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Full text of "Deutsches Archiv für klinische Medizin 151-152.1926"

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DEUTSCHES ARCHIV 


KLINISCHE MEDIZIN 


VON 


Pror. AUFRECHT m Berm, Pror. BAEUMLER ın Freisung, Pror. BOSTRÖM In GIESSEN, 
Pror. BRAUER m Hawsure, Proy. CURSCHMANN m Rostock, Pror. FÜRBRINGER IN BERLIN, 
Pror. GRAFE ım WORZBURG, Pror. HIRSCH m Boxy, Pror. HIS IN BERLIN, Pror. v. JAKSCH m 
Prao, Pror. v. KÉTLY m Buparest, Pror. KRAUS m BERLIN, Pror. KREHL ın HEIDELBERG, 
Pror. LICHTHEIM ıx Berx, Pror. MATTHES m KöĒxiessggka, Pror. E. MEYER IN GÖTTINGEN, 
Pror. MORAWITZ m Leırzio, Pror. MORITZ ın KOLN, Pror. F. MÜLLER m MOncHen, Pror. 
L. R. MÜLLER ım ErLangen, Pror. O. MÜLLER ın TÜBINGEN, Pror. v. NOORDEN IX FRANKFURT, 
Peor. PENZOLDT m ERLANGEN, Pror. ROMBERG ın MOncHEnN, Pror. RUMPF m Bonn, Pror. 
SAHLI m Berx, Pror. SCHREIBER m KÖONIGSssERG, Pror. F. SCHULTZE ın Bonn, Pror. 
SCHWENKENBECHER m MarBurg, Pror. STEPP m Jena, Pror. STINTZING m Jena, Pror. 
H. STRAUB ıs GreirswauLp, Pror. VOIT m Giessen, Pror. VOLHARD m HALLE 


REDIGIERT 
VON 
Dr. L. KREHL De. F. MORITZ 
PROF. DER MEDIZINISCHEN KLINIK PROF. DER MEDIZINISCHEN KLINIK 
IN HEIDELBERG IN KÖLN 
Der. F. MÜLLER UND Dr. E. ROMBERG 
PROF. DER II. MEDIZINISCHEN KLINIK PROF. DER I. MEDIZINISCHEN KLINIK 
IN MÜNCHEN IN MÜNCHEN 
151. Band 


Mit 18 Abbildungen im Text, 20 Kurven und 4 Tafeln 


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LEIPZIG 


VERLAG VON F.C. W. VOGEL 
1926 


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Inhalt des einhunderteinundfünfzigsten Bandes. 


Erstes und Zweites Heft 
ausgegeben im April 1926. Seite 


Westphal u. Bär, Über die Entstehung des Schlaganfalles. I. Pathologisch- 
anatomische Untersuchungen zur Frage der N des Schlag- 
anfalles. (Mit 3 Tafeln). . . 1 

Westphal, Über die Entstehung ie Seni, iles: TI. Klinische Citi 
suchungen zum Problem der a des Schl: u (Mit 1 Kurve 
und 4 Abbildungen) 1e euan ee 

Westphal, Über die a i Schlaganfalles. 1T. Erperimentelle 
Untersuchungen zum Apoplexieproblem. (Mit 5 Abbildungen) . . . . 96 


von Strasser, Untersuchungen über «las diastatische Ferment im Blute. . 110 
Besprechungen : 
“1. Moynihan, Zwei Vorlesungen über das Magen- und Duodenal- 
geschwür (v. Redwit). > 2 2 a on nee. . 118 
2. Meyer u. Gottlieb, Die experimentelle Pharmakologie als Grund- 
lage der Arzneibehandlung (Trendelenbura) . . 2 2 220220.2..109 
3. Meyer, Pharmakologische Grundlagen der Reizkörpertherapie 
(Trendelenburg) a. 2. 8 na Re ee O 
4. Sauerbrueh, Die Chirurgie der Brustorgane (Kreh). . . 2... 432 
d.von Romberg., Lehrbuch der Krankheiten des Herzens und der 
Blutgefäße (Kreh . . . d Bene re a 
6. Tendeloo, Allgemeine Pathologie (rale: 4 


t. Sebreiber, Deutsche Medizin und Notgemeinschaft der deutse hen 


Wissenschaft (Martini) . 2 2. a aaa 129 
8. Die Krebskrankheit (Grol) . oo 2 2 aaa 126 
9. Misch-Zeitschrift (Kranz) . 2 2 on nn. 126 


Drittes und Viertes Heft 
ausgegeben im Mai 1920. 


Marañon, Über die hypophysäre Fettsucht. (Mit 5 Abbildungen) . . . . 129 
Wiemer, Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum . . 154 
Sahli, Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung . . . .20......1072 
Schaefer, Zur Difierentialdiagnose der Agranuloeytose . . 191 


Mahler u. Rischawy, Klinischer Beitrag zur Frage des Dite innocens. 212 
Stein u. v. Weizsäcker, Über klinische Sensibilitätsprüfungen. (Mit 1 Abb) 280 
Besprechungen: 


1. Sergius Voronvff. Organüberptlanzung und ihre praktische Ver- 
wertung beim Haustier (Borst) 2 220m nn Pd 


er 


— IV — 


2. Zweifel u. Payr, Die Klinik der bösartigen Geschwülste. II. Bd. 
(Groll) neea aa ee ee A RR ee a A, o ae Di 

3. Klein u. Steuber, Die gasanalytische Methodik des dynamischen 
Stoffwechsels (Felix) a 

4. Funk ‚ Mikroelementaranalyse nach der Mikro-Dennstedt-Methode (Fel ix) 


Fünftes und Sechstes Heft 
ausgegeben im Juni 1926. 


Wiechmann u. Schürmeyer, Schwankungsbreite und Sn akunaaurt der 
Durchmesser menschlicher Erythrocyten. (Mit 3 Kurven). 

Ganter, Gefäßstudien. IV. Mitteilung. Über den Blutdruck in seiner Ab- 
hängigkeit von Gefäßweite und erztätigkeit. (Mit 5 Kurven) 

Scharpff, Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der menschlichen 
Haut (Cutis marmorata). (Mit 1 farbigen Tafel) . . . 


Wiechmann u. Horster, Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 


I. Mitteilung. Uber das Serumeiweißbild bei der ee Re- 
kurrensinfektion der Ratte. (Mit 1 Kurve) . i b y 

Stuber u. Nathansohn, Klinische Magenstudien II. (Mit 9 Kurven) 

Görl, Zur Frage der Bluttransfusion und der Lebensdauer transfundierter 
Erythrocyten . ; . 

Watermann, Unsere Erfolge wit der: Tabes- Tornsbandage, (Mit 3 Abb.) 

Katsch u. Stern, Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung . 

Wiechmann u. Dominick, Über das Verhalten intravenös einverleibten 
Glykokolls beim Normalen und beim Diabetiker . PER E 

Reiche, Über akute Lebereirrhosen ganz 

Besprechungen: 


1. Ebstein, Deutsche Ärzte (Krehl) . . 

2. Kyrle, Vorlesungen über Histo-Biologie der menschlichen Haut und 
ihrer Erkrankungen (Siemens) . ne a ee 

3. Tulay, Ekzem und Urtikaria (Siemens) 

4, Neumann, Die Klinik der beginnenden Tuberkulose Erwachsener. 
II. Das Heer der nicht tuberkulösen DEINEN. und der fälschlich 
sogenannten Apizitiden (Ranke) j i 


Aus dem pathologisch-anatomischen Institut der Universität Frank- 
furt a. M. (Direktor: Prof. Dr. B. Fischer.) 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 


I. Pathologisch-anatomische Untersuchungen zur Frage der 
Entstehung des Schlaganfalles. 


Von 


Karl Westphal, 


Privatdozent für innere Medizin, Oberarzt der Mediz. Univ.-Klinik Frankfurt a. M. 


und 


Richard Bär, 


früherem Assistenten des Pathologischen Instituts. 
(Mit 3 farbigen Tafeln.) 


Die Entstehung der Hirnblutung beim Schlaganfall, der nicht 
bedingt ist durch einen syphilitischen oder embolischen Prozeß im 
Gehirn, erscheint bei der ersten Betrachtung so einfach: es platzen 
ein — oder auch mehrere — durch arteriosklerotische Prozesse 
veränderte Gefäße im Gehirn unter dem Einfluß des ja meist gleich- 
zeitig vorhandenen erhöhten Blutdruckes und so entsteht die mehr 
oder weniger wichtige Partien des Gehirns schädigende Blutung. 
Demnach scheint es fast müßig, diesem Phänomen weitere Beach- 
tung zu schenken. Und doch ergibt die genauere Betrachtung der 
Vorgänge am Kranken, die dem Schlaganfall vorauszugehen und 
seinen Eintritt zu begleiten pflegen, sowie die genaue Unter- 
suchung der pathologisch-anatomischen Bilder des eingetretenen 
Prozesses, daß auch hier wie so oft in der Natur an Stelle des an- 
scheinend so leicht verständlichen ein komplizierteres Geschehen 
waltet. 

Ein Blick in das Schrifttum lehrt, wie die älteste und einfachste 


Vorstellung von der Entstehung der Apoplexie durch Ruptur einer 
größeren Hirnarterie einst vertreten wurde durch Morgangie, Dietl 


Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 1 


2 WestpHaL u. BÄR 


und Rokitanski. Doch schon bei Dietl und Rokitanski finden 
wir bereits angegeben, daß neben der Blutung aus den großen Gefäßen 
zahlreiche kleine Blutaustritte, „Kapillarapoplexien“, durch Zusammenfluß 
zu einem großen Blutungsherd führen können. Deutlich betont lesen 
wir dann bereits bei Hasse den Einwand, daß wohl niemals mit Sicher- 
heit die Berstung eines größeren Gefäßes innerhalb des Gehirns gefunden 
sei dagegen ausgesprochene Veränderungen an kleinen Gehirnarterien, 
daß es sich demnach nicht um Blutungen aus größeren Gefäßen handele, 
sondern aus einer Anzahl kleinerer Arterien. An diesen kleinen arteri- 
ellen Gefäßen des Gehirns beschrieben zuerst Koelliker, Pestalozzi, 
Virchow, Heschel und Paulicki aneurysmenartige Bildungen, die 
nach vorhergegangener Zerreißung der Tunica media und intima durch 
einen BlutergußB zwischen Media und Adventitia entstehen und von 
Virchow als Aneurysmata dissecantia bezeichnet wurden, eine Ruptur 
an den inneren Häuten sah Virchow nicht. 

- Diese Aneurysmen an den kleinen Hirnarterien spielen 
nun in der Folgezeit im Anschluß an eine an ausgedehntem Material 
von 77 Fällen von Apoplexien durchgeführte Untersuchung von Charcot 
und Bouchard die entscheidende Rolle für die allgemeine Auffassung 
von der Entstehung des Schlaganfalls. Die senile Hirnblutung ist die 
Folge des Berstens der Hirnaneurysmen. Diese mit bloßem Auge sicht- 
baren Miliaraneurysmen, 0,2—1 mm groß, hängen oft in kugeliger Ge- 
stalt an den kleinen Arterien, sie werden aus dem Blutungsherd durch 
vorsichtiges Bespülen desselben dargestellt, sie kommen auch außerhalb 
desselben vor, aber entsprechend dem hauptsächlichen Sitz der Blutung 
besonders im Streifenhügel, Sehhügel, im Markweiß der Hemisphären, in 
den Kleinhirn- und Großbirnwiudungen. Sie finden sich ebenso wie bei 
Heschel nur selten vor dem 40. Lebensjahr. Die Arteriosklerose sei 
nicht Ursache der Aneurysmen, sondern eine diffuse Periarteriitis, die 
mit Verdickung und Zellwucherung der Adventitia und Muskularis ein- 
hergeht. Ein sicherer Nachweis dieser Aneurysmen war allerdings bei 
den 77 Fällen frischer und älterer Apoplexie nur in 56 °/, möglich, nur 
dreimal waren sie als wirklich geplatzt erkennbar. 

Der nachhaltige Einfluß dieser Arbeit spiegelt sich in nun folgenden 
Untersuchungen von Zacher, Weiß, Eichler und Rindfleisch 
wieder. Alle finden als Ursache die Blutung der kleinen Hirnaneurysmen. 

Die gründliche Bearbeitung des Themas durch Löwenfeld bringt 
ein wichtiges neues Moment in die Betrachtung. Auch er findet aus- 
gedehnte kleine Aneurysmen an den Arterien. Er trennt sie, wie dies 
schon Virchow tat, von den einfachen varıkösen Ektasien, die er als 
Ausdruck eines wechselnden Muskeltonus auffaßt und findet bei den 
selteneren eine einfache Atrophie am ausgesprochensten auf der Höhe 
der Ektasie, viel häufiger eine schwere Erkrankung der Muskelschicht 
an dieser Stelle in Form einer sog. granulösen Degeneration. Er lehnt 
für deren Entstehung sowohl die Bedeutung einer Periarteriitis — es 
sei da wohl manches als pathologisch gedeutet, was noch in den Bereich 
des Normalen gehöre — und auch der Arteriosklerose ab und betont 
als wesentlich Neues, daß es in der GefäßBwand apoplektischer Gehirne 
schwere (sefäßstörungen gäbe, die sich vor allem in der Media abspielen, 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 3 


im wesentlichen als granulöse Degeneration herdweise isoliert 
besonders an größeren Arterien, mehr diffus an kleineren und kleinsten 
Gefäßen auftreten kann. In dem ersten Stadium quillt die Muskelfaser 
auf, sie kann das Vielfache einer normalen Faser erreichen, sie gewinnt 
ein stärkeres Lichtbrechungsvermögen. Die Kerne verschwinden und die 
ganze Masse wird feinkörnig, später manchmal auch grobkörnig mit 
gleichzeitiger Abnahme des Lichtbrechungsvermögens. Es kann so zu 
einem gänzlichen Untergang der Muskelschicht kommen. Bei dieser Er- 
krankung bleibt die Intima nur geschont im Anfangsstadium des Prozesses, 
kommt es zu ausgedehntem Zerfall der Muskelfasern, so verschwinden 
und zerfallen auch die Endothelzellen, Atheromatose der Intima kann 
dabei vorhanden sein. Die Körner der zerfallenen Media haben nichts 
mit Fett oder Amyloid zu tun. Relativ am seltensten erkrankt die 
Adventitia, sie kann an diesem Prozeß teilnehmen, manchmal können die 
Kerne hier vermehrt sein. Im adventitiellen Lymphraum fanden sich 
oft Fettkörnchenzellen, rote und weiße Blutkörperchen, stellenweise zu 
Aneurysmata dissecantia in Gestalt kleiner Blutextravasate angehäuft, 
Zerreißung der Innenhäute sah er dabei nicht, Diapedese und kleinste 
Kontinuitätstrennung nimmt er daher eher als Ursache an. Die näm- 
lichen Vorgänge einer Gefäßnekrose können auch Venen und Kapillaren 
zerstören. 

Diese Degeneration der Gefäße war bei weitem am reichlichsten in 
apoplektischen Herden und deren nächster Nachbarschaft vorhanden, im 
apoplektischen Gehirn und in solchen alter zur Apoplexie disponierter 
Leute waren sie bisweilen auch an anderen Stellen nachweisbar. Die 
Miliaraneurysmen treten demnach für Löwenfeld schon sehr in ihrer 
Bedeutung zurück, sie werden zu einer Teil- und Folgeerscheinung einer 
allgemeinen schweren Gefüßschädigung, aus dem degenerierten Gefäße 
kommt durch Diapedese und Kontinuitätstrennungen der große Blut- 
austritt zustande. Diese 1886 erschienenen Untersuchungen haben die all- 
gemeine Auffassung über die Entstehung der Apoplexie nicht in so starkem 
Maße beeinflußt, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre, trotzdem 
Eppinger bei einer allgemeinen Untersuchung über Aneurysmen die 
Löwenfeld’sche Ansicht im wesentlichen anerkennt. 

Monakow betont dann wieder die Bedeutung der miliaren Aneu- 
rysmen, ähnlich auch Pöhlmann. 

Pick hat endlich zusammen mit Ellis unter Zuhilfenahme der 
modernen Serienschnittmethodik und der alten Schüttelmethoden die Frage 
dieser Miliaraneurysmen noch einmal einer gründlichen Durch- 
arbeitung bei 30 Fällen von Apoplexie unterworfen. Es fanden sich sog. 
Miliaraneurysmen in 20 Fällen, jedoch nur an 4 Gehirnen wirklich rup- 
turierte Säckchen, diese waren meist über miliar- bis erbsengroß. Weder 
im Schnitt, noch in isolierten, dann eingesetzten und geschnittenen mili- 
aren und übermiliaren Aneurysmen ließen sich wahre, d. h. von der 
ursprünglichen, wenn auch veränderten Gefäßwand umgebene Aneurysmen 
feststellen. Sie erwiesen sich sämtlich als dissoziierende Formen 
oder Aneurysmata spuria, als extramurale Hämatome, begrenzt durch 
Fibrin, verändertes Hirngewebe und undeutlich gewordene Elemente der 
zerrissenen Gefäßwand. Die tödliche Blutung erfolgt nach Pick ent- 

1% 


4 Westpuar u. BiR 


weder aus einem größeren oder mehreren Aneurysmen oder aus dem 
arteriosklerotischen aneurysmenfreien rupturierten Blutgefäß. Die Arterio- 
sklerose sieht Pick sowohl für die dissoziierenden Aneurysmen, wie für 
die dann erfolgende Blutung als wesentliche Ursache an, auf die Media- 
nekrose Löwenfeld’s geht er nicht ein. Wichtig ist jedoch noch die 
Festlegung der Beobachtung, daß um die falschen Aneurysmen so gut 
wie keine Reaktion des Hirngewebes zu sehen ist, das spricht für ein 
kurzes Vorhandensein dieser Gefäßveränderungen vor dem Tode. 

Pick’s Resultate und besonders die zuletzt angeführte Beobachtung 
von der Kurzlebigkeit dieser falschen Aneurysmen verschieben auch 
wieder das Hauptgewicht der Fragestellung auf die gemeinsame Ursache 
beider, der Schädigung der Arterien und der Blutung ob mit oder ohne 
Aneurysmen, und demnach auf die Erkrankung der Gefäßwand, die er 
als arteriosklerotisch bedingt ansieht. 

Untersuchungen, die Neues bringen wollen, müssen sich mit dieser 
Erkrankung der Gefäßwand als wesentlichem Problem auseinandersetzen, 
aber in keinem anderen Organ kennen wir diese falschen Aneurysmen 
als Folgeerscheinungen der reinen Arteriosklerose, was führt gerade im 
Gehirn dazu? 

Sehr gründlich in der Untersuchungstechnik mit ausgedehnten Reihen 
von Serienschnitten an einem Material von 12 Fällen und unter ein- 
gehender Würdigung der ganzen bisher vorliegenden Literatur ist als 
letzter Rosenblath an das Problem der Entstehung des Hirnschlages 
herangetreten. Eine Bemerkung in einer alten französischen Abhandlung 
von Rochoux (1833) scheint ihm für seine Arbeitsrichtung einen Hin- 
weis gegeben zu haben, in der Umgebung des apoplektischen Herdes 
finde sich oft eine reichliche Menge von kleinen Blutungen. An diesen 
meint er eher einen klaren Einblick für die Blutungsgenese gewinnen zu 
können wie inmitten der blutigen Erweichung. Rosenblath untersucht 
diese und ebenso das stark von Blutung durchsetzte Gebiet. Schon 
wegen des makroskopischen Aussehens der Gebiete lehnt er die Ent- 
stehung der Hirnblutung aus einer einzelnen Ruptur eines großen Ge- 
fäßBes ab, gegen rein mechanisch wirksame Kräfte bei der Zerstörung des 
BHirngewebes durch eine arterielle Blutung spricht Form und Ausdehnung 
des Prozesses in vielen Fällen z. B. mangeinder Durchbruch in Seiten- 
ventrikel trotz ausgedehnter Zerstörung in deren Nachbarschaft. Die 
kleinen und kleinsten Blutungen, die in der Umgebung des großen Herdes 
gefunden werden, sind mit dieser wesensverwandt. Sowohl an den Ge- 
fäßen in ihrem Inneren wie an dem nervösen Gewebe sind nekrotisierende 
Vorgänge nachweisbar. 

Innerhalb des großen apoplektischen Herdes geht ein großer Teil 
des gesamten Gewebes, also Nervenfasern und Zellen, Glia und Gefäß- 
system zugrunde und macht eine Umwandlung durch, wodurch es ver- 
flüssigt, jedenfalls dem morphologischen Nachweis entzogen wird. Von 
den Gefäßen erhalten sich nur wenige Arterien und diese um so eher, 
je diekwandiger und sklerotischer sie sind. In und an der Wand des 
Blutergusses sind die abgestorbenen Arterien leichter nachweisbar als im 
Innern. Die sog. Miliaraneurysmen sind eine mehr nebensächliche Form, 
unter der der abgestorbene Gefäßschlauch auftreten kann. Die ab- 


vri 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 5 


gestorbenen Arterien sind häufig durch Thromben verschlossen. Es ist 
anzunehmen, daß die Blutung vorwiegend aus massenhaft vernichteten 
Kapillaren und Venen stammt. 

Die eigentliche Ursache des Prozesses ist für Rosenblath folgende: 
„Eine unbekannte, mit äußerst wirksamen chemischen Kräften aus- 
gestattete Schädlichkeit befällt plötzlich einen Bezirk“. Die chronische 
Nephritis spielt nach seiner Ansicht, da sie Ilmal und unter seinen 
12 Fällen nachweisbar war, eine große Rolle. „Ohne die Annahme, 
daß in dem unter dem Einfluß der Nierenentzündung geänderten Stoff- 
wechsel plötzlich fermentativ wirkende Kräfte frei werden, die in kurzer 
Zeit ganze Hirnteile zu vernichten und chemisch wie morphologisch um- 
zuwandeln vermögen, wird man nicht auskommen.“ Genaueres über 
diese pathologische Funktion der Nieren ist ihm nicht klar. „Nur das 
eine darf man sagen, daß weder die Erhöhung des Blutdrucks noch die 
häufig vorhandene Arteriosklerose die Disposition erklärt.“ 


Die so wichtige Rosenblath’sche Arbeit wurde neben den 
Pick’schen und den alten Löwenfeld’schen Untersuchungen in 
ihren Resultaten und Folgerungen genauer zitiert, weil sie mit 
ein wesentlicher Ausgangspunkt dieser Untersuchung wurde. Diese 
ging in ihrer eigentlichen ersten Anregung zurück auf Beobach- 
tungen am Krankenbett von ganz besonders ausgeprägten vaso- 
motorischen Erscheinungen am Organismus von Apoplektikern und 
anderen zur Apoplexie disponierten Kranken mit erhöhtem Blut- 
druck. Aber bevor aus diesen, rein klinischen Beobachtungen 
Schlüsse gezogen werden konnten, war eine Nachuntersuchung der 
anatomischen Befunde Rosenblath’s notwendig. Ist es wirklich 
so, daß die miliaren Aneurysmen nur als sekundäre Folge einer 
schweren Gefäßwandnekrose auftreten, so wie es bereits Löwen- 
feld schilderte, daß also die starke Wandschädigung aller Arterien, 
Venen und Kapillaren die eigentliche Ursache ist, die nach Rosen- 
blath’s Ansicht auch oft in gleicher Gewebsschädigung das Hirn 
mitbefällt, so ist die Apoplexie ein Vorgang, der sich im ärztlichen 
Denken völlig von der Idee einer einfachen Gefäßwandschädigung 
bei der Arteriosklerose, wie sie etwa noch Pick vertritt, lösen 
muß und der mit seinem schlagartigen Auftreten einer schweren 
allgemeinen Gewebsschädigung nicht nur für diese Spezialfrage der 
Entstehung der Hirnblutung, sondern auch für das allgemein patho- 
logische Denken größte Beachtung verdient. 

Es wurden daher an einer größeren Reihe von Kranken, im 
ganzen 16, die unter den klinischen Erscheinungen einer älteren 
oder frischen Apoplexie gestorben waren, neben der üblichen makro- 
skopischen Sektionstechnik des Gehirns stets mehrere Stücke von 
dem Rande des erkrankten Gewebes und aus gesunden Gehirn- 


6 WESTPHAL u. BAR 


partien entnommen, Gefrierschnitte in größerer Reihe davon an- 
gefertigt und von den besonders interessierenden Stellen Serien- 
schnitte vom eingebetteten Präparat hergestellt. Außerdem wurde 
noch an einer Reihe von Gehirnen, im ganzen 6, auf Vorschlag des 
Herrn Professor B. Fischer durch Schütteln und Überspülen nach 
dem Vorgange von Pick der Gefäßapparat isoliert, um an diesem über 
die Häufigkeit des Auftretens von sog. Miliaraneurysmen einen Ein- 
druck zu gewinnen. Nur zweimal ließen sich diese mit Sicherheit 
feststellen. Die größte Beachtung wurde bei den mikroskopischen 
Untersuchungen den kleinen Blutungen am Rande des geschädigten 
Gebietes geschenkt, weil diese in Übereinstimmung mit der An- 
sicht Rosenblath’s für die Entstehung des großen Zerstörungs- 
gebietes Wesentliches aussagen mußten. Bei der Durcharbeitung 
und Sichtung des Materiales, bei der auch teilweise auch die kli- 
nische Anamnese, soweit es hier notwendig erschien, Mitbenutzung 
erfuhr, ergaben sich recht verschiedene Bilder anatomischer Art 
von Zuständen, die unter dem Namen „Apoplexie“ zur Sektion ge- 
kommen waren. Eine Gliederung soll im folgenden versucht werden. 


I. Fälle mit reiner Hirnblutung. 


Fall I, 1: 423/23. Joseph D., 44 jähriger Arbeiter. Gest. 12. IV. 23. 

Klinische Diagnose: Apoplexie mit Lähmung der linken Seite bei 
Hypertonie. Gesichtsfurunkel. In der Nacht vom 9.—10. IV. plötz- 
licher Zusammenbruch mit Lähmung der linken Seite, Bewußtsein an- 
fänglich gut erhalten, später komatöser Zustand und Exitus. 

Die Sektion ergab: frische Blutung in die rechten Stammganglien, 
durchgebrochen in den rechten Seitenventrikel. Hypertrophie des ganzen 
Herzens, besonders des linken, Sklerose der Aorta, Koronar- und basalen 
Gebirnarterien, Stauungsorgane, konfluierende Pneumonie der rechten 
Lunge usw. Mikroskopisch besteht an den Nieren ausgedehnte Arterio- 
sklerose sowie Wandverfettung der kleinen Arterien, verödete Glomeruli 
sind nur in mäßiger Zahl vorhanden. 

Die mikroskopische Untersuchung mehrerer Stellen vom Rande der 
blutigen Erweichung ergibt das Vorkommen zahlreicher kleiner Blutungen, 
ziemlich weit in das gesunde Gebiet hineinragend, manchmal deutlich 
entlang an kleinen Gefäßen. Das Hirngewebe erscheint hier und da etwas 
wabig gelockert, grobe Veränderungen lassen sich an den Gliazellen nicht 
nachweisen. In dem nicht durchbluteten Randgebiete finden sich einige 
kleine Arterien mit stark gedehnter Wand und praller Füllung ohne 
irgendwelche pathologischen Veränderungen der Wand. Daneben aber 
bieten zahlreiche kleine Arterien und Arteriolen, die von kleinen Blutungs- 
herden umgeben sind, folgende Beobachtungen. Die kleinen Arterien 
zeigen außerhalb der Blutungsherde eine normale Wand, nur stellenweise 
bei Fettfärbung an Gefrierschnitte geringe fleckförmige Intimaverfettung, 
nur an sehr wenigen Stellen erscheint die Media etwas gequollen, aber 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 7 


die Kerne sind hier, im nicht durchbluteten Gebiet noch gut gefärbt. 
Deutliche Hyalinisierung an der Grenze zur Intima fehlt bei allen. In 
den Blutungsherden ist dagegen die Gefäßwand häufig ganz stark ge- 
quollen, kernlos, nur in kleineren Blutungsherden finden sicb hier und 
da noch Kerne in der Media erhalten. Auch bei zwei größeren Herden 
ist ausgesprochene hyaline Quellung und völlige Kernlosigkeit der Arterien- 
media bei erhaltenen Kernen der Intima vorhanden in einem von breiter 
Blutung umgebenen Bezirk, während im weiterem Verlauf der Gefäße an 
den nichtblutungsumgebenen Stellen der Wand noch deutlich Kerne in 
der Muskularis erkennbar sind. Auch Übergangsstellen von normaler 
Wand zu glasiger Quellung bei noch erkennbaren Kernen sind gut zu 
übersehen. 

Die kleinen Blutungsherde erscheinen quergetroffen oft kreisrund 
oder oval, sie sind bei geringer Ausdehnung häufig begrenzt von der 
noch gut erkennbaren Gefäßscheide, die nur stellenweise überschritten 
ist von der Blutung. An zwei größeren Arterien läßt sich folgender 
Befund erheben: die eine Hälfte der Gefäßwand scheint völlig intakt 
mit gut erhaltenen Kernen, auf der anderen Seite befindet sich über- 
sehbar in ibrer ganzen Ausdehnung eine starke glasige Quellung der 
Media mit völligem Kernschwund und über diesem Gebiet ein prall mit 
Erythrocyten gefülltes, die Gefäßscheide umschrieben stark vorwölbendes 
Blutsäckchen, einige rote Blutkörperchen lassen sich in der gequollenen 
Media erkennen. In der Umgebung dieser Blutsäckchen dieser typischen 
dissoziierenden Aneurysmen fehlt wie in der Pick’schen Beschreibung 
jede Anhäufung von Rundzellen oder Leukocyten als Zeichen der reaktiven 
Entzündung. 

An einer stark gedehnt erscheinenden Arterie zeigt sich verfolgbar 
auf einer ganzen Reihe von Schnitten eine Aufspaltung der Wand mit 
zum Teil noch gut erkennbarem Mediakernen und überall zwischen den 
Maschen der Intima, Media und Adventitia deutlich Erythrocyten, die in 
dicht gedrängter Blutung das Gefäß umgeben. — Vgl. Abb. Nr. I, 1. 

Um eine Arteriole mit glasig gequollener kernloser Media liegt eine 
Ringblutung mit Häufung von Erythrocyten am Rande und deutlich ge- 
lockerten zentralen Partien mit nur wenigen roten Blutkörperchen. 

Jedoch nicht bloß um Arterien, auch um zahlreiche, oft breitgedehnt 
erscheinende kleine Venen und Kapillaren mit stellenweise noch erkenn- 
baren Kernen finden sich kleine Blutungen oft nur als eng umschriebene 
in die Gefäßscheide, oft aber auch über sie binausgehend.. Am Rande 
der massiven Blutung erscheinen die kleinen Blutungsherde dichter ge- 
drängt. In der gleichmäßig von Erythrocytenmasse durchsetzten Blutung 
sind Einzelheiten nur schwer erkennbar, aber an einer Stelle ist in einer 
anatomisch sehr gedehnt erscheinenden Arterie noch deutlich erkennbare 
Kernfärbung der Media zu sehen. 

Fettkörnchenzellen finden sich vereinzelt am Rande der Blutung um 
einige Arterien, sehr geringe Leukocytenansammlungen um einige ge- 
dehnte Kapillaren sind dort ebenfalls vorhanden, weit im Gesunden findet 
sich noch eine Arterie mit einem kleinen Blutungsherd um sie ohne er- 
kennbare Veränderungen an der Wand. Ausgesprochene Arteriosklerose 
ist an den kleinen Arterien im Gesunden nicht zu erkennen, nur sehr 


8 WestpHaL u. BÄR 


vereinzelte Lipoidflecken finden sich bier und da in der Intima. Sehr 
vereinzelt findet sich hyaline Quellung zwischen Intima und Media bei 
den meist nicht veränderten Arteriolen. | 

Fall I, 2: 534/23. Heinrich Kn., 45 J. Gest. im Hosp. z. Heiligen 
Geist am 9. V. 23. 

Angeblich immer gesund gewesen. Am 9. V. 23 um 8 Uhr abends 
bewußtlos zusammengestürzt, gegen 9 Uhr eingeliefert mit Bewußtlosig- 
keit und Lähmung der linken Seite. 

Anatomische Diagnose: frische Hirnblutung, Blutung in die linken 
Stammganglien und in die Pons, durchgebrochen in die Ventrikel. Hyper- 
trophie des linken Herzens, Sklerose der Aorta, Coronar- und Basal- 
arterien. Fibröse Spitzenherdchen der Lungen beiderseitig. Mikroskopisch 
an den Nieren an zahlreichen Arteriolen Wandverdickung und Verfettung. 
Einzelne Glomeruli verödet. 

Bei der mikroskopischen Untersuchung des Gehirns an Schnitten 
aus verschiedenen Stellen der Blutung mit umgebendem Hirngewebe 
zeigen sich auch hier wieder sehr zahlreiche kleine Blutungen von ver- 
schiedener Ausdehnung am Rande der kompakten Blutung. Diese kleinen 
Blutungen dringen ein in Hirngewebe mit gut erhaltener Färbung der 
Kerne von Ganglienzellen und Gliazellen. Die kleinen Blutungsherde 
zeigen in ihrer Mitte fast immer gut erkennbar Gefäße, bei größeren 
makroskopisch erkennbaren etwa stecknadelkopfgroßen mehrere neben- 
einander, z. B. einmal zwei kleine Venen, ein andermal drei kleine Arteriolen. 
Besonders an den kleinen Venen und Kapillaren finden sich in diesem 
Falle die Blutaustritte, es lassen sich oft die Reste dieser kleinen Ge- 
fäße ohne jegliche Kernfärbung umgeben von der prall gefüllten, stark 
überdehnten Gefäßscheide inmitten einer über diese weithinausgegangenen 
Blutung erkennen. Vereinzelt finden sich auch Ringblutungen mit hellem 
Zentrum, besonders in den äußersten Randpartien des befallenen Gebietes 
um kleinste Gefäße. Die Arteriolen zeigen oft auf zahlreichen Schnitten 
verfolgbar noch gute Kernfärbung der Muskularis inmitten der kleinen . 
Blutungen, jedoch findet sich auch an mehreren deutlich fehlende Kern- 
färbung der glasig erscheinenden Media, aber ohne besondere Verdickung 
derselben. 

Inmitten der Blutung fehlen erkennbare Reste von Ganglienzellen 
ebenso am eigentlichen großen Blutungsherd. In diesem ist vereinzelt 
noch die Wand von Arterien zu erkennen, meist ist sie kernlos, um zwei 
Arterien finden sich, hereinreichend in die große Blutung bei kernloser 
Media, prall mit Blut gefüllte säckchenförmige Verwölbungen der Adventitis. 
Im intakten Randgebiet sind zahlreiche kleine Gefäße sehr prall gefüllt. 
Die Erscheinungen von Arteriosklerose und Arteriolosklerose sind nur. 
vereinzelt und gering im Gesunden. Die gleichen mikroskopischen Ver- 
änderungen zeigt auch 

Fall I, 3: 75jährige Frau mit einer frischen Hirnblutung in das 
linke Corpus striatum. 

Fall I, 4: 63jährige Frau mit einer frischen Hirnblutung in die 
linken Stammganglien. Hier fanden sich besonders ausgeprägt wieder 
zahlreiche kleine Blutungen um den großen Herd, wie marmoriert er- 
scheint der Blutungsrand durch gut erhaltene ödematöse Reste von Hirn- 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 9 


gewebe zwischen Blutungspartien, in denen noch zum Teil deutlich er- 
kennbar die überdehnten Wände kleiner Venen erkennbar sind. Ebenso 

Fall I, 5: 59jährige Frau mit frischer Hirnblutung in die rechten 
Stammganglien und 

Fall I, 6: 72jährige Frau mit frischer Hirnblutung im Bereich der 
rechten Stammganglien. Hier war neben den üblichen Veränderungen 
ganz auffallend eine hochgradige Erweiterung einiger der kleinen Gefäße 
innerhalb des Blutungsherdes auf das 5—10 fache bei zum Teil gut er- 
haltener Kernfärbung. 

Sehr wenige lipoide Intimaverdickungen an einigen kleinen Arterien 
im Gesunden, sonst erscheinen diese völlig intakt. Dagegen findet sich 
an den durch Ausschüttiung des Gehirns gewonnenen Gefäßen ein sehr 
interessanter Befund an einer mittelgroßen Arterie, die nicht aus der 
engsten Nachbarschaft der Blutung stammt. Die Media dieses (Gefäßes 
ist in etwa !/, ihres Umfanges völlig ersetzt durch ein dichtes Rund- 
zelleninfiltrat. Die Intima ist über diesem Gebiete und dessen Nachbar- 
schaft sebr verdickt mit ausgedehnter Neubildung von elastischen Fasern, 
das Gebiet des Rundzelleninfiltrates erscheint in mäßigem Grade nach 
außen aneurysmenartig ausgebuchtet. Für einen syphilitischen Prozeß 
findet sich in dem Organismus kein Anhaltspunkt, Sachs-Georgi ist 
negativ. Dagegen war vor zwei Jahren bereits ein Schlaganfall ein- 
getreten, viel Kopfschmerzen bestanden in den letzten Jahren. Als alte 
kledianekrose infolge früherer apoplektiformer Insulte mit später erfolgter 
reaktiver Rundszelleninfiltration wird dieser Herd angesehen. Es wird 
später wieder auf ähnliche Prozesse hingewiesen werden. 

Eine kurze Übersicht über die bisher mitgeteilten 6 Fälle 
zeigt als Gemeinsames bei allen das Vorhandensein einer großen 
durchgehenden Blutung zweimal kombiniert mit anderen in dem 
Gebiete der Stammganglien und am Rande derselben zahlreiche 
kleine, meist makroskopisch gut erkennbare Blutungen. Diese gehen 
an Menge, Ausdehnung und in der Form des oft allmählichen 
Überganges über das hinaus, was an gleichen Diapedesisblutungen 
im Gebiete reaktiver Hyperämie auf eine stattgehabte Blutung 
möglich wäre. Die Untersuchung der kleinen Blutungen läßt mehr 
an Einzelheiten erkennen, wie das Zentrum des völlig durchbluteten 
Bezirkes. Es finden sich dabei in allen Fällen inmitten der kleinen 
Blutungen kleine und kleinste Gefäße aller Art, Kapillaren, Venen 
und Arterien verschiedener Größe. Häufig sind diese sehr stark 
gedehnt, besonders die Kapillaren und kleinen Venen, am aus- 
gesprochensten bei Fall I, 6, und oft ist an den kleinsten Blutungs- 
herden deutlich erkennbar, wie diese Blutung eng und scharf um- 
grenzt nur in die Gefäßscheide stattgefunden und zu einer starken 
UÜberdehnung derselben geführt hat, ohne sie zu durchbrechen, man 
sieht dann nach Art eines Doppelringes die Reste der eigentlichen 
Gefäßwand und am Rande die Gefäßscheide. Häufig ist dasselbe 


10 WeESTPHAL u. BÄR 


Phänomen auch noch gut inmitten von weit über diese Gefäßscheide 
hinausgegangenen Blutungsherden festzustellen. 

An der eigentlichen Wand imponiert an vielen Kapillaren und 
Venen oft der deutliche Schwund von Kernen und klarer Struktur, 
doch nicht immer zeigt sich eine starke Schädigung so deutlich, 
manchmal finden sich auch intensive Blutungen um Gefäße mit 
deutlich erkennbaren Kernen und nur überdehnter Wand. 

Eindrucksvoller noch gestalten sich die Veränderungen an den 
Arterien und Arteriolen. Es finden sich dort in jedem Falle, in 
manchen stärker hervortretend (I, 1 und I, 3) in anderen weniger 
(I, 5 und I, 6) hochgradige Veränderungen an der Gefäßwand, die 
sich im wesentlichen an der Media abspielen in Gestalt deutlicher 
Quellung der Muskelfasern mit stärkerer Lichtbrechung, so daß sie 
völlig wie hyalin erscheinen, häufig ist dabei vorhanden völliger 
Kernschwund, manchmal Vakuolisierung der Media. Doch soll aus- 
drücklich betont werden, daß besonders bei Fall I, 5 und I, 6, aber 
auch in den übrigen Fällen zahlreiche Schnittreihen sich fanden, 
wo an einer größeren Menge von kleineren, von umschriebener 
Blutung umgebenen Arterien solcher Kernschwund und die starke 
Quellung der Media oder andere grobe Veränderungen derselben 
vermißt wurden. Auch in Fall I, 1 finden sich Erythrocyten- 
ansammlungen in der Gefäßwand mit umgebender Blutung, ohne 
Muskelkernschwund. Die Schädigung der Arterien- und auch der 
Venenwände kann demnach anscheinend bis zum Eintritt von 
Diapedesisblutungen sich entwickeln, ohne daß grobe Veränderungen 
der Arterienmedia sichtbar werden müssen. Aber wir können sie 
auch in diesen Fällen annehmen, da wir die Weiterentwicklung 
bis zur schwersten Medianekrose im gleichem Blutungsherde so 
oft finden. 

Wichtig sind die Bilder bei I, 2 und 5, wo auch makroskopisch 
erkennbare, etwa stecknadelkopfgroße, säckchenförmige Ausstül- 
pungen der Gefäßscheide bedingt durch Medianekrose und Durch- 
blutung der Arterienwand eingetreten waren. Eigentliche Risse 
derselben wurden hier nicht gesehen. Die Gefäßwandnekrose war 
bei solchen kleinen Blutungen in die Gefäßscheide, oft ganz eng 
umschrieben einseitig, perivaskuläre Zellinfiltrate am Rande fehlten 
hier. Ausgedehnte, kolbige Anschwellungen der nekrotischen Gefäß- 
wand wurden nicht beobachtet. Die umschriebenen Blutergüsse in 
die Gefäßscheide entsprechen den miliaren Aneurysmen Charcot’s, 
aber wir sehen hier in Übereinstimmung mit den Rosenblath- 
schen Befunden und der Pick’schen Ansicht, daß sie als kleine 


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Deutsches Archiv für klin. Medizin, Band 151 Tafel I 


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Abbildung Nr. I, ı Leitz Okular 1, Objektiv 7 


Erythrocyten in der aufgefaserten, noch kernhaltigen Wand einer kleinen Arterie 
bei umgebender Blutung. (Fall I, r.) 


Abbildung Nr. I, 2 Leitz Okular 1, Objektiv 3 


Gebiet aus dem Rande des Blutungsherdes mit Schwund der Ganglienzellen, Auflockerung und 
Durchblutung und schwer geschädigten Gefäßen. Die allgemeine Angionekrose tritt hervor an 
einer mittelgroßen Arterie und Vene sowie kleineren Gefäßen. (Fall II, r.) 


Westphal Verlag von F. C, W. Vogel in Leipzig. 


DRUCK VON FR.RICHTER G.M.B.H. LEIPZIG 


rn 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 11 


Aneurysmata dissecantia nur eine nicht einmal sehr wesentliche 
Erscheinungsform von umschriebener Blutung bei der allgemeinen 
Gefäßwandschädigung im apoplektischen Herde sind. 

Auf die Ringblutung im Fall 1 und 4 sei vorläufig nur hin- 
gewiesen. Um einige kleine Gefäße am Rande der Blutung fanden 
sich- Leukocytenansammlungen. 

Die in etwas größerer Distanz von der Blutung mehrmals gè- 
fundenen kleinsten Blutergüsse um einzelne Arterien (Fall I, 1 und 
Fall I, 4) und das Rundzelleninfiltrat in Fall I, 6 scheinen uns in 
enger Verwandtschaft zu der schweren Gefäßschädigung im Blu- 
tungsherde zu stehen. Sie sind Ausdruck derselben, aber diesmal 
enger lokalisierten Alteration besonders der Media der Arterien, 
wie wir sie mitten in der Blutung finden, oder wie das Rundzellen- 
infiltrat, Folge einer solchen Schädigung. 


Im übrigen gibt die weitere Nachbarschaft des Blutungsherdes 
in diesen Fällen keinen Hinweis für die Entstehung der Blutung. 
An dem Rande treffen sich Erythrocytenextravasate und intakte 
Ganglien- und Gliazellen. Nur einmal finden sich an Ganglien- 
zellen geringe Veränderungen, acidophile Färbung und manchmal 
Kernzerfall. Markscheidenfärbungen wurden nicht gemacht. Die 
nun folgende Serie soll jedoch in der Richtung dieser Frage: sind 
Hirnveränderungen für die Gefäßschädigung nicht sehr mit maß- 
gebend ? Weiteres aussagen. 


II. Kombination von weißer Erweichung und Blutung in 
einem Herde. | 


Fall II, 1: Hermann von Th., 52 jähriger Arbeiter, Sektions- 
nummer 25/24. Klinische Diagnose: Genuiner Hypertonus mit links- 
seitiger Apoplexie, bewußtlos eingeliefert am 30. XII. 23. Gest. am 
9. I. 24 mit doppelseitiger Pneumonie. 

Anatomische Diagnose: Frische Hirnblutung mit Zerstörung der 
rechten Stammganglien und der rechten inneren Kapsel. Durchbruch in 
die Ventrikel. Arteriosklerotische Schrumpfnieren leichten Grades, Hyper- 
trophie des ganzen Herzens. Geringgradige Sklerose der Coronar- und 
basalen Hirnarterien. Konfluierende Bronchopneumonie beider Unter- 
lappen usw. 

Nieren mikroskopisch: Ausgesprochene Arteriolosklerose vereinzelter 
Arteriolen. Hier und da fibröse Glomeruli. 

Hirn: Es wurde von 4 Stellen der Blutung mit den anschließenden 
Randpartien zur Untersuchung entnommen. In allen 4 Gebieten ist am 
Rande eine ausgesprochene Zone mit schwerer allgemeiner Gewebs- 
schädigung vorhanden, diese meist mehrere Millimeter breite Zone ist 
diffus mehr oder minder dicht gedrängt von kleinen Blutungen durch- 


12 WeESTPHAL u. BÄR 


setzt, auch innerhalb der Gebiete kompakter Blutung finden sich kleine 
Inseln von nicht von Erythrocyten durchsetztem nekrotischem Gebiet. 
Diese nichtdurchbluteten Partien der Erweichung setzen sich meist scharf 
gegen das gesunde Hirngewebe ab. Sie zeichnen sich deutlich ab durch 
fast völligen Kernschwund, nur vereinzelt sind hier und da noch Zellen 
erkennbar, die kleinen Ganglienzellen sind verschwunden oder zerfallen, 
die Gewebspartie erscheint wie ödematös durchtränkt und grobmaschig 
aufgelockertt. Am Rande im Gesunden liegen sehr vereinzelt Fett- 
körnchenzellen. 

Die Gefäße in dem nekrotischen Randgebiete zeigen zu einem großen 
Teile schwerste Veränderungen (vgl. Abb. Nr. I, 2). Sie sind fast sämtlich, 
ob umgeben von Blutung oder nicht, stark gedehnt, mit dementsprechend 
oft verdünnter Wand, bis auf wenige Kerne ebenso wie die Umgebung 
kernlos, an Kapillaren, kleinen Venen und Arteriolen besteht der gleiche 
Befund. An diesen findet sich oft dabei eine glasig erscheinende, breite 
Aufquellung der Gefäßwand und oft wieder um sie die umschriebene 
Blutung in die stark überdehnte Gefäßscheide. Deutlicher wie an dem 
bisher aufgeführten Material tritt hier in der geschädigten Wand kleiner 
und großer Arterien das Vorhandensein von Blutkörperchen hervor. Es 
finden sich gedehnte und aufgefaserte Arterien mit Schwund auch der 
Kerne in der Intima und in der nicht ausgesprochen gequollenen 
Muskularis, die überall zwischen Intima und bis zum Außenrande der 
Adventitia durchsetzt sind von Erythrocyten und vereinzelten Leukocyten, 
daneben an 2 Stellen eigenartige Bilder von netzförmiger Auflösung mit 
Bildung zahlreicher Vakuolen in der Gefäßwand kleiner Arterien bei 
durchbluteter Umgebung und starker von Vakuolen durchsetzter Quellung der 
Intima im Innern des sehr gedehnten Gefäßes. Schließlich finden sich 
auch große Arterien mit Nekrose der Wand in sämtlichen Schichten, 
starker Quellung der Intima, ebenso wie der kernlosen Media, die hier 
und da durchsetzt sind von Erythrocyten (vgl. Abb. Nr. I, 3). Besonders 
deutlich treten auch bei Elastikafärbung diese schweren Schädigungen 
arterieller Gefäßwände dem Betrachter entgegen. Am Rande der Blutung 
und Erweichung zeigt sich, wie die elastischen Fasern auf der einen Seite 
der stark deformierten Arterie völlig aufgelöst und zerrissen sind, nur 
hier und da sind feine Reste von ihnen zu erkennen. Die gequollenen 
Gefäßwandreste sind von Blutkörperchen hier und da durchsetzt (vgl. 
Abb. Nr. I, 4a). Ein Übergang von Diapedesis- zur Rhexisblutung ist 
bei solchen Zerstörungen der Gefäßwand geschaffen. Aus einer nekroti- 
schen Partie inmitten der Blutung, die selbst frei von solcher ist, läßt 
sich mit Elastikafärbung noch eine Arterie darstellen. Auch hier zeigt 
sich als letzter erkennbarer Rest des Gefäßes die schwer geschädigte 
Elastika. Der blaugefärbte Ring zeigt hier und da deutliche Kontinuitäts- 
trennung, wie aufgeschnurrt erscheinende elastische Fasern bilden zer- 
rissene Reste des früheren Ringes (vgl. Abb. Nr. I, 4b). 

Auch an großen Venen sind die gleichen Verhältnisse zu sehen, 
Kernschwund, Quellung allerdings nicht in so starkem Maße, Durch- 
setzung der Wand mit Blutkörperchen. 

Ganz am Rande der Erweichung findet sich um eine Anzahl nicht 
erkennbar veränderter Arteriolen und Kapillaren ein aufgehelltes Gebiet 


Deutsches Archiv für klin. Medizin, Band 151 Tafel II 


Leitz Okular 5, Objektiv 3 


Abbildung Nr. 1,3 


Nekrotisierte große und kleine Arterie mit totalem Kernschwund und Vakuolisierung 
der gequollenen Media in weißen Se am Rande der Blutung. 
(Fall II.) 


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Leitz Okular 1, Objektiv 4 a b Leitz Okular 3, Objektiv 5 
Abbildung Nr. I, 4 


Elastikafärbungen vom Rande des Blutungs- und Erweichungsgebietes 


a) am Rande des blutigen Erweichungsherdes schwer degeneriertes Gefäß mit teilweise zerstörter 
Elastica und Erythrocyten in der vakuolisierten Gefäßwand und um diese. 


b} Aufgefaserte Elastica als Rest einer Arterie im nekrotischen, nur wenig durchbluteten Gebiet. 
(Fall II, 1.) 


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DRUCK VON FR.RICHTER G.M B.H.. LEIPZIG 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 13 


mit Lockerung und Dehnung der Gewebsmassen, einige Erythrocyten be- 
finden sich dabei außerhalb der stark gefüllten Gefäße. 

In weiterer Umgebung und an Schnitten aus anderen Hirnpartien 
finden sich keine wesentlichen Veränderungen, hier und da geringe 
Arteriolosklerose mit geringer hyaliner Quellung der Grenzschichten 
zwischen Intima und Media. 


Fall II, 2: Maria R., 70 Jahre. Gest. am 14. XII. 22 im Bürger- 
hospital an einer frischen Blutung in den linken Nucleus lentiformis, 
durchgebrochen in die Seitenventrikel. 

Gehirn mikroskopisch: Von drei verschiedenen Partien des Blutungs- 
herdes entnommene Blöcke zeigen außer an einer Serie typischer durch- 
bluteter Gebiete mit den zur Genüge beschriebenen Gefäßschädigungen 
an den zwei anderen Schnittreihen jedesmal in dem durchbluteten Rand- 
gebiete nekrotische nicht durchblutete Bezirke mit völligem Kernschwund 
in denselben; in dem einen Abschnitt fanden sich eine größere und drei 
kleinste Arterien alle mit kernloser gequollener Wand, die in diesem Ge- 
biete nicht durchblutet waren, in einem anderen Abschnitt fand sich eine 
größere Vene ebenfalls mit Kernschwund in ihrer Wand. Die Blutung 
setzte erst in dem nahe der großen Blutung gelegenen Abschnitt der 
Vene ein. 


Fall II, 2: Susanne E., 65 Jahre. Gest. im Hospital zum Heiligen 
Geist, Sektionsnummer 543/24. 

Klinische Diagnose: Apoplexie und Pneumonie des rechten Unter- 
lappens. Im Oktober 23 wegen apoplektiformen Insultes im Kranken- 
hause, am 29. IV. 24 plötzliche Lähmung im linken Arm und linken 
Bein, Blutdruck 210 : 130. 


Anatomische Diagnose: Hochgradige Sklerose der größeren, mittleren 
und kleineren Arterien, auch der Kranzarterien des Herzens und der 
Basalarterien des Gehirns. Hypertrophie des linken Herzens. Arterio- 
sklerotische Schrumpfnieren mäßigen Grades. Mehrere verschiedenartige 
Erweichungsherde des Gehirns. 


Nieren mikroskopisch: Arteriolosklerotische Schrumpfniere. 

Das Gehirn zeigt makroskopisch einen ausgedehnten frischen Er- 
weichungsherd im linken Frontallappen, der sich vorwiegend auf die 
Marksubstanz desselbeu beschränkt, und zum großen Teile den Balken 
zerstört. Im Rindenraum des Erweichungsherdes reichlicher dicht neben- 
einander stehende zum Teil konfluierende punktförmige Blutungen. Er- 
weichungsherde sind außerdem an anderen Stellen des Hirns vorhanden, 
im rechten Thalamus, in dessen vorderen Teil ein zum Teil cystisch ge- 
wordener weißer Erweichungsherd, das ganze Gebiet des linken Putamens 
ist von einer frischen weißen Erweichung eingenommen, ein kleiner rost- 
brauner Erweichungsherd ist auch in der Brücke feststellbar. 


Bei dieser interessanten Kombination von weißer und brauner Er- 
weichung und an verschiedenen Stellen von weißer Erweichung und 
Blutung, besonders im linken Frontalhirn erschien gerade dieses Gebiet 
für die mikroskopische Untersuchung lohnend. Von 3 Stellen des linken 
Vorderbirns wurden Blöcke eingelegt, 3 von Gebieten reiner Erweichung, 
l von mit Durchblutung durchsetzter Erweichung. Sie ergeben. bei 


14 WESTPHAL u. BÄR 


Durchsicht in Schnittreihen 1: um die beiden Erweichungsstellen wenig 
Fettkörnchenzellen am Rande. In der Mitte derselben völliger Zerfall 
des Gewebes mit nur hier und da erhaltenen Gliazellkernen. Sämtliche 
Gefäße im erweichten Gebiete sind entweder blutleer oder mit nur wenig 
Blutkörperchen gefüllt und meist eng kontrahiert. An einer ganzen An- 
zahl von kleinen Arterien, aber auch kleinen Venen deutliche Schädigung 
der Wand mit sehr weitgehendem Kernschwund und oft mäßig gequollener 
Media. Bei Elastikafärbung, die im Gesunden sehr gute Bilder ergab, 
war zum Teil Zerfaserung der Elastika feststellbar, zum Teil fehlte eine 
deutliche Darstellung derselben. An der schweren Zerstörung der Gefäß- 
wand der Arterien im erweichten Gebiete ist hier demnach kein Zweifel. 
Auch ganz außerhalb des Erweichungsherdes findet sich sehr deutlich 
eine mittelgroße Arterie mit anscheinend gesunder Umgebung, dicht unter 
dem Ependym des linken Ventrikels mit mäßiger Quellung der Media 
und völligem Kernschwund derselben auf 10 Schnitten. Bei Elastika- 
färbung schlechte Färbung und Auflockerung derselben. Dieses Gefäß 
ist ebenfalls blutleer. Am Rande zum Gesunden findet sich nur sehr 
stellenweise etwas stärkere Füllung der Gefäße. Sehr wenige Male sind 
kleine Blutungen in den Kapillaren vorhanden, dagegen sind sehr auf- 
fällig zum Teil noch im erweichten Gebiete, neben wenigen Fettkörnchen- 
zellen nur kleine Arterien und Venen kleine Rundzellenanhäufungen, 
zum Teil aus allerdings nur wenigen gelapptkernigen Leukocyten be- 
stehend. 


2. Das durchblutete Gebiet zeigt einen sehr interessanten Befund. 
Am Erweichungsherde sind überall sehr ausgesprochene Blutungen in 
dem nach der Rinde zu gelegenen Gebiete feststellbar. Fettkörnchen- 
zellen fehlen hier. Die Blutungen liegen um stark gedehnte Kapillaren, 
Venen und Arteriolen. Dabei finden sich sehr schöne Bilder, wo auf 
ganz langer Strecke verfolgbar um Kapillaren und Venen neben diesen 
Gefäßen Blutungen in im ganzen doppelter Gefäßbreite vorhanden sind, 
eine Art glasiger Quellung war auch hier an der Wand der Präkapillaren 
stellenweise erkennbar mit Diapedesisblutungen in die Gefäßscheide, die 
Bilder von Kernlosigkeit, Quellung und starkem Lichtbrechungsvermögen 
in der Arterienwand fanden sich ebenfalls wieder, zum Teil mit den 
übrigen kreisföormigen Blutungen. Nirgends konfluieren auf diesen 
Schnitten die Blutungsherde zu einem großen. An blutungsfreien Stellen 
am Rande des Erweichungsherdes im Gebiete des Markes finden sich 
um prallgefüllte Kapillaren Ringe von gelapptkernigen Leukocyten. Einige 
Leukocytenanhäufungen sind auch in Kapillaren. In anderen Gebieten 
ohne Leukocytenansammlungen finden sich perivaskulär um mittelstark 
gefüllte Gefäße Kundzelleninfiltrate mit nur geringer Beimengung von 
gelapptkernigen Leukocyten im anscheinend intakten Gewebe, Resorptions- 
erscheinungen sind dieses wohl (vgl. Abb. Nr. I, 5). 


3. Auf allen Schnitten finden sich im nicht erweichten Gebiete an 
einer größeren Arterie sehr ausgesprochene Intimawucherungen, die 
meist ? des Lumens von der einen Hälfte der Gefäßwand ausgehend 
einnehmen, oft durchsetzt sind von ausgedehnten Neubildungen der 


Elastika. Die Media erscheint in diesem Gebiete häufig etwas ver- 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 15 


schmälert. Im übrigen ist sie anscheinend bis auf die eine oben be- 
schriebene Stelle nicht grob verändert. 

Die Arterien des Gehirns zeigen makroskopisch eine hochgradige 
Sklerose der größeren, mittleren und auch kleineren Gefäße. 

Es finden sich also hier bei multiplen Erweichnngsherden bei schwerer 
Arteriosklerose mit Intimawucherung im Gehirn im Gebiete der Er- 
weichungsherde 1. schwere Gefäßwandschädigungen bei Blutleere der Ge- 
fäße, 2. perivaskuläre Zellinfiltrate am Rande der Erweichung, 3. am 
Randgebiete eines Erweichungsherdes zur Hirnrinde hin in einer Partie 
mit gut bluthaltigen zuführenden Gefäßen ausgedehnte kleine Blutungen 
aus Arteriolen, Venen und Kapillaren bei deutlich geschädigter Gefäßwand. 

Fall II, 4: Ludwig G. Gest. 16. II. 24 im Krankenhause Sand- 
hof, Sektionsnummer 149/24. 

Klinische Diagnose: Sekundäre Schrumpfniere nach 1899 auf- 
getretener Nierenentzündung mit Hypertonus über 200 mm Hg, mit 
Retinitis albuminurice, stark erhöhtem Rest-N im Blute, starken Kopf- 
schmerzen in letzter Zeit und Erbrechen. 

Anatomische Diagnose: Sekundäre Schrumpfriere mit Rindenver- 
fettung, Hypertropbie des ganzen Herzens, frische Blutung im rechten 
Stirnhirn, konfluierende Bronchopneumonie beider Unterlappen usw. 

Mikroskopische Niere: Ausgesprochene sekundäre Schrumpfniere mit 
Arteriolosklerose. 

Hirn: Die markstückgroße blutige Erweichung im rechten Stirnhirn 
zeigt bei mikroskopischer Untersuchung einen ausgesprochenen Wechsel 
in ungefähr gleicher Ausdehnung von voll und gleichmäßig durchbluteten 
Partien mit nur nekrotischen ohne Blutung, mit ausgeprägten Kern- 
schwund und Kernzerfall. Am Rande überwiegen diese nur nekrotischen 
Partien, ım Übergang zu dem normalen erscheint dabei das Gewebe 
ödematös durchtränkt. Die Gefäße zeigen im durchbluteten und nicht- 
durchbluteten Erweichungsgebiete, vor allem in diesem die üblichen Ver- 
änderungen. Es finden sich Arteriolen mit kernloser, gequollener, zum 
Teil hyaliner Media und kleine Venen mit kernloser und zum Teil sehr 
gedehnter Wand. Diese Gefäße sind sämtlich mit Blut breit gefüllt. In 
der Nachbarschaft finden sich auf der einen Seite wenig kleine Blutungen, 
auf der anderen reichlicher. Bisweilen sind in ihnen Gefäße erkennbar, 
meist sehr gedehnte kleine Venen. An einer Stelle aus den Wand- 
gebieten imponiert ein kleines Gefäß, anscheinend eine kleine Arterie mit 
sehr gelockerter Wand durch starke Quellung der Zellkerne, Kernzerfall 
dabei und hochgradige Vakuolenbildung in den Zellen, in der Umgebung 
ist eine kleine Blutung. Vereinzelt finden sich auch typische Ring- 
blatungen in den Randzonen. Sehr auffallend an diesem Fall ist ferner 
der Befund sehr zahlreicher perivaskulärer Zellinfiltrate in diesem Rand- 
gebiete, um kleine Venen und Arteriolen einmal auch um eine größere 
Arterie. Es bandelt sich dabei stets um Gefäße mit anscheinend völlig 
unveränderter Wand, sehr guter Kernfärbung usw. Ein Eindringen der 
Infiltrate in die Media wurde nicht gesehen, im Blutungs- oder Er- 
weichungsherde finden sich diese Zellanhäufungen nicht. Sie bestehen 
im wesentlichen aus Rundzellen, Fibroblasten, vereinzelten gelapptkernigen 
Leukocyten, sie sind bis zu 8—10 im Querschnitt um die Gefäße ver- 


16 WestpHaL u. Bir 


sammelt. Fettkörnchenzellen sind am Rande der Erweichung wenig vor- 
handen. Sehr geringe Arteriosklerose ist im Gebiete der weiteren Um- 
gebung erkennbar. 

Diese angeführten 4 Fälle zeigen als typisch gemeinsam das 
gleichzeitige Vorhandensein von schwerer Schädigung des Hirn- 
gewebes in Gestalt von nur weißer Erweichung und von Blutung. 
Außer in Fall II, 3 steht dabei die Blutung durchaus im Vorder- 
grunde des Bildes, bei einfacher makroskopischer Besichtigung 
treten bei den anderen Fällen die nichtdurchbluteten Partien kaum 
am Rande der Blutung hervor. Ihr Befund ist von großer Wichtig- 
keit, zeigt er doch, wie ein gemeinsames schädigendes Agens, so 
wie es Rosenblath schon hervorhebt, zuerst zur schwersten 
Schädigung umschriebener Gehirnpartien und damit gleichzeitig 
der darin enthaltenen Gefäße führen kann. Gerade an diesen Ge- 
fäßen aller Art am Rande des durchbluteten und des nur nekro- 
tischen Gebietes finden sich zum Teil ausgesprochener noch wie 
bei den reinen Blutungsfällen die schwersten Veränderungen. Eine 
allgemeine Angionekrose von Kapillaren, Venen und Arterien ist 
vorhanden, sie zeigt sich auch an größeren Venen mit völligem 
Kernschwund und ausgedehnter Durchblutung der Wand und noch 
stärker und charakteristischer an den Arterien. Die Arterionekrose 
kann verschiedene Bilder annehmen neben einfachem von den 
früheren Bildern her geläufigem Kernschwund mit Quellung der 
Media finden sich durch ausgedehnte Vakuolenbildung in der Wand 
netzartig aufgelöste kleine Arterien, schwere Nekrose in sämt- 
lichen Schichten von Intima mit Quellung besonders wieder der Media 
doch auch manchmal der Intima und der Erythrocytenansammlung 
in der so geschädigten Gefäßwand. Bei Elastikafärbung, die manch- 
mal auch noch mitten in durchbluteten Geweben Reste der zer- 
störten Gefäßwand erkennen ließ, tritt einem die Schädigung der 
Arterienwand ebenfalls sehr ausgesprochen entgegen. Sie ist manch- 
mal allerdings nur schlecht zu erzielen im nekrotischen Gebiet, in 
anderen Fällen aber sehr klar und zeigt dann an breiten Einrissen 
am gedehnten Gefäß, wie zwischen Diapedesis-, Diairrhesis- und 
Rhexisblutung hier in weitem Maße Übergänge möglich sind. 

Wichtig ist für das Zustandekommen der einzelnen Blutungen 
die Beobachtung am Fall II, 2, wo im Vordergrunde stehen die 
multiplen weißen Erweichungsherde bei sehr hochgradiger Arterio- 
sklerose. Nur an dem ins Rindengrau übergehenden Teil des Er- 
weichungsherdes im Frontallappen, wo die Versorgung durch 
Arterien aus dem Rindengebiete zu der des Markgebietes hinzu- 


Deutsches Archiv für klin. Medizin, Band 151 Tafel III 


Fall von Kombination von weißer Erweichung und Blutung Nr. II, 2. 

Typisches Bild einer allgemeinen Schädigung der kleinen Gefäße. 
Stück aus den Rindenpartien in kombinierter Zeichnung. Rechts nekrotische Kapillare mit typi- 
scher Blutung in überdehnte Gefäßscheide und über diese hinaus. Weiter links glasige Quellung 
der Gefäßwand einer kleinen Arteriole mit erhaltenen Intimakernen und ausgedehnter Blutung 
in die Gefäßscheide. Weiter links perivaskuläres Zellinfiltrat und ganz links kleine Vene mit 

ausgedehnter Blutung längs des ganzen Gefäßverlaufes. (Fall II, 2.) 


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Abbildung Nr. I, 6 Leitz Okular 1, Objektiv 2 
Ausgedchnte Blutung im Kleinhirn um zahlreiche zum Teil überdehnte Gefäße 
mit guter Kernfärbung ihrer Wand. (Fall III, 1.) 


Westphal Verlag von F, C. W. Vogel in Leipzig. 


DRUCK VON FR.RICHTER G.M.B.H.,LEIPZIG 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 17 


tritt, ist es zu Blutungen gekommen. Die übrigen Arterien und 
Arteriolen sind meist blutleer, auch ohne daß hier eine Erweichung 
stattgefunden hat findet sich an einer in gesunder Umgebung 
ebenso wie an denen im erweichten Gebiet Kernschwund und aller- 
dings mäßige Mediaquellung. Doch die Blutung in diesen Er- 
weichungsbezirken fehlt völlig, wir müssen annehmen, weil der 
Nachstoß des Blutstromes nach dem Eintritt der Gefäßwandschädi- 
gung infolge des zentral gelegenen arteriosklerotischen Gefäß- 
verschlusses in den Arterien dauernd unterblieben ist, nur im 
Rindengebiete, wo kollateraler Zustrom möglich war, ist es zur 
Ausbildung zahlreicher kapillärer Blutungen gekommen, die be- 
sonders schön die genaue Übersicht des Zusammenhanges zwischen 
einzelnen kleinen Blutungsherden und geschädigter Gefäßwand ge- 
statten. | 

Diese gemeinsame Kombination im gleichen Herde von durch- 
bluteter und nicht durchbluteter Erweichung schien uns für die 
Frage nach der Entstehung der Hirnblutung so Wichtiges zu bieten, 
daß in einer dritten Gruppe die Fälle zusammengestellt wurden, 
bei denen sich zusammen, aber überwiegend in getrennten Gebieten 
Blutung und weiße Erweichung fanden. Die Auszüge aus den 
Protokollen sollen hier, um nicht Bekanntes wieder zu breit aus- 
zuführen, gekürzter gegeben werden. 


III. Getrennte Kombination von weißer Erweichung und 
Blutung. 


Fall IIJ, 1: Siegmund G., 49 jähriger Kaufmann. Gest. am 23. V. 25 
an Apoplexie und akuter gelber Leeberatrophie. 

Gehirn: Der genaue Sektionsbefund des Gehirns beschreibt in der 
rechten Temporalgegend einen kleinen frischen suppialen roten Er- 
weichungsherd von 15 mm Länge und 8 mm Breite, in seinem Umkreise 
findet sich ein weißer Erweichungsbezirk von 20:10 mm Größe Auf 
der linken Seite in der weißen Substanz der Insel, dicht vor der Capsula 
externa liegt eine braune Erweichungscyste von 8:2 mm Größe. An 
der Schädelbasis schwere Arteriosklerose der Arterien. Ein Frontal- 
schnitt durch das formolfixierte Kleinhirn zeigt eine frische rote Blutung 
durch das Zentrum des Kleinhirns in etwa Zweimarkstückgröße. Die 
Sklerose sämtlicher Hirnarterien ist beträchtlich. 

Zur mikroskopischen Untersuchung war leider nur Kleinhirn ein- 
gelegt. Die Schnittreihen zeigen bei der Blutung wieder am Rande der 
kompakten zahlreiche kleine perivaskuläre Blutaustritte meist von der 
üblichen Form in die Gefäßscheide hinein. Auffallend ist nur, daß wohl 
hier und da in dem Gebiet von mäßiger Blutung anatomisch erkennbare 
Gefäßveränderungen auffindbar sind, mit Kernschwund an kleinen dila- 
tierten Venen und Kapillaren, nie an Arteriolen, daß aber die miliaren 


Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 2 


18 WestpHar u. Rir 


Blutungen am Rande wohl Überdehnung besonders der kleinen Venen 
aufweisen, daß aber ebenso wie bei zahlreichen vorgefundenen Arteriolen 
inmitten von Blutungen keine deutlichen Veränderungen an ihrer Wand 
erkennbar sind, sie zeigen gut färbbare und erhaltene Kerne. Trotzdem 
also eine schwere anatomische Schädigung an ihnen nicht erkennbar ist, 
haben doch nach der Lage der Blutungen oft ringförmig um sie in die 
(efäßscheide ausgedehnte Blutungen aus ihnen stattgefunden. Auch das 
benachbarte Hirngewebe zeigt keine Zeichen von Schädigungen. Gut 
färbbare Ganglienzellen mit deutlicher Kernzeichnung liegen dicht am 
Blutungshberde (vgl. Abb. Nr. I, 6). Im Gesunden findet sich nur an 
sehr vereinzelten Arteriolen deutliche Arteriosklerose. 

Fall III, 2: Thekla Ei, 64 Jahre alt. Gest. 8. X. 23 zeigt eben- 
falls Kombination von großem, weißem Erweichungsherd im rechten 
Temporallappen mit multiplen rotbraunen Erweichungsherden und Cysten 
in den Stammganglien. Der mikroskopische Befund zeigt die typischen 
angionekrotischen Prozesse. 

Fall III, 3: Karl. F., 53jähriger Arbeiter. Gest. am 17. I. 24 an 
Urämie bei chronischer Nephritis mit sekr. Schrumpfniere, weist im 
Gehirn eine frische, etwa erbsengroße Blutung in der Pons auf und 
mehrere kleine Erweichungsherde im Thalamus, sowie mikroskopische 
angionekrotische Prozesse in allen Herden. 

Fall III, 4: Maria H., 64 Jahre alt. Gest. am 2. VI. 23. Zeigt bei 
mehreren kleinen Erweichungsherden in den Stammganglıen Kombination 
von roten und weißen, in den zuführenden Arterien finden sich hoch- 
gradige, zum Teil ganz verschließende Intimawucherungen, mikroskopisch 
findet sich im übrigen das übliche Bild. 

Fall III, 5: Heinrich Mö., 74 Jahre alt. Gest. am 16. XI. 23 in 
der Medizinischen Klinik, Sektionsnummer 1209/23. 

Klinisch: Eine nach genauen Angaben des Patienten plötzlich ein- 
getretene Apoplexie mit linksseitiger Lähmung, seit 10 Wochen vor 
dem Tode bestehend. Im Jahre 1922 bereits zwei Schlaganfälle.. Sonst 
postapoplektische senile Demenz, mäßiger Hypertonus. 

Anatomisch: Allgemeine Arteriosklerose. Größerer, nur auf der 
Schnittfläche etwas eingesunkener Erweichungsherd im Nucleus lentiformis 
rechts, braune Erweichungscyste und kleine braune Erweichungsherdchen 
Nucleus condatus links. Bronchopneumonie usw. 

Mikroskopisch ist der Befund wegen seiner Abweichung von den 
übrigen sehr interessant. In dem rechtsseitigen größeren Herde findet 
sich ein ganz ausgedehnter Schwund von Glia- und Ganglienzellkernen, 
doch zum Teil sind diese noch eben erkennbar gefärbt. Dagegen tritt 
die Färbung der Gliazellkerne noch gut und klar hervor in ganz schmalen 
Zonen um die das schwergeschädigte Gebiet durchziehenden Gefäße. 
Diese erscheinen sämtlich hochgradig verengt, die Wand der Kapillaren 
und Venen zeigt gute Kernfärbung, keine anderen irgendwie erkennbaren 
Veränderungen, ihr schmales Lumen ist gefüllt mit ganz vereinzelten 
Erythrocyten. An den Arteriolen dieses Bezirkes, nicht so sehr an den 
großen Arterien, sind schwere Veränderungen erkennbar, hochgradige 
Verkalkung der Media seltener Wucherung der Intima mit Verengerung 
des Lumens. Auch an einer Anzahl von Arteriolen, besonders in den 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 19 


äußeren Teilen des nekrotischen Gebietes ist Kernlosigkeit mit mäßiger 
glasiger Quellung der Media vorhanden ohne Verkalkung. Die Arteriolen 
sind nur wenig mit Blut gefüllt. Am Rande des Erweiochungsgebietes 
vereinzelt Fettkörnchenzellen, keine Hyperämie. 

Schnitte von der anderen Seite vom Rande der Erweichungscyste 
zeigen zwei auf langer Strecke verfolgbare, sehr gedehnte dünnwandige 
Venen. Um eine derselben vereinzelte kleine Blutungen, ohne das Ge- 
täßwandschädigung erkennbar ist. Kontrollschnitte aus den Gesunden 
zeigen hier und da auch Verkalkung der Media kleiner Arterien und 
Intimawucherung derselben. 

Wieder tritt in dieser Reihe von Apoplexiefällen das Gemein- 
same des Vorkommens von weißer und roter Erweichung entgegen. 
Bei III, 1 sehen wir in Parallele zu der vorhergehenden Serie die 
Kombination am gleichen Ort von Blutung und Erweichung im 
rechten Stirnhirn und einer frischen Blutung im Kleinhirn. Nr. III, 2 
zeigt eine große weiße Erweichung im rechten Temporallappen, 
gleichzeitig mit multiplen roten Erweichungsherdchen in den Stamm- 
ganglien. Nr. III, 3 weist neben kleinen Blutungsherden in der 
Pons mehrere kleinere weiße Erweichungsherdchen im Thalamus 
und in der Pons auf, Nr. III, 4 einige kleine aus Venen stammende 
Blutungen in größerer Entfernung vom weißen Erweichungsherd, 
sie sind also kaum als reaktiv aufzufassen, und schließlich der 
letzte Fall Kombination von weißer Erweichung und roten und 
weißen Erweichungsherden und Cystchen in den Stammganglien. 

Wenn auch dieses gemeinsame Vorkommen an getrennten 
Stellen keineswegs so gegen die alte Auffassung von einer Gefäß- 
ruptur als Ursache der Blutung spricht, wie die Kombination in 
einem Herd, so ist doch wieder die ausgedehnte Angionekrose, wie 
sie sich bei III, 2 und III, 3 besonders zeigt, ein Ausdruck der 
engen Beziehung dieser weißen und roten Erweichung bei diesem 
Prozeß. Wichtig ist als stetiges Merkmal in den durchgesehenen 
weißen Erweichungsherden die geringe oder fehlende Füllung der 
Gefäße, vor allem der arteriellen, diese gibt zusammen mit der ge- 
fundenen Thrombose zum Beispiel in Nr. III, 3 die Erklärung ab 
für das Fehlen der Nachblutung in den abgestorbenen Geweben 
und in gleicher Weise bei den klinisch plötzlich nach Art einer 
Apoplexie eingetretener Erweichungsprozeß bei III, 5. 


Die schwere Mediaschädigung zeigt sich bei diesen erst längere 
Zeit nach dem Anfall verstorbenen Kranken nicht so sehr in gla- 
siger Quellung wie in ausgesprochener Verkalkung der Media, die 
weit über das in gesunden Gegenden vorhandene hinausgeht. Viel- 


leicht ist die in geringem Maße möglich gebliebene Durchblutung 
2% 


29 WestPHAaL u. BiR 


quellung der Gewebselemente und sebr weit fortgeschrittener Kern- 
losigkeit ähnliche Bilder fanden sich auch wenige Male ohne Ring- 
blutung am Rande. Daß auch in ihnen die Gefäße einem nekroti- 
sierenden Prozeß unterworfen waren, ist im Zusammenhang mit 
den schweren Schädigungen an den anderen Gefäßen sehr wahr- 
scheinlich. Auch das Versagen der Markscheidenfärbung (Rosen- 
blath) in diesen Herden spricht für solche Auffassung. 

Am Rande der Erweichungsherde fanden sich in manchen 
Fällen stark ausgeprägt gelapptkernige Leukocyten um gedehnte 
kleine Venen und Kapillaren ohne Erythrocytenbeimengung, wohl 
ein Erfolg der Stase am Rande der Blutung. 

Die schwere allgemeine Gefäßschädigung sehen wir auch ent- 
standen in den Fällen von Kombination von Erweichung und Blu- 
tung. Ein entsprechender Vorgang wie die erfahrungsgemäß häufig 
zu Erweichungsprozessen führende Anämie entstanden infolge 
Thrombose oder durch arteriosklerotische Intimawucherung bietet 
daher u. E. auch die nächstliegende Erklärung für diese allgemeine 
Gewebsschädigung bei der Blutung. Es ist dann die Annahme 
unnötig eines plötzlich einsetzenden, in seiner Herkunft dunkeln 
fermentativen Vorganges als Ursache, wie Rosenblath es glaubt. 
Der wesentliche Unterschied ist u. E. nur der, daß ungehemmte, 
besonders arterielle Blutzufuhr bei der Blutung nach Vorausgang 
einer gründlichen Anämisierung eintreten muß, die starke Füllung 
und Dehnung aller, vor allem der arteriellen Gefäße in den 
Schnitten der blutigen Erweichung bestätigt diese theoretisch ein- 
leuchtende Annahme einer starken arteriellen Blutzufuhr, während 
beim weißen Erweichungsherde diese Zuführung arteriellen Blutes 
im wesentlichen unterbleibt. Ein Beleg für solche Ansicht bietet. 
folgender Fall von Thrombose in den Arterien mit Erweichung und 
verschiedenartigen Blutungen am Rande dieses weißen Nekrose- 
gebietes. 


Arterionekrose bei Erweichung nach Thrombose. 


Nr. 1342/24: August Z., 60 Jahre alt. Gest. am 23. XII. 23 im 
Hospital zum Heiligen Geist. 

Klinische Diagnose: Apoplexie. 8 Tage vor Einlieferung kaltes 
Gefühl und Kribbeln im linken Arm und linken Bein. 3 Tage später 
plötzlich Lähmung im linken Bein, später auch im linken Arm, allmäh- 
liche Zunahme der Stärke der Lähmung, nach einigen Tagen Sprach- 
störung. Ab 20. XII. Pneumonie. 

Anatomische Diagnose: gut wallnußgroßer Erweichungsherd in der 
rechten Großhirnhemisphäre und zwar dicht unter der Rinde des 


` 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 23 


Schläfenlappens, Hypertrophie des linken Ventrikels, Arteriosklerose der 
Aorta, der Kranzarterien und der Basalarterien des Gehirns. Mikro- 
skopisch: Nierenarteriolen unverändert. 

Hirn: Mikroskopisch im Erweichungsherd ausgedehnte Nekrose mit 
fast völlig geschwundenen Gliazellen, keine erkennbaren Ganglienzellen 
mehr vorhanden. Reichlich Fettkörnchenzellen an ihrem Rande. Das 
Innere des nekrotischen Bezirkes zeigt keine Gefäßfüllung. Auch nicht 
in den zum Teile noch gut erkennbare Zellkerne in ihrer Wand zeigenden 
Venen. Eine große mitten in dieses Gebiet führende Arterie der Rinde 
und ihre benachbarten großen Verzweigungen sind völlig verschlossen 
durch einen Fibrin und sehr reichlich gelapptkernige Leukocyten ent- 
haltenen Thrombus. Am Rande des Erweichungsherdes finden sich in 
gleicher Höhe wie die Fettkörnchenzellen in nicht sehr breiter Zone 
ganz stark erweiterte Venen, Kapillaren und vereinzelt kleine Arterien. 
In großer Entfernung vom Erweichungsgebiete finden sich wieder völlig 
normal breite Gefäße. In dieser reaktiv hyperämischen Zone sind an 
der innersten zur Nekrose hin gelegenen Teilen vereinzelt kleine Blutungs- 
berde vorhanden. Von diesen Blutungen sind die interessantesten neben 
mehreren um kleine Venen etwas größere um zwei Arteriolen, die nur 
noch in ihren abgestorbenen Resten einen jetzt blutleeren Schlauch dar- 
stellen mit engem Lumen und ganz stark gequollener, glasiger, kernloser 
Wand. Solche Arterienveränderungen finden sich nach einigem Suchen 
in den nekrotischen Partien ebenfalls, mehrere kleine Arterien zeigen die 
gleiche Medianekrose bei gut erhaltenen Intimazellen mit minimaler 
Füllung durch Erythrocyten und Leukocyten im Lumen, an anderen 
Arterien waren Kerntrümmer in der etwas gequollenen Media, zum Teil 
auch völlige Auflockerung der Media vorhanden. 


Bei diesem Fall einer nach dem klinischen und anatomischen 
Bilde langsam fortschreitenden Erweichung bei Thrombose fanden 
sich am Rande neben reaktiver Hyperämie und neben kleinen 
Blutungen um Venen auch solche um Arteriolen mit stark ge- 
schädigter Wand, die gleich hochradigen Wandveränderungen be- 
stehen auch im Innern der Erweichung. Sie sind Effekt der 
Ischämie, es kommt im Zentrum der weißen Erweichung nicht zur 
“Blutung, weil der starke arterielle Nachstrom fehlt, der in der 
Hirnrinde bei den kleinen Anastomosen mit den Nachbargefäßen 
streckenweise möglich ist. 


Verlangt nach den vorliegenden pathologisch - anatomischen 
Bildern die nahe Verwandtschaft zwischen weißer und roter Er- 
weichung auch einen verwandten Entstehungsmechanismus, so kann 
dieser doch in einem wesentlichen Punkte nicht der gleiche sein. 
Die schweren Gefäßschädigungen der weißen Erweichung gingen 
stets einher mit leeren oder faßt leeren Blutgefäßen, besonders 
arteriellen, während wir bei der roten Erweichung immer wieder 
starke Füllung, oft auch Erweiterung der Mehrzahl der geschädigten 


4 


24 WESTPHAL u. BÄR 


Arterien im befallenen Bezirk sahen. Eine über Venen und 
Kapillaren nach arteriellem Verschluß eingetretene rückläufige 
Füllung der Arterien von so starkem Maße erscheint als Ursache 
der großen Blutaustritte unwahrscheinlich, sie müßte dann eigent- 
lich auch bei fast allen weißen Erweichungen eintreten. Außer 
in der Hirnrinde, wo eine stärkere kollaterale Ausbildung vorliegt, 
hindert auch sonst im Hirn das Vorhandensein von Endarterien 
in strengerem Sinne der Überfüllung aus dem kollateralen Kreis- 
lauf und die Entstehung größerer Blutungen. Es bleibt daher als 
einzige Möglichkeit, in ein und demselben arteriellen Gefäß oder 
auch mehreren die Ursache beider, zuerst die Anämisierung, die 
eine genügend lange Dauer haben muß, um zu einer genügenden 
Schädigung von Gehirn- und Gefäßwand zu führen, und dann der 
starken reaktiven Hyperämisierung und damit der Durchblutung 
des vorher geschädigten Bezirkes zu suchen. Als einfachste Lösung 
dieser Frage ergibt sich, daß hochgradige Störungen in der Be- 
wegungsfunktion der Arterien, die einen Angiospasmus derselben 
von genügend langer Dauer und dann wieder spätere Lösung 
desselben gestatten würden, solche zeitweilige Schädigung des 
Hirngewebes und seiner Gefäße mit nachfolgender Durchblutung 
bedingten. 

Solche kinetischen Störungen an den Arterien sind 
bei der großen Krankheitsgruppe, die mit wenigen Ausnahmen als 
Grundlage der nicht durch Embolie oder Syphilis entstandenen 
Apoplexie vorhanden ist, dem arteriellen Hochdruck, sehr häufig. 
Im klinischen Teile soll näher darauf eingegangen werden. Hier 
genügt die Feststellung der Tatsache, daß auch in den bisher an- 
geführten 16 Fällen die Herzhypertrophie als Beweis eines voraus- 
gegangenen Dauerhochdruckes da war. Dabei war nur einmal 
eine schwere sekundäre Schrumpfniere vorhanden, 5mal eine schon . 
makroskopisch deutlich auffallende hochgradige genuine Schrumpf- 
niere mit ausgeprägter Arteriolosklerose, 8mal waren mikroskopisch 
hyaline Glomeruli, kleine Rundzelleninfiltrate in der Rinde und 
eine Arteriolosklerose nicht so starken Grades in den Nieren vor- 
handen, 2mal tehlte diese Arteriolosklerose und andere Verände- 
rungen, in dem für unsere Fragen nicht so bedeutungsvollen letzten 
Fall und in dem wichtigeren I, 5. Daß eine hochgradige Insufficienz 
der Nieren entsprechend den Anschauungen Rosenblath’s als 
Ursache seines hypothetischen plötzlichen Fermentangriffes auf das 
Hirn hier oft anzunehmen gewesen wäre, erscheint daher nicht 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 25 


wahrscheinlich. Auch die klinische Erfahrung spricht nicht in 
solchem Sinne. 

Im Gehirn war die Arteriolosklerose stets in viel geringerem 
Grade auch bei den Kontrollschnitten aus den nicht geschädigten 
Partien entwickelt wie in der Niere. Meist war sie nur recht 
mäßigen Grades, neben sehr vielen unveränderten kleinsten Arterien 
fand sich nur eine geringe Zahl von solchen mit deutlicher Hyalini- 
sierung zwischen Media und Intima, Intimawucherung und Ver- 
fettung. Nur dreimal war sie hochgradig entwickelt, einmal fehlte 
sie ganz. Veränderungen an den größeren Arterien der Basis 
wurden nie vermißt, doch bestanden sie oft nur in wenigen Intima- 
flecken. In anderen Fällen bestanden auch Kalkeinlagerungen der 
Media, gleichzeitig waren stets entsprechende Bilder an den Kranz- 
gefäßen des Herzens, an der Aorta usf. vorhanden. Doch wichtig 
ist die Tatsache, daß die großen Mengen der mittleren und kleineren 
Arterien des Gehirnes, wie es sich vor allem auch bei den Aus- 
schüttelungspräparaten desselben ergab, frei waren von erheblichen 
Veränderungen bei der Mehrzahl der Apoplexien, hier und da 
lipoiddurchsetzte Verdickungen der Intima waren sehr oft der 
einzige Befund. 

Der Befund bei dem größeren Teile unserer Apoplexien einer 
nur mäßigen Arteriolosklerose im Gehirn bei ebenso mäßiger Ent- 
wicklung von arteriosklerotischen Prozessen an .den mittleren 
Arterien — an den großen Basisgefäßen. war dieser Prozeß des 
öfteren stärker —, ist bedeutsam wegen der Frage: Wie sind die 
Zusammenhänge zwischen den im blutigen Erweichungsherde ge- 
fundenen angionekrotischen Prozessen und der Arteriosklerose. Mit 
Pick und Ernst nimmt auch H. Lindemann wieder die 
Arteriosklerose als ursächliche Gefäßkrankheit bei der Apoplexie 
an. U. E. ist die Beziehung nur indirekter Art. Eine direkte 
Folge der Arteriosklerose sind sie nicht. Für die Anschauung 
spricht die schon von Rosenblath betonte Tatsache, daß in 
anderen Organen solche Veränderungen nicht gefunden wurden. 
Allerdings konnte Liebermeister in einer Diskussionsbemerkung 
zu einem Vortrag über diese Befunde auf dem Internistenkongreß 
1925 darauf hinweisen, daß er in einem Falle von Apoplexie 
ähnliche Angionekrosen mit umgebender Blutung auch in der 
Leber und hier gesehen habe. Aber solche Beobachtungen sind 
wohl Ausnahmefälle. Wichtiger erscheint uns die Tatsache, daß 
es sich bei den ausgebildeten Apoplexien stets um eine allgemeine 
Angionekrose auch der Venen und Kapillaren handelt, und daß die 


26 WESTPHAL u. BAR 


Angionekrose im durchbluteten Gebiete mit solcher Häufung auf- 
tritt, daß sie weit über den Rahmen einer einfachen Fortentwick- 
lung eines arteriosklerotischen Prozesses hinausgeht. Die Fälle 
von jugendlichen nicht auf Syphilis, Embolie, beruhenden Apoplexien 
ohne Arteriosklerose sprechen auch dagegen. 

Die Befunde von nekrotischen Arteriolen und Arterien in den 
Gehirnen der Apoplektiker außer in engster Nachbarschaft des 
Blutungsherdes oder in diesem selbst sind in unserem Materiale 
selten gewesen, trotzdem stets aus zwei bis drei gesunden Partien 
Kontrollschnitte durchgesehen wurden. Einmal fand sich ein solches 
Bild ausgeprägt in weiterer Nachbarschaft der Erweichung, aber 
völlig im Gesunden (Fall II, 2) an einer blutleeren Arterie. Dann 
gehört u. E. hierher, auch der auffallende Befund, wo an einer 
großen Arterie etwa ein Drittel der Wand von Rundzellen infiltriert 
war. Dieser wird als Resorptionsvorgang eines nekrotischen Be- 
zirks der Arterienwand angesehen. Daß oft nur ein Teil der 
Arterienwand nekrotisch werden kann und dadurch gerade Ent- 
stehungsmöglichkeiten für die Charcot’schen Miliaraneurysmen 
abgegeben werden, wurde schon früher betont. Die Befunde solcher 
angionekrotischen Partien an anderer Stelle von apoplektischen 
Gehirnen ist nicht so häufig, daß er nicht auf ähnliche Vorgänge, 
wie diejenigen, die zur Apoplexie führen, zurückgeführt werden 
könnte. Im klinischen Teil wird auf die Häufigkeit prokapoplek- 
tischer Zustände beim Hypertoniker hingewiesen werden. Solche 
pathologischen Vorgänge werden auch manchmal an Gehirnen, die 
keine Apoplexie aufweisen, Arterienwandschädigungen setzen können, 
Löwenfeld fand diese auch bei einigen alten Leuten. 

Bei den kleinsten Gefäßen im Gehirn ist allerdings manchmal 
das Bild von Arteriolosklerose mit sehr weitgehender hyaliner 
Degeneration in die Media hinein von angionekrotischen Prozessen 
nicht immer mit völliger Sicherheit zu trennen. Doch waren solche 
Befunde im Gesunden ganz selten, meist waren, wenn auch ver- 
schmälert, Mediagebiete mit gut erhaltener Kernfärbupg deutlich 
zu erkennen. Außerdem spricht ja gerade die Häufung des Er- 
griffenseins der ganzen Arterienwand im nekrotischen Bezirk für 
das Andersartige des Prozesses. 

Wenn demnach die direkten Beziehungen zwischen der Arterio- 
sklerose und den angionekrotischen Bildern abgelehnt werden, so 
werden doch auch hier starke indirekte Beziehungen betont. Später 
soll näher auf sie eingegangen werden. Schließlich wäre es auch 
theoretisch nicht zu bestreiten, daß es bei fleckförmiger Lipoid- 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 27 


und Kalkeinlagerung in die Intima bei plötzlichen starken Deh- 
nungen in der Gefäßwand auch einmal im Nachbargebiet zu einem 
Einriß der Elastika vielleicht auch Media und so zu einer Rhexis- 
blutung kommen könnte Wie gefährlich es wäre, dieses nach 
unserem Material kaum eine Rolle spielende Moment zu über- 
schätzen, zeigt die vor kurzem aus dem gleichen Institut erschienene 
Untersuchung von Lampert, die darauf hinweist, wie hohe Drucke 
mittels künstlicher Flüssigkeitsauffüllung im Gefäßsystem notwendig 
sind, um die Hirngefäße zur Zerreißung zu bringen. Bei einem 
Druck von 1—2 Atmosphären, das entspricht einem Blutdruck von 
1520 mm Hg, gelang es an 10 Hypertonikerleichen 'nur zweimal 
eine deutliche Zerstörung von Gehirnsubstanz zu erzielen, auch 
sonst wurden unter 30 Fällen nur noch zweimal bei Lues ähnliche 
Gefäßzerreißungen herbeigeführt. Solche starken Druckbelastungen 
kommen aber im menschlichen Arteriensystem nicht vor. 


Kurz sei noch hingewiesen auf die perivaskulären Infiltrate 
am Rande der blutigen Erweichung. In der alten Literatur 
(Charcot und Bouchard) spielen sie als Ursache der Bereit- 
schaft der Gefäße zur Blutung und zur Bildung der miliaren 
Aneurysmen eine gewisse Rolle. Sie sind u. E. teils Effekt einer 
Resorption von Zerfallsprodukten aus dem Erweichungsherde, die 
auf dem Lymphwege abtransportiert in der Gefäßscheide zur reak- 
tiven Zellvermehrung führen, teils allerdings seltener fand sich das 
Zellinfiltrat vereinzelt um nekrotische Arterienstücke, wohl hier 
ein Effekt der von der hochgradig geschädigten Gefäßmedia aus- 
gehenden Alteration. 

Wird die Ursache der Apoplexie in einer pathologischen Gefäß- 
funktion gesehen, so erscheint es zum Schluß dieser Abhandlung 
wichtig, bevor auf das für solche Auffassung sprechende klinische 
Material hingewiesen wird, noch auf eine bedeutsame Tatsache 
einzugehen, nämlich auf die in der pathologischen Anatomie des 
öfteren vorkommende, einer klinisch festgestellten Apo- 
plexie ohne entsprechenden anatomischen Befund. 
Auch hier ließ sich während der Beobachtungszeit 4 mal diese Tat- 
sache feststellen. Die beiden ersten Fälle konnten leider aus 
äußeren Gründen nicht mikroskopisch untersucht werden. 

Fall I: Frau Luise W., 50 Jahre alt. Genuiner Alterhypertonus 
180 : 85. Entsprechende Herzvergrößerung nach links. Geringe senile 
Demenz, sonst Nervensystem ohne pathologischen Befund. Am 19. V. 24 


2,30 Uhr nachts ist Patientin zum Urinlassen außer Bett, sie bricht 
dabei ganz plötzlich zusammen. Danach Befund einer rechtsseitigen 


28 WESTPHAL u. Bär 


Hemiplegie, Sehnenreflexe rechts stärker als links, Babinski rechts positiv, 
links negativ. Rechter Mundfacialis deutlich gelähmt, „Tabakblasen“. 
Keine Aphasie, Bewußtsein erhalten. 

Trotz Aderlaß von 500 ccm keine wesentliche Besserung, Blutdruck 
nach dem Aderlaß 175 : 90, abends 10,15 Uhr Exitus, nachdem während 
des Tages noch mehrmals Attacken bis zu einstündiger vorübergehender 
Bewußtlosigkeit eingetreten waren. Der Tod tritt 20 Stunden nach der 
Apoplexie ein. 

Die Sektion zeigte am Gehirn makroskopisch keinen pathologischen 
Befund, seine Arterien zeigten eine mittelstarke Arteriosklerose, auch in 
den anderen Organen war diese vorhanden, hochgradige Atheromatose 
der Aorta. Leichte Schrumpfniere mit geringgradiger Arteriolosklerose, 
bronchopneumonische Herde im rechten Unterlappen. 

Fall II: Ko., Ludwig, 63 Jahre alt, Weißbinder. Patient hat viel 
mit Bleiweiß gearbeitet. Er wird am 22. I. 24 wegen Bronchitis in 
die Klinik eingeliefert. In der Nacht vom 22. bis 23. I. 24 überfallt 
ihn eine rechtsseitige Lähmung mit Beteiligung des Facialis und Hypo- 
glossus. Die Parese des rechten Armes und Beines geht einher mit 
gesteigerten Sehnenreflexen rechts, Babinski, Gordon, Oppenheim ist 
rechts positiv, links negativ. Keine Aphasie, keine Bewußtlosigkeit. Der 
Blutdruck nach dem Anfall ist nur mäßig erhöht 155:90. Es findet 
sich kein Anhaltspunkt für eine hochgradige Schrumpfniere im Urin- 
sediment, dem normalen Rest-N — 0,036 °/,, dem Harnsäuregehalt des 
Blutes von 2,1 mg°/, und schließlich dem Konzentrationsvermögen der 
Nieren bis 1025. In den nächsten Tagen geringe Besserung des Zu- 
standes, die motorische Aphasie schwindet, der Blutdruck steigt auf 185: 80. 

Am 26. I. morgens beträgt der maximale Blutdruck 200, es soll 
ein Aderlaß vorgenommen werden, um l Uhr vormittags setzt plötzlich 
eine zweite Apoplexie ein mit völliger Bewußtlosigkeit, großer vertiefter 
Atmung. Diese Bewußtlosigkeit hält bis nachmittags an, nach ihrem 
Schwinden besteht völlige Sprachläbmung, dieses Bild bleibt bis zu dem 
am 29. I. nach Eintritt einer Pneumonie erfolgenden Tode. 

Der Obduktionsbefund zeigt außer einer doppelseitigen Broncho- 
pneumonie eine mäßige Hypertrophie besonders des linken Herzens, 
Atheromatose der Aorta, geringe Arteriosklerose an Kranzarterien des 
Herzens im und Hirn. Am Gehirn selbst war nichts Pathologisches fest- 
stellbar, auch keine Erweichung. Die Nieren zeigten mikroskopisch ge- 
ringe Arteriolosklerose und vereinzelt fibröse Glomeruli. 


Nach Ttägigem Bestehen einer ausgesprochenen rechtsseitigen 
Apoplexie fehlte bei K. — bei Frau W. nach 20stündigem Be- 
stehen einer solchen — bei der Hirnsektion völlig ein makro- 
skopischer pathologischer Befund. Für rein "toxische Einwirkung 
auf die Hirnsubstanz, etwa im Sinne einer echten Urämie war bei 
beiden Patienten kein Anhalt gegeben. Die Erklärung solcher 
Befunde, die sich ebenso wie die ausgebildeten Apoplexien auch 
hier auf der Basis der Hypertonie einstellten — später können 
noch zwei gleichliexende mikroskopisch genau untersuchte mit- 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 29 


geteilt werden —, muß ebenfalls in der Richtung eines plötzlich 
eintretenden, umschriebenen Ausfalls von entsprechenden Hirn- 
partien gesucht werden, die Schädigung geht aber nicht so weit, 
daß es zu einer makroskopisch-erkennbaren Erweichung oder Durch- 
blutung kommt. 


Die Schilderung Löwenfeld’s und Rosenblath’s der ana- 
tomischen Befunde bei der Apoplexie wird also weitgehend be- 
stätigt. Es findet sich im blutigen Erweichungsherde 
und seiner Umgebung eine wechselnde, meist sehr 
weitgehende, bis zur völligen Nekrose fortschreitende 
Schädigung aller Gefäße, der Arterien, Arteriolen, 
Kapillaren und Venen Diese allgemeine Angio- 
nekrose und die damit oft verbundene Arterionekrose 
hat keine direkten Beziehungen zur Arteriosklerose 
der Gehirngefäße Aus sämtlichen Gefäßen erfolgt 
die Blutung. Die sog. miliaren Aneurysmen Charcot’s 
und Bouchard’s sind dabei nur eine Form der Durch- 
blutung der geschädigten Gefäßwand in eng um- 
schriebenem Bezirk in die Gefäßscheide Manchmal 
finden sich auch ausgedehnte Blutungen ohne deut- 
lich erkennbare Schädigung der Gefäße. Viele apo- 
plektische Herde zeigen am Rande die deutliche Ent- 
stehung aus zahlreichen kleinen Blutungsherden. 
Die Kombination von weißer und roter Erweichung 
in einem Herd im Gehirn oder von mehreren ver- 
schiedenartigen im gleichen Gehirn weist auf eine 
gemeinsame Ursache für beide Auch unter Hinweis 
auf das Vorkommen von Apoplexien ohne entsprechen- 
den anatomischen Befund wird die Auffassung von 
einer primärfementativenSchädigung umschriebener 
Hirnpartien abgelehnt. Plötzlich einsetzende Anä- 
misierung umschriebener Gehirnpartien durch angio- 
spastische and arteriosklerotische Funktionsstö- 
rungen an den Gehirnarterien wird eher als das Pri- 
märe angesehen. Eine sekundäre Wiedereröffnung 
des arteriellen Gefäßes führt dann erst zur Durch- 
blutung. Daher soll in dem klinischen Bilde der Gefäßfunktion 
bei der Apoplexie und bei den zur Apoplexie Disponierten im 
folgenden eingehende Untersuchungen gewidmet werden. 


Herrn Korntner, dem Zeichner des Pathologischen Instituts, 


30 WestpaaL.u. Bär, Über die Entstehung des Schlaganfalles. 


wird auch an dieser Stelle bestens für die geschickte Ausführung 
der Abbildungen gedankt. 


Literatur. 


1. Charcot et Bouchard, Nouvelles recherches sur la pathologie de 
l’hemorrhagie cérébrale. Arch. de physiol. normale et pathol. Paris 1868, T.1. —- 
2. Dietl, Anatomische Klinik der Hirnkrankheiten, Wien 1846, S. 239, zit. nach 
Rosenblath. — 3. Dietrich, Die Entstehung der Ringblutungen des Gehirns. 
Zeitschr. f. Neur. u. Psychol. Bd. 68, 1921, S. 851. — 4. Eichler, Zur Patho- 

enese der Gehirnhämorrhagie. Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 22, 1878 — 

. Eppinger, Pathogenese der Aneurysmen. Arch. f. klin. Chir. Bd. 35, Suppl., 
1887. — 6. Hasse, Krankheiten des Nervenapparates. Virchow’s spez. Pathol. 
u. Therapie Bd. 4, Abt. 1, 1855. — 7. Kölliker, Über blutkörperchenhaltige 
Zellen. Zeitschr. f. wiss. Zool. Bd. 1, 1849. — 8. Lampert, Bei welchem Druck 
kommt es zu einer Ruptur der Hirngefäße? Frankfurt. Zeitschr. f. Pathol. 1925. 
— 9. Löwenfeld, Studien über Atiologie und Pathogenese der spontanen Hirn- 
blutung. Wiesbaden 1886. — 9a. H. Lindemann, Gehirngefäße in apoplek- 
tischen Blutungen. Virchow’s Arch. Bd. 253, H. 12, S. 27. — 10. Monakow, 
Gehirnpathologie. Nothnagels Handb. der spez. Pathol. u. Therapie Bd. 9, Wien 
1905. — 11.Morganni, De Causis et sedibus morborum, zit. nach Rosenblath. 
— 12. Paulicki, Mehrfache kleine Aneurysmata an den Basalarterien des Ge- 
hirns und der Gehirnsubstanz. Dtsch. Klinik Bd. 19, 1867. — 13. Pestalozzi, 
Uber Aneurysmata spuria der kleinen Grehirnarterien und deren Zusammenhang 
mit der Apoplexie. Dissert Würzburg 1849. — 14. Pick, Über die sog. miliaren 
Aneurysmen der Hirngefüße. Berlin. klin. Wochenschr. 1910. — 15. Rind- 
fleisch, Lehrb. d. pathol. Gewebelehre. 4. Aufl., 1858. — 16. Rokitanski, 
Lehrb. d. pathol. Anatomie. 3. Aufl., Bd. 2, S. 443, Wien 1855. — 17. Rosen- 
‘blath, Uber die Entstehung der Hirnblutung bei dem Schlaganfall. Dtsch. Zeit- 
schr. f. Nervenheilk. Bd. 61, H. 1—6, S. 10, 1918. — 18. M. B. Schmidt, Über 
Gehirnpurpura und hämorrhagische Encephalitis. Ziegler's Beitr., Suppl. 7 (Fest- 
schr. für Arnold), 1907. — 19. Stein, Beitrag zur Ätiologie der Gehirnblutungen. 
Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 7, 1895. — 20. Virchow, Uber die Er- 
weiterung kleiner Gefäße. Virchow’s Arch. Bd. 3, 1851. — Ders., Uber Naevi 
vasculosi des Gehirns. Virchow’s Arch. Bd. 30, 1864. — 21. Weiß, Zur Patbo- 
genese der (sehirnhämorrhagie. Dissert. Erlangen 1869. zit. nach Rosenblath. 


31 


Aus der Medizinischen Universitäts-Klinik Frankfurt a. M. 
(Direktor: Prof. G. v. Bergmann.) 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 


II. Klinische Untersuchungen zum Problem der Entstehung 
des Schlaganfalles. 
Von 


Karl Westphal, 


Privatdozent für innere Medizin, Oberarzt der Mediz. Univ.-Klinik Frankfurt a. M. 


(Mit 1 Kurve u. 4 Abbildungen.) 


Ein einfaches Platzen arteriosklerotisch veränderter Arterien 
oder miliarer Aneurysmen an diesen genügt nicht als Erklärung 
für die Entstehung der apoplektischen Blutung. Das zeigen ein- 
wandfrei in Übereinstimmung mit den Untersuchungen von Löwen- 
feld, Rosenblath, H. Lindemann, die in der vorausge- 
gangenen Arbeit mit R. Bär niedergelegten Befunde. Es muß 
sich eine Lösung finden lassen, die allen Erscheinungsformen, in 
denen das pathologisch-anatomische Bild des Schlaganfalls auftritt, 
gerecht wird, und die sich außerdem mit allen klinischen Erschei- 
nungen, die vorausgehend und gleichzeitig mit der schweren anato- 
mischen Schädigung eintreten, gut in Übereinstimmung bringen 
läßt. Sehen wir auch hier wieder ab von den selteneren und leichter 
zu verstehenden gleichartigen Prozessen durch Embolie und syphili- 
tische Erkrankungen, sowie nach Thrombosen und schweren Gefäß- 
schädigungen durch Infektionskrankheiten und Encephalitis, so ist 
für die hier interessierende große Mehrzahl dieser Hirnerkrankungen 
die alle Erscheinungsformen verständlich machende gemeinsame 
Beziehung m. E. zu sehen in der Grundkrankheit des Schlaganfalls, 
dem arteriellen Hochdruck. Wenn auch nicht die einfache Gefäß- 
zerreißung infolge zu hohen Druckes in Betracht kommen kann, so 
sind es doch die eng mit dieser Grundkrankheit verbundenen, an 


32 WESTPHAL 


den verschiedensten Organen oft zu beobachtenden in isoliertem 
Gefäßgebiet sich einstellenden starken arteriellen Gefäßkontraktionen 
mit ihren sekundären Folgeerscheinungen, die uns hier m. E. zum 
Verständnis der komplizierten pathologisch-physiologischen Vorgänge 
gelangen lassen. Am Gehirn sind nur so erklärbare Erscheinungen 
besonders häufig bei den verschiedenartigen Hypertonien. 


Die Ansicht, daß die Entstehung der Apoplexie im wesentlichen 
auf vasomotorische Ursachen zurückzuführen sei, wurde zum erstenmal 
ausgesprochen von dem Verfasser auf dem Südwestdeutschen Pathologen- 
tag 1924 unter Hinweis auf klinische Beobachtungen und auf das mit 
Bär zusammen untersuchte pathologisch - anatomische Material. Auch 
Dietrich erkannte dann im weiteren Verlauf der Diskussion diese Er- 
klärung als einleuchtend an und in einer später erfolgten Publikation 
H. Lindemann’s über die Hirngefäße von 4 Apoplexiefällen ließ er 
dann ebenfalls auf solche Möglichkeiten kurz hinweisen. 


Die häufige Verbindung von Hirnblutung mit dem 
arteriellen Hochdruck und seinem anatomischen Ausdruck, 
der besonders linksseitig ausgeprägten Herzhypertrophie, ist all- 
gemein bekannt. 


Herzhypertrophie an Leichenmaterial findet Löwenfeld bei 60 Apo- 
plektikern 27 mal, Kirkes bei 22 Fällen 17 mal. A. Lippmann sah 
bei 84 Apoplektikern 79mal einen Blutdruck über 140 mm Hg., bei 
der Sektion in 84 Fällen 56 mal Hypertrophie des linken Ventrikels, 
57 mal Nephrosklerose. Bär sah bei einer auf Jaffé’s Veranlassung 
erfolgten Zusammenstellung am pathologisch-anatomischen Material des 
Frankfurter Instituts bei 112 Apoplexien Amal akute oder chronische 
Glomerulonephritis, 2 mal Aneurysmen der Arteria carotis interna, 3 mal 
bestand ein Zusammenhang mit einem Trauma, in 95 Fällen war von 
den übrigen 101 eine genuine Hypertonie teils klinisch, teils anatomisch 
durch Herzhypertrophie sichergestellt, in weiteren 4 sehr wahrscheinlich. 
An 8 Fällen von Herzhypertrophie fehlten ausgesprochene Veränderungen 
der Nierengefäße im Sinne der Arteriolosklerose. 


Die entsprechenden klinischen Beobachtungen von erhöhtem Blut- 
druck wurden ebenfalls oft betont: Kisch weist dabei auf die häufige 
Verknüpfung mit Fettleibigkeit hin, Strasser und E. Herrmann 
meinen, daß besonders die Hypertonie mit sog. arteriosklerotischen Be- 
schwerden und bei sekundärer Schrumpfniere zur Blutung disponiert 
wäre. Romberg findet bei 46 Sektionen Hirnblutung auf sklerotischer 
Grundlage nur bei Menschen, die einen Blutdruck über 150 mm Hg 
gehabt hatten, auch die Hälfte der sklerotischen Erweichung hatte ein 
so erhöhtes Niveau. Ein normaler Blutdruck spricht also für Encephalon- 
malacie, ein erhöhter aber nicht dagegen. Friedrich Kauffmann 
und nach ihm Hanse bauen ebenfalls bei der interessanten Feststellung 
der jahreszeitigen Schwankung der Apoplexie auf der Hypertonie als 
Grundkrankheit auf. 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 33 


Unter dem hier vorliegenden Material von 60 Apoplexiefällen 
stellt sich auch hier der arterielle Hochdruck als stets begleitenden 
Symptom mit dar. Durch die in der v. Bergmann’'schen Klinik 
nach dem Vorgang von Fahrenkamp und F. Kauffmann 
durchgeführten Dauerblutdruckmessungen mit 1—2 täglichen Be- 
stimmungen war es dabei möglich, bei längerem Aufenthalt der 
Kranken, mehr wie einige wenige Zahlen über dessen Höhe zu 
gewinnen. Diese Blutdruckkurven zeigen naturgemäß wieder die 
bekannte Tatsache der engen Verknüpfung von Hypertonus und 
Hirnschlag. 


