiv,  Siegelsammlung,  Münzsammlung,  Kupferstiche 
und  Zeichnungen,  Landkartensammlung  und  Altertümersammlung,  während 
die   in   das   Gebiet  der  Naturwissenschaft  fiallenden   Sammlungen   mit  Aus- 


—     270     — 

nähme  des  physikalischen  Kabinetts  den  Schulen  zu  Unterrichtszwecken  über- 
lassen worden  sind. 

Die  Gesellschaft  hat,  wie  diese  wenigen  Angaben  zeigen,  eine  auiser- 
ordentlich  segensreiche  Tätigkeit  entfaltet  und  kann  mit  Genugtuung  auf  ihr 
Wirken  zurückblicken.  Sie  ist  erwachsen  aus  den  seit  der  Mitte  des  i8.  Jahr- 
hunderts allenthalben  lebendigen  Bestrebungen,  dtirch  Schaffung  eines  Kreises, 
fUr  den  gearbeitet  wird,  einzelne  Männer  zu  selbständiger  wissenschafHicher 
Forscherarbeit  —  im  Gegensatz  zu  dem  Lehrbetrieb  der  damaligen  Uni- 
versitäten —  anzuregen,  sie  ist  mit  ihrer  Zeit  gewachsen,  hat  sich  mit  ihr 
mngestaltet  und  ist  heute  einer  der  am  besten  geleiteten  landschaftlichen 
Geschichtsvereine. 

Trotz  des  wesensgleichen  Ursprungs  ist  die  Erfurter  Akademie 
etwas  wesentlich  anderes  geworden  als  die  Görlitzer  „Gesellschaft'S  obwohl 
die^  beiden  Worte  —  letzteres  gern  in  der  Form  „Sozietät"  —  im  XVIII.  Jahr- 
hundert im  wesentlichen  dasselbe  zum  Ausdruck  bringen:  ist  doch  heute 
noch  z.  6.  die  Kgl.  Sächsische  Gesellschaft  der  Wissenschaften  ihrem 
Wesen  nach  dasselbe  wie  die  Kgl.  Preufsische  Akademie  der  Wissen- 
schaften. Die  Geschichte  der  Erfurter  Akademie  behandeln  drei  muster- 
gültige Arbeiten  in  der  genannten  Festschrift  von  Thiele,  der  ihre  Gründung 
imd  Geschichte  bis  zur  Wiederbelebung  unter  Dalberg  1776  behandelt, 
Oergel,  der  ihre  Geschichte  bis  1816  führt,  und  Heinzelmann,  der 
die  Entwickelung  des  XIX.  Jahrhunderts  darstellt.  Thiele  schüdert  vor  allem 
ganz  ausgezeichnet  die  Entstehung  der  „Akademien"  in  Deutschland  nach 
dem  Vorbild  der  1635  gegründeten  ÄccuUmie  fran^aise  und  der  „Sozietäten" 
nach  dem  VorbUd  der  seit  1645  ^  Oxford  bestehenden  sowie  ihr  Verhältnis 
zu  den  Universitäten.  Die  Gründung  der  Erfurter  Akademie  1754  erfolgte 
nach  dem  Muster  der  1751  in  Göttingen  entstandenen  Sozietät,  und  wie  bei 
dieser  trat  gleichzeitig  eine  gelehrte  2^itung,  die  wöchentlich  erschemenden 
Erfurtischen  Gelehrten  Nachrichten ,  ins  Leben.  Der  Name  der  Erfurter 
Anstalt  lautete  „Kurfürstlich  Mainzische  Akademie  nützlicher  Wissen- 
schaften", imd  zwar  sind  darunter  zunächst  die  Naturwissenschaften  und 
Mathematik  zu  verstehen;  der  kurfürsüich  mainzische  Regierungsrat  Freiherr 
von  Lincker  war  der  erste  Präsident;  Anfang  1755  erhielt  die  Akademie 
geeignete  Räume  durch  Überlassung  des  Häusericomplexes  mit  Turm  am 
Krämpfertore  zur  Unterbringung  ihrer  naturwissenschaftlichen  Anstalten  und 
zur  Anlage  eines  botanischen  Gartens.  Der  erste  Band  der  anfangs  durchweg 
lateinisch  geschriebenen  Acta  Äcademiae  erschien  1757  und  enthielt  44  Ab- 
handlungen, 1 2  aus  den  Geistes-,  3  2  aus  den  Erfahrungswissenschaften,  unter 
denen  auf  eine  bemerkenswerte  Arbeit  vom  Freiherm  von  Lincker  über  das 
Übervölkerungsproblem  (utrum  hamines  nimium  müUipiicentur)  hinge- 
wiesen sei.  Auch  der  2.  Band  der  Acta  (i  76 1)  war  noch  lateinisch  geschrieben, 
während  1762  und  1763  zwei  Bändchen  deutsch  geschriebener  Abhandlungen 
veröffentlicht  wurden;  in  dem  letzteren  wird  u.  a.  die  Frage  erörtert,  ob  es 
nützlich  sei,  die  Getreideausfuhr  zu  verbieten.  Nach  Linckers  Tode  1763 
schlief  die  Akademie  allmählich  ein,  bis  sie  1776  der  Erfurter  Statthalter 
Karl  von  Dalberg  gewissermaisen  neu  gründete.  Seit  1772  weUte  dieser 
Mann  in  Erfurt,  1775  hatte  ihn  der  Kurfürst  zum  Spezialprotektor  der 
Akademie  ernannt,   imd  im  März    1776   begann   er   seine  Vorbereitung  zur 


—     271     — 

Neubelebuog.  Sein  Ziel  sind  regelmäfsige  Sitzungen  und  Stellung  von  Preis- 
aufgaben, während  er  die  materiellen  Aulwendungen  aus  seiner  Tasche  bestrei- 
tet und  sogar  einen  Saal  für  die  Versammlungen  mietet.  Bis  zum  Jahre 
1802  ist  nun  das  Wirken  der  Akademie  dasjenige  Dalbergs,  und  was  darüber 
gesagt  wird  (S.  161 — 215)»  ist  deshalb  ein  Beitrag  zur  Biographie  dieses 
eigenartigen  Mannes.  £r  hat  auch  auswärtige  Gäste,  so  die  Gebrüder  Hum- 
boldt und  Schiller,  gelegentlich  zu  den  Versammlungen  mitgebracht,  besonders 
durch  die  Preisaufgaben  zur  Behandlung  praktischer  Fragen  angeregt  und  seit 
1781  die  seit  1769  ab  Privatuntemehmen  bestehende  Erfurtiache  CMehrte 
Zeitung  wieder  zum  Organ  der  Akademie  gemacht,  bis  die  Akademie  1797 
auch  den  Verlag  übernahm,  den  Titel  in  Nachrichten  von  gelehrten  Sachen 
umänderte  und  die  Rezensionen  mit  vollem  Namen  imterzeichnen  liefs. 
Von  den  Acta  erschienen  bis  1 796  zwölf  Quartbände,  in  denen  nun  die  deutsche 
Sprache  neben  der  lateinischen  und  französischen  schon  vorwiegend  gebraucht 
wird.  1799  traten  Nova  Acta  mit  dem  Untertitel  Abhandlungen  der  Kur» 
fürstlich  Mainzischen  Akademie  nütäflicher  Wissenschaften  eu  Erfurt  an 
deren  Stelle.  Recht  wesentlich  ist  bezüglich  des  Inhalts,  dafs  die  geschicht- 
lichen Arbeiten  und  auch  die  in  die  Acta  nicht  aufgenommenen  Vorträge 
sich  vorwiegend  mit  Gegenständen  der  näheren  Umgegend  befassen,  lokal- 
geschichtlicher  Natur  sind  (S.  213). 

Kurz  nachdem  Dalberg  Kurfürst  geworden  war,  fiel  Erfurt  1802  an 
Preufsen,  und  noch  vor  Jahresschlufs  bat  der  Direktor  von  Dacheröden 
die  preufsische  Regierung  um  ihre  Unterstützung  imd  Förderung  der  Aka- 
demie ;  doch  es  kam  keine  Bestätigung,  wenn  auch  nicht  die  Auflösung,  der 
die  Universität  anheimfiel.  Unter  französischer  Herrschaft  fanden  einige 
pomphafte  Festsitzungen  statt  Als  Erfiut  wieder  preufsisch  geworden  war, 
erhielt  die  Akademie  von  dem  neuen  Landesherm  i.  August  18 14  das 
Recht,  sich  „Königliche  Akademie  d.  g.  W/*  zu  nennen,  und 
erneuerte  sich  in  den  Jahren  18 14— 16  völlig.  Bei  der  181 7 — 19  folgen- 
den Beratung  der  neuen  Satzungen  wurden  die  „nützlichen*'  Wbsenschaften 
in  „ gemeinnützige*'  umgewandelt,  und  damit  zugleich  das  Arbeits- 
gebiet verschoben,  denn  es  handelt  sich  nunmehr  darum,  diejenigen  Fächer 
der  menschlichen  Kenntnisse  zu  pflegen,  die  unmittelbaren  Einflufs  auf 
das  praktische  Leben  haben.  Hatten  seit  Dalbergs  Weggang  ntir  gelegent- 
liche Schenkungen  der  Akademie  Geldmittel  zugeführt,  so  blieb  der  verlangte 
und  im  Betrag  von  800  Talern  zugesagte  Zuschufs  des  preufsischen  Staates 
ebenfalls  aus;  nur  aus  dem  kurmainzischen  Fonds  wurden  130  Taler  tmd 
vom  Unterrichtsminister  jedes  Jahr  neu  zu  erbittende  100  Taler  gewährt 
Bezüglich  des  Arbeitsgebietes  macht  sich  nun  in  der  Folgezeit  inmier  mehr 
die  Überzeugung  geltend,  dais  der  Ausdruck  „gemeinnützige  Wissenschaften'' 
irre  führt,  dafs  er  zu  eng  ist  und  dafs  den  Geisteswissenschaften  die  Gleich- 
berechtigung mit  den  Naturwissenschaften  gebühre,  imd  nach  1859,  noch 
mehr  seit  187 1  gewiimen  die  geisteswissenschaftlichen  Vorträge  gegenüber 
den  naturwissenschaftlichen  bei  weitem  das  Übergewicht  (S.  288),  wenn 
diese  auch  noch  in  ganz  stattlicher  Zahl  vertreten  sind.  Aber  gemeinsam 
ist  allen  Arbeiten,  dais  es  sich  in  ihnen  um  gelehrte  Forschung  handelt 
Wie  sich  die  Arbeiten  auf  die  einzelnen  Gebiete  des  Wissens  verteilen,  das 
zeigt   eine   Übersicht   über   die    1804^1903   veröffentlichten  Abhandlungen 


—     272     — 

(S.  299 — 371),  unter  denen  die  geschichüichen  im  weiteren  Sinne  recht 
zahlreich  sind.  —  Die  Geschichte  der  Erfurter  Akademie  als  solche  ist 
bereits  ein  wichtiges  Stück  deutscher  Geistesgeschichte,  aber  nicht  minder 
wertvoll  sind  die  aus  dem  Kreise  ihrer  Mitglieder  hervorgegangenen  Arbeiten, 
von  denen  die  vorliegende  Festschrift  noch  sieben  bringt,  die  alle  geschicht- 
lichen Charakter  tragen. 

Richard  Loth  behandelt  S.  383 — 466  Das  Medizinalwesen,  den 
äretUchen  Stand  und  die  medieinische  Fakultät  bis  jsum  Anfang  des  17, 
Jahrhunderts  in  Erfurt  imd  bespricht  darin  Fragen,  auf  deren  Wichti^eit 
in  dieser  Zeitschrift  oben  S.  155  — 156  nachdrücklich  hingewiesen  wurde; 
es  wäre  nur  zu  wünschen,  dafs  für  recht  viele  Städte  die  gleiche  Unter- 
suchung gemacht  tmd  namentlich  die  Geschichte  der  medizinischen  Fakultät 
an  allen  Universitäten  in  dieser  Weise  dargestellt  würde.  Über  dem  Ganzen 
liegt  ja  ein  viel  gröfseres  Problem  der  Geistesgeschichte:  wie  hat  auf  dem 
Gebiete  der  naturwissenschaftlichen  Forschung  die  induktive  Methode  die 
Herrschaft  gewonnen?  Und  dafür  wie  für  die  Geschichte  des  Humanismus 
als  solchen  ist  es  von  grofser  Wichtigkeit  zu  erfahren,  wie  sich  die  Ärzte 
und  Naturforscher,  einzelne  und  die  Gesamtheit,  zum  Humanismus  verhalten 
haben.  —  Albert  Lüttge  beschäftigt  sich  mit  der  Lebensarbeit  eines 
HohenzoUern  im  Osten  Europas  S.  467 — 510,  und  meint  damit  die  Wirk- 
samkeit des  Königs  Karl  von  Rumänien;  eine  solche  Darstellung  wird 
schwerlich  jemand  an  dieser  Stelle  suchen,  und  deshalb  sei  hier  darauf  auf- 
merksam gemacht,  wenn  sie  auch  aus  dem  Rahmen  landesgeschichtlicher 
Forschung  herausfällt.  —  Ein  künstlerisches  Problem  beschäftigt  Eduard 
von  Hagen,  der  einen  von  der  herrschenden  Memung abweichenden  Deutungs- 
veisuch  der  Transfiguration  van  Baffael  S.  511 — 541  gibt;  nach  ihm  ist 
der  Knabe  im  unteren  Teile  keine  epileptische  Person,  sondern  eine 
ekstatische,  die  in  Zungen  redet  und  seiner  Umgebung  von  dem  Wunder 
berichtet,  das  sich  auf  dem  oberen  Teile  des  Bildes  vollzieht.  —  A.  Bau- 
meister imterbreitet  S.  543  —  564  einen  Vorschlag  eur  Neugestaltung  des 
Geschichtsunterrichts  in  der  obersten  Klasse  unserer  höheren  Schulen^  wo- 
bei er  von  der  Forderung  ausgeht,  wie  bei  anderen  Lehrfächern  müsse 
auch  im  Geschichtsunterricht  dessen  Zweck  immer  wieder  betont  werden 
d.  h.  die  Erziehung  für  das  Staatsleben  der  Gegenwart  Um  dies  zuerreichen, 
wünscht  er  die  Gründung  des  Deutschen  Reichs  und  die  Person  Bismarcks, 
von  dessen  Reden  einige  zu  lesen  sind,  in  den  Anfang  und  Mittelpunkt 
gestellt  zu  sehen,  und  die  Geschichte  seit  1648  soll,  abschnittweise  von 
hinten  angefangen,  als  Vorbereitung  auf  dieses  Ziel  vorgetragen  werden.  — 
Otto  Albrecht  gibt  Luthers  Kleinen  Katechismus  nach  der  Wüten- 
berger  Ausgabe  vom  Jahre  1540  heraus  (S.  565  —  600):  zwei  Exemplare 
dieses  Druckes  hat  der  Herausgeber  benutzt,  von  denen  das  eine  im  Besitz  des 
Herzogs  Albrecht  von  Preufsen  gewesen  ist  und  handschriftliche  Einträge  von 
ihm  enthält,  danmter  ein  bisher  unbekanntes  sechsstrophiges  Glaubenslied 
(S.  571).  —  Valentin  Hintner  (Wien)  gibt  Beiträge  eur  tirolischen  Namen* 
forschung  (S.  601  — 630),  und  fördert  zweifellos  damit  auch  methodisch  das  wich- 
tige und  schwierige  Feld  der  sprachlichen  Bearbeitung  von  Ortsnamen.  —  Als 
letzter  endlich  veröffentlicht  HermannAlthof  (Weimar)  eine  Untersuchung 
über    ein    Problem    in    der    Walthariusforschung    Gerald   und    ErchambcHd 


—     273     — 

(S.  631 — 652).  Ersterer  widmet  in  einem  in  drei  Handschriften  von  Ekke- 
hards  Epos  befindlichen  Prolog  dem  letzteren  das  Gedicht,  aber  wer  diese 
Personen  sind,  darüber  ist  viel  gestritten  worden :  hier  wird  mit  gutem  Grunde 
die  Ansicht  vertreten,  dafs  Erchambald  (f  991)  der  Bischof  von  Strafsburg 
und  Gerald  ein  zu  seiner  Zeit  bezeugter  Domherr  ebendort  gewesen  ist. 

Diese  verschiedenen,  auf  die  mannigfachsten  Fragen  der  örtlichen  Ge- 
schichtsforschung eingehenden  Arbeiten  stellen  eine  Bereicherung  der  Lite- 
ratur dar;  sie  verdienen  um  so  nachdrücklichere  Erwähnung,  weil  gerade  im 
Jahrbuche  der  Erfurter  Akademie  kaum  jemand  nach  solchen  Arbeiten  sucht. 

Die  Erfurter  Akademie  ist,  wie  wir  gesehen  haben,  eine  eigentümliche 
Anstalt;  sie  ist  wie  die  Görlitzer  Gesellschaft  von  allgemeinen  Bestrebungen 
ausgegangen,  hat  sich  aber  nicht  so  sehr  spezialisiert  wie  jene.  Tragen  die 
von  ihr  veröffentlichten  Studien  heute  auch  ztuneist  geschichtlichen  Charakter, 
so  sind  sie  doch  nicht  auf  dieses  Gebiet  grundsätzlich  beschränkt,  und,  so 
weit  sie  ihm  angehören,  beschränken  sie  sich  auch  nicht  auf  eine  bestimmte 
geographisch  abgegrenzte  Landschaft,  sondern  ziehen  die  verschiedensten 
Gegenstände  aus  allen  Landschaften  in  Betracht  und  fördern  damit  den 
Zusammenhang  geschichtlicher  und  geisteswbsenschaftlicher  Arbeit  überhaupt 

Eingegangene  Bficher. 

Knickenberg,  Fritz:  Die  ältesten  Aufnahmen  der  Stadt  Bonn  [=  Bonner 
Jahrbücher,  Heft  iio  (1903),  S.  203 — 213]. 

Kräl  von  DobraVoda,  Adalbert  Ritter:  Der  Adel  von  Böhmen,  Mähren 
und  Schlesien,  genealogisch-heraldisches  Repertorium  sämtlicher  Standes- 
erhebungen, Prädikate,  Beförderungen,  Incolats-Erteilimgen,  Wappen  und 
Wappenverbesserungen  des  gesamten  Adels  der  Böhmischen  Krone. 
Prag,  J.  Taussig,  1904.     310  S.  4^     M.  20,00. 

Krieger,  Albert:  Topographisches  Wörterbuch  des  Grofsherzogtums  Baden, 
herausgegeben  von  der  Badischen  Historischen  Kommission.  Zweite 
durchgesehene  und  stark  vermehrte  Auflage.  Erster  Band  in  zwei  Halb- 
bänden. Heidelberg,  Carl  Winter,  1903  und  1904.  XXII  S.  und 
1290  Spalten. 

Landau,  Richard:  Eine  medico  -  historische  Urkunde  [=3  Anzeiger  des 
Germanischen  Nationalmuseums  Jahrgang  1903,  S.  97 — 100]. 

Muchau,  H.:  Die  Inschriften  der  Chur-  und  Hauptstadt  Brandenburg  [=  Der 
Roland,  Wochenschrift  für  Heimatkunde.    2.  Jahrgang  Nr.  19  und  Nr.  20]. 

Ohlenschlager,  Friedrich :  Römische  Überreste  in  Bayern,  nach  Berichten, 
AbbUdungen  und  eigener  Anschauung  geschildert  und  mit  Unterstützung 
des  Kaiserlich  Deutschen  Archäologischen  Instituts  herausgegeben,  Heft  2. 
München,  J.  Lindauer  (Schöpping),  1903,  S.  97 — 192  mit  3  Karten,  einem 
Plan  und  30  Abbildungen  im  Text.     M.  4,00. 

Prejawa:  Erläuterungen  zu  dem  im  Germanischen  Nationalmuseiun  auf- 
gestellten Teil  eines  Niedersächsischen  Bauernhauses  [=  Anzeiger  des 
Germanischen  Nationalmuseums,  Jahrgang  1903,  S.   131  — 152]. 

Schäfer,  Ernst:  Sevilla  und  Valladolid,  die  evangelischen  Gemeinden  Spaniens 
im  Reformationszeitalter  [=  Schriften  des  Vereins  für  Reformations- 
geschichte Nr.   78].     Halle,  Niemeyer,    1903.      137  S.  8^     M.   1,20. 


—      274     — 

Schönaich,  G. :  Die  alte  Jauersche  Stadtbefestigung,  Vortrag  gehalten  in  der 
Philomaüiie  zu  Jauer.    Jauer,  Oskar  Hellmann,  1903.  18  S.  8^.    M.  o,6o. 

— :  Die  alte  Fürstentumshauptstadt  Jauer,  Bilder  und  Studien  zva  jauerschen 
Stadtgeschichte,     i.  Lieferung.    Jauer,  Oskar  Hellmann,   1903.  48  S.  8^. 

Schubert,  Hans  von :  Grundzüge  der  Kirchengeschichte.  Tübingen,  I.  C. 
B.  Mohr  (Paul  Siebeck),   1904.     304  S.  8^     M.  4. 

Sepp,  Joh.  Nep. :  Ludwig  Augustus,  König  von  Bayern,  und  das  Zeitalter 
der  Wiedergeburt  der  Künste.  Zweite  vermehrte  imd  verbesserte  Auflage 
Mit  2  Bildnissen.    Regensburg,  G.  J.  Manz,  1903.    965  S.  8^    M.  10.00 

Siegl:  Die  Geschichte  der  Egerer  Stadtuhr  [=  Sonderabdruck  aus  dem 
„Egerer  Jahrbuch",   1904]. 

Stümcke,  Heinrich:  HohenzoUemfürsten  im  Drama,  ein  Beitrag  zu  ver- 
gleichenden Literatur-  und  Theatergeschichte.  Leipzig,  Georg  Wigand, 
1903-     305  S.  8^     M.  5,50. 

Thalhofer,  Fr.  H. :  Führer  durch  die  Stadt  Donauwörth,  deren  Geschichte 
und  Umgebung.     Donauwörth,  Luwig  Auer,  1904.     64  S.  8®. 

Wolkan,  Rudolf:  Die  Lieder  der  Wiedertäufer,  em  Beitrag  zur  deutschen 
und  niederländischen  Literatur-  und  Kirchengeschichte.  Berlin  W  35, 
B.  Behr,   1903.     295  S.  8^     M.  8,00. 

Arnold,  Robert  F.:  Die  Kultur  der  Renaissance,  Gesittung,  Forschung, 
Dichtung  [=  Sanmüung  Göschen].  Leipzig,  G.  J.  Göschen,  1904. 
137  S.   i6<>.     M.  0.80. 

Bossert:  Die  Reformation  in  Creglingen  [=  Württembergisch  Franken,  Neue 
Folge  Vm  (1903),  S.  1—64]. 

Bredt,  £.  W. :  Katalog  der  mittelalterlichen  Miniaturen  des  Germanischen 
Nationalmusetuns.  Nürnberg,  Verlag  des  Germanischen  Museums,  1903. 
149  S.  und  16  Tafehi  8^ 

Dönges,  C. :  Belagenmg,  Zerstörung  und  Schleifung  von  Schlofs  und  Festung 
Dillenburg  [bb  Veröffentlichung  des  historischen  Vereins  zu  Dillenbuig 
Nr.  3].  Dillenburg,  Moritz  Weidenbach  (K.  Seels  Nachfolger),  1904. 
48  und  C.  VIII  S.  8». 

Jostes,  Franz:  Roland  in  Schimpf  und  Ernst  [«>  Zeitschrift  des  Vereins 
für  rheinische  und  westfälische  Volkskunde,  i.  Jahrgang,  erstes  Heft 
Elberfeld,  Baedeker,  1904.     S.  6 — 36]. 

Kehrmann,  Karl:  Die  Capita  agendorum^  kritischer  Beitrag  zur  Geschichte 
der  Reformverhandlungen  in  Konstanz  [=  Historische  Bibliothek,  heraus- 
gegeben von  der  Redaktion  der  Historischen  Zeitschrift,  15.  Band.] 
München,  R.  Oldenburg,  1903.     67  S.  8®. 

Knüll,  Bodo:  Historische  Geographie  Deutschlands  im  Mittelalter.  Breslau, 
Ferdinand  Hirt,   1903.     240  S.  8<*.     M.  4.00. 

K  o  s  e  r ,  Reinhold :  Die  Neuordnung  des  preufsischen  Archivwesens  durch  den 
Staatskanzler  Fürsten  von  Hardenberg  [=  Mitteilungen  der  K.  Preufsischen 
ArchiwerwaltungHeft  7].  Leipzig,  S.Hirzel,  1904.  XVIII u.  72  S.8<>.  M.  2.60. 

Mitteilungen  des  Elaiserlichen  und  Königlichen  Heeresmuseums  im  Artillerie- 
arsenal in  Wien,  herausgegeben  von  dem  Kuratoritun  des  K.  u.  K.  Heeres- 
museums. 2.  Heft.  Mit  drei  Tafeln.  Wien,  in  Kommission  bei  Karl 
Konegen,   1903.     XLIX  und  126  S.  8^. 

Heraotgebcr  Dr.  Armin  Tille  in  Leiptif . 
Dmck  und  Verlag  tob  Friedrich  Andreas  Perthes,  Akdeng esellschaft,  Gotha. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsscbrift 


rar 


Förderung  der  landesgeschichtlichen  Forschung 

V.  Band  August/September  1904  11./ 12.  Heft 

:    _. . .  .  .        ._ ' .  ¥ 

Zur  Geschichte  der  Besiedelung  von 
]S[ieder^  und  Oberösterreich 

Von 
Max  Vancsa  (Wien) 

Für  die  Geschichte  der  meisten  Länder,  aber  ganz  insbesondere 
für  die  eines  ausgesprochenen  Koloniallandes,  wie  es  das  österreichische 
Stammland,  das  heutige  Nieder-  und  zum  Teil  Oberösterreich,  die  alte 
Ostmark,  ursprünglich  gewesen  ist,  bUdet  die  Siedelungsgeschichte 
die  wichtigste  Grundlage.  Dennoch  ist  es  noch  nicht  gar  lange  her, 
dafs  sie  für  das  genannte  Gebiet  in  AngriiT  genommen  wurde. 

Der  erste,  der  bei  der  Gesamtdarstellung  der  Geschichte  Öster- 
reichs derBesiedelungsgeschichte  einen  hervorragenden  Platz  einräumte, 
war  Franz  von  Krones  in  seinem  Handbuch  der  Geschichie  Österreichs 
mit  besonderer  Rücksicht  auf  Länder-,  Völkerkunde  und  Kultur- 
geschichte (Berlin  1876— 1879),  nachdem  allerdings  bereits  Büding er, 
österreichische  Geschichie  I.  Bd.  (Leipzig  1858)  eine  bedeutende  Vorarbeit 
geleistet  hatte.  Selbstverständlich  war  bei  diesem  ersten  Versuch  die 
Besiedelung^eschichte  nur  in  grö&eren  Zügen  dem  Rahmen  der  Ge- 
samtdarstellung eingefügt;  die  Ergebnisse  beruhten  auf  den  darstellen* 
den  Quellen,  hauptsächlich  aber  auf  den  Urkunden. 

Im  Jahre  1879  erschien  dann  die  erste  grofse  rein  siedlungs- 
geschichtliche Arbeit  für  Österreich  :  Otto  K  ä  m  m  e  1 ,  Anfänge  deutschen 
Lebens  in  Österreich  bis  zum  Ausgange  der  Karolingerzeit ,  die  den 
ersten  Teil  eines  gröfser  angelegten  Werkes  Bie  Entstehung  des 
österreichischen  Deutschtums  bUden  sollte,  aber  leider  eine  Fortsetzung 
nicht  erfahren  hat.  Bedenkt  man,  dafs  die  grundlegenden  Werke  von 
Lamprecht,  Meitzen  u.  a.  erst  ein  bis  zwei  Jahrzehnte  später 
entstanden  sind,  und  dais  der  Verfasser  dem  Lande  ganz  fern  stand, 
so  kann  man  seiner  Leistung,  die  bis  heute  kaum  in  Einzelheiten,  ge- 
schweige denn  in  den  Hauptzügen  berichtigt  oder  überholt  worden 

ist,  die  volle  Bewunderung  nicht  versagen.    Auf  Kämmel  gehen  dahe^ 

20 


—     276     — 

auch  alle  späteren  Gesamt-  oder  Spezialdarstellungen  zurück,  so 
Hubers  österreichische  Geschichte^  so  trotz  aller  gegenteiligen  Be- 
hauptung Strakosch-Grafsmanns  Geschichte  der  Deutschen  in  Öster- 
reich, deren  erster  Band  wie  Kämmeis  Buch  nur  bis  zur  Schlacht  am 
Lechfelde  reicht,  so  selbst  nochMeitzen,  der  in  seinem  grolsen  Werke 
Sieädung  und  Agrarwesen  der  West-  und  Ostgermanen,  der  Kelten,  Römer, 
Finnen  und  Slaven  (Berlin  1895)  auch  ein  allerdings  nur  kurzes  Kapitel 
der  Besiedelungsgeschichte  der  Ostmark  widmet. 

Alle  diese  Arbeiten  waren  zeitlich  beschränkt,  vornehmlich  auf 
die  Karolingische  Periode,  und  zogen  höchstens  noch  das  X.  und  XI. 
Jahrhundert  mit  herein.  Eine  kleine  Studie  über  die  neuzeitliche 
Siedelungsgeschichte,  die  namentlich  in  der  Türken-  und  Reformations- 
zeit für  die  österreichischen  Verhältnisse  sehr  wichtig  ist,  sei  hier  noch 
erwähnt :  Neuere  slavische  Siedlungen  auf  süddeutschem  Boden  von  H.  I. 
Bidermann  [Forschungen  zur  deutschen  Landes-  und  Volkskunde 
II.  Bd.  5.  Heft.  Stuttgart  1888],  worin  auch  Niederösterreich  in  Kürze 
behandelt  ist. 

Diese  Arbeiten  sind  jedoch  auch  beschränkt  in  bezug  auf  ihre 
Pfilfsmittel.  Sie  gewinnen  ihre  Ergebnisse  nahezu  ausschliefslich  aus 
den  Urkunden  bezw.  aus  den  darstellenden  Quellen.  Kämmel  zog 
allerdings  auch  die  Ortsnamenforschung  heran,  jedoch  nur  die  slawische, 
gestützt  auf  Miklosich,  während  er  innerhalb  der  deutschen  keine  weiteren 
Unterscheidungen  vornahm  ^). 

In  den  letzten  20  Jahren  haben  aber  die  HUfsdisziplinen  der  Ge- 
schichtsforschung im  allgemeinen  und  der  Siedelungsgeschichte  im 
besonderen  eine  ungeahnte  AusbUdung  erfahren,  wenn  auch  die  älteren 
derartigen  Spezialarbeiten  in  Österreich  noch  nicht  in  Zusammenhang 
mit  den  grundlegenden  und  richtunggebenden  neuen  Forschungen  in 
Deutschland  stehen.  Da  ist  vor  allem  die  Ortsnamenforschung  zu 
nennen.  Schon  Alois  Hub  er  hat  in  seinem  an  unbewiesenen  Hypo- 
thesen reichen,  nur  mit  grofeer  Vorsicht  zu  benutzendem  Werke,  Geschichte 
der  Einführung  und  Verbreitung  des  Christentums  in  Süddeutschland 
(Salzburg  1874  und  1875),  die  Ortsnamenforschung  als  Hilfsmittel  der 
Besiedelungsgeschichte  herangezogen,  und  man  kann  nicht  leugnen,, 
dafs  sich  in  diesem  Abschnitte  (IV.  Bd.  S.  325  f )  einige  ganz  brauch- 
bare Gesichtspunkte  finden;  jedenfalls  bessere,  als  sie  die  ungefähr 
zur  selben  Zeit  grassierende  Keltomanie   bot,    die    in    den    meisten 


i)  Dazu   Tgl.   noch  Kämmel,   Die  slawischen   Ortsnamen  im  nördlichen  Teile 
Niederösterreichs  (Archiv  f.  slavische  Philologie  Vn,  356,  1884). 


—     277     — 

österreichischen  Ortsnamen  keltische  Stämme  erblicken  zu  können 
glaubte.  *). 

Hub  er  scheint  übrigens,  wenn  auch  uneingestandenerma&en, 
bereits  von  Arnolds  bahnbrechendem  Werke:  Ansiedelungen  und 
Wanderungen  germanischer  Stämme,  hmptsäcKUch  in  Thessischen  Orts-- 
namen  (1875)  beeinflufst  zu  sem.  — Systematischer  in  Angriff  genommen 
wurde  die  Ortsnamenforschtmg  erst  von  Richard  Müller,  der  in  den 
Jahren  1884 — 1893,  sowie  1899  und  1900  namhafte  Vorarbeiten  zur 
österreichischen  Ortsnamenktmde  in  den  Blättern  des  Vereines  für 
Landeshunde  von  Niederösterreich  (XVIII— XXVH,  XXXIH,  XXXIV) 
veröffentlicht  hat,  die  zusammengefatst ,  vermehrt  und  kritisch  gesichtet 
als  Altösterreichisches  Ortsnamenbuch  demnächst  erscheinen  sollen. 
Freilich  haben  diese  an  sich  sehr  dankenswerten,  flei&igen  und 
gründlichen  Forschungen,  die  in  exakt  wissenschaftlicher  Weise  auf 
die  älteste  urkundliche  Überlieferung  zurückgehen,  eine  Reihe  von 
Mängeln,  die  sie  gerade  für  den  Historiker  als  ziemlich  problematisch 
erscheinen  lassen  müssen. 

Sie  sind  von  rein  sprachwissenschaftlichem  Standpunkt  aus  unter- 
nommen und  tragen  der  siedelungsgeschichtlichen  Seite,  von  gelegent- 
lichen Streiflichtem  abgesehen,  fast  gar  nicht  Rechnung.  Und  dann 
erwecken  manche  Ergebnisse  durch  den  Umstand,  dafs  die  letzten 
Untersuchungen  mit  dem  Aufwand  emes  reichen  gelehrten  Apparates 
vielfach  zu  Anschauungen  geführt  haben,  die  den  ursprünglichen  schein- 
bar nicht  minder  gründlich  bewiesenen  gerade  entgegengesetzt  sind 
ein  gewisses  Müstrauen.  Jedenfalls  überwiegt  die  theoretisch -gram- 
matikalische Arbeit  zu  sehr,  während  die  lebendige  Überlieferung  und  An- 
schauung und  auch  der  Dialekt  zu  wenig  berücksichtigt  sind.  So  haben 
denn  auch  Theodor  von  Grienberger  (Mitt.  d.  Institutes  f.  österreich- 
ische Geschichtsforschung  XIX,  520)  und  Willibald  Nagl  (verstreut  in 
Zeitschriften  und  Zeitungen)  vieles  im  allgemeinen  und  im  DetaU 
bekämpft  tmd  berichtigt'). 

Verhältnismäfisig  frühzeitig  wurde  auch  das  Thema  der  Wüstungen 
in  Niederösterreich  angeschnitten,  das  für  die  Besiedelungsgeschichte 
des   späteren  Mittelalters  und  der  beginnenden  Neuzeit  hervorragende 


1)  Siehe  z.  B.  Goehlert  in  den  Blättern  des  Vereins  für  Landesk.  von  Nieder- 
Österreich  m  (1868)  3,93  und  VI  (1872)  179. 

2)  Im  allgemeinen  hat  fUr  die  österreichischen  Alpenländer  im  Rahmen  eines  knappen 
Vortrages  Osw.  Redlich,  Über  Ortsnamen  der  östlichen  Alpenländer  und  ihre  Be- 
deutung (Zeitschr.  d.  deutschen  n.  österr.  Alpenvereins  XXVm,  72,i8flgt^ihr  bemerkens- 
werte Gesichtspunkte  gegeben. 


—     278     — 

Bedeutung'  besitzt  Neil! ,  Abgekommene  Ortschaften  in  Niederösterreich 
[Blätter  des  Vereines  f.  Landesk.  XV— XVII,  1881  — 1883]  hat  in 
dieser  Beziehung  eine  gute  Grundlage  geschaffen,  zu  der  dann  Maure  r, 
Schranzhofer,  Hammerl,  Wiek,  2 ak  und  PI ess er  (ebenda  XV, 
XX,  XXI,  XXV— XXVII,  XXXIII  und  XXXIV)  zahlreiche  weitere 
Bausteine  zusammengetragen  haben. 

Auch  die  Topographie  von  Niederösterreich,  die  seit  dem  Jahre  1877 
der  Verein  für  Landeskunde  von  Niederösterreich  herausgibt  und  die 
gegenwärtig  bis  zum  Artikel  „Melk"  gediehen  ist*),  berücksichtiget 
wenigstens  in  den  späteren  Bänden  die  Besiedelungsgeschichte  und 
bietet  der  Einzelforschung  manche  Anhaltspunkte. 

Unterdessen  waren  dann  eine  Reihe  allgemeiner  siedelungs- 
geschichtlicher  Arbeiten  erschienen,  von  Inama-Sternegg  aufser 
seiner  Deutschen  Wirtschaftsgeschichte  besonders  die  kleineren  Arbeiten : 
Untersuchungen  Ober  das  Hofsystem  im  MittdaUer  mit  besonderer  Be- 
Ziehung  auf  Deutsches  Alpenland,  (Innsbruck  1872),  Die  Entwiekdung 
der  deutschen  Alpendörfer  im  Histor.  Taschenbuch  5.  Folge  IV,  1874 
und  Die  Ausbildung  der  grofsen  Grrundherrschaften  in  Deutschland 
während  der  Karolingereeit  (Leipzig  1878),  von  Lamprecht  Deutsches 
Wirtschaftsleben,  Deutsche  Geschichte  und  viele  kleinere  Arbeiten,  und 
vonMeitzen  au(ser  seinem  schon  zitierten  Hauptwerk  die  zahlreichen 
kleinen  Abhandlungen  über  die  Hufe,  den  Hausbau,  die  Flur  usw. 
Hier  wurden  der  Besiedelungsgeschichte  mit  besonderer  Betonung 
der  Wirtschaftsgeschichte  neue  Bahnen  gewiesen  und  neue  Hilfe- 
mittel, namentlich  durch  die  Untersuchung  noch  gegenwärtig  bestehen- 
der Verhältnisse  und  Formen,  die  einen  Rückschlufs  auf  die  Vergangen- 
heit gestatten,  an  die  Hand  gegeben. 

Inama-Sternegg  und  Meitzen  haben  die  österreichischen 
Verhältnisse  gelegentlich  im  grofeen  Zusammenhange  berücksichtigt; 
allmählich,  wenn  auch  langsam  und  stockend  folgten  dann  auch  Einzel- 
untersuchungen. Nicht  unerwähnt  dürfen  zwei  kleine  Arbeiten  Kämm  eis, 
vermutlich  Vorarbeiten  für  die  nicht  weiter  ausgeführte  Fortsetzung 
seines  Werkes,  bleiben :  Aus  dem  Salbuch  eines  österreichischen  Klosters 
[Zeitschr.  f.  allgem.  Gesch.,  Kultur-  und  Literaturgesch.  III,  253, 
1886]  und  Zur  Entwickelungsgeschichte  der  weltlichen  Grundherrschaften  in 
den  deutschen  SOdostmarken  während  des  X  und  XI.  Jahrhunderts, 
[Histor.  Untersuchungen,  E.  Förstemann  zum  sojähr.  Doktorjubiläum 
gewidmet  von  der  hist  Gesellschaft  in  Dresden,  Leipzig   1894],    die 


i)  Vgl.  darüber  meinen  Aufsatz  in  dieser  Zeitschrift  m  (1908)  97  f.,  129  f. 


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bereits  mit  Geschick  und  Glück  die  wirtscbaftsgeschichtliche  Methode 
auf  siedelungsgeschichtliche  Fragen  anwenden  ^). 

Die  Hausforschung  hat  fiir  die  Alpenländer  zuerst  Gustav 
Bancalari  in  Angriff  genommen ,  der  einen  Aufruf  in  der  Deiäschen 
Bundschau  für  Geographie  und  Statistik  (1890),  9.  Heft,  veröffentlichte, 
und  eine  1892  von  der  Anthropologischen  Gesellschaft  herausgegebene 
Anleitung,  Vorgang  hei  der  Hauafarsdiung,  folgen  liefis.  Zusammen- 
gefaist  hat  er  die  Ergebnisse  in  einem  Aufsatze:  Die  Hausforschung 
und  ihre  Ergebnisse  in  den  Ostalpen  [Zeitschrift  des  deutschen  und 
österreichischen  Alpenvereins  1893  und  separat],  doch  fanden  sie  bei 
der  exakten  Forschung  nicht  allgemeinen  Anklang;  jedenfalls  hat  er 
viel  zu  sehr  schematisiert  und  phantasiert.  Die  Anwendung  auf  die 
Siedelungsgeschichte  fehlte. 

Auf  enger  begrenztem  Gebiet  ist  es  Anton  D  a  c  h  1  e  r ,  Das  Bauern^ 
haus  in  Niederösterreich  und  sein  Urqfrung  [Blätter  des  Vereins  für 
Landesk.  XXXI,  115,  1897]  geglückt,  zu  klareren  Gesichtspunkten,  ein- 
facheren Typen  und  verwendbareren  Ergebnissen  zu  gelangen.  Erst 
dadurch  war  es  mögUch,  die  bajuvarische  und  fränkische  Besiedltmg 
Niederösterreichs,  die  man  in  jüngster  Zeit  als  nebeneinander  bestehend 
immer  deutlicher  erkannt  hatte,  schärfer  zu  umgrenzen.  Derselbe 
Forscher  hat  es  auch  nicht  ohne  Glück  unternommen,  in  einer  kleinen 
Studie :  Beziehungen  zwischen  den  niederösterreichisehen,  bayerischen  und 
fränkischen  Mundarten  und  Bewohnern  [Zeitschrift  für  österreichische 
Volkskunde  VIII,  81  f.  1901]  als  Stütze  der  Siedelungsgeschichte  die 
Dialektforschung  heranzuziehen. 

Nach  diesen  zahlreichen  Spezialvorarbeiten  auf  dem  Gebiete  der 
Hilfswissenschaften  und  nach  den  bedeutenden  Fortschritten  der  siede- 
lungsgeschichtlichen  Forschung  überhaupt  ist  man  endlich  in  den  letzten 
Jahien  in  Österreich  darangegangen,  gröfsere  siedelungsgeschicht- 
liche  Darstellungen  zu  versuchen,  die  modernen  Methoden  zu  ver- 
wenden, die  Einzelforschungen  zu  verwerten  und  so  zu  umfassenderen 
Ei^ebnissen  zu  gelangen.  Merkwürdigerweise  sind  es  da  vornehmlich 
aus  der  Wiener  geographischen  Schule  Albrecht  Pencks  her- 
vorgegangene jüngere  Gelehrte,  die  sich  diesem  Gebiete  zugewendet 
haben  und  es  mit  mehr  oder  weniger  Geschick  und  Gründlichkeit 
pflegen.     Dabei  erweist  es  sich  als  sehr  zweckmäfsig,  dafs  die  Unter- 

1}  Die  vortreffliche  Arbeit  von  Krön  es.  Die  deutsche  Besudelung  der  östlichen 
Älpenländer,  insbesondere  Steiermarks,  Kärntens  und  Krains  mich  ihren  geschicht- 
lichen und  örtlichen  Verhältnissen  [Forschungen  zur  deutschen  Landes-  und  Volkskunde  IIT, 
StBttgart  18S9]  bertthrt  Nieder-  und  Oberösterreich  nur  in  den  südlichen  Grenzgebieten 


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sachnngen  regional  ao^eteilt  wurden,  denn  bei  der  starken  Verschieden- 
heit der  einzelnen  Landesteile  in  bezug  auf  BodenbeschafTenheit  und 
wirtschaftliche  Bedingungen  war  auch  der  Gang  der  Besiedelung  regional 
verschieden,  und  man  entgeht  bei  dieser  Art  der  Untersuchung  leiditer 
der  Gefahr,  an  einem  Orte  gewonnene  Ergebnisse  willkürlich  auf  ganz 
abweichende  Verhältnisse  zu  übertragen,  beziehungsweise  Beobachtungen, 
die  verschiedenartigen  Voraussetzungen  entspringen,  miteinander  zu 
vermengen. 

Ein  verheifeungsvoller  erster  Wurf  war  die  Arbeit  von  Alfred 
Grund:  Die  Veränderungen  der  Topographie  im  Wiener  Walde  und 
Wiener  Becken  [Geographische  Abhandlungen,  herausgegeben  von 
Prof.  Albrecht  Penck,  VIII.  Bd.  i.  Heft.  Leipzig  1901].  Im  Gegensatz 
zu  den  älteren  zeitlich  mehr  oder  weniger  eng  begrenzten  siedelungs- 
geschichtlichen  Darstellungen  gibt  Grund  für  sein  Gebiet,  das  übrigens 
dadurch  von  besonderer  Bedeutung  ist,  dafs  es  den  Kern  des  Landes 
bildet,  eine  vollständige  Siedelungsgeschichte ,  die  im  wesentlichen 
drei  gro&e  Etappen  feststellt:  die  Kolonisation  des  Landes  von  der 
Karolingerzeit  bis  zum  Abschluß  im  XIII.  Jahrhundert ;  Rückgang  und 
Stillstand  der  Besiedelung  bis  zum  XVII.  Jahrhundert;  Neubesiedelungen 
seit  1683. 

Ausgezeichnet  ist  die  Methode,  mit  der  Grund  Gang  und  Ur- 
sachen dieser  Erscheinungen  klarlegt.  Für  die  älteste  Periode,  die 
ihrerseits  in  die  primäre  Karolingische  Besiedelung  und  in  die  sekundäre 
seit  955  zerfällt,  wobei  die  letztere  wieder  in  die  Besiedelung  der 
Ebene,  in  die  des  Waldes  und  Gebirges  und  in  dem  Abschlufis  durch 
die  Gründung  der  Märkte  und  Städte  geschieden  wird,  verwendet  er 
naturgemäß  die  Ergebnisse  der  Urkundenforschung,  der  Hausbau- 
forschung, bei  der  er  einige  beachtenswerte  selbständige  Typen  auf- 
stellt, und  der  Ortsnamenforschung.  So  vermag  er  die  bayerische 
und  fränkische  Siedelung  mit  ziemlicher  Sicherheit  klarzulegen.  Er  macht 
auch  den  Versuch,  auf  Grund  der  bestehenden  und  der  verschollenen 
Ortschaften  die  Ortschaftsdichte  im  Mittelalter  ziiTernmäfsig  darzustellen, 
wobei  sich  ergibt,  dafs  sie  seit  dem  Mittelalter  durchweg  zurück- 
gegangen ist. 

Dies  fuhrt  nun  hmüber  zur  zweiten  Periode  des  Rückganges  und 
Stillstandes,  und  hier  gelingt  es  dem  Verfasser,  durch  Anwendung  der 
wirtschaftsgeschichtlichen  Methode  noch  zu  weit  interessanteren  imd 
überraschenderen  Ergebnissen  zu  kommen.  Die  früheren  Forscher,  die 
sich  mit  der  auffallenden  Tatsache  des  massenhaften  Abkommens  von 
Ortschaften  in  Niederösterreich  beschäftigt  haben,  suchten  die  Ursache 


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stets  in  äufserlichen  Ereignissen :  in  den  Bürgerkriegen  des  XV.  Jahr- 
hunderts, noch  mehr  im  Zeitalter  der  Gegenreformation,  in  denSchweden- 
iind  Türkeneinfallen,  in  der  Pest  u.  dergl.  Indem  nun  Grund  die 
urkundlichen  Nachrichten  über  die  verschollenen  Orte  prüft,  zeig^ 
sich,  dafs  sie  fast  alle  aus  dem  ausgehenden  XV.  oder  beginnenden 
XVI.  Jahrhundert  stammen.  Die  Erklärung  dafür  lieget  nach  Grund 
lediglich  in  einer  wirtschaftlichen  Katastrophe.  Die  zunehmende  Edel- 
metallarmut Europas  und  speziell  Österreichs  liefs  gegen  Ende  des 
Mittelalters  die  Getreidepreise  und  den  Bodenwert  rapid  sinken.  Die 
Ackerbaufläche  liefs  sich  aber  in  Österreich  nicht  mehr  vergröfsem, 
und  so  trat  eine  Verarmung  der  Bevölkerung,  beziehungsweise  ein 
Abströmen  derselben  in  die  Städte,  Märkte  und  Weinbauorte  ein.  Nur 
diese  blieben  in  Blüte,  weil  die  Weinbaufläche  noch  vermehrt  werden 
konnte.  Die  Orte,  die  einst  von  den  ersten  Kolonisten  ohne  Rücksicht 
auf  BodenbeschafTenheit  tmd  Klima  gegründet  worden  waren,  gingen 
jetzt  fast  durchweg  ein.  Zur  näheren  Darlegung  aller  dieser  eigen- 
tümlichen Verhältnisse  und  Prozesse  hat  Grund  einen  sehr  grofsen 
wirtschaftsgeschichtlichen  Anhang  hinzugefügt,  der  vielleicht  im  Ver- 
gleich zum  Ausmafs  des  Buches  zu  umfangreich  ausgefallen  ist,  zur 
erschöpfenden  Darstellung  aller  wirtschaftsgeschichtlichen  Faktoren  da- 
gegen wieder  nicht  ausreicht,  aber  immerhin  reichliches  Material  beibringt 

In  dem  Augenblicke,  da  mit  der  Entdeckung  und  Erschliefsnng 
Amerikas  die  Edelmetallarmut  der  alten  Welt  behoben  war,  war  auch 
dem  Niedergang  des  Ackerbaues  ein  Ziel  gesetzt,  dafür  trat  allerdings 
ein  starker  Verfall  des  Weinbaues  ein.  Immerhin  war  nun  der  Ort- 
schaftenbestand fixiert,  und  nun  erfolgt  eine  teilweise  Neubesiedelung 
des  Landes.  Einige  Grofsgrundbesitzer  rufen  von  ihren  in  Kroatien 
gelegenen  Gütern  kroatische  Bauern  ins  Land,  auch  aus  Steiermark,  Ober- 
österreich und  Süddeutschland  zogen  Kolonisten  herbei.  Eine  Periode 
grofser  Aufforstungen  hatte  die  Gründung  zahlreicher  Hüttlerkolonien 
im  Gefolge;  die  Versuche  zur  Hebung  der  Industrie,  die  Schaffung 
neuer  Verkehrswege,  endlich  im  XDC.  Jahrhundert  die  Anlage  der 
Eisenbahnen,  die  Touristik  und  die  VUleggiaturengründungen  vollendeten 
dann  das  BesiedelungsbUd  der  Gegenwart. 

Was  Grunds  Werk  au&er  seinen  reichen  Aufschlüssen  und  semen 
methodologischen  Vorzügen  noch  einen  besonderen  Wert  verleiht,  ist 
der  Umstand,  dafs  der  Verfasser  nie  den  Blick  für  die  grofisen  und 
allgemeinen  Zusammenhänge  verliert.  Dadurch  gewinnt  es  aucb  für 
die  siedelungsgeschichtliche  Forschung  im  allgemeinen  Bedeutung  und 
verdient  auch  bei  Untersuchungen,  die  den  von  ihm  behandelten  G  ^ 


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biete  fem  liegen,  beachtet  zu  werden.  Übrigens  hat  Grund  selbst  in 
einem  Schluiskapitel  einen  Vergleich  mit  zahlreichen  anderen  Gebieten 
Deutschlands  gezogen  und  nachgewiesen,  dafs  sich  die  von  ihm  ge- 
wonnenen Gesichtspunkte  und  klargelegten  Erscheinungen  noch  ander- 
weitig verfolgen  lassen. 

In  einiger  Entfernung  von  Grunds  Werke  reihen  sich  dann  zwei 
Arbeiten  über  andere  Landstriche  Nieder-  und  Oberösterreichs  an,  die 
gleichfalls  aus  Pencks  geographischem  Seminar  hervorgegangen  sincL 
Vor  Grunds  Buch  verfafet,  aber  etwas  später  erschienen  ist  die  Unter- 
suchung von  Alfred  Hackel:  Die  Besiedelungsverhältnisse  des  ober- 
österreichischen  MüMviertels  in  ihrer  Abhängigkeit  von  natürlichen  und 
geschichtlichen  Bedingungen  [Forschungen  zur  deutschen  Landes-  und 
Volkskunde,  herausgegeben  von  Dr.  A.  Kirchhoflf  XTV.  Bd.,  i.  Heft 
Stuttgart  1902].  Sie  hat  das  Verdienst,  über  ein  bisher  von  der  For- 
schung ziemlich  vernachlässigtes  Gebiet  Licht  verbreitet  zu  haben,  das 
Gebiet  des  grofeen  „Nordwaldes*',  des  Urwaldes,  der  sich  im  Norden 
der  Donau  von  der  Ilz  bis  zum  Kamp  ausgedehnt  hat.  Wenn  auch 
schon  im  Altertume  Saumwege  nach  Böhmen  hindurchfuhrten  und 
wenn  auch  im  frühen  Mittelalter  einige  slawische,  ja  auch  fränkische 
Siedelungen  in  der  Nähe  der  Donau  nachgewiesen  sind,  so  begann  die 
Rodung  und  Besiedelung  doch  erst  im  XI.  Jahrhundert.  Es  sind  nun 
zwei  scharf  getrennte  Besiedelungsperioden  zu  unterscheiden.  Die  eine 
nimm  t  ihren  Ausgangspunkt  von  der  gro(sen  Schenkung  Kaiser  Heinrichs  II. 
an  das  Kloster  Niedemburg  in  Passau  im  Jahre  lofo,  wodurch  ein 
bedeutendes  Gebiet  im  Westen  des  bebandelten  Landstriches,  das 
sogenannte  Abteiland,  an  das  Kloster,  bezw.  an  das  Bistum  Passau 
gelangte.  Die  Konkurrenz,  die  hier  dem  Bistum  in  einigen  bedeuten- 
den Adelsgeschlechtem  erwuchs,  war  für  die  Kolonisierung  des  Gebietes 
au&erordentlich  günstig.  Später,  seit  Mitte  dtts  XII.  Jahrhunderts, 
entwickelte  sich  sodann  mit  der  Ausbreitung  der  Territorialmacht  des 
Bistums  Passau  auch  ein  Interessenkampf  mit  den  österreichischen 
Landesfursten,  denen  der  östliche  l*eil  des  heutigen  Mühlviertels,  die 
Riedmark  und  das  Machland,  gehörten.  So  begann  nun  auch  hier  eine 
intensive  Rodung  und  Kolonisierung,  die  jedoch  erst^^um  die  Mitte  des 
XIII.  Jahrhunderts  ihren  Abschlufs  fand.  Wie  Hackel  nachweist,  trägt 
die  ältere  Besiedelungsperiode,  also  hauptsächlich  im  Westen  des  Landes, 
bajuvarischen  Charakter,  die  jüngeren  fränkischen.  Ortsnamen  und  Haus- 
formen  deuten  noch  heute  daraufhin.  Den  Untersuchungen  Hackeis  wohnt 
leider  eine  gewisse  2^haftigkeit  inne,  die  ihn  verhindert,  die  Hilfsmittel 
zu  konzentrieren  und  den  Stoffbis  zu  den  letzten  Konsequenzen  auszubeuten. 


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In  der  dritten  der  angeführten  Arbeiten:  I}ie  nördlichen  Alpen 
gtvisehen  Enns,  Traisen  und  Mure  von  Norbert  Krebs  [Geographische 
Abhandlungen,  herausgegeben  von  Prof.  Penck,  VIII.  Bd.,  2.  Heft. 
Leipzig  1903]  ist  der  Besiedelungsgeschichte  ein  geringerer  Raum  ge- 
widmet. Das  ist  wohl  auch  in  dem  Charakter  des  behandelten  Land- 
striches begründet,  der  als  von  den  grofsen  Völkerstraisen  ziemlich 
abseits  liegendes  Gebirgsland  weniger  bunte  Verhältnisse,  weniger 
wechselvolle  Schicksale  aufzuweisen  hat.  Er  hat  mehr  Ähnlichkeit 
mit  der  oberen  Steiermark  als  mit  dem  österreichischen  Donauland 
oder  dem  Gebiete  des  böhmisch-mährischen  Mittelgebirges.  Es  ist 
das  Gebiet  der  bajuvarischen  Einzelhofsiedelung ,  höchstens  da(s  im 
Nordosten  einige  fränkische  Siedelungen  herübergreifen.  Im  frühen 
Mittelalter  sitzen  hier  in  den  Flufstälem  Slawen.  Der  Abschlufs  der 
deutschen  Besiedelung  erfolgt  ziemlich  spät,  im  XIII.  Jahrhundert. 
Auch  die  Katastrophe  der  Landwirtschaft,  die,  wie  wir  gesehen  haben, 
im  Wiener  Wald  und  Wiener  Becken  und  wohl  auch  im  Norden  der 
Donau  im  XV.  Jahrhundert  einen  so  aulserordentlichen  Umschwung 
in  der  Besiedelung  hervorgerufen  hat,  machte  sich  hier  nur  wenig 
bemerkbar,  denn  hier  hatte  die  Bevölkerung  eine  ganz  anders  ge- 
sicherte wirtschaftliche  Grundlage  im  Bergbau  und  Hüttenwesen  ge- 
wonnen. —  Über  die  Hausformen  hat  Krebs  gleichfalls  noch  Spezial- 
Studien in  seinem  Gebiete  angestellt  ^). 

Groisen  Gewinn  dürfte  auch  die  Siedelungsgeschichte  aus  der  Neu- 
ausgabe der  landesfürstlichen  Urbare  durch  Alfons  Dopsch  ziehen 
(I.  Bd.  der  Österreichischen  urbare,  herausgegeben  von  der  K.  Akademie 
der  Wissenschaften.  Wien  und  Leipzig  1904)^  der  übrigens  in  der  Ein- 
leitung, die  sich  zu  einer  Art  österreichischer  Wirtschaftsgeschichte 
im  kleinen  ausgestaltet  hat,  selbst  die  Hauptergebnisse  klai^elegt  hat. 

Nicht  unerwähtit  darf  bleiben,  dafs  Willibald  Na  gl  und  Jakob 
Zeidler,  als  sie  vor  wenigen  Jahren  an  die  Abfassung  einer  DaufocA- 


i)  Nicht  unerwähnt  soll  bleiben,  dafs  über  eines  der  interessantesten  and  bisher  wohl 
am  ärgsten  vernachl^igten  Siedelangsgebiete,  nämlich  Über  das  Waldvicrtel,' Franz  Heils- 
berg eine  eingehende  Untersachong  nahezu  rollendet  hat,  deren  Veröffentlichang  jeden- 
falls für  die  nächste  Zeit  tu,  gewärtigen  ist.  Der  Vollständigkeit  wegen  führe  ich  noch 
an,  dafs  sich  auch  das  IIL  Bändchen  von  P  e  e  z ,  Erlebt  —  erwandert,  das  den  Untertitel 
Blicke  auf  die  Entstehtmg  der  Ostmark  und  Karl  der  Große  als  Neubegründer  des 
Deutschen  Volksstammes  trägt  (Wien  1902),  mit  der  Besiedelungsgeschichte  beschäftigt 
und  Ortsnamen-  und  Hausbauforschung  heranzieht.  Es  beruht  jedoch  nicht  auf  exakten 
wissenschaftlichen  Forschungen,  sonderi)  ist  mehr  populär-dilettantisch  gehalten  und  könnte 
eher  verwirrend  als  fördernd  wirken. 


—     284     — 

österreichischen  Literaturgeschichte  (I.  Bd.,  Wien  1899)  gingen,  den 
Ausgangspunkt  von  der  Besiedelungsgeschichte  nahmen,  welcher  das 
erste  Kapitel  gewidmet  ist. 

Was  die  bisherige  Forschung  zutage  gefördert  hat,  habe  ich  im 
Rahmen  der  Landesgeschichte  in  dem  ersten  Bande  meiner  Geschickte 
Nieder-  und  Oberösterreichs,  der  bis  1283  reicht  und  demnächst  als 
Teil  der  Deutschen  Landesgeschichten  im  Verlage  von  Friedrich  Andreas 
Perthes  A.-G.  in  Gotha  erscheinen  wird,  verwertet. 

Trotz  der  zahlreichen  bemerkenswerten  Einzeluntersuchungen  und 
obwohl  die  Besiedelungsgeschichte  Nieder-  und  Oberösterreichs,  wie 
man  sehen  kann,  in  jüngster  Zeit  einen  regen  Aufechwung  genommen 
hat,  bleiben  noch  ganz  gewaltige  Lücken,  die  ausgefüllt  werden  wollen, 
ehe  sich  die  Einzelbeobachtungen  zu  einem  klaren  Gesamtbilde  ver- 
einigen lassen. 

Zunächst  ist  das  Land  regional  nur  erst  zum  geringen  Teil 
durchforscht.  Die  historische  Forschung  in  Oberösterreich  ist  wie  in 
so  vielen  Beziehungen  auch  darin  arg  zurückgeblieben;  hier  fehlen 
sogar  die  Vorarbeiten,  denn  fast  alle  eingangs  erwähnten  Spezialunter- 
suchungen beschäftigen  sich  nahezu  ausschließlich  mit  Niederösterreich. 
Aber  auch  in  Niederösterreich  ist  das  Viertel  ober  dem  Manhartsberg, 
das  Waldviertel,  eine  Terra  incognita  geblieben,  im  Viertel  unter  dem 
Manhartsberg  fehlen  neuere  systematische  Untersuchtmgen  und  auch 
im  Süden  der  Donau  gibt  es  einige  noch  wenig  durchforschte  Gebiete. 

Aber  nicht  minder  bedürfen  einzelne  Fragen  der  Besiedelungs- 
geschichte noch  eine  gründliche  Nachprüfung  und  Ausgestaltung,  ja 
Neubearbeitung.  Am  meisten  dürften  wohl  die  urkundlichen  Nach- 
richten ausgebeutet  sein.  Es  sind  zwar  noch  lange  nicht  alle  Urkunden- 
schätze zutage  gefördert,  aber  an  den  Hauptergebnissen  dürfte  doch 
kaum  durch  neue  Veröflfentlichungen  etwas  geändert  werden;  es  sind 
vielmehr  wohl  nur  neue  örtlich  bedeutsame  Aufschlüsse  zu  erwarten. 
Einen  gröfseren  Gewinn  verspricht  die  Ausgabe  der  Urbarien,  in 
bezug  auf  welche  ja  bereits,  wie  wir  sahen,  ein  verheifeungsvoller  An- 
fang gemacht  wurde.  Ist  durch  sie  einmal  das  wirtschaftliche  BUd  in 
seinen  Einzelheiten,  seinen  charakteristischen  Eigentümlichkeiten  und 
Verschiedenheiten  festgestellt,  —  und  Dop  seh  hat  bereits  den  Weg 
gewiesen  — ,  so  wird  man  auch  in  bezug  auf  die  Besiedelung  klarer 
sehen.  Beides  greift  ja  auf  das  engste  ineinander;  die  Urbarien  und 
Grundbücher  geben  dort,  wo  heute  die  Spuren  verwischt  sind,  Auf- 
schlüsse über  Einzelhof-  und  Dorfsiedelung,  über  Bauern-  und  Grund- 
herrensiedelung,  über  verschollene  Orte,  über  Fluranlage  u.  v.  a.  m. 


—     286     — 

Die  Flurkartenforschung,  wie  sie  Meitzen  anderwärts  mit 
Erfolg  angestellt  hat,  stöfst  bei  uns  mangels  älterer  Flurkarten  auf 
Schwierigkeiten.  Zur  Grundlage  könnten  nur  die  Franziszeischen 
Katastralpläne  aus  den  zwanziger  Jahren  des  XIX.  Jahrhunderts  ge- 
nommen werden;  ein  gutes  Hilfsmittel  ist  auch  die  vom  Verein  für 
Landeskunde  herausgegebene  Administrativkarte  von  Niederösterreich 
in  HO  Sektionen  (i :  28800). 

Noch  immer  nicht  ist  es  möglich,  den  iiir  die  Besiedelungsgeschichte 
erhofilen  Gewinn  aus  der  Ortsnamenforschung  zu  ziehen,  denn 
abgesehen  davon,  dais  für  Oberösterreich  nicht  einmal  Vorarbeiten 
vorhanden  sind,  stehen  auch  für  Niederösterreich  die  Erklärungen 
keineswegs  fest  Die  Nutzanwendung  auf  die  Siedelungsgeschichte 
mufs  erst  durch  systematische  Untersuchungen  und  Zusammenstellungen 
gewonnen  werden.  Man  mülste  auch  die  Verteilung  gewisser  Orts- 
namen, Ortsnamengruppen  und  Ortsnamenformen  auf  einzelne  Land- 
striche näher  ins  Auge  fassen.  Neue  Perspektiven,  die  bei  uns  erst 
noch  zu  verfolgen  sind,  eröffnet  die  neue  wirtschaftsgeschichtliche 
MetHode  der  Ortsnamenforschimg,  wie  sie  zuerst  Hans  Witte  und 
Adolf  Seh ib er  für  die  Besiedelungsgeschichte  des  Eisais  angewendet 
haben,  freilich  ohne  vorläufig  in  der  Erklärung  einig  zu  werden  *),  Bei 
uns  dürfte  sich  vielfach  das  wirtschaftsgeschichtliche  mit  dem  stammes- 
geschichtlichen Moment  decken. 

Hand  in  Hand  mit  der  Ortsnamenforschung  müiste  die  Flurnamen- 
forschung  gehen,  die  unbegreiflicherweise  bisher  in  Nieder-  und 
Oberösterreich  völlig  vernachlässigt  worden  ist.  Jetzt  sind  die  Flur- 
namen leider  schon  im  Schwinden  begriffen,  doch  würden,  wie  schon 
erwähnt,  die  Katastralpläne  und  die  Administrativkarte  gute  Hilfsmittel 
zu  ihrer  Feststellung  bieten,  Aufiserdem  würden  gerade  in  dieser 
Beziehimg  Urbarien  und  Grundbücher  die  reichste  Ausbeute  liefern. 

Unerläfelich  für  Orts-  und  Flurnamenforschung  ist  eine  gründliche 
Kenntnis  des  Dialektes.  Aber  auch  regionale  Beobachtungen  des 
Dialektes  und  seiner  Unterschiede  werden  noch  Aufschlüsse  über  die 
Besiedelung  ergeben.  Eine  gesicherte  Grundlage  wird  hoffentlich  das 
Niederösterreichische  DiaMttcörterbuch  schaffen,  für  dessen  Abfassung 
der  Verein  für  Landeskunde  von  Niederösterreich  in  Ausführung  einer 
testamentarischen  Verfügung    des   Freiherm   Otto  Mayer  von   und 


i)  Die  Literatur  siehe:  Deutsche  Geschichtsblätter  I,  153,  1900,  Anm.  2.  —  Vei^. 
ferner  Was  chke,  Ortsnamenforschung  (ebenda  S.  253 f.)  und  Witte,  Ortsnamenforschung 
und  Wirtschaftsgeschichte  (ebenda  m,  153  f.,  209  f.,  1902). 


—     286     — 

zu    Gravenegg  im   Vorjahre   einen  Preis   mit  dreijährigem 
aoBgeschrieben  hat. 

Ergänzend  muCs  auch  noch  die  volkskundliche  Forschung^ 
hinzutreten.  Auch  in  Sitten  und  Gebräuchen  sind  ja  bisweilen  alte 
Stammeseigenheiten  bewahrt;  auch  sie  können  daher  manchen  Anhalts- 
punkt bieten  ^). 

Erst  wenn  man  alle  Gebiete  der  beiden  Länder  nach  allen  den 
genannten  Richtungen  hin  durchforscht,  erst  wenn  man  die  Zusammen- 
hänge mit  der  Besiedelung  in  anderen  Ländern,  die  Eigentümlich- 
keiten der  österreichischen  Besiedelung  und  die  regionalen  oder  zeitlichen 
Unterschiede  klar  erkannt  und  ihre  Ursachen  ergründet  hat,  erst  dann 
wird  sich  ein  richtiges  Gesamtbild  von  der  Besiedelungsgeschichte 
Nieder-  und  Oberösterreichs  gewinnen  lassen. 


Liimesforsehung  in  Österreich 

Von 
Salomon  Frankfurter  (Wien) 

Im  ersten  Jahrgange  dieser  Zeitschrift  (S.  195  ff.)  hat  Schreiber 
dieser  Zeilen  über  die  im  Jahre  1897  begonnene  Limesforschung  in 
Österreich  berichtet  und  zunächst  die  Aufgaben  skizziert,  die  diese 
Forschung  in  Österreich  -  Ungarn  zu  lösen  hat.  Seine  Ausführungen 
schlössen  mit  der  Anregung,  dafe  die  Kaiserliche  Akademie  der  Wissen- 
schaften in  Wien,  die  zur  Durchführung  dieser  Arbeiten,  soweit  sie 
Österreich  zukommt,  eine  Limeskommission  eingesetzt  hat,  sich 
mit  der  ungarischen  Akademie  der  Wissenschaften  verbinden  möge, 
damit  nach  einem  einheitlichen .  Plane  in  der  ganzen  Monarchie  die 
Arbeit  in  Angriff  genommen  und  durchgeführt  werde.  Indem  ich  nun, 
dem  Wunsche  der  Redaktion  entsprechend,  daran  gehe,  an  der  Hand 
der  bisher  erschienenen  fünf  Hefte  der  von  der  Limeskommission  der 
Wiener  Akademie  herausgegebenen  Publikation  Der  römische  Limes 
♦n  Österreich  —  das  5.  Heft  ist  noch  nicht  zur  Ausgabe  gelangt  — 
den  derzeitigen  Stand  der  österreichischen  Forschung  auf  diesem  Ge- 
biete zu  skizzieren,   mufs  ich  zunächst  bekennen,   dafs  der  im  Jahre 


I)  Siehe  Kaindl,  Die  Volkskunde  (Leiprig  und  Wien  1903). 


—     287     — 

igoo  ausgesprochene  Wunsch  auch  jetzt  noch  ein  frommer,  unerfüllter 
geblieben  ist  Damit  hängt  es  aber  auch  zusammen,  dafs  die  fünf- 
jährige Tätigkeit  der  Limesforschung  an  der  Donau  noch  immer  erst 
ein  Anfangsstadium  darstellt  und  sowohl  in  der  Reichhaltigkeit  der 
Resultate  als  auch  der  Lebhaftigkeit  der  Arbeiten  den  Vei^leich  mit  der 
Tätigkeit  der  deutschen  Reichs-Limeskommission,  die  ihr,  wie  begreif- 
lich, als  Vorbild  dient,  vorläufig  noch  nicht  aushält. 

Aber  auch  innerhalb  des  engeren  Gebietes,   dessen  Erforschung 
die  Limeskommission  sich  zur  Au^abe  gestellt  hat,   in  Nieder-  und 
Oberösterreich,  ist  von  einem  für  die  planmäfsige  und  raschere  Durch- 
fuhrung der  Arbeiten,   die  geschehen  müssen,  wünschenswerten  Um- 
fang der  Tätigkeit  nicht  viel  zu   melden:    es  fehlt   noch  immer  an 
einer  Oi^anisation  der  Aufgabe  in  gröfserem  Stile.    Es  wäre  vor  allem 
erforderlich,  dafs  man,  ähnlich  wie  es  in  Deutschland  der  Fall  ist,  zur 
Bildung  von  Lokalkomitees  schritte,  damit  nach  einem  von  der  akade- 
mischen Limeskommission    entworfenen  Plane    die  Arbeit   längs    der 
ganzen  Limesstrecke  aufgenommen  und  allmählich  durchgeführt  werden 
könnte.    Wie  notwendig  das  wäre,  ergibt  sich  aus  einer  aufmerksamen 
Durchsicht  der  bisher  erschienenen  Limeshefte,  denn  von  Jahr  zu  Jahr 
geht  immer  mehr   durch  Unachtsamkeit   unwiederbringlich    verloren. 
Die  Reste  der  römischen  Strafsen  und  Bauten,  die  ohnehin  meist  nur 
in  geringen  Spuren  erhalten  sind,    liegen  so  wenig    tief  unter  dem 
Ackerboden,   dafs  alljährlich  der  Pflug  immer  mehr  davon  berührt: 
das  Steinmaterial  wird  von  den  kleinen  Grundbesitzern   ausgehoben, 
und   so   geht   vieles   unkontrolliert   verloren.      Die   Mitteilungen    von 
Augenzeugen,  auf  die  man  dann  nach  Jahren  angewiesen  ist,  bieten  aber 
eine  viel  zu  unzuverlässige  Grundlage  für  spätere  Feststellungen.    Ohne- 
hin haben  ja  die  Arbeiten  behufs  systematischer  Erforschung  des  römi- 
schen Limes  in  Österreich  zu  spät  eingesetzt.     So  zweifellos  es  ist, 
dafs   die  Technik   des  Grabens  und   die  Fähigkeit  im  Erkennen  und 
Deuten  der  Reste  heute  ganz  anders  ausgebildet  sind,  so   dass  auch 
viel  vollkommenere  Ergebnisse  der  Forschung  zu  verzeichnen  sind,  so 
steht  doch   diesen  Fortschritten  der  unleugbare  Nachteil  gegenüber, 
dafs  sich  die  Objekte  der  Forschung  immer  mehr  vermindern.    Vieles 
ist  auch  durch  die  Gewalt  des  Stromes,  namentlich  bevor  diese  durch 
die  Donauregulierung  eingedämmt  worden  ist,  unterwühlt  und  zerstört 
worden.     Charakteristisch  dafür  ist  die  Tatsache,  dafis  Oberst  Groller 
v.  Mildensee,  der  Ausgrabungsleiter  der  Limeskommission  und  Ver- 
fasser der  Berichte,  der  in  seinen  Wahrnehmungen  sowohl  als  in  derer 
Beurteilung  überaus  vorsichtig  ist,   die  Frage,  ob  aufser  der  Straf£> 


—     288     — 

den  Türmen    und    dem  Legionslager   an  der   bis   jetzt   untersuchten 
Strecke  eine  dem  obergermanisch -rätischen  Grenzsperrwerk  ähnliche, 
linear  zusammenhängende  Befestigung  vorhanden  war,  nicht  bestimmt 
zu  beantworten  wagt.     Er  begnügt  sich  damit,   die  Tatsache  zu  kon- 
statieren,  da(s  sie  nicht  vorhanden  ist:   „wenn  sie  jemals   bestanden 
hat,   müfete  sie  vor  der  Limesstrafse  sich  befunden  haben  und   wäre 
längst  im  Strom  verschwunden".     Aber  nicht  nur  diese  eventuell  zu 
supponierende  linear  zusammenhängende  Befestigung   ist  spurlos  ver- 
schwunden,  sondern,   wie  erwähnt,   auch  groise  Stücke  des  Straisen- 
baues  und  andere  Bauwerke,  wie  Türme  und  Kastelle,  die  zum  System 
der  Limesanlage  gehörten,   sind  heute  nicht  mehr  aufzufinden.     Der 
Bestand  der  noch  unter  dem  Ackerboden  befindlichen  Reste  verringert 
sich,  wie  gesagt,  alljährlich,  ganz  zu  geschweigen  von  den  unter  den 
Häusern  bewohnter  Orte   an  der  Limesstrafse   ruhenden   und  bei  ge- 
legentlichen, unkontrollierten  baulichen  Veränderungen,  bei  Anlage  von 
Bahnbauten  und  anderen  Arbeiten  beseitigten  Resten. 

Wenn  nun  trotz  dieser  beklagenswerten  Verminderung  des  Be- 
standes die  Ergebnisse  der  Arbeiten  im  ersten  Lustrum  der  akademischen 
Limeskommission,  wie  noch  gezeigt  werden  soll,  ganz  erhebliche  sind, 
so  legt  dies  um  so  mehr  die  Notwendigkeit  nahe,  dafs  endlich  zu 
einei  Organisation  im  gröfseren  Stile  geschritten  wird.  Im 
einzelnen  hier  darzulegen,  in  welcher  Weise  dies  geschehen  müfste, 
können  wir  uns  wohl  versagen :  es  genügt  ja  auch  hier  auf  die  Or- 
ganisation der  Limesforschung  in  Deutschland  hinzuweisen.  Vor  allem 
müfste  die  Limeskommission  sich  durch  die  Aufnahme  von  Mitgliedern 
verstärken,  die  für  diese  Arbeiten  besonderes  Interesse  haben;  nament- 
lich müfsten  die  Lokalforscher  ihr  in  irgendeiner  Form  angegUedert 
und  Vorsorge  getroffen  werden,  dafs  gleichzeitig  auf  der  ganzen 
Strecke  die  Grabungen  und  Forschungen  einsetzen  könnten.  Not- 
wendig wird  auch  wohl  sein,  eine  Vermehrung  der  Mittel  herbei- 
zuführen. So  dankenswert  es  ist,  dafs  die  Kaiserliche  Akademie  der 
Wissenschaften  die  Limsforschung  in  den  Kreis  der  von  ihr  zu  lösen- 
den Aufgaben  einbezogen  und  ihr  aus  der  TreiÜ- Stiftung  Mittel  zur 
Verfügung  gestellt  hat,  so  dürften  doch  fiir  ein  flotteres  Arbeiten  diese 
Mittel  nicht  ausreichen.  Die  Landesregierungen  und  Lokalvereine 
könnten  aber  wohl  dafür  gewonnen  werden,  dafs  auch  sie  zur  Bestrei- 
tung der  Grabungskosten  Beiträge  leisten. 

In  der  Zusammensetzung  der  Limeskommission  hat  sich  insofern 
eine  Veränderung  vollzogen,  als  an  Stelle  des  1902  verstorbenen  Pro- 
fessors Hartl,    der    ebenso   hervorragend    als   Gelehrter  —  er   war 


—     289     — 

Oberst  des  Ruhestandes  und  Professor  der  Geodäsie  an  der  Uni- 
versität —  wie  durch  seine  Wirksamkeit  in  der  Limeskommission 
war,  nunmehr  der  Universitätsprofessor  Hofrat  K.  Jireczek  ge- 
getreten ist. 

Was  die  Arbeiten  der  Limeskommission  im  abgelaufenen  ersten 
Lustrum  anlangt,  so  standen  die  Ausgrabungen  im  Lager  von  Car- 
nuntum^)  im  Mittelptmkte  ihrer  Tätigkeit,  und  das  mit  gutem 
Grunde.  Carauntum  war  das  bedeutendste  Standlager  an  der  oberen 
und  mittleren  Donau,  und  der  Umstand,  dafs  der  Boden,  auf  dem  es 
einstmals  stand  —  das  sogenannte  „Bui^feld*'  zwischen  Petronell  und 
Deutsch-Altenburg  —  heute  Ackerboden  ist,  legt  die  Möglichkeit  nahe, 
allmählich  das  ganze  Lager  in  methodisch-rationeller  Weise  aufzudecken 
und  so  hier  Auüschlüsse  über  die  Anlage  dieses  L^onslagers  und 
seine  Veränderungen  in  den  verschiedenen  2^itläuften  zu  gewinnen, 
zumal  da  anderwärts  meist  örtliche  Verhältnisse,  wie  Überbauung  durch 
moderne  Städte,  eifriger  Raubbau  auf  das  vorzügliche  antike  Ma- 
terial oder  die  weite  Entfernung  von  grölseren  modernen  Orten  und 
infolgedessen  die  erschwerte  Beschaffung  von  Arbeitskräften,  meist  eine 
dauernde  und  erfolgreiche  Ausgrabung  verhindern.  Obwohl  nun  im 
Lager  zu  Carnuntum  bereits  seit  nahezu  20  Jahren  Ausgrabungen  ver- 
anlaist  werden  und  insbesondere  in  den  letzten  fünf  Jahren  intensiv 
gegraben  wird,  ist  diese  Aufgabe  noch  lange  nicht  gelöst:  es  ist  bis 
jetzt  erst  ein  Drittel  des  ganzen  Lagerraums  au^edeckt  worden.  Wie 
schwierig  es  ist,  völlige  Klarheit  und  Sicherheit  hinsichtlich  der  Er- 
klärung der  Ergebnisse  und  vollends  in  bezug  auf  die  Bestimmung 
und  Benennung  der  au^edeckten  Baulichkeiten  zu  gewinnen,  zeigt  sich 
darin,  dafs  die  neuesten  Ausgrabungen  manche  der  früheren  Ergebnisse 
umgestofsen  haben.  Die  fortschreitende  Erkenntnis  und  die  Verwertung 
der  Ergebnisse  anderwärtiger  Grabungen  haben  manches  anders  ver- 
stehen gelehrt,  und  um  so  mehr  ist  nun  Vorsicht  auch  gegenüber  den 
neuesten  Ergebnissen  am  Platze.  Auf  Einzelheiten  kann  hier  nicht 
eingegangen  werden.  Besonders  anzuerkennen  sind  die  überaus  exakte 
Darlegung  des  tatsächlich  Ermittelten  und,  wie  bereits  erwähnt,  die 
groise  Vorsicht  in  der  Deutung  der  Tatsachen  und  in  der  Aufstellung 
von  Hypothesen,  die  im  allgemeinen  geübt  wird.  Mit  grofser  Um- 
sicht wird  alles  beachtet,  was  irgendwie  von  Belang  sein  kann,  und 
die  Berichte  sind  durchweg  von  dem  Bestreben  geleitet,  nach  allen 
Richtungen  hin  die  Ergebnisse  zu  erwägen,   um  zu  einem  wenn  auch 

i)  Für  das  Folgende  vgh  Kabitschek  und  Frankfurter:   Führer  durch  Car^ 
nuntum  (5.  Auflage,  2.  Ausgabe,  Wien  1904),  S.  8a  ff. 


—     290     — 

nicht  immer  sicheren,   so  doch  wenigstens  wahrscheinlichen  Schlüsse 
zu  gelangen. 

Durch  die  bisherigen  Ausgrabungen  wurden  nun  aufgedeckt  die 
ganze  Westseite  des  Lagers,  Teile  der  Ostseite,  die  Nordseite,  sowrit 
sie  noch  vorhanden  ist,  die  westliche  Hälfte  der  Südseite,  und  es 
wurde  aufserdem  eine  gröfsere  Anzahl  von  Gebäuden  im  Inneren 
untersucht.  In  den  letzten  beiden  Jahren  (1901  und  1902)  wurden  die 
Grabungen  an  der  Südwestecke  fortgesetzt  und  zum  Abschlufs  ge- 
bracht; es  wurde  dadurch  ein  Abschnitt  des  Lagers  blofegelegt,  der 
geradezu  als  „Stadtviertel"  bezeichnet  werden  kann:  er  ist  von  der 
via  quintana  einerseits  und  von  der  decumana  andrerseits  begrenzt  und 
bedeckt  eine  Fläche  von  19000  Quadratmeter;  er  ist  von  einer  Reihe 
parallel  laufender  Strafsen  durchzogen,  die  von  der  via  quintana  aus- 
gehen, aber  als  Sackgassen  verlaufen  und  nicht  bis  zur  via  angularis 
führen.  Beachtenswert  sind  die  Beobachtungen  über  den  Grad  und 
die  Art  der  vorgefundenen  Zerstörung  des  Mauerwerkes:  die  Mauern 
machten  meist  den  Eindruck,  als  ob  sie  nicht  vom  Feind  zerstört, 
sondern  gemächlich  abgetragen  worden  sind,  was  daraus  geschlossen 
wird ,  dafe  die  jetzt  vorhandene  Maueroberfläche  oft  auf  lange  Strecken 
geradlinig  verläuft  und  in  der  Regel  ziemlich  gleichmä&ig  tief  unter 
dem  gegenwärtigen  Bodenniveau  liegt.  Zweifellos  ist  hierin  die  Hand 
des  seinen  Boden  verbessernden  Landwirtes  zu  erkennen.  In  ähnlichem 
Sinne  ist  es  zu  deuten,  dafs  häufig  in  den  zerstörten  Gebäuden  gar 
kein  oder  nur  sehr  wenig  Mauerbruch  in  der  Erde  liegt,  ebenso,  dals 
mitunter  tief  in  den  Boden  hinabreichende  Mauerfundamente  bis  auf  den 
letzten  Stein  ausgehoben  worden  sind.  Dagegen  läfst  sich  auch  nicht 
selten  deutlich  erkennen,  dafs  Mauern  entweder  gewaltsam  umgestürzt 
oder  im  Laufe  der  Zeit  allmählich  niedergebrochen  worden  sind  Aus 
all  dem  scheint  hervorzugehen,  dafs  das  Lager  nicht  in  dem  Ma&e  der 
Feindesgewalt  zum  Opfer  gefallen  ist,  wie  hie  und  da  angenommen  zu 
werden  pflegt.  'Wie  viel  tatsächlich  vom  Feinde  zerstört  worden  ist,  wird 
sich  jedoch  kaum  mehr  feststellen  lassen,  denn  nach  glaubwürdigen  Be- 
richten ragten  noch  vor  200  und  150  Jahren  die  Mauerzüge  vielfach 
aus  dem  Boden  hervor,  doch  seither  ist  alles  über  der  Erde  Befind- 
liche und  vieles  unter  ihr  Ruhende  beseitigt  worden.  Alles  spricht 
femer  dafür,  dals  Camuntum  auch  im  Altertum  nach  der  letzten  Kata- 
strophe nicht  mehr  besiedelt  war,  und  den  Charakter  der  Schlufe- 
katastrophe  lassen  gewisse  Funddetails  erschliefsen.  In  einem  Back- 
ofen fand  man  sechs  Brotlaibe,  die  erst  „gegangen'*  waren  und  nie 
gebacken   worden  sind;    in   einem  anstoisenden  Magazin   des  Lagers 


—     291     — 

fanden  sich  erbebliche  Vorräte  an  Waffen  und  Lebensmitteln  (Erbsen» 
Hirse  und  Hafer)  unbenutzt  vor ;  auf  den  Lag'erstrafsen  vor  dem  L^^er 
und  im  Amphitheater  lagen  Steinkugeln  verstreut;  angeblich  sind 
aufserdem  Panzerreste  auf  der  Berme  der  westlichen  Lagerseite  ge- 
funden worden.  Das  sind  alles  ^ Anzeichen  dafür,  daCs  die  Lager- 
festung ganz  plötzlich  verlassen  werden  mulste. 

In  Ergänzung  früherer  Untersuchungen  wurde  der  Lauf  der  Mauern, 
die  Torbauten,  die  Lage  der  Zwischentürme  genauer  festgestellt.  In 
besonders  sorgßUtiger  Weise  hat  Oberst  von  GroUer  die  verschiedenen 
Bauperioden  klarzulegen  gesucht.  Sowohl  innerhalb  als  außer- 
halb des  Lagers  hatte  sich  die  Anlage  allmählich  bedeutend  verändert 
Es  war  eine  r^elrechte  Stadt  im  früheren  Lager  errichtet  worden, 
die  sttengere  miUtärische  Ordnung  der  älteren  Zeit  war  .durch- 
brochen; selbst  Frauen  scheinen  im  Lager  gewohnt  zu  haben.  Die 
Umwandlung  des  stehenden  Heeres  in  eine  Grenzmiliz,  die  dauernde 
Detachierung  grölserer  Teile  der  Legionen  und  die  damit  verbundene 
teilweise  Entleerung  des  Lagers  von  wafienfuhrenden  Inwohnern,  sowie 
die  drohenden  Einfalle  der  Barbaren  werden  einen  grofsen  Teil  der 
Einwohnerschaft  der  ZivUstadt  nach  und  nach  in  das  Lager  selbst 
gefuhrt  haben.  Selbst  Kindergräber  sind  im  Lagerviertel  konstatiert 
worden.  Andrerseits  scheinen  zunächst  die  OfSzierswohnungen  ganz 
oder  teüweise  hinaus  verlegt  worden  zu  sein  und  Magazinbauten  dürf- 
ten einen  beträchtlichen  Flächenraum  in  Anspruch  genommen  haben. 
Auch  aufserhalb  des  Lagers  führte  Platzmangel  und  eine  zunächst 
als  Gratifikation  für  einzelne  Soldaten  —  anfangs  vorübei^ehend,  dann 
in  dauernder  Form  —  verstattete  Nutzniefsung  am  Boden,  wie  eine 
interessante  Inschrift  bezeugt,  zu  einer  intensiven  Verwertung  und  Be- 
bauung der  Glacisgründe.  Anscheinend  ist  später  das  ganze  Glacis 
an  mehreren  Stellen  bis  nahe  an  das  Lager  ganz  mit  grölseren  Bauten 
bedeckt  worden.  Längs  des  Donauufers  sind  diese  im  Westen  nur 
noch  i8o  Meter  von  der  nächsten  Lagermauer  entfernt  Hier  wurde 
1902  ein  grofses  Gebäude  mit  weiten  Sälen  au^edeckt,  in  dem  ein 
von  dem  Statthalter  T.  Pomponius  Protomachus  der  Gerechtigkeit 
(Aeguitaa)  gestifteter  Altar  gefunden  wurde,  dessen  lateinische  Wid- 
mung ein  griechisches  Epigramm  wiederholt.  Im  Südwesten  reicht 
ein  groCses,  mit  aufserordentlich  starken  Mauern  versehenes  gewaltiges 
Bauwerk  mit  rechteckigem  Grundrifs,  das  erst  an  der  Nordostseite 
—  dort  219  Meter  lang  —  1902  volbtändig  aufgedeckt  worden  ist, 
bis  auf  86  Meter  an  das  Lager;  von  der  Südfront  stehen  Bauten  nur 

etwa    140  Meter   ab;    im    Nordosten    ist   ein   grölserer  Bau   (Militär- 

21 


—     292     — 

werkstätte?)   gar  nur  etwa   22  Meter  von  der  Umfassungsmauer   ent- 
fernt. 

Der  Grundriis  des  Lagers  ist  sehr  unregelmäfsig  und  weicht  von 
der  normalen  Rechtecksform  bedeutend  ab.  Wie  die  Untersuchung^ 
ergeben  hat,  ist  jedoch  jede  gröfefere  Abweichung  von  der  natür- 
lichen Bodenbeschaffenheit  bedingt.  Die  Ost-  und  Westseite 
lehnen  sich  an  Bodensenkungen  an  und  verlaufen  deshalb  nicht  gerade 
und  nicht  senkrecht  zur  Donaufront.  Ebenso  ist  auch  der  Lauf  der  via 
principctlis  durch  eine  natürliche  Bodensenkung  bedingt ;  sie  deckt  sich 
fast  mit  der  heutigen  Landstraise  von  Prefsburg  und  schneidet  des- 
halb die  Umfassungsmauer  nicht  senkrecht.  Die  Anlage  der  Dekuman- 
seite  ist  hingegen  nicht  vom  Terrain  beeinflufst  worden,  der  Graben 
ist  vielmehr  künstlich  ausgehoben,  die  ganze  Linie  läuft  parallel  der 
via  principalisy  bildet  demnach  mit  den  Prinzipalseiten  einen  zum  Teil 
spitzen,  zum  TeU  stumpfen  Winkel.  Auch  in  der  Umfassung  der 
Prätentura  sind  Grabungen  veranstaltet  worden ;  dabei  wurde  ein  Stück 
der  Donaufront  und  ein  Nordtor  blofegelegt.  Auch  hier  war  die  Boden- 
beschaffenheit von  Einflufs.  Aufser  dem  weniger  reich  gegliederten 
Nordtor  sind  auch  die  beiden  Sinistraltore  (mit  zwei  Durchfahrten)  und 
das  Dekumantor  in  Resten  erhalten. 

Von  den  vielen  Baulichkeiten,  die  durch  die  neuen  Ausgrabungen 
blofsgelegt  wurden,  sind  aufser  den  bereits  erwähnten,  am  bemerkens- 
wertesten das  grofse  Waffendepot,  das  Lebensmittelmagazin, 
die  Bäckerei,  die  Töpferei  und  ein  Raum,  in  dem  man  wegen 
der  von  Beschliefsem  ausgehenden  Widmungen  ein  Garnisonarrest- 
lok a  1  wohl  mit  Recht  vermutet  hat.  Erwähnt  sei  auch  ein  anderer  Raum, 
den  man  wegen  der  Anlage  und  Funde  (Altäre  mit  Widmung  an  Liber 
und  Libera,  und  eine  Menge  von  Tonscherben)  als  Lagerkneipe 
angesprochen  hat. 

Von  Einzelfunden  seien  hier  die  grofsen  Waflfenfunde  besonders 
erwähnt,  unter  denen  aufser  Teilen  von  Schilden,  Helmen,  Schwertern, 
Pilen,  Lanzen,  Pfeilen,  Dolchen  tmd  Panzern  verschiedener  Art,  die 
jetzt  ein  wertvoller  Schatz  des  neuerbauten  und  vor  wenigen  Monaten 
durch  den  Kaiser  eröffneten  Museum  Camuntinum  bUden,  besonders 
bemerkenswert  die  eine  vollkommen  gesicherte  Rekonstruktion  ermög- 
lichenden Reste  des  Schienenpanzers  sind,  der  bisher  nur  aus  monu- 
mentalen Denkmälern  bekannt  war  und  dessen  Realität  vielfach  be- 
zweifelt worden  ist.  Von  den  gut  erhaltenen  Brotlaiben  und  den 
grofsen  Mengen  von  sonstigen  Lebensmitteln  war  bereits  die  Rede. 

Im  Jahre  1902  wurde  auch  mit  den  planmäfsigen  Grabungen  auf 


—     293     — 

dem  Boden  der  Zivilstadt  begonnen.  Die  Grabungen  beg^nen 
im  Vorterrain  der  linken  Prinzipalseite.  Au^edeckt  wurden  die  bereits 
oben  erwähnten  zwei  grofsen  Gebäude,  das  eine  nächst  der  südlichen 
Lagerecke,  das  andere  auf  der  „Petroneller  Burg";  femer  wurden  ein 
Rundtempel  im  „Petroneller  Tiergarten"  und  zwei  Gräber  an  der 
Gräberstraise  Carauntum  -  Scarabantia  blo&gelegt. 

Für  die  Limesforscbung  wichtig  sind  auch  die  Ergebnisse  der 
Strafsenforschung.  Fünf  Stralsen,  deren  Reste  in  der  Umgegend 
bloisgelegt  wurden,  liefen  von  Carnuntum  aus,  das  damit  zu  einem 
wichtigen  Knotenpunkte  ^wurde.  Es  sind  Reste  von  fünf  Straisen 
au%edeckt,  von  denen  sich  vier  mit  gröbter  Wahrscheinlichkeit  mit 
den  im  Itinerttrium  AtUanini  und  in  der  Tabula  PetUingeriana  ver- 
zeichneten Straisen  identifizieren  lassen.  Längs  der  einen  Straise,  die 
von  Carnuntum  über  Ulmus  nach  Scarabantia  führte  sind  schon  früher 
Gräber  au^edeckt  worden;  durch  die  neuerliche  Untersuchung  ist  sie 
bestimmt  als  Gräberstrafse  erwiesen.  Dadurch  ist  auch  festgestellt 
worden,  dafs  sich  das  vorvespasianische  Lager  an  derselben  Stelle  wie 
das  spätere  befand.  Der  Lauf  der  Strafse  Carnuntum -Scarabantia 
wurde  in  drei  Kampagnen  näher  festgestellt:  sie  lief  bis  zum  Weiler 
Schafflerhof  und  dann  über  Höflein,  wo  ein  Kastell  aufgedeckt  wurde, 
nach  einem  Flurstück,  das  „in  Gaisbei^en"  heilst;  eine  Reihe  von 
Straisentürmen  lielsen  sich  ermitteln,  und  zwar  in  einem  mittleren  Abstand 
von  1308  Metern  von  Turm  zu  Turm.  Die  sogenannte  „alte  Straise",  die 
von  der  erwähnten  Kreuzung  beim  Schafflerhof  nach  Brück  a.  d.  Leitha 
verläuft,  erwies  sich  nicht  als  römisch,  sondern  als  Überbleibsel  einer 
von  Hainburg  nach  Brück  führenden  modernen  Strafse,  die  erst  zu 
Beginn  des  XDC.  Jahrhunderts  aufjg'elassen  wurde,  jedoch  nicht  über 
einer  älteren,  römischen  StraCse  erbaut  worden  ist.  Die  eigentliche 
Limesstralse  ist  die  von  Carnuntum  nach  Vindobona  fuhrende.  Sie 
wurde  bis  jetzt  bis  an  das  WeichbUd  von  Wien,  bis  zum  Zentral- 
friedhof,  verfolgt.  Die  genaue  Untersuchung  führte  zur  sicheren  Fest- 
stellung der  in  den  alten  Strafsenkarten  an  ihr  verzeichneten  Punkte 
Aequinodium  und  viUa  Gai  der  Tabula;  jenes  ist  mit  Fischamcnd, 
dieses  mit  der  in  der  Spezialkarte  als  Poigenan,  im  Volksmund  „die 
Poigen"  genannten  buchtartigen  Erweiterung  der  Ufemiederung  der 
Donau  identisch.  Äla  nova,  das  im  Antoninianum  in  der  Mitte 
zwischen  Aequtnoctium  und  Vindobona  angesetzt  wird,  mufs  an 
der  Stelle  von  Schwechat  gelegen  haben.  An  dieser  Straise  sind 
folgende  Reste  zutage  getreten:  bei  Regelsbrunn  Gebäudefunda- 
mente und  ein  grofees  Gehöft,  in  Regelsbrunn  selbst  ein  Gebäude 

21* 


—     294     — 

> 

(limesturm) ,   im  Rohrauer  Walde   Gebäudefundamente ,   ein  Gebäude 

südwestlich  von  Kroatisch -Haslau,  eine  Gebäudegruppe  westlich  vom 

Eilender  Hof  (Limesturm)   und  im  Eilender  Weingarten.     Besonders 

zahlreich  sind  die  römischen  Reste  in  Fischamend,  doch  spricht  nichts 

ür  die  Annahme  eines  Kastells   daselbst;   hingegen   wurden  mehrere 

Limestürme    ermittelt   und    zwar    eine   aus    einem    steinernen   und 

einem  hölzernen  (den  ersten  am  österreichischen  Limes  gefundenen) 

Turm  bestehende  Turmanlage  auf  dem  Plateau  östlich  von  der  Fischa 

sowie  ein  Turm  an  dem  westlich  von  der  Fischa  gelegenen.   AuCser  diesen 

zwei  Hauptstrafsen  wurden  ferner  zwei  Neben-  (Verbindungs-)  Straisen 

nach  aufgefundenen  Gebäuderesten  vermutungsweise  angesetzt. 

Auf  die  Fülle  der  Einzelfunde,  namentlich  die  Inschriften,  die  von 
Prof.  Bor  mann  eingehend  erläutert  werden,  kann  hier  ebensowenig 
wie  auf  Einzelheiten  der  Grabungen  und  auf  strittige  Fragen  ein- 
gegangen werden.  Zur  Ausstattung  der  in  Grofsquart  vorliegenden 
Berichte  sei  nur  noch  erwähnt,  dafs  eine  Fülle  von  AbbUdungen  auf 
Tafeln  und  im  Text  zur  Erläuterungen  dienen.  Während  die  Text- 
bilder nach  Photographien  manchmal  zu  wünschen  übrig  lassen,  sind 
die  nach  Zeichnungen  des  Oberst  von  Groller  hergestellten  Ab- 
bUdungen von  Strafsenkarten,  Gebäuderesten,  Aufrissen  und  Grund- 
rissen von  Gebäuden  und  Kleinfunden  ungemein  anschaulich.  Ein 
Fortschritt  ist  in  den  letzten  beiden  Berichten  auch  insofern  zu  ver- 
zeichnen, als  nunmehr  die  Mehrzahl  der  AbbUdungen  dem  Texte 
selbst  beigefügt  ist  und  nicht  mehr  auf  Tafeln  vereinigt  wird;  dies 
vereinfacht  die  Benutzung  erheblich,  da  die  AbbUdung  meist  unmittel- 
bar neben  dem  Text  steht,  zu  dem  sie  gehört. 

So  kann  denn  die  Limesforschung,  wenn  sie  auch  aus  den  ein- 
gangs angeführten  Gründen  nur  als  Anfang  einer  gro(sen  Aktion,  die 
über  kurz  oder  lang  ins  Werk  gesetzt  werden  mu(s,  gelten  kann,  doch 
auf  die  Ergebnisse  des  ersten  Jahrfünfts  der  Arbeit  um  so  mehr  mit 
Befriedigung  zurückblicken,  als  gerade  in  ihnen  der  Ansporn  zu 
gröfeerer  Arbeitsleistung  mit  reicheren  Mitteln  gelegen  ist.  Vom 
weiteren  Verlauf  lassen  sich  noch  reiche  Aufschlüsse  für  die  römische 
Altertumskunde  im  aUgemeinen  und  die  Geschichte  der  Römerherr- 
schaft in  Österreich  im  besonderen  erhoffen. 

Im  weiteren  Verlauf  sollen  zunächst  nicht  nur  Wien  selbst,  sondern 
auch  die  westlich  von  Wien  gelegenen  Punkte  zunächst  ausgelassen 
werden  und  die  Arbeiten  wieder  an  einem  —  wenn  auch  jüngeren 
und  weniger  bedeutenden  —  Legionslager  einsetzen.  Deshalb  hat  vor 
kurzem   die  Limeskommission  ihre  Tätigkeit    auf  Oberösterreich 


—     295     — 

ausgedehnt,  indem  Oberst  von  Groller  auch  in  dem  bei  Enns  ge- 
legenen Lager  von  Laureacum ,  dem  Standlager  der  zweiten  italischen 
Legion,  die  seit  einigen  Jahren  vom  Musealverein  in  Enns  betriebenen 
und  von  manchem  schönen  Erfolg  begleiteten  Ausgrabungen  in  diesem 
Jahre  leitete.  Obwohl  über  diese  Grabungen  und  ihre  Ergebnisse 
noch  kein  authentischer  Bericht  erschienen  ist,  sei  doch  hier  auf  Grund 
eines  auf  den  Mitteilungen  Grollers  fufsenden  Linzer  Zeitungsberichtes 
(„Tagespost*'  vom  17.  Juni  1904)  das  Wesentlichste  darüber  mit- 
geteilt. 

Der  Lagergraben,  der  das  ganze  Lager  wie  ein  Gürtel  umgab, 
ist  besonders  in  nächster  Nähe  der  Aw^^bungsstätte  in  seiner  ur- 
sprünglichen Form  noch  erhalten.  Er  bestand  aus  dem  tiefen  äufseren 
und  einem  zweiten,  inneren  Graben.  Der  innere  Umfassungsgrabeu 
ist  durchweg  ausgefüllt  und  nicht  mehr  erkennbar.  Von  den  Be- 
festigungs-  und  Gebäudeanlagen  ist  fast  weiter  nichts  als  das  unterste 
Kieselfundament  vorhanden,  die  übrigen  Baumaterialien,  insbesondere 
die  mächtigen  Granitquader  wurden  sämtlich  abgebrochen,  weggeschafft 
und  seinerzeit  zum  Bau  der  Festungsmauem  und  der  anderen  Bauten 
der  Stadt  Enns  verwendet.  Es  wurde  noch  ein  ganzer  Stock  solcher 
mächtiger,  fest  zusammengefugter  Steinblöcke  aufgedeckt,  wohlbehauene 
Granitquader  von  90  Zentimeter  Länge,  45  Zentimeter  Breite  und 
80  Zentimeter  Tiefe.  Vollständig  blolsgelegt  sind  die  Fundamente 
der  Umfassungsmauer  und  drei  der  immer  in  gleichen  kurzen  Ab- 
ständen an  der  Mauer  erbauten  quadratischen  Türme,  deren  Innenseiten 
je  3  Meter  messen,  femer  eine  von  Süden  nach  Norden  führende 
Kloake,  deren  Boden  mit  Ziegelplatten  ausgelegt  ist  Auch  ein  Teil 
der  Heizleitung  wurde  aufgedeckt.  Die  Mauern  haben  durchweg  eine 
Dicke  von  1,80  Meter,  die  Umfassungsmauer  des  Lagers  eine  solche 
von  2  Metern.  In  der  Mitte  jeder  Seite  befand  sich  ein  Tor,  die  an 
der  Nord-  und  an  der  Ostseite  gelegenen  Tore  fallen  in  die  das  Lager 
durchschneidende  Bahnlinie  und  sind  beim  Bahnbau  zerstört  worden. 
Das  Tor  an  der  Westseite  müfste  an  der  Kamptiner-VUla  am  Bahn- 
wege, jenes  an  der  Südseite  bei  der  Fritz -Villa  am  Teich  wege  gelegen 
haben.  Kleinfunde  wurden  wenige  gemacht;  als  der  wertvollste  gilt 
der  bronzene  Griff  eines  Standartenträgers,  der  in  einen  sehr  hübsch 
geformten  Hunde-  oder  Wolfskopf  endigt. 


—     296     — 


Arnstädter  Tauf^  und  Familiennamen 

Von 
Bruno  Caemmerer  (Arnstadt) 

(Schlaft)  i) 

Die  Zahl  der  Arnstädter  Urkunden  und  damit  der  Namen  wächst 
im  XIII.  Jahrh.  In  der  Urkunde  vom  22.  September  1208  wird 
Arnstadt  als  Versammlungsort  einer  grofsen  Anzahl  deutscher  Fürsten 
behufs  der  Wahl  des  Weifen  Otto  zum  Könige  genannt  *).  Seit  dem 
Jahre  1220  wird  das  Schwarzbui^er  Grafenhaus  mit  seinen  Neben- 
linien, den  Grafen  von  Kevemburg  und  Rabenswald  *),  in  den  Arn- 
städter Urkunden  erwähnt,  und  zwar  zunächst  1220  GurUher,  Graf 
von  Keverinburg,  der  später  zum  Unterschiede  von  seinem  gleich- 
namigen Neffen  senior  genannt  wird.  Die  Gemahlin  eines  1305  be- 
reits verstorbenen  Günther  —  es  ist  der  VIII.  —  heiist  Ädelheidis. 
Der  Rabenswalder  Linie  gehörte  Graf  Albrecht  (Albert  III.)  an,  der 
als  greve  Albreckt  von  Babenstoald  und  zugleich  als  comes  Albertus  de 
Rabenswald  bezeichnet  wird.  Die  Mutter  Günthers  VIL  und  VIII.  von 
Kevemburg  und  Grofsmutter  Günthers  X.  war  MedUhüdis  comiüssa  de 
Kevemberg,  die  13 12  bereits  verstorben  ist. 

Als  Ahnherr  erscheint  schon  ums  Jahr  700  ein  von  Willibrord 
(oder  Bonifatius?)  zum  Christentum  bekehrter  Edelmann  Chuniarius 
(Oundar),  der  in  Thüringen  ansässig  war  und  ein  Sohn  des  fränkischen 
Königs  Lothar  gewesen  sein  soll.  Der  Name  Chrnda/Ty  Guniher,  CHmther, 
der  auf  fränkischen  Ursprung  des  ersten  Trägers  schliefsen  läfst  — 
auch  das  anlautende  ch  ist  ja  echt  fränkisch  —  ward  in  dessen  Ge«» 
schlecht  erblich.  Die  Mitglieder  des  Schwarzbui^er  Fürstenhauses 
tragen  seit  den  ältesten  Zeiten ,    mit  wenigen  Ausnahmen  ^) ,    diesen 


I)  VgL  oben  S.  245 — a6i. 

a)  2^hn  Jahre  vorher  (1198)  hatte  eine  zahlreiche  and  glänzende  Versammlang  von 
deutschen  Fürsten  ebenfalls  in  Arnstadt  dem  Staafer  Philipp  von  Schwaben  die  Königs- 
krone angeboten. 

3)  Siegel  des  Adels  der  WeUiner  Lande  bis  xum  Jahre  1500,  Im  Auftrage 
der  Königlich  sächsischen  Staatsregierang  herausgegeben  von  Otto  Pofse  (Dresden 
1903).  Ein  herrliches  sphragistisches  Qaellenwerk,  von  dem  bis  jetzt  Bd.  I  erschienen  ist. 
Dieser  umfafst  die  Siegel  der  Grafen  von  Käfembarg  (Kevembarg)  nnd  Schwarzbarg,  der 
Vögte  von  Weida,  Plauen  and  Gera  and  von  dem  Adel  der  Wetüner  Lande  den  Bach- 
staben A  (Abersfeld  bis  Aaerswald)  aaf  50  Tafeln  mit  beschreibendem  Texte,  Namen- 
und  Sachregister. 

4)  Nar  Sigebert,  Sigehari  und  die  Koseform  Sixxo  kommt  daneben  vom  IX.  Jahrfaondert 


—     297     — 

Namen,  der  aus  gund  und  hari  besteht  und  Kampf  held  bedeutet.  Auch 
die  beiden  weiblichen  Eigennamen  Addheidis  und  Mechlhüdis  sind 
germanisch:  jenes  besteht  aus  adal  und  heid^  heit  (got.  haidus,  ahd, 
Aei^  „Rang,  Stand'S  mhd.  heit  „Art,  Beschaffenheit"),  und  bezeichnet 
die  Trägerin  als  adeligen  Standes;  dieser,  aus  maM  (got.  maMs,  ahd., 
mhd.  mdkt  „Kraft,  Macht'*)  und  hild  bestehend,  hei&t  die  Kampfes- 
mächtige. Die  Form  MecUhildis  (MehtiU)  statt  MaJUhiU  (Mathilde)  is^ 
aus  der  Umlautung  des  ersten  Kompositionsteiles  durch  den  zweiten 
zu  erklären;  die  ältesten,  allerdings  verdächtigen  Fälle  dieses  Umlautes 
sind  Namen  des  codex  Laureshamensis  (Rheinfranken)  aus  dem 
VUI.  Jahrhundert  (MeMilda,  MechthiU,  Mechtsuifd,  Beldrih,  Lempfrit 
und  BechiU),  die  Forste  mann  aufführt. 

Am  9.  September  122 1  werden  genannt:  Landgraf  Ludwig  von 
Thüringen,  Sophie,  seine  Mutter,  Elisabeth,  seine  Gemahlin,  Raspo  und 
Ckmrad,  seine  Brüder. 

Ludwig  ist  Ludwig  der  Heilige,  Raspo  der  unter  dem  Namen 
Heinrich  Haspe  bekannte  Gegenkönig  Friedrichs  IL  Heinrich,  niemand 
anders  als  Heinrich  der  Erlauchte,  wird  als  Landgraf  von  Thüringen 
1228  genannt.  Alberius  (Albrecht  der  Entartete),  wird  1273  als 
iUustris  princq^  dominus  Albertus,  Turingie  lanigravius  bezeichnet'; 
später  heifst  es  von  ihm:  des  hohen  vursten  lanigreven  Albrechtes  von 
Duringen,  und  in  Urkunden  von  1302  und  1305:  Albrecht  von  gotes 
gnaden  lantgrave  zu  Duringen. 

Ludwig  besteht  aus  Mod,  htud,  griech.  xkv%6g,  lat  dutus,  laut, 
berühmt  und  wig  (ahd.  wlg,  mhd.  wie  „Schlacht,  Kampf"),  lautet 
Chiodowich  im  V.  Jahrhundert,  latinisiert  Ludowicus,  Ludewicus  oder 
Ludewigus  und  bedeutet  „berühmter  Kämpfer",  bei  Ludewicus  statt 
Ludewigus  spielt  die  geschichtliche  Überlieferung  eine  Rolle  ^). 

Sophie  (Sophia,  Sophya)  und  Elisabeth  sind  Fremdnamen :  jener  ist 


an  vor.  Sizxo  IV.  (t  1160)  neimt  sich  bald  Graf  von  Kevemborg,  bald  von  Schwarz- 
borg;  er  ist  der  letzte  Gangraf  seines  Geschlechtes.  Seine  Nachkommen  hatten  den  erb- 
lichen Grafentitel  and  zählten  za  dem  hohen  Dynastenadel.  Da  in  den  Urkunden  fast 
nur  die  Namen  OihUher  und  Heinrich  vorkommen  and  andere  Zasätze  als  „der  ältere^ 
oder  „der  jOngere^^  fehlen,  ist  die  Unterscheidung  der  einzelnen  Personen  oft  sehr  schwer, 
i)  So  nach  So  ein,  S.  44.  Genaa  genommen  ist  Ludewigtss  so  wenig  korrekt 
wie  lA4dewieu8.  Die  Urform  laatet  nämlich  Chlodoveu$y  got  Bkidüiu,  ahd.  Bludowihy 
and  der  zweite  Bestandteil  ist  nach  Müllenhoff  in  Schmidts  Ztschr.  f.  Gesch.  VUI,  364 
and  dem  Index  za  Jordanes,  S.  152  demnach  nicht  wig^  sondern  wiku,  toih  oder  wiu 
(Heiligtnm).  So  JJewieus  (Älawih),  got  Alaviv(uB).  Doch  fragt  sich,  ob  Alamv(u») 
mit  Alawicua  identisch  ist;  Förstemann  stellt  den  Namen  aach  als  vereinzelt  hin,  and 
'toie,  -wg,  'Wieii,  wik,  "Wihe  werden  in  den  Urkunden  ohne  Unterschied  gebraucht. 


—     298     — 

griechischen  Ursprungs  und  bedeutet  die  Weisheit,  dieser  hebräischen 
und  heifst  etwa  „Gottes  Eid",  „Gottes  Schwur".  Beide  Namen  waren 
im  Mittelalter  sehr  beliebt  ^). 

Itaspo  ist  wieder  echt  germanisch :  ich  erkläre  es  als  zweistämmig-e 
Koseform  zu  rcU  und  pert  im  Sinne  von  Badbald  (VIII.  Jahrh.)  der 
Ratkühne  oder  von  l^adobert  (VIII.  Jahrh.)  „der  durch  Rat  Glänzende**; 
rcts  wäre  dann  zusammengezogen  aus   rtzdis,  ratis  (zu  radi  <=:  raf). 

Aufser  den  schon  genannten  Namen  begegnen  jetzt  neu  ein  Ritter 
Lupoid  von  Arnskte  1240,  ein  Vogt  Rudegerus  1246,  ein  GuntemSy, 
dictus  StipTU  de  Amstete  1 248,  ein  Eilherus  miles  1 268,  LuMphus  de 
Amstete  1293,  Bertcld  von  Crrtjsheym  (Griesheim),  EUwin  von  Bincke- 
leihen  (Ringleben),  Elher  de  Bochusen  (Rockhausen)  nebst  seiner  Fraa 
Lucichard.  Unter  den  Vertretern  des  Hochadels  erscheinen  bei  den 
Grafen  von  Orlamünde  (de  Orlamunden,  Orlamunde)  die  Namen  Her- 
mann und  Otto,  bei  den  Grafen  von  Gleichen  (Gleichen,  Glichen) 
Ernst  und  Albrecht.  Es  erscheint  dann  noch  ein  miles  Hartmannus 
JJce  de  Gelingen,  der  ein  anderes  Mal  iudex  Hartmannus  de  Gelingen 
heifst,  und  mit  ihm  zusammen  wird  beide  Male  Hermannus  de  Ichstete 
genannt,  einmal  als  miles,  das  andere  Mal  als  iudex. 

Hier  haben  wh-  schon  vor  der  Mitte  des  XIII.  Jahrh.  zwei 
treffende  Beispiele  doppelter  Vornamen:  Heinrich  Raspe  und 
Hartmann  Ucz  von  Göllingen.  Wenn  letzterer  ein  Jahr  später  nur 
den  Vornamen  Hartmann  hat,  so  zeigt  dies,  da(s  damals  der  Ge- 
brauch noch  schwankte;  ist  doch  Baspo  und  Heinrich  Raspe  auch 
identisch,  und  der  Wechsel  zwischen  miles  und  jtMlex  deutet  bei  Hart- 
mann von  G.  so  wenig  auf  eine  andere  Person,  wie  bei  Hermann 
von  Ichstedt. 

Die  häufige  Wiederkehr  derselben  Taufnamen  —  im  XII.  Jahrh. 
findet  sich  bei  drei  von  dreizehn  Personen  der  Name  Heinrich, 
im  XIII.  Jahrhundert  kehren  Günther,  Heinrich,  Albert,  Hermann  u.  a. 
oft  wieder  —  beweist  starken  Familiensinn,  besonders  beim  Hochadel, 
von  dem  dann  diese  Lieblingsnamen  eines  bestimmten  Geschlechtes 
in  die  adeligen  Familien  und  von  diesen  in  die  Bürgerkreise  eindrangen. 
So  haben  wir  jedenfalls  als  nach  dem  Namen  des  Herrscherhauses  be- 


i)  Neben  Elisabeth  findet  sich  im  XIV.  Jahrb.  aach  Ehebeih;  so  nennen  z.  B. 
die  A.  U.  von  zwei  Schwanburger  Gräfinnen  namens  Elisabeth  die  eine  Eliaabelh 
(1350 — 1356),  die  andere  Ehtbetk  (1362).  In  Frankfurt  a.  M.  tragen  1385  von  i66a 
namentlich  genannten  weiblichen  Personen  nicht  weniger  als  300  die  Namen  Ms%y 
Maeohin  and  Elsa,  Dagegen  kommt  die  volle  Form  Elisabeth  Überhaupt  nicht  vor. 
Tille  in  der  ZeiUchrifl  för  Knltargeschichte,  V.  Bd.,  S.  175. 


—     Ü99     — 

nannt  die  zahlreichen  Günther  und  Heinriche  von  Arnstadt  anzusehen. 
Natürlicher  und  altgermanisch  ist  der  Brauch,  den  Sohn  nach  dem 
Vater  oder  Grofsvater  oder  Oheim  zu  benennen,  auf  diese  Weise  wird 
ein  bestimmter  Name  gewissermafsen  Sondereigentum  einer  bestimmten 
Familie.  Aus  dem  thüringischen  Herzogshause  sind  uns  zwei  Herzöge 
Hedenus  bekannt,  im  sächsischen  Königshause  waren  die  Namen  Otto 
und  Heinrich,  bei  den  Saliern  Heinrich,  bei  den  Staufem  Friedrich 
üblich.  Poppe  heifsen  die  Grafen  von  Henneberg  vom  XI.  Jahrh. 
bis  zur  Mitte  des  XIII.  Jahrh.,  die  Grafen  und  Fürsten  von  Schwarz- 
burg Günther  oder  Heinrich,  und  die  Fürsten  von  Reufe  von  jeher 
ohne  Ausnahme  Heinrich.  Und  so  wac  es  auch  beim  Adel :  Gerwkus 
de  Moüistarf  heifsen  Vater  und  Sohn  und  Theoderictts  de  MoUestorff^ 
vererbt  auch  seinen  Namen  auf  den  Sohn.  Im  Jahre  1267  findet  sich 
ein  Amstädter  Bürger  Ekehard,  sein  ältester  Sohn  heilist  ebenfalls  Eke- 
hard,  der  zweite  Heinrich.  Auch  durch  Alliteration  wurde  in  den  alt- 
germanischen Namen  die  Verwandtschaft  bezeichnet:  bei  den  Mero- 
wingischen  Königsnamen  durch  Zusammensetzungen  mit  Chüd-  (Chil- 
derich),  Ghüp-,  CMod-  und  Theodr.  Bei  den  Burgunden  lauten  alle 
mit  G  an:  Gibich,  Godomarus,  Gisiaharitis,  Gundaharius  (Günther), 
Gundevechtis,  Grundobctdus,  Godegisilus,  Gidahadus.  Oder  einer  von  beiden 
Stämmen  kehrt  bisweilen  in  einem  anderen  Namen  wieder:  so  ver- 
hält sich  Theobaid  zu  Theodrada,  Godegisüus  zu  GUdabatdus.  Andere 
Geschlechter  lieben  Namen  mit  bestimmtem  zweiten  Stamm,  das  eine 
die  auf  ^bert,  das  andere  etwa  die  auf  ^ölf,  -hart,  'Ung,  -toin  u.  a. 
Noch  im  IX.  Jahrhundert  überwiegen  diese  verwandten  Namenbüdungen, 
während  im  X.,  XI.  und  XII.  Jahrhundert  die  unverwandten  bedeutend, 
nach  Socin,  S.  208,  etwa  viermal  so  häufig  sind.  Dann  erhält  der 
älteste  Sohn  den  Eigennamen  des  Vaters,  woraus  im  XIII.,  bezw. 
XIV.  Jahrh.  die  Familiennamen  entsprielsen ;  der  Zusatz  senior  und 
junior  oder  filius  bildet  dazu  den  schüchternen  Übergang. 

Weiter  ist  die  Erscheinung  des  gleichen  Vornamens  •auffallend. 
Trotz  des  reichen  Schatzes  altgermanischer  Namen  und  trotz  der  Auf- 
nahme fremden  Sprachguts  fuhren  Brüder  denselben  Taufnamen: 
GunÜiems  et  Chmtherus  fraires  in  Keverinberg  comües,  1273;  Her» 
mannus  und  Hermannus  von  Vanre,  1294,  ohne  jeden  unterscheiden- 
den Zusatz.  Auf  diese  Weise  erklären  sich  auch  die  oben  erwähnten 
doppelten  Vornamen:  Heinrich  Rcispe  ( — 1247),  Hermannus  Uce  de 
Gelingen  (1248),  sowie  Günther  Vrowin,  der  der  Sohn  Conrads  von  Sieh- 
leben  ist  und  1277  als  Bürger  von  Arnstadt  erscheint.  Die  Seltenheit 
der  Belege   Uefert  den  Beweis,   dafs  es  sich   hier  um  Ausnahmefälle 


—     300     — 

handelt,  die  sich  bei  uns  erst  nur  im  XIII.  Jahrh.  finden.  In  der  Regel 
hatte  man  auch  im  XIII.  Jahrh.  nur  je  einen  Taufnamen.  All- 
gemein fingen  doppelte  Vornamen  erst  mit  dem  Ende  des  XV.  Jahr- 
hunderts an  ^),  und  in  der  Gegenwart  kehrt  man  teilweise  zu  der  alten 
Sitte,  nur  einen  Taufnamen  zu  geben,  zurück.  Übrigens  stammen 
die  ältesten  Beispiele  von  doppelten  Taufnamen  wieder  aus  den  Kreisen 
des  Hochadels  und  Adels  und  sind  von  da  in  die  „besseren ''Bürger- 
kreise eingedrungen:  Ounfher  Vromns  Vater  ist  bezeichnenderweise 
constd  von  Arnstadt,  d.  h.  Ratsherr.  Stark  entwickeltes  Familien- 
gefiihl  steht  mit  dieser  Neuerung  sicher  in  ursächlichem  Zusammen- 
hang ;  außerdem  pflegen  nur  Jiäufige  Taufnamen ,  wie  Heinrich ,  Her* 
mann,  Günther,  zu  Paaren  vereinigt  zu  werden. 

Kehren  wir  zur  Erklärung  der  oben  genannten  Namen  zurück! 

Lupoid  =  LitUbold,  LitUbald  im  VII.  Jahrh.  lälst  sich  schwer 
trennen  vom  Stamme  Hub  lieb,  teuer.  Btulegerus,  auch  Btidengerus^ 
Budigertis,  BMiger,  besteht  aus  hrod,  hmod  {=  „Ruhm*')  und  ger  und 
bedeutet  „RuhmspQer''.  Die  Form  Budengerus  ist  wohl  ein  Unikum, 
volksetymologisch  statt  Budeger  [Hrodgar  VIII.  Jahrh.,  Budiger  seit 
XI.  Jahrh.);  ebenso  wechselt  die  Schreibung  Otto  mit  Ottho,  mhd. 
Otte,  Guntherus  mit  GunteruSy  Hermannus  mit  Herman,  Eilherus,  Elh&r, 
üyJherus.  —  Eilhems,  EOier  gehört  zu  agil,  Nebenform  von  a$r,  und 
ger^  zusammengezogen  zu  Eüher,  Elher  =  Agelhar  im  VIII.  Jahrh. 
und  bedeutet  „der  Schwertkämpfer '\  EUhar  ist  nach  Förstemann  803 
belegt  LuMphus,  LudcHf  ist  dasselbe  wie  lAwtdf  [vgl.  oben  S.  258]. 
Die  Abkürzung  F.  bedeutet  Fridericus.  —  Bertold  besteht  aus  berahi, 
bert  und  olt  (nicht  etwa  hold,  denn  das  h  in  Berthold  ist  unorganisch) ; 
es  ist  eine  Verkürzung  aus  BerahtoJd  und  bedeutet  „der  glänzend 
Waltende".  Die  Form  Berchtwald  ist  625  belegt.  PerdoU  IX.  Jahrh.  — 
EUwin  gehört  zum  Stamme  cdt,  got.  cdiheis,  ahd.  mhd.  aU,  der  zweite 
Bestandteil  ist  win  (Freund) ;  das  Ganze  ist  eine  Umlautung  aus  Aid- 
win,  als  Aldawin  538  bezeugt.  —  Kunemundus  vom  Stamme  hun, 
got.  huni,  ahd.  chunni,  mhd.  hünne  (Geschlecht,  Sippe)  und  mund, 
ahd.  mhd.  muni  (Schutz,  Gewalt)  bedeutet  „  der  das  Geschlecht  Schir- 
mende"; Cunimund  ist  im  V. — ^VI.  Jahrh.,  Kunimunt  im  DC.  Jahrh. 
belegt  ').     Auffallend  ist  die  schwache  Form  im  Akkus.  Konemunden, 


1)  Kriegk,  Deutsches  Bürgertum  im  Mittelalter  (Frankfiirt  1871),  S.  20a.  Vgl. 
mach  Blamschein,  Zur  Oesehiehte  unserer  mehrfachen  Vornamen  in  der  Halbmonats« 
Schrift  Deutsche  Stimmen  (Köln),  i.  Bd.  (1899),  S.  81—85. 

2)  Von  kuon^  ahd.  chuoni,  mhd.  kiiene,  kiien,  dagegen  kommt  Chunrad  (VÜI.  Jahrh.), 
lat.  OonraduSj  ahd.  meist  Kuonrät,    Vgl.  oben  S.  248. 


—     301     — 

richtig  der  Gen.  und  Dat.  OUen  von  Otte,  mhd.  statt  (Xto;  daher  Otten- 
dorf, Thiemendorf  (von  Thieme  statt  Thiemo) ,  Etzelndorf  (von  Ehsd), 
Dorotheental,  Sibyllenort.  Bei  von  Orlamwide  neben  van  Orlanmnden 
ist  noch  ein  Schwanken  in  der  Beugung  zu  beobachten.  —  Hemumn 
mit  dem  Gen.  Hermannes,  neben  Hermannus  und  Herman  ist  aus 
Hariman  (VII.  Jahrh.)  entstanden  und  bedeutet  der  Kriegsmann,  Heer- 
genosse von  hcMii,  ahd.  hari,  heri,  mhd.  here  Heer  und  man,  got 
ma$ma,  ahd.  mhd.  man  „Mensch,  Mann*'.  Die  Identifizierung  von 
Herman  und  Arminius  ist  deshalb  unmöglich,  weil  die  latinisierte  vor- 
althochdeutsche Form  Chariomannu8  heüsen  mü(ste,  wie  die  ent- 
sprechende Form  für  Hessen  ChaUi  ist.  —  Hartmannus:  hard,  hart, 
got  ha/rdus,  ahd.  mhd.  hari  bedeutet  in  Namen  „kräftig,  tapfer*'. 
Hardman  und  Hartman  (Ardeman  VIII.  Jahrh.)  ist  der  kriegstüchtige, 
tapfere  Held.  —  Vcz  ist  eine  Zusammenziehung  aus  Udo  mit'  der 
Endung  isso  (üdüfo,  U0O),  wie  Ltäjs  aus  Ludwig  entsteht ;  TJdo  aber  ist  die  im 
XII.  Jahrh.  nachgewiesene  Koseform  zu  Uolrich.  —  Luckhard  ist  weibl. 
Name  aus  litU  und  gard  (Litägardis  VIII.  Jahrh.)  und  bedeutet 
Schützerin  des  Volkes.  Eine  Bildung  mit  dem  keltischen  letik  glänzend 
ist  nicht  anzunehmen ,  wenigstens  wäre  dafür  louc  (ahd.  Flamme)  zu 
setzen. 

Zu  den  milües  gesellen  sich  die  servi,  Knechte,  d.  h.  noch  nicht 
zu  Rittern  geschlagene  Adelige  und  Lehensträger :  dudbt^  servis  Alberto 
de  Hürden  et  Ludewico  de  Brücken  1248  (A.  U.  19),  d.  h.  Albrecht 
von  Hürde  und  Ludwig  von  Brücken.  Dazu  kommen  in  derselben 
Urkunde  die  testes  idonei:  Gerwicus  dictus  de  MdOenstorff  (derselbe 
heifst  1249  Gerwicus  dictus  de  MöUistor/f)  et  fUius  suus  Gerwicus; 
Conradus  dictus  Bendel  de  Erfford  (bez.  Erphordia) ;  Bruno  de  Holce- 
husen  (Holzhausen  bei  Arnstadt);  Teodericus  deDocnifS  (1249  Theodericus 
de  Docnig  [d.  i.  Dozniz]);  Gerardus  de  Ghsserstete  et  ßius  suus 
Th.(eoderict4s) ;  Herenfridus  scuUetus  et  stms  ßius  Heinricus;  dtwbus 
Senats  Friderico  0.  de  Oderszleben  et  Bemone  de  Bendeleben  1249. 

Sämtliche  Taufhamen  sind  wieder  echt  germanisch ;  Gerwicus  be- 
steht aus  ger  und  unc,  Bruno  gehört  zum  Stamme  bnm,  ahd.  brunnia, 
brunna,  mhd.  brOnne  Brusthamisch,  Ringpanzer,  und  galt  bisher  als 
Kürzung,  dürfte  jedoch  eh tr  vfie  Heden,  Otto  uavf,  als  einstämmiger 
Name  aufzufassen  sein ;  die  Zusammensetzungen,  die  Vollnamen  Brun- 
hard,  Brunhold,  Brunheri  usw.  sind  alle  jünger  als  Bruno.  Bemo 
{mcht Benno)  stammt  von ber,  berin  und  entsteht  BxxsBerino  (VIII.  Jahrh.); 
die  Koseform  zu  BUdungen  mit  ber  ist:  Bero,  zu  Bildimgen  mit  berin: 
Beno  (Benno),  jenes  im  VI.,  dieses  im  VIII.  Jahrh.  zuerst  belegt,  aber 


—     302     — 

ebenfalls  Kürzung  ^).  Gerardus  besteht  aus  ger  und  hart  und  Heren- 
fridus  ist  so  viel  wie  Erenfridus  *).  Das  0,  nach  Friderico  ist  gewife 
Abkürzung  für  Otto,  und  wir  haben  also  den  doppelten  Vornamen 
Friedrich  Otto.  Unter  den  Gliedern  der  Familie  de  MoUestorff  (=  Mols- 
dorf in  Sachsen-Gotha)  findet  sich  auch  ein  Theodericus  ZacJume 
de  M.,  d,  i.  Theoderichus  Zachariae  (fUius)  de  M.,  der  das  inte- 
ressante Beispiel  eines  patronymischen  Namens  bietet.  Zacbarias 
(jetzt:  Zacher)  ist  ein  hebräischer  Fremdname  und  bedeutet  den, 
dessen  Jehova  gedenkt.  Einen  solchen  Taufnamen  im  Genetiv  zeigt 
auch  um  dieselbe  2^it  Volpertus  Helbini,  d.  h.  Wolper(t)  Hiltwins 
Sohn;  die  patronymische  Form  lautet  HeUbing.  Ob  man  solche 
Genetivnamen,  was  auch  ihre  Entstehung  sein  mag,  schon  als  Bei- 
namen (Übernamen)  empfunden  hat,  ist  sehr  unsicher;  man  be- 
trachtete sie  jedenfalls  im  XIII.  Jahrb.,  seit  dessen  Mitte  sie  über- 
haupt erst  vorkommen,  als  doppelte  Taufiiamen  wie  Hermamms 
ücz  de  Gelingen.  Diese  Genetivnamen  werden  dann  gar  nicht  mehr 
als  alte  Taufnamen  empfunden  und  gehen  einfach  in  die  Familien- 
namen über,  als  welche  wir  heute  Zacher,  Helbing,  Utz,  Lutze,  Lutz 
finden;  als  Vorname  ist  letzterer  noch  in  unserem  altadeligen  Ge- 
schlechte von  Wurmb  häufig. 

Auch  die  seit  1266  neu  hinzutretenden  Taufnamen  sind  wieder 
deutsch;  Volpertus  (=  Votßert,  Vtdfbert  im  VII.  Jahrh.)  besteht  aus 
todf  und  bert,  bedeutet  der  gleifsende  Wolf,  und  erinnert  wohl  an 
Wotans  heiliges  Tier;  doch  kommen  die  Stämme  ftdca  und  vola  in 
Konkurrenz.  Amoldus  besteht  aus  arin  (ahd.  mhd.  am,  verkürzt  ara, 
ahd.  aro^  mhd.  ar,  Aar,  Adler,  der  Götterbote)  und  toalty  lautet  Ar- 
noald  im  VII.  Jahrh.  und  bedeutet  der  wie  ein  Adler  Waltende.  Ger- 
locus,  Gairelaih  VII.  Jahrh.,  Geroiah  VIII.  Jahrh.,  Gerlach,  der  Speer- 
frohe, Iah  zu  laikan  springen;  vgl.  Caemmerer,  Thüring.  Famil.,  I 
S.  i6fl. ;  Helbini  patronym.  Gen.  von  HeUnnus,  d.  i.  hiU  und  fdn, 
Hilduin  VIII.  Jahrh.,  Hildimn  =  Elduin  schon  im  VII.  Jahrh.  und  704 
(mon.  Eptern.),  der  Schlachtenfreund;  EcJdnbertus  wurde  schon  oben 
behandelt;  Remboldus  aus  ragin  (zusammengezogen  rein)  und  boU, 
der  im  Rate  Kühne,  Baginbald  VIII.  Jahrh.,  Reinboldfis  1266  ff. 
Zusätze  wie  pincema,  dapifer,  camerarius,  marescalcus,  welche  die 
vier  hohen  Hofämter  bezeichnen,  fuhren  zu  den  Familiennamen  Schenk, 
Droste,  Kämmerer,  Marschall,  wie  scuUetus  und  advocatus  zu  Schulze 


i)  Bero,  Berns  kann  auch  einstämmiger  Name  sein. 

2)  So  wechselt  aach  Hertel  und  ErUl  und  Heidechse  und  Eideckse, 


—     303     — 

und  Vogt.  In  Thüringen  findet  sich  schon  1162  Jordanus  dapifer, 
1262  Ulrictis  de  Camera  Ulrich  der  Kämmerer,  um  1299  Hermamms 
Lanlgravius,  1299  C/onradas)  carpeniarius  (der  Wagner).  In  IVojfte 
Pistor  ist  letzteres  (Becker)  schon  Familienname.  Zugleich  wird, 
wiewohl  selten,  die  Verbindung  durch  den  Zusatz  didas  hergestellt, 
z.  B.  Heidmrieus  didus  Kouphman  und  in  derselben  Urkunde  vom 
Jahre  1291  Rudo^hus  Kouphman,  aber  sonst  einfach:  Conradus  Kauf- 
manntis  1283,  Chmtherus  dictus  Schenke,  Ratsmeister,  1332  fr.,  Theoderich 
Schenke  1377,  Friederich  Schengke  1425,  Cunase  der  pancsermacher  1431. 

Der  Name  WendepJuiffe  1273,  d.  i.  wendischer,  fremder  PfafTe  *), 
zeigt  wieder  die  Entstehung  des  Familiennamens,  vermittelt  durch  den 
Zusatz  dictus.  So  wurde  aus  Cunrai,  der  da  genant  is  Babist,  Rats- 
kämmerer und  Grundbesitzer  in  Arnstadt  seit  1322,  leicht  ein  £bnradf 
Papst;  dahin  gehört  auch  Guntherus  dictus  Stipht  de  Ämsteie,  der 
schon  oben  zu  1248  erwähnt  wurde.  Gleichzeitig  erscheint  Conradus 
dictus  Bendel  de  Erffbrd.  Bendel  gehört  zum  einstämmigen  Namen 
(Kürzung?)  Bando  (VI.  Jahrh.),  verkürzt  mit  üo  zu  Bandilo,  Bandit  und 
umgelautet  zu  Bendel.  Der  Stamm  band  bedeutet  Banner,  Feldzeichen. 
Die  weiblichen  Namen  Gerdrudis  (von  ger  und  drud  die  Drude,  un- 
holde Jungfrau  —  vgl.  aber  auch  trüt,  traut  — ),  Cartrud  VIII.  Jahrh., 
umgek.  Thrudger  (bei  Förstemann),  die  Speerjungfrau,  und  Wemtrudis 
(uxirin,  war,  got.  warjany  abd.  werian,  weren,  mhd.  wem  und  drud :» 
die  schützende  Jungfrau),  Wa/rentrudis  VIII.  Jahrh.,  Werintrudis  (We- 
rindrut)  IX.  Jahrh.,  Wemdrud,  Wemdrui  IX.  Jahrh.  zeigen  durch  den 
gemeinsamen  zweiten  Stamm  ihrer  Namen  die  Verwandtschaft. 

Beim  Geschlecht  derer  von  Wechmar  haben  wir  um  1300  zuerst 
den  später  so  häufigen  und  beliebten  Taufnamen  Johann,  d.  i.  Jo- 
hannes, die  griech.  Form  für  hebr.  Jehochanan,  Jochanan  „dem  Gott 
gnädig  ist'S  ^o  einen  Fremdnamen;  der  Name  Johann  taucht  auch 
wie  BaUhasar  seit  dem  XIV.  Jahrh.  ganz  vereinzelt  bei  den  Schwarz- 
burger Grafen  und  den  Landgrafen  von  Thüringen  auf. 

Der  Zuname  de  Curia,  von  dem  Hofe  bei  domint^s  Otto  de  Curia 
1280,  auch  her  Otto  von  dem  Hove  1306,  und  IHtterich  vom  Hofe 
1496  ist  bei  uns  der  früheste  Ansatz  zu  den  örtlichen  FamUiennamen, 
die  die  Wohnstätte  des  ersten  Namenträgers  nach  Lage  und  BeschafTen- 
heit  kennzeichnen. 

Bezeichnend  sind  die  Benennungen:  miles  Conradus  dictus  Sunn- 


i)  Vgl.    den  Familiennamen  Wendland,    der   aaf  die  Herkunft   aus   dem  lUnebnr- 
gischea,  von  Wenden  besiedelten  Lande  hindeutet. 


—     304     — 

rüde  1282,  miles  Gothfredus  Swynrode  1301  und  Ootfridus  vom 
Schweynrode  1302.  Der  Zusatz  didus  (ohne  de)  fällt  bald  weg,  dann 
,,vom**  ebenfalls  und  es  bleibt  nur  der  Ortsname  Schweinroda  (jetzt 
Schweina,  S.-M.).  Vom  statt  von  der  (Rodung)  ist  alt  und  echt  mnd., 
es  lebt  noch  bei  uns  in  vom  Schwenge,  d.  h.  Geschwenda  (Schwarz- 
burg-Sondershausen),  viUa  Gyswende  1302,  das  ist  der  Ort,  wo  der 
Wald  nicht  „gerodet**,  sondern  „geschwendet**  ist. 

Fridericus  Cragh,  miles  1282.  Der  Name  Cragh  findet  sich  nitgfcnds 
belegt,  ist  aber  wohl  von  gradu,  altn.  gräd  gierig,  ahd.  gräiag,  zu- 
sammenfließend mit  grcü,  mhd.  Spitze,  etwa  Pfeil-  oder  Lanzenspitze 
(vgl.  ort,  ag  u,  a.)  abgeleitet;  dann  wäre  Craish  =  Chradüfo,  Grtufgo, 
Diminutivum  mit  izo  zu  Grado  DC.  Jahrb.,  CrcUhard  VIII.  Jahrb.,  Chra- 
dtüf  VIII.  Jahrh.  oder  Orctdigis  IX.  Jahrh.  Oristanus  statt  Christianus 
ist  eine  griechisch-lateinische  Ableitung  von  Christ  und  bedeutet  Be- 
kenner  des  Christentums,  Christ;  es  ist  ein  Fremdname,  der  aber 
dem  Deutschen  schon  angenähert  ist  durch  Wegfall  des  h  und  i, 
mit  Umstellung  des  r:  Kyrstanus  Kirsten,  (=  Christen),  und  mit 
Brechung  des  i  in  e:  Kersten  *). 

Bertoldvs  didtis  de  Isnacho  (d.  i.  Eisenach),  redor  scolarium  de 
Amstete  1286,  gehört  wohl  auch  dem  Adel  an.  Der  magister  scho- 
larum  (Schulmeister),  der  später  auch  scholctsticus  oder  schdaster  ge- 
nannt wurde,  stand  hoch  im  Rang;  er  war  Prälat,  in  den  älteren  Zeiten 
selbst  Lehrer  der  Alumnen,  die  zu  Priestern  herangebildet  wurden,  er 
war  etwa  der  SchuUnspektor  des  ganzen  Sprengeis,  prüfte  und  er- 
nannte die  Rektoren,  Kantoren  und  die  übrigen  Lehrer  der  einzelnen 
Schulen  und  konnte  sogar  Bischof  werden  *). 

Als  Zeugen  erscheinen  1286  neben  anderen  Theodericus  dictus 
Serws,  d.h.  servtis,  denn  1291  heifst  es  von  derselben  Person:  Theo^ 
derich  genannt  Kneicht,  sodann  Gruntherus  didus  Rizchir,  Henricus 
didtts  Corea  und  Bertoldus  dictus  Sterkere.  Der  Name  Riechir  scheint 
ein  Unikum  zu  sein;  ich  halte  ihn  für  eine  sekundäre  BUdung  aus  der 
Verkleinerung  Eichiiso,  zusammengezogen  Rijso,  von  rik,  reich  —  nicht 
zu  verwechseln  mit  Rico  —  imd  chir  =  hir,  her,  Herr;  Richiro 
X.  Jahrh.,  Richero  XI.  Jahrh.  sind  die  zugehörigen  Vollnamen.    Corea 


i)  Kerstin  1049  Förstemann,  in  Westfalen  1096  (=»  Chrtatinua),  Kirst  für 
Krist  erstmalig  urkundlich  belegt  im  „Lorscher  Bienensegen ^^  X.  Jahrh..  —  Kyrsta/nua, 
eapellatms  in  ElxUybin  (Elxleben)  1286. 

2)  Vgl.  Schmidt,  Geschichte  der  Pädagogik,  II,  S.  148 f.  —  Panlsen,  Ge- 
schichte des  gelehrten  Unterrichts  (1896),  S.  16  und  Beiträge  zur  Oberlehrerfrage  von 
Frickc  und  Eulenburg  (1903),  S.  6 — 7. 


—     305     — 

ist  wohl  identisch  mit  Chorea  Tanz  und  bezeichnet  den  Tänzer.  Ster- 
Teere  ist  die  umgelantete  Form  von  Siarchari  VIII.  Jahrh. ,  Starheri, 
Stercer,  jetzt:  Sterker,  besteht  ans  starc,  ahd.  starh,  starc  hart,  fest, 
und  hart,  und  bedeutet  der  standhaltende  Kämpfer. 

Der  Taufiiame  Eberhardus  begegnet  1290  zuerst  und  bedeutet 
„stark  wie  ein  Eber*';  den  ersten  Bestandteil  bildet  ehar,  ahd.  &mr, 
mhd.  eher,  der  Eber,  das  heilige  Tier  des  Jagdgottes  Fro  (altn.  JFVeyr), 
den  zweiten  hart;  mit  niederdeutschem  v,  also  als  Everhardus,  findet 
sich  der  Name  schon  1282  für  den  Propst  von  Hersfeld. 

Das  Geschlecht  derer  von  Witzleben  entstammt  dem  thüringischen 
Lande.  Ein  Friedrich  de  Wtcedeibin  tritt  1293 — 1361  auf,  sein  Tauf- 
name nimmt  eine  häufig  veränderte  Gestalt  an:  Fridericus,  Friderich, 
Friederich,  Fricee  und  Früe  (die  Koseform  zu  Friderich  =  Fridigo)^ 
ja  auch  die  aspirierte  Form  Fricsch  ist  vertreten.  Ebirlin  —  so  heilst 
sein  Sohn  —  ist  eine  Koseform  zu  ebar.  Dieser  Stamm  erscheint  im 
VII.  Jahrh.  mit  der  doppelten  Verkleinerungssilbe  l  (üo)  und  n  als 
Ebolenus  und  im  VIII.  Jahrh.  als  Euerlin.  Ein  Coppo  miles  kommt  1293 
vor.  Cobbo  oder  Coppo  IX.  Jahrh.,  auch  Choppo,  ist  eine  deutliche  zwei- 
stämmige Koseform  zu  verschiedenen  Vollnamen,  besonders  Godahert 
und   anderen  mit  i  oder  p  im  Anlaut  des  zweiten  Kompositionsteiles. 

Die  stattliche  Schar  ritterlicher  Personen  schlielsen  ab:  dominus 
Ounradus  de  Hdüis,  magister  Conradus  de  Bosla,  Ekkehardus  de  Tenne- 
stete  (Tennstädt  bei  Langensalza),  Ountherus  de  Tullestete  (wohl  von 
DöUstädt),  Berthold  von  Stedtenfeld,  Heinrich  gen.  von  ÄUdsUifen,  Lehns- 
träger des  Grafen  Günther  von  Schwarzburg,  sämtlich  1299  genannt, 
CHiniher  und  Friedrich  Gebrüder  von  Salza  (Langensalza)  1300,  sowie 
Berthold  von  Totelstedt  (Töttelstädt  bei  Gotha)  zu  Erfurt  1300. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  der  Geistlichkeit!  Es  tragen  die  hohen 
Würdenträger  neben  ihren  Adels-  und  Geburtsnamen,  wie  die  übrigen 
Geistlichen  und  die  Angehörigen  des  höheren  Lehrerstandes,  den  wir 
mit  anschlieisen  —  ist  doch  u.  a.  der  Titel  magister  beiden  Ständen 
völlig  gemeinsam  — ,  auch  im  XIII.  Jahrh.  mit  ganz  vereinzelten  Aus- 
nahmen nur  deutsche  Taufhamen.  Und  dasselbe  gilt  für  die  weib- 
lichen Namen  der  Äbtissinnen  und  Priorinnen;  Namen  von  Kloster- 
jungfrauen usw.  sind  in  Arnstadt  erst  im  folgenden  Jahrhundert  belegt. 

Als  erster  der  derici  tritt  Hugo,  Vorsteher  des  Klosters  St.  Wal- 
purgis  1220 — 1257,  und  1268  als  verstorben  genannt,  auf,  femer  1220 
Theoderich,  Propst  zu  Ichtershausen,  und  Herdenus,  Priester  zu  Arnstadt, 
Abt  Werner  von  Hersfeld  1246  und  dominus  Theodericus  Oldeszlebensis 
äbbas   1248.     Der  Vorsteher   des  Klosters    JJditershusen   heif 


—     306     — 

G.(oUschcdk)  ^) ,  der  Pfarrer  zu  Arnstadt  1253  — 1291   CSonrod  und  der 
Abt  von  Fulda  und  Hersfeld  1263  Henricus. 

Weiter  reihen  sich  an:  prepasiius  Henricus  de  Breümgen  1263, 
auch  Henricus  prepositua  de  BreiUngen  genannt,  nuigister  Erkenberius 
1263,  der  1266  magister  Erkinbertus  heilst,  und  magisier  Ludewicus, 
scokisticua  de  Ordorf  1263,  dem  bei  einer  anderen  Erwähnung'  der  Zu- 
satz magisier  fehlt. 

Herdenus  kommt  vom  Stamme  herod,  ahd.  hSroU  (=  princip€U%ts) 
oder  von  hart  und  lautet  im  VIII.  Jahrh.  Hardini,  Harduni,  und  vom 
IX.  Jahrh.  an  nrngelantct  Herdenus;  doch  können  auch  zwei  verscbie- 
dene  Bildungen  vorliegen.  Erkenbertus  gehört  zum  Stamme  erckan, 
ercan,  got.  airhns,  ahd.  ercan  (=  ingenuus,  genumus),  mit  der  Endung- 
bert,  Ercanbert  lautet  im  VII.  Jahrh.  Erkenbert,  Erchinbert,  kommt  ia 
Thüringen  und  Sachsen  sehr  selten  vor,  ist  sonst  zuerst  als  Bischofs- 
name und  in  romanischen  Ländern  als  Taufiiame  belegt  Der  Name 
des  1263  als  2^uge  vorkommenden  Klerikers  Hdwicus  (oder  Helewicus) 
Zucdo  ist  wieder  ein  Doppelname.  Helwicus  lautet  im  VIII.  Jahrh. 
HiUiwic,  Der  erste  Kompositionsteil  ist  gebrochen  und  hat  den  auslauten- 
den Konsonanten  verloren,  es  ist  der  jetzige  Name  Heibig  oder  Hel- 
wig,  der  aus  zwei  Kampfesworteü ,  hitt  und  wie,  zusammengesetzt  ist, 
wie  Haduwic,  das  übrigens  männlich  und  weiblich  ist.  Ein  Unikum 
ist  der  Name  Zucelo,  Förstemann  kennt  einen  Zuchüo  im  VI.  Jahrh. 
und  einen  Zuco,  welche  beide  am  besten  zum  Stamme  zog  von  tfiuJuiti, 
fuhren  {gogo  &»  Führer,  Herzog,  tnagezogo),  zu  stellen  sind;  Tmogo, 
Zogo  und  Zuogo  kommen  im  VIII.  Jahrh.  vor  und  aus  der  Diminutiv- 
silbe l  (ilo)  entsteht  Zugilo,  ZucUo,  Zucelo,  wobei  c  den  Wert  von 
k  hat. 

Gerlingis  —  seit  1272  als  Priorin  des  Klosters  St.  Walpurgis  ge- 
nannt —  ist  die  mittelniederdeutsche  Form  für  OerUndis;  im  VIII.  Jahrh. 
lautet  der  Name  Gerüinda,  Gerlind  (-is,  -a),  Gerlint  IX. — ^XFV.  Jahrh., 
der  erste  Teil  ist  ger,  der  zweite  lint  Schlange,  Drache,  ein  Wort,  das 
sich  als  SinnbUd  geheimnisvollen  Wesens  vielfach  in  weiblichen  Namen 
als  zweiter  Stamm  findet,  gerade  wie  drud.  Zum  Dialekt  vergleiche 
„finge"  statt  finden,  „Linge"  statt  Linde. 

Der  Kaplan  im  Walpurgiskloster  heilst  1272  Jacobus;  das  ist  ein 
alttestamentlicher  Fremdname  und  zugleich  Apostelname;  hebräisches 
Jaakob  bedeutet  der  Fersenhalter,  d.  i.  Nachgeborene  von  Zwillingen. 
Der  Propst  von  Hersfeld  1282  — 1307  heifst  Heinricus  Maiar,  wobei  der 


i)  über  die  AbkttnangeQ  vgl.  S.  256. 


—     807     — 

zweite  Name  »■  maiar  natu,  der  ältere,  sein  mag ;  es  liegt  hierin  wieder 
ein  Ansatz  znm  Familienhamen. 

Rudolfus  Huganis,  1294  Kanoniker  in  Erfurt,  ist  wieder  ein 
interessantes  Beispiel  für  die  Ausbildung  von  Familiennamen,  wie  sie 
bei  dem  Laien  Oriatanus  TtUhonis  ebenfalls  1294  oder  bereits  1266 
bei  dem  mües  Volpertus  Helbini  und  TheodericHS  Zacharie  1268  vor- 
kamen. Dieser  Zusatz  sollte  eigentlich  stets  im  Genetiv  stehen,  schon 
frühzeitig  findet  sich  aber  der  Nominativ.  Der  Genetiv  scheint  aus 
einer  Ellipse  von  fUitis  zu  erklären  zu  sein;  doch  wird  diese  naheli^ende 
Deutung  nicht  allseits  für  unbedingt  notwendig  erachtet  ^) ;  neben  den 
erwähnten  Grenetiven  haben  wir  auch  Nominative  bei  Hdewicus  Zuceto, 
IVidericus  Crtufh,  Qunfherus  didus  RichHr,  J.  Cappo,  Albertus  dictus 
Bendel,  OutUher  Banemcmn  u.  a.  Überhaupt  überwiegt  der  Nominativ 
bei  weitem  in  den  aus  altdeutschen  Einzelnamen  entstandenen  FamUien- 
namen,  wie  sich  auch  im  Gegensatz  zu  den  Taufnamen,  von  denen 
sie  doch  grundsätzlich  nicht  verschieden  sind,  bei  den  Familiennamen 
altdeutschen  Ursprungs  ein  bedeutendes  Übergewicht  der  Kurznamen 
über  die  Vollnamen  zeigt. 

JuUa  war  Priorin  des  Walpurgisklosters  1289:  zugrunde  liegt  wohl 
der  Stamm  psd  (nicht  Ooda,  Quda  =»  g^ut,  wovon  Chida  DC.  Jahrh., 
(hda  VIII.  Jahrh.,  Gtitta  DC.  Jahrh.  gebildet  wurde),  der  dem  Namen 
der  Juten  und  Jöthunen  (Riesen)  zugrunde  liegt.  Der  männliche  Name 
Judo  ist  im  DC.  Jahrh.,  der  weibliche  Judda  im  VIII.  Jahrh.,  auch  als 
JiUay  Jutta  bezeugt.  —  Osanna,  auch  eine  Priorin,  trägt  einen  Fremd- 
namen, der  aus  dem  Kirchengesang  Kyrie  eleison,  Osanna  (für  Ho- 
sianna) in  den  Namenschatz  übergegangen,  zuerst  769  bezeugt  ist  und 
sich  im  XIV.  Jahrh.  auch  in  Görlitz  findet. 

Entsprechende  Namenbildungen  sind  Grrätzschen  aus  Oraüas,  als 
Familienname  Chaiien,  oder  Ävemarg,  Avemartg,  jetzt  Familienname 
in  Gotha,  aus  Ave  Maria. 

Der  Familienname  PfaUsgraf  erscheint  —  1253  Sifrid  gen.  Phfal- 
lenggreve,  Vogt  zu  Arnstadt  —  zunächst  mit  dem  Zusätze  gena/nnt, 
von  1257  an  aber  lautet  der  Familienname  einfach  Pfalzgraf,  in  lateini- 
schen Urkunden  Palatinus.  Heinrich  Phanczgrefe  kommt  141 2  und 
Phanczgrefe  ohne  Vornamen  auch  141 2  vor!  —  Bonimannus  ist  1264 
noch  Taufname,  in  demselben  Jahre  aber  schon  als  Familienname  bei 
Qvntherus  Bonimannus  bezeugt.     Roni  kommt  vom  Stamme  run^  ahd. 


i)  Vgl.  Socin,   a.  a.  O.,   S.    i88   and  Je  cht  im  Neoea  i^iaiUitcheo  Magazin, 
^8.  Bd.  (1892),  S.  12. 


—     308     — 

riina  (Geheimnis),  alts.  rü/na  (Beratung),  ursprünglich  wohl  Zauberhand- 
lung,  ist  aber  nur  vereinzelt  in  männlichen  Namen  ^)  bezeugt     Uater 
cioes  Hersveldenses  wird  erwähnt   1263 — 1266  Bert(oldu8)  JUoneiarius, 
wobei  Monetarius  (Münzmeister,  Münzer)  schon  Familienname  ist    Da- 
gegen ist  bei  dem  1266  erwähnten  H^eodericus  Friso  monetarius  das- 
selbe Wort    wieder  Berufsbezeichnung.     Die   Schreibweise  des   Vor- 
namens schwankt  zwischen  i  und  (h,  wie  bei  Gtmterus  und  Guntherus, 
Renoldus  statt  des  richtigeren  Beindldus  wie  Henrieus  statt  Heinrious 
gehört  zu  got  ragin  (=  Rat,  Ratschlufs)  und  oU  waltend.     Wie  Hem^ 
rieh  aus  Haganrih  durch  Zusammenziehung  entsteht,  so  lautet  Reinoldus 
im  VI.  Jahrh.  Baginald  und  bedeutet  mit  klugem  Rate  waltend.    Bai- 
ndld(us),  Beinhöld,  Beinold  aus  umgelautetem  regin,  regen;  nur  selten 
kommt  dafür  Benold  vor,  doch  wird  diese  Form  erst  seit  dem  XIII.  Jahrh. 
gebräuchlich  und  bald  durch  den  Zwillingsbruder  Beinhcid  verdrängt  *). 
Ein  Ludwig  trägt  1263  den  Familiennamen  de  CapeUa  und  1266  <2e 
Capeßana  nach  irgendeiner  Kapelle,  in  deren  Nähe  er  wohnt.    Die  Form 
CapeiUana  ist  auffallend,  vielleicht  auch  nur  verschrieben;  daraus  entstan- 
den Familiennamen  wie  Kapelle  (Göttingen)  oder  Spittel  (Arnstadt),  die  an 
die  Wohnung  des  ersten  Trägers  bei  der  Kapelle  oder  beim  Hospital 
erinnern.      So    ist   auch   gewifs    der   adelige   Name    Qtmterus   dietu» 
Stipht  de  Amstete  (1248)  zu  verstehen. 

Ein  Hersfelder  Bürger  heiüst  1266  Craßho.  Das  ist  dasselbe  wie 
Crafto  und  bedeutet  einfach  starker  Mann;  dieser  einstämmige  Name 
ist  seit  dem  VIII.  Jahrh.  bezeugt.  Ob  in  der  bezeugten  Nennung^ 
ein  Familienname  ohne  Vornamen  oder  einfacher  Personenname  vor- 
liegt, bleibt  ungewiis. 

Der  1267  genannte  Gerthinger  ist  aus  Gerthingen;  der  Familien- 
name ist  also  aus  dem  Ortsnamen  abgeleitet,  aber  letzterem  liegt  selbst 
ein  Personenname  zugrunde,  denn  Qerthing,  Gerding  kommt  vom 
Stamme  gard,  got.  gards  Haus,  Gehöft,  Familie,  ahd.  gart.  Der 
Stamm  ist  als  erster  Kompositionsteil  in  Namen  selten,  kommt  aber 
seit  dem  VI.  Jahrh.  vor;  Gerding  ist  die  umgelautete  patronymische 
Form  statt  Garding  im  VI.  Jahrh.  Aufserdem  haben  wir  hier  ein 
sicheres  Beispiel  eines  reinen  FamUiennamens  ohne  Vornamen. 


i)  Fönte  mann  führt  32  anf  -run  anslantende  Fraueimamen  an:  Älbnm  (scboi» 
bei  Tacitas),  Qvdnm,  Fredentn  usw.;  Weissagung  war  ja  hauptsächlich  Fraaensache. 
Noch  jetzt  ist  in  Nordthüringen  der  Name  Runkunkel  im  Sinne  von  „alte  Geheimnis- 
krämerin"  verbreitet 

3)  Das  k  ist  volksetymologisch  wie  in  Berthold  statt  Bertolt  oder  im  Amstädter 
Flamamen  Rahenhold  fUr  Rabenwald  (RabenouU), 


—     309     — 

ülricus  Meichiildis  bedeutet  Ulrich,  Sohn  der  Maihilde,  und  ist  ein 
metrony mischer  Name  wie  Hans  Eisin  (Hans  Ehe)  und  Günther  Else ; 
doch  deutet  die  Nennung  der  Mutter  nicht  auf  uneheliche  Geburt, 
sondern  bezeichnet  die  vornehme  Stellung  der  Mutter.  Auffallend  ist 
die  Form  Meichiildis  statt  MeMUdis,  wie  sich  1291  Kneicht  statt  Kneht 
findet  Ounradus  cognamento  Scolaris  ist  Konrad  Schüler:  der  Zusatz 
cognomento  statt  des  häufigeren  didus  zeigt  den  folgenden  Familien- 
namen an;  Scolaris  oder  Schüler,  auch  Jünger,  steht  im  Gegensatz  zu 
Magister,  Meister.  Eckehardus  Vasämrger,  civis  in  AmsteU  (1272)  ist 
wohl  wie  Gerthinger  nach  seinem  Heimatsorte  benannt. 

Das  Jahr  1283  nennt  uns  fünf  consules:  Henricus  Schade  (auch 
Sehada  1320),  Ulricus  Schüebot,  Conradus  de  Gota,  Conraäus  Ulrici 
und  Heinricus  Ulrici.  Dazu  treten  Conradus  Saxo,  Gotfridus  Menteler, 
Conradus  Koufmannus,  Henricus  Ovener  und  1293  Heinrich  von  Am- 
stete,  Theoderich  genannt  Vanre  (auch  Dietrich  von  Vanre). 

Die  Namen  von  Amstete,  de  Gota,  genannt  Vanre  oder  von  Vanre 
sind  Ortsfamiliennamen.  Hier  ist  von  Amstete  büiger lieber  Name, 
bezeichnet  aber  ein  Glied  einer  hochangesehenen  Bürgerfamilie, 
während  ursprünglich  nur  den  adeligen  Familien  dieser  Name  zukam. 
Conradus  Saxo  trägt  einen  Volksnamen  als  Familiennamen.  Conradus 
Ulrici  ist  Konrad  Ulrich;  C^mradus  Koufmannus  ist  Konrad  Kaufmann, 
K.der  Kaufmann. — Schade  (Schada)  ist  gleich  Schade  {Scatto  im  VIII.  Jahrh.) 
und  hier  zum  Familiennamen  geworden.  Es  kommt  vom  Stamme  scada, 
ahd.  scado,  mhd.  schade  der  Schädiger,  Feind.  Schilebot  kann  nur  eine 
NeubUdung  aus  dem  nur  in  wenigen  Spuren  in  Namen  wie  in  Schiliolf 
erhaltenen  Stamme  scüdu  (got  shildus,  ahd.  sdÜ,  mhd.  schild  der  SchUd) 
und  bot  (bodo),  sein.  Die  Form  Schilebot  ist  verderbt  aus  SchiUbot, 
der  Kompositionsvokal  e  ist  häufig  in  lateinisch  abgefaüsten  Urkunden, 
aber  unorganisch  und  unnötig  erweiternd;  der  Sinn  ist  Schildgebieter 
oder  auch  SchUdkämpfer  wie  Marbod  (aus  mar  und  bod)  berühmter  Ge- 
bieter bedeutet;  doch  ist  nach  Socin  Marbod ^=iMeripaU>=i^l7tn6^axog. 
—  Mewtder  gehört  zum  Stamme  mand,  ahd.  mendar^,  mhd.  menden 
sich  freuen;  der  einstämmige  Name  Manto  kommt  im  VIII.  Jahrh.  vor, 
mit  l  (Ho)  als  JIfan^t2o,  und  die  patrony mische  BUdung  davon  ist 
Mandler,  Menteler  ^).  —  Ovener  erkläre  ich  als  lateinische  Schrei- 
bung für  Owener,  was  dann  ein  an  Ovoe,  Aue,  erinnernder  Ortsfamilien- 
name wäre. 


i)  MenM  ist  in  anderen  Fällen  Ablehnng  von  Immanael.    Bei  Menteler  könn' 
man  aach  an  mbd.  manUier  der  Trödler  denken. 

22* 


—     310     — 

In  Conradus  didus  Banso  und  dominus  didus  Canrcukis  Banso 
(1294)  ist  Banso  —  wie  Bendd  —  die  Koseform  zu  Band  (VI.  Jahrb.), 
Bandigo,  zusammengezogen  zu  Pango  VIII.  Jahrh.,  Pen$o,  Benjso,  und 
die  altd.  Nominativform  ist  zum  Familiennamen  geworden.  In  CWsto- 
nus  Tulhonis  ist  letzteres  wieder  ein  Beispiel  eines  zum  Familiennamen 
gewordenen  altd.  Namens  im  Genetiv :  TtUhonis  von  TtUho,  auch  Dudo, 
daraus  Dute,  Tute,  Thute  bis  um  1600,  von  da  an  Thaute;  CWstom» 
Tuihonis  ist  also  „Christian  Thaute*'. 

Zwei  Bauern,  rusHci  in  EhUeybin,  hei&en  1286  Henricus  didus 
de  Liberffin  und  Hdnricus  dictus  Grolle,  De  Libergin  ist  ein  Lokal- 
name als  Familienname,  noch  mit  dem  Zusatz  didus,  wie  ursprünglich 
in  den  Kreisen  des  Adels  und  vornehmen  Bürgertums,  von  denen 
aus  diese  Art  der  Namenbildung  immer  weitere  Kreise  zog.  GrosMe 
ist  eine  Zusammensetzung  aus  Gros  (Gro(s)  und  hole.  Letzteres  lautet 
im  IV.  Jahrh.  bald  und  erscheint  im  VIII.  Jahrh.  als  einstämmig'er 
Familienname  BaUo;  daraus  sind  u.  a.  die  modernen  Familiennamen: 
Bolte,  Bolle,  Bole,  Boll  entstanden.  Bald,  got.  baUhs,  ahd.  btüd,  mhd. 
baU  bedeutet  kühn,  tapfer,  schnell,  und  Grofsboll  ist  gebildet  wie 
Grofskunz,  Grotefend,  Kleingünther  u.  a. 

Wir  haben  die  Namen  unserer  Urktmden .  vom  An£amg  des 
VIII.  bis  Anfang  des  XIV.  Jahrhunderts  vorgeführt  und  unsere  ältesten 
Taufhamen  wie  die  großenteils  aus  ihnen  entstehenden  FamUiennamen 
besprochen.  Die  anderen  Familiennamen  sind  aus  Ortsnamen,  Be- 
nennungen nach  Amt  und  Würden,  charakteristischen  Eigenschaften 
usw.  hervorgegangen,  aber  überall  zeigt  sich  noch  ein  oft  recht  er- 
hebliches Schwanken  in  der  Schreibung.  Noch  endigen  die  meisten 
altdeutschen  Namen  auf -0  (fem-a),  OUo,  nicht  Otte,  Bruno,  nicht 
Brune  oder  Brun,  Craßho  statt  Krafl,  Jutta  statt  Jutte. 

Die  Doppelnamigkeit  mit  de  und  dem  Ortsnamen  kommt  zuerst 
1176  (Albert  de  Grumbach)  vor,  dann  bei  den  Grafen  von  Buch,  den 
Grafen  von  Schwarzburg  und  Käfemburg,  den  Herren  von  Amsiete  u.  a. 
seit  Anfang  des  XIII.  Jahrh.  Die  Hochadeligen  sind  stets  vollnamig, 
z.  B.  comes  Guntherus  de  Schwarzburg,  comes  Albertus  de  Glichen  oder 
greve  Hennan  von  Orlamunde,  ebenso  die  viri  neuntes,  aber  nicht  die 
Herzöge.  Die  milites  und  servi,  später  die  Bürger  (seit  Anfang  des 
XIII.  Jahrh.)  folgen  diesem  Beispiele  im  Durchschnitt  etwa  ein  Jahr- 
hundert später.  Die  Bischöfe  und  die  Geistlichen  führen  einfache 
Namen.  Zur  Regel  ward  also  fester  Familienname  haupt- 
sächlich aus  Rücksicht  auf  erblichen  Besitz  oder  erbliche 


—     811     — 

politische  Rechte.  Erst  später,  im  XTV.  bis  XVI.  Jahrh.  folgte 
der  Bürgerstand  in  den  Städten,  wo  die  bürgerliche  Ordnung 
und  das  römische  Recht  einen  festen  Familiennamen  verlangten, 
und  zuletzt  mufste  sich  auch  der  Bauernstand  der  Neuerung  anbe- 
quemen. 

Das  früheste  Beispiel  eines  Familiennamens  aus  unserer  Gegend 
ist  vir  nobiUs  nomine  Sigfridus  de  StuiUungen  1058.  Die  Namen  mit 
de  sind  in  Verbindung  mit  der  Bezeichnung  dominus  beim  Adel  am 
häufigsten.  Benennungen  wie  Herenfridus  sciMdus  1248  oder  Her- 
mannus  et  Henricus  prefedi  1263  sind  anfangs  noch  als  einnamig  zu 
rechnen  und  jünger  als  die  Bezeichnungen  mit  de\  beides  verbunden 
aber  findet  sich  in  Reinholdus  pincema  de  Lengisfeli  1266.  —  Die 
fSrühesten  bürgerlichen  Geschlechtsnamen  finden  sich  am  Rhein  (in 
Köln  zu  Anfang  des  Xu.  Jahrh.),  wo  die  Bevölkerung  damals  die 
stärkste  imter  allen  Gegenden  Deutschlands  war,  so  dafs  diese  beiden 
Erscheinungen  sicher  in  Zusammenhang  stehen.  Bei  uns  setzen  sie 
erst  seit  Mitte  des  XIII.  Jahrh.  ein.  Das  XII.  Jahrh.  ist  die  Blütezeit 
des  alten,  echten  Adels,  das  eigentliche  feudale  Jahrhimdert.  Der 
alte  Adel  ist  heutzutage  im  wesentlichen  nur  noch  in  den  Kaisern, 
Königen,  Herzögen,  Fürsten,  Grafen  und  Freiherren  erhalten,  doch 
sind  auch  von  diesen  viele  aus  dem  Dienstadel  hervorgegangen.     Im 

XII.  Jahrh.    bedeutet   Ritter   (milesj   noch    einen   Beruf,    mit   dem 

XIII.  Jahrh.  die  Zugehörigkeit  zu  einem  Stande.  Die  Städter  spielen 
bei  uns  im  XII.  Jahrb.  noch  keine  Rolle,  erst  mit  dem  Aufschwung 
von  Handel  und  Verkehr  seit  dem  XIIL,  besonders  XIV.  Jahrh.  Ein 
BiUer  taucht  bei  uns  zuerst  1223  auf,  1248  müites  und  servi;  mini- 
steriodes  werden  1268  erwähnt;  ein  miUs  noch  1301,  dann  verschwindet 
diese  Bezeichnung.  Im  strengen  Sinne  des  Wortes  sind  die  ministeriales, 
die  ebenfalls  „rittermäfsige  Leute '*  sind  und  mit  den  miZe^  rangieren, 
nur  solche  Adelige,  die  bestimmte  Ämter  haben:  Truchseis,  Schenk, 
Kämmerer,  Marschalk  und  Vitztum  (vicedominus),  Sie  sind  vornehmer 
als  die  Ritter,  sozusagen  die  Aristokratie  unter  ihnen,  stammen  gewifs 
auch  zum  TeU  von  ndbiles  ab  ').  Ihre  Macht  hob  sich  zur  Zeit  der  Staufer 
aufserordentlich,  sie  wurden  zum  Teil  selbst  Fürsten,  hielten  sich  selber 
eine  groise  Dienstmannschaft,  und  dadurch  vornehmlich  gelangte  der 
Ritterstand  zur  Blüte.  Gleichzeitig  mit  dieser  Hebung  des  Standes 
und  dem  tragischen  Ende  der  Staufer  verschwindet  auch  der  Ausdruck 
ministerialis,  bei  uns  ist  er  zuletzt  1268  belegt  und  zwar  mit  B^dÜuuur 


i)  Die  Tornehouten  sind  die  mintsteriales  imperti,  barones. 


—     S12     — 

auf  die  Hersfelder  Ministerialen.  Mües  aber  bedeutet  zunächst  den  zu 
Rosse  dienenden  Kriegsmann,  der  aber,  da  er  zugleich  Land  zu  Lehen 
trug,  wie  andere  Lehnsleute  über  Grundbesitz  verfugte.  Im  XIII.  Jahrfa. 
aber  bezeichnet  Ritter,  unabhängig  von  der  persönlichen  Stellung  der 
einzelnen  Person,  einen  Stand.  Ein  tniles  konnte  vorher  leibeigen 
sein,  verschenkt  und  vertauscht  werden  und  stand  somit  unter  dem 
Gemeinfreien,  im  XIII.  Jahrh.  aber  bekommt  er  den  Titel  dominus 
und  steht  in  den  Zeugenreihen  der  Urkunden  vor  den  Bürgern,  auch 
wenn  sie  Altfreie  sind.  Ja,  mancher  Adelfreie  (nobiUs,  nobiiis  vir)  ist 
auf  seine  Zugehörigkeit  zur  Ritterschaft  so  stolz,  dafs  er  sich  nicht  als 
ndbüis,  sondern  als  miles,  müüaris,  ministeriaUa  bezeichnet.  Die  Ritter- 
geschlechter aber  nannten  sich  bald  Edelleute  (ncbiles,  nobiles  viri), 
wie  es  bis  vor  kurzem  nur  den  freien  Herren  (liberi,  Uteri  domini) 
zugestanden  hatte.  Die  erbliche  Berechtigung  zur  Ritterwürde,  die 
Ritterbürtigkeit ,  hatte  die  alten  StandesbegrifTe  verwischt  und  neue 
geschaffen. 

Wenn  beim  alten  Adel  die  Standesbezeichnungen  wie  comes 
und  die  Prädikate  nobiiis  oder  edele,  liber  oder  vrie,  ingenuus  fehlen, 
so  sind  innere  Gründe  oder  die  Zeugenfolge  in  den  Urkunden,  wo  die 
nobües  vor  den  tnüitcs,  die  Bezeichnung  dominus  vor  dem  Namen, 
bei  geringeren  hinter  demselben  steht,  für  uns  Leitmotive.  Der 
Dienstadel,  gewöhnlich  durch  ministeriaUs  oder  miles  bezeichnet, 
hat  manchmal  diesen  Zusatz  nicht,  und  dann  ist  die  Entscheidung 
schwer,  ob  es  sich  um  einen  Altfreien  oder  einen  Stadtbürger  usw. 
handelt.  Tatsächlich  schwankte  die  Grenze  hier  sehr.  Wenn  der  Sohn 
eines  Ministerialen  nicht  Ritter  und  Lehnsträger  wurde,  konnte  er 
wieder  zum  Unfreien  hinabsinken;  arme  Freie  nahmen  mit  Freuden 
einen  Posten  als  Dienstmann  an;  reiche  Bürgersöhne  konnten  Ritter 
werden  und  dadurch  zum  Adel  emporsteigen.  Der  Knappe  hiels 
senms  oder  Jcnehi;  er  folgt  in  den  Urkunden  unmittelbar  auf  die 
miUies  >). 

Wenn  es  schon  vorkommt,  dafs  Hochadelige  und  Dienstmannen 
dem  Namen  nach  kaum  oder  gar  nicht  zu  unterscheiden  sind,  so  be^ 
steht  noch  gröfsere  Unsicherheit  zwischen  Ritter-  und  Bürgemamen. 
Geht  man  der  Sache  auf  den  Grund,  so  besteht  hier  der  ganze  Unter- 
schied ursprünglich  nur  darin,  dafs  die  Ritter  zum  auswärtigen  Kriegs- 


i)  Die  Bezeichnung  domieeUuSf  domieeüa,  ursprünglich  den  Kindern  des  alten 
Adels  gegeben,  bald  auch  den  RiUerbiirtigen,  kneht  später  „Edelknecht*^,  noch  später 
iuneherre  ist  ohne  Beispiel  bis  1300  in  unseren  Urkunden;  auch  serviens  (So ein 
S.  399)  statt  seiTtu  findet  sich  nicht 


—     813     — 

dienst,  die  Bürger  blols  zur  Verteidigung  der  Stadt  verpflichtet  sind, 
und  es  liegt  auf  der  Hand,  daüs  da  ein  Übergang  von  der  einen 
Klasse  zur  anderen  leicht  möglich  war  >).  Den  Titel  fwbüis  fuhren 
nur  Adelige,  auch  der  mües  ist  nach  der  Auffassung  des  XIII.  Jahrh. 
adelig,  ebenso  ursprünglich  der  domimts;  aber  schon  im  XIII.  Jahrh. 
fähren  auch  die  sogen.  Geschlechter  oder  Altfreien  diesen  Titel. 

Heutzutage  pflegt  man  die  Bezeichnung  van  als  sicheres  Zeichen 
des  Adels  aufzufassen ;  doch  im  Mittelalter  verhielt  sich  das  noch  nicht 
so,  wie  ja  auch  heute  noch  das  holländische  und  niederrheinische  vcm 
nicht  Zugehörigkeit  zum  Adel,   sondern  nur  die  Herkunft  bezeichnet 

Da  gab  es  neben  dem  de  oder  van,  was.  ja  bei  Adeligen 
gewaltig  überwiegt,  doch  auch  vereinzelte  müües,  welche  kein  de 
fähren,  wie  Eüherus  mües  1268  und  J.  Cappa  tniles  1293  zeigen. 
Andrerseits  tragen  es  auch  Bürger :  de  Amsteie,  die  bürgerliche  Linie, 
de  Suldhe,  van  Siebeleben  1277  oder  de  Sebeleiben  noch  1320,  de 
Ghtha*),  van  Vanre,  wenn  es  auch  gegenüber  dem  Adel  nur  eine 
Minderheit  ist,  und  schliefslich  auch  ein  Bauersmann :  Henricus  dictum 
delAbergin  1286;  allerdings  modifiziert  hier  der  Zusatz  dictus  gewisser- 
mafsen.  Nach  der  Lage  der  Behausung  benannte  Personen  tragen 
ebenfalls  das  de,  so  de  Capdla  1263  in  Hersfeld  und  dominus  Otto 
de  Curia  1280. 

So  ergibt  sich  ein  doppelter  Sinn  des  Vorwortes  de\  es  bedeutet 
entweder  „aus",  bezeichnet  also  blofs  den  Herkunfts-  oder  Wohnort, 
oder  es  heifst  so  viel  wie  „von"  und  zeigt  das  Bestehen  eines 
FamUiennamens  an.  Seit  dem  XIII.  Jahrh.  ist  ein  bürgerlicher  Name 
mit  de  (von)  keine  Seltenheit  mehr,  und  ein  Standesunterschied  in  der 
Namengebung  nicht  vorhanden:  Hochadel,  Ritter,  Bürger  und  Land- 
bewohner haben  die  Partikel  de,  während  sich  die  Neuzeit  Namen  wie 
von  Rhein,  von  Ende  —  auch  Vonende  geschrieben  —  von  Busch  kaum 
als  bürgerliche  denken  kann.  Die  hurgensea  12676'.,  später  cives,  be- 
zeichnen die  altfreien,  in  der  Stadt  ansässigen  gentes  (Greschlechter), 
besonders  die  ratsiähigen;  ihnen,  wie  ursprünglich  den  Adeligen, 
kommt  der  Titel  dominus,  her  —  auch  er  geschrieben  —  zu;  dann 
bezeichnet  civis  auch  den  Handwerker  und  allgemein  den  Städter. 

Jedenfalls,  weil  die  Namen  mit  van  für  den  Gebrauch  und  bei 
der  Biegung  sich  zu  schwerfallig  erwiesen,  bildete  man  seit  der  Mitte 
des  XIII.  Jahrh.  auch  gleichbedeutende  Namen  auf  -er,  wie  Gerthinger 


i)  Hensler  bei  So  ein  S.  301. 

2)  Aber  Theoderich  von  Chtha,  Ritter,  1267,  A.  U.  31. 


—     314    — 

1267  und  Vasfburger  1272.  Und  diese  Bildungen  machten  dann  in 
den  folgenden  Jahrhunderten  reifsende  Fortschritte,  während  das  van 
bei  Familiennamen,  die  mit  Hilfe  eines  Ortsnamens  gebildet  wurden, 
inmier  mehr  schwand.  Gleichzeitig  findet  sich  auch  der  blofise  Orts- 
name als  Familienname,  eine  Form  der  Familiennamen,  die  am  Rhein 
heute  noch  vorherrscht :  ein  Bürger  Arnstadts  heifet  einfach  WiUleben, 

Die  Übertragimg  der  Beinamen  vom  Vater  auf  den  Sohn,  das 
Festwerden  derselben  in  der  Familie  und  ihre  Vererbung  von  Ge- 
schlecht zu  Geschlecht  ging  von  Italien  aus,  wo  schon  im  IX.  Jahrh« 
Familiennamen  vorkommen  (in  Vehedig  809,  zu  Mailand  882)  und 
verbreitete  sich  vom  Rhein  und  Süddeutschland  immer  mehr  nach 
Norden:  in  Köln  traten  zuerst  1106  Familiennamen  auf,  in  Zürich  und 
Basel  um  die  Mitte  des  XII.  Jahrh.  (1145,  bezw.  1168),  desgleichen 
in  Mainz  und  Worms,  anfange  des  XIII.  Jahrh.  in  Frankfurt  a.  M.  Um 
die  Mitte  des  XIII.  Jahrh.  werden  sie  erblich  in  Mitteldeutschland 
(Arnstadt,  Erfurt,  Nordhausen),  in  Lippe,  Hamburg  (hier  schon  Ansätze 
am  Anfang  des  XIII.  Jahrh.),  in  Mecklenburg,  Schlesien  und  in 
Luxemburg;  in  Quedlinburg  zeigt  sich  schon  zwischen  1 184  und  1203 
die  erste  Spur,  ein  Festwerden  ebenfalls  erst  um  die  Mitte  des 
XIII.  Jahrh.  (1244);  um  letztere  Zeit  endlich  auch  in  Riga.  Der  Ent- 
Wickelung  in  der  Stadt  folgt  naturgemäfs  erst  später  die  auf  dem 
Lande,  und  dabei  haben  die  besitzenden  vornehmen  Bürger  den  Vor- 
rang; ihnen  folgen  Ritter,  Geistliche  und  Handwerker;  im  allgemeinen 
geht  dann  während  des  XIV.  und  XV.  Jahrh.  der  Abschluß  vor  sich, 
wenn  auch  ein  Wechsel  der  Familiennamen  noch  oft  zu  beobachten 
ist  Eine  Ausnahme  bilden  die  Juden,  bei  denen  erst  seit  150 — 100 
Jahren,  in  Österreich  teilweise  noch  später  infolge  behördlicher  Ver- 
ordnungen an  die  Stelle  der  ursprünglichen  Einnamigkeit  feste  Familien- 
namen getreten  sind. 

Die  Tauf-  und  Familiennamen  sind  zum  weitaus  gröüsten  Teile 
deutscher  Herkunft.  Das  VIII.  Jahrh.  bietet  unter  9  Namen  unserer 
Urkunden:  8  germanische  (die  männlichen:  Heden,  Thuring,  Childe- 
bert,  Willibrord,  Rocchus,  Doda,  Karulus,  wie  den  weiblichen  Theo- 
drat)  und  nur  einen  Fremdnamen  (Laurentius) ;  das  X.  Jahrh.  die  4 
germanischen:  Otto,  Liudolf,  Frithuricus,  Willielmus;  das  XII.  Jahrh. 
nur  germanische,  und  zwar  13  Träger  männlicher  Namen:  Heinrich 
(3),  Ekkenbert,  Edelher,  Albert,  Sigfrid,  Friedrich,  Adelold,  Beringer, 
Gottfried,  Conrad  und  Gebhard. 

Im  XIII.  Jahrh.  treten  auf  233  Personen  mit  folgenden  Namen, 
wobei  die  Nebenformen  unberücksichtigt  bleiben: 


—     315     — 

Gerlacus  (2); 
Gerwicus  (2); 
Gothfredus  (2); 
Hartungus  (2); 
Kunemundus  (2); 
Rudolfus  (2); 
Wemherus  (2); 
Volpertus  (2); 
Arnoldus  (i); 
Bruno  (l); 
Berno  (i); 
Ditmarus  (i); 
Eberlin  (i); 
Eltwin  (i); 
Erkenbertus  (i); 


Heinrich  (46); 

Guntherus  (17); 

Conrad  (17); 

Theodericus  (14); 

Albertus  (12); 

Hermannus  (11); 

Bertolfdus]  (10); 

Ludwig  (10); 

Fridericus  (9); 

Otto  (8); 

Ulricus  (6); 

Ekehardus  (3); 

Eilherus  (3); 

Ludolphus  (3); 

Rudigerus  (3); 

Eberhardus  (2);  Ernst  (i); 

Dazu  kommen  7  weibliche  Namen,  ebenfalls  deutschen  Ursprungs : 
Adelheid  (2);  ;  Gerlindis  (i);  ]  Luckard  (i); 


Gerardus  (i); 
G.[ottschalk]  (i); 
Helwicus  (i); 
Herdenus  (i); 
Herenfridus  (i); 
Hugo  (1); 
Lupoid  (l); 
Raspo  (i); 
Renoldus  (i); 
Ronimannus  (i); 
Sifridus  (i); 
Walther  (i); 
Wilh[elmus]  (i). 
Zusammen  211. 


Mechtildis  (i). 


Gerdrudis  (i);  Jutta  (i); 

Ihnen  gegenüber  stehen  nur  wenige  Fremdnamen 
liehe  und  4  weibliche  —  nämlich: 


8  männ- 


Johannes  (3) ; 


Cristianus  (4); 


I  Jacobus  (i); 


sowie : 


Elisabeth  (2);  |  Osanna  (i);  |  Sophie  (i). 

Au&erhalb  stehen  drei  Personen  —  2  männliche  imd  i  weib- 
liche —  ohne  Vornamen.  Das  ergibt  ein  Verhältnis  von  etwa  18 :  i 
oder  rund  95  \  deutsche  Namen,  5  %  Fremdnamen. 


Wie  sich  in  den  nächsten  sechs  Jahrhunderten  die  Namengebung 
ändert  und  mehr  und  mehr  kirchliche  Namen  aufkommen,  davon  ein 
ander  Mal! 


Mitteilungen 

Archive.    —    Zum    österreichischen    Archivwesen*).      Der 
grofse  Aufschwung  der  Geschichtswissenschaft  im  verflossenen  Jahrhundert  kam 

i)  Diese  AnsflÜmiiigen  eioet  ötterreichiscfaen  Archivdirektors  sollen  deo 
Giannoni,  Staatliches  Arehivfcesen  in  Österreich  oben  S.  97—116  er 
Einzelheiten  aach  berichtigen. 


—     316     — 

auch  dem  lange  stiefinütterlich  behandelten  Archivwesen  sehr  zugute.  Je 
breiter  und  je  tiefer  die  Forschtmg  griff,  desto  mehr  wurde  die  Bedeutung 
der  Archive  gewürdigt.  Sie  galten  mit  Recht  wieder  als  die  vomehmsteOf 
wissenschaftlichen  Zeughäuser,  von  deren  Leistungsfähigkeit  die  Resultate  der 
Forschung  oft  ganz  wesentlich  abhängen. 

Von  der  erhöhten  Wertschätzung  der  Archive  zogen  zunächst  die  gro&en, 
reichhaltigen  Staatsarchive  den  besten  Nutzen  für  ihre  eigene  Entwickelung. 
Aber  nach  imd  nach,  wenn  auch  ziemlich  spät,  war  auch  bei  den  verschie- 
denen Behörden,  namentlich  bei  denen  der  Verwaltung  in  Bezug  auf  ihre 
Verhandlungen  tmd  Entscheidungen  die  Wiederkehr  des  seit  der  Aufklärungs- 
periode  zu  Ende  des  XVIIL  Jahrhunderts  verloren  gegangenen  historischen 
Sinnes  deutlich  zu  verspüren.  Sie  greifen,  insbesondere  seit  etwa  zwei  Jahr- 
zehnten, immer  häufiger  auf  alte  Rechte  imd  Verhältnisse  zurück;  zum  min- 
desten werden  diese  mit  anerkennenswertem  Eifer  studiert,  und  dieser  Umstand 
bringt  den  alten  Registraturen  der  Oberbehörden,  zum  Teil  auch  solchen 
untergeordneter  Ämter  die  lange  vermifste  Anerkennung  ihres  Weites  zurüdL 
Hatte  man  in  Osterreich  die  Bestände  der  Registraturen  noch  vor  gar 
nicht  langer  Zeit  nicht  selten  barbarisch  und  zum  Unglücke  auch  wahUos 
dezimiert,  so  werden  sie  jetzt  allmählich  in  wirkliche  Archive,  d.  h.  in  selb- 
ständige, von  wissenschaftlich  gebildeten  Fachleuten  verwaltete  Anstalten 
umgewandelt  oder  bestehenden  Archiven  einverleibt  Manche  dieser  Archive 
ziehen  alles  nächstgelegene,  noch  brauchbare  Urkimden-  und  Aktenmaterial 
systematisch  an  sich,  um  es  wieder  der  archivalischen  Verwertung  zuzuführen. 
Ihrem  Inhalte  nach  sbd  diese  Archive  berufen,  in  gleichem  Mafse  der  Ver- 
waltung tmd  der  Wissenschaft  zu  dienen. 

In  Osterreich  steht  diese  zweite  Gattung  von  Archiven,  zu  welchen  die 
meisten  Staats-  und  Landesarchive  gehören,  erst  am  Beginne  ihrer 
Entwickelung.  Vordem  gab  es  eigentlich  nur  drei  wiridiche  Staatsarchive  und 
kaum  ein  Landesarchiv  ^).  Diese  Staatsarchive,  besser  vielleicht  Reichsarchive, 
sind  das  Haus-Hof-  und  Staatsarchiv,  das  Hofkammerarchiv 
und  das  Kriegsar  chiv  in  Wien.  Sie  verwahren  der  Hauptsache  nach  die 
Archivalien  der  grofsen  Zentralbehörden  für  die  ganze  Habsbuiger  Monarchie. 
Entsprechend  der  dualistischen  Gestaltung  derselben  seit  1867  zählen  sie  jetEt 
zu  den  für  beide  Staaten,  Osterreich  und  Ungarn,  gemeinsamen  Institutionen. 

Für  das  österreichische  Archivwesen  konmien  die  zwei  erstgenannten 
Anstalten  nur  soweit  in  Betracht,  als  sie  im  Laufe  der  Zeit  viele  rein  öster- 
reichische Bestände  angesammelt  haben  und  als  auch  österreichische  Staats- 
archive noch  manches  enthalten,  was  besser  im  Haus-Hof-  tmd  Staatsarchiv 
nihen  würde. 

Von  den  drei  erwähnten  Reichsarchiven  ist  bis  heute  eigentlich  nur  das 
Kriegsarchiv  organisatorisch  voUkonmien  ausgestaltet  Die  Einheidichkeit 
tmd  natürliche  Abgrenztmg  seiner  Bestände,  sowie  die  sehr  erfolgreidi 
durchgeführte  Verpflichttmg  des  Archivpersonales  zu  ihrer  systematischen 
Bearbeittmg  verbürgen  die    rasche   tmd   sichere   Erreichtmg   des   zweifachen 

i)  Der  in  den  allgemeinen  Zeitverhältnissen  begründete  Tiefstand  des  öster- 
rachiscfaen  Ardiivwesens  beginnt  nngtfiUir  mit  dem  Anfange  des  XIX.  Jahrfannderts. 
Wikrend  der  vorausgehenden  drei  Jahrhanderte  dagegen  erfireate  sick  das  staatlicke,  sooi 
Teil  auch  das  ständische  and  private  Archivwesen  an  vielen  Orten  sorgsamer  Pflege. 


—     317     — 

Endzweckes  ebes  jeden  Archives  und  sichern  dem  Kriegsarchive  die  erste 
Stelle  unter  allen  staatlichen  und  nichtstaatlichen  Archiven  des  Kaiserstaates. 
Jeder  Fachmann,  der  Gelegenheit  hatte,  die  vollendete  Organisation  dieses 
Institutes  zu  erproben,  wird  dankbar  desselben  gedenken  und  vielleicht  mit 
einigem  Neide  erfüllt  sein  ^). 

Die  ausschliefslich  österreichischen  Archive  teilen  sich  in  staatliche 
und  nichtstaatliche  Anstalten*).  Die  ersteren  sind  entweder  Archive 
der  Zentralstellen  (Nfinisterien)  oder  Staatsarchive  bei  den  Kronlandsregierungen 
(Provinzial-Staatsarchive).  Dazu  gehören  das  allgemeine  Archiv  des 
Ministeriums  des  Innern  und  das  Adelsarchiv  desselben,  die 
aber  beide  miteinander  in  keinem  sachlichen  Zusammenhang  stehen,  das 
Archiv  des  Ministeriums  für  Kultus  und  Unterricht,  das  Archiv 
des  Finanzministeriums,  das  Archiv  des  Eisenbahnministeriums 
und  die  Archive  bei  den  Landesregierungen  (Statthakereien)  in 
Wien,  Salzburg,  Innsbruck,  Prag  und  Zara.  Justiz-,  Handels-, 
Ackerbau-  und  Landesverteidigungsministerium  haben  kein  Archiv.  Ebenso- 
wenig bestehen  flir  die  Klronländer  Oberösterreich,  Steiermark,  Kärnten,  Krain, 
Küstenland,  Mähren,  Schlesien,  Galizien  und  Bukowina,  also  für  die  Mehr- 
zahl derselben,  Staatsarchive.  Angesichts  der  bekannten  mafsgebenden  Bedeutung 
der  Staatsarchive  bei  den  Provinzialregierungen  als  natürlichen  Mittelpunkten 
des  ganzen  Archivwesens  eines  Landes  erhellt  schon  daraus,  wie  weit  der  Staat 
hier  in  der  Erfüllung  seiner  Aufgabe  im  Rückstande  ist  Wir  kommen  weiter 
unten  noch  darauf  zu  sprechen.  Wer  z.  B.  die  Organisation  und  Wirk- 
samkeit der  Provimdal-Staatsarchive  Bayerns  und  Preufsens  kennt,  würde  es 
kaum  für  möglich  halten,  dafs  nicht  auch  in  Österreich  längst  bei  jeder 
Landesregierung  ein  Staatsarchiv  besteht,  ähnlich  wie  dort  die  Kreis-  bezw. 
Staatsarchive  in  den  Provinzen.  Gerade  diese  traurige  Bedürfeislosigkeit 
weist  auf  einen  der  schwersten  noch  vorhandenen  Mängel  im  österreichischen 
Staatsarchivwesen  hin  *). 

Die  nichtstaatlichen  Archive  lassen  sich  in  vier  Gruppen  zusammen- 
fassen: Landesarchive  und  Kommunalarchive,  kirchliche  und 
private  Archive. 

Von  allgemeinerer  Bedeutung  für  Wissenschaft  und  Verwaltung  sind  nächst 
den  Staatsarchiven  die  Landesarchive,  d.  s.  die  Archive  beiden  auto- 
nomen Verwaltungen  der  einzelnen  Königreiche  und  Länder.    Solche  bestehen 

i)  In  baulicher  Hinsicht  überragt  dagegen  das  Haas-,  Hof-  nnd  Staatsarchiv  mit 
seiner  neuen,  geradeso  luxuriösen  Ausstattung  und  Einrichtung  derzeit  wohl  die  meisten 
europäischen  Archive.  Vgl.  darüber  Q.  Winter,  Das  neue  Gebäude  des  k.  u.  k.  Haus-, 
Hof-  und  Staatsarchivs  zu  Wien  (Wien,  C.  Gerold,  1903). 

2)  Der  Reichsrat,  die  österreichische  Volksvertretung,  besitzt  je  ein  Archiv  für  das 
Herrenhans  nnd  fitr  das  Abgeordnetenhaus;  doch  entbehrt  hier  der  Beamtenkörper 
ansckeinend  der  für  den  Archivdienst  sonst  durchgehends  verlangten  MrissenschaftUdicn 
Fachbildung. 

3)  VgL  darüber  meine  Ausführungen  Ober  staatliches  Archivwesen  in  Oster- 
reich in  der  Zeitschrift  für  Volkswirtschaft,  Sozialpolitik  und  Verwaltung  (1903)  Xu,  ii6fF., 
welche  auch  in  dieser  Zeitschrift  IV,  S.  316  f.  zustimmend  besprochen  wurden,  und  neuestetts 
die  Abhandlungen  von  K.  Giannoni,  StaaÜiehes  Archivtcesen  in  (Merreieh  in  dieser  Zeit- 
schrift oben  S.  97  ff.,  sowie  Osw.  Redlich,  DoBÄrehivtresenin  Österreich  in  denMitteilungen 
der  dritten  (Archiv-)  Sektion  der  k.  k  Zentral-Kommission  etc.  (1904)  VI,  i.  if.  Auf  beide 
Abnhadlnngen  komme  ich  wiederholt  zurück. 


—     318     — 

in  Wien,  Linz  (seit  i.  September  1896),  Graz,  Klagenfiiit  (seit  i.  Januar  1904}, 
Görz,  Innsbruck  (seit  i.  September  1902),  Bregenz  (seit  1899),  Prag,  Brünn^ 
Troppau,  Lemberg  und  Krakau.  Diese  Landesarcbive  sollen  der  Natur  der 
Sache  nach  den  archivalischen  Niederschlag  der  alten  Landstände  und 
ihrer  gesetzlichen  Nachfolger,  der  autonomen  Landesvertretungen 
aufbewahren.  In  jenen  Ländern,  wo  keine  Staatsarchive  bestehen,  greifen 
sie  allerdings  nicht  selten  weit  über  ihre  unmittelbare  Aufgabe  hinaus,  indem 
sie  sich  bemühen,  das  fehlende  Staatsarchiv  zu  ersetzen.  So  nützlich  unter 
den  gegebenen  Verhältnissen  auch  diese  Seite  der  Wirksamkeit  sein  mjig, 
so  wird  doch  die  zur  Zeit  in  Österreich  viel&ch  herrschende  archivalische 
Konfusion  dadurch  eher  gemehrt  ab  gemindert 

Die  hervorragendsten  Landesarchive  sind  jene  in  Graz,  Prag,  Wien  '), 
Brunn  ^)  imd  die  galizischen  Grod-  und  Landschaftsarchive  in  Lemberg  und 
Krakau,  welch  letzteren  auch  die  Gerichtsarchivalien  überwiesen  sind,  weü 
die  Gerichte  auch  die  polnischen  Landtagsbeschlüsse  zu  registrieren  hatten« 
Das  steiermärkische  Landesarchiv  in  Graz  erfreut  sich  von  allen  diesen  der 
besten  und  fortgeschrittensten  Organisation.  Über  Geschichte  und  Bestände 
desselben  orientiert  das  trefifliche  Büchlein :  Das  steiermärkische  Landesarchir 
XU  Orax.  Zum  25.  Jahre  seines  Bestehens  von  J.  v.  Zahn  (Graz  1893). 
Die  Ordnung  der  Urkunden ,  die  J.  v.  Zahn  hier  zuerst  durchführte  *),  ist 
für  manche  andere  Archive  vorbildlich  geworden.  Im  Jahre  1898  begann  das 
Archiv  imter  dem  Titel  Publikationen  aus  dem  sieiermärhischen  Landes^ 
archive  die  Veröffentlichung  seiner  Inventare.  Keines  der  österreichischen 
Staatsarchive  wäre  in  der  Lage,  diesem  Beispiele  zu  folgen,  da  ihre 
Bestände  vielleicht  noch  ein  oder  mehrere  Jahrzehnte  intensiver  Ordnungs- 
arbeit bedürfen,  bis  eine  auch  nur  teilweise  Inventar- Veröffentlichtmg  auf 
ziemliche  Vollständigkeit  Anspruch  erheben  kann  und  somit  bleibenden  Nutzen 
gewährt  ^).  Eine  besondere  Eigenart  des  böhmischen  Landesarchives  in  Prag 
ist  die  eifrige  Sammlung  aller  auf  Böhmen  bezüglichen  auswärtigen  Archivalien 
in  Abschriften,  wofür  das  Land  reiche  Mittel  beistellt 

Im  raschen  Aufblühen  begriffen  sbd  die  in  den  letzten  Jahren  erstan» 
denen  Landesarchive  für  Oberösterreich  in  Linz,  für  Vorarlberg  in  Bregenz 
und  für  Tirol  in  Innsbruck. 

Mittelbar  wirkte  allerdings  auf  die  Entstehung  dieser  drei  Archive  die  seit 
1893    teilweise  in  Angriff  genommene  staatliche  Archivorganisation  ein,  un- 


i)  Vgl.  A.  Mayer,  Das  Archiv  und  die  Registratur  der  niederösterreiekis^ten 
Stände  von  1518 — 1848  (Jahrbuch  des  Vereins  für  Landeskunde  van  Niederösterreich  1903 
und  im  Sonderabdruck) ,  besprochen  in  dieser  Zeitschrift  oben  S.  59  f.  Man  möchte 
dem  sehr  verdienstlichen  Büchlein  nur  mehr  ÜbersichÜichkeit,  gröfsere  Kürte  und  weniger 
Druckfehler  wünschen. 

2)  VgL  J.  Chytil,  BericiU  über  das  mähr.-atänd,  Landesarehiv  (Brunn  1858)  und 
die  bei  O.  Redlich,  a.  a.  O.  S.   12  gegebenen  Notizen. 

3)  Siehe  J.  Zahn,  Über  die  Ordnung  der  Urkunden  am  Arcfiive  des  st.  l.  Joan- 
neums  in  Grax  (Graz  1867). 

4)  Auch  die  vom  österreichischen  Archivrate  in  seiner  Sitzung  vom  18.  April  1898 
empfohlene  Herausgabe  von  summarischen  Inventaren  der  Staatsarchive  halte  ich  noch 
Air  lange  Zeit  aus  verschiedenen  Gründen  für  eine  bedenkliche  Sache.  Weder  der  Wissen- 
schaft noch  der  Verwaltung  dürfte  jener  Nutzen  erwachsen,  der  die  Kosten  der  Heraus- 
gabe rechtfertigen  könnte.  Vorbildlich  müssen  doch  die  Karlsruher  Inventare  (vgl 
diese  Zeitschrift  3.  Bd.,  S.  23)  bleiben.    Dazu  ist  in  Österreich  noch  ein  sehr  langer  Weg. 


—     319     — 

mittelbar  hängt  sie  jedoch  mit  dieser  nicht  zusammen,  da  dieselbe  unab- 
hängig vom  Archivrate  und  ohne  seine  Intervention  zustande  kam.  Nur  für 
die  im  wesentlichen  gleichlautenden  Archiv-Ordnungen  der  Landesarchive  in 
Linz,  Bregenz  und  Innsbruck  dienten  die  trefflichen  Grundsätze  einer  Archiv- 
Ordnung  für  die  dlem  k,  k,  Ministerium  des  Innern  unterstehenden  ÄrcMve 
vom  2.  Juli  1895  im  grofsen  und  ganzen  als  Vorlage,  nicht  aber  ohne  dafs 
sie  mit  Rücksicht  auf  die  besonderen  Verhältnisse  und  Bedürfiiisse  und  auf 
Grund  der  reichen  Erfahrungen  zahlreicher  gleicher  Anstalten  des  Deutschen 
Reiches  tmd  Österreichs  geändert  und  in  wichtigen  Punkten  erweitert  worden 
wären  ').  Selbstverständlich  wurde  auf  die  Bestellung  wissenschaftlich  und  fistch- 
lich  gebildeter  Landesarchivare  in  erster  Linie  Bedacht  genonmien. 

Die  Entwickelung  der  neugeschaffenen  Landesarchive  in  Linz,  Bregenz  und 
Innsbruck  vollzieht  sich  sehr  rasch  und  in  sehr  glücklicher  Weise.  Das  langsame 
und  durch  allerlei  leidige  finanzielle  Hindemisse  gehemmte  Tempo  der  wenigen 
neu  organisierten  Staatsarchive  wurde  von  diesen  schon  weit  überflügelt.  Bei 
den  Landesarchiven  herrscht  eben  eine  stärkere  Initiative  der  beteiligten  mais- 
gebenden Faktoren. 