Ein Blutdruck schwankend zwischen 140—160—180—210 mm Hg 
fand sich bei 23 von 60 Apoplexikern, 22 hatten einen Blutdruck der 
konstant noch höher, dabei oft auch noch mit stärkeren Ausschlägen nach 
oben verlief zwischen 180—210-—230—260, also bei weitem in der 
Überzahl, 45 mal unter 60, d. h. in 75 ° ist ein Dauerhochdruck kon- 
statierbar. Bei dem Rest kam besonders bei längerer Bettruhe ein Ab- 
steigen des Maximaldrucks völlig zur Norm 120--130 mm Hg vor, da- 
neben finden sich aber stets höhere Ausschläge konstatiert besonders im 
Anfang der Beobachtung oder bei geringen Aufregungen, ab und zu 
auch ohne erkennbaren Grund bei völliger körperlicher und seelischer 
Ruhe auf 160—170—180, manchmal auch noch höher ansteigend. Diese 
Patienten mit solchen bei Dauerblutdruckmessung der Norm angenäherten 
Blutdruckwerten könnten es überhaupt in Frage stellen, ob die Beziehungen 
zwischen Hirnblutung und Blutdrucksteigerung im allgemeinen überhaupt 
so eng sind, wie es hier angenommen wird. 

Rosenblath, der so gründliche Untersucher des anatomischen 
Bildes, lehnt dies ja auch ab zugunsten der Annahme einer plötzlichen 
auf das Gehirn einwirkenden fermentativen Kraft. Er meint: „Nur das 
eine darf man sagen, daß weder die Erhöhung des Blutdruckes noch die 
so häufig vorhandene Arteriosklerose die Disposition erklärt. Tritt doch 
der Schlaganfall oft genug, wie schon erwähnt, bei geringer Druck- 
steigerung ein, und überrascht er doch nicht selten den Patienten im 
Zustande völliger Ruhe, mitten im Schlafe, wo auch von einer vorüber- 
gehenden Blutdrucksteigerung gar nicht die Rede sein kann.“ 

Die durch Karl Müller, Katsch und Pansdorf festgestellte 
Tatsache, daß die physiologische nächtliche Blutdrucksenkung (Brusch 
und Tayerweather u. a.) auch bei der essentiellen Hypertonie sehr 
starke Grade annimmt, scheint auf den ersten Blick für diese Ansicht 
zu sprechen, daß bei solchen mitten im Schlafe vorkommenden Schlag- 
anfällen der Blutdruckanstieg keine Rolle spielen kann. Nun sind solche 
Schlaganfälle mitten in der Nacht nicht zu häufig. Wir konnten 5 unter 
60 Patienten zählen, häufiger sind sie am Morgen beim Aufstehen, wenn 
der noch tiefe nächtliche Blutdruck plötzlich wieder auf seine Tageshöhe 
anspringt (Römhild). Das findet auch Hanse 61 mal unter 135 Apo- 
plexie-Krankengeschichten. Aber auch die Nacht ist nicht frei von 
Blutdruckkrisen. Katsch und Panstorf zeigen einen solchen Fall mit 
einer Aorteninsufficienz, der plötzlich im Schlaf einen hochgradigen An- 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 3 


34 WESTNHAL 


stieg von 120 mm auf mehr als 220 mm Hg aufweist. Panstorf teilte 
dem Verf. mündlich mit, daß besonders bei Träumen 4—5 mal starke 
Blutdruckanstiege der Hypertoniker von ihm gesehen wurden, die dann 
mitten im Schlaf um 40—60 mm Hg den Blutdruck erhöhten. 


Wichtiger erscheinen in dieser Beziehung noch direkte Be- 
obachtungen beim apoplektischem Insult. Die bei den Dauerblut- 
druckmessungen feststellbaren starken Schwankungen des 
Blutdrucks nach oben lassen sich auch oft sofort nach dem 
Schlaganfall, aber auch, was noch wichtiger erscheint, sofort mit 
dem Eintreten seiner ersten Prodromalerscheinungen an geeigneten 
Patienten nachweisen. 


Eine 74jährige Frau zeigt sofort eingeliefert nach plötzlichem Zu- 
sammenbruch infolge zweier bei der Sektion nachgewiesener Erweichungs- 
herde einen Blutdruck von 180 mm Hg, die späteren Werte schwanken 
zwischen 120 — 150, einmal erfolgt noch ein Anstieg auf 170. Stärker 
ist der Ausschlag bei einer mit rechtsseitiger Apoplexie und motorischer 
Aphasie eingelieferten 64 jährigen Patientin nach oben auf 250 mm Hg, 
am nächsten Morgen werden bereits 190 gemessen, später schwankt die 
Blutdruckkurve zwischen 140—180 bei l4tägiger Beobachtung. Ebenso 
weist ein 62jähriger Patient mit ganz frischer Apoplexie einen Hochdruck 
von 225:110 gegenüber später gewonnenen Werten von 165—180 auf. 
Eine 59 jäbrige Patientin mit rechtsseitiger Apoplexie zeigt sofort nach 
Eintritt derselben einen Wert von 260, später 190—210 mm Hg. 

Könnte man bei diesen Kranken, die sofort bei der Aufnahme 
gemessen so erhöhte Blutdruckwerte aufweisen, manchmal auch 
geneigt sein, diesen Anstieg nach Art einer allgemeinen Blutdruck- 
krise im Sinne Pal’s auf den Reiz am Vasomotorenzentrum durch 
die Blutung (Kahler) und die Beeinflussung des Organismus durch 
Transport, neue Umgebung usf. zu schieben, so geben uns noch 
einige Beobachtungen, bei denen vor unsern Augen ausgeprägte 
Apoplexieerscheinungen eintreten und mit ihnen gleichzeitig ekla- 
tanter Blutdruckanstieg die Sicherheit einer ganz engen Verbindung 
dieser beiden Erscheinungen. 

Frau Anna Bl., 6ljährige Ehefrau, hat Anfang September 24 
einen Schlaganfall erlitten mit Lähmung der rechten Seite, sehr geringen 
Sprachstörungen, einer Inkontinenz von Stuhlgang und Urin. Bei der 
Untersuchung finden sich neben einem leichten Diabetes die entsprechenden 
neurologischen Zeichen der Lähmung, positiver Babinski und Oppenheim, 
Facialisparese und Hypoglossusparese sind schwach angedeutet rechts, 
sehr geringe motorisch-aphasische Störungen sind eben feststellbar. Bis 
Anfang Dezember tritt eine ganz weitgehende Besserung der Sprache 
und der Facialislähmung ein, ebenso der Parese des rechten Beines. 
Der Blutdruck bewegt sich in der Höhe von 135—165 mm Hg, an der 
Niere finden sich bei genauer Untersuchung keine ausgesprochenen 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 35 


Funktionsschädigungen. In der Nacht vom 8. zum 9. XII. um 2 Uhr 
schellt die Patientin und teilt der Schwester mit, sie könne nicht mehr 
sprechen. Die sofortige Blutdruckmessung ergibt jetzt mitten in der 
Nacht eine Höhe von 220 mm Hg. Am nächsten Morgen findet sich 
eine völlige motorische Aphasie, die Facialisparese rechts ist stark aus- 
geprägt, ebenso ist das rechte Bein wieder völlig gelähmt. Der Blut- 
druck ist wieder abgesunken auf 150 mm Hg (vgl. nebenstehende Kurve: 
Am 10. XII. kann die Patientin, die am Vortage nur lallte, wieder etwas 
sich verständigen. Die Besserung der Aphasie und Facialisparese ist 
am 17. XII. wieder sehr weitgehend eingetreten, Ende Dezember sind 
keine wesentlichen Störungen an Sprache und Facialis mehr feststellbar. 
Der Blutdruck bleibt dauernd in mittlerer Höhe. 


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Kurve”1. Blutdruckkurve. Blutdruckkrisen zusammen mit apoplektiformen 
Insulten am 60. und 90. Krankheitstage bei Frau Anna Bl., genuine Hypertension, 
Diabetes, Apoplexie. 


&@ Am 7. I. 25 findet morgens früh um 7 Uhr wieder ein Anfall, 
diesmal mit völliger Bewußtlosigkeit, statt, der Blutdruck ist wieder 
emporgestiegen auf 230/110, wieder besteht danach völlige motorische 
Apbasie und hochgradige Facialisparese rechts. Es wird sofort ein aus- 
giebiger AderlaB gemacht, um 8!/, beträgt der Blutdruck bereits 155/75, 
um 9 Uhr 150/75. Am 8. I. ist die Aphasie wieder weitgehend ge- 
bessert, um am 10. I. wieder völlig geschwunden zu sein, ebenso auch 
die akute Verschlimmerung der Facialisparese und der Augenmuskel- 
lähmung. Solche Anfälle kehren in der Folgezeit nicht wieder, nur mußte 
noch einmal am 22. I. bei hochgradig gerötetem Kopf starkem Schwindel- 
gefühl und einem Blutdruckanstieg auf 195 ein Aderlaß gemacht werden. 
Die Patientin wurde im März entlassen. 


Diese akuten Recidive der Apoplexie, die wir ja auf ähnliche 


Vorgänge zurückführen müssen wie dessen erste Entstehung, waren 
Zr 


36 WESTPHAL 


hier also stets von ausgesprochenen Blutdruckkrisen, Anstiegen bis auf 
230 von einem Durchschnittniveau von 140-—165 begleitet. Noch 
ausgeprägter war die enge Verknüpfung Blutdruckanstieg, Halb- 
seitenlähmung bei der nächsten Kranken. 


Diese 71 jährige Frau, Anna Ein., bietet aus verschiedenen Gründen 
Interessantes. Bis Anfang März 24 hatte sich die Kranke wohl be- 
funden. 3 Wochen lang häufig Kopfschmerz in Schläfe und Stirn rechts 
und links gleichmäßig, dabei leichte Schwindelanfälle. Es wurde ihr für 
kurze Augenblicke schwarz vor den Augen, nach einer !/, Stunde hörten 
die Kopfschmerzen auf, dann wieder völliges Wohlbefinden. 1!/, Wochen 
vor der Einlieferung ins Krankenhaus beim Aufwachen vom Nachmittags- 
schlaf machte die Kranke plötzlich die Beobachtung, daß die rechte 
Kopfseite, die rechte Gesichtshälfte sowie rechter Arm, rechtes Bein und 
rechte Rumpfseite ein taubes Gefühl hatten, daß es in ihnen wie einge- 
schlafen kribbelte, Bewegungen mit dieser Körperseite waren nicht gut 
möglich, sie war steif, die Kranke hat den rechten Arm mit der linken 
Hand zurecht legen müssen, und dann ist es ihr erst allmählich wieder 
möglich gewesen, den rechten Arm und das rechte Bein zu bewegen. 
Beim Herumgehen im Zimmer ist sodann auch die Gefühlsstörung nach 
einigen Minuten wieder verschwunden. Einige Tage später fühlte sich 
die Patientin bei plötzlich während der Arbeit auftretenden starken Kopf- 
schmerzen sehr unwohl, sie legte sich in einem Anfall von Bewußtlosig- 
keit ins Bett, und kommt deswegen ins Krankenhaus. 

Hier findet sich an der mageren Frau eine Blutdruckerhöhung von 
130—150 mm bei normaler Nierenfunktion, negativem Wassermann und 
normalen Liquorbefund bei Lumbalpunktion. Am Augenhintergrund 
außer engen Arterien und weiten Venen kein pathologischer Befund. 
Es kommen hier täglich, besonders auch morgens, manchmal bis zu 
4 Anfällen vor, bei denen die Frau erst leicht benommen ist, dann in 
wenigen Minuten bewußtlos wird, manchmal bleibt noch die Reaktion 
auf Anruf und auch Kneifen erhalten. In anfallfreien Zeiten finden sich 
bei ihr neurologisch völlig normale Verhältnisse auch in der Sensibilität, 
während des Anfalles ist der Babinski links oft sehr ausgeprägt positiv, 
manchmal nur gering, rechts selten angedeutet, meist rechts völlig fehlend. 
Oppenheim deutlich positiv links, Gordon ebenfalls, rechts Gordon manch- 
mal auslösbar, die Bauchdeckenreflexe sind links fehlend, rechts vorhanden. 
Die Sehnenreflexe sind nicht deutlich gestört, größere Schlaffheit der 
linken Extremitäten ist manchmal erkennbar, die Kopfhaltung ist oft 
auffallend verändert, er sinkt nach rechts und einmal zeigt sich deutlich 
an den Augen ausgeprägte Schielstellung nach rechts. Inkontinenz- 
erscheinungen von Stuhl und Urin bestehen nicht. Anfangs dauerten 
die Anfälle 4—5 Minuten, später bis zu !/, Stunde. Sie waren sehr 
wechselnd in ihrer Intensität während dieser halben Stunde. Der Blut- 
druck zeigt in dieser Anfallszeit gemessen stets eine ausgesprochene Er- 
höhung auf 175—185 mm Hg gegen 130— 150 sonst. Die linke Pupille 
reagiert manchmal während des Anfalles nicht auf Lichteinfall, der Ge- 
sichtsausdruck wird während des Anfalles starr. 

Am 10. II. 24 stirbt die Patientin in der Nacht anscheinend an 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 37 


einem ähnlichen Anfall. Der Sektionsbefund, der später noch einer ge- 
nauen Würdigung bedarf, zeigte an dem in toto eingelegten und ge- 
härteten Gehirn auf schmalen Schnittreihen im Thalamusgebiet einen 
kleinen Erweichungsherd, rechts und links ungefähr gleichgroß, 0,5 cm breit 
und 2 cm hoch, nicht länger wie 1,5 cm. Das Gebiet der inneren 
Kapsel und seiner Nachbarschaft war rechts wie links völlig frei, auch 
bei mikroskopischer Untersuchung. Die Nieren waren nur wenig ver- 
ändert, sie zeigten eine mäßige Arteriolosklerose, am linken Herzen be- 
stand eine geringe Hypertrophie. 


Diese ausgeprägten apoplektiformen Attaken traten also jedesmal 
ein zusammen mit einem ausgesprochenen Blutdruckanstieg, die 
Blutdruckkrise ist also auch hier wieder eng mit der plötzlich 
wieder eintretenden Halbseitenlähmung verbunden. Dieser geringe 
anatomische Befund zeigt Hinweise auf die enge Verwandtschaft 
mit den sogenannten „pseudourämischen Insulten* Vollhard'’s, 
auch bei ihnen fanden sich gleiche Blutdruckanstiege bei flüchtiger 
Lähmung, ohne daß Anhaltspunkte für eine anatomische Schädigung 
vorhanden waren, so z.B. bei einer 52 jährigen Frau mit plötzlicher 
Bewußtlosigkeit, Blutdruckanstieg über 200 mm Hg, nach 24 Stunden 
war bei klarem Bewußtsein der Blutdruck wieder niedrig, er 
schwankte später zwischen 115—155 mm Hg. 


Wesentlich ist: die Fälle mit geringer Blutdruck- 
erhöhung, aber auch solche mit ausgesprochener zeigen 
oft verbunden mit dem Eintritt der Apoplexie und 
recidivähnlichen Attaken derselben spontane Blut- 
druckanstiege weit über ihr normales Niveau hinaus. 
Solche Blutdruckkrisen stellen eine ganz besondere Steigerung des 
pathologischen Geschehens beim arteriellen Hochdruck dar, sie 
können aufgepflanzt auf eine noch an der Grenze der Norm 
stehende Blutdruckkurve Ursache einer an und für sich schwerer 
verständlichen besonderen pathologischen Belastung der Hirn- 
gefäße abgeben, erst recht natürlich bei Anstiegen auf etwa 
250 mm Hg bei einem dauernd höher eingestellten Hypertonus. 


Diese im Rahmen vieler Hypertonien vorkommenden, bei manchen 
stärkeren, bei anderen schwächeren Schwankungen, sind nicht nur Aus- 
löser zahlreicher Beschwerden, Pal hat als erster auf die große Be- 
deutung der Blutdruckkrisen aufmerksam gemacht, mein Lehrer v. Berg- 
mann betont die Wichtigkeit auch kleinerer Schwankungen für die Ent- 
stehung vieler Hypertonusbeschwerden am Herzen und anderen Organen, 
sie scheinen mir auch an der Hand dieser Einzelbeobachtungen für die 
Auslösung des zur Apoplexie führenden Vorganges neben der allgemeinen 
Bedeutung des erhöhten Blutdruckes oft eine besonders wichtige Rolle 
zu spielen. 


38 WESTPHAL 


In der Einschätzung der geringen direkten Bedeutung 
der Arteriosklerose besteht dagegen mit Rosenblath Über- 
einstimmung. Der in der vorigen Arbeit betonte geringe anato- 
mische Befund von wenigen Lipoidflecken an der Intima der 
mittleren und kleinen Hirnarterien in vielen Fällen ist dafür zu 
gering, auch die Arteriolosklerose am Hirn ist meist nur mäßigen 
Grades. 

Der pathologische Nierenbefund ist ebenfalls klinisch 
wie anatomisch nicht genügend ausgeprägt, um plötzliche 
fermentartig wirkende Giftwirkungen im Sinne Rosenblath’s 
am Gehirn zu erklären. 


Nach Ausscheidung von 6 anamnestisch und klinisch nicht genügend 
geklärten Fällen bleiben unter den 54 zur Verfügung stehenden Apo- 
plexien 6 mit ausgesprochenen schweren Nierenveränderungen, 3 stellen 
sekundäre Schrumpfnieren nach früherer Glomerulonephritis dar, 3 sind 
sog. maligne primäre Schrumpfnieren, 1 eine schwere Bleischrumpfniere. 
Der Rest, 47, sind primäre Hypertensionen ohne ausgesprochenen patho- 
logischen Befund im Sediment mit allerdings manchmal einer geringen 
Beschränkung der Konzentrationsfähigkeit. 

Der Gutartigkeit dieser dann oft auch anatomisch gefundenen leichten 
arteriosklerotischen Schrumpfnierenform, die beim Schlaganfall die über- 
wiegende Mehrzahl bilden, entspricht einer Reihenbestimmung des Rest- 
stickstoffs bei 20 Apoplexien: Es fanden sich nur 2 mal erhöhte Werte 
auf 56—58 und 56 mg”), bei sog. malignen Schrumpfnieren, die 
übrigen 18 wiesen normale Werte zwischen 20—45 mg°/, auf. Die 
Harnsäurewerte waren bisweilen etwas erhöht, 6,7; 7,5 mg°/, bei sonst 
normalem Nierenbefund, für die Beurteilung der Nieren lassen sich daraus 
ja (E. Kraus) keine Schlüsse ziehen. 


Das Alter der Patienten betrug bei 8 zwischen 40—50, bei 
23 zwischen 50—60, bei 19 zwischen 60—70 und bei 10 zwischen 
70—80 Jahren. Über 50°), waren also vor dem 60. Lebensjahre 
vom Schlaganfall befallen, ihn als reine senile Abnutzungser- 
scheinung zu bezeichnen, ist demnach verkehrt, und eine bessere 
Erkenntnis seiner Genese könnte manchen Menschen mit noch 
guter Lebensfreudigkeit und Arbeitskraft vielleicht vor einem zu 
frühen Eintritt solcher Hirnblutung bewahren. 

Bevor wieder auf eine nähere Würdigung des arteriellen Hoch- 
drucks und seiner Schwankungen für die Entstehung der Apoplexie 
eingegangen werde, sei noch kurz hingewiesen auf einige Momente 
an den Blutgefäßen der Apoplektiker und der dazu Disponierten, 
die gerade dem Verf. die erste Veranlassung zu diesen Unter- 
suchungen abgaben. Betrachtet man den Körper der Schlaganfall- 
kranken, so fällt es oft auf, wie übersät die Haut erscheint von 


Über die Entstehung des Schlaganfallex. 39 


zahlreichen kleinen Hämangionen von kleinstem Grad 
mit dem bloßen Auge erkennbaren Kaliber bis zu gut Linsengröße. 
Fragt man intelligente Kranke dieser Art, so erfährt man oft, daß 
diese Gebilde erst im Laufe der Jahre entstanden sind, manchmal 
sehr schnell und plötzlich, besonders bei Frauen nach dem Klimak- 
terium. Bei stark vasomotorischen Hypertonikern mit ausgeprägtem 
Dermographismus und einem Reflexerytniem am Rande desselben 
war es mehreremal möglich, plötzlich das Auftreten solcher kleiner 
Gefäßerweiterungen allerdings nur kleinsten Kalibers mit unbe- 
waffnetem Auge zu sehen, die Hyperämie hatte zu einer stärkeren 
Auffüllung wohl schon vorher überdehnter Kapillarschlingen geführt. 

Diese Hämangiome sind als „senile Hämagiome“ vorkommend bei 
älteren Leuten in der Literatur bekannt (Unna, Raff u. a). Ein 
früher angenommener Zusammenhang mit dem Auftreten von Carcinom 
wird jetzt abgelehnt (Gebele). Ihr gehäuftes Vorkommen bei Hyper- 
tonus ist bereits auch R. Schmidt aufgefallen. 

Bei einer Zählung an 30 Hypertonikern, darunter 25 Apoplektikern, 
fand sich, daß nur bei 1 kein Hämangiom auffindbar war, 1—5 wiesen 
9 Kranke auf, 6— 10 Hämangiome hatten 7 Kranke, 11—19 Hämangiome 
batten 6 Kranke, 20 fanden sich an 3 Patienten, 26, 27, 29 je an 1 
und schließlich als größte Zahl 38 an einer Kranken. Sie treten nicht 
nur auffallend oft bei den ältesten Hypertonikern auf, sondern auch bei 
solchen zwischen 40 und 60 Jahren. Aber sie stellen keineswegs ein 
auf diese Krankheit isoliertes Vorkommnis dar, im Alter findet sich 
parallel zur gesteigerten Disposition zu Hypertonus auch die Vermehrung 
dieser Hämangiome. Aber auch bei jugendlichen besonders vasomoto- 
rischen Individuen fanden sie sich des öftern, bei manchen tuberkulösen 
und Ulcus ventriculi-Kranken allerdings nur in geringer Menge. Ott- 
fried Müller erwähnt sie auch als Begleitsymptom seiner „vasoneuro- 
tischen Diathese“. 

Ihr gehäuftes Auftreten bei genuiner Hypertension interessierte 
hier auch deshalb, weil daneben oft andere dem klinischen Be- 
obachter geläufige Dinge am Apparat vor allem der kleinen und 
kleinsten Gefäße zu sehen sind, die an einen anderen Steuerungs- 
mechanismus derselben denken lassen. Es sei erinnert an die 
zahlreichen kleinen Teleangiektasien vor allem kleiner Venen im 
Gesicht besonders an der Wangenhaut vieler „roter Hypertoniker“ 
im Sinne Volhard’s, an die bläulich-rote Cutis marmorata be- 
sonders der Oberarmrückseite bei manchen dieser Kranken. Kapillar- 
mikroskopisch findet sich bei etwa der Hälfte der Hypertoniker 
Erweiterung seltener ganzer Kapillarschlingen und des subpapillären 
venösen Plexus in der Haut der Brust und des Oberarms, häufiger 
umschrieben in Gestalt kleiner Kapillarektasien (s. O. Müller 
und seine Schule) an den Umbiegungsstellen der Hautkapillaren, 


40 WESTPHAL 


manchmal am Oberarm von auffallender Menge und Intensität.') 
Dieses Bild steht oft in vollem Gegensatz zu den engen haarnadel- 
förmigen Schleifen der Kapillaren mit jagender Strömung am 
Limbus des Nagelrandes. Von den Augenärzten (Zeller u. a.) 
sind an den kleinen Gefäßen der Bindehaut dieselben varikösen 
Erweiterungen folgend auf umschriebene Verengerung als charakte- 
ristisch für Atherosklerose beschrieben worden. 


Diese weiten kleinsten venösen Gefäße der Körperhaut erklären sich 
zum Teil durch die bei manchen dieser Typen vorbandene Polyglobulie, 
eventuell verbunden mit einer absoluten Vermehrung der Blutmenge. 
Zum Teil sind sie vielleicht auch als Effekt einer gestörten Korrelation 
zwischen Arteriolen, Kapillaren und kleinsten Venen bei dieser Erkran- 
kung anzusehen. Auch ein sehr stark ausgeprägter Dermograpbismus 
mit 1—1,5 cm breitem Reflexerythem zeigte uns bei etwa der Hälfte 
unserer Hochdruckler auf diesem Gebiete eine gesteigerte Reizbarkeit 
im Sinne erleichterter Erweitbarkeit der venösen Schenkel der Kapillaren 
und der kleinsten Venen. 


Die kapillar-mikroskopische Untersuchung einer großen Reihe 
von Patienten mit solchen Hämangiomen, die zum Teil von meinem 
leider früh verstorbenen Mitarbeiter Aschaffenburg in sehr 
gründlicher Weise vorgenommen wurde, zeigte, daß in der Haut 
solcher Patienten öfters Übergangsformen von einfachen runden 
Erweiterungen an den Umbiegungsstellen der Kapillaren bis zu 
jenen Hämangiomen sich finden lassen. 


Diese kleinen Blutgefäßtumoren zeigen bei dieser Untersuchungsform 
zwei wesentlich verschiedene Gestalten. Die einen stellen sich als sehr 
einfache mehr oder minder knäuelartige, sehr deutlich erweiterte Win- 
dungen der kleinsten Venen der subpapillären Plexus dar, die sich im 
ganzen Verlauf recht gut verfolgen und in ihrem zumeist engen Zu- und 
Abfluß deutlich erkennen lassen; manchmal zeigt sich auch an den nicht 
ganz erweiterten Partien der kleinen Venen die Kontraktionsmöglichkeit 
erhalten, nach Streichen oder Beklopfen mit einem Nadelkopf ver- 
schmälern sie sich zeitweise. Diese varıkösen Bildungen kleinster Venen 
fanden wir kaum bei Hypertonikern, sondern seltener einige Male bei 
Normalen, nicht einmal ausgesprochen bei vasomotorischen Personen am 
Handrücken und im Gesicht. 

Bei Hypertonikern und bei alten Leuten handelt es sich dagegen 
ganz überwiegend um Erweiterungen von Kapillaren. In einem eng 
umschriebenen Bezirk stehen dann dicht, mehr oder minder deutlich enge 
ZAwischenräume erkennen lassend, Blut gefüllte blasenförmige Ausbuch- 


D’ In der nach Abschluß dieser Arbeit erschienenen interessanten Studie 
„Über Hypertonie" von O. Müller und Hübener (Dtsch. Arch. f. klin. Med. 
Bd. 1409, H. 1 u. 2) werden diese kapillarmikroskopischen Bilder ebenfalls ein- 
gehend geschildert, vgl. Abb. 2—4. 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 41 


tungen, die stellenweise deutlich Strömung des Blutes zeigen, stellenweise 
scheint völlige Stagnation des Blutes darin zu bestehen. Bei eifrigem 
Sucben finden sich an andern Stellen der Haut makroskopisch noch 
nicht erkennbar hochgradig variköse Erweiterungen von Kapillarschlingen 
einzeln oder zu zwei bis drei manchmal dicht nebeneinander mit deutlich 
hindurch passierender Strömung und oft wechselnder Füllung und Form- 
gestaltung dieser erweiterten Gefäßschlingeu. Diese Bildungen stellen 
u. E. die Übergangsformen von einfachen Kapillarektasien zu den Kapillar- 
varizen dar und in der Entwicklung die Vorstufen. Denn wenn sich 
beim Dermographismus etwa oder im Erythema pudicitiae das plötzliche 
makroskopisch sichtbar werdende Aufschießen solcher Hämangiömchen 
feststellen ließ, so handelt es sich um eine bei der aktiven Hyperämie 
dann eintretende starke Füllung solcher vorher schon erweiterter 
Kapillarschlingen. 

Die Entwicklung selbst bis zum linsengroßen Hämangiom ist nur 
eine schrittweise. Die von Cruveilhier übernommene Bezeichnung 
Virchow’s als „Kapillarvarizen“ iet auch nach der hier durch- 
geführten histologischen Untersuchung richtig. Es handelte sich nach 
den Untersuchungen an zwei solchen Hämangiomen in großen Schnitt- 
reihen um rein dem Kapillarsystem angehörige Bildungen, an die jedes- 
mal nur eine kleine Arterie herantrat und 2 oder 3 kleinste Venen als 
abführende Gefäße heraus. Im Stratum papillare und im Stratum germi- 
nativum finden sich die Knäuel hochgradiger kapillärer Gefäßerweiterungen, 
die auch im Serienschnitt nicht ganz in einzelne Schlingen auflösbar 
sind, zwischen den Gefäßwandungen liegt ein kollagenes, kernarmes 
Gewebe, das sich bei van Gieson-Färbung gelblich-rot färbt, in einzelnen 
Gefäßschlingen lagen massenhaft gelapptkernige Leukocyten. Dieser Be- 
fund deckt sich mit den Ogawa’s aus Ribbert’s Institut. In der 
Nachbarschaft finden sich oft auch im histologischen Präparat beutel- 
artige kleine Überdehnungen der normalen Kapillaren an ihrer Um- 
biegungsstelle. l 

Allmähbliche Dehnungen und wohl auch Wachstum der bestehenden 
Kapillarschlingen scheint demnach Ursache dieser Kapillarvarizen zu sein. 

Die allmähliche Entwicklung zeigt das Kapillarmikroskop in ähn- 
lich angelegten, aber noch kleinen Bildungen. Daß die Gefäßfunktion 
der Kapillaren für ihre Entstehung eine Rolle spielt neben im Alter ge- 
steigerter Wachstumstendenz, ist demnach bei den häufig gleichzeitig 
vorhandenen kleinen Kapillarektasien sehr wahrscheinlich. 


Diese kapillären Varizen zeigen ebenso wie die kleinen 
Gefäßerweiterungen im roten Gesicht vieler genuiner Hyper- 
tensionen, ebenso auch die Neigung zu einem starken Dermographismus 
mit Reflexerythem bei manchem derselben, daß bei dieser Krank- 
heit oft auch eine erhöhte Dehnungsbereitschaft an 
kleinsten Gefäßen vorhanden ist. Dieser an den Kapillaren 
und an den kleinen Venen, in manchen Partien des Körpers be- 
sonders der roten Hypertoniker, vorhandene Disposition zu stärkerer 
Ektasie und im Gegensatz dazu die überall anzunehmende tonische 


42 WESTPHAL 


Dauerkontraktion der kleinen Arterien und Arteriolen sind beide 
Ausdruck einer starken Disharmonisierung im Apparat der kleinsten 
Blutbahnen, der sowohl Kontraktions- wie Lähmungsbereitschaft 
aufweist. Ob bei dieser Dehnungsbereitschaft ein Kausalnexus 
nervöser oder chemischer Art zu der tonischen Sperrung der 
Arteriolen besteht, muß vorläufig dahingestellt bleiben. 

Direkte Beziehungen dieser Naevi vasculosi zu ähnlichen Bildungen 
im Gehirn, die nach Virchow am Boden des 4. Ventrikels am 
häufigsten gefunden werden, konnten trotz eifrigen Suchens am Sektions- 
material nicht festgestellt werden. Nur einmal fanden sich ähnliche kleine 


Bildungen bei der an Apoplexie gestorbenen Patientin, Sektionsnummer 
1070/23, jedoch ohne örtlichen Zusammenhang mit der Blutung. 


Über diese Erscheinungen von Kapillarvarizenbildung und 
Erweiterung kleinster Venen hinaus bis zur gesteigerten 
Blutungsbereitschaft geht die Tatsache, daß bei dem 
Rumpel-Leede’schen Versuch der Armstauung bei vielen 
genuinen Hypertonikern reichlich kleine Hautblutungen auftraten. 
Das konnte hier oft festgestellt werden. Schon nach einer etwas 
protrahierten Blutdruckmessung können öfter kleinste Blutungen 
am Unterarm der Hypertoniker auftreten. Bittorf wies auch 
einmal kurz darauf hin, daß beim Arteriosklerotiker das Rumpel- 
Leede’sche Phänomen oft positiv ist. Kürzlich hat Weißmann 
sehr interessante Untersuchungen über die starke Blutungsbereit- 
schaft der Hypertoniker veröffentlicht. 

Er untersuchte 300 Fälle verschiedenartigster Erkrankungen nach 
der von Stephan vorgeschlagenen Tecknik des Rumpel-Leede’schen 
Verfahrens, 5 Minuten Stauung durch. die Blutdruckmanschette mit einem 
Druck von 70—80 mm Hg, beim Hypertoniker um 20—30 mm höher. 
Er fand diese Blutungen nur bei chronischer Endokarditis und Hyper- 
tonie. Vou 21 Hypertonikern ohne ausgesprochene Nierenveränderung 
waren alle positiv bis auf 3, die dabei auftretenden kapillären Blutungen 
. waren regelmäßig stark ausgesprochen. Die einfache Erklärung, die 
Ursache des so ausgeprägten Rumpel-Leede’schen Phänomens ist 
der relativ höhere Kapillardruck infolge der venösen Stauung bei erhöhtem 
arteriellen Druck, stimmt nicht, bei Kapillardruckmessungen nach Kylin 
findet nämlich W., daß während der 5 Minuten langen Blutstauung der 
Kapillardruck sowohl beim Hypertoniker wie beim Normalen die gleiche 
Höhe erreicht, etwa 500 mm Wasser. Dabei wird der Unterarm der 
Hypertoniker von einer Menge kleinster Blutungen übersät, während bei 
Gesunden keine Reaktion eintrat. Dieser positive Rumpel-Leede 
kann also bei der Hypertonie nur durch Anderung der Durchlässigkeit 
der Kapillarwand erklärt werden. Die Frage drängt sich auf: ist die 
dauernde starke Drosselung der arteriellen Zufuhr bei der Hypertonie 
im Sinne einer Anderung des Gewebschemismus hier mitwirksam und 
schädigt sie die Dichtigkeit der Kapillarwand’? 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 43 


Es erschien wichtig für das Verständnis der Apoplexieent- 
stehung diese Zeichen gesteigerter Dehnungs- und erhöhter Blutungs- 
bereitschaft der Kapillaren und kleinsten Venen bei Hypertonikern 
zu betonen, denn sie treten bei einfacher Betrachtung dieser Krank- 
heit zurück hinter dem überragenden Phänomen des gesteigerten 
Blutdrucks, das wir nach unserer jetzigen Auffassung zurückführen 
auf eine hochgradige Verengerung der Strombahn im Gebiet der 
kleinsten Arterien und Arteriolen. 

Enger stellen sich hier im klinischen Bilde der genuinen und 
nephrogenen Hypertension die Beziehungen zu den Hirnblutungen 
dar, wenn wir neben dem Moment derallgemeinentonogenen 
Sperrung der Arterien und Arteriolenmuskulatur als wesentliche 
Ursache der dauernden Höhereinstellung des Blutdruckes das 
kinetische (Pal) besonders in umschriebenen Gefäßbezirken be- 
trachten. Dieses kann sich, wenn es als allgemeine arterielle Ge- 
fäßkontraktion einsetzt, äußern in jenen oben gezeigten allge- 
meinen Blutdruckkrisen, es kann eng lokalisiert in 
umschriebener Gefäßprovinz auftreten, es sei nur ohne 
Aufzählung aller hierher zu rechnenden Krankheitszeichen kurz 
verwiesen auf die Angina pectoris-Anfälle Raynaud-artige 
Attacken, intermittierendes Hinken, plötzlich einsetzende und ver- 
schwindende Amaurosen, um auf die am Gehirn ganz besonders 
gehäuften Symptome solcher Zustände näher einzugehen. Denn 
hier zeigen sich Bilder, die bei schwersten und ausgeprägtesten 
Formen dem krankhaften Geschehen bei der Apoplexie durchaus 
gleichende, aber schnell wieder verschwindende Erscheinungen auf- 
weisen. Von Volhard sind diese beschriebenen als „pseudo- 
urämische Äquivalente“, F. Kauffmann aus unserer Klinik be- 
zeichnet sie recht glücklich als „angiospastische Insulte“. Von 
Lichtwitz, Grödel und Hubert wurde ebenfalls über solche 
Zustände beim Hypertoniker berichtet. Die ersten Schilderungen 
der englischen Autoren Peabody und Osler zeigen bereits das 
ganze klinische Bild: plötzlich einsetzende Attacken von Lähmung 
in den verschiedensten Formen als typische Hemiplegie oder Mono- 
plegie, Aphasie, manchmal oft sich wiederholend bis zum Tode, 
bei der Sektion findet sich wohl Arteriosklerose an den Hirngefäßen, 
aber kein Erweichungs- oder Blutungsherd, daher die Annahme 
herdförmiger spastischer Ischämie und der Vergleich mit den sicht- 
baren Spasmen der Netzhautgefäße bei der transitorischen Amaurose. 

Auf die relative Häufigkeit und die verschiedenen Formen des 
Auftretens solcher angiospastischer cerebraler Insulte 


44 WESTPHAL 


beim Hypertoniker muß hier näher eingegangen werden, denn 
für die Art der Entstehung der Apoplexie zeigen sie m. E. Ent- 
scheidendes. Hirngefäßkrisen, die dem apoplektischen Insult 
klinisch sehr ähnliche, oder völlig gleichende, aber bald wieder 
schwindende Bilder erzeugten, sahen wir z. B. an folgenden Patienten: 

1. Fl., Karl, 6l jähriger Kaufmann, mit einer Hyperglobulie von 
7—8 Millionen Roten, guter Nierenfunktion mit einem Rest-N von 
0,036 °/ und einem ganz hochgradig schwankenden Hypertonus von 145 
bis 200 Maximaldruck, ohne organischen Befund am Nervensystem hat 
mit 58 Jahren bereits einmal für 5 Minuten aus der Straße plötzliche 
Unfähigkeit bemerkt, das rechte Bein zu bewegen, dabei keine Sensi- 
bilitätsstörungen. 14 Tage später trat dasselbe Phänomen wieder auf, 
dabei war aber die ganze rechte Seite wie abgestorben, besonders in den 
Fingern der rechten Hand Ameisenkribbeln. Nach 10 Minuten war diese 
Attacke wieder geschwunden. Im ganzen 5mal ist es seitdem vorge- 
kommen, daß er für 1—2 Minuten die Sprache plötzlich verlor, er war 
unfähig, die Zunge richtig zu bewegen, dabei bemerkte er auffallend 
starken Speichelfluß in dem Mund. 2 mal war er auf dem rechten Auge 
für 2 Minuten völlig blind. Seit einem Jahre sind oft Schwindelanfälle 
vorhanden, oft dabei ein Gefühl von Taumeln, starke Kopfschmerzen und 
Abnahme des Gedächtnisses stören sehr. Nach starken Aderlässen und 
Röntgenbestrahlung der langen Röhrenknochen wegen der Hypoglobulie 
weitgehende Besserung der Beschwerden, Rückgang des Hypertonus und 
seiner Schwankungen, Das Allgemeinbefinden des Patienten ist jetzt 
gut, eine Apoplexie ist bisher nicht eingetreten. 

Flüchtige motorische Lähmung am linken Arm mit Sensibilitäts- 
störungen der linken Seite, motorische Aphasie, Amaurosen, schwere 
Schwindelanfälle und starker Kopfschmerz zeigen bei diesem Kranken 
ein vielseitiges Bild von angiospastischen Insulten am Gehirn des Hyper- 
tonikers, der seit über einem Jahre beobachtete Schwund der Beschwerden 
nach Beseitigung der Hypertonie und Hyperglobulie spricht für den 
sekundär auf die Hypertonie aufgeplanzten Charakter dieser Beschwerden. 

2. He. Berta, 50 jährige Ehefrau, hat seit 2 Jahren häufig Schwindel- 
anfälle und Kopfschmerzen gehabt, öfter waren auch starke Angina 
pectoris-Anfälle aufgetreten. Am 8. X. 25 wurde ihr nach starkem 
Treppensteigen plötzlich schwindlig, dann trat Bewußtlosigkeit ein, als 
sie aufwachte, waren linker Arm und linkes Bein gelähmt. Die in 
diesem Zustande sofort in das Krankenhaus eingelieferte Frau zeigte 
einen arteriellen Hochdruck von 185:115, ein deutlich nach links ver- 
größertes Herz. Die Niere bietet keinen auffallenden pathologischen 
Befund, Wassermann negativ. Bei der Aufnahme besteht noch eine 
linksseitige Lähmung mit positivem Babinski und einer leichten Be- 
nommenheit. Am folgenden Tage, also innerhalb 24 Stunden ist die 
Lähmung bereits geschwunden, der positive Babinski ist nicht mehr auslös- 
bar. Der Blutdruck sinkt schnell ab auf 135—125 mm Hg. Am 13. X. 
steigt der Blutdruck beim Wasserversuch der Nierenprüfung plötzlich 
wieder auf 190:100, am folgenden Tage bekommt die Patientin beim 
Zurichten des Bettes wiederum einen Insult mit völliger motorischer 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 45 


Aphasie. Zeichen rechtsseitiger Lähmung treten nicht auf, der Blut- 
druck beträgt an diesem Morgen 155:80. Diese motorische Aphasie 
bleibt zweimal 24 Stunden bestehen, dann tritt auch hier schnell fort- 
schreitende Wiederherstellung der Funktion ein bei niedrig bleibendem 
Blutdruck von 120—135 mm Hg. Am 20. X. ist die motorische 
Aphasie ganz geschwunden, auch recht schwierige Worte werden gut 
ausgesprochen. Weiter gutes Allgemeinbefinden. Als einziger Rest der 
überstandenen Lähmung ist eine sehr geringe Hypertonie im linken 
Beine zeitweise feststellbar. Vielleicht haben bei den apoplektiformen 
Attacken die Stammganglien hier eine leichte Schädigung zurückbehalten. 
Der eigentliche Lähmungsbezirk war aber stets einer schnellen Rück- 
bildung des Funktionsausfalles fähig. Daher werden auch diese Krank- 
heitszustände im wesentlichen als angiospastisch bedingt angesprochen 
mit folgenden leichten Ernährungsstörungen, Ödembildung usw., die einer 
schnellen weitgehenden Besserung fähig waren. 

3 Frau Emilie Ha., 53jährig, mit sehr labilem und psychisch sehr 
weitgehend beeinflußtem Hypertonus, schwankend von 145:155 auf 
200:110. Sie hat oft Raynaud-artige Attacken in beiden Armen 
starke Cyanose und Marmorierung der Arme, vom unteren Drittel des 
Unterarmes bis abwärts zu den Fingern, manchmal dabei das Gefühl 
des Abgestorbenseins. Normale Nierenfunktion und normaler Rest-N. 
Augenbintergrund: o. B. Serum-Cholesterin: 0,24 g°/,. In der letzten 
Zeit sind mehrere starke Schwindelanfälle vorgekommen, zweimal dabei 
Anfälle von plötzlicher Bewußtlosigkeit für ca. 5 Minuten, einmal ist sie 
dabei vom Stuhl gefallen. Kein Anhaltspunkt für Epilepsie. Neuro- 
logisch kein objektiver Befund für eine anatomische Läsion. 

Es werden daher im Zusammenhang mit dem sehr schwankenden 
Hypertonus und dem sichtbaren Raynaud ähnliche Gefäßkrisen im 
Gehirn als Ursache dieser plötzlichen Bewußtseinstrübungen angenommen. 

4. Frau Margarete H., 39 Jahre, klagt in den letzten Jahren über 
zunehmende Fettsucht und Wachstum eines Kropfes, außer einer leichten 
Protusio bulbi keine Zeichen eines Basedow. Seit drei Monaten häufige 
Anfälle von intermittierendem Hinken des linken Beines, starke Angina- 
Pectoris-Anfälle, schwere Schwindelanfälle auch ohne Herzbeschwerden 
auf der Straße, wenige Male dabei eine plötzliche Lähmung im linken 
Arm und zweimal Übergang dieser Schwindelanfälle in völlige Bewußt- 
losigkeit für 1,—3 Stunden. Die Herzaktion ist während der Zeit vom 
Hausarzt normal befunden worden, kein Anbaltspunkt für Herzklopfen. 
Der linke Arm ist nachher wieder gut beweglich gewesen. Bei der nur 
einmal in der Sprechstunde möglichen Untersuchung fand sich bei der 
etwas adipösen Frau, die stark vasomotorisch erschien, kein Zeichen einer 
Läsion im Zentralnervensystem, ein normaler Blutdruck von 130 mm Hg, 
kein pathologischer Urinbefund, kein Hypertonikerherz. Ein dauernd 
erhöhter Blutdruck ist also auch bei solchen vielartigen Gefäßkrisen nicht 
unbedingt notwendige Voraussetzung. Die linksseitige Armlähmung mit 
späterem Bewußtseinsverlust wird als cerebraler angiospastischer Insult 
aufgefaßt. 

5. Lau., Adolf, 56jäbriger Schlosser, berichtet bei einem mittleren 
schwankenden Blutdruck von 130--180 mm Hg ohne Zeichen patho- 


46 WESTPHAL 


logischer Nierenfunktion neben flüchtigen muskelrheumatischen Schmerzen 
im linken Bein mit gleichzeitig kalt werdendem linken Fuß von 4 An- 
fällen folgender Art: Zu Hause bei ruhiger Körperhaltung mußte er 
zuerst 5 Minuten lang dauernd gähnen, dann wurde ihm übel, Schweiß 
brach am ganzen Körper aus, er bekam Brechreiz, einmal auch Durchfall 
gleichzeitig und er wurde dann für einige Minuten ohnmächtig. Kam 
er wieder zu sich, so fühlte er sich sehr matt. Solche Antälle von 
Gähnen, Erbrechen werden oft in den Prodromalerscheinungen einer 
Apoplexie geschildert. Hier fand sich für eine solche gar kein Anhalts- 
punkt. Diese Bewußtseinsverluste mit den eigentümlichen Reizerschei- 
nungen am vegetativen Nervensystem werden auch als angiospastisch be- 
dingt aufgefaßt, durch flüchtige Ischämisierung von Gebieten am Boden 
des 3. und 4. Ventrikels. 


Einleuchtender noch als diese nur klinisch und anamnestisch 
erhobenen Feststellungen sind die folgenden mit den dazu erhobenen 
autoptischen Befunden: 


l. u. 2. Es wird verwiesen auf den in der vorhergehenden Arbeit 
mitgeteilten 2 Fälle. 

3. Frau Ein., deren Anamnese- und Krankenhausbeobachtungsbefund 
mit den hier oft bis zu viermal täglich einsetzenden, sehr häufig dann 
mit einem Blutdruckanstieg auf 180 mm von der Norm 120 mm Hg 
verbundenen rechtsseitigen Lähmungen mit entsprechenden neurologischen 
Befunden früher genau geschildert ist. 

Die Sektion zeigte eine mäßige Hypertrophie des linken Herzens, 
geringe allgemeine Arteriosklerose, an den Hirngefäßen ebenso gering, an 
den Nieren mikroskopisch geringe Arterioloskleroee. Das Gehirn wurde, 
weil sich bei den ersten orientierenden Schnitten keine Apoplexie fand 
in toto eingelegt. Bei späterer Untersuchung fand sich bei sehr eng 
angelegten Querschnitten im Thalamusgebiet ungefähr in der Mitte, ober- 
halb des Nucleus ruber ein Gebiet weißer Erweichung rechts und links, 
ungefähr gleichgroß, nach Art einer Schmetterlingsfigur, 0,5 cm breit 
und 2 cm hoch. Rechts reicht es weiter nach unten, die Länge beträgt 
1-—1,5 cm. In der Nachbarschaft der inneren Kapsel oder an der 
weißen Substanz selbst oder in anderen Gebieten der notorischen Region 
selbst ist weder rechts noch links eine Veränderung erkennbar. 

Mikroskopisch finden sich im Erweichungsgebiete neben der noch 
ganz gut erkennbaren Gliastruktur ausgedehnte Ansammlungen von Fett- 
körnchenzellen. In dem Gebiet an der größeren Arterie zum Teil aus- 
gesprochene Intimawucherung mit starker Verengerung des Lumens. In 
einer kleinen Arterie ein organisierter T'hrombus, keine ausgesprochene 
Arteriolosklerose. Die Media der Arterien im Erweichungsgebiet ist zum 
Teil ausgedehnt kernlos. Im Gebiet und Nachbarschaft der inneren 
Kapsel links wie rechts dagegen keine auffallenden mikroskopischen Ver- 
änderungen, nirgends Fettkörnchenzellen, geringe Arteriosklerose mit gut 
durchgängigem Gefüßlumen an allen sichtbaren Arterien. 

Dieser Fall wird, da der sehr kleine Erweichungsherd im Thalamus- 
gebiet nicht die auffallenden, immer wiederkehrenden apoplektiformen 
Anfille erklären kann, unter die angiospastischen Insulte eingereiht, weil 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 47 


nur die Annahme einer solchen pathologischen Gefäßfunktion diese zu- 
erst einmal links, später immer wieder rechts eintretenden flüchtigen 
Halbseitenläbmungen verständlich manchen kann. Noch auffallender stellt 
sich das klinische und anatomische Bild der nächsten Kranken dar mit 
häufig recidivierender Apoplexie. 

4. Die Ehefrau Margarete En., 50 Jahre alt, früher stets gesund, 
` hat nur seit einem Jahre häufig Kopfschmerzen. Im September 1924 
erfolgte eines Tages „ein Schlaganfall“ mit völliger Lähmung des linken 
Armes und Beines. Nach einigen Stunden waren die Lähmungen völlig 
verschwunden. Am 16. II. 25 morgens wieder ein Schlaganfall mit 
Lähmung dieses Mal der rechten Seite, Patientin konnte dabei nicht 
sprechen, nach 1!/, Stunden waren die Störungen völlig verschwunden. 

Zwei Tage später, am 18. II. 25, morgens erneuter Schlaganfall, 
wieder mit Lähmung der rechten Seite. Patientin kann wiederum nicht 
mehr sprechen. Sie wird deswegen in die Klinik eingeliefert. Die 
mittelgroße adipöse Frau zeigt hier einen Blutdruck von 195:155, ein 
entsprechendes Herz, im Urinbefund sebr vereinzelt byaline Zylinder, 
sonst normale Nierenfunktion, Hypercholesterinämie von 0,25 g°/,. Es 
besteht typische rechtsseitige Apoplexie mit Lähmung von Armen und 
Beinen, von Facialis und Hypoglossus mit positivem Babinski und Oppen- 
heim, Steigerung der Sehnenreflexe rechts und motorischer Apbasie. 
Das Bewußtsein ist klar, am 20. II. ist bereits wieder sprachlich eine 
gewisse Verständigung möglich. Am Morgen des 22. II. neuer schwerer 
Insult, tiefes Koma der Patientin mit Cheyne-Stokes’scher Atmung, 
Blutdruckanstieg auf 220. Nach AderlaB von 200 ccm allmählich 
Bessung, Atmung regelmäßig nach Rückkehr des Bewußtseins. 24. Il. 
Apbasie weitgehend gebessert, kleine Sätze werden im Zusammenhang 
gesprochen, Besserung des Allgemeinbefindens. Einige bronchopneu- 
monische Herde sind feststellbar. 25. II. die motorische Apbasie nimmt 
wieder zu. 27. II. plötzlicher Eintritt völliger Lähmung auf der linken 
Seite mit typischen Reflexstörungen, Babinski, schwerer Benommenbheit, 
zeitweise aussetzender Atmung. Am nächsten morgen, am 28. JI. erfolgt 
Exitus letalis, die doppelseitige Lähmung hat weiter bestanden, ebenso 
die schwere Bewußtseinstrübung. 

Die Sektion ergab bochgradige Hypertropbie des ganzen Herzens, 
parietale Thromben im rechten Ventrikel, einige Embolien in Lungen- 
arterienästen, Stauungslungen. Hochgradige Sklerose der Aorta und 
der peripheren Arterien mit vereinzelten atheromatösen Herdchen, Sklerose 
und Athromatose der weiten Coronararterien, mäßige Sklerose der basalen 
Hirnarterien. Stauungsorgane. An den Nieren mikroskopisch Arteriosklerose 
und Arteriolosklerose mäßigen Grades, vereinzelte verödete Glomerulie. 

Der makroskopische Sektionsbefund zeigt am Gehirn 
nichts, auch keine Embolien in den Gefäßen. An den mittleren Hirn- 
arterien sind hier und da atheromatöse Fleckchen vorhanden, keine Media- 
sklerose. Das Gehirn wird darauf in toto eingelegt. Die nach Fixierung 
eng hintereinander angelegten Querschnitte zeigen, daß im gesamten 
Vorderhirn links eine deutliche Anämie gegenüber den übrigen Hirn- 
gebieten vorhanden ist. Auf der rechten Seite finden sich im Gebiet 
der inneren Kapsel und der großen Stammganglien makroskopisch keine 


48 WESTPHAL 


wesentlichen Veränderungen, außer einem kleinstecknadelkopfgroßen 
Cystchen in der Mitte des Putamen, links gar keine Veränderungen ; 
auch an den hinteren Gebieten an den Pedunculi cerebri fehlen rechts 
wie links erkennbare Veränderungen. In der Mitte der Pons findet sich 
etwas rechts und oben gelegen eine 1:3 mm große etwa 2 mm tiefe 
auf bräunliche Erweichung verdächtige Stelle. . 

Die mikroskopische Untersuchung, bei der Herr Kollege Kino 
vom Neurologischen Institut (Prof. Goldstein) die große Freundlichkeit 
hatte, durch Herstellung von Nissel- und Weigert’scher Markscheiden- 
färbung an einer Reihe von Präparaten und durch deren Durchsicht mich 
zu unterstützen, zeigt bei Untersuchung von Schnittserien mit Einschluß 
der verdächtigen Stellen beiderseits aus dem Stirnhirn, beiderseits von je 
zwei Blöcken entnommen aus den Basalganglien und der inneren Kapsel 
in Höhe der mittleren Commissur, dann beiderseits aus der Gegend der 
Pendunculi cerebri und schließlich aus der Pons folgendes: 

Im Stirnhirn findet sich rechts wie links kein wesentlich patho- 
logischer Befund, ebenso in der Gegend der Pedunculi cerebri, in der 
Pons dagegen der makroskopisch festgestellte kleine Erweichungsherd 
mit zahlreichen Fettkörnchenzellen, in seiner nächsten Nachbarschaft gut 
erhaltene Ganglienzellen. An einigen Arterien der Pons wenige lipoid- 
haltige Intimawucherungen, im übrigen ist die Gegend der Brücke ohne 
Besonderheiten. 

Wichtiger und auffallender sind dagegen beiderseits die Verände- 
rungen im Gebiet der Basalganglien und der inneren Kapseln, dort, wo 
eigentlich rechts wie links eine ausgedehnte Erweichung zu erwarten ge- 
wesen wäre. Rechts in dieser Gegend, welche der vor ?!/, Jahr für 
wenige Stunden erlittenen Lähmung entspricht und der einen Tag vor 
dem Tode zu der rechtsseitigen hinzugetretenen neuen, findet sich in den 
Schnittreihen in und hinter der Gegend der mittleren Commissur eine 
ganze Reihe, im ganzen 4, von kleinen Erweichungsherden, die etwa 
1/„—?®/), mm im Durchmesser groß sind, außerdem einige ganz kleine 
nur durch Auflockerung des Gewebes und Kernarmut desselben erkenn- 
bare, zum Teil im Gebiet der inneren Kapsel zum Teil in den Stamm- 
ganglien, am ausgesprochendsten ist der Befund der Erweichung an einem 
in der Höhe der Commissur gelegenen schmalen etwa 2 mm breitem 
Bezirk, der quer von der unteren Grenze von Putamen-Pallidum über 
die innere Kapsel zieht bis zum inneren Teil des Striatum. Im Putamen 
einige ganz kleine Erweichungsherde, Palliddum und Thalumus sind im 
ganzen verschont von Erweichung. Die Erweichungsherde sind zum Teil 
stark durchsetzt von Fettkörnchenzellen und zeigen am Rande oft aus- 
gesprochen Gefäßneubildung. 

In diesem Gebiete finden sich zum Teil ganz auffallende Ge- 
fäßBveränderungen. An den Arterien, am stärksten an einer 
großen im Putamen, findet sich völlige Kernlosigkeit und 
uellung der Media mit perivaskulärem Zellinfltrat, an einer 
anderen in Nachbarschaft des beschriebenen größeren Erweichungs- 
herdes umschriebenrer Kernschwund der Media. Am schwersten 
sind die Veränderungen einer ganzen Reihe etwa 7—8, von Ge- 
fäßstäimmen in den basalen Stammganglien (vgl. Abb. II, 1). Sie 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 49 


zeigen eine zum Teil ganz hochgradig auf das 2—5fache ver- 
breiterte Wand, so daß das eigentliche manchmal unveränderte rote 
Blutkörperchen enthaltende Gefäßlumen auf etwa !/,—!/, seines Durch- 
messers verkleinert erscheint, die Gefäßöffnung erscheint manchmal kreis- 
rund, manchmal verschoben und eckig, es ist wenige Male mit einer 
zum Teil noch gut erkennbaren nur einfachen Lage von Epithelien be- 
deckt, darunter befindet sich bis zu den gut erkennbaren Adventitiazellen 
reichend ein breites Band kernloser und keine Zellstruktur mehr auf- 
weisender entweder gleichmäßig glasiger oder von zahlreichen Maschen 
und Vakuolen durchbrochener Masse. Zellkerne sind nirgends deutlich 
darin erkennbar, Struktur von Muskelfasern auch nicht. Bei Hämatoxolin- 


Abb. II, 1. Photographie aus dem anzunehmenden Gebiete eines vor 6 Monaten 
erfolgten apoplektiformen Insultes von mehreren Stunden Dauer ohne eingetretene 
Blutung oder größere Erweichung. Eine Reihe von schwer geschädigten mittleren 
und kleineren Gefäßen, nach Elastikapräparaten zum Teil sicher Arterien, mit 
Auflockerung, Quellung und Kernlosigkeit der gesamten Wand und geringen, nur 
teilweise vorhandenen Zellinfiltraten in der Umgebung. Schnitt a. d. Gebiet der 
basalen Stammganglien und der inneren Kapsel rechts. Fall 4, Margarete E. 
Vergrößerung 75fach, Leitz. 


Eosinfärbung sieht die gequollene Wand blaßblau-rot aus, manchmal mit 
stärkerer blauer Tönung, bei van Gieson- Färbung schmutzig-bräunlich- 
gelb, am Rande leicht rot getönt. An manchen Gefäßen ist die Quellung 
der Wand nur in der Hälfte des Umfanges, aber dann oft noch stärker 
wie an den anderen etwa auf das 6fache des normalen Wanddurch- 
messers eingetreten (vgl. Abb. II, 3), zweimal finden sich neben deutlich 
gut erhaltener Arterien an Abzweigungsstellen derselben ein völlig ge- 


Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 4 


50 WESTPHAL 


quollener, nur noch eben erkennbarer Zweig gleichen oder größeren 
Kalibers mit Schwund der Gefäßöffnung. In dem Lumen einiger dieser 
Gefäße liegt manchmal eine gleichmäßig hyaline Masse, anscheinend Blut- 
gerinsel ohne Blutkörperchen, in anderen Erythrocyten. Daneben finden 
sich einige verschlossene Venen mit organisierten Thromben. 

Durch Elastikafärbung ist feststellbar, daß die so hochgradig 
veränderten Gefäße des öfteren eine meist gut erhaltene kräftig entwickelte, 
aber nicht durch Neubildung vermehrte Elastika aufweisen (vgl. Abb. II, 2). 
Diese liegt überraschenderweise stets ganz am Außenrand dieser ge- 
quollenen Wandschicht, weiter nach außen liegt meist im Schnitt eine 
schmale Lücke, an deren anderer Seite im allgemeinen nur wenig ver- 


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Abb. II, 2. Mehrere Gefäße, darunter zwei Arterien aus dem gleichen Gebiet wie 
bei Abb. 1 bei Elastikafärbung. Man erkennt die gequollene kernlose Intima, 
sieht an zwei Gefäßen deutlich den Schwund der Media und an einer Stelle ge- 
ringes adventitielles Zellinfiltrat. Schnitt a. d. Gebiet der basalen Stammganglien 
und der inneren Kapsel rechts. Fall 4, Margarete E. Vergrößerung 75fach, Leitz. 


mehrt adventitielle Zellen. In der weiteren Umgebung ist meist sehr 
gut erhaltenes Hirngewebe mit Ganglienzellen vorhanden. An wenig 
gänzlich verquollenen Gefäßwänden verschwindet streckenweise die Elastika 
in der Aufquellung. Die auffallenden Gefäßveränderungen, so grob an 
7—8 Gefäßen gefunden, stellen demnach meist Reste von Arterien 
dar, deren Media verschwunden ist, deren Intima hochgradig ge- 
quollen, zum Teil vakuolisiert erscheint. Eigentliche Endothelwucherung 
konnte nirgends festgestellt werden außer an einer ganz normalen in 
diesem Gebiet erkennbaren Arterie mit teilweiser Elastikaneubildung. 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 51 


Im übrigen treten eigentliche arteriosklerotische Prozesse in diesem 
ganzen Gebiet sowie im ganzen übrigen Gehirn sehr zurück, dagegen 
finden sich noch einige kleine Arterien ohne diese auffallenden Ver- 
änderungen nur mit kernloser Media, die jedoch bei van Gieson- 
Schnitten und Elastikafärbung noch gut als solche zu erkennen sind. 
In Nachbarschaft einer unveränderten etwas größeren Arterie und Vene 
findet sich eine kleine Blutung in die Gefäßscheide. Die Venen er- 
scheinen überhaupt im ganzen Gehirn besonders die kleinen auffallend 
weit, sie sind meist prall mit Blut gefüllt. 

Auf der linken Seite sind die Veränderungen trotz der 
8 Tage lang bestehenden Lähmung viel weniger ausgeprägt. Es 


Abb. II, 3. Photographie aus dem anzunehmenden Gebiete eines vor 6 Monaten 
erfolgten apoplektiformen Insultes von mehreren Stunden Dauer ohne eingetretene 
Blutung. Schwerste Degeneration der Gefäßwand einer mittleren Arterie mit 
Xernlosigkeit, Quellung und Vakuolisierung der Wand und geringen adventitiellen 
Zellinfiltraten. Schnitt a. d. Gebiet der basalen Stammganglien und der inneren 
Kapsel rechts. Fall 4, Margarete E. Vergrößerung 125fach, Leitz. 


finden sich in der Marksubstanz und auch in den basalen Ganglien hier 
und da kleine Gebiete mit Auflockerung des Gewebes, Kernarmut und 
stellenweise Kernschwund, manchmal liegen sie um kleine Gefäße be- 
sonders deutlich durch Auflockerung des Gewebes. Erweichungsherde 
mit ausgesprochenen Fettkörnchenzellinfiltraten sind im allgemeinen nicht 
feststellbar. An einigen kleinen Gefäßen findet sich wieder Kernschwund 
der Wand, zum Teil sind dies Arterien, ihr Lumen ist meist mit etwas 
Gerinnsel gefüllt. 

Viel imponierender sind die Veränderungen an einer Reihe größerer 

4* 


52 WeSTPHAI 


arterieller Gefäße im Putamen: hier findet sich Schwund des 
größten Teils der Kerne der Media, geringe Quellung derselben 
bei gut färbbaren Intimakernen, in den Gefäßen im stark verengten 
Lumen meist Erythrozyten, ein ausgesprochenes Rundzellinfiltrat liegt 
um die so veränderte Media, in der weiteren Nachbarschaft des Gefäßes 
einige eisenpigmenthaltige Zellen und ein kleines Fettkörnchenzellinfiltrat, 
vgl. Abb. II, 4. Bei Scharlachfärbung eine rötliche Tinktion der ver- 
änderten Media, nur an zwei kleineren von den fünf im Schnitt ge- 
troffenen Arterien lipoidhaltige Intimawucherungen. Ein ähnliches Bild 
findet sich bei einer zweiten Arterie im Putamen, gleiche Kernlosigkeit 
der Media, Rundzellinfiltrate in der Umgebung, an einer dritten ein 


Abb. II, 4. Bündel von zum Teil nekrotischen Arterien mit Kernschwund, glasiger 

(uellung der Media bei meist erhaltenen Intimakernen, z. T. ausgedehnte Rundzellen- 

infiltrate um die geschädigten Gefäßwände. Die Gefäße befinden sich in dem 

Gebiet, wo eine 7 Tage lang vor dem Tode klinisch bestehende Apoplexie schwere 

Zerstörungen hätte erwarten lassen. Schnitt a. d. Gebiet der basalen Stamm- 

ganglien links (Putamen) und der inneren Kapsel. Fall 4, Margarete E. Ver- 
gr. 7dfach, Leitz. 


geringes perivaskuläres Infiltrat und nur teilweise Kernschwund in der 
Media. Ein Thrombus ist in einer Vene im gleichen Gebiet vorhanden. 

In den übrigen Gehirnpartien ist die Veränderung der Arterien 
mikroskopisch im ganzen eine geringe, wenig Arteriolosklerose, wenige 
Atheromatose. Nirgends sonst Erscheinungen von Arterionekrose. Die 
Venen sind überall weit und stark gefüllt entsprechend den übrigen 
Stauungsorganen. 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 53 


Auch der mikroskopische Sektionsbefund klärt demnach nicht das 
klinische Bild zur Genüge. Wohl finden sich eine Reihe älterer kleinerer 
Erweichungsherde, zum Teil mit Gefäßneubildung am Rande, aber diese 
sind viel ausgesprochener auf der rechten Seite in dem Gebiet und der 
Nachbarschaft der inneren Kapsel, wo vor !/, Jahr ein flüchtiger angio- 
spastischer Insult sich eingestellt hatte und erst 24 Stunden vor dem 
Tode von neuen Lähmungserscheinungen. Die Veränderungen der linken 
Seite sind geringer an Menge und Ausdehnung, trotz der 10 Tage nach 
Vorausgang einer Präapoplexie bestehenden Lähmung. Immerhin besteht 
auch hier und da fleckförmig verteilt eine Auflockerung mit Kernschwund 
des Gewebes. Dieser geringe anatomische Befund erklärt aber durchaus 
nicht das plötzliche Einsetzen der Lähmung, ihr Schwanken im Anfang. 
Sondern da fügt sich gerade dieser Fall mit dem Präapoplexien im 
klinischen Bilde und dem geringen anatomischen Befunde gut ein in die 
Vorstellung der Angiospasmen als Auslöser der plötzlich auftretenden 
Lähmungserscheinung. Daß solche Gefäßkontraktionen !/, Jahr 
vor dem Tode rechtsseitig im Hirn zu einer ischämischen 
Störung geführt haben, bei der es zu einer schweren Schädigung 
der Arterien im blutleeren Gebiet kam, mit Nekrotisierung der 
Media, und zur Ausbildung einiger Erweichungsherdchen und zur 
Thrombenbildung in einigen gleichfalls wandgeschädigten und im Stase- 
zustand befindlichen Venen gibt m. E. für den jetzigen Befund die beste 
Erklärung. Die nekrotische Media wurde resorbiert, die schwere Intima- 
veränderung mit Schwellung und teilweiser Vakuolisierung ist vielleicht 
seitdem geblieben oder allmählich entstanden, die Elastika hat anscheinend 
zum Teil eine Rbexisblutung der Gefäßwand verhindert. Auf der 
anderen Seite, die nach einer Präapoplexie 12 Tage vor dem 
Tode, dann 10 Tage lang einen in seiner Intensität sehr schwankenden 
Funktionsausfall zeigte, finden sich ebenfalls schwere Media- 
nekrosen mit ausgedehnten Zellinfiltraten der Nachbarschaft als Aus- 
druck der Reizantwort auf die Alteration durch die schwer geschädigte 
Media. Diese Prozesse können 10—12 Tage alt sein, der stellenweise 
Kernschwund in der Hirnsubstanz zeigt auch dort vorhandene Schädi- 
gungen. Daß bereits früher einmal ähnliche Gefäßschädigungen dort 
gewirkt haben, beweisen die allerdings nur geringen Eisenpigmentan- 
bäufungen in Nachbarschaft der einen geschädigten Arterie. Das Auf- 
fallendste ist, daß hier, wo wir solche Schädigungen sehen wie an den 
großen Gefäßen im apoplektischen Herd, rechtsseitig weit über solche 
hinausgehend, keine allgemeine Blutung eingesetzt hat, trotz des dauernd 
hohen Bilutdrucks von über 200 mm Hg. Die eine gefundene kleine 
Blutung steht in gar keinem Verhältnis zu der Schädigung zahlreicher 
Gefäße. Eine Reihe der kleinen mit Muskelkernschwund ist allerdings 
nicht mit Blut gefüllt, mehrmals nur mit Gerinnsel, die anderen stark 
geschädigten zeigen nur eine geringe Füllung. Ob dauernd starke Ver- 
engerungen oberhalb gelegener Arterienpartien oder verstärkte Resistenz 
zahlreicher kleiner Gefäße oder herabgesetzte Autolysebereitschaft des 
Hirngewebes im ganzen die Ursache für den Nichteintritt der Blutung 
in diesem und ähnlichen Fällen abgeben, kann nicht entschieden werden. 
Diese den im apoplektischen Herd gefundenen so ähnelnden Gefäß- 


54 , WESTPHAL 


schädigungen einfach als arteriosklerotisch anzusehen, geht kaum an, 
dazu siud die hochgradigen Veränderungen zu eng lokalisiert auf die 
Gebiete der basalen Ganglien und fehlen im übrigen Hirn, außerdem 
fallen sie durch den Mediaschwund völlig aus dem Rahmen des bei der 
Arteriosklerose Bekannten heraus. 

Es wäre sehr erwünscht, da an den für die Klärung des vor- 
liegenden Problems so wichtigen Fällen von Apoplexien ohne ent- 
sprechenden anatomischen Befund möglichst oft genaue Untersuchungen 
angestellt würden, auch am gewöhnlichen Hypertonikergehirn und an 
Gehirnen alter Leute, um über die Art des Vorkommens der Arterien- 
veränderungen genaues zu erfahren. Löwenfeld berichtet, daB er 
selten allerdings auch Mediaschädigung wie bei der Apoplexie am Gehirn 
alter Leute gefunden habe. Wichtig wäre dabei die genaue Untersuchung, 
ob es sich um Hypertoniker handelt oder nicht. Findet sich bei solchen 
im allgemeinen nur derartige Mediauekrose an Arterien, so spricht ein 
solcher Befund keineswegs gegen die Auffassung des Verfassers, daB es 
sich dabei oft um vice-versa-Schädigung von ischämischen Hirnpartien 
auf die Gefäßwand handelt. Bei der Häufigkeit von Zeichen flüchtiger 
Hirnischämie bei solchen Kranken wäre das ja auch nicht erstaunlich. 

5. An einem fünften Falle von einer 3—4 Tage bestehenden Halb- 
seitenlähmung bei einem Hypertoniker ohne makroskopischen Befund am 
Gehirn hatte ich durch die Freundlichkeit des Herrn Kollegen Klauber 
vom Pathologischen Institut Gelegenheit, die Schnitte aus den als Ort 
der Lähmung in Betracht kommenden Partien der Hirnsubstanz zu sehen. 
Es fanden sich mikroskopisch dort keine Erweichungsherdchen, nur an 
zwei Arterien stellenweise Kernschwund in der Media mittlerer Arterien, 
aber keine so schweren Schädigungen wie in dem vorhergehenden Fall, 
wiederum auch nur geringe Arteriosklerose. 


In einer verhältnismäßig kurzen Zeit, im Zeitraum von etwa 
2 Jahren, läßt sich demnach eine ganze Reihe von der Apoplexie 
klinisch durchaus gleichenden Zuständen an Kranken feststellen, 
bei denen ein entsprechender Befund fehlt, bei denen sich in einem 
Falle, da allerdings sehr ausgeprägt, an Arterienwänden Verände- 
rungen finden lassen, mit schwerster Nekrose und Schwund der 
Media, wie wir sie inmitten des Blutungsherdes der Apoplexie zu 
sehen gewohnt sind, an dem letzten Falle waren gleiche Verände- 
rungen angedeutet, ohne daß sich hier jedoch die Blutung ent- 
wickelte. Das spricht für ganz ähnliche Vorgänge bei beiden Er- 
scheinungen. Als erstes beiden gemeinsames wird der Angiospasmus 
an Arterien beim Hypertonus in Anspruch genommen. 

Neben diesem nicht allzu häufigem Ereignis beim arteriellen 
Hochdruck der Apoplexie ohne entsprechenden Befund oder mit 
ganz schnellem Schwund des klinischen Bildes der Lähmung gibt 
es nun gerade am Gehirn eine ganze Reihe von nicht so alarmierenden 
aber dafür um so häufigeren Erscheinungen, die auf die gleiche 
vasomotorische Genese zurückzuführen sind. 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 55 


In erster Linie muß da der „Schwindel“ der Hyper- 
toniker genannt werden. 


Seltener stellt er sich ein vom Typ des echten Menidre mit aus- 
gesprochenem nach einer Seite gerichteten Drehschwindel, wie er durch 
Angiospasmen der Arterien auditiva interna hervorgerufen werden könnte, 
sondern häufiger als ein plötzliches den Kranken überfallendes Schwäche- 
gefühl, bei dem ibm oft für kurze Zeit schwarz vor Augen wird, das 
dann nach einigen Minuten sich wieder bessern kann, das ihn aber oft 
zwingt, sich auf der Straße an eine Hauswand zu lehnen, sich zu setzen 
oder hinzulegen. Daneben werden ungefähr ebenso häufig Beschwerden 
eines längere Zeit andauernden Gefühls des Leerseins im Kopf, des 
Schwindligseins und leichter Benommenheit angegeben. Als Krankheits- 
zeichen von Arteriosklerose der Gehirngefäße sind diese Zustände seit 
langem in der Literatur bekannt, ihre enge Verknüpfung mit dem essen- 
tiellen Hochdruck betonte Bauer, ihr vasomotorisches Bedingtsein in- 
folge ihrer häufig durch Diuretin möglichen Beseitigung H. Cursch- 
mann. 


Wir können ihn als Ausdruck der plötzlichen Veränderung der 
Zirkulationsverhältnisse im Gehirn ansprechen, ob dabei solchen im Cere- 
belum und dem mit ihm verknüpften Stirnhirn besondere Beachtung 
zukommt, bleibe dahingestellt. Wahrscheinlich spielen Anämisierungen 
des ganzen Zentralgebietes des Hirnstammes für das Auftreten dieser 
mehr oder minder akut einsetzenden Schwindelanfälle eine Rolle. Denn 
wir finden bei Apoplektikern mit dauernd vorhandenem Schwindel oft 
gerade in den Stammganglien Erweichungsherde. Friedrich Kauff- 
mann stellte an unserer Klinik 28mal bei 48 Kranken mit essentiellem 
Hochdruck diese Schwindelanfälle fest. Bei weiteren 25 Kranken mit 
genuinem Hochdruck konnten 13 mal in der Anamnese deutliche Angaben 
über solche Beschwerden erhoben werden. Bei über 50°), der Hyper- 
toniker scheint er demnach aufzutreten. Übergänge von dem Gefühl des 
hochgradigen Benommenseins im Kopf bis zur völligen Bewußtlosigkeit 
kommen gar nicht selten vor, plötzliches Umfallen auf der Straße mit 
Verletzungen seltener. Diese Schwindelanfälle sind fast häufiger bei 
Patienten mit noch schwankendem Blutdruck als bei solchem, der hoch 
fixiert ist. 


Ein Kranker mit guter Beobachtung und Schilderung dieses seit 
langem vorhandenen Krankheitszeichens hat in den letzten drei Jahren 
die Schwindelanfälle sehr ausgeprägt erlitten. „Es waren plötzliche 
Schwächeanfälle, man kann nicht weiter denken und stürzt dann zu- 
sammen.“ Ein Drebschwindel sei nicht dabei eingetreten, er sei nur 
zurückgetaumelt und dann umgefallen, das Bewußtsein habe er dabei 
nicht verloren, einmal hätten einige Männer ihn in ein Haus getragen, 
nach !/, Stunde konnte er weitergehen. Dieser Kranke weist in der 
Klinik bei längerer Beobachtung einen stark schwankenden Blutdruck 
von 120—180 mm Hg auf, nur einmal beim plötzlichen Blutdruckanstieg 
auf 210 sind gleichzeitig schwere Schwindelbeschwerden vorhanden. 

Bei einer 5öjährigen Patientin mit einer genuinen Hypertension von 
170—190 treten bei Blutdruckanstieg auf 315 ebenfalls starke Schwindel- ~ 


56 WESTPHAL 


gefühle auf. Plötzliche Blutdrukanstiege scheinen also auch hier wie bei 
den Recidiven der Apoplexie eine Rolle zu spielen. Das konnte in der 
Klinik noch öfter beobachtet werden. Allerdings kommen daneben auch 
Blutdruckanstiege bei Hypertonikern vor ohne irgendwelcbe subjektive 
Beschwerden. Dag körperliche Anstrengung, Bücken, psychische Er- 
regungen, starke Hitze besonders bei schwülem Wetter (Kauffmann), 
kurz alle Geschehnisse, die den Blutdruck zu steigern imstande sind, zu 
ihrer Auslösung beitragen, ist daher auch gut verständlich. 


=. Der plötzliche Eintritt des Schwindels, die mit ihm oft ver- 
bundenen leichten Ohnmachtsattacken, lassen beim Schwindel in 
den meisten Fällen die Annahme einer schnell eintretenden und 
schnell wieder schwindenden Anämisierung wichtiger Hirnpartien 
als wahrscheinlichste Lösung erscheinen, nicht so einfach gestaltet 
sich die Deutung bei dem zweiten ebenso häufigen Krankheits- 
zeichen des Hypertonus am Gehirn, dem Kopfschmerz. 


Es wäre zu einseitig, hier die Anämisierungszustände am Hirn als 
einzige Ursache anzusehen, viel wahrscheinlicher ist nach allem, was wir 
als Ursache des Kopfschmerzes anzusehen gewohnt sind, daß die vaso- 
motorische Ataxie ganz allgemein auslösend ist. Die durch Angiospasmen 
entstandene Anämie von kürzerer Dauer, nach der Lösung auftretende 
starke venöse Hyperämie und Ödembildung, auch stasenähnliche Zustände 
mit starker venöser Stauung, wie wir sie bei schlechtem arteriellen Zu- 
fluß an den Händen zu sehen gewohnt sind beim Raynaud, und schließ- 
lich vielleicht auch manchmal der Eintritt hochgradiger Kontraktionen 
der Gefäßwand selbst, alles kann Ursache solcher Schmerzsensationen 
werden, denn der Kopfschmerz spielt beim Hypertonus eine sehr häufige, 
oft so im Vordergrund stehende Rolle, daß die Beziehungen zur patho- 
logischen Gefäßfunktion dabei ausschlaggebend sein müssen. Als arterio- 
sklerotischer Kopfschmerz ist er der Medizin seit langem geläufig, und 
seine Formen können sehr wechselnde sein. 

Mehr als allgemeiner dumpfer Schmerz wird der morgendliche Kopf- 
schmerz besonders nach zu langem Morgenschlaf von Hypertonikern an- 
gegeben. Neben den Franzosen R&non und Vaquez wiesen v. Berg- 
mann und besonders Friedrich Kauffmann auf seine Häufigkeit 
hin. Dieser findet ihn 37 mal unter 132 Kranken. Ausgesprochener 
ist oft ein mehr oder minder plötzlich manchmal mit Schwindel ver- 
bunden die Kranken überfallendes Schmerzgefühl, das manchmal deutlich 
lokalisiert in den verschiedensten Hirnpartien sein kann, bis zum ausge- 
sprochenen migräneartigen Halbseitenschmerz. In manchen Fällen wird 
er als starker Druck auf Stirn und Scheitel empfunden, in anderen ist 
er besonders bei Frauen und hier wieder besonders in zeitlicher Nähe 
des Klimakteriums verbunden mit starkem Gefühl von Blutandrang zum 
Kopf, von Wallungen, fliegender Hitze. Steigerungen desselben treten 
ein, auch ohne daß ein Halbseitencharakter vorhanden ist, mit Reizung 
des Brechzentrums. Sogar bei einer Patientin 4 mal derart, daß sie ge- 
weckt mitten in der Nacht durch einen intensiven Kopfschmerz dann 
nach starkem Erbrechen in Bewußtlosigkeit versank. 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 57 


Solche Kopfschmerzen fanden wir bei 25 Hypertonikern in starkem 
Grade 12mal, 4mal war dabei oft vorhanden der Typ einer ausgeprägten 
Migräne. F. Kauffmann sah diesen Schmerztyp noch öfter, 21 mal 
bei 48 genuinen Hypertensionen. Wir kennen diese engen Beziehungen 
zwischen Migräne und Hypertonus aus der Literatur durch Gaisbök, 
v. Monakow, Hadlich, Lichtwitz, F. Kauffmann, und die 
z. Zt. überwiegend herrschende allgemeine Auffassung von dem vielleicht 
anaphylaktisch mitbedingten Zustandekommen des Anfalles durch einen 
Gefäßkrampf (H. Curschmann, F. Schultze, H. Oppenheim, 
Flatau u. a.) in entsprechenden Gehirnprovinzen, mögen auch manch- 
mal erst dessen Folgezustände am Gehirn in Gestalt von Odem und ge- 
steigerter reaktiver Hyperämie die Schmerzen mitbedingen, läßt das Auf- 
treten solcher Schmerzattacken im Rahmen besonders der noch stark 
schwankenden Hypertension gut verstehen. Die in der Literatur (vgl. 
Oppenheim) beschriebenen passageren Ausfallserscheinungen beim 
Migräneanfall: Die Hemianopsie, Aphasie, Hemiparesen und die Augen- 
muskellähmungen fügen sich gut in das Bild dieser Gefäßkrampftheorie 
ein. Auch hier konnten zweimal flüchtige Augenmuskellähmungen bei 
jugendlichen Migränekranken ohne Hypertonus beobachtet werden, das 
eine Mal mit einseitiger Pupillenverengerung, und wir empfinden die weit- 
gehende Verwandtschaft zwischen solchen Migräneformen mit flüchtiger 
Lähmung und dem angiospastischen Insult bei Hypertonikern. In der 
Vorgeschichte der Apoplexie werden wir vereinzelt diese engen Be- 
ziehungen wiederfinden, 


Neben Schwindel und Kopfschmerz verlangt noch ein Drittes 
als häufiges Zeichen cerebraler Hypertonusbeschwerden Erwähnung: 
die eigentümlichen psychischen Veränderungen bei manchen 
dieser Kranken. 


Daß es ihnen „im Kopf oft duselig“ sei, daß starke Benommenheit, 
hochgradige Angst, auch ohne Angina-Pectorisattacken sie häufig stören, 
ist eine häufige Angabe. Daß sie zeitweise sehr langsam hei der Arbeit 
wären, das Gedächtnis sehr nachgelassen habe, darüber klagen sie oft. 
Zustände von starker Depression, Abgeneigtsein von jeder Geselligkeit 
fallen als unmotiviert dem Kranken selbst auf. Solche Zustände können 
sich oft bessern bei geeigneter Behandlung, sie sind also wohl kein Effekt 
einer Dauerläsion im Gehirn, sondern hängen mit ischämischen Zuständen 
in demselben zusammen. 


Diese Krankheitserscheinungen des Hypertonus am Gehirn 
übertreffen an Häufigkeit — oder sie kommen an Zahl zum 
mindesten gleich — die meist auf ähnliche durch Gefäßkontraktion 
bedingte Zustände zurückzufübrenden unangenehmen Sensationen 
in anderen Körpergegenden: Die Angina-Pectoris, das Ohrensaußen, 
den Hochdruck-Muskelrheumatismus, das intermittierende Hinken usf. 
Angina-Pectoris-Anfälle wurden von 25 hier vorliegenden Hyper- 
tonikern nur 8mal angegeben. Das Gehirn erscheint also wohl 


58 WEsSTPHAL 


infolge der besonderen Empfindlichkeit der Ganglienzellen gegen- 
über auch nur flüchtiger Anämisierung und infolge von später 
genauer zu erörternden Besonderheiten seiner Vasomotorenfunktion 
den Angriffen der Hochdruckkrankheit ganz besonders ausgesetzt. 

Ingleicher Weisenuroftnochinmancher Hinsicht 
stark gesteigert finden wir diese Hypertonusbe- 
schwerden am Hirn wieder in der Anamnese der von 
Apoplexie Befallenen. Die Annahme, daß diese als Prodromal- 
erscheinungen der Hirnblutungen und selten auch einer akut ein- 
setzenden weißen Erweichung zu deren Entstehung enge Be- 
ziehungen haben, verlangt genaueres Eingehen auf Häufigkeit und 
Art dieser Sensationen. 

Es mußten bei der Durchsicht der vorliegenden 60 Apoplektiker- 
Anamunesen 10 Fälle ausgeschieden werden, weil der Zustand der Kranken 
keine Erhebung der Vorgeschichte möglich machte. Bei den verbleibenden 
50 Kranken wiesen nur 13 keine Prodromalerscheinungen am Hirn auf. 

Bei 2 dieser vordem Beschwerdefreien ist die Lähmung im Schlaf 
eingetreten, bei 2 morgens beim Aufstehen, 2mal bei stärkerer körper- 
licher Anstrengung, 2 mal fanden sich interessanterweise bei ganz plötz- 
lichem Eintritt der Lähmung nur weiße Erweichungsherde. Eine Blut- 
druckerhöhung zumeist sehr beträchtlichen Grades war bei allen Kranken 
mit plötzlich eingetretenen Apoplexien vorhanden, nur bei einem sehr 
roten Pykniker mit Hyperglobulie war stets ein geringer Hypertonus von 
140—160 meßbar. 

Ausgeprägte Schwindelattacken gaben mehr oder minder 
lange, manchmal 4—5 Tage vor dem Eintreten des Insultes 18 Kranke 
an. Umgefallen bei solchen Schwindelanfällen mit anschließender kurzer 
Bewußtlosigkeit waren 2; Bücken, Heben schwerer Lasten war auch 
hier manchmal auslösende Ursache. Auch wurde öfter eine lange Dauer 
solcher Anfälle, 3—5 Minuten, angegeben, eigentliche Meni&resymptome 
fehlten stets. 

Über hochgradigen Kopfschmerz, lange vorausgehend der 
Lähmung wurde 21 mal unter den 50 Kranken geklagt, bei 3 derselben 
hatte er einen ausgesprochenen Halbseitencharakter. 

Enger werden die Beziehungen zur Apoplexie bei der ebenfalls 
großen Zahl von Kranken, welche der definitiven Lähmung mehr 
oder minder lange vorausgehende flüchtige Krankheitsbilder der 
gleichen Art aufweisen. Solche angiospastische Insulte 
fanden wir 15mal. Wegen des starken Eindruckes, den eine solche 
Vorgeschichte der Lähmung immer wieder machte, und wegen der 
großen Wichtigkeit der Präapoplexien seien diese Kranken- 
geschichten in kurzem Auszug mitgeteilt. 

l. Frau Christine Re., 52 Jahre alt, fette rote Pyknikerin mit 
submyxödematösen Zeichen, schwankendem Hypertonus von 145—180 mm 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 59 


Hg, Nierenfunktion bis auf Konzentrationsbeschränkung bis 1025 o. B., 
Augenhintergrund o. B., hochgradiger Dermographismus mit starkem 
Reflexerythem. Wassermann: negativ. Frau R. hat seit langen Jahren 
Migräneanfälle gehabt, stets rechtsseitig an der Seite des Mittel- und 
Hinterschädels, besonders häufig kurz vor der Menstruation. Im Früh- 
jahr 23 alle 14 Tage sehr schwere Migräneanfälle, es wurde ihr oft 
schwarz vor Augen für 5—10 Minuten, Atemnot trat dabei auf, auch 
einige Male für wenige Minuten völlige Steifheit und Unmöglichkeit der 
Bewegung im linken Arm. Im Juni 23, 8 Tage nach einem solchen 
Migräneanfall, wurde ihr plötzlich schwarz vor Augen, sie ist hingefallen, 
dann nach langer Bewußtlosigkeit mit Lähmung der linken Seite auf- 
gewacht. Kopfschmerz danach für mehrere Monate geschwunden, die 
Hemiplegie wurde wieder ganz weitgehend gebessert. Anfangs November 
wieder heftige Kopfschmerzattacken an alter Stelle. Ende November bei 
einem neuen Kopfschmerzenanfall wieder neue Bewußtlosigkeit für einige 
Tage, seitdem besteht völlige Läbmung links mit entsprechenden neuro- 
logischen Zeichen. Seit dem zweiten Anfall bestehen keine Kopf- 
schmerzen mehr. 

Die enge Verknüpfung der Apoplexie mit der Migräne, das Voraus- 
gehen von Ohnmachtsanfällen und flüchtigen Paresen im linken Arm, 
sind hier sehr charakteristisch, wichtig ist auch das Wegbleiben der 
Migräne nach der Apoplexie, infolge der Zerstörung der zum Schmerz 
führenden Gefäße?! 

2. Mie. Wenzel, Werkmeister, 65 Jahre alt. Genuine Hypertension 
von 160—180 bei klinisch guter Nierenfunktion. Wassermann: negativ; 
früher gesund, vor 8 Tagen plötzlich starker Schwindelanfall auf der 
Straße mit kurzer Bewußtlosigkeit, konnte sofort danach wieder gehen, 
aber nicht mehr sprechen. Nach 4 Stunden ist die Sprache wieder völlig 
wiedergekehrt. 3 Tage später erneuter Anfall mit Lähmung der rechten 
Seite, auch diese Lähmung ist in wenigen Stunden vorübergegangen. 
Jetzt nach 5 Tagen dritter Anfall mit völliger Lähmung der linken Seite. 
Diese bleibt mit positivem Babinski usf. Auf der rechten Seite sind 
neurologisch keine Zeichen überstandener Parese vorhanden, die Sprache 
ist intakt. 

3. Katharina Sch., 70 jährige Witwe, mit einem genuinen schwan- 
kenden Hochdruck von 160—220 mm Hg ohne schwere Funktionsstörung 
der Nieren. Wassermann: negativ. Hat viel Kopfschmerzen, in den 
letzten 20 Jahren oft Schwindelanfälle. In den ersten Tagen des März 
morgens beim Haarmachen konnte sie plötzlich den linken Arm und das 
linke Bein nicht mehr bewegen. Nach wenigen Stunden schon wieder 
Rückgang der Lähmung, nach 4 Tagen war sie völlig geschwunden. In 
der Mitte des März trat noch einmal morgens die gleiche linksseitige 
Lähmung ein, nach 24 Stunden war sie wieder völlig geschwunden. Am 
26. März verlor die Patientin plötzlich beim Urinlassen nachts um 2 Uhr 
das Bewußtsein, sie fiel dabei hin, als sie wieder zu sich kam, war sie 
zum drittenmal linksseitig gelähmt. Die Lähmung blieb jetzt mit den 
typischen neurologischen Symptomen. 

4. Katharina We., 49jährige Ehefrau. Sekundäre Schrumpfniere 
nach 1912 durchgemachter Nierenentzündung mit vereinzelten Erythro- 


60 WESTPHAL 


cyten im Sediment 0,040—0,051 RestN, 5,1 mg Harnsäure im Serum, 
sekundäre Anämie von 3,4 Millionen roten, hochgradiger Retinitis albu- 
minurica. Wassermann: negativ. Häufige Kopfschmerzen. Am 11. XI. 
24 bemerkt die Patientin in der Nacht plötzlich eine Lähmung des linken 
Armes und Beines, Bewegung mit beiden war unmöglich. Sie schlief 
wieder ein, am Morgen war sie vollkommen beschwerdefrei mit guter 
Beweglichkeit der linken Körperhälfte. Am folgenden Tage 5mal An- 
fälle folgender Art: Es wurde der Patientin etwas „duselig“ und sie 
konnte den linken Arm und das linke Bein nicht bewegen. Ihr Gesicht 
habe auch dabei schief gestanden, der linke Mundwinkel hing herab, sie 
konnte nur schwer sprechen. Dauer dieser Zustände etwa 5 Minuten. 
In der Zwischenzeit völlige Beschwerdefreiheite. Am Abend legte sich 
Patientin wie immer zu Bett, am folgenden Morgen beim Erwachen war 
linker Arm, linkes Bein geläbmt, Facialisparese links. Im Krankenhaus 
finden sich die entsprechenden neurologischen Zeichen, 

5. Wilhelm Bu., 56jähriger Wirt, mit Blutdruck über 200, bei an- 
scheinend genuiner Hypertonie. Kommt mit typischer Halbseitenlähmung 
rechts in die Klinik: 2 Tage vor der Apoplexie auffallend starke Kopf- 
schmerzen, 1 Tag vor derselben plötzliches Umfallen mit Bewußtlosigkeit, 
diese dauerte nur !/, Stunde, beim Aufwachen bestand danach Sprach- 
läbmung. Diese schwand nach !/, Stunde bereits, irgendwelche anderen 
Lähmungserscheinungen waren nicht mehr vorhanden, in der folgenden 
Nacht schlief er gut, am Morgen konnte er nur noch lallen und war 
rechtsseitig gelähmt. 

6. Anna Wa., 63jährige Architektenwitwe. Zarter, stark vaso- 
motorischer Mensch mit genuiner Hypertension von 200 mm Hg ohne 
klinisch ausgesprochene Nierenfunktionsstörung. Beide Eltern sind an 
Schlaganfall gestorben, sie leidet seit 20 Jahren an starken Kopfschmerzen, 
hat in den letzten Jahren oft Schwindelanfälle.. Bei einem schweren 
Schwindelanfall vor 4 Jahren ist ihr der linke Arm heruntergefallen, 
erst nach einigen Stunden ist die Lähmung geschwunden. Jetzt nach 
starken Aufregungen über die mißratene Tochter plötzlich Lähmung der 
rechten Seite mit entsprechendem neurologischem Befund, die langsam 
zurückgeht. In der Klinik viel Klagen über Schwindelanfälle und Kopf- 
schmerzen, bei einem solchen Kopfschmerzenanfall mitten in der Nacht 
wurde ihr bei dem Versuch, sich aufzurichten, plötzlich taumelig, und 
sie fiel bewußtlos zurück. Solche Apoplexie-Recidive wiederholten sich 
oft, sie schienen zum Teil derselben flüchtigen Art zu sein, wie die 
erste Attacke. 


Motorische Ausfallerscheinungen so charakteristischer Art, wie 
sie bisher geschildert werden konnten, in sehr verschiedenem Zeit- 
abstand Stunden, Tage, sogar Jahre vorher auftretend, mit flüchtigen 
Paresen am Arm (Nr. 1, 6) oder Arm und Bein (Nr. 3, 4) mit 
entsprechender Halbseitenlähmung oder von motorischer Aphasie 
(Nr. 2, 5) vor der rechtsseitigen Hemiplegie, zeigen in einwandfreier 
Weise, daß hier nach Art angiospastischer Insulte wieder schnell 
reparable Störungen am Gehirn in genau denselben Gefäßbezirk, 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 61 


in dem sich später die Lähmung entwickelt, vorhanden sein können. 
In der Lokalisation weniger deutlich aber sonst in der Erscheinung 
ebenso ausgesprochen sind die flüchtigen Insulte, bei denen 
nur eine tiefe länger dauernde Bewußtlosigkeit, eventuell 
verbunden mit cerebralen Reizerscheinungen eintritt. Diese Formen 
bilden den Übergang zu den typischen leichten Schwindelanfällen der 
Hochdruckkranken. 


Frau Katharina We., Wwe. von 55 Jahren, genuine Hypertonie von 
180/200 mm Hg. Arteriosklerotische Schrumpfniere mäßigen Grades 
(Sektionsbefund) mit guter Nierenfunktion. Eingeliefert wegen links- 
seitiger Lähmung. Die Sektion zeigte zwei Monate später einen großen 
braunen Erweichungsherd in den rechten Stammganglien. Seit 5 Jahren 
bestehen Schwindel- und Ohnmachtsanfälle. Dabei besonders im Früh- 
jahr und Herbst ausgelöst manchmal durch Überarbeitung als Lehrerin 
Anfälle von Bewußtlosigkeit, bei denen sie 3—4 Stunden ohnmächtig 
liegen blieb, Weihnachten vor 3 Jahren hat sie eine ganze Nacht so 
gelegen. Sie wurde am Morgen bewußtlos aufgefunden. Gelähmt war 
sie nach solchen Anfällen nie, bei einem hat sie sich eine schwere Kopf- 
verletzung zugezogen, deren Narbe noch sichtbar ist. Für Epilepsie 
kein Anbaltspunkt. 4 Tage vor der Lähmung Übelkeit, dauernd Brech- 
reiz, mehrmals Erbrechen, schließlich am Morgen beim Versuch, die 
Wohnung aufzuschließBen, Versagen der linken Hand, dann Hinfallen und 
Bewußtlosigkeit für 2'/, Stunden. Neurologisch typische Halbseiten- 
lähmung links. 

Der Sektionsbefund, der nur eine Erweichung in den rechten Stamm- 
ganglien zeigt, trotz der schweren vorausgehenden Attacken, spricht dafür, 
daß anatomische Schädigungen schwerer Art sich bei diesen nicht aus- 
gebildet haben. Diese schweren Zustände von Kollaps werden auch als 
angiospastische Insulte, die vielleicht besonders im Hirnstamm sich ab- 
gespielten, aufgefaßt. 

Zu dieser Form der präapoplektischen Erscheinungen seien auch 
hier gerechnet noch ganz besondersschwere Schwindelanfälle 
bei 5 Patienten, einer 70 jährigen Frau, die ein Jahr vor der rechts- 
seitigen Apoplexie bei einem solchen Anfall von Bewußtlosigkeit umfiel 
und sich den Arm brach, aber nachher keine Lähmungserscheinungen 
aufwies, und bei 4 anderen Patienten einem 50jährigen, einem 55 und 
einem 70jährigem Mann und einer Frau von 59 Jahren. Sie bieten 
sämtlich bei einer genuinen Hypertonie schwere Schwindelanfälle mit 
ausgesprochener Bewußtseinstrübung, so daß sie sich hinlegen mußten, 
von 5—10—15 Minuten Dauer. 


Es handelt sich bei diesen Kollapszuständen der Hypertoniker 
ja nur um graduelle Steigerung der früher beschriebenen Schwindel- 
anfälle. Aber der Unterschied vom Eintritt einer wirklichen Hirn- 
blutung besteht bei solcher Schwere der Symptome nur in dem 
schnellen Rückgang der Erscheinung. Ob nicht bisweilen solche 
Zustände doch schon zur Entwicklung kleiner Erweichungsherde 


62 WESTPHAL 


in den Stammganglien führen, läßt sich naturgemäß bei der Schwierig- 
keit des klinischen Nachweises derselben auch bei genauester 
neurologischer Untersuchung kaum entscheiden. Aber die Häufig- 
keit solcher Schwindelanfälle bei Hypertension und die relative 
Seltenheit ganz multipler verschieden alter Erweichungsherde im 
Gehirn beim Hypertoniker und Apoplektiker spricht dagegen, daß 
dies Ereignis häufig ist. 

12 angiospastische Insulte schwerer Art, 6 davon 
mit flüchtigen Paresen, können demnach bei 50 Apo- 
plexien vorausgehend der definitiven anatomischen 
Läsion nachgewiesen werden. 

Aber auch der Eintritt dieser Schädigung selbst zeigt bei 
genauer Betrachtung vieles, was gegen die alte Auffassung von 
der akut eintretenden Gefäßruptur spricht. Auf der einen Seite 
die Plötzlichkeit des Eintritts in vielen Fällen, das schlagartige, 
nach dem der Krankheitsprozeß seinen Namen erhalten hat. Es 
muß schon ein ganz plötzlich einsetzender ausgedehnter Ausfall 
von wichtigen Gebieten der Stammganglien und der inneren Kapseln 
sein; bei Gefäßembolie läßt sich so etwas gut verstehen, kaum 
durch eine dort aus einer Ruptur erst nach und nach einsetzende 
Blutung, viel eher wieder durch eine plötzliche Anämisierung infolge 
einer totalen Arterienkontraktion. Ist diese noch schwankend, läßt 
sie ab und zu geringe Mengen arteriellen Blutes zu den asphyk- 
tischen Hirnpartien durchtreten, so wird man am Eingang der 
Apoplexie auch dementsprechende Bilder einer erst allmählich und 
schwankend einsetzenden Ausbildung des Lähmungsprozesses neben 
dem imponierenden plötzlichen Einbruch derselben erwarten können. 
Diese direkten Prodromalerscheinungen finden sich auch 
oftmals, 183mal unter unseren 50 Apoplektikern im Gegensatz 
zu nur 13 ohne irgendwelche kürzer oder länger vorausgegangenen 
Alarmzeichen. Sie scheinen demnach an Zahl nicht gering für den, 
der sich die Mühe einer genauen Erhebung der Anamnese macht. 
Was erhalten wir da für Angaben? Über starken Kopfschmerz 
öfter auf der der Lähmung entgegengesetzten Seite, Schwindel- 
gefühle, starke Müdigkeit häufig verbunden mit Depressionsgefühl 
und Angst berichten viele. Ebenso über Denkunfähigkeit, so 
daß die Patienten ganz still sich verhalten. Schließlich entwickeln 
als cerebrale Reizsymptome sich oft noch Erbrechen oder dauernde 
Brechneigung als starke Übelkeit empfunden und Gähnkrämpfe, 
also alles Dinge, wie wir sie ohne Entwicklung einer Hirnblutung 
aus den Angaben der Hypertoniker zu hören gewohnt sind. Sollen 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 63 


Zahlen gegeben werden, so wurde berichtet von Kopfschmerz 5 mal, 
Schwindel 5mal, hochgradiger Müdigkeit und leichter Benommen- 
heit zum Teil mit Depression 7 mal, starker Übelkeit und Erbrechen 
manchmal mit starkem Speichelfluß ebenfalls 7 mal. Einige charakte- 
ristische Krankengeschichten in kurzem Auszug: 


1. Friederike Sch., 62 Jahre alt, genuiner Hypertonus von 160 bis 
180 bei Diabetes. Früher ohne besondere Beschwerden. Am 5. I. 25 
morgens starke Müdigkeit, Kopfschmerzen, gegen Mittag wurde ihr so 
schwindelig, daß sie aufhören mußte, zu arbeiten, und nach Hause ge- 
fübrt werden mußte. Dort legte sie sich zu Bett. Beim Versuch am Abend 
aufzustehen, stürzte sie vor dem Bett hin, war eine Zeitlang bewußtlos, 
nach dem Aufwachen konnte sie wieder allein ins Bett gehen, alles be- 
wegen, sprechen, aber fühlte sich weiter sehr elend und schwindelig. 
Beim Erwachen am nächsten Morgen bestand völlige motorische Aphasie, 
die sich in 8 Tagen sehr weitgehend besserte. 


2. Frau Barbara Mi., 49 Jahre alt, sehr adipöse Frau mit genuinem 
Hypertonus von 220—240 mm Hg mit guter Nierenfunktion, Wasser- 
mann negativ. Am 21. V. 23 mittags plötzlich starke Müdigkeit, Übel- 
keit, bäufige Brechanfälle, im Laufe des Nachmittags wurde sie sehr still, 
dauernd etwas benommen, starkes und häufiges Gähnen, dazwischen Timer 
wieder Erbrechen. Abends um 8 Uhr hing plötzlich die rechte Mund- 
seite herunter, gleichzeitig besteht motorische Aphasie. In der Nacht 
und am nächsten Tage tiefes Coma. Am übernächsten Tage ist die 
Apbasie geschwunden, dann setzt wieder tiefe Bewußtlosigkeit bis zu 
dem am uächsten Tage erfolgenden Tode ein. 

Die Sektion zeigt eine große Hirnblutung in der rechten Hemi- 
sphäre in der Gegend der Insel. 


3. H., Adam, 5öjähriger Postaushelfer, leichte genuine Hypertonie 
an der Grenze der Norm von 150—160 mit Schwankungen bis 180. 
Wassermann negativ. In den letzten 14 Tagen vor der Apoplexie 
bäufig Schwindelanfälle, besonders beim Bücken, die stets rasch ver- 
schwanden. Abends, am 16. VIII. 24, bemerkt Patient plötzlich, daß er 
den rechten Arm und das rechte Bein schlecht bewegen und daß er 
schlecht sprechen kann. Die Lähmung geht bald zurück, so daß er 
wieder Nachtdienst machen kann, am nächsten Morgen setzt wieder, 
diesmal bleibend, Lähmung der rechten Seite mit motorischer Apbasie ein. 

Neben diesen langsam einsetzenden, zuerst manchmal noch 
schwankenden Lähmungserscheinungen, die sich über Stunden aus- 
dehnen können, pflegt bei anderen der Eintritt der Lähmungser- 
scheinungen sich auf 10—20—30 Minuten zu erstrecken. 

Bei einer 64 jährigen Frau mit linksseitiger Hemiplegie ist zuerst 
die Lähmung des linken Armes vorhanden, dann fällt sie wenige Minuten 
später bei dem Versuch einen Stuhl aufzunehmen und wird dann erst 
bewußtlos. Ein Patient mit einer Ponsblutung bekommt erst leichte 


Läbmungen beider Arme, dann telephoniert er selbst nach der Rettungs- 
wache, weil dauernde Übelkeit weiter besteht und wird erst 10 Minuten 


64 WESTPHAL 


später bewußtlos. Ein 56 jähriger Hypertoniker bemerkt ein allgemeines 
Schwächegefühl, er schellt nach seinen Angehörigen, läuft noch eine 
Treppe herunter, dann knickt er zusammen, weil das rechte Bein ver- 
sagt, allmählich wird die Lähmung rechts ausgesprochener, schwindet 
auch die Sprache und er wird bewußtlos. Alles entwickelt sich in 
20 Minuten. 

Häufiger aber noch wie dieser allmähliche Eintritt der moto- 
rischen Ausfallserscheinungen sind allgemeine cerebrale Störungen: 
Schwindel, es wird schwarz vor den Augen, allgemeine Steifigkeit 
der Bewegungen, depressive Stimmung, alles Dinge, die m. E. für 
prodromale ischämische Zustände in den Stammganglien sprechen, 
in denen sich ja auch der wesentliche Teil der Blutungen zu ent- 
wickeln pflegt. 

Werden diese so häufigen cerebralen Erscheinungen der Hyper- 
tonien und die Hirnblutungen sowie wenige plötzlich eintretende 
Erweichungen bei Hypertonus ohne Thrombose oder obliterierende 
Arteriosklerose nur als verschiedene Entwicklungsstufen ein und 
desselben Prozesses aufgefaßt, so ist es für eine solche Anschauung 
sehr verständlich, daß auch nach Eintritt der Hirnblutung 
die Erscheinungen cerebraler Ischämie weiter auf- 
treten. Das ist nämlich häufiger der Fall. Starke Schwindel- 
anfälle zum Teil mit Erbrechen, Kopfschmerzen sind auf Stationen, 
auf denen eine größere Anzahl von Schlaganfallkranken vereint 
ist, oft gehörte Klagen. Diese manchmal plötzlich einsetzenden 
starken Attacken solcher Beschwerden sprechen dagegen, dab es 
sich etwa immer nur um einfache Folgezustände der blutigen Er- 
weichung handelt, auch der Eintritt erneuter Apoplexien in solchem 
Anfall ist am ehesten im Sinne einer besonderen Steigerung solcher 
ischämischen Zustände zu verstehen. Ein starker Wechsel des 
Bildes der Lähmung mit Zeiten starker Bewußtseinstrübungen und 
flüchtigen Lähmungserscheinungen in sonst nicht gelähmten Ge- 
bieten oder auch plötzlich kommende und gehende Lähmungen 
allein neben dem anatomisch bedingten Funktionsausfall sind Tat- 
sachen, die nicht etwa durch den Druck der Blutung oder ein 
Ödem am Rande der blutigen Erweichung zu klären sind, wie 
manche im Anfang einer Apoplexie schnell wieder schwindenden 
Lähmungssymptome, sondern hier müssen den angiospastischen 
Insulten, wie sie bei den einfachen Hypertensionen beschrieben 
wurden, gleichende Vorgänge weiter spielen am Gehirn. 

Eine 67 jährige Köchin, Babette Sch., mit genuiner stark schwan- 


kender Hypertension von 120—210 hat anfangs März eine leichte Apo- 
plexie erlitten mit Armbruch beim Hinfallen. Seitdem Facialisparese 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 65 


links, ganz schlechtes Gedächtnis, starker Intelligenzdefekt und Weiner- 
lichkeit. Sonst Reflexe o. B. Keine ausgesprochenen Lähmungen, öfter 
Kopfschmerzen und Schwindel. Am 18. IV. morgens nach Verlassen 
des Bettes plötzliche motorische Aphasie, starker Kopfschmerz links und 
taubes Gefühl am linken Arm. Nach einer halben Stunde allmähliche 
Rückkehr der Sprache mit anfänglichen Sprachstörungen, mittags um 
12 Uhr waren die letzten Spuren des Anfalls vorüber, abends noch 
einmal bis 7 Uhr für eine halbe Stunde hochgradiges Taubheitsgefühl in 
den beiden Armen mit starkem Kopfschmerz. Am nächsten Tage und 
in der Folgezeit keine derartigen Erscheinungen mehr. 

Bei einem anderen Patienten, einem 43jährigen genuinen Hyper- 
toniker mit Hyperglobulie, der vorher zweimal leichte Apoplexien er- 
litten hatte, auch oft vorhandene Zustände mehr oder minder ausgeprägter 
Benommenheit mit starken Kopfschmerzen, erfolgt plötzlich eines Tages. 
für 20 Minuten ein Anfall völliger Bewußtlosigkeit und rechtsseitiger 
Lähmung mit stark gesteigerten Sehnenreflexen ohne Babinski, ausge- 
sprochene Augenmuskellähmung mit Blickeinstellung nach links, tiefer 
Blässe des sonst hochroten Gesichtes und Absinken des sonst auf 200 
stehenden Blutdruckes auf 145:80 mm. Nach 20 Minuten wieder guter 
Allgemeinzustand mit Schwund der Lähmung, dann noch einmal für 
5 Minuten Halbseitenlähmung rechts, der völlig bei Bewußtsein gebliebene 
Patient versucht vergebens zu sprechen, dann wieder schneller Rückgang 
des Zustandes. Bei einem anderen langdauernden Anfall von motorischer 
Aphasie und Kopfschmerz war sein Blutdruck von einem Dauerniveau 
von 220 auf 250 angestiegen. 

Gleiche Attacken flüchtiger oft sich wiederholender Lähmungen nach 
eingetretener anatomischer Schädigung jedesmal mit starker Blut- 
druckkrise nach aufwärts zeigten zwei früher genauer geschilderten 
Frauen, eine dritte wies Anfälle von starker Bewußtseinstrübung ohne 
motorische Ausfälle bei Blutdruckanstieg auf 250 mm Hg anstatt der 
Normalhöhe von 180—200 mm auf. 


Das Gehirn der Patienten, die eine Hirnblutung erlitten haben, 
ist eben häufig dauernd weiter den gleichen ischämischen Insulten 
ausgesetzt, daher sehen wir auch so oft den Eintritt neuer Apo- 
plexien. Wollen wir diesen Zustand der Blutgefäße am Gehirn 
verstehen, so gestattet m. E, da ja das Gehirn leider sich unserer 
direkten Beobachtung entzieht, den besten Einblick der Vergleich 
mit dem Augenhintergrund der Hypertoniker. 


Die bekannte (Gunn, Leber, Volhard, Schik) außerordentlich 
auffallende Verdünnung des Arterienkalibers, „Silberdrahtarterie*, das 
fast völlige Schwinden, besonders des arteriellen Teiles der Kapillaren 
und dabei meist eine deutliche, manchmal das 2 bis 3fache betragende 
Verbreiterung der Venen, die bisweilen sogar ampullenförmige Erweiterung 
zeigen, bieten uns dort Bilder, die für die Großartigkeit der Anderung 
der Gefäßfunktion auch im Gehirn Rückschlüsse gestatten. Volhard 
und Schik vertreten bekanntlich den Standpunkt, daß die bei der großen 
Anzahl von Dauerhypertonikern auch ohne Zeichen des Nierenversagens 


ld 


Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 9 


66 WESTPHAL 


auftretende Retinitis nur Folge dieser dauernden Ischämie sei, die anato- 
mischen Gefäßveränderungen, Blutungen, Ödeme, Exsudate, die lipoid- 
baltigen Degenerationsherde der Retina werden von ihm alle nur als 
Folgen dieser angiospastischen Ernährungsstörungen angesehen. Auch 
für die Netzhautveränderungen der Diabetiker weist Grafe auf das 
Vorhandensein eines erhöhten Blutdruckes als unbedingt notwendiger 
Voraussetzung hin. Und wenn auch im Eondausgang mancher Nieren- 
leiden die Addition Hypertonie und Azotämie für die Schwere der 
Retinitis ausschlaggebend sein mag, so zeigen doch die in der Literatur 
niedergelegten und die auch hier mit liebenswürdiger Unterstützung des 
Herrn Kollegen Metzger von der Augenklinik beobachteten Menschen 
ohne jeden Nierenfunktionsausfall, daß allein die Ischämie durch zuerst 
rein funktionelle Netzhauterterienverengerung die Ursache schwerster 
‚anatomischer Störungen abgeben kann. Auf die Parallele zur Hirnblutung 
soll nicht weiter hingewiesen werden, eher auf das auch hier bei Hyper- 
tonikern zweimal, einmal davon bei einem mit späterer Apoplexie, be- 
obachtete flüchtige Auftreten von Amaurosen, die wir entsprechend der 
schönen ophthalmoskopischen Beobachtung von Elschnig auf eine wieder 
schwindende Anämie durch arteriellen Gefäßkrampf zurückführen möchten. 


Ein zweites Organ, das direkter Beobachtung zugänglich ist, 
sind die Hände von Kranken mit Akroparästhesien und Ab- 
sterben der Finger, also leichteren Erscheinungsformen 
der Raynaud’schen Krankheit, die ja im ausgesprochenen 
Bilde erst zur symmetrischen Gangrän führt. Die Tatsache, daß 
den leichteren Formen der Raynaud’schen Krankheit gleichende 
oder sehr nahestehende Krankheitsprozese gerade auf dem 
Boden der genuinen Hypertension sich gerne entwickeln, 
ist meines Wissens bisher noch nicht zur Genüge betont, viermal 
fanden wir diese Beziehung deutlich ausgeprägt. 


l1. Bei einer 48jährigen Frau nach Kastration mit stark schwan- 
kender Hypertonie von 100—180 mm Hg mit Migräne, starkem Schwindel- 
und leichten Raynaud- Attacken. 

2. Bei einer ö3jährigen Frau mit stark schwankendem Hypertonus 
von 145—200 mit Neigung zu häufigen Anfällen flüchtiger Bewußtlosig- 
keit, an den Händen oft Zustände schwerster Oyanose, Kälte und starke 
Parästhesien. 

3. Bei einer 46 jährigen Kranken mit einer Apoplexie bei genuiner 
Hypertonie von 190—200, wo seit einem Jahre hochgradige Anfälle von 
Taubheit, Absterben der Finger bei tiefer Blässe und zum Teil bläulicher 
Verfärbung auftreten, manchmal auch begleitet von schwächeren Sensa- 
tionen ähnlicher Art an beiden Händen und Füßen. 

4. Bei einer 59 jährigen Frau mit genuiner Hypertonie von 190 bis 
220, die seit Jahren über starke Kopfschmerzen, Schwindel, Angina 
pectoris-Attacken klagt und 2 Apoplexien erlitten hat. 


Die alte Auffassung des Schrifttums, daß wir es beim Raynaud 
mit einer auf dem Boden einer neurovaskulären Diathese (Oppen - 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 67 


heim) entstandenen, im wesentlichen durch pathologische Gefäß- 
funktion bedingten Krankheit zu tun haben, ist besonders durch 
die kapillarmikroskopischen Untersuchungen der letzten Jahre, vor 
allem der O. Müller’schen Schule, von Weiß, Parrisius, 
Niekau sowie Pribrams und Halperts bestätigt worden. Auch 
hier war es bei zwei dieser Kranken möglich, mit dieser Technik 
die Kapillaren des Nagellimbus und der benachbarten Fingerhaut 
zu betrachten. 


Bei Patientin Nr. 4 wurde sie vorgenommen während eines mittel- 
starken Anfalles, wo bei erbaltenem Radialispulsa an der ganzen linken 
Hand subjektiv und objektiv sehr starkes Kältegefühl vorhanden war. 
An den Fingern waren besonders die beiden letzten Glieder tiefblaß, 
streckenweise von bläulichem Ton, kalt und gefübllos. Parästhesien be- 
stehen im Unterarm. Kapillarmikroskopisch sind weite Gebiete nicht 
blog am Limbus, auch an der benachbarten Fingerhaut tief blaß, nur 
sehr wenige Kapillaren sind erkennbar. An der nur aus wenigen perl- 
schnurartig aneinandergereihten Erythrocyten bestehenden Füllung ist 
meist gar keine Bewegung erkennbar, nur an wenigen bier und da ganz 
langsame, wie schiebende Bewegung. Daneben finden sich Gebiete mit 
ganz hochgradiger Füllung aller Kapillaren, besonders stellenweise an 
der Fingerhaut, aber völligen Stillstand aller Bewegungen in den Schlingen, 
die mittelbreit, unregelmäßig konturiert sind und mit grobgekörntem 
Inhalt gefüllt sind. Die grobe Körnelung der Biutsäule würde die ge- 
rıngste Bewegung erkennen lassen, sie fehlt bei einer Dauerbeobachtung 
von 30 Minuten. Der gleiche Zustand besteht am benachbarten Ring- 
finger, nur daß hier die Gegenden der Stase mit starker Kapillarfüllung 
überwiegen. 

Nach einer Stunde besteht noch das gleiche Bild. Hier und da im 
blassen Gebiet in ganz schmal gefüllten Kapillaren ganz geringe Be- 
wegungen, im cyanotischen Gebiet bei starker Füllung aller Kopillaren, 
weiter völliger Stillstand der Blutbewegung. Nach 1!/, Stunden noch 
ein ähnliches Bild. Es erscheint die Strömung in den blauen Partien 
ein wenig deutlicher. Es wird jetzt eine Umschnürung des Oberarmes 
vorgenommen mit der Gummimanschette des Blutdruckapparates, durch 
hochgradiges Aufblasen derselben für 1 Minute die arterielle Zufuhr des 
Armes abgeschnitten (sog. Umschnürungsreflex), bei Offuung der Ab- 
schnürung setzt sofort starke Füllung aller Kapillarschlingen in den 
blassen Gebieten ein, und gekörnte etwas beschleunigte Normalströmung 
in allen auch vorher stagnierenden Kapillaren, die Hand wird warm und 
rosa gefärbt. In den nächsten Tagen nochmals Kapillarmikroskopie, sie 
bietet diesmal das Bild normaler Hypertonikerströmung an der jetzt 
beschwerdefreien Hand. 

2. Das gleiche kapillarmikroskopische Bild ließ sich bei der Patientin 
Nr. 1 erheben, nur daß hier die Erscheinungen völliger Stase in zum 
Teil viel erheblicher erweiterten Kapillarschlingen mehr in den Vorder- 
grund traten gegenüber der Anämie. Eine Stunde wurde diese zweite 


Hr 


68 WESTPHAL 


Beobachtung durchgeführt mit gleichbleibender Anämie und Stase in 
dem befallenen Gebiete. 

Diese Krankheitszustände an Hypertonikern, die allerdings 
niemals zu der klassischen Form der doppelseitigen Gangrän führten, 
sondern nur leichte Formen wieder zurückgehender Ernährungs- 
störungen darstellten — über die Nomenklatur: ob Akroparästhesie, 
Doigts morts oder leichte Formen von Raynaud'scher Krankheit, 
kann man streiten, sachlich stellen sie aber sehr ähnliche, nur ver- 
schieden stark entwickelte Stufen derselben pathologisch-physiolo- 
gischen Vorgänge dar — zeigen ähnlich wie bei den Beobachtungen 
von Niekau, Pribram, Leriche und Policard neben der 
kapillären Kontraktion auch Gebiete mit weiten Schenkeln der 
Kapillaren, der Mangel an nachfließendem Blut schien uns bei 
dieser Beobachtung das Ursächliche. Es handelte sich demnach 
um ischämische Stasen: Den ganzen Prozeß müssen wir zurück- 
führen auf hochgradige Kontraktion der mittleren und kleinen 
Arterien, die zum Teil begleitet ist von solchen der Kapillaren 
und kleinen Venen. Diese Beobachtungen scheinen uns eine 
Parallele zu bieten fürdieZuständeinmanchem Hyper- 
tonikergehirn besonders bei präapoplektischen Erscheinungen. 

Direkte Beobachtungen über Gefäßkontraktionen bei Raynaud sind 
in der Literatur verschiedentlich niedergelegt, Raynaud sah einmal 
eine Kontraktion der Arteria centralis retinae. A. Westphal be- 
obachtete ein Verschwinden der Fußpulse, ähnliche Beobachtungen liegen 
von Morgan, Waren, Roques, Friedemann vor. Das Ver- 
sohwinden der Arteria radialis wurde auch öfter beobachtet. Und was 
hier in diesem Zusammenhange am wichtigsten erscheint, passagäre cere- 
brale Störungen, Aphasie, epileptiforme Zustände, Lähmungserscheinungen 
wurden wiederholt gesehen. (Osler, Oppenheim, Kassierer, 
Rülf). 

Bei 4 der oben angeführten Patienten finden wir ebenfalls 
dreimal NeigungzustarkemSchwindelund flüchtigen 
Kollapszuständen, zweimal eine Apoplexie Enge Be- 
ziehungen zwischen solchen Kollapszuständen und den Erscheinungen 
der Doigts morts scheint des öfteren zu bestehen: 

Ein 19jähriges junges Mädchen, die wegen Brechdurchfall einge- 
liefert wird und über abgestorbene Hände und Unterarme manchmal zu 
klagen hat, hat diese Doigts morts oft kurz vor der Regel und häufig 
gleichzeitig leichte Schwindelanfälle und Kollapszustände. Die gleichen 
Parallelerscheinungen finden wir bei einem 15 jährigen Lehrling mit 
häufiger auftretenden Ohnmachtsanfällen. 


Komplizierter gestalten sich die verschiedenen Ausdrucksformen einer 
solchen starken vasomotorischen Labilität zum Hypertonus bei folgender 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 69 


Beobachtung. Ein jetzt 49 jähriger Schneider hat seit dem 11. Lebens- 
jahre nach einem Typhus häufig tiefblasse kalte Hände und Füße. Dabei 
oft Steigerung dieses Zustandes bei kaltem Wetter, häufiger die ausge- 
sprochenen Anfälle von Gefühllosigkeit, Kälte und Parästhesien mit zum 
Teil tiefblasser, zum Teil blauer Verfärbung der Finger hinauf bis zum 
Handgelenk. Gleichzeitig bei solchen Sensationen in der Hand ist er 
oft plötzlich bewußtlos hingefallen, hat sich nie dabei verletzt, nie unter 
sich gelassen. Nach 2—4 Minuten ist er immer wieder aufgewacht. 
Seit dem 44 Lebensjahre kam oft vorausgehend solchen Kollapsen starkes 
Druckgefühl in der Herzgegend dazu. Zustände völliger Bewußtlosigkeit 
konnten in der Klinik bei dem Kranken nicht beobachtet werden. Sein 
allgemeiner Untersuchungsbefund bietet sonst nichts, Herz o. B. nicht 
nach links vergrößert, Nieren frei, der Blutdruck beträgt bei zweimal 
täglicher Dauermessung 120—140 mm Hg als Maximum. Bei einem 
leichten Anfall von Raynaud mit leichter Bewußtseinstrübung und ge- 
ringen Angina pectoris-Erscheinungen ist das Gesicht rot-blau, die Pupillen 
reagieren gut auf Licht, der Blutdruck steigt auf 165:90. Vier Tage 
später nach Klagen über Kopfschmerz plötzlich Druckgefühl in der Herz- 
gegend bei erhaltenem Bewußtsein, Blutdruck 205:110, nach Nitro- 
glyzerin und Amylnitrit Besserung des Zustandes, Blutdruck 200:110, 
eine halbe Stunde später 180:110, am nächsten Morgen und an den 
folgenden Tagen beträgt der Blutdruck wieder 120—135 mm Hg. 

Die lokale Disposition zur arteriellen Kontraktion scheint bei diesen 
Kranken in höherem Alter auf den ganzen Organismus überzugehen, bei 
der Migräne sehen wir öfters ähnliches, daher vielleicht jetzt bei dem 
Kranken die Disposition zu solchen Gefäßkrisen auch ohne cerebrale 
Erscheinungen. Ausgeprägte Hypercholesterinämie bestand hier. 


Wichtig erscheint auch hier neben den Beziehungen zum 
arteriellen Hochdruck die Verknüpfung von Kollapszuständen mit 
angiospastischem Absterben der Finger. Das gibt auch in Ver- 
bindung mit den soeben angeführten Kranken m. E. das Verständnis 
für einen Schlaganfall bei einem erst 30jährigen Kollegen, der 
seit Jahren über starke Kopfschmerzen und oft über abgestorbene 
Finger zu klagen hatte. Bei Arbeiten im Laboratorium mußte er 
sich oft lange die Finger über der Glasflamme wärmen, um sie 
bewegen zu können. Der Sektionsbefund gab keinen Anhaltspunkt 
für Embolie, Syphilis oder Hypertonus. In dem ausgeschüttelten 
Gefäßbaum des Gehirns fanden sich neben einigen, ganz wenigen 
kleinen Lipoidflecken zwei kleine Aneurysmata dissecantia in der 
Nachbarschaft der Blutung. Die gleiche pathologische Gefäßfunktion 
hat hier auch ohne Vorhandensein von Zeichen allgemeiner Blut- 
druckerhöhung zu einer Hirnblutung geführt. Denn das isolierte 
Gefäßspamen des Gehirns in solchen Fällen, in denen wir 
zweimal typische angiospastische Insulte flüchtiger Art auch 
ohne Blutdrucksteigerung sahen, einmal zu einer Dauer- 


70 WESTPHAL 


schädigung im Gehirn führen können, erscheint sehr wahr- 
scheinlich, mein Lehrer von Bergmann berichtete mir auch von 
einem solchen Fall von Apoplexie ohne Hypertonus. | 

Beziehungen zur pathologischen Gefäßfunktion über das arterielle 
Kontraktionsmoment hinaus bieten mehrere Beobachtungen, wo ein 
starkes Ödem des Gesichtes der Blutung vorausging. 


Bei zwei Patienten mit frischer Apoplexie bei Hypertonus ohne aus- 
gesprochene Zeichen von Nierenschädigung war einen Tag vor der Apo- 
plexie ein starkes Ödem im Gesicht aufgetreten, bei der einen an der 
Oberlippe, bei dem anderen ein Ödem von Oberlippe und Nase mit blau- 
roter, sonst nicht vorhandener Verfärbung derselben. 

Eine 47 jährige Patientin, die dreimal eingeliefert wird in die Klinik 
wegen plötzlicher Kollapszustände nach Vorausgang von heftigsten Kopf- 
schmerzen für 12—14 Stunden, wies das eine Mal eine Gefäßkrise mit 
einem Blutdruckanstieg auf 195:130 auf bei sonst ganz normalem Blut- 
druck, ein zweites Mal hatte sie nach dem Vorausgang von gleichem 
Kopfschmerz dauernde Benommenheit, einen Blutdruck von 140:90 und 
bei gleichzeitig bestehendem starken linken Kopfschmerz ein hochgradiges 
Ödem der linken Schläfen- und Augengegend, obne irgendwelche ent- 
zündlichen Erscheinungen, im Liquor finden sich zahlreiche Erythrocyten 
und bei späterer Lumbalpunktion Hämoglobin. 


Dem Quincke’schen Ödem nahestehende Zustände 
an den Weichteilen des Kopfes erscheinen also hier in engstem 
zeitlichem Zusammenhang mit dem Auftreten von Blutungen. Diese 
Befunde zeigen auch an anderen Orten wie am Hirn eine plötzlich 
gesteigerte Durchlässigkeit und Schädigung der Gefäße. Sie durften 
daher bei der Schilderung der vasomotorischen Begleiterscheinungen 
der Apoplexie nicht weggelassen werden. 

Verlassen wir das eigene Beobachtungsmaterial, so zeigt auch 
ein Blick in das Schrifttum ähnliche Beobachtungen zur Genüge. 


Die neurologische Literatur kennt flüchtige hin und wieder vor- 
kommende Paresen, bei denen dann schließlich eine Apoplexie sich ent- 
wickeln kann, seit langem. Von Erb, Brissaud, Grasset ist für 
die flüchtigen angiospastischen Insulte des Gehirns der glückliche Ver- 
gleich mit dem intermittierenden Hinken gezogen worden, 
Stertz beschreibt das gleiche als periodisches Schwanken der 
Hirnfunktion. An sehr ausgedehntem Material prüfte Idelson die 
Beziehungen des intermittierenden Hinkens selbst zu 
anderen Erkrankungen, er findet darunter eine ganze Reihe von Kranken 
mit hohem Blutdruck, frühzeitigem Arcus lipoides und anginösen Be- 
schwerden und neben flüchtigen hemiparetischen Erscheinungen und Zu- 
ständen von Depression eine ganze Reihe von echten Halbseitenlähmungen, 
von denen er angibt, daß sie eine gute Neigung zum Rückgang hätten, 
die aber ohne Zeichen von Lues sich fanden, oft auffallend früh eintreten, 
mit z. B. 22, 32 und 39 Jahren. Die Entwicklung der Clauditatio 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 7L 


intermittens war meist vor der Halbseitenlähmung eingetreten, die Neigung 
zu isolierten Angiospasmen des Organismus hat hier früh zu schweren 
Schädigungen im Großhirn geführt, vielleicht vor der Entwicklung eines 
ausgesprochenen Hypertonus. Mendel schildert kürzlich auch einen 
39 jährigen Kranken mit intermittierendem Hinken und Hirnblutung. 
Daß nach langdauernden Migräneattacken neben flüchtigen motorischen 
Ausfallserscheinungen sich vereinzelt auch dauernde einstellen, ist von 
Oppenheim, Flatau und Thomas beschrieben worden. 


Auch auf die oben geschilderten Prodromalerscheinungen der 
meisten Apoplexien ist schon von verschiedener Seite hingewiesen 
worden. 


Kisch betont neben der Adipositas als disponierendes Moment auch 
die ausgesprochenen Erscheinungen von cerebraler Arteriosklerose: Kopf- 
schmerz, Schwindel, anhaltend gestörter Schlaf, Gedächtnisschwäche, 
leichte Bewegungsstörungen in Hand und Fuß, transitorische Sprach- 
störungen und flüchtige Sensibilitätsstörungen. Auf die gleichen Vor- 
zeichen weist kurz E. Hermann hin, von anderen regionären Gefäß- 
krisen wird von ihr intermittierendes Hinken, von Kisch die abdominelle 
Dyspraxie angegeben. An einem großen Material der Kieler Klinik 
schildert kürzlich Hanse an der Hand von 135 Krankengeschichten 
von Apoplexien, von denen allerdings 34 für die vorliegende Frage- 
stellung wegen des Vorhandenseins von Lues, Vitium cordis, Encephalitis 
bei Grippe oder auch Pneumonie, Trauma oder Gasvergiftung ausfallen, 
kurz die Prodromalsymptome, die bei ihm 18mal nur fehlen. Man sieht, 
auch hier tritt das ganz Überraschende dieses Ereignisses zurück bei 
genauem Erheben der Anamnese. 13 Kranke klagten seit Jugend über 
Kopfweh, Migräne, Schwindel, bei 41 Kranken wurden vorausgehend 
Neigung zu Depressionen von den Angehörigen angegeben. Bei dem 
Anfall gingen voraus oder stellten sich gleichzeitig mit der Lähmung 
ein: 53 mal Zustände von Verwirrtheit, ängstlicher Unruhe, 22 Kranke 
klagten über Schwindel und heftigem Kopfschmerz, 21 waren vergeßlich 
und zerstreut, 6 klagten über Mattigkeit, Schläfrigkeit, Arbeits- und 
Konzentrationsunfähigkeit. Die zeitliche Dauer dieser präapoplektischen 
Erscheinungen wird auch hier ganz verschieden angegeben. 


Wir sehen, dem, der sich überhaupt genauer mit dem Erheben 
der Vorgeschichte der im Durchschnittsbetriebe einer Klinik nun 
nicht gerade als sehr „interessanter Krankheitsfall“ angesehenen 
Apoplexie bei Hypertonie abgibt, drängen sich die ausgesprochenen 
präapoplektischen Erscheinungen ohne weiteres auf. Ihre Existenz 
und auch ihre Deutung scheint mir zur Genüge gesichert. Wenn 
auch direkte Einsicht in die Gefäßversorgung des Gehirns nicht 
möglich ist wie am Augenhintergrund oder durch Betasten der 
Fußpulse beim intermittierenden Hinken oder durch kapillarmikro- 
skopische Betrachtung beim abgestorbenen Finger, so gestatten 
doch die engen klinischen Beziehungen zu diesen Krankheitsbildern 


72 WESTPHAL 


genügend überzeugende Schlüsse für das Zustandekommen ischä- 
mischer Zustände am Großhirn. Doch scheint es dem Verfasser 
nicht berechtigt, sich das Zustandekommen solcher umschriebener 
Ischämien im Gehirn zu einfach vorzustellen, denn es treten einer 
solchen Deutung zwei Tatsachen entgegen, 1. das konträre Ver- 
halten der Gehirnarterien auf Adrenalin bei intravenöser Gabe im 
Sinne einer Erweiterung und 2. die Notwendigkeit einer längeren 
Dauer der totalen Gefäßkontraktion bis zur Entstehung schwerer 
ischämischer Schädigung. 


Ahnlich wie am Herzen, wo wir durch Langendorf, Krawkow, 
Morawitz und Zahn, sowie F. Mayer die dilatierende Wirkung des 
Adrenalins an den Kranzarterien kennen, ist auch an den Hirngefäßen 
durch eine einfache intravenöse Adrenalingabe eine anscheinend passive 
Dehnung beobachtet worden durch Biedl und Reiner, Lewan- 
dowskiund Wehr, Winkler. Direkte intraarterielle Injektion in die 
hirnwärts ziehenden Arterien erzielte jedoch auch hier wie an anderen 
Organen durch Adrenalin Arterienkontraktion (Biedl und Reiner, 
Wigers, Knauer und Enderlen). 


Daß die mit guter Muskulatur ausgestatteten Arterien des Gehirns 
zu einer von Vasomotoren geleiteten Verengerung und Erweiterung 
überhaupt fähig sind, ist eine nach 1890 von Roy und Scherrington 
bestrittene, aber durch Berger, Müller, Siebek und Ernst Weber 
gesicherte Tatsache. Weber nimmt ein besonderes zentralwärts vom 
Vasomotorenzentrum in der Medulla oblongata gelegenes Gefäßzentrum 
für die Hirngefäße an. Über die weitgehende Beeinflussung der Hirn- 
gefäße durch termische, physikalische und psychische Reize berichtet zu- 
sammenfassend Hirschfeld. Verschiedene pharmakologische Beein- 
flussung der Hirngefäße untersuchte neuerdings Heupke. Besonders 
schön zeigen die dauernden Änderungen der Gehirngefäße, Kontraktion 
und Erweiterung, die mikro-photographischen Beobachtungen von Jakobi 
zusammen mit Georg Magnus. 

Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, daß übereinstimmend 
mit der intravenösen Adrenalinwirkung O. Müller und Siebeck bei 
sehr lebhaften Blutdrucksteigerungen ganz allgemein fanden: die dem 
Gehirn zufließenden nervösen Reize werden unter Umständen soweit 
durch eine passive Dehnung der Gehirngefäße überwunden, so daß statt 
einer Kontraktion eine Dilatation eintritt. Sie denken bei diesem Vor- 
gang an eine zweckmäßige Schutzeinrichtung, damit unter allen Um- 
ständen dafür gesorgt sei. daß dem Gehirn stets reichlich frisches Blut 
zugeführt werde, damit seine lebenswichtigen Zentren keine Not leiden. 


Greift ein adrenalin-ähnlicher Reiz bei einer der 
häufigen Schwankungen, wie sie ja bei allen Hypertonien vor- 
kommen und wie wir sie eingehend bei apoplektiformen Insulten 
im Sinne eines starken Blutdruckanstieges schildern konnten, die 
Hirngefäße an, so werden wir dort in Parallele zu diesen Experi- 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 73 


menten oft nicht eine gleichsinnige Kontraktion, sondern eine 
primäre passive Dehnung erwarten müssen. Aber gerade 
eine solche Erweiterung kann dann sekundär als Eigenreflex 
des Gefäßsystems (Heß) nach der Erfahrung von Baylis 
und Wacholder, daß starke Dehnung eines Gefäßes sekundär 
zur Kontraktion führt, eine hochgradige Kontraktion auslösen, 
die in dem komplizierten pathologisch-physiologischen Milieu des 
Hypertonus mit seiner Neigung zu inversen Gefäßreflexen zu einer 
ganz besonders starken und dauernden werden kann. 

Daß besonders starke Dehnung der Arterien bei stark 
schwankendem Blutdruck mit stark schwankender Füllung dieser 
Gefäße am Gehirn solche hochgradigen Kontraktionen auslösen 
kann, zeigen uns besonders schön die Beobachtungen an 
Kranken mit Aorteninsuffizienz. 


So wird der 20jährige Kaufmann Richard Dr. wegen folgender An- 
fälle bei einer hochgradigen an der Grenze der Dekompensation stehenden 
Aorteninsufficienz infolge eines seit dem 13. Lebensjahre öfter recidi- 
vierenden Gelenkrheumatismus eingeliefert: Vor 1!/, Jahren zum ersten 
Male nach schnellem Treppensteigen Anfall von Übelkeit, Brechreiz, 
Atemnot und Einsetzen einer 2 Stunden anhaltenden Bewußtlosigkeit. 
An sehr heißen Tagen des vorigen Sommers mehrere Male Wiederholung 
solcher Ohnmachtsanfälle mit vorausgehender Übelkeit. Jetzt vor 14 Tagen 
bei Bettruhe Herzschmerzen, dann plötzlich Bewußtlosigkeit für !/, Stunde, 
einige Tage später plötzlich starke Schmerzen, besonders in der Stirn- 
gegend, dabei wieder Atemnot und Herzschmerzen. Die Kopfschmerzen 
nehmen allmählich sehr an Stärke zu, nach !/, stündiger Dauer dieser 
Vorboten Bewußtlosigkeit, diesmal nur für eine !/, Stunde, beim Auf- 
wachen ist der Patient „dösig“, auf die Fragen der Mutter ist er nicht 
dazu imstande, die in Gedanken vorhandenen Worte auszusprechen, beim 
Versuch sich zu stützen, versagt der rechte Arm völlig und ist gefühllos. 
Nach einer halben Stunde völliges Zurückgehen der Lähmungserscheinungen 
des Armes und der Sprache. 

Der Patient zeigt eine sehr verstärkte Herzaktion des hochgradig 
vergrößerten linken Ventrikels, einen sehr ausgesprochenen Pulsus celer 
et altus mit einem Minimaldruck von 0. Der Blutdruck bewegt sich bei 
Dauermessungen zwischen 120—160:0. Für frische Endokarditis kein 
Anhaltspunkt, Wassermann negativ, Reflexe normal. In der Klinik ge- 
langen zwei Attacken zur Beobachtung bei denen bei plötzlich ein- 
setzenden starken Kopf- und Herzschmerzen Übelkeit und tiefe Blösse 
des Patienten, aber ohne Kollaps, bestehen, außerdem eine Tachykardie von 
130 und eine so starke Herzaktion, daß sogar die Bettdecke dauernd 
miterschüttert wird, und ein Blutdruckanstieg auf über 260:0. Durch 
Nitroglyzerin tritt schnelle Beruhigung dieser Anfälle ein. 

Diese Gefäßkrisen führten demnach bei einem ganz jugendlichen 
Menschen mit schwerer Insufficienz der Aortenklappen zu ohnmachts- 
anfällen und Kopfschmerz, Übelkeit, Brechen und transitorischen Läh- 


74 | WESTPHAL 


mungen. Die Parallele zu den angiospastischen Insulten ist eine völlige. 
Daß hier die stärkste Debnung nach völliger disstolischer Entleerung bei 
dem Minimumdruck von O der Hirnarterien als Auslöser solcher Anfälle 
angesehen wird, erscheint nicht gezwungen. Embolion in solcher Häufung 
erscheinen nicht gut möglich. Die Blutcholesterinwerte waren normal. 

Außerdem hatten wir noch dreimal Gelegenheit bei Aorteninsufficieng 
ähnliche Zustände zu beobachten. 

2. Hermann Gi., ein 64jähriger Schreiber, mit einer luetischen 
Aorteninsufficienz und Mesaortitis, aber einem wassermannegativem 
Lumbalpunktat mit normaler Zellenzahl bekommt hier stets in Ver- 
bindung mit Blutdruckanstiegen über das Durchschnittsniveau von 140 
bis 150:0 auf 200—220 :0 manchmal tagelang anhaltende Anfälle von 
Cheyne-Stockes’scher Atmung, zeitweiser Benommenheit, hochgradigem 
Hinterkopfschmerz, Erbrechen. Dabei ist oft der Oppenheim doppel- 
seitig positiv, sonst keine neurologischen Symptome. Der Tod erfolgt 
später an Pneumonie, er ergibt am Gehirn und Medulla oblongata keinen 
pathologischen Befund, nur sehr geringe Arteriosklerose. 

3. Konrad G., 55 Jahre alt, Invalide, bekommt ebenfalls oft 
Schwindel- und Obnmachtsanfälle bei einer Aorteninsufficienz. Bei einem 
5 Minuten dauernden Anfall von Bewußtlosigkeit in der Klinik ist er 
tiefblaß bei sehr vollem kräftigem Pulse, kurz vor dem Anfall besteht starkes 
Gähnen und Müdigkeit, auch Schmerzen der Herzgegend. Blutdruck 
während des Anfalles 125:60. Auch hier wird an vasomotorische Er- 
scheinungen als Ursache für diese Störungen im Gebiet der Hirnarterien und 
Kranzgefäße des Herzens als Ursache der Kollapszustände gedacht. 

4. Gr., Karl, 48 Jahre, luetische Aorteninsufficienz. Es sind bereits 
öfter Ohnmachtsanfälle vorgekommen, er hatte jetzt vor der Einlieferung 
ins Krankenhaus im Dienst plötzlich ein starkes Schwächegefühl, sah 
gleichzeitig sehr blaß aus, konnte nicht mehr sprechen und ist dann für 
!/, Stunde bewußtlos geworden nach diesem Vorstadium von etwa 
3 Minuten Dauer. 

5. Kr., Heinrich, 57 jähriger Schneider, mit luetischer Aorten- 
insufficienz, hat ebenfalls des öfteren Kollapszustände erlitten. Er wird 
mit einem Blutdruck von 210—65 und einer frischen linksseitigen Apo- 
plexie eingeliefert. An Tagen, wo ein Bilutdruckanstieg von seinem 
Durchschnittsniveau von 150—160:40—50 auf 190—200 stattfindet, oft 
Klagen über starke Schwindelbeschwerden. 


Der ÜbergangvonSchwindelundKollapszuständen, 
zum Teil mit flüchtigen motorischen Lähmungen bis 
zur definitiven Apoplexie, findet sich demnach auch hier 
bei der Aorteninsufficienz, und wenn auch bei denjenigen mit syphi- 
litischer Genese dadurch bedingte Prozesse am Hirn und seinen 
Arterien nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können, So 
scheint doch die Häufungen solcher Zustände bei der Aorteninsuffi- 
cienz — Romberg weist ebenfalls in seinem Lehrbuch auf das 
(Geläufige dieser Erscheinungen, der Ohnmachtsanwandlungen und 
der Blutungen im Gehirn in der Klinik dieses Herzklappenfehlers, 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 75 


hin — für den engen Zusammenhang des Pulses celer et altus, der 
manchmal völligen diastolischen Entleerung der Arterien und ihrer 
hochgradigen bei Blutdrucksteigerung ganz besonders gesteigerten 
systolischen Auffüllung mit den vasomotorischen Erscheinungen am 
am Gehirn zu sprechen. Auch die hochgradige Blässe der Aorten- 
insufficienzkranken, bei kapillarmikroskopischer Betrachtung die 
oft so geringe Füllung ihrer Kapillaren und die nach Abschnürung 
eintretende momentane Abblassung derselben (Jürgensen, eigene 
Beobachtungen zusammen mir Stockhausen) sprechen bei diesem 
Klappenfehler dafür, daß überall an den Arterien die starke Dehnung 
nach oft völliger, zum Teil rückläufiger Entleerung zu gesteigerter 
Kontraktion der kleinen und kleinsten Arterien und sekundär auch 
der Kapillaren führt. Am Hirn scheint vor allem bei plötzlichen 
in ihrer Genese nicht immer genau erklärbaren Blutdruckanstiegen 
diese zuerst eintretende bei dem schnellenden Pulse ganz besonders 
starke passive Dehnung dann zur gesteigerten Dauerkontraktion 
einzelner Gefäßabschnitte zu führen und so transitorische Bewußt- 
seinsverluste, Cheyne-Stokes’sches Atmen, Erbrechen, Kopfschmerz 
und flüchtige Lähmung zu erzeugen. Daß auf solchem Boden sich 
wirkliche Apoplexien auch ohne Vorhandensein luetischer Gefäß- 
prozesse entwickeln können, erscheint nach den früheren Ausfüh- 
rungen durchaus möglich. 

Auch beim einfachen arteriellen Hochdruck läßt sich ein ähn- 
licher Auslösungsmechanismus manchmal näher erweisen. 


Sehr starkes Pressen der Bauchmuskulatur, z. B. beim Stuhlgang, 
verursacht beim Hypertoniker öfter Kollapszustände und löst vereinzelt 
den Schlaganfall aus. Nach stärkerer Dehnung tritt auch hier nach- 
folgend gesteigerte Kontraktion der Hirnaterien ein. Denn durch 
Berger, Resnikow und Dawidenkow wissen wir, daß in solchem 
Zustande der Anspannung der Bauchpresse bei geschlossener Stimmritze 
eine Vermehrung des Hirnvolumens mit langdauerndem folgendem Abfall 
stattfindet, d. h. erst starke Erweiterung, dann lange Verengerung der 
Hirngefäße. An den mikrophotographischen Aufnahmen der Hirngefäße 
von Jakobi tritt solche starke Erweiterung besonders der Venen schon 
bei tiefer Exspiration schön hervor. 


Man wird gegen diese Auffassung, daß es sich bei den Hirn- 
gefäßkrisen zum Teil um eine indirekte Auslösung des arteriellen 
Krampfes auf starken Dehnungsreiz folgend bei einem plötzlichen 
Blutdruckanstieg — am Herzen liegen im Angina-Pectorisanfall 
vielleicht oft die Verhältnisse ähnlich — den Einwand erheben: 
Sind diese paroxysmellen Blutdruckanstiege nicht erst verursacht 
durch Anämisierung im Großhirn ? 


76 WESTPHAL 


Nach Naunyn’s und Schreiber’s sowie Cushing’s experi- 
mentellen Untersuchungen wird durch Anämisierung und Sauerstoffver- 
armung in den bulbären Zentren neben Cheyle-Stokes’schem Atmen und 
Schwankungen der Pupillenweite eine oft rhythmisch verlaufende Blut- 
drucksteigerung erzeugt. Daß regulatorische Blutdrucksteigerungen zentral 
ausgelöst bei angiospastischer Anämisierung im Gebiet des Vasomotoren- 
zentrums manchmal eintreten können, wird daher keineswegs bestritten. 
Aber solche Auslösung der Blutdruckkrisen gilt kaum für die große 
Mehrzahl dieser Anfälle, denn des öfteren sieht man in der Klinik bei 
Dauerblutdruckmessungen zuerst Druckgefühle in der Herzgegend lange 
vor Auftreten von Hirnerscheinungen, oft auch völliges Fehlen derselben 
und trotzdem ganz hochgradige Blutdruckanstiege. Ganz allgemein die 
leichten Erscheinungen cerebraler Anämie wie Schwindel und Kopf- 
schmerz etwa als Beweis einer cerebralen Vasomotorenreizung und eines 
cerebral bedingten Hypertonus anzusehen (Kahler) heißt m. E. Ursache 
und Wirkung verwechseln, diese Gehirnsymptome gehören koordiniert in 
die gleiche Reihe zu den pathologischen Erscheinungen der genuinen 
Hypertension mit ihren allgemeinen Arterien- und Arterioleukontraktionen 
etwa an Niere, Herz und Augenhintergrund und in den verschiedensten 
anderen Gefäßprovinzen, nur in Ausnahmefällen wird zentrale Vaso- 
motorenreizung im Circulus vitiosus den Blutdruck mit hochpeitschen. 


Daß andere lokale Gefäßspasmen durch primäre Schmerz- 
erregung z. B. solche Blutdruckkrisen auslösen können, erscheint mir 
nach eigenen an anderer Stelle mitgeteilten Beobachtungen über 
den starken Einfluß gerade psychischer Vorgänge beim Hyper- 
tonus auf das Blutdrucknivenau sehr wahrscheinlich, in ähnlicher 
Weise werden auch nächtliche Träume, psychische Vorgänge ganz 
allgemein, körperliche Anstrengung, der Coitus usw. das Niveau 
emporschnellen lassen, und so Gelegenheit zur Auslösung eines 
Schlaganfalles abgeben. Aber für einen großen Teil der plötzlichen 
Anstiege, die aus völligem Wohlbefinden bei Krankenhausruhe z. B. 
plötzlich stattfinden, fehlt noch eine Erklärung. Fr. Kauffmann 
konnte bei gewissen Fällen in deutlicher Weise eine starke Be- 
einflussung durch die Umwelt, durch Hitze und schwüles Wetter, 
nachweisen, in anderen Fällen könnte man mit Volhard und W. Frey 
daran denken, daß starke Anämisierung gerade der Nieren zu 
plötzlichen Krisen führe. Ob nicht neben inkretorischen Einflüssen, 
die zu akuten Abgaben pressorischer Substanzen führen, auch plötz- 
liche für uns noch nicht genügend übersehbare Umstellungen in 
der chemischen und chemisch-physikalischen Zusammensetzung des 
Blutserums und der Gefäßmuskelzellen hier mit wirksam sein können, 
muß vorläufig noch dahingestellt bleiben. Aber vielleicht lassen 
sich gerade auf diesem Gebiete ebenso wir für Epilepsie und Mi- 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 77 


gräne unsere Anschauungen stark beeinflussende Feststellungen in 
Zukunft erheben. 

Neben den allgemeinen arteriellen Kontraktionen bei Hyper- 
tonus und solchen besonderen Steigerungen der Verengerung der 
der Hirnarterien infolge eines lokalen Gefäßreflexes auf Dehnung 
bei plötzlichem Blutdruckanstieg ist das pathologische Milieu des 
arteriellen Hochdrucks mit seiner weit gehenden Beeinfiussung der 
Gefäßmuskelfunktion Auslöser ganz besonders intensiver lokaler 
Arterienspasmen. Wir treffen bei dieser Krankheit oft auf ganz 
verkehrte inverse Reaktionen der Gefäße im Ganzen und 
in Einzelprovinzen. 


Der Blutdruckanstieg beim Aufenthalt in stark erwärmten Zimmern 
zeigt bei einer gewissen Anzahl von Hypertonikern eine der normalen 
entgegengesetzte (sefäßreaktion (Fr. Kauffmann). Auf mechanische 
Reizung der Haut erfolgt bei Patienten mit intermittierendem Hinken, 
das nach früheren Auseinandersetzungen enge Beziehungen zum Hyper- 
tonus haben kann, nicht reaktive Hyperämie, manchmal sogar ein Erblassen 
der Haut (Zack). H. Schlesinger findet bei Kranken mit dieser 
lokalen Gefäßkrise auch bei Wärmeanwendung den umgekehrten Erfolg, 
in heißem Wasser wird das kranke Bein leichenfahl. Hochgradige Ab- 
blassung an Fingern einzelner Hypertoniker nach Aufenthalt in heißem 
Wasser beschreiben R. Schmidt und Fr. Kauffmann. H. Cursch- 
mann fand bei Raynaud-Kranken ebenfalls paradoxe Gefäßreflexe z. B. 
Kontraktion bei Applikation von Wärme. 

An 35 Hypertonikern, darunter 32 genuine Hypertonien konnte der 
Verf. zeigen, daß bei diesen in der Mehrzahl bei einer im ganzen nur 
eine Minute dauernden Abschnürung durch die Blutdruckmanschette die 
zu erwartende reaktive Hyperämie bei kapillarmikroskopischer Betrachtung 
nicht eintritt, sondern das (Gegenteil, eine deutliche Abblassung mit 
Schwund oder Verengerung der Kapillaren für 5—10—20 Minuten, nur 
bei der Minderzahl, 13, fehlte diese paradoxe Reaktion oder war sehr 
abgeschwächt. Es lagen bei diesen besondere Gründe, wie ein versagendes 
Herz oder die sehr breit gefüllten Kapillaren des roten Hypertonikers 
vor. „Diese inverse Reaktion der Hypertoniker auf kurze Abschnürung 
zeigt als Wesentliches, daß bei ihm die Erweiterungsfähigkeit der kleinen 
und kleinsten arteriellen Gefäße auf das schwerste gestört ist und daß 
dieser Reiz sogar im Gegensatz zum Physiologischen zu einer noch 
größeren Verengerung führt und diese dann sehr lange Zeit beibehalten 
wird.“ Diese bei Wärmeapplikation des öfteren und bei Abschnürung 
bei der Mehrzahl der Hypertoniker und was wichtig ist auch bei Kranken 
mit lokalen Gefäßkrisen (intermittierendes Hinken, Raynaud) be- 
obachteten ganz paradoxen Gefäßreaktionen können: wir okne Zwang auch 
im Großhirn solcher Kranken des öfteren annehmen. 


Bei stärkerer Beanspruchung desselben etwa durch geistige 
Arbeit, nach passiver Dehnung bei Blutdruckanstieg werden wir 
in ihm auch oft solche inversen Reaktionen der Arterien und Arte- 


78 WESTPHAL 


riolen erwarten können, und diese so ausgelösten Kontrak- 
tionen können dann beim Hochdruck von besonders langer 
Dauer sein. Das zeigt die kapillarmikroskopische Beobachtung 
des Abschnürungsprozesses besonders schön. Die Erweiterungsfähig- 
keit der Hypertonikerarterien ist durch eine Art von pathologischem 
Sperrungsmechanismus der glatten Gefäßmuskulatur eine ganz be- 
sonders gehemmte, nur langsam in gleitender Sperrung (Uexküll) 
nimmt die Arterien- und Arteriolenmuskulatur wieder ihre ur- 
sprüngliche Länge an. Ob als Auslöser solcher inverser Reflexe 
eine abnorme Säuerung der Gewebe infolge der dauernden leichten 
Ischämisierung (Frey, Fr. Kauffmann) in Betracht kommt, muß 
vorläufig dahingestellt bleiben. Der Verfasser denkt mehr an physi- 
kalisch-chemische Änderungen, vor allem am Gefäßmuskel selbst. 


Neben solchen pathologischen Reaktionen auf Dehnung und 
der Neigung zu inversen Reaktionen der Gefäße der Hypertoniker 
überhaupt darf die Bedeutung der rhythmischen Arterien- 
bewegung nicht ganz unberücksichtigt bleiben für das Zustande- 
kommen totaler Gefäßkontraktion in umschriebenen Kreislauf- 
provinzen ganz allgemein beim Hochdruck und besonders im Gehirn 
(0. B. Meyer, Full, Rothlin, Krawkow, Anitschkow). 


Von Anitschkow liegen nun Experimente an Fingerarterien 
von Kranken verschiedenster Art vor, die über das Normale hin- 
aus ganz hochgradig gesteigerte Tendenz zu totalen Gefäßkon- 
striktionen zeigen. 


In einem Falle von Spontangangrän einer Zehe reagierten die 
Arterien der benachbarten Zehe auf Koffein mit einer starken Ver- 
engerung anstatt nach normaler leichter Verengerung mit Erweiterung, 
und auf Adrenalin mit einem langdauernden Spasmus von außerordent- 
licher Stärke. Von 8 Fingern von Arteriosklerotikern zeigten 5 eine 
erhöhte Gefäßreaktion im Sinne einer ausgesprochenen Neigung zur 
spastischen Kontraktion. Während Adrenalin am Normalen eine unvoll- 
kommene, rasch vorübergehende Zusammenziehung bewirkt, ergab die- 
selbe Lösung bei einer an Apoplexia cerebri gestorbenen alten Frau 
eine totale Kontraktion der Fingergefäße, Koffein ergab eine verstärkte 
Kontraktion ohue nachfolgende Erweiterung. In 2 Fällen von Arterio- 
sklerose war die Kontraktionsfähigkeit normal, die Erweiterungsfähigkeit 
aufgehoben, in einem Fall fehlte eine Reaktion vollkommen. 


Auch an den Kranzgefäßen des Herzens zeigte sich im Gegensatz 
zum Tierversuch und zu Versuchen an menschlichen Herzen und Neu- 
geborenen und Föten. wo sich auf Adrenalin die bekannte Erweiterung 
einstellte, bei fortschreitendem Alter Neigung zur Kontraktion (Krawkow). 
Daß dagegen ganz sklerosierte Gefäße beim Arteriosklerutiker überhaupt 
keiner Reaktion mehr fähig sind, ist durchaus verständlich. 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 79 


Als Wichtigstes imponierte in diesen Versuchen der russischen 
Autoren für diesen Zusammenhang die hochgradige Kon- 
traktion mit völligem langdauerndem Arterienver- 
schluß beider Mehrzahl der Fällen mit mittlerer Arterio- 
sklerose, besonders schön und einleuchtend tritt das hervor in 
dem Falle der Gangrän und der Apoplexie. Die Annahme, daß 
die Steigerungen dieser spontanen rhythmischen Kontraktionen in 
dem pathologischen Milieu des arteriellen Hochdrucks auch Mit- 
auslöser solcher Totalspasmen sein können, vor allem, wenn irgend- 
welche Reize in früher angeführtem Sinne mitwirksam sind, erscheint 
daher durchaus wahrscheinlich. Und so wird hier diese Trias: 
gesteigerte rhythmische Arterienbewegung, Neigung zu paradoxer 
Gefäßreaktion und Herantreten abnormer Dehnungsreize an die 
Hirnarterien bei plötzlichem Blutdruckanstieg als Auslöser der 
hochgradig gesteigerten Arterienkontraktionen besonders am Groß- 
hirn bei arteriellem Hochdruck angesehen. 

Auch die besondere Intensität und Dauer dieser Arterien- 
kontraktionen beim Hypertoniker muß wieder verursacht sein durch 
das besondere pathologische Milieu, auf dem sich der genuine 
arterielle Hochdruck aufbaut. Störungen im Lipoidstoff- 
wechselundin derinneren Sekretion scheinen dem Verfasser 
dabei als Ursache eine besonders wichtige Rolle zu spielen. In 
einer ausführlichen Mitteilung, die sich auf größeres klinisches und 
exerimentelles Material stützen kann, glaubt er gezeigt zu haben 
zum Teil in Übereinstimmung mit den Schmidtmann’schen Unter- 
suchungen am Kaninchen, daß das Cholesterin als Sensibilisator für 
Arterienkontraktion hervorrufende Reize z. B. Adrenalin, Sauer- 
stof von großer Bedeutung zu sein scheint. Auch am Menschen 
wird stärkere Anreicherung mit diesem Lipoid im Blute und Arterien- 
wand unter besonderen Verhältnissen — Beziehungen zu den ver- 
schiedenen Eiweißkörpern:: Albumin, Globulin, Fibrinogen erschienen 
da neben dem gesamten ionalen Milieu besonders wichtig — als 
Mitauslöser der tonogenen Sperrung der glatten Muskulatur der 
kleinen und kleinsten Arterien bei der genuinen Hypertension und 
der isolierten spastischen Gefäßkonstriktion bei derselben angesehen. 
Aber auch ohne Vorhandensein einer dauernden allgemeinen Blat- 
druckerhöhung weist bei isolierten Gefäßspasmen, wie intermit- 
tierendem Hinken, Raynaud, Migräne, die dort gefundene Hyper- 
cholesterinämie auf die Möglichkeit einer solchen Sensibilisation 
der Arterienwand für kontrahierende Reize hin. Einzelheiten und 
Schrifttum sind in der angeführten Arbeit nachzulesen. Hier ge- 


80 WESTPHAL 


nügt der Hinweis, daß auch die Mehrzahl der Apoplektiker und 
die Patienten mit ausgeprägten Hirngefäßkrisen die Hyper- 
cholesterinämie zeigen. Unter 32 Apoplektikern finden sich 
bei 25 meist sehr ausgesprochene Erhebungen der Blutserumchole- 
sterinwerte über die Norm von 0,12—0,18 g°/,, das wäre in 78°/,. 
Die Werte betragen: 0,19 0,2 0,202 0,204 0,224 0,224 0,224 
0,225 0,235 0,237 0238 025 0,25 0,26 0,26 0.266 0,266 
0,286 0,268 0,28 0,28 0,294 0,31 0,358 0,37 g°,. 4 Apo- 
plexien finden sich mit einem Normalwert von 0,12—0,18 g°/,, 
3 mit einem Wert unter 0,12 g°/,. Unter den Patienten mit nor- 
malen und erniedrigten Cholesterinwerten befinden sich mehrere 
mit Pneumonie oder starker Kachexie, Krankheitszustände, bei 
denen erfahrungsgemäß die Blutcholesterinwerte stark absinken. 
Auch der Aorteninsuffiicienzkranke mit Apoplexie wies eine Hyper- 
cholesterinämie von 0,22 und 0,236 g °/ auf. 

Auch Kranke mit wieder schnell gebesserten angiospastischen 
Insulten des Gehirns mit meist flüchtigen Lähmungen verschiedener 
Art boten 11mal Gelegenheit zur Untersuchung. Einmal wurde 
ein normaler Wert, 10 mal zum Teil wieder sehr bedeutend erhöhte 
Cholesterinwerte bis auf das 1!/, fache der Norm gefunden: 0,15 
0,19 022 0,22 022 025 0296 0,3 031 033 034 g°),. 

3mal befanden sich unter diesen Patienten mit normalem Blut- 
druck, wo 1mal bei Migräne, 2 mal ohne diese flüchtige motorische 
Ausfallserscheinungen als angiospastisch bedingt angesehen wurden. 
Auch die Mitteilung Idelson’s, daß bei seinen zahlreichen Patienten 
mit intermittierendem Hinken und den oft früh auftretenden Apo- 
plexien häufig ein Arcus lipoides vorhanden war, spricht für die 
erhöhte Anreicherung dieser Stoffe auch im Blut seiner Kranken. 

Bei den in der Genese der Apoplexie sehr zurücktretenden 
Kranken mit einer Glomerulonephritis oder deren Spätstadium, 
der sekundären Schrumpfniere, spielt das Cholesterin als Sensibili- 
sator kaum eine Rolle. Hier sind vielleicht nach Hülse pepton- 
artige Eiweißabbauprodukte in ähnlicher Weise mit wirksam. Daß 
solche und ähnliche Stoffe (Amine) auch bei der genuinen Hyper- 
tension außer diesem Lipoid unwirksam sein könnten, wird natür- 
lich nicht bestritten. 

Besonders auch für das Problem der langen Dauer einmal ein- 
getretener (sefäßkontraktionen erschien in Anlehnung an gemein- 
sam mit Herrmann durchgeführte Gefäbstreifenversuche das 
Cholesterin dem Verfasser wichtig. Die abdichtende Wirkung des 
Cholesterin hemmt den Wasser- und loneneintritt und die Wieder- 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 81 


ausdehnung nach einmal eingetretener Kontraktion der Muskelfaser 
und verursacht so eine Sperrung der glatten Gefäßmuskulatur. 
Das ist ein allerdings vorläufig noch durchaus hypothetischer Er- 
klärungsversuch der Cholesterinwirkung. 

Neben einer solchen Einwirkung auf die Art der Kontraktion 
der Arterienmuskulatur ist die Hypercholesterinämie der meisten 
Hypertoniker noch weiter wirksam in der Genese der Apoplexie 
aus einem rein mechanischen Grunde, der engen Beziehung der- 
selben zur eigentlichen Arteriosklerose in der bei der Apoplexie 
so häufig vorkommenden Form der Intimafleckenbildung mit um- 
schriebener Wucherung derselben bei gut erhaltener Media. Natur- 
gemäß kommt es bei der oft beträchtlichen Stärke dieser Jipoid- 
durchsetzenden Intimawucherungen durch diese viel eher zu einem 
totalen Verschluß der Gefäße bei stärkerer Kontraktion. Auf zahl- 
reichen Querschnitten durch Gefäßbündelpräparate, die von Herrn 
Kollegen Bär durch Ausschüttelung des Gehirns gewonnen waren, 
trat dieser Eindruck dem Verfasser immer wieder entgegen, wie 
sehr ein solcher Intimaknopf den absoluten arteriellen Verschluß 
erleichtern kann. Für solche Art der Mitwirkung werden dem- 
nach die bisher so überbetonten Beziehungen der reinen Arterio- 
sklerose zur Genese des Schlaganfalles unterschrieben, wenn auch 
die übliche Annahme des erleichterten Platzens so veränderter Ge- 
fäße nur für selbst nicht gesehene Ausnahmefälle zugegeben werden 
kann. 

Auf den Aufbau der Hypercholesterinämie, der Arteriosklerose 
und der Apoplexie überhaupt im allgemeinen konstitutionellen und 
innersekretorischen Milieu soll vorläufig nicht weiter eingegangen 
werden. Hier interessiert vorerst mehr die Möglichkeit der weiteren 
Entwickelung im lokalen Bezirk der Erweichung und Blutung, in 
dem angiospastisch bedingten und längere Zeit so erhaltenen 
ischämischen Gebiet. Als Dauer dieser ursächlichen Gefäßkontrak- 
tion können wir nach dem Beispiel der Raynaud-Kranken, des 
intermittierenden Hinkens, dafür nicht nur 5—10—20—30—60 Mi- 
nuten, sondern auch manchmal Stunden, vereinzelt vielleicht sogar 
Tage annehmen. 

Das Gehirn stellt für solche Zustände von Anämie das 
bei weitem empfindlichste Organ dar. 

Es wird fast momentan abgetötet, in ihren klassischen Versuchen 
stellten Kußmaul und Tenner fest, daß nach 3—4 Minuten die Er- 


holungsfähigkeit nach völliger Anämisierung des Gehirns nicht mehr 
möglich war. Veränderungen an Ganglienzellen sind im Experiment 


Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 151. Bd. 6 


32 o WESTPHAL 


nach !/, Stunde nachgewiesen (Dietrich), das ist auch die Zeit, die 
als ausgesprochene Gefahrgrenze bei künstlicher partieller Anämisierung 
dem Gebirnchirurgen bekannt ist, Nach 10—15 Minuten Anämisierung 
sah S. Mayer an Kaninchen nie Wiederkehr willkürlicher Bewegung, 
nur Atemzentrum und Vasomotorenzentrum waren noch nach !/, Stunde 
durch Wiederherstellung der Blutzufuhr zu beleben. An Niere und Darm 
treten Erscheinungen der Abtötung erst nach 1 Stunde auf, an den 
Extremitäten bekanntlich noch viel später (Esmarch’sche Blutleere!). 


Als sehr wichtiges Moment kommt hinzu, daß die Arterien 
des Basalbezirks, welche den Hirnstamm mit den großen Ganglien 
und das Gebiet der inneren Kapsel versorgen, diesen Prädilektions- 
sitz der blutigen Erweichung, fast rechtwinkelig abbiegend aus 
den großen Gefäßstämmen der Gehirnbasis entspringen. Sie treten 
sofort in die Hirnsubstanz ein und verästeln sich in derselben 
ohne Kommunalarterien mit den benachbarten Gefäßen. Diese 
Hirngefäße sind Endarterien im Sinne Cohnheim’s (Wernicke). 
Die Arterien der Hirnrinde aber laufen vor ihrem Eintritt in die 
Gehirnsubstanz erst eine lange Strecke in der Pia fort und kom- 
munizieren hier vielfach miteinander. Das erklärt die Seltenheit 
blutiger Erweichung in diesem Gebiete. 

Von Mendel ist an einem aus Gummischläuchen mit einge- 
schalteten Manometern gebauten Modell der Versuch gemacht worden, 
in den Arterien des Corpus striatum mit ihrem direkten Abgang 
aus den großen Hirngefäßen einen höheren Druck nachzuweisen wie in 
den vielfach verzweigten Rindenarterien. Wenn das wohl sicherlich nicht 
zutrifft bei dauerndem arteriellen Hochdruck, so ist es doch nicht aus- 
geschlossen, daß bei plötzlicher Blutdrucksteigerung die Stärke der 
passiven Dehnung im allerersten Einsatz derselben an diesen Endarterien 
eine größere ist, und daß die oben geschilderte reaktive Sekundärkon- 
traktion an ihnen dann besonders stark einsetzt. Der Lieblingsort der 
Blutung, die zentralen Ganglien das Corpus striatum, der Thalamus 
opticus und die benachbarten Markfaserzüge der inneren und äußeren 
Kapsel — dann folgt an Häufigkeit das Centrum semiovale, die Rinde, die 
Brücke und Kleinhirn, schließlich Vierhügel und Medulla oblongata 
(Pfeiffer in Oppenheim’s Lehrbuch) — bietet noch aus anderen Gründen 
eine besondere erhöhte Disposition zur Blutung. Schwarz hat kürs- 
lich das isolierte Befallensein grad der grauen Substanz der Stammganglien 
mit oft fehlendem Hinübergreifen auf die Marksubstanz ganz besonders 
betont. An der Hand seiner schönen Präparate und auch bei eigenen 
Beobachtungen drängte sich diese Tatsache oft auf. 

Die graue Substanz des Gehirns in Rinde und Stammganglien 
ist nun auch in ihrer chemischen Zusammensetzung viel weit- 
eehender differenziert wie die weiße Substanz des Marks. Be- 
sonders au ihr sind wegen des starken Sauerstoffbedürfnisses eher 
als irgendwo anders im Organismus tiefgehende Zerstörungen denk- 


m dm U un 2 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 83 


bar, die sich mit einfacher histologischer Technik nicht immer 
fassen lassen. Die von Pflüger, Langendorff, F. Müller 
und Ott u. a. gefundene Tatsache, daß die alkalische Reak- 
tion der Hirnrinde mit dem Eintritt des Todes oder nach 
Unterbindung der arteriellen Blutzufuhr in wenigen 
Minuten abnimmt und in eine Säuerung umschlägt, ist für 
solche Auffassung eine weitgehende Stütze. 


Pflüger durchspülte mit eiskalter Lösung von neutralem Natrium- 
sulfat nach Durchschneidung des rechten Herzens von der Aorta aus 
das Gehirn von Kaninchen, nahm es in l Minute heraus, und drückte 
es zerschnitten auf empfindliches Reagenzpapier. Die Reaktion war in 
der weißen Substanz oft schwach alkalisch, in der grauen selten ebenso, 
meist schwach sauer, und diese saure Reaktion nabm mit erstaunender 
Geschwindigkeit zu. Viel weniger geschah dies mit der weißen Substanz. 
Auch die nicht aus der Rinde der Hemisphären entnommene graue Sub- 
stanz verhielt sich ungefähr ebenso. Langendorff sah an kleinen 
frisch abgetragenen Stückchen der Hirnrinde von Kaninchen und Meer- 
schweinchen zuerst alkalische Reaktion mit Lackmuspapier, einige Minuten 
nach Exstirpation war bereits deutliche Säuerung da. Bei Abklemmung 
der 4 Gehirnarterien schwindet die alkalische Reaktion oft bereits nach 
2 Minuten, sicher deutlich nach 4 Minuten. Später nimmt die anfangs 
geringe Acidität deutlich zu. Wichtig ist für das vorliegende Problem, 
daß die durch Abklemmung des arteriellen Blutstroms sauer gewordene 
Rinde nach deren Beseitigung wieder alkalisch werden kann. Der Ver- 
such des Abbaltens und Wiederzulassens des Blutes konnte von Langen- 
dorff 3mal mit demselben Erfolge wiederholt werden, nach 5, 7 und 
9 Minuten dauernder Anämisierung konnte die eingetretene Säuerung 
durch den zugelassenen Blutstrom jedesmal wieder zum Schwinden ge- 
bracht werden. Das letztemal war allerdings nach 38 Minuten noch 
neutrale, nicht alkalische Reaktion da, 

Auch P. Ehrlich erhielt bei seinen zahlreichen intravitalen Injek- 
tionen von Alizarinnatrium und Indophenolweiß deutliche Hinweise dafür, 
daß in der Hirnrinde nach Aufhören der Blutzufuhr lebhafte Reduktions- 
prozesse einsetzen. Auch Bethe betont den großen Unterschied zwischen 
grauer Substanz und den eigentlichen leitenden Gebilden im Stoffwechsel. 
Franz Müller und A. Ott konstatierten wieder, daß am Gehirn der 
grauen Rindensubstanz sehr schnell gegen Lackmus sauer reagierende 
Substanzen gebildet werden, und daß die Wiederbelebungsversuche der 
Rindenfunktion durch Serum ähnlich zusammengesetzte Lösungen, auch 
wenn Sauerstoffmangel dabei vermieden wurde, nicht erzielt werden konnte. 


Für den hier vertretenden Gedankengang erschien die Beob- 
achtung Pflüger’s besonders wichtig, daß die graue Substanz 
der Stammganglien sich ebenso verhält wie die der 
Rinde. In einer größeren Reihe von Untersuchungen, über deren 
Anordnung später berichtet wird, konnte hier festgestellt werden, 


daß am vorher anämisierten Gehirn von Kaninchen, Katzen und 
6* 


84 WESTPHAL 


auch von Hunden 5—10 Minuten nach dem Tode des Tieres eine 
ausgesprochen saure Reaktion von Rinde und Stammganglien vor- 
handen war im Gegensatz zu alkalischer Reaktion der Rinde am 
Gehirn des lebenden Tieres. Ein Abklatsch mit gutreagierendem 
Laackmuspapier an Gehirnquerschnitten ergab stets eine mehr oder 
minder deutlich hervortretende Bänderung mit roter Verfärbung 
der grauen Hirnpartien in Rinde und Hirnstamm und Erhalten- 
bleiben des blauen Farbtons am Lackmuspapier im Gebiete des 
Markes. Die schnellen chemischen Umsetzungen finden demnach 
nach Aufhören arterieller Blutzufuhr auch in den großen Stamm- 
ganglien statt. Diese sind vielleicht außerdem noch durch ihren 
großen Gefäßreichtum von einer besonderen Empfindlichkeit. Man 
denke auch an die leichten Schädigungsmöglichkeiten gerade dieser 
Hirnpartien bei der Encephalitis oder bei der Chorea. Es ist auch 
möglich, daß Besonderheiten des Stoffwechselchemismus in den 
Stammganglien wieder bei Anämisierung zu einer besonders schnellen 
Schädigung der Ganglienzellen und der Gefäße führen, im Putamen 
und Pallidum ist diese Empfindlichkeit vielleicht eine besonders große. 

Langendorff’s interessante Angabe, daß das Großhirn neu- 
geborener Tiere selbst nach 24 Stunden überall alkalische Re- 
aktion zeige, ließ mit Gescheidlen daran denken, daß es sich 
bei dieser postmortalen Säuerung um einen weiter ablaufenden 
vitalen Prozeß mit Milchsäurebildung handelt. Mangelnder 
Abtransport derselben bei stockender arterieller Blutzufuhr oder 
ähnlich der von Meyerhof gefundenen anoxybiotischen Milchsäure- 
‘entwicklung am Muskel eintretende Vorgänge könnten hier viel- 
leicht stattfinden. Daher wurde mein Mitarbeiter M. E. Mayer im 
Tierexperiment veranlaßt, quantitativ am Gehirn sofort nach dem 
Tode und 1—2 Stunden später Bestimmungen der Milchsäuremenge 
zu machen, um über die Art dieser postmortalen Säuerung Genaueres 
zu erfahren. Seine bisher noch nicht völlig abgeschlossene Unter- 
suchungen zeigen meist eine deutliche Vermehrung der Milchsäure- 
mengen. 

Es wird genauer darüber berichtet werden. 

Die ungeheuer schnell bei Absperrung der arteriellen Blutzufuhr 
eintretende Säuerung der grauen Hirnsubstanz und ihre Beseitigung nach 
5-7-9 minutenlangem Bestehen durch erneute Blutzufuhr zeigen die 
gleichen Möglichkeiten sehr schnell eintretender bedeutsamer chemischer 
Umsetzungen nach Anämisierung von Großhirnleiden unter den patho- 
logischen Verhältnissen des Hypertonus mit angiospastischen Insulten 
und wir verstehen die Rückgangsmöglichkeiten der Erscheinung noch 
nach kurzdauernder bis zu etwa 10 minutenlanger Anämisierung — 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 85 
®e 


Schwankungen der individuellen Resistenz werden den kritischen Zeit- 
punkt nach beiden Richtungen verschieben können — wir verstehen aber 
auch die Unmöglichkeit völliger Wiederherstellung nach zu lange dauernder 
Schädigung, und wir verstehen schließlich, was hier besonders wichtig 
erscheint, daß in dem Gebiet der Stammganglien, wo im Gegensatz zum 
Rindengrau Endarterien vorhanden sind, diese Gefahr der angiospastischen 
Anämisierung sich am stärksten steigert, daB an dieser Stelle das mit 
hochgradigem Sauerstoffbedürfnis arbeitende Zellmaterial schnell irreparablen 
chemischen Umsetzungen zufällt. Auch die so oft deutliche scharfe Be- 
grenzung der apoplektischen Erweichung auf das Grau im Corpus striatum 
mit nur geringen Schädigungen der inneren Kapsel findet so eine ein- 
leuchtende Erklärung. 

Die schnell eintretende Säuerung scheint in doppelter Hinsicht 
den pathologischen Prozeß zu beschleunigen. Die Autolyse des 
Gehirns wird, wie die aller Organe (Hedin) durch Gegenwart 
geringer Säuremengen am stärksten in 0,2°, Essigsäure 
(Levene und Stookey) befördert. Am schwächsten ist sie in 
05°, Natriumkarbonatlösung. Die autolytischen Prozesse im 
anämischen Gebiet erfahren demgemäß durch die Ansäuerung eine 
ausgesprochene Förderung. Ganz speziell bei ausgedehnten Zer- 
störungen der Hirnsubstanz muß diese Mitwirkung ausgesprochen 
autolytischer Prozesse oft vorhanden sein, sie wirkt besonders früh 
und stark ein auf die Gefäßwände nicht bloß der kleinen Kapillaren 
and Venen sondern vor allem auch der Arterien selbst von be- 
trächtlichem Kaliber, besonders in der Media, mit dort schnell ein- 
setzendem Kernschwund und einer wohl zum größten Teil physi- 
kalisch-chemisch durch die Säureeinwirkung bedingten Quellung 
mit verstärkter Hydratation des Gewebes. Denn das zeigen uns 
die Befunde vom Rande der apoplektischen Herde und jener vor- 
her genauer geschilderte schöne Fall mit Apoplexie ohne ent- 
sprechenden makroskopisch-anatomischen Befund, daß erst durch 
das Zusammenwirken dieser beiden Faktoren: schnelle Änderung 
des Hirnchemismus und ganz besondere Empfindlichkeit der Hirn- 
gefäße für diese Änderung, die schwere allgemeine zur Blutung 
führende Gefäßschädigung sich entwickeln kann. 

In dieser Faktorenreihe: Anämie umschriebener 
Hirngebiete durch Angiospasmus bei Hypertonus, 
schnelle chemische Umsetzung in Richtung einer An- 
säuerung im anämischen Gebiete mit Erleichterung 
autolytischer Prozesse, dadurch wieder starke Schädi- 
gung der Gefäße aller Art, besonders auch der Arterien- 

media mit sofort eintretender ausgedehnter Blutung 
beim Aufhören des Angiospasmus spielt die im Ein- 


86 WESTPHAL 

gang derArbeit betonte erleichterte Blutungsbereit- 
schaft der Hypertoniker und ihre Neigung zur Gefäß- 
dilatation von Kapillaren und Venen noch eine stark 
unterstützende Rolle, die als wichtiges Moment — 
man denke zum Vergleich z. B. an angiospastische 
Zustände bei Migräne ohne Blutungsfolgen — bei der 
Entstehung der Blutung mitwirksam sind. 


Die gesteigerte Disposition vieler Hypertoniker, besonders der 
roten zu kapillärer und venöser Hyperämie erleichtert auch in 
manchen Fällen außerordentlich den Eintritt der Blutung, vor allem 
da in Anlehnung an das Bild des Augenhintergrundes bei dieser 
Krankheit im Gehirn auch oft wohl geringe venöse Ektasien zu 
erwarten sind und leichte Dauerschädigung des Gehirns bei Hyper- 
tonie entsprechend den Veränderungen des Augenhintergrundes. 
Es genügen dann vielleicht schon minutenlange Anämisierungen 
zum Eintritt einer ausgedehnten Blutung, in das schon vorher 
dauernd leicht ischämisierte Gebiet. Einzelne Fälle aus dem 
Sektionsmaterial, wo eine ausgesprochene histologische Schädigung 
der im Zentrum kleiner Diapedesisblutungen gelegenen Arteriolen, 
Kapillaren und Venen mikroskopisch nicht zu erkennen war, lassen 
an solche Möglichkeiten denken. 


In den hochgradig kontrahierten Arterien der Hypertoniker, 
welche durch eine besondere Steigerung ihrer pathologischen 
tonischen Sperrung der Arterien- und Arteriolen-Muskulatur längere 
Zeit in einer Art von Kontraktionsstarre völlig geschlossen gehalten 
werden, findet vielleicht auch durch die Änderung des chemischen 
Milieus der Nachbarschaft durch die Anämie ein plötzlicher Tonus- 
sturz statt mit völligem Versagen, Überdehnung, Durchlässigkeits- 
steigerung und Aufquellung dieser Substanz der glatten Muskel- 
fasern. Komplizierte physikalisch-chemische Verhältnisse scheinen 
da vorzuliegen. 

Auch unter normalen Verhältnissen kommen an gewissen Muskeln 
solche plötzlichen hochgradigen Tonusänderungen vor. Uxküll be- 
schreibt sie bei der Autotomie der Schlagensterne, wo bei hochgradiger 
tonischer Versteifung der Muskulatur der Armspitzen ein Tonusabfall 
der zentral gelegenen Muskelpartien diese plötzlich zur Erschlaffung und 
Erweichung bringt, so daß die geringste von der versteiften Spitze über- 
geleitete Berührung genügt, den Arm zum Abreißen zu bringen. 


Eine seltene Form von Hirnblutung, die kapillären Spät- 
apoplexien (Bollinger) nach Commotio cerebri werden von 
Ricker und besonders von Knauer und Enderlen an der 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 87 


Hand ihrer schönen experimentellen Beobachtungen auch als eine 
unmittelbare Folge der experimentell bei Commotio zu beobachtenden 
starken Schwankungen der Gefäßmotilität und zwar der oft sekundär 
dann eintretenden paralytischen Wanderschlaffung der Hirngefäße 
angesehen. Die Entstehung toxisch auf die Gefäße wirkender Sub- 
stanzen bei einer zum Teil durch mangelnde arterielle Blutzufuhr 
eintretenden Ansäuerung der Rinde spielt auch in Knauer’s und 
Enderlen’s Anschauung eine wichtige Rolle. 

Für eine andere nicht häufige Form der Hirnblutung, die 
spontanen diffusen Meningeal-Blutungen, haben in den 
letzten Jahren zwei Autoren unabhängig voneinander, Goldflam 
und Meylan auf das Versagen der Auffassung einer ursächlichen 
einfachen Gefäßruptur hingewiesen. 

Vor allem sind die Sektionsbefunde Meylan’s in dieser Richtung 
überzeugend, daß es sich dabei um ausgedehnte Diapedesisblutungen 
handele auf der Grundlage schwerer vasomotorischer Störung. Gold- 
flam führt dafür als Beleg die häufige Koinzidenz mit Migräne an, 
5 unter 15 solcher Patienten litten daran. Hier konnte nur in einem 
Fall eine diffuse Meningealblutung bei einem 34 jährigen Mann mit einer 
frischen Glomerulonephritis mit Hochdruck und septischer Endokarditis 
beobachtet werden. Es ist möglich, daß die bekannten mit dem Kapillar- 
mikroskop sichtbaren Anderungen aller Kapillaren hier die Ursache 
solcher diffusen Blutungen abgegeben haben. 

Kehren wir zurück zur eigentlichen Apoplexie, so verlangt 
diese neue Auffassung der Entstehung der Hirnblutung durch 
einen angiospastischen Insult hineingestellt zu werden in die alte 
Erfahrung der Ärzte von der ausgesprochenen Disposition einer 
bestimmten körperlichen Konstitutionsform des sog. Habitus 
apoplecticus. Die Erfahrung, daß dem konstitutionellen Moment 
ganz allgemein in der Genese des Schlaganfalles eine große Be- 
deutung zukommt, stützt sich erstens. auf die starke Erblichkeit 
dieser Erkrankung. Auch wirsahen ganze Apoplektiker- und Hyper- 
tonikerfamilien, doch läßt sich eine gründliche Familiendurch- 
forschung hier in der Großstadt mit ihrer fluktuierenden, oft 
traditionslosen Bevölkerung nicht so durchführen, wie unter länd- 
lichen kleinstädtischen Verhältnissen bei den schönen Feststellungen 
von Weiß, 

Sie stützt sich zweitens auf die Tatsache, daß ein gewisser 
körperlicher Habitus, der des gedrungen gebauten Sthenikers mit 
Neigung zu erhöhtem Fettansatz und oft einer mehr oder minder 
ausgeprägten Policythämie, vielleicht auch begleitet von einer 
Plethora vera, zu dieser Erkrankung besonders disponiert erscheint. 


88 WESTPHAL 


Wir fanden diesen Habitus apoplecticus, dem Pykniker Kretsch- 
mar’s oft nahestehend, in unserem Materiale nicht so stark über- 
wiegend, in etwa 60°,. 22mal unter den 60 Patienten waren 
ausgesprochen vermehrter Fettansatz notiert, aber auch eine ganze 
Anzahl von Personen mit mittlerem Körperbau, selten auch mit 
ausgesprochenen Zügen der Asthenie, dann besonders mit starken 
vasomotorischen Zeichen, wurden von der Apoplexie befallen. Auch 
Erblichkeit fand sich bei diesen grazilen Typen. Doch im allgemeinen 
überwiegt der Typ des kräftigen, gedrungenen muskulären Menschen 
mit einer gewissen Neigung zum Emphysem, leichtem Meteo. 
rismus, zum Fettansatz, an dem wir zum Teil folgend R. Schmidt 
auch an unserer Klinik oft eine verringerte Schweißsekretion, 
eine fehlende Neigung zu Temperaturerhöhungen und eine geringe 
Disposition zu entzündlichen Erkrankungen überhaupt betonen 
möchten. Auf die engen Beziehungen zu dem meist harmlosen 
Altersdiabetes, zur Gicht und zur schweren Fettsucht sei hier nur 
kurz hingewiesen. 


Ein wesentliches Moment der Konstitutionsart des genuinen 
Hochdrucks, nicht der sekundären Schrumpfniere, sieht der Ver- 
fasser in der Stoffwechselstörung der dauernden Hypercholesterin- 
ämie, auf deren Bedeutung an anderer Stelle eingehend hinge- 
wiesen wurde. | 


Klarer schälen sich auch bei dieser Einstellung zum Problem 
des genuinen Hochdruckes die innersekretorischen Ein- 
wirkungen heraus. Auf das sehr komplizierte Zusammenspiel 
aller Drüsen mit innerer Sekretion zu der Einstellung des Blut- 
druckniveaus soll hier nicht wieder eingegangen werden, wichtig 
erschienen dem Verfasser vor allem zwei mit ihrer deutlicher aus- 
gesprochenen Einwirkung, die Keimdrüsen und die Schild- 
drüse, 


Kastration erzeugt Hypercholesterinämie (Neumann und Herr- 
mann, Lindemann, de Bella, eigene Beobachtungen). Bei einer 
ganzen Reihe hypothyreoider Patienten mit Hochdruck fand der Verf. 
Hypercholesterinämie, Leupold senkt durch Thyreoidinfütterung den 
Cholesterinspiegel. Die engen Beziehungen zwischen arteriellem Hoch- 
druck, Kastration und weiblicher Klimax sind seit Schickele, F.Meyer, 
Kisch, Munk u. a. uns bekannt, der Verf. konnte neue Beispiele dafür 
bei bringen, auch Störungen der Keimdrüsenfunktion durch kleincystische 
Degeneration der Ovarien wirken danach in gleicher Richtung. Über 
den Cholesterinspiegel und vielleicht auch zum Teil ohne diesen sind 
daher Erhöhungen des Blutdruckniveaus bei Subfunktion der Keimdrüsen 
und bei geringer Subfunktion der Schildrüse möglich. Genauer sind 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 89 


diese komplizierten Verhältnisse in der früher zitierten Arbeit des Verf. 
nachzulesen. 

Die von A. Westphal kürzlich mitgeteilten Beobachtungen 
über Apoplexie nach vorausgegangener Kastration fügen sich zwang- 
los in diese Anschauung ein, ebenso der Bericht Bauer’s über ein 
30jähriges Mädchen mit kleincystischer Degeneration der Ovarien, 
die aus einer Apopleptikerfamilie stammend plötzlich an einer Hirn- 
blutung stirbt. Hirngefäßkrisen infolge Hypercholesterinämie und 
vielleicht auch anderer endokriner Wirkung mit oder ohne schon 
entwickelten allgemeinen Hochdruck bei Unterfunktion der Keim- 
drüsen waren hier die Auslöser der Blutung, als epileptiforme 
Anfälle sind angiospastische Insulte anscheinend. bei der einen 
Patientin A. Westphal’s auch voraufgegangen. 

In diesem Zusammenhang sind auch sehr interessant die Fest- 
stellungen F. Kaufmann’s und Hanse’s über die jahreszeit- 
lichen Schwankungen der Häufigkeit der Apoplexie. 
Wenn z. B. Hanse im Monat März 29, im April 17, im Oktober 
27 Schlaganfälle notiert, im Gegensatz zu 6 bis 8 in den übrigen 
Monaten des Jahres, so ist der Eindruck ein sehr tiefer, wie stark 
ganz allgemein der Gesamtzustand des Organismus über den bloßen 
arteriellen Hochdruck hinaus das Zustandekommen der Hirnblutung 
beeinflußt. Von der peptischen Ulcera kennen wir die Vorliebe 
der Exacerbation in den gleichen Jahreszeiten, bei der Tetanie 
wies Morro auf den Frühlingsgipfel hin. Daß in ähnlicher Weise 
starke Umstellung im Organismus in den Übergangsjahreszeiten 
besonders am Apparat der innersekretorischen Funktion diesen 
weitgehend beeinflussen — als Beispiel sei hingewiesen auf die 
von der Straub’schen Schule betonte Verschiebung des Säure- 
basengleichgewichts des Blutes im Frühjahr — und dementsprehend 
auch Gefäßmotilität, Neigung zu Blutdruckkrisen und lokalen 
Angiospasmen und vor allem wohl auch Gefäßdurchlässigkeit, kurz 
alles, was zum Entstehungskomplex der Apoplexie gehört, kann 
danach zwanglos angenommen werden. 

Ist das Gehirn auch infolge seines besonders starken Sauer- 
stoffbedürfnisses und vielleicht auch wegen seiner komplizierten 
Vosomotorenregulation schweren Schädigungen bei angiospastischen 
Insulten ganz besonders ausgesetzt, so darf doch zum Schlusse der 
Hinweis nicht fehlen, das öfter wie es bisher angenommen wird, 
besonders bei der Grundkrankheit des genuinen arteri- 
ellen Hochdrucks hochgradige arterielle Kontrak- 
tionen zu Schädigungen auch an anderen Organen 


90 WESTPHAL 


führen können. Daß die chronische Ischämisierung des genuinen 
Hypertonus zu schweren pathologisch-anatomischen Veränderungen 
führen kann, ist ja eine von Volhard für die Genese der Retinitis 
albuminurica und für das Zustandekommen der sog. malignen 
Schrumpfnierenform weitgehend betonte Ansicht. Liebermeister 
weist auf Blutungen mit den im apoplektischen Herd gefundenen 
Gefäßveränderungen ähnlichen in Leber und Niere bei gleichzeitiger 
Apoplexie hin. Daß ein akuter Angiospasmus auch an anderen 
Orten zu schwerer Schädigung führen kann, zeigt uns folgende 
Beobachtung: 


Ein 50jähriger Kaufmann Martin W., der drei Jahre vorher eine 
weitgehend gebesserte rechtseitige Apoplexie erlitten hat, ist wegen ver- 
schiedenartiger Beschwerden seines genuinen Hochdrucks in der medi- 
zinischen Klinik. Der im Anfang bis über 200 hinauf gehende Blut- 
druck stellt sich bei Bettruhe auf etwa 160 als Maximum ein, eine 
Arrhythmia perpetua ist nach kurzer Chinidinbehandlung verschwunden. 
Am 26. I. tritt bei dem psychisch sehr labilen Patienten im Anschluß 
an leichte Aufregung nachmittags um 4 Uhr plötzlich ein Anfall stärkster 
Herzschwäche ein und wieder totale Arrbythmie mit hochgradiger Tachy- 
kardie bei ganz kleinem kaum fühlbaren Pulse, starke Cyanose, Dyspnoe 
und beginnendes Lungenödem. Doch treten innerhalb dreier Stunden 
auf Kampfer, Koffein, Nitroglyzerin wieder gute Kreislaufverhältnisse ein. 
Die Erholung des Herzens hält an, jedoch ist am nächsten und über- 
nächsten Tage Temperatursteigerung auf 38,5 feststellbar, feines Reiben 
ist während dieser Zeit in der Gegend des linken Ventrikels hörbar. 
Die Temperatur bleibt noch 4 Tage subfebril, dann wieder Rückkehr 
zur Norm. Drei Monate später wieder Einlieferung in die Klinik mit 
versagender Herztätigkeit bei totaler Arrhythmie. Es erfolgt hier 8 Tage 
später unter den Zeichen zunehmenden Kreislaufversagens und Lungen- 
infarktbildung der Tod. 


Bei der Sektion findet sich neben einer frischen Thrombose beider 
Femoralisvenen und Lungenembolien in dem linken Unterlappen mit In- 
farktbildung ein brauner Erweichungsherd in den rechten Stammganglien, 
eine ganz geringgradige Schrumpfniere mit Arteriolosklerose mikroskopisch, 
am Herzen Hypertrophie und Dilatation des ganzen Herzens. In der 
Wand des linken Ventrikels finden sich zusammenhängend ausgedehnte 
weitgraue Stellen, das Perikard zeigt darüber in der Nachbarschaft 
weißlich-graue Flecken. Die Coronararterien sind gut durchgängig, ihr 
Lumen ist überall weit, sie zeigen stellenweise eine mittelstarke Ent- 
wicklung von gelben Intimaflecken, die Media ist nirgends sklerosiert. 


Der fehlende Befund einer Thrombenbildung in den Kranzarterien 
des Herzens oder verschließender arteriosklerotischer Pruzesse läßt es in 
diesem Falle als die wahrscheinliche Lösung erscheinen, daß ein länger- 
dauernder arterieller Krampfverschluß bier zur Nekrosenbildung am Herz- 
muskel geführt hat mit nachfolgender Perikarditis und Resorptions- 
temperaturen sowie späterer Schwielenbildung. 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 91 


Das gleiche Krankheitsbild: leichte Temperaturanstiege nach 
Angina pectoris-Anfällen mit myomalacischen Erscheinungen am 
Herzen und evtl. Bildung von Herzaneurysmen, sowie von Peri- 
karditis ist von Kernig und Löwenberg geschildert, von 
einer Pericarditis stenocardiaca in gleichem Sinne spricht Stern- 
berg. Wichtig ist, daß von G. B. Gruber und Lanz ein Fall 
vonischämischerHerzmuskelnekrose nach Angina pectoris 
ähnlichen Beschwerden bei einem 29jährigen Epileptiker gefunden 
wurde ohne irgendwelche Veränderungen an den Gefäßen. Sie 
führen die schweren Veränderungen auf vasomotorische Er- 
scheinungen in der Aura zurück. Daß Herzmuskelnekrosen und 
Schwielen häufiger wie wir bisher glauben durch solche zeitweiligen 
funktionellen Arterienverschlüsse bedingt sind, erscheint ja keines- 
wegs unmöglich. 

Zweimal konnten wir bei Hypertonikern bei sonst normalem 
Sediment und bis auf geringe Einschränkung der Konzentrations- 
fähigkeit sonst normale Nierenfunktion ohne vorausgegangene 
Glomerulonephritis ganz plötzlich einsetzende starke Blutbei- 
mengungen zum Urin feststellen, die nach kurzer Zeit, in 6 bis 
10 Tagen wieder schwanden ohne Auftreten von größeren Mengen 
von Zylindern im Urin oder Zeichen stärkerer Niereninsufficienz. 
Daß hier kurz dauernde Ischämie durch Kontraktion größerer 
Nierenarterien zu solchen hämorrhagischem Infarkt ähnlichen 
Blutungen geführt hat, ist durchaus möglich, der gar nicht seltene 
Befund von Infarktnarben bei leichteren Schrumpfnieren ohne Vor- 
handensein von Ausgangsstellen für frühere Embolien an Herz- 
klappen usf. und ohne verschließende Arteriosklerose der Nieren- 
gefäße — Herr Prof. Jaffe vom pathologischen Institut machte 
mich auf solche Befunde aufmerksam — läßt in gleicher Richtung 
denken. Für akut einsetzende Pankreasapoplexien bei Hypertonikern, 
die nicht gleichzeitig an Erscheinungen von Erkrankungen der 
Gallenwege leiden, für die seltenen, beim arteriellen Hochdruck 
erst nach dessen Ausbildung einsetzenden peptischen Ulcera, gelten 
vielleicht die gleichen Beziehungen. Doch an Bedeutung treten 
diese ähnlichen Erscheinungen an anderen Organen sehr zurück 
hinter der Apoplexia cerebri. Die hochgradige Empfindlichkeit 
gegen vorübergehende Anämisierung wird eben in keinem der 
anderen Organe erreicht. 

Wir kommen zum Schluß. Er verlangt in Weiterführung der 
vorgetragenen Gedankengänge energischer wie bisher vom Arzt 
die Therapie der leichten und flüchtigen Erschei- 


99 WESTPHAL 


nungen am Hirn der Hypertoniker, des Schwindels, des 
Kopfschmerzes, der leichten Ohnmachten usf., denn können wir 
diese hemmen, so verhindern wir voraussichtlich oft die Entwick- 
lung der folgenschweren Steigerung solchen krankhaften Geschehens 
der Apoplexie. Von der reichlichen Zahl der gegen den arteriellen 
Hochdruck genannten Mittel sei hier nur wieder hingewiesen auf 
das Diuretin wegen seiner direkt gefäßerweiternden Wirkung und 
auf das altbekannte Jod. Besser und energischer wie beide wirkt 
oft Rhodan .in kleinen Dosen. Es wird über diese gute Erfolge 
aufweisende Therapie an anderer Stelle genauer berichtet werden. 
Im Gedankengang der Hypercholesterinämie als ursächlichem Faktor 
erscheint eine lange und konsequent durchgeführte Fettentziehung 
nicht ohne Nutzen, ebenso bei den angedeuteten Zusammenhängen 
mit der Subfunktion der Keimdrüsen länger durchgeführte Gaben 
von deren Präparaten und ev. von Thyroidin. Gute Dienste tat 
einige Male bei Patienten mit Hirngefäßkrisen und Angina pectoris- 
Anfällen die proteinkörperähnliche Behandlung mit Schwefelin- 
jektionen, wie sie Rusznyak zur Behandlung der Hypertonie 
empfohlen hat. Zu warnen ist unbedingt vor kritikloser Anwendung 
von heißen Bädern auch in Kombination mit Kohlensäure beim 
ausgesprochenen arteriellen Hochdruck, es sei nur erinnert an die 
Versuche F. Kaufmann’s mit den starken Blutdruckanstiegen 
bei hitzeempfindlichen Hypertoniekranken, und an die Schwindel- 
anfälle, die beim heißen Baden den Hypertoniker manchmal be- 
fallen. Eine Ruhe- und Liegekur in nicht zu warmem klimatischen 
Milieu wirkt hier oft besser wie übertriebene Bäderbehandlung. 
Über 50°/, unserer Apoplektiker waren vor dem 60. Lebensjahr be- 
fallen. Eine konsequente Therapie der Prodromalerscheinungen ist 
nicht nur eine Behandlung einer senilen Abnutzungserscheinung, 
die in oft sehr glücklicher Weise ein schnelles Ende herbeiführt, 
sondern sie kann auch zahlreiche noch.-Rüstige und Schaffensfreudige 
bewahren vor jahrelanger Lähmung und Krankenlager. 


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Über die Entstehung des Schlaganfalles. 03 


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Über die Entstehung des Schlaganfalles. 95 


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96 


Aus der Medizinischen Universitäts-Klinik Frankfurt a. M. 
(Direktor: Prof. G. v. Bergmann). 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 


ill. Experimentelle Untersuchungen zum Apoplexieproblem. 
Von 


Karl Westphal, 


Privatdozent für innere Medizin, Oberarzt der Medizinischen Universitäts-Klinik. 


(Mit 5 Abbildungen.) 


Tierexperimente, die den in der klinischen Arbeit auseinander- 
gesetzten Entstehungskomplex der Hirnblutung beim Hypertoniker 
nachahmen wollen, können sich nur auf einen sehr plumpen Ver- 
such der Imitation beschränken. Denn das so komplizierte und 
oft jahrelang vor der Blutung auf das Gehirn einwirkende patho- 
logische Milieu des meist der genuinen Form angehörigen arteriellen 
Hochdruckes schafft am Gehirn durch die ähnlich dem Bilde des 
Augenhintergrundes bei dieser Erkrankung lange vorausgehenden 
Ischämien schwankenden Grades und dadurch eintretende Schädi- 
sungen, durch die erhöhte Blutungsneigung der Hypertoniker und 
schließlich durch das eng auf das Versorgungsgebiet meist nur 
einer größeren Endarterie umschriebene Gebiet von Anämisierung 
und Erweichung in einem im übrigen in seinem Lebensprozesse 
nicht so grob gestörten Cerebrum so komplizierte Verhältnisse, daß 
sie sich wenigstens im akuten Experiment schlecht imitieren lassen. 


In der Tierheilkunde sind Gehirnblutungen auch nicht als häufig bei 
irgendeiner Tierart bekannt. Altere Hunde leiden allerdings verhältnis- 
mäßig oft an Nierenschrumpfung. Spaeth und Clauß haben auch be- 
deutende arterielle Blutdruckanstiege bei ihnen festgestellt, auf 170 bis 
210 mm Hg gegen 140 als Norm, aber ob bei Tieren eine Gehirn- 
arteriosklerose in Verbindung mit erhöhtem Blutdruck als Ursache von 
(tehirnblutung in Frage kommt, ist nicht erwiesen, jedenfalls ist diese 
Erkrankung im Gegensatz zum Menschen bei den Tieren höchst selten 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 97 


(Hutyra und Morch). An einer bestimmten Tierart experimentell 
vorzugehen, erschien daher kaum lohnend. 

Durch häufige intravenöse Adrenalininjektionen konnte B. 
Fischer größere Hirnblutungen bei Kaninchen erzeugen, die nach 
bisher nicht veröffentlichten Abbildungen in beträchtlicher Aus- 
dehnung in verschiedensten Hirngebieten auftreten und klinisch 
unter dem Bilde des Schlaganfalles verliefen. Ob diese sich aber 
in direkte Beziehung zur Hypertonusblutung setzen lassen, erscheint 
bei dem bekannten Eintreten schwerer Medianekrosen an den großen 
Gefäßen durch die Adrenalininjektionen und voraussichtlich ähn- 
licher Prozesse an den Gehirnarterien selbst fraglich. | 

Es wurden daher die experimentellen Untersuchungen be- 
schränkt auf folgende Fragen: 1 Beteiligen sich spontan auch Arterien 
mittleren Kalibers an so ausgesprochenen Kontraktionen, daß diese 
bei längerer Dauer im Gehirn zu Ernährungsstörungen führen 
können? 2. Lassen sich durch akute Anämisierung in umschriebenen 
Gehirngebieten dem angiospastischen Insult und der Apoplexie ähn- 
liche Bilder erzeugen? 3. Lassen sich bei genügend langer Dauer von 
Anämie im Gehirn Spontanblutungen erzeugen? 

Ein gutes Beobachtungsobjekt für die Frage; wieweit beteiligen 
sich unter physiologischen Verhältnissen die Arterien nicht ganz 
kleinen Kalibers an ausgesprochenen Motilitätsvorgängen ? bot die 
in der pathologischen Anatomie für Stase und Entzündungsprobleme 
z. B. von Samuel, Ricker und Regendanz, ganz neuerdings 
auch von Tannenberg benutzte, durch die Durchspülungsver- 
suche des Russen Krawkow am überlebenden Präparat zur Zeit 
wieder für ähnliche Fragestellung wie hier bekanntgewordene große 
Ohrarterie des Kaninchens. 


Diese bietet gute Möglichkeiten zur direkten Beobachtung von Be- 
wegungsphänomenen an einer mittleren Arterie dar, denn sie verläuft in 
der Mitte des Ohres auf der Außenseite von der Basis bis zur Spitze 
vereinzelt Seitenäste abgebend auf der durchsichtigen harten Knorpel- 
unterlage und ist überzogen von einer dünnen bei den meisten Tieren 
nur wenig behaarten Haut. Daher bietet sie sowohl bei direkter Be- 
sichtigung des Ohres von oben oder besser noch bei einer im durch- 
scheinenden Licht einer 5—10 cm hinter dem Ohr aufgestellten starken 
Lampe ein genaues Abbild aller Bewegungen und Füllungszustände. 

Bei 4 so beobachteten Kaninchen war ein hochgradiger Wechsel in 
der Füllung zu beobachten, der sowohl ganz spontan auftrat, wie künst- 
lich durch verschiedene Eingriffe zu erzeugen war. 

Die spontanen Schwankungen in der arteriellen Gefäßweite waren 
am stärksten bei dem jüngsten, einem leicht erregbaren !/, jährigen 
Kanin, Hinaufbeben auf den Untersuchungstisch zeigte in den Arterien 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 1 


98 WESTPHAL 


zuerst für 20 Sekunden fast völlige Leere, nur ein zwirnsfadendünner 
roter Streifen zeigte den Gefäßverlauf an, dann erfolgte plötzlich ein- 
tretend Füllung der Arterien auf etwa 1,5 mm Breite, mit prallem 
Hervortreten derselben über dem Knorpel. Bei 10 Minuten langer Dauer 
der Beobachtung war stets ein starker Wechsel der Füllung imponierend, 
manchmal trat dieser deutlich ruckweise ein, manchmal allmählicher, 
zwischen 0,5 und 1,5 mm pendelt die Gefäßweite dauernd hin und her, 
etwa l mal in jeder Minute war bis zum Schluß der Beobachtung ein 
plötzliches von dem Ohransatz zur Spitze laufendes fast völliges Schwinden 
der arteriellen Füllung zu beobachten. 

Bei den anderen Tieren war der Befund ähnlich, nicht immer sind 
die Schwankungen gehäuft und stark aufgetreten. Am hochgradigsten 
waren die Kontraktionen bei dem ältesten, einem 4jährigen unter 
Cholesterinfütterung stehendem Weibchen, wo beim Aufsetzen des Tieres 
auf den Tisch eine völlige Kontraktion und Blutentleerung der Ohrarterie 
erfolgte, nach 25 Sekunden trat dann plötzlich eine hochgradige Füllung 
ein, die Arterie erscheint als ganz dicker, 2,5—3 mm breiter Wulst, 
auf dem Ohrknorpel vorspringend, nach 30— 40 Sekunden geht die Gefäß- 
weite auf 1,5 mm zurück, um dann wieder weiteren, nicht so starken 
Schwankungen ausgesetzt zu sein. 

Durch psychische Reize, Kneifen des Tieres, Beklopfen ließen sich 
bei allen Kaninchen mehr oder minder starke Kontraktionen der Ohr- 
arterien erzielen. Durch intravenöse Adrenalininjektion, 0,1 mg, ließ 
sich für 20 Sekunden Verengerung auf 0,5 mm, nachher reaktive Er- 
weiterung auf 2—2,5 mm erzeugen, durch Kompression an der Basis 
die gleiche Verengerung und sekundär Hyperämie mit starker Erweiterung. 
Kneifen eines umschriebenen Arterienstückes mit einer Pinzette rief an- 
dauernde Kontraktion dieses Abschnittes hervor, in den folgenden Tagen 
war an der gleichen Stelle oft deutliche Erweiterung feststellbar. Am 
anderen Ohr erfolgten die arteriellen Kontraktionen oft gleichsinnig, aber 
durchaus nicht immer. Spontanrhythmen oder ein besonderer Turnus der 
Schwankungen ließen sich bei dieser Methode der Beobachtung nicht 
feststellen. Auf genaue Wiedergabe der Protokolle wird verzichtet. 


Es genügt hier die Feststellung der Tatsache, daß in ganz 
ausgedehntem Maße auch mittelgroße, zum mindesten nicht ganz 
kleine Arterien des Körpers von einem lichten Durchmesser von 
1—2 mm bereits unter physiologischen Verhältnissen sich andauernd 
weitgehend an der Gefäßmotilität beteiligen, daß wir durch diese 
einfache Beobachtung an der Ohrarterie des Kaninchens feststellen 
können, wie die bekannten Erscheinungen etwa psychogenen Er- 
rötens und Erblassens nicht bloß in den kleinen und kleinsten Ge- 
fäßen sich abspielen, sondern daß die Schwankungen der Gefäß- 
weite dauernd auch die etwas größeren Arterien mitbefallen. Wenn 
wir auch unter pathologischen Verhältnissen am Menschen als 
seltene klinische Beobachtung das zeitweise Verschwinden der 
Fußpulse beim intermittierendem Hinken kennen, das der Radialis- 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 99 


pulse in wenigen Fällen von Raynaud’schen Attacken und schließ- 
lich Totalkontraktionen der Arteria centralis retinae bei flüchtiger 
Amaurose, so bietet doch die Häufigkeit solcher Schwankungen 
der Gefäßweite an den Ohrarterien des Kaninchens 
einen geeigneten Vergleich mit der Bewegungsmöglichkeit der 
Hypertonikerarterien besonders am Gehirn, wo Gefäße gleichen 
Kalibers nach der hier vorgetragenen Auffassung durch eine dann 
allerdings unter besonderen Verhältnissen an Intensität noch ge- 
steigerte Kontraktionsfähigkeit zu schweren Schädigungen des Or- 
gans führen können. 

Die zweite Fragestellung: Lassen sich durch arterielle Kon- 
traktion der Apoplexie ähnliche Bilder erzeugen?, war nicht direkt 
zu lösen. Durch intraarterielle Injektionen von verdünnter Supra- 
reninlösung iin Ringer’scher Flüssigkeit in die linke oder rechte 
Carotis von Hunden ließen sich wohl Zustände von Coma mit zeit- 
weisem Aussetzen der Atmung, manchmal im Typ ähnlich der 
Cheyne-Stockes’schen Atmung erzeugen, auch waren Erscheinungen 
von Parese der entsprechenden Körperhälfte bei dem Aufwachen der 
Tiere, besonders an den Hinterbeinen, zu beobachten, aber Befunde 
deutlicher anatomischer Schädigung waren an der durch Suprarenin- 
injektion allerdings abgeblaßt und anämisch erscheinenden Hirn- 
hälfte nicht zu erheben. Die gute Anastomosenbildung des Arterien- 
kranzes an der Hirnbasis verhinderte dies wohl und auch die 
mangelnde Disposition der Versuchstiere zu länger dauerndem 
arteriellem Krampfverschluß. 


Es mußte daher zur Erzielung sicherer Anämie am Gehirn 
ein anderer Weg gewählt werden. Er bot sich durch einen weiteren 
Ausbau der Versuche von Kußmaul und Tenner, deren 
Grundanschauung das „durch plötzlich aufgehobene Ernährung des 
Gehirns fallsüchtige Anfälle zustande kommen können“, ja zum 
Teil in sehr ähnlicher Form in dem klinischen Teil dieser Unter- 
suchungen vertreten wurde. 


Die Technik der Versuche wurde so gewählt, daß an Hunden und 
Katzen in Athernarkose nach Tracheotomie Auer-Meltzer’sche Atmung 
durchgeführt wurde unter einem gewissen Überdruck, so daß auch bei 
Pleuraeröffnung die Sauerstoffversorgung des Organismus eine gute war. 
Nach Wegnahme der Brustbeinspitze und der anliegenden Clavikulateile 
wurde rechts der Stamm der Subclavia und der bei den hier benutzten 
Versuchstieren in einem gemeinsamen Stamme des Truncus anonymus mit 
abgehenden beiden Carotiden durch eine Ligatur unterbunden und ebenso 
links in der Tiefe am Aortenbogen die Subclavis an ihrer. Abgangsstelle. 
Die Blutversorgung des Gehirns durch Carotider ‘und. Arturia» vertebvasen 

7 


100 WESTPHAL 


war dadurch verlegt. Die Unterbindung geschah zur Schonung der Ge- 
fäße mit vorher durch Kochen zur Quellung gebrachtem Katgut, nach 
Lösung dieser elastischen Unterbindung war stets eine gute Passage des 
Blutstroms in den Arterien wieder möglich. Die Anämie wurde je nach 
Plan und Zustand des Tieres verschieden lang, 30 Minuten und länger, 
durchgeführt, bei Eröffnung der Unterbindung gleichzeitig intravenös und 
kurz vorher auch intramuskulär Suprarenin gegeben, um eine möglichst 
gute Durchblutung des anämischen Gehirns unter erhöhtem Blutdruck zu 
erzielen. Der Tod der Versuchstiere erfolgte spontan oder häufiger durch 
Entziehung der künstlichen Atmung. Auf eine genaue Wiedergabe der 
Versuchsprotokolle wird verzichtet. 

An den Gehirnen fanden sich nie makroskopisch erkennbare Ver- 
änderungen, nur mikroskopische. Diese wurden festgestellt an einer großen 
Reihe von Schnitten, die gewonnen wurden durch einen Querschnitt durch 
die Mitte des Gehirns. Es wird hier in den Berichten nur die Anzahl 
der Blutung in einem dieser Schnitte wiedergegeben. Den Herren Kollegen 
Schreiber, Albrecht und Kuckuk sowie dem Laboranten Lind 
danke ich auch an dieser Stelle vielmals für die bei der Durchführung 
der Experimente geleistete Hilfe. 

Katze I: 17. III. 25. Operation 5—5‘°. Unterbindung des 
Trunkus anonymus rechts, links der Subclavia beendigt, Apnoe des Tieres, 
weite reaktionslose Pupillen, Herztätigkeit 150 in der Minute. 

61° nach 30 Minuten Eröffnung der Ligatur. Herzaktion kurz 
vorher schlecht wegen verkehrt funktionierender künstlicher Atmung. 

613 Exitus. Eine deutliche Pulsation der Carotiden ist nicht mehr 
eingetreten. 

Mikroskopisch findet sich am Gehirn nur eine mäßige Blutfüllung 
der Gefäße. An einer Reibe von Schnitten aus der linken und rechten 
Hemisphäre lassen sich vereinzelt kleine Blutungen feststellen, 3 z. B. in 
einem Schnitt von links, um nur mäßig gefüllte Kapillaren im Rinden- 
gebiet unweit der weißen Substanz, 2 im Stammgangliengebiet, 1 davon 
um eine kleine Vene. Rechts in einem Schnitt nur im Stammgangliengebiet 
an 4 Stellen, 2mal um durchaus nicht stark gefüllte Venen, 2mal um 
Kapillaren deutliche Blutung in die Umgebung. In einer Vene fand sich 
Gerinnung angedeutet, an den anderen nichts dergleichen, deutliche Wand- 
veränderungen sind nicht an den Gefäßen erkennbar. Es handelt sich 
hier also um Blutungen, die bei Stase in den Gehirngefäßen nach der 
Unterbindung bereits erfolgt sein müssen, da die erst beim Versagen des 
Kreislaufs erfolgende Eröffnung der Gefäßligaturen nicht mehr zu einer 
deutlichen Füllung der Carotiden ausreichte. 

Katze II: 19. Ill. 25. Operation 5—5°°. Tier liegt nach Ge- 
fäßunterbindung in Apnoe mit weiten reaktionslosen Pupillen, Puls 120. 
Später zeitweise spontan vereinzelt ganz tiefe Atemzüge bis zu 12 in 
der Minute. Herzaktion bleibt kräftig bis 6°’. 6°% 2 mal ®/, mg Supra- 
renin intramuskulär, 6°° Eröffnung der Ligatur, die unterbundenen 
Arterien pulsieren danach voll und kräftig, auch bald danach gute 
Füllung der Halsvenen, 6!! Suprarenin '/, mg intravenös, 6°° Suprarenin 


Vo mg, intzavenös.« Nech der Injektion verstärkte und etwas beschleunigte 


Herzaktion und Puisat:on.: JMe Pupillen bleiben lichtstarr und weit auch 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 101 


nach der erneuten Hirndurchblutung, die Muskulatur schlaff und regungslos. 
64° Beendigung des Versuches durch Herausnehmen der Trachealkanüle. 
Der Schädel wird eröffnet durch eine kleine Kreissäge, das Gehirn bleibt 
nach Freilegung in der Schädelkapsel, es wird mit dem Schädel zusammen 
mit 10°/ iger Formalinlösung fixiert, am nächsten Tage erst von der 
Schädelbasis abpräpariert. Die Basisgefäße sind gut durchblutet. 

Querschnitte aus dem Vorderteil des Gehirns zeigen mikroskopisch 
z. B. an einer Stelle 3 Blutungen in die Stammganglien, rechts und 
links 2 kreisrund um prall gefüllte Kapillaren, 1 ausgedehnte um eine 
kleine Vene. 

Querschnitte aus dem Mittelteil des Gehirns zeigen links, z.B, ein- 
mal an 6 Stellen, Blutungen in das Gebiet der Stammganglien um eine 
kleine Vene, um eine Arteriole, an einer Stelle um eine große Vene und 
daneben um eine ganze Reihe von Kapillaren, außerdem im Rinden- 
gebiet 2 mal deutliche Blutungen um Kapillaren. Die Wand der Gefäße 
erscheint dabei wenig verändert, nur die Wand einer größeren Vene 
erscheint glasig gequollen. Stauung und überstarke Füllung der Gefäße 
besteht im Gehirn nicht. Rechts finden sich im Mittelteil des Gehirns 
in einem Schnitt z. B. 5 Blutungen, 3 um kleine Venen 1l um eine 
kleine Arterie, 3 finden sich wieder in den Stammganglien, 2 in der 
Rinde. An anderen Schnitten finden sich noch Blutungen in der 
Marksubstanz, nirgends sind Gerinnungserscheinungen in den Gefäßen zu 
sehen. Vereinzelt läßt sich an kleinen Venen glasige Quellung der 
Wand feststellen, jedoch keine Kernveränderungen im Blutungsgebiet. 
Die Blutungsherde sind nie groß, ihr Durchmesser beträgt das Doppelte, 
seltener 3—4 fache von dem der betroffenen Gefäße. 

Katze lII, IV, V: zeigen unter gleichen oder ähnlichen Versuchs- 
bedingungen 2 mal bei III und IV mikroskopisch vereinzelt kleine 
Blutungen z. B. III rechts 4 im Rindengewebe an der Basis, 2 mal um 
Arteriolen, 2 mal um Kapillaren in der Mitte der Hemisphäre im Mark- 
gebiet, links nur 1 um eine Arteriole an der Basis. Bei IV fanden 
sich auf einem Querschnitte durch die Mitte des Gehirns beispielsweise 
5 Blutungen, 1 um eine große Vene, l um eine Arteriole und 3 um 
kleine Venen, zum Teil in Rindenpartien an der Basis des Gehirns. Auf- 
fällig sind hier an den Kernen einer Arteriolen und zweier kleinen Venen 
Veränderungen im Sinne einer Verklumpung, solche Kernveränderungen 
finden sich noch in einer Arteriolenwandung ohne Blutung in die Um- 
gebung. Bei Katze V zeigt die mikroskopische Untersuchung außer 
einigen kleinen Blutungen unter dem Ependym an den Seitenventrikeln 
in der Nähe des Plexus nichts Pathologisches. 

Katze VI: 18. VI. 25. 43-415 Operation. Nach Gefäßunter- 
biodung Spontanatmung und Cornealreflex erhalten, Pupillen lichtstarr, 
vereinzelte Bewegungen des Körpers und der Extremitäten. 6215, also 
erst nach 1!/, Stunden, Entfernung der Unterbindung, danach gute Füllung 
der Halsarterien und Venen, vereinzelte leichte Streckkrämpfe. Supra- 
renin l mg intravenös, 2 mg intramuskulär. Volle kräftige Herzaktion 
lange erhalten, bis 80%, 81° bei hochgradigen Streckkrämpfen in den 
Extremitäten schlechte Herztätigkeit, die sich nicht wieder gut erholt, 
bis um 11°° der Exitus spontan erfolgt. Die Versuchsdauer der An- 


102 WESTPHAL 


ämisierung betrug also hier 1!/, Stunden, danach Fortsetzung des Ver- 
suchs noch ca. 5 Stunden, das Gehirn wurde erst am nächsten Morgen 
aus dem Schädel entnommen. 

An den mikroskopischen Präparaten fiel hier auf, daß sich neben 
einer ganzen Reihe von kleinen und kleinsten Arterien eine schmale 
Zone von Odem befand, die sich bei Hämatoxolin-Eosinfärbung rosa färbte, 
auch in wenigen Arterien selbst bestand die Füllung nur aus solcher glasigen 
rosa Masse, wohl Blutserum. Neben solcher ödematösen Durchtränkung 
der Gefäßnachbarschaft fanden sich um eine kleine Arterie, die gefüllt 
mit seröser Flüssigkeit war, eine ausgesprochene Blutung ohne erkennbare 
Veränderung der Wand inmitten der Stammganglien (vgl. Abb. III, 1). 


Abb. III, 1. Blutung um Arterie mit Gerinnselbildung im Innern bei Katze 4 
ohne erkennbare Wandschädigung des Gefäßes im Corpus striatum. Vergrößerung 
27Vfach, Leitz. 


2mal fanden sich außerdem um kleinste Arterien mit Blutfüllung 
Blutungen, 3mal Blutungen zum Teil auch im Mark, lmal nach Art 
einer Ringblutung kreisförmig angeordnet mit ödematöser Durchtränkung 
der inneren Partien um das Gefäß selbst. Schwere Veränderungen 
waren an den Gefäßen nirgends erkennbar. An den Kontrollschnitten 
fanden sich die gleichen Veränderungen wie die beschriebenen. 
Auffallend war hier neben den üblichen kleinen Blutungen die seröse 
Druchtränkung der Arteriennachbarschaft an manchen Stellen. Sie ist 
der Ausdruck der gleichen gesteigerten Gefäßwanddurchlässigkeit wie bei 
den Blutungen. An den Ganglienzellen waren nirgends in diesen Fällen 
auch bei gut durchgeführten Nisselpräparaten ausgesprochene Verände- 
rungen festzustellen. Herr Dr. Kino vom Neurologischen Institut (Prof. 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 103 


Goldstein) hatte dankenswerterweise die große Freundlichkeit, gerade 
daraufhin die Präparate mit durchzusehen. 

Aber von den schnell geänderten Verhältnissen der grauen Sub- 
stanz des Gehirns gibt besser Auskunft eine Prüfung derselben mit Lack- 
muspapier. Während am unberührten Gehirn auch in unseren Versuchen 
eine schwach alkalische Reaktion der Rinde festzustellen war, zeigten 
bald nach der Unterbindung, 10 Minuten später z. B., Rinde und Stamm- 
ganglien ausgesprochen saure Reaktion. Durch Aufdrücken von blauem 
Lackmuspapier auf Hirnquerschnitte der berausgenommenen Gehirne ließ 
sich stets eine mehr oder minder klar hervortretende Bänderung mit rosa 
Verfärbung der grauen Substanz in Rinde und Stammganglien und blau 
bleibender der weißen feststellen. Dieser Umschlag in der Reaktion 
stimmte mit den früher eingehend mitgeteilten Literaturangaben überein. 