Über  die  in  wenigen  Jahren  erreichte  Höhe  der  Ausgestaltung  geben  die 
neuesten  Veröffentlichungen  den  besten  Aufschlufs  ^).  Derartige  Rechenschafb- 
berichte,  verbunden  mit  einer  kurzen  Geschichte  der  Anstalt  und  einer  Übersicht 
der  Bestände  gehören  überhaupt  zu  den  wichtigsten  und  vorläufig  auch  leicht 
erreichbaren  Orientierungsmitteln  für  die  Wissenschaft  und  Verwaltung.  Leider 
mangeln  solche  für  die  organisierten  österreichischen  Staatsarchive  mit  Aus- 
nahme einer  jetzt  gänzlich  veralteten  Publikation  über  das  Innsbrucker  Staats- 
archiv ÜEtöt  vollständig  ^). 

Die  Landesarchive  in  Innsbruck  und  Bregenz  stellen  sich  auch  die 
besondere  Aufgabe,  eine  Regelung  des  noch  sehr  im  Argen  liegenden 
Gemeinde-Archivwesens  in  Tirol  imd  Vorarlberg  anzubahnen. 

i)  Das  möchte  ich  gegenüber  der  nicht  vollkommen  zutreffenden  Darsiellang  O. 
Redlichs,  a.  a.  O.,  S.  13  bemerken.  —  Ich  darf  wohl,  ohne  anbescheiden  zu  sein,  erwähnen, 
dafs  die  Archivordnungen  fUr  Linz,  Bregenz  und  Innsbruck  von  mir  entworfen  und  in 
mehrfachen  Beratungen  von  den  zuständigen  Faktoren  auch  genehmigt  worden  sind.  Das 
Linzer  Archiv  verdankt  seine  Entstehung  wesentlich  den  Bemilhnngen  des  damaligen  Landes- 
ausschufsreferenten  Julius  Strnadt.  Die  zu  schaffende  Organisation  wurde  vom  Vor- 
stande des  Grazer  Landesarchives,  welches  dem  in  Linz  zum  Vorbild  dienen  sollte,  vom 
Wiener  Archivdirektor  A  Starzer  und  der  k.  k.  Zentralkommission  für  Kunst-  und 
historische  Denkmale  in  Wien  geprüft  und  gutgeheifsen.  In  Bregenz  gebührt  das  Haupt- 
verdieost  der  energischen  und  sachkundigen  Durchführung  meiner  Vorschläge  dem  Landes- 
hauptmann A.  Rhomberg,  in  Innsbruck  der  Tätigkeit  Prof.  J.  Hirns  und  der  des  Landes- 
ansschufsreferenten  Dr.  K.  Fusch. 

2)  F.  Krackowizer,  Das  oberösterreiehisehe  Landesarehiv  xu  TAnx.  Seine 
Entstehung  tmd  seine  Bestände  (Linz  1903)  und  V.  Kleiner,  Dcts  Vfyrarlberger 
Landesarchiv  (Sonderabdruck  aus  dem  41.  Jahresberichte  des  Vorarlberger  Museums- 
Vereins  und  aus  den  Mitteil,  der  dritten  (Archiv-)  Sektion  der  k.  k.  S^entral-Kommission 
VI,  (1904)  107  ff.).  Beide  Arbeiten  sind  vorzügliche  Zusammenfassungen ,  welche  von 
der  regen  archivalischen  Tätigkeit  und  dem  herrschenden  vollen  Verständnis  für  die  Auf- 
gaben dieser  Landesarchive  Zeugnis  ablegen.  Über  die  Entwickelang  des  Tiroler  Landes- 
archives dürfte  bald  eine  ähnliche  Übersicht  erscheinen. 

3)  M.  Mayr,  Das  k.  k.  Statthatterei-Ärchiv  xu  Innsbruck.  Mitteil,  der  dritten 
(Archiv-)  Sektion  II  (1894),  141  ff.  und  in  Sonderabdruck.  Diese  Abhandlung  ist  eine 
Umarbeitung  und  Erweiterung  eines  damals  nicht  mehr  brauchbaren  Aufsatzes  Schönherrs. 
Schönherr  selbst  regte  die  neue  Arbeit  an. 


—     320     — 

Das  Kommunal-  oder  Gemeindearchivwesen  hängt  in  Öster- 
reich einigermaßen  mit  den  Landesarchiven  zusammen.  Die  Landesverwal- 
tungen, resp.  ihr  ausführendes  Organ,  der  Landesausschufs,  fuhrt  eine 
Oberaufsicht  über  die  Verwaltung  und  besonders  über  die  Vermögens- 
gebarung der  Stadt-  tmd  Landgemeinden.  Da  das  Archiv  einen  wertvollen 
Bestandteil  des  Gemeinde  Vermögens  bildet,  hat  der  Landesausschufs  die 
Pflicht,  auch  für  die  intakte  Erhaltung  der  Archive  zu  sorgen.  Durch  den 
Hinweis  auf  diese  bequeme  Handhabe  und  durch  das  Angebot  der  Mit- 
hilfe des  Innsbrucker  Statthalterei-Archives  gelang  es  mir  zunächst,  den  Tiroler 
Landesausschufs  zu  einer  zielbewufsten ,  gleichmäfsigen  Fürsorge  für  die 
Gemeindearchive  zu  gewinnen.  Vorarlberg  folgte  rasch  diesem  Beispiele.  In 
beiden  Ländern  werden  alle  Gemeindearchive  vom  Landesarchive,  resp.  vom 
Landesausschufs  strenge  überwacht  Die  Besitzer  gröfserer  Kommunalarchive 
werden  unter  Beihilfe  des  Landes-  oder  Staatsarchives  zur  Herstellung  einer 
sachgemäfsen  Ordnimg  imd  Verwaltung  angehalten.  Die  zahlreichen  kleineren 
Gemeindearchive  werden  nach  imd  nach  von  dem  Landesarchiv  eingezogen 
und  dort  als  Deposittun  der  Gemeinden  dauernd  verwahrt  imd  verwaltet. 
Statt  der  Urkunden  erhält  die  Gemeinde  Regesten  ihres  Archivs  kosten- 
los zugestellt.  Im  Bedarfsfalle  braucht  sie  blofs  auf  Gnmd  des  allgemdn 
verständlichen  Regests  das  Original  oder  eine  Abschrift  vom  Landesarchiv 
zu  verlangen.  Soweit  die  bisherige  Erfiahrung  in  Tirol  reicht,  verweigern  die 
Gemeinden  die  Abgabe  ihrer  Archive  nicht  nur  nicht,  sie  sind  vielmehr 
dankbar  für  das  bewiesene  Entgegenkommen. 

Der  Gnmd  für  diese  energischen  imd  weitgehenden  Mafsregeln  ist  ein 
doppelter.  Fürs  erste  wurden  durch  die  an  und  für  sich  sehr  dankens- 
werte Veröffentlichung  der  Urkundenauszüge  aus  den  kleineren  Archiven  Tirols 
und  Vorarlbergs  die  Antiquare  förmlich  angelockt,  wodurch  nachweisbar 
viel  mehr  älteres  Urkundenmaterial  verschleppt  worden  ist  als  früher.  Fürs 
zweite  verlangen  administrative  Zwecke  eine  zeitlich  viel  umfassendere  Ordnung 
und  Kenntnis  der  Gemeindearchive.  Gerade  die  nachmittelalterlichen  Urkunden 
und  Verträge,  die  in  den  Gemeindetruhen  liegen  oder  liegen  sollten,  haben 
nicht  selten  praktischen  Wert  Deshalb  erstreckt  sich  die  Überwachung  und 
Einziehung  der  Bestände  der  Gemeindearchive  in  Tirol  und  Vorarlberg  bis 
zur  Einführung  der  Gemeinde-Ordnung  von  1849  ')• 

Wirkliche  Gemeindearchive  unter  der  Leitung  und  Aufsicht  eigener 
Beamten  sind  in  Osterreich  recht  selten.  Solche  bestehen  z.  B.  in  Wien, 
Triest,  Prag  und  in  manchen  kleineren  Städten  mt  Baden,  Steyr,  Trient, 
Hall,  Bregenz  u.  a.  Eme  durchgreifende  Besserung  der  Verhältnisse  wird 
gröfistenteils  von  den  Bemühungen  und  der  Tätigkeit  der  Staats-  und  Landes- 
archive in  den  Provinzen  abhängen. 

Von  gröfster  allgemeiner  Bedeutung  sind  die  in  Österreich  überaus  zahl- 

i)  Bei  der  Übernahme  der  älteren  Urkanden  ergibt  sich  nicht  selten  die  bedauer- 
liche Tatsache,  dafs  den  Bearbeitern  der  Archivberichte  grofse  and  wichtige  Teile  der 
Bestände  nicht  zugänglich  gemacht  worden  sind.  Dieser  entweder  durch  Unachtsam- 
keit oder  Mifstrauen  gegen  fremde  Herren  hervorgerufene  Übelstand  wird  jetzt  dadurch 
zu  vermeiden  gesucht,  dafs  der  landschaftliche  Gemeinderevisor,  der  Autorität  und  Ver- 
trauen geniefst,  den  ganzen  Gemeindeausschafs  den  Beschlufs  zur  Ablieferung  des  Archives 
an  das  Landesarchiv  fassen  läfst  und  die  Ablieferung  selbst  überwacht. 


—     821     — 

reichen  Archivaliensammlungen  der  kirchlichen  Behörden.  Auf 
die  Ordnung  und  Verwaltung  derselben  steht  den  Staats-  und  Landesarchiven 
keinerlei  direkter  Einflufs  zu.  Mit  Ausnahme  der  von  jeher  gut  gehüteten 
imd  wohl  gepflegten  Archive  der  grofsen  Stifter  und  Klöster  oder 
greiser  geistlicher  Orden  wie  des  deutschen  Ritterordens  ist  es  tun 
die  meisten  Konsistorial-,  Diözesan-,  Dekanal-  und  Pfarrarchive 
noch  sehr  schlimm  bestellt  Immerhin  zeigen  sich  auch  hier  in  den  letzten 
Jahren  durch  den  indirekten  Einflufs  der  Staats*  tmd  Landesarchive  kräftige 
Ansätze  zur  Besserung.  So  erfreuen  sich  beispielsweise  die  groisen  Konsis- 
torialarchive  in  Salzburg  und  in  Trient  (seit  neuester  Zeit)  einer  geregelten 
Verwaltung.  Die  musterhafte  Organisation  des  Diözesanarchives  und 
der  Pfarrarchive  Oberösterreichs,  welche  der  Bischof  von  Lbz  Dr.  F. 
M.  Doppelbauer  im  Jahre  1902  durchgeführt  hat,  fand  allseits  die  gröiste 
Anerkenntmg  und  verdient  in  allen  kirchlichen  Kreisen  die  ernsteste  Beach- 
tung und  Nachahmung  ').  Neben  der  unmittelbaren  Förderung,  welche  die 
Staats-  und  Landesarchive  auch  auf  das  kirchliche  Archivwesen  durch  Rat 
und  Tat  nehmen  können  %  ist  wohl  nichts  so  geeignet,  zur  Hebtmg  des 
kirchlichen  Archivwesens  beizutragen  wie  die  zeitweilige  Teilnahme  geistlicher 
Lehramtskandidaten  tmd  Archivare  am  Studien^trieb  im  Institute  für  öster- 
reichische Geschichtsforschung  oder  an  Vorlesungen  über  praktische  Archiv- 
kunde *). 

Eine  sehr  wichtige  Stelle  im  Rahmen  der  Archivgruppen  beanspruchen 
endlich  auch  die  Privatarchive  Österreichs.  Dazu  zählen  nicht  nur  die 
oft  recht  bedeutenden,  aus  den  verschiedenartigsten,  selbst  staadichen  Be- 
ständen zusammengesetzten  Archive  von  Museal-  und  Geschichts- 
vereinen, wie  z.  B.  des  Kärntner  Geschichtsvereines,  der  ein  musterhaft 
verwaltetes  Archiv  hat,  des  Linzer,  des  Salzburger,  des  Innsbrucker,  des 
Bregenzer  Museums  usw.,  oder  die  Archive  einzelner  Körperschaften,  wie 
das  Archiv  der  Tiroler  Adelsgenossenschaft,  der  Bozner  Handelskanmier  usw., 
sondern  vor  allem  auch  die  zahlreichen  groisen  und  kleinen  Archive  der 
alten  Adelsgeschlechter,  auf  deren  hervorragende  Bedeutung  für  die 
österreichische  Geschichte  erst  in  letzter  Zeit  ein  besonderes  Augenmerk 
gelenkt  wurde  *),    Schützen  auch  die  meisten  der  grofsen  alten  Geschlechter, 

i)  Um  die  Dnrchnihning  dieses  grofsen  Werkes  erwarben  sich  Prof.  P.  Seb.  Mayr 
in  Kremsmflnster  imd  der  Diöcesaaarcbiyar  Prof  Dr.  K.  Schiffmann  in  Linx  hervor- 
ragende Verdienste.  Ich  darf  wohl  enrihnen,  dafs  ich  die  ^^Instruktion  zur  Ordnung  der 
Pfarrarchive''  (S.  Linier  Diözesanblatt  1903  Nr.  7  n.  jetzt  auch  Mitt.  der  dritten  [Archiv-} 
Sektion  VI,  43  ff.)  einer  gründlichen  Durchsicht  and  Revision  unterzogen  habe. 

2)  So  werden  in  Tirol  und  Vorarlberg  die  Archive  zu  Innsbruck  und  Bregens  nicht 
selten  auch  sur  Ordnung  der  Archive  von  Klöstern  und  Kirchen  (Stams,  Fiecht,  Inns- 
bruck, Bregens)  beigezogen. 

3)  Solche  habe  ich  kürzlich  in  Innsbruck  eingeführt.  Für  dieselben  gibt  sich  eine 
aufsergewöhnlich  starke  Teilnahme  kund.  Das  Innsbrucker  Statthalterei-Archiv  wird  übrigens 
in  den  letzten  Jahren  auch  von  angehenden  jungen  Archivaren  mit  Vorliebe  für  einige 
Zeit  zur  praktischen  Ausbildung  in  der  Geschäftsführung  und  im  Archivbetrieb  aufgesucht. 
Bei  der  Zusammenhanglosigkeit  und  Abgeschlossenheit  der  österreichischen  Staats-  und 
Landesarchive  voneinander  würde  es  überhaupt  dringend  geboten  sein,  dafs  die  Archiv« 
Praktikanten  einen  Teil  ihrer  ersten  Dienstzeit  an  einem  grofsen,  gut  organisierten  Staats* 
archiv  zubringen ;  denn  die  beste  Vorbildung  vermag  nicht  eine  gründliche  Pnuds  zu  ersetzen. 

4)  Vgl.    den   „Bericht  der  provisorischen  Kommission  zur  Herausgabe   von  Akten 


—     322     — 

wenige  unrühmliche  Ausnahmen  abgerechnet,  ihre  Archive  vor  Verderben« 
so  mangelt  es  in  vielen  doch  an  der  rechten  Ordnung  und  der  Möglichkeit 
fruchtbarer  Benützung  ^).  Nur  wenige  dieser  groisen  Geschlediter  haben 
eigene  Archivbeamte  angestellt  In  dieser  Richtung  sind  die  fürstlich  Schwarzen- 
bergischen  Archive  (46  Archive  an  24  Standorten  mit  einer  Zentralleitimg 
in  Wittingau  ^),  das  fürstlich  Liechtensteinische  Archiv,  das  fürstlich 
Windischgrätzische  Archiv  in  Tachau  ^),  das  Archiv  des  Grafen 
Thun  in  Tetschen  (alle  in  Böhmen)  u.  a.  zu  nennen. 

Kleinere  Adels-  und  Körperschaftsarchive  werden  nach  ausländischem 
Muster  hie  imd  da  auch  in  Staats-  oder  Landesarchiven  deponiert  und  auf 
diese  Weise  gesichert  und  allgemein  zugänglich  gemacht^). 

Auch  in  bezug  auf  das  Privatarchivwesen,  welches  jede  unmittelbare 
fremde  Einflufsnahme  an  und  für  sich  ausschliefst,  hat,  wie  die  Erfahrung 
lehrt,  der  archivalische  Aufschwung  der  letzten  Jahre,  welcher  vorzugsweise 
von  den  neuorganisierten  Staats-  und  Landesarchiven  in  den  Kronländem 
ausgeht,  bereits  sehr  fördernd  und  befruchtend  gewirkt 

Um  so  bedauerlicher  ist  die  Tatsache,  dafs  die  in  den  Jahren  1S93  bis 
1896  so  glücklich  und  verheifsungsvoll  begonnene  Organisation  der  Staats- 
archive auf  halben  Wege  sieben  geblieben  ist,  und  dafs  nur  an  einzelnen 
Orten  ohne  Zusammenhang  mit  dem  Ganzen  weitergebaut  wurde,  am  meisten 
dort,  wo  vordem  schon  einzelne  Männer  durch  selbstlose  OpferwüUgkeit 
Grofses,  wie  Schönherr  in  Innsbruck,  oder  Ansehnliches  wie  Pirkmayer 
in  Salzburg  geschaffen  hatten  ^).  Der  Fehler  besteht  nach  unserer  Ansicht, 
wenn  man  dieses  Urteil  gleich  vorwegnehmen  darf,  darin,  dais  die  Reformen 
blofs  von  wissenschaftlicher  Seite  ausgingen  und  im  wesendichen  auch 
nur  einseitig  für  die  imabweislichen  Forderungen  der  Wissenschaft  berechnet 
sind.  Für  den  Gewinn,  welchen  die  Verwaltung  bei  richtiger  Funktion 
eines  gut  organisierten  Staatsarchives  aus  diesem  zu  ziehen  vermag,  fehlte 
das  richtige  Verständnis.  Das  ist  nicht  verwunderlich,  denn  an  den  ent- 
scheidenden Stellen  kommt  man  nicht  allzu  häufig  in  die  Lage,  Vorteü  und 
Wert  eines  gut  funktionierenden  Archives  abschätzen  zu  können,  dagegen 
dürften   landesfürstliche   tmd  landschaftliche  Behörden   und  Ämter,   Rechts- 


und   Korrespondenzen   zur  neueren   Geschichte   Österreichs"   über   ihre  Tätigkeit  in   den 
Jahren  1898  und  1899.     Vgl.  oben  S.  140 — 141  Anm. 

i)  In  dieser  Beziehung  will  auch  die  ror  kurzem  gegründete  „Gesellschaft  für  neuere 
Geschichte  Österreichs"  den  einzelnen  Besitzern  ihre  Dienste  anbieten.  Dasselbe  geschieht 
schon  seit  längerer  Zeit  von  einigen  Staats-  und  Landesarchiven.  So  hat  beispiels- 
weise das  Innsbmcker  Statthalterei-Archiv  schon  mehrere  Herrschaftsarchive  gesichtet  und 
neu  geordnet.  Da  auch  die  eben  erwähnte  Gesellschaft  doch  nur  praktisch  ausgebildete 
Archivbeamte  heranziehen  kann,  so  wird  sich  wohl  ihre  sehr  verdiensüiche  Intervention 
in  dieser  Beziehung  hauptsächlich  auf  die  jeweilige  BeschafiFung  der  nötigen  Geldmittel 
beschränken  müssen. 

2)  Vgl.  Die  Archive  des  fürsti,  Hauaee  Sckwarxenberg  a,  L,    (Wien  1873.) 

3)  Dieses  grofse  und  wichtige  Archiv  erhielt  erst  im  Vorjahre  eine  zeitgemäfse 
Reorganisation,  die  ich  zu  leiten  die  Ehre  hatte« 

4)  Derartige  sehr  wünschenswerte  und  jetzt  nicht  mehr  seltene  Hinterlegungen 
(zuweilen  auch  Schenkungen)  fanden  zuerst  in  Tirol  statt,  dann  auch  in  Salzburg,  Ober- 
Österreich  und  wahrscheinlich  auch  anderwärts. 

5)  Die  höchst  anerkennenswerten  Leistungen  v.  Zahns  für  das  Landesarchir  in 
Gras  waren  für  diese  Staatsarchive  wenigstens  teilweise  vorbildlich. 


—     888     — 

■nwälte  und  PriTate  die  Staatsarcbire  in  Kronlftndeni  wie  Niederösterreich, 
Salsburg  ood  Tiiol  schon  jetzt,  nach  einem  Jahrzehnt  ihrer  vollen  Wirk- 
samkeit, mit  anderen  Angen  ansebeD  *). 

Sijion  der  erste  Versuch  einer  Archirorganisation  im  Jahre  1869  wurde 
auMcbliefalich  toh  wissenschaftlicher  Seite  untemommen  *). 

Anch  die  Tom  österreichischen  Herrenbause  im  Jafarc  1893/94  eingeleitete 
höchst  verdienstliche  Organisatioa  ging  von  rein  wissenschaftlichen  Kreisen 
aus.  Der  Nestor  der  östeirdchischeii  Geschichtsfoischer  und  Präsident  der 
ZcntialkommissiOQ  ftlr  Kunst  uod  historische  Denkmale  I.  A.  Freiherr 
von  Helfert  im  Verein  mit  A.  v.  Arneth  waren  die  Begründer  des 
Neugeschaffenen.  In  richtiger  Erkenntnis  dessen,  was  notwendig  ist,  war 
ihr  Ziel  aUerdings  viel  weiter  gesteckt :  sie  wünschten  erstens  die  Organisation 
der  staatlichen  Archive  auf  Grund  der  heutigen  Anforderungen  der  Ver- 
waltung und  Wissenschaft;  sie  verlangten  zweitens  die  Schaffimg  eines 
fachmännischen  Archivrates  und  sie  forderten  wissenschaftliche  Fachbildung 
für  die  Anstellung  im  staatlichen  Archivdienste  und  die   nötigen  Geldminel. 

Die  letite  Forderung,  die  wichtigste  von  allen,  gelangte  auch  schnell 
Eur  befriedigenden  Durchftlbrung.  Auch  der  stfindige  Archivrat  ward 
bald  gebildet  Bis  ungeßlhr  zum  Jahre  1900  entfaltete  er  auch  eine  recht 
eispriefsliche  Tätigkeit,  wenn  sich  auch  seine  Arbdten  nicht  selten  in  Dinge 
verloren,  womit  diese  Körperschaft  nicht  hätte  behelligt  werden  soUen  oder 
welche  der  praktische  Archivbeamte  ein&cher  erledigt  gewünscht  hätte.  Immer- 
hin haben  sich  einzelne  Mitglieder  desselben,  allen  voran  die  Universitäts- 
Professoren  O.  Redlich  und  der  verstorbeneE.  MUhlbacher  wieder  Referent 
Ministerialrat  von  Mahl-Schedl-Alpenburg  die  grölscen  Verdienste  um 
das  staatliche  Archivwesen  erworben.  Dazu  zähle  ich  die  zur  Durchführung 
gelangten  Beschlüsse  über  die  notwendige  Vorbildung  der  Archivbeamten, 
über  die  Grundzüge  einer  Archivordnong  für  die  dem  k,  k.  Ministerium  des 
Innern  unterstehenden  Archive,  Über  die  Behandlung  der  Archivalien  und 
Aktenausscheidung  bei  den  Gerichtsbehörden*)  und,  allerdings  mit  einher 
Reserve,  die  Schaflümg  eines  gemeinsamen  Personalstandes  der  dem  Ministerium 
des  Innern  unterstehenden  Archivbeamten. 

Seit  ein  paar  Jahren  scheint  die  Tätigkeit  dieses  Archivrates  gänzlich 
unterbrochen  zu  sein.  Praktische  Kermer  der  Verhältnisse  sahen  übrigens 
voraus,  dafs  diese  Instimtion  nur  so  knge  lebensfähig  sein  werde,  als  es  sich 
um  die  unmittelbare  Förderung  der  Wissenschaft  handelt;  denn  der  Archiv- 
rat  setzt  sich  vornehmlich  aus  Männern  der  Wissenschaft  zusammen,  welchen 
der  nötige  Ausbau  der  inneren  Organisation   der  Archive,   namentlich  die 


i)  Jene  Zeiten  (e.  B.  noch  1830],  wo  man  die  entichcidenditcD  KUeren  Bewlii- 
arknnden,  aoch  trenn  niBn  sie  kannte,  onbeBchtet  lief*,  weil  lie  nicht  gut  lesbar  leien, 
(ind  heilte  doch  endgiUig  rorilber. 

1)  Vgl.  darüber  und  Aber  du  Folgende  auch  die  Danlelliin£  bei  0.  Redlich, 
a.  a.  O,  tff. 

3)  Die  (Hr  die  Aktenaaucbeidnae  bei  den  politiichen  Behörden  aufgeitelllen  Grnnd- 
■Jltie  reichen  nicht  au;  lie  und  flbrigeni  anch  nicht  entiprechend  knndKemacht  worden. 
Dafür   bedcben    bei    dem   eincD   odet    anderen  Archivt  beiendere,  direkt  *m  dr-  " — =- 
k«rvor£C2«ngeiie  pro*i>«ri«cbe  Vortdiriften,  nach  denen  (kartiert   wird.    Über  di 
•Um,  nach  denen  i.  a  in  Kilnigreick  Sachten  Akten  der  Bchfirdcii  kiuiart  w«r 
dicte  Zeittchrift  a.  Bd.  5.  149—164. 


—     324     — 

Bedürfnisse  und  die  besonderen  Au%aben  der  Provinzialstaatsarchive  femer- 
liegende,  zum  Teil  auch  unbekannte  Dinge  sind.  Ein  so  gewiegter  Praktiker 
und  klarblickender  Kopf  wie  der  1897  verstorbene  von  Schönherr  erklärte 
sofort  nach  der  Schafiung  und  ersten  Zusammensetzung  des  Archivrates, 
dafs  die  ganze  Institution  in  dieser  Form  schwere  Bedenken  erregen  müsse. 
Dieser  Archivrat  sei  eine  fast  nur  wissenschaftlichen  Interessen  dienende 
Körperschaft,  die  mit  dem  vor  allem  in  den  Provinzialarchiven  des  Staates 
und  Landes  lebhaft  pulsierenden  praktischen  Archivleben  keinen  Zusammen- 
hang habe.  Solange  dieser  Rat  nicht  analog  den  übrigen  Beiräten  der 
Ministerien  gestaltet  sei,  solange  er  nicht  mindestens  zur  Hälfte  aus  den 
aktiven  Leitern  der  gröfseren  Provinzarchive  bestehe  und  nicht  verpflichtet 
sei,  sich  jährlich  einmal  (öfter  sei  es  überflüssig)  zu  versammeln,  so  lange 
werde  er  keinen  rechten  Bestand  haben  können  ^);  er  werde  schon  in  wenigen 
Jahren  nach  leidlicher  Sichenmg  der  ohnehin  von  den  wissenschaftlich 
gebildeten  Archivbeamten  auch  kräftig  vertretenen  wissenschaftlichen  Interessen 
wenig  mehr  zu  raten  haben  und  auch  inmier  seltener  gefragt  werden.  Diese 
Vorhersage  scheint  denn  auch  pünktlich  in  Erfüllung  gehen  zu  wollen. 
Manche  Gegenstände  der  bis  1899  veröffendichten  Verhandlungsprotokolle 
des  Archivrates  boten  in  der  Tat  einzelnen  Archivleitungen  b^ründeten 
Anlafs,  von  den  eigenen  Plänen  tmd  deren  Durchführung  keine  Notiz  an 
den  Archivrat  gelangen  zu  lassen,  iso  erwünscht  und  fördernd  auch  ein  (auch- 
männischer  Rat  scheinen  mochte.  Heute  zählt  man  selbst  in  den  unmittelbar 
beteüigten  Kreisen,  wenn  ich  nicht  irre,  diesen  Archivrat  zu  den  Toten. 
Trotzdem  hielte  ich  ihn  selbst  in  dieser  nicht  eben  glücklichen  Form  für 
eine  verdienstliche  Einrichtung,  wenn  nicht  die  erste  Voraussetzung  für  eine 
geregelte  Tätigkeit  eines  solchen  Rates  fehlen  würde,  nämlich  eine  leitende 
Fachbehörde,  welche  die  inneren  Verhältnisse  und  Erfordernisse  des  praktischen 
Dienstes  in  den  verschiedenen  Staatsarchiven  aus  eigener  Erfahnmg  kennt 
und  darüber  nicht  erst  gröfstenteils  unbeteiligte  und  femestehende  Herren  zu 
befragen  braucht,  dagegen  verpflichtet  ist,  in  jenen  nicht  allzu  häufigen 
Fällen,  welche  die  Wissenschaft  berühren,  ihren  Rat  einzuholen  *). 

Bei  dem  Ausländer  erweckt  der  Bestand  eines  fachmännischen  k.  k. 
Archivrates  zunächst  den  Eindruck  einer  besonders  wohlgeordneten  Pflege 
des  staatlichen  Archivwesens  in  Österreich.  Er  ist  dann  nicht  wenig  erstaunt 
zu  hören,  dafs  derselbe  nicht  die  krönende  Spitze  eines  soliden  Gebäudes 
bildet,  sondern  dafs  dieses  Gebäude  selbst,  die  leitendeFachbehörde, 
fehlt,  während  sie  anderwärts  wie  in  Italien  oder  in  Preufsen,  Bayern  usw. 
die  naturgemäfse  Gnmdlage  des  Ganzen  bildet.  Es  darf  übrigens  zur  Ehre 
Österreichs  nicht  verschwiegen  werden,  dafs  ein  derartiges  Mifsverhältnis  wohl 
nur  auf  dem  vielfach  noch  imverstandenen  Gebiete  des  Archivwesens  herrscht. 

Der  Archivrat,  wie  er  jetzt  besteht,  kann  nur  als  ein  dankenswertes 
Mittel  zur  Fördenmg  der  rein  wissenschaftlichen  Interessen  des  vielgestaltigen 


i)  Das  Organisationsstatnt  des  Archivrates  (abgedruckt  in  den  Mitt  der  dritten 
[Archiv-]  Sektion  IV,  331  ff.)  gilt  allgemein  als  mifsglttckt. 

2)  Näheres  darüber  und  über  andere  im  Zosammenhang  stehende  Mängel  des 
österreichischen  Staatsarchivwesens  wäre  in  meinem  angeführten  Aufsätze  Über  staaÜiekeB 
Arehivwesen  in  Österreieh  nachzulesen.  Vgl.  auch  die  Besprechung  desselben  in  dieser 
ZeiUchrift  IV,  316  f. 


—     326     — 

Archivwesens  angesehen  werden.  £ine  Verpflichtung,  sich  seiner  Intervention 
zu  bedienen,  hat  niemand.  Die  wichtigsten  und  brennendsten  Fragen  prak- 
tbcher  Archivarbeit  liegen  von  seinem  Interessenkreise  im  allgemeinen  zu 
weit  abseits  ^). 

Einer  ähnlichen  Aufgabe,  wie  sie  dem  Archivrat  gegenwärtig  gestellt  ist, 
unterzieht  sich  die  Archivsektion  der  k.  k.  Zentralkommission  zur  Er- 
haltung imd  Erforschung  der  Kunst-  imd  historischen  Denkmale  durch  ihre 
Konservatoren  und  Korrespondenten  schon  lange  Jahre  mit  Erfolg»  An  der 
Spitze  der  Archivsektion  stehen  zurzeit  die  nämlichen  Persönlichkeiten, 
welche  im  Archivrate  die  fuhrende  Stellung  einnehmen.  Obzwar  der  Tätig- 
keitsbereich der  beiden  Institutionen  nicht  streng  geschieden  ist,  so  beschäf- 
tigt sich  doch  der  Archivrat  mehr  mit  dem  staatlichen,  die  Archiv- 
sektion der  k.  k.  Zentralkommission  mehr  mit  dem  privaten  Archiv- 
wesen. Eine  wirkliche  Scheidung  ist  da  kamn  durchzuführen  und  würde 
der  Sache  höchstens  schaden.  Es  will  mir  überhaupt  scheinen,  als  ob  dieser 
Zustand,  der  gewissermaisen  eine  stille  Konkunenz  zweier  staatlicher  Behörden 
darstellt ,  *  für  die  Dauer  unhaltbar  sei.  Die  moralische  imd  die  sachliche 
Autorität  der  Archivsektion  der  Zentralkommission  gilt  durchaus  als 
höher,  obwohl  noch  kein  Gesetz  für  den  Denkmalschutz  besteht.  Jedermann 
wendet  sich  doch  viel  lieber  an  diese,  mit  bestimmten  Rechten  ausgestattete, 
emflufsreiche  Behörde  als  an  den  Archivrat,  der  in  staatlichen  Archiv- 
angelegenheiten einen  guten  Rat  geben  darf,  wenn  er  überhaupt  gefragt  wird, 
imd  dem  es  „unbenommen  bleibt,  auch  nichtstaatlichen  Behörden  oder  Privaten 
bei  Organisierung  ihrer  Archive  seinen  Beistand  zu  leisten"  (S  2  des  Organi- 


i)  Es  ist  bezeichnend  genug,  dafs  ein  so  hervorragendes  Bffitglied  des  Archivrates 
wie  O.  Redlich,  welcher  einst  selbst  in  einem  groisen  Archiv  gedient  hat,  allerdings 
za  einer  Zeit ,  wo  dasselbe  fast  nur  rein  wissenschaftliche  Interessen  kannte ,  in  seiner 
erwähnten  jüngsten  Abhandlung  S.  6  noch  die  Anschauung  vertritt,  eine  allzu  rasche  Ver- 
einigung der  Aktenbestände  eines  Landes  in  einem  Staatsarchiv  schädige  eher  die  Ver- 
waltung als  dafs  sie  gefördert  werde.  Der  Praktiker  wird  das  Gegenteil  aus  seiher 
EHahmng  bestätigen.  Je  rascher  die  Konzentrierung  des  Materiales  durchgeführt  wird, 
desto  einfacher  und  billiger  gestaltet  sich  die  unangenehme  und  opfervolle  Arbeit.  Es  handelt 
sich  zunächst  nur  um  die  Herstellung  eines  möglichst  ausgedehnten  Raumes  und  des 
nötigen  Handlangerpersonales,  so  dafs  sämtliche  Akten  vorläufig  ungefähr  in  der  Ordnung 
aufgestellt  werden  können,  wie  sie  übernommen  wurden.  Ein  findiger  Kanzleibeamter 
genügt,  alle  Anfragen,  die  einlaufen,  mindestens  ebensogut  und  schneller  zu  erledigen 
als  dies  früher  durch  die  meist  überlasteten  Unterbehörden  der  Fall  war.  Die  archivalische 
Ordnung  der  Akten  und  die  Ausscheidung  des  überflüssigen  Ballastes  kann  in  aller  Ruhe 
nebenher  geschehen.  In  Innsbruck  hat  die  rasche  Masseneinziehung  die  Probe  sehr  gut  be- 
standen. Es  wurden  im  Verlaufe  von  ein  paar  Jahren  über  300000  Aktenbündel  und  mehr  als 
1 5  000  Bücher  eingezogen.  Die  Benutzung  derselben  erfolgte  von  Anfang  an  klaglos  und  wird 
mit  der  fortschreitenden  Ordnung  immer  einfacher,  so  dafs  die  durch  eine  schnelle  und 
möglichst  bündige  Erledigung  natnrgemäfs  sehr  gesteigerten  Anfragen  glatt  abgewickelt 
werden  können.  Die  Erfahrung  lehrt,  da£s  Behörden  und  Parteien  diese  aufserordentliche 
Vereinfachung  und  Sicherheit  des  „Priorierens*^  durch  das  Zentralarchiv  des  Landes  dankbarst 
anerkennen.  Den  Oberbehörden  liegt  dafür  freilich  die  sehr  vereinfachte  Pflicht  ob,  fUr 
eine  entsprechende  Unterbringung  der  sich  häufenden  Aktenmengen  zu  sorgen.  Die  Er- 
fahrung lehrt  auch,  dafs  langsam  durchgeftibrte  Konzentrierungen  fast  nie  zu  einem 
Abschlufs  der  mühevollen  Arbeit  führen  und  eine  Menge  ungeahnter  Verdriefslichk^feen 
mit  sich  bringen.  Dazu  kommt  die  stete  Gefahr  des  Verlustes,  welcher  naroenlhch  *^- 
Akten  bei  dem  üblichen  Platzmangel  in  den  Registraturen  der  Unterbehörden  aur 
zu  sein  pflegen. 

2 


—     326     — 

satioDSstatutes).  Bei  der  unglücklichen  Organisation  des  Aichiviates  werden 
sich  wohl  auch  in  Zukunft  Behörden  und  Private,  die  sachgemälsen  Rat  be- 
dürfen,  stets  besser  an  die  Zentralkommission  oder  selbst  auch  an  die  Gesell- 
schaft für  neuere  Geschichte  Österreichs  wenden.  Wer  übrigens  praktisch  denkt 
und  vorgeht,  läfst,  wie  die  Erfahrung  z.  B.  in  Tirol  und  Vorarlberg  und  auch 
anderwärts  lehrt,  alle  diese  Institutionen  Unks  liegen  und  wendet  sich  an  das 
nächstgelegene  gut  organisierte  Staats-  oder  Landesarchiv,  welches  die  Verhält- 
nisse in  seinem  Wirkungsbereich  am  besten  kennt  und  das  meiste  Interesse 
dafür  besitzt  Da  findet  man  gewöhnlich  den  besten  Rat  und  die  tatkräf- 
tigste Unterstützung.  Auch  Zentralkommission  und  Archivrat  sind  schlieis- 
lieh  auf  diese  Institute  mehr  oder  minder  angewiesen.  Damit  sollte  besonders 
erstere  rechnen,  indem  sie  im  allgemeinen  eine  engere  Verbindung  mit  den 
Provinzialarchiven  herstellt,  als  es  bisher  viel&ch  der  Fall  ist  Diese  werden 
ausnahmslos  gerne  dazu  bereit  sein,  wissen  sie  doch  ihrerseits  die  moralische 
Hilfe  der  Zentralkonunission  wolü  zu  schätzen.  Die  besten  berufs- 
mäfsigen  Konservatoren,  auf  welche  O.  Redlich  besonderen  Wert  legt, 
sind  zweifellos  tüchtige  Archivbeamte. 

Wir  haben  bisher  zwei  von  den  vier  im  Jahre  1893/94  vom  österreichischen 
Herrenhause  aufgestellten  Grundsätzen  für  die  Organisierung  des  staatlichen 
Archivwesens  besprochen  ').  Die  Frage  nach  der  wissenschaftlichen  Vor- 
bildung der  Archivbeamten  des  Staates  konnten  wir  als  befriedigend  gelöst, 
die  Schaffung  des  Archivrates  in  der  bestehenden  Form  muüsten  wir  dagegen 
hauptsächlich  deshalb  als  verfehlt  bezeichnen,  weil  übersehen  wurde,  eine 
gemeinsame  Fachbehörde  für  alle  staatlichen  Archive  als  Krone  der  ganzen 
Organisation  aufzustellen  oder  wenigstens,  solange  eine  solche  nicht  besteht, 
den  Archivrat  dadurch  lebensfähig  zu  erhalten,  dafs  er  den  aktiven,  unmittel- 
bar beteiligten  Archivvorständen  eine  starke  Vertretung  gewährt  und  zu 
regelmäfsigen  Beratungen  verpflichtet  ist. 

Die  zwei  weiteren  Forderungen,  Bereitstellung  von  staatlichen  Geld- 
mitteln zur  Erwerbung  gefährdeter  Archivalien  und  Organisation  der 
österreichischen  Staatsarchive  gemäfs  den  modernen  An- 
sprüchen der  Verwaltung  und  Wissenschaft,  fanden  noch  keine 
oder  doch  nur  eine  höchst  mangelhafte  Berücksichtigung. 

Eigene  Geldmittel  für  den  gedachten  Zweck  sind  unseres  Wissens  noch 
niemals  bewilligt  worden;  höchstens  wurden  auf  dringendes  Bitten  in  ein- 
zelnen seltenen  Fällen  kleine  Beträge  aus  anderen  Fonds  zur  Verfügung  gestellt 
Selbst  kleine,  regelmäfsige  Dotationen  zur  Bestreitung  imumgänglich  notwendiger 
Bedürfnisse  bei  den  gröfseren  Staatsarchiven  waren  bisher  nicht  zu  erlangen  % 


i)  Ich  stimme  O.  Re  dlich,  a.  a.  O.  S.  3,  roUkommeo  bei,  wenn  er  die  weise  Bescbrin- 
knng  des  Herrenhauses  auf  die  Organisation  des  staatlichen  Archivwesens  rtthmt  Es 
dttrfte  sich  schon  aus  unserer  Darstellung  mit  voller  Klarheit  ergeben,  dafs  gutorganisierte 
Staatsarchive  auch  die  besten  Förderer  des  Archivwesens  aller  übrigen  Interessenten  sind. 
Im  Übrigen  hKtte  dem  Herrenhause  wohl  kaum  ein  Mittel  zu  Gebote  gestanden,  seine 
Wttnsche  auf  nichtstaaüiche  Archive  auszudehnen. 

3)  So  petitioniert  z.  B.  das  Innsbrucker  Archiv,  das  gröfste  und  bedeutendste  der 
austchUefslich  österreichischen  Staatsarchive,  schon  seit  einer  Reihe  von  Jahren  vergeblich 
um  die  geringfügige  Summe  von  jihrlich  1000  Kronen  Dotation.  Auch  die  Verwendung 
des  Archivrates   in  der  Sitzung  vom  18.  April  1898  nützte   nichts.     Dasselbe   mufs  sich 


—     827     — 

Die  Orgamsation  der  Staatsarchive  wurde  im  Jahre  1896  nur  zum 
kleineren  Teil,  vorwiegend  nur  in  bezug  auf  die  Personalien  bei  den  bereits 
vorhandenen  Archiven,  durchgeführt.  Seither  blieb  sie  nach  unserer  Über- 
zeugung hauptsächlich  deshalb  stecken,  weil  eben  keine  fachmännische 
Zentralleitung,  möge  sie  nun .  Generaldirektion  der  Staatsarchive  wie  in 
Preufsen  oder  anderswie  heifsen,  geschaffen  wurde  und  infolgedessen  auch 
der  Archivrat  als  nur  wissenschaftlicher,  nicht  eigentlich  fiaichmännischer 
Beirat  seinen  Zweck  nicht  erfüllen  kann. 

Die  zu  Anfang  dieser  Besprechung  aufgezählten  österreichischen  Staats- 
archive stehen  unter  sich  in  keinem  Zusammenhange.  Selbst  das  Band  des 
gemeinsamen  Personalstandes  für  einen  Teil,  für  die  Archive  der  politischen 
Verwaltungsbehörden,  vermochte  keinerlei  sachliche  Zusammengehörigkeit 
auch  nur  dieser  Archive  zu  schaffen.  Jede  Anstalt  lebt  in  ihrer  früheren 
Tradition  fort  und  entwickelt  sich  selbständig,  oft  sogar  in  mehr  oder 
minder  gegensätzlicher  Art  In  manchen  Fällen  war  sogar  der  gemeinsame 
Personalstand  für  eine  entwickeltere  Anstalt  ein  zeitweiliger  Hemmschuh  in 
ihrer  Ausgestaltung  ^).  Sehr  bedauerlich  ist  das  Fehlen  eines  praktischen 
Archivkurses,  bezw.  die  gleichmäfsige  Schulung  der  Archivpraktikanten,  weil 
dadurch  auch  für  die  Zukunft  die  Absonderung  der  einzelnen  Anstalten 
aufrechterhalten  und  die  praktische  Verwertung  gemeinsamer  £rfahrungen 
verhindert  wird.  Die  soziale  und  materielle  Stellung  der  stiatlichen  Archiv- 
beamten läfst  noch  sehr  viel  zu  wünschen  übrig,  obwohl  das  Schema  für 
das  unbedingt  notwendige  Ausmafs  der  Bezüge  schon  seit  dem  Jahre  1896 
von  er&hrener  Seite  entworfen  wurde  ').  Vorbildung,  Arbeitsleistung  und 
Verantwortung  der  österreichischen  staadichen  Archivbeamten  verlangen  gebie- 
terisch die  Gleichstellung  mit  den  Archivbeamten  der  Zentralstellen  der 
Monarchie  oder  mit  den  Bibliotheksbeamten  der  Universitäten  und  den 
Gymnasialprofessoren.  Da  sie  nach  ihrer  Personalstandseinteilung  Ministerial- 
beamte  sind,  ist  ihre  Zurücksetzung  gegenüber  den  anderen  Kategorien  des 

Konzeptspersonales  in  den  Ministerien  besonders  empfindlich  ^). 

* 

nach  wie  vor  mit  einem,  vom  tiroliscben  Statthalter  aas  seinen  Paoschalgeldern  gnaden- 
weise gewährten  Bibliotheksbeitrag  von  400  Kronen  behelfen. 

i)  Die  Aufnahme  von  einigen  Bibliotheksbeamten  in  den  Personalstand  der  Archive 
rnais  als  eine  ganz  nnnatttrliche  Verbindung  bezeichnet  werden,  weil  Archiv-  und 
Bibliotheksbeamte  grundverschiedene  Aufgaben  und  keine  gemeinsamen  Interessen 
haben.  Fttr  das  Aufrücken  sind  sie  sich  gegenseitig  nur  hinderlich.  Allerdings  gilt  diese 
Einreihung  nur  vorläufig.  Sie  währt  aber  schon  seit  1896.  Weil  die  Staatsarchive 
nicht  die  Aufgabe  haben,  auch  Bibliotheksgeschäfte  zu  besorgen,  wurde  z.  B.  das 
Innsbrucker  Archiv  durch  die  Einsicht  des  Statthalters  von  vorneherein  mit  der  Verwal* 
tung  der  Statthaltereibibliothek  nicht  behelligt  und  auf  diese  Weise  nicht  zum  Teil  von 
seiner  ganz  anders  gearteten,  viel  wichtigeren  Tätigkeit  abgelenkt. 

2)  Vom  verstorbenen  Direktor  des  Kriegsarchives  L.  v.  Wetzer  in  der  Archivrats- 
sitsung  vom  30.  März  1896.  Auch  die  übrigen  Forderungen  v.  Wetzers  treffen  in  der 
Regel  den  Kern  der  Sache.  Aus  ihm  spricht  eben  der  praktische  Archivar  und  Vorstand 
des  ersten  Archives  der  Monarchie. 

3)  Die  derzeitige  Systemisierung  der  Stellen  ist  dnrchgehends  um  einen  Rang  zu 
niedrig.  Wegen  des  an  und  lUr  sich  sehr  begreiflichen  Strebens,  die  absolvierten  wissen- 
schaftlich gebildeten  Kandidaten  möglichst  unterzubringen,  und  in  Unkenntnis  des  Umfangs 
der  Verwaltungsarbeiten  eines  allseitig  ausgebildeten  Staatsarchivcs  vernachlässigt  man 
auch,  ganz  im  Gegensatz  zu  manchem  Landesarchiv,  die  Bestellui^des  nötigen  Kanzlei - 
personales.    Per  wissenschaftlich  gebildete  Archivbeamte  wir^älbMUlosen  unvermeid- 


i 


—     328     — 

Die  bedeutendsten  Mängel  im  ganzen  staatlichen  Archivwesen  sind 
jedoch  ausschliedslich  sachlicher  Natur.  Fürs  erste  scheint  die  Tatsache 
fast  unglaublich,  dafs  für  einzelne  Ministerien  und  flir  neun  Kronländer,  wie 
schon  erwähnt  wurde,  überhaupt  noch  kein  Staatsarchiv  besteht.  Dann 
herrscht  in  den  wenigen  Staatsarchiven  der  .Kronländer  im  allgemeinen  eine 
grofse  Systemlosigkeit  der  Arbeit  und  eme  Regellosi^eit  in  Bezug  auf  Art 
und  Umfang  der  Bestände,  die  wohl  in  anderen  Kulturstaaten  nicht  mehr 
ihresgleichen  findet.  Endlich  ist  die  natürliche  Scheidung  des  Materiales 
zwischen  einzelnen  Zentralarchiven  der  Monarchie  und  den  österreichischen 
Staatsarchiven  und  wieder  zwischen  diesen  imd  den  Landes-  und  Privat- 
archiven  wie  nicht  selten  auch  die  Unterbringung  der  Archivalien  ^)  derart 
vernachlässigt  worden,  dafs  in  dieser  Hinsicht  oft  die  grölste  Verwirrung 
herrscht.  Sie  wurde  durch  einzelne  Beschlüsse  des  Archivrates  am  grünen 
Tisch  mindestens  nicht  verbessert  Namentlich  bezüglich  der  letzterwähnten 
zwei  Punkte  zeigt  sich  der  verderbliche  Mangel  einer  leitenden  Fach- 
behörde am  offenkimdigsten.  Die  erste  Frage  dagegen,  die  Schaffung 
neuer  Archive,  ist  wesentlich  eine  Geldfrage.  Sie  erscheint  sogar  als  die 
weniger  dringende,  weil  da  im  grofsen  imd  ganzen  nicht  so  viel  verdorben 
wird.  Zuallererst  müssen  die  bestehenden  Staatsarchive  halbwegs  ausgebaut  sein 
imd  gut  funktionieren.  Dazu  bedarf  es  nicht  so  sehr  bedeutender  Geld- 
mittel als  der  steten  Belehrung,  des  Arbeitseifers,  praktischen  Verständnisses 
und  des  richtigen  Zusammenwirkens  von  oben  imd  unten. 

Über  die  Regellosigkeit  und  die  heillose  Zerstreuung  der  Archivbestände 
in  den  Staatsarchiven  und  manchen  staadichen  Registraturen  orientiert  jetzt 
im  allgemeinen  die  erwähnte,  sehr  dankenswerte  Abhandlung  von  Giannoni 
in  dieser  Zeitschrift.  Während  Osw.  Redlich  einen  trefflichen  Überblick 
dessen  verschafft,  was  seit  ungefähr  lo  Jahren  für  das  Archivwesen  überhaupt 
geschah,  um  daraus  die  Notwendigkeit  weiterer  Reorganisation  abzuleiten 
tmd  einige  weiter  oben  besprochene  Winke  zu  geben,  erörtert  Giannoni  die 
Bestände  der  Staatsarchive  mit  Rücksicht  auf  die  geschichtliche  Entwicke- 
lung  der  Behördenorganisation  der  einzelnen  Staatsgebiete.  Nicht  selten 
erscheint  das  unerfreuliche  Bild  unrichtig  und  noch  allzu  günstig  gezeichnet, 
weil  der  Autor  doch  nur  über  ein  ungenügendes  Material  verfügte.  Daran 
ist  wohl  die  Unmöglichkeit  unmittelbarer  Information  an  Ort  und  Stelle 
schuld  ').  Das  gröfste  Verdienst  der  Arbeit  Giannonis  erblicke  ich  darin, 
dafs  zum  erstenmal  ein  Praktiker  die  Verhältnisse  schildert,  der  sie 
nicht  fast  ausschliefslich  mit  dem  wissenschafdichen  Auge  betrachtet,  sondern 
den  Finger   direkt  auf  eine  der  wundesten  Stellen  legt  ^).     Vom  rein*  prak- 

liehen   mechanischen    Schreibarbeiten    and  Handlangerdienste    bald    überdrüssig,   verliert 
den  Blick  für  seine  eigentliche  Betätigang  and  wird  dann  mifsgestimmt,  ja  berufsverdrossen, 
i)  Das   gilt  namentlich  auch  für  grofse  und  wichtige  Teile  des  Innsbrucker  Staats- 
archives. 

2)  Ich  verweise  beispielsweise  auf  Prag  oder  auf  Innsbruck.  Giannonis  jedem 
Archivar  gewifs  willkommene  Arbeit  beweist  am  besten  die  Notwendigkeit  eigener  An- 
schauung und  persönlicher  Information ,  wenn  die  Dinge  beurteilt  werden  soUen  wie  sie 
wirklich  sind.  In  viel  höherem  Grade  gilt  diese  Notwendigkeit  natürlich  für  die  ent- 
scheidenden Faktoren. 

3)  Ge^^enüber  dem  Ausland,  wo  gewöhnlich  das  natürliche  Verhältnis  besteht,  dafs 
die  archivalische  Entwickelang  zuerA  die  praktischen  Bedürfnisse  und  dann  erst  die  wissen- 


—     829     — 

tischeo  Gesicbtsptmkte  aus  will  mir  aber  auch  GiauDonis  AbbaudluDg  nur 
als  eine  der  ErgäDzuog  bedürftige  Vorarbeit  erscheiDen  für  eine  viel  weiter- 
greifende Beschreibung  der  Bestände,  welche  nur  von  den  einzelnen  Archiven 
selbst  geleistet  werden  kann  ^).  Redlich  fordert  mit  vollem  Rechte  die  Arbeits- 
abgrenzung zwischen  den  Staats*  und  Landesarchiven.  Nach  meiner  Über- 
zeugung wäre  in  erster  Linie  über  das  Suum  euique  zu  entscheiden.  Jedes 
Staatsarchiv  müiste  sich  vor  allem  ebe  Übersicht  dessen  verschaffen,  was 
auf  Grund  der  historischen  Entwickelung  und  seines  territorialen  Wirkungs- 
kreises in  seine  Bestände  gehört,  mögen  nun  diese  Archivalien  bereits  in 
seiner  Verwaltung  sein  oder  einem  ausländischen  Archive,  einem  Archive 
der  Zentralbehörden  der  Monarchie,  einem  anderen  Staatsarchive  oder  einem 
Landes-  oder  Privatarchive  angehören  oder  noch  in  Registraturen  ruhen. 
Was  nicht  im  Original  zu  erreichen  ist,  soll  wenigstens  in  Verzeichnissen 
oder  Abschriften  beschafft  werden.  Erst  auf  dieser  festen  Grundlage  läfst 
sich  ein  richtiger  Überblick  gewinnen  und  die  Richtung  feststellen,  nach 
welcher  sich  die  ordnende  und  sammelnde  Tätigkeit  zu  bewegen  hätte  ^). 

Was  im  Interesse  der  österreichischen  Staatsarchive  und  damit  mittelbar 
auch  der  Landes-  tmd  Privatarchive  notwendig  ist,  darf  ich  zum  Schlüsse 
wohl  nochmals  in  folgende  wesentliche  Punkte  zusammenfassen:  Einheitliche 
Organisation  und  fachmännische  Oberleitung  aller  Staats- 
archive^ damit  endlich  innerer  Zusammenhang  geschaffen  werde  tmd  sich 
gemeinsames  Leben  einstelle^);  Umgestaltung  des  Archivrates  in 
einen  wirklichen  fachmännischen  Beirat,  der  aus  Vertretern  der 
Archivsektion  der  Zentralkommission,  ein  paar  Universitätsprofessoren  und 
vor  allem  aus  praktischen  Archivbeamten  besteht;  materielle  Besser- 
stellung der  Beamten  des  Personal  Standes  zur  Verhinderung  der 
schon  jetzt  bedenklichen  Archivflucht  gerade  der  tüchtigsten  jungen  Kräfte; 
Verpflichtung  der  Aspiranten  zu  gründlicher  und  allseitiger 
Praxis;  Anstellung  des  nötigen  Kanzleipersonales;  ent- 
sprechende   Vorsorge   des  Staates   für  räumlich  und  sachlich 

schafUiche  Aufgabe  berücksichtigt,  könnte  das  vielleicht  einigennafsen  befremdlich  erscheinen. 
In  Österreich  nimmt  die  Entwickelang,  wie  ich  mich  sa  zeigen  bemühte,  den  umge- 
kehrten Gang. 

i)  AUerdings  nicht  in  der  Form  jener  kurzen  Inventare ,.  welche  der  Archivrat  ein- 
mal Vorschlag. 

2)  Diese  Grandsätze  sind  seit  einigen  Jahren  in  Innsbruck  malsgebend.  Ihre  kon- 
sequente Durchführung  zeitigte  schon  eine  Reihe  von  Erfolgen.  Da  das  Archiv  auch 
einen  gewissen  Zusammenhang  mit  der  modernen  Verwaltung  wahren  mufs,  werden  alle 
neueren  Verträge  und  Stiftbriefe  sofort  in  das  Archiv  übernommen  und  dort  registriert. 
Die  Übrigen  Akten  werden  von  10  zu  10  Jahren  übernommen  und  bei  dieser  Gelegenheit 
skartiert.  Derzeit  besitzt  das  Archiv  die  Akten  der  politischen  Zentrale  bis  1850,  die 
der  politischen  Unterbehörden  bis  1868,  die  Gerichtsakten  bis  1820.  Die  italienischen 
Notariatsakten  sind  bis  1820,  die  Akten  der  Finanzbehörden  werden  bis  1853  übernommen. 
Für  diese  Zeitgrenzen  ist  die  Behördenorganisation  mafsgebend.  Zur  Entlastung  des  Zentral- 
archives  in  Innsbruck  bestehen  organisierte  Filialen  inBregenz,  Trient  und  Roveredo, 
an  welche  Archivalien  dieser  Kreise  abgegeben  werden.  Nur  die  politischen  Akten 
sind  sämtlich  in  Innsbruck  vereinigt. 

3)  Es  freut  mich,  dafs  nun  auch  O.  Redlich,  a.  a.  O.  S.  19  f.  diesen  von  mir  vor 
zwei  Jahren  schon  ausgesprochenen  Gedanken  zur  Grundlage  seiner  Reformvorschläge 
macht  Ich  stimme  Redlich  heute  auch  darin  bei,  dafs  die  räumliche  Vereinigung  der 
Mioisterialarchive  nicht  nötig«  vielleicht  auch  noch  lange  nicht  wünschenswert  sei« 


—     830     — 

genügende  Archivräume  ohne  die  bisherige  Engherzigkeit; 
Bereitstellung  der  zum  geordneten  Archivbetrieb  unerläfs- 
liehen  Dotationen  für  die  einzelnen  Anstalten;  endlich  syste- 
matische Bearbeitung,  Sichtung  und  Ergänzung  der  Befände 
nach  den  oben  angegebenen  Gesichtspunkten  und  allmähliche  Gründung 
der  noch  fehlenden  Staatsarchive.  Schliefslich  soll  auch  auf  eine 
wissenschaftliche  Verwertung  der  Archivbestände  durch  die 
Archivbeamten  selbst  ein  besonderes  Augenmerk  gerichtet  werden^). 

Seit  zehn  Jahren  hat  das  österreichische  Archivwesen  dank  der  vcnn 
Staate  energisch  begonnenen  Organisation  gewifs  viele  imd  grofse  Fortschritte 
gemacht.  Leider  geriet  dieselbe  in  den  letzten  Jahren  in  aufßUUges  Stocken« 
Über  die  Notwendigkeit  der  Fortführung  dieser  Organisation  sind  jedoch  alle  be- 
teiUgten  Kreise  einig;  sie  kann  schnell  wieder  belebt  werden  imd  zu  einem 
befriedigenden  Abschlüsse  gelangen,  wenn  man  an  ihrer  bisherigen  Richtung 
einige  gründliche  Änderungen  vornimmt,  wenn  insbesondere  die  bestehenden 
und  die  erst  neuzuschaffenden  Staatsarchive  nicht  bloß  der  Privatinitiative' 
und  der  Tatkraft  einzelner  überlassen  bleiben,  sondern  der  lebendige  geistige 
Zusammenhang  durch  einen  Gesamtorganismus  der  Staatsarchive  geschafien 
und  gesichert  wird.       Archivdirektor  Prof.  Michael  Mayr  (Innsbruck). 

Eingegangene  Bfiehen 

Behlen,  H.:  Der  Pflug  und  das  Pflügen  bei  den  Römern  tmd  in  Mittel- 
europa in  vorgeschichtlicher  Zeit,  eine  vergleichende,  agrargeschichthche, 
kulturgeschichtliche  und  archäologische  Studie,  zugleich  ein  Beitrag  zur 
Besiedelungsgeschichte  von  Nassau.  Dillenburg,  C.  Seels  Nachf.  (Moritz 
Weidenbach),   1904.     192  S.  8*^.     M.  4,00. 

Hartmann,  Karl:  Der  Prozefs  gegen  die  protestantischen  Landstände  in 
Bayern  unter  Herzog  Albrecht  V.  1564.  München,  G.  J.  Manz,  1904. 
272  S.  8®.     M.  3,00. 

Jaeger,  Johannes:  Die  Klosterkirche  zu  Ebrach,  ein  kunst-  und  kultur- 
geschichtliches Denkmal  aus  der  Blütezeit  des  Cistercienserordens.  Mit 
127  Abbildungen,  Details  und  Plänen.     Würzburg,  Stahel.     144  S.  4^ 

Jaeger,  Oskar:  Geschichte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  [=»  Sammlung 
Göschen].  Erstes  Bändchen  1800—1852,  zweites  Bändchen  1852 — 1900. 
Leipzig,  G.  J.  Göschen,  1904.     157  tmd  160  S.   16^.     M.  1,60. 

Koehne,  Carl:  Das  Recht  der  Mühlen  bis  zum  Ende  der  Karolingerzeit, 
ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  deutschen  Gewerberechts.  [■—  Unter- 
suchungen zur  deutseben  Staats-  und  Rechtsgeschichte,  herausgegeben 
von  Otto  Gierke,  71.  Heft.]  Breslau,  M.  &  H.  Marcus,  1904. 
48  S.  S^.    M.  1,60. 


i)  Dafür  dürften  sich  am  besten  gemeinsame  gröfsere  Arbeiten  nnter  entsprechender 
Leitung  besonders  empfehlen.  Um  diese  wissenschaftliche  Tätigkeit  anzuspornen  and 
dieselbe  mehr  tn  konzentrieren,  gibt  das  Innsbracker  Archiv  seit  1904  als  erstes  öster- 
reichisches Staatsarchiv  eine  eigene  wissenschaftliche  Zeitschrift  in  Vierteljahrshefteo 
heraas:  Forschungen  u,  Müteihtngen  xur  QeachiehU  Tirols  tmd  Vorarlbergs,  wovon 
jetzt  der  erste  Jahrgang  vorliegt. 

■  I  I  I  -       ■  I  I    .1    I  I     !■       I     I      II  II  -     I  I         ■«  ■        .     ^        I     ly 

Hermtugeber  Dr.  Annhi  Tille  tu  Leipcig. 
pnick  oad  Vtrlaf  top  fkfp^rM»  Aiidr«as  PvtfaM,  AkdcageseUscIiafk^  Gotka, 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 

mr 

föfdeFung  den  landesgesohieUlieheo  f  opsehnng 

unter  Mitwirkung  von 

Prof.  Bachmann-Prag,  Prof  Brejnig-Bertin,  Fror.  Brler-MUiiiter  i.  W., 

Prof.  Finke-Freibnrg  i.  B.,  Archivdirektor  Prof.  Hansea-Käln,  Prof.  t.  Heigel-MBncbcD, 

Prof.  Heaner-Wünborg,  Sektiomcbef  ▼.  InBma-Stemegg'WicD,  Prof.  Kolde-Erlangen, 

Prof.  KaaBiona-Bertio,  Archivrat  KriegeT-Karlsmlie,  Prof.  Lamprecht-Leipiig, 

ArcbiTrat  W.  Lippert-Dreiden,  Arcfaivdlrektor  Prof.  M.  MsTT-Ianabnick, 

ArcbivK  Mera-Marhnrg,  Prof.  ▼.  Ottentbal-Wien,  Prof.  Oaw.  Redlich- Wien, 

Prof.  T.  d.  Ropp-M&rborg  f  Prof.  A.  Schulte-Bona,  Geh.  Archivrat  Sello-Oldenburg, 

Geh.  Archirr^  SttUn-Slntlgut,  Archivrat  WKachke-Zerbil,  Prof.  Weber-Prag, 

Prof.  Wenck-Marburg,  Archivdirektor  Winter-Omabrück,  Archivar  Witte-Schwerin, 

Prof.  V.  Zwiedineck-Sndenhorat-Grai 

bcrausgegebea  von 

Dr.  Armin  Tille 


Gotha 

Friedrich  Andreas 

AkliaBisialbchafc 

190S 


Inlialt. 


Aufsätze :  seite 

Beschomer,  Hans  (Dresden):   Wüsiungsverzeüknisse i — 15 

Boemer,  Qustav  (Fflrstenwalde) :  Die  Brüder  des  gemeinsamen  Lebens   in 

Deutschland 241 — 246 

Dopschy  Alfons  (Wien) :  Die  Herausgabe  von  Quellen  zur  Agrargeschichte 

des  Mittelalters 145 — 167 

Hoemes,  Moris  (Wien):  Die  Hallstattperiode 97 — 105 

Lohmeyer,  Theodor  (Marburg):   Unsere  Flufsnamen 29—43 

Manitius»  Max  (Radebeul  bei  Dresden) :  Die  lateinische  Literatur  des  Mittel- 

alters 265  —  281 

Nelle,  Wilhelm  (Hamm  i.  W.):  Das  Gesangbuch  und  die  Heimatkunde  .  291— 311 
Schmidkunx,  Hans  (Berlin-Halensee) :  Geschichtliche  Studien  zur  Pädagogik 

der  Wissenschaften  und  Künste 121 — 132 

Schottmttller,  Kurt  (Posen):  Deutsche  Siedelungen  in  der  Provinz  Posen  .  312 — 323 

Tille«  Armin  (Leiprig):  Neuere  Wirtschaftsgeschichte 193 — 235 

WIschke«  Hermann  (Zerbst):  Anhaltische  Akten  zum  Wiener  Kongrefs  .  246 — 261 
Werner,  Heinrich  (Euskirchen):   Kirchen-   und  sozialpolitische  Publizistik 

im  Mittelalter 65— 88  und  105— 1 16 

Wingenroth,  Max  (Karlsruhe) :  Die  Ausgestaltung  der  Denkmälerverzeichnisse  1 68 —  1 84 

Mitteilungen: 

Archive:  Stadtarchiv  Magdeburg  93;  Mitteilungen  der  Kgl.  Preufsischen 
Archiwerwaltung  ^  sechstes  und  siebentes  Heft  132 — 134; 
Württembergisches  Archiv  des  Innern  in  Ludwigsburg  135;  In- 
ventare  des  Grofsherxoglich  Badischen  GeneraULandesarchivs^ 
zweiter  Band,  erster  Halbband  135 — 136;  Beamte  der  preufsi- 
schen Archiwerwaltung  am  i.  April  1905  237 — 239;  Beamte 
an  den  kgl.  bayerischen  Archiven  am  i.  Januar  1905  239; 
Repertorium  des  Staatsarchivs  zu  Basel  262 — 264;  Stadtarchiv 
Frankfurt  a.  M.  281. 

Archivtag:  Vierter  deutscher  1904  in  Dan  zig  (Wäschke)  15 — 19;  fUnfter 
1905  in  Bamberg,  Programm  324 — 325. 

Bibliotheken:  Titel  der  Beamten  an  den  Grofsherzoglich  Hessischen  staat- 
lichen Bibliotheken  in  Darmstadt  und  Giefsen  93;  Tauschver- 
kehr zwischen  Jena  und  Weimar  93 — 94. 

Bibliothekskataloge,  alte  (Theodor  Göttlich)  24—27. 


Seit« 

Bingegmngene  Bücher  27 — 28,  96, 120, 143 — 144, 191 — 192,  239 — 240,  264, 
289—290,  330. 

Oesamtverein  der  deutschen  Geschichte-  und  Altertumsvereine:  Ver- 
sammlang  1904  in  Dans  ig  (Wäschke)  43 — 54;  Programm  der 
Versammlung  1905  in  Bamberg  323 — 324. 

Historikertag:  Achter  1904  in  Salzburg  88 — 91. 

Historische  Kommissionen:  Römisch-germanische  K.  des  Kaiserl.  archäo- 
logischen Instituts  (Dragendorff)  19  —  24;  Historische  Landes- 
kommission fUr  Steiermark  136 — 137;  K.  fUr  neuere  Geschichte 
Österreichs  137 — 138;  Wttrttembergiscbe  K.  Hir  Landesgeschichte 
138;  H.  K.  für  Nassau  139;  Badische  H.  K.  139— 140;  Gesell- 
schaft für  fränkische  Geschichte  281  —  286;  Kgl.  Sächsische  K. 
für  Geschichte  325 — 326;  Gesellschaft  für  rheinische  Geschichts- 
kunde 326;  H.  K.  für  Hessen  und  Waldeck  327. 

Historischer  Atlas  der  österreichischen  Alpenländer»  dessen  Fortschritte 

(Anton  Meli) 54 — 64 

Kirchliche  Kunstaltertttmer  (Wingenroth) 141  — 143 

Museen:  Essen  140;  Düren  140 — 141 ;  Reichenfels  288—289. 

Nekrologe:  für  Kreisrichter  Conrady  94— 95 ;  für  Gustav  Sixt  116 — 117;  für 
Eduard  Richter  (Anton  Meli)  186—189;  fUr  Franz  Kindscher 
189— 191. 

Nordwestdeuteche  Altertumsforschung 184 — 18$ 

,  Personalien 94 — 95,  116— 120,  186— 191,  236-239 

I  Publikationsinstitute,  Konferenx  von  Vertretern  landesgeschichtlicher: 

I  1904  in  Salzbarg 91 — 93 

Urkundenbuch,  Hamburgisches 329 — 330 

t  Vereine  :  Vogtländischer  altertumsforschender  Verein  zu  Hohenleuben  (Giristian 

Schlag)  286—289,  327;  Gesellschaft  für  Geschichte  und  Litera- 
tur der  Landwirtschaft  327 — 329. 

Versammlungen:  Vierter  deutscher  Archivtag  15 — 19:  Versammlung  des 
Gesamtvereins  in  Danzig  43 — 54;  Versammlung  deutscher  Hi- 
storiker (achte)  in  Salzburg  88 — 91 ;  Konferenz  von  Vertretern 
laodesgeschichtlicher  Publikationsinstitute  9 1  —  93 ;  Versammlung 
des  Gesamtvereins  in  Bamberg,  Programm  323 — 324;  Fünfter 
deutscher  Archivtag,  Programm  324 — 325 ;  48.Versammlung  deut- 
scher Philologen  und  Schulmänner  in  Hamburg,  Programm  325. 


Deutsche  Ceschichtsblätter 

Monatsschrift 


nur 


Fördenmg  der  landesgeschicbtlicben  Forschung 


VI.  Band  Oktober  1904  i.  Heft 

I  ■ 1     ._^T^^^^^ 

Wüstungsverzeiehnisse 

Von 
Hans  Beschomer  Presden) 
Erst  seitdem  man  urkundenmäüsig  die  Geschichte  der  einzelnen  mittel- 
europäischen Landschaften  zu  bearbeiten  begonnen  hat,  ist  die  historische 
Wissenschaft  nachdrücklich  auf  die  zahlreichen  Siedelungen  aufmerksam 
geworden,  die  sich  mit  keiner  der  heute  noch  bestehenden  menschlichen 
Niederlassungen  decken  und  die  man,  falls  es  sich  nicht  nur  um  ver- 
stümmelte oder  falsch  gelesene  Namen  handelt,  Wüstungen,  in  Süd- 
deutschland Odungen,  abgegangene  Orte  und  ähnlich  nennt.    Zunächst 
begnügte  man  sich  meist,  in  den  Anmerkungen  oder  Ortsregistem  der  Ur- 
kundenbücher  auf  sie  hinzuweisen  und  vielleicht  eine  kurze  Bemerkung 
über  ihre  Lage  einzuflechten.  Bald  aber  fanden  sich  auch  Forscher,  denen 
diese  nicht  mehr  vorhandenen  Orte  beachtenswert  genug  erschienen, 
um  sie  gesondert  zusammenzustellen.     Zuerst  wohl  von   allen  taten 
dies  J.  C.  V.  Dreyhaupt  1755  für  die  Wüsten  Borffstätm  im  Saal- 
Oreysse  (Beschreibung  des  Saal-Creyses  II,  S.  874—974),  G.  C.  Kreys- 
sig  1758  für  die  Eingegangenen  Dörffer  und  Schlösser  in  der  Q^af- 
Schaft  Barhy  und  im  Amte  Gommern  (Beiträge  zur  Historie  derer  Chur- 
und  Fürstl.  Sächsischen  Lande  IV,  S.  320—324)  und  J.  C.  Hasche  1784 
bezw.  1788/9  für  die  Wüsten  Marken  in  den  Ämtern  Torgau  und  MiM- 
berg  (Magazin  der  Sächsischen  Geschichte  I,  S.  318—328,  507—513, 
V,  S.  462—475,  536—552,  678—697,  VI,  S.  33—43,  85—88).    Seit 
diesen  ersten,  nicht  nur  für  ihre  Zeit  lobenswerten,  sondern  auch  heute 
noch  recht  brauchbaren  Arbeiten  hat  sich  die  Wüstungsliteratur  stark 
vermehrt,  anfänglich  allerdings  nur  langsam,  seit  den  dreilsiger  Jahren 
des  XIX.  Jahrhunderts  aber  mit  immer   zunehmender  Schnelligkeit. 
Selbständige  Monographien  über  die  untergegangenen  Orte  deutscher 
Länder   oder  über  einzelne  hervorragende  Wüstungen  sind   darunter 
selten.     Sie   blieben  hauptsächlich   unseren  Tagen  vorbehalten.    Um 
so   mehr  Arbeiten   aber  wurden  in   den  Zeitschriften   der  Geschichts- 
und Altertumsvereine,  in  lokalen  Tagesblättem  und  anderwärts  an  ent- 

1 


—     2     — 

legenen  Stellen  veröffentlicht.  Wie  stattlich  heute  bereits  die  Wüstungs- 
literatur ist,  auch  wenn  man  die  unzähligen  Arbeiten  unberücksichtigt 
läfst,  in  denen  Wüstungen  nur  nebenbei  erwähnt  werden,  kann  man 
schon  aus  der  allerdings  ziemlich  unvollständigen  und  vielfach  auch 
ungenauen  Zusammenstellung  ersehen,  die  A.  Grund  kürzlich  in  seinem 
Werke  über  Die  Veränderungen  der  Topographie  im  Wiener  Walde 
und  Wiener  Becken  (Leipzig,  1901),  S.  191 — 194,  veröffentlicht  hat. 
Beziehen  sich  seine  Zitate  auch  durchaus  nicht  alle  auf  gröisere 
Wüstungsarbeiten,  da  es  ihm  im  wesentlichen  nur  darauf  ankam,  über- 
haupt das  mittelalterliche  Eingehen  von  Ortschaften  allerwärts  in  Deutsch- 
land und  seinen  Nachbargebieten  nachzuweisen,  so  gibt  er  doch  immer- 
hin an  die  vierzig  wichtige  Beiträge  zur  Wüstungsliteratur.  Ihnen 
fügte  K.  Kretschmer  in  seiner  Übersicht  über  die  Wüstungsliteratur, 
die  die  Seiten  540—  542  seiner  Historischen  Geographie  von  Mitteleuropa 
(München  und  Berlin,  1904)  einnimmt  und  ebenfalls  verschiedene 
Mängel  aufweist,  noch  etwa  zehn,  allerdings  meist  auf  einzelne  Wüstungen 
bezügliche  Arbeiten  hinzu. 

Ein  wesentlich  vollständigeres  und  zugleich  auch  kritisch  sichtendes 
Verzeichnis  soll  eines  der  nächsten  Hefte  dieser  Zeitschrift  bringen. 
Jahrelang  habe  ich  den  Stoff  dazu  gesammelt.  Da  mir  aber  trotz  allen 
Eifers  zweifellos  noch  viele,  an  verborgenen  Stellen  erschienene  Arbeiten 
entgangen  sind,  möchte  ich  alle  Altertumsfreunde  undLokal- 
historiker,  die  der  Wüstungsforschung  nahestehen,  bitten, 
mir  Nachrichten  über  weniger  bekannte  und  schwer  zu- 
gängliche Zeitungs-,  Zeitschriftenaufsätze  und  dergl.  zu- 
kommen zu  lassen,  die  zusammenfassend  die  ausgegange- 
nen Orte  gröfserer  oder  kleinerer  Gebiete  oder  auch 
einzelne  Wüstungen  behandeln;  denn  nur  auf  diesem  Wege 
ist  es  möglich,  zu  einer  einigermaßen  vollständigen  Zusammenstellung 
der  Wüstungsliteratur  zu  gelangen,  die  ein  entschiedenes  wissenschaft- 
liches Bedürfnis  ist. 

Überblickt  man  die  bisherigen  Leistungen  auf  dem  Gebiete  der 
Wüstungsforschung  von  Dreyhaupt  bis  auf  die  großangelegten 
Werke  von  Hertel  und  Wintzingeroda  *),  so  erkennt  man  nicht  nur 


i)  G.  Hertel,  Die  Wüstungen  im  Nordtküringgau ,  Halle  1899  (Geschichts- 
qaellen  der  Prorinz  Sachsen  und  angrenzender  Gebiete,  Band  XXXVIII).  L.  Frhr.  von 
Wintzingeroda-Knorr,  Die  Wüstungen  des  Eichsfeldes,  Halle  1903  (Geschichts- 
quellen der  Prov.  Sachsen,  Band  XL).  Auf  beide,  in  der  Wüstangsfurschong  einen  Ehren- 
platz einnehmende  Werke  denke  ich  noch  in  meinem  künftigen  Aufsätze  über  die 
WUstongsliteratnr  näher  einzugehen.    Dafs  sie,  trotz  ihrer  grofsen  Vorzüge,  doch  nicht  allen 


—     3     — 

sofort  den  sehr  ungleichen  Umfang  und  Wert  der  einzelnen  Arbeiten, 
sondern  bemerkt  auch  grofse  grundsätzliche  Verschiedenheiten,  die 
schuld  daran  sind,  dafis  die  Wüstungsforschung  der  historischen  Geo- 
graphie und  besonders  der  Siedelungsgeschichte  bisher  noch  nicht 
diejenigen  Dienste  geleistet  hat,  die  sie  ihr  ohne  Zweifel  zu  leisten 
berufen  ist.  Der  Wissenschaft  zuliebe  mufs  daher  in  Zu- 
kunft eine  gröfsere  Einheitlichkeit  bei  Herstellung  von 
Wüstungsverzeichnissen  angestrebt  werden. 

Zunächst  begegnet  uns  in  den  Wüstungsarbeiten  meist  eine  ganz 
verschiedene  Auffassung  des  Wüstungsbegriff  es  ^).  Während  einige 
Gelehrte  als  Wüstungen  nur  untergegangene  Dörfer  gelten  lassen, 
rechnen  andere  auch  verschwundene  Einzelhöfe,  Mühlen,  Klöster,  Ka- 
pellen und,  wenn  auch  seltener,  Burgen  dazu.  Bei  Wintzingeroda  findet 
man  sogar  alte  Gerichtsstätten  und  aufeer  Betrieb  gesetzte  Bergwerke 
aufjg^enommen !  Endlich  kann  man  vielfach  noch  beobachten,  dafis 
neben  den  Wüstungen  auch  Flurnamen,  die  mit  einiger  Sicherheit  auf 
Wüstungen  schlieisen  lassen,  rätselhafte  Ortsnamen,  die  meist,  wie  sich 
nachträglich  herauszustellen  pflegt,  auf  irgendeinen  Irrtum  zurückgehen, 
also  mit  dem  Begriffe  Wüstung  nichts  zu  tun  haben,  sowie  umgetaufte 
und  eingemeindete  Orte  berücksichtigt  sind.  Dafs  aber  bei  diesen  ab- 
weichenden Anschauungen  die  vorhandenen  Wüstungsverzeichnisse  für 
vergleichende  Beobachtungen,  wie  sie  in  der  Wüstungsforschung  allein 
zu  wichtigeren  Ei^ebnissen  führen  können,  so  gut  wie  unbrauchbar 
sind,  leuchtet  wohl  ohne  weiteres  ein.  Sollen  also  Wüstungsverzeich- 
nisse künftig  nicht  blofs  der  einen,  zwar  wichtigen,  aber  doch  nicht  alleini- 
gen Bestimmung  dienen,  nämlich,  die  in  Urkunden  und  Akten  vorkommen- 
denWüstungen  zu  lokalisieren,  sondern  auch  zur  Lösung  siedelungsge- 
schichtlicher  Aufgaben,  wie  sie  neuerdings  Grund  und  Schlüter  •)  mit  Er- 
folg versucht  haben,  beitragen,  dann  dürfen  darin  nur  eigentliche 
Ortschaften  (einschliefelich  der  wenigen  Städte),  die  vom  Erdboden 
verschwunden   sind,   vertreten   sein.     In  kleinerem  Drucke   füge   man 

Anforderungen  entsprechen,  die  man  vom  wissenschaftlichen  Standpunkte  ans  an  Wttstungs- 
verzeichnisse  stellen  mnis,  werden  bereits  die  folgenden  Ausführungen  erkennen  lassen. 

i)  Vgl.  hierzu  meinen  Aufsatz  Die  Wüstungen  und  ihre  Entstehung  in  der 
Montagsbeilage  des  Dresdner  Anzeigers  vom  i6.  Juni  1902  (H.  Band,  S.  187—189)  und 
die  Ausfuhrungen  über  Notwendigkeit  eines  sächsischen  Wüstungsverxeiehnisses  und  Be- 
stimmung seines  Umfanges  in  meiner  Denkschrift  über  die  Hersteüung  eines  Histo- 
Tischen  Ortsverzeichnisses  für  das  Königreich  Sachsen  (Dresden  1903)  S.  15—17. 

3)  O.  Schlüter,  Die  Siedelungen  im  nordöstlichen  Thüringen,  Ein  Beispiel 
für  die  Beftandiung  siedlungsgeographischer  Fragen  (Berlin,  1903).  —  Über  das  bereits 
oben  zitierte  Buch  von  Grand  vgl.  auch  diese  Zeitschrift  5.  Bd.,  S.  a8i — 282. 


—     4     — 

höchstens  noch  die  eingegangenen  Einzelsiedelungen,  die  einzelnen  Ge- 
höfte, Mühlen  und  dergl.,  hinzu.  Dagegen  schlielse  man  grundsätzlich 
die  verfallenen  Burgen  und  einstigen  Klöster,  die  eingemeindeten  und 
umgetauften  Orte  aus.  Erstere  müssen,  schon  ihrer  grofsen  Zahl  und 
des  notwendigen  Kommentars  wegen,  besonderen  Zusammenstellungen 
vorbehalten  bleiben,  letztere  können  anhangsweise  den  Wüstungsver- 
zeichnissen beigegeben  werden. 

Damit  sind   freilich    noch    nicht    alle  Zweifel    über   den    in    die 
Wüstungsverzeichnisse    aufzunehmenden    Stoff  beseitigt.      Denn    was 
heifst  „Dörfer,   die  vom  Erdboden  verschwunden   sind**?    Elrstens  ist 
die  Grenze  zwischen  Einzelsiedelungen  und  kleinen  Dörfern,  namentlich 
für  die  ältesten  Zeiten,  schwer  zu  ziehen.     Zweitens  dürften   aber   die 
Ansichten  darüber  weit  auseinandergehen ,   was  unter  „  vom  Erdboden 
verschwunden  **  zu  verstehen  ist.    Man  nehme  den  häufig  vorkommen- 
den Fall,   dafe   auf  der  Stelle  eines  untergegangenen  Dorfes  ein  ein- 
zelnes Gehöft  steht,  etwa  ein  Gutshof,  ein  Wirtshaus,  eine  Mühle  oder 
Ziegelei.    Ist  hier  der  ehemalige  Ort  unter  die  Wüstungen  aufzunehmen  ? 
Verhältnismäfsig  leicht  läfst  sich  die  Frage  beantworten,  wenn  das  Ge- 
höft erst  später,  vielleicht  nach  Jahrhunderten,  auf  der  Stelle  des  alten 
Dorfes  oder  in  seiner  Nähe   erstand.     Dann  gehört  das  Dorf  unbe- 
streitbar in  die  Zahl  der  Wüstungen,  mag  das  Gehöft  nun  einen  neuen 
Namen  oder  denselben,  den  einst  das  Dorf  trug,  erhalten  haben.   Logisch 
gedacht,  wird  auch  dann  an  diesem  Sachverhalte  nichts  geändert,  wenn  sich 
das  einzelne  Gehöft  allmählich  wieder  zu  einem  Dorfe  ausgewachsen  hat 
oder  wenn  überhaupt  nach  Jahrhunderten  an  Stelle  eines  ehemaligen  Dorfes 
planmäfsig  ein  neues,  gleichviel  mit  welchem  Namen,  entstanden  ist. 
In  allen  diesen  Fällen  ist  der  früheren  Siedelung  ihre  Wüstungseigen- 
schaft nicht  genommen.    Wie  aber  steht  die  Sache,  wenn  das  einzelne 
Gehöft  als  Überrest  eines  alten  Dorfes  zu  betrachten,  ja  vielleicht  ur- 
kundlich als  solcher  nachzuweisen  ist  und  wenn  aus  diesem  Gehöft  im 
Laufe  der  Zeit  wieder  ein  Dorf  wurde?    In  diesen  und  ähnlichen  Fällen, 
die  nicht  nur  sehr  häufig  vorkommen,  sondern  auch  eine  grofee  Mannig- 
faltigkeit aufweisen,  heifst  es,  Farbe  bekennen.     Ich  denke,  siedelungs- 
geschichtlich  betrachtet,  mufs  man  sie  alle  zu  den  Wüstungen  rechnen, 
da  ein  einzelnes  Gehöft  seiner  Bewohnerzahl  und  infolgedessen  seinem 
wirtschaftsgeschichtlichen  Werte  nach  etwas  anderes  ist,  als  ein  Dorf, 
und  andrerseits  ein  Dorf,  das  nach  geraumer  Zeit,  vielleicht  rein  zu- 
fällig, auf  dem   Standorte   eines   früheren   entsteht,    mit  diesem  ent- 
wickelungsgeschichtlich  nichts,  höchstens  den  Namen,  gemein  hat.    Die 
Worte  „nach  geraumer  Zeit**  deuten  freilich   bereits   neue  Schwierig- 


—     5     — 

keiten  an;  denn  ein  Dorf,  das  in  Kriegszeiten  nur  auf  einige  Jahre 
oder  Jahrzehnte  von  seinen  Bewohnern  verlassen  wurde,  wie  das  wäh- 
rend und  nach  dem  Dreifsigjährigen  Kriege  häufig  vorkam,  kann  nicht 
gut  als  Wüstung  betrachtet  werden. 

Wird  bei  Anfertigung  von  Wüstungsverzeichnissen  an  der  enip- 
fohlenen  Beschränkung  des  aufzunehmenden  Stoffes  festgehalten,  so 
ist  damit  schon  viel  gewonnen.  Aber  innerhalb  der  Wüstungen  in 
engerem  Sinne  machen  sich  noch  weitere  Unterscheidungen  notwendig. 
Die  Wüstungen  rühren  nicht,  wie  man  früher  ohne  Kritik  allgemein 
glaubte,  aus  dem  Dreifsigjährigen  Kriege  her.  Die  Zahl  der  in  diesem 
Kriege  dauernd  zerstörten  Dörfer  ist  verschwindend  klein.  Die  Wüstungen 
sind  vielmehr,  wie  längst  richtig  erkannt  wurde,  im  wesentlichen  eine 
mittelalterliche  Erscheinung  *).  Viele  von  ihnen  entstanden  schon  in  den 
allerersten  Zeiten  der  Besitzergreifung  des  deutschen  Bodens  durch 
Kolonisten.  Hier  war  im  ersten  Siedelungseifer  ein  Dorf  zu  nahe  am 
Flusse,  dort  zu  dicht  am  steilen  Bergeshange  gegründet  worden,  hier 
eines  zu  tief  im  wild-  und  raubtierreichen  Forste,  dort  ein  anderes  auf 
steinigem,  wasserarmen  Boden.  So  verlegte  man  kurz  entschlossen  . 
das  nur  aus  wenigen,  leichten  Holzhütten  bestehende  Dorf  von  der  un- 
günstigen Stelle,  die  fortan  gern  den  Namen  „Wüste  Mark  N",  „das 
alte  Dorf**  oder  dergl.  behielt  *) ,  an  einen  günstigeren  Punkt  in  der 
Nähe.  Die  meisten  Wüstungen  aber  stammen  doch  erst  aus  dem  XIV., 
XV.  oder  XVI.  Jahrhundert  und  gehen  auf  einen  völligen  Umschwung 
der  wirtschafüichen  Verhältnisse  zurück,  wie  ihn  Grund  für  ein  be- 
grenztes österreichisches  Gebiet  quellenmäfsig  nachgewiesen  und  für 
ganz  Mitteleuropa  wahrscheinlich  gemacht  hat.  Deshalb  ist  auf  diese 
Wüstungen  aus  der  „negativen  Siedelungsperiode**  des  ausgehenden 
Mittelalters  das  Hauptgewicht  zu  legen.  Scharf  müssen  von  ihnen 
getrennt  werden: 

1.  die  bereits  genannten  Wüstungen  früherer  Jahrhunderte, 

2.  die  durch  äufsere,  nicht  durch  wirtschaflsgeschichtliche  Ursachen 
hervorgerufenen  Wüstungen.  Hierher  gehören  die  Dörfer,  die 
nachweislich  verheerenden  Kriegen  zum  Opfer  fielen,  so  nament- 
lich  den  Einfällen  der  Mongolen,    Hussiten,    Armagnaken   und 


i)  Die  untergegangenen  und  zum  grofsen  Teile  wieder  aufgedeckten  Siedelungen 
aus  prähistorischer,  römischer  und  keltischer  Zeit,  die  man  als  eine  besondere  Art 
Wüstungen  auffassen  kann,  sind  hier  auiiier  acht  gelassen. 

2)  Vgl.  z.  B.  zwischen  Oschatz  und  Beigem  die  Wüste  Mark  Treptitz  nord- 
östlich von  dem  heuügen  Treptitz,  die  Wüste  Mark  Klingenhain  südöstlich  von 
dem  heutigen  Klingenhain  usw. 


—     6     — 

Türken,   dem   Dreifsigjährigren  Kriege   und   einzelnen  erbitterten 
territorialen  Fehden,  wie  z.  B.  der  Hildesheimer  Stiflsfehde,   die 
neun  Dörfer  bei  Eldagsen  vernichtete  *).     Dahin  gehören   femer 
die  Dörfer,  deren  Bewohner  „gelegt"  wurden,  sei  es,  daCs  welt- 
liche Grundherren  oder  Klöster  auf  diese  Weise  ihre  Ländereien 
vergröfecrten,   sei   es,   dalis  Fürsten   die  Felder  zur  Erweiterung 
ihrer  Wildbahnen  brauchten.    Endlich  gehören  hierher  die  vielen 
Dörfer,  die  vom  Meere  verschlungen,   von  Flüssen  weggerissen, 
von  Bergen,  namentlich  in  den  Alpen,  zerschmettert,  durch  Erd- 
beben zerstört,   durch  Blitz  oder  anderweit  entstehende  Feuers- 
brünste   eingeäschert,    durch   Seuchen    ihrer  Bewohner   beraubt 
wurden,  usw. 
3.  die  wenigen  in  neuerer  und  neuester  Zeit  entstandenen  Wüstungen, 
wie  Golmenglin  in  Anhalt,  das  1756  (aus  nicht  näher  bekannter 
Ursache)  vom  Grafen  von  Metzsch  abgerissen  und  an  seiner  heutigen 
Stelle  wieder  aufgebaut  wurde*).   Schwanden  bei  Bern,   das 
wegen  drohenden  Bergsturzes  erst  in  unseren  Tagen  von   seinen 
Bewohnern  aufgegeben  wurde'),   Serbitz  und  Sobochleben 
bei  Teplitz,    die   wegen    des  Kohlenbergbaues    verlegt    wurden, 
Untermalter,    das    von    der   sächsischen   Regierung   vor   Er- 
bauung der  WeiCseritz-Talsperre  angekauft  wurde,  Gohrisch  (bei 
Riesa  in  Sachsen)  und  Haspelscheid  (bei  Bitsch  in  Lothringen), 
die  zur  Erweiterung  von  Militärschiefeplätzen   gebraucht  wurden, 
Wernings,    Pferdsbach    und    Lutsche    (erstere    beiden   in 
Oberhessen  zwischen  Ortenberg  und  Büdingen,  letzteres  in  Thü- 
ringen bei  Liebenstein  südwestlich  Arnstadt),  deren  Bewohner  in 
den  vierziger  und  sechziger  Jahren  des  XIX.  Jahrhunderts,  halb 
zur  Auswanderung   gezwungen,    ihr    Glück    drüben    in  Amerika 
suchten  *). 


i)  VgLE.Bodemann,  Wüste  Ortschaflen  in  der  Provmx  Hannover  nach  offUüli^ 
Berichten  der  Ämter  und  Städte  i.  J.  1715:  Zeitschr.  d.  histor.  Ver.  f.  Niedersachsen 
1887,  S.  242—255  (bes.  S.  245). 

2)  VgL  H.  Lindner,  Geschichte  von  Anhalt  (Dessau  1833),  S.  369. 

3)  Vgl.  Mitteihmgen  des  deutschen  und  Österreichischen  Alpenvereins  1901,  S.  125 
Nr.  10).  Dagegen  verliefsen  die  Bewohner  des  französischen  Dorfes  Söranon  (bei 
St.  Anban  nordwestlich  Nizza)  ihre  Heimat  lediglich,  weil  ihnen  das  Leben  in  der  Stadt 
angenehmer  dünkte  (Zeitungsnotiz). 

4)  Vgl.  F.  Kofi  er,  Ausgegangene  Ortschaften;  eine  Wanderung  in  der  Umgebung 
von  Frankfurt  a.  M.:  Jahresbericht  des  Taunus-Gubs  1898,  S.  51 — 72  (bes.  S.  63).  — 
A.  Trio i US,  Der  letzte  Schuhe  von  Lütsohe,  in  seinem  Thüringer  Wanderhuche  I  (1886), 
S.  297-  310. 


—     7     — 

Da  es  kaum  vorteilhaft  ist,  jedes  Wüstuagsverzeichnis  in  eine 
gröfsere  Zahl  besonderer  Verzeichnisse  aufzulösen,  so  dürfte  sich 
empfehlen,  nur  die  an  dritter  Stelle  genannten  neuzeitlichen  Wüstungen 
(ur  sich  zu  stellen,  die  beiden  anderen  Gruppen  aber  in  der  Reihe  der 
übrigen  Wüstungen  zu  belassen  und  durch  Zeichen  (vorgesetzte  Stern- 
chen, Kreuze  usw.)  hervorzuheben. 

Aulserdem  erscheint  es  aber  unerläislich,  die  verschiedenen  Arten 
von  Wüstungen  an  einer  geeigneten  Stelle  zusammenfassend  zu  be* 
trachten  und  hinsichtlich  ihrer  Eotstehungszeit,  Lage,  Gruppierung  usw. 
miteinander  zu  vergleichen,  etwa  am  Schlüsse  des  Ganzen  oder  in 
der  Einleitung.  Solche  kritische  Betrachtungen,  fiir  die  sich  teilweise 
tabellarische  Übersichten  gut  eignen  ') ,  lassen  bisher  alle  Wüstungs- 
arbeiten vermissen.  Nur  hier  und  da  zeigen  sich  Ansätze  dazu.  Aus 
diesen  zusammenfassenden  Betrachttingen  muis  ohne  weiteres  die  Zahl 
der  bis  zum  XIV.  Jahrhundert  entstandenen  und  die  der  späteren 
Wüstungen  hervorgehen,  wobei  möglichst  wieder  die  verschiedenen 
Jahrhunderte  oder,  besser  noch,  geeignet  erscheinende  gröfeere  Zeit- 
räume auseinandergehalten  werden  möchten.  Daraus  mufs  femer  zu 
ersehen  sein,  wieviel  Wüstungen  auf  Kriege  und  andere  äu&ere  Vor- 
gänge, wieviel  dagegen  auf  wirtschaftliche  Ursachen  zurückzuführen 
sind.  Dabei  wäre  wieder  derjenigen  Wüstungen  besonders  zu  ge- 
denken, deren  Entstehung  mit  der  aufsaugenden  Kraft  der  Städte  und 
gröiseren  Dörfer  zusammenhängt;  denn  es  ist  eine  längst  beobach- 
tete Tatsache ,  da(s ,  zumeist  aus  wirtschaften  Gründen,  zahlreiche  Ort- 
schaften in  Städten  und  gröfseren  Dörfern  aufgegangen  sind.  In  dem 
Schlufs-  bezw.  Einleitungskapitel  mufs  endlich  auch  die  Zahl  der  in 
dem  behandelten  Gebiete  heute  noch  bestehenden  Ortschaften  an- 
gegeben werden;  denn  will  man  die  Wüstungen  als  statistisches  Ma- 
terial benutzen  und  z.  B.  mit  ihrer  Hilfe  den  Ortschaftsverlust  fiir 
die  verschiedenen  Zeiten  berechnen,  wie  dies  Grund  und  Schlüter 
getan  haben,  so  ist  es  nötig  zu  wissen,  wieviel  man  bestehende  Orte 
den  untergegangenen  gegenüberzustellen  hat.  Das  macht  aber  groüse 
Schwierigkeiten;  denn  meist  handelt  es  sich  bei  Wüstungsarbeiten 
nicht  um  heutige  Staaten  und  Provinzen,  für  die  sich  die  nötigen  statis- 
tischen Angaben  allenfalls  beschaffen  lassen,  sondern  um  Gebiete,  die 
sich  aus  mehreren,  statistisch  nicht  besonders  behandelten  Teilen 
verschiedener  Staaten  zusammensetzen.    Zweitens  hält  es  immer  schwer, 


i)  Vgl.  Schlüter  a.  a.  O.,  S.  408-^411  (Tabelle  IV.    Die  untergegangenen  OrU 
Schäften  des  OebieteSy  geordnet  nach  ihrer  Oründungexeü). 


—     8     — 

diejenigen  Ortschaften  festzustellen,  die  sich  erst  in  neuerer  Zeit  zu  den 
mittelalterlichen  hinzugesellt  haben;  und  diese  müssen  doch  natür- 
lich abgezogen  werden.  Drittens  aber  mufs  man  sich  stets  erst  genaa 
darüber  Rechenschaft  geben ,  was  für  Einheiten  der  Zählung  zugrunde 
liegen.  Sind  es  Ortsgemeinden,  so  müssen  erst  die  aus  mehreren 
Orten  bestehenden  Gemeinden  in  ihre  einzelne  Dorfbestandteile  auf- 
gelöst werden,  sind  Rittergüter  usw.  besonders  mitgerechnet,  müssen 
diese  ausgeschieden  werden,  usw.  Denn  das  ist  klar,  wUl  man  bei 
der  Vergleichung  der  Wüstungen  mit  den  bestehenden  Ortschaften 
zu  brauchbaren  Ergebnissen  gelangen,  so  mufs  an  untergegangene  und 
noch  vorhandene  Siedelungen  derselbe  Mafsstab  gelegt  werden. 

Der  allgemeinen  Sichtung  und  richtigen  Anordnung  mufs  in  künf- 
tigen Wüstungsverzeichnissen  eine  vernünftige  Einschränkung  des  zu 
bietenden  Stoffes  zur  Seite  gehen.  Für  jede  Wüstung  möglichst  viele 
Urkundenzeugnisse  beizubringen,  wie  dies  Hertel  und  Wintzingeroda 
getan  haben,  kann  durchaus  nicht  als  das  erstrebenswerte  Ideal  an- 
gesehen werden;  denn  wer  solche  Werke  für  gröfsere,  zusammenhängende 
Forschungen  benutzen  will,  versinkt  in  dem  überreichen  Stoffe.  Nicht 
darauf  kommt  es  an,  über  all  die  kleinen  Besitzveränderungen  der 
wüsten  Marken  während  der  verflossenen  Jahrhunderte  genau  unterrichtet 
zu  werden,  sondern  darauf,  mit  möglichst  wenig  Worten  alles  Wissens- 
werte zu  erfahren  über  den  Namen  der  Wüstung  und  seine  Wande- 
lungen, über  die  Lage  des  ehemaligen  Ortes  und  den  Umfang  der 
dazu  gehörigen  Flur,  über  die  Zeit,  die  Ursache  und  den  Verlauf  des 
Wüstwerdens,  über  die  Schicksale  der  Bewohner  (bezw.  deren  Nach- 
kommen) und  ihrer  einstigen  Besitzungen.  Auch  Sagen,  die  sich  um 
alte,  untergegangene  Siedelungen  gesponnen  haben,  wUl  man  natürlich 
wissen. 

Wegen  des  Namens  und  der  damit  zusammenhängenden  Fragen 
geben  die  Vorschläge  für  die  Ausa/rbeUung  historischer  Ortschaflsver- 
geichnisse,  die  vom  Gesamtverein  deutscher  Geschichts-  imd  Alter- 
tumsvereine veröffentlicht  worden  sind,  die  nötigen  Verhaltungsmafs- 
regeln.  Da  sie  sich  in  dieser  Zeitschrift  Band  II,  S.  92  f.,  abgedruckt 
finden,  brauche  ich  blois  auf  sie  und  das  in  meiner  „Denkschrift" 
S.  21 — 22  und  33 — 36  dazu  Gesagte  zu  verweisen.  Dagegen  möchte 
ich  die  Forderungen  genannter  „Vorschläge"  hinsichtlich  der  Lage 
wesentlich  erweitert  wissen.  Es  genügt  meines  Erachtens  nicht,  „die 
Lage  der  Wüstung  durch  die  Gemarkung,  in  welcher  sie  liegt,  und 
wenn  möglich  durch  die  Himmelsrichtung  zum  Gemarkungsdorfe  zu 
bestimmen."     Es  genügt  auch  gewissenhafte  Eintragung  in  besondere 


—     9     — 

Karten  nicht,  die  unbedingt  jedem  Wüstungsverzeichnisse  beigegeben 
werden  müssen  >).  Vielmehr  ist  es  erforderlich ,  alle  Anhaltspunkte, 
die  zur  genauen  Bestimmung  der  Lage  der  früheren  Wohnstätten  dienen 
können,  sorgsam  zusammenzutragen.     Solche  sind: 

1.  urkundliche  Erwähnungen  der  Wüstungen  mit  Zusätzen,  wie  „ge- 
legen bei  N",  „gelegen  zwischen  A  und  B**,  usw.; 

2.  noch  vorhandene  oder  früher  gefundene  Mauerreste; 

3.  die  alte  Flurein teilung,  wie  sie  sich  meist  bis  in  die  Tage  der  Sepa- 
rationen unverändert  erhielt  und  oft  deutlich  die  Lage  der  Wohn- 
stätten erkennen  liefe;  vergl.  die  trefflichen,  von  der  provinzial- 
sächsischen  Kommission  hergestellten  Wüstungsbücher; 

4.  bestimmte  Flurnamen,  wie  „das  alte  Dorf,  die  Dorfistatt,  die 
Höfchen,  die  Gärten,  der  Kirchhof**  usw.; 

5.  kleine  Teiche,  die  sich  durch  Gestalt  und  Lage  als  alte  Dorf- 
teiche verraten; 

6.  Wege,  die,  von  den  Bauern  mit  gröfster  Beharrlichkeit  beibe- 
halten, vielfach  unverkennbar  auf  das  frühere  Vorhandensein  einer 
Ansiedelung  an  einer  bestimmten  Stelle  hinweisen.  Es  handelt 
sich  dabei  im  Einzelfalle  entweder  um  einen  kurzen,  kreis-  oder 
halbkreisförmigen  Weg,  der  ehemals  rings  um  das  Dorf  lief,  oder 
um  eine  Anzahl  von  Wegen,  die  strahlenförmig  einem  früher 
sichtlich  vorhanden  gewesenen  Mittelpunkte  zustreben. 

7.  Hecken  und  Raine,  die  sich  leicht  als  Dorfeinfriedigungen  zu  er- 
kennen geben,  Baumgruppen,  die  einst  das  Innere  des  Dorfes 
zierten,  Baumreihen,  die  die  Dorfstrafee  einsäumten,  usw. 

Was  für  trefTliche  Dienste  diese  meist  wenig  beachteten  Merk- 
male, namentlich  auch  die  an  vierter  und  sechster  Stelle  genannten, 
zu  liefern  vermögen,  lehrt  das  Beispiel  des  Allervereins,  der  lediglich 
mit  ihrer  Hilfe  an  86  Stellen  nachgewiesen  hat,  dafs  dort  Dörfer  ge- 
standen haben  müssen  *).     Schon  aus  guten  Karten ,   z.  B.  den  preuf- 

i)  Als  Muster  können  die  schönen,  von  G.  Reise  hei  gezeichneten  WUstungskarten 
dienen,  die',  den  Werken  von  Hertel  und  Winttingeroda  (s.  S.  2,  Anm.  i)  bei- 
gegeben sind,  ferner  H.  Gröfslers  verschiedene  Bearbeitungen  der  Historischen  Karte 
der  beiden  Mansfelder  Kreise  (vgl.  Mitteilungen  des  Ver.  f.  Erdkunde  ru  Halle,  1896, 
S.  55—60),  K.  Meyers  Wüstungskarte  der  Orafsehaften  Stolberg- Stolberg ,  Stolbarg- 
Boßla  und  Bohnstein  (Zcitschr.  des  Harzver.  1871  und  1877)  und  A.  Wemeburgs 
Wüstungskarte  von  Thüringen  (Jahrbücher  der  Kgl.  Akademie  gemeinnütziger  Wissen- 
schaften EU  Erfurt,  N.  F.  XD,  1884).  Auch  die  acht  Kärtchen  in  G.  W.  L  Wagners 
Werke  Die  Wüstungen  im  Qroßherxogtum  Hessen  (Darmstadt  1854  —  1865)  sind 
recht  nreckmMisig. 

a)  Vgl.  Hertel  a.  a.  O.,  S.  XXXIV. 


—     10     — 

sischen  Mcfstischblättern ,    vermag    ein  geübtes  Auge  solche  Punkte 
abzulesen. 

Mit  derselben  Sorgfalt,  wie  die  Lage  des  ehemaligen  Dorfes,  ist 
der  Umfang  der  einst  dazu  gehörigen  Flur  und  die  Abgrenzung  gegen 
die  Nachbargemeinden  zu  behandeln,  femer  alles,  was  über  das  Ver- 
schwinden des  Dorfes  und  die  Schicksale  der  Flur  Licht  verbreitet. 
Für  ersteres  sind,  wenn  es  sich  nicht  um  gewaltsame  Zerstörung,  son- 
dern um  allmähliches  Eingehen  handelt,  nicht  nur  letzte  urkundliche 
Erwähnung  als  viüa  und  erste  als  viUa  desolata,  sondern  auch  die  mit 
der  Zeit  in  demselben  Dorfe  immer  häufiger  auftretenden  curiae  deserUie 
und  mansi  desciati  maßgebend. 

Die  Schicksale  der  Fluren  sind  sehr  verschieden.  Sie  hängen  eng- 
mit  den  Geschicken  der  Gemeinden  zusammen.  Namentlich  in  den 
ersten  Jahrhunderten  der  Kolonisation,  aber  auch  später  in  schweren 
Kriegszeiten,  konnte  es  vorkommen,  dafs  eine  wenig  fruchtbare  Flur 
einfach  von  ihren  Besitzern  verlassen  wiude  und  herrenlos  liegen  blieb, 
Jahrzehnte-,  jahrhundertelang.  Hatte  sie  sich  mittlerweile  nicht  all- 
mählich mit  Wald  bedeckt,  so  erbarmten  sich  ihrer  vielleicht  später 
die  Bewohner  umliegender  Dörfer  und  eigneten  sich  einzelne  Stücke 
davon  an,  derentwegen  sie  nachträglich  häufig  mit  der  Regierung  in 
Streit  gerieten.  Meist  aber  erging  es  den  wüsten  Marken  doch  anders. 
Wanderte,  wie  das  häufig  vorkam,  eine  Gemeinde,  von  der  Aussicht 
auf  gröfsere  Sicherheit,  leichteren  Gewinn  und  bequemere  Lebensführung 
angelockt,  geschlossen  nach  der  nächsten  Stadt  aus,  so  behielt  sie 
ihre  Felder,  die  entweder  selbständig  verraint  blieben  oder  der  Stadt- 
flur einverleibt  wurden,  bei  und  bestellte  sie  von  den  neuen  Wohn- 
sitzen aus.  Die  Leute  bUdeten  dann  meist  in  der  Stadt  eine  Gemeinde 
für  sich,  die  ein  besonderes  Viertel  oder  wenigstens  bestimmte  Strassen 
bewohnte,  einen  eigenen  Schulzen  hatte,  in  Flurangelegenheiten  be- 
sonderes Gericht  hielt  und  sich  auch  sonst  in  Sitten  und  Gebräuchen 
ihre  Eigenheiten  wahrte.  Solche  Wüstungsgemeinden  (stellenweise 
„Erbschaften"  genannt)  lassen  sich  bis  in  die  Mitte  des  XIX.  Jahr- 
hunderts, bis  in  die  Tage  der  Zusammenlegungen  (Separationen),  in 
vielen  Städten  nachweisen,  z.  B.  in  Halberstadt  (die  Gemeinde  der 
Haslingerstralse),  Heringen  (der  Eilerschulze),  Berga  (der  Langen- 
riet- und  der  Vorrietschulze)  *) ,  Calbe  (der  Balbergische  Konvent, 
die  Schwarzauer  Gemeinde),  Barby  (die  Gemeinde  von  Cyprehna)  *) 


1)  Vgl.  Gröfsicr  in  der  HarzzciUchr.  Vm  (1875),  S.  384-  385,  Anm.  i. 

2)  Vgl.  Hcrtel  a.  a.  O.,  S.  XXV. 


—    11    — 

usw.  In  Gräfenhainichen  waren  Breitewitz,  Domewitz,  Stein- 
grube, Grols-  und  Klein-Gadewitz  aufgegangen.  Diese  Marken  bildeten 
eigene,  unter  besonderen  Markenrichtem  stehende  Genossenschaften,  von 
denen  die  Breitewitzer  am  längsten  zu  verfolgen  ist  ^).  In  der  Braunschwei- 
gischen Stadt  Königslutter  lebten  die  eingewanderten  Bewohner 
des  ehemaligen  Dorfes  Schoderstedt  unter  ihrem  „Bauermeister" 
als  sogenannte  Bauern-  oder  zweite  Bürgerschaft  weiter  fort  und  hielten 
an  ihren  althergebrachten  Gewohnheiten,  dem  „Seekonvent"  und  dem 
„Seeschmause",  treulich  fest  ^).  Bei  Sangerhausen  lag  früher  u.  a.  ein 
Dorf  Kieselhausen.  Seine  Bewohner  wanderten  im  XVI.  Jahrhundert  all- 
mählich nach  der  benachbarten  Stadt  aus  und  bildeten  hier  in  derKilischen 
Strafse  bezw.  im  Kilischen  Viertel  lange  eine  Sondergemeinde,  indem  sie 
ihre  Zusammenkünfte  hatten,  „Kollationen"  (d.  h.  Mahlzeiten)  veranstalteten 
usw.  Nur  nach  und  nach  gingen  die  Geschäfte  der  „Kilischen  Herren"  in 
die  Hände  des  Sangerhäuser  Rates  über  ').  In  der  Nähe  von  Buttstädt 
wurde  noch  um  die  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  jährlich  ein  Feld- 
gericht gehalten,  das  sogenannte  „Hägemal",  zur  Erinnerung  an  die 
untergegangenen  und  mit  Buttstädt  vereinigten  Dörfer  Wenigen,  Schaf- 
hausen und  ömhausen.  „Es  ziehen  nämlich",  sagt  v.  Maurer  in 
seiner  Einleitung  der  OeschicfUe  der  Mark-,  Hof-,  Dorf-  und  Stadt* 
Verfassung  (München  1854)  S.  174,  „die  Nachkommen  der  ömhäuser 
alle  Jahre  am  Jakobitagc  nach  einem  Rasenhügel  und  beschauen  die 
Grenzen  der  Felder,  als  wenn  das  Dorf  selbst  noch  existierte.  Ein 
Flurschütz  tritt  sodann  auf  den  Hügel  und  fordert  diejenigen,  welche 
eine  Klage  anzubringen  haben,  auf,  dais  sie  vortreten.  Klagt  nun  einer, 
so  treten  die  Schöffen  auf  dem  Hügel  zusammen  und  sprechen  ihr 
Urteil."  —  Ähnlich  wurde  „  einmal  alljährlich,  gewöhnlich  in  der  ersten 
Hälfte  des  Jimi,  auf  vorherige  öffentlich  ausgehängte  Bekanntmachung 

des  Zerbster  Rates, auf  der  Stätte  des  ehemaligen  Dorfes 

Meinsdorf  im  Freien  unter  einem  Baum  selbst  bei  heftigem  Gewitter 

und   unter   Beobachtung  alter  Cermonien vom   Acker-  oder 

Feldrichter  und  Schoppen  zu  Meinsdorf  im  Beisein  der  Abgeordneten 
des  Zerbster  Rates  und  in  Gegenwart  der  Gemeinde  von  Meinsdorf 


1)  Vgl.  E.  Obst,  Besehreibung  u.  Gesch.  des  Kreises  Bitter feld  (BiUerfeld  1887/8), 
S.  167. 

2)  Vgl.  Näheres  darüber  bei  A.  Lüders,  Das  ehemalige  Dorf  Sehoderstedt,  jäxt 
eine  Wüshmg  im  Braunschweigischeo  Magadn  (heraasg.  von  P.  Zimmermano)  VII 
(1901),  S.  110— 112  und  117^119  (über  den  „ See-Konvent <'  nsw.  S.  ii8f.). 

3)  Vgl  K.  Mensel,  Die  Wüstungen  Kieselhausen  und  Almensieben  vor  Sanger- 
hausen: Harueitschr.  VI  (1873),  S.  13—43. 


—     12     — 

und   der  beiden  Schulzen   von  Jütrichau   und  Luso    das  Meinsdorfer 
Feldgericht  gehegt"  *). 

Die  gleichen  Beobachtungen  kann  man  vielfach  auch  in  gröberen 
Dörfern  machen.  Es  sei  nur  an  den  „Schulzen  von  Weidenhorst"  in 
Wallhausen  (westlich  Sangerhausen)  *)  oder  den  „Wiestedter  Schulzen" 
in  Grofs -Wechsungen  (westlich  Nordbausen) ')  erinnert.  In  dem 
württembergischen  Dorfe  Kupferzeil  (nördlich  Hall)  bestand  bis  tief 
hinein  ins  XIX.  Jahrhundert  die  an  das  untergegangene  Dorf  Rieden 
anknüpfende  Riedener  Gemeinde,  die  jedes  Jahr  einen  Markenumgang 
hielt.  Dieser  wurde  eingeleitet  durch  einen  Gottesdienst,  bei  dem  die 
einzelnen  Mitglieder  mit  der  Hacke  auf  der  Schulter  erschienen  ^). 
In  Grofs -Leinungen  (westlich  Sangerhausen)  bildeten  die  ehemals 
in  dem  untergegangenen  Dorfe  Mönchs-Leinungen  ansässigen  Lehns- 
leute des  Klosters  Naundorf  bei  Allstedt  die  sogenannte  „  Zoberbrüder- 
schaft". Jährlich  mufete  der  „Zoberschulze"  den  „Brüdern  und 
Schwestern"  ein  festliches  Essen  geben,  zu  dem  er  auch  den  „Propst", 
d.  h.  den  Pfarrer  in  Grofs-Leinungen,  einzuladen  verpflichtet  war ;  denn 
diesem  war  nach  der  Reformation  die  Zoberbrüderschaft  mit  allen 
ihren  Lehen  unterstellt  worden.  Über  die  bei  dem  Schmause  üblichen 
Gebräuche  berichtet  Gröfsler  in  der  Harzzeitschrift  VIII  (1875),  S.  384 
ausführlich  und  erinnert  in  der  Anmerkung  u.  a.  an  das  „Beelitzer 
Bauemmahl"  in  Bebitz  und  das  „Eieressen  der  (in  Schiettau  und 
Löbejün  wohnenden)  Bauern  von  Beesen"*). 

Häufig  bestanden  in  ein  und  derselben  Stadt  oder  in  ein  und 
demselben  Dorfe  mehrere  selbständige  Wüstungsgemeinden  neben- 
einander, wie  bereits  oben  (S.  10  f.)  gelegentlich  erwähnt  wurde.  Weitere 
Beispiele  für  diese  beachtenswerte  Erscheinung  bieten  das  württem- 
bergische Dorf  Ad  olz  hausen  (südöstlich  Mergentheim),  wo  von  den 
darin  aufgegangenen  WeUem  Radolzhausen,  Reckersfelden,  Dunkenroth 
und  Schönthal  die  drei  erstgenannten  je  eine  Gemeinde  in  der  Gemeinde 


i)  Vgl.  die  ausführliche,  aaf  den  im  Zerbster  SUdtarchive  befindlichen  Rügeproto- 
kollen beruhende  Abhandlung  von  R.  Siebert  Über  das  Feldrügegericht  xu  Meiru- 
dorf  bei  Zerbst  in  der  Wochenschrift  Unser  Anhaltland  II  (1902),  Nr.  17  (auch  in 
Sonderdruck  erschienen). 

2)  Vgl.  Gröfsler  in  der  HarazciUchr.  Vm  (1875),  S.  385,  Anm. 

3)  Vgl.  K.  lAtyer,  Zur  Wüstungskarte  der  Orafschaft  Hanstein-LohrO'Clettenberg, 
in  der  HarzzeiUchr.  X  (1877),  S.  111-187  (bes.  S.  118). 

4)  Vgl.  Bossert,  Zur  Topographie  von  Württembergiseh FVanken,  in  den  Wfirttem- 
bergischen  Jahrbüchern  f.  Sutistik  n.  Landesk.  1879,  S.  254—256. 

5)  Vgl.  K.  E.  Förstemann  in  den  Neuen  Mitt  aus  d.  Gebiet  histor.-aotiqnar.  For- 
schungen 1  (1834),  S,  44  u.  51. 


—     13     — 

mit  eigeaen  Bürgermeistern  und  Gerichtsschreibem  bildeten  *) ,  und 
Görsbach  (südöstlich  Nordhausen),  wo  es  neben  dem  eigentlichen 
flämischen  Ortsschulzen  noch  einen  Diemenröder,  Crimderöder  und  den 
Kiebitzschulzen  (!)  für  die  drei  Wüstungen  Diemenrode,  Crimderode  und 
Libitz  gab,  während  sich  ein  solcher  für  das  vierte  in  Görsbach  auf- 
gegangene Dorf  Tütschenwenden  nicht  mehr  nachweisen  lälst  *). 

Nicht  immer  liegen  aber  die  Verhältnisse  so,  dafs  ein  auswandern- 
des Dorf  geschlossen  nach  einem  benachbarten,  größeren  Gemein- 
wesen übersiedelte.  Fehlte  es  in  der  Nähe  an  einem  solchen,  dann 
verteilten  sich  die  Leute  nicht  selten  auf  mehrere  Nachbardörfer. 
Dabei  gmg  bisweUen  die  alte  Zusammengehörigkeit  verloren.  Meist 
blieb  sie  aber  doch  gewahrt  in  dem  gemeinsamen  Weiderecht  auf  der 
wüsten  Mark  und  in  dem  gemeinsamen  Schulzen,  der  regclmäfsig  ein- 
mal im  Jahre  die  zerstreut  wohnenden  Gemeindeglieder  zu  einem  Ge- 
richte auf  der  Mark  zusammenrief.  So  hielt  sich  in  den  Dörfern 
Holzhausen  und  Zuckelhausen  (südöstlich  von  Leipzig)  lange 
fiir  die  wüste  Mark  Kolm  ein  besonderer  Schulze,  der  Kolmenrichter, 
der  in  den  Streitigkeiten  wegen  Überweisung  der  Mark  an  den  „ge- 
meinen Tisch  **  der  Universität  Leipzig  eine  Rolle  spielte  *).  —  Eine 
Anzahl  von  Leuten  in  Eckartsberga,  Nieder-Holzhausen  und 
Braunsrode  bildeten  zusammen  die  sogenannte  „Heidenkommun". 
Seit  1577  versammelte  sie  sich  regelmäfeig  Sonntag  nach  Jakobi  auf 
dem  Rathause  in  Eckartsberga  zu  einer  gemeinsamen  Beratung.  Den 
Vorsitz  führten  der  Bürgermeister  von  Eckartsberga  und  die  Ältesten, 
d.  h.  die  Gemeindevorstände  der  ehemaligen  Dörfer  Nieder-Holzhausen 
und  Braunsrode,  die  auch  das  Bier  für  das  sich  anschliefsende  Gelage 
zu  liefern  hatten.  Wegen  der  Gepflogenheiten  bei  diesen  Hediener 
Zusammenkünften,  der  Belehnung  jedes  der  drei  Ortsvorsteher  mit 
einer  Freihufe,  wegen  des  „Heydener  Knechtes**  usw.  vergleiche  man, 
was  L.  Naumann  im  2.  Hefte  seiner  Skizzen  und  Bilder  zu  einer 
Heimatskunde  des  Kreises  Eckartsberga^  S.  43  f.,  aus  dem  „Heiden- 
buch** mitteilt.  —  Dieser  Heidenkommun  gleicht  vielfach  die  Wehr- 
brucher  Gemeinde  %     Unter  Vorsitz  des  Vogtes   des  Leipziger  Tho- 

1)  Vgl.  Th.  Knapp,  Oesammelte  Betträge  zur  Rechts-  und  Wirtschaftsgeschichte 
vornehmlich  des  deutschen  Bauernstandes  (Tübingen  1902),  S.  165,  Anm.  i. 

2)  Vgl.  K.  M  c  y  e  r ,  Die  tausendjährige  Geschichte  einer  benachbarten  Feldflur ^  in  der 
„Aus  der  Heimat"  betitelten  Sonntagsbeilage  des  Nordh&nser  Kuriers,  1895,  ^f*  8 f. 

3)  Vgl.   darüber   die   beiden    ausführlichen  Aufsätze   von  P.  Z.    im  Leipziger  Tage- 
blatte vom  9.  August  1897  und  vom  9.  und  10.  November  1902. 

4)  Vgl.  C.  Chr.  C.  Grctschel,  Beiträge  xur  Geschichte  Leipzigs  (Leipzig  1835), 
S.  HO. 


—     14     — 

masklosters ,  dem  die  Wehrbnichmark  zustand,  wurde  jedes  Jahr  auf 
der  Flur  unter  Zelten  Gericht  gehalten,  zu  dem  die  Bewohnerschaft 
von  Zweenfurt,  Panitzsch  und  Sommerfeld  (östlich  Leipzig*) 
die  Gerichtspersonen  stellte  und  diese  hinterher  bewirtete  ^). 

Es  wäre  dringend  zu  wünschen,  dafs  auf  diese  und  ähnliche  Elr- 
scheinungen  in  Zukunft  bei  Anlegung  von  Wüstungsverzeichnissen  mehr 
Wert  gelegt  würde;  denn  nicht  mit  der  Verödung  oder  dem  Verfalle 
der  Gehöfte  endet  die  Geschichte  einer  Wüstung,  sondern  erst  mit 
dem  Erlöschen  der  letzten  Spuren  der  einstigen  Dorfgemeinde  und 
ihrer  selbständigen  Flur.  Bisher  ist  darauf  viel  zu  wenig  geachtet 
worden.  „Wie  Gemeinden  aufstehen  und  wie  sie  niedergehen,  man 
sollte  es  eingraben  in  weiche  Herzen  und  in  harten  Stein.  Es  wäre 
so  grois  als  die  Weltgeschichte.  Das  geht  freilich  vor  sich  so  sachte 
zumeist,  wie  das  Wachsen  und  Modem  eines  Baumes,  und  darum 
halten   es    die  Menschen   nicht  für  wesentlich,   darüber  zu   berichten. 


i)  Wohl  nicht  hierher  gehört  der  seiner  ganzen  Organisation  nach  den  oben  an- 
geführten  WUstongsgemeinden  ähnelnde  Otterwischer  Märkerverband,  über  den 
Chr.  G.  Lorenz,  Die  Stadt  Grimma  im  Königreich  Sachsen  (Leipzig  1856),  S.  105 5 f., 
eingehende  Auskunft  gibt  Bei  diesem  handelt  et  sich  wahrscheinlich  vielmehr  um  eine 
Anzahl  weit  auseinanderliegender  Ortschaften  der  Wurzener  und  Grimmaer  Gegend 
(Deubcn,  Trebsen,  Neichen  usw.,  s.  u.)»  denen  der  Otterwisch  von  alters  her  als 
Koramunforst  oder  Gesaratwald  (Samtwald)  gehörte,  wie  deren  Wintzingeroda 
(a.  a.  O.,  Einl.  S.  XLIV  f.)  mehrere  in  seinem  Wtistungsverzeichnis  aufführt.  Diese  Otter- 
wischer Holzmark,  aus  der  spSter  irrtümlich  eine  wüste  Mark  Ottendorf  gemacht  wurde 
(vgl.  Generalstabskarte,  Blatt  390),  umfalste  wahrscheinlich  den  gröfsten  Teil  der  aus- 
gedehnten  Waldung  zwischen  Würzen  und  Altenhain.  Der  eigentliche  Beamte  des  Ver- 
bandes, der  eidlich  geloben  mufste,  „die  Gerechtigkeiten  der  Mark  zu  verteidigen,  alle 
Pfändungen  und  andere  Gerichtsgefälle  anzumelden  und  für  Abführung  der  Zinsen  und 
Steuern  zu  sorgen,  war  der  „Holzrichter**,  über  dem  der  „Holzgraf",  der  jeweilige  Be- 
sitzer des  Rittergutes  Trebsen  (nordöstlich  Grimma)  stand.  Dienstag  vor  Johannis 
wurde  auf  dem  „Kührtage^%  der  gewöhnlich  in  dem  am  günstigsten  gelegenen  De  üben 
(westlich  von  Würzen)  stattfand  und  mit  einem  Gemeinebier  beschlossen  wurde,  abgerechnet 
und  über  die  Markangelegenheilen  verhandelt.  Den  Vorsitz  führte  hier  weder  der  Holz- 
graf noch  der  Holzrichter,  sondern  ein  eigens  gewählter  „Gesprächsmeister",  der  von 
letzterem  über  die  Beratungsgegenstände  unterrichtet  wurde.  Anfserdem  fand  aber  auch 
alljährlich  im  Mai  oder  Juni  unter  freiem  Himmel  ein  Markengericht  statt,  zu  dem  auf 
Ansuchen  des  Holzrichters  der  Trebsener  Genchtshalter  als  Stellvertreter  des  Holzgrafen 
einlud.  Die  Gerichtsbank  wurde  mit  6  bis  7  Schöffen  aus  Trebsen  und  Neichen 
(östlich  von  Trebsen)  besetzt.  Der  Gerichtshalter  protokollierte,  anfänglich  unentgeltlich, 
seit  Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts  gegen  drei  Taler  Vergütung,  die  ihm  die  Markgenossen 
nach  längerem  Widerstreben  zugestanden.  Wie  streng  man  bei  diesen  Gerichtstagen  auf 
althergebrachte  Ordnung  sah,  dafür  bieten  die  Rügenprotokolle,  die  Lorenz  vorlagen, 
zahlreiche,  bemerkenswerte  Belege. 


—     16     — 

Erst  wenn  der  Blitz  in  den  Baum  fährt,   schaut  man  ihn   an  und  ist 
erschrocken,  da(s  ein  so  kraftvolles  Leben  dahin  ist"  ^). 


Mitteilungen 

Yersamilllllllgeil.  —  Der  vierte  deutsche  Archivtag  ^)  fand  am 
8.  August  zu  Dan  zig  in  den  Räumen  des  Kgl.  Staatsarchivs,  Hansaplatz  5, 
imter  dem  Vorsitze  des  Geh.  Archivrats  Grotefend  (Schwerin)  statt;  etwa 
50  Teilnehmer,  darunter  zwei  Herren  aus  Dänemark,  hatten  sich  zu  der  Ta- 
gung eingefunden. 

Erster  Gegenstand  der  Tagesordnung  war  die  Beratung  „über 
eine  gesetzliche  Regelung  des  Schutzes  von  Archivalien  und 
der  Beaufsichtigung  nicht  fachmännisch  verwalteter  Archive 
und  Registraturen",  worüber  Staatsarchivar  Bär  (Danzig)  das  Referat, 
Oberr^erungsrat  Dr.  Er  misch  (Dresden)  und  Reichsarchivassessor  Knapp 
(München)  Korreferate  übernommen  hatten.  Archivrat  Bär  ging  von  den 
preufsischen  Verhältnissen  aus  und  bezeichnete  die  dort  zum  Schutze  der 
Archivalien  in  kleineren  Archiven  getroffenen  Mafsregeln  als  meist  nicht  ge- 
nügend. Die  einzige  Handhabe  biete  die  Preufsische  Städteordnuag ,  deren 
Bestimmungen  seien  aber  nur  anwendbar  auf  Stadtarchive,  insofern  diese 
einen  Teil  des  Stadtvermögens  ausmachten  und  daher  dem  Aufsichtsrecht 
der  Bezirksregierungen  unterständen.  Aber  selbst  dieses  Aufsichtsrecht  werde 
nicht  immer  ausgeübt,  weil  andere  Geschäfte  die  Tätigkeit  dieser  Behörden 
vollständig  in  Anspruch  nähmen ;  den  eigentlich  zur  Aufsicht  Berufenen,  den 
Vorstehern  und  Direktoren  der  Staatsarchive,  fehle  bisher  jede  gesetzliche 
Handhabe,  jeder  amtliche  Auftrag  zum  Eingreifen.  So  sei  es  denn  gekom- 
men, dafs  z.  B.  in  den  57  Städten  Westpreufsens  die  kommunalen  Archive 
zum  Teil  schwer  geschädigt  seien,  12  alles  ältere  Material  verloren,  19  nur 
wenig  erhalten  hätten,  also  in  3 1  von  5  7  Städten  so  gut  wie  gar  kein  Archiv 
vorhanden  sei.  Ähnlich  dürften  die  Verhältnisse  auch  anderwärts  liegen, 
vieles  sei  durch  Brand  imd  Verschleppung  verlorengegangen.  Wie  mit  den 
Archiven  liege  es  mit  den  reponierten  Registraturen,  den  Archiven  der  Zu- 
kunft. Bei  vielen  Städten  wären  diese  unverzeichnet  und  verwahrlost,  selbst 
bei  Behörden  wäre  bessere  Fürsorge,  namentlich  auch  geeignetere  Unter- 
bringung der  alten  Akten  erwünscht  Jede  Aufsicht  fehle  bei  den  Archiven  welt- 
licher und  geistlicher  Genossenschaften,  eine  um  so  beklagenswertere  Tatsache, 
weil  früher  vielfach  auch  andere  Archive  in  der  Kirche  deponiert  wurden. 
Schlimmer  aber  stände  es  noch  um  Archivalien  staatlichen  oder  kommuualen 
Ursprungs,  die  in  die  Hände  von  Privaten  gelangt  sind,  denn  da  könnte 
nicht  einmal  der  Verkauf  ins  Ausland  gehindert   werden,   wie   das  mit  den 


i)  P.  Rosegger,  Das  xu  0 runde  gegangene  Dorf  (Wiesbadener  Volksbücher, 
Nr.  3,  Wiesbaden  1901),  S.  36. 

2)  Über  den  dritten  1902  in  Düsseldorf  abgehaltenen  Archivtag  vgl.  diese  Zeit- 
schrift IV.  Bd.,  S.  58—62. 


—     16     — 

Bereuter  Schöfifenbtichem  geschehen  sei ,  von  denen  elf  Bände  aus  den  Jahren 
1579 — 1745  ins  Ossolinskische  Institut  in  Lemberg  gelangt  sind.  Nach 
einem  Hinweis  auf  die  Tatsache,  dafs  man  in  den  meisten  deutschen  Bundes- 
staaten der  Erhaltung  von  Kunstdenkmälem  ein  so  grofses  Interesse  entgegen- 
bringe, bezeichnete  er  es  als  eine  nicht  minder  wichtige  Aufgabe,  die  schrift- 
lichen Denkmäler  vergangener  Zeiten  zu  erhalten,  und  schlägt  deshalb  vor, 
einen  Ausschuis  zu  bilden,  der  mit  Hilfe  der  Archive  feststelle,  wieviel  von 
Archivalien  in  ihren  Bezirken  während  der  letzten  2  5  Jahre  durch  Brand  usw. 
verlorengegangen  sei,  und  auf  Grund  des  gesammelten  Materials  eine  Denk- 
schrift ausarbeite,  die  den  Regierungen  der  deutschen  Bundesstaaten  über- 
reicht werden  und  dadurch  die  Anregung  zu  einem  Archivgesetze  oder  einer 
Organisation  zum  Schutze  der  Archivalien  geben  soll. 

Oberregierungsrat  Er  misch  bestätigte  zunächst  die  vom  Referenten 
gegebene  Schilderung  aus  seiner  eigenen  Erfahrung,  wies  dann  auf  die  in 
Sachsen  geschaffene  Organisation  hin,  gemäfs  der  die  kommunalen  Archive 
und  Registraturen  tatsächUch  der  Beaufsichtigung  des  Hauptstaatsarchivs  zu 
Dresden  unterstehen,  und  stimmte  schliefsUch  dem  Antrage  des  Referenten 
auf  Bildung  eines  Ausschusses,  Abfassung  einer  Denkschrift  und  Mitteilung 
derselben  an  die  deutschen  Staatsregierungen  zu.  Für  die  praktische  Frage 
der  Organisation  empfahl  er  die  gesetzliche  Ordnung  nicht  zu  streng  zu 
machen,  namentlich  den  Gemeinden  gegenüber  empfehle  sich  mehr  der  Weg 
der  Verordnung  (Verwaltung),  als  der  des  Gesetzes,  die  Staatsarchive  sollten 
nur  die  Stelle  wohlwollender  Berater  einnehmen,  von  dem  Grundsatz  suaviier 
in  modo,  fortUer  in  re  müsse  für  die  Staatsarchive  das  erstere,  das  letz- 
tere aber  für  die  Staatsbehörde  gelten. 

Nach  einer  kurzen  Erklärung  des  Archivrats  Dr.  Bär  über  seine  Auf- 
fassung des  Wortes  „gesetzlich'',  durch  welches  er  auch  den  Weg  der 
Verordnung  bezeichnet  haben  möchte,  imd  nach  nochmaliger  Wiederholung 
der  mifsverstandenen  Werte  über  die  Archivalien  kommunalen  oder  staat- 
lichen Ursprungs  in  den  Händen  Privater  gab  Reichsarchivassessor  Knapp  eine 
hübsche  Ergänzung  des  Referates  und  Korreferates  durch  einen  Überblick 
über  die  in  dem  übrigen  Deutschland  sowie  dem  Auslande  etwa  bestehenden 
Besdnmiungen  über  Archivalienschutz.  Im  übrigen  nahm  er  den  gemachten 
Vorschlägen  gegenüber  eine  im  ganzen  ablehnende  Stellung  ein;  die  Ein- 
verleibung der  kleinen  Archive  in  die  Staatsarchive  führe  notwendig  zur  Be- 
lastung der  letzteren,  die  Ausübung  einer  Aufsicht  durch  Bereisen  der  kleinen 
Archive  müsse  so  lange  als  nicht  gerechtfertigt  erscheinen,  solange  die  Staats- 
archive selbst  nicht  vollständig  geordnet  wären,  die  Überweisung  der  Beauf- 
sichtigung an  Kommissionen  und  Geschichtsvereine  scheitere  daran,  dafs  es 
diesen  Vereinen  an  der  zu  diesem  Zwecke  nötigen  Autorität  fehle,  das  Wich- 
tigste bleibe  immer  Erzielung  von  Geldmitteln,  mit  denen  den  Mifsständen 
abgeholfen  werden  könne. 

Die  Diskussion  ergab  eine  vollständige  Übereinstimmung  über  die 
Notwendigkeit  des  Archivalienschutzes,  nur  über  die  Möglichkeit  einer  gesetz- 
lichen Regelung  entspann  sich  eine  längere  Debatte.  Nachdem  Stadtarchivar 
Weckerling  (Worms)  auf  die  in  Hessen  geltenden  Bestimmungen,  deren  Aus- 
führung und  Wirkung  hingewiesen,  femer  Archivdirektor  Wolfram  (Metz) 
die  vorteilhaften  Wirkungen  des  in  den  Reichslanden  noch  bestehenden  Auf- 


—     17     — 

Sichtsrechts  der  staatlichen  Archivbehörden  geschildert  hatte,  schien  die  Sym- 
pathie für  diese  straffere  Organisation  die  Oberhand  zu  gewinnen.  Der  von 
Weckerling  angeregte  Gedanke,  nicht  den  Staatsarchivaren,  sondern  den 
Stadtarchivaren  die  Beauüsichtigung  der  kleinen  Archive  im  Bezirke  der  Stadt 
zu  unterstellen,  fand  nur  geringe  Zustinunimg,  ebenso  der  Antrag  des  Geh. 
Archivrats  Joachim  (Königsberg),  durch  eine  Resolution  den  deutschen 
Staatsregierungen  zu  empfehlen,  die  im  Königreich  Sachsen  oder  die  in  Elsafs- 
Lothringen  geltende  Ordnung  des  Archivalienschutzes  zur  Einführung  zu 
bringen.  Endlich  ward  der  Antrag  des  Geh.  Archivrats  Bai  Heu  (Berlin) 
zum  Beschlufs  erhoben:  ein  Ausschufs  solle  gewählt  werden,  bestehend 
aus  den  drei  Referenten  und  dem  Archivdirektor  Wolfram  (Metz);  dieser 
Ausschufs  solle  die  vom  Referenten  empfohlene  Denkschrift  ausarbeiten 
und  dem  nächsten  Archivtage  in  Bamberg  vorlegen. 

Hieran  schlofs  sich  der  Vortrag  des  Archivrats  Bär  über  die  Be- 
gründung des  Staatsarchives  zu  Danzig.  Der  Vortragende  wies 
darauf  hin,  dafs  hier  in  Danzig  das  Archiv  nicht  allein  ein  neugebautes, 
sondern  auch  neugegründetes  sei,  schilderte  dann  die  Entstehung  desselben, 
das  mit  einer  gewissen  Notwendigkeit  aus  der  Sonderung  der  Provinzial- 
Verwaltung  hervorgegangen  sei,  eine  Notwendigkeit,  die  besonders  der  ver- 
storbene Oberpräsident  v.  Gofsler  klar  erkannt  habe.  Unter  den  Bestän- 
den, die  das  neue  Archiv  übernahm,  war  am  wertvollsten  das  Archiv  der 
Stadt  Danzig,  welches  von  dieser  durch  einen  besonderen  Vertrag  dem  Staat 
zur  Verwaltung  überwiesen  wurde.  Die  weiteren  Ausführungen  des  Redners 
über  die  Anlage  des  Archivgebäudes  ergaben,  dafs  neben  vielen  Vorzügen 
doch  auch  manche  Mängel  sich  zeigten ;  so  ist  z.  B.  das  Verwaltungsgebäude 
leider  etwas  zu  klein,  der  für  die  Bibliothek  bestimmte  Raum  schon  jetzt 
vollständig  ausgefüllt,  ein  Raum  für  Zaponiening  fehlt ;  im  eigentlichen  Archiv- 
gebäude treten  ebenfiedls  die  Vorzüge  wie  Mängel  des  Magazinsystems  zutage, 
unter  letzteren  die  geringere  Beleuchtung  der  unteren  Räume,  auch  macht 
sich  das  Fehlen  von  Baikonen  für  das  Abstäuben  und  Lüften  der  Akten 
bemerkbar.  Unter  den  im  Archiv  eingeführten  Neuerungen  sind  besonders 
zwei  beachtenswert,  die  Einrichtung  der  Aktengestelle  tmd  die  Art  der  Auf- 
bewahrung von  Karten  und  Plänen.  Die  AktengesteUe  sind  unverstellbar, 
die  horizontale  Gliederung  der  Fächer  in  der  Weise  geschaffen,  dafs  zwischen 
je  zwei  festen  Trägem  drei  eiserne  Stäbe  eingefügt  wurden  als  Trennung  und 
Scheidung  nach  rechts  und  links,  zugleich  als  Stütze  des  darüber  liegenden 
Faches,  durch  Herausnahme  eines  oder  zwei  oder  auch  drei  dieser  Stäbe 
läist  sich  ein  den  Bedürfnissen  entsprechender  breiterer  Raum  hersteUen  bis 
zu  dem  Höchstmafs  der  Entfernung  zwischen  den  beiden  festen  vertikalen 
Stützen.  In  jedem  kleinen  Fach  ist  auch  durch  ein  in  der  Mitte  des  Hinter- 
grundes au%estelltes  Stäbchen  das  Verschieben  der  Akten  nach  dem  Inneren 
des  Faches  verhindert  Diese  Anordnung  steht  in  gewissem  Zusammenhange 
mit  der  zweiten  Neuerung,  der  Lagerung  von  Karten  und  Plänen.  Für  deren 
Aufbewahrung  sind  hier  Kasten  mit  Klappen  angefertigt,  die,  abgesehen  von 
dem  gröfseren  Schutze,  den  sie  dem  Material  gewähren,  den  Vorteil  bieten, 
dafs  sie  nach  Entfernung  der  entsprechenden  Zahl  der  Eisenstäbchen  in  die 
Fächer  selbst  eingeschoben  werden  können,  abo  in  unmittelbarer  Nähe  der 
Akten  sich   befinden,   zu   denen   sie  gehören.     Weiter  verbreitete   sich  der 

2 


—     >8     — 

Redner  über  die  Grundsätze,  nach  denen  die  Ausscheidung  der  Akten  für 
das  Staatsarchiv  zu  Danzig  aus  dem  Staatsarchiv  zu  Königsberg  erfolgt  ist; 
es  sind  nicht  nur  alle  Akten  von  Behörden  der  jetzigen  Provinz  Westpreufsen 
hertibergenommen ,  sondern  auch  alle  solche  Akten  der  ostpreufsischen  Be- 
hörden, die  sich  auf  Westpreufsen  beziehen.  Mit  einer  Erörterung  allgemeiner 
Art  über  Durchführung  des  Provenienzprinzips  schlofs  der  Vortrag. 

Hieran  schlofs  sich  ein  Rundgang  durch  das  Archiv,  bei  dem  beson- 
ders die  vorher  genannten  Neuerungen  einer  Prüfung  unterzogen  wurden. 
Im  allgemeinen  kann  man  sich  nicht  verhehlen,  dafs  sie,  namentlich  in  Rück- 
sicht auf  die  Unterbringung  der  Pläne,  sinnreich  erdacht  sind  und  eines 
praktischen  Wertes  nicht  entbehren,  doch  dürfte  einer  längeren  Prüfung  noch 
die  Frage  vorbehalten  bleiben,  ob  sie  sich  in  allen  Teilen  praktisch  bewähren 
und  ob  der  Nutzen,  den  die  Aufbewahiang  der  Pläne  in  besonderen  Kästen 
neben  den  Akten  vor  den  anderen  Aufbewahrungsarten  voraus  hat,  im  rechten 
Verhältnis  zu  den  offenbar  nicht  unbedeutenden  Kosten  steht. 

Nach  einem  im  Archivkeller  eingenommenen  Frühstück  wurden  die  Ver- 
handlungen um  I  Uhr  wieder  aufgenommen,  da  aber  um  2  Uhr  bereits  nach 
der  Disposition  für  diesen  Tag  die  Fahit  nach  Langfuhr  unternommen  werden 
sollte,  so  konnten  die  noch  angemeldeten  drei  Vortaäge  nur  in  ganz  über- 
sichtlicher und  knapper  Form  geboten  werden.  Zunächst  folgte  der  Vortrag 
des  Archivars  Erhar dt  (Berlin)  über  die  Hauptphasen  der  Entwicke- 
lung  des  Geheimen  Staatsarchivs  in  Berlin.  Er  schilderte  nament- 
lich die  Anfänge  desselben  unter  dem  Grofsen  Kurfürsten  und  die  Tätigkeit 
Schönebecks,  dessen  Einteilung  noch  heute  Geltung  habe.  Das  XVIII.  Jahrh. 
habe  nicht  wesentliche  Veränderungen  gebracht,  ebensowenig  der  Anfang 
des  XIX.  Jahrh.,  obwohl  die  Veränderung  der  Staatsbehörden  eine  solche 
hätte  erwarten  lassen.  Dann  aber  seien  drei  wesentliche  Veränderungen 
erfolgt,  I.  die  Ausscheidung  des  Hausarchivs,  2.  die  Vereinigung  mit  dem 
Archiv  des  Generaldirektoriums,  das  1808  aufgelöst  wurde,  3.  die  Anwen- 
dung des  Provenienzprinzips.  Nach  einer  Darstellung  der  gegenwärtigen 
Organisation  schlofs  der  Redner  mit  der  Versicherung,  dafs  das  geheime 
Staatsarchiv  wie  im  XVIII.  Jahrh.  so  auch  heute  bestrebt  sei,  sowohl  wissen- 
schaftlichen Ansprüchen  als  auch  praktischen  Bedürfnissen  voll  zu  entsprechen. 

Im  zweiten  Vortrage  gab  Fabrikbesitzer  Dr.  Perl  (Berlin)  einen  Über- 
blick über  „die  allgemeine  Verwendung  des  Zapons  in  der  In- 
dustrie*'. Er  ging  von  der  Tatsache  aus,  dafs  man  früher  Lacke  aus 
natürlichen  Stoffen  hergestellt  habe,  jetzt  aber  solche  aus  künstlichen  Stoffen 
bilde,  das  Zapon  aus  Nitroglyzerin.  Die  Erfindung  dieses  Lacks  ist  der 
amerikanischen  Industrie  gelungen,  seine  Vorzüge  bestehen  in  der  Freiheit 
von  Säure,  der  Farblosigkeit  und  der  Härte,  die  ihn  vor  aUen  Lacken  aus- 
zeichnet, sowie  namentlich  darin,  dafs  beim  Trocknen  seine  eigenen  Tropfen 
aufgesogen  werden  und  daher  überall  decken.  Durch  diese  Eigenschaften 
wird  er  das  vorzüglichste  Konservierungsmittel  und  findet  namentlich  in  der 
Silberwarenindustrie  als  bestes  Schutzmittel  gegen  Oxydierung,  aber  neuer- 
dings auch  in  der  Bronzeindustrie  Verwendung.  An  markanten  Beweisstücken 
legte  der  Redner  all  diese  Vorzüge  dar. 

Dafs  aber  dieser  I^ck  für  die  Archive  eins  der  wichtigsten  Konser- 
vierungsmittel  bietet,    das    hat   auf  früheren  Archivtagen  bereits  durch  Wort 


-       19     — 

und  praktische  Vorführung  Archivrat  Sello  (Oldenburg)  dargetan.  Er  hatte 
auch  diesmal  in  dankenswerter  Weise  sich  bereit  finden  lassen  zu  einem 
„Bericht  über  die  bei  der  Zaponverwendung  gemachten  Er- 
fahrungen''.  Die  Veranlassung  dazu  war  ein  Auftrag  des  dritten  Archiv- 
tages *)  zu  Düsseldorf  an  eine  dreigliederige  Kommission,  bestehend  aus  dem 
Geh.  Archivrat  Grotefend  (Schwerin),  Archivdirektor  Wolfram  (Metz)  und 
Archivrat  Sello  (Oldenburg),  dem  vierten  Archivtage  über  die  beim  Zaponieren 
gemachten  Erfahrungen  Bericht  zu  erstatten.  Da  diese  Kommission  wegen  örtlicher 
Trennung  an  ein  Zusammenaibeiten  nicht  hatte  denken  können,  so  legte  der 
Redner  seine  eigenen  Erfahrungen  dar,  indem  er  einen  Überblick  über  die 
neueste  Literatur  gab,  dann  über  die  bei  Besuchen  fremder  Archive  an- 
gestellten Beobachtungen,  endlich  über  das  Laboratorium  in  Oldenburg  be- 
richtete. Für  die  praktische  Tätigkeit  waren  besonders  wichtig  die  Mitteilungen, 
dafs  Redner  die  Zaponfilms  nicht  mehr  verwendet,  als  Klebemittel  jetzt  Perl- 
kitt empfiehlt  und  Siegel  nicht  mehr  zaponiert.  Interessant  waren  femer  die 
Ausführungen  über  die  Verwendung  des  Lyoneser  Schleiers  und  dessen  Er- 
satz durch  die  bei  ims  gebräuchlichen  Tüll-  imd  Schleiersorten.  Die  vor- 
gelegten Proben  wiesen  in  überaus  instruktiver  Weise  nicht  allein  die  Ein- 
wirkung der  verschiedenen  Tüllarten  auf  die  Lesbarkeit  der  Schrift  nach, 
sondern  noch  mehr  die  allmählich  gesteigerte  Kunstfertigkeit  in  Wieder- 
herstellung der  der  Zerstörung  anheimfallenden  Archivalien.  Der  Redner 
schlofs  mit  der  Mahnimg:  Im  übrigen  zaponieren  Sie  lustig  darauf  los,  die 
Freude  an  den  Erfolgen  wird  die  beste  Lehrmeisterin  werden. 

Im  Anschlufs  an  den  Vortrag  empfahl  Archivrat  Bär,  der  Vortragende 
möge  eine  Stunde  für  ein  Praktikum  im  Zaponieren  bestimmen.  Archivrat 
Sello  erklärte  sich  auch  freundlichst  dazu  bereit  und  setzte  das  Praktikum 
für  Doimerstag  früh  halb  9  Uhr  im  KgL  Staatsarchiv  an.  Auch  dazu,  wie 
wir  vorgreifend  melden,  fand  sich  eine  grofse  Zahl  von  Archivaren  ein  und 
dankte  am  Schlufs  der  überaus  instruktiven  Vorführungen  in  herzlicher  Weise 
für  die  so  freundlich  gebotene  Belehrung. 

Aus  dem  geschäftsführenden  Ausschufs  scheiden  satzungsgemäfs  Archiv- 
direktor Grotefend  (Schwerin)  und  Geh.  Archivrat  Wiegand  (Strafsburg) 
aus,  doch  beschlofs  auf  Antrag  des  Geh.  Archivrats  Bai  Heu  die  Ver- 
sanunlung  deren  Wiederwahl  sowie  die  Wahl  des  Generaldirektors  Baumann 
(München).  Aufserdeyi  wurde  der  Druck  der  Protokolle  der  Versammlung 
durch  besonderen  Beschlufs  genehmigt. 

Der  nächste  Archivtag  soll  Ende  September  1905  in  Bamberg  stattfinden. 

Archivrat  Wäschke  (Zerbst). 

Kommissionen.  —  Die  römisch-germanische  Kommission  des 

Kaiserlichen  archäologischen  Instituts.  Am  4.  Januar  1904  hat 
sich  in  Fraiücfurt  a.  M.  die  römisch-germanische  Kommission  des  Kaiser- 
lichen archäologischen  Instituts  zum  ersten  Male  versammelt  und  damit  ihre 
Tätigkeit  in  vollem  Umfange  aufgenommen.  Was  diese  KommisMon  ist,  wer 
sie  bildet,  was  ihre  Zwecke  sind,  wie  sie  ihre  Arbeiten  zu  gestalten  denkt, 
darüber  bin   ich  auch  jetzt  noch  so  oft  unklaren  oder  direkt  falschen  Vor- 

I)  S.  diese  Zeitschrift  Bd.  IV,  S.  62. 

2* 


—     20     — 

Stellungen  begegnet,  dafs  ich  einer  Aufforderung  der  Redaktion  dieser  Zeit- 
schrift nachkomme  und  auch  dem  Kreise  ihrer  Leser  in  Kürze  ein  Bild  von 
der  Kommission  zu  geben  versuche.  Denn  in  den  Dienst  landesgeschicht- 
licher Forschung  soll  sich  auch  die  neue  Organisation  stellen*  imd  darf 
daher  auf  das  Interesse  der  hieran  beteiligten  Kreise  rechnen. 

Mit  der  Bildung  der  Reichslimeskommission  hatte  sich  das  deutsche 
Reich  zum  ersten  Male  aktiv  an  der  archäologischen  Erforschung  West- 
deutschlands beteiligt.  Eine  grofse  Aufgabe,  die  Erforschtmg  des  gröfsten 
historischen  Monumentes  Deutschlands  aus  der  Römerzeit,  an  welcher  schon 
seit  Dezennien  von  lokalen  Vereinen  und  einzelnen  Forschem  gearbeitet 
worden  war,  sollte  hier  nach  einheitlichem  Plane  zu  einem  gewissen  Abschlufs 
gebracht  werden.  Ein  Unternehmen,  das  die  Kräfle  der  Einzelforschimg 
überschritt,  sollte  durch  ihre  Zusanmienfassung  gefördert  werden.  In  den 
zwölf  Jahren  ihrer  Tätigkeit  hat  sich  diese  Organisation  vortrefflich  bewährt, 
und  die  Aufgabe,  die  ihr  gestellt  war,  wird  demnächst  erreicht  sein.  Es  hat 
sich  dabei  gezeigt,  wie  nützlich  ein  solches  gemeinsames  Vorgehen  ist;  wie 
notwendig  es  ist  zur  Erreichimg  grofser  Ziele ;  wie  erspriefslich  der  beständige 
Austausch  wirkt,  der  auf  diese  Weise  zwischen  allen  Arbeitenden  herbeigeführt 
wird;  wie  die  Forschung  dadurch,  dafs  sie  auf  eine  breitere  Basis  gestellt 
wird,  auch  an  Tiefe  gewinnt  So  mufste  der  Gedanke  wach  werden,  die 
enge  Fühlung,  in  welche  die  west-  und  süddeutschen  Altertumsforscher  durch 
die  gemeinsam  betriebene  Limesforschung  zueinander  getreten  waren,  auch 
für  die  Zukunft  zu  erhalten  und  die  Vorteile,  die  sie  einem  Forschungs- 
objekt gebracht,  auch  anderen  Gebieten  zugute  konmien  zu  lassen. 

Die  laqgen  Beratungen  tmd  das  endlose  Hin  und  Her,  zum  Teil  im- 
erquicklichster  Art,  die  der  Bildung  der  römisch-germanischen  Konmiission 
vorausgegangen  sind,  will  ich  übergehen.  Es  hat  keinen  Zweck,  diese  Dinge 
wieder  aufzurühren,  die  abgeschlossen  sind  mit  dem  endlichen  Inslebentreten 
der  neuen  Organisation.     Diese  selbst  aber  möchte  ich  kurz  beleuchten. 

Die  römisch-germanische  Kommission  ist  als  eine  Abteilung  des  Kaiser- 
lichen archäologischen  Instituts  ins  Leben  getreten.  Dieses  Reichsinstitut, 
das  bisher  in  erster  Linie  auf  klassischem  Gebiet  und  im  Auslande  tätig 
war,  hat  damit  seine  Tätigkeit  auch  auf  das  Gebiet  der  heimaüichen  Archäo- 
logie ausgedehnt.  Gegenüber  den  beiden  bisherigen  Abteilungen  des  archäo- 
logischen Instituts  in  Rom  und  Athen  nimmt  die  n«ue  AbteUtmg  insofern 
eine  Sonderstellung  ein,  als  ihr  durch  Reichstagsbeschlufs  ein  gesonderter 
Etat  von  20  000  Mk.  zugewiesen  ist  und  über  diesen  nicht  von  der  2^ntral- 
direktion  des  Instituts,  sondern  von  einer  besonderen  Konmiission  verfügt 
wird.  Dieser  Kommission  ist  nach  den  Satzimgen  die  Aufgabe  gestellt:  „die 
archäologische  Erforschung  derjenigen  Teile  des  deutschen 
Reiches,  die  dauernd  unter  römischer  Herrschaft  gestanden 
haben,  mit  Rat  und  Tat  zu  fördern.  Innerhalb  dieses  Ge- 
bietes ist  die  Kultur  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zum  Ende 
der  Römerherrschaft  gleichmäfsig  zu  untersuchen.  Die  aufscr- 
halb  dieser  Grenzen,  namentlich  zwischen  Elbe  und  Weser 
sich  findenden  römischen  Reste  sind,  soweit  die  Organi- 
sation der  Kommissionsarbeiten  es  gestatten  wird,  in  die 
Forschung  einzubeziehen".     Die  Konmiission  entwirft  in  ihrer  Jahres- 


—     21     — 

Sitzung  ihren  Arbeitsplan  und  Etat,  während  die  unmittelbare  Leitung  der 
Arbeiten  durch  ihren  Direktor  erfolgt. 

Die  Kommission  besteht  aus  dem  Direktor  und  17  Mitgliedem.  Von 
diesen  ernennt  die  Zentraldirektion  des  archäologischen  Instituts  aus  ihrer 
Mitte  zwei,  gegenwärtig  die  Herren  Prof.  Hirsch feld  (Berlb)  und 
Prof.  Loeschcke  (Bonn),  zu  denen  ab  dritter  der  jeweilige  Generalsekretär  des 
Institutes  kommt.  Drei  weitere  Mitglieder  beruft  der  Reichskanzler.  Es  smd 
das  gegenwärtig  die  Herren  Oberbürgermeister  Adickes  (Frankfurt),  Prof. 
£d.  Meyer  (Berlin)  und  Prof.  Schumacher,  der  Direktor  des  römisch- 
germanischen Zentralmuseums  in  Mainz.  Sechs  weitere  Mi^lieder  werden 
von  den  zunächst  beteiligten  Regierungen  berufen.  Bayern  wird  durch  Herrn 
Prof.  Ranke  (München),  Württemberg  durch  Prof.  von  Herzog  (Tübingen), 
Baden  durch  den  Vorsitzenden  der  Reichslimeskommission  Prof.  Fabricius 
(Freiburg),  Hessen  durch  Herrn  Ministerialrat  Soldan  (Darmstadt),  Preufsen 
durch  Geh.  Baurat  Ja cobi  (Homburg),  das  Reichsland  durch  Prof.  Henning 
(Strafsburg)  vertreten.  Aufserdem  hat  die  Zentraldirektion  das  Recht,  die  Be- 
rufung von  fünf  Vertretern  von  Altertumsvereinen  und  anderen  an  der  römisch- 
germanischen Forschung  interessierten  Körperschaften  zu  beantragen.  Auf 
diese  Weise  sind  der  Kommission  noch  die  Herren  Profif.  von  Domaszewski 
(Heidelberg),  Ohlenschlager  (München),  Ritterling  (Wiesbaden), 
Schuchhardt  (Hannover)  und  Wolff  (Frankfurt)  beigetreten. 

Schon  in  dieser  Zusammensetzung  der  Kommission  zeigt  sich  deutlich 
das  Streben,  mit  der  lokalen  Forschimg  Hand  in  Hand  zu  gehen,  indem 
die  Kommission  zum  gröfsten  Teile  aus  Männern  gebildet  wurde,  deren 
Namen  mit  der  lokalen  Altertumsforschung  der  letzten  Jahrzehnte  in  engster 
Verbindung  stehen  und  dem  Kreise  derjenigen  entnommen  sind,  denen  ein 
gutes  Teil  der  Fortschritte  imserer  heimischen  Archäologie  in  den  letzten 
Jahrzehnten  zu  danken  ist.  Auf  der  anderen  Seite  sollte  die  Angliedenmg 
an  das  archäologische  Institut  die  Gewähr  dafür  geben,  dafs  die  lokale 
Forschimg  mehr  und  mehr  aus  ihrer  örtlichen  Abgeschlossenheit  heraustritt 
und  die  nötige  Fühltmg  mit  der  klassischen  Altertumsforschung  gewinnt. 

Träger  der  lokalen  Altertumsforschung  sind  seit  Jahrzehnten  in  erster 
Linie  die  wissenschaftlichen  Vereine  und  die  provinzialen  und  landschaftlichen 
Museen  gewesen.  In  einer  Zeit,  in  der  an  den  Universitäten  noch  kaiun 
ein  Interesse  für  die  einheimischen  Altertümer  zu  finden  war  und  die  zünftigen 
Archäologen  sich  meist  vollkommen  von  der  heimischen  Altertumsforschung 
fernhielten,  haben  sie,  ein  jeder  in  seinem  Gebiet,  gearbeitet,  Material  ge- 
sammelt und  durch  Einzeluntersuchungen  einen  festen  Grund  bereitet,  auf 
dem  jetzt  weiter  gebaut  werden  kann.  Ihre  Arbeiten  sind  aber  keineswegs 
beendet,  vielmehr  harren  die  gröfsten  Aufgaben  noch  ihrer  Erledigung,  imd 
diese  können  sie  nur  finden  durch  die  Mitarbeit  der  lokalen  Forschung.  Die 
heimische  Altertumsforschung  ist  so  eng  mit  ihrem  Boden  verwachsen,  dafs 
sie  die  Mitarbeit  der  örtlichen  Vereine  und  Forscher  gar  nicht  entbehren 
kann.  Bei  der  Gründtmg  der  römisch-germanischen  Konmiission  wollte  man 
deshalb  auch  keineswegs  einen  Ersatz  für  die  Vereine  schafien ,  man  dachte 
nicht  daran,  der  Vereinsarbeit,  der  Arbeit  der  örtlichen  Forscher  entgegen- 
zutreten, sie  auszuschalten  und  etwas  Neues  an  ihre  Stelle  zu  setzen.  Es 
sind  wohl  Stimmen  laut  geworden,  die  solche  Befürchtungen  ericennen  liefsen. 


—     22     — 

Aber  die,  deren  Bemühungen  in  erster  Linie  das  Zustandekommen  der  Kom- 
mission zu  danken  ist,  haben  derartige  Absichten  nie  gehabt  Sie  waren 
sich  voll  bewufst,  dafs  eine  lokale  Forschung  ohne  lokale  Arbeitskräfte  un- 
möglich sei  und  dais  die  einheimische  Altertumsforschung  nur  durch  För- 
dertmg  der  lokalen  Forschung  gefördert  werden  könne.  Ebensowenig 
wie  die  bisherigen  Arbeitskräfte  ausgeschaltet  werden  sollten,  soll  auch  ihre 
wissenschaftliche  Selbständigkeit,  wie  ich  es  nennen  möchte,  ihnen  genommen 
werden.  Das  Reichsinstitut  soll  nicht  etwa  künftig  die  gesamten  wissen- 
schaftlichen Aufgaben  übernehmen  und  sie  zentralisieren  in  dem,  Sinne 
dafs  es  nun  jedem  Vereine  oder  Forscher  seine  Rolle  zuweisen  wollte  in 
dem  Thema,  das  es  gerade  zu  bearbeiten  für  gut  findet.  Ein  solches  Vor- 
gehen würde  die  Vereinstätigkeit  bald  lahmlegen.  Die  Kommission  soll  die 
römisch-germanische  Forschung  mit  Rat  und  Tat  fördern,  indem  sie  ihr 
hilft,  die  Mängel,  welche  der  lokalen  Forschung  naturgemäfs  anhaften,  zu 
überwinden.  Vor  allem  soll  sie  es  sich  angelegen  sein  lassen,  die  Altertums- 
forschung vor  der  früheren  Zersplitterung  zu  bewahren.  Sie  soll  das  Ihre 
dazu  beitragen,  die  lokalen  Forscher  in  Fühlung  miteinander  zu  bringen, 
damit  mehr  und  mehr  die  Gemeinsamkeit  der  Aufgaben  erkannt  werde,  und 
die  Einzeluntersuchung,  aus  dem  engen  lokalen  Rahmen  herausgehoben, 
grofsen  Beobachtnngsreihen  sich  einordne.  Sie  soll  die  lokale  Forschung 
auf  diese  Weise  in  ständiger  Verbindung  mit  den  grofsen  allgemeinen  Fragen 
der  Wissenschaft  halten.  Sie  soll  fem  er  planmäfsig  angelegte  gemeinsame 
Unternehmungen  anregen  und  fördern,  die  die  materielle  und  geistige  Kraft 
der  einzelnen  übersteigen.  Sie  soll  ihre  wissenschaftlichen  Erfahrungen  der 
lokalen  Forschung  zur  Verfügung  stellen  und  soll  endlich  auch  mit  ihren 
materiellen  Mitteln  helfend  eingreifen,  wo  die  lokalen  Hilfsquellen  versagen 
oder  nicht  ausreichen,  um  ein  wertvolles  wissenschaftliches  Unternehmen 
befriedigend  zu  Ende  zu  führen. 

Also  nicht  eine  Bevormundung  der  bisherigen  Arbeitskräfte  ist  mit  der 
neuen  Kommission  beabsichtigt,  nicht  eine  zentrale  Leitung,  der  jene  unter- 
geordnet werden  sollen,  sondern  eine  Bundesgenossin  soll  sie  sein,  mit  der 
zusammen  sie  an  die  gemeinsamen  Aufgaben  herantreten  sollen.  Kein  amt- 
liches, sondern  ein  Vertrauensverhältnis  soll  zwischen  Kommission  und  ört- 
licher Forschung  herrschen. 

Im  einzelnen  wird  sich  das  Verhältnis  zwischen  Kommission  und  Ver- 
einen sehr  verschieden  gestalten ,  entsprechend  der  grofsen  Verschiedenheit 
der  örtlichen  Verhältnisse  und  Aufgaben.  Auch  hier  soll  keine  feste  Regel 
beengend  wirken,  sondern  wie  Aufgabe,  Persönlichkeiten,  örtlichkeiten  es 
erfordern,  so  wird  es  gemacht.  Am  klarsten  wird  das  wohl  werden,  wenn 
ich  hier  einige  Beispiele  aus  der  bisherigen  Tätigkeit  der  Kommission 
kurz  anführe.  Das  gröfste  Unternehmen,  das  die  Kommission  gegenwärtig 
betreibt,  sind  die  Ausgrabungen  in  dem  Römerplatze  bei  Haltern  an  der 
Lippe.  Hier  hat  sich  die  Kommission  mit  der  Altertnmskommission  für 
Westfalen  vereinigt,  der  sie  einen  grofsen  Teil  des  nötigen  Geldes  zur  Ver- 
fügung stellt.  In  die  persönliche  Leitung  der  Grabungen  teilen  sich  hier 
der  Vorsitzende  der  westfälischen  Kommission  und  der  Direktor  der  römisch- 
germanischen Kommission.  In  anderen  Fällen  hat  die  Kommission  wissen- 
schaftlichen   Vereinen    zur    Durchführung    einer    augenblicklich    drängenden 


—     23     — 

Untersuchung  Geldmittel  zur  Verfiigung  gestellt,  damit  die  Arbeiten  nicht 
ins  Stocken  gerieten  und  der  Erfolg  in  Frage  gestellt  wurde.  Als  Felix 
Hettner  durch  einen  jähen  Tod  mitten  aus  der  Arbeit  gerissen  wurde, 
da  stellte  die  Kommission  die  Arbeitskraft  ihres  Direktors  der  Rheinprovinz 
zur  Verfügung,  damit  die  gerade  damab  so  wichtige  ständige  archäologische 
Beobachtung  der  Kanalisierungsarbeiten  in  Trier  weitergeführt  werden  konnte, 
bis  ein  Nachfolger  Hettners  sie  selbst  wieder  in  die  Hand  nehmen  konnte. 
Auch  einzelnen  Forschem  ist  die  Kommission  schon  beigesprungen,  um 
ihnen  die  Fortführung  wissenschaftlicher  Arbeiten  zu  ermöglichen. 

Es  ist  schon  eine  ganze  Reihe  von  Aufgat>en,  welche  die  Kommission 
teils  gelöst,  teils  in  Angriff  genommen  hat:  die  jährlichen  Berichte  in  dem 
Jahresbericht  des  Kaiserlichen  archäologischen  Instituts  geben  darüber  Auf- 
schluis,  und  über  den  Arbeitsplan  des  laufenden  Jahres  orientiert  der  Bericht 
des  Direktors,  den  er  vor  der  Versammlung  west-  und  süddeutscher  Alter- 
tumsvereine in  Mannheim  erstattet  hat  (vgl.  Korrespondenzblatt  des  Gesamt- 
vereins Bd.  52  (1904)  S.  338  ff.).  Ich  möchte  noch  hervorheben,  dafs  die  Kom- 
mission die  Vereinheitlichung  der  Forschung  auch  dadurch  zu  fördern  sich 
bemühen  wird,  da£s  sie  künftig  einen  Jahresbericht  über  die  Fortschritte  der 
römisch-gemumischen  Forschung  herausgibt,  welcher  die  Übersicht  über  die 
weitschichtige  Literatur  dem  Forscher  erleichtem  solL 

Wir  wollen  uns  unserer  bisherigen  Erfolge  nicht  rühmen,  noch  stehen 
wir  ganz  am  Anfange  unserer  Tätigkeit.  Das  aber  glauben  wir,  dafs  wir 
auf  dem  richtigen  Wege  sind,  dafs  gerade  unser  Verhältnis  zu  den  bisherigen 
Arbeitern  sich  richtig  und  erfreulich  gestaltet  hat  und  für  die  Zukunft  zu 
den  besten  Hofihungen  auf  gedeihliche  gemeinsame  Arbeit  berechtigt. 

Noch  zwei  Punkte  möchte  ich  berühren,  weil  da  vielfach  falsche  Vor- 
stellungen herrschen.  Das  ist  einmal  die  Begrenzung  unserer  Aufgabe.  Die 
Konunission  nennt  sich  „  römisch-germanische '%  und  schon  in  diesem  Namen 
soll  ausgesprochen  sein,  dafs  sie  Römisches  und  Germanisches  in 
gleicher  Weise  in  den  Bereich  ihrer  Studien  ziehen  will.  Sie 
soll  eben  wirklich  unsere  heimische  Vor-  imd  Frühgeschichte  fördern  helfen, 
nicht  nur  soweit  diese  sich  mit  der  der  klassischen  Völker  berührt.  Die 
Zeiten,  wo  der  Archäologe  an  allem,  was  nicht  römi^h  oder  griechisch 
war,  scheu  oder  verächtlich  vorüberging,  sind  ebenso  vergangen,  wie  die 
Zeiten,  wo  der  Historiker  bei  seinen  Arbeiten  nicht  über  die  schriftlichen 
Quellen  hinauszugehen  wagte.  Dafs  es  ihr  ernst  sei  um  das  Studium  auch 
des  nichtrömischen  Teiles  unserer  Vorgeschichte,  hat  die  Kommission  bereits 
durch  mehrere  Untemehmungen  auf  sog.  prähistorischem  Gebiete  bewiesen. 
Ich  brauche  nur  an  die  Untersuchung  der  grofsen  Niederlassung  der  Hall- 
stattzeit bei  Neuhäusel  zu  erinnern,  der  jetzt  andere  Arbeiten  auf  prähisto- 
rischem Gebiete  folgen. 

Der  zweite  Punkt  betrifft  den  Verbleib  der  Funde,  die  bei  Aus- 
grabungen der  Kommission  gemacht  werden.  Er  erledigt  sich  eigentlich 
schon  durch  das,  was  über  die  Arbeitsweise  der  Kommission  gesagt  ist. 
Die  Konunission  besitzt  kein  eigenes  Museum,  in  dem  sie  die  Funde  aufbe- 
wahren könnte,  und  sie  beabsichtigt  auch  nicht,  irgendeinem  bestimmten 
Museum  alle  ihre  Funde  zuzuschieben.  Die  Frage,  ob  Zentralisierung  oder 
Dezentralisiemng   der  Museen   das  Richtige    sei,  ist  ja  eine  sehr  schwierige 


—     24     — 

und  kann  hier  natürlich  nicht  behandek  werden.  Dafs  eine  gewisse  Dezen- 
tralisierung  das  einzig  MögUche  und  Notwendige  ist,  scheint  mir  klar,  und  es  kann 
sich  nur  darum  handeki,  wie  weit  diese  Dezentralisierung  gehen  soll.  Der 
Nutzen,  den  die  Forschung  dadurch  gehabt  hat,  dafs  neben  einigen  grofsen 
2^ntralmuseen  Provinzialmuseen,  Lokalmuseen,  Vereinsmuseen  stehen,  in  denen 
die  Fimde,  auch  die  unscheinbarsten,  in  ihrer  lokalen  Zusammengehörigkeit 
erscheinen,  ist  offenkundig.  Ganz  abgesehen  von  der  belebenden  Wirkung, 
welche  die  lokalen  Museen  auf  die  lokale  Forschung  ausüben,  bleiben  hier 
auch  die  unscheinbarsten  Fimde  lebendiges  Material,  die  in  grofsen  Zentral- 
museen  von  der  Masse  erdrückt  werden  würden  imd,  herausgerissen  aus  dem 
lokalen  Zusammenhange,  einen  Hauptteil  ihres  Wertes  einbüfsen  würden.  Für 
die  Kommission  werden  auch  hier  die  jedesmaligen  örtlichen  Verhältnisse 
malsgebend  seb  müssen,  und  nach  ihnen  wird  sich  der  Verbleib  der  Funde 
in  jedem  einzelnen  Falle  regeln.  Arbeitet  sie  mit  einem  Vereine  zusanmien, 
so  wird  es  sich  in  der  Regel  von  selbst  verstehen,  dafs  die  Fimde  in  der 
Sammlung  des  Vereines  bleiben,  arbeitet  sie  mit  einem  Provinzialmuseum 
zusammen,  so  gelangen  die  Funde  natürlich  dorthin.  In  vielen  Fällen  wird 
es  Sache  des  betreffenden  Provinzialmuseums  sein,  sich  mit  einer  Vereins- 
sammlung in  seinem  Gebiet  über  den  Verbleib  der  Funde  zu  einigen.  Das  sind 
dann  Fragen,  die  sich  nur  von  Fall  zu  Fall  entscheiden  lassen  und  in  denen 
es  gilt,  den  Weg  zu  finden,  auf  dem  weder  das  Provinzialmuseum  in  seinem 
Charakter  als  die  SteUe,  an  der  man  den  möglichst  vollständigen  Überblick  über 
die  Funde  eines  bestimmten  Gebietes  erhalten  soll,  geschädigt  wird,  noch 
den  Vereinen  ein  wichtiges  Mittel,  das  Interesse  weiterer  Kreise  zu  gewiimen 
und  zu  erhalten,  genommen  wird. 

Das  mag  in  Kürze  über  die  Kommission  orientieren.  Wir  stehen,  wie 
gesagt,  noch  ganz  am  Anfange  und  es  ist  noch  nicht  möglich,  ein  erschöpfen- 
des Programm  fUr  die  Tätigkeit  der  Kommission  aufzustellen;  das  mufs  die 
Zeit  bringen.  Nur  einige  Grundsätze  wollte  ich  andeuten,  nach  denen  wir  die 
Arbeit  begonnen  haben.  Wir  hoffen,  dafs  sie  sich  bewähren  werden.  Über 
den  Erfolg  unserer  Bestrebimgen  werden  künftige  Jahre  urteilen  können.  Er 
wird  um  so  gröfser  sein,  mit  je  gröfserem  gegenseitigem  Vertrauen  und  mit 
je  gröfserer  gegenseitiger  Achtung  Lokalforschung  imd  Kommission  zusam- 
menarbeiten tmd  zusanmienstreben.         Dragendorff  (Frankfurt  a.  M.). 

Alte  BIbllothekskatalogC.  —  Schon  seit  langer  Zeit  haben  die 
Bibliographen  allen  Notizen,  die  aus  dem  Mittelalter  über  Herstellung,  Er- 
werbung imd  Sammlung  von  Büchern  erhalten  sind,  Aufinerksamkeit  geschenkt, 
sie  haben  die  historischen  Quellen,  die  Chroniken  von  Klöstern  und  Stiften, 
die  Nekrologien,  die  Urkunden,  besonders  aber  alle  Arten  von  Inventaren 
durchsucht,  und  so  ist  im  Laufe  der  Jahie  ein  beträchtliches  Material  teils 
durch  kurze  Notizen  nachgewiesen,  teils  durch  erstmalige  Veröffentlichung 
oder  durch  Wiederabdruck  von  Dokumenten,  die  in  wenig  verbreiteten  oder 
seltenen  Schriften  schon  gedruckt  waren,  der  Wissenschaft  ein  Dienst  ge- 
leistet worden.  Im  Jahre  1885  erschienen  dann  Gustav  Beckers  CcUalogi 
bibUothecarum  aniiqui,  die  den  gröfsten  Teil  der  damals  allgemeiner  bekaimten 
alten  Btbliotheksverzeichnisse  an  einem  Orte  vereinigten,  ein  Buch,  das  von 
mancherlei  Forschern   und   in   recht  verschiedener  Hinsicht  mit  Nutzen  ge- 


—     26     — 

braucht  worden  ist  Aber  es  brachte  die  Kataloge  nur  bis  zum  Jahre  1200 
zum  Abdruck  und  begnügte  sich  für  die  folgende  Zeit  mit  dem  Nachweis 
der  Existenz  und  des  Druckorts  der  in  Frage  konmienden  Dokumente.  Aus 
einer  beabsichtigten  Rezension  dieser  Sammlung,  die  jedoch  in  der  Folge 
inmier  mehr  und  mehr  anschwoll,  erwuchs  bei  fortschreitender  Beschäftigung 
mit  dem  Stoffe  das  Buch  des  Unterzeichneten  Über  mitUHaUerliche  BVjiUo- 
iheken  (Leipzig  1890),  in  dem  der  Versuch  gemacht  wurde,  eine  Über- 
sicht über  das  ganze  aus  dem  Mittelalter  erhaltene  Material  an  alten  Bücher- 
Terzeichnissen  zu  geben.  Dais  dieser  Versuch  bei  dem  ungeheuren  Umfang 
und  der  Vielgestaltigkeit  der  Quellen  von  Vollständigkeit  weit  entfernt  war, 
darüber  war  sich  wohl  niemand  klarer,  als  der  Verfiisser  selbst.  Schon 
einige  Besprechungen  des  Buches  hatten  Nachträge  verzeichnet  Im  Laufe 
der  Zeit  sind  dann  teils  in  selbständigen  umfangreichen  Arbeiten,  teils  im 
„Zentralblatt  für  Bibliothekswesen"  und  anderwärts  entweder  neue  Dokumente 
zum  ersten  Male  veröffentlicht  oder  wenigstens  Hinweise  auf  die  unseren 
Zwecken  dienenden  Publikationen  gegeben  worden. 

Trotz  alledem  ist  das  Material  nach  unserer  Überzeugung  noch  bei 
wdtem  nicht  erschöpft  Die  gedruckten  Kataloge  modemer  Handschrifteo- 
sammlungen  geben  derartige  kleinere  Stücke  zwar  meistens,  aber  nicht  immer 
an,  so  dafs  eine  Orientierung  über  das  in  Bibliotheken  erhaltene  Material 
nur  einigermafsen  durch  das  Studium  der  genannten  ELataloge  erreicht  werden 
kann.  Viel  schwieriger  gestalten  sich  die  Verhältnisse  dann  betreffs  der 
Archive,  von  denen  Verzeichnisse,  der  Natur  der  Sache  entsprechend,  nur  in 
Ausnahmefällen  gedruckt  vorliegen.  Dazu  kommt  der  Umstand,  dafs  neben 
den  unter  staatlicher  Verwaltung  stehenden  Archiven  eine  bedeutende  Anzahl 
von  städtischen,  kirchlichen  und  privaten  Sammlungen  besteht,  deren  Inhalt, 
ja  deren  Existenz  zuweilen  in  weiteren  Kreisen  überhaupt  nicht  bekannt  ist 
und  deren  Durchforschung  öfters  auf  grofse  Schwierigkeiten  stöfst. 

Hier  öfkCtt  sich  für  die  Tätigkeit  der  vielen  historischen  Vereine  und 
fiir  die  Lokalforschung  ein  weites  Feld.  ^)  Da  den  LokaUbrschem  am  ehesten 
bekannt  ist,  in  welchen  modernen  Sammlungen  sie  die  handschrifttichen  und 
tnrkundlichen  Überbleibsel  von  Biblioüieken  und  Archiven  der  alten  Dome, 
Klöster  und  Stifter  ihres  Kreises  zu  suchen  haben,  sind  ihnen  für  methodische 
Nachforschung  die  Wege  mehr  geebnet,  als  den  Femerstehenden. 

Dafs  eine  vollständige  Sammlung  aller  urkundlichen  Notizen,  welche  sich 
aus  dem  Mittelalter  über  Existenz  und  Inhalt  von  Bibliotheken  erhalten 
haben,  von  grofsem  Werte  in  verschiedener  Hinsicht  wäre,  braucht  nicht 
eingehender  besprochen  zu  werden.  Bücherverzeichnisse  sind  kulturhistorische 
Dokumente.  Sie  lehren  uns  die  literarischen  Quellen  kennen,  die  zu  bestimmter 
Zeit,  an  bestimmtem  Orte  oder  von  bestimmten  Personen  zur  Bildung  benutzt 
wurden  oder  wenigstens  benutzt  werden  konnten.  Der  Literarhistoriker  ge- 
winnt sichere  Maisstäbe  ftir  die  Verbreitung  bestimmter  Autoren  oder  be- 
stimmter Werke,  ebenso  der  Philologe  Anhaltspunkte  für  deren  Überiieferungs- 
geschichte.  Der  Historiker  erhält  Zeugnisse  für  das  Vorhandensein  geschicht- 
licher Quellen;  auch   die   Philosophie,   Theologie   imd  Medizin  geht  beim 


i)  Anregungen    in  diesem  Sinne   gab   gelegentlich   der  46.  Philologenrersammlanc 
1901  in  Strafsbarg  F.  Eichler  (Graz).     Vgl.  diese  ZeiUcfarift  3.  Bd.,.S.  63—64. 


—     26     — 

Studium  der  alten  Bücherverzeichnisse  nicht  leer  aus.  Für  die  Geschichte 
des  Rechts  sind  alte  Kataloge  mit  Erfolg  schon  von  Savigny  herangezogen  worden, 
speziell  die  Rezeptiongeschichte  des  Römischen  Rechts  ist  vielfach  auf 
Grund  der  in  diesen  Verzeichnissen  enthaltenen  Angaben  au%eklärt  worden; 
ich  verweise  auf  die  Untersuchungen  von  Emil  Ott ,  Beiträge  eur  HecepiMms* 
geschickte  des  rämisck-^anonischen  Beehts  (Leipzig,  1879).  Dazu  sind  in  neuerer 
Zeit  noch  die  Forschungen  über  Ursprung  und  Ausbreitung  des  Humanismus 
in  Deutschland  gekommen,  imd  gerade  auf  diesem  Gebiete  sind  die  mittel- 
alterlichen Bibliotheksverzeichnisse  in  der  Hand  eines  Gelehrten  wie  Konrad 
Burdach  ^)  zu  neuem  Leben  erweckt  worden,  als  unverfängliche  Zeugen  über 
Werden  und  Wachsen  einer  der  bemerkenswertesten  Epochen  der  kulturellen 
Entwickelung. 

In  vielen  Fällen  wird  schon  der  urktmdliche  Nachweis  vom  Vorhanden- 
sein dieses  oder  jenes  Werkes  genügen,  um  Schlüsse  ziehen  zu  können.  In 
anderen  Fällen  würde  der  volle  Wert  alter  Kataloge  erst  zur  Geltung  kommen^ 
wenn  es  gelingt,  die  Existenz  der  dort  aufgezählten  Bücher  noch  heute  mit 
Sicherheit  nachzuweisen.  Eine  udcundliche  Geschichte  der  Buchmalerei 
(Miniaturkunst)  müfste  vielfach  mit  Hilfe  solcher  Nachweise  zum  Ziele  gelangen. 
Ebenso  steht  hier  dem  Paläographen  ein  Schatz  örtlich  und  zeitlich  mehr 
oder  weniger  gesicherter  Belege  für  seine  Wissenschaft  zur  Verfügung.  Da 
in  den  Verzeichnissen  nach  1450  schon  vielfach  gedruckte  Werke  erscheinen, 
kann  sowohl,  die  Geschichte  des  Buchdrucks  als  die  Verbreitung  seiner 
Produkte  im  Wege  des  Handels  Aufklärungen  erhalten.  Auch  für  die  in 
Berlin  geplante,  lunfassende  Behandlung  alter  Handschriften,  in  denen  die 
Denkmäler  der  deutschen  Literatur  erhalten  sind,  imd  zwar  im  Sinne  einer 
geschichtlichen  Handschriftenkunde,  dürfte  sich  die  Hilfe  einer  mit  der  Ge- 
schichte unserer  alten  Bibliotheken  vertrauten  Kraft  als  notwendig  herausstellen. 

Um  dergleichen  Resultate  zu  gewinnen  oder  überhaupt  möglich  zu 
machen,  müfste  eine  Reihe  langwieriger,  mit  gröfster  Genauigkeit  ausgeführter 
Detailarbeiten  voraufgehen,  u.  a.  eine  einheitliche  imd  in  wissenschaftlichem 
Gebte  durchgeführte  Katalogisierung  der  modernen  Handschriftensammlungen,, 
von  denen  noch  manche  brauchbarer  Kataloge  überhaupt  entbehren.  Wollen 
wir  aber  in  dieser  Hinsicht  vorläufig  zu  einem  Abschlufs  kommen,  so 
handelt  es  sich  in  erster  Linie  um  eine  Ausgabe  der  alten  Bibliotheks- 
kataloge selbst.  Nun  hat  seit  einigen  Jahren  die  KaiserL  Akademie  der 
Wissenschaften  in  Wien  den  Plan  dieser  Ausgabe  unternommen,  in  erster 
Linie  auf  Grund  der  Anregung  durch  Se.  Exzellenz  den  Minister  Wilhelm  v. 
Hartel.  Nach  den  jetzigen  Bestimmtmgen  soll  ein  Abschhiis  zuerst  für 
Österreich-Ungarn,  dann  für  das  Deutsche  Reich  versucht  werden. 

Es  ergeht  demnach  an  alle  Forscher  die  dringende  Bitte,  dieses  Unter* 
nehmen  der  KaiserL  Akademie  nach  Kräften  fördern  zu  wollen.  Dies  könnte 
geschehen  durch  Veröfifentlichung  von  noch  ganz  unbekannten  oder  in  dem 
Buche  „Über  mittelalt.  Bibliotheken*'  indizierten  Verzeichnissen  (von  denen 
übrigens  eine  grofse  Zahl  bereits  in  guten  Abschriften  imApparate  der  Wiener 
Akademie  liegt),  oder,  wo  die  Veröffendichung  ans  diesem  oder  jenem 
Grunde  auf  Schwierigkeiten  stöfst,  durch  Hinweise  auf  die  Existenz  von  der- 

2)  VgU  oben  S.  239—240. 


—     27     — 

artigen  Bücherverzeichnissen ,  Testamenten  mit  Bücherschenkungen  u.  dgl. 
entweder  in  den  Zeitschriften  historischer  Vereine  oder,  was  in  allen  Fällen 
besonders  erwünscht  wäre,  durch  direkte  Mitteilung  an  die  bei  der  KaiserL 
Akademie  der  WissenschsUten  befindliche  Kommission  zur  Herausgabe  alter 
Biblioüiekskataloge,  in  jeden  derartigen  Hinweis  mit  lebhaftem  Dank  entgegen- 
nehmen wird.  Theodor  Gottlieb  (Wien). 

Eingegangene  Bficher« 

Schönaich,  G.:  Die  alte  Fürstentumshauptstadt  Jauer,  Bilder  und  Studien 
zur  jauerschen  Stadtgeschichte.    Jauer,  Oskar  Hellmann,  1903.    187  S.  8^ 

Siebeck,  Oskar:  Der  Frondienst  als  Arbeitssystem,  seine  Entstehimg  und 
seine  Ausbreitung  im  Mittelalter  ['=  Zeitschrift  für  die  gesamte  Staats- 
wissenschaft, herausgegeben  von  K.  Bücher,  Ergänzungsheft  XIII]. 
Tübingen,  H.  Laupp,   1904.     92  S.  8^     M,  3.50. 

Strieder,  Jacob:  Zur  Genesis  des  modernen  Kapitalismus,  Forschungen 
zur  Entstehtmg  der  grofsen  bürgerlichen  Kapitdvermögen  am  Ausgange 
des  Mittelalters  imd  zu  Beginn  der  Neuzeit,  zunächst  in  Augsburg. 
Leipzig,  Duncker  &  Humblot,   1904.     233  S.  8^.     M.  5,00. 

Voretzsch,  Max:  Herzog  Ernst  II.  von  Sachsen  Gotha- Altenburg.  Festrede. 
[Programm  des  Herzog.  Ernst-Realgymnasiums  Ostern  1904.]    35  S.  8*. 

Weller,  Karl:  Geschichte  des  Hauses  Hohenlohe.  Erster  Teil:  Bis  zum 
Untergang  der  Hohenstaufen.  Stut^art,  W.  Kohlhammer,  1904. 
154  S.  8^     M.  3,00. 

Wilser,  Ludwig:  Die  Germanen,  Beiträge  zur  Völkerkunde.  Eisenach  und 
Leipzig,  Thüringische  Verlags-Anstalt     446  S.  8^     M.  6,00. 

Wintterlin,  Friedrich:  Geschichte  der  Behördenorganisation  in  Württemberg, 
herausgegeben  von  der  Kommission  für  Landesgeschichte.  Erster  Band, 
zweiter  Teil  (S.  167 — 348).   Stuttgart,  W.  Kohlhammer,  1904.   348  S.  8^. 

Witte,  Hans:  Beamte  des  heiligen  Römischen  Reiches  im  französischen 
Sprachgebiet  Lothringens    und    Burgunds   [=    Deutsche    Erde    1904, 

S.  •40—43]« 

Mummenhoff — Reicke  —  Tölke:   Die  Pflege  der  Dichtkunst  im  alten 
Nürnberg,    dramatische  Szenen  aus  drei  Jahrhunderten,   herausgegeben^ 
•     vom   Verein   für   Geschichte   der  Stadt  Nürnberg.      Nürnberg,     1904. 
86  S.  80. 

Miliard,  Emeste:  Une  loi  historique.  I:  Introduction ,  les  Chinois,  les 
Egyptiens,  les  Fran^ais.    Bruxelles,  Henri  Lamertin,  1903.     215  S.  8^ 

Paulus,  Nikolaus:  Die  deutschen  Dominikaner  im  Kampfe  gegen  Luther 
(i  5 1 8 —  1 563)  [=s  Erläuterungen  und  Ergänzungen  zu  Janssens  Geschichte 
des  deutschen  Volkes,  hggb.  von  Ludwig  Pastor.  IV.  Bd.,  i.  und 
2.  Heft].     Freiburg  i.  B.,  Herder,   1903.     334  S.  8^     M.  5,00. 

Schumacher,  Bruno:  Niederländbche  Ansiedelungen  im  Herzogtum 
Preufsen  zur  Zeit  Herzog  Albrechts  (1525 — 1568)  [=  Publikation  des 
Vereins  fQr  die  Geschichte  von  Ost-  und  W^tpreuisen].  Leipzig, 
Duncker  und  Humblot,  1903.     203  S«  8^«     M.  4,80. 

Schwerdfeger,  J.:  Der  bairisch-französische  EinM  (1741)  und  die  Stände 
der  Erzherzogtümer.  U.  Teil:  Kurfürst  Karl  Albrecht  in  Niederöster- 
reich.    Wien,  Karl  Gerold's  Sohn,  1902.     127  S.  8^ 


—     28     — 

Siegl:   Zur  Geschichte  der  Fürstentage  Georgs  von  Podiebrad   in  Eger  in 

den  Jahren  1459«  ^4^^  ^^^  '4^7  ["»  Egerer  Jahrbuch  1904].    25  S.  8^^ 
— :  Zur  Geschichte  der  Eroberung  von  Borschengrün  durch  die  Egerer  im 

Jahre  1452  [Erzgebirgs-Zeitung  15.  Jahrg.,  3.  Heft]. 
— :  Französische   Zeitungsberichte   über  Wallensteins  Ende  [»»  Mitteilungen 

des  Vereins  für   Geschichte  der  Deutschen  in   Böhmen.     42.  Jahrg., 

3.  HeftJ. 
Speth-Schülzburgy  Arthur  Frhr.  von :  Stammbaum  der  Freiherm  vonSpeth, 

IG  Linien  (loxo— 1711)  auf- 4  Blättern.   Eichstätt,  Brönner'sche  Buch* 

druckerei  (P.  Seitz). 
Stauber,  K:  Kriegs-Büder  vom  Zürichsee  [Separatabdruck  aus  dem  ,,Land- 

boten".  1904].     31  S.  8^ 
Tetzner,   F.:    Die   Virchenziner  Eide  \=  Baltische   Studien,   Neue  Folge 

Bd.  VII  (Stettm,  1903),  S.  75—88]. 
Vanselow,  Otto :  Zur  Geschichte  der  pommerschen  Städte  unter  der  Regierung 

Friedrich  Wilhehns   I.   [a   Baltische  Studien,    Neue    Folge    Bd.   VII, 

(Stettin,  1903),  S.  89—161]. 
Waldthausen,  Albert  von:   Zur  Geschichte  des  Postwesens  in  Stadt  und 

Stift  Essen   [=»  Beiträge  zur   Geschichte   von   Stadt  und   Stift  Essen, 

23.  Heft  (1903)  S.  129 — 159]. 
Wilke:   Archäologische   Parallelen  aus    dem  Kaukasus   und    den    unteren 

Donauländem  [&»  Zeitschrift  ftir  Ethnologie,  1904,  Heft  i,  S.  39 — 104.] 
Binder,  Simon:  Die  Hegemonie  der  Prager    im   Husitenkriege  [=  Prager 

Studien  aus  dem  Gebiete  der  Geschichtswissenschaft,  herausgegeben  von 

Bachmann,  Heft  IX].    Prag,  Rohlföek  und  Sievers,  1903.     140  S.  8^ 
Bretholz,  B.:  Johannes  von  Gelnhausen,  kritisch-historische  Studie  mit  zwei 

Anhängen:  x.  unedierte  Iglauer  Rechtssprüche  für  Kuttenberg,  2.  Johannes 

von   Gelnhausen    „Deutsches   Bergrechtsbuch".      [«=3   „Zeitschrift    des 

deutschen  Vereins  ftlr  die  Geschichte  Mährens  und  Schlesiens"  7.  Jahrg., 

Heft  1—2.] 
Deut  seh  mann,   Karl:   Die  Rheinlande   vor  der  französischen  Re^lntion. 

Neuis,  Robert  Noack,  1902.     46  S.  8^ 
Goldmann,    Emil:    Die    ^nftlhrung    der    deutschen    Herzogsgeschlechter 

Kärntens  in  den  slovenischen  Stammesverband,  ein  Beitrag  zur  Rechts- 
und Kulturgeschichte.     [»■  Untersuchungen   zur  deutschen  Staats-  und 

Rechtsgeschichte,  herausgegeben  von  Otto  Gierke,  68.  Heft.]    Breslau, 

M.  &  H.  Marcus,  1903.     245  S.  8^     M.  8,00. 
Heuser,   Emil:   Die  Protestation  von  Speier,   Geschichte   der  Protestation 

und   des   Reichstags    1529   nebst  Veröffentlichung  bisher  unbekannter 

Nachrichten  über  diesen  Beitrag.    Neustadt  a.  H.,  Ludwig  Witter,  1904. 

64  S.  8«. 
Kautzsch,   Otto  Friedrich:   Wappenbüchlein   zur  Erklärung  von  einfachen 

und  zusammengesetzten  Schilden  und  Kleinoden  deutscher  Gebietswappen, 

hauptsächlich   auch    solcher   auf  Münzen.     Zweite   Auflage.     Leipzig, 

Th.  Grieben,  1903.     65  S.  8^     M.  3,00. 
Kohl,   Dietrich:   Die   AUmende   der  Stadt   Oldenburg.     Mit  einer  Karte. 

Oldenburg,  Gerhard  Stalling,  1903.     76  S.  8^ 

Henuiif*b«r  Dr.  Anala  Tille  in  Leipdg. 
Druck  und  V«rlaf  tob  Friedrich  Andreu  Perthes,  Aktieagesellscheft,  Gotha. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


tur 


Förderung  der  landesgeschichtlichen  Forschung 

VI.  Band  November  1904  2.  Heft 


Unsere  Flufsnamen^) 

Von 
Theodor  Lohmeyer  (Marbnrg) 

Der  freundlichen  Aufforderung  des  Herausgebers  dieser  Zeitschrift, 
für  diese  einen  kurzen  Aufsatz  über  unsere  Flufsnamen  zu  verfassen, 
komme  ich  gern  nach ,  besonders  auch ,  weil  mir  dadurch  eine  neue 
Gelegenheit  gegeben  wird,  die  einfache,  aber  auf  aufserordentlich 
scharfer  Geländebeobachtung  und  auf  allgemeinen  festen  Grund- 
sätzen beruhende  Flufenamengebung  hervorzuheben,  femer  das  viel- 
fache Hinaufreichen  dieser  ältesten  Urkunden  unserer  Sprache  bis  in 
die  indogermanische  Urzeit  und  die  darin  wurzelnde  Bewahrung  der 
Urbedeutung  der  zur  Namenprägung  angewandten  Wörter,  schliefs- 
lich  die  auch  aus  der  Erforschung  der  Flufsnamen  sich  ergebende 
Erkenntnis,  dafs  Europa  und  nicht  Asien  die  Urheimat  der  Indoger- 
manen  sei. 


i)  Besondere  Abkttrxangen:  Eia  *  vor  einer  Form  xeigt  an,  dafs  sie  nicht 
überliefert,  sondern  blofs  erschlossen  ist.  —  Daniel  =>  Daniel,  DeutsMand  (3.  Aufl. 
Leips.  1869/70).  —  Doomkaat  =»  J.  ten  Doornkaat  Koolmann,  WÖrterbueh  der  ost' 
friesischen  Sprttehe,  —  Fick  =>  Fick,  Vergleichendes  Wörterbuch  der  indogerma- 
nischen Sprachen  (3.  Aufl.  Götting.  1870/76).  —  Förstemann  =sFörttemann,  AUdetäsches 
Namenbuch  (2.  Aafl.  Nordhaas.  1872)  Die  ohne  Quellenangabe  ans  althochdeutscher  Zeit 
■angeführten  Formen  sind  mit  wenigen  Aasnahmen  diesem  Werke  entnommen.  —  Klage  =» 
Kluge,  Etymologisches  Wörterbuch  der  deutschen  Sprache  (5.  AufL  Straisburg  1894).  — 
Lo.  I.  =s  Th.  Lohmeyer,  Beiträge  xur  Etymologie  deutscher  Flußnamen  (Göttingen 
1881).  —  Lo.  2.  =  Neue  Betträge  xur  Etymologie  deutscher  Flußnamen  (Herrigs  Archir, 
Bd.  70,  S.  355-440).  —  Lo.  3.  =  Was  bedeutet  der  Name  ZoUem?  (Wiss.  Bcü.  des 
Jahresber.  des  R.-P.-G.  xu  Altena,  Ostern  1890).  —  Lo.  4,  mm  Beiträge  xur  Namenkunde 
des  Süderlandes  (Wiss.  Beil.  zum  Jahresber.  des  Prog.  zu  Altena,  Ostern  1894,  76  S.).  — 
Lo.  5.  =s  Die  Hauptgesetxe  der  germanischen  Flußnamengebung  (Kiel  und  Leipzig 
1904,  DC,  32  S.  gr.  8.  Jü  1,20).  —  Oesterley  =s  Oesterley,  Historisch-geographisches 
Wörterbuch  des  deutschen  Mittelalters  (Gotha  1883).  —  Schade  ^  Schade,  Alt- 
deutsches Wörterbuch  (2.  Aufl.  Haue  1872  flf.). 

3 


—     30     — 

Eine  fünfundzwanzigjährige  Beschäftigung  mit  der  Erklärung  deutscher 
Flu&namen  hat  mich  zunächst  gelehrt,  dais  die  Ansichten  Förstemanns» 
des  überaus  verdienstvollen  Begründers  der  wissenschaftlichen  Orts- 
namenkunde, einmal  über  die  sogenannten  Flufsnamensuffixe ,  zum 
anderen  über  die  namenveranlassenden  Wirklichkeitsbedingungen  nicht 
haltbar  sind.  Indem  ich  bezüglich  der  näheren  Begründung  der  hier 
vorgetragenen  Ansichten  auf  meine  letzte  Schrift  Lo.  5,  s.  Anm.  i, 
und  deren  Pfinweise  auf  meine  früheren  Schriften  verweise,  will  ich  nur 
erwähnen,  dafis  sich  mir  erstens  aus  der  Betrachtung  einer  aufserordent- 
lieh  groisen  Menge  von  Einzelfluisnamen  betreffs  deren  Wortbildung^ 
folgendes  Gesetz  ergeben  hat:  „Ein  germanischer  Flufsname 
besteht,  wenn  er  nicht  zusammengesetzt  ist,  aus  einem 
einfachen  Grundwort  für  Flufs,  wie  aha,  aÜa,  apa,  asa,  manay. 
trawausvf.f  oder,  wenn  er  zusammengesetzt  ist,  aus  einem  Bestim- 
mungswort mit  einem  der  Grundwörter  für  Flufs.  Ein  Suf- 
fix tritt  nur  bei  den  Grundwörtern  auf,  und  zwar  ist  das 
Grundwort  ohne  Suffix  aus  dem  Grundwort  mit  Suffix 
durch  Abschleifung  hervorgegangen,  so  aUa  aus  aliena^ 
asa  aus  asana,  trawa  aus  irawena.''  Als  solche  Grundwörter  habe 
ich  am  Ende  von  Flufsnamen  alta,  asa,  aia  oder  anta,  bada,  niana,. 
rena  (rana,  ame),  scara,  trawa  nachgewiesen,  während  dieselben  bis 
dahin,  wenn  sie  den  Schlufs  von  Wörtern  bilden,  als  blofse  Ableitungs- 
endungen aufgefafist  wurden  und  dUa,  asa,  ata  oder  anta,  bada,  mana 
in  NichtZusammensetzungen,  also  als  einfache  Wörter,  unerklärt  ge- 
blieben oder  wenigstens  nicht  als  Grundwörter  für  Flufs  erkannt  waren. 
Die  scheinbaren  SufOxe  bei  Nichtgrundwörtern  sind  Reste  ehemaliger 
Grundwörter,  so  -ala  mit  den  Nachtonformen  -ela,  -ila,  -via,  -ola  usw. 
von  (Ma  und  dies  aus  lata,  amna  oder  a^na  mit  den  Nachtonformen 
-ana,  -i/na,  -una,  -ona  von  ama  oder  anta,  -ara  (-era,  -ira,  -ura,  -ora} 
von  ama,  -se  von  asa  (asana),  -tra  von  trawa  usw. 

Diese  von  mir  aufgestellten  neuen  Grundwörter  für  Wasser,  Bacb 
usw.  sind  jetzt  bereits  im  Grundsatz  von  verschiedenen  hervorragenden 
Ortsnamenforschem  (Jellinghaus,  Leithäuser)  angenommen  worden;  auch 
das  Literarische  ZentralblaU  (Jahrgang  1904,  Nr.  21)  bemerkt  in  bezug 
auf  die  neuen  Grundwörter:  „Lohmeyer  mag  in  den  meisten  Fällen 
das  Richtige  trefTen,  gibt  er  doch  einleuchtende  Etymologien  für  einen 
Teil  derselben." 

Zweitens  hat  sich  mir  bis  jetzt  ohne  Ausnahme  das  weitere 
Gesetz  stets  von  neuem  bei  den  uralten  Flufsnamen  bestätigt:  „Wie 
das  Quellgelände  oder  die  Quellhöhe,  so  der  Flufsname". 