An Hunden wurden 2 mal die gleichen Experimente vorgenommen. 

I. Hellgraue Hündin, 6 kg Gewicht, Operation 5°°—6, 5. VII. 
25. Nach Unterbindung der arteriellen Gefäßstämme zuerst totale Apnoe. 
kurzdauernder Streckkrampf, Pupillen ohne Lichtreaktion, Cornealreflex 
auslösbar, Herzaktion kräftig, 80 in der Minute. 6?°—-6° spontane 
Atmung, 6°° Lösung der Unterbindungen, Herzaktion danach verlangsamt 
auf 48 in der Minute mit Extrasystolen. 2 mg Suprarenin langsam 
intravenös. Danach Puls 60, Extrasystolen verschwinden für einige Zeit. 
Gute Füllung der Carotiden und Halsvenen, 7!° Entfernung der Tracheal- 
kanüle, 78° Tötung durch Herzschnitt, da die Atmung spontan weiter geht. 

Hirn blutreich bei der Sektion. Bei der mikroskopischen Unter- 
suchung findet sich eine Reihe von Blutungen durch rechte wie linke 
Hemisphäre, z. B. rechts in einem Schnitt an 11 Stellen, 4 um Arteriolen, 
3 um Venen, der Rest um Kapillaren, stellenweise gehäuft um solche, 
z. B. an einer Stelle im oberen Teil des Rindengraus um 7 Kapillaren. 
Die Blutungen sind überall verteilt, z. B. auch im Mark, eine besondere 
Bevorzugung der Stammganglien ist nicht feststellbar. Links ist der 
Befund der gleichen auch hier etwa 10 Blutungen in einem Schnitt, 
einmal um eine Arteriole, 4 mal um Venen, 2mal dabei um etwas größere 
Venen (vgl. Abb. III, 3). Bei Nisselfärbung ist nichts Besonderes an 
den Ganglienzellen festzustellen. 

Hund II: schwarze Hündin, 5 kg schwer, 12. VII. 25 48°_—5°5 
Operation. Nach Unterbindung spontan tiefe Atmung, Cornealreflex er- 
halten, Lichtreaktion der Pupillen negativ. Puls voll und kräftig, 88—92. 
6‘° Lösung der Unterbindung, danach sehr langsamer Puls, 25—28 in 
der Minute, langsame tiefe Atmung 5mal in der Minute, intramuskuläre 
Suprareningaben, 1X 1,2 2 mg, bessern Herzaktion wenig. 82% Ent- 
fernung der Kanüle, Exitus. 

Die mikroskopische Untersuchung des Gehirns zeigt rechts an einem 
Querschnitt aus der Mitte wieder eine Reihe von Blutungen, z. B. 6, 
zum Teil um kleine Venen, zum Teil um Kapillaren, anscheinend etwas 
gehäufter im Basalteil der Stammganglien. Links finden sich ausge- 
sprochenere Bilder, hier sind 2mal in der Tiefe, im Rindengrau (vgl. 
Abb. III, 3) aber unweit von der Marksubstanz, an Arteriolen mit deut- 
lich veränderten geschrumpften und verklumpten Kernen kleine Blutungen 
vorhanden, ähnliche Kernveränderungen finden sich auch bei eifrigem 


104 WESTPHAL 


Abb., III, 2. Blutung um eine Vene in der Gegend der Stammganglien links- 
seitig bei Hund 1. Vergrößerung 270 fach, Leitz. 


Abb. III. 3. Blutung um Arteriole mit verklumpten Kernen in der Media bei 
Hund 2 in grauer Substanz der Rinde des Temporallappens. Vergrößerung 
270 fach, Leitz, 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 105 


Suchen an 3 Arteriolen aber ohne Blutung in der Nachbarschaft, außerdem 
sind an verschiedenen Teilen des Gehirns auch im Mark um kleine Venen 
und Kapillaren deutliche Blutergüsse, im ganzen 9. 

Die erzielten Veränderungen zeigen demnach keineswegs eine 
Gleichheit oder ausgesprochene Ähnlichkeit mit der massierten 
Blutung der apoplektischen Herde, auch die einige Male vor- 
kommende größere Häufigkeit von kleinen Blutungsherden in der 
grauen Substanz der Stammganglien war keineswegs so ausge- 
sprochen, daß daraus Vergleichsmöglichkeiten für die Pathologie 
sich ergäben. 

Als einziges sicheres Resultat kann bei dieser Veruchsanord- 
nung nur festgestellt werden, daß an diesen Gehirnen, die wohl 
infolge der starken allgemeinen Schädigungen des Kreislaufs durch 
die Versuchsanordnung im allgemeinen nicht die Zeichen stärkerer 
reaktiver Hyperämie aufwiesen, an einer ganzen Reihe 
kleinerer arterieller, venöser und kapillärer Ge- 
fäße Wandschädigungen, die zum Teil sogar ana- 
tomischerkennbarsind, eintraten, die zuDiapedesis- 
blutungen geführt haben, daß demnach die zeitweise 
l Stunde und länger dauernde Anämisierung des 
Gehirns gleichzeitig mit den an der grauen Substanz eintreten- 
den chemischen Veränderungen im Sinne eines Umschlages nach 
der sauren Seite zu deutlicher blutungserzeugenden Gefäßschädi- 
gung führen kann. Wenn diese nicht den Umfang und die Schwere 
der apoplektischen Blutung annelımen, so kann dies daran liegen, 
daß hier die vorher aufgeführten pathologischen Bedingungen des 
Hypertonus nicht vorhanden sind, und daß hier die später wieder 
eintretende arterielle Zufuhr trotz der Adrenalininjektionen eine 
abgeschwächte war. 

Wie eng die Beziehungen zwischen zeitweiser Anämisierung 
im Gehirn und Blutungsentstehung auch unter anderen Bedingungen 
wie denen des Hypertonus sind, zeigte ein fast nach Art der vor- 
her geschilderten Experimente an einer Kranken sich ab- 
spielender Vorgang. 

Gelegentlich konsultativer Tätigkeit wurde der Verf. auf der chirur- 
gischen Klinik zu einer Patientin gebeten, an der infolge Eintritts von 
völligem Stillstand der Herztätigkeit und Atmung bei einer 
Operation wegen ausgedehnter eiteriger von den Adnexen ausgehender 
Peritonitis 15 Minuten lang vergeblich Wiederbelebungsversuche durch 
künstliche Atmung usf. gemacht worden waren, bis dann schließlich eine 


intrakardiale Suprarenininjektion das Herz zu neuer Tätigkeit und damit, 
so könnte man hier sagen, den ganzen Menschen zu neuem Leben er- 


106 WESTPHAL 


weckte. Die Operation geschah abends zwischen 10 und 11 Uhr. Die 
28 jährige Patientin blieb auch am nächsten Tage völlig bewußtlos, die 
Muskulatur war meist in tonischem Krampfzustand, selten traten klonische 
Zuckungen auf, hochgradige Nackensteifigkeit, Streckkrämpfe der Beine 
und gesteigerte Sehnenreflexe, ohne Zeichen von Pyramidenbahnenunter- 
brechung bestanden fast dauernd. 

Am nächsten Vormittag wird ein nochmaliger Anfall von Atem- 
und Herzstillstand durch erneute intrakardiale Suprarenininjektion be- 
hoben, bei noch einmal wiederholtem Auftreten eines solchen Zustandes 
bessert eine Lumbalpunktion weitgehend das Allgemeinbefinden, für 
12 Stunden besteht gute Herztätigkeit und Atmung, die Streckkrämpfe 
treten zurück, am zweiten Tage nach der Operation trat infolge der 
Peritonitis bei allmählich versagendem Kreislauf der Tod ein, zirka 
36 Stunden nach dem operativem Eingriff. In dem kurz vor dem Tode 
entnommenen Urin fanden sich interessanterweise massenhaft granulierte 
Zylinder und Eiweiß. Herrn Kollegen Fischer II von der Chirurgischen 
Klinik bin ich für die genaueren Angaben über den Zustand der Patientin 
sehr dankbar. 

Der genaue Sektionsbefund dieses Gehirns erschien, weil 
hier einmal an einem Menschen eine Viertelstunde lang ein Stillstand der 
arteriellen Blutversorgung des Gehirns eingetreten war, ganz besonders 
wichtig. Schon makroskopisch fiel an dem zuerst in Formalin gehärtetem 
Gehirn beim Anlegen von Querschnitten auf, daß die weiße Substanz 
überall durch ein besonders starkes Hervortreten der Gefäßzeichnung aus- 
gezeichnet war, daß sie dadurch sehr ausgedehnt, fein längs ge- 
sprenkelt erschien und stellenweise sogar deutlich bis kleinhirse- 
korngroße Blutungsherdchen erkennen ließ. Die graue Substanz 
zeigte dieses nicht. 

Mikroskopisch fanden sich kleine Blutungen in der weißen 
Substanz des gesamten Gehirns in ausgedehntem Maße, daneben eine 
ausgesprochene Hyperämie mit praller Füllung der Gefäße ohne Er- 
scheinungen von Thrombose. Diese Blutungen konnten nur im Mark, 
nirgends in grauer Substanz auch nicht in den Stammganglien gefunden 
werden. Nur in manchen Grenzgebieten von Mark und grauer Substanz 
in der Rinde erschienen sie gedrängter. Sie waren im Mark im 
Vorder-, Mittel- und Hinterteil des Großhirns rechts wie links gleich- 
viel und gleichstark ausgeprägt vorhanden. Dieses isolierte Befallensein 
gerade der weißen Substanz ist auffallend, der Befund deckt sich mit 
der von Schwarz betonten Disposition des Gehirns zu solcher um- 
schriebenen Isolierung von Schädigungen, warum hier in diesem Falle 
gerade das Mark so stark befallen erscheint, ist schwer zu erklären. 
Vielleicht spielt die Narkose dabei mit ihren engen chemischen Be- 
ziehungen zur Hirnsubstanz eine Rolle. 

Bei der genauen mikroskopischen Untersuchung sieht man in der 
Rinde, besonders auch im Mark, eine ausgesprochene Hyperämie. Die 
kleinen Blutungsherde befinden sich um Kapillaren, aber nicht mehr zahl- 
reich, häufiger um kleine Venen und Arteriolen. Die Größe der Blutungen 
kann bisweilen das 8—10fache des Durchmessers der kleinen Gefäße 
betragen, Anhäufungen mehrerer zu größeren Blutungsherden finden sich 


Über die Entstehung des Schlaganfalles. 107 


Abb. III, 4. Blutung um Arteriole mit glasiger Quellung der Wand bei Patientin 
mit 1!/;, Tage vor dem Tode eingetretenem viertelstündigem Herzstillstand. Ver- 
größerung 180fach, Leitz. 


Abb. III, 5. Blutung um Vene mit Wandnekrose in weißer Hirmsubstanz bei 
Patientin mit 1'/, Tage vor dem Tode eingetretenem viertelstündigem Herzstill- 
stand. Vergrößerung Töfach, Leitz. 


108 WESTPHAL 


nicht, wohl aber auf einer Reihe von Schnitten verfolgbar, Blutungen 
um eine kleine Arterie und ihre Verzweigungen, so daß 3 kleine Blutungs- 
herde dann zusammenhängen können. Um einige größere Arterien finden 
sich sehr vereinzelte Blutextravasate. Die Gefäße sind überall prall mit 
Blut gefüllt, deutliche Thrombenbildung ist nirgends feststellbar. 

Die Blutaustritte finden sich des öfteren als schmale Extravasaten 
in die Gefäßscheide bei anatomisch nicht deutlich veränderter Wand. 
An den großen Blutungen, die sich z. B. bei mehreren Venen (vgl. 
Abb. III, 5) ausgedehnt parallel verlaufend den Gefäßen feststellen lassen, 
stellte sehr häufig die Gefäßwand einen gerade noch erkennbaren, stark 
überdehnten schmalen Saum dar, in dem nirgends mehr Kerne deutlich 
erkennbar waren. Ahnlich war auch das Bild bei kleinen Blutungsherden 
und Kapillaren, die oft noch innerhalb der Gefäßscheide verblieben. Am 
eklatantesten waren die Gefäßwandschädigungen zu sehen an kleinen 
Arterien, wo sich bei deutlicher Verbreiterung der Wand des auch hier 
meist stark gedehnten Gefäßes des öfteren ein völliger Kernschwund der 
Media, glasige Quellung derselben und eine erhöhte Neigung zum Nieder- 
schlag von Formalinpigment in diese nekrotische Media (vgl. Abb. III, 4), 
wie auch manchmal bei den Präparaten der Apoplexiegehirne, bei 
Erhaltensein guter Kernfärbung der Intima, konstatieren ließ. Bei 
van Gieson-Färbung zeigte diese Muscularis keine grüne Färbung mehr, 
sondern eine schmutzig-rosa Tinktion. Die Elastikafärbung zeigte im 
Gegensatz zu gut erhaltener Elastica an den Rinden- und manchen Mark- 
arterien, an Arterien mit gequollener Wand bisweilen nur eine diffuse 
bläuliche Verfärbung der in Betracht kommenden Gebiete, manchmal 
Partien mit gut erkennbaren, sehr gestreckten elastischen Fasern und 
teilweise fehlender Färbung. An der Media auch nicht umbluteter Ge- 
füße von Venen und Arteriolen fiel stellenweise ebenfalls eine geringe 
Quellung der Wand und schlechte Färbbarkeit der vergrößerten Kerne 
der Media auf. 


Nekroseerscheinungen an der Wand der kleinen 
Arterien, Venen und Kapillaren mit Kernschwund oder 
Kernschädigung der Media, teilweise glasiger Quellung der ganzen 
Media und um diese Gefäße mehr oder minder ausgedehnte 
Blutungsherde stellen demnach in diesem Falle ein dem in der 
ersten Arbeit zur Genüge geschilderten Bilde des Randbezirkes 
von apoplektischen Herden durchaus Ähnliches dar. Daher die 
große Wichtigkeit dieser ja nur selten möglichen Einzelbeob- 
achtungen für das zur Diskussion stehende Problem der Apoplexie- 
entstehung. Hier führte tatsächlich die als Ursache der Apoplexie 
angenommene Ischämie nach einer ’/,stündigen Anämisierung zu 
schweren Gefäßschädigungen mit sekundärer Blutung. Daß die 
Blutung hier zahlreicher und ausgedehnter eintrat wie in den vor- 
her geschilderten Tierexperimenten, liegt vielleicht an der großen 
Schwierigkeit der Erhaltung guter Kreislaufverhältnisse beim 
Experiment und einer ja sehr gut möglichen erhöhten Empfindlich- 


Über die Entstehung die Schlaganfalles. 109 


keit gerade des menschlichen Gehirns gegenüber mangelnder Ver- 
sorgung mit arteriellem Blut. 

Daß wieder schwindende Anämie am Gehirn Ge- 
fäßschädigung und Blutung bedingen kann, zeigten 
demnach an Mensch und Tier die mitgeteilten Beobachtungen. 


Literatur. 


1. B. Fischer, Zur Frage der experimentellen Arterioskferose durch Adre- 
nalininjektionen. Berlin. klin. Wochenschr. Nr. 9, 1907. — 2.Hutyrau.Morch, 
Spezielle Pathologie und Therapie der Haustiere. Jena 1917. — 3. Kußmaul 
u. Tenner, Untersuchungen über Umfang und Wesen der fallsuchtartigen 
Zuckungen bei der Verblutung, sowie der Fallsucht überhaupt. Moleschott’s 
Untersuchungen Bd. 3, S. 1, 1857. — 4. Ricker u. Regendanz, Virchow’s 
Arch. 231, I, 1921. — 5. Tannenberg, Experimentelle Untersuchungen über 
lokale Kreislaufstörungen, Bd. 1—3. Frankfurt. Zeitschr. f. Pathol. Bd. 31, 1925. 


110 


Aus der Medizinischen Klinik Heidelberg. 


Untersuchungen über das diastatische Ferment im Blute. 


Von 


Dr. von Strasser, 
Assistent der Klinik. 


Die ärztliche Beurteilung der Pankreasstörungen macht noch 
immer Schwierigkeiten, wenn auch durch die Arbeiten von 
A. Schmidt, Brugsch und Katsch Fortschritte gemacht 
wurden. Katsch hat gewiß völlig Recht mit der Annahme, daß 
mancherlei Abdominalsymptome, die von Störungen der Pankreas- 
arbeit abhängen, vielfach aus Gewohnheit — weil das Pankreas 
weniger als andere Organe im Blickfeld unseres Interesses steht, 
und die diagnostischen Methoden noch nicht so voll ausgebildet 
sind — anderen Organen zugerechnet werden. Wir haben immer 
auf das Pankreas geachtet. Bereits Adolf Schmidt wies in 
seinen Arbeiten auf die leichteren Störungen des Pankreas hin, 
doch schienen diese durch die Arbeiten von Brugsch zum Teil 
widerlegt und in den Hintergrund geschoben. 

Wir haben zunächst untersucht, wie sich die diastatische Wir- 
kung des Blutes bei verschiedenen Menschen gestaltet, und ob sich 
bei Organerkrankungen regelmäßig Veränderungen zeigen. 

Wir bedienten uns der Methode von Wohlgemuth: Dem Kranken 
werden morgens nüchtern 10 ccm Blut entnommen ; dieses wird sofort 
nach der Entnahme durch Schütteln mit Glasperlen defibriniert. Wie wir 
erprobten, genügt ein Schütteln von 10 Minuten, um ein gänzliches Aus- 
fallen des Fibrins zu bewirken. Das so defibrinierte Blut wird unmittel- 
bar danach zentrifugiert, und zwar empfiehlt es sich 20 Minuten bei 
2500 Umdrehungen zu zentrifugieren, um ein möglichst rein abgesetztes 
Serum zu erhalten. Für praktische Zwecke sei bemerkt, daß man das 
zentrifugierte Blut einige Stunden stehen lassen kann, ohne eine Ver- 
änderung der darin enthaltenen Diastase befürchten zu müssen. Man 
verteilt dann das Serum in 10 vorher bezeichneten Reagensgläsern in 
fallenden Mengen, so daß sich im Glas 1 l ccm, in Glas 2 0,5 ccm, in 


Untersuchungen über das diastatische Ferment im Blut. 111 


Glas 3 0,25 ccm usf. Serum befindet. Als Verdünnungsflüssigkeit be- 
nützten wir 1l°/ ige Kochsalzlösung. Dazu ist zu bemerken, daß zwar 
Block in seinen Arbeiten angegeben hat, die Diastase sei abhängig von 
der Salzkonzentration; deshalb fordert er, daß eine Diastaseuntersuchung 
ohne Zusatz von Kochsalzlösung ausgeführt werden sollte. Abgesehen 
davon, daß bei Verdünnung mit einer bestimmten Lösung immer der 
gleiche Fehler unterlaufen würde, haben wir gesehen, daß eine Verdünnung 
mit 1°/ iger Kochsalzlösung auf die Resultate selbst keinen Einfluß hat. 
Wir werden im Laufe dieser Arbeit hierauf noch zu sprechen kommen. — 
Zu dem in geometrischer Progression verdünnten Serum fügt man je 
2 ccm einer 0,1°/,igen Stärkelösung und läßt die Reagensglasreihe 
30 Minuten bei 33—40° im Brutschrank stehen. Unmittelbar nach dem 
Herausnehmen werden die Gläser abgekühlt und zu jedem Glas 1—2 Tropfen 
einer n/30 Jodlösung zugefügt. Es ergibt sich dann bei einem der Gläser 
ein deutlicher Farbenumschlag in blau, wie er die Jod-Stärke-Reaktion 
eigentümlich ist. Zur Ablesung nimmt man das erste Glas, bei welchem 
eine deutliche Veränderung der Serum-Verdünnungs-Eigenfarbe durch 
den Jodzusatz erfolgt, auch wenn der Ton noch nicht ausgesprochen blau, 
sondern mehr violett ist. Bei dieser Form der Ablesung läßt sich ein 
Fehler mit ziemlicher Sicherheit vermeiden, wenn man folgendes beachtet: 
nach Hinzufügen der Jodlösung wartet man 1—2 Minuten und findet 
dann bei der Ablesung stets einen deutlichen Unterschied, während man 
oft unmittelbar nach dem Jodzusatz schon im vorhergehenden Glas eine 
leichte Violettfärbung wahrnehmen konnte. Läßt man die Reihen noch 
weiter bei Zimmertemperatur stehen, so tritt erst nach längerer Zeit eine 
Nachverdauung der Stärke ein, die zu falschen Werten führt. Der Ab- 
bau der Stärke geht ın jedem Glas der Versuchsreihe weiter vor sich, 
und somit verändert sich die Farbe der einzelnen Lösungen bei längerer 
Beobachtung weiter. Man findet dabei verschiedene Färbungen, den Über- 
gang von dunkelblau, blauviolett, violett, rotviolett und gelb, je nachdem 
die einzelnen Lösungen reine Stärke, Stärke + Erythrodextrin oder nur 
Erythrodextrin oder Achroodextrin bzw. Zucker enthalten, worauf auch 
schon Wohlgemuth hingewiesen hat. Wenn wir nun, wie in fast 
allen Fällen, einen deutlichen Farbunterschied zweier benachbarter Gläser 
gefunden hatten, so konnten wir feststellen, daß nach 15 Minuten dieser 
Gegensatz noch ausgesprochen bestand. Nach 30 Minuten war die ur- 
sprünglich tiefblaue Lösung schon hellblau geworden, nach 40 Minuten 
trat hellviolette Färbung auf, nach 60 Minuten war die Farbe schon so 
ausgesprochen rot, daß wir bei einer Ablegung zu diesem Zeitpunkt zu 
dem nächsthöheren Werte gekommen wären. Auf neuerlichen Jodzusatz 
erhielten wir wieder die ursprünglichen Werte; das auftretende Blau hatte 
bisweilen dabei einen schmutzigen Ton. Nach Verlauf von 24 Stunden 
war auch die Stärke im Glas 10, das nur noch 0,002 ccm Serum ent- 
hielt, abgebaut; erneuter Jodzusatz ergab kein ausgesprochenes Blau 
mehr, sondern nur tiefviolette Färbung. Angestellt wurden diese Be- 
obachtungen bei Zimmertemperaturen von 15—20° ©. Die neuerlichen 
Jodzusätze ergaben in den gleichen Zeiten auch wieder die gleichen Farb- 
veränderungen. Dies entspricht den Beobachtungen von Biedermann 
und Starkenstein, die angaben, daß bei niederen Temperaturen der 


112 VON STRASSER 


Prozeß zwar sehr langsam verläuft, aber auch bei 0° noch nicht gänzlich 
aufgehoben ist, und daß weiter die Diastase als Ferment sich nicht ver- 
braucht, sondern imstande ist, nach Ablauf ihrer Wirkungen — wenigstens 
im Versuch — unter gleichen Bedingungen in der gleichen Zeit die 
gleiche Arbeit nochmals zu leisten. 

Wir lasen also stets erst eine Minute nach Jodzusatz ab und er- 
hielten dadurch mit verschwindenden Ausnahmen einen deutlichen Gegen- 
satz zwischen roter und blauer Farbe. — Zur Berechnung der diastatischen 
Kraft D bedient man sich folgender Formel: 


m:2=l:x, 


wobei m die Serummenge und x die diastatische Kraft D bedeuten. Hat 
man z. B. gefunden, daß bei Glas 5 zuerst eine Blaufärbung auftrat, so 
ergibt sich nach obiger Formel: 

0,125:2=1:x 

2 38° 
*= 0,125 30 Min. 

Man berechnet die diastatische Kraft in der Weise, daß man die Anzahl 
von Kubikzentimeter einer 0,1°/ igen Stärkelösung bestimmt, die durch 
l ccm der Fermentlösung in der für den Versuch angewandten Zeit und 
bei der angewandten Temperatur bis zum Dextrin abgebaut wird. — Man 
soll, wie Block empfiehlt, stets die gleiche Stärkeart benutzen und die 


Lösungen namentlich im Sommer stets frisch bereiten; auch müssen diese 
frei von jeder Ausflockung sein. 


— 16; D=16 bei 


Diastase wird, wie bekannt, nicht nur vom Pankreas, sondern 
von allen Zellen gebildet, die mit dem Umsatz des Glykogens zu 
tun haben (Wohlgemuth). Hunde, denen der Ductus wirsungi- 
anus unterbunden ist, zeigen wie Langendorff und Rosen- 
berg nachwiesen, keine wesentliche Störung in der Darmresorption 
der Kohlehydrate. Im Serum dieser Tiere steigt der Gehalt an 
Diastase, und der Darm scheidet mehr Diastase aus. Man muB 
annehmen, daß aus dem Pankreas, dessen Ausführungsgänge gegen 
den Darm hin abgeschlossen sind, das Ferment in steigendem Maße 
resorbiert wird. Deshalb ist es berechtigt, wenn sonst keine Stö- 
rungen vorhanden sind, und wenn die Krankheitssymptome auf 
das Pankreas hinweisen, zu untersuchen, ob tatsächlich aus ver- 
änderten Diastasewerten des Serums auf eine gestörte Arbeit der 
Pankreaszellen geschlossen werden darf. Natürlich muß hierfür 
genau bekannt sein, wie Größe und Schwankungen des Wertes 
für die diastatische Wirkung des Serums bei Menschen sich ge- 
stalten, die sicher keine Pankreasstörungen haben. 


Untersucht wurden 202 Menschen. Gesunde und Kranke, 150 
männlichen und 52 weiblichen Geschlechts: 


Untersuchungen über das diastatische Ferment im Blute. 113 


Männer D=8 D=16 D = 32 D = 64 Ges. 


Anzahl 8 87 55 0 150 
Prozent 5,8 58 36,7 0 100 
Frauen D =8 D = 16 D = 32 D = 64 Ges. 
Anzahl 5 31 15 3} 52 
Prozent 9,6 59,6 28,8 E 100 


Diese Zusammenstellung zeigt deutlich, daß die Grenze der 
Norm zwischen D=8 und D = 32 liegt. Der eine Wert von 
D = 64 fand sich bei einer Kranken mit schwerster Tuberkulose, 
bei der eine Untersuchung der Pankreasfunktion wegen ihres Zu- 
stands nicht möglich war. Dieser Befund blieb also unaufgeklärt. 
Die Kranke sagte uns später, daß sie unmittelbar vor der Unter- 
suchung sehr viel Kuchen gegessen hatte. Zwei Monate später 
zeigte der Diastasewert die Zahl 16, war also ganz normal. 


Um einen etwaigen Einfluß des Alters auf die Funktion der 
Diastasesekretion festzustellen, haben wir unsere Untersuchten in 
drei Klassen eingeordnet: 15—30 Jahre, 30—45 Jahre, über 45 Jahre. 

Iıgendwelche deutlich klaren Unterschiede, namentlich für 
D=16 und D=32, also für die Werte, die die Mehrzahl der 
Untersuchten aufwies, zeigten sich nicht. Etwa die Hälfte der 
Untersuchten aller Altersklassen hatten Werte von D=16. Bei 
der anderen Hälfte fanden wir zu *, Werte bei D=32. Der 
Rest hatte D-Werte,°die unter 16 liegen. Eine Verminderung von 
D unter 8 haben wir in keinem der untersuchten Fälle gefunden. 

Es interessiert weiter festzustellen, ob irgendwelche Krank- 
heiten bei den zur Untersuchung herangezogenen Patienten eine 
Beziehung zu den Werten für D zeigten. Bei völlig Gesunden er- 
hielten wir die gleichen Zahlen. 70 Kranke mit allen möglichen 
Zuständen, aber nur solchen, bei denen Anamnese, Beschwerden 
und objektiver Befund keinen Anhalt für eine deutliche funktionelle 
Beteiligung der Abdominalorgane ergab, wiesen ebenfalls keine 
anderen Zahlen auf. Die Betrachtung von Herzkrankheiten, von 
Erkrankungen der Atemwege auch von Tuberkulösen ergaben 
nichts Neues. Nur bei letzteren war die Zahl der Werte für D=8 
größer als die für D=32. Unseres Erachtens kann man nichts 
daraus schließen. 24 Kranke mit sicherem Ulcus ventriculi zeigten 
völlig normale Werte. 8 Kranke mit Duodenalgeschwür zeigten 
D=8 in 38°%,, D=16 in 62%,. Werte darunter und darüber 
fehlten. Bei 10 Kranken mit Magen- oder mit Darmcareinom 
hatten wir einmal D=8, 8mal D=16 und einmal D = 32. 38 
Kranke mit allen möglichen anderen Zuständen von Dyspepsie 
wiesen völlig normale Werte auf. 

Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 151. Bd. 8 


114 VON STRASSER 


Kranke mit Störungen der Nieren, der Leber, der Gallenwege, 
zeigten nichts Besonderes. Auch die Syphilis hatte keinen Einfluß. 
Ebensowenig hatte ihn bei Frauen die Menstruation. 


Wir haben dann bei 12 Patienten eine doppelte Untersuchung ge- 
macht, um festzustellen, ob bei einer Verdünnung mit aqua. dest. 
ein anderer Wert gefunden würde wie bei der Verdünnung mit 
1°%/,iger Kochsalzlösung. Alle 12 Fälle ergaben übereinstimmend 
die gleichen Werte. Nur in der Färbung ergaben sich Verschieden- 
heiten. Während die mit Salzlösung verdünnten Sera ein tiefes 
Blau bei dem Farbenumschlag gaben, war bei den mit Wasser 
verdünnten Reihen das Blau von einem etwas schmutzigen Unterton, 
ein Umstand, der die Ablesung bei etwas zweifelhaften Farbum- 
schlägen schwieriger machte. 


Von 16 leichten und mittelschweren Diabetikern zeigten 
14 Werte für D, die völlig innerhalb der normalen Grenzen blieben. 
Ein Diabetiker mit D=128 hatte gleichzeitig eine Cholecystitis, 
so daß die Annahme nahe lag, daß durch einen Infekt der großen 
Gänge eine Pankreasmiterkrankung zustande gekommen sei. Ein 
anderer Diabetiker zeigte den Wert D=512. Hier bestand eine 
Arteriosklerose mit einem arteriellen Druck von 170 mm Hg, was 
die Annahme einer arteriosklerotischen Pankreaserkrankung als 
Ursache des Diabetes rechtfertigte. 

Wir fanden die Norm überschreitende Werte in einem Falle 
H. D=512. Diese Patientin war mit unbestimmten Schmerzen 
im Leib erkrankt; die objektive Untersuchung ergab eine hyper- 
ästhetische Zone bei D.S.8 auf der linken Seite. Wir nahmen 
eine Belastung der Pankreasfunktion vor, indem wir der Patientin 
150 g Brot verabreichten, worauf deutliche Zuckerausscheidung 
im Urin auftrat. Wir hielten uns nun für berechtigt, eine Pan- 
kreatitis zu vermuten, zumal Katsch aus einer Head’schen Zone 
im 8. Dorsalsegment und aus einer Fermentvermehrung im Serum 
wichtige diagnostische Schlüsse zieht. 

Noch zwei weitere Fälle ergaben pathologische Werte. 

1. Mann D=128 

2. Frau D=256. 
Im ersten Fall handelte es sich um einen Kranken, der multiple 
Gummata im Abdomen hatte. Ein dabei gummös verändertes 
Pankreas und eine daraus durch entzündliche oder kompressive 
Vorgänge folgende Supersekretion würde die Erhöhung des D-Wertes 
durchaus erklären. 


Untersuchungen über das diastatische Ferment im Blute. 115 


Im zweiten Fall lag ein Rectumcarcinom vor, bei dem multiple 
Metastasen im Abdomen klinisch nachweisbar waren. Auch in 
diesem Fall muß man wohl das Vorhandensein von Metastasen im 
Pankreas annehmen. Es sei indessen bemerkt, daß Carcinom- 
metastasen im Pankreas keine Vermehrung der Serumdiastase 
zur Folge haben müssen. Dies zeigte uns ein Kranker mit in- 
operablem Magencarcinom, bei dem durch Laparotomie Pankreas- 
metastasen festgestellt worden waren. 

Um ein Urteil darüber zu gewinnen, ob die Serumdiastase von 
der Art der Ernährung abhängig sei, haben wir folgende Unter- 
suchung angestellt. Wir nahmen: 

1. eine Serie von Patienten, die vorwiegend mit kohlehydrat- 
reicher Nahrung ernährt wurden, d. h., sie erhielten neben der ge- 
wöhnlichen Kost in reichem Maße Weißbrot und Kartoffeln. 

2. Eine Serie von Patienten, die vorwiegend mit Eiweiß er- 
nährt wurden, d.h. sie bekamen an Kohlehydraten nur das unum- 
gänglich Notwendige, während sie zu den Zwischenmahlzeiten Eier 
und andere eiweißhaltige Nahrungsmittel als Zusatzkost erhielten. 

Die Dauer der Versuche war etwa eine Woche. Das zur Unter- 
suchung verwandte Serum wurde jeweils morgens nüchtern ent- 
nommen und dabei folgendes gefunden. 


Kohlehydratreich: 
| Versuchs 
Nr. oL Blutentnahme | D-Wert lII. Blutentnahme; D-Wert dauer 
| age 
| | | | 
1 21. VII. 32 28. VIII. 8 | 7 
2 | a 16 u 16 7 
3 Š 16 ® 16 7 
4 ` | 16 3 16 7 
> 5 16 A 16 7 
6 22. VHI. 16 —- — entlassen 
7 | : 16 29. VIII. 16 7 
8 : 16 2 16 | 7 
y | à R j 8 7 
10 | ji l 8 | = — © entlassen 
| 


| 

Aus diesen Beobachtungen geht hervor, daß die Werte für D durch 
reichliche Zufuhr von Kohlehydraten keine Erhöhung erfahren. 
Fall 6 und 10 mußten entlassen werden, da die Patienten sich 
nicht länger zurückhalten ließen. Aus der Erniedrigung des Wertes 
im Fall 1 können keine Schlüsse gezogen werden, da es sich um 


Schwankungen handelt, die vielleicht durch die starken Differenzen 
gr 


116 von STRASSER 


der Außentemperatur an den einzelnen Versuchstagen bedingt sind, 
oder die sich aus der spezifischen Behandlung erklären, unter der 
Patient zur Zeit der Versuche stand. 


Eiweißreich: 


Versuchs- 


D-Wert |II. Blutentnahme) D-Wert dauer 


Nr. I. Blutentnahme 


1 26. VII. 16 | 31. VIII. 16 5 
2 5 16 N 16 5 
3 i 16 ý 16 5 
4 i 6 5 
b $ 16 b. IX. 16 10 
6 k 16 31. VII. 16 5 
7 27. VII 16 3. IX. 16 7 
8 a 8 i 8 7 
9 É 16 $ 16 7 
10 ú 32 á 16 7 


Auch aus dieser Tabelle ergibt sich, daß zwischen Art der 
Nahrung und Serumdiastase kein deutlicher Zusammenhang be- 
steht. Die Abweichungen in Fall 4 und 10 finden wohl ihre Er- 
klärung in den veränderten äußeren Versuchsbedingungen, die be- 
sonders durch die Temperaturschwankungen an den verschiedenen 
Tagen gegeben waren. 

Wir haben noch einen weiteren Versuch angestellt, um fest- 
zustellen, ob nach reichlicher Zufuhr von Traubenzucker und der 
damit verbundenen Erhöhung des Blutzuckers auch eine Erhöhung 
der Serumdiastase parallel geht. Folgende Werte wurden fest- 
gestellt: 


Blutentnahme Blutzucker Diastase 
p ‚08 90 8 
2. 840 0,08 9, 16 (nach 100 g Traubenzucker) 
3. gos 0,08%, 8 


Aus diesen Werten geht hervor, daß mit der Anreicherung des 
Körpers an Kohlehydraten auch das kohlehydratspaltende Ferment 
eine Erhöhung erfährt, die nach kurzer Zeit wieder zum Ausgangs- 
wert zurückkehrt. 

Zusammenfassend können wir also sagen, daß die normalen 
Diastasewerte im Serum zwischen D=8 und D=16 liegen. Werte 
über D=32 weisen vielleicht schon auf eine Veränderung des 
Pankreas hin. Eine bestimmte Nahrungsform — sei sie vorwiegend 
kohlehydrat- oder eiweißreich — hat auf die D-Werte keinen Ein- 
fluß; die Werte von D erfahren vielleicht unmittelbar nach einer 


Untersuchungen über das diastatische Ferment im Blut. 117 


kohlehydratreichen Mahlzeit eine leichte Erhöhung, gehen aber 
bereits nach wenigen Stunden wieder auf den Ausgangswert zurück; 
der Körper sucht die Serumdiastase möglichst konstant zu erhalten. 


Literatur. 


1. Adam, Diastasebestimmungen f. klin. Zwecke. Klin. Wochenschr. 1923, 
Nr. 33, S. 1548. — 2. W. Block, Die praktische Verwertbarkeit der Amylase- 
Diastase-Bestimmung im Blut und Urin für die Diagnostik der verschiedensten 
pathol. Zustände. Zeitschr. f. klin. Med. Nr. 93, S. 381. — 3. Glaeßner, Stuhl- 
untersuchung bei Pankreatitis. Klin. Wochenschr. H. 9, 1924, S. 363. — 4. Ders., 
Diagnostik der Pankreaserkrankungen. Klin. Wochenschr. 1924, S. 364. — 
5. Heiberg, Erkrankungen des Pankreas. Wiesbaden 1924. — 6. Groß-Gu- 
lecke, Die Erkrankungen des Pankreas. 1924. — 7. Hoppe-Seyler, Münch. 
med. Wochenschr. 1924, Nr. 9, S. 260. — 8. Isaak-Krieger, Duodenale Pan- 
kreasdiagnostik. Zeitschr. f. klin. Med. S. 259, 1921. — 9. Katsch, Die Dia- 
gnose der leichten Pankreatitis. Klin. Wochenschr. 1925, Nr. 7, S. 289. — 
10. Ders., Referat zur Klinik der Pankreaserkrankungen. Berlin 1924. Ber. üb. 
d. Tagung d. Ges. f. Verdauungs- u. Stoffwechsel-Krankh. Ref. Klin. Wochenschr. 
1924, S. 2361. — 11. Kulenkampf,. Uber akute Pankreatitis und ihre Bedeu- 
tung. Therapie d. Gegenw. Oktbr. 1924. — 12. Piersol, Kongreßbl. f. inn. 
Med. 1925. Bd. 39, S. 921. — 13. Rona, Pankreaslipase im Serum. Klin. Wochen- 
schr. 29, 1923. — 14. Wohlgemuth, Biochem. Zeitschr. 1908, Nr. 9, S. 1. — 
15. re ee 1909, Nr. 21, S. 381. — 16. Ders., Klin. Wochenschr. 1923, 
Nr. 48, S. 2208. 


118 


Besprechungen. 


1. 


Sir Berkley Moyniban, Zwei Vorlesungen über das Magen- und 
Duodenalgeschwür, ein Bericht auf Grund zehnjähriger Er- 
fahrung. Übersetzt von P. Clairmont und Ch. A. Huyssen. 
Verlag von Julius Springer, Berlin 1925. Brosch. 2,70 GM. 


Der englische Chirurg Sir Berkley Moynihan, dessen Ver- 
dienste um die Klinik und die Erforschung der Pathogenese des Duodenal- 
geschwürs allgemein bekannt sind, faßt in diesen beiden Vorträgen seine 
reichen Erfahrungen (531 Fälle von Ulcus duodeni; 164 Fälle von Ulcus 
ventriculi) über die Behandlung des Magen- und Duodenalgeschwürs zu- 
sammen. In seinen gedankenreichen und durchaus eigenartigen Aus- 
führungen über die Klinik der Erkrankung wird seine bekannte Ansicht 
über die Wichtigkeit der Anamnese für die Diagnose des Duodenal- 
geschwürs und die Wichtigkeit der Beurteilung der sog. Periodizität der 
Schmerzen, welche beim Magen- und Duodenalgeschwür einen ganz ver- 
schiedenen Rhythmus zeigen, besonders hervorgehoben. Für das chronische 
Geschwür lehnt Moynihan die interne Behandlung ab. Sie gehe von 
zum Teil falschen Voraussetzungen über den Chemismus des Geschwürs- 
magens aus. Nach der Statistik der Leeds-Infirmary seien ihr 
zudem weitaus mehr Todesfälle durch Verblutung und Perforation und 
Peritonitis zur Last zu legen, als der chirurgischen Behandlung. Auch 
die Gefahr der malignen Entartung des Geschwürs (nach Ansicht des 
Verf. werden ca. 18,5 °, der Ulcusfälle carcinomatös) werde durch die 
innere Behandlung des Geschwürs nicht gebannt. Moynihan bevorzugt 
in der chirurgischen Behandlung des Magengeschwürs die Resektion. 
Läßt sie sich beim hochsitzenden Geschwür nicht durchführen, so wendet 
er entwender die Balfour’sche Operation oder eine Y-förmige Gastro- 
enterostomie mit Jejunostomie im abführenden Schenkel an. Beim 
Duodenalgeschwür wird die Exzision ausgeführt, gegebenenfalls die Gastro- 
duodenostomie mit Entfernung des Geschwürs oder, wenn diese Operationen 
nicht möglich sind die (sastro-jejunostomie, nach welcher sich 90°), der 
Patienten wieder gesund fühlen. Diese Operation bedarf einer exakten 
Indikation. Infolge häufig unlogischer und gedankenloser Indikation ist 
diese Operation mit Unrecht in Mißkredit geraten. Ebenso wichtig wie 
die Operation hält Moynihan die Nachbehandlung. Besonders warme 
Worte werden der Zusammenarbeit von Internisten und Chirurgen ge- 
widmet. Moynihan’s Wunsch, daß die Besuche der Internisten bei 


Besprecnungen. 119 


den Chirurgen und die Gegenbesuche (die nicht weniger nötig seien) 
häufiger stattfinden möchten, damit ein Ausweg gefunden würde „aus den 
großen Nachteilen, die aus der so häufigen Trennung von Geist und 
Hand in der Medizin hervorgehen,“ kann nur geteilt werden. Die 
beiden Vorlesungen legen ein beredtes Zeugnis ab von der hohen und 
ehrfürchtigen Berufsauffassung des Verf. und berichten von geradezu 
glänzenden Öperationserfolgen, wie sie nur durch sorgfältigste klinische 
Arbeit Hand in Hand mit einer offenbar sehr exakten Tecknik errungen 
werden können. Die Schrift kann jedem Arzt, sei er Internist oder 
Chirurg, der sich für das Problem des Magen- und Duodenalgeschwürs 
interessiert aufs wärmste empfohlen werden, aber auch jedem, der für 
klinische Fragen überhaupt und insbesondere für die Frage der Zusammen- 
arbeit von Inneren und Chirurgen Verständnis besitzt. 
(E. v. Redwitz, München.) 


Hans H. Meyer und R. Gottlieb, Die experimentelle Pharma- 
kologie als Grundlage der Arzneibehandlung. Ein 
Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 7. neubearbeitete Aufl. 
Urban und Schwarzenberg, Berlin-Wien- 1925 (geh. M. 27.—). 


Die Erfolge des Meyer-Gottlieb’schen Lehrbuchs, die äußerlich durch 
die Tatsache offenbar werden, daß seit dem Erscheinen im Jahre 1910 
nun schon die 7. Auflage herauskommt, beruhen wohl in erster Linie darauf, 
daß es als erstes Lehrbuch der Pharmakologie die Darstellung konsequent 
auf der Physiologie und der pathologischen Physiologie aufbaut und daß 
es, dem Titel gerecht werdend, nie den Gesichtspunkt verliert, die 
praktische Arzneibehandlung theoretisch zu fundieren. 


Der Gefahr, die jedes Lehrbuch läuft, mit jeder Auflage zwar wieder 
modern zu werden, aber an Geschlossenheit der Darstellung mehr und 
mehr zu verlieren, wurde dadurch begegnet, daß viele Kapitel dieser 
Auflage zwar im alten Geiste aber in neuer Form gefaßt sind. Daß 
dies nicht durchweg geschah und man in manchen Abschnitten wertvolle 
Feststellungen und Anregungen unter dem Striche suchen muß, die man 
heber im Texte sähe, liegt an äußeren Umständen, besonders an dem zu 
frühen Hinscheiden G ottlie bs. 


Das Buch vereint eine meisterhaft klare, vollendete Form der Dar- 
stellung und die in den jetzt so beliebten Viel-Männer-Handbüchern oft 
so schmerzlich vermißte Einheitlichkeit der Darstellung — es hat die 
Vorzüge eines klassischen Lehrbuches — mit der Materialfülle eines 
Handbuches. Jeder, der die naturwissenschaftlichen Grundlagen der all- 
gemeinen Pharmakologie erkennen will, jeder der sich über das Wesen der 
Wirkung spezieller Heilmittel oder Gifte unterrichten will, tut gut daran, 
sich in erster Linie in diesem Buche Rat zu holen. 

Seinen Höhepunkt erreicht das Buch in dem, zum großen Teil neu 
entstandenen Schlußkapitel über Wesen und Bedingungen der Arznei- 
wirkung, in dem H. H. Meyer unter anderen die erkenntnistheoretischen 


120 Besprechungen. 


Grundlagen der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise von Heilmittel- 
wirkungen erörtert. (P. Trendelenburg, Freiburg i. B.) 


3. 


Prof. Hans Horst Meyer in Wien. Pharmakologische Grund- 
lagen der Reizkörpertherapie. Aus: Zur Kritik 
der Homöopathie. Verlag Georg Thieme, Leipzig 1925. 
(2 RM.). 

An die durch die bekannten Veröffentlichungen A. Bier’s bewirkte 
Neuerweckung des Interesses auch der nicht homöopathisch gläubigen 
Arzte für die Lehren der Homöopathie darf man zwei Hoffnungen knüpfen, 
so skeptisch auch immer man über die Richtigkeit der homöopathischen 
Vorstellungen denken mag. 

Einmal ist zu hoffen, daß die zur Stützung oder Widerlegung der 
homöopathischen Lehren nun erneut aufgenommenen therapeutischen 
Versuche zu therapeutischen Fortschritten führen werden — selbst, wenn 
die Vorstellungen, die im Einzelfalle zur, Wahl eines bestimmten Mittels 
bei einer bestimmten Krankheit den Anlaß abgaben, ganz falsch sind. 
Auch in der nichthomöopsthisch denkenden Medizin sind ja Fälle be- 
kannt, wo falsche natutwissenschaftliche Theorien zur Entdeckung wert- 
voller Heilmittel führten. 

Zweitens aber darf man hoffen, daß die in Fluß gekommenen Er- 
örterungen zu einer Klärung des ärztlichen Denkens und der Vor- 
stellungen über die allgemeinen biologischen Grundlagen der Arznei- 
mittelwirkung führen werden. Diese Klärungen werden am sichersten 
Worte bringen, die von einem so klaren und unvoreingenommenen Ver- 
stande eingegeben sind, wie er aus den kurzen, aber inbaltvollen Sätzen 
von H. H. Meyer spricht. (Die Sätze sind ein Auszug aus einer in 
der Wien. med. Wochenschr. veröffentlichten Abhandlung.) In kurzen 
Ausführungen wird die Absurdität eines streng auf dem Grundsatz des 
Similia similibus curantur aufgebauten Heilverfahrens nachgewiesen und 
warum die Reizkörpertherapie nicht für jenen Grundsatz in Anspruch 
genommen werden kann. Zu dem 2. Hauptsatz der Homöopathie, nach 
dem die Verdünnung und Verteilung des Heilmittels eine Steigerung der 
Heilwirkung auslösen soll und das Hingelangen des Mittels an das zu 
behandelnde Organ erleichtern soll, wird kritisch Stellung genommen, 
und mit Recht darauf hingewiesen, daß dieser Satz Uneinsichtbares be- 
hauptet und eine reine Glaubensäußerung ist. Schließlich weist Meyer 
im einzelnen nach, daß die sog. Arndt-Schulz’sche Regel wissenschaftlich 
nicht begründet ist, aber vielleicht trotz ihrer Unhaltbarkeit als Richt- 
schnur ärztlichen Handelns Nützliches zu leisten vermag. 

(P. Trendelenburg, Freiburg i. B.) 


Besprechungen. 121 


4. 


F. Sauerbruch, Die Chirurgie der Brustorgane. Springer, 
Berlin 1925. 258 Mk. 


Sauerbruch’s großes Werk ist auch für den innern Arzt von 
außerordentlicher Bedeutung und erheblichttem Werte. Denn es hat 
und vollzieht die Absicht: „die Klinik der Brustkrankheiten zusammen- 
zuhalten“. Es enthält also ein Programm und ist den Werken der großen 
Kliniker aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, die ein Organsystem 
noch unter einheitlichen Gesichtspunkten zu betrachten vermochten, an 
die Seite zu stellen. 


In einer anatomischen Darlegung bringt zunächst W. Felix, der 
Züricher Anatom, eine sehr klare und höchst lehrreiche Beschreibung 
der Topographie der Brustorgane, der Brustwand, des Mittelfells, der 
Pleuren, des Perikards, des Zwerchfells, der Lungen und des Herzens. 
Durch zahlreiche vortreffliche Abbildungen wird der Leser in den Stand 
gesetzt eine klare Anschauung von den Lagerungsverhältnissen der Brust- 
organe im Thoraxraum zu gewinnen. Das ist für den Chirurgen natürlich 
unerläßlich. Aber auch der innere Arzt wird für die diagnostischen Er- 
wägungen sowie für therapeutische Maßnahmen z. B. Probepunktionen und 
Punktionen die hier gegebenen Darlegungen mit größten Nutzen 
gebrauchen. 


Nach einer Geschichte der Herzchirurgie und einer Darlegung über 
allgemeine Pathologie des Herzens sowie einer solchen über allgemeine Dia- 
gnostik der Herzkrankheiten betritt Sauerbruch in den großen Abschnitten 
über Chirurgie des Herzens, Chirurgie der großen Gefäßstämme und 
Chirurgie des Mittelfellraumes sein eigenstes Gebiet. Mit größter Be- 
wunderung folgen wir den außerordentlichen Fortschritten ‚die die Chirurgie 
des Herzens machte. Für jeden Arzt von erheblicher Bedeutung ist die 
Kenntnis der Symptome von Herzverletzungen, die chirurgisch beein- 
fußbar sind; ich verweise auf die klaren Darlegungen S. 216 bis 228. 
Von besonderem Interesse für innere Arzte ist die Schilderung der ent- 
sündlichen Erkrankungen des Herzbeutels, z. B. der Gesetze nach denen 
die Ausbreitung des Exsudats im Herzbeutel erfolgt (S. 269). Für die 
Punktion des Perikards bevorzugt Sauerbruch den linken Rippen- 
brustbeinwinkel, weil die Entleerung des Herzbeutels von dort aus ohne 
Verletzung der Pleura möglich und am ungefährlichsten ist. Auch die 
Schilderung der Perikardiotomie ist für uns von großer Bedeutung. Bei 
eitriger Perikarditis ist sie immer nötig. Aber unter verwickelten Um- 
ständen könnte sie auch für andere Ergüsse den Vorsprung verdienen. 
Es folgt dann eine bedeutsame Schilderung der Pericarditis chronica 
adhaesiva und ihrer chirurgischen Behandlung. 


Die Chirurgie des Ductus thoracicus und der Thymusdrüse haben 
mehr chirurgisches Interesse. Dann folgt die Chirurgie des Brustteils der 
Speiseröhre. Nach einer vortrefflichen physiologischen Einleitung werden 
erst die Verletzungen, dann das Geschwür, die Divertikel, schließlich 
die Verengungen des Ösophagus geschildert. Operativ-therapeutisch ist 


122 Besprechungen. 


‘bier alles noch im Werden und unsere Hoffnung, speziell bei dem Öso- 
phaguscarcinom, liegt in der Zukunft. 


Nach Darlegung der Chirurgie des Zwerchfells folgt die Chirurgie 
des Brustfells, geschildert von Jehn und Sauerbruch. Erst eine 
allgemeine Pathologie, dann die Schilderung des Pneumothorax. Wiederum 
von größtem Interesse, auch für den Internisten! Dann Besprechung der 
verschiedenen Formen des pleuritischen Exsudats, sowie der anderen 
pleuralen Ergüsse. Außerordentlich lehrreich ist die Schilderung der 
Empyeme sowie ihrer verschiedenartigen Entstehungsform. Die Behand- 
lung der Empyeme erfordert die größte Sachkenntnis; sie ist eine 
schwierige Operation. Wenn gerade hier gewiß nicht selten von Unbe- 
rufenen zum Nachteile der Kranken gehandelt wird, so macht es auf 
mich den größten Eindruck, mit welcher Vorsicht und Umsicht ein Meister 
gerade auf dem Gebiete der Thoraxchirurgie wie Sauerbruch diese 
vielen als „einfach“ geltende Operation vornimmt. Zum Schlusse werden 
dann noch die tuberkulösen sowie die selteneren Erkrankungen des 
Brustfells (Syphilis, Aktinomykose, Geschwülste) geschildert. Die ver- 
schiedenen Formen der bei Tuberkulose vorkommenden Empyeme sowie 
ihre je nach ibrer Art ganz verschiedene Behandlung erfahren eine für 
jeden Arzt höchst lebrreiche Darlegung. 

Es ist ein wundervolles Werk, voller Weisheit und erfüllt von einer 
Fülle wichtiger Erfahrungen. Die Ausstattung ist ausgezeichnet, die 
Zahl der wirklich sehr schönen Bilder fast überreich. (Krehl.) 


ð. 


Ernst von Romberg, Lehrbuch der Krankheiten des 
Herzens und der Blutgefäße. 4. u. 5. Aufl. Ferdinand 
Enke, Stuttgart 1925. 


Im Vorwort der 2. Auflage (der ersten Sonderausgabe) dieses Werks 
schrieb Romberg: „das Buch möge die gesunde Verbindung von 
Empirie und wissenschaftlicher Betrachtung fördern helfen, auf welcher 
das Fortschreiten der Medizin beruht. Nur wenn wir den Zusammen- 
hang der Erscheinungen experimentell und anatomisch zu begreifen 
suchen, wird unser Blick für die tägliche Beobachtung am Krankenbett 
geschärft. Und umgekehrt ist ein fruchtbringendes wissenschaftliches 
Arbeiten zur Aufklärung der menschlichen Pathologie, zum Verständnis 
und zur Förderung der Therapie nur denkbar bei steter enger Fühlung 
mit der Beobachtung und Behandlung von Kranken“. Diesen Grund- 
sätzen, die man zugleich als das Programm der inneren Klinik der 
letzten 50 Jahre ansehen darf, ist der Verfasser durch alle Neu- 
erscheinungen seines Lebenswerks, die in unserem Archiv von F. Moritz 
und D. Gerhardt besprochen wurden, treu geblieben. Die Anordnung 
des Stoffs ist auch in der neuen Auflage im wesentlichen unverändert 
erhalten. Romberg bleibt damit den großen Traditionen der alten 
Klinik treu, indem er (nach seinen eigenen Worten) bei der Beurteilung 
und Behandlung des Kranken ausgeht von dem geschädigten Organ oder 


Besprechungen. 123 


von dem geschädigten Ablauf einer bestimmten Tätigkeit des Körpers. 
Also nicht das, was letztlich funktionell die Entscheidung gibt, wird in 
den Mittelpunkt gestellt, sondern der Arzt geht aus von dem dem Kranken 
und dem ärztlichen Beobachter sinnlich Wahrnehmbaren, dem zunächst 
in die Augen Fallenden. Auch das ist ein Programm: es ist das Pro- 
gramm der ärztlichen Klinik. Aber einer Klinik, die sich fest stützt auf 
den zeitlichen Stand der experimentellen Physiologie und Pathologie und 
der pathologischen Anatomie. 


Eine Einleitung über den modernen Stand der Herzphysiologie und 
der Untersuchung der Kreislaufswerkzeuge eröffnet das Buch. Das 
pathologisch-physiologische wird in einer Darlegung der Symptomatik 
sowie in den einzelnen Abschnitten abgehandelt. Es folgen dann die 
großen Abschnitte über die chronische Insufficienz des Herzmuskels mit 
ihren einzelnen Formen und Unterarten, über die Klappenfehler, die 
seltenen Veränderungen des Herzens, akute Myokarditis und Endokarditis, 
die Perikarditis, die Krankheiten der Arterien und Venen, die Herz- und 
Gefäßneurosen. In jedem Abschnitt sind alle Seiten des Prozesses mit 
gleichmäßiger Vollendung besprochen. Einmal finden wir vorzügliche 
klinisch-symptomatische Erörterungen. Das Bild der „Krankheit“, das 
uns der Kranke klagt und als reine Empfindungen äußert, das was er 
„objektiv“ zeigt, ist liebevoll, lebendig und mit größter Erfahrung be- 
schrieben. Hier gleicht das Werk den alten berühmten Darstellungen. 
Ich gedenke dabei lebhaft seines und meines Lehrers H. Curschmann, 
dessen plastische Schilderungen wir nie vergessen werden. Mit der 
gleichen Liebe und dem gleichen durchdringenden Verständnis sind aber 
auch die theoretischen Grundlagen der krankhaften Vorgänge und der 
therapeutischen Maßnahmen erörtert. Der Verf. steht hier im engsten 
Zusammenhang mit den Ergebnissen der modernen Pathologie und Ex- 
perimentalwissenschaft und mit der Pharmakologie. Die Literatur ist bis 
ins einzelne und bis auf die letzte Zeit berücksichtigt; mir scheint das 
liebenswürdige Naturell des Verf. in der Anerkennung sogar manchmal 
etwas weit zu gehen. Ist bis hierher die Darstellung ruhig und streng 
objektiv, so zeigt der Verf. seine ganze Eigenart mit — wie es bei jeder 
Form von Therapie sein muß — stark subjektiver Färbung in der Er- 
örterung der Behandlung. Sie ist ausführlich und sowohl nach dem 
Ganzen wie nach dem Einzelnen hin ganz erschöpfend besprochen. 
Gleich vorzüglich für den Arzt der lernen will wie interessant für den 
Kenner. Es gibt wenige Werke, in denen die letzte eigentliche Aufgabe 
des Arztes dem Kranken zu helfen so sorgfältig, so lehrreich und zu- 
gleich so fest auf dem Boden der gegenwärtigen Theorie abgehandelt 
wird. Auch für die neue Auflage wiederhole ich, was Moritz schon 
1906 von dem Werke sagte: es ist nicht nur das beste deutsche Lehr- 
buch der Herzkrankheiten, sondern es ist, absolut genommen, ein ausge- 
zeichnetes Werk. (Krehl.) 


124 Besprechungen. 


6. 


Dr. N. Ph. Tendeloo Professor der Pathologie an der Uni- 
versität Leiden. Allgemeine Pathologie. II. ver- 
mehrte und verbesserte Aufl. 1040 Seiten mit 368 zum Teil 
farbigen Abbildungen. Verlag von Julius Springer, Berlin. 
Preis geb. 66 M. 


Der Verfasser betont mit Recht, daß es keine „vollständige allge- 
meine Pathologie“ gäbe, und wie schwierig es ist, deren Gebiet abzugrenzen. 
Da Tendeloo vor der Übernahme der Professur für Pathologie 8 Jahre 
lang als praktischer Arzt tätig war, so baut er in diesem „Ergebnis 
vieljähriger Arbeit“ nicht nur auf der pathologischen Anatomie auf, 
sondern er hat sich einen weiten Blick auch für die klinischen Krank- 
heitserscheinungen gewahrt. Er sucht vor allem den Zusammenhang 
der krankhaften Erscheinungen mit ihren ursächlichen Momenten festzu- 
stellen und betont ausdrücklich, daß es nicht auf einen bestimmten 
ursächlichen Faktor ankommt, sondern immer auf eine Konstellation 
mehrere Faktoren in einem gegebenen Augenblick und während be- 
stimmter Zeit. Er spürt der Regel und wenn möglich dem (Gesetze 
nach, dem sich eine Erscheinung unterordnen läßt. Von diesen Gesichts- 
punkten ausgehend, beschränkt sich der Verf. nicht darauf, das Wesen 
der Entzündung, des Fiebers, des Odems, der Infektion, der Virulenz 
und der Immunität darzustellen, sondern er geht auch des genaueren auf 
die Bedeutung der Heredität, der Konstitution und des gesamten Stoff- 
wechsels ein. Es berührt wohltuend, daß Tendeloo scharfe Definitionen 
aufzustellen sucht und daß er streng zwischen Tatsachen und Gesetzen 
einerseits und Hypothesen andererseits unterscheidet. Entsprechend dem 
mathematischen Geist, der zur Zeit die gesamte holländische Wissenschaft 
durchzieht, liebt Tendeloo auch das pathologische Geschehen in mathe- 
matische Formeln zu kleiden, und es ist aus Tendeloo’s früheren 
Arbeiten bekannt, daß er der Mechanik bei der Erklärung des 
Emphysems und anderer Lungenkrankheiten, der Kreislaufsprobleme usw. 
mit Erfolg einen weiten Spielraum gewährt hat. Es ist erstaunlich, mit 
welcher Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit sich der Verf. in die ver- 
schiedenartigsten Gebiete seines weitausgedehnten Themas vertieft hat, 
und für den deutschen Leser ist es von besonderem Wert, daß in diesem 
Buche nicht nur die deutsche Literatur ausgiebig herangezogen ist, 
sondern daB es auch wichtige Hinweise auf die englische, französische 
und holländische wissenschaftliche Tätigkeit enthält. Trotz des gewaltigen 
Umfanges seines Themas hat Tendeloo es verstanden durch seine 
präzise Darstellungskunst dem Buch nur einen mäßigen Umfang zu ver- 
leihen, und es damit zu einem Lehrbuch für Studierende zu gestalten. 
In der neuen Auflage, welche der ersten nach wenigen Jahren gefolgt 
ist, hat er unter A. auch noch die allgemeinen Störungen der Ernährung 
und des Stoffwechsels mit einbezogen. Es ist begreiflich, daß bei der 
großen Mannigfaltigkeit des pathologischen Geschehens nicht alle Kapitel 
mit der gleichen Meisterschaft beherrscht sein können. So kann z. B. 
das letzte Kapitel, nämlich die Pathologie des Nervensystems trotz der 


u m e 


Besprechungen. | 125 


Heranziehung der neuesten Ergebnisse sowie auch dasjenige über die 
Heredität nicht als erschöpfend betrachtet werden. 
(Friedrich Müller, München.) 


T. 


Georg Schreiber, Deutsche Medizin und Notgemeinschaft 
der deutschen Wissensohaft. Leipzig 1925. 


Fruchtbare Wissenschaft hat zur Voraussetzung gesunde Volkswirt- 
schaft. Wir wurden dessen in der Vorkriegszeit nicht bewußt, damals 
als unsere wissenschaftliche Basis für alle Fälle festgewurzelt erschien in 
dem selbstverständlichen Reichtum des Staates. Heute zweifelt keiner 
"mehr an jener lebenswichtigen Abhängigkeit, zu sehr haben wir alle sie 
miterlebt. Ihre Folgen ruft Schreiber in seinem Buch in unsere 
Erinnerung zurück und wohl viele von uns erfahren darüber hinaus zum 
ersten Male die ganze Größe der wissenschaftlichen Verluste, die Deutsch- 
land im In- und Ausland von 1915 an erlitten. 

Wie aber auch das Leben der Wirtschaft abhängig ist vom Leben 
der technischen Wissenschaft, nicht nur direkt und technisch, sondern 
auch durch die Kultivierung des völkischen Bodens, aus dem die Wirt- 
schaft ihre Säfte zieht, dafür bringt Schreiber bittere aber unwider- 
legliche Zahlen. 

Die wissenschaftlichen Lebensbedingungen haben sich wieder in 
manchem zum Besseren gewendet, wir spüren es täglich. Nicht von 
selbst ist es so geworden, sie wurden zum besseren gewendet von weit- 
blickenden Führern, die mitten in dem wogenden Neubildungsprozeß nach 
neuen Wegen suchten und sie fanden vor allem den Männern, die mit 
Schmidt-Ott der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft Leben 
einhauchten. Einer der unermüdlichsten und erfolgreichsten von ihnen 
ist — das darf hier nicht verschwiegen werden — der Verf. des vor- 
liegenden Buches selbst, der eben durch dies Buch neue wertvolle Arbeit 
geleistet hat zur Erreichung seines Zieles. 

Wir erfahren von einer erstaunlichen Vielseitigkeit der Hilfe, von 
der der Medizin ein besonders großer Anteil zugeflossen ist, Einzelzu- 
wendungen an Institute, Forscher und den wissenschaftlichen Nachwuchs, 
Material- und Tierbeschaffungen, Bibliothekszuschüsse und Ergänzungen 
für Unterstützung der Bücherproduktion; eine ganz besondere Aus- 
dehnung und lebensnotwendige Wichtigkeit erreichte diese Hilfe bei der 
jetzt noch nicht ganz abgeschlossenen Ausfüllung der großen Lücken, 
die der Krieg und die Nachkriegsjahre den Beständen an ausländischer 
Literatur unseren Bibliotheken geschlagen. 

Einsicht und Opferwilligkeit des Staates und der Industrie haben 
den Wandel ermöglicht. Die Vertiefung und Verbreitung der Einsicht, 
daB wissenschaftliche Blüte Bürge des Volkswohls im Innnern sowohl, 
wie der Weltgeltung und dazu heilige Pflicht des Volkes ist, ist der 
Anstrengung der Besten wert. (P. Martini, München.) 


126 Besprechungen. 


8. 


Die Krebskrankheit. Ein Zyklus von Vorträgen. Herausgegeben 
von der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung und 
Bekämpfung der Krebskrankheiten. Verleg von Julius Springer, 
Wien 1925. 


Der Inhalt des vorliegenden Buches ist in 2 Teile getrennt. Im 
kürzeren allgemeinen Teil behandeln in den 2 ersten Vorträgen Maresch 
und Sternberg in übersichtlicher Weise Morphologie und Atiologie 
des Carcinoms und die Malignität der Geschwülste.e Freund legt in 
seinem Vortrag über die Biochemie des Carcinoms den Hauptnachdruck 
auf die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchungen, während Kraus im 
Kapitel über die Ergebnisse der experimentellen Geschwulstforschung 
einen Bericht über die Geschwulstübertragung, Geschwulsterzeugung und 
Zellkultur gibt und — in gewissem Gegensatz zu Freund — auf die 
Unzulänglichkeit der bisherigen biologischen Tumordiagnostik und experi- 
mentellen Therapie hinweist. J. Bauer berichtet über Krebskonstitution 
und gibt eine Theorie der konstitutionellen Krebsdisposition. Peller 
behandelt statistische Fragen. Von dem ausführlichen speziellen Teil 
seien hier nur die Titel der Vorträge erwähnt, aus denen hervorgeht, 
daß die wichtigsten Krebsfragen — es fehlen eigentlich nur Lungen- und 
Bronchialkrebs — zum Teil sehr ausführlich besprochen werden. „Die 
präkanzerösen Stadien der Haut“ (Kyrle). „Über Hautcarcinom“ 
(Riehl). „Über den Brustkrebs“ (Fränkel). „Carcinom und Nerven- 
system“ (Redlich). „Kieferkrebs* (Pichler). „Das Carcinom der 
Zunge und der Speiseröhre“ (Denk). „Das Carcinom des Rachens“ 
(Marschik). „Das Carcinom der Schilddrüse“ (Breitner). „Der 
Larynxkrebs“* (Hajek). „Diagnose des Magencarcinoms“ (Gläßner). 
„Prognose und Therapie den Magencarcinoms* (Eiselsberg). „Das 
Gallenblasen- und Pankreascarcinom“ (Steindl). „Über Dickdarm- und 
Mastdarmcarcinom“ (Hochenegg). „Der Nierenkrebs“ (Blum). „Das 
Blasencarcinom“ (Schwarz). „Das Prostatacarcinom“ (Rubritius). 
„Das Ovarialcarcinom“ (Thaler). „Das primäre Tubencarcinom* (Thaler). 
„Uteruscarcinom“ (Peham). „Chorioepitheliom“ (Frankl). „Das 
Carcinom des äußeren Genitale“ (Weibel). „Das Carcinom der Scheide“ 
(Weibel). „Über die Röntgentherapie des Carcinoma“ (Kienböck). 
„Die Radiumtherapie der Carcinome“ (Kumer). Jedenfalls ist mit 
dieser reichhaltigen Auswahl von Vorträgen die Absicht der Österreichischen 
Gesellschaft zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheiten voll- 
ständig erfüllt, nämlich eine, besonders für die Bedürfnisse des praktischen 
Arztes zugeschnittene, Theorie und Praxis umfassende Übersicht über 
die Krebsfrage zu geben. (Groll, München.) 


_— oo U a a 


9. 


Misch verfolgt mit seiner Zeitschrift den Zweck, in deren ersterem 
Teil die Ergebnisse der gesamten Zahnheilkunde auf theoretischem und 
praktischem Gebiete lehrbuchartig zu besprechen und durch- seine ver- 
schiedenen Mitarbeiter alles das, was wissenschaftlich und praktisch als 


‚Besprechungen. 127 


gesichtert gilt, speziell unter Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der 
Praxis, den Praktikern zugänglich zu machen. 

Im zweiten Teil, dem Literaturarchiv, bringt er eine Übersicht über 
die zahnärztliche Weltliteratur , „auch in erster Linie den Erforder- 
nissen des Praktikers Rechnung tragend“. 

Es wird zunächst die Anatomie von R. Weber-Köln, besprochen. 
An Hand der Arbeit von Huber werden die Resultate der Forschung über 
die Facialis-Muskulatur eingehend gewürdigt, die Arbeit Landsberg’s 
über die kontinuierliche Wachstumsbewegung des Alveolarfortsatzes, auch 
der Bau der Gaumenschleimhaut hinsichtlich seiner Bedeutung für die 
Prothetik. In gedrängter, gut gewählter Übersicht bringt der Verf. leicht 
verständlich und flott geschrieben die den Zahnarzt interessierenden 
Resultate der neuesten Forschungen auf diesem Gebiete. 

Ausführlich bespricht Guido Fischer- Hamburg, auf Grund einiger 
Forschungen und Erfahrungen die Lokalanästhesie. Nach ihm muß „die 
Injektionslösung frisch und ateril hergestellt sein. Sie darf nicht unter 
0,9°/, Natr. chlor. und soll außerdem Calc. chlor. 0,02°/ und Calec. 
chlor. 0,008°/, enthalten. Das Suprarenin darf erst kurz vor Gebrauch 
der Lösung zugegeben werden. Der frischen Lösung ebenbürtig ist nur 
die Doppelampulle von Woelm, weil sie die labilen Salze Novokain 
und Suprarenin trocken im Vakuum aufbewahrt, die Flüssigkeit aber 
davon getrennt hält. Jede Abweichung von dieser Form führt zu 
Lösungen, die, was den anästhetischen Effekt anlangt, zwar wirksam sind, 
sich aber stets mehr oder weniger gewebsschädigend und reizend ver- 
halten. Nicht einwandfrei sind deshalb alle Ampullenpräparate, welche 
Novokain-Suprarenin mit allen Salzen fertig gelöst enthalten. Das 
Novokain in Verbindung mit Suprarenin ist noch heute das beste Lokal- 
anästhetikum für die Mundhöhle. Die günstigsten Konzentrationen liegen 
von 1—3°/,. Anatomisch topographische Untersuchungen am Alveolar- 
fortsatz des Ober- und Unterkiefers haben überzeugend dargetan, daß 
alle Einstiche zum Zwecke einer Plexusanästhesie immer von der Um- 
schlagsfalte aus zu erfolgen haben; die Einspritzung am straffen Gewebe 
der Alveolarschleimhaut führt vielfach zur Infiltration der bier inserierenden 
Muskelschichten und löst nach Abklingen der Anästhesie schmerzhafte 
Ödeme und Funktionshemmungen der Muskulatur aus. 

Die Stammanästhesie des N. maxillaris, welche bisher nur extraoral 
geübt wurde, kann auch intraoral durch den Canalis pterygopalatinus 
vom F'oramenpal. ant. aus leichter und mit gutem Erfolge ausgeführt werden. 
Langsame Einspritzungen körperwarmer frischer Lösungen überwinden 
konstitutionelle Schwierigkeiten, wie z. B. bei Herzkranken, Arterio- 
eklerotikern und Nephritikern, Bo daß die Indikationsstellung der örtlichen 
Betäubung im Munde heute weiter gezogen werden kann als früher. In 
technischer Hinsicht sind die rostfreien Kanülen als wertvolle Ver- 
besserungen des letzten Jahres aufzufassen.“ 

Es empfiehlt sich die Arbeit mit ihren zahlreichen Abbildungen und 
ihrem lehrreichen Literaturverzeichnis im Orginal nachzulesen. 

E. Hauberisser-Göttingen bespricht in kurzen Zügen und klaren 
Worten die Narkose. Die Allgemeinnarkose beschränkt sich heute in 
der Mundchirurgie auf phlegmonöse Prozesse. Hauberisser empfiehlt 


128 Besprechungen. 


vor allem die Chloräthyl-Narkose für kurz dauernde Eingriffe, für größere 
Eingriffe die Skopolmorphin-Athertropfnarkose. H. gibt für den Praktiker 
sehr wertvolle Brauchbarkeitsprüfungen, sowohl für den Äther, wie für 
das Äthylchlorid und das Chloroform an. Für die mundchirurgischen 
Eingriffe empfiehlt er die modifizierte Kuhn’sche perorale Intubations- 
narkose (Ponndorf). l 

Die allgemeine Chirurgie bespricht G. Axhausen-Berlin, in über- 
sichtlicher Form. Im Kapitel Wundheilung bringt er die Vorgänge in 
den Haut-, Knochen- und Muskulaturgeweben, Heilung bei freier Ge- 
websüberpflanzung, bei Knochen- und Fettgewebs-Transplantationen. 

Er erörtert eingehend die Mundinfektion, toxische Allgemeininfektion, 
die putride Infektion, den Starrkrampf, sowie die luetische und tuber- 
kulöse Infektion und daran anschließend die Wundbehandlung. Neben 
den antiseptischen Methoden bespricht er die Anwendung der Morgenroth- 
schen Chininderivate, die Behandlung infizierter Wunden, Knochen und 
Gelenke, die Wunddiphtherie, die akute Osteomyelitis und die Tetanus- 
infektion und schließt mit einem erschöpfenden Literaturverzeichnis seine 
interessante Abhandlung. 

Im Literaturverzeichnis werden alle einschlägigen Arbeiten aus der 
Anatomie, Histologie, Pharmakologie, Allgemeinchirurgie, Mundchirurgie, 
Prothetik, konservierenden Zahnheilkunde und den verschiedensten Grenz- 
gebieten gebracht. 

Alles in allem wird das Misch-Heft nicht nur dem Zahnarzt, 
sondern auch dem Allgemeinmedisiner eine sehr interessante und anregende 
Lektüre sein, aus der sowohl der Wissenschaftler wie der Praktiker 
Nutzen schöpfen kann. 

Misch scheint das sich gesteckte Ziel voll und ganz zu erreichen. 

(P. Kranz, München.) 


129 


Aus der medizinischen Abteilung des Hospital General in Madrid 
(Leiter: Dr. G. Marañon). 


Über die hypophysäre Fettsucht. 


Von 


Dr. G. Maraüon. 
(Mit 5 Abbildungen.) 


I. 


Gibt es eine hypophysäre Fettsucht? Mit dieser Frage be- 
schäftigen sich gegenwärtig mit besonderem Interesse die Neuro- 
logen und Endokrinologen; auch ich will zu deren Lösung einige 
Betrachtungen, sowie einige aus meiner bereits recht stattlichen 
Zahl von praktischen Fällen gesammelten Erfahrungen beitragen. 

Schon seit langer Zeit beobachtete man Fälle von Fettsucht 
in Verbindung mit Gehirngeschwülsten und im besondern von Ge- 
schwülsten an der Basis des Encephalon. Die erste Beschreibung 
jedoch über eine, von Fettsucht begleitete hypophysäre Geschwulst 
— und besonders auf den Bauch beschränkte Fettsucht — ver- 
dankt man Mohr vom Jahre 1840 (1). Abgesehen davon stellte 
Fröhlich erst 1901 eine kausale Beziehung zwischen der Ver- 
letzung der Hypophyse einerseits und der genitalen Insufficienz 
andererseits fest, und war außerdem der erste, welcher das, von 
ihm selbst beschriebene „Adiposo-Genital-Syndrom“ speziell auf 
eine ungenügende Funktion der erwähnten Drüse zurückführte. 
Bereits in der im Jahre 1910 erschienenen Auflage seines Buches 
über Fettsucht nahm Noorden die Existenz einer, dem Hypo- 
pituarismus zuzuschreibenden, Fettsucht als eine feststehende Tat- 
sache an; auch veröffentlichte er damals ein, freilich ein etwas ge- 
künsteltes, Schema, in welchem die einzelnen Krankheitserschei- 
nungen des Fröhlich’schen Syndroms, der Reihe nach denen beim 
hyperpituitarem Syndrom oder der Acromegalie auftretenden, wider- 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 9 


130 MARAÑON 


sprachen; geradeso wie die Myxödemsymptome denen, welche bei 
der Basedow-Krankheit beobachtet werden, gegenüberstehen. 

Unendlich ist die Zahl der bestätigenden Fälle, welche seit 
Fröhlich’s Mitteilung bekannt wurden, und in allen in den letzten 
15 Jahren erschienenen medizinischen Abhandlungen kommt inner- 
halb der Hypophysen-Pathologie das Adiposo-Genitalsyndrom als 
unbestreitbare klinische Einheit vor. 

In den letzten Jahren aber hat diese Hypophysärpathologie 
in der Kritik einen heftigen Gegenangriff von fast allen Physiologen 
der ganzen Welt erlitten, besonders seit Bekanntwerden der Ar- 
beiten von Gley; und auch von nicht wenigen, von den Ideen 
jener Physiologen, beeinflußten Klinikern. 

In einem, kürzlich von mir erschienenen, Buche (4) habe ich 
versucht gerade diese Phase, welche sozusagen den Namen des 
„Hypercriticismus* der Geschichte der Endocrinologie verdient, 
einer möglichst unparteiischen Kritik zu unterziehen. Diese Periode 
darf somit als eine gerechte und zugleich nützliche Reaktion gegen 
die hyperbolische Phase betrachtet werden, welche in den vorher- 
gegangenen Jahren gedroht hatte die inneren Absonderungen zum 
Schlüssel der ganzen Medizin und sogar der gesamten Biologie zu 
stempeln. 

Aber weder die Verteidiger der einen noch der anderen An- 
sicht hatten in diesem Streite vollständig Recht, die Wirklichkeit 
lag in der Mitte; das haben zum Beispiel auch die derzeitigen Er- 
fahrungen über die Physiopathologie der Nebenniere gezeigt — 
ein Gebiet in welchem die Endocrinologie einen leidenschaftlichen 
Kampf führte. Es steht heute fest, daß das Adrenalin nicht der 
wesentliche Faktor bei der Regulierung des arteriellen 
Druckes, des Kohlehydrat-Stoffwechsel und anderer vitaler Tätig- 
keiten, wie man früher annahm, ist; aber wir wissen auch, daß es 
keineswegs ein inertes Abfallprodukt, eine im physiologischen 
Sinne wertlose Ausscheidung ist, wie Gley und seine Anhänger 
annahmen, sondern eine vom physiologischen wie pathologischen 
Standpunkt aus höchst wichtige Sekretion. Ähnliches entwickelt 
sich gegenwärtig hinsichtlich der Hypophysis. 

Nachdem man annahm, daß diese Drüse in der Stoffwechsel- 
regulierung der Fette und der Kohlenhydrate, in der Diurese, in 
der Sexualaktivität usw. eine fundamentale Rolle spiele, entzog ihr 
die „hypereritische* Richtung alle die Funktionen, welche den 
„antihypophysären“ Forschern nach in den benachbarten Nerven- 
zentren, in den Kernen der infundibularen und hypothalamischen 


Über die hypophysäre Fettsucht. 131 


Gegend liegen, so daß die Drüse auf ein mit zweifelhaften und 
nebensächtlichen Funktionen ausgestattetes Organ beschränkt wird, 
deren Annullierang ganz gut mit der Lebensfähigkeit vereinbar ist. 
In der vorliegenden Arbeit ist die Gesamtheit der Probleme 
der hypophysären Physiopathologie nicht zu umfassen. Vor kurzem 
habe ich alles auf die Regulierungsfunktion der Diurese Bezügliche 
erörtert (5) Heute will ich mich mit ihrem Einfluß auf den Fett- 
stoffwechsel befassen. Dazu werde ich zuerst der klinischen Cha- 
raktere der „hypophysären“ Fettsucht gedenken und dann auf ihre 
Ausdehnung sowie ihre Pathogenie zu sprechen kommen. 


Il. 


Die hypophysäre Fettsucht charakterisiert sich im allgemeinen 
meiner Erfahrung nach viel mehr durch die Art ihrer Verteilung, 
als durch ihre Intensität. Das heißt, es handelt sich fast niemals 
um große Fettsuchten, um bedeutende Gewichtszunahmen, sondern 
vielmehr um bescheidene Verfettungsgrade; jedoch typisch durch 
ihre besondere Lagerung der Fettanhäufungen. Manchmal sind 
die Kranken sogar mager, aber das Fett sammelt sich immer 
an ganz eigentümlich gewählten Stellen an: die retromammäre 
Gegend: bei den Frauen durch beträchtliches Hervorstehen der 
Brüste und bei den Männern den Glauben an eine Brusthyper- 
trophie erweckend; und die Hüften- und Schenkelgegend, und vor 
allem die vordere Fläche des Abdomens. Meiner Erfahrung nach 
ist jedoch unter all den erwähnten Körperteilen als 
wirklich typische Lokalisierung gerade die Epi- 
gastriumgegend anzusehen, da sie frühzeitig und in 
konstanter Weise angegriffen wird. Im Anfangsstadium, 
wenn man von eigentlicher Fettsucht noch nicht reden kann, be- 
obachtet man tatsächlich schon diese Fettpolster in der Magen- 
gegend so klar, daß bei zwei mir vorgekommenen Fällen wenig 
gebildete Patienten vermuteten, es handle sich um eine „Magen- 
geschwulst.“ 

Ist die Fettsucht allgemein, so mildert sich bei vielen Männern 
die Gesamtmorphologie, und dieser Umstand, vereint mit der Pro- 
minenz der Brüste und dem geringen Hervortreten der Geschlechts- 
organe gibt der ganzen Figur ein zweifelhaft sexuales Aussehen, 
pseudohermaphroditischen und manchmal direkt gynekomastischen 
Typus. Die mangelhafte Entwicklung der Geschlechtsorgane be- 
darf keiner ausführlichen Besprechung. Der Penis und die Hoden 


sind — innerhalb verschiedener Grade — kleiner als dem Alter 
gx 


132 MARANON 


des Kranken zukommt, und die Fettansammlung in der Pubisgegend 
trägt dazu bei diese Hypoplasie noch mehr zum Ausdruck zu 
bringen, denn der im Fettpolster eingebettete Penis ragt kaum 
1 cm über die Hautfläche heraus; es genügt diese mit den Fingern 
zurückzudrücken, um den verborgenen Teil zum Vorschein zu bringen. 
Dabei fehlen die Schamhaare, die der Achselhöhlen, die Haare am 
Körper sowie die Gesichtshaare beim Mann. 

Nicht selten liegt auch, wenn es sich um Jünglinge handelt, 
einseitige oder doppelseitige Kryptorchie in permanenter oder vor- 
übergehender Weise vor. Diese vorübergehende Kryptorchie 
stellt einen geringeren Grad von Hypoplasia genitalis dar, deren 
genauerem Studium ich besondere Aufmerksamkeit gewidmet habe. 
Manchmal kommen die Hoden nur in den Hodensack solange der 
Kranke sich in ruhigem Zustand befindet, um sich bei dem ge- 
ringsten kremasterischen Reflex wieder in den Ductus inguinalis 
zu verbergen. Dazu kann die Erregung einer ärztlichen Unter- 
suchung genügen, und der Kliniker kann dann irrtümlicherweise 
vorübergehende Fälle, die natürlich viel weniger ernst zu nehmen 
sind, für permanente Kryptorchie ansehen. In anderen Fällen ist 
es notwendig durch mechanischen Reflex den Hoden zum aufsteigen 
in den Ductus zu bringen; um dies zu erreichen, genügt manchmal 
ein leichter Fingerdruck, ähnlich eines Druckes auf einen elek- 
'trischen Knopf, auf die Innenseite des Schenkels um das Symptom, 
das ich als aufsteigende Hoden bezeichnet habe, hervor- 
zurufen (4). 

Abgesehen von diesen beiden wesentlichen Erscheinungen, Fett- 
sucht und Hypogenitalismus, können die von mir beschriebenen 
Kranken auch andere Eigentümlichkeiten aufweisen wie geringe, 
manchmal direkt zwerghafte Körpergröße, deren Vorkommen oder 
Ausbleiben wahrscheinlich von der Intensität abhängt mit der das 
vordere Läppchen der Hypophysis angegriffen ist. 

Die psychischen Störungen, welche manchmal bei derartigen 
Individuen zu bemerken sind, die entweder melancholischen, oder 
kindischen, oder auch euphorischen Typus aufweisen, wie ich selbst 
beobachtet habe, zeigen nichts Charakteristisches. Die Euphorie 
kann, wie ich kürzlich in einem meiner Fälle gesehen habe, sogar 
einen Menschen mit, zur Ausführung geschlechtlicher Funktionen, 
vollständig unfähigen Geschlechtsorganen zum heiraten führen. 
Cushing (6) und verschiedene andere Autoren haben mit Nach- 
druck auf die Häufigkeit hingewiesen, mit welcher sich bei solchen 
Kranken epileptiforme Anfälle einstellen, deren Vorkommen auch 


Über die hypophysäre Fettsucht. 133 


ich in einigen interessanten Fällen, welche ich demnächst veröffent- 
lichen werde, bestätigen konnte. 

Öfters ist die genitale Fettsucht von Diabetes iisipidus be- 
gleitet, entweder in permanenter Weise oder als vorübergehende 
Polyuresis, was man genau erforschen muß, da die Kranken in den 
meisten Fällen nicht von selbst darüber reden. Die geringe Toleranz 
für Kohlenhydrate, welcher die amerikanischen Autoren solche 
Wichtigkeit beilegen, ist nach meinen Erfahrungen sehr beschränkt. 
Tatsächlich habe ich beinahe immer diese Toleranz normal be- 
funden, und auch normal oder nur wenig verringert die Glykämie 
in nüchterem Zustand. Kürzlich bemerkte ich auch, daß bei diesen 
Kranken keine besondere Empfindlichkeit für Insulin besteht, wie 
es bei anderen pathologischen Zuständen, in denen wirklich eine 
Abnahme der Toleranz für Kohlenhydrate vorliegt, der Fall zu 
sein pflegt (7). 

Ebenso mit Carrasco fand ich regelmäßiger einen Nieder- 
gang im basalen Stoffwechsel, auf welchen Punkt ich noch später 
ausführlicher zurückkommen werde (8). 


Diesen allgemeinen Erscheinungen sind die fokalen 
oder Herdsymptome durch hypophysäre Geschwülste verursacht, 
hinzuzufügen. Diese Symptome sind, abgesehen von chronischem 
Kopfschmerz, Erbrechen usw. die bei jeder Gehirngeschwulst vor- 
kommen, die bitemporale Hemianopsie, die bis zur vollständigen 
Erblindung und Anwachsen des Türkensattels ausarten kann, wie 
aus dem Röntgenbild ersichtlich wird. Dabei muß besonders be- 
achtet werden, dab manchmal enorme Anschwellungen 
der hypophysären Gegend nicht das geringste fokale 
Symptom hervorrufen, und nur durch die Radiographie wahr- 
genommen werden können. Es ist ferner in Betracht zu ziehen, 
daß eine zerstörende Verletzung der Drüse vorliegen 
kann, ohne daß dieselbe an Größe zugenommen hat 
und infolgedessen ohne jegliche Herdverletzung, die 
in Röntgenbildung sichtbar würde (Kysten, Blutungen, 
Entzündungen, welche vom Knochen oder von den benachbarten 
Knochenhöhlen ausgingen, zehrende Zustände usw.). Was die radio- 
graphische Diagnostik des Türkensattels anbelangt, berechtigen 
meine sich über mehr als 200 Fälle erstreckenden Erfahrungen 
von radiographisch studierten hypophysären Störungen die größte 
Vorsicht in der Auslegung dieser Dokumente anzuempfehlen, da 
die Verschiedenheit der Form und Größe des Türkensattels sehr 


134 | MARAÑON 


groß und sehr beeinflußt sein kann von technischen Einzelheiten. 
Das, von mir zum Klassifizieren dieser Variationen veröffentlichte, 
Schema (5) kann, m. E. nach, in unklaren Fällen recht nützlich sein. 


III. 


Die vorstehende Schilderung bezieht sich auf Fälle von hypo- 
physärer Insufficienz in der Kindheit, die anscheinend am häufigsten 
vorkommt. Bei diesen hat der Kliniker gleich von Anfang an ein 
deutliches Krankheitsbild vor Augen. Tritt aber die Erkran- 
kung in späteren Jahren — im vollen Mannesalter — 
auf, dann wird das klinische Bild viel verworrener. 
Die Fettanhäufung ist dann fast die einzige ins Auge 
fallende Krankheitserscheinung, und selbst bei ihr be- 
merkt man die Lokalisationsangaben nicht so deutlich, außer der 
abdominalen Verfettung, die nicht zu fehlen pflegt, wie bei jungen 
Hypopituitärkranken. 

Die geschlechtlichen Symptome bleiben gewöhnlich auf den 
rein funktionellen Charakter beschränkt (Ausbleiben der Menstrua- 
tion bei der Frau und verminderte Begehrlichkeit beim Manne); 
da diese Erscheinungen sehr häufig bei allen Arten der Fettsucht 
vorkommen, selbst wenn sie nichts mit der Hypophysis zu tun 
haben, nimmt ihr diagnostischer Wert bedeutend ab. Nur in ganz 
schweren und langwierigen Fällen kann man zuletzt einen ge- 
wissen Zustand von atrophischen Rückgang der Geschlechtsorgane 
beobachten. 


IV. 


Diese Ausführungen bringen uns nun dazu die hypophysäre 
Fettsucht noch von einer anderen Seite, die ich auch besprechen 
möchte, zu betrachten, nämlich: die Ausdehnung und die 
Grenzen, welche die Krankheit erreichen kann. 

Seit der ersten Beobachtung von Fröhlich setzten viele 
Autoren tatsächlich voraus, daß jeder von geschlechtlicher In- 
suffizienz begleitete Fall von Fettsucht endogener Natur sei, selbst 
wenn keine Herdsymptome von Erkrankung der Drüse vorliegen, 
da diese mangelhaft funktionieren, kann, ohne ihre Größenverhält- 
nisse zu verändern, wie ich bereits erwähnte. 

Vom teoretischen Standpunkt aus betrachtet, kann man selbst- 
verständiich diese Hypothese nicht verneinen. Es liegt kein Grund 
vor, dab die den Hypopituitarismos hervorrufenden Erkrankungen 
immer in Tumoren bestehen, ebenso wie eine hypofunktionelle Er- 


Über die hypophysäre Fettsucht. 135 


krankung der Schilddrüse nicht immer einen voluminösen Kropf 
darzubieten braucht, sondern auch bei einer normalen oder kleinen 
Schilddrüse vorkommen kann. In der Praxis soll man aber, 
meiner Meinung nach, außer in ganz besonderen 
Fällen nicht wagen die Diagnose auf hypophysäre 
Fettsucht zu stellen, wenn keine Herdsymptome vor- 
handen sind, die erlauben eine Verletzung dieser 
Drüse festzustellen oder wenigstens zu vermuten. 
Man beachte dabei, daß die, von verschiedenen Autoren als Hilfs- 
mittel zur Diagnose der hypophysären Störungen vorgeschlagene 
funktionelle Probe, wie Thermoreaktion, die Probe der 
Glycosurie usw., meiner Erfahrung nach gar keinen Wert haben. 

Infolge dieses einschränkenden Urteils fühle ich mich nicht 
berechtigt von hypophysärer Fettsucht zu reden, wie Mouri- 
quand (9) ganz vernünftig beurteilt hat, in den vielen Fällen 
von infantilen Fettsuchten in der prä-puberalen 
Periode, welche von ungenügender geschlechtlicher Entwicklung 
begleitet sind. Trotz der großen klinischen Analogie zwischen 
diesen Verfettungen und denen der hypophysären Geschwülsten, 
berechtigt nichts bei diesen jugendlichen Fettsuchten, die im all- 
gemeinen vorübergehend und immer leicht zu behandeln sind, die 
Vermittlung dieser Drüse zu behaupten. Es ist auch nicht be- 
stimmt, daß die von Massalongo u. Piazza (10) und zu hypo- 
physären Fettsuchten gezählten Fälle von post-infektiöser 
Fettsucht diesen Ursprung haben. Kürzlich habe ich z. B. mit 
Bonilla (11) zusammen einen Fall von ungeheurer post-syphi- 
litischer Fettsucht veröffentlicht, bei dessen Obduktion wir die 
Hypophyse intakt fanden, trotzdem alle klinischen Anzeichen eine 
Verletzung dieser Drüse vermuten ließen. In verschiedenen meiner 
Veröffentlichungen habe ich stets nachdrücklich auf diesem Kriterium 
bestanden; trotzdem hat ein so gewissenhafter Autor wie M. Labbé 
in einem kürzlich erschienenen Buche (12) mir die Behauptung zu- 
geschrieben „daß die unermeßliche Mehrheit der Verfettungsfälle, 
hypophysären Ursprungs seien“. An anderer Stelle (13) habe ich 
die, ohne Zweifel, falsche Auslegung Labbe&’s aufgeklärt. 


V. 


Um wieder auf das Problem der Pathogenie unseres Syndroms 
zurückzukommen, will ich daran erinnern, daß die klinische Er- 
fahrung, welche die Fettsucht und die geschlechtliche Insuffizienz 
einer zerstörenden Erkrankung der Drüse zuschreibt — in Über- 


136 MABANON 


einstimmung mit den Versuchen von Ascoli u. Legnani (14), 
Biedl (15), Aschner (16), Cushing (6) usw, welche die- 
selbe Symptomatologie erreicht haben, indem sie bei 
Hunden und Katzen die Hypophyse herausnahmen — 
in den letzten Jahren einer vielleicht nicht so strengen wie leiden- 
schaftlichen Kritik unterzogen wurde, die zu beweisen ver- 
suchte, daß die wirkliche Ursache der geschlecht- 
lichen Verfettung nicht in der Störung einer Drüse 
besteht, sondern in Erkrankung von bestimmten 
Nervenzentren, die in der Infundibulärgegend, also 
sehr nahe der Hypophyse, liegen und durch die ex- 
perimentell oder spontanen Verletzungen der Drüse 
sekundär angegriffen sind. 

Die Verfechter dieser Berichtigung der klassischen Ideen über 
die hypophysäre Fettsucht waren: Erdheim (17) hauptsächlich 
seit 1904 und neuerdings andere amerikanische Physiologen (18) 
aber besonders Camus und Roussy (19) und Bailey und 
Bremer (20). Diese letzteren Autoren stützen ihre Kritik auf 
sorgfältige Versuche, aus denen hervorgeht, daß, wenn man bei 
einem Tier die Hypophyse entfernt, die Verletzung der neben- 
liegenden Nervenzentren fast unvermeidlich ist. Infolgedessen muß 
man dieser unwillkürlichen Nervenerkrankung und nicht dem Fehlen 
der Drüse die nachfolgende Symptomatologie zuschreiben. Wird 
aber die betreffende Operation mit äußerster Vorsicht ausgeführt, 
so daß die dort gelegene Nervensubstanz nicht im geringsten dar- 
unter zu leiden hat, so stellen sich, nach Ansicht dieser Autoren, 
weder Fettsucht noch geschlechtliche Störungen ein, selbst wenn 
die Zerstörung der Hypophyse restlos gewesen ist; und umgekehrt: 
verletzen wir in vorsätzlicher Weise die besagten Nervenzentren 
und lassen die Hypophyse an ihrem Platz, so erscheint der experi- 
mentelle distrophia adiposo-genitalis. 

Zu diesen recht wichtigen, im Laboratorium festgestellten, 
Tatsachen kommt dann noch ein ziemlich umfangreicher klinischer 
Beitrag durch die Beobachtungen von dem bereits erwähnten 
Erdheim (17), sowie Reverchon (21), Waldorp (22), Lere- 
boullet (23), Ricaldoni (24), Balduzzi (25) usw. zusammen- 
gestellt, welche entweder den Adiposo genital Syndrom mit Ver- 
letzung in der dritten Kammer und nicht in der Hypophyse, oder 
zerstörende Erkrankungen der Hypophyse ohne das geringste 
klinische Anzeichen des Fröhlich’schen Syndroms fanden. 

Welche Stellungnehmen wir dem so aufgestellten 


Über die hypophysäre Fettsucht. 137 


Problem gegenüber ein? Ich schicke meine diesbezügliche 
Ansicht darin voraus: Bei dem jetzigen Stand unserer 
Kenntnisse kann man die Existenz der trophischen 
Zentrenderpara-hypophysärenGegendnichtleugnen, 
gerade so wenig wie die direkte Teilnahme der Drüse 
bei der Entstehung der Verfettung wie die nach- 
folgenden Tatsachen beweisen. 


VI. 


Selbstverständlich müssen wir den Erfahrungen von Camus u. 
Roussy, Houssay, Bayley u. Brener usw. ihren vollen Wert 
beilegen, denn in den biologischen Wissenschaften dürfen Tat- 
sachen nur mit anderen experimentellen Tatsachen, derselben 
Kategorie, diskutiert werden. 

Wir wollen daher nicht denselben Weg einschlagen, den 
Wollny (26) in seiner, der Logik nicht entbehrenden Kritik der 
besagten Experimente genommen hat. Aber selbst, wenn man die- 
selben ohne Vorbehalt annimmt, selbst wenn man voraussetzt, daß 
dank ihnen alle früheren experimentellen Tatsachen (Cushing, 
Biedl, Ascoli und Legnani u.a. m.) vollständig wertlos würden, 
so werden dadurch doch alle, in der menschlichen Klinik gemachten, 
Beobachtungen ihren Wert nicht verlieren. Wir würden dann zu 
der Schlußfolgerung kommen, daß der Hypophyse bei ge- 
wissen Tierarten Funktionen obliegen, deren Quali- 
tät und Funktion verschieden von denen bei Men- 
schen sind, eine in der Endokrinologie nicht unge- 
wöhnliche Behauptung; es genüge daran zu erinnern, daß 
man bei der Herausnahme der Schilddrüse bei den Nagetieren 
niemals die Folgen vermutet hätte, die die Zerstörung dieser Drüse 
bei den Menschen nach sich zieht. 


VII. 


Was die menschliche Klinik betrifft, so ist in erster Linie ein 
Argument ins Auge zu fassen, welches die Verteidiger der Nerven- 
theorie als Grundlage ansehen, nämlich das Vorhandensein 
des adiposo genitalen Syndroms in Fällen der Er- 
krankung der Infundibulargegend und vollständige 
Unversehrtheit der darunterliegenden Drüse. Für uns 
die wir die eklektische Theorie, auf die ich später eingehen 
werde, annehmen, liegt nichts Überraschendes darin, daß eine, auf 
diese Zentren beschränkte Krankheit, die Hypophyse funktionell 


138 MARANON 


blockiert, isoliert ohne sie zerstören zu müssen. Schon vor langer 
Zeit versicherten Paulesco (27), Biedl (15) teilweise Cushing (6), 
daß dieselben Wirkungen, wie durch Herausnahme der Hypophyse, 
auch durch experimentellen Durchschnitt des Hypophysenstiel er- 
reicht werden, Versuche die auch ich bei Kaninchen vornahm, wo- 
bei ich mir auf orbitalem Wege Zugang zur Hypophyse verschaffte. 
Ich gebe zu, daß diese Versuche nicht beweisend wären, da ja 
eine Durchschneidung des Hypophysenstiels aufs Geratewohl sehr 
oft eine beabsichtigte Verletzung der benachbarten Zentren nach 
sich führen kann. Tatsache ist aber in der menschlichen Klinik, 
daß in fast allen diesen Fällen von para-hypophysären 
Geschwülsten die sekundäre Kompression der Drüse 
sich bestätigt, selbst in vielen von ihren Autoren mit augen- 
scheinlichem antihypophysärem Vorurteil beschriebenen Fällen. 
Marburg (28) kritisierte in diesem Sinne die von Erdheim als 
Beweis zugunsten der Nerventheorie angeführten Fälle, indem- 
er bemerkte, daß in fast allen Geschwulstfällen, selbst wenn die 
Geschwulst nicht in der Hypophyse wäre, „diese durch die Neu- 
bildung stark komprimiert wurde“. Grahaud (29) zitiert in seiner 
durch Launois beeinflußten Thesis, ebenfalls verschiedene Fälle, 
in denen die das Adiposo-Genital-Syndrom verursachende Erkran- 
kung zwar nicht direkt hypophysärer Art war, bei denen aber 
doch immer eine ersichtliche Kompression der Drüse vorlag. Der- 
selbe Fall von Lereboullet, Muzon und Cathala, den diese 
Autoren beobachtet, und zugunsten der Nerventheorie ausgelegt 
haben, ist daher zweifelhaft, wie sie selbst eingestehen, indem sie 
anführen: „On peut admettre le rôle de la compression de l’hypo- 
physe par la tumeur et relever notament ce fait que latige pitui- 
taire était coincée par la lame calcaire de la tumeur.“ Die Un- 
verletztheit der Gewebe der Drüse bei dieser Beobachtung von 
Lereboullet ist auch kein entscheidender Beweis, da ja im 
allgemeinen unsere Kenntnis über die Gewebe der endo- 
krinären Organe bei der Diagnose der etwas gröberen 
Erkrankungen uns nützen, aber keineswegs um den 
funktionellenZustand der Drüse in der Mehrzahl der 
Fällebeurteilenzukönnen. Lhermitte (30) sowie Lere- 
boullet (23) selbst legen auch dem Falle von Maraüon u. 
Pintos (31) den Wert eines neurologischen Beweises bei, indem 
sie das Adiposo Genitale Syndrom nebst Polyurie infolge eines 
Schusses auf die Verletzung der infundibulären Zentren, in denen 
die Kugel stecken geblieben, ohne die Hypophyse selbst zu ver- 


Über die hypophysäre Fettsucht, 139 


letzen, zurückführten. Sie vergessen aber eine histologische Tat- 
sache dabei, die ich meinerseits für äußerst wichtig halte, nämlich: 
das Vorhandensein eines Vernarbungsprozesses um das Geschoß 
herum, der den Hypophysenstiel sozusagen vollständig abschnitt 
und die Hypophyse blockierte.e Der Umstand, daß die Symptome 
in diesem Falle nicht sofort nach dem Schluß auftraten, sondern 
wahrscheinlich mit der Bildung des Narbengewebes erst einige 
Monate später, bestärkt meine Auslegung. 

Bei Fällen, in denen das adiposo-genitale Syndrom infolge 
von Hydrocephalus vorliegt, ist die Existenz der sekundären Kom- 
pression der Hypophyse nach Müller (32) konstant, auch Babon- 
neix u. Denoyelle (33) sind dieser Ansicht. 

Was den Zustand der Hypophyse in Fällen von Encephalitis 
lethargica, die mit Fettsucht oder Polyurie einhergehen, betrifft, 
und den erstmals Rodriguez Fornos (34) und dann noch 
mehrere andere Autoren beschrieben haben, so fehlen uns noch 
genaue anatomisch - pathologische Angaben, wenngleich auch alles 
vermuten läßt, daß es sich bei dieser Gelegenheit um reine Wir- 
kungen der Nervenerkrankung handelt. 

Wir können somit kurz zusammenfassend sagen: Die ana- 
tomisch-pathologischen Daten, die wir gegenwärtig 
über das Syndrom von Fröhlich besitzen, schließen, 
unparteilich beurteilt, keineswegs die manchmal 
ursprüngliche Intervention der Hypophyse aus. 


VIII. 


Die pathologische Anatomie selbst verschafft uns aber neue 
hypophysäre Beweise und von solcher Wichtigkeit, daß es erstaun- 
lich ist, wie gegenseitig beeinflußte Kliniker und Phisiologen die- 
selben übersehen konnten. Ich beziehe mich auf die hypo- 
physāren Geschwülste der Acromegaliker, die sehr 
oft umfangreich sind und dadurch auch auf die be- 
nachbarten Nervenzentren mindestens in demselben 
Grade wie die Geschwülste des Fröhlich’schen Syn- 
droms wirken; trotzdem ist die Acromegalie weder 
mit Fettsucht verbunden, noch mit genitaler Hypo- 
plasie noch mit einem anderen Symptom, des so be- 
strittenen Hypopituitarismus, außer in seltenen 
Fällen in denen diese Erscheinungen später auftreten, 
und die Symptome der reinen Acromegaliker in den 
Hintergrund drängen. 


140 . MARAKON 


Wie die meisten Praktiker habe auch ich viele Fälle von 
Acromegalie gesehen mit ungeheuren hypophysären Geschwülsten, 
mit schweren Herdsymptomen, mit einem sechs- oder siebenfach 
vergrößerten Türkensattel und endlich mit necropsischem Befund 
einer voluminösen Geschwulst, die ganz nachweisbar die 
Infundibulärgegend zusammendrückte, aberohnedas 
geringste Symptom des von Fröhlich beschriebenen 
Krankheitsbildes. Worin unterscheiden sich nun diese sich 
immer wiederholende Fälle von denen der hypophysären Ge- 
schwülste mit genitaler Fettsucht? Selbstverständlich liegt der 
Unterschied nicht in dem Druck oder Nichtdruck des Nerven- 
systems, welcher bei einen und andern analog ist, sonderen in einem 
anderen wesentlichen Merkmal, nämlich: daß die Histologie 
der Geschwulste bei den Fällen von Acromegalie 
hyperplasischen Charakters ist, während sie bei den 
Fällen des Fröhlich’schen Syndroms ein zerstörendes 
Bild darstellen. 

Es ist wohl wahr, daß Camus, Bailey und Bremer so- 
weit kamen, anzunehmen, die riesenhafte Knochenentwicklung der 
Acromegaliker habe vielleicht auch einen nervösen Ursprung. Als 
Gegenbeweis genügt aber die Tatsache, daß, wenn das Fröhlich’sche 
Syndrom von extrahypophysären Geschwülsten verursacht sein kann, 
insofern die Drüse gedrückt oder blockiert ist, die Acromegalie 
nur durch eine unbedingte Erkrankung der Hypophyse verschuldet 
wird, da der hyperfunktionelle Zustand niemals durch 
entfernt gelegene Erkrankungen entstehen kann, 
wie der hypofunktionelle. 


IX. 


Außerdem gibt es noch einen anderen ebenfalls anatomischen 
Beweis vom größten Wert zugunsten der hypophysen Theorie; ein 
Beweis, den die Gegner dieser Theorie auch ungerechterweise ver- 
gessen, nämlich die Existenz von adiposo-genitalen Sym- 
ptomen bei Fällen von zerstörender Erkrankung der 
Hypophyse, ohne Größenzunahme dieser Drüse und 
darum ohne daß eine sekundäre Erkrankung der in- 
fundibulären Zentren möglich ist. Viele von den, hin- 
sichtlich des Frölich’schen Syndroms sowie der Polyurie und der 
hypophysären Kachexie, veröffentlichten Fällen schienen das Be- 
stehen von Geschwülsten auszuschließen, da weder Herdsymptome 
noch Veränderungen in der Größe und Form des Türkensattels 


Über die hypophysäre Fettsucht. 141 


vorlagen. Abgesehen davon, daß in diesen Fällen natürlich die 
Diagnose nicht immer sicher ist, wie früher bemerkt wurde, so 
konnte man die Möglichkeit auch nicht ausschließen, daß die Er- 
krankung in den nebenliegenden Nervenzentren ihren Sitz haben 
könnte. Ich gebe deshalb einzig allein den durch Obduktion fest- 
gestellten Fällen wert. 

Vor allem ist hier ein, von Luzzato (35) beobachteter, Fall 
anzuführen; ein Fall von ungeheurer Polyurie und Kachexie bei 
dessen Sektion Blutung mit sklerosischen Rückwirkungen an dem 
hinteren Läppchen der Hypophyse festgestellt wurde; aber das 
„Tuber cinereum erschien unbeschädigt, das Infundibulum ein- 
schließlich des infundibularen Ependyms war vollkommen normal 
ebenso die retroinfundibuläre Nervensubstanz des dritten Kammer- 
bodens und des optischen Chiasmas“. „Auch waren keine wich- 
tigen Erkrankungen in den Nervenknoten der Basis und der subta- 
lamischen Gegend.“ Dieser Fall, den die Antihypophysären ver- 
gessen anzuführen, ist überzeugend und bestätigt meine Diagnose 
von hypophysärer Blutung in den verschiedenen, von mir veröffent- 
lichten Fällen, von traumatischer Diabetes insipidus (5). 

Von mir aus kann ich zwei Fälle anführen, wovon einer viel- 
leicht entscheidend für meine Folgerung ist, weil er lange Zeit 
und mit besonderer Sorgfalt beobachtet wurde. 

Der erste dieser Fälle 1911 (35) veröffentlicht und von Falta (36), 
Pende (37) und anderen besprochen, ist im großen ganzen folgender: 

Ein 4Ujähriger, groBer Mann, mit blasser und trockener Haut, 
wenig behaartem Gewebe, kleinen und harten Hoden, wenig entwickeltem 
Penis und allgemeiner Fettsucht. Er hatte mit Gift Selbstmord be- 
gangen und seine Leiche war im Madrider Gerichts-Depot eingeliefert, 
wo die Obduktion vorgenommen wurde. Es war unmöglich konkrete 
Angaben über seine klinische Krankheitsgeschichte zu erhalten, aber es 
konnte vermutet werden, daß Geschlechtsimpotenz der Grund des frei- 
willigen Todes gewesen war. 

Bei der, besonders auf die Organe der inneren Sekretion gerichteten 
Leichenschau fand man nichts wichtiges außer der Erkrankung der Hypo- 
physe. Bei der Herausnahme des Gehirns erschien diese Drüse in 
normaler Größe und ragte nicht aus dem Türkensattel 
heraus. Auch ihr äußerliches Aussehen war normal, als 
wir sie aber von vorn nach hinten aufschnitten, kam 
eine veraltete hämorrhagische Cyste zum Vorschein, die 
sich vom Pars intermedia nach vorn erstreckte und fast 
den ganzen mittleren und vorderen Teil dieses Organes 
einnahm. 

Unter dem Mikroskop wurde die cystische Erkrankung bestätigt 
und außerdem bezeugte die sie umgebende dichte fibröse Kapsel ihr 


142 MARANON 


Alter. Um diese Läsion herum war das Organgewebe auf einen engen 
Ring beschränkt, der aus kleinen Zellen von geringem granulösem Proto- 
plasma gebildet war, die durch Hämatoxylin und Eosin leicht zu färben 
waren. Nur sehr kleine Mengen von Kolloiden, welche in den Bläs- 
chen in der Nähe des zerstörten Pars intermedia lagen. Der hintere 
Teil der Drüse schien intakt. 

Von den naheliegenden Nervengegenden wurde nur eine makro- 
skopische Untersuchung vorgenommen, die einen normalen Zustand ohne 
Entzündung, Blutung, Kompression usw. erkennen ließ. 


In diesem Falle fehlt ein vollständiges klinisches Studium; 
aber man kann nicht umhin als den, an der Leiche festgestellten 
unzweifelhaften, Adiposo-Genital-Syndrom auf die Erkrankung der 
Hypophyse zu beziehen, und diese, wiederhole ich, beschränkte 
sich strikt auf die Drüse ohne die geringste ence- 
phalische Erkrankung. 


Im zweiten Fall werden die Lücken der vorstehenden Beobach- 
tung vollständig ergänzt. Nachstehend die Krankheitsgeschichte: 


G. F. 39 J. alt, wurde im Januar 1923 in das Hospital General 
von Madrid aufgenommen und machte folgende Angaben: 


Er sei verheiratet und habe zwei gesunde Kinder, habe niemals 
Syphilis noch sonst eine Krankheit gehabt, bis vor 3 Monaten als er, 
eines Nachmittags von der Feldarbeit nach Hanse kommend, stolperte 
und zu Boden fiel, dabei einen StoB am Kopf erlitt ohne sich äußerlich 
zu verletzen. Als nach einigen Minuten die Kommotion vorüber war 
und er sich erholte, ging er zu Fuß nach Hause ohne dem Erlebten 
Wichtigkeit beizulegen. Aber einige Tage später bemerkte der starke, 
an schwere Körperarbeit gewöhnte Mann, daB er hauptsächlich in der 
Bauchgegend dicker wurde. Diese Zunahme schritt immer rascher und 
stärker voran und wenn er auch nicht angeben konnte, wieviel er zu- 
nahm, so glaubte er beinahe das Doppelte seines früheren Ge- 
wichtes zu haben. Bald nach seiner Aufnahme in das Spital wog er 
102 kg bei einer Körpergröße von 1,60 m. 

Darüber kümmerte er sich nicht viel, bis er kurz nachher plötzlich 
merkte, daB sein Geschlechtstrieb geringer wurde und nach 
einigen Wochen sogar ganz aufhörte.. Sein, sonst tätiger und 
unternehmungslustiger, Charakter fing gleichzeitig an, 
apathisch und gleichgültig zu werden, bis zu dem Grade, daß 
ihm seine tägliche Arbeit große Anstrengung kostete, was ihn dann ver- 
anlaßte in das Spital zu gehen. 

Die klinische Untersuchung ergab Fettsucht, mit dem oben 
angegebenen Gewicht, die sich fast ausschließlich auf 
den Unterleib beschränkte (Abb. 1 und 2), den Brustkasten und 
die Glieder aber verschonte. Keine Störungen im Kreislauf, außer einer 
mäßigen Hypertension: 180 max., 100 min. Nichts an den Atmungs- 
noch sonstigen Organen. Anatomisch ganz normale Geschlechtsorgane. 
Nervensystem (Reflex, Augenhintergrund, Radiographie des Sella turcica) 


Über die hypophysäre Fettsucht. 143 


normal. Psychische Gleich- 
gültigkeit und geistige Träg- 
heit, welche die Zusammenstellung 
seiner klinischen Krankheitsgeschichte 
ziemlich erschweren. 

Basal Stoffwechsel: — 10°, ; 
Urin normal. 

Mit diesen Daten stellte ich eine 

endgültige Diagnose auf: 


Abb. 1. Der Kranke G. F. Abb. 2. Der Kranke G. F. 


Hypophysäre Blutung, wahrscheinlich im mittleren 
und hinteren Teil. Es schien mir tatsächlich, daß keine 
andere Erkrankung außer der hypophysären die plötz- 
liche Fettzunahme, die Lokalisation derselben im Unter- 
leib, den Verlust der Geschlechtstätigkeit dazu den 
gleichgültigen psychischen Zustand erklären konnte, 
Andererseits hatten mich meine Beobachtungen an 
Leichen von Personen, die infolge Falles oder heftigen 
Stößen, verstorben waren und bei Kranken, die nach 
Trauma diese Syndrome aufwiesen, diemehr oder weniger 
einstimmig auf den Hypopituitarismus (Fettsucht, Dia- 


144 MARANON 


betes insipidus usw.) zurückzuführen sind, überzeugt von 
der Häufigkeit mit der die Blutungen der Hypophyse 
auftreten. Diese Blutungen sind ohne Zweifel veranlaßt durch die 
reichlichen Gefäßbildungen, den geringen Schutz der Bindehaut der Drüse 
und vielleicht auch durch ihre mit der Schädelbasis verwachsene Lage. 

Danach zweifelte ich nicht an der oben erwähnten Diagnose, die 
allerdings nicht immer ohne Vorbehalt und sogar mit einer gewissen 
Ironie von den zahlreichen spanischen und ausländischen Kollegen an- 
genommen wurde, denen ich den Fall innerhalb der einundeinhalb Jahren, 
seit der Aufnahme des Kranken ins Spital bis zu seinem Tode, vor- 
führte. Das Fehlen der subjektiven und objektiven Herdsymptomen ließ 
natürlich annehmen, daß, wie es oft vorkommt, diese Blutung die Dimen- 
sion der Drüse selbst nicht überschritt, aber es blieb der Zweifel, ob 
nicht auch die nebenliegenden Nervenzentren von der vermuteten Blutung 
angegriffen seien. — 

Mehrere Monate hindurch war bei dem Kranken nichts besonders 
Abnormes zu beobachten. Er aß gut, klagte über nichts, und außer 
den Hilfeleistungen bei den Krankenpflegern der Klinik, führte er ein 
ruhiges, zurückgezogenes Leben ohne den Wunsch zu äußern nach 
Hause zurückzukehren. Auf eine Schilddrüsenbehandlung hin magerte 
er etwas ab, sie wurde aber unterbrochen, weil sie ihm Appetitlosigkeit 
und Herzklopfen verursachte. Zweimal versuchte man eine hypophysäre 
Behandlung mit totaler Drüse per os, welche ebenfalls kein Resultat 
geb (ich muß allerdings bemerken, daß die verwendeten Präparate mir 
kein großes Vertrauen einflößten). 

Im Mai 1924 fing die abdominale Verfettung wieder an 
sehr rasch zuzunehmen, und es ließen sich Zeichen von Herz- 
insufficienz, Atemnot bei Anstrengungen, Cyanose, und leichtes Ldem der 
Füße bemerken. Der Blutdruck war auf 210—140 gestiegen. Die Urin- 
untersuchung ergab folgendes: Menge 2000 g. Spez. Gew.: 1,012. Harn- 
stoff: 8,96. Chloride: 5. Eiweiß negativ. Granulierte Zylinder und 
viele rote Blutkörperchen. Harnstoff im Blut: 0,52. Es war somit 
offenbar ein Zustand von Nierensklerose vorhanden (16. Juni). 

Eine Blutprobe (18. Juni) ergab 8400000 rote Blutkörperchen 
(sekundäre Policythämie) mit normaler Leukocytose. 

Er wurde zur Ader gelassen, bekam starke Abführmittel und Diät, 
auch Digitalis in kleiner Dosis. Es schien nun besser zu gehen. Am 
26. Juni betrug der Blutdruck 140 und 110, Cyanose geringer, weniger 
Atemnot, ohne Odem und keine roten Blutkörperchen im Urin. Aber 
die folgende Nacht ging es schlimmer; die Temperatur, die immer niedrig 
war, stieg auf 38° und gegen Morgen starb er „unter Beklemmungen“. 

Nach 6 Stunden konnten wir die Obduktion vornehmen, wobei wir 
folgende Befunde feststellten: 

Sehr cyanotische Leiche ohne Anzeichen von Verwesung. 

Bedeutend vermehrte abdominale Fettschicht; an 
einigen Stellen erreichte der Panniculus bis zu 20 cm 
Dicke. 

Bei Öffnung des Bauches bricht das, auch stark vere 
mehrte epiploische, Fett gewaltig hervor. 


Über die hypophysäre Fettsucht. 145 


Scheinbar normale Nieren, mit einigen kleinen Cysten. Die histo- 
logische Untersuchung ergab jedoch eine ausgesprochene Glomernulitis in 
Verbindung mit denen bei Lebzeiten beobachteten Symptomen. 

Mäßige Fettdegeneration an der Leber. Normale eher etwas kleine 
Milz, und normal im Schnitt. 

Makroskopisch normale Hoden und Penis. Unglücklicherweise kamen 
diese Organe abhanden, so daß man keine histologische Untersuchung 
machen konnte. 

Herzbeutel mit starker Fettinfiltration. Wenig vermehrtes Herzfett. 
Herzmuskel in Farbe von welkem Laub. Normale Dicke der Herzwände. 
Beträchtliche Erweiterung der rechten Höhlen. 

Lungen gut bis auf eine leichte Ektasie der Basis. 

Die Schilddrüsen von normalem Aussehen und Umriß. 

Fehlen der Thymusreste. 


Abb. 3. Umriß und Durchschnitt der linken Nebenniere des Kranken G. F. 
Natürliche Größe. Die schraffierte Zeichnung läßt den Umriß und Durchschnitt 
einer normalen Drüse ersehen. 


Die wichtigsten Erkrankungen fanden sich in den 
Nebennieren und der Hypophyse Jene waren von un- 
geheurer Größe: die linke wog 16 g, die rechte 25 g. 
Beide wiesen beim Durchschneiden eine starke Hyper- 
trophie der Mark- und Rindenteile auf; ein ganz un- 
geheuerliches adenomatöses Aussehen, vollständig un- 
gewohnt für jemand, der an mehr als 3000 Leichen die 
Nebennierensezierthat(Abb. 3). Diehistologische Unter- 
suchung (Dr. Del Rio und Vara y Lopez) bestätigt diesen 
byperfunktionellen Zustand. Die wirklich adenomatöse Rinden- 
substanz wies außerdem eine ziemliche Iymphocytäre Infiltration auf, ein 
Zeichen von subakuten Entzündungsreaktionen. Auch die Marksubstanz 
läßt ebenso einen starken adenomatösen Zustand erkennen mit an chrom- 
affınschen Substanzen sehr reichen Zellen und mit reichlichen argento- 
filen Granulationen (Abb. 4). B 

Hypophysäre Erkrankungen: Beim Öffnen des Schädels er- 
scheint das Gehirn mit etwas Blutandrang und leichter innerer Hydro- 


Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 10 


146 MARANON 


Abb. 4. Nebennierendrüse des Kranken G. F. Markhaltiger Teil. Die enorme 
adenomatöse Hypertrophie ist ersichtlich (Dr. Del Rio und Vara). 


cephalie. Als wir die Gebirnmasse in die Höhe hoben, erschien ihre 
Basis vollständig normal, ohne meningitische Entzündungen noch Kom- 
pressionen. Die Hypophyse reichte nicht über den, an 
Größe ganz normalen, Türkensattel hinaus. Beim Ab- 
schneiden der hinteren processus clinoidei (um die Drüse 
an ihrem Platz zu beobachten), bemerkte man aber eine 
dunkle Bildung, die wiealtesorganisiertes Gerinnselaus- 
sah und am hinteren Teil des Organs sich zeigte. Auf 
dieser Höhe haftete die Drüse fest am Knochen, so daß sie ein wenig 
beschädigt wurde als wir die Knochenlamelle sprengten. Die heraus- 
genommene Hypophyse wog 49 cg. Sie hatte ihre normale 
Form beibehalten und ließ einen großen Teil der hämor- 
rhagischen Erkrankung entblößt (Abb. 5). - Von vorn 


Abb. 5. Hypophyse des Kranken G. F. Natürliche Größe. Links: Äußere An- 

sicht der Drüse mit der, von der Blutung durchbrochenen äußeren Kapsel. —- 

Rechts: Von vorn nach hinten aufgeschnittene Drüse mit der, das ganze hintere 
Läppchen und Pars intermedia einnehmenden Blutung. 


Über die hypophysäre Fettsucht. 147 


nach hinten durchgeschnitten, konnte man die ganze Er- 
krankung sehen in Form von einer mit schwarzem und 
formlosen Gerinnsel angefüllten Cyste und umgeben von 
einer sichtbaren fibrösen Kapsel, die den ganzen mitt- 
leren Teil und das ganze hintere Läppchen der Drüse 
umfaßte (Abb. 5). 

Unter dem Mikroskop (Dr. Tello u. Del Rio) wird die 
makroskopische Erkrankung mit vollständigem Schwund 
des normalen Gewebes des mittleren und hinteren Teiles 
bestätigt und außerdem das Vorhandensein von weiteren 
kleinen Blutungsherden in der Drüsensubstanz, deren 
Gewebe ziemlich gut erhalten ist. Starker Blutandrang in den 
Gefäßen. Die Infundibulargegend normal. 


Dieser Fall zeigt, meiner Ansicht nach, voll- 
ständig unzweifelhaft die Möglichkeit, daß eine, auf 
die Hypophyse beschränkte, Erkrankung ohne die 
Nervenzentren in Mitleidenschaft zu ziehen, das 
Fröhlich’sche Adiposo-Genital-Syndrom hervorrufen 
kann. 


Es erübrigt sich noch von diesem Fall die ungewöhnliche 
adenomatöse Erkrankung der Nebennieren anzulegen. Nach m. E. 
handelte es sich um eine sekundäre Reaktion. Da aber ihre ge- 
naue Bedeutung und ihre Beziehung zu den Symptomen unseres 
Kranken in das Gebiet der Hypothese gehört, halte ich mich jetzt 
nicht mit weiteren Erklärungen auf. 


X. 


Es bleiben noch einige Tatsachen anzuführen, die auch gegen 
die, von den neueren Forschern beschlossene physiologische Aus- 
scheidung der Hypophyse zeugen. In erster Linie ist es der 
niedere Stand von basalem Stoffwechsel, den man bei 
den Fällen des Fröhlich’schen Syndroms nach den klassi- 
schen Forschungen von Bernstein (39) und Blumer (von Beck 
zitiert (40), bei den Menschen und von Aschner u. Porges (41) 
und Benedikt and Homans (42) bei dem Hunde ohne Hypo- 
physe findet. Dank den modernen Verfahren zur Bestimmung des 
Basalstoffwechsels war es verschiedenen Verfassern (Marañon y 
Carrasco (8), Labbe et Stevenin (43)) ermöglicht dies zu be- 
stätigen. Die Gehirnerkrankung allein würde dieses Sinken nicht 
rechtfertigen. Vor allem ist zu bemerken, daß in Fällen von Ence- 
phalitis letargica, welche Erkrankung gerade in den neben der 


Hypophyse liegenden Nervenzentren sitzt und auch manchmal von 
10* 


148 MARANON 


adiposogenitalen Symptomen begleitet ist, Meana in unserer Klinik 
die Forschungen von van Bogaert (44) hinsichtlich der Nor- 
malität des basalen Stoffwechsels bei allen Arten besagter Krank- 
heit (selbstverständlich bei den Fällen ohne Fröhlich’sches Syndrom) 
bestätigt hat. Trotzdem erkenne ich an, daß Geschlechts- 
insufficienz den Niedergang des Stoffwechsels in 
Fällen von adiposo-genitaler Degeneration beein- 
flussen kann, da ja bei Geschlechtsinsufficienz, wie ich schon 
wiederholt feststellte, der Basalstoffwechsel immer zu niederen 
Ziffern neigt. Vergleicht man aber diesen Hypometabolismus des 
Fröhlich’schen Syndroms mit dem konstanten und manchmal recht 
hohen Hypermetabolismus des entgegengesetzten hypophysären Zu- 
standes der Akromegalie, so wird uns die Hypothese, daß dieser 
Umstand tatsächlich eine Folge von Insuffcienz der Drüse sei, 
glaubhaft scheinen. 


XI. 


Eine enorm wertvolle Gegenprobe zugunsten des 
hypopituitären Ursprungs des Fröhlich’schen Syn- 
droms wäre ihre Besserung oder Heilung durch sub- 
stitutive Opotherapie, d. h. durch den hypophysären 
Extrakt. Trotzdem ist nicht zu leugnen, daß diese 
Extrakte in den meisten Fällen unwirksam sind. 
Selbst bei jenen Beobachtungen, die als günstig für die hypo- 
physäre Opotherapie angeführt werden, muĝ man eine ganze Gruppe 
von den Fällen ausschalten, bei denen der Hypophysen - Extrakt 
zusammen mit Schilddrüsen-Extrakt verabreicht wurde; also ist 
wenigstens diesem ein großer Teil der erzielten Wirkungen, wie 
Abmagerung und andere, zuzuschreiben. 

Aber selbst mit diesem Vorbehalt ist sicher, daß 
beianderen Fällendiehypophysäre Opotherapieallein 
Verfettungen vermindert hat, die allen früheren Be- 
handlungen Widerstand geleistet hatten. Ich beschränke 
mich auf diese Anführung, weil bei der Besserung von anderen 
Erscheinungen, wie der Libido, psychische Störungen usw. auch 
suggestive Faktoren Einfluß haben können. In einem meiner 
Bücher (45) habe ich einen gerade in diesem Sinne sehr über- 
zeugende Fälle beschrieben; auch Axenfeld (46), Leopold 
Levi u. Barthelemy (47), Lereboullet (23) u. a. haben 
ähnliche Beobachtungen veröffentlicht. In dem Falle von Leopold 
Leviu. Barthelemy führte die hypophysäre Opotherapie nicht 


Über die hypophysäre Fettsucht. 149 


nur zu einer raschen Gewichtsabnahme des Kranken von über 
10 Kilo, sondern sie veranlaßte auch eine subjektive Besserung 
und eine beträchtliche Zunahme in der Körperbehaarung „die selbst 
bei dem Kranken Erstaunen erregte“. Beck (40) hat in 46 mit 
hypophysären Extrakten behandelten, gut diagnosierten Fällen, bei 
26 eine deutliche und endgültige Besserung, bei 9 eine gut schätz- 
bare Besserung und in 11 gar keinen Erfolg erzielt. Den größten 
Erfolg der Behandlung — fügt er hinzu — erreicht man bei der 
Fettverteilung besonders bei jungen Frauen; schließlich bemerkt 
noch dieser Verfasser (dessen Optimismus mir etwas übertrieben 
scheint) daß, wenn auch bei einigen seiner Fälle die hypophysäre - 
Opotherapie in Verbindung mit anderen Drogen — manchmal Tyroidin 
— oder mit diätischen oder physiotherapeutischen Verordnungen 
angewandt wurde, andere Male die pituitäre Behandlung allein 
Verwendung fand. Ich erwähne hier andere Fälle zugunsten der 
hypophysären Opotherapie, angeführt von Carnot (48), Falta (37), 
Cushing (6) usw. 


Alle diese Tatsachen, von denen viele jede Kritik ausschließen, 
haben zugunsten der metabolischen Rolle der Hypophyse einen 
Wert, den die Gegner dieser Hypothese nicht außer acht lassen 
sollten. Lereboullet selbst, der im ganzen Verlauf seiner kürz- 
lichen bewunderungswerten Monographie über die hypophysären 
Syndrome (23) von der Ansicht der anti-hypophysären Physiologen 
eingenommen zu sein schien, kann nicht umhin, als er an diesen 
Abschnitt der Therapie kommt, von dem er große persönliche Er- 
fahrungen hat, auszurufen: „Ces resultats therapeuthiques á eux 
seuls suffiraient á justifier la theorie hypophysaire.“ 


Außerdem muß man noch in Betracht ziehen, daß ein großer 
Teil der Mißerfolge dieser Opotherapie sekundären Ursachen zuzu- 
schreiben ist, wie z. B.: daß es sich um sehr vorgeschrittene Fälle 
handelt (Beck — 40 —), durch falsche Diagnose, hauptsächlich 
wenn es sich nicht um rein hypophysäre Fälle handelt, sondern 
um pluri-glanduläre Degenerationen (Beck); besonders ist zu be- 
achten, daß die Hypophysen oftmals unter schlechten Bedingungen 
herausgenommen und ihre Extrakte zubereitet werden. In diesem 
Punkt verfüge ich über wiederholte Erfahrungen und habe auch 
mehr als einmal schon Nachdruck darauf gelegt (4). 

Hierbei ist es interessant zu bemerken, wie viele Forscher die 
den Organextrakten (oftmals mit Recht) jeden physiologischen Wert 
absprechen, trotzdem physiologische Argumente in Tatsachen suchen, 


150 MARAÑON 


die so groben Irrtümern ausgesetzt sind wie das Mißlingen einer 
bestimmten Opotherapie. 

Im selben Sinne wie die Erfolge der Opotherapie zeugen einige 
der Fälle, bei denen man die Besserung oder die Heilung der hypo- 
pituitären Symptome durch chirurgische Druckverminderung der 
Hypophysengegend erreichte, wie von Lec&ne u. Morax (49) ver- 
öffentlicht, obgleich mir nicht unbekannt ist, daß diese Beobachtungen 
und noch viel mehr die über Herausnahme des pituitären Ge- 
schwulstes von den Anhängern der Theorie der Kompression der 
infundibulären Nervenkerne auch zu ihren Gunsten gedeutet werden 
können. 

Denselben zweideutigen Wert hätten auch die durch Bestrahlung 
der Hypophyse erlangten Besserungen — wie die von Jaugeas, 
Beck, Lereboullet und anderen erwähnten Fälle — da durch 
dieses Verfahren eine Verminderung der Drüsenaktivität erreicht 
wird, aber auch ein Rückgang in dem Volumen der Geschwulst, 
welcher die Kompression der Nervenzentren aufheben könnte. 


XI. 


Schließlich fehlen noch die veröffentlichten Fälle zu besprechen, 
bei denen eine zerstörende Erkrankung der Hypophyse ohne das 
geringste Symptom von Adiposo-Genital-Degeneration vorlag. Diese 
Fälle kann der Kliniker nicht „a priori“ endgültig 
gegen die hypophysäre Theorie anführen, nachdem 
er ebenso paradoxe Tatsachen auf dem Gebiete von 
anderen inneren Sekretionsdrüsen kennt; so z.B. nach- 
dem er ausgedehnte Krebszustände in der Bauchspeicheldrüse vor- 
fand, die keine diabetischen Symptome hervorgerufen hatten; degene- 
rative Kröpfe ohne hypothyroidische Erscheinungen; alte, bei der 
Obduktion vorgefundene, zerstörende Erkrankungen der Neben- 
nierendrüsen usw. Um alle diese Vorkommnisse genau auslegen 
zu können, wären sehr bestimmte und ausführliche anatomopato- 
logische Angaben, die nicht immer vorhanden sind, über sie nötig. 
So z. B. ist es sicher, daß bei dem kürzlichen Fall von Bal- 
duzzi (25), dem sein Autor eine große Bedeutung gegen die hypo- 
physäre Theorie beilegt, die zerstörende Erkrankung der Hypo- 
physe kein hypopituitäres Symptom (außer großer Schlafsucht) 
hervorgerufen hatte, aber man kann auch nicht behaupten, daß 
die Geschwulst auf die Hypophyse beschränkt gewesen wäre, weil 
sie Amaurosis, Schädel-Hypertension und Erweiterung des Türken- 
sattels erzeugte. Daraus ist logischerweise anzunehmen, daß sie 


Über die hypophysäre Fettsucht. 151 


auf die infandibulären Zentren, die sicher bei der Erkrankung in: 
Mitleidenschaft gezogen waren, einen Druck ausübte, da der Kranke 
infolge eines Blutergusses der dritten Kammer starb und dieses 
bei gesunden Geweben nicht verkommt. 

Demnach könnte der Fall sowohl gegen die hypophysäre 
Thecrie als auch gegen die Nerventheorie ausgelegt werden, wenn 
es nicht vorzuziehen wäre, ihm überhaupt nur die 
relative Wichtigkeit beizulegen, die man in der Bio- 
logie vereinzelten und negativen Fällen gibt. 


XIII. 


Wir haben also einerseits die auf Erfahrungen ge- 
gründeten Tatsachen, welche die heutzutage nicht 
zu verneinende Wichtigkeit der nahe der Hypophyse 
gelegenen Nervenkerne beweisen, und denen Funk- 
tionen obliegen, die man früher der Hypophyse allein 
zuschrieb. Diese, letzthin sehr ausführlich erforschte Kerne — 
siehe z. B. die kürzlich erschienene Arbeit von L. R. Müller u 
Greving (50) — sind hauptsächlich zwei: die eigentlichen 
Tuberkerne, die auf beiden Seiten des niedrigsten Teiles des 
Infundibulums, wo dieses sich mit dem Tuber verlängert, liegen 
und die para-ventrikulären Kerne, welche sich weiter oben 
zu beiden Seiten der Kammerhöhle, zwischen dieser und der sog. 
Columna Fornix befinden. 

Auf der anderen Seite stehen all die in vorliegender Arbeit 
besprochenen Tatsachen und Gründe, diemeinerAnsichtnach 
vollständig das Mitwirken der Hypophyse selbst bei 
der Entstehung der beschriebenen Störungen be- 
weisen. 

Um beide Gruppen von Tatsachen miteinander in Einklang zu 
bringen, haben viel Autoren schon seit Jahren zu einer eklekti- 
schen Theorie Zuflucht genommen, nach der dieinnere Sekre- 
tion der Hypophyse direkt auf die nebenliegenden 
Nervengewebe überginge und durch ihren Einfluß 
deren Tätigkeit reguliere. So wäre es auch zu er- 
klären, daß einbestimmtesSymptom oder eine Gruppe 
von Symptomen sowohl die Folge von hypophysärer 
Erkrankung, als auch von Nervenerkrankung sein 
könnte. 

Die Hypothese wurde seit 1911 von Edinger und später 
von Biedl (15), Paulesco (27), Pende (38), mir (5), Zondek 


152 MARAÑON 


(51) usw. mehr oder weniger genau mit dem Dargelegten überein- 
stimmend, aufrecht erhalten. Heutzutage streben eine Reihe von 
Tatsachen dahin zu beweisen, daß die alte Hypothese auf Wirk- 
lichkeit beruht, denn C. de Costa (52), Abel (53) und Collin (54) 
haben sowohl bei Tieren wie bei Menschen, die, von den Bläschen 
der vorderen und hinteren Teile der Hypophyse, abgesonderte 
Kolloidsubstanz gefunden und nicht nur in dem hinteren oder 
Nerventeil derselben, sondern auch in dem tuber cinereum selbst, 
sowie in der neurologischen Wand des Infundibulums, wo sie die 
perivaskulären Konjunktionsscheiden und interstitiellen Zwischen- 
räume der Neurologie ausfüllten. Abel hat diese Substanz selbst 
in dem vorderen Abschnitt desHypothalamus vorgefunden. Binet (55) 
besteht auf dem Wert dieser Tatsachen in einem kürzlich er- 
schienenen Artikel, worin er äußerst interessante Angaben und 
Figuren von Collin veröffentlicht. 

Nach Aussagen seines Schülers Binet, bekannte sich Camus 
selbst am Ende seines unglücklichen Lebens als Anhänger dieser 
eklektischen Theorie, die wahrscheinlich Aussicht hat, endgültig 
in der Wissenschaft angenommen zu werden. Sie bestätigt die, 
von verschiedenen Forschern und Klinikern seit über 10 Jahren 
aufrecht erhaltenen, Vermutungen. 

Der Zweck vorliegender Arbeit ist nicht allein alles, was zur 
Erkenntnis der Entwicklung der biologischen Ideen von Wert ist, 
ins Gedächtnis zurückzurufen, sondern außerdem nachdrücklich 
darauf hinzuweisen, daß die Hypophyse, innerhalb der 
eklektischen Theorie, an erster Stelle steht und ihre 
Erkrankung allein schon das Fröhlich’sche Adiposo- 
Genital-Symdrom verursachen kann. | 


Literatur. 


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Über die hypophysäre Fettsucht. 153 


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1924 et Acut 1925. — 55. Binet, Presse med. 1925. 


154 


Aus dem städtischen Krankenhaus München r. d. Isar. 
(Prof. Dr. Sittmann.) 


Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion 
im Blutserum. 


Von 


Dr. Paul Wiemer, 
Assistenzarzt der med. Abteilung. 


Vorbemerkung. 

Die Grundlage für die quantitative Schätzungsmethode des 
Gallenfarbstoffs im Blutserum nach H. v. d. Bergh (1) ist die von 
Ehrlich und Pröscher (2) angegebene Kuppelungsreaktion, die 
der Gallenfarbstoff mit Diazoniumlösung in mineralsaurer Mitte 
eingeht; die dabei entstehende rote Farbe des sich bildenden Azo- 
farbstoffes wird kolorimetrisch mit Gallenfarbstofflösungen bekannter 
Konzentration verglichen. Hierzu bedient man sich eines Auten- 
rieth’schen Kolorimeters unter rechnerischer Berücksichtigung 
etwaiger Verdünnungen der zu untersuchenden Flüssigkeit gegen- 
über der Vergleichslösung. Obwohl für kolorimetrische Unter- 
suchungen das Erfordernis besteht, stets nur die Farbdichte des 
gleichen Stoffes sowohl in der Untersuchungsflüssigkeit als auch 
in der Vergleichslösung zu benützen, ist in der von H. v. d. Berg h 
angegebenen „verbesserten Vergleichslösung“ ein bequemer Ersatz 
für die wenig haltbaren und kostspieligen echten Bilirubinlösungen 
geschaffen. Diese „verbesserte Vergleichslösung“ ist eine Lösung 
von Ferrirhodanid in Äther, so gewählt, daß sie der Farbe einer 
Azobilirubinlösung mit einer Konzentration von 1:200000 gleich- 
kommt. Wir wollen im folgenden bei den nach dieser Methode 
gewonnenen Werten der Kürze halber nur jenen Faktor in An- 
wendung bringen, der angibt, wievielmal stärker oder geringer 
der Gallenfarbstoffgehalt als jene Einheit Y,,0000 ist. Es bedeutet 


1 1 
also z. B. 2,0 = 2,0 X 500000 ~ 100000 


Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 155 


Das Material, das nach der eben erwähnten Methode zur 
Untersuchung kam, stammt von Blutseren und serösen Flüssigkeiten 
Kranker mit und ohne sichtbarer Gelbsucht aus dem Zeitraum von 
Oktober 1923 bis Juli 1925 und umfaßt etwa 400 Einzelunter- 
suchungen. Es ist besonderer Wert darauf gelegt, daß die kolori- 
metrischen Ablesungen unter stets gleichen Beleuchtungsverhält- 
nissen vorgenommen wurden und es finden nur jene Ergebnisse 
Verwendung, die vom Verfasser selbst in mehrfacher Ablesung 
unter Annahme eines Mittelwertes gefunden wurden. 


Der Gang der Untersuchung war folgender: Das Blutserum 
bzw. Punktat wurde unter Vermerkung des Zeitraumes zwischen 
Entnahme und Untersuchung scharf abzentrifugiert. In einem 
Teil wurde in völliger Übereinstimmung mit der v. d. Bergh’schen 
Methode der Gallenfarbstoffgehalt nach Fällung mit 96°, Alkohol 
bestimmt. In einem anderen Teil wurde die direkte Diazoreaktion 
derart ausgeführt, daß zu 1,0 Serum die gleiche Menge der oben 
verwendeten Diazoniumlösung hinzugefügt wurde und mittels Stopp- 
uhr der Beginn und die Erreichung stärkster Färbung bestimmt 
wurde. Zum leichteren Erkennen der Normalreaktion wurde in 
einem weiteren Röhrchen gleichen Durchmessers der völlige Ab- 
lauf der Reaktion abgewartet. Sodann wurde unter Berücksichti- 
gung der notwendigen Wasserverdünnung soweit möglich auch 
eine quantitative Gallenfarbstoffbestimmung vorgenommen. Über 
jene Fälle, die bei der Ausführung dieser Bestimmung Schwierig- 
keiten machten, wird in späteren Abschnitten noch ausführlich die 
Rede sein. 

Die Alkoholfällungen der Seren zur quantitativen Bestimmung 
des Bilirubins wurden nach 1’ langem Schütteln 10’ lang bei stets 
gleicher Umlaufszahl zentrifugiert. Nach Abgießen des bilirubin- 
haltigen Alkohols wurde die Farbe des Alkoholpräzipitats in einer 
Skala bestimmt, die empirisch so zusammengestellt war, daß von 
1—20 aufeinanderfolgende Röhrchen mit organischen Farbstoffen 
gefüllt und zu einer Reihe von weiß bis braungelb abgetönt waren, 
wie sie dem wechselnden Farbgehalt des Alkoholeiweißpräzipitates 
an Gallenfarbstoff entsprach. Das Röhrchen Nr. O0 bezeichnete da- 
bei das weißeste, das Röhrchen Nr. 20 das braungelblichste. Das 
Alkoholpräzipitat des völlig normalen Blutes liegt etwa bei 
Röhrchen Nr. 5. 

Die Notwendigkeit dieser Skala entstand aus dem Bedürfnis, 
ganz relative Zahlen für den Farbstoffgehalt der durch den Alkohol 


156 WIENER 


erzielten Eiweißniederschläge zu erhalten; da sie keinerlei quantita- 
tive Bedeutung haben, verzichten wir auf die Angabe des Füllungs- 
materials der Röhrchen. 

In einer Reihe von Fällen kam außerdem das Verfahren von 
Vogl und Zins (3) zur Anwendung, das in einer Fällung des Serums 
mit Trichloressigsäure besteht. Der Filterrückstand wird getrocknet 
und unter Collodium fixiert zu späteren Vergleichen aufbewahrt. 


Wir wollen nunmehr versuchen das nach diesen Methoden 
untersuchte Material einer kritischen Betrachtung zu unterziehen, 
um für das Verständnis der Reaktion und ihre Bedeutung für die 
Klinik einige Aufschlüsse zu erhalten. 


Zur Frage des physiologischen Gehaltes des Blutes an Gallen- 
farbstoff ist naturgemäß das Material eines Krankenhauses theo- 
retisch nicht das geeignete. Wir beschränken uns hier nur auf 
eine kurze Zusammenfassung unserer Befunde. 


Wir fanden bei Grenzwerten von 0,15—1,5 einen Mittelwert 
von 0,415 und den durchschnittlichen Farbgehalt der Alkohol- 
präzipitate an unserer Skala verglichen bei Röhrchen Nr. 5. 


Die Angaben der Literatur lassen eine recht gute Überein- 
stimmung erkennen, wie nachfolgende Beispiele an gesundem 
Material zeigen: 


H. v. d. Bergh (1) 0,5 (maxim. beob. 2,5) 

Lepehne (4) 0,3 

Botzian (5) 0,2—1,5 
und andere Forscher, die zu ganz ähnlichen Werten kommen. 

Bezüglich der physiologischen Schwankungen des Serumbili- 
rubins haben schon Gilbert und Herscher 1906 (6) die Behaup- 
tung aufgestellt, daß im Hungerzustand der Gallenfarbstoffspiegel 
des Blutserums eine geringe Steigerung erfahre. Gilbert be- 
schrieb familiär auftretende Bilirubinämie, die mangels irgend- 
eines Krankheitsbefundes als physiologisch zu betrachten ist, und 
von ihm als „Chol&emie simple familiale“ bezeichnet wurde. 
H. v. d. Bergh glaubt diesen Zustand häufiger bei der jüdischen 
Rasse beobachtet zu haben. — Die höchsten Werte physiologischer 
Gallenfarbstoffvermehrung im Blutserum (2,0—7,0 finden sich nach 
den Arbeiten von v. d. Bergh, v. Westrienen (7), Ylppö (8) 
und Ada Hirsch (9) im Nabelstrangblut und im Blutserum Neu- 
geborener während der ersten 10 Tage. Der Befund ist so regel- 
mäßig, daß diese Hyperbilirubinämie als physiologisch angesprochen 
werden kann; dabei steht diese Vermehrung des Gallenfarbstoffes 


Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 157 


im Blute in keinem Zusammenhange mit dem eventuellen später 
in Erscheinung tretenden Ikterus neonatorum. 

Wenden wir uns nun zu den Befunden bei jenen Blutseren 
deren Werte teils weit oberhalb der äußersten physiologischen 
Grenzen liegen, teils durch klinische Erscheinungen als krankhaft 
bedingt angesehen werden müssen. 

Zum genauerem Studium unserer Ergebnisse ordneten wir eine 
größere Anzahl von Untersuchungen so, daß sie nach fallenden 
Werten der indirekten Reaktion zusammengestellt wurden. Neben 
der Diagnose und einer kurzen Charakterisierung der Stärke des 
bestehenden Ikterus wurde der Urinbefand hinsichtlich der Alde- 
hydreaktion und des Nachweises von Gallenfarbstoff vermerkt, 
außerdem ein kurzer Befund über die Stuhluntersuchung auf Fett 
und Anwesenheit von Gallenfarbstoffendprodukten durch die Sublimat- 
probe. Die Untersuchung des Blutserums wurde in der vorhin 
geschilderten Weise vorgenommen. 

Das zunächst auffallendste in dieser Zusammenstellung ergab 
sich aus dem Vergleich der Werte der quantitativ direkten und 
indirekten Reaktion. Während die indirekten Werte nach fallender 
Größe geordnet waren, schienen die zugehörigen direkten Zahlen 
inder Mehrzahl wesentlich höher, aber doch in keinem erkennbaren 
Verhältnis zu den indirekten zu stehen. Der besseren Übersicht 
halber führten wir Verhältniszahlen zwischen dem quantitativ 
direkten und indirekten Werte ein, die wir kurz den „Bilirubin- 
Index“ (B.I.) nannten. 

Wir fanden nun, daß dieser Bilirubinindex zwischen den 
Grenzwerten von 0,62 und 5.52 scheinbar regellosen Schwankungen 
unterworfen war. Eine einzige Beziehung ließ sich entnehmen, 
nämlich die, daß in den Seren, deren indirekter Wert kleiner als 
etwa 10. war, der B.I. nur dann Werte von über 2,5 annahm, 
wenn die Alkohol-Präzipitate auffallend stark gefärbt waren. Ver- 
gegenwärtigen wir uns noch einmal den Sinn dieser Beobachtung. 
Je größer der B.I. ist, desto größer ist der direkte quantitativ 
gefundene Bilirubinwert gegenüber dem nach der Alkoholfällung 
vorgenommenen indirekten und desto mehr Gallenfarbstoff wird 
an den Eiweißniederschlag adsorbiert. Wir drücken uns absicht- 
lich nach diesen Beobachtungen zunächst ganz allgemein aus, um 
für die später noch zu besprechenden Beziehungen der Gallen- 
farbstoffadsorption zu dem B.I. nichts zu präjudizieren. 

Ehe wir diese Beziehungen weiter verfolgen, sollen kurz noch die 
anderen Ergebnisse unserer Zusammenstellung erwähnt werden. Die 


158 WIEMER 


Beurteilungen des Ausfalles der Trichloressigsäurefällung des Serums 
nach Vogl und Zins erscheinen uns für genauere Beurteilungen 
des Bilirubinspiegels im Blutserum nach unseren Erfahrungen 
ganz ungeeignet. Es ist wohl mit dem tatsächlich sinkenden Bili- 
rubinwert auch ein Hellerwerden des grünen Präzipitates zu beob- 
achten, aber verhältnismäßig erst große Unterschiede werden nach- 
weisbar. Die Methode ist zweifellos für genauere Beurteilungen 
ungeeigneter und auch nicht einfacher auszuführen, als der schon 
lange bekannte Vergleich des Serums mit einer Kaliumbichromat- 
lösung im Wasser von 1:3800. — Wir konnten allerdings be- 
stätigen, daß die Fällung mit Trichloressigsäure ziemlich lange 
nach einem abgelaufenen Ikterus noch eine deutliche Reaktion er- 
gab, wenn die mittels der v. d. Bergh’schen Methode untersuchten 
Seren schon völlig normale Werte zeigten. Wir glauben hierfür 
eine Erklärung und Abänderung der Bergh’schen Versuchsanord- 
nung gefunden zu haben, die jenen Befunden nach abgelaufenem 
Ikterus Rechnung trägt, wie wir später noch zeigen werden. 

Wir untersuchten auch den Ablauf der direkten Reaktion nach 
Feigl und Querner, wobei wir von einer „Phbasen-Einteilung“ Ab- 
stand nahmen, sondern wir versuchten den Reaktionsverlauf einiger- 
maßen zeitlich zahlenmäßig auszudrücken. Ist es schon häufig 
schwierig, den Beginn der Rotfärbung zeitlich genau zu erfassen, 
so erscheint es unseres Erachtens in manchen Fällen eine Unmög- 
lichkeit, den Endpunkt der sich langsam vertiefenden Röte anzu- 
geben; wir betrachteten die Resultate immer mit dem Vorbehalt, daß 
sie nur eine subjektive Messung darstellten. Wenn man sehr viele 
solcher Reaktionsabläufe selber beobachtet hat, neigt man dazu, 
sich auf die ersten Angaben v. d. Bergh’s zu beschränken, nämlich: 
prompt, verzögert oder negativ. Wir sehen übrigens in diesen 
fließenden Übergängen im Reaktiosablauf und seiner zweifellos 
etwas überfeinerten Auswertung für die Klinik eher eine Schwäche 
der Methode, deshalb haben wir uns am Krankenbett stets nur 
mit den Angaben prompt, verzögert oder negativ begnügt. Die 
Einordnung in diese drei Gruppen erscheint uns Aufgabe des 
Laboratoriums zu Sein, um einen klinischen Nutzen daraus ziehen 
zu können. 


Der Bilirubin-Index. 
Die Beziehungen der Werte der direkten und indirekten Diazo- 
Reaktion, deren Verhältniszahl wir kurz den B.I. nannten, unter- 
suchten wir nun an einer Reihe von Ikterusfällen. Zum besseren 


Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 159 


Verständnis sei folgendes noch bemerkt: Schon v. d. Bergh fand 
in seinen ersten Bilirubinstudien, daß der Wert der indirekten 
Reaktion nach vorheriger Verdünnung des Serums mit der 4fachen 
Menge Wasser unter Fehlen jeglichen Alkoholpräzipitates einen 
Wert ergibt, der ziemlich gut mit dem Wert der direkten Reaktion 
übereinstimmt. Wir haben uns von dieser Tatsache ebenfalls über- 
zeugen können. Leider tritt bei dergestalt wässerig verdünnten 
Seren sehr häufig eine nicht zu entfernende Trübung auf, die dann 
den kolorimetrischen Vergleich sehr erschwert, wenn nicht unmög- 
lich macht. V. d. Bergh schloß aus dem Unterschied der Werte 
des verdünnten und unverdünnten Serums, daß dies der Verlust 
sei, den das ausfallende Eiweiß beim unverdünnten Serum adsorbiert 
und ins Zentrifugat mitreißt. Er sagt, daß der Verlust in dem 
Eiweißpräzipitat im allgemeinen um so größer ist, je reicher das 
Serum an Gallenfarbstoff ist unter der Voraussetzung, da es sich 
um Seren von mechanischem Stauungsikterus handelt. 

Wir haben nun bis auf eine Reihe von Kontrollen von der 
Ausführung der indirekten Reaktion am 4fach verdünnten Serum 
Abstand genommen, einmal aus dem oben erwähnten Grunde, da 
die dabei häufig auftretende Trübung den kolorimetrischen Ver- 
gleich sehr beeinträchtigt und andererseits, da wir in der viel 
bequemeren Ausführung der direkten Reaktion den absoluten Ge- 
halt des Blutserums an Gallenfarbstoff zuverlässiger ermitteln zu 
können glaubten. Hierbei trat allerdings eine Schwierigkeit in 
den Fällen mit verhältnismäßig geringem Bilirubingehalt auf, da 
dann die Restfarbe des Blutserums recht störend wirkte. Diese 
Schwierigkeit ließ sich jedoch leicht dadurch beseitigen, daß dem 
Vergleichskeil des Authenrieth’schen Kolorimeters ein 2. Keil 
ins optische System vorgeschaltet wurde, der mit einer Kalium- 
bichromatlösung von 1:3800 gefüllt war. Es ließ sich damit in 
nahezu sämtlichen Fällen die störende Restfarbe des Blutserums 
am Vergleichskeil kompensieren. Die Ungleichheit der dadurch 
entstehenden optischen Systeme erscheint uns nur mehr als ein 
Grund für ein theoretisches Bedenken; wenn man aber berücksichtigt, 
daß sich die ganze Methode nur anheischig macht, eine quantitative 
Schätzungsmethode zu sein, und daß der Fehler stets der gleiche 
ist, so erscheinen uns die sonst gut übereinstimmenden Werte 
verschiedener Kontrollen als brauchbare Ergebnisse. 

Thannhauser und Andersen (10) geben eine Methode zur 
Bestimmung des absoluten Gehaltes des Serums an Gallenfarbstoff 
an, indem sie bei Seren mit Stauungsikterus zunächst die Kuppelunes- 


160 WIEMER 


reaktion mit der Diazoniumlösung eintreten lassen. Der sich 
bildende Azofarbstoff soll dann bei der nachfolgenden Alkoholfällung 
in gleichmäßiger Verteilung zwischen Alkohol und Präzipitat sein. 
Sie erhalten so Werte, die den absoluten Gehalt des Blutserums 
an Gallenfarbstoff darstellen sollen. Die Vergleichstabelle zeigt 
an 5 Beispielen, daß die so ermittelten Bilirubineinheiten z. T. 
beträchtlich höher sind, als die nach der v. d. Berghschen 
Methode gefundenen. Leider sind die quantitativen Werte der 
direkten Reaktion ohne Alkoholfällung in der Tannhauser’schen 
Arbeit nicht beigefügt, wir glauben aber, daß sie wohl kaum 
wesentlich von den dort gefundenen abweichen würden. Eine 
Prüfung der Methode für unsere Zwecke konnten wir leider nicht 
vornehmen, da uns die Beschaffung des dazu notwendigen chemisch 
reinen Bilirubins unmöglich war. 

Hiernach nehmen wir also an, daß wir bei der kolorimetrischen 
Messung der im Blutserum ohne vorherige Alkoholfällung ausge- 
führten direkten Diazoreaktion den tatsächlichen Gehalt an Gallen- 
farbstoff finden, wohingegen wir bei der Bestimmung des Wertes 
der indirekten Reaktion nur jene Menge des Bilirubins erfassen, 
die nach der Adsorption durch das Alkoholpräzipitat in das al- 
koholische Serum übergeht. Mit anderen Worten: Je kleiner der 
Wert der indirekten Reaktion gegenüber der direkten ist, eine 
desto größere Menge Gallenfarbstoff ist von dem Alkoholpräzipitat 
mitgerissen worden. Der Bilirubinindex soll diese Beziehung 
zwischen direkter und indirekter Reaktion veranschaulichen; er 
ist um so größer, je mehr Bilirubin bei der indirekten Reaktion 
vom Alkoholpräzipitat mitgerissen wird, und dadurch der Wert 
der indirekten kleiner als der der direkten Reaktion wird; er ist 
gleich 1, wenn die Werte der direkten und indirekten Reaktion 
gleich groß sind und er ist kleiner als 1, wenn die indirekte Re- 
aktion an Stärke die direkte übertrifft. Zum weiteren Studium 
dieser Beziehungen untersuchten wir fortlaufend eine größere Reihe 
von Ikterusfällen in wenigen Tagesabständen. 

Das Ergebnis unserer Beobachtungen führte uns zu folgenden 
Schlüssen: 

1. Beim Übertritt von Gallenfarbstoft ins Blut infolge von Ver- 
schluß der großen Gallengänge und rückwärtige Stauung oder in- 
folge Schädigung und Durchlässigkeit der kleinsten Gallenwege ist 
zu Beginn der Erkrankung die Verhältniszahl des direkten zum 
indirekten Wert der Diazoreaktion (B.I.) um so kleiner, je früher 
man nach Ausbruch der Krankheit untersucht, dabei sinkt nach 


Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 161 


unseren Erfahrungen dieser Bilirabinindex niemals auf die Zahl 1,0. 
im allgemeinen ist er in typischen Fällen akuter Gallenstauung in 
den ersten Tagen um den Wert 1,5 ohne Rücksicht auf die Höhe 
der absoluten Zahlen von der direkten und indirekten Reaktion. 

2. Im weiteren Verlauf der Krankheit steigt der Bilirubin- 
index an, und zwar um so rascher, je vollständiger die Ursache 
des Gallenübertrittes ins Blut beseitigt wird; dabei können Werte 
bis nahezu 10 erreicht werden. Die höchsten Werte werden im 
allgemeinen erst dann erreicht, wenn die indirekte Reaktion sich 
dem physiologischen Bilirubinspiegel nähert. 

3. Von diesem Zeitpunkt ab, wenn die indirekte Reaktion einen 
normalen Wert ergibt, beginnt ein langsames Abfallen des Bili- 
rubinindex, das ungefähr parallel geht mit dem Verschwinden der 
letzten Reste des klinisch nachweisbaren Ikterus. 

4. Eine Störung dieses typischen Ablaufes durch neuerliche 
Behinderung des Gallenabflusses, die noch nicht einmal zu einer 
nennenswerten Erhöhung der absoluten Werte des Bilirubinspiegels 
führen braucht, bedingt eine Verzögerung des Anstieges des B.I. 
oder gar ein Absinken. 

5. Aus den vorseitigen Erklärungen des B.I. war zu ersehen, 
daß er um so größer ist, je mehr Bilirubin von dem Alkoholpräzi- 
pitat adsorbiert und mitgerissen wird. Unsere Untersuchungen 
ergaben, daß die Adsorptionsfähigkeit des Alkoholpräzipitates 
in keiner Weise, wie v. d. Bergh annimmt, von dem absoluten 
Gehalt des Serums an Bilirubin abhängt. 

Es mag hier ein beliebiges Beispiel den strikten Gegenbe- 
weis führen: 

L Fall X. Schw. Direkte Diazoreaktion 14,2 Indirekte 4,6 B.I. 3,1 
IL Fall F.N. 5 a 14,0 = 80 „ 1,75 

Es ist hier also bei nahezu gleichem absoluten Gehalt des 
Blutes an Gallenfarbstoff im Falle I. t mehr Gallenfarbstoff ad- 
sorbiert worden. Wir können daraus schließen, daß die Adsorp- 
tionsfähigkeit des Bilirubins in dem alkoholischen Serum an das 
Präzipitat denselben Schwankungen wie der B.I. unterliegt. Diese 
Beziehung ist ja auch durchaus begreiflich, da mit der Vergröße- 
rung des B.I. die Notwendigkeit eines kleinen indirekten Wertes 
gegenüber dem direkten gegeben ist; der Unterschied an Gallen- 
farbstoff dieser beiden Werte ist demnach vom Alkoholpräzipitat 
adsorbiert. Die Stärke der Präzipitatfärbung erwies sich dann 
auch an der Skala gemessen zu jenen Fällen relativ am größten. 
in denen der B.I. trotz niedrigen indirekten Wertes am größten ist. 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 11 


162 WIEMER 


6. Eine Tatsache, die sich leider der Möglichkeit einer objektiven 
Darstellung entzieht, erscheint uns doch bemerkenswert, da wir 
- glauben, daraus einen Hinweis für das Verständnis des ganzen 
Bilirubinproblems zu erhalten. Trotz unseres ziemlich umfangreichen 
lkterusmaterials ist hier weitere Nachprüfung verschiedener Be- 
obachter notwendig. Wir beabsichtigen vorerst nur eine Arbeits- 
hypothese aufzustellen. — Es handelt sich um die Beobachtung, 
daß Fälle mit mechanischem Stauungsikterus bei nahezu oder oft 
sogar völlig gleichem Gehalt des Serums an Gallenfarbstoff dennoch 
einen grundverschiedene starken Haut- und Sklerenikterus darbieten 
können. Wir wählen zu dieser Betrachtung nur jene Fälle, die 
etwa eine gleich lange Krankheitsdauer und einen ähnlichen Ver- 
lauf hinter sich haben, denn es ist natürlich selbstverständlich, daß 
ein Fall, dessen Bilirubinspiegel vor wenigen Tagen noch einen 
Wert von z.B. 40 hatte und dann auf 12 abgesunken ist, einen 
stärkeren Hautikterus haben wird, als ein Fall, dessen maximaler 
Bilirubinserumwert von z. B. 15 auf 12 abgesunken ist. Um einen 
Vergleich völlig exakt anzustellen, wäre es weiter notwendig, daß 
diese Kranken gleichzeitig in Beobachtung stünden, denn es ist 
ja allzu schwer, Farbenintensitäten wie bei einem Hautikterus mit 
Erinnerungsbildern zu vergleichen. Ein objektiver Maßstab für 
den Vergleich fehlt uns bislang. Leider wird das Material für 
diese Beobachtungen auch in einer großen Anstalt nur spärlich 
sein. Ein einziges Paar von Fällen erfüllte die Erfordernisse eines 
objektiven Vergleichs. Beide Fälle lagen in benachbarten Betten 
zur gleichen Beobachtungszeit. Fall I erkrankte vor 4 Tagen mit 
Magenkatarrh, Durchfall, Übelkeit und Erbrechen. 2 Tage vor 
Krankenhauseintritt rasch zunehmender Ikterus, der am Tage der 
Aufnahme sehr stark war. Fall II ist seit 6 Wochen an Magen- 
katarrh erkrankt, Druckschmerz am Duodenum. Schon zu Beginn 
der Erkrankung mäßige Gelbsucht, die aber fast völlig verschwand. 
3 Tage vor Krankenhauseintritt plötzliche Verschlechterung und 
Anstieg der Gelbsucht. 

Beide Fälle waren am 10. V. auf nahezu gleichem absoluten 
(direkten) Bilirubingehalt im Blutserum: 

Fall I 20,0 Fall II 23,5 

Der Hautikterus bei Fall I war aber wesentlich stärker und 
gelb mit einem Stich ins grünliche; bei Fall II zwar deutlich be- 
sonders an den Skleren, aber die Haut gelb-bräunlich. Nach den 
Beobachtungen von Schumm und Schottmüller (11) dachten 
wir an einen Hämatinikterus, konnten jedoch im Serum nichts da- 


Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 163 


von nachweisen. Der Hautikterus der beiden Fälle war an Stärke 
so grundverschieden, daß man nach den allgemeinen Erfahrungen 
eher bei dem Falle I auf den doppelten bis 1!/,fachen Wert des 
Falles II geschlossen hätte, wohingegen tatsächlich bei dem Falle I 
der Wert eher kleiner war. Im weiteren Verlauf ging der Ikterus 
im Falle I rasch zurück und war nach 18 Tagen völlig verschwunden. 
Fall II zeigte nur ganz allmähliche Abblassung des Hautikterus 
und ließ sogar bei der Entlassung nach 20 Tagen noch deutliche 
Spuren der Hautverfärbung erkennen. 

Diese Beobachtung konnten wir öfters machen, natürlich nur 
durch den Vergleich mit Erinnerungsbildern zu früheren Fällen. 
Unsere Eindrücke möchten wir hierzu in folgendem zusammen- 
fassen: 

a) Tritt ein vollständiger Verschluß der großen ableitenden 
Gallenwege ein und bleibt dieser durch einige Tage bestehen mit 
völligem Verschwinden des Gallenfarbstoffes und seiner Abbaupro- 
dukte im Stuhle, so tritt rasch intensive Gelbverfärbung der Haut 
und sichtbaren Schleimhäute auf, die in wenigen Tagen häufig 
einen Stich ins Grünliche annimmt. Der B.I. schwankt in diesen 
Fällen um den Wert 1,5 (1,2—1,8). Bei fortbestehendem kompletten 
Gallengangsverschluß steigt der Wert des BI. nur langsam an, 
selten über 3,0, bei beginnender Wegsamkeit dann zunehmend 
rasch bis auf Werte von 10,0 und darüber. 

b) In jenen Fällen von Ikterus, die durch Gallenübertritt ins 
Blut infolge Erkrankung und Destruktion des Leberparenchyms 
im Sinne Eppinger’s (12) entstehen, mehr schleichenden Beginn 
und keine nachweisliche Behinderung des Gallenabflusses zeigen, 
beobachteten wir bei gleichem oder oft höherem Bilirubinspiegel 
als der Fälle unter a) einen geringeren Hautikterus, dessen gelb- 
licher Farbton eher einen Stich ins Bräunliche hatte. Bei diesen 
Fällen ist natürlich vorausgesetzt, daß nicht kurz zuvor eine 
stärkere Gallenstauung vorangegangen ist. — Hierbei ist der B.I. 
fast stets höher als in den unter a) genannten Fällen im Beginne 
der Erkrankung. Treten Verschlechterungen im Sinne einer 
stärkeren Behinderung des Gallenabflusses in den Darm ein, oder 
erfolgt aus anderen Gründen ein vermehrter Übertritt von Gallen- 
farbstoff ins Blut, so sinkt der Wert des B.I. bis auf 1,2 und dar- 
anter. Erst wenn die Bilanz des gesamten Serumbilirubins für 
den Körper jene günstige Wendung zu nehmen beginnt, daß die 
Ausscheidung des Gallenfarbstoffes aus der Blutbahn seine Zufuhr 
übertrifft, beginnt ein Anstieg des B.I., der um so rascher und 

11* 


164 WIEMER 


höher erfolgt, je eher und je vollständiger die Zufuhr dieses serum- 
fremden Stoffes versiegt. 

Die Tatsache, daß in den ersten Tagen nach vollständigem 
Gallengangsverschluß ohne tiefgreifende Schädigung des Leber- 
parenchyms der Bilirubinindex eine verhältnismäßige Konstanz 
des Wertes zeigt (1,2—1,8), legte die Vermutung nahe, daß die 
aus der Gallenblase gewonnene Galle experimentell in Serum ge- 
bracht ähnliche Reaktionen geben würde. Zur Klärung dieser 
Frage wurden folgende Versuche angestelk: 

Blasengalle wurde durch sterile Punktion kurz nach dem Tode 
von 3 Leichen entnommen und nach mehrfacher Filtration wurden 
wässerige Lösungen davon in verschiedenen Konzentrationen her- 
gestellt. Zu 4,0 ccm von Serum eines gesunden Menschen wurden 
jeweils 2,0 der wässerigen Gallelösungen hinzugefügt, so daß der 
Eiweißgehalt der Mischung jedesmal 66 ?/, °/, des normalen Serums 
betrug. Die Gallelösung wurde so gewählt, daß der Gallegehalt 
der Mischung in allen Fällen ungefähr gleich groß war. Das Er- 
gebnis war folgendes: 


Versuch 1. 
Misch 
Galle- ae | Eiweiß- | Wert der| Wert der| p.;.1pin. 
lösung | ccm der | cem des | gehalt | direkten indirekten, d a Skala 
Nr. Galle- | Normal- ur Reaktion | Reaktion | " 
lösung | serums | | 
L | 20 4,0 66%, 3,7 35 | 108 | 12 
II. 2,0 4, 66 2), 4,3 41 106 | 1 
m. © 20 | 40 662 ' 8389 ' 36 11 | 12 
IV. 20 | 40 66? > 46 ; 44 1,03 ı 12 


Menschliche frische Gallenlösungen mit Normalserum gemischt 
in dem Verhältnis, daß der absolute Gallenfarbstoffgehalt um den 
Wert 4,0 legt, ergeben in 4 Fällen einen B.I. von ziemlich kon- 
stanter Größe, im Durchschnitt 1,06. Dieser Wert liegt nur um 
wenig unter dem tiefsten Grenzwerte jener Fälle von akutem 
Choledochusverschluß während der ersten Tage des Gallenübertrittes 
ins Blut. 

. Von fernerhin großer Bedeutung erschien uns eine Untersuchung 
des Einflusses wechselnden Galle- und Eiweißgehaltes auf den Bili- 
rubinindex. Hierzu stellten wir folgende Versuche an: 

2,0 Normalserum wurden jeweils mit 2,0 ccm einer Gallen- 
lösung versetzt, wobei also der Eiweißgehalt an Serumeiweiß in 


Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 165 


allen Fällen etwa 50°, des Normalserums betrug. Die Galle- 
lösungen wurden durch prozentuale Steigerungen aus einer Aus- 
gangslösung hergestellt. Die folgende Zusammenstellung mag dies 
veranschaulichen: 


Versuch 2. 
P i o Gehalt Eiweiß | 
or ONE der Aus-; %, zum Direkte | direkte. BI | Skal 
ia Serum | Galle- | gangs- 'normalen Reaktion p, A a 3 
ae ccm | lösung | (allelsg., Serum | en | 
1. 20 | 20 18 50 4,5 2,7 1,66 9 
2, 20 | 20 34 50 8,25 5,5 15 >»: 10 
3 120 |; 20 46 50 11,2 8,0 14 : 1 
4 | 20 2,0 58 50 14,0 10,5 1,33 12 
5 ' 20 2,0 66 50 17,0 13,2 1,29 12 
6 230 2,0 88 50 20,2 16,8 12 | M 
1. 2,0 | 2,0 00 50 23,0 19,4 1,14 14 
| 


1 14 
| | 
Einen weiteren Versuch gestalteten wir so, daß wir bei 
gleichem Gallengehalt der Mischung durch wässerige Verdünnung 


des Serums den Gesamtgehalt an Serumeiweiß herabsetzten. Er 
ergab folgendes: 


Versuch 3. 
er EER -Ge- | u 
ANIE h I, 
7 EEE mai mdali Ta 
` i 9 A i 
chen om | Beer | cem | vangs- Normal- Reak- | Reak- | BI | Skala 
A. Serum | Wasser Galle- | Fatie- | lösung | HR | tion 
| lösung | özun g & | 
1. 2,0 0,0 2,0 88 50 20,0 16,7 1,19 14 
2 | 15 | oœ | 20 | 88 | 375 | 201 | 182 | 110 | 15 
3 | 10 10 | 20] 8 |2% 198 | 191 | 1% | 17 
4. 0,5 15 | 20 | 88 12,5 | 198 | 23,9 | 0,83 | 20 
5 j 00 2,0 2,0 88 0,0 Trübung 


Zu den Ergebnissen dieser Versuche fügen wir noch den Be- 
richt eines weiteren, der in seiner Anlage ebenso gewählt war, 
wie die erwäbnten, nur statt der Verwendung einer aus Blasen- 
galle hergestellten Gallelösung bedienten wir uns des Serums eines 
an schwerem Ikterus erkrankten Menschen. Der Zweck des Ver- 
suches war also der, die vorhin gefundenen Beziehungen zwischen 
Blasengallegehalt und B.I. bei gleichbleibendem Serumeiweißgehalt 
an dem gallenfarbstoffhaltigen Serum eines ikterischen Kranken 
zu untersuchen. 


166 WIENER 
Der Versuch wurde sinngemäß den vorigen angelegt: 


Versuch 4. 


T | i e = Es o p iin = fe De Ze i 2 
+, Misch /o-Ge- |%0-Gehalt 
Röhrl. ne Sn ya am Eiweiß | Direkte Indirekte 


An Normal- | Galle- | Galle- izumNorm. Reaktion! Reaktion B.I. Skala 
‘ | Serum | Serum | Serum | Serum | 


| 


<- 
o 


1. | 230 0,2 | 9 100 595 | 35 1,7 9 
2. | 20 0,4 17 10 : 80 | 47 1,7 10 
8. 2,0 0,6 23 100 © 92 | 51 1,8 11 
4. | 20 0,8 29 100 | 1l 5,4 2,06 13 
5. 2,0 1,0 33 100 150 | 70 2,14 15 
6. 2,0 1,2 38 100 | 182 8,3 219 | 15/16 
7. 2,0 1,6 44 100 ' 21,0 | 105 2,0 17 
8. 2,0 2,0 50 100 | 24,0 12,5 1,92 16 
9. | 20 3,0 60 100 | 30,8 14,0 22 17 
10. | 230 4,0 66 100 | 345 15,0 2,3 18 
11. | 230 8,0 80 100 | 406 | 1605 | 253 | 18 
12. | 20 2,0 100 100 | 50,0 ` 195 2,56 19 


| | 


Fassen wir die Ergebnisse dieser 4 Versuche kurz zusammen, 
so läßt sich folgendes erkennen: 

Ein normales Serum mit sehr frisch entnommener Blasengalle- 
lösung versetzt ergibt bei Auswertung mittels der Azoreaktion 
einen Bilirubinindex, der etwa an der unteren Grenze jener Werte 
liegt, die wir bei akuter Gallestauung in den ersten Tagen im 
kreisenden Blutserum finden. Vergrößert man in dieser Mischung 
bei gleichem Eiweißgehalt die Konzentration der Blasengalle, so 
fällt der Wert des B.I. 

Der ähnliche Versuch, jedoch statt der Blasengalle mit 
ikterischem Serum ausgeführt, ergibt bei gleichem Eiweißgebalt 
ein Anwachsen des B.I. bei Zunahme der absoluten Gallekonzen- 
tration. Sinkender Eiweißgehalt bewirkt in beiden Fällen auch 
Absinken des B.I?) 

Wir glauben nun aus diesen Tatsachen, die wir übrigens im 
Rahmen anderer spezieller Adsorptionsversuche immer wieder be- 
stätigt fanden, zumindest den Schluß siehen zu dürfen, daß der 
Gallenfarbstoff im Blute bei Gallenstauung trotz seiner weitgehend 
chemischen Verwandtschaft mit dem Gallenfarbstoff der Blasen- 
galle sich dennoch physikalisch-chemisch von diesem unterscheidet; 
um von Vermutungen zunächst abzusehen, so jedenfalls sicher in 
Bezug auf seine Fähigkeit adsorbiert zu werden. — Wir glauben 


1) Für die Mischung mit ikterischem Serum hier nicht eigens angeführt. 


Ar o— le 0... 


nn 


Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 167 


sogar noch einen Schritt weiter gehen zu können, indem wir auch 
dem Gallenfarbstoff im Blute während der Dauer des ganzen 
Ikterus eine Einheitlichkeit im physiko-chemischen Sinne ab- 
sprechen und zwar ist sein Verhalten um so ähnlicher dem des 
Blasengallenfarbstoffes, je kürzere Zeit er im Blutkreislauf ver- 
weilt und um so verschiedener, je länger sein Verweilen im Orga- 
nismus währtee Wir haben diese Vorgänge im B.I. zu erfassen 
versucht, der in seinem Wesen als Maßstab für den Wechsel des 
Adsorptionsvermögens des Gallenfarbstoffes an das Alkoholprä- 
zipitat dient. 

Die Ursachen dieses wechselnden Verhaltens aufzudecken, 
hieße vorerst Theorien aufstellen. An eines wäre dabei zu er- 
innern: Wenn wir aus dem wechselnden Verhalten des Gallenfarb- 
stoffes zu dem Alkoholpräzipitat Schlüsse ziehen wollten, die für 
die tatsächliche Adsorption des Bilirubins an das Serumeiweiß — 
also im strömenden Blut — Geltung hätten, so begehen wir den 
Fehler, daß wir das Adsorptionsvermögen des Eiweißes sowohl 
wie des Gallenfarbstoffes unter gänzlich verschiedenen Bedingungen 
einander gleich setzten, nämlich einmal im unveränderten Serum, 
das andere Mal nach der Alkoholfällung. Tatsächlich wäre das 
erst durch geeignete Versuche zu erweisen, die wir uns ähnlich 
jenen Bechhold’s (13) über die Verteilung von Methylenblau in 
wässeriger Serumeiweißlösung denken. 


Trotzdem hat diese Annahme unseres Erachtens zunächst 
manches für sich. Die Vorstellung, die wir von den Vorgängen 
im strömenden Blut Ikterischer gewannen, ist nun etwa folgende: 
Durch den Verschluß der abführenden Gallengänge erfolgt ein 
Übertritt von Galle ins Blut. Die Verteilung des Gallenfarb- 
stoffes zwischen Serumeiweiß als Adsorbens und Plasma als Lösungs- 
mittel ist in einem labilen Gleichgewicht. Dieses wird bestimmt, 
einmal von dem Lösungsvermögen in dem Plasma, andererseits 
von der reversiblen Adsorption an das Serumeiweiß. Wir wissen 
aber, daß die Gallensäuren die Löslichkeit des Gallenfarbstoffes 
zu erhöhen vermögen, andererseits durch Verminderung der Ober- 
flächenspannung selber starker Adsorption unterliegen. Das Gleich- 
gewicht des Gallenfarbstoffes zwischen Plasma und Eiweiß wird 
somit zugunsten der größeren Löslichkeit verschoben. Mit dem 
Wiederwegsamwerden der großen Gallengänge erfolgt keine neuer- 
liche Vermehrung der Blutgallensäuren, sie werden ziemlich rasch 
aus dem Körper ausgeschieden und damit verändert sich der Gleich- 


168 WIENER 


gewichtszustand des Bilirubins zwischen Plasma und Eiweiß zu- 
gunsten zunehmender Adsorption an das Eiweiß. 


Die vorseitig geschilderten Beobachtungen an jenen Fällen, 
die trotz gleichen absoluten Gehaltes an Blutgallenfarbstoff oft 
einen auffallenden Unterschied in der Stärke des Hautikterus 
zeigen, finden nunmehr eine neue Möglichkeit der Deutung. Wir 
sagten, daß diejenigen Ikterusfälle, die frühzeitig schon mit einem 
verhältnismäßig hohen B.I. einhergehen, gewöhnlich gegenüber 
solchen mit dem für akuten Choledochusverschluß charakteristischen 
B.I. (1,2—1,8) an Intensität der Gelbfärbung der Haut erheblich 
nachstehen trotz gleich hohen Wertes des Bilirubinspiegels. Fast 
ausnahmslos finden sich bei diesen Fällen alle klinischen Zeichen 
für einen nicht vollständigen Choledochusverschluß. 


Die Erklärung dieser Erscheinung folgt unserer Theorie. Aus 
dem Anstieg des B.I. schlossen wir auf verstärkte Adsorption an 
das Serumeiweiß. Die wesentlichste Ursache für die wechselnde 
Stärke der Adsorption erblickten wir in dem verschiedenen Ge- 
halt des Blutes an Gallensäuren. Da nun in jenen Ikterusfällen, 
die trotz hohen Blutbilirubins mit verhältnismäßig geringerer Haut- 
verfärbung einhergehen, der B.I. hoch ist und keine klinisch nach- 
weisbare Behinderung des Choledochus besteht, schließen wir auf 
einen relativ geringeren Gehalt an Blutgallensäuren. Nach unseren 
vorhergehenden Überlegungen würde also in diesen Fällen die 
Bilanz des Blutbilirubins zugunsten verstärkter Adsorption an das 
Serumeiweiß verschoben sein. Damit sinkt aber der im Plasma 
vorhandene Anteil des Gallenfarbstoffes, den wir vornehmlich für 
die Färbung des Gesamtorganismus verantwortlich machen, da er 
wegen der minimalen Löslichkeit des Bilirubins gewissermaßen 
der leichtest verfügbare Anteil im strömenden Blut ist. 


Am deutlichsten werden diese Verhältnisse beim abklingenden 
Ikterus nach der klinisch nachweisbaren Wegsamkeit des Chole- 
dochus. Die Gallensäuren verschwinden ziemlich rasch aus dem 
Blute, der B.I. steigt, so daß wir häufig bei nahezu normalen in- 
direkten Werten dennoch den absoluten Gehalt an Gallenfarbstoff 
im Blute beträchtlich erhöht finden. In dieser Zeit erfolgt ein 
fortschreitendes Abblassen des Hautikterus. Der im Plasma vor- 
handene Anteil des Bilirubins erreicht seinen tiefsten Stand. Mit 
der Ausscheidung des Gallenfarbstoffes aus dem Blute erhöht sich 
die Autnahmefähigkeit des Plasmas für den Farbstoff zum Ab- 
transport aus den Geweben, wobei das Verteilungsverhältnis zwischen 


Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 169 


Plasma und Serumeiweiß von den Gesetzen der Löslichkeit und 
der Adsorption bestimmt wird. 


Man könnte versuchen, die Ergebnisse der Versuche II und 
IV zu Wiederlegungen unserer Theorien heranzüziehen. Im Ver- 
such II zeigten wir, daß bei gleichem Eiweißgehalt der Mischung 
mit zunehmendem Blasengallengehalt die Adsorption des Bilirubins 
sinkt, obwohl tätsächlich doch mit der Vermehrung der Blasen- 
galle auch der Gehalt an Gallensäuren steigt. Dabei ist aber zu 
bedenken, daß wir die tatsächliche Adsorptionskurve des Gallen- 
farbstoffes gar nicht kennen und demnach nicht wissen, wie der 
im gleichen Verhältnis der Bilirubinkonzentration zunehmende 
Gallensäuregehalt den Verlauf der Adsorption zu beeinflussen ver- 
mag. Zudem ist die Wirkung der Gallensäuren bezüglich ihres 
Einflusses auf die Oberflächenspannung an eine bestimmte Breite 
der Wasserstoffionenkonzentration gebunden, die wir aber in diesem 
Versuche ohne sie eigens zu bestimmen schon rein rechnerisch in 
grober Weise änderten. Als weiterer Einwand käme noch dazu, 
daß man unmöglich ein künstlich hergestelltes Gemisch ohne weiteres 
auf die Verhältnisse im strömenden Blute beziehen kann. Wir 
versuchten wenigstens den Einfluß der Dauer der Einwirkung der 
Gallensäuren und die Temperatur zu berücksichtigen und fanden 
folgendes Ergebnis: 


Versuch. 
a a mn — 

Röhr- Mischung com | | 

Eiweiß ' Galle | Untersucht |p. In- 
chen | IGalle-| 0 0 Direkt) .: B.I. | Skala 
Nr. Seram lösung o | lo am | direkt 
. 20 | 1,0 | 66%, | 881, |gleichen Tag! 46 | 44 11,06 | 78 
2 2,0 1,0 66°, 331, 2. Tag 4,4 3,7 | 1,19 7 
3, 2,0 1,0 66°, 331), 3. Tag 3,5 2,8 | 125 | 7/8 
4 20 | 10 | 66?/, 331, 4. ya 1,83 | 14 | 13 7/8 
5 20 : 10 | 66%, | 33%, | nach 24 Std.| 5,0 3,8 | 1,34 8 

| i Brutschrank 

6. 20 1,0 — 66% , 38%, | nach 20' 5380| 3,8 37 | 1,08 | 7/8 


Dieser Versuch lehrt, wie sowohl die Dauer der Einwirkung 
als auch die Körpertemperatur auf das Adsorptionsvermögen von 
Einfluß sind. Am stärksten ist die Erhöhung der Adsorption durch 
den Brutschrank zu erzielen, während die scheinbare Erhöhung 
bei mehrtägiger Einwirkung schwerer beurteilbar wird durch das 
Sinken des absoluten Gehaltes an Bilirubin, das wohl durch Um- 
wandlung des Bilirubins in Biliverdin seine Erklärung finden dürfte. 


170 WIEMER 


Andererseits beobachteten wir im Versuche IV einen Anstieg 
der Adsorption des Bilirubins an das Alkoholpräzipitat bei stei- 
gender Konzentration der Mischung mit ikterischem Serum. Wir 
nehmen auch in diesem Falle nicht an, daß der damit verbundene 
Anstieg der Gallensäuren bei der kurzdauernden Einwirkung im 
Reagenzglas eine nennenswerte Rolle spielt, sondern machen die 
gleichen Bedenken für diese Erklärung geltend, die wir bereits 
bei der Erörterung des Versuches II erwähnten. Es erscheint 
uns am wahrscheinlichsten, daß die relative Zunahme der Adsorption 
bei steigendem Gehalt an ikterischem Serum in der Mischung auf 
die Zunahme des ikterischen Serumeiweißes zurückzuführen ist. 
Zugegeben auch, daß die Adsorption ein reversibler Vorgang ist, 
so dürfte dennoch die Dauer der Einwirkung, die Temperatur und 
die Verschiedenheit des Milieus einmal im strömenden Blut, 
andererseits im isolierten Serum von großem Einfluß sein. 


Wir wollten mit den Versuchen II und IV lediglich das eine 
zeigen, daß bei den gleichen Fehlern des Versuches gegenüber 
dem strömenden Blute der Gallenfarbstoff der Blasengalle und des 
ikterischen Blutes physiko-chemisch ein verschiedenes Verhalten 
` zeigt. 


Vergleichen wir kurz noch einmal unsere Anschauungen über 
die Beziehungen 'der direkten und indirekten Diazoreaktion mit 
den klinischen Befunden. Die Verhältniszahl der direkten zur 
indirekten Reaktion — also der Bilirubin-Index — gab uns einen 
Anhalt für die wechselnden Adsorptionsfähigkeit des Gallenfarbstoffes 
an das Serumeiweiß im strömenden Blute, wobei wir uns den Gallen- 
farbstoff in einem labilen Gleichgewichtszustand bezüglich seiner 
Verteilung zwischen Serumeiweiß und Plasma dachten. Eine Ände- 
rung des Gleichgewichtszustandes entweder zugunsten stärkerer 
Adsorption oder zugunsten stärkerer Löslichkeit im Plasma wird 
durch den wechselnden Spiegel der Blutgallensäuren bedingt. Mit 
dem Anstieg der Blutgallensäuren erhöht sich die Löslichkeit des 
Gallenfarbstoffes im Plasma unter Absinken seiner Adsorptions- 
fähigkeit an das Serumeiweiß. Der im Plasma vorhandene also 
nicht an Serumeiweiß adsorbierte Anteil des Gallenfarbstoffes ist 
wegen seines geringen Lösungsbestrebens für den Transport von 
und zu den Geweben allein verantwortlich. Beim abklingenden 
Ikterus, bei dem keine Behinderung des Gallenabflusses mehr nach- 
weisbar ist, erreichen die Blutgallensäuren ihren tiefsten Stand; 
damit sinkt die Löslichkeit des Gallentarbstoffes im eiweißfreien 


o "e-a Ana 
” 


Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 171 


Plasma auf ein Minimum, wohingegen wir sowohl in den Geweben 
als auch adsorbiert an Serumeiweiß z. T. beträchtliche Mengen 
Gallenfarbstoff nachweisen können. Daraus erklärt sich auch die 
verhältnismäßig lange Dauer bis zum völligen Abtransport des 
in den Geweben aufgespeicherten Gallenfarbstoffes aus dem Körper, 
da gewissermaßen das Gefälle aus den Geweben ins Blut durch 
die minimale Löslichkeit im eiweißfreien Plasma seinen Tiefstand 
erreicht. 

Diese Vorgänge glauben wir durch den Bilirubin-Index ver- 
folgen zu können. 

Bei vollständiger Behinderung des Galleabflusses schwankt er 
zwischen den Werten 1,2 und 1,8 und steigt dann mit der Er- 
reichung eines Gleichgewichtszustandes der Verteilung des Gallen- 
farbstoffes bezüglich Lösung und Adsorption langsam bis auf 'etwa 
25 an. Mit der Verbesserung des Galleabflusses erfolgt dann 
rascher Anstieg bis auf Werte von 10,0 und darüber, wobei jede 
neuerliche Verschlechterung des Galleabflusses eine Verzögerung 
des Anstieges oder sogar ein zeitweiliges Absinken seines Wertes 
bedingt. Mit der fortschreitenden Genesung erfolgt dann ein 
auffallend langsamer Abfall des Wertes des B.I. etwa parallel 
gehend mit der Abblassung des Hautikterus, bis dann schließlich 
die immer stärker verzögerte direkte Reaktion eine weitere Be- 
stimmung des B.I. unmöglich macht. 


Literatur. 


1. H. v. d. Bergh, Der Gallenfarbstoff im Blut. Leyden 1918. — 2. Ehr- 
lich u. Pröscher, Zeitschr. f. analyt. Chem. Bd. 23, 1883; Pröscher, Zeitschr. 
f. phys. Chem. Bd. 29, 1900. — 3. Vogl u. Zins, Med. Klinik H. 21, 1922. — 
4. Lepehne, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 132, H. 1—2, 1920. — 5. Botzian, 
Mitt. a. d. Grenzgeb. 32, H. 1, 1921. — 6. Gilbert u. Herscher, Cholemie 
physiologique. Presse med. No. 28, 1906, zit. bei H. v. d. Bergh (L c.) — 
8. Ylipö, Zeitschr. f. Kinderheilk. IX, 1913. — 9. Ada Hirsch, Verhandl. d. 
XXX. Veran! d. Ges. f. Kinderheilk. Wien 1913. — 10. Thannhauser u. 
Andersen, Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 137, H. 3—4. — 11. Schumm u. 
Schottmüller, zit. b. v. d. Bug (l. c.) — 12. Eppinger, Pathologie des 
Ikterus. Kraus u. Brugsch Bd. VI, 2. — 13. Bechhold, Zeitschr. f. phys. Chem. 
60. 257—318, 1907, zit. i. Bechhold, Kolloide i. Biologie u. Med. S. 26, 1919. 


172 


Aus der medizinischen Klinik in Bern. 


Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 
Von 


Prof. H. Sahli, Bern. 


Zugleich eine Erwiderung zu dem Aufsatz 
von H. Straub und Ch. Krötz 


„Zur Kritik der Pulsuntersuchung“ 
in dieser Zeitschrift Bd. 149, H. 3/4, S. 230. 


Die auffällige Verschiedenheit meiner eigenen Ansichten von 
derjenigen, welche H. Straub und Ch. Krötz in der oben ge- 
nannten Arbeit niederlegen, kann bloß an fundamentalen Ver- 
schiedenheiten der beiderseitigen hämodynamischen und physi- 
kalischen Grundanschauungen liegen. Was mich betrifft, so habe 
ich wiederholt, zuletzt in den Ergebnissen der inneren Medizin und 
Kinderheilkunde Bd. 27 und in dem Handbuch der speziellen Patho- 
logie und Therapie von Kraus und Brugsch Bd. IV, 2, meine 
hämodynamischen Grundanschauungen, speziell in betreff des Wesens 
der Pulswelle, als Basis der Hämodynamik und der Volumbolometrie 
eingehend dargestellt. Solange diese Grundanschauungen nicht 
widerlegt sind, besteht meine Darstellung der Hämodynamik und 
dynamischen Pulsuntersuchung zu Recht. Meine Gegner haben 
sich dagegen nicht über ihre eigenen Grundanschauungen in der 
Wellenlehre ausgesprochen. Die Diskussion muß deshalb an der 
Oberfläche haften und es ist unvermeidlich, daß man mehr oder 
weniger aneinander vorbeiredet. Ich will deshalb nur auf einige 
Punkte der angeführten Arbeit eingehen, welche einer Widerlegung 
bedürfen, und mir Gelegenheit bieten werden, meinen neueren Dar- 
stellungen der dynamischen Pulsuntersuchung noch einige Er- 
gänzungen hinzuzufügen. 

1. Die erneute Behauptung, die Volumbolometrie sei „eine un- 
zulängliche Manometrie“, muß ich nochmals zurückweisen und als 


Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 113 


mir ganz unverständlich bezeichnen, da ja bei der Volumbolometrie, 
im Gegensatz zu der älteren, nun verlassenen Druckbolometrie, nicht 
ein Druck, sondern, isotonisch, ein Volum gemessen wird. Jene Be- 
hauptung wird damit begründet, daß es die Blutdruckschwankungen 
seien, welche bei der Volumbolometrie die Volumschwankungen 
hervorrufen. Dies ist natürlich ganz richtig und ich habe es nie 
bestritten. Aber die daraus gezogene Schlußfolgerung ist dennoch 
falsch. Ohne daß den Blutdruckschwankungen bei jedem Puls immer 
wieder neues Blut zur Verfügung gestellt wird, kann kein Pulsvolumen 
und auch keine Zirkulation zustande kommen. Das durch den Ein- 
fluß der Entleerung des Herzens unter systolischer Druckzunahme 
in der Aorta zustande kommende Pulsvolumen, für welches das auf 
die Querschnittseinheit des Arterienlumens reduzierte bolometrische 
periphere Pulsvolumen ein klinisches Maß ist, besitzt doch ein 
mindestens ebenso großes Interesse, wie die vom Herzen erzeugten 
systolischen Druckschwankungen an sich, und zwar vor allem, weil 
es uns Aufschluß gibt über die Größe der Zirkulation, mehr nebenbei 
aber auch, weil uns erst das Pulsvolumen durch Multiplikation mit 
dem Druck, gegen welchen es ausgeworfen wird, Schlüsse gestattet 
auf die Größe der bei der Systole geleisteten Arbeit. Demgegenüber 
besagt uns die Größe der systolischen Druckschwankung über die 
Beschaffenheit der Zirkulation an sich sehr wenig. Der arterielle 
Druck ist der Intensitätsfaktor der Zirkulationsmaschine, das Puls- 
volumen dagegen ihr Extensitätsfaktor. Nur wenn man beide kennt, 
kennt man die Art der Tätigkeit der Maschine. Ich muß fast um 
Entschuldigung bitten, daß ich dieses von mir schon so oft Gesagte 
immer wiederholen muß. Aber meine Gegner zwingen mich dazu. 
Ich muß bei den Mißverständnissen, welche in diesen Fragen immer 
noch herrschen, immer wieder die alten Vergleiche mit technischen 
Maschinen hervorholen. Nehmen wir eine technische Wasserpumpe. 
Unter welchem Druck und unter welchen Druckschwankungen der 
Kolben einer solchen arbeitet, das sagt uns über die Förderleistung 
der Pumpe gar nichts Bestimmtes. Was wir für die Beurteilung 
einer Pumpe in erster Linie wissen müssen, ist die mit jedem 
Kolbenstoß geförderte Wassermenge. In zweiter Linie interessiert 
uns natürlich aber auch das Produkt des Pumpendrucks in das 
durch jeden Kolbenstoß geförderte Wasservolumen. Denn von diesem 
Produkt ist die Arbeit oder Energie abhängig, die wir für die 
Inbetriebsetzung der Pumpe aufwenden müssen. Natürlich ist für 
die Beschaftung dieser Arbeitsgröße auch der Druck, unter welchem, 
und gegen welchen der Kolben wirkt, an sich von Interesse, denn 


174 SaaLı 


wir wünschen auch zu wissen, bis auf welche Höhe uns die Pumpe 
das Wasser zu fördern vermag und außerdem muß auch dieser 
Druck, nicht bloß die Wassermenge, von dem Techniker be- 
schafft werden. Auch in der Technik sind die zu beschaffende Druck- 
größe und die zu beschaffende Wassermenge voneinander unab- 
hängig. Das Problem ist also genau das gleiche wie bei dem 
Studium der Zirkulation durch die Untersuchung des Pulses. Wenn 
der Techniker aus den angeführten Gründen das Fördervolumen 
seiner Pumpe mißt, oder, was er im Gegensatz zu der Klinik tun 
kann, durch Ausmessung des Querschnittes und der Hubhöhe des 
Kolbens berechnet, so wird man ihm doch nicht den Vorwurf machen, 
er führe damit eine unzulängliche Druckmessung aus. Er bestimmt 
vielmehr daneben mit zulänglichen Methoden auch den Druck. 
Geradeso verfahren wir bei der Pulsuntersuchung. 

Wenn O. Frank sagt, die sphygmobolometrische Arbeitsberech- 
nung habe „keine andere Bedeutung als die Berechnung der Arbeit, 
die an einem beliebigen in den Kreislauf eingeschalteten Manometer 
geleistet wird, so stimme ich dem bei. Es muß aber erstens be- 
merkt werden, daß es sich bei der dynamischen Pulsuntersuchung 
gar nicht in erster Linie um die Arbeitsberechnung des 
Pulses handelt. Diese kommt vielmehr erst in zweiter Linie und 
die Hauptsache an der dynamischen Pulsuntersuchung ist klinisch 
die Vo)lummessung. Und selbst die Arbeitsmessung, der ich also 
klinisch bloß sekundäre Bedeutung zuschreibe, ist vor der Ein- 
führung der dynamischen Pulsuntersuchung eben an Kranken nie 
gemacht worden, weil man sich dafür nicht, sondern nur für Druck- 
bestimmungen interessierte. Auch ist die Arbeitsmessung an einem 
„beliebigen“ Manometer gar nicht in einfacher und einwandfreier 
Weise möglich, und überhaupt nicht, wenn man dabei nicht die 
Grundprinzipien der dynamischen Pulsuntersuchung zugrunde legt. 
Denn ein „beliebiges Manometer“ gibt keine Arbeitswerte, sondern 
niemals etwas anderes als Druckwerte Daß sich die erwähnte 
Bemerkung O. Franks gerade auf die Arbeitsmessung bezieht, 
die in der heutigen Volumbolometrie gegenüber der Volummessung 
‚ nur eine sekundäre Rolle spielt, beruht wohl darauf, daß der Autor 
dabei das älteste, längst verlassene und verfehlte Instrument zur 
dynamischen Pulsmessung aus dem Jahre 1907 vor Augen hat, in 
welchem ich, ohne Berücksichtigung des Pulsvolumens, die Puls- 
arbeit direkt zu messen versuchte, wobei sich dann eben die 
Schwierigkeit zeigte, diese Pulsarbeit mit einem „beliebigen“ Mano- 
meter zu messen. In der heutigen dynamischen Pulsuntersuchung 


Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 175 


ist aber überhaupt neben der Volumbestimmung des Pulses nur 
nebenbei von der Arbeitsmessung des Pulses die Rede. 

Nach diesen Erörterungen ist es mir völlig unverständlich, wie 
meine Gegner am Schlusse ihres Aufsatzes zu der seltsamen Ansicht 
kommen, daß Pulsvolumen und Pulsenergie Begriffe seien, „denen 
keine Realität im natürlichen Kreislauf zukomme“. Wenn das zu- 
treffen würde, so hätten die analogen Begriffe in der Lehre von 
den Wasserpumpen ebenfalls keine Realität, womit sich wohl kein 
Ingenieur einverstanden erklären wird. 

Wenn ferner die Verfasser, entgegen meiner, wie mir scheint, 
klaren physikalischen Auseinandersetzung, die Behauptung auf- 
stellen, die volumbolometrisch gemessene Volumgröße sei „ein 
direkter und unmittelbarer Ausdruck der Blutdruckschwankungen“, 
so ist dies ein Irrtum und ein Rückfall in die alten längst wider- 
legten hämodynamischen Vorstellungen, welche seinerzeit aus dem 
„Pulsdruck* oder der „Pulsamplitude“, dem „Blutdruckquotienten“, 
dem „Amplitudenfrequenzprodukt“ usw. auf die Größe der Zirku- 
lation Schlüsse ziehen wollten. Es ist bekannt, daß alle diese Ver- 
suche vollkommen gescheitert sind und scheitern mußten, weil sie 
von unklaren pbysikalischen Begriffen ausgingen und statische und 
dynamische Begriffe verwechselten. An die Stelle dieser unzuläng- 
lichen Versuche ist heute die Volumbolometrie getreten, die auf 
klarer physikalischer Basis steht. 

Der Beweis, wie unrichtig und unmöglich es ist, aus statischen 
Blutdruck werten Schlüsse auf die Größe und Güte der Zirkulation 
zu ziehen, geht, abgesehen von jeder Theorie, aus schon sehr alten 
klinischen Tatsachen hervor. Ich erinnere an die bekannten und 
häufigen Fälle von arterieller Hypertension, bei welchen, trotz des 
hohen, durch einwandfreie Methoden gemessenen systolischen 
Blutdruckwertes, die Zirkulation, nach allen klinischen Kriterien, 
schlecht und klein, und mit allen Zeichen der Kompensationsstörung 
and Stauung verbunden ist, und wo in voller Bestätigung der 
klinischen Erscheinungen die Volumbolometrie trotz des hohen 
Druckes abnorm kleine Werte für das auf die Kalibereinheit der 
Radialis reduzierte Pulsvolumen ergibt. Die Erklärung dieser be- 
kannten klinischen Vorkommnisse der Hochdruckstauung liegt 
auf der Hand. Man braucht sich bloß die arterielle Strombahn eng 
oder starr oder eng und starr zu denken, um einzusehen, daß in 
diesem Fallschon ein ganz kleines Auswurfsvolumen des Herzens mit 
kleiner Zirkulationsgröße einen hohen systolischen Druck hervorzu- 
rufen vermag. Auch der umgekehrte Fall, großes Pulsvolumen bei 


176 Saurı 


niedrigem systolischem Druck, kommt häufig vor, z. B. im Fieber. 
Auch dies ist leicht zu verstehen: eine große Systole des Herzens 
kann ein großes Pulsvolumen erzeugen, ohne daß, falls wie im Fieber, 
die Gefäße erschlafft und erweitert sind, daraus ein hoher systolischer 
Druck resultiert. Diese Beispiele zeigen wie berechtigt es ist, den Be- 
griff der Größe des Pulsvolumens von dem eines hohen systolischen 
Drucks oder Pulsdrucks ganz scharf zu trennen, wie es übrigens 
die beiden Ausdrücke klar genug markieren, und wie sehr es sich 
deshalb lohnt, beide Größen getrennt zu bestimmen, da sie im 
Gegensatz zu den Ansichten meiner Gegner in gar keiner direkten 
Abhängigkeit stehen. Alles das haben schon die alten Ärzte, 
lange bevor wir eine Sphygmomanometrie oder gar eine dynamische 
Pulsuntersuchung hatten, gestützt auf die einfache Beobachtung 
des Pulses mittels der Palpation klar erkannt, und nun will man 
das alles wieder vergessen. Die alten Ärzte wußten wohl zu unter- 
scheiden zwischen einem gespannten oder harten Puls, der 
einen hohen Druck anzeigt, aber dabei zuweilen ganz klein sein 
kann (Drahtpuls) und einem großen Puls, der ein großes Puls- 
volumen, eine große Herzsystole anzeigt und dabei das eine Mal 
weich (mit niedrigem Druck verbunden, großer weicher Puls, 
z. B. im Fieber) oder gleichzeitig gespannt und hart (mit hohem 
Druck verbunden, starker Puls von großem Energiegehalt) sein 
kann. Es braucht, um diese allbekannten Unterschiede anzuer- 
kennen, keiner gelehrten physikalischen Erörterungen sondern bloß 
genügender Beobachtungsgabe bei der Palpation des Pulses. Die 
Volumbolometrie zusammen mit der klinischen Manometrie hat 
alles dies bestätigt und physikalisch präzisiert und in messende 
Zahlen zu fassen gestattet. Von der rein gefühlsmäßigen Benutzung 
hämodynamischer Meßinstrumente, vor welcher die Verfasser im 
Anfang ihres Aufsatzes mit Recht warnen, ist dabei jedenfalls nicht 
die Rede. Im Gegenteil bin ich mir bewußt, bei der Begründung 
der dynamischen Pulsuntersuchung, mehr als andere, auf eine 
verstandesmäßige rein physikalische Auffassung der Zirkulation 
hingewiesen zu haben. Der Ausdruck dieser nun endlich exakt 
gewordenen physikalischen Auffassung ist eben die Volumbolometrie. 

Um zu zeigen, in welchem Maße die Klinik, wenn sie, wie 
die meinige, die neuen exakten physikalischen Vorstellungen an- 
nimmt und praktisch anwendet, dieselben mit wichtigen Ergeb- 
nissen quittiert, will ich u. A. hier bloß nochmals die schon von den 
verschiedensten Seiten bestätigte Tatsache anführen, daß die 
typische günstige Digitaliswirkung bei Kompensationsstörungen 


u 


En Bas, 


Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 177 


sich regelmäßig durch die Vergrößerung eines zuvor kleinen Puls- 
volumens verrät, wobei bezeichnenderweise der arterielle Druck 
bald steigt bald sinkt und sich dadurch für die Beurteilung als 
völlig insuffizient und irrelevant erweist. Wie reimt sich diese 
von Ärzten, welche den Puls dynamisch messen, täglich zu be- 
stätigende Tatsache, die gerade für die Indikationsstellung der 
Digitalistherapie von großer Wichtigkeit geworden ist, mit der 
Behauptung meiner Gegner, die Volumbolometrie sei eine „unzu- 
längliche Blutdruckmessung“ und das bolometrisch gemessene Puls- 
volumen sei der „unmittelbare und direkte Ausdruck der Blutdruck- 
schwankungen“? | 

2. Auf Seite 235 verwundern sich die Autoren darüber, daß 
ich, „der ich früher die Vorzüge der pneumatischen Pelotte be- 
sonders ausdrücklich und überzeugend betont habe, bei meinem 
Verfahren der sphygmographischen Bolometrie oder Bolographie 
(Schweiz. med. Wochenschr. Nr. 18, 1922 und Nr. 33, 1923) wieder 
zu den von mir verurteilten starren Pelotten zurückkehre“. Hier 
liegt ein doppeltes Mißverständnis vor. Erstens habe ich zwar 
starre Pelotten aus klaren Gründen (wegen des Pascal’schen Ge- 
setzes) für die Druckmessungen, nie aber für die Sphygmo- 
graphie, von welcher hier die Rede ist, „verurteilt“. Zweitens bin 
ich aber durchaus nicht zu den starren Pelotten „zurückgekehrt“, 
sondern ich habe sie für die Aufnahme gewöhnlicher Sphygmo- 
gramme gar nie verlassen, da ich diese Methode, falls sie sich 
eines einwandfreien, die O. Frank’schen Postulate berücksichtigen- 
den Sphygmographen, wie des neuen Jaquet’schen bedient, für 
eine durchaus brauchbare Methode ansehe. Und ebensowenig habe 
ich etwa, wie man nach den Worten meiner Gegner glauben könnte, 
die pneumatische Pelotte für die Volumbolometrie verlassen, da 
ich vielmehr das Verfahren mit der pneumatischen Radialispelotte 
immer noch als das Normalverfahren der dynamischen Pulsunter- 
suchung betrachte. Die Begründung der neuen Methode der 
sphygmographischen Bolometrie mittels des Jaquet’schen Sphygmo- 
graphen (Sphygmobolographie genannt) hat vielmehr den Sinn einer 
Erweiterung der Methodik und soll keineswegs die pneumatische 
Volumbolometrie verdrängen. Den Anlaß zu dieser Erweiterung 
der Methodik gab, abgesehen davon, dab man, neben den vielen 
unbrauchbaren Methoden, nie genug brauchbare haben kann, die 
Absicht, denjenigen, welche sich bisher auf die einfache Sphygmo- 
graphie beschränkt haben, die Verwertung des Sphygmogramms 
im Sinne der dynamischen Pulsuntersuchung zu ermöglichen, was, 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 12 


178 Santi 


wie ich zeigte. ganz gut geht. Es führen eben verschiedene Wege 
nach Rom. Dabei zeigte sich, daß die dynamische Verwertung 
der Sphygmographie um so wertvoller ist, als sich mit ihr in sehr 
einfacher Weise eine automatische Arteriometrie verbinden läßt, 
wie ich sie beschrieben habe. Denn die Bedeutung der Arterio- 
metrie als Ergänzung aller dynamischen Pulsuntersuchungen, zum 
Zwecke, den Einfluß von Kaliberanomalien der Radialis zu be- 
rechnen, habe ich schon vor sehr langer Zeit hervorgehoben. 

3. Zu den Bemerkungen oben auf Seite 232 habe ich folgendes 
zu sagen. In welcher Weise uns die Sphygmographie mit dem 
Jaquet’schen Sphygmographen Aufschlüsse über Druckschwankungen 
und Volumschwankungen der Radialis und über die Arbeitsleistung 
des Radialispulses gibt, habe ich in meinen früheren Arbeiten und 
ebenso in der im Druck befindlichen Neuauflage meines Lehr- 
buches der Untersuchungsmethode genau besprochen und ich kann 
nicht nochmals darauf eingehen. Dagegen muß ich mich hier doch 
gegen die Behauptung verwahren, daß ich mich „zu dem Trug- 
schluß versteige, der lineare Ausschlag des Sphygmographen habe 
die Dimension eines Volumens“. Dies entspricht nicht dem, was 
ich gesagt habe. Vielmehr zitiere ich wörtlich aus den Ergebn. 
d. inn. Med. und Kinderheilk. Bd. 27, S. 64 folgendes: „Das schein- 
bare Paradoxon, daß das Pulsvolumen durch eine lineare Größe, 
die Pelottenexkursion, ausgedrückt werden kann, löst sich nämlich 
ohne weiteres, wenn man berücksichtigt, daß unter der gemachten 
Voraussetzung eben die zwei anderen Dimensionen des Volumbegriffs 
gegeben sind.“ Der Sinn hiervon ist so ziemlich das Gegenteil 
von dem, was meine Gegner verstanden zu haben scheinen, wenn 
sie sagen, ich lege der linearen Pelottenexkursion die Dimension 
eines Volumens bei. Eine lineare Größe hat natürlich nie an sich 
die Dimension eines Volumens (Länge?), wohl aber kann sie unter 
Umständen als relatives Maß eines Volumens dienen. In dem in- 
kriminierten Fall der Volumbolographie liegen Volumina vor, welche 
sich als Prismen von gleicher Grundfläche aber verschiedener Höhe 
charakterisieren. Da wird wohl niemand bestreiten, daß in der 
Tat die Höhen der Prismen das relative Maß der Volumina sind. 
Der nämliche Fall liegt ja auch bei der pneumatischen Indexbolo- 
metrie vor. Hier wird das Volumen des Pulses durch die lineare 
Größe des Indexausschlages gemessen, weil der Index sich in einer 
zylindrischen Kapillare von bekanntem Querschnitt verschiebt. 
Der Leser mag die betreffende Stelle mit Aufmerksamkeit durch- 
lesen und wird sich dann überzeugen, daß ich mich nicht zu un- 


Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 179 


gereimten Behauptungen „versteige“, sondern die tatsächlichen Ver- 
hältnisse durchaus richtig physikalisch charakterisiere. 

4. Warum die Autoren auf Seite 236 meinem Indexmanometer 
den Makel der Trägheit anhängen und auf Seite 242 sogar von 
einer großen Trägheit desselben sprechen, ist mir unerfindlich. 
Ich selbst betrachte demgegenüber das Volumbolometer von allen 
mechanisch registrierenden Pulsinstrumenten als eines der wenigst 
trägen, ja als praktisch trägheitsfrei. Eine solche Differenz der 
Ansichten bedarf einer näheren und gründlichen Erörterung. Was 
lehrt die Physik über den Begriff der Trägheit? Sie lehrt, daß 
. bis zu einem gewissen Grade alle Körper Trägheit besitzen, da 
dieser der Begriff der Materie anhaftet, und daß die Trägheit, als 
Widerstand gegen positiv und negativ beschleunigende Kräfte, der 
Masse der bewegten Körper proportional ist und diese wieder 
proportional ihrem Gewicht. Was soll nun in dem inkriminierten 
Volumbolometer so besonders träge sein? Da das Instrument von 
der durch die Autoren und auch durch mich selbst verwendeten 
optischen Registriervorrichtung, über deren Trägheit sie nicht 
klagen, sich nur durch die Einschaltung des Indexmanometers unter- 
scheidet, so kann, wie es die Verfasser übrigens auch sagen, bei 
dem Vorwurf der Trägheit nur das Indexmanometer und in diesem, 
da die Luft je nicht in Betracht kommt, bloß der Index gemeint 
sein. Dieser Index hat nun, je nach der Länge, die man ihm gibt, 
ein Volumen von 0,07—0,15 ccm, im Mittel also von 0,11 ccm, und da 
er aus Alkohol besteht, ein Gewicht von im Mittel 0,09 g. Die 
Masse des Index, als Maß der Trägheit, berechnet sich nach der 


Formel m = S, worin m die Masse in Massengrammen, G das Gewicht 
in Grammen und g die Beschleunigung der Schwerkraft in Zenti- 
metern, nämlich 981 a ist. Somit ist die Masse des Index 


. , 0,09 
gleich OBT 
nung wollen wir den etwas zu großen, einer etwas größeren Träg- 
heit entsprechenden Wert von 0,0001 Maßengramm annehmen. 

Wie wirkt nun diese Masse, bzw. die durch sie gemessene 
Trägheit auf die Bewegungen eines solchen Index störend? Theo- 
retisch dadurch, daß ein trägerer Körper, d.h. ein solcher von 
größerer Masse durch eine beschleunigende Kraft sich weniger 
rasch in Bewegung setzt und die Endgeschwindigkeit weniger rasch 
annimmt, dafür aber, wenn er einmal in Bewegung ist und die 
12* 


= 0,00009 Massengramm. Zur Vereinfachung der Rech- 


180 SAHLI 


Endgeschwindigkeit erreicht hat, diese gegenüber einer Gegenkraft 
sowie gegenüber Reibungs- und andern Widerständen (im Volum- 
bolometer gegenüber dem pneumatischen Optimaldruck) weniger 
rasch verliert als ein weniger träger Gegenstand mit kleinerer 
Masse. Bei der Aufnahme von Pulskurven äußert sich deshalb 
bekanntlich die Trägheit von Registriervorrichtungen ganz allge- 
mein einerseits dadurch, daß der Anstieg der Kurve verlangsamt 
und dabei auch die Detailzeichnung derselben verwischt wird, 
andererseits dadurch, daß die Registriervorrichtung durch die im 
Verlauf der Bewegung erworbene kinetische Energie über das der 
Größe des Bewegungsanstoßes entsprechende Ziel hinausgetrieben 
wird, und also dabei eine von der zu verzeichnenden Bewegung 
nicht mehr direkt abhängige Eigenbewegung ausführt. Durch diese 
Eigenbewegung können unter dem Einfluß der Eigenschwingungen 
des Systems durch Interferenz mit der wirklichen Pulsbewegung 
Zacken in die Kurve hineinkommen, welche reine Artefakte sind 
und also ebenfalls ein falsches Bild von der Pulsbewegung geben. 
Man nennt diese zweite Wirkung der Trägheit das Schleudern 
träger Registriervorrichtungen. 

Daß Trägheitserscheinungen in den Indexbewegungen des 
Volumbolometers sich nicht bemerkbar machen, zeigt sich schon 
darin, daß die direkt aufgenommenen photographischen Kurven der 
Indexexkursionen in allen wesentlichen Eigenschaften des Haupt- 
gipfels mit guten Sphygmogrammen und auch mit den optischen 
Spiegelvolumbologrammen, wie Staub und Krötz sowie ich selbst 
sie aufgenommen haben, übereinstimmen. 

Es läßt sich aber die Frage, ob bei den Indexablesungen 
störende Wirkungen der Trägheit des Index in Betracht kommen. 
auf Grund der oben ausgeführten numerischen Berechnung der 
Masse bzw. Trägheit des Index, auch mathematisch behandeln. Es 
ist dabei vorauszuschicken, daß bei den Indexausschlägen die Masse 
als solche als das Maß der Trägheitswirkung in Betracht kommt, 
bei den Hebelvorrichtungen dagegen außerdem das von der Länge 
des Hebels abhängige Trägheitsmoment. Auf letzteres brauche 
ich hier nicht einzugehen, da im Volumbolometer keine Hebelvor- 
richtung vorliegt. 

Zunächst die mathematische Fassung der oben definierten 
Schleuderwirkungen für unseren Index: Ihr Maß ist nach der Formel 


2} 


A f at ee, N . 
der kinetischen Energie die Größe - z7» Worin m die Masse des 


Index, v die Geschwindigkeit des Anstieges des Index ist. Wir 


ST a un x 


u ne 


Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 181 


können bei dem sogut wie gradlinigen Anstieg, welchen der Puls 
bei direkter Registrierung der Indexausschläge wie bei anderen Puls- 
aufnahmen zeigt, von Geschwindigkeit schlechtweg sprechen, ohne 
zwischen Anfangsgeschwindigkeit, mittlerer und Endgeschwindigkeit 
zu unterscheiden. Nach meinen Kurven beträgt die Dauer des Anstieges 
sowohl bei den direkt photographierten Indexkurven als bei den 
Spiegelaufnahmen mit der Doppelkapsel ca. 0,1—0,2 Sekunden, was 
für einen mittleren linearen Weg des Index von ca. 3 cm, der einem . 
mittleren Pulsvolumen von 0,1 ccm entspricht, eine Geschwindigkeit 


von 15—30 = ergibt. Daraus berechnet sich für diesen Fall der durch 


2 
die Formel es gegebene Wert der Schleuderung, wenn wir den, 


wie erwähnt, mit 0,0001 Massengramm etwas zu groß angenommenen 
Wert der Masse des Index und die angeführte Geschwindigkeit 
in die Formel einsetzen. Wir erhalten dann die kinetische Energie 
der Schleuderung zu 0,0001 mal 112 bis 0,0001 mal 450, im Mittel 
also zu 0,0281 gem. Dieser Wert bedeutet gem deshalb, weil 
die Formel für die kinetische Energie die nämliche Dimension hat, 
wie diejenige der Arbeit, nämlich M-L?.T?*) und wir die Einheiten 
nach dem gem System gewählt haben. Es ergibt sich also, daß 
die kinetische Energie, welche der Index durchschnittlich bei seiner 
Exkursion vermöge seiner Masse und Trägheit annimmt, im Mittel 
0.0281 gem beträgt. Das ist ein sehr kleiner Wert. Seine Be- 
deutung für unsere Frage wird aber erst deutlich, wenn wir ihn 
mit dem Gesamtarbeitswert des Pulsanstieges vergleichen. Der 
letztere berechnet sich in gem nach den Regeln der Volumbolo- 
metrie und gemäß der Passavant’schen Formel durch Multiplikation 
des Indexausschlages in Zentimetern mit dem Optimaldruck, in 
cm Hg, und dem spezifischen Gewicht des Hg und beträgt, bei einem 
durchschnittlichen Volumbologramm hiernach 0,1-10:13,6=13,6 gem. 
Daraus ergibt sich, daß der für die Schleuderung in Betracht 
kommende Energieanteil 2,7°/,, der Gesamtpulsenergie beträgt, und 
da im Volumbolometer die Arbeit für einen gegebenen Optimaldruck 
durch eine lineare Exkursion gemessen wird, die durchschnittlich 
normalerweise etwa 3 cm beträgt, so folgt, daß für diese Kurvenhöhe 
a el 
1000 1000 100 
beträgt, also einen in der Kurve nicht mehr erkennbaren und prak- 


linear der Schleuderungsfehler 


* M = Masseneinheit, L = Längeneinheit, T = Zeiteinheit. 


182 SaAHLI 


tisch deshalb zu vernachlässigenden Wert hat. Damit stimmt wie 
gesagt die Tatsache überein, daß man an den direkt photographierten 
Kurven der Indexausschläge keine Zeichen von Schleuderung er- 
kennen kann, da sie mit den mit der Spiegeldoppelkapsel aufge- 
nommenen Kurven übereinstimmen. Auch konnte ich zeigen, daß 
künstliche Pulse, die man mittels einer Pravaz’schen Spritze in der 
Größe natürlicher Pulse auf den Index wirken läßt, den gleichen 
Ausschlag geben, ob man den Stempel langsam oder mit der Ge- 
schwindigkeit des natürlichen Pulsanstieges vorschiebt. Dabei zeigten 
sich auch keine Eigenschwingungen des Index. 


Dies ist nun bloß die eine Seite des Trägheitsfehlers, nämlich 
die Schleuderung, die also beim Volumbolometer keine Rolle spielt. 
Die andere Seite des Trägheitsfehlers würde, wie wir sahen, darin 
bestehen, daß der Index infolge seiner Masse, zu wenig rasch in 
Bewegung kommt, woraus einerseits eine Verzögerung des Anstieges, 
andererseits eine Verwischung eventueller Details des Anstieges 
zustande käme. Der physikalische Vorgang dabei ist folgender. 
Nach der allgemeinen, nicht speziell auf die Schwerkraft bezogenen 


Formel der Masse m = : (worin K eine beliebige Kraft, m — Masse, 


a die an ihr durch die Kraft K hervorgerufene Beschleunigung 
bedeutet) äußert sich die Masse oder Trägheit bei der beschleunigten 
Bewegung zunächst darin, dab die gegebene Kraft an einem trägeren 
Körper eine geringere Beschleunigung und somit eine geringere 
Geschwindigkeit hervorruft, als an einem weniger trägen Körper. 
Hierauf beruht die erwähnte Verlangsamung des Anstiegs und die 
Verwischung der Details. Offenbar würde dies nun einen scheinbaren 
Arbeitsverlust während des Anstiegs infolge des Verlustes an Weg 
bedeuten. Die Größe dieses scheinbaren Verlustes ließe sich eben- 
falls berechnen. Einfacher aber ist es, sie auf Grund folgender 
Überlegung zu beurteilen, indem man den Wert. der terminalen 
Schleuderung zugrunde legt. Diese Schleuderung bedeutet nämlich 
durch die damit verbundene Vermehrung des Wegs eine schein- 
bare Vermehrung der Arbeit. Daß jene initiale Verminderung und 
diese terminale Vermehrung der Arbeit als bloß scheinbar be- 
zeichnet werden müssen, ergibt sich aus dem Gesetz von der Er- 
haltung der Energie. Daraus folgt aber auch, daß es sich bei den 
Erscheinungen der initialen Verlangsamung und der terminalen 
Schleuderung bloß um eine zeitliche Verschiebung der Energie- 
leistung handelt, daß somit der numerische Betrag des scheinbaren 
initialen Arbeitsverlustes beim Beginn der Exkursion und der 


- ge 


Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 183 


scheinbare Arbeitsgewinn durch terminale Schleuderung gleich 
sind, aber umgekehrtes Vorzeichen besitzen. Daraus folgt, daß der 
oben berechnete Wert der Schleuderung numerisch auch für den 
Trägheitsfehler des Kurvenanfangs gilt, und da wir gefunden haben, 
daß der Schleudernngsfehler zu klein ist um in der Kurve merklich 
zu werden, so kommen wir also zu dem Ergebnis, daß auch die 
im Anfang der Kurve theoretisch vorhandene Verzögerung des 
Anstiegs und die Verwischung der Details des Anstieges in der 
Kurve wegen der Kleinheit der Trägheit des Index unmerklich 
sind. Alles das bestätigt sich durch die vollkommene Identität des 
Anstiegs in den durch direkte photographische Aufnahme der Index- 
exkursionen erhaltenen und in den durch Spiegelschreibung mittels 
der optischen Doppelkapsel erhaltenen Kurven. 