—     81     — 

Unsere  Vorfahren  nannten  also  die  Flüsse  nach  ihrer  Heimat,  ihrer 
Geburtsstätte.  Deshalb  sind  die  wirklich  uralten  Flulsnamen  sozusagen 
Ursprungszeugnisse,  d.  h.  sie  sagen  uns,  wie  das  Gelände  beschaffen 
ist,  wo  die  Quellen  des  betreffenden  Flusses  zutage  kommen;  aus* 
genommen  sind  diejenigen,  bei  denen,  wie  es  besonders  bei  mehreren 
grofsen  Flüssen  der  Fall  ist,  ein  bloises  Grundwort  ohne  Bestimmungs- 
wort verwandt  ist,  wie  z.  B.  bei  Elbe,  Rhein,  Maas,  wahrscheinlich  auch 
bei  Oder  *).  Gewifs  haben  verschiedene  Flüsse  in  ihrem  Laufe  ver- 
schiedene Namen,  aber  ursprünglich  immer  nur  einen,  und  der  wurde 
von  der  Beschaffenheit  der  Quellhöhe  heigenommen. 

Wie  erklärt  sich  diese  aufiallige  Tatsache  ?  Einmal  aus  der  hohen 
Verehrung  der  Quellen  —  pilgern  doch  noch  jetzt  die  urverwandten 
Hindus  zu  den  Quellhöhen  des  Ganges  —  und  der  Wertschätzung 
eines  beständig  den  Menschen  und  den  Haustieren  Wasser  spendenden 
Flusses.  Deshalb  erfolgten  die  Siedelungen  meistens  längs  eines  Flusses, 
und  die  Anwohner  nannten  sich  sehr  oft  nach  diesem  Flusse.  Zum 
anderen  setzt  diese  Tatsache  eine  Verbreitung  der  Namengeber  über 
weite  Landstrecken  und  zugleich  einen  Verkehr  zwischen  den  einzelnen 
Stämmen  voraus.  So  erklärt  sich  auch,  dafs  gerade  bei  den  gröfsten 
Strömen  mit  ihrer  mächtigen  Ausdehnung  von  der  Quelle  bis  zur 
Mündung  blofs  ein  Grundwort  angewandt  wird;  sie  wurden  „das  Wasser, 
derFlufs'*  schlechthin  genannt;  auch  kommt  es  vor,  dafs  ein  Stamm 
seinen  Hauptfiufs,  wenn  dieser  auch  kleiner  war,  blols  als  „das  Wasser'* 
bezeichnete;  verschiedentlich  ist  auch  das  Bestimmungswort  verloren 
gegangen  und  blofs  das  Grundwort  übriggeblieben,  wie  ich  nach- 
weisen kann.  Die  Flufsnamengebung  war  sozusagen  eine  öffentliche 
Stammesangelegenheit,  eine  feierliche  Handlung;  denn  durch  das  ihm 
geläufige  Grundwort  für  Wasser,  Flufs  stempelte  der  betreffende  Stamm 


i)  Unter  dem  von  Ptolemfios  überlieferten  Flofsnmmen  OöCaSo^  (Viadus)  ist  nach 
ziemlich  allgemeiner  Annahme  and  auch  m.  £.  die  Oder  za  verstehen.  Der  Name  ist 
aach  nach  meiner  Meinuig  vorgermanisch,  in  diesem  Falle  slawisch  und  hängt  mit  idg. 
vada  =  Wasser,  altslaw.  voda,  germ.  wcUan  ^  anrd.  vaitn^  got  vatö  zusammen.  Das 
i  betrachte  ich  als  aas  dem  Bestreben  hervorgegangen,  den  eigentümlich  konsonantisch- 
vokalischen  Anlaut  das  w  wiederzugeben,  das  im  Urbaltisch-Slawischen  nach  B  rüg  mann, 
Kturxe  pergleichmde  OrammaHk  der  mdogermanisehen  Sprctehen  (Strafsb.  1902  fi)  {  160, 
noch  „unsilbisches  u^*  war.  Die  späteren  Formen  Odara,  Odara  mit  der  Ableitungssilbe 
ixra  entprechen  der  von  demselben  Stamme  schon  im  Indogermanischen  vorhandenen  Ab* 
leitung  vadra  »■  Wasser,  sskr.  udSm,  slawodeutsch  vadra  —  s.  Fick  II,  461  — ,  germ. 
vatra,  as.  watar,  nhd.  Wasser.  Das  indogermanische  icada  erscheint  übrigens  auch  in 
germanischer  Lautverschiebung  als  Grundwort,  z.  B.  in  Lanö-toata^  jetzt  Rehbmch  (Rhein, 
unterhalb  Speier,  nach  Förstemann). 

3* 


—     32     — 

die  Quellen  und  den  ihnen  entströmenden  Fluis  gewissermaisen  als 
Stammeseigentum.  Es  scheint  auch  nicht  ausgeschlossen  ^),  dais  sich 
die  Menge  der  Grundwörter  für  Wasser,  Fluis  usw.  nicht  blofs  aus  der 
langen  Reihe  der  Jahrhunderte  erklärt,  innerhalb  deren  bei  demselben 
Stamme  das  eine  Grundwort  in  Vergessenheit  geriet,  das  andere  empor- 
kam, und  nicht  blofs  aus  der  zufälligen  Verschiedenheit  der  einzelnen 
Grundwörter  bei  den  verschiedenen  germanischen  Stämmen,  sondern 
auch  aus  der  Mannigfaltigkeit  der  indogermanischen  Urstämme,  welche 
für  den  Zweck  der  Besitzergreifung  von  dem  Quell-  und  Flufegebiet 
ihres  Landes  ein  bestimmtes  Grundwort  für  Flufis  absichtlich  ge- 
wissermafsen  als  Stammeswort  erkoren. 

Die  Bestimmungswörter  nun,  welche  das  Quellgelände  kennzeich- 
nen und  beurkunden,  zeugen  von  einer  aufserordentlich  scharfen  und 
geistvollen  Auffassungsgabe.  Es  zeigt  sich  darin  neben  der  nüchternen, 
einen  ausgeprägten  Wirklichkeitssinn  offenbarenden  Erkenntnis  der 
jedesmaligen  Geländeverhältnisse  eine  phantasievolle  Ausdrucksweise, 
z.  B.  wenn  eine  Bergeinsattelung,  wie  der  Voralpenpais  Brünig,  alt: 
Bruen-eg,  mit  dem  Worte  hru/na  =  Brauenhöhe  bezeichnet  wird  — 
die  Nasenwurzelsenke  ist  die  Einsattelung  zwischen  den  beiden  Brauen- 
höhen — ,  oder  wenn  ein  an  einer  lehnstuhlartigen  Höhe,  einer  „Platten- 
lehne**, entspringender  Flufs,  wie  die  Lenne  (Ruhr)*),  der  Flufs  von 
der  Plattenlehne  heifst.  Es  zeigt  sich  die  Schärfe  der  Auffassung,  wenn 
genau  die  Form  bzw.  die  Beschaffenheit  der  Quellhöhe  gekennzeichnet 
wird.  So  z.  B.  wird  eine  Sanflhalde  *abja%  genannt,  ein  Bergkamm 
mit  scharfem  Abfall  nach  zwei  oder  einer  Seite  agja*),  nhd.  Egge, 
eine  hügelförmige  Spitze  (üa  oder  ila  *) ,  ein  Bergrand  ''^amba  *)  — 
die  älteste  Bezeichnung  für  diesen  Begriff — ,  die  Steilhöhe  *ana,  ein 
Spitzkegel  *aspa  oder  *ispa ')  —  wiederum   die  älteste  Bezeichnung 

i)  Diese  Annahme  ist  bis  jetzt  allerdin^  nur  Vermatang  and  bedarf  noch  einer 
näheren  Untersachnng. 

2)  Lo.  5,  S.  19. 

3)  Lo.  5,  S.  16. 

4)  Lo.  5,  S.  7  n.  10  und  Lo.  2,  S.  423. 

5)  Lo.  5,  S.  II. 

6)  Lo.  5,  S.  14  ff. 

7)  aapa  mit  der  Nebenform  iapa  ist  ursprünglich  gleich  mit  dem  Baumnamen  Espe, 
d.  h.  eigentlich  Spitze,  womit  zunächst  wohl  besonders  die  Schwarzpappel  gemeint  ist, 
welche  ostwärts  in  die  spitze  Pyramidenpappel  übergeht;  aspa  ist  stammverwandt 
mit  lateinisch  asper  spitzig,  rauh.  Es  erscheint  in  vielen  Flufs-  und  Bergnamen,  z.  B.  in 
dem  schön  noch  jetzt  in  alter,  voUer  Form  erhaltenen  Flufsnamen  Ssp-olda  (Leine)  und 
in  dem  Namen  des  nordöstlich  von  Giefsen  gelegenen  erloschenen  Vulkan  kegeis  Aspen* 
kippel;  die  Nebenform  ispa  erscheint  z.  B.  in  Isp-era,  jetzt  Isp-er  (Donau). 


—     38     — 

für  diesen  Begriff — ,  eine  kleine  Hochfläche  hara  %  eine  Geradböschung 
oder  eine  Höhe  mit  Geradböschung  fara*)^  bzw.  f(^a  (fuora,  ftira), 
eine  gröfsere  Hochfläche  fulr  oder  fü-,  bzw.  /oJ-,  ein  Langvorsprung, 
Langkeil  eines  Berges  ger,  eine  Sanftwölbung  *gula  *),  eine  Tiefschlucht 
*^na*),  *gana,  ein  scharfer,  meist  senkrecht  aufsteigender  Fels  mit 
hwat'y  wat-,  ein  etwas  breiter,  k in n artiger  Berg^orsprung  Jcvan-,  hun-, 
ken-,  Mn-  *) ,  ein  Bergrand  laisa  *)  —  vgl.  amba  — ,  ein  meist  klippen- 
artiger Felsen,  gewöhnlich  ein  Hochfelsen  lud-,  eine  Querbergzunge 
lup-,  lap-  (s.  S.  40  Anmerkung  3),  eine  etwas  steilere  dammartige  Bergwand 
mur-,  mar-  ^),  eine  nabelartige  Erhöhung ,  ein  Geländebuckel  nciba  % 
ein  etwas  steilerer  Abhang  von  längefen  Bergrücken  natha  und  nitha  •), 
ein  Berg  mit  nackten  Felsen  nur-,  nar~  ^^)  —  wohl  der  älteste  Ausdruck 
für  diesen  Begriff  — ,  ein  Bei^jand  quas-,  huSf  und  zwar  wohl  ein  Berg- 
hochrand, ein  Berg  mit  freiliegenden  Felsen  rod  —  vgl.  nur  und  ruf  — , 
ein  Berg  mit  meist  zerklüfteten,  blofsliegenden  Felsen  ruf-,  ein  spitzer, 
meist  felsiger  Bergvorstols  scut-,  ein  kleiner  Hügel  oder  ein  Hügel- 
köpfchen swcLS'f  sf45-,  der  nasenartige  Bergvorsprung  *swantha,  *swcUha 
bzw.  *stUha,  *5un^Äa*%  ein  scharfer,  aufsteigender  Felsen  sweg-  (ch), 

sug vgl.  hu?€U  — ,  ein  Beigkegel  *tetUa,  tuia^)  —  vgl.  (zspa  — , 

eine  breite  Rundkuppe  *warja  ")  (war) ,  eine  Kuppe ,  Spitzkuppe  auf 
breitem  Sockel  mws-,  wcts^,  u;is- ^*).  So  könnte  ich  noch  eine  grofse 
Menge  weiterer  treffender  Bezeichnungen  anführen;  doch  mögen  die 
gegebenen  Beispiele  genügen  ^*).  Übrigens  läfst  sich  auch  in  den 
Grundwörtern  für  Wässer  mehrfach  eine  feine  Unterscheidung  erkennen : 
ihre  Mannigfaltigkeit  beruht  nicht  blofs  auf  der  langen  Reihe  der  Jahr- 

i)  Aach  der  im  Ablautaverhältiiit  stehende  Stamm  Imr-  kommt  vor;  s.  Lo.  4,  S.  51. 

2)  Lo.  5,  S.  16. 

3)  Lo.  5,  S.  17. 

4)  Lo.  5,  S.  16. 

5)  Lo.  5,  S.  20. 

6)  Lo.  I,  S.  51. 

7)  Lo.  4,  S.  16  u.  61. 

8)  Lo.  5,  S.  14  ff. 

9)  Lo.  5,  S.  5ff. 

10)  Lo.  4,  S.  73  ff. 

11)  Lo.  4,  S.  3ff. 

12)  Lo.  4,  S.  52  n.  75. 

13)  Lo.  5,  S.  18  ff: 

14)  Vgl.  S.  34i  Aom.  i  und  bid.  S.  38—39,  Anm.  4. 

1 5)  Die  von  mir  in  früheren  Schriften  noch  nicht  behandelten  Bestimmungswörter  hier 
begründend  sn  erklären,  übersteigt  den  mir  zugemessenen  Raum.  Wo  mir  die  Grundform 
noch  nicht  klar  ist,  habe  ich  oben  die  blofsen  Stämme  mitgeteilt. 


—     84     — 

hunderte  und  der  Vielheit  der  Stämme,  sondern  hier  hat  auch  die 
Veiischiedenheit  des  Quellwassers  einige  besondere  Benennmig'eii  ver- 
anlaüst.  So  ist  das  Grundwort  bada  ^)  nach  meinen  Beobachtungen 
nur  bei  warmen  Flulsquellen  angewandt,   wie  der  Name  Baden  sich 


i)  Germanisch  batha  gehört  nach  Fick  imd  Klage  sa  dem  Stamme  6a>;  dazu 
althochdeutsch  bäen  =  bfihen.  Die  Grondbedentung  des  indogermanischen  Stammes  bk9: 
bha  ist  nach  Klnge  „warm  waschen,  warm  baden ^  gewesen,  nach  Fick  bShen,  wärmen; 
batha  heifst  also  zunächst  wohl  das  Wärmen  durch  warmes  Wasser,  dann  das  wärmende 
Wasser,  das  Warmwasser,  das  Warmbad,  das  Bad.    Es  erscheint  z.  B.  in  Bode  (Saale), 

* 

alt:  Bada  —  wichtig  ist  hier  besonders  «die  Bezeichnung  „Warme  Bode'',  in  Bode 
(Wipper);  daran  Bodongen  im  Kreise  Worbis,  alt:  Badungen.  Es  begegnet  femer  in 
Badestube  bei  Marburg,  ein  Name,  der  zunächst  eine  in  der  Nähe  ron  vidkanischen  Basalt- 
aosbrflchen  entspringende,  im  Mittelalter  hochverehrte  and  mit  der  heiligen  EUsabcth  in 
Verbindang  gebrachte  Quelle  und  deren  Umgebung  bezeichnet,  dann  das  ganze  Bachtal. 
Badestabe  ist  gleich  Badestofe  m.  E.  oi  Warmquellstufe   und  zwar  so  genannt  ron  den  . 

mächtigen,   trotz  der  Überwacherung  noch  jetzt  in  ihrer  stufenartigen  Lagerung  erkenn-  I 

baren  Quarzitplatten.  Die  QueUe  wird  in  uralter  Zeit  etwas  warm  gewesen  sein  nnd 
daher  wird  die  ihr  zugeschriebene  Heilkraft  stammen.  Auch  der  Umstand,  dais  die  alten 
Bachnamen  in  der  nächsten  Umgebung  Marburgs  ohne  Ausnahme  das  Grandwort  asa  haben, 
dieser  aber  nicht,  führt  darauf,  dafs  der  Grund  der  abweichenden  Benennung  wohl  in  d^ 
ursprünglichen  Wärme  des  Quells  gelegen  haben  mufs.  —  Bada  »m  WarmqueU  haben 
wir  auch  in  Wiesbaden,  alt:  Wiai-bad;  aus  den  offen  zutage  tretenden  WarmqueUen 
wird  ursprünglich  ein  Bach  frei  abgeflossen  sein;  der  Name  ist  gleich  mit  Wies-bQde 
(Bieber)  im  Kreise  Gelnhausen;  -büde  erklärt  sich  als  Nachtonform  von  -bada,  boda. 
Wiet'  in  Wisi-bad  deutet  auf  germanisch  *tcisja,  rorgermanisch  ^toe^;  wetja  steckt 
m.  E.  in  Ves-utnue,  der  auch  Ves^emu  heifst  und  nach  meiner  Erklärung  Bergknppen- 
Gelände  bedeutet,  sowie  in  dem  am  Ves-av  entspringenden  Ves-eris,  d.  h.  Berg- 
kuppen  -  Flufs ,  s.  Lo.  4,  S.  31.  ^Wisfa  steht  im  Ablautsverhältnisse  zu  dem  unten 
S.  38 — 39  behandelten  tcöS',  waS'  und  ist  wahrscheinlich  gleich  mit  althochdeutsch  trüo, 
neuhochdeutsch  Wiese,  das  so  wiederum  verwandt  ist  mit  waso  —  s.  S.  38,  Anm.  4.  — 
und  auch  nach  Kl,uge  mit  angelsächsisch  toö8  Feuchtigkeit,  englisch  woasy  feucht.  Wis- 
bedeutet  in  Flufs-  und  Bergnamen  Kuppenberg  wie  tcds-  und  tctu-,  wie  ich  glaube  nach- 
weisen zu  können ;  es  erscheint  auch  in  Vis-ur-g-is  —  s.  über  das  ^  als  ein  rein  pho- 
netisches Zeichen  zum  Ausdruck  des  den  Römern  fremden  gutturalen  r  Lo.  5,  S.  35  — , 
sie  heifst  im  Mittelalter  stets  ohne  g  Wis-ura  usw.  und  ist  namensgleich  mit  dem  alt- 
italischen  Ves-er-is;  femer  in  Vis-t-tda,  jetzt  Weichsel,  und  in  zahlreichen  anderen 
Flufs-  und  Bergnamen.  —  In  Wiesbaden  liegen  die  beiden  bedeutendsten  und  zugleich 
allein  offen  zutage  tretenden  Warmquellen,  der  Kochbrunnen  und  der  Adlerbrunnen 
am  Fufse  eines  Berges.  Ob  der  als  Quellberg  dieser  beiden  Brunnen  anzusehende  Berg 
eine  Kuppe  auf  breitem,  massigem  Sockel  zeigt,  also  eine  *wtsfa  ist,  und  ob  daher  nach 
ihm  das  aus  den  beiden  Quellen  ursprünglich  als  Warmbach  frei  abfliefsende  Wasser 
Wiei^fad,  also  Kuppen- Warmwasser,  genannt  ist,  dies  festzustellen,  fehlt  es  mir  augen- 
blicklich an  Zeit  und  Gelegenheit.  Es  würde  mir  sehr  lieb  sein,  wenn  jemand,  durch 
diese  Bemerkungen  angeregt,  mir  über  die  Gestalt  des  Quellbeiges  Sicheres  mitteilen 
könnte. 


J 


—     86     — 

immer  als  Bezeichoung  von  Orten  mit  Thermalquellea  findet ') ;  so 
bezeichnet  das  von  mir  früher  noch  nicht  erkannte  Grundwort  risa 
bzw.  rusa*)  wohl  nur  einen  Sprudelquell,  wie  in  Salt-rissa ") ,  jetzt 
Selters  —  Nieder-  und  Oberselters  am  Emsbacbe  ~- ;  das  blofee  Gmnd- 

i)  Siebe  Nagl,  OtographUehe  Namenkunde  (Leipi.  o.  Wien  1903),  S.  31. 
1)  rüa  hst  sich  noch  erbalteo  in  (riesiicti  ria  du  Anfiteigea,  Aafqnellen  —  1.  Doorn- 
kaat  — ,  itammveTwandt  mit  althochdenticb  Titan  lich  erheben,  »teigea,  aber  Mch, 
-wie  ät  abgeleitete  rieieln  ^  tröpfeln,  »{pien;  ei  hat  sich  ferner  erhalten  im  bajerischen 
m  dai  Fallen  —  i.  Schmeller,  Baytriteket  WiSrterbueh  —,  denn  althoahdeatich 
f-Mon  heifit  neben  „steigen"  auch  „fallen";  et  ateckt  «odann  in  hestück  Be-rw,  eigent- 
lich „das  Nebenbeigerieselte ",  d.  i.  der  Abfall  Ton  Getreidehalmen,  s.  Vilmar,  Mio. 
Ukon  von  &irhetten  unter  rUen  ^  sinken  nnd  vgl.  Orimmt  Wörterbueh  anter  Riet 
Das  im  AblanttferhHltniste  ttehende  ruaa  haben  wir  nock  in  friesisch  nae,  d.  i.  behnb 
dei  Mttlzens  anfgeqnollenei  Getreide,  ortprtlaglidi  demnach  die  Erkebnng,  das  Asf- 
qnellen.  Dieiei  friciiiche  Wort  wird  tchon  von  Doornkaat  m  friesitch  ruien  ^ 
•cbvellen,  anfqnellen  mw.  {resleUt.  Ähnlich  gibt  e>  nach  Orimnu  Wdrierbueh  anch 
iD  rieieln  eine  Nebenform  nueln  und  tu  Ricsel  •—  Regen,  Sommcrtproue  niw.  towohl 
Bumt  ^  kleines  Hagelkorn  als  Rütd  ^  Sommertprosse ,  eigentlich  das  Niederspritien 
bzw.  Aafspritien.  Dieses  Gntodwort  ruaa,  riaa  ist  woU  in  anteracheiden  ron  dem  aas 
gemaniscb  hruga  eatttandenen  und  in  Flnfa-  nnd  Bergnunen  „die  Steinranhe",  d.  h. 
den  tteinigen  Boden  beaeichnenden  Beitimmnogswort  fuaa,  du  in  den  laUreicben 
Roftbacben  meistent  steckt  imd  t.  B.  anch  in  Wira-el,  alt:  Ihtra-iila,  einer  Unutellong 
ant  'Erua'üla,  welches  durch  Angleichang  »oi  *Hrui-iäa  eotttanden  ist  Siehe  Über 
-Üa  aas  -Uta,  einer  Nachtonform  tod  oUo,  Lo.  1,  S.  384. 

3)  Sau-  in  SaUriaaa  kann  aot  'siealja  Steilichwelle  eatitanden  sein,   wie  Sali'  in 
dem  Bergnamen  Sal-t-eri  ■-  *Sieal-f-keri,  jetit  der  Seiter,   westlich   »on  Ganderiheim; 
hier  ist  ans  Uatpbytiologiichem  Gnmde  ein  l  eingeschoben ;  t,  bierUbcr  sowie  über  *»iea^ 
Steilschwelle  and  den  Bergnamen  SaÜeri  Hberhaapt  Lo.  3 ,  5.  1 ,  5  n.  6  and  vgl.  Lo.  5, 
S.  10.    Bei  dem  Bergnamen  Seiter  ist  eine  Ableitung  von  Sali  nnmOgUcb,  wie  ich  Lo.  3, 
S.  6  aof  Grand  lon  inverläsiigcn  Erknndigongen  dargetan  habe.     Salt-  könnte  aber  anch 
in  diesem  Falle,  wo  es  sich  am  eine  blofse  Qaelle  ohne  Bach  handelt,  als  Salz  aafgefaftt 
und  demgemtft  Sait-riaaa  als  Salzipmdel  gedeotet  werden.    Dies  wflrde  gat  passen,  denn, 
wie  Daniel  U,  744  bemerkt,  „tpradelt  der  berühmte  kohlensaore  Bronnen  bei  Nieder- 
sellera   ans   dem  linken  Hange   dei  Emstalet   mit  starkem  Braasen   and   zahllosen  Blasen 
ans  der  Tiefe".     Es  bliebe  aber  bei  dieser  Deatong  die  Unlerlassong   der  hochdeatschcn 
Laatrertcbiebang  gut  nnerklärlicb ,  Salt  statt  Sah,  nnd  deshalb  gebe  ich  der  enteren 
ErkläroDg   nnbedingt   den   Vorzog.     Dana   hiefse   der   Name   „Bergsprodel",   eigentlich: 
Sprodel  ans  einer  Steilschwelle.     Vielleicht   dentet   «nf  awal-  Ber"    •"'''   -"•  b»"»»'«™™" 
Vogels,  BeMohreäntng  dea  Eerxoglwma  Naaaau,  S.  76:  „Diejenij 
die  nicht  lo  den  Thermen  gehSreo,  worden  in  der  Voneit  nnd  b 
Schwnllbnuuien  genannt,  wie  sie  jetzt  Saaerbrvnneo  heiften";  bei 
die  von  Vogel  (S.  76)  crwihnte  Uineralqoelle  „aof  dem  Schwall 
Ortlichkeit  zu  denken  ist.  —  Für  denselben  Namen,  aber  andere  C 
bezeichnend,  finden  sich  anch  die  Farmen  cnit  einem  a,  SaU-riee 
Hase  (Enu)   altdentsch   auch  Aia  and  Atta,  wie  der  GOnzbach, 
—  im  Vm.  Jahrhandert  —  Ovn-itaa  nnd  Qunita  lautet. 


—     36     — 

wort  tritt  ferner  hervor  in  dem  Flufenamen  Reuls,  alt:  Busa  —  Biusa 
ist  Konjektur  für  Rinsa  — ,  femer  in  der  schwäbischen  Rife,  alt :  Bussa,. 
und  dies  Grundwort  steckt  m.  E.  auch  in  dem  Schweizer  Flulsnamen 
Bibe-rtissa,  jetzt  Bibersch  ^). 

Die  verschiedenen  Bezeichnungen  für  denselben  Begriff  haben  anch 
bei  den  Bestimmungswörtern  ihren  Grund  einmal  in  der  langen  Reihe 
von  Jahrhunderten,  die  für  die  Flufenamengebung  in  Betracht  kommt. 
Während  dieser  Zeit  gingen,  selbst  bei  denselben  Stämmen,  verschiedene 
Bestimmungswörter  zugrunde,  andere  kamen  empor,  wie  sich  ein  solcher 
Vorgang  auch  in  der  deutschen  Sprache  von  der  gotischen  bis  zur 
neuhochdeutschen  Sprachperiode  bei  verschiedenen  Gattungsnamen  ver- 
folgen läfst.  Zum  anderen  rührt  diese  Mannigfaltigkeit  daher,  da& 
bezüglich  der  Bestimmungswörter  gleichzeitig  bei  dem  einen  germa- 
nischen Stamme  das  eine,  bei  dem  anderen  ein  anderes  in  Gebrauch  war. 

Wenn  man  nun  wahrnimmt,  da(s  viele  Fluiisnamen  in  Frankreich, 
Deutschland,  Italien,  den  slawischen  Ländern,  ja  selbst  in  Asien  in 
den  nachweislich  von  indogermanischen  Stämmen  bewohnten  Gegenden 
wiederkehren;  wenn  man  sieht,  da(s  diese  in  Nordfrankreich,  Belgien, 
Holland,  in  Deutschland,  Deutsch  -  Osterreich  in  sehr  groüser  Anzahl 
in  einer  der  Urform  am  meisten  sich  nähernden  Gestalt  erhalten  sind ; 
wenn  man  erkennt,  dafs  die  für  diese  Flufsnamen  gebrauchten  Wörter 
die  ursprüngliche  indogermanische  Bedeutimg  oft  treu  bewahrt  haben 
und  widerspiegeln*):  so  gelangt  man  zu  der  Überzeugung,  dafs  die 
Ausbreitung  der  Indogermanen  nicht  von  Osten  nach  Westen, 
sondern  umgekehrt  V o n  den  Ländern  an  der  Nord-  und  Ostsee 
nach  Osten  und  Süden  erfolgt  ist.  Auf  diese  jetzt  immer  mehr 
Anhänger  gewinnende  Ansicht ')  führt  also  auch  die  Betrachtung  der 
Flufsnamen.  Ein  derartiger,  überall  in  Ländern  indogermanischer  Zunge 
verbreiteter  Flufename  ist  z.  B.  die  ^Ak-ctsana  oder  *Ak^ana,  zu- 
sammengesetzt aus  vorgermanisch  nikia  =  germanisch  agja  ^=3  Egge 

i)  BW'fbib-)  in  Flnfs-  nnd  Bergnamen  ist  rorgermamsches  Ftb-,  z,  B.  in  Fib-renuay 
einem  Flosse  im  alten  Latiom;  dieser  ist  völlig  gleich  mit  dem  deutschen  Flufsnamen 
Bw^ema,  jetzt  Berer  (Oste),  s.  über  -ema  -■  rena  Lo.  5,  S.  5.  Biv-,  bib-,  anch  buf*-, 
bub'  erscheint  in  vielen  Flofs-  und  Bergnamen,  nnd  bedeutet  nach  meinen  bisherigen 
sprachlichen  und  Gelündeontersachangen  „Anfbauschong,  Randköpfchen  ^^  Die  Flofsnamen 
mit  diesem  Bestimmungswort  haben  mit  dem  Tiere  „Biber"  nichts  tXL  tun. 

2)  Dies  glaube  ich  Lo.  4  und  5  wiederholt  nachgewiesen  zu  haben,  z.  B.  in  der 
letzten  Schrift  bei  den  Bestimmungswörtern  ^amba  Bergrand,  *ana  Steilhöhe,  ^nitha  etwas 
steiler  Abhang,  loh  aus  lauha  (lauga)  Freihöhe,  Schauhöhe,  Hoa/rja,  eigentlich  Hebung, 
dann  Breitkuppe  u.  bei  a. 

3)  Siehe  z.  B.  Mnch,  Die  Heimat  der  Indogermanen  (Berlin  1902). 


—     37     — 

oder  Bergkamm  und  (isana  =  Flufs,  also  einen  Flufs  bedeutend, 
welcher  an  einem  Bergkamm  entspringt,  ein  Bergkammwasser.  Er  er- 
scheint im  alten  Gallien  in  vorgermanischer,  keltischer  Form  als  Axona, 
jetzt  Aisne  (Oise),  aus  *Äc~is(ma  (^Ac-CLsona)  mit  dem  auch  sonst 
vielfach  nachweisbaren  Fortfall  des  i  (a)  in  isana  (asana),  in  Altsizilien 
als  L^x-ccy/v-ijg ,  in  Szythien  *)  als  Ak-esin-os  (Ac-esin-^is) ,  vielleicht 
auch  in  Altindien  als  AJc-esin,  griechisch  L^fx^a/yijg ,  wenn  der  in  den 
Wedas  vorkommende  Name  für  diesen  Flufe  Asikni,  Asüa  (trüb,  gefärbt) 
als  gelehrte  Umdeutung  des  bereits  nicht  mehr  verstandenen  Flufe- 
namens  gefafst  werden  kann.  Derselbe  Name  erscheint  nun  in  Württem- 
berg in  germanischer  Form  als  Ach-aea  •)  —  statt  -osa  mit  zu  0  ver- 
schärftem s,  wie  so  oft  bei  diesem  Worte  besonders  in  Kurhessen  — , 
jetzt  Echatz  (Neckar),  in  Oberösterreich  als  Ag-asia,  jetzt  Aist  (Donau), 
mit  angefügtem  ^•),  in  Niederösterreich  als  Acc-ussa-hah  ^)  (830),  als 
Ach'iS'bach  (1083),  j^^^  Aggsbach ;  -6acA  ist  späterer  Zusatz  und  -ussa 
bzw.  -is  sind  Nachtonformen  von  (isa. 

Ein  weites  Verbreitungsgebiet,  nämlich  in  Frankreich,  Westfalen 
und  Hessen,  in  Österreich  hat  auch  der  Flufename  *An'isana,  jetzt 
Enns  (alt:  Anisus,  auch  An-astis)  in  Österreich,  Ense  in  Westfalen, 
Anze  in  Kurhessen,  An-isola,  jetzt  AnUle  in  Frankreich*),  ferner  die 
Werse,  in  Italien  als  Ver-es-is  erscheinend,  die  Ems,  älteste  Form 
Am-asirOSy  deren  altitalischer  Namensbruder  der  Am-CLsen-us  in  La- 
tium  ist  •). 

Man  hat  ntm  in  den  Flufsnamen  vielfach  ein  Mittel,  um  das  ursprüng- 
liche Germanien  abzugrenzen:   soweit  die  Flufsnamen  die  ger- 


i)  Dais  die  Szythen  zu  den  Indogermanen  and  zwar  za  den  Eraniem  gehört  haben, 
steht  nach  Mttllenhoffs  Untersachnngen  ein  för  aUemal  fest  (MonaUheriehi  der  kömgL 
Akad,  der  Wies,  xu  Berlin ^  S.  549 ff.,  2.  Aognst  1866  nnd  vgl.  Fick,  Die  ehemalige 
Spraeheinheit  der  Indogermanen  Europas,  S.  405). 

2)  ch  wird  statt  g  verschiedentlich  in  Oberdentschland  in  der  althochdeutschen  Sprach- 
periode geschrieben. 

3)  Gerade  bei  diesem  Worte  geschieht  das  sehr  häufig,  s.  Lo.  5,  S.  18  und  Lo.  2y 
S.  376;  vgl.  die  Jaxt,  alt:  Jag-ista  (nach  Graff,  AUhochdeuteeher  Spraehsehatx)  und 
Jag-as,  Jag-ese, 

4)  Äe-  möchte  ich  lieber  als  germanisches  ag-  in  hochdeutscher  Lautverschiebung 
fassen,  denn  als  vorgermanisches  oe-.  Das  a  statt  des  Umlautes  e  erhält  sich  in  Eigen- 
namen oft,  besonders  auch  bei  diesem  Worte,  vgl.  z.  B.  Ag-ist-er-stein,  s.  über  diesen 
Namen  im  KorrespondenxbkUt  für  niederdeutsche  Sprachforschung  Heft  12,  1887,  Nr.  4^ 
S.  5 1  ff.  —  baeh  ist  späterer  erklärender  Zusatz  zu  dem  nicht  mehr  verstandenen  Grund- 
wort asOj  in  Nachtonform  usa  oder  isa, 

5)  S.  Lo.  5,  S.  23  u.  24. 

6)  S.  Lo.  5,  S.  13  ff. 

0 


—     38     — 

manische  bzw.  hochdeutsche  Lautverschiebung  zeigen, 
reicht  germanisches  Gebiet;  erscheint  aber  die  unverschobene 
Form,  so  haben  wir  es  mit  nichtgermanischem  Sprachgebiet  zu  tun. 
Die  AJc-eda  z.  B.,  jetzt  nach  einer  freundlichen  Mitteilung  des  Archiv- 
direktors Reimer  in  Koblenz  der  Achter  Bach  *)  (Nitz,  unterhalb  Vime- 
burg),  zeigt  in  Ak  »=  vorgermanisch  akia  =  germanisch  agja,  Egge 
und  dem  Grundwort  eda  aus  ada ')  die  vorgermanische  Lautstufe, 
während  derselbe  Name,  die  Oichten  (Salzach),  alt:  Og-cUa  und  Ogete^ 
^=  *Äg'ata,  die  germanische  Lautverschiebung  aufweist  —  So  tritt  auch 
in  Vös-i^-us,  jetzt  Vogesen,  in  -eg,  welches  hier  natürlich  nicht  um- 
gelautetes  e,  sondern  Nachton-6  bat,  die  germanische  Lautverschie- 
bung hervor;  denn  -eg  ist  das  germanische  agja:  die  Formen  mit -€ij^ 
kommen  vielfach  noch  in  der  älteren  althochdeutschen  Zeit  vor  in  Fa9-€i^ti9, 
Vos-ago  usw.  Erst  später  tritt  die  Abschwächung  des  Was-  zu  TFos-  ein, 
z.  B.  in  den  Formen  Was-ag-us,  Was-ac^us  —  mit  hochdeutscher  Laut- 
verschiebung —  und  Was-igen.  Derselbe  Name  wie  Vosegus  ist  wohl 
mit  derselben  späteren  Abschwächung  des  o  zu  a  Was-unga,  das  nach 
Oesterley  auch  als  Was-eg^n  vorkommt,  jetzt  Wasungen,  nördlich  von 
Meiningen;  Was-^nga  :  Was-egin  =  Osning  :  Osn-egge;  u  ist  ein- 
getreten durch  Trübung  des  a  infolge  des  Nachtons ;  Vosegus  ist  ferner 
wohl  =a  Wcts-egen  in  Oesterreich  —  s.  Oesterley  — ,  weiter  =  Wctö-gun-^^erg 
bei  Förstemann,  ziemlich  sicher  aus  Was-eg-un-berg  mit  erklärend  zu- 
gefügtem 'berg,  sodann  auch  =»  Wassen-egge  bei  St  Blasien,  jetzt 
Wcschenegg,  schlielslich  »■  Was-ago,  wahrscheinlich  in  der  Nähe  der 
Lauter,   westlich  von  Worms  nach  Förstemann.  —  Vos-^gus^)  heifst 


i)  Der  Ort  Acht  an  diesem  Bache  hat  seinen  Namen  von  dem  Bache  bekommen, 
und  von  diesem  Ortsnamen  ist  wiederum  der  jetzige  FlnTsname  „Achter  Bach*'  abgeleitet 
Förstemanns  topographische  Bemerkungen  über  die  Akeda  sind  nicht  genau. 

2)  S.  über  dieses  Grandwort  Lo.  5,  S.  28. 

3)  Sicher  —  mittels  Verdumpfong  des  o  aus  dem  ursprünglichen  a  —  =*J^-ata.* 
der  Osning  heifst  altdeutsch  Am-4gf  Osivdg  and  Osn-egge;  Oese  bei  Elze»  südöstlich 
von  Hildesheim,  laatet  altdeutsch  Aaühe  and  Ostthe,  die  Hase  alt  sowohl  Asa  als  0$e  usw. 

4)  Dieses  toos  halte  ich  für  gleich,  wie  ich  hier  nor  andenten  kann,  mit  mittelnieder- 
deutsch  wösfe)  ="  der  Schaum  von  siedenden  Dingen  und,*  da  der  Schaum  immer  blasig 
ist,  auch  ■»  Blase,  wie  ich  schlieise;  wös  aber  ist  m.  E.  gleich  lateinisch  was,  rdm 
Gedifs,  eigentlich  wohl  Blase,  d.  i.  blasenförmiges  GefiKs,  wie  wir  aach  mit  Blase  ein 
aas  Kupfer  usw.  getriebenes  bauchiges  Gefiifs  bexeichnen ;  vcts  wird  auch  von  Co- 
lamella.  De  re  rustiea  ohne  Zasats  von  dem  aach  bei  den  Römern  hohl  runden 
Bienenkorb  gebraucht  (9,  6:  ex  ferulis  eommode  wua  texuntur),  and  das  ist  beteicb- 
nend.  Sodann  sind  stammverwandt  altnordisch  V08  eiternde  Hantpostel  —  diese  Be- 
deutung ist  sehr  wichtig  — ,  femer  mittelniederdeatsch  waae  ■»  Bündel,  englisch  wam  ■■ 
Strohbündel,  Tragwulst  usw.  (mitteloiederdeatsch  wase  aach  =  Schlamm  and  Rasen).    Der 


—      39      — 

Kuppen-Bergkamm,  und  diese  Bezeichnung  palst  vorzüglich  besonders 
für  die  eigentlichen  oder  Hochvogesen  mit  ihren  zahlreichen  Kuppen 
oder  Belchen  (Ballons),  für  welche  sich  mehrfach  die  mit  wos-  zu- 
sammenhängende Einzelbezeichnung  Wasen  (Wassen)  findet  Vös-^- 
US,  urgermanisch  Wös-ägja,  ist  sowohl  nach  dem  ö  des  Bestimmungs- 
wortes als  dem  g  des  Grundwortes  ein  echt  germanischer  Name.    An 

Grundbegriff  ist  Schanm,   dann  von  der  Gestalt  des  Schaomes:    i)  Blase,   wie   klar  her- 
vortritt in  aluordiscb  V08  eiternde  Hantpustel,  eigentlich  wohl  Blase,  Bläschen;  a)  Trag- 
wolst,    Bündel   (von   der    rundlichen   Form);    3)   GeffUs   von   Blasenform;    4)   Berg  mit 
Blasenform,  also  mit  randlicher  Knppe.    Blase  selbst  »■  Erdblase,  Berg  von  blasenförmiger 
Gestalt  erscheint  in  vielen  Flnfs-  und  Bergnamen.  —  Germanisch  ö  in  toOe  entspricht  also 
indogermanisch  ä  und  auch   lateinisch  ä  in  väa,  väsia,  vgl.  Brngmann,   Kurze  ver- 
gleichende  Grammatik  der  indogermcmisehen  Sprachen,  }  124  o.  125.    Danach  heifst 
es  also  Vös-l^-uSy  wenn  auch  der  Dichter  Lukan  in  den  Pharsalia  in  der  wohl  verderbten 
UmsteUuig  Vog-es-ue  das  o  kurz  gebraucht     In   der   früheren   althochdeutschen  Zeit  er- 
scheint noch  dieses  ö  in  Wös-äg^us  usw.,  während  das  spätere  a  eine  Abschwächung  des 
0  ist,  wahrscheinlich  unter  Anlehnung  an  das  stammverwandte  und  im  Sprachbewufstsein 
noch  lebendigere  waeo.  —  Ich  nehme  femer  an,  dafs  Wust,  mittelhochdeutsch  nach  Kluge 
auch  wuoet,    germanisch  also  ^wösU^  femer  wüst,  altsächsisch  wösH,   welches  genau  ^ 
lateinisch  vMue  ist,  sowie  die  Wüste  nur  Weiterbildungen  vom  Stamme  was  mit  dem  ^-Laute 
sind;  die  Bedeutungsentwickelung  ist:  das  Schäumen,  das  Wildsein  (Schäumen  vor  Wut), 
die  Wildnis.     Von  gröfster  Wichtigkeit  ist  es  nun,   dals   mittelhochdeutsch  toüestc^  die 
Wüste,  zwar  nicht  die  Grundbedeutung  von   wöa,   nämlich  Schaum,  Blase,  aber  die  ab- 
geleitete „Bauchgegend''   hat,   die   sich   aus  der  von  „blasenförmiger  Rundung^'  ergibt 
WüesU  heilst  in  diesem  Sinne  wohl  zunächst  Bauch,  wie  denn  Wilhelm  Müller  im 
mittelhochdeutschen   Wörterbuch   bei   Anführung   der   Stelle   aus  Konrad  von  Würzburg: 
er  stach  dem  schateliure  die  tanzen   %n  %er  wüeste    mit  Recht  fragt:  „Heilst  das: 
in    den    Bauch?'',   —   dann,    wie    noch   jetzt   im   Neuhochdeutschen  —  s.  Sanders, 
Wörterbuch  der  deutsehen  Sprache  —  die  Weiche  usw.    Eine  Weiterbildung  mit  dem 
^-Laute  und  der  Nasalierung  ist  Wanst  b»  Bauch,   welches  Fick  mit  sskr.  vasti  Harn- 
blase, Unterleib  zusammenstellt;  man  vgl.  auch  visica,  in  guten  Handschriften  venstea,  — 
Zugrunde    liegt    sämtlichen   germanischen    Wörtern    das    starke   althochdeutsche    Verbum 
wasan  stark  sein,  dessen  ursprüngliche  Bedeutung  schäumen,  wild  sein,  gewesen  sein  wird ; 
hierauf  deutet  wohl  klar  mittelniederdeutsch  wasen  und  mit  der  häufigen  Vertauschnng  von 
b  und  w  im  Anlaute  im  Mittelniederdeutschen  auch  basen  =»  unsinnig  reden  und  handeln, 
s.  Mittelniederdeutsches   Wörterbuch  von  Schiller  und  Lttbben;   vgl.   auch  das  von 
wös  abgeleitete  mittelniederdeutsche  Verbum  traten  «■  überschäumen,  schwärmen,  rasen  as« 
friesisch  wösen  schäumen,  brausen,  ein  wildes,  wüstes  Leben  Dihren.    Die  weitere  Ver- 
wandtschaft dieser  Wörter  mit  althochdeutsch  waso  feuchter  Erdgrund,  Rasen,  Schlamm, 
das  ich  abweichend  von  Kluge,  aber  in  Obereinstimmung  mit  Schade  streng  von  mittel- 
niederdeutsch wrase  «^  neuhochdeutsch  Rasen  sondere,  und  mit  althochdeutsch  wasal 
feuchte  Erdmasse,  Feuchtigkeit,  ferner  mit  friesisch  wasem  Dunst,  Dunstdecke,  sodann  mit 
oberdeutsch  Wastel,  das  eine  Art  Kuchen,  also  wohl  ein  rundliches  Gebäck,  bedeutet  usw., 
sowie  der  Zusammenhang  der  verschiedenen  Bedeutungen  dieser  Wörter  mit  der  Grundbedeu- 
tung gehört  nicht  unbedingt  hierher.    Nach  Unger-Khull,  Steirischer  Wartsehatz  (Graz, 
1903)  bedeutet  Wasling  in  der  Metzgersprache  eine  dickere  Gattung  von  Wurstblasen. 


—     40     — 

diesem  Gebirge  wohnten  ja  schon  zu  Cäsars  Zeit  Germanen,  die 
wohl  nicht,  wie  Müllenhoflf  früher  in  seiner  Vorlesung*  über  Tacitus' 
Germania  zu  begründen  suchte,  erst  unter  Ariovist  hier  angesiedelt 
wurden,  sondern  die,  wie  der  germanische  Name  beweist,  schon  läng-er 
hier  gewohnt  haben  müssen. 

In  Lupi-as  femer,  jetzt  Lippe,  =  *Lupir-€töa,  ist  die  germanische 
Form  des  Flufsnamens  bewahrt,  während  in  der  aus  Tirol  kommenden 
Litib-asa  *) ,  jetzt  Loisach  (Isar) ,  unter  späterer  umdeutender  Anleh- 
nung an  althochdeutsch  litib  lieb  die  vorgermanische  Form  "^LuIh 
asa  *)  erhalten  ist ,  ebenso  in  dem  niederösterreichischen  Flufe-  und 
Ortsnamen  lAtÄb-isa '),  jetzt  Langen  =  Lois  am  Loisbache. 

Ich  könnte  noch  eine  Menge  derartiger  sich  entsprechender  ger- 
manischer und  vorgermanischer  Flufenamen  nennen,  will  aber  nur  noch 
den  oft  vorkommenden  germanischen  Flufsnamen  Verse  —  vgl.  den 
holländischen  Flufsnamen  Ver-sia  aus  dem  Jahre  876  — ,  dessen  Grund- 
form *Far'isa  *)  ist ,  und  den  in  den  Ister  mündenden ,  von  Strabo 
erwähnten  Par-ls-os  nebeneinanderstellen.     Das  P  zeigt  hier  die  vor- 

i)  Lupi-as  werden  die  Römer  gehört  haben,  daraas  haben  sie  Lupi-^t  gemacht; 
Lupta,  nicht  Luppia  hat  Nipperdey  in  seiner  Ausgabe  überall;  ebenso  findet  si<^ 
Lupia  bei  Mela.  Vielleicht  ist  die  älteste  Form  bei  Strabo,  nämlich  uiovTri-ng,  nicht 
eine  Umformung  des  lateinischen  Lupia  y  sondern  bewahrt  den  eigentlichen  Lantbestand. 
Asa  ist  das  ursprünglich  am  Teutoburger  Walde  einheimische  Grundwort;  es  erscheint 
z.  B.  dort  in  Hase  (Ems),  alt  auch  Asa,  femer  in  Em-s,  alt:  Äm-asi'as,  in  El-se  (Werre, 
Weser)  usw.,  kommt  aber,  wie  ich  wegen  der  im  Texte  erwähnten  österreichischen  Flüsse 
Loisach  und  Loisbach  bemerke,  auch  in  Deutsch-Österreich  sehr  oft  vor.  VgL  über  asa 
am  Teutoburger  Walde  Lo.  2,  S.  367  ff.  und  Lo.  5,  S.  6  ff.  Einen  Stamm  Uq}-,  der 
Wasser  bedeutete,  gibt  es  nicht,  also  mufs  das  Grundwort  für  Wasser  abgefaUen  sein; 
das  a  in  Lupua  kann  es  nicht  sein,  denn  ä  =  ahva  begegnet  erst  im  Mittelalter.  Mit 
der  Annahme  hingegen  von  a  als  einer  römischen  Umformung  von  as  =  asa  ist  alles 
erklärt  Vgl.  noch  die  Jaxt,  alt:  Jag-as  und  Jag-ese,  und  s.  über  Äm-asi-fcu)  ans 
Mm-OÄtn,  Mm-cmwa  Lo.  5,  S.  13. 

2)  Auch  Liuth-is-aha  mit  erklärend  hinzugefügtem  aha. 

3)  Das  b  ist  hier  wahrscheinlich  vorgermanisch  und  nicht  eine  spätere  germanische 
Umdeutung.  Das  vorgermanische  lub-,  germanisch  Inp^  bzw.  lupi-  aus  ^lupfa,  ebtxiso 
wie  das  nasalierte  Lumpen  (eigentlich  b*  Lappen)  im  Ablautverhältnisse  zu  Lappen  stehend 
—  vgl.  englisch  lap  =^  Schofs  oder  Zipfel  am  Kleide  und  niederländisch  lamp^»  Lampen 
oder  Lappen  —  dieses  Hupja  bezeichnet  in  Berg-  und  Flufsnamen,  wie  ich  aus  vielfacher 
Beobachtung  weifs  und  später  einmal  ausführlicher  begründen  werde,  einen  Quer-Bergzipfel 
oder  eine  Quer  Bergzunge ,  d.  h.  eine  aus  der  Längsrichtung  eines  Bergzuges  sich  ab- 
zweigende und  quer  sich  vorstreckende  Bergzunge.  Dies  pafst  vorzüglich  auf  die  nidit 
bei  Lippspringe,  sondern  mit  ihrem  entferntesten  Quellarm  viel  weiter  aufwärts  oberhalb 
Kohlstädt,  an  der  äufsersten  Südostecke  des  Teutoburger  Waldes,  hart  an  der  dortigen 
Wasserscheide,  entspringende  Lippe.     Ich  habe  die  Quellen  selbst  besichtigt. 

4)  Siehe  Lo.  5,  S.  16. 


—     41     — 

germanische  Lautstufe,  während  in  der  westfälischen  Verse  (Lenne, 
bei  Werdohl  bei  Lüdenscheid),  in  der  hessischen  Vers  (Salzböde,  Lahn) 
sowie  in  Fer-sina  (Etsch,  alt :  Ät-es-is  *) ,  der  auch,  wie  der  Nebenflufs, 
das  Grundwort  asa  enthält)  die  germanische  Lautverschiebung  vorli^. 
Bei  Fersina  ist  zudem  die  Ableitungsendung  -fia  prächtig  erhalten, 
denn  €isa  bzw.  isa  ist  aus  (isana  bzw.  isana  entstanden  *),  Die  Fersina 
(Etsch),  deren  germanische  Grundform  *Far'i8ana  lautet,  ist  wieder 
völlig  gleich  der  hannoverschen  Far-istina  *)  —  aus  dem  VIII.  Jahr- 
hundert — ,  nur  mit  dem  oft  bei  asa  bzw.  isa  antretenden  t  ^). 

Die  Flufis-  und  Bergnamen  sind  die  ältesten  uns  erhaltenen  Eigen- 
namen, denn  ehe  man  zu  festen  Ansiedelungen  gelangte,  hatten  die 
Flüsse  und  Berge  bereits  Namen  erhalten;  es  sind  die  altehrwürdigen 
Geländeurkunden,  in  welchen  das  Volk  der  Indogermanen  —  bzw.  die 
aus  ihm  sich  loslösenden  Einzelstämme  —  seiner  hohen  Begabung, 
seiner  scharfen,  geist-  und  liebevollen  Naturauffassung  ein  dauerndes 
Denkmal  setzte.  Zwar  sind  diese  Urkunden  im  Laufe  der  Jahrtausende 
verwittert  und  oft  bis  zur  Unkenntlichkeit  entstellt;  aber  dem  Ernste 
gemeinsamer  Forschung,  „den  keine  Mühe  bleichet",  wird  auch  hier 
„der  Wahrheit  tiefversteckter  Born  rauschen".  Die  allerältesten  Flufe- 
namen  reichen  bis  in  die  indogermanische  Urzeit  zurück  und  zwar 
entweder  als  unmittelbare  bodenständige  Erzeugnisse  des  Urvolkes  in 
der  Urheimat  oder  als  mitgebrachte,  ncugepflanzte  Spröislinge  der 
indogermanischen  Einzelstämme  in  den  neueroberten  Ländern.  Die 
Aufgabe  der  Zukunft  ist  es  demnach,  die  Flufsnamen  —  hauptsächlich 
mit  Hilfe  der  verschiedenen  Grundwörter  —  nach  ihrem  Alter  zu  be- 
stimmen. Nach  meinen  bisherigen  Untersuchungen  scheint  asana,  asa 
das  älteste  Grundwort  zu  sein ;  ich  möchte  es  das  in  indogermanischer 
Urzeit  gebräuchliche,  aber  auch  in  neueroberten  Ländern  neugepflanzte 
Grundwort  nennen.  Es  begegnet  fast  überall,  wo  indogermanische 
Stämme  nachweislich  sich  niedergelassen  haben,  z.  B.  in  England 
{Tam-eS'is,  jetzt  Themse),  zahlreich  in  Nordfrankreich,  Belgien  und 
Holland,  zahllos  in  Deutschland,  oft  in  Skandinavien  und  sehr  oft  wieder 
in  den  Ostseeländern,  vielfach  in  Italien  (At-es-is,  Ver-esis,  Amrosen-us), 
sehr  häufig  in  Österreich  und  in  den  Alpen,  in  Ungarn  (Tib'is-is, 
jetzt  Temes  u.  a.),  in  Ruüsland  (Ak-esin-os,  s.  oben,  u.  a.) ,  wahrschein- 

i)  Nicht:   Äth-estSy   s.  Pauly- Wisso wa,   Real' Enzyklopädie   der  klassischen 
ÄÜertumsunssenschaftf  anter  Atesis. 

2)  Siehe  Lo.  5,  S.  6  ff. 

3)  Nach  Förstemann  jetzt  der  MUhlenbeck  (alte  AUer,  bei  Daverden,  Kr.  Verden). 

4)  Siehe  Lo.  5,  S.  18  und  Lo.  a,  S.  376. 


—     42     — 

lieh  auch  in  Griechenland  und  Kleinasien  in  denen  auf  -isos  bzw.  -issas 
usw.  *).    Rena  hingegen  scheint  das  Grundwort  des  g-ermanisch-keltischen 
Stammes  zu  sein  *),  dessen  Abzweigungen  schon  vor  der  geschichtlichen 
Einwanderung  der  Kelten  nach  Italien  sich  wohl  unter  dem  Namen  Sabiner 
in  Italien  festsetzten,  daher  besonders  im  Sabinerlande  und  in  Sanmium 
die  Flufsnamen  auf  -re»«5  bzw.  -emtis,  meistens  verwittert  zu   '^erus 
(era),  artis  (aris),  iris  usw.    Diese  beiden  Grundwörter  erscheinen  mir 
auch  aus  dem  Grunde  als  die  ältesten,  weil  an  sie  als  nicht  mehr  ver- 
standene Wörter  oder  Wortstümpfe  solche  Grundwörter  gehängt  werden, 
welche  sich   länger  im  Sprachbewufstsein   erhalten  haben,   sei  es  bei 
dem  ursprünglich  namengebenden,  sei  es  bei  einem  später  eindringenden 
Volke.    So  wird  das  fälschlich  von  Müllenhoflf  und  anderen  für  keltisch 
gehaltene,  aber  mit  Recht  von  Arnold,  Gall6e,  Jellinghaus  u.  a.  als 
deutsch  beanspruchte  Grundwort  apa,  oberdeutsch  afa,  affa '),  an  das 
Grundwort  asa  und  ama  (aus  ratui)  *)   erklärend  angefügt ,   z.  B.    in 
El-s-pe  (Lenne,  Ruhr)  aus  El-se=*-B^i5a  +jpc  aus  apa,  ferner  in  El-s~off 
(Eder,  bei  Hatzfeld),  alt:  EUs-apha,  in  EUs-off  bei  Rennerod  in  Nassau, 
alt:   El- OS -äffe  usw.,   in  MilrS-^  (Ennepe,  Volme,  Ruhr)   aus  Milse, 
alt :  "^Mü-isa ,  +pe  *).   An  am  wird  apa  bzw.  affa  hinzugefügt  in  Am-apa 
oder  Am-afa,  jetzt  Erft  (Rhein),  im  waldeckischen  Arn-effe,  jetzt  AnrafT. 
Derselbe  Name  ist  im  Grunde  Arl-ape  %  jetzt  Erlaf  (Donau),  nur  dafe 
das  n,  wie  so  oft,   in  l  übergegangen  ist;   Arlapa  ist  sonst  ganz  un- 
erklärlich,  denn  von  einer  Ableitung  von  Erle  kann  keine  Rede  sein. 
Dieses  apa  war  aber  bereits   im  Mittelalter  kein  Gattungswort   mehr, 
sondern  lebte  nur  in  den  Eigennamen  fort,  während  das  jetzt  als  Gattungs- 
wort erloschene  aha  damals  im  Sprachbewufstsein  noch  lebendig  war 
und  besonders  von   den  überklugen  Mönchen   überaus  häufig  an   die 
nicht  mehr  verstandenen  Grundwörter  aUa,  asa,  ata  (anta),  mana,  rana 
usw.  erklärend  angehängt  wurde. 

Es  ist  also  die  Aufgabe   der  Zukunft,   einmal   die  noch  nicht  er- 
klärten Bestimmungswörter  zu  deuten  und  zum  anderen  die  Flufsnamen 


i)  Siehe  über  den  altindischen  Accsi-nes  oben  S.  37. 

2)  Insbesondere  auch  des  grofsen  saebischen  Volkes. 

3)  Germanisch  apa  entspricht  lateinisch  ab-  in  amnia  ans  ^ab-nis  nod  auch  alt* 
irisch  abh  Flufs,  denn  nach  Fick  sind  die  indogermanischen  Wurzeln  ahh  and  ab 
gleich. 

4)  Siehe  Lo.  5,  S.  5. 

5)  Siehe  über  mtd-y  mü-  nnd  den  althochdeutschen  Flufsnamen  Mü-isa  Lo.  4,  S.  61 
mit  den  Hinweisen. 

6)  So  ist  die  richtige  Schreibung,  nicht  Arelape,  s.  Pauly-Wissowa  a.  a.  O. 


—     43     — 

in  den  verschiedenen  Ländern  indogermanischer  Zunge  nach  den  ver- 
schiedenen Grundwörtern  zusammenzustellen  und  sie  den  verschiedenen 
Zeiten,  Völkern  und  deren  Stämmen  zuzuweisen.  Diese  ungeheure 
Aufgabe  kann  nur  von  den  vereinten  Kräften  vieler  nach  einem  gemein- 
schaftlichen Plane  arbeitenden  Gelehrten  allmählich  gelöst  werden.. 
Beitragen  dazu  kann  aber  jeder  Forscher  und  zwar  zunächst  dadurch, 
dals  er  die  in  den  Quellen  überlieferten  Namen  für  Flüsse,  Flüfschen 
und  Bäche  sorgfältig  zusammenstellt.  —  Es  werden  sich  einerseits  aus 
der  Deutung  der  Bestimmungswörter  sehr  wichtige,  besonders  die  Ur- 
bedeutung der  Wörter  aufhellende  sprachliche  Auüschlüsse  und  andrer- 
seits aus  der  örtlichen  Verbreitung  der  verschiedenen  Grundwörter  die 
wichtigsten  Rückschlüsse  auf  die  Heimat  des  Urvolkes,  die  Wande- 
rungen der  indogermanischen  Völker  und  deren  Stämme,  z.  B.  der 
Stämme  des  germanischen  Volkes,  ergeben  *). 


Mitteilungen 


Yersanilllllingeil.  —  Die  diesjährige  Hauptversammlung  des  Ge- 
samtvereins der  deutschen  Geschichts-  und  Altertums- 
vereine fand  vom  8.  bis  i  i.  August  zu  Danzig  statt.  Die  Ver- 
anlassung zur  Einladung  nach  Danzig  bot  das  Jubiläum  des  Westpreufsischen 
Geschichtsvereins,  der  auf  eine  fünfundzwanzigjährige  arbeitsreiche  und  von 
Erfolg  gekrönte  Tätigkeit  zurückblicken  kann.  Die  Jahreszeit,  zu  der  die 
Versammlung  berufen  war,  erschien  manchem  Teilnehmer  nicht  besonders 
günstig  gewählt,  wieder  wurde  auf  den  Oktober  ab  die  geeignetste  Zeit 
wiederholt  hingewiesen  und  wieder  die  verschiedene  Lage  der  Schulferien 
als  ein  Hindernis  für  einen  möglichst  zahlreichen  Besuch  empfunden,  ohne 
dafs  für  die  Zukunft  ein  allen  Wünschen  entsprechender  Temiin  zu  ünden 
gewesen  wäre.  Trotz  der  Schwierigkeiten,  die  Zeit  und  Ort  der  Versammlimg 
verursachten,  waren  von  den  169  dem  Gesamtverein  jetzt  angehörigen  Ver- 
einen 41  vertreten,  zwar  an  und  für  sich  eine  kleine  Zahl,  aber  nicht  be- 
deutend hinter  den  letzten  Versammlungen:  Freiburg  mit  43,  Dresden  mit 
64  und  Düsseldorf  mit  66  zurückbleibend.  Ofi&ziell  waren  nur  vertreten  die 
Regiemng  des  Grofsherzogtums  Oldenburg,  die  Landesverwaltuug  von  Elsafs- 
Lothringen  und  die  Königl.  Preufsische  Archiwerwaltung.  Insgesamt  betrug 
die  2^ahl  der  Teilnehmer  182,  davon  aus  der  Stadt  Danzig  96,  auswärtige 
86.  Der  Osten  Deutschlands  war  selbstverständlich  am  stärksten  vertreten, 
indem  Danzig  (Stadt),  West-  und  Ostpreufsen  und  Posen  zusammen  128 
Teilnehmer,  das  übrige  Deutschland  nur  52  entsendet  hatte,  und  vom  Aus- 
lande (Dänem?^k)  2  erschienen  waren.  Der  Ortsausschufs  hatte  in  überaus 
rühriger  Tätigkeit  sich  bemüht,   der  Versammlung   die  schönsten  Eindrücke 

i)  Siehe  hierüber  auch  Na  gl,  Oeographteehe  Namenkunde  (1903),   S.  69  and  85. 


—     44     — 

von  Danzig  und  Umgegend  zu  verschaffen,  indem  er  zum  Teil  ganz  freie 
Fahrten  nach  Oliva,  Zoppot  mit  Stolzenfels,  Marienburg  und  Königsberg 
veranstaltete.  Die  Stadt  bewirtete  die  Teilnehmer  am  Begrüfsungsabend  im 
Artushofe.  An  dieser  Stätte  herrlicher  Erinnerungen  aus  der  Stadtgeschichte 
begrtifste  Oberbürgermeister  Ehlers  die  Gäste  mit  herzlichen  Worten,  in 
denen  er  namentlich  die  Annahme  zurückwies,  Danzig  liege  im  fernen  Osten, 
er  hofife  vielmehr,  es  werde  den  Herzen  der  Teilnehmer  sehr  nahe  liegen. 
Der  Vorsitzende  des  Gesamtvereins,  Geh.  Archivrat  Bailleu  dankte  tmter 
Anknüpfung  an  Treitschkes  Urteil  über  das  alte  Danzig  und  widmete  seine 
dankbaren  Wünsche  der  sich  entwickelnden  modernen  Stadt. 

Als  Festgaben  gelangten  zur  Verteilung:  Zeitschrift  des  Wesipreufsi- 
sehen  Qeschichichtsverems,  Heft  47  (Danzig  1904);  Die  Stadt  Danzig,  ihre 
geschichtliche  Entwickelung  und  ihre  öffentlichen  Einrichtungen ,  herausgegeben 
im  Auftrage  des  Magistrats  (Danzig  1 904) ;  Illustrierter  Führer  durch  Danx^ig 
und  Ufngebung,  gewidmet  von  der  Stadt  Danzig,  herausgegeben  von  Leo 
Woerl  (to.  Aufl.,  Leipzig  1904);  Danzig  und  seine  neue  technische  Hodi- 
schule  (ohne  Angabe  d.  Verf.  u.  Jahres).  Aufserdem  Prospekt  der  seit 
Anfang  1904  in  Leipzig  bestehenden  „Zentralstelle  für  deutsche  Personen- 
und  Familiengeschichte",  worin  Wesen  und  Absichten  dieser  Anstalt  darge- 
legt werden. 

Die  erste  Hauptversammlung,  Dienstag,  den  9.  August,  früh 
8  Uhr  in  den  Räumen  des  Franziskanerklosters  eröffnete  Geh.  Archivrat 
Bailleu  mit  einer  Begrüfsung  der  Regierungsvertreter  und  gab  dann  einen 
Überblick  über  die  Tätigkeit  des  Gesamtvereins,  der  gegenwärtig  167,  darunter 
einen  deutsch-amerikanischen  Verein  umschliefse.  Durch  zwei  weitere  Mel- 
dungen während  der  Tagung  ist  nunmehr  die  Zahl  auf  169  gestiegen.  Die 
Einnahmen  stellten  sich  auf  4600  Mark,  die  Ausgaben  auf  4520  Mark.  Das 
Organ  des  Gesamtvereins  ist  in  der  Höhe  der  Auflage  ebenfalls  gestiegen. 
Hinsichtlich  der  Ausführung  der  im  Vorjahr  von  der  Hauptversammlung  in 
Erfurt  gefafsten  Beschlüsse  konnte  der  Redner  die  befriedigende  Mitteilung 
machen,  dafs  der  Vorstand  willige  Mitarbeiter  gefunden  habe,  die  eine  Durch- 
führung der  Beschlüsse  erwarten  lasse;  über  den  ersten  Gegenstand,  den 
Einflufs  der  römischen  Kultur  auf  die  Gebiete  östlich  des  römischen  Limes  *) 
sei  ein  Vortrag  für  die  Versammlung  des  nächsten  Jahres  in  Aussicht 
gestellt. 

Hieran  schlössen  sich  die  offiziellen  Begrüfsungen  im  Auftrage  des 
Oberpräsidenten  durch  Oberregierungsrat  Möhrs,  seitens  der  städtischen 
Verwaltung  durch  Bürgermeister  Trampe,  seitens  des  Westpreufsischen 
Geschichtsvereins  durch  Stadtschulrat  Damus,  denen  der  Vorsitzende  Worte 
des  Dankes  erwiderte. 

Die  Vorträge  eröflOiete  Stadtschulrat  Damus  mit  einer  überaus  fesselnden 
Darstellung  von  Danzig  in  Geschichte  und  Kunst,  Die  Stadt  ist  hervor- 
gegangen aus  einer  slawischen  Stadt,  über  die  wir  nichts  wissen,  und  aus 
einer  deutschen  mit  lübischem  Stadtrecht  unter  pomerellischen  Herzögen, 
über  die  wir  besser  unterrichtet  sind.  Die  deutsche  Stadt  wurde  durch  den 
Orden  vernichtet,  der  ihre  Bürger  zwang ,  sich  an   der  Mottlau    anzusiedeln. 


i)  Vgl.  diese  ZciUchrift  5.  Bd.,  S.  77. 


—     46     — 

Die  Entwickelung  dieser  Siedelung  fand  ihren  Abschlufs  durch  Verleihung 
des  kalmischen  Stadtrechts.  Seitdem  entstanden  die  Stadtbefestigungen 
tmd  die  Stadtkirche.  Die  Befestigungen  umschlossen  lediglich  die  Rechts- 
stadt Die  Altstadt  wurde  zwar  wieder  erbaut,  erhielt  aber  kein  Stadtprivileg, 
und  ebensowenig  das  polnische  Hakelwerk.  Die  günstige  Lage  ermöglichte 
«in  rasches  Aufblühen  der  Rechtsstadt ,  so  dals  sie  schon  am  Ende  des 
XIV.  Jahrhunderts  zu  den  bedeutendsten  Städten  der  Hansa  gehörte  und  alle 
preufsischen  Städte  überflügelt  hatte.  Mit  dem  zunehmenden  Reichtume 
wuchs  das  Gefühl  der  Kraft  und  das  Verlangen  nach  Selbständigkeit,  woraus 
dann  der  Konflikt  mit  dem  Orden  entstand.  Im  Jahre  138a  gründete  der 
Orden  die  Jungstadt  als  Konkurrenzunternehmen  gegen  die  Hansastadt;  da- 
durch wurde  letztere  zum  Ab&li  vom  Orden  veranlafst.  Schon  14 10  nach 
der  Schlacht  bei  Tannenberg  fiel  sie  ab,  mufste  sich  aber  noch  einmal 
dem  Orden  fügen;  1454  erfolgte  der  zweite  AbGedl,  und  in  einem  13jährigen 
Kriege  besiegte  die  Stadt  den  Orden.  Die  Jungstadt  wurde  nun  zerstört, 
Altstadt  und  Hakelwerk  mit  der  Stadt  vereinigt.  Damals  begann  die  Periode 
der  städtischen  Bauten,  namentlich  der  neuen  Wallbefestigung,  die  erst  in 
jüngster  Zeit  ge&llen  ist ;  damals  war  auch  das  von  den  polnbchen  Königen 
mit  reichen  Privilegien  ausgestattete  Danzig  Herrscherin  zur  See.  Im 
XVI.  Jahrhundert  durchdringen  das  städtische  Leben  zwei  wichtige  Be- 
ilegungen, die  religiöse  (Refonnation)  und  die  politische,  d.  h.  der  Kampf 
gegen  Polen,  das  die  Selbständigkeit  der  Stadt  vernichten  wollte.  Beide 
Bewegungen  gehen  mehrfiach  ineinander  über,  doch  wurde  durch  das  weise 
Verhalten  des  Rates  die  Reformation  in  so  schonender  Weise  vollzogen, 
<iafs  alle  Überstürzung  vermieden  und  eine  Zerstörung  kirchlicher  Denk- 
mäler verhindert  wurde.  Im  Jahre  1557  wurde  die  evangelische  Kirche 
aneriuumt  Die  polnischen  Bestrebungen  erreichten  ihren  Höhepunkt  auf 
dem  Lubliner  Reichstag  1569,  sie  führten  zur  Belagerung  der  Stadt  1578, 
•die  aber  mit  dem  Siege  Danzigs  endete.  Nun  erstarkte  die  Stadt  wieder 
und  wurde  der  Mittelpunkt  des  Getreidehandels,  der  sich  bis  nach  Italien 
-erstreckte.  Von  dort  stammen  die  Anregungen  zu  den  Renaissancebauten, 
•die  noch  heute  die  Zierde  der  Stadt  bilden.  Im  XVn.  Jahrhundert, 
namentlich  imter  der  Einwirkung  des  schwedisch  -  polnischen  Krieges,  litt 
die  Stadt,  obwohl  sie  sich  ihre  Selbständigkeit  zu  wahren  wufste.  Erst 
<kr  Anschlufs  an  den  lebenskräftigen  preufsischen  Staat  hat  ihr  ein  neues 
Leben  und  eine  neue  Entwickelung  erö&et,  in  der  sie  sich  gegenwärtig 
befindet. 

In  der  zweiten  Hauptversammlung  sprach  Professor  Kraus ke  (Königs- 
berg) über  König  Friedrieh  Wilhelm  L  In  kurzer,  knapper  Charakteristik 
^b  er  ein  Bild  vom  Geiste  jenes  Zeitalters,  in  dem  die  Deutschen  mit  der 
Vergangenheit  zwar  gebrochen  hatten  und  nach  neuen  Formen  suchten,  aber 
^ch  doch  noch  nicht  ganz  aus  der  Überlieferung,  dem  Geist  und  den 
Formen  vergangener  Zeiten  herausheben  konnten.  Als  echtes  Kind  dieser 
Übergangszeit  erscheint  der  König,  wie  sein  Verhalten  der  Familie  gegen- 
über und  seine  Stellung  zur  Etikette  und  der  Gesellschaft  beweist.  Die 
bisher  geltende  Auffie^sung  von  der  Abneigung  des  Königs  gegen  Wissen- 
schaft und  Kunst  mufs  nach  zwei  Seiten  hin  eine  Einschränkung  erfiUiren, 
indem  zunächst  vor  der  Generalisierung  einzelner  dem  König  gelegeüdich 

4 


—     40     — 

^tschlüpfter   Urteile   über  den  Wert  wissenschaftlicher  Tätigkeit  zu    wameo 
ist,  andrerseits  aber  durch  Tatsach^i  belegt  werden  kann ,  dafe .  der  König 
die  angewandte  Wissenschaft^  namentlich  auch  Medizin  und  Staatswissenschaft, 
sehr  hoch  einschätzte  und  selbst  der  Philosophie  nicht  in   dem  Mafse.  ab- 
hold war,  wie  man  es  aus  einzelnen  Urteilen  und  Handlungen  bisher  glaubte- 
annehmen  zu  sollen;  auch  die  wissenschaftliche  Bedeutung  Gundlings  verdient 
eine  gegenüber  der  bisherigen  gerechtere  Einschätztmg.    Die  Gegensätze,  dit 
sich  in  der  Zeit  wie  in  der  Person  des  Königs  offenbaren,  bringen  ihn  oft 
mit  sich  seihst  in  den  ärgsten  Zwiespalt.     Seine  Absicht  war,  das  Land  zu 
verwalten  wie  ein  tüchtiger,  verständiger  Grofsgrundbesitzer,  aber  der  Um£uig^ 
des  Staates  stand  der  Durchführung  dieser  Absicht  en^egen;  er,  der  bewnfst 
zu  der  guten  alten  Zeit  zurückführen  wollte,  wurde  selbst  der  Schöpfer  des- 
modernen  Staates  Preufsen,  an  dessen  Organisation  nicht  einmal  sein  grofser 
Sohn  imd  Nachfolger  etwas  zu  ändern  fand.    Derselbe  König,  der  allgemein* 
ab  geizig  und  knauserig  verschrieen  war,  hatte  doch  Sinn   für  würdige  Re- 
präsentation und  rühmte  sich,  dafis  sein  Silberschatz  gröfser  sei  als  der  des 
prunkliebenden  Herrschers,  Augusts  des  Starken,   aber  er  war  dabei  ein  so 
umsichtiger  Haushalter,   dafs   er   seinem  Hause   Reichtümer   hinterliefs    und 
dais  an  seinem  Lande  Hungersnöte,  die  anderen  Völkern  verhängnisvoll  ge- 
worden  sind,    ohne   grofse   Schädigungen  vorübergegangen   sind.     Derselbe 
König,  der  ein  leidenschaftlicher  Soldat  war  und  tmter  bedeutenden  Kosten 
eine  über  das  unmittelbare  Bedürfnis  des  Landes  hinausgehende  Heeresmacht 
tmterhielt,  hat  dennoch  am  wenigsten   sich  in  kriegerische  Unternehmungen 
eingelassen;    das   Gefühl   der   Verantwortlichkeit    schreckte    ihn    zurück,    ja 
nahm  ihm  das  berechtigte  Mafs   von  Selbstvertrauen.     In   dem  Mafse    aber, 
wie  dieses  abnahm,  wuchs  in .  ihm  das  Miistrauen  gegen   andere ,   er   wurde 
ein   unzuverlässiger  Bundesgenosse   imd   darum    schliefslich   selbst   betrogen. 
Für  grofsangelegte  Pläne  war  er  nicht  zu  gewinnen,   andrerseits  aber  wufste 
er  da,  wo  er  auf  fremde  Interessen  nicht  Rücksicht  zu  nehmen   hatte,    mit 
voller  Energie  einzutreten.     Er  war,  wie  Schön  einst  über  ihn  geurteilt  hat, 
der  gröfste   innere  König   Preuisens.     Dies    wird   ihm   unvergessen,  bleiben,, 
namentlich  hier  im  Osten  der  Monarchie.     Ostpreufsen,  das  in  erster  Linie 
die  Kraft  und  den  Segen  seiner  Wirksamkeit  empfunden  hat,  hat  ihm  auch 
das  erste  Denkmal  gesetzt. 

In  derselben  Sitzung  behandelte  Archivrat  Bär  (Danzig)  Die  geschiehi' 
liehe  Enttüickelung  der  Provinx  Westpreufhen,  Im  Hinblick  auf  den  Vortrag^ 
von  Dam  US  äufserte  der  Vortragende,  er  könne  ein  so  glanzvolles  Bild 
nicht '  entwerfen ,  seine  Ausführungen  könnten  nur  von  Kampf  imd  Arbeit 
berichten,  von  Kampf  für  das  Volkstum  imd  Arbeit  mit  der  Pflugschar.  Der 
Kampf  galt  der  Eroberung  des  Landes,  das  von  heidnischen  Preufsen  und 
christlichen  Slawen  besiedelt  war,  als  der  Orden  1226  von  einem  pome- 
rellischen  Fürsten  herbeigerufen  wurde.  Der  Orden  suchte  einen  Stützpunkt 
für  seine  Herrschaft  im  Osten  und  hat  ihn  mit  erlaubten  und  unerlaubten 
Mitteln,  sogar  Urkundenfälschung,  sich  geschaffen.  Der  Niederweriung  der 
Heiden  folgt  der  Aufschwung  des  Landes  durch  deutsche  Kolonisation,  oder, 
wo  deutsche  Kolonisten  fehlen,  durch  Polen.  Der  Erfolg  des  Ordens  beruht 
auf  der  Durchführung  des  Grundsatzes  „  Gleiches  Recht  für  Gleiche  'S  nicht 
„Gleiches  Recht  für  alle".     Der   glänzendste  Vertreter  jener   Ijtxt   ist   der 


—     47     — 

Hochmeister  Winrich  von  Kmprode,  unter  deoL  auch  der  Orden  seinen  Höhe-» 
punkt  erreichte.  Bald  fiel  der  Orden  von  den  Tugenden  ab,  die  seine  £rr 
folge  begründet  hatten,  die  religiöse  Begeisterung  verflog,  die  Zwitterstellung 
zwischen  Möüch  und  Ritter  wurde  fUhlbar,  damit  aber  schritt  der  Orden 
seinem  VerÜEdl  entgegen.  In  eben  der  Zeit  vereinten  sich  seine  Feinde,  die 
Schlacht  bei  Tannenberg  1410  brach  die  Macht  des  Ordens  für  immer. 
Denn  nun  begannen  auch  die  inneren  Kämpfe,  das  Verlangen  nach  Selb- 
ständi^eit  bradite  das  Bürgertum  zur  Auflehnung ;  der  durch  Polens  Feindr 
Schaft  hervorgerufene  Steuerdruck  liefs  das  Verlangen  nach  einer  Staats- 
Veränderung  mächtiger  werden,  die  preuisischen  Städte  und  Landstände  ver-* 
bündeten  sich  unter  dieser  gemeinsam  empfundenen  Not  und  erhoben  den 
Ruf  „Los  vom  Orden !'^  Im  Jahre  1454  wurde  dem  Orden  abgesagt,  und 
der  Anschlufs  des  Landes  an  Polen  vollzog  sich,  indem  alle  nationalen 
Gegensätze  in  Rücksicht  auf  das  gemeinsam  erstrebte  2^el  unbeachtet  blieben» 
Nach  einigem  Bedenken  hatte  der  König  von  Polen  den  preufsischen  Stän-* 
den  gewillfahrt,  ihren  Anschlufs  an  Polen  angenonmien  und  dem  Orden  den 
Fehdebrief  geschickt  In  einem  13  Jahre  währenden  Kriege  büfste  der 
Orden  seine  Herrschaft  ein,  im  Thomer  Frieden  1466  verlor  er  die  preufsischen 
Länder.  Bald  aber  zerfiel  Preufsen  auch  mit  Polen,  das  ihm  die  zugesicherte 
provinzielle  Selbständigkeit  zu  entziehen  trachtete,  weil  es  selbst  nach  dem 
Zugang  zum  Baltischen  Meere  strebte.  Der  Streit  endete  mit  dem  Sieg  der 
Polen  im  Lubliner  Dekret  1569.  Nim  beginnt  der  Nationalitätenkampf,  die 
polnische  Sprache,  polnische  Sitte  und  der  Katholizismus  dringen  siegreich 
vor ;  am  wenigsten  standhaft  zeigte  sich  der  Adel ,  stärker  die  städtische 
Bevölkerung,  und  die  drei  grofsen  Städte  Danzig,  £lbing  und  Thom  bildeten 
die  Felsen,  an  denen  die  polnische  Hochflut  machtlos  zerschellte.  Durch 
Willkür  und  Intoleranz  ging  aber  schliefslich  der  polnische  Staat  selbst  zu- 
grunde, seine  Auflösung  begann  mit  der  Teilung  im  Jahre  1772.  Die  Er- 
werbung Westpreufsens  war  für  Preufsen  eine  politische  Notwendigkeit,  um 
Rtlislands  Herrschaft  über  die  Ostsee  zu  hindern,  das  seine  Absicht  wenig-' 
stens  noch  dadurch  zur  Geltimg  zu  bringen  suchte,  dafs  Danzig  vorläu^ 
nicht  an  Preufsen  fiel.  Die  neuen  Landesteile  wurden  durch  Friedrichs  Tätigkeit 
so  fest  mit  dem  Königreich  verbunden,  dafs  ihre  Bewohner  schon  in  der 
Napoleonischen  Zeit  sich  als  Preufsen  bewährten.  Kampf  und  Arbeit  ist  das 
von  den  Vätern  überkonmiene  Erbe,  das  die  Gegenwart  festhält.  Das 
Wappen  der  Provinz,  der  Adler  des  Hochmeisters ,  soll  eine  Mahnung  sein^ 
im  Kampfe  gegen  slawischen  Ansturm  dafür  zu  sorgen,  dafs  wir  auch 
in  Zukui^  an  dem  Strande  eines  deutschen  Meeres,  am  Fufse  deutscher 
Hügel  wandern. 

In  der  Sitzung  der  vereinigten  ersten  und  zweiten  Abteilung 
sprach  Profes^r  Dragendorff  (Frankfurt  a.  M.)  über  das  Erdlagier  bei 
Knebimghausen  in  Westfalen,  das,  7  Hektar  Fläche  bedeckend,  wie  die 
vorgelegte  2>ichnung  unmittelbar  veranschaulichte ,  die  Vermutung  erweckt, 
dafs  es  ein  römisches  Lager .  sei.  EMe  Untersuchimg  hat  aber  keinerlei 
römische  Funde  ergeben,  so  dafs  die  Frage,  ob  es  ein  solches  sei  oder  eine 
Nachahmung  des  römischen  Lagers  durch  Germanen,  oflen  bleibt  Die 
Diskussion,  die  dieser  interessante  Gegenstand  hervorrief,  erstreckte  sich  nament- 
lich auf  die  Toranlage   und   cUe  Verschiebung   in   der  Lage    des   Südtores, 

4t* 


—     48     — 

ohne  dafs  auch  seitens  der  Versammhing  irgend  etwas  Positives  zur  näheren 
Feststellung  beigebracht  werden  konnte.    Über  die  innerhalb  der  Anlage  ge- 
fundenen Scherben  gehen  die  Ansichten  einschliefslich  der  des  Vortragenden 
dahin,  dafs  sie  der  La-Täie-Periode  angehörten;  Dr.  Knorr  (Kiel)  möchte 
sie  einer  späteren  Zeit  zuerteilen  und  meint,  sie  seien  ganz  von   der  Frage 
nach  dem  Ursprung  des  Lagers  auszuscheiden.  —  Den  zweiten  Vortrag  hielt 
Privatdozent   Peiser  (Königsberg)   über   römiacke  Münzen  in  Osipreu/hen. 
Eine  grofse  Zahl  einzelner  Funde  liegen  vor:   im   ganzen    130   verschiedene 
Fundstellen,  davon  die   meisten  (35)  im  Kreise  Fischhausen.      Die  Funde 
umÜEissen   etwa  6000   römische  Münzen  aus  Bronze,  Silber  und  Gold,   düe 
Prägezeit  liegt  zwischen  Nero   und  Theodosius  U.,   umfafst  also  rund  400 
Jahre.    Die  Fimde  müssen  als  Altertumsfunde  angesprochen  werden  und  sind 
daher  werdos,  sobald,  was  oft  der  Fall  ist,  die  Fundberichte  fehlen.    Mit  Re<dit 
verlangt  deshalb  der  Redner  unbedingt  Fundberichte  und  die  Schafftmg  eines 
Gesetzes,  auf  Grund  dessen  jedem  die  Ausgrabung  untersagt  werden  solle,  der 
nicht  Fundberichte  geben  könne,  oder  woUe.    Auf  Grund  umfieissender  statis- 
tischer Aufstellung  kommt   der  Redner  zu   dem  Ergebnis,   dafs  Tischlers  ^) 
Ansicht  richtig  sei:  erst  kurz  vor  und  nach  200  ist  die  Hauptmasse  der  bis 
jetzt  festgestellten  Bronzemünzen  dorthin  gekommen ;  aber  mit  der  Mitte  des 
V.  Jahrhunderts  hört  die  Zufuhr  auf.    Femer  bezeichnet  er  es  als  möglich, 
die  Verbindungslinien  herzustellen  und  eventuell  auch  noch  weitere  Fragen 
mit    dem   vorhandenen   Material    zu    lösen.      Die    sich   anschh'efsende    Dis- 
kussion  erstreckte   sich  namentlich   auf  die  Frage,   wie  die  Altertümer  im 
weitesten   Sinne    vor    der    Gefahr    der    privaten    Buddelei    und    der    daraus 
sich   ergebenden   Verschleppung  unter  grofsem  Verlust  für   die  Wissenschaft 
endlich   bewahrt   werden  könnten.     Em  darauf  abzielender  Antrag  (Hottack) 
fiuid  allgemeine  Zustimmung.  —  An  dritter  SteUe  sprach  Professor  Bezzen - 
berger  (Königsberg)   über  das  vorgeschiehtUehe    Ostpreußen.     Seine  Aus- 
fühnmgen  an  die  chronologische  Folge  der  Perioden  anschliefsend,  diarakte- 
risierte  er  eine  jede  an  den  wichtigsten  Fundobjekten.    Das  Schnuromament 
ist  hier  nicht  durchaus  Unterscheidungsmerkmal  der  Steinzeit,  es  ist  vielmehr 
eine  ostpreufsisch  jüngere  und  ostpreufsisch  ältere  Steinzeit  anzusetzen,  aber 
nicht  in   dem  Sinne  der   Wissenschaft     Aus   der   Kupferzeit  sind  nur 
wenig  Stücke  vorhanden,  welche   die  Annahme  emer  besonderen  Kupfer- 
zeit  nicht    bestimmt    ermöglichen;    wahrscheinlich    ist    der    Steinzeit   gleich 
die    Bronzezeit    gefolgt,    für    deren    sechs    von    Montelius ')    aufgestellte 
Perioden  Funde   vorliegen,   so   dafs   diese  Kulturen  aUe   nach  Ostpreufsen 
gekommen   sein  müssen,    doch  lassen   sich  die  Perioden   für   Ostpreufsen 
mehr  zusanmienfassen,  insofern  man  zwar  Skelett-  unb  Brandbestattung  unter- 
scheiden mufs,  andrerseits  aber  die  fünfte   und  sechste  bereits  Eisen   ent- 
halten,  also   eigentlich  niu*   eine  Periode  bilden.     Zwischen  der  ersten  und 
zweiten   besteht   keine   Verbindung,    da    in    der   ersten   sich  keine  jüngere 
Bronze,  in  der  zweiten  keine  ältere  Bronze  findet     An  die  jüngste  Bronze- 
zeit reiht  sich  düe  Periode  der  Gräberfelder,  deren  Chronologie  durch  die 


1)  Bei  FriedUnder,  SittengeaehiehU  RomSy  6.  Ana.  a.  Bd.,  S.  278 f. 

2)  Die  Chrenologie  der  äUeeten  Bronxexeü  in  NorddetUsehkmd  und  SktmUnamen 
(Braantchweig). 


—     49     — 

MüBzüinde  gesichert  ist  Hinsichtlich  der  Kritik  der  Tischlerschen  Perioden 
sei  noch  hervorgehoben,  dais  gegen  Tischlers  Annahme  tatsächlich  La-Täie- 
Schmuck  in  der  Periode  a  vorkommt,  und  somit  ist  enriesen,  dafs  die 
jüngste  Bronzeperiode  in  die  La-T^e-Zeit  hineinreicht,  diese  aber  wieder  in 
die  der  Gräberfelder.  Auch  hier  ergab  sich  wieder  die  Notwendigkeit 
wissenschaftlich  verwertbarer  Fundberichte,  zumal  sich  für  die  Periode  e  die 
chronologischen  Beweise  nur  durch  Fundberichte  erbringen  lassen,  -r- 
Baugewerkschnlldirer  Hollack  (Königsberg)  berichtete  über  die  Vorgeschichie 
des  Samiands^  beschränkte  sich  aber  wegen  des  bemericbaren  Zeitmangels  auf  die 
Periode  der  Gräberfelder  und  zwar  aus  dem  westlichen  Samland,  wo  200  Flach- 
gräber untersucht  worden  sind.  Am  besten  vertreten  ist  die  römische  Periode, 
in  der  die  römischen  Bronzemünzen  und  die  Annbrustfibel  zur  chronologischen 
Bestimmung  dienen.  Besonderes  Interesse  erweckten  die  durch  karto- 
graphische Fixierung  unterstützten  Ausführungen  über  die  Art  der  Urnen 
und  die  Menge  der  Beigaben.  Mit  der  Charakteristik  der  spätrömischen 
Zeit  und  der  BurgwäUe,  die  im  XIII.  Jahrhundert  in  den  Dienst  der  Kirche 
genommen  wurden,  schlofs  der  Vortrag. 

In  der  vereinigten  dritten  und  vierten  Abteilung  berichtete  zuerst 
Geh.  Archivrat  Joachim  (Königsberg)  über  den  Stand  der  Oesehichts- 
forsckung  in  Ostpnufken  und  die  Tätigkeit  des  Vereins  für  die  Qeschichte 
von  Ost'  und  Westpreußen,  gab  einen  Überblick  über  die  historischen  Zeit- 
schriften der  Provinz  und  über  die  Urkimdensammlungen,  dann  über  die  Tätig- 
keit des  Geschichtsvereins  und  die  wichtigeren  Werke  zur  Provinzial- 
geschichte.  —  Oberlehrer  Simson  (Danzig)  behandelte  Die  Damiger 
Stadtverfassung  im  XVL  und  XVIL  Jahrhundert.  Anknüpfend  an  die  Zeit  der 
Renaissanceprachtbauten  bezeichnete  der  Redner  diese  Periode  als  die  Zeit,  in 
der  auch  die  Stadtverfassung  Danzigs  wurzelt,  deren  Urkunden  inLengnichs 
Schrift  «^  publicum  civitatis  Oedanensis  (1900)  enthalten  ist.  Die  QueUe  des 
Stadtrechts  sind  Gewohnheit  und  Tradition.  Als  Danzig  polnisch  wurde, 
erhielt  es  Unabhängigkeit  zugesichert  Veränderung  erfuhr  die  Verfassung 
erst  1525  bei  Einführung  der  Reformation;  im  XVII.  Jahrhundert'  wurden 
infolge  der  Opposition  der  unteren  Stände  weitere  Reformen  vorgenommen, 
und  dazu  kommen  die  Dekrete  der  polnischen  Könige  {Statuta  Sigismundi  L 
von  1526  \md  Traciaiiis  portorii  Bathoris  yon  1^%$).  Die  Verwaltung  bilden 
der  Rat,  die  Schöffen  imd  die  Vertreter  der  Gemeinde  (Hundertmänner) ;  die 
Mitglieder  der  beiden  ersteren  wurden  nur  aus  Patrizierfamilien  genommen. 
Die  älteste  Fixienmg  des  Stadtrechts  bietet  die  Handfeste  von  1342.  Seit 
1455  gewinnen  die  Vertreter  der  Gemeinde,  die  sich  zu  einer  Oppositions- 
partei ausbüden,  Einflufs  auf  die  Gesetzgebung.  Bis  in  die  zweite  Hälfte  des 
XVIII.  Jahrhunderts  war  die  Verwaltung  durchaus  aristokratisch;  erst  seitdem 
gewinnt  die  „dritte  Ordnimg**  als  demokratischer  Faktor  mit  Unterstützung  des 
Königtums  Einflufs  darauf.  Zum  Rat  gehörten  im  XVII.  Jahrhundert  4  Bürger- 
meister und  19  Ratsherren.  Weiter  behandelte  der  Redner  die  Gerichtsver- 
fassung und  die  vielen  Kompetenzstreitigkeiten  unter  den  zahlreichen  richterlichen 
Behörden  sowie  die  Finanzverwaltung  und  die  innere  Verfassung.  Den  Schlufs 
bildete  eine  interessante  Darlegung  des  vom  König  Johann  Sobiesky  1678 
vergeblich  gemachten  Versuchs,  die  von  der  Verwaltung  ausgeschlossenen 
Katholiken  zur  Mitarbeit  heranzuziehen. 


—     50     — 

Die  fünfte  Abteilung^)  beschäftigte  sich  nach  Erledigung  geschäft- 
licher Angelegenheiten  mit  der  Gründung  des  Verbandes  deutscher 
Tolkskundlicher  Vereine.  Nachdem  der  Vorsitzende  General  Freiherr 
T.  Friesen  (Dresden)  in  grofsen  Zügen  die  Geschichte  der  Gründung  dieses 
Verbandes,  der  Ostern  1904  in  Leipzig  ins  Leben  gerufen  wurde,  noch 
emmal  vorgeführt  und  die  Gründe  für  das  Vorgehen  der  den  Verband 
vertretenden  Herren  erörtert  hatte,  wurde  die  Frage  zur  Diskussion  gesteUt, 
ob  die  1901  begründete  fünfte  Abteilung  weiter  bestehen  oder  aufhören 
solle.  Oberregierungsrat  Ermisch  (Dresden)  betonte,  dafs  bei  aller  An- 
erkennung der  Verdienste  phüologischer  Arbeit  für  Ausbildung  der  Methode 
die  Zugehörigkeit  des  Forschungsgebietes  zur  Geschichte  allgetnein  zugestanden 
werden,  daher  auch  die  fünfte  AbteUung  notwendig  bei  der  Hauptversamm- 
lung fortbestehen  müsse.  Archivdirektor  Wolfram  (Metz)  begründete  die 
Notwendigkeit  der  AbteUung  damit,  dafs  die  Erörterung  volkskundlicher 
Fragen  in  das  Programm  des  Gesamtvereins  gehöre;  wenn  die  Abteilung 
noch  nicht  bestände,  so  müfste  sie  geschaffen  werden.  Vor  allem  aber  sei 
sie  zu  stärken,  damit  den  Sonderbestrebungen  positiv  en^egengewirkt  werden 
könne.  Hierauf  wurde  das  Fortbestehen  der  Abteüung  einstimmig  be- 
schlossen. —  Auf  Anregung  des  Professors  Brenner  (Würzburg)  wurde  be- 
schlossen, der  Hauskunde  eine  gröfsere  Aufinerksamkeit  zu  widmen. 
Lehrer  Schmidkontz  (Würzburg)  nahm  diesen  Gedanken  auf  und  schilderte 
einige  Haustypen  in  Süddeutschland,  erklärte  sich  auch  bereit,  Fragebogen 
über  diesen  Gegenstand  an  Interessenten  senden  zu  wollen.  Der  Vorsitzende 
empfahl  dann  die  bereits  in  Erfurt  angeregte  Erforschung  und  Sammlung  von 
Flurnamen.  Femer  teUte  er  mit,  dafs  bei  der  1906  stattfindenden  3.  Kimst- 
gewerbeausstellung  in  Dresden  zum  ersten  Male  die  Volkskunst  eine  eigene 
Abteilung  büden  werde;  doch  sei  dort  keine  Ausstellung  von  Abbildungen 
vorgesehen,  deshalb  werde  eine  Sonderausstellung  von  Abbildungen  aus  dem 
Gebiete  der  Volkskunst  geplant,  deren  Unterstützung  der  Versammlung  aufs 
angelegentlichste  empfohlen  wurde.  Bei  der  nunmehr  eröffneten  Besprechung 
über  die  Wahl  eines  Vorsitzenden  der  Abteüung  wurde  die  Wiederwahl  des 
Generals  Freiherm  v.  Friesen  einstimmig  beschlossen,  doch  auf  seinen 
Wunsch  für  das  nächste  Jahr  Professor  Brenner  (Würzburg)  zum  zweiten 
Vorsitzenden  gewählt.  Hierauf  sprach  Bauinspektor  Kleefeld  (Danzig)  über 
die  Bestrebungen  des  Vereins  zur  Erhaltung  der  Bau-  und  Kunstdenkniäler 
Danzigs,  Der  Verein  ist  am  13.  September  1900  begründet  und  hat  zu- 
nächst durch  Abhaltung  von  Vorträgen  auf  die  Öffentlichkeit  gewirkt,  um 
auf  die  Wichtigkeit  des  Gegenstandes  hinzuweisen.  Referate  darüber  in  der 
Tagespresse  haben  auch  weitere  Kreise  für  die  Bestrebungen  des  Vereins 
gewonnen.  Praktische  Arbeit  hat  der  Verein  geleistet  durch  Ausschreiben 
von  Fassadenentwürfen,  die  sich  im  Stü  dem  überlieferten  Stadtcharakter  an- 
schliefsen,  imd  sie  den  Interessenten  zur  Verfügung  gestellt.  Der  Verein  hat 
femer  mitgewirkt  bei  der  Reparatur  des  Rathausturmes.  Ein  Neubau  ist 
bereits  mit  einer  Fassade  aufgeführt,  deren  Entwurf  der  Verein  geliefert 
hat;  weitere  Entwürfe  sind  auch  für  Schaufenster  vorhanden,  aber  leider 
zieht    die    Geschäftswelt    vom    charakteristischen    BaustUe    sich    entfernende 


i)  Vgl.  diese  Zeitschrift  Bd.  4,  S.   100. 


—     51     — 

möglichst  weite  Auslagen  vor.  Zur  Erhaltung  und  Aufsuchung  histon* 
«eher  Denkmäler  sind  für  die  verschiedenen  Stadtteile  Denkmalspfleger 
•bestellt.  Die  Gründung  eines  Denkmälerarchivs  bleibt  noch  der  Zukunft 
vorbehalten. 

Archivdirektor  Wolfram  (Mets)  lenkte  die ;  Aufincrksamkeit  ;  der  Ver- 
sammlung auf  die  Wegkreuze  und  bat,  die  Vereine  möchten  die  Aufnahme 
derartiger  Kreuze  in  Angriff  nehmen,  um  die  in  Lothringen  bereits  begonnenen 
Studien  über  diesen  Gegenstand  über  ganz  Deutschland  auszudehnen.  Die 
Bitte  gelangte  schlieislich  in  folgendem  Antrage  zur  Annahme : 

„Die  deutschen  Geschichts-  und  Altertums-  und  Volks- 
kundeuvereine  wollen  photographische  oder  zeichnerische 
Aufnahmen  der  Wegkreuze  veranlassen  und  sammeln  und 
bei  der  nächsten  Hauptversammlung  unter  Vorlegung 
möglichst  zahlreicher  Abbildungen  darüber  Bericht  er- 
statten lassen.'' 
Hierauf  sprach  Lehrer  J.  Schmidkontz  (Würzburg)  über  deutsche 
Sagen  und  Qeachichiswiasenschafl  im  wechselseitigen  Dienste.  Der  Vor- 
tragende hielt  sich  vorzugsweise  an  die  Sagenstofife  und  Sagenzüge  der  heid- 
nischen Zeit,  und  liefb  die  geschichtlichen  Sagen  imberücksichtigt  Die  Sagen 
allgemeiner  Natur  sind  von  besonderem  Werte  für  die  Prähistorie  und  die 
Geschichte  im  allgemeinen  und  für  die  Kulturgeschichte,  Besiedelungs-  und 
Agrargeschichte,  sowie  für  die  Orts-  und  Rechtsgeschichte  im  besonderen. 
Aber  auch  der  Völkerpsychologie  und  der  Ethnologie  lassen  sich  unsere 
ältesten  Sagen  dienstbar  machen.  Der  Prähistorie  und  allgemeinen  Geschichte 
dienen  die  Sagen  dadurch,  dafs  in  ihnen  der  örtliche  Kern  festgelegt  ist, 
wo  vorzeiten  etwas  geschichtlich  Merkwürdiges  vorhanden  war  oder  ge- 
schah. Das  mythische  imd  märchenhafte  Element  ist  in  den  Sagen  das 
Untergeordnete.  Die  Prähistorie  ihrerseits  erweist  eine  grofse  Zahl  von  Sagen- 
zügen als  verhältnismäisig  jung.  So  können  z.  B.  alle  Sagenzüge,  in  denen 
Metalle  eine  Rolle  spielen,  erst  mit  dem  Eintritt  in  die  Metallzeit  entstanden 
sein.  Jede  gröfsere  Kulturperiode  hat  besondere  Sagenzüge  hervorgebracht 
und  uns  hinterlassen.  Als  einen  der  jüngsten  Sagenzüge  führt  der  Redner 
die  Entwickelung  des  Begriffs  der  Geisterstunde  an.  Durch  die  Sagen  mit 
erziehlichem  Inhalte,  die  Wandersagen,  werde  der  Völkerpsychologie  wert- 
volles Material  geboten.  Für  eine  grofse  Reihe  von  Punkten  im  deutschen 
Sprachgebiet  gilt  die  Erscheinung,  dafs  an  sie  sich  eine  grofse  Anzahl  von 
Sagen  heftet;  dies  sind  vorzugsweise  die  heidnischen  Kultstätten.  Die  Sagen 
sind  daher  eins  der  Mittel,  diese  für  die  Orts-  und  Besiedelungsgeschichte 
so  wertvollen  Stellen  zu  erkennen.  Durch  die  in  christlicher  Zeit  vollzogene 
Aufteilung  der  altheidnischen  Kultusländereien  berühren  sich  Sagen  mit 
der  Rechtsgeschichte.  Im  Zusammenhang  mit  den  vorchristlichen  Kultstellen 
stehen  auch  die  meisten  natürlichen  Höhlen  und  die  künstlich  von  Menschen 
in  den  Boden  gegrabenen  unterirdischen  Gänge  und  Erdkammem.  Ent- 
gegen den  bisherigen  Anschauungen  hält  sie  Redner  für  Aufbewahrungs- 
orte der  heidnischen  Götzenbilder  und  der  gemeinsamen  beweglichen  Heilig- 
tümer während  des  Winters  und  vielleicht  auch  in  Zeiten  drohender  Gefahr. 
Die  Sagen  von  Wichtein  und  Heinzelmännchen  haben  darin  ihren  Ursprung. 
Die  natürlichen  Höhlen    —  auch  dieser  Erklärungsversuch  wurde  hier   zum 


—     62     — 

ersten  Male  aufgestellt  —  sind  die  Ursache  zu  dem  Glauben  an 
und  Drachen  geworden.    Wit  die  Maden  im  Gallapfel  und  anderen  Früchten 
sich  entwickeln,  allmählich  durch  ihre  Hülle   sich   eine  Offiiung   ins    Freie 
nagen  und  zuletzt  zu  geflügelten  Wesen  werden,  so  hat  man  sich  die  Lind- 
würmer als  wunnartige  Wesen  von  riesiger  Ungestalt  vorgestellt,  durch  deren. 
langjähriges   Nagen   die   Höhlen  in  der  Erde   entstanden,   bis  sie   an    das 
Tageslicht  gelangten  und  nach  dem  Durchbruch  der  Erdhttlle  sich  in  feurige 
Drachen   verwandelten.    Wie  Sagengruppen  sogar  für  die  Ethnologie  von  Be- 
deutung werden  können,  zeigt  der  Vortragende  an  einem  Beispid.    Zwischen 
Virchow  und  Montelius  bestand  eine  einschnddende  Meinungsverschiedenheit 
über  die  Art  der  Einwanderung  der  Slawen  in  die  vor  der  Völkerwandening 
von  Germanen  besiedelten  Gegenden.    Mit  Berücksichtigung  der  Sagengiuppen 
auf  dem  strittigen  Gebiete  entscheidet  sich   der  Redner  für   die  Auflfassui^ 
von  Montelius.     Zuletzt    forderte    er    kartographische   Festlegung    der   vor- 
christlichen Sagenstoffe  für   das   deutsche   Sprachgebiet,   der  entsprechende 
Verzdchnisse  über  die  SagenUteratur  zur  Seite  stehen  sollen.    Eine  ähnliche 
Einrichtung  besteht  berdts  für  mehrere  Gegenden  Deutschlands  bezü^ch  der 
prähistorischen  Funde. 

In  den  vereinigten  fünf  Abteilungen  berichtete  zuerst  Archivrat 
Professor  Warschauer  (Posen)  über  die  Erforschung  der  deutschen  Kolo- 
nisation im  Osten,  Er  beschränkte  sich  aber  auf  die  Geschichte  der  mittel- 
alterlichen Kolonisation  ^).  In  prägnanter  Kürze  zeichete  er  die  Probleme, 
die  sich  der  Forschung  bisher  ergeben  haben  imd  deren  Lösung  noch  von 
der  Zukunft  zu  erwarten  ist.  Die  AusfÜhnmgen  erstreckten  sich  auf  den 
äufseren  Vorgang  der  Auswanderung  und  die  Emwirkung  auf  das  Kolonisations- 
gebiet. Die  landläufige  Anschauung  vom  Einflufs  der  Samländer  bleibt  noch 
zu  untersuchen,  bedeutend  war  jedenfaUs  der  Einflufs  der  Kirche,  namendich 
der  Bettelorden.  Unbekannt  ist  noch  die  Organisation,  namentlich  die  Mit- 
wirkung des  Lokators.  Der  AnteU  der  Juden  beschränkt  sich  wahrscheinlich 
auf  das  Darleihen  von  Kapital.  Besonders  wertvoll  waren  die  Ausführungen  über 
die  Siedelung  selbst  und  die  Parallele  mit  dem  römischen  Prätorium.  Als  Problen» 
wurde  femer  die  Rezeption  des  deutschen  Rechts  bezeichnet,  wünschenswert 
erscheint  namentlich  eine  rechtliche  Untersuchung  der  Gründungsprivilegien, 
sowie  eine  Feststellung  der  Grenzen  des  itis  teiUonicum,  das  vermutlich  so  weit 
gegolten  hat,  wie  der  Einflufs  der  lateinischen  Kirche  reichte,  abo  etwa  bis  zum 
53®  östl.  Länge.  Als  erste  2^it  der  Erwähnung  gilt  das  Jahr  1204,  als  jüngstes 
Beispiel  Neutomischl;  am  längsten  hat  es  sich  in  Kiew  erhalten,  nänölich  bis 
1835.  Als  zweiter  Berichterstatter  behandelte  Schumacher  (Königsberg)  die 
iZeit  vom  XV. — XVII.  Jahrhimdert.  In  dieser  Periode  gilt  es  nur  Trümmer  zu 
erhalten ;  es  fanden  keine  Kolonistenzüge  statt ,  nur  die  Bemühungen  der 
Hochmeister,  namentlich  Albrechts,  sind  wichtig  gewesen,  erst  mit  Friedrich  II. 
ist  1772  ein  neuer  Zug  in  die  Kolonisation  hineingekommen.  Diese  jüngere 
Kolonisation  steht  aber  in  keinem  Zusammenhange  mit  der  des  Mittelalters^ 
es  sind  darin  aber  teils  religiöse,  teils  Handelsbeziehungen  erkennbar;  die 
Rolle  der  Kirche  ist  nach  der  Reformation  weniger  bedeutend.  In  der 
Organisation  tritt  die  Werbung   der  Fürsten  und  die  Tätigkeit  des  Lokators 

i)  Vgl.  dazu  den  Aafsatz  von  Witte  in  dieser  Zeitschrift  5.  Bd.,  S.  219—237. 


—     53     — 

hervor.  Der  Zugang  bestaDd  aus  LandberölkeruDg,  daher  später  auch  aus 
Poleu,  es  sind  keine  Grofsgrundbesitzer,  wohl  aber  GroiskauÖeute  dabei  be- 
teiligt, und  das  erklärt  den  Widerstand  der  Stadd)evölkerung.  Die  Siedelung 
erfolgte  auf  fürstlichem  Gebiete.  Städte  wurden  nicht  neu  gegründet,  aber  ein 
eigenttUnliches  Besitzrecht  entstand  dabei.  Nachdem  der  Vortragende  noch  die 
Verfassung  namentlich  der  holländischen  Kolonisten,  die  wirtschaftlichen  Fragen 
und  kirchliche  Verfassung,  die  religiösen  Gegensätze  iind  die  Stellung  der 
Mennoniten  erörtert  hatte,  charakterisierte  er  die  Kolonisation  jener  Zeit 
dahin,  dafs  sie  zwar  der  grolsen  Gesichtspunkte  entbehre,  immerhin  doch 
in  ihrer  Bedeutung  als  Vorarbeit  für  spätere  Zeit  nicht  imterschätzt  werden 
dürfte.  Der  dritte  Berichterstatter  van  Niessen  (Stettin),  am  Erscheinen 
verhindert,  hatte  seine  Arbeit  zur  Verfügung  gestellt,  Professor  Warschauer 
machte  einige  Mitteilungen  daraus,  die  den  bedeutenden  Wert  der  Niessen- 
sehen  Arbeit  erkennen  liefsen.  Sie  gruppiert  den  Stoff  in  4  Abteilungen: 
Verhältnisse,  Maisregeln,  Ergebnis  der  Kolonisation  und  äufsere  Vorgänge. 
Wichtig  vor  allem  ist  der  zweite  Teil,  in  welchem  der  Sto£f  nach  Subjekt 
und  Objekt  gegliedert  sehr  ergiebigen  Aufischlufs  über  die  Beteiligung  der 
NiederUUider  und  über  die  Feldmark  bot  Da  die  3.  und  4.  Abteilung  der 
Arbeit  nicht  ausgeführt  war,  wurde  beschlossen,  den  Verfasser  zur  Ergänzung 
des  Fehlenden  zu  gewinnen  und  die  Arbeit,  die  des  Neuen  gar  vieks  bot, 
zu  drucken.  Über  den  zweiten  Gegenstand:  Wie  können  die  OesMehia' 
vereine  die  Ortsnamenforsckung  /(hadern?  verbreitete  sich  Archivrat  Wäschke 
(Zerbst).  Er  erörterte  einleitend  die  Frage,  ob  es  überhaupt  wünschenswert 
sei,  dafs  die  Geschichtsvereine  sich  auch  mit  der  Ortsnamenkunde  beschäf- 
tigten, und  nachdem  er  sich  für  die  Aufoahme  dieser  Arbeit  ausgesprochen 
hatte,  weil  sie  den  Vereinen  ein  neues  wichtiges  Interesse  böte,  eine  Zu- 
sammenarbeit vieler  ermögliche  imd  als  Ergebnis  ein  auf  wachsender  Kenntnis 
ruhendes  Heimatsgefühl  an  ihrem  Teil  zu  erwecken  geeignet  sei,  besprach 
er  die  zu  diesem  Zwecke  notwendige  Organisation.  Die  Möglichkeit  der 
Fördenmg  liegt  einerseits  in  der  Veranstaltung  von  Vorträgen  über  diesen 
Gegenstand,  andrerseits  in  der  Betätigung  der  Vereinsmitglieder  bei  den 
Vorarbeiten  für  die  Forschung.  Unter  den  Vorträgen  erscheinen  besonders 
wichtig  solche,  in  denen  die  Methode  der  Forschung  an  einzelnen  prägnanten 
Beispielen  zur  Anschauung  gebracht  wird,  weil  solche  Vorträge  geeignet  sind, 
auf  die  Schwierigkeit  der  Untersuchung  und  die  dazu  nötigen  Erfordernisse 
hinzuweisen,  damit  aber  zugleich  die  Möglichkeit  tmd  die  Grenze  bestimmen, 
iimerhalb  deren  das  Laienelement  mitwirken  kann.  Diese  Möglichkeit  der 
Mitwirkung  liegt  vor  bei  der  Sammlung  der  Orts-  tmd  Flurnamen,  namentlich 
beim  Aufsuchen  und  der  Durchmusterung  des  kartographischen  Materials, 
sowie  beim  Aufsuchen  kleinerer  Archive  und  Ausbeutung  ihrer  Bestände, 
ebenso  bei  der  Abfassung  von  historischen  Ortsverzeichnissen.  Sie  liegt 
femer  vor  bei  der  Feststellung  der  Lage  wüster  Ortschaften  innerhalb  der 
Feldmark  durch  Beobachtung  oder  Erkundigung  an  Ort  und  Stelle,  durch 
Nachgrabung  usw.,  eine  Arbeit,  die  z.  B.  der  Alier-Verein  mit  grofsem  Erfolg 
geleistet  hat.  Wo  die  Mittel  vorhanden  sind,  können  sich  die  Vereine  auch 
im  Sinne  der  Königl.  Preufs.  Regierungsverfügimg  vom  Jahre  1825  die  Er- 
richtung von  Denksteinen  auf  der  Stätte  der  wüsten  Ortschaften  zur  Aufgabe 
machen.    Selbst  bei  der  eigentlichen  Ortsnamendeutung,  die  der  Vortragende 


j 


—     54     — 

im  Gegensatz  zu  Archivdirektor  Wolfram  (s.  diese  2^tschrift  Bd.  2,  S.  58 
u.  92)  als  das  letzte  Ziel  der  philologischen  Ortsnamenforschung  prinzipiell 
anerkennen  mufs,  kann  das  Laienelement  innerhalb  der  Vereine  wichtig 
werden  durch  die  Kenntnis  des  Volksdialektes,  dessen  Wert  für  die  Namens- 
deutung neuerdings,  namentlich  durch  Nagls  Geogr,  Nctmenkunde  (Leipzig 
u.  Wien  1903),  gebührend  hervorgehoben  wird,  ebenso  bei  der  sogenannten 
Realprobe,  d.  h.  der  Feststellung,  ob  die  gefundene  Deutung  mit  der  natür- 
lichen Beschaffenheit  des  geographischen  Objekts  übereinstimmt.  Die  Grenze 
•der  Mitwirkung  ist  dadurch  ausgedrückt,  dafs  sie  nur  bei  den  Vorarbeiten 
für  die  Forschung  stattzufinden  hat  tmd  auch  dort  nur  unter  der  Voraus- 
setzung, dafs  die  Ergebnisse  selbst  der  Begutachtung  und  Prüfung  durch  eine 
Kommission  von  Fachleuten  ans  den  VereinsmitgÜedem  unterstehen.  In  der 
-sich  anschliefsenden  Diskussion  wurde  auf  die  Gefahr  hingewiesen,  welche  iii 
der  Beteiligung  der  Laien  an  der  Arbeit  liege,  namentlich  sollte,  was  auch 
durch  die  Worte  des  Vortragenden  vollständig  als  ausgeschlossen  betrachtet 
werden  mufs,  das  Etymologisieren  der  Laien  nicht  noch  gefördert  werden. 
Im  übrigen  wurde  die  Förderung  der  Ortsnamenforschung  als  Aufgabe  der 
Vereine  anerkannt. 

Hierauf  erfolgte  der  Bericht  über  die  erste  Sitzung  der  Abgeordneten. 
Das  Korrespondenzblatt  erscheint  jetzt  in  700  Exemplaren;  es  sollen  künftig 
regeknäfsigere  Berichte  über  Personalien ,  auch  über  Veränderungen  und 
wichtige  Verfügungen  gegeben  werden;  das  Format  bleibt  das  alte,  der 
Honorarsatz  32  Mark  für  den  Bogen.  Nach  Anhören  dieses  günstigen  Be- 
richtes über  den  Stand  des  Korrespondenzblattes  spricht  Archivdirektor 
Wolfram  im  Namen  des  Gesamtvereins  dem  Vorsitzenden  für  seine  Mühe- 
waltung im  Dienste  des  Unternehmens  den  herzlichsten  Dank  aus.  An  Stelle 
der  ausscheidenden  Mitglieder  v.  Bezold  und  Wolfram  werden  Archivrmt 
Mummenhoff  (Nürnberg)  tmd  Professor  Ritterling  (Wiesbaden)  gewählt. 
Die  nächste  Versammlung  soll  in  der  zweiten  Hälfte  des  September  1905 
in  Bamberg  stattfinden.  Mit  dem  Berichte  der  Abteilungsvorstände  wurden 
die  Sitzungen  geschlossen.  Wäschke  (Zerbst). 

Die  Fortschritte  des  Historischen  Atlasses  der  Ostcrrelehischeii 

Alpenländer  ^).  —  Was  ich  heute  über  die  Fortschrittte  in  den  Arbeiten 
zum  Historischen  Atlas  der  österreichischen  Alpenländer  zu  sagen  habe, 
scheidet  sich  nach  4  Richtungen  hin.  Ich  will  versuchen,  ein  Bild  der 
Arbeitstätigkeit  zu  geben,  indem  ich 

1.  über  die  Vollendung  der  einzelnen  Sektionen  im  Manuskripte, 

2.  über  die  breits  vollendeten  oder  wenigstens  in  Ausführung  befindlichen 
Blätter  der  i.  Lieferung, 

3.  über  den  Fortschritt   der   den   einzelnen  Kartenblättem  beizugebenden 
„Erläuterungen"  und  endlich 

4.  über  jene  Studien  und  Untersuchungen  referieren  werde,  welche  imter 
dem   Titel   „Abhandlungen"   eine   nicht  hoch   genug    zu    veranschla- 

i)  Den  hier  mitgeteilten  Bericht  erstattete  gelegentlich  der  5.  Konferenz  lindesge- 
schichüicher  Pablikationsinstitute  am  2.  September  1904  za  Salzbarg  der  Unterzeichnete 
in  Vertretung  von  Eduard  Richter.  Ober  die  Entwickelang  der  Arbeiten  am  Atlas 
selbst  vgl.  die  Aufsätze  in  dieser  Zeitschrift  2.  Bd.,  S.  217  —  227  und  4.  Bd.,  S.  14^—  150. 


—     55     — 

gende  Frucht  historisch-geographischer,   historisch-topographischer   und 

rechtsgeschichtlicher  Beschäftigung,  hervorgegangen  aus  den  Problemen 

des  Historischen  Atiasses  selbst,  darstellen. 

I.  Gleich  den  Blättern  der  österreichischen  Spezialkarte  i :  75000  wird 
auch  der  „Landgerichtskarte**  des  Historischen  Atlasses  der  Österreichischen 
Alpenländer  ein  Übersichtsblatt  beigegeben  werden,  und  zwar  im  Mafs- 
stabe  I  :  2  000  000.  Dieses  Übersicfatsblatt,  welches  das  schnelle  Auffinden 
der  einzelnen  Kartenblätter  vor  allem  erleichtem  soll,  gibt  durch  dünne 
Linien  die  Blatteinteilung  der  österreichischen  Spezialkarte  i  :  75000,  durch 
dicke  die  Blatteinteilung  der  Landgerichtskarte  selbst.  Jedes  Blatt  derselben 
entspricht  je  einem  halben  Blatte  der  Generalkarte  von  Mitteleuropa  (i  :  200  000), 
von  der  biefcanntKch  der  (braune)  Terrainstein  und  der  (blaue)  Gewässerstein 
für  die  Zwecke  des  Historischen  Atlasses  benützt  wird,  während  die  (schwarz- 
gedruckte) Schriftplatte  mit  der  von  den  Mitarbeitern  gegebenen  Beschrifhmg 
insoweit  neu  angefertigt  wird,  als  nur  das  neu  hergestellt  wird,  was  in  Sachen 
der  Beschrifhmg  die  Generalkarte  nicht  bringt,  so  vor  allem  die  Signaturen 
fiir  die  Landgerichts-  und  Burgfrieds-  (Hofmarks-,  Freiimgs-,  Jurisdiktions-) 
Grenzen,  jene  für  die  Städte,  Märkte,  Dörfer  tmd  Stifte,  femer  die  Zeichen 
für  die  Sitze  der  Landgerichte,  Burgfrieden  und  Herrschaften.  Wie  viel  durch 
diesen  praktischen  Vorgang  an  Geld  erspart  wird,  hat  Eduard  Richter  in 
seinem  dem  Historikertage  1903  vorgelegten  Berichte  bereits  ausdrücklich  betont  ^). 


»üM  tßf  lim  I  iti*i»ii»n»  »•»•*■••"' 


Obersichttblatt 


LANDGERICHTSKARTE 


200000. 


i)  Vgl.  diese  Zeitschrift,  4.  Bd.,  S.  149  o.  150. 


—     56     — 

Das  Übersichtßblatt,  welches  ich  hiermit  vorlege,  weist  3  8 ,  benehmigs- 
weise  4oBlätter  der  Landgerichtskarte  des  Historischen  Atlasses  auf.  Auf 
einem  zweiten  Übersichtsblatte  habe  ich  den  Fortschritt,  den  die  Mitarbeiter  in 
Sachen  der  Eintragung  der  Landgerichts-  und  fiurgfriedsgrenzen  seit  1902 
machten,  durch  Schraffen  keimtlich  gemacht  Es  kann  schon  heute  mit  Be- 
friedigung festgestellt  werden,  dafs  die  Arbeiten  am  Historischen  Adas,  dank 
der  unermüdlichen  Mitarbeiterschaft  der  an  dem  Unternehmen  beteiligten 
Herren,  bereits  über  die  Hälfte  hinaus  gediehen  ist  und  der  gröfste  Teil  der 
Manuskriptblätter  (i  :  75000)  dem  Leiter  des  Unternehmens  eingeliefert 
wurde. 

Vor  allem  ist  die  Vollendung  der  Landgerichtskarte  des  Landes  ob 
der  E  n  n  s ,  hergestellt  im  Manuskripte  auf  der  Generalkarte  durch  den  un- 
ermüdlichen Forscher  Oberlandesgerichtsrat  Julius  Strnadt,  henrorzuhebeiL 
Diese  Karte  umfafst  die  Blätter  i*,  i^,  4,  5,  6  (mit  Niederösterreich),  9 
(mit  Salzburg)  und  10  (mit  Steiermark)  der  Landgerichtskarte,  somit  die 
Blätter  Zone  10,  Kol.  IX,  Zone  11,  Kol.  IX,  X,  XI  und  XII,  Zone  12, 
Kol.  VIII,  IX,  X,  XI  und  XÜ,  Zone  13,  Kol.  VU,  VIU,  IX,  X  und  XI, 
Zone  14,  Kol.  VIII,  IX,  X  und  XI  und  endlich  Zone  15,  KoL  IX,  X  und 
XI  der  Spezialkarte  i  :  75000. 

Die  das  Kronland  Salzburg  anlangenden  Manuskripd)lätter  und  die 
Übertragung  der  Eintragungen  auf  derselben  in  die  Generalkarte  hat  Eduard 
Richter  schon  1903  dem  Historikertag  in  Heidelberg  vorgelegt.  Die  salz- 
burgische Landgerichtskarte  umfafst  die  Blätter  9  (mit  Oberösterreich),  8  (mit 
Nordtirol),  16  (mit  Nordtirol),  17  (mit  Steiermark  und  Kärnten),  und 
setzt  sich  aus  den  Blättern  Zone  13,  Kol.  VIII,  Zone  14,  Kol.  VIII  und  IX, 
Zone  15,  Kol.  VU,  VIII,  IX,  Zone  16,  Kol.  VI,  VII,  VIU  und  IX,  Zone 
17,  Kol.  VI,  VII,  Vni,  IX  und  X  zusammen. 

Auch  für  das  Land  Vorarlberg  liegen  die  fertigen  Manuskriptblätter 
bereits  vor:  Blatt  13,  14  und  21  der  Landgerichtskarte,  die  Blätter  Zone  15, 
Kol.  I  und  II,  Zone  16,  Kol.  I  und  II,  Zone  17,  Kol.  I  und  II  und  Zone  18, 
Kol.  U  der  Spezialkarte  i  :  75000.  Bearbeiter  dieser  Sektion  ist  Prof. 
Zösmaier  in  Innsbruck. 

In  Sachen  der  für  Nordtirol  auch  bereits  fertiggestellten  Manu- 
skriptblätter halte  ich  es  für  meine  Pflicht  jenes  Mannes  zu  gedenken,  den 
ein  frühzeitiger  und  ungeahnter  Tod  den  Reihen  der  treuesten  Mitarbeiter  an 
unserem  wissenschaftlichen  Unternehmen  entrifs,  Prof.  JosefEgger.  Neben 
Richters  Studie  über  die  historische  Geographie  von  Salzburg  hatte  Jos.  Egger 
durch  seine  Abhandlung  über  die  Entstehung  der  Gerichtsbezirke 
Deutschtirols  jene  Probleme  und  Fragen  behandelt,  welche  die  Grundidee 
zum  Historischen  Atlas  der  österreichischen  Alpenländer  ausmachen.  „E^;ger 
war  der  selbstverständliche  Mitarbeiter  für  Tirol,  der  eigentlich  alle  die 
Fragen,  die  hier  in  Betracht  konmien,  schon  behandelt  und  erwogen  hatte, 
und  der  scheinbar  nichts  anderes  zu  tun  brauchte,  als  seine  Kenntnisse  in 
einer  anderen  Form  zur  Darstellung  zu  bringen.**  ')  Mitten  in  emsigster 
Arbeit,  in  der  Vertiefung  und  Erweiterung  der  bereits  begonnenen  Studien, 
in    der   Durchforschung   zahlreicher   Herrschafts-   und    Gemeindearchive,    in 

i)  Stcirische  Zeitschrift  f.  Geschichte,  I.  Jahrg.  (2./3.  Heft),  S.   116— 117. 


—     57     — 

dem  Abgehen  der  alten  Jurisdiktionsgrenzen  überraschte  ihn  im  Herbst  1902 
schwere  Erkrankung,  der  er  am  20.  Juni  1903  unterlag.  Der  Historische 
Atlas  hat  mit  ihm  einen  seiner  besten  Mitarbeiter  verloren :  die  Landgerichts- 
kaite  Tirols  hätte  sich  ebenbürtig  jener  für  das  Land  ob  der  Enns  an  die 
Seite  gestellt  Die  Eintragungen  in  die  Spezialkarte  i  :  75000  hat  Egger 
noch  gemacht,  nur  die  Angabe  der  Orte  in  der  i  :  200000  und  die  Erläute- 
rungen fehlen.  An  die  Stelle  Eggers  trat  Prof.  Zösmaier  als  Bearbeiter 
der  nordtirolischen  Landgerichtskarte.  Für  Südtirol  hatte  Prof.  v.  V öl- 
te lini  in  Innsbruck  die  Arbeiten  übernommen. 

An  Niederösterreich  arbeiten  gegenwärtig  die  Herren  Archivar 
Dr.  C.  Giannoni  und  der  Wiener  Privatdozent  für  Geographie  Dr.  A.  Grund 
in  der  Weise,  dafs  Giannoni  das  Viertel  unter  dem  Wiener  Wald,  Grund 
die  anderen  drei  Viertel  in  Behandlung  zieht.  Für  dieses  Kronland  liegen 
die  Verhältnisse  insofern  schwierig,  als  schon  die  Herbeischafiimg  des  im 
ganzen  Lande  zerstreuten  archivalischen  Materials  Aufwand  an  Kosten  und 
Zeit  verursacht,  imd  dafs  nach  dem  von  Dr.  Grund  der  Historischen  Atlas- 
kommission unterbreiteten  Gutachten  die  Verschiebung  der  alten  Gerichts- 
grenzen eine  gegenüber  den  übrigen  Kronländem  bedeutendere  und  daher 
kompliziertere  ist  und  die  Fixierung  der  so  zahlreichen  Niedergerichts- 
bezirke der  Burgfrieden  und  Dor^erichte  Schwierigkeiten  bereitet.  Dr.  Grund 
steht  im  Dienste  des  Historischen  Atlasses  als  gegenwärtig  einziger  ständiger 
Hilfearbeiter.  Von  beiden  Herren  wurden  im  Verlaufe  der  Jahre  190a — 1904 
im  Auftrage  der  Atlaskommission  imd  nach  dem  Bedarf  des  jeweiligen 
Arbeitsgebietes  zahlreiche  Archivreisen  unternommen. 

Die  Ebtragungen  in  die  steirischen  Manuskriptblätter  und  die  Über- 
tragung derselben  in  die  Generalkarte  i  :  200000  können  bereits  heute  als 
vollendet  bezeichnet  werden.  Die  Festsetzung  einzelner  und  nur  weniger 
gegenwärtig  noch  fraglicher  Gerichtsgemarkungen  wird  Prof.  Dr.  Hans 
Pirchegger  noch  im  Laufe  des  heurigen  Herbstes  durchführen,  tmd  die 
Besserungen  auf  den  Blättern  der  Spezial-  wie  der  Generalkarte  vornehmen. 
Die  Ausführung  der  Landgerichtskarte  für  Steiermark  hatte  ich  ursprünglich 
übemonmien;  erhöhte  amtliche  Tätigkeit  sowie  längere  Erkrankung  zwangen 
mich  nach  Abschlufs  der  Sammlung  der  Landgerichtsbeschreibungen  und 
Fertigstellung  dreier  Manuskriptblätter  für  die  weiteren  Arbeiten  unter  gleich- 
zeitiger Übergabe  meiner  Sammlungen,  Notizen  imd  Kartenblätter  den  da- 
maligen Hilfsarbeiter  Dr.  Pirchegger  der  Konmiission  als  Mitarbeiter  vorzu- 
schlagen, und  seiner  unermüdlichen  Tätigkeit  ist  es  zu  verdanken,  dafs  ich 
heute  die  Vollendung  der  steirischen  Landgerichtskarte  rühmend  hervorheben 
kann.  Diese  umfafst  die  Blätter  9  (mit  Salzburg),  10  (mit  Ober-  und  Nieder- 
österreich), II  und  12  (mit  Niederösterreich),  17  (mit  Salzburg  und  Kärnten), 
18  (mit  Salzburg  imd  Kärnten),  19,  20,  26  (mit  Kärnten),  27,  31,  32, 
37  (mit  Krain)  und  38,  daher  die  Blätter  der  Spezialkarte  i  :  75000  Zone 
14,  Kol.  XII  und  Xm,  Zone  15,  Kol.  IX— XIV,  Zone  16,  KoL  IX— XIV, 
Zone  17,  Kol.  X— XIV,  Zone  18,  Kol.  XH— XIV,  Zone  19,  KoL  XH-XIV, 
Zone  20,  Kol.  XI — XIV,  Zone  21,  KoL  XII  und  Xni,  und  endlich  Zone  22, 
Kol.  Xin.  Der  grofse  freibleibende  Raum  auf  Blatt  33  der  Landgerichts- 
karte soll  durch  Aufnahme  eines  Kärtchens  (in  noch  später  zu  bestimmen- 
dem Mafsstabe)  ausgenützt  werden,  welches  die  historisch-geographische 


—     58     — 

Entwickelung  der  Mark  und  des  Herzogtums  Steier  in  Grundzügen 
zum  Ausdrucke  bringt. 

Auch  für  das  Kronland  Kärnten  hat  der  frühere  ständige  Hil&arbeiteT 
am  Historischen  Atlas,  Prof.  Dr.  Martin  Wutte  in  Klagenfiirt,  die  Land- 
gerichtskarte (mit  Aufnahme  sämtlicher  Burgfriede)  fertiggestellt.  Hier  mangelt 
nur  die  endgültige  Feststellung  der  Zugehörigkeit  einzelner  Burgfriede  (mederer 
Gerichtsbezirke)  zu  den  Landgerichten.  In  dieser  Sache  wird,  im  Laufe  des 
heurigen  Winters  Prof.  Wutte  mit  Unterstützung  des  Kärntnischen  Landes- 
archivars  A.  R.  v.  Jaksch  archivalische  Forschungen  betreiben.  Nach  Be- 
endigimg derselben  können  die  Blätter  24  (Spital)  und  2$  (Klagenfurt)  dem 
militärisch-geographischen  Institut  in  W^ien  zum  Stiche  übergeben  werden. 

Betrefl^  dieses  Kronlandes  möchte  ich  einer  meüiodisch  interessanten 
Tatsache  kurz  gedenken.  Gelegentlich  der  Werbbezirkseinteilung  dieses 
Landes  unter  Maria  Theresia  und  Josef  II.  legte  man  dieser  militärisch- 
administrativen  Mafsregel  die  alten  Jurisdiktionsgebiete,  also  die  Landgerichte 
imd  die  Burgfriede  (Hofrnarken)  zugrunde,  und  die  Josefinische  wie  auch 
später  die  Franziszeische  SteuerreguUenmg  knüpfte  an  die  Werbbezirke  an. 
Die  Steuergemeindenkarte  vom  Jahre  1830  (i  :  115  200)  ergab  somit  für 
Kärnten  die  Grundlage  zur  Landgerichtskarte. 

Diese  um&fst  die  Blätter  16  und  17  (mit  Sakburg),  18  (mit  Steiermark), 
23  (mit  Tirol),  24,  25,  26  (mit  Steiermark),  30  und  31  (mit  Görz  und 
Krain)  der  Generalkarte,  und  die  Blätter  Zone  17,  Kol.  VII,  VIII,  IX  und 
X,  Zone  18,  Kol.  VIII,  IX,  X,  XI  und  XU,  Zone  19,  Kol.  VII,  VUI,  IX, 
X,  XI  und  XII,  Zone  20,  Kol.  IX,  XI  und  XU. 

Für  krainischen  Boden  ist  von  besonders  erfreulichem  Fortschritte 
gegenwärtig  leider  nicht  zu  sprechen.  Das  Land  Krain  besitzt  allerdings 
dn  sogenanntes  Landesarchiv,  jedoch  nur  mit  dem  Begriff  des  alten  Archives 
der  krainischen  Landstände.  Jene  Sammeltätigkeit,  welche  z.  B.  das  steier- 
märkische  Landesarchiv  zu  einem  Zentrallandesarchive  mit  seinem  so  reichen 
Inhahe  an  den  einzelnen  Stadt-,  Markt-  und  Herrschaftsarchiven  gemacht  hat^ 
ist  dort  noch  nicht  begonnen  worden. 

Der  von  mir  in  den  Publikationen  des  Laibacher  Musealvereins  för 
Krain  veröffentlichte  Aufruf  zur  Mitarbeiterschaft  ^)  an  der  Sektion  Krain  des 
Historischen  Atlasses  blieb  ohne  Erfolg,  und  die  Durchsicht  des  krainischen 
Landesarchives,  dessen  damaliger  Vorstand  Prof.  Müllner  in  zuvorkommend- 
ster Weise  das  betreffende  Aktenmaterial  nach  Graz  überschickte,  der  iimer- 
österreichischen  Bestände  des  Hofkammerarchives  (im  gemeinsamen  Finanz- 
archive) sowie  der  Grazer  Statthaltereiregistratur  ergaben  nur  vereinzdtc 
Funde  von  Landgerichts-  und  Burgfriedsbeschreibtmgen.  Auf  Gnmd  dieser 
versuchte  Prof.  Dr.  Pirchegger  das  krainische  Landgerichtsbild  zu  rekon- 
stniiexen , .  doch  wies  die  Arbeitskarte  i  :  75000  derartige  Lücken  auf,  dais 
nunmehr  an  eine  ernstliche  tmd  systematische  Durchforschung  der  Krainischen 
Städte-,  Märkte-  und  Her];schaftsarchive  herangetreten  wurde.  Gegenwärtig 
bereist  Prof.  F.  Komotar  im  Auftrage  der  Atla.skommission  das  Kronla^d Krain. 
Ein  ausführlicher  Bericht  über  die  Ergebnisse  dieser ,  archivalischen  Bereisnng 


1)  Mitteilnngen  des  Mosealvereines  f.  Krain  XY.  Jahrg.  (1./2.  Hefit),  S.  46—67. 


—   6Ö   — 

ist  noch  ausständig  ^).  Ebeoso  schwierig  wie  die  Durchführung  der  karto- 
graphischen Darstellung  dürfte  die  AbCaiissiuig  der  sogenntinten  „Erläuten 
Hingen"  $ein.  r      . 

Die  Ausführung  der  Landgericht^arte  von  Görz-&radiska,  dem  Reste 
des  alten  österreichischen  Friauls,  habe  ich  übemonunen«  und  ich  bin  heute 
in  der  Lage,  der  Konferens^  über  <^e  dabei  verfolgte  Methode  zu  berichten 
und  .zwar  ausführlicher ,  als  es  der  Charakter  dieses  Referates  eigentlich  ge- 
stattet    Sämtlichen   Anwesenden    dürfte    es    bekannt  sein,    dais  auch   der 
Schöpfer  imd  die  Mitarbeiter  des  Historischeu  Atlasses  der  österreichischen 
Alpenländer  die   Deutsche   Grundkartenfrage  in  den   Bereich   ihrer 
Vorarbeiten  und  Voruntersuchungen  gezogen  haben  und  im  Einklänge  mit. 
der  Gegnerschaft  der  Grundkartenfrage   im  Reiche   selbst  zn  dem  gleichen^ 
Resultate  gekonunen  sind.    Für  unser  Arbeitsgebiet  bleibt  die  Grundkarte  — 
hier  die  sogenannte  Steuergemeindekarte  aus  den  20er  und  30er  Jahren 
des   XIX.   Jahrhunderts  —  vollkommen   irrelevant.     Praktische  —  nicht 
theoretische  —  Untersuchungen  haben  zweifellos  ergeben»  dafs  die  moderne 
Orts-  (und  Steuer-)  Gemeindegrenze  mit  der   alten  Gerichtsgrenze  nicht  zu- 
sammenfällt tmd  somit  eine  Ausnützung  jener  zu  Zwecken  der  Landgerichts- 
karte vollkommen   ausgeschlossen  erscheint.     Dort,  wo  auch  in  Österreich« 
tatsächlich  Gemeindegrenze   mit  Gerichtsgemarkung  zusanmienfMt,   liegt  die^ 
Ursache   dieses  Zusammenfallens ,   diese   historische  Grenzstabilität,, 
einzig  imd  allein   in  dem  orographischen  Charakter  des  Gebirgslandes :  die 
markanten  Wasserscheiden  bildeten  Gemarkungen  seit  ältester  ^eit    Um  jedoch 
über  die  Stellung  der  österreichischen  Historiker  zur  Grundkartenfrage  nicht, 
eine  falsche  Meinung  zu  verbreiten,    möchte  ich  ausdrücklich  betonen,  dafs 
wir  in  Osterreich  über  das  Verhältnis  der  modernen  Ortsgemeinde  zur  altem 
Ortsgemarkung  noch   keineswegs  klar  sehen.     Für  diese  Frage  fehlen  noch, 
die  notwendigsten  Voruntersuchungen,  mit  denen  hoffentlich  nicht  in   allzu 
langer  Frist  für  Steiermark,  wo  das  archivalische  Material  gesammelt  und  ge-. 
sichtet  vorliegt,  begonnen  werden  wird. 

Für  den  Boden  der  österreichischen  Alpenländer  hat  also  Ed.  Richter 
in  semem  Berichte  an  die  Historische  Landeskommission  für  Steiermark  die 
Anlage  von  Grundkartenblättem,  wie  sie  in  Deutschland  hergestellt  werden, 
kurzweg  und  zwar  berechtigt  abgelehnt,  schon  in  der  Überlegimg,  dafs  wir 
durch  die  Steuerkarten  aus  der  ersten  Hälfte  des  XIX.  Jahrhunderts  und. 
deren  Indikationsskizzen,  femer  diuch  die  allerdings  mangelhafte  Eintragung 
der  Ortsgemeindegrenzen  in  die  Spezialkarte  i  :  75000  vollen  Ersatz  für  die 
erst  neu  anzulegenden  Gnmdkarten  besitzen. 

Für  Görz  und  Gradiska  dagegen  gab  die  Steuergemeindekarte  von  1855 
im  Mafsstabe  i  :  192000  die  einzige  Gnmdlage,  auf  der  eine  Jurisdiktions- 
karte dieses  Landes  sich  herstellen  läfist  An  anderer  Stelle,  in  den  „Ab- 
handlungen ztun  Historischen  Atlas  der  österreichischen  Alpenländer*'  werde 
ich  auf  die  Methode  des ,  breiteren  zu  sprechen  kommen ;  hier  mögen  nur 
kurze   Andeutungen   den   Gang   der  Untersuchung  veranschaulichen.     Etwa. 


i]  Gegenwärtig  wird  fttr  die  Zwecke  des  HistorisdieQ  Atlasses  auch  die  sog.  looer» 
österreichische  HerrschafUaktenreihe  des  HofkammerarduTes  (k.  n.  k;  gemeins;  Finanz-- 
Archiv)  SU  Wien  dnrch  Dr.  M.  Doblinger  einer  Durchsicht  onterzogen. 


—     60     — 

um  den  Ausgang  des  XVI.  Jahrhunderts  oder  in  der  Mitte  des  XVIL  Jahr- 
hunderts war  die  Aufteilung  des  Ländchens  Görz-Gradiska  in  80  Gerichts- 
bezirke mit  hoher  Jurisdiktion  und  3  7  Beadrke  mit  sogenannter  „kleinerer 
Halsgerichtsbarkeit''  vollendet;  erstere  werden  in  den  Akten  des  XVin.  Jahr- 
hunderts direkt  als  ^^Landgerichte''  bezeichnet  Die  beiden  grossen  Land« 
gerichte  des  Görzer  Oberlandes,  Flitsch,  Tolmein  imd  Kanäle,  sind  als 
Landgerichte  im  topographischen  Stile  der  alten  innerösterreichischen  Land- 
gerichte aufzufassen.  Nicht  so  die  übrigen,  deren  kleines  Flächenausmais 
gegenüber  den  meisten  übrigen  altösterreichischen  Landgerichten  sofort  ins 
Auge  fällt  Die  Verleihung  der  höheren  oder  niederen  Jurisdiktion,  durch 
den  Landesfürsten  entweder  an  Private  oder  an  geistliche  Korporationen« 
erfolgte  stets  im  Anschlüsse  imd  auf  Grund  des  betr.  Kommunal*  (Gemeinde-) 
Gebietes,  des  Dorfgebietes.  Die  Akten  und  Urkunden  sprechen  von  dem 
gericht  erster  instanz  über  das  dorff  N.  N.  (1548)  imd  zugleich  von  dem 
gericht  N,  N,,  das  sich  über  den  dorfgezirkh,  also  über  das  Gemeinde- 
gebiet erstreckt  Der  Name  der  einzelnen  Görzbchen  Jurisdiktionsterritorien 
knüpft  sich  fast  durchweg  an  Dorfiiamen,  äuiserst  selten  an  Herrschaften 
oder  Herrschaftssitze  (Burgen).  Die  Jurisdiktionen  s.  Rocco,  s.  Pietro, 
Ober-  tmd  Unter- Vertoiba  stiftete  1647  Kaiser  Ferdinand  für  Vinzenz  Ernst 
Ottmann  von  Ottensee  im  Gebiet  und  Territorium  der  4  gleichnamigen 
Dörfer,  tmd  diese  wurden  erst  in  späterer  Zeit  als  „Landgericht  s.  Pietro" 
zusammengezogen.  (Hofkammerarchiv,  Wien.)  Es  erscheint  ab  quellen- 
mäfsig  festgestellt,  dafs  die  Verausgabung  von  Jurisdiktionsgebieten  im  Görzi- 
schen gemeinde  weise  vor  sich  gegangen  ist,  und  dais  man  bei  der 
Verbriefung  der  Jurisdiktionsverleihungen  die  Kenntnis  der  Gemeind^e- 
markung  vorausgesetzt  hat  Daher  fehlen  Grenzbeschreibungen  dieser  Ge- 
meindejurisdiktionen völlig. 

Die  Josefinische  Steuerreform  schuf  nun  bekanntlich  die  sogenannten 
„Steuergemeinden",  und  als  nach  dem  Zusammenbruche  der  Reformen 
dieses  Kaisers  die  franziszeische  Katastraleinteilung  der  altösterreichischen 
Länder  vorgenommen  wurde,  gri£f  man  zu  den  Josefinischen  Steuergemeinden 
zurück,  man  knüpfte  an  sie  an,  und  liefe  deren  Gemarkung  als  neue  Steuer- 
gemeindegrenze in  Geltung.  Das  Verbindungsglied  zwischen  der  Josefini- 
schen Steuergemeinde,  der  alten  Ortsgemarkung  imd  damit  der  an  diese 
sich  anlehnenden  Jurisdiktionsgrenze  ist  durch  die  Tatsache  gegeben,  dais 
eben  gerade  die  alte  görzische  Ortsgemarkung  als  Grundlage  zur  Josefi- 
schen Steuergemeinde  genommen  wurde,  somit  die  alte  Gemaricung  ihre 
Stabilität  bis  heute  —  die  franziszeischen  Steuergemeinden  bilden  ja  noch 
heute  die  Basis  für  die  Steuergemeindeeinteilnng  der  österreichischen  Länder  — 
bewahrt  hat 

Als  man  im  Jahre  1785  daran  ging,  die  neuen  Steuergemeinden  zu 
kreiren,  wurde  ein  „Tabellarischer  Entwurf  über  die  sämdichen  in  den  ge- 
fürsteten  Gra&chaften  Görz-Gradiska  bestehenden,  dann  in  Ansehimg  des 
Fassionsgeschäftes  vorzunehmenden  Gemeindeinteilungen  vorgelegt".  Dieser 
Entwurf  macht  tms  auf  das  genaueste  bekannt  mit  der  Zugehörigkeit  der 
alten  Gemeinden  zu  den  Jurisdiktionsgebieten  und  zu  den  Ge- 
meinden, welche  nunmehr  die  Josefinische  Steuerregulierung  schuf. 

Das   durch   diese  Untersuchung  Gewonnene  &nd  nun  seine  praktische 


—     61     — 

Nutzanwendung  bei  der  Anlage  der  Landgerichtskarte  von  Görz-Gradiska, 
und  die  franziszeische  Steuerkaite  von  1855  bildete  —  wenn  auch  aus- 
schliefslich  für  dieses  Territorium  —  die  verlä&liche  Grundkarte.  Von 
dieser  wurden  die  Grenzen  auf  die  Spezialkarte  i  :  75000  und  aus  dieser 
auf  die  Generalkarte  i  :  200000  übertragen.  Nur  mit  Hilfe  jenes  methodi- 
schen Vorganges,  den  ich  Ihnen  allerdings  nur  in  Gnmdzügen  veraugen- 
scheinlichen  und  durch  Oleate  und  Spezialkartenblätter  vorführen  konnte, 
wurde  es  ermöglicht,  die  Aufteilimg  des  Kronlandes  Görz-Gradiska  in  hohe 
und  niedere  Jurisdiktionsgebiete  kartographisch  darzustellen. 

Die  lAndgerichtskarte  Görz-Gradiska  umÜEtfst  die  Blätter  30  (mit  Kärnten 
und  Krain),  31  (mit  Krain),  35  und  36  (mit  Krain)  der  Generalkarte,  die 
Blätter  Zone  ao,  KoL  IX,  Zone  21,  Kol.  IX  und  X,  Zone  22,  Kol.  VIII, 
IX  und  X,  imd  Zone  23,  Kol.  VIII  und  IX  der  österreichischen  Spezialkarte. 
Den  freien  Raum  auf  Blatt  30  (Fiitsch)  soll  eine  Darstellung  der  Josefini- 
schen Kriminalgerichtskonzentration  im  Jahre  1786  im  görzischen  Gebiete, 
die  auch  nach  dem  Zusanmienbruch  der  Reformen  Kaiser  Josephs  U.  be- 
stehen blieb,  ausfüllen. 

Ob  der  Venetianische  Anteil  Istriens  (mit  Ausschlufs  des  kraini- 
schen  Mitterburger  Territoriums)  noch  in  die  Landgerichtskarte  aufgenommen 
werden  wird,  kann  ich  heute  nicht  sagen.  Nur  scheint  es  mir  nach 
der  bisherigen  oberflächlichen  Beschäftigung  mit  diesem  Gebiete  fast  wahr- 
scheinb'ch,  dafs  man  auch  für  dieses  Territorium,  das  bereits  im  Mittelalter 
eine  genaue  Gastaldien-  (=  Gerichts-)  Einteilung  besafs,  den  Zusammenhang 
der  Jurisdiktion  mit  der  alten  Dorfkommune  wird  nachweisen  können. 

Über  die  bis  heute  durchgeführte  Rekonstruktion  der  Landgerichte  der 
österreichischen  Alpenländer  möge  für  die  einzelnen  Kronländer  nachstehende 
statistische  Zusammenstellung  ^)  ein  Bild  geben. 

Niederösterreich  260  Landgerichte,  davon  143  in  ihrem  Grenzverlaufe  festgestellt 
Oberösterreich     102  102 

Salzburg  37  37 

Vorarlberg  3 1  (Hoch- u.  Niederger.)  3 1 

Nordtirol ) 

Südtirol    1  59  — 

Steiermark  124  134 

Kärnten  63  63 

Krain  56  8 

Görz-Gradiska      80  80 ') 

Es  ergibt  sich  also  ein  Verhältnis  der  Zahl  sämtlicher  altösterreichischer 
Landgerichte  zu  jener  der  für  die  Zwecke  des  Historischen  Atlasses  in  ihrem 
Grenzverlaufe  gegenwärtig  festgestellten,  wie  812  zu  588. 

2.  Was   den   Stand   der  Sticharbeiten  am   k.  u.  k.   militärgeogra- 

Shischen  Institute  in  Wien  anlangt,  so  legte  dieses  auf  einem 
Fbersichtsblatte  der  Landgerichtskarte  denselben  für  den  25.  August  dar. 
Auf  diesem  Blatte,  welches  ich  vorlege,  ist  der  Fortschritt  der  Publizierung 
resp.  der  technisch-kartographischen  Arbeiten  ersichtlich  gemacht 


i)  Nach  dem  Stmnde  im  J.  1784. 

2)  Aufserdem  37  niedere  Jarisdiktiooen. 


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Die  I.    resp.    die  2.  Korrektur   ist   bei   den  Blättern  17  (Pongan) 
und   18  (Murau)  vollständig  durchgeführt. 

Probedrucke  wurden  (vor  wenigen  Tagen)  vorgelegt  von  den  Blättern 
IG  (Admont),   19  (Graz)  und  26  (Marburg). 

Von  den  übrigen  eingelangten  Originalen  im  Manuskripte  (Blätter 
1%  I^  4»  5»  9»  27,  30  33,  und  35)  ist  für  die  Blätter  4  (Innviertel), 
5  (Linz),  9  (Salzburg)  der  Schrift  stein  gegenwärtig  in  Arbeit,  für  die  Blätter 
I*  (Passau),  i^  (Freistadt),  30  (Flitsch)  und  35  (Triest)  der  Terrainstein 
und  Wasserstein  fertiggestellt;  ebenso  für  die  Blätter  13  (Hohenems),  14 
(Arlberg),  15  (Innsbruck),  16  (Pinzgau),  22  (Brixen),  23  (Pustertal),  28»  (Sulz- 
berg), 28**  (Judikarien),  29  (Triest)  34  (Rovereto),  24  (Spital)  und  25  (Klagen- 
furt). Für  13  Blätter  \^nirden  die  technischen  Vorarbeiten  überhaupt  noch 
nicht  vorgenommen; 

Die  Drucke  der  hier  aufgelegten  Kartenblätter  10,  17,  18,  19  und  26 
entbehren  noch  insoweit  der  Vollständigkeit,  als  auf  denselben  der  Grenz- 
verlauf der  alten  Gaue  und  Grafschaften  noch  nicht  sichtbar  ge- 
macht ist  Auf  der  Darstellung  dieser  Grenzverläufe  beruht  ja  bekanndich 
die  ganze  Idee  des  Historischen  Atlasses,  auf  der  Annahme,  dafs  wenigstens 
für  den  gröfseren  Teil  des  darzustellenden  Gebietes  auf  dem  Wege  retrogressiver 
Forschung,  aus  der  Zurückverfolgung  der  Bezirke  der  höheren  Gerichtsbarkeit 
sich  auch  die  ältesten  Bezirke  (Grafschaft,  Gau  imd  Mark)  erscfaliefsen  lassen. 
Für  Steiermark  ist  es  gelungen,  diesen  Zerstückelungsprozefs  der  Land- 
gerichte nach  rückwärts  zu  verfolgen.  Ich  verweise  auf  meine  Untersuchungen 
über  den  Oomüaiiis  Luipoldi,  und  erwähne,  dafs  auch  für  die  übrigen 
Teile  der  alten  Mark  und  des  Herzogtums  Steier  die  Eruierung  der  alten 
Grafschafbgrenzen  im  grofsen  imd  ganzen  bereits  gelungen  ist.  Für  das 
salzburgische  Gebiet  hat  Ed.  Richter  das  gleiche  Problem  schon  vor 
Jahren  mit  vollem  Erfolge  bearbeitet,  für  Tirol  bildet  die  erwähnte  Ab- 
handlung Eggers  die  Grundlage.  Die  oberösterreichischen  GraCschaftsgebiete 
hat  Julius  Strnadt  klargelegt,  und  betreffs  Kärntens  steht  in  kurzer 
Zeit  eine  Studie  über  die  Kärntner  Grafschaften  aus  der  Feder  des  Heraus- 
gebers der  Mon.  hisiorica  duc,  Cbrinth,,  Aug.  R.  v.  Jaksch,  zu  erwarten 
Für  Krain  versuchte  ich  im  Jahre  1888  den  Beweis  für  die  Zweiteütmg 
des  Landes  in  eine  Mark  imd  eine  Grafschaft  zu  erbringen.  Meine  Resul- 
tate wurden  von  den  Fachgenossen  teils  aufgenommen  teils  verworfen,  und  es 
würde  mich  freuen,  wenn  in  diese  Angelegenheit  eben  durch  die  für  den  Histo- 
rischen Atlas  anzustellenden  Untersuchungen  Klarheit  gebracht  werden  würde. 

In  den  Kartenblättem  10,  17,  18,  19  und  26  werden  die  Grafschafb- und 
Markgrenzen  von  den  Mitarbeitern  durch  ein  Farbenband  dargestellt  werden,, 
worauf  im  militärgeographischen  Institute  eigene  Farbensteine  hergestellt  werden. 

3.  Prinzipiell  wird  die  Eintragung  der  Namen  in  die  Blau- 
druckkarten gleichzeitig  mit  der  Abfassung  der  textlichen  „Erläute- 
rungen*^ vorgenommen,  ein  Vorgang,  den  Eduard  Richter  en^>fohlen 
tmd  der  sich  vollständig  bewährt  hat.  Dem  Heidelberger  Historikertage  des 
Jahres  1903  hatte  Richter  die  von  ihm  verfafsten  Erläutenmgen  zur  Land^ 
gerichtskarte  von  Salzburg  vorgelegt,  und  diese  Erläuterungen  sollten  vor- 
bildlich sein.  Nach  diesem  Muster  nun  hat  im  Frühjahr  1904  Julius 
Strnadt  die  „Erläuterungen  für  das  Land  Österreich   ob  der  Enns'^ 


—     63     — 

der  Adaskommission  im  Manuskripte  vorgelegt  Im  Anschlüsse  an  die 
Richterschcn  Erläuterungen  beginnt  auch  Stmadt  mit  den  ,, Allgemeinen 
Bemerkungen ''.  Unter  diesem  Titel  wird  die  Entstehimg  und  das  An- 
wachsen Oberösterreichs  bis  zum  Jahre  1850  verfolgt,  während  das  Jahr 
1781  als  Endpunkt  der  kartographischen  Darstellung  gewählt  wurde. 

An  diese  allgemeinen  Bemerkungen  schliefst  sich  eine  kurze  Aufzählung 
und  Besprechung  der  ,,  Qu  eilen",  auf  denen  kartographische  Darstellung 
und  textliche  Erläutertmg  beruhen,  und  daran  die  kurze  Geschichte  der 
einzelnen  Gerichte  nach  den  Landeskreisen  und  nach  der  ehemaligen 
Zugehörigkeit  zu  den  Grafschaften  oder  alten  judicia  provinciaUa,  Die 
Filiationen  wurden  nach  dem  von  mir  im  Comüatua  Lu^oldi  gegebenen 
Beispiele  stammtafelartig  zum  Ausdruck  gebracht  Auch  die  Erläuterungen 
für  „Vorarlberg"  hat  Prof.  Zösmaier  bereits  fertiggestellt 

An  den  Erläuterungen  für  die  Blätter  „Steiermark"  arbeitet  gegen- 
wärtig Prof.  Pirchegger  in  Pettau;  die  „Allgemeinen  Bemerkungen"  und 
die  „Quellen"  werden  von  mir  verfisdst  werden. 

Für  Görz  und  Gradiska  werden  die  Erläuterungen  gleichfialls  von  mir  be- 
sorgt werden,  und  es  steht  zu  erwarten,  dafs  nach  Fertigstelltmg  der  Kartendrucke 
auch  die  Erläuterungen  im  Laufe  des  heurigen  Winters  vorgelegt  werden  können. 
Über  die  Vorarbeiten  zu  den  Erläuterungen  für  die  Blätter  „Niederösterreich, 
Tirol,  Kärnten  und  Krain"  kann  gegenwärtig  nicht  berichtet  werden. 

Die  im  ELartenbilde  wiedergegebenen  Grenzlinien  der  einzelnen  Land- 
gerichte beruhen  fast  durchgängig  auf  der  Reduktion  der  sogenannten  L.  G.  - 
Beschreibungen  aus  verschiedenstem  Zeitalter.  An  die  Edition  dieser  Be- 
schreibungen, welche  so  reiche  topographische,  sprachliche  und  auch  rechts- 
historische Details  bieten,  hat  man  bis  jetzt  seitens  der  Atlaskonmiission 
nur  insoweit  gedacht,  als  man  für  eine  solche  die  einzelnen  Landespubli- 
kationsinstitute  interessieren  wollte.  In  dieser  Sache  ist  bis  jetzt  ein 
merkbarer  Fortschritt  nicht  zu  verzeichnen. 

4.  Die  Adaskommission  der  k.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien 
hat  beschlossen,  alle  jene  Studien,  die  in  irgendeinem  Zusammenhange  mit 
den  Problemen  der  historischen  Geographie  der  österreichischen  Alpenländer 
stehen  oder  welche  der  Entstehung,  der  Weiterbildung  tmd  dem  Verschwinden 
gewisser  historischer,  administrativer  und  judizieller  —  selbstverständlich 
kartographisch  darstellbarer  —  Erscheintmgen  nachgehen,  nach  Form  und 
Inhalt  aber  über  den  Rahmen  der  sogenannten  Erläuterungen  hinausgeben, 
fallweise  und  nach  Bedarf  in  einzelnen  Sammelbänden  als  „Abhandlungen 
zum  Historischen  Atlas  der  österreichischen  Alpenländer"  erscheinen  zu 
lassen.  Diesen  Studien  wurde  das  „Archiv  für  österreichische  Ge- 
schichte" zur  Verfügung  gestellt 

Eine  Reihe  von  Abhandlungen  liegt  bereits  druckfertig  vor.  So  von 
Ed.  Richter,  Die  älteste  Kartognq)hie  Salzburgs,  von  demselben.  Die 
salzburgischen  Steuergemeinden,  von  Martin  Wutte,  Konskriptionsgemeinde 
und  Steuergemeinde  und  deren  Verhältnis  zur  alten  Gerichtseinteilung  des 
Landes  Kärnten,  von  S.  Puchleitner,  Die  Bestallungsbücher  der  salz- 
burgischen Pfleger  tmd  Landrichter  im  XVI.  und  XVII.  Jahrhundert  Teils 
in  Vorbereitung  teils  nahe  dem  Abschlüsse  sind  „Studien  historisch-topo- 
graphischer Natur  über  einzelne  steirische  Territorien"  von  Hans  Pirchegger, 

5* 


—     64     — 

über  „die  theresianische  und  josefinische  Kreiseinteilung  Steiermarks*'  von 
Ant  Kapp  er,  über  die  ,, Josefinischen  und  Franriszeischen  Steuerge* 
meinden  und  deren  Stellung  zur  Grundkartenfrage **  von  C.  Giannoni, 
über  die  ,, Alten  Grafschaften  des  Landes  Kärnten*^  von  A.  v.  Jaksch, 
und  endlich  über  „die  Entstehung  der  Landgerichte  auf  bayerisch-österreichi- 
schem Rechtsgebiete**  von  H.  v,  Voltelini  *). 

Eingeleitet  soll  dieser  erste  Band  der  „Abhandlungen**  durch  eine  ein- 
gehende Untersuchung  über  die  Entstehung,  die  Ausbildung  und 
das  Aufhören  der  hohen  und  niederen  Strafgerichtsbarkeiten 
auf  dem  Boden  der  altösterreichischen  Alpenländer  werden,  wie  der  Titel 
schon  besagt,  von  der  Zeit  des  ersten  Auftretens  der  Grafechaftsgebiete  an- 
gefimgen  bis  zum  Jahre  1848  als  dem  Jahre  des  Aufhörens  des  Feudal- 
systems und  der  Patrimonialwirtschaft.  Diese  zumeist  auf  archivalischem  Nfaterial 
beruhende  Studie  soll  das  im  Bilde  der  Landgerichtskarte  Gebotene  genetisch 
erläutern  und  jene  Lücken  ausfüllen,  welche  die  sogenannten  „Erläuterungen** 
schon  ihrer  Natur  nach  als  blofser  Begleittext  zur  Karte  aufweisen.  Ob 
diese  umfimgreiche  Studie  noch  im  Veriauf  des  heurigen  Winters  der  aka- 
demischen Atlaskommission  vorgel^  werden  wird,  kann  ich,  als  VerfEisser 
dieser  Arbeit,  heute  mit  Bestimmtheit  nicht  voraussagen.  Jene  Teile,  welche 
die  strafgerichtlichen  Kompetenzen  zur  Zeit  der  Kodifikation  der  österreichischen 
Territorialstrafgesetze  behandeln,  und  die  dem  allmählichen  Eingehen  der  niederen 
Gerichtsbarkeiten  alter  Form  von  dem  Erscheinen  der  Theresiana  ab  bis  zur  Josefi- 
nischen Gerichtsorganisation  gewidmet  sind,  sowie  die  Untersuchungen  über  das 
Entstehen  der  altösterreichischen  Gerichtsherrschaften,  liegen  allerdings  bereits 
druckfertig  vor.  Dagegen  erfordern  die  Gegenstände:  Patrimoniale  Gerichts- 
barkeiten, Dorfgericht,  Burgfried  und  andere  noch  eingehender  Studien. 


Ziehen  wir  mit  dem  heutigen  Tage  die  Schlufsrechnung  über  die  seit 
1902  im  Bereiche  der  einzelnen  Lokalkommissionen  für  den  Historischen 
Atlas  geleisteten  Arbeiten,  so  sind  wir  von  vornherein  berechtigt  von  Fort- 
schritten zu  sprechen.  Mit  diesen  hat  deren  Publizierung  leider 
nicht  gleichen  Schritt  gehalten.  Diese  ist  von  einem  öffentlichen  Institute 
tmd  dessen  Arbeitstätigkeit  abhängig,  welche  dieses  Institut  sich  erst  in  zweiter 
Linie  unserem  Unternehmen  widmen  läist  Dies  soll  jedoch  keineswegs  ein 
Vorwurf  sein !  Alle,  denen  der  Historische  Atlas  der  österreichischen  Alpen- 
länder nahe  liegt,  müssen  dem  k.  u.  k.  militärgeographischen 
Institute  zu  Wien,  das  mit  seinen  ausgezeichneten  Kräften  und  bedeuten- 
den Mitteln  mit  der  gröfsten  Bereitwilligkeit  für  den  Atlas  sich  eingesetzt 
hat,  nur  zu  Dank  verpflichtet  sein. 

Zur  6.  Tagung  der  Konferenz  landesgeschichtlicher  Publikationsinstitute 
im  Jahre  1906  wird  der  Historische  Atlas  sich  wieder  zum  Worte  melden. 
Und  ich  glaube  im  Sinne  aller  Anwesenden  zu  handeln,  wenn  ich  die 
Hoffiiung  ausspreche:  zu  dieser  Tagung  möge  Eduard  Richter  in  eigener 
Person  die  ersten  beiden  Lieferungen  des  Historischen  Atlasses  der  österreichi- 
schen Alpenländer  vorlegen  können.  Anton  Meli  (Graz). 

1)  Vortrag  gehalten   am   3.   September    1904    in   der   VIII.   Versammlong    deutscher 
Historiker  in  Salzbarg. 


Herausgeber  Dr.  Armiii  Tille  in  Leiptig. 
Druck  und  VerUg  von  Friedrich  Andreas  PertheS|  AktiengeaelUchaft,  Gotha. 

Hierzu  als  Beilage:  Aufforderung  zum  Abonnement  auf  die  illustrierte  Zeitung: 

„Der  Tag". 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


lur 


Förderung  der  landesgeschiclitliclien  Forschung 

VI.  Band  Dezember  1904  3.  Heft 


Kitohen^  und .  sozialpolitische 

im  ISZIittel  alter ') 

Von 
Heinrich  Werner  (Euskirchen) 
Gehen  grofse  Ideen  auf  den  Marsch,  so  wandern  sie  kaum  merk- 
lich zuerst  als  Stichwörter  aus  der  Feder  einiger  geistiger  Höhen- 
bewohner, bis  sie  den  günstigen  Boden  gefunden  haben,  so   dais  sie 
als  Schlagwörter  verbreitet  und  in  Taten  umgesetzt  werden  können. 


1)  Schon  zweimal  (vgl.  2.  Bd.,  S.  182—184  und  4.  Bd.,  S.  298—300)  hat  der 
Herausgeber  in  einem  Ncuikwori  zu  Aufsätzen,  die  sich  mit  der  älteren  Geschichtsliteratur 
bestimmter  Gebiete  beschäftigten,  die  Lokalforsdiung  auf  die  Pflege  der  Literatur- 
geschichte des  Mittelalters  —  das  Wort  Literatur  im  weitesten  Siooe  verstanden  — 
hingewiesen.  Der  hier  veröffentlichte  Aufsatz,  der  nur  in  grofsen  Zügen  die  Publizistik 
des  Mittelalters  und  die  Umstände,  unter  denen  sie  entstand,  schildern  will,  soll  weitere 
Anregung  zur  Arbeit  in  der  bezeichneten  Richtung  geben  und  zugleich  in  Kürze  andeuten, 
wie  viel  aus  kirchenpolitischen  Traktaten  und  eventuell  Pamphleten,  ihrer  Entstehung  und 
Verbreitung  geschichtlich  zu  lernen  ist.  Wie  sehr  die  Bedeutung  der  noch  jungen  Wissen- 
schaft von  der  lateinischen  Literatur  des  Mittelalters  überhaupt  gewachsen  ist,  geht  am 
besten  daraus  hervor,  dafs  an  den  Universitäten  München  und  Berlin  eigene  Lehr- 
stühle dafiir  errichtet  worden  sind  (L.  Traube  und  P.  von  Winter feld).  Den 
Versuch  einer  zusammenfassenden  Behandlung  der  mittellateinischen  Literatur  bis  zum 
Auftreten  der  Nationalliteraturen  hatte  A.  Ebert  unternommen;  sein  bekanntes  Werk 
liat  wesentlidi  die  Stellung  und  Geltung  der  bedeutenderen  Schriftsteller  jener  Zeiten  in 
der  Weltliteratur  bestimmt  Gegenwärtig  arbeitet  M.  Manitius  an  einer  Geschiehte 
der  römischen  Literatur  im  Mittelalter,  die  als  Teil  von  Iwan  von  Müllers  Handbuch 
der  kUusischen  AUertumeunssensckaft  erscheinen  wird.  Diese  Darstellung  soll  bis  in 
die  Zeiten  des  Humanismus  gehen  und  wird  besonders  den  Zusammenhang  zwischen 
mittelalterlicher  und  römischer  Literatur  näher  erörtern.  —  Eine  Zeitschrift,  welche  sich 
ganz  in  den  Dienst  des  Mittelalters  gestellt  hat,  ist  das  vortrefflich  redigierte  Le  moyen 
äge,  welches  schon  eine  stattliche  Reihe  von  Bänden  aufzuweisen  hat  und  sich  durch 
ausführliche  Literaturnachweise  auszeichnet. 

Zugleich  aber  dienen  diese  Ausführungen  dazu,  eine  Vorläuferin  der  modernen 
Zeitung  zu  charakterisieren:  die  politische  Tendenzschriftstellerei  zur  Be- 
einflussung der  öffentlichen  Meinung.  So  gewifs  die  Verbindung  der  letzteren  mit 
^er    Zeitung,    die    vorher    nur   der    Nachrichten  Verbreitung    diente,    ein    Erzeugai«^ 

6 


—     66     — 

Die  stimmungmachende  Zeitung  ist  allerdings  erst  ein  Produkt  des 
XIX.  Jahrhunderts,  aber  in  anderer  Form  haben  hervorragende  Geister 
auch  schon  im  Mittelalter  ihre  Ideen  literarisch  zur  Geltung  zu  bringen 
gewufet  durch  die  ihrer  Zeit  allein  entsprechende  Broschüre  (libeUi). 
Keine  Zeit  aber  ist  vielleicht,  abgesehen  von  den  Tagen  der  franzö- 
sischen Revolution,  reicher  an  Schlagwörtern  als  das  ausgehende 
Mittelalter,  und  doch  sind  gerade  diese  noch  wenig  durchforscht. 
Zum  ersten  Male  entzündeten  sich  allgemeine  Gedanken  sozial- 
und  kirchenpolitischer  Natur  an  dem  Kampfe  zwischen  Kaisertum  und 
Papsttum,  denn  in  diese  beiden  war  das  imperium  Bomanum  aus- 
gemündet. Die  in  jenem  geschlossene  antike  Einheit  von  Kirche  und  Staat 
war  dadurch  zerfallen,  dafs  das  Christentum,  als  ein  „Reich  nicht  von 
dieser  Welt",  zuerst  in  das  alte  universelle  Machtgebiet  eingetreten  war 
und  als  Weltkirche  in  der  römischen  2^ntrale  das  imperium  Christi 
gegründet  hatte.  Dazu  kam  bald  die  Erneuerung  des  römischen 
Reiches,  das  als  Reich  von  dieser  Welt  und  von  der  Weltkirche  ge- 
gründet nichts  anderes  sein  konnte  als  das  Weltreich,  das  intperiufn 
mundi.  So  entstand  der  Glaubenssatz  des  Mittelalters  von  der  engen 
Verknüpfung  und  der  Dauer  der  beiden  Gewalten:  das  hl.  römische 
Reich  sei  das  letzte  der  Weltreiche  und  an  seine  Dauer  sei  die  der 
Weltkirche  geknüpft.  Beide  Weltinstitutionen  bedienten  sich  einer  Welt- 
sprache, des  Lateins,  einer  Weltwissenschaft,  der  theologisch  gefärbten 
Philosophie,  der  Scholastik.  Wie  diese  auf  einer  Abstraktion  beruhte,, 
so  auch  der  kirchenpolitische  Begriff  des  mittelalterlichen  Staates :  auf 
zwei  Gewalten,  auf  der  Weltkirche  und  dem  Weltreiche.  So  kommt 
es   dann,    dafe   in   der  Folgezeit  die  abstrakte   Deduktion    von    einer 

XIX.  Jahrhanderts  ist,  so  wenig  darf  man  vergessen,  dafs  eine  Beeinflassaog  der  öffeoU 
liehen  Meinung  darch  Broschüren  schon  längst  üblich  war.  Das,  was  beide  Arten 
der  Publizistik  voneinander  trennt,  sind  nur  graduelle  Unterschiede,  die  in  den  alK 
gemeinen  Kultunrerhältnissen  begründet  sind.  Heute  hat  jede  politische  Richtung  die 
Möglichkeit,  durch  regelmäfsige  Wiederholung  ihrer  Prinripien  fiir  ihre  Ideen  Propa- 
ganda £U  machen;  im  Mittelalter  dagegen  muiste  eine  einzige  Broschüre  oder  höchstens 
ein  halbes  Dutzend  über  Jahre  verstreute  Schriften  gleicher  Tendenz  genügen,  um  eine 
gewisse  Stimmung  hervorzurufen  und  die  verwandten  Geister  zum  öffentlichen  Partei- 
ergreifen  zu  zwingen.  In  der  Gegenwart  verrichtet  denselben  Dienst  eine  Zeitung,  die 
durch  viele  Jahrgänge  im  täglichen  Leitartikel  dasselbe  predigt,  indem  sie  dasselbe 
Prinzip  nur  auf  immer  neue  Tatsachen,  die  gerade  im  Vordergrunde  des  Interesses  stehen,, 
anwendet. 

Unter  den  zwei  bezeichneten  Gesichtspunkten  mögen  die  obigen  Ausführungen  be- 
trachtet werden ;  sie  mögen  dazu  beitragen,  dafs  das  Interesse  an  der  Flngtchriflenliteratar 
des  Mittelalters  einschliefslich  der  Reformationszeit  wächst  und  dafs  sich  unsere  Kenntnis^ 
von  dieser  Literaturgattung  immer  mehr  vertieft.  Die  Redaktion. 


—     67     — 

Trennung  des  römischen  Reiches  in  Kirche  und  Staat,  femer  die  Ab- 
straktion von  der  Weltkirche  und  dem  Weltreiche  und  der  damit  zu- 
sammenhängenden Weltsprache  ringt  mit  der  induktiven  Erfahrung, 
mit  der  antiken  Einheit  von  Kirche  und  Staat,  und  zugleich  mit  dem 
Nationalstaat,  der  Nationalkirche  und  der  Nationalsprache,  wie  die  philo- 
sophische Deduktion  mit  der  Induktion  der  Erfahrungswissenschaft.  Mit 
dem  Siege  der  Induktion  auf  der  ganzen  Strecke,  mit  der  Auflösung 
des  Weltreichs,  der  Weltkirche,  Weltsprache  und  Wissenschaft  ist  das 
Ende  des  Mittelalters  gekommen.  Dieser  universelle  Beruf  und  Begriff 
des  mittelalterlichen  Staates  und  der  Kirche  war  aber  sozial-  und 
kirchenpolitisch  von  eminenter  Bedeutung.  Der  Universalität  haftete 
naturgemäß  Unbegrenztheit  nach  aulsen  imd  scharfe  Beschränktmg  nach 
innen  an.  Fugenlose  Hierarchie  und  strenge  Formulierung  des  Glaubens 
einerseits  und  eine  kraftvolle  Monarchie  und  mannigfach  gegliederte 
Feudalität  anderseits  ermöglichten  beiden,  Staat  und  Kirche,  die  civit(is 
dei  sich  als  letztes  Ziel  vorzustellen.  In  diesem  fand  der  jugendliche 
Tatendrang  der  Germanen,  die  zu  den  eigentlichen  Trägem  des  neuen 
Staates  und  der  Kirche  wurden,  seine  entsprechende  Befriedigung. 
Germanisiemng  und  Christianisierung  bewahrten  das  Land  vor  sozialen 
Konflikten,  denn  der  Überschufs  der  Bevölkemng  flofs  in  die  Koloni- 
sationsgebiete ab.  Unter  dem  Dmcke  der  streng  gefügten  Feudalität 
war  aber  jede  intime  Neigung  zu  sich  selbst  erstickt;  für  sich  war  der 
einzelne  möglichst  wunschlos,  um  für  das  Grolse  und  Ganze  alles 
wünschen  zu  dürfen.  Eine  soziale  Frage  im  modernen  Sinne  gab  es 
nicht,  und  es  ist  nicht  nur  Oberflächlichkeit  der  Auffassung,  wenn  sich 
die  schriftliche  Tradition  beinahe  ganz  auf  die  Registriemng  der  Papst- 
und  Kaisergeschichte  beschränkt. 

Eine  natürliche  Grenze  von  Staat  und  Kirche  war  nicht  erkennbar. 
So  entstand  denn  schon  früh  ein  Grenzstreit  zwischen  beiden.  Aber 
am  frühesten  erhob  sich  der  Streit  im  eigenen  Hause,  und  zwar  zuerst 
geriet  das  Weltreich  ins  Wanken.  Schon  Otto  I.  mu&te  sich  gegen 
die  seiner  Weltpolitik  widerstrebenden  Territorialmächte  schützen,  und 
das  tat  er  in  einer  für  das  ganze  Mittelalter  verhängnisvollen  Weise, 
indem  er  geistliche  Würdenträger  durch  Verleihung  weltlichen  Besitzes 
an  seine  politischen  Interessen  knüpfte;  dadurch  waren  die  Grenzen 
für  Staat  und  Kirche  für  die  Zukunft  noch  unkenntlicher  gemacht. 
Da  nun  aber  die  mit  zeitlichen  Gütern  belehnte  Kirche  auch  die  soziale 
Organisation  der  Feudalität  übernahm,  war  dieses  sozialpolitische  System 
gleichsam  kirchlich  sanktioniert  und  sein  Bestand  gesichert. 

Bald  aber  beobachten  wir  die  umgekehrte  Erscheinung.     Sobald 

6» 


—     68     — 

der  erste  grofee  Grenzstreit  zwischen  Staat  und  Kirche  unter  Greg-or  VII. 
und  Heinrich  IV.  ausbricht,  bedient  sich  der  Papst  der  das  Weltreich 
dezentralisierenden  territorialen  Mächte,  um  die  Staatsgewalt  selbst  in 
ihre  Grenzen  zurückzuweisen.  Staat  und  Kirche  strebten  in  diesem 
Falle  wieder  ihrer  natürlichen  antiken  Einheit  zu,  indem  der  Empfang 
des  weltlichen  Besitzes  auch  den  des  geistlichen  Amtes  nach  sich 
ziehen  sollte.  Die  Laieninvestitur  also,  die  durch  die  Ottonische  Politik 
inauguriert  war,  gab  Anlafs  zu  dem  grofsen  Grenzstreit,  der  mit  dem 
Bestreben,  die  Reinheit  der  Kirche  herzustellen,  beginnt  und  der  mit 
dem  Kampfe  um  die  Freiheit  der  Kirche  von  der  weltlichen  Gewalt 
endet,  sich  also  zu  einer  Kraftprobe  zwischen  Staat  und  Kirche  aus- 
gestaltet. Beide  Teile  schreiben  sich  die  Allgewalt  über  den  anderen 
zu,  und  die  von  jeder  Seite  beanspruchte  Universalität  des  Macht- 
bereichs wird  von  nun  an  die  treibende  Kraft  in  dem  Kampfe  um  die 
Grenze  zwischen  beiden.  Das  Charakteristische  dabei  ist,  dafs  gleich- 
zeitig mit  diesem  Kampfe  nach  aufeen  ein  innerer  reformatorischer 
Zug  —  der  gegen  Simonie  und  Konkubinat  —  einhergeht  Zugleich 
charakterisiert  sich  der  Kampf  als  ein  Ringen  zwischen  Geistlich  und 
Weltlich,  zwischen  Mönchtum  und  Laientum.  Als  geistige  Waflfe  dienen 
der  Kirche  die  pseudoisidorischen  Dekrctalien,  die  in  Verbindung  mit 
der  Staatslehre  des  Thomas  von  Aquino  die  staatsrechtliche  Doktrin 
für  das  ganze  Mittelalter  abgeben.  Die  in  den  Dekretalien  aus- 
gesprochene Befreiung  des  geistlichen  Standes  von  der  weltlichen  Ge- 
richtsbarkeit, also  von  der  Laienwelt,  während  die  letztere  der  kirch- 
lichen Gesetzgebung  unterworfen  ist,  verschärft  die  Trennung  von 
Staat  und  Kirche,  um  zugleich  wieder  zu  universalisieren ,  aber  aus- 
schliefelich  zugunsten  der  Universalkirche.  Diese  geistige  Waflfe  greift 
die  kluniazensische  Reform  auf  und  als  mönchische  Reform  verschärft 
sie  den  Gegensatz  zu  einem  solchen  zwischen  Mönchtum  und  Laien- 
tum. Als  ein  hervorragender  Vertreter  dieser  Reform  und  zugleich 
staatsrechtlichen  Doktrin  erscheint  uns  Gregor  VIL  Um  für  seine 
Ideen  Stimmung  zu  machen,  hat  er  sich  des  Briefes  als  Mittel  bedient. 
So  schrieb  er  Briefe  an  geistliche  und  weltliche  Fürsten,  ja  sogar  an 
alle  Gläubigen  ^).  Schon  hier  flackern  die  staatsrechtlichen  Ideen  vom 
Urvertrag  und  von  der  Volkssouveränität  *)  hell  auf.  Gregor  bezeichnet 
die  weltliche  Gewalt  als  eine  Erfindung  des  menschlichen  Hochmuts, 
die  ersten  Fürsten  sind  ihm  grofse  Verbrecher,   die  sich   aus  blofser 

i)  Vgl.  Registrnm  VII,  cp.  21  uod  IX,  ep.  21. 

2)  Vgl.  V.  Bezold,  Die  Lehre  von  der  Volkssouveränität  im  MittelaUer  in  der 
Hut.  ZUchr.,  33.  Bd.,  S.  321  ff. 


—     69     — 

Herrschgier  auf  Antrieb  des  Teufels  eine  Macht  über  ihresgleichen  an- 
malsten  ^).  Mögen  diese  Behauptungen  auch  zunächst  nur  als  historische 
Beobachtungen  gemeint  sein,  die  Anhänger  Gregors  prägten  sie  bald 
zu  Stichwörtern  um.  Neben  den  gregorianischen  Kardinälen,  unter 
ihnen  besonders  Humbert,  hat  Gregors  extremster  Parteigänger,  Magister 
Manegold  von  Lautenbach,  die  Überspannung  des  geistlichen  Prinzips 
bis  zur  Absurdität  geführt.  Bricht  der  vom  Volke  erhobene  König 
den  Vertrag  und  wird  zum  Tyrannen,  so  —  meint  er  —  „mufe  man 
ihn  aus  dem  Dienste  jagen  wie  einen  diebischen  Schweinehirten".  So 
war  der  Prinzipienstreit  in  schärfster  Weise  eröffnet,  und  Generationen 
hatten  an  Überbrückung  der  Kluft  zu  arbeiten '). 

Akut  ward  der  Streit  wieder  mit  dem  Auftreten  der  Hohenstaufen ; 
denn  diese,  durch  ihren  Besitz  auf  römischen  Boden  gestellt,  sahen 
sich  auch  staatsrechtlich  auf  altrömische  Traditionen  verwiesen  und 
berauschten  sich  an  der  universalen  Machtfüllc  der  römischen  Impe- 
ratoren. Der  staatsrechtliche  Grundsatz  Friedrichs  I.:  Quod  principi 
plcumit  legis  habet  vigorem  ^)  stiefs  hart  an  die  seit  Gregor  VII.  ge- 
züchtete Allgewalt  der  Päpste,  der  Grenz  streit  hat  sich  zu  einem 
Kompetenz  streit  fortentwickelt,  der  auf  der  staatlichen  Seite  die 
kirchliche  Gewalt  in  sich  aufzunehmen  strebte  und  zur  Bildung  des 
Zwitterbegriffs  vom  Cäsaropapismus  führte.  Friedrich  II.  bildete  die 
imperialistische  Idee  zur  Devotion  der  Untertanen  aus  und  überbot 
noch  die  Byzantiner  und  Orientalen.  Der  Kirche  gegenüber  ist  er 
nicht  nur  ein  Feind  ihrer  Staatslehre,  sondern  auch  ihres  weltlichen 
Besitzes.  In  einem  Briefe  an  den  König  von  England  *)  rügt  er  die 
Habsucht  der  Kurie  und  Prälaten  und  läist  durch  den  in  späterer  Zeit 
immer  mehr  üblich  werdenden  Hinweis  auf  die  in  paupertate  ei  simpli- 
cikUe  fundaia  primüiva  ecclesia  seine  Absicht  der  Säkularisation  der 
Kirchengüter  deutlich  durchblicken.  Damit  wird  zugleich  eine  neue 
wesentliche  Nebenerscheinung  des  grofeen  Kampfes  berührt,  die  Ver- 
weltlichung der  Kirche  durch  ihren  Reichtum.  Die  Verleihung  von 
weltlichem  Gut  hatte  den  Grund  dazu  gelegt. 

Für  die  Kampfzeit  brauchten  die  Päpste  gröfeere  Geldmittel,  die 

i)  Vgl.  Monumenta  Oregoriana,  ed.  Jaff6,  S.  167,  199  und  456. 

2)  Der  gröfste  Teil  der  StreiUckriflen  aas  dieser  Zeit  ist  in  den  Monumenta  Oer- 
maniae  aU  libeUi  de  iüe  imperaiorum  et  poniificum  saeculia  XI.  et  XII.  conscripti 
(2  Bde.,  Hannover  1891  — 1892)  herausgegeben.  Erschöpfend  ist  dieser  Streit  behandelt 
von  C.  Mirbt,  Die  Publixietik  im  Zeitalter  Gregors  VII.  (1894). 

3)  ülpian,  digest.  I,  4,  i. 

4)  H  uillard-Br^bolles,  Historia  diplomatiea  Friederici  IL,  VI.  Bd.  (Paris 
1853),  S.  391  ff. 


—     70     — 

sie  sieb  durch  höhere  Besteuerung  der  Kirchen  zu  verschaffen  wu&ten. 
Der  Ausfall  an  Leistungen  der  kaiserfreundlichen  Prälaten  und  die 
reichere  Begabung  kirchlich  treu  Gesinnter  trieb  dabei  zu  noch  höherer 
Anspannung  der  Steuerkraft  So  entstanden  lebhafte  Klagen  über 
Gelderpressungen  der  päpstlichen  Legaten.  Zum  ersten  Male  wird 
die  Verknüpfung  des  weltlichen  Besitzes  mit  dem  geistlichen  Amte 
ö  f  f  e  n  1 1  i  c  h  empfunden.  So  fand  schon  der  Opferstock,  den  Innozenz  lU. 
ftir  einen  Kreuzzug  in  allen  Kirchen  aufstellen  liefe,  einen  heftigen  An- 
griff durch  Walter  von  der  Vogelweide  ').  Auch  Friedrich  II.  zog 
das  Volk  durch  Manifeste  in  den  Streit  hinein,  wandte  sich  an  das 
Nationalgefühl,  verlangte  vom  Klerus  den  Dritteil  seiner  Einkünfte  und 
ging  gegen  die  Mendikanten  scharf  vor.  Zugleich  geht  neben  diesem 
Kampfe  wieder  ein  reformatorischer  Zug  einher,  der  von  Papst  Inno- 
zenz IV.  selbst  eingeleitet  und  von  anderen  Männern,  namentlich  von 
Bernhard  von  Clairvaux,  weitergeführt  wird.  Dazu  tritt  eine  neue  Be- 
gleiterscheinung, nämlich  die  gegenseitige  Verdächtigung  in  bezug  auf 
die  Rechtgläubigkeit. 

Besonders  erlangte  die  Anklage  Gregors  IX.  gegen  Friedrich  II. 
Berühmtheit,  als  habe  der  letztere  behauptet:  a  tribtis  barcUoribus  sd. 
Cristo  Jesu,  Moyse,  Mdhometo  totum  mundum  fuisse  deceptum  ').  Sind 
auch  die  Meinungen  über  den  Autor  der  im  Jahre  1598  im  Drucke 
erschienenen  Schrift  De  tribtis  impostoribus  geteilt,  jedenfalls  stammt  sie 
aus  derselben  Quelle  wie  die  Äufeerung  Friedrichs  II.  Durch  die  Kreuz- 
2}igQ  war  die  abendländische  Wissenschaft  von  der  arabischen  Gelehrsam- 
keit befruchtet  worden  und  fand  bei  dem  Völkergewirr  in  dem  sarazenisch- 
jüdischen Spanien  und  in  Palermo  neue  Pflege.  Von  hier  hat  die 
mittelalterliche  religiöse  Aufklänmg  ihren  Ursprung  genommen  und 
einen  bezeichnenden  Ausdruck  in  der  Fabel  von  den  drei  Ringen  ge- 
wonnen. So  kann  man  von  den  Kreuzzügen  sagen :  die  Christen  zogen 
aus,  um  das  hl.  Grab  zu  suchen,  und  fanden  das  Grab  ihrer  Welt- 
anschauung. Sollte  aber  die  genannte  Schrift  von  dem  Rektor  der 
Pariser  Universität,  Simon  von  Tournay  (1203),  herrühren,  so  wäre 
damit  die  andere  Quelle,  aus  der  von  jetzt  an  die  Aufklärung  dem 
Mittelalter  zufliefst,  angedeutet,  nämlich  die  zersetzende  Gelehrsamkeit 
der  Pariser  Universität.  Die  Romanen  waren  von  jeher  die  Führer  im 
Kampfe  ftir  sozial-  und  kirchenpolitische  Aufklärung. 

i)  Vgl.  Lachmann,  Die  Oediehte  Walters  von  der  Vogelueüie,  S.  34  and  155. 
Hier  ist  anch  die  Stelle  des  „welschen  Gast"  aDgefUhrt,  der  gegen  Walter  auftritt. 

2)  Vgl.  Hnillard-Br^holles,  ebenda  V,  339f.  Auch  Renter,  Geschichte 
der  religiösen  Aufklärung  im  Mittelalter  (1877),  2.  Bd.,  S.  251  ff. 


—     71     — 

Im  XII.  Jahrhundert  wird  auch  die  Staatslehre  scholastisch  und 
zwar  in  der  französischen  Prägung-,  wie  sie  nun  an  dem  privilegierten 
Sitz  des  siudium  generale  in  Paris  tonangebend  wirkt.  Die  arabische 
Philosophie  des  XIII.  Jahrhunderts  pafst  die  Staatslehre  unter  Wahrung 
der  juristisch-scholastischen  Form  inhaltlich  dem  Altertum  noch  mehr 
an.  Der  nun  vollständig  aufgefundene  Aristoteles  führt  isur  schärferen 
Scheidung  des  Naturrechts  oder  göttlichen  Rechts  von*  dem  posi- 
tiven Recht,  dem  itis  getUium,  Das  erstere  ist  das  allein  wahre,  allen 
gegebene,  das  letztere  das  willkürliche  der  einzelnen  Völker  ^).  Von 
da  stammt  die  Lehre  von  der  natürlichen  Gütergemeinschaft,  wie  sie 
Cäsarius  von  Heisterbach  z.  B.  vertritt  *).  Der  einflufsreichste  Scholastiker, 
Thomas  von  Aquino'),  hat  auch  staatsrechtlich  am  kräftigstengewirkt. 
Er  formuliert  den  Urvertrag  und  die  Volkssouveränität  ebenso  gemäfsigt 
wie  konsequent.  Bald  aberzerfiel  die  Pariser  Scholastik  philosophisch;  denn 
man  lehrte :  was  theologisch  wahr  ist,  kann  philosophisch  falsch  sein,  und 
die  philosophische  Auflösung  wirkte  auch  staatsrechtlich  auflösend. 

Dieser  von  Paris  ausgehenden  Zersetzung  gibt  zugleich  auch 
nationalen  Ausdruck  der  Roman  de  la  Rose.  Er  behandelt  utopistisch 
alle  Fragen  des  Daseins  und  schildert  die  glückselige  Urzeit  mit  ihrer 
Gleichheit  und  Freiheit,  ewigem  Frieden  und  Liebe.  Alle  „gemachten" 
Autoritäten,  namentlich  der  Richterstand,  werden  mit  Hohn  übergössen. 
Der  einzige  Adelstitel  des  Menschen  ist  seine  natürliche  Freiheit  und 
gottentstammte  Vernunft.  „So  wurde  in  Frankreich  die  Lehre  vom 
Urvertrag  und  der  Volkssouveränität  ein  Gemeingut  der  gebildeten 
Laien.**  *)  Hier  sollte  denn  auch  diese  staatsrechtliche  Aufklärung 
ihre  erste  Kraftprobe  bestehen.  Wiederum  entzündet  sich  der  grofee 
Kampf  zwischen  Papsttum  und  Königtum  an  rein  weltlichen  Dingen, 
nämlich  an  der  Besteuerung  der  reichen  französischen  Geistlichkeit 
durch  König  Philipp.  Der  Kampf  ist  weiterhin  gekennzeichnet  durch 
die  erste  Kampfesbulle  Papst  Bonifaz'  VIII.,  Clericis  laicos,  als  ein 
solcher  zwischen  Geistlich  und  Weltlich.  Dem  Klerus  wird  jede  Ab- 
gabe an  Laien  verboten  und  den  Laien,  solche  vom  Klerus  zu  fordern  ^). 
Der  kgl.  Advokat  P.  Dubois  von  Coutance,  ein  Hauptparteigänger 

i)  VgL  V.  Besold,  m.  a.  O.  S.  33oflF. 

2)  MfiDDcr  wie  Vincentias  v.  Baavais  in  seinem  Speetätmi  morale,  Aegidins 
Romanas  und  J oh.  t.  Paris  baldigen  dieser  Lehre  vom  Unrertrag  and  von  der  Volks- 
Souveränität,  während  Durand  de  Pourgain  mit  Vorliebe  die  Lehre  von  der  Güter- 
gemeinschaft behandelt 

3)  Vgl.  B  anmann,  Die  Staatslehre  des  heiligen  Thomas  von  Aquino,  (Leipzig  1873). 

4)  ^gl*  ^'  Bezold  a.  a.  O.  S.  342. 

5)  Vgl.  He  feie,  Konxiliengesehiehle  VI,  259  ff.  • 


—     72     — 

Philipps,  machte  in  einer  Denkschrift  den  Vorschlag  einer  Säkularisation 
des  Kirchenstaates  und  der  Gründung  einer  sogenannten  Universalmonar- 
chie ^)  auf  nationaler  Grundlage.  Unter  Zuhilfenahme  des  Adels  und  des 
dritten  Standes  schien  die  Sache  eine  Nationalangelegenheit  zu  werden* 
Der  König  scheidet  zwischen  spiritualia  und  temporalia  und  drängt  den 
Papst  schliefsUch  unter  den  üblichen  Verdächtigungen  der  Rechtgläubig- 
keit *)  zu  der  Bulle  Unam  sandam  vom  Jahre  1304.  In  ihr  wird  die 
alte  Machtfrage  nochmals  scharf  formuliert  und  jetzt  sogar  dogmatisch 
entschieden.  Die  weltliche  Gewalt  mufs  unter  der  geistlichen  Autorität 
stehen,  wie  das  weltliche  Schwert  unter  dem  geistlichen.  Aber  nicht 
genug  damit.  Der  Vorzug  des  Geistigen  vor  dem  Materiellen  ver- 
lange auch,  dafe  die  geistliche  Gewalt  jede  irdische  Würde  über- 
rage und  dafs  deshalb  „jede  menschliche  Kreatur  dem  römischen 
Papste  unterstehe".  Neben  den  schon  früher  gutgewählten  Bildern 
von  Sonne  und  Mond  und  von  den  zwei  Schwertern  kennzeichnet  der 
Schlufs  vom  Verhältnis  des  Geistigen  zum  Materiellen  auf  das  des 
Geistlichen  zum  Weltlichen  hinreichend  die  Wissenschaft  des  Mittel- 
alters. Die  stattliche  Zahl  von  Streitschriften,  die  über  diesen  Streit 
pro  et  contra  entstanden  sind,  hier  eingehender  zu  besprechen,  mufe 
ich  mir  versagen.  Den  Inhalt  derselben  erschöpfend  und  systema- 
tisch dargestellt  zu  haben,  ist  das  grofse  Verdienst  von  R.  Scholz, 
Die  PiMizistik  zur  Zeit  Philipps  des  Schönen  und  Bonifaz  VIIL  (=» 
„Kirchenrechtlichen  Abhandlungen**  6./8.  Heft,  1903).  Der  bedeutendste 
Wortführer  Bonifaz'  VIII.  war  Egidius  Romanus  oder  Egidius  de  Columna  '). 
In  den  Schriften  De  renuntiatione  papae  sive  apologia  pro  Bonifacio  VIIL 
und  in  De  potestate  ecclesiastica  vertritt  dieser  Erzbischof  mit  solcher 
Entschiedenheit  die  päpstlichen  Ansprüche,  dafe  er  als  der  Verfasser 
der  genannten  Bulle  Unam  sanctam  angesehen  wird.  In  seiner 
Eigenschaft  als  Erzieher  des  Prinzen  Philipps  III.  hat  er  den  Tractatus 
de  regimine  principum  geschrieben,  dessen  Übersetzung  in  das  Mittel- 
niederdeutsche um  das  Jahr  1400  uns  zeigt,  „dafs  man  in  weiteren  Kreisen 
Deutschlands  um  1400  über  das  Wesen  des  Staates  und  das  Ideal  des  Für- 
sten nachgedacht  imd  die  Mühe  der  Übersetzung  nicht  gescheut  hat  *)." 


i)  Vgl.  Notices  et  eactraits  des  tnanuserits  de  la  bibliothique  imperiale  t.  XXII,  186. 

2)  Vgl.  Dupuy,  Histoire  du  differant  du  Pape  Bonif.  VIII.  avec  PhiL  le  Bei 
(Paris  1765),  S.  loiff. 

3)  Vgl.  Scholz,  a.  a.  O.  S.  32—129. 

4)  Diese  Übersetzung  hat  Armin  Tille  an  dem  Umschlag  zn  einem  Aktenstücke 
▼on  1578  erkannt  und  mitgeteilt  in  Zeitschrift  für  die  gesamte  Siaatstcissenschaft 
57..  Jahrg.   1901. 


—     73     — 

Dals  dieser  Traktat  au(serordentlich  bekannt  war,  zeigt  die  Exis- 
tenz vieler  Handschriften  und  Übersetzungen  derselben  in  mehrere 
Sprachen  ^).  Aber  mit  der  dogmatischen  Definition  päpstlicher  Allgewalt 
über  jede  menschliche  Kreatur  hatte  das  Papsttum  seine  Kraft  er- 
schöpft, es  stürzte  und  ging  in  die  sogen,  babylonische  Gefangenschaft 
nach  Avignon.  Theoretisch  freilich  blieb  es  Sieger  und  hat  so  ein 
System  seiner  Machtfülle  ausgebaut,  an  dem  jeder  Stein  um  so  halt- 
barer sich  erwies,  als  er  auf  Gnmd  von  tatsächlichen  Ergebnissen  ein- 
gefügt wurde. 

Die  weltliche  Gewalt  dagegen  vergafe,  ihre  Machtansprüche  recht- 
lich zu  kodifizieren.  Aber  ihr  erwuchs  eine  andere  Stütze,  das  Laien- 
tum.  Dessen  kritischer  Trieb  schärfte  sich  in  diesen  Kämpfen  immer 
mehr,  es  wird  durch  das  an  Einfluls  immer  wachsende  Stadtbürgertum 
eine  Macht  auch  in  den  staatsrechtlichen  Kämpfen  zwischen  den  beiden 
höchsten  Gewalten.  Das  geschah  in  dem  nun  folgenden  grofsen  Grenz- 
streit zwischen  Papst  Johann  XXII.  und  Ludwig  dem  Bayer  *).  Ludwig 
war  der  erste  und  letzte  demokratische  Kaiser  des  Mittelalters;  von 
einem  römischen  Parlamente  zum  Kaiser  gewählt,  empfing  er  aus  Laien- 
hand die  Krone.  Ludwig  erkannte  als  erster  König  die  Bedeutung 
des  Bürgertums;  auf  die  kräftige  Initiative  der  deutschen  Städte  hui 
ging  der  Kaiser  immer  entschiedener  vor  und  formulierte  im  Verein 
mit  den  Kurfürsten  nach  dem  Kurverein  von  Rhense  (1338)  zu  Frank- 
furt zwei  Konstitutionen,  nach  welchen  die  kaiserliche  Würde  un- 
mittelbar von  Gott  komme  und  der  von  den  Kurfürsten  gewählte 
Herrscher  auch  ohne  weiteres  römischer  König  sei. 

An  dieser  staatsrechtlichen  Tat  war  auch  das  deutsche  National- 
bewußtsein beteiligt,  insofern  das  Papsttum  damals  ganz  vom  fran- 
zösischen Hofe  beeinfluist  war  und  gerade  der  französische  Einfluls 
finanziell  Deutschland  schwer  drückte.  Aber  von  demselben  Frank- 
reich werden  die  Waffen  für  den  theoretischen  Kampf  entliehen.  Und 
seltsam!  Was  einst  Gregor  VII.  und  seine  Anhänger  zu  Ungunsten 
der  weltlichen  Gewalt  vorbrachten,  das  wird  jetzt  gegen  die  päpst- 
lichen Machtansprüche  gekehrt  und  zugespitzt.  Das  bedeutendste  Er- 
eignis der  groCsen  Publizistik  jenes  Kampfes  ist  der  Defensor  pacis ') 
des  Marsilius  von  Padua.  In  ihm  haben  drei  Faktoren,  die  rö- 
mische republikanische  Tradition,  die  in  den  italischen  Städten,  nament- 

i)  Ebenda  S.  487  Anm.  i  u.  S.  4S8. 

2)  Vgl.  Riezler,  Die  literarischen  Widersckcher  der  Päpste  xur  Zeit  Ludwigs 
des  Bayern  (1874). 

3)  Gedrnckt  bei  Goldast,  Monarchia  s.  Romani  imperii  II,  S.  154  ff. 


—     74     — 

lieh  in  Padua,  der  Heimat  des  Marsilius,*nie  verlorenginge,  der  kritiscbe 
Trieb  der  Laien  und  die  französische  Aufklärung  gemeinsam  ein  monu- 
mentales Werk  aufgeführt.  Die  Schrift  zerfällt  in  drei  Teile.  Der 
erste  handelt  vom  Ursprung  und  Zweck  des  Staates,  der  zweite  vom 
Verhältnis  der  geistlichen  und  weltlichen  Gewalt  und  der  dritte  zieht 
41  Schlüsse  ')  aus  dem  Gesagten.  Nach  Marsilius  ist  der  Staat  und 
vornehmlich  die  Monarchie  zwar  göttlichen  Ursprungs,  aber  das  Volk 
ist  souverän.  Deshalb  ist  der  Monarch  nur  Präsident  des  Staates,  das 
Volk  ist  Gesetzgeber  und  bestimmt  die  Stärke  der  bewaffneten  Macht, 
die  Versammlung  des  Volkes  aber  herrscht  und  zwar  nach  Mafsgabe 
der  Mehrheit,  sie  wählt  auch  den  Fürsten.  Dieser  hat  die  Exekution, 
ist  verantwortlich  imd  absetzbar,  denn  er  ist  nur  „regierender  Bürger". 
Die  Kirche  steht  unter  dem  Staate  und  ist  diesem  konform  gebildet. 
Der  Papst  ist  nur  Präsident  des  Konzils,  das  aus  Laien  und  Geist- 
lichen besteht.  Letztere  werden  von  der  Gemeinde  gewählt  Kurz- 
um, Marsilius  hat  die  republikanische  „Staatsverfassung  des  Aristoteles 
zum  ersten  Male  frei  von  jeder  kirchlichen  Beimischung  und  konsequent 
wie  kein  anderer  übernommen***).  Auch  die  Minoriten,  Michael 
von  Cesena,  Bonagratia  und  namentlich  Wilhelm  von  Occam 
("t  1347)»  beteiligten  sich  an  der  Federpolemik  gegen  das  Papsttum. 
Besonders  letzterer  vertritt  mit  dem  Abte  Engelbert  von  Ad- 
mont  —  beide  sind  Professoren  von  Paris  —  die  Lehre  vom  Ur- 
vertrag,  verwirft  mit  Marsilius  die  Universalmonarchie,  weil  es  nur 
Einzelstaaten  gibt.  Auf  kirchlichem  Gebiete  ist  der  eigentliche 
Träger  kirchlicher  Gewalt  selbst  in  Glaubenssachen  die  Gesamtheit  der 
Gläubigen. 

Selbst  literarische  Anhänger  des  Papsttums  vermochten  sich  von 
der  Macht  der  gegnerischen  Streitschriften  nicht  ganz  frei  zu  halten, 
ja  sie  übten  auch  ihrerseits  positiv  Kritik  an  den  Mißständen  und  be- 
sonders der  Verweltlichung  der  Kurie  *).  Auch  der  bedeutendste 
deutsche  Publizist,  Lupoid  vonBebenburg,  Bischof  von  Bamberg, 
hat,  so  vermittehid  er  auch  zwischen  beiden  Richtungen  steht,  Stim- 
mung für  die  Vorgänge  auf  dem  Reichstage  von  Frankfurt  vom  Jahre 
1338  gemacht.  Aber  den  Franzosen  blieb  es  wieder  vorbehalten,  am 
wirkungsvollsten  die  staatsrechtlichen  Theorien   der  letzten  Zeit  noch 


i)  Johann  XXIL   verdammte    mehrere  Sätze   in   der  Bulle  Juxta   doetrmam    bei 
Martine  II,  704 ff. 

2)  Vgl.  Bezold  a.  a.  O.  S.  346. 

3)  Daninter  der  Dominikaner  Petrus  de  Palu  de,  der  Minorit  Alvarus  Pelagius 
jnd  der  Augustiner  Augnstns  Triumphns. 


—     75     — 

einmal  an  der  Schwelle  des  groüsen  Schisma  zusammenzufassen  und, 
im  wesentlichsten  auf  Marsilius  und  Occam  fufsend,  zum  heftigsten  An- 
griff auf  das  Papalsystem  auszuholen.  Dies  geschieht  in  dem  Dialog 
zwischen  Kleriker  und  Ritter,  in  dem  sogen.  Somnium  viridarium  oder 
Sänge  du  vergier,  der  im  Jahre  1376/77  von  einem  königlichen  Rate 
abgefafst  wurde.  Der  Geistliche  vertritt  die  kaiserliche  Weltherrschaft, 
der  Ritter  die  Interessen  des  Laien,  des  Volkes,  der  Nationalität. 

Hierin  kommt  die  Umwälzung  der  Jahrhunderte  zum  Ausdruck. 
In  Frankreich  freilich  versteht  sich  diese  Entwickelung  von  selbst; 
hier  hatte  das  Königtum  am  Ende  des  XIV.  Jahrhunderts  im  Bunde 
mit  dem  Bürgertum  und  den  Legisten  gegen  den  Feudalismus  und 
dessen  notwendige  Folgeerscheinung,  den  Imperialismus,  gekämpft  und 
eine  Nation  geschaffen  ').  Die  germanisch-christliche  Abstraktion  einer 
Trennung  des  Staates  von  der  Kirche  ward  von  Marsilius  und  Genossen 
auf  heidnisch-republikanische  Weise  verneint,  dafür  aber  die  Einheit 
der  beiden  Gewalten  in  die  Allgewalt  des  Staates  und  zwar  in  die 
Demokratie,  ja  sogar  in  die  Gemeinde  verlegt.  Der  Imperialismus, 
die  Einheit  des  Weltreiches  wird  ebenfalls  geleugnet  infolge  der  breiteren 
Anteilnahme  des  nationalen  Bürgertums  an  der  Kultur  und  dem  staats- 
rechtlichen Kampfe.  So  hatte  namentlich  in  Frankreich  die  Volks- 
sprache noch  früher  als  in  Italien  die  Übermacht  über  die  mit  dem  Welt- 
reich verknüpfte  internationale  oder  lateinische  Weltsprache  gewonnen  *). 
In  Deutschland  freilich  bewegte  sich  diese  nationale  Richtung  noch 
in  bescheideneren  Bahnen.  Zwar  nahm  das  Bürgertum  einen  kräf- 
tigen Anlauf  mit  Kaiser  Ludwig  dem  Bayer  zu  einer  rein  weltlichen 
Reichspolitik.  Auch  das  Volk  wurde  selbst  von  den  Kanzeln  herab 
in  dem  grofeen  Grenzstreit  zwischen  Kaisertum  und  Papsttum  für  die 
Unabhängigkeit  des  Kaisertums  beeinflufst  *).  Die  Streitfrage  erlangte 
so  eine  gewisse  Popularität.  Daneben  ist  wieder  der  Kampf  um  die 
temporalia  sogar  im  eigenen  Hause  der  Kirche  entbrannt.  Die  Spiri- 
tualisten  der  Minoriten,  die  einst  unter  Friedrich  II.  so  fest  zum 
Papste  hielten,  finden  durch  ihre  extreme  Ansicht  von  der  Armut  der 
Kirche  einen  Bundesgenossen  an  der  weltlichen  Macht,  so  dais  der 
Kampf  auch  von  einer  Seite  unter  das  Volk  getragen  wurde,  die  sich 
mit  ihm  noch  näher  berührte,  nämUch  von  den  Bettelmönchen.  Ihre 
Lehre  von  der  Armut  der  Kirche  klang  verständlicher  zu  dem  niederen 

1)  Vgl.  Boos,  Rheinische  Siädtekultur  3.  Bd.,  S.  390. 

2)  Ebenda. 

3)  Vgl.  Mntii,  Oerm.  chron.  XIV,  S.  881:  aliquamdiu  nihil  aliud  ad  populum 
praedieabant  quam  de  imperatore  et  pontifice  etc. 


—     76     — 

Volke,  das  dadurch  noch  gröfseres  Interesse  auch  an  den  anderen 
Streitfragen  gewann.  Nur  noch  die  Einheit  in  der  Weltkirche  stand 
aufrecht.  Diese  wurde  zunächst  durch  das  Schisma  in  dem  Ober- 
haupte der  Kirche  durchbrochen  und  schließlich  durch  die  Spaltung- 
der  Gläubigen  tatsächlich  aufgelöst.  Wir  stehen  am  Ende  des  Mittel- 
alters. 

Das  Papsttum  hatte  in  dem  Grenzstreite  mit  der  weltlichen  Macht 
mit  Hilfe  der  dezentralisierenden  Partikulargewalten  die  Zentralgewalt 
des  Kaisers  entwurzelt,  aber  das  Papsttum  ging  in  das  avignonesische 
Exil.  Der  mittelalterliche  Glaubenssatz,  dafs  Rom  der  Sitz  des  saeer^ 
dotiutn  sei,  war  damit  erschüttert;  die  universelle  Stellung  des  Papst- 
tums schien  gekürzt.  Als  nun  gar  durch  zwiespältige  Wahl  zwei,  ja 
drei  Oberhäupter  der  Kirche  auftraten,  da  mufsten  die  geistlichen 
Rivalen  buhlen  um  die  Gunst  der  Fürsten;  es  mufste  ignoriert  oder 
zugestanden  werden,  was  ihre  eigene  Würde  und  Rechte  untergrub. 
Namentlich  mit  Bencfizienverleihung  wurde  grober  Unfug  getrieben. 
Die  gegenseitigen  Zensuren  der  beiden  Widersacher  bewirkten  die 
Verachtung  kirchlicher  Zuchtmittel  überhaupt,  und  die  Besteuerung 
zweier  Kurien  empfanden  die  Gläubigen  erst  recht  als  drückend.  Schon 
früher  sind  besonders  sensible  Naturen  unter  dem  Gewände  der  Weis- 
sagung und  namentlich  unter  Ludwig  dem  Bayer  die  niederen  kirch- 
lichen Gewalten,  besonders  die  armen  Mönche,  gegen  die  Verwelt- 
lichung imd  den  Reichtum  der  Kirche  aufgetreten.  Diese  Strömung 
wird  jetzt  breiter.  Eine  ganze  Reihe  gelehrter  und  würdiger  Männer, 
wie  Heinrich  von  Langenstein,  Nikolaus  von  Clemange, 
Gerson  und  viele  andere  treten  zwar  für  die  Einheit  der  Kirche  ein, 
werden  aber  unter  der  Gewalt  der  Umstände  heftige  Ankläger  der 
Mifsstände  an  der  Kurie  und  in  der  Geistlichkeit :  während  sie  iiir  die 
Einheit  der  Kirche  kämpfen,  schwärmen  sie  für  deren  Reinheit.  Mit 
der  breiteren  Öffentlichkeit  der  schismatischen  Frage  werden  aber  auch 
die  Mifsstände  öffentlicher  empfunden,  es  beginnt  das  Zeitalter  der 
Reformkonzilien.  Ein  wahrer  Wettlauf  in  der  Reform  spielt  sich  ab, 
dem  bald  Ermattung  bei  den  Häuptern  folgt,  um  bei  den  Niederen, 
„Kleinen"  um  so  heftigeres  Verlangen  zu  erregen.  Diese  „Kleinen" 
sind  ursprünglich  die  Bettelmönche  gewesen,  sie  bleiben  es  auch  noch 
in  dieser  Zeit  und  erheben  ihr  Zetergeschrei  gegen  den  Reichtum  der 
Prälaten  und  die  Gelehrsamkeit  der  Zunftgelehrtcn  von  jeher.  Aber 
ihre  Reihen  werden  nun  noch  verstärkt  von  oben,  wie  wir  gesehen 
haben,  durch  die  Gelehrten  der  Pariser  Hochschule  selbst  und  nach 
unten  durch  die  Laien.     Auch  sie  kämpften  gegen  Besitz  und  Gelehr- 


—     77     — 

samkeit  der  Kirche,  aber  im  anderen  Sinne,  nicht  um  diese  ganz  zu 
verneinen,  sondern  um  sie  selbst  zu  besitzen.  Der  Besitz  in  der  toten 
Hand  war  namentlich  den  Bürgern  um  so  mehr  ein  Dom  im  Auge, 
als  sich  die  Bevölkerung  stark  vermehrte  und  der  frühere  Abfluis  des 
Überschusses  nach  dem  Norden  und  Osten  seit  langem  stockte.  So 
entstand  eine  soziale  Frage.  Da  natürlich  mit  dem  reicheren  Besitz 
an  materiellen  Gütern  auch  die  Kirche  seither  die  Trägerin  der  Bildung 
war,  so  erfüllte  die  Laien  nun  der  Gedanke  neben  einer  Revindikation 
von  Besitz  auch  die  der  Bildung. 

Da  bot  sich  diesen  ein  neues  BUdungsmittel  dar  in  dem  Humanis- 
mus. Die  Anhänger  desselben  sind  zwar  anfangs  treu  kirchlich  gesinnt, 
aber  es  lag  in  dem  Wesen  der  neuen  Geistesrichtung  als  der  mehr 
weltlichen  Wissenschaft  gegenüber  der  scholastisch-kirchlichen  Zunft- 
gelehrsamkeit, sich  bald  in  Gegensatz  zu  dieser  imd  dem  von  ihr  ver- 
tretenen Glauben  zu  setzen,  jedenfalls  sich  an  der  Kritik  kirchUcher 
Mifsstände  zu  beteiligen.  Namentlich  waren  es  die  verschiedenen  Arten 
von  niederen  Beamten  aus  der  Kanzlei,  als  der  „Stätte,  wo  sich  die 
Säkularisation  der  Kultur  vorbereitete"  ^),  wie  Kanzler,  Notare,  Schreiber, 
Schulmeister,  Buchschreiber  und  Handschriflenhändler,  sowie  die  Juristen, 
die  sich  besonders  eifrig  dieser  „laischen  Gelehrsamkeit"  widmeten. 
Insbesondere  die  Stadtschreiber  waren  als  Halbgelehrte  so  recht  die 
Vermittler  des  Gelehrtentums ,  zwischen  Doktoren  und  Laien  *).  So 
sehen  wir  denn  auch  das  Laienelement  in  den  öffentlichen  Fragen 
immer  einflufsreicher  werden  und  namentlich  neben  den  Juristen  schon 
auf  dem  KonzU  zu  Konstanz  eine  Rolle  spielen.  Hier  fand  sich  eine 
internationale  Gesellschaft  zusammen,  deren  Mitglieder  sich  aber  ihrer 
Nationalität  wohl  bewuist  waren.  Denn  hier  wurde  zum  ersten  Male 
nicht  nach  Kirchenprovinzen,  sondern  nach  Nationen  beraten  und 
abgestimmt.  Der  nationale  Gegensatz  wurde  so  weit  empfunden,  dafs 
„bestimmte  Charaktereigenschaften  der  leitenden  Nationen  als  fest- 
stehende Schlagwörter  von  Anfang  des  KonzUs  an  gebraucht  wurden"  *), 
die  sogar  in  Predigten  vorkamen.  Diese  innige  Berührung  berufener 
Vertreter  der  verschiedenen  Nationen  hatte  politisch  für  die  Folgezeit 
trennend  gewirkt,  geistig  aber  einen  Kosmopolitismus  erzeugt,  dessen 
Bindeglied  der  aus  Konstanz  bereichert  hervorgehende  Humanismus 
darstellt.     Die  Humanisten  waren   auch   das  Eigenartige  an   der  Kon- 

i)  VgL  Boos,  m.  ft.  O.,  3.  Bd.,  S.  391. 

2)  Vgl.  Joachimsohn,  Oregor  Heimburg  (1891)  S.  114. 

3)  Fink e,  H.,  Bilder  vom  Konskmxer  Konxil  (Nenjahrsblätler  der  badischen 
historischen  Kommission  1903)  S.  91. 


—     78     — 

• 


» 


Stanzer  Versammlung ,  sie  waren  fast  alle  der  Kurie  angegliedert '), 
die  einen  näher  als  Beamte  der  Kanzlei,  die  anderen  entfernter. 
Das  Sekretariat  für  politische  Briefe  war  das  bevorzugte  Amt  der 
humanistischen  Partei.  In  jenen  Tagen  war  aber  zu  viel  politischer  Zünd- 
stoff angehäuft,  und  so  war  der  Boden  fruchtbar  für  die  Invektive  und 
das  Pamphlet.  König  und  Konzil  lieisen  dagegen  harte  Strafen  an- 
drohen, doch  war  bald  hier  bald  dort  ein  Libell  an  der  Kirchentüre 
zu  entfernen.  Mit  einer  an  die  Frivolität  der  französischen  Revolutions- 
literatur grenzenden,  ja  sogar  an  die  Titel  von  Flugschriften  aus  derselben 
Zeit  erinnernden  Blasphemie  wurden  hierbei  kirchUche  Zustände,  Kurie 
und  Päpste  behandelt  *).  Ein  Kuriale  schreibt  im  Jahre  14 15  eine  Invek- 
tive, die  erdem  Papst  Johannes  XXIII.  im  Namen  „der  Mutter  der  schönen 
!  Liebe**,  der  Kirche,  widmet  *).    Auch  Sigismund  wird  in  Invektiven,  Pre- 

digten und  Tagebüchern  bald  für  sein  unermüdliches  Wirken  um  die  Union 
gepriesen,  bald  aber  am  Ende  des  Konzils  ebenso  heftig  verhöhnt*). 
Diese  aufregenden  Tage  von  Konstanz  erlebte  der  ebenfalls  aus  dem 
Stande  der  Schreiber  hervorgegangene  Bischof  von  Worms  Matthäus 
von  Krakau  ("j*  1410)  nicht,  obschon  er  schon  an  der  lange  vorher 
herrschenden  Aufregung  über  die  sittlichen  Zustände  und  der  Einheit 
der  Kirche  hervorragenden  Anteil  genommen  hatte.  Im  Gegensatz 
zu  den  Humanisten  und  Juristen  wollte  er  die  Erneuerung  der  Kirche 
durch  sittliche  Reform  und  diese  „ins  Grenzenlose  erweitern**  *).  „Sein 
Radikalismus  verstiefs  gegen  den  Geist,  die  Verfassung  und  die  Organi- 
sation der  katholischen  Kirche,  und  so  arbeitete  er  unbewulst  an  dem 
destruktiven  Werk  der  Auflösung  der  kirchlichen  Kultur  mit.*' 

Mit  dem  ausgehenden  Mittelalter  beginnt  das  politische  Leben 
sich  infolge  der  Schwäche  der  Zentralgewalt  in  die  Territorien  zurück- 
zuziehen. Der  staatsrechtliche  Grenzstreit  wird  mehr  privatrechtlich, 
der  Gegensatz  von  Staat  und  Kirche  erweitert  sich  zu  dem  zwischen 
Geistlich  und  Weltlich.  Es  beginnen  die  Emanzipationsversuche  der 
Laien  gegen  die  geistliche  Gerichtsbarkeit  und  gegen  wirtschaftliche 
Vorrechte   der  Kirche    in   den  Städten.     So   wird   denn   mit  dem   be- 

i)  Ebenda  S.  62. 

2)  Vgl.  ebenda,  S.  85.  Es  gab  eine  Passto  (Leidensgeschichte)  m  curia  Romana 
seeundum  aurum  et  argentunif  eine  Messe  secundum  simontaeos,  ein  reeeptum  pro 
stomacho  8,  Peiri/ 

3)  Ebenda  S.  86.  Dieses  Stück  soll  noch  übertrofTen  werden  von  der  sogen. 
Canonixacio  Johannis  XXIIL 

4)  S.  86  and  90. 

5)  Vgl.  Boos  a.  a.  O.,  2.  Bd.,  S.  252  nnd  Th.  Sommerlad,  Über  das  Leben 
und  die  Schriften  des  Maithaeus  van  Krakau  (Hallesche  Diss.  1891). 


—     79     — 

ginnenden  XV.  Jahrhundert  die  Publizistik  immer  breiter  in  bezug*  auf 
die  Teilnahme  sowohl  als  auch  in  bezug  auf  den  Stoff.  Sozial-  und 
kirchenpolitische  Fragen  werden  von  Gelehrten  und  Laien  erörtert.  Auch 
jetzt  geht  die  literarische  Bewegung  von  Paris  aus,  und  hiermit  erlangte 
die  Pariser  Universität,  nachdem  sie  schon  längst  ihre  wissenschaftliche 
Blüte  überschritten  hatte,  den  Höhepunkt  ihrer  kirchenpolitischen  Be- 
deutung. 

Von  hier  breitet  sich  die  antihierarchische  Strömung  auf  die  übrigen 
Hochschulen  aus.  In  Deutschland  übernimmt  sie  an  erster  Stelle  die 
Universität  Erfurt  und  wird  so  die  Pflanzstätte  der  neuen  Ideen.  Als 
deren  bedeutendster  Vertreter  ist  der  Minoritenprovinzial  von  der 
Minoritenprovinz  Sachsen,  Matthias  Döring^),  erkannt  worden.  Um 
ihn  scharten  sich  die  modemi  d.  h.  die  Anhänger  Occams  und 
Genossen,  gegenüber  den  anUgui  d.  h.  den  Thomisten  und  Scotisten 
mit  ihrem  freisinnigen,  entschieden  reformatorischen  und  mit  den 
hierarchischen  Gewalten  nicht  sonderlich  befreundeten  Einflufs  ^).  Aber 
alle  hatten  die  beste  Absicht,  die  Einheit  der  Kirche  wiederherzustellen^ 
aber  das  Prinzip,  das  sie  zur  Heilung  dieses  Schadens  anwandten^ 
wirkte  destruktiv  auf  das  wenn  auch  geeinigte  Papsttum.  Wie  einst 
Gregor  VII.  die  auf  dem  römischen  Rechte  beruhende  Grundanschauung 
von  der  Volkssouveränität  zum  Angriff  auf  die  weltliche  Macht  be- 
nutzte und  Marsilius  und  Genossen  wieder  umgekehrt  gegen  die 
geistliche  Gewalt,  so  benutzte  sie  jetzt  sonderbarerweise  die  Kirche 
zur  Herstellung  der  Einheit  in  der  päpstlichen  Gewalt. 

In  der  Notlage  des  Schismas  mufste  man  zu  außergewöhnlichen 
Mitteln  greifen:  da  das  positive  Recht  versagte,  ging  man  auf  die 
Prinzipien  des  natürlichen  Rechts  zurück.  Nach  diesem  aber  beruhte 
die  Fülle  der  kirchlichen  Gewalt  nicht  mehr  auf  dem  Papste,  sondern 
auf  der  Gesamtheit  der  Gläubigen,  die  auf  dem  allgemeinen  Konzil 
vertreten  sind  ').  Der  Fundamentalsatz  der  Epistüla  pacis  des  Konrad 
von  Gelnhausen  ist  durchaus  nach  dem  Muster  des  Defensor  pacis 
gebildet.  Das  Volk,  die  Gesamtkirche,  vertreten  durch  das  allgemeine 
Konzil,  ist  souverän,  ist  unfehlbar  *).   Hiermit  ist  Konrad  von  Gelnhausen 


i)  Albert,  P.  Matthias  Döring^  'ein  deutscher  Theologe  und  Chronist  des 
15,  Jahrh,  (Münchener  Diss.  1S89).  S.  4.  Er  gehörte  zn  denjenigen,  die  die  Reform 
von  der  ganzen  Kirchengemeinde  vollzogen  wissen  wollten.     Ebenda  S.  26. 

2)  Ebenda  S.   13  f. 

3)  Vgl.  Kneer,  Die  Entstehung  der  konxiliaren  Theorie  in  6m  ..RoiDischea 
Quartalschnft ",  Supplementheft,  1893,  S.  53. 

4)  Ebenda  S.  55. 


—     80     — 

der  Beg^nder  der  sogenannten  konziliaren  Theorie  noch  vor  Heinrich 
von  Langenstein.  Dieser  übernimmt  nur  die  von  jenem  g-epxagtc 
Theorie,  gewinnt  ihr  aber  in  seiner  episttda  cancUii  pacis  noch  eine 
neue  Seite  ab.  Schon  vor  ihm  hatten  Schriftsteller  die  sittlichen  \Cis- 
stände  in  der  Kirche  geschildert,  aber  er  erblickt  zuerst  einen  kau- 
salen Zusammenhang  zwischen  Schisma  und  Mifsständen;  er  stellt 
-dem  Konzil  nicht  nur  die.  negative  Aufgabe,  die  Vielheit  der  Hanpter 
zu  beseitigen,  sondern  verlangt  von  ihm  auch  positiv  die  sittliche  Er- 
neuerung. Die  eigentliche  Bedeutung  dieses  Mannes  liegt  also  darin, 
dafis  er  „aus  persönlicher  Erfahrung  heraus,  mit  der  ganzen  Lebhaftig- 
keit seines  Naturells  die  Pfeile  seiner  Kritik  gegen  die  vielfachen  Miß- 
brauche in  der  Kirche,  gegen  die  grofee  Sittenverderbnis  an  Haupt 
und  Gliedern  schleudert,  zu  deren  Reform  es  dringend  die  Abhaltung 
allgemeiner  und  besonders  auch  von  Provinzialsynoden  bedürfe"  *). 

Gerson  bildet  die  Lehre  vom  natürlichen  Recht  fort  bis  zum  Ra- 
dikalismus. Das  Wohl  der  Gemeinsamheit  hat  zu  entscheiden;  deshalb 
haben  auch  weltliche  Herrscher  die  Pflicht,  das  Konzil  zu  berufen,  ja 
selbst  ein  Bauer  oder  ein  altes  Weib*).  Auch  Dietrich  von  Niem 
45teht  auf  dem  Boden  des  Marsilius,  ohne  in  dessen  Grundsatz  der  Volks- 
souveränität tiefer  einzudringen  *).  Er  steht  einsam  am  Wege  und  er- 
wartet alles  Heil  von  einem  tatkräftigen  Kaisertum.  Ebenso  vertreten 
Peter  d'Ailly  und  Francesco  Zabarella  mit  aller  Festigkeit 
den  Gedanken,  dals  ein  allgemeines  Konzil  auch  ohne  päpstliche  Be- 
rufung zusammentreten  könne.  Der  bedeutendste  Traktat  des  letzteren  De 
schismcUe  (1403 — 1408)  führt  unmittelbar  vor  die  Tore  Pisas,  wo  die  kon- 
ziliare  Theorie  zum  ersten  Male  konkrete  Gestalt  gewinnt.  Zu  Konstanz 
wird  sie  in  der  vierten  und  fünften  Sitzung  zum  Beschlüsse  erhoben, 
^o  da(s  der  Satz  von  der  Superiorität  des  Konzils  über  den  Papst  ins 
Kirchenrecht  zu  dringen  sucht  und  weiter  hinaus  über  die  Baseler 
Synode  bis  zur  Reformation  wirkt.  Der  ganze  Superioritätsstreit  ist 
insofern  für  eine  allgemeine  Betrachtung  wichtig,  weil  in  ihm  sich  die 
Lehre  von  der  Volkssouveränität  bis  zum  krassen  Radikalismus  aus- 
tobt. Das  allgemeine  Konzil,  zusammengesetzt  aus  Geistlichen  und 
Laien,  das  also  eine  Vertretung  aller  Gläubigen  darstellt,  steht  über 
dem  Papste.  Wie  einst  gelegentlich  des  Zwistes  über  die  Superiorität 
zwischen  Kaisertum  und  Papsttum,  zwischen  Staat  und  Kirche  diese 
demokratische  Lehre  entstanden  ist,    so    wird   sie  jetzt  innerhalb    der 

1)  Ebenda  S.  82. 

2)  Vgl.  Bezold  ft.  a.  O.  S.  355. 

3)  Vgl.  Erler,  Dietrich  von  Niem  {1887)  S.  418. 


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Kirche  selbst  angewandt  und  zwar  zum  ersten  Male  praktisch,  um  ein 
einheitliches  kirchliches  Oberhaupt  zu  bekommen.  Zur  Wiederher- 
stellung dieser  Einheit  hält  auch  der  bedeutendste  Publizist  des  Baseler 
Konzils,  Nikolaus  von  Kues,  an  dem  Satze  der  Volkssouveränität 
fest,  so  sehr  er  politisch  die  2^ntralisation  anstrebt.  Mag  er  denn 
auch  später  seine  Einseitigkeit  eingesehen  und  die  Halbheit  des  kirch- 
lichen Demokratismus  bereut  haben,  tatsächlich  hat  er  sich  zu  dem 
wieder  zentralistischen  Papsttum  Eugens  IV.  geflüchtet.  In  seiner  Con- 
wrdafUia  catholica  will  er  den  Einklang,  wie  er  ihn  im  Hierarchicus 
ordo  vorgeschrieben  sieht,  wiederherstellen  zwischen  Staat  und  Kirche, 
zwischen  der  Kirche  und  ihren  Organen,  namentlich  dem  Konzil,  und 
zwischen  dem  Reich  und  seinen  Gewalten.  So  lebt  in  diesem  Werke 
der  Gedanke  von  der  alten  Einheit  und  Universalität  in  seiner  traditio- 
nellen Gestalt  wieder  auf,  aber  daneben  stehen  schon  die  Wahrzeichen 
der  modernen  Entwickelung,  die  durch  Übernahme  der  aristotelischen 
Lehre  begründete  Teilnahme  des  Volkes  an  Recht  und  Gesetz  in  Staat 
und  Kirche.  Nikolaus  von  Kues  ist  der  Prophet  des  modernen  Kon- 
stitutionalismus geworden. 

Weltliche  und  geistliche  Gewalt  stammt  vom  Volke,  denn  alle 
Menschen  sind  von  Natur  gleich  frei  und  mächtig.  So  geht  der  Kaiser 
nur  aus  der  Wahl  der  Kurfürsten  hervor,  die  im  Namen  der  Gesamt- 
heit handeln.  Damit  stellt  sich  Nikolaus  auf  den  Boden  der  Tat- 
sachen von  1338.  Aber  auch  in  die  weitere  Vergangenheit  Deutsch- 
lands vertieft  er  sich,  wenn  es  gilt,  die  Schäden  seiner  Zeit  aufzuspüren 
und  Grundlagen  für  die  Reform  ausfindig  zu  machen.  Das  Grundübel 
ist  nach  ihm  die  Schwächung  der  Zentralgewalt  und  die  damit  zusammen- 
hängende Rechtlosigkeit.  Er  kennt  das  Bestreben  der  Kurfiirsten- 
oligarchie,  sich  an  Stelle  der  Zentralgewalt  zu  setzen,  und  tadelt  deren 
Raub  von  Reichsgut  und  Regalien.  An  diese  Rechtsverletzung  knüpft 
«r  die  berechtigte  Voraussage  einer  bürgerlichen  Revolution.  Die  Auf- 
hebung des  Fehderechts  durch  Verkündung  eines  ewigen  Friedens, 
die  dadurch  notwendige  Einteilung  des  Reiches  in  zwölf  Kreise  mit  je 
«inem  kaiserlichen  Gerichtshof^)  und  besoldeten  Richtern  sollen  die 
Rechtssicherheit  heben.  Über  den  kaiserlichen  Gerichten  steht  der 
Reichstag,  und  darin,  nämlich  in  einer  der  Gesamtheit  verantwortlichen 
Zentralgewalt,  die  aus  einer  bedingten  aber  starken  Volksvertretung 
Gesteht,   liegt  der  Schwerpunkt  des  ganzen  Reformprojektes.     Kaiser 

i)  Vgl.  Conc  cath.  L  3,  cap.  29 — 31  and  33  und  34.  Ed.  Schardias,  De  furis- 
dietiane,  S.  465—676.  Stampf,  Die  politischen  Ideen  des  Nikolaus  von  Kues, 
<Köln  1865)  S.  59—68. 

7 


—     82     — 

und  Reich  sollen  also  gestärkt  werden,  aber  nicht  in  „  der  alten  Bedeutung 
des  Wortes",  sondern  im  modern  konstitutionellen  Sinne.  Die  Forderung 
eines  stehenden  Reichsheeres,  das  durch  die  kaiserlichen  Zölle  und 
eine  Reichssteuer  unterhalten  werden  soll,  bezeichnet  eine  einheitliche 
Finanz-  und  Heeresreform. 

Wir  sehen  also,  dafe  der  Grenzstreit  innerhalb  der  kirchlichen 
Organe,  zwischen  Papsttum  imd  Konzil  zwar  ergebnislos  für  die  Eni- 
Wickelung  der  Hierarchie  verlief,  denn  Papst  Eugen  IV.  vernichtete 
den  Konzilsbeschlufe  von  der  Superiorität  über  den  Papst  durch  eine 
Bulle,  weil  er  erkannte,  da(s  die  Männer  in  Basel  mit  Gedanken  spielten, 
die  leicht  einen  Brand  von  unabsehbaren  Folgen  hätten  entzünden  können, 
aber  das  Beispiel  der  Kirche  blieb  nicht  ohne  Wirkung,  wenn  diese 
sich  auch  auf  staatlichem  Gebiete  zeigte;  in  beiden  Fällen  bietet 
freilich  die  politische  Aufklärung  das  Material  für  die  Aufstellung  der 
entsprechenden  Ideen.  Wie  die  Gewalt  des  Papstes  beschnitten  werden 
sollte  durch  die  Steigerung  der  Gewalt  der  aligemeinen  Konzilien,  der 
Bischöfe  und  der  von  ihnen  berufenen  Provinzial-  und  Diözesansynoden, 
so  sollte  politisch  der  Reichstag  die  Machtvollkommenheit  des  Kaisers 
mindern  und  eine  neue  gestärkte  Zentralgewalt  darstellen,  allerdings 
eine,  die  durch  Heranziehung  niederer  Faktoren  (aller  Fürsten,  Ritter 
und  Städte)  eine  neue  Gestalt  annehmen  würde.  Unzweifelhaft  ist 
dieses  Stichwort  und  andere,  wie  Kreiseinteilung,  ewiger  Friede,  Reichs- 
heer und  Reichssteuer,  kaiserliches  Gericht  und  natürliches  Recht,  durch 
NUcolaus  von  Kues  geprägt  worden,  um  bald  als  Schlagwörter  in  ak- 
tuelle Reformprogrammc  überzugehen. 

Zugkräftig  wurden  die  Stichwörter  erst,  als  sie  in  die  Reihen  der 
niederen  Prälaten  und  Kleriker  und  von  hier  aus  unter  die  Laien 
drangen.  Hier  führten  sie  zum  wildesten  Radikalismus,  denn  die  kühn 
gestimmte  Linke  geriet  durch  die  leisesten  Versuche  einer  Reaktion 
in  die  heftigste  Opposition.  In  ihrem  Sturm  und  Drang  nach  Reform 
huldigte  sie  einem  ausgearteten  Kritizismus.  Einer  ihrer  Vertreter, 
Hermann  Zoestius  von  Marienfeld  ^),  gibt  der  hochgehenden  Erregung 
bezeichnenden  Ausdruck,  wenn  er  in  seinem  Traktate  De  vocibus  de- 
finitivis  in  conciliis  generalibus  sechs  charakteristische  Gründe  für  die 
Zulassung  auch  der  niederen  Kleriker  anführt.  Wenige  Hohe  lassen 
sich  eher  irreleiten  als  viele  Niedere;  den  Geringeren  hat  Gott 
mit  Vorliebe  sich  offenbart.  Der  Papst  ist  nur  der  Verwalter  der 
Kirche;  wenn  es  die  Kirche  will,  so  ist  er  kein  Verwalter  mehr.    Der 

I)  Vgl.  Fr.  Zurbonscn  in  Wcstd.  Ztschr.,  XVlll.  Jahrg.,   1899,  S.   146^. 


—     83     — 


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t  letzte  und  stärkste  Trumpf  der  Baseler  Ultras  aber  war:  „Möge  das 
c  Hündlein  bellen *S  ruft  Hermann  aus,  „damit  die  groisen  Hunde  wachen!'* 
Die  Zulassung  der  niederen  Kleriker  wurde  Beschluß,  und  damit  zog 
eine  groise  Schar  auch  Gelehrter  und  Laien  in  das  Konzil  ein.  Hier- 
mit hatte  das  niedere  Element  der  Geistlichen  und  der  Laien  den 
ersten  Sieg  errungen;  teils  von  Unmut  über  die  kirchlichen  Zustände 
namentlich  an  der  Kurie  und  bei  den  höheren  Prälaten,  teils  vom 
Emanzipationstrieb  geleitet,  wollten  sie  ein  ernstes  Wort  am  rechten 
Ort  mitreden  und  auf  jeden  Fall  für  geistig  gleichwertig  gelten.  Darin 
offenbart  sich  der  Zeitgeist  des  beginnenden  XV.  Jahrhunderts  aufs 
glänzendste,  dais  eine  gröfsere  Masse  gebildeter  Laien  Anteil  zu  nehmen 
sucht  nicht  nur  an  der  Bildung  im  allgemeinen,  sondern  auch  an  öffent- 
lichen Zeit-  und  Streitfragen.  Der  kritische  Trieb  der  Laien  fangt  an, 
zu  Gericht  zu  sitzen  über  die  bisher  stets  auf  aristokratischen  Ursprung 
zurückgehenden  geistigen,  staatlichen  und  kirchlichen  Erzeugnisse  und 
Einrichtungen  und  wirkt  hier  auflösend  bis  zur  Reformation. 

Die  Auflösung  beginnt  namentlich  mit  den  Reform-  und  Konzils- 
rufen der  Pariser  Hochschule,  die  auch  auf  deutschen  Universitäten, 
namentlich  in  Erfurt,  Widerhall  fanden.  Diese  verpflanzten  die  Rede- 
und  Disputierkunst  des  Katheders  über  kirchliche  Miisstände  auf  die 
Kanzeln  der  Dome  zu  Pisa  und  Konstanz  ').  Von  da  drangen  die 
freisinnigen  Ideen  unter  das  Volk.  Daneben  erhoben  aber  die  armen 
Mönche  am  lautesten  ihre  Stimme  über  den  Luxus  der  höheren  und 
den  Leichtsinn  und  die  Laster  des  niederen  Weltklerus.  Die  zer- 
setzende Gelehrsamkeit  der  Pariser  Theologen  und  Kanonisten  ist  es, 
die  im  Verein  mit  den  „Lamentationen  der  mönchischen  Naturen  durch 
Rede  und  Schrift**  den  freisinnigen  Ideen  zu  gröfserer  Popularität  ver- 
helfen. Das  Konzil  zu  Basel  setzt  in  dieser  Beziehung  nur  das  Kon- 
stanzer fort;  eme  Reihe  voö  Schmäh-  und  Flugschriften  zum  TeU 
ofGzieller  Natur  werden  verbreitet,  ja  Eugen  IV.  hat  einige  selbst 
förmlich  bulliert.  Man  bezeichnete  sie  deshalb  mit  den  Anfangsbuch- 
staben, z.  B.  Detis  novit,  Moyses  und  ähnlich.  Andere,  die  sich  w^en 
ihrer  Gegnerschaft  nicht  mit  der  herrschenden  kirchlichen  Autorität 
umkleiden  konnten,  nahmen  deshalb  eine  höhere  für  sich  in  Anspruch, 
nämüch  die  Prophet ie.  So  entsteht  eine  Menge  von  Pamphleten 
von  Privatpersonen  oder  von  „ fanatisierten  Mönchen**,  die  über  das 
Schicksal  der  Kirche  nach  den  sieben  Weltreichen  der  Propheten 
oder   den  Bildern   der  Apokalypse  weissagten,   oder   von   „bezahlten 


I)  Vgl.  G.  Voigt,  Enea  Süvto  de  Piecohmini,  i.  Bd.  (1856),  S.  i86ff. 

7* 


—     84     — 

Schöngeistern,  die  mit  einem  bewunderungswürdigen  Wortreicbtum 
zu  schimpfen  wufsten,  oder  von  fürstlichen  Advokaten'*.  Nachdem 
nun  gar  die  Partei  Eugens  Basel  verlassen  hatte,  folgte  dem  Wort- 
krieg ein  ebenso  heftiger  Streit  mit  der  Feder.  Zu  dieser  Rührigkeit 
kam  noch  das  rege  von  dem  Humanismus  ausgehende  und  gefor- 
derte Interesse  niederer  Kreise  an  Aufzeichnung  und  Sammlung-  von 
Tagesereignissen.  Die  diplomatische  Korrespondenz  *)  war  in  jener 
Zeit  schon  hoch  entwickelt;  manche  Aktenstücke  waren  ebenfalls  als 
Pamphlet  und  Flugschriften  gedacht,  um  den  Verfasser  vor  der  Öffent- 
lichkeit zu  verteidigen  oder  seine  Gegner  anzuklagen.  Namentlich 
war  „die  Versendung  von  Aktenkopien  offenbar  zugleich  ein  Mittel 
der  Nachrichtenverbreitung'',  vielleicht  ein  besseres  als  die  moderne 
Art.  Auf  diesem  Wege  erfolgte  denn  auch  die  bessere  Orientierung 
der  Laien  über  die  kirchlichen  Reformfragen,  nachdem  diese  in  über- 
wiegender Anzahl  zuerst  als  Vertreter  der  Fürsten  und  des  Königs 
immer  mehr  Zutritt  zu  den  Konzilsverhandlungen  erlangten.  Aneas 
will  schliefslich  „Köche  und  Stallmeister  zu  Rate  sitzen  gesehen 
haben " ').  Aber  ebenso  wichtig  als  unleugbar  war  es ,  daCs  bald 
Schreiber  und  Kopisten  zu  dieser  Ehre  gelangten').  So  ver- 
steht man  denn  auch  leicht,  wie  der  Laie  und  der  Stadtschreiber 
Valentin  Eber  von  Augsburg  als  städtischer  Diplomat  teils  aus  der 
diplomatischen  Korrespondenz,  teils  aus  persönlichen  Beziehungen  zu 
KonzUskreisen  Papiere  erhalten  konnte,  die  er  zu  dem  ersten  Teile  seiner 
sogenannten  Reformation  Kaiser  Sigmunds,  der  bedeutendsten  und  ersten 
deutschen  Reformschrift  des  XV.  Jahrhunderts,  zur  Reform  des  geistlichen 
Standes  benutzte  *),  Dafs  der  Verfasser  dieses  Reformprojekt  unter  dem  Na- 
men des  Kaisers  Sigmund  ausgehen  liefs,  hat  seine  mannigfachen,  aber  guten 
Gründe.  Auf  einen  nur  sei  in  diesem  Zusammenhange  hingewiesen  ^). 
Sigmund  berauschte  sich  an  der  Mission  des  universalen  Kaiser- 
tums, griff  schon  in  die  groise  Reformbewegung  zu  Konstanz  kräftig- 
ein  und  wurde  deshalb  als  neuer  Moses  und  David  gefeiert^).  In- 
folge seines  Reformeifers  kam  er  aber  bald  in  schlechten  Ruf  bei  den 


i)  VgL  Haller,  Ooneüium  Basiliense,  2.  Bd.,  S.  äff. 

2)  VgL  Voigt,  I.  Bd.,  S.  108. 

3)  Ebenda  S.  153. 

4)  Vgl.  meine  AnsfUhnuigen  in  Die  Flugaehrift  *0nu8  eeclesiad  mit  einem  Anhang 
über  aoxial'  und  kirchenpolitische  Prophetien,    (Giefsen  1901«) 

5)  Andere   sind  in   meinem   Aafsatze  über    die   Reformation    m   dieser  Zeitschrift 
4.  Bd.,  S.  I  ff  aa^eföhrt. 

6)  Vgl  Y.  Bezold  a.  a.  O.  S.  583  and  Finke  a.  a.  O.  S.  91. 


—     86     — 

Geistlichen,  die  ihn  als  den  Vorläufer  des  Antichrists  bezeichneten 
und  in  ihm  den  grofsen  Züchtiger  der  verderbten  Kirche  erblickten. 
Dies  trug  denn  dazu  bei,  dafs  die  Laien  ihn  immer  mehr  glorifi- 
zierten und  neuen  Mut  gewannen,  immer  lauter  nach  Reform  zu 
schreien.  Als  deshalb  bei  der  Reformberatung  über  Simonie  und 
Konkubinat  die  Prälaten  heftigen  Widerstand  erhoben,  da  sind  es 
die  Laien,  die  drohen:  Nisi  reformetis  vos,  nos  reformabimus  ^). 
Als  diese  Bewegung  dann  immer  mehr  die  niederen  Kreise  ergriff, 
galt  er  auch  bald  hier  als  der  Beschützer  der  Kleinen  und  Armen. 
So  erklärt  sich  denn  auch  der  hervorstechende  Zug  jener  Schrift,  dafe 
sich  der  Verfasser  wiederholt  als  der  Dolmetsch  der  Kleinen,  der 
Laien  und  namentlich  des  Städtebürgertums  gegenüber  den  Gelehrten 
und  Prälaten,  ,,die  sich  wider  die  Reform  sperren",  aufspielt.  Aber 
auch  einen  anderen  Gegensatz  kehrt  der  Verfasser  hervor ,  nämlich 
den  gegen  die  Gewaltigen,  Fürsten  und  namentlich  Kurfürsten.  Das 
hat  seinen  kirchenpolitischen  Hintergrund.  Die  kosmopolitische  Idee 
einer  Reform  der  Gesamtkirche  zerfiel  bald  in  ihre  nationalen  Faktoren. 
In  Frankreich  wurde  die  Reform  auf  der  Nationalsynode  zu  Bourges 
(7.  Juli  1438)  gelöst,  in  Deutschland  dagegen  kam  es  zu  keinem 
nationalen  Zusammenschlufe  in  dieser  Frage.  Die  Kurfürsten  fuhren 
sich  unter  der  Leitung  der  Rechtsdoktoren  GregorHeimburg  und 
Joh.  V.  Lysura  in  der  unfruchtbaren  Neutralität  fest.  Das  mufste 
die  weiten  Kreise  der  Laien,  namentlich  der  Reichsstädter  in  Er- 
regung bringen  und  sie  von  neuem  aufstacheln,  selbst  die  Reform  in 
die  Hand  zu  nehmen.  Ein  derartiger  Versuch  liegt  in  der  genannten 
deutschen  Reformschrift  vor.  Aber  auch  die  Aufdringlichkeit  der 
niederen  Kreise  auf  dem  Baseler  KonzU  klingt  daraus  deutlich  hervor, 
wie  ich  schon  oben  das  charakteristische  Wort  eines  der  Baseler 
Ultras  anführen  konnte,  dafs  „wenige  Hohe  können  eher  irregeleitet 
werden  als  viele  Niedere**  oder  „den  Geringen  hat  Gott  der  Herr 
sich  mit  Vorliebe  offenbart**.  So  legt  auch  Äneas  Silvius  in  seinen 
Commentarii  de  conc.  Bas.  (S.  17,  18  und  27 — 30)  dem  Kardinal 
d'Allmend  die  Worte  in  den  Mund:  „Die  Weisheit  wohnt  öfters  in 
schmutzigen  Kleidern  als  in  gestickten  Gewändern.**  Das  bezeichnet 
das  allmähliche  Überhandnehmen  der  Klosterbrüder,  Graduierten  und 
Laien  bis  herab  zu  den  niedrigsten  Ständen  *) ,  denen  gegenüber 
Bischöfe  und  Prälaten  immer  mehr  zurücktreten.    Auch  der  Verfasser 


1)  Vgl.  Manumenta  caneüiorum  generaiiufn  2.  Bd.,  S.  693.     Vgl.  anch  Deutsche 
GcschichtsbläUer,  4.  Bd.  S.  55  Anm.  2  und  Historische  Vierteljahrschrift  5.  Bd.,  S.  476. 

2)  Vgl.  oben. 


—     86     — 

der  Reformation  Kaiser  Sigmunds  betont  wiederholt ')  die  Bedeutung^ 
der  „Kleinen'*  in  einer  Art  und  Weise,  die  besagt,  dafs  er  nicht  nur 
die  Städtebürger  als  die  Kleinen  denkt,  die  als  berufene  Reformer 
dastehen;  vielmehr  soll  sich  auch  ein  „kleiner  Geweihter"  als  der  zu- 
künftige Reformkaiser  an  die  Spitze  der  Bewegung  stellen.  Der  Be- 
griff der  ,, Kleinen"  ist  also  bereits  ein  Schlagwort.  Wir  müssen 
deshalb  nach  den  Quellen  suchen,  in  den  dieser  Begriff  zuerst  literarisch 
auftaucht,  und  finden,  dafs  es  anfänglich  in  den  Prophetien  als  Stichwort 
verwendet  wird  und  da(s  noch  eine  Reihe  anderer  Stichwörter  aus  den 
Prophetien  als  Schlagwörter  jetzt  immer  mehr  an  Macht  gewinnen. 

„  Politisch  sind  die  Propheten  nur  als  Demagogen  zu  verstehen. "  ^ 
Wie  die  Mystik  nach  religiös -sittlicher  Aufklärung  strebt  und   dabei 
dem  Laien  die  Zunge  löste  zur  religiös -sittlichen  Kritik,  so  hat   die 
Prophetie,   die  sich   der  Offenbarung  als   Mittel   bediente,   der  herr- 
schenden Gewalt  gegenüber  dem  Laientum   den  Mut  zur  sorial-    und 
kirchenpolitischen  Aufklärung  gegeben  •).     Die  beiden  Hauptvertreter 
der  früheren  mittelalterlichen  Prophetie  sind  Joachim  und  Hilde- 
gard: „Mit  ihnen  setzt  die  Prophetie  im  XII.  Jahrhundert,   dem  kri- 
tischen der  romanisch -germanischen  Welt,   an  zwei  Kulturzentren   in 
der  reichentwickelten  Städtekultur  am  Rhein  und  in  Süditalien  in  einer 
für  das  Mittelalter  besonders  bestimmenden  Weise   ein"  *).     Mit  dem 
XIV.,   namentlich   aber  im  XV.  und  Anfang  des  XVI.  Jahrhunderts 
geniefst    die    nordische  Seherin  Birgitta    ebenso   grofses   Ansehen. 
Die   mehrfache   Drucklegung  ihrer  Offenbarungen  *)    und    namentlich 
eine   Anthologie    daraus,    Ontis   mundi   genannt,    die    lateinisch    und 
deutsch  erschien,  trugen  viel  zur  kirchenpolitischen  Aufklärung  bei. 

Unter  dem  Einfluis  der  Minoriten  wurden  die  sozial-  und  kirchen- 
politischen Erwartungen  namentlich  der  joachimitischen  Prophetien 
gewissermaisen  in  ein  Grundschema  von  Stichwörtern  gebracht:  „Die 
Kirche  •)  ist  durch  ihren  überreichen  Besitz  verderbt.  Die  Habgier 
hat  alle  Stände  ergriffen,  besonders  den  Klerus.  Der  weltliche  Be- 
sitz wird  deshalb  der  Kirche  genommen  und  mit  ihm  der  Klerus 
hart  verfolgt  werden.    Dies  soll  eintreten  in  einer  schweren,  nahe  be- 


i)  Die  Stellen  sind  in  dem  Anhang  tu   meiner   Schrift  Die  Flugsehrift  *Onu9 
eedesie    S.  80  angefahrt. 

2)  Treitschke,  Politik.     2.  Bd.  (1898),  S.  26. 

3)  Näheres  in  meinem  Anhang  S.  70  ff. 

4)  Ebenda  S.  72. 

5)  Die  Aasgaben  sind  in  meinem  Anbang  zusammengestellt  S.  75  Anm.  7  f. 

6)  Vgl.  meinen  Anhang  S.  77. 


—     87     — 

vorstehenden  Krisis,  der  Übergangszeit  von  der  zweiten  zur  dritten 
und  letzten  Weltära.  In  dieser  letzten  und  neuen  Zeit  herrschen  die 
Kleinen.  Diese  sind  von  vornherein  Gegner  der  Zunftgelehrten,  der 
Dekretisten,  werden  aber  unter  dem  Einflufs  der  Spiritualen  die 
Armen."  Aus  ihnen  sollen  auch  die  vier  Engelpäpste  hervorgehen, 
die  allem  weltlichen  Besitz  entsagen  und  befehlen  werden,  „das 
Evangelium  zu  predigen".  Dann  wird  Gerechtigkeit  und  Friede 
herrschen,  und  ein  Hirt  und  ein  Schafstall  wird  sein.  So  ist  denn 
mit  der  immer  mehr  zunehmenden  Verbreitung  dieser  utopistischen 
Ideen  jeder  Reformversuch,  der  von  einem  Laien  kommt  oder  sich 
an  die  Laien  wendet,  stets  mit  der  Prophetie  verknüpft.  Aus  ihr 
schöpft  der  kritische  Trieb  der  Laien  jenen  verwegenen  Mut  zur 
sozial-  und  kirchenpolitischen  Aufklärung,  aber  auch  manchen  be- 
fruchtenden Gedanken.  Die  erste  breite  Anteilnahme  der  Laien  an 
der  Reformbewegung  zur  Zeit  des  Baseler  Konzils  zeigt  das  sofort. 
Viele  Flugschriften  gingen  unter  prophetischen  Namen  aus,  wie  wir 
oben  sahen,  aber  namentlich  das  Ansehen  Hildegards  wurde  mit  Vor- 
liebe benutzt  ^).  So  hat  auch  die  Reformation  des  Kaisers  Sigmund 
die  utopistische  Ideologie  des  Prophetentums  mit  ihren  geläufigsten 
Begriffen  in  sich  aufgenommen*).  „Eine  Neuordnung  steht  bevor, 
die  nach  einer  Katastrophe  durch  einen  , kleinen  Geweihten*  durch- 
gefiihrt  wird."  Als  Reformentwurf  eines  Laien,  der  sich  an  Laien 
wendet,  vornehmlich  an  die  Reichsstädter,  konnte  es  bei  dem  unent- 
wickelten mittelalterlichen  Denken  dieser  höchsten  Legitimation  durch 
die  Offenbarung  nicht  eintraten.  So  konservativ  seine  Vorschläge 
auch  im  einzelnen  sind^),  wirkt  doch  der  Geist,  der  daraus  spricht, 
insofern  eigenartig,  als  es  der  Geist  der  freimachenden  Stadtlu/t  ist, 
der  nicht  nur  um  die  durch  das  Widerspiel  der  Gewaltigen  und  Prä- 
laten in  Trümmer  gehende  Reform  ringt,  sondern  der  gerade  damals 
sogar  um  seine  Existenz  kämpft  und  deshalb  hochpolitisch  gestimmt 
ist.  Alle  Welt  fordert  der  Verfasser  auf  zum  Bekenntnis  der  städtischen 
Freiheit  in  dem  Glauben,  dafe  jeder  lieber  frei  sein  möchte  als  leib- 
eigen. Um  dieser  Proklamation  der  Freiheit,  gegen  die  sich  die 
Herren  gerade  zur  Abfassungszeit  des  zweiten  Teiles  der  Schrift  unter 
dem  Scheine  der  Reform  zusammentun,   weitere  Tore  zu  öffnen,  for- 


i)  Vgl.  Voigt  a.  a.  O.  i.  Bd.,  S.  i86ff.   und  Altmann,  Eberhard  Windeeke, 
S.  350 f. 

2)  Vgl.  Anhang  von  S.  79 — 84. 

3)  Das  habe  ich  gezeigt  in  den  „Deutschen  GeschichUbläUem",  4.  Bd.,  S.  171— 
182  u.  193—218. 


—     88     — 

dert  er  auiserdem  die  AbschafTung  der  Zünfte,  die  in  einigen  Städten, 
namentlich  in  Augsburg,  ein  terroristisches  Regiment  führten.  Damit 
soll  der  Zuzug  vom  Lande  in  die  Stadt,  dem  Sitz  der  Freiheit,  ver- 
stärkt werden;  die  Bevölkerung  der  Städte  soll  wachsen  und  so  den 
Feudalen  Abbruch  tun.  (Schlafe  folgt.) 


Mitteilungen 

Yersamnilnngeii.  —  Die  achte  Versammlung  deutscher  Hi- 
storiker hat  programmgemäfs  (vgl.  5.  Bd.  S.  263)  in  den  Tagen  vom  31. 
August  bis  4.  September  in  Salzburg  stattgefunden,  und  zwar  haben  sich 
ungefähr  150  Fachgenossen  daran  beteiligt;  Österreich  war  natürlich  ver- 
hältnismäfsig  stark,  Deutschland,  namentlich  der  nördliche  Teil,  dagegen 
recht  schwach  vertreten.  Den  Vorsitz  führte  Oswald  Redlich  (Wien); 
die  Verhandlungen  fanden  im  Schlosse  Mirabell  statt,  für  die  üblichen  ge- 
mütlichen Zusammenkünfte  war  der  Stiegelkeller  ausersehen.  Der  4.  Sep- 
tember brachte  einen  Ausflug  nach  der  Feste  Hohenwerfen  an  der  Salzach» 
die  Erzherzog  Eugen  unter  der  sachverständigen  Leitung  des  Innsbnicker 
Archivdirektors  M.  Mayr  in  der  Weise  wiederherzustellen  im  Begriff  ist,  wie 
sie  im  XVI.  Jahrhundert  war. 

Die  Vorträge  *),  die  dargeboten  wurden,  fallen  z.  T.  aus  dem  Rahmen 
dieser  Zeitschrift  heraus :  das  gilt  von  dem  übrigens  durch  eine  bewunderns- 
würdige Klarheit  in  der  Beweisflihnmg  ausgezeichneten  Vortrag  Die  Eni^ 
stehung  des  spartanischen  Staates  in  der  lyknrgischeti  Verfassung  von  Prof. 
Karl  Johannes  Neumann  (Strafsburg)  und  ebenso  von  der  Charakteristik 
Philipps  des  Schönen,  die  Prof.  Finke  (Freiburg)  gab,  bis  zu  einem  gewissen 
Grade  auch  von  dem  öffentlichen  Vortrage  Das  deutsche  Hauptquartier  zu 
Versailles  und  der  Streit  über  die  Bekämpfung  von  Paris  1870  von  Busch 
(Tübingen),  der  auf  Grund  der  zahlreichen  Memoiren  und  Briefe,  die  jene 
denkwürdige  Zeit  behandeln,  den  Kampf  um  die  Beschiefsung  psychologisch 
verständlich  zu  machen  suchte. 

Prof.  August  Fournier  (Wien)  berichtete  über  Neue  Quellen  xur 
Geschichte  des  Wiener  Kongresses  *)  und  gab  zimächst  eine  Übersicht  über  die 
bisher  veröffentlichten  Quellen,  die  in  der  Tat  nicht  zureichen,  um  über  die 
wichtigsten  Fragen,  die  sächsische  und  die  polnische,  völlige  Klarheit 
zu  schaffen.  Der  Grund  für  den  Mangel  an  speziellen  Nachrichten  ist,  dals 
von  den  vier  verbündeten  Monarchen  drei  in  Wien  waren  und  unter  sich 
und  mit  ihren  Mmistern  mündlich  verhandelten,  so  dafs  überhaupt  wenig 
geschrieben  wurde ;  es  fehlt  bei  den  Beschlüssen  meist  an  der  Kenntnis  der 
Vorverhandlungen  und  damit  der  Schlüssel  zu  ihrem  Verständnis.    Georg  lü. 


i)  Der  offizielle  Bericht  erscheint  1905  im  Verlag  von  Duncker  &  Homblot  in  Leipzig. 

2)  Der  Vortrag  ist  vollständig  im  Dmck  erschienen  in  der  Österreiekischen  Bund- 
schau,  herausgegeben  von  Alfred  Freiherrn  v.  Berger  und  Karl  Glossy  (Wien» 
Konegen)  Bd.,  1,  Heft  3,  S.   140—150. 


—     89     — 

von  England-Hannover  war  nicht  anwesend,   und  die  ihm  von  dem  Grafen 
Münster  ^),  dem  Minister  flir  Hannover,  erstatteten  Berichte,  die  noch  nicht 
sämtlich   herausgegeben   sind,    stellen  in  der  Tat  eine  hervorragende  Quelle 
dar.     Stein,  der  damals  noch  in  russischen  Diensten  stand,  hat  sich  Auf- 
zeichnungen gemacht,  aber  die  chronologische  Folge  der  Ereignisse  ist  nicht 
ganz    klar;     die    französischen    Gesandtschaftsberichte    Taillerands    sind 
nicht   lückenlos,   und   viele  andere  Aufzeichnungen  können  schon  nach  den 
Stellungen,    die   ihre  Verfasser  einnahmen,    nicht  als  vollwertig  gelten.     Die 
Nachforschung  nach   neuen  Quellen  hat  nun  ergeben,  dafs  es  einen  Brief- 
wechsel  des   Prinzen   Anton   von   Sachsen,    der   ein  Schwager   des  Kaisers 
Franz   war    und  in  Wien  weilte,    mit  sebem  Bruder,    dem  König  Friedrich 
August,   gibt.     Nach   ähnlichen  Korrespondenzen  müssen  noch 
gründliche    Nachforschungen    in    den   Archiven    der  [Einzel- 
staaten angestellt  werden!    In  Wien  lagert  nun  im  Archiv  des  Mini- 
steriums des  Innern  eine  bisher  unbenutzte  Quelle,  nämlich  die  Polizeiakten 
jener   Tage.     Auf  Veranlassung   Metternichs   hatte   die   Polizei   den  Auftrag 
erhalten,  die  fremden  Diplomaten  und  hervorragenden  Würdenträger  in  ihrem 
mündlichen   und   schriftlichen  Verkehr  zu   beobachten   und    darüber   täglich 
Bericht   zu   erstatten.     Diese  Berichte    und   die    dafür  benutzten  Unterlagen, 
die  Mitteilungen    geheimer  Agenten ,   entwendete  Briefe   und   dgl. ,    sind    bis 
auf  wenige  Lücken  erhalten  und  gestatten  ganz  wunderbare  Einblicke  in  die 
Verhandlungen  zu  Wien,  wenn  auch  vieles  nur  auf  müfsiges  Gerede  zurück- 
gehen  mag.      Über   die   äufseren   Ereignisse   geben   schliefslich    auch    noch 
einige  in  Wien  aufgefundene  Tagebücher  manchen  Aufschlufs.    Aus  den  vom 
Kanzleidirektor  im  Oberststallmeisteramt,  Skall,  verfafsten  Meinorahüien  vorn 
Wiener  Kongiefs ,   aus   denen   wir  Näheres   über,  die  Ankunft  der  fremden 
Gäste,  ihre  Wohnung  usw.  erfahren,  können  wir  z.  B.  auch  die  interessante 
Tatsache  entnehmen,  dafs  der  Gedanke  eines  Kongresses  in  Wien  auf  einen 
nach   der  Schlacht   bei  Leipzig  ausgesprochenen  Wunsch  Kaiser  Alexanders 
zurückgeht,  den  Kaiser  Franz  in  Wien  zu  besuchen.    Der  Gedanke  ist  fest- 
gehalten worden,    und  schon  im  Januar  und  Februar  1814  hat  der  Kaiser 
von  Basel  aus  Anordnungen  bezüglich  der  in  Wien  zu  veranstaltenden  Feste 
getroffen. 

Die  Probleme  der  Wirtschaftsgeschichte  und  der  diesbezüglichen  Quellen- 
publikationen nahmen  einen  ganzen  Vormittag  in  Anspruch.  Prof.  D  o  p  s  c  h 
(Wien)  und  Privatdozent  Kötzschke  (Leipzig)  berichteten  Über  Herausgabe 
von  Quellen  zur  Agiargeschirhte  des  Mitielalteis  und  verbreiteten  sich  wesent- 
lich über  die  Urbare  und  ihre  Publikation.  Da  der  hochwichtige  Gegen- 
stand im  Anschlufs  an  diese  Verhandlungen  in  dieser  Zeitschrift  in  nicht 
allzu  ferner  Zeit  ausfuhrlich  behandelt  werden  soll,  mag  hier  nur  kurz 
darauf  hingewiesen  sein.  Die  Debatte  nahm  eine  Anregung  des  ersten 
Redners  auf,  die  darauf  hinauslief,  man  solle  der  Zentraldirektion  der  Monu- 
meuta  Gennaniae  historica  den  Wunsch  unterbreiten,  dafs  sie  eine  kritische 
Sanmilung  der  Hofrechte  des  Mittelalters,  die  zwar  bekannt,  aber 
nirgends  zusammen  zugänglich  sind,  herausgibt. 


i)  Georg  Herbert  Graf  zu  Münster,  Politische  Skixxen  über  die  Lage  Europas 
(Leipzig  1867). 


—     90     — 

Diese  Anregung,    zu   einem  Beschlüsse   erhoben,   fand    aUgemeine   Zu- 
stimmung, und  Prof.  Redlich  versprach  seinerseits  als  Mitglied  der  Zentral- 
kommission   für    die   Erfüllung   dieses   Wunsches   einzutreten.    —    Prof.    H. 
V.  Voltelini  (Innsbruck)   behandelte  in  einem  übersichtlich  die  Ergebnisse 
der   namendich   für   die  Zwecke    des  Historischen  Atlasses  angestellten  For- 
schungen zusammenfassenden  Vortrage  DCe  Entstehung  der  Landgerichte  itn 
bayrisch-österreichischen  Bechtsgehieie.    Die  Entstehung  der  Landgerichte  zählt 
zu  den  wichtigsten  Problemen  der  deutschen  Territorialgeschichte.    Zweifellos 
sind  sie  aus  Trümmern  der  Grafschaften  entstanden,  wenn  auch  die  Motive 
der  Zertrümmerung  und  der  Gang  der  Entwickelung  im  dunkeln  liegen.     Für 
das  bayrisch-österreichische  Rechtsgebiet  ist  auf  jeden  Fall  ein  Zusammen- 
hang  der  Landgerichtsbezirke   mit   den  Sprengein  alter  Himdertschaften  ab- 
zulehnen, da  es   bei   den  Bayern  keine  Hundertschaften  gab.     Von  groiscr 
Bedeutimg  für  die  Entstehung  der  Landgerichte  war  jedenfalls  die  fortschrei- 
tende Besiedelung  und  Zunahme  der  Bevölkerung  sowie  die  üblich  werdende 
Erblichkeit    der    Grafschaften.      Die    Landgerichte    selbst    gehen    z.   T.    auf 
Immunitäten  imd  Exemtionen  zurück,  welche  die  deutschen  Könige,  später 
auch  die  Landesherren  verliehen  haben.    Auch  grund-  und  leibherrlichc 
Gerichtsbarkeit  konnte  zur  Ausbildung  der  ordentlichen  Gerichtshoheit  führen, 
indem  im  Wege  des  Vergleichs  Gerichtsbarkeit  in  einem  geschlossenen  Sprengel 
an  Stelle  grund-  und  leibherrlicher  Gerichtsbarkeit  über  zerstreute  Untertanen 
oder  Güter  trat.    Vor  aUem  hängt  die  Burgen  Verfassung  mit  der  Entstehung 
der  I^andgerichte  zusammen ;  der  Burghauptmann  wird  häufig  Landrichter  des 
zur  Burg  gehörigen  Burgfriedens,    indem   er   zum  Burgbanne,   den  er  über 
die   bäuerliche   Bevölkerung   des    zur   Burg   gehörigen   Bezirks  (Burgfriedens) 
übt,  noch  die  richterliche  Gewalt  hinzu  erlangt.    Auch  Exemtionen  imd  patri- 
moniale  Gerichte   können   auf  Grund   von  Burgfrieden   entstehen.     Während 
in  Bayern,  Salzburg  und  Tirol  die  Entwickelung  der  Landgerichte  frühzeitig 
abschliefst,   die  Gerichtssprengel   daher  im  wesentlichen  feststehend  bleiben, 
schreitet  die  Zersplitterung  in  Nieder-  imd  Innerösterreich,  namentlich  infolge 
der  Bildung  neuer  Burgfrieden,  bis  ins  XVIIL  Jahrhimdert  fort. 

Mit  der  Stadt  Salzburg  selbst  befafste  sich  schliefslich  ein  aufserordent* 
lieh  feiner,  leider  mit  fast  unverständlicher  Stinmie  gehaltener  Vortrag  von 
Prof.  Alois  Riegl  (Wien)  über  Salzburgs  Steüung  in  der  Kunstgeschichte, 
Obwohl  Salzburg  zur  Kunststadt  geschaffen  ist,  hat  es  nie  eine  „Salzburger 
Schule"  gegeben;  was  der  Stadt  ihre  eigenartige  Stellung  in  der  Kunstge- 
schichte verleiht,  ist  vielmehr  die  ausgesprochene  Vorliebe  für  italienische 
Kimstweise,  die  neben  deutschen  Elementen  steht,  aber  sich  nicht  wie  in 
Tirol  mit  ihnen  harmonisch  verbindet  Es  herrscht  ein  rein  lokaler  Ge- 
schmack, der  sich  jedoch  immöglich  aus  einer  starken  Einwanderung  römi- 
scher Elemente  erklären  läfst,  denn  mindestens  seit  dem  XI.  Jahrhundert  ist 
Salzburg  eine  rein  deutsche  Stadt.  Trotzdem  fehlen  hier  mittelalterliche 
Monumentalbauten,  und  was  an  Bauwerken  des  Kultus  und  Gebrauchs  da 
war,  ist  später  leichten  Herzens  beseitigt  und  verändert  worden.  In  karo- 
lingischer  Zeit  gibt  es  wohl  eine  Salzburger  Schreibschule,  aber  die  Miniatur- 
malerei wird  in  ihr  nicht  gepflegt.  Auch  das  Hauptproblem  der  romanischen 
Bauweise  in  Frankreich,  Deutschland  und  Oberitalien  —  die  Gliederung  der 
Basilika   und  Steigerung   der  Höhenrichtung,   die  Ersetzung   der  Flachdecke 


—     91     — 

durch  eme  Kreuzgewölbedecke  —  hat  augenscheinlich  für  Salzburg  gar  nicht 
bestanden.  Als  man  schliefslich  bei  der  alten  Bauart  nicht  mehr  blei- 
ben konnte,  wurde  von  auswärts  sofort  ein  fertiges  System  übemonunen, 
und  zwar  nicht  das  rheinische,  sondern  das  lombardische  Gewölbe- 
system. Dieser  Umstand  erklärt  das  völlige  Fehlen  früh-  und  hochgotischer 
Bauten.  Erst  aus  dem  spätgotischen  Jahrhundert  (1440 — 1540)  besitzt  Salz- 
burg zahlreiche  Kunstwerke,  aber  eine  führende  Rolle  hat  es  auch  in  dieser 
Zeit  nicht  gespielt.  Der  Profanbau  zeigt  vielmehr  schon  in  spätgotischer 
Zeit  hier  einen  offenen  Umschwung  zum  italienischen,  wie  das  kolorierte 
Stadtbild  von  1553  im  Stift  St.  Peter  beweist.  Der  Erzbischof  Wolf-Dietrich 
hat  dann  ein  halbes  Jahrhundert  später  die  Italisierung  der  monumentalen 
Kunst  in  Salzburg  durchgeführt.  Sein  Nachfolger  baute  den  Dom,  dessen 
Inneres  am  reinsten  auf  deutschem  Boden  italienische  Art  zeigt;  aufsen  da- 
gegen zeigt  gerade  der  Dom  ganz  deutsche  Elemente  wie  die  beiden  Front- 
türme. Das  XVII.  Jahrhundert  beherrscht  das  italienische  Barock,  das  dann 
durch  Johann  Bernhard  Fischer  von  Erlach  zum  österreichischen  Barock 
(Universitätskirche)  umgebildet  wurde.  Im  XVm.  Jahrhundert  erlahmte  die 
bildende  Kunst,  und  die  Musikpflege  trat  vor  allem  in  den  Vordergrund. 
Alles  in  allem  bildete  Salzburg  jederzeit  ein  offenes  Tor  für  das  Emdringen 
italienischen  Geschmacks  in  Deutschland ;  Salzburg  übernahm  die  italienischen 
VorbUder  rein  und  stellte  sie  gewissermafsen  dem  übrigen  Deutschland  zur 
Schau,  und  darin  beruht  Salzburgs  eigenartige  Stellung  b  der  Kunst- 
geschichte. 

In  der  Benediktinerabtei  St.  Peter  hatte  Prälat  Willibald  Haut hal er 
eine  AussteUung  von  Salzburger  Handschriften,  z.  T.  mit  Bilderschmuck, 
Urktmden  usw.  veranstaltet,  die  das  lebhafteste  Interesse  der  Besucher  in 
Anspruch  nahm. 

Hinsichüich  der  geschäftlichen  Angelegenheiten,  die  beim  „Verband 
deutscher  Historiker''  ruhen,  ist  zu  bemerken,  dafs  satzungsgemäfs  aus  dem 
Ausschufs  die  fünf,  1898  in  Nürnberg  gewählten  Mitglieder  ausschieden, 
nämlich  Hansen  (Köln),  Kaufmann  (Breslau),  v.  Stalin  (Stuttgart), 
Ulm  an  n  (Greifswald),  v.  Wcech  (Karlsruhe).  Aufserdem  war  an  SteUe 
des  verstorbenen  Mühlbacher  ein  neues  Mitglied  in  den  Ausschufs  zu 
wählen.  Die  ausscheidenden  Herren  wurden  wieder,  und  aufserdem  Prof. 
Geizer  (Jena)  neu  m  den  Ausschufs  berufen.  Als  Ort  der  nächsten 
Tagung  wurde  Jena,  als  Zeit  Ostern  1906  ins  Auge  gefafst. 


Gleichzeitig  mit  dem  Historikertag  fand  wie  üblich  die  Konferenz 
von  Vertretern  landesgeschichtUcher  Publikationsinstitute  statt,  die 
diesmal  drei  sehr  gut  besuchte  Sitzungen  unter  dem  Vorsitze  von  Prof. 
v.  Zwiedineck-Südenhorst  (Graz)  abhielt.  An  erster  SteUe  wurden 
Erfahrungen  darüber  ausgetauscht,  welches  Verfahren  sich  hinsichtlich  des 
Verlags  und  Druckes  der  Publikationen  bei  den  verschiedenen  Publika- 
tionsmstituten  bewährt  hat.  Prof.  Hansen  (Köln)  schüderte  zunächst  die 
Erfahrungen,  die  die  Gesellschaft  für  Rheinische  Geschichtskunde  gemacht 
hat ;  die  Vertreter  verschiedener  andrer  Institute  äufserten  sich  über  das  be? 
ihnen   eingeschlagene  Verfahren,   doch  standen   die  genauen   Zahlen   nid 


—     92     — 

zu  Gebote.  Um  diese  kennen  zu  lernen,  wird  Prof.  Hansen  einen  Frage- 
bogen an  die  verschiedenen  Institute  senden,  der  durch  eine  aus  drei 
Personen  zu  bildende  Kommission  ausgearbeitet  werden  soll,  imd  auf  Gnmd 
dieser  Mitteüimgen  soll  für  die  nächste  Tagung  ein  Bericht  ausgearbeitet  werden. 

An  zweiter  Stelle  wurde  die  Anlage  von  Urkundenbüchern  und 
die  Behandlung  des  in  ihnen  zu  veröffentlichenden  Materials 
erörtert.  Der  erste  Berichterstatter  Prof  v.  Ottenthai  (Wien)  behandelte 
vor  allem  den  zweiten  Punkt,  betonte  die  Notwendigkeit,  bei  der  Edition 
zugleich  die  Diplomatik  und  das  Kanzleiwesen  mit  zu  behandeln  und  zu 
diesem  Behufe  den  äufseren  Merkmalen  besonderes  Augenmerk  zuzuwenden. 
Gegenüber  der  Diplomatik  der  Königsurkunde  sei  die  der  Fürstenurkunde 
noch  sehr  rückständig,  und  deshalb  bestehe  die  Notwendigkeit,  dafs  bei 
künftig  zu  bearbeitenden  Urkundenbüchern  folgende  Forderungen  möglichst 
erfüllt  würden:  i)  Der  Bearbeiter  mufs  hilfswissenschafllich  tüchtig  geschult 
sein.  2)  Der  Bearbeiter  mufs  zugleich  die  Spezialdiplomatik  der  Urkunden- 
gruppe, die  er  herausgibt,  mit  behandeln.  3)  Wenn  es  sich  um  verschiedene 
Gruppen  handelt,  so  mufs  wenigstens  die  Hauptgruppe  speziell  diplomatisch 
untersucht  werden.  4)  Bei  jedem  Original  mufs  der  Herausgeber  unbedingt 
auf  alles  achten,  was  nach  dem  heutigen  Wissen  für  die  Kritik  wichtig  er- 
scheint (Schriftbeweis,  Beglaubigungsformel,  Expeditionsnotizen,  Registratur- 
vermerk, Indossat  des  Empfangers).  5)  Was  schon  gut  herausgegeben  ist, 
braucht  nicht  wiederholt  zu  werden.  Der  zweite  Berichterstatter  Archiv- 
direktor Ilgen  (Düsseldorf)  besprach  vor  allem  die  Schwierigkeit,  die  Ur- 
kimdenmassen  des  14.  und  15.  Jahrhunderts  zu  publizieren,  und  befür- 
wortete den  reichlicheren  Gebrauch  des  Regests,  ohne  damit  bei  den  Zu- 
hörern viel  Beifall  zu  finden.  Prof  v.  Below  bezeichnete  ein  solches  Ver- 
fahren höchstens  als  Provisorium,  und  Prof  Rietschel  betonte  vor  allem, 
dafs  ein  Regest  den  vollen  Wortlaut  namentlich  für  rechtliche  Untersuchungen 
nicht  ersetzen  könne,  und  forderte  eine  besondere  Regestentechnik.  Die 
einschlägigen  Fragen  werden  in  absehbarer  Zeit  in  dieser  Zeitschrift  eine  be- 
sondere Behandlung  erfahren. 

Der  von  Anton  Meli  (Graz)  erstattete  Bericht  über  den  Fortgang  der 
Arbeiten  am  Historischen  Atlas  der  Osterreichischen  Alpenländer  ist  bereits 
oben  (S.   54 — 64)  im  vollen  Wortlaut  mitgeteilt  worden. 

Die  Darlegungen  von  Prof  Dop  seh  (Wien)  über  Mafsnahmen  zur  Er- 
schliefsung  agrargeschichtlicher  Quellen  lehnten  sich  an  den  Vortrag,  den  er 
in  der  Versammlung  des  Historikertags  gehalten  hatte,  an  und  gipfelten  in 
der  Forderung,  die  einzelnen  Publikationsinstitute  möchten  für 
ihr  Gebiet  eine  systematische  Verzeichnung  der  agrargeschicht- 
lichen  Quellen  in  die  Wege  leiten.  Dieser  Antrag  wurde  zum  Be- 
schlufs  erhoben. 

Der  letzte  Punkt,  die  Herausgabe  von  Münz-  und  Siegel- 
werken, wurde  auf  die  Münzwerke  beschränkt,  da  der  Referent,  der  sich 
über  Siegelweike  äufsern  wollte ,  nicht  mehr  anwesend  war.  Nach  der  Mit- 
teilung von  Prof  Hansen  wird  am  Rhein  je  ein  Münzwerk  für  die  Stadt  Köln, 
die  Stadt  Aachen  und  die  Stadt  Trier  geplant;  Menadier,  der  über  Münzwerke 
im  besonderen  sprechen  wollte,  aber  durch  Abreise  daran  verhindert  war, 
hat  für  alle  drei  den  numismatischen  Teil  übernommen,  aber  abweichend  von 


—     93     — 

der  bisherigen  Praxis  soll  hier  auch  eine  MüDzgescbichte  beigegeben 
werdeD,  die  für  Ktiln  Dr.  Kuske  bearbeitet.  Die  allgemeineo  Aufgaben 
von  PubhkationeD  über  das  Mlinzwesen  charakterisierte  Prof.  Luschia  v. 
Ebengreuth  (Graz),  iDdem  er  im  wesentlichen  das  wiederholte,  was  er  in 
seiner  kürzlich  erschienenen  Münzkunde  utid  Qeldgeschidile  {=  Handbuch 
der  mittelalterlichen  und  neueren  Geschichte,  herausgegeben  von  G.  v.  Betow 
und  F.  Reinecke,  Abteilung  IV),  S.  183  £F.  ausgeführt  hat.  Die  Forde- 
rung ist  im  wescnüjchen  die,  die  numismatische  mit  der  wirtschaftegeschicht- 
lichen Forschung  zu  verbinden  und  namentlich  hinsichcUch  der  jeweiligen 
Kaufkraft  des  Geldes  umfassende  Untersuchungen  anzustellen.  Die  Debatte 
zeigte  gnindsätzUch  volle  Übereinstinunung  mit  allen  Rednern,  und  doch  wurde 
die  ungeheure  Schwierigkeit  solcher  Untersuchungen  allgemein  anerkannt. 
Der  Vorsitzende  gab  zum  Schlüsse  dem  Wunsche  Ausdruck,  es  möchten 
noch  mehr  Institute  an  die  Publikation  von  Münzwerken  herangehen. 

Damit  war  die  reiche  Tagesordnung  erschöpft.  Die  Verhandlungen 
waren  so  lebhaft  wie  noch  nie  vorher,  und  sie  dürften  auch  einen  nach- 
haltigen Einflufs  hinterlassen  haben.  Das  eingehendere  Protokoll  der  Ver- 
handlungen wird  in  dem  offiziellen  Bericht  der  Versammlung  der  deutschen 
Historiker  mit  enthalten  sein. 

Archire.  —  Das  Stadtarchiv  zu  Magdeburg  erhält  voraussichtlich 
1907  neue  Räume  und  zugleich  bedeutenden  Zuwachs.  Die  Stadt  baut 
gegenwärtig  an  der  Hauptwache  am  Alten-Markt  ein  drittes  Rathaus,  dessen 
3.  und  4.  Geschofs  in  der  Hauptsache  dem  Archiv  und  der  Bibliothek  ein- 
geräumt werden  sollen.  Die  Schaffung  eines  eigenen  Heims  für  das  Archiv 
entspricht  einem  dringenden  Bedürfnis,  da  die  bisher  benutzten  Räume  fUr 
ihre  Zwecke  in  verschiedener  Hinsicht  ungenügend  sind.  Zugleich  sind  in 
letzter  Zeit  neue  Vorschriften  ausgearbeitet  worden,  welche  die  Aufbewahraug 
oder  Ausscheidung  verschiedener  Klassen  von  Archivalien  regeln;  das  Archiv 
wird  dadurch  mit  den  verschiedenen  Registraturen  in  organische  Verbindung 
gebracht,  und  es  wird  verhindert,  das  die  dauernd  aufzuhebenden  Sachen 
teilweise  eine  Verwahrlosungspenode  in  irgend  einem  schmutzigen  Bodeu- 
winket  durchmachen.  Die  Durchführung  dieser  Vorschriften  förderte  in  den 
einzelnen  Registratur-Böden  umfangreiche  Bestände  zutage,  die  bis  ins  XVI. 
Jahrhundert  zurückgehen  und  z.  T.  inhaltlich  recht  bedeutend  sind.  Diese 
Bestände  werden  dem  Archiv  nach  der  Übersiedelung  in  die  neuen  Räume 
einverleibt  werden. 

BlbliothekeD.  —  An  der  Grofsherzogtichen  Hofbibliothek  in  Darm- 
Stadt   und  der  Grofsherzoglichen  Universitätsbibliothek   in   Giefsen    haben 
die   Amtstitel  der   Beamten   eine   Änderung   erfahren.     Der 
künftig   den  Titel  Direktor,    der  zweite  Beamte   den  Titel  O 
die  übrigen  festangestellten  Beamten  den  Titel  Bibliothekar,  di 
Hilfsarbeiter  (Assistenten)  den  Titel  Hilfsbibliothekar. 


Eine  erfreuliche  Erieichtenmg  in  der  Bücherbenutzung  ist  sf 
1904  in  Thüringen  eingetreten.    Zwischen  der  Universitätsbib! 


—     94     — 

und  der  Grofsherzoglichen  Bibliothek  in  Weimar  ist  ein  Tanschverkehr  ein- 
gerichtet worden,  der  eine  dauernde  Ergänzung  der  gegenseitigen  Bestände 
ermöglicht  Mittwochs  werden  die  Bestellungen  auf  Bücher,  die  in  Weimar 
nicht  vorhanden  sind,  nach  Jena  abgegeben;  am  Sonnabend  Nachmittag  ge- 
langen die  darauf  hin  übermittelten  Schätze  der  Jenaer  Bibliothek  in  Weimar 
zur  Ausgabe.  Jena  gibt  seine  Bestellungen  Sonnabends  nach  Weimar 
ab  und  kann  die  Eingänge  am  Donnerstag  den  Bestellern  aushändigen. 
Die  Kosten  für  den  Versand  tragen  die  Besteller,  doch  ist  vorläufig  von 
einem  bestimmten  Gebührensatze,  der  erst  durch  die  Erfahrung  ermittelt 
werden  kann.  Abstand  genommen  worden. 

Diese  neue  Erleichterimg  in  der  Benutzung  von  Bibliotheken  ist  dank- 
barst zu  begrüfsen.  Bekanntlich  *)  bestehen  ähnliche  Austauschsverhältnisse 
schon  seit  längerer  Zeit  unter  den  Bibliotheken  inPreufsen,  Bayern, 
Württemberg,  Hessen  und  auch  in  Österreich.  Teilweise  sind  sogar 
auch  die  höheren  Lehranstalten  und  Behörden  in  der  Lage,  auf  diesem 
Wege  sich  rasch  und  billig  gewünschte  Bücher  zu  beschaffen;  die  Gebühren 
betragen  in  Preufsen  20  Pfennige  für  den  Band,  in  Hessen  bei  Bestellungen 
von  auswärts  15  Pfennige,  aber  zwischen  Giefsen  und  Darmstadt  erfolgt 
die  Vermittelimg  völlig  kostenlos;  dasselbe  gilt  für  den  Verkehr  zwischen 
Stuttgart  und  Tübingen.  In  Baden  besteht  zwar  eine  besondere  Or- 
ganisation des  Austausches  unter  den  drei  staatlichen  Bibliotheken  zu  Heidel- 
berg, Freiburg  und  Karlsruhe  nicht,  aber  tatsächlich  ergänzen  sich  diese 
Anstalten  fast  täglich  durch  gegenseitige  Übersendung  von  Büchern.  Porto- 
kosten und  Packgebühren  haben  jedoch  die  Besteller  zu  tragen. 

Danach  fehlen  heute  entsprechende  Einrichtungen  für  Länder,  in  denen  es 
mehrere  staatliche  Bibliothen  gibt,  nur  noch  in  Sachsen,  wo  ein  Austauschs- 
verhältnis zwischen  der  Kgl.  Bibliothek  in  Dresden  und  der  Universitätsbibliothek 
in  Leipzig  ein  dringendes  Bedürfnis  wäre,  und  in  Mecklenburg,  wo  Schwerin 
und  Rostock  eines  solchen  Gegenseitigkeitsverhältnisses  harren.  Hoffentlich 
entschliefst  man  sich  in  diesen  beiden  bis  jetzt  hinter  den  andern 
rückständigen  deutschen  Staaten  recht  bald  zu  entsprechenden 
Mafs nahmen!  Selbstverständlich  ist  dies  für  die  Zukimfl  immer  noch  nicht 
genügend.  Innerhalb  der  einzelnen  Staaten  müfsten  gröfsere  Stadtbibliotheken, 
wie  etwa  die  zu  Frankfurt  und  Köln,  am  organisierten  Versand  teilnehmen.  Es 
darf  aber  auch  die  Landesgrenze  für  die  Bücherbeschaffung  auf  keinen  Fall 
dauernd  eine  Schranke  bilden.  In  Hessen  ist  dieser  Forderung  bereits  ent- 
sprochen, denn  dort  werden  Bücher,  die  in  Giefsen  und  Darmstadt  nicht 
vorhanden  sind,  aus  Strafsburg,  Göttingen,  München,  Berlin  oder  wo  sie 
sonst  zu  haben  sind,  seitens  der  Bibliothek  bestellt,  und  der  Benutzer 
hat  nur  bei  solchen  Bestellungen  15  Pfennige  für  den  Band  zu  zahlen. 
Vivat  scquens! 

Personallen.  —  Am  i.  Dezember  1903  ist  der  Kreisrichter  a.  D. 
Conrady  auf  Schlofs  Miltenberg  am  Main  im  Alter  von  74  Jahren  gestorben, 
em  Mann,  der  sich  um  die  Altertumsforschung  in  Südwestdeutschland  hervor- 
ragende Verdienste  erworben  hat  und  der  auf  Vorschlag  der  Grofsherzoglich- 


i)  Vgl.  diese  Zeitschrift  2.  Bd.,  S.   164—174,  sowie  S.  239 — 240. 


—     95     — 

Badischen  Regierung  gleich  bei  der  Gründung  der  Reichs-Limes-Kommission 
im  Jahre  1892  zu  deren  Mitglied  ernannt  worden  war. 

Geboren  1829  in  Rüdesheim,  aufgewachsen  in  Idstein  am  Taunus» 
später  Schüler  des  Wiesbadener  Gymnasiums,  war  er,  der  Neffe  Friedrich 
Habeis,  in  seiner  nassauischen  Heimat  frühzeitig  vertraut  geworden  mit  den 
Überresten  der  Römerzeit  und  mit  der  von  seinem  Oheim  so  erfolgreich 
betriebenen  Altertumsforschung  auf  vaterländischem  Boden.  Conrady  studierte 
die  Rechte  und  stand  von  1852  ab  im  nassauischen  Justizdienste.  Als 
ihm  aber  nach  dem  Tode  Habeis  im  Jahre  1867  dessen  schöner  Besitz  am 
Main,  die  ehemals  kurmainzische  Burg  Miltenberg  als  Erbe  zuteil  geworden 
war,  gab  er  den  Staatsdienst  auf  und  übernahm  mit  der  Fürsorge  für  die 
reichen  Kunst-  und  Altertumssammlungen  Habeis  zugleich  nach  dessen  Vor- 
bild die  Aufgabe,  die  Denkmäler  der  Römerzeit  in  der  Maingegend  zu  er- 
forschen. 

Vom  Standquartier  der  EocplorcUores  Seiopenses  an  einem  der  wichtigsten 
Funkte  des  obergermanischen  Limes  aus  begann  Conrady  seine  Kundschafter- 
tätigkeit mit  der  Feststellung  des  Limeslaufes  von  Miltenberg  bis  WaUdüm 
und  nahm  1881  und  1882  die  ersten  Ausgrabungen  auf  der  Altenburg  bei 
Walldürn  vor.  In  den  achtziger  Jahren  folgten  die  Entdeckungen  der  Main- 
kastelle Trennfurt,  Wörth,  Obemburg,  Niedemberg  imd  Stockstadt.  Auch 
an  der  von  badischer  Seite  in  Angriff  genommenen  Untersuchung  der  Kastelle 
Oberscheidenthal  (1880,  1883)  ^"^l  Schlossau  (1884)  nahm  Conrady  AnteiL 
Daneben  wurde  die  Lage  und  Ausdehnung  des  Altstadtkastells  unterhalb 
Miltenbergs  durch  Ausgrabungen  festgestellt.  So  brachte  er  der  Limeskonmiis- 
sion  nicht  allein  den  Schatz  langjähriger  Erfahrungen  mit  ein,  sondern  auch 
eine  Fülle  noch  unverwerteten  Materials.  Seine  Ernennung  zum  Strecken- 
kommissar für  den  langen  Abschnitt  von  Grofskrotzenberg  bis  zum  Hönehaus 
südlich  von  Walldürn  bot  ihm  die  erwünschte  Gelegenheit,  die  früher  mit 
beschränkten  Mitteln  schon  weit  gefcJrderten  Arbeiten  in  gröfserem  Umfang 
fortzusetzen  und  zu  vollenden. 

Conradys  Leistungen  ftir  die  Limeskommission  sind  aus  den  eingehenden 
Berichten,  die  er  selbst  über  seine  Forschungen  im  Limesblatt  veröffentlicht 
hat,  und  aus  dem  Limeswerk,  in  dem  seine  Bearbeitimgen  der  Kastelle  des 
3.  Bandes  schon  zum  gröfsten  Teil  erschienen  sind,  allen  Forschern  be- 
kannt. Mit  freudiger  Begeisterung  widmete  er  sich  der  mühevollen  Arbeit 
im  Gelände,  ein  Dilettant  in  des  Wortes  bester  Bedeutimg:  die  Forschung 
war  ihm  Herzenssache  imd  jede  Entdeckung  ein  frohes  Erlebnis,  zumal 
wenn  er  darin  die  Bestätigung  früher  gewonnener  Anschauungen  erblicken 
durfte. 

Alle  Mitarbeiter  verehrten  in  ihm  einen  Mann  von  ausgezeichnetem 
Charakter.  Wie  eine  Gestalt  aus  vergangener  Zeit  erschien  der  Burgherr  von 
Miltenberg  in  seiner  stets  würdevollen  Haltung,  und  sein  ritterliches  Wesea 
war  gepaart  mit  Liebenswürdigkeit  und  Milde. 

Einen  grofsen  Teil  seiner  Arbeiten  hat  Conrady  noch  selbst  zum  Ab- 
schlufse  gebracht.  Auch  die  im  Limeswerk  vor  kurzem  erschienene  Publi- 
kation von  Walldürn  beniht  im  wesentlichen  auf  seinen  Aufeeichnungen 
und  Skizzen.  Aber  ein  erheblicher  Rest  unveröffentlichter  Untersuchungen 
harrt  noch  der  Verarbeitung  und  Herausgabe. 


—     96     — 

Eingegangene  Btteher. 

Bretholz,  Berthold:  Codex  diplomatious  et  ^nstolaris  Moramae,  14.  Band 
(Die  Jahre  1408 — 14 n).  Brunn,  Verlag  des  Mährischen  Landesaus- 
schusses,  1903.  193  S.  4^  15.  Band  (Nachträge  1207 — 1408). 
Ebenda  1903.     440  S.  4^ 

Die  Saalburg.  Auf  Grund  der  Ausgrabungen  und  der  teilweisen  Wieder- 
herstellung durch  Geh.  Baurat  Professor  L.  Jacobi.  Fünf  Bilder 
in  Farbendruck  (darunter  ein  Doppelblatt)  nach  Aquarellen  von  Peter 
Woltze,  Architekturmaler.  Text  von  Dr.  K  Schulze,  Direktor  des 
Kaiserin -Friedrich -Gymnasiums  zu  Homburg  vor  der  Höhe.  Gotha, 
Friedrich  Andreas  Perthes,  Aktiengesellschaft,  1904.  Text  34  S.  8*. 
M.  0,80.     Abbildungen  M.   15,00,  aufgezogen  M.  25,00. 

Do  ebner,  Richard:  Annalen  und  Akten  der  Brüder  des  gemeinsamen 
Lebens  im  Lüchtenhofe  zu  Hildesheim  [==  Quellen  und  Darstellungen 
zur  Geschichte  Niedersachsens  DC].  Hannover  und  Leipzig,  1903. 
446  S.  8». 

Donner  von  Richter,  Otto:  Die  Gründung  des  Städtischen  Histori- 
schen Museums  und  des  Vereines  für  dasselbe  im  Jahre  1877  [=  Fest- 
schrift zur  Feier  des  25  jährigen  Bestehens  des  Städtischen  Historischen 
Museums  in  Frankfurt  a.  M.  (1903)  S.  27 — 44]. 

£ b e  1  i n g ,  Robert :  Das  zweite  Stralsundische  Stadtbuch  (1310  —  1342). 
Stralsund,  Kgl.  Regierungsbuchdruckerei,   1903.     390  S.  8^. 

Forrer,  R. :  Keltische  Numismatik  der  Rhein-  und  Donaulande  [=  Jahr- 
buch der  Gesellschaft  fUr  lothringische  Geschichte  und  Altertumskunde 
13-  Jahrgang  (1901),  S.  1—35,  14.  Jahrgang  (1902),  S.  151—209, 
15.  Jahrgang  (1903),  S.   iio— 157]. 

Olasschröder,  Franz  Xaver:  Urkunden  zur  Pfalzischen  Kirchengeschichte 
im  Mittelalter,  in  Regestenform  veröffentlicht.  Im  Selbstverlag  des 
Verfassers.  München  und  Freising,  Druck  von  Franz  Paul  Datterer 
&  Cie.  G.  m.  b.  H.,   1903.     403  S.  8®. 

Hasenclever,  Adolf:  Die  Politik  Kaiser  Karls  V.  und  Landgraf  Philipps 
von  Hessen  vor  Ausbruch  des  Schmalkaldischen  Krieges  (Januar  bis 
Juli  1546).     Marburg  i.  H.,  Elwert,    1903.     88  S.  8^     M.   1,50. 

Inventare  des  Grofsherzoglich  Badischen  General-Landes- 
archivs, herausgegeben  von  der  Grofsherzoglichen  Archivdirektion, 
Zweiter  Band,  erster  Halbband.  Karlsruhe,  Chr.  Fr.  MüUersche  Hof- 
buchhandlung, 1904.     194  S.  8^^. 

Jung,  Rudolf:  Die  städtischen  Sammlungen  in  reichs-  und  freistädtischer 
Zeit  1691  — 1866  [=  Festschrift  zur  Feier  des  25  jährigen  Bestehens 
des  Städtischen  Historischen  Museums  im  Frankfurt  a.  M.  (1903) 
S.   1—26]. 

Kirch,  J.  P. :  Die  Leproserien  Lothringens,  insbesondere  die  Metzer  Leprostrie 
S.  Ladre  bei  Montigny  [=  Jahrbuch  der  Gesellschaft  ftir  lothringische 
Geschichte  und  Altertumskunde  15.  Jahrgang  (1903),  S.  46 — 109]. 

Lamp recht,  Karl:  Über  den  Begriff  der  Geschichte  und  über  historische 
und  psychologische  Gesetze  [=  Sonderabdruck  aus  Ostwalds  „Annalea 
der  Naturphilosophie"  2.  Bd.,  S.  255 — 278.] 

Herausgeber  Dr.  Annin  llUe  in  Leipzig. 
Druck  und  Verlag  von  Friedrich  Andrea*  Perthes,  AkriengeselUchaft,  Gotha. 

Hierzu  als  Beilage :  Welhliachtsprospekt  der  Verlagsbachhandlong  Fliedlich 
Andreaa  Perthes,  Aktiengesellschaft,  in  Gotha. 


Deutsche  Ceschichtsblätter 

Monatsschrift 


rar 


Förderung  der  landesgeschichtlichen  Forschung 

VI.  Band  Januar  1905  4.  Heft 

; [ 1 ' 

Die  H^iistattperiode 

Von 
Moriz  Hoemes  (Wien)  *) 
Die  Hallstattperiode  ist  die  erste  Eisenzeit  Mitteleuropas,  genauer  : 
<les  südlichen  Mitteleuropa  und  einiger  angrenzender  Gebiete  des 
Westens  und  des  Südens.  Sie  bildet  einerseits  eine  Art  Fortsetzung 
und  Vollendung  der  reinen  Bronzezeit  (bis  ca.  1000  v.  Chr.),  in  der  sie 
Äum  grofeen  Teile  wurzelt,  andrerseits  eine  Vorstufe  der  entwickelten 
älteren  Eisenzeit  jener  Länder,  die  vom  Beginne  der  La-Ttee-Periode 
{um  400  V.  Chr.)  bis  über  die  römische  Kaiserzeit  hinausreicht.  Sie 
ist  also,  verglichen  mit  den  älteren  Zeiträumen  der  Vorgeschichte,  wie 


i)  Eine  aasfUhrliclie  DarsteUoog  der  HallstaUperiode ,  wie  sie  hier  natürlich  nicht 
:geboten  werden  kann,  erscheint  mir  so  sehr  als  ein  Bedürfnis  unserer  geschichtswissen- 
schaftlichen  Literatur,  dafs  ich  —  in  täglichem  Kontakt  mit  den  anerkannt  wertvollsten, 
im  k.  k.  naturhistorischen  Hofmuseum  zu  Wien  aufbewahrten  Denkmälern  dieser  Zeit  — 
«in  solches  83rnthetisches  und  Yor  allem  reichlich  illustriertes  Werk  seit  langem  plane 
und  seit  Jahresfrist  mit  der  Ausführung  desselben  beschäftigt  bin.  Es  soll,  auiser  einer 
über  Gegenstand  und  Ziel  der  Darstellung  handelnden  Einleitung,  folgende  2  Teile  ent- 
halten: A,  Der  Formenkreis  (Typologie  der  Hallstattperiode).  L  Unbeweg- 
liche Formen,  i.  Die  Wohnstätten  (a.  Westdeutschland,  b.  der  Osten,  c.  historische 
Verhältnisse).  2.  Die  Grabstätten  (a.  Verbrennung  und  brandlose  Bestattung,  b.  Bau  und 
Inhalt  der  Gräber).  H.  Bewegliche  Funde,  i.  Die  Metalle  (Gold,  Silber,  Blei,  BroMC, 
Eisen).  2.  Die  Formen  (a.  Allgemeines.  Stil  und  Technik,  Industrie  und  Handel, 
•b.  die  einzelnen  Formen.  Waffen  und  Werkzeuge,  Tracht  und  Schmuck,  Gefafse,  Haus- 
rat u.  dgl.).  —  B.  Topographie  und  Chronologie  der  Hallstattperiode. 
I.  Oberblick  der  Länder  und  Stufen,  i.  Der  Süden.  2.  Der  Osten,  a.  Der  Westen. 
4.  Der  Norden.  11.  Österreich -Ungarn,  i.  Südliche  Zone.  2.  Nördliche  Zone.  Im 
folgenden  gebe  ich,  einem  Wunsche  der  Redaktion  entsprechend,  eine  kurze  Charakteristik 
der  Hallstattperiode,  zugleich  als  Ankündigung  des  Buches,  dessen  Vollendung  und  Er* 
scheinen  sich  nicht  mehr  allzulange  verzögern  soll.  Obwohl  ich  die  ausgedehnte  Literatur 
über  Funde  aus  jener  Zeit  hinlänglich  zu  fiberblicken  glaube,  so  ist  mir  doch  ebensogut 
bekannt,  wie  zerstreut  und  versteckt  die  kleineren  Mitteilungen  über  solche  Funde  sind. 
Ich  verbinde  dahe  mit  dieser  Anzeige  das  Ersuchen  um  Zusendung  solcher,  namentlich 
neuerer  Literatur,  deren  Würdigung  in  meiaem  Buche  ich  mir  nach  Tünlidikeit  angelegen 

sein  lassen  will. 

8 


—     98     — 

wir  sie  in  Europa  gewöhnlich  abgrenzen,  der  älteren  nnd  der  jüng^ereo 
Steinzeit  und  der  Bronzezeit,  von  kurzer  Dauer  und  geringer  rätunlicher 
Ausdehnung.  Denn  im  Fortschritte  der  Kultur  individualisieren  sich 
die  2^ten  nnd  die  Länderräume,  und  neben  den  allgemeinen  Gesetzen 
der  Entwickelung ,  die  immer  und  überall  wirken  müssen,  kommen 
mehr  und  mehr  die  landeigentümlichen  Verhältnisse  zur  Geltung: 
Weltlage,  besondere  innere  Ausstattung,  vielleicht  auch  (aber  nicht  so 
nachweislich,  wie  jene)  die  charakteristischen  Anlagen  der  Bevölkerung; 
das  merkt  man  schon  in  der  Steinzeit,  noch  mehr  in  der  Bronzezeit, 
aber  ganz  besonders  in  der  Hallstattperiode,  d.  i.  in  der  ersten  Hälfte 
des  letzten  Jahrtausends  v.  Chr.  auf  dem  Gebiete,  welches  von  der 
Adria  und  dem  Golf  von  Genua  nordwärts  bis  zur  Lahn  uod  zur  Mosel, 
zum  Thüringerwalde,  Fichtelgebirge  und  Erzgebirge  reicht  und  stellen- 
weise darüber  hinausgreift. 

Der  vielgestufte  Entwickeluugsgang  der  europäischen  Vorgeschichte 
gibt  uns  ein  grofses  Beispiel  der  Entstehung  von  Kultur  und  Reichtum 
auf  der  Grundlage  der  Arbeit  und  legt  damit  Zeugnis  ab  von  der 
Tüchtigkeit  unserer  Altvordern  zu  einer  Zeit,  aus  der  wir  nicht  ein- 
mal mitteleuropäische  Völkemamen  mit  Sicherheit  kennen.  Was  aber 
diese  Völker  einmal  ergriffen  hatten,  das  wurde  fest  angeeignet  und 
schwer  aufgegeben.  Daher  verdrängte  auch  das  Eisen  nicht  mit  einem 
Schlage  die  Bronze,  sondern  setzte  sich  nur  langsam  durch,  in  man- 
chen Ländern,  wie  Nordfrankreich  und  England,  Norddeutschland  und 
Skandinavien,  fast  unglaublich  spät.  Es  war  vielleicht  auch  dort  schon 
lange  nicht  mehr  ganz  unbekannt;  aber  es  ward  noch  nicht  geschätzt 
und  spielte  keine  kulturfördemde  Rolle.  —  Das  Gegenteil,  den  „  Fort- 
schritt**, welcher  eintritt,  wenn  Neues  rasch,  aber  nur  oberflächlich 
aufgenommen  wird,  kennen  wir  reichlich  aus  der  Geschichte  des  Unter- 
ganges der  Naturvölker  unserer  Zeit. 

Es  ist  der  charakteristische  Vorzug  unserer  ersten  Eisenzeit  (int 
Gegensatz  zu  jener  späteren  Beglückung  überseeischer  Stämme  mit 
dem  Eisen  und  anderen  Betriebsmitteln  einer  vorgeschrittenen  Kultur), 
dafs  sie  eine  langsame,  organische  Vermittelung  zwischen  vorgeschicht- 
lichem und  geschichtlichem  Lebeo,  welches  in  dieser  Zeit  durch  den 
Orient  und  durch  Griechenland,  dann  auch  durch  Italien  vertreten 
wird,  anbahnt  und  weiterführt.  In  dieser  Zeit  steht  Italien  weit  zurück 
hinter  Griechenland,  das  schon  im  2.  Jahrtausend  v.  Chr.  die  „my- 
kenischen  **  Kulturformen  besessen  hat,  Mitteleuropa  weit  zurück  hinter 
Italien  und  Nordeuropa  hinter  Mitteleuropa.  Und  doch  hängen  alle 
iiese   Länderräume    durch   vermittelnde  Zwischeugebiete  und  Kultur- 


99 


beziehungen  uatereinandei  eng  zusammen,  uod  überall  bemerkt  man 
eine  durch  den  Kontakt  bewirkte,  fortgesetzte  Stärkung  und  Steigerraig 
der  Zivilisation,  nirgends  jenen  Rückgang  und  Verfall,  von  dem  die 
„Eingeborenen"  sonst  beim  Zusammentreffen  höherer  und  niederer 
Kulturibrmen  betroffen  werden. 

Da  die  Hallstattperiode  einen  Übergang  von  der  reifen  Bronzezeit 
zur  entwickelten  Eisenzeit  bildet,  die  Hallstattzone  aber  mitten  inne 
liegt  zwischen  dem  europäischen  Süden  und  dem  europäischen  Norden, 
so  nimmt  die  Hallstattkultur  in  Zeit  und  Raum  eine  Mittelstellung  ein, 
eine  wahre  Zentralstellung  innerhalb  der  alteuropäischen  Metallkulturen, 
wie  die  nebenstehende  Zeittafel  in  freilich  nur  schematischer  Weise 
zeigt. 

Metallperioden  Europas  bis  um  Christi  Geburt. 


Zeit 

Sfideorop« 

Miltelenropa 

».,d™.p. 

(Zeit  der  „  Schnchtgräber ") 

Reifmykeniich 
(Zeit  der  „  Knppelgräber ") 

Frilhe 

Mittlere         BroMSwit 

Späte 

Frühe       1 

1    HaÜautt- 

Mlttle»    )           _,   _, 
1      Periode 

8p»o      ) 

Bronieieit  l. 
(1900- 1600) 

^-.ooo 

(1600—1400) 

Spälmykcniich 
(Zeit  der  „  Kammergräber") 

broMeieit  3. 
(1400—1050) 

Bronieietl  4. 
(1050-850) 

looo-soo 

(850-650) 

(650—500) 

HeUeniidie  Blutcieit 

MitÜN.          L.-Ttoe-Zeit 

EiMDieit  I. 
(500-300) 

500—0 

HeUeaUtifiche  Feriod« 

Eiaenteit  a. 

Römische  Periode 

Sp«..       ) 

Das  Gebiet  der  Hallstattkultur  liegt  als  ein  breiter 
Länderstreifen  (im  Ost  etwa  vom  45.  bis  zum  50.  Breitengri 
—  im  West  etwas  südlicher]  zwischen  Südeuropa  und  de: 
Mitteleuropa;  es  ist  die  Übergaogszone  zwischen  den 
Mittelmeere  und  denen  an  der  Ost-  und  der  Nordsee.  Di< 
Mittelmeeres  bespülen  es  im  österreichischen  Küstenlande 


—     100    — 

frankreich;  aber  die  Alpen  und  die  rauhen  Berglande  im  Norden  der 
Balkanhalbinsel,  als  eine  wichtige  Vormauer  der  ersteren  auch  der 
Appennin,  scheiden  es  vom  Süden  und  machen  aus  ihm  eine  eigene 
Welt  halb  nordischen,  halb  südlichen  Kulturcharakters.  Die  Elemente 
dieser  Kultur  sind  teils  nordischer,  europäischer,  teils  exotischer,  orien- 
talischer« Herkunft.  Im  einzelnen  ist  da  noch  vieles  strittig,  aber  über 
das  Wesen  des  Ganzen  kann  man  vernünftigerweise  nicht  im  Zweifel 
sein.  Jene  Vermengung  und  Durchdringung  ist  uralt  und  reichte  einst 
viel  weiter  nach  Süden  hinab,  in  Zeiten  und  Länderräume,  die  beide 
uns  hier  direkt  nichts  mehr  angehen.  Die  Metalle,  die  Bronze  und 
das  Eisen  spielen  dabei  eine  geringere  Rolle,  als  man  gewöhnlich 
glaubt,  eine  viel  bescheidenere,  als  die  Lebensformen  im  allgemeinen, 
und  es  macht  z.  B.  wenig  Unterschied,  ob  das  Eisen  schon  vorhanden 
ist,  wie  im  Süden  und  im  Hallstätter  Kulturkreis,  oder  noch  fehlt,  wie 
in  Nordeuropa  und  im  Nordwesten.  Das  Eisen  fand  überhaupt  im 
ganzen  Altertum ,  auch  bei  den  orientalischen  und  den  klassischen 
Völkern,  nicht  so  reichliche  Anwendung,  als  wenn  es  das  erstbekannte 
Metall  gewesen  wäre.  Das  erklärt  sich  aus  der  alten  und  intimen  Ver- 
trautheit mit  der  Bronze,  aus  deren  hoher  Beliebtheit  und  Tauglich- 
keit für  die  Zwecke,  welchen  das  Metall  im  Altertum  überhaupt  zu 
dienen  hatte.  Die  Alten  sind  in  gewissem  Sinne  stets  Kinder  gewesen, 
denen  das  Schöne  über  das  Nützliche  ging.  Viel  wertvollere  Merk- 
malQ,  als  die  Bronze  und  das  Eisen,  bilden  für  die  Erkenntnis  der 
wahren  Kulturgrenzen  die  Unterschiede  von  Stadt  und  Dorf,  Steinbau 
und  Holzbau,  Bilderreichtum  und  Bildarmut,  Schriftbesitz  und  Schrift- 
losigkeit. 

Die  allgemeinen  Lebensformen  sind  es  also,  welche  den  Unter- 
schied zwischen  vorgeschichtlichen  und  geschichtlichen  Zeiten  und 
Völkern  ausmachen,  und  sie  stellen  die  Hallstattperiode  mit  ihren 
namenlosen,  aber  wahrscheinlich  keltischen,  germanischen  und  illyrischen 
Kulturträgem  noch  ganz  in  die  Vorgeschichte,  doch  gegen  das  Ende 
derselben.  Noch  ganz  prähistorisch,  zeigt  sie  doch  schon  das  ferne 
Heraufdämmern  einer  geschichtlichen  Ära  für  ihr  Gebiet,  wie  es  in 
dessen  geographischer  Lage  und  in  den  allgemeinen  Zeitverhältnissen 
begründet  ist.  Als  echte  Übergangszeit  bringt  sie  in  ihrem  Gebiete 
eigentlich  nichts  Neues  zu  revolutionärer  grundstürzender  Herrschaft. 
Sie  setzt  strenggenommen  nur  die  jüngere  Bronzezeit  weiter  fort  und 
belebt  sie  mit  neuen  Elementen,  wie  ja  die  Bronzezeit  selbst  nur  eine 
bereicherte  Fortsetzung  der  Periode  ist,  die  wir  jüngere  Steinzeit  nennen. 
Allein  gerade  in  dieser  Stetigkeit,   bei  all   den   unbekannten  Kompli- 


—     101     — 

kationen  der  Völkerschicksale  im  einzelnen,  liegt  das  Gediegene,  Aus- 
sichtreiche  der  Entwickelung  im  ganzen.  Wie  K.  Schumacher  jüngst 
wieder  treflfend  hervorgehoben,  ist  die  vorgeschichtliche  Bevölkerung 
Mitteleuropas  für  alle  Zeiten  nach  dem  Ablauf  der  älteren  Steinzeit 
an  2^hl  und  Dichtigkeit  höher  einzuschätzen,  als  gewöhnlich  geschieht. 
Die  Vorstellung  von  dem  Zusammenleben  in  kleinen  Horden  oder  in 
völlig  zerstreuter  Siedelungsweise  ist  aufzugeben ;  denn  durch  alle  Pe- 
rioden hindurch,  von  der  neolithischen  bis  zur  römischen  trifft  man 
groise  geschlossene  Dorfanlagen,  neben  welchen  allerdings  einzelne 
Siedelungen  nicht  fehlen.  Daraus  ergab  sich  umfangreichere  Rodung 
und  Urbarmachung  des  Gemeindelandes  zu  Zwecken  festen  Acker- 
baues, und  eine  weitere  Folge  war,  dafs  nachrückende  Völker,  die  doch 
stets  der  gleichen  indogermanischen  Gruppe  angehörten,  sich  die  Kultur- 
arbeit ihrer  Vorgänger  immer  wieder  zunutze  machten.  Auf  diese 
Weise  entwickelte  sich  jene  Kontinuität  der  Besiedelung  und  Bebauung 
günstiger  örtlichkeiten,  von  welchen  die  Ausgrabungen  auf  Schritt  und 
Tritt  Zeugnis  ablegen.  (Vgl.  K.  Schumacher,  Zttr  Besieddungs- 
geschidUe  des  rechtsseitigen  Rheiniales  sswischen  Basel  und  Maine, 
Festschr.  Mus.  Mainz  1902,  S.  löflf.). 

Dafs  es  eine  so  beschaffene  erste  Eisenzeit  in  dem  genannten  Ge- 
biete gegeben,  war  aus  geschriebenen  Urkunden  schlechterdings  nicht 
zu  ermitteln,  ja  nicht  einmal  zu  ahnen.  Die  mangelhafte  Vertrautheit 
früherer  Generationen  mit  den  ungeschriebenen  Zeugnissen  höheren 
Altertums,  ihre  Buchweisheit  und  Bodenscheu,  wenn  man  so  sagen 
darf,  haben  es  mit  sich  gebracht,  dafs  man  das  gesamte  Kulturleben 
unserer  Altvordern  vor  deren  Berührung  mit  den  Römern  viel  zu  gering 
einschätzte.  Erst  vor  einem  halben  Jahrhundert  fiihrtcn  verschiedene 
Entdeckungen,  namentlich  jene  bei  den  umfangreichen  und  planmäfsigen 
Ausgrabungen  auf  dem  Salzberge  bei  Hallstatt  in  Oberösterreich  zu 
einem  ebenso  reichen  und  anziehenden,  als  rätselhaften  Bilde  jener 
Periode,  die  man,  durch  jene  falsche  Wertung  irregeleitet,  den  letzten 
Jahrhunderten  vor  unserer  Zeitrechnung  gleichsetzte.  Heute  weifs  man, 
dafs  sie  zum  gröfsten  Teile  der  ersten  Hälfte  des  Jahrtausends  an- 
gehört. Nach  Montelius  umfafst  sie  das  IX. — V. ,  nach  Schumacher 
das  IX. — VI.,  nach  Naues  (wohl  zu  niedriger)  Schätzung  das  VIIL — IV., 
nach  anderen  das  XII. — VI.  Jahrhundert  Nach  meiner  Meinung  mufs 
man  ihr  das  X.— V.  Jahrhundert  einräumen.  Eine  Trennung  zwischen 
älterer  und  jüngerer  Hallstattzeit  machten  Montelius  bei  600,  Naue 
bei  400,  andere  bei  700  und  500  v.  Chr. 

In  diese  Zeit  fallen  auf  anderen,  südlichen  und  östlichen  Gebieten 


—     102     — 

bekannte  historische  Vorgänge :  die  Ausbreitung  der  assyrischen  Macht 
in  Vorderasien,  die  des  phönikischen  Handels  und  der  griechischen 
Kolonisation  im  Mittelmeer,  die  Blüte  der  etruskischen  Macht  in 
Italien  und  die  erste  Entwickelung  Roms.  Durch  alle  diese  Ver- 
änderungen geht  ein  gemeinsamer  Zug.  Etwa  vom  Ende  des  XII.  Jahr- 
hunderts ab  schreitet  der  Geist  der  Geschichte  im  Orient  und  der 
Mittelmeerwelt  von  Ost  nach  West  und  von  Süd  nach  Nord.  Im 
Morgenlande  bricht  das  Reich  der  Qietiter  zusammen,  und  die  ägyp- 
tische Macht  verfällt.  Syrien  und  das  Nilgebiet  erfahren  die  Angriffe 
der  Seevölker.  Die  Hellenen  reagieren  gegen  die  phönikische  Herr- 
schaft im  östlichen  Mittelmeer,  und  die  Phöniker  wenden  sich  nach 
Westen.  Assyrien  erhebt  sich  zur  Grofismacht,  von  welcher  Syrien, 
Babylonien  und  Ägypten  abhängig  werden.  Aber  vom  weiteren  Nor- 
den her  drängen  wieder  neue  Stämme,  die  Kimmerier  und  die  Skythen; 
und  zuletzt  ersteht  gegen  die  Mitte  des  Jahrtausends  das  erste  indo- 
germanische Weltreich,  das  der  Perser.  Während  des  gleichen  Zeit- 
raumes vollzieht  sich  in  Griechenland  und  von  dort  aus  anderes:  die 
hellenische  Besiedelung  Kleinasiens,  das  siegreiche  Auftreten  der  nor- 
dischen Bergstämme  im  Mutterlande,  die  Kolonisation  des  Hellesponts 
und  des  Pontus,  Siziliens  und  Italiens.  Der  griechischen  Expansion 
gegenüber  begründen  und  verbünden  sich  die  karthagische  und  die 
etruskische  Macht;  —  all  das  zeigt  den  Stempel  eines  Überganges 
höher  bewegten  historischen  Lebens  auf  neue ,  dem  mittleren  Europa 
•näher  gelegene  Gebiete. 

Die  Hallstattperiode  ist  nun  nicht  nur  gleichzeitig  mit  diesen  Vor- 
gängen, sie  steht  auch  gewifs  in  kausalem  Zusammenhang  mit  ihnen. 
Irgendwo  müssen  sich  so  grofse  Anstöfee  für  uns  im  Dunkel  ver- 
lieren, ohne  dafs  die  Fortpflanzung  wirklich  aufhörte.  Mit  anderen 
Worten :  bei  so  vieler  Bewegung  rund  um  das  Mittelmeer  ist  ein  ganz 
in  sich  abgeschlossener,  allein  auf  sich  selbst  ruhender  Kulturkreis  in 
Mitteleuropa  undenkbar.  Weder  einzeln,  noch  als  Gesamtheit  gegen- 
über der  Mittelmeerwelt  haben  die  illyrischen  und  thrakischen,  kel- 
tischen und  germanischen  Völker  des  Nordens  ein  Sonderdasein  ge- 
führt, sondern  mittelbar  oder  unmittelbar  standen  sie  alle  teils  unter- 
einander, teils  mit  jenem  Süden  in  Beziehungen,  die  freilich  kein  grofs- 
zügiger  Handelsverkehr ,  sondern  ein  stiller  Gütertausch  von  Nachbar- 
haus zu  Nachbarhaus  gewesen  sind. 

Man  hat  früher  gemeint,  dafs  Mittel-  und  Nordeuropa  in  den 
ältesten  Metallzeiten  kulturell  ganz  vom  Süden  abgehangen  hätten. 
Das  hat  sich  widerlegt;  aber  es  ist  doch  unmöglich,   sich  Südeuropa 


—     103     — 

und  den  Orient  bei  der  Betrachtung  jener  Zeiten  einfach  wegzudenken. 
Das  Wesen  der  Hallstattkultur  li^,  wie  wir  schon  sahen,  nicht  in 
einem  Umschwung,  sondern  in  einer  Steigerung  namentlich  des  Han- 
dels und  der  Produktion.  In  belehrender  Weise  zeigt  sich  dabei,  wie 
die  gröfseren  Vorteile  nicht  dem  Erzeuger  der  Rohprodukte,  dem  Bem- 
steinfischer  und  Zinnschmelzer  nordischer  Küsten,  sondern  dem  mittel- 
europäischen Zwischenhändler  zugefallen  sind.  Natürlich  war  dieser 
selbst  auch  wieder  Produzent.  Waren  aus  dem  Mineralreich  (Salze, 
Metalle),  Pflanzenreich  (Holz,  Zerealien)  und  Tierreich  (Vieh,  Häute, 
Wolle,  Wachs  usw.)  wurden  überall  in  steigendem  Mafse  gewonnen 
imd  zum  Austausch  verwendet.  Daher  der  Reichtum  und  die  gro&en 
Volksziffem,  bezeugt  durch  die  zahlreichen,  oft  mehrere  Tausende  von 
Gräbern  umfassenden  Totenfelder  dieser  Zeit  mit  ihren  unendlichen 
Mengen  von  Schmucksachen,  Waffen,  Gefafsen  und  Geräten  allerart, 
die  insgesamt,  ob  aus  Eisen,  Bronze  oder  welchem  Stoffe  immer,  das 
technische  und  formelle  Gepräge  ihrer  Zeit  an  sich  tragen. 

Die  Frage  nach  dem  Ursprünge  der  Hallstattkultur  hat  man  früher 
falsch  gestellt.  Man  fragte  sich  nämlich,  ob  blofs  Import  und  Ein- 
flüsse aus  dem  Süden  oder  aber  eine  vom  Süden  ganz  unabhäng^e 
Entwickelung  vorliege.  Die  einen  leiteten  schon  für  die  Bronzezeit, 
noch  mehr  für  die  erste  Eisenzeit,  alles  und  jedes  —  oder  wenigstens 
alles  Neue,  oder  alles  Bessere  —  vom  Süden  her:  aus  Etrurien,  aus 
Griechenland,  von  den  Phönikem  oder  überhaupt  aus  dem  Orient. 
Diese  Auffassung  hat  viel  Abbruch  erlitten  durch  ungereimte  konkrete 
Vorstellungen  von  phönikischen  Handelskoionien,  etruskischen  Handels- 
strafisen  u.  dgl.  in  nördlichen  Gebieten.  Die  anderen  hielten,  wie 
F.  V.  Hochstetter,  Mitteleuropa  oder  gar,  wie  heute  noch  eine  ganze 
Schule,  Nordeuropa  für  die  Quelle  aller  Formen  und  Erscheinungen 
prähistorischer  Kultur  in  unserem  WeltteU.  Man  pflegt  eben  in  dunklen 
Fragen,  solange  es  geht,  das  Einfache,  Formelhafte  dem  Verwickelten 
vorzuziehen.  Allein  die  Tatsachen  sind  nicht  so  einfach.  Hinsicht- 
lich der  Hallstattzeit  lehren  sie  uns,  dais  am  Beginn  des  ersten  Eisen- 
alters, um  looo  V.  Chr.,  in  weiten  Länderräumen  des  mittleren  und 
des  südlichen  Europa  annähernde  Kulturgleichheit  herrschte,  dafs  aber 
dann  der  Süden  und  namentlich  der  Südosten,  infolge  der  mykenischen 
Erbschaft  und  der  fortwirkenden  Nähe  des  Morgenlandes,  bald  einen 
grofisen  Vorsprung  gewann.  Dort  schritt  die  Kultur  sichtlich  rascheren 
Ganges  vorwärts,  als  in  Mitteleuropa,  und  ersetzte  allmählich  überall 
das  Primitive,  Europäische,  Prähistorische  durch  das  Entwickelte,  Diflfe* 
renzierte,  GeschichÜiche.     Dadurch   entstand   die  Möglichkeit,  ja  die 


—     104     — 

Notwendigkeit,  dafe  der  Süden  in  steigendem  Mafse  Einfluls  auf  den 
Norden  gewann,  wie  ihn  schon  die  ältere,  noch  mehr  die  jüngere 
Hallstattstufe  und  wieder  noch  mehr  die  La-Tfene-Periode  zeigt  Da- 
neben herrschte  aber,  im  Gegensatz  zum  Süden,  jene  eben  gekenn- 
zeichnete prähistorische  Stabilität,  welche  es  mit  sich  brachte,  dafe 
streckenweise  die  ältesten  Formen  der  Hallstattzeit  bis  ans  Ende  der 
Periode,  ja  noch  lange  darüber  hinaus  festgehalten  wurden,  und  heute 
als  TruggebUde  aus  der  Reihe  der  wirklichen  Leitfossilien  ausge- 
schieden werden  müssen. 

Die  Nebengruppen  der  Hallstattkultur,  welche  gleichzeitig  mit  ihr 
in  benachbarten  Gebieten  herrschten,  sind:  im  Süden  das  griechische 
Mittelalter  und  die  Anfänge  der  klassischen  Kultur,  femer  die  pro- 
toetruskische  und  die  etruskischen  Stufen  Italiens,  —  im  Norden  und 
Nordwesten  die  jüngere  germanisch-keltische  Bronzezeit  — ,  im  Osten 
die  sogen,  skythische  Bronze-  und  erste  Eisenzeit.  Die  griechische^ 
später  griechisch  -  italische  Nebengruppe  befruchtete  den  Hallstätter 
Kulturkreis,  die  nordische  und  die  skythische  beschränkten  ihn.  Aber 
der  stammverwandte  Norden  steht  ihm  und  seiner  Entwickelung  näher,, 
als  der  allophyle  Osten.  Hier  sieht  man  deutlich,  wie  seiner  Aus- 
breitung durch  eine  starke  Gegenströmung  Einhalt  geboten  wiu-de. 
Im  finno-ugrischen  Osten  entwickelte  sich  eine  erste  Eisenzeit  mit 
parallelem  Gebrauche  der  Bronze  und  des  Eisens  aus  der  ural-altaischen 
Bronzezeit  ähnlich,  wie  sich  die  Hallstattgruppe  aus  der  mitteleuropäischen 
Bronzekultur  entwickelt  hat. 

Der  Verfall  und  das  Ende  kamen  aber  der  Hallstattkultur  nicht 
vom  Süden  und  nicht  vom  Norden,  auch  nicht  vom  Osten,  sondern 
vom  Westen.  Nicht  Griechen  oder  Etrusker,  nicht  Germanen  und 
Skythen  haben  Neues  an  ihre  Stelle  gesetzt,  sondern  die  Kelten.  In 
manchen  Gegenden  bricht  sie  plötzlich  ab,  und  an  ihrer  Statt  erscheint 
unvermittelt  ein  ganz  neuer  fremdartiger  Formenkreis  noch  ziemlicb 
rätselhaften  Ursprungs:  die  Typen  der  Früh -La-Tene-Kultur,  deren 
Analyse  auf  westgriechische  Einflüsse  und  ein  starkes  autochthones 
Handwerk  zurückleitet.  So  geschah  es  im  Westen  und  in  Böhmen* 
In  anderen  Gebieten  hören  die  Hallstattformen  nicht  so  völlig  auf,  und 
es  ist  nicht  die  frühe,  sondern  die  mittlere  La -T^e- Stufe,  welche 
sie  ablöst  oder  sich  mit  ihnen  vermengt.  Dies  ist  in  den  Ostalpen^ 
ländem  der  Fall.  Noch  weiter  im  Südosten,  im  dinarischen  Bergland^ 
finden  wir  bis  zur  Kaiserzeit  ein  buntes  Gemenge  später  lokaler  Hall* 
stattformen  und  vorgeschrittener  La-T^ne-Typen ,  dem  sich  bald  Rö- 
misches gesellt.     Daraus  erkennt  man   den  Weg,   den  die  La-Tene* 


—     106     — 

Kultur,  d.  i.  Macht  und  Einfluis  der  Kelten  des  Westens,  in  der  zweiten 
Hälfte  des  Jahrtausends  in  Mitteleuropa  zurückgelegt  und  die  Schick* 
sale,  welche  sie  der  Hallstattkultur  in  den  einzelnen  Ländern  bereitet 
haben.  Man  sieht,  wie  diese  neue  Macht,  von  Westen  ausgehend  und 
die  einheimischen  Ellemente  anfangs  ganz  verdrängend,  zuerst  das  west- 
liche und  das  südliche  Deutschland,  später,  anscheinend  mit  geringerer 
Energie,  die  Ostalpen  und  zuletzt  den  Norden  der  Balkanhalbinsel 
überzog  und  unterwarf.  Je  weiter  sie  kam,  desto  mehr  verlor  sie  ihren 
ursprünglichen  Charakter,  und  mit  der  zeitlichen  und  räumlichen  Ent- 
fernung von  ihrer  Basis  wuchs  die  Neigung  und  Fähigkeit  zur  Ver- 
mischung. Und  in  solchen  Mischformen,  oft  in  barocker  Entstellung,^ 
hat  dann  auch  manches  uralte  hallstättische  Element  bis  zur  Römerzeit 
und  darüber  hinaus  fortgedauert. 


Kirehen^  und  sozialpolitisehe 

itn  ISflittelalter 

Von 
Heinrich  Werner  (Euskirchen) 

(Scblofs)  1). 

Aber  noch  ein  anderer  Gedanke  der  Abwehr  zieht  durch  die 
ganze  Reform  des  geistlichen  Standes.  Bei  der  Wahl  zu  den  ein- 
zelnen kirchlichen  Ämtern  weist  er  rücksichtslos  und  konsequent  die 
Kandidatur  eines  Mönches  ab:  es  ist  bekannt»  wie  gespannt  das  Ver-^ 
hältnis  zwischen  der  Pfarrgeistlichkeit  und  den  Bettelmönchen  während 
der  Baseler  Reformbew^ung  war ').  Aber  auch  von  Laien  ist  in  da- 
maliger Zeit  wiederholt  den  Bettelmönchen  die  Schuld  an  dem 
Schaden  in  der  Christenheit  zugeschrieben  worden  ^).  Die  Reformation 
Kaiser  Sigmunds  erweitert  nun  diesen  Gegensatz,  indem  sie,  vom 
Standpunkte  der  Städtebürger  und  Humanisten  aus,  das  Überwuchern 
des  Mönchtums  in  kirchlichem  Amt  und  Besitz  auf  der  ganzen  Strecke 
ablehnt.  Bei  einem  Mönche  in  hohem  kirchlichem  Amt  liege  die 
Gefahr  nahe,  dafs  er  seine  Ordensmitglieder  von  Ordensregeln  dis- 
pensiere ^)  und  dadurch  in   die  Amtsbeiugnisse  der  Pfarrgeistlichkeit 

i)  Vgl  oben  S.  65—88. 

2)  Vgl.  meinen  AoüiaU  in  Histor.  VieiteljahnchriA  5.  B.,  S.  469  f. 

3)  Ebenda  S.  471. 

4)  Vgl.  auch  Nikolaas  von  Knes  OoneordatUia  eatholica  cap.  30. 


—     106     — 

-eingreife,  während  anderseits  den  Laien  wirtschaftliche  Konkurrenz  er- 
wachse. Denn  gerade  das  wirtschaftliche  Übergewicht  der  Orden  *) 
fordert  ihn,  den  Laien,  auf  zur  Revindikation  des  kirchlichen  Besitzes. 
Aber  nicht  nur  den  Orden  fordert  er  den  weltlichen  Besitz  ab,  son- 
dern dem  ganzen  geistlichen  Stande  jede  wirtschaftUche  Tätigkeit. 
Denn  es  soll  sich  latUer  in  aUweg  scheiden  das  Geistliche  vom  WeU- 
Uchen% 

Auch  Nikolaus  von  Kues  verurteilt  den  zeitlichen  Besitz  in  der 
toten  Hand  der  Kirche  *).  Ihm  schwebt  deshalb  auch  als  Ideal  eine 
weltliche  Verwaltung  des  Kirchenguts  vor  und  zwar  in  der  Person  von 
Laien  als  vicedomini  und  oeconomi,  die  von  einem  Fürsten  unter 
Konsenserteilung  der  Kirche  aufgestellt  werden  sollen.  Gleichzeitig 
auf  dem  Baseler  Konzil  erschien  die  Denkschrift  eines  Ungenannten  *), 
die  dem  Papste  die  weltliche  Verwaltung  des  Pa^imonium  Peiri 
abspricht.  Es  sollen  dafür  von  Papst  und  Kardinälen  12  Männer 
zvL  einem  Senate  konstituiert  werden,  die  gegen  festes  Gehalt  die  welt- 
lichen Geschäfte  an  der  Kurie  besorgen  *).  Aber  wie  heftig  werden 
erst  die  Einkünfte  der  Kurie  durch  Annaten  und  die  vielen  anderen 
Taxen  in  jener  Zeit  angegriffen!  Gleichzeitig  und  fast  gleichlautend 
haben  Nikolaus  von  Kues  und  Valentin  Eber  Mifsstände  gegeifeelt, 
die  gerade  durch  das  Drängen  der  deutschen  Nation  in  dem  Konzils- 
beschlusse  über  die  Abschaffung  der  Annaten  gemildert  wurden  •). 
Beide  Verfasser  wollen  die  kirchlichen  Gnaden  gratis  verteilt  wissen. 
Für  den  Ausfall  dieser  Nebeneinnahmen  stellt  Nikolaus  von  Kues 
(Kap.  30)  im  Einklang  mit  dem  Konzil  provisiones  in  Aussicht.  Valentin 
Eber  sieht  im  Einklang  mit  den  Vertretern  der  deutschen  Nation  und 
besonders  mit  dem  Antrag  des  Andreas  von  Eskabor  eine  Teilung  der 
Einkünfte  des  Patrimonium  Petri  vor,  so  dafs  ein  Drittel  dem  Papst  und 
zwei  Drittel  den  Kardinälen  zufallt.  Für  die  Ausstattung  der  übrigen 
hierarchischen  Beamten  soll    durch    eine  jährliche    feststehende   und 

i)  Die  orden  haben  das  erdrteh  inne.    Vgl.  Boehm  S.  176. 

2)  Vgl.  Boehm  S.  231. 

3)  VgL  Concordantia  catholica,  L  2,  cap.  29:  temporalia  eeclestarum  quid 
prosunt  rei  fmblieae,  quid  imperio,  quid  subditis?  certe  parum  aut  nihil. 

4)  Vgl.  Haller  a.  a.  O.  S.  208. 

5)  VgL  auch  Deutsche  Geschlchtsbl&Uer  4.  Bd.,  S.  44. 

6)  Ouria  attrahii  quidquid  pingue  est.  Hie  mundus  elamat  de  quaesiu 
Romanae  euriae  (1.  a,  cap.  29  —  30).  Propter  liies  omnis  sudor  etiam  parefUutn 
per  filios  ad  curiam  defertur,  posipomtntur  studia  et  religumum  exerdtiay  deferunt 
<mrum  et  argentum  et  reportant  Chartas  (l.  3,  cap.  40).  Vgl.  dam  Boehm  S.  182 
und  183. 


—     107     — 

gleiche  Besoldung  in  der  Gestalt  einer  persönlichen  Pfründe  gesorgt 
werden.  Diese  soll  aus  dem  Ertrag  des  Herrschaftsgutes  und  der 
Ablösungssumme  aller  Gerechtigkeiten,  die  auf  dem  Untertanengut 
ruhen,  gezahlt  werden.  Bei  einer  Überbilanz  soll  die  überschüssige 
Summe  zum  Kirchenbau  verwendet  werden  *).  Bei  einer  Unterbilanz 
ist  Zusammenfassung  mehrerer  Pfarreien  und  bei  Klöstern  Vermin- 
derung der  Zahl  der  Mönche  vorgesehen.  Das  Reichsgut  der  Geist- 
lichen und  die  damit  verbundene  weltliche  Würde  soll  an  das  Reich 
zurückfallen,  das  es  an  Ritter  und  Städte  geben  soll.  Auch  Nikolaus 
von  Kues  erkennt  den  Schaden  der  Anhäufung  von  zeitlichem  Besitz 
in  der  toten  Hand.  Er  kommt  zu  dem  bezeichnenden  Schlufs:  «m- 
periale  efficitur  papcde  et  spirituale  temporale.  Dieser  appetitus  ad 
ipsa  terrena  ecclesiis  annexa  dominia  hat  einen  unverhältnismäisigen 
Zudrang  zum  Priesterstande  im  Gefolge  (1.  2,  cap.  32)  und  dies  wieder 
eine  Verachtung  des  Priesterstandes  selbst,  zumal  dieser  durch  seine 
Unwissenheit  die  Verachtung  seiner  Mitglieder  nach  sich  zieht.  Das 
alles  facit  laicos  clericis  infestos  *).  Damit  gibt  der  Kusaner  einer  auch 
sonst  vielfach  geäufserten  ')  gereizten  Stimmung  der  Laien  gegen  den 
Klerus  zur  Zeit  des  Baseler  Konzils  einen  erneuten  Ausdruck.  Aus 
dieser  gegenseitigen  Bedrohung  ist  auch  des  Laien  Valentin  Eber 
Reformschrift  hervorgegangen.  GröFsere  Reformprogramme  von  Laien 
werden  nun  auch  am  Ende  des  XV.  und  zu  Beginn  des  XVI.  Jahrhunderts 
häufiger,  zumal  in  dieser  Zeit  Erscheinungen  auftreten,  welche  das  be- 
günstigen. 

Mit  dem  Erwachen  der  Sinnesfreude  in  der  Renaissance  werden 
auch  die  naturwissenschaftlichen  Bestrebungen  wiedererweckt.  Aber 
die  Unzulänglichkeit  der  technischen  Mittel,  die  der  Erforschung  der 
Natur  dienen  sollten,  liefe  den  Aberglauben  an  Geheimmittel  erwachsen, 

i)  Damit  wäre  der  Anfang  zur  Kirchenfabrik  gemacht.  Armin  Tille  hat  in  seiner 
Übersicht  iibcr  den  InhaU  der  kleineren  Archive  der  Rheinprovinx  mehrfach  auf  An- 
fönge  der  Verwaltung  der  Kirchengüter  durch  Laien  hingewiesen.  So  wird  der  ibtrcA- 
meister  erwähnt  schon  fUr  das  Jahr  1373  (i.  Bd.,  S.  209)  und  später  öfters  i.  Bd., 
S.  156,  224,  263  und  276.  Es  wäre  eine  im  höchsten  Mafse  dankenswerte 
Arbeit,  wenn  einmal  die  Beteiligung  der  Laien  an  der  Verwaltung 
des  Kirchenvermögens  Tor  dem  XVI.  Jahrhundert  im  Zusammenhange 
untersucht  wttrdel 

2)  Valentin  Eber  tritt  auch  der  Überzahl  der  Geistlichen  entgegen,  aber  als 
Laie  und  Humanist  gerade  den  Mönchen.  Aus  demselben  Grunde  wiU  er  auch  die  un- 
wissenden Priester  in  die  Dome  zum  Kanonikat  und  die  gelehrten  in  die  Pfarrkirchen  be- 
rufen wissen. 

3)  Vgl.  Deutsche  Geschichtsblätter,  4.  Bd.,  S.  55  Anm.  2. 


—     108     — 

mit  denen   man   vorläufig'  sein  Streben  nach   Naturerkenntnis  zu  be- 
friedigen suchte.     So  steht  an  der  Wiege  der*  Chemie  die  Alchimie, 
an  der  der  Astronomie   die  Astrologie.     Namentlich   die  letztere  war 
im  XV.  Jahrhundert  die  populärste  Wissenschaft  bei   allen  Ständen, 
Kaiser,  Papst  und  Volk  ^).     Sie  greift  mit  ihrer  geheimnisvollen  Kraft 
in  das  private,  politische  und  soziale  Leben  tief  ein').     Mit  geradezu 
faszinierender  Gewalt  wirkten  die  Reformschriften  auf  das  Volk,  welche 
neben  der  unmittelbaren  Offenbarung  in  der  Prophetie  die  mittelbare 
durch  Konstellation  in  der  Astrologie  in  sich  vereinigten  und  so   die 
leicht  bewegliche  Phantasie  des  gemeinen  Mannes  doppelt  erregten  •). 
Schon  unter  den  Gelehrten  des  Konstanzer  Konzils  werden  die  asiro^ 
logt  mit  klugen  listen  angeführt,  ebenso  die  sdiwairghunst  niffromaniici  ^), 
aber  keine  Schrift  hat  sich  die  Verbindung  von  Prophetie  und  Astro- 
logie  mehr  nutzbar   gemacht  als   die  Praktik  Lichtenbergers  ^).     Die 
Prophetie,  verstärkt  durch  die  Astrologie,  gibt  erst  Lichtenberger  den 
Mut,    freisinnige  Ideen  zu  verkünden;    aber  die  Prophetie   hat  auch 
seine  Reformgedanken  befruchtet.     Nach  joachimitischen  Erwartungen 
steht  eine  sozial-  und  kirchenpolitische  Krisis  bevor;  in  der  Übeigangs- 
zeit  treten  mehrere  Propheten  auf,  unter  anderen  auch  ein  Mönch,  „der 
eine   neue  Geistlichkeit  aufbringen  wird**,   dann  erscheint  der  Anti- 
christ  und   nach    ihm  wird   „eine  neue   und  gute  Reformation"   an- 
gerichtet werden.     Durch  sie   werden  Lehen  und  Zinsen  verdammt» 
und  es  wird  angeordnet,  „dafs  die  Geistlichen  nur  vom  Zehnten  und 
dem  Opfer  leben  und    das    Gepränge   der   Kleider   ablegen  sollen**. 
Auch  wird  geboten  werden,   „dafs   man   das  Evangelium  pre- 
dige**.    Überhaupt    soll    die  gerechtigkeit  des  evangeliums  ^)  gegen- 
über der  irdischen  und  getrübten  Weisheit  des  geistlichen  und  kaiser- 
lichen Rechts  wieder  zur  Geltung  kommen  ^).    Eine  Neuordnung  durch 
das  Volk   aber  kann  nur  unter  dem  Antrieb   der  Sterne   geschehen. 
So  ist  hier,   abgesehen  von  den  anderen  Stichwörtern   der  Prophetie, 
auch  der  Gedanke  der  Volkssouveränität  von   der  Höhenluft  des  Ka* 
theders   in   die  Niederungen   des  Volkes  gedrungen    und    durch    die 

i)  VgL  Johann  Friedrich,  Äetrologie  und  Refortnaiian  oder  die  Aitroiogem 
(Ü9  I^reddger  der  Refarmaiian  und  ürkdfer  des  Bauemkriegee,  S.  x6  (München  1864). 
3)  Vgl.  meine  Schrift  Onus  eeelesiae^  S.  47  Anm.  2  und  3  und  S.  94  Aom.  4. 

3)  ^gl*  ^*  Bezold,   Die  armen  Leute  und  die  deutsehe  Liienxtur  des  splUerem 
Mittelalters.    In  Sybels  Hiitor.  ZeiUchrift,  N.  F.,  5.  Bd.,  1879,  S.  1—37. 

4)  VgL  Finke  a.  a.  O.  S.  76. 

5)  Vgl.  Onus  eeelesiae  S.  95  Anm.  3. 

6)  Vgl.  ebenda  S.  98. 

7)  Ebenda  Anm.  2. 


—     109     — 

prophetisch-astrologische  Umkleidung  populär  geworden.  Wo  diese 
prophetisch -astrologische  Anschauungsweise  Platz  griff,  da  wirkte  sie 
bei  dem  unentwickelten  Denken  des  mittelalterlichen  Volkes  wie  das 
Naturrecht.  Die  nun  immer  wachsenden  Mifsstände  treiben  die  durch 
Prophetie  und  Astrologie  genährten  sozial-  und  kirchenpoUtischen  Er- 
wartungen des  Volkes  immer  mehr  in  die  Höhe;  die  weite  Verbrei- 
tung dieser  Anschauungen  und  den  Kampf  innerhalb  derselben  lehrt 
uns  am  besten  eine  Schrift  Grünpecks  *)  kennen.  Die  Erwartung  der 
Züchtigung  von  Kirche  und  Gesellschaft  war  nach  ihm  damals  ein  ge- 
mein sag.  Geistliche  und  weltliche  Obrigkeit  wird  verachtet  und  die 
Kirchen  verwüstet  werden ;  auch  die  Laien  werden  darunter  zu  leiden 
haben ;  wenn  auch  die  Geistlichen  zuerst  gezüchtigt  werden,  so  müssen 
doch  die  Laien  den  „schmutzigen  Rest  zuletzt  trinken".  Die  bei- 
gegebenen Bilder  redeten  für  den  gemeinen  Mann  noch  eine  deut- 
lichere Sprache,  namentlich  das  eine  mufste  besonders  auffallen,  das 
das  Innere  einer  umgekehrten  Kirche  zeigt*),  in  der  ein  Laie 
Messe  liest,  während  ihm  die  Geistlichkeit  assistiert.  Also  das 
Laienpriestertum  ist  hier  schon  vor  Luther  in  Deutschland  ver- 
anschaulicht. Dieser  selbst  erkannte  auch  in  der  Vorrede  zu  seiner  Aus- 
gabe der  Praktik  (vom  Jahre  1527)*)  an,  dafs  Lichtenberger  mit 
seinen  Bildern  gerade  daraufgeschossen  habe. 

Auch  die  gröfste  deutsche  Reformschrift  jener  Zeit,  die  sogenannten 
Trierer  Statuten  *),  stehen  unter  dem  Einflüsse  der  Astrologie  und  des 
Prophetentums.  Mit  dem  prophetischen  Schema  der  Züchtigung  der 
Kirche,  Erscheinung  des  Kaisers  Friedrich  aus  dem  Schwarzwalde  und 
des  Antichrists  schliefst  auch  der  „oberrheinische  Revolutionär**  sein 
breitangelegtes  sozial-  und  kirchenpolitisches  Programm.  Er  kennt 
Methodius,  die  joachimitische  Literatur  sowie  Birgittas  Offenbarungen, 
und  hat  sie  alle  wohl  ausgebeutet ;  wir  wundem  uns  daher  auch  nicht, 
wenn  ein  Laie  mit  solcher  Kühnheit  und  mit  solch  polterndem  Tone 
seine  radikalen  Ideen  zum  Ausdruck  bringt. 

Den  Mut  zur  Aufklärung  haben  ihm  Prophetie  und  Astrologie  ge- 
geben; aber  bei  ihm  tritt  schon  ein  anderer  Faktor  in  Wirksamkeit. 
Was  wir  schon  an  Valentin  Ebers  Schrift  als  ein  Merkmal  der  huma- 
nistischen Gesinnung  des  Verfassers  mit  Mühe  erkannten,  das  liegt  bei  dem 


i)  Ebenda  S.  99  Anm.  ff. 
3)  Ebenda  S.  los. 

3)  Ebenda  S.  103  Anm.  3. 

4)  Haupt,    Der  oberrheiniBefie  RevoluHonär,     In  Westdeotscfae  Zeitschrift 
<^chiclite  und  Kunst,  Ergänznngsbeft  Vllly  1893  (S*  79 — ^^S)* 


—     110     — 

oberrheinischen  Revolutionär  klar  zutage:  die  sogenannte  RefonnatioQ 
Kaiser  Sigmunds  ist  die  erste  deutsche  Reformschrift  und  noch  dabei 
eine  Übersetzung  von  einer  Sammlung  offizieller  und  privater  Reform- 
papiere.  Das  ist  der  Ausfluls  humanistischer  Bestrebungen  in  Augs- 
burg, war  ja  doch  die  „Liebe  zur  Muttersprache  und  Über- 
setzertätigkeit das  Haupterkennungszeichen  des  schwäbischen  Huma- 
nismus'', der  namentlich  in  seinem  „hervorragenden  Vertreter  Stein- 
höwel  die  hauptsächlichsten  Werke  des  Humanismus  popularisieren 
will '*  ^).  Auch  „ die  oberrheinischen  Humanisten  haben  durch  deutsche 
Übersetzungen  die  klassische  Bildung  zu  popularisieren  gesucht*'  ^. 
Diesen  Popularisierungsbestrebungen  kam  die  neu  erfimdene  Buch- 
druckerkunst weit  entgegen.  So  wurden  Schriften  von  Petrarca  und 
Boccaccio  u.  a. ,  aber  auch  die  mittelalterliche  Literatiu:,  namentlich 
die  aufgeklärte  französische  Publizistik  einer  breiteren  öfTenUichkeit 
übergeben.  Eine  Verbreitung  der  Schriften  von  Marsilius,  Dante  und 
Occam  nimmt  auch  Armin  Tille  a.  a.  O.  S.  486  noch  vor  der  ersten 
Drucklegung  derselben  an.  Der  Defensor  pcuds  erschien  deutsch  1545 
als  Ain  hurtzer  aasmg  des  treffentlichen  Werks  und  fridschirmbuchs 
und  1552  als  Marsilius  von  Padua^  von  kaiserlicher  majestät  und 
häpstticher  gewaU.  Dantes  Monarchey  erschien  deutsch  1559.  Am  Ende 
des  XV.  Jahrhunderts  entsteht  ein  gelehrtes  Proletariat  vornehmlich 
aus  Männern  der  Kanzlei  und  des  herabgekommenen  Adels;  Viel- 
wisserei  mit  ihrer  verhängnisvollen  Halbbildung  bemächtigt  sich 
vieler  sozial-  und  wirtschafüich  Enterbter  und  macht  sie  unzufrie- 
den bis  zur  Revolution.  Diese  wesentlichen  Zeichen  der  Zeit  finden 
wir  in  den  Trierer  Statuten  als  deuüiche  Merkmale  wieder.  Der  Ver- 
fasser kennt  das  wiederbelebte  sagenhafte  Altertum  der  Griechen  und 
Römer;  Männer  wie  Brutus  und  die  alten  Philosophen  dienen  ihm 
als  Idealbilder.  Wie  keiner  ist  er  beladen  mit  allen  möglichen  An- 
spielungen auf  die  Ortsgeschichte  und  schwelgt  in  humanistischer  Weise 
in  der  Schilderung  von  Natiu^chönheiten.  Dazu  hat  niemand  vor  ihm 
die  Weltsprache  des  Lateinischen  so  scharf  bekämpft,  aber  auch  nie- 
mand die  deutsche  Sprache  so  verherrlicht,  wie  er:  sie  ist  ihm  die 
W.  deutsche  Sprache.  Er  ist  der  heftigste  Gegner  alles  Romanischen 
und  Welschen  *)  schon  vor  Luther.     Überhaupt  sind  alle  freien  Ge- 

i)  Vgl.  Joachim  söhn,  Frühhumanismus  in  Schtvoben,  S.  125. 

2)  Vgl.  Boot  a.  a.  O.  2.  Bd.,  S.  426. 

3)  Am  nächsten  steht  ihm  hierin  Hans  von  Hermansgrün  (1495),  der  gleich  ener- 
gisch zun  Kampf  gegen  Frankreich  aufmft.  Vgl.  U 1  m  a  n  n  in  Forschungen  zur  dentschea 
Geschichte,  20.  Bd. 


—    111    — 

danken  des  Bürgers,  wie  sie  Valentin  Eber  hegte,  was  bei  dem  2^it- 
räum  eines  halben  Jahrhunderts,  das  inzwischen  vergangen  war,  nicht 
zu  verwundem  ist,  zum  Radikalismus  fortentwickelt.  So  kommt  es, 
daiis  der  Verfasser  oft  die  kühnsten  Angelwürfe  nach  der  Zukunft  tut '). 
Beide  smd  als  Laien  und  w^en  ihrer  humanistischen  Gesinnung 
Gegner  des  Zölibats,  aber  der  oberrheinische  Revolutionär  weit  radi- 
kaler; die  unehelichen  Kinder  vom  verfluchten  samen  treffen  seine 
härtesten  Worte.  Beide  erheben  heftige  Anklagen  gegen  die  Mit- 
glieder der  Hierarchie,  obschon  beide  hohe  Achtung  vor  dem  Priestertum 
hegen.  Valentin  Eber  ist  dem  Pfarramte  sehr  zugetan  und  verkündet 
stolz,  dafe  der  Kaiser  Friedrich  ein  Priester  sein  werde.  Der  ober- 
rheinische Revolutionär  versteht  dies  falsch  und  macht  daraus  den 
cäsaropapistischen  Satz :  Der  Kaiser  (Friedrich)  ist  der  oberste  pfarr  *). 
Beide  sind  Gegner  des  Mönchtums  und  der  Vermönchung  kirchlicher 
Ämter  und  kirchlichen  Besitzes  ')  und  zwar  fast  mit  denselben  Worten ; 
Söbaid  als  die  münch  wurden  envehlt  ftu  bebesten,  da  hat  der  Christen- 
glaub  sich  vermindert^).  Beide  sind  Gegner  der  „Gewaltigen**  und 
drohen  deshalb  mit  einer  bevorstehenden  Erhebung  der  „Kleinen**. 
Für  den  Städtebürger  Eber  bedeutet  dies  die  Erhebung  des  bürger- 
lichen Elements,  für  den  Landbewohner  die  der  Bauern.  Der  Gefolg- 
schaft entsprechend  hat  bei  dem  ersteren  die  Führung  der  mit  den 
niederen  Weihen  versehene  Stadtschreiber,  bei  dem  letzteren  ein  herab- 
gekommener Adliger  aus  einem  kleinen  geschlecht  aber  von  großer 
Vernunft,  ein  astronomus  und  in  allen  künsten  durchgründet  ^) ,  der  aa 
der  Spitze  eines  neuen  Adels  die  weit  mit  heereskraft  regulieren  wird. 
Beide  sind  Anhänger  der  Freiheit:  Eber  erhebt  als  Städtebürger  die 
bürgerliche  Freiheit  über  die  Leibeigenschaft,  der  oberrheinische  Revo- 
lutionär aber  verherrlicht  nach  seinen  Vorbildern  aus  der  populari- 
sierten humanistischen  und  französischen  Aufklärungsliteratur  die  uto- 

i)  Der  Verfasser  ist  offenbar  ein  sozial  and  wirtschaftlich  yerkommener  Adliger 
aas  dem  Schwarzwalde.  Er  entlehnt  die  französischen  Träumereien  des  Roman  de  la 
Rose,  atopistische  Z^c  aas  dem  griechisch-römischen  Altertame  and  dem  Alten  Testament, 
and  fUgt  sie  am  das  Traambild  einer  deutschen  Unrergangenheit  um  Trier  za  einem  Ideal» 
Staat  zosammen.  Er  hat  offenbar  die  sogen.  Reformation  Kaiser  Sigmunds  gekannt,  was- 
schon  aus  dem  Titel  des  yerlorengegangenen  Kapitels  henrorgeht.  (Hanpt  a.  a.  O.  S^ 
155  widerspricht  diesem  aber.)  Namentlich  aber  die  Stelle  sagt  es:  Die  keiaerliche 
reformation  weist  aus,  daß  wir  DeiUsehe  frei  sind,    (Haupt  S.  130.) 

2)  VgL  Haupt,  a.  a.  O.  S.  158. 

3)  Ebenda  S.  120. 

4)  Ebenda  S.  118  nnd  S.  183. 

5)  Ebenda  S.  159. 


—     112     — 

pistische  Freiheit.  Ihm  schwebt  ein  sozialistisch  geordnetes^  Gemein- 
wesen mit  demokratischer  Regierungsform  vor  Augen,  denn  auch  der 
Kaiser  geht  nicht  aus  einem  Gcschlechte,  sondern  durch  Wahl  aus 
dem  Bauernstände  hervor.  Aber  in  nichts  unterscheiden  sie  sich 
schärfer  als  in  der  Beurteilung  des  Schreiberamts.  Während  Valentin 
Eber  als  Stadtschreiber  sein  Amt  bis  zu  einer  gewissen  Monopol- 
stellung gehoben  wissen  will,  sieht  der  oberrheinische  Revolutionär  in 
<len  Schreibern  nur  Wucherer  und  Streber  *). 

Weit  radikaler  fordert  er  die  Säkularisation  alles  weltlichen  Be- 
sitzes der  Kirche  *) ;  ebenso  sollen  alle  Abgaben  wie  Zehnte ,  Zoll, 
Ungelt  sowie  der  ganze  städtische  Kapitalismus  abgeschafül  werden. 
Wie  Nikolaus  von  Kues  will  auch  er  eine  fiinfprozentige  Reichs- 
steuer einfuhren,  aus  deren  Ertrag  der  Kaiser  und  sein  Heer  sowie 
die  Geistlichen  besoldet  werden  sollen.  Dieser  Gedanke  der  Zivil- 
besoldung war  damals  schon  sehr  geläufig  und  wurde  sogar  in  das 
Programm  des  Schlettstadter  Bundschuhs  vom  Jahre  1493  und  in  das 
des  Breisgauer  Bundes  vom  Jahre  15 13  aufgenommen.  Der  Überschuß 
aus  der  Reichssteuer  soll  zum  gemeinen  ntUsf,  so  z.  B.  für  staatliche 
Alters-  und  Invalididätsversorgung  verwendet  werden  *).  Erinnern  wir 
uns  seines  Planes  der  Säkularisation  des  Kirchengutes  und  seines  Staats- 
kirchentums,  so  verstehen  wir  die  Idee  Kaiser  Maximilians  die  päpstliche 
Tiara  mit  der  Kaiserkrone  zu  vereinigen  oder  wenigstens  die  geistliche 
Macht  unter  die  kirchliche  stellen  und  den  Kirchenstaat  annektieren  zn 
wollen  *).  Aber  auch  dem  Laien,  besonders  dem  verheirateten  Laien 
wird  Gleichberechtigung,  ja  Bevorzugung  in  dem  kirchlichen  Orga- 
nismus zuerkannt.  Jeder  fromme  ehemann  vermag  die  messe  ö/fenÜich 
jm  lesen  ^),  Die  Ehe  ist  ihm  das  höchste  Sakrament,  und  Eheleute 
und  Bauern  müssen  es  sein,  die  den  neuen  Adel  der  St.  Michaels- 
gesellschaft bilden.  Dies  ist  die  denkbar  heftigste  Reaktion  gegen  das 
Zölibat  und  den  exklusiven  Priesterstand.  Halten  wir  noch  das  Bild 
Griinpecks  von  der  umgekehrten  Kirche  daneben,  in  der  ein  Laie 
und  zwar  ein  Bauer  die  Messe  liest,  so  erkennen  wir,  wie  verbreitet 
schon  vor  Luther  der  Gedanke  des  Laienpriestertums  war.  Wenn  auch 
die  Messe  im  übrigen  im  kirchlichen  Sinne  beibehalten  werden  soll, 
so   fordert   man   doch,   dafs   sie  in   der  hL  deutsche  Sprache  gelesen 


i)  Ebenda  S.  125  und  S.  132. 
3)  Ebenda  S.  168. 

3)  Ebenda  S.  171. 

4)  VgL  U 1  m  a  n  n ,  Kaiser  Maximilians  L  Absichten  auf  das  Papsttum  160  7^1611. 

5)  Haupt  a.  a.  O.  S.  180. 


—     113     — 

wird  *).  Der  Revolutionär  ist  auch  darin  Luther  voraus,  dafe  er  Moses 
dem  Judentum  allein  zuweist  und  die  Sabbatfeier  als  jüdisch  verwirft. 
Er  hält  sogar  Moses  für  einen  Zauberer  und  Betrüger  und  argumen- 
tiert  schon  mit  der  bekannten  Aufserung:  ich  sig,  daß  Mdhomet  hat 
verfuhrt  die  heiden,  Maises  die  Juden,  Jesus  die  Christen  ').  In  huma- 
nistischem Geiste  stellt  er  die  jüdisch  -  christliche  Religion  dem  heid- 
nischen Götterglauben  gleich,  „humanistische  und  astrologische  Re- 
miniszenzen treiben  ihn  zu  einer  sonderbaren  Religionsmepgerei".  So 
sehen  wir,  wie  durch  die  Vielwisserei  und  Halbbildung  infolge  der 
humanistischen  Popularisationsbestrebungen  unklare  Begriffe  über  Re- 
ligion und  Kirche,  Staat  und  Gesellschaft  entstehen,  wie  am  Vorabende 
jeder  Revolution.  Die  deutschnationalen  Bestrebungen  des  Verfassers 
sind  einigermafsen  erfreulich ,  wenn  sie  nicht  zu  übertriebenen  Be- 
strebungen hinneigten:  mit  starker  Betonung  der  Tatsache,  dafs  der 
Donnerstag  ein  echt  deutscher  Tag  sei,  fordert  er,  man  solle  ihn  an 
Stelle  des  Sonntags  feiern.  Die  deutsche  Sprache  soll  an  die  Stelle 
der  lateinischen  Weltsprache  treten,  der  deutsche  Kaiser  soll  mit  Hilfe 
eines  neuen  deutschen  Ordens,  der  Michaelsgesellschaft,  die  weit  mit 
heereshraft  regulieren.  So  redet  er  auch  einer  deutschen  Nationalkirche 
mit  dem  Sitze  zu  Mainz  das  Wort.  Schon  Hildegard  hatte  in  ihren 
Prophezeiungen  den  Gedanken  eines  deutschen  Patriarchats  in  Trier 
ausgesprochen  *).  Im  XV.  Jahrhundert  wird  wiederholt  Mainz  als  Sitz 
bezeichnet;  auch  der  Amberger  Predigt  des  Joh.  Wünschelburg 
vom  Jahre  1409  rühmt  v.  Bezold*)  eine  gewisse  „deutsche  Selb- 
ständigkeit" als  Grundzug  nach.  Ebenso  verlangt  Hans  von  Her- 
mansgrün  in  seiner  Vision*)  vom  Jahre  1495  ein  deutsches  Patri- 
archat. Ja  der  Hafs  gegen  Rom  und  die  römische  Kirche  ging  im 
Anfang  des  XVI.  Jahrhunderts  so  weit,  dafs  von  dem  Bischof  Bertold 
Pirstinger  in  seinem  Onus  ecclesiae  eine  transkUio  ecclesiae  zu  den 
Heiden  als  nahe  bevorstehend  bezeichnet  wird.  Wir  sehen  also,  wie 
die  Weltkirche  und  die  Weltsprache  des  Mittelalters  aufe  heftigste  be- 
fehdet werden:  wir  stehen  am  Ende  des  Mittelalters. 

Onus    ecclesiae    ist    als    „Grenzstein**    in    den    prophetischen  Er- 


I)  Ebenda  S.  186. 
3)  Ebenda  S.  188. 

3)  Vgl.  Grane rt,  Mte  Prophexeiungm  über  Kaiser  und  Reich    in   Deutscher 
HaoMchatz,  17,  b  (1890/91),  S.  676  flF. 

4)  Im  Sitzungsbericht    der  Rgl.    Bayr.    Akademie    der  Wissenschaften,    hist-pb^ 
Klasse  1884.     „Zar  dentschen  Kaisersage *^  S.  580. 

5)  Ulmann,  H.,  in  Forschnngen  zur  deutschen  Geschichte  20.  Bd.     i' 

9 


—     116     — 

nung  war  man  nicht  fähig,  und  sie  wäre  auch  wirkungslos  geblieben 
bei  der  Unreife  des  mittelalterlichen  Volkes**  *).  Da  war  die  Prophetie 
das  aufreizende  Element,  der  Sprengstoff  gleichsam,  der  die  Massen 
betäubte  zur  leichteren  Zuführung  rationalistischer  Ideen.  Das  hat 
dieselbe  Wirkung  getan  wie  bei  einem  aufgeklärteren  Volke  der  Appell 
an  „die  in  den  Sternen  geschriebenen  Menschenrechte**.  Das  erste 
sozial-  und  kirchenpolitische  Wetterleuchten  ist  aus  derselben  erwar- 
tungsschwülen Atmosphäre  der  Prophetie  und  Astrologie  hervorgegangen 
wie  die  Bewegung  des  Hans  Boehm  und  die  gemeinsame  Aktion 
der  Jahre  1524  und  1525  ^).  Ja  selbst  Luther  kannte  diese  Erregung 
und  benutzte  sie  *).  Aber  es  gab  auch  eine  Klasse  von  Leuten ,  auf 
die  die  apokalyptisch  -  astrologische  Berechnung  beruhigend  wirkte. 
Männer  wie  Kardinal  Matthäus  Lang,  Jakob  Wimpheling, 
Bertold  Pirstinger  u.  a.  sind  bei  den  ersten  Anzeichen  des  Sturmes 
auf  den  weiteren  Verlauf  desselben  als  auf  eine  verhengnus  gattes 
gefafst  und  scheuen  sich  vor  jeder  Abwehr,  geschweige  denn  Initia- 
tive. Die  „Alten**  rufen  zuletzt  zurück,  die  „Jungen**  begrülsen  die 
neue  2^it  als  voll  von  Möglichkeiten  *). 


Mitteilungen 

Personalien.  —  Württemberg  hat  in  kurzer  Zeit  zwei  seiner  Söhne 
verloren,  auf  die  das  Land  stolz  sein  durfte:  wenige  Wochen  nach  W. 
Osiander,  dem  unermüdlichen  Forscher  auf  dem  Gebiet  der  antiken  Topo- 
graphie der  Westalpen,  ist  Gustav  Sixt,  Professor  am  Karlsgymnasium  und 
Inspektor  der  Münz-  und  Medaillensammlung  und  der  Sammlung  römischer 
Steindenkmäler  im  königlichen  Museum  zu  Stuttgart,  nach  längerer  Krank- 
heit gestorben.  Als  trefflicher  Schulmann  hoch  angesehen,  hat  er  sich  auch 
um  die  Altertumskunde  seiner  engeren  Heimat  bleibende  Verdienste 
erworben.  Dabei  kam  ihm  eine  ausgedehnte  archäologische  Bildung  wohl 
zustatten,  die  er  sich  auf  weiten  Reisen  in  den  klassischen  Ländern  er- 
worben hatte.  Nach  der  Neuordnung  der  ihm  unterstellten  Sammlungsteile 
verfafste  Sixt  einen  1902  in  2.  Auflage  erschienenen  Führer  durch  das  Stutt^ 
garter  Lapidarium,  gewissermafsen  eine  Vorarbeit  zu  einem  gröfseren  Werk, 
dem  mit  F.  Haug  gemeinsam  herausgegebenen  Buch:  Die  römisehen  In* 
srJiriften  und  Bildwerke  Württetnbergs  (Stuttgart,  1900),  in  dem  zum  ersten 
Male   für   einen   ganzen   deutschen   Bundesstaat   in   vorbildlicher  Weise   alle 

i)  Ebenda  S.  105. 

2)  Vgl.  ebenda  S.   105  Anm.   i. 

3)  Ebenda. 

4)  Aaf  Seite  87  Zeile  25  ist  staU  eintraten  za  lesen:  entraten. 


—     117     — 

römischen  Skulpturwerke  unter  Beigabe  zahlreicher  guter  Abbildungen  muster- 
gültig beschrieben  und  in  den  grofsen  wissenschaftlichen  Zusanmienhang  ein- 
gereiht werden.  In  ähnlicher  Richtung,  stets  die  neuesten  Forschungen  bringend, 
bewegten  sich  die  von  Sixt  herausgegebenen  Fundberichie  aus  Schwaben, 
von  denen  ii  Jahrgänge  (Stuttgart,  Schweizerbart)  vorliegen.  In  diesen  Be- 
richten, wie  auch  in  den  Süddeutschen  Sckulblätiem,  im  Würiietnbergischen 
KorrespandenxbkUi  und  im  Schwäbischen  Merkur  hat  Sixt  zahlreiche  gediegene 
Aufsätze  über  Gegenstände  aus  der  heimischen  Altertumskunde  drucken  lassen. 
£ifrig  arbeitete  er  mit  bei  den  Forschungen  der  Reichs-Limeskommission ;  vorläufige 
Berichte  über  die  Ergebnisse  seiner  Tätigkeit  als  Streckenkommissar  finden 
sich  im  Ldmesblatt;  die  endgültige  Publikation  seiner  Arbeiten  im  grofsen 
Limeswerk  hat  er  nicht  erleben  sollen.  Auch  an  den  Arbeiten  der  Ge- 
schichts-  und  Altertumsvereine  beteiligte  sich  der  Verstorbene,  und  besonders 
dankbar  wird  seiner  in  den  Kreisen  des  Verbands  West-  und  Süddeutscher 
Vereine  flir  römisch -germanische  Altertumskunde  gedacht  werden,  dessen 
Vorstand  er  von  Anfang  an  zugehörte  imd  an  dessen  Sitzungen  er  regel- 
mäfsig  teilnahm.  Von  seiner  Regierung  war  Sixt  zum  Mitglied  der  Kom- 
mission für  Verwaltung  der  kgl.  Altertumssammlung  und  der  Kommission 
für  Württembergischc  Landesgeschichte  ernannt  und  ihm  im  Zusammenhang 
damit  die  Neubearbeitung  der  Abschnitte  über  die  vaterländischen  Altertümer 
übertragen  worden,  als  das  Statistische  Landesamt  die  Herausgabe  des 
Werks  Das  Königreich  Württemberg  begann.  Auch  die  Geschäfte  des 
Landeskonservators  führte  Sixt  eine  Zeitlang  in  Stellvertretung.  Es  ist  nicht 
zu  viel  behauptet,  wenn  wir  sagen,  dafs  mit  Sixt  der  beste  Kenner  der 
Württembergischen  Altertümer  dahingegangen  ist.  Er  ist  nur  47  Jahre  alt 
geworden;  bei  seiner  bis  in  die  letzten  Jahre  ungebrochenen  Arbeitskraft 
hätten  wir  von  ihm  noch  manche  reife  Frucht  seiner  Studien  erwarten  dürfen. 
Denn  Sixt  war  kein  Mann  der  Phantasie ;  was  er  sprach  und  schrieb,  zeugte 
von  scharfem,  nüchternem  Verstand  und  gewissenhafter  Beobachtung,  wie 
auch  seine  ganze  Persönlichkeit  kräftig  imd  in  sich  abgeschlossen  war.  Er 
verleugnete  den  Schwaben  nicht,  und  nicht  rasch  war  er  mit  seiner  Freund- 
schaft zur  Hand.  Wer  ihm  aber  näher  treten  durfte,  der  erkannte  in  ihm 
bald  nicht  nur  den  tüchtigen  Gelehrten  voll  umfassenden  Wissens,  sondern 
auch  den  biederen,  treuen  und  unbedingt  zuverlässigen  Menschen,  als  der 
er  im  Gedächtnis  seiner  Freunde  fortleben  wird.  A.  D. 


■  *)  An  deutsche  Universitäten  wurden  berufen:  Aloys  Schulte,  ordentL 
Prof.  in  Breslau,  zuletzt  Direktor  des  Kgl.  preuisischen  Historischen  Instituts  in  Rom, 
in  gleicher  Eigenschaft  nach  Bonn ;  der  Privatdozent  Prof.  HeinrichBöhmer 
in  Leipzig  als  aufserordentl.  Prof.  der  Kirchengeschichte  nach  Bonn;  der 
aufserordentl.  Prof.  der  Kunstgeschichte  Karl  Neumann  in  Heidelberg  in 
gleicher    Eigenschaft   nach   Göttingen   und  kürzlich   als  ordentl.  Prof.  dieses 

i)  Personalverändemngen,  die  nach  Absicht  der  Redaktion  wenigftent  einmal  im 
Jahre  zQsammcQgestellt  werden  sollen ,  haben  wegen  Raummangels  leider  seit  Man 
1903  (Bd.  IV,  S.  190 — 192)  nicht  mitgeteilt  werden  können.  Hier  sollen  wenigstens  die 
wichtigsten  Nachrichten  aus  diesem  langen  Zeitraum  bis  Ende  1904  nachträglich  folgen. 

Die  Redaktion. 


—     118     — 

Faches  nach  Kiel;  der  aufserordenü.  Prof.  der  Kunstgeschichte  in  Haue 
Rudolf  Kautzsch  als  ordentl.  Prof.  an  die  Technische  Hochschule  in 
Darmstadt;  der  Privatdozent  der  neueren  Ktmstgeschichte  Justi  in  Berlin 
als  aufserordentl.  Prof.  nach  Halle;  der  Privatdozent  Walter  Stein  in  Bres- 
lau als  ordentl.  Prof.  der  Geschichte  nach  Göttmgen;  der  ordcntL  Prof. 
fUr  deutsches  Recht  Ulrich  Stutz  in  Freiburg  i.  B.  in  gleicher  Eigenschaft 
nach  Bonn;  der  ordentl.  Prof.  der  Nationalökonomie  Eberhard  Gothein 
in  Bonn  in  gleicher  Eigenschaft  nach  Heidelberg;  der  aufserordentl.  Prof.  des 
deutschen  Rechts  RudolfHis  in  Heidelberg  als  ordentl.  Prof.  nach  Königs- 
berg; der  ordentl.  Prof.  der  Nationalökonomie  Heinrich  Waentig  in  Münster 
in  gleicher  Eigenschaft  nach  Halle;  der  ordend.  Prof.  der  Geschichte  Emil 
V.  Ottenthai  in  Innsbruck  in  gleicher  Eigenschaft  nach  Wien;  der  Direktor 
der  Handelshochschule  in  KölnProf.  Hermann  Schumacher  als  ordend. Prof. 
der  Volkswirtschaft  nach  Bonn ;  der  aufserordentl.  Prof.  der  Nationalökonomie 
Joseph  Schmoele  in  Greifswald  in  gleicher  Eigenschaft  nach  Bonn;  der 
ordentl.  Prof.  der  Geographie  Eduard  Brückner  in  Bern  in  gleicher  Eigen- 
schaft nach  Halle;  der  aufserordentl.  Prof.  der  Geschichte  Hermann  Bloch 
in  Strafisburg  als  ordentl.  Prof.  nach  Rostock;  Otto  Oppermann,  bisher 
Mitarbeiter  der  Gesellschaft  für  Rheinische  Geschichtskunde  in  Köln,  als 
aufserordentl.  Prof.  der  mittelalterlichen  Geschichte  nach  Utrecht;  der  Prof. 
der  geschichtlichen  Hilfswissenschaften  in  Marburg  Johannes  Haller  als 
Prof.  der  Geschichte  nach  Giefsen;  der  aufserordentl.  Prof.  der  Deutschen 
Philologie  in  Freiburg  i.  Br.  Friedrich  Panzer  ab  Prof.  dieses  Faches 
an  die  Akademie  flir  Sozial-  und  Handelswissenschaften  in  Frankfurt  a.  M.; 
der  ordentl.  Prof.  der  Geographie  Joseph  Partsch  in  Breslau. in  gleicher 
Eigenschaft  nach  Leipzig.  —  Unter  Verbleiben  an  ihren  Wohnsitzen  wurden 
die  aufserordentlichen  Professoren  Konrad  Beyerle  in  Breslau  (deutsche 
Rechtsgeschichte),  Ernst  Elster  in  Marburg  (neuere  deutsche  Literatur- 
geschichte), Franz  Kampers  in  Breslau  (mittelalterliche  Geschichte),  Otto 
V.  Zwiedineck-Südenhorst  in  Karlsruhe  (Nationalökonomie),  Robert 
Wuttke  in  Dresden  (Nationalökonomie),  Kornemann  in  Tübingen  (alte 
Geschichte),  Roman  Woernerin  Freiburg  i.  B.  (deutsche  Literaturgeschichte), 
Alexander  Cartellieri  in  Jena  (Geschichte),  Erich  Brandenburgf  in 
Leipzig  (neuere  politische  Geschichte),  Raimund  Kaindl  in  Czemowitz 
(österreichische  Geschichte)  zu  Ordinarien  befördert.  In  Wien  wurde  der 
Privatdozent  Rudolf  Much  zum  aufserordentlichen  Professor  der  genna- 
nischen  Sprachgeschichte  und  Altertumskunde  ernannt,  in  Berlin  der  Privat- 
dozent Paul  V.  Winter feld  zum  aufserordentlichen  Professor  für  mittelalter- 
liches Latein,  in  München  L.  Traube  zum  ordentlichen  Professor  fUr  lateinische 
Philologie  des  Mittelalters,  in  Wien  der  Privatdozent  Max  Neuburger  zum 
aufserordentlichen  Professor  für  Geschichte  der  Medizin ;  in  Bern  der  Staats- 
archivar Heinrich  Türler  zum  aufserordentl.  Prof.  der  Archivwissen- 
schaften; in  Marburg  der  Privatdozent  der  Geschichte  Hans  Glagau  zum 
aufserordentl.  Professor. 

Es  habilitierten  sich:  in  Kiel  Max  Eckert  für  Geographie;  in  Göttingea 
C.  Borchling  für  germanische  Philologie;  an  der  Technischen  Hochschule 
in  Dresden  Robert  Brück  für  Kunstgeschichte;  an  der  Technischen  Hoch- 
schule in  München  Albrecht  Wirth  für  Geschichte;   an  der  Technischen 


—      119     — 

Hochschule  in  Dresden  Karl  Reuschel  für  deutsche  Sprache  und  Literatur; 
in  Erlangen  Theodor  Bitterauf  für  Geschichte  und  siedelte  inzwischen 
nach  München  über;  in  Freiburg  i.  B.  Fritz  Baumgarten  für  Kunst- 
geschichte; in  Berlin  Werner  Weisbach  für  neuere  Kunstgeschichte;  in 
Bern  M.  Bühl  er  für  Zeitungswesen;  in  Berlin  L.  Riess  für  Geschichte;  in 
Basel  Stückelberg  für  Geschichte;  in  Berlin  Richard  Delbrück  für 
Kunstgeschichte;  in  Bonn  W.  Lewis on  für  Geschichte  des  Mittelalters  und 
geschichtliche  Hilfswissenschaften;  in  München  A.  Rosenlehner  für  Ge- 
schichte; in  Zürich  E.  Jueter  für  Geschichte;  in  Innsbruck  H.  Wopfner 
für  Wirtschaftsgeschichte;  in  Tübingen  W.  Ohr  für  mittlere  und  neuere  Ge- 
schichte; in  Breslau  Johannes  Ziekursch  für  Geschiebe;  in  Heidelberg  Otto 
Gart e Hie ri  für  mittelalterliche  Geschichte;  in  Wien  Alfred  Grund  für  Geo- 
graphie; in  Münster  Ferdinand  Koch  für  Kunstgeschichte;  in  Strafsburg 
Fritz  Kiener  für  elsässische  Geschichte;  in  Wien  Archivar  Hans  Schlitter 
für   neuere  Geschichte;  in  Tübingen  H.  Heyf eider  für  Kimstgeschichte. 

Es  starben:  4.  Mai  1903  der  Ethnolog  Heinrich  Schurtz,  39  Jahre 
alt,  in  Bremen;  19.  Mai  Jakob  Heinrich  von  Hefner-Alteneck, 
93  Jahre  alt,  in  München;  18.  Juli  Engelbert  Mühlbacher  (vgl.  den 
Nekrolog  in  dieser  Zeitschrift  5.  Bd.,  S.  90-93);  29.  August  in  Frankfurt  a.  O. 
Prof.  Gurnik,  Vorsitzender  des  dortigen  historischen  Vereins,  59  Jahre 
alt;  I.  September  Archivrat  Friedrich  von  Meyenn  in  Schwerin; 
I.  November  Theodor  Mommsen,  85  Jahre  alt;  22.  Dezember  der 
Bibliotheksdirektor  Otto  Hartwig  in  Marburg,  73  Jahre  alt;  24.  Dezember 
der  Professor  der  Geographie  an  der  Technischen  Hochschule  in  Dresden 
Sophus  Rüge,  72  Jahre  alt,  und  der  Direktor  des  Museiuns  für  Völker- 
kunde in  Kiel  Richard  Scheppig;  25.  Dezember  in  Stuttgart  der  National- 
ökonom Albert  Schäffle,  72  Jahre  alt;  8.  Januar  1904  in  Berlin  der 
Professor  der  Geschichte  Wilhelm  Naudd;  15.  Januar  in  Königsberg  der 
Privatdozent  der  Geschichte  Max  Immich,  36  Jahre  alt;  20.  Januar  in 
Freiburg  i.  B.  der  frühere  Professor  der  Geschichte  an  der  Universität  Ghicago 
Hermann  Eduard  v.  Holst,  62  Jahre  alt;  ?  Januar  in  Münster  der 
Oberbibliothekar  Heinrich  Detmer,  51  Jahre  alt;  ?  März  Gottfried 
Schnapper-Arndt,  Dozent  der  Nationalökonomie  an  der  Akademie  für 
Sozial-  und  Handelswissenschaften  in  Frankfurt  a.  M.,  58  Jahre  alt;  9.  März 
in  Stuttgart  der  Geh.  Archivrat  Otto  v.  Alberti,  69  Jahre  alt;  ?  März  in 
Wien  der  frühere  Direktor  des  Kriegsarchivs  Feldmarschalleutnant  Leander 
V.  Wetzer;  22.  März  in  Brauoschweig  der  Stadtarchivar  Ludwig  Hänsel- 
mann, 70  Jahre  alt;  2.  Mai  in  Giefsen  Prof.  Konstantin  Höhlbaum, 
54  Jahre  alt;  13.  Mai  in  Jena  Prof.  Ottokar  Lorenz,  71  Jahre  alt; 
6.  Juni  in  Wolfenbüttel  Oberbibliothekar  Otto  vonHeinemann,  80  Jahre 
alt;  19.  Juni  in  Rostock  Prof.  Friedrich  Wilhelm  Schirrmacher, 
80  Jahre  alt;  25.  Juni  in  Darmstadt  der  Direktor  der  Hofbibliotbek  Gustav 
Nick,  55  Jahre  alt;  9.  August  in  Ammerland  am  Starnberger  See  der 
Leipziger  Geograph  Friedrich  Ratzel,  59  Jahre  alt;  8.  September  in 
Berlin  Baurat  Peter  Walld,  59  Jahre  alt;  27.  September  Hugo  Berger, 
Professor  der  Geschichte  der  Erdkunde  und  geschichtlichen  Geographie  des 
Altertums  in  Leipzig,  67  Jahre  alt;  4.  Oktober  Prof.  Rudolf  Gaedechens, 
früher  Direktor  des  archäologischen  Museums  in  Jena. 


—     120     — 

Mit  der  Direktion  des  Kgl.  preufsischen  Historischen  Instituts  in  Rom 
ist  seit  I.  Oktober  1903  Prof.  Paul  Kehr  in  Göttingen  betraut 

Die  philosophische  Fakultät  der  Universität  Graz  ernannte  den  Kärntner 
Landesarchivar  August  von  Jaksch  in  Anerkennung  seiner  vorzüglichen 
Leistungen  auf  dem  Gebiete  der  vaterländischen  Geschichtsforschung,  ins- 
besondere im  Hinblick  auf  die  ausgezeichnete  Ausgabe  der  Kärntner  Geschichts- 
quellen in  den  Monumenia  ducattis  Ckrrinthiae  zum  Ehrendoktor. 

Eingegangene  Bficher. 

Keutgen,  F.:  Ämter  und  Zünfte.  Zur  Elntstehung  des  Zunftwesens.  Jena, 
Gustav  Fischer,   1903.     256  S.  8^ 

Loch,  Eduard:  Das  Lochstädter  Tief  in  historischer  Zeit  [=  Beilage  zum 
Programm  des  Altstädtischen  Gymnasiums  zu  Königsberg  i.  P.,  1903J. 
38  S.  8». 

Loewe,  Victor:  Bücherkunde  der  deutschen  Geschichte,  kritischer  Wegweiser 
durch  die  neuere  deutsche  historische  Literatur.  Berlin  W  15,  Johannes 
Rade.     120  S.  8®.     M.  3,00. 

Marcus,  Hugo:  Die  Allgemeine  Bildung  in  Vergangenheit,  Gegenwart  und 
Zukunft,  eine  historisch-kritisch-dogmatische  Grundlegung.  Berlin,  K. 
Ehering,   1903.     72  S.  8®. 

Müsebeck,  E. :  Zoll  und  Markt  in  Metz  in  der  ersten  Hälfte  des  Mittel- 
alters [=  Jahrbuch  der  Gesellschaft  für  lothringische  Geschichte  und 
Altertumskunde.     15.  Jahrgang  (1903),  S.   i — 32]. 

Nicoladoni,  Alexander:  Zur  Verfassungs-  und  Verwaltungsgeschichte  der 
österreichischen  Herzogtümer  mit  besonderer  Berücksichtigung  Ober- 
österreichs, Fortsetzung  [=  61.  Jahresbericht  des  Museum  Francisco- 
Carolinum  (Linz  1903)  S.   130 — 227]. 

Rein  ecke,  Wilhelm:  Lüneburgs  ältestes  Stadtbuch  und  Verfestungsregister. 
Mit  3  Tafeln.  [=s=  Quellen  und  Darstellungen  zur  Geschichte  Nieder- 
sachsens Bd.  VIII].  Hannover  und  Leipzig,  Hahn,  1903.  Gl  und 
446  S.  S^. 

Richter,  Paul:  Geschichte  des  Rheingaues  [=  Sonderabdruck  aus  dem 
Werke  Der  Bheingaukreis ,  herausgegeben  von  dem  Kreisausschusse 
des  Rheingaukreises  zu  Rüdesheim  a.  Rh.,   1902].     259  S.  4^. 

Schmidt,  Erich:  Geschichte  des  Deutschtums  im  Lsinde  Posen  unter  pol- 
nischer Herrschaft.  Mit  25  Abbildungen  und  2  Karten.  Bromberg, 
Mittler'sche  Buchhandlung  (A.  Fromm),   1904.     442   S.  8®. 

Sello,  Georg:  Der  Jadebusen,  sein  Gebiet,  seine  Entstehungsgeschichte, 
der  Turm  auf  Wangeroge.  Mit  2  Ansichten,  2  Vignetten  tmd  2  Karten- 
skizzen.    Varel,  Allmers,  1903.     70  S.  8®. 

Wccch,  Friedrich  von:  Siegel  der  badischen  Städte  in  chronologischer 
Reihenfolge,  herausgegeben  von  der  Badischen  Historischen  Kommission. 
Zweites  Heft:  Die  Siegel  der  Städte  in  den  Kreisen  Baden  und 
Offenburg.    Heidelberg,  Karl  Winter,  1903.     16  S.  imd  41  Tafeln  8^. 

Wo! ff,  Georg:  Ergebnisse  und  Aufgaben  der  Heddemheimer  Lokalforschung 
[=»  Festschrift  zur  Feier  des  25  jährigen  Bestehens  des  Städtischen 
Historischen  Museums  in  Frankftirt  a.  M.  (1903),  S.  45 — 66]. 

HenuMgebor  Dr.  Annin  Till«  ia  LeJptig. 
Drack  nad  VcrUg  TO0  Friedrich  Andreas  Perthes,  Aktieageeellachaft,  Gotha. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


sor 


Fördemng  der  landesgeschichtlichen  Forschimg 


VI.  Band  Februar  1905  5.  Heft 


Gesehiehtliehe  Studien  zur  Pädagogik 
der  Wissensehaften  und  Künste 

Von 
Hans  Schmidkunz  (Berlin-Halensee) 

Seit  einten  Jahren  ist  eine  mehrfach  verzweigte  Bewegfong  im 
Gange,  die  jedoch  noch  nicht  über  einige  engere  Kreise  hinaus- 
gekommen ist  Es  handelt  sich  um  das  Bestreben,  die  bisherige  Praxis 
und  Theorie  der  Pädagogik  um  ein  Gebiet  zu  erweitem,  das  ihr 
zwar  auch  schon  bisher  einigermaisen  eigen  war,  ohne  jedoch  vollauf 
und  grundsätzlich  in  sie  einbezogen  zu  sein. 

Die  bisherige  Pädagogik  hat  sich  praktisch  und  theoretisch  vor- 
wiegend in  der  Richtung  des  allgemein-bildenden  Schul-  und  Er- 
ziehungswesens betätigt,  aber  nur  in  geringem  Malse  das  Fachliche 
oder  Berufliche  berücksichtigt.  Damit  hängt  es  zusammen,  dais  sie 
um  so  besser  entwickelt  ist,  um  eine  je  niedrigere  Stufe  es  sich  handelt. 
Gegenüber  der  Heranbildung  des  jungen  Menschen  (Ur  das  Leben 
überhaupt  und  dann  noch  speziell  für  das  Leben  in  den  höheren 
geistigen  Arbeitsgebieten  ist  von  einer  Pädagogik  der  Spezialaus- 
bUdungen  nur  in  sehr  geringem  Umfange  die  Rede;  und  gegenüber 
der  virtuosen  Methode  des  Volksschulwesens  steht  die  des  höheren 
BUdungswesens  sehr  zurück,  noch  mehr  aber  die  pädagogische  Ent- 
wickelung  des  Hochschulwesens.  Dies  gilt  von  dem  tatsächlichen 
Vorgehen  und  von  seiner  kunstvollen  Verfeinerung  einerseits,  von  der 
theoretischen  Erkenntnis  dieses  Vorgehens  andererseits.  Die  Praxis  des 
Volksschullehrers  und  einigermafsen  auch  die  des  Gymnasiallehrers,  sowie 
der  ihm  verwandten  Lehrerkategorien,  ist  seit  längerem  zum  Gegen- 
stand einer  wissenschaftlichen  Forschung  und  Zusammenstellung  ge- 
macht worden;  fUr  die  Praxis  des  Hochschullehrers  fehlt  dies  noch 
beinahe  völlig  oder  ist  höchstens  in  verschiedentlichen  Einselbetrach- 
tungen  berührt  worden.  Hier  Wandel  zu  schaffen,  und  insbesondere 
die   gesamte   Welt    dieser   Pädagogik,   ihren   Tatsachen 

10 


—    IM    — 

und  ihrem  Werte  nach,  wissenschaftlich  zu  beschreiben, 
zu  erklären  und  in  eine  Systematik  zu  bringen,  ist  das  Ziel  der  neuen 
Bewegung. 

Wenn  hier  von  dem  Theoretischen  gefprochen  wurde,  so  ist 
dies  in  einem  doppelten  Sinne  zu  verstehen:  in  dem  des  Histori- 
schen, sowie  dem  des  darüber  hinausliegenden  Sachlichen  über- 
haupt Die  historische  Seite  ist  aber  die  weitaus  greifbarere,  wenn 
auch  die  sachliche  Behandlung  in  jener  Bew^rung  als  die  wichtigere 
erscheint  DafUr  ist  die  historische  Seite  des  Themas  so  überaus  reich 
an  Umfang  und  Inhalt,  und  in  so  hohem  Malse  geeignet,  die  anderen 
Interessen  zu  fördern,  dafs  es  sich  lohnt,  sie  mehr  als  bisher  in  den 
Vordergrund  zu  stellen.  Die  allgemeine  historische  Arbeit  auf  diesem 
Gebiete  hat,  wie  es  bei  neuen  Arbeitsgebieten  fast  immer  der  Fall  ist, 
vor  allem  gute  Einzeluntersuchungen  nötig,  und  auf  solche  ihrer  Natur  nach 
ortsgeschichtliche  Arbeiten  soll  hier  die  Aufmerksamkeit  gerichtet 
werden ;  zugleich  wird  sich  daraus  eine  Anr^^ung  zur  Anlage  und  Er- 
weiterung von  Archiven  gewinnen  lassen«  Die  gro&e  Entfaltung  der 
Geschichtsvereine  mit  landschaftlich  und  örtlich  beschränktem  Arbeits- 
gebiet ist  für  diese  Seite  der  erwähnten  Bestrebungen  ebenso  günstig, 
wie  diese  neuen  Anregungen  wiederum  eine  Ausdehnung  der  Tätigkeit 
jener  bedeuten. 

Angesichts  der  nicht  nur  extensiv  und  intensiv  gewaltigen  Arbeit, 
welche  in  Deutschland  auf  die  Erforschung  geschichtlicher  Gegenstände 
verwandt  wird,  und  angesichts  der  erörterten  Spezialthemen ,  die  dem 
Laien  oft  wunderlich  erscheinen  mögen,  ist  es  auffallig,  dals  so  über- 
aus wenig  davon  (lir  die  Geschichte  der  Pädagogik  abßillt,  und 
dais  von  diesem  wenigen  wiederum  das  meiste  auf  die  oben  gekenn- 
zeichneten allgememen  und  unteren  Partien  entfallt,  nur  verschwindend 
weniges  aber  auf  die  spezielleren  pädagogischen  Fragen  und  auf  die 
Hochschulstufe.  Das  gilt  auch  für  die  Arbeiten  der  Gesellschaft  fUr 
deutsche  Erziehungs-  und  Schulgeschichte.  Wie  man  vollends  in  der 
Vergangenheit  die  Wissenschaften  und  die  Künste  selber,  nicht  nur 
den  zum  Kreise  der  Schulßlcher  gehörigen  Extrakt,  lehrend  übermittelt 
hat,  darüber  läfist  die  Geschichte  der  Pädagogik  fast  gänzlich  im  Stich. 
Sie  betrachtet  all  das,  z.  B.  unter  den  Wissenschaften  die  Philosophie 
oder  unter  den  Künsten  die  Musik,  led^lich  als  Bestandteil  der  all-^ 
gemeinen  Lebensbildung,  also  als  sogenanntes  Schulfach.  Begreiflich 
ist  dies  ganz  wohl,  aber  der  sonstigen  Höhe  historischer  Wissenschaft 
entschieden  nicht  würd^.  Wer  in  den  groben  historischen  und 
enzyklopädischen  Werken  über  Pädagogik,  beispielsweise  in  den  an 


—     123     — 

sich  vorzüglichen  und  meistenteils  recht  eingehenden  Büchern  von 
K.  A.  Schmid,  nach  dem  von  uns  Gemeinten  sucht,  wird  mit  wenigen 
Ausnahmen  enttäuscht  werden.  Hier  und  da  finden  Ankündigungen 
statt,  daCs  ein  derartiges  Werk  sich  in  einem  späteren  Band  oder  An- 
hang auch  auf  diese  Gebiete  einlassen  will;  die  Erfüllung  bleibt  aber 
häufig  aus  oder  geschieht  nur  so,  wie  es  vom  Standpunkte  des  niederen 
und  allgemeineren  Schulwesens  aus  pa&t,  nicht  jedoch  von  dem  hier 
gemeinten  Standpunkt  aus.  Rühmliche  Ausnahmen,  wie  gerade  auch 
zum  Teil  die  Ghschichte  der  Ereiehung  (1884  ff,  5  Bde.)  von  K.  A. 
Schmid,  sollen  dabei  nicht  vergessen  sein. 

Es  ist  dabei  merkwürdig,  dafs  solche  Ausnahmen  immer  nur  wieder 
einen  bestimmten  Teil  dessen  treffen,  was  wir  meinen,  und  andere 
Teile  völlig  vernachlässigen.  Nehmen  wir  unter  den  Künsten  die  Ton- 
kunst und  fragen  wir,  wie  weit  ihr  Schulwesen  bisher  historisch  be- 
handelt worden  ist.  Man  sollte  doch  denken,  dafis  es  in  einem  an 
historischer^  speziell  lokalhistorischer  Arbeit  so  reichen  Lande  wie 
Deutschland  längst  schon  eine  Geschichte  des  Musikschulwesens  gebe, 
wenigstens  seit  der  neuen  Gestaltung  dieser  Schulen,  die  sie  im 
XVI.  Jahrhundert  erfahren  haben.  Allein  es  liegen  bisher  beinahe 
ausschließlich  nur  die  unvermeidlichen  Festschriften  zu  Schuljubiläen 
und  dei^eichen  vor.  Die  Pädagogischen  Mcnatshefte  haben  allerdings 
in  ihrem  9.  Jahrgange  (1903)  eine  Artikelreihe  gebracht:  Aus  der  Oe- 
schichte  der  MusikschtUen;  hier  ist  versucht,  das  wenige  zusammenzustellen, 
was  ohne  neue  Spezialforschungen  zusammenzustellen  war.  Im  Jahre 
1904  feierte  die  Königliche  Musikschule  zu  Würzburg,  wohl  die  älteste  von 
allen  heute  in  Deutschland  bestehenden,  ihr  hundertjähriges  Jubiläum  und 
benutzte  diese  Gelegenheit  auch  zur  Darlegung  ihrer  eigenen  histori- 
schen Entwickelung.  Das  sind  jedoch  nur  vereinzelte  Anläufe,  die  sich 
nicht  vergleichen  lassen  mit  dem  energischeren  Gange  geschichtlicher 
Arbeit  auf  anderen  Gebieten. 

Begreiflicherweise  noch  weit  weniger  ist  die  Geschichte  des  Schul- 
wesens in  den  übrigen  redenden  Künsten  erforscht.  Zur  Erkenntnis 
der  Geschichte  der  Theaterschulen  ist  vor  einiger  Zeit  ebenfalls 
ein  Anlauf  genommen  worden;  allein  auch  der  darin  liegende  Anreiz 
hat  nicht  weitergewirkt 

Ein  wenig  besser  steht  es  mit  der  Geschichte  der  Schulen  (Ür 
bildende  Kunst.  Allein  auch  hier  kommt  man  über  jubilierende 
Gelegenheitsschriften  u.  dergl.  wenig  hinaus;  doch  sind  sie  inuner- 
hin  von  einem  ein  wenig  höheren  Standpunkt  aus  geschrieben  als 
die  der  vorhin  erwähnten  Gebiete.     Auch  diese  Kunstschulen  gehen 

10  ♦ 


—     126     — 

Ziehungen  und  Verschiedenheiten  zwischen  den  Universitäten  Göttingen 
und  Wien  bezüglich  des  juristischen  Unterrichtes  aufmerksam  gemacht 
werden;  wir  sehen  in  Göttingen  das  Staatsrecht  des  Reiches  freier 
vertreten  als  dort,  wo  die  Nähe  des  Wiener  Hofes  einen  Druck  auch 
auf  diese  wissenschaftliche  Sache  ausübte. 

Bisher  war  in  der  Hauptsache  vom  Schulwesen,  nicht  aber  vom 
Erziehungs-  und  Unterrichtswesen  die  Rede.  Aber  für  die  Pädagogik 
ist  doch  das  Schulwesen  nur  ein  Aufsenteil,  der  bereits  so  weit  in 
die  Staatswissenschaften  hineinreicht,  dais  sich  manche  Werke  aus  dem 
Gebiete  dieser  hinwiderum  enge  mit  der  Pädagogik  berühren.  Die 
Innenteile  der  Pädagogik  sind  Erziehungs-  und  Unterrichts- 
wesen. Die  bisherige  Geschieh Ischreibüng  des  hier  besprochenen 
Gebietes  spiegelt  das  Mafs  des  Interesses  für  BLdagogik  wider:  sie 
kümmert  sich  mehr  um  das  Schulwesen  als  um  Erziehung  und  Unt^- 
rieht;  und  ebenso  ist  es  mit  der  Theorie.  Die  Theorie  im  engeren 
Sinne  lä&t  uns  hier  ähnlich  wie  die  Historie  im  Stich.  Das  Interesse  an 
ihr  würde  sich  wohl  erweitem,  wenn  sich  erst  einmal  das  historische 
Interesse  erweiterte.  Ernst  Bernheim  hat  in  seiner  Rektorats- 
rede vom  15.  Mai  1899,  Die  gefährdete  SieUung  unserer  deutschen 
Universitäten,  unter  anderem  beklagt,  daüs  die  meisten,  die  über  aka- 
demische Unterrichtsfiragen  schreiben,  wenig  Kenntnis  von  dem  be- 
sitzen, was  andere  vor  ihnen  über  die  Dinge  gedacht  und  veröffentlicht 
haben.  „Die  Geschichte  des  Universitätsunterrichtes  ist  ein  £ast 
unbekanntes  Feld,  und  man  zweifelt  doch  jetzt  auf  keinem  Gebiete, 
selbst  einem  so  praktisch  aktuellen  wie  die  Medizin  nicht,  dals 
aus  der  Geschichte  zu  lernen  sei."  Dabei  unterscheidet  aber  Bem- 
heim  sehr  wohl  zwischen  Schul-  und  Unterrichtswesen.  In  einer  An- 
merkung heifst  et  dabei:  „Ich  sage:  Die  Geschichte  des  Unterrichtes, 
d.  h.  des  inneren  pädagogischen  Betriebes";  und  aufserdem  verweist 
Bemheim,  auch  abgesehen  von  der  historischen  Seite  der  Sache,  auf 
die  Notwendigkeit,  eine  „Universitätspädagogik"  zu  schaffen,  an  der 
es  uns  so  sehr  fehle,  sowie  auf  die  bisherige  Darlegung  dieses  Be- 
griffes und  seiner  Bedeutung. 

Es  fehlt  uns  nicht  nur  eine  Geschichte  des  Unterrichtswesens  über- 
haupt an  den  Universitäten,  sondern  auch  eine  Geschichte  des  Unter- 
richtes in  einzelnen  Wissenschaften,  die  ja  begreiflicherweise  noch  eher 
in  Angriff  genommen  werden  müfete  als  jene  zusammenfassende  Arbeit. 
Ein  Muster  für  das,  was  wir  hier  brauchen,  war  ein  Vortrag  von 
Bruno  Meyer:  Aus  der  Oeschichte  des  hunstwissenschafUichen  Unter- 
richtes,  der  in  den  Pädagogisehen  Monatsheften  (1904,  Heft  5)  erschienen 


—     127     — 

wl  und  in  fetprinniger ,  meist  auf  eigenes  Erleben  g^fründeter  Weise 
namentlich  die  allmählichen  Fortschritte  von  blolser  Materialkunde  zu 
wissenschaftlicher  Materialverarbeitung  darl^t.  Die  Geschichtswissen- 
schaft selber  scheint  bisher  nicht  daran  gedacht  zu  haben ,  die  Ge- 
schichte ihres  eigenen  Unterrichtes  zu  behandeln.  Eher  finden  sich 
schon  unseres  Wissens  Spuren  von  gleichem  in  der  Philosophie.  So 
bat  vor  kurzem  der  Franzose  Th.  Colardeau  in  iHude  9wr  EpideU 
(1903)  den  spätstoischen  Philosophen  Epiktet,  nachdem  dieser  bisher 
von  verschiedentlichen  anderen  Standpunkten  aus  behandelt  worden 
war,  nun  auch  von  dem  aus  betrachtet,  wie  er  als  Lehrer  der  Philo- 
sophie gewirkt  hat  % 

Dais  wir  historisch  und  pädagogisch  ein  Fortschreiten  von  der 
blofeen  Schulgeschichtc  zur  Erziehungs-  und  Unterrichts- 
geschichte brauchen,  mu&te  von  vornherein  dort  klar  sein,  wo  man 
darauf  ausging,  die  Pädagogik  schlechtw^  um  das  ihr  bisher  fehlende 
Gebiet  der  höchsten  Stufen  und  der  spezialistischen  Bildung  zu  er- 
gänzen. Mit  dieser  Absicht  wurde  am  17.  Juli  1898  zu  Berlin  der 
„Verband  für  Hochschulpädagogik"  gegründet;  seine  Auf- 
gabe sollte  sein :  beizutragen  zur  Förderung  des  gesamten  Erziehungs- 
und Unterrichtswesens,  das  sich  auf  Jünger  der  Wissenschaften  und 
Künste  als  solcher  bezieht,  und  zwar  nach  jeglicher  praktischen,  theo- 
retischen und  historischen  Seite.  Einige  der  im  vorigen  erwähnten 
literarischen  Leistungen  gehen  auf  die  Tätigkeit  dieses  Verbandes 
zurück.  Obwohl  seine  letzten  Absichten  nicht  eigentlich  historische 
sind,  so  hat  er  doch  das  Gewicht  des  historischen  Teiles  seiner  Arbeit 
dadurch  bekundet,  dais  er  in  seinem  Programm')  die  Geschichte 
seines  Gebietes  vorangestellt  hat  Er  unterscheidet  seine  theore- 
tischen und  praktischen  Ziele,  geht  dabei  von  den  theoretischen  aus 
und  beginnt  hier  mit  der  Forderung,  welche  er  als  Nr.  i  anftihrt: 
„I&torische  Erforschung  und  Darstellung  des  Erziehungs-,  Unterrichts- 
und Schulwesens  in  allen  Veranstaltungen,  die  der  Übennittelung  von 
Wissenschaften  und  Künsten  als  solchen  dienen.  Insbesondere  soll 
der  bisherigen  Universitätsgeschichte  einerseits  eine  Geschichte  des 
Erziehungs-  und  Lehrverfahrens  an  den  Universitäten,  andrerseits  eine 
Geschichte  der  übrigen  Hochschulen  und  ihrer  Tätigkeit  zur  Seite  ge- 
stellt werden.     Dabei  ist  ein  Hauptgewicht  auf  das  Studium  der  Fort- 

i)  Ich  entnehme  dies  einer  Rezension  Ton  A.  Schmekel  in  der  Berliner  phih' 
hgtsehen  Woehensehrifl  Tom  18.  Juni  1904. 

2)  PUdagogüekes  ArtM»,  Norember  1900,  fai  Sondcrdnck  Ton  dem  VerCuser  dieses 
Aalgatt^s  !■  bcsidMn. 