In diesen Auseinandersetzungen war zunächst bloß von dem 
aufsteigenden Schenkel der Indexausschläge die Rede. Im 
absteigenden Schenkel liegt nicht mehr die vom Puls selber 
bzw. dem Herzen direkt geleistete Arbeit vor, sondern die Arbeit 
des absteigenden Schenkels wird geliefert durch die in der Luft 
des pneumatischen Systems durch den Puls angesammelte poten- 
tielle Energie im Verein mit allfälligen Reflexwellen. Es liegt 
auf der Hand, daß auch hier der Index als praktisch trägheitsfrei 
betrachtet werden kann, d. h. daß auch hier seine Trägheit keine 
Störungen bedingt, nachdem ich es für den Anstieg bewiesen habe. 
Man kann also das Volumbolometer nicht einer stö- 
renden Trägheit beschuldigen. 

Ich will bei diesem Anlaß nochmals darauf aufmerksam machen, 
daß ich den Index auch in betreff des Einflusses derReibung 
untersucht und, wie ich an anderem Ort zeigte, gefunden habe, 
daß auch sie keine Störungen bedingt, solange die Indexlänge, 
welche für die Reibung maßgebend ist, das vorgeschriebene Maß 
von 3cm nicht erheblich überschreitet. Es ergibt sich dies daraus, 
daß die Ausschläge des Index gleich ausfallen ob man dem Index eine 
Länge von 1 oder 3 cm gibt. Eine Störung durch Reibung müßte, 
da diese der Länge des Index proportional ist, sich in einer von 
der Länge des Index abhängigen erkennbaren Verschiedenheit der 
Ausschläge äußern, was innerhalb dieser Grenzen nicht der Fall 
ist. Erst bei unzulässig langem Index (erheblich über 3 cm) machen 
sich störende Reibungserscheinungen bemerkbar. 

5. Bei der Erwähnung der von mir (Ergebn. d. inn. Med. u. 
Kinderheilk. Bd. 27 und Ergebn. d. Physiol. Bd. 24 sowie Handb. 
d. spez. Pathol. u. Therapie von Kraus und Brugsch Bd. IV, 2) 


181 Sauıı 


beschriebenen, nach dem Prinzip der Doppelkapsel konstruierten 
optischen Spiegelschreibvorrichtung zum Volumbolometer, welche 
offenbar im Wesentlichen mit der auch von Straub und Krötz 
verwendeten Vorrichtung übereinstimmt, sagen die Verfasser, daß 
bei meiner Anordnung die zwecklose Einschaltung des „trägen“ 
Index den Gebrauch der optischen Registrierung illusorisch mache. 
Dazu bemerke ich, daß erstens nach dem von mir erbrachten Nach- 
weis, daß der Index nur eine minimale und nicht störende Trägheit 
hat, diese Einschaltung keine merkliche Bedeutung haben würde, 
zweitens aber, daß bei dem Gebrauch der Spiegelregistrierung der 
Index, ohne daß man das Instrument auseinander zu nehmen braucht, 
durch Abfließenlassen der Flüssigkeit in eine der Ampullen eliminiert 
werden kann, wie ich es in meiner Darstellung in den Ergebnissen 
der innern Medizin (l. c. S. 21) zum Überfluß noch speziell angegeben 
habe. Hierdurch wird die Bahn zwischen der Pelotte und der 
optischen Doppelkapsel vollkommen freigegeben. In meiner schema- 
tischen Abbildung ist der Index zum Zweck des besseren Verständ- 
nisses des Anschlusses der optischen Kapsel an das System mitge- 
zeichnet worden. 

6. Mit Befriedigung konstatiere ich, daß die Autoren bei der 
Anwendung der Volumbolometerpelotte für die Radialis mit der 
optischen Doppelkapselregistrierung volumbolometrische Kurven 
erhielten, „die allen technischen Anforderungen, die an ein Sphygmo- 
gramm gestellt werden können, entsprechen“ (S. 245) indem der 
Hauptgipfel und die Sekundärelevationen bei wechseindem Pelotten- 
druck ihre zeitliche Lage nicht veränderten. Dies stimmt damit 
überein, daß ich die volumbolometrischen Aufnahmen als die beste 
Methode zum Schreiben isotonischer Sphygmogramme bezeichnet habe. 
Daß demgegenüber die Autoren mit der, merkwürdigerweise trotz- 
dem nachher zur prinzipiellen Kontrolle derrichtigen Volumbolometrie 
verwendeten, „Manschettenbolographie“ schlechte, für die 
einzelnen Drucke ganz verschiedene Kurven erhielten, scheint mir 
durchaus nicht verwunderlich, und ich muß bei diesem Anlaß, da 
man glauben könnte, ich empfehle eine solche „Manschetten- 
bolometrie* (während sie meiner Ansicht nach vielmehr ganz in das 
Gebiet der „Gefühlshämodynamik“ gehört), darauf hinweisen, daß 
ich, abgesehen von meinen ersten tastenden Versuchen über dy- 
namische Pulsuntersuchung, welche bald 20 Jahre zurückliegen, vor 
der Anwendung von Manschetten nicht bloß für Druckmessungen, 
sondern namentlich bei Anlaß -meiner Polemiken mit Christen und 
Hediger, auch für die dynamischen Untersuchungen gewarut habe. 


Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 185 


Die Kritik der Autoren gegenüber der „Manschettenbolometrie“ ge- 
schieht also ganz in meinem Sinne und ich habe dieses Verfahren 
auf das entschiedenste abgelehnt. 

Auch an dem richtigen, d.h. dem mittels der Radialispelotte 
gewonnenen, Volumbologramm setzen die Autoren jedoch das aus, 
daß die Sekundärelevationen, obschon sie, wie gesagt an den rich- 
tigen zeitlichen Stellen sich ausprägen, doch je nach dem ver- 
wendeten Pelottendruck nicht gleich hoch im Verhältnis zum 
Hauptgipfel ausfallen, daß vielmehr das Höhenverhältnis der ersten 
und zweiten Sekundärelevation zum Hauptgipfel sich mit dem 
Pelottendruck verändert. Ich bemerke, daß dies sich genau gleich 
auch bei tadellosen gewöhnlichen Sphygmogrammen verhält, wie 
schon v. Frey (Die Untersuchung des Pulses, 1892, Springer) 
hervorhob. Die Autoren geben den Grund dieser Erscheinung nicht 
an. Mir scheint sie selbstverständlich und naturgesetzlich zu sein. 
Denn natürlich kann der Pelottendruck, wenn er für den Hauptgipfel 
optimal eingestellt ist, nicht auch zugleich für die Sekundärelevationen, 
die einem geringeren arteriellen Druck entsprechen, optimal sein, 
sondern jeder Sekundärelevation würde eigentlich ein besonderer 
Optimaldruck entsprechen.!) Das scheint mir aber ein geringer 
Nachteil zu sein, sowohl für das Volumbologramm als für das 
Drucksphygmogramm. Denn die Höhendimensionen werden in beiden 
Fällen wesentlich bloß für den Hauptgipfel zu klinischen Schluß- 
folgerungen verwertet. Die Sekundärelevationen finden ja in 
der neueren Auffassung der Pulskurve fast nur in betreff ihres 
zeitlichen Auftretens und nicht in betreff ihrer Höhe klinische 
Verwertung. Sie haben überhaupt einen großen Teil des Wertes, 
den ihnen die ältere Sphygmographie, auf Grund falscher Deu- 
tangen ihrer Entstehung, gegeben hatte, eingebüßt, seitdem 
v.Frey und Krehl in überzeugenden Untersuchungen nachge- 
wiesen haben, daß es sich dabei einfach um Reflexwellen handelt, 
die von sehr vielen Zufälligkeiten abhängig sind. Diese Auffassung 
ist einer der wesentlichsten Fortschritte der neueren Pulslehre. 
Denn die v. Frey-Krehl’schen Uniersuchungen sind durch die 


1) Auf die theoretisch-pragmatische Erklärung und den eigentlichen Begrifi 
des Optimaldruckes, der außer von dem Maximaldruck auch von der Form des ab- 
steigenden Kurvenschenkel, für den Hauptgipfel von der Pulsfrequenz und für 
die Sekundärelevationen von dem zeitlichen Verhalten der letztern abhängig ist, 
kann ich hier nicht eingehen. Die Theorie des Optimaldruckes wird in dem in 
Druck befindlichen Neuauflage meines Lehrbuches der Untersuchungesmethoden 
gegeben. 


186 Sauti 


Untersuchungen von O. Frank über den Arterienpuls (Zeitschr. 
f. Biol., N. F., Bd. 28, 1905} welche die ältere Auffassung zum 
Teil zu rehabilitieren suchen, durchaus nicht widerlegt. 

7. Erfreulich ist es, daß auch Straub und Krötz, auf ganz 
andere Wege und durch andere Argumente als ich selbst, zu dem 
Resultat gekommen sind, daß die breiten Oberarmmanschetten 
nach dem Typus Recklinghausen für die arterielle Druckmessung 
nichts taugen. Nur hätten sie einen Schritt weiter gehen und 
den Schluß ziehen sollen, daß die Oberarmmanschetten überhaupt, 
auch wenn sie nicht gerade so breit sind wie die Recklinghausen- 
sche, da sie alle die nämlichen prinzipiellen Fehler haben, nichts 
taugen, und namentlich sollte sich daraus der Schluß ergeben, daß 
eine Methode, welche prinzipiell fehlerhaft ist, auch praktisch nicht 
brauchbar ist. Für die Praxis ist das Beste gerade gut genug. 
Statt dessen machen die Autoren einen mir unverständlichen Kom- 
promiß und stehen nicht an, trotz des schlechten Ergebnisses ihrer 
eigenen experimentellen Prüfungen, nicht nur die Manschetten 
überhaupt, sondern sogar die breiten Recklinghausen ’schen Man- 
schetten den Praktikern für die Blutdruckmessungen fernerhin zu 
empfehlen. Liegt da nicht etwas „Gefühlshämodynamik“ vor, gegen 
welche die Autoren im Beginn ihres Aufsatzes mit Recht Front 
machen? Sie motivieren ihren, an einem innern Widerspruch 
leidenden, Standpunkt damit, daß es angeblich am Krankenbette 
bloß auf die Gewinnung relativer Werte ankomme und daß 
außerdem nur große Differenzen klinisch verwertet werden können. 
Beide Argumente halten nicht Stand. Wenn man durch ein noch 
dazu viel einfacheres und für den Arzt und Patienten angenehmeres 
Verfahren, nämlich durch die von uns empfohlene Pelottenmethode 
der Druckmessung richtigere Werte erhält, welche theoretisch den 
absoluten Werten ganz nahe kommen, und praktisch ohne weiteres 
als richtig betrachtet werden können, warum soll man dann nicht 
die einfachere und richtige Methode einer fehlerhaften vorziehen? 
Aber mehr noch: Die „relativen“ Werte der Recklinghausen- 
und Riva-Roccimanschetten würden bloß dann praktisch brauchbar 
sein, wenn die Fehler derselben immer gleiches Vorzeichen hätten 
und einen ungefähr gleichen prozentischen Betrag des Gesamt- 
wertes ausmachen würden. Wenn sich z. B. ergeben würde, daß 
die Manschettenwerte immer, sagen wir 30°,, zu niedrig sind, so 
könnte man ja eine entsprechende Korrektur anbringen und die 
Methode wäre trotz ihrer bluß relativen Richtigkeit praktisch 
brauchbar. Man würde dann, sozusagen, mit einem reduzierten 


Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 187 


Maßstab messen. So liegt aber die Sache durchaus nicht. Denn 
je nach der Breite der Manschette (die von den Praktikern ge- 
wöhnlich nicht einmal angegeben wird), und sogar bei der An- 
wendung immer der gleichen Manschette kann der Fehler nicht 
bloß numerisch, sondern besonders bei den schmälern Manschetten 
auch in betreff des Vorzeichens von Fall zu Fall verschieden sein, 
d.h. das eine Mal sind die Werte in unbekanntem Maße zu klein, 
das andere Mal in unbekanntem Maße zu groß. Ich habe in zahl- 
reichen Arbeiten gezeigt, daß neben der Breite der Manschetten 
auch die Art der Applikation, die verschiedene Beschaffenheit der 
Weichteile, der wechselnde Muskeltonus und evtl. unbewußte aktive 
Muskelspannungen, ferner Reflexwirkungen des Manschettendrucksso- 
wohl auf den Muskeltonus als auf die Vasomotoren und endlich die von 
der Methode untrennbare venöse Stauung unberechenbare Fehler 
hervorrufen können, die im Einzelfall je nach den besondern Be- 
dingungen ganz verschieden sind und sogar verschiedenes Vorzeichen 
haben können. Die Autoren sagen selbst (S. 241 ihres Aufsatzes), daß 
„ein konstanter Korrektionsfaktor selbst für die einheitliche breite 
Manschette nicht angegeben werden kann, weil der Fehler bei 
jeder Messung eine andere Größe annehmen kann“. Eine solche 
Methode, welche nicht bloß, wie die Autoren zugeben, in betreff der 
numerischen. Größe der Fehler, sondern wie ich gezeigt habe, auch 
in betreff des Vorzeichens der Fehler so unberechenbar ist, verdient 
gerade auch praktisch kein Vertrauen. Sie erscheint mir auch zu 
„vergleichenden“ Untersuchungen gänzlich untauglich, und ich 
sehe denn auch täglich an Kranken, die von anderen Ärzten mit 
Manschetten gemessen wurden, welch ein diagnostisches und thera- 
peutisches Unheil aus dieser schlechten und unglückseligen Man- 
schettenmethodik entsteht. Dabei ist die Methode oft (bei hohem 
Druck) sehr unangenehm für die Kranken (ich habe dabei einmal 
einen Anfall von Angina pectoris ausgelöst werden sehen) und viel 
komplizierter und schwieriger als die Pelottenmethode, wenn sich 
der Untersuchende wenigstens die Mühe geben will, die Manschette 
auch nur einigermaßen korrekt anzulegen, wovon bei dem blinden 
Vertrauen in die Methode und dem herrschenden gefühlsmäßigen 
Betrieb der Hämodynamik gewöhnlich gar nicht die Rede ist. 

8. Ganz besonderes Gewicht für die Bekämpfung der Volum- 
bolometrie scheinen die Verfasser auf die Feststellung zu legen, 
daß, wenn man bei verschiedenen Personen das Pulsvolumen einer- 
seits mit der richtigen Pelottenbolometrie der Radialis, das andere 
Mal mit der (nach den eigenen Angaben der Autoren unrichtigen!) 


188 SAHLI 


Manschettenbolometrie am Oberarm mißt, sich diese Personen nach 
der Größe ihres Radialispulsvolumens anders ordnen als nach der 
Größe ihres Brachialispulsvolumens, d. h., daß Personen, welche an 
der Brachialis ein größeres Pulsvolumen haben als die andern, an 
der Radialis das kleinere Pulsvolumen haben können als diese, 
und umgekehrt. 

Die Frage, ob diese Unterschiede nicht zum Teil einfach mit 
den bekannten zeitlichen Schwankungen der Pulswerte zusammen- 
hängen, muß hier unerörtert bleiben, da Zeitangaben und Kontroll- 
versuche über zeitliche Veränderungen bei gleichbleibender Methode 
fehlen. Jeder der sich mit Pulsuntersuchungen ausgiebiger be- 
faßt hat, weiß, daß oft schon innerhalb kurzer Zeit selbst ohne 
äußerlich erkennbare Ursache, der Puls, zum Teil wohl unter dem 
Einfluß psychischer Momente, seine Beschaffenheit stark verändern 
kann. 

Doch nehmen wir an, daß solche zeitliche Schwankungen in 
den Untersuchungen der Autoren keine Rolle gespielt haben. Dann 
wären allerdings die angeführten Befunde sehr paradox — falls 
beide Methoden richtig wären! Aber offenbar liegt die einfache 
Erklärung des scheinbaren Paradoxons darin, daß die Manschetten- 
bolometrie eben, wie ich wiederholt betonte, eine gänzlich unbrauch- 
bare Methode ist, deren Resultate infolge der von den Verfassern 
selbst nachgewiesenen schlechten Übertragungsverhältnisse allen 
möglichen Zufälligkeiten unterworfen sind und in keinem konstanten 
Verhältnis zu der Größe des wirklichen Pulsvolumens in der Afterie 
stehen. Die Übertragungsbedingungen des Pulses bei einer solchen 
„Manschettenbolometrie“ sind von Messung zu Messung durchaus 
unkonstant. Aus diesem Grund habe ich diese „Manschettenbolo- 
metrie“ in allen meinen neueren Arbeiten speziell gegen Christen 
und Hediger, auf das bestimmteste abgelehnt. Alle jene Fehler, 
welche ich und zum Teil auch Straub und Krötz für die Man- 
schettendruckmessungen nachgewiesen haben, machen sich natür- 
lich für die „Manschettenbolometrie* in mindestens gleichem, ja 
noch höherem Maße geltend, auch wenn man immer die nämliche 
Manschette verwendet. Die Verschiedenheiten der Applikation 
der Manschette, die Verschiedenheiten der Weichteilwirkungen 
überhaupt und speziell die Pulsverluste durch das Nachgeben der 
oben und unten die Manschette seitlich begrenzenden Weichteile, 
die verschiedenen Grade der venösen Stauung, die wechselnden 
Reflexwirkungen der schnürenden Manschette auf den Muskeltonus 
und die Vasomotoren, unbewußte aktive Kontraktionen der Muskeln 


Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 189 


bedingen für die Manschettenbolometrie schwere und unberechen- 
bare Fehler. Die Eichung der Manschettenwerte, welche die 
Autoren vornahmen, schützt natürlich nicht gegen diese Fehler. 
Sie kann zwar den von der Dicke des Arms, der Festigkeit der 
Manschettenapplikation und der Höhe des Füllungsdruckes ab- 
bängigen Einfluß der Größe des Manschettenluftraumes eliminieren, 
aber niemals die unberechenbaren Verschiedenheiten der Voll- 
ständigkeit der Übertragung des Pulses selbst von der Arterie 
auf die Weichteile, und von da auf den Luftraum der Manschette. 
Diese Vollständigkeit der Übertragung wechselt unter dem Ein- 
fluß der angeführten Faktoren in unübersehbarer Weise von Fall 
zu Fall. Man stelle sich bloß einmal vor, was es für die Größe 
der gefundenen dynamischen Werte für einen Unterschied ausmacht, 
ob der Puls durch dünne oder dicke, starre oder nachgiebige 
Weichteile und Muskelschichten hindurch sich auf die Manschetten- 
luft überträgt, und ob infolge der verschiedenen Dicke der Arm- 
weichteile und der verschieden festen Applikation ein größerer 
oder kleinerer Anteil des der Grundfläche der Manschette ent- 
sprechenden Pulsbetrages an den oberen und unteren Seitenrändern 
der Manschette durch das Nachgeben der Weichteile sich nach 
außen verliert ohne auf die Manschettenluft zu wirken, ganz ab- 
gesehen von den wechselnden Einflüssen der venösen Stauung und 
reflektorischer Beeinflussungen. Unter solchen unkonstanten und 
ungünstigen Übertragungsverhältnissen mag man lange für die 
Isotonie im pneumatischen System sorgen und gestützt auf 
diese Isotonie die Luftpulse eichen. Trotzdem sind die noch so 
korrekt gemessenen Luftpulse weit davon entfernt, ein korrektes 
Maß des wirklichen Pulsvolumens darzustellen. Denn abgesehen von 
den anderen erwähnten Fehlern spricht alles dagegen, daß bei 
dieser Methode in den Arterien und den Weichteilen 
selbst die Isotonie, welche die Bedingung der richtigen Messung 
des Pulsvolumens ist, gewahrt bleibt, während dies bei der Pelotten- 
übertragung in großer Annäherung angenommen werden kann. 
Durch die eigenen Versuche der Autoren, in welchen sie nach- 
wiesen, daß je nach dem Manschettendruck eine verschiedene Ver- 
spätung des Hauptgipfels eintrat, ist eine solche isotonische d. h. 
korrekte Übertragung des Pulses auf die Manschettenluft ausge- 
schlossen. Diese groben und fundamentalen Fehler werden durch 
die „Eichung“ der Luftpulse natürlich keinesweg eliminiert. Man 
mag die Luftpulse eichen, so genau man will, sie entsprechen eben 
in ihrer Größe nicht den Arterienpulsen. Die erwähnten para- 


190 Sanur, Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsunfersuchung. 


doxen Resultate der Verfasser, daß sich die Patienten nach der 
Größe ihres Pulsvolumens anders ordneten wenn man es an der 
Brachialis maß, als wenn die Bestimmung desselben an der Radialis 
vorgenommen wurde, haben also in der Tat „periphere Genese“, wie 
die Autoren sich ausdrückten, aber nicht im Sinn ihrer wenig klaren 
hämodynamischen Vorstellungen, sondern bloß als Folge der Fehler- 
haftigkeit der „Manschettenbolometrie“. Sie beruhen auf Instrumental- 
fehlern der „Manschettenbolometrie,“ die allerdings sehr „peripher“ 
sind. Es gibt keinen einwandfreieren Beweis für die Unbrauchbarkeit 
der Manschettenbolometrie als gerade die Versuche von H. Straub 
und Ch. Krötz. Statt dessen haben diese Autoren ganz unbe- 
rechtigterweise diese unbrauchbare Methode „ernst genommen“, 
bzw. als maßgebend betrachtet. Wenn ich seinerzeit gegenüber 
Brösamlen darauf hingewiesen habe, daß man an der Subklavia 
nicht volumbolometrieren kann, so gilt dies natürlich aus den an- 
geführten Gründen auch von der Brachialis.. Trotzdem fängt man 
jetzt mit solchen alten Fehlern wieder an und zwar merkwürdiger- 
weise zu dem Zweck, mit so fehlerhafter Methode die eigentliche 
Volumbolometrie mittels der Radialispelotte, deren Vorzüge in be- 
treff der Richtigkeit der Übertragung der Pulse auf den Luftraum die 
Verfasser selbst hervorgehoben haben, zu kritisieren. Man kann 
doch nicht eine bessere Methode mit einer notorisch schlechten 
kontrollieren. Haben denn die Autoren hier vergessen, was sie in 
einem früheren Teil ihrer Arbeit zu ungunsten der Manschetten- 
übertragung des Pulses gesagt haben? 

9. Zusammenfassend komme ich also zu dem Resultat, daß das 
Gebäude der Volumbolometrie in ihrer richtigen, von mir ange- 
gebenen Form als Radialisbolometrie durch die Straub Krötz’sche 
Kritik in keiner Weise erschüttert ist und daß die Volumbolometrie, 
wie ich in so zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen habe, 
eventuell unter Herbeiziehung der Arteriometrie, ein klinisch durch- 
aus brauchbares und seit Jahren praktisch bewährtes Maß des 
Auswurfvolumens des Herzens gibt und daß erst durch diese Methode 
die „Gefühlshämodynamik* überwunden wurde, vor welcher meine 
Gegner selbst mit Recht warnen, und zu der ich auch die Be- 
hauptung meiner Gegner rechne, „die Volumbolometrie sei eine 
unzulängliche Druckmessung“. 


191 


Aus der Medizinischen Universitätsklinik Königsberg in Pr. 
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. M. Matthes.) 


Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 
Von 


Dr. Rudolf Schaefer, 
Assistent der Klinik. 


Seitdem im Jahre 1922 das Krankheitsbild der „Agranulocy- 
tose“ von W. Schulz umrissen wurde, sind in der deutschen und 
in der ausländischen Literatur unter dem Namen Agranulocytose 
eine ganze Anzahl Krankheitsfälle beschrieben worden, die in ihrem 
Symptomenkomplex teilweise mit den Fällen von W. Schulz über- 
einstimmen, teilweise mehr oder weniger große Ähnlichkeit mit 
ihnen zeigen. An verschiedenen Stellen, und gerade noch in 
neuester Zeit hat sich W. Schulz mit den Autoren auseinander- 
gesetzt und einen Teil der beschriebenen Fälle als echte Agranulo- 
cytosen anerkannt, andere abgelehnt. Da W. Schulz die Frage, 
ob das von ihm umgrenzte Krankheitsbild eine ätiologische Einheit 
darstellt, offenläßt, und in erster Linie das Charakteristische des 
Symptomenkomplexes betont, so soll auch im folgenden seine ätio- 
logisch unverbindliche Nomenklatur insofern beibehalten werden, 
als nur das mit dem Namen Agranulocytose bezeichnet werden 
wird, was mit den erstbeschriebenen Fällen in guter Überein- 
stimmung steht. Die wichtigsten Merkmale der echten Agranulo- 
cytose sind: gangräneszierende Prozesse in der Mundrachenhöhble, 
im Intestinaltraktus oder in der Vagina, hohes Fieber, Ikterus, 
hochgradige Verminderung der Gesamtleukocytenzahl, wobei die 
Neutrophilen und Eosinophilen bis auf Null herabgesetzt sein 
können, nur geringfügige Veränderungen des roten Blutbildes, 
keine allgemeine hämorrhagische Diathese und tödlicher Ausgang 
der schnell verlaufenden Erkrankung. 

Die hier zu beschreibenden Fälle genügen zum Teil diesen 
Forderungen restlos. Zum Teil jedoch sind sie keine echten Agra- 


192 SCHAEFER 


nulocytosen im Sinne von W.Schulz und sollen auch keineswegs 
durch die Veröffentlichung unter obigem Titel als solche rubriziert 
werden, sondern der Gedanke, sie mitzuteilen, entspringt dem 
Wunsche, differentialdiagnostische Fragen an dem vorliegenden 
Material zu ventilieren. 

Die beiden ersten Fälle sind echte Agranulocytosen: 


Fall 1. Ida L., Ehefrau 50 Jahre. 

Vorgeschichte: Früher immer gesund. Vor etwa 4 Wochen 
erkrankte Pat. fieberhaft. Die Temperatur schwankte stark. Einige 
Tage später traten Halsschmerzen auf. Nach Mitteilung des behandelnden 
Arztes handelte es sich damals um eine nekrotische Angina. Diese heilte 
ab. Dann trat im Rücken ein fleckiger Ausschlag auf, der nach einigen 
Tagen verschwand. Unter dauernd remittierendem Fieber bildete sich 
schließlich ein belegtes Geschwür auf dem Zungenrücken aus. 


Befund: Am 23. IV. 24 erfolgte die erste Untersuchung durch 
einen Arzt der Klinik: Hochfiebernde subikterische Pat. Am rechten 
Mundwinkel eine etwa bohnengroße braunrote Verfärbung der Haut. Auf 
dem Zungenrücken ein sehr schmerzhaftes, bräunlich belegtes Geschwür. 
Herz und Lungen bieten regelrechten Befund. Die Gallenblase ist tast- 
bar und sehr druckempfindlich. Der Leberrand ist glatt und überragt 
den Rippenbogen, besonders seitwärts, sebr deutlich. Der Puls ist 
frequent und mittelkräftig. Die Tonsillen sind frei. Keine Drüsen- 
.schwellungen. Milz nicht vergrößert. Der Blutausstrich zeigt bei 
flüchtiger Durchsicht außerordentlich wenig weiße Blutzellen, und zwar 
ausschließlich Lymphocyten. — Überführung in die Klinik. 

Am 25. IV. Aufnahme in die Klinik. Der Befund hat sich nicht 
erheblich geändert. Blutbild: Hb 61 °/,, Erythroc. 4 100 000, Leukoc. 1350, 
Poly. 3°/,, kleine Lymphoc. 93 °/,, große Lymphoc. 4°/,. Blutplättchen: 
150000. — Urin: Eiweiß positiv, Zucker negativ, Urobilinogen stark 
positiv, Urobilin positiv, Diazo. negativ. Sediment: reichlich granulierte 
Zylinder. — Blutkultur: steril. — Widal: 1:0. — 


Verlauf: Im Laufe der nächsten 2 Tage änderte sich der Befund 
nur unwesentlich. Die Temperatur schwankte zwischen 38° und 40°, 
Am 28. IV. unter den Zeichen zunehmender Herzschwäche Exitus letalis. 


Pathologisch-anatomische Diagnose: Adipositas. — Zwei 
eingetrocknete Blutblasen am Kinn. — Starke Füllung der Gallenblase. — 
Epikardiale Blutungen, — Rotfärbung der cervikalen Lymphdrüsen. — 
Hypostasen des linken Unterlappens.. Anämie und Blähung der übrigen 
Lungenteile.. — Hämorrhagien in der Gegend der Zungenspitze. Zwei 
Nekroseherde an der Epiglottis. — Trübe Schwellung der Nieren. — 
Glatte Atrophie der Scheidenschleimhaut. — Trübe Schwellung der Leber. 

Aus dem Sektionsbefund sınd noch folgende Einzelheiten erwähnens- 
wert: Die Haut ist gelblich. Am Kinn sieht man 2 kirschkerngroße 
Bläschen, deren Inhalt zu einem Brei eingetrocknet ist. — Am Kehl- 
deckel sieht man 2 scharfbegrenzte grauweiße 2:3 mm messende Ver- 
färbungen, deren Oberfläche gekörnt ist. Die (aumenmandeln sind nur 
kirschkerngroß und haben eine zerklüftetete grauweiße Oberfläche. Der 


Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 193 


Zungengrund weist in der Schleimhaut zahlreiche bis pfefferkorngroße 
grauweiße unscharf begrenzte Herde auf. An der Zungenspitze sieht 
man 2 streifenförmige scharfbegrenzte, 2 cm lange, parallel verlaufende, 
blaurote Verfärbungen. — Die Milz hat eine zarte grauweiße Kapsel. 
Das Organ fühlt sich fest an. 


Mikroskopischer Befund: (Dr. Mueller.) 

Knochenmark: Im Ausstrich keinerlei polymorphkernige Zellen, 
keine Granulocyten. — Leber: In ganz unregelmäßiger Anordnung 
finden sich herdförmige Nekrosen, die ohne scharfe Grenzen sind. Inner- 
halb der Nekroseherde sind die Leberzellgrenzen deutlich sichtbar, die 
Kerne dagegen schwach oder gar nicht gefärbt. Man sieht keine Zell- 
infiltrate wie sie dem Bilde der Leukämie zukommen, und keine Poly- 
morpbkernigen, keine Granulocyten. — Milz: Es besteht eine deutliche 
Atrophie der Lymphfollikel. Die Milzsinus sind prall gefüllt. In ihnen 
sind keinerlei granulierte Zellen nachweisbar. Überall liegt reichlich 
scholliges und körniges Pigment, das die Eisenreaktion gibt. Granulo- 
cyten und Polymorphkernige fehlen vollkommen. — Lunge: In den 
hypostatischen Herden des linken Unterlappens sind kaum Leukocyten, 
insbesondere keine Granulocyten zu finden. — Schleimhautnekrosen 
der Epiglottis: Das Epithel und die Submukosa fehlen. Der Knorpel 
ist bedeckt mit einer körnigen Masse, die aus nekrotischem Zellmaterial 
und reichlich Bakterien besteht. Zellige Infiltrate fehlen, nur vereinzelt 
liegen Iymphocytenäbnliche Zellen am Rande des Nekroseherdes. 


Fall 2. Therese B., Ehefrau. 46 Jahre. 


Vorgeschichte: Pat. ist, abgesehen von einigen Kinderkrank- 
heiten, immer gesund gewesen. Zum ersten Male im Jahre 1914 traten 
Gallensteinkoliken auf mit folgender Gelbsucht. Derartige Anfälle wieder- 
holten sich oft, zum letzten Male etwa 2 Monate vor der Klinikaufnahme. 
Die jetzige Erkrankung begann vor 12 Tagen mit starken Kopfschmerzen, 
Atemnot, Fieber, Halsschmerzen und Schluckbeschwerden. 


Befund: bei der Aufnahme am 29. Juli 24: Mittelgroße Pat. in 
gutem Ernährungszustand. — Fettpolster sebr reichlich. — Haut und 
Skleren von normaler Beschaffenheit und Farbe. — In der rechten 
Schenkelbeuge eine kleine reizlose Drüse. Am Hals sehr schmerzhafte, 
aber nicht vergrößerte Drüsen. — Die Zunge ist dick weißlich belegt, 
besonders die Tonsillen. Die Rachenschleimbaut ist stark entzündlich 
gerötet. — Herz, Lungen und Leib: ordnungsmäßiger Befund. — Leber 
und Milz nicht zu fühlen. — Urin: Reaktion sauer, Eiweiß: Spur, Uro- 
bilinogen: neg., Zucker: neg., Aceton: pos., Acetessigsäure: pos., Indikan: 
neg., Diaz: neg., im Sediment: vereinzelt Erythroc., etwas vermehrte 
Leukoc. und Epith. — Wassermann’sche Reaktion im Blut: neg. — Widal: 
1:200 schwach pos. — Blutbild: Hb 75 %,. Erythroc. 4270000, Leukoc. 
3850, Lymphoc. 99,5 °/,, Monoc. 0,5 %/,. — Temperatur: 39,2. Verlauf: 
l. August. Temperatur 39,4, starke Atembeschwerden, die Sprache ist 
erschwert, Pat. ist unruhig und leicht benommen. Blutbild: Hb 75°), 
FErythroc. 4330000, Leukoc. 1900, Lymphoc. 99°/,, Monoc. 1°% 
2. August: starker Fieberanstig, nachts deliröse Zustände. Am Tage 
ist Pat. klar. Leukoc. 2100. Der Rachenabstrich ergab Streptokokken 


Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 150. Bd. 13 


194 SCHAEFER 


und Staphylokokken positiv, keine Pneumokokken. — 3. August: sub- 
ikterische Verfärbung der Haut und der Skleren. Benommenheit. Tem- 
peratur: 40,6. — 4. August: Exitus unter den Zeichen der Herzschwäche. 

Pathologisch-anatomische Diagnose: Leichter Ikterus. — 
Adipositas. — Bronchopneumonische Herde in beiden Lungenunterlappen. — 
Beläge auf der Rachenschleimhaut. — Infektiöse Hyperplasie der Milz. — 
Multiple frische anämische Nekrosen in der Milz. — Beginnende Granular- 
atrophie beider Nieren mit Vermehrung des Hilusfettgewebes. — Trübe 
Schwellung der Nieren und der Leber. — Hämorrhagischer Infarkt der 
Leber. — Cholesterinkalksteine in der Gallenblase. — Pericholecystitis 
fibrinosa. 

Aus dem Sektionsbefund sind noch folgende Einzelheiten erwähnens- 
wert: die Milz wiegt 140 g. Sie ist von kegelförmigen, mit der Basis 
der Milzoberfläche aufsitzenden blauroten Herden durchsetzt. Die Milz- 
knötchen sind gut zu erkennen. — Die Leber wiegt 1380 g. Auf der 
dem Ziwerchfell anliegenden Seite befindet sich ungefähr in der Mitte ein 
blauroter Fleck von etwa 1 cm Durchmesser. Die Läppchenzeichnung 
ist undeutlich. 

Mikroskopischer Befund: (Dr. Mueller.) 

Leber. Die Zellgrenzen der Leberzellen sind deutlich zu erkennen. 
Die Kerne haben sich dagegen schlecht gefärbt. Im Protoplasma der 
Leberzellen finden sich diffuse, feintröpfige Fettinfiltrationen. Um- 
schriebene Nekroseherde fehlen. Etwas vermehrtes Gallepigmet. Die 
Kapillaren sind prall gefüllt. In ihrem Lumen finden sich auffallend 
wenig Leukocyten, insbesondere keine Granulocyten. Zellinfiltrate fehlen, 
und zwar auch am Rande des hämorrhagischen Infarktee. — Milz. 
Keine Follikelatrophie. Es finden sich scharf begrenzte keilförmige 
Nekroseherde, an deren Rand keine wesentliche Zellvermehrung festzu- 
stellen ist. — Lunge. In den bronchopneumonischen Herden sind die 
Alveolen angefüllt mit reichlich abgeschilferten Alveolarepithelien und 
roten Blutkörperchen. Auch bei Fibrinfärbung sind Fibrinfäden nicht 
sichtbar. Zellige Infiltrate fehlen. — Knochenmark: konnte aus 
äußeren Gründen nicht untersucht werden. 


Diese beiden Fälle sind so typisch, daß über ihre Einordnung 
kein Zweifel besteht. Erwähnenswert erscheint nur das Verhalten 
des Ikterus. Während bei Fall 1 die Verfärbung der Haut schon 
stark ausgeprägt war, als die Aufnahme in die Klinik erfolgte, 
trat bei Fall 2 erst am Tage vor dem Exitus ein leichter Ikterus 
auf. Parallel dazu ergibt die mikroskopische Untersuchung der 
Leber im Fall 1 das Bestehen zahlreicher Herdnekrosen, während 
im Fall 2 nur mäßige Verfettung, sonst aber keine umschriebenen 
Veränderungen im histologischen Bilde der Leber feststellbar sind. 
Im Zusammenhang mit dieser Beobachtung interessiert ein Ver- 
gleich der Vorgeschichten, aus denen hervorgeht, daß die Krank- 
heitsdauer im Fall 1 vier Wochen, im Fall 2 dagegen nur zwei 
Wochen betrug. Der Ikterus und die mikroskopisch feststellbare 


Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 195 


Leberschädigung scheinen also erst nach einer gewissen Dauer der 
Erkrankung in die Erscheinung zu treten. Es soll damit jedoch 
keineswegs eine Entscheidung gefällt werden über die Frage, ob 
die Leberschädigung bei der Agranulocytose ein primärer oder ein 
sekundärer Vorgang ist. 

Der folgende Fall scheint fast für das erstere zu sprechen 
und beleuchtet überhaupt die hier vermuteten Beziehungen zwischen 
dem Ikterus, den histologischen Leberveränderungen und der 
Schnelligkeit des Krankheitsverlaufes in bemerkenswerter Weise. 
Es handelt sich hier um einen Patienten, der in der hiesigen Klinik 
lange vor dem Auftreten agranulocytotischer Erscheinungen wegen 
einer subakuten, schubweise verlaufenden Leberatrophie in Be- 
handlung war, und von dem ausführliche, mikroskopische Befunde 
der Organe vorliegen. Die wesentlichen Daten aus der Kranken- 
geschichte folgen hier: 

Fall 3. Walter H., Apotheker 48 Jahre. 

Vorgeschichte: In früheren Jahren immer gesund gewesen, nur 
litt er bäufiger an Bronchialasthma. Er hat immer viel Alkohol ge- 
trunken und leidet stets unter großem Durst. — Das jetzige Leiden be- 
gann 5 Tage vor der Einlieferung in die Klinik mit hohem Fieber und 
heftigen Schmerzen im Oberbauch. Kein Erbrechen. Von Anfang an 
leichte Gelbsucht. Der Urin war nicht besonders dunkel, und der Stuhl 
braun. Es besteht kein Durchfall. _ 

Befund: Kleiner, etwas blasser, leicht septisch und ikterisch aus- 
sehender Mann. Keine Odeme, keine Exantheme, keine vergrößerten 
Drüsen. — Skleren etwas gelblich. — Zunge belegt. — Thorax: etwas 
emphysematös. — Das rechte Zwerchfell steht etwas höher als das linke. 
Die Grenzen verschieben sich mäßig. — Herz: ordnungsmäßiger Befund. 
— Blutdruck: Riva-Rocci 150/90. — Abdomen: im ganzen etwas auf- 
getrieben. Druckempfiodlichkeit in der Mittellinie und zu beiden Seiten 
im Oberbauch. Die Leber ist hart, etwas höckerig, druckempfindlich 
und überragt den Rippenbogen um Handbreite Milz nicht fühlbar, 
perkutorisch vergrößert. — Urin: Reaktion sauer, Eiweiß positiv, Zucker 
positiv, Urobilinogen positiv, Urobilin Spur, Aceton positiv, Acetessig- 
säure negativ. Im Sediment vereinzelt hyaline Zylinder, einige granulierte 
Zylinder, ganz vereinzelt Wachszylinder, kleine runde Epithelien, etwas 
vermehrte Erythrocyten, vereinzelt Leukocyten. Blutbild: Hb 75°/,, 
Erythroc. 4030000, Leukoc. 10100, Poly. 64°/,, Stabk. 15,5 0%, 
Lymphoc. 20,5 °/,, geringe Polychromasie. — Blutkultur: steril. — 
Widal: Typhus 1:0. — Wassermann’sche Reaktion im Blut negativ. — 
Blutzucker: (nüchtern) 265 mg °/,. — Durchleuchtung: Lungen und Herz 
ordnungsmäßiger Befund. Leber und Milz vergrößert. 

Verlauf: Während bei der Aufnahme die Körpertemperatur bei 
etwa 39 Grad lag, fiel sie in den nächsten Tagen fast bis zur Norm 
herab, um dann nach etwa 2 Wochen abermals für einen Tag so hoch 
zu steigen und nach weiteren 2 Wochen zum zweitenmal diesen Wert 

13* 


196 SCHAEFER 


zu erreichen. Dann fiel sie unter leichten Schwankungen zur Norm ab. 
Die Zuckerwerte im Urin lagen bei der Aufnahme etwa bei 2,5 °),. 
Unter Insulin und Diät wurde Pat. im Laufe der nächsten Wochen 
zuckerfrei. Das Blutbild zeigte bei mehrfachen Untersuchungen einen 
zunehmenden Anstieg der Lymphocyten. Die Werte, sieben Wochen 
nach der Aufnahme waren folgende: Hb 70°/,, Erythroc. 4360000, 
Leukoc. 6700, Poly. 42,5, Stabk. 2,5, Lymphoc. 47,5 °/,, Eosinoph. 6 %/,, 
Mastz. 1°/, und Monoc. 0,5 °/,. — Die Schmerzhaftigkeit in der Leber- 
gegend hatte während des Klinikaufenthaltes langsam abgenommen, je- 
doch war die Leber bei der Entlassung am 8. VII. 25 noch erheblich 
vergrößert und höckerig. Der Urinbefund war bis auf einen Hauch Ei- 
weiß normal. 

Klinische Diagnose: Diabetes mellitus. — Atrophia hepatis 
subacuta. 

.„. Am 15. VIII. 25 kam Pat. zur Wiederaufnahme in die Klinik. 
Über die Zwischenzeit wurde folgende Auskunft gegeben: 

Bald nach Verlassen der Klinik war Fieber eingetreten, das einige 
Tage anhielt und nach Einnahme von Salicyl zurückging. Dann bestand 
mehrere Wochen völliges Wohlbefinden. Zehn Tage vor der jetzigen 
Wiederaufnahme traten plötzlich Halsschmerzen, Schluckbeschwerden und 
langsam ansteigendes Fieber auf. Pat. fühlte sich sehr elend und matt. 

Befund: 15. VIII. 25. Sehr elendes Aussehen. Gesicht dabei 
aber hochrot. — Leichter Ikterus. — Zunge belegt. — Sehr ausgedehnter 
Soor im ganzen Munde und Rachen. — Die Tonsillen sind gerötet, aber 
ohne Ulcera und ohne Beläge. Im linken Sinus pyriformis ein linsen- 
großes, schmierig belegtes, ziemlich tiefes Ulcus. — Herz und Lunge 
ordnungsmäßiger Befund. — Die Leber ist wie bei der Entlassung. — 
Die Milz ist nicht zu fühlen, jedoch perkutorisch vergrößert. — Urin: 
sauer. Eiweiß: pos. Zucker: 0,2 °. — Aceton: pos. Acetessigsäure: neg. 
Urobilinogen: fraglich. Im Sediment: Leukocyten, Epith. und ganz ver- 
einzelt granulierte Zylinder. — Blutbild: Hb 80 °/,, Erythroc. 4540000, 
Leukoc. 2200, Lymphoc. 85 °/,, Eosinoph. 12 °/,. Mastz. 3°/.. — Tem- 
peratur 39,5. 

Verlauf: In den nächsten Tagen wurde der Zustand des Pat. 
dauernd schlechter. Sowohl eine Neosalvarsaninjektion als auch eine 
Trypaflavininjektion blieben ohne jeden Erfolg. Der Soor wurde durch vor- 
sichtige Sublimatwaschung größtenteils beseitigt. Temperatur schwankend 
zwischen 39,0 und 40,2. Am 19. VIII. trat der Exitus letalis ein unter 
den Zeichen der Herzschwäche. 

Pathologisch-anatomische Diagnose: Hypepikardiale 
punkt- und flächenförmige Blutungen. — Bronchopneumonische Herde 
verschiedener Stadien und Odeme in den Lungenunterlappen. — Parenchy- 
matöse Degeneration beider Nieren. — Hypertrophische Form der Leber- 
cirrhose. — Zahlreiche Geschwüre am weichen Gaumen, auf dem Zungen- 
grund, der Epiglottis und auf den Liramenta aryepiglottica. — Soor. 

Aus dem Sektionsbefund sind folgende Einzelheiten erwähnenswert: 
Die Hautfarbe ist grüngelb. -— Die Leber ragt über den Rippenbogen 
vor, ist stark vergrößert, sehr hart, von rötlichgrauer Farbe und gekörnt. — 
Die dunkelrote Milz ist vergrößert und weich. Sie wiegt 300 g. — In 


Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 197 


der Mundhöhle finden sich zahlreiche verstreut liegende hirsekorngroße 
Geschwüre von gelblichgrüner Verfärbung mit erhabenem Rande. Und 
zwar liegen sie besonders zahlreich am Zungenrgrunde, auf dem Kehl- 
deckel und auf den Bändern des Kehlkopfes. 

Mikroskopische Untersuchung durch Prof. Lepehne. 

„Knochenmark. Im mikroskopischen Bilde zeigt sich außer- 
gewöhnlich viel Fettgewebe, während das eigentliche Mark nur in dünnen 
Zügen vorhanden ist. An diesen Stellen findet sich eine auffallende 
Hyperämie und eine Erweiterung der Kapillaren. In der Wand der 
Kapilleren und ebenso mitten im Knochenmarksgewebe liegen sehr 
reichlich große Zellen mit rundlichen Kernen, die mit einem gelbbraunen, 
teils körnigen, teils scholligen Pigment erfüllt sind. Dieses Pigment in 
den genannten Zellen hat mitunter die Form kreisrunder Scheibchen, 
etwa von der Größe eines roten Blutkörperchens und färbt sich bei An- 
stellung der Eisenreaktion blau. Es handelt sich also um Hämosiderin. 
Dieser Befund spricht dafür, daß zahlreiche rote Blutkörperchen, sei es 
intracellulär, sei es intrakapillär, zugrunde gegangen sind, und ihr Pig- 
ment in den Endothelzellen aufgespeichert ist. Eine Vermehrung von 
Zellen mit spindelförmigen oder ovalen Kernen (Endothelien) läßt sich 
nicht konstatieren. Dagegen sieht man einzelne Endothelien mit stark 
vergrößertem Kern und vergrößertem Zelleib. Hier und da glaubt man 
Zellen zu erkennen, die unverdaute Erythrocyten phagocytiert haben. 
Was die Zellen des eigentlichen Knochenmarkgewebes anbetrifft, so 
herrschen große Zellen mit großen runden Kernen bei weitem vor. Bei 
Betrachtung mit Ölimmersion läßt sich eine Granulierung des Proto- 
plasmas dieser Zellen nicht erkennen. Das Protoplasma der genannten 
Zellen hat sich bei der Pappenheimfärbung etwas dunkler blau gefärbt 
als der Kern. Kernkörperchen, wie sie bei Myeloblasten so ausgeprägt 
vorhanden sind, lassen sich an dünnen Stellen des Schnittes wenn auch 
nur vereinzelt mit Sicherheit feststellen. Neben diesen großen runden 
Zellen finden sich sehr wenige Riesenzellen und eine Reihe kleiner 
Zellen mit runden Kernen, die etwa kleinen Lymphocyten entsprechen 
könnten. Gelapptkernige granulierte Zellen und granulierte Myelo- 
<yten sind überhaupt nicht anzutreffen. An den Erythrocyten sind 
Veränderungen, wie z. B. Zertrümmerungen nicht zu erkennen. — 
Milz. Der Bau der Milz ist im großen ganzen erhalten, insbesondere 
an den Lymphfollikeln ist kein pathologischer Befund zu erheben. Auf- 
fallend ist eine außerordentlich starke Hyperämie der Milzsinus. Ferner 
sieht man teils in Retikuloendothelien, teils scheinbar innerhalb von 
Pulpazellen reichlich körniges und scholliges braunes Eisenpigment, fast 
noch mehr als im Knochenmark. Am auffallendsten ist es, daß inner- 
halb der Sinus sich sehr zahlreiche, besonders große, meist rundliche 
Zellen finden mit einem runden, helleren Kern und tief dunkelblauem 
ungranuliertem Protoplasma, ganz ähnlich denen, wie sie oben im 
Knochenmark gefunden und beschrieben wurden. Bei der Betrachtung 
mit ÖOlimmersion erkennt man in einigen dieser Zellen deutlich Kern- 
körperchen, und zwar liegen meist zwei in einem Kern. Die genannten 
Zellen heben sich von den der Umgebung liegenden Milzzellen durch 
ihre dunkelblaue Färbung deutlich ab. (Angewandt wurde die panoptische 


198 SCHABFER 


Färbung nach Pappenheim; May-Grünwald-Giesma, differenziert in Essig- 
säure.) Auch in der Milz fehlen die neutrophilen Polynukleären und die 
Myelocyten vollständig, nur vereinzelt sind eosinophile Zellen nachweisbar, 
deren Kerne kaum Lappung zeigen. — Leber. Das Parenchym der 
Leber zeigt nicht mehr den typischen Acinusbau, wie er einer normalen 
Leber zukommt. Nur noch an wenigen Stellen glaubt man Reste radiärer 
Acinuszeichnung zu erkennen. Zumeist sieht man kleinere und größere 
von Bindegewebszügen umgebene Inseln von Lebergewebe, deren Leber- 
zellbalken vollständig unregelmäßig durcheinander laufen und am Rande 
zum Bindegewebe hin, hier und da ringförmig angeordnete, abgeplattete 
Zellbalken zeigen. Anscheinend handelt es sich bei diesen Inseln von 
Lebergewebe größtenteils um neugebildetes Parenchym und wohl nur 
stellenweise um Reste alter Acini. Im Gegensatz zu vorgeschrittenen 
Cirrhosen ist das zwischenliegende Bindegewebe locker, außerordentlich 
zellreich und durchzieht die Leber in breiten Bändern. In diesem Binde- 
gewebe liegen zahlreiche neugebildete Gallengänge und mäßig reichlich 
blutgefüllte Kapillaren. Bei genauerer Untersuchung des Bindegewebes 
erkennt man in ibm neben den epindelförmigen Bindegewebszellen eine 
Infiltration mit rundkernigen Zellen, anscheinend kleinen Lymphocyten, 
neben denen aber auch noch Zellen mit größeren blasigen Kernen zu 
finden sind. Diese letzteren stimmen nicht mit den in Milz und Knochen- 
mark beschriebenen großen, großkernigen Zellen überein, sondern es 
könnten fixe Bindegewebszellen oder auch untergehende Leberzellen sein. 
Jedenfalls sieht man auch hier keinerlei granulierte, polymorphkernige 
Zellen, auch nicht an stark infiltrierten Stellen. Die Blutkapillaren 
innerhalb der Leberzellinseln zeigen nur eine geringe Blatfüllung. Auch 
in diesen Kapillaren sieht man keine granulierten Zellen. Die Kupfer- 
schen Sternzellen enthalten hier und da etwas braunes Pigment. In den 
Leberzellen, deren Kerne gut gefärbt sind, sieht man an wenigen Stellen 
ein teils feinkörniges, teils grobkörniges gelbbraunes Pigment. Hier und 
da erkennt man die Gallenkapillaren und zwar ungefüllt. Bei der Sudan- 
fettfärbung sieht man nur an wenigen Stellen Fett in den Leberzellen 
auftreten, und zwar befindet sich das Fett in der Regel in den Rand- 
partien der Leberzellinseln, teils in Form von größeren Tropfen, teils in 
Form von feineren Granula. 


Es handelt sich also bei diesem Leberbefund um ein Bild, 
wie man es bei der sog. subchronischen Leberatrophie findet. Es 
spricht dafür, in Übereinstimmung mit dem klinischen Befund, daß 
der Patient einen akuten Schub von Leberdegeneration früher durch- 
gemacht hat, an den sich regenerative Bindegewebsbildung und 
Leberzellneubildung angeschlossen hat. Bemerkenswerterweise ist 
an den Leberschnitten irgendein Einfluß der späteren tödlichen 
Agranulocytose, sei es auf die Leberzellen selbst, sei es auf die Stern- 
zellen oder auf die in den Bindegewebszügen liegenden Zellen nicht 
feststellbar. Es muß besonders betont werden, daß sich im Gegen- 
satz zur chronischen sowie akuten Leukämie keinerlei leukämieartige 
Infiltrate vorfinden. Die oben beschriebenen Rundzelleninfiltrate des 


Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 199 


Bindegewebes sind ein sowohl bei subakuten, bzw. subchronischen 
Leberatrophien, als auch bei Lebercirrhosen üblicher Befund.“ 
Die hier beschriebene, sichere Lebererkrankung bei einem 
Patienten, der später an Agranulocytose zugrunde ging, lenkte 
die Aufmerksamkeit auf diejenigen Fälle aus der Literatur, die 
auch Leberschädigungen oder ähnliches zeigten. Daß der Ikterus 
von W. Schulz als pathognomonisch angesehen wird, ist schon 
erwähnt. Die Intensität der Hautfärbung aber schwankt bei den 
publizierten Fällen erheblich, ebenso wie der Zeitpunkt des Auf- 
tretens ein wechselnder ist. Die Verhältnisse liegen keineswegs 
immer so, wie bei den hier beschriebenen Fällen 1 und 2, daß 
bei einer etwas länger dauernden Erkrankung der Ikterus sich 
intensiv entwickelt, während bei ganz akutem! Krankheitbilde 
erst ante exitum Hautverfärbungen auftreten. Dagegen findet 
sich u. a. auch bei Schulz und Jacobowitz Fall 1 ein Beispiel 
dafür, daß der Subikterus der Haut und der Skleren erst kurz 
vor dem Tode feststellbar wird..— Das Bestehen einer Lebereir- 
rhose, wie es in ausgeprägter Weise in dem vorliegenden Fall 3 
beschrieben wurde, konnte auch im Fall 5 der Veröffentlichung 
von Schulz und Jacobowitz nachgewiesen werden. Die patho- 
logisch-anatomische Diagnose lautete: „Beginnende Lebercirrhose 
im hypertrophischen Stadium mit beginnender feiner Granulierung 
der Oberfläche.“ Der in Frage stehende Patient hatte eine Lues 
und die Autoren erklären die Leberveränderungen durch die Syphi- 
li. Das kann zweifellos richtig sein. Da in der hiesigen Klinik 
nun aber auch ein Fall von regenerativer Bindegewebs- und Leber- 
zellneubildung beobachtet wurde, so beansprucht die Agranulocytose 
nach Leberschädigung vermehrte Aufmerksamkeit. Der hier be- 
schriebene Fall bot keinerlei Anhaltspunkte für das Bestehen einer 
Lues. Dagegen lag Alkoholabusus vor, dessen schädlicher Einfluß 
auf die Leber außer Frage steht. Der Patient von Schulz und 
Jacobowitz hatte drei Neosalvarsankuren durchgemacht, so daß 
auch hier durchaus mit der Möglichkeit zu rechnen ist, das primär 
degenerative Vorgänge in der Leber sich abgespielt haben, 
während die auf dem Sektionstisch gefundene beginnende Leber- 
cirrhose einen sekundären, regenerativen Vorgang darstellt, 
so daß im pathologischen Geschehen weitgehende Übereinstimmung 
zwischen beiden Fällen bestände. Es ist nun weiter zu bedenken, 
daß von den 23 Fällen, die W. Schulz in der letzten Arbeit als 
echte Agranulocytosen anerkennt, viermal bei der Autopsie Gallen- 
steine gefunden wurden, daß ein weiterer Fall mit Gallensteinen 


200 SCHAEFER 


(Fall 2) hier beschrieben wurde, und daß endlich zwei Fälle, die 
oben besprochen wurden, das Bild cirrhotischer Prozesse in der 
Leber zeigten, und der ebenfalls oben aufgeführte (Fall 1) zahl- 
reiche Nekroseherde in der Leber aufweist. In etwa einem Viertel 
der bekannt gewordenen Fälle also finden sich krankhafte Ver- 
änderungen erheblicher Natur an der Leber oder an den Gallen- 
wegen und es ist leicht denkbar, daß dieser Prozentsatz krank- 
hafter Leberbefunde ein noch höherer wäre, wenn sich die be- 
sondere Aufmerksamkeit der Untersucher diesem Gegenstand zu- 
gewandt hätte. 

Der hier gegebene Hinweis auf das Verhalten der Leber bei 
Agranulocytose kann selbstverständlich nicht die Pathogenese der 
Agranulocytose klären. Es soll nur die Notwendigkeit dargetan 
werden, bei späteren Fällen intra vitam den Leberfunktionsprüfungen 
und etwa auch dem Verhalten des Bilirubins im Blut die Auf- 
merksamkeit zuzuwenden, und bei der Autopsie auf das Bestehen 
makroskopischer oder mikroskopischer Leberveränderungen besonders 
zu achten. 


Im Zusammenhang mit den beiden ersten hier beschriebenen 
Fällen wurde darauf hingewiesen, daß die Intensität des Ikterus 
und der Zeitpunkt, an dem die Verfärbung der Haut auftritt, stark 
schwanken. Da also dieses Symptom quantitativ ausgesprochen in- 
konstant ist, so hat u. a. Lauter in einem seiner Fälle bei der 
Stellung der Diagnose Agranulocytose ganz auf dieses Symptom 
verzichten zu können geglaubt. W. Schulz stimmt dem nicht 
zu, und auch die oben entwickelte Ansicht über die Mitbeteiligung 
der Leber bei der Agranulocytose erweckt Bedenken gegen Fälle 
ohne Ikterus. Jedoch auch unter dem Material der hiesigen Klinik 
befindet sich ein Fall, der einerseits außerordentlich verdächtig 
auf Agranulocytose ist, andererseits aber jede Andeutung von 
Ikterus vermissen läßt. Verlauf und Befund folgen hier: 

Fall 4. Wilhelm H., Bahnvorsteher. 56 Jahre. 


Vorgeschichte: Früher nie krank gewesen bis auf eine an- 
gebliche Malaria im Jahre 1918. Damals will H. siebzehn Wochen zu 
Bett gelegen haben. — Die jetzige Erkrankung begann angeblich im 
Februar 1925 mit Fieber, Halsentzündung und Rückenschmerzen. Auch 
soll vorübergehend Gelbsucht bestanden haben. Es trat vorübergehende 
Besserung auf und erst Ende August erkrankte Pat. von neuem mit 
Kopf- und Leibschmerzen. Er will in dieser letzten Zeit weder Fieber 
noch Halsschmerzen gehabt haben. 


Befund bei der Aufnahme am 28. IX. 25: Mann in gutem Er- 
nährungszustand und üppigem Fettpolster. — Die Tonsillen sind groß, 


Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 201 


die Rachenschleimhaut ist gerötet. — Im übrigen weder klinisch noch 
röntgenologisch irgendein krankhafter Organbefund. — Urin: Eiweiß: 
deutliche Trübung. Urobilinogen: Spur. Urobilin: pos., Zucker: neg., 
Sediment: vereinzelt Leukoc., einige hyaline Zylinder, vermehrte Epi- 
thelien. Schleimfäden. Harnsaures Natron. — Temperatur 36,4. — 
Wassermann’sche Reaktion im Blut: neg. 

Verlauf: 29. IX. Blutbild: Hb 100°/,, Erythroc. 5080000, 
Leukoc. 1400, Poly. 1°%,, Lymphoc. 98 °/,, Monoc. 1°/,. Pat. hat 39,8 
Temperatur und ist benommen. Keinerlei krankhafter Organbefund nach- 
weisbar. 30. IX. Exitus unter den Erscheinungen der Herzschwäche. 

Pathologisch-anatomische Diagnose: Allgemeine Adi- 
positas. — Lipomatosis cordis. — Hypostasen der Lungen. — Hyper- 
trophie der Zungenbalgdrüsen. — Parenchymatöse Degeneration der 
Nierenrinde. — Fettleber. — Zahlreiche reizlose Schleimhautdefekte im 
Rectum und im unteren Teil des Sigmoid. 

Aus dem Sektionsbefund sind folgende Einzelheiten erwähnenswert: 
Die stark entwickelten Fett- sowie die Bindegewebskapseln beider Nieren 
lassen sich leicht abziehen. Die Oberfläche ist braunrot und zeigt dicht- 
stehende, dunkelrote Punkte. Sie ist glatt bis auf 2—3flache, kleine, 
strahlige Einziehungen an jeder Niere. Auf der Schnittfläche ist die 
bräunliche, einen lehmfarbenen Beiton zeigende Rinde, die von zahlreichen, 
eben sichtbaren, anscheinend aber nicht die Nierenkörperchen darstellenden, 
dunkelroten Punkten durchsetzt ist, gut von dem braunroten Mark zu 
unterscheiden. — Im unteren Teil des Sigmoids und über das ganze 
Rectum verstreut finden sich zahlreiche, flache zusammenfließende unregel- 
mäßig begrenzte Schleimhautdefekte von dunkelgrauer Farbe. Sie sind 
erbsen- bis zehnpfennigstückgroß und die Ränder sind leicht erhaben. 
Die Umgebung zeigt keinerlei auffälligen Blutreichtum. 

Mikroskopische Untersuchung durch Prof. Lepehne. 

„Tonsille: Der Lymphknötchenbau ist gut erhalten. Am Epithel 
kein Befund. In einer Krypte sieht man zahlreiche Zellen liegen, die 
sich bei starker Vergrößerung teils als Epithelien mit größeren Kernen 
erweisen, teils Rundzellen und zwar Lymphocyten sind. Endlich finden 
sich an dieser Stelle auch ganz vereinzelt Erythrocyten, jedoch keine 
Polymorphkernigen und keine Bakterien. Das die Lymphknoten um- 
gebende Bindegewebe zeigt sich auf weite Strecken hin kernlos und mit 
völlig verwischter Faserzeichnung. Der Rand dieser Partien ist auf 
weite Strecken demarkationsartig von zahlreichen ausgetretenen roten 
Blutkörperchen begrenzt. In dieser Grenzzone liegen auch hier und da 
spindelkernige und rundkernige Zellen, aber keine Polymorphkernigen, 
ferner hier und da Körnchen gelbbraunen Pigmentes.. An ganz ver- 
einzelten Stellen sieht man innerhalb des Lymphknötchengewebes ein 
Häufchen von Bakterien liegen. Bei der Betrachtung mit Olimmersion 
erkennt man, daß es sich anscheinend um Staphylokokken handelt. In 
der Umgebung dieser Herde keine Eiterkörperchen, auch sonst keine 
Reaktion. In den nekrotischen Bindegewebsteilen sind einwandfreie 
Bakterienanhäufungen nicht zu finden. Allerdings sieht man an den 
verschiedensten Stellen größtenteils innerhalb von feinen, spindeligen 
Bindegewebszellen zahlreiche feinste dunkelblaue, punktförmige Gebilde, 


202 SCHAEFER 


hier und da auch im umliegenden Gewebe zerstreut, die man wohl als 
basophile Granulationen ansprechen muß (Pappenheimfärbung). Knochen- 
mark: ist außerordentlich blut- und zellreich. Fettmark ist an dem 
vorliegenden Schnitt nicht in besonders auffallendem Maße vorhanden. 
Bei der Betrachtung mit Ölimmersion sieht man, daß die zelligen 
Elemente des Knochenmarkes zur Hauptsache aus rundkernigen Zellen 
bestehen, und zwar haben diese Zellen vielfach den Charakter kleiner 
Lymphocyten, während man daneben auch größere Zellen mit runden 
Kernen und deutlicher Kernzeichnung sieht, deren Protoplasma keine 
Granula aufweist. Neben diesen rundkernigen Zellen sieht man aber 
doch an einigen, verhältnismäßig wenigen Stellen polymorphkernige Ge- 
bilde. Etwas vermehrt erscheinen die spindelförmigen Endothelien. Die 
Knochenmarksriesenzellen sind in normaler Menge vorhanden. Erythro- 
blasten trifft man reichlich an. Hier und da finden sich basopbile, rund- 
kernige Zellen. Einwandfreie Myelocyten lassen sich mit Sicherheit nicht 
feststellen. Vielfach liegen mitten zwischen den geschilderten Zellen 
größere rundliche Zellen mit einem fast die ganze Zelle ausfüllenden 
runden Kern, der deutliche Kernkörperchen aufweist. Das Proto- 
plasma dieser Zellen ist noch etwas dunkler blau gefärbt als der 
Kern. Granula fehlen in diesen Zellen. An einigen Stellen finden 
sich kleine Anhäufungen von punktförmigen Gebilden, die wohl Granula 
sind (Pappenheimfärbung). Niere. Der Nierenschnitt zeigt auf den 
ersten Blick, daß fast alle Tubuli contorti in der Gegend der Rinde 
Kernnekrosen aufweisen und einen Zerfall der Nierenepithelien. Diese 
Nekrose ist so ausgedehnt, daß nur die Glomeruli und die Kanälchen 
mit niedrigem kubischen Epithel, anscheinend Teile der Henle’schen 
Schleifen, ihre normale Kernfärbung erhalten haben. Auch die Wände 
der Blutgefäße sind von der Nekrose verschont. An den Glomeruli 
siebt man die Schlingen prall mit Blut gefüllt. Die roten Blat- 
körperchen haben nicht mehr überall Eosinfärbung angenommen, sondern 
sind stellenweise nur noch als Schatten erkennbar. Die Blutgefäße 
zwischen den Kanälchen sind fleckweise auffallend mit roten Blut- 
körperchen vollgepfropft, die sich hier mit Eosin gut gefärbt haben. 
Man hat den Eindruck, daß die Blutgefäße an diesen Stellen erweitert 
sind. Hier und da sind rote Blutkörperchen aus den Blutgefäßen in 
das umliegende Gewebe eingedrungen. Stellenweise finden sich in er- 
weiterten Kanälchen Harnzylinder. In einer großen mit Blut vollge- 
stopften Vene lassen sich bei Pappenheimfärbung keine polynukleären 
Leukocyten nachweisen, sondern nur rundkernige Zellen in normaler 
Menge und Beschaffenheit. Irgendwelche Zellfiltrate im Nierengewebe 
sind nirgends zu finden. Als Nebenbefund zeigen sich in der Rinde ganz 
vereinzelt kleine, alte, sklerotische Herde. Es läßt sich nicht entscheiden, 
ob die schweren Epithelveränderungen der Niere intravital entstanden 
sind, oder als postmortale Fäulniserscheinung anzusprechen sind. Darm- 
geschwür: Ein Schnitt durch das Darmgeschwür läßt erkennen, daß 
ziemlich scharf die gesunde Schleimhaut mit ihren Drüsen in den 
nekrotischen Teil übergeht, an dem bis zur Muskularis hin die Zell- 
färbung fehlt, oder sehr schlecht ausgebildet ist. Eine Reaktions- oder 
Demarkationszone um diesen nekrotischen Teil herum ist nicht zu er- 


Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 203 


kennen. Es fehlt jedes Zellinfiltrat. Bei der Betrachtung mit Ölimmersion 
sieht man, daß das ganze nekrotische Gewebe bis zur obersten Schicht 
der Muskularis, ebenso aber die benachbarten gut gefärbten Darmteile 
durchsetzt sind von zahllosen Stäbchen und Kokken. Man hat den 
Eindruck, daß es sich um postmortale Einwanderung handelt. Ein vom 
Schnitt getroffenes Lymphknötchen ist normal (Pappenheimfärbung). 
Leber: Es besteht mäßige periphere Verfettung. Zellnekrosen lassen 
sich nicht finden. Ebenso fehlen interstitielle Zellinfiltrationen vollständig. 
An einigen Stellen findet man in der Peripherie der Acini eine gewisse 
Dissoziation der Leberzellen, jedoch sind auch in diesen Stellen Zell- 
nekrosen nicht sicher festzustellen. Die Kapillaren sind besonders in 
der Peripherie der Acini stark mit Blut gefüllt. Innerhalb der Blut- 
gefäße kann man auch bei längerem Durchmustern des Präparates keine 
polymorphbkernigen Leukocyten feststellen, sondern nur Lymphocyten in 
normaler Zahl und Beschaffenheit (Pappenheimfärbung). Hier und da 
erscheinen die Kupfer’schen Sternzellen etwas vermehrt, und sie enthalten 
ein feinkörniges, schwärzliches Pigment. Milz: Die Struktur der Milz 
ist gut erhalten, nur die Lymphknötchen erscheinen etwas atrophisch, 
Auffalend ist die außerordentlich starke Hyperämie des Organes. Sowohl 
die arteriellen Blutgefäße, als auch die Milzsinus sind strotzend mit roten 
Blutkörperchen gefüllt. An vielen Stellen ist es direkt zu Blutungen 
in das Milzgewebe gekommen. Bei Betrachtung mit Olimmersion finden 
sich in dem nach Pappenheim gefärbten Präparat unter den Zellen 
der Milzeinus keine polymorphkernigen Leukocyten, überhaupt keine 
Granulocyten.“ 


Es sei betont, daß hier die Diagnose Agranulocytose mit allem 
Vorbehalt gestellt wird. Die Vorgeschichte ergibt, daß eine fieber- 
hafte Erkrankung mit Halsentzündung und vorübergehender Gelb- 
sucht bestanden hat. Dann aber ist Patient sieben Monate lang 
nur ganz leicht krank, jedenfalls nicht bettlägerig gewesen. In 
diesem Zustand kam er in die Klinik und klagte über ziemlich- 
geringfügige Beschwerden alllgemeiner Natur. Ein krankhafter 
Organbefund war nicht zu erheben, insbesondere bestand kein 
Fieber, kein Rachenbelag und kein Ikterus. Schon nach 24 Stunden 
hatte sich das Bild schlagartig geändert. Patient hatte 39,8 
Temperatur und machte einen außerordentlich schwerkranken Ein- 
druck. Leider wurde erst jetzt ein Blutbild gemacht, das typisch 
agranulocytotisch war. Weitere 24 Stunden später war Patient 
tot, ohne daß ein Ikterus oder Mund-Rachenveränderungen feststell- 
bar gewesen wären. Bei der Sektion wurden zahlreiche reaktions- 
lose Schleimhautdefekte im Enddarm festgestellt, ferner zeigte die 
mikroskopische Untersuchung der Tonsillen ausgedehnte Binde- 
gewebsnekrosen mit demarkationsartigen Blutungen am Rande, 
und endlich fehlten in allen untersuchten Organen die polymorph- 
kernigen, granulierten Zellen fast vollständig. 


204 SCHAEFER 


Es fragt sich nun, ob diese Befunde zur Diagnose Agranulo- 
cytose genügen, obgleich die schweren Veränderungen der Nieren, 
die, wenn sie nicht Fäulnisvorgänge sind, durch nichts erklärt 
werden können und im klinischen Bilde gar nicht hervortraten, und 
der Zellreichtum des Knochenmarkes dem typischen Krankheits- 
bilde, wie W. Schulz es beschrieb, fremd sind. Wenn man sich 
trotzdem zur Eingruppierung des geschilderten Krankheitsbildes 
in die Gruppe der Agranulocytose entschließt, so kann es sich nur 
um einen ganz akut verlaufenen Fall gehandelt haben. Es wäre 
möglich, daß der Ikterus und die Leberschädigung keine Zeit hatten, 
sich auszubilden, wobei man mit aller Vorsicht die mikroskopisch 
feststellbare, leichte Dissoziation der Leberzellen in der Peripherie 
der Acini vielleicht als die ersten Anzeichen beginnender De- 
generation deuten könnte. Mit größerer Berechtigung noch kann 
angenommen werden, daß die Nekrosen in den Tonsillen bei ge- 
nügend langer Dauer der Erkrankung zu Ulcerationen geworden 
wären. Die epikritische Zusammensetzung des ganzen Krankheits- 
bildes würde sich also so gestalten, daß sieben Monate vor der 
Klinikaufnahme ein erster Schub von Agranulocytose aufgetreten 
ist, der in typischer Weise mit Fieber, Rachenveränderungen und 
Ikterus einherging. Dann setzte eine bisher noch nicht beschriebene 
und, wie nochmals betont sei, hier nur angenommene Remission 
ein, auf die dann kurz nach der Klinikaufnahme ein zweiter, akut 
tödlich verlaufender Schub folgte. 

Anschließend an diese vier Fälle ist nun über zwei Beob- 
achtungen kurz zu berichten, für die die Diagnose Agranulocytose 
‚abgelehnt werden muß, die aber differentialdiagnostisch in dieses 
Gebiet hineinreichen. Der Verlauf gestaltete sich folgendermaßen: 

Fall 5. Hermann R., Krankenwärter. 46 Jahre. 

Vorgeschichte: Pat. selbst ist bis vor einem Jahre nie ernstlich 
krank gewesen, abgesehen von einem Zwölffingerdarmgeschwür, das operativ 
behandelt wurde. Die jetzige Erkrankung begann angeblich schon vor 
einem Jahr mit Kreuzschmerzen, die besonders nachts auftraten, jedoch 
war Pat. voll arbeitsfähig. Vor 8 Tagen fühlte sich Pat. plötzlich sehr 
matt, bekam Schwindelgefühle und Herzklopfen und wurde gelb im 
Gesicht. 4 Tage später wurde zum ersten Male Fieber festgestellt (an- 


geblich 39 Grad) und am Tage darauf traten starke Halsschmerzen auf. 
In diesem Zustande wird Pat. in die Klinik eingeliefert. 


Befund am 3. VIII. 25: Guter Ernährungszustand. — Bilasse 
Hautfarbe. — Sichtbare Schleimhäute schlecht durchblutet. — Haut und 
Skleren ikterisch. — Der Leib weist eine Operationsnarbe auf. — Am 


rechten Kieferwinkel mäßig geschwollene, druckempfindliche Drüsen. — 
Auf der Unterseite der Zunge links von der Mittellinie ein kirschkern- 


Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 205 
großes Geschwür mit wulstigen Rändern, dessen Zentrum einen gelblich- 
weißen Belag zeigt, der sich abstreichen läßt und dann einen flachen 
Geschwürskrater bloßlegt. — Beide Tonsillen zeigen dicke, gelblichweiße 
Beläge, und auf beiden finden sich unter diesen Belägen rundliche 
ziemlich reaktionslose Geschwüre. In den genannten Belägen Diphtherie- 
bazillen nicht nachweisbar. — Lungen und Herz: ordnungsmäßiger Be- 
fand. — Röntgendurchleuchtung des Thorax: ordnungsmäßiger Befund. — 
Leber nicht vergrößert. — Milz perkutorisch etwas größer, als normal, 
jedoch nicht tastbar. — Urin: Eiweiß stark positiv. Sediment: granulierte 
und hyaline Zylinder. — Butbild: Hb 35°), Erythroc. 2170000, 
Leukoc. 850, Lymphoc. 94 °/,, große Lymphoc. 4°/,, Monoc. 2°. — 
Temperatur 39,5. — Profuse Durchfälle. — Im Stuhl: Benzidin negativ. — 
Therapie: 0,3 Neosalvarsan (nach Friedemann). 

Verlauf: 5. VIII. Temperatur 40,1. Der Mundbefund ist derselbe. 
Pat. klagt über starke Schluckbeschwerden. — Wassermann: negativ. 

6. VIII. 0,45 Neosalvarsan. Abends Temperatur 36,9. Puls 90. 
Gut gefüllt und kräftig. 

7. VIII. Die Geschwüre an der Zunge und auf den Tonsillen haben 
sich gereinigt, nur die Randwülste sind noch deutlich sichtbar. Blut- 
bild: Hb 40°,, Erythroc. 2650000, Leukoc. 3250, Poly. 20%. 
Stabk. 27 °/,, Jugendformen 3 °/,, Lymphoc. 49 °/,, große Lymphoc. 1°/,. 
Pat. fühlt sich wohl. Die Durchfälle haben aufgehört. 

8. VIII. 0,45 Neosalvarsan. Pat. ist fieberfrei. Böntgenbestrahlung 
(!!, H.E.D.) des Knochenmarks. (Unterschenkel.) 11. VIII. Blutbild: 
Hb 35 °/,, Erythroc. 1630000, Leukoc. 4150, Poly. 42 °/,, Stabk. 15,5 °/,, 
Jugendformen 7,5 °/,, Myeloc. 0,5 °/,, Lymphoc. 32,5 °/,,, große Lymphoc. 
0,5 °;,, Eosinoph. 0,5 ®/,, Monoc. 0,5°/,, Mastz. 0,5 °/,. Einzelne Megalo- 
cyten. 

17. VIII. Pat. ist dauernd fieberfrei. 2 kg Gewichtszunahme. Blut- 
bild: Hb 50°%,, Erythroc. 2330000, Leukoc. 3050, Poly. 40°/,, 
Stabk. 6 °/,, Lymphoc. 52,5 %,, Eosinoph. 0,5 %/,, Mastz. 1°/,. 

24. VIII. Pat. ist dauernd fieberfrei. Mund und Rachen kein 
krankhafter Befund mehr. Blutbild: Hb 62°/,, Erythroc. 2520000, 
Leukoc. 3400, Poly. 39°, , Stabk. 9°%,, Lymphoc. 50,5%, Eosinoph. 
1,5°%/,, Poikilocytose. Polychromasie. Vereinzelte Innenkörperchen. _ 

4. IX. Pat. ist dauernd fieberfrei. Erhebliche Zunahme an Körper- 
gewicht. Blutbild: Hb 750%, Erythroc. 3720000, Leukoc. 5800, 
Poly. 51,5°/,, Stabk. 2,5°/,, Lymphoc. 41,5°/,, Eosinoph. 1°/,, Mastz. 0,5%. 

12. IX. Pat. wird entlassen. Die Gesamtzunahme an Körpergewicht 
beträgt 6 kg. Blutbild: Hb 80 °),, Erythroc. 3850000, Leukoc. 5700, 
Poly. 53 °/,, Stabk. 6°/,, Lymphoc. 37 °/,, Eosinoph. 3 %/,. Mastz. 1/,. 

Am 1. X. stellt sich Pat. zur Nachuntersuchung vor. Keinerlei 
krankhafter Organbefund. Subjektiv Wohlbefinden. Blutbild: Hb 91 /,. 
Erythroc. 4880000, Leukoc. 7950, Poly. 48°,,, Stabk. 6 °/,, Jugend- 
formen 4°/,, Myeloc. 2°%/,, Lymphoc. 36 °/,, Eosinoph. 3°/,, Mastz. 1°|,. 


Die klinische Diagnose blieb bis zur Entlassung des Patienten 
in der Schwebe. Auf Grund des ersten Untersuchungsbefundes 
wurde an eine Agranulocytose gedacht, nur die erhebliche Ver- 


206 SCHARFER 


minderung des Hämoglobins und der Erythrocythen paßten nicht 
in dieses Krankheitsbild. In Betracht kam ferner eine perakute, 
aleukämische Lymphadenose, obgleich die Verminderung der Leuko- 
cyten auf 850 im cmm bei Aleukien als seltener Befund anzu- 
sprechen ist. Eine Sepsis mit Leukopenie und eine Amyelie wurde 
ebenfalls in Erwägung gezogen, konnten jedoch ebensowenig ge- 
sichert werden, wie die beiden erstgenannten Diagnosen. Die ganz 
überraschend schnelle Besserung, sowohl des Allgemeinbefindens, 
als auch des Blutbildes, die vollständige Entfieberung und die 
Reinigung der Geschwüre auf Zunge und Tonsillen innerhalb weniger 
Tage machten alle oben genannten diagnostischen Vermutungen 
hinfällig, und als Patient sechs Wochen nach der Aufnahme mit 
fast normalem Blutbild entlassen wurde, konnte der Fall nur den 
Symptomen nach als akute, fieberhafte Leukopenie mit Fehlen der 
Polymorphkernigen eingeordnet werden. Eine Nachuntersuchung 
drei Wochen nach der Entlassung ergab eine erhebliche Besserung 
des Hämoglobin- und Erythrocytenbefundes. Auch das weiße Blut- 
bild war fast normal, abgesehen von dem Vorhandensein einiger 
typischer Myelocyten, die etwa 2°/, aller weißen Zellen ausmachten. 
Es wurde diesem Befunde keine Bedeutung beigelegt, sondern eine 
etwas überstürzte Ausschwemmung granulierter Elemente im un- 
reifen Stadium als Heilungsvorgang angesehen. Die sehr über- 
raschende Klärung erfolgte, als Patient etwa fünf Wochen nach 
der letzten Untersuchung zur abermaligen Aufnahme in die Klinik 
kam. Aus der Krankengeschichte folgen hier die wesentlichsten 
Notizen: 


Fortsetzung Fall5. 


Am 2. XI. 25 wird Pat. erneut in die Klinik aufgenommen. Nach 
der Entlassung vor 2 Monaten hat sich Pat. anfangs sehr wohl gefühlt. 
Zeitweise konnte er sogar seinen Dienst versehen. Seit etwa 4 Wochen 
stellte sich jedoch Schlaf- und Appetitlosigkeit ein, ohne daB größere Be- 
schwerden auftraten. Vor einer Woche bekam Pat. leichte Temperatur- 
steigerungen, sowie Rücken-, Leib- und Schienbeinschmerzen. Drei 
Tage vor der Aufnahme in die Klinik traten an verschiedenen Stellen 
des Körpers rote Pünktchen auf. Auch fühlte sich Pat. in den letzten 
Tagen sehr müde und zerschlagen und litt unter starken Schweißen. 


Befund am 2. XI. 25: Elendes Aussehen. — Haut und sichtbare 
Schleimhäute sehr blaß. — Am linken Kieferwinkel und in beiden 
Leistenbeugen einige mäßig vergrößerte, nicht schmerzhafte Drüsen. — 
Über den ganzen Körper verteilt feine, rote, punktförmige Blutungen. — 
Auf der Conjunctiva bulbi rechts, unmittelbar am Rand der Cornea be- 
ginnend, eine zackig begrenzte etwa erbsengroße Blutung. — Auf der 
Wangenschleimhaut, auf dem ganzen Gaumen und im Rachen zahlreiche 


Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 207 


punkt- und flächenförmige Blutungen. — Lunge und Herz: ordnungs- 
mäßiger Befund. — Leib in: den oberen Abschnitten druckempfindlich. — 
Leber deutlich vergrößert. — Ebenso Milz. — Thorax röntgenologisch: 
ordnungsmäßiger Befund. — Rumpel-Leede’sches Phänomen: stark positiv. 
— Im Stuhl vereinzelt Trichocephaluseier. — Urin: Eiweiß: Spur, Zucker: 
neg., Urobilinogen: neg., Urobilin: neg., Diazo: neg., Indican: neg., 
Sediment: vereinzelt hyaline Zylinder. — Temperatur 37,4. — Blutbild: 
Hb 82°/,, Erythroc. 5260000, Leukoc. 70100, große Myelobl. 70 °» 
Poly. 30°/,, Lymphoc. 15,5°,, Eosinoph. 1°/,, Stabk. 0,5%. — 
Therapie: Röntgenbestrahlungen der Milz. 

Verlauf: 7. XI. Leukoc. 72370. — Temperatur 38,6. — Die 
Haut- und Schleimhautblutungen haben zugenommen. Leichtes Nasen- 
bluten. 

10. XI. Pat. wird zusehends elender. Die Milzbestrahlung ist be- 
endet, 3 Felder zu je einer H.E.D. — Blutbild: Hb 70°, Erythroc. 
4320000, Leukoc. 24400, große Myelobl. 79°%,, Lymphoc. 15°, 
Poly. 6° 

16. XI. Pat. macht einen schwerkranken Eindruck und klagt über 
starke Schmerzen im Oberbauch. — Leber und Milz sind deutlich größer 
geworden. — Blutbild: Hb 57 €f, Erytbroc. 3330000, Leukoc. 11650, 
große Myelobl. 87,5 °/,, Poly. 2°/,, Lymphoc. 10°/,, Eosinoph. 0,5 %/,. 

19. XI. Temperatur 40,3. — Pat. ist leicht benommen. — Die ge- 
samte Mund- und Rachenschleimhaut ist blutig unterlaufen. Pat. hat 
sehr oft Nasenbluten und ständig blutigen Auswurf. — Am linken Zungen- 
rand findet sich eine etwa bohnengroße Blutblase. — 

20. XI. Temperatur 40,6. — Der Puls ist klein, zeitweise aussetzend 
und stark beschleunigt. — Blutbild: Hb 42°), Erythroc. 2590000, 
Leukoc. 24800, große Myelobl. 18,8°/,, Lymphoc. 81,5 °/,. 

21. XI. Exitus letalis. 

Die Sektion konnte aus äußeren Gründen nicht ausgeführt werden. 


Jetzt lag das typische Bild einer akut tödlich verlaufenden 
Myeloblastenleukämie vor, dem besonders die ausgedehnten Haut-, 
Schleimhaut- und Konjunktivalblutungen eigen sind. Bei diesem 
Krankheitsbild ist das Bestehen von aleukämischen und subleu- 
kämischen Vorstadien bekannt und Naegeli sagt sogar: „Für 
die Gewißheit des akuten Verlaufes (der Myeloblastenleukämie) 
müßte zuerst ein aleukämisches oder doch subleukämisches Stadium 
konstatiert werden.“ Was aber das hier geschilderte Krankheits- 
bild von allen mir aus der Literatur bekannt gewordenen akuten 
Myelosen unterscheidet, ist einmal die scheinbar vollständige 
Remission bis zur Norm sowohl im klinischen Befunde wie im 
Blutbilde, zum anderen das vollständige Fehlen polymorphkerniger 
Zellen im Beginn der Erkrankung. Es braucht nicht besonders 
betont zu werden, daß die bei der ersten Untersuchung festge- 
stellten 98°, Lymphocyten auch wirklich Lymphocyten waren, 


208 SCHAEFER 


um so weniger, als ausdrücklich eine Unterteilung vorgenommen 
wurde in 4°/, große und 94°), kleine Lymphocyten. Denn die im 
vorliegenden Falle typischen kleinen Lymphocyten sind kaum zu 
verkennen. Man muß vielmehr annehmen, daß im Beginn der Er- 
krankung die polymorphkernigen Elemente vollständig aus dem 
Blute verschwunden waren, während die Lymphocyten sowohl in 
ihren absoluten, wie in ihren relativen Werten kaum von der 
Norm abwichen. Diese Beobachtung wirft ein sehr interessantes 
Streiflicht auf die Unabhängigkeit des myeloischen und lympha- 
tischen Systems voneinander. — Es erscheint bemerkenswert, daß 
während der Remission auch das rote Blutbild ganz zur Norm 
zurückgekehrt ist. Man könnte nämlich geneigt sein, die im zeit- 
lichen Mittelpunkt der Erkrankung beobachteten Normalzahlen der 
polymorphkernigen Leukocyten in eine gerade Linie einzuordnen, 
die von dem aleukämischen Stadium über einen nur scheinbar 
normalen Zustand zu dem finalen leukämischen Bilde führt. Das 
würde also heißen, daß die Erkrankung des myeloischen Systems 
während der ganzen Zeit in konstant und gleichmäßig zunehmender 
Intensität bestanden habe. Dem ist aber sicher nicht so, wie der 
klinische Befund und das rote Blutbild beweisen. Es hat sich um 
eine echte, das myeloische System mitbeteililgende Remission ge- 
handelt, die bis zur scheinbaren Heilung führte. Ob die in diesem 
Falle angewandten, sehr großen Salvarsandosen, die bei der Agra- 
nulocytose schon von Friedemann angewandt wurden, den Ein- 
tritt und die Stärke der Remission irgendwie beeinflußt haben, 
kann nicht beantwortet werden. Die im zweiten Stadium der Er- 
krankung vorgenommene Milzbestrahlung schien eher ungünstig 
als günstig zu wirken. 


Der letzte hier zu erwähnende Fall, der ebenfalls wegen einer 
Leukopenie mit hochgradiger Verminderung der Polymorphkernigen 
zu difterentialdiagnostischer Berücksichtigung der Agranulocytose 
zwang, verlief wie folgt: 


Fall 6. Gertrud A., Haustochter. 19 Jahre. 


Vorgeschichte: Bis zum Beginn der jetzigen Erkrankung immer 
gesund gewesen. Vor etwa 6 Wochen Ohnmachtsanfälle und Schwindel. 
Der zugezogene Arzt stellte Nierenentzündung und Herzfehler fest. Auf 
Diät und Medikamente hin Besserung. Vor 10 Tagen plötzlich Fieber 
bis zu 40°, ohne daß der Arzt eine Organerkrankung feststellen konnte. 
Fünf Tage vor der Aufnahme in die Klinik traten Blutungen aus der 
Mund- und Nasenschleimhaut und Halsschmerzen auf. Da die Blutung 
bedrohlich wurde, Überweisung in die Klinik. 


Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 209 


Befund: am 29. VII. 1925. Mittelgroßes Mädchen in stark redu- 
ziertem Ernährungszustand. Die Gesichtsfarbe ist wachsartig gelb. Die 
Schleimhäute sind fabl. Am linken. Unterarm mehrere zehnpfennigstück- 
große, bläuliche, unscharf begrenzte Flecke. — Temperatur 39,7. — 
Puls 120. Der hochgradige Schwächezustand der Pat. macht eine 
gründliche Untersuchung unmöglich. Starke Blutung aus Mund- und 
Nasenschleimhaut, die übersät ist mit punktförmigen, roten Blutstippohen. — 
Starker Foetor ex ore. — Nekrotisierende Angina mit hochgradigem 
Zerfall der linken Tonsille. — Lungen und Herz: ordnungsmäßiger Be- 
fund. — Leib diffus druckempfindlich, jedoch kein Anhalt für eine Peri- 
tonitis. — Milz nicht fühlbar. — Blutbild: Hb 18°/,, Erythroc. 750000, 
Leukoc. 2000, große Lymphoc. 2,5 %,, kleine Lymphoc. 76,5 °/,, Poly. 
11°, Eosinoph. 0,5°/,, Mastz. 0,5 °/,, Poikilocytose. Innenkörperchen. 
Blutplättchen 12000. — Urin: Eiweiß Hauch. Urobilinogen positiv, 
Zucker negativ. Im Sediment: reichlich hyaline, granulierte und Wachs- 
zylinder. Vereinzelt Erythrocyten. — Wegen der starken Blutung aus 
der Nase wird ein Bellogtampon eingelegt. 

Verlauf: 30. VII. Temperatur 40%. — Pat. ist benommen und 
erscheint moribund. Es blutet weiter stark aus Mund und Rachen. Die 
blauen Flecken am linken Unterarm sind größer geworden. 

31. VII. Exitus letalis. 

Pathologisch-anatomische Diagnose: Ekchymosen auf 
Endo- und Perikard. — Bronchopneumonische Herde im unteren rechten 
Lungenlappen. — Zahlreiche diffuse Blutungen in Leber und Milz. — 
Punktförmige Blutungen in der Nierenrinde. — Parenchymatöse Dege- 
neration der Nierenrinde. — Punktförmige Blutungen im Nierenbecken. — 
Nekrosen der Papillenspitzen der linken Niere. — Schwellung der Solitär- 
follikel und hämorrhagischer Hof im anteren Teil des Dickdarms. — 
Jıerfallende Geschwüre auf beiden Tonsillen, auf der Epiglottis, auf beiden 
(aumenbögen und auf der Zungenspitze. — Sehr zahlreiche, punktförmige 
Blutungen auf der Schleimhaut des Mundes, des Rachens und der Nase. 

Aus dem Sektionsbefund sind folgende Einzelheiten erwähnenswert: 
Die Haut ist gelblich. — Auf der Mitte des Nasenrückens befindet sich 
ein etwa zebnpfennigstückgroßer, nicht abgegrenzter blauroter Fleck. 
Am linken Unterarm befinden sich auf der Außenseite einige blaurote 
hirsekorn- bis linsengroße Flecke. — Unter der Herzaußenhaut finden 
sich in der Gegend der Herzspitze zahlreiche punktförmige intensiv hell- 
rote Flecken. Unter der Herzinnenhaut der linken Kammer sieht man 
gleichfalls 2 stecknadelkopfgroße blaurote Stippchen. — Die Kapsel 
der blauroten Milz ist glatt und man sieht unter ihr mehrere erbsengroße, 
dunkelrote Punkte. Die Konsistenz der Milz ist fest. Auf dem Schnitt 
sind Bälkchen und Knötchen deutlich zu erkennen. Milzmasse läßt sich 
nur wenig abstreifen. — Die Oberfläche der braunrötlichen Nieren ist 
von zahlreichen, kaum stecknadelkopfgroßen, dunkelroten Punkten be- 
deckt. Die Innenhaut der Nierenbecken ist feucht und glatt, man sieht 
unter ihr mehrere feine hellrote Stippchen. — Die braunrote Leber ist 
von sehr zahlreichen kirschkerngroßen, von der Umgebung unscharf ab- 
gegrenzten, blauvioletten Flecken übersät. Auf dem Schnitt sind diese 
Flecken gleichfalls zu finden. Sie durchsetzen die gasamte Leber. — 


Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 14 


210 SCHAEFER 


Die Magenschleimhaut zeigt in der Gegend des Pylorus zahlreiche dicht- 
stehende, dunkelrote, stecknadelkopfgroße Punkte. 


Mikroskopischer Befund: (Dr. Eichelbaum). 

Leber: Die Struktur des Organs ist erhalten. Die Leberzellen 
und Kerne sind gut gefärbt. Nur an kleinen, allerdings sehr zahlreichen 
Stellen, zentral um die Venen gelegen, zeigen sich beginnende Nekrose- 
herde. Keine zelligen Infiltrate. In den weiten Kapillaren fehlen, wie 
auch an allen anderen Stellen, granulierte Zellen, insbesondere polymorph- 
kernige, vollständig. Knochenmark: Konnte aus äußeren Gründen 
nicht untersucht werden. Milz: Die Follikel sind klein. Die Blut- 
füllung erscheint normal. In der Milzpulpa sieht man in mäßig reich- 
licher Menge Zellen mit braunem Pigment in Form von Scheibehen und 
Köruchen. Ferner finden sich verhältnismäßig zahlreiche Zellen, die 
rote und weiße Blutkörperchen phagocytiert haben. Polynukleäre Zellen 
sind in scheinbar normaler Zahl und Beschaffenheit feststellbar. Außerdem 
sieht man die üblichen Zellen der Pulpa. An den Erythrocyten kein 
abnormer Befund. 


. Es handelt sich anscheinend um eine aplastische Anämie E hr- 
lich’s, oder, soweit diese Krankheitsbilder bis jetzt zu trennen 
sind, um eine Amyelie im Sinne Klemperer’s. Jedenfalls muß 
die Diagnose Agranulocytose abgelehnt werden, und zwar einmal 
wegen der hochgradigen Verminderung von Hämoglobin und Erythro- 
cyten, zum anderen wegen der schweren hämorrhagischen Diathese. 
Derartig schwere unstillbare Blutungen aus der Schleimhaut des 
Nasenrachenraumes und der Mundhöhle sind u. a. auch bei dem 
Fall Herbert H., den W. Schulz in seinem Werk: „Die akuten 
Erkrankungen der Gaumenmandeln“ als Amyelie einreiht, be- 
schrieben worden. Immerhin muß die Einordnung als aplastische 
Anämie, bzw. als Amyelie in der Schwebe bleiben, weil das Knochen- 
mark nicht untersucht werden konnte. Eine Sepsis im üblichen 
Sinne kann, vor allem auf Grund des Milzbefundes, mit großer Wahr- 
scheinlichkeit ausgeschlossen werden. 


Bei der Besprechung obiger sechs Fällen ist die Frage nach 
der Ätiologie der Agranulocytose fast vollständig unberücksichtigt 
geblieben. Das hatte seinen Grund darin, daß das vorhandene 
Material in ätiologischer Beziehung keine neuen Gesichtspunkte 
bot. Auch geben die bisherigen Angaben über bakteriologische 
Befunde ein so wenig einheitliches Bild, daß die Grenzen des 
 Symptomkomplexes „Agranulocytose“ eher gefährdet, als gefestigt 
werden. Es wurde also angestrebt, die klinischen und pathologisch- 
anatomischen Befunde bei der Agranulocytose zu bestätigen und 
zu vervollständigen, unter Beibehaltung der Symptomalogie, die 
W.Schulz für dieses Krankheitsbild aufgestellt hat, und es wurde 


Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 211 


vermieden, auch nur vermutungsweise die gemeinschaftliche Ent- 
stehungsursache eines Krankheitsbildes anzunehmen, das patho- 
logisch-anatomisch noch keineswegs endgültig charakterisiert er- 
scheint. 

Ich möchte auch an dieser Stelle Herrn Professor Kaiser- 
ling für die Überlassung der Sektionsbefunde und insbesondere 
Herrn Professor Lepehne für die ausführliche mikroskopische 
Untersuchung der Fälle 3 und 4 meinen ergebenen Dank sagen. 


Zusammenfassung. 


1. Es werden zwei typische Fälle von Agranulocytose nebst 
Sektionsbefunden beschrieben. 

2. An Hand eines weiteren Falles von Agranulocytose, der de- 
generative und regenerative Leberveränderungen aufweist, werden 
die Beziehungen zwischen Leberveränderungen und Agranulocytose 
diskutiert. 

3. Ein vierter Fall, der mit agranulocytotischem Blutbild akut 
tödlich endete, wird unter Vorbehalt als perakute Agranulocytose 
angesprochen. 

4. Ein Fall von akuter Myeloblastenleukämie und ein Fall 
von aplastischer Anämie reichen differentialdiagnostisch in das Ge- 
biet der Agranulocytose hinein. 


Literatur. 


1. W. Schulz, Berlin. Verein f. inn. Med. Dtsch. med. Wochenschr. Nr. 44, 
Ss. 1495, 1922. — 2. W. Schulz u. Jakobowitz. Med. Klinik Nr. 44, S. 1642, 
1925 (s. dort Literatur). — 3. W. Schulz, Die akuten Erkrankungen der Gaumen- 
mandeln. Springer, Berlin 1925 (s. dort Literatur). — 4. Lauter, Med. Klinik 
Nr. 38, S. 1324, 1924. — 5. Friedemann, Med. Klinik Nr. 41, S. 1357, 1923. 
—- 6. Naegeli, Blutkrankheiten. IV. Aufl. Springer, Berlin, S. 392. — 7. Ehr- 
mann u. Preuß, Klin. Wochenschr. Nr. 6, S. 267, 1925. — 8. Licht u. Hart- 
mann, Dtsch. med. Wochenschr. Nr. 37, S. 1518, 1925. — 9. Pfab, Wien. klin. 
Wochenschr. Nr. 49, S. 1302, 1925. 


14* 


212 


Aus der medizin. Univ.-Klinik Jaksch-Wartenhorst, Prag. 


Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 


Von 


P. Mahler und E. Rischawy, Sekundärärzte. 
(Mit 1 Kurve.) 


Als Jaksch(l) vor 28 Jahren auf die Existenz von „Er- 
krankungen diabetischer Natur, die mit Pankreaserkrankungen 
nichts zu tun haben“, hinwies, wurde dieser Ansicht vielfach 
Widerstand entgegengesetzt. Seither hat es sich gezeigt, daß wohl 
der größte Teil, aber durchaus nicht alle Glykosurien, pankreatogenen 
Ursprungs sind; ist doch auch der Apparat, den der Organismus 
zur Regulierung des Kohlehydratstoffwechsels aufbietet, ein viel zu 
großer, als daß nicht auch an anderen Stellen desselben Schäden 
auftreten könnten! 

Obwohl wir noch weit davon entfernt sind, jede Glykosurie 
aus ihren Ursachen heraus erklären zu können, kennen wir doch 
bereits eine Anzahl von Möglichkeiten verschiedenster Art, deren 
gemeinsamer Endeffekt die Ausscheidung von Zucker im Harn ist. 
Für die Prognose und Therapie ist natürlich die Ursache von 
größter Bedeutung; ganz besonders gilt dies von der noch so un- 
klaren innozenten Glykosurie. | 

In allen neueren Arbeiten, die sich mit derselben beschäftigen, 
wird hervorgehoben, daß eine scharfe Grenze zwischen ihr und dem 
Diabetes mellitus nicht gezogen werden kann (Salomon (2), 
Kulcke (3) Umber und Rosenberg(4), usw.), da wir keine Methode 
besitzen, die imstande wäre das Zustandekommen der Glykosurie, 
ihre Pathogenese und ihren Zusammenhang mit der inkretorischen 
Leistungsfähigkeit der Langerhans’schen Zellen auch nur annährend 
präzis zu fixieren; der ungleichartige Verlauf der beschriebenen 
Fälle und ihre Verschiedenheit untereinander hat dazu beigetragen, 
das zwar seit 1895 (L&pine, Klemperer) bekannte, aber 


Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 213 


durchaus ungeklärte Krankheitsbild eher zu verschleieren und zu 
verwischen, als diagnostisch auszubauen. So ist bis zum heutigen 
Tage der Verlauf der Erkrankung das einzig sichere Kriterium 
geblieben und wir stimmen — um es gleich vorweg zu nehmen — 
Umber u. Rosenberg vollständig zu, daß wir die Diagnose 
„Glycosuria innocens* endgültig erst nach langer und einge- 
hender Beobachtung des Patienten zu stellen berechtigt sind, da 
selbst sichere Fälle mitunter später doch in echten Diabetes mellitus 
übergehen können. Nichtsdestoweniger besitzen wir eine Reihe 
von Untersuchungsmethoden, die einen weitreichenden Wahrschein- 
lichkeitsschluß zulassen, wenn sie alle in gleicher Weise eindeutig 
und nach einer Richtung hinweisen. 


Wir hatten in letzter Zeit Gelegenheit, zwei Fälle mehrere 
Monate hindurch zu beobachten, die alle Merkmale einer innozenten 
Glykosurie darboten. 


Zunächst einige wichtige Daten über den ersten Fall, V. Kr., 39 Jahre 
alt, Faßbinder. Der Pat. ist ziemlich muskulös, knochig, etwas blaß, von 
rubigem Temperament, bei Aufregung stottert er mitunter. Familien- 
anamnese belanglos. An Kinderkrankheiten kann er sich nicht erinnern, 
1917 angeblich Lungenspitzenkatarrh, 1918 Malaria, 1922 an der Klinik 
Schloffer wegen Magengeschwür gastroenterostomiert. Seit Juni 1925 
neuerdings Schmerzen, besonders bei leerem Magen, einige Male auch 
Erbrechen. Drei Röntgenbefande ergaben zusammenfassend: Magen- 
resektionsstumpf mit glatt durchgängiger Anastomose, der linke Schenkel 
besser durchgängig wie der rechte. Jejunalschlinge ist druckschmerzhaft 
(Verdacht auf eine Erosio gastrojejunalis an dieser Stelle). Der Magen 
schräg gestellt, tiefster Punkt einen Querfinger über dem Nabel. Be- 
weglichkeit der Pars praepylorica eingeschränkt, Sekretion nicht vermehrt, 
drei lineare Einziehungen der Pars praepylorica an der großen Curvatur, 
gegenüber erscheint die kleine Curvatur unregelmäßig aber scharf kon- 
turiert. Vier Stunden p. c. Magen leer. Der Bulbus duodeni ist infolge 
der geringen und flüchtigen Füllung nicht genau zu analysieren. — Die 
interne Untersuchung ergab bis auf eine Schallverkürzung über der rechten ` 
Spitze mit erhöhter Bronchophonie daselbst nichts von Belang. Probe- 
frühstück: Freie HCl 34, Gesamtacidität 64. Außere Sekretion des 
Pankreas normal. Erythrocyten 4350000, Hb 1,11, FI 0,91, weißes 
Blutbild siehe weiter unten. Die Körpermaße seien in Kürze mitgeteilt: 
Schulterbreite (Zirkel) 36 cm, Brustumfang im 4. IKR. 94 cm, Bauch- 
umfang (Meßband) zwischen Processus xiph. und Nabel 86 cm. Ober- 
arm 31 cm, Unterarm 28,5 cm, Hand (Vola) 11 cm, Jugulum-Symphyse 
61 cm, Trochanter — capit. fibulae 50,5, capit. fibulae — malleolus lat. 
37 cm, Oberlänge (Scheitel-Symphyse) 90,5 cm, Unterlänge 90 cm, Ge- 
samtlänge 180,5 cm, Spannweite 190 cm. Gewicht: 76,2 kg. Im Harn 
Zucker positiv, alles andere negativ. Der Zucker konnte durch Gärung 
und Phenylhydrazinprobe als Dextrose identifiziert werden. 


214 MAHLER u. Rıschawy 


Die Zuckerausscheidung bewegte sich zwischen 0—22 g und 
war von der Art der zugeführten Nahrung, wenn auch nicht voll- 
kommen, so doch weitgehend unabhängig. Wir prüften zunächst 
den Kohlehydratstoffwechsel bei peroraler und intravenöser Glukose- 
belastung. Der Blutzucker steigt beim Normalen bei oraler Ver- 
abreichung an, erlangt nach '/, bis spätestens 1 Stunde den Gipfel 
und soll nach 2 Stunden seinen Ausgangswert wieder erreicht 
haben (Rosenberg (5) Umber u. Rosenberg l. c.) Beim 
Diabetiker ist die Reaktion verlängert, das Culmen wird erst nach 
mehreren Stunden erstiegen, die Differenz gegenüber den Anfangs- 
wert (Nüchternwert) beträgt über 100°, (Jakobson (6), Offen- 
bacher u. Hahn (7)) wie aus der Tabelle 1 zu ersehen ist, 
verhält sich der Pat. in dieser Hinsicht vollkommen normal und 
zeigt keines von den für den Diabetes mellitus charakteristi- 
schen Zeichen. Es schien uns freilich wichtig den gleichen Ver- 
such, der das erstemal am rechtsliegenden Pat. ausgeführt worden 
war, im Sitzen zu wiederholen, da die Möglichkeit zu erwägen war, 
ob nicht etwa infolge der Gastroenterostomie sich die Blutzucker- 
kurve verschieden verhielt, je nachdem der Hauptteil des Zuckers 
das Duodenum passiert, oder direkt in die Jejunalschlinge gelangt. 
Die Tabelle 1 zeigt, daß diese Annahme richtig war: Der Blut- 
zucker steigt im Sitzen um 68 mg°/, höher an wie bei Rechts- 
lage. Um nachzuweisen, daß es sich wirklich dabei daram handelt, 
ob der duodenale oder der künstlich angelegte jejunale Weg be- 
nützt wird und nicht etwa andere Momente (Druck oder Zug am 
Pankreas) für die Differenz der Blutzuckerkurven ausschlaggebend 
sind, wiederholten wir die Glukosebelastung nach Einführung der 
Duodenalsonde, das eine Mal ins Duodenum, das zweite Mal in die 
Jejunalschlinge; nachdem wir uns vor dem Röntgenschirm von der 
richtigen Lage des Sondenknopfes überzeugt hatten, spritzten wir 

die Glukoselösung ein. Der Unterschied fiel diesmal ebenso deut- 
lich aus und es erscheint daher zweifellos, daß hier die tadellos 
funktionierende Gastroenterostomie das Entstehen der Glykosurie 
begünstigt. 

Von Jörgensonu. Plum (8), Thannhauser u. Pfitzer (9) 
und Umber u. Rosenberg wurde die intravenöse Glukoseinjek- 
tion zur Differentialdiagnose der innozenten Glykosurie empfohlen. 
Die Verläßlichkeit dieser Belastungsprobe wurde inzwischen von 
mehreren Seiten bestätigt. Sie hat gegenüber der peroralen Zu- 
fuhr den Vorteil, daß die individuellen Unterschiede der Resorp- 
tion und Passagegeschwindigkeit wegfallen, zwei Fehlerquellen, 


Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 215 


Tabelle 1. 


| T 
we a | nn 


Nach Nach 


Blutzucker 60° | 120: 


SE 


| 194 | 240 | 214 | 61 
| i 
| 


100 g Glukose sitzend getrunken | 
100 g Glukose in Rechtslage getrunken | 158 | 173 ' 145 73 
100 g Glukose ins Jejunum eingespritzt. Harn- | i 
zucker: 1,44 g | 96 , 227 | 235 | 220 ; 108 
100 g Glukose ins Duodenum eingespritzt. | 
Harnzucker: 0,38 g | 76 : 144 | 175 | 192 66 
100 g Lävulose. Harnzucker: ø | 69 | 112 | 123 80 ; 66 
40 g Galaktose. Harnzucker: 8,6 75 135 | 172 | 105 24 
150 g Fleisch. Harnzucker: ø | ə |101 | 10 | 9%] 9 
30 E. Insulin u. 100 g Glukose nach 45°) 561)| 98 | 181 | 214 | 81 
Harnzucker: 1,0 g (82) ; A | 


die bei unserem Fall wegen der unberechenbaren Verhältnisse im 
oberen Teil des Digestionstraktes besonders schwerwiegend sein 
dürften. Tatsächlich hat auch, wie Tabelle 2 demonstriert, der 
intravenöse Glukoseversuch noch sicherer einen echten Diabetes 
mellitus ausschließen lassen. Der Blutzuckerausgangswert, der 
nach 75—80 Minuten erreicht sein soll, wurde bereits nach etwa 
60 Minuten passiert, gleich hernach folgt die negative Phase, die 
sogar abnorm tief nach unten führt und den bei stoffwechsel- 
gesunden Menschen recht seltenen Wert von 48 mg°/, erreicht. 
Übrigens sind wir dieser auffallenden Labilität der Blutzucker- 
werte nach unten hin im Verlaufe der Versuche des öfteren be- 
gegnet, wie denn auch die Nüchternwerte (s. weiter unten) nam- 
haftere Schwankungen aufweisen als dies sonst der Fall zu sein 
pflegt (s. diesbezüglich auch den Fall von Üdinghoff (10)). 
Zwar erreicht das Maximum der Kurve einen Wert, der dem Fuß- 
punkt gegenüber eine Steigerung von nahezu 200°), beträgt, doch 
kann dies mit Rücksicht auf den tiefsten Ausgangswert unmöglich 
als diabetisches Stigma verwertet werden, zumal der absolute 
Maximalwert (174 mg °/,) noch durchaus im Bereiche physiologischer 
Grenzen gelegen ist und bereits nach 20 Minuten der Blutzucker 
wieder auf 104 gesunken ist. 


Tabelle 2. 
Vorher Nach der Injektion 
m) Nasen, A re ERBE green? OEE e EE ET nenn 
60 5 H 20° 45' 60' 75' 9o 
BZ. 59 60 174 104 84 q0 48 D2 


1) In Klammer der BZ. vor der Insulininjektion, darüber der Wert vor Ge- 
nuß der Glukose. 