—     128     — 

schritte  im  Ausland  zu  legen/'  Die  sogenannte  hocbacfanlpädagogiscbe 
Bewegung  betont  diese  Voranstellung  des  Historischen  vor  dem  ührig^o 
Theoretischen  und  dann  auch  des  Theoretischen  überhaupt  vor  dem 
Praktischen  ganz  besonders  und  betrachtet  sich  demgemäis  zunächst 
als  eine  fachwissenschaftliche  Bestrebimg.  Die  Art  und  Weise, 
wie  speziell  das  Historische  hier  behandelt  werden  soll,  wurde  in  der 
Abhandlung  Zur  Geschichtsschreänmg  und  OesehidUsforsdmng  der  Hoch- 
schulpädagogik in  Lehrpröben  und  Lehrgänge,  Heft  68,  dargelegt. 

Nun  ist  es  den  Historikern  längst  bekannt,  dafs  die  geschichtliche 
Arbeit  auf  irgendeinem  Spezialgebiet  eine  zureichende  Kenntnis  dieses 
Gebietes  als  solchen  voraussetzt.  Demgemäß  wird  auch  hier  eine  g^te 
Systematik  der  Sache  selber  ein  unentbehrlicher  heuristischer  Faktor 
für  die  geschichtliche  Arbeit  sein.  Die  Pädagogik  mufe  als  solche 
lehren,  was  im  allgemeinen  und  dann  für  das  betreffende  Spezialgebiet 
im  besonderen  als  Zweck  und  Ziel,  als  Bildungsideal  und  Bildungs- 
stoff,  als  Plan  und  Form,  als  Verfahren  im  einzelnen  und  dergl.  mehr 
unterschieden  sein  will.  Ohne  Beherrschung  dieser  Systematik  wird 
auch  der  Historiker  nicht  genug  von  dem  sehen,  was  er  sehen  soll. 
Um  gleich  wieder  ein  Beispiel  zu  geben,  so  verweisen  wir  auf  das 
nicht  einmal  sehr  subtile  Thema  von  der  „Lehrdauer''.  Es  ze^ 
sich  in  der  Geschichte  der  Wissenschafts-  und  Kunstpädagogik,  dafe 
gegenüber  der  Verlängerung  der  allgemeinen  Lebensbildung  im  Lanfe 
der  letzten  Jahrhunderte  eine  beträchtliche  Verkürzung  der  Lehr- 
dauer in  der  Spezialbildung  eingetreten  ist.  Früher  rechnete  man  auf 
die  Ausbildung  des  Musikers,  des  Architekten  usw.,  und  ebenso  auf 
die  des  Wissenschaftsjüngers  eine  weit  gröisere  Zahl  von  Jahren,  als 
es  heute  üblich  ist.  In  der  Geschichte  des  juristischen  Unterrichts  und 
in  der  des  musikalischen  Unterrichts  tritt  dieser  Ersatz  einer  früheren 
Gründlichkeit  oder  mindestens  Langwierigkeit  durch  eine  Art  Schnell- 
presse ganz  besonders  hervor.  —  Eine  Artikelserie  der  Neuen  mtisi- 
kaiischen  Presse  von  A.  Seydler  (1904)  behandelt  einen  anderen  Fall, 
in  welchem  zwar  nicht  ein  Rückgang  der  Lehrdauer  g^en  früher  zu  be- 
klagen ist,  jedoch  das  heute  übliche  Ausmafis  hinter  dem  Nötigen  zurüdD- 
bleibt;  sie  verzeichnet  unter  anderem  den  Betrag,  mit  welchem  die  Musik- 
geschichte an  den  verschtedenen  Musikschulen  im  Lehrplan  auftritt 

Vielleicht  am  meisten  wird  auf  dem  Hochschulgebiete  die  Er- 
ziehung neben  dem  Unterricht  und  neben  dem  Schulwesen  engeren 
Sinnes  vernachlässigt.  Um  hier  nicht  moralisierende  Forderungen  auf- 
zustellen, wird  es  g^t  sein,  gegenüber  dem  Einwand,  dafs  eine  Hoch- 
schule nicht   mehr  zu  erziehen  habe,  die  Satzungen  vcm  Hochschulen 


—    ii9    — 

und  das  dazu  gehörige  Motmerang-smaterial  daraufhin  zu  prüfen,  wie 
weit,  gemäfe  diesen  Vorlagen,  der  einzelnen  Hochschule  die  Auijg^abe 
erzieherischer  Einwirkung  zuerteilt  ist  Jene  Gegner  werden  durch  eine 
solche  Arbeit  voraussichtlich  manche  Enttäuschung  erleben.  Die  Ver- 
schiedenheiten, die  sich  dann  noch  hinsichtlich  des  Betrages  der  Aufmerk- 
samkeit auf  diese  pädag€^^che  Seite  finden,  wollen  natürlich  ebenso  er- 
klärt sein,  wie  im  vorigen  die  Unterschiede  in  der  Lehrdauer.  Natür- 
lich werden  wir  durch  ein  spezielleres  Eingehen  darauf,  wie  sich  das 
eine  und  das  andere  in  dem  einen  oder  dem  anderen  Lande  auf  kürzere 
oder  längerer  Zeit  gehalten  oder  nicht  gehalten  hat,  die  unentbehr- 
Uchen  Anhalte  finden,  um  Erklärungen  der  g^ebenen  Tatsachen  zu 
versuchen. 

Eine  besondere  quellenmäßige  Hilfe  für  derartige  Probleme  w^den 
die  studentischen  Stammbücher  bilden.  Zwar  hat  der  Verfasser 
dieser  Zeilen  bisher  eine  besonders  grofee  Ausbeute  aus  ihnen  nicht 
eben  konstatieren  können.  Doch  es  handelt  sich  bei  diesen  Dingen 
auch  darum,  dafe  Einzelheiten,  die  für  sich  allein  nicht  recht  verwert- 
bar scheinen,  durch  ihre  Verbindung  mit  Anderweitigem  erst  so  recht 
einen  Wert  für  die  Forschung  gewinnen.  Ist  man  zum  Beispiel  emmal 
auf  die  erzieherische  Seite  des  HocbschuUebens  aufmerksam  geworden, 
und  hat  man  herausbekommen,  wie  weit  in  einer  bestimmten  Zeit  und 
an  einem  bestimmten  Orte  die  erzieherische  Einwirkung  auf  Studenten 
gehandhabt  wurde,  so  wird  wohl  auch  manches  sonst  Gleichgültigere 
in  studentisdien  Stammbüchern   beachtenswert  erscheinen. 

Gröiser  als  man  wohl  anfangs  glaubt,  sind  hier  die  örtlichen 
Unterschiede.  Eüie  Beschäftigung  mit  Universitätsgeschichte  läfst  bald 
merken,  welche  individuellen  Verschiedenheiten  zwischen  den  einzelnen 
Universitäten  wenigstens  in  früherer  Zeit  bestanden  haben.  Dazu  kommt 
die  Forderung  der  PädagogUc  selber,  jede  Schule  möglichst  als  ein 
Individuum  zu  betrachten  und  zu  behandeln  und  sie  vor  Gleichmacherei 
zu  schützen.  Den  tatsächlichen  individuellen  Verschiedenheiten  der 
Hochschulen  jeglicher  Gattung  kommt  das  landesgeschichtliche  Inter- 
esse entg^en  und  umgekehrt  Manche  Bestandteile  von  Landes- 
archiven werden  reichliche  Materialien  für  unseren  Gegenstand  ent- 
halten. Das  materielle  Interesse  der  Regierung  sowie  der  Bevölkerung 
eines  Landes  an  seinen  Hochschulen,  femer  die  Traditionen,  die  sich 
am  betreffenden  Orte  von  hervorragend  tüchtigen  Lehrern  erbalten 
haben,  mögen  zu  dem  von  uns  Gemeinten  beitragen.  Die  seit  läpf*"""- 
erhobene  und  nur  erst  in  kleinen  Spuren  verwirklichte  Forderunir 
graphischer  Arbeit  auf  dem  Gebiete  der  Pädagogik  und  ilr^ 


—     180     — 

gehört  ebeofalls  hierher.  Wenn  zu  befürchten  ist,  dais  die  allg'emeiDe 
Geschichtsforschung  ihre  bisherige  Lahmheit  auf  dem  Felde  der  Hodi- 
schulhistorie  nicht  so  bald  überwinden  werde,  so  lä&t  sich  von  der 
Lokalgeschichtsforschung  schon  deswegen  eher  etwas  enrarteo, 
weil  diese  einen  Ehrgeiz  darein  setzt,  das  scheinbar  Untergeordnete  und 
Belanglose,  das  andere  verschmähen,  in  seinem  wirklichen  Werte  za  1 
würdigen.  Scheinbar  untergeordnet  und  belanglos  sind  eben  ancb 
manche  Dinge  der  Hochschulpädagogik;  beispielsweise  scheint  sieb 
mit  den  Musikschulen  die  Wissenschaft  schon  w^en  ihrer  anschei- 
nenden Geringwertigkeit  nicht  abgeben  zu  wollen.  Wie  viel  jedodi 
zu  erreichen  ist,  wenn  derlei  wenig  beachteten  Idealen  Dingten  nach- 
gegangen wird,  zeigen  z.  B.  Arbeiten,  die  von  oder  unter  Karl 
Kehrbach  gemacht  worden  sind:  hier  wurde  beispielsweise  ans  ge- 
richtlichen Zeugenaussagen  heraus  bemerkt,  aus  welchen  Lehrbüchern 
die  betreffenden  Personen  ihre  Schulbildung  geholt  haben,  und  da- 
durch der  örtliche  Verbreitungsbezirk  von  Lfehrbüchern  festgestellt 

Zahlreich  sind  die  Orte,  in  denen  der  Wunsch  der  Bevölkerung 
oder  eines  Fürsten  darauf  hingearbeitet  hat,  eine  Hochschule  zu  gründen,  j 
ohne  dafs  es  jedoch  tatsächlich  dazu  gekommen  ist.  Das  erwähnte 
Werk  von  Denifle  enthält  Berichte  auch  über  mifslungene  Universitäts- 
gründungen.  Dazu  kommen  die  zahlreichen  eingegangenen  Universi- 
täten und  ihre  örtlichen  Nachwirkungen,  die  für  Bibliotheken  und  sonst 
noch  für  das  Kulturleben  des  Landes  grölser  sein  dürften,  als  man 
zunächst  meinen  möchte.  Wir  brauchen  nur  an  die  eingegangenen 
Universitäten  Erfurt  und  Hcrbom  zu  erinnern.  Schlieblich  haben  wir 
auch  noch  mit  den  jetzt  wieder  zahlreich  werdenden  Neugründungeo 
von  Hochschulen  anderer  als  universitätsmä&iger  Gattung  zu  rechnen, 
an  denen  ja  das  lokale  Interesse  lebhaft  mitbeteiligt  ist;  meistens  haben 
solche  Neugründungen  eine  lange  Vorgeschichte,  deren  man  sich  erst 
wieder  erinnert,  wann  die  Dinge  aktuell  werden. 

Weiterhin  kommt  die  Geschichte  des  Unterrichtes  einzelner  Wissen- 
schaften und  Künste  in  Betracht.  Hier  sind  geradezu  auch  Methoden 
lokal  verschieden.  Der  phUosophische  Unterricht  ist  im  Süden  Deutsch- 
lands durchschnittlich  etwas  anders  als  im  Norden,  natürlich  nicht  ohne 
Beeinflussung  durch  die  Konfessionen.  Wir  erwähnen  nur  das  Voran- 
stehen der  systematischen  Partien  im  Unterrichte  dort  und  der  histo- 
rischen Partien  hier.  Die  örtliche  Verbreitung  philosophischer  Schulen 
ist  zum  Teil  bekannt  und  gibt  noch  Gelegenheit  zu  näheren  Forschong-en. 
Wir  brauchen  gar  nicht  auf  die  preußische  Bedeutung  Hegels  und 
auf  die  österreichische  Bedeutung  Herbsurts  hinzuweisen.    Weniger  be- 


—     131     — 

kannt  ist  die  ausgedehnte  Wirksamkeit,  welche  manche  andere  Philo- 
sophen in  ihren  Ländern  ausgeübt  haben :  so  würde  es  sich  beispiels- 
weise lohnen,  dem  Wirken  von  Branifs  (in  Schlesien)  und  dem  von 
Franz  Brentano  (in  Österreich  sowie  über  Österreich  hinaus)  nachzugehen. 

Um  noch  den  Musikunterricht  als  Beispiel  heranzuziehen,  so  sei 
darauf  verwiesen,  wie  sich  der  Einflufs  Hugo  Riemanns  und  seiner 
Unterrichtsweisc  bereits  jetzt  verfolgen  läfet,  sogar  bis  zu  einem 
„Riemann-Konservatorium**  in  Stettin.  Neuerdings  ist  die  Frage  wieder 
angeregt  worden,  ob  die  Unterweisung  in  der  musikalischen  Satzlehre 
mit  der  Harmonielehre  oder  mit  dem  Kontrapunkt  zu  beginnen  habe; 
eine  Frage,  die  zwar  vorläufig  zugunsten  des  Vorantrittes  der  Harmonie- 
lehre entschieden  ist,  aber  doch  durch  kritische  Stimmen  von  konser- 
vativerer Seite  her  neu  aufgerührt  wird.  Hier  würde  es  wertvoll  sein, 
wenn  wir  von  Ort  zu  Ort  feststellten,  wie  es  damit  in  den  verschiedenen 
Schulen  ist  und  war.  Bei  den  Musikschulen  kommt  noch  als  nicht  ganz 
belanglos,  ebenso  wie  natürlich  bei  allen  anderen  Schulen,  der  Schul  her r 
in  Betracht.  Im  Deutschen  Reich ,  namentlich  im  Norden ,  sind  die 
Musikschulen  vorwiegend  Sache  der  pädagogischen  Privatindustrie,  ab- 
gesehen von  dem  wenigen,  was  Staat  und  Stadt  dafür  tun.  In  Süd- 
deutschland, besonders  in  der  Schweiz  und  in  Österreich,  treten  grofsen- 
teils  musikalische  Vereine  für  das  Lehrwesen  ein.  —  Während  im 
Musikunterrichte  die  Kämpfe  der  verschiedenen  künstlerischen  Rich- 
tungen bisher  weniger  zu  bemerken  waren,  spielen  sie  in  den  Lehr- 
stätten der  bildenden  Künste  eine  gröiscre  Rolle  und  geben  dem 
ewigen  Kampfe  zwischen  Neuem  und  Altem  eine  fortwährende  Nahrung. 
KonflUcte  hinsichtlich  der  akademischen  Lehrfireiheit  sind  hier  in  ähn- 
licher Weise  an  der  Tagesordnung  wie  an  den  Universitäten,  werden 
aber  doch  in  der  öflFentlichkcit  nicht  so  beachtet  wie  dort,  weshalb 
auch  hier  die  stillere  Lokalforschung  gut  tun  wird,  mit  ihren  Interessen 
in  eine  Lücke  einzutreten. 

Da(s  wir  zum  Abschluß  unserer  Ausführungen  das  Verlangen 
nach  hochschulpädagogischen  Archiven  und  Bibliotheken  aussprechen 
müssen,  versteht  sich  wohl  von  selbst.  Zunächst  wird  es  g^t  sein, 
Archive ,  an  welche  die  Forschung  kaum  noch  gedacht  hat,  d.  h.  die- 
jenigen, die  sich  bei  jeder  Lehranstalt  finden,  besser  zu  beachten,  auch 
wenn  man  keineswegs  die  Absicht  hat,  etwa  die  Archive  verschiedener 
Musikschulen  eines  Landes  zusammen  mit  verwandtem  Material  in  einem 
hochschulpädagogischen  Landesarchive  zu  vereinigen.  Was  Biblio- 
theken betrifft,  so  wird  hier  besondere  Sorgfalt  auf  die  Sammlm««' 
irrigerweise  meist  weniger  beachteten,  Kleinzeuges  der.  Saezk 


—     132     — 

zu  verwenden  sein.  Der  Verfasser  dieses  hat  den  Keim  einer  eig-enen 
hochschulpädag'ogischen  Privatbibliothek  wesentlich  dahin  zu  gestalten 
gesucht,  dafs  er  vor  allem  die  kleinen  Spuren  zu  sammeln  bestrebt 
ist,  die  für  die  hochschulpädagogische  Bewegung  charakteristisch  sind, 
und  deren  man  nach  einiger  Zeit  viel  schwerer  wird  habhaft  werden 
können,  als  der  gröfseren  Bücher.  Es  ist  heute  hohe  Z^it,  dasjeni^ 
zu  sammeln,  was  später  vielleicht  gar  nicht  mehr  wieder  au&utreiben 
sein  wird;  und  es  ist  schliefslich  erst  recht  wieder  nötig,  dals  wir  in 
Deutschland  an  diese  Aufgaben  energisch  herangehen,  um  uns  nicht 
vom  Auslande  überflügeln  zu  lassen. 


>.  ^  V'^.    S-^^^-^N.  wv-- 


Mitteilungen 


irclÜTe.  —  Von  den  Mitteilungen  der  K,  Pteu/stschen  Arekiwer' 
waltung  ')  liegen  zwei  neue  Hefte,  das  sechste  und  siebente,  vor,  die  das 
begonnene  Werk  mit  Glück  fortsetzen  und  der  Geschichte  des  ArchiY- 
weseus  im  Zusammenhange  mit  der  Staatsverwaltung  ebenso  dienen,  wie 
der  Nutzbarmachung  des  in  den  i^chiven  aufgespeicherten  Materials. 
Nur  wenn  auf  dem  hier  begonnenen '  Wege  allseitig  fortgeschritten  vrird, 
kann  mit  der  Zeit  eine  genügende  trschliefsung  der  Quellen  zur  deutschen 
Geschichte  erhofll  werden.  Denn  wenn  ein  Forscher  über  irgendeinen 
Gegenstand  Auskunft  haben  will,  dann  entsteht  ftir  ihn  die  Frage:  bei 
welchem  Archive  und  in  welcher  AbteUung  könnte  wohl  etwas  liegen? 
Antwort  darauf  kann  im  Grunde  nur  derjenige  geben,  der  weifs,  wie  die 
einzelnen  Archive  erwachsen  sind  und  aus  welchen  Teilen 
sie  sich  zusammensetzen. 

Das  sechste  Heft,  Übersicht  über  die  Bestände  des  K.  Siaaisarehivs  zu 
Koblenz  (Leipzig,  S.  Hirzel  1903,  XII  und  227  S.  8^  M.  8,00),  hat  der 
jetzige  Archivdirektor  in  Magdeburg,  Eduard  Ausfeld,  bearbeitet,  der 
früher  jahrelang  in  Koblenz  tätig  war.  Das  dortige  Archiv  umüafst  im 
wesentlichen,  seit  18 15  ausschliefslich ,  das  Gebiet  der  jetzigen  Regierungs- 
bezirke Koblenz  und  Trier,  und  das  Material  —  und  demgemäfs  auch  die 
Übersicht  —  zerfällt  in  drei  zeiüiche  Abschnitte:  Zeit  des  alten  Reiches 
(S.  I — loi),  Zeit  der  französischen  Herrschaft  (S.  102 — iio)  und  2>it 
der  preufsischen  Herrschaft  (S.  iii — 115).  Daran  anschliefsend  wird 
der  Bestand  an  Handschriften,  Kopialbüchem ,  Karten  und  Depositen 
(S.  116  — 123)  verzeichnet,  imd  den  Anhang  (S.  124 — 192)  bildet  ein  Ver- 
zeichnis der  Archivalien  über  adlige  Familien,  die  S.  69  sununarisch  ver- 
zeichnet sind.  Gerade  diese  alphabetische  Übersicht  ist  für  die  Forschung 
von  unschätzbarem  Werte,  denn  sie  stellt  zugleich  ein  Personenregister  zum 
Archivrepertorium  dar,  das  durch  die  Einbeziehung  des  Inhalts  der  Akten 
der  Lehnhöfe  von  Kur-Trier,    Kur-Köln,   Kur-Pfiftlz,   Sponheim,   Prüm   und 

i)  Vgl  dkie  ZciUdirift  3.  Bd.,  S.  173—174. 


—     138     — 

Luxemburg,  sowie  der  der  Reichsritterschaft  am  Mittel-  und  Niederrheiö 
besonders  wertvoll  wird.  Aufser  Nachträgen  und  Berichtigungen  (S.  193 — 196) 
schliefst  das  Ganze  mit  einem  Ortsregister  (S.  197 — 227),  und  dem  Suchen- 
den sind  somit  die  Wege  in  genügender  Weise  geebnet,  um  sich  in  den 
Aktenverzeichnissen  zurechtzufinden.  Vor  allem  für  die  Ortsgeschichte 
liegt  jetzt  das  Material  so  bequem  offen,  wie  nur  möglich ;  es  ist  aber  gerade 
deswegen  nun  auch  zu  fordern,  dafs  die  Interessenten  diese  Publi- 
kation wirklich  benutzen  und  sich  vorher  an  ihrer  Hand  orien- 
tieren, ehe  sie  der  Archivleitung  ihre  Wünsche  vortragen. 

Das  gröfste  geschichtliche  Interesse  hat  natürlich  der  erste  Teil,  in  dem 
nacheinander  die  Archive  I.  der  Reichs-  und  Kreisstände  (45  staatliche 
Gebilde),  IL  der  reichsunmittelbaren  Gemeinschaften,  III.  der  Gebiete  von 
loser,  bestrittener  oder  zweifelhafter  Reichsunmittelbarkeit ,  IV.  der  Reichs- 
ritterschaft, V.  des  Adels  und  anderer  Geschlechter  —  die  oben  bereits 
angezogene  Abteilung  — ,  VI.  der  geistlichen  Ritterorden,  VII.  der  Stifter 
und  Klöster  und  VIII.  des  Reichskammergerichts  beschrieben  werden.  Die 
2^it,  aus  der  die  Archivalien  stammen,  ist  natürlich  stets  durch  Angabe  der 
Jahreszahlen  gekennzeichnet,  und  bei  den  Urkunden  sind  die  Originale  und 
Abschriften  deutlich  unterschieden.  Einige  Gegenstände,  die  allgemeineres 
Interesse  haben  dürften,  seien  hier  kurz  herausgehoben.  S.  14  werden  die 
Auswärtigen  Beziehungen  Kur-Txiers  zu  Rom,  zu  Kaiser  und  Reich 
und  zu  3 1  deutschen  und  aufserdeutschen  Staaten  verzeichnet  und  anschliefsend 
Reichs-  und  Kreistagssachen  i47ifr— 1801  in  187  Heften  und  Bänden; 
S.  15  Nr.  10  unter  Jusiixwesen  finden  sich  174  Hexenprozesse 
1586  — 1642;  die  Protokolle  des  Domkapitels  liegen  in  19  Bänden  seit 
1472  mit  nur  kleinen  Lücken  vor,  die  Akten  der  limdstände  in  809  Bänden 
seit  147 1  (S.  16).  Beachtung  verdienen  auch  die  langen  Serien  von  Kellerei- 
Rechnungen,  die  fiir  einige  Ämter  vorliegen  (Manderscheid  seit  1397,  Wittlich 
seit  15 19,  Zell  seit  1523,  Boppard  seit  1540)  und  sich  zu  einer  forüaufenden 
Bearbeitung  verwaltungs-  und  wirtschaftsgeschichtlicher  Art  empfehlen  würden 
(S.  17).  Unter  den  Archivalien  der  Reichsgrafschaft  Blankenheim  (S.  39) 
finden  sich  Akten  über  das  Verhältnis  zu  Kaiser  und  Reich  seit  1475, 
über  Kurkölnische  Landtage  seit  1509  und  niedersächsisch- 
westfälische  Kreistage  seit  1653.  ^^  Archiv  der  Reichsgrafschaft 
Wied-Isenburg  (S.  46)  findet  sich  eine  Rechnung  des  Hauses  Dierdorf  von 
1344  auf  27  Blatt  Papier,  die  gewifs  einer  Edition  oder  gründlichen  Be- 
arbeitung wert  wäre.  Das  Verzeichnis  der  Archivalien  der  geistlichen  Ritter- 
orden und  der  Stifter  und  Klöster  (S.  69  ff.)  stellt  zugleich  ein  willkommenes 
und  wahrscheinlich  auch  ziemlich  vollständiges  Verzeichnis  der  betreffenden 
Niederlassungen  dar  mit  Angabe  des  Ordens,  dem  jede  angehörte;  es  sind 
im  Erzstift  Trier  allein  163  Stifter  und  Klöster,  im  Erzstift  Köln  und  Mainz 
je  37.  Von  den  als  Depositen  hinterlegten  Archiven  sei  bemerkt,  dafs 
5  Stadt-  und  14  Landgemeinden  (bezw.  Bürgermeistereien),  2  evangelische 
und  I  katholische  Pfarrgemeinde,  sowie  i  Familie  von  dieser  zweckmäfsigen 
Sichenmg  ihrer  z.  T.  recht  umfangreichen  Archive  Gebrauch  gemacht  haben. 

Im  siebenten  Hefte  behandelt  der  Generaldirektor  der  preufsischen 
Staatsarchive  Reinhold  Koser  Die  Neuordnung  des  Preufsischen  Archiv^ 
Wesens  durch  den  Staatskanxler  Fürsten  von  Hardenberg  (Leipzig,  S.  Hirzel 


—     134     — 

r904,  XVIII  und  72  S.  8^   M.  2,60).     Hier  werden  15  AktenstOdtt  am 
der  Zeit   vom  25.  März  18 19   bis   4.  JoK    1822    vollständig   veröffeiididit, 
die   einen  tiefen  Einblick   in  die  Zustände   der  preufsischen  Archive,   aber 
auch   in   die  Absichten  Hardenbergs  gestatten,  denn   nichts  Geriogercs  als 
das,  was  durch  die  heutige  Organisation  endlich  erreicht  ist,  hat  er  amgestrebt 
In   der  Einleitung  wird   der  Gang   der  Ereignisse,  wie  ihn  die  Aktenstödc 
und   das    sonstige  Material  erkennen  lassen,   dargestellt.     Wichtig  ist  dabd, 
dafs   sich   der   Staatskanzler   auch   persönlich   mit    den   kleinen   Fragen  der 
Organisation   abgegeben  hat,    dafs  er  es  gewesen  ist,   der  das  ArchivwesQ 
direkt   dem  Staatskanzler   unterstellt  hat   im  Gegensatze  zu  dem  ersten  Ent- 
wurf über  die  Verfassung  der  obersten  Staatsbehörden.    Die  Personen,  deres 
er  sich  zur  Durchführung  seiner  Absichten  bediente,  waren  Legationsrat  Kd 
Georg  V.  Raumer  und  Regierungsrat  Gustav  Adolf  Tzschoppe,  <& 
nacheinander   die   beiden   ersten  Direktoren  der  Staatsarchive  gewesen  sbd 
Merkwürdig  berührt  heute  weniger  die  vorgeschlagene  Trennung  von  histo- 
rischen und  staatsrechtlichen  Archiven  als  der  Plan,  ein  einziges 
wissenschaftliches  Zentralarchiv  für  den  ganzen  preufsischeir 
Staat  in  Berlin   zu   errichten.     Die  Einführung   einer  Trennung  nacb 
jenen  Gesichtspunkten  scheiterte  an  der  praktischen  Undurchführbarkeit,  aber 
ebenso  die  Errichtung  des  Zentralarchivs,  da  den  Provinzen  gewisse  Befände 
doch  gelassen   werden   sollten   und  nun  wiederum  eine  reinliche   Scheidacg 
notwendig  geworden  wäre.    Interessant  ist  eine  auf  Mettemich  zurückgehcDde 
Mitteilung,  dafs  Napoleon  I.  an  die  Zentralisierung  aller  Archive  Europas  ü 
Paris  gedacht  hat!  (S.  X.)     Bereits  im  Herbst  1822  ist  von  einer  Zentnti- 
sierung  nicht  mehr  die  Rede,  und  sie  ist  schlie(slich  nur  mit  Rücksicht  ant 
die  mittelalterlichen  Kaiserurkunden  durchgeführt  worden.    Die  Untersuchm:| 
der  Archive  in  den  Provinzen  und  ihre  Vereinigung  in  den  ProvinzialhaopC 
Städten   hat  dagegen   guten   Fortgang  genommen,   wenn  auch   der  ZustaoJ 
meist  recht  schlecht  war,  und  auch  zur  Verbindung  der  reponierten  Regienrngs- 
akten  mit   den  antiquierten   Archiven   wurde   sehr  bald    fortgeschritten,  p 
schon   1822    eine   feste  Richtschnur  für  die  Trennung  zwischen  Archiv  oxüi 
Registratur  gegeben.    Auch  wurde  das  Augenmerk  auf  die  Kommunalaxdmt 
und  die  im  Privatbesitze  befindlichen  Dokumente  gerichtet,  und  man  versuchte, 
wenigstens  Verzeichnisse   davon   zu  erhalten.     Abschriften  aus  ausländischci 
Archiven  (Kopenhagen)   sollten   genommen   werden;   um   die   nötige   Anzahl 
tüchtiger  Archivare    zu    gewinnen,    schienen    die   Geschichtsvereine    in   dec 
Provinzen  geeignete  Helfer   zu   sein;   eme   weitherzige  Öffnung   der   Archire 
für  wissenschaftliche  Zwecke  sollte  Platz  greifen.     Doch  alle  diese  weit  aos* 
schauenden   modernen  Ideen   sanken   mit  Hardenberg  ins   Grab ,    und   cr^ 
unter  Bismarck  sind  jene  Anforderungen  verwirklicht  worden,  ohne  dafs  jemand 
an  Hardenberg    gedacht    haben    dürfte.    —    Diese    kleine   Skizze    aus    de 
preufsischen  Archivgeschichte   ist  lehrreich  mit  Hinbb'ck  auf  Hardenberg  als 
Person  und  auf  seine  Staatsreform,  sie  ist  aber  zugleich  ein  schöner  Beitn^ 
zur  Geschichte  des  wissenschaftlichen  Lebens  im  XIX.  Jahrhundert. 


Die  Organisation  des  staatlichen  Archivwesens    in  Württemberg   t£ 
in  dieser  Zeitschrift  2.  Bd.,   S.  29 — 32,  bereits  beschrieben   worden,  ni^ 


—     186     — 

dort  ist  auch  autgefllhit,  welche  StelluDg  im  Rahmen  des  Ganzen  das  Archiv 
des  Ministeriums  des  Innern  einnimmt.  Neuerdings  hat  Kanzleirat  Marquart 
(Ludwigsburg)  in  einem  Aufsatze  den  Inhalt  des  zuletzt  genannten  Archivs 
charakterisiert:  Zur  Geschieht  des  K.  Archivs  des  Tmtern  in  Ltkiwigsburg 
[«0  Württembergische  Vierteljahrshefte  (Ur  I^ndesgeschtchte,  Neue  Folge, 
13.  Jahrgang  (1904)9  S.  113  — 139].  Den  Grundstock  des  Archivs  bildet 
die  seit  1806  ,,  Hauptaktendepot "  genannte  obere  oder  ältere  Registratur 
der  vormaligen  altwürttembergischen  Regierung,  an  die  sich  dann  im  Laufe 
des  XIX.  Jahrhunderts  die  verschiedensten  anderen  Aktenbestände  angegliedert 
haben.  Deren  Aufzählung  ist  in  der  Darstellung  selbst  zu  suchen,  zumal 
da  wesendiche  Tfile  im  Laufe  der  Zeit  wieder  an  andere  Stellen  abgegeben 
worden  sind.  Im  ganzen  gewinnt  man  die  Empfindung,  dafs  von  etwa 
1830 — 1850  im  württembergbchen  Archivwesen  zwar  viel  geschehen  ist, 
6a£s  man  die  einzelnen  Bestände  oft  überführt  und  auch  tüchtig  durch  Aus- 
scheidung dezimiert  hat,  aber  es  fehlt  irgendein  gröfserer  Organisationsplan, 
und  die  Behörden  stehen  den  Aktenmassen  im  ganzen  ratlos  gegenüber. 
Wie  weit  man  bei  der  Aktenkassation  vorgegangen  ist,  beweist  die  Tatsache, 
dais  ein  Beamter  im  Jahre  1869  von  sich  sagen  konnte,  er  habe  dadurch 
einen  Reinerlös  von  11 18  Gulden  erzielt!  Als  archivgeschichtliche  Dar- 
stellung ist  der  vorliegende  Aufsatz  willkommen,  aber  er  hätte  leicht  noch 
mehr  bieten  können,  nämlich  eine  Übersicht  über  den  heutigen  Bestand, 
em  Übersichtsinrentar.  Obwohl  eine  grofse  Menge  von  Aktengruppen  auf- 
gezählt wird,  erhält  der  Leser  doch  kein  Gesamtbild  von  dem,  was  heute 
im  Archiv  ruht,  und  noch  weniger  von  dem  angewandten  Ordnungsprinzip, 
welches  notwendigerweise  bekannt  sein  mufs,  wenn  nach  bestimmten  Akten 
gesucht  werden  soll.  Die  Archivgeschichte  gerade  ist  es,  die  anscheinende 
ZuftÜligkeiten  der  Organisation  erklärt,  und  nicht  zuletzt  wegen  dieses  prak- 
tischen Nutzens  verdient  sie  eine  liebevolle  Pflege. 


Von  den  Inveniaren  des  Oroßherxoglich  Badischen  Oeneral-Landes* 
airckivs  ')  liegt  der  erste  Halbband  eines  zweiten  Bandes  (Karbruhe ,  MüUersche 
Hofbuchhandlung  1904,  194  S.  8®)  vor.  Den  Inhalt  bUden  die  „Personalien'* 
der  Abteilungen  Alt-Baden,  Hachberg  und  Baden-Baden,  d.  h.  die  jenen 
Linien  angehörigen  Personen,  soweit  über  sie  Archivalien  vorliegen,  sind 
verzeichnet,  und  bei  jeder  Person  finden  sich  die  sie  betreffenden  Archivalien 
aufgezählt  Bei  Christoph  I.  (f  1527)  von  Altbaden  sind  es  z.  B.  160 
Nummern,  die  in  14  AbteUungen  (Familiensachen,  Vermählung,  Verlassen- 
schaft, Ausstände,  Schulden  und  Zahlungen,  Erwerbungen,  PCuidschaft,  Kirchen- 
dienste, Kirchensachen,  Kaiserliche  Privilegien,  Reichssachen,  Lehen,  Be- 
ziehungen zum  Anhand,  Korrespondenz)  gegliedert  sind.  Bei  der  Mehrzahl 
der  Personen  ist  das  Material  natürlich  nicht  so  lunCuigreich ,  aber  bei 
Wilhelm  von  Baden-Baden  (f  1677)  steigt  das  Verzeichnis  auf  201  Nummer 
und  füllt  16  Druckseiten.  Das  bedeutet  die  Bewältigung  ganz  gewaltiger 
Massen  von  Archivalien,  über  deren  Inhalt  noch  dazu  wesentlich  ausführlicher, 
als  es  im  ersten  Bande  der  Fall  war,  berichtet  wird,   so  dais  im  Grunde 


1)  Vgl  diese  ZcitMhrift  3.  Bd.,  S.  23—33. 


—     186     — 

schon  diese  archivalischen  Notizen  em  Bild  von  dem  Lebensgange  jedo- 
Person  geben.  Sehr  zweckmäfsig  sind  die  Hinweise  auf  die  Regesten  der 
Markgrafen  s?on  Baden  und  Hachberg  von  Fester-Witte.  Die  Verdienst- 
lichkeit einer  solchen  Publikation  und  ihr  Wert  flir  die  badische,  aber 
auch  flir  die  allgemeine  Geschichtsforschung  braucht  nicht  erst  hervor- 
gehoben zu  werden;  wenn  mit  dem  zweiten  Haibbande  auch  das  Register 
vorliegen  wird,  dann  wird  die  Bedeutung  noch  viel  schärfer  hervortreten. 
Als  Beispiele  dafür,  welche  Angaben  man  hier  finden  kann,  seien  lediglich 
einige  Einzelheiten,  die  allgemeines  Interesse  haben  dürften,  herausgehoben. 
Abgesehen  von  zahlreichen  Gemahlinnen  der  Markgrafen,  deren  Angelegen- 
heiten nach  auswärts  führen  —  hierher  gehört  z.  B.  4ie  Gemaljlin  des 
Markgrafen  Albrecht  Achilles  von  Brandenburg,  Margarete  (f  1457)8.  24  — , 
finden  sich  Glieder  des  Fürstenhauses  erwähnt,  die  selbst  in  die  Feme 
gezogen  sind,  so  der  Erzbischof  Johann  von  Trier  (f  1503)  S.  23,  Bischof 
Georg  von  Metz  (f  1484)  und  Bischof  Markus  von  Lüttich  (f  1478)  S.  24, 
Erzbischof  Jakob  von  Trier  (+  15 10)  S.  38,  Dompropst  Rudolf  von  Köln 
(+  1533)  S.  39.  Unter  den  Papieren  des  Markgrafen  VVilhelm  von  Baden-Baden 
(t  1677)  finden  sich  S.  88  unter  anderem  Korrespondezen ,  die  sich  mit 
dem  Anspruch  Bayerns  und  der  Kurpfalz  auf  das  Reichsvikariat  und 
die  Ernennung  eines  Koadjutors  im  Erzstift  Köln  (1676)  beziehen. 
Wer  würde  wohl  nach  Material  über  diese  Gegenstände  von  vornherein  in 
Karlsruhe  suchen?  Die  Korrespondenzen  der  fürstlichen  Personen  spielen 
überhaupt  im  XVII.  und  XVIÜ,  Jahrhundert  eine  grofse  Rolle,  und  der 
wesentliche  Inhalt,  der  sich  natürlich  auch  auf  vieles  Nichtbadische  bezieht, 
ist  immer  angegeben;  so  wird  im  Briefwechsel  zwischen  Markgraf  Ludwig 
Wilhelm  und  dem  König  Friedrich  I.  von  Preufsen  (S.  163)  die  Annahme 
des  Königfstitels  seitens  des  letzteren  und  der  Widerstand  dagegen  besprochen. 
Für  die  Türkenkriege  —  Leopold  Wilhelm  hat  bei  St.  Gotthard  mitgekämpft 
(S.  119) ' —  und  die  Reichsknege  gegen  Frankreich  fällt  ganz  aufserordentlich 
viel  ab.  Wer  sich  mit  Spezialfragen  aus  diesen  Gebieten  beschäftigt,  der 
hat  hier  einen  vorzüglichen  Wegweiser,  um  neues  Material  aufisufinden,  und 
in  dieser  Hinsicht  seien  besonders  die  Forscher  aufs  er  halb  Badens  darauf 
aufmerksam  gemacht,  dafs  sie  dieses  Inventar  zu  Rate  ziehen.  Es  wird  kaum 
eine  politische  Frage  des  XVII.  und  XVIIL  Jahrhunderts  geben,  über  die 
nicht  diese  Karlsruher  Fürstenkorrespondenzen  möglicherweise  etwas  ent- 
halten. —  Aufgefallen  ist  mir  ein  einziger  Druckfehler  S.  163,  wo  22,  März 
1860  statt  1680  steht.  A.  T. 

Kommissioneil.  —  Die  Historische  Landeskommission  für 
Steiermark  hielt  am  11.  Mai  1904  unter  dem  Vorsitze  des  Landeshaupt- 
manns Graf  A 1 1  e  m  s  ihre  Vollsitzung  ab.  Im  Geschäfbjahr  1 903  sind  von 
den  Veröffentlichungen  der  historischen  Ixindeskommission  für  Steiermark 
erschienen  Albert  Starzer:  Die  landesfürsUichen  Lehen  in  Steiermark 
1421 — 1546,  Alois  Lang:  Beiträge  zur  Kirchengeschichte  der  Steiennark 
und  ihrer  Nachbarländer  aus  römischen  Archiven,  Anton  v.  Pantz:  Ä»- 
träge  zur  OeschidUe  der  Innerberger  Hauptgewerkschaft,  In  Bearbeitung 
sind  die  Regesten  zur  Geschichte  der  Familien  Teufifenbach,  Pranckh,  Herber- 
stein,   Eggenberg  und  Liechtenstein  zu  Murau.     Aufserdem  bearbeitet  Prof. 


—     137     — 

Ritter  y.  Wretschko  (Innsbruck)  die  Geschichte  des  Landeshauptmanns- 
amtes,  Rittmeister  a.  D.  Strobl  v.  Ravelsberg  die  Wehrver^eissung  und 
Grenzverteidigung  im  i6.  Jahrhundert,  Freiherr  v.  Mensi  die  Finanz- 
geschichte der  Steiermark  und  Piof.  Loserth  Salzburgisch-Seckauische 
Korrespondenzen  zur  Reformationsgeschichte.  Die  Kommission  hat  femer 
Schritte  eingeleitet,  um  die  vom  verstorbenen  Oberbergrat  Kupelwieser 
hinterlassene  Geschichte  des  steirischen  Bergwesens  seit  Maria  Theresia  in 
ihre  PuUikationen  aufiiehmen  zu  können,  v.  Pantz  beabsichtigt,  die 
Geschichte  der  Innerberger  Hauptgewerkschaft,  der  Konzipist  des  Staats- 
archivs L.  Bittner  die  Geschichte  des  Vordemberger  Eisenwesens  zu  be- 
arbeitan.  Prof.  Anton  Weifs  hat  die  ältere  Geschichte  der  Oiözese  Seckau 
in  Angriff  genommen.  Die  Ausdehnung  der  Tätigkeit  der  Landeskommission 
erfordert  weit  gr^sere  Mittel,  als  ihr  bisher  durch  die 'Landessubvention  und 
die  Beiträge  des  steirischen  Hochadels  zur  Verfügung  gestellt  wurden;  die 
Kommission  wird  daher  Unterstützungen  vom  Ministerium  für  Kultus  und 
Unterricht,  sowie  von  jenen  Korporationen  zu  erwirken  suchen,  deren  Ge- 
schichte durch  die  Forschungen  der  Kommission  gefördert  und  bekannt 
gemacht  wird. 


Am  31.  Oktober  1904  tagte  in  Wien  die  Kommission  für  neuere 
Geschichte  Österreichs  ')  unter  dem  Vorsitze  S.  Durchl.  des  Prinzen 
Franz  Liechtenstein.  Anwesend  waren  die  Mitglieder  Dopsch,  Foumieri 
GoU  (Prag),  Hirn,  Jireöek,  v.  Ottenthai  (Geschäftsleiter),  Pribram,  Redlich, 
Schütter,  Weber  (Prag),  Gustav  Winter,  v.  Zwiedineck-Südenhorst  (Graz). 
Der  Stand  der  Arbeiten  ist  folgender:  Regierungsrat  Thomas  Fellner  hatte 
die  Ausarbeitung  einer  Geschichte  der  Organisation  der  öster- 
reichischen Zentralverwaltung  übernommen,  und  das  A^inisterium 
für  Kultus  imd  Unterricht  hatte  einer  solchen  Ausdehnung  der  Kommissions- 
publikationen auf  innere  österreichische  Geschichte  der  neueren  Zeit  seine 
Zustimmung  erteilt ;  Fellner  wurde  leider  nach  Vollendung  des  gröfsten  Teiles 
des  Werkes  durch  einen  plötzlichen  Tod  hinweggerafft,  die  Fertigstellung 
wurde  nun  Dr.  Heinrich  Kretschmayr  übertragen,  der  im  Jahre  1905 
mit  dem  Drucke  hofft  beginnen  zu  können.  —  Für  die  Ausgabe  der  öster- 
reichisch-englischen Staatsverträge  hat  Prof.  Alfred  F.  P r i b r a m  die  all- 
gemeine Einleitung  und  die  Spezialeinleitungen  der  einzelnen  Verträge  bis 
172 1  vollendet  und  stellt  die  Vorlage  des  Manuskripts  des  ersten  Bandes 
fUr  die  nächste  Vollversammlung  der  Kommission  in  Aussicht.  Staatsarchivar 
Schütter  beendete  die  allgemeine  Einleitung  der  österreichisch-französischen 
Staatsverträge.  Heinrich  R.  v.  Srbik  ist  mit  der  Durcharbeitung  der  Ho- 
landioa  des  Haus-,  Hof-  und  Staatsarchives  fUr  die  Ausgabe  der  öster- 
reichisch-niederländischen Verträge  beschäftigt.  Vorarbeiten  für  die  Heraus- 
gabe der  Verträge  Österreichs  mit  Bayern,  Pfalz,  Württemberg  und  Baden 
wird  Roderich  Goofs  in  Angriff*  nehmen.  Die  Ausarbeitung  des  zweiten 
Teiles  des  Chronologischen  Verzeichnisses  der  österreichischen  Staatsverträge, 
der  die  Zeit  von  1763  bis  zur  Gegenwart  umfassen  wird,  hat  Ludwig  Bittner 

i)  Vgl.  diese  Zuschrift  2.  Bd.,  S.  143—144  sowie  5.  Bd.,  8.  139  ff. 

11 


—     13«     — 

weiter  gefiMeit.  —  Voo  der  Korrofomdemz  Ftrdimamds  L  wird 
dte  r imiiif ofcOTTCi'pofKiepz  mc  &an  v^  Margarcw,  otatnuBKiio  der  rneder* 
laode,  imd  Maria,  Kdoigm  ron  Uctgani,  n»  1522 — 1531  beransgcgcbm 
werden;  Wübelm  Bauer,  der  ÜA  cfiescr  Aidgabe  voi  widmet,  wird  in  der 
SoBDflolttDg  des  Materials  durch  Dr.  Kad  Goll  iBUnilfilfl  —  An  Pdbli- 
katiooeo  der  Kotiioiiwioii  worden  folgende  nco  in  AfigBctitgfuoiiimcn:  auf  Antrag 
Prof.  Redfichs  wurde  beschlossen,  <fie  fin-  die  Arbeiten  der  Kommissioo  er- 
statteten Berichte  über  österrcicfaisdie  Piiiataichiie  mit  ZjwliBimung  der  Be- 
sitzer der  betrefienden  Archire  in  geeigneter  Answahl  und  Bearbeitnng  jds 
Beridäe  Über  Queüenmaienal  zur  neueren  Oexkiekie  (hterreidu  mit  Sooder- 
titdn  in  zwangloser  Folge  zn  Terögentiicben.  Ebenso  wurde  die  Anfialme 
des  im  Anftrage  Sr.  Dordilancbt  des  Prinzen  Liechtenstein  nm  Dr.  Hans 
Übersberger  bearbeiteten  Werkes  Osierreidi  und  Rufdand  (DarsteUnog 
der  pi^itischen  Beziehungen  beider  Staatei^,  dessen  erster  Band  im  Manu- 
skripte schon  Torhegt,  unter  die  Kommissionspqhhkationen  genehmigt. 


Die  Württembergische  Kommission  für  Landesgeschichte  ^) 
hat  am  5.  Mai  1904  ihre  dreizehnte  Sitzung  abgehalten.  Im  Druck 
erschienen  ist  der  zweite  Band  der  Oeschiehtsqtteüen  der  Sladt  Hau,  der 
Yon  Chr.  Kolb  bearbeitet  Widmanns  Chronica  enthält,  femer  Wintterlin: 
Geschichte  der  Behördencrganisaiion  Württembergs  i.  Bd.  (bis  zum  Regie- 
rungsantritt König  Wilhelms  L  181 6),  Schuster,  Der  geschichtliche  Kern 
von  Hauffs  Lichtensiein  [=a  Darstellungen  aus  der  württembergischen  Ge- 
schichte, Band  I]  und  Binder:  Würtletnbergische  Münz-  und  MedaHlenkunde, 
neu  bearbeitet  von  Julius  Ebner,  Heft  i.  Das  Heilbronner  Urkundenbuch, 
bearbeitet  von  Knüpf  er,  und  der  zweite  Band  des  Efslinger  von  Diehl 
gehen  ihrer  Vollendung  im  Druck  entgegen.  Die  begonnenen  Arbeiten  sind 
sämtlich  weiter  gefördert  worden.  Hinsichtlich  der  Archivalienverzeichnung 
im  I^nde  ist  eme  Beschleunigung  dadurch  zu  erwarten,  dafs  das  K.  Mini- 
sterium des  Kirchen-  und  Schulwesens  eine  Anstellung  ständiger  Pfleger 
angeordnet  hat.  Neu  wurde  die  Herausgabe  der  Landtagsakten  be- 
schlossen, die  Dr.  Adam  und  Privatdozent  Ohr  übernehmen,  femer  die 
Bearbeitung  eines  wissenschaftlichen  Bilderatlas  zur  württembergischen 
Geschichte,  die  Herausgabe  von  Akten  zur  Geschichte  der  Verfassung  und 
Verwaltung  der  Stadt  Ravensburg  und  von  Akten  zur  Geschichte  der 
Kirchenpolitik  der  württembergischen  Landesherren  vor  der  Reformation. 

Durch  Tod  ist  das  ordentliche  Mitglied  Archivrat  v.  Alberti  aus- 
geschieden, aus  Gesundheitsrücksichten  hat  Dr.  v.  Paulus  sein  Amt  nieder- 
gelegt Neu  sind  zu  ordentlichen  Mitgliedern  emannt  worden:  Archivrat 
Kr  auf  8  und  Prof.  Ernst,  zu  aufserordentlichen  Mitgliedern:  Freiherr  Friedrich 
von  Gaisberg-Schöckingen,  Landeskonservator  Prof  Grad  mann  und 
Prof  Kolb  (Hall).  Geschäftsftihrendes  Mitglied  ist  Archivrat  Schneider. 
Das  Rechnungsjahr  1903  hat  mit  5145  M.  Überschufs  abgeschlossen,  da 
der  Ausgabe  von   16543  M.  eine  Eiimahme  von  21688  M.  gegenüberstand. 

i)  Vgl.  diese  ZeiUchrift  5.  Bd.,  S.  87. 


—     189     — 

Die  Historische  Kommission  für  Nassaxi  ^)  hat  über  die  Ergeb- 
nisse ihrer  Hauptversammlungen  im  Juni  1 903  und  Juni  1 904  einen  gemein- 
samen Bericht  veröffentlicht,  dem  folgendes  zu  entnehmen  ist.  Neue  Publi- 
kationen sind  nicht  erschienen,  aber  die  begonnenen  Arbeiten  (Nassauisches 
Urkundenbuch,  Nassauische  Weistümer,  Epsteiner  Lehnbuch, 
Nassauische  Bibliographie]  sind  sämtlich  in  einer  den  Verhältnissen 
entsprechenden  Weise  gefördert  worden,  wenn  auch  eine  Vollendung  aufser 
beim  Epsteiner  I^hnbuch  vorläufig  noch  bei  keiner  abzusehen  ist  Neu  wurde 
beschlossen  die  Matrikel  der  Hohen  Schule  zu  Herborn  heraus- 
zugeben, die  Bibliothekar  Zedier  bearbeiten  wird;  eine  Geschichte  der 
Abtei  Marienstatt  hat  Archivar  v.  Domarus  in  Aussicht  gestellt. 

Die  neuen  Satzungen  sind  in  Kraft  getreten,  auf  Grund  deren  1904 
zum  ersten  Male  Mitglieder  ernannt  worden  sind,  und  zwar  Dr.  Beck 
(Biebrich),  Domkapitular  Höhler  (Limburg),  Archivar  Jung  (Frankfurt), 
Archivassistent  Knetsch  (Wiesbaden),  Prof.  Luthmer  (Frankfurt),  Pfarrer 
Moser  (Idstein),  Amtsrichter  Sayn  (Soden)  und  Landrat  Wagner 
(Rüdesheim).  Stifter  zählt  die  Kommission  jetzt  4,  Gönner  9,  Freunde  30, 
Mitglieder  76.     Das  Vermögen  bezifferte  sich  im  Juni  2904  auf  13978  M. 


Die  23.  Plenarsitzung  der  Badischen  Historischen  Kommission^) 
hat  am  38.  und  29.  Oktober  1904  in  Karbruhe  stattgefunden.  Von  den 
Regesten  der  Markgrafen  von  Baden  und  Hackberg  ist  der  Schlufs  des 
3.  Bandes  ausgegeben  worden,  und  das  von  Frankhauser  bearbeitete 
Register  befindet  sich  im  Druck.  Vom  Topographiaehen  Wörterbuch  des 
Qroftkerxogtums  Baden  in  zweiter  Auflage  steht  nun  nur  noch  der  zweite 
Halbband  des  zweiten  Bandes  aus.  Vom  Oberbadischen  Oeschlechterbuch  ist 
die  6.  Lieferung  erschienen,  die  7.  befindet  sich  im  Druck.  Die  Badischen 
Biographien  sind  bis  zum  5.  Bande  fortgeschritten,  und  6  Lieferungen  davon 
liegen  vor,  5  stehen  noch  aus.  Die  Register  zu  dem  2.  Bande  der  Regesten 
der  Bisehöfe  von  Konstanz  sind  im  Druck  nahezu  vollendet;  die  FortfÜhnmg 
der  Arbeit  liegt  in  den  Händen  von  Karl  Rieder,  der  auch  die  Ausgabe 
Römischer  Quellen  xur  Konstanxer  Bistumsgesehichte  vorbereitet  und  zu  diesem 
Zwecke  einen  längeren  Aufenthalt  in  Rom  genommen  hat.  Von  den  Ober- 
rheinischen Stadtrechten  ist  das  Villinger  im  Druck,  das  Überlinger  in  Vor- 
bereitung. Die  Denkwürdigkeiten  des  Markgrafen  Wilhelm  von  Baden  gebeü 
V.  Weech  und  Obser  gemeinsam  heraus,  und  der  Druck  des  ersten  Bandes 
soll  1905  beginnen.  Julius  Kahn  (Frankfurt)  erhielt  den  Auftrag,  eine 
Münx-  und  Geldgeschichte  der  im  Qroßherxogtum  Baden  vereinigten  Terri- 
torien zu  bearbeiten.  Als  Neujahrst^tt  für  1905  ist  Fabricius:  Die 
BesitznaJime  Badens  durch  die  Römer  erschienen.  Die  Verzeichnung  des 
Inhalts  der  Gemeinde-  und  Pfarrarchive  ist  in  vier  Bezirken  vollendet  imd 
nähert  sich  im  fünften  dem  Abschlufs.  Die  Verzeichnung  der  grundherr- 
lichen Archive  ist  in  gutem  Fortgang  begriffen.  Zum  ordentlichen  Mit- 
glied  wurde   Prof.  Eberhard   Gothein   (Heidelberg)   ernannt,   zu  korre- 


1)  Vgl.  diese  Zeitschrift  4.  Bd.,  S.  110 — iii. 

2)  Vgl.  diese  Zeitschrift  5.  Bd.,  S.  88. 

11* 


—     140     — 

spondierenden  Mh^edem  wnrden  gewählt  Prof.  Max  Weber  (Heidelbergs^ 
der  sein  Mandat  als  ordentliches  Mitglied  niedergelegt  hat,  sowie  Prof. 
Heinrich  Funck  (Geinsbach). 

Maseen.  —  Am  4.  Dezember  1904  ist  in  Essen  ein  städtisches 
Mus  eum  eröffiiet  worden.  Im  Anschhifs  an  die  Ausstellungen  des  Kruppschen 
Bildungsrereins,  von  denen  die  ortsgeschichtliche  Ausstellung  auch  in  dieser 
Zeitschrift^)  bereits  besprochen  worden  ist,  hat  sich  1901  ein  Essener  M  u - 
seumsverein  gebildet,  der  seinem  Ursprünge  gemäGs  in  erster  Linie  der 
Volksbildung  dienen  will  tmd  dazu  neben  der  Erweiterung  seiner  ständigen 
Sammlungen  die  Veranstaltung  vorübergehender  Ausstellungen  plant  Die 
Sanmüungen  zerfallen  in  drei  Abteilungen  (Kunst,  Ortsgeschichte  und  Nator- 
wissenschaft),  deren  jede  von  einem  Ausschufs  verwaltet  wird;  auiserdem  be- 
sitzt der  Verein  durch  Schenkungen  eine  kleine  ethnographische  Sanmohmg. 
Die  Stadt  Essen  hat  dem  Verein,  dessen  Vorsitz  Oberbürgermeister  Zweigert 
übernommen  hat,  einen  Betrag  von  25000  Mark  überwiesen,  der  ihr  ans 
den  Überschüssen  der  Düsseldorfer  Ausstellung  von  1902  zu  Museumszwecken 
bewilligt  ist,  und  hat  ihm  das  Obergeschofs  des  für  diesen  Zweck  würdig 
und  zweckmäfsig  umgebauten  früheren  Postgebäudes  eingeräumt;  auch  ver- 
waltet der  Vereinsvorstand  die  der  Stadt  durch  Vermächtnis  zugefiülene 
Q^pellsche  Gemäldesammlung.  Der  Verein  hat  332  Mi^;lieder,  die  min- 
destens 2  Mark  (im  ganzen  1225  Mark)  Jahresbeitrag  zahlen;  dazu  konmien 
ein  jährlicher  Zuschufs  der  Stadt  von  looo  Mark  (eine  namhafte  Erhöhung 
ist  in  Aussicht  genommen)  und  die  einmaligen  Zahlungen  der  lebensläng- 
lichen Mitglieder  (bisher  6500  Mark).  Die  Ausstellungsräume  tnn&ssen 
im  ganzen  etwa  400  qm,  wovon  100  auf  die  naturwissenschaftliche  und 
je  150  auf  die  ortsgeschichtliche  und  Kunstabteilung  entfallen.  —  Die 
ortsgeschichtliche  Sammlung  umfafst:  i)  Erinnenmgen  an  das  Stift 
Essen  (Bildnisse,  Urkunden,  Münznachbildungen)  und  Darstellungen  zur 
Bau-  imd  Kunstgeschichte  der  Essener  Münsterkirche;  2)  eine  Essener  Bauern- 
stube, Abbildungen  des  Äufseren  und  Inneren  von  Essener  Bauernhäusern 
und  das  Modell  eines  solchen;  3)  städtische  Altertümer;  Urkunden  und 
Drucke  zur  Geschichte  der  Stadt,  der  evangelischen  Gemeinde  und  des  Gym- 
nasiums; Stadtpläne  und  Stadtansichten;  photographische  Aufnahmen  älterer 
Häuser  und  Strafsen ;  Bildnisse  von  hervorragenden  Essenern ;  4)  Darstellungen 
zur  Geschichte  der  Essener  Industrie. 


In  Düren  ist  durch  eine  reiche  Stiftung  der  Erben  des  Geheimen 
Kommerzienrats  Leopold  Ho e seh  die  Errichtung  eines  Leopold-Hoesch- 
Museums  ermöglicht  worden.  Das  eigens  zu  diesem  Zwecke  errichtete 
Gebäude  ist  nahezu  vollendet,  so  dafs  es  voraussichtlich  Ende  Juni  dieses 
Jahres  eröffiiet  wird.  Der  stolze,  in  weifs-gelbem  Sandstein  gehaltene  Bau 
zeigt  Barockstil  mit  Verwendung  von  Rokokomotiven,  besonders  der  Kar- 
tusche, in  den  ZiergUedem.  An  ein  mächtiges  Treppenhaus  schliefst  sich 
ein  gröfserer  Ost-  und  Westflügel  mit  apsidialem  Abschlufs  und  ein  kleinerer, 

0  Vgl  4.  Bd.,  S.  a82. 


—     141     — 

rechteckiger  Südflügel  an.  Au&erdem  spriogen  nach  Süden  neben  den  Apsiden 
zwei  kleinere  Anbauten  Tor,  die  Anfönge  etvraiger  späterer  Erweiterungen. 
Das  monumentale,  von  einer  Lichtkuppel  mit  aufgesetzter  Laterne  überdeckte 
Treppenhaus  nimmt  fielst  ein  Drittel  der  Hauptachse  des  Gebäudes  ein,  welche 
einschliefslich  der  Mauerstäike  48,90  m  mifst.  Nach  der  Vorderseite  läuft 
es  in  ein  wuchtiges  Pnmkportal  aus,  das  von  zwei  Paaren  Dreiviertelsäulen 
flankiert  ist  und  ein  wenig  aus  den  Flügeb  heraustritt.  In  bewegter  Kurve 
gleitet  das  Risalit  zu  diesen  über,  wodurch  alles  Schwerfällige  vermieden  wird. 
Prof.  Frentzen  m  Aachen  ist  der  geniale  Schöpfer  dieses  Baues,  der  auch 
der  gröfsten  Stadt  zur  Zierde  gereichen  würde. 

In  das  Gebäude  sollen  aufgenommen  werden:  i)  die  über  16000  Bände 
zählende  städtische  Bibliothek;  für  sie  ist  das  reich  belichtete  Keller-  und 
Erdgeschois  des  Ostflügels  bestimmt,  der  auch  einen  Lesesaal  enthält. 
2)  Das  reichhaltige  städtische  Archiv.  3)  Die  städtische  Altertumssammlung, 
meistens  römische  und  fränkische  Altertümer  aus  dem  Kreise  Düren.  Dazu 
konomt  noch  eine  in  den  Anfängen  begriffene  Sammlung  mittelalterlichen  und 
jüngeren  deutschen  Steinzeuges.  Die  an  zweiter  und  dritter  Stelle  genannten 
Abteilungen  sollen  in  den  entsprechenden  Räumen  des  Ostflügels  unterge- 
bracht werden.  4)  Eine  naturhistorisch-ethnographische  Sammlung,  käuflich 
erworben  von  dem  Afrikareisenden  Schillings.  5)  Eine  Schmetterlings- 
sammlung, Geschenk  des  Herrn  Eugen  Meyer  aus  Düren,  und  eine  Käfer- 
sammlung, Geschenk  des  Herrn  Benno  Schoeller  aus  Düren .  Letzterem  ver- 
dankt das  Museum  auch  das  grofszügige  Bild  von  Jochmus,  Begräbnis 
am  Niederrhein,  das  mit  seinen  grofsen  Abmessungen  zurzeit  eine  ganze 
Wand  des  Rathaussaales  einnimmt.  Die  letztgenannten  Sammlungen  sowie 
die  vielleicht  noch  im  Museum  unterzubringende  städtische  Volksbibliothek 
sollen  hier  nur  eine  vorläufige  Stätte  haben.  Das  Obergeschofis  ist  in  erster 
Linie  fttr  die  noch  in  den  ersten  Anfängen  stehende  städtische  Gemälde- 
sammlung, sowie  fUr  Ausstellungszwecke  bestimmt. 

Die  Verwaltung  des  Museiuns  wird  einer  noch  zu  schaffenden  Museums- 
kommission unterstellt  werden,  an  deren  Spitze  der  Bürgermeister  Klotz 
stehen  soll.  In  dieser  Kommission  soll  auch  der  gleichfalls  noch  ins  Leben 
zu  rufende  Museumsverein  durch  einen  oder  mehrere  Vertreter  Sitz  und 
Stimme  haben.  Die  städtische  Bibliothek  und  dasArchiv  werden  wie  bisher 
von  je  einem  städtischen  Bibliothekar  und  Archivar  verwaltet  werden. 

Kirehliehe  Kanstaltertftmer.  —  Es  liegt  neuerdings  ein  Buch  <)  vor, 
das  ich  schlankweg  als  eine  Meisterleistung  bezeichnen  möchte,  wenn  man 
den  Zweck  ins  Auge  fidst,  dem  er  in  erster  Linie  dienen  soll:  Studieren- 
den und  Geistlichen  beider  Bekenntnisse,  Kunstliebhabern 
und  Architekten  die  nötige  Kenntnis  der  kirchlichen  Kunst- 
archäologie Deutschlands  zu  vermitteln.  Dazu  war  Ottes  be- 
kanntes Handbuch  wenig  geeignet,  weil  allzusehr  für  Gelehrte  bestimmt, 
durch   die   Anordnung   des   Ganzen   für  zusammenhängende   Lektüre    unzu- 


i)  Heinrich  Bcrgncr,  Kirchliehe  Kunstaliertümer  in  Deutschland ^  (Verlag 
H.  Ttachnitz,  Leipzig  1904).  Vollständig  in  5  Lieferungen  k  5  Mk.,  4  Liefenmgen 
liegen  vor. 


—    I«   — 

f^iBffidh   tmd    zndcm    noch   dnrdi    die   beute  ja   fibei flüssige  MommieoCal 
Statistik    besdiwert      Das   Torfiegende   Buch    dagegen,    in    einem    frischen, 
lebendigen   Tone   geschrieben,    bei   der  hier  so  schwierigen   Besduankmig 
in   seinen  Aosfühningen  Ton  geradeza  bewnndei nsweitei  Präzision,   gestattet 
eine  Lektüre  ton  Anfang  bis  zu  Ende  und  ist  zodem  sehr  geschickt  eingeteilt. 
Im  ersten   Abschnitt  wird  das  Kirchengebäude  in  historischer  Entwickehmg, 
mit   besonderer  Rücksicht  attf  Htnrgische  Einflüsse,   im  zweiten  werden  iMc 
Ausstattung,   die  dekorativen  Rttnste  und  die  technischen  Künste,  Kirchen- 
schmuck  und  Kirchengerät,   kirchliche  Inschriften  nach  Technik,    Sprache, 
Form  und  Inhalt  (ein  vorzüglich  orientierendes  Kapitel),  im  dritten  Abschnitt 
endlich  der  Bildeikreis  behandelt     Die  ganze  kirchliche  Knnstentwickelnng, 
mit  Einschluis  der  Renaissance  und  des  Barock,  bis  um  1800,   ist  in  den 
Kreis   der  Betrachtung  gezogen,  was  besonders  vom  Standpunkt  der  Denk- 
malpflege aus  sehr  zu  begrüfsen  ist.    Denn  dais  ein  romanisches  oder  gotisches 
Stück  der  Erhaltung  wert  ist,  das  ist  nun  allmählich  der  Allgemeinheit  klar  ge- 
worden, dem  XVII.  und  XVIII.  Jahrhundert  gegenüber  stöist  man  dagegen  oft 
noch  auf  gröfste  Verständnislosig^eit    Deshalb  möchte  ich  u.  a.  folgenden  Satz 
gestrichen   wissen:    „Fremdartig   oder  geradezu  abstolsend  wird  freilich    der 
Eindruck,  wenn  ein  solcher  (Barock-) Altar  in  eine  romanische  Basilika  oder 
in  einen  gotischen  Dom  oder  in  eine  gedrückte  Landkirche  eingezwängt  wircL** 
Der  Pfarrer,  der  dies  liest,  wird  sich  sicher  bestreben,  einen  etwa  in  einer 
mittelalterlichen  Kirche  vorhandenen  Barockaltar  so  schnell  wie  möglich  hin- 
auszuwerfen  und  durch  einen  meistens  erschreckend  schönen  neu  •  gotischen 
zu    ersetzen.      Der    Vandalisme    desirveteur    ist    nirgends    ge^riicher,    als 
gerade  nach  dieser  Seite  hin.    Deshalb  ist  ein  solcher  Satz  sehr  zu  beklagen 
in  einem  Buch,  das  auch  weitere  Kreise  zur  Denkmalpflege  anregen  solL    Das 
sind  indes  geringe  Ausnahmen  in  dem  Werke,  das  sich  vorzüglich  zum  Selbst- 
studium eignet,  seinem  Preise  nach  vom  Privatmann  und  der  kleinen  Bibliothek 
wohl  beschafit  werden  kann,  und  von  dem  wir  vor  allem  auch  wünschen  möchten, 
dafs  sein  Studium  den  jungen  Kunsthistorikern  an  der  Univeratät  von  ihren 
I^hrem  recht  dringend  ans  Herz  gelegt  wird,  denn  in  nicht  seltenen  Fällen 
verlassen    diese    die   Hochschule    mit    zwar    sehr    schönen   Gedanken   über 
Botticelli  und  Michelangelo,  aber  mit  sehr  mangelhafter  Kenntnis  der  kirch- 
lichen  Kunstarchäologie.     Sie   erhalten    durch   das  Buch  auch  einen  Über- 
blick über  die  wichtigsten  Denkmäler,  wenn  auch  nicht,  wie  es  hier  und  da 
scheinen  könnte,  alle  wichtigen  angeführt  sind.    Auch  in  den  Literaturangaben 
dürfen  wir  nur  das  Hauptsächlichste  suchen,  es  konnte  da  nicht  jeder  kleine 
Aufsatz  zitiert  werden,   wenn  der  Verfasser  auch  den  Kreis  des  zu  Berück- 
sichtigenden sehr  weit  gezogen  hat    Darin  liegt  die  notwendige  Beschränkung 
des  Buches,   das   zwar   auch  dem  Gelehrten  hochwillkommen  sein  und  ihm 
auf  viele  Fragen  Auskunft  geben  wird,  das  aber  das  Bedürfnis  nach  einem  er- 
weiterten Otte   weder  befriedigen  kann  noch  soll.     Dem  Verfasser  darf  ich 
vielleicht  die   Frage   vorlegen,    ob   es   nicht  bei   einer  zweiten  Auflage   die 
Brauchbarkeit  sehr  erhöhen  würde,  wenn  auch  die  kirchliche  Liturgie  selbst 
darin  behandelt  würde ;  auch  auf  den  Inhalt  der  einzelnen  kirchlichen  Bücher, 
der  Evangelistarien,  Evangeliarien,  Antiphonarien,  Breviarien  wäre  dann  etwas 
genauer  einzugehen.  —  Die  Illustration  ist  durchaus  vorzüglich,  es  sind  auch 
eine   ganze   Reihe   neu^r  Abbildungen   nach  Mefsbildem   beigebracht     Hier 


—     14S     — 

tind  da  hätte  maa  wohl  etwas  mehr  gewünscht,  z.  B.  fehk  eine  Abbildung 
eines  Aquamaniles.  Doch  sind  das  alles  nur  unwichtige  Ausstellungen, 
die  den  Wert  des  vorzüglichen  Werkes  nicht  vermindern  sollen. 

VVingenroth  (Karlsruhe). 

Eingegangene  Bfieher. 

Baldamus,  Alfred:  Georg  Webers  Lehr-  und  Handbuch  der  Weltgeschichte. 
21.  Aufl.  Unter  Mitwirkung  von  Prof.  Dr.  Richard  Friedrich,  Prof. 
Dr.  Ernst  Lehmann,  Prof.  Franz  Moldenhauer  und  Prof.  Dr.  Ernst 
Schwabe  vollständig  neu  bearbeitet  von  Prof.  Dr.  Alfred  Baldamus. 
Erster  Band:  Altertum.  Iw.eipzig,  Wilhelm  Engelmann,  1902.  XIII 
und  610  S.  Lex.-8^  M.  6,00.  Zweiter  Band:  Mittelalter.  Zweiter 
Abdruck  (viertes  bis  sechstes  Tausend).  Ebenda,  1905.  XX  und 
786  S.     M.  6,00. 

Benzinger,  J.:  Geschichte  Israels  bis  auf  die  griechische  Zeit  [«>  Sammlung 
Göschen  Nr.  231].  Leipzig,  G.  J.  Göschen,  1904.  158  S.  i6^ 
Gebunden  M.  0,80. 

Bösken,  Walther:  Aus  der  Zeit  der  Gegenreformation  in  Wesel  [=  Zeit- 
schrift des  Bergischen  Geschichtsvereins,  37.  Bd.  (Elberfeld  1904),  S. 
179—203]. 

Brunner,  Karl:  Badische  Geschichte  [=  Sammlung  Göschen  Nr.  230J. 
Leipzig,  G.  J.  Göschen,   1904.     172  S.   I6^     Gebunden  M.  0,80. 

Büchting:  Die  lokale  Kirchengeschichte  in  ihrer  Bedeutung  und  Verwer- 
tung für  die  Gemeinde  [=  Zeitschrift  des  Vereins  für  Kirchengeschichte 
in  der  Provinz  Sachsen,  i.  Jahrg.  (Magdeburg,  Ernst  Holtermann,  1904), 
S.   18-24]. 

Egelhaaf ,  Gottlob:  Landgraf  Philipp  von  Hessen  [=  Schriften  des  Vereins  für 
Reformationsgeschichte  Nr.  83  (HaUe,  Max  Niemeyer,   1904),  S.  1—37]. 

Fritsch:  Fürstin  Pauline  zur  Lippe  und  Herzog  Friedrich  Christian  von 
Augustenburg.  Briefe  aus  den  Jahren  1790—  1812  [=»  Mitteüungen 
aus  der  lippischen  Geschichte  und  I^ndeskuude  II.  (Demold,  Hans 
Hinrichs,  1904),  S.   131— 144]. 

Grüner,  J. :  Das  Schulwesen  des  Netzedistrikts  zur  Zeit  Friedrichs  des 
Grofsen  (1772 — 1786),  ein  Beitrag  zur  Schul-  und  Kulturgeschichte 
des  18.  Jahrhunderts.  Breslau,  Ferdinand  Hirt,  1904.  VII  und  135  S. 
8**.     M.  2,00. 

Hellwig:  Das  Zehntenregister  des  Bistums  Ratzeburg  [»3  Jahrbuch  des 
Vereins  für  mecklenburgische  Geschichte  und  Altertumskunde,  69.  Bd., 
S.  291—350], 

—  :  Das  Jahr  der  Niederschrift  des  Ratzeburger  Zehntenregisters  [=»  Archiv 
des  Vereins  für  die  Geschichte  des  Herzogtums  Lauenburg,  7.  Bd.]. 

Kalkoff,  Paiil:  Die  Anfänge  der  Gegenreformation  in  den  Niederlanden. 
Zweiter  TeU.  [==  Schriften  des  Vereins  für  Reformationsgeschichte 
Nr.  81].  Halle  a.  S. ,  Max  Nieraeyer,  1904.  VII  imd  119  S.  8®. 
M.   1,20. 

Kl  ich  e,  Walther:  Die  Schifiahrt  auf  der  Ruhr  und  Lippe  im  XVIII.  * 
hundert    [a»    Zeitschrift    des    Bergischen    Geschichtsverems ,    37. 
(Elberfeld,  B.  Hartmann,  1904),  S.   i — 178]. 


—     144     — 

Leifs,  A.:  Studierende  Waldecker  vom  13.  bis  zum  19.  Jahrliundert. 
I.  Teil.  [=  Sonderabdnick  aus  den  Geschichtsblätkm  für  Wialdeek 
und  Pyrmont,  Bd.  4  (McDgeringhausen,  Weigel,  1904)].     78  S.  8®. 

Liebe,  G. :  Die  Ausbildung  der  Geistlichen  im  Herzogtum  Ma^eburg  bis 
zur  Kirchenordnung  von  1739  [=  2^itschrift  des  Vereins  für  Kirchen- 
geschichte in  der  Provinz  Sachsen,     i.  Jahrg.  {1904),  S.  34 — 58]. 

LoserthyJ.:  Salzburg  und  Steiermark  im  letzten  Viertel  des  16.  Jahrhunderts, 
Briefe  und  Akten  aus  der  Korrespondenz  der  Erzbischöfe  Johann  Jakob 
und  Wolf  Dietrich  von  Salzburg  mit  den  Seckauer  Bischöfen  Georg  IV. 
Agricola  und  Martin  Brenner  und  dem  Vizedomamte  zu  Leibnitz 
[=  Forschungen  zur  Verfassungs-  und  Verwaltungsgeschichte  der  Steier- 
mark, 5.  Band,  3.  Heft].  Graz,  Styria,  1905.  XLIV  und  229  S.  8®. 
M.  4,20. 

Luckenbach:  Abbildungen  zur  deutschen  Geschichte  [=  Kunst  und 
Geschichte.  Mit  Unterstützung  des  Großh.  badischen  Ministeriums  der 
Justiz,  des  Kultus  und  Unterrichts  und  des  Grofsh.  badischen  Ober- 
schulrats herausgegeben.  Zweiter  Teil].  München  und  Berlin,  R. 
Oldenbourg,  1903.     95  S.  4^     Gebunden  M.  1,80. 

Otto,  Eduard:  Das  deutsche  Handwerk  in  seiner  kulturgeschichtlichen  £at- 
Wickelung  [=  Aus  Natur  und  Geisteswelt,  14.  Bändchen].  Zweite 
durchgesehene  Auflage.  Mit  27  Abbildungen  auf  8  Tafeln.  Leipzig, 
B.  G.  Teubner,  1904.     VI  und  154  S.  8**.     Gebunden  M.   1,25. 

Pfeifer,  W. :  Lehrbuch  fUr  den  Geschichtsunterricht  an  höheren  Lehran^teo. 
L  Teil:  Lehraufgabe  der  Quarta  (Griechische  Geschichte  bis  zum  Tode 
Alexanders  des  Grofsen,  Römische  Geschichte  bis  zum  Tode  des 
Augustus).  Breslau,  Ferdinand  Hirt,  1904.  83  S.  8®.  Gebunden 
M.  1,00.  —  II.  Teil:  Lehraufgabe  der  Unter-  und  Obertertia  (Die 
Blütezeit  des  römischen  Reiches  unter  den  grodsen  Kaisem.  Deutsche 
und  preufsische  Geschichte  bis  1740).  Ebenda.  159  S.  8".  Gebunden 
M.  1,65.  —  III.  Teil:  Lehraufgabe  der  Untersekunda  (Preufsische 
und  deutsche  Geschichte  vom  Regierungsantritt  Friedrichs  des  Grolsen 
bis  zur  Gegenwart).  Ebenda.  80  S.  8®.  Gebunden  M.  1,00.  — 
IV.  Teil:  Lehraufgabe  der  Obersekunda  (Die  Hauptereignisse  der 
griechischen  Geschichte  bis  zum  Tode  Alexanders  des  Grofsen  und 
der  römischen  Geschichte  bis  Augustus).  Mit  einem  Bilderanhange  zur 
Kunst-  und  Kulturgeschichte  (100  Abbildungen  und  eine  farbige  Tafel), 
zusammengestellt  und  erläutert  von  Dr.  P.  Brandt.  Ebenda.  140  S.  8^. 
Gebunden  M.  2,50. 

W  e  n  c  k ,  Karl :  Zur  Geschichte  des  Hessengaus  [=  Zeitschrift  für  hessische 
Geschichte,  Neue  Folge  Bd.  26  (1903^  S.  227  —  276]. 

Woltmann,  Ludwig:  Politische  Anthropologie,  eine  Untersuchung  über  den 
Einflufs  der  Deszendenztheorie  auf  die  Lehre  von  der  politischen  Ent- 
wickelung  der  Völker.  Eiseuach  und  Leipzig,  Thüringische  Verlags- 
anstalt,  1903.     326  S.  8^     M.  6,00. 

Wolfram,  G.:  Zur  Metzer  Bischofsgeschichte  während  der  Zeit  Kaiser 
Friedrichs  I.  [«■  Jahrbuch  der  Gesellschaft  für  lothringische  Geschichte 
und  Altertumskunde.     15.  Jahrgang  (1903),  S.  207 — 217]. 

—   -     -  ■        -  ■       -  ni   I  III  I    ■     ■  ■     ■     I     ■  t        ■  -  ^  !■     I  I  la  n  II  II  I    g     ■    r     I    ■     II    I     I     I    ^  ^M^    um  ■  ^m    'i  mm^   'n     i    i         '        —    -  t —   »^  ■   mj. 

Hermosgebor  Dr.  Armin  Tille  in  Leipcif . 
Druck  und  Verlag  von  niodrich  Andreas  Perthes,  Aktiengesellschaft,  Godia. 

Hierra  als  Beflageo:  i)  Anfforderong  sam  Aboonemeot  auf  die  illostrierte  Zeitung:  „Der 

Tag«'.    2)  Prospekt  der  Zigarrenlabiik  von  Gebr.  Blum  in  Goch. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsscluift 


Brdenmg  der  landesgescliichtlidten  Forschnnf 

VI.  Band  März/April  1905  6./;.  Heft 


Die  H^f&usgabe  von  Quellen  zur  Agrar^ 
gesehiehte  des  Mittelalters') 

(Ein  Arbeitsprogramm) 

Von 
Alfons  Dopsch  (Wien) 

An  dem  grofsen  Aufschwung  der  wirt<;chaftgescliichtlichen  Studien 
hat  die  Agrargeschichte  des  Mittelalters  in  jüngster  Zeit  nicht  mehr  ent- 
sprechenden Anteil  behalten.  Während  agrarhistorische  Untersuchungen 
über  die  ältere  Entwickelung  früher  im  Vordergrund  des  wissenschaft- 
lichen Interesses  standen,  sind  solche  jetzt  gegenüber  der  reichen 
Literatur  auf  dem  Gebiete  der  Stadtwirtschaft  relativ  selten  geworden.  Die 
Lücke  wird  um  so  fühlbarer,  als  ftir  die  neueren  Jahrhunderte  bedeutende 
Leistungen  vorliegen,  die  keineswegs  blofs  der  besseren  Überlieferung 
aus  diesen  Zeiten  zu  danken  sind.  Ich  habe  dabei  vornehmlich  die 
Arbeiten  G.  Knapp's  und  seiner  Schule  vor  Augen. 

Aber  auch  innerhalb  der  Ag^rargeschichtc  des  Mittelalters  selbst 
^ringt  eine  Ungleichheit  unserer  Kenntnis  ins  Auge.  Wir  kennen 
ziemlich  gut  die  wirtschaftliche  Entwickelung  der  Karolingerperiode, 
es  ist  nur  anderseits  die  Spätzeit  der  mittelalterlichen  Agrarverhältnisse 
von  verschiedener  Seite  her  beleuchtet  worden.  In  der  Mitte  aber, 
zwischen  diesen  beiden  mächtigen  Evolutionsphasen,  hob  sich  das 
XII.  Jahrhundert  zu  Liqhte,  das  einen  Umschwung  der  Agrarwirtschaft 
des  platten  Landes  bedeutete. 

Offenbar  ist  der  Stand  unseres'  Wissens  hier  von  der  positiven 
Überlieferung  beeinfluüst  worden.  Gerade  für  die  drei  vorerwähnten 
Zeitabschnitte  liegen  nicht  nur  reiche  Erkenntnismittel  vor,  sie  sind 
auch  frühzeitig  in  guten  fditioaen  allgemein  zugänglich  geqiacbt  worden. 

Zwisohenglieder  aber  i^ischea  diesen  Entwickelungsgipf«^  batioa 


Nach  einem  Vortrage,  den  ^  'VetC  anf  den  I.  deotsclMn  HiaUr^ierUge  mm  SM^ 
am  3.  fiept  1904  gwliaUw  Mt.    Vfl  den  «ffinaUeo  Brnriokt  iÜm  die  mckk  V 
Mmt/Unng  deuUeher  Historihtr  (Leipxig  1905)9  S.  19— SS- 
IS 


—     146     — 

die  Forschung'  weniger  beschäftigt.  Sie  fielen  gewissermaisen  in  den 
Schlagschatten  jener.  Eben  in  der  Zwischenzeit,  vom  Ausgang  der  Karo- 
linger bis  zum  XII.  Jahrhundert,  fliefcen  auch  die  Quellen  etwas  spärlicher, 
ganz  unzureichend  aber  ist  der  Stand  ihrer  Veröffentlichung  und  Kritik. 

Und  da  mm  in  jüngster  Zeit  die  Forschung  diesen  Überg-angs- 
perioden  eine  erhöhte  Beachtung  zuwandte  ') ,  enthüllte  sich  uns  ein 
bedeutsam  verändertes  Bild.  Grundlegende  Anschauungen  von  bisher 
erscheinen  hinfallig,  Berichtigungen  hier  und  dort  notwendig,  es  gewinnen 
eben  diese  Zwischenzeiten  an  Bedeutung ;  nicht  nur  für  die  Erkenntnis 
der  Agrargeschichte  selbst,  auch  für  die  Erfassung  der  rechtlichen 
Grundlagen  späterer  Grofsbüdungen,  als  Städtewesen  und  Landeshoheit. 

So  erscheint  eine  sichere  Fundierung  der  Agrarhistorie  des  Mittel- 
alters als  dringendes  Bedürfnis  der  modernen  Geschichtswissenschaft; 
die  Frage  nach  den  Erkenntnismitteln  wird  unmittelbar  rege.  Quellen 
sind  ja  auch  für  diese  bislang  vernachlässigten  Zeiten  genug  vorhanden. 
Sieht  man  von  dem  Nordosten  Deutschlands  ab  —  einem  jüng^eren 
Kolonisationsgebiete,  das  dieser  älteren  Quellen  zumeist  darbt,  —  so 
liegt  für  den  Westen,  aber  auch  den  ganzen  Süden  des  alten  Reiches 
eine  relativ  reiche  Überlieferung  noch  vor:  verschieden  im  einzelnen 
nach  Zeit  und  Ort,  aber  groCs  genug,  um  als  adäquater  Ausdruck  der 
eigenartigen  Entwickelung  hier  und  dort,  kritischer  Forschung  sichere 
Erkenntnis  zu  vermitteln. 

Was  uns  fehlt,  ist  eine  umfassende  und  kritische  Herausgabe  dieser 
Quellen,  die  nach  bestimmten  Gesichtspunkten  eingerichtet,  möglichst 
vielen  Anforderungen  der  modernen  Geschichtswissenschaft  zu  ent- 
sprechen vermöchte.  Ohne  diese  wird  auch  in  der  Folge  alle  Einzel- 
arbeit nur  Stückwerk  bleiben  imd  ephemer  in  ihrem  Werte.  Ich  sagte 
es  schon:  Traurig  und  trostlos  ist  er  mit  der  Edition  und  Kritik  der 
agrargeschichtlichen  Quellen  des  Mittelalters  von  den  Karolingern  her- 
wärts, heute  noch  bestellt.  Kaum  dafs  noch  eine  sichere  Übersicht 
über  deren  grofse  Masse  gewonnen  werden  konnte!  Der  Ruf,  den 
Inama-Stemegg  vor  heute  nahezu  einem  Menschenalter  1876  erschallen 
liefis '),  nach  einer  Sammlung  und  Sichtung  derselben,  hat  bisher  nur 

i)  Man  Tgl.  insbesondere  die  Arbeiten  G.  Caros  zur  Agrargeschichte  der  nordöaü. 
Schweiz  in  Konrads  Jahrb.  f.  Naüonalökon.  a.  Statistik  76.  u.  79.  Bd.,  sowie  im  Jahrb. 
f.  Schweiz.  Gesch.  26.  a.  27.  Bd.  (190a);  femer  S.  Rietschels  über  die  Entstehung  der 
freien  Erbteihen  in  Zeitschr.  d.  SaTignjstiftang  22,187  ff.  (1901)  und  G.  Seeligers,Z>»» 
soziale  u,  politische  Bedeutung  der  Grundherrschafl  im  früheren  Mittelalter  (AbhandL  d. 
pbü.-hist  a.  d.  Kgl.-Sächs.  Ges.  d.  Wiss.  XXU)  1903. 

2)  Über  die  Quellen  der  deutsehen  Wirtsehaftsgesehiehte.  Sitz.-Ber.  d.  Wiener 
Akad.  84,135  ff. 


—     147     — 

ein  schwaches  Echo  gefunden.  Vieles  ist  noch  in  den  Archiven  und 
Bibliotheken  begraben,  ganz  unbekannt;  das  meiste  von  dem  bereits 
veröffentlichten  Material  liegt  in  älteren  Drucken  vor,  die  unkritisch 
gehalten,  oft  nur  einen  Abklatsch  der  betreffenden  Handschriften  dar* 
stellen.  Ganz  wenig  blois  hat  in  jüngerer  Zeit  einen  sachkundigen 
Editor  gefunden.  Aber  auch  das  war  meist  von  Zufällen  abhängig, 
dem  persönlichen  Interesse  des  Einzelnen,  oft  seiner  lokalgeschichtlichen 
Liebhaberei.  Nicht  nach  dem  objektiven  Werte  der  Quellen  etwa 
ist  man  dabei  mit  zielbewu&ter  Auswahl  vorgegangen.  So  kann  uns 
nicht  wunder  nehmen,  dafis  selbst  hervorragende  Fachmänner  an  der 
Bewältigung  der  Aufgabe  an  sich  verzweifelten.  So  hat  Eberh.  Gothein 
1886  ^)  angesichts  der  übergrofsen  Menge  von  Quellen  die  prinzipielle 
Frage  aufgeworfen,  ob  es  überhaupt  notwendig  sei,  diese  imüberseh- 
bare  Masse  zu  bewältigen,  ob  es  nicht  genüge,  entsprechende  Typen 
auszuwählen,  da  sich  gleiche  Erscheinungen  überall  und  stets  wieder- 
holten. Und  das  geschah  zu  wiederholten  Malen,  ja  häufig.  Da  dem 
Einzelnen  die  Durcharbeitung  einer  so  grofsen  Quellenmasse  bei  dem 
Stande  ihrer  Veröffentlichung  schier  unmögUch  schien,  stützte  man 
die  Darstellung  auf  bestimmte,  etwa  für  einen  Dinghof  vorliegende 
Sonderquellen. 

Der  Standpunkt  Gotheins  mag  heute  noch  teilweise  Berechtigung 
haben.  Aber  gerade  die  Verschiedenheiten  hier  und  dort  sind  dem 
Wirtschaftshistoriker  lehrreich,  da  sie  die  Frage  nach  dem  „Warum" 
unmittelbar  anregen.  Und  eine  zusammenfassende  Darstellung  der 
Agrarwirtschaft  des  Mittelalters  könnte  ihrer  unmöglich  entraten. 
Zudem  aber  muis  jede  solche  Typenwahl  stets  einen  subjektiven 
Minderwert  an  sich  tragen,  solange  mindestens  als  nicht  eine  sichere 
Übersicht  über  den  Gesamtbestand  des  überhaupt  Vorhandenen  er- 
reicht ist 

Die  grofse  Angabe  ist  nicht  von  einem  Einzelnen  zu  lösen,  und 
zwar  nidit  blols  wegen  der  unendlichen  Summe  von  Arbeit  die  da 
zu  bewältigen  ist;  insbesondere  auch  deshalb,  weil  die  Eigenart  dieser 
Quellen  eine  besondere  Vertrautheit  des  Editors  zu  deren  Entstehungs- 
kreis voraussetzt.  Alle  Agrarwirtschaft  ist  bedingt  durch  den  Boden,  auf 
dem  sie  sich  abspielt.  Die  topographische  Erläuterung,  aber  auch  die 
Erfassung  der  wirtschaftlichen  Besonderheiten  einer  bestimmten  Quellen- 
gruppe werden  dem  am  besten  gelingen,  der  über  gute  persönliche 
Lokalkenntnisse  verftigft  und  auch  die  betreffende  Territorialgeschichte 

i)  Die  BofiferfBusung  auf  dem  SekwarxücM.    Ztchr.  f.  Geteh.   d.   Ob.-Rbetni, 

NF.  1,  257. 

IQ- 


—     148     — 

aus  ihrem  GesamtqaeUenbestande  beherrscht     Die  Bodeostaodlgkeit 
wird  den  Editor  vor  allen  qualifizieren. 

So  schien  es  mir  am  Platze,  die  folgenden  Voischlage  einer 
Versammlung  deutscher  Historiker  zu  unterbreiten,  auf  dais  ein  gemeiii- 
sames  Vorgehen  beschlossen  und  einheitliche  Grundsätze  —  soweit 
dies  überhaupt  möglich  ist  —  beraten  werden  mögen. 

Halten  wir  zunächst  einen  kurzen  Überblick  über  die  verschiedeneo 
Quellengruppen  der  Agrargeschichte  des  Mittelalters,  so  dürfte 
der  gegenwärtige  Stand  ihrer  Veröffentlichung  zugleich  für  das  bis- 
her Gesagte  die  praktische  Erklärung  und  Illustration  bieten. 

Am  besten  ist  es  noch  mit  der  Herausgabe  der  spätmittelalterlichea 
Quellen  bestellt.  Denn  da  die  jüngeren  Hofrechte  vielfach  in 
Form  von  Weistümem  *)  überliefert  sind ,  ist  das  Interesse ,  welches 
man  frühzeitig  diesen  letzteren  entgegengebracht  hat,  auch  jenen 
wirtschaftlichen  Ordnungen  zu  statten  gekommen.  Seitdem  J.  Grimm 
eine  Sammlung  von  Weistümem  angeregt  und  begonnen  hatte,  sind 
in  der  Folge  eine  Anzahl  von  ähnlichen  Unternehmungen  in  den  ver* 
schiedenen  Territorien  ins  Leben  getreten.  Sie  haben  —  imter  anderen 
bei  Inama-Stemegg  verzeichnet  ^)  —  ein  überraschendes  Ergebnis  zur 
Folge  gehabt,  indem  selbst  die  kühnsten  Erwartungen  der  ersten 
Sammler  durch  eine  überreiche  Ausbeute  übertroffen  wurden.  Tausende 
von  Einzel -Weistümem  li^en  bereits  gedruckt  vor,  oder  sind  dem* 
nächst  in  I>ruck  zu  erwarten.  Hier  ist  also  die  Hauptarbeit  bereits 
geleistet  tind  nur  Ergänzungen  noch  weiter  nötig.  Denn  wie  sehr 
auch  da  die  Sondemng  der  Arbeit  am  Platze  ist,  lehrt  am  besten  die 
Tatsache,  daÜB  z.  B.  in  der  Schweiz  eine  systematische  Verzeichnung' 
der  Öffnungen  nach  Kantonen,  welche  auf  Anregung  des  Schweizer- 
Juristen- Vereines  durchgeführt  wird,  eine  groise  Menge  neu  zu  Tage 
gefördert  hat,  die  sich  in  Grimms  Sammlung  nicht  findet  *).  Am 
systematischsten  hat  vielleicht  die  Wiener  Akademie  iur  die  Veröffent- 
lichung in  Österreich  vorgesorgt,  indem  unter  der  Leitung  einer  ein- 
heitlichen Zentralkommission  die  Weistümer  jedes  Kronliindes  durch 
artskundige  Fachleute  herausgegeben  werden.  Grewöhnlich  atbeiten 
Juristen  oder  juristisch  entsprechend  gebildete  Historiker  mit  Philologeii 


i)  D«ft  diote  W«iitttmtr  aiMh  toMt  eiaeo  rticben  agrMgetciiifliUialMn  Inhalt  habe«, 
hat  achon  Inama  a.  a.  O.  165  henrorgehoben  (betondtn  «ach  ftir  FontvirUchaft). 

2)  SiU.-Ber.  d.  Wiener  Akad.  84,  151  n.  i. 

3)  Vgl.  t,  B.  f&r  die  Züricher  Öffnnngen  P.  Schweizer,  Anseiger  fUr  Schweizer 
Gta«b.  1690.  JkUieh  auch  am  EMn:  y^^  Loarsc^,  dm  Wtkmmer  der  Ekem- 
pnmnx^  i.  Bd.  (1900). 


—     149     — 

da  zusammen.  Eine  Nachlese  zu  den  beieits  veröffentlichten  Bänden 
ist  demnächst  zu  gewärtigen. 

Für  die  Weistümer  wird  somit  unser  Wunschzettel  ein  relativ 
gerii^er  sein.  Nur  darauf  sei  noch  besonders  hingewiesen ,  dafs  kein 
Band  herausgegeben  werden  sollte  ohne  erschöpfende  Register  und 
Glossare,  auf  deren  Ausarbeitung  hier  besondere  Sorgfalt  und  Sach- 
kenntnis verwendet  werden  mufs.  Nur  so  wird  an  eine  nutzbringende 
Verwertung  dieses  umfänglichen  Apparates  geschritten  werden  können. 
Auch  ein  kurzer  sachlicher  Kommentar  über  die  Geschichte  der  einzelnen 
Herrschaften  ist  wünschenswert;  er  wird  bei  der  Fülle  des  Materiales 
am  besten  jeder  einzelnen  Gruppe  vorauszustellen  sein.  Dafür  bietet 
Gustav  Winters  Ausgabe  der  niederösterreichischen  Weistümer  eine 
wahre  Müsterleistung. 

Haben  also  die  Weistümer  seit  langem  sich  der  Aufmerksamkeit 
wissenschaftlicher  Forscbimg  erfreut,  zumal  Historiker,  Rechtsgelehrte 
und  Philologen  sich  gleichmääig  dafür  interessierten,  so  ist  Ähnliches 
von  den  Quellen  zur  älteren  Agrai^eschichte  mit  nichten  zu  kon- 
statieren. Gerade  eine  der  wichtigsten  Gruppen  unter  ihnen  ist  erst 
in  jüngster  Zeit  überhaupt  zur  Erkenntnis  der  Agrarhistorie  ernstlich 
herangezogen  worden,  die  Traditionsbücher.  Wohl  haben  sie 
früher  schon  gelegentlich  dazu  gedient,  um  die  äulsere  Entwickelung 
der  Grundherrschaften  zu  verfolgen,  deren  raumliche  Erstreckung  und 
Umfang  festzustellen.  Man  hat  sie  insbesondere  auch  für  die  Besiede- 
lungsgeschichte  verwertet,  als  älteste  Zeugnisse  für  das  Auftreten  der 
einzelnen  örtlichkeiten  und  ihrer  Bewohner.  Erst  in  jüngster  Zeit  ist 
man  auch  auf  ihre  Bedeutung  für  die  Sozialgeschichte  aufmerksam 
geworden  und  bat  sie  mit  groüsem  Erfolge  ausgebeutet,  wie  z.  B.  die 
Arbeiten  Caros  an  den  St  Galler  Traditionen  dartun  *). 

Sie  geben  aber  auch  über  die  innere  Struktur  und  wirtschaftliche 
Organisation  der  betreffenden  Grundherrschaften  nicht  selten  wichtige 
Nachrichten,  indem  bei  einzelnen  Traditionen  sich  gelegentlich  kurze 
Hinweise  über  den  Inhalt  und  wirtschaftlichen  Charakter  des  tradierten 
Gutes  finden.  Der  grofse  Wert  dieser  QucUengruppe  für  die  Agrar- 
geschichte  ruht  darin,  daüs  sie  2^ugnisse  bietet  für  eine  Zeit,  aus 
welcher  sonst  Belege  nur  i^xLrlich  vorhanden  sind.  Eben  in  der 
Periode  ihres  Auftretens,  den»  IX.— Xli.  Jahrhundert,  sind  mindestens 
im  deutschen  Südosten  selbst  die  Urkunden  selten,  vertreten  eben  cKe 
Traditionsbücher  vielfach  deren  Stelle. 


1)  SMim  M*  am  äiUnn  SL   eaUer   Urkunden.    Jahrbuch  f.  Schweiz.  GeKh. 
j6  n.  27. 


—     160     — 

Der  gegenwärtige  Stand  ihrer  VeröfTentUchnng  muls  als  selir 
unbeiriedigend  bezeichnet  werden.  Geht  man  die  Verzeichnisse,  welche 
einerseits  Zeumer  ^),  anderseits  Osw.  Redlich  *)  g^eben  haben,  durch,  so 
findet'man,  da(s  die  groise  Masse  davon  in  alten,  unkritischen  Editionen 
vorliegt,  meist  ohne  jedweden  Kommentar.  Und  gerade  da  ist  ein 
solcher  doppelt  notwendig,  da  schon  die  handschriftliche  Analyse 
dieser  undatierten  Quellen  meist  äufserst  schwierig  ist  und  gute  diplo- 
matische Kenntnisse  voraussetzt.  Jedoch  sind  dafür  bereits  einige 
musterhafte  Untersuchungen  geliefert  worden  ') ,  haben  die  Traditions- 
bücher bisher  doch  hauptsächlich  das  Interesse  der  Diplomatiker  in 
Anspruch  genommen.  Als  Muster  für  eine  Ausgabe  von  Traditions- 
büchem  kann  die  Osw.  Redlichs  über  das  Hochstift  Brixen  ^)  angesehen 
werden.  Die  Masse  der  so  wichtigen  bayrischen  Traditionsbücher  wird 
hoffentlich  bald  aus  ihrem  langen  Winterschlaf  geweckt  werden,  da 
sich  die  k.  Akademie  der  Wissenschaften  in  München  nunmehr  ihrer 
angenommen  hat.  Auch  in  Österreich  stehen  weitere  Publikationen  in 
Aussicht,  so  die  Klosterneuburger  und  Göttweiher  Traditionen^).  Im 
Elsafs,  Baden  und  der  Schweiz,  wo  Einzelnes  in  jüngerer  2^it  bereits 
geschehen  ist  *),  mag  Weiteres  noch  erhofft  werden. 

Der  Wirtschaftshistoriker  wird  freilich  dem  Diplomatiker  bei  einer 
kritischen  Ausgabe  dieser  Quellen,  noch  weitere  und  neue  Wünsche 
zu  präsentieren  haben.  Vor  allem  eine  statistische  Zusammenstellong 
der  Traditionsobjekte  nach  ihren  verschiedenen  wirtschaftlichen  und 
rechtlichen  Kategorien,  anderseits  aber  womöglich  auch  eine  karto- 
graphische Darstellung  des  tradierten  Gutes.  Damit  würde  die  Hand- 
habung dieser  Quellen  für  den  Agrarhistoriker  wesentlich  erleichtert 
und  deren  wirtschaftsgeschichtlicher  Inhalt  ihm  recht  eigentlich  erst 
erschlossen  werden.    Dem  richtigen  Verständnis  aber  dieser  Au&eicdi- 


I)  In  WiitB,  V.G.  5«,  (Vor-)  Bemerkung  XIV. 
3)  DenUche  GeschichUblätter  i,  89  ff. 

3)  Man  vgl.  besonders  Osw.  Redlich,  Über  bayrische  ThuNUofubüeher  u,  JhuH^ 
tionen,  Mitteil.  d.  Instit.  5,  i  ff.  B.  Bretholz,  Studien  xu  den  IhMianebüehem  von 
S.  Emmeram  in  Regenburg,  Ebenda  13,  i  ff.,  und  W.  Erben,  Untersuehungen  xu  defn 
codex  tradHionum  Oldaberii.    MitteiL  d.  Gesell,  f.  Salzbnrger  Landeskunde  39,  454. 

4)  Die  Traditiombücher  des  HoehMfles  Briam.    Acta  Tirolensia  i.  Bd.  (1886). 

5)  Vgl.  die  Anzeige  A.  Starzers  in  den  MonatablJUtem  des  AltertnmsTereina.   Wies 

(1904),  vn,  99. 

6)  Man  vgl.  n.  a.  Harster,  Der  Qiäerbesiix  der  Abtei  Weißenburg  (Progr.  d. 
GTmoas.  Speier  1893.  1^94)  ^  ^*»  Kloster  Weifsenburg  i.  E.:  Weech,  Der  Batulus  8. 
PlBtrinus  (Freiburger  Diözesarch.  15, 133  ff.)  für  St.  Peter  auf  d.  Schwamrald :  Wartmann, 
ÜB.  von  St,  Oallen,  sowie  im  allgemeinen  Baumann,  Quell  s.  SchweizerGesch.  3,  i68. 


—     151     — 

nungen  kann  endlich  nur  eine  sachliche  Einleitung  vorarbeiten,  die 
am  besten  wohl  der  Editor  selbst  zu  geben  vermag.  Einer  der  Haupt- 
fehler bei  der  bisherigen  Verwertung  dieser  Quellen  ist  gewesen,  dais 
man  sich  ihrer  spezifischen  Eigenart  zu  wenig  bewuDst  geworden  ist. 
Wofür  können  sie  nach  Absicht  und  Inhalt  ihrer  Aufzeichnung  über- 
haupt Aufschlüsse  gewähren?  Es  sind  keinesw^s  objektive  Bilder 
einer  blofs  zeitlich  begrenzten  Wirtschaftsentwickelung,  sie  sind  in 
sozialer  und  wirtschaftlicher  Beziehung  einseitig  durch  den  Empfanger 
der  Traditionsakte  bestimmt.  Sehr  hübsch  hat  G.  Caro  das  für  die 
soziale  Entwickelung  der  Nordostschweiz  ausgeführt  ^). 

Die  Traditionsbücher  werden  insbesondere  auch  dadurch  zu  einer 
Quelle  ersten  Ranges  für  den  Agrarhistoriker,  dafs  sie  einen  Vorläufer 
der  jüngeren  Urbare  darstellen.  Wie  sich  formell,  ihrer  äufeeren 
Anlage  nach,  ein  Übergang  zu  den  Urbaren  oft  unmittelbar  verfolgen 
lä&t,  hat  die  diplomatbche  Forschung  bereits  gezeigt^).  Dafs  auch 
ein  sachlicher  Zusammenhang  vorhanden  ist,  e^bt  sich  aus  der  Natur 
ihres  beiderseitigen  Inhaltes.  Und  eben  dieser  wird  dem  Agrarhistoriker 
besonders  interessieren.  Denn  es  läfst  sich  durch  vergleichende  Kritik 
dieser  älteren  und  jüngeren  Aufzeichnungen  über  den  Besitzstand  der- 
selben Grundherrschaft  nicht  nur  der  Verlauf  ihrer  äu&eren  Entwicke- 
lung feststellen,  man  wird  auch  bei  sorgfaltiger  Beobachtung  der 
Unterschiede,  mit  welchen  einzelne  Gutsstücke  hier  und  dort  verzeichnet 
und  dargestellt  erscheinen,  nicht  selten  wertvolle  Rückschlüsse  auf 
Veränderungen  in  der  Wirtschaftsführung  und  Organisation  des  Grund- 
besitzes machen  können.  Um  ein  praktisches  Beispiel  hier  einzustreuen : 
während  in  den  Traditionsbüchern  des  XI.  und  XII.  Jahrhunderts  noch 
die  ältere  Villikationsverfassung  in  deutlichen  Spuren  zutage  tritt 
—  man  vgl.  u.  a.  jenes  vom  Kloster  Göttweih  in  Niederösterreich  — , 
wird  in  den  Urbaren  aus  dem  XIII.  Jahrhundert  bereits  deren  Auf- 
lösung ersichtlich,  der  Übergang  zu  einem  bäuerlichen  Zinsgütersystem 
allenthalben  bemerkbar'). 

i)  Zur  AgrargeachiehU  der  Nordostschtceix  in  Konrads  Jahrb.  d.  Nationalökonomie 
nnd  Statistik  79  (1902).  Fflr  die  wichtige  Frage  nach  dem  Stande  des  Freien  in  der 
Zeit  tom  X. — XIL  Jahrh.,  deren  Existenz  man  an  der  Hand  dieser  Quellen  zn  leugnen  sachte, 
ist  daraus  Überhaupt  wenig  zu  folgern.  Denn  ihrer  ^genart  entsprechend  ist  hier  nur 
dann  foa  solchen  die  Rede,  wenn  sie  anfliörten  frei  sa  sein.  Von  den  im  alten  Rechts- 
Terhältnis  Fortlebenden  zn  handeln,  lag  hier  keine  Veranlassung  vor. 

2)  Vgl  Osw.Redlich,  Über  bayrische  Tradütansbüehermtitjü.  d.  InstitnU  5,  59f., 
sowie  J.  Sasta,  ^tr  Oesehiehie  undKrüik  der  Urbartaktufxeiefmungen,  SitsittHlbttr.  d. 
Wiener  Akad.  138,  8.  Abhandig. 

3)  Vgl  TorlXnfig  meiDd  Bemerkungen  in  Öeterr.  Urbare  t  i,  CXm 


—     IW     — 

Damit  sind  wir  nun  bei  der  yielleicbt  wichtigsten  Qaellengattmifir 
fürdieAgirargeschichte  des  Mittelalters,  denUrbarialaufzeichnung-en, 
angelangt  Ihre  vielseitige  Bedeutung  toiucht  hier  nicht  neuerdii^ 
erörtert  zu  werden«  Das  ist  längst  bereits  geschehen  und  seit  Inamas 
Auüsatz  darüber  ^)  zum  öfteren  von  anderen  wiederholt  worden.  Nieht 
dafs  Urbare  herausg^eben  werden  sollen,  bedarf  einer  Besprecbang, 
sondern  wie,  d.  h.  nach  welchen  Grundsätzen.  Denn  man  könnte 
nicht  sagen,  dafs  die  Publikation  von  Urbaren  jemals  ins  Stodcen 
geraten  sei.  Wie  viele  Einzelurbare  sind  nicht  in  den  letzten  Dezennien 
da  und  dort,  in  den  verschiedenen  landesgeschichtlichen  Publikationen, 
auch  Zeitschriften,  erschienen!  Das  lokalgeschichtliche  Interesse  war 
insbesondere  auf  Herausgabe  der  ältesten  Quellen  dieser  Art  gerichtet. 
Allein  eben  mit  dieser  Art  und  Weise  der  Veröffentlichung  muis  meines 
Erachtens  möglichst  bald  gebrochen  werden.  Nicht  nur  weil  sie  etiras 
rein  Zufalliges  an  sich  trägt  und  eine  Verstreuung  des  Materiaies  zur 
Folge  hatte.  Sie  ist  ganz  danach  angetan,  den  bisherigen  Todschlaf 
dieser  Quellen  in  ein  neues,  und  zwar  verdichtetes  Stadhim  treten  zu 
lassen.  Denn  was  geschah?  Man  begnügte  sich  im  Kreise  dieaer 
lokalhistorischen  Editoren  meist  damit,  den  Text  der  Quelle  wieder- 
zugeben und  deren  Alter  mühsam  zu  bestimmen.  War  noch  eine 
topographische  Erklärung  —  oft  auch  recht  lückenhaft  —  dazu  gefunden« 
so  schien  bereits  genug  für  die  Herausgabe  geschehen.  Über  aUen 
Zweifel  erhaben  aber  war  die  Sache  dann,  weim  noch  ein  aus  Inama 
und  Lamprecht  zusammengeschriebener  wirtschaftsgeschichtlicher  Über- 
gufs  hinzukam.  Nicht  aus  der  Quelle  selbst  deren  Besonderheiten 
zu  erklären ,  sondern  in  ihr  womöglich  das  bisher  -^  wenn  auch*  oft 
für  ganz  andere  Verhältnisse  —  Gültige  wiederzufinden,  schien  Haupt« 
aufgäbe  solcher  Editionen.  Wie  wenig  damit  die  Forschung  gefordert 
wurde,  läfist  sich  unmittelbar  begreifen.  Jedem  wissenschaftlichen 
Benutzer  lastete  stets  die  mühsame  Arbeit  von  neuem  auf,  die  ganze 
Quelle  im  einzelnen  durchzugehen,  wollte  er  auf  irgend  eine  ihn  inter- 
essierende Frage  aus  ihr  Antwort  und  Aufischlufs  gewinnen.  So 
begnügte  man  sich  meist  mit  einzelnen  Zitaten,  die  gelegenüich  ein 
glücklicher  Griff  aus  dieser  indigesta  moles  herausgefunden  hatte,  und 
übernahm  sie  dann  weiter  bis  in  die  Handbücher  hinein. 

Kn  Wandel  ist  hier  dringend  geboten;  Eben  jetzt  aber  schefaif 
mir  vielleicht  der  geeignete  Zeitpunkt,  die  Grundsätze  zu  beraten,  nach 
welchen  derartige  Editionen  veranstaltet  werden  mögen,  auf  dals  sie 


i)  Aro^fd.  Zdtockr.  2,  26  AT.:  Über  üHfoHm  und  ürimialmsfiLei^mmgmK 


—     »53     — 

möglichst  verschiedenen  Bedürfiiissen  der  wissenschaftlichen  Forschung 
entsprechen  können.  Eben  jetst  sind  ja  von  drei  verschiedenen  Seiten 
gröfsere  Unternehmungen  bereits  zu  fertigen  Publikationen  gediehen, 
deren  unterschiedliche  Anlage  zur  Überlegung  und  Diskussion  anregen 
kann.  Die  Herausgabe  der  gro&en  habsbui^chen  Urbare  für  die 
Schweiz,  welche  Maag  vor  längerer  Zeit  bereits  mit  einem  i.  Bde. 
eröffnet  hatte,  ist  vor  kurzem  durch  P.  Schweizer  zu  Ende  gebracht 
worden  ^) ;  die  stattliche  Unternehmung  der  Gesellschaft  für  rheinische 
Geschichtskunde  zur  Herausgabe  der  rheinischen  Urbare  hat  bereits 
einen  umfangreichen  Band  produziert  *)  und  in  den  letzten  Wochen 
eben  ist  als  Frucht  eines  umfassenden  Planes  der  Wiener  Akademie, 
der  I.  Bd.  Österreichische  Urbare  erschienen^. 

Es  sei  mir,  als  Herausgeber  dieser  letzteren  Publikation  verstattet, 
an  die  Grundsätze  anzuknüpfen,  nach  welchen  ^speziell  die  Wiener 
Akademie  vorgeht 

Sie  hat  eine  besondere  Serie  ihrer  Veröffentlichungen  den  Urbaren 
gewidmet,  so  wie  dies  früher  bereits  mit  den  österreichischen  Weis- 
tümem  geschehen  ist.  Diese  österreichischen.  Urbare  sollen  eine 
möglichst  umfassende  Ausgabe  der  vorhandenen  Quellen  dieser  Art 
bieten  und  sich  in  vier  Unterabteilungen  gliedern:  i.  landesförstlicAe 
Urbare,  2.  Urbare  der  Hochstifter  (Bistümer  etc.),  3.  Urbare  anderer 
geistlicher  Grundherrschaften ,  4.  Urbare  weltlicher  Grundherrschaften. 

Um  diese  Veröffentlichung  nicht  von  ZußUlen  abhängig  zu  machen, 
wurde  mit  einer  systematischen  Verzeichnung  und  Registrierung  aller 
in  den  verschiedensten  Archiven  und  Ämtern  vorhandenen  Quellen 
dieser  Art  begonnen.  Damit  ist  nun  eine  Art  Quellenkunde  der  Agrar- 
geschichte  Österreichs  zustande  gekommen  und  eine  Übersicht  über 
das  Ganze  gewonnen,  auf  Grund  welcher  mit  einer  bestimmten  Aus« 
wähl  der  zur  Veröffentlichung  besonders  geeigneten  und  wertvollen 
Urbare  allmählich  vorgegangen  werden  kann.  Zugleich  ist  durch  die 
im  voraus  durchgeführte  Sammlung  des  Gesamtmateriales  die  Möglich- 
keit geboten,  bei  der  Veröffentlichung  alle  auf  ein  und  dieselbe  Grund- 
herrschaft sich  beziehenden  Urbare  zu  vereinigen.  Eben  dies  ist  ja 
gerade  da  aus  mehr  als  einem  Grunde  geboten.  So  kann  das  Interesse 
des  Wirtschaftshistorikers  am  ausgiebigsten  befriedigt  werden,  da  er  die 


i)  QaeUen  zur  Schweizer  Geschichte  XV,  2  (1904)* 

3)  PabUkaÜooen  der  GeseUKhaft  iUr  Rheiotsche  Gecchichtskimde  20  (i  9021)  Rheinische 
Urbare  I:  Die  Urbare  des  Kloekre  S,  PanUUeon  m  Köln,  heraosgegeben  ▼.  B.  Hilliger. 

3)  Osterreich.  Urbare  t  t:  Die  landeefUrMehm  Urbare  Nieder-  und  Ober'öster- 
reiche  am  dem  XUL  und  XIV,  Jahrhundert  (1904)* 


—      164     — 

Entwickelung  der  betreffenden  Gnindherrschaft  durch  den  Wandel 
der  Jahrhunderte  fort  zu  verfolgen  vermag;  es  wird  sich  auch  die 
Au%abe  des  Editors  dadurch  bisweilen  vereinfachen  lassen,  da  nicht 
die  vollen  Texte  immer  wieder  abgedruckt  zu  werden  brauchen,  sondern 
eventuell  gleichartiges,  im  Spaltendruck  etwa,  ausgeschieden  werden 
kann,  so  dais  die  Veränderungen  schon  formell  zutage  treten  ^).  Soweit 
scheint  mir  auch  die  Forderung  Lamprechts  nach  Herausgabe  insti- 
tutioneller Urkundenbücher  *)  für  Urbarausgaben  begründet  und  prak- 
tisch durchführbar. 

Was  nun  die  Edition  selbst  anlangt,  so  möge  zunächst  eine  Be* 
merkung  über  die  äuisere  Ausstattung  in  Format  und  Druck  voraus- 
geschickt werden.  Nicht  wenige  der  bisherigen  Urbarausgaben  sind 
vielleicht  auch  deshalb  so  unfruchtbar  geblieben,  weil  schon  die  äu&ere 
Publikationsform  deren  praktische  Benutzung  ungemein  erschwerte. 
Man  werfe  nur  einen  Blick  auf  die  Ausgabe  der  Passauer  bischöflichen 
Urbare  in  den  Mon.  Boica ') ! 

Eine  Urbarausgabe  soll  vor  allem  übersichtlich  sein.  Und 
dafür  kann  schon  äufserlich  vorgearbeitet  werden,  wenn  das  Schriftbild 
nicht  überlastet  erscheint.  Es  wird  sich  deshalb  ein  nicht  zu  kleiner 
Dfück  empfehlen  und  eine  Gliederung  des  Textes  nach  zusammen- 
gehörigen Abschnitten  am  Platze  sein.  Wird  dementsprechend  ein 
nicht  zu  kleines  Format  —  etwa  Groisoktav  —  gewählt,  so  kann  auch 
bei  reichem  wissenschaftlichen  Apparat  fiir  den  Textabdruck  hinreichend 
Raum  gewonnen  werden. 

In  der  österreichischen  Ausgabe,  wo  darauf  mit  Absicht  grofser 
Wert  gelegt  wurde,  begleiten  nun  den  zur  besseren  Übersicht  in 
Nummern  gegliederten  Text  auf  jeder  Seite  Noten ,  welche  die  hand- 
schriftliche Überlieferung  betreffen,  und  sachliche  Erläuterungen.  Letztere 
sollen  einmal  eine  Bestimmung  der  im  Texte  vorkommenden  Orte  und 
Personen,  anderseits  aber  eine  kurze  Zusammenstellung  des  (tir  die 
einzelnen  Besitzstücke  vorhandenen  historischen  Materiales  bieten. 

Damit  haben  wir  auch  bereits  eine  der  wichtigsten  Fragen  der 
Urbaredition  gestreift.  Wieweit  hat  sich  dieBeibringung  von  Er- 
läuterungsmaterial dabei  zu  erstrecken?  Daus  ein  solches  der 
Ausgabe  selbst  beigegeben  werden  mufs,  bedarf  wohl  heute  kaum 
mehr  einer  Diskussion.     Der  Text  der  Urbare  ist  nicht  selten  derart 


i)  VgL  s.  B.  die  Anigabe  der  Urbare  des  Bistums  Freising,  welche  J.  t.  Zahn 
in  deo  Font.  rer.  Anstr.  IL  36  TeransUltet  hat. 

2)  Vgl.  das  Vorwort  ra  den  Rheinischen  Urbaren,  i.  Bd. 

3)  28.  und  29.  Bd. 


—     156     — 

spröde  und  karg  an  direkten  Nachrichten,  dais  nur  mit  Beiziehung 
anderer  Quellen,  gleichen  oder  auch  verschiedenen  Charakters,  von 
anderen  Urbaren  oder  Urkunden,  das  sachliche  Verständnis  angebahnt 
werden  kann. 

In  diesem  bedeutungsvollen  Punkte  gehen  nun  die  früher  erwähnten 
drei  grofsen  Urbarpublikationen  der  jüngsten  Zeit  bereits  beträchtlich 
auseinander.  Wohl  hat  man  auch  in  den  schweizer  und  österreichischen 
Urbaren  ein  stattliches  QucUenmaterial,  besonders  an  Urkunden  heran- 
gezogen —  alles  was  den  Herausgebern  erreichbar  war  —  allein  man 
beschränkte  sich  darauf,  dasselbe  in  kürzeren  sachlichen  Noten,  deren 
Umfang  hier  und  dort  kaum  wesentlich  verschieden  ist,  zu  verwerten 
unter  Hinweis  auf  die  entsprechenden  Belegstellen.  Dagegen  erscheint 
in  den  rheinischen  Urbaren  eine  beträchtliche  Menge  von  Erläuterungs- 
material auch  nicht-urbarialen  Charakters,  besonders  von  Urkunden, 
zwischen  den  einzelnen  Texten  zu  vollem  Abdrucke  gebracht,  und  zwar 
auch  solches,  das  nicht  eine  direkte  Beziehung  zu  jenen  selbst  aufweist 

Man  ist  dabei  nach  den  Anschauungen  Lamprechts  vorgegangen, 
die  er  auch  in  einem  Vorwort  zu  dieser  Edition  kurz  formuliert  hat. 
Seiner  Meinung  nach  sind  die  sogenannten  institutionellen  Urkunden- 
bücher,  d.  h.  die  Vereinigung  aller  „Urkunden  oder  wohl  auch  im 
weiteren  Sinne  die  wichtigeren  Aktenbestände  der  gröberen  öffentlichen 
Institute  der  Vergangenheit  jedesmal  für  sich  als  ein  geschlossener 
Komplex"  gerade  dafür  außerordentlich  vorteilhaft,  da  sie  an  sich 
darauf  hinleiten,  den  inneren  kulturgeschichtlichen  Gehalt  der  Quellen 
zu  erschlieisen. 

Es  scheint  ihm  „durchaus  notwendig,  dafs,  wenn  Urbare  zur  Edition 
kämen,  sie  nicht  kahl  und  gleichsam  nackend  herausgegeben  würden, 
sondern  vielmehr  nur  als  wesentlichster  Bestandteil  von  Editionen, 
welche  jedesmal  auf  eines  der  wichtigsten  agrarischen  Wirtschafts- 
institute der  rheinischen  Vergangenheit  allein  bezogen  sein  und  ent- 
halten sollten:  i.  eine  ganz  eingehende  Wirtschaftsgeschichte  des 
betreffenden  Institutes  durch  alle  Stufen  seiner  Entwickelung  hindurch 
auf  Grund  der  gesamten,  noch  irgendwie  aufzutreibenden  Überlieferung 
jeglicher  Art;  2.  im  Sinne  von  pieces  justificatives  eine  Ausgabe  der 
Urbare  und  aller  wichtigsten  Aktenstücke  und  Urkunden  zur  Wbt- 
schaftsgeschichte  des  betreffenden  Institutes,  gleichviel  welcher  Art 
diese  nach  archivaUschen  oder  diplomatischen  Merkmalen  gerechnet, 
auch  sein  möchten.'* 

Lamprecht  teilt  uns  allerdings  zugleich  auch  mit,  da(s  „diese 
Anschauungen  als  zuweitgehende  erachtet  wurden,  da  sie  über  den 


—     I6Ö     — 

Rahmen  jener  Qtiellenpnblikationen  hinausgrifien ,  die  das  eigfcntlicbe 
Arbeitsfeld  der  Gesellschaft  für  rheinische  Geschichtskunde  bilden  ^)/'^ 
Er  habe  sich  begnügen  müssen,  „schliefelich  die  Wünsche,  die  sich 
eine  Ausgabe  der  Rheinischen  Urbare  knüpfen  licdsen,  dahin  erflUIt 
sehen,  dafe  diese  Urbare  mit  dem  für  ihr  Verständnis  absolut  notwendigen 
Kern  anderer  aktenmäfsiger  Überlieferung  umgeben  und  auch  mit  Ein» 
leitungen  versehen  ediert  werden  konnten,  die  in  das  VerständniR  de» 
Stoffes  näher  einführen/* 

Niemand  wird  den  Wert  institutioneller  Urkundenbücher  bexweifebi 
wollen.  Sie  sind  ungemein  lehrreich  und  bequem  für  den,  der  sich  auf  die 
historische  Betrachtung  eines  oder  mehrererderartiger  Institute  beschränkt. 
Aber  niemals  wird  die  Forschung  auf  zusammenfassende  Urkunden» 
bücher  ganz  verzichten  können,  die  das  gesamte,  für  eine  bestimmte 
Zeit  vorli^ende  Material  in  mehr  oder  minder  weitem,  territorialen 
Umkreis  geschlossen  darbieten.  Eben  darin  ruht  ja  doch  ein  wesent- 
licher Fortschritt  der  modernen  Urkundenpublikation,  weil  nur  mit 
der  Kenntnis  des  vollständigen  Materiales  ixgendeiner  2^it  die  wechsel- 
seitige Kritik  der  einzelnen  Fonds  und  ein  Urteil  darüber  möglich 
wird,  was  allgemeingültig  und  was  Besonderheit  ist,  von  den  Fälschungen 
gar  nicht  zu  reden.  Lamprecht  meint,  diese  (territorialen)  Urkunden- 
bücher seien  „auf  die  Bedürfhisse  vorübergehenden  Gebrauches  zur 
Geschichte  des  äufserlichen  Spieles  geschichtlicher  Kräfte  zugeschnitten 
und  bestimmt,  zunächst  vornehmlich  der  politischen,  genealogischen, 
und  topographischen  Geschichte  zu  dienen.*^  Ob  die  wirtschafts- 
geschichtliche Forschung  auf  jene  wird  verzichten  können?*) 

Und  noch  ein  zweites,  höchst  wichtiges  Argument :  die  praktische 
Durchführbarkeit.  Kann  das  von  Lamprecht  aufgestellte  Idealbüd  von. 
Urbareditionen  allgemein  auf  die  Möglichkeit  der  Verwu-klichung  rechnen  > 
Sollte  es  auch  bei  kleineren  Grundherrschaften  durchführbar  seia 
—  Klöstern  etwa  — ,  für  grofse  Wirtschaftsinstitute  dürfte  es  doch 
wohl  ein  ideales  Schemen  bleiben.  Ungeheuer  g^rofis  und  umfangretclL 
wächst  ja  die  Masse  der  Überlieferung  schon  gegen  Ende  des  Mittel« 
alters  an,  falls  man  etwa  bedeutende  Hochstifter  des  Rheinlandes 
z.  B.,  oder  die  weltlichen  Grofsgrundherrschaften  der  späteren  Terri- 
torialherrcn  m  Süddcutschland  so  zu  behandeln  gedenkt  Wer  und 
in  welcher  Zeit  wü-d  diese  Massen  durch  die  Jahrhunderte  herab  mit 
wissenschaftlich  durchgreifender  Edition  zu  meistern  vermögen?  Da» 
Schicksal  der  bisher  unternommenen  institutionellen  Urkundenbücher 

i)  Zum  Qekü  (Vorwort  Lamprecbts)  zn  dem  r.  Bd.  der  Rheinischen  UrtMU^ 
j)  Vorwort  nun  i.  Bd.  der  Rheinischen  Urbare  (1903). 


—     467     — 

spricht  eine  deutliche  Sprache.  Es  sind  solche  vornefamlicli  doch 
nur  für  kleinere  Institute  zustande  gekommen,  besonders  Klöster  ^).  Wo 
man  sie  bei  grö&eren  unternommen  hat,  ist  stets  eine  Beschränkung, 
sei  es  in  stofflicher  oder  zeitlicher  Beziehung,  notwendig  geworden  *). 
Um  gute  und  verwendbare  Urbareditionen  herzustellen,  scheint 
mir  aber  die  Heranziehung  des  Urkundenmateriales  in  jenem  Ausma&e 
aiK^h  gar  nicht  nötig.  Die  Urbartexte  sollen  bei  einer  modernen 
Edition  erläutert  werden.  Dieser  Grundgedanke,  der  auch  Lamprecht 
vorschwebte,  ist  als  al^emein  gültige  Forderung  festzuhalten.  Müssen 
aber  zu  diesem  Zwecke  ganze  Urkundenreihen  zu  vollem  Abdruck 
gelax^en,  von  welchen  oft  eine  ganze  Anzahl  doch  nur  das  Gleiche 
beweisen?  Meiner  Ansicht  nach  würde  ea  genügen,  besonders  wert- 
^Folle  Stücke,  die  noch  nicht  bekannt  sind  und  eine  generelle  Bedeu- 
tung haben,  anhangsweise,  am  Schlüsse  der  urbarialen  Aufzeichnungen, 
in  der  Edition  abzudrucken.  Auf  die  Menge  der  andeicn,  sachlich 
^idiartigen,  würde  ein  blolser  Hinweis  wohl  um  so  eher  ausreichen, 
als  man  sich  ja  heute  selbst  in  den  eigentlichen  Urkundenbüchem 
darauf  beschränkt,  die  Masse  des  jüngeren  Materiales,  etwa  seit  dem 

XIV.  Jahundert,  blolis  im  Regest  zu  geben.  Urkunden  aus  der  früheren 
Zeit,  die  ganz  unbekannt  wären,  dürften  auch  durch  diese  institutionellen 
Sammlungen  kaum  in  grö&erer  Masse  zustande  gebracht  werden  '). 

Als  zweiten  Hauptpunkt  betrachte  ich,  da  die  Herstellung  von 
entsprechenden  Personen-  und  Ortsr^istern ,  wie  eines  Glossars  imd 
Sachregisters  wohl  als  selbstverständlich  bei  diesen  Editionen  voraus- 
gesetzt werden  darf,  die  Beigabe  von  statistischen  Tabellen 
und  Karten.  Schon  mehrfach  ist  von  Forschern,  die  gröfsere  Urbare 
zu  benutzen  hatten,  eine  solche  Beigabe  als  dringendes  Bedürfnis  emp- 
funden worden.  AI.  Schulte  hat  seinerzeit  bereits  in  den  „Habsburger 
Studien*',  geradezu  erklärt,  ,.dafs  die  bisherige  Editionsmethode  der 
Uibarien  ohne  Tabellen,   ohne  Karten  in  Zukunft  verlassen  werden 

l)  Ich  sehe  d«bei  gßni  too  den  ünfteneo,  in  der  archivalifchep  Überlieferoog  ge- 
legenen Motiren  zur  Anfertlgang  «olcher  institutioneller  Urknndenbttcher  tb,  obwohl  dieses 
Moment  sicherlich  oft  fUr  den  aaf  das  unmittelbar  oder  leicht  Erreichbare  sich  beschrän- 
'kenden  Verfasser  mafsgebend  gewesen  sein  dfirfte.  Wieviele  Ton  diesen  Editionen  rühren 
iVUk,  von  den  Areld?ai«ii  des  betreffenden  Institutes  selbst  her! 

9)  YgL  s.  B.  dieültereoAHHnltii  TooM«icli«lb«ok  Ar,Frfisiog(i7a4),  Hooth^tm 
fttr  Trier  (1750),  Kleime7.«rn  filr  SaJ^Qi|(  (i?^)  »der  die  jOn^trea.voa  Ried  filr 
Regenybnrg  (1816),  Qniy  für  Aachen  (1J&39)  ond.Remling  fUr  Speyer  (1852)  etc. 

3)  In  dem  Torliegenden  i.  Bd.  der  Rheinischen  Urbare  werden  2  Urkunden  aus 
dem  Ende  des  XL  Jahrb.,  9  aus  dem  Xn.  Jahrb.,  er.  50  aber  je  ans  dem  Xm.,  XIV-  "'^ 

XV.  JahiJi.  patittfif  k  Hsgtrtn  AiirfgwiX  nr&fSmÜkkL 


—     168     — 

mulis,  wenn  anders  diese  Quellen,   wenn  sie  auch  gedruckt  vorliegen, 
nicht  ihren  Winterschlaf  fortsetzen  sollen"  *). 

Auch  in  dieser  Frage  stimmen  die  drei  neuen  Urbarausgaben 
nicht  überein.  Die  Rheinischen  Urbare  verzichten  in  ihrem  i.  Bde. 
auf  beide  Zutaten  gänzlich;  das  dürfte  aber  wohl  hier  nur  auf  den 
besonderen  Inhalt  (Kloster  St.  Pantaleon  zu  Köln)  zurückzufuhren  sein  ? 
In  der  Schweiz  hat  man  in  einem  statistischen  Ubersichtstableau  eine 
„Summierung  der  Posten  des  Urbars  König  Albrechts"  und  zwei 
Karten  beig^eben.  In  der  österieichischen  Sammlung  erscheint  mit 
umfänglichen  Tabellen  über  den  Besitz  und  die  Einkünfte  in  allen 
einzelnen  Ämtern  den  statistischen  Ausweisen  ein  breiter  Raum  (iio  S.!) 
gewährt  und  werden  drei  Spezialkarten  geboten. 

Auch  da  dürfte  weniger  die  Sache  selbst,  als  deren  Durchfuhrung 
in  Diskussion  zu  ziehen  sein.  Gewifs  genügt  ein  Übersichtsblatt  für 
die  Beantwortung  mancher  statistischer  Fragen.  Aber  es  handelt  sich 
bei  diesen  statistischen  Beigaben  doch  nicht  blofis  darum,  eine  Über- 
sicht im  grofsen  ganzen,  etwa  über  die  Anzahl  der  Ämter,  oder  die 
Gesamteinnahmen  zu  erzielen.  Das  findet  man  wohl  auch  vielfach 
in  allgemeinen  Handbüchern  zusammengestellt.  Den  Wirtschafbhtsto- 
riker  werden  noch  viel  mehr  zahlreiche  andere  Fragen  interessieren, 
die  damit  unmöglich  beantwortet  werden  können.  Die  Verteilung  der 
verschiedenen  Wirtschaftsgüter  innerhalb  der  Ämter  (Zinslehen,  Villi- 
kationen,  Industrialien),  deren  Betriebsform  (Eigenbetrieb,  Teilbau  etc.), 
oder  aber  die  verschiedene  Belastung  der  Wirtschaftseinheiten,  das 
Verhältnis  von  Natural-  und  Geldzins,  sowie  vieles  andere  kann  durch 
die  Tabellen  der  österreichischen  Ausgabe  ohne  weiteres  verfolgt  und 
studiert  werden,  nicht  aber  an  einem  blofsen  Ubersichtstableau. 

Was  die  Kartenbeilagen  weiters  anlangt,  so  besteht  zwischen 
der  schweizer  und  österreichischen  Edition  vornehmlich  der  Unter- 
schied, dals  bei  der  ersteren  das  Terrain  völlig  unberücksichtigt  blieb. 
Man  versteht  wohl ,  weshalb  man  sich  dazu  entschlossen  haben  mag. 
Eben  in  dem  Hochgebirgsland  mochte  die  Einzeichnung  des  Terrains 
ein  undeutliches  BUd  von  dem  eigentlichen  DarstellungsstofT  befurchten 
lassen.  Aber  ist  nicht  eben  durch  die  gänzliche  Weglassung  des 
Terrains  das  Kartenbild  noch  unverständlicher  geworden?  Hat  man 
sich  mit  diesem  Vorgeben  nicht  eines  der  wichtigsten  Demonstrations- 
mittel wirtschaftlicher  Zusammenhänge  beraubt? 

Ich  habe  in  der  österreichischen  Edition  einen  Mittelweg  einzuhalten 


i)  MiUefliiiigen  det  Institatei  filr  ötteiretchMchö  Oeschichtsfondmiff  7,  553. 


—     169     — 

versucht,  indem  ich  das  Terrain  prinzipiell  aufnahm,  es  jedoch  nur 
andeutungsweise,  in  Schummerung,  ausführen  liefis,  auf  dals  die  Deut- 
lichkeit des  Gesamtbildes  nicht  darunter  leide.  Wieviel  die  Plastik 
der  Darstellung  damit  gewinnt,  dürfte  ein  Vergleich  der  schweizer 
Blätter  mit  einem  der  hier  gebotenen  unmittelbar  klar  werden  lassen. 
Man  wird  bei  der  Schweiz  stets  eine  oro-  und  hydrographische  Karte 
daneben  halten  müssen,  um  die  Einflüsse  der  Bodenkonfiguration 
recht  würdigen  zu  können.  Die  Karten  beider  Editionen  beschränken 
sich  auf  die  Darstellung  des  in  den  betreffenden  Urbaren  verzeichneten 
Besitzes,  derart,  dafs  die  einzelnen  Orte  angeführt  und  die  an  denselben 
bestehenden  Rechte  ersichtlich  gemacht  wurden.  Besondere  Produk- 
tionskarten fehlen  hier  und  dort  übereinstimmend.  Ich  hatte  bei 
der  österreichischen  Edition  solche  in  Aussicht  genommen,  kam  aber 
selbst  alsbald  davon  ab,  da  meine  Beobachtungen  beim  Vergleich 
mit  anderen  Urbaren  deren  sachlichen  Wert  sehr  problematisch  erscheinen 
liefsen.  Es  läfst  sich  nämlich  die  Wahrnehmung  machen,  dais  Pro- 
duktionskarten auf  Grund  eines,  selbst  noch  so  ausgedehnten  und 
umfangreichen  Urbares  kein  annähernd  richtiges  Bild  von  der  Boden- 
produktion eines  Landes  zu  gewähren  vermögen.  Es  fehlen  oft  Pro- 
duktionsarten in  einem  Urbar  durchaus,  die  in  eiaem  zweiten  Urbar 
über  ganz  benachbarte  Gebiete  anderer  Grundherrschaften  dch  regel- 
mäßig finden.  Solche  Produktionskarten  werden  also  am  besten  erst 
nach  der  Publikation  einer  gröberen  Reihe  von  Urbaraufzeichnungen 
eines  Territoriums  zu  entwerfen  sein. 

Als  letzten,  aber  vielleicht  wichtigsten  Punkt,  will  ich  hier  noch 
die  Frage  nach  einer  sachlichen  Einleitung  hervorheben.  Eine 
solche  fand  man  ja  auch  bislang  gewöhnlich.  Allein  sie  beschränkte 
sich  meist  auf  eine  Besprechung  der  handschriftlichen  Überlieferung, 
Datierungsfragen  und,  wenn  es  hoch  kam,  etwa  eine  Zusamntenstellung 
der  einzelnen  Besitzrechte  der  betreffenden  Grundherrscbaft  Der 
Nationalökonom  geht  wohl  in  der  Regel  leer  aus,  und  selbst  eine 
Darstellung  der  Verwaltungsorganisation  wird  nicht  selten  vermüst 
Auch  in  der  so  ausfuhrlichen  und  umfänglichen  Einleitung  der  schweizer 
Edition  werden  diese  Fragen  kaum  berührt,  obwohl  man  die  Not- 
wendigkeit ericannte,  der  „inhaltlichen  Bedeutung  des  Urbars"  einen 
besonderen  Abschnitt  zu  widmen.  Er  behandelt  x.  die  rechtlichea 
Verhältnisse  der  Habsbuiger  zu  den  verschiedenen  Klassen  der  Be- 
völkerung a)  die  Eigenleute,  b)  die  Freien ,  c)  die  Gotteahaudeute ; 
2.  habsburgische  Lehen  von  Gotteshäusern  und  vom  Reich;  3.  die 
Passiven  der  habsburgiscben  Finanzwirtschaft. 


—     160     — 

Im  ersten  Band  der  rheinischen  Urbare  erstreckt  sich  die  sac±- 
liebe  Einleitung  zwar  neben  einer  ,,  Geschichte  des  Klosters  St.  Panta- 
leon"  (S.  I — XXXI)  auch  auf  die  ,,Klosterwirtsohaft  und  Klostergut" 
(S.  XXXI — ^XLIII),  allein  diese  an  sich  kurzen  Ausführungen  befaandefai 
doch  nur  die  äufsere  Entwidcelung  des  Besitzstandes  im  ganzen,  sowie 
an  einzelnen  wichtigsten  Besitzstüdcen ,  ohne  die  innere  Struktur 
dieser  Grundherrschaft  klarzulegen  oder  die  Besonderheiten  dieser 
Quellen  in  wirtschaftlicher  und  verwaltungsrechtlicher  Beziehung  zu 
erläutern. 

Eben  in  diesem  Punkte  nun  scheinen  mir  die  früher  schon  be- 
rührten Forderungen  Lamprechts  zu  wenig  beachtet  worden  zu  sein. 
Mag  er  auch  vielleicht  da  zu  weit  gegangen  sein,  wenn  er  als  einen 
Hauptteil  von  Urbareditionen  geradezu  „eine  ganz  eingehende  Wirt- 
schaftsgeschichte des  betreffenden  Institutes  durch  alle  Stufen  seiner 
Entwickelung  hindurch  auf  Grund  der  gesamten  noch  irgendwie  auf- 
zutreibenden Überlieferung  jeglicher  Art"  verlangte,  —  sicherlich  besteht 
eine  der  wichtigsten  Aufgaben  des  Editors  eben  nach  dieser  Richtung 
hin.  Eine  möglichst  vielseitige  wirtschaftsgeschichtliche  Orientierung 
über  die  Grundherrschaft,  von  der  die  edierten  Quellen  handeln,  aber 
auch  über  Ziel  und  Anlafis  ihrer  Aufeeichnung  selbst,  scheint  auch 
mir  ein  Haupterfordemis  modemer  Urbareditionen  zu  sein.  Denn  die 
verschiedenen  Benutzer  werden  vielleicht  Manches  darin  suchen,  was 
ihrer  inneren  Wesenheit  nach  gar  nicht  Zweck  der  Aufiseichnung  war. 
Andere  werden  als  Besonderheit  empfinden,  was  eine  genaue  Kenntnis 
der  sachlichen  Zusammenhänge  leicht  auch  formell  aufeulösen  vermag. 
Vorschnelle  Rückschlüsse,  die  nur  zu  gern  darauf  angebaut  werden, 
ergeben  dann  ein  ganz  falsches  BUd  der  wirklichen  Sadilage. 

Hier  nun  hat  der  Editor  einzutreten.  Nicht  so  sehr,  wie  mir 
scheint,  um  mit  einer  emgehenden  Wirtschaftsgeschichte  sofort  auch 
den  ganzen  Inhalt  dieser  Quellen  voll  auszuschöpfen.  Vor  allem  des- 
halb, weil  er  selbst,  als  bester  Kenner  derselben,  durch  eine  ent- 
sprechende Charakterisierung  einer  falschen  Auffassung  seitens  weniger 
bewanderter  Benutzer  vorbeugen  kann.  Denn  so  ähnlich  auch  Urbare 
im  allgemeinem  ihrem  Inhalte  nach  sein  mögen,  sie  weisen  im  einzelnen 
oft  solche  Vers<^iedenhe{ten  auf,  dafe  man  in  deren  Verwertung  die 
denkbar  gröftte  Voish^t  beobachten  raub.  Noch  vor  nicht  gar  langer 
Zeit  hat  em  asgooebenerGelehrter  aus  den  östeireichischeB  und  bajerisdien 
Uibaren  des  XIII.  JiAthuaderts  allen  Ernstes  deduziert,  es  hätten  damals 
diese  beiden  Hersogtümer  wirtochaftüch  noch  auf  demselben  Standpunlrt 
verharrt,    den   der  Südwesten  Deutschlands   zur  Karolingereeit  ein- 


—     161     — 

genommen  habe  ^).  In  diesen  Urbaren  werden  nämlich  die  Stener- 
erträgnisse  nahezu  nirgends  verzeichnet  und  der  Hauptnachdrack  auf 
die  Domäneneinkünfle  gelegt  Aber  die  Urkunden  derselben,  ja  noch 
früherer  Zeit,  ergänzen  dieses  Bild  und  beweisen  zugleich  neben 
anderem,  daiis  es  hier  gar  nicht  Angabe  der  Urbare  war,  jene  Ein- 
künfte zu  buchen.  Ihre  Eigenart  erklärt  sich  aus  der  Verwaltungs- 
organisation,  die  uns  andere  Quellen  deutlich  machen. 

In  der  Einleitung  zum  i.  Bde.  der  Osterreichischen  Urbare  habe 
ich  den  Versuch  unternommen,  unter  Heranziehung  eines  möglichst 
ausgedehnten  Quellenmateriales  (an  anderen  Urbaren  und  Urkunden) 
eine  eingehende  Charakteristik  der  hier  in  Frage  stehenden  Grund- 
herrschaft nach  den  verschiedenen,  für  das  Verständnis  dieser  Quellen 
notwendigen  Beziehungen  zu  bieten  und  speziell  auch  die  verwaltungs- 
geschichtliche Bedeutung  derselben  zu  erläutern.  Ich  ging  hiebei 
von  der  Vorstellung  aus,  daüs  sich  so  zugleich  auch  die  früher  schon 
berührte  Frage  nach  Beibringung  eines  entsprechenden  Erläuterungs- 
materiales  am  ungezwungensten  und  wirksamsten  lösen  lasse. 

Diese  Methode  der  Präparierung  des  zu  veröffentlichenden  Quellen- 
stoffes hat  übrigens  auch  noch  den  Vorteil ,  dafs  sich  aus  der  Heran*- 
Ziehung  anderer  Quellen  und  ihrer  wechselseitigen  Verarbeitung  nicht 
selten  wertvolle  Aufschlüsse  für  die  Beurteilung  jener  ergeben.  So 
z.  B.  der  Urkunden.  Auch  für  die  Agrargeschichte  sind  ja  die  Ur- 
kunden eine  der  wichtigsten  und  unentbehrlichsten  Quellen.  Aber 
in  wirtsehaftsgeschichtlicher  Beziehung  werden  dieselben  vielfach  anders 
zu  verwerten  sein,  als  dies  sonst  der  Fall  ist.  Dem  Beurkundungsgeschäft 
kommt  hier  nämlidi  eine  zum  Teile  andere  Bedeutung  zu.  Denn  eine 
ganz  grofse  Anzahl  von  wirtschaftsgeschichtlich  wichtigen  Handlungen 
und  Voigängen  wurde  überhaupt  förmlicher  Beuricundung  nicht  für  wert 
gehalten.  Kurzlebig,  wie  sie  selbst,  mochte  auch  die  Form  gewesen 
sein,  in  der  man  gleichzeitig  von  ihnen  Notiz  nahm.  So  ist  das 
testimonium  ex  sUentio  hier  oft  und  oft  nicht  zulässig,  wo  es  sonst 
dem  Historiker  untrüglich  scheint  Um  es  an  einem  Beispiel  zu  illu- 
strieren: gegenüber  der  Masse  von  Urkunden,  die  Erb-  und  Vitalpacht 
verbriefen,  sind  jene  über  Zei^>acht  im  engeren  Sinne  verschwindend 
gering.  Wollte  man  danach  einen  statistischen  Anschlag  versuchen, 
so  würde  ein  ganz  unrichtiges  Bild  sich  ergeben.  Denn  es  läftt  sich 
nachweisen,  da&  am  Rhein  und  in  Osterreich,  im  XII.  und  Xlll.  Jahr- 


i)  AL  Schalte  in  den  Mitteünngen  des  Inttitate«  für  österreichische   Geschieht«* 
forschuig  7,  $$J. 

13 


—     IM     — 

Jbamdcrt,  aur  Pctfi^tiiaKeti,  aiclil  aber  TeispotaUeii  aii^ytearhaet  wiudea 
«nd  (imu^afaigc  die  aof  \aa8  gekommooG  ÜberUefenwcf  yoflttfifKA  be> 

Dock  jg^mig*  di^er  Abweidnmg!  Über  UrkuAden  «Is  QueUea 
-dtx  Agraigeschiohte  w^  ich  hier  ja  nicht  spnechen,  da  sie  der 
iSonderveröiTentlichyiig  in  »i6ttiinen£ra«eDden  UrkiuideabücherB  vor- 
behalten bleiben  mögen.  Und  dafik  ist  ja  bereite  zui  Geaäge  vor- 
geborgt  l 

So  erübrigt  mir  nur  noch,  2wei  Gruf^pen  von  agrargeediichtlidKia 
Quriten  hier  kurz  zu  behaadela. 

In  näherem  Zusammenhang  mit  den  Urbaren  stehen  zeitabwärts 
die  Lehenbücher.  Förmliche  VerzeiclbQisse  des  zu  Leben  ansgetaBeo 
Gfites  wurden  vomehmlidi  sdt  dem  XTV.  J^Aihuad^t  in  Deutschland 
hnmer  häufiger  angelegt  Getstüche  und  weltliche  Grundhecren  haben 
Wert  darauf  gelegt,  über  den  Stand  ihres  also  in  fremder  Haad  he- 
•findlichen  Eig^entums  eine  sichere  Übersicht  zu.  besitzen.  I>a  wk 
diese  Aufeeich&migen  gewöhnlich  über  einen  längeren  Zeitraum  er- 
•streckea,  ist  anzunehmen,  dais  wir  so  zieoiUcfa  das  gesamte  zu  Lehen 
•gelinde  Gut  des  betreffenden  Lehensherm  hier  verzeichnet  fixten. 
Indem  einmal  die  Emp&ng^,  dann  aber  das  Lebeasgut  selbst  ia 
einzelnen  Stücken,  wie  auch  die  davon  fiieisenden  Einkünfte 
-geaau  angegfeben  erscheinen,  so  erhellt,  wie  wertvoll  diese  Leben- 
iMkiher  iur  die  Agraigeschidite  defi  Mittelalters  sind.  Doppelt  wevtvoH 
dotrt,  wo  fiir  dieselbe  Grundfaerrschaft  nodi  ältere  Urbare  oder  .gar 
auch  Traditionsbücher  vorliegen.  Dann  lä6t  sich  aus  4eren  ver- 
gieichender  Zusammen^sung  die  attmäUiobe  Eatwickelui^  sehr  in- 
itaiktiv  verfolgen.  Einea  Versuch  dieser  Art  hat  Harster  für  ^das 
-elsifflisdie  Kloster  Weifsenbucg  unternooimen  ^),  w^eon  auch  seine  wiit« 
achaftsgeaduchtliohen  SchlufiBiblgenmgen  daraus  kaum  in  entaprechee- 
dbm  Verhältnis  zu  dem  grofiien  Fleüs  stehen»  der  darauf  verwendet  wtitde. 

Der  gegenwärtige  Stand  der  Veröffentlichung  dieser  QueUen  vi 
noch  weojger  günstig  als  jener  der  Urbare.  W.  Lip^eit  hat  jiii^Tif 
(1903),  getegentHcfa  der  Herausgabe  des  Leheabuc^es  Markgiaf  Fcied- 
lichs  des  Strengen  von  Meifisen  und  LandfiTTafen  von  Thüringen  t  JS9/60 
in  einer  verdienstvollen  Einldtung  eine  -Übetsioht  über  dm  bis  jetzt 
veröfienttlichte  Material  geboten. 

Neuendiags  hat  auch  die  rtihrigte  historische  T  mrtrnknmniirtninn 
in  Steiermark  eine  solche  Publikation  in  ihr  Programm  aufgenommen 

I)  Da-  GmetbrnU  the  Khetey9  Whißmikmy  i  J^    (I^graoM  tdts 
Speier  1893  ^^^  1^94-) 


—     168     — 

und  bereits  in  diesem  Jahre  ein  Bänddien  der  iandesfiirBtUchen  Lehen» 
bücher  erscheizien  lassen  ^). 

Man  wird  im  allgeaxeinem  auch  für  diese  Quellen  äfanUche  Grund'* 
Sätze  und  Forderungen  aufstellen  können,  wie  sie  voriier  bei  Besprechung 
der  Urbare  entwickelt  wurden.  In  der  schweizer  Urbaredition  sind 
auch  Lehenbücher  mit  abgedruckt  worden  ^). 

Nur  eine  Frage  wirdhier  noch  besonderszu  erörtemsein«diederText* 
anordnung.  Die  uns  erhaltenen  Au&eidxnungen  dieser  Art  sind  ver- 
schieden angelegt:  bald  der  Zeit  nach,  wobei  die  Abfolge  allerdings  nicht 
stets  streng  eingehalten  wurde,  bald  nach  Empfängern  oder  nach  Verwal- 
tuogs-  und  Herrschaftsbezirken.  Von  dieser  ursprünglichen  Anordnung 
wird  man  heute  bei  der  Veröffentlichung  eventuell  abweichen  dürfen,  falls 
praktische  Gründe  dies  etwa  zum  Zwecke  gröiserer  Übersichtlichkeit 
empfehlen.  Das  ist  denn  auch  mit  Recht  wohl  schon  geschehen. 
Jedoch  wird  sich  die  Frage  erheben,  welche  von  den  verschiedenen 
Möglichkeiten  für  die  wissenschaftliche  Benutzung  und  Verwertung 
am  förderlichsten  erscheint.  Kaum  die  chronologische  Folge.  Denn 
der  Zeitpunkt  der  Lehensendigung  wie  jener  der  Neaverleihung  war 
doch  zu  sehr  Zufallen  unterworfen.  Ob  aber  eine  örtliche  Anordnung 
oder  jene  nach  Empfängern  gewählt  werden  soll,  wird  in  jedem  Einzel- 
falle nach  Mafisgabe  der  besonderen  Verhältnisse  und  der  Überliefentsg 
selbst  zu  entscheiden  sein.  Wählt  man  letztere,  so  wäre  meines  Er<^ 
achtens  eine  Scheidung  nach  den  einzelnen  Staodesklassen  dca*  mit 
alphabetischen  Anordnung ')  vorzuziehen ,  wie  dies  ja  viel£EKJi  in  der 
Überlieferung  selbst  sdion  erfolgt  ist.  £>ena  mit  einer  soldien  Scheidung 
werden  manche  Fragen  der  Sozial*  und  Wirtschaftsgeschichte  bereits 
von  vornherein  ins  rechte  Licht  gerückt,  ganz  abg^esehen  davon,  das 
auch  die  Edition  selbst  mit  Vereinfachuii^des  enjfcspredtenden  Kommen^ 
tares  entlastet  werden  kann. 

Einer  sachlichen  Einleitung  und  statistischer  Tabellen  wird  man 
auch  da  kaum  entraten  können,  soll  die  Veröffentlichung  mcht  wiederum 
taubes  Gestein  bleiben. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  jener  Gruppe  von  Quellen  der  älteren 
Zeit  hier  gedacht,  die  gewöhnlich  unter  dem  Kollektivbegriff  der 
Hof  rechte  susammeagefiifst  werden.  Ich  metne  jene  Aufeeichnungen 
des  XI.  und  XII.  Jalffhunderts ,  wdche  über  die  redhtKdie  Stettm:^ 


I)  VeriMfcptüchongea  der  liutodtclwo  Laadedcoanisaioo  ftr  Stoiwnark  XVII:  ^ 
kmiesfürMlMm  Jjtkm  m  akkrmaHt  mom  1421—3546  (A.  Slaratt;  1^3). 
a)  Quellen  xor  Sdxmtam  Geschichte  XV  i,  409^593.  75S— yS». 
3)  Diese  ist  in  der  steirischeo  Pablikation  (s.  o.)  too  A«  S tarser  befolgt  ^r^Mien. 

13  ♦ 


—     164     — 

der  Hintersassen  einer  Grundherrschaft  Aufechluis  geben.  Sie  können 
verschiedenen  Charakters  sein.  Verschieden  nach  dem  Objekt ,  das 
sie  betreffen ;  verschieden  auch  nach  dem  Zwecke,  den  sie  verfolgen  '). 
Indem  dadurch  häufig  die  Abgaben  und  Leistungen  an  die  Grund- 
herren, oder  die  gegenseitige  Rechtsstellung  verschiedener  Klassen 
der  Hintersassen  fixiert  erscheint,  bieten  sie  eine  wichtige  Ergänzung-  zu 
dem  aus  den  früher  besprochenen  Quellen  zu  gewinnenden  statistischen 
Material.  Hier  ruhen  vielfach  die  Verbindungsglieder  zum  Verständnis 
der  dort  gefundenen  Grundlinien. 

Die  Zahl  dieser  älteren  „Hofrechte"  ist  nach  unserer  heutig-en 
Kenntnis  nicht  gerade  grofs.  Aber  eine  systematische  Sammlang 
würde  vermutlich  ein  ganz  bedeutendes  Ergebnis  zeitigen,  sofeme  man 
der  Eigenart  ihrer  Überlieferung  entsprechende  Beachtung  schenkt 
Denn  nicht  wenige  davon  sind  in  Form  von  Urkundenfälschungen 
auf  uns  gekommen  und  wollen  aus  diesen  erst  gehoben  sein.  Besonders 
geistliche  Grundherrschaften  haben  solche  Ordnungen  im  XII.  Jahr- 
hundert anfertigen  und  in  die  Form  von  Königl.  Privilegien  der  Vor- 
zeit —  Merowinger  und  Karolinger  waren  dafür  besonders  beliebt  — 
kleiden  lassen,  da  sie  gegenüber  der  neuen  wirtschaftlichen  und  sozialen 
Evolution,  die  zu  empfindlichem  materiellen  Drucke  gediehen  war, 
sich  nicht  anders  zu  schützen  vermochten.  Ich  habe  im  Jahre  1898, 
als  ich  aus  den  Ebersheimer  Urkundenfälschungen  ein  bisher  nicht 
bekanntes  Dienstrecht  zutage  förderte,  noch  auf  eine  Reihe  weiterer 
Fälschungen  dieser  Art  aufmerksam  gemacht ').  Seitdem  sind  noch 
einige  Quellen  gleichen  Charakters  ans  Licht  getreten  •).  Wieviel  der 
Forschung  eben  hier  noch  zu  tun  bleibt,  beleuchtet  ein  drastisches 
Beispiel  der  jüng^sten  Vergangenheit.  Das  angeblich  älteste  alemannische 
Weistum,  welches  Eb.  Gothein   auffand  und  als  dem  X.  Jahrhundert 


l)  Vgl.  darilber  G.  Seellger,  Die  saxüUe  und  poliHsehe  Bedeutung  der  Orund- 
herreehaft,  S.  193. 

3)  Die  Ebersheimer  ürkundenflüeehungen  und  ein  bieker  unbeaehtetee  Dienetreeki 
aue  dem  Xu.  Jahrh,  MiUeil.  d.  Institates  19,  577  ff.  —  Ähnlichen  Chmrakters  sind  offen- 
btr  auch  die  Hofrechte  des  Klosters  Gorze,  angeblich  vom  Jahre  765.  —  Sanerlaod, 
Die  Immunität  ran  MetXy  S.  153.    Vgl.  dasa  anch  $.'98  N.  i. 

3)  Vgl.  neben  dem  onten  S.  165  N.  i  cit  Mönohweier  WeUtein  das  Hofre^it  fftr 
Iaj,  einen  Fronhof  der  Kölner  Kirche,  das  Oppermann  (Krii.  Stud,  x,  älteren  Kokser 
Oteeh.,  Westdeatsche  Zeitschr.  3i,  104)  nachgewiesen  hat  —  Endlich  ist  auch  daa  as- 
gabUch  ^de  des  X.  Jahrh.  provozierte  Weistum  über  die  RechtssteUong  der  Passaaer 
Familia  dem  Marl^grafen  in  der  Ostmark  gegenüber  (Ufi.  von  St  Polten  i,  3  N.  ^ 
dne  Filschnng  des  XIL  Jahrh.  Vgl.  die  bei  Haber,  Österr.  Gesch.  i,  178  N.  i  dt 
Literatar. 


J 


—     166     — 

zugehörig  publizierte  ') ,  ist  nichts  anderes  als  eine  solche  Ordnung; 
und  gehört,  wie  die  Forschungen  Zeumers  *)  und  Bloch-Wittichs ') 
dargetan  haben,  ebenso  in's  XII.  Jahrhundert.  —  Nur  durch  eine 
kritische  Edition  dieser  Quellen  kann  eine  zutreffende  chronolc^rische 
J^nordnung  derselben  gesichert  und  erst  auf  Grund  dieser,  sowie  einer 
systematischen  Sammlung,  deren  richtige  Bewertui^  für  die  Dar- 
stellung mittelalterlicher  Agrargeschichte  ermöglicht  werden. 

Man  wird  die  ernste  Mahnung  nach  sorgfaltigerer  Quellenkritik^ 
welche  Bloch  anläfslich  des  eben  besprochenen  besonderen  Falles 
an  die  Wirtschaftsgeschichte  gerichtet  hat,  immer  wieder  eindringlich 
wiederholen  müssen.  Denn  „dafis  sie  bis  in  ihre  neuesten  Darstellungen 
hinein  an  der  mangelnden  kritischen  Sichtung  des  Materiales  leidet", 
läfst  sich  für  die  älteren  Quellen  ebensowenig  leugnen,  wie  er  auch 
bereits  richtig  betont  hat,  es  werde  sich  „erst  auf  der  sachverständigen 
sorgsamen  Bearbeitung  des  Stoffes  die  rechte  Erkenntnis  unserer  Ver- 
fassungs-  und  unserer  Wirtschaftsgeschichte  aufbauen'*  lassen  ^). 

Ich  habe  diese  Gruppe  absichtlich  an  den  SchluDs  gesetzt,  weil 
ich  mir  vorstelle,  dafs  für  sie  nach  deren  Umfang  und  Verbreitung 
eine  besondere  Möglichkeit  der  Veröffentlichung  vorhanden  wäre. 
Traditionsbücher,  Urbare  und  Lehenbücher  fallen,  innerlich  zusammen- 
hängend, in  den  Kreis  der  Aufgaben  landesgeschichtlicher  PublUcations- 
institute.  Nur  von  ihnen  ist  auch  mit  entsprechender  Teilung  der 
Arbeit  eine  Bewältigung  der  ^rofisen  Aufgabe  zu  erhoffen.  Die  Ge- 
samtzahl dieser  sogenannten  Hofrechte  aus  der  älteren  Zeit  pCI.  und 
XII.  Jahrhundert)  würde  meines  Elrachtens  blofs  einen  mäfsigen  Quart- 
band füllen.  Sollten  die  Mon.  Germ.  Historica  zu  gewinnen  sein, 
dafür  etwa  in  der  Abteilung  Legea  eine  Heimstätte  zu  eröffnen,  so 
würden  diese  über  weite  Gebiete  West-  und  Süddeutschlands  hin  auf- 
tretenden Rechtsquellen  die  würdigste  und  wirksamste  Publikationsstelle 
gefunden  haben. 

Dies  meine  Vorschläge.  Ich  habe  dabei  nur  des  Nächsten  ge- 
dacht. Die  gröfseren  Aufgaben,  welche  die  Agrargeschichte  des 
Mittelalters  noch  zu  lösen  hat  —  eine  wissenschaftlich  halbwegs  be- 
gründete Bevölkerungsstatistik,  die  Darstellung  der  äufiserst  komplizierten 

i)  Jura  cutiae  in  Munekwüare,  Das  älteste  aiMnannitche  Weistnm  (Boooer  Uni?.« 
Progr.  1899). 

2}  Dom  angeblieh  älteste  alamannieehe  Weieium,    Neues  Archiv  25,  807  ff. 

3)  Die  Jura  euriae  in  Munchunlare.    Zeitichr.  fttr  Gesch.  des  Oberrhems,  N.  F. 

I5i  391  ff. 

4)  A.  a.  O.  S.  414. 


—     166     — 

Meüologie  und  eine  Geschichte  der  Preise  —  liegen  heute  noch  ferne. 
Sit  können  dereinst  in  Angriff  genommen  werden,  wenn  diese  QneOen 
wirklich  gehoben  sind. 

Die  zweite  Hälfte  des  XK.  Jahrhunderts  hat  eine  ungeahnte  Ver- 
tiefung in  der  Erkenntnis  geschiditlicher  Vorgänge  des  sogenanntem 
MRttelalters  gezestigt,  indem  man  die  Lehre  von  der  kritischen  Behandlong 
der  Geschichtsquellen  aufnahm  und  besonders  jene  der  Urkunden  in 
substiister  Weise  entwickelte.  Was  vermag  ein  modemer  Diplomatiker 
nicht  aus  Urkundenformeln  zu  erschließen,  die  vordem  gänzlich  belai^- 
los  erschienen!  Da&  eine  systematisch-kritische  Behandlung  der  bisher 
▼emachlä&igten  agraigeschichtlichen  Quellen  in  ähnlicher  Weise  aitdi 
methodologische  Forschritte  für  die  Erkenntnis  wirtschaftsgeschic^tlicfaer 
Zusammenhänge  mit  sich  bringen  wird,  steht  sicher  zu  erwarten  *)  und 
kann  heute  schon  nicht  mehr  Prophezeihung  sein. 


Wie  dber  sind  nun  diese  weit  ausschauenden  Vorschläge  zu  ver- 
wirklichen?    Die    praktische  Durchführung*)  derselben   wird   in   den 
Einzelheiten    naturgemäfs    nach   den   verschiedenen   Territorien    eine 
verschiedene   sein.     Die  Besonderheiten    der  Entwickelung    wie    der 
Überlieferung  werden  da  einen  bestimmenden  Einflufs   ausüben.     Die 
erste   und  dringendste  Vorarbeit  aber  mufe  allüberall  sein,   eine  Ver- 
zeichnung des  überhaupt  vorhandenen  Quellenmateriales  herzustellen. 
Es  ist  wünschenswert,  dafs  man  dabei  nicht  allzu  oberflächlich  vorgehe. 
fßcht  auf  die  Feststellung  der  äufseren  Form  ihrer  Überiiefening  srfl 
sich  diese  „Quellenkunde"  beschränken,   nähere  Angaben  über  den 
Inhalt  der  Etnzelquellen  und  deren  wirtschaftlich-rechtlichen  Charakter 
werden  besonders  wertvoll  sein.    Denn  auf  Grund  dieser  Verzeichnisse 
wird  man  dann  die  Veröffentlichungen  selbst  erst  zutreffend  gestalten 
können.     Es  kann  und  soll  ja  nicht  alles  publiziert  werden.     Das  ist 
auch  gar   nicht  notwendig,   falls  eine  Auswahl  das  wirldidi  wertvolle 

l)  Besonders  wertvolle  Aufschlüsse  verspreche  ich  mir  n.  «.  tod  sjstemmtischcB 
Untersachangen  der  in  Urbaren  eoUialtenen  Zinsangaben.  Da  sich  (mindestens  in  Osttr- 
reich)  die  Beobachtung  machen  läfst,  dafs  der  Inhalt  dieser  Zinse  ein  nach  der  rechtlichen 
Qualität  des  Besitzes,  aber  auch  nach  der  sozialen  Zagehörigkeit  des  Zinsenden  Ter^ 
schiedener  ist,  wird  man  eben  aas  den  Zinsangaben  einen  RttckscMafs  aaf  die  rechtliche 
Notar  des  ZinsrerhSItnisses  «och  dort  gewinnen  können,  wo  direkte  arkondUche  Zeugnisse 
dafür  fehlen.  Vgl.  österr.  Urbare  L  i,  LXXXVIII»,  dazn  Text  S.  34  N.  iio;  35  N.  Iii, 
sowie  CLVn*  nnd  daza  Text  S.  78  N.  314. 

a)  I>ie8e  Aasfthnragen  worden  Tom  Verfasser  z.  T.  in  der  Konferenz  Icode^etchichto 
lieber  Pablikationsinstitnte  vorgetragen,  die  gleichzeitig  mit  dem  8.  Peatschen  Ifistorikcr- 
tage  in  Salzborg  stattfand. 


J 


—   1#I   — 

und  für  die  Entwickelung*  bedeutsame  Material  bietet.  Dann  kann 
vieles  roD  deo  mbkdtt  belangmcl^n  Quetten  duM  m  EiipiiUnmgs- 
zwecken,  gewissermafsen  als  w^iteirq  Belege  für  dieselbe  Sache,  ver- 
wendet werden  (in  Anmerkungen  oder  der  Einleitung). 

Diese  Auswahl  wird  fUr  die  altere  Zeit  leichtor  sein  schon  deshalb, 
weH  da  überhaupt  weoigor  Quellen  dieser  Art  erhalten  suid.  Hier 
dürfte  sich  formell  in  der  Regel  eme  vollständige  Edition  derscilbeja 
eoq^fehlen.  Eine  Auswahl  wird  hier  nur  sachlich  am  PlatzQ  sein,  dals 
n^an  vor  allem  solche  Grundherrscbafiten  ins  Auge  fafst,  deren  qualitative 
und  quantitative  Bedeutung  für  die  agrargeschichtliche  Entwickelung 
eiaes  Territoriums  besonders  charakteristisch  gewesen  ist.  Urbare 
des  Landesherren,  der  Bistümer  und  reichsunmittelbaren  Grundherren 
(geistlichen  oder  weltlichen  Charakters,  von  Reichsabteien  und  Reiche- 
grafengescblechtern)  werden  da  zunächst  zu  bearbeiten  sein.  Daneben 
mögen  bei  der  Auswahl  auch  die  in  den  natürlichen  Wirtschailsbedin- 
guagen  gelegenen  Unterschiede  berücksichtigt  werden.  Neben  Grund- 
henschaften,  deren  Besitz  sich  vornehmlich  auf  ebenen  Boden  ausbreitete, 
werden  solche  erwünscht  sein,  die  im  Gebirge  reich  begütert  waren. 
Auch  die  Verschiedenheit  der  ökonomischen  Position,  sei  es  an 
widtitigen  Verkehrslinien  (Flüssen,  Palsübergängen  etc.\  oder  ringsum 
groüse  Städte,  wird  bei  Auswahl  der  Grundherrschaften  Beachtung 
verdienen,  um  instruktive  wirtschafüiche  Antithesen  zu  gewinnen« 

Für  die  jüngere  Zeit,  etwa  vom  XV.  Jahrhundert  ab,  dürfte  eine 
vollständige  Wiedergabe  der  Texte  kaum  immer  nötig  sein.  Auch 
die  agrargeschichtlicheiv  Quellen  nehmen  ja  da  in  einer  solch  enormen 
Weise  zu,  dafis  deren  Bewältigung  immer  schwieriger  wird.  Allerdings 
wird  vielfach  auch  die  Wirtschaftsführung  und  Verwaltung  dieser  Grund- 
herrschafiea  meines  Erachtens  schematischer,  gleichartiger  denn  zuvor« 
Wir  können  sie  zudem  eben  ob  dieser  Fülle  des  Schreibwerkes  in 
der  jüngeren  Zeit  deutlicher  fassen  und  analysieren.  Urbarialien  dieser 
Periode  werden  dementsprechend  nidit  sekea  bloft  in  Aussägen  oder 
mit  Zusammenstellung  ihres  Inhaltes  in  Tabellenform  zu  verdflfent- 
licben  sein. 

Aliüberall  aber  dürfte  endlich  eine  Kürzung  bei  der  Wiedergabe 
solcher  Quellen  dadurch  möglich  sein,  dafe  man  die  zahkeic^n  Geld-« 
und  Mafsangaben  in  abgekürzter  Form  zum  Abdrudc  bringt  und  ebenso 
auch  die  Masse  der  einen  breiten  Raum  t^anspruchenden  römischen 
Zahlzeichen  in  die  ohnedies  deutlicheren  arabischen,  Ziffern  umsetzt. 


^^^^I^^^^^^^^^»V^^^^^^>^^» 


—     168     — 

Die  Ausgestaltung  der  Denkmäler- 

verzeiehnisse 

Von 
Max  Wingcnroth  (Karlsruhe) 

Gleich  im  ersten  Jahrgange  der  Deutschen  GeschicktMätter  wurden 
die  bis   dahin  erschienenen  deutschen  Denkmälerverzeichnisse    durdi 
E.   Polaczek   einer  Gesamtbetrachtung  unterzogen  ^) ,    wobei   er    auch 
einige  Grundsätze  (lir  deren  einheitliche  Gestaltung  festlegte.  Die  Publi- 
kationen haben  unterdes,   wenn  auch  etwas  langsam,   ihren  Fortgang 
genommen    und    sind    in    diesen    Blättern    durch    die    gleiche    Feder 
gewürdigt  worden.     Die  Fragen  über  die  Ausgestaltung  der  Inventare 
aber  haben  auf  den  Denkmalspflegetagen ')  seit   fünf  Jahren  teils  in 
öffentlichen  Sitzungen,  teils  in  gemütlichem  Zusammensein  reichlich^ 
Erörterung  gefunden,,  und  nicht  minder  in  den  verschiedensten  2^itschriften 
gelegentlich  der  Besprechung  neu  erschienener  Bände.    Endlich  sind  in 
einer  Broschüre,  welche  aus  Beratungen  von  Kunstgelehrten  und  Prak- 
tikern der  Denkmalpflege  hervorgegangen  ist,  die  Grundsätze  für  die 
formale  Gestaltung  der  Kunstdenkmälerverzeichnisse  in  den  preu(sischen 
Provinzen  ziemlich  bis  ins  emzelne  festgelegt  worden  •).    Es  mag  daher 
nicht  unzeitgemäfs  sein,  auch  in  diesen  Blättern  einmal  die  Aufjgaben 
der   Inventare   und   die   daraus    sich    ergebenden  Forderungen    einer 
kurzen  Untersuchung  zu  unterziehen.     Wir  befinden  uns   dabei   sofort 
auf  festem  Boden,  wenn  wir  den  Ursprung  aller  Denkmälerverzeichnissc 
zum  Ausgangspunkt  unserer  Betrachtung  machen. 

Es  kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dafs  dieser  Ursprung  zu 
suchen  ist  in  dem  Interesse  an  der  Erhaltung  der  Denkmäler. 
Überall,  wo  dies  envacht  war,  da  war  das  nächste  Bedürfnis,  sich 
einen  Überblick  über  die  zu  erhaltenden  Denkmäler  zu  verschaflTen. 


i)  Deuiseke  Oeschdekisbläiter,  L  Bd.  S.  270 ff.  sowie  3.  Bd.,  S.  137—144. 

3)  S.  die  Protokolle  der  Ta^  flir  Denkmalpfl^e,  insbesondere  dms  des  ersten  Ta^es, 
Sept.  1900,  (Berlin,  Mittler  &  Sohn)  S.  22,  wo  Garlitts  Thesen  über  die  Aufgaben  der 
InTentare  und  die  daran  sich  anknüpfende  Debatte  wiedergegeben  sind.  In  dieser  Zeit* 
Schrift  wurde  Über  diese  Tagungen  kurz  berichtet,  2.  Bd.,  S.  59 — 60,  3.  Bd.,  S.  61—63, 
4.  Bd.,  S.  55—58,  5-  Bd.  S.  56—59. 

3)  Die  finrmaie  Oe$taUung  der  Kunädenkmälerverxeieknuee  der  pre^ßieekem 
Brovinxen.  Wiih.  Ernst  &  Sohn,  Berlin  1902.  (Auch  in  der  Zeitschrift  „Die  Denkmal- 
pflege*', Jahrg.  IV,  6.  August  1902).  Ee  darf  hierbei  rielleicht  auch  auf  die  Bemühungen  des 
Freiherrn  t.  Aufsefs  erinnert  werden,  der  innerhalb  des  Generalrepertoriums, 
das  einen  wesentlichen  Teil  des  Germanischen  Nationalmnseums  bilden  sollte,  aach  an 
eine  InTentaristerung  der  KunstdenkmiUer  dachte.    Vgl.  diese  Zeitschrift  3.  Bd.,    S.  264. 


—     16«     — 

Da  man  nun  sehr  bald  die  Soige  für  die  Erhaltung  den  dazu  ge* 
eig^etsten  Stellen,  nämlich  den  Staats-  oder  Kirdienbehörden  über- 
trug, so  ist  von  diesen  oder  den  von  ihnen  eingesetzten  Kommissionen 
sogleich  die  Forderung  nach  Inventaren  erhoben  worden.  Zunächst 
wurde  dabei  wohl  nur  an  die  Herstellung  schriftlicher  Inventare  ge- 
dacht; auf  die  Notwendigkeit,  solche  anzul^en,  hat  Schinkel  bereits 
l8 15/16  hingewiesen  und  mit  richtigem  Blick  zugleich  die  besondere 
Berücksichtigung  der  beweglichen  Gegenstände  empfohlen.  Im  Jahre 
1842  wurde  dann  in  Preulsen  die  Herstellung  eines  Inventars  durch 
den  König  gebilligt  ^)  und  zunächst  die  Ausfüllung  gewisser  Formulare 
durch  die  berufenen  Personen  unter  BeihUfe  der  Ortsbehörden  verfügt 
Schon  50  Jahre  früher,  1798  %  war  in  der  Schweiz  der  Beschlufs  ge- 
faxt worden,  eine  ausführliche  Beschreibung  aller  alten  Monumente 
anzufertigen,  eben  als  Grundlage  für  ihre  Erhaltung ;  in  Baden  hat  gar 
schon  1756  das  Kirchenratskollegium  der  Markgrafschaft  Baden-Dur- 
lach  Erhebungen  über  die  Kunstwerke  veranlafst,  sowie  die  Anfertigung 
von  Beschreibungen  und  AbbUdungen  derselben,  welche  sodann  zu- 
sammengestellt und  veröffentlicht  werden  sollten ;  die  gleichen  Gründe 
führten  in  Frankreich,  in  Dänemark  hierzu  und  so  fort  bis  zu  den 
neuesten  Bestrebungen  Spaniens  und  Rufslands.  Da  indes  die  ad- 
ministrative 2^ntralbehörde  unmöglich  allein  die  Sorge  für  die  Er- 
haltung tragen  kann,  so  tauchte  schon  früh  der  Wunsch  auf,  die  In- 
ventare zu  drucken  und  dadurch  allen  denen  zugänglich  zu  machen, 
welche  zur  Mithilfe  berufen  sind,  also  den  Pfarrern,  Lehrern,  Lokal- 
behörden u.  a.  m.  Das  Bestehen  eines  gedruckten  Inventars  ist  ferner 
oft  schon  an  sich  ein  Schutz  gegen  die  Verschleuderung  vieler  Stücke. 
Nie  jedoch  darf  es  als  das  letzte  Ziel  gelten,  da(s  der  Staat  durch  ad- 
ministrative Maisregeln  oder  durch  die  Gesetzgebung  für  die  Monumente 
sorgt,  das  Ideal  besteht  vielmehr  darin,  die  Nation  allmählich  zu  einem 
derartigen  Verständnis  der  Denkmäler  heranzuziehen,  dals  man  — 
paradox  gesprochen  —  schliefslich  die  Fürsorge  ihrem  selbständigen 
Handeln  überlassen  könnte.  Diesem  Erziehungswerk  müssen  die  In« 
ventare  dienen,  sie'  müssen  der  Bevölkerung  den  Wert  ihres  Besitzes 
klar  machen,  den  Wert  auch  des  einfachen  Stückes')  für  die  Ge- 
schichte  der  Heimat.      Dazu    sind    die  sie  auch   in  hervorragendem 

i)  E.  Wnssow,  Die  ErhaUung  der  Kunstdenkmäler  in  den  KuUunUuüen  der 
Otgemcart,  Bd.  I  md  n.     (Berlin  1885.) 

2)  S.  Festgabe  auf  die  Eräffmmg  det  eekweixer,  Landeitnuaeume,  (Zürich  1898.) 
Emkitiing,  sowie  Denkmalpflege,  Jahfg.  I,  S.  53. 

3)  VgL  Garlitt  uf  dem  ersten  Deakmalpflegttag  n.  a.  O.  S.  25. 


—     ITO     — 

Ma&e  geeignet.     D«oii   während  di«  KuBstgescbiclile,    deven    i 
ziirftigen  imd  zünftigfen  Veitretem   im  XIX  Jabhundert   maa   ji 
£rw<eckun|f  des  Interesses  gewifii  zu  danken  bat,   steh  doch    »n^ 
den  bedeutenderen  oder  für  die  Entwickelong  irgendwie   ¥ 
Stücken  befassen  kann,   bat  das  Inventar  die  MögKcbkeit,    au 
Werke  des  Altertums  einzugehen.    In  diesem  Sinne  wurde  bei  d 
nennung  Quasts  zum  Konservator  in  Preufeen  (1843)  ^^^  ^^  Wert 
der  unbedeutenden  Sachen  hingewiesen;  gerade  durch   ihre  Be 
sichtigung  glaubte  man  hoffen  zu  dürfen,  nicht  nur  den  V^rwal 
behörden  das  nötige  Hilfsmittel  zu  geben,  sondern  auch  den  gesc 
liehen  Sinn   überall  zu  wecken,   kurz:   den  berufenen  Persoaen 
Grundlage  zu  bieten  für  die  Erhaltung  der  DenkmUer,  der  Bevolk 
die  Anregung,  im  gleichen  Sinne  zu  arbeiten,  das  ist  die  Haaptatofj 
der  Verzeichnisse, 

Dafs  auch  heute  die  Gefahr  ftir  die  Denkmäler  der  Vorzeit 
gTofa  genug  ist,  um  so  drohender,  je  später  eine  rationelle  Denkai^ 
pflege  auf  Grund  eines  Inventars  möglich  wird,  darauf  brauche  1 
nicht  näher  einzugehen;  maxi  stelle  sich  nur  einmal  vor,  was  « 
jener  Schinkelschen  Anregung  in  Deutschland  verloren  oder  ins  An 
land  gegangen  und  zerstört  worden  ist.  Deshalb  hätte  die  cfs 
Forderung  an  alte  Inventarisationen  sein  müssen  und  muCs  es  hev 
noch  sein:  möglichst  schnelle  Vorlage.  Des  weiteren  ist  a 
absolute  Vollständigkeit  zu  sehen.  Da  wir  beute  nach  de 
vielen  Wandlungen  des  Geschmackes  glücklich  so  weit  sind,  ein  Wa 
des  Barock  nicht  von  vornherein  geringer  zu  achten,  als  eines  d< 
Gotik,  da  wir  femer  grundsätzlich,  vom  Standpunkte  der  Denkma 
pflege  aus  jedes  Werk  früherer  Zeiten,  das  den  Charakter  sei« 
Epoche  trägt  oder  als  geschichtliches  Monument  irgendwelche  Bc 
deutung  hat,  der  Erhaltung  für  wert  erachten,  so  muis  eben  aiic 
das  einfachste  Stück  in  dem  Inventar  genannt  sein ;  es  kann  hier  pei 
sönlichem  Ermessen  kein  Spielraum  gelassen  werden.  Selbstverstind 
Hch  kann  man  sich  bei  minder  wichtigen  Stücken  mit  emer  knappe 
Notiz  begnügen.  Im  übrigen  ist  eine  klare  Beschreibung  zu  verlanget 
die  alles  zur  Orientierung  über  den  Bestand  Nöt^e  enthält;  endltd 
das  Mals  von  Illustration,  das  hierfer  erforderiich  ist.  Das  stml  ts 
allgemeinen  die  Forderungen  der  Denkmalpflege  an  das  Inventar,  hmte 
denen  alle  übrigen  Wünsche  zurückstehen  müssen  ^). 


i)  Daft  da»  oben  AnftgefUlkrtt  (He  hMptslcklidiste  A«%abe  der  Immmftwr^  »ei,  wir 
TOD  den  mebteo  InventarisatioDen  Mierkannt.  Siekt  «.  ft.  die  Vorrede  n  d«B  K«M 
denkmileni  der  RhefnpfOTins  Bd.  I,  die  Kenit-  «ad  CreMkichttdeAkaalUr  -^m  Qro61 


—     WJ     — 

lite  ji  Es  ist  9btx  Ickkt  eiazuBehen ,  dais  man  bei  Heraosgabe  eines 
D^B  aolcheii  Werkes,  das  aocb  bei  kürzester  Fassung  sehr  oä^mhaAe  Kostea 
(jj  ^^  verursacht,  soweit  möglicfa,  die  Wünsche  weiterer  Kreise  zu  befriedigeii 
^g  Micht,  schon  allein  um  die  Absatzfabigkeit  der  PubSkation  zu  erhöhen. 
1^  Darüber  l»naus  ist  das  Interesse  der  Wissenschaft,  zunächst  also  das 
^^j  der  Kuns^escbichte,  zu  wahren,  welcher  die  Inventare  erst  die  gerade 
^j^l  für  Deutschland  so  sehr  herbeigesehnte  Grundlage  bieten^);  dazu 
,'  kommen  die  Wünsche  der  Künstier,  besonders  der  Architekten,  die 
in  dem  Buch  Anregung  für  ihr  Schaffen  suchen  *),  und  nicht  zuletzt 
die  des  Historikers,  der  ohne  der  künstlerischen  Bedeutung  jedes 
einzelnen  Werkes  Gewicht  beizulegen,  dieses  an  sieb  als  Denkmal 
einer  bestimmten  Zeit  betrachtet  und  vor  allem  eine  genaue  zeitliche 
Bestimmui^  seines  Ursprungs  braucht.  Eine  etwas  gröisere  Ausführ- 
lichkeit verbunden  mit  einer  möglichst  reichen  Uhistratioii  wird  aber 
Su  alle  diese  Kreise  das  Weiic  erst  brauchbar  machen.  Beides  bt 
zugleich  auch  nötig,  wenn  die  Inventarisation  dazu  beitragen  soll,  in 
allen  Schichten  das  Interesse  für  die  Zeugen  der  Vorzeit  und  ihre 
Pflege  zu  erwecken.  Von  diesem  Standpunkt  aus  mtab  jedoch  — 
und  das  kollidiert  etwas  mit  der  zuletzt  erhobenen  Forderung  -^  auf 
möglichste  Billigkeit  des  emzelnen  Bandes  gedrungen  werden.  Man 
sieht,  es  ist  viel  gegeneinander  abzuwägen,  will  man  den  für  die  In* 
ventarisation  richtigen  Weg  vorzeicfanen. 

Das  Wichtigste  ist  jedenfalls  die  möglichst  rasche  Voll- 
endung. Davon  hängt  es  ab,  wie  weit  die  aiKleren  Forderungen  be- 
friedigt werden  können,  vor  allem  also  von  den  zur  Verfügung  stehen- 
den Mitteln.  Selten  oder  nie  sind  diese  so  unermefslich,  dafs  man 
Bnzäbfige  Kräfte  zur  Verfügung  hat  und  somit  das  Werk  auf  txeitester 
Girundlage  ausführen  kann.     Gewöhntich  handelt  es  sich  darum,  nach 


^      Mecklenbirg-Schwerin  Bd.  I  (besonders  die  Ansütze  zur  Iiht.  im  JaKre  iSii).    Der  Slaod- 

'J      pvnkt  ist  in   der  Denkmalpflege  Jahrg.  I,   S.  34   ton  Cohte  scharf  präzisiert  worden. 

^  Anders  ist  der  später  ansaiHhrende  Standpunkt  Bickells,  sowie  der  a«a  gßaz  anderen 
Bedingungen  beraosgewachsenen  Schweizer  Inveniarisaüon.  Anders  vor  allem  die  bajeriscbe 
Ansicht:  „Das  Inventar  kann  über  das,  was  za  erbalten  ist,  keinen  erschöpfenden  Ober- 

^  blick  geben"  (Hager  aaf  dem  ersten  Denkmalpflegetag,  Dresden  1900,  ProtokoU  S.  29). 
D^agegen  steOen  die  Gurlit «sehen  Thesen  diesen  Zweck  allen  anderen  veran.  (S.  eben- 
daselbst S.  3  2.) 

I)  Siehe  daza  die  „Ban-  nnd  Knnstdenkmäler  Westfalens <<,  i.  Band,  Kreis  Löding^ 
hansen.  Vorwort,  ebenso  das  Vorwort  zu  Bd.  I  der  Konstdonkmaler  4er  Rheinprovinz, 
KsMtdeaknäler  des  Grofsh.  Bade«  Bd.  I,  Vorwert  S.  O  n.  Gnrlitt  a.  a.  O.  S.  33. 

3)  ArchüahUn,  die  ütsk  mit  der  Geschichte  der  Archilektar  bellMseo^  sind  in  dieser 
TMigkeit  oaMrUch  KwMthistorfter  und  deehalb  unter  diesen  mit  eiabegriffeo. 


—    tu    — 

aicht  albsu  reicheo  Mitteln  die  Grenzen  ztt  bestimmen,  innerhalb  deren 
eine  rasche  Durchführung  möglich  ist.    In  einem  kleinen  Lande    wie 
Schaumburg-Lippe  könnte  leicht  so  ziemlich  allem  Genügre   ge- 
leistet und  das  Werk  doch  rechtzeitig  vorgelegt  werden.     Auch 
den  Reigen  beginnende  Inventar  des  Regierungsbezirks  Kassel 
rasch  zu  vollenden,   kann  aber  schon  lange  nicht  mehr  als  Muster 
gelten.     F.  X.  Kraus  hat  dann  in  Elsafs-Lothringen  den  Beweis 
geliefert,  dais  man  selbst  in  einem  so  grofsen  und  reichen  Territorium 
in  absehbarer  Zeit  (in  i6  Jahren)  die  Arbeit  bewältigen  kann.     Darin 
liegt  ein  Hauptverdienst  des  Werkes,   dessen  Mängel   durch   die  Art 
seiner  Entstehung  leicht  zu  erklären  sind.    Eine  Neubearbeitung-,   nut 
der  bei  allen  Inventaren  zu  rechnen  ist,  kann  sie  beseitigen,  zunä<dut 
haben  wir  aber  doch  einmal  den  wünschenswerten  Überblick.    So  war 
es  auch  unbedingt  das  richtigste  von  Lutsch,  bei  der  Knappheit  der  in 
Schlesien  vorhandenen  Mittel,  vorerst  die  Beschreibung  ohne  AbbS- 
dungen  zu  drucken,  und  später,  sobald  es  möglich  war,  die  Illustration 
in  Gestalt  eines  ja  sehr  schön  ausgefallenen  dreimappigen  Atlasses  nach- 
folgen zu  lassien,  dessen  einzelne  Tafeln  handlich  sind  und  sich  des- 
halb beliebig  im  Unterricht  und  bei  Vorträgen  verschiedenster  Art  als 
Anschauungsmaterial  verwenden  lassen.   Wie  Lutsch  selbst  sich  geäuüseit 
hat  ^),  kam  es  ihm  vor  allem  darauf  an,  eine  Grundl^e  zu  schaffen,  auf  der 
fufsend  die  Pflege  der  Denkmäler  wirksam  in  die  Hand  genommen  werden 
könnte.    Wir  müssen  dad  insbesondere  z.  B.  dem  bayerischen  Standpunkt 
gegenüber  für  das  allein  Richtige  halten.    In  Bayern  ist  eine  Vollendung 
des  Werkes  wohl  vor  40  Jahren  nicht  zu  erwarten,  da  für  den  einen 
Regierungsbezirk  Oberbayem  schon  über  12  Jahre  nötig  waren.    Was 
nützt  da  der  herrlichste  Büderatlas!    Bei  den  raschen  Fortschritten 
der  Wissenschaft  und  der  Illustrationstechnik  werden  die  ersten  Bände 
längst  veraltet  sein,  ehe  der  letzte  erscheint.     Und  gerade  in  Bayern 
ist  ein  Inventar  so  dringend  nötig.    Deshalb  haben  verschiedene  denk- 
malreiche Städte,  wie  Nürnberg  und  Rothenburg,  eine  Art  Vorinventari* 
sation  von  sich  aus  in  die  Hand  genommen;  daneben  ist  es  dann  sehr 
zu  begrüfsen,   wenn  über  wichtige  Baudenkmäler  mit  ihrem   reichen 
Inhalt  Sonderpublikationen  erscheinen,  wie  uns  gerade  eine  über  Eb- 
rach ')  vorliegt,  in  welcher  ein  vorzügliches  Abbildungsmaterial  bet- 
gebracht wird. 

i)  J>enkiiuapflcge  Jabi^g.  I,  S.  56. 

fl)  Du  KioBterkittke  »u  Mraeh  tod  Dr.  Joh.  Jaeger  (Stabelscher  Veriag,  Win- 
bwrg  1903).  Der  Verfasser,  seit  langen  Jahren  Geistlicher  an  der  in  den  ettjemaligeo  Kloster- 
gebänden  nntei^gebrachten  Anstalt,  hat  sich  mit  aafserordentlicher  Liebe  in  die  Geschichl« 


—     178    — 

Vollständigkeit  —  aoweit  sie  bei  einer  ersten  Bearbeitung, 
den  ZußUligkeiten  derselben  und  der  Unzulänglichkeit  aller  Menschen- 
kraft überhaupt  möglich  ist  —  lautet   die  zweite  Forderung,   die  wir 
stellen  müssen,  auch  hier  im  Gegensatze  zu  dem  bayerischen  Inventar, 
bei  dem  schon  in  romanischer  Zeit  gesiebt  wird,  je  später  desto  stärker. 
Die  Mehrzahl  der  Inventare  nimmt  den  entgegengesetzten  Standpunkt 
ein.     GroOse  Meinungsverschiedenheit  herrscht  dagegen  über  die  zeit- 
liche Grenze,  die  für  die  Aufnahme  in  das  Inventar  ma&gebend  ist, 
AO  in  erster  Linie  darüber,  ob'  die  prähistorischen,  römischen  und  ger- 
manischen Altertümer  hineinbezogen  werden  sollen ;  die  meisten  Publi- 
kationen beginnen,  je  nach  den  Denkmälern  des  Landes,    mit  der 
Karolinger-  oder  Ottonenzeit.     Ich  möchte  glauben,    dafe  bei  Bau- 
denkmälern der  vorbeigehenden  Epochen  oder  vielmehr  solchen  Stücken 
überhaupt,  die  noch  in  situ  vorhanden  sind,  gar  kein  Zweifel  bestehen 
kann:  sie  müssen  ins  Inventar,  schon  deshalb,  weil  man  den  mit  der 
Denkmalpflege  beschäftigten  Behörden  schlechterdings  nicht  zumuten 
kann,  daüs  sie  für  jede  Gattung  von  Denkmälern  zur  raschen  Orientierung 
ein  neues  Buch,  wenn  nicht  gar  einen  versteckten  Aufsatz  heraussuchen 
sollen^).     Höchstens  dann  könnte  darauf  verzichtet  werden,  wenn  für 
ein  Gebiet  etwa  ein  Inventar  der  vorgeschichtlichen  Denkmäler, 
wie  es  seitens  der  Vertreter  der  Altertumsforschung  sdion   mehrmals 
gefordert  worden  ist,  bereits  vorliegen  sollte ;  dann  würde  ein  Verweis 
geni^en.    Was  die  in  Sammlungen  überführten  Stücke  betrifft  —  aus 
diesen  Perioden  wohl  die  Mehrzahl  — ,  so  ist  dafür  mafsgebend,   wie 
man  sich  überhaupt  zu  der  Behandlung  der  Sammlungen  stellt.    Mail 
wird  wohl  im  allgemeinen  den  gleichen  Standpunkt  einnehmen,  wie  die 
eingangs  zitierte  Broschüre  über  die  Verzeichnisse  in  Preufsen,  nämlich : 
„Das  Verzeichnis  hat  alle  gröüseren  und  kleineren  öffentlichen   und 
privaten  Sammlungen,    sowie  Einzelbesitz,    sofern  er  von  anerkannt 
künstlerischem  Wert  ist,  zu   berücksichtigen.     Bei  gröfseren,   öffent- 
lichen Sammlungen  mit  eigener  wissenschaftlicher  Verwaltung  genügt 

des  Klosters  Tertieft  and  in  fleifsiger  Arbeit  aUes  beigebracht,  was  Hir  die  Geschichte 
derselben  und  seiner  Bauten  von  Bedentang  ist.  Den  baageschichtlichen  Fragen,  die  hier 
ja  sehr  weit  greifen,  ist  er  vieUeicht  nicht  ganz  gerecht  geworden.  Henrorragend  ist  das 
Abbildangsmaterial,  wofür  wir  dem  Verfasser  und  der  Firma  groOien  Dank  schulden.  Was 
iigend  interessiert,  ist  im  Bild  wiedergegeben ;  die  Blnstrationen  sind,  mit  den  anvermeid- 
lichen  Ausnahmen,  durchweg  gut,  die  Ausstattung  auch  sonst  gediegen. 

])  SellMtTerstindUch  können  die  Inventare  allein  nicht  die  Grandlage  fl^  «i»«  «im. 
mrbeitende  Gutachten  ttber  die  Erhahung  bieten,  wie  das  Hager  a.  a.  0 
betont  bat.    In  vielen  FäUen  aber  werden  sie  doch  gentigen,  um  su  beurl'^' 
Stttck  einen  grofsen  Aufwand  an  Untersudrang  oder  Überhaupt  ein  Gitr 


—     176     — 

knapp  und  klar  sei.  Aber  man  wird  die  Knappheit  nicht  übertreibea 
dürfen  und  wird  der  Individualität  die  genügende  Freiheit  lassen  müssefl. 
Denn  der  Mensch  ist  keine  Maschine  und  verliert  bei  allzu  grotser 
Schematisierung  leicht  seine  Elastizität»  die  für  das  hier  und  da  wahrlidi 
recht  trockene  Geschäft  der  Inventarisation  wichtig  genug  ist.  Deshalb 
möchte  ich  auch  nicht  die  schmückenden,  allgemeinen  Beiworte  ver- 
bieten. Warum  nicht  einmal  etwas  schön  nennen,  auch  wunderschön, 
warum  nicht  einmal  seiner  Begeisterung  freien  Lauf  lassen,  wenn  nur 
die  rasche  Vollendung  nicht  darunter  leidet  und  man  damit  nicht  die 
Crenauigkeit  der  Beschreibung  ersetzen  will.  Tadelnde  Beiwörter  aller- 
dings sind  durchaus  zu  vermeiden.  Man  rede  nicht  von  einem  ge- 
ringen^ sondern  von  einem  einfachen  Werk  oder  von  einem  Werk  in 
den  üblichen  Formen  dieses  oder  jenen  Stües.  Derartige  Ausdrücke 
aber  sind  nicht  zu  vermeiden,  wenn  nicht  allgemein  ausgemacht  wird, 
durch  Weglassung  jedes  Beiwortes  eben  das  sagen  zu  wollen. 

In  der  Einzelbeschreibung  wird  man  genaue  Angabe  des  Stand- 
bezw.  Aufbewahrungsortes,  des  Materials,  der  Technik,  der  nötigen 
Mafse,  der  Inschriften,  der  2^ichen  oder  Marken,  der  Herkunft  und 
eine  möglichst  präzise  Datierung  verlangen.  Es  ist  das  —  mit  Aus- 
nahme der  beiden  ersten  Punkte  — natürlich  nur  mit  Einschränkungen 
zu  verstehen,  da  sich  sonst  die  Vollendung  allzusehr  hinauszöge. 
Man  wird  nicht  bei  jedem  Kelch  die  Mafse  angeben,  nicht  bei  jedem 
BHd,  in  gröüseren  Ländern  auch  bei  Glocken,  selbst  bei  alten  Glodcen 
nicht,  wo  nicht  in  selteneren  Fällen  eine  Zeichnung  gegeben  wird. 
Wünschenswert  wäre  das  alles  wohl,  wer  aber  weiis,  wie  zeitraubend 
schon  die  nicht  zu  umgehende  Besteigung  der  Glockenstühle  ist,  der 
wird  vernünftigerweise  diese  Genauigkeit  auf  eine  zweite  Auflage  ver- 
schieben. Auch  die  Glockeninschriflen  können  nicht  alle  gegeben 
werden.  Was  hätte  es  für  einen  Sinn,  all'  die  Hunderte  von  £iist 
gleichlautenden  Inschriften  z.  B.  der  Strafsburger  Familie  Edel  aus  dem 
XVII.  und  XVIII.  Jahrhundert  genau  abzuschreiben  ?  ^)    Natürlich  mufs  die 

i)  Hier  wäre  es  vor  aUem  Sache  der  Geistlicheo,  vielleicht  aach  der  Lehrer,  mit- 
saarbeiten.  In  den  Akten  des  Pfarrarchivs  könnte  recht  wohl  niedergelegt  sein,  welche 
Jahreszahl  und  ob  eine  Inschrift  vorhanden  ist  usw.  Aber  wie  oft  trifft  man  anch  rttstige 
GeisUiche,^  die  ihren  Kirchturm  noch  nie  bestiegen  haben.  Und  doch  wäre  es  ihnen  so 
leicht  gemacht,  ttber  Glockenknnde  sich  mm  informieren.  VgL  Bergner,  LtmdackafiL 
CRoekenkunde  in  den  Dentschen  Geschicbtsblltteni,  4.  Bd.,  S.  125  «nd  dan  Liebes- 
kind, Literatur  %ur  Ohdbmhmde  ebda.  S.  339  &  Eine  sehr  frisch  ond  aoregeod  ge- 
schriebene EinfUhmng  in  die  Materie  mit  all  ihrer  Sage  and  Poesie  besitsea  wir  seit  ksraem 
in  dem  Tkrm-  tmd  OfMken^^üeMem,  Eine  Wanderung  durch  deutsche  Wächter-  und  CUockcft» 
Stuben  von  Dr.  Karl  Bader  (Giefsen  1903,  J.  Rickers  Verlag)  mit  httbtcheo  Abbildungeu. 


—    177     — 

Tatsache,  dafii  es  eine  Glocke  gerade  dieses  Gtefeers  ist,  und  die  Jahres- 
zahl jedesmal  erwähnt  werden,  da  der  Wirtschaftshistoriker  nicht  nur  den 
g'eographischen  Umkreis,  indem  jener  lieferte,  sondern  auch  möglichst  die 
Zahl  der  in  einem  Jahre  gegossenen  Glocken  kennen  lernen  will.    Anders 
steht  es  mit  den  frühen,  seltenen  und  deshalb  wichtigen  Glocken.  Hier  sind 
selbstverständlich  sämtliche  Inschriften  genau  wiederzugeben,  in  der  Art, 
wie  überhaupt  in  dem  Werke  die  Inschriften  behandelt  werden.    Auch 
darin  herrscht  ja  groise  Verschiedenheit    Jene  Broschüre  schreibt  vor: 
„Inschriften  von  Bedeutung  seien  mit  allen  Schreibfehlern,  Abkürzungen 
und  de^leichen  anzuftihren''.    Das  rheinische  Inventar  sieht   bei  den 
gründlichen  Vorarbeiten  von  Brambach  und  Kraus  von  einer  Wieder^ 
gäbe  des  Charakters  der  Buchstaben  ab ,  da  diese  doch  immer  un^ 
zulänglich  seien.     Letzteres  ist  dann  zutreffend ,  wenn  kein  Faksimile 
der  Inschriften  gegeben  wird,  was  aber  bei  sehr  wichtigen  sowohl,  als 
bei  solchen,  deren  Zeit  nur  durch  die  genaueste  Untersuchung  des 
Charakters  der  Buchstaben  —  ich  erinnere  an  die  für  die  Baugeschichte 
so  bedeutenden   Inschriften  im  Erdgeschofs  des  Freiburger  Münster« 
tnrmes  —  ermittelt  werden  kann,   endlich  bei  solchen,    die  für  die 
Epigraphik  besonders  interessant  sind,  stets  geschehen  sollte.    Bei  den 
übrigen  Inschriften  bis  ins  XVI.  Jahrhundert  hinab,    deren  Text  in 
extenso  gegeben  werden  mufis,  ist  es,  wie  das  badische  Inventar  zeigt, 
wohl  durchführbar  und  auch  nicht  zwecklos,  den  Charakter  der  Schrift 
soweit  möglich  durch  den  Drude  zu  kennzeichnen,  aber  mit  Auflösung 
der  Abbreviaturen  selbstverständlich,  aufiser  wenn  Zweifel   über  ihre 
Bedeutung    obwalten.     Von    den    späteren    unglaublich    zahlreichen, 
redseligen  und  dabei  inhaltslosen  Inschriften  ist,  mit  Ausnahme   der 
historisch  bedeutenderen,  nur  eine  kurze  Inhaltsangabe  zu   machen, 
etwa  vorkommende  Namen  aber  und  Daten  verlangen    die    genaue 
Schreibweise  des  Originals.     Ähnliche  Beschränkungen  wird  man  sich 
auch  bei  der  Wiedergabe  der  Goldschmiedemerkzeichen,   der  Zinn- 
zeichen usw.  auferlegen.     Reine  Frage,  es  wäre  sehr  schön,   wie  es 
neuerdings  im  Königreich  Sachsen  geschieht,  sie  nach  dem  Vorgange 
Mark   Rosenbergs    faksimiliert    in    doppelter   Gröfse    wiederzugebei^- 
Allein  welcher  Aufenthalt  für  das  Ganze !     Daher  wird  man  die  Er- 
fiölhmg  dieser  Forderung  besser  auf  die  Neubearbeitung  verschieben. 
'Dsgtgtn   müssen   die  Steinmetzzeichen  vollständig  gegeben   werden, 
weil  sie  für  die  Baugeschichte  oft  sehr  wertvoll  sind,  ebenso  Künstler- 
zeichen an  Bauten  in  Photographie  oder  genauer  Zeichnung. 

Bei  Bauten  ist  eine  genaue  Baubeschreibung  und  vielleicht  ein 
kurzes  Resümee  der  daraus  sich  ergebenden  Baugeschichte  uneriäfslich. 

14 


—     178    — 

Urkundliche  Foischuogen  sind  im  allgemeinen  ausgeschloesen,  wie  aucfa 
bei  allen  anderen  G^enstanden  der  Inventarisation.     Das   ist  jedem 
von  der  Kritik  in  dieser  Richtong  gemachten  Vorwurf  g^nenüber  un- 
bedingt festzuhalten,  Kosten  und  Dauer  der  Arbeit  würden  sich    da* 
durch  ins  ungeheure  steigern  ^).    Bei  den  wichtigsten  Bandenkmälcra 
des  Landes  allein  können  derartige  Forschungen  gefordert   werden. 
Bei  ihnen  wird  auch  in  der  ganzen  Behandlung  eine  gröisere  As»* 
fiihrlichkeit  nötig,  werden  gröüsere  knnstgeschichtliche  Veigleiche  go 
stattet  sein.     Da  gibt  es  aber   meist  auch  gröisere  Vorarbeiten  tmd 
sind  vielleicht  auch  besondere  Mittel  zu  bekommen.     Ein  derartiges 
Überschreiten    der    eigentlichen    Grenzen    der    Inventarisation      mtifr 
aber   stets    im    Belieben    des    einzelnen   stehen,    da   derselbe    keine 
Aktuamatur   sein    darf,    die    nur   registriert,    er  mu(s  —   wie   schon 
betont  —  Freude    an    seiner  Arbeit   haben   und   sich    deshalb    hier 
und   da  gehen  lassen  dürfen.     So  scheint  es   mir  auch  kein  gro&ea 
Unglück,  wenn  einmal  die  Behandlung  eines  dem  Inventarisator   lx> 
sonders  lieben  Gegenstandes  aus  dem  Rahmen  des    ganzen  Werkes 
herausfällt     Der  verstorbene  verdienstvolle  Konservator  der  Provinz 
Hessen-Nassau,  B icke  11,  ist  ziemlich  der  einzige,  der  über  die  oben 
gesteckten  Grenzen  weit  hinausgegangen  ist.  Seiner  Ansicht ')  nach  sollte 
ein  Inventar  ein  Quellenwerk  sein  bestimmt,  den  Bestand  der  Denkmäler 
Cestzul^en,  und  zwar  in  Abbildung  und  Text,  so  dais  ans  ihm  auch  nach 
dem  unabweisiichen  Verlust  einzelner  in  späteren  Jahren  nodi  ausreichende 
Vorstellung  davon  zu  gewinnen  ist;  danach  sind  alleErörtcrungen  über  die 
Baugeschichte,  auch  die  Durchforschung  des  Urkundenmaterials  schon 
jetzt  anzustellen,  solange  noch  alles  dazu  Erforderliche  vorhanden  ist 
Das  ist  ein  Standpunkt,  auf  den  man  sich  erst  bei  einer  Neubearbeitung 
wird  stellen  können.    Von  ihm  aus  und  im  obigen  Sinne  mag  man  in 

i)  Danach  sind  «ach  die  Ai^riffe  abxnweison,  die  Kre  bB*Aiaorb«ch  (AleaMumia» 
N.  F.  IIl.  S.  371  ff.)  gegen  die  dritte  Abteilung  des  Bandes  IV  der  Kunstdeokmäler  des. 
Grofsh.  Badens  gerichtet  hat  Die  von  ihm  vermifste  Qnellenforschang  kann  in  keiner 
Weise  von  den  Inventarisatoren  verlangt  werden.  Eine  wertvolle  Unterstützung  würde 
ihnen  aber  zateil,  wenn  die  Anregung  Hansens  {Archive  und  Kunsigeschiehtef  Deutsche 
GeschichUbl.  Bd.  4,  S.  18  ff.)  überall  auf  fruchtbaren  Bodeo  fiele,  wenn  oSmlidi  jeder 
Forscher,  auf  welchem  Gebiete  es  auch  sei,  die  bei  der  Durchaicht  voe  Urkaodeii  s« 
anderen  Zwecken  sich  tnfiiUig  «rgebenden  kunstgeschichtlichen  Notizen,  festhielte  oad  an 
geeigneter  Stelle  mitteilte.  Wären  z.  B.  in  dem  vorbin  angeführten  Fall  die  pachtrSglich 
in  der  Besprechung  von  Herrn  Krebs  gegebenen  Notizen  aus  Urkunden  irgendwo  publiziert 
oder  signalisiert  gewesen,  so  hätte  der  Inventarisator  sie  sicherlich  mit  Freuden  benutzt 

3)  Bau-  und  Kumtdenkmäier  im  Regiemngabexirk  Qelnkmmen,  Bd.  I,  bearb^ 
von  L.  Bickell.    (ao8  S.  Teit  and  350  Tafeln.)    Vorwort 


—     179     — 

manchen  Fällen  auch  zu  Ausgrabungen  schreiten,  wenn  nur  durch  sie 
ein  sicheres  Resultat  über  die  Geschichte  des  Baues  zu  gewinnen  ist. 

Um  nun  von  der  Beschreibung  des  einzelnen  auf  d|e  Gesamt'^ 
anläge  überzugehen,  so  ist  die  Anordnung  in  den  meisten  Fällen  die, 
dafs  innerhalb  eines  Verwaltungsbezirks  die  einzelnen  Orte  alphabetisch 
aufeinander  folgen;  bei  dem  einzelnen  Ort  zunächst  die  Angabe  der 
Literatur,  eine  kurze  Geschichte  und  Angabe  der  ersten  Erwähnung 
des  Orts  und  seiner  Namensformen,  hierauf  Stadtanlage,  Befestigungen, 
Tore,  Burg,  dann  Kirchen,  sonstige  kirchliche  Gebäude,  Profanbauten, 
zunächst  in  öffentlichem,  dann  in  Privatbesitz,  endlich  Varia,  darunter 
auch  Sammlungen,  soweit  sie  nicht  bei  einem  der  erwähnten  Gebäude 
schon  behandelt  sind.  In  der  Angabe  der  Ortsliteratur  verlangt  z.  B. 
das  Inventar  der  Rheinprovinz  möglichste  Vollständigkeit,  vor  allem 
Angabe  der  handschriftlichen  Quellen,  Urkunden-  und  Aktenbestände. 
Bei  den  einzelnen  Denkmälern  wird  man  sich  dann  mit  Hinweisen  hierauf 
begnügen  können.  Die  verschiedenen  Besitzer  der  Orte  sind  anzuführen, 
womöglich  ihre  Wappen  und  die  des  Ortes  sind  in  ihren  Wandlungen  kurz 
zu  beschreiben  und,  wenn  die  Mittel  dazu  reichen,  abzubilden,  wenn  nicht 
wie  in  Baden  eine  besonderePublikation  der  Gemeinde wappen  besteht.  Eine 
wichtige  Forderung,  der  nicht  durchweg  Geni^e  geleistet  wird,  ist  die  nach 
Angabe  der  ehemaligen  kirchlichen  Stellung  einer  Kirche  (z.  B.Pfarr-oder 
Filialkirche,  Jahr  der  Erhebung  zur  Pfarrkirche  usw.)  ^),  sowie  ihres  Titels, 
bei  protestantischen  auch  des  ehemaligen  katholischen  Titels.  Bei  Klöstern 
mufs  selbstverständlich  kurz  ihre  Geschichte,  bei  Bturgen  die  ihrer  Herren 
gegeben  werden.  —  Dodi  ist  es  hier  unmöglich,  genauer  auf  die 
Einzelheiten  der  Beschreibimg  einzugehen.  Allmählich  haben  sich  feste 
Gebräuche  ausgebildet,  wie  wir  sie  besonders  in  einigen  sich  ziemlich 
ähnlichen  Inventaren  finden,  z.  B.  demjenigen  der  Rheinprovinz,  der 
Groisherzogtümer  Baden,  Hessen,  Mecklenburg-Schwerin  u.  a.;  die 
gewonnenen  Erfahrungen  haben  in  der  viel  zitierten  Broschüre  ihren 
Niederschlag  gefunden,  worauf  hier  verwiesen  werden  kann. 

Dagegen  sind  noch  zwei  wichtige  Fragen  kurz  zu  streifen,  die  der 
Illustration  und  der  Heranziehung  der  Geschichte.  Was  letzteres 
betrifft,  so  wird  man  mit  Rücksicht  auf  die  wichtigste  Forderung  — 
der  schnellen  Vollendung  —  bescheiden  sein  müssen :  soweit  es  zum 
Verständnis  der  Monumente  unbedingt  nötig  ist,  muis  man  gehen« 
darüber  hinaus  nur,  soweit  die  Veranlagung  der  Inventarisators  oder 
die  ihm  leicht  zur  Verfugung  stehenden  Hilfskräfte  es  gestatten«    Für 

t)  In  welcher  Diöxete  die  Kirche  Ug,  m  welchen  Kapitel  »ie  g^örte,  das  »t  Sit. 
die  .kimttgeschiehlliche  BearteüiiDg  oft  sehr  wichtig« 

14* 


—     180     — 

eine  Neubearbeitung  kann   mehr  verlangt  werden,   zunächst    als  Eiih 
leitung  jedes  Bandes  eine  präzise  Darstellung-  der  Geschichte  der  be^ 
handelten   Gegend,    beginnend  mit  ihrer    kurzen  topographisch-geo- 
logischen Beschreibung,  wobei  auch  die  in  ihr  vorhandenen  MateriaHen 
Steine  und  Hölzer  u.  a.  mitzuteilen  sind;  im  weiteren  Verfolg  müssen  dam 
die  Besitzverhältnisse,  die  Kirchengeschichte,   die  Vefkehrsweg-e    und 
die  Handelsbeziehungen  bis  zum  XVIII.  Jahrhundert,  oder  besser  wohl 
bis  zur  Gegenwart  geschildert   werden.     Aber  auch   hier   wird   stcö 
der  Stand  der  Forschung  auf  diesen   speziellen  Gebieten   mafj^[ebenc 
sein.     Die  Leser  dieser  Zeitschrift  wissen   am   besten,   dais   für  viele 
Gegenden  eine  Antwort  auf  die  eben  gestreiften  Fragen  nicht  so  ohne 
weiteres  zu  geben  ist    Daran  schliefst  sich  passend  eine  kunstgescbicht- 
liehe  Skizze  an,  in  welcher  der  Gang  der  Entwickelung,  die  bedeutend- 
sten Denkmäler  und  die  verschiedenen  Klassen  von  vorhandenen  Denk- 
mälern  behandelt   werden.     Die   Broschüre   will   das   an   den   Schlafs 
stellen,  weil  es  ja  eigentlich  das  Endergebnis   der  Inventarisatton   sei, 
was  zwar  richtig,  aber  doch  kein  triftiger  Grund  ist.     Viel   geeigneter 
steht  es  am  Anfang,  damit  der,  welcher  nicht  die  Zeit  hat,  den  ganzen 
Band  genau  durchzusehen,  hier  rasch  die  nötige  Orientierung  findet.  — 
Ähnliche  Einleitungen   wird   man  femer,   soweit  sie  nicht  in    der  all- 
gemeinen enthalten  sind ,   noch   den   einzelnen  Orten   mit  selbständ^ 
bedeutender  Orts-  und   Kunstgeschichte  vorsetzen.      Das    vollendete 
Inventar  mu(s  dann  seinen  krönenden  Abschlufs  finden  in  einer  frisdi 
geschriebenen  Kunst-  und  Altertumsgeschichte  des  gesamten  Landes. 
Dafs  die  Illustration  so  reich  wie  möglich  sein  soll,  ist  klar.    Als 
einschränkendes  Moment  wirken  aber  gerade  hier  die  vorhandenen 
oder  vielmehr  nicht  vorhandenen  Mittel ;  auch  darf  der  illustrative  Teil 
nicht  so  überwuchern,  dafs  schliefslich  ein  in  absehbarer  Zeit  nicht  zu 
vollendendes  Prachtwerk  aus  dem  Ganzen  wird.    Gewifs,  Bilder  sagen 
mehr  als  Worte,  aber  was  nützt  praktischer  Denkmalpflege  die  schönste 
Illustration,  wie  in  Württemberg  —  ich  meine  nur  die  friiheren,   von 
Paulus  bearbeiteten  Bände  — ,  wenn  der  Text  zwar  recht  poetisch* 
Feuilletonistisch  ist,  aber  nur  die  Hälfte  der  Denkmäler  enthlUt!     Das 
Buch  soll  doch  nicht  in  erster  Linie  ein  Vorlagewerk  für  Architekten 
und  Kunsthandwerker  sein.     Bei  den  beschränkten  Mitteln   hat   man 
deshalb  mit  geringen  Ausnahmen  von  der  Herausgabe  eines  Atlasses 
zunächst  abgesehen.     Ein  solcher  erhöht  auch  nicht  gerade   die  Be- 
quemlichkeit des  Gebrauchs.    Das  empfehlenswerte  Lexikonformat  ge- 
stattet übrigens  für  die   meisten  Abbildungen   eine  recht  genügende 
Gröise;  ich  möchte  auch  ftir  die  Zukunft  wünschen,  dafs  nur  die  Haupt- 


—     XBl     — 

werke,  welche  grolses  Format  verlangen,  im  Atlas  gegebqn  werden, 
wenn  man  nicht  für  den  Text  der  leichteren  Transportabilität  halber 
das  kleine  Ciccroneformat  wählen  will  und  dann  alle  Äbbildtingen  — 
mit  Ausnahme  der  unentbehrlichen  Grundrisse  —  ausscheidet.  Für 
die  Abbildungen  ist  als  Grundlage,  wo  es  der  Natur  des  Gegenstandes 
nach  irgend  möglich  ist,  die  Photographie  zu  empfehlen,  welche  dann, 
in  Lichtdruck  oder  durch  Netzätzung  im  Texte  wiedergegeben  wird  *). 
Letzteres  Verfahren  wirkt  ja  sicher  künstlerisch  oft  recht  unbefriedigend» 
insbesondere  in  der  Mischung  mit  der  Wiedergabe  von  Zeichnungen, 
der  Holzschnitt  stand  besser  zum  Druck,  die  Mischung  aber  ausschlieüsen 
zu  wollen,  wie  kürzlich  ein  Kritiker  ^)  gefordert  hat,  zeugt  von  gänz^ 
lieber  Unkenntnis  aller  Inventarisationswerke  und  absoluter  Verständnis- 
losigkeit  für  ihre  Aufgaben.  Daneben  sind  zeichnerische  Aufnahmen 
nicht  zu  entbehren,  sowohl  für  viele  Details  als  insbesondere  für  die 
in  reichlichster  Zahl  zu  bringenden  Grundrisse,  Querschnitte,  Längs- 
schnitte usw.  Es  ist  wünschenswert  —  bei  letzteren  Aufiiahmen  ja 
selbstverständlich  — ,  dafs  der  Illustration  möglichst  die  Mafse  bei- 
gegeben werden.  Man  wird  ferner  grofsen  Wert  legen  auf  reich- 
liche Publikation  des  wichtigen  Quellenmaterials,  welches  uns  in 
alten  Abbildungen,  Stadtbildern  und  -planen  erhalten  ist.  Endlich 
mag  es  wohl  hier  und  da  angehen,  zur  Verdeutlichung  der  Bau- 
geschichte Rekonstruktionen  früherer  Zustände  zu  bringen.  So  ist 
eine  gewisse  Buntscheckigkeit  in  der  Inventarisation  gar  nicht  zu  ver- 
meiden, und  ich  halte  es  danach  für  kein  grofses  Unglück,  manchmal 
sogar  für  wohltuend,  wenn  verschiedene  zeichnerische  Manieren  sich 
in  einem  Bande  geltend  machen. 

An  Kartenmaterial  ist  jedenfalls  zu  verlangen  eine  Karte  der 
Gegend  mit  Einzeichnung  der  alten  und  neuen  Verkehrszüge,  Grenzen  usw., 
wie  sie  sich  etwa  in  den  Denhmälerkarten  der  Pravnuf  Schlesien  (für 
jeden  der  drei  Regierungsbezirke  eine  im  Mafsstab  i  :  5ooO(X))  finden, 
und  mit  Angabe  des  Charakters  der  an  jedem  Ort  vorhandenen  Denk- 
mäler, etwa  durch  farbige  Unterstreichungen  *).  Das  wäre  die  Vor- 
bereitung für  eine  grofse  Stilkarte  des  ganzen  Landes,  schliefislich  ganz 
Deutschlands. 


i)  S.  die  Schrift:  Die  formmle  Gestaltong  etc.  a.  a.  O. 

2)  S.  Sttdwestdemtscbe  ScholbläUer  1904.     S.  258. 

3)  Aaf  den  eben  erwähnten  schlesiscben  Denkmälerkarten  (=  Verzeichnis  der 
Kmutdenkmäler  der  Provinx  Schlesien  Bd.  VI,  im  amüichen  Aaftrtge  bearbeitet  Ton 
Hans  Lntsch,  Breslan  1902)  bedeutet  rot:  romanisch,  grün:  frtthgotisch,  blaa:  spät- 
gotisch, orange;  Renaissance,  gelb:  Barock,  braon:  Holz  (Kirchen). 


—     1«2     — 

Um  dfit  die  schon  oben   berührte  Frage   des  Formats    zorück- 
2tikommen,  so  empfiehlt  sich  nach  den  bisherigfen  Erfahrungen  in  erster 
Linie  Lexikonformat  mit  etwa  19 :  12  cm  bedruckter  Fläche,  vidleicfat 
auch  ein  kleines  Taschenformat  wie  das  des  Burckhardtschen  Cicerones. 
Letzteres  gestattet  allerdings  keine  genügende  Gröise  der  AbbUduogen, 
denn  diese  über  zwei  Seiten  fortzudrucken,  wie  es  die  Broschüre  znra 
Notfall   empfiehlt,   halte  ich  für  durchaus   ungeeignet     Ein  gfröfseres 
Format  aber,  wie  es  z.  B.   das  westfälische  und  das  westprenftiscfae 
Inventar  haben,  ist  entschieden  zu  verwerfen.    Derartige  Bände  sind  ja 
selbst  im  Koffer  kaum  mitzuschleppen.    Für  die  sonstige  Ausgestaltm^ 
des  Druckes  kann  ich   wieder  auf  die  Broschüre  verweisen,    mit    der 
man  in  den  meisten  Punkten  sich   einverstanden   erklären  wird.     Vor 
allem    ist   auf  die    Lesbarkeit   des   Textes   groiser   Wert   zu    I^en; 
diese  wird  aber  sehr  vermindert,  wenn   —  wie  z.  B.  im   badisdien 
Inventar  —   die  Sätze  durch  eingeschobene  Literaturnachweise    oder 
Zitate  zerrissen  werden.     Derartiges  gehört  an   den  Anfang  oder  den 
Schlufs   des   betreffenden   Abschnittes,  wenn  nicht  gar,   wie   die    als 
Bel^e  zitierten  Werke,  in  Anmerkungen  unter  die  Seite.    Auch  dürfte 
es  sich  vielleicht  empfehlen,  den  lesbaren  Teü  durch  besondere  Typen 
auszuzeichnen.      Seitenüberschriften    sind    möglichst   genau    und    zur 
raschen  Orientierung  geeignet  zu  geben,   daneben  Randbemerkungen. 
Warum  die  Broschüre  sich   dagegen   erklärt,   ist  mir  nicht  verständ- 
lich;   ich    meine,    dafs    solche    sich    doch    in    dem    badischen    und 
hessischen    Inventar   als    recht   brauchbar   erwiesen    haben;    die    Er- 
höhung der  Druckkosten  wird  meines  Erachtens  durch  den  Vorteil  der 
gröfseren  Übersichtlichkeit  reichlich  wettgemacht.     Jedem  Bande  sind 
R^ister  beizugeben  und  zwar  mindestens  ein  Ortsregister,   sowie   ein 
Verzeichnis    der   Abbildungen.      Bei   jedem    einzelnen  Orte    die    be- 
handelten Gegenstände  mit  Seitenzahlen  anzuführen,  wäre  vielleicht  ein 
zu  grofser  Arbeitsaufwand  in  Anbetracht  des  Resultates.    Sind  es  doch 
in  den  meisten  Bezirken  oft  nur  wenige  Orte,  die  mehr  als  ein  oder 
zwei  Seiten  einnehmen.    E4n  Sachregister  würde  sich  wohl  empfehlen, 
es  fragt  sich  aber,  ob  es  nicht  am  besten  erst  mit  dem  am  Schlüsse 
des  ganzen  Werkes  unbedingt  zu   gebenden  Gesamtregister  vereinigt 
wird;  dieses   wird   dann  auch   noch   ein  Künstlerverzeichnis   enthalten 
müssen.    Ein  derartiger,  sehr  ausführlicher  Registerband  liegt  uns  jetzt 
z.  B.  für  Schlesien  vor  *),  der  zwar  etwas  umständlich  angelegt  zu  sein 


I)  Verxeiehnis  der  Kunstdmkmäkr  der  Ptavin»  SMe$ien  Bd.  Y  (BretUo,  Koro, 
1903),  812  S.  8». 


—     183     — 

scheint,  aber  eine  grofse  Arbeit  repräsentiert  und  in  den  verschiedensten 
Richtungen  Auskunft  erteilt 

Zu  allen  diesen,  nur  flüchtig  skizzierten  Forderungen  tritt  nun  noch 
die  nach  möglichster  Billigkeit  der  einzelnen  Bände  hinzu.  Sie  steht 
zu  allem  bisher  Auseinandergesetzten  in  grellem  Widerspruch.  Und 
doch  müssen  wir  dringend  wünschen,  dals  es  jedem  Einwohner  eines 
Bezirkes  leicht  gemacht  wird,  sich  die  Beschreibung  der  Denkmäler 
seiner  Heimat  zu  kaufen.  Deshalb  ist  zunächst  zu  empfehlen  die  Her- 
stellung des  Werkes  in  eigener  Regie,  der  Vertrieb  durch  Kommissions- 
vcriag ').  Daneben  die  Teilung  jedes  Bandes  je  nach  der  Einteilung 
des  Landes  in  mehrere  Hefte.  Ob  diese  emzeln  käuflichen  Hefte 
auch  der  Zeit  nach  getrennt  herausgegeben  werden  sollen  oder  die 
m  einem  Band  gehörigen  alle  auf  einmal,  weife  ich  nicht.  Bei  ersterer 
Manier  entsteht  leicht  einmal  das  Gefühl  des  Befriedigtseins  darüber, 
daCsi  wieder  etwas  herangekommen  ist,  ohne  damit  dem  endlichen 
Abschlufe  bedeutend  näher  gekommen  zu  sein.  Jedenfalls  aber  sind 
die  einzeln  in  sich  paginierten  Hefte  auch  noch  mit  den  durchlaufenden 
Seitenzahlen  des  Bandes  zu  versehen,  denn  die  Zusammenfassung  in 
ein^i  solchen  mu(s  stets  in  Aussicht  genommen  werden  *).  So  ge- 
schieht es  in  der  Rheinprovinz.  Wenn  aber  hier  den  einzelnen 
Heften  die  Ortsregister  beigegeben  werden,  dem  gesamten  Bande  aber 
nur  ein,  wenn  auch  sehr  dankenswertes  Sachregister,  so  erschwert  das 
die  wissenschaftliche  Benutzung  doch  sehr.  Ich  glaube,  die  Besitzer 
einzelner  nicht  zu  groDser  Hefte  können  sich  in  diesen,  zumal  sie  orts- 
kundig sein  werden,  leichter  ohne  ein  Ortsregister  zurechtfinden,  als 
der  Forscher,  der  einem  ganzen  Band  gegenübersteht.  Woher  soll 
einer,  der  nicht  aus  der  Rheinprovinz  stammt,  auch  nur  ahnen,  in 
welchem  Kreise  Wichterich  liegt?  Dazu  mufs  er  dann  in  den  Orts- 
registem  von  etwa  i6  Heften  nachsehen. 

Sind  nun  alle  Wünsche,  die  wir  an  die  Inventarisation  stellen,  er- 
füllt, schreitet  sie  rascher  Vollendung  zu,  ist  sie  vollständig,  genau, 
bringt  genügende  Illustrationen  und  was  alles  dazu  gehört,  so  ist  dock 
noch  nicht  Genüge  geleistet«  Ihrer  Aufgabe,  wesentlich  mit- 
zuhelfen    an    der   Erziehung    der   Bevölkerung  zum  Ver- 


i)  ErmÜsigte  Preise  für  Beamte,  Lehrer,   Geistliche  nsw.   des  Bezirks.    Siehe  die 
VerlMtidkngen  saf  dem  ersten  Tmgt  fftr  Denkmalpflege.     S.  27— 3a 

2)  In  Bayern  scheint  man  sich  über  die  Ansdehnang  des  Werkes  i^  Ma^m»  nicht 
Ttcbt  klar  gewesen  in  sein,  denn  der  erste  Band  hat  bis  jetzt  die  Seif 
hätte  sich  doch  wohl  eine  Teilung  in  mehrere  Binde. empfohlen. 


—     184     — 

ständnis  der  Denkmäler  nnd  ihrer  Pflege,  wird  sie  erst 
gerecht,  wenn  das  Werk  in  einem  frischen  Tone  geschrieben 
ist,  wenn  dem  Leser,  gerade  dem  nicht  zünftigen,  ans 
den  Zeilen  nicht  das  Gesicht  eines  trockenen  Inventari- 
sators anblickt,  sondern  wenn  er  die  Liebe  erkennt»  ent- 
weder die  angestammte  des  Landeskindes  zu  der  Heimat 
nnd  ihren  Denkmälern  oder  die  des  Fremden  zn  der  nen 
gewonnenen  Heimat  Ich  wdls  wohl,  dals  das  ja  nicht  in  jeder 
Zeile  znm  Ausdruck  kommen  kann,  aber  es  soll  zu  spüren  seiii«  wo 
irgend  möglich.  Erst  dann  wird  das  Werk  allem  Genüge  leisten, 
was  der  spätere  König,  damalige  Prinz  Johann  von  Sachsen  bei 
der  ersten  Sitzung  des  sächsischen  Alteitumsvereines  als  Wunsch 
ausgesprochen  hat  und  das  hier  als  Zusammenfassung  aller  Forde- 
rungen wiederholt  sein  mag:  „Erfbischung  und  Erhaltung,  beide 
müssen  Hand  in  Hand  gehen.  Nur  was  erstere  entdeckt  und  seinem 
historischen  und  artistischen  Werte  geschätzt  hat,  verdient  die  er- 
haltende Vorsorge,  und  diese  Vorsorge  bewahrt  wieder  für  viele 
eigentlich  historische  Forschungen  ein  wichtiges  und  inhaltreiches 
Material.  Beide  aber  verfolgen  gemeinschaftlich  ein  höheres  Ziel, 
Erweckung  und  Belebung  der  Liebe  des  Volkes  zu  seiner  Vor- 
zeit, aus  welcher  jede  Nation,  wie  Antäus  aus  der  Berührung  mit  der 
Mutter  Erde,  stets  neue  Kraft  und  Begeisterung  schöpft.*'  ^) 


Mitteilungen 

Nordwestdeutsehe  Altertnmsforsehnng.  —  Am  22.  Oktober  1904 

venammelten  sich  in  Hannover  auf  Einladung  des  Vereins  für  hessische 
Geschichte  und  Landeskunde  (Kassel),  des  historischen  Vereines  für  I^^eder- 
Sachsen  (Hannover)  und  des  Vereins  für  Geschichte  und  Altertumskunde 
Westfalens  (Münster  und  Paderborn)  Vertreter  nordwestdeutscher  wissenschaft- 
licher Vereine,  Kommissionen  und  Universitäten,  um  die  Gründung  eines 
Nordwestdentachen  Verbandes  fOr  Altertumsforschung  zu  beraten. 
Auch  der  Direktor  der  römisch-germanischen  Kommission  wohnte  der  Be- 
sprechung bei. 

Der  Plan  emes  derartigen  Zusammenschlusses  der  nordwestdeutschen 
Altertumsforscher  liegt  schon  eine  Reihe  von  Jahren  zurück,  war  aber  teils 
aus  persönlichen  Rücksichten,  teils  mit  Rücksicht  auf  die  damals  vom  Reich 
gepUmte  Gründung  einer  Organisation  für  römisch-germanische  Forschung  vertagt 


I)  Btaehr,  Darstdkmg  der  äiterm  Bau-  und  Kunttdenkmäkr  dm  Kbm^nidiM 
Sachsen,     Bd.  I  (Dresden  1882)  S.  6. 


—     186     — 

worden.  Nachdem  diese  Oiganisatioii  in  Gestalt  der  Römisch-gennanischen 
Kommission  des  kaiserl.  archäologischen  Instituts  ^)  ins  Leben  getreten  ist 
und  in  ihrer  Wirksamkeit  sich  übersehen  läist,  wurde  der  Gedanke  wieder 
aufgenommen.  Es  galt  nunmehr  einen  Zusammenschlufs  der  Vereine  zu 
gewinnen,  ¥ne  ihn  mittlerweile  die  west-  und  süddeutschen  Vereine  für  römisch- 
germanische  Forschung  in  ihrem  Verbände  *)  erreicht  hatten,  und  wie  er  sich 
dort  vortrefflich  bew&hrt  hatte. 

Durch  das  Fortschreiten  der  Einzelarbeit  treten  die  allgemeinen  Aufgaben 
auf  dem  Gebiet  der  heimischen  Altertumsforschung  mehr  und  mehr  hervor, 
die  weit  über  die  örtlichen  Gebiete  einzelner  Vereine  hinausreichen.  Die 
Hauptaufjgabe  des  Verbandes  ist  damit  klar  vorgezeichnet:  er  soll  durch 
enge  Fühlung  der  Arbeitenden  untereinander,  durch  ständigen  Austausch 
der  Erfahrungen  das  Interesse  imd  das  Verständnis  für  die  gro&en  gemein- 
samen Aufgaben  wecken  und  fördern,  welche  die  wissenschaftliche  Eiforschung 
der  alten  Kultur  und  Geschichte  Nordwestdeutschlands  stellt,  und  soll  andrer- 
seits einer  Verzettelung  der  Kräfte  entgegenarbeiten. 

Der  Gedanke  eines  derartigen  Verbandes  fand  bei  der  Versammlung 
allgemein  lebhafte  Zustimmung;  die  Ausgestaltung  weiterer  Einzelheiten  wurde 
einer  Kommission  übertragen,  welche  die  Satzungen  bis  zum  ersten  Verbands- 
tage,  der  für  die  Osterwoche  in  Münster  und  Haltern  geplant  ist,  ausarbeiten  wird. 

Dem  Verband  gehören  bereits  eine  grofse  Anzahl  von  Vereinen  von 
Westfalen,  Hessen,  Hannover,  Schleswig-Holstein,  Oldenburg,  Mecklenburg, 
Braunschweig,  Lippe-Detmold,  Schaumburg-Lippe,  Waldeck,  Hamburg  imd 
Lübeck  an.  Die  Frage,  ob  eine  Verschmelzung  mit  dem  westdeutschen 
Verbände  tunlich  gewesen  wäre,  mag  hier  unerörtert  bleiben;  ein  möglichst 
enger  Anschlufs  an  denselben  ist  jedenfalls  erwünscht.  Wenn  auch  die 
Aufgaben  in  Einzelheiten  naturgemäfs  verschieden  sind,  so  bleibt  doch  eine 
grofse  Fülle  gemeinsamer  Aufgaben,  bei  denen  der  Austausch  der  Erfahrungen 
für  beide  Vereinsgruppen  von  höchstem  Wert  sein  dürfte.  Eine  engere 
Arbeitsgemeinschaft  zwischen  den  Vereinen  Nordwestdeutschlands  und  des 
römisch-germanischen  Gebietes  wird  zweifellos  dahin  führen,  dafs  gewisse 
historische  Perioden,  die  in  Nordwestdeutschland  schärfer  hervortreten,  und 
deshalb  dort  schon  eingehendere  Bearbeitung  gefunden  haben,  künftig  auch 
m  West-  und  Süddeutschland  mehr  Beachtung  finden  werden,  und  umgekehrt. 
Es  ist  deshalb  auf  das  wärmste  zu  begrüfsen,  dafs  in  Hannover  schon  in 
dieser  vorbereitenden  Versammlung  der  Beschlufs  gefielst  wurde,  mit  dem 
westdeutschen  Verbände  Fühlung  zu  suchen  durch  eine  Art  Kartell  für 
gegenseitigen  Besuch  der  Verbandstage  und  Austausch  der  Schriften.  Auch 
steht  zu  hoffen,  dafs  das  Verhältnis  des  neuen  Verbandes  zu  der  römisch- 
germanischen Kommission  sich  in  gleicher  Weise  befriedigend  und  frucht- 
bringend gestalten  wird,  wie  es  sich  zwischen  der  Kommission  und  dem 
westdeutschen  Verband  entwickelt  hat  D. 


i)  Vgl.  oben  S.  19 — 24. 

3)  Vgl.   darüber   diese   ZeiUchrift   3.  Bd.,    S.  228—234.    Der    fttnat  Vi 
dieser  Organisation,    der  im  April    1904    in  Mannheim  stattfand,   zeugte  «f' 
die  Erspriefslichkeit  solcher  gemeinsamen  Tätigkeit.    Vgl.  den  als  Sondeta' 
Korrespondenxblatt  des  OesanUvereins  der  deutschen  Qeschichts-  und  M 
1904  erschienenen  Beridit 


—     186     — 

PersOüftlteB.  —  Als  ich  hn  Sqitember  1904  gelegenüich  der  fimftn 
Konferenz  landesgeschichüicher  Pablikationsinstitute  in  Salzburg  Ober  dar 
Fbrtsekriäe  des  Higtcrtsehen  Atlasses  der  Merreiekischen  Afpenländer  bertclitne, 
schlols  ich  mein  Referat  mit  dem  Wnnsche:  zur  sechsten  Konferenz  möge 
Eduard  Richter  die  ersten  beiden  Lieferungen  des  Historischen  Adasscs 
der  österreichischen  Alpenländer  den  Vertretern  der  deutschen  PuMikadooS' 
Institute  selbst  vorlegen.  Damals  weilte  Richter  wohl  auch  in  SaU>firg, 
aber  trotz  eines  anscheinend  von  Erfolg  begleiteten  Kurgebratiches  b 
Nauheim  mufste  er  sich  Schonung  auferlegen,  und  so  hatte  Richter  es 
mir  überlassen,  über  seine  gröiste  Leistung,  über  den  von  ihm  ins  Lebes 
gerufenen,  von  seinen  Kenntnissen  und  seiner  Persönlichkeit  getmgcoeB 
Historischen  Atlas,  sein  mit  aller  Liebe  gepflegtes  Sorgenkind,  zu  sprechen. 
Mit  heller  Freude  wurde  Richter  in  Salzburg,  seiner  zweiten  Heimat,  be- 
willkommnet: man  glaubte  den  liebenswürdigen  Gelehrten  und  Mensches 
seiner  Familie,  seinen  Freunden  und  seinem  Wirkimgskreise  gerettet  zu  wissen, 
und  es  hatte  ja  &st  den  Anschein  hierzu.  Nach  Graz,  der  Stätte  seiner 
akademischen  Tätigkeit,  zurückgekehrt,  meldete  sich  das  alte  Obel  nst 
doppelter  Hefidgkeit,  und  am  6.  Februar  f  5  Uhr  früh  schlössen  sich  die 
Augen  des  weit  über  die  schwarzgelben  Grenzpfähle  hinaus  bekannten  und 
hochgeachteten  Historikers  und  Geographen. 

Die  Nachricht  von  Richters  Hinscheiden,  die  den  näherstehenden  Kretsen 
nicht  unerwartet  kam,  erfüllte  alle,  welche  dieser  Persönlichkeit  nur  einmii 
näher  getreten  sbd,  mit  tiefer  Trauer.  Gerade  die  so  unendlich  harmo- 
nische und  so  seltene  Verquickung  von  Gelehrtentum  und  reiner  Mensch- 
lichkeit, von  streng  wissenschaftlichem  Denken  tmd  froher  Lebensau&ssun^ 
von  tiefsittlichem  Ernste  und  feinem  Humor  in  allen  Lebenslagen,  schuf 
ihm  jene  grofse  Freundesgemeinde,  in  der  sein  Tod  eine  unausfUllbare  Lücke 
hinterliefs.  Die  Blätter  ehrlichen  und  treuen  Gedenkens  an  Eduard  Richter, 
die  Anton  Schönbach  und  Hans  von  Zwiedineck  dem  Toten  aa£i 
Grab  legten,  die  in  ihnen  enthaltene  Würdigung  seines  Wirkens  und  Lebens, 
sind  geschrieben  im  Eindrucke  von  der  letzten  Aussprache  mit  dem  Freunde. 
Sie  sind  das  Beste,  was  ich  seit  Jahren  in  der  grofsen  Reihe  von  Lebens- 
bildern bedeutender  Menschen  und  Gelehrten  gelesen  habe.  Da  stand  er, 
der  ehrliche  Freund  und  Berater,  mir  wieder  gegenüber  wie  in  seinen  besten 
Tagen,  rastlos  arbeitend  und  forschend,  fördernd  und  unterstützend,  mit 
voller  Überzeugung  ratend  und  helfend,  fröhlich  mit  den  Frohen,  lachend 
über  die  Schwächen  seiner  Mitmenschen,  ohne  je  zu  vedetzen. 

Richter  hat  das  Leben  und  sein  Leben  selbst  in  den  Tagen  des 
schwersten  Leidens  und  der  bedrückendsten  Atemnot  ak  ein  „schönes** 
bezeichnet.  Er  koimte  sein  Leben  trotz  manch  schwerer  Schicksalsschläge 
ein  „schönes**  nennen:  er  hatte  ja  jene  glückliche  Hand,  die  nicht  nur  zo 
ergreifen  trachtete,  sondern  auch  ergriff  und  fesdiielt,  was  sie  erreichen 
wollte.  Wie  wenigen  war  es  ihm  gegönnt,  den  Zenit  einer  gelehrten  und 
akademischen  Laufbahn  in  verhältnismäfsig  noch  jungen  Jahren  zu  erreichen, 
und  den  groisen  Unternehmungen,  die  er  ins  Leben  gerufen  hat  und  denen  er 
sich  widmete,  war  er  immer  der  sichere  Fährmann  zum  wohlüberlegten  2ele. 

Richters  Jugend-  und  Studienzeit  verflois  ruhiger  und  unbewegter 
als  bei  manch  anderem.     Ein  geborener  Niederösterreicher  (zu  Mannersdoif 


—     187     — 

am  3.  Oktober  1847)  bezog  er«  nachdem  er  in  >^ener  Neustadt  die  Gymnasial* 
^dien  vollendet  hatte,  1867  die  Wiener  Universität  und  widmete  sich  hier 
historisch-geographischen  Studien,  mit  der  Absicht,  nach  Vollendung  der- 
selben ins  Mittelschullehramt  einzutreten.  Richters  Studiengang  war  nicht  — 
wie  es  heute  leider  so  häufig  vorkommt  —  ein  einseitiger.  Naturwissen- 
schaft und  Kunstgeschichte  begeisterten  ihn  geradeso  wie  die  Vorträge 
ttber  Geschichte  und  Geographie.  Die  zwei  Jahre,  welche  Richter  als 
ordentliches  Mi^lied  am  Institute  für  österreichische  Geschichtsforschung 
zubrachte,  Lehrjahre  im  strengen  Sinne  des  Wortes,  machten  ihn  unter  der 
Zeitung  Theodor  Sickeb  mit  der  historischen  Methode  und  Kritik  vertraut 
Richter  wurde  geschulter  Historiker;  und  erst  die  Berührung  mit  dem  Gletscher- 
forscher Friedrich  Simony  liefs  ihn  in  letzter  Stunde  in  der  wissenschafUichen 
Berufswahl  umsatteln.  Als  er  1871  in  Salzburg  eine  Lehrstelle  am  Gym- 
nasium annahm  y  hatte  er  den  Gedanken  an  eine  akademische  Laufbahn 
aufgegeben.  In  Salzburg,  auf  prächtigem  historischen  Boden  und  so  recht 
mitten  in  der  österreichischen  Alpenwelt,  entwickelten  sich  in  Eduard  Richter 
jene  zwei  Richtungen  seines  Schaffens,  für  welche  die  Wiener  Studienzeit 
die  Grundlage  gegeben  hatte.  Die  Freude  an  der  Alpenwelt  brachte  Richter 
die  naturwissenschaftliche  Beschäftigung  mit  dieser  nahe :  aus  dieser  erwuchs 
der  Morphologe  und  Gletscherforscher  Richter  und  dem  Deutschen 
und  österreichischen  Alpenvereine  der  eifrigste  Förderer.  Eine  Reihe  von 
Abhandlungen  entstand  auf  Salzburger  Boden  und  wurde  wenigstens  hier 
vorbereitet:  die  3  Bände  der  ErstMießung  der  Ostalpen  (1893  —  1894),  die 
Oleischer  der  Ostalpen  (t888)  und  so  manch  andere  wertvolle  Studie. 
Die  von  ihm  späterhin  mit  so  viel  Liebe  und  Geschick  bevorzugte  Verbin- 
dung zwischen  Geschichte  und  Geographie  schuf  weitere  Arbeiten:  1891 
schrieb  er  eine  Geschichte  der  Schwankungen  der  Alpengletscher  imd  1892 
gab  Richter,  der  geschulte  Historiker,  die  Urkunden  über  die  Ausbrüche  des 
Vernagle  und  Gurglergletschers  tm  XVII,  und  XVIIL  Jahrhundert  in  den 
f,Forschungen  zur  deutschen  Länder-  und  Völkerkunde"  heraus.  Über  die  Be- 
deutung des  Geographen  Richter,  über  siene  wbsenschafdiche  und  namentlich  seine 
Lehrtätigkeit  nach  dieser  Richtung  hin,  zu  sprechen,  ist  Berufeneren  vorbehalten. 

Neben  der  Erfüllung  seiner  Lehrpflichten  —  1886  wurde  Richter  der 
Nachfolger  Wilhelm  Tomascheks  auf  der  Lehrkanzel  für  Geographie  in 
Graz  — ,  neben  seinen  rein  geographischen  Studien  und  seinen  zahlreichen 
Reisen,  die  ihn  fast  in  sämtliche  Länder  Europas  und  auch  nach  Asien 
fiihrten,  wufste  Richter  noch  immer  Zeit  zu  gewinnen,  das  in  Wien  und 
namentlich  am  Institute  für  österreichische  Geschichtsforschung  Erlernte  zu 
verwerten.  Schon  in  Salzburg  übernahm  er  in  dem  rührigen  Verein  für 
Salzburger  Landeskunde  die  führende  Rolle,  und  seine  Studien  über  die 
Sakburger  TradUianscodices  und  namentlich  seine  Untersuchungen  zur  Histo^ 
riscfien  Geographie  des  ehemaligen  Hochstiftes  Salzburg  und  seiner  Nachbar- 
länder (in  den  Mitteil,  des  Instituts  f.  österr.  G.-F.,  I.  Erg.-Bd.  1885)  sicherten 
dem  Gynmasiallehrer  Richter  einen  ehrenvollen  Platz  imter  den  österreichi- 
schen Historikern.  i.  . 

Letztere  Abhandlung  ist  ein  Muster  kritischer  T^  nennen. 

In  ihr  zeigte  sich  Richter  als  vollendeter  Methof^*'  '^jmer 

mittelalterlichen  Rechtes.     Durch  die  Anwen^  her 


—     188     — 

Forschung  auf  Themen  kartographischer  und  geographischer  Natur, 
Richter  nach  langjähriger  Beschäftigung  mit  der  Sache  zu  der  Aosict^ 
„dafs  nicht  die  Ansammlung  einer  grofsen  Menge  topo- 
graphischer Details,  sondern  die  Aufsuchung  der  administrativeB 
und  gerichtlichen  Abgrenzungen  die  Aufgabe  sei,  durch  deren 
Lösung  die  geschichtliche  Geographie  sich  um  die  Aufhellung  unserer 
Vorzeit  vielleicht  einige  Verdienste  erwerben  könnte".  Für  Salzburger  Boden 
hatte  Richter  die  Lösung  gefunden,  und  mit  den  Untersuchungen  zugleich 
auch  den  Weg  zum  „Historischen  Atlas".  Auf  diesem  Wege  begegnete 
ihm  Josef  Egger  und  wurde   sein   treuer  Begleiter   auf  tirolischem  Boden. 

Erst  in  der  kommenden  Zeit,  wenn  die  augenblickliche  tiefe  Schmerz- 
empfindung  um  den  Verlust  einer  ruhigen  Trauer  gewichen  ist,  wird  man  sich 
des  Verdienstes,  das  sich  Eduard  Richter  tun  die  Historische  Geographie 
Alt-Österreichs  erworben  hat,  voll  be  wufst  werden.  Es  war  ein  eigentümliches 
Zusammentreffen,  dafs  Richter  mit  seinen  Ideen  zur  Herausgabe  eines  Histo- 
rischen Atlasses  der  österreichischen  Alpenländer  zu  jenem  Zeitpunkt  in  die 
Öffentlichkeit  trat,  als  man  in  Österreich  der  Verfassungs-  und  Verwaltungs- 
geschichte, der  „Reichsgeschichte"  erhöhte  Aufmerksamkeit  zuzuwenden 
begann,  und  sich  unter  Leitung  Luschins  von  Ebengreuth  eine  Reihe 
jüngerer  Kräfte  für  die  Probleme  dieser  Disziplin  begeisterten.  Als  die 
Thudichumsche  Grundkartenfrage  die  beteiligten  Kreise  pro  und  contra 
erhitzte,  als  von  dem  ausgezeichneten  Atlas  der  Rheinprovinz  die  ersten  Blätter 
veröffentlicht  wurden,  trug  Eduard  Richter  Plan  und  Arbeitsprogranmi  für  einen 
Historischen  Atlas  der  österreichischen  Alpenländer  schon  längst  in  sich,  und 
wenn  auch  seine  Untersuchungen  zur  historischen  Geographie  Salzburgs  aas 
dem  Jahre  1885  den  Kern  der  späteren  Atlasidee  bereits  enthielten,  so 
fand  er  doch  erst  ein  Jahrzehnt  später  Gelegenheit,  in  der  Festgabe  für  Franz 
von  Krones  sein  Programm  zu  entwickeln  und  durch  die  Auseinandersetzung 
des  Planes,  vorsichtig,  nicht  schematisierend,  sondern  blols  vorbereitend  die 
Fachkreise  dafür  zu  interessieren.  In  dieser  Schrift  erklärte  er  als  die  wichtigste 
und  entscheidende  wissenschaftliche  Vorarbeit  für  den  historischen  Atlas  des 
Mittelalters  die  Landgerichtskarte.  „Sie  mufs,  indem  man  von  der  Gegenwart 
rückwärts  schreitet,  auf  Grundlage  der  Spezialkarte,  der  gleichzeitigen  karto- 
graphischen Versuche  und  der  Grenzbeschreibungen  gemacht  werden.  Erst 
auf  Grtmdlage  dieser  lassen  sich  die  anderen  Aufgaben  des  Historischen 
Atlasses  lösen/*  Seme  Festgabe  erregte  bald  die  Aufmerksamkeit  der 
mafsgebenden  Kreise,  imd  als  Eduard  Richter  in  der  nächsten  Zeit  im 
V.  Erg.-Bde.  der  Mitteil.  des  Instituts  f.  österr.  G.-F.  „nochmals"  für 
seine  Ideen  eintrat,  hatte  er  in  Alfons  Hub  er  und  Engelbert  Mühl* 
b ach  er  tatkräftige  und  mächtige  Unterstützer  gefunden.  Diese  beiden  ebneten 
die  finanziellen  Schwierigkeiten  und  bestinunten  dieKaiserL  Akademie 
der  Wissenschaften  in  Wien,  Richter  die  Mittel  zur  Ausführung  semes 
Planes  aus  der  Treitel-Stiftung  zur  Verfügung  zu  stellen. 

In  der  erwähnten  Krones-Festgabe  aus  dem  Jahre  1895  hatte  Richter 
seine  klaren  Auseinandersetzungen  mit  folgenden  Worten  geschlossen:  „Es 
steht  zu  hoffen,  dafs  in  einer  Zeit,  wo  so  viel  Nachfrage  nach  dankbaren 
wissenschaftlichen  Themen  vorhanden  ist,  sich  auch  für  diese  schönen  und 
lohnenden  Aufgaben  die  richtigen  Leute  finden  werden.'*    Der  Ruf  Richters 


—     189     - 

blieb  auch  in  dieser  Sache  nicht  ungehört:  bald  scharten  sich  um  ihn 
und  um  das  von  ihm  getragene  Unternehmen  Berufegenossen  und  Schüler, 
er  organisierte  diese  Schar,  und  die  Arbeit  begann.  Hindemisse,  die 
sich  so  oder  so  dem  Unternehmen  entgegenstellten,  störten  Richter  wenig. 
Sein  öfteres  „Es  mufs  gehen**  —  ich  höre  es  jetzt  noch  so  deutlich  — 
brachte  ihn  dem  Erfolge  schrittweise  näher,  und  —  am  Beginne  dieses 
Jahres  war  sich  Eduard  Richter  vollkommen  bewufst,  dafs  er  die  Ausgabe  der 
von  ihm  &st  vollständig  vorbereiteten  i.  Lieferung  des  Atlasses  (mit  ii 
Kartenblättem  und  den  Erläuterungen  für  Salzburg,  Oberösterreich  und  Steier- 
mark) nicht  mehr  erleben  werde.  Mit  voller  Klarheit,  aber  auch  voll 
bedrückender  Sorge  gab  er  die  letzten  Anordnungen  ftir  sein  Lieblingswerk 
an  die  Freunde  und  jene  Gesellschaft,  die  durch  ihre  Autorität  und  mit  den 
ihr  zu  Gebote  stehenden  reichen  Mitteln  an  der  Wiege  des  Atlasses  Gevatter 
gestanden  war.  Diese  Sorge  um  die  Zukunft  des  Historischen  Atlasses, 
die  Richters  letzte  Lebenstage  so  erfüllte,  wurde  dem  Toten  genommen,  als 
Oswald  Redlich  in  Vertretung  der  KaiserL  Akademie  am  offenen  Grabe 
dem  verblichenen  Freunde  die  Abschiedsworte  zurief:  „Richter  hat  ein  Werk 
begonnen,  das  Geographie  und  Geschichte  vereinigt  und  das  für  die  Geschichte 
der  Alpenländer  bahnbrechend  sein  wird.  Und  wenn  es  ihm  auch-  nicht 
gegönnt  war,  das  Erscheinen  der  ersten  Bände  dieses  Werkes  zu  erleben, 
so  wird  dasselbe  doch  seinen  Namen  ruhmvoll  weitertragen." 

Die  wissenschaftlichen  Überiegungen  und  die  reiche  Er&hrung,  die 
Richter  zur  Idee  des  Historischen  Aüasses  geführt  hatten,  wurde  von  ihm 
des  öfteren,  und  auch  in  dieser  2^itschrift,  ausgesprochen  oder  durch  seine 
Mitarbeiter  den  Fachgenossen  näher  zu  bringen  versucht  Der  Endzweck, 
welchen  der  Historische  Atlas  verfolgt,  ist  der  deutschen  Gelehrtenwelt  bisto- 
risch-geogitiphischer  und  rechtsgeschichtlicher  Richtung  genügend  bekannt,  als 
dafs  er  hier  noch  ausführlicher  auseinandergesetzt  werden  müfste.  Die  gröfste 
Genugtuung,  die  Eduard  Richter  aus  seinem  rastlosen  und  uneigennützigen 
Schaffen  für  den  Historischen  Atlas  empfing  imd  deren  er  sich  in  berechtigter 
Freudigkeit  so  oft  rühmte,  war  ihm  eine  wichtige  Begleiterscheinung: 
die  Entstehung  und  Inangrifinahme  von  „namentlich  rechtshistorischen 
Detailuntersuchungen  ^S  die  sämtlich  aus  der  Beschäftigtmg  mit  Atlaq)Foblemen 
hervorgingen  und  auf  dieser  fufsten.  Richter  schrieb  selbst  mehrere  wert- 
vdle  Beiträge  zu  den  Äbhandhmgen  zum  Historischen  Atlas  der  österreichischen 
AipenUtnder,  und  klangvolle  Namen,  wie  die  eines  v.  Jaksch,  v.  Voltelini 
u.  a.  wird  der  i.  Band  dieser  Abhandlungen  aufweisen  können. 

Heute  deckt  steirische  Erde  den  Leichnam  dieses  bedeutenden  Mannes, 
dem  Licht,  Aufklärung  und  Erkennen  über  alles  ging.  In  uns  aber  bleibt 
die  Erinnerung  wach  an  Eduard  Richter,  an  sein  Leben  und  Wirken,  sein 
Lernen  und  Lehren  und  —  an  sein  heldenhaftes  Sterben! 

Anton  Meli  (Graz). 


Am  7.  Februar  1905  starb  zu  Zerbst  der  Geh.  Archivrat  Prof.  Frans 
Kindscher  im  eben  begonnenen  82.  Lebensjahre,  ein  Gelehrter  und  Forscher, 
der  sich  um  die  Geschichtschreibuiig  seines  Vaterlandes  Anhalt  die  grö&tep 
Verdienste  erworben  bat. 


—     190     — 

Er  war  am  29.  Januar  1824  zu  Dessau  geboren  und  hatte  als  Zögting 
des  dortigen  Gymnasiums  den  ebenso  als  Forscher  in  der  anhaltischen  Ge- 
schichte, wie  als  Pädagogen  rühmlich  bekannten  Heinrich  Lindner  zum 
Lehrer.  Ostern  1843  bezog  Kindscher  die  Universität  Leipzig  und  studierte 
Philologie  und  Geschichte  unter  Gottfried  Herrmann,  Haupt,  Klotz,  Becker 
und  Wachsmuth.  Seine  Studien  1843  ^^  Berlin  fortsetzend,  hörte  er  Boeckh, 
Lachmann,  Zumpt,  W.  Grimm,  E.  Curtius,  Trendelenburg,  v.  Schelling, 
Ranke  und  y.  Raumer.  Hier  yoUzog  sich  bei  ihm  der  Übergang  Jtus  dem 
Formalismus  der  Leipziger  Schule  zu  der  durch  Boeckh  vertretenen  realistischen 
Richtung  der  Philologie,  ein  für  sein  Leben  so  bedeutender  Voigang,  ^^ 
er  noch  in  den  letzten  Tagen  seines  Lebens  Boeckhs  im  Gespräch  mit  ÖGk 
Seinen  gedachte  und  dieses  Mannes  Einflufs  auf  sein  ganzes  geistiges  Leben 
dankend  anerkannte.  Im  Jahre  1845  verliefs  er  die  Universität,  um  eine 
Hauslehrerstelle  in  Wörlitz  anztmehmen,  erhielt  aber  bald  auch  Beschäftigu]^ 
als  Lehrer  in  den  gewerblichen  Nebenklassen  des  Gymnasiums  zu  Dessau. 
Von  hier  wurde  er  1849  "^^^  Ablegung  des  philologischen  Staatsexamens 
als  Vikar  an  das  Gymnasium  nach  Zerbst  versetzt,  erhielt  1850  seine  feste 
Anstellung,   1856  den  Titel  Oberlehrer,   1866  den  Titel  Professor. 

Seine  wissenschaftliche  Tätigkeit  hatte  sich  anfangs  ganz  auf  die  Archäo> 
logie  erstreckt.  Von  den  Arbeiten  dieser  Zeit,  die  sich  in  den  philologischen 
Zeitschriften  zerstreut  finden,  seien  zwei  genannt:  Die  Hearakleischen  Doppd- 
Sieger  zu  Olympia  (1845)  und  Das  Programm  der  Olympien  (1845).  Auch 
später  ist  er  bei  Anlässen,  wie  sie  sich  durch  Schulprogramme  boten,  auf 
die  philologischen  Studien  zurückgekommen;  so  schrieb  er  1860  als  Grata- 
lationsschrift  für  die  Berliner  Universität  die  Emendationes  Oaesarianae  und 
1864  die  Qtmestiones  Caesarianae, 

Inzwischen  hatte  aber  bereits  seine  wissenschaftliche  Neigung  eine  andere 
Richtung  angenommen.  Die  Stadt  Zerbst,  die  noch  heute  mit  ihren  last 
unversehrt  erhaltenen  Stadtmauern,  dem  denkmalsreichen  Markt,  den  alten 
Gebäuden,  Kloster ruinen  und  anderen  ehrwürdigen  Zeugen  der  Vergangeohdt 
jedes  Forschers  Interesse  auf  sich  lenkt,  hatte  auch  ihm  es  angetan,  und  er 
begann,  sich  der  Erforschung  ihrer  reichen  und  fesselnden  Geschichte  nach- 
haltig zu  widmen.  Er  isS&tJt  den  Gedanken,  eine  Urkundensammlung  zur 
Geschichte  von  Anhalt  herauszugeben.  Als  Emleitung  dazu  veröffentlichte  er 
1858  die  bis  dahin  ungedruckte  Chronik  der  Stadt  Zerbst  von  Peter  Becker^ 
die  die  Jahre  1259 — 1445  umfafst  Diese  Ausgabe  ist  jetzt  vollständig  ver- 
griffen; eme  zweite  hat  der  Unterzeichnete  als  Festgabe  zur  900  jährigen 
Jubelfeier  der  Stadt  Zerbst  (1907)  in  Vorbereitung. 

Als  nach  Aussterben  der  Linie  Anhalt-Bembuig  (1863)  ganz  Anhalt 
wieder  zu  einer  Herrschaft  vereinigt  war,  auch  die  Archive  der  Linien  2^rbst, 
Köthen  und  Bemburg  mit  dem  der  Dessauer  Linie  und  dem  Archir  des 
Gesamthauses  Anhalt  zu  dem  Herzoglichen  Haus-  und  Staatsarchiv  verein^ 
und  (1872)  in  dem  zur  Verfügung  gestellten  Herzoglichen  Schlosse  zu  Zerfo^ 
untergebracht  wurden,  lenkte  der  damalige  Archiworsteher  Geh.  Archiviat 
Siebigk  (f  8.  Mai  1886)  die  Aufmerksamkeit  des  Herzo^chen  Staats- 
ministerituns auf  die  wissenschaftliche  Tätigkeit  Kindschers  und  erbat  sich  ihn  «n^^ 
Mitarbeiter  m  der  Archivverwaltung.  Infolge  dieser  Anregung  wurde  Kindscfaer 
zunächst  (1873)  als  Archivar  im  Nebenamte  beschäftigt,  später  (1876) 


—     191     — 

Schulamt  dispensiert  und  als  zweiter  Archivbeamter  angestellt  Als  solcher 
hatte  er  die  Verwaltung  des  Gesamtarchivs  zugewiesen  erhalten,  d.  h.  die  des 
älteren  Archivbestandes  vom  Jahre  941  — 1603,  ^uid  von  der  emsigen  und 
gewissenhaften  Tätigkeit  nach  dieser  Richtung  legen  die  von  ihm  vollzogenen 
Inventarisationen  des  Urkundenbestandes,  wie  die  von  ihm  allein  durch- 
geführte Inventarisierung  und  R^istrierung  sämtlicher  Lehnsakten  des  XV. 
und  XVI.  Jahrhunderts  (Registrande  VI)  das  rühmlichste  Zeugnis  ab.  Im 
Jahre  1876  wurde  er  zum  Archivrat,  1896  zum  Geh.  Archivrat  ernannt, 
nachdem  er  1886  als  Siebigks  Nachfolger  Archiworsteher  geworden  war. 

Von  weiterer  Bedeutung  für  seine  Tätigkeit  wurde  die  1875  folgte 
Begründung  des  Vereins  (Ur  Anhalcische  Geschichte  und  Altertumskunde, 
dem  er  von  Anfang  als  Mitglied  und  nach  dem  Rücktritt  von  W.  Hosäus 
(19.  März  1890)  als  Vorsitzender  angehörte. 

Nachdem  ein  schweres  Augenleiden,  das  leider  zu  vollständiger  Er- 
blindung führte,  seine  wissenschaftliche  Tätigkeit  einschränkte  und  schliefislich 
fast  ganz  aufhob,  sah  er  sich  zur  Angabe  des  von  ihm  mit  voller  Liebe 
gehegten  Amtes  genötigt;  am  22.  Juni  1901  legte  er  den  Vorsitz  im  Anhaltischen 
Geschichtsverein  nieder,  am  i.  Juli  desselben  Jahres  schied  er  aus  seinem 
Amte  im  Herzoglichen  Haus-  und  Staatsarchiv.  Seine  Mulse  fiillten  noch 
mancherlei  Arbeiten  aus,  zu  denen  ihn  sein  geradezu  phänomenales  Ge- 
dächtnis befähigte,  wenn  auch  das  Licht  der  Augen  versagte;  unter  Plänen 
und  Entwürfen  ist  er  gestorben. 

Seine  wissenschaftlichen  Arbeiten  sind  zumeist  der  Erforschung  der 
Anhaltischen  Geschichte  gevridmet  gewesen  und  in  verschiedenen  Zeitschriften 
zerstreut;  die  Mitteilungen  des  Vereins  für  Anhaltieche  Geschichte,  die  Monun 
menta  Germaniae  paedagogica,  die  Aügemeine  deutsche  Biographie  enthalten 
die  wichtigsten  Ergebnisse  seines  Forscherfleüses ;  zu  gröüseren  Publikationen 
ist  er  nach  der  Editio  princeps  von  Peter  Beckers  Zerbster  Chronik  leider 
nicht  gekommen,  und  das  ist  zu  beklagen,  da  er  mehr  als  jeder  andere 
hierzulande  zu  solchen  Arbeiten  BefiKfaigung  und  Wissen  besaft. 

Aber  trotzdem  ist  sein  Einflufs  auf  die  Darstellung  der  Geschichte  unseres 
Landes  nicht  gering,  weil  er  als  Archiworsteher  immer  bemüht  ?^mr,  die 
Arbeiten  anderer  selbstlos  au&  eifrigste  zu  unterstützen.  Daher  kommt  es, 
dafis  während  seiner  Amtstätigkeit  fast  keine  einzige  Schrift  zur  Geschichte 
Anhalts  erschienen  ist,  die  nicht  im  Vorwort  seiner  freundlichen  und  fördernden 
Hilfe  gedenkt,  und  so  wird  sein  Hinscheiden  noch  vielen  aufser  uns  ein 
Verlust  dünken,  der  schwer  ersetzlich  ist,  sein  Andenken  aber  bei  allen, 
die  ihn  kannten,  ein  gesegnetes  sein  und  bleiben.  Wäschke  (Zerbst). 

EingegaBgene  Bfleher. 

I^^igclf  J. :  Wirtschaftliche  Folgen  des  30jährigen  Krieges  in  Monheim 
und  Umgebung  [»«  Mitteilungen  des  Historischen  Vereins  fXr  Donau- 
wörth nnd  Umgegend  (Donauwörth,  Ludwig  Auer,  1905),  8.  57 — 68]. 

Repertorium  des  Staatsarchivs  zu  BaseL  Basel,  Helbing  und  Lichtenhahn, 
1905.     LXVUI  und  834  S.  Lex.-8^ 

Schttlthefs-Rechberg,  Gustav  von:  Heinrich  BulUnger,  der  Nachfolger 
Zwingiis  [=e  Schriften  des  Vereins  fttr  Reformationsgeschichte  Nr.  82]. 
Halle  a.  S.,  Max  Niemeyer,  1904.     104  S.  8^     M.  1,20. 


—     192     — 

Richter,  G.:  Der  französische  Emigrant  Gabriel  Henry  und  (He  Entstehung 
der  katholischen  Pfarrei  Jena-Weimar  (1795 — i3i5),  ein  Beitrag  zur 
Geschichte  der  katholischen  Diaspora  in  Thüringen.  Fulda,  Fuldaer 
Aktiendruckerei,  1904.     33  S.  8®.     M.  0,60. 

Wagner,  Paul:  Ostfriesland  und  der  Hof  der  Gräfin  Anna  in  der  Mitte 
des  XVI.  Jahrhunderts  [«>  Abhandlungen  und  Vorträge  zur  Geschichte 
Ostfrieslands,  herausgegeben  von  Archivrat  Dr.  Wächter,  Heft  i]. 
Aurich,  D.  Friemann,  1904.     31  S.  8^. 

Wopfner,  Hermann:  Beiträge  zur  Geschichte  der  freien  bäuerlichen  Erb- 
leihe Deutschtirols  im  Mittelalter  [>»  Untersuchungen  zur  deutschen 
Staats-  und  Rechtsgeschichte,  herausgegeben  von  Gierke,  67.  Heft]. 
Breslau,  M.  &  H.  Marcus,   1903.     239  S.  8^     M.  8,00. 

Wustmann,  Gustav:  Geschichte  der  heimlichen  Calvinisten  (Kryptocalvi- 
nisten)  in  Leipzig  1574 — 1593  [«=«  Neujahrsblätter  der  Bibliothek  und  des 
Archivs  der  Stadt  Leipzig  1  (Leipzig,  C.  L.  Hirschfeld,  1905)  S.  i — 94]. 

Zahn,  W.:  Die  Altmark  im  DreÜsigjährigen  Kriege  [»»  Schriften  des  Vereins 
für  Reformationsgeschichte  Nr.  80].  Halle  a.  S.,  Max  Niemeyer,  1904. 
61  S.  8^     M.   1,20. 

Arndt,  G.:  Wert  der  lokalen  Kirchengeschichte  für  den  Pfarrer  [=  Zeit- 
schrift des  Vereins  für  Kirchengeschichte  in  der  Provinz  Sachsen,  i.  Jahrg. 
(Ms^deburg,  Holtermann,  1904),  S.  25 — 33]. 

Bruchmüller,  W. :  Zwischen  Sumpf  und  Sand,  Skizzen  aus  dem  märkischen 
Landleben  vergangener  Zeiten.  Berlin,  Deutscher  Verlag  (1904),  286  S.  8^ 

Diehl,  Wühelm:  Martm  Butzers  Bedeutung  für  das  kirchliche  Leben  in 
Hessen  [=s  Schriften  des  Vereins  für  Reformationsgeschichte  Nr.  83 
(Halle  a.  S.,  Max  Niemeyer,  1904),  S.  39 — 62]. 

Fabricius,  Ernst:  Die  Besitznahme  Badens  durch  oie  Römer  [>=  Neujahrs- 
blätter der  Badischen  Historischen  Kommission,  Neue  Folge  8].  Heidel- 
berg, Karl  Winter,   1905*     88  S.  8^.     M.   1,20. 

Fehr,  Hans:  Die  Entstehung  der  Landeshoheit  im  Breisgau.  Leipzig, 
Dundcer  &  Humblot,  1904.     186  S.  8^     M.  4,00. 

Hasenclever,  Adolf:  Zwei  Aktenstücke  über  die  Verteidigungsverhältnisse 
im  Erzstifte  Köhi  vor  Ausbruch  des  Schmalkaldischen  KLrieges  [=»  Ztit- 
Schrift  des  Bergischen  Geschichtsvereins,  37.  Bd.  (Elberfeld,  B.  Hartmano, 
1904),  S.  224 — 236]. 

Lindner,  Pirmin:  Verzeichnis  der  Äbte  und  Mönche  des  ehemaligen 
Benediktinerstiftes  HeUig-Kreuz  in  Donauwörth  [=»  MitteUungen  des 
Historischen  Vereins  für  Donauwörth  und  Umgegend.  Zweiter  Jahrgang 
(Donauwörth,  Ludwig  Auer,   1905),  S.   i — 44]. 

Richter,   G. :    Statuta  maioris   ecclesiae   Fuldensis.     Ungedruckte   Quellen  i 

zur  kirchlichen  Rechts-  und  Verfassungsgeschichte  der  Benediktinerabtei  1 

Fulda  [=  QueUen  und  Abhandlungen  zur  Geschichte   der   Abtei   und  • 

der  Diözese  Fulda  I].    Fulda,  Fuldaer  Aktiendruckerei,  1904.    118  S.  8®.  ^ 

M.  2,00. 

— :  Die   adeligen  Kapitulare   des  Stifts  Fulda  seit   der  Visitation  der  Abtei  ^ 

durch   den  päpstlichen  Nuntius  Petrus  Aloysius  Carafa  (1627 — i8oa)«  '^. 

Fulda,  Fuldaer  Aktiendruckerei,  1904.     42  S.  8*.     M.  0,80.  ' 

■  k 

Honmag^ber  Dr.  Armin  IUI«  in  Leipdg. 
Drack  aad  V«rUf  von  FrMrich  Andraas  Pwtfaes,  AkdeagtMlbdiaft,  Gotha. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsscbrift 


Förderung  der  landesgeschicMclien  Forschung 

VI.  Band  Mai  1905  8.  Heft 

I 

Heuere  Wiftsehaftsgesehiehte 

Von 
Armin  Tille  (Leipzig) 

In  der  zweiten  Hälfte  des  XIX.  Jahrhunderts  haben  die  Wissen- 
schaften fast  durchweg  das  alte,  ihnen  von  altersher  zugewiesene 
Arbeitsgebiet  erweitert,  aber  gleichzeitig  haben  sich  die  Disziplinen 
angesichts  des  täglich  wachsenden  Forschungsmaterials  gespalten, 
und  so  sind  eine  Menge  mehr  oder  weniger  selbständige  Sonderwissen- 
schaften entstanden.  Sie  besitzen  zwar  mit  verschiedenen  benachbarten 
Wissenszweigen  enge  Fühlung,  aber  als  Spezialficher  erscheinen  sie 
selbständig  und  brauchen  heute  längst  nicht  mehr  um  ihre  Berechti- 
gung zu  kämpfen,  sondern  erfreuen  sich  vielmehr  allgemeiner  An- 
erkennung. 

Zu  den  Disziplinen,  von  denen  dies  gilt,  gehört  auch  die  Wirt- 
schaftsgeschichte, die  sich  ihren  Platz  neben  der  beschreibenden 
und  theoretischen  Nationalökonomie  im  üblichen  Sinne  erworben  hat 
und  zugleich  nicht  wenige  Beziehungen  zur  politischen  Geschichte 
und  der  Geschichte  des  geistigen  Lebens  besitzt  Ja  die  Darstellung 
der  heute  *  wohl  allgemein  als  Ideal  betrachteten  nationalen  Gesamt- 
geschichte, die  alle  geistigen  und  materiellen  Lebensäufiserungen  einer 
Nation  gleichmäßig  in  das  Bereich  ihrer  Betrachtung  ziehen  soll,  ist 
nur  denkbar  unter  nachdrücklicher  Betonung  und  lückenloser  Vor- 
iiihrung  der  wirtschaftlichen  Entwickelung.  Wenn  man  letztere  nicht 
grar  als  Grundlage  alles  anderen  betrachten  will,  dann  bleibt  sie  doch 
stets  ein  wesentlicher  Teil  der  Gesamtentwickelung,  und  dank  der 
Tatsache,  dafs  sich  materielle  Vorgänge  leichter  begreifen  lassen,  als 
rein  geistige,  gewinnt  sie  zugleich  für  den  Forscher  noch  eine  besondere 
Bedeutung  als  heuristisches  Prbzip.  Die  Wirtschaftsgeschichte  ist 
aber  gleichzeitig  eine  derjenigen  geschichtlichen  Disziplinen,  die  vor- 
nehmlich Material  aus  räumlich  begrenzten  Gebieten  verarbeiten,  die 
sich  ihrer  Natur  nach  zunächst  mit  räumlich  und  zeitlich  bestimmten 
Einzelerscheinungen  beschäftigen  und  diese  in  die  grofsen  Zusammen- 

15 


—     194     — 

i 

hänge  einzureiheii  suchen.  Aus  diesem  Grunde  ist  den  wirtschaftlichen 
Problemen  auch  in  diesen  Blättern  jederzeit  ein  verhältnismäüsig  breiter 
Raum  gewidmet  worden. 

Für  das  Mittelalter,  und  noch  bis  etwa  zur  Mitte  des  XVI.  Jahr- 
hunderts ist  es  heute  selbstverständlich,  da(s  eine  geschichtliche  Dar- 
stellung die  wirtschaftlichen  Zustände  mindestens  in  demselben  Maise 
berücksichtigt,  wie  die  politischen,  kirchlichen  und  rechtlichen.  Ja  den 
sozialen  Verhältnissen  jener  Perioden  hat  man  tatsächlich  erst  nach 
eingehender  Prüfting  der  materiellen  Voraussetzungen  Verständnis  ab- 
gewonnen, und  gerade  das  letzte  Jahrzehnt  hat  auf  diesem  Wege 
eine  Menge  alt  eingebürgerter  einschlägiger  Anschauungen  als  irrig 
erwiesen.  Das  ist  eine  Tatsache,  die  gewürdigt  werden  will,  und  die 
zur  Nacheiferung  auf  dem  Gebiet  der  neueren  Geschichte  anspornen 
sollte.  Grundsätzlich  wird  wohl  heute  kein  Forscher  behaupten,  dafs 
die  für  die  mittelalterliche  Geschichtsforschung  geltenden  Prinzipien 
andere  seien  als  diejenigen,  welche  auf  die  neuere  Anwendung  finden» 
aber  betrachtet  man  die  Darstellungen  der  neueren  Geschichte  so 
wie  sie  sind,  dann  gewinnt  man  tatsächlich  den  Eindruck,  als  ob  hier 
nach  anderen  Grundsätzen  gearbeitet  würde.  Denn  in  den  bisherigen 
Gesamtdarstellimgen  der  deutschen  Geschichte,  die  sich  mit  den  letzten 
drei  Jahrhunderten  oder  gröfseren  Abschnitten  daraus  beschäftigen» 
ist  —  abgesehen  von  einzelnen  Perioden,  die  gewissermaßen  durch 
Momentphotogpraphien  beleuchtet  zu  werden  pflegen,  —  nicht  nadi 
dem  Muster  verfahren  worden,  das  die  neueren  Darstellungen  des 
Mittelalters  für  diese  Periode  bieten. 

Das  ist  ein  entschiedener  tatsächlicher  Mangel,  der  des  sonstigen 
Standes  der  Wissenschaft  nicht  würdig  ist,  und  deshalb  ist  es  eine 
Notwendigkeit,  die  grundsätzlich  anerkannt  werden  mufe,  dais  auch 
die  neuere  Geschichte  auf  jene  Basis  gestellt  wird,  auf  der  die  mitteU 
alterliche  bereits  steht.  Nur  unter  dieser  Voraussetzung  kann  die 
Geschichte  tatsächlich  das  allgemeine  Erziehungs-  und  BUdungsmittel 
für  die  Gegenwart  werden,  als  wekhes  man  sie  bei  feierlichen  Ge- 
legenheiten hinzustellen  pflegt,  ohne  dafe  sie  es  in  Wirklichkeit  ist 

Will  man  aber  dieses  Ziel  erreichen,  dann  ist  es  notwendig,  da(k 
die  für  das  Mittelalter  ganz  leidlich  entwickelten  geschichtlichen  Sonder- 
disziplinen auch  zeitlich  in  derselben  Weise  fortgesetzt  und  bis  an  die 
unmittelbare  Gegenwart  herangebracht  werden.  Das  gilt  für  die  Recht»- 
gerade  so  wie  für  die  Literatur-,  Kunst-  und  Kirchen-  bezw.  Religions- 
und  Weltanschauungsgeschichte,  und  nicht  minder  für  die  Wirtschafts- 
geschichte.     Es   handelt    sich    dabei    im    wesentlichen    darum,    dais. 


_     186     — 

diese  'Zweigfc  der  Wisaenschafteo  von  des  Gebieten,  den  sie  zunächst 
—  nach  der  alten  Klassifizienmg  der  Wissenschaften  —  aagehötta, 
und  innerhalb  deren  sie  gewissennaiseo  eine  Ergänzong  zu  ihrer 
modernen  Systematik  bilden,  losgetrennt  und  von  der  Geschichts- 
forschung als  vollwertiger  Teil  der  Gesamtgeschichte  anerkannt 
und  von  Geschichtsforschern  geschichtlich  betrieben  werden '}.  .  Ge- 
schieht dies,  dann  verschieben  sich,  wie  das  Beispiel  Lamprechts 
zeigt,  sofort  dit  Probleme ;  der  Antöl  jedes  Elementes  an  der  Gesamt- 
entwickelang'  tritt  dann  deutlicher  zu  Tage,  und  die  anscheinend  so  ver< 
schiedenen  Lebensädseningen  der  Nation  werden  dadurch  wieder  von 
einem  gemeinsamen  Bande  umschlungen.  Es  zeigt  sich  dann,  dab  in 
allen  anscheinend  noch  so  sehr  voneinuider  abweichenden  Richtungen 
einer  Zeit  doch  ein  gemeinsamer  Zeitg'eist  zum  Ausdruck  kommt, 
und  dafs  die  Entwickelung  doch  schlieblicb  eine  Einheit  darstellt, 
aus  der  beliebig  einen  Teil  herauszugreifen  und  den  anderen  zu  ver- 
nachlässigen, unwissenschaftlich  ist 

Um  nnr  einen  Gedanken  aus  einem  anderen  Gebiete  —  als  Parallele 
zu  der  hier  allein  in  Frage  stehenden  Wirtschaftsgeschichte  —  anzudeu- 
ten, HO  wird  man  bisher  in  geschichtlichen  Gesamtdarstellungen,  die  sidi 
mit  der  Entstehung  des  Deutschen  Reiches  und  im  Zusammenhange  damit 
mit  der  Bildung  des  deutschen  Volkes  als  nationaler  Einheit  be- 
schäfUgen,  vei^eblich  nach  einer  eingehenden  Geschichte  des  Römischen 
Rechtes  in  Deutschland  vom  XVI. — ^XIX.  Jahrhundert  herab  suchen. 
Und  doch  liegt  es  für  den  Kundigen  auf  der  Hand  —  und  im  all- 
gemeinen ist  dies  auch  schon  manchmal  ausgesprochen  worden  — , 
dafe  wir  hier  einen  Faktor  vor  uns  haben,  der  fUr  die  Entwickelung 
des  Qnheitsgedankens  und  eines  Nationalgeiiihles  höchst  wicht^  gewesen 
ist    Das  Auffällige  dabei  ist  gerade,  dais  das  anfanglich  fremde  Recht 


t)  lodlaemSisaeiiat  UD£rol»«BdiedMttckcGe*duchle  DubeTnuKarl  Limprcckt 
betrachtet,    imd  der  DOtoniche  Uangel  an  Einidimlemcliiiiigeii,   die  alle  EncheinnDgen 
Act  modemeD  Lcbeni  ■UgemeiDgeichichtli  cb  behkadcln,  bat  ibo  Teruilafit,  ehe  er 
an    die  DanteUnng   dei   XVU.    nod  XVm.  JahrhaodtrU   innerhalb   seiner  DeuUehen  Ö^ 
tehiehle  heranfing,  in  nrei  Ergäruungsbänden  dam,  die  den  Titel  (Bbrea  Zur  jäng$ten 
deuttehen  Veryatigatheä  {a.  Bde.  in  3  Tcilci^  Beriin  bciw,  Fraborg  i.  Br.  190a — 1904} 
4lie  Vorgjmge  der  letitei 
Mummhaiig  einiareihen. 
eine  geviwe  AbhSngigkei 
beobachten  läTit.     Gcndi 
er  iit ,    dafa  eine  geicbii 
wirtichaftl  leben    Lebeni 
gut  nÖgUdk  ^  beginnt 


—     196     — 

schliefslich  dem  deutschen  Volke  zur  Rechtseinheit  verholfen  bat, 
indem  sich  das  alte  römische,  anfangs  mechanisch  rezipierte  Recht 
mit  deutschen  Rechtsgrundsätzen  vermischte  und  so  zu  einem  für 
alle  deutschen  Gaue  gültigen  deutschen  Rechte  wurde.  Wird  die 
Rechtsgeschichte  der  Neuzeit,  oder  auch  nur  die  Entwickelung  einer 
einzelnen  Rechtsinstitution,  unter  einem  solchen  allgemeinen  Gesichts- 
pimkte  verfolgt,  dann  hört  eine  derartige  Untersuchung  auf,  eine  ledig- 
lich juristisch -fachwissenschafUiche  Arbeit  zu  sein;  sie  wird  eine  ge- 
schichtliche Arbeit  im  besten  Sinne,  wenn  auch  selbstverständlich 
nur  der  allseitig  gebildete  Jurist  zur  Bewältigung  einer  solchen  Aufjgabe 
befähigt  und  berufen  ist.  Aber  an  Juristen,  die  sich  zugleich  als 
tüchtige  Geschichtsforscher  bewährt  haben,  ist  ja  heute  zum  Glück 
kein  Mangel. 

Dieses  Beispiel  soll  nur  andeuten,  in  welcher  Richtung  eine  Ver- 
tiefung der  geschichtlichen  Forschung  auf  den  der  Gegenwart  näher 
liegenden  Gebieten  und  eine  Verbreiterung  ihrer  Grundlage  gefordert 
wird.  In  der  Tat  sind  das  XVI.  und  XVII.  Jahrhundert  im  ganzen 
immer  noch  wesentlich  besser  allgemeingeschichtlich  beleuchtet  als 
das  XVni.  und  XIX.  Jahrhundert,  und  deswegen  wird  es  praktisch 
zweckmäfsig  sein,  vor  allen  Dingen  dem  XIX.  Jahrhundert  das  Augen- 
merk zuzuwenden,  das  nebenbei  in  recht  vieler  Hinsicht  Interesse 
bietet,  und  hinsichtlich  dessen  eine  Menge  alte  tendenziöse  Urteile  ge- 
wohnheitsgemäfs  weitergeschleppt  werden.  Für  die  Förderung  unserer 
weiteren  Erkenntnis  dürfte  es  sich  dann  empfehlen,  rückwärts  zu 
schreiten;  denn  nur  auf  diesem  Wege,  wenn  man  die  fernere  Ver- 
g^genheit  gewissermafisen  im  „Lichte  der  Erfüllung"  betrachtet, 
wird  es  gelingen,  auch  dem  XVIII.  Jahrhundert  allmählich  kultur- 
geschichtlich gerecht  zu  werden,  während  andrerseits  die  genauere 
Erforschung  des  Anfangsstadiums  der  modernen  Kultur  —  als  solches 
erscheint  uns  heute  die  Zeit  nach  1700  —  für  das  Verständnis  der 
unmittelbaren  Gegenwart  recht  wesentlich  werden  kann. 


Diese  allgemeinen  Erwägungen  mögen  als  Rechtfertigung  dafür 
dienen,  dafs  in  dieser  geschichtlichen  Zeitschrift  Fragen  erörtert 
werden,  die  der  neuesten  Zeit  angehören  und  deren  geschicht- 
licher Charakter  nicht  jedem  Leser  auf  den  ersten  Blick  verständlich 
sein  wird.  Doch  es  erscheint  ganz  allgemein  notwendig,  dafis  die 
bisherige  Scheu  vor  geschichtlich-wissenschaftlicher  Betrachtung  auch 
zeitlich  dem  Forscher  nahe  liegender  Verhältnisse  allmählich  schwindet. 


—     197     — 

Nur  wenn  dies  geschieht,  ist  auf  ein  volles  Verständnis  der  Gegenwart 
zu  rechnen,  und  dieses  ist  wiederum  notwendig,  wenn  man  gegen- 
wärtig systematisch  Material  sammeln  will,  das  später  einmal  zur 
gerechten  Beurteilung  unserer  Zeit  in  der  geschichtlichen  Erinnerung 
beitragen  soll.  In  solcher  Arbeit  erst  wird  sich  wirklicher  geschicht- 
licher Sinn  offenbaren! 

Ganz  besonders,  mehr  als  für  andere  Gebiete,  gilt  diese  Forderung 
für  das  Wirtschaftsleben,  und  zwar  deshalb,  weil  in  dieser  Beziehung  die 
öffentlichen  staatlichen  und  kommunalen  Archive  später  einmal  versagen 
müssen;  denn  da  sich  das  wirtschaftliche  Leben  heute  zum gröfsten Teile 
ohne  unmittelbare  behördliche  Beeinflussung  vollzieht,  enthalten  die  Re- 
gistraturen der  Behörden  fast  nichts,  was  als  gute  Quelle  gelten  kann. 
Deshalb  erscheint  heute  sowohl  die  sorgsame  Pflege  der  neueren  Wirt- 
schaftsgeschichte,  als  auch  die  Materialsammlung  für  die  Zukunft  als 
Notwendigkeit.     Aber  auch  noch  andere  Gründe  kommen  hinzu. 

Die  Erfahrung  hat  gelehrt,  da&  man  im  Laufe  des  XDC.  Jahr- 
hunderts aus  Unachtsamkeit  tmd  in  Verkennung  seines  Wertes  sehr 
viel  wirtschaftsgeschichtliches  Quellenmaterial,  d.  h.  Geschäftsbücher, 
geschäftliche  Briefwechsel  usw.,  vernichtet  hat,  so  dafs  es  recht 
fraglich  geworden  ist,  ob  sich  eine  künftige  Geschichte  der  wirt- 
schaftlichen EntWickelung  Deutschlands  im  verflossenen  Jahrhundert 
überhaupt  in  genügendem  Umfange  auf  unnüttelbare  Quellen  wird 
stützen  können.  Die  der  Zeit  selbst  entstammenden  tendenziösen 
Bearbeitungen  —  und  das  sind  mehr  oder  weniger  alle,  die  praktischen 
Zwecken  dienen,  —  werden  voraussichtlich  schlechtere  Dienste  leisten, 
als  es  bei  denen  des  XV.  und  XVI.  Jahrhunderts  der  Fall  ist,  bei 
denen  die  unbeholfenere  Art  der  Stoffbewältigung  die  Grundlage 
leichter  erkennen,  und  die  tendenziöse  HüUe  leichter  entfernen  läüst. 
Wenn  wir  aber  heute,  zu  Beginn  des  XX.  Jahrhunderts,  diese  Übel- 
stände als  solche  erkennen,  dann  wird  es  zur  Pflicht,  künftig  sorgsamer 
zu  verfahren,  die  Erhaltung  des  Materials  furder  nicht  mehr  dem  Zu- 
fall zu  überlassen,  sondern  in  der  Gegenwart  schon  systematisch 
zu  sammeln,  damit  wir  der  nächsten  Generation  neben  anderen  Gütern 
auch  einen  quellenmäfisigen  Niederschlag  der  Wirtschaftsverhältnisse 
unserer  Zeit  hinterlassen. 

Dazu  kommt  aber  noch  ein  weiteres.  Es  ist  jetzt  endlich  an 
der  Zeit,  dafs  im  Bewufistsein  der  fuhrenden  Kr^ie  unseres  Volkes 
das  Verständnis  für  die  G^enwart  wächst,  und^pRpHM|M|U['  vom 
Getriebe  der  Parteipolitik ,  in   deren  Interesse^  ^^^^Bp  ge- 

sagt werden  —  heute  die  ntuzeiÜMkmaßti^^^  ^^^^Hpben 


—     108     — 

Volkes  vielfach  absichtlich  und  unabsichtlich  veczenrt  dargestellt  worden 
ist.  Ganz  willkürliche  Behauptungen  können  gerade  deshalb  so  leicht 
angestellt  werden,  weil  es  an  offen  liegenden  Quellen  und  Sonder- 
untersuchungen fehlt,  auf  Grund  deren  sich  das  G^enteil  rasch  nach- 
weisen lielse. 

Als  weiteres  Moment  kommt  endlich  die  weiter  untenzu  besprechende 
Forderung  sorgfaltiger  Beobachtung  der  wirtschaftlichen  Tatsachen  im 
Interesse  der  nationalökonomischen  Systematik  in  Betracht 

Aus  diesen  Gründen  ergibt  sich  die  Notwendigkeit,  gewisse  An- 
stalten zu  gründen,  dieerstensdie  primären  wirtschaftsgeschichtlichen 
Quellen  aus  dem  XIX.  Jahrhundert,  soweit  es  nachträglich  irgend 
möglich  ist,  sammeln,  und  zweitens  in  der  Gegenwart  schon  in 
demselben  Sinne  für  die  Zukunft  wirken.  Solche  Anstalten,  mögen 
sie  nun  selbständig  sein,  oder  sich  an  andere  bestehende  Institute 
anlehnen,  verdienen  den  Namen  „Wirtschaftliche  Archive"  oder  viel- 
leicht auch  kurz  „Wirtschaftsarchive''  ^).  Auf  diese  Anstalten,  die  das 
Material  retten  und  erhalten  sollen,  wird  es  in  erster  Linie  ankommen; 
d^in  die  gewünschte  Verarbeitung  hat  nicht  nur  das  Vorhandensein 
zuverlässiger  Quellen  zur  Voraussetzimg,  sondern  wird  durch  nichts 
mehr  gefördert,  als  wenn  man  der  bisher  immer  nur  beklagten  Zer- 
streuung und  Vernichtung  der  Quellen  tatsächlich  steuert  und  im  voraus 
für  ihren  guten  Zustand  sorgt.  Bisher  hinderten  beide  Ubelstände 
fast  regelmäfsig  eine  systematische  und  ersprieisliche  Arbeit,  denn 
wenn  gelegentlich  auch  einmal  ein  besonders  fleifisiger  und  glücklicher 
Arbeiter  alle  Schwierigkeiten  und  Hindemisse  überwand »  so  konnte 
im  allgemeinen  doch  nie  mit  der  wünschenswerten  Lust  und  Schnellig- 
keit gearbeitet  werden.  Mag  auch  die  abgerundete  Darstellung  für  weitere 
Kreise  immer  als  das  letzte  Ziel  erscheinen,  so  ist  doch  andrer^ 
seits  dafür  längst  nicht  alles  Material  geeignet;  aber  auch  dasjenige, 
für  welches  letzteres  zutrifft,  ist  in  seinen  Einzelheiten  wissenschaftlich 
wertvoll  und  kann  nur  durch  die  archivalische  Behandlung  gerettet 
und  zugänglich  gemacht  werden.  Auch  auf  dieses  ist  mithin  die  Obacht 
auszudehnen,  und  da  sich  von  vornherein  über  den  Wert  gewisser 
Geschäflspapiere  für  die  Forschung  ein  endgültiges  Urteil  überhaupt 


i)  Eio  solchef  ArchiT  besteht  bereits,  ood  zwtr  ist  dies  das  too  Prof.  Richard 
Ehrenberg  in  Rostock  ins  Leben  gerufene  „Thttnen-ArchiT''.  Ein  sweites  soU  ia 
Kd'ln  gegründet  werden.  Anf  diesen  «nd  andere  plane  wird  im  Folgenden  noch  näher 
eingegangen:  Im  allgemeinen  ist  zu  Tergleichen  des  Verfassers  Ao&atz  2Sur  Frage  dar 
nmenn  WirUckafisgesehiMe  in  der  „Deutschen  Indostrieseitong^,  24.  Jahrg.  (1905) 
Kr.  II  md  13  rom  17.  and  34.  Mars  190$. 


—     199     — 

nicht  fällen  lä&t,  so  muiis  in  fluög^chat  groisem  Umfang«  die  Sammlui^ 
primärer  Quellen  und  ihre  dauernde  Aufbewahrung  ange8trd>t  werden. 

Jetzt  erhebt  sich  sofort  (Ue  Frage:  welches  sind  denn  die 
primären  Quellen  der  neueren  Wirtschaftsgeschichte? 
Sie  sind  gewiä  recht  verschiedener  Art,  aber  so  verschieden  sie  sein 
mögen,  eins  ist  ihnen  gemeinsam:  als  primäre  Qudlen  können 
nttr  solche  schriftlich  fixierte  Tatsachen  des  wirtschafdichen  Lebens 
betrachtet  werden,  die  unmittelbar  auf  einen  Einzelbetrieb  (Einzel- 
wirtschaft), d.  h.  dine  wirtschaftliche  Unternehmung,  einen  Handwerks- 
betrieb oder  eine  Haushaltung,  zurückgehen. 

Mit  Recht  bat  sich  die  Forschung  mit  liebevoller  Sorgfalt  den 
wenigen  kaufmännischen  Geschäftsbüchern  zugewandt,  die  uns  aus  dem 
Mittelalter  überkommen  sind;  jeder  kaufmännische  Brief,  jedes  Waren- 
verzeichnis, dafis  man  etwa  im  XVI.  Jahrhundert  zu  einem  ganz  be- 
stimmten Zwecke  angelegt  hat,  wird  als  unmittelbare  Quelle  für 
das  Wirtschaftsleben  jener  Zeit  hochgeschätzt,  aber  gleichzeitig  wird 
an  denselben  Erzeugnissen  aus  unserer  Zeit  achtlos  vorübergegangen! 
Die  Forschung  beachtet  sie  gar  nicht,  oder  höchstens  vereinzelt  er- 
haltene Stücke,  die  schon  einige  Jahrzehnte  alt  sind,  als  ein  Kuriosum. 
Die  heute  allgemein  beliebte  „volkswirtschaftliche"  Betrachtung^) 
hat  -^  wohl  infolge  einer  mifsverständlichen  Deutung  des  Wortes  — 
zu  einer  ganz  auffälligen  Geringschätzung  der  einzelnen  privatwirt- 
schaiUichen  Unternehmung,  auch  innerhalb  der  geschichtlichen  und 
volkswirtschaftlichen  Betrachtung  geführt  Trotzdem  ist  diese  das 
einzig  greifbare  Objekt  wirtschaftswissenschaftlicher  Untersuchung,  und 
eist  die  Summe  aller  vorhandenen  Unternehmungen  und  sonstigen 
Betriebe  sowie  die  zwischen  diesen  bestehenden  Beziehungen 
—  eine  abstrakte,  nicht  meisbare  Grölse  —  stellen  zusammen  die 
„Volkswirtschaft"  dar;  letztere  ist  wohl  fiir  den  Gesetzgeber  und  Poli- 
tiker, fiir  die  das  wirtschaftliche  Gemeinwohl  in  Frage  kommt,  der 

i)  Das  Wort  „Volkswirtschaft"  bezw.  „Nationalökonomie*'  wird  heute 
nicht  nur  im  Sinne  Ton  „Politischer  Ökonomie"  angewandt,  sondern  wird  durchgängig 
auch  in  Fällen  gebraucht,  wo  ganz  allgemein  nur  Ton  der  Erörterung  unter  wirtschaft- 
liehen  Gesichtspnidcten  die  Rede  ist  Dies  leitet  in  redit  vielen  FäUen  selbst  den 
FMhBiann  irre  und  Temrsmcht  ^filsTentindnisse.  Deshalb  ist  es  sachlich  «in  Fortschritt, 
wenn  Ehrenberg  jetzt  in  diesem  allgemeinen  Sinne  einfach  ron  „Wir tschafts wissen- 
Schaft"  nnd  „wirtschaftswissenschaftlicher  Forschung"  spricht,  wie  wir 
längst  gewöhnt  sind,  Ton  Natur-  und  Gesellschaftswisseaschaft  eu  sprechen.  Die  Wirt- 
schaftswissenschaft nmiaist  dann  natürlich  sowohl  dio  ¥oI]m-  dl  wich  die  Privat« 
Wirtschaft,  oad  anf  letztere  kommt  es  bei  im  SHlfNiff||||^l^^idWbi^^  ^^f* 
wiegend  an. 


—     200     — 

Gegenstand  des  Interesses,  aber  fUr  die  Wissenschaft  wie  für  den 
Unternehmer  selbst  mufe  der  Einzelbetrieb  in  den  Vordergrund  treten, 
damit  auf  diesem  Wege  die  volkswirtschaftliche  Untersuchung  einen 
zuverlässigen  Untergrund  erhält. 

Mit  überzeugender  Klarheit  hat  Richard  Ehrenberg  diesen 
Punkt  erörtert^),  und  darin  zugleich  die  Ursache  dafür  erkannt,  dafs 
die  moderne  Volkswirtschaftslehre  so  wenig  vorwärts  gekommen  ist 
Er  tritt  energisch  für  eine  exakt-vergleichende  Methode  wirt- 
schaftswissenschaftlicher Forschung  ein  und  führt  etwa  das 
Folgende  aus.  Das  exakte  Verfahren,  wie  es  die  Naturwissenschaften 
kennen,  benutzt  das  Experiment,  um  sich  Beobachtungsmaterial  zu 
verschaffen;  dieses  Material  wird  gemessen,  und  die  Messungen 
werden  verglichen.  Das  Experiment  versagt  jedoch  bei  der  Ergrün- 
duxig  gesellschaftlicher  Vorgänge,  imd  deshalb  muls  das  Beobach- 
tungsmaterial ,  das  man  messen  und  dann  vergleichen  kann, 
auf  andere  Weise  beschafüt  werden.  Dieses  gesuchte  Beobach- 
tungsmaterial liefern  die  Registrierungen  wirtschaftlicher 
Tatsachen  zu  praktischen  Zwecken *).  In  Wirklichkeit  werden 
wirtschaftliche  Tatsachen  der  Volkswirtschaft  nur  in  bescheidenen 
Grenzen  registriert,  und  deshalb  fehlt  es  für  exakte  volksvrirtschaft- 
liehe  Untersuchungen  an  geeigneten  Quellen.  Ganz  anders  sieht  es 
mit  den  Privatwirtschaften,  sowohl  mit  den  Erwerbs-  als  auch 
den  Verbrauchswirtschaften,  aus.  Diese  haben  ihrer  Natur  nach  eine 
eigene  in  sich  geschlossene  und  z.  T.  gesetzlich  vorgeschriebene 
Wirtschaftsführung,  innerhalb  deren  und  zu  deren  Ermöglichung  die 
einzelnen  Tatsachen  exakt  gebucht  werden.  „Diese  automatische  Regi- 
strierung wirtschaftlicher  Tatsachen  durch  die  Wirtschaftseinheiten  nennt 
man  Buchführung.  Sie  ist  für  die>^rtschaflswissenschaften  das  wichtigste 
Mittel,  um  ein  ausreichendes  Material  an  sicher  festgestellten  wirtschaft- 
lichen Tatsachen  zu  erlangen.*'  Die  systematische  Vergleichung 
so  gewonnener  Einzeltatsachen  führt  zur  Erkenntnis  typischer  Kausal- 
verknüpfungen, die  uns  als  wirtschaftliche  Gesetze  erscheinen. 

Soweit  Ehrenberg,  für  den  als  Vertreter  der  Nationalökonomie 
oder  besser  der  Wirtschaftswissenschaft  deren  Systematik  unmittel- 
barer Zweck  der  Untersuchung  ist    Aber  der  Wirtschafts historiker 


I)  Tkünm-Arehuf^  Organ  für  exakte  Wirteehafteforeehung,  i.  Jahrg.  (Jena, 
GiifUT  Fischer,  1905),  S.  8 — 11. 

3)  Auf  das  hohe  Mais  rott  ZaTerUssigkeit  und  GUnbwflrdigkeit ,  das  solcheo 
y,  Rechnungen  *<  als  QaeUen  innewohnt,  hat  Verfuser  bereits  1899  in  seinem  Anfiatse  iStodf- 
reeknungen  (Deutsche  Geschichtsblltter,  i.  Bd.  S.  65)  hingewiesen. 


—    201     — 

kaon  ihm  unbedenklich  in  seinem  bisherigen  Gedankengange  folgen, 
trotz  des  scheinbaren  Widerspruchs  mit  Ehrenbergs  eigenen  Aus- 
führungen über, die  „historische  Richtung"  in  der  Nationalökonomie  ^). 
Denn  erstens  handelt  es  sich  für  ihn  um  Wirtschaftsgeschichte  als 
Geschichte  und  nicht  um  geschichtliche  Erörterungen,  die  als  Ersatz 
für  theoretisch-nationalökonomische  Gedankenarbeit  gelten  sollen,  und 
zweitens  mufis  gerade  der  Historiker  Ehrenberg  unbedingt  zustimmen, 
wenn  er  sagt:  „Vor  allem  sind  die  (durch  historische  Arbeiten)  ermittelten 
Tatsachen  für  eine  neue  Grundlegung  der  Volkswirtschaftslehre  gar 
nicht  geeignet.  Denn  was  Staats-  und  Gemeindearchive  von  den  wirt- 
schaftlichen Zuständen  der  Vergangenheit  berichten,  ist  im  Verhältnis 
zur  Wirklichkeit  viel  zu  wenig  und  vor  allem  zu  ungenau  fest- 
gestellt, als  dafs  sich  daraus  die  Ursache  der  wirtschaftlichen  Tat- 
sachen mit  irgendwie  annähernder  Sicherheit  ermitteln  liefise/*  Insofern 
ist.  ganz  offensichtlich  alle  bisherige  Wirtschaftsgeschichte  recht 
lückenhaft,  und  es  ist  dringend  nötig,  für  die  Zukunft  wenigstens,  eine 
Besserung  herbeizuführen  durch  systematische  Materialsamm- 
lung in  Wirtschaftsarchiven.  Und  Ehrenbergs  neuste  Arbeiten 
sind  überdies  nur  die  Fortsetzung  seiner  rein  geschichtlichen  Unter- 
suchungen, die  ihm  gerade  gezeigt  haben,  wie  unzulänglich  die  bis- 
herige wirtschaftsgeschichtliche  Arbeitsweise  ist,  ganz  abgesehen 
vom  Zustande  der  Quellen.  Eine  gute  wirtschaftsgeschichtliche  Dar- 
stellung, wie  sie  auf  Grund  des  angesammelten,  archivalischen  Mate- 
rials denkbar  und  wünschenswert  ist,  hat  allerdings  eine  wirtschafts- 
wissenschaftliche Systematik,  ein  auf  exakte  Beobachtungen  ge- 
gründetes wirtschaftswissenschaftliches  System  als  heuristisches  Mittel 
für  die  Ordnung  der  Tatsachen  der  Vergangenheit  zur  Vorausset- 
zung. Gewinnt  sie  aber  dann  ihrerseits  exakte  Beobachtungen,  so 
führt  sie  zugleich  der  wirtschaftswissenschaftlichen  Systematik  neues 
Material  zu.  So  sind  Wirtschaftsgeschichte  und  Wirtschaftssyste- 
matik dauernd  eng  miteinander  verbunden;  beide  sind  fiir  die  Zu- 
kunft berufen,  einander  mehr  als  bisher  zu  ergänzen.  Wenn  die  bei 
beiden  zur  Anwendung  kommende  Arbeitsweise  auch  grundsätzlich 
verschieden  ist,  so  verarbeiten  doch  beide  dasselbe  Material,  nur 
unter  verschiedenen  Gesichtspunkten, 

Um   die   Notwendigkeit  einer   intensiven    allseitigen  Erforschung 
der   einzelnen  wirtschaftlichen  Unternehmungen    recht    zu    erkennen, 

i)  Tkünen-Arehiv,  i.  Jahrg.,  S.  3^4. 


—     »2     — 

wird  es  nützlich  sein,  zweierlei  zu  beobachten,  erstens  die  Literatur 
über  die  Unternehmung  als  s(dcbe,  und  zweitens  einige  vorhandene 
Monographien  über  einzelne  Unternehmungen,  wobei  die  verschie- 
densten Arten  berücksichtigt  werden  sollen.  Selbstverständlich  kann  es 
sich  nicht  um  eine  erschöpfende  Darstellung  dieser  Gegenstände 
handeln,  sondern  nur  um  Stichproben,  was  den  zweiten  Punkt  an* 
belangt,  und  um  die  allgemeine  Literatur,  soweit  der  erstere  in  Frage 
kommt  Denn  auch  die  in  der  streng  wissenschaftlich-volkswirtschaft- 
lichen Literatur  enthaltenen  einschlägigen  Erörterungen  können  an 
der  Tatsache  nichts  ändern,  dafs  innerhalb  der  allgemeineren  Literatur 
und  in  den  Lehrbüchern  die  Unternehmung  entschieden  zu  kurz 
kommt;  deshalb  verhält  sich  auch  das  öffentliche  Bewuüstsein  ihi 
gegenüber  so  merkwürdig  gleichgültig,  während  andere  relativ  gering- 
ftigige  Erscheinungen  des  wirtschaftlichen  Lebens  die  öfienÜichkeit 
viel  mehr  in  Anspruch  nehmen.  Der  Grund  dafür  ist,  dafis  die  Masse 
unserer  wirtschaftswissenschaftlichen  Literatur  mehr  oder  weniger  sozia- 
lis tisch  beeinflufst  ist;  dem  Sozialisten,  der  den  grundsätzlichen 
Unterschied  zwischen  Handarbeit  und  Kopfarbeit  nicht  anerkennt, 
pafst  eine  wahrheitsgemäße  Schilderung  der  Unternehmung,  die  eben 
das  organisierte  Zusammenarbeiten  beider  Arten  von  Arbeiten  unter 
Leitung  des  Unternehmers  darstellt,  nicht  in  sein  System,  und  deshalb 
wird  dieses  ganze  Gebiet  möglichst  beiseite  gelassen.  Es  ist  ganz 
bezeichnend,  dafs  lediglich  ein  damit  zusammenhängender  Punkt, 
nämlich  der  „Untemehmergewinn**,  monographisch  oft  behandelt 
worden  ist,  aber  fast  durchgängig  nicht  vorurteilsfrei.  Dies  kann 
weiter  gar  nicht  wundernehmen,  da  das  Wesen  und  der  Geist  der 
Unternehmung,  was  die  Voraussetzung  wäre,  noch  so  wenig  bearbei- 
tet ist. 

Die  Unternehmung  ist  zwar  diejenige  Orgfanisation  der  Er- 
werbswirtschaften, innerhalb  deren  sich  gegenwärtig  in  Deutschland 
der  bei  weitem  gröfste  TeU  aller  wirtschafUichen  Tätigkeiten  vollzieht« 
aber  dennoch  ist  sie  nii^ends  in  der  Literatur  erschöpfend  beschrieben, 
ja  nicht  einmal  der  Versuch  dazu  ist  ii^endwo  gemacht  worden« 
Die  Fabrik,  die  doch  nur  einen  Teil  der  Unternehmung,  und  zwar 
den  äufserlich  sichtbaren,  darstellt,  ist  viel  besser  bedacht  Dagegen 
die  nur  durch  geistige  Arbeit  zu  erfassende  und  in  geistiger  Arbeit 
bestehende  Organisation  der  Untemehmimg  ist  ein  ganz'unangebautes 
Feld,  und  es  scheint  fast,  als  ob  der  Mehrzahl  wirtschaftswissenschaft- 
licher Forscher  das  Verständnis  dafür  fehlt,  wie  andrerseits  auch  die 
Historiker  noch  nicht  erkannt  zu  haben  scheinen,  welche   grofse  ge« 


—     203     — 

schichtliche  Bedeutung,  auch  politisch,  die  Entwickehmg  der  Unter- 
nehmung besitzt,  so  dais  ihr  Studium  eine  Grundbedingui^  fiir  das 
Verständnis  des  XIX.  Jahrhunderts  ist 

Im  allgemeinen  hat  eine  Würdigung  des  Unternehmertums  vor 
neun  Jahren  einmal  Vorster  in  seiner  Broschüre  Die  Qroßimdustriey 
eme  dßr  Grundlagen  nationaler  Soßidlpolitik  (Jena  1896)  versucht, 
aber  das  war  nur  die  Stimme  eines  Predigers  in  der  Wüste.  Neuer- 
dings hat  wiederum  Richard  Ehrenberg,  der  allen  diesen  Problemen 
von  den  sämtlichen  akademischen  Vertretern  der  Wirtschaftswissen- 
schaften das  meiste  Verständnis  entgegenbringt,  auch  in  dieser  Frage 
das  Wort  ergriffen  und  in  einer  kleinen  Schrift,  SoBiaJreformer  und 
Unternehmer  (Jena  1904),  eindringlich,  leicht  verständlich  und  ohne 
jiede  Voreingenommenheit  nach  irgendeiner  Seite  hin  die  allgemeine 
Bedeutung  des  Unternehmers  klargel^t.  Seine  Darlegungen'  über 
Das  Wesen  der  newseiüiehen  Unternehmung  *)  fuhren  dann  an  der 
Hand  der  Geschichte  der  Firma  Siemens  &  Halske  tiefer  in  diese 
Probleme  ein;  sie  wollen  vor  allem  zeigen,  wie  sich  das  Kapital  zu 
der  Person  des  Unternehmers  verhält,  und  lehren,  dals  es  den  wirt- 
schaftlichen Tatsachen  Gewalt  antun  heifst,  wenn  man  das  Kapital 
derartig,  wie  es  heute  üblich  ist,  in  den  Vordergrund  stellt,  geradezu 
das  Wesen  der  Unternehmung  durch  die  Benötigung  von  Kapital 
bestimmt  glaubt,  und  dementsprechend,  um  die  moderne  Wirtschafts- 
weise zu  charakterisieren,  von  „Kapitalismus"  spricht.  Dies  ist 
um  so  bedeutsamer  gerade  in  dem  Augenblicke,  in  dem  dieses  etwas 
abgebrauchte  Wort  durch  Werner  Sombart  einen  neuen  wissen- 
schaftlichen Anstrich  bekommen  hat. 

Aber  neben  den  Vertretern  der  Wirtschaftswissenschaften  hat  in 
neuerer  Zeit  auch  ein  Historiker  sich  bemüht,  der  Unternehmung  in 
der  öffentlichen  Meinung  zu  ihrem  Rechte  zu  verhelfen,  und  das  ist 
Lamprecht  in  seinem  oben  schon  angezogenen  Werke  .2iir  juti^s^ 
deutstken  Vergangenkeit,  Als  Einteilungsgrund  zur  Abgrenzung  ge- 
schichtlicher Perioden  betrachtet  Lamprecht  bekanntlich  sozialpsychi- 
sche Dispositionen,  d.  h.  eme  gewisse  Struktur  des  geistigen  Menschen, 
die  für  eine  bestimmte  Periode  typisch  ist;  es  ist  dies  im  Grunde 
der  denkbar  schärfste  Gegensatz  zu  der  sogenannten  „materialistischen" 
Geschichtsauffassung.  Die  jüngste  Periode  der  Entwickelung,  als 
deren.  Charakteristikum  ihm  die  zum  Selbstverständlichen  gewordene 
Nervosität,   die  „Reizsamkeit'S  erscheint,   findet  aber  nach  ihm  ihrca 


i)  Im  Thünen-'ArehiPt  i.  Jahrg.,  S.  34  ff. 


—     204     — 

typischen  Vertreter  im  Unternehmer,  und  auf  diese  Weise  erhält 
dieser  eine  ganz  besondere  Stellung  angewiesen:  er  erscheint  nicht 
mehr  lediglich  als  wirtschaftlicher  Organisator,  sondern  zugleich 
als  geistiger  Typus.  Wenn  Lamprechts  Darstellung  in  beiden  Hin- 
sichten gelegentlich  auch  den  Widerspruch  herausfordert,  so  daif 
andrerseits  nicht  vergessen  werden,  dafs  diese  Dinge  in  der  Literatar 
bisher  so  kurz  weggekommen  und  so  einseitig  behandelt  worden  sind, 
und  dafs  es  an  exakten  Beobachtungen  so  sehr  fehlt.  Gerade  dieser 
Umstand  mufe  ein  neuer  Sporn  sein,  das  Unternehmertum  von  ge- 
schichtlichem Standpunkte  aus  zu  untersuchen. 

Was  die  Monographien  über  einzelne  Unternehmun- 
gen anbelangt,  so  ist  ihre  Zahl  zwar  nicht  ganz  gering  '),  aber  wohl 
ihre  wissenschaftliche  Bedeutung.  Das  hat  u.  a.  seinen  Grund  darin, 
dafe  die  Verfasser  vielfach  Liebhaber  ohne  genügende  historisch-volks- 
wirtschaftliche Schulung  sind,  Aufserdem  bilden  in  der  Regel  Jubiläen 
den  Anlais  zu  solchen  Arbeiten,  und  es  wird  dann  erst  viel  zu  spät 
an  die  Lösung  der  schwierigen  Aufgabe  herangegangen.  Es  läist  sich 
aber  auch  nicht  leugnen,  dafs  tatsächlich  weitere  Kreise,  sowohl  unter 
den  Vertretern  der  praktischen  Arbeit  als  auch  unter  denen  der 
Wissenschaft,  noch  kein  rechtes  Verständnis  für  die  sachliche  Bedeu- 
tung besitzen,  die  der  Geschichte  eines  beliebigen  Handlungshauses 
oder  der  eines  industriellen  Unternehmens  zukommt.  Gewifs  gibt  es 
auch  manche  gute  Arbeit  unter  jenen  Monographien,  aber  bislang 
sind  dies  Ausnahmen,  und  aus  allgemeinem  Interesse  ist  erst  in  aller- 
jüngster  Zeit  Oskar  Stillich  zur  Bearbeitung  Nationdlokonamiseher 
Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  großindusfrieUen  Unternehmung  fort- 
geschritten, indem  er  in  einem  ersten  Bande  (Berlin,  Siemenroth,  1904) 
fiinf  Unternehmungen  der  Eisen-  und  Stahlindustrie  (Hoerder  Berg- 
werks- imd  Hüttenverein;  Ilseder  Hütte  und  das  Peiner  Walzwerk; 
Dortmunder  Union ;  Phönix,  Aktiengesellschaft  für  Bergbau  und  Hütten- 
betrieb; Vereinigte  Königs-  und  Laurahütte)  in  ihrer  geschichtlichen 
Entwickelung  beschrieben  hat.  Angesichts  der  grofsen  Schwierigkeiten, 
die  sich  solcher  Arbeit  bisher  entgegenstellten,  ist  diese  Veröffent- 
lichung eine  wissenschaftliche  Tat  von  grofser  Bedeutung,  die  über 
das,  was  heute  noch  als  tatsächlicher  Zustand  gelten  muls,  bereits 
hinausfährt,  und  jeder  Kenner  unserer  Wirtschaftszustände  und  der 
Literatur  darüber  wird  dem  Verfasser  beistimmen,  wenn  er  im  Vorwort 

i)  Der  Raam  gestattet  nicht,  hier  eine  gröüert  Anzahl  solcher  Schriften  eingehend 
zn  behandeln ;  wir  müssen  uns  mit  einer  Aaswahl  Ton  Typen  begnügen.  Eine  Bibliographie 
wird  an  anderer  Stelle  gegeben  werden. 


—     206     — 

sagt :  „....,  denn  die  monographische  Darstellung  gro(skapitatistischer 
Betriebe,  wie  sie  ihren  prägnantesten  und  reinsten  Ausdruck  in  der 
Form  der  Aktiengesellschaft  erhalten  haben,  ist  heute  ein  fast  un- 
beschriebenes Blatt  der  deskriptiven  Nationalökonomie/'  Dieser 
eine  in  die  Zukunft  hinüberleitende  Ansatz,  mit  dem  in  Verbindung  nur 
Ehrenbergs  Untersuchungen  genannt  werden  können,  kommt  bei  einer 
Charakteristik  des  heutigen  Zustandes  nicht  weiter  in  Betracht,  denn 
auch  hier  macht  eine  Schwalbe  keinen  Frühling.  Dem  guten  Willen 
und  der  wissenschaftlichen  Stellungnahme  entspricht  aufserdem  der 
Erfolg  nicht  völlig,  da  wichtiges  Quellenmaterial  teils  nicht  mehr 
vorhanden  war,  teils  wenigstens  dem  Verfasser  nicht  zugänglich  ge- 
macht worden  ist ').  Deshalb  stellt  heute  immer  noch  die  von  einem 
Geschäftsinhaber  oder  von  einem  in  seinem  Auftrage  tätigen  Bearbeiter 
verfaüste  Jubiläumsschrift  den  Typus  der  Monographie  über  eine 
einzelne  Unternehmung  dar. 

Manche  derartige  Untersuchung  läüst  erkennen,  welches  reich- 
haltige Quellenmaterial  dem  Bearbeiter  vorgelegen  hat,  und  desto 
mehr  ist  es  dann  zu  bedauern,  daüs  der  Verfasser  die  Wichtigkeit 
der  Au^abe,  zu  deren  Lösimg  er  berufen  war,  nicht  erkannt  hat, 
dafs  er  nicht  tiefer  in  den  Stoff  eingedrungen  ist  und  auf  eine  inten- 
sive allseitige  Ausbeutung  der  Geschäftsbücher  verzichtet.  Dies  gilt 
z.  B.  für  die  Festschrift,  welche  die  Leipziger  Tee  -  Importfirma 
Riquet  &  Co.  bei  der  Feier  ihres  150  jährigen  Bestehens  1895  hat 
erscheinen  lassen').  Dieses  kleine  Heflchen  läist  nur  ahnen,  über 
welch  prächtiges  Material  aus  dem  XVIII.  Jahrhundert  die  Firma 
verfügt.  Ob  das  XIX.  Jahrhundert  weniger  gut  bedacht  ist,  oder  ob 
lediglich  Mitteilimgen  daraus  fiir  überflüssig  gehalten  wurden,  weil 
diese  Dinge  weniger  interessant  erschienen,  mufis  dahingestellt  bleiben. 
Die  beiden  Faksimileblätter  aus  dem  ersten  Hauptbuch  (1746/47) 
und  dem  1767  begonnenen  Schiff slmch  (1784)  zeigen  jedenfalls  hin- 
länglich, welchen  Gewinn  die  Wissenschaft  aus  einer  sachgemäfsen 
Bearbeitung  dieses  Stoffes  ziehen  könnte.  Eine  andere  Leipziger  Firma, 
die  Drogenhandlung  Brückner,  Lampe  &  Co.,  1750  gegründet, 
hat  ebenfalls  zum  150  jährigen  JubUäum  eine  Festschrift  veröflfentlicht  *). 

i)  Ober  dat  geringe  EntgegeDkommen ,  das  StUlich  bei  Tielen  Unteniehmero  ge- 
funden bat,  klagt  er  beweglich  im  Vorwort  $.  VIU — IX. 

2)  150  Jahre  des  Bestehens  der  Firma  Riquet  cO  Co.,  gegründet  am  15.  No- 
vember 1745,  Leipzig.    (29  S.  8*.) 

3)  150  Jahre  einer  deutsehen  Drogenhandlung  1750-^1900.  Bin  Beitrag  «tir 
Oesehiehie  der  Firma  Brückner,  Lampe  db  Co.  Leipzig,  Berlin,  Hamburg,  f^-^ 
Groüi  8^} 


—     206     — 

Das  Quellenmaterial  zur  Geschichte  des  Hauses   —  seine  Geschäfts- 
papiere —  scheint  im  ganzen   weniger   gut   erhalten   zu   sein    als 
bei  der  zuerst  genannten  Firma,   aber  der  Inhalt  der  Festschrift  ist 
wesentlich  reicher.    Vor  allem  interessieren  die  Er&hrungen,  die  die 
Geschäftsinhaber  während  der  Kontmentalsperre  gemacht  haben,   und 
aus  dieser  Zeit  sind  i8  Geschäftsbriefe  im  Auszug  mitgeteilt,  die  für 
die  damals  herrschenden  Zustände  als  unmittelbar  aus  dem  Geschäfts- 
leben  herausgewachsene    Quellen,    die    nur   ftir   Vertraute   bestimmt 
waren,  hervorragenden  Wert  besitzen.     Höchst  wichtige  Preiskurante 
von  Drogerien   sind  im  Faksimile   wiedergegeben,    und  zwar  solche 
von    1757,    182 1   und   1826.     Ob   dies   die   einzigen  erhaltenen    aus 
weiterer  Vergangenheit    sind,    läist  sich  aus  den   Mitteilungen  nicht 
erkennen.     Recht  nützlich   ist  femer  eine    1875   verfafste  Zusammen- 
stellung der  verschiedenen  Drogen   mit  Angabe  des  Jahres,  in  dem 
sie  zuerst  in  den  Handel  gekommen  sind:  im  Jahre  1847  erst  wurde 
Guttapercha  nach  Deutschland  eingeführt,  und  in  demselben  Jahre 
zuerst  Chloroform  hergestellt.    Dann  werden  eine  Reihe  politischer 
Ereignisse  1824 — 1874  mit  ihren  Rückwirkungen  auf  den  Handel  auf- 
geführt —  diese  Zusammenstellung   ist  schon   gelegentlich  des  Jubi- 
läums von  187s  niedergeschrieben  worden  — ,  imd  schliefslich  wird  ein 
besonderer  Rückblick  auf  das  Geschäftsjahr  1874  gegeben.    Das  sind 
Dinge  von  bleibendem  Werte,  wenn  wirklich  exakte  Beobachtungen 
aus  dem  einen  Geschäft  zugrunde  liegen.    Wenn  ein  Kauftnann  solche 
Übersichten  —  natürlich  in  der  bewufsten  Absicht,  nichts  anderes  als 
das  in  seinem  Geschäft  individuell  Beobachtete,  das,  was  er  aus  den 
Zahlen   seiner  Bücher  herausgelesen   hat,   niederzuschreiben  — ,   Jahr 
für  Jahr  für  sein  Archiv  zusammenstellen  wollte,   dann  könnte  durch 
solche   „persönliche  Aufzeichnungen"  in  der  Tat  allmählich  ein  vor- 
zügliches authentisches  Material  gewonnen  werden,  und  für  den,  der 
als  Geschäftsleiter  den  Markt  überblickt  und  jede  Veränderung  schliefis- 
lich  in  seiner  Kasse   beobachtet,   ist   dies   nach   dem  Abschlufs  der 
Bücher  bei  der  Jahreswende  eine  verhältnismäfisig  geringe  Mühe. 

Freilich  in  den  beiden  genannten  Jubiläumsschriften  handelt  es 
sich  nur  um  die  Aufsenseite  des  Geschäftsbetriebes,  die  konkreten 
Geschäfte.  Der  wirtschaftsgeschichtlich  wenigstens  ebenso  wichtige, 
für  die  wirtschaftswissenschaftliche  Systematik  aber  entschieden  nodi 
wichtigere  innere  Betrieb,  die  Organisation  der  Unternehmung  und 
deren  Wandelung  im  Laufe  der  2^it,  kommt  kaum  in  Betracht;  ja 
dafs  diese  Seite  überhaupt  jemanden  interessieren  könnte,  scheint  den 
Verfassern  nicht  in  den  Sinn  gekommen  zu  sein.     Und  doch  lie&en 


—     2Q7     — 

sich  selbst  bei  relativ  schlecht  erhaltenem  Quellenmaterial  gewüs  ohne 
groise  Schwierigkeiten  wichtige  Tatsachen  feststellen.  Bei  Brückner, 
Lampe  &  Co.  waren  1900  26  Vertreter  und  Reisende  im  Geschäft 
tätig :  hätte  dies  nicht  Anla£s  bieten  können,  auch  rückwärts  zu  fragen, 
iu  welcher  Weise  sich  diese  Klasse  des  Personals  entwickelt  hat? 
In  Leipzig  selbst  wurde  bereits  182 1  beobachtet,  dais  namentlich  die 
Engländer  durch  „Reisediener"  und  „Musterreiter''  diejenigen  Personen, 
die  sonst  zur  Messe  kamen,  au&uchen  lieisen  und  dadurch  den  Mefs- 
^erkehr  schädigten  ^).  Dies  sei  nur  als  ein  Beispiel  dafür  erwähnt,  in 
welcher  Richtung  sich  wichtige  Aufschlüsse  über  die  Organisation  des 
Geschäftes  gewinnen  lassen. 

Von  der  Geschichte  einer  industriellen  Unternehmung  erzählt 
uns  eine  den  beiden  genannten  in  mancher  Beziehung  ähnliche  Jubi- 
läumsschrift, die  allerdings  bereits  1889  erschienen  ist;  es  handelt 
sich  da  um  die  Papier- Lackwaren -Fabrik  der  Gebrüder  Adt  in 
Ensheim  ')  (Bayr.  Pfalz) ,  und  verfaist  ist  das  Schriftchen  von  Haupt- 
lehrer Grentz  in  Forbach,  der  auch  sonst  als  Lokalgescbichtsforscher 
tätig  gewesen  ist.  In  dankenswerter  Weise  sucht  der  Verfasser  die 
Papier-Lackwaren-Indttstrie  in  ihren  geschichtlichen  Zusammenhang 
hineinzustellen  und  erzählt  ganz  interessant  von  der  Schnupftabak- 
dosenindustrie, die  sowohl  Produkte  aus  Holz  als  auch  aus  Papier 
kannte.  Holzdosen  hat  m  Ensheim  zuerst  1739  Matthias  Adt,  der 
Ahne  der  heute  noch  blühenden  Familie,  geschnitzt;  die  Holzdose  ist 
aber  später  von  der  Papierdose  verdrängt  worden,  und  unter  Ver- 
wendung der  zunächst  für  die  Dosen  entwickelten  Technik  sind  dann 
im  besonderen  in  der  1839  gegründeten  Unternehmung,  der  die  Fest- 
schrift gilt,  alle  möglichen  Gebrauchsgegenstände  hergestellt  worden; 
die  im  Jubiläumsjahre  gangbaren  Artikel  werden  in  einem  besonderen 
Kapitel  angezählt,  so  daüs  auch  der  Fernerstehende  eine  Vorstellung 
davon  gewinnt:  es  sind  iioo  Sorten  Dosen,  370  Gegenstände  iur 
Raucher,  330  Artikel  für  den  Schreibtisch  usw.  Wird  dann  auch  die 
„heutige''  Fabrikation,  d.  h.  die  von  1889,  kurz  beschrieben,  so 
empfindet  der  I^ieser  doch  wiederum  das  Fehlen  jeder  Mitteilung  über 
die  frühere  Technik,  sowie  über  die  heutige  und  einstige  Organisation 
des  Betriebes  als  Mangel.  Wie  in  den  beiden  ersten  Fällen  hat  auch 
in  diesem  der  Verfasser  nicht  das  Bewufstsein,  dafe  er  im  Grunde  vor 

i)  HassCf    Geschichte  der   Leipziger   Messen  (Leipzig    1885),    S.  435,  437. 
yjleisende  Handlangskommis",  die  Rnisland  aufsucheD,  werden  schon  18 18  erwähnt    S^4a9. 

3)  Festsekrifl  xum  60  jährigen  Jubiläum  der  Fabrik  von  Oebr.  Adi  in  "^ 
39  S.  8®  und  2  Uchtdnicktafeln). 


—     208     — 

einer  wissenschaftlichen  Au^abe  von  gröfster  allgemeiner  Bedeutung' 
steht;  er  will  interessant  unterhalten  und  durch  einige  Streiflichter 
auf  die  Vergangenheit  namentlich  den  modernen  Geschäftsmann,  der 
den  betreffenden  Betrieb  kennt,  zu  einem  Vergleiche  zwischen  einst 
und  jetzt  anregen,  aber  die  erschöpfende  Verarbeitung  seines  Materials 
liegt  ihm  fem.  Für  die  Forschung  auf  dem  Gebiete  der  Wirtschafts- 
wissenschaften sind  solche  Festschriften  vor  allem  als  Proben  von 
Belang,  indem  sie  —  zunächst  wohl  halb  unbewulst  —  die  Allgemein- 
heit auf  gewisse  Probleme  aufmerksam  machen  und  zugleich  zeigen, 
wo  sich  Material  für  solche  Untersuchungen  findet,  wie  es  etwa  ge- 
artet ist,  und  wie  man  es  bei  dessen  Bearbeitung  nicht  machen  soll. 
Trotz  alledem  wäre  es  ungerecht,  auf  solche  Arbeiten  und  ihre  Ver- 
fasser verächtlich  herabzublicken,  denn  auch  sie  sind  zu  Bahnbrechern 
auf  einem  Wege  geworden,  auf  dem  andere  später  mit  Glück  vorwärts- 
dringen konnten. 

Aber  es  ist  durchaus  nicht  notwendig,  dafs  Jubiläumsschriften 
nur  solchen  mittelbaren  Wert  besitzen.  Es  gibt  jedenfalls  eine  ganze 
Reihe,  die  sich  auch  durch  das,  was  sie  an  Material  bieten,  und 
durch  die  Art  seiner  Bearbeitung  mit  anderen  Erzeugnissen  der 
wirtschaftswissenschaftlichen  Literatur  —  diese  besteht  notwendiger- 
weise zu  einem  grofsen  Teile  aus  literarischen  Halbfabrikaten  — 
messen  können  und  eine  tatsächliche  Bereicherung  der  wirtschafts- 
geschichtlichen Literatur  darstellen.  Drei  solche  Schriften,  die  eine 
Bank,  ein  Hüttenwerk  ^)  und  ein  Handelshaus  zum  Gegenstände 
haben,  sollen  hier  ebenfalls  kurz  besprochen  werden.  Schon  äuiser- 
lieh  zeichnen  sie  sich  den  erstgenannten  gegenüber  durch  den 
Umfang  aus,  und  wenigstens  in  den  ersten  beiden  spielt  auch  das 
in  übersichtlichen  Tabellen  dargebotene  Zahlenmaterial,  und  zwar  bis 
herab  zum  Jahre  1900,  eine  grofise  Rolle.  Auch  diese  Schriften  sind 
jedoch  noch  nicht  —  und  wollen  es  auch  nicht  sein  —  umfassende 
„Geschichten"  der  betreffenden  Unternehmungen,  die  geschichtlich 
und  wirtschaftswissenschaftlich  als  mustergültige,  erschöpfende  Mono- 
graphien gelten  könnten.  Indessen  ihre  Verfasser  sind  sich  ihrer 
hohen  Aufgabe  bewufst  und  kennen  auch  die  Schwächen  ihrer  Arbeiten 
wohl;  sie  aber  würden  auch  am  besten  als  Sachkenner  bestätigen  können, 
was  sie  am  eigenen  Leibe  erfahren  haben,  dafs  nämlich  das  Material 
im   einzelnen  Falle   längst  nicht  gut  genug  erhalten  ist, 

1)  Uosügänglich  war  mir  bisher  die  von  Ehrenberg  im  Thänef^ÄrchiPf  i.  Jahrg. 
S.  331  anerkennend  erwähnte  Schrift  ttber  den  Oearga^Marien'Berguferki'  und  iJüttoi- 
verem  (knabrüek  von  H.  Malier  (1896). 


—     209     — 

lim  alles,  worüber  Auskunft  verlangt  wird,  mitteilen  zu  könneti.  Das 
ist  der  springende  Punkt.  Es  lassen  sich  eben  heute  viele  Tatsachen, 
die  der  Forscher  gern  ergründen  möchte ,  selbst  solche ,  die  nur 
wenige  Jahrzehnte  zurückliegen,  nicht  feststellen,  weil  das  Material 
zu  lückenhaft  ist.  Nur  in  wenigen  Ausnahmefallen  und  voraussichtlich 
noch  am  ehesten  bei  Unternehmungen,  die  einst  Staatsbetriebe ') 
waren,  oder  solche,  die  früh  zu  Aktiengesellschaften  wurden,  oder 
auch  als  solche  entstanden  sind,  wird  dies  ftir  die  fernere  Vergangen- 
heit überhaupt  möglich  sein. 

Die  Diskonto-CreseUsdiaft  1851—1901,  Denkschrifl  zum  50  jährigen 
JübHäum  (Berlin  1901)  bildet  einen  stattlichen,  gut  tmd  doch  nicht 
übermäisig  opulent  ausgestatteten,  mit  zahlreichen  Abbildungen  ver- 
sehenen Quartband  von  277  Seiten,  und  gliedert  sich  in  zehn  Abschnitte, 
von  denen  der  erste  Entstehung  und  innere  Entwickelung ,  und  der 
zweite  bis  siebente  die  Tätigkeit  auf  dem  Gebiet  des  öffentlichen  Kredits 
in  Deutschland  und  im  Auslande,  auf  dem  Gebiet  des  Verkehrswesens, 
dem  der  Industrie,  des  Versicherungswesens  und  der  Grundstückunter- 
nehmungen, dem  der  Landwirtschaft  und  der  Bank-  und  Kolonial- 
untemehmungen  betrifft,  während  im  achten  Abschnitte  die  Geschäfts- 
organisation beschrieben  wird.  Unter  den  Anlagen  ist  die  Übersicht 
über  die  Geschäftsergebnisse  1852 — 1900  (S.  257 — 262)  in  mancher 
Hinsicht  recht  willkommen;  es  sei  z.  B.  nur  auf  den  Rückgang  des 
Geschäfts  hingewiesen,  den  ein  Vergleich  der  für  1873  und  1874  ge- 
wonnenen Zahlen  auf  den  ersten  Blick  ergibt.  Von  gröfstem  allgemeinen 
Interesse  sind  auch  die  Mitteilungen  über  die  Eisenbahnbauten,  an 
denen  die  Gesellschaft  beteiligt  war,  denn  schon  jetzt  wird  man  be- 
haupten dürfen,  da&  die  Geschichte  der  Eisenbahnen  hinsichtlich  ihrer 
Finanzierung,  technischen  Herstellung  und  wirtschaftlichen  Wirksamkeit 
eine  der  wichtigsten  Aufgaben  der  künftigen  wirtschaftsgcschichtlichen 
Arbeit  sein  wird,  und  jeder  Beitrag  dazu,  der  sich  auf  Aktenmaterial 

T 

f)  Ein  Staatsbetrieb  z.  B.  ist  es  aach,  über  den  A.  Amrhein,  D»  kurmain%%9ehe 
GkuküUe  Emmerichsthal  bei  Burg^osfa  [»  ArchiT  des  Historischen  Vereins  von  Unter- 
franken and  Aschaffenbnrg,  42.  Bd.  (Wiirzborg  1900),  S.  143 — 243]  sehr  interessant 
handelt.  Aber  gerade  der  Staatsbetrieb  ist  es,  der  den  Verfasser  zn  seiner  fleifsigen 
Untei^achang  angeregt  hat,  denn  nachdem  1776  die  Hütte  verpachtet  worden  ist,  bricht 
er  ab  und  sagt  S.  194:  „Die  Glashütte  Emmerichsthal,  die  nan  den  Charakter  eines 
Privatanternehmens  hatte,  bietet  in  ihrer  weiteren  Geschichte  kein 
besonderes  Interesse."  Dem  Anschein  nach  sind  die  Akten  auch  Über  die  nächsten 
Jahrzehnte  (bis  1804)  noch  ganz  reichhaltig,  aber  ihr  Inhalt  wird  nur  in  aller  Kürze  auf 
7  Seiten  znsammengefafst.  Das  ist  bedauerlich,  aber  zagleich  bezeichnend  für  die  Auf- 
fassung eines  fleifsigen  Lokalgeschichtsforsdhers. 

16 


—     210     — 

stützt,  ist  deshalb  von  Bedeutung.  Es  darf  dabei  nicht  vergessen 
werden,  daüs  der  Gründer  der  Diskonto-Gesellschaft,  David  Hanse- 
mann, einer  derjenigen  Männer  ist,  die  sich  schon  zu  Anfang  der 
1830  er  Jahre  um  den  Eisenbahnbau  im  Rheinlande  bemüht  und  verdient 
gemacht  haben  ^).  Die  Gesamtheit  der  Bauuntemehmungen,  an  denen 
die  Gesellschaft  seit  ihrer  Gründung  beteUigt  gewesen  ist  —  nach 
Ländern,  und  innerhalb  dieser  alphabetisch  geordnet  — ,  findet  sich 
S.  136 — 145;  schon  die  Angabe  der  Jahre,  in  denen  die  betreffenden 
Bahnen  finanziert  wurden,  ist  heute  wertvoll.  Aus  dem  Kapitel  über 
die  Schiffahrtsuntemehmungen  verdient  das  Projekt  eines  Nordostsee- 
kanals, das  Hansemann  1864 — 1866  entwickelte,  Beachtung  (S.  147 — 150). 
Dies  möge  genügen,  um  den  Beweis  zu  liefern,  dais  das  vorliegende 
Buch  in  vieler  Hinsicht  dauernden  Wert  besitzt,  dafs  es  in  die  Hand 
jedes  gehört,  der  die  wirtschaftliche  Entwickelung  Deutschlands  im 
XDC.  Jahrhundert  studiert,  und  daüs  sich  jede  Gesellschaft  ein  Verdienst 
erwirbt,  die  ähnliche  Veröffentlichungen  von  sich  aus  veranlagt  oder 
wenigstens  anderen  ermöglicht  Bedenken  gegen  solche  Mitteüungen 
aus  geschäftlichem  Interesse  kommen  namentlich  bei  Gesellschaften 
kaum  in  Frage,  denn  was  hier  aus  neuester  Zeit  allgemein  interessiert, 
das  ist  den  Leitern  geschäftlich  in  gleicher  Richtung  tätiger  Unter- 
nehmungen, der  Konkurrenz,  längst  bekannt,  und  über  Dinge,  die 
25  Jahre  zurückliegen,  wird  unbeschadet  aktueller  Interessen  meist 
auch  solches  Material  mitgeteUt  werden  können,  was  damals  geheim 
behandelt  worden  ist  und  vielleicht  einige  Jahre  lang  Geheimhaltung  ver- 
diente. Jedenfalls  ist  es  jetzt  an  der  Zeit,  dafs  wir  bald 
auf  Grund  zahlreicher,  alle  Gebiete  des  wirtschaftlichen 
Schaffens  berührender  Monographien,  die  sich  auf  das 
authentische  Aktenmaterial  stützen,  vielleicht  sogar  mit 
Hilfe  von  Akten  Veröffentlichungen,  die  Periode  deutschen 
Wirtschaftslebens  von  etwa  1840  bis  1880  kennen  lernen. 
Die  wirtschaftlichen  Interessen  des  einzelnen  in  unseren  Tagen  sind 
dadurch  nicht  gefährdet! 

Im  Jahre  1902  erschien,  von  Bergrat  O.  Junghann  bearbeitet: 
1802—1902.  Die  Gründung  und  Weiterentwickelung  der  KönigshüUe, 
Festschrift  zur  100  jährigen  Jubelfeier  (121  S.  4^  würdig  ausgestattet 


i)  Vgl.  Berge Qgrttn,  David  Hansemann  (Berlin  1901),  S.  157  fi.  Diese  Bio- 
graphie enthält  (S.  647  ff.)  auch  eine  aoiführliche  Gründnngtgeschichte  der  Diskonto- 
Gesellschaft.  Der  Verfasser  dieses  Baches  wird  übrigens  wohl  auch  im  wesentlichen  als 
Verfasser  der  anonym  erschienenen  Denkschrift  za  gelten  haben. 


—    «11    — 

und  illustriert)  ^).  Die  1802  erfolgte  Gründung  des  Eisenhüttenwerks 
Königshütte  bildet  insofern  ein  wichtiges  Ereignis,  als  dieses  die  erste 
mit  Dampfkraft  betriebene  Kokshochofenanlage  auf  dem  Kontinent 
war,  und  gewissermafeen  den  Absdilufa  der  von  Friedrich  II.  be- 
gonnenen Bemühungen  um  die  Bergwerks*  und  Hüttenindustrie  Ober- 
schlesiens bildet.  Deshalb  wird  mit  Recht  die  Geschichte  des  ober- 
schlesischen  Bergwerks-  und  Hüttenwesens  seit  1741  im  Zusammen- 
hange mit  der  Entstehung  der  Kön^hütte  erzählt,  wobei  die  einzelnen 
beteUigten  Personen,  namentlich  der  Geh.  Finanzrat  Graf  von  Reden 
und  Johann  Friedrich  Wedding,  scharf  heraustreten.  Die  Be- 
mühungen, das  mangelnde  Kohlholz  durch  Koks  zu  ersetzen,  und 
die  zu  diesem  Behufe  angeknüpften  Verhandlungen  mit  England  (S. 
9 — ig)  sind  für  die  Industriegeschichte  höchst  lehrreich.  Das  Akten- 
material ist  in  diesem  Falle  gut  erhalten,  da  die  Hütte  von  vornherein 
staatlich  war,  und  deshalb  die  Akten  des  Ministeriums  für  Handel  und 
Gewerbe  und  des  Königlichen  Oberbeigamts  Breslau  gute  und  im 
wesentlichen  gewi&  auch  vollständige  Auskunft  geben;  bei  Privat- 
untemehmungen  selbst  grossen  Stils  wird  dieses  jedoch  nur  in  den 
seltensten  Fällen  zu  beobachten  sein.  Aus  späterer  Zeit,  wo  der  einfache 
alltägliche  Betrieb  im  einzelnen  interessieren  würde,  sind  offenbar  die 
Akten  auch  nicht  mehr  so  ergiebig  wie  früher,  wenn  auch  das  Material 
immer  noch  erheblich  besser  sein  dürfte  als  bei  irgendwelchen,  von 
jeher  in  Privatbesitz  befindlichen  Unternehmungen.  In  einer  Tabelle 
wird  von  1802  an  die  Produktion  von  Roheisen  und  Gu&waren  zahlen« 
mausig  mitgeteilt;  auch  die  Höhe  der  Bel^^chaft  wird  angegeben, 
aber  von  1843  ^^  ^^  ^^  Produktionsstatistik  sogar  vollständig  ver- 
öffentlicht, obwohl  die  Hütte  1869  vom  Staate  verkauft  und  187 1  in 
eine  Aktiengesellschaft  verwandelt  worden  ist  Hier  erhalten  wir  wiederum 
ein  höchst  wichtiges  2^1enmaterial,  obwohl  nur  die  letzten  Ergebnisse 
mitgeteilt  sind.  Bei  der  Königshütte  macht  sich  der  wirtschaftliche 
Rückgang  erst  im  Geschäftsjahr  1875/76  völlig  bemerkbar,  während 
sich  im  vorhergehenden  Jahre  die  Arbeiterschaft  noch  vermehrt 
hatte  (1873/74:3234;  1874/75:3436).  Aber  der  Durchschnittsver- 
dienst') des  Arbeiters,  der  1873/74  noch  703  Mk.  betrug,  war  bereits 

i)  Die  Königshiitte  wird  «ach  in  der  oben  angezogenen  Arbeit  von  0»kar 
Stillicb  mit  bebandelt,  nnd  dort  ist  ancb  die  Festscbrifl  bereits  verwertet,  aber  ein 
näheres  vergleichendes  Eingehen  auf  beide  Darstellungen  gestattet  hier  der  Raum  nicht 

3)  Bei  so  groisen  Zahlen  gleicht  sich  der  Unterschied  zwischen  den  einzelnen 
Klassen  von  Arbeitern  zwar  einigennaisen  ans,  aber  methodisch  ist  eine  solche  Dorch- 
schnittsberechnnng  za  verwerfen,  weil  sie  leicht  za   ganz    falschen  Schlüssen   vcf* 

16* 


—     «12     — 

1874/75  ^uf  690  Mk.  gesunken,  und  fiel  in  den  beiden  folgenden 
Jahren  auf  651  und  611  Mk.,  um  erst  1877/78  wieder  auf  651  zu 
steigen  und  im  folgenden  Jahre  nochmals  auf  618  Mk.  zu  sinken. 
Seitdem  erst  ist  eine  fast  ununterbrochene  Steigerung  —  1879/80 
bereits  729  Mk.!  —  zu  verzeichnen.  Das  sei  nur  ein  Beispiel  dafiir, 
was  Zahlen  von  individueller  Geltung  lehren  können,  und  wie  sie  die 
Anschauung  über  allgemein  charakterisierte  wirtschaftliche  Vorgänge 
zu  beleben  vermögen.  Dazu  kommt,  dafs  der  Verfasser  die  wirt- 
schaftlichen Ergebnisse  der  Königshütte  dauernd  zu  der  Wirtschafts- 
politik des  Staates  in  Beziehung  setzt  und  dadurch  auch  zur  Geschichte 
der  Zollpolitik,  wenn  diese  auch  im  ganzen  bekannt  ist,  einiges  Neue 
beibringt.  Die  ganze  Arbeit  ist  eine  wesentliche  Bereicherung  der 
Literatur  über  Einzeluntemehmungen  und  kann  wohl  für  andere  der- 
artige Monographien  als  Muster  dienen ,  wenn  auch  ein  geschulter 
Vertreter  der  Wirtschaftswissenschaft  gewifis  in  der  Lage  gewesen  wäre, 
aus  dem  vorhandenen  Material  noch  wesentlich  mehr  herauszuholen. 
Die  technischen  Erläuterungen  des  Hüttenfachmannes  und  die  durch- 
gängige Charakteristik  aller  technischen  Neuerungen  ist  im  höchsten 
Mafse  nützlich  und  beweist,  wie  sehr  diese  Dinge  zum  Verständnis 
der  wiftschafdichen  Entwickelüng  notwendig  sind.  Doch  crfahrungs- 
gemäfs  kann  der  technische  Fachmann  dem  wirtschaftlichen  Bearbeiter 
viel  eher  als  Helfer  und  Erklärer  zur  Seite  treten  als  umgekehrt. 

Als  -dritte  der  allgemeinen  Beachtung  zu  empfehlende  Mono- 
graphie über  eine  Firma,  und  2war  ein  Handelshaus,  sei  hier  angeführt : 
Dci8  SoU  und  Haben  van  EUMom  &  Co.  in  175  Jahren,  ein  schlesischer 
Beitrag  ewr  vaterländischen  Wirtschaftageschickte  von  Kurt  Moriz- 
Eichborn  (Breslau,  Korn,  1903.  371  S.  4^;  vorzüglich  ausgestattet 
und  trefflich  illustriert).  Die  175  Jahre,  die  in  Frs^e  kommen,  um- 
fassen den  Zeitraum  von  1728  bis  1903,  denn  im  erstgenannten  Jahre 
gründete  der  aus  Landau  in  der  Pfalz  eingewanderte  Johann  Ludwig- 
Eichborn   in  Breslau  das  Speditions-,  Kommissions-  und  Wechselge» 

Darchschnitte  haben  immer  nur  da  ihre  Berechtigang,  wo  eine  VieUieit  von  Verhältnissen, 
die  im  Bewufstsein  der  Beteiligten  als  wesentlich  gleichartig  erscheinen,  beqaem  zahlen- 
mäfsig  begriffen  werden  soU.  In  einem  derartig  grofsen  Betriebe  werden  al>er  notwendiger- 
weise mehrere  Klassen  von  Arbeitern  unterschieden,  deren  Lohn  ebenfalls  erhebUch  von- 
einander abweicht.  Mit  Rücksicht  anf  hochgelohnte  qualifizierte  Arbeiter,  die  natärlich 
in  der  Minderheit  sind,  erscheinen  die  Zahlen  dann  naturgemäfs  zu  niedrig.  Es  ist  auch 
sehr  ^t  denkbar,  dafs  trotz  des  Rtlckganges  des  Durchschnittslohns  von  3000  Arbeitern 
eine  kleine  Gmppe,  die  vieUeicht  5^0  ausmacht,  gleichzeitig  im  Lohne  steigt  Auf 
solche  Dinge  mofs  eine  ekakte,  zu  wissenschaftlichen  und  nicht  za  agitatorischen  Zwecken 
anfgesteUte  Statistik  natürlich  achten  and  sie  deutlich  zum  Ausdruck  bringen. 


—     tl8     — 

schäft,  das  noch  heute  als  Bankhaus  Eichbom  &  Co.  besteht  Die 
Geschichte  der  Firma  ist  schon  insofern  lehrreich,  als  sie  d^n 
org^anischen  Übergang  vom  Waren handel  —  anfangs  besonders 
Leinwand  und  Garn,  später  Wolle  —  zum  Geld  handel  und  die 
Trennung  beider  Geschäftszweige  veranschaulicht ;  das  Mittelglied  bildet 
der  Kommissionsbetrieb.  Die  bis  tief  ins  XIX.  Jahrhundert  herein  zu 
beobachtende  aktive  Beteiligung  am  Warenhandel  tritt  dann  immer 
mehr  zurück,  die  Firma  wird  ein  Bankgeschäft  in  modernem  Sinne, 
das  sich  mit  der  Finanzierung  der  verschiedensten  Unternehmungen 
begnügt,  und  trägt  dadurch  zur  Zerlegung  des  früher  einheitlichen 
Wirtschaftsprozesses  in  einzelne  selbständige  Teile  bei.  Interessant 
sind  die  Schilderungen  des  Breslauer  Wollmarktes  in  den  30er 
und  40er  Jahren  des  XDC.  Jahrhunderts,  und  der  Zufall  will,  und 
das  ist  gewifs  lehrreich,  dafis  die  oben  angeführte  Biographie  von 
David  Hansemann  derselben  Verhältnisse  in  Aachen  gedenkt,  wenn 
dort  auch  die  Erörterung  ein  Jahrzehnt  früher  einsetzt 

Am  ausfuhrlichsten  sind  die  Ereignisse  und  Zustände  nach  1807 
dai^stellt,  die  ein  ganz  aufserordentliches  allgemeines  Interesse  haben, 
und  die  gegenüber  der  älteren  Zeit  wesentlich  eingehender  behandelt 
werden  konnten,  weil  von  da  an  die  Firma  selbst  über  Aktenmaterial 
verfugt.  Die  jüngste  Wirksamkeit  der  Firma  seit  1870  wird  dagegen 
S.  347—351  nur  kurz  charakterisiert  Der  Schwerpunkt  liegt  mitbin 
auf  der  Zeit  vom  tie&ten  Niedergang  Deutschlands  bis  zur  Reichs- 
gründung, und  für  diese  Periode  wird  endlich  einmal  die  Bedeutung 
des  Kaufmanns  für  das  nationale  Leben  und  die  Gesamtheit  an  einem 
einzelnen,  aber  prägnanten  Beispiele  erläutert.  Auch  die  politische 
Geschichtschreibung  dieser  Periode  darf  an-  den  hier  erschlossenen 
Quellen  über  die  staatlichen  Finanzaktionen  und  die  Beteiligung  der 
privaten  Bankinstitute  daran  künftig  nicht  vorübergehen.  Durch  diese 
Darstellung  gewinnen  nicht  nur  die  jeweiligen  Leiter  der  Firma  als 
Persönlichkeiten  Leben,  sondern  auch  ihre  Geschäftstätigkeit  als  Ganzes 
wird  dem  Leser  verständlich,  so  dafs  das  Buch  nach  Anlage,  Form 
und  Inhalt  unbedenklich  als  das  beste  bezeichnet  werden  kann,  was 
bis  jetzt  über  die  Geschichte  einer  einzelnen  Firma  geschrieben  worden 
ist  Und  dabei  ist  das  Material  an  sich  nicht  einmal  besonders  gut 
erhalten,  desto  gröfeer  aber  war  der  Fleifs  und  das  Verständnis  des 
'  Verfassers,  der  seit  1899  Mitinhaber  der  Firma  ist. 


—     «14     — 

Die  vorstehende  kleine  Blütenlese  erschien  angebracht,  um  ein 
ungefähres  Bild  davon  zu  geben,  in  welcher  Weise  man  gegenwärtig- 
die  Geschichte  einzelner  gewerblicher  und  kaufmännischer  Unterneh- 
mungen darzustellen  pflegt.  Diese  Arbeiten  zeigen  konkret,  welcher- 
art die  Belehrungen  sind,  die  sich  aus  solchen  Monographien  ge- 
winnen lassen  oder  wenigstens  gewinnen  lassen  sollten;  denn  gerade 
der  Umstand,  dafs  wir  dasjenige,  was  wir  gern  wissen  möchten,  daraus 
vielfach  nicht  erfahren,  erweckt  unsere  Teilnahme  und  zwmgt  uns,  nach 
Mitteln  zu  suchen,  die  zu  einer  Besserung  in  dieser  Beziehung  fuhren 
können.  Es  bedarf  weiter  keiner  Worte,  die  Proben  haben  es  deutli<di 
erwiesen:  es  fehlt  vor  allem  an  einem  zuverlässigen,  zu- 
sammenhängenden Quellenmaterial.  Die  Mängel  hinsichtlich 
der  Vorbildung  der  Bearbeiter,  der  rechten  Würdigung  der  Au%abe 
usw.  treten  an  Bedeutung  demgegenüber  zurück,  denn  wenn  hier  ein 
MifsgrifT  geschehen  ist,  so  läiist  er  sich  wieder  gutmachen;  bei  der 
Materialsammlung  hingegen  ist  dies  nicht  der  Fall. 

Die  einzige  Lehre,  die  gegenwärtig  die  Wirtschaftsforschung  aus 
diesen  Tatsachen  ziehen  kann,  ist  die:  es  mufs  in  der  Gegenwart 
bereits  eine  systematische  Sammlung  desjenigen  Mate- 
rials in  die  Wege  geleitet  werden,  das  künftigen  Ge- 
schlechtern als  Quelle  für  die  wirtschaftlichen  Tat- 
sachen unsererZeit  dienen  kann,  und  als  entsprechende 
Ergänzung  für  die  Vergangenheit  mufs  jetzt  bald  aller- 
orts mit  der  nachträglichen  Rettung  des  noch  erhaltenen 
direkten  Quellenmaterials  begonnen  werden» 

Das  ist  die  wissenschaftliche  Aufgabe  und  Pflicht  der  Gegenwart, 
die  mit  gerechtem  Stolz  von  den  Leistungen  der  Deutschen  namentlich 
auf  dem  Gebiete  der  Industrie  zu  sprechen  pflegt  und  die  in  der  Tat 
von  dem  Werden  und  Wachsen  der  Unternehmungen,  von  dem  dabei 
angewandten  Fleifs  und  Scharfsinn  ihrer  Leiter  nicht  entfernt  die 
richtigen  Vorstellungen  besitzt.  Für  die  künftige  wirtschaftliche  und 
soziale  Entwickelung  unseres  Volkes  ist  es  durchaus  nicht  gleichgültig, 
wie  die  öffentliche  Meinung  über  solche  Dinge  denkt,  und  deshalb 
ist  es  nicht  nur  eine  wissenschaftliche,  sondern  auch  eine  sozial- 
politische Pflicht,  dafür  zu  sorgen,  dais  die  Quellen,  aus  denen  sich 
später  ein  wahrheitsgetreues  BUd  unserer  Wirtschafiszustände  gewinnen 
läfist,  gerettet  und  dauernd  erhalten  werden. 

Darauf  kommt  es  an,  und  es  wird  sich  dieses  Ziel  nur  erreichen 
lassen,  wenn  besondere  Anstalten,  die  ausschliefslich  diesem 
Zwecke  dienen,  gegründet  werden;  sie  verdienen  —  wie  schon 


—    «15    — 

oben  S.  198  angedeutet  wurde  —  den  Namen  ,,  Wirtschaftliche 
Archive''  oder  „Wirtschaftsarchive'',  und  es  erhebt  sich  sofort  die 
Frage,  wie  sich  derartige  Archive  etwa  einrichten  liefsen.  Eine  Er- 
örterung dieses  Punktes  von  allgemeinen  Gesichtspunkten  aus  erscheint 
gerade  im  jetzigen  Augenblicke  notwendig,  weil  im  Verlaufe  des 
Winters  1904 — 1905  in  einem  Gebiete  Deutschlands,  das  ein  be- 
sonders ausgeprägtes  Wirtschaftsleben  besitzt,  in  Rheinland- Westfalen, 
praktische  Vorschläge  in  dieser  Richtung  gemacht  worden  sind.  Deren 
Prüfung  erscheint  nicht  nur  zweckmä&ig ,  ehe  sie  in  die  Wirklichkeit 
umgesetzt  werden,  sondern  die  Vorschläge  selbst  sind  geeignet,  für 
eine  grundsätzliche  Erörterung  der  einschlägigen  Fragen  als  Unter- 
lage zu  dienen. 

Als  1901  in  Köln  die  Handelshochschule  ins  Leben  trat,  da  ist 
seitens  der  zunächst  Beteiligten  alsbald  auch  die  Gründung  eines 
,, Zentralarchivs  für  rheinisch-westfälische  Wirtschaftsgeschichte"  ins 
Auge  gefafst  worden^);  ein  „BUanzarchiv'^  das  als  Teil  des  ersteren 
gedacht  ist,  besteht  seit  Herbst  1904  bereits  und  liefert  zunächst  das 
Material  für  bilanzkritische  Untersuchungen  der  Handelshochschüler '). 
Ein  Ausschufs  hat  die  Förderung  der  Angelegenheit  in  die  Hand 
genommen  und  unter  Mitwirkung  des  Syndikus  der  Kölner  Handels- 
kammer, Prof.  Wirminghaus,  sie  stetig  weiter  verfolgt,  vor  allem 
auch  versucht,  die  Vertreter  von  Handel  und  Industrie  für  den  Ge- 
danken einer  Archivgründung  zu  erwärmen.  Diese  Bemühungen  sind 
auch  nicht  ohne  Erfolg  geblieben,  und  es  ist  im  Herbste  1904  auch 
noch  weiter  endgültig  beschlossen  worden,  das  Archiv  nicht  mit  der 
Handelshochschule  zu  verbinden,  sondern  zu  einer  mehr  selbstän- 
digen, nur  lose  mit  jener  zusammenhängenden  Anstalt  zu  machen, 
es  materiell  auf  Stiftungen  und  regelmäfsige  Beiträge  zu  gründen  und 
es  vielleicht  der  städtischen  Obhut  anzuvertrauen.  In  diesem  Sinne 
wird  gegenwärtig  an  der  Verwirklichung  des  Projektes,  um  die  sich 
namentlich  auch  Studiendirektor  Prof.  Eckert  bemüht,  weitergearbeitet, 
und  die  Bibliothek  der  Handelshochschule  sowie  das  Bilanzarchiv  ent- 
halten bereits  beträchtliches  einschlägiges  Material. 

i)  VgL  darflber  die  knne  KitteÜnsg  Ton  Stadiendirektor  Prof.  Eckert  in  der 
Kökidsehen  Zeitung  Tom  2,  Not.  1904  (Bfittagsansgabe)  Nr.  1133  sowie  die  Nachrichten 
in  dem  von  Prof.  Eckert  erstatteten  Bericht  ttber  die  xwei  Stadienjahre  1903  nnd  1904 
in  Die  städtische  BandeU-Eoehsekuk  wi  KStn  0M|^oo5),  S.  118— lai  nnd  79.  Im 
ttbrigen  sei  anf  des  Verfassers  bereits  oben  enrfl^^^^^|H|Lj^Nr.  11  and  12  der 
Deutschen  JMustriezeitung  rom  17.  and  24. 

a)  Das  BilansarchiT,  welches  Dosent  SeS  ^^^^^^^  kflrzUch  von 

der  Handelskammer  Köln  einen  JahTeibii|MMV  ^^^^^BMli^  erhalten. 


—     216     — 

Von  diesem  Plane  war  in  der  weiteren  OfTentlichkeit  und  selbst 
in  Köln  nichts  bekannt,  als  die  Handelskammer  zu  Düsseldorf  in 
ihrer  Sitzung  vom  23.  September  1904  den  Beschlufs  fauste,  in  ganz 
bestimmter  Weise  im  Verein  mit  den  übrigen  Handelskammern  in  der 
Rheinprovinz  und  Westfalen  die  Sammlung  wirtschaftsgeschichtlicher 
Tatsachen  zu  organisieren  und  zwar  dadurch,  dafs  jeder  Kammer  für  ihren 
Bezirk  die  entsprechende  Sammeltätigkeit  zur  Pflicht  gemacht  würde ;  die 
Inventare  über  die  von  jeder  Kammer  angelegten  Sammlungen  sollten 
dann  an  einer  Auskunftsstelle  niedergelegt  werden.  Nachdem  die 
Kölnische  Zeitung  vom  29.  Oktober  1904  (Nr.  1108)  an  diesem  Plane 
Kritik  geübt  hatte  und  am  2.  November  die  in  Köln  geplante  Archiv- 
gründung öffentlich  bekannt  geworden  war,  erschien  eine  vom  5.  No- 
vember 1904  datierte  Denkschrift,  in  der  die  Düsseldorfer  Handels- 
kammer ihren  Plan  näher  darlegt^und  die  übrigen  Kammern  zu  gemein- 
samer Arbeit  auffordert  *). 

Das  schon  oben  S.  198,  Anm.  i  erwähnte  in  Rostock  von 
Richard  Ehrenberg  gegründete  „Thünen-Archiv**,  das  mit  dem 
Staatswissenschaftlichen  Seminar  der  dortigen  Universität  verbunden 
ist  %  kann  in  diesem  Falle  aufser  acht  bleiben,  da  es  seiner  ganzen 
Entstehung  nach  sich  darauf  beschränkt,  Massen  der  dem  Geschäfts- 
betrieb einzelner  Unternehmungen  entstammenden  Papiere  zu  retten 
und  der  Wissenschaft  zugänglich  zu  machen,  aber  —  wie  es  scheint  — 
auf  die  Kleinarbeit  der  Materialsammlung  über  die  Gegenwart  ver- 
zichten will  und  gewifs  auch  mufs,  wenn  ihm  nicht  dauernd  besondere 
Arbeitskräfte  zur  Verfugung  gestellt  werden. 

Praktisch  kommt  es  deshalb  im  Augenblicke  nur  darauf  an,  die 
beiden  dem  Rheinland  entstammenden  Pläne,  den  Kölner  und  den 
Düsseldorfer,  miteinander  zu  vergleichen  und  vorurteilsfrei  zugleich 
im  allgemeinen  zu  prüfen,  ob  sich  die  Projekte  verwirklichen  lassen 
und  welcher  Nutzen  voraussichtlich  bei  der  Verwirklichung  des  einen 
oder  anderen  herausspringen  wird.  " 

Der  Unterschied  zwichen  beiden  Projekten  besteht  darin:  in  Köln 

i)  Die  nicht  besonders  Uat  gehüttü  Forderangen  in  5  Absätzen  sind  in  der 
Deutschen  LtduslriexeUung  Nr.  5a  vom  23.  Des.  1904  (S.  461)  und  in  Nr.  la  Tom 
a4.  Marx  1905  (S.  135)  abgedruckt. 

3)  Vgl.  Thünen-Arehiv ,  i.  Jahrg.,  S.  23—24.  Die  Verbindung  mit  dem  Tolks- 
wirtschafUichen  besw.  staatswissenschafUichen  Seminar  einer  Universität  erscheint  aof  dea 
ersten  Blick  zweckmäfsig,  aber  es  fragt  sich  sehr,  ob  sie  es  ist.  Denn  die  Stndeoten, 
die  hier  im  Archiv  beschäftigt  werden,  wechseln  rasch,  nnd  selbst  der  Lehrer  kann  leicht 
wegbenifen  nnd  durch  einen  Nachfolger  ersetzt  werden,  der  weniger  Verständnis  Air  das 
Archiv  besitzt  and  damit  kann  dessen  gedeihliche  Weiterentwickelong  in  Frage  gestellt 


—     217     — 

soll  die  Rettung  und  Aufbewahrung  älteren  Materials  sowie  die  dauernde 
systematische  Sammlung  wirtschaftlicher  Tatsachen  aus  der  Gegenwart 
von  einem  Zentralarchiv  aus  geschehen,  dessen  Leiter  das  gesamte 
niederrheinisch-westialische  Wirtschaftsgebiet  lediglich  zu  diesem  Zwecke 
ständig  überblicken  soll ;  zur  Unterhaltung  eines  solchen  Archivs  sind 
natürlich  beträchtliche  Mittel  erforderlich  und  zum  Gelingen  des 
Planes  nicht  nunder  die  gelegentliche  Unterstützung  seitens  lokaler  Or- 
ganisationen und  einzelner  Firmen.  Gemäiis  dem  Düsseldorfer 
Vorschlag  dagegen  soll  ein  geistiges  Band  genügen;  jede  Kammer 
soll  für  ihren  verhältnismässig  kleinen  Bezirk  nebenbei  auch  wirtschafls* 
geschichtliches  Material  sammeln,  ein  genaues  Inventar  darüber  an- 
legen und  dieses  in  Abschrift  an  eine  Sammelstelle,  als  die  etwa  die 
Handelskammer  Düsseldorf  zu  gelten  hätte,  einsenden.  Dort  würde  — 
so  nimmt  man  an  —  ein  wirtschaftsgeschichtlicher  Forscher  sich  leicht 
auf  Grund  der  Inventare  darüber  unterrichten  können,  was  er  an  Material 
über  den  Gegenstand,  der  ihn  interessiert,  im  Archiv  der  einzelnen 
Kammer  bzw.  in  der  diesem  angegliederten  wirtschaftsgeschichtlichen 
archivalischen  Sammlung  finden  kann.  Dieser  Vorschlag  hat  den 
Vorzug,  dafe  er  die  Tätigkeit  besonderer  Arbeitskräfte  nicht  vorsieht, 
auch  weiter  keine  besonderen  Anstalten  nötig  macht,  und  deshalb 
würde  seine  Ausfuhrung  billig  sein. 

Lediglich  unter  letzterem  Gesichtspunkte  dürfte  in  den  Augen 
des  Publikums  dem  Düsseldorfer  Plane  der  Vorzug  vor  dem  Kölner 
zu  geben  sein.  Denn  das  ist  demjenigen,  der  die  Arbeit  in  Archiven 
zum  Zwecke  geschichtlicher  Forschung  kennt,  ohne  weiteres  klar: 
das  Ziel,  hinsichtlich  dessen  sich  alle  Beteiligten  einig 
sind,  wird  durch  eine  Organisation,  wie  sie  in  Düssel- 
dorf geplant  wird,  nicht  im  entferntesten  erreicht,  denn 
der  Vorschlag  beruht  auf  einer  völligen  Verkennung  wirtschafts- 
wissenschaftlicher Forscherarbeit,  ihrer  Voraussetzungen  und  Absichten. 

Es  hat  nur  nebensächliche  Bedeutung,  darf  aber  doch  nicht  un- 
erwähnt bleiben,  daüs  es  dem  Sprachgebrauche  widerspricht,  eine 
Sammlung  von  Inventaren  als  „Archiv"  zu  bezeichnen;  denn  unter 
einem  Archiv  verstehen  wir  immer  nur  eine  Sammhmg  von  Akten, 
Abbildungen  usw.,  kurz  Stoffen,  die  —  so  wie  sie  vorliegen  —  zur 
wissenschaftlichen  Ausnutzung  geeignet  sind,  nicht  aber  eine  Sammlung 
von  Inventaren,  die  nur  die  Kenntnis  von  gewissen  Akten  vermitteln. 
Sachlich  erregt  der  Düsseldorfer  Plan  in  dreifacher  Richtung  Bedenken, 
nämlich  hinsichtlich  des  geographischen  Gebietes,  '"'  *  ^.in- 
heit  für  die  Sammlung  dienen  soll,  hinsichtlich  der  Art 


—     218     — 

in  der  man  verfahren  will,  und  schlielslich  hinsichtlich  der  Nutzbar- 
machung des  gesammelten  Materials^). 

Der  Handelskammerbezirk,  dessen  Grenzen  durch  mancherlei  Rück- 
sichten und  Kompromisse  bestimmt  sind  und  der  in  der  Tat  heute 
nur  in  seltenen  Fällen  ein  wirtschaftlich  einheitliches  Gebiet  vollständig^ 
umfafst,  ist  als  Einheit  für  eine  wirtschaftsgeschichtliche  umfassende 
Materialsammlung  von  vornherein  nicht  geeignet;  vielmehr  kann  es 
hur  praktisch  sein,  unabhängig  von  politischen  und  administrativen 
Grenzen,  relativ  einheitliche  Wirtschaftsgebiete,  die  größeren 
und  geringeren  Umfang  haben  können,  so  wie  sie  im  Leben  der  Gegen- 
wart als  Einheiten  empfunden  werden,  als  Einheiten  zugrunde  zu 
legen.  In  dem  aktuellen  Falle  würde  es  sich  demgemäfs  um  das 
niederrheinisch-westfalische  Wirtschaftsgebiet,  das  durch  das  Vorkommen 
von  Kohle  und  Eisen  charakterisiert  ist,  handeln,  während  der  süd- 
liche Teil  der  Rheinprovinz,  etwa  von  der  Mosel  an,  wirtschaftlich  mit 
Lothringen  und  der  Pfalz  zusammengehört.  Ein  solches  Wirtschafts- 
gebiet zeigt  natürlich  auch  wirtschaftliche  Verschiedenheiten,  aber  das- 
selbe ist  schließlich  auch  in  den  kleinsten  Bezirken  der  Fall,  und  es 
kommt  hier  wie  bei  allen  Fragen  der  Wirtschaftspolitik  vornehmlich 
auf  die  Lebensgemeinschaft  an,  in  der  sich  die  Bevölkerung  befindet, 
auf  die  Gleichartigkeit  der  Lebensauffassung  und  Lebenshaltimg,  die 
auch  auf  das  Wirtschaftsgebaren  von  gröüserem  Einflufs  zu  sein 
pflegt,  als  man  von  vornherein  anzunehmen  geneigt  sein  möchte. 
Nur  dieses  groüse  Wirtschaftsgebiet  in  allen  seinen  Lebensäulserungen 
einschlielslich  der  Landwirtschaft  und  des  Handwerks  stellt  eine  kulturelle 
Einheit  dar ,  aber  innerhalb  dieses  Gebietes  finden  sich  zahlreiche 
Handelskammern,  die  zwar  der  Aufsenwelt  gegenüber  gewisse  gemein- 
same Interessen  vertreten,  aber  zugleich  auch  im  Widerstreite  örtlicher 
Interessen  oft  gegeneinander  Stellung  nehmen  müssen.  Jede  neu 
auftauchende  Frage  macht  es  nötig,  dals  eine  Mehrzahl  von  Kammern  — 
um  zunächst  nur  von  diesen  und  ihren  regelmäfsigen  Akten  zu  reden  — 
dazu  Stellung  nimmt,  und  es  wird  fiir  den  künftigen  Forscher  in  hohem 
Mafse  wertvoll  sein,  wenn  er  bei  Betrachtung  solcher  Fälle  leicht  die 
Kundgebung  mehrerer  rivalisierender  Kammern  nebeneinander  be- 
nutzen kann.  Ja  bei  gewissen  Fragen,  wie  denen  des  Verkehrs, 
werden  sich  die  Archive  benachbarter  Kammern  nicht  nur  ergänzen, 

i)  Die  folgende  Kritik  war  schon  niedergeschrieben,  als  die  Anlsenuig  der  Handels- 
kammer Saarbrücken  bekannt  wurde,  die  yon  ihrem  Standpunkte  aas  in  ganz  ähn- 
licher Weise  m  dem  Düsseldorfer  Plane  Stellang  nimmt  Vgl.  Saarindustrie,  lo.  Jahrg. 
(1905)  Nr.  14.  S.  70—72. 


—     «19     — 

sondern  vielfach  auch  das  Projekt  selbst  nnto:  entgegengesetzten  Ge* 
Sichtspunkten  beleuchten.  Der  Lauf  jeder  neuen  Bahnlinie  z.  B.  ist  — 
abgesehen  von  technischen  Rücksichten  —  durch  einen  wirtschaftlichen 
Interessenkampf  bestimmt  und  stellt  meist  ein  Kompromüs  dar;  die 
Geschichte  ihrer  Entstehung  —  und  das  wird,  wie  schon  oben  angedeutet 
wurde,  eine  recht  wichtige  Au%abe  künftiger  wirtschaftsgeschichtlicher 
Forschung  sein  —  wird  sich  deshalb  nur  unter  Benutzung  zahlreicher, 
die  verschiedenen  Interessen  vertretender  Akten  aufhellen  lassen; 
deren  räumliche  Trennung  bildet  aber  bei  solchen  Untersuchungen, 
die  sich  nur  bei  systematischer  Durchforschung  mehrerer  2^ntner 
Akten  bewerkstelligen  lassen ,  ein  schweres  Hindernis.  Und  für  die 
einzelne  Unternehmung  gilt  ganz  dasselbe;  denn  die  Aufhellung  ihrer 
besonderen  Geschichte  ist  doch  nur  eine  Vorbedingung,  und  der  Ver- 
gleich mit  anderen,  unter  wesentlich  gleichen  Bedingungen  arbeitenden 
Unternehmungen  erst  macht  die  Einzeluntersuchung  für  die  Wirtschafls- 
forschung  als  Wissenschaft  fruchtbar.  Solche  Vergleiche,  die  allmäh- 
lich zu  einer  bestimmten  gut  begründeten  Anschauung  über  die  Zu- 
stände grolser,  wesentlich  einheitlicher  Gebiete  führen,  sind  wissenschaft- 
lich notwendiger  als  alles  andere,  denn  sie  erst  schlagen  die  Brücke 
zwischen  der  heute  üblichen  Einzeluntersuchung  über  ein  kleines  Stück 
wirtschaftlichen  Daseins  und  den  grolsen,  wesentlich  auf  statistischer 
Grundlage  aufgebauten  Betrachtungen  wirtschaftlicher  Zustände  im 
ganzen  Lande  oder  gar  im  Reiche.  Die  einzige  organische  Einheit, 
das  Wirtschaftsgebiet,  fehlt  als  Objekt  wirtschaflsgeschichtlicher 
Untersuchung  fast  völlig,  und  dieses  mu(s  intensiv  bearbeitet  werden, 
wenn  solche  Arbeiten  wissenschaftlich  und  praktisch  nutzbringend 
wirken  sollen. 

Alle  diese  wissenschafUich-sachlichen  Forderungen  werden  nur 
erfüllt,  wenn  die  Sammelarbeit  und  die  damit  Hand  in  Hand  gehende 
Bearbeitung  des  Stoffes  ein  viel  gröfseres  Gebiet  umfafst,  als  es  ein 
Handelskammerbezirk  ist;  denn  es  gilt  hier  das  Ganze  zu  betrachten, 
ohne  die  wirtschaftliche  Einheit,  die  einzelne  Unternehmung,  völlig 
aus  dem  Auge  zu  verlieren. 

Eng  damit  hängt  es  zusammen,  dais  eine  von  der  einzelnen  Kammer 
selbständig  unternommene  Sammlung  auch  hinsichtlich  der  Art  und 
Weise  des  Sammeins  den  zu  stellenden  Anforderungen  nicht  genügen 
kann.  Denn  es  wäre  bei  diesem  Verfahren  nicht  die  geringste  Gewähr 
dafür  vorhanden,  dais  gleichmäfsig  nach  demselben  Grundplane, 
ja  daCs  auch  nur  regelmäfsig  gesammelt  würde,  und  beides, 
doch  angesichts  des  verfolgten  Zweckes  unerläfslich.    Der  per 


—     220     — 

Anlage  und  Neignng'  nach  würde  jeder  Syndikus  seine  Aufgabe  anders 
auffassen;  um  gewisse  Dinge  würden  sich  immer  mehrere  gleichzeitig 
bemühen  —  und  das  wäre  Arbeitsvergeudung  — ,  während  anderes 
Material  völlig  unbeachtet  bleiben  bzw.  nur  vereinzelt  gesammelt 
wjerden  würde.  Aber  selbst  wenn  sich  in  dieser  Richtung  eine  genaue 
Instruktion  aufstellen  liefse  und  wenn  diese  auch  im  allgemeinen  be* 
folgt  würde,  so  sind  die  aktuellen  Aufgaben  der  Kammern  doch  so 
mannigfaltig  und  nehmen  den  einzelnen  Geschäftsführer  derartig  in  An- 
spruch, dais  er  ganze  Perioden  lang  an  die  Sammeltätigkeit  und  die 
dafür  notwendige  dauernde  Beobachtung  des  Lebens  kaum  würde 
denken  können.  Beides  würde  für  ihn  immer  nur  etwas  Nebensächlidies 
sein  und  kaum  im  Mittelpunkt  seines  Interesses  stehen,  ja  die  mangelnde 
archivtechnische  Erfahrung  der  Anordner  würde  es  mit  sich  bringen, 
da(s  selbst  im  günstigsten  Falle,  wenn  wirklich  gutes  Material  zusammen- 
käme, die  Übersichtlichkeit  des  Apparates,  und  das  heilst  zugleich 
die  Benutzbarkeit,  vieles  zu  wünschen  übriglassen  würde.  Die  Anlage 
eines  Archivraumes  mit  der  nötigen  Einrichtung  bei  jeder  Kammer 
würde  namentlich  den  kleineren  weniger  leistungsfähigen  Kammern 
und  denen,  die  nur  in  gemieteten  Räumen  Unterkommen  gefunden 
haben,  Schwierigkeiten  verursachen,  und  diese  würden  naturgemäCs 
mit  der  Zeit  immer  noch  wachsen,  wenn  den  tatsächlichen  Bedür&issen 
wirklich  Rechnung  getragen  werden  soll. 

Wenn  aber  schließlich  diese  Schwierigkeiten  alle  irgendwie  über- 
wunden werden  sollten,  wäre  dann  das  an  so  vielen  Stellen  gesammelte 
Quellenmaterial  wü-klich  für  die  Forschung  nutzbar  gemacht?  Mit 
nichten.  Die  Lage  des  Forschers,  der  so  glücklich  wäre,  in  der 
„  Sammelstelle'*  die  Inventare  der  verschiedenen  örtlichen  Sammlungen 
wirklich  einzusehen,  ist  durchaus  nicht  so  beneidenswert,  wie  es  von 
vornherein  scheinen  könnte.  Er  mufs  unter  allen  Umständen  die 
Kammern,  in  deren  Archiv  er  auf  Grund  des  kurzen  Vermerks  im 
Inventar  etwas  zu  finden  hofil,  noch  persönlich  aufsuchen,  aber  selbst 
ein  negatives  Ergebnis  bei  Durchsicht  des  Inventars  wird  den  gewissen- 
haften Arbeiter  von  einem  persönlichen  Besuch  nicht  abhalten,  wenn  er 
aus  sachlichen  Gründen  daselbst  Material  fiir  seine  Forschungen  ver- 
mutet. Inventare,  und  wären  es  die  am  sorgsamsten  angelegten, 
können  diesen  Dienst,  an  den  man  in  Düsseldorf  denkt,  niemals 
leisten ;  denn  sie  müssen  sich  stets  an  das  Formale,  Äulserliche  halten 
und  können  den  Inhalt  der  Aktenfaszikel,  auf  den  es  hier  allein  an- 
kommt, nie  so  angeben,  wie  es  der  Forscher  für  seine  Zwecke,  die 
andere  sind  als  die  des  Registrators ,  nötig  hat.     Der  Benutzer  eines 


—     «21     — 

Archivs  betrachtet  die  aus  mehreren  Jahrzehnten  stammenden  Akten 
naturgemäß  unter  ganz  anderen  Gesichtspunkten,  als  es  die  waren, 
welche  die  Anlage  der  Faszikel  gerade  in  der  Weise,  wie  es  geschehen 
ist,  veranlaisten.  Die  Rubrik  ist  etwas  rein  Zufalliges  und  hat  für 
jenen  gar  keine  Bedeutung,  sondern  nur  der  tatsächliche  Inhalt.  Der 
Geschäftsbetrieb  bringt  es  aber  erfahrungsgemäüs  mit  sich,  daüs  infolge 
einer  aktuellen  Ideenverbindung  Aktenstücke  über  ganz  verschieden- 
artige Vorgänge  und  Tatsachen  zu  einem  Faszikel  vereinigt  werden. 
Wer  unter  solchen  Verhältnissen  ein  Inventar  anlegen  wollte,  der  müfiste 
gerade  den  Inhalt  jedes  einzelnen  Blattes  kennzeichnen!  Wer  je  in 
Archiven  gearbeitet  und  Registranden  oder  Inventare  benutzt  hat,  der 
weiis,  wie  diese  einerseits  irrefuhren  und  falche  HofTnungen  erwecken, 
während  andrerseits  ganze  Materien,  die  doch  in  den  Akten  selbst 
eine  grofse  Rolle  spielen,  in  ihnen  überhaupt  unerwähnt  bleiben. 
Aber  auüserdem  würden  diese  Inventare,  da  sie  von  ganz  verschiedenen 
Personen  angelegt  wurden,  auch  unter  sich  nicht  einmal  vergleichbar 
sein  und  dadurch  noch  mehr  an  Wert  verlieren. 

Die  ganze  Organisation,  die  ausgedacht  zu  haben  der  Geschäfts- 
führer der  Düsseldorfer  Handelskammer,  Herr  Dr.  Brandt,  nicht  wenig 
stolz  ist,  erweist  sich  mithin  als  unpraktisch,  wenn  nicht  als  undurch- 
führbar; sie  ist  in  der  Tat  ganz  und  gar  nicht  geeignet, 
um  dasProblemzulösen,  daszulösenist,  dieweit  sichtige, 
grofs  angelegte  Sammlung  wirtschaftsgeschichtlichen 
Quellenmaterials  behufs  exakter  wirtschaftswissenschaft- 
licher Forschung.  Deshalb  wäre  es  im  allgemeinen  Interesse  das 
beste,  wenn  die  geplante  Düsseldorfer  „Organisation"  völlig  unter- 
bliebe, damit  nicht  durch  sie  die  an  sich  recht  erwünschte  Tätigkeit 
der  einzelnen  Kammer  in  falsche  Bahnen  gelenkt  und  der  besseren 
anderen  zentralisierenden  Anstalt  z.  T.  das  Wasser  abgegraben,  ihren 
gemeinnützigen  Bestrebungen  entgegengearbeitet  wird. 

Welchen  Standpunkt  die«  einzelnen  Handelskammern  in  der  Rhein- 
provinz und  in  Westfalen,  die  in  jener  Denkschrift  vom  5»  November 
1904  zur  Aufserung  ihrer  Ansicht  und  zum  Beitritt  zu  jener  Organisation 
au%efordert  worden  sind,  in  ihrer  Mehrzahl  eingenommen  und  ob 
sie  sich  überhaupt  eingehender  über  die  Angelten  heit  ausgesprochen 
haben,  ist  mir  unbekannt.  Lediglich  die  von  den  Handelskammern 
zu  Köln  und  Saarbrücken  am  18.  November  1904  bzw.  28.  März  1905 
gefafsten  Beschlüsse  sind  mir  zu  Händen  gekommen,  und  beide  sprechen 
sich,  wie  es  angesichts  des  besseren  Kölner  Projekts  nicht  anders  zu 
erwarten  ist,  gegen  die  Gründung  einer  Sammelstelle  im  Düs8eldoi||L 


j 


—    tss    — 

Sinne  aus  und  zwar  z.  T.  aus  denselben  Gründen,   die  hier  angeführt 
und  ausführlich  begründet  wurden. 

Aus  den  vorstehenden,  zunächst  nur  auf  den  aktuellen  Fall  ge^ 
münzten  Ausführungen  ist  im  allgemeinen  unmittelbar  folgendes 
Ergebnis  abzuleiten:  Anstalten,   die  sich  ausschliefslich   der 
Aufgabe  unterziehen,  die  Urkunden  des  modernen  Wirt* 
Schaftslebens  zu  sammeln   und  dauernd  aufzubewahren, 
sind  für  je   ein  Wirtschaftsgebiet  zu   begründen,  dessen 
Abgrenzung  sich  nur  durch  eine  sorgfältige  Prüfung  der 
modernen  Zustände  gewinnen  läfst  und  für  das  zufällige 
administrative   Grenzen   nicht   mafsgebend   sein    dürfen. 
Das  wäre  eine  erste  Forderung,  die  hinsichtlich  der  Organisation  auf- 
zustellen wäre.    Femer  aber  wird  es  sich  empfehlen,  dieAnstalten 
möglichst  selbständig  zu  machenund  in  die  Mittelpunkte 
des   wirtschaftlichen  Lebens  zu  verl^en,  wie  Köln  einer  ist; 
denn  die  Berührung  mit  dem   praktischen  Leben  wird  ja  ein  Haupt- 
erfordemis  für  das  Gedeihen  jener  Archive  sein;  andrerseits  wird  die 
räumliche  Nähe  anderer  wissenschaftlicher  Anstalten  manchen  Nutzen 
gewähren   wird.     In    dieser  Richtung   würden  Städte    wie  Köln    und 
Frankfurt  mit  ihren  beiden  jungen,   den  Wirtschaftswissenschaften  ge* 
widmeten  Hochschulen  besonders  geeignet  erscheinen,   während  die 
deutschen  Universitätsstädte —  höchstens  etwa  mit  Ausnahme  Breslaus — , 
weil  sie  nicht  zugleich  derartig  ausgesprochene  wirtschaftliche  Mittel 
punkte  sind,  weniger  in  Betracht  kommen  dürften.     Als  Bezeichnung* 
würde  vielleicht  „Wirtschaftliches  Bezirksarchiv  für  .  .   .*• 
zu  empfehlen  sein.    „Wirtschaftliches"  und  nicht  „wirtschaftsgeschicht- 
liches",   weU    das    Archiv    jeder    Art    wirtschaftswissenschaftlidier 
Forschung  dienen,   nicht  nur  zu   geschichtlichen,  sondern  vor  allem 
auch  zu  theoretischen  Arbeiten  Material  liefern   soll;   „Beziricsarchiv**, 
weil  ein  bestimmtes  Wirtschaftsgebiet,  ein  Bezirk,  räumlich  das  Sammel- 
bereich bildet.    In  dem  Worte  „Zentralarchiv"  kommt  dies  nicht  voll 
zum  Ausdruck,  denn  jedes  „Archiv",  das   diesen  Namen  verdient, 
zentralisiert  die  aus  verschiedenen  Registraturen  herrührenden  Akten^ 
und  im  übrigen  besagt  „Zentral-"  nicht,  aus  welchem  Bereiche  Quellen 
zentralisiert  werden  sollen,   während  „Bezirks-"  in  der  nachfolgenden 
Ortsbestimmung  sofort  seine  konkrete  Erklärung  findet 

Was  die  bereits  erwähnte  Selbständigkeit  anlangt,  so  ist  dies 
ein  negativer  Begriff.  Er  soll  zunächst  ausschlieisen ,  dafs  ein  wir^« 
schafdiches  Bezirksarchiv  etwa  als  Anhängrsel  an  ein  staatliches  oder 
städtisches  Archiv   entsteht  und  von  dessen  Beamten  nebenbei  mit 


—     888     — 

verwaltet  wird,  denn  gerade  darauf,  dais  sich  der  Leiter  dauernd  und 
gründlich  um  die  Gegenwart  kümmert,  liegt  der  Nachdruck;  nur  dies 
vermag  einen  Erfolg  zu  sichern.  Selbständig  muis  ein  solches  Archiv 
aber  auch  noch  in  anderer  Hinsicht  sein,  nämlich  hinsichtlich  seiner 
materiellen  Gnmdlage.  Am  erspriefslichsten  dürfte  es  sein,  wenn  nam* 
hafte  Stiftungen  den  Grundstock  bilden,  jährliche  Beiträge  von  Firmen, 
Handelskammern  und  Korporationen  ein  bestimmtes  Einkommen  sichern 
und  die  Stadt,  in  der  das  Archiv  besteht,  die  Verwaltung  übernimmt. 
Staatsmittel  würden  gewiüs  jederzeit  als  Unterstützung  gern  angenommen 
werden,  aber  rein  staatliche  Archive,  entsprechend  den  preuüsischen 
Staatsarchiven,  würden  sich  durchaus  nicht  empfehlen,  weil  alles  ver- 
mieden werden  mufis,  was  der  Archivverwaltung  den  Charakter  einer 
Staatsbehörde  verleihen  könnte.  Geschähe  dies,  dann  würde  man  im 
Kreise  der  Privatunternehmer  dem  Archiv  sofort  mit  gewissem  Miß- 
trauen begegnen  und  allerlei  Nebenabsichten  wittern,  und  auch  die 
schätzenswerte  Mitarbeit  wirtschaftlicher  Korporationen  und  Vereine» 
die  kaum  zu  entbehren  ist,  würde  dann  höchst  wahrscheinlich  ver- 
loren gehen.  Trotzdem  wäre  aber  zu  wünschen,  dais  sich  die  Staats- 
behörden nicht  nur  als  die  berufenen  Hüter  aller  wissenschaftlich- 
geistigen Interessen  des  Volkes,  sondern  auch  in  wohlverstandenem 
Interesse  der  Staatsverwaltung  selbst  mit  den  hier  entwickelten  Vorschlägen 
vertraut  machen,  mit  ihrer  Autorität  die  Gründung  von  wirtschaftlichen 
Bezirksarchiven  unterstützen  und  materielle  BeihUfen  dazu  leisten.  In 
Preuiisen  ist  ganz  neuerdings  ein  „Landesgewerbeamt''  in  Tätig- 
keit getreten,  das  dem  gesamten  gewerblichen  Unterrichtswesen  und 
jeder  Art  von  Gewerbeförderung  sein  Augenmerk  zuwenden  soll. 
Diese  neue  Behörde  könnte  viel  Nützliches  wirken,  wenn  sie  von  vorn- 
herein durch  immer  wiederholte  Betonung  der  Notwendigkeit  wenigstens 
mittelbar  zur  Konservierung  des  Materials  beitragen  wollte,  das,  aus 
dem  modernen  Geschäftsbetriebe  hervorg^angen ,  als  geschichtliche 
Quelle  dauernden  Wert  besitzt. 

Über  die  Notwendigkeit,  dais  wirtschaftliche  Bezirksarchive  ge- 
gründet werden  müssen,  ist  kein  Wort  zu  verlieren.  Aber  wenn 
selbst  in  einigen  Wirtschaftsgebieten  bald  solche  entstehen  sollten,  so 
ist  doch,  wie  die  Verhältnisse  in  Deutschland  liegen,  längst  nicht  in 
allen  Gauen  darauf  zu  rechnen,  und  selbst  dort,  wo  die  Verhältnisse 
günstig  liegen,  wird  stets  noch  eine  entsprechende  Zeit  vergehen,  ehe 
die  geplanten  Anstalten  organisiert  sind  und  ihre  Tätigkeit  voll  aufnehmen. 
Aber  es  ist  Gefahr  im  Verzug.  Es  ist  dringend  notwendig,  dafis 
überall  bald  etwas  geschieht,  vor  allem  dae^MiäurtiR,  dem  Unter- 


—      224     — 

gang  geweihtes  Material  gerettet  wird,  und  damit,  wenigstens  in  be- 
scheidenen Grenzen,  die  Erscheinungen  des  täglichen  Lebens  und  das, 
was  gedruckt  und  geschrieben  davon  Kunde  gibt,  vom  Standpunkte 
des  beobachtenden  Dritten  aus  betrachtet  werden.  Deshalb  wird,  so- 
lange etwas  Besseres  mangelt,  und  überall  dort,  wo  dies  zutriüt,  in 
allen  Teilen  deutscher  Erde  jede  Person  und  jede  Anstalt,  soweit 
es  in  ihren  Kräften  steht,  sich  in  dieser  Richtung  betätigen  müssen. 
Ein  solches  Vorgehen  wird  zugleich  dazu  dienen,  dais  die  für  künftige 
wirtschaftliche  Bezirksarchive  geeigneten  Personen  gefunden  und  da& 
praktische  Erfahrungen,  wie  und  was  gesammelt  werden  kann  und  soll, 
erworben  werden.  Jeder  Kaufmann  und  Fabrikant  kann  in  seinem 
Betriebe  und  dem  ihm  nahestehenden  Kreise  privatim  in  gewissem 
Grade  sammelnd  tätig  sein,  und  nicht  minder  wird  mancher,  der  als 
Rentner  lebt  und  sich  ein  Interesse  am  wirtschaftlichen  Leben  bewahrt 
hat,  dazu  in  der  Lage  sein,  aber  im  allgemeinen  wird  man  doch  zu- 
nächst auf  die  Hilfe  der  bestehenden  halböffentlichen  Korporationen, 
Vereine  und  Anstalten  rechnen  müssen,  schon  deshalb,  weil  von  ihnen 
am  ehesten  zu  erwarten  ist,  dafis  sie  künftig  bei  Errichtung  eines  wirt- 
schaftlichen Bezirksarchivs  diesem  ihre  Sammlungen,  soweit  sie  für 
dessen  Zwecke  bedeutsam  sind,  überweisen. 

In  erster  Linie  kommen  da  die  „Kammern"  in  Betracht,  aber 
nicht  nur  die  im  obigen  allein  genannten  Handelskammern;  nein 
das,  was  von  ihnen  gilt,  findet  auch  auf  die  Gewerbe-,  Handwerks- 
und Landwirtschaftskammem  Anwendung,  denn  alle  Zweige  des 
Erwerbslebens  müssen  grundsätzlich  gleichmäisig  berücksichtigt  werden. 
Für  die  Vergangenheit  kommen  natürlich  die  Betriebe,  bei  denen  schon 
immer  eine  geordnete  Buchführung  üblich  war,  mehr  in  Betracht  als 
die,  bei  denen  eine  solche  erst  in  neuerer  Zeit  eingeführt  worden  ist, 
aber  in  der  Gegenwart  schon  sind  in  dieser  Richtung  die  Unterschiede 
der  Geschäftsführung  nicht  mehr  allzu  grofs.  Neben  jenen  Kammern 
gibt  es  aber  noch  eine  grofse  Menge  wirtschaftliche  Beruf s vereine, 
z.  T.  mit  guter  Organisation  und  eigener  Geschäftsführung:  auch  alle 
diese,  die  zugleich  auf  ihre  Mitglieder  einen  bestimmenden  Einfhiis 
besitzen ,  sollten  die  sorgsame  Aufbewahrung  alles  gedruckten  und 
geschriebenen  Materials,  das  von  derEntwickelung  der  in  ihnen  vertretenen 
Etnzelunternehmungen  Zeugnis  ablegt,  als  ihre  Ehrenpflicht  betrachten. 
Ihre  Aufgabe  wird  es  vor  allem  sein,  für  die  verflossenen  Jahrzehnte 
zu  retten,  was  zu  retten  ist,  und  zunächst  wenigstens  au&uspeichem, 
wenn  auch  in  der  Praxis  eine  gleichzeitige  Sammlung  von  Einzel- 
heiten   und    eine    Nutzbarmachung    des     aufgespeicherten     Materials 


—    Mb     — 

—  an  sich  wünschenswert  —  nur   in  Ausnahmefällen    durchführbar 
sein  wird. 

Es  blühen  aber  in  Deutschland  auch  mehrere  hundert  Geschichts- 
vereine, von  denen  die  weitaus   meisten    nur   in    einem    räumlich 
beschränkten  Gebiete  arbeiten.    Diese  besitzen  zu  einem  recht  grolsen 
Teile  auch  Sammlungen,  ein  Museum  oder  wie  sonst  die  Bezeichnung 
sein  mag,  und  als  Teil  davon  ein  „Archiv".    Letzteres  ist  ebenfalls 
eine  geeignete  Stelle,  um  das  der  Privatuntemehmung  entstammende 
Schreibwerk,  vor  allem  Geschäftsbücher  vergangener  Jahrzehnte,  auf- 
zubewahren.   Die  Vereinsvorstände  sollten  ihr  ganz  beson- 
deres   Augenmerk    diesem    Gegenstande    zuwenden    und 
namentlich   auf  ihre,   dem  Unternehmertum  angehörigen 
Mitglieder  in  diesem  Sinne  einwirken;    selbst  eine  Hinter- 
l^ung  als  Depositum  unter  Wahrung  des  Eigentums  rechts  ist  Ja  in 
solchen  Fällen  möglich  und  zweckmäfsig.     Auch  die  gegenständ- 
lichen Sammlungen  der  Gesdiichtsvereine  könnten  sehr  wohl  in  noch 
höherem  Maise,  als  es  bis  jetzt  geschieht,  die  Erzeugnisse  des  heimischen 
Gewerbes  in  den  Kreis  des  zu  Sammelnden  einbeziehen,   denn  es  ist 
bisher  noch  eine  Seltenheit,    dafs,   wie   bei  dem  neuen  Städtischen 
Museum  in  Essen  >),  eine  besondere,  der  Industrie  gewidmete  Abteilimg 
vorhanden  ist 

Ganz  dasselbe,  was  für  die  Sammlungen  der  Geschichtsvereine 
gilt,  pa&t  auch  auf  städtische  Museen  und  vor  allem  hinsichtlich  der 
Akten  auf  die  Stadt-  und  Gemeindearchive,  die  sich  heute  ganz 
allgemein  einer  guten  Pflege  erfreuen.  Recht  viele  Orte  besitzen  eine 
spezielle  Industrie,  die  heute  für  ihr  Wohl  entscheidend  ist,  und  das 
Stadtarchiv  enthält  bereits  naturgemäfs  in  seinem  organisch  entstandenen 
Teile  wichtige  Nachrichten  über  die  einzelnen  Betriebe.  Warum  soll 
es  diese  nicht  durch  Übernahme  von  Geschäftsbüchern  u.  dgl.,  sei  es 
infolge  von  Schenkung  oder  Kauf,  sei  es  als  Depositum,  ergänzen? 

Aus  den  praktischen  Bedürfhissen  der  Gegenwart  heraus  sind  An- 
stalten entstanden,  die  „Handelsmuseum"  oder  ähnlich  heifsen ') 
und  den  Zweck  haben,  den  Besuchern  eine  Übersicht  über  die  Er- 
zeugnisse des  Gewerbes  und  der  gangbaren  Artikel  des  Handels  zu 
geben.  Die  älteste  Anstalt  dieser  Art,  die  in  Wien,  ist  mit 
einer  Handelshochschule,    der  Exportakademie,    verbunden  und 

I)  Vgl.  BeuUehe  OtaehiekUblätUr ,  6.  Bd.  (1905),  S.  140.  ÄhoUcbe«  wird  ia 
Saarbiücken  fUr  das  dort  im  EnUtehen  begriffene  Saarmaseum  geplant. 

a)  Vgl.  Neufeld,  Die  fUkrvr'-' ^^^^^'^^mml-M^port-ÄmUr  (Berlin  1905),  wo 
S.  8  £  der  Begriff  nfiker  bettir 

17 

4 


—     226     — 

dient  als  Atiskunftsstelle  über  ZoUangelegenheiten  und  Kreditverhältnisse. 
Aber  dort  werden  auch  die  Kursberichte,  Jahresberichte  der  Aktien« 
gesellschaften   sowie  alte  Handelsbücher  gesammelt  und  seitens  der 
Akademie  auch  zu  wissenschaftlicher  Arbeit  benutzt     Dieses  Beispiel 
verdient  Nachahmung ;  jedes  Handelsmuseum  sollte  auch  den  geschrie- 
benen tmd  gedruckten  Quellen  des  Wirtschaftslebens  Aufinerksamkeit 
schenken  und  wenigstens  nebenbei  sammeln.    Ja  es  wäre  gewifs  sach* 
lieh  nicht  unrichtig,  wenn  unter  gegebenen  Verhältnissen  em  Wirtschaft* 
liches  Bezirksarchiv  tmmittelbar  mit  dem  Handelsmuseum  verbunden 
würde.    Ist  der  Zweck  beider  Anstalten  auch  grundsätzlich  verschieden, 
so   haben  sie  doch  zahlreiche  Berührungspunkte   miteinander:   beide 
müssen  an  wirtschaftlichen  Mittelpunkten  erstehen,  und  die  Sammltmgs- 
Objekte  —  hier  die  Gegenstände,   dort  die  Akten  —  ergänzen  sich 
gegenseitig,  namentlich  dann,  wenn  alle,  dem  Handelsmuseum  einmal 
als  aktuell  wichtig  überwiesenen  Erzeugnisse  ihm  dauernd  verbleiben 
und  mit  der  Zeit  „altmodisch"   und   schließlich  „alt"  werden.     Erst 
kürzlich  ist  in  Hannover  seitens  der  Handelskammer  mit  der  Ein- 
richtung eines  „Handels-  und  Industriemuseums"  begonnen  werden, 
aber  gerade  von  der  Sammlung  handschriftlichen  und  gedruckten  Mate- 
rials hat  man  dort  zunächst  abgesehen ;  man  will  sich  auf  das  Gegen- 
ständliche beschränken.     Dagegen  verdient  es  Anerkennung,  dafs  bei 
der  Ausstellung  der  Industrieerzeugnisse  vor  allem  darauf  Wert  gel^t 
wird,   dafs  sich  aus   den  Proben  der  Werdegang  des  Erzeugnisses 
ersehen  läfst.     Die  Ausstellung  soll  zunächst  der  Belehrung  des  Pu- 
blikums über  die  Erzeugnisse  der  Gegenwart  und  der  AusbUdung  junger 
Kaufleute   dienen,  aber  ganz  von  selbst  wird  die  Anstalt  allmählich 
das  werden,   was   man  im  gewöhnlichen  Sinne  ein  „Museum"  nennt, 
denn  was  heute  aktuell  ist,   wird  in  vielen  Fällen  bereits  nach  einem 
Jahrzehnt  völlig  der  Veigangenheit  angehören,   und  der  au^festellte 
Gegenstand  wird  dann  eine  körperliche  Quelle  für  die  Erkenntnis  der 
wirtschaftlichen  Entwickelung.    In  K  ö  1  n  ist  ebenfalls  ein  solches  Han- 
delsmuseum im  Werden,  und  in  diesem  Falle  würde  die  Frage  ganz 
besonders  nahe  liegen,  ob  sich  nicht  damit  das  wirtschaftliche  Archiv 
räumlich   und  vielleicht  auch  der  Organisation  nach  vereinigen  liefse. 
Mittel  und  Wege  gibt  es,  wie  ersichtlich,  mancherlei,  um  die  be- 
zeichneten Bestrebungen  zu  fördern,  aber  was  auch  geschehen  möge, 
ist  alles  zunächst  nur  ein  Auskunftsmittel  in  Ermangelung  von  etwas 
Besserem,   solange  die  Tätigkeit  des  Sammeins   nur  nebenbei  von 
Personen  besoi^  wird,   denen  ihr  Beruf  in  erster  Linie  die  Erfüllung 
anderer  Pflichten  vorschreibt.   Es  handelt  sich  hierbei  durchaus  nicht  um 


—     227     — 

eine  Liebhaberei  oder  ein  mechanisches  Einreihen,  sondern  um  eine 
ernste,  wissenschaftliche,  ihrem  Wesen  nach  neue  Arbeit,  die  nur  unter 
Leitung  eines  allseitig  qualifizierten  Archivars  geleistet  werden  kann, 
und  im  wesentlichen  sogar  von  ihm  selbst  geleistet  werden  mufe.  Das 
setzt  aber  voraus,  da£s  Wirtschaftliche  Bezirksarchive  bestehen  und  ihre 
Vorstände  hauptamtlich  mit  ihrer  Verwaltung  betraut  sind.  Die  Eigen- 
schaften, die  ein  solcher  Archiworstand  besitzen  muls,  sind  recht 
verschiedenartig.  Er  mufis  erstens  durchaus  mit  den  Grundsätzen 
geschichtlicher  Forschung  vertraut  und  namentlich  in  der  Ausbeu- 
tung archivalischen  Materials  geübt  sein.  Er  mu(s  zweitens  allge- 
meine wirtschaftsgeschichtliche  Kenntnisse  besitzen,  die  sich  von  den 
praktisch -nationalökonomischen  wesentlich  unterscheiden,  aber  zu- 
gleich der  theoretisch-abstrakten  Wirtschaftswissenschaft  Verständnis 
entgegenbringen.  Er  mu&  drittens  in  technischer  Hinsicht  mit 
dem  Archivwesen  vertraut  sein  und  die  liebevolle  Hingabe  an  das 
ihm  anvertraute  archivalische  Material  besitzen,  die  jedem  Archivar 
eignen  soll.  Aber  viertens  muis  er  auch  Verständnis  haben  für  die 
Aufgaben  des  modernen  Wirtschaftslebens,  namentlich  auch  für  die 
Wechselwirkung  zwischen  Wirtschaft  und  Technik,  sowie  die  Fähigkeit, 
diese  geschichtlich  in  den  Zusammenhang  einzureihen  und  das  Wesent- 
liche und  Nebensächliche  voneinander  zu  unterscheiden. 