216 Maneg u. Rıschawr 


Tabelle 3. 
15 Minuten nach der Nach weiteren 
ever” Se EEE ren Ve Ne 
Vorher 1. Gabe 2. Gabe 3. Gabe 30 60‘ 120° 


von 20 g Zucker 
110 


BZ. 80 118 112 100 93 16 


Ebensowenig wie die perorale und intravenöse Zuckerbelastung 
sprach die mehrfache Kohlehydratbelastung nach Traugott (11) 
für einen Diabetes (s. Tab. 3) und schließlich sei hervorgehoben, 
daß der Durchschnittsnüchternwert aus 16 Bestimmungen 81,5 mg °; 
betrug (Minimum 48, Maximum 104), obwohl wir gerade auf diesen 
Punkt am wenigsten Gewicht legen möchten, da es bekanntlich 
eine große Reihe von Erkrankungen gibt, die zu einer Erhöhung 
der Nüchternwerte führen, übernormale Werte auch bei vollkommen 
Gesunden vereinzelt gefunden wurden (Raab (12)) und endlich 
Normalwerte bei zweifellos Diabetischen durchaus keine Seltenheit 
sind. Was als Normalnüchternwert aus großen Serienunter- 
suchungen angenommen wird, geht aus untenstehender Tabelle 4 
hervor: die Werte der einzelnen Autoren stimmen im allgemeinen 
sehr gut überein, bis auf die etwas höheren Zahlen Maraüons (13), 
die sich dahin deuten lassen, daß bei Südländern der Wert 
im Durchschnitt höher liegen dürfte. — Der vorletzte Versuch in 
Tabelle 1 zeigt, daß auch keine Eiweißempfindlichkeit vorliegt, 
Tabelle 5 die weitgehende, wenn auch durchaus nicht vollkommene 
Unabhängigkeit von der Ernährung. Durch gleichzeitige Verab- 
reichung großer Mengen Kohlehydrate, Eiweiß und Fett wurde im 
Blutzuckeranstieg keine Veränderung gegenüber der einfachen KH- 
Belastung erzielt. | 


Tabelle 4. 
Bang ‘0—110 Kahler 909—110 
Hagedorn 62—109 ©. Kraus 97—114 
Bing und Windelöw 98 Jacobson W—116 
Bing und Jacobsen 60—120  Liefmann und Stern 65—105 
Purjesz 50—80 Ryser 86 
Tabelle 5. 
Bei 60 g KH 8 g Harnzucker 
„ 240 g KH Ø g a 
„ 150 g KH 21 g S 
„ 450 g KH 28 g R 
„ 54 g KH dtg z 
ea. 200 g KH 15,0 g 


Nachdem wir in der Gastroenterostomie und der aus ihr resul- 
tierenden Sturzentleerung eine Ursache der Glykosurie klargelegt 


Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 217 


hatten, gingen wir nun dazu über, nach den weiteren Komponenten 
zu fahnden. Wir prüften zu dem Zweck die einzelnen Organ- 
systeme in bezug auf Leistungsfähigkeit und Ansprechbarkeit durch. 
Unsere Resultate seien übersichtshalber in drei Hauptgruppen zu- 
sammengefaßt, obwohl wir uns wohl bewußt sind, durch diese 
Schematisierung komplexe biologische ni in ein starres 
Maß einzuzwängen. 


I. Da durch Jaksch-Wartenhorst(14) und seine Schüler 
ein Fall publiziert worden ist, bei dem sich eine monatelang be- 
obachtete Insulinresistenz durch gleichzeitige Erkrankung mehrerer 
inkretorischer Drüsen hat erklären lassen, war es für uns nahe- 
liegend, von Anfang an auch hier nach Störungen im Gleichge- 
wicht der innersekretorischen Drüsen zu suchen. Da sich hierfür 
kein Anhaltspunkt bot, sei auf diese Untersuchungsserie nur in aller 
Kürze eingegangen. So bietet der Fall absolut nichts, was für eine 
Hyperfunktion der Nebennieren spräche, wie das G.Rosenfeld(14) 
für seine Fälle von Glycosuria innocens angenommen hat, die Sella 
turcica (Röntgenaufnahme Doz. Dr. Herrnheiser) und die Schild- 
drüse sind vollkommen normal. 


Die Reaktion auf subkutan injiziertes Insulin verläuft eben- 
falls normal, wird jedoch nach der Insulininjektion Glukose verab- 
reicht, so bricht, wie Tab. 1 zeigt, die Insulinwirkung ab und die 
Zuckerkurve verläuft als ob kein Insulin injiziert worden wäre. 
Auch die Untersuchung des Serumeiweißgehaltes, der Erythrocyten 
und Chloride im Blut nach O. Klein (16) ergibt nichts, was für 
eine Beteiligung anderer Blutdrüsen spräche (Tabelle 6) oder sonst- 
wie von der Norm abweiche. 


Tabelle 6. 
Ser 
FR Erythrocyten x o 
Zeit in Tausenden refraktion NaCl mg °% 
l l | 
5' vor d. Injekt.| 4,640 52 | 504 
i | 
‘Injektion von 20 Einh. Insulin subk. 
10' später ' 4410 | 49 498 
30 „ | 4265 | 48 | 467 
I, Ä 4,140 50 | 475 
2 on 4,460 51 473 
r ..n 4,185 49,5 546 


218 Maner u. Rıschawy 


II. Zur Funktionsprüfung der Leber wurden aus naheliegen- 
den Gründen in erster Linie die Belastungsproben mit Galaktose 
und mit Lävulose herangezogen. Die von R. Bauer (17) ange- 
gebene Belastung mit 40 g chemisch reiner Galaktose bot wohl die 
überraschendste Erscheinung, die wir in diesem Fall beobachten 
konnten: Trotz des mäßigen Anstieges des Blutzuckers (von 75 auf 
172 mg°/,), und raschen Abfalles desselben, trat eine mächtige 
Glykosurie auf (8,4°/, in einer der Teilportionen, s. Tab. 1), und 
.die Gesamtausscheidung an Zucker in 3 Stunden überschritt 
8,5 g, also eine eminente Vermehrung der obersten Normalgrenze, 
die Bauer (18) mit 3g, Reis u. Jehn (19) mit 2 g festsetzen. 
Die Diskrepanz zwischen Harn- und Blutzucker erscheint nicht un- 
verständlich, wenn man die diesbezüglichen Versuche Isaac’s (20) 
in Betracht zieht. Wenn auch v. Noorden (21) die Assimilations- 
grenze für Galaktose tiefer setzt, E. Hoffmann (22) sogar 15 g 
als obere Grenze annimmt, so muß doch auf Grund zahlreicher in- 
zwischen publizierter Versuchsreihen eine derart hohe Ausscheidung 
wie in unserem Falle unbedingt als pathologisch bezeichnet werden. 
Auch der Umstand, daß Zucker nach Galaktosebelastung bei Neu- 
rasthenie auftreten kann (Hirose (22)) besagt gar nichts, da eine 
derartige neurasthenische Überempfindlichkeit ja doch auch eine 
Ursache haben muß und vermutlich auch in funktionellen Inner- 
vationsstörungen der Leber hat, gleichgültig ob dies nun direkt 
oder auf dem Umweg über die Nebennieren vor sich geht. — Aus- 
gezeichnet toleriert wurde die Lävulose wie dies auch bei dem 
von Klein u. Rischawy (23) mitgeteilten Fall von innozenter 
Schwangerschaftsglykosurie beobachtet worden ist. Der Blutzucker- 
anstieg beträgt zwar auch bei unserem Fall 82°,,, doch erklärt 
sich das wiederum aus dem abnorm tiefen Nüchternwert (von 69 
auf 123 mg°/,), Zucker trat im Harn überhaupt nicht auf. 

Es sei aus Gründen der Raumersparnis nur in Kürze erwähnt, 
daß die nicht auf die Kohlehydratverwertung gerichteten Leber- 
funktionsprüfungen nichts ergaben, was irgendwie für eine Störung 
spräche; übrigens war dies ja auch gar nicht zu erwarten, da die 
Leistungen dieses in seiner Tätigkeit so komplizierten Organes im 
Kohlehydratstoffwechsel nicht mit den anderen Funktionen auf 
gleiche Stufe gestellt werden dürfen. Erwähnt sei nur, daß die 
Chromocholoskopie, die wir nach Lepehne (24) u. Hatiégan u (25) 
mittels Indigokarmin vornahmen, normale Verhältnisse ergab: Der 
intravenös eingespritzte Farbstoff erschien im Duodenalsaft nach 
20 Minuten und verschwand nach ca. 2!/, Stunden, wobei das Aus- 


Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 219 


scheidungsmaximum nach etwa 1!/, Stunden erreicht wurde. Vor- 
berige und gleichzeitige Verabreichung von Adrenalin (subkutan 
und rektal) in einem Parallelversuch ergab keine Änderung dieser 
Resultate. Auch die Urobilinurie und Belastung mit 3 g Fel tauri 
siccum kann als normal bezeichnet werden (Falta 26)). 


Tabelle 7. 
. | Harnmenge Urobilin j 

Zeit | in ccm in mg 
7—9 105 | 0,446 
9—10R 45 0,806 
10—11* 35 0,296 
11—12h 80 0,880 
12—13® 90 1,148 
13—7" 650 | 5,525 
In 24 | 1005 | 8,601 


len im Harn nach Einnahme von 3 g Fel tauri sice. (in Kapseln) 
m 9 Khr. Bestimmung nach der Methode von A. Adler (27). 


Wenn wir das Resultat unserer Leberfunktionsprüfungen über- 
blicken, so können wir zwar eine schwere Störung mit voller 
Sicherheit ausschließen, müssen aber zugeben, daß die glykopekti- 
schen Funktionen der Leber den durch die Gastroenterostomie ver- 
änderten Resorptionsverhältnissen nicht nachzukommen vermögen. 
Ein ähnliches Verhalten ist übrigens auch ohne Gastroenterostomie 
bei vielen Ulcuskranken von MacLean (28) beobachtet worden 
und von Hijmans v.denBergh u.Siegenbeck van Heuke- 
lom (29) nebst einer Reihe englischer und amerikanischer Autoren 
bestätigt worden. MacLean hat diese rasch emporschießenden 
und ebenso rasch wieder abfallenden Blutzuckerkurven als „lag- 
curve“ (— Nachschleppkurve) bezeichnet, da offenbar die Blut- 
zuckerregulation dem Tempo der Verdauungsvorgänge nicht nach- 
zukommen vermag. Mit Recht nimmt Hijmans an, daß es sich 
hier um eine Störung des nervösen Reflexmechamismus handeln 
dürfte, da eine sekundäre Läsion des Pankreas sich mit der „lag- 
curve“ logischerweise nicht in Einklang bringen läßt. Um dies- 
bezüglich ganz sicher zu gehen und die perigastritischen Adhäsionen 
als Ursache der Blutzuckersteigerungen auszuschließen, haben wir 
zweimal Luftaufblasungen des Magens und oberen Dünndarms mittels 
Duodenalsonde und Luftpumpe vorgenommen; man konnte vor dem 
Röntgenschirm sehr schön die Lageverschiebung der Baucheinge- 
weide sehen, der Pat. spürte das auch sehr wohl, eine Änderung 
im Blutzucker blieb jedoch aus und damit schließt sich auch die 


220 MAHLER u. RıscHhawy 


Möglichkeit dieses Zusammhanges aus. Übrigens widersprechen 
bei unserem Fall die oft subnormalen Blutzuckerwerte und die 
Unabhängigkeit der Intensität der Glykosurie von der Nahrungs- 
aufnahme a priori der Möglichkeit, daß eine Schädigung eines 
Teiles der Langerhans’schen Inselzellen durch Adhäsionen vor- 
läge und dies eine Ursache der Glykosurie sei. Wir können daher 
Hijmans beipflichten, daß es sich bei der „lag-curve“ um eine 
Störung in einem nervösen vom Magen-Duodenum zur Leber gehen- 
den Reflexbogen handelt, zu dem freilich als erschwerendes Moment 
in unserem Fall noch die Sturzentleerung des Magens hinzutritt. 
Daß aber diese Leberfunktionsstörung sekundärer Art ist, dafür 
sprechen die eben angeführten Funktionsprüfungen und wir stehen 
daher in vollem Einklang mit dem, was Klein u. Rischawy (30) 
über die Leberfunktionsstörung bei der Schwangerschaftsglykosurie 
gesagt haben, nur mit dem Unterschied, daß dort inkretorische 
Störungen für die Störungen im Kohlehydratstoffwechsel verant- 
wortlich gemacht werden müssen, während hier alles auf das vege- 
tative Nervensystem als Urheber hinweist. on 

III. Prüfung des vegetativen Nervensystems. Die mechanische 
Prüfung auf Vagotonie durch den Aschner’schen Druckversuch 
und das Erben’sche Hock-Phänomen fiel negativ aus. Auf den 
Czermak’schen Druckversuch wurde mit Rücksicht auf die neueren 
diesbezüglichen Arbeiten verzichtet. Pharmakodynamisch wurde 
mittels Adrenalin. Atropin und Pilokarpin geprüft, die Resultate 
sind der besseren Übersicht wegen in den Tabelle 8 zusammengefaßt. 
Die Pharmaca können bekanntlich sowohl subkutan als auch intra- 
venös gegeben werden, doch ist bis jetzt noch nicht entschieden 
worden, welche der beiden Methoden die verläßlicheren Resultate 
liefert. Dresel (31) hat für das Adrenalin die subkutane Methode 
empfohlen, Cahn u. Steiner (32), Kaufmann (33), Aschner (34), 
Balint u. Goldschmidt (35), Louros (36) u. Billigheimer (37) 
haben sich ihm darin angeschlossen. Sanguinetti (38) u. Cs&pai (39) 
plaidierten für die intravenöse Prüfungsform und fanden in Hassen- 
kamp (40), Deike u. Hülse (41), Peyser (42), Heß (43), Wein- 
berg (44) u. v.a. Anhänger ihrer Methode Kylin (45), der die 
Resultate in groß angelegten Versuchsreihen nachgeprüft hat, läßt 
wohl beide Formen prinzipiell gelten, führt aber gegen die intra- 
venöse Applikation Bedenken ins Treffen, die sicherlich ihre Be- 
rechtigung haben. Wir haben in unseren Versuchen durchwegs 
-mit der subkutanen Methode gearbeitet, ohne jedoch damit für 
eines der beiden Prinzipien Stellung nehmen zu wollen. Die Unter- 


Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 221: 


suchungsserie spricht wie aus Tab. 8 hervorgeht, eindeutig für ein 
Überwiegen des Tonus im sympathischen Nervensystem und würde 
daher a priori auf einen Diabetes hindeuten, da nach Kylin 
sich vor allem 3 Krankheitszustände durch diese Kurvenform aus- 
zeichnen, das sind die Glomerulonephritis, der Morbus Basedow 
und der pankreatogene Diabetes. 


Tabelle 8. 
Blutdruck Blutzucker 
RR Steigerung . Steigerun Harn- 
Injektion P | Maxi- Aus- | , & & | Maxi- zucker 
gangs, Gipfel!. in mm in 9, z m gangs- Gipfel |. an o Mi mum Sae in g 


I++ H| Er 
AA 


Adrenalin 108 ' 178 70 +648 6 85 | 168 97,6| 30 Spuren 
Adren.-Cale. | 96 | 161 416771 7 | 82 | 178 171 30 | ø 
Adren-Kal. | 106 | 155 | +49 +462 20 | 79 | 101 2 27,8 60 ø 
Atropin 122 : 118 |! —4 '— 34, 25 | 84 | 73 |—11 -ısıl 60 ø 
Be | 113 |—6 — bll 4 

Pilsearpin .. 419: 125 6 + BOL 40 91 80 |— 111-111! 60 Ø 
Calcium I 114 | 128 14 + 12,3 1 — — — — | — ø 
Kalium kaor ea e a7, ee en, aE ø 


Das bei unserem Fall ein Diabetes nicht in Frage kommt, 
wurde bereits eingehend erörtert. Gegenüber der intensiven Re- 
aktion des Blutdruckes und Blutzuckers auf Adrenalin und Adre- 
nalin 4 Calcium, ja selbst auf Adrenalin + Kalium, sind die Re- 
aktionen auf Atropin und Pilokarpin minimal. Die Blutdruck- 
schwankungen liegen hier nur knapp außerhalb der Fehlergrenzen 
und normalen Variationsbreite, die Blutzuckersenkungen deuten 
schon durch ibre Gleichmäßigkeit in beiden Fällen darauf hin, daß 
die geringe Senkung einfache Hungerwirkung ist, in den Puls- 
kurven zeigt das Atropin einen subnormalen, das Pilokarpin einen 
an der unteren Grenze des Normalen gelegenen Ausschlag. 

Mag man auch der pharmakologischen Prüfung des vegetativen 
Nervensystems noch so skeptisch gegenüber stehen, so muß immer- 
hin zugegeben werden, daß diese Versuchsserie nebst der sicheren 
Sympathikotonie mit großer Wahrscheinlichkeit für eine zwar nicht 
hochgradige, aber deutliche Steigerung der Ansprechbarkeit des 
sympathischen Teils und für eine sehr geringe, offenbar sogar ver- 
minderte Reizempfänglichkeit des parasympathischen Anteils des 
vegetativen Nervensystems spricht. Zwar bezieht sich diese nicht 
auf alle Organsysteme, so z. B. nicht auf die Schweißdrüseninner- 
vation und Speichelsekretion, sie ist aber auf den Gebieten Blut- 
druck, Blutzucker und Puls so ausgesprochen, daß man un- 


222 Maner u. RıschawyY 


möglich achtlos an ihr vorübergehen kann. Von einer Wieder- 
gabe unserer diesbezüglichen Versuchsreihen muß aus räumlichen 
Gründen abgesehen werden. Es muß zwar zugestanden werden, 
daß die Akten über vieles auf diesen Gebieten noch lange nicht 
geschlossen sind — so sahen Platz (47), Bornstein (48) nach 
Pilokarpin Erhöhungen des Blutzuckers, Toeniessen (49) hin- 
gegen Senkungen —, doch scheinen uns die Ausschläge in unserem 
Falle doch durchwegs ein gut Stück hinter dem zurückzubleiben, 
was sonst als Normalmaß und Durchschnittswirkung aufgefaßt wird; 
besonders deutlich wird dies, wenn man unsere Puls- und Blut- 
druckkurven nach Adrenalin, Pilokarpin und Atropin mit den Para- 
digmen aus L. R. Müller’s (46) Lehrbuch vergleicht. 

Dazu kommt nun noch eine weitere Beobachtung, die in ganz 
gleichem Sinne spricht. E. Fr. Müller, H. J. Wiener u. R. P. 
Wiener(50) konnten zeigen, daß nach intrakutanen Insulin- 
injektionen der Blutzucker rascher absinkt wie bei subkutanen. 
In erster Linie gilt dies wohl für den Diabetiker aber auch beim Ge- 
sunden konnte diese Beobachtung regelmäßig und in einwandfreier 
Weise gemacht werden. In konsequent durchgeführten Versuchs- 
serien konnten sie weiters zeigen, daß dieses Phänomen darauf be- 
ruht, daß bei der Intrakutaninjektion sich zur gewöhnlichen hormo- 
nalen Insulinwirkung eine zweite nervöse Komponente hinzugesellt. 
Daß dieser Reflexvorgang von der Haut zur Leber in seinem An- 
fangs- und Endteil auf parasympathischen Bahnen verläuft, konnten 
sie in einer weiteren Versuchsreihe beweisen. Da nun in unserem 
Falle, wie Kurve 1 zeigt, die Wirkung der subkutanen Injektion 
früber eintritt wie die der Intrakutaninjektion, ja in dem einen 
Fall (bei abnorm tiefem Blutzuckerausgangswert) die Wirkung der 
Intreakutaninjektion überhaupt ausfällt, so ist es naheliegend aus 
diesem Kffektausfall auf ein Versagen des Parasympathicus auf 
diesen Reiz hin zu schließen, da ja für die Unterbrechung dieses 
Reflexbogens an anderer Stelle durchaus kein Anhaltspunkt vor- 
liegt. Da unsere Insulinkurve I fast aufs Haar der von Müller u. 
Wiener abgebildeten Intrakutan-Insulinkurve nach vorheriger 
Atropinblockierung gleicht, so versuchten wir, die erstere durch 
Pilokarpin zu beeinflussen; daß dies sehr gut gelang, spricht für 
die Richtigkeit unserer Anschauung einerseits, für die Müller- 
Wiener’schen Hypothese andererseits. Zur Entscheidung der 
Frage, ob die Störung im 1. oder im 2. Abschnitt der parasym- 
pathischen Bahn zu suchen sei, machten wir die von denselben 
Autoren angegebene Intrakutaninjektion von Aolan; da der erwartete 


Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 223 


Leukocytensturz prompt eintrat (7700—4000), so erscheint eine 
Störung im zweiten Teil der Bahn sehr wahrscheinlich. Wenn wir 
auch zugeben müssen, daß beide von uns angewendeten Methoden 
zu jung und zu unerprobt sind, um zu strikten, geschlossenen Be- 
weisführungen verwendet zu werden, so glauben wir doch, durch 
den parallelen Ausfall zweier toto genere verschiedener Unter- 
suchungsmethoden die herabgesetzte Reizempfindlichkeit des Para- 
sympathicus in unserem Falle in hohem Grade wahrscheinlich ge- 
macht zu haben. 


Insulin, 20 E. 
Ar intrakutan (dicke Striche) 


II. subkutan (dünner Strich) 


IV. intrakutan 30 Min. nach 0,01 Pilo- 
karpin subkutan (strichuliert). 


Kurve 1. 


Es wurde früher bezweifelt, daß das parasympathische Nervensystem 
einen Einfluß auf die Blutzuckerregulation habe, da verschiedene Tier- 
versuche eher dagegen zu sprechen schienen. Heute verfügen wir über 
zwei in entgegengesetztem Sinne sprechende Versuche: De Corral(51) 
konnte zeigen, daß Vagusreizung nach Ausrottung der sympathischen 
Nervenfasern der Leber Hypoglykämie hervorruft und Eiger (52) erhielt 
bei Schildkröten trotz Ausschaltung des Pankreas nach Reizung des 
peripheren Vagusendes vermehrte Glykogenbildung in der Leber. Obendrein 
macht ja allein das Gesetz der antagonistischen Innervation den Einfluß 
des Parasympathicus auf die Kohlehydratfunktionen der Leber so gut wie 
sicher, da die doppelte Wirkung des Sympathicus auf diese (direkt und 
via Nebennieren) ja längst bekannt ist. Auf diesem Standpunkt stehen 
auch Greving (53) u. Toeniessen (54). 


Man hat nun zwei Möglichkeiten, sich die primäre Ursache der 
Leberfunktionsstörung vorzustellen: Entweder ist die parasym- 
pathische Reiztaubheit darin begründet, daß die Ulcera ventriculi 
mit ihren Begleiterscheinungen längere Zeit hindurch einen über- 
starken Reiz auf die zentripetalen Vagusfasern ausgeübt haben, 
so daß die schwachen alimentären Reize zur Regulation nicht so- 
fort hinreichen. Die Mac Lean’sche „lag-curve* ließe sich auf 


294 MaAHLER u. Rıschawr 


diese Weise sehr einfach deuten, und daß die Hijman’schen Fälle 
fast alle weit zurückreichende TIIcusanamnesen haben, könnte auch 
in diesem Sinne sprechen. Oder aber es besteht eine Störung in 
dem von Eisner u. Forster (55) und von Rosenberg (56) 
sichefgestellten Reflex von Magen-Duodenum zur Leber; die Bahnen 
dieses Reflexes sind unbekannt, daß sie sympathisch und para- 
sympathisch gehen, ist nicht unwahrscheinlich. Eine Störung in 
der Reizempfänglichkeit der parasympathischen Leberfasern, wie 
wir sie oben erörtert haben, würde zu dieser Ansicht ganz gut 
passen, und erscheint uns mit Rücksicht auf die oben besprochenen 
Versuche näher liegend. 


IV. Die Feststellung der Nierenschwelle im Verlaufe unserer 
Versuche ergab, daß diese ca. bei 170 mg°/, liegen dürfte. Eine 
genauere Fixierung schließt sich von selbst aus, da die Aus- 
scheidungsschwelle schwankt und von einer Reihe von Umständen 
abhängt (Labbé u. Nepveux(57), Nakayama (58). — Einer 
uns gänzlich unerklärlichen Merkwürdigkeit muß hier noch gedacht 
werden: Als wir einmal 1 mg Atropin ca. °/, Stunden nach einer 
intrakutanen Aolaninjektion (1 ccm) injizierten, trat eine bis 1,8 °/, 
betragende Glykosurie bei Blutzuckerwerten auf, die zwischen 
10—82 schwankten. Es war dies das einzige Mal, daß wir bei 
diesem Fall eine Herabsetzung der Nierenschwelle konstatieren 
konnten. In zwei Parallelversuchen bei Gesunden zeigte sich nichts 
ähnliches. Eine derartige Beobachtung findet sich unseres Wissens 
in der Literatur nicht, höchstens wäre in diesem Zusammenhange 
die Annahme von J oel (59) erwähnenswert, daß der renale Diabetes 
auf Sympathikotonie basieren soll. 


Wenn wir kurz zusammenfassen, welche Kompo- 
nenten sich in unserem Fall für dieGlykosurie haben 
ermitteln lassen, so können wir mit Sicherheit die 
Sturzentleerung des Magens, die Sympathikotonie 
und eine sekundäre Störung der Leber in bezug auf 
den Kohlehydratstoffwechsel nennen; mit großer 
Wahrscheinlichkeit kommt daneben — als inter- 
essantestes Moment — eine herabgesetzte Ansprech- 
barkeit des Parasympathicusin Betracht, die ihrer- 
seits vielleicht wiederum auf die Magenerkrankung 
zurückgeführt werden kann. 


In Kürze seien einige Beobachtungen angeführt die wir an 
einem zweiten Fall von. Glykosuria innocens machen konnten. 


Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 225 


X. Y., 28 Jahre alt, einem Intelligenzberuf angehörend, entstammt 
einer Familie, in der echter Diabetes mellitus in allen Zweigen des 
Stammbaums sehr häufig ist, ob auch Diabetes innocens-Fälle darunter 
waren, ist unsicher, doch sind zwei Fälle diesbezüglich sehr verdächtig, 
so weit man dies retrospektiv beurteilen kann. Aus der Anamnese des 
Patienten sind Pertussis, Morbillen und Varizellen zu erwähnen. Des 
öfteren litt er in den Jahren des Wachstums an Magenbeschwerden, die 
damals auf eine Ptose und Atonie des Magens zurückgeführt wurden. 
Vor 5 Jahren Furunkulose, Zucker wurde damals im Harn nicht ge- 
funden. Verschiedene Stigmata des Stiller’schen Habitus. Familiäre 
Neigung zu Ekzemen, Lymphocytose zwischen 37—48°/, schwankend. 
Nach Aufregungen keine Glykosurie und auch keine Erhöhung des Blut- 
zuckers. Sympathikotonie mäßigen Grades (nach 1 mg Adrenalin Steige- 
rung des Blutdruckes von 98 auf 150 mm, des Blutzuckers von 65 auf 
112 mg/,). Schulterbreite (Meßband) 33 cm, Brustumfang im 4. IKR. 
81 cm, Bauchumfang zwischen Processus xiph. und Nabel 70 cm, Ober- 
arm (Akromion bis Ellbogen) 35 cm, Unterarm 25 cm, Vola manus 11 cm, 
Gewicht (nackt) 59,6 kg, Jugulum-Symphyse 56 cm, Oberschenkel (Tro- 
chanter — Capit. fibulae) 42,5, Unterschenkel (Capit. fibulae-malleolus lat.) 
36 cm, Oberlänge (Scheitel-Symphyse) 85,5 cm. Unterlänge 90,5 cm, 
Gesamtlänge 176 cm, Spannweite 179 cm. . Nach der Oder’schen Formel 
beträgt das Gewichtemanko 28,4 kg. 


Vor mehr als einem halben Jahr wurde bei ihm zum ersten- 
mal Glykosurie beobachtet, der Zucker durch die Phenylhydrazin- 
und Gärungsprobe als Dextrose identifiziert. Die vollkommene Un- 
abhängigkeit von der Art der genossenen Nahrung ließ sogleich 
an Glycosuria innocens denken, eine Annahme, die durch die diffe- 
rentialdiagnostischen Proben auch wirklich bestätigt wurde Die 
jetzt neuerlich vorgenommene Kontrolle ergab ähnliche Resultate, 
obwohl sich die Glykosurien in der Zwischenzeit immer wieder 
gezeigt hatten. Nach längerem Suchen gelang es uns, dasjenige 
Moment zu entdecken, das offenbar die auslösende Ursache dieser 
Glykosurie ist: Sie tritt immer nur dann auf, wenn der Pat. sich 
mittags sogleich nach dem Essen zum Nachmittagsschläfchen nieder- 
legt. Bewegung oder selbst ruhiges Sitzen durch 30—40 Minuten 
nach dem Essen genügen, um die Glykosurie mit; Sicherheit hint- 
anzuhalten. Desgleichen konnte weder Glykosurie noch eine irgend- 
wie über das Normalmaß hinausgehende Hyperglykämie konstatiert 
werden, wenn der Pat. sich zwar sogleich nach dem Essen ruhig 
niederlegte, jedoch wach blieb. Einflüsse von seiten der Nahrung 
bestehen überhaupt keine, da beim eben erwähnten Versuch nebst 
viel Fleisch und Fett über 200 g Kohlehydrate, davon der größte 
Teil als Zucker gereicht wurden, während ein andermal nach ein- 
stündigem Schlaf 0,5°, Dextrose im Harn auftrat, trotzdem der 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 15 


226 MAHLER u. Rıschawy 


Pat. bloß leere Suppe, Fleisch und Gemüse gegessen hatte. Daß 
der Vorbelastung (s. Staub (60)) keine ausschlaggebende Rolle 
zukommt, ist sicher, da der Pat. zum Frühstück und vormittags 
gewöhnlich dasselbe ißt, und auch seine Betätigung (Muskelarbeit, 
geistige Anstrengung) sich wenig ändert. Wichtiger erscheint uns, 
daß wir auch hier, ebenso wie bei unserem ersten Fall des öfteren 
im Hunger abnorm tiefe Blutzuckerwerte beobachten konnten, was 
unter gleichen Bedingungen bei Gesunden nicht der Fall zu sein 
pflegt (42, einmal sogar 39 mg°/,). Einige Male konnte beobachtet 
werden, daß die Glykosurien bei Blähung des Magens und Darms 
höher sind wie sonst. Unter anderen Bedingungen konnte eine 
Glykosurie oder Hyperglykämie nie festgestellt werden, trotzdem 
der Harn diesbezüglich weit über 100 mal, der Blutzucker von den 
Versuchen abgesehen etwa 20 mal kontrolliert wurde. Leider waren 
eingehendere Versuche über diese interessante Stoffwechselstörung 
mit Rücksicht auf Stellung und Beruf dieses Kranken unmöglich, 
und wir sehen daher davon ab, Hypothesen an unsere Beobachtung 
zu knüpfen, so verlockend dies auch erscheint. 


Ob eine Therapie der an und für sich ganz harmlosen Ano- 
malie zweckvoll ist, läßt sich nur schwer entscheiden. Die meisten 
Autoren empfehlen Einschränkungen der Kohlehydratzufuhr. Da 
ein Teil der Fälle im Laufe der Jahre in echten Diabetes mellitus 
übergehen soll und die sichere Diagnose erst nach längerer Be- 
obachtungszeit gestellt werden darf, so erscheint tatsächlich dauernde 
Schonung ratsam. Auf jeden Fall ist prophylaktisch der Genuß 
von Zucker zu verbieten und Stärke und Weißmehl einzuschränken. 
Ein einheitliches Vorgehen ist schon deshalb unangebracht, weil 
es wohl eine Masse von Ursachen für innozente Glykosurien gibt, 
Ursachen, die in den verschiedensten Organsystemen ihren Sitz 
haben können. Nur ein genaues Studium der zweifellos nicht allzu 
seltenen Fälle wird uns einen Einblick in die komplizierte Patho- 
genese dieser Fälle gewähren und die vorläufig noch so wider- 
sprechenden Mitteilungen ordnen helfen, denn höchstwahrschein- 
lich beruhen die scheinbaren Widersprüche der Literatur einfach 
darauf, daß hier unter einem Sammelnamen eine Reihe ätiologisch 
ganz verschiedener Erscheinungen zusammengeworfen wird. Die 
innozente Glykosurie selbst wird dann vermutlich zu einem bloßen 
Symptom herabsinken, hinter dem sich, ähnlich wie bei den experi- 
mentellen Glykosurien, eine Vielheit pathologisch-physiologischer Vor- 
gänge verbergen kann. Nur eine möglichst eingehende Beobachtung 


Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 227 


aller Fälle wird eine Einteilung nach ätiologischen Prinzipien er- 
möglichen. Bis dahin müssen wir uns diesbezüglich mit den beiden 
Einteilungsprinzipien begnügen, die, wenn auch nach rein äußer- 
lichen Momenten, doch eine gewisse Ordnung in dieses so unklare 
Gebiet zu bringen trachten. Das eine stammt von Wijnhausen 
u Elzas (61) und gruppiert die Fälle nach den augenfälligsten 
Erscheinungen ihrer Symptomatologie: 


Gruppe Blutzucker a, g Glykosurie Erscheinungen Verlauf 
1. - Normal Normal Gering Keine oder geringe Günstig 
2. N Erhöht a > s 
3. 3 Stark erhöht Nüchtern gering, Deutlich Ungünstig 

nach KH groß 
4. 3 Normal Stark Keine oder geringe Günstig 


Unser erster Fall ließe sich unter Gruppe II, der zweite Fall 
am ehesten unter Gruppe I dieses Schemas unterbringen. 

Die zweite Einteilung läßt sich nach Salom on’s (62) umfassen- 
der Arbeit folgendermaßen zusammenstellen: 

1. Konstante, geringe Glykosurie (diese Gruppe dürfte sich 
wohl mit dem Diabetes renalis decken), 

2. Glykosurie von einer bestimmten Toleranzgrenze aufwärts, 
sonst aber mit allen Zeichen der innozenten Glykosurie, 


3. Fälle mit hoher perzentueller Zuckerausscheidung, oft auch 
mit Ketonurie, 


4. Intermittierende und transitorische Glykosurien. WieSalomon 
hervorhebt, handelt es sich hier meist um nervöse Individuen; die 
Beobachtung, daß bei solchen die Zuckertoleranzgrenze herabgesetzt 
ist, wurde bereits 1895 zum ersten Male von Jaksch (63) mit- 
geteilt. 

Hier läßt sich unser zweiter Fall mit Sicherheit unter Gruppe IV 
der erste Fall mit Reserve unter Gruppe II einteilen. Von einer 
Toleranzgrenze, fix und ausgeprägt wie bei den leichten Diabetes- 
fällen, kann bei letzterem freilich nicht die Rede sein. Es wäre 
wohl richtiger zu sagen, daß diese Fälle oft auch aglykosurisch 
sein können, was bis zu gewissem Grade nebst von anderen Faktoren 
auch von der Art der Ernährung abhängig ist. 


Zur Untersuchung der Fälle möchten wir als Resultat unserer 
Beobachtungen folgenden Modus empfehlen: 

1. Sicherung der Diagnose durch die bekannten und eingangs 
erwähnten Differentialdiagnostica. 


2. Komplette Untersuchung aller inkretorischen Organe. 
15* 


298 Maner u. Riscuawy 


3. Bestimmung der Nierenschwelle und einiger Blutzucker 

a) nüchtern, b) nach KH, c) nach EK, d) nach gemischter Kost. 

4. Leberfunktionsprüfungen a) solche, die auf die Glykogen- 
funktionen gerichtet sind, b) solche, die über andere Leberfunktionen 
Aufschluß erteilen. 

5. Prüfung des vegetativen Nervensystems. 

6. Untersuchung des Magens, oberen Dünndarms und eventuell 
noch anderer Organe, von denen reflektorisch eine Beeinflussung 
der Blutzuckerregulation angenommen werden könnte. 

7. Psychische Untersuchung; Beachtung von Schädeltraumen 
(Raab hat einen solchen Fall beschrieben, der eine auffallende 
Labilität des Blutzuckers aufwies) und Läsionen des Zentralnerven- 
systems. 

8. Untersuchung bezüglich konstitutioneller Minderwertigkeiten. 

In unseren beiden Fällen ließ sich durch diesen Untersuchungs- 
modus das Pankreas als Ursache der Glykosurie ausschließen und 
im ersten Falle der ätiologische Kausalkonnex ziemlich genau fest- 
stellen. 

Wir glauben mit Recht annehmen zu dürfen, daß eine Unter- 
suchung einer größeren Anzahl Fälle hinreichen wird, um eine 
solide Basis eines ätiologischen Einteilungsprinzipes dieser bisher 
mit Unrecht arg vernachlässigten Stoffwechselanomalie zu begründen. 
Darüber hinaus aber versprechen Studien an diesen Fällen einen 
Einblick in die Merkwürdigkeiten des Kohlehydratstoffwechsels 
und seiner Regulationsmechanismen, wie er sich sonst wohl nur 
selten darbietet. 


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30. Klein u. Rischawy, l.c. — 31. Dresel, Dtsch. med. Wochenschr. 45, 
955 und 1218, 1919. — 32. Cahn u. Steiner, Jahrb. f. Kinderheilk. 99, 44, 
14922. — 33. Kaufmann, Zeitschr. f. klin. Med. 100, 677, 1923. — 34. Asch- 
ner. Klin. Wochenschr. 2, 1060, 1923. — 35. Bálint u. Goldschmidt, 
Jahrb. f. Kinderheilk. 99, 252, 1922. — 36. Louros, Zentralbl. f. Gynäkol. 46, 
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Dtsch. med. Wochenschr. 47, 213, 1921. — 40. Hassenkamp, Dtsch. med. 
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49. Toeniessen, Ergebn. d. inn. Med. u. Kinderheilk. 23, 141, 1923. — 
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S. 279—282, 1924. — 54. Toeniessen, daselbst, S. 487. — 55. Eisner u. 
Forster, Berlin. klin. Wochenschr. 58, 839, 1921. — 56. Rosenberg, Klin. 
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zit. nach Kongr.-Z. 24, 117, 1922. — 58. Nakayama, Journ. of Biochem. 4, 139, 
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230 


Aus der Nervenabteilung der medizinischen Klinik zu Heidelberg. 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 


Von 


H. Stein und V. v. Weizsäcker. 
(Mit 1 Abbildung.) 


Einleitung. 

Die neuere Entwicklung der Sinnesphysiologie und Wahr- 
nehmungspsychologie hat auf die klinische Forschung am kranken 
Menschen einen fühlbaren Einfluß auszuüben eben erst begonnen. 
Auf der einen Seite finden wir uns mit einer Reihe wichtiger neuer 
Reizmethoden ausgerüstet, an deren Spitze die von v. Frey (14) ge- 
schaffenen stehen; auf der anderen Seite hat die als Gestaltpsycho- 
logie sich bezeichnende Experimentalforschung die Aufmerksamkeit 
auf Erscheinungen gelenkt, welche geeignet sind das Grundsätzliche 
des Sinnesproblems in neuer Weise zur Diskussion zu stellen. Wer nun 
an die besonderen Gebiete der von der Haut und dem Bewegungs- 
apparat ausgehenden Sinnesleistungen, also an die in der Klink kurz- 
weg „Sensibilität“ genannten Funktionen, herantritt, wird trotz jener 
neueren Entwicklung oft über den Mangel an Vorarbeit zu klagen 
haben und feststellen, daß im Vergleiche zur Ophthalmologie bzw. 
physiologischen Optik dieses Gebiet in den Anfängen steckt. Eben- 
sooft wird die Arbeit dann aufgehalten durch die Notwendigkeit, 
die physiologische Methodik für die Krankenuntersuchung umzu- 
bilden. Aber noch wichtiger als die Überwindung solcher methodi- 
schen Schwierigkeiten ist, daß wir uns von dem Denkzwang, der 
von den theoretischen Folgerungen der Physiologie und Psychologie 
des Normalen ausgeht, nicht binden lassen; daß wir nicht erwarten, 
die pathologischen Erscheinungen würden voraussichtlich eine 
rationale Konsequenz oder Anwendung der physiologischen sein. 
Die Erfahrung lehrt, daß das Geschehen beim Kranken Fragen 
stellt, welche die Physiologie des Gesunden nicht erwarten ließ 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 231 


und nicht beantwortet. Es ist ein Vorurteil, das Pathologische 
sei nichts als das Normale unter veränderten Bedingungen. Gerade 
hierauf aber beruht die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit des Zu- 
sammenwirkens der beiden Wissenschaften. 

Da nicht nur in klinischen Lehr- und Handbüchern von der 
Entwicklung der Sensibilitätsforschung vielfach kaum Notiz ge- 
nommen wird, sondern auch in wissenschaftlichen Untersuchungen 
oft ein unhaltbar gewordenes System theoretischer und methodischer 
Lehren vorausgesetzt wird, so beabsichtigen wir hier eine kurze 
Übersicht derjenigen Methoden zu geben, welche sich uns als 
die für den alltäglichen klinischen Gebrauch geeignetsten heraus- 
gestellt haben, nachdem wir durch die Anwendung exakter 
Methoden im Laboratorium neue Gesichtspunkte für die Pathologie 
der Sensibilität überhaupt glauben gewonnen zu haben. Denn 
diese Methoden des Laboratoriums sind naturgemäß weniger auf 
diagnostische als auf theoretische Ziele eingestellt; aber ihre Er- 
gebnisse dienen als Leitfaden für den Zweck, am Krankenbett 
rasch zu den grundsätzlichen Feststellungen zu kommen. Dabei 
meinen wir aber nicht nur grobe und bequeme Schnellmethoden 
sondern solche, die im Einklang mit der Funktionstheorie der 
Sensibilität die Leistung treffen, welche bei Krankheiten gewöhn- 
lich verändert ist. Für diese Funktionstheorie verweisen wir auf 
unsere früheren Arbeiten und ihre Zusammenfassung in einem Re- 
ferat (1— 11). Nach ihnen ergibt sich die hier kurz skizzierte Auf- 
fassung der Sensibilität, derzufolge es nicht nur auf den Nach- 
weis von „Ausfällen“ und ihre topographische Ausbreitung an- 
kommt, sondern ebenso wesentlich auf die Funktionsprüfung der 
zwar veränderten aber eben nur nach anderen Gesetzen noch 
funktionierenden Sensibilität. Neben das Ausfallschema hat das 
Funktionsdiagramm einer solchen veränderten Leistung zu treten. 
Um diese letztere Gruppe von Erscheinungen deutlich von den 
bloßen Ausfällen der Sensibilität zu trennen, sprechen wir von 
einem pathologischen Funktionswandel. 

Einleitend stellen wir einige allgemein orientierende Sätze 
und Definitionen zusammen, welche unsere Resultate teilweise vor- 
wegnehmen und daher erst nach deren Kenntnisnahme völlig ver- 
ständlich werden. 

1. Zunächst müssen wir solche Leistungen, bei denen ein re- 
lativ einfacher Empfindungsinhalt, z. B. Schmerz oder ein einfaches 
Erlebnis wie Gliedbewegung gegeben ist, unterscheiden von solchen, 
in welchen Urteile über bestimmte Umweltbeziehungen gefordert 


232 STEIN u. v. WEIZSÄCKER 


werden, wie z. B. über Ort, Größe, Gewicht eines Objektes oder 
über seine Dingidentität („Messer“, „Bleistift“. Wir bezeichnen 
jene erste Gruppe als ästhetische, die zweite als noötische 
Leistung, da bei jenen eine Qualität der Empfindung oder ein 
empfindungsähnlicher Eindruck, bei diesen aber ein namentlich 
räumlich, zeitlich oder sachlich präzisiertes Urteil über Gegen- 
stände verlangt wird. Es ist zwar diese Unterscheidung von 
no@tischen und ästhetischen Leistungen vor dem Forum einer 
tieferdringenden psychologisch-logischen Kritik keine letztgültige, 
weil es keine reinen Empfindungen gibt und weil jede Unter- 
suchungsmethode vom Untersuchten eine ästhetisch-noätische, also 
eine gemischte Leistung erfordert. Indes macht es doch einen 
wesentlichen Unterschied, ob ich verlange, daß jemand ein Urteil 
darüber angebe, ob er ein Tetraäder oder einen Würfel taste, 
oder darüber, ob er Kälte oder Wärme spüre; denn der Grad der 
Rationalisierung ist in diesen beiden Fällen doch verschieden. 
Darum ist ihre Unterscheidung erlaubt und nützlich. 

2. Gegenüber früheren Aufstellungen ist sodann festzuhalten, 
daß die Ausdrücke Oberflächen- und Tiefen-Sensibilität 
nur die rein topographisch-anatomische Lage bestimmter Rezeptoren 
bedeuten, nicht aber irgendeinen Hinweis auf bestimmte Leistungen 
enthalten dürfen. Wir halten es, wie an anderer Stelle ausführlich 
begründet wurde, mitv. Frey z.B. für völlig unhaltbar, die Wahr- 
nehmung von Lage, Vibration, Bewegung und tiefem Druck als 
das Reservat einer Tiefensensibilität anzusehen, weil die ganz 
maßgebende Rolle des oberflächlichen Rezeptoren für diese Lei- 
stungen erwiesen ist, während die zweifellos mögliche Rolle tiefer 
Rezeptoren in exakter Weise eben nur für den Kraftsinn feststeht. 
Welche Bedeutung aber der Kraftsinn für die genannten Leistungen 
hat, eben dies ist wiederum noch nicht bekannt. 

3. Vielmehr haben wir davon auszugehen, daß derselbe Re- 
zeptor Träger verschiedenartiger Leistungen ist. Er 
kann in den Dienst einer ästhetischen ebensogut wie einer noö- 
tischen Leistung gestellt sein; so die Rezeptoren des (oberflächlichen) 
Drucksinnes, wenn wir einmal einfache Berührung wahrnehmen, 
ein andermal den Ort der Berührung im Raum angeben sollen. 
Aber auch in der Art der Erregung einzelner und des Zusammen- 
wirkens mehrerer Rezeptoren erschließt sich eine reiche Mannig- 
faltigkeit der Leistungen; so wenn jener Rezeptor einmal im 
Sinne einmaligen Druckes, dann im Sinne einer Vibration erregt 
wird, oder wenn bei Gliedbewegungen die Gesamtheit der über 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 233 


dem Gelenk vorhandenen Hautrezeptoren durch Spannungsände- 
rungen in charakteristischer Form erregt wird und so eine Be- 
wegungswahrnehmung entsteht. 

4. Es sind nachweislich in erster Linie die zentralen Sub- 
stanzen des Nervensystems, an deren Integrität diese verschieden- 
artige Verwendungsweise der peripheren Erregungen gebunden ist. 
Wenn nun eine lokalisierte zentrale Störung eintritt, dann kann 
diese Verwendung der Rezeptoren so verändert werden, daß eine 
Art der Leistung aufgehoben, eine andere Art aber noch erhalten 
ist. Der Abbau der Leistungen erfolgt unter pathologischen Ver- 
hältnissen daher für dieselben Rezeptoren in verschiedener 
Weise und in Stufen. So kann das Bild einer „dissoziierten“ 
Sensibilitätstörung entstehen, ohne daß wir aus solchen Dissozia- 
tionen ohne weiteres auf den organologischen Aufbau des peripheren 
Apparates schließen dürfen. Z. B. können die einzelnen Rezep- 
toren für Druck normal erregbar sein, ohne doch jene fälschlich 
allein der „Tiefensensibilität“ zugeschriebenen Leistungen der 
Vibrations- oder der Bewegungswahrnehmungen noch ausüben zu 
können. 

5. Es ist unter pathologischen wie unter physiologischen Ver- 
hältnissen unerläßlich, die phänomenologische von der physiolo- 
gischen Betrachtungsform zu trennen. Es ist nämlich im allgemeinen 
nicht gestattet, aus dem Inhalt des sinnlichen Erlebnisses Schlüsse 
auf den physiologischen Vorgang zu ziehen. Z.B. kann man den Ein- 
druck haben, eine Empfindung stamme aus der Tiefe, aber die 
Analyse beweist, daß sie durch Oberflächenerregung bedingt ist; oder 
man hat den Eindruck, ein heißer Körper errege nur den „Tempe- 
ratursinn“, aber die Analyse beweist, daß auch der „Schmerzsinn“ 
zu dem Eindruck beitrug. Es sind also direkte Argumentierungen 
aus den Erlebnisinhalten auf die physiologischen Vorgänge ohne 
physiologisch analysierende Prüfung einer Behauptung wie in der 
ganzen Sinnesphysiologie so auch hier unzulässig. Andererseits ist 
es aber auch nicht gestattet, daraus daß wir bisher nur Rezeptoren 
für Druck, kalt, warm und Schmerz anzunehmen pflegen, den 
vereinfachenden Schluß zu ziehen, unsere Erlebnisse enthielten nicht 
mehr als nur Komplexe von 4 solchen Elementaremfindungen. Die 
Welt der Phänomene ist überaus reich und stellt noch unzählige 
ungelöste Fragen an die Physiologie, eben weil die Art ihres 
Zustandekommens nur in wenigen Fällen auf die Erregungsart 
jener 4 Hauptvorgänge zurückgeführt werden konnte. Unter patho- 
logischen Verhältnissen treten überdies Empfindungsqualitäten und 


234 STEIN U. v. WEIZSÄCKER 


Wahrnehmungen auf, welche der normale Mensch überhaupt nicht 
besitzt. 

Indem wir für alles Nähere auf die genannten Mitteilungen 
verweisen, wenden wir uns jetzt zu einer schematischen Darstellung 
der hauptsächlichen Funktionstörungen und der Methode ihrer Fest- 
stellung mit dem ausdrücklichen Bemerken, daß wir diese neue Be- 
arbeitung der Sensibilitätsprüfungen keineswegs nach jeder Richtung 
für abgeschlossen halten und nur meinen, daß die bisher erreichten 
Fortschritte eine Zusammenfassung an dieser Stelle rechtfertigen. 
Selbstverständlich wird hier keine vollständige Methodenlehre ge- 
geben; vieles, was unbedingt zu beachten ist: psychologische Vor- 
aussetzungen, Fehlerberechnung, experimentelle Sauberkeit, ferner 
subjektive Phänome und vieles andere was genügsam literarisch 
erörtert ist, kommt nicht zur Sprache. Ebenso liegt es ganz außer- 
halb dieser Darstellung, uns mit den theoretischen Grundfragen der 
Sensibilität auseinanderzusetzen; ihr Zweck ist lediglich, einige 
Hinweise und Vorschläge zu machen, wie man bei der täglichen 
klinischen Untersuchung dem modernen Stand der Sensibilitätslehre 
Rechnung tragen soll und kann, auch wenn man sich in die 
schwierige wissenschaftliche Methode nicht einzuarbeiten wünscht. 


Entsprechend den einleitenden Bemerkungen unterscheiden wir 
zunächst die Untersuchung auf Ausfälle und die auf Funktions- 
wandel. Eine Leistung kann ja aufgehoben, aber sie kann auch 
der Art nach verändert sein. 


I. Ausfälle und Schwellenerhöhungen. 


Bekanntlich ist ein totaler Ausfall der Sensibilität (Anästhesie) 
ein in der Klinik nicht so sehr häufiges Vorkommnis. Viel öfter 
ist der Fall gegeben, wo wir, um einen Sinneseindruck zu bewirken, 
den Reiz verstärken müssen (Hypästhesie). Gleich hier aber wird 
oft nicht genug beachtet, daß der Wirkungswert eines Reizes auf 
einer Sinnesfläche wie der Haut nicht nur von der Intensität sondern 
auch von seiner Extensität abhängt; mehrere einzeln genommen un- 
wirksame Reize können, wenn sie flächenhaft und an verschiedenen 
Stellen zugleich gesetzt werden, durch gegenseitige „Verstärkung“ 
wirksam werden. Und dasselbe gilt aber auch für gewisse Fälle 
der Succession von Reizen; also neben dem räumlichen schließt sich 
auch noch ein zeitlicher Faktor an den der Intensität an. 

Die Folge dieser Tatsache ist, daß wir, wie wir auch reizen 
mögen, nur dann zu verständlichen Ergebnissen kommen, wenn der 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 235 


Reiz nach jeder dieser Richtungen klar definiert ist; es ist nicht 
so wichtig, daß die zur Reizung benutzten Instrumente eine möglichst 
„feine“ oder „exakte“ Ablesung haben; viel mehr kommt darauf 
an, daß sie beim Aufsetzen nicht verschoben werden können, nicht 
mit verschiedener Geschwindigkeit und in konstanter Reizfläche 
wirken, daß sie nicht mehrere Qualitäten zugleich reizen u. dgl. m. 
Kurz, der Modus der Applikation und die raumzeitliche Gestalt, 
in der gewisse Energien zugeführt werden, ist ebenso wichtig wie 
diese selbst. Von einer normalen Schwelle, einer erhöhten Schwelle, 
kann nur gesprochen werden mit dem Zusatze: für den im soeben 
bezeichneten Sinne definierten Reiz. Angaben von Druckkräften, von 
Temperaturen usw. für sich allein können eine Erregbarkeit niemals 
definieren. Wir können darauf verzichten, die danach von selbst 
sich ergebende Kritik der zahlreichen in der Literatur mitgeteilten 
und höchst ungleichwertigen Instrumente hier vorzunehmen. 

Pinsel, Wattebausch und Fingerbeere genügen dieser Forderung . 
an sich nun ebensowenig, wie die von der Hand des Untersuchers 
geführte Nadel und die temperierten Reagenzgläser. Trotzdem 
bleibt diese Technik bei einiger Gewohnheit zulänglich für eine 
Orientierung. Jeder Geübte weiß, daß mit diesen Utensilien bei 
vielen pathologischen Zuständen der Reizwert steigt, wenn man 
statt einen Ort möglichst lokal zu berühren das Objekt auf der 
Haut verrückt, bewegt, breiter anlegt oder rasch wiederholt 
appliziert. Solche Varianten sind also zu vermeiden. Die Schwierig- 
keiten beginnen, wenn eine Aussage über die Schwere und die 
örtliche Ausdehnung eines Ausfalles gemacht werden soll. 

Die eben erwähnten üblichen Untersuchungen (Pinsel, Watte- 
bausch, Fingerbeere, Nadel und Reagenzglas) sind keine Schwellen- 
methoden. Sie sagen am meisten aus bei vergleichender Unter- 
suchung zwischen kranken und symmetrisch gelegenem gesundem 
Feld oder bei schrittweiser Überschreitung einer Grenzzone zwischen 
gesundem und krankem Feld (womöglich senkrecht gegen die Grenz- 
kontur). Man verfährt hier am besten analog der Perkussion, 
nämlich vergleichend, und nicht indem man die Patienten nur durch 
„ja“ oder „jetzt“ signalisieren läßt, ob sie „es“ gespürt haben oder 
nicht. Vielmehr fragt man, ob zwei Reize gleich oder ungleich 
seien, und worin die Ungleichheit bestehe; sie besteht in einem 
Intensitätsunterschied, aber ebensooft in einem Qualitätsunter- 
schied der Empfindung. 

Wünscht man nun den Grad einer Störung im Sinne der Er- 
regbarkeitsveränderung zu kennen, so ist, wie schon be- 


236 STEIN u. v. WEIZSÄCKER 


merkt, die Rücksicht auf den räumlichen und den zeitlichen Reiz- 
faktor unerläßlich. Die isolierte Reizung der Sinnespunkte ist ein 
bei kranken durchaus erreichbares Ziel. 

Druckreize. Das Reizhaar nach v. Frey ist unbedingt 
überlegen, weil es ‘gestattet einzelne Druckpunkte zu reizen, weil 
es äußerst bequem zu handhaben ist, weil es wirkliche Schwellen- 
untersuchung gestattet, weil es, wenn man das Abgleiten vermeidet, 
eine streng örtlich begrenzte Applikation erlaubt und endlich weil 
(infolge seiner geringen Masse) die nicht immer streng gleiche Ge- 
schwindigkeit des Aufpralls beim Aufsetzen keine erhebliche Energie- 
änderung bedeutet und eine wichtige Fehlerquelle so vermieden 
ist. Es ist also die unersetzliche Methode zur Auffindung und Er- 
regbarkeitsbestimmung von Druckpunkten. 

a) Bei peripheren, neuritischen oder traumatischen Nerven- 
läsionen, und bei gewissen zentralen Erkrankungen, finden wir nun 
die Rarefikation der Druckpunkte, d. h. wir finden im 
gestörten Felde weniger zahlreiche aber normalschwellige Druck- 
punkte (v. Frey (1) an Nervenverletzten, Franz (2) und Stein 
auch an spinal Erkrankten. Nach Stein kommt die Rarefikation 
bei Syringomyelie und Brown-Sequard’schem Syndrom vor und sie ist 
offenbar ein für die Hinterhorn- und Seitenstrangerkrankung 
charakteristisches Bild. 

b) Ein zweiter Fall ist der, daß wir bei Reizhaaruntersuchungen 
überhaupt keine normalen Druckpunktschwellen mehr finden, sondern 
nur erhöhte Schwellen. Auch dann finden wir aber ausgezeichnete 
Stellen die besser erregbar sind als ihre Umgebung: Druckpunkte 
mit verminderter Erregbarkeit. Dieser Befund kommt, 
wie wir neuerdings sahen (Dr. Cohen (16)), auch im Regenerat 
einer peripheren Läsion vor. Auf das besondere Verhalten bei 
spinaler Hinterstrangstörung kommen wir zurück. 

c) Wenn wir Rarefikation oder Erregbarkeitsminderung der 
Druckpunkte haben, so brauchen wir beim Absuchen eines Feldes 
eine durchschnittlich viel größere Zahl von Reizungen um eine ge- 
gebene Anzahl von positiven Reizerfolgen zu erhalten. Wir werden 
aber auch einen in 100°/, der Applikation wirksamen Reiz erst in 
einem viel stärkeren Haar besitzen als unter normalen Verhält- 
nissen. Man kann nun unter Verzicht auf das Aufsuchen einzelner 
Druckpunkte rein statistisch feststellen, in wieviel °% der 
Reizungen die Haare eines Satzes von ansteigender Stärke wirk- 
sam sind und erhält so eine Kurve. Diese Kurve beginnt im Falle 
der Rarefikation mit einem normalen Schwellenwert, im Falle der 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 237 


allgemein verminderten Erregbarkeit von vornherein mit einem er- 
höhten Schwellenwert (Franz (2)). 

d) Hyperästhesien im Sinne der Schwellenerniedrigung 
von Druckpunkten sind klinisch bisher niemals gefunden worden. 
Auch im Meskalinrausch haben Mayer-Groß und Stein (15) die 
absoluten Schwellen bisher nie erniedrigt gefunden. 

e) Wenn wir Reizhaare benutzen, welche überschwellig für 
Druckpunkte sind, so erregen wir ein größeres Areal, weil die 
Deformation der Haut in der Fläche und Tiefe zunimmt. Es ist 
nun für viele Zwecke bequemer, sich eines Reizhaares zu bedienen, 
welches eben hinreicht um nicht nur am Druckpunkte sondern an 
jedem Punkte eine Empfindung auszulösen. Dies ist um so weniger 
bedenklich, als die Druckpunktschwellen einer Region normaler- 
weise verschiedene sind und als sie ja in verschiedenen Regionen 
verschieden dicht angeordnet sind. Wir stehen an der Grenze der 
Verfahren, bei denen man mehrere Druckpunkte zugleich bzw. eine 
dem Auge als solche schon imponierende Fläche reizt. Dies 
empfiehlt sich auch dann, wenn die Schwellen mit Haaren schon 
mehr als 5—10 g betragen. 

Zur Feststellung der Flächenreizschwellen ist allein eine 
Methode zulässig, bei der keine Verschiebung auf der Haut und 
kein Tangentialzug an der Haut vorkommen kann und bei der die 
Geschwindigkeit des Aufsetzens eines Gewichtes nicht variieren 
kann. Diesen Bedingungen genügen die üblichen Barästhesiometer 
nicht. Wir benutzen mit verschiedenen Modifikationen die von 
Hansen (13) geschilderte Methode, bei der eine aufgeklebte Scheibe 
durch einen Hebel angedrückt wird, der seinerseits wieder so be- 
lastet wird, daß keine mechanische Störung, insbesondere keine 
Fallbeschleunigung vorkommen kann (4) (5). 

Die Untersuchung mit Flächenreizen ergab uns nun, daß auch 
bei der bloßen Rarefikation (bei der also normal erregbare Druck- 
punkte noch da sind), die Flächenreizschwelle erhöht gefunden 
wird, wie nach den Untersuchungen von v. Frey zu erwarten war. 
Man darf daher umgekehrt aus einer Hypästhesie für Flächenreize 
nicht auf eine solche für Druckpunktreize schließen (v. Frey 
sprach daher in solchen Fällen von „scheinbarer“ Hypästhesie); und 
die klinisch üblichen Methoden sind ja „Flächenreize“. 

f Wir haben bisher nur von absoluten Schwellen gesprochen. 
Besonders in den Anschauungen von H. Head ist die Tätigkeit, 
Druckunterschiede wahrzunehmen, auch theoretisch als sehr 
wichtig erkannt und als „kortikale“ Funktion gedeutet worden. 


238 Stein u. v. WEIZSÄCKER 


Die unter e) besprochene Methode eignet sich zu einer (quanti- 
tativen) Untersuchung der Unterschiedschwellen am besten. Auch 
v. Strümpell pflegte seinen „tiefen Drucksinn“ in der Weise zu 
prüfen, daß dem Patienten verschieden tiefe Fingerdrucke zum Ver- 
gleich aufgegeben wurden, aber diese Untersuchungsweise ist in 
mehrfacher Hinsicht ungeeignet. Es ist nämlich durch v. Frey 
und seine Schule sichergestellt, daß bei den überschwelligen 
Druckreizen der intensive von einem exteusiven Faktor nicht zu 
trennen ist, weil die Hautdeformation auch des nicht von der Reiz- 
fläche berührten umgebenden Gebietes mitgereizt wird und in den 
Erregungskomplex mit eingeht; in welchem Betrage dies im Einzel- 
falle und bei verschiedenen Reizstärken der Fall ist, darüber wissen 
wir noch nicht genug. Auf weitere Bedenken kommen wir später 
zu sprechen. Bei peripheren Läsionen der Nerven kann man zeigen, 
daß die relative Unterschiedschwelle auch dann nicht merklich ver- 
ändert zu sein braucht, wenn in einem Gebiete Rarefikation der 
Druckpunkte und erhöhte Flächenreizschwelle besteht (Cohen 16)). 

g) Tiefer Druck. Drückt man die Haut, namentlich über 
Weichteilen, etwas tiefer ein, so entsteht, wie schon ein scharfes 
Zusehen mit dem unbewaffneten Auge zeigt, eine überaus weit- 
ausgreifende Formänderung des Gliedes, die bei der hohen Erregbar- 
keit der taktilen Endigungen nicht verfehlen kann, ein großes 
Areal auf eigentümliche Weise zu erregen. Darum muß tiefer 
Druck immer als ein sehr unübersichtlicher, wenig brauchbarer 
Reiz betrachtet werden. Die von v. Frey nie rund bestrittenen, 
sondern ihm nur als unbewiesen geltenden Druckrezeptoren in der 
Unterhaut und in den Muskeln, Sehnen, Aponeurosen, Gelenken, 
Knochen usw. sind daher für gewöhnlich praktisch nicht isoliert 
untersuchbar, worauf in dieser schwierigen Frage doch alles an- 
käme. Wir haben uns neuerdings der Annahme tiefer ge- 
legener Rezeptoren für Druckreize zugeneigt; aber es gibt bisher 
keine geeignete Methode, diese Rezeptoren für sich zu prüfen. Was 
wir bei tiefem Druck untersuchen, ist eine weitgreifende Defor- 
mation und damit Reizung zunächst der Cutis, die teils mehr in 
senkrechter, teils in mehr tangentialer Richtung auf ihre Re- 
zeptoren wirkt. 

h) Verstärkung. Wenn es danach vorläufig nicht aussichts- 
voll ist, neben den Schwellen für Druck schlechtweg (sei er klein- 
oder großflächig ausgeübt) noch einen „tiefen Druck“ sui generis 
zu unterscheiden, so kann doch die Frage aufgeworfen werden, 
welches überhaupt die Bedeutung der Extensität (Reizfläche) als 


-— ——— me ——.__ 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 239 


solcher für den Reizwert der Drucke sei. Wir stellen uns ja doch 
irgendein Zusammenwirken der räumlich auseinanderliegenden Re- 
zeptoren vor, und dies Zusammenwirken ist, wie schon bemerkt, 
beim Normalen dem Gesetz der gegenseitigen Verstärkung unter- 
worfen. Eine solche ist auch bei der Retina bekannt und sie ist 
von Sherrington bei der Untersuchung der Reizbedingungen des 
Kratzreflexes gefunden und in die Form geprägt worden, daß die 
(sc. Vergrößerung der) Extensität dieselbe Wirkung hat wie die 
(sc. Vergrößerung der) Intensität. In pathologischen Fällen ist nun 
eine Veränderung oder Ungültigkeit dieses Prinzips der Verstärkung, 
bisher wenigstens, in keinem Falle gefunden worden (4). Auch 
diese Versuche wurden im Prinzip nach der Methode von Hansen 
durchgeführt. 

i) Geführte Bewegungen. Daß bei der Wahrnehmung 
geführter („passiver“) Bewegungen die Hautsensibilität eine große 
Rolle spielt und jedenfalls die Last der feineren und feinsten, ge- 
nauer: der schwellennäheren Empfindungen trägt, geht aus v. Frey’s 
Untersuchungen unwiderlegt hervor (vgl. H. Stein (17). Man kann 
am Krankenbett ohne einen Apparat, der die Winkelgrößen und 
-geschwindigkeiten mißt, keine exakten Schwellenuntersuchungen 
anstellen. Unter pathologischen Verhältnissen aber nimmt, wie sich 
zeigte, gerade Winkelgröße und -geschwindigkeit einen sehr wesent- 
lichen Anteil am Reizwert einer passiven Bewegung. Wir finden 
eine etwas raschere Bewegung wirksam, während eine langsame vom 
gleichen Ausmaß unwirksam ist. Neben dem Raumwert ist also 
hier der Zeitwert des Reizes wichtig und zuweilen ist die Ge- 
schwindigkeitschwelle wesentlich erhöht. Während wir nun diesen 
Geschwindigkeitsfaktor bei einer gewöhnlichen manuellen Unter- 
suchung des Gesunden überhaupt nicht demonstrieren können, gelingt 
es bei Kranken oft leicht die Anästhesie gegen langsamere, die 
Empfindbarkeit von schnelleren Bewegungen schon im manuellen 
Versuch nachzuweisen. 

k) Bewegte Reize. Schon beim Normalen ist, wie neuere 
Untersuchungen zeigten (H. Ahringsmann u. A. Buch (7), ein 
Druckreiz von bestimmter Stärke wirksamer, wenn er auf der Haut 
fortbewegt wird; so kann das einfache Aufsetzen eines bestimmten 
Druckes unwirksam sein, bewegt man ihn aber von der Stelle, so 
wird er wirksam. Auch Wegstrecke und Geschwindigkeit sind von 
Einfluß auf den Reizwert. Dieser Tatbestand ist von hoher Bedeutung 
auch für die Kritik an bestimmten Methoden. Die üblichen klinischen 
Methoden sind sehr schwer oder gar nicht so anzuwenden, daß 


240 STEIN u. v. WEIZSÄCKER 


Bewegung auf der Haut beim Auf- und Absetzen vermieden bleibt. 
Als Symptom aber für bestimmte Sensibilitätstörungen ist es charakte- 
ristisch, daß Reize von gewisser Stärke, die beim Gesunden längst 
überschwellig sind, beim Kranken erst wirksam sind, wenn sie eine 
mehr oder weniger lange Strecke auf der Haut fortbewegt werden. 


l) Kraftsinn. Beim Auflegen von Gewichten auf die Haut 
wird von einem gewissen Druck an die eventuell unter der Haut 
liegende Muskulatur ebenfalls deformiert. Aber wir wissen nichts 
über die nur denkbare Beteiligung der Muskelsensibilität. Anders 
bei Spannung des Muskels in der Längsrichtung unter Benutzung 
der natürlichen Gelenk- und Hebelvorrichtungen. Hier gelingt 
(v. Frey) der Nachweis einer selbständigen und von der Mit- 
wirkung des Drucksinnes der Haut unabhängigen Leistung der 
Muskel- bzw. Sehnensensibilität. Um aber die Wirkung der haut- 
sinnlichen Faktoren auszuschalten, sind ganz besondere, in klini- 
schen Fällen selten befriedigend durchführbare Bedingungen zu 
schaffen (vgl. Hansen (18). Vielmehr liegt bei den gewöhnlich 
anwendbaren Methoden des Gewichtschätzens mit Hitzig’schen 
Kugeln oder Manschetten eine gemeinsame Beanspruchung von 
Kraftsinn (Muskelsinn) und Drucksinn (Hautsinn) vor, die über- 
dies von sehr vielen Faktoren abhängt, die nicht alle leicht zu 
beherrschen sind (Panzel (6). Von einer klinischen Methode, 
welche gestattete Ausfälle oder Schwellenänderungen des Kraft- 
sinnes festzustellen, kann man daher bis jetzt nach unserer 
Meinung nicht sprechen. 

m) Die Erzeugung von Schmerz- und Temperaturemp- 
findungen darf hier kurz erledigt werden. Wir benutzen, um 
Schmerzpunkte und die Schwelle für Schmerzempfindungen zu prüfen, 
die von v. Frey analog dem Reizhaar erfundene Stachelborste nach 
seinen Angaben, zur Auffindung der Kaltpunkte die kupferne Knopf- 
sonde, für die Warmpunkte seine elelektrisch erwärmte Platin- 
schlinge. Bei den Temperaturreizen ist die Beachtung der Reiz- 
fläche von ganz beherrschender Wichtigkeit und es scheinen für 
die Erregung der Kälte- und Wärmepunkte mit punkt- und mit 
flächenförmigen Reizen dieselben Verhältnisse zu gelten, wie für 
die oben für den Druck entwickelten. Es besteht kein Zweifel, 
daß auch für die Temperatursinnstörungen beides vorkommt: die 
Rarefikation und die allgemeine Schwellenerhöhung für die Erregung 
der Temperaturpunkte. Beide Störungen dokumentieren sich durch 
eine Schwellenerhöhung bei Anwendung flächenförmiger Reize. 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 241 


II. Funktionswandel. 


Die bisher besprochenen Untersuchungsmethoden gehen über 
die in der Klinik der Nervenkrankheiten allgemein und die von 
physiologisch orientierten Forschern wiè Goldscheider, Head 
und verschiedenen anderen befolgten besonderen Verfahrungsweisen 
grundsätzlich nicht allzusehr hinaus. Das Studium der Sinnes- 
punkte ist ja von verschiedenen Klinikern aufgenommen worden, 
nachdem Goidscheider, Blix und v. Frey, ihre Entdeckungen 
vorgelegt hatten. — Anders steht es mit den nunmehr zu be- 
sprechenden Methoden, die nicht nur aufdecken sollen, ob eine be- 
stimmte Empfindungsqualität noch erzeugt werden kann oder nicht, 
und in welchem Grade etwa die Erregbarkeit für sie gesunken ist; 
vielmehr ist im folgenden gefragt: wie verläuft unter pathologischen 
Verhältnissen der Erregungsvorgang in zeitlicher und räumlicher 
Beziehung, wie erfolgt das Zusammenwirken der Teile des sensibeln 
Organes zu einem Ganzen, zu einer Gesamtleistung. Wir haben bei 
früheren Gelegenheiten ausgeführt und oben schon angedeutet, daß 
in der klinischen Sensibilitätslehre wie sie gegenwärtig noch weit- 
verbreitet ist und in den Lehrbüchern, z. B. auch von Dejerine 
in seiner S&miologie, dargestellt wird, einige fundamentale Irrtümer 
vorliegen. Vor allem handelt es sich dabei um den Versuch, eine 
Reihe von Funktionen der sog. Tiefensensibilität zuzuschreiben, die 
nachweislich schon von den Hautrezeptoren geleistet werden, und 
ferner um den Versuch, aus bestimmten dissoziierten Sensibilitäts- 
störungen Schlüsse auf getrennte Rezeptoren und Leitungsbahnen 
zu ziehen, während man doch zeigen kann, daß solche Dissoziationen 
dadurch entstehen, daß ein Sinnesapparat für eine seiner ver- 
schiedenen Funktionen tüchtig bleibt, für eine andere untüchtig 
wird, wobei zugleich ein eigentümlicher Funktionswandel eintreten 
kann. Allgemein sei bemerkt, daß der letztere Punkt uns für die 
Pathologie greifbarer und zur Zeit übersehbarer erscheint, als die 
topographische Frage nach der Lagerung bestimmter Rezeptoren 
in der Oberfläche oder Tiefe, wie wohl es für das Verständnis des 
pathologischen Funktionsabbaues ganz entscheidend ist zu wissen, 
daß Vibration, Bewegung und Lage, Ort und Figur, Druck und tiefer 
Druck zunächst einmal sicher von den oberflächlich gelegenen 
Hautrezeptoren vermitttelt werden, während der Anteil tiefer Emp- 
fänger zumindest noch unsicher ist. Aber man muß auch dann, 
wenn man die Mitwirkung der (sicher viel spärlicher vorhandenen) 
tiefen Rezeptoren für wahrscheinlich hält, bedenken, daß mit dieser 
topographischen Einsicht nichts gewonnen ist für die Frage, wie 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 16 


242 STEIN u. v. WEIZSÄCKER 


denn die gewaltige Mannigfaltigkeit von Empfindungen und Wahr- 
nehmungen, welche z. B. unsere Hand vermittelt zustande komme. 
Sicher ist heute nur soviel: es geht nicht an für jede neue Leistung, 
die sich ein Untersucher zu untersuchen vornimmt (sei es die 
Prüfung auf Vibration, Bewegungswahrnehmung, Tiefendruck oder 
was auch immer), ein neues Organ, einen neuen anatomisch- 
physiologischen Repräsentanten, eine neue Leitungsbahn und einen 
neuen Sinn zu postulieren, wozu die ältere Epoche allzusehr ge- 
neigt schien. Sondern wir müssen die Grundlage der Sensibilität 
zunächst nur als das auffassen, als was sie uns gegeben ist: als 
ein einheitliches Gesamtorgan, welches eine große Mannigfaltigkeit 
von Leistungen nicht nur dadurch erzielt, daß es in Unter- oder 
Teilorgane differenziert ist, sondern auch dadurch, daß es auf sehr 
verschiedenen Weisen und in mannigfaltigen Formen in Tätigkeit 
gerät, denen jedesmal qualitativ andere Empfindungen und Wahr- 
nehmungen entsprechen. 

Pathologie deszeitlichen Erregungsablaufs. Wenn 
die allgemeine Orientierung über sensible Ausfälle erreicht ist, 
wenden wir uns zur Prüfung des Verhaltens in zeitlicher Beziehung. 

: 1. Schwellenlabilität (Stein (3). Mit einem Reizhaar, 
welches bei beliebigem Aufsetzen in einem Umkreis von 2 oder 3 cm? 
jedesmal eben wirksam gefunden wird, also jedenfalls einen un- 
gefähren Schwellenreiz darstellt, fährt man fort in einem Rhythmus 
von etwa ',—1 Sekunde zu reizen. Der Patient muß bei jeder 
Empfindung mit „ja“ antworten. In gewissen noch zu bezeichnenden 
Fällen findet man dann das Haar nach 10 oder 20 Reizen un- 
wirksam werden. Man geht jetzt zu dem um 0,1 oder 0,2 g stärkeren 
Haar über und findet es zunächst wirksam, aber bei wie vorher 
rhytlimisch wiederholter Reizung verliert auch dieses seine Wirkung. 
Dasselbe wiederholt sich bei der nächsthöheren Haarstärke und 
die Schwelle kann so fort bis zu einem definitiven Wert von mehreren 
(Gramm ansteigen, um auf ihm stehen zu bleiben. 

Dieses Phänomen der Schwellenlabilität ist auch für Schmerz- 
reize bei Anwendung geaichter Stachelborsten nachweisbar (Stein 8)) 
und wurde neuerdings auch bei der Erregung von Temperaturpunkten 
mit spitz zulaufenden Thermoden erwiesen (Cohen 16)). Es wurde 
bisher ausschließlich bei zentralen (spinalen und cerebralen) Er- 
krankungen gefunden und unter den spinalen wiederum, wie es bis 
jetzt scheint, nicht bei den auf die Seitenstränge beschränkten 
Herden; die Schwellenlabilität ist vielmehr charakteristisch für die 
Hinterstrangerkrankung. 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 243 


Der Zustand der infolge von Labilität erhöhten Schwelle breitet 
sich über den gereizten Bezirk hinaus nur wenig, vermutlich nicht 
über eine Segmentbreite, aus. Er hält den Grad der Störung ent- 
sprechend längere oder kürzere Zeit an (wenige Minuten bis eine 
Viertelstunde) und bildet sich nur allmählich zurück. Da nun bei 
der gewöhnlichen Prüfung auf Ausfälle der Untersucher den Ort 
der Reizung fortwährend ändert und da Labilität bei Kranken 
vorkommt, deren Schwellen primär und für die ersten Reize normal 
sind, so muß diese Funktionstörung den üblichen Methoden not- 
wendig entgehen 1). In der Tat hat die Labilität auch eine völlig 
andere klinische und physiologische Bedeutung als der Ausfall. 


Die Erscheinung der Labilität läßt sich nun nicht nur mit 
Reizbaaren usw. nachweisen. Man kann in ausgesprochenen Fällen 
bei sorgsamer Reizung mit der Fingerkuppe bei rhythmischer Wieder- 
holung an derselben Stelle ebenfalls das Unwirksamwerden leichter 
Berührung, das Wiederauftreten und Wiederverschwinden bei 
stärkerer Reizung feststellen. Aber auch das Anschreiben von 
Zahlen auf die Haut zeigt, daß die ersten Zahlen erkannt, die 
folgenden, an dieselbe Stelle geschriebenen nicht erkannt werden. 
Einigemale bemerkten wir, daß die von Strümpell vorgeschlagene 
Aufgabe, den Intensitätswechsel von tiefem Druck an derselben 
Stelle zu erkennen, von dem Kranken schon nach einigen wenigen 
Versuchen nicht mehr gelöst wird, wenn hochgradige Schwellen- 
labilität besteht. Es ist nach dem Vorstehenden leicht zu verstehen, 
wie Strümpell durch die zugleich erhaltene Berührungsempfind- 
lichkeit der Haut, deren Labilität ihm entgehen mußte, zu dem 
Fehlschluß auf eine selbständige und isoliert ausfallende Sensibilität 
für tiefen Druck gelangen konnte. Endlich kann man bei der 
Prüfung der Wahrnehmung geführter Beweguugen, wenn man diese 
oft genug (10-20 mal und öfter) wiederholt, ein rasches Erlahmen 
der Leistung mit Fehlurteilen und schließlichkem Wahrnehmungs- 
ausfall feststellen. Es ist bei diesen Fällen übrigens zu zeigen, 
daß eine sehr kräftige Beanspruchung, z. B. ein kräftiges Frottieren, 
aber auch sehr brüske und ausgiebige Bewegungen ebenfalls ge- 
eignet sind, das Ansteigen der labilen Schwellen herbeizuführen. 

Andererseits wird, wo Labilität besteht, die Untersuchung auf 
„die“ Erregbarkeitsschwelle immer dann illusorisch, wenn die 
Untersuchungsmethode dazu zwingt ein und dasselbe Sinnesfeld 


1) Nur Head war auf sie gestoßen, hat. sie aber infolge seiner Unter- 
suchungsweise für eine Unfähigkeit, Intensitätsunterschiede zu erkennen, gehalten. 
16* 


244 Stein u. v. WEIZSÄCKER 


oder Rezeptorengebiet wiederholt und kurz hintereinander zu be- 
anspruchen. Geschieht dies, so erhält man jene dem Kliniker wohl 
bekannte „Unbestimmtheit“, „Unsicherheit“, „Inkonstanz“ der An- 
gaben, die aber eben gerade nicht auf solchen Dingen, sondern im 
Gegenteil auf einem in sich gesetzmäßigen Wandel der Funktion, 
und zwar auf einer pathologischen Verzögerung des in jedem 
Sinnesorgan nach jeder Erregung notwendigen Restitutionsvorgang 
der Erregbarkeit beruht. 

2. Vibration. Obwohl die Tatsache, daß die Oberflächen- 
rezeptoren der Haut den Eindruck der Vibration vermitteln und 
die Annahme einer Empfänglichkeit der Knochen-Periostsensibili- 
tät für Vibration von verschiedenen Seiten stark erschüttert und 
durchaus nicht nötig ist um die Erscheinungen zu erklären, halten 
viele Untersucher unbeirrt an der Gleichsetzung von Vibrations- 
empfindung und Knochensensibilität fest. Es ist z. B. interessant, 
daß der erfahrene Döje&rine schreibt, man pflege den Vibrations- 
sinn bei schwerster Querschnittlähmung als letzte und einzige 
sensible Qualität an den Beinen erhalten zu finden. Dieser Satz 
ist ein stärkeres Argument als viele andere für die auch von 
v. Frey vertretene Auffassung, daß die Knochen lediglich die 
Rolle eines mechanischen Überträgers der Schwingungen von 
anästhetischen auf noch empfindlich gebliebene -Hautgegenden 
spielen. Die Stimmgabel ist also völlig ungeeignet, topographische 
Untersuchungen zu ermöglichen und sie fördert auch nicht die 
Funktion eines besonderen Sinnesorgans zutage. Vielmehr ist 
sie ein geeignetes Mittel zur Untersuchung der Fähigkeit des 
Hautsinnes, rasch wiederholte mechanische Erschütterungen als 
eigentümliche Qualität — „Vibrationsgefühl“ — zu empfinden. 
Man darf hier von Empfindung sprechen, weil eine gesonderte 
Wahrnehmung und Unterscheidung der Einzelstöße nicht in Frage 
kommt. 

Wenn nun die Methode befolgt wird, bei der man feststellt, 
wie lange die Vibration einer Stimmgabel empfunden wird, so 
stellt die Methode entweder eine gewöhnliche Schwellenuntersuchung 
dar: wir erfahren, daß bei Abnahme der Amplitude eine sonst noch 
empfundene Schwingungsgröße nicht mehr wirksam ist. Dies kann 
z. B. bei peripherer Nervenläsion eintreten. Oder aber, wenn 
Labilität vorliegt, so kann die Beanspruchung als solche zu einer 
raschen Schwellenzunahme und damit einer vorzeitigen Erschöpfung 
der Empfindung führen. Die Abkürzung der Empfindungsdauer 
einer Stimmgabelvibration ist also kein eindeutiger Befund, was 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 245 


den Wert der Methode entschieden beeinträchtigt. Andererseits 
ist die neuerdings wieder betonte Tatsache, daß Vibrationsemp- 
findungstörungen als Frühsymptom bei Tabes gefunden werden, 
sehr verständlich, eben weil die Schwellenlabilität für die tabische 
Hinderstrangerkrankung bezeichnend ist. 

Eine brauchbare Schwellenmethode für die Vibrationsempfindung 
schlechtweg ohne jene Einführung des Zeitfaktors und ohne Be- 
nutzung des spontanen Abklingens der Stimmgabel existierte bis- 
her nicht, ist aber jetzt von Hansen und Stein im Anschluß an 
v. Frey an unserer Abteilung ausgearbeitet, aber noch nicht ver- 
öffentlicht worden. Wir verfolgen dieses Spezialproblem hier nicht 
weiter, sondern gehen über zu der allgemeinen Frage der Unter- 
suchung, wie sich der Hautsinn bei rasch aufeinanderfolgender 
mechanischer Erregung derselben Stelle verhält. 

3. Nachdauer und Verschmelzung (Störung der Um- 
stimmung). Es gibt Kranke bei denen ein auf einen ersten taktilen 
folgender zweiter gleichstarker Reiz schwächer oder gar nicht 
empfunden wird, wenn das Intervall zwischen dem Aufhören des 
ersten und dem Beginn des zweiten 1 bis 10 Sekunden beträgt 
{Stein (5). Es kann diese Feststellung in exakter Weise mit 
Flächenreiz und Hebelvorrichtungen (s. 0.) gemacht werden. Im 
alltäglichen Gebrauch kann man sich damit begnügen, zwei auf- 
einanderfolgende Drucke mit der Fingerbeere oder einem Reizhaar 
von 5—8 g auf dieselbe Stelle auszuüben. Man läßt den ersten 
Reiz, der deutlich überschwellig sein soll, ca. 5 Sekunden lasten; 
nach einem Intervall von 1—56 Sekunden wiederholt man diesen 
Reiz und läßt angeben ob der zweite Reiz empfunden und ob er 
ebenso stark empfunden wurde wie der erste. 

Dabei tritt ferner in Erscheinung, daß trotz Entfernung des 
ersten Reizes die Empfindung fortdauert, ja bis zu dem Grade, 
daß die Entfernung gar nicht bemerkt wird. Eben mit dieser 
Nachdauer hängt es zusammen, daß der einfallende 2. Reiz weniger 
oder gar nicht gespürt wird, also mit dem ersten verschmilzt. 
Man kann diese Phänomene als Folge einer gestörten Restitution, 
als abnorme Umstimmung des Sinnesorganes auffassen, die mit dem 
positiven Nachbild des Gesichtssinnes zu vergleichen ist. Es zeigt 
sich, daß es dieselben krankhaften Störungen sind, welche Labilität 
und welche diese Umstimmung des Drucksinnes bewirken; wir 
brauchen sie nicht nochmals zu nennen. Statt eines Doppelreizes 
kann man auch längere Serien verwenden, etwa so, daß man in 
kurzen Intervallen einen nicht zu leisen Druck mit der Finger- 


246 STEIN u. v. WEIZSÄCKER 


beere ausübt und den Patienten zählen läßt, wie oft er berührt 
worden sei. Diese für weniger Intelligente nützliche Methode er- 
faßt aber wiederum auch das Gebiet der Schwellenlabilität; da aber 
diese diagnostisch eine ähnliche Bedeutung hat, kann man dies 
gelegentlich vernachlässigen. 

Besonders bequem zu untersuchen und eindrucksvoll sind ferner 
die folgenden Phänomene, die (Stein(19)) wohl ebenfalls vor allem 
durch Nachdauer und Verschmelzung von Successivreizen entstehen: 
man zeichnet mit Finger oder Stift Kreise, Halbkreise, Kreuze, 
kurze Gerade auf die Haut. Dabei sehen wir dann, wenn wir 
den Kranken mit der eigenen Hand und geschlossenen Augen das 
Gezeichnete nach jedem Reiz auf seiner Brust oder auf ein Papier 


+ Orc 


Wahrnehmungsfi gur A'n 


+tOktg 


Rerıfıgur B Wahrnehmungsfigur B’: Bt 
Abb. 1. 


nachzeichnen lassen, etwa folgende Ergebnisse. In der Figur sind 
2 Beispiele der bei Funktionswandel vorkommenden Wahrnehmungs- 
täuschungen beim Aufzeichnen von Kreuzen (Reizfigur A und B) 
dargestellt. Zeichnet man also z. B. das Kreuz A, so kann es beim 
ersten Male vielleicht noch richtig erkannt werden; aber bei Wieder- 
holung an derselben Stelle wird statt dessen ein Kreis oder ein Kreis- 
fragment (A,—A,) wahrgenommen und schließlich geben manche 
Kranke an, überhaupt nichts mehr unterscheiden zu können. Die 
Bilder dürfen nicht als strenge Gesetzmäßigkeiten, aber doch als ein 
sehr gewöhnlicher Typus der Erscheinung angesehen werden. Bei 
einfachen Strichbewegungen in gleicher Richtung an gleichem Ort 
mehrmals hintereinander tritt oft der Funktionswandel so zutage, daß 
nach einigen Reizen nur noch einfache Punktberührung empfunden 
wird. — Diese Erscheinungen machen sich auch bei der ja längst 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 247 


gebräuchlichen Methode des Anschreibens von Zahlen auf die Haut 
geltend und erklären deren Wert, weil man dort ja wohl meist un- 
absichtliche (und in Unkenntnis, daß dies gerade wesentlich ist) auf 
derselben Hautstelle mehrmals hintereinander verharrte. Die 
Zahlen sind aber weniger zweckmäßig, weil sie sehr ungleichwertig 
sind und weil z. B. die eckige 4 im Sinne unserer Figur falsch als 
runde Zahl wahrgenommen wird, während die 0, die 6 und die 9 leichter 
erkannt werden. Außerdem haben die Zahlenzeichen beim Schreiben 
einen eigentümlichen zeitlichen Rhythmus (sozusagen eine Melodie), 
welcher sich als besonderes Erkennungsmerkmal neben dem rein 
räumlichen in ungleicher Weise geltend macht (man vergleiche 
z. B. 4, 5, 9). 

Endlich ist zuweilen eine leicht demonstrierbare Täuschung 
bei Funktionswandel diese: man setzt eine Serie von in einer Ge- 
raden liegenden einfachen Berührungen: ..... Dabei empfindet 
der Kranke mit Funktionswandel eine einfache Strichbewegung: > 


Überblick. 


Überblickt man die hier besprochenen Methoden, so wird man 
leicht gewahr, daß sich die klinische Untersuchungstechnik auf 
falschem Wege befände, wenn sie ihre Ergebnisse dadurch wesent- 
lich zu verbessern hoffte, daß sie sich statt der üblichen Methoden 
den experimentellen, quantitativen und die Messung „verfeinern- 
den“, kuz den instrumentellen Methoden zuwendete. Dies ist zwar 
für wissenschaftliche Fragen in der Regel absolut notwendig; auch 
können wir gewisse schwierige Diagnosen heute gelegentlich durch 
die Verfeinerung der Methode im quantitativ-messenden Sinne 
fördern und ein Satz verschieden starker gleicher Reizhaare ist 
kaum zu entbehren. Aber entscheidend ist für die Klinik wie und 
was untersucht wird, nicht: daß es um jeden Preis messend unter- 
sucht wird. Und hier scheint uns das wichtigste erstens: daß 
nicht auf Ausfälle und Hypästhesien im Sinne irgendwelcher 
durch zufällige Aufgabenstellung definierter Methoden, sondern im 
Sinne physiologisch definierter Funktionen untersucht werde (Ab- 
schnitt I); zweitens aber: daß die elementaren Funktionen nicht 
nur auf Schwellenwerte schlechtweg sondern auf räumlichen und 
zeitlichen Funktionswandel untersucht werden (Abschnitt II). Die 
zweite Forderung geht nun schon daraus hervor, daß, versäumt 
man das letztere, die Sensibilität als völlig „intakt“ erscheinen 
kann, während sie doch schwer gestört ist, wie der eine von uns 
(Stein (?)) für die Friedreich’sche Krankheit eingehend gezeigt hat 


248 STEIN u. v. WEIZSÄCKER 


und wie es ganz besonders häufig für die multiple Sklerose gilt. 
Aber die Bedeutung dieses Unterschieds wird dann noch klarer, 
wenn man auf das in der Klinik besonders wesentliche Interesse 
der Lokalisationen eingelit. — Zweitens aber, und dies ist ein 
damit verbundenes mehr theoretisches Problem, müssen wir fragen, 
was sich ergibt, wenn wir nicht nach dem Ort der Läsion, sondern 
nach ihrer Bedeutung für die Leistungen des Organismus fragen, 
also sowohl nach jenen meist lebensfremden Leistungen, die vom 
Untersucher und Experimentator gefordert werden, wie auch nach 
den für das normale Leben wichtigen und ihm natürlichen: durch- 
weg Leistungen die vom Standpunkt der Elementarphysiologie aus 
als komplexe erscheinen. 

Was nun die lokalisatorische Bedeutung der verschiedenartigen 
Befunde anlangt, so war es längst in allem Wesentlichen eigent- 
lich .seit Brown-Séquard bekannt, daß die Erkrankung der 
phylogenetisch jüngeren Hinterstränge sich nicht so sehr in An- 
ästhesien oder Hypästhesien als in Störung derjenigen Funktionen 
äußert, welche man oft als „Tiefensensibilität“ auffaßte, und zu 
welchen vor allem Lage- und Bewegungswahrnehmung (sogar als 
besonderer „Sinn“ aufgefaßt), Vibrationsempfindung, Gewichts- 
schätzungsvermögen gerechnet wurden; freilich war auch immer klar, 
daß eine Gleichsetzung von Hinterstrangs- und Tiefensensibilität 
nicht zulässig sein kann, weil doch Lokalisation, Diskrimination 
und andere „raumsinnliche“* Leistungen der oberflächlichen Haut 
ebenfalls elektiv durch Hinterstrangerkrankung betroffen werden. 
Immerhin geriet man in beträchtliche Verlegenheit wegen der Frage, 
wie eigentlich raumsinnliche und nur qualitative Leistungen des 
oberflächlichen Drucksinnes auf Hinter- und Seitenstränge verteilt 
zu denken seien. Ein Gabelung und örtliche Trennung z. B. eines 
„Lokalzeichens* von der Empfindung, der es anhaftet, ist eine 
physiologisch ganz unanschauliche, nicht recht vollziehbare Vor- 
stellung. Man muß sagen, daß diese Schwierigkeit heute noch 
nicht gelöst ist. Indes glauben wir einen wesentlichen Schritt zur 
Lösung des Problems dann getan zu haben, wenn wir zeigen können, 
wie und warum gewisse Leistungen ausfallen, gewisse andere nicht. 
Wir glauben, daß es ein falscher Weg war, solche Dissoziationen 
ohne weiteres auf eine Mehrheit von anatomischen Organisationen 
zurückzuführen, wie es immer wieder geschah und geschieht; wenn 
wir nämlich zeigen können, daß im Erregungsablauf schon ganz 
elementare Veränderungen zeitlicher und räumlicher Art eintreten, 
ohne daß die Erregung und die Erregbarkeit schlechthin dadurch 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 249 


berührt ist, so müssen ja auch alle komplizierteren Leistungen da- 
durch verändert und gestört werden. Und nun ist leicht zu er- 
kennen, daß fast alles, was man Hinterstrangs- oder „Tiefensensi- 
bilität“ genannt hat, komplizierte, ja zum Teil hoch komplizierte 
Leistungen sind. Nicht also die Lage der Rezeptoren, nicht die 
Lokalisation und Fortleitung ihrer „Leistungen“ im Hinterstrang 
als solche ist das die Bewegungs-, Vibrations-, Raumwahrnehmung 
usw. auszeichnende, sondern daß sie komplizierte Leistungen sind 
und daß ihr Gelingen mit einem ganz exakten Arbeiten eines 
komplizierten Systems steht und fällt — das ist das Besondere an 
ihnen. Es ist physiologisch daher unzulässig, Leistungen wie Druck-, 
Wärme-, Kälte- und Schmerzempfindung schlechtweg zu koordinieren 
mit Angaben über Bewegung, Ort, Zeitgestalt u. dgl. eines ob- 
jektiviert wahrgenommenen Reizes. Es ist eben darum auch wohl 
schon unzulässig, sich Hinter- und Seitenstränge wie zwei ähnliche 
Arten von Leitungsbahnen vorzustellen: die Hinterstränge sind ge- 
wissermaßen lediglich im Dienste der Herstellung einer Kommuni- 
kation mit den großen cerebralen Organen wichtig, eigentlich da- 
her ein Stück Gehirnfunktionsträger, während die (übrigens nicht 
rein durchlaufenden) sensibeln Seitenstrangbahnen primitiveren, viel- 
leicht archaischen Charakter tragen. 

So können wir auch sagen (vgl. Einleitung): die einfachen 
Ausfälle von sensibeln Qualitäten wie Berührung, Druck, Warm, 
Kalt, Schmerz und vielleicht Kitzel sind als bloß „ästhetische“ 
Leistungsdefekte ohne weiteres durch Leitungsbehinderung der Seiten- 
strangbahnen zu verstehen. Das meiste im Abschnitt I a)—e) und m) 
aufgeführte gehört hierher und ist wahrscheinlich intraspinal an die 
Hinterhorn- und Seitenstrangintegrität gebunden. Auch wo die 
peripheren Bahnen unterbrochen oder dezimiert sind, haben wir 
solche einfache Ausfälle mit Rarefikation und Schwellenerhöhung 
in der geschilderten Weise zu erwarten. Dieses System allein ist 
aber völlig unvermögend irgendeine kompliziertere Leistung zu be- 
herrschen. Dazu wird eine Verbindung mit noch anderen, ausge- 
dehnteren und auch im Gehirn lokalisierten Organen erforderlich 
und diese vermitteln die Hinterstränge. Wo diese fehlen, da tritt 
ein Funktionswandel ein mit den charakteristischen zeitlichen und 
räumlichen Ablaufstörungen der Einzelerregung, und mit „Koordi- 
nationstörungen“ ihres Zusammenwirkens.. Wenn die Schwellen 
nicht mehr konstant, die Erregungsdauer abnorm verlängert, die 
Umstimmungsvorgänge verzögert und die räumliche Gestaltung der 
Erregungsbilder verwirrt sind, dann müssen trotz erhaltener Er- 


350 STEIN u. v. WEIZSÄCKER 


regbarkeit und trotz primär normaler Schwellen die im Ab- 
schnitt I f)—e) und die unter II aufgeführten Leistungen unmöglich 
werden. Einige derselben können schon den noëtischen zugerechnet 
werden; fügt man dort nicht Erwähntes, wie Stereognosie, Größen- 
schätzen, Raumschwellen, Dingtasterkennen noch hinzu, so läßt sich 
für alle diese Leistungen zusammen sagen, daß sie als noetische 
ausnahmslos einen solchen sehr exakten Ablauf der Elementar- 
funktion voraussetzen und durch Funktionswandel störbar sind. 
Umgekehrt werden sie gerade, wie die Untersuchung der peripheren 
Nervenläsion zeigt, durch einfachen Ausfall (Rarefikation und 
Schwellenerhöhungen) auffallend wenig beeinträchtigt, solange noch 
einige Reste von erregbaren Sinnesorganen da sind, die, weil sie 
keinen Funktionswandel aufweisen, mit der gewohnten Präzision 
und Konstanz arbeiten. 

Es ist aber unzweckmäßig bei der Untersuchung sich auf die 
Prüfung von Dingtasterkennen, Sterognosie, Tastkreisen (Diskri- 
mination), Bewegungswahrnehmung, Gewichtschätzen, Vibrations- 
dauer in erster Linie zu stützen. Alle diese hochwertigen Leistungen 
können durch elementaren Funktionswandel beeinträchtigt sein, 
müssen aber nicht immer diese Ursache haben. Sie sind, wie schon 
gelegentlich angedeutet worden, zweideutig, sie können auch anders 
zustande kommen. Ein schwerer Ausfall (z. B. peripherer Art) 
kann sie ebenso stören, psychische Momente können sie hindern. 
Zuerst muß man feststellen ob Funktionswandel elementarer 
Art vorliegt. Liegt er vor, dann ist es selbstverständlich, daß auch 
die komplizierteren Leistungen geschädigt sind. Es steht heute 
noch nicht fest, in welchem Umfang durch einen Zusammenhang 
dieser Art Agnosie vorgetäuscht worden ist, d. h. eine Unfähigkeit 
zu komplizierten Leistungen bei als erhaltenen angenommener 
Sensibilität; wir halten es nur für sicher, daß eine nicht geringe 
Reihe der Fälle, die als Tastagnosie (Wernicke) beschrieben 
wurden, solche sind, bei denen ein elementarer Funktiouswandel in 
unserem Sinne, also eine gestörte Sensibilität vorlag, aber über- 
sehen wurde, weil nur auf Ausfälle untersucht wurde. Und auch 
wo Ausfälle von Leistungen untersucht werden, die wie die Wahr- 
nelımung der Bewegungen, die Raumschwellen, als relativ einfach 
galten (in unserem Sinne aber schon recht kompliziert sind), kommt 
es nun gerade hier auf quantitative Methoden an, weil nur sie 
gewisse geringere Schwellenänderungen aufdecken, die aber gerade 
wichtig für das Zustandekommen des präzisen Eindruckes sind. 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 251 


Bemerkung über den praktischen Gang der 
Untersuchung. 


Eine schematische Anweisung über die Aufnahme des Sensi- 
bilitätsstatus hat große Bedenken. Nur daran ist in jedem Falle 
festzuhalten, daß die Untersuchung in zwei getrennten Abschnitten 
1. auf Ausfälle und 2. auf Funktionswandel gerichtet sein muß. 
In diesen beiden Phasen der Statusaufnahme verhält sich der 
Untersucher völlig verschieden. In der ersten bewegt es sich fort- 
gesetzt von einer Körperstelle zur nächsten usf. und gewinnt so 
ein topographisches Schema; in der zweiten verharrt er bei einem 
einzigen ausgewählten kleinen Stück der Sinnesfelder,”bei einem 
einzigen Gliedabschnitt und prüft das zeitliche und das räumliche 
Verhalten des Erregungsprozesses und gewinnt so ein funktionelles 
Diagramm. Diese zweite Aufgabe ist technich durchaus nicht 
schwieriger als die erste; beide können für diagnostische Zwecke 
mit einfachen Mitteln gelöst, für quantitative Messungen nur mit 
nach ganz bestimmten Grundsätzen wirkenden instrumentellen Reiz- 
methoden gelöst werden. 


Da die gleichmäßig vollständige Durchforschung der ganzen 
Körperoberfläche und aller Einzelglieder ungeheuer zeitraubend ist, 
so halten wir uns je nach den klinischen Syndromen bei der Unter- 
suchung auf Ausfälle zunächst an die topographisch-anatomisch 
durch Nervenausbreitung, Spinalsegmente und cerebrale Lokali- 
sationen vorgezeichneten Grenzlinien, während wir bei der Unter- 
suchung auf Funktionswandel beachten, daß dieser letztere am 
leichtesten nachweisbar und relativ stärksten ausgeprägt an den 
jeweils distaleren Gliedabschnitten aufzutreten pflegt. 

Die vorhergehende Darstellung ging absichtlich nur auf einen 
kleinen Teil der klinisch, im Lauf der Zeit üblich gewordenen 
Untersuchungsarten ein und brachte andererseits Dinge zur Sprache, 
die, wie die Sinnespunkte, immer nur von einzelnen Forschern be- 
achtet wurden, und sie bringt endlich drittens einige Methoden zur 
Sprache, die bisher überhaupt nicht in die Klinik eingeführt sind. 
Wir erlauben uns daher zum Schluß noch einmal diejenigen Methoden 
kurz zusammenzustellen, welche wir bei einer alltäglichen und rein 
diagnostisch orientierenden Untersuchung für besonders wesent- 
lich halten und lassen dabei diejenigen weg, welche nach unserem 
Dafürhalten ungeeignet sind, auf raschem und einfachem Weg zu 
grundsätzlich eindeutigen und wichtigen Feststellungen zu gelangen. 


I. Ausfälle. Man benutzt die Fingerbeere der eigenen Hand, 


252 Stein u. v. WBEIZSÄCKER 


Pinsel oder Flaumfeder. Von Ort zu Ort fortschreitende Prüfung 
unter möglichst weitgehender Verwendung der an (womöglich) 
symmetrischen Stellen vergleichenden Methode (analog der ver- 
gleichenden Perkussion), unter Vermeidung der Bewegung oder des 
tangentialen Zugs und häufigem Fragen nach qualitativen Diffe- 
renzen des empfindungsmäßigen Eindruckes. — Für Schmerz und 
Temperatur die üblichen Methoden in gleicher Weise wie vorhin. 
— Bei quantitativer Untersuchung auf Schwellen für Drucksinn: 
Reizhaare von abgestufter Stärke, für Schmerz: Stachelborste (mit 
Distelstachel armiertes Reizhaar nach v. Frey); für Kaltpankte: 
Kupferknopfsonde, für Warenpunkte: Platinöse mit elektrischer 
Heizung. Diese Temperatursinnprüfungen gestatten aber nur ein 
Aufsuchen der Sinnespunkte, keine Schwellenmessung. 

IL. Funktionswandel. An derselben Stelle untersucht man 
in einem Bezirk von 2—3 cm? auf Schwellenlabilität des 
Drucksinnes: mit einem Satz abgestufter Reizhaare (s. o.), noch 
einfacher (nicht immer ausreichend) durch rhythmisch wiederholte 
möglichst schwellennahe Berührung mit Finger, Pinsel oder Flaum- 
feder; auf Labilität der Wahrnehmung von Bewegungen durch in 
der Geschwindigkeit abgestufte (je langsamer desto geringer der 
Reizwert) passive Bewegungen, die längere Zeit rhythmisch wieder- 
holt werden; auf Labilität des Figurenerkennens durch immer an 
derselben Stelle wiederholtes Anschreiben von Figuren oder Zahlen 
mit dem Finger. Bei jeder dieser Methoden hat der Patient nach 
jedem Reiz mit „ja“ bzw. der Angabe von Richtung bzw. Figur 
oder Zahl zu antworten. 

Auf Nachdauer und Verschmelzung wird untersucht 
durch Wiederholen von ein, zwei oder mehr leichten Druckreizen 
an derselben Stelle von etwa gleicher Stärke und Dauer. Der 
Patient hat anzugeben 1. wann eine Empfindung aufhört, 2. wie 
viele Reize einer gegebenen Serie er empfunden hat (dabei kann 
bei längeren Serien die Wirkung der Labilität sich einmischen. 
Dasselbe gilt von folgender Methode: man zeichnet einfachste 
Figuren (Striche verschiedener Länge und Richtung, Bögen, Kreise, 
Kreuze) auf eine Stelle. Der Patient hat mit seinem Zeigefinger 
bei geschlossenen Augen die betreffende Figur in identischer Rich- 
tung auf einen beliebigen Untergrund nachzuzeichnen. 


Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 253 


Literatur. 


1. M. v. Frey, Physiologische Sensibilitätsprüfungen. Verhandl. d. 37. 
Kongr. f. inn. Med. 1924, S. 19. (Mit physiol. Literatur). — 2. K. Franz, N. U. 
Nr. 2.1) Untersuchungen mit Reizhaaren nach statistischer Methode. Dtsch. Zeit- 
schr. f. Nervenheilk. 78, 212, 1923. — 3. H. Stein, N. U. Nr. 3. Die Labilität 
der Drucksinnschwelle bei Sensibilitätsstörungen. Ib. 80, 57, 1923. — 4. V. v.W eiz- 
säcker, N. U. Nr. 4. Untersuchung des Drucksinns mit Flächenreizen bei Nerven- 
kranken (Phänomen der Verstärkung). Ib. 80, 159, 1923. — 5. H. Stein, N. U. 
Nr. 5. Nachempfindungen bei Sensibilitätsstörungen als Folge gestörter Um- 
stimmung (Adaptation). Ib. 80, 218, 1923. — 6. A. Panzel, N. U. Nr.9. Unter- 
suchungen über das Vergleichen von Gewichten bei Gesunden und Kranken. Ib. 
8,161. 1925. — 7. H. Ahringsmann u. A. Buch, N. U. Nr. 10. Uber die Wahr- 
nehmung von bewegten Reizen auf der Haut. Zeitschr. f. Biol. 1926. — 8. H. Stein, 
N.U. Nr. 11. Über die bei Friedreich’scher Ataxie usw. Dtsch. Zeitschr. f. Nerven- 
heilk. 1926. — 9. v. Weizsäcker, Uber die Sensibilität, insbesondere den Druck- 
sinn vom physiologischen Gesichtspunkte aus. Klin. Wochenschr. 2, 2109, 1923. 
— 10. v. Weizsäcker, Über den Funktionswandel, besonders des Drucksinnes, 
bei organisch Nervenkranken und über Beziehungen zur Ataxie. Pflüger’s Arch. 
f. d. ges. Physiol. 201, 317, 1923. — 11. A. Panzel, Inaug.-Diss. Heidelberg 1923. 
—12. V.v. Weizsäcker, Die Pathologie der Oberflächen- und Tiefensensibilität. 
Verhandl. d. 37. Kongr. f. inn. Med. Wiesbaden 1925, S. 33. — 13. K. Hansen, 
Neue Versuche über die Bedeutung der Fläche für die Wirkung von Druckreizen. 
Zeitschr. f. Biol. 62, 1918. — 14. ". v. Frey, Einige Beobachtungen an Nerven- 
verletzten. Sitzungsber. d. physiol. med. Ges. Würzburg. S. 26, 1916/17. — 
lb. Mayer-Groß u. Stein, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. — 
16. G. Cohen, in Vorbereitung. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. — 17. H. Stein, 
Uber die Wahrnehmung geführter Bewegungen und das Zustandekommen einer 
Scheinnewegungswahrnehmung in einem Fall von Pseudoartherose. Zeitschr. f 


Biol. 84, 33, 1926. — 18. K. Hansen, Verhandl. d. 37. Kongr. f. inn. Med. 1924. 
— 19. H. Stein, Ib. 


1) N. U. — „Neurophysiologische Untersuchungen“ aus unserer Abteilung. 


254 


Besprechungen. 


1; 

Sergius Voronoff, Organüberpflanzung und ihre praktische 
Verwertung beim Haustier. Erschienen bei Werner Klink- 
hardt, Leipzig. VIII u. 37 S., 59 Abb. auf Taf., ins Deutsche 
übersetzt von Dr. Gerhard Golm. 


Der Verfasser gibt eine eigene Methode der Einpflanzung des Hodens 
in den Hodensack (innerhalb oder außerhalb der Tunica vaginalis) an. 
Durch diese Methode soll die Hodenpfropfung zu einem vollen Erfolg 
geführt werden können. Die histologischen Untersuchungen der Pfropfungen 
Voronoff’s hat Prof. Retterer in Paris ausgeführt wobei er in 
monatlichen Zwischenräumen durch zwei Jahre hindurch den Prozeß der 
Einheilung des verpflanzten Hodens verfolgte. Eine einzige histologische 
Abbildung, welche das Erhaltenbleiben des gepfropften Hodens beweisen 
soll, ist dem Buche Voronoff’s beigegeben; sie wirkt durchaus nicht 
überzeugend. 

Voronoff’s eigene Versuche an Ziegenböcken, Widdern, Stieren, 
Ferkeln, Pferden sollen zeigen, in welch auffallend fördernder Weise die 
Verpflanzung eines dritten Hodens auf Gewicht, Fell (Wolle), Fettansatz, 
Muskulatur (Fleischmenge) wirkt. In bezug auf Verlängerung der Lebens- 
zeit und der Zeugungskraft sollen ebenfalls Erfolge erzielt worden sein. 
Die große wirtschaftliche Bedeutung solcher Hodentransplantationen wird 
in sehr optimistischer Form hervorgehoben. Der Optimismus erreicht 
seinen Höhepunkt in der Ankündigung der Möglichkeit, durch generations- 
weise wiederholte Pfropfungen neu erworbene Eigenschaften konstant zu 
machen und neue Rassen zu schaffen, welche wirtschaftlich besser aus- 
nutzbar wären! 

In einem kurzen Vorwort zu Voronoff’s Schrift betont R. Müh- 
sam seine Auffassung von der auf die Dauer wirkungslosen Hodenüber- 
` pflanzung beim Menschen, hält aber eine kritische Nachprüfung der 
Voronoff’schen Versuche für wünschenswert. 

Diesem Wunsche kann man sich nur anschließen. Vor allem müßte 
geklärt werden, ob die behaupteten Erfolge auf die Resorption spezifischer 
Hormone oder unspezifischer Stoffe aus dem Transplantat zurückzuführen 
sind und ob andere Einflüsse (Ernährung usw.) ausgeschlossen werden 
können. Das dauernde Erhaltenbleiben des transplantierteun Hodengewebes 
müßte durch überzeugende histologische Bilder bewiesen werden. 

(Borst.) 


Besprechungen. l 255 


Die Klinik der bösartigen Geschwülste II. Bd. Heraus- 
gegeben von P. Zweifel und E. Payr. Verlag von 8. Hirzel, 
Leipzig 1925. 