Wenn  der  Archivar  diese  Eigenschaften  mit  einem  gewissen 
Oi^anisationstalent  vereinigt,  dann  ist  die  Gewähr  vorhanden,  daüs  sich 
ein  Wirtschaftliches  Bezirksarchiv  gedeihlich  entwickelt. 


Sobald  die  äufsere  Organisation  vorhanden  ist  oder  vielmehr  schon 
vorher,  gilt  es  die  weitere  und  schlieiislich  für  das  Gelingen  entschei- 
dende Frage  zu  beantworten:  Was  und  wie  soll  im  Wirtschaft- 
lichen Bezirksarchiv  gesammelt  werden? 

Vor  allem  darf  man  nicht  planlos  verfahren;  es  darf  nicht 
dem  Zufall  überlassen  bleiben,  was  gesammelt  wird ;  so  sicher  —  nament- 
lich im  Anfang  —  alles  dankbar  entgegengenommen  werden  mufs, 
was  sich  gerade  darbietet,  so  selbstverständlich  darf  man  sich  nicht 
auf  diese  Art  der  Erwerbung  beschränken.  Der  Sammelarbeit  mufs 
vielmehr  ein  bestimmter  Plan  zugrunde  liegen,  und  die  Auf- 
gabe des  Archivars  wird  es  sein,  dem  in  jenem  Plane  verkörperten 
Ideal  möglichst  nahe  zu  kommen;  ihn  völlig  in  Wirklichkiiym^usetzen, 
wird  ihm  nicht   gelingen.     Ein  solcher  Plan  wird  je  r  "^'rt- 

schaftsgebiet  verschieden  sein  müssen  und  wird  ^^' 


—     328     — 

vollständig  entwickeln  lassen ;  er  kann  vielmehr  nur  oi^fanisch  durch  die 
Sammeltätigkeit  selbst  entstehen  und  wird  naturgemäfs  im  Laufe  der  Zeit 
modifiziert  werden;  das  Arbeitsgebiet  wird  gelegentlich  sowohl  Er* 
Weiterungen  als  auch  Einschränkungen  erfahren  müssen.  Aber  irgend- 
welche Grundsätze  —  selbst  auf  die  Gefahr  hin,  dafis  sie  sich  in  der  Zukunft 
als  töricht  erweisen,  —  mufs  der  Sammelnde  stets  beobachten,  damit 
die  einzelnen,  dem  Archiv  einverleibten  Stücke  von  vornherein  in 
einem  gewissen  ideellen  Zusammenhange  miteinander  stehen,  und  nicht 
nur  eine  Menge  isolierter  Beobachtungen  und  Nachrichten  darstellen. 
In  erster  Linie  ist  das  Augenmerk  auf  die  Einzelunterneh- 
mungen zu  richten,  und  da  sind  die  hervorragenden  und  für  das  be- 
treffende Gebiet  charakteristischen  besonders  zu  berücksichtigen.  Nicht 
darauf  kann  es  ankommen,  dafs  über  Tausende  von  Firmen  irgendwelches 
schriftliches  oder  gedrucktes  Material  so,  wie  es  der  Zufall  bringt,  ange- 
häuft wird,  sondern  dafs  die  innerhalb  kleinerer  Bezirke  und  innerhalb  be- 
stimmter Geschäftszweige  typischen  Unternehmungen  mit  besonderem 
Eifer  verfolgt  werden,  dafs  man  bei  ihnen  nach  einer  möglichst  vollstän- 
digen Beschafiung  des  Materials  strebt.  Am  relativ  leichtesten  ist  dies  bei 
den  Aktiengesellschaften,  deren  Geschäftsberichte  an  sich  schon 
veröffentlicht  werden,  mithin  jedem,  der  sie  zu  bekommen  trachtet, 
ohne  weitere  Schwierigkeiten  zugänglich  sind,  aber  die  den  Sachkun- 
digen, wenn  er  sie  in  Masse  durch  Jahrzehnte  hindurch  vor  sich  hat, 
recht  wesentlich  zu  belehren  vermögen.  Und  deren  Tätigkeit  voll- 
zieht sich  auch  sonst  mehr  in  der  öfTentlichkeit ,  und  die  örtlichen 
Zeitungen  enthalten  im  Laufe  eines  Jahres  immerhin  manche  auf 
diese  eine  Firma  bezügliche  Notiz:  werden  auch  diese  gewissenhaft 
gesammelt,  mit  Angabe  der  Herkunft  aufgeklebt  und  zu  einem  Akten- 
faszikel vereinigt,  so  entsteht  in  wenigen  Jahren  schon  eine  Sammlung 
von  Einzelnachrichten,  deren  jede  für  sich  zwar  belanglos  und  alltäg- 
lich erscheint,  aber  in  Verbindung  mit  anderen  doch  grofse  Bedeutung 
besitzt.  Solche  Zeitungsnotizen  sind  z.  B.  Nachrichten  über  gröfsere 
Aufträge,  gelegentliche  Statistiken  über  die  Arbeitsverhältnisse,  wie 
sie  namentlich  aus  Anlafis  von  Polemiken  und  Ausständen  veröffentlicht 
zu  werden  pflegen,  bauliche  Veränderungen,  Aufteilung  neuer  Maschinen 
usw.,  aber  auch  der  Anzeigenteil  der  Zeitungen  ist  nicht  zu  vergessen, 
denn  in  ihm  finden  sich  in  vielen  Fällen  die  frühesten  literarischen 
Zeugnisse  für  wirtschaftliche  Neuerscheinungen.  Zu  diesen  Zeitungs- 
ausschnitten *)  gesellen  sich  aber  noch    die   besonders    hergestellten 

I)  Die  Masse   bedruckten  Papiers,   die  schon   eine   einzige  moderne  Tagesxeitnng 
darsteUt,   macht  heate  praktisch   den   vollständigen  Jahrgang  fast  iuibenatd>ar.    Deshalb 


—     989     — 

Drucksachen,  Zirkulare,  Preislisten  und  ähnliche  VeröfTentlichungen» 
die  den  Absatz  und  die  Verbreitung  gewisser  Produkte  durch  Auf- 
klärung des  Publikums  bezwecken,  und  darin  sind  oft  auch  wichtige 
technische  ßnzelheiten  berührt.  Auch  diese  Drucksachen,  die  von 
einer  Firma  ausgegangen  sind,  stellen,  wenn  sie  für  einen  längeren 
Zeitraum  vorliegen,  eine  beachtliche  und  objektiv  zuverlässige  Quelle 
wirtschaftlicher  Erkenntnis  dar,  namentUch  aber  in  Verbindung  mit  den 
systematischen  jährlichen  Mitteilungen  und  den  Zeitungsausschnitten. 

Bisher  war  nur  von  solchen  gedruckten  Kundgebungen  der  Einzel- 
imtemehmung  die  Rede,  die  von  vornherein  fär  die  Öffentlichkeit 
bestimmt  sind.  Sie  zu  erlangen  ist  bei  einiger  Mühe  jedem  möglich, 
und  die  Schwierigkeit  liegt  vor  allem  in  der  anzustrebenden  Voll- 
ständigkeit. In  der  Gegenwart  werden  viele  einzelne  Firmen  gern  bei 
der  Zusammenstellung  ihrer  Drucksachen  behilflich  sein,  denn  auch 
sie  selbst  haben  dann  die  Mc^lichkeit,  bei  Bedarf  im  eigenen  Inter- 
esse rasch  Einsicht  zu  nehmen.  Zur  Durchführung  dieser  Art  von 
Sammelarbeit  ist  nur  eine  fleiisige,  umsichtige  Tätigkeit  des  Archivs 
nötig;  sachliche  Schwierigkeiten  stehen  bezüglich  gleichzeitiger 
Veröffentlichungen  nicht  entgegen.  Aber  auch  nur  aus  dem  letzten 
Jahrzehnt  lediglich  die  von  einer  Firma  zu  Reklamezwecken  ausge- 
gebenen Prospekte  vollständig  zusammenzubringen,  wird  fast  un- 
möglich sein.  Das  hat  sich  erst  noch  vor  kurzem  gezeigt,  als  der 
Geschäftsführer  des  „Vereins  der  deutschen  Textilveredelungsindustrie", 
Dr.  Tschierschky  in  Düsseldorf,  die  Mitglieder  dieses  Vereines  unter 
dem  14.  März  1904  um  derartiges  Material  bat,  das  in  ein«r  von  ihm 
vorbereiteten  Geschichte  der  deutschen  Textilveredelungsindustrie, 
namentlich  der  letzten  100  Jahre  in  chemisch-technischer  und  wirt- 
schaftsgeschichtlicher Beziehung  verarbeitet  werden  sollte.  Er  hatte 
dabei  sechs  Arten  von  Quellen  unterschieden,  nämlich  i.  persönliche 
Aufzeichnungen  erfahrener  Industrieller  und  älterer  Firmen,  2.  Kopier- 
und Lohnbücher,  3.  Geschäftsberichte  der  Aktiengesellschaften,  4.  Aus- 
stellungsberichte, 5.  Preis-  und  Geschäftszirinilare,  6.  Jubiläumsschriften, 
und  die  unter  Nr.  3—5  genannten  sind  eben  im  wesentlichen  solche 
öffentliche  geschäftliche  Kundgebungen,  wie  sie  oben  charakterisiert 
wurden.  Wie  derjenige,  der  die  diesbezüglichen  Verhältnisse  einiger- 
mafsen  kennt,  ohne  weiteres  annehmen  wird,  hat  die  Aufforderung 
wesentlichen  Erfolg  nicht  gehabt  und  konnte  ihn  nicht  haben,   weil 

mnü  das  einzelne  Blatt  an  jedem  Tage  geprüft  und  ausgeschnitten  werden.  So  reHIhrt 
hente  jeder,  der  sich  mit  irgendwelchen  Erscheinungen  der  Gegenwart  wissenschi*"** 
beschäftigt 


—     280     — 

der  einzelne  Fabrikant  diese  Dinge  selbst  nicht  gesammelt  hat  und, 
wenn  sich  solche  nicht  verausgabte  Papiere  wirklich  noch  in  seinen 
Geschäftsräumen  finden  sollten,  sie  nur  schwer  herauszusuchen  vermag. 
Tschierschky  hat  deshalb  seinen  ursprünglichen  Plan  ändern  und  sich 
in  höherem  Mafise,  als  er  von  vornherein  wollte,  auf  die  Benutzung 
bereits  verarbeiteten  Materials,  wie  es  in  den  älteren  Handelskammer- 
berichten z.  B.  vorliegt  beschränken  müssen.  Solche  Erfahrungen  sind 
bedauerlich  und  sollten  dazu  anspornen,  da{s  es  wenigstens  von  jetzt 
an  besser  wird,  und  dals  auch  nach  rückwärts  für  einige  Jahrzehnte 
das  nachgeholt  wird,  was  sich  nachholen  lä&t  Das  Kölner  „Bilanz- 
archivV  hat  bereits  einen  erfreulichen  Anfang  damit  gemacht 

Wichtiger  noch  als  das  eben  charakterisierte  Kleinzeug  ist  die 
Gesamtheit  der  aus  einem  Betriebe  hervorgegangenen  Geschäfts- 
bücher einschliefslich  des  Briefwechsels,  die  Dinge,  an  die 
Tschierschky  unter  Nr.  2  denkt  Nach  der  Vorschrift  des  Handels- 
gesetzbuches müssen  diese  Bücher  zehn  Jahre  lang  aufbewahrt  werden, 
sie  sind  aber  zugleich  in  ihrer  Gesamtheit  Geheimnis  des  Unter- 
nehmers, da  sich  daraus  wichtige  geschäftliche  und  technische  Vorgänge 
ermitteln  lassen,  die  der  Unternehmer  im  Interesse  seines  Geschäftes 
geheimhalten  muls.  Es  fragt  sich  nur,  für  welchen  Zeitraum 
dieser  Gesichtspunkt  von  Belang  ist.  Dies  mag  bei  den  verschiedenen 
Betrieben  recht  verschieden  sein,  aber  unbedenklich  wird  man  aus- 
sprechen dürfen,  dais  die  Einsichtnahme  in  Geschäftsbücher  seitens 
UnbeteUigter  nach  Ablauf  einer  Frist  von  25 — 30  Jahren  höchstens 
in  ganz  wenigen  Ausnahmefallen  noch  eine  Schädigung  der  betreffenden 
Unternehmung  von  heute  nach  sich  ziehen  kann;  sind  erst  2 — 3  Jahr- 
zehnte darüber  hingegangen,  dann  dürfte  in  der  Regel  das  geschäft- 
lich-sachliche Interesse  des  Unternehmers  an  der  soi^^tigen  Geheim- 
haltung seiner  Bücher  geschwunden  sein.  Umgekehrt  dag^en  haben 
die  Unternehmer  als  Personen  ein  grofses  Interesse  an  jenen  Büchern, 
den  lebendigen  Zeugen,  die  von  der  Entfaltung  des  Geschäfts  erzählen; 
sie  bedauern  zwar,  wenn  das  50jährige  Geschäftsjubiläum  naht,  den 
Verlust  der  Bücher  aus  der  Anfangszeit,  lassen  aber  in  demselben 
Augenblicke  die  Bücher  des  vorletzten  Jahrzehnts,  die  nur  als  Ballast 
betrachtet  werden,  absichtlich  vernichten!  Das  ist  menschlich  be- 
greiflich, aber  widersinnig,  und  die  Erkenntnis,  dafs  darin  ein  Wider- 
sinn liegt,  wird  sich  immer  mehr  Bahn  brechen,  je  mehr  dank  der  Blüte 
des  gewerblichen  Unterrichtswesens  die  Unternehmer  für  allgemeinere 
geistige  Interessen  Verständnis  gewinnen. 

Als  praktische  Malsnahme  wäre,  um  allen  Interessen  gerecht 


—     231:    - 

zu  werden,  etwa  folgendes  vorzuschlagen.  Finnen,  die  nicht  selbst 
über  ein  geschäftliches  „Archiv"  verfügen,  und  deshalb  kaum  Raum 
für  ihre  alten  Bücher  haben,  mögen  diese  vertrauensvoll  als  Eigentum 
oder  Depositum  dem  wirtschaftlichen  Bezirksarchiv,  wo  ein  solches  besteht, 
überweisen,  und  zwar  mit  der  Befugnis,  dafs  dreifisig  Jahre  ')  nach  dem 
Abschlufs  der  Bücher  jede  Bearbeitung  wissenschaftlicher  Art  —  Nach- 
forschungen Unberufener  aus  reiner  Neugier  sind  selbstverständlich 
wie  in  jedem  anderen  Archiv  von  vornherein  völlig  ausgeschlossen  — 
gestattet  wird. 

Aber  gerade  die  Gewähr,  dafs  vorher  niemand  Einsicht  erhält, 
wird  für  viele  Firmen  etwas  Wesentliches  sein ;  sie  werden  vorher  ihre 
Bücher  nicht  gern  aus  den  Händen  geben,  wenn  sie  sie  nicht  gut  auf- 
gehoben wissen.  „Gut  au^'ehoben"  aber  sind  sie  nach  ihrer  Meinung 
dann,  wenn  sie  bald  nach  Ablauf  der  zehnjährigen  gesetzlichen  Auf- 
bewahrungsfrist eingestampft  werden:  das  ist  der  Grund,  warum  es 
in  so  verhältnismäfsig  wenig  Fällen  überhaupt  Geschäfts- 
bücher, die  zehn  bis  dreifsig  Jahre  alt  sind,  gibt!  Wie 
sehr  das  Einstampfen  üblich  ist,  beweist  eine  in  verhältnismäfsig  kurzen 
Zwischenräumen  in  der  Kölnischm  Zeitung  wiederkehrende  Annonce 
der  Papierfabrik  C.  F.  Wachender  ff  in  Bergisch-Gladbach ,  weldie 
besagt,  dafs  von  ihr  „alte  Akten,  Briefe  und  Geschäftsbücher  unter 
Garantie  des  sofortigen  diskreten  Einstampfens"  gekauft 
werden.  Es  müssen  sich  also  doch  viele  finden,  die  auf  ein  solches 
Anerbieten  eingehen,  denn  sonst  würde  ja  eine  solche  Annonce  nicht 
lohnen.  Namentlich  bei  der  Auflösung  von  Geschäften  wird  eine 
Massenvemichtung  der  Geschäftspapiere  die  Regel  bilden.  Um  nun 
solche  jüngere  Geschäftsbücher  zu  retten  und  zugleich  vor  mifsbräuch- 
licher,  dem  Geschäft  schädlicher  Verwertung  zu  sichern,  müfiste  jede 
Benutzung  irgendwelcher  Art,  ja  nur  überhaupt  die  Öffnung 
der  Verpackung  garantiertermafsen  ausgeschlossen  sein,  ehe  die  auf 
dreifsig  Jahre  oder  unter  besonderen  Verhältnissen  anders  zu  normie- 
rende Sicherheitsfrist  abgelaufen  ist.  Zu  diesem  Zwecke  wäre  nur 
erforderlich,   dafs  der  Unternehmer,   der  heute  Geschäftsbücher  und 


i)  Jeder  Unternehmer  wird  mit  ticfa  sn  Rate  gehen  wid  durch  Stichproben  fettttellen 
mOtsen,  welche  Frist  etwa  fttr  aein  Geachfift  in  Frage  kommt  Drei  Jahrzehnte  werden 
im  allgemeinen  in  der  Tat  als  das  Höchstmafs  der  Wartezeit  gelten  dürfen,  aber  am  onan« 
genehmen  ZwischenfiÜlen  rorzabengen ,  wird  es  zweckmälsig  und  sehr  wohl  angSngig 
sein,  dais  bis  zn  30  Jahren  nach  der  Niederschrift  alles  einst  geheime  Material  nnter 
Verschlnfs  gehalten,  aach  Tom  Archi?ar  selbst  nicht  eingesehen  wid  deshalb  anch  innerlich 
nicht  geordnet  würde. 


—     232     — 

Briefe  ausscheidet,  um  sie  zum  EinstampCen  in  die  Papierfabrik  zu 
schicken,  sie  in  einigermaisen  geordnetem  Zustande  verpackt  und  ver- 
siegelt dem  Wirtschaftlichen  Archiv  übergibt  und  die  Zeit  anisen 
angibt,  bis  zu  der  das  Archiv  sich  verpflichtet,  die  Siegel  nicht  za 
lösen.  Auf  diese  Weise  wäre  allen  Beteiligten  geholfen,  und  die 
betreffenden  Firmen  könnten  sich  stets  nach  Ablauf  der  zehnjährigen 
Frist  ihrer  älteren  Bücher  entledigen,  ohne  sie  für  immer  zu  ver- 
nichten. 

Als  Objekte  der  Forschung  kommen,  wie  schon  oben  bei  Auf- 
zählung der  Kammern  betont  wurde,  nicht  etwa  nur  kaufinännische 
und  groisindustrielle  Unternehmungen  in  Betracht,  sondern  ganz  in 
gleicher  Weise  auch  landwirtschaftliche  Betriebe,  gewerbliche  Klein- 
betriebe tmd  das  Handwerk  ^).  Landwirtschaftliche  Betriebe  berück- 
sichtigt zweckmäfsigerweise  auch  Ehrenbetg,  der  schon  im  ersten  Jahr- 
gange  des  Thimen-Ärchivs  (S.  133 — 146  imd  357 — 380)  einen  Beitrag 
aus  diesem  Gebiete  gibt,  wenn  er  die  Betriebsergebnisse  eines 
Mecklenburgischen  Rittergutes  1846 — 1895  behandelt,  ganz  abg^esehen 
davon,  dafs  Thünens  Arbeiten  mit  Material  operieren,  das  er  selbst 
als  praktischer  Landwirt  durch  Beobachtungen  festgestellt  hat ').  Die 
Berücksichtigung  des  Kleingewerbes  ist  schon  als  Gegenstück  zur 
Groisuotemehmung  notwendig,  und  irgendein  stichhaltiger  Grund,  der 
g^en  die  sorgfältige  Aufbewahrung  der  aus  diesem  Erwerisszweig 
stammenden  Quellen  spräche,  läCst  sich  nicht  finden.  Tatsächlich 
wird  allerdings  aus  der  hinter  uns  liegenden  Zeit  wesentliches  zusammen- 
hängendes Material  dieser  Art  kaum  aufzutreiben  sein ;  doch  dies  darf 
nicht  davon  abhalten,  in  der  Gegenwart  desto  eifriger  danach  zu 
fahnden.  Ganz  dasselbe  gUt  vom  Handwerk,  welches  zwar  durch  die 
industrielle  Unternehmung  einen  bedeutenden  TeU  seines  Spielraumes 
verloren  hat,  aber  trotzdem  weiter  besteht  und  sogar  teUweise  ganz 
neue  Triebe  gezeitigt  hat ').  Gerade  auch  auf  diesem  Felde  wird  eine 
exakte  Forschung  viele  Irrtümer  und  Übertreibungen  zurüdczuwdaen 
haben,  die  aus  der  liberalen  Tendenzliteratur  der  Mitte  des  XDC  Jahr- 

i)  Auf  die  letzteren  weist  auch  die  Kölner  Handelskammer  in  ihrer  Antwort  auf 
die  Düsseldorfer  Rundfrage  ausdrücklich  hin. 

1)  Eine  lehrreiche  landwirtschaftliche  Arbeit  ist  Heye,  Die  kütorüeke 
Eniwiekdung  der  Landwirtsehaft  auf  RiUergut  Trebsen  aeü  MüU  des  XVIIL  Jakr^ 
hunderts  (Hallische  Dissert  1896).  Der  landwirUchafOiche  Betrieb  kommt  dagegen 
TU  kurz  bei  Steffen,  Bin  aUmärkisehes  Riäergut  in  zwei  Jahrhunderten  (Programm 
des  Kgl.  Pidagogiums  zu  Putbus  1905,  Nr.  169). 

3)  Vgl.  Georg  Adler,  Über  die  Epochen  \der  deuteten  BambmimpoHia 
(Jena  1903). 


—     HS    — 

hnndetts  imkoDtiolUert  bis  heote  nacbgvsprocbeii  werden,  und  weitet 
rückwärts  wird  sogar  auf  die  Zünfte  des  XVIII.  und  XIX.  Jahrhunderts 
unvermutet  mancher  Lichtstrahl  fallen. 

Aufser  den  privatwirtEchaftlicben  Betrieben  allerart  fallen  aber 
in  den  Bereich  wiitschaftswisscnGchafUicher  Forschung  auch  alle  Be- 
strebungen und  Einrichtungen,  die  der  Sozialpolitik,  der  öffentlichen 
Wohlfahrt  and  dem  Verkehr  dienen,  soweit  er  sich  aulserhalb  privat- 
wirtschaftlicher  Uotemehmungen  vollzieht.  Alle  diese  Dioge  können 
nicht  unberücksichtigt  bleiben,  sie  müssen  bekannt  sein,  da  ste  in  die 
Gesamtheit  unseres  wirtschaftlichen  Lebens  tief  einschneiden,  und 
wenn  auch  darüber  die  öffentlichen  Archive  verhältnismäisig  viel 
Material  eothalten,  so  kann  eine  ergänzende  Sammlung  auf  Gnind  der 
Vorgänge  im  öffentlichen  Leben  durchaus  nichts  schaden. 

In  unserer  staatlichen  Ordnung  nehmen  die  Handels-,  Geweibe-, 
Landwirtschafis-  und  Handwerkskammern  eine  ganz  eigentümliche 
Stellung  ein.  Sie  sind  berufen,  die  wirtschaftlichen  Interessen  gewisser 
Bevölkerangskreise  zu  vertreten,  besitzen  aber  zugleich  ein  Besteuenu^s- 
recht  und  haben  in  gewissen  Grenzen  den  Charakter  von  Behörden. 
Sie  bilden  ein  Mittel-  und  Bindeglied  zwischen  der  Privatwirtschaft  des 
einzelnen  und  den  staatlichen  Oi^anen,  die  auf  wirtschaftlichem  Ge- 
biete entscheidend  eingreifen;  bei  ihnen  laufen  die  Fäden  von  unten 
und  oben  zusammen,  und  in  Ihren  Registraturen  findet  sich  demgemäß 
ein  Niederschlag  alles  desjenigen,  was  die  wirtschaftlichen  Interessen 
des  Bezirks  je  berührt  hat.  Wichtig  ist  dabei  vor  allem,  dafs  die  Re- 
gistratur in  zahheichen  Fällen  geheim  zu  behandelndes,  der  einzelnen 
Unternehmung  entstammendes  Urmaterial  enthält,  auf  Grund  dessen 
Denkschriften  bearbeitet  worden  sind.  Eiae  solche  Denkschrift,  im 
besten  Sinne  des  Wortes  eine  Partei-  bzw.  Teadenzschrlft ,  soll  In- 
teressen verteidigen ;  sie  ist  fUr  die  Veröffentlichung  geeignet  und  be- 
stimmt, das  Urmaterial  dagegen  nicht,  aber  für  die  Feststellung  der 
Tatsachen  nach  Jahrzehnten ,  wenn  über  die  Streitfragen  des  Tages 
längst  Gras  gewachsen  ist,  für  die  wirtschaftswissenschaftliche  Forschung 
ist  das  letztere  entschieden  besonders  wertvoll,  zumal  da  es  meist 
zugleich  auch  über  ganz  andere,  von  dem  betreffenden  Zwecke  ab- 
li^ende  Materien  Auskunft  erteilt.  Unter  diesem  Gesichtswinkel 
erscheinen  die  Registraturen  der  Handelskammern  in  ihrem  antiquiertea 
Teile,  wozu  heute  jedenfalls  alle  Akten  aus  der  Zeit  vor  1870  gehören, 
als  eine  viel  wertvollere  geschichtliche  Fundgrube  als  die  Archive 
der  staatlichen  Verwaltungsbehörden  unterer  Instanz.  Ihnen  mu&  Jflk^L. 
eine   ganz  besondere  Aufmerksamkeit  gewidmet  werden;   sicij^T 


—     284     — 

auf  jeden  Fall  vor  willkürlicher  Dezimierung  und  2^rreiiJsung  bewahrt 
und  zugleich  der  Wissenschaft  zugänglich  gemacht  werden. 

Manche  Kammern  verfugen  aber  heute  kaum  über  den  Raum, 
um  ihre  alte  Registratur  gut  und  sicher  unterzubringen  —  und  das 
ist  fiir  sie  eine  wesentliche  Gefahr.  Andrerseits  fehlt  es  bis  jetzt  an 
iigendeinem  Orte,  wo  diese  alten  Registraturen  Unterkunft  finden 
könnten,  und  gegen  den  Vorschlag,  sie  den  Staatsarchiven  einzuver- 
leiben, würden  wohl  seitens  der  Kammern  selbst  mit  Recht  Einwände 
erhoben  werden.  Ein  Ort,  wo  die  alten  R^^traturen  der  Kammern 
gut  unterkommen  und  sachgemäis  verwaltet  werden,  muis  deshalb 
gefunden  werden,  und  keine  Stelle  würde  sich  dafür  besser  eignen  als 
das  Wirtschaftliche  Bezirksarchiv.  Würde  dieses  jene  Akten  voo 
allen  in  sein  Bereich  gehörigen  Kammern  aufnehmen,  dann  köimte 
man  dort  zu  zweckmäfsigen  Kassationen  schreiten,  damit  die  so  und 
so  vielmalige  Aufbewahrung  des  gleichen  allgemeinen  Materials  weg- 
fallt, und  in  einem  ganz  überraschenden  Mafse  würden  sich  die  einzelnen 
Bestände  gegenseitig  ergänzen  ').  Deshalb  mufs  die  Abgabe  jener 
Registraturen  an  das  zuständige  Bezirksarchiv  bei  dessen  Gründung 
sofort  ins  Auge  gefafst  werden,  wenn  auch  hinsichtlich  des  2^itpunkte8 
und  der  Art  der  Ablieferung  rücht  sofort  alles  einzelne  bestimmt  za 
werden  braucht.  Dies  hat  nicht  allzu  viel  Eile,  da  man  nicht  allgemein 
wird  behaupten  können,  es  sei  Gefahr  im  Verzug.  Für  den  Sammel- 
betrieb dagegen  gilt  dies,  und  deshalb  mufs  dieser  zuerst  in  die  Wege 
geleitet  und  organisiert  werden.  Ist  er  im  Gange,  dann  wird  die 
Übernahme  der  ganzen  Registratur  einer  Kammer  —  eine  nach  der 
anderen  —  vor  sich  gehen  können.  Diese  Registraturen  werden  gemäis 
dem  heute  im  Archivwesen  fast  allgemein  angewandten  Provenibnz- 
prinzip  so,  wie  sie  eingeliefert  werden,  erhalten  bleiben,  so 
dafs  sich  selbst  die  alten,  im  regelmäfsigen  Geschäftsbetrieb  ent- 
standenen Aktenrepertorien  noch  weiter  verwenden  lassen  und  dals 
auch  fernerhin  mit  alten  Bezeichnungen  zitierte  Akten  ohne  weiteres 
aufiBndbar  sind.  Etwaige  Kassationen  —  d.  h.  absichtliche  Vernichtungen 
überflüssiger,  weU  mehrmals  vorhandener  TeUe  —  bleiben  dabei  dauernd 
als  solche  erkennbar. 

In  der  Tat  bedeutet  jede  Überführung  einer  „alten  Regfistratur'* 
in  ein  „Archiv"  für  diese  selbst  einen  grofsen  Fortschritt,  denn  so 
erst  wird  sie  in  der  Regel  wieder  benutzbar.  In  den  Augen  der 
Bureaubeamten  ist  eine  antiquierte  Registratur  bekanntlich  immer  nur 

I)  VgL  oben  S.  218-219. 


—     236     — 

I  ein  Haufen  alter  Akten,   die  recht  häufig  in  dem  Momente  ganz  un- 

benutzbar werden,  wo  der  alte  Registrator  stirbt,  der  einzige,  der  sich 

[  bisher  darin  in  Erinnerung  an  die  2^it,  da  die  Registratur  aktuell  war, 

noch  zurecht  fand. 

Als  Ergänzung  der  beiden  Hauptabteilungen,  die  einerseits  von  den 
Akten  über  einzelne  Unternehmungen  und  andrerseits  von  den  Kammer- 
archiven dargestellt  werden,  würde  das  Bezirksarchiv  noch  eine  dritte 
Abteilung  besitzen  müssen,  die  Bücher  und  Broschüren,  Ab- 
schriften von  Akten  aus  verschiedenen  anderen  Archiven 
und  bearbeitete  Auszüge  aus  ganzen  Beständen  anderer 
Archive  enthalten  soll.  Diese  Abteilung  würde  räumlich  gewifs 
die  geringste  Ausdehnung  haben,  sie  würde  vielfach  auch  zeitlich  weiter 
zurück,  ins  XVII.  und  XVIII.  Jahrhundert,  itihren  und  im  engeren 
Sinne  wirtschaftsgeschichtlichen  Charakter  tragen.  Geradediese 
Sammlung  würde  vielfach  besondere  Mühe  verursachen,  sie  ist  aber 
dringend  notwendig,  und  da  das  Material,  welches  dafür  in  Betracht 
kommt,  zum  grö&ten  Teile  sicher  geborgen  ist,  so  kann  hier  viel- 
fach ein  ausfuhrlicher  Verweis  auf  Bestände  anderer  Archive  schon 
genügen,  wenn  grundsätzlich  auch  an  einer  möglichst  umfassenden 
Sammlung  des  Materials  durch  Abschriftnahme  und  Bearbeitung  fest- 
gehalten werden  mufs. 

* 
Welche  Arten  von  Quellen  in  einem  Wirtschaftlichen  Be- 
zirksarchiv gesammelt  werden  sollen  und  wie  dies  geschehen  kann, 
wäre  hiermit  grundsätzlich  ausgesprochen,  wenn  sich  auch  noch  gar 
mancheriei  im  einzelnen  hinzufugen  lieüse.  Doch  vorläufig  handelt 
es  sich  nur  um  die  leitende  Idee  und  den  allgemeinen  Plan,  der 
einem  derartigen  Archive  zugrunde  liegen  soll.  Im  einzelnen  kann 
nur  die  praktische  Arbeit  lehren,  ob  die  Voraussetzungen  zutreffen 
und  ob  die  Vorschläge  zweckmäisig  sind  oder  nicht.  Das  Wichtigste, 
die  Hauptsache  ist,  daiis  überhaupt  etwas  geschieht,  und  dafis  die  in 
erster  Linie  daran  Interessierten  zu  den  hier  aufgeworfenen  Fragen 
Stellung  nehmen! 


—     236     — 

Mitteflungen 

PersonalleiU  —  Der  Privatdozent  der  Geographie  Professor  Alfred 
Philippson  in  Bonn  wurde  als  ordentlicher  Professor  der  Geographie  nach 
Bern  berufen ;  der  aufserordentliche  Professor  der  Kunstgeschichte  in  Stiais- 
bürg  Franz  Friedrich  Leitschuh  als  ordentlicher  Professor  nach  Frei- 
burg i.  B.  In  München  wurden  die  Privatdozenten  Michael  Doeberl, 
zugleich  Professor  am  königlichen  Kadettenkorps,  und  Karl  Mayr  za 
Honorarprofessoren  ernannt 

Es  habilitierten  sich :  in  Greifswald  FritzCurschmannfür  Geschichte ; 
in  Heidelberg  Karl  Stählin  für  neuere  Geschichte;  in  Berlin  Krabbo 
für  Geschichte;  in  München  Th.  Schermann  für  Kirchengeschichte. 

Es  starben:  lo.  Dezember  1904  der  ordentliche  Professor  der  Geschichte 
Jakob  CarOy  68  Jahre  alt,  in  Breslau;  13.  Dezember  1904  der  auiserorden^ 
liehe  Professor  der  germanischen  Altertumskunde  und  Mythologie  Theodor 
PyU  7S  Jahre  alt,  in  Greifswald;  5.  Januar  1905  der  Archivdirektor 
Richard  Schuster,  37  Jahre  alt,  in  Salzburg;  9.  Januar  der  Archivar 
und  Bibliothekar  der  Stadt  Schlettstadt  Joseph  Geny,  43  Jahre  alt; 
30.  Januar  der  ehemalige  Direktor  des  königlich  württembergischeo  Geh. 
Haus-  und  Staatsarchivs  August  v.  Schlofsberger,  77  Jahre  alt,  in 
Stuttgart;  6.  Februar  Eduard  Richter  (vgl.  oben  S.  186 — 189);  7.  Febiuar 
Franz  Kindscher  (vgl.  oben  S.  189 — 191);  14.  Februar  Bruno  Geh- 
h  a  r  d  t ,  der  Herausgeber  des  bekannten  Handbuchs  der  deutschen  Gesehidik, 
47  Jahre  alt,  in  Berlin;  im  Februar  Regierungspräsident  a.D.  Himlyin 
Stade  sowie  der  Direktor  des  Berliner  Museums  für  Völkerkunde  Adolf 
Bastian,  78  Jahre  alt,  auf  einer  wissenschaftlichen  Forschungsreise  in  Port 
of  Spain;  11.  Februar  der  ordentliche  Professor  für  deutsches  Recht  Tullius 
Ritter  von  Sartori-Montecroce,  41  Jahre  alt,  in  Innsbruck ;  15.  Mäiz 
der  ordentliche  Professor  der  Rechte  und  Geschichtschreiber  Hermann 
Hü  ff  er,  75  Jahre  alt,  in  Bonn;  25.  März  der  Stadtarchivar  Karl  Kopp- 
mann, 66  Jahre  alt,  in  Rostock;  4.  April  der  aufserordentliche  Professor 
für  mittelalterliches  Latein  Paul  von  Winterfeld,  32  Jahre  alt,  in  Berlin; 
2.  Mai  der  frühere  Vorsitzende  des  Hansischen  Geschichtsvereins  Senator 
Wilhelm  Brehmer,   77  Jahre  alt,  in  Lübeck. 

An  Archiven  sind  folgende  Veränderung^  unter  den  wissenschaft- 
lichen Beamten  nachzutragen :  zum  Archivar  und  Bibliothekar  der  Stadt  Trier 
wurde  Dr.  Kentenich,  zum  Stadtarchivar  in  Kohnar  Ernst  Hauviller 
ernannt;  die  Leitung  des  Stadtarchivs  zu  Wien  hat  der  bisherige  zweite 
Archivar  Hango  übernommen;  an  Stelle  des  in  den  Ruhestand  tretenden 
Archivrates  Will  wurde  Joseph  Rübsam  mit  der  Leitung  des  fürstlich 
Thum  und  Taxisschen  Archivs  zu  Regensburg  betraut;  beim  Geheimen  und 
Hauptarchiv  in  Schwerin  trat  Referendar  K.  von  Pressentin  als  Hil6- 
arbeiter  ein;  Stadtarchivar  zu  Mühlhausen  i.  Th.  wurde  Dr.  Kunz  Brunn 
gen.  V.  Kauffungen,  Direktor  des  Stadtarchivs  in  Braunschweig  der 
bisherige  Archivar  M  a  c  k ,  Archivar  des  fürstlich  Dohnaschen  Majoratsarchivs 
zu  Schlobitten  Christian  Krollmann,  Staatsarchivar  in  Zürich  Hans 
Nabholz;  an  Stelle  des  in  den  Ruhestand  tretenden  Oberst  z.  D.  Exner 
wurde  Major  z.  D.  Hottenroth  mit  der  Leitung  des  königlich  sächsischen 


—     237     — 

Kriegsarchivs  in  Dresden  betraut;  Direktor  des  steiermärkischen  Landes- 
aichiTS  za  Graz  an  Stelle  des  zurücktretenden  Josef  von  Zahn  wurde  der 
bisherige  Adjunkt  Anton  Meli;  zu  Genys  Nachfolger  als  Stadtarchivar  in 
Schlettstadt  wurde  Vikar  Joseph  CJaufs  ernannt. 


Die  Beamten  der  preufsischen  Archiwerwaltung  sind  zuletzt  im  i.  Heft 
'der  Müieüungen  der  L  preußischen  ArchkverwaUung  (Leipzig  1900),  S. 
3^ — 40,  angezählt  worden,  und  zwar  gab  es  damals  78  wissenschaftliche 
Beamte.  Inzwischen  sind  zahlreiche  Veränderungen  eingetreten,  imd  die 
Zahl  hat  sich  mit  Einschlufs  eines  Beurlaubten  auf  81  vermehrt.  Unter 
Berücksichtigung  derjenigen  Versetzungen,  die  am  i.  April  1905  vor  sich 
gegangen  sind,  ist  gegenwärtig  der  Personalbestand  an  wissenschaftlichen 
Beamten  und  deren  Verteilung  auf  die  einzelnen  Archive,  wie  folgt: 

1.  Geheimes  Staatsarchiv  in  Berlin. 

Dr.  Reinhold  Koser,  Geh.  Oberregierungsrat,  Generaldirektor  der  Staats- 
archive, Direktor ;  Dr.  Karl  Sattler,  Geh.  Regierungsrat,  zweiter  Direktor 
der  Staatsarchive ;  Dr.  Anton  Hegert,  Geh.  Archivrat,  Geh.  Staatsarchivar; 
Dr.  Ludwig  Keller,  Geh.  Archivrat,  Geh.  Staatsarchivar;  Dr.  Paul  Bailleu, 
Geh.  Archivrat,  Geh.  Staatsarchivar;  Dr.  Kari  Kohlmann,  Archivrat, 
Archivar;  Dr.  Julius  von  Pflugk-Harttung,  Archivrat,  Archivar;  Dr.  Robert 
Arnold,  Archivrat,  Archivar;  Dr.  Louis  Erhardt,  Archivar;  Dr.  Hermann 
Granier,  Archivar;  Dr.  Melle  Klinkenborg,  Archivassistent;  Dr.  Ernst 
Salzer,  Archivassistent. 

2.  Staatsarchiv  in  Aurich. 

Dr.  Franz  Wächter,  Archivrat,  Staatsarchivar;  Dr.  Ferdinand  Schultz, 
Archivaspirant. 

3.  Staatsarchiv  in  Breslau. 

Dr.  Otto  Meinardus,  Archivrat,  Archivdirektor;  Dr.  Bruno  Krusch, 
Archivrat,  Archivar;  Dr.  Konrad  Wutke,  Archivar;  Dr.  Hans  Spangenberg, 
Archivassistent. 

4.  Staatsarchiv  in  Koblenz. 

Dr.  Heinrich  Reimer,  Geh.  Archivrat,  Staatsarchivar;  Dr.  Paul  Richter, 
Archivar;  Dr.  Martin  Meyer,  Archivar;  Dr.  Rudolf  Martiny,  Archivassistent. 

5.  Staatsarchiv  in  Danzig. 

Dr.  Max  Bär,  Archivrat,  Staatsarchivar  *);  Dr.  Joseph Paczkowski,  Archivar; 
Dr.  Joseph  Kaufmann,  Archivar ;  Dr.  MaxFoltz,  Archivassistent;  Dr.  Eduard 
Reibstein,  Archivassistent;  Dr.  Arnold  Peters,  Archivassistent. 

6.  Staatsarchiv  in  Düsseldorf. 

Dr.  Theodor  Ilgen,  Archivrat,  Archivdirektor;  Dr.  Otto  Redlich,  Archivar; 
Dr.  Richard  Knipping,  Archivar;  Dr.  Friedrich  Lau,  Archivassistent. 

7.  Staatsarchiv  in  Hannover. 

Dr.  Richard  Döbner,  Geh.  Archivrat,  Archivdirektor;  Dr.  Hermann 
Hoogeweg,  Archivrat,  Archivar;  Dr.  Johannes  Kretzschmar,  Archivar; 
Dr.  Jean  Lulvte,  Archivar;  Dr.  Viktor  Loewe^  Archivassistent. 


i)  Warde  ocMerdingi  mm  „Arduvdirektor'' 


—     238     — 

8.  Staatsarchiv  in  Königsberg  i.  Pr. 

Dr.  Erich  Joachim,  Geh.  Archivrat,  ArchiTdirektor;  Dr.  Paul  Karge, 
Archivar;  Dr.  Albeit  Eggers,  Archivassistent. 

9.  Staatsarchiv  in  Ma|gdeburg. 

Dr.  Eduard  Ausfeld,   Archivdirektor;    Dr.  Geozg  Liebe,  Archivar;  Dr. 
Felix  Rosenfeld,  Archivar;  Dr.  Ernst  Müller,  Archivassistent. 
IG.  Staatsarchiv  in  Marburg. 

Dr.  Gustav  Könnecke,  Geh.  Archivrat,  Archivdirektor;  Dr.  Friedrich 
Küch,  Archivar;  Dr.  Otto  Merx,  Archivar;  Dr.  Franz  Gundlach,  Arcbir- 
assistent;  Dr.  Karl  Knetsch,  Archivassistent;  Dr.  Otto  Grotefend,  Archif- 
assistent;  Dr.  Wilhelm  Dersch,  Archivassistent;  Dr.  Albert  Hayskens, 
Archivassistent. 

11.  Staatsarchiv  in  Münster. 

Dr.  Friedrich  Philippi,  Geh.  Archivrat,  Archivdirektor,  ordentlicher 
Honorarprofessor  an  der  Universität;  Dr.  Emil  Theuner,  Archivar; 
Dr.  Robert  Krumbholtz,  Archivar;  Dr.  Adolf  Brennecke,  Archivassistent 

12.  Staatsarchiv  in  Osnabrück. 

Dr.  Georg  Winter,  Archivrat,  Archivdirektor;  Dr.  Erich  Fink,  Archivar. 

13.  Staatsarchiv  in  Posen. 

Dr.  Rodgero  Prümers,  Geh.  Archivrat,  Archivdirektor,  Professor  an  der 
Akademie;  Dr.  Adolf  Warschauer,  Archivrat,  Archivar,  Professor  an 
der  Akademie;  Dr.  Georg  Kupke,  Archivar;  Dr.  Kurt  Schottmüller, 
Archivassistent. 

14.  Staatsarchiv  in  Schleswig. 

Dr.  Georg  Hille,  Geh.  Archivrat,  Archivdirektor;  Dr.  Albert  de  Boor, 
Archivrat,  Archivar;  Dr.  Ernst  Müsebeck,  Archivassistent,  behu£s  Be- 
schäftigung beim  Kaiserlichen  Bezirksarchiv  in  Metz  bis  auf  weiteres 
beurlaubt. 

15.  Staatsarchiv  in  Sigmaringen. 
Altenhofi^  Regierungssekretär. 

16.  Staatsarchiv  in  Stettin. 

Dr.  Walter  Friedensburg,  Professor,  Archivdirektor;  Dr.  Hermann  von 
Petersdorff,  Archivar;  Dr.  Otto  Heinemann,  Archivar. 

17.  Staatsarchiv   in  Wetzlar. 

Dr.  Hermaim  Veltmaim,  Geh.  Archivrat,  Staatsarchivar. 

18.  Staatsarchiv  in  Wiesbaden. 

Dr.  Paul  Wagner,  Geh.  Archivrat,  Archivdirektor;  Dr.  Max  von  Domains, 
Archivar;  Dr.  Emil  Schaus,  Archivar;  Dr.  Gustav  Croon,  Archivhilfisarbeiter. 

19.  Königlich  Preufsisches  Historisches  Institut  in  Rom. 

Dr.  Paul  Kehr,  Geh.  Regierungsrat,  ordenüicher  Professor  an  der  Uni- 
versität in  Göttingen,  beauftragt  mit  Wahrnehmung  der  Amtsgeschäfte 
des  ersten  Sekretärs  beim  Historischen  Institut;  Dr.  Karl  Schellhafs, 
Professor,  Archivar,  zweiter  Sekretär;  Dr.  Emil  GöUer,  Assistent;  Dr. 
Fedor  Schneider,  Assistent;  Dr.  Arnold  Meyer,  Hilfsarbeiter;  Dr.  Hans 
Niese,  Hilfsarbeiter;  Dr.  Ludwig  Cardauns,  Hilfsarbeiter. 

20.  Prüfungskommission  für  Archivaspiranten  in  Berlin. 

Dr.  Koser,  s.  vorher,  Vorsitzender;  Dr.  Bailleu,  s.  vorher,  stellvertretender 
Vorsitzender;   Dr.  Röthe,   ordentlicher  Professor  an  der  Universität  in 


—    2B9     — 

Berlm;  Dr.  Taogl,  ordentlicher  Professor  an  der  Universität  in  Berlin; 
Dr.  Hintze,  ordentlicher  Professor  an  der  Universität  in  Berlin;  Dr. 
Seckel,  ordentlicher  Professor  an  der  Universität  in  Berlin. 


Bei  den  Kgl.  bayerischen  Landesarchiven*)  sind  gegenwärtig  29  wissen- 
schaftliche Beamte  angestellt,  die  sich  nach  dem  Stande  vom  i.  Januar  1905 
folgendermafsen  verteilen. 

1.  Allgemeines  Reichsarchiv. 

Vorstand:  Dr.  Franz  Ludwig  Baiunann.  Räte:  Otto  Rieder;  Dr.  Johann 
Petz ;  Dr.  Joseph  Huggenberger ;  Dr.  Franz  Xaver  Glasschröder.  Assessoren : 
Max  Neudegger  (mit  dem  Titel  Reichsarchivrat);  Dr.  Franz  Riedler; 
Dr.  Hermann  Knapp;  Dr.  Jvo  Striedmger.     Sekretär:  Hans  Oberseider. 

2.  K.  Kreisarchiv  Amberg. 

Kreisarchivar:  Joseph  Breitenbach.     Sekretär:  Viktor  Lucas. 

3.  K.  Kreisarchiv  Bamberg. 

Kreisarchivar  Joseph  Sebert  (mit  dem  Titel  und  Rang  eines  Reichs- 
archivrates).    Sekretär:  Dr.  Alfred  Altmann. 

4.  K.  Kreisarchiv  Landshut 

Kreisarchivar:  Heinrich  Sommerrock.     Sekretär:  Dr.  Heinrich  Waltzer. 

5.  K.  Kreisarchiv  München. 

Kreisarchivar:  Franz  Löher.  Sekretäre:  Dr.  Franz  Deybeck;  Dr.  Ludwig 
Schraudner. 

6.  K.  Kreisarchiv  Neuburg. 

Kreisarchivar:  Otto  Geiger.     Sekretär:  Dr.  Otto  Weber. 

7.  K.  Kreisarchiv  Nürnberg. 

Kreisarchivar:  Dr.  Georg  Schrötter.  Sekretäre:  Albert  Gümbel;  Dr.. 
Artur  Brabant. 

8.  K.  Kreisarchiv  Speyer. 

Kreisarchivar:  Dr.  Anton  Müller.     Sekretär:  Hans  Pregler. 

9.  K.  Kreisarchiv  Würzburg. 

Kreisarchivar:  Sebastian  Göbl  (mit  dem  Titel  und  Range  eines  Reichs- 
archivrates).    Sekretäre:  Paul  Glück;  Alois  Mitterwieser. 

Eingegangene  Bfieher. 

Lamprecht,  Karl:  Moderne  Geschichtswissenschaft.  Fünf  Vorträge.  Frei- 
burg i.  Br.,  Hermann  Heyfelder,  1905.     130  S.  8^.     M.  2,00. 

Schmidt,  Otto  Eduard:  Kursächsische  StreiÜEÜge.  Zweiter  Band:  Wande-^ 
rungen  in  der  Niederlausitz.  Leipzig,  Fr.  Wilh.  Grunow,  1904.  359  S.  8^.. 
M.  3,50. 

Schnitze,  Rudolf:  Die  baugeschichtliche  Planentwickelung  der  Stadt  Bonn 
[ss  Sonderabdruck  aus:  Der  Städtebau,  Heft  8,  1904].  7  S.  Grofs  4^ 
mit  II  Abbildungen. 

Sothen,  O.  von:  Vom  Kriegswesen  iin  XDC.  Jahrhundert  Mit  9  Über- 
sichtskäitchen  [=»  Aus  Natur  und  Geisteswelt,  59.  Bändchen.].  Leipzigs 
B.  G.  Teubner,  1904.     137  S.  8^     Geb.  M.  1,25. 

i)  Vgl.  über  die  Organisation  diese  ZeiUchrüt  i.  Bd.  S.  245^247. 


—     240     — 

Wächter,  F.:  Ostfriesland  unter  dem  Einflnls  der  Nachbarländer  [:^  Ab- 
handlungen und  Vorträge  zur  Geschichte  Ostfrieslands,  Heft  n].  Aurich, 
D.  Friemann,   1904.     28  S.  8^. 

Weerth:  Das  Papier  und  die  Papiermühlen  im  Fürstentum  Lippe  [«=»  Mit- 
teilungen aus  der  lippischen  Geschichte  und  Landeskunde,  2.  Bd. 
(Detmold,  Hans  Hinrichs,  1904),  S.  i  — 130]. 

Averdunk,  Heinrich:  Die  Duii^rger  Börtschif&hrt,  zugleich  ein  Beitrag 
zur  Geschichte  des  Gewerbes  in  Duisburg  und  des  Handelsverkehrs 
am  Niederrhein  [=»  Schriften  des  Duisburger  Museumsvereins  H].  Duisburg, 
Joh.  Ewich,  1905.     241  S.  8^ 

Bericht  über  den  fünften  Verbandstag  der  west-  und  süddeutschen 
Vereine  für  römisch-germanische  Altertumsforschung  zu  Mannheim  vom 
6.  bis  9.  April  1904  [»=  Sonderabdruck  aus  dem  KorrespondenzblaU 
des  Gesamtvereins  der  deutschen  Oeschichts-  und  AUeriumsvereine  x  904]. 
91  S.  8<>. 

Buchenau,  H. :  Die  Münzstätte  Oldisleben  imd  die  in  Thüringen  geprägten 
Hohlmünzen  der  Söhne  Albrechts  des  Bären,  ein  Beitrag  zur  Landeskunde 
des  Grofsherzogtums  Sachsen  [<=»  Sonderabdruck  aus  Nr.  297  der 
Numismatischen  Monatsschrift  Blätter  für  Münz  freunde ,  39.  Ji^rgang, 
Dresden].     14  S.  S^. 

Dorn,  Hanns:  Die  Vereinödung  in  Oberschwaben.  Kempten  und  München, 
Jos.  Kösel,  1904.     4  Pläne  und  222  S.  8^     M.  5,40. 

Haase,  Albert:  Brauns  Städtebuch  als  Spiegel  des  Gewerbelebens  im 
XVI.  Jahrhundert  [=  Mitteilungen  des  Vereins  für  Anhaltische  Geschichte 
und  Altertumskunde,   10.  Bd.  (Dessau,  Dünnhaupt,  1904),  S.  46 — 72]. 

Hantschel,  F.:  Hauptregister  für  die  Mitteilungen  des  Nordböhmischen 
Exkursionsklubs.  Jahrgang  I  bis  XXV.  Erster  Teil:  Sachregister. 
Leipa,  Verlag  des  Nordböhmischen  Exkursionsklubs,  1904.     175  S.  8®. 

Kästner,  Gotthard:  Generalmajor  von  Mayr  und  sein  Freikorps  in  Kur- 
sachsen.    Meifsen,  H.  W.  Schlimpert,   1904.     95  S.  8^     M.   1,50. 

Meiuers,  W.:  Zur  Volksschulpädagogik  Friedrichs  des  Grofsen.  Das 
Reglement  für  die  deutschen  reformierten  Schule  in  Cleve  und  Mark 
vom  IG.  Mai  1782  und  das  General-Landschulreglement  vom  12.  August 
1763  [ss  Zeitschrift  des  Bergischen  Geschichtsvereins,  37.  Bd.  (Ober* 
feld,  B.  Hartmann,   1904),  S.  224 — 236]. 

Nebelsieck,  H. :  Reformationsgeschichte  der  Stadt  Mühlhausen  i.  Th. 
[s=  Zeitschrift  des  Vereins  für  Kirchengeschichte  in  der  Provinz  Sachsen, 
I.  Jahrgang  (Magdeburg,  Holtermann,  1904),     S.  59 — ns]« 

P ichler,  Fritz:  Austria  Romana,  Geographisches  Lexikon  aller  zu  Römer- 
zeiten in  Österreich  genannten  Berge,  Flüsse,  Häfen,  Inseln,  Länder, 
Meere,  Postorte,  Seen,  Städte,  Strafsen,  Völker  II  (Lexikon)  [—  Qudlen 
und  Forschungen  zur  alten  Geschichte  und  Geographie,  herausgegeben 
vonW.Sieglin,Heft  3].  Leipzig,£duard  Avenarius,  1903.  S.  103 — 442. 
M.  8,80. 

Sello,  Georg:  Zu  Schutz  und  Trutz  am  500  jährigen  Jubiläum  des  Roland 
zu  Bremen.  Mit  21  Tafeln  und  einer  Kartenskizze.  Bremen,  Max 
Nöfsler,  1904.     93  S.  8®. 

Henuufeb«r  Dr.  Anain  HU«  ia  Leipdf. 
Drack  und  Verlag  von  Friedrich  Andreas  Perthes,  AkdeageselUchafti  Gotha. 


<• 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


sar 


Förderung  der  landesgescbichtliclien  Forschung 

VI.  Band  Juni  X905  9.  Heft 

Die  Brüder  des  gemeiAsamen  Iiebens 

in  Deutsehland 

Von 
Gustav  Boemer  (Fürstenwalde) 

Die  „Bnider  des  gemeinsamen  Lebens  *'  ^)  ziehen  deshalb  die 
Aufmerksamkeit  auf  sich,  weil  sie  mit  der  im  XV.  Jahrhundert  unter- 
nommenen Klosterreform  in  enger  Verbindung  stehen  und  nach 
weitverbreiteter  Meinung  den  Boden  für  die  lutherische  Reformation 
vorbereitet  haben.  Einen  bedeutenden  Anstofs  zur  Erforschung  dieser 
Genossenschaft  hat  Doebners  genannte  Veröffentlichung  gegeben,  die 
auf  etwa  400  Seiten  einen  fast  ganz  neuen  Stoff  für  Erforschung  des 
HUdesheimer  Bruderhauses  und,  was  noch  weit  wichtiger  ist,  für  die 
münstersche  Union,  d.  h.  den  Zusammenschlufs  einer  grofsen  Menge 
nordwestdeutscher  Vereinigungen,  bietet 

Die  Entstehung  der  „Brüder**  geht  auf  den  Niederländer  Gerhard 
Groot  *)  zurück,  welcher  im  Jahre  1384  starb.  Er  stiftete  in  Deventer 
zum  Zwecke  des  frommen  Lebens ')  den  ersten  Kreis  der  „  Brüder 
des  gemeinsamen  Lebens'*  (der  frcUres  vitcLe  communis).  Hieraus 
entwickelten  sich  zwei  Richtungen,  die  klösterUche,  welche  nut  der 
Gründung  des  Klosters  Windesheim  bei  ZwoUe  in  Holland  im  Jahre 
1386  begann  und  schon  1395  zur  Verbindung  von  4  Klöstern  unter 
dem  Namen    „Windesheimer  Kongregation**    führte;    diese   umfaiste 

i)  Haaptdarstellungen:  Delprat,  De  broederaehap  van  Chroote  (hoUSndisch), 
2.  Aufl.,  Arnheim  1856,  in  vieler  Hinsicht  veraltet  L.  Schulze,  Brüder  de»  gemein- 
samen Lebens  (Herzogs  Real -Enzyklopädie  f.  protest  Theol.,  3.  Aufl.,  1897,  ^i  S. 
472 — 507);  s.  die  dortigen  Literaturnachweise.  Hauptquelle:  Annalen  und  Akten 
der  Brüder  des  gemeinsamen  Ld)en8  im  Lüchtenhofe  xu  Hildesheim  (QueUen  und 
DarsteUungen  zur  Gesch.  Niedersachsens,  Bd.  DC),  herausgegeben  von  R.  Doebner, 
Hannover  1903. 

2)  K.   Grube,   Gerhard  Groot  und  seine  Stiftungen,   herausgegeben  von   der 
Görres-Gesellschaft  (Köln  1883). 

3)  Der  Anfangszweck  nachgewiesen  von  Gerretsen,  Florentius  Badewifns  (hoUd.), 
{Nym  wegen  1891). 

18 


—     242     — 

bald  eine  grobe  Menge  Klöster  in  den  Niederlanden  und  in  Deutsch- 
land ^).  Die  andere  Richtung,  die  freiere  und  mehr  weltliche,  lieis 
ebenso  eine  Menge  von  Sitzen  in  beiden  Nachbarländern  entstehen. 
Derjenige,  welcher  die  Genossenschaft  nach  Deutschland  ausbreitete» 
ist  Heinrich  von  Ahaus,  der  Gründer  des  Bruderhauses  in  Münster 
im  Jahre  1400  *).  Neben  den  Bruderhäusem  bestanden  von  Anfang- 
an  auch  Vereinigungen  von  weiblichen  Personen  zu  demselben  Zwecke, 
die  Schwesterhäuser  *).  Unter  den  Häusern  kam  bald  ein  Bund  zu- 
stande, der  im  Jahre  143 1  von  3  Bruder-  und  4  Schwesterhäusem  gestiftet 
wurde  und  nach  dem  Orte  seiner  Jahresversammlung  das  münstersche 
Kolloquium  {coUoquium  Manasteriense)  hieüs.  Die  Tätigkeit  des  Bundes 
bezog  sich  auf  jährliche  Visitationen  der  einzelnen  Häuser,  Einsetzung 
neuer  Leiter  (Rektoren)  derselben  im  Falle  der  Erledigung  der  Stellen 
und  Beschlufsfassung  über  allgemeine  Vorschriften.  Dieses  Kolloquium 
hatte  sich  bereits  im  Jahre  143 1  ein  knappes  Bundesstatut  geg^eben^ 
aber  mit  der  Zeit  drängte  man  auf  festeren  Zusammenschluß  auf  Grund 
einheitlicher  und  strengerer  Statuten,  und  nach  mehreren  gescheiterten 
Versuchen  entstand  aus  dem  münsterschen  Kolloquium  im  Jahre  1499 
die  grofee  münstersche  Union  von  vielen  Bruder-  und  Schwester- 
häusern im  nordwestlichen  Deutschland,  die  zugleich  allgemeine  Bundes- 
statuten einftihrte  ^).  Vorbild  für  diese  sind  die  Statuten  der  Windes- 
heimer  Klosterkongregation  gewesen  *). 

Auf  diese  Zeit  der  höchsten  Blüte  *)  folgte  jedoch  sehr  bald  der 

i)  Hauptwerk  hierüber  ist  Aequo y,  Bei  klooster  te  Windesheim  (Utrecht,  3  Bde^ 
1875— 1880),  beruht  jedoch  zum  gröfsten  Teil  auf  den  Schriften  des  onzaTerlässigeo 
Priors  Johannes  Busch.  Über  dessen  Leichtfertigkeit  s.  meine  Schrift,  Die  Aamaien  tuttf 
AJden  der  Brüder  des  gemeinsamen  Lebens  im  Lüehtenhofe  xu  BUdesheim  (Fttrsten- 
walde  1905),  S.  22 — 41. 

2)  L.  Schulze,  Heinrich  von  Ahaus  (Luthardts  Zeitschr.  HI,  38 — 48,  93 — 104V 
Leipzig  1882. 

3)  Es  ist  ein  grundloser  Sprachzwang,  von  Frater-  und  Schwesternhänsem 
Schwestern  p  L)  zu  reden ;  auch  im  Holländischen  heiist  der  Plural  xusterhuixen^  „Schwester- 
hSttser^  (xusier  sg^  xusters  pL;  kuis  sg.,  huixen  pL). 

4)  Die  Geschichte  des  Kolloquiums  und  der  Union  ist  in  den  „Protokollen** 
enthalten,  s.  Doebners  Ausg.  S.  248 — 282.  Die  Gründung  der  Union  im  Jahre  1499^ 
nachgewiesen  von  Boerner,  a.  a.  O.  S.  87. 

5)  Nachweis  von  Boerner,  a.  a.  O.  S.  81 — 87.  (Die  Windesheimer  Statuten  vor- 
handen in  der  Straisburger  Bibliothek.) 

6)  Aus  den  „Protokollen**  ergibt  sich  bis  zum  Jahre  1476  die  Zugehörigkeit  voq 
25  Häusern  zur  Union,  obgleich  die  Mitteilungen  unvollständig  sind.  Bruderhäuser  (ii> 
waren  nach  alphabetischer  Ordnung  in:  Butzbach,  Herford,  Hildesheim,  Kassel,  Köln^ 
Königstein,  Marburg,  Marienthal,  Münster,  Rostock,  Wesel;  Schwesterhänser  (14) 
in:   Ahlen,   Borken,  Bttderich,  Dinslaken,  Eldagsen,  Essen,  Herford,  Kaikar,  Koesfeld^ 


—     243     — 

Verfall  und  die  Auflösung  der  Genossenschaften,  und  zwar  durch  die 
lutherische  Reformation.  Die  Mitglieder  wurden  unbotmäfsig,  nahmen 
Frauen,  entliefen  und  traten  z.  T.  auch  zum  neuen  Glauben  über. 

Für  die  Schilderung  des  Lebens  in  den  Bruderhäusem  diente 
bisher  die  vergleichende  Zusammenstellung  der  aus  mehreren  Orten  ^) 
erhaltenen  (lateinischen  oder  deutschen)  Statuten,  wozu  auch  die  in 
einem  Auszug  von  Miraeus  im  Jahre  1638  veröffentlichten  ')  gehören. 
Er  betrachtete  sie  als  die  Statuten  der  zu  einer  kleinen  Union  ver- 
bundenen 3  Bruderhäuser  von  Münster,  Köln  und  Wesel,  ebenso  wie 
Doebner  die  von  ihm  herausgegebenen  •)  für  den  vollständigen  Text 
hält,  aus  dem  Miraeus  seinen  kurzen  Auszug  machte^).  In  der  Tat 
jedoch  liegen  in  beiden  Fällen  Statuten  von  viel  höherem  Werte  vor, 
nämlich  die  im  Jahre  1499  von  der  münsterschen  Union 
angenommenen  Bundesstatuten  ^).  Die  Kenntnis  des  Lebens 
der  Brüder  ist  damit  auf  die  einfachste  und  beste  Grundlage  gestellt, 
die  Abweichungen  der  sich  vorfindenden  Sonderstatuten  einzelner 
Häuser  kommen  für  die  äuisere  Gesamtauffassung  nicht  mehr  in  Betracht. 
Sie  zeigen  nur,  daCs  man  von  einer  gewissen  Lockerheit  der  Zucht  zu 
gröfserer  Strenge  tortgeschritten  ist.  Das  Bild,  das  uns  die  Unions- 
statuten liefern,  ist  einem  klösterlichen  sehr  ähnlich. 

Von  den  Mönchen  unterscheidet  die  Brüder  nur  das  Eine,  dafs 
sie  ihren  Lebensunterhalt  durch  ihrer  Hände  Arbeit  erwerben:  iU 
Idbares  tnaimum  suarum  numducefU^.  Sonst  ist  nach  den  Unions- 
statuten ein  tatsächlicher  Unterschied  nicht  mehr  vorhanden.  Wenn 
auch  für  das  Gelöbnis  des  in  die  Bruderschaft  Eintretenden  der  Name 
der  klösterlichen  professio  vermieden  ist,  so  bedeutet  doch  die  prch 
missio  ^)  dasselbe ,  nämlich  die  Übernahme  der  drei  Klostergelübde 
der  Armut,  der  Keuschheit  und  des  Gehorsams.  Der  Aufjgenommene 
übergab  sein  ganzes  Vermögen  der  Bruderschaft  und  verzichtete  auf 


LippsUdt,  Schttttorf,  Unna,  VoUnnarten,  Wesel.  Die  SchwesterhSmer  wurden  geringer  als 
die  Braderhänser  geachtet,  s.  Boerner.  a.  a.  O.  S.  69  A.  3.  Die  anderen  bekannten 
deutschen  Hänser  s.  bei  L.  ScbaUe,  a.  a.  O.  S.  487  ff. 

i)  Aus  Herford,  Einsiedeln,  Königstein  und  Batsbacfa. 

3)  A.  Miraeas,  Reguitie  et  eofuHMümes  eierieorum  in  ecngregäiwne  vi»eni4um 
(Antwerpen  1638),  p.  144-*!  50  (rorhanden  in  der  KdnigL  Bibliothek  in  Göttingen). 

3)  Doebners  Ausgabe,  S.  ao9>-245. 

4)  Doebner  XLII,  14 — 34. 

5)  S.  Boerner,  a.  a.  O.  S.  75  —  81.  Ober  den  Unterschied  der  beiden  Ansgaben 
s.  ebenda  S.  88—93. 

6)  S.  Doebners  Ansgmbe  55,  15. 

7)  S.  Doebner  219,  i  v.  n. 

18* 


—     244     — 

jeden  Anspruch  an  dasselbe  selbst  im  Falle  seines  Austritts;  er  ver- 
sprach Keuschheit,  Eintracht  (d.  i.  Gehorsam)  und  Enthaltung'  vom 
Eig^enbesitz  *) ;  die  Strafe  der  Ausstofsung  ist  auf  Ungehorsam  geg^en 
den  Rektor ,  auf  Unkeuschheit  und  Eigenbesitz  gesetzt  *).  Hatte  der 
Novize  nach  der  gewöhnlichen  Probezeit  den  Eintritt  in  die  Haus- 
gemeinschaft vollzogen,  so  stand  er  unter  der  Diktatur  des  Rektors, 
und  ein  Austritt  war  nur  in  Verbindung  mit  einem  Übertritt  in  einen 
Mönchsorden  erlaubt ').  Er  war  dem  Zwangsleben  für  immer  verfallen. 
Nach  dem  Frühgottesdienst  und  den  geistlichen  Übtmgen  in  der  Zelle 
nahm  ihn  die  Arbeit,  besonders  die  des  Buchschreibens  und  -bindens  *), 
von  7  Uhr  morgens  bis  7  Uhr  abends  in  Anspruch,  die  nur  durch 
die  Stundengebete  und  die  zwei  Mahlzeiten  (um  10  und  5  Uhr)  unter- 
brochen wurde.  Darauf  folgten  wieder  geistliche  Übungen  in  der 
Zelle  bis  zum  Schlafengehen  um  8  Uhr.  Selbst  diese  Übungen  standen 
noch  unter  dem  Zwang,  da  jeder  verpflichtet  war,  seine  Vergehungen 
hierin  im  Schuldkapitel  ^)  von  selbst  zu  bekennen,  und  ihn  die  Strafe 
für  die  gebeichteten  Übertretungen  nach  der  Entscheidung  des  Rektors 
erwartete.  Auch  über  die  äu&ere  Arbeit  des  Schreibens  wurde  Rechen- 
schaft gefordert,  da  die  Leistungen  wöchentlich  vorgelegt  werden  mufSsten 
und  Unfleifs  bestraft  wurde  ®).  An  der  vollen  Klosterzucht  (omnis 
daustrcdis  disciplina),  die  den  Hildesheimer  Brüdern  nachgerühmt 
wird  ^,  fehlte  also  nichts. 

Dies  ist  die  äufisere  Haltung  des  „gemeinsamen  Lebens*';  daneben 
aber  fehlt  es  nicht  an  der  Betonung  des  Gemütslebens,  worüber  wir  durch 
andere  Statuten,  die  Herforder  ^),  und  besonders  durch  die  Darlegxmgen 


1)  S.  Doebner  220,  i — 22,  in  Z.  4 — 6:  vivam  (Fat)  eoste,  amoordüer  et  in 
comniuni  abaque  proprio, 

2)  Ebenda  223,  8 — 16. 

3)  Die  Hildesheimer  wahrten  sich  den  freien  AnstriU;  s.  hierfiber  Boemer,  a.  a. 
O.  S.  89. 

4)  In  den  Schwesterhäosern  wurden  dafür  weibliche  Handarbeiten  aasgefährt,  als: 
Nähen,  Weben  u.  dgL 

5)  Die  zu  diesem  Zwecke  eigens  abgehaltene  Versammlung  des  Hauses. 

6)  S.  Doebner  228,  25 — 31. 

7)  Johannes  Busch,  herausgegeben  ▼.  K.  Grube  (Halle  1886),  547,  i  v.  u. 

8)  Herausgegeben  in  der  Theol.  Monatsschr.  des  bischöfl.  Seminars  su  HüdffthHm, 
Mainz  185 1,  S.  543—582.  —  Die  Statuten  liegen  in  niederdeutscher  Sprache  vor,  doch 
sind  sie  die  Übersetzung  einer  latein.  Urschrift,  wie  man  z.  B.  erkennt  ans  der  Anwendung 
des  latein.  Ablativs  nach  gebrueken  (gebrauchen),  indem  hierauf  folgt  als  Objekt: 
imiüuUa,  coUaÜcnilnu  usw.  (S.  569).  Sie  sind  rerfafst  zwischen  1439  (BuUe  Eugens  IV. 
erwähnt  S.  549,  s.  Boerner,  S.  75)  und  1499  (Die  Errichtung  des  mfinsterschen  General- 
kapitels  kann  noch  nicht  stattgefunden  haben). 


—     245     — 

des  hildesheimischen  Bniderrektors  Dieburg  ^)  unterrichtet  sind.  Auf 
diesem  Gebiete  erst  wird  die  Bezeichnung  der  neuen  Richtung  als  devotio 
modema^)  recht  zutreffend,  die  „Innigkeit"  ist  die  charakteristische 
Eigenschaft  der  Brüder.  Der  Hochmut,  als  Hindernis  bei  der  Er- 
reichung dieses  Zieles,  wird  verworfen,  und  die  Demut  und  Niedrigkeit 
gewählt;  in  Übereinstimmung  mit  diesem  Grundsatz  wird  auf  äu&eren 
Glanz  des  Lebens,  auf  Einflufs,  Vortrefflichkeit  der  Speisen  und  Pracht 
der  Kleider  verzichtet,  und  gerade  die  Zurückgezogenheit  und  Ver- 
achtung, Ärmlichkeit  in  Arbeit,  Nahrung  und  Kleidtmg  gesucht. 
Aber  das  Herz  soll  dabei  um  so  reicher  sein.  Stets  gilt  das  Gebot, 
Liebe  gegen  die  Brüder  zu  üben  und  nicht  zu  zürnen,  dem  raschen 
Zorn  noch  vor  Nacht  die  Versöhnung  folgen  zu  lassen.  Das  Gebet 
soll  aus  dem  inwendigen  Herzen  kommen  und  kein  Lippenspiel  sein, 
die  Fürbitte  für  andere  auch  herzlich  geschehen.  Als  höchster  und 
immer  erneuter  Stoff  der  Betrachtung  gilt  das  Leiden  Christi,  aber 
auch  die  andere  heilige  Schrift  und  die  Bücher  der  Kirchenväter  sind 
eifrig  zu  lesen  als  Wegweiser  zur  Seligkeit. 

Welcher  Weg  aus  ihnen  gefunden  wurde,  zeigen  in  so  denk- 
würdiger Weise  die  Betrachtungen  des  erwähnten  Rektors  Dieburg  ^),  der 
1494  starb.  Bei  den  Sakramenten  komme  es  weniger  auf  die  äu&ere 
Form  als  auf  die  innere  Empfänglichkeit  des  Menschen  an,  und  im  Not- 
falle genüge  sogar  das  letztere.  Christus  sei  der  ausreichende  Mittler 
zwischen  Gott  und  den  Menschen,  die  Sündenvergebung  werde  erlangt 
durch  Reue  und  Glauben,  jeder  Gerechte  sei  Priester.  Daus  hier 
ganz  reformatorische  Ansichten  ausgesprochen  sind,  unterliegt  keinem 
Zweifel ;  der  Hauptpunkt  der  reformatorischen  Lehren,  die  Rechtferti- 
gung aus  dem  Glauben,  ist  schon  fast  ganz  genau  getroffen. 

Ihren  vollen  Wert  erhalten  die  Ausführungen  Dieburgs  dadurch, 
dafis  wir  in  ihnen  die  allgemein  in  Bruderkreisen  herrschenden  An- 
sichten sehen  müssen  ^) ,  wofür  auch  die  Übereinstimmung  spricht, 
welche  sich  zwischen  ihm  und  dem  Hauptvorgänger  Luthers,  Johann 
Wessel,  zeigt.  Auch  Wessel,  der  bei  den  Brüdern  des  gemeinsamen 
Lebens  in  ZwoUe  (Holland)  erzogen  ist,  lehrt,  nun  aber  unumwunden, 
die  Rechtfertig^g  aus  dem  Glauben  % 

i)  Diese  Namensform  ist  der  bisher  gebräuchlichen   fremdartigen  (Dieppurch)  vor- 
zaziefaen,  s.  Boerner,  S.  a,  A.  i. 

2)  Eins  der  Werke  des  Johannes  Busch  trügt   den  Titel:    Liber  de  origtne  deto- 
tioms  modemae, 

3)  S.  Doebner,  S.  144 — 150  (I.  Exkurs),  dazu  Boerner,  S.  45 — 52. 

4)  S.  auch  Giemen,  Histor.  Zeitschr.  1905,  S.  141. 

5)  Vgl  Boerner,  S.  51,  A.  i. 


—     246     — 

So  haben  wir  in  den  „Bnidem**  einen  g'anzen  mönchischen  Stand 
zu  erblicken,  in  dem  reformatorische  Anschauungen  schon  vor  Luthet» 
Auftreten  leben,  und  in  dieser  Vorbereitung  für  die  Reformation  liegt 
ihre  gröfste  Bedeutung,  wenngleich  ihre  Absicht  dabei  nicht  auf  einen 
Gegensatz  gegen  die  Kirchenoberen  und  die  Kirchenlehre  ging.  Sie 
wollten  das  Gebäude  der  orthodoxen  Kirche  erhalten  und  brachten 
unbewuist  deren  Grundfesten  ins  Wanken. 

Der  Gehorsam,  den  sie  willig  den  Vorgesetzten  erzeigten,  noch 
mehr  aber  ihr  bescheidenes  Leben  in  einer  Zeit  der  Entartung  des 
Klerus,  verschaffte  ihnen  das  Wohlwollen  der  kirchlichen  Obrigkeiten, 
der  Bischöfe  und  Päpste.  Aber  sonst  hat  die  neue  Genossenschaft 
keine  Freunde  gefunden.  Die  Orden  sahen  in  der  Einfochheit  und 
Niedrigkeit  der  „Brüder**  eine  beständige  Anklage  gegen  ihre  eigene 
Zuchtlosigkeit,  und  die  bürgerlichen  Stände  brachten  ihnen  dieselbe 
Abneigung  entgegen,  die  sie  überhaupt  gegen  das  Mönchtum  hatten  ^). 

Verdient  haben  sich  die  Brüder  des  gemeinsamen  Lebens  ttm 
die  Bürgerschaft  durch  Jugendunterricht  nur  in  geringem  Mafee 
gemacht,  und  dies  erst  durch  fremden  Anstols,  durch  den  Humanismos 
seit  etwa  1450.  Von  einzelnen  Häusern  in  den  Niederlanden  und  in 
Deutschland  ist  bezeugt,  dafs  die  Brüder  in  den  beiden  alten  Sprachen 
die  Jugend  unterrichtet  haben,  daneben  dann  auch  andere  Schüler 
in  den  Elementargegenständen  unserer  Volksschulen.  Vordem  (vor 
1450)  ging  ihre  pädagogische  Wirksamkeit,  wo  sie  vorkommt,  nur  auf 
religiöse  Zucht  und  Heranbildung  zum  geistlichen  Stande  '). 


Anhaltisehe  Akten  zum  Wiener  Kongrefs 

Von 
Hennann  Wäschke  (Zerbst) 

Auf  der  8.  Versammlung  Deutscher  Historiker  1904  in  Salzburg- 

hat  Prof.  August  Fournier  einen  Vortrag  über  Neue  QHtUm  jnmr 

Geschichte  des  Wiener  Kongresses ')  gehalten ,  der  unter  anderen  wich-> 


1)  VgL  Boerner,  S.  54—55. 

2)  S.  E.  Leitsmann,  Überblick  über  die  Oeeeh.  und  DarsMmg  der  pädagog. 
Wirksamkeit  der  Brüder  d,  gemeine,  Lebens    (Leipsif,  Diss.  1886). 

3)  Der  Vortrag  ist  abgedrückt  in  der  Österreiekisehen  Rundschau  1.  Bd.,  S.  140 
bis  150.  Vgl.  darüber  diese  Zeitschrift  oben  S.  88  sowie  den  Beriehi  über  die  8,  Ver- 
sammlung Deutseher  Historiker  xu  Salzburg  31,  August  bis  4,  September  1904  (Leipiic 
1905),  S.  39-43. 


—     247     — 

ttgen  Anregungen  jedenfalls  auch  die  Mahnung  an  die  Archivverwal- 
tungen enthält,  das  in  den  Archiven  aufbewahrte  Aktenmaterial  zu 
durchforschen  und  das  fiir  die  Geschichte  des  Kongresses  Bedeutsame 
zu  verzeichnen.  In  Anerkennung  der  Wichtigkeit  jener  Anregung,  zu- 
gleich auch  um  dem  Wunsche  des  Herausgebers  dieser  Blätter  zu 
entsprechen,  habe  ich  die  im  Herzogl.  Anhaltischen  Haus-  und 
Staatsarchiv  aufbewahrten  Kongrefsakten  durchgesehen  und  erlaube 
mir  über  das  Ergebnis  im  folgenden  zu  berichten. 

Anhalt  bestand  im  Jahre  1814  aus  drei  gesonderten  Herzog- 
tümern: Anhalt-Dessau,  Anhalt-Köthen,  Anhalt-Bernburg;  in 
Dessau  herrschte  Leopold  Friedrich  Franz  (1751— 1817),  in 
Köthen  der  noch  minorenne  „Prinz*'  Emil  (1812 — 1818),  für  welchen 
der  Herzog  von  Anhalt-Dessau  die  Regentschaft  führte,  in  Bemburg 
Alexius  Friedrich  Christian  (1796  — 1834).  In  den  äufseren 
politischen  Beziehungen  bildeten  die  drei  Länder  nach  dem  Teilungs- 
rezefs  v.  J.  1606  eine  Einheit  (Gesamtung),  zu  deren  Vertretung  der 
jedesmalige  Senior  des  Hauses,  resp.  der  älteste  der  regierenden  Herren, 
berufen  war. 

Unter  diesen  Verhältnissen  hatte  der  damalige  Senior  Herzog 
Leopold  Friedrich  Franz  von  Anhalt-Dessau  die  Vertretung  des 
Gesamthauses  Anhalt  beim  Wiener  Kongrefs;  da  er  aber  wegen 
hohen  Alters  (er  war  74  Jahre  alt)  nicht  selbst,  wie  er  es  wohl  wünschte, 
nach  Wien  reisen  konnte,  auch  sein  hoffnungsvoller  einziger  Sohn,  der 
Erbprinz  Friedrich,  der  ihn  bereits  mehrfach  in  Semoratsgeschäften 
vertreten  hatte,  erst  vor  kurzem,  am  27.  Mai  18 14,  gestorben  war,  so 
konnte  zunächst  an  eine  andere  Vertretung  als  durch  eine  Gesandt- 
schaft nicht  gedacht  werden.  Günstiger  lag  die  Sache  im  Juli  des 
Jahres  1814,  denn  damals  befand  sich  der  Herzog  Alexius  Friedrich 
Christian  von  Anhalt -Bemburg  in  Wien;  ihn  hatten  besondere 
Interessen  seines  Hauses  dorthin  geführt,  dabei  war  es  ihm  geglückt, 
sehr  schätzenswerte  Bekanntschaften  anzuknüpfen  und  namentlich  mit 
dem  Fürsten  v.  Metternich  in  Beziehung  zu  treten.  Er,  der 
Bruder  der  Fürstin  Paul  ine  von  Lippe,  ein  zwar  eigennütziger  aber 
nicht  ungeschickter  Politiker,  von  dessen  Persönlichkeit  W.  v.  Kügelgen 
in  den  Jugenderinnerungen  eines  alten  Mannes,  S.  183,  eine  kurze, 
doch  anziehende  Charakteristik  gibt,  wäre  gewiCs  imstande  gewesen, 
uns  über  die  Vorgänge  beim  Kongrefs  die  sichersten  Nachrichten  zu 
übermitteln,  beobachtete  er  doch  überall  mit  offenem  Auge  die  Dinge 
und  erkannte  die  hier  und  da  zutage  tretenden  Mängel,  so,  um  nur 
e^  jp  .fcmhnen,  die  Tatsache,  dafs  es  in  Wien,  wo  man  doch  eine 


—     248     — 

vollkommene  Klarheit  über  alle  deutschen  Verhältnisse  hätte  erwarten 
dürfen,  es  durchaus  an  statistischen  Nachrichten  von  anderen  Ländern 
fehlte,   also   an   der   gegründeten   Kenntnis  der   Machtmittel  anderer, 
auch  der  deutschen  Staaten.     Leider  ging  er  gerade  zu  der  Zeit,  wo 
schon  die  Vorbereitungen  zum  Kongrefs  getroffen  wurden,  von  Wien 
fort  und   war  bereits  Ende  Juli  wieder  in   seinem  Lande  und   seiner 
Residenz  eingetroffen.     Ein  wie   grofeer  Schade    das   für  die  Anhalti- 
schen Fragen  war,   beklagt  der  diplomatische  Vertreter  Bemburgs  in 
Wien:   „Für  das  Interesse  Höchstdero  Hauses  wäre  es  zu  wünschen, 
dafs  Ew.  Herzogl.  Durchlaucht  sich   auch   unter  diesen  Fremden  be- 
finden möchten,   denn  bei   einer  solchen  Gelegenheit  wie  die  gegen- 
wärtige, vermag  die  Gegenwart  der  Souverains  mehr  als  der  geschickteste 
nigociateur."    Der  Herzog  erwiderte  darauf  am  15.  September:  „Sehr 
gern  würde  ich  eine  zweite  Reise  nach  Wien  unternehmen,  wenn  meine 
Gesundheitsumstände  mir  solches  verstatten  wollten*',  doch  ohne  dais 
er  damit  eine  Unterdrückung  des  Bedauerns  erzielte,   denn  noch  am 
8.  Oktober  wird  von  Wien  geschrieben:  „Nur  schade,  dafe  Ew.  Her- 
zogl. Durchlaucht  nicht  selbst  hier  sein  können ;  wer  weife,  welche  gute 
Folgen  nicht  hieraus  entsprungen  wären."    Wir  müssen  uns  angesichts 
der  Lage   diesem  Bedauern  anschliefsen ;    eine  Erklärung  für  seinen 
Weggang  von  Wien  in  so  wichtiger  Zeit  haben  wir  in  den  Akten  nicht 
gefunden ;  gewifs  wird  er  seine  Gesundheit  nicht  stark  genug  erachtet 
haben,   den  geselligen   und   gesellschaftlichen  Anforderungen  voll  zu 
genügen,  aber  es  lassen  sich  doch  auf  Grund  unzweideutiger  vertrau- 
licher Bemerkungen  aufserdem  Gründe  vermuten,  die  für  seinen  Ent- 
schlufs  die  schwerwiegendste  Bedeutung  haben  mufeten;   wir  rechnen 
dazu  die  Rücksicht  auf  die  Finanzlage  des  Hauses,  femer  die  niemals 
ganz  ausgeglichene  Rivalität  mit  dem  Dessauer  Herzogshause,  zu  dem, 
als   dem   damaligen   Inhaber  das   Seniorates,    er   in  die  Rolle  eines 
charg6  d'affaires   hätte   treten   müssen,    falls   er  in  Wien  bleiben  und 
Anhalts  Interessen  hätte  vertraten  wollen. 

Da  sich  unter  solchen  Umständen  die  Entsendung  eines  besonderen 
Gesandten  notwendig  machte,  so  hatte  der  Senior,  der  die  ersten  Schritte 
im  Einvernehmen  mit  Preufeen  getan  hatte,  von  Anfang  an  dazu  den 
Legationsrat  Brenner  in  Regensburg  ausersehen,  der  bisher  die  diplo- 
matische Vertretung  des  Gesamtstaates  zur  Zufriedenheit  der  Herzöge 
gehabt  hatte;  ihm  wollte  er  als  seinen  besonderen  Vertreten  noch  den 
Regierungspräsidenten  v.  Wolfframsdorff  aus  Dessau  beiordnen. 
Doch  da  nach  der  Ansicht  des  Bemburger  Herzogs,  dem  dieser  Plsui 
zur  Genehmigung  unterbreitet  wurde,  „das  Gelingen  des  vorhabendes 


*    —     249     — 

Geschäftes  vorzüg-lich  davon  abhängig  sei,  dafs  dazu  ein  Mann  ge- 
wählt werde,  von  dessen  Kenntnissen,  persönlichen  Eigenschaften  und 
Konnexionen,  besonders  am  Wiener  Hofe,  sich  mit  einiger  Gewifsheit 
hoffen  lasse,  dafs  er  die  ihm  erteilten  Aufträge  mit  der  gehörigen 
Umsicht  und  Sachkenntnis  schriftlich  und  mündlich  beim  Kongresse 
überhaupt  und  bei  den  einzelnen  Abgesandten  insbesondere  durch- 
führen werde,  weil  bei  der  gro&en  Entfernung  des  Kongrefsortes  und 
der  Ungewifsheit  des  Geschäftsganges  es  nicht  wohl  möglich  sein 
möchte,  den  Bevollmächtigten  auf  alle  möglichen  Falle  und  eintretende 
Umstände  im  voraus  von  hier  aus  zu  instruieren",  so  erforderte  die 
Wahl  eine  besondere  Sorgfalt.  Er  zweifle  zunächst  nicht,  dafe  Brenner, 
den  er  persönlich  nicht  kenne,  ein  tüchtiger  Mann  sei,  „besäfse  er 
aber  auch  alle  nötige  Geschicklichkeit  und  persönlichen  Eigenschaften 
dazu,  so  bezweifelte  er,  der  Herzog,  doch  sehr,  dafe  er  die  erforder- 
lichen Konnexionen  am  Wiener  Hofe  sich  würde  verschaffen  können, 
ohne  die  vielleicht  das  gan2e  Geschäft  mifelingen  könnte.  Er  hätte 
jedoch  bei  seiner  Anwesenheit  in  Wien  die  Bekanntschaft  eines  Mannes 
gemacht,  dessen  Kenntnisse  und  persönliche  Eigenschaften  sowohl  als 
die  angesehenen  Konnexionen,  worin  er  mit  den  ersten  Wiener  Staats- 
bedienten stände,  ihm  ganz  dazu  geeignet  schiene,  ihm  die  Besorgung 
jedes  wichtigen  Geschäftes  mit  Zuversicht  anzuvertrauen.  Im  Fall  der 
Senior  auf  diesen  Mann  in  Hinsicht  des  in  Frage  befangenen  Gesamt- 
geschäfts mit  zu  reflektieren  gesonnen  wäre,  so  würde  er  nicht  anstehen, 
ihn  namhaft  zu  machen  und  würde  er  alsdann  nur  vorschlagen,  dafs  wenn 
der  Senior  den  Regierungspräsidenten  v.  Wolfframsdorff  noch  in  anderen 
Absichten  nach  Wien  zu  schicken  geruhen  sollten,  auf  beide  zugleich 
das  Kreditiv  mit  der  gewöhnlichen  solidarischen  Klausel  ausgefertigt 
würde." 

Auf  Grund  dieser  Empfehlung  bat  der  Senior  am  26.  August  18 14, 
dafs  der  Herzog  von  Bemburg  die  angedeutete  Persönlichkeit  näher 
bezeichne.  Dieser  antwortete  am  i.  September;  „Die  zum  Mitbevoll- 
mächtigten für  die  gemeinschaftlichen  Anhaltischen  Angelegenheiten 
auf  dem  Kongresse  zu  Wien  in  Vorschlag  gebrachte  Person  wäre  der 
Baron  v.  Erstenberg-Freyenthurn,  ein  Schwager  des  ehemaligen 
Köthenschen  Oberhofmeisters  v.  Rieger;  er  hätte,  da  er  ihm  schon 
seit  mehreren  Jahren  auf  eine  vorteilhafte  Art  bekannt  gewesen,  seine 
persönliche  Bekanntschaft  während  seines  Aufenthalts  in  Wien  ge- 
macht tmd  in  ihm  einen  geschickten  und  gewandten  Mann  kennen 
lernen,  der  in  den  angesehensten  Häusern  Zutritt  habe  und  besonders 
bei  dem  Fürsten  v.  Mettemich  wohlgelitten  sei.     Er  wäre  ein  ganz 


i 


—     250     — 

unabhängiger  Mann,  der  von  seinem  Vermögen  lebe  und  in  keinen 
anderen  Dienstverhältnissen  stände.  Er  hätte  demselben  zwar  von  einer 
Übernahme  von  Gesamtgeschäften  für  das  Haus  Anhalt  noch  keine 
Eröffnung  gemacht,  zweifelte  aber  nicht,  dals  er  es  sich  zur  Ehre 
rechnen  würde,  wenn  er  auf  dem  bevorstehenden  Kongresse  für  das 
Haus  Anhalt  etwas  zu  bewirken  imstande  sein  sollte/'  Daus  die  Auf- 
fassung des  Herzogs  über  die  Konnexionen  des  Freiherm  v.  Ersten- 
berg-Freyenthurn  richtig  war,  bestätigt  ein  Bericht  des  Regierungs- 
referendars v.  Salmuth,  der  im  November  sich  in  Wien  angehalten 
hatte.  Er  schreibt :  „Seine  —  v.  Erstenbergs  —  beim  österreichischen 
Ministerio  gemachten  Anträge  finden  nicht  nur  leichtem  Eingang  durch 
die  Begünstigung  seines  Freundes,  des  Baron  v.  Foulon,  der  bei 
dem  Fürsten  Mettemich  den  Gesellschaftskavalier  macht,  sehr  viel  Ver- 
trauen von  ihm  geniefst  und  in  der  französischen  Korrespondenz  für 
ihn  arbeitet,  sondern  es  hat  sich  auch  der  Freiherr  v.  Erstenberg 
den  Fürsten  durch  Geldvorschüsse  aus  seinem  Privatvermögen ,  das 
nicht  unbeträchtlich  sein  kann,  unmittelbar  geneigt  zu  machen  gewufst.^* 
Und  dafis  die  persönlichen  Beziehungen  zum  Fürsten  v.  Mettemich 
wirklich  von  Vorteil  waren,  erweist  v.  Erstenbergs  Bericht  über 
seinen  Empfang  beim  Fürsten  vom  28.  Juli:  „Da  derselbe  schon  vorher 
unterrichtet  worden,  dafs  ich  in  Höchstdero  Namen  gekonunen,  so 
ward  mir  die  ehrenvolle  Auszeichnung,  dals  ich  unmittelbar  nach  den 
ex  officio  erschienenen  vier  Departementschefis  mit  Hintansetzung  aller 
in  dem  Vorsaale  zahlreich  versammelten  Personen,  unter  welchen  viele 
von  hohem  Range,  namentlich  auch  der  Kaiserlich  russische  Botschafter 
gewesen,  vorgelassen  wurde." 

Der  zweite  vom  Gesamthaus  Anhalt  zur  Vertretung  seiner  Inter- 
essen ausersehene  Mann,  der  Regiemngspräsident  v.  Wolfframsdorff, 
konnte  sich  anfangs  einer  gleich  günstigen  Beurteilung  durch  den  Her- 
zog von  Bemburg  nicht  erfreuen.  Dieser  schrieb  an  den  Freiherm 
V.  Erstenberg  über  den  Genannten,  „dessen  Bravheit,  aber  Ängst- 
lichkeit mir  sehr  gut  bekannt  ist";  und  deutlicher  am  15.  September: 
„Präsident  v.  WolfframsdorfT  hat  sich  vorgenommen,  künftigen  Sonn- 
abend oder  Sonntag  [=  17./ 18.  Sept.]  nach  Wien  abzureisen.  Der* 
selbe  ist  mir  als  ein  sehr  braver  und  geschickter  Mann  bekannt;  mir 
hat  er  nur  etwas  furchtsam  gegen  seinen  Herrn  erschienen."  Da- 
raus erkennt  man  mit  genügoider  Deutlichkeit  die  Grundlage  des  Ur- 
teils, es  wurzelt  in  der  Rivalität  mit  Dessau  und  der  Vermutung»  dafis 
ein  treuer  Beamter  des  Dessauer  Herzogs  vielleicht  einseitig  und  engf- 
heizig  zu  sehr  die  Ansprüche  des  Dessauer  Hofes  vortreten  könnte. 


—     251     — 

Um  so  erfreulicher  ist  die  Anerkennung,  die  v.  Elrstenbergc  diesem 
Mann  in  der  Folge  zuteil  werden  liefe.  Schon  am  28.  September, 
nachdem  v.  WoUframsdoriT  erst  am  26.  früh  in  Wien  eingetroffen  war, 
berichtete  v.  Erstenberg  dem  Herzog:  „Ich  fand  an  ihm  einen  sehr 
einsichtsvollen  und  richtig  beurteilenden  Mann,  mit  dem  ich  mich  gern 
in  die Gesdiäfte  teile";  und  am  8.  Oktober:  „Herr  Regierungspräsident 
V.  Wolf&amsdorff  macht  die  Kurialien  mit  dem  besten  Erfolge  und 
findet  allgemeinen  Beifall;  sein  Benehmen  zeichnet  sich  durch  Klug- 
heit und  vollkommene  Geschäftskenntnis  sehr  gut  aus,  so  dals  ich 
vollkommen  überzeugt  bin,  es  wäre  unmöglich,  die  Sachen  besser  zu 
machen  als  derselbe  tut/* 

Die  erhoffte  gemeinschaftliche  Vertretung  Anhalts  durch  diese 
beiden  Männer  erwies  sich  aber  als  unmöglich  und  zwar  aus  persön- 
lichen Gründen.  Noch  ehe  der  Freiherr  v.  Erstenberg  das  ihm  bereits 
zngefertigte  Kreditiv  als  Gesamtvertreter  überreichen  konnte,  eröffnete 
ihm  der  erste  Obersthofmeister,  Fürst  v.  Trautmannsdorf,  am 
22.  September,  „dais  er  mich  Sr.  K.  K.  Majestät  zu  der  erledigten 
K.  K.  Truchsessenstelle  vorgeschlagen  und  als  zu  diesem  Hofamte  be- 
sonders geeignet  empfohlen  habe,  mit  der  Weisung,  der  Allerhöchsten 
Resolution  täglich  zu  gewärtigen  und  mich  bereit  zu  halten,  alsdann 
sogleich  in  Funktion  treten  zu  können/'  Da  ein  solches  Hofamt  aus 
verschiedenen  Gründen  mit  dem  Amte  eines  Geschäftsträgers  nicht 
vereinbar  war,  mu&te  er  also  wenigstens  öffentlich  auf  das  letztere 
verzichten.  Trotzdem  versprach  er  ein  nicht  öffentliches  Zusammen- 
wirken  mit  v.  Wolfframsdorff  und  eiüpfahl,  falls  Anhalt  noch  einen 
öffentlichen  Vertreter  seiner  Interessen  wünsche,  als  seinen  Nachfolger 
Karl  V.  Axt.  Der  letztere  war,  nach  v.  Erstenbergs  Angaben,  mehrere 
Jahre  hindurch  bei  zwei  Missionen  in  Dresden  und  am  spanischen  Hofe 
attachiert  und  schien  „nach  dem  Umfang  seiner  Kenntnisse,  seiner 
Routine  im  GesandtschaftsOache,  seines  allgemein  bewährten  Charakters, 
vorzüglich  aber  wegen  der  Gnade  und  des  Wohlwollens,  die  er  von 
Sr.  Durchlaucht  dem  Herrn  Fürsten  v.  Mettemich  zu  geniefeen  das 
Glück  hat,  ganz  zu  diesem  Geschäfte  geeignet  zu  sein'^ 

Da  der  Herr  v.  Axt  sowohl  dem  Dessauer  als  dem  Bemburger 
Hofe  gänzlich  unbekannt  war,  hielt  man  an  der  Zusage  des  Freiherm 
V.  Erstenberg-Freyenthum  fest,  ihn  als  nichtoffiziellen  Vertreter  neben 
V.  Wolfframsdorff  anzunehmen.  Aufserdem  blieb  der  Herr  v.  Ersten- 
berg der  Geschäftsträger  des  Herzogs  von  Bembui^. 

Das  über  diese  Mission  vorhandene  Aktenmaterial  findet  sich  in 
der  Abteilung  Dessau,  Sign.  D  2*  no  6  ff. ;   es  enthält  in  Vol.  i :   Be- 


—     252     — 

Schickung  des  Kongresses  durch  das  Gesamthaus  1814;  Vol.  2:  Be- 
richte der  Gesandten  1814/15:  Vol.  3:  Berichte  der  Gesandten  1815 
Vol.  4:  Berichte  der  Gesandten,  Allianztraktat,  Bundesakte;  Vol.  $ 
Verhandlungen  wegen  Ratifikation  der  Wiener  Kongreisakte  181S 
Vol.  6 :  Die  nach  Beendigung  des  Kongresses  der  Anhaltischen  Ge- 
sandtschaft bewilligten  Geschenke ;  Vol.  7  u.  8 :  Kosten  der  Gesandt- 
schaft. 

Die  von  v.  Wolffiramsdorff  und  v.  Erstenbei^-Frcyenthurn  gemein- 
schaftlich abgefaßten  und  unterzeichneten  Berichte  sind  —  und  ich 
beschränke  mich  dabei  auf  die  wichtigste  Zeit  —  datiert  vom  28.  und 
30.  September,  5.,  12.,  15.,  22.  Oktober,  i.,  5.,  16.,  19.,  26.  November, 
3.,  7.,  16.,  23.,  31.  Dezember  1814,  7.,  18.,  25.  Januar  1815. 

Als  Ergänzung  dazu  treten  noch  die  Berichte  v.  Salmuths  datiert 
vom  3.  Dezember  und  v.  Matolays  vom  24.  Dezember  18 14.  Der 
bereits  oben  erwähnte  Keg.-Referendar  v.  Salmuth,  Sohn  des  Reg.- 
Präsidenten  v.  Salmuth  in  Bemburg,  hatte  am  28.  Oktober  18 14  beim 
Herzog  um  die  Erlaubnis  nachgesucht,  in  der  jetzigen  so  merkwürdigen 
Epoche  Wien  besuchen  zu  dürfen,  und  erstattete  nach  seiner  Heimkehr 
am  3.  Dezember  18 14  über  seine  Erlebnisse  und  Wahrnehmungen 
Bericht,  aus  dem  wir  nachher  einiges  mitteilen  werden  (Abt.  Bemburg, 
Sign.  D I^  no  72  fol.  197).  Herr  v.  Matolay  war  früher  diplomatischer 
Agent  des  Bemburger  Herzogshauses  gewesen  und  1793  im  Januar 
als  Gesamtagent  angenommen,  sein  Bruder  Joseph  Friedrich  v.  Matolay 
war  Legationsrat.  Der  von  ersterem  erstattete  Bericht  findet  sich  in 
der  Abt.  Bemburg,  Sig.  DI**  no  7^ 

Den  Berichten  sind  teils  im  Abdruck,  teUs  abschriftlich  einige 
Beilagen  angefügt,  die  für  den  Gang  des  Kongresses  von  Wichtig- 
keit waren;  nämlich: 

Deklaration  vom  8.  Oktober  1814. 

Note  des  Grafen  v.  Münster  vom  12.  Oktober  1814. 

Deklaration  vom  i.  November  18 14. 

Bericht  des  Grafen  v.  Keller  über  seine  Unterredung  mit  dem 
Fürsten  Mettemich  vom  14.  und  22.  Oktober  1814. 

Note  der  fürsüichen  Deputierten  vom  16.  November  18 14. 

Note  des  Grafen  v.  Münster  und  v.  Hardenbergs  vom  21.  Ok- 
tober 18 14. 

Die  12  Artikel. 

Protest  des  Königs  von  Sachsen. 

Die  I.  und  2.  Badische  Note  vom  16.  November  18 14. 

Die  HohenzoUersche  Note  vom  24.  November  1814. 


—     253     — 

Erste  Note  des  Grafen  v.  Münster  vom  25.  November  1814. 

Aufsatz  von  Schmidt-Phiseldeck  vom  16.  November  1814. 

Note  Nesselrodes  an  MetteiTuch  und  v.  Hardenberg  vom  11.  No- 
vember 1814. 

Zweite  Note  des  Grafen  v.  Münster  vom  Dezember  18 14. 

Tableau  über  Bestand  Preu&ens  1805. 

Die  Axmexe  und  Rekonstruktion  PreuDsens. 

Note  Talleyrands  über  die  Sächsische  Frage. 

Bitte  der  mediatisierten  Reichsgräfin  v.  Wimpfen,  geb.  Prinzessin 
Viktoria  Amalie  von  Anhalt -Schaumburg,  vermählten  Reichsgräfin 
von  Wimpfen. 

Schreiben  v.  Gagems  an  den  Grafen  Münster  vom  13,  Januar  18 15. 

Den  Berichten  liegen  femer  bei  einzelne  Nummern  der  Wiener 
Zeitung,  nämlich  vom  22.,  23.,  24.,  26.,  27.,  28.  September  und  24.  De- 
zember 1814,  sowie  vom  23.  und  24.  Januar  1815. 

Einen  nicht  unbedeutenden  Raum  beanspruchen  die  Berichte  über 
Festlichkeiten  wie  die  Ankunft  der  Kaiserin  von  Ruisland  am  2/.  Sep- 
tember, der  Redoute  am  2.,  der  redoute  par^e  am  9.,  des  Militärfestes 
am  18.  Oktober,  des  Balles  beim  Fürsten  v.  Mettemich,  des  grofsen 
Karoussels  am  23.  November,  des  Konzertes  am  22.  Dezember,  sowie 
auch  der  von  Talleyrand  veranlaüsten  ernsten  Feier  eines  Totenamts 
für  Ludwig  XVI. 

Mit  der  vorher  geschilderten  Mission  ist  aber  die  diplomatische 
Vertretung  Anhalts  noch  nicht  abgeschlossen.  Schon  m  der  ersten 
Zeit,  da  der  Gedanke  an  einen  Kongrefe  in  Wien  bekannt  gegeben 
war,  wurde  von  einer  Entsendung  des  Erbprinzen  vcn  Dessau  an  den 
Wiener  Hof  gesprochen.  Der  Erbprinz  Leopold  Friedrich, 
Sohn  des  18 14  verstorbenen  Erbprinzen  Friedrich,  Enkel  des  Herzogs 
Leopold  Friedrich  Franz,  war  noch  ein  junger  Mann  von  noch  nicht 
20  Jahren;  er  hatte  in  dem  Heere  des  Ksdsers  den  Feldzug  181 3  und 
18 14  gegen  Frankreich  mitgemacht  und  war  im  Mai  des  Jahres  heim- 
gekehrt, da  ihn  der  Tod  seines  Vaters  in  die  Heimat  zurückrief.  Es 
war  gewiüs  ein  glücklicher  Gedanke,  den  jungen  Fürsten,  der  bereits 
Beziehungen  zur  österreichischen  Armee  und  zum  Kaiserhofe  hatte, 
nach  Wien  zu  entsenden.  „Wenn  es  die  Gesundheitsumstände  des 
Erbprinzen  zulassen,  soll  er  nut  dem  Präsidenten  v.  Wolfframsdorff  nadi 
Wien  gehen  und  sich  einige  Zeit  dort  aufhalten",  wurde  nach  Bem- 
burg  geschrieben  und  am  15.  September  schreibt  der  Herzog  Alexius 
an  V.  Erstenberg:  „Man  spricht  noch  immer  davon,  dais  der  jetzige 
Erbprinz  von  Dessau  sich  auch  nach  Wien  begeben  werde."    Er  imter- 


—     254     — 

nahm  auch  die  Reise  zwar  nicht  mit  v.  WolfTramsdorff,  sondern  einige 
Tage  später  zusammen  mit  dem  Herrn  v.  Stern  egg.  Dieser  letztere 
war  anhalt-köthenscher  Kammerherr,,  und  später  im  November  1813 
mit  Zurückdatierung  des  Patentes  auf  den  17.  April  181 3  zum  Hof- 
marschall und  Jägermeister  ernannt,  eine  Ehniug,  die  er  sich  infolge 
einer  Mission  nach  Prag  erworben  hatte.  Der  Herzog  von  Bembuig 
empfahl  ihn  dem  Freiherm  v.  Erstenberg  mit  den  ehrenden  Worten : 
„Da  er  mir  schon  von  1807  an  als  sehr  aufrichtig  bekannt  ist*';  und 
dieser  schrieb  am  8.  Oktober:  „Ebenso  finde  ich  auch  an  dem  Herrn 
Hofmarschall  Baron  v.  Steraegg  einen  sehr  gewandten,  tätigen,  ein- 
sichtsvollen und  dem  Interesse  des  Herzogl.  Hauses  völlig  ergebenen 
Mann." 

Der  Erbprinz  Leopold  Friedrich  gelangte  am  30.  September 
nach  der  Kaiserstadt.  Der  Herr  v.  Wolf&amsdorfT  berichtet  darüber 
seinem  Herzog  und  Herrn:  „Dafs  Se.  Durchl.  heut  nachmittags  um 
6  Uhr  im  besten  Wohlsein  allhier  angekommen  sind.  Dieselben  haben 
sofort  eine  Ihnen  von  mir  vorbehaltene  kleine  nicht  zu  teure  Wohnung 
bezogen,  welche  noch  überdem  das  Angenehme  hat,  dafis  sie  sich 
gerade  jener  des  Erbprinzen  und  Prinzen  Philipp  von  Hessen-Hombuig 
gegenüber  befindet."  Diese  Bemerkung  ist  dem  Schreiber  und  Emp- 
fanger des  Briefes  aus  dem  Grunde  wichtig  erschienen,  weil  des  Erb- 
prinzen Mutter,  Christiane  Amalie,  eine  Tochter  Ludwig  Wilhelm 
Christians  Landgrafen  zu  Hessen-Homburg  war,  hier  also  der  Verkehr 
mit  den  nächsten  Verwandten  stattfinden  konnte.  Wie  man  erwartet 
hatte,  fand  der  Erbprinz  auch  die  freundlichste  Aufnahme  am  Kaiser- 
hofe, das  schreibt  nicht  nur  v.  Erstenbeig  dem  Senior,  sondern  auch 
V.  Salmuth  dem  Herzog  von  Bemburg:  „Se.  Durchl.  der  Erbprinz  von 
Dessau  geniefst  eine  ausgezeichnete  Behandlung  in  Wien,  besonders 
vonseiten  des  Österreichischen  Hofes. 

Nach  der  gegebenen  Darstellung  dürfen  wir  von  den  anhaltischen 
Missionen  eine  ziemlich  wertvolle  Berichterstattung  erwarten,  denn  dem 
Erbprinzen  wie  dem  Freiherm  v.  Erstenberg-Freyenthum  waren  die 
Zugänge  zur  Kenntnis  intimerer  Vorgänge  gewilis  eröfihet,  aber  trotz- 
dem entsprechen  die  Berichte  den  Erwartungen  nicht  Die  Gründe 
dafür  liegen  einerseits  in  der  Unsicherheit  der  Postbeforderung,  der 
Freiherr  v.  Erstenberg  klagt  deshalb,  und  meint  sie  würden  vom  Diener 
unterschlagen  wegen  des  Portos;  nur  die  er  selbst  zur  Post  getragen 
habe,  seien  bisher  richtig  angekommen;  anderseits  wurde  der  Sicher- 
heit wegen  jede  wichtige  Tatsache  für  mündlichen  Bericht  zurück- 
gestellt, wie  das  unterm  19.  Oktober  Herr  v.  Erstenberg  ausdrüddich 


—     255     — 

bestätigt:  „Prämissen  .  .  .,  die  ich  aber  nicht  schriftlich  numerieren 
kann  und  weshalben  ich  mich  auf  die  dereinstigen  mündlichen 
Berichte  der  Freiherren  v.  Sternegg  und  v.  Wolfframsdorff  beziehe." 
Hierzu  kommt  ferner  die  besondere  Schwierigkeit,  welche  die  Akkredi- 
tierung der  Gesandtschaft  bei  den  Monarchen  machte.  Es  erforderte 
die  strenge  Etikette,  „dafs  keiner  von  der  Dienerschaft  eines  Fürsten 
an  die  Monarchen  unmittelbar  abgeordnet  werden  könne,  der  zugleich 
an  die  Minister  akkreditiert  worden ;  ein  anderes  sei  es,  wenn  jemand 
mit  einer  ganz  bestimmten  Sendung  blofe  an  die  Monarchen  abgeschickt 
werde,  aber  es  sei  nicht  bekannt,  dafe  irgendeiner  der  sich  hier  be- 
findenden vielen  Deputierten  der  deutschen  Fürstenhäuser  unmittelbar 
an  die  Monarchen  gerichtete  Schreiben  mitgebracht  und  überreicht 
haben**.  Nachdem  die  Herzogl.  Sächsischen  Deputierten  mit  Kreditiv 
beim  Kaiser  von  Österreich  versehen  waren,  suchte  auch  v.  WoliTrams- 
dorfT  am  i.  Oktober  eine  Audienz  beim  Kaiser  nach  und  wurde  schon 
am  folgenden  Tage  empfangen;  aber  auf  die  allgemeine  Lage  der 
Gesandtschaft  hatte  das  natürlich  keinen  Einflufs,  sie  blieb  nur  an  die 
Minister  akkreditiert,  und  über  deren  Besprechungen  berichtet  v.  Ersten- 
berg  am  8.  Oktober:  „Die  Besprechungen  der  vier  Hauptminister 
haben  bereits  begonnen,  allein  es  transpiriert  nicht  das  Ge- 
ringste.** Damit  ist  aber  sehr  drastisch  auch  seine  eigene  Unkenntnis 
der  wichtigsten  Vorgänge  hinlänglich  bekundet. 

Wir  können  uns  demnach  keinen  Augenblick  der  Hoffnung  hin- 
geben, dais  die  in  den  Akten  enthaltenen  Berichte  in  Summa  irgend 
etwas  mehr  bieten  als  Nachrichten  aus  zweiter  und  dritter  Hand,  wie 
sie  sich  zumeist  auch  in  ehrlicher  Weise  durch  ein  „man  s^**  oder 
„es  heifst**  dokumentieren. 

Wichtig  aber  sind  sie  vielleicht  durch  die  Aufschlüsse,  die  sie 
über  die  Versammlungen  der  fürstlichen  Deputierten  geben,  z.  B.  über 
die  Versammlung  beim  Minister  v.  Gagem,  über  die  Parteien  unter 
den  fürstlichen  Deputierten,  über  die  Versuche  Zulassung  zum  Kon- 
grefs  zu  erhalten,  über  die  Note  der  Deputierten  an  v.  Mettemich  und 
V.  Hardenberg  mit  interessanten  Nachrichten  über  die  Redaktion  dieser 
Note,  namentlich  w^en  der  Rechte  der  Landstände,  über  die  Stellung 
der  fürstlichen  Deputierten  im  Januar  1815  und  die  Versammlung  bei 
V.  Marschall.  Aber  auch  sonst  ist  vielleicht  diese  oder  jene  Nachricht 
von  Interesse,  wie  z.  B.  die  über  Aufnahme  des  Prinzen  Eugen  Beau- 
bamais  beim  Fürsten  Mettemich. 

Um    nach    dieser   Seite    hin   den   vorhandenen  StoF  ^ 

einigermafsen  zu  charakterisieren,  will  ich  dasjenige,  wel 


—     256     — 

Durchlesen  wichtig  erschien,  kurz  andeuten,  wenn  manches  davon  auch 
bereits  hinlänglich  bekannt  ist. 

Die  Pracht,  welche  der  Kaiserhof  entwickelt,  übertrifft  alles  bisher 
Gesehene.  Alle  Monarchen,  darunter  auch  die  Könige  von  Dänemark, 
Württemberg  und  Bayern,  wohnen  in  der  Hofburg,  werden  von  Sr. 
Majestät  dem  Kaiser  von  Österreich  bewirtet,  daher  denn  auch  der 
Aufwand  ungeheuer  ist,  so  da(s  das  Küchenamt  allein  für  8  Tage 
einen  Vorschuüs  von  300000  Gld.  verlangt  hat  (28.  Sept.).  Im  Zu- 
sammenhang damit  steht  die  Verteuerung  der  Lebensbedürfnisse.  „Die 
Teuerung  ist  hier  aufiserordentlich  groüs,  so  dafis  die  gerii^ere  Klasse 
der  Einwohner  sehr  wünscht,  der  Kongreüs  möge  bald  zu  Elnde  sein. 
Ein  mäfsiges  Quartier  monatlich  100  Dukaten,  ein  Mietswagen,  die 
nicht  mehr  zu  haben  sind,  bis  200  Gld.  und  so  verhältnismäisig  alles" 
(30.  Sept.).  Einen  Einblick  in  die  Steigerung  der  Preise  vermag  das 
ganz  detaillierte  Ausgabeverzeichnis  des  Herrn  v.  WoU&amsdorff  zu 
geben,  das  sich  bei  den  Akten  befindet  Überraschend  ist  darin  auch 
die  Höhe  des  Eintrittsgeldes  zu  den  festlichen  Veranstaltungen,  meist 
10  Gulden. 

Der  Zuflufs  von  Fremden  wie  Teilnehmern  am  Kongrefs  war  natür- 
lich ein  ganz  ungeheurer.  Schon  im  Juli  hatte  Fürst  Wrede  Quartier 
bestellt.  Am  31.  August  bestand  das  Gerücht,  dafs  auch  der  Papst 
kommen  werde.  Eine  Liste  der  am  21.  September  in  Wien  anwesen- 
den Fürsten  und  Diplomaten,  sowie  der  zum  Ehrendienst  komman- 
dierten Personen  liegt  den  Akten  bei. 

„Die  innige  Übereinstimmung,  welche  unter  den  hier  in  der  Kaiser- 
burg vereinigten  Monarchen  herrscht,  wird  auf  die  künftige  Ruhe 
Europas  den  wohltätigsten  Einflufs  äufsem  (28.  Sept).**  „Nach  dem 
Äusseren  zu  schlielsen,  sind  die  beiden  Kaiser  sehr  einig.  Der  König 
von  Bayern  hat  beinahe  immer  jemanden  der  russischen  Familie  an 
seiner  Tafel."  Der  König  von  Preufsen  bewährt  viele  Kondeszendens 
gegen  unsern  Kaiser*'  (8.  Okt.). 

„Der  Kongrefs  ist  noch  nicht  einmal  formUch  konstituiert,  in- 
dem immer  vorläufige  Besprechungen  einzelner  Minister  stattgefunden 
haben"  (28.  Sept).  „Man  behauptet,  der  Kongrefs  werde  nun  eist 
am  16.  Oktober  eröffnet  werden,  da  noch  zu  wenig  vorgearbeitet  sei" 
(30.  Sept.).  „Der  Kongrefis  ist  bis  zum  i.  November  angeschoben, 
die  hohen  Fremden  werden  vermutlich  noch  bis  tief  in  den  Monat 
November  hier  verweilen"  (15.  Okt.). 

„Herr  Graf  Stadion,  welcher  auf  dem  Kongresse  zu  Chatülon 
nebst  dem  Herrn  Fürsten  v.  Mettenuch  sich  befand,  wurde  von  den 


—     257     — 

diplomatischen  Geschäften  entfernt  und  zum  Finanzminister  ernannt. 
Staatsrat  v.  Hudelist,  Kanzleidirektor  in  der  Staatskanzlei  und  erste 
Person  nach  dem  Minister,  soll  Chef  der  italienischen  Kanzlei  werden ; 
ihn  soll  Herr  Hofrat  Mercy  ersetzen,  welcher  erst  kürzlich  aus  dem 
Departement  der  Finanzen  in  die  Staatskanzlei  versetzt  wurde"  (21. Sept.). 
„Graf  Stadion  wird  nun  auch  wieder  bei  dem  diplomatischen  Fache 
gebraucht"  (23.  Nov.). 

„Fürst  Hardenberg  sieht  es  nicht  gerne,  wenn  man  sich  an 
Baron  (v.)  Stein  wendet"  (8.  Okt.).  In  gleichem  Sinne  berichtet 
V.  Stemegg,  „  dafs  Herr  v.  Stein  gänzlich  en  d^cadence  ist,  wer  diesem 
nur  die  Visite  macht,  hat  es  bei  dem  Fürsten  v.  Hardenberg  ver- 
dorben" (10.  Okt).  In  Rücksicht  darauf  erscheint  es  dem  Herrn 
v.  Erstenberg  zur  Austragung  eines  Streites  des  Bemburger  Herzogs 
und  Nassaus  wegen  der  Schaumburger  Herrschaft  wichtig,  die  Ver- 
handlung mit  dem  Nassauischen  Minister  anzuknüpfen;  „dieser  Weg 
würde  kürzer  als  der  Steinsche  sein  und  die  unter  dermaligen  Ver- 
hältnissen nicht  rätliche  Zusammenkunft  mit  Baron  Stein  ganz  unent- 
behrlich machen"  (15.  Okt). 

Die  Vollmachten  der  Gesandten,  sowie  die  Denkschriften,  „alles 
mufs  in  französischer  Sprache  abgefafst  werden,  weil  die  russi- 
schen und  englischen  Herren  Minister  auf  die  deutsche  Sprache  sich 
nicht  verstehen".  In  den  Vollmachten  wünscht  femer  der  Herzog  von 
Bemburg  den  Titel  „sou veraine  Herzöge"  wegelassen  zu  sehen,  „da 
mir  bekannt  geworden,  dafe  die  Minister  der  alliierten  Mächte  diese 
Rückerinnerung  an  den  Rheinbund  miüsbiUigten,  auch  der  Herzog 
von  Weimar  und  die  meisten  anderen  deutschen  Fürsten  diesen  fran- 
zöschen  Titel  pure  aufgegeben  hätten". 

„Man  glaubt,  dafis  über  die  deutschen  Angelegenheiten 
in  Paris  die  Grundzüge  entworfen."  „Über  die  Art  des  Kon- 
gresses ist  noch  immer  nichts  ausgemacht,  nach  aller  Wahrschein- 
Uchkeit  aber  werden  Österreich,  Rufsland,  England  und  Preuisen  als 
die  hohen  Allüerten  eine  einzige  moralische  Person  bilden,  welche 
die  Reklamationen  jeder  Art  annehmen  und  entscheiden  wird.  Aus 
diesem  Grunde  wird,  weil  Osterreich  nur  eine  Stimme  hat,  es  von 
äufeerster  Wichtigkeit  sein,  dafs  Ew.  Herzogl.  DurchL  auch  Ruüsland 
und  Preuisen  und  England  zu  günstiger  Gesinnung  geneigt  zu  machen 
sich  beeilen.  Man  glaubt  nicht,  dals  der  Kongrefs  über  4 — 5  Wochen 
dauern  wird.  Nach  dessen  Schlufis  soll  noch  ein  Kongrefs  der 
deutschen  Souvräns  gehalten  werden"  (31.  Aug.).  „Für  die 
Deutschen  scheint  Osterreich   die  Hauptperson  zu  sein  und  sei' 

19 


—  268  — 

Votum  dürfte  wohl  überwiegend  werden.  Der  englische  Gesandte 
nimmt  die  deutschen  Sollicitanten  nicht  an,  der  preufsische  ver- 
weist sie  an  Österreich  und  selbst  der  russische  gibt  nur  schwaches 
Gehör**  (8.  Okt.). 

„Für  die  deutschen  Angelegenheiten  ist  eine  Kommis- 
sion niedei^esetzt ,  bestehend  aus  Hofrat  v.  Rademacher  aus  der 
Staatskanzlei,  Baron  v.  Frank,  ehemaliger  Reichsreferendar,  und  Baron 
Spiegel.  Bei  derselben  müssen  alle  Deutschland  betreffenden  Rekla- 
mationen angebracht  werden  und  diese  gibt  sie  mit  den  nötigen  Gut- 
achten an  die  vier  Minister,  welche  den  Kongrefs  ausmachen  und 
eigentlich  entscheiden**  (21.  Sept.). 

„Die  Besprechungen  der  vier  Hauptminister  haben  be- 
reits angefangen,  allein  es  transpiriert  nicht  das  Geringste,  doch  will 
man  als  ausgemacht  halten,  da(s  Deutschland  wieder  einen  Kaiser 
bekommen  werde**  (8.  Okt.).  Die  Schrift  Deutschlands  Wiedergeburt 
von  Schmidt-Phiseldeck  erfährt  durch  Brenner  eine  Beurteilung, 
die  bei  den  Akten  ist. 

„Wie  der  Freiherr  v.  Erstenberg  .  .  von  dem  Fürsten  Mettemich 
selbst  gehört  hat,  sollen  die  Bestimmungen  über  die  künftigen  Militär- 
verhältnisse in  Deutschland  so  eingerichtet  sein,  dafe  sie  der 
Landeshoheit  der  einzelnen  Durchlauchtigsten  Fürsten  nicht  wider- 
sprechen.** Diese  Äufserung  Mettemichs  war  in  Rücksicht  auf  eine 
speziell  anhaltische  Angelegenheit  und  Anfrage  erfolgt,  die  wieder  in 
der  Rivalität  der  Bemburger  mit  dem  Dessauer  Hofe  b^^ndet  liegt 
Die  militärischen  Angelegenheiten  Anhalts  waren  immer  unter  dem 
Gesichtspunkte  der  Landesverteidigung,  die  Inspektion  der  Truppen 
demnach  als  Pflicht  und  Recht  des  Seniors  angesehen  worden.  In  den 
Zeiten  des  Rheinbundes,  da  der  Kaiser  Napoleon  wenig  Wert  auf  über- 
kommene Formen  legte,  wurde  kurzer  Hand  betreffs  des  Anhalttschen 
Kontingents  bestimmt:  „Les  ducs  d'Anhalt- Dessau  auront  la  direc- 
tion  et  l'inspection  de  ce  contingent,  lequel  sera  foumi  immediatement 
pour  la  präsente  guerre**,  mithin  war  das  Kommando  über  die  anhal- 
tischen Truppen,  auch  über  das  im  Kontingent  vorhandene  Bataillon 
Anhalt-Bembui^,  dem  Dessauer  Herzog  zugesprochen.  Diesem  Zu- 
stande nicht  Dauer  zu  verleihen,  nachdem  der  Rheinbund  selbst  zu 
Ende  gegangen  war,  femer  auch  die  Gewilsheit,  dais  nach  Ableben 
des  dermaligen  Seniors  das  Seniorat  an  ihn  übergehen  mnlste,  dies 
beides  bestimmte  Alexius  Friedrich  Christian,  auf  eine  Änderung  der 
Rheinbundsbestimmungen  hinzuarbeiten  und  darüber  die  Ansicht  der 
leitenden  Persönlichkeit  zu  erkunden. 


—     269     — 

„Ob  Österreich  in  Deutschland  künftig  ausBchlieCslich  der  erste 
sein,  oder  ob  Freu fsen  sich  in  diese  Superiorität  teilen  wird,  darüber 
sind  die  Meinungen  noch  nicht  vereiniget"  (21.  Aug.).  „Über  die 
Verhandlungen  wegen  der  künftigen  Verfassung  Deutschlands 
berichtet  etwas  ausfuhrUcher  und  zusammenfassend  der  Referendar 
V.  Salmuth,  wir  teilen  auch  die  betreffende  Stelle  ausführlich  mit,  um 
den  Wert  auch  dieser  Quelle  dem  Urteile  näher  zu  rücken. 

„„Nachdem  man  zuerst  auf  den  Gedanken  gekommen,  in  Oester- 
reich  einen  deutschen  Kaiser  anzunehmen,  hat  dieses  erklärt,  es  wolle 
die  deutsche  Kaiserwürde  annehmen,  aber  verlange  auch  die 
executive  Macht  des  deutschen  Landes  zu  seiner  Disposition. 
Darin  hat  Preufsen  nicht  einwilligen  wollen,  und  der  Fürst  Harden- 
berg vorgeschlagen,  man  wolle  2  Oberhäupter  von  Deutschland 
in  Oesterreich  und  Preufsen  machen.  Oesterreich  hat  darauf  gesagt, 
es  würde  dabey  gegen  Preufeen  verUeren,  denn  alsdann  würde  es  unter 
seine  Direction  Bayern,  Würtemberg  und  Baden  erhalten,  diese  würden 
aber  wenig  geneigt  seyn,  ihm  Folge  zu  leisten,  da  gegen  würde  Preufeen 
mit  minder  mächtigen  Ländern  in  Verbindung  treten,  welche  es  leichter 
für  sein  Interesse  gewinnen  könne.  Darauf  ist  von  Bayern  und  Wür- 
temberg in  Vorschlag  gebracht,  5  Oberhäupter  in  Deutschland  an- 
zunehmen, welche  Oesterreich,  Preufeen,  Bayern,  Würtemberg  und 
Hannover  seyn  sollten.  Auf  diesen  Vorschlag  ist  man  eingegangen, 
und  Hannover  hat  die  Königswürde  angenommen.  Aus  den  Verhand- 
lungen der  Minister  dieser  5  Mächte  sind  die  Sr.  Herzoglichen  Durch- 
laucht bekannten  12  Artikel  hervorgegangen.  Am  14^  oder  15^  v.  M. 
haben  diese  Minister  sich  gänzlich  unter  einander  veruneinigt,  so  dafs 
die  Conferenzen  bis  zum  17'  ausgesetzt  gewesen  sind,  wo  der  Fürst 
Mettemich  sie  wieder  bey  sich  versammelt  und  so  weit  die  Einigkeit 
unter  jene  hergestellt  hat,  dafe  die  Verhandlungen  m  der  Nacht  auf 
den  17^  wieder  ihren  Anfang  genommen  haben.  Rufeland  hat  wegen 
der  deutschen  Verfassung  eine  Note  übergeben,  worin  es  der  Ein- 
theilung  von  Deutschland  in  Greise  widerspricht,  und  die  Un- 
abhängigkeit aller  deutschen  Staaten  will,  sonst  aber  dem  voto  von 
Oesterreich  und  Preufsen  beytritt.  Man  glaubt,  dafs  die  von  den  De- 
putirten  der  deutschen  Fürsten  zuletzt  übergebene  Note  einen  guten 
Eingang  gefunden  hat  (Nov.  1814),  und  hofft  davon  ein  glückliches 
Resultat."" 

„Die  hier  befindlichen  Deputirten  der  niederen  und  mittlerep 
Committenten  sind   beinahe  durchgängfig  der  Meinung,   dafe  sie  de 
Zweck  ihrer  Sendungen  nicht  erreichen  werden,  indem  die  vier 

19* 


—     260     — 

mächte  nach  ihrem  eigenen  Gefallen  und  ohne  alle  äufeere  Rücksicht 
über  alles  verfugen  würden.  *  Auch  kann  sich  noch  kein  einziger  einer 
bestimmten  Zusicherung  rühmen"  (8.  Okt.).  „Di^  Deputirten  der 
deutschen  Herzoge  und  Fürsten  sind  nicht  gesonnen  auf  Entschä- 
digungen oder  sonstiger  Ansprüche  wegen  Anträge  zu  machen,  sie 
begnügen  sich  das  Entstehen,  Wachsen  und  Gedeihen  der  künftigen 
deutschen  Verfassung  teils  stUl,  teils  von  ferne  mitredend  zu  be- 
obachten" (v.  Erstenberg,  Ber.  v.  15.  Okt). 

Über  das  allmähliche  Eingreifen  Frankreichs  in  die  Diplo* 
matie  schreibt  v.  Erstenberg  unterm  23.  November:  „Man  bemerkt 
seit  einigen  Tagen,  dafs  FüiBt  Mettemich  öffentlich  mit  Talleyrand 
viel  und  mit  auffallender  Vertraulichkeit  spricht."  Aus  jener  Zeit 
stammt  die  allgemeine  SchUderung,  die  v.  Salmuth  von  dem  Kon- 
gresse entwirft: 

„Der  Lord  Castelreagh  nennt  den  Wiener  Congrefe  einen  Con- 
gr^s  dansant     Jedoch  scheint  es,  als  wenn  nicht  die  Feste  und  Ver- 
gnügungen die  endlichen  Beschlüsse  und  Bestimmungen  verhinderten ; 
sondern  man  scheint  bey  den  Verhandlungen  zu  keinem  bestimmten 
Resultate  zu  kommen,   weil  man  über  Hauptpunkte   sich  noch  nicht 
hat   einigen    können.     Diese    Puncte    sollen   besonders    Polen    und 
Sachsen  seyn.    Rulsland  und  Preu&en  sollen  zwar  über  diese  bey  den 
Gegenstände  gleiche  Meinung  haben,   indem  das  letztere  seine  An- 
sprüche  an  Polen  aufgeben,   und  dafür  Sachsen  erhalten  solle;   aber 
die  andern  grofsen  Mächte  wollen  in  die  Vernichtung  Sachsens  nicht 
willigen;   besonders  setzt  sich  Frankreich  dagegen  und  hat  sich  erst 
neuerlich   sehr  bestimmt  durch  den  in  Wien   angelangten  Gesandten 
Nailles,   der  dieserhalb  Sr.  M.  dem  Kaiser  von  Rufsland  ein   eigen- 
händiges Schreiben   Sr.   M.  des    Königs    von    Frankreich    übergeben 
haben  soll,  darüber  erklärt.   Woluntemchtete  Männer  wollen  behaupten, 
dafs  nur  die  Gegenwart  und  persönliche  Freundschaft  der  Monarchen 
einen    Bruch    unter    den   Mächten    verhindern    kann.     Die   Räumung 
Sachsens  durch   die  Russen   soll   auf  Französischen  Antrag  veranlafst 
worden  sein,    indem  Ru&land  nach   den  Tractaten   und  Frieden  von 
Paris  schon  früher  seine  Truppen  hätte  aus  Deutschland  ziehen  sollen. 
Diesem  gemäs  wird  auch  der  General  Bennigsen   mit  seinem  G>rps 
Hamburg  und  die  umliegende  Gegend  verlassen.'* 

Über  die  schroffe  Behandlung  Sachsens  wird  auf  Grund  von 
Nachrichten  aus  Frankfurt,  deren  Quelle  Herr  v.  Stein  ist,  berichtet: 
„unter  der  Hand  wird  als  Ursache  genannt  die  den  Franzosen  ge- 
machte Entdeckung  des  Operationsplanes  der  Allüerten,  von  welchem 


—     261     — 

der  König  bei  seiner  Anschliefsung  an  Osterreich  Kenntnis  bekommen'' 
(Juli  1814).  Spätere  Nachrichten  über  das  Schicksal  Sachsens  ent- 
halten folgendes:  „Man  sagt,  der  König  von  Sachsen  werde  Warschau 
erhalten,  Altsachsen  aber  unter  Weimar  und  die  andern  Nachbarn 
geteilt  werden"  (21.  Aug.).  Anfang  Oktober  kommt  über  Leipzig 
nach  Dessau  die  Nachricht,  dais  Ruisland  von  Sachsen  2  Millionen 
fordere,  davon  soll  Leipzig  500000  Taler  zahlen.  „Hieraus  will  man 
schliefsen,  da(s  der  König  von  Sachsen  in  sein  Reich  wieder  ein- 
gesetztwerden würde."  Die  Schrift  „Über  die  Vereinigung  Sachsens 
mit  Preuisen  von  einem  patriotischen  PreuCsen"  soll  auf  Requisition 
des  Militärgouvemements  in  Halberstadt  in  Bemburg  konfisziert  werden ; 
„die  Schrift  ist  hier  bis  jetzt  nicht  bekannt,  wird  aber  nunmehr  wohl 
ein  Gegenstand  der  Neugierde  werden".  Aus  Wien  berichtet  v.  Ersten- 
berg  d.  d.  23.  November:  „Vonseiten  Sachsens  zirkuliert  eine  sehr 
gut  gefalste  Protestation  gegen  die  provisorische  Besitznahme.  Man 
sagt,  der  Königlich  sächsische  vormalige  Gesandte  werde  nächstens 
wieder  als  solcher  erscheinen."  Anhalt  wollte  die  provisorische  Be^ 
Setzung  Sachsens  durch  Preufeen  benutzen,  um  den  Kanon  für  Walter- 
Nienburg  los  zu  werden  und  für  die  kursächsischen  Dörfer  in  Anhalt 
(die  Enklaven  Schierau,  Priorau  und  Most)  die  Landeshoheit  zu  erwerben. 
Über  die  Art  und  Weise,  wie  die  Besetzung  Sachsens  von  Bemburg 
und  Dessau  aufgenommen  wurde,  geben  die  Akten  einige  interessante 
Aufschlüsse,  femer  über  Englands  Stellung  zur  Frage,  die  öster- 
reichische und  preußische  Partei,  die  Stellung  der  ftirstlichen  Depu- 
tierten, das  Teilungsprojekt,  den  Eindruck  der  Schrift  „Preufeen  und 
Sachsen",  die  Stellung  Preufeens  zu  Anfang  des  Jahres  18 15  und  die 
Frankreichs  und  Englands. 

Möchte  diese  kurze  Charakteristik  des  in  Zerbst  vorhandenen 
Materials  dem  Forscher  wenigstens  den  Vorteil  bringen,  dafe  er  er- 
kennt,  nach  welcher  Richtung  hin  ihm  und  seiner  Forschung  von  hier 
aus  ein  Dienst  geleistet  werden  kann.  ^) 


i)  Von  ^ofsem  Werte  würde  es  sein,  wenn  recht  bald  alle  deutschen  Staats- 
archive eine  Übersicht  über  ihre  den  Wiener  Kongrefs  betreffenden  Bestände  veröffent- 
lichen würden!  Die  Redaktion. 


—     262     — 

Mitteilungen 

Arehiye.  —  Über  den  Wert  der  Archivinventare  für  die  Geschichts- 
forschung ist  heute  kein  Wort  mehr  zu  verlieren;  ihre  Drucklegung  in 
einer  geeigneten  Gestalt  macht  allmählich  gute  Fortschritte »  imd  jedes  neue 
Werk  wird  dankbar  entgegengenommen.  Neuerdings  liegt  in  einem  statttichen 
Lexikonoktavband  das  Beperiorium  des  Staatsarchivs  zu  Basel  (Basel,  Verlag 
von  Helbing  &  Lichtenhsdm  1905,  LXVIII  und  83a  S.)  vor,  welches  die 
gesamten  Bestände  aufführt  und  ein  sogenanntes  „Übersichtsinventar^ 
darstellt.  Das  Werk  entspricht  seiner  Anlage  nach  durchaus  den  von  der 
KgL  Preufsischen  Archiwerwaltung  herausgegebenen  Beschreibungen  der  in 
den  einzelnen  Staatsarchiven  ruhenden  Bestände,  wie  eine  solche  zuletzt  in 
diesen  Blättern  (oben  S.   132 — 133)  angezeigt  wurde. 

Die  Einleitimg  beschäftigt  sich  zunächst  mit  der  höchst  lehrreichen 
Geschichte  des  Staatsarchivs,  welches  sich  seit  1487  einer  guten  Ordnung 
erfreut;  das  damals  von  Hans  Gerster,  dem  Stadtschreibersubstituten, 
angefertigte  zweibändige  Inventar  hat  bis  1897  dem  Archivgebrauche  gedient. 
Die  Behandlung,  die  das  Archiv  seitdem  durch  die  Stadtobrigkeit  er&hren 
hat ,  ist  geradezu  typisch  für  Stadtarchive ,  tmd  entsprechende  eingehende 
Schilderungen  der  Zustände  in  anderen  Städten  werden,  wenn  sie  erst  b 
gröfserer  Zahl  vorliegen,  das  Material  liefern  für  die  als  Wissenschaft  nocfa 
auszubauende  Archivgeschichte.  —  Die  Beschreibung  des  heutigen  Zu- 
standes  ist  archivtechnisch  von  Interesse  wegen  der  Auffassung  des  Provenienz- 
prinzips, die  hier  Anwendimg  gefunden  hat ;  sie  ist  ausgedrückt  in  dem  Satze 
(S.  XLIII) :  „  Das  Archiv  soll  die  Geschichte  des  Landes  wiederspiegeln, 
nicht  die  Geschichte  der  Landesverwalttmg;  es  soll  ein  Archiv  sein,  nicht 
ein  Nebeneinander  alter  Registraturen.'^  Das  ist  in  gewissem 
Grade  ein  Gegensatz  zu  der  in  den  preufsischen  Staatsarchiven  zur  Geltung 
gelangten  Auffassung  des  Provenienzprinzips,  von  dem  Bai  Heu  auf  dem 
Düsseldorfer  Archivtage  (1902)  sagte:  „Nur  die  Ordnimg  nach  dem  Provenienz- 
system, die  Ordnung  nach  den  Registraturen,  nach  den  Behörden, 
wie  sie  im  Laufe  der  Geschichte  entstanden,  gewachsen  tmd  untergegangen 
sind,  entsprach  in  gleichem  Mafse  unserem  historischen  Denken  und  unseren 
archivalischen  Erfahrungen  *)."  Der  Widerspruch  findet  seine  Löstmg  in 
der  Verschiedenheit  der  Verhältnisse:  was  für  territoriale  Archive  gut 
und  zweckmäfsig  ist,  braucht  es  nicht  für  städtische  Archive  zu  sein,  und  der 
Stadtstaat  Basel  wird  sein  Archiv  deswegen  sehr  wohl  anders  behandeln  dürfen 
ab  der  Gesamtstaat  Preufsen  die  seinigen.  Wackemageb  in  Basel  angewandtes 
Prinzip  hat  auch  der  Unterzeichnete  bei  städtischen  Archiven  ab  durchaus 
zweckmäfsig  erkannt;  der  Behördenorganisation  kann  da  nicht  in  dem  Maise, 
wie  es  bei  Territorialstaaten  der  Fall  ist,  Rechnimg  getragen  werden. 

In  der  Einleitung  sind  noch  beschrieben  die  Hilfssammltmgen,  nämlich : 
Handbibliothek,  Drucksachensanmoltmg,  Siegebanmilung,  Stempelsanmilung, 
Wappensammltmg ,  Bildersanunlimg ,   Plattensanmüung  (photographische)  imd 


i)  VgL   Proiokotle  des  Dritten  Deutschen  Arehiciags  (Sondertbdruck   tos  dem 
Korrespondeozblatt  des  Gesamtvereins  1902),  S.  55. 


—     263     — 

Historisches  Grundbuch.  Femer  ist  das  neue  Archivgebäude  beschrieben; 
3  Pläne  und  8  Abbildungen  veranschaulichen  Äufseres  und  Einteilung. 

Der  Orientierung  über  den  Inhalt  des  Archivs  dienen  3  Hilfsmittel: 
I.  das  Repertorium,  das  hier  gedruckt  vorliegt  und  bis  auf  die  letzten 
Unterabteilungen  herabführt,  aber  keine  materiellen  Einzelheiten  enthält,  sondern 
nur  über  die  Organisation  des  Ganzen  belehrt,  2.  Regesten  und  3.  ein 
alphabetisches  Register  über  Namen  und  Materien;  dieses 
letztere  muis,  nachdem  die  neue  Organisation  durchgeführt  ist,  neu  bearbeitet 
werden.  Der  Gesamtbestand  an  Archivalien  gliedert  sich  in  das  Haupt- 
archiv (mit  124  Sektionen,  1244  Hauptabteilungen  und  9787  Unterabtei- 
lungen) d.  h.  das  eigentliche  Staatsarchiv,  und  85  Nebenarchive,  d.  h. 
selbständige  Archive,  die  nur  als  solche  dem  Staatsarchiv  einverleibt  sind, 
besonders  Archive  der  Klöster,  Stiftungen,  Gemeinden,  Zünfte,  Universi- 
tät usw. 

Das  im  Druck  vorliegende  Repertorinm  enthält  die  Überschriften  der 
letzten  Unterabteilungen  und  vor  allem  genaue  2^itangaben,  die  vielfach  bis 
in  neueste  Zeit  herabreichen;  ein  ausführliches  Register  (S.  607 — 832)  er- 
leichtert das  Aufsuchen  der  Materien.  Der  Inhalt  des  Archivs  und  mithin 
der  des  Repertoriums  ist  über  alle  Erwartung  reichhaltig,  und  deshalb  sollte 
das  Buch  in  der  Handbibliothek  gröfserer  Archive  nicht  fehlen.  An  be- 
lehrenden Einzelheiten  seien  folgende  zur  Charakteristik  herausgegriffen.  Es 
gab  in  Basel  tint  Fabrikkommission,  deren  Protokolle  1748 — 181 1  vorliegen 
(^*  34);  diejenigen  des  Sanitätskollegiums  beginnen  17 18  (S.  39).  Die 
Konzepte  der  abgegangenen  Briefe  des  Rats  (Misswen)  beginnen  1409  und 
füllen  bis  1500  21  Bände;  bis  1796  sind  es  254.  Die  Nürnberger  Brief- 
bücher beginnen  1404,  also  iscsX  gleichzeitig,  und  man  wird  deshalb  einen 
inneren  Zusammenhang  mit  der  Verwaltung  vermuten  dürfen,  die  eben  in 
gröfseren  Städten  seit  etwa  1400  ein  solches  Verfahren  notwendig  machte. 
Wichtig  werden  auch  die  Beziehungen  zu  fremden  Fürsten,  Grafen,  Städten 
und  Dörfern  für  manchen  Interessenten  sein,  die  S.  96 — 109  in  3  alpha- 
betischen Folgen  aufgeführt  sind:  die  Akten  über  Beziehimgen  zu  Anhalt 
beginnen  1638,  die  zu  Kur-Sachsen  1540,  die  zur  Türkei  1677;  bei  den 
Städten  in  gröfserer  Entfernung  ist  es  auffällig,  wie  spät  Schriftenwechsel 
auftritt,  z.  B.  mit  Köln  erst  1516,  mit  Frankfurt  a.  M.  1550,  mit  Leipzig 
171 1,  mit  Danzig  1770.  Reich  sind  die  Bestände  über  die  deutschen  Reichs- 
tage bzw.  Reichsabschiede  seit  1383  (S.  123).  Unter  den  Pfälzer  Akten  (S.  136) 
sind  z.  B.  auch  solche  über  den  Wildfangstreit  1666 — 1667.  Die  Rechnungen 
über  die  Straisenbeleuchtung  beginnen  1828  (S.  203),  die  Akten  über  die 
Wasserversorgung  1545  (S.  210),  die  über  Eisenbahnen  1838  (S.  235).  Die 
Stadtjahresrechnungen  beginnen  1362  (S.  277),  Wocheneinnahme-  und  Aus- 
gabebücher 137 1.  Verzeichnisse  der  im  Privatbesitz  befindlichen  Vorräte 
an  Frucht  sind  seit  1444  vorhanden  (S.  293).  Sehr  reichhaltig  sind  die 
Akten  über  das  Kontinentalsystem  (S.  313 — 315)  und  vertriebene  Glaubens- 
genossen, meist  aus  Frankreich  und  Piemont  1603 — 1729  (S.  358).  Die 
ältesten  Steuerlisten  entstammen  den  Jahren  1377,  1378,  1429,  1446  usw. 
(S.  414),  Verzeichmsse  der  Hausbesitzer  in  der  StHifeJitten  seit  1590  vor 
(S.  449),   die   erste  Einwohnerzählung  aber  fand  Die  Urteils- 

bücher des  Schultheifsengerichts  beginnen   1394 


—     264     — 

Dies  seien  einige  Proben  der  im  Repertorium  enthaltenen  Angaben. 
Wenn  dieses  den  Nutzen  stiften  soll,  den  es  stiften  kann,  dann  ist  nur  er- 
forderlich, dais  es  recht  fleifsig  und  zwar  allerorts  benutzt  wird,  und  das 
wollen  wir  ihm  wünschen.  A.  T. 

Eingegangene  Bficher. 

Adler,  Georg:  Über  die  Epochen  der  deutschen  Handwerkerpolitik.    Jena, 

Gustav  Fischer,   1903.     106  S.  8^ 
Baldauf,   R. :    Historie  und  Kritik,   einige  kritische  Bemerkungen.    I.  Der 

Mönch  von  St.  Gallen.     Leipzig,  Dyk,   1903.     168  S.  8^. 
Bieder,  H.:  Zur  Geschichte  des  Volksschulwesens  der  Provinz  Brandenburg, 

insbesondere  der  Stadt  Frankftirt  a.  O.  [=»  Mitteilungen  des  Historischen 

Vereins    fUr    Heimatkunde    zu    Frankfurt    a.     O. ,     22.    Heft     (1904), 

S.  3—18]. 

Bloch,  Iwan:  Das  erste  Auftreten  der  Syphilis  (Lustseuche)  in  der  euro- 
päischen Kulturwelt  Gewürdigt  in  seiner  weltgeschichdichen  Bedeutung, 
dargestellt  nach  Anfang,  Verlauf  und  voraussichtlichem  Ende.  Vortrag, 
gehalten  in  der  Staatswissenschaftlichen  Vereinigung  zu  Berlin  am  12. 
November  1903.     Jena,  Gustav  Fischer,  1904.     35  S.  8^.     M.  0,60. 

Bredt,  W. :  Das  Glockendonsche  Missale  der  Nürnberger  Stadd>ibIiothek 
ein  künstlerisches  Kopialwerk  [=>  Mitteilungen  des  Vereins  für  Geschichte 
der  Stadt  Nürnberg,  16.  Heft  (Nürnberg,  J.  L.  Schräg,  1904), 
S*   179 — 192]. 

Bruiningk,  Hermann  von:  Messe  und  kanonisches  Stundengebet  nach 
dem  Brauche  der  Rigaschen  Kirche  im  spSteren  Mittelalter.  Erstes 
Heft  [«=  Mitteilungen  aus  der  livländischen  Geschichte^  19.  Bd.  Riga, 
Nicolai  Kymmel,   1903].     292  S.  8^. 

Dändliker,  K.:  Schweizerische  Geschichte  [=»  Sammlung  Göschen  Nr.  i88j. 
Leipzig,  G.  J.  Göschen,  1904.     180  S.  8®. 

Erben,  Wilhehn:  Zur  Geschichte  des  österreichischen  Kriegswesens  iai 
XV.  Jahrhundert  [=»  Sonderabdruck  aus  den  Müteüungen  des  k.  tmd  k, 
Heeresmuseums  im  Artiüenearsenalin  Wien,  2.  Heft,  1903].    29  S.  8*. 

Fölckersahm,  A.  E.  von:  Über  livländische  Kirchenglocken  des  XV. 
Jahrhunderts  in  Rufsland  und  über  daselbst  bis  1700  lebende  deutsche 
Metallarbeiter  und  Künstler  [=  Sitzungsberichte  der  Gesellschaft  für 
Geschichte  und  Altertumskunde  der  Ostseeprovinzen  Rufslands  aus  dem 
Jahre    1903  (Riga  1904),  S.  59  —  64]. 

Lechner,  Johann:  Reichshofgericht  und  königliches  Kammergericht  im 
XV.  Jahrhundert  [ss  Mitteilungen  des  Instituts  ftir  österreichische  Ge- 
schichtsforschung. Vn.  Ergänzungsband.  (Iimsbruck,  Wagner,  1904), 
S.  44—186]. 

Siebert,  Hermann:  Altes  und  Neues  über  Burg  und  Dorf  Anhalt  [&=>  Mit- 
teilungen des  Vereins  ftir  Anhaltische  Geschichte  und  Alteitustfkunde, 
10.  Bd.  (Dessau,  Düanhaupt,  1904)»  S.  28 — 45]. 

Wichmann,  Friedrich:  Untersuchungen  z\ir  älteren  Geschichte  des  Bistums 
Verden  [==>  Sonderabzug  aus  der  Zeitschrift  des  Historbchen  Vereins 
ftir  Niedersachsen].     Hannover,  Gebr.  Jänecke,  1904.     139  S.  8^ 

-  !  ■  I 

Heratuceber  Dr.  Armin  Ulle  in  Leipsig. 
Druck  und  Verlaf  Ton  FViedrich  AndrMii  Perthtt,  Aktiengesellschaft,  Gotha. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


rar 


Förderang  der  landesgeschichtUchen  Forschung 

VI.  Band  JuU  1905  10.  Heft 

Die  lateinisehe  Iiiteratur  des  Mittelalters 

Von 
Max  Maniüus  (Radebeul  bei  Dresden) 

Wenn  ich  es  in  den  folgenden  Zeilen  unternehme  ,  einiges  über 
die  lateinische  Literatur  des  Mittelalters  zusammenzustellen,  so  tue 
ich  das  hauptsächlich  zu  näherer  Orientierung  über  den  Begriff"  dieser 
Literatur  für  die  weiteren  Kreise,  welche  an  dieser  Zeitschrift  Interesse 
nehmen. 

Unter  dem  Mittelalter  verstehen  wir  Abendländer  diejenige  Zeit, 
in  welcher  das  Christentum  von  Südeuropa  langsam  nach  dem  Norden 
und  Osten  unseres  Erdteils  vordrang  und  sich  die  germanische  wie 
slawische  Welt  unterjochte.  Im  Gefolge  der  christlichen  Kirche  aber 
hielt  den  gleichen  siegreichen  Einzug  die  lateinische  Sprache,  welche 
durch  die  Werke  der  Kirchenväter  und  durch  die  lateinische  Bibel- 
übersetzung untrennbar  mit  der  Kirche  verbunden  war.  An  den 
Grenzen  Rufslands  und  an  denen  der  griechischen  Welt  mufete  sie 
freilich  Halt  machen,  denn  die  Rezeption  des  Christentums  in  Rufisland 
hing  mit  griechischen  und  südslawischen  Elementen  zusammen,  und 
in  der  griechischen  Hälfte  des  römischen  Reiches  wich  seit  der  schärferen 
Trennung  des  Gesamtreiches  durch  Theodosius  den  Grofsen  der  Ge- 
brauch des  Latein  immer  mehr  zurück,  indem  die  griechische  Welt 
gegen  die  seit  Jahrhunderten  eingedrungene  Fremdsprache  heftig 
reagierte  und  sie  schliefslich  verdrängte. 

Aber  für  das  Abendland  wurde  infolge  des  internationalen 
Charakters  des  Christentums  das  Latein  zur  allgemeinen,  zur  Welt- 
sprache. FreUich  nicht  das  Latein,  welches  als  die  klassische  Schrift- 
sprache der  Römer  gilt,  denn  diese  ist  ohnehin  wohl  nie  wirklich  ge- 
sprochen worden.  Die  Kirche  hatte  sich  längst  ihre  eigene  Sprache 
gebildet.  Das  Christentum  als  solches  verlangte  ja  in  frühen  Zeiten 
nicht  nach  äufsercr  Eleganz,  sondern  ist  der  weltlichen  Verfeinerung 
eher  entgegengetreten,  und  daher  begnügte  sich  die  Kirche  mit  der 
kunstlosen  Sprache  des  Volkes,  die  vielfältig  gegen   die  Lehren   der 

20 


—     266     — 

Grammatik  verstiefs  und  von  der  glänzenden  Stilistik  klassischer 
Schriftsteller  nichts  kannte.  So  verraten  die  Werke  der  frühen  latei- 
nischen Kirchenväter  stets  deren  Heimat  durch  die  Färbung  der  Sprache, 
und  die  Bibelübersetzung  des  Hieronymus,  ein  sprachgewaltiges  Werk, 
läfst  in  ihrer  Hinneigung  zu  Provinzialismen  und  besonders  zum  dichte- 
rischen Ausdruck  recht  deutlich  das  volkstümUche  Wesen  des  Bibei- 
werkes  hervortreten.  Auf  dieser  Grundlage  wurde  weitergebaut,  und 
wenn  man  auch  in  der  Schule  Grammatik  und  Rhetorik  nach  allen 
Regeln  der  Kunst  erlernte,  so  hatte  man  doch  schon  im  V.  Jahrhundert 
im  allgemeinen  eine  so  feststehende  Sprache  und  Terminologie  in 
der  christUch-lateinischen  Welt,  dafs  nur  noch  ganz  vereinzelt  der 
Versuch  gemacht  wird,  sich  dem  klassischen  Ausdruck  zu  nähern. 
Nur  die  Dichtung  macht  hier  wohl  für  längere  Zeit  eine  Ausnahme, 
da  poetische  Sprache,  Metrik  und  Prosodie  ein  festeres  Gefüge  büdeten, 
das  nicht  so  leicht  umgestofsen  wurde. 

Aufserdem  kommt  hierzu  die  Überflutung  des  Reiches  durch  die 
germanischen  Völkerstämme.  Indem  sie  eine  Provinz  nach  der  anderen 
und  schliefslich  Italien  selbst  besetzten  und  eroberten,  hinterliefsen  sie 
der  römischen  Sprache  für  immer  eine  Menge  Barbarismen  in  Wortschatz 
und  Grammatik  und  beschleunigten  dadurch  den  Auflösungsprozeß,  der 
das  Latein  aber  auch  ohne  ihr  Dazwischentreten  betroffen  hätte.  Mit  der 
Begründung  des  germanischen  Volksstaats  auf  ehemals  römischem  Boden 
aber  sinkt  der  allgemeine  Bildungsgrad  und  mit  ihm  die  sprachliche  Schu- 
lung auf  ein  recht  tiefes  Niveau  herab.  So  versichert  Gregor  von  Tours, 
der  aus  sehr  vornehmer  römischer  Familie  stammte,  dais  die  gespreizte 
Sprache  eines  Rhetors  nur  noch  von  wenigen  verstanden  werde,  da- 
gegen die  Rede  eines  Landmanns  allen  verständlich  sei.  Und  trotzdem 
Gregor  der  höheren  Bildung  seiner  Zeit  teilhaftig  geworden  ist,  so 
gesteht  er  doch  selbst,  dafs  er  in  der  Grammatik  wenig  bewandert 
sei.  In  seiner  Sprache  zeigt  er  recht  deutlich,  da(s  man  in  Gallien 
zu  jener  Zeit  ungefähr  in  derselben  Weise  schrieb,  wie  man  sprach, 
d.  h.  ohne  das  Gefühl  für  die  Bedeutung  der  Flexionsendungen,  nament- 
lich in  der  Deklination.  Mit  Gregor  von  Tours  sind  wir  aber  schon 
ins  eigentliche  Mittelalter  getreten,  auf  dessen  Literatur  wir  nun  einen 
Blick  zu  werfen  haben.  Es  sei  jedoch  noch  vorausgeschickt,  dafe 
eine  solche  sprachliche  Barbarei,  wie  sie  im  merowingfischen  Zeitalter 
überhandnahm,  in  den  späteren  Zeiten  des  Mittelalters  nur  provinziell 
und  sporadisch  auftritt.  Nachdem  nämlich  Karl  der  Grofse  die  Hebung- 
der  allgemeinen  Bildung  durch  eine  grofse  Reihe  von  Gesetzen  und 
Verordnungen  tatsächlich  erreicht  hatte,  ist   die  grofse  geistige  An- 


—     267     — 

regung,  die  von  ihm  ausgegangen  war,  doch  nie  wieder  ganz  in  Ver- 
gessenheit geraten,  sondern  seit  der  karolingischen  Zeit  hebt  sich  der 
Stand  der  Schulen  merklich.  Er  sinkt  freilich  wieder  zurück,  aber  noch 
hatte  die  Kirche  im  X.  und  XL  Jahrhundert  die  Kraft,  die  Wissen- 
schaften von  neuem  zu  pflegen  und  zu  einer  gewissen  Blüte  zu  bringen. 
Damit  aber  war  die  lebendige  Tradition  besserer  grammatischer 
Schulung  gerettet,  und  die  ältere  lateinische  Kirchensprache  erhielt 
sich  in  steter  Anlehnung  an  die  Bibel  und  an  die  Werke  der  Kirchen- 
väter, bis  im  XIV.  Jahrhundert  der  Beginn  des  italienischen  Humanismus 
das  Studium  des  klassischen  Altertums  von  neuem  erweckte.  Seitdem 
war  es  das  Bestreben  der  gebildeten  ICreise,  das  Latein  in  möglichst 
reiner,  dem  antiken  Stil  sich  nähernder  Form  zu  gebrauchen.  Dies 
Bestreben  hielt  während  der  ganzen  Reformationszeit  an,  und  noch 
im  XVII.  Jahrhundert  zeigen  die  Artikel  des  Westfälischen  Friedens  das 
Latein  als  abendländische  Weltsprache  lebendig. 

Diese  einleitenden  Bemerkungen  mögen  hinsichtlich  der  Sprache 
genügen,  in  welcher  die  nun  aufzuführende  Literatur  abgefafst  ist. 
Wir  beginnen  mit  der  Theologie,  denn  sie  umfaCst  in  den  früheren 
Zeiten  das  literarische  Schaffen  überhaupt.  Zur  Belehrung  der  Geist- 
lichkeit hatten  die  Kirchenväter  ihre  zum  Teil  ungemein  weitschichtigen 
Kommentare  zu  den  biblischen  Büchern  geschrieben,  um  deren  Ver- 
ständnis zu  erleichtern.  Die  SchafTensfreudigkeit ,  welche  den  Klerus 
zur  Zeit  Karls  des  Grofsen  beseelte,  veranlafste  einzelne  Gelehrte, 
aus  diesen  Kommentaren  synoptische  Auszüge  herzustellen  und  die 
gepriesenen  Werke  der  Vorzeit  ineinander  zu  arbeiten.  Jahrhunderte- 
lang haben  sich  diese  Bestrebungen  erhalten  und  nach  und  nach  eine 
ungeheure  exegetische  Literatur  hervorgebracht,  deren  innerer  Wert 
oft  keineswegs  dem  äufseren  Umfange  entspricht. 

Mit  noch  gröfserer  Verehrung  hing  das  frühere  Mittelalter  an  den 

dogmatischen  Werken  der  Kirchenväter,   sie  waren  durch  ihr  hohes 

Alter  und  durch  die  in  ihnen  offenbarte  Gelehrsamkeit  und  christliche 

Gesinnung   geheiligt.      Manches    davon   stand    allerdings    in    weniger 

grofsem  Ansehen,   aber  diese  ganze  gewaltige  Literatur  wurde   doch 

später  in  einer  Unzahl  von  Auszügen,    Kommentaren  und  Zusätzen 

sowie  in  Neubearbeitungen  lebendig  erhalten.     Freilich  tauchten,   wie 

einst  im  christlichen  Altertum,    auch  später   nicht  wenig  Sekten  und 

Häresien  auf,   und  da  war  es  nun  die  Aufgabe   der  zeitgenössischen 

gelehrten  Theologen,  die  Irrlehren  und  Neuerungen  zu  prüfen,  Gutachten 

darüber  zu  verfassen  und  sie  in  Streitschriften  anzugreifen.  Dadui'^liiMiirit- 

sächlich  hat  die  dogmatische  Literatur  stets  neue  Nahrung  er! 

5>r 


—     268     — 

dieser  Zweig  der  mittelalterlichen  Dogmatik  ist  es,  der  uns  besonders  tiefe 
Einblicke  in  das  religiöse  wie  theologische  Leben   der  Zeit  gestattet. 

An  Umfang  noch  gewaltiger,  als  die  eben  besprochenen  Zweige 
der  christlichen  Literatur,  ist  die  Masse  der  Predigtsammlungen  aus 
dem  Mittelalter.  Auch  hier  knüpfte  man  an  die  Werke  der  Patristik 
an,  indem  man  die  alten  Homilien  und  Sermonen  mehr  oder  weniger 
zeitgemäfs  umgestaltete,  neue  Beweisstellen  aus  der  Bibel  brachte, 
wirklich  gehaltene  Predigten  und  Ansprachen  aufschrieb  und  schliefe- 
lieh  ganze  grofse  Sammlungen  anlegte.  Hauptsächlich  bedeutend  sind 
diejenigen  Predigten,  welche  geist-  und  sprachgewandten  Klerikern 
beim  Eintreten  grofeer  Ereignisse,  wie  von  Kriegen  und  Kreuz- 
zügen, oder  zu  Zeiten  bedeutender  Unglücksfalle  gehalten  >Ä'urden. 
Predigtsammlungen  wie  diejenigen  des  Paulus  Diaconus,  des  Bernhard 
V.  Clairvaux,  des  Anselm  v.  Canterbury,  des  David  von  Augsburg 
und  des  Nikolaus  von  Lira  erfreuten  sich  der  gröfsten  Beliebtheit. 
Sehr  vieles  freilich  aus  dieser  allmählich  bis  ins  ungemessene  an- 
schwellenden Literatur  ist  noch  ungedruckt.  —  Gleich  hier  sei  wegen 
des  persönlichen  Elementes  der  Brief  angeschlossen.  Seit  den  Zeiten 
Ciceros  wurden  Briefsammlungen  bedeutender  Männer  dem  Mittelalter 
überliefert.  Die  Briefe  der  Kirchenväter  sind  nicht  nur  wegen  ihrer 
Form,  sondern  auch  wegen  des  mannigfachen,  wichtigen  Inhalts  dem 
folgenden  Jahrtausend  ununterbrochen  ein  Beispiel  und  Muster  gewesen. 
Natürlich  legte  man  auch  selbst  Sammlungen  an,  und  diese  dienen 
der  Erhellung  der  Zeitgeschichte  manchmal  in  sehr  hohem  üradc, 
wenn  auch  viele  Stücke  einen  ganz  unpersönlichen  Inhalt  haben,  in- 
dem sie  sich  mit  allerhand  theologischen  Fragen  beschäftigen.  Der 
mittelalterliche  Brief  steht  daher  oft  in  der  Mitte  zwischen  theologischer 
und  historischer  Literatur,  aber  auch  ein  anscheinend  recht  unwichtiges 
Dokument  ist  oft  imstande,  wichtige  Aufschlüsse  zu  gewähren. 

Einen  weiteren  Zweig  der  theologischen  Literatur  bilden  die 
Heiligenleben.  Sie  sind  die  früheste  mittelalterliche  Form  des  Romans 
und  nehmen  hauptsächlich  von  dem  Leben  des  hl.  Martin,  beschrieben 
von  Sulpicius  Severus,  ihren  Ausgang.  Die  Wundersucht  früherer 
2^iten  fand  hierin  ausgiebige  Befriedigung,  und  der  Hang  zum  Aber- 
glauben, dem  die  Römer  so  stark  ergeben  waren,  ist  eine  wesentliche 
Ursache  für  die  Entstehung  dieser  ganzen  Ltteraturgattung  gewesen, 
die  schon  in  der  Merowingerzeit  üppig  ins  Kraut  schoüs.  Es  sind  zwar 
früh  genug  Stimmen  gegen  die  Heiligenverehrung  laut  geworden, 
aber  sie  wurden  stets  wieder  mundtot  gemacht.  Der  Mangel  an  Kritik, 
der  das  frühere  Mittelalter  auszeichnete,  die  geistige  Mundschaft,  welche 


—     269     — 

die  Kirche  über  die  Massen  ausübte,  eine  gewisse  Ähnlichkeit  der 
alten  heidnischen  Vorstellungen  mit  dem  Heiligenkult,  —  das  sind 
wichtige  Ursachen  für  das  Überhandnehmen  des  letzteren.  Und  damit 
wuchs  die  Heiligenbiographie  zu  einem  höchst  bedeutenden  Literatur- 
zweig empor,  denn  ein  jedes  Kloster  wollte  das  Leben  seines  Stamm- 
heiligen in  möglichst  lesbarer  Form  und  mit  vielen  Wundem  aus- 
geschmückt besitzen.  So  wurde  der  grofse  Vorrat  an  Heiligenleben, 
den  die  Vorzeit  geschaffen  hatte,  im  IX.  Jahrhundert  meist  stilistisch 
überarbeitet    und    konnte    dann    verschiedenen    kirchlichen    Zwecken 

* 

dienen.  Mit  der  Ausbreitung  der  Kirche  über  das  ganze  Abendland 
mehrte  sich  natürlich  die  Zahl  der  heUig  gesprochenen  Geistlichen 
und  Laien,  von  welchen  Lebensbeschreibungen  notwendig  wurden, 
und  die  ungeheure  Zahl  von  Heiligenbiographien,  die  in  den  Ada 
Sandorum  der  Bollandisten  abgedruckt  sind  und  werden,  beweist,  ein 
wie  beliebtes  Gebiet  der  schriftlichen  Darstellung  der  Heiligenroman 
gewesen  ist. 

Die  vielfach  zur  Dichtung  neigenden  und  auch  in  Dichtform  dar- 
gestellten Heiligenleben  fuhren  uns  ins  Gebiet  der  lateinischen  Poesie 
des  Mittelalters.  Sie  gehört  allerdings  nur  zum  Teil  zur  Theologie, 
da  das  Lehrgedicht  sich  nach  romischem  Vorgang  fast  aller  Wissen- 
schaften bemächtigt  hat  und  das  Epos  teils  im  Reiche  der  eigentlichen 
Dichtung  schwelgt,  teils  auch  historische  Stoffe  behandelt  Wie  auf 
anderen  Gebieten  hat  sich  das  Mittelalter  noch  lange  an  den  christ- 
lichen Epen  aus  der  Zeit  der  Kirchenväter  begeistert  und  daher  fürs 
erste  in  der  poetischen  Paraphrase  von  biblischen  Büchern  wenig  Neues 
geschaffen.  Dafür  wurde  seit  dem  Ende  des  XII.  Jahrhunderts  der  Inhalt 
der  ganzen  Bibel  mehrfach  in  Verse  umgesetzt,  welche  mehr  oder  minder 
kräftig  gereimt  sind.  Dagegen  war  die  Dichtung  über  dogmatische 
Stoffe  nach  dem  Vorgang  des  Prudentius  lange  Zeit  beliebt,  und  der 
versifizierte  Heiligenroman  wird  in  unserer  ganzen  Periode  zuweilen 
in  gröfetem  Umfange  gepflegt.  Auf  antiker  Grundlage  beruhte  der 
äulserst  beliebte  Brief  in  Versen,  und  diese  Gattung  der  lateinischen 
Poesie  enthält  nicht  wenig  anmutige  Denkmäler,  wie  auch  das  Ge- 
legenheitsgedicht zuweilen  recht  hübsche  Stücke  aufweist.  Dem  frühen 
Mittelalter  ganz  fremd  ist  die  Satire;  sie  wird  später  durch  die  Ent- 
artung der  Kirche  und  der  Geistlichkeit  hervorgerufen  und  durch  die 
römische  Satire  stark  beeinflufst.  Hauptsächlich  bedeutend  entwickelt 
sie  sich  in  England  und  im  englischen  Frankreich  und  fliefst  hier  oft 
mit  der  allegorisch-philosophischen  Dichtung  zusammen.  Um  ^»A«»Älir 
gewinnt  sie  an  Boden,  je   mehr   die  Geistlichkeit  verw-^ 


—     270     — 

sie  verbindet  sich  eng  mit  einem  der  germanischen  Welt  eigentümlichen 
Produkte,  der  Tiersage.  Wie  sie  von  der  Geistlichkeit  ausgeht,  so 
heftet  sie  sich  an  deren  litterarische  Werke,  indem  sie  die  Auswüchse 
der  Zeit  ironisierend  verspottet.  Bezeichnend  sind  in  dieser  Beziehung 
satirische  Nachbildungen  von  Evangelienstellen  oder  das  Leben  des 
heiligsten  und  ruhmwürdigsten  Niemand.  —  Ungemein  reich,  wenn 
auch  vielfach  nach  festem,  typischem  Schema  gearbeitet,  ist  die 
lateinische  Lyrik  des  Mittelalters.  Sie  trägt,  wenn  man  von  den 
Schüler-  und  Vagantenliedern  absieht,  einen  ausgesprochen  religiösen 
oder  kirchlichen*  Charakter  und  läfet  daher  die  eigentliche  Volks- 
tümlichkeit vermissen.  Eine  grofse  Zahl  der  lyrischen  Dichtungen 
zeigt  namentlich  in  Verbindung  mit  der  Musik  einen  feierlich  ernsten 
oder  auch  religiös  innigen  Ton,  bei  anderen  wieder  überwiegt  das 
rhetorische  Element,  das  sich  ja  schon  in  frühen  Zeiten  bei  der  römischen 
Poesie  geltend  macht.  Ihre  Formen  leiht  diese  religiöse  Lyrik  haupt- 
sächlich von  der  römischen  Volkspoesie,  auf  welche  schon  der  Be- 
gründer der  Hymnik,  Ambrosius,  zurückgegangen  ist.  Die  Bedeutimg 
dieses  Mannes  für  die  ganze  spätere  Zeit  brachte  es  mit  sich,  dais 
nicht  wenige  der  entstandenen  Gedichte  ambrosianische  Hymnen  ge- 
nannt werden.  Eine  eigenartige,  durch  musikalische  Gesetze  bedingte 
Form  der  Lyrik  in  künstlichen,  verschlungenen  Mausen  ist  die  Sequenz. 
Im  Ausdruck  lehnt  sich  die  Lyrik  oft  an  die  Psalmen  und  verwandte 
Stoffe  an,  sie  besingt  meist  die  christlichen  Feste,  die  Tage  der 
Märtyrer  und  Heiligen,  besonders  geweihte  Stunden  des  Tages,  Teile 
des  Credo  und  andere  Stoffe,  die  dem  christlichen  Vorstellungskreisc 
entnommen  sind.  Zuweilen  nähert  sich  der  Hymnus  der  Epik,  so 
dafs  die  christliche  Ballade  erscheint,  die,  wie  vieles  andere,  schon 
auf  Prudentius  zurückgeht. 

An  zweiter  Stelle  sei  ein  kurzer  Überblick  über  die  Philosophie 
gegeben.  Fast  zu  derselben  Zeit,  als  Justinian  die  Philosophenschule 
in  Athen  schliefsen  liefe,  starb  derjenige  Römer,  der  wie  kein  anderer 
durch  seine  Übersetzungen  und  Kommentare  die  logischen  Schriften 
des  Aristoteles  und  des  Porphyrius  der  späteren  2^it  übermittelte. 
Nämlich  ohne  die  Schriften  des  Boethius  hätte  das  frühe  Mittelalter 
von  der  griechischen  Philosophie  nur  wenig  überkommen.  Denn  in 
Cicero  verehrte  man  mehr  den  glänzenden  Stilisten  und  groüsen  Redner 
als  den  Philosophen,  wie  auch  seine  phUosophischen  Werke  in  den 
Bibliothekskatalogen  des  IX.  Jahrhunderts  nur  ganz  vereinzelt  auftreten. 
Was  man  von  Plato  wufste,  ging  in  der  Hauptsache  auf  die  Über- 
setzung  und   Erklärung   des   Timäus    durch   Chalcidius    und    auf  die 


—     271     — 

nicht  eben  sehr  verbreiteten  Schriftei^  des  Apulejus  zurück.  Boethius 
aber,  der  schon  am  Anfange  des  von  uns  zu  betrachtenden  Zeitraumes 
steht,  hatte  das  ganze  aristotelische  Organon  übersetzt  oder  kommentiert, 
und  er  ist  der  eigentliche  Vermittler  der  alten  Philosophie  an  die 
späteren  Jahrhunderte.  Hiergegen  wollte  auch  die  unmittelbare  Kenntnis 
der  griechischen  Sprache,  die  sich  bei  den  Iren  erhielt  und  von  diesen 
auf  die  Angelsachsen  übertragen  wurde,  nicht  viel  bedeuten;  auch  in 
Italien,  namentlich  im  Süden  war  das  Griechisch  nicht  ganz  erstorben, 
war  doch  der  Exarch  zu  Ravenna  der  Statthalter  des  oströmischen 
Kaisers  und  der  römische  Papst  des  letzteren  Untertan.  Griechisch 
trieb  man  am  Langobardenhofe  zu  Pavia  wie  später  am  Hofe  Karls 
des  Grofsen,  und  die  Heirat  Ottos  II.  mit  Theophano  verpflanzte 
sogar  die  Kenntnis  der  fremden  Sprache  nach  Sachsen.  Auch  in  den 
g^ofeen  Klöstern  wie  St.  Gallen  konnte  man  im  IX.  Jahrhundert  noch 
etwas  Griechisch  lernen.  Aber  solche  vereinzelte  Spuren  lassen  keines- 
wegs auf  einen  weiteren  Umkreis  der  Kenntnisse  im  Griechischen 
schliefsen,  zur  Beschäftigung  mit  den  grofeen  Philosophen  reichten 
sie  ohnehin  nicht  aus,  und  lange  Zeit  war  das  Mittelalter  in  dieser 
Beziehung  an  Boethius  gebunden.  Erst  nachdem  unter  den  salischen 
Kaisem  Süditalien  teilweise  dem  deutschen  Reiche  angegliedert  worden 
war  und  die  Hohenstaufen  den  ganzen  Süden  der  Halbinsel  mit  Sizilien 
erobert  hatten,  wurde  das  Verhältnis  anders.  Zunächst  allerdings 
traten  die  Araber  als  Vermittler  auf,  welche  längst  die  Werke  des 
Aristoteles  in  ihre  Sprache  übersetzt  hatten.  Durch  sie  hauptsächlich 
wurde  die  Christenheit  mit  dem  groisen  Griechen  bekannt.  Das  trat 
aber  noch  auf  einer  anderen  Linie  ein,  indem  die  Franzosen  vom 
benachbarten  Spanien  aus  die  Kenntnis  griechischer  Werke  erhielten. 
Und  nachdem  die  ältere,  mehr  grammatisch-philologische  Hochschule 
von  Orleans  durch  Paris  seit  dem  Beginn  des  XII.  Jahrhunderts  über- 
flügelt war,  stellte  sich  die  Sorbonne  an  die  Spitze  des  geistigen 
Lebens  im  ganzen  Abendlande.  Paris  wurde  die  theologische  und 
philosophische  Hochschule  von  Europa,  von  hier  gingen  die  grofeen 
Lehrer  und  Leuchten  der  Wissenschaft  aus,  die  meist  französischer 
oder  englischer  Abstammung  waren.  Seit  den  Zeiten  des  Johannes  Scotus, 
der  tmter  der  Regierung  Karls  des  Kahlen  lebte  und  ein  erst  nach  fast 
vier  Jahrhunderten  von  Rom  als  ketzerisch  verdammtes  philosophisches 
Werk  IleQi  g^uog  fiBQiafiod  schrieb  und  das  Werk  De  caeUsti  hierarchia 
des  Dionysius  Areopagita  aus  dem  Griechischen  übersetzt  hatte,  war 
für  die  Entwickelung  der  eigentlichen  Phflosophie  nicht  viel  geschehen, 
denn  in  den  Schulen  kam  man  über  die  Lektüre  der  Ccdegoriae  und  der 


—     272     — 

• 
Schrift  De  interpreUäione  des  Aristoteles  nach  der  Übersetzung  des  Boethhis 
nicht  hinaus,  nur  dafs  daneben  auch  die  Isagoge  des  Porphyrios  zu 
den  Kategorien  ebenfalls  in  des  Boethius  Übertragung  gelesen  wurden. 
Es  fehlen  daher  wirklich  philosophische  Werke,  höchstens  da(s  zu 
den  alten  Kommentaren  neue  schulmäfsige  Erklärungen  geschrieben 
wurden.  Und  auch  als  man  angefangen  hatte,  Philosophie  zu  studieren, 
hielt  man  sich  doch  in  mäfsigen  Grenzen,  denn  es  waren  zunächst 
nur  die  logischen  Schriften  des  Aristoteles,  die  in  neuen  Übersetzungen 
der  lateinischen  Welt  bekannt  wurden.  Auch  ein  neuer  Kommentar 
zu  Piatons  Timaeus  wurde  herausgegeben,  aber  es  ist  doch  bezeichnend 
für  die  Zeit,  dafs  Wilhelm  von  Conches  sein  umfassendes  Werk  über 
Philosophie  nach  dem  orthodoxen  Standpunkt  umarbeitete  und  in  der 
Neubearbeitung  von  sich  sagte :  Ich  bin  ein  Christ  und  kein  Anhänger 
der  Akademie.  Zu  einer  vorurteilsfreien  Würdigung  der  Metaphysik 
der  Griechen  war  die  2^it  noch  nicht  reif,  indem  die  Philosophie  in 
engem  Zusammenhang  mit  der  Theologie  stand  und  dieser  imtergeordnct 
wurde.  Erst  die  bedeutende  Tätigkeit  des  Thomas  von  Aquino  und 
Alberts  des  Grofsen,  die  durch  ihre  Übersetzungen  und  Erklärungen 
aristotelischer  Werke  Aufeerordentliches  geleistet  haben,  liefs  eine  ein- 
gehendere Beschäftigung  mit  philosophischen  Dingen  zu;  sie  kam 
aber  doch  im  grofsen  und  ganzen  mehr  der  Theologie  zustatten. 
Nur  in  England  konnte  ein  freierer  Geist  gedeihen,  wie  die  Werke 
des  Roger  Baco  beweisen,  und  hier  wurde  durch  die  Verbindung  von 
Philosophie  und  Theologie  durch  Wilhelm  von  Occam  und  John  Wiclef 
nicht  nur  der  Sturz  der  Scholastik,  sondern  auch  des  herrschenden 
Kirchensystems  vorbereitet. 

In  den  mathematischen  Wissenschaften  hatten  die  Römer 
kaum  ein  selbständiges  Werk  hervorgebracht;  sie  kamen  einerseits 
über  das  gewöhnhche  Rechnen  nicht  hinaus  und  andrerseits  diente 
ihnen  die  Astronomie  lediglich  zur  Astrologie.  Höchstens  entwickelten 
sie  cinigermafsen  die  Feldmefskunst ,  die  sie  für  die  häufigen  Acker* 
Verteilungen  und  Bodenanweisungen  nötig  brauchten.  Auch  hier  waren 
die  Griechen  überall  die  Gebenden,  die  Römer  die  Nehmenden.  Von 
bedingendem  Einfiufs  für  das  Mittelalter  sind  einige  grofse  Kompilationen 
von  Feldmesserwerken,  verbunden  mit  geometrischen  und  arithmetischen 
Traktaten,  sowie  die  mathematischen  Werke  des  Boethius  geworden. 
Die  christliche  Welt  brauchte  aber  aufserdem  wegen  der  Bestimmung 
der  Feste  genaue  Ostertafeln,  und  an  der  Hand  des  römischen  Kalenders 
und  orientalischer  Berechnungen  entwickelte  sich  die  mittelalterliche 
Chronologie.     Von  derf  mathematisch  geschulten  Iren  hat  Beda  seine 


—     273     — 

Gelehrsamheit  entnommen,  der  durch  seine  kurzen  Lehrbücher  einen 
sehr  groisen  Einflufs  bezüglich  astronomischer  und  mathematischer 
Kenntnisse  auf  das  Mittelalter  gewann.  Gröfeere  Selbständigkeit  er- 
hielten die  mathematischen  Studien  erst  im  IX.  und  X.  Jahrhundert, 
aus  welcher  Zeit  zwei  gröfeere  Lehrbücher  der  Geometrie  stammen, 
die  auf  den  alten  Feldmesserhandschriften  beruhen.  Gerbert,  der 
grofse  Gelehrte,  hat  dann  eine  weitere  Geometrie  geschrieben  und  für 
die  Rechenkunst,  welche  damals  noch  keine  Verbindung  mit  der 
arabischen  besafs,  Regeln  zum  Rechentisch,  dem  damals  allgemein 
gebrauchten  Abakus,  aufgestellt.  Dagegen  stammt  die  sogenannte 
Geometrie  des  Boethius  erst  aus  dem  XI.  Jahrhundert.  Später  wurde 
der  Euklid  aus  dem  Arabischen  ins  Lateinische  übertragen  und  damit 
eine  festere  Grundlage  für  das  Studium  der  Geometrie  gewonnen,  als  man 
sie  bisher  gehabt  hatte.  Und  nun  wurde  die  lateinische  Welt  mit  der 
äufeerst  intensiv  betriebenen  Tätigkeit  der  Araber  auf  mathematischem 
und  astronomischem  Gebiet  bekannt,  indem  die  Übersetzungen  der 
Werke  eines  Archimedes,  Ptolemäus  und  Heron  aus  dem  Arabischen 
ins  Latein  übertragen  wurden  und  sich  dadurch  langsam  das  Verständnis 
für  die  griechische  Wissenschaft  anbahnte.  Während  aber  die  ge- 
lehrten Mathematiker  und  Astronomen  wie  Johannes  Hispalensis, 
Jordanus  Neraorarius  und  Wilhelm  von  Moerbek,  der  grofse  Aristoteles- 
iibersetzer,  in  die  Wissenschaft  selbst  eindrangen  und  dadurch  die 
Werke  eines  Hermannus  Contractus  und  Radulius  Laudunensis  schnell 
überholt  wurden,  bemühte  man  sich  fortdauernd,  eine  praktisch  taug- 
liche Rechenmethode  zu  finden,  da  der  gewaltige  Aufechwung  des 
Handels  seit  den  Kreuzzügen  dieses  Bedürfnis  als  immer  dringender 
hinstellte.  Die  Lösung  dieses  wichtigen  Problems  erfolgte  aber  erst 
am  Ende  des  eigentlichen  Mittelalters. 

Ganz  besonderen  Schwierigkeiten  war  die  Entwickelung  der 
Naturwissenschaften  und  der  Medizin  ausgesetzt.  Die  Römer 
hatten  keinen  Sinn  für  beide  Disziplinen  gehabt,  und  ihr  angeborner 
Aberglaube  überwucherte  alles  das,  was  sie  aus  den  Übersetzungen 
griechischer  Werke  lernen  konnten.  Der  einzige  medizinische  Schrift- 
steller Roms,  der  mit  verständiger  Klarheit  die  Griechen  benutzt  hat, 
Cornelius  Celsus,  blieb  aber  im  Mittelalter  so  gut  wie  unbekannt; 
nur  von  Gerbert  wird  er  einmal  beiläufig  erwähnt,  Vinzenz  von  Beauvais, 
der  grofee  Polyhistor,  scheint  ihn  nicht  zu  kennen.  Wohl  waren  vom 
VI. — VIII.  Jahrhundert  manche  wichtigen  Werke  griechbcher  Ärzte  ins 
Lateinische  übersetzt  worden,  und  Schriften  von  Galen  und  Hippokrates 
fanden  sich  daher  in  den  gröfeeren  Bibliotheken  des  IX.  Jahrhunderts, 


—     274     — 

aber  von  dem  emsigen  Betrieb  der  Medizin  durch  die  Araber,  der 
sich  nach  Unteritalien  und  sogar  nach  Montpellier  verbreitete,  ist  in 
den  nördlichen  Gebieten  nichts  bekannt.  Die  Kräuterbücber  des 
Pseudo-Apulejus  und  des  Dioskorides  sowie  das  Gedicht  des  Q.  Serenns 
und  die  sogenannten  Dynamidia  des  Hippokrates  bildeten  fast  die 
einzigen  verbreiteten  Bücherschätze  der  Arzneikunde  im  früheren 
Mittelalter.  Wohl  besafs  man  in  der  karolingischen  Zeit  noch  etwas 
mehr,  und  das  hübsche  Gedicht  Walahfnds  über  den  Gartenbau  lafst 
erkennen,  wie  man  im  Kloster  die  Freude  an  der  Schönheit  der  Blnmea 
mit  der  nützlichen  Anwendung  der  Gewächse  zu  Heilzwecken  zu  ver- 
binden wufste,  was  ja  auch  Karls  des  GroOsen  Capüulare  de  vUHs 
bezeugt.  Aber  vom  eigentlichen  Betrieb  der  Wissenschaft  hört  man 
im  lateinischen  Abendland  auiser  zu  Salemo  und  zu  Montpellier  nur 
ganz  Vereinzeltes,  wie  gelegentlich  in  den  Satiren  des  Amarcius.  Die 
mystisch-allegorische  Betrachtungsweise  der  Natur  überwog  eben  ganz 
zu  einer  Zeit,  da  man  auch  aus  den  Worten  der  Bibel  neben  dem 
eigentlichen  Sinn  mindestens  noch  einen  Nebensinn  herausholen 
wollte,  und  dazu  gaben  hauptsächliche  Anregung  die  Etymologieo 
Isidors  und  noch  mehr  der  hierin  benutzte  Physiologus,  eine  Schrift, 
die  dem  Orient  entstammt  und  allerhand  Besonderheiten  der  Tierwelt 
mit  wundersamer  Phantastik  menschlich  oder  christlich  umdeutet 
Natürlich  wurde  auch  die  Medizin  von  dem  Mystizismus  stark  berührt 
und  was  hierin  im  XII.  Jahrhundert  an  Seltsamkeiten  geleistet  werden 
konnte,  davon  geben  die  Physik  der  heiligen  Hildegard  von  Bingen 
und  deren  Causae  et  curcte  ein  recht  deutliches  Bild.  Von  ganz 
ähnlicher  Richtung  ist  das  berühmte  allegorisch-mystische  Gedicht 
des  Marbod  über  die  Edelsteine,  wozu  in  letzter  Linie  eine  Stelle  der 
Apokalypse  die  Veranlassung  gab.  Und  so  sind  auch  gröfsere  zu- 
sammenfassende Werke  über  die  Natur  und  die  natürlichen  Dinge 
gehalten.  Hingegen  beruht  das  poetische  Werk  des  Odo  Magdunensis  — 
der  mittelalterliche  Macer  —  und  das  weitschweifige  Gedicht  De  antidcÜs 
des  Agidius  zum  Teil  auf  den  alten  Kräuterbüchem  und  auf  der 
Tradition  der  üblichen  Hausmittel.  Ein  Wandel  konnte  erst  geschaffen 
werden,  nachdem  die  zahlreichen  Übersetzungen  des  Konstantin  von  Monte 
Cassino  aus  dem  Arabischen,  Griechischen  und  Hebräischen  sich 
langsam  verbreiteten;  weitere  Übersetzungen  aus  dem  Arabischen 
folgten,  und  die  Ärzte  zu  Salemo  besonders  haben  durch  zahlreiche 
Schriften,  die  auf  der  alten  Medizin  fufsten,  nicht  wenig  zur  Verbreitung 
ihrer  Wissenschaft  beigetragen.  Hierzu  kamen  dann  die  Übersetzungen 
aristotelischer  Werke,  welche   den  Naturwissenschaften  staricen  Vor- 


—     275     — 

Schub  leisteten,  und  es  konnte  im  XIII.  Jahrhundert  ein  so  vielseitiger 
und  begabter  Mann  wie  Albert  der  Grofee  mit  seinen  Werken  eine 
neue  Periode  der  Wissenschaft  inaugurieren.  Und  doch  pflanzten  sich 
die  neuen  gro&en  Errungenschaften  nur  langsam  fort,  weil  die  Kirche 
vielfach  hemmend  eingriff  und  es  im  Norden  so  sehr  an  Hochschulen 
fehlte.  Der  regere  Geist,  der  die  Wissenschaften  im  XII.  und  XIII.  Jahr- 
hundert ergriffen  hatte»  erlahmte  häufig  wieder  unter  dem  Druck  der 
•  äufeeren  Verhältnisse ,  wozu  die  Bettelorden  nicht  wenig  beigetragen 
haben.  So  kann  man  von  wesentlichen  Fortschritten  erst  wieder  am 
Ende  unserer  Periode  sprechen,  nachdem  eine  Mehrzahl  von  Universitäten 
begründet  worden  war. 

Kürzer  können  wir  uns  über  die  Jurisprudenz  fassen,  da  ihre 
Werke  weniger  zur  eigentlichen  Literatur  gehören.  Die  Entwickelung 
des  Rechts  gehörte  zur  wirklichen  Domäne  Roms,  und  die  Geschichte 
der  Rechtswissenschaft  lehrt,  wie  die  alten  Volksrechte  nach  und  nach 
vom  römischen  Rechte  aufgesogen  worden  sind.  Bei  dem  Fortbestand 
des  römischen  Kaisertums  ist  das  ohnehin  selbstverständlich,  denn 
unsere  alten  Könige  zogen  ja  als  Kaiser  über  die  Alpen,  in  der  einen 
Hand  das  Schwert,  in  der  anderen  das  Gesetzbuch  Justinians.  Was 
Theodorich  dem  Grofsen  für  Italien  auf  kurze  Zeit  gelungen  war,  gelang 
Karl  dem  Grofsen  für  das  weite  Frankenreich  nicht,  die  Herstellung  der 
Rechtseinheit,  die  der  gewaltige  Frankenherrscher  sehnlichst  herbei- 
wünschte. Und  hätte  er  sie  durchführen  können,  so  wäre  ihre  lange 
Dauer  bei  den  partikular  divergenten  Interessen  der  einzelnen  grofsen 
Germanenstämme  höchst  problematisch  gewesen.  Ohnehin  genofs  die 
festeste  Institution  seines  Reiches,  die  Kirche,  römisches  Recht«  und 
schon  dieser  Zwiespalt  mufste  störend  wirken.  So  erhielten  trotz  der 
bedeutenden  amtlichen  Gesetzgebung  die  Volksrechte  doch  wieder 
ihre  alte  Geltung,  freilich  waren  sie  schon  früh  mit  römischen  Rechts- 
bestimmungen durchsetzt,  da  ja  die  meisten  Stämme  sich  früher  oder 
später  auf  römischem  Boden  niedergelassen  hatten.  Neben  das  welt- 
liche Recht  hatte  sich  aber  längst  das  geistliche,  das  kanonische,  ge- 
setzt, und  wir  hören  mehrfach  in  unserer  alten  Geschichte,  dais  der 
Staat  mit  seinem  Strafrecht  nicht  auskommen  zu  können  glaubte  und  des- 
halb zu  geistlichen  Rechtsbestimmungen  greifen  mufste.  Mit  dem  Wachs- 
tum der  päpstlichen  Macht  kam  schon  im  IX.  Jahrhundert  die  berühmte 
Fälschung  der  pseudoisidorischen  Dekretalen  ins  kanonische  Recht. 
Die  Kirche  bewahrte  natürlich  in  den  Klöstern  ebenso  die  geschriebenen 
und  teUweise  kommentierten  Volksrechte  auf,  wie  sie  die  TeUe  des 
Corpfis  iuris  besafs.     Eine  eigentliche  Rechtsgelehrsamkeit  finden   wir 


—     276     — 

aber  auf  dem  Boden  des  römischen  Reiches  zunächst  nur  in  Italien, 
da  die  anderen  romanischen  Reichsteile  in  die  Gewalt  der  Germanen 
gekommen  waren.  Bologna  wurde  der  Hauptsitz  der  Jurisprudenz. 
Hier  lehrte  man  das  römische  Recht,  und  hier  entstanden  die  vielfaltigen 
Glossen  und  Kommentare,  die  sich  auf  weltliches  wie  geistliches  Recht 
bezogen.  Beeinflufst  werden  diese  mittelalterlichen  juristischen  Schriften 
durch  Gedanken  und  Anschauungen,  welche  aus  den  Werken  der 
Kirchenväter  zum  Gemeingut  des  Volksbewufstseins  geworden  waren; 
aber  sie  gehören  weniger  zur  literarischen  Entwickelung ,  und  wir 
gehen  daher  zur  Historiographie  über. 

Für  alle  Richtungen  innerhalb  der  Geschichtschreibung  gab 
es  schon  in  der  Zeit  der  Kirchenväter  tüchtige  Vertreter,  auiser  für 
die  Annalen  —  indes  auch  diesen  könnte  man  ja  die  alten  Konsular- 
fasten  vergleichen.  Und  diese  Vertreter  blieben  lange  Zeit  die  Vor- 
bilder, denen  man  nachstrebte  und  an  die  man  sogar  das  eigene  Werk 
anzuknüpfen  suchte.  Welche  aufserordentliche  Bedeutung  haben  doch 
die  Chronik  des  Hieronymus  und  verwandte  Arbeiten  gehabt,  wenn 
auch  später  der  Begriff  der  Chronik  teilweise  ein  anderer  wurde. 
Und  die  Weltgeschichte  des  Orosius  ist  in  gewisser  Weise  ebenso 
typisch  für  die  Folgezeit  geworden,  wie  das  Leben  des  heiligen  Martin 
von  Sulpicius  Severus.  Viel  weniger  Einflufs  hat  die  antike  Geschicht- 
schreibung auf  das  Mittelalter  ausgeübt,  obwohl  es  auch  hier  an  Bei- 
spielen nicht  fehlt,  wie  Einharts  Leben  Karls  beweist.  Im  VI.  und  VII. 
Jahrhundert  finden  sich  die  Anfange  mittelalterlicher  Geschichtschreibimg. 
Sie  sind  äufserlich  roh  und  entbehren  aller  Kunst,  man  weils  noch 
nichts  von  dem  Ideal  späterer  Zeiten,  von  der  philosophischen  Durch- 
dringung des  Stoffes.  Dagegen  hebt  sich,  unter  namhafter  Begünstigung 
durch  philosophische  Studien,  die  Historiographie  zur  Zeit  Karls  des 
Grofsen  formal  ungemein.  Namentlich  gilt  dies  von  den  Werken, 
die  aus  den  Kreisen  hervorgingen,  welche  der  Person  des  Königs 
nahe  standen.  Aber  dieser  Aufschwung  hat  nicht  lange  angehalten 
und  obwohl  die  Darstellung  der  Reichsgeschichte  noch  längere  Zeit 
im  Vordergrund  des  Interesses  stand,  so  trat  doch  eben  das  Kirchen- 
latein schnell  wieder  in  seine  Rechte.  Die  Reichsgeschichte  wird  dann 
durch  die  Landesgeschichte  abgelöst,  da  seit  dem  Verfall  des  Gesamt- 
reiches das  politische  Leben  der  einzelnen  Stämme  wieder  stark  hervor- 
trat, das  durch  Karl  in  engen  Grenzen  gehalten  wurde.  Wie  fest  man 
sich  auf  den  heimischen  Standpunkt  stellte,  zeigt  z.  B.  das  Werk 
Widukinds  von  Korvei,  in  welchem  der  Papst  nicht  einmal  genannt 
wird.   Im  XI.  Jahrhundert  erhebt  man  sich  dann  zur  Universalgeschichte, 


—     277     — 

deren  Darstellung  zwar  der  früheren  Zeit  auch  nicht  ganz  fremd  ge- 
wesen ist,  aber  doch  bisher  nicht  in  solchem  Umfange  gegeben  wurde. 
Und  als  dann  der  grofse  Kampf  zwischen  Kirche  und  Staat  ausbrach, 
und  der  naive  Glaube  früherer  Jahrhunderte  damit  ein  Ende  erreichte, 
finden  sich  sogar  schon  die  Anfänge  vom  Kundgeben  der  ößentlichen 
Meinung.  Man  hat  in  der  reichen  Streitliteratur,  die  sich  damals  ent- 
wickelte, mit  Recht  die  ersten  Anfange  der  Zeitung  gesehen,  die  Flug- 
schriften wurden  der  Tummelplatz  der  Parteien  ^).  Auch  die  bald  darauf 
beginnenden  Kreuzzüge  haben  die  Geschichtschreibung  stark  beeinflufst: 
wie  sie  von  so  manchen  römischen  Praktiken  die  Hülle  wegzogen, 
so  haben  sie  das  Interesse  der  Geschichtschreiber  auf  fremde  Schau- 
plätze gelenkt  und  dadurch  wesentlich  zur  Erweiterung  des  Horizontes 
beigetragen.  Während  der  Periode  der  Kreuzzüge  aber  erwachte  das 
regere  Studium  der  Philosophie,  und  dies  brachte  der  Historiographie 
eine  tiefere  Auffassung.  Es  entstanden  jetzt  Werke  wie  die  Chronik 
des  Otto  von  Freising,  die  sich  auch  als  schriftstellerische  Leistungen 
sehen  lassen  können.  Freilich  ist  wieder  anderwärts  die  geschichtliche 
Forschung  noch  so  geringwertig,  dafs  gerade  jetzt  Werke  entstehen, 
die  alle  möglichen  Fabeln  über  die  Vorzeit  enthalten.  Und  gerade 
diese  Werke  spielen  in  späterer  Zeit,  als  ein  neuer  Niedergang  des 
geschichtlichen  Sinnes  erfolgte,  eine  besonders  grofse  Rolle,  ihre 
Fabeleien  verbreiteten  sich  und  setzten  sich  seitdem  als  geschichtliche 
Tatsachen  fest.  Während  sich  nun  in  der  englischen  Geschicht- 
schreibung seit  Beda  ein  gewisser  einheitlicher  Zug  geltend  macht, 
der  auf  die  Darstellung  der  Reichsgeschichte  ausgeht,  tritt  die  politische 
Zersplitterung,  die  in  Deutschland  und  Italien  mit  den  Jahrhunderten 
wuchs,  auch  in  der  Historiographie  beider  Länder  deutlich  hervor. 
Immer  mehr  kommt  hier  das  landschaftliche  Element  zur  Geltung, 
so  dafs  wir  es  in  den  letzten  Jahrhunderten  grofsenteUs  nur  noch  mit 
Chroniken  der  Territorien  und  der  Städte  zu  tun  haben.  Erst  in  der 
humanistischen  ^eit  und  besonders  mit  dem  Beginn  der  Kirchen- 
reformation tritt  eine  Wendung  zum  Besseren  ein. 

An  letzter  Stelle  ist  dann  die  Tätigkeit  des  Mittelalters  auf 
philologischem  Gebiete  zu  betrachten.  Bei  der  Wende  des  Alter- 
tums zum  Mittelalter  wurden  die  Rhetorenschulen  mehr  oder  weniger 
überflüssig,  da  sie  von  den  jungen  Römern  hauptsächlich  wegen  ihrer 
künftigen  Beteiligung  am  politischen  Leben  besucht  worden  waren. 
Wer  später  Sinn  für  höheres  geistiges  Leben  besafs,  ging  ins  Kloster, 


i)  Vgl.  diese  Zeitschrift,  oben  S.  65. 


—     278     — 

denn  Kassiodor  hatte  es  den  Jüngern  des  heiligen  Benedikt  zur  Pflicht 
gemacht,   sich  mit  den  Wissenschaften  zu  beschäftigen.     Erst   waren 
es  die  Iren,  dann  die  Angelsachsen,   welche  das  geistige  Erbe  Roms 
antraten,  und  die  nahe  Verbindung,  die  Karl  der  Grofee  mit  den   Ge- 
lehrten jenes  Inselvolkes  anknüpfte,  wurde  zum  gröfisten  Segen  für  das 
Frankenreich,   in  welchem  Bildung  und  Wissen  noch   auf  sehr  tiefer 
Stufe  standen.     Die  Erneuerung  der  Hofschule,  die  Begründung  einer 
Akademie  am  Hofe,   der  rege  Verkehr  des   fränkischen  Klerus    mit 
Italien,  dem  grofsen  Büchermarkt  der  Welt,  das  Beispiel  von  Lerneifer, 
das  Karl  selbst  gab,   die  Begründung  und  reiche  Ausstattung   neuer 
Bischofssitze  und  Klöster,  das  alles  gab  dieser  Zeit  einen  ungeahnten 
Aufschwung,  der  sich  darin  am  besten  dokumentiert,  dafs  Karl  sogar 
daran  gedacht  hat,    den   allgemeinen  Schulzwang   einzufuhren.     Jetzt 
wurden  die  Handschriften  der  klassischen  Autoren  aus  Italien   geholt, 
und  wenn  auch   stets   einzelne  Stimmen  gegen  die  profanen  Studien 
laut  wurden,   so  erblühte  doch  in  den  meisten  grofsen  Klöstern   eine 
ungemein  rege  Beschäftigung  mit  den  Wissenschaften.   Die  alten  Autoren 
wurden  abgeschrieben  und  verbreitet,  wozu  die  Ausbildung  der  schönen 
karolingischen  Minuskel  nicht  wenig  beitrug.    Besonderen  Wert  legten 
manche  Gelehrte  auf  die  Herstellung   eines   möglichst  reinen  Textes, 
und   wenn  auch   vielerlei  Irrtümer   damals    in   die   Überlieferung    der 
römischen  Klassiker  gekommen  sind,  so  ist  es  doch  immerhin  erstaun- 
lich, was  in  jener  Zeit  alles  geleistet  wurde.     Wir  können  heutzutage 
die   meisten   dieser  Autoren   nicht  mehr  über  die  karolingische  Zeit 
hinaus   urkundlich   verfolgen,    indem   wir  ihre    ältesten  Handschriften 
jenem  karolingischen  Humanismus  verdanken.     Und  man  kann   wohl 
mit  einiger  Gewiisheit  behaupten,  dafs  damals  alle  Klassiker  abgeschrieben 
worden  sind  und  dafis  auch  diejenigen  unter  ihnen,   welche  heute  nur 
noch   auf  jüngerer  Überlieferung  beruhen,  wie  Cato,  Varro,  Plautus, 
Catull  und  Properz,   den  karolingischen  Gelehrten  nicht  fremd  waren. 
Wir  wissen  auch,  dafs  im  IX.  Jahrhundert  noch  einige  wichtige  Werke 
aus   dem   Altertum    vorhanden    waren,    welche    heute    verloren    sind. 
Hauptsächliche  Dienste  leisten  zur  Aufhellung  dieser  Dinge  die  alten 
Bibliothekskataloge,    von   denen   alljährlich   wieder  neue  aufgefimden 
werden  ^).    Solch  intensive  philologische  Tätigkeit  hielt  sich  in  einigen 
Klöstern  wie  St.  Gallen,  Korvei,  St.  Amand,   Auxerre,   St.  £vrc  bei 
Toul  und  in  Bobio  ziemlich  lange,  und  an  einer  Reihe  von  Bischofs- 
sitzen schlugen  die  Wissenschaften  ebenfalls  ohne  Unterbrechung  ihren 


I)  VgL  darüber  oben  S.  24—27. 