Der vorliegende zweite Band der „Klinik der bösartigen Geschwülste“ 
umfaßt die bösartigen Neubildungen der Brustorgane (Krampf und 
Ssuerbruch), der Speiseröhre (Rehn), der Bauchdecken (Sonntag), 
des Magendarmkanals (Kleinschmidt, Payr, Schmieden, Clair- 
mont), der Leber, der Gallenwege, des Pankreas und der Milz (Heller), 
der Harnorgane und männlichen Geschlechtsorgane (Kümmell, Völcker 
und Böminghaus), der Wirbelsäule (Guleke) und Extremitäten 
(Frangenheim). Den Schluß des Bandes bildet ein Kapitel über die 
Beziehungen zwischen Geschwulstbildung und Trauma (Frangenheim). 
Stets ıst bei den einzelnen Kapiteln die pathologische Anatomie be- 
rücksichtigt, die klinischen Erscheinungen werden ausführlich bebandelt, 
insbesondere auch Diagnose und Differentialdiagnose sowie Prognose er- 
örter, Die Besprechungen der therapeutischen Maßnahmen, vor allem 
der operativen Technik, zeigen, was hinsichtlich der Bekämpfung bösartiger 
Geschwülste heute schon erreicht ist und was wir noch von der Zukunft 
erhoffen müssen. Der Inhalt des Werkes wird vor allem seiner Anlage 
entsprechend den Chirurgen interessieren, aber auch jeder Praktiker und 
Theoretiker wird in allen Fragen über die Klinik der in diesem Band 
behandelten bösartigen Geschwülste die erhoffte Auskunft finden, wozu 
besonders auch die ausführlichen Literaturangaben mit beitragen. Sehr 
zablreiche, schön ausgeführte Abbildungen und Tafeln sind dem Bande 
beigegeben, überhaupt entspricht die würdige äußere Ausstattung voll- 
kommen dem wertvollen Inhalt des Werkes. (Groll, München.) 


3 


W. Klein u. M. Steuber. Die gasanalytische Methodik des 


dynamischen Stoffwechsels. Georg Thieme Leipzig, 
1925. 5,40 M. 


Die Verfasser geben in dem kurzen Werkchen (99 Seiten) eine vor- 
zügliche Übersicht über Methodik, Technik und Apparatur zur Unter- 
suchung des respiratorischen Stoffwechsels, wie sie von Zuntz am tier- 
physiologischen Institut der landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin 
erprobt worden sind. Zunächst werden Respirationsapparate für physio- 
logische Zwecke, wie der Pettenkofer-Tigerstedt’sche Apparat, der von 
Auntz-Geppert, der von Reignault-Reiset, das pneumatische 
Kabinett und auch ein Respirationsapparat für kleine Tiere nach Haldane 
geschildert. Von den einfacheren Apparaten, die zur Bestimmung der 
Abweichungen bekannter physiologischer Reaktionen wie des Grundumsatzes 
oder der spezifisch-dynamischen Wirkung des Eiweiß dienen, daher für 
klinische Zwecke geeignet sind und sich auch längst eingeführt haben, 
sind in erster Linie die von Benedikt u. Krogh ausgewählt worden. 
Die Technik und Berechnung wird jeweils an Hand von Versuchsbei- 


256 Besprechungen. 


spielen erläutert. Von Gasanlysenapparaten sind der von Haldane 
und der von Klein modifizierte Differentialapparat nach Sonden- 
Tigerstedt beschrieben. In einem besondern Abschnitt werden die ge- 
bräuchlichsten Absorptionsmittel für CO, und O, bebandelt. Vervollständigt 
wird das Werk durch einen Anhang, in dem sämtliche für die Gasanalyse 
und für die Berechnung der Körperoberfläche aus dem Gewicht in Betracht 
kommenden Tabellen einschließlich des Diagramms von Du Bois aufge- 
fübrt sind. Dadurch wird es zum praktischen Laboratoriumsbuch und 
sich bald nicht nur in den physiologischen sondern auch den klinischen 
Stoffwechsellaboratorien einführen. (K. Felix, München.) 


4, 


C. Funk, Mikroelementaranalyse nach der Mikro-Denın- 
stedt-Methode. Bergmann München, 1925, 1,50 M. 


Verfasser hat eine neue Form der Mikroelementaranalyse ausge- 
arbeitet, die im wesentlichen auf dem Prinzip der Dennstedt’schen 
Methode und der vereinfachten Mikroelementaranalyse von Dubsky 
beruht. Bei der Kohlenstoff-Wasserstoff-Bestimmung ist die Rohrfüllung 
auf einzelne Porzellanschiffchen verteilt. Bei dem Mikro-Dumas liegt 
das reduzierte Kupfer nicht am Anfang wie bei der Pregl’schen Füllung 
sondern wie bei Dubsky am Ende Für den Kjeldahl wird im 
wesentlichen die Pregl’sche Anordnung benützt. Die Resultate, die 
Verf. mit seiner Methode erzielt, erscheinen befriegend.. Er verwendet 
mehr Substanz zur Verbrennung, etwa 5—10 mg, während man bei der 
Pregl’schen Anordnung bereits mit 3—5 mg auskommt. Ob die neue 
Methode sich auch in anderen Laboratorien bewährt, muß sich erst zeigen. 

(K. Felix, München.) 


257 


Aus der Medizinischen Klinik Lindenburg der Universität Köln. 
(Direktor: Geheimrat Moritz.) 


Schwankungsbreite und Schwankungsart der Durchmesser 
menschlicher Erythrocyten. - 


Von 


Privatdozent Dr. Ernst Wiechmann und Dr. Albert Schürmeyer. 
(Mit 3 Kurven.) 


In einer früheren Arbeit (1) hatten wir gezeigt, daß der mittlere 
Erythrocytendurchmesser beim Menschen unter den verschiedensten 
Bedingungen verschieden groß ist. Schon die Art des untersuchten 
Blutes ist entscheidend für seine Größe. In dem durch Arterien- 
punktion gewonnenen arteriellen Blut ist der mittlere Durchmesser 
der Erythrocyten wesentlich kleiner als im Venenblut. Im ersten 
Tropfen Hautblut, das durch Einstich in die Fingerbeere mit der 
Francke’schen Nadel gewonnen ist, ist er angenähert ebenso groß 
wie im venösen Blut. Macht man aber Einschnitte in die Finger- 
beere und schaltet die ersten Blutstropfen aus, so ist der mittlere 
Durchmesser der Erythrocyten in dem so gewonnenen Hautblut 
dem der roten Blutkörperchen des Arterienbluts fast völlig gleich. 
Untersucht man immer dieselbe Blutart, so ist der bei ein und 
demselben Individuum an verschiedenen Tagen zur gleichen Tages- 
zeit festgestellte mittlere Durchmesser innerhalb ganz geringer 
Schwankungen gleich. Im Schlaf nimmt er regelmäßig an Größe 
zu. Durch bis zur Erschöpfung gehende körperliche Anstrengung 
(Treppenlaufen) wird der mittlere Durchmesser vergrößert, durch 
forcierte Atmung verkleinert. Der mittlere Radius der Erythro- 
cyten acidotischer Diabetiker ist größer als der Norm entspricht 
und wird nach Insulininjektion kleiner. Bei den Neugeborenen ist 
der mittlere Durchmesser wesentlich größer als bei den Normalen 
und bei ihren eigenen Müttern. 

Unsere früheren Mitteilungen hatten sich im wesentlichen auf 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 17 


958 WIECHMANN U. SCHÜRMEYER 


den mittleren Erythrocytendurchmesser bezogen. Nur für die 
Normalen, die Neugeborenen und ihre Mütter hatten wir jeweils.den 
größten und kleinsten Durchmesser angegeben. Neuerdings haben 
nun Ohno und Gisevius (2), offenbar ohne Kenntnis unserer 
Arbeit, die Schwankungsbreite und Schwankungsart der Erythro- 
cytendurchmesser zum Gegenstand einer Arbeit gemacht. Die von 
ihnen mitgeteilten Ergebnisse haben uns veranlaßt, unsere früheren 
Protokolle unter dem gleichen Gesichtspunkte zu betrachten. Hier- 
über und über einige ergänzende Untersuchungen soll im folgenden 
berichtet werden. 

Was die Methodik anlangt, so sei auf unsere frühere Arbeit 
verwiesen. Betont sei nur, daß jedesmal je 100 gefärbte und un- 
gefärbte Erythrocyten gemessen wurden. Wie wir (1) früher ge- 
zeigt haben, und wie auch Ohno (3) nachgewiesen hat, ist der 
mittlere Durchmesser der Erythrocyten desselben Blutes im trocknen 
Ausstrichpräparat gleich groß wie im Plasma resp. Serum, und die 
Färbung des Ausstrichpräparates nach Pappenheim ändert an dem 
Durchmesser nichts. Wir weisen hierauf ausdrücklich hin, weil 
Ohno und Gisevius in der Zusammenfassung ihrer neuerlichen 
Arbeit (2) sagen, daß „es unbedingt erforderlich ist, nur an solchen 
Präparaten zu messen, in denen die Erythrocyten gegenüber physio- 
logischen Bedingungen in ihrer Größe unverändert erhalten sind, 
also entweder im Plasmapräparat oder im ungefärbten Trocken- 
ausstrich“. Daß unsere Messungen ohne irgendeine Größenaus- 
wahl und nur an einzeln liegenden und vollkommen kreisrunden 
Erythrocyten vorgenommen wurden, ist selbstverständlich.. Wenn 
es nicht anders angegeben ist, beziehen sich die Werte immer auf 
durch Einstich mit der Francke’schen Nadel gewonnenes Hautblut. 

In Tabelle I sind die Verhältnisse bei Normalen, männlichen 
und weiblichen Individuen, dargestellt. Dort ist der mittlere Erythro- 
cytendurchmesser angegeben; die Einzelergebnisse sind von 0,25 
zu 0,25 u der Größe nach geordnet, und das prozentuale Verhältnis 
ist errechnet. Man erkennt, daß der bei einem und demselben 
Individuum an verschiedenen Tagen zur gleichen Tageszeit fest- 
gestellte mittlere Erythrocytendurchmesser innerhalb ganz geringer 
Schwankungen konstant ist, ohne daß aber die prozentuale Ver- 
teilung der Einzelgrößen gleich ist (Versuchs-Nr. la, 1b, 1c, ld 
und 4a, 4b, 4c der Tabelle I) Im Gegensatz zu den Angaben von 
Ohno (3) und Ohno-Gisevius (2), wonach der mittlere Erythro- 
cytendurchmesser bei den weiblichen Personen etwas größer sein 
soll als bei den männlichen, konnten wir keinen Unterschied zwischen 


259 


Schwankungsbreite u. Schwankungsart d. Durchmesser menschl. Erythrocyten. 


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17 


260 WIECHMANN U. SCHÜRMEYER 


den beiden Geschlechtern nachweisen. Auch die prozentuale Ver- 
teilung der Einzelgrößen ist bei beiden Geschlechtern ziemlich 
gleich. Während unsere für den mittleren Erythrocytendurchmesser 
gefundenen Werte mit den von Ohno und Gisevius angegebenen 
gut übereinstimmen (7,90: 7,96), differiert der Abstand des größten 
vom kleinsten Durchmesser in beiden Fällen außerordentlich, und 
auch die prozentuale Verteilung der Einzelgrößen ist in beiden 
Fällen völlig verschieden. Wir finden zwischen Maximum- und 
Minimumwert eine Differenz von 1,14 u, Ohno und Gisevius da- 
gegen von 3,15 u. Demgemäß hat die von uns auf Grund von 5200 
Messungen von Erythrocytendurchmessern gewonnene Erythrocyten- 
durchmesser - Normalkurve (vgl. Kurve 1) einen ganz anderen Ver- 
lauf als eine von Ohno und Gisevius für einen Normalfall an- 
gegebene. Unsere Kurve hat eine viel schmälere Basis und steigt 
viel höher an als jene Kurve, die Ohno und Gisevius wieder- 

geben. Während z.B. Ohno und 


. Gisevius 21°% aller Durch- 
= messer zwischen 7,75 und 7,99 u 
Be finden, beträgt unser entsprechen- 
z der Wert 65 °/,. Man erkennt schon 

hieraus, woraufspäter noch zurück- 
i zukommen sein wird, daß der 
Jo mittlere Erythrocytendurchmesser 
20 in zwei verschiedenen Fällen 
vo gleich sein kann, auch wenn die 
j Differenz zwischen Maximum und 
20 25 80 a5 u 


Minimum und die prozentuale Ver- 

Rue Sonne Arsen teilung der Einzelgrößen weit- 

gehend differieren. Das Studium 

der Schwankungsbreite und Schwankunbsart der Erythrocyten- 
durchmesser hat also seine innere Berechtigung. 

In jenen Fällen aber, wo die Werte für den mittleren Durch- 
messer verschieden sind, muß auch die prozentuale Verteilung der 
einzelnen Größengruppen differieren. Wie dies schon der Fall ist, 
je nachdem, aus welchem Gefäßbezirk das Blut stammt, erhellt ein- 
drucksvoll aus Tabelle II. Entsprechend dem angenähert gleichen 
mittleren Durchmesser der Erythrocyten im arteriellen und durch 
Einschnitt gewonnenen Hautblut ist hier auch die prozentuale Ver- 
teilung der Einzelgruppen ungefähr gleich. Beim arteriellen und 
venösen Blut dagegen differiert nicht nur der mittlere Durchmesser, 
sondern auch die einzelnen Grüßengruppen variieren in ganz be- 


261 


v 


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‚ Durchmesser mensehl. Erythrocyten. 


Schwankungsbreite u. Schwankungsart d 


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262 WIECHMANN U. SCHÜRMEYER 


stimmter Weise. So finden sich im arteriellen Blut durchschnittlich 
nur 4° aller Durchmesser zwischen 8,00 und 8,24 u, im venösen 
Blut dagegen 34 °/,. Interessanterweise stimmen aber die einzelnen 
Größengruppen im venösen und in dem durch Einstich mit der 
Franke’schen Nadel gewonnenen Hautblut nicht sehr gut überein, 
obgleich die mittleren Durchmesserwerte sich fast decken. In 
ähnlicher Weise wie im arteriellen und venösen Blut schwanken die 
Einzelgrößen der Durchmesser bei einem und demselben Individuum 
im Hautblut nach übermäßiger Atmung und nach schwerer körper- 
licher Anstrengung (vgl. Kurve 2). Schwankungsbreite und Schwan- 
kungsart gehen im großen und ganzen immer parallel. 
Schwankungsbreite und Schwankungsart der Durchmesser 
scheinen aber nicht in allen Lebensperioden die gleichen zu sein. 


Normal 
een nach ubermässıger Atmung 
60) "Mch schwerer körperlicher Anstrengung: 


0 e e 
60 A ß 7 A 8I Jo Ad 


Kurve 2. Prozentuale Verteilung der Durchmesser-Gruppenwerte beim Normalen 
nach übermäßiger Atmung und nach schwerer körperlicher Anstrengung. 


Wie wir früher gezeigt haben, ist bei den Neugeborenen der mittlere 
Erythrocytendurchmesser wesentlich größer als dem Befund bei 
den Normalen und auch bei ihren eigenen Müttern entspricht. Dem- 
entsprechend ist auch die Differenz zwischen Maximum- und Mini- 
mumwert erheblich größer als in der Norm, und auch die Einzel- 
gruppen verteilen sich auf eine viel größere Breite als in der Norm. 
Während bei den Müttern der mittlere Erythrocytendurchmesser 
ungefähr der Norm entspricht, ist der Abstand zwischen größtem 
und kleinstem Durchmesser größer als sonst, und auch die pro- 
zentuale Verteilung der Einzelgruppen umfaßt einen viel größeren 
Bezirk als gewöhnlich (vgl. Tabelle III). Sowohl bei den Neu- 
geborenen als auch bei ihren Müttern sind diese Befunde als Zeichen 
einer verstärkten Tätigkeit des Knochenmarks zu deuten. So fand 
E. Grawitz (4) im Blut ausgetragener Neugeborener in 20°% der 
Fälle kernhaltige rote Zellen, und die beträchtliche Anisocytose 


263 


Schwankungsbreite u. Schwankungsart d. Durchmesser menschl. Erythrocyten. 


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264 WIECHMANN U. SCHÜRMRYER 


im Blutbild der Schwangeren ist wohl jedem Beschauer aufgefallen. 
Makro- und Mikrocyten sind von Payer (ö), Poikilocyten von 
Schäffer (6) beschrieben worden. 


Wir wollen hier davon absehen, den Einfluß der diabetischen 
Acidose und des Insulins, vom Schlaf, von Bikarbonat- und Morphium- 
zufuhr auf Schwankungsbreite und Schwankungsart der Durchmesser 
zu erörtern. Nur auf die Verhältnisse bei der perniziösen Anämie 
soll noch hingewiesen werden. In Kurve 3 ist die prozentuale Ver- 
teilung der Durchmessergruppenwerte bei 2 Fällen von perniziöser 
Anämie dargestellt. Während der mittlere Erythrocytendurchmesser 
bei diesen Fällen ungefähr normal ist, nämlich 7,90 und 7,75 a 
beträgt, ist die Erythrocytendurchmesserkurve mit der von uns 
angegebenen Normalkurve überhaupt nicht zu vergleichen. Sie 
hat eine außerordentlich breite Basis und eine vollkommen unregel- 
mäßige Form. Ihr höchster Punkt liegi wesentlich tiefer als in 
der Norm. Auch diese Beobachtungen lehren wieder, daß die An- 


40 43 30 3s 77) 65 70 75 30 45 RS u 


Kurve 3. Prozentuale Verteilung der Durchmesser-Gruppenwerte bei 2 Fällen 
von perniziöser Anämie. 


gabe des mittleren Erythrocytendurchmessers durchaus nicht immer 
genügt, und daß es sich wohl empfiehlt, auf Schwankungsbreite und 
Schwankungsart der Durchmesser einzugehen. 


Zusammenfassung. 


Bei Größenmessungen von Erythrocyten nach der von Ohno 
angegebenen Methode ergibt sich für das durch Einstich mit der 
Francke’schen Nadel gewonnene Hautblut eine Schwankungsbreite 
der Durchmesserwerte von 6,90—8,60 u. Die durchschnittliche 
Differenz von Maximum- und Minimumwert beträgt 1,14 u. Die 
Schwankungsart der Durchmesser wird durch eine Erythrocyten- 
durchmesser-Normalkurve wiedergegeben. Abweichungen von der 
normalen Schwankungsbreite und Schwankungsart finden sich im 
arteriellen Blut, nach schwerer körperlicher Anstrengung und über- 
mäßiger Atmung und bei den Neugeborenen und ihren Müttern. 
Der mittlere Erythrocytendurchmesser kann normal sein, auch wenn 


Schwankungsbreite u. Schwankungsart d. Durchmesser menschl. Erythrocyten. 265 


Schwankungsbreite und Schwankungsart der Durchmesser weit- 
gehend von der Norm abweichen. Dies gilt vor allem für die 
perniziöse Anämie. 


Literatur. 


1925 l. Wiechmann u. Schürmeyer, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 146, 362, 
50 — 2 Ohno u. Gisevius, Pflüger's Arch. f. d. ges Physiol. 210, 315, 
1925. — 3, Ohno, Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. 201, 376, 1923. — 4. E. Gra- 
witz, Klin. Pathol. des Blutes. Georg Thieme, Leipzig 1911. — 5. Payer, 


o i ‚Gynäkol. 71, 421, 1904. — 6. Schäffer, Zentralbl. f. Gynäkol. 29, 
ty, RAID, 


266 


Aus der Medizinischen Klinik Würzburg. 
(Vorstand: Prof. Morawitz.) 


Getäßstudien. 
IV. Mitteilung. 


Über den Blutdruck in seiner Abhängigkeit von Gefäßweite 
und Herztätigkeit. 


Von 


Prof. &. Ganter, Rostock. 
(Mit 5 Kurven.) 


Dem Verhalten des Blutdrucks wird in der Klinik große Be- 
deutung beigemessen. Man geht neuerdings soweit, bei gewissen 
Kranken die Blutdrucksteigerung direkt als Krankheitsbezeichnung 
zu verwenden. Das Symptom wurde zur Diagnose. So spricht 
man von einer genuinen oder essentiellen Hypertonie, wenn 
sich keine der bekannten Ursachen für die Blutdrucksteigerung 
feststellen läßt. 

Als Grundlage jeglicher Hypertonie wird allgemein die Ver- 
mehrung der Gefäßwiderstände in der Peripherie des großen Kreis- 
laufs angenommen. Volhard?) hat dies in seinem Wiener Re- 
ferat ausdrücklich hervorgehoben. 

Da bei Sektionen von Hypertonien an den Gefäßen mikro- 
skopisch nachweisbare Veränderungen oft fehlen, da andererseits 
auch Blutdrucksteigerungen zurückgehen können, so scheinen als 
Ursache für die Hypertonie in erster Linie funktionelle Ver- 
änderungen an den Gefäßen in Frage zu kommen. 

Von etwa vorhandenen Veränderungen der Herztätigkeit im 
Sinne einer Vergrößerung des Minutenvolumens, die wenigstens 
theoretisch ebenfalls als Ursache einer Blutdrucksteigerung in 


1) F. Volhard, Verhanidl. d. dtsch. Ges. f. inn. Med. 35, S. 134, 1923. 


Gefäßstudien. 267 


Frage kommen, wird kaum je gesprochen. Man hat anscheinend 
bisher solche Zustände nicht feststellen können. 

Bei Versuchen, die ich zu anderen Zwecken ausgeführt habe, 
sind mir nun Befunde begegnet, die geeignet ensehemen; einen 
Beitrag zu dieser Frage zu liefern. 


Bei diesen Versuchen habe ich in einer Kurve Blutdruck, 
Herzfrequenz und Gefäßweite aufgeschrieben. Über die Einzel- 
heiten der Methode verweise ich auf meine Arbeit im Archiv f. 
exper. Path. und Pharm. Bd. 110. Hier soll nur soviel zum Ver- 
ständnis der abgebildeten Blutdruckkurven gesagt werden, daß der 
von Zeit zu Zeit sichtbare Abfall der Kurve künstlich hervor- 
gerufen ist und zur Bestimmung der Gefäßweite dient. Die Zahl 
der Sekunden, die zwischen den Schnittpunkten der beiden parallel 
abfallenden Kurven liegt, gibt den Maßstab für die Gefäßweite. 
Die Getäßweite ist dabei um so geringer, je größer die Zahl der 
Sekunden ist, sie ist um so größer, je näher die Schnittpunkte an- 
einander rücken. 

Bei einem Teil der Versuche wurden die Arterien des einen 
Beines des Versuchstieres (Katze, Hund) geprüft. In einer früheren 
Arbeit habe ich nachgewiesen, daß die gesamten, größeren Arterien 
(Diaca, Nieren, Splanchnikusgebiet) auf dieselben Eingriffe in 
gleichem Sinne reagieren, daß also eine einheitliche Reaktion der 
gesamten Arterien des großen Kreislaufs vorhanden ist. Bei einem 
Teil der Versuche wurden die Nierenarterien und die Beinarterien 
ausgeschaltet und die Arterien des Tripus Halleri, die Arteria 
meseraica superior und inferior zusammen geprüft. Diesen letzteren 
Versuchen möchte ich eine besondere Bedeutung beimessen, nehmen 
wir doch allgemein an, daß die Gefäße des Splanchnicusgebietes 
den Blutdruck und damit den Kreislauf beherrschen. 


Nach dem Gesagten scheint mir der Schluß erlaubt, daß die 
an den einzelnen Gefäßgebieten festgestellten Änderungen der Ge- 
fäßweite obne weiteres auch auf die übrigen Gefäße übertragen 
werden können, daß also alle Gefäße sich bei den einzelnen Ein- 
griften übereinstimmend verhalten. 


Zunächst bilde ich eine Kurve ab, die das Verhalten zeigt, das man 
regelmäßig erwarten sollte. 


In Kurve 1 (Katze, 22. X. 25, Beinarterie) ist durch Kompression 
der zum Gehirn fübrenden Arterien bei f eine Hirnasphyxie erzeugt 
worden. Man erkennt den Anstieg des Blutdruckes bei entsprechender 
Getäßverengerung. Bei — wird die Blutzufuhr zum Gebirn freigegeben. 
Die Gefäße erweitern sich, der Blutdruck sinkt entsprechend ab. 


268 GANTER 


Kurve 1. Von # bis — Kompression der Hirnarterien. 


In Kurve 2 (Katze, 9. XII. 25, Splanchnicus) ist die Herzfrequenz 
relativ niedrig. Bei ? setzt die Hirnasphyxie ein. Der Blutdruck steigt 
an; die Gefäße werden enger. Während der dritten Gefäßweitenprüfung 
geht die Herzfrequenz plötzlich in die Höhe, trotzdem bleibt der Blut- 
druck etwa gleich. Hier muß also 
das Schlagvolumen beträchtlich ge- 
sunken sein. Im weiteren Verlauf 
nimmt die Gefäßweite noch mehr 
ab; entsprechend zeigt der Blut- 
druck einen Anstieg. Kurz nach 
der vierten Gefäßweitenbestimmung 
Kurve 2. Bei # Kompression der Hirn- gebt plötzlich die Herzfrequenz 

arterien. etwas herunter; entsprechend sinkt 
vorübergehend der Blutdruck. 

In Kurve 3 (Katze, 4. XI. 25, Beinarterie) wurde wiederum eine 
Hirnasphyxie durch Kompression der Hirnarterien erzeugt. 

Der anfängliche Druckanstieg beruht auf der Einengung des Strom- 
bettes infolge der Carotidenkompression. Obgleich die Gefäßweite ab- 
nimmt und die Herzfrequenz zunächst etwa gleich bleibt, steigt der 
Druck nicht weiter an. Das Minutenvolumen muß also abgenommen 
haben. Jetzt geht die Herzfrequenz zurück. Der Maximaldruck steigt 
trotzdem etwas an; der Minimaldruck sinkt. Die Amplitude wird größer. 


Kurve 3. Von # bis — Kompression der Hirnarterien. 


Das Schlagvolumen muß zugenommen haben. Nach der vierten Gefäß- 
weitenprüfung ist die Herzfrequenz weiter gesunken; auch der Druck 
ist abgefallen; zugleich haben sich die Gefäße weiter zusammengezogen. 
Das Minutenvolumen muß also gesunken sein. Bei — wird die Hirn- 
asphyxie beseitigt. Die Frequenz und der Blutdruck steigt an, die Ge- 
fäße werden weiter. Das Minutenvolumen nimmt zu. 

In den bisherigen Kurven ändert sich zum Teil die Herzfrequenz. 
Die Änderung des Schlag- und Minutenvolumens überrascht dabei nicht. 

In folgender Kurve 4 (Katze, 27. XI. 25, Beinarterie), wird bei t 
durch eine Kanüle Kohlensäure in die Trachea geleitet, wo sich die 
Kohlensäure mit der Atemluft mischt. Es wird also eine allgemeine 


Gefäßstudien. 269 


Asphyxie erzeugt. Die Gefäße ziehen sich beträchtlich zusammen. Die 
Herzfrequenz zeigt keine deutliche Anderung. Sie nimmt vielleicht etwas 
zu. Trotzdem steigt der Druck nur ganz geringgradig an. Hier muß 
also das Schlag- und Minutenvolumen abgenommen haben. Auch nach- 
dem bei — die Kohlensäureeinleitung aufgehoben wird und die Gefäße 


Kurve 4. Von # bis — Einleitung von Kohlensäure in die Trachea. 


sich wieder erweitern, bleibt der Druck auf gleicher Höhe, obgleich die 
Herzfrequenz sich nicht ändert. Es muß also hier das Schlag- und 
Minutenvolumen wieder zugenommen haben. 

Schließlich sei noch Kurve 5 (Hund, 23. X. 25, Beinarterie) wieder- 
gegeben. Bei f wurde °/, mg Gynergen eingespritzt, die Gefäßweite 
nimmt deutlich zu. Die Frequenz ändert sich nicht erkennbar, trotzdem 
steigt der Blutdruck an. Es muß also das Schlagvolumen bei Erweiterung 
der Gefäße zugenommen haben. 


Kurve 5. Bei $ Injektion von "g mg Gynergen in die Halsvene. 


Ich könnte aus meiner Sammlung die Zahl der Beispiele ähnlicher 
Art beliebig vermehren. 


Allen Kurven, mit Ausnahme der ersten, ist ge- 
meinsam, daß der Blutdruck eine weitgehende Unab- 
hängigkeit von der Gefäßweite zeigt. 


Es kann der Blutdruck absinken, obgleich eine 
Gefäßverengerung auftritt (Kurve 3). Es kann der 
Blutdruck gleich bleiben, obgleich die Gefäßver- 
engerung sehr beträchtlich ist (Kurve 4). Es kann der 
Blutdruck ansteigen, obgleich eine Gefäßerweiterung 
auftritt (Kurve 5) Um einen Anhaltspunkt über die Größe 
der Blutdruckänderung zu geben, will ich hinzufügen, “daß dem 
senkrechten Abstand der beiden Kurven, die bei der Gefäßweiten- 
bestimmung deutlich zu sehen sind, etwa 30 cm Wasserdruck ent- 
sprechen. Die Blutdruckänderungen sind also nicht unerheblich. 


Danach kann es keinem Zweifel unterliegen, daß bei den an- 


270 GANTER 


geführten Versuchen zum Teil gewaltige Änderungen des Schlag- 
und Minutenvolumens aufgetreten sind. 

Daß das Schlag- und Minutenvolumen eine Änderung erfährt, 
wenn die Herzfrequenz sich ändert, ist nach den Untersuchungen 
von O. Frank!) ohne weiteres verständlich. Es besteht allerdings, 
wie Frank das nachgewiesen hat, keine einfache Beziehung 
zwischen Herzfrequenz und Minutenvolumen. In einem gewissen 
Frequenzbereich nimmt zwar das Minutenvolumen mit zunehmender 
Frequenz zu. Steigt die Frequenz über diese Frequenzbreite hinaus, 
so nimmt das Schlagvolumen ab und das Minutenvolumen kann 
noch zu- oder abnehmen. Sinkt dagegen die Frequenz unter die 
Breite, dann nimmt zwar das Schlagvolumen zu, das Minuten- 
volumen dagegen ab. 

Meine oben beschriebenen Versuche bestätigen zunächst die 
Befunde Franks. In Kurve 2 ist trotz der etwa vervierfachten 
Frequenz der Druck zunächst eher gesunken. Da die Gefäßweite 
während dieser Zeit keine Änderung erfahren hat, so muß das 
Schlagvolumen beträchtlich abgenommen haben. Das Minuten- 
volumen ist etwas zurückgegangen. In Kurve 3 sinkt, obgleich 
die Gefäße enger werden, der Blutdruck infolge der Abnahme der 
Herzfrequenz. Das Minutenvolumen muß beträchtlich herunterge- 
gangen sein; denn es genügt, trotz der Gefäßverengerung, die 
ausgeworfene Blutmenge nicht, um den ursprünglichen Blutdruck 
aufrecht zu erhalten. 


Von größerem Interesse sind aber hier die Kurven 4 u. 5, 
wo eine Frequenzänderung nicht eingetreten ist. In Kurve 4 steigt 
trotz beträchtlicher Verengerung der Gefäße der Blutdruck nur 
ganz wenig an. Da die Herzfrequenz dieselbe geblieben ist, muß 
also sowohl das Schlagvolumen, als auch das Minutenvolumen ab- 
genommen haben. Da der Druck sich auch nicht ändert, während 
die Gefäße weiter werden, so muß hier Schlag- und Minutenvolumen 
wieder zugenommen haben. Es ist bei diesem Versuche anzu- 
nehmen, daß durch die Kohlensäure zwar eine Reizung des Vagus- 
zentrums herbeigeführt wird, daß diese Reizung zu keiner Ver- 
minderung der Herzfrequenz führt, aber das Herz negativ inotrop 
beeinflußt, Daß durch die Kohlensäure das Herz selbst geschädigt 
wird, ist nach den Versuchen von Itami?) wenig wahrscheinlich. 


In Kurve 5 steigt nach Gynergen der Blutdruck an, ob- 
1) O. Frank, Zeitschr. f. Biol. 41, S. 1, 1901. 
- 2) Itami, Journ. of physiol. 45. S. 342, 1912. 


Gefäßstudien. 271 


gleich die Gefäße sich erweitern. Da die Herzfrequenz dieselbe 
geblieben ist, so muß also eine beträchtliche Zunahme des Schlag- 
und Minutenvolumens eingetreten sein. 

Da in diesem Versuch durch Gynergen, wie ich in einer 
anderen Arbeit zeige, der Sympathikus ausgeschaltet ist, so ist hier 
möglicherweise durch das Überwiegen des Vagus das Schlag- 
volumen vergrößert worden. Auch der Wegfall des Sympathicus- 
tonus könnte theoretisch das Schlagvolumen vergrößern. Es ist 
allerdings nicht auszuschließen, daß das Gynergen am Herzen 
selbst, also rein muskulär, die positiv inotrope Wirkung entfaltet. 

Nebenbei sei auf das Verhalten der Amplitude aufmerksam 
gemacht. Das Trägheitsmoment ist bei der tonometrischen Blut- 
druckmessung nach v. Frey, die ich bei obigen Versuchen ange- 
wandt habe, nur gering. Man kann deshalb annehmen, daß im 
den Kurven die Schleuderung nicht allzu groß ist. Infolgedessen 
kann eine auftretende Änderung der Amplitudengröße mit einiger 
Sicherheit aus den Kurven verwendet werden. Bei der letzten 
Kurve (5) nimmt die Größe der Amplitude bei Erweiterung der 
Gefäße und bei Zunahme des Blutdruckes ab, obgleich das Schlag- 
volumen zweifellos größer geworden ist. In Kurve 4 ändert sich 
die Amplitude bei Verengerung der Gefäße und Abnahme des 
Schlagvolumens nur wenig. Wir sehen daraus, daß auch die Ampli- 
tude keineswegs eine Funktion der Gefäßwiderstände allein dar- 
stellt, daß vielmehr die Größe des Schlagvolumens für die Größe 
der Amplitude von mindestens ähnlicher Bedeutung ist, wie die 
Größe der Gefäßwiderstände. 

Aus den Versuchen ergibt sich, daß wir in dem Verhalten 
des Blutdruckes keineswegs ohne weiteres einen Maßstab für die 
Widerstände in den Gefäßen zu erblicken haben. Der Blutdruck 
kann ansteigen bei einer Gefäßerweiterung, er kann absinken bei 
Gefäßverengerung. Das Schlag- resp. Minutenvolumen ist für die 
Höhe des Blutdrucks von ausschlaggebender Bedeutung. Nur wenn 
das Minuten- oder Schlagvolumen gleich bleiben, ist der Blutdruck 
ein einigermaßen brauchbarer Maßstab für die Gefäßweite. Um- 
gekehrt kann bei gleichem Gefäßwiderstand der Blutdruck einen 
Maßstab für das Minuten- resp. Schlagvolumen abgeben. 

Wenn einstweilen diese nur bedingte Abhängigkeit des Blut- 
druckes von den Gefäßwiderständen einzig am Tier unter besonderen 
Versuchsbedingungen festgestellt ist, so möchte ich doch nicht an- 
stehen, die im Tierversuch gewonnenen Vorstellungen auch auf den 
Menschen zu übertragen. Ich bin der Meinung, daß die Be- 


272 GANTER 


dingungen, die wir am Tier durch unsere Methodik schaffen können, 
lange nicht so mannigfaltig sind wie diejenigen, die unter patho- 
logischen Bedingungen am menschlichen Organismus spontan ent- 
stehen. Ist doch die Krankheit der größte Experimentator. 

Danach möchte ich annehmen, daß die Bedingungen, die hier 
im Tierversuch künstlich gestaltet wurden, auch am Menschen 
unter der Einwirkung von Krankheiten auftreten. Es ist bekannt, 
daß trotz ausgedehnter, anatomisch feststellbarer Veränderungen 
der Gefäße z. B. bei Arteriosklerose keineswegs eine Blutdruck- 
steigerung vorhanden sein muß. Wir wissen ja, daß die Blutdruck- 
steigerung bei Arteriosklerose ein fakultatives Symptom darstellt. 
Die Blässe, nicht nur der Haut, sondern auch der inneren Organe, 
die wir bei Arteriosklerose nicht selten und auch dort, wo keine 
Blutdrucksteigerung besteht, feststellen können, weist darauf hin, 
daß die Gefäßwiderstände infolge Gefäßverengerung erhöht sind. 
Wenn dabei der Druck nicht erhöht ist, so muß das Minuten- 
volumen vermindert sein. Wenn aber das Minutenvolumen dauernd 
vermindert ist, so ist eine Abnahme der Muskelmasse des Herzens 
zu erwarten, da das Herz weniger Arbeit zu leisten hat. Dieser 
Atrophie ‚des Herzens begegnen wir bei alten Leuten gar nicht 
selten. Die Atrophie des gesamten Körpers, die im Alter häufig 
eintritt, steht wahrscheinlich damit im Zusammenhang. Auch die 
verminderte, körperliche Leistungsfähigkeit des Alters hängt wohl 
z. T. damit zusammen. 

Weiterhin haben nicht alle Fälle von chronischer Nephritis 
eine Blutdrucksteigerung, obgleich die Haut blaß ist, und auch bei 
Besichtigung des Augenlintergrundes, der Blasen- und Mastdarm- 
schleimhaut aus der Enge der Gefäße auf einen vermehrten Ge- 
fäßwiderstand geschlossen werden kann. Auch hier ist eine Ab- 
nahme des Minutenvolumens anzunehmen. 


Im Gegensatz dazu gibt es auch klinisch Zustände, bei denen 
eine Gefäßverengerung nicht vorhanden ist, bei denen aber trotz- 
dem eine Blutdrucksteigerung besteht. Die Gefäße sind dabei 
sogar erweitert. Ob die Erweiterung primär oder auch als Folge 
des Hochdruckes aufzufassen ist, kann einstweilen nicht gesagt 
werden. Es ist dies die rote Hypertonie von Volhard'). 
Daß dieser rote Hochdruck ganz anders zu bewerten ist als der 
blasse, hat Volhard in seinem Wiener Referate auseinanderge- 
setzt. Ich möchte annehmen, daß bei der roten Hypertonie nicht 


l) Volhard. l. e. 


(refäßstudien. 273 


ein vermehrter peripherer Widerstand die Blutdrucksteigerung ver- 
ursacht, sondern die Vergrößerung des Schlagvolumens. Es würde 
die rote Hypertonie in ihrem Entstehungsmechanismus vergleich- 
bar sein mit dem Versuch der Kurve 5, wo ein Anstieg des Blut- 
druckes auftrat ohne Verengerung, ja sogar bei Erweiterung der 
Gefäße. 

Hier wäre vielleicht auch die Blutdrucksteigerung zu nennen, 
die bei körperlicher Arbeit bei nicht Geübten beobachtet wird. 
Wir wissen, daß bei körperlicher Arbeit zum mindesten die Arterien 
der arbeitenden Muskeln erweitert werden. Eine kompensatorische 
Verengerung anderer (z. B. des Splanchnicus) Gebiete ist bisher nicht 
nachgewiesen. Wenn trotzdem eine Blutdrucksteigerung auftritt 
oder der Blutdruck nur nicht sinkt, so ist die Annahme einer 
Vergrößerung des Minutenvolumens nicht zu umgehen.!) 

Wahrscheinlich liegen die Verhältnisse bei einem Teil der 
Basedowkrankheitsfälle ähnlich. 

Meine ausgeführten Versuche sollen zeigen, daß neben der Er- 
höhung der Widerstände in der Peripherie auch eine Vergrößerung 
des Minutenvolumens zu einer Steigerung des Blutdruckes führen 
kann. Es ist dies im akuten Tierversuche hier nachgewiesen, 
und es ist nicht einzusehen, warum in der menschlichen Pathologie 
nicht ähnliche Bedingungen verwirklicht sind. 

Wenn auch in der Mehrzahl der Fälle von Blutdrucksteigerung 
eine Vermehrung der peripheren Widerstände vorhanden ist, so be- 
ruht die Blutdrucksteigerung im Grunde doch auf einem Mißver- 
hältnis des Minutenvolumens und der Gefäßwiderstände Eine 
Blutdrucksteigerung kann in seltenen Fällen bei normalem Ver- 
halten der Gefäße zweifellos auftreten, wenn nur das Minutenvolumen 
aus irgendwelchen Gründen gesteigert ist (z. B. bei körperlicher 
Arbeit). Es scheint mir danach nicht berechtigt immer bloß von 
der Vermehrung der peripheren Widerstände zu sprechen. Es 
muß m. E. in Zukunft ebenso das Verhalten des Minutenvolumens 
berücksichtigt werden. Wir haben bisher das Minutenvolumen 
wohl deshalb vernachlässigt, weil wir im Gegensatz zur Messung 
des Blutdruckes keine zuverlässige Methode besitzen, die uns über 
die Größe des Minuten- oder Schlagvolumens Auskunft gibt. 

Wenn meine am Tier gemachten Feststellungen auf den 
Menschen übertragen werden können, dann wird man doch Be- 


_—. 
| 


l) Anm. bei der Korrektur. In neueren Versuchen habe ich nachgewiesen, 
dab bei der Arbeit die Gefäße der nicht arbeitenden Organe eine Verengerung 
erfahren. 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 13 


274 Ganter, Gefäßstudien. 


denken tragen, der Blutdrucksteigerung jene ausschließliche Be- 
deutung für manche Krankheitszustände beizumessen, wie dies 
meistens geschieht. Man wird vielleicht dazu kommen, die Blut- 
drucksteigerung nicht mehr als Krankheit aufzufassen, sondern ihr 
wieder den Wert beimessen, der ihr ursprünglich zukam, nämlich 
den eines Symptoms. Es ist die Blutdrucksteigerung für viele 
Zustände wahrscheinlich nicht einmal ein obligates Symptom, also 
ein Symptom, das vorhanden sein muß, es kann vielmehr derselbe 
Zustand bei einem Kranken bestehen, ohne daß dieses Symptom 
vorhanden ist. Auch ich möchte mich nach dem Gesagten auf 
Grund meiner Versuche der Anschauung anschließen, die von der 
Fr. Müllerschen Schule, besonders von v. Monakow’!) vertreten 
wird, daß der Blutdrucksteigerung für die meisten Zustände die 
Wertigkeit eines fakultativen Symptomes zukommt. 

Damit ist dem Wert der Blutdruckmessung und dem Werte 
dieses Symptomes an sich für unsere Diagnosenstellung in keiner 
Weise Abbruch getan. Dort, wo die Blutdrucksteigerung tatsäch- 
lich vorhanden ist, behält sie dieselbe Bedeutung für die Diagnose 
und ebenso für die Prognose wie bisher. Wir müssen in der Blut- 
drucksteigerung ein Symptom erblicken, das als solches gewisse Ge- 
fahren in sich schließt, Gefahren, die fehlen, wenn bei sonst 
gleichen Veränderungen der Blutdruck nicht erhöht ist. 


1) v. Munakow, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 183, S. 129, 1920. 


275 


Aus der medizinischen und Nervenklinik Tübingen. 
(Vorstand: Professor O. Müller.) 


Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der 
menschlichen Haut (Cutis marmorata). 


Von 


Dr. W. Scharpff, 


früher Assistent der Klinik, jetzt Arzt an der Kuranstalt Neuwittelsbach, München. 


(Mit 1 farbigen Tafel.) 


Die bei Vasoneurosen eigenartigen Abweichungen der Kapillaren 
und der subpapillären Plexus der Haut vom Normalzustand, wie sie von 
0. Müller und seinen Schülern!) mit seiner Kapillarmikroskopie 
beobachtet und geschildert wurden, sind bekannt. Frühere Ver- 
suche, eine anatomische Grundlage auch nur für eine dieser Ver- 
änderungen zu finden, waren stets gescheitert. 

Da sich die im Kapillarmikroskop beobachteten Veränderungen, 
vor allem die Schlängelung der Kapillaren, ihre wechselnde Füllung, 
das enge arterielle und das weite venöse Rohr der Kapillaren, 
starke Ausbuchtungen und Erweiterungen in einzelnen Teilen der 
Kapillaren, vor allem im Schaltstück histologisch nicht feststellen 
ließen, so mußten diese Erscheinungen als ein funktioneller Zustand 
der Haargefäße betrachtet werden, der mit dem Tod des Indivi- 
duums, oder auch nur mit dem Absterben eines exstirpierten Haut- 
stückes zu bestehen aufhörte. Neuere Beobachtungen von O. Müller 
u Heimberger?) und dadurch angeregte histologische Unter- 
sachungen von Schminke?) u. Duschl*) ergaben, daß sich in 


1) Die Kapillaren der menschlichen Körperoberfläche in gesunden und kranken 
Tagen von Prof. O. Müller in Gemeinschaft mit E. Weiß, B. Minkow und 
W. Parrisius. Enke, Stuttgart 1922. 

2) O. Müller u. Heimberger, Dtsch. Zeitschr. f. Chirurgie 1925. 

3) Schmincke, Münch. med. Wochenschr. Nr. 52, 1923. 

4) Duschl, Dtsch. Zeitschr. f. Chirurgie 1925. 

; 18* 


276 SCHARPEFF 


der Schleimhaut der Ulcusmägen und zwar ferne vom Ulcus, ganz 
ähnliche Veränderungen finden, wie sie mit dem Kapillarmikroskop 
an der Haut nachgewiesen werden können. Es ist ein Verdienst 
von Duschl, durch exakte Rekonstruktion der Kapillaren mittels 
Serienschnitten nachgewiesen zu haben, daß das morphologische 
Bild dieser Kapillaren ein abnormes ist: keine Harmonie und gleich- 
förmige Anordnung der kleinsten Gefäße, keine gleichförmige Weite, 
sondern enge und weite Stellen miteinander wechselnd, die in 
ihrer physiologischen Bedeutung als spastische und atonische Zu- 
stände angeselıen werden müssen. Dieser histologische Befund war 
die erste anatomische Bestätigung für die von O. Müller fest- 
gestellten Veränderungen in den Magenkapillaren, wie er sie zuerst 
mittels des Zeiß’schen Binoculars an frisch exstirpierten Schleim- 
häuten der Ulcusmägen gesehen hatte. Diese Untersuchungen 
legten wieder den Gedanken nahe, ob es nicht doch gelingen könnte, 
auch an der Haut die veränderten Kapillaren vasoneurotischer 
Störungen zu erfassen. Während die histologischen Untersuchungen 
der Magenkapillaren keinen besonderen Schwierigkeiten unter- 
worfen sind, bestehen solche bei der Untersuchung der Haut- 
kapillaren. Esist bekannt und von Magnus!) nachgewiesen, daß 
im Tod die Hautkapillaren leer laufen. Erst mit der Bildung von 
Totenflecken füllen sie sich wieder. Die Totenflecke sind bekannt- 
lich an den abhängigen Partien der Leiche angeordnet. Sie ent- 
stehen durch eine Senkung des noch flüssigen Blutes, dem Gesetz 
der Schwere folgend. Beim Einschneiden der Haut finden sich 
Blutpunkte in der Lederhaut, von den durchschnittenen Haut- 
kapillaren herrührend; das Unterhautzellgewebe dagegen ist blaß 
und enthält in seinen Maschen kein Blut (Kratter, Gerichtliche 
Medizin). 

Wenn man normale Haut ganz kurz nach dem Tode an einer 
beliebigen Stelle histologisch untersucht, so findet man stets nur 
enge, kontrahierte, blutleere Haargefäße, ganz in Übereinstimmung 
mit den Magnus’schen Beobachtungen. Schneidet man Stücke aus 
Totenflecken heraus, so finden sich aber auch hier nur kontrahierte, 
oder höchstens vereinzelt, mäßig erweiterte Kapillaren. Die Weite 
der Kapillaren ist jedenfalls geringer, als nach der Verfärbung der 
Haut zu erwarten wäre. Dies hat seinen Grund darin, daß ein 
exstirpiertes Hautstück sich außerordentlich stark zusammenzieht. 
Durch dieses Zusammenschrumpfen der Haut werden die kleinsten 


1) Dtsch. Zeitschr. f. Chirurg. 


Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der menschlichen Haut. 277 


sefäße und Kapillaren größtenteils passiv komprimiert und mehr 
oder weniger leer gedrückt. Es hat also bei Untersuchungen der 
Hautkapillaren auf ihre Weite oder Form hin wenig Sinn, nach 
dem Herausschneiden des Hautstückes dasselbe wieder so stark zu 
spannen, in dieser Spannung dann festzuhalten und so zu fixieren, 
daß es seine ursprüngliche Größe wieder bekommt. Die Verände- 
rung der Kapillarform ist durch die Hautschrumpfung schon bei 
der Herausnahme eingetreten. Aus solchen Präparaten läßt sich 
jedenfalls nichts, oder nur wenig Sicheres über die Größe, Form 
und Füllung einer Kapillare aussagen. Es sind also 2 Faktoren, 
welche die Hautkapillaren im histologischen Bild gegenüber dem 
Leben verändern: 

1. die agonale aktive Kontraktion der Hautkapillaren und 

2. die passive Kompression derselben in einem exstirpierten 
Hautstück durch die Schrumpfungs- und Verkleinerungsneigung der 
herausgenommenen Haut selbst. 

Es ist mir aufgefallen, daß 'l'otenflecke gelegentlich nicht nur an 
den nach abwärts gelegenen Teilen einer Leiche auftreten, sondern 
auch an anderen Stellen, aber nicht nur dieses, sondern daß schon 
mit dem eingetretenen Tode Totenflecke vorhanden sind und zwar 
sind die Stellen, an denen ich gelegentlich einmal solche auftreten 
sah, Prädilektionsstellen der Cutis marmorata. Gerade in einem 
Fall ganz besonders hochgradiger Cutis marmorata, die am stärksten 
in der Gegend der Kniee vorhanden war, ließ sich diese Erscheinung 
sehr schön beobachten. In diesem Fall waren die Totenflecke nicht 
nur wie normalerweise bei Rückenlage der Leiche, auf der Rück- 
seite der Beine, sondern ebenso stark, wenn nicht noch stärker, an 
der Vorderseite über den Knieen angeordnet. An diesen Stellen 
war die Cutis marmorata im Leben so stark gewesen, daß sie zu 
einer anhaltenden blauroten Verfäbung dieser Hautpartien mit 
charakteristischer fleckförmiger Anordnung geführt hatte. Diese 
Stellen waren mit dem Tode sofort in ausgedehnte Totenflecke 
übergegangen. 

Auf Grund von Untersuchungen über die Cutis marmorata, 
welche R. Mayer-List!) mit dem Kapillarmikroskop in der 
Tübinger Klinik durchgeführt hat, sind die schweren Veränderungen 
der Hautkapillaren im Gebiet einer ausgesprochenen Cutis marmorata 
in vivo bekannt. Auf Grund dieser Beobachtungen schien mir die 
Cutis marmorata von den verschiedenen vasoneurotischen Kapillar- 


L R. Mayer-List, Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 148. S. 6%. 1925. 


278 SCHARPFF 


veränderungen zunächst einmal am geeignetsten für einen neuen 
Versuch zur Feststellung, ob es nicht doch möglich sei, histologische 
Veränderungen an Hautkapillaren zu finden. Auffallend war gerade 
das Verhalten dieser Hautkapillaren im Tode, es war zweifellos 
ein anderes wie das normaler Kapillaren, denn die Leichenblässe, 
die sonst überall an der Haut eintritt, fehlte hier. 

Für meine speziellen Untersuchungen handelte es sich aber 
noch darum, etwaige Veränderungen oder Beeinflussungen auszu- 
schließen, welche durch die Technik der histologischen Unter- 
suchungen entstehen, so vor allem die passive Kompression der 
Hautkapillaren durch das Zusammenschrumpfen der Haut bei ihrer 
Herausnahme. Um dies zu verhindern, habe ich eine einfache 
Methode bei meinen Untersuchungen angewandt, die ich an anderer 
Stelle eingehend veröffentliche!),. Mit Hilfe dieser Methode sind 
die reproduzierten Bilder gewonnen. 

Die histologische Untersuchung von Haut, die im Leben eine 
schwere Cutis marmorata zeigt, förderte ein überraschendes Er- 
gebnis zutage: ?) 

Die Kapillaren einer hochgradigen Cutis marmorata befinden 
sich nicht, wie normalerweise (Abb. 1) im kontrahierten Zustand, 
sondern sie sind stark erweitert, prall gefüllt mit Blut (Abb. 2 u. 3). 
Die erweiterten Kapillaren und subpapillaren Plexus springen jedem 
Betrachter im Mikroskop als auffallendste Erscheinung in die 
Augen. Sehr schön sieht man diese Erscheinung bei Färbung 
der Haut mit Safranin, Pikrinsäure und Indigocarmin, wobei die 
gelb bis gelbrot gefärbten roten Blutkörperchen und roten Zell- 
kerne sich vom blaugrünen kollagenen Bindegewebe stark abheben. 
Am stärksten sind die venösen Teile der Kapillaren erweitert, nur 
in geringem Grade die arteriellen. An manchen Stellen ist der 
arterielle Schenkel blutleer oder blutarm (Abb. 2). Solche Be- 
obachtungen lassen sich allerdings nicht an einem einzigen Prä- 
parat machen, sondern erst bei der Durchsicht vieler Präparate 
läßt sich ein solcher Befund mit Sicherheit erheben, am allerbesten 
an Serienschnitten. Aber nicht nur die Kapillaren, sondern auch 
die subpapillären Plexus verhalten sich abnorm. Bis ins Unter- 


D An dieser Stelle möchte ich Herrn Professor Heidenhain, dem Leiter 
des anatom. Instituts Tübingen. meinen besten Dank aussprechen für eine Reihe 
der Ratschläge. die er mir zur Herstellung guter Hautschnitte gegeben hat. 

2) Scharpff. Ein Beitrag zur Teehnik der histologisehen Untersuchungen 
menschl, Hautkapillaren. — Erscheint demnächst in der Zeitschr. f. wissensch. 


Mikroskopie. 


Über histolugische Befunde an Kapillar-Neurosen der menschlichen Haut. - 279 


hautfettgewebe hinein finden sich an manchen Stellen stark er- 
weiterte Gefäße. Auch hier fällt auf, daß weitaus am stärksten 
die venösen Plexus dilatiert sind, während die arteriellen viel 
weniger Blut enthalten und meist eng sind. Dies ist eine Er- 
scheinung, die sich von den histologischen Befunden an Totenflecken 
grundsätzlich unterscheidet, denn bei ihnen finden sich nach den 
Angaben von Kratter und auch nach eigenen Präparaten im 
Unterhautzellgewebe niemals solche mit Blut prall gefüllten Gefäße. 

Es ist keineswegs gleichgültig, ob nur ein einziges Präparat, 
oder ob mehrere aus verschiedenen nicht sehr weit auseinander 
liegenden Hautstücken betrachtet werden. Es finden sich Stellen 
— bei günstigen Schnitten kann es fast im ganzen Präparat der 
Fall sein —, in denen eine Kapillare wie die andere voll von 
Blut ist. Aber dann gibt es wieder Stellen, in denen sich so gut 
wie gar kein Blut vorfindet, deren Kapillaren also kontrahiert sind 
und sich ganz wie normale Kapillaren verhalten. Der Übergang 
von engen zu erweiterten Haargefäßen ist fast durchwegs ein scharf 
begrenzter und zwar erstreckt sich diese Grenze nicht nur auf die 
Kapillaren selbst, sondern auch auf die subpapillären Plexus; aller- 
dings ist meist das Gebiet der Erweiterung bei den subpapillären 
Plexus etwas größer als bei den Hautkapillaren selbst. Die ver- 
schiedene Kapillarfüllung entspricht den cyanotischen und den 
blassen, weißen Partien der Cutis marmorata. Dieser Befund 
stimmt vollkommen mit den Beobachtungen von Mayer-List') 
überein, der diesen plötzlichen Übergang von engen zu weiten 
Kapillaren im Kapillarmikroskop am Lebenden sah. 

Es wird durch die Ausdehnung der Gefäßerweiterung in die 
Tiefe verständlich, warum eine so ausgesprochene Cyanose der 
Haut vorhanden ist. Wären die Kapillaren allein erweitert, so 
könnte eine so intensive Verfärbung der Haut nicht entstehen; 
erst dadurch, daß auch die subpapillären Plexus bis ins subkutane 
Fettgewebe hinein stark erweitert sind und in allen diesen Gefäß- 
gebieten eine verlangsamte Strömung entsteht (Mayer-List), 
kann eine so tiefe Cyanose der Haut auftreten, wie sie in ausge- 
sprochenen Fällen von Cutis marmorata vorhanden ist. 

Betrachtet man die Kapillaren im einzelnen, so ist noch 
mancherlei zu erkennen. In den ausgesprochenen Fällen sind sie, 
je näher sie der Epidermis liegen, desto stärker geschlängelt. 
Aber es fällt auf, daß nicht nur die Kapillaren, sondern auch die 


DOS oa a. O. 


280 SCHARPFF 


Plexus keineswegs immer gerade verlaufen, vereinzelt können auch 
sie stark geschlängelt sein. Die Veränderung der Kapillarform 
dehnt sich also auch auf die Plexus aus, eine Veränderung, die 
bis jetzt nach Untersuchung mit dem Kapillarmikroskop nur ver- 
mutet, mit Sicherheit aber noch nicht festgestellt werden konnte. 
An manchen Stellen ist in den Kapillaren diese Schlängelung so 
gesteigert, daß es geradezu zu einer Knäuelbildung kommt. Wenn 
durch Drehen der Mikrometerschraube der Schnitt in verschiedenen 
Tiefen betrachtet werden kann, so läßt sich feststellen, wie die 
einzelnen Kapillarabschnitte miteinander zusammenhängen. Manch- 
mal ist die Knäuelbildung so stark und so ausgedehnt, daß bei 
einem Schnitt durch eine solche veränderte Kapillare eine Reihe 
von Gefäßquerschnitten, dicht beieinander liegend, sich abbilden. 
Ich habe bis zu 12 Querschnitten dicht nebeneinander gezählt, die 
zweifellos einer einzigen kranken Kapillarschlinge angehörten 
(Abbildung 3). Im Kapillarmikroskop fallen manchmal weniger stark 
gewundene als außerordentlich weite Haargefäße auf. O. Müller 
hat sie auf Grund seiner kapillarmikroskopischen Untersuchungen 
als Kapillaraneurysmen bezeichnet. Ich glaube, es ist mir gelungen, 
sie im histologischen Schnitt aufgefunden zu haben. Man sieht 
plötzlich unter der Haut eine Erweiterung, die so groß ist, daß 
eine Kapillare die Weite eines größeren subpapillären Plexus über- 
schreitet. Die Schlängelung tritt ganz hinter der Weite des Ge- 
fäßes zurück, die außerordentlich frappant ist. Abbildung 4 zeigt 
ein solches Kapillaraneurysma; man vergleiche dazu einige typische 
Kapillarerweiterungen einer Cutis marmorata (Abbildung 2} oder 
gar normale Kapillaren (Abb. 1; die Abbildungen 1—4 sind sämtlich 
in der gleichen Vergrößerung von 200 zu 1 wiedergegeben). 
Kapillaren, bei’denen etwa enge spastische und weite atonische 
Stellen innerhelb der gleichen Schlingen abwechseln, wie sie 
Duschl bei den Magenkapillaren von Ulcusmägen zeigen konnte, 
habe ich nicht finden können. 

Die Frage nach der Ursache solch starker morphologischer 
Abweichungen von der Norm ist naheliegend. Ich habe lange Zeit 
nach einer Veränderung in der Wandung der pathologischen 
Kapillaren gesucht, bei kritischer Betrachtung aber ohne einen 
sicheren Befund zu gewinnen. Im Hämatoxilin- oder Eisenhäma- 
toxilinpräparat, das ja die besten Färbungen gibt, läßt sich kein 
greifbarer Unterschied feststellen. In manchen Präparaten sah es 
aus, als ob die Zellen der Kapillarwand vermehrt seien. Zum 
Vergleich habe ich einerseits enge gesunde Kapillaren und weite eines 


Deutsches Archiv für klin. Medizin, Band 151 Tafel 1V 


Abb. ı Abb. 2 


Abb. 3 Abb. 4 


Scharpff Verlag von F. C. W. Vogel in Leipzig. 


DRUCK VON FR.RICHTER G.M B H..LEIPZIG 


Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der menschlichen Haut. 281 


gleichen Hautstückes betrachtet, andererseits kranke mit Kapillaren 
normaler Haut in Parallele gesetzt. Bei der Betrachtung im Mikro- 
skop schien es, als ob tatsächlich eine Zellvermehrung vorläge. Ich 
wollte mich damit aber nicht begnügen und habe es für richtig 
gefunden, an gesunder Haut, die genau so behandelt war, wie die 
kranke (Cutis marmorata) in Serienschnitten die Zahl der Kerne 
eines Haargefäßes auf einem gleichlangen Stück im ganzen Um- 
fang der Kapillaren festzustellen. Ich habe dabei stets solche 
Kapillaren untersucht, die parallel der Schnittführung — zunächst 
also tangential, dann längs und dann wieder tangential — ange- 
schnitten waren. Bei den pathologischen Kapillaren konnte ich 
natürlich nur solche zu dem Vergleich heranziehen, die zwar stark 
erweitert, aber nicht sonderlich geschlängelt oder gewunden waren. 
Eine ganze Reihe von Auszählungen an Serienschnitten hat aber 
nur eine so geringe Vermehrung der Kernzahl bei den kranken 
Kapillaren ergeben, daß sie noch in die Fehlergrenzen fallen kann. 
Eine Veränderung der Kapillarwand, die sich etwa in einer Ver- 
minderung oder Vermehrung der Zellkerne zu erkennen gäbe, kann 
daher nicht mit Sicherheit angenommen werden. Allerdings fällt 
auf, daß die Wand eines Kapillaraneurysmas außerordentlich kern- 
reich ist. Es finden sich in der Wand eines Kapillaraneurysmas 
Stellen, wo ein Zellkern neben dem andern liegt, so daß es durchaus 
den Eindruck macht, als sei es bei einer solch abnormen Ver- 
größerung der Kapillaren doch zu einer Vermehrung der Zellen 
der Kapillarwand gekommen. Es ist also bei geringeren Verände- 
rungen nicht möglich, irgendeine Besonderheit in der Kapillarwand 
nachzuweisen, bei schweren Veränderungen aber erscheint die An- 
nahme berechtigt, daß die Zellen der Kapillarwand vermehrt sind. 

Vimtrup!') glaubt auf Grund seiner Untersuchungen Endo- 
thelzellen von Rouget’schen (kontraktilen) Zellen deutlich unter- 
scheiden zu können. Obwohl ich seinen technischen Angaben genau 
gefolgt bin, so konnte ich mich nicht davon überzeugen, daß es 
möglich sei, diese beiden Zellarten jederzeit zu unterscheiden. 
Die von ihm gerühmte Färbung mit Safranin, Indigocarmin und 
Pikrinsäure erscheint mir nicht so zuverlässig, als daß nicht durch 
technische Einflüsse eine Ungleichheit in der Färbung der Zellkerne 
entstehen könnte. Andererseits läßt sich nicht leugnen, daß in 
der Wand pathologischer Kapillaren die Kerne sich verschieden 


I) Vimtrup, Zeitschr. f. d. ges. Anat. 1. Abt. Zeitschr. f. Anat. u. Ent- 
wicklungsgeseh. Bd. #5, 1922, S. 150 u. Bd. 68, S. 470, 1923. 


982 SCHARPFF 


färben, teilweise hell, teilweise intensiv. Auch ihre Größe ist oft 
sehr verschieden. Je mehr Präparate ich durchgesehen habe, desto 
mehr habe ich mich davon überzeugt, daß alle Übergänge von 
schwach zu intensiv gefärbten Kernen sich auffinden lassen und 
ebenso ist es auch mit der Größe der Zellkernee Marchand) 
hat bei normalen Kapillaren schon immer diesen Befund erhoben. 
Als Ausgangszelle für alle um eine Kapillare liegenden Zellen sieht 
er die Endothelzelle an. Mir scheint es, als ob bei den patho- 
logischen Kapillaren die gleichen Verhältnisse vorliegen. Man sieht 
die verschiedensten Zellen, die zweifellos der Kapillarwand ange- 
hören, aber sie lassen sich nicht, wie Vimtrup angibt, in Endo- 
thel- und Rouget’schen Zellen scharf trennen. 

Auch die Kerne veränderter Kapillaren selbst zeigen kein 
Zeichen, das als pathologisch angesehen werden könnte. Ebenso- 
wenig konnte ich irgendwelche Veränderungen im Protoplasma 
feststellen; höchstens Könnte es als krankhaft gelten, daß der Quer- 
schnitt einer pathologischen Kapillarwand, trotz ihrer starken 
Dilatation dicker erscheint, als normal. Möglicherweise hängt diese 
Erscheinung eben damit zusanımen, daß die Zahl der Wandzellen 
vermehrt ist. Trotz dieser fraglichen Befunde muß aber eine 
schwere Veränderung der Kapillarwand in ihrer Leistung ange- 
nommen werden. Denn wie wäre es sonst möglich, daß die Kapillaren 
sich im Tode nicht wie normale kontrahieren, sondern ganz gegen 
ihr sonstiges Verhalten in stark erweitertem Zustand bleiben und 
sich so festhalten lassen. 

Die Bedeutung meiner Untersuchungen liegt meiner Auffassung 
nach darin: bei menschlichen Hautkapillaren im Zustand der Cutis 
marmorata läßt sich durch eine geeignete Technik nachweisen, daß 
eine mehr oder minder große Zahl von Hautkapillaren anatomischen 
Veränderungen unterworfen ist. Sie sind in ihrer Form stark ver- 
ändert, sie sind strotzend voll von Blut. Ihre normale Kontrak- 
tilität, die sich im Tode durch ein Leerlaufen der Kapillaren äußert, 
haben diese Kapillaren verloren. Solche Veränderungen können 
aber nicht mehr nur als Folge einer Funktionsänderung ange- 
sehen werden, sie sind organischer Natur. Ich will damit nicht 
sagen, daß bei allen Hautkapillaren, die im Sinne einer Cutis mar- 
morata reagieren, sich histologische Veränderungen nachweisen 
lassen müssen; nur in besonders schweren Fällen ist dies möglich. 
Offenbar reagieren die meisten Menschen nach der Arbeit von 


1) F. Marchand, Münch. med. Wochenschr. 1923, S. 385, Nr. 13. 


Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der menschlichen Haut. 283 


Mayer-List auf Abkühlung nicht mit einer Cutis marmorata, 
sondern mit einer „Gänsehaut“ bei kapillarmikroskopisch absolut 
engen Kapillaren. Nur bei einer kleineren Zahl von Menschen tritt 
auf Abkühlung eine Cutis marmorata auf. Diese Reaktionsform 
läßt sich histologisch nicht fassen, denn diese Haargefäße haben 
auf besonders starke Reize hin, zum Beispiel in der Agonie, die 
Fähigkeit mit einer Kontraktilität zu reagieren, nicht eingebüßt. 
Sie unterscheiden sich dann im Präparat nicht mehr von normalen 
kKapillaren. Erst die Haargefäße hochgradiger Cutis marmorata 
bleiben im Tode weit; sie haben also wahrscheinlich ihre letzte 
und primitivste Eigenschaft, im Tode sich zu kontrahieren, ver- 
loren. Auf Grund dieser Untersuchungsmethode müssen wir die 
Grenze zwischen funktionell und organisch dort ziehen, wo im 
histologischen Bild ein faßbarer Unterschied gegenüber der Norm 
auftritt. Das ist bei den Hautkapillaren der Fall, wenn die agonale 
Kontraktilität verloren gegangen ist. Wir sind uns dabei bewußt, 
daß es bei diesen Veränderungen keine scharfe Grenze gibt, sondern 
daß in der Natur fließende Übergänge bestehen. Die beschriebene 
Veränderung war bisher noch nicht bekannt. Sie ist gewiß auch 
nicht zu häufig, denn ganz schwere Fälle von Cutis marmorata 
sind selten. Sie ist aber gelegentlich nachweisbar und erstreckt 
sich dann über das Gebiet der Hautkapillaren hinaus bis in die 
subpapillären Plexus der Lederhaut und des Unterhautzellgewebes 
hinein. 

Von organisch so schwer veränderten Kapillaren dürfen wir als 
sicher annehmen, daß sie in ihrer Gesamtfunktion stark beeinträchtigt 
sind. Es ist unmöglich, daß in solchen Haargefäßen im Leben die 
Zirkulation, der Stoffaustausch zwischen Gewebe und Gefäßen usw. 
der Norm entspricht. Die Ansprechbarkeit auf Temperaturreize, 
vor allem auf kalte, muß zum mindesten stark vermindert, wenn 
nicht ganz aufgehoben sein. Es braucht dann aber auch nicht 
mehr zu erstaunen, wenn solche Hautpartien selbst Veränderungen 
unterliegen können — bei der Raynaud’schen Krankheit sind sie 
ja schon lange bekannt — auch ist es verständlich, daß in solchen 
Hautpartien Beschwerden, eventuell sogar Schmerzen entstehen 
können. Manche Klagen von Kranken müssen uns nach dem uns 
jetzt nicht nur funktionelle, sondern organische Veränderungen der 
Hautkapillaren bekannt sind, in einem anderen Licht erscheinen. 

Zusammenfassend läßt sich also auf Grund dieser Beobachtungen 
sagen: Histologische Untersuchungen an hochgradiger Cutis marmo- 
rata haben ergeben, daß die Kapillaren und subpapillären Plexus 


284 Scuanprr, Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der mensch]. Haut. 


verändert sind. Sie sind maximal erweitert, meist geschlängelt 
oder gewunden und strotzend voll von Blut. Normalerweise kon- 
trahieren sich die Hautkapillaren im Tode; die veränderten 
Kapillaren der Cutis marmorata besitzen diese Kontraktionsfähig- 
keit nicht mehr. Es liegt in diesen Fällen eine organische 
Kapillarschädigung vor, die bis jetzt nur als ein funktionell ver- 
änderlicher vasoneurotischer Zustand der Hautkapillaren angesehen 
wurde. 


Tafelerklärungen. 


Abb. 1. Gesunde Haut mit kontrahierten Kapillaren und engem subpapillärm 

Plexus. Man sieht die Kapillaren in soleh kurzen Stücken, dab an einer Kapillare 

oft nur einige wenige Kerne im Schnitt vorhanden sind. Hämatoxylin-Eosin-Far- 
bung, 12 u. Vergrößerung 2W:1. 


Abb. 2. Cutis marmorata. Ganze Kapillarschlinge. Der arterielle Schenkel malig. 
der venöse Schenkel stark erweitert; enorm weiter subpapillärer Plexus. Häma- 
toxylin-Eosin-Färbung, 12 x. Vergrößerung 200: 1. 

Abb. 3. Cutis marmorata. Pathölogische Schlängelung und Knäuelbildung viner 
Kapillare. Hämatoxylin-Eosin-Färbung, 12 v. Vergrößerung 200:1. 

Abb. 4. Cutis marmorata. Kapillaraneurysma. Die Schlängelung tritt gegen- 
über der enormen Weite zurück. Hämatoxylin-kEosin-Färbung, 12 u. Vergrube- 
rung 20:1. 


285 


Aus der Medizinischen Klinik Lindenburg der Universität Köln. 
(Direktor: Geheimrat Moritz.) 


Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 
I. Mitteilung. 


Über das Serumeiweißbild bei der experimentellen Rekurrens- 
infektion der Ratte. 


(Ausgeführt mit Unterstützung der Rockefeller- 
Foundation.) 


Von 


Privatdozent Dr. Ernst Wiechmann und Dr. Hermann Horster. 
(Mit 1 Kurve.) 


Wenn man den Ablauf einer Rekurrensinfektion mikroskopisch 
im Blut verfolgt, so bietet sich immer wieder dasselbe eindrucks- 
volle Bild: Während des ganzen Anfalles sind die Spirochäten 
zuerst spärlich, später in wachsender Zahl lebhaft beweglich im 
Blut nachweisbar. Kurz vor der Krise tritt eine auffällige Ver- 
langsamung der Bewegungen ein. Selten liegen die Spirochäten 
dann einzeln für sich; meist lagern sie sich zu mehreren oder auch 
zu Agglomeraten zusammen. Zu gleicher Zeit kommt es zu einer 
Agglomeration resp. Agglutination!) der roten Blutkörperchen. 
Bisweilen hat man sogar den Eindruck, als wenn rote Blutkörperchen 
und Spirochäten miteinander verfilzt wären. 

Diese Haufenbildung der Spirochäten kurz vor der Krise ist 
bisher entweder als Folge der Klebrigkeit der Spirochäten (Heyden- 
reich (1)) oder als Produkt der Spiralform (Roßbach (2)) ange- 
sehen worden. Die gleichzeitige Agglutination der roten Blut- 
kürperchen hat man bei der Erklärung des Phänomens unbeachtet 


D Wir sprechen weiterhin immer von Agglutination statt Agglomeration, 
weil ersterer Ausdruck sieh allgemein eingebürgert hat. 


286 WIECHNANN u. HORSTER 


gelassen, obgleich es mehr als wahrscheinlich ist, daß beide Er- 
scheinungen, die Haufenbildung der Spirochäten und die Agglu- 
tination der roten Blutkörperchen, dieselbe Ursache haben. Konnte 
man für eine der beiden eine experimentell begründete Deutung 
finden, so war anzunehmen, daß damit auch die andere einer Er- 
klärung nähergebracht war. | 


Aus den Untersuchungen der letzten Jahre weiß man, daß Zu- 
nahme der Sedimentierungsgeschwindigkeit und vermehrte Agglu- 
tination der Erythrocyten streng parallel gehen. Die Aggregat- 
bildung kommt nach den Feststellungen Höber’s und seiner 
Schüler wahrscheinlich durch eine Verminderung der negativen 
Ladung der roten Blutkörperchen zustande, da ja die Attraktions- 
kräfte zwischen den Teilchen einer Suspension und ihr elektrisches 
Potential in entgegengesetzter Richtung wirken. Vieles spricht 
dafür, daß die elektrische Ladung den roten Blutkörperchen durch 
die Eigenschaften resp. das Mengenverhältnis der im Blut vor- 
handenen Eiweißfraktionen aufgedrückt wird. Jedenfalls ließ sich 
im Reagenzglas zeigen, daß die negative Ladung der Erythrocyten 
um so mehr gegen den Neutralpunkt verschoben wird, je globulin- 
reicher und je albuminärmer das Eiweißgemisch ist. Dies hängt 
offenbar mit der verschiedenen Lage des isoelektrischen Punktes 
zusammen. Dieser liegt für Albumin bei pn —=4,7 und für Globulin 
bei pa = 5,4 (3). 

Da somit die Frage nach der Ursache der Agglutination der 
Erythrocyten beantwortet zu sein scheint, lag es nahe anzunehmen, 
daß die bei der Rekurrensinfektion kurz vor der Krise gleichzeitig 
mit der Erythrocytenagglutination beobachtete Haufenbildung der 
Spirochäten auf dieselbe Weise erklärt werden kann. Diese An- 
nahme schien um so berechtigter, da nach unseren Untersuchungen ') 
die Rekurrensspirochäten genau so wie die roten Blutkörperchen 
negativ geladen sind. Um diese Frage einer Entscheidung näher 
zu bringen, haben wir daher das Verhalten des Globulins und 
Albumins im Blut während der Rekurrensinfektion bis zur Krise 
untersucht. 


Als Versuchstiere dienten Ratten gleichen Alters und gleichen 
(männlichen) Geschlechts, die auf dieselbe Weise ernährt worden 
waren. Da naturgemäß bei-ihnen nicht fortlaufend Blut entnommen 


1) Die Untersuchungen wurden mit dem von Michaelis (Praktikum der 
physikalischen Chemie, Julius Springer, Berlin 1922) angegebenen Apparat an- 
gestellt. 


Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 287 


werden konnte, wurden zu jeder Versuchsserie immer zehn Ratten 
verwandt. Der an je 10 Tieren erhaltene Mittelwert diente immer 
als Repräsentant eines Erkrankungstages. Demgemäß findet sich 
in der Tabelle immer nur dieser Mittelwert angegeben. Daß die 
Einzelwerte von dem Mittelwerte abwichen, liegt auf der Hand; 
dennoch gibt der Mittelwert mit Sicherheit die Richtungstendenz 
der Einzelwerte an. Die Ratten waren seit mindestens 12 Stunden 
nüchtern. Sie wurden aufgespannt, und das Blut ohne Verwendung 
von Narkoticis durch Herzpunktion mit fein ausgezogenen U-Röhrchen 
gewonnen. Alsdann wurde nach der von Reiß(4) angegebenen 
Weise verfahren. Mit Rücksicht darauf, daß nur kleine Blutmengen 
— etwa 2 ccm — zur Verfügung standen, wurde nach Reiß mit 
dem Pulfrich’schen Eintauchrefraktometer das Lichtbrechungsver- 
mögen des Serums bestimmt und daraus der prozentuelle Eiweiß- 
gehalt berechnet. Zu gleicher Zeit wurde mit dem Heß’schen 
Viskosimeter (Laboratoriumsmodell) die Viskosität gemessen, und 
nach Naegeli und Rohrer (5) aus Lichtbrechungsvermögen und 
Viskosität der Prozentgehalt des Serums an Globulin und Albumin 
errechnet. Hinsichtlich der neuerdings vielfach an der kombinierten 
Refrakto-Viskosimetrie geübten Kritik sei betont, daß selbst Berger 
und Petschacher (6), die'eifrigsten Verfechter der Robertson- 
schen Methode, zugeben, daß bei mehrmaliger Untersuchung am 
selben Individuum während des Ablaufes einer Krankheit die 
Globulinwerte der verschiedenen Methoden sich gleichsinnig bewegen, 
und daß die Reiß-Rohrer- Methode bei Reihenuntersuchungen mit 
gewissen Vorbehalten brauchbare Werte liefert. Auch Naegeli (7) 
hat noch auf dem letzten Kongreß für innere Medizin zum Aus- 
druck gebracht, daß die Robertson’sche Methode keine Vorzüge 
gegenüber der kombinierten Refrakto-Viskosimetrie besitzt. Den- 
jenigen, der Anforderungen der analytischen Chemie an die Globulin- 
Albuminbestimmung stellt, wird auch die Robertson’sche Methode 
nicht befriedigen. 


Zur Infektion diente ein Rekurrensspirochätenstamm, der uns 
von Herrn Privatdozent Dr. Krantz (Köln)!) liebenswürdigerweise 
zur Verfügung gestellt war. Durch das von Krantz (8) angegebene 
Verfahren zur Konservierung der Rekurrensspirochäten war es 
möglich, die Tiere gleichmäßig zu infizieren, und zwar erhielten 
die Tiere je 0,5 ccm Rekurrensblut-Eiweißlösung subkutan. Das 


l) Herrn Privatdozent Dr. Krantz sind wir hierfür wie auch für manche 
Ratschläge zu Dank verpflichtet. 


288 WIECHMANN u. HOBSTER 


Blut der Tiere wurde regelmäßig im Dunkelfeld mikroskopisch 
kontrolliert. Die Blutentnahmen erfolgten alle 24 Stunden und 
außerdem unmittelbar, nachdem die oben beschriebene Agglutination 
der Erythrocyten und Spirochäten mikroskopisch festgestellt war. 
In diesem Fall betrug der Abstand zwischen zwei Blutentnahmen 
8—12 Stunden. 

Die Ergebnisse sind in Tabelle I wiedergegeben. 


Tabelle I. 
| | nach der Infektion 
| gesund | ‚4. Tag. 
| | 1. Tag 2. Tag | 3. Tag kurz vor 
| | | der Krise 
EBENE DR TERN a a 
Gesamtproteinprozent | 79 7,4 7,5 81 38 
Globulinverhältnis in Pro- | | 
zenten des Gesamtprotein 44 42 54 55 OH 
Globulinprozent l 8D 32 © 40 4.5 3.9 
Albuminprozent p dd 4,2 3,5 | 3,6 3.4 
Viskosität (r) ı 1,75 1.66 176 | 186 ; 18 
we; + 
j 


Rekurrensspirochäten im Blut | -T e 


Für die Eiweißkonzentration im Serum der gesunden 
Ratten wurde ein Durchschnittswert von 7,9 g°/, (d.i.7,9g Eiweiß 
in 100 g Serum) gefunden. Dieser Wert liegt etwas höher als der 
von Hurwitz und Meyer (9) und Berger (10) für die Kaninchen 
angegebene Maximalwert von 7,0 g°,. In der Zeit zwischen der 
Infektion und dem ersten Nachweis der Rekurrensspirochäten im 
Blut zeigte sich ein Absinken der Eiweißkonzentration, das später- 
hin von einem Wiederansteigen gefolgt war. Da aus den Unter- 
suchungen von Berger (10) bekannt ist, daß Injektionen von art- 
fremdem Eiweiß den Eiweißspiegel vorübergehend senken können, 
ist auch hier die Ursache für die transitorische Senkung der Eiweiß- 
konzentration in der Injektion der Blut-Eiweißlösung und nicht in 
den Spirochäten zu suchen. Unmittelbar vor der Krise, zu jenem 
Zeitpunkt, wo rote Blutkörperchen und Spirochäten mikroskopisch 
das Bild der Agglutination boten, kam es zu einer deutlichen Kon- 
zentrationsverminderung des Eiweißes. Dieser Befund ist von den 
akuten Infektionskrankheiten im Fieberstadium lange bekannt und 
wurde zuerst im Jahre 1845 von Becquerel und Rodier (11) 
beim Kindbettfieber erhoben. 

Eine Erörterung des Mengenverhältnisses der Serum- 
Eiweißfraktionen ist auf zweifache Weise möglich. Es kann 


Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 289 


entweder rein qualitativ die Verschiebung des Globulin-Albumin- 
verhältnisses in Prozenten des Gesamteiweißes (Hammarstens 
Proteinquotient) betrachtet werden, oder aber es kann quantitativ 
die absolute Menge von Albumin und Globulin in Grammprozenten 
auf 100 g Serum berechnet werden. 

Wir beginnen mit der qualitativen Betrachtungsweise. Normaler- 
weise entfallen beim Menschen 20—35°/, des gesamten Eiweißes 
auf Globulin und 80—65°/, auf Albumin (Berger und Unter- 
steiner (12). Wir fanden, daß 
bei den Ratten durchschnittlich 
44 Prozent des Gesamteiweißes 
aus Globulin besteht, also wesent- 
lich mehr, als für den Menschen 
als Maximalwert angegeben ist. 
Bezüglich dieser Diskrepanz sei 
darauf verwiesen, daß nach den 
Untersuchungen von Berger 
und Petschacher (6) die mit 
der viskosimetrischen Methode 
ermittelten Globulinverhältnis- 
zahlen höher zu liegen pflegen 
als die mit der Robertsonmethode 
oder mit Kjeldahl-Bestimmungen 
erhaltenen. Die oben für den 
Menschen angegebenen Darch- 


; Kurve 1. 
schnittswerte waren aber nach Kurven von Gesamtprotein, Globulin und 
der Robertsonmethode gewonnen. Albumin nach Infektion mit Rekurrens- 
24 St d h f ] t I , spirochäten. f 

ungen nach erloigter IN-  Zeichenerklärung — + ‚Gesamtprotein 
fektion ist eine geringfügige Er- ---0--- Globulin 


niedrigung der durchschnittlichen ze A AMN 


Globulinverhältniszahl nachweisbar. Dann aber kommt es zu einer 
erheblichen relativen Globulinvermehrung, die bis zum Beginn der 
Krise anhält. Irgendeine Verknüpfung der relativen Globulinver- 
mehrung mit der Eiweißverminderung ist nicht vorhanden. 

Die quantitativen Verhältnisse d. h. die absoluten in 100 g Serum 
enthaltenen Globulin- und Albuminmengen lassen sich am besten 
an Hand einer Kurve (vgl. Kurve 1) übersehen. Die Globulinver- 
änderungen lassen einen ähnlichen Ablauf erkennen wie die Ge- 
samtproteinkurve, ohne daß sich jedoch eine regelrechte Parallelität 
nachweisen läßt. Typisch für die Globulinkurve bis zur Krise ist 
eine Globulinvermehrung, der jedoch am ersten Tage nach der In- 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 19 


290 WIECHMANN u. HORSTRR 


fektion ein Abfall vorausgeht. Eine ähnliche initiale Globulinver- 
minderung vor der Vermehrung ist vonHurwitz und Whipple (13) 
nach Bakterieninjektion, von Berger (10) nach Eiweißinjektion 
beobachtet worden. Das Maximum der Globulinvermehrung fällt 
nicht auf jenen Zeitpunkt, wo sich mikroskopisch im Blut die für uns 
im Vordergrund des Interesses stehende Agglutination der Erythro- 
cyten und Spirochäten nachweisen läßt, sondern 8—12 Stunden 
früher, also auf den dritten Tag nach der künstlich gesetzten In- 
fektion. Im Gegensatz zu der Globulinkurve weist die Albumin. 
kurve eine stete Verminderung auf. Bis zum Beginn der Krise 
kommt es zu einem Kreuzen der Globulin- und Albuminkurve, zu 
einer völligen Umkehrung des normalerweise vorhandenen Verhält- 
 nisses von Globulin zu Albumin, wie es von uns (14) bereits bei 
der Trypanosomeninfektion, worauf in einer späteren Mitteilung 
ausführlich eingegangen werden soll, und von Berger (10) nach 
Eiweißinjektion festgestellt wurde. 

Läßt sich auf Grund der vorstehend mitgeteilten Untersuchungen 
eine Beziehung zwischen der kurz vor der Krise beobachteten 
Agglutination der Erythrocyten und Verklumpung der Spirochäten 
und dem Globulingehalt des Serums finden, oder mit anderen 
Worten, ist diese Agglutination physikalisch-chemisch, durch eine 
relative Entladung der Erythrocyten und Spirochäten zu erklären ? 
Unsere Untersuchungen lehren, daß ein eindeutiger Parallelismus 
zwischen jener Agglutination und der Globulinvermehrung nicht 
besteht. Das Maximum der Globulinvermehrung findet sich 8 bis 
12 Stunden vor der mikroskopisch zu beobachtenden Agglutination. 
Trotzdem halten wir es für wahrscheinlich, daß zwischen beiden 
Erscheinungen ein innerer Zusammenhang besteht. Es ist zu auf- 
fällig, daß das Maximum der Globulinvermehrung gerade 8 bis 
12 Stunden vor der beobachteten Agglutination liegt, und vor allem 
auch, daß sich um diese Zeit die größte Viskosität im Serum findet. 
Denn schon Fahraeus (15) betonte, daß im Gegensatz zu allen 
Erwartungen gerade die Fibrinogenlösung, die die größte agglu- 
tinierende Kraft besitzt, am viskösesten ist. Die Viskosität weist 
aber, wie Höber (16) besonders auf Grund der Untersuchungen 
von Hatschek (17), W.R. Heß (18) und Loeb (19) unterstreicht, 
auf das Vorhandensein submikroskopischer Aggregate hin, die 
weiterhin beim Stehen der Lösung sich zu größeren Flocken zu- 
sammenlagern können, und beim Haften an der Oberfläche der 
Blutkörperchen und, wie wir vermuten, auch der Rekurrensspiro- 
chäten diese mit in die Flockung hineinbeziehen. Letzten Endes 


Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 291 


wird die Ursache für die nicht eindeutige Beantwortung der von 
uns aufgeworfenen Frage in der nicht abzuändernden, mangelhaften 
Methodik zu suchen sein. Bei der Ratte überstürzt sich die 
Rekurrensinfektion förmlich, wie ja auch aus den pathologisch-ana- 
tomischen Befunden hervorgeht. Es ist und bleibt ferner völlig 
unmöglich, die Infektion fortlaufend am Blut ein und desselben 
Tieres zu verfolgen. 

Die Annahme, daß die kurz vor der Krise festgestellte Agglu- 
tination der Erythrocyten und Verklumpung der Spirochäten auf 
eine gemeinsame Ursache zurückzuführen ist, konnte man noch 
durch andere Beobachtungen zu stützen hoffen. Es ist bekannt, 
daß die Erythrocyten (20) und gewisse Bakterien (21) ähnlich wie 
durch Gravid- und entzündliches Plasma auch durch bestimmte 
Stoffe wie Histon, Protamin, Gelatine, durch Gummi, durch die 
Salze seltener Erden .u. a. zur Verklumpung gebracht werden 
können. Gilt das gleiche auch für die Spirochäten? Wir haben 
Blutkörperchen-Rekurrensspirochäten-Emulsion (in 0,95°/, NaCl) 
za m/1000 Lanthannitrat (in 0,95°%, NaCl), zu je 10°), Gelatine 
und Gummi (ebenfalls in 0,95°/, NaCl) hinzugesetzt und den Effekt 
mikroskopisch verfolgt. Tatsächlich waren nicht nur die Blut- 
körperchen agglutiniert, sondern auch die Spirochäten waren zu- 
sammengeballt und zum großen Teil bewegungslos. Diese an sich 
positiv ausgefallenen Versuche können aber nicht im Sinne eines 
Modellversuchs gewertet werden, da bekanntlich die Spirochäten in 
solchem fremden Milieu zu leicht geschädigt werden. 


Zusammenfassung. 


Wenn man den Ablauf einer Rekurrensinfektion mikroskopisch 
im Blut verfolgt, so findet man kurz vor der Krise, daß nicht nur 
die Spirochäten bewegungslos werden und zu mehreren zusammen- 
geballt sind, sondern daß auch die Erythrocyten agglutiniert sind. 
Mit Rücksicht darauf, daß die Agglutination der Erythrocyten neuer- 
dings auf eine Verminderung ihrer negativen Ladung infolge Globulin- 
vermehrung im Serum zurückgeführt wird, wurde an Ratten unter- 
sucht, ob sich zur Zeit jener Agglutination der Erythrocyten und 
Spirochäten eine Globulinvermehrung im Serum nachweisen läßt. 

Das quantitative Verhalten des Gesamteiweißes, des Globulins 
und Albumins wurde bis zum Beginn der Krise nach Reiß- 
Naegeli-Rohrer untersucht. Es wurde festgestellt, daß die 
Rekurrensspirochäten negativ geladen sind. 


Für die Eiweißkonzentration im Serum der gesunden Ratten 
19* 


992 WIECHMANN u. HoRSTER, Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 


wurde ein Durchschnitiswert von 7,9 g°/, ermittelt. In der Zeit 
zwischen der Infektion und dem ersten Nachweis der Rekurrens- 
spirochäten im Blut zeigte sich ein Absinken der Eiweißkonzentration, 
das von einem Wiederansteigen gefolgt war. Unmittelbar vor der 
Krise kam es zu einer Konzentrationsverminderung des Eiweißes. 
Typisch für die Globulinkurve bis zur Krise ist eine Globulinver- 
mehrung, der jedoch am ersten Tage nach der Infektion ein Abfall 
vorausgeht. Das Maximum fällt nicht auf jenen Zeitpunkt, wo sich 
mikroskopisch im Blut die Zusammenballung der Erythrocyten und 
Spirochäten nachweisen läßt, sondern 8—12 Stunden früher. Im 
Gegensatz zu der Globulinkurve weist die Albuminkurve eine stete 
Verminderung auf. Es kommt zu einem regelrechten Kreuzen der 
Globulin- und Albuminkurve. 

Ein eindeutiger Parallelismus zwischen der Agglutination und 
der Globulinvermehrung ist also nicht vorhanden. Trotzdem wird 
es, besonders mit Rücksicht auf das Verhalten der Serumviskosität, 
als wahrscheinlich erachtet, daß zwischen beiden Erscheinungen 
ein innerer Zusammenhang besteht. Beobachtungen, nach denen nicht 
nur, wie bereits bekannt, Erythrocyten und Bakterien, sondern auch 
Rekurrensspirochäten durch Lanthannitrat, Gelatine und Gummi 
zusammengeballt werden, können hierfür keine sichere Stütze sein, 


da die Spirochäten in diesem fremden Milieu zu leicht geschädigt 
werden. 


Literatur. 


1. Heydenreich, Zit. nach Eggebrecht, Febris recurrens in Nothnagel. 
Spezielle Pathologie und Therapie. Wien 1902. — 2. Roßbach, Zit. nach 
Eggebrecht, Febris recurrens in Nothnagel, Spezielle Pathologie und Therapie. 
Waien 1902. — 3. Vgl. hierzu Höber, Physikalische Chemie der Zelle und der 
Gewebe. 5. Auflage, Leipzig 1922/24: Mond, Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. 
197, 574, 1922: Kanai, Pħūüger's Arch. f. d ges. Physiol. 197, 583, 1922: Ley. 
Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. 197, 599, 1922. — 4. Reiß, Refraktometrische 
Blutuntersuchungen in Abderhalden, Handb. d. Biochem. Arbeitsmethoden, Abt. 4, 
Teil 3, 8. 299. — 5. vgl. Reiß, l.c. — 6. Berger u. Petschacher, Zeitschr. 
f. d. ges. exp. Med. 36, 258, 1923. — 7. Naegeli, Verh. d. Dtsch. Ges. f. inn. 
Med. in Wiesbaden 1925. München 1925. — 8. Krantz, Münch. med. Wochen- 
sehr. 1925, Nr. 1. — 9. Hurwitz u. Meyer, Journ. of exp. Med. 24, 515, 1916. 
— 10. Berger, Zeitschr. f. ges. exp. Med. 28. 1, 1922. — 11. Becquerel u. 
Rodier, Untersuchungen iber die Zusammensetzung des Blutes im gesunden und 
kranken Zustande. Erlangen 1845. -- 12. Berger u. Untersteiner, Wien. 
Arch. f inn. Med. 9. 273, 1924. — 13. Hurwitz u. Whipple, Journ. "of exp. 
Med. 25, 231, 1917. — 14. Wiechmann und Horster, Verh. d. Dtsch. Ges. f 
inn. Med. in Wiesbaden 1925. München 1925. — 15. Fabraeus, Acta med. 
scandinav. 55, 1. 1921. — 16. Höher, Physikalische Chemie der Zelle und der 
Gewebe. 5. Auflage. Leipzig 192224. — 17. Hatschek, Kolloilzeitschr. 8. 34. 
1911. — 18. W. R. Heß, Kolloidzeitschr. 27, 154. 1920. — 19. Loeb, Zit. navrh 
Höber, l. e — 20. Linzenmeier ‚ Pllüger's Arch. f. d. ges. Physiol. 186, 272. 
1921. — 21. Vorsehütz, Pilüger's Arch. f. d. ges. Physiol. 186, 290, 1921. 


293 


Aus der Medizinischen Klinik der Universität Freiburg i. Br. 


Klinische Magenstudien lI. 
von 
B. Stuber und A. Nathansohn. 
(Mit 9 Kurven.) 


Zur Analyse der Achylie (Forts.). 


In Mitteilung I (Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 150, H. 1/2) 
konnten wir zeigen, daß Fälle, die auf die üblichen vorgelegten 
Reize (Probefrühstück nach Boas-Ewald, Alkoholprobetrunk nach 
Ehrmann) gar nicht, oder nur wenig, mit Aciditätssteigerung an- 
sprachen, dennoch auf Reize anderer Art, z. B. auf Verabfolgung 
von Fleischbrühe und Ei, ferner auf subkutane Histamininjektionen 
Salzsäure und Pepsin abscheiden können. 

In der Literatur sind als Erreger der Magensaft-, bzw. Säure- 
sekretion eine ganze Anzahl Reize angegeben worden, teils als 
Standardreize, teils als Extrareize, wenn mit den üblichen keine 
Säureproduktion nachweisbar ist. Bezüglich der Fleischbrühe ist 
in letzter Zeit von Katsch und Kalk auf die Purinbasen hin- 
gewiesen worden, und auf Grund der Überlegung, diese wären die 
wirksamen Erreger der Sekretion, wurde nach Angabe der Autoren 
für manche Fälle statt des Alkoholprobetrunk eine Koffeinreiz- 
lösung empfohlen. 

Im folgenden berichten wir über die an einem Fall vorgelegten 
Reize und Ergebnisse der Dauerausheberung bei Einwirkung dieser 
Reize. Es handelt sich um den Fall S (Kurve 6) unserer Mit- 
teilung I, der inzwischen näher analysiert werden konnte. 


Vorgelegte Reize: 
1. Boas-Ewald’sches Probefrühstück (Dauerausheberung). 
2. Alkoholprobetrunk (Ehrmann). 
3. Reines Wasser (Vändorfy, Klin. Wochenschr. Nr. 29, 1925). 


294 SICBER U. NATHANSOHN 


. Probemahlzeit nach Riegel (Dauerausheberung). 

. Alkoholprobetrunk und 1 mg Histamin subkutan. 

. Fleischbrühe 300 ccm, aus 50 g Ochsenfleisch, 0,9°/, NaCl. 

. Fleischbrühe 300 ccm, aus 50 g Ochsenfleisch u. 5 g Eatan. 

. Fleischbrühe 300 ccm, aus 50 g Ochsenfleisch u. Ei, 0,9 °/, NaCl. 

. Wasser 300 ccm u. Extr. Op. 0,02 (Jarno, Arch. f. Verdauungs- 

krankh. Bd. 27, 1921). 

10. Wasser 300 cem u. Extr. Op. 0,04 (Jarno, ebenda). 

11. Bohnenkaffee 300 cem (Katsch u. Kalk, Münch. med. Wochen- 
schr. 1924). 

12. Wasser 300 ccm u. 0,5 Theobromin pur. 

13. Wasser 300 ccm u. 0,5 Theophyllin pur. 

14. Wasser 300 ccm u. 0,48 Euphyllin intravenös. 

15. Wasser 300 ccm per os, 0,4 Digipurat intravenös (Veil u. 
Heilmeyer, Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 147). 

16. 1 mg Histamin (Saftfluß ohne Vorlage von Flüssigkeit per os). 


DD X 1 OU 


Ergeb- 
.. 1300 En 300 ccm ‘300 cem ! Fleisch- | 300 cem 
a | Tee. 300 cem 300 ccm 5%, Alk. a Fleisch- | brühe Ä Wasser 
„2 | Boas- 5°% Alk. Wasser |+ Img| osch-| brühe | 5g | — 0,02 | 
Min. | . brühe : 
Hi. subk. | — Ei | Eatan |Extr. Op.) 
| | | | | 
0,61 | 71 j 64 6,2 6,1 6,7 5,2 | 5,6 
20 64 | 59 | 63 31 5.8 6,2 4,9 59 | 
30 70 — 57 ' 63 2,0 3.3 6,1 3,9 6,6 
40 — 7 | 64 1,4 1.8 6,1 3,7 5,7 
50 l — D2 j 65 1,2 1,8 4,2 35 57 
60 39 | 73 ı2 | 35 | 33 | 31 61 
10: g 381738 | 16 5.5 28 2,7 6,1 
80 61 40 > 74 | 16 6,7 28 | 62 | 
90 > — 38 1 72 ! I8 | 72 3,8 29 | 62 | 
10 I = 40 ` © I8 j 22 | 48 33 i 65 
110 = Jo > 73 23 | 1 | 55 66 ' — 
120 ; — 40 71 | 86 | = l 5 66 ; — | 


Ea 


Es ergibt sich aus diesen Versuchen, daß für Fall S als 
wesentlichste Reize in Betracht kommen: Fleischbrühe, Fleischbrühe 
und Ei, Fleischbrühe und Eatan, Riegel’sche Probemahlzeit, sowie 
Histamin subkutan. 

Keine oder nur ganz geringe Reize sind: Wasser, Boas-Kwald- 
sches Probefrühstück, Alkoholprobetrunk, Bohnenkaffee, Theobromin, 
Theophyllin per os, Euphyllin intravenös, Extr. Op. 0,02 und 0,04 
per os, Digipurat intravenös. 


Klinische Magenstudien II. 295 


Die Riegelmahlzeit ist in diesem Falle zwar ein guter Reiz, 
aber die Tatsache, daß der Schlauch sich häufig verstopft und 
weiterhin die lange Zeit, die man häufig braucht, um das Maximum 
der Acidität (ph 2,2 nach 310 Min.) zu erhaschen, erschweren die 
Verwendung als Standardreiz. 

Über das unterschiedliche Verhalten der Fleischbrühe in bezug 
auf Aciditätssteigerung siehe den nächsten Fall. 

Die Prüfung der hier verwendeten Purinbasen auf säureweckende 
Eigenschaften fällt zu ungunsten derselben aus. 


Zur periodischen Achylie. 

Die Ansprechbarkeit desselben Individuums auf denselben Reiz 
kann sich erheblich ändern. Besonders deutlich geht das aus den 
Protokollen des Falles Rh. (Ulcus pylori) hervor. 

Mitte September 25 zeigte derselbe deutliche Acidität sowohl 
im Nüchternwert (ph 1,8—2,0) wie auch bei Dauerausheberung nach 


nisse, 


MÒ cem | 300 ccm 300 ccm ‚300 cem |300 cem | 

ARa ‚300 cem' Wasser | Wasser | Wasser | Wasser | 1 mg 
uu g Bohnen-, +0,5 g +0,58 +0,48 g| — 0,4 g | Histam. 
8 kaffee | Theo- | Theo- , Euphyl. | Digipur. | Safttluß ' 


at pa 
Min. Riegel 


DIR: ks brom. pur. phyllin | intrav. | intrav. | 
Al 7.0 | 6,2 6,1 | 6.4 6.2 | 7.4 | 10 | 6.0 
6.2 6.4 6,3 63 68 6.0 61- 160 | 6l 
61 62 6.3 65 | 6l 5A 38 |17 | 39 
5.7 6.1 63 | 65 | 6l 6.2 2.0 180 | K. + 
3.8 6.1 65:63 61 6.4 2.8 | 220 5.5 
5.7 6.8 TO i Bes 6.0 1: 18 280 | 81 
38 13 130365 6.7 73 | 25 | B0 22 
> 7.1 73 | 65 7.1 73 0 81 | 
A.T 65 72 6.6 7.1 = 3.2 
il 13 1 72 63 1 65 7.5 3,4 
64 = 7.2 6.4 6.1 7,4 | ' 
6. 13 1.3 6.3 6.1 | 1.5 


Vorlage von 300 cem 5°% Alkohol (Maximum der Acidität ph = 1,2 
nach 70 Min.). Am 21. September auf Vorlage von 300 cem 5°), 
Alkohol und 1 mg Histamin subkutan ebenfalls deutliche Acidität, 
(Maximum nach 50 Min., fr. HCl=40 u. Sahli). Am 26. September 
1925 nach Vorlage von 300 cem 5°, Alkohol und 2 mg Histamin 
subkutan nach 80 Min. Maximum der Acidität, freie HCl = 52 nach 
Sahli. Alsdann folgte ein Versuch, in dem 1 mg Atropin sulfur. 
intravenös verabreicht wurde, ebenfalls nach Alkoholvorlage. Dabei 


296 STUBER U. NATHANSOHN 


fiel die Acidität stetig von ph 4,6 nach 10 Min. auf ph 7,5 nach 
120 Min. Seit dieser Injektion änderte sich die Ansprechbarkeit. 
Parallelversuche mit 1 mg Adrenalin subkutan, mit °/, ceg Pilokarpin 
intravenös bewirkten keinen Säureanstieg mehr. Selbst auf 1 mg 
Histamin bei Vorlage von 300 ccm 5°), Alkohol war die Mehrzahl 
der ph-Werte alkalisch, nach 80 Min. Maximum der Acidität 
ph = 6,4. Indessen wäre es ein Fehlschluß gewesen, nunmehr eine 
echte oder etwa periodische Achylie anzunehmen. Denn auf 
Fleischbrühe und Ei war deutliche Acidität zu erzielen. Am 14. Ok- 
tober erhielt Patientin 300 ccm Fleischbrühe und Ei (0,9°/, NaCl) 
hergestellt aus 50 g Ochsenfleisch, am 17. Oktober erhielt sie die- 
selbe Menge, jedoch hergestellt aus 100 g Ochsenfleisch. 


EST III, 
EEE in. 
>=s>ALIo IT 


TRESS 
7 a o E IRI 
ERENER BE ER ER RNV A HE BE 
aAA DE KR DE ER EEE ER ER BE BR ER 


0 20 JO #0' 50' 60° 70° 00 90' OO 770° 720° 730700 


I = Fleischbrühe (aus 50 g en + Ei = 300 cem, 0,9%, NaCl 
II = Fleischbrühe (aus 100 g Ochsenfleisch) + Ei = 300 ccm, 0,9°%/, Naci 


Kurve 1. 


Die beigefügte Kurve zeigt deutlich, daß die aus 100 g Fleisch 
hergestellte Fleischbrühe mehr leistet als die aus 50 g. Der erste 
Teil der Sekretion bis 50 Min. bei I und II in Kurve 1 läuft 
ziemlich parallel. Nach 70 Min. sinkt ph bei II stärker als bei lI, 
auf die stärker konzentrierte Fleischbrühe zeigt sich nach 100 Min. 
ph=2,0 die schwächer konzentrierte ph=4,1 nach 110 Min. 


Es ist möglich, daß der Unterschied in der Höhe der Acidität des 
Magensaftes durch den verschiedenen Gehalt an erregender Substanz be- 
dingt ist. Ein sicherer Nachweis ist schwierig, da das Ausgangsmaterial 
stets verschieden ist. Er erscheint uns dann erst erbracht, wenn es 
gelänge, nach Isolierung der erregenden Reinsubstanzen quantitative 
Unterschiede in der Magensaftsekretion tierexperimentell zu finden. 

Die Säureausscheidung tritt auch bei Verabreichung von Fleischbrühe 
mit Ei durch die Sonde ein. Der diesbezügliche Versuch bei Fall II 
ergab eine geringere Acidität (bis ph = 5,4) als bei peroraler Darreichung 
(bis ph = 2,2). Es dürfte deshalb neben dem chemischen auch ein 
psychischer Reiz für den Aciditätsgrad eine Rolle spielen. 


Klinische Magenstudien II. 297 


Ab 19. Oktober 25 wurde bei der Patientin eine Sippykur 
durchgeführt und zunächst von Dauerausheberungen abgesehen. Am 
2. November 25 wieder Dauerausheberung nach Vorlage von 
300 ccm 5°, Alkohol. Die Kurve wies als Maximum ein ph=5,7 
auf. Am 25. November 25 300 ccm Fleischbrühe und Ei (aus 100 g 
Ochsenfleisch bereitet) dabei nach 120 Min. Säureanstieg bis ph = 1,6 
nach 120 Min. 

Der Fall zeigt, daß die Ansprechbarkeit desselben 
Individuums auf denselben Reiz sich im Laufe der 
Zeit erheblich ändern kann. Zu Anfang auf 5°), Alkohol 
und auf Histamin noch deutliche Acidität, später nur unwesentliche 
Aciditätssteigerung. Dagegen erweist sich Fleischbrühe und Ei, 
und zwar besonders die aus 100 g Ochsenfleisch bereitete, daß der 
Magen noch fähig ist, Säure abzuscheiden. 

Auf Grund der mitgeteilten Versuche kann man von einer 
periodischen Achylie nicht sprechen, — denn auf Fleisch- 
brühe und Ei wird Säure produziert — sondern lediglich von einer 
veränderten Ansprechbarkeit auf gewisse Reize. 


Achylie und Kurvenverlauf. 


Heilmeyer (Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 148) weist darauf 
hin, daß die echten Achylien ein charakteristisches Kurvenbild 
zeigen. Bezüglich der H'-Ionenkonzentration fand er meist Werte 
um den Neutralpunkt herum, meist aber nach der alkalischen Seite 
verschoben, zwischen ph 7 und 8. 

Auf Grund unserer eigenen zahlreichen Untersuchungsergebnisse 
kann dieser Befund bei echter Achylie erhoben werden, ist aber 


ph OoVe 


70 


En Zn 
UL] herm, EV 
tt aH 


Æ’ 20° 30' #0' 50’ 00 70° &0' 90'900 IM IN 


Kurve 2. 


298 STUBER U. NATHANSOHN 


für echte Achylie nicht unbedingt charakteristisch. Das zeigt 
Kurve 2 von Fall A., aufgenommen in die Klinik wegen Pyelitis, 
die abklang, im Laufe der Behandlung Durchfälle, die eine Magen- 
untersuchung notwendig machten. 
Fall A., weibl. 52 Jahre alt, Rekonvaleszenz von Pyelitis. 
Patientin erhielt: 
. 300 ccm 5°, Alkohol. 
. 300 cem 5°/, Alkohol u. 1 mg Histamin subkutan. 
. 300 ccm 5°%, Alkohol u. 2 mg Histamin subkutan. 
. 300 com Wasser u. 0,2 Cof. pur. (Katsch u. Kalk). 
. 300 cem Wasser u. 0,4 Coff. pur. 
. 800 cem 5°, Alkohol, 0,2 g Coff. natr. salicyl. intravenös. 
. 300 ccm Fleischbrühe u. Ei (hergestellt aus 100 g Ochsenfleisch, 
0,9 °/ NaCl). 
(Das Verhalten des Falles auf Injektion von Neutralrot siehe 
am Schlusse der Arbeit.) 

Im Interesse der Übersicht mußten wir auf Wiedergabe der 
auf die Verabfolgung der beiden Koffeinreizlösungen erhaltenen 
Kurven verzichten. Sie verliefen ähnlich wie der Alkoholprobetrunk, 
nämlich dauernd im Alkalischen. Koffein intravenös bewirkte 
maximal ph = 6,1 nach 60 Min. Fleischbrühe und Ei dagegen 
ergibt als Maximum der Acidität ph=2,2 nach 80 Min. 

1 mg Histamin Maximum ph=2,9 nach 50 Min. 

2 mg Histamin Maximum ph=2,0 nach 90 Min. 

Das Ergebnis läßt es nicht als gerechtfertigt erscheinen, die 
Koffeinreizlösung in diesem Falle mit Fleischbrühe in Parallele 
zu setzen. 


~ 0O O Aa U N e 


II. Zur Wirkungsweise des Histamins. 


1. Salzsäuresekretion und Histamindosis. 


In der Literatur (Schenk, Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 
Bd. 89, 1921) finden wir die Angabe, daß 15 mg Histamin subkutan 
verabreicht werden können, wenn gleichzeitig 1,5 mg Adrenalin 
subkutan injiziert wird. Wir selbst sind über 4 mg Histamin sub- 
kutan nicht hinausgegangen. Fast immer tritt auf Injektion von 
Histamin mehr oder minder starke Rötung des ganzen Körpers ein, 
wobei sogar die Conjunctiva bulbi et palpebrarum Gefäßinjektionen 
zeigen können. Einige Patienten klagen über Kopfschmerzen von 
wechselnder Intensität. Weiterhin geben manche Patienten ein 
Wärmegefühl im ganzen Körper, auch im Magen an, das einige 


Klinische Magenstudien II. 299 


ganz angenehm empfinden. Nur einmal (Fall W., Ulcus ventric.) 
sehen wir statt der Rötung mehr Blässe des Gesichts, auf Verab- 
reichung von 2 mg Histamin stärker als auf 1 mg Histamin. 
Dabei traten auch Magenschmerzen auf. Andere Pharmaka, die 
injiziert wurden, machten der Patientin diese Beschwerden nicht. 
Ohne daß es ihr gesagt wurde, kannte sie Histamin heraus. — 
Eine Patientin mit Mitralstenose ohne Dekompensationszeichen 
zeigte statt Rötung Cyanose. Soweit das Symptomatologische. 
Uns interessierte nun die Frage, in welcher Abhängigkeit die 
Salzsäuresekretion von der Höhe der verabreichten Dosis stand. 
Kurve 3, die die Aciditätswerte des Falles Li. nach Sahlis- 
Titration der Indikatorlösung mit Kristallviolett enthält bei Ver- 
wendung des Komparators von Walpole (wie Kalk und Kugel 


HCl n.Sahlı 


Eae a BR N ER IF IE 
Frau Bun 


Img Histamin subc. 
4mg Fıirtamin subc. 


IA TEN. 
VIII U 
FABBERBERNE 
Ei 


:50' 00° 70 680° %0' 700° 10 720 


/mg Hisiamin subc. 


Zmg ltislamin Subc. 


300 cem 5°, per os, Histamin subkutan. 
Kurve 3. 


mann, klin. Wochenschr. Nr. 38, 1925, verwendeten wir die Mikro- 


bürette), gibt darüber Auskunft. 
Jedesmal wurden 300 ccm 5°% Alkohol vorgelegt und je 


1,2, 3, 4 ccm Histamin subkutan injiziert. 

Mit höherer Dosis steigt im allgemeinen die Acidität. Das 
Optimum derselben liegt indessen bei 3 mg (nach 90 Min. fr. 
HCI. = 108). Auf 4 mg erfolgt zwar schnellerer Anstieg der Kurve, 
jedoch Maximum der Acidität freie HC]=99 nach 110 Min. 


300 STUBER U. NATHANSOHN 


Wir verzichten