—     279     — 

Sitz  auf,  aber  im  allgemeinen  haben  die  rauhen  Zeiten  des  ausgehenden 
IX.  und  des  X.  Jahrhunderts  diese  frühe  Blüte  der  Wissenschaft  ge- 
knickt. Erst  gegen  Ende  des  X.  Jahrhunderts  erhob  die  Wissenschaft 
unter  der  Begünstigung  der  Ottonen  wieder  ihr  Haupt,  und  ein  Schrift- 
steller und  Gelehrter  wie  Gerbert  von  Aurillac  nennt  solche  seltene 
Autoren  wie  Manilius  und  Cornelius  Celsus.  Überhaupt  war  im  all- 
gemeinen Frankreich  das  Land,  in  welchem  die  philologischen  Studien 
am  meisten  blühten,  und  so  entstand  in  Orleans  eine  Schule ,  welche 
lange  Zeit  die  hervorragendste  blieb  und  nur  von  Paris  später  verdunkelt 
wurde.  Auch  England  leistete  besonders  im  XII.  und  XIII.  Jahrhundert 
Hervorragendes,  da  es  hier  sehr  alte  und  reiche  Klöster  mit  grolsen 
Bibliotheken  gab.  Freilich  bildete  sich  nach  und  nach  ein  fester  Umkreis 
von  Schulschriftstellern  aus,  der  sich  reger  Behandlung  erfreute  und 
über  den  man  nicht  oft  hinausging.  Das  waren  von  Prosaikern  Cicero, 
Sallust,  Seneka,  Donat  und  Priszian,  von  Dichtem  Terenz,  Vergil, 
Horaz,  Ovid,  Lukan,  Statius,  Persius,  Juvenal  und  Klaudian.  Nament- 
lich stellte  man  aus  diesen  Dichtern  gern  Florilegien  zusammen,  die 
vielfach  eine  moralische  Tendenz  zeigen,  aber  auch  die  Prosaiker 
wurden  zu  solchen  Blütenlesen  benutzt.  Die  Florilegien  wurden  neben 
den  Autoren  selbst  dem  Unterricht  zugrunde  gelegt  und  bildeten  meist 
den  MemorierstofT;  daher  kommt  es,  dafs  die  mittelalterlichen  Schrift- 
steller gar  gern  mit  poetischen  Zitaten  prunken.  Hiemeben  ging  die 
gelehrte  Erklärung  der  Autoren  her,  mit  welcher  schon  die  karolingische 
Zeit  in  reichstem  Ma&e  begonnen  hatte,  denn  nicht  wenig  grofse 
Scholiensammlungen  zu  den  römischen  Dichtem  gehen  auf  das  IX. 
Jahrhundert  zurück.  Zu  diesem  Behufe  wurden  die  alten  und  echten 
Kommentare  aus  dem  Altertum  verkürzt  und  ausgezogen  und  hierzu 
allerhand  unbedeutende  Zusätze  gemacht.  Solche  Sammlungen  wurden 
später  wieder  verdünnt  und  mit  Eigenem  bereichert,  so  dafe  in  den 
SchoUen  des  XII.  und  XIII.  Jahrhunderts  meist  auiserordentlich  wenig 
Antikes  und  sehr  viel  Mittelalterliches  steckt  Da  man  nun  sehr  viel 
darauf  gab,  sich  in  der  Dichtkunst  zu  üben,  die  Verslehre  aber  all- 
mählich eine  ganz  andere  geworden  war  —  vor  allem  waren  die 
verschiedenartigsten  und  künstlichsten  Reime  in  den  Hexameter  ge- 
kommen — ,  so  mufste  man  auch  neue  Poetiken  haben,  die  von 
Eberhard  von  B^thune,  Galfredus  de  Vinosalvo  und  von  Konrad  de  Mure 
geschrieben  wurden.  Schon  im  XII.  Jahrhundert  war  man  so  weit 
gekommen,  dafs  man  sehr  viele  Briefe  in  Versen  schrieb  und  auch 
ganze  poetische  Briefsteller  verfafste.  Bei  diesen  rein  formalen  Leistungen 
ging  nun  freilich  die  frühere  wissenschaftliche  Behandlung  der  Klassiker 


—     280     — 

zurück,  doch  legte  man  zu  jener  2^it  noch  grofee  Glossarien  an,  wie 
z.  B.  der  Mönch  Osbern  seine  Pafwrmia,  in  welcher  die  klassische 
Literatur  sehr  stark  zu  Rate  gezogen  wird.  Ja  ein  Albericus  schrieb 
noch  im  XIII.  Jahrhundert  den  sog.  Mffthographus  Vaiicanus  III  und 
die  Schrift  De  deorum  imaginibus,  Werke,  die  noch  von  einer  tüchtigen 
Benutzung  reicher  Literatur  zeugen.  Längst  schon  hatten  sich  einige 
besonders  beliebte  Dichtungen  wie  die  Fabeln  Avians  und  die  Disticha 
CcUanis  Umdichtungen  und  Zusätze  gefallen  lassen  müssen,  durch 
welche  die  echten  Werke  verdrängt  wurden.  Namentlich  beliebt  aber 
waren  Auszüge  aus  den  klassischen  Schriftstellern,  wie  schon  oben 
erwähnt  wurde,  und  mit  solchen  Exzerpten  begnügte  man  sich  viel- 
fach. Schliefelich  kam  dann  noch  das  Zeitalter  der  Übersetzungen, 
welche  von  antiken  Werken  in  die  Volkssprachen  gemacht  wurden. 
Solche  Arbeiten  waren  nichts  Neues,  schon  König  Alfred  und  Notker 
von  St.  Gallen  hatten  auf  dem  Gebiete  Hervorragendes  geleistet 
Aber  erst  mit  dem  XIII.  Jahrhundert  beginnt  die  Übersetzungstätigkeit 
im  grofeen,  und  hierin  zeichnete  sich  vor  allem  Frankreich  aus. 
Bedeutende  lexikalische  Arbeiten,  die  sich  auf  der  reichen  Glossen- 
literatur früherer  Jahrhunderte  aufbauten,  erleichterten  diese  Tätigkeit 
Als  Lexikographen  waren  besonders  die  Italiener  Papias  und  Hugutio 
hervorragend.  Aus  alledem  wird  erkennbar,  dafe  die  Beschäftigung 
mit  den  Werken  des  Altertums  selbst  stark  nachgelassen  hatte. 
Umdichtungen,  .Exzerpte,  Florilegien  und  Übersetzungen  waren  an 
deren  Stelle  getreten.  Auch  hatte  man  für  die  römischen  Autoren 
vielfach  zufallig  entstandene  Beinamen  erfunden  und  somit  die  alte, 
echte  Überlieferung  getrübt;  so  war  für  den  Verfasser  der  Utas  kUina 
der  Name  Pindarus  Thebauus  aufgekommen,  Statins  hatte  den  Beinamen 
Surculus  erhalten,  Martial  den  Beinamen  Coquus,  Properz  wurde  Propertius 
Aurelius  Nauta  genannt,  aus  Calpumius  hatte  man  Scalpurius  gemacht 
u.  a.  m.  Demgemäfe  war  auch  die  literargeschichtliche  Forschung  auf 
einen  sehr  tiefen  Stand  herabgekommen,  wovon  man  sich  aus  dem 
Fabularius  des  Konrad  de  Mure,  eines  Züricher  Kanonikus,  leicht  über- 
zeugen kann. 

Im  allgemeinen  hatte  Italien  in  den  späteren  Jahrhunderten  des 
Mittelalters  sowohl  für  die  Überlieferung  wie  für  die  Bearbeitung  der 
Klassiker  am  wenigsten  geleistet,  es  war  hierin  am  meisten  zurück- 
geblieben. Das  geht  auch  schon  daraus  hervor,  dafe  die  Sprache 
der  italienischen  Urkunden,  die  päpstlichen  einbegriffen,  einen  viel 
höheren  Grad  von  Barbarei  zeigt,  als  sie  sich  sonst  findet.  Aber  im 
XIV.  Jahrhundert  trat  hier  eine  kräftige  Reaktion  ein,  indem  von  Florenz 


—     281     — 

der  Humanismus  ausging,  welcher  im  Sammeln,  Siebten  und  Korrigieren 
der  Klassikerhandschriften,  in  der  Bearbeitung  der  alten  Autoren  und 
in  der  möglichsten  Wiederherstellung  des  klassischen  Lateins  als 
Gelehrtensprache  seine  hohen  Ziele  fand.  Die  ausserordentlich  grofse 
humanistische  Literatur  steht  in  der  Mitte  zwischen  der  mittelalterlichen 
und  neuzeitlichen  und  leitet  zur  letzteren  hinüber,  und  wir  können 
daher  hiermit  unsere  Betrachtungen  schliefen. 

Am  Schlüsse  aber  sei  an  die  Leser  dieser  Zeitschrift  die  Bitte 
gerichtet,  an  keinem  auch  noch  so  unbedeutend  erscheinenden, 
unbekannten  Denkmal  der  mittelalterlichen  lateinischen  Literatur  vor- 
überzugehen, sondern  den  Verfasser  obiger  Zeilen  mit  irgendwelcher 
Nachricht  darüber  zu  erfreuen. 


Mitteilungen 


Archlye.  —  Das  Stadtarchiv  in  Frankfurt  a.  M.  zerfiel  seit 
dem  Jahre  1863  in  zwei  Abteflimgen:  I.  das  Historische  Archiv  bis  18 13 
einschliefslich ,  U.  das  Verwaltungsarchiv  von  1814  ab  bis  in  die  neueste 
Zeit ;  die  Hauptbestandteile  des  letzteren  büdeten  die  Akten  des  freistädtischen 
Senates  18 14 — 1868  (er  blieb  auch  nach  der  Annexion  von  1866  noch 
beinahe  zwei  Jahre  als  rein  kommtmale  Verwaltungsbehörde  in  Tätigkeit) 
imd  die  Akten  des  Magistrates  vom  29.  Februar  1868  ab.  Diese  U.  Ab- 
teüung  des  Stadtarchivs  ist  jetzt  aufgehoben  worden;  die  Akten  des  frei- 
städtischen Senates  wurden  der  I.  Abteütmg  zugewiesen,  die  jetzt  die  amtliche 
Bezeichmmg  „Stadtarchiv"  führt,  während  aus  den  Magistratsakten  von 
1868  ab  eine  besondere  „Magistrats-Registratur"  im  Anschlufs  an 
die  Stadtkauzlei  gebüdet  wurde.  Das  Stadtarchiv  umfiedst  also  jetzt  sämtUche 
Archivalien  aus  der  reichsstädtischen  (bis  1806),  fürstlichen  (1806 — 18 13) 
und  freistädtischen  (1814 — 1866)  Zeit. 

Kommissionen.  —  Die  sogenannten  „Landesgeschichtlichen 
Publikationsinstitute",  deren  hervorragendste  Veitreter  die  „Histori- 
schen Kommissionen"  sind,  haben  sich  wieder  einmal  um  ein  neues  ver- 
mehrt Denn  am  17.  Dezember  1904  hat  eine  aus  den  drei  Franken 
beschickte  Versammlung  zu  Nürnberg  die  Gründung  einer  Gesellschaft 
für  firfinkische  Geschichte  nach  dem  Muster  der  Gesellschaft  für  rheinische 
Geschichtskunde  beschlossen,  und  am  6.  Mai  1905  ist  die  Gründung  zu 
Bamberg  wirklich  erfolgt  Für  die  Patrone  ist  eine  jährliche  Beisteuer  von 
50  Mk.  vorgesehen;  die  jährlichen  Mitgliederversammlungen  werden  ihren 
Versammlungsort  wechseln. 

Die  Aufgaben  der  neuen  Gesellschaft  umschreibt  eine  kleine  Denk- 
schrift in  folgender  Weise: 

„Als  Aufgabe   der   , Gesellschaft  für  fränkische   Geschieh 

21 


—     282     — 

wurde  im  allgemeinen  bezeichnet:  die  bisher  unveröffent- 
lichten Quellen  zur  Geschichte  Frankens  den  modernen  An- 
forderungen der  Geschichtswissenschaft  entsprechend  heraus- 
zugeben und  einschlägige  Forschungen  auf  dem  Gebiet  der 
fränkischen  Geschichte  anzuregen  und  zu  fördern. 

1.  Im  besonderen  sollen  auf  dem  Gebiete  der  erzählenden  Quellen 
die  jüngeren  chronikalischen  Aufzeichnungen,  namentlich  der  fränki- 
schen Städte  ins  Auge  gefafst  imd  gewissermaisen  als  Fortsetziing  der 
nunmehr  abgeschlossenen  Reihe  der  deutschen  Städtechroniken  zur  Ver- 
öffentlichung gebracht  werden,  wobei  besonders  Aufzeichnimgen  aus  dem 
Zeitalter  der  Reformation,  des  Bauernkrieges,  der  fränkischen  Fehden  (Maik- 
grafenfehde,  Gnunbachsche  Händel)  und,  soweit  sie  sich  über  das  Typische 
erheben,  des  Dreifsigjährigen  Krieges  beachtet  werden  sollen.  Entsprechend 
dem  Nachdruck,  den  die  Gesellschaft  für  fränkische  Geschichte  auf  wirt- 
schaftsgeschichtliche Forschungen  legen  will,  sollen  auch  lokale  Aufzeich- 
nungen wirtschaftsgeschichtlicher  Natur,  wenn  sie  z.  B.  einer  Geschichte  der 
Preise  dienen  können,  entsprechende  Beachtung  finden.  —  Unter  anderem 
wird  auch  zu  erwägen  sein,  ob  eines  der  Hauptwerke  der  älteren  fränkischen 
Geschichtschreibung,  des  Lorenz  Fries  Chronik  der  Bischöfe  von  Wün- 
burg,  einer  neuen  Ausgabe  würdig  ist 

2.  Die  wichtigste  imd  umfangreichste  Aufgabe  der  Gesellschaft  für 
fränkische  Geschichte  wird  in  der  Herausgabe  der  Urkunden  der  frän- 
kischen Kollegiatstifter  und  Klöster  bestehen.  Auf  diesem  Gebiet 
ist  noch  nahezu  alles  zu  tun.  Und  dabei  ist  die  Zahl  der  Stifter  und 
Klöster  und  der  Niederlassungen  der  Ritterorden  in  Franken  sehr  grofs  und 
deren  Urkundenvorrat  in  mannigfacher  Überlieferung  verhältnismäfsig  gut  er- 
halten, so  dafs  der  Herausgeber  nicht  durch  den  Mangel,  sondern  durch 
die  Überfülle  des  Stoffes  bedrängt  wird.  Aus  den  Urkunden  dieser  Klöster 
zusammen  mit  den  fränkischen  Hochstiftsurktmden  in  den  Monumenta  Boka 
und  mit  denen  geistlicher  Stiftungen,  z.  B.  des  Heil.  Geist-Spitals  in  Nürnberg, 
dürfen  wir  Aufschlüsse  über  das  ganze  politische,  kulturelle  und  wirtschaftliche 
Leben  Frankens  erwarten,  voraussichtlich  auch  eine  nennenswerte  Bereiche- 
nmg  unserer  Kenntnisse  von  der  gemeindeutschen  Geschichte.  Ganz  be- 
sonderen Gewinn  wird  aus  der  Veröffentlichung  und  Würdigung  dieser  Urkunden 
die  für  die  ältere  Zeit  noch  gar  sehr  im  argen  liegende  Genealogie  der 
grofsen  fränkischen  Geschlechter  und  ihrer  Verzweigungen  ziehen.  — 
Geringer  zwar  an  Zahl,  aber  in  Hinsicht  auf  die  Verfassungs-  und  Wirt- 
schaftsgeschichte nicht  weniger  bedeutend  dürften  sich  die  Urkunden  der 
städtischen  Gemeinwesen  in  Franken  erweisen.  Allerdings  haben  wir 
in  nächster  Zeit  von  berufener  Seite  ein  Urkimdenbuch  der  Stadt  Nürnberg 
zu  erwarten,  wie  wir  ein  solches  der  Stadt  Schweinfurt  schon  besitzen;  aber 
die  kleineren  fränkischen  Reichsstädte  wie  Rotenburg,  Weifsenburg,  Winds- 
heim entbehren  einer  solchen  Sanmilung  ebenso  wie  die  landesfürstlichea 
Städte  von  der  Bedeutung  Würzburgs,  Bambergs,  Baireuths,  Eichstätts, 
Aschaffenburgs  u.  a.  —  Der  Inhalt  der  Archive  des  fränkischen  Adels 
ist  kaum  bekannt,  geschweige  denn  veröffentlicht  Und  doch  würde  gerade 
der  fränkische  Adel  daraus  den  gröfsten  Gewinn  ziehen,  namentlich  wieder 
in  Hinsicht  auf  die  Genealogie   und  die  Gütergeschichte.     Erfreulich  wäre. 


—     283     — 

wenn  das  Beispiel  des  Hohenloheschen  und  des  Castellschen  Urkundenbuches 
andere  noch  blühende  fränkische  Dynastengeschlechter  zu  einer  gleichen 
Veröffenüichung  oder  wenigstens  zu  einer  Ordnung  ihrer  Archive  durch  die 
Hand  eines  Fachmannes  veranlassen  würde.  —  Auch  die  HohenzoUemschen 
Gebiete  in  Franken  ermangeln  noch,  wenn  wir  von  den  Monumenta  Zollerana 
absehen,  eines  Urkundenbuches  imd  damit  der  wissenschaftlichen  Grundlage 
für  ihre  Territorialgeschichte ;  namentlich  eine  Geschichte  des  *"  Burggrafen- 
tums  Nürnbergs  wird  von  sachkimdiger  Seite  als  besonders  wünschenswert 
erklärt. 

3.  Dringend  nötig  sind  femer  Regesten  der  Bischöfe  von  Würz- 
burg und  von  Bamberg;  das  kleine  Eichstätt  erfreut  sich  bereits  eines 
solchen  Unternehmens  an  den  Leffladschen  Regesten,  die  jetzt  bis  ins 
Xm.  Jahrhundert  reichen  und  noch  fortgesetzt  werden  sollen. 

4.  Nicht  minder  wichtig  sind  Veröffentlichungen  von  Quellen  und 
Bearbeitungen  solcher  aus  dem  Gebiete  der  Wirtschaftsgeschichte  der 
Städte  und  des  flachen  Landes.  Hier  handelt  es  sich  fast  durchwegs 
um  Bergimg  noch  ungesichteten  wertvollen  Materiales,  das  in  den  Rechenbüchern 
der  Städte  (z.  B.  in  den  Bambergbchen  Stadtrechnimgsbüchem  von  1437 — 
1583),  in  den  Urbaren,  Sal-,  Zins-  und  Lehenbüchem  der  Herrschaften  ruht. 
Von  den  Lehenbüchem  umfassen  z.  B.  die  des  Hochstifts  Würzburg  die 
Zeit  von  1303 — 1803.  Auch  von  Wald-  und  Forstordnimgen  sind  namentlich 
aus  Oberfranken  noch  umfangreiche  tmd  bis  in  den  Anfang  des  XV.  Jahr- 
hunderts zurückreichende  Denkmäler  erhalten.  —  Beinahe  noch  wichtiger 
erscheint  die  Sammlimg  und  Veröffentlichung  der  fränkischen  Weistümer, 
Ehehaften  imd  Dorfordnungen  einerseits,  der  Stadtrechte,  Rats-  und 
Znnftbücher  andrerseits. 

Welche  Quellen  zur  Geschichte  des  städtischen  Handels  und 
der  städtischen  Gewerbe  in  den  Archiven  der  fränkischen  Reichsstädte,  vor 
allem  in  denen  der  ersten  Industriestadt  Süddeutschlands,  Nümberg,  ruhen, 
ist  noch  gar  nicht  zu  übersehen ;  besonders  eine  Sammlung  der  Nürnberger 
Handwerksordnungen  wird  baldigst  ins  Auge  zu  fassen  sein.  Dafs 
auch  die  neuerdings  mit  so  viel  Eifer  verfolgte  Geschichte  des  städtischen 
und  des  ländlichen  Eigentums  bei  jeder  Gelegenheit  gebührend  beachtet 
werden  wird,  versteht  sich  von  selbst. 

5.  Von  den  Quellen  der  Gerichtsverfassung  in  franken  harren 
noch  die  vornehmsten  der  Auferstehung.  Wohl  ist  die  Ausgabe  des  Zent- 
buches  von  Würzburg  von  der  Savigny-Gesellschaft  bereits  in  Angriff  ge- 
nonmien;  aber  andere  Aufzeichnungen,  die  sich,  wie  die  Bamberger  Stadt- 
gerichtsbücher (1306 — 1546)  oder  wie  die  Protokolle  des  Landgerichtes 
für  das  Herzogtum  Franken  in  Würzburg  (1333 — 1470),  über  Jahrhunderte 
erstrecken,  sind  noch  ungehobene  Schätze,  gleich  wertvoll  für  die  Geschichte 
des  Rechtes  imd  des  Rechtsverfahrens  wie  für  Kulturgeschichte  und  Genealogie. 

6.  Auch  die  Verwaltungsgeschichte  der  verschiedenen  fränkischen 
Territorien  und  Städte,  die  Organisation  der  Behörden  und  Ämter  bedarf 
der  Berücksichtigung.  Sanders  treffliches  Buch  über  den  Haushalt  der 
Stadt  Nümberg  zeigt  uns,  wie  reichlich  die  Quellen  besonders  für  die  Ge- 
schichte der  städtischen  Verwaltung  fliefsen.  Vor  allem  aber  wäre  eine 
Sammlung   der  landesherrlichen  Mandate   in  den  verschiedenen  Territorien 

'21* 


—     284     — 

anzustreben,  wie  dies  für  das  Würzbarger  und  Kulmbacfaer  Gebiet  schon  im 
XVUI.  Jahrhundert  geschehen  ist 

7.  Von  der  Geschichte  der  Landstände  in  Franken  ist  Gut  mcbts 
bekannt.  Eine  Bearbeitung  der  Landtagsakten  der  verschiedenen  Teni- 
torien  Frankens  wird  unter  den  Aufgaben  einer  GeseUsdiaft  fiir  £ränki8<±e 
Geschichte  nicht  fehlen  dürfen. 

8.  Auch  die  Kirchengeschichte  Frankens  bedarf  noch  gar  seiir 
der  Aufhellung.  Für  die  ältere  Zeit  wird  die  planmäfsige  Erforachang  ötr 
Register  des  vatikanischen  Archivs  in  Rom  erforderlich  sein;  für  die  spStere 
Zeit  wird  es  der  Veröfifentlichung  oder  wenigstens  der  Bearbeitung  der 
Kapitelstatuten  und  Kapitelprotokolle,  überhaupt  des  reichen  Inhalt»«  <|er 
verschiedenen,  leider  meist  noch  ungeordneten  Diözesanarchive  bedüifen, 
die  zugänglich  und  benutzbar  zu  machen  an  sich  schon  ein  namhal^  Ver- 
dienst  um  die  fränkische  Geschichte  bedeuten  würde.  Für  die  Gesdnchte 
der  religiösen  Bewegung  im  XVI.  Jahrhundert  sind  besonders  die  A^sitaticms- 
berichte  ins  Auge  zu  fiassen,  die  z.  B.  in  der  Diözese  Eichstätt  bis  ins 
XV.  Jahrhundert  zurückreichen. 

9.  Ein  von  den  Fachmännern  seit  langem  gehegter  Wunsch  geht  anf 
die  Erforschung  der  Geschichte  und  Organisation  des  fränkischen 
Kreises,  über  den  die  Forscher  des  XVUI.  Jahrhunderts  besser  unter- 
richtet waren  als  wir  heutzutage.  Es  wird  sich  dabei  um  die  Bearbeitong 
der  in  vollständigen  Reihen  erhaltenen  Akten  der  Kreistage  nnd  der  Korre- 
spondenzen der  Kreisobersten  und  Adjunkten  handeln,  besonders  im 
Hinblick  auf  die  Verwaltung  der  Kreisfinanzen,  auf  die  KrdspoUzd  und  die 
Kreistruppen. 

10.  Wieweit  sonst  das  Kriegswesen  in  den  fränkischen  Territorien, 
besonders  in  den  grofsen,  Gegenstand  der  Bemühungen  der  Gesellachafk  f& 
fränkische  Geschichte  werden  kann,  wird  von  dem  For^;ang  einschlägiger 
Arbeiten  abhängen,  die  von  anderer  Seite  unternommen  werden. 

11.  Gänzlich  vernachlässigt  ist  die  Geschichte  der  kleineren  Reichsstinde 
in  Franken,  besonders  die  Geschichte  der  fränkischen  Ritter- 
schaft, obgleich  die  Akten  der  Tagungen  der  Gesamtritterschafi  und  der 
einzelnen  Ritterkantone,  die  Korrespondenzen  der  Ritterliaiq>tietite  und  Ritter- 
räte gleichfalls  wohl  erhalten  sind.  Untersuchungen  über  dfe  OrganisatioB 
der  fränkischen  Ritterschaft  und  über  deren  Beziehungen  zom  Kaiser  und 
zu  den  anderen  Reichsständen,  besonders  zu  den  grofsen  Territoiialherren, 
werden  eine  Lücke  in  unserer  Kenntnis  der  Verfiusungsgeschichte  in  den 
letzten  Jahrhunderten  des  alten  Reiches  ausfüllen.  —  Auch  die  Rezesse  der 
fränkisdien  Grafenbank  und  der  Bank  der  fränkischen  Reichsstädte  verdtenen 
die  bisher  fehlende  Beachtung. 

la.  Die  Herstellung  eines  historischen  Atlas  des  fränkischen 
Kreises  wäre  ein  für  die  historische  Geographie  Deutschlands  bedeutsames 
Ereignis.  Diese  allerdings  kostspielige  Aufgabe,  die  vieler  Vorarbeiten  be- 
darf, wird  von  der  Gesellschaft  für  fiünkische  Geschichte  von  Anhng  an 
im  Auge  behalten  werden  müssen.  Auch  die  Heiansgabe  eines  historisch- 
topographischen Lexikons  des  fränkischen  Kreises  wäre  in  diesem 
Zusanmienhang  in  Erwägung  zu  ziehen. 

13.  Nicht  die  letzte  Aufgabe  der  Gesellschaft  fiir  fränkische  Geschichte 


—     285     — 

wird  in  der  Herausgabe  politischer  Korrespondenzen  ujid  ge- 
lehrter Briefwechsel  bestehen.  Bei  den  ersteren  wird  in  vorderster 
Reihe  an  die  Korrespondenz  des  Nürnberger  Rates  aus  dessen  Brief  büchem 
zu  denken  sein,  die  bis  zur  Schwelle  des  XV.  Jahrhunderts  zurückreichen, 
femer  an  die  Briefwechsel  hervorragender  Fürsten  aus  der  Reihe  der  branden- 
burgischen  Markgrafen,  der  Bischöfe  von  Würzburg  und  Bamberg  oder 
anderer  bedeutender  aus  Franken  stammender  oder  in  Franken  wirkender 
Persönlichkeiten,  die  als  Staatsmänner,  als  Gelehrte,  als  Künstler,  eine  frucht- 
bare Wiiksamkeit  entfiedtet  haben.  Die  reichen,  zum  geringsten  Teil  er- 
schlossenen Privatarchive  des  fränkischen  Adels  bergen  von  solchen  Schätzen 
mancherlei,  so  das  gräflich  Schönbomsche  Archiv  in  Wiesentheid  den  Brief- 
wechsel der  Fürstbischöfe  aus  dem  Hause  Schönbom.  Auch  eine  Sammlung 
von  Briefen  des  Balthasar  Neumann  oder  des  bedeutenden  Geschichtschreibers 
Michael  Ignaz  Schmidt  wäre  ein  für  die  Kunst-  und  Geistesgeschichte  Frankens 
wichtiges  Unternehmen. 

14.  Für  die  Geschichte  des  Unterrichtes  in  Franken,  des  ele- 
mentaren wie  des  gelehrten,  gibt  es  eigentlich  nur  zerstreute  Notizen  trotz 
eines  umfangreichen  Quellenmaterials.  Besonders  die  Geschichte  des  frän- 
kischen Unterrichts-  und  Erziehungswesens  im  Zeitalter  der  Aufklänmg  dar- 
zustellen, ist  eine  wichtige  Aufgabe,  die  sich  die  Gesellschaft  für  fränkische 
Geschichte  nicht  entgehen  lassen  darf.  —  Auch  die  Geschichte  der 
Universitäten  in  Franken  ist  noch  lückenhaft.  Nur  die  Universität 
Würzburg  besitzt  eine  neuere  DarsteUung  ihrer  Geschichte ;  wegen  der  anderen 
Universitäten,  wie  Erlangen,  Bamberg,  Altdorf,  Aschaffenburg,  ist  man  auf 
die  alten  Darstellungen  angewiesen.  Von  keiner  Universität  ist  bisher  die 
Matrikel  veröffentlicht  worden;  und  doch  würden  die  Matrikehi  von  Würz- 
burg und  Altdorf  auch  der  Geschichte  der  fränkischen  Familien  reiches 
Material  liefern. 

15.  Wünschenswert  wäre  endlich  eine  Münzgeschichte  des  fränki- 
schen Kreises  und  seiner  einzelnen  Territorien;  dazu  laden  die  reichen 
Münzsammlungen,  besonders  die  in  Würzburg  befindlichen,  ein. 

16.  Auch  der  Heraldik  soll  im  Zusammenbang  mit  der  Genealogie 
der  fränkischen  Geschlechter  gebührende  Aufmerksamkeit  gewidmet  werden. 

Überhaupt  wiU  die  Gesellschaft  fUr  fränkische  Geschichte  ihr  Arbeits- 
feld nicht  ängstlich  begrenzen.  Jede  Art  menschlicher  Betätigung,  soweit 
sie  sich  durch  die  Mittel  geschichtlicher  Forschung  erfassen  und  begreifen 
läist,  soll  mit  der  gegebenen  räumlichen  Beschränkung  auf  den  fränldschen 
Kreis  heute  bayerischen  Anteils  und  auf  das  Fürstentum  Aschaffenburg  in 
den  Kreis  der  Wiricsamkeit  der  Gesellschaft  gezogen  werden  können  und 
Beachtung,  unter  Umständen  auch  Bearbeitung  finden  —  natürlich  nach 
Maisgabe  der  vorhandenen  Mittel  und  der  verfügbaren  Arbeitskräfte  im 
Lauf  der  Jahre.'' 

Nach  diesem  Programm  soll  gearbeitet  werden.  Die  Satzungen  bezeichnen 
ab  Zweck  der  Gesellschaft,  „die  Forschungen  über  die  Geschichte  der  Ge- 
biete des  alten  fränkischen  Kreises  bayerischen  Anteils  einschliefslich  des 
Fürstentums  Aschaffenbuag  dadurch  zu  fördern,  dafs  sie  die  Quellen  der 
politischen  Geschichte,  wie  der  Ver£assungs-,  Verwaltungs-  und  Wirf 
geschichte   der  Städte   und  des   flachen  Landes  in    diesen  Gebietstf 


—     286     — 

Einschlufs  der  Kirchen-,  Kunst-  und  Kulturgeschichte,  der  Münzkunde,  Gene- 
alogie und  Heraldik  in  einer  den  Anforderungen  der  Wissenschaft  ent- 
sprechenden Weise  bearbeiten  läfst  imd  herausgibt,  und  zur  Verwertung  der 
Forschungsergebnisse  in  abgerundeten  Darstellungen  anregt*  ^  Sitz  der  Ge- 
sellschaft ist  Würzburg;  die  Mitglieder  setzen  sich  zusammen  aus  Stiftern, 
Patronen  und  Wahlmitgliedem.  An  der  Spitze  steht  ein  neunzehngiiedriger 
Ausschufs,  zu  dessen  Vorsitzenden  Regierungspräsident  Freiherr  v.  Wels  er 
(Ansbach)  bestimmt  wurde,  während  Prof.  Chroust  (Wttrzburg)  das  Amt 
des  geschäftsführenden  Sekretärs  übernommen  hat.  Die  von  der  Ge- 
sellschaft veranlafsten  Arbeiten  sollen  unter  dem  gemeinsamen  Titel  Ver^ 
öffenilichungen  der  Gesellschaft  für  fränkische  Geschichie  erscheinen,  und 
^s  Neujafirsblätier  sollen  weiteren  Kreisen  abgerundete  Darstellungen  aus 
der  fränkischen  Geschichte  geboten  werden.  In  materieller  Hinsicht  ist  zn 
bemerken,  dafs  Prinz-Regent  Luitpold  der  jungen  Gesellschaft  einen  Stif- 
tungsbeitrag von  5000  M.  hat  zuteil  werden  lassen,  während  die  Prinzen 
Ludwig,  Rupprecht,  Leopold  und  Arnulf  der  Gesellschaft  als  Patrone  bei- 
getreten sind. 

Yereine.  —  Der  Vogtländische  Altertumsforschende  Verein  zu 

Hohenleuben  begeht  am  16.  Juli  festlich  die  Feier  seines  achtzig- 
jährigen Bestehens.  Er  gehört  zu  den  ältesten  deutschen  Geschichts- 
vereinen überhaupt,  hat  1852  den  Gesamtverein  der  Deutschen  Geschichts- 
und Altertumsvereine  mit  gründen  helfen  und  bis  zum  heutigen  Tage  sich 
jugendliche  Frische  erhalten.  Das  rechtfertigt  es,  wenn  auch  an  dieser 
Stelle  ein  kurzer  Rückblick  auf  die  Tätigkeit  des  Vereins  in  acht  Jahrzehnten 
geworfen  wird. 

Die  Anregung  zur  Gründung  des  Vereins,  die  am  29.  Dezember  1825 
erfolgt  ist,  hat  bezeichnenderweise  ein  Arzt  gegeben,  und  in  diesem  Um- 
stände wird  es  wenigstens  z.  T.  begründet  sem,  dafs  der  Verein  von  vorn- 
herein den  vorgeschichtlichen  Altertümern,  ihrer  Sammlung  und  Ausgrabung 
besondere  Obacht  geschenkt  hat.  Der  Gründer  hiefs  Johann  Julius 
Schmidt,  war  Arzt  in  Hohenleuben  und  hat  46  Jahre  lang  bis  zu  seinem 
Tode  am  21.  Mai  1872  den  Vorsitz  im  Vereine  geführt;  unter  ihm  ist 
dieser  gewachsen,  und  in  einer  historisch-geographischen  Schrift,  Medicimsch' 
physikalischrslatisHsche  Topographie  der  Pflege  Eeichenfels  (Leipzig  1927, 
166  S.)  hat  der  Arzt  die  Früchte  seiner  eigenen  Forscherarbeit  niedergelegt. 
An  der  Gründung  des  Vereins  waren  nur  15  Personen  beteiligt,  aber  schon 
bei  der  ersten  Jahresversammlung  (1826)  zählte  der  Verein  63  Mitglieder, 
am  Schlufs  des  dritten  Vereinsjahrs  (1828)  181,  im  Jubiläumsjahre  1875: 
334,  und  wenn  die  Zahl  heute  auf  212  gesunken  ist,  so  darf  nicht  ver- 
gessen werden,  dafs  an  manchen  anderen  Orten  des  Vogtlandes  Vereine, 
die  sich  der  Geschichte  der  Heimat  widmen,  und  Museen  entstanden  sind, 
die  das  Arbeitsgebiet  des  Hohenleubener  Vereins  und  damit  den  Rekru- 
tiertmgsbezirk  für  seine  Mitglieder  räumlich  eingeschränkt  haben. 

Charakteristisch  ist  es  für  diesen  Verein,  dais  er  seinen  Sitz  auf  einem 
Dorfe  hat,  wenn  dieses  auch  in  reizvoller  Gegend  Uegt  und  Station  der 
Eisenbahnlinie  Weida-Mehltheuer  ist.  Wohl  hat  es  —  namentlich  bald  nach 
Schmidts  Tode  —  nicht  an  Versuchen  gefehlt,   den  Sitz  des  Vereins  nadi 


—     287     — 

einer  benachbarten  Stadt  zu  verlegen,  aber  diese  sind  erfreulicherweise 
bis  heute  gescheitert.  In  seinen  jungen  Jahren  hat  sich  der  Verein  der 
besonderen  Huld  der  Landesfiirsten,  der  Fürsten  von  Reuis  jüngerer  Linie, 
sowie  der  der  übrigen  Glieder  des  reuisischen  Fürstenhauses  erfreut.  Sie 
nahmen  in  der  Regel  an  den  im  Schlofs  zu  Hohenleuben  abgehaltenen 
Jahresversanmilungen,  die  im  Sommer  stattfanden  und  schon  vormittags  ihren 
Anfang  nahmen,  teil  und  stellten  dem  Vereine  Räiunlichkeiten  für  seine 
Sammlungen  zur  Verfügung.  Letztere  erhielten  anfangs,  und  zwar  bis  1853, 
im  Schlofs  zu  Hohenleuben  Unterkunft,  wurden  dann  einige  Jahre  im  Orte 
untergebracht  und  noch  vor  1860  nach  der  nahegelegenen,  dem  Fürsten 
Reufs-Köstrite  gehörigen  Ruine  Reichen fels  überführt.  Dort  befinden 
sie  sich  noch  heute  im  oberen  Stockwerk  eines  ehemaligen  Wirtschafb- 
gebäudes,  dessen  untere  Räume  der  MuseumskasteUan ,  zugleich  Gastwirt, 
})ewohnt. 

Seit  1842  fanden  aufser  den  auch  aus  gröfserer  Feme  besuchten  Jahres- 
versanunlungen  noch  andere,  mehr  örtliche  Zusammenkünfte  der  Vereinsmit- 
glieder statt,  imd  gegenwärtig  sind  Monatsversammlungen  daraus  geworden, 
die  Gelegenheit  zum  Anhören  von  Vorträgen  und  zu  mannigfacher  Aussprache 
geben.  Das  Arbeitsfeld  ist  von  Anfang  an  so  weit  gewesen  wir  nur  denkbar; 
vor  allem  auch  die  heute  unter  dem  Namen  „Volkskunde**  zusammengefafsten 
Forschungszweige  haben  stets  Berücksichtigung  gefunden.  An  die  Aufzeich- 
nung sprachlicher  Denkmäler  (Sprüche,  Lieder,  Sagen) ,  Beschreibung  von 
Gebräuchen  u.  dgl.  ist  hier  früh  gedacht  worden.  Aber  die  Ausgrabung 
und  Sammlung  vorgeschichtlicher  Funde  hat  doch  namentlich  in  früherer 
Zeit  im  Mittelpimkte  gestanden,  und  die  Sammlung  von  Gegenständen  aus 
der  jüngeren  Vergangenheit  ist  darüber  vielleicht  etwas  vernachlässigt  worden, 
obgleich  nach  heutigem  Empfinden  gerade  diese  Dinge  einen  ganz  besonderen 
Wert  namentlich  als  Bildungsmittel  für  Schule  und  Publikum  besitzen.  Da- 
gegen wurde  der  Denkmalpflege  und  der  Denkmalverzeichnung  früh  Aufmerk- 
samkeit geschenkt,  und  demgemäfs  sind  Zeichnungen  beachtenswerter  Denk- 
mäler dem  Vereinsarchiv  einverleibt  und  alte  Inschriften  abgeschrieben  worden. 
Schon  im  Jahre  1842  hat  der  Verein  einen  besonderen  Ausschufs  eingesetzt, 
der  für  Erhalttmg  und  Pflege  der  altertümlichen  Bauwerke,  Denkmäler  und 
Ruinen  des  Vogtlandes  Sorge  tragen  sollte.  Anlafs  dazu  bot  die  Zerstörung 
bzw.  der  Zerfall  der  Widenkirche  in  Weida,  der  Kirche  zu  Veitsberg  und 
der  Klöster  zu  Mildenfurth  und  Kronschwitz.  Die  Mitglieder  des  Denkmal- 
pflege-Ausschusses haben  die  Denkmäler  dauernd  besichtigt,  nach  Kräften 
für  ihre  Schonung  gesorgt,  sie  beschrieben  und  teilweise  abgezeichnet;  viele 
Aufsätze  in  den  Jahresberichien  sind  die  Früchte  dieser  Tätigkeit.  —  Am 
Schlüsse  des  dritten  Vereinsjahres  (1828)  bereits  wurde  das  ganze  Arbeits- 
gebet des  Vereins  —  das  Vogtland  —  in  1 5  Bezirke  (Geschäfbführerkreise) 
eingeteilt,  von  denen  gegenwärtig  einer,  der  zu  Schleiz,  noch  ab  „Zweig- 
verein **  ^)  besteht.  Der  jetzt  längst  selbständig  gewordene  Altertumsverein 
zu  Plauen  i.  V.  ist  einst  ebenfalls  als  Zweigverein  des  Hohenleubener  Vereins 


i)  Die  Zweigvereine  lieferten  V^  ihrer  Mitgliederbeiträge  an  den  Htaptverein  ab; 
daftr  war  ihr  Vorsitzender  Vorttandsmitglied  des  Haaptvereins,  der  aach  den  Jahresbericht 
des  Zweigvereius  unentgeltlich  mitdmckte. 


—     288     — 

entstanden,   während   die  jetzt  in   Gera,   Weida  und   Zeulenroda  be- 
stehenden Vereine  als  seine  Tochtervereine  bezeichnet  werden  müssen. 

Von  den  Arbeiten  und  Leistungen  des  Vereins  in  den  vergangenen 
Jahrzehnten  legen  die  Jahresberichte  Zeugnis  ab;  der  erste  erschien  1828 
im  Druck,  und  zuletzt  ist  der  74.  und  75.  in  einem  Doppelhefte  (267  Seiten) 
ausgegeben  worden.  Ein  Register  über  den  Inhalt  sämtlicher  Bände  gibt 
es  leider  nicht.  Nächst  den  Veröfifentlichungen ,  die  das  geistige  Band 
zwischen  allen  Bestrebungen  bilden  und  die  bereits  1875  >™  Austauscb- 
verkehr  103  fremden  Vereinen  zugänglich  gemacht  wurden  ^),  hat  der  Verein 
seine  Aufmerksamkeit  den  Sammlungen  zugewendet.  Sie  ghedem  sich 
in  Archiv,  Bibliothek  und  Gegenständliche  Sammlungen,  ^t^ 
wie  schon  gesagt,  zumeist  vorgeschichtliche  Funde  enthalten;  doch  sind 
auch  die  Bestände  an  Siegeln  (979  Nummern)  und  Münzen  (1991  Nmnmem) 
nicht  unbedeutend.  Das  Archiv  enthält  173  Urkunden  vom  XII. — XIII. 
Jahrhundert,  deren  Regesten  im  72./73.  Jahresbericht  veröffentlicht  sind, 
sowie  die  verschiedenartigsten  schrifthchen  Au&eichnungen  über  Ereignisse 
und  Zustände  aus  älterer  und  neuerer  Zeit,  u.  a.  auch  Abbildungen  von 
Bauwerken  u.  dgL  Die  Bibliothek  enthielt  1828  im  ganzen  112  Bücher; 
1875  waren  es  4000  Bände  geworden  und  gegenwärtig  sind  es  9000. 
Stellen  den  gröfsten  Teil  davon  auch  die  im  Austauschverkehr  erworbenen 
Schriften  dar  —  im  Jahre  1903/04  gingen  275  Bände  auf  dem  Wege  des 
Austausches  ein  — ,  so  ist  doch  allmählich  in  Reichenfels  eine  für  die 
Geschichte  des  Vogüandes  recht  reichhaltige  Bibliothek  entstanden,  und  in 
dem  zuletzt  genannten  Jahre  wurden  durch  Kauf  8  Bände  erworben;  dies 
ist  flir  einen  Verein,  der  nur  etwas  über  11 00  M.  Jahreseinnahme  hat, 
immerhin  anerkennenswert. 

Das  Museum  wird  jetzt  jährlich  von  etwa  800  Personen  besucht  Es 
ist  der  augenfälligste  Teil  der  Sammlungen  und  befindet  sich  in  drei  Zimmern 
des  genannten  Gebäudes;  der  Katalog  der  Gegenstände  zählt  2005,  ^^ 
über  Bilder,  Karten  usw.  1267  Nummern.  Dieses  Museum  dürfte  wohl 
das  älteste  Dorfmuseum')  überhaupt  sein.  Es  beruht  jedoch,  wie  an- 
gesichts der  Zeit,  da  es  entstanden  ist,  begreiflich  erscheint,  nicht  auf 
systematischen  Sammlungen;  es  sind  auch  nicht  nur  Fundgegenstände  aus 
einem  bestimmt  abgegrenzten  Vereinsgebiet  darin  enthalten,  sondern  ganz 
Thüringen  und  auch  andere  deutsche  (z.  B.  die  Rheinlande)  und  atiiser- 
deutsche  Länder  (z.  B.  Italien  und  Babylonien)  haben  dazu  beigesteuert. 
Jeder  Gegenstand  trägt  seine  Etikette,  auf  der  Katalognununer,  Fundort  und 
Geschenkgeber  verzeichnet  ist,  und  zwar  sind  die  Etiketten  bei  vogtländischen 
Gegenständen  von  grüner,  bei  aufservogtländischen  von  roter  und  bei 
solchen,  deren  Fundorte  unbekannt  sind  —  es  sind  nicht  allzuviel  — ^  von 
weifser  Farbe.  Unter  den  bedeutenden  vorgeschichtlichen  Funden  werden 
so  ziemlich  alle  für  Mitteldeutschland  überhaupt  in  Betracht  konunenden 
Typen  vertreten  sein.  Ihnen  hat  Virchow,  der  beim  50  jährigen  Vereins- 
jubiläum 1875  ^^c  Sammlung  besuchte,  besondere  Aufmerksamkeit  geschenkt 


1)  Gegenwärtig  ist  deren  Zahl  145. 

2)  VgL   diese  Zeitschrift   5.  Bd.,   S.  16  ff.    die  Mitteilung   über  Thüringische  Orts- 
museen!    S.  20  ist  besonders  von  Dorfmuseen  die  Rede. 


—     289     — 

und  an  den  Schädeln  Messungen  vorgenommen,  kraft  deren  er  die  Urbe- 
wohner  Ostthüringens  bestimmt  als  Germanen  und  nicht  als  Slawen  in  An- 
spruch nehmen  zu  sollen  glaubt.  Auf  seine  Veranlassung  hat  der  Verein 
1876  auch  einen  Teil  der  Funde  gelegentlich  der  in  Jena  tagenden  Ver- 
sammlung der  Deutschen  anthropologischen  Geselbchait  dort  ausgestellt 
Aus  geschichtlicher  Zeit  enthält  das  Museum  Kirchengeräte  des  Mittelalters, 
Folterwerkzeuge,  Waffen  u.  dgl. ,  bezüglich  der  Gebrauchsgegenstände  aus 
den  letzten  zwei  Jahrhunderten  dagegen  bedarf,  wie  schon  oben  bemerkt, 
die  Sammlung  noch  sehr  der  Vervollständigung. 

Das  Leben  und  die  Tätigkeit  des  Vogtländischen  Altertumsforschenden 
Vereins  in  acht  Jahrzehnten  ist  vielgestaltig  gewesen,  und  die  Früchte  seiner 
Arbeit  liegen  in  greifbarer  Gestalt  vor.  Möge  er  sich  so  weiter  entwickeln, 
wie  es  bisher  der  Fall  gewesen  ist! 

Die  gegenwärtig  an  leitender  Stelle  wirkenden  Personen,  namentlich 
der  Vorsitzende  (seit  1901)  Pastor  Jahn  (Hohenleuben),  und  die  besonders 
dir  das  Museum  sorgenden  Herren  Robert  Ei  sei  imd  Rektor  Auerbach 
(Gera)  bemühen  sich  in  jeder  Weise  um  den  Verein,  der  erst  neuerdings 
wieder  an  den  Ausgrabimgen  des  Klosters  Kronschwitz  in  Verbindung  mit 
dem  Schleizer,  Geraer,  Weidaer  und  Plauener  Verein  tätig  ist ;  dabei  handelt 
es  sich  um  Feststellung  des  Grundrisses  der  Klosterkirche  und  die  Ermitte- 
lung der  Begräbnisstätten  der  Vögte  von  Weida  durch  Beseitigung  der  Schutt- 
massen, und  bis  jetzt  sind  auch  recht  befriedigende  Ergebnisse  erzielt  worden. 
An  Aufgaben  fUr  die  Zukunft  mangelt  es  nicht.  Vor  allem  gilt  es,  den 
Museumskatalog  durch  den  Druck  zu  veröffentlichen,  denn  erst  durch 
einen  gedruckten  Katalog  würde  die  ganze  Sammlung  wissenschaftlich  be- 
nutzbar werden  und  zugleich  an  erzieherischem  Wert  gewinnen.  Dann  mufs 
der  Verein  aber  auch  daran  denken,  seinen  Sanmilvmgen  ein  neues  Heim 
zu  schaffen,  denn  die  jetzigen  Räume  genügen  nicht  mehr  entfernt,  und 
überdies  würde  bei  Feuersgefahr  der  leichte  Fachwerkbau  recht  bald  ein 
Raub  der  Flanunen  werden,  so  dafs  mit  ihm  der  wertvolle  Inhalt  verloren 
wäre.  Möge  der  Verein  bald  einen  gangbaren  Weg  finden,  damit  die  jetzt 
mit  Recht  gehegten  Besorgnisse  gegenstandslos  werden! 

Christian  Schlag  (Weida). 

Eing;egang;ene  Bficher. 

Fraknöi,  Wilhelm:  Papst  Innocenz  XI.  (Benedikt  Odescalchi)  imd  Ungarns 
Befreiung  von  der  Türkenherrschaft.  Aus  dem  Ungarischen  übersetzt 
von  Peter  Jekel.    Freiburg  i.  Br.,  Herder,   1902.    288  S.  8^.  M.  4,50. 

Gierl,  J.  v.  G. :  Geschichtliches  aus  den  Nuisdorfer  Matrikeln  [^  Dm 
Bayerische  Oberland  am  lfm,  Organ  des  „Historischen  Vereins  Rosen- 
heim", 3.  Jahrg.  (1903),  S.  39—44]. 

Herbert,  Heinrich :  Die  Gegenreformation  in  Hermannstadt  zur  Zeit  Karls  VI., 
Mitteilungen  aus  den  Hermannstädter  Magistratsprotokollen  [«b  Archiv 
des  Vereins  ftir  siebenbürgische  Landeskunde.  Neue  Folge,  29.  Bd. 
(Hermaimstadt  1899),  S.  25 — 113]- 

Köberlin,   Alfred:   Landbuch    von  Bayreuth-Kulmbach  aus  der  Mitte  f* 
XV.  Jahrhunderts  [=  Sonderabzug  aus  dem  Archiv  für  OeschichiA  1 
Altertumshwnde  von  Oberfranken,  22.  Bd.  (1904)]. 


—     290     — 

Jellinek,  Arthur  L. :  Bibliographie  der  vergleichenden  Liteniturgeschichtr. 
Erster  Band.     Berlin,  Alexander  Duncker,  1903.     76  S.  8^. 

Kramer:  Zur  Geschichte  des  Zittauer  Volksschulwesens  im  XVII.  und 
XVIII.  Jahrhundert  [=  Mitteilungen  der  Gesellschaft  für  Zittaiter  Ge- 
schichte, Jahrg.  3  (1902)  Nr.  3]. 

Kuske,  Bruno:  Das  Schuldenwesen  der  deutschen  Städte  im  MitteUker 
[=  Zeitschrift  für  die  gesamte  Staatswissenschaft,  herausgegeben  von 
K.  Bücher,  Ergänzungsheft  XII].  Tübingen,  H.  Laupp,  1904. 
92  S.  8^     M.  2,50. 

Losch,  Philipp:  Zwei  Kasseler  Chroniken  des  XVUL  Jahrhunderts,  ein 
Beitrag  zur  Orts-  imd  Familiengeschichte.  Kassel,  Karl  Vietor,  1904« 
173  S.  8*^.     M.  2,50. 

Pfau,  C.:  Neudrucke  aus  alten  [RochÜtzer]  Wochenblättern,  Jahrgänge 
1819 — 1831.     Rochlitz,  Bode  o.  J.     126  S.  8^ 

Pyl,  Th. :  Die  Entwickelimg  der  kirchlichen  und  weldichen  Musik  in 
Greifswalds  Vergangenheit  [=  Pommersche  Jahrbücher,  5.  Bd.  (Greife- 
wald, Julius  Abel,   1904),  S.  53 — 74]. 

Richter,  Eduard :  Die  Vergleichbarkeit  naturwissenschaftlicher  und  geschicht- 
licher Forschimgsergebnisse.  Vortrag,  gehalten  in  der  feierlichen  Sitzung 
der  Kaiserlichen  Akademie  der  Wissenschaften  am  28.  Mai  1903. 
Wien,  k.  k.  Hof-  und  Staatsdruckerei,  in  Kommission  bei  Karl  Gerolds 
Sohn,  1903.     30  S.   16®. 

Schröder,  Edward:  „Kölsche"  und  „Wettereibische",  eine  Münznamen- 
studie  [=!  Sonderabdruck  aus  der  Frankfurter  Münxzeüung,  Jahrg. 
1904].     25  S.  8^ 

Seeliger,  E.  A. :  Zur  Verwaltungs-  und  Ver&ssungsgeschichte  Löbaus  bb 
zum  Pönfalle  [=  Neues  Lausitzisches  Magazin,  79.  Bd.,  S.  34 — 134J. 

Siegl,  Karl:  Das  handtwergk  der  Bader  und  Baünerer  in  alter  Zeit,  nach 
Urkunden  des  Egerer  Stadtarchivs  [s=  Sonderabdruck  aus  der  Prager 
medizinischen  Wochenschrift y  28.  Jahrg.  (1903)  Nr.  11 — 12].     16  S.  8*, 

Sorgen  fr  ey,  Theodor:  Die  Abiturienten  der  Nikolaischule  zu  Leipzig 
1866— 1877.     Leipzig,  H.  Haessel,   1904.     40  S.  8®. 

Sturmhoefel,  Konrad:  Wie  wurde  Sachsen  ein  Königreich?  [^  Hoch- 
schulvorträge für  jedermann,  Heft  33].  Leipzig,  Seele  &  Co,  1903. 
32  S.  8^ 

Van  CS a,  Max:  Über  die  Gründung  eines  niederösterreichischen  Landes- 
musetuns  in  Wien  [=  Monatsblatt  des  Wissenschaftlichen  Klubs  in 
Wien,  25.  Jahrg.  (1904)  Nr.  s]-        _ 

Virchow.  Zur  Erinnerung  an  Rudolf  Virchow:  Drei  historische  Arbeiten 
Virchows  zur  Geschichte  seiner  Vaterstadt  Schivelbein.  Von  neuem 
herausgegeben  von  der  Gesellschaft  für  Pommersche  Geschichte 
und  Altertumskunde.  Mit  sechs  Abbildungen.  Berlin,  A.  Asher 
&  Co,  1903.     83  S.  8®. 

Wehrmann,  M. :  Pommersches  aus  Rom.  Vortrag,  gehalten  in  der 
General- Versammlung  der  GeseUschaft  fUr  Pommersche  Geschichte  und 
Altertumskunde  am  19.  Mai  1904.  Als  Manuskript  gedruckt.  Stettin 
1904.     20  S.  8^ 

H«ntiug«ber  Dr.  Annin  lllle  in  Leipsic. 
Druck  nnd  VerUg  tod  FViodrich  Andr«ui  Parthet,  Aktieaftts«lUcbaft,  Godia. 


Deutsche  Geschichtsblätter 

Monatsschrift 


nur 


Forderung  der  landesgeschicbtlichen  Forschimg 

VI.  Band  August/September  1905  11./ 12.  Heft 

Das  Gesangbuch  und  die  Heimatkunde 

Von 
Superintendent  Wilhelm  Nelle  (Hamm  i.  W.) 

Dann  und  wann  begegnet  uns  im  Sprechsaal  oder  sonstwo  in 
unseren  Zeitungen  ein  Stoisseufzer  über  die  Gesangbuchsnot  in  Deutsch- 
land, d.  h.  über  die  groise,  übergrofse  Zahl  verschiedener  Gesang- 
bücher, die  in  den  verschiedenen  Provinzial-  und  Landeskirchen  im 
Gebrauche  sind.  Beamte  und  andere  Leute,  die  oft  aus  einer  Gegend 
in  die  andere  versetzt  werden,  geraten  —  es  ist  begreiflich  —  in 
eine  gewisse  Aufregung,  wenn  sie  alle  paar  Jahre  ihre  Familienglieder 
mit  anderen  Gesangbüchern  versorgen  sollen.  Der  Übebtand  ist  grofs. 
Fh.  Dietz  hat  kürzlich  (Marburg  1904)  eine  Tabellarische  Nachtveisung 
des  Liederbestandes  der  jetzt  gebräuchlichen  Landes-  und  Provinstiai- 
gesangbOcher  zusammengestellt  Er  legt  da  39  Bücher  zugrunde;  drei 
davon,  der  Eismacher  Entwurf,  das  Militärgesangbuch  und  das 
Bunsen-Fischersche  Gesangbuch,  gehören  nicht  zu  den  „Provinzial- 
und  Landesgesangbüchem".  Die  übrigen  36  aber  bilden  mitnichten 
den  ganzen  Bestand  der  in  den  evangelischen  Kirchen  des  Deutschen 
Reiches  heute  eingeführten  Gesangbücher.  Deren  Zahl  mag  wohl 
über  hundert  sein.  Das  kleine  Harzgebiet  z.  B.  hat  drei  verschie- 
dene Stolbergische,  dazu  das  Provinz -Sächsische,  das  Hannoverische 
und  das  Braunschweigische  Gesangbuch,  also  mindestens  sechs  auf 
430  engem  Räume.  Das  Wuppertal,  d.  h.  allein  die  beiden  Städte 
Elberfeld  und  Barmen  mit  einer  unablässig  hin  und  her  ziehenden 
Arbeiterbevölkerung,  hatte  bis  vor  kurzem  vier  verschiedene  landes- 
kirchliche Gesangbücher  im  Gebrauch!  Und  anderwärts  ist  es  viel- 
fach nicht  anders.  Der  Ruf  nach  einem  einheitlichen  deutschen 
-evangelischen  Reichsgesangbuch  scheint  eine  so  wohlbegründete,  seine 
Schaffung  und  Einftihrung  eine  so  einfache  Sache  zu  sein.  Der  Ruf 
ist  denn  auch  dann  und  wann  erhoben  worden,  nicht  g|y[  in  Sprech- 
^aalergüssen  politischer  Zeitungen,   nein,   z.  B.  im  Jr'  -^er 

Preu&ischen   Generalsynode,   in  grofser   Stunde, 


—     294     — 

Gesangcbuch  ist  ein  Heimatbuch.  Es  zeigt  jedem  Gau,  jedem 
Stamme,  was  Gott  Besonderes  im  heiligen  Liede  ihm  gab,  und 
damit  zeigt  es  ihm  auch,  in  welcher  Eigentümlichkeit  das  kirchliche 
und  christliche  Leben  sich  bei  ihm  ausgeprägt  hat.  Haben  doch  alle 
Gaue  gewetteifert  im  heiligen  Liede!  Von  der  Maas  bis  an  die 
Memel,  von  der  Etsch  bis  an  den  Belt  ist  kein  Gebiet,  das  nicht 
seine  Sänger  hervorgebracht  hätte.  Wenn  in  einem  Gesangbuche 
alles  stehen  sollte,  was  die  Rheinländer  von  ihren  Lampe  und 
Tersteegen,  die  Sachsen  von  ihrem  Geliert,  die  Schlesier  von 
ihren  Schmolck  und  Woltersdorf,  die  Schwaben  von  ihrem 
Hiller  alles  singen  wollen,  um  nur  diese  Beispiele  zu  nennen,  so  würde 
solch  ein  Buch  Tausende  von  Liedern  enthalten  müssen.  Darum  wird 
es  denn  wohl,  wenn  wir  nicht  für  das  einzelne  Land  und  die  einzelne 
Provinz  in  unserem  kirchlichen  Liederbestande  verarmen  sollen,  bei 
einer  gewissen  Mannigfaltigkeit  der  Gesangbücher  sein  Bewenden  be- 
halten müssen.  Diese  Mannigfaltigkeit  ist  kein  Mangel, 
sondern  ein  Reichtum.  Wir  wollen  gewifs  alles  tun,  dafs  der 
Liederbestand  in  den  Gesangbüchern  nach  Auswahl  und  Text-  und 
Melodiengestalt  ein  möglichst  einheitlicher  werde,  aber  wir  wollen 
auch  alles  tun,  um  jedem  Gau  die  ihm  seit  Menschenaltem  oder  seit 
Jahrhunderten  besonders  ans  Herz  gewachsenen  Lieder,  die  vielleicht 
für  alle  anderen  Gaue  nur  geringe  oder  überhaupt  keine  Bedeutung 
haben,  zu  erhalten.  Zu  beidem  müssen  nicht  nur  die  Hymnologen, 
nicht  nur  die  Geistlichen,  sondern  die  Gemeinden,  das  christliche  Volk 
mitwirken.  Ihm  gilt's,  mit  Luther  zu  reden,  auch  hierbei  „auüs  Maul 
sehen*'.  Wenn  wir  dann  in  Deutschland  einige  Dutzend  verschiedene 
Gesangbücher  behalten,  so  wird  darüber  kein  Verständiger  klagen. 
Und  was  die  Kosten  angeht,  die  die  Anschaffung  neuer  Gesangbücher 
beim  Verziehen  von  Land  zu  Land  oder  von  Provinz  zu  Provinz  ver- 
ursacht, so  möchten  wir  daran  erinnern,  wie  viel  Geld  —  jetzt  einmal 
von  den  vorhin  berührten  Schulbüchern  und  sonstigen  Lehrmitteln 
ganz  abgesehen  —  doch  sonst  für  literarische  Zwecke,  für  die  Tages- 
presse z.  B.  von  reich  und  arm  aufgewendet  wird.  Was  wollen  da  ein 
paar  Mark  für  ein  paar  Gesangbücher  sagen? 

Die  Gesangbücher,  wie  wir  sie  seit  den  Tagen  der  Reformation, 
d.  h.  also  seitdem  es  überhaupt  ein  Gesangbuch  in  der  Hand  unseres 
christlichen  Volkes  gibt,  besitzen,  zeigen  ein  doppeltes  Gesicht. 
Machen  wir  den  Querschnitt,  so  finden  wir  von  Gebiet  zu  Gebiet,  oft 
von  Stadt  zu  Stadt,  andere  Gesangbücher.  Machen  wir  aber  den 
Längsschnitt,  so  finden  wir  gewöhnlich  nach  längstens  fünfiög  Jahren, 


—     295     — 

oft  aber  schon  nach  einem  Menschenalter,  in  demselben  Gebiete  ein 
neues  Gesangbuch.  Zwar  manches  Gesangbuch  hat  sich  jahrhunderte- 
lang erhalten.  Aber  dann  hat  es  ihm  wenigstens  an  Anhängen  allerart 
von  neuen  Liedern  nicht  gefehlt  Im  ganzen  aber  behält  KlausHarms 
recht  mit  seinem  Ausspruche,  alle  fünüzig  Jahre  komme  ein  neues  Gesang- 
buch auf.  Daus  diese  Tatsache  in  der  Natur  des  kirchlichen  und  christ- 
lichen Lebens,  wenn  dieses  wirklich  ein  Fluis  und  kein  Sumpf  sein  soll, 
begründet  ist,  haben  wir  hier  nicht  zu  erörtern.  Die  Erfahrung  der  Jahr- 
hunderte, des  XIX.  zumal,  bestätigt  diesen  Harmsschen  Satz  vollauf. 

Mögen  wir  nun  aber  in  der  Gesangbuchsgeschichte  den  Längs- 
schnitt oder  den  Querschnitt  machen :  auf  jeden  Fall  erweist  sie  sich 
uns  als  eine  unvergleichliche  Quelle  für  die  Heimatkunde.  Unser 
evangelisch  kirchliches  Leben  hat  sich  ja  in  einer  Beziehung  recht 
einheitlich  entwickelt:  dem  Heldenzeitalter  der  Reformation  folgte  in 
allen  Gebieten  eine  gewisse  Versteifung  und  Erstarrung  des  kirchlichen 
Lebens,  dem  blutgedüngten  Acker  des  Volks-  und  Kirchenlebens  zur 
Zeit  des  Dreiisigjährigen  Krieges  folgte  die  Saat-,  Blüte-  und  Ernte- 
zeit des  Pietismus ;  dieser  mündete  um  die  Mitte  des  XVIII.  Jahrhunderts 
in  den  Rationalismus  aus,  und  auf  dessen  religiöse  Verflachung  folgte 
im  XIX.  Jahrhundert  ein  neues  und  tieferes  Erfassen  der  Geheimnisse 
unseres  Glaubens.  Kein  Gebiet  unseres  evangelischen  Deutschlands 
hat  sich  diesen  verschiedenen  Bewegungen  entziehen  können:  dort 
leuchten  sie  flammender,  dort  in  ruhigerem  Glühen  auf.  Vorhanden 
sind  sie  überall,  nur  dafs  sie  sich  je  nach  der  Stammeseigentümlich- 
keit früher  oder  später,  leidenschaftlicher  oder  stiller  Bahn  gebrochen 
haben.  Das  erkennen  wir  zum  g^ten  Teil ,  oft  zum  besten  Teil ,  aus 
der  Geschichte  der  Gesangbücher.  Sie  sind  der  Niederschlag  dessen, 
was  in  Zucht  und  Sitte,  in  Glauben  und  Beten  die  einzelnen  Volks- 
stämme errungen  und  behauptet  haben.  In  dieser  wunderbar  viel- 
seitigen Ausprägung  ein  und  derselben  kirchlichen  Entwickelung  je 
nach  dem  Temperament,  der  Begabung,  den  natürlichen,  politischen, 
sozialen  Lebensbedingungen  eines  Gebietes  liegt  eine  der  anziehendsten 
Seiten  unserer  Volksgeschichte.  Hier  sehen  wir  die  Geschichte  unseres 
christlichen  Volkes  gleichsam  von  unten;  nicht  von  oben,  aus  dem 
Gesichtspunkte  der  Herrscher,  der  Führer  auf  staatlichem  oder  geistigem 
oder  geistlichem  Gebiete,  sondern  aus  dem  Gesichtspunkte  dissen, 
woran  das  Volk  sich  hielt  und  aufrichtete,  was  ihm  zu  Herzen  ging 
und  von  Herzen  kam. 

Die   alten   Gesangbücher  bieten  uns   nun   für  die   Kirchen-  ' 
Volkskunde,   für  das  sittliche  und  Kulturleben  weit  mehr  als  ur 


—     296     — 

heutigen.  Diese  beschränken  sich  meist  auf  die  ledigliche  Wieder- 
gabe der  Lieder,  meist  noch  dazu  ohne  Noten.  Ohne  Noten!  Das 
haben  wir  immer  wieder  laut  zu  beklagen.  Ohne  Noten,  das  meinen  wir 
aber  jetzt  einmal  in  einem  anderen  Sinne,  nicht  im  Sinne  von  Musik- 
noten. Nein,  wie  die  alten  geschriebenen  Kirchenbücher  über  Taufen, 
Trauungen,  Begräbnisse,  so  bieten  auch  die  alten  gedruckten  Gesang- 
bücher an  Beigaben  allerart  so  vielerlei,  dafs  man  nach  verschiedenen 
Seiten  hin  die  kirchliche  wie  die  allgemeine  Heimatkunde  daraus 
lebensfrisch  und  farbenhell  machen  kann. 

Wir  wollen  im  folgenden  vier  Gebiete  aufweisen,  für  die  die 
Gesangbuchkunde  als  Heimatkunde  von  hohem  Werte  ist,  i)  die  Ge- 
schichte des  kirchlichen  Lebens,  2)  die  Geschichte  des  christ- 
lichen Lebens,  3)  die  Geschichte  der  Kirchenliederdichtung, 
4)  die  allgemeine  Kulturgeschichte. 

Die  Geschichte  des  kirchlichen  Lebens 

So  unendlich  mannigfaltig  die  in  jedem  Zeiträume  hervorgetretenen 
Gesangbücher  auch  sind,  zuweilen  ei^bt  ihre  Vergleichung  doch  eine 
überraschende  Familienähnlichkeit.  Es  lassen  sich  da  förmlich  Ge- 
sangbuchfamilien mit  ihren  Stammbäumen  feststellen,  und  diese  Stamm- 
bäume erstrecken  sich  wohl  gar  über  Jahrhunderte.  Eine  derartige 
Verwandtschaft  hat  oft  etwas  höchst  Überraschendes.  DaCs  der  za 
Wittenberg  1 524  hervorgequollene  Liederstrom  alsbald  in  ganz  Deutsch- 
land flutet,  dafs  die  Wittenberger  Lieder  allerorten  den  Grundstock 
der  Gesangbücher  bilden,  wundert  uns  bei  der  Bedeutung  Wittenbergs 
und  Luthers  nicht.  Aber  wie  kommen  z.  B.  die  Strafsburger  Lieder 
schon  so  früh  in  die  plattdeutschen  Gesangbücher,  schon  1525  nach 
Rostock  usw.  ?  Nun  wäre  es  ja  verkehrt,  in  allen  Fällen,  wo  die  Gesang- 
bücher eines  Gebietes  von  denen  eines  anderen  abhängig  sind,  ohne  weite- 
res eine  Beeinflussung  auch  in  allen  anderen  religiösen  Fragen  und  An- 
schauungen behaupten  zu  wollen.  Aber  wo  eine  solche  Gesangbuchsver- 
wandtschaft stattfindet,  wird  man  wenigstens  Anlafis  und  Pflicht  haben,  den 
übrigen  kirchlichen  Beziehungen  sorgsam  nachzuspüren.  Oftistesdie 
Gesangbuchkunde,  die  den  ersten  Anstofs  gibt,  zu  fragen, 
ob  und  wie  das  eine  Gebiet  vom  anderen  reformatorisch  an- 
geregt,  kirchlich  und  christlich  befruchtet  worden  ist. 

Einige  Beispiele  mögen  das  Gesagte  beleuchten.  Eine  der  trefflich- 
sten Gesangbuchgeschichten  ist  die  von  J.  Bachmann  über  Mecklen- 
burg (Rostock  1881).  In  dieser  durch  Sorgfalt  und  Weitblick  gleich 
ausgezeichneten  Untersuchung  wird  zum   ersten  Male  der  höchst  an- 


—     297     — 

ziehende  Stammbaum  der  plattdeutschen,  vor  allem  der  Rostocker 
Gesangbücher  sozusagen  erschöpfend  dargestellt.  Keine  andere  Tat- 
sache vermag  die  hervorragende  Bedeutung  der  damals  in  vorderster 
Reihe  stehenden  Handels-  und  Universitätsstadt  Rostock  für  das  weite 
niederdeutsche  Gebiet  so  mit  einem  Schlage  ins  Licht  zu  stellen,  wie 
die  Verbreitung  der  Rostocker  Gesangbücher.  Das  zweite  Rostocker 
Gesangbuch,  das  von  1531,  hat  sechzehn  mehr  oder  weniger  ver- 
änderte Wiedergaben  (Neudrucke)  erlebt,  und  zwar  in  Rostock  selbst, 
in  Lübeck,  Wittenberg,  zumeist  in  Magdeburg.  Eine  viel  weitere  Ver- 
breitung fand  ^  Rostocker  Gesangbuch  von  1577.  Fünfundzwanzig 
Drucke  sind  von  demselben  bekannt,  die  in  einem  Zeiträume  von 
etwa  70  Jahren,  meist  mit  nur  geringen  Veränderungen  des  Lieder- 
bestandes, vorgenommen  sind.  Es  erschien  in  Neudrucken  in  Witten- 
berg seit  1580,  in  Magdeburg  seit  1584,  in  Dortmund  1585,  in  Greifs- 
wald seit  1587,  in  Hamburg  seit  1607,  in  Stettin  161 1,  in  Lüneburg 
gleichfalls  seit  161 1  und  zuletzt  dort  noch  1649.  So  schlang  sich 
ein  Band  der  Einheit  der  Anbetung  im  heiligen  Liede  um  das  evan- 
gelische Volk  in  Sachsen,  Pommern,  Mecklenburg,  Hamburg,  Lüne- 
burg, Westfalen.  Aber  das  Buch  ist  nicht  nur  bis  1649  in  plattdeutscher 
Sprache  an  all  den  genannten  Orten  sozusagen  nachgedruckt;  es  ist 
auf  zwei  Jahrhunderte  hinaus  für  mehrere  der  bedeutendsten  nieder- 
rheinisch-westfalischen  Gesangbücher  ma&gebend  gewesen,  mafsgebend 
sowohl,  was  die  Anordnung,  als  auch  was  den  Grundstock  der  Lieder 
angeht.  Auf  der  Grundlage  dieses  Gesangbuches  ruhen,  wie  ich  in 
meinen  Untersuchungen  über  diese  Gesangbücher  nachgewiesen  habe 
(im  Jahrbuche  des  Vereins  für  die  Evangelische  Kirchengeschichte  der 
Chrafschaft  Mark  3.  Bd.,  Gütersloh  1901),  das  Essener  Gesangbuch  von 
1614,  <^  Dortmunder  von  1630,  das  Soester  von  1714,  und  das  der 
Graüschaft  Mark  (vor  1721  erschienen).  Seine  Lieder  finden  sich  aber 
zum  guten  Teile  auch  in  den  übrigen  westfälischen  Gesangbüchern 
des  XVIII.  Jahrhunderts.  Bis  dahin  hatte  man  bei  dem  Essener 
Gesangbuche  von  1614fr.  immer  nur  die  Abhängigkeit  von  dem 
Bonnischen  Gesangbuche  betont.  So,  der  nicht  überall  gut  unter- 
richteten Vorrede  des  Essener  Gesangbuches  vom  Jahre  1700  folgend, 
Qrecelius  (Zs.  d.  Berg.  Gesch.- Verein  V,  S.  286)  und  noch  Simons  (Theol. 
Arbeiten  I,  Bonn  1897,  S.  65  f.).  Meine  Nachweisungen  haben  er- 
geben, dafs  das  Essener  Buch  in  ungleich  gröiserer  Abhängigkeit  von 
dem  Rostocker,  als  von  dem  Bonner  Buche,  wenn  von  dieser  über- 
haupt die  Rede  sein  kann,  sich  befindet.  So  neu  und  überraschend  es  war, 
man  mufste  sich  seitdem  in  die  unbestreitbare  Tatsache  finden,  dafis  das 


—     298     — 

westfälische  und  auch  das  Essener  kirchliche  und  kultische  Leben  im 
XVI.  und  XVII.  Jahrhundert  nicht  aus  der  rheinischen  Kirche,  die 
doch  im  ganzen  unter  reformiertem  Einflüsse  stand,  sondern  aus 
den  Gebieten  niedersächsisch-lutherischen  Kirchentums  seine 
Nahrung  gezogen  hat. 

Nicht  weit  von  Essen  dagegen,  in  Düsseldorf,  wehte  ein  ganz 
entgegengesetzter  Wind.  Die  Schaffung  des  Essener  Gesangbuches 
von  1614  ist  im  Gegensatze  zu  dem  Düsseldorfer  von  161 2  erfolgt, 
das  ein  Nachdruck  eines  reformierten,  eines  Herbomischen  Gesang- 
buches war.  Die  vollständige  Darstellung  der  Geschichte  der  Her- 
bomer  Gesangbücher  (seit  1589)  ist  ebe  anziehende  Aufgabe,  die 
noch  der  Lösimg  harrt.  Auch  hier  handelt  es  sich  um  eine  grofse 
Gesangbuchsfamilie,  die  hin  und  her  im  reformierten  Westdeutschland 
ausgebreitet  war.  Auf  einen  der  interessantesten  Züge  im  Antlitze 
dieser  Familie  will  ich  doch  im  Vorbeigehen  hinweisen,  weil  er  noch 
nirgends  Erwähnung  gefunden  hat.  Ich  habe  in  meiner  Geschichte 
des  Kirchenliedes  (S.  81  f.)  daraufhingewiesen,  dafs  die  reformierten 
Gesangbücher  um  1600  an  manchen  lutherischen  Liedern,  namentlich 
an  denen  zu  den  fünf  Hauptstücken,  Umdichtungen  vornahmen. 
Das  von  den  zehn  Geboten  mufste  sich  auf  die  reformierte  Zählung  der 
Gebote  einrenken  lassen,  in  den  Glauben  wurde  eine  Strophe  ein- 
gefügt, weil  bei  Luther  der  II.  Artikel  zu  kurz  gekommen  sei,  aus 
„Vater  unser"  wurde  „Unser  Vater",  auch  dichtete  man  eine  Strophe 
hinzu,  weil  Luther  den  Lobpreis  („Denn  dein  ist  das  Reich  .  .  .*') 
nicht  berücksichtigt  hatte.  Auch  sein  Tauflied  wurde  geändert,  am 
auffalligsten  aber  sein  Abendmahlslied  „Jesus  Christus  unser  HeUand". 
Manche  dieser  Änderungen  treten  in  den  Herbomer  Büchern  zuerst 
auf.  Aber  es  ist  höchst  interessant  zu  sehen,  wie  die  einen  refor- 
mierten Bücher  diese  Änderung  ablehnen,  die  anderen  jene,  so  dais 
hier  in  den  reformierten  Gesangbüchern  Westdeutschlands  (Kassel, 
Frankfurt  u.  a.)  und  den  Herbomem  selbst  keine  Übereinstimmung 
herrscht.  Woher  diese  Verschiedenheiten?  Zufällig  sind  sie  gewüs 
nicht.  Jedenfalls  beleuchtet  diese  Tatsache  aber  die  verschiedene, 
dem  Luthertume  hier  geneigter,  dort  feindseliger  gegenüberstehende 
Haltung  der  Reformierten  jener  Gebiete  und  Zeiten. 

Im  Zeitalter  Rists  und  Gerhardts  macht  sich  auf  einem  ganz 
anderen  Gebiete  eine  eigentümliche  Familienähnlichkeit  gewisser  Gesang- 
bücher geltend.  Seit  dem  Jahre  1646  gaben  Gesenius  und  De  nicke 
in  Hannover  die  verschiedenen  Ausgaben  jenes  merkwürdigen  Gesang- 
buches heraus,  das  nicht  etwa  aus  Gründen  der  Lehre,  sondern  ledig- 


—     299     — 

lieh  des  Geschmacks  an  manchen  bekannten  Liedern  die  einschnei- 
dendsten Veränderungen  vornahm.  Weit  und  breit  in  Nord-  und 
Nordwestdeutschland  eignete  man  sich  diese  Veränderungen  an.  Noch 
im  XIX.  Jahrhundert  haben  sie  in  vielen  Büchern  dieser  Gebiete,  zum 
Teil  bis  in  die  achtziger  und  neunziger  Jahre  geherrscht.  Es  bedarf  noch 
der  Untersuchung,  ob  die  Gebiete,  die  sich  diese  Hannoverischen 
Veränderungen  aneigneten,  sich  nicht  ziemlich  genau  decken  mit 
denen,  die  im  XVI.  Jahrhundert  und  bis  in  die  Zeit  des  Dreifeigjährigen 
Krieges  durch  die  Gemeinsamkeit  plattdeutscher  Gesangbücher 
bemerkenswert  sind.  Die  obersächsischen  und  oberdeutschen  Lande 
nahmen  von  diesen  Hannoverischen  Liederumgestaltungen  keine  Notiz. 

Im  Zeitalter  der  Aufklärung  ist  Berlin  das  grofse  Licht,  das  den 
Tag  dieser  wunderlichen  Aufklärung  regiert.  Das  Diterichsche  Ge- 
sangbuch vom  Jahre  1780  ist  in  vielen  Ausgaben  hin  und  her  in  den 
preufsischen  Landen  teils  verändert,  teUs  unverändert  ausgegangen, 
meist  ohne  Angabe  seines  Ursprunges.  Die  Sonderausgabe  führte 
sich  gewöhnlich  als  Original  in  der  betreffenden  Gegend  ein,  ja  es 
kam  vor,  dafs  jemand  um  einiger  Zusätze  willen,  die  er  dem  Buche 
gegeben  hatte,  sich  für  seinen  Urheber  ausgab!  Berlin  war  ton- 
angebend auf  diesem  Gebiete,  auch  zu  der  Zeit,  als  Weimar  längst 
auf  dem  Gebiete  der  Literatur  die  anerkannte  und  überragende  Autorität 
war.  Was  Herder  von  Weimar  aus  über  das  Volkslied  seinen  Deutschen 
in  Zungen  verkündigt  hat,  ist  im  XIX.  Jahrhundert  der  Grundstein  für 
den  Aufbau  der  Hymnologie,  für  eine  neue  Betrachtung  des  Kirchen- 
liedes geworden.  Damals  hörte  von  den  Gesangbuchsmachern  niemand 
darauf.  Ja  Herder  selbst  gab  in  dem  Weimarer  Gesangbuche  vom 
Jahre  1795  zwar  einen  ersten  Teil  mit  unveränderten  Liedern,  dann 
aber  einen  zweiten,  der  nach  Auswahl  und  Textgestalt  so  seicht  war, 
wie  Berlin,  das  Berlin  Nicolais  und  Diterichs,  es  nur  wünschen  konnte. 

Gesangbücher  sind  Gottesdienstbücher.  Die  Gesangbücher  vor 
der  Zeit  des  Rationalismus  geben  durch  die  beigefügten  Überschriften 
zu  den  Liedern,  durch  die  oft  zahlreichen  Register,  durch  die  Art  des 
Druckes  der  Lieder  uns  die  wertvollsten  Aufschlüsse  über  Form  und 
Art  der  Gottesdienste  in  den  verschiedenen  Gebieten  der  deutschen 
evangelischen  Christenheit.  Vielfach  sind  die  Lieder  als  Wechsel- 
gesänge gedruckt.  Zwischen  deutschen  Strophen  wurden  lateinische, 
die  lateinischen  Lieder  wurden  wechselweise  Strophe  um  Strophe  so 
gesungen,  dafe  etwa  der  Chor  (Schülerchor)  die  lateinische  Strophe, 
die  Gemeinde  dann  ihre  deutsche  Übersetzung  sang.  Gewisse  Gebiete 
hatten  eine  besondere  Vorliebe  für  den  lateinischen  Volksgesang,  hier 


—     800     — 

und  da  sogar  reformierte.  Andere  wieder  haben  sich  der  lateinischen 
Lieder  früh  entäufsert.  Die  Register  zu  den  Gesangbüchern  sind  nicht 
selten  eine  wahre  Fundgrube  für  die  Kunde  der  für  jeden  einzelnen 
Gottesdienst  des  Kirchenjahres  vorgeschriebenen  Lieder,  auch  für  die 
Kunde  von  der  Bedeutung  der  einzelnen  Sonn-  und  Festtage  selbst 
Ob  und  seit  wann  der  Karfreitag,  der  jetzt  gewissermaCsen  als  unser 
höchster  Festtag  gut,  aus  der  Zahl  der  übrigen  Tage  der  stillen  Woche 
sich  heraushob  (in  den  meisten  Gegenden  ist  es  sehr  spät,  erst  im 
XVIII.  Jahrhundert  geschehen),  ob  und  wo  die  Marientage  und  die 
Aposteltage  als  kirchliche  Feiertage  begangen  wurden  (meist  war  es 
bis  tief  ins  XVIII.  Jahrhundert  der  Fall),  welche  besonderen  Feiern  in 
einer  Gegend  gehalten  wurden,  z.  B.  jährliche  Friedens-  oder  Hagel- 
feiern,  seit  wann  der  Neujahrstag  als  solcher  begangen  wird,  seit  wann 
die  dritten  Feiertage  zu  Weihnachten,  Ostern,  Pfingsten  in  Abgang 
gekommen  sind,  das  sind  Fragen,  auf  die  ein  sorgfaltiges  Studium 
der  Gesangbücher  für  die  einzelnen  Gebiete  oft  eingehende  Antwort 
zutage  fördert. 

Die  Geschichte  des  christlichen  Lebens 

Wackemagel  sagt  einmal  irgendwo,  er  könne  die  alten,  oft  mit 
den  merkwürdigsten  Spuren  des  Gebrauches  behafteten  Gesangbücher 
nicht  ohne  Andacht  betrachten;  er  müsse  der  Augen  gedenken,  die 
auf  diesen  Liedern  geruht,  die  sich  in  Freud  und  Leid  daran  erbaut 
haben.  Ja,  das  christliche  Leben  vergangener  Zeiten  wird  durch  die 
Gesangbücher  wohl  ebenso  hell  beleuchtet  wie  das  kirchliche.  Der 
Typus  der  Frömmigkeit  ist  für  verschiedene  Gebiete  unseres  Volkes 
sehr  verschieden  gewesen.  Die  Kirchenakten  sagen  darüber  zumeist 
nichts.  Es  gibt  keine  Statistik  der  Frömmigkeit,  der  Erbauung,  des 
Kämmerleinchristentums.  Kirchenrechnungen  und  Protokollbücher  über- 
Uefern  darüber  nichts.  Die  Gesangbücher  der  verschiedenen  Gebiete 
aber  geben  manchen  Fingerzeig  für  die  Beurteilung  des  christlichen 
Lebens  ihrer  Bewohner.  Welche  Bücher  waren  im  Gebrauche?  Wann 
drang  der  Pietismus  in  die  Gesangbücher  ein  ?  Welcher  Anhang  oder 
welche  Neubearbeitung  brachte  zuerst  die  „Hallischen  Lieder'*  ins 
Gesangbuch?  Erschlofs  man  sich,  erschlofs  man  die  kirchliche  Er- 
bauung dem  Pietismus  früh  oder  spät,  willig  oder  widerwillig,  still  oder 
unter  Aufruhr,  drang  der  Pietismus  ein  wie  ein  stilles,  sanftes  Sausen, 
oder  wie  Sturm,  Feuer,  Erdbeben,  kam  es  dabei  zu  Separationen  und 
Sekten,  nahmen  die  Bücher  nur  die  edlen  Blüten  aus  dem  pietistischen 
Dichtergarten  auf  oder  auch  die  Wucherblumen  der  chiliastischen  und 


—     301     — 

babelstürraerischen  Lieder?  Wurden  die  Lieder  Paul  Gerhardts  schon 
vor  der  Zeit  des  Pietismus  (die  ersten  pietistischen  Gesangbücher  er- 
schienen etwa  seit  1692  oder  1697)  oder  erst  während  derselben  in 
die  Gesangbücher  in  guter  und  der  Bedeutung  des  Dichters  ent- 
sprechender Auswahl  angenommen? 

Und  wie  war  es  in  der  Zeit  des  Rationalismus?  Hatte  man  es 
eilig,  nach  Diterichs  (1765)  oder  Zollikofers  (1766)  Voi^ange  ein  radi- 
kales Gesangbuch  herzustellen?  Und  wenn  ja:  welche  Lieder  von 
Luther  oder  anderen  alten  Sängern  blieben  darin,  unverändert  darin? 
Wenn  nein:  hat  man  das  alte  Gesangbuch  durch  die  ganze  Zeit  des 
Rationalismus  glücklich  durchgewintert?  Oder  hat  es  einen  Anhang 
mit  neuen  Liedern  bekommen?  Hat  die  Einführung  eines  rationa- 
listischen Gesangbuches  Revolutionen  in  der  Gemeinde  zur  Folge  ge- 
habt? Geschahen  diese  lediglich  aus  treuem  Festhalten  am  Glauben 
der  Väter  oder  etwa  auch  aus  Geiz,  weil  man  die  Kosten  für  die 
neuen  Liederbücher  nicht  aufwenden  wollte?  Wann  ist  es  gelungen, 
die  rationalistischen  Gesangbücher  abzuschaffen?  (In  der  Gemeinde 
Unterbarmen  schon  1824,  im  Braunschweigischen  erst  1902.) 

Manches,  was  in  unserer  Literatur  über  Kirchenlieder  gesagt  ist, 
gewinnt  seinen  Hintergrund  erst  durch  die  hymnologische  Heimat- 
forschung. Der  Stofsseufzer  des  Matthias  Claudius  über  unveränderte 
Kirchenlieder  tritt  ins  rechte  Licht,  wenn  wir  uns  die  Gesangbuch- 
einfuhrungen  in  Hamburg  (1778)  und  Schleswig- Holstein  (1779)  ver- 
gegenwärtigen und  ins  einzelne  erfahren,  wie  man  in  den  neuen 
Büchern  den  Luther,  Gerhardt  und  anderen  mitgespielt  hat. 

In  E.  M.  Arndts  Erinnerungen  atis  meinem  äußereren  Leben 
wird  jedem  Leser  die  Stelle  eindrücklich  gewesen  sein,  wo  er  vom 
Auswendiglernen  der  Kirchenlieder  unter  Leitung  seiner  Mutter  spricht. 
Da  erfahrt  man  denn  mit  Freuden  aus  Mohnikes  Hymnologischen 
Forschungen f  dafs  das  Gesangbuch,  welches  in  Arndts  Eltemhause 
und  Heimatgemeinde  ohne  Zweifel  gebraucht  wurde,  das  für  Neu- 
vorpommern und  Rügen,  ein  gar  treffliches  Buch  war,  unter  dessen 
652  Liedern  sich  mehr  als  70  von  P.  Gerhardt  befanden,  und  das  auch 
glücklich  durch  das  ganze  Zeitalter  des  Rationalismus  durchgewintert 
wurde  (Mohnike,  Hymnologische  Forschungen  I,  i  (1835),  S.  XXVI ff.; 
3,  S.  I— 59). 

Die   Geschichte  der  Kirchenliederdichtung 

Der  weitaus  gröfste  Teil  unserer  Kirchenliederdichter  sind  Leute, 
von  denen  die  Kirchengeschichte   lange   keine  Notiz   genommen  hat. 


—     302     — 

Männer  der  geringen  Dinge  und  Tage.  Ihre  Lebensläufe  müfeten  im 
Dunkel  bleiben,  wo  nicht  die  landes-  und  ortskirchengeschichtlicbe 
Forschung  sich  ihrer  angenommen  hätte  und  annähme.  Wer  auf  die 
Quellen  blickt,  die  Koch  in  seiner  Geschichte  des  KirchenUedes^ 
Tümpel  in  seinem  Kirdienliede  des  XV IL  Jahrhunderts  auffuhrt,  der 
sieht,  wie  aufserordentlich  viel  die  Hymnologie  oder,  um  das  umständ- 
lich-altfränkische Wort  hier  einmal  zu  gebrauchen,  die  Hymnopoeo- 
graphia,  der  Landes-  und  Ortskirchengeschichte  verdankt  Aber  viel 
Schätze  ruhen  noch  ungehoben,  manches  Lebens-  und  Charakterbild 
eines  Kirchenliederdichters  ist  uns  kaum  in  seinen  allgemeinsten  Um- 
rissen bekannt.  Erst  seit  wenig  Jahren  wissen  wir  Geburts-  und  Todes- 
jahr und  etwas  von  dem  Leben  eines  Mannes  wie  Heinrich  Held. 
Und  von  Paul  Gerhardt  gar  wissen  wir  über  die  Jahre  von  seiner 
Geburt  {1607)  bis  zu  seiner  Anstellung  in  Mittenwalde  (165 1)  und 
dann  wieder  von  dem  letzten  Jahrzehnt  seines  Lebens  (1666 — 1676) 
beschämend  wenig  ^).  Ob  es  überhaupt  noch  möglich  sein  wird,  Quellen 
dafür  fliefsen  zu  machen?  Nur  der  Ortskirchengeschichtsforschung 
könnte  es  gelingen! 

Die  Kulturgeschichte 

Ein  wie  wesentlicher  Teil  der  Kulturgeschichte  die  Geschichte 
des  Buchdruckes,  der  Einrichtung  und  Ausstattung,  des  Bilderschmuckes, 
des  Einbandes  der  Bücher  ist,  braucht  hier  nicht  erörtert  zu  werden. 
Ebensowenig,  wie  wichtig  für  dieses  Gebiet  der  Kulturgeschichte  die 
Gesangbücher  sind,  die  neben  Bibel,  Katechismus,  Gebetbuch  und 
Kalender  oft  die  einzigen  Bücher  waren,  die  für  einen  Verleger  oder 
„Buchführer"  (Buchhändler)  in  Betracht  kamen.  Ob  die  Bücher  Noten 
hatten  oder  nicht,  ob  sie  in  vier-  oder  mehrstimmigem  Satze  und 
grofsem  Formate  für  den  Chor  bestimmt  waren  oder  in  handlichem 
kleinem  Formate  für  die  Gemeinde,  ob  auch  Instrumentalstimmen  bei- 
gedruckt waren,  ob  die  Lieder  in  abgesetzten  Verszeüen  gedrudrt 
waren,  ob  der  Titel  oder  auch  andere  Teile  des  Buches  Bilderschmuck 
aufwiesen,  das  sind  Fragen,  deren  Beantwortung  auch  auf  die  Bildungs- 
geschichte  der  Zeit  und  des  Gebietes  Licht  wirft.  Nicht  wenige  Ge- 
sangbücher trugen  vorn  das  Bild  der  Stadt;  so  haben  wir  es  bei 
Büchern  aus  Königsberg,  Berlin,  Soest,  Essen,  Homburg  vor  der  Höhe 

i)  In  Bitlerfeld  —  Gerhardts  Geburtsort  Gräfenhainichen  liegt  im  Kreise  Bitterfeld 
—  rüstet  man  sich,  am  1907  den  dreihundertsten  Geburtstag  des  Dichters  wttrdig  u 
begehen,  und  der  Vorsteher  des  dortigen  Museums,  Emil  Obst,  hat  sich  schon  seit 
Jahren  bemüht,  eine  Sammlung  von  Gerhardt*Erinnemngen  zu  gründen. 


—     303     — 

und  verschiedenen  anderen  gesehen.  Nicht  selten  war  aufser  dem  Bilde 
der  irdischen  Heimat  auch  das  der  himmlischen,  ein  Bild  des  oberen 
Jerusalem  beigefügt.  Oft  zeigten  die  Gesangbücher  das  Bildnis  des 
Landesherrn,  auch  wohl  zugleich  das  der  Landesmutter;  auch  Luthers 
Bildnis,  oder  in  reformierten  Büchern  das  von  Calvin  und  von  Lob- 
wasser, findet  sich  wohl.  Die  gereimten  Sprüche  unter  dem  Städte- 
bilde,  namentlich  auch  die  Widmungen  der  Bücher  an  den  Magistrat 
oder  an  den  Landesherrn  zeigen,  wie  man  in  dem  mit  groisen  Kosten 
hergestellten  Buche  eine  Art  Wahrzeichen  und  Denkmal  der  Herrlich- 
keit und  Selbständigkeit  der  Stadt  oder  des  Landes  sah.  Monumen- 
tale Kirchen  zu  bauen  lag  nicht  im  Bedürfnisse  noch  auch  im  Ver- 
mögen des  XVI.,  XVII.  und  XVIII.  Jahrhunderts.  Statt  dessen 
schuf  man  sich  im  Gesangbuche  ein  Bild  der  Bedeutung  des  Gemein- 
wesens. 

Bemerkenswert  ist  auch,  wie  kurzweilig  tmd  unterhaltend  viele 
Gesangbücher  waren  durch  die  Aufnahme  von  allerlei  Spruchweisheit 
und  Lebensregeln,  z.  B.  den  verschiedenen  „Güldenen  ABC",  oder 
durch  Derbheiten  konfessioneller  Polemik,  vor  allem  aber  dadurch, 
dafs  die  Lieder,  wenigstens  soweit  sie  aus  dem  XVI.  Jahrhundert 
und  aus  vorreformatorischer  Zeit  stammen,  in  nichts  an  gereimte  Pre- 
digten oder  gereimte  Dogmatik  erinnern,  sondern  in  frischer  und 
blühender  Mannigfaltigkeit  des  Versbaues  und  des  Rhythmus,  in  der 
Anschaulichkeit  und  Knappheit  der  Sprache,  auch  wohl  in  epischem 
und  dramatischem  Vortrag  der  Heilsgeschichte,  sich  als  echte  Volks- 
lieder darstellen. 

Wir  müssen  abbrechen.  Wir  haben  diese  Gesichtspunkte  hier 
geltend  gemacht,  um  anzudeuten,  nach  welchen  Seiten  hin  die  Gesang- 
bücher zu  erforschen  sind  im  Interesse  der  Heimatkunde.  Nicht  als 
glaubten  wir  den  Gegenstand  erschöpft  zu  haben.  Im  Gegenteil,  wir 
haben  absichtlich  jede  systematische  Vollständigkeit  gemieden,  weil 
wir  nur  anregen  wollten.  Wie  fem  von  jeder  Vollständigkeit  zu  bleiben 
wir  uns  bewu&t  sind,  mögen  folgende  Fragen  beweisen,  die  wir  seither 
nicht  berührt  haben ,  die  sich  uns  aber  noch  aufdrängen ,  ohne  da& 
wir  in  ihrer  Aufwerftmg  irgend  den  Gegenstand  erschöpfend  glaubten 
behandelt  zu  haben.  Wir  wollen  vielmehr  nur  zeigen,  wie  unerschöpf- 
lich er  ist. 

1.  Was  sagen  die  Vorreden  der  Gesangbücher  über  Kirche  und 
Christentum,  über  die  Zeitläufe  in  Welt  und  Staat? 

2.  Sind  Bücher  zu  dem  Gesangbuche  als  geschichtliche  oder 
sachliche  Erläuterungen  erschienen  (wie  das  von  Mähler  —  1762  —  zu 


—     304     — 

den  Singenden  und  klingenden  Bergen,  das  von  Grischow  und  Kirdiner 
—   1771 —  zum  Freylinghausen)  ? 

3.  Sind  den  Liedern  die  Namen  der  Dichter  beigefügt?  Ist  ein 
besonderes  Verzeichnis  der  Dichter  im  Buche  selbst  enthalten  oder 
nur  als  besonderes  Büchlein  gedruckt? 

4.  Wie  grofe  ist  die  Zahl  der  Lieder?  Aus  wieviel  Teilen,  die 
in  verschiedenen  Zeiten  entstanden  sind,  besteht  das  Buch? 

5.  Gibt  es  von  dem  Buche  eine  Ausgabe  mit  tauben  Nummern, 
d.  h.  mit  einer  Anzahl  Nummern,  bei  denen  das  Lied  nicht  abgedruckt 
ist?  (Eine  scheufsliche  Art  von  Gesangbuchsauszug,  wie  sie  in  der 
rationalistischen  Zeit  bisweilen  vorkommt.) 

6.  Fehlen  grofse  und  bedeutende  Lieder  im  Buche?  Etwa  im 
XVIII.  Jahrhundert  solche  von  P.  Gerhardt?  Stehen  auch  folgende 
vier  Lieder  darin:  „Jerusalem  du  hochgebaute  Stadt",  „Ach  bleib 
mit  deiner  Gnade",  „Macht  hoch  die  Tür",  „Such  wer  da  will  ein 
ander  Ziel"?     (Sie  fehlen  in  vielen  Büchern  bis  1700  oder  1750.) 

7.  Stehen  sämtliche  Lieder  Luthers  darin?    Welche  fehlen? 

8.  Seit  wann  hat  das  Gebiet  ein  offiziell  eingeführtes  Kirchen- 
gesangbuch?  Seit  wann  wurden  die  Lieder  mit  Stiften  auf  Tafeln 
an  der  Kirch tür  angezeigt?    Seit  wann  gibt  es  Nnmmertafeln  ? 

9.  Wann  zeigen  sich  zuerst  Veränderungen  in  den  Texten  imd 
welche  ? 

10.  Was  ist  aus  Archiven,  Protokollen,  Rechnungen,  was  aus  der 
Literatur,  auch  der  schönen  Literatur  über  einzelne  Bücher  zu  ermitteln? 

11.  Besondere  Segensspuren  des  Buches? 

12.  Welche  Privatgesangbücher  wurden  neben  den  eigentlichen 
Kirchengesangbüchern  gebraucht  ? 

13.  Wie  teuer  wurde  das  Buch  verkauft?  Wem  fiel  der  Rein- 
gewinn zu? 

Wir  könnten  diese  Fragen  leicht  vermehren.  Und  wir  halten  es 
für  wichtig,  dafs  die  Freunde  und  Pfleger  einzelgeschichtlicher  For- 
schung sie  und  manche  andere  dazu  sich  bei  ihren  Arbeiten  stellen. 
Denn  es  handelt  sich  hier  nicht  um  die  Geschichte  alter  Bücher  so- 
wohl, als  vielmehr  um  die  Geschichte  kirchlichen  und  christlichen, 
öffentlichen  und  häuslichen  Lebens,  vor  allem  um  Kultus-  und  Kultur- 
geschichte. 

In  welchem  Maise  das  seither  schon  erkannt  ist,  soll  die  folgende 
Bibliographie  zeigen.  Wir  können  sie ,  die  Frucht  mühsamer  Arbeit, 
nicht  veröffentlichen,  ohne  an  ein  Zweifaches  zu  erinnern.  Zunächst 
setzen  die  in  ihr  aufgeführten  Bücher  durchweg  die  grofsen   hynmo- 


—     305     — 

logischen  Werke  als  bekannt  voraus;  deshalb  haben  wir  diese  auch 
in  einer  möglichst  knappen  Übersicht  vorausgeschickt.  Diese  gro&en 
Werke  bieten  für  die  Einzelforschung  au&erordentlich  viel.  In  Wacker- 
nagels bibliographischen  Arbeiten  über  das  XVI.  Jahrhundert  sind 
z.  B.  nahezu  alle  Gesangbücher  deutscher  Zunge  aus  jener  Zeit  be- 
schrieben ;  er  hat  uns  anderen  allen  da  nur  eine  sehr  spärliche  Nach- 
lese übriggelassen. 

Sodann  aber  müssen  wir  darauf  hinweisen,  dals  die  unter  II.  auf- 
geführten Werke  zur  landesgeschichtlichen  Gesangbuchforschung  ihren 
Gegenstand  sehr  ungleichmäfsig  behandeln.  Das  liegt  an  der  Be- 
schafTenheit  des  Stoffes :  dem  einen  flössen  die  Quellen  reichlich,  dem 
anderen  aufs  dürftigste.  Es  liegt  aber  auch  an  dem  Interesse  des 
Bearbeiters:  der  eine  behandelt  seinen  StofT  trocken,  bibliographisch, 
lexikalisch,  der  andere  unter  sorgfältiger  Berücksichtigung  aller  Mo- 
mente der  inneren  Geschichte;  der  eine  bietet  nur  ein  Gerippe,  der 
andere  gibt  Fleisch  und  Blut.  Diese  Schriften  gehen  längst  nicht  sämt- 
lich auf  die  Gesichtspunkte  alle  ein,  die  ich  in  meinen  Ausführungen 
geltend  gemacht  habe.  Ich  bin  natürlich  weit  entfernt,  irgendeiner 
Schrift  irgend  den  geringsten  Vorwurf  daraus  zu  machen.  Niemand 
kann  für  das  bisher  oft  mit  unsäglicher  Mühe  auf  diesem  Gebiete  Er- 
mittelte dankbarer  sein  als  ich.  Es  lag  mir  nur  an,  für  zukünftige 
Arbeiten  gewisse  Richtlinien  zu  zeigen,  damit  sowohl  die  Hymnologie 
als  auch  die  Heimatkunde  den  rechten  und  vollen  Gewinn  aus  diesen 
Arbeiten  ziehen  könne. 

Das  Verzeichnis  kann  auf  Vollständigkeit  keinen  Anspruch  machen. 
Aber  es  regt  vielleicht  die  geneigten  Leser  dieser  Blätter  zur  Mit- 
arbeit an  seiner  Vervollständigung  an.  Ich  würde  für  jede  Mitteilung 
aufrichtig  dankbar  sein. 

I. 

Die  wichtigsten  allgemeinen  Werke  über  Hymnologie,  die 
für  die  Heimatforschung  in  Betracht  kommen. 

Heerwagens  Literaturgeschichte  der  ev.  Kirchenlieder.  Neustadt  a.  d. 
Aisch  1792. — J.  A.  Rambachs  Anthologie  christlicher  Gesänge.  Altona 
und  Leipzig  1817  — 1822,  4  Bde.  —  Dessen  Heiliger  Gesang  der  Deutschen. 
Ebenda  1832 — 1833,  ^  ß^^-  —  P^*  Wackernagel,  Das  deutsche  Kirchen- 
lied. Stuttgart  1841.  —  Dessen  Bibliographie.  Frankfurt  a.  M.  1855.  — 
Dessen  Deutsches  Kirchenlied.  Leipzig  i864flf.,  5  Bde.  —  £.  £.  Koch, 
Geschichte  des  Kirchenliedes  und  Kirchengesanges.  Stut^art  1 866  ff.,  8  Bde.  — 
W  e  11  e  r ,  Annalen  zur  Geschichte  der  deutschen  Nationalliteratur.  —  K.Gödeke, 
Literaturgeschichte,    2.  Aufl.  —  J.  Zahn,   Die  Melodien   der  ev.  Kirchen- 


—     306     — 

lieder.  Gütersloh  iSSqAT.,  6  Bde.,  bes.  Bd.  VI  („Die  Quellen").  — 
W.  Bäumker,  Das  katholische  deutsche  Kirchenlied  in  seinen  Singweisen« 
3  Bde.  Freiburg  i.  B.  i886fr.  —  A.  Fischer,  Kirchenliederlexikon, 
2  Bde.  Gotha  iSySf.,  Supplement  i886.  —  John  Julian,  A  dictionary 
of  hymnology.  London  1892.  —  R.  v.  Liliencron,  liturgisch -musi- 
kalische Geschichte  der  ev.  Gottesdienste  von  1523  bis  1700.  Schlesw^ 
1891.  —  J.  Smend,  Die  ev.  deutschen  Messen.  Göttmgen  1896.  — 
Ph.  Dietz,  Die  Restauration  des  ev.  Kirchenliedes.  Marburg  1903.  — 
W.  Tümpel  (t  A.  Fischer),  Das  deutsche  ev.  Kirchenlied  des  XVII.  Jahr- 
hunderts.    Gütersloh   1904^.  (bis  jetzt  2  Bde.). 

Die  Zeitschriften:  Siona  (seit  1876),  Blätter  für  Hymnologie 
(1883 — 1889.  1894),  Monatschrift  für  Gottesdienst  und  kirch- 
licheKunst  (seit  1896,  nachstehend  abgekürzt :  MGkK.).  Dazu  die  I^andes- 
und  Provinzialzeitschriften  flir  Geschichte  und  für  Kirchengeschichte. 

II. 

Die  hymnologischen  Forschungen  zur  Landes-  und 

Provinzialkirchengeschichte. 

Wir  beginnen  mit  den  beiden  Gebieten,  in  welchen  die  ersten  *) 

Forschungen  dieser  Art  hervorgetreten  sind,  Pommern  (1830.   1831) 

und    Rheinland-Westfalen   (1843).      Daran    schlieCsen    sich    die 

übrigen  preufsischen  Provinzen,   dann  die  deutschen  Länder,    endlich 

das  deutsche  Ausland. 

Pommern. 

G.  Mohnike,  Hymnologische  Forschungen  I,  Geschichte  des  Kirchen- 
gesanges in  Neuvorpommem.  Stralsund  1831.  Die  Dichter,  Lieder 
und  Melodien  des  Stralsund.  Gb.  Stralsund  1830.  Die  Lieder,  Dichter 
und  Melodien  des  Gb.  für  Neuvorpommem  und  Rügen.    Stralsund  1830. 

Rheinland- Westfalen. 

C.  H.  E.  von  Oven,  Die  ev.  Gbb.  in  Berg,  Jtilich,  Cleve  und  der  Graf- 
schaft Mark  seit  der  Reformation.     Düsseldorf  1843. 

A.  Wolters,  H.  Wilcken  und  die  Kirchenordnung  von  Neuenrade  (1564), 
Zeitschrift  des  Berg.  Gesch. -Vereins  II,   1865. 

W.  Crecelius,  Die  ältesten  protest  Gbb.  am  Niederrhein.  Zeitschrift  des 
Berg.  Gesch.- Vereins  V,   1868. 

K.  Kr  äfft,  J.  Neander.  Theol.  Arbeiten  des  Rhein.  Predigervereins  IV. 
Elberfeld  1880,  46  (enthält  Wertvolles  zur  Rheinischen  Gb.Geschichte). 

K.  K  rafft,  Hymnologische  Studien  zum  alten  (1835)  ^^^  neuen  rheinisch- 
westfälischen Gb.     Ebenda  1892,   ti8. 

W.  Nelle,  Das  Ev.  Gb.  von  1835  hymnologisch  untersucht  (enthält  die 
Geschichte  dieses  Gb.).     Essen  1883. 

i)  Es  soU  nicht  nnenfrähnt  bleiben,  dafs  bereits  Torher  ein  katholisches  Schrifl- 
chen:  Johann  Wolf,  Kurze  Oeaehiehte  dea  deutseken  Kirchengeaang$  im  EichafeUe 
(Göttingen  181 5,  95  S.)  erschienen  ist. 


—     307     — 

W.  Nelle,  Das  £v.  Gb.  und  die  Gemeinde.  Dortmund  1890  (enthält  einen 
Überblick  über  die  Geschichte  der  rhein.-westf.  Gbb.). 

W.  Nelle,  Gerhard  Tersteegen.  Gütersloh  1897  (enthält  Untersuchungen 
über  (fie  Privatgesangbücher  am  Niederrhein). 

W.  Nelle,  Meier  und  Gesenius.  Jahrbuch  des  Vereins  f.  Kirchengesch. 
d.  Grafsch.  Mark  I,  1899  (enthält  eben  Überblick  über  (fie  Lieder- 
geschichte Westfidens). 

W.  Nelle,  H.  Wilcken  und  die  Kirchenordnung  von  Neuenrade.  Ebenda 
n,  1900. 

W.  Nelle,  Die  Gbb.  von  Dortmund  und  Essen.     Ebenda  III,  1901. 

W.  Nelle,  Die  Gbb.  von  Soest  und  Lippstadt.     Ebenda  IV,  1902. 

H.  Rothert,  Das  Soester  Gb.  von  1723.     Ebenda  VI,  1904,  172. 

H.  Rothert,  Eine  Gb.-Revolution.     Ebenda  VII,  1905,  195. 

Simons,  Ein  vergessenes  luth.  Gb.  aus  dem  Rheinland  [Essen  1616]. 
Theol.  Arb.  des  Rhein.  Predigervereins.  Neue  Folge  I.  Freiburg  1897,  95. 

Simons,  Ein  Herbomer  Gb.  von  1654  und  seine  Verwandtschaft  mit 
niederrhein.  und  Straftb.  Gbb.,  MGkK.  II,  1898,  311  (d.  Düsseldorfer 
Gb.  von  16 12). 

Berlin.    Provinx  Brandenburg. 
J.  F.  Bachmann,  Zur  Geschichte  der  Berliner  Gbb.     Berlin  1856. 
J.  F.  Bachmann,  Die  Gbb.  Berlins.     Ein  Vortrag.     Berlin  1857. 
J.  Zahn,  Crügers  Praxis  pietatis.     Bl.  f.  Hymnol.  1889,  71. 


Sachsen« 

A.  Fischer,  Kirchenlieder-Lexikon  I,  1878,  XV — XXm  (Mitteilungen  Über 
die  Gbb.  der  Provinz  Sachsen). 

Ed.  Jacobs,  Ein  Magdeburger  niederdeutsches  Gb.  Geschichtsblätter  für 
Magdeburg  1871,  H.  2. 

Götze,  Ein  Magdeburger  Gb.  von  1543.     Ebenda  1870,  H.  3. 

A.  Fischer,  Das  Franckesche  Gb.  von  1588.     Ebenda  1869,  H.  3» 

A.  Fischer,  Das  Magdeburger  Gb.  von  1654.     Ebenda  1871,  H.  3. 

A.  Fischer,  Ein  Magdeburger  Gb.  von  1621.    Bl.  f.  Hymnol.   1886,  78. 

A.  Fischer,  Das  Magdeburger  Gb.  von  1805.     Ebenda  1888,  3. 

A.  Fischer,  Das  Gb.-Wesen  in  Magdeburg.     Ebenda  1889,  36. 

G.  Schulze,  Denkschrift  über  das  Altmärkisch -Prieisnitzsche  Gb.  Salz- 
wedel 1884. 

J.  Wegener,  Das  erste  Wittenberger  Gemeinde-Gb.    MGkK.  IV,  1899,  7. 

Ost-  und  V^^estpreufsen* 

F.  Zimmer,  Königsberger  Kirchenliederdichter  und  Kirchenkomponisten. 

Altpreufs.  Monatschrift  XXII,  H.  i  und  2. 

Posen. 

Schlesien. 
J.  Mut  Zell,  Geistl.  Lieder  von  Dichtem  aus  Schlesien,  I.   Braunschweig  1858. 

G.  Koffmane,  Zur  schlesischen  Hymnologie.    Korrespondenzblatt  des  Ver- 

eins f.  Gesch.  d.  ev.  Kirche  Schlesiens  I,   1882,  27. 

23 


—     808     — 
G.  Ellinge r,  Angelus  Silesius'  Cherubinischer  Wandersmann.    Haue  a.  S. 

G.  Ellinger,  Angelus  Silesius'  Heilige  Seelenlust.     Haue  a.  S.  1901. 

Hannover. 

L.  Baetge,  Historische  Nachricht  von  dem  Ltinebuiger  Gb.     1794. 
Röbbelen,   Die  Entstehung  des  Hannoverischen  und  Lüneburgischen  Gb. 

Petris  Zeitblatt  1849. 
Sarnighausen,  Das  Hannoverische  Gb.    Viertel).  Nachrichten,  1853.   1855. 
W.  Bode,  Die  Singweisen  des  Hannov.  Gb.     Viertel).  Nachrichten  1871. 
W.  Bode,   Quellennachweis  über  die  Lieder  des  Hannov.  und  des  Lüneb. 

Gb.     Hannover  1881,  bes.  S.   i — 32. 
W.  Bode,  Das  Lüneburgische  Gb.     Hannov.  Volksschulbote  1867. 
W.  B  o  d  e ,  Zur  Geschichte  des  einheimischen  Choralbuchwesens.   Ebenda  1875. 
W.  Bode,   Ergänzungen  über  Lüneburger  Dichter  und  Tonkttnstler.     Siona. 

1892,  95—132  ff. 

Schleswig-Holstein. 

W.  Möller,  Schleswig-Hobteins  Anteil  am  deutsch-ev.  KirchenUede.    Zeitschr. 

d.  Gesellschaft  f.   Schleswig- Holstein -Lauenburgische   Geschichte  XII^ 

1887,  IS9- 
Carstens,  Die  geistL  Liederdichter  Schleswig-Holsteins.     Ebenda  XVII. 
C.  J.  Brandt,  Vore   danske  Kirke-Salmeböger  fra  Reformationen  til  Nu- 

tiden,  Kjobenhavn  1886. 

Nassau. 

Über  die  Herborner  Gbb.  s.  W.  Crecelius  a.  a.  O.;  K.  Krafft 
a.  a.  O.;  W.  Nelle,  BL  f.  Hymnol.  1885,  171;  A.  Fischer,  ebenda 
1886,  23;  W.  Nelle,  ebenda  1886,  87;  Simons,  MGkK.  II,  311. 

Prankfurt  a.  M. 
W.  Diehl,   Ein  Gb.    aus   der   Drackerei  von  W.   Han   in  Frankfurt  a.  M. 
(1550—1562).     MGkK.  IV,  1899,  255. 

Hessen-Kassel.     Hessen-Darmstadt 
E.  Ranke,  Das  Marburger  Gb.  von  1549.     1862. 
A.  F.  C.  Vilmar,    Abrifs  einer  Geschichte  der  niederhessischen  Gbb.   bis 

zum  Jahre  1770.     Zeitschrift  des  Verebs  für  Hessische  Geschichte  und 

Landeskunde.     Neue  Folge  I.     1867,  204. 
W.  Diehl,  Das  Catzenelenbogener  Gb.  von  1633  und  die  Marburger  Gbb. 

von  1635 — 1668.     MGkK.  VI,   1901,  13. 
W.  Diehl,   Zur  Geschichte  der  Gb. -Bewegung  in  Hessen -Dannstadt  1771 

bis  1773.     Ebenda  225. 
W.    Diehl,    J.    J.    Rambachs    neueingerichtetes    Hessen  -  Darmstädtisches 

Kirchen-Gb.     Ebenda  V,  1900,  254. 

Hamburg. 

J.  Geffcken,  Die  Hamburgischen  niedersächsischen  Gbb.  des  XVL  Jahrh. 
.  .  .  mit  einer  Einleitung  über  ...  die  Gbb.  in  Hamburg  seit  der  Re- 
formation.    Hamburg  1857. 


—     309     — 

J.  H.  Hock,   Bilder  aus   der  Geschicfate  der  Hamburgischen  Kirche  seit 

der  Reformation.     Hamburg  1900. 
J.   H.   Hock,   Die   Hamburgischen  Liederdichter  im  Hamburgischen  Gb. 

(Vortrag.)     Hamburg  1901. 

Bremen. 
Ev.  Gb.  der  Bremischen  Gemeinden.    Bremen  1873,    Vorwort  S.  V — ^Xin. 
J.  Fr.  Iken,   Der  Bremische   Kirchenliederdichter  L.  Laurenti.     1887    (in 
einer  Bremer  Zeitschrift). 

Lübeck. 

C.  W.  Pauli,  Geschichte  der  LUbeckischen  Gbb.     Lübeck  1875. 

Oldenburg. 

Mecklenburg. 

C.  M.  Wiechmann-Kadow,  J.  Slüters  ältestes  Rostocker  Gb.  Schwerin 
1858. 

C.  M.  Wiechmann,  Mecklenburgs  altniedersächsische  Literatur.  Schwerin 
1864  fif. 

J.  Bachmann,  Geschichte  des  Ev.  Kirchengesanges  in  Mecklenburg,  ins- 
besondere der  Mecklenburgischen  Gbb.     Rostock  1881. 

Braunschweig. 

Schauer,   Ev.  Hymnologie   des  Herzogtums  Braunschweig.     Reuters  Allg. 

Repertorium.     Berlin  1855. 
Chr.  Oberhey,  Erster  Beitrag  zur  Geschichte  der  Gesangbuchsreform  im 

vor.  Jahiii.     Braunschweig  1880. 
Chr.  Oberhey,   Die  Lieder  des  Braunschweig.  Gb.     Zweiter  Beitrag  .  .  . 

Braunschweig  1898. 

Waldeck. 

C.  Curtze,  Geschichte  des  ev.  Kirchengesanges  und  der  ev.  Gbb.  im 
Fürstentum  Waldeck.     Arolsen  1853. 

Thüringen. 

J.  Vahrenkamp,  Thüringens  Kirchenliederdichter.     Magdeburg  1885. 
J.  Vahrenkamp,  Kirchenlieder-Musterkasten.     Erfurt  1887. 
W.  Tümpel,  Die  Gb.-Frage  in  Thüringen.     Bl.  f.  Hymnologie  1886,  93. 
98.   116. 

Sachsen-Altenburg. 

W.  Tümpel,   Zur  Altenburgischen  Hymnopöographie.     Bl.  f.  Hymnologie, 

1885 — 1889  und  Siona  1892. 
W.  Tümpel,   Zur  Geschichte  der  Altenburgischen  Gbb.     Mitteilungen  des 

Vereins  für  Geschichts-  und  Altertumsktmde  zu  Kahla  und  Roda.    IV, 

1894,  503. 
[Frank]  Das  Altenburgische  Gb.     Altenbuig  1855. 
F.  Berghänel,  Zurückweisung  unbegründeter  Herabwürdigung.     A)<v' 

1855- 

28* 


—     310    — 

Sachsen-Weimar. 

J.  G.  Herders  Werke,  heratisgeg.  von  B.  Suphan.     XXXI.     Berlin  1889, 

S.  707  (3  Vorreden  zu  Weimarischen  Gbb.). 
Schauer,  Herders  Weimarisches   Ob.  v.   J.    1795.     TheoL  liteiaturUatt 

zur  Allg.  Kirchenzeitung.     Darmstadt  1856. 

Sachsen-Coburg-Goüia. 

W.  Tümpel,  Geschichte  des  ev.  Kirchengesanges  im  Herzogtum  Gotha. 
I.  Geschichte  des  Gothaischen  Gb.  Gotha  1889.  n.  Die  Gothaischen 
Kirchenlieddichter.     Gotha  1895. 

Königreich  Sachsen. 

F.  Dibelius,  Zur  Geschichte  der  luth.  Gbb.  Sachsens  seit  der  Reformation. 

Beiträge  zur  Sächsischen  Kirchengeschichte,  i.  Heft.     Leipzig  1882. 
J.  Linke,  Das  Zittauer  lateinische  Gb.     Bl.  f.  Hymnologie  1885,  162. 
Ho  ff  mann,  Die  ältesten  Gbb.  Leipzigs.     Leipzig  1904. 

Bayern. 

A.  Fischer,  Liederdichter  des  Nürnberger  Gb.  von  1676.  BL  t  Hym- 
nologie 1889,  67.  89. 

M.  Herold,  Alt -Nürnberg  in  seinen  Gottesdiensten.  Em  Beitrag  zur  Ge- 
schichte der  Sitte  tmd  des  Kultus.     Gütersloh  1890. 

Württemberg. 

Süskind,  Zur  Geschichte    des  Württembergischen  Gb.   von    1791.     £▼. 

Kirchen-  und  Schulblatt  f.  Württemberg.     1855.  1856. 
R.  Günther,  Unser  Württembergisches  Gb.   [1842]  vom  Standpunkt  der 

neueren  Gb.-Bewegung.     Waiblingen  1904. 

Baden. 

A.  Eisenlohr,  Das  neue  Gb.  für  die  ev.  Kirche  im  Groüiherzogtum  Baden. 
Bl.  f.  Hymnologie  1883,  165. 

Konstanz. 

Fr.  Spitta,  Die  Lieder  der  Konstanzer  Reformatoren.  L  MGkK.  n,  1898, 
350.     n.  A.  Blaurer.    Ebenda  370.     III.  J.  Zwick.    Ebenda  in,  323. 

Fr.  Spitta,  Das  Konstanzer  Gb.  in  räto-romanischer  Gestalt.  Ebenda  m, 
178. 

F.  Cohrs,  Ein  Liederbuch  von  J.  Zwick.     MGkK.  II,  1898,  346. 

Elsafs.    Strafsburg. 

F.  Hubert,  Die  Straftburger  liturgischen  Ordnungen  im  Zeitalter  der  Re- 
formation nebst  einer  Bibliographie  der  Strafsburger  Gbb.    Göttingen  1900. 

F.  Hubert,  Butzers  Gb.  (1541).     MGkK.  III,  52. 

K.  Budde,  Zum  Straftburger  Gb.  im  XVIIL  Jahrhundert    Ebenda  V,  220. 

Fr.  Spitta,  „Allein  zu  dir,  Herr  Jesu  Christ**.  Ein  Beitrag  zur  bymno- 
logischen  Geschichte  des  Elsasses.     Ebenda  Vm,  1903,  232. 


—     811     — 

[Gerold  namens  der  Gb.-Konunission],  Plan  zu  einem  neuen  Ob.  fiir  Elsaß- 
Lothringen.     Stra&burg  1897. 
[Die  Kommission],  Rechenschaftsbericht.     [Stra&burg  1898.] 

Die  Schweiz. 

H.  Weber,  Der  Kirchengesang  Zürichs.     Zürich  1866. 

H.  Weber,  Geschichte  des  Kirchengesanges  in  der  deutschen  reformierten 

Schweiz  seit  der  Reformation.    Mit  genauer  Beschreibung  der  Kirchen- 

Gbb.  des  XVI.  Jahrhunderts.     Zürich  1876. 
Chr.  J.  Riggenbach,  Der  Kirchengesang  in  Basel  seit  der  Reformation. 

Basel  1870. 
Th.  Odinga,  Das  deutsche  Kirchenlied  der  Schweiz.     Frauenfeld  1889. 

Böhmen« 

Jirecek,  Hymnologia  bohemica.     Prag  1878. 

R.  Wölk  an,  Das  deutsche  Kirchenlied  der  böhmischen  Brüder.    Prag  1891. 
J.  Linke,    Das    Niemeser    Gb.    zur   Förderung    der    Gegenreformation   in 
Böhmen  (i7i5).     Bl.  f.  Hymnologie  1885,   137. 

Kurland. 

G.  Seesemann,  Zur  Geschichte  des  deutschen  Gb.  in  Kurland  in  den 
letzten  50  Jahren.  Mitteilungen  und  Nachrichten  für  die  ev.  Kirche 
in  Rufsland,  41.  Band.     Riga  1885,  531. 


Deutsehe  Siedelungen  in  der  Provinz  Posen 

Von 
Kurt '  Schottmüller  (Posen) 

In  einem  Nachwort  zu  Wittes  Aufsatz:  Wendische  Bevotkerungs- 
reste  im  westlichen  Mecklenburg  hat  der  Herr  Herausgeber  dieser 
Zeitschrift  *)  die  Notwendigkeit  betont,  die  Geschichte  der  Kolonisation 
und  Germanisation  des  östlichen  Deutschland  noch  eingehender  zu 
ei^ründen.  Auf  das  Fehlen  einer  Gesamtdarstellung  dieses  wichtigen 
Prozesses  wie  der  dafür  nötigen  Vorarbeiten  wies  er  hin  und  gab 
selbst  Fingerzeige,  wie  etwa  Einzeluntersuchungen  in  engerer  terri- 
torialer und  zeitlicher  Begrenzung  namentlich  in  den  ostelbiscben 
Gebieten  vorzugehen  hätten.  Wie  sehr  überhaupt  diese  Fragen  das 
Interesse  weiter  Kreise  von  Geschichtsfreunden  in  Anspruch  nehmen, 
zeigte  sich  einige  Monate  später:  auf  der  Hauptversammlung  des  Ge- 
samtvereins deutscher  Geschichts-  und  Altertumsvereine  beschäftigten 
sich  am  9.  August  1904  zu  Danzig  mit  der  Erforschung  der  deutschen 

I)  VgL  5.  Bd.,  s.  235—237. 


—     »12     — 

Siedelung  in  dem  einst  slawischen  Osten  nicht  weniger  als  drei  grofee 
Referate.  Von  Warschauer,  Schumacher  und  van  Nissen'), 
deren  jeder  auf  einem  anderen  provinziellen  Arbeitsgebiete,  nämlich  in 
Posen,  Preufsen  und  Pommern,  tätig  ist,  wurden  die  wichtigsten  für 
Einzeluntersuchungen  in  Betracht  kommenden  Fragen  auf  diesem  Arbeits- 
felde formuliert.  Und  dies  geschah  jetzt  noch  eingehender  und  unter 
noch  verschiedenartigeren  Gesichtspunkten,  als  dies  der  Altmeister 
agrarhistorischer  Forschung,  August  Meitzen,  auf  dem  Nürnberger 
Historikertag  1898  getan  hatte  *). 

Wenige  Wochen  nach  der  Danziger  Versammlung  —  noch  ehe 
jene  drei  Vorträge  im  Wortlaut  vorlagen  —  erschien  ein  Buch,  das 
den  in  Danzig  gestellten  Forderungen  zwar  nicht  allgemein,  aber 
doch  zu  einem  groCsen  Teile  auf  territorial  begrenztem  Gebiet  gerecht 
zu  werden  suchte:  Schmidt,  G^eschickte  des  Deutschtums  im  Lande 
Posen  unter  polnischer  Herrschaft  (Bromberg,  Mittlersche  Buchhand- 
lung [A.  Fromm],  1904.  XII,  442  S.,  25  Abb.  und  2  Karten).  Der  Ver- 
fasser dieser  fieifsigen  und  gründlichen  Arbeit  hatte  die  Entwickelung 
des  deutschen  Volkstums  in  Posen  durch  einen  Zeitraum  von  600 
Jahren  zu  verfolgen;  zu  den  Schwierigkeiten,  die  wegen  des  Quellen- 
materials schon  jede  siedelungs-  und  bevölkerung^geschichtliche  Unter- 
suchung darbietet,  traten  hier  noch  zwei  besondere.  Einmal  war  die 
Zahl  der  verwendbaren  Vorarbeiten  auf  diesem  Gebiete  ziemlich  be- 
schränkt, nur  für  die  erste  Hälfte  seiner  Darstellung  lagen  sie  vor, 
für  die  zweite  Hälfte  des' Buches,  die  Zeit  vom  XVI.  bis  XVIII.  Jahr- 
hundert, mulste  erst  in  längeren  archivali^chen  Studien  das  Quellen- 
material herbeigeschafft  und  verarbeitet  werden.  Die  zweite  Schwierig- 
keit liegt  in  dem  Inhalt  der  Aufgabe:  denn  von  vornherein  ist  zu 
betonen,  dafs  das  Posener  Land  in  den  Ergebnissen  deutscher  Siede- 
lung  abseits  von  den  anderen  ostelbischen  Kolonialgebieten  steht: 
während  Brandenburg,  Mecklenburg,  Pommern,  Schlesien  und  Preufsen 
allmählich  doch  den  völligen  Sieg  der  deutschen  Rechts-  und  Wirt- 
schaftsformen erlebten  und  in  ihrer  nationalen  Zugehörigkeit  über- 
wiegend deutsche  Länder  wurden,  behaupteten  in  Posen  doch  wichtige 
soziale  Klassen  ihre  alten  slawischen  Rechtsanschauungen  und  Rechtsein- 
richtungen; und  vor  allem  der  enge  politische  Zusammenhang  mit  dem 
Polenreicb  blieb  gerade  in   den  bedeutungsvollen  Jahrhunderten  für 

i)  KorrcspondeoxbUtt  det  Gesamtvereins  der  deutschen  Geschichts-  and  Altertums- 
▼ereine  Jahrg.  53,  Sp.  1—23. 

2)  Ebenda  Jahrg.  46,  S.  76  ff.  Vgl.  anch  Bd.  6  seines  Werkes  Der  Boden  und  die 
landwirtsehaflliehen  Verhältnisse  des  preußischen  SkuUes,    1896. 


—     813     — 

die  nationale  Geltung  dieser  Gegenden  nach  aufeen  maisgebend. 
Posen  ist  eben  seinerzeit  nie  völlig  germanisiert  worden,  und  das  legte 
die  Notwendigkeit  nahe,  viel  eingehender  als  bei  den  anderen  ost- 
elbischen  Siedelungsgebieten  die  Rechts-  und  Verfassungsverhältnisse 
und  die  nationalen  Strömungen  der  slawischen  Bevölkerung  zu  be- 
trachten, die  dem  Deutschtum  hier  hemmend  entgegentraten.  Aus 
diesen  Schwierigkeiten  erklärt  es  sich,  dafs  in  dieser  Arbeit  nicht  alle 
der  von  Warschauer  u.  a.  in  Danzig  angestellten  programmatischen 
Fragen  beantwortet  und  berührt  worden  sind,  dafs  einige  auch  hier 
imaufgehellt  blieben.  Das  Buch,  als  erste  Gesamtdarstellung  von  den 
Schicksalen  unseres  Volkstums  im  Posener  Land  durch  sechs  Jahr- 
hunderte hindurch  und  als  wichtiger  Beitrag  der  allgemeinen  deutschen 
Siedelungsgeschichte,  hat  aber  auch  in  dem,  was  es  bietet,  —  es  ist 
des  Neuen  genug  —  gewifis  Anspruch  auf  unsere  dankbare  An- 
erkennung. 

Den  Hauptinhalt  bilden  die  beiden  grofsen  deutschen  Einwande- 
rungen im  XIIL/XrV.  und  XVII./XVIII.  Jahrhundert  und  die  weiteren 
Schicksale  dieser  Deutschen  im  Posener  Lande.  Als  Einleitung  dazu 
wird  die  vorhergehende  Zeit  kurz  beleuchtet.  An  die  Darlegung  der 
geologischen  und  prähistorischen  Verhältnisse  Posens  knüpft  die  der 
ersten  Beziehungen  zu  den  westlichen  Nachbarn,  den  Deutschen  an. 
Das  zur  Ottonenzeit  ihm  aufgezwungene  Verhältnis  der  Abhängigkeit 
von  den  deutschen  Herrschern  lockert  das  Polenreich  bei  seinem  Er- 
starken unter  so  tatkräftigen  Fürsten,  wie  Boleslaus  Chrobry,  immer 
mehr,  um  es  nach  Friedrich  Barbarossas  Posener  Feldzug  —  der 
letzten  Geltendmachung  deutscher  Lehnsobergewalt  —  ganz  abzustreifen. 
Wie  sehr  die  Loslösung  der  polnischen  Kirche  aus  dem  deutschen 
Diözesanverbande  durch  Otto  III.  hier  unheilvoll  mitgewirkt  hat,  wird 
auch  von  Schmidt  natürlich  betont.  Nach  den  auswärtigen  Beziehungen 
werden  die  inneren  Zustände  Altpolens  dargelegt:  die  Entwickelung 
der  Staatsverfassung  zu  einer  absoluten  Fürstengewalt,  die  soziale 
Gliederung  in  Opelebauem  und  Leibeigene,  das  Eindringen  des  durch 
die  Deutschen  vermittelten  Christentums  als  der  ersten  und  einzigen 
Kulturmacht  der  Zeit,  der  Kirche  als  der  bedeutungsvollsten  damaligen 
Organisation.  Allerdings  die  deutschen  Pioniere  dieser  Kultur,  Kleriker, 
Handwerker,  Bauern  sind  in  ihrer  Vereinzelung  fern  der  Heimat  dem 
eigenen  Volkstum  verloren  und  im  Polentum  aufgegangen. 

Weit  bedeutungsvoller  aber  als  dieser  erste  Einschlag  deutschen 
Wesens  wurden  im  XIII.  und  XIV.  Jahrhundert  d«'  "  Einwanderer- 
scharen,  in   denen   deutsche  Bürger  und  Bar  zogen; 


—     314     — 

diese  starke  Bevölkerungsverscbiebung  erklärt  Schmidt  aus  gewissen 
wirtschaftlichen  und  sozialen  Erscheinungen  in  Polen  und  Deutschland. 
Die  seit  den  Kreuzzügen  in  Westeuropa,  den  Mittelmeerländem  und 
in  Deutschland  einsetzende  Verschiebung  der  wirtschaftlichen  Ver- 
hältnisse, der  beg^nende  Übergang  von  der  Natural-  zur  Geldwirt- 
schaft, das  Aufkommen  ganz  neuer  Bedürfnisse  nach  vervollkommneter 
Lebensführung  macht  sich  auch  in  Polen  bemerkbar,  wo  Fürst  und 
Grundherren  aber  von  ihren  Untertanen  gemäOs  ihrer  rein  natural- 
wirtschaftlichen  Arbeit  stets  nur  Naturalleistungen,  nie  Geldzins  er- 
warten durften.  Einnahmen  in  Bargeld  lieisen  sich  da  nur  von 
kapitalkräftigen  Kolonisten  erwarten,  von  deren  Einwanderung  beretlB 
der  Ungarkönig  Geisa  in  seinem  Lande  grofsen  Nutzen  gezogen 
hatte.  Dieser  polnischen  Nachfrage  nach  wertschaffenden  Arbeits- 
kräften kam  zu  gleicher  Zeit  ein  starkes  Angebot  produktiver  Mensdien- 
bände  aus  Deutschland  entgegen,  wo  bei  steigender  Kultur  und 
namentlich  bäuerlichem  Wohlstande,  bei  sehr  starker  Bevölkerungs- 
zunahme, bei  der  Besetzung  alles  rodungs-  und  anbaufähigen  Bodens 
der  Nahrungsspielraum  viel  zu  knapp  wurde  und  zur  Auswanderung 
trieb.  Auf  die  Frage,  ob  diese  Scharen  schon  unterwegs  auf  dem 
Marsche  organisiert  waren,  etwa  gefuhrt  von  dem  späteren  Lokator, 
dem  beauftragten  Unternehmer,  geht  Schmidt  nicht  ein.  Ihrer  Her- 
kunft nach  erklärt  er  diese  Kolonisten  —  allerdings  ohne  besondere 
Begründung  —  iür  Zuwanderer  aus  Schlesien.  Da  nun  die  Kirche 
die  einzige  umfassende  internationale  Organisation  war,  so  nahmen 
die  Polenfürsten  zur  Gewinnung  der  Kolonisten  geistliche  Vermittelung 
in  Anspruch;  vornehmlich  die  der  deutschen  Zisterzienserklöster  im 
Lande,  die  mit  grofsem  Grundbesitz  dort  beschenkt  waren  und  zu 
dessen  Urbarmachung  und  rationellster  Bebauung  sie  deutscher  Ar- 
beitskräfte benötigten.  Zum  ersten  Male  ist  von  der  Ansetzung  deut- 
scher Bauern  die  Rede  im  Jahre  1210,  als  Herzog  Wladislaw  Odonicz 
zu  diesem  Zwecke  dem  Zisterzienserabt  Winemar.  von  Pforta  Land- 
stücke bei  der  Burg  Priment  überwies.  Schlesische  Klöster,  wie  Leubus 
und  Heinrichau,  aber  auch  grofispolnische ,  wie  Lekno,  folgten  dem 
Beispiel  der  Meliorationen  durch  deutsche  Bauern.  Den  deutschen 
Bürgern  errichtete  der  Polenherzog  Heimstätten  in  Gnesen,  Powidz, 
Kostschin  (1243  und  125 1),  die  als  deutsche  Städte  besiedelt  wurden, 
und  denen  sich  zwei  Jahre  darauf  die  deutsche  Gründung  Posens,  der 
Landeshauptstadt,  als  bedeutungsvollste  anschlofs.  Als  neue  Zister- 
zienserklöster mit  aus  Deutschland  zugewanderten  Mönchen  entstanden 
Obra,   Paradies,   Biesen  und  Priment,  umgeben  von  Grundbesitz  und 


—     316     — 

deutschen  blühenden  Dörfern;  als  neue  Städte  zu  deutschem  Rechte: 
Schrimm,  Meseritz,  Bentschen,  Schwerin  a.  W.,  Exin,  Inowrazlaw  u.  a. ; 
auf  dem  platten  Lande,  namentlich  durch  Stifter  und  Klöster  begründet, 
eine  kaum  übersehbare  Menge  von  Dörfern ;  die  adeligen  Grundherren 
begannen  erst  später,  etwa  seit  1270,  mit  der  Anlage  deutscher  Dorf- 
siedelungen.  Die  Zusammenstellungen  Schmidts  von  deutschen  Dorf- 
gründungen im  XIII.  Jahrhundert  an  der  Hand  des  Codex  d^hnuUicua 
Maiaris  PoUmi(»e  sind  doch  immerhin  umfangreicher  als  die  Roepells  ^), 
dem  jene  Urkundenveröffentlichung  noch  nicht  vorgelegen  hat.  Der 
von  Schmidt  zusammengebrachte  Stoff  spricht  doch  sehr  fUr  War- 
schauers in  Danzig  allgemein  ausgesprochene  Vermutung,  da£s  in 
den  ersten  Jahrzehnten  die  deutschen  Dorfansiedelungen  sich  über- 
wiegend auf  kirchlichem  Grund  und  Boden  fiamden,  weil  die  dortigen 
Exemtionen  allein  den  Rechtsboden  für  die  neuen  Ankömmlinge 
boten,  die  nicht  den  Lasten  und  Fronden  des  polnischen  Rechts 
imterstehen  wollten  *).  Daraus  ergibt  sich  auch,  dafis  später  jeder  An- 
setzung  von  Bauern  zu  deutschem  Rechte  auch  auf  weltlichem  Grunde 
erst  eine  Befreiung  des  zu  besiedelnden  Bodens  von  allen  Pflichten 
des  polnischen  Rechtes  vorherzugehen  hatte,  denn  der  Kolonist  brachte 
eben  aus  der  deutschen  Heimat  den  Grundsatz  mit,  dafs  derjenige, 
der  aus  wüster  Einöde  Kulturland  schuf,  sich  dadurch  die  persönliche 
Freiheit  gewann,  worin  Schmidt  die  ursprüngliche  Bedeutung  des 
deutschen  Rechtes  als  der  Vorbedingung  jeder  deutschen  Ansiedelung 
sehen  wUl.  Dafs  die  Träger  dieses  ins  iheutonicum  wirklich  Deutsche 
waren,  beweist  Schmidt  aus  häufigen  ausdrücklichen  Angaben  der 
Urkunden;  daüs  daneben  in  die  Ansiedelungen  einzelne  polnische 
Kmeten  zuweUen  aufgenommen  und  der  deutschen  Rechtswohltaten 
teilhaftig  geworden  sind,  ist  nicht  ausgeschlossen ;  die  von  den  Fürsten 
mit  den  Werbungs-  und  Ansiedelungsgeschäften  betrauten  Unter- 
nehmer oder  Lokatoren  hält  Schmidt  ihrem  Berufe  nach  für  deutsche 
Kaufleute,  die  durch  ihre  Handelsreisen  das  Land  g^t  kannten.  Die 
Gegenüberstellung  der  Rechte  und  Pflichten  der  Lokatoren  zeigt,  wie 
gewinnreich  ein  solches  Unternehmen  im  Falle  guten  Gelingens  sein 
konnte.  An  der  Dorfgemeinde  fallt  zumeist  der  genossenschafUiche  Geist 
bei  Handhabung  der  Wirtschaftsordnung  auf  und  die  völlige  Freiheit  von 
Diensten  während  des  XIII.  Jahrhunderts ;  als  alleinige  Pflicht  gegen 
den  Staat  gilt  die  Kriegshilfe  im  Falle  feindlichen  Einbruch^ 
minder  wichtig  war  der  Lokator  bei  den  Städtegründunge 

1)  QuehiehU  Polens  I,  Beilage  18. 

2)  KorrespondensblaU  des  Gesamtvereins  usw.,  Jahrg.  53,  Sp.  ^ 


t^^i. 


—     316     — 

den  Dörfern  das  erbliche  Schulzenamt,  so  erhielt  er  in  den  Städten 
die  Vogtei,  auf  Jahrzehnte  hinaus  die  einflufsreichste  Stellung'.  Es 
erscheint  der  Vogt  in  den  Magistratslisten  stets  an  erster  Stelle, 
denn  das  Bürgermeisteramt  läfst  sich  erst  im  XIV.  Jahrhundert  nach- 
weisen. Lehnt  sich  die  Stadtverfassung  dieser  neuen  Städte  £ast  ganz 
an  die  heimische  deutsche  an,  so  ist  doch  hier  in  der  Fremde,  wo 
der  Widerstand  althergebrachter  Verhältnisse  eben  wegfiel,  manch 
schnellere  Weiterentwickelung  zu  beobachten:  so  handhabte  das 
Schöffengericht  in  Grofispolen  im  Gegensatz  zur  alten  Heimat  nicht 
bloüs  die  niedere  Gerichtsbarkeit,  sondern  sogar  den  Blutbann.  Für 
die  rechtliche  Seite  der  Stadtgründungen  ist  es  wichtig,  dals  zu  An* 
fang  der  Einwanderungen  den  Ansiedlem  in  allgemeinem  Ausdruck 
das  deutsche  Recht  {ius  thetäanicale)  verliehen  wird,  dessen  einzelne 
Bestimmungen  damals  vor  seiner  schriftlichen  Aufzeichnung  eben  auch 
den  Polenherrschern  unbekannt  waren.  Die  späteren  Kodifikationen 
werden  im  Posener  Land  als  Neumarkter  Recht  1238,  als  Magde- 
burger Recht  erst  1253  in  Verleihungen  genannt.  Für  die  ersten 
deutschen  Ansiedler  galten  als  Inhalt  des  „deutschen  Rechts'*  in  Polen 
nach  Schmidt  „die  drei  Grundsätze:  i)  Befreiung  von  allen  Lasten 
des  polnischen  Rechts,  2)  persönliche  Freiheit,  3)  die  Befugnis,  das 
öffentliche  Leben  bis  zu  einem  gewissen  Grade  selbständig  zu  ordnen". 
Den  charakteristischen  Bebauungsplan  in  der  Anlage  der  Posener 
Städte  führt  Schmidt  auf  das  Vorbild  niedersächsischer  Marktansiede- 
lungen wie  Magdeburg,  Merseburg,  Naumbui^,  Stendal  zurück;  in 
noch  weiterer  Verfolgung  des  Ursprungs  dieses  Schemas  hat  War- 
schauer letzthin  ')  auf  mancherlei  Übereinstimmungen  mit  den  römischen 
Feldlagern  hingewiesen. 

Gegen  diese  deutschen  Masseneinwanderungen  regt  sich  schon 
vor  Ablauf  des  XIII.  Jahrhunderts  als  Reaktion  auf  slawischer  Seite 
eine  starke  nationale  Abneigung  bei  den  zwei  bedeutendsten  polnischen 
Ständen:  als  Wortführer  des  deutschfeindlich  gesinnten  Klerus  weist 
der  Gnesener  Erzbischof  Jakob  Swinka  die  römische  Kurie  auf  die 
Gefahrdung  Polens  durch  diese  deutschen  stammfremden  Massen  hin, 
und  der  polnische  Adel  widersetzt  sich  mit  Erfolg  dem  Eindringen 
seiner  deutschen  Standesgenossen;  beide  deuten  auf  das  Schicksal 
des  gastfreien  und  so  rasch  germanisierten  Schlesien  hin.  Und  auch 
der  Landesherr  König  WladislawLokietek  (1306 — 33),  der  durch  deutsche 
Einflüsse  jahrelang  seinem  Erbe  femgehalten  war,  sah  in  nationalem 


i)  Korrespondenzblatt  Jahrg.  53,  Sp.  4. 


—     317     — 

Eifer  in  den  Deutschen  nicht  nur  die  Feinde  seines  persönlichen  Herr* 
Schaftsbesitzes,  sondern  seines  ge&hrdeten  Volkstums.  Wenn  er  nun 
auch  —  zumal  seit  dem  Ahfaü  seiner  Stadt  Posen  von  ihm  —  selbst 
deutsche  Dorf-  und  Stadtanlagen  in  Grofspolen  vermieden  hat,  so 
waren  doch  die  wirtschaftlichen  Erwägungen  bei  seinem  Klerus  und 
Adel  stärker  als  die  nationalen.  Die  umfangreiche  Zusammenstellung 
Schmidts  von  geistlichen  und  adeligen  Gründungen  aus  dem  XIV.  Jahr* 
hundert  beweist  dies  zur  Genüge.  Des  Königs  deutschfreundlicher  Sohn 
und  Nachfolger,  Kasimir  der  Grofse  (1333 — 70),  schätzte  die  deutschen 
Siedler  und  ihre  Verbreitung  als  wirtschaftlich  wertvolle  Kräfte  wohl, 
aber  den  nationalen  Zusammenhang  der  Städte  mit  dem  Mutterlande 
suchte  er  geschickt  durch  Verbot  der  Berufung  an  den  Magdeburger 
SchöfTenstuhl  und  den  politischen  Einfluis  der  Deutschen  durch  Be- 
schränkung der  freien  Ratswahl  und  der  vogteilichen  Befugnisse  zu 
unterbinden.  Mehrfach  war  die  freie  Ratswahl  in  dieser  Zeit  der 
Kaufjpreis,  um  die  Vogtei  in  städtische  Gewalt  zu  bringen,  wie  ja  in 
der  Stadtverfassung  im  XIV.  Jahrhundert  auch  durch  das  Hervor- 
treten des  Bürgermeisteramtes  eine  bedeutsame  Veränderung  vor  sich 
ging.  Von  den  Stadtgründungen  unter  Kasimir  dem  Groisen  hat  sich 
infolge  der  sehr  bevorzugen  Lage  und  der  zahbreichen  königlichen 
Gunstbeweise  Bromberg  am  glücklichsten  entwickelt.  Mit  Kasimirs 
Tod  1370  gelangt  die  erste  grolse  deutsche  Einwanderung  zum  Ab- 
schlüsse. Bei  der  Rückschau  auf  den  damaligen  Besitzstand  der 
Deutschen  in  Stadt  und  Land  stellt  Schmidt  fest,  dafs  trotz  des  ge- 
ringeren deutschen  Zustroms  im  XIV.  Jahrhundert  die  städtische  Be- 
völkerung ganz  überwiegend  deutsch  gewesen  ist,  wie  Stichproben 
aus  den  fast  durchweg  deutschen  Ratslisten  ergeben,  die  uns  in  War- 
schauers Posener  Stadtbuch  vorliegen.  Weniger  glücklich  als  die  Städter 
haben  im  XFV.  Jahrhundert  die  Bauern  in  ihren  kleineren  Gemeinden 
Deutschtum  und  Freiheit  bewahrt.  Bei  den  Dorfsiedelungen  zu  deut- 
schem Recht  sind  in  dieser  2^it,  wo  die  Einwanderung  nachliefs,  oft- 
mals auch  Polen  nach  dem  neuen  Recht  auf  der  heimischen  Scholle 
angesetzt  worden;  beim  Fortfall  der  Werbung  beschränkte  sich  die 
Aufgabe  des  Lokators  nun  auf  die  einfache  Aufteilung  des  angewiesenen 
Landes,  und  dementsprechend  war  bei  bedeutend  geringerem  Entgelt 
auch  die  spätere  Stellung  des  Lokators  als  Schulzen  weniger  einflufs- 
reich.  Die  den  Einwanderern  im  XIII.  Jahrhundert  zugesagte  Freiheit 
versuchten  die  Grundherren  jetzt  bereits  zu  beschränken  und  ihnen 
erfolgreich  auf  dem  Umwege  der  ursprünglich  von  den  Bauern  frei- 
willig geleisteten  Bittdienste  einzelne  Lasten  des  polnischen   Rechte 


—     318     — 

aufzubürden.  Hatten  die  deutschen  Bürge 
städtefreundlichen  Königs  Ludwig  (1370 — 82 
wurden  die  Thronfolgekämpfe  nach  seinem  1 
voll.  In  diesen  Wirren  wandte  der  verwUdei 
Vorliebe  seine  Gewalttätigkeiten  gegen  die 
wie  gehafsten  Städter  —  zahlreiche  von  Sc 
illustrieren  diese  Tatsache.  Und  zu  derselb 
ein  fianatischer  Deutschenhals  gegen  die  Stai 
ständigkeit  und  Wohlhabenheit  der  bishei 
Reaktion,  deren  gleichzeitiges  Erscheinen  : 
gegenseitiger  böhmisch -polnischer  militari 
Ordens-  und  Hussitenkriegen  Schmidt  mi 
klassischer  Zeuge  dieser  polnischen  Stimmui 
XVI.  Jahrhundert  ist  der  gelehrte  Johann  v< 
würdige  „Reformationsschrift*'  Caro  bereits 
Besonders  unheilvoll  für  die  Deutschen  wai 
Spitze  dieser  schlieCslich  allmächtigen  Strömu 
bisherige  Litauerfürst  Wladislaw  Jagiello  (138 
kämpfung  des  Deutschen  Ordens  und  deutsc 
Beruf  seines  Volkes  sah.  Die  Grundherren 
Gewinns  mit  Städtegründungen  noch  fort,  ab 
zige,  nicht  entwickelungsfahige  Gemeinwesen. 
Verwaltung  der  älteren  Städte  wiederholten  sie 
die  Deutschen,  durch  die  Gesetzlosigkeit  u 
geschüchtert,  sich  gegen  Scharwerksdienst 
zügigkeit  zu  wehren  suchten;  die  gröfserei 
loren  alle  politische  Bedeutung  auf  den  I 
wurden  schon  jetzt  polonisiert,  was  nicht  n 
bewirkten,  sondern  auch  die  schon  den 
sehen  in  Polen  eigene  Neigung,  zwecks  G 
wirtschaftlicher  Wohlhäbigkeit  auf  jede 
Betätigung  zu  verzichten.  Die  Zeitpunkte 
Schiebungen  in  den  gröfseren  Städten,  z.  I 
u.  a.,  hat  Schmidt  in  sehr  überzeugende! 
polnischen  Namen  in  den  Rats-  und  Bi 
treten  polnischer  bzw.  deutscher  Amtssprac 
den  Ratsprotokollen  festgestellt.  Was  die  ' 
Kaufleute,  Handwerker  und   Künstler  in   < 


i)  Zeitschrift  des  Westpreofsischen  Geschichtsverei 


—     319     — 

auch  in  diesen  schwierigen  Zeiten  der  Jagellonenepoche  an  Kultur* 
werten  zu  schaffen  verstand,  lehrt  das  interessante  3.  Kapitel  Schmidts 
in  seinem  dritten  Buche.  Wie  gegen  die  deutschen  Büiger  richtete 
sich  der  nationale  Übereifer  der  Polen  auch  gegen  die  deutschen 
Mönche;  die  blühenden  wichtigen  Zisterzienserklöster  wurden  durch 
gewaltsame  Einsetzung  polnischer  Abte  und  Vertreibung  deutscher 
Insassen  polonisiert.  Der  deutsche  Bauer,  in  seiner  Vereinzelung  am 
wenigsten  widerstandskräftig,  sank  in  dieser  Zeit  immer  tiefer  und 
tiefer;  abgesehen  von  den  märkisch-posener  Grenzstrichen  hatte  er  im 
ganzen  Lande  längst  Freiheit  und  Volkstum  eingebüfst,  die  Grund- 
herren zogen  Bauern*  und  Schulzengüter  unter  dem  Vorwand  des 
Steuerrückstandes  ein  und  bedrückten  gleich  ihren  Hörigen  nun  auch 
den  deutsch  gewesenen  Bauern  so  sehr  mit  sich  steigernden  Fron* 
diensten,  dafs  die  Verzweiflung  grofse  Mengen  dieser  Unglücklichen 
zur  Flucht  in  die  Feme  trieb.  Der  drohenden  Entvölkerung  des 
flachen  Landes  konnten  die  Grundherren  aber  nur  durch  frische  Zu- 
führung neuer  auswärtiger  Arbeitskräfte  begegnen. 

Diese  zweite  grofse  deutsche  Einwanderung  nach  Posen  unter- 
scheidet sich,  wie  dies  Schumacher*)  auch  für  Preulsen  nachgewiesen 
hat,  von  der  früheren  im  XIII.  Jahrhundert  ganz  wesentlich;  es  fehlt 
ihr,  da  die  Zuwanderer  nicht  in  groisen  Massen,  sondern  langsam  un- 
merklich in  vielen  kleinen  Trupps  —  oftmals  als  Obdach  heischende 
Flüchtlinge  —  kamen,  der  grofise  selbstbewußte  und  nationale  Zug. 
Als  kolonisierende  Macht  erscheint  nur  der  Adel;  Landesherr  und 
Kirche  geben  nicht  wie  im  XIII.  Jahrhundert  das  Vorbild ;  der  erstere 
verfugte  nicht  mehr  über  g^öfseren  Grundbesitz,  hatte  ihn  im  I^ufe 
der  Jahrhunderte  verschenkt  oder  an  Starosten  übertragen,  die  als 
Niefsbraucher  doch  ihn  wie  Eigenbesitz  verwalteten.  Dem  katholischen 
Klerus  erschien  —  von  verschwmdenden  Fällen  abgesehen  —  doch 
das  protestantische  Bekenntnis  der  Kolonisten  als  Hindernis,  den  polo- 
nisierten  Klöstern  fehlte  auch  der  dem  XIII.  Jahrhundert  eigene  Unter- 
nehmungsgeist und  die  rasche  Betriebsamkeit. 

In  Schmidts  Buch  sind  gerade  die  Kapitel  über  die  Kolonisation 
im  XVII. /X VIII.  Jahrhundert  besonders  wertvoll;  denn  die  Behand- 
limg  dieses  Gebietes  war  bisher  über  wenige  lokale  Vorarbeiten  nicht 
hinausgekommen  und  hat  eine  zusammenhängende  Untersuchtmg  und 
Darstellung  zum  ersten  Male  eben  hier  durch  Schmidt  gefunden.  Den 
Anlafs    für    diese   deutschen  Wanderungen    bildeten    in    der   Heimat 


i)  Korrespondenxblatt  Jahrg.  53,  Sp.  6. 


—     320     — 

religiöse  Bedrückung  und  Kriegselend.  Glaubensverfolgung  durch  die 
Spanier  führte  noch  im  XVI.  Jahrhundert  viel  reformierte  Niederländer 
über  die  See  nach  Osten,  zuerst  nach  Danzig,  von  wo  sie,  als  g^e* 
schickte  Wasserbautechniker  im  Überschwemmungsgebiet  geschätzt,  siidi 
im  Weichseltal  niederliefsen  und  nach  Schumachers  Untersuchungen  ^) 
in  vielen  Niederlassungen  in  Ost-  und  Wes4>reuisen  ansiedelten,  und 
sich  auch,  wie  Schmidt  im  einzelnen  genau  nachweist,  in  dem  benach- 
barten Bromberger,  Deutsch-Kroner  und  Filehner  Gebiet  verbreiteten. 
Sie  haben  das  bis  dahin  unbetretene,  mit  Waldsümpfen  bedeckte  Netze- 
land urbar  gemacht  und  besiedelt  und  dann  nach  Süden  bis  in  das 
Herz  der  heutigen  Provinz  Posen  hinein  sich  ausgedehnt  Ihrer  Her- 
kunft nach  sind  nur  wenige,  vielleicht  die  allerersten  Ankömmlinge, 
in  der  Brahe-  und  Weichselgegend  wirkliche  Holländer  gewesen;  sie 
waren  schon  sehr  früh  stark  mit  Deutschen  durchsetzt,  wie  denn  (Ue 
Lokationsprivilegien  fast  durchweg  niederdeutsche  Namen  enthalten. 
Die  Bezeichnung  ihrer  Dörfer  als  Holländereien  gUt  nicht  ihrer  ethno- 
graphischen Zugehörigkeit,  sondern  der  Feststellung  ihrer  eigenartigen 
Gemeindeverfassung  und  ihrer  unabhängigen  Rechtsstellung  gegenüber 
dem  Grundherrn,  was  sie  vor  den  anderen,  minder  begünstigten  deut- 
schen Dörfern  auszeichnete. 

Einige  Jahrzehnte  später  flüchteten  im  Dreüsigjährigen  Kriege  vor 
dem  Glaubenszwang  der  Habsburger  viele  protestantische  Schlier 
und  vor  den  Brandschatzungen  durch  die  kaiserlichen  und  schwedi- 
schen Heere  viele  märkische  und  pommersche  Bauern  nach  Posen,  das 
damals  allen  als  das  Land  der  Ruhe  und  Duldung  erschien.  Die 
Grundherren  begnügten  sich  nicht  nur  mit  der  Aufriahme  dieser  ans 
eigenem  Antriebe  Nahenden,  sondern  warben  auch  durch  verteUte 
Reklameblätter  und  Auswanderungsagenten  zur  Ansiedelung  auf  ihrem 
Grund  und  Boden,  und  das  mit  solchem  Erfolg,  dais  die  Stände  und 
Amtleute  der  benachbarten  Neumark  den  Kurfürsten  von  Brandenburg 
zu  lebhaftem  Proteste  bei  der  Krone  Polen  gegen  diese  Verlockungen 
zur  Auswanderung  veranlaüsten,  da  eine  Entvölkerung  der  märkischen 
Grenzgebiete  zu  befürchten  sei.  Wie  alle  diese  Zuwanderer,  sei  es 
von  Norden,  sei  es  von  Westen  her,  das  Land  mit  ihren  Ansiedelungen 
durchsetzten,  zuerst  das  ganze  Netzetal  und  dann  in  nordsüdlicher 
Richtung  in  zwei  breiten  parallelen  Strichen  rechts  und  links  der 
Warthe,  zumal  in  den  Kreisen  Neutomischel  imd  Grätz,  das  sucht  die 


I)  Niederländische  Ansiedehmgen  im  Herxogttitn  Preußen  vwr  Zeit  Berxog  JI* 
hreehts  (1526—1668).    Leipzig  1903. 


—     321     — 

im  Anhang  beigefugte  Karte  zu  veranschaulichen.  Hinsichtlich  ihrer 
Rechtsstellung  unterscheidet  Schmidt  bei  diesen  neuen  Niederlassungen 
zwei  Gruppen:  die  obenerwähnten  HoUändereien  und  die  wegen  der 
einflufsreichen  Stellung  der  Schulzen  von  ihm  so  genannten  Schulzen* 
dörfer.  Nur  letztere  sind,  wie  im  XIII.  und  XIV.  Jahrhundert  üblich, 
durch  g^nindherrliche  Mittelspersonen,  durch  Lokatoren,  angelegt  worden, 
die  die  Wartung  und  Bodenaufteilung  besorgten.  Bei  der  Feststel- 
lung der  Rechtsverhältnisse  beriefen  sich  die  Grundherren  oftmals 
ausdrücklich  in  den  Urkunden  auf  das  magdeburgische  oder  deutsche 
Recht;  die  Niederlassungsprivilegien  entsprachen  in  Form  und  Inhalt 
zumeist  denen  des  XIV.  Jahrhunderts,  nur  wurde  doch  mehr  als 
damals  die  bäuerliche  Freiheit  durch  ausbedungene  Scharwerks- 
dienste eingeengt.  Das  Besitzverhältnis  war  wie  damals  auf  ein  Erb- 
zinsrecht gegründet,  das,  wie  einst  im  XV.  und  XVI.  Jahrhundert,  die 
Grundherren  zur  Beschränkung  und  Aufhebung  der  Freizügigkeit  der 
Bauern  auszunutzen  verstanden.  Die  alten  Befugnisse  der  Gesamt- 
gemeinde im  Dorfe  waren  jetzt  ganz  zurückgetreten  gegen  die  jetzt 
alles  überragende  Stellung  des  Erbschulzen,  der  —  zumeist  auch 
Lokator  des  Dorfes  —  als  der  Beauftragte  und  Vertreter  des  Grund- 
herrn dessen  Vorteil  in  erster  Linie  wahrzunehmen  und  die  Recht- 
sprechung und  Polizei  zu  handhaben  hatte.  Im  Dorfgericht  standen 
ihm  natürlich  die  Schöffen,  wie  einst,  zur  Seite.  Eine  Berufung  war 
von  dort  nur  an  den  adeligen  Grundherrn  möglich,  der  also  in  Rechts- 
und Verwaltungssachen  seinen  Untertanen  gegenüber  allmächtig  war, 
meistens  sehr  zu  ihrem  Schaden.  Weit  günstiger  und  unabhängiger 
gestellt  waren  die  HoUändereien.  Sie  verhandelten  vor  ihrer  Nieder- 
lassung mit  dem  Grundherrn  nicht  durch  dessen  Lokator,  sondern 
durch  ihre  eigenen  Abgesandten,  sie  bedingten  sich  stets  vor  allem 
Freiheit  von  jedem  Scharwerksdienste  aus.  Grofse  Bedeutung  besafs 
bei  ihnen  noch  der  Gemeindeverband,  die  sogenannte  Nachbarschaft. 
Sie  wählte  jährlich  sich  Schulzen  und  Schöffen  als  ihre  Beamten,  und 
auCserdem  vertrat  diese  Nachbarschaft  ein  straffes  Genossenschafts- 
prinzip mit  dem  Grundsatz:  „Einer  für  alle  und  alle  für  einen '\  ein 
erfreuliches  festes  Zusammenhalten,  so  dafs  diese  Ansiedelungen  viel 
länger  gegen  die  Übergriffe  ihrer  Grundherren  geschützt  blieben  als 
die  Schulzendörfer;  das  blieb  allerdmgs  nicht  auf  die  Dauer ,  denn 
wie  im  Mittelalter,  so  wurden  auf  dem  Umwege  der  Bittdienste  auch 
jetzt  den  Holländern  Scharwerksdienste  aufgebürdet.  Aber  trotz  häu- 
6erer  Eineiriffe  und  Vertraersbrüche  seitens   der  Grundherrschaften  und 


—     822     — 

folge  der  häufigen  Kii^leiden,  haben  doch  alle  diese  Dörfer  ihr 
Deutschtum  bis  zur  preufisischen  Besitzergreifung  gewahrt 

Nicht  minder  bedeutungsvoll  als  diese  Zuwanderer  von  Norden 
und  Westen  waren  die  protestantischen  Schlesier,  die  habsburgischer 
Glaubenszwang  im  Beginne  des  Dreifisigjährigen  Krieges  über  die 
Posener  Grenze  trieb  und  die  zuerst  dort  im  Süden  der  heutigen 
Provinz  eine  Reihe  Städte,  wie  Schlichtingsheim,  2^borowo,  Rawitsch, 
Bojanowo,  anlegten,  dann  aber  auch  weiter  im  Innern,  wie  Schwersenz, 
Schönlanke  u.  a.  Als  ein  typisches  Beispiel  dieser  Zeit  hat  Schmidt 
den  Hergang  der  Gründung  der  noch  heute  in  ihrem  Gewerbefleiis 
bedeutenden  Stadt  Rawitsch  beschrieben.  In  einer  Menge  älterer 
Städte  wurde  durch  diesen  starken  Zustrom  die  deutsche  Einwohner» 
Schaft  vermehrt;  dem  Handwerk  gab  die  mitgebrachte  verbesserte 
Technik  der  Tuchweberei  neuen  Anreiz  und  glücklichen  Aufschwung. 
Bei  den  neuen  Stadtanlagen  hielt  man  auch  jetzt  an  dem  bekannten 
mittelalterlichen  rechtwinkligen  Bebauungsplan  fest.  Aber  auch  im 
XVIII.  Jahrhundert  regt  sich  wie  einst  im  XV.  eine  Reaktion  auf 
polnischer  Seite  gegen  diese  deutsche  Selbständigkeit  und  wirtschaft- 
liche Blüte;  zu  dem  Deutschenhafs  tritt  nun  noch  religiöse  Unduld- 
samkeit, um  diese  stammesfremden  Mitbürger  zu  bedrücken,  wobei 
Posen  und  Schrimm  —  sehr  zum  Schaden  des  eigenen  wirtschaft- 
lichen Gedeihens  —  sich  unrühmlich  hervortaten.  In  schematischer 
Verleihung  deutschen  Rechtes  an  ihre  polnischen  Untertanen  haben 
auch  im  XVIII.  Jahrhundert  viele  Grundherren  aus  finanziellen  Gründen 
neue  Städte  angelegt,  die  aber  als  klägliche  Nester  längst  wieder  zu 
Dörfern  geworden  sind.  War  die  wirtschaftliche  Lage  der  Deutschen 
in  den  anderen  Städten  infolge  Ungunst  der  Zeiten  und  des  Willkür- 
regiments der  Grundherren  keine  erfreuliche,  so  haben  diese  Bürger 
doch  ebenso  wie  die  Bauern  im  XVIII.  Jahrhundert  ihr  Volkstum  sich 
gewahrt  und  so  bis  zur  preufsischen  Zeit  die  nationale  Kräfteverteilung 
im  Lande  festgehalten,  die  ihm  die  zweite  grofse  deutsche  Einwande- 
rung im  XVII.  Jahrhundert  gegeben  hatte. 

Mit  der  preußischen  Besitznahme  des  Landes  schliefet  diese  Dar- 
stellung ab,  um  dann  noch  in  einem  kurzen  Rückblick  die  einzelnen 
Stadien  der  durchlaufenen  Entwickelung,  die  Anfänge,  das  Wachstum, 
den  Rückgang,  die  Neupflanzung  und  den  Fortbestand  deutscher 
Siedelungen  im  Posener  Lande  zu  streifen.  Vielleicht  hätte  es  sich 
bei  dieser  Gelegenheit  verlohnt,  auf  die  Gründe  einzugehen,  die  den 
Erfolg  der  deutschen  Einwanderung  in  Posen  im  XIII.  Jahrhundert 


—     323     — 

Gewiüs  war  von  Bedeutung*,  dals  die  deutsche  Geistlichkeit  hier  nicht 
ein  heidnisches  Land  vorfand,  sondern  eine  gefestigte  Nationalkirche, 
die  die  politisch  einfluCsreichen  höchsten  Würden  festhielt,  so  da(s  den 
Deutschen  nur  die  politisch  weniger  wichtigen,  wenn  auch  wirtschaft- 
lich wertvollen  Klosterstellen  verblieben.  Und  ebenso  hat  das  Aus- 
bleiben der  deutschen  Ritterfamilien  die  völlige  Germanisation  mit 
verhindert;  der  polnische  Adel  hat  es  stets  vereitelt,  dafs  deutsche 
Standesgenossen  in  die  nächste  Umgebung  des  Herrschers  gelangten 
und  das  Recht  zur  Ansiedelung  im  Lande  selbst  erhielten,  wie  in 
Schlesien  und  Pommern ;  die  wenigen  Adelsfamilien  an  den  westlichen, 
nördlichen  und  südlichen  schmalen  Grenzstrichen  haben  in  ihrer  Ver- 
einzelung nie  Einflufs  gehabt  DaCs  schliefslich  die  Sonne  landesherr- 
licher Huld  den  Deutschen  in  Posen  viel  zu  wenig  geleuchtet  hat, 
um  ihnen  solche  dauernden  Erfolge  wie  in  Schlesien,  Pommern,  Meck- 
lenburg zu  ermöglichen,  das  hat  Schmidt  ja  allerdings  an  verschie- 
denen Stellen  seines  Buclies  hervorgehoben. 


Mitteilungen 


Yenamilllllllgeil»  —  In  diesem  Jahre  wird  der  Gesamtverein  der 
Deutschen  Qeschichts-  und  Altertumsvereine  seine  Versammlung  in 
Bamberg  halten,  und  zwar  in  den  Tagen  vom  35.  bb  29.  September. 
Zeit  und  Ort  sind  so  gewählt,  dais  die  Teilnahme  vielen  Freunden  der  Ge- 
schichtsforschung mög^ch  sein  wird,  die  sonst  wegen  allzu  weiter  Entfernung 
des  Versammlungsorts  und  ungünstiger  Zeit  der  Versammlung  fem  bleiben 
müisten.  Vor  allem  ist  es  die  Sache  der  Vorstände  der  Geschichtsyereine, 
dais  sie  sich  zu  einer  Beschickung  des  Tages  durch  einen  Abgeordneten 
entBchlieisen  in  der  rechten  Erkeimtnis,  dafs  jeder  Verein  für  seine 
besondere  Tätigkeit  bei  dieser  Gelegenheit  Anregung  findet, 
die  daheim  nur  in  Taten  umgesetzt  werden  mufs. 

An  der  Spitze  des  Ortsausschusses  steht  Bürgermebter  Lutz  in  Bamberg, 
dem  sich  Domkapitular  Lahner  und  Reichsarchivrat  Sebert  zugesellen. 
Sämtliche  Sitzungen  finden  in  den  Luitpoldsälen  statt,  wo  sich  auch 
vom  35.  September  an  das  Bureau  befindet.  Am  37.  September  veran- 
staltet die  Stadt  Bamberg  zu  Ehren  der  Teilnehmer  ein  Burgfest  auf  der 
Altenburg;  am  28.  September  findet  ein  Ausflug  nach  der  ehemaligen  Zister- 
zienserabtei Ebrach  statt,  und  Geh.  Hofrat  v.  Bezold  (Nürnberg)  wird  dabei 
einen  erläuternden  Vortrag  halten.  Für  den  39.  September  endlich  ist  eine 
Fahrt  nach  Nürnberg  vorgesehen,  wo  sich  die  Teilnehmer  trennen  werden; 
dort  wird  der  Verein  für  Geschichte   der  Stadt  Nürnberg   die  Versammlung 

VkA/»«4i^*««  *       Atn*      ITAl^rf      i«vm       Alm      Q^^A*-         Amr"      TiMott^Vt      Arno      T^tv/^I^ArKatva*«      «««««4 


—     324     — 

wird  sich  anschlieüsen.  Diese  Aussichten  allein  werden  für  viele  schon  einen 
genügenden  Reiz  zur  Beteiligung  abgeben,  ganz  abgesehen  von  dem  rdchen 
wissenschaftlichen  Programm. 

In  den  allgemeinen  öffentlichen  Versammlungen  werden  folgende 
Vorträge  stattfinden:  Prof.  Fester  (Erlangen)  über  Franken  und  die 
Kreis  Verfassung,  Archivsekretär  Altmann  (Bamberg)  über  das  Bistum 
Bamberg  als  Staat,  Gymnasialprofessor  Wolfram  über  Fürstbischof 
Franz  Ludwig  von  Erthal.  Der  Schwerpunkt  der  Verhandlungen  htg^ 
jedoch  wie  immer  in  den  Abteilungssitzungen.  In  den  vereinigten 
fünf  Abteilungen  wird  berichten  Prof.  Rubel  (Dortmund)  über  das  fränkische 
Eroberungs-  und  Siedelungssystem  in  Oberfranken  und  seine  Be- 
deutung für  die  älteste  Geschichte  der  Babenberger  und  der  Babenberger 
Fehde,  Prof.  v.  Zwiedineck-Südenhorst  (Graz)  über  Neue  Methoden 
genealogischer  Forschung  in  Österreich  und  Armin  Tille  (Leipzig) 
über  Organisation  und  Publikationen  der  deutschen  Geschichtsvereine.  — 
Besonders  reich  ist  das  Programm,  das  in  der  vereinigten  i.  und  3.  Ab- 
teilung abgehandelt  werden  soll;  deren  Tagung  gilt  bekanntlich  zugleich  als 
solche  des  Verbandes  west-  und  süddeutscher  Vereine  fUr  römisch-germanische 
Altertumsforschung  ^).  Es  werden  vortragen:  Anthes  (Darmstadt)  Über 
Liegende  Menschen  unter  wilden  Tieren  auf  römischen  Skulpturen,  Harbauer 
(Diidngen)  über  einen  noch  zu  bestimmenden  Gegenstand,  Helmke  (Friedbeig) 
über  Neues  aus  Friedberg,  Lamprecht  (Regensburg)  über  die  Chronologie 
der  römischen  Friedhöfe  in  Regensburg,  Lemcke  (Stettin)  über  Spuren 
römischer  Kultur  in  Pommerns  vorgeschichtlicher  Zeit,  Müller  (Darmstadt) 
über  einen  seltenen  Typus  bronzezeitlicher  Armringe,  Sartori  (Bamberg) 
über  die  wichtigsten  prähistorischen  Fundstellen  in  der  Umgegend  von 
Bamberg,  Seh  Hz  (Heilbronn)  über  Römische  und  vorrömische  VeriLehrs- 
wege  im  Grenzwallhinterland  des  Neckargaus,  Wolff  (Frankfurt  a.  M.)  über 
Römisch-germanische  Altertumsforschung  und  Denknudpfiege  und  Anthes 
über  Ringwallforschung.  —  In  der  verewigten  3.  und  4.  Abteilung  koount 
zu  Worte  Archivrat  Mummenhoff  (Nürnberg)  über  Freie  Kunst  und  Hand- 
werk in  Nürnberg  und  Pfeiffer  (Bamberg)  gibt  einen  Überblick  über  den 
gegenwärtigen  Stand  der  Bamberger  Historiographie.  —  Die  5.  Abteünng 
endlich  —  die  für  Volkskunde  —  wird  folgende  Vorträge  darbieten:  Prof. 
Brenner  (Würzburg)  über  Vorbereitung  der  Hausbaustatistik,  Wolfram 
(Metz)  über  Wegekreuze,  Freiherr  v.  Friesen  (Dresden)  über  Flurnamen- 
forschung,  Kronfufs  (Bamberg)  über  Fränkische  Volkstümlichkeit  einst  und 
jetzt  und  Becker  (Ludwigshafen)  über  das  Lied  vom  Jäger  aus   Kurpfiüz. 

Dieses  Programm  ist  gewifs  reichhaltig  und  vielseitig  genug,  so  dais 
jeder  Teilnehmer  seine  Rechnung  finden  wird.  Hoffentlich  stellen  sich 
recht  viele  ein  und  vor  allem  recht  zahlreiche  Vereinsabgeordnete! 


Am  35.  September,   also  an  dem  Tage,   an   dem   abends   die  Vorbe- 
grüfsung  der  Gesamtvereinsteilnehmer  stattfindet,  wird  ebenfiüls  in  Bamberg 


—     326     — 

der  Fünfte  deutsche  Archivtag  abgehalten  werden,  zu  welchem  die  An- 
meldungen bis  15.  September  an  Reichsarchivrat  Sebert  (Bamberg)  zu 
richten  sind. 

Das  Programm  sieht  folgende  Verhandlungsgegenstände  vor:  Gemäfs 
des  vom  vierten  Archivtag  *)  ge£afsten  Beschlusses  wird  der  damals  eingesetzte 
Ausschuis  (Bär,  Ermisch,  Knapp,  Wolfram)  über  die  Frage  des 
Schutzes  kleinerer  Archive  berichten,  Reichsarchivrat  Sebert  be- 
handelt das  Bamberger  Kreisarchiv,  und  an  diesen  Vortrag  schliefst  sich 
eine  Besichtigung  des  Archivs  und  der  ausliegenden  Pläne  und  Zeichnungen 
an.  Femer  spricht  Geh.  Archivrat  Prümers  über  die  Papierfeinde  aus  dem 
Insektenreiche  und  Stadtarchivar  Overmann  (Erfurt)  sowie  Geh.  Archivrat 
Grotefend  (Schwerin)  behandeln  die  Archivbenutzung  zu  genealogischen 
Zwecken.  Schlieüslich  wird  Geh.  Archivrat  Sello  aufserhalb  der  Tages- 
ordnung über  seine  neuen  Erfahrungen  mit  Zapon  Mitteilungen  machen. 


Gerade  eine  Woche  nach  den  Bamberger  Versammlungen  wird  in 
den  Tagen  vom  3.  bis  6.  Oktober  in  Hamburg  die  48.  Versammlung 
deutscher  Philologen  und  Schulmänner  stattfinden.  Auch  das  dafür 
ausgegebene  Programm  ist  aufserordentlich  reichhaltig,  und  im  besonderen 
auch  an  geschichdichen  Gegenständen,  von  denen  wenigstens  einige  hier 
angeführt  sein  mögen.  Prof.  Koepp  (Münster  i.  W.):  Die  Ausgrabungen 
bei  Haltern;  Prof.  Lenz  (Berlin):  Ziel  und  Charakter  der  Politik  Napoleons  I.; 
Prof.  Wotke  (Wien):  Die  Entwickelung  des  österreichischen  Lehrerstandes 
bis  1848;  Privatdozent  Mensing  (Kiel):  Über  das  Schleswig-Holsteinische 
Idiotikon;  Prof.  Hitzigrath  (Hsunburg):  Hamburgischer  Handel  im  XVIII. 
Jahrhundert;  Prof.  Eduard  Meyer  (Berlin):  Alexander  der  Grofse  tmd  die 
absolute  Monarchie;  Prof.  Lidzbarski:  IMe  Namen  der  Alphabetbuchstaben. 

Femer  finden  gleichzeitig  und  zwar  am  a.  Oktober  die  Jahresver- 
sammlung des  deutschen  Gymnasialvereins  und  die  Abgeord- 
netenversammlung des  Verbandes  deutscher  Vereine  für 
Volkskunde  statt;  hinsichtlich  der  letzteren  sind  etwaige  Anfragen  an 
Prof.  A.  Strack  (Giefsen)  zu  richten. 

Kommissionen«  —  Am  8.  Dezember  1904  hielt  in  Leipzig  die 
Königlich  Sächsische  Kommission  für  Geschichte  ^)  ihre  9.  Jahres- 
versammlung ab.  Neu  erschienen  sind  von  den  Publikationen  der  Kommission 
die  Doppelsektionen  der  Grundkarte  416/442  und  417/443,  Döbeln- 
Chemnitz  und  Dresden-Dippoldiswalde,  sowie  der  Schlufs  des  zweiten,  bis 
Ende  1546  reichenden,  Bandes  der  PoUtiachen  Korrespondenz  des  Herzogs 
tmd  Kurfürsten  Moritz  von  Sachsen,  herausgegeben  von  Erich  Branden- 
burg. Die  übrigen  Unternehmungen  sind  zimi  gröfsten  Teile  fortgeschritten 
und  bei  einigen  steht  die  Vollendung  in  naher  Aussicht.  Nur  die  Bearbei- 
tung der  Sozial-  und  Wirtschaftsgeschichte  Leipzigs  hat  vor- 
läufig eingestellt  werden  müssen,  da  der  mit  dieser  Aufgabe  betraute  Armin 


i)  Vgl.  oben  S.  17. 

2)  Vgl.  5.  Bd.,  S.  365—266. 

24» 


—     326     — 

Tille  der  Kommission  diesen  Auftrag  zurückgegeben  hat.  Von  den  historisch- 
geographischen Arbeiten  ist  zwar  die  Geschichte  der  Ämter  des  Landes 
zurückgestellt  worden,  aber  die  Vorarbeiten  zu  einem  Historischen  Ortsver- 
zeichnis hat  Alfred  M  e i c h e  übernommen,  die  Bearbeitung  eines  Flurkarten- 
atlasses Prof.  Kötzschke.  Für  die  photographischc  Reproduktion 
der  Flurkarten  hat  die  Ökonomische  Sozietät  zu  Leipzig  5000  M.  zur  Verfügung 
gestellt,  und  so  konnte  unter  der  Voraussetzung,  dafs  «uch  noch  von  anderer 
Seite  eine  Unterstützung  gewährt  wird,  die  Vollendung  des  Werkes,  das  1904 
eine  Fortsetzung  nicht  erfahren  hat,  beschlossen  werden.  An  die  Sammlung 
der  Flurnamen  ist  inzwischen  der  Verein  für  sächsische  Volkskunde 
herangetreten  und  hat  dadurch  die  Kommission  entlastet  Schlieislich  sind 
folgende  neuen  Veröffenthchimgen  beschlossen  worden:  die  Herausgabe  des 
Briefwechsels  zwischen  dem  Grafen  Brühl  und  Karl  Heinrich 
von  Hein  ecken,  die  Prof.  Ed.  Schmidt  (Meilsen)  besorgt,  (bc  Ver^ 
öffentlichimg  älterer  sächsischer  Karten  1550-^1593  durch  Viktor 
Hantzsch  (Dresden)  tmd  die  Bearbeitung  eines  Werices  über  sächsische 
Miniaturen,  das  Robert  Brück  (Dresden)  vorbereitet 

Aus  der  Zahl  der  ordentlichen  Mitglieder  der  Kommission  sind  aas- 
geschieden durch  Tod  Prof.  S.  Rüge  (Dresden)  und  Prof.  Ratzel  (Leipzig); 
neu  eingetreten  ist  an  Stelle  des  aus  seinem  Amte  geschiedenen  Oberst- 
leutnants z.  D.  Exner  als  Vertreter  des  Königl.  Kriegsarchivs  Major  z.  D. 
Hottenroth  (Dresden). 


Die  Gesellschaft  für  Rheinische  Geschichtskundc  ^)  hielt 
ihre  24.  Jahresversammlung  am  i.  März  1905  ab,  wobei  der  Bericht  über 
das  Kalendeijahr  1 904  vorgelegt  wurde.  Neu  erschienen  sind  Die  romamaeken 
Wandmalereien  der  RheinUmde,  herausgegeben  von  Paul  Giemen,  Tafel- 
band mit  64  Tafeln  (Düsseldorf  1905,  Ladenpreis:  75  M.).  Afle  anderen 
Arbeiten  wurden  mehr  oder  weniger  gefördert.  Als  neue  Publikation  wurde 
aufgenommen  die  von  Archivar  Redlich  (Düsseldorf)  besorgte  Ausgabe 
von  Urkunden  und  Akten  über  die  Jülich-Bergische  Kirchenpolitik 
im  XV.  und  XVI.  Jahrhundert;  der  erste,  die  Zeit  1400 — 1553  umfassende 
Band  befindet  sich  bereits  im  Druck.  Die  Publikation  der  Queüen  xMtr 
BechtS'  und  Wirtschaftsgeschichte  niederrhemischer  SiOdie  ist  jetzt  auch  auf 
den  südlichen  Teil  der  Provinz  ausgedehnt  worden,  und  Archivar  Richter 
(Koblenz)  hat  zunächst  die  Bearbeitung  des  Materials  fUr  die  Städte  Boppard 
und  Oberwesel  übernommen. 

Stifter  zählt  die  Gesellschaft  gegenwärtig  7,  von  denen  3  geworben  sind, 
Patrone  115,  Mitglieder  188.  Die  Gesamteinnahme  des  Jahres  1904  betrug 
35988  M. ,  die  Gesamtausgabe  26  115.  Das  Vermögen  beziffert  sich  ein- 
schhefslich  der  Mevissen-Stiftung  (42611  M.)  auf  117  984  M.  —  Von  der 
Übersicht  über  den  Inhalt  der  kleineren  Archive  der  Rheinpravim  Uegt  ab 
Beilage   zum   Jahresbericht  das  i.  Heft  des  3.  Bandes  vor,  das,  89  Seiten 


—     327     — 

Dem  achten  im  Mai  1905  erstatteten  Jahresbericht  der  Historischen 
Kommission  für  Hessen  und  Waldeck')  ist  folgendes  zu  entnehmen. 
Im  Berichtsjahre  wurden  ausgegeben:  ZJrJamdenbuch  der  Stadt  Friedberg, 
beari)eitet  von  M.  Foltz,  Band  i  (Marburg,  Elwert  1904),  Hessisches 
TrOiCktenbueh  von  Ferdinand  Justi,  SchluMeferung,  so  dafs  jetzt  das 
ganze  Weric  (Marburg,  Elwert  1899 — 1904,  M.  24)  vorliegt,  Die  Bildnisse 
Philipps  des  Orofimütigen,  bearbeitet  von  Alhard  von  Drach  und  Gustav 
Könnecke  (Marburg,  Elwert  1905,  M.  ao).  Von  den  Gnmdkarten  ist 
die  Sektion  Ziegenhain-Fritzlar  erschienen. 

Durch  den  Tod  verlor  die  Kommission  drei  Patrone  bzw.  Mitglieder 
(Bürgermeister  Heraeus,  Hanau,  Graf  Otto  zu  Solms-Rödelheim  und 
Exzellenz  von  Weyrauch,  Marburg);  an  Stelle  des  verstorbenen  Prof.  Höhl- 
baum wurde  vom  Oberhessischen  Geschichtsverein  Prof.  Behaghel  (Giefsen) 
in  den  Vorstand  entsandt.  Neugewählt  wurden  als  Mitglieder  Prof.  Bauer 
(Marburg),  Oberlehrer  Helmke  (Friedberg),  Prof.  Heymann  (Marburg), 
Oberlehrer  M.  G.  Schmidt  (Marburg)  und  Prof.  Roeschen  (Giefsen). 
Der  Jahreseinnahme  von  9595  M.  steht  eine  Ausgabe  von  19078  M. 
gegenüber,  und  infolge  davon  ist  der  Kassenbestand,  der  sich  im  Mai  1 904 
auf  15545  M.  bezifferte,  auf  6062  M.  zurückgegangen. 

Yerelne.  —  Der  Vogtländische  Altertumsforschende  Verein  zu 

Hohenleuben,  über  dessen  Entwickelung  und  Tätigkeit  oben  8.  286 — 289 
berichtet  wurde,  hat  mit  der  diesjährigen  Jahresversanmilung  zusammen  zu* 
gleich  sein  80.  Stiftungfest  am  16.  Juli  abgehalten.  Der  öffentliche, 
wissenschaftliche  Teil  *  konnte  unter  freiem  Himmel  stattfinden  und  wurde 
durch  einen  Vortrag  des  Vereinsvorsitzenden,  Pastor  Jahn,  ausgefüllt,  der 
die  Geschichte  des  Schlosses  Reichenfels  zum  Gegenstande  seiner  Ausfüh- 
rungen gewählt  hatte.  Da  das  Schlofs  urkimdlich  erst  1356  erwähnt  wird, 
aber  doch  vielleicht  schon  im  XII.  Jahrhundert  entstanden  ist,  so  läfst  sich  heute 
über  die  frühere  Geschichte  weniger  aussagen  als  man  bisher  geglaubt  hat. 
Aus  dem  Jahresbericht  sei  erwähnt,  dafs  für  die  Sammlungen  des  Vereins 
374  verschiedene  Gegenstände  (Münzen,  BUder  usw.)  imd  38  Bücher  geschenkt 
worden  sind.  Durch  Ankauf  wurden  17  Bücher  erworben.  An  Tausch- 
schriften von  auswärtigen  Vereinen  sind  330  Bände  eingegangen,  und  zwar 
von  151  Vereinen.  Mitglieder  zählt  der  Verein  218;  die  Einnahme  betrug 
1531  M. ,  die  Ausgabe  1475  ^«t  ^^  Vereinsvermögen  beziffert  sich  auf 
778  M. 


In  Eisenach  ist  am  11.  April  1904  eine  Gesellschaft  fOr  Geschichte 
und  Literatur  der  Landwirtschaft  gegründet  worden,  deren  erster  Jahres- 
bericht vom  Ende  1904  vorliegt.  Erster  Vorsitzender  ist  Geh.  Hofrat  Prof. 
Wilhelm  Kirchner,  Direktor  des  Landwirtschaftlichen  Instituts  der  Uni- 
versität Leipzig,  zweiter  Vorsitzender  Ökonomierat  Wilsdorf  in  Chemnitz 
und  Geschäftsführer  Rittergutsbesitzer  Dr.  Max  Güntz  in  Weimar,  Erfurter 
Str.  30.    Letzterer  ist  der  Herausgeber  der  jetzt  im  vierten  Jahrgang  stehen- 

i)  Vgl  5.  Bd.,  S.  266. 


—     328     — 

den  Monatsschrift  LimdunrtsehaflHch^HUtarische  Blätter,  die  zum  Organ  der 
GeseUschaft  erklärt  worden  sind  und  jedem  Mitgliede  für  seinen  Jahresbei- 
trag von  3  M.  umsonst  geliefert  werden,  und  von  ihm  ist  der  Plan,  eine 
neue  über  das  ganze  deutsche  Sprachgebiet  verbreitete  Gesellschaft  zu  gründen, 
die  sich  mit  der  geschichtlichen  Erforschtmg  der  Landwirtschaft  beschäftigt, 
ausgegangen. 

Gegenwärtig  zählt  die  Gesellschaft  allerdings  erst  etwas  über  loo  Mit- 
glieder,  und  dies  sind  zum  gröfsten  Teil  praktische  Landwirte  und  Lehrer 
an  landwirtschaftlichen  Schulen,  während  man  Agrarhistorik er  vergeblich 
in  der  Liste  sucht.  Diese  aber  sollten  hier  in  erster  Linie  Anschlufs  suchen, 
weil  die  GeseUschaft  eine  Fühlung  mit  der  Praxis  ermög^cht,  die  bei  den 
meisten  wirtschaftsgeschichtlichen  Problemen,  namendich  solchen  der  neueren 
Zeit,  zur  richtigen  Beurteilung  der  Dinge  unerläfslich  ist.  Auch  die  Geschichts- 
ve reine,  im  besonderen  die  für  Länder  und  Provinzen,  werden  in  ihrem 
eigensten  Interesse  gut  tun,  Beziehimgen  mit  der  jungen  Gesellschaft  anzo» 
knüpfen:  so  wird  es  allmählich  gelingen,  die  vielen  agrargeschichtlichen 
Arbeiten  der  Vereinszeitschriften  den  in  erster  Linie  sachlich  interessieiten 
Kreisen,  den  Vertretern  und  Freunden  der  wissenschaftlichen  Landwirtschaft, 
näher  zu  bringen.  Für  das  Gebiet  der  wissenschaftlichen  Landwirtsdiafts- 
forschimg  kann  durch  die  Tätigkeit  der  genannten  Gesellschaft  sehr  wohl 
dasjenige  erreicht  werden,  was  in  dem  Aufsatz  Neuere  Wirtsehaftsgesehiehte  ^) 
ganz  allgemein  als  für  die  wirtschaftswissenschaftliche  Forschung 
notwendig  bezeichnet  worden  ist,  die  intensive  Beschreibung  des  einzelnen 
Betriebes  und  die  Nutzbarmachung  der  modernen  Buchführung  für  wissen- 
schaftliche Untersuchungen.  Darum  ist  es  wünschenswert,  dafs  sich  die  Ver- 
treter der  Volkswirtschaft  tmd  der  Geschichtsforschung  gleich- 
mäfsig  tun  die  Gesellschaft  für  Geschichte  und  Literatur  der  Landwirtschaft 
kümmern,  sie  unterstützen  und  für  ihre  eigenen  Arbeiten  aus  ihr  Nutzen  ziehen. 

Das  Gesellschafborgan  hat  zwar  gegenwärtig  noch  einen  geringen  Um- 
fang, und  die  Beiträge  sind  meist  nur  kurze  Mitteilungen  über  einzelne 
Vorgänge,  Zustände  und  Ereignisse,  während  die  einzige  gröfsere  Arbeit 
Der  IcmdmrtschaftHche  Beirieb  in  Deutschland  im  XVII.  Jahrhundert  von 
Güntz  in  29  kleinen  AbteUungen  vom  Oktober  1902  bis  Mai  1905  ver- 
öffentlicht worden  ist,  aber  darin  liegt  eben  das  Material  für  umfassendere 
Arbeiten,  und  es  wird  sich  vor  allem  darum  handeln,  dafs  jede  einzelne 
Notiz  künftig  stets  da  herangezogen  wird,  wo  sie  inhaltlich  erwähnt  werden 
kann.  Aufserdem  dürfte  es  sich  empfehlen,  bestimmte  Fragen  au£ni- 
werfen,  damit  sich  hinsichtlich  der  geographischen  Verbreitung  gewisser 
Kulturerscheinungen  durch  Mitteilungen  aus  vielen  Gegenden  Klarheit 
gewinnen  läfst.  So  eine  Frage  wäre  z.  B.  die:  seit  wann  wird  nach- 
weislich Mais  angebaut?  Bei  der  Beantwortung  ist  natürlich  genaue 
Angabe  der  Quelle,  aus  der  die  Mitteüung  fiiefst,  die  Hauptsache, 
und  dann  ist  nach  Möglichkeit  darauf  Bedacht  zu  nehmen,  dafs  audi  die 
näheren  Umstände  mitgeteilt  werden,  unter  denen  der  erste  Anbau  vor  sich 
flreffanflren    ist.    namentlich  der  äufsere  Anlafs  der  Neuenino-.    ihre   Anfiiahm« 


—     829     — 

Kachrichten  sind  für  die  Forschung  das  Wichtigste,  und  diese  könaec  immer 
nur  aus  der  Praxis  fliefsen  bzw.  aus  den  über  die  WrtschaftsfUhiUDg  niedcT- 
geschriebcnen  Schriftstücken.  Die  Ai^ben  in  der  allgemeinen  liteiatur 
bedürfen  dringend  der  Nachprüfung,  und  örtlich  feststehende  Tatsachen 
dürfen  nicht  leichthin  verallgemeinert  werden.  Bei  den  meisten  Neuerschei- 
nungen im  landwirtschaftlichen  Betriebe  wird  sich,  wenn  nnr  scharf  zugesehen 
wird,  der  Weg  nachweisen  lassen,  auf  dem  sie  sich  verbreitet  haben,  und 
das  ist  für  die  Gesamtkultur  etwas  recht  Wesentliches. 

Aufser  durch  die  genannte  Zeitschrift  will  die  Gesellschaft  auch  noch 
durch  Sammlungen  für  die  Aufhellung  der  Geschichte  der  Landwirtschaft 
wirken.  Es  bt  da  in  erster  Linie  an  eine  Bibliothek  gedacht,  und  diese  Be- 
strebung hat  sogar  im  Namen  der  Gesellschaft  („literatur")  Ausdruck  gefunden. 
Das  ist  um  so  mehr  zu  begrUfsen,  als  tatsächlich  die  massenhafte  BUcherproduk- 
tion  der  Gegenwart  die  Errichtung  von  Fachbibliotheken  zur  unabweisbaren 
vissenschafdichen  Notwendigkeit  macht.  Daneben  soll  ein  Archiv  entstehen, 
welches  ganz  in  dem  Sinne  der  in  dieser  Zeitschrift  enüialtenen  '}  Aus- 
ftihrungen  ein  Wirtschaftsarchiv  fUr  die  deutsche  Landwirtschaft  weiden 
dürfte.  Nur  scheint  es  fraglich,  ob  nicht  eine  Zentralisation  in  diesem  Falle 
verfehlt  ist;  besser  jedenMs  würde  es  sein  und  zugleich  wissenschafUich- 
sachlich  in  höherem  Mause  berechtigt,  wenn  etwa  fUr  jedes  Gebiet,  das  eine 
Landwirtschaftskammcr  besitzt,  im  Anschlufs  an  diese  ein  landwirtschaft- 
liches Bezirksarchiv  entstände!  Schlielslich  ist  auch  an  ein  landwirt- 
schafUiches  Museum  gedacht  worden,  und  dieser  Gedanke  verdient  deswegen 
besondere  Fördemng,  weil  etwas  ähnliches  völlig  fehlt  und  hier  eine  Zen- 
tralisation tatsächlich  am  Platze  wäre.  Jedes  unserer  zahlreichen  geschicht- 
Ucben  Museen  bis  herab  zu  den  kleinen  ortsgeschichtUchen  enthält  natur- 
gemäfs  auch  einige  dem  landwirtschafdichen  Betriebe  entstammende  Stücke, 
aber  alles  ist  vereinzelt  und  auch  nur  wenig  systematisch  durchforscht.  Es 
lä&t  sieb  kaum  absehen,  welchen  Gewinn  die  Forschung  ziehen  würde,  wenn 
sie  die  Typen  des  Pfluges,  des  Hufeisens  und  aller  nur  mC^cben  im 
Ackerbau  verwendeten  Geräte  in  annähernder  Vollständigkeit  an  einer 
Stelle  beisammen  fänden;  natUrUch  wäre  dabei  die  Mitteilung  der  Gegend, 
aus  der  ein  Stück  stammt,  und  die  Angabe  der  Zeit,  in  der  Geräte  gerade 
dieses  Typus  verwendet  wurden,  die  Hauptsache,  wie  Örtliche  und  zeitiicbe 
Bestimmung  jeder  Erscheinung  überhaupt  der  erste  Schritt  zu  kulturgeschicht- 
licher Matenalsammlung  ist. 

Die  Gesellschaft  für  Landwirtschaftsgeschichte  hat  ein  weites  Arbeitsfdd, 
und  sie  verdient  die  allergröfstc  Beachtung  auch  der  Staatsbehörden  und  ihrer 
Organe.  Möge  ihr  nicht  nur  Beachtung,  sondern  auch  Förderung  und 
materielle  Unterstützung  seitens  der  malsgebenden  Kreise  zuteil  werden 

Harabnivlsches  rrkoDdenbnch.  —  Vom  ersten  Bande  des  Bavi' 
bwgixken  Urkundmbvcha,  der  von  Lappenberg  bearbeitet,  1841  erschien, 
^bt  es  im  ganzen  nur  hundert  Exemplare,  da  der  gröfste  Teil  der  Auflage 
bei  dem  grofsen  Brande  im  Mai  1S41  zugrunde  gegangen  isL  Seit  etnigen 
Jahren  ist  die  Fortsetzung  und  Neubearbeitung  des  Urkunde  nbuchs  ins  Auge 

i)  Vgl.  oben  S.  »15. 


—     880     — 

ge&fst  worden,  und  die  Sammlung  des  Materials  für  das  XIV.  Jahrhundert 
ist  gegenwärtig  vollendet.  Um  den  Urkundenstoff  möglichst  schnell  zu  be- 
wältigen, ist  neuerdings  der  Beschlufs  ge&Ust  worden,  von  einer  Neubearbeitung 
des  ersten  Bandes  abzusehen,  dafür  aber  eine  anastatische  Reproduktion 
desselben  unter  Benutzung  der  Photolithographie  Torzunehmen  und  später 
in  einem  Anhang  die  notwendigen  Verbesserungen  und  Ergänzungen  hinzu- 
zufügen. Die  Kosten  für  die  Reproduktion,  die  7000  M.  betragen,  sind 
im  Juli  1905  bewilligt  worden.  Der  zweite  Band,  welcher  die  Uricunden 
der  ersten  Jahrzehnte  des  XIV.  Jahrhunderts  enthalten  wird,  soll  im  Laufe 
der  Jahre  1906  und  1907  im  Druck  hergestellt  werden;  die  dafür  nötigen 
Mittel  sind  ebenfisdb  kürzlich  bereit  gestellt  worden. 

Eingegangene  Bflcher. 

Agats,  Arthur:  Der  hansische  Baienhandel  [=  Heidelberger  Abhandlungen 
zur  mittleren  und  neueren  Geschichte,  5.  Heft].  Heidelberg,  Cari  Winter, 
1904.     120  S.  8^     M.  3,60. 

Bieder:  Graf  Adam  Ton  Schwarzenberg  (1587 — 1641),  vornehmlich  in 
seinen  Beziehungen  zu  Frankfurt  a.  O.  [=  Mitteilungen  des  Historischen 
Vereins  für  HeimaÜLunde  zu  Frankfurt  a.  O.,  22.  Heft  (1904),  S.  39 — 42]. 

Boerner,  Gustav:  Die  Annalen  und  Akten  der  Brüder  des  gemeinsamen 
Lebens  im  Lüchtenhofe  zu  Hildesheim,  eine  Grundlage  der  Geschichte 
der  deutschen  Bruderhäuser  und  ein  Beitrag  zur  Vorgeschichte  der 
Reformation.  Fürstenwalde  (Spree),  Johannes  Seyfarth,  1905.  iii  S.  8®. 
M.  3,40. 

Dieckmann,  Friedrich:  Etie  lothringischen  Ahnen  Gottfrieds  von  BouiUon 
[eai  Jahresbericht  der  höheren  Mädchenschule  zu  Osnabrück  1904]. 
Osnabrück,  Kisling,  1904.     35  S.  4^ 

Ehwald,  R.:  Ein  Kuriosum  aus  der  Druckgeschichte  Gothas  [=s  Mit- 
teüungen  der  Vereinigung  für  Gothabche  Geschichte  und  ^teitums- 
forschung,  Jahrg.  1903,  S.  49 — 54]. 

Gümbel,  Albert:  Sebald  Schreyer  und  die  SebalduskapeUe  zu  Schwäbisch- 
Gmünd  [s=  Mitteüungen  des  Vereins  für  Geschichte  der  Stadt  Nürnberg, 
16.  Heft  (Nürnberg,  J.  L.  Schräg,   1904),  S.  135 — 150]. 

Handwerker,  Otto:  Geschichte  der  WürzWger  UniversitätsbibliothdL  bis 
zur  Säkularisation.     Würzburg,  Oskar  Stahel,  1904.     147  S.  8^ 

Kohl,  O. :  Photolitbographie  des  römischen  Mosaüu  bei  Kreuznach  und 
kurze  Erläuterung  desselben  [=r  Nachtrag  zur  16.  Veröffentlichung  des 
Antiquarisch-Historischen  Vereins  zu  Kreuznach].  Kreuznach,  R.  Voigt- 
länder,  1895.     4  S.  8^ 

Loebl,  Alfred  H. :  Zur  Geschichte  des  Türkenkriegs  von  1593 — 1606, 
II.  Teü  [as  Prager  Studien  aus  dem  Gebiete  der  Geschichtswissenschaft, 
herausgegeben  von  Ad.  Bachmann,  Heft  X].  Prag,  RohUöek  und 
Sievers,  1904.     151  S.  8^ 

Lory,  Cari:  I^etzsche  als  Geschichtsphilosoph,  eine  QueUenstudie  [=s  Die 

netie  W#^ltAnsr.hauunflr.   Beiträfir«   y.ii   ihrer  G€»srhirhte  und    VnUrniHmwr    in 


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Stanford,  California 


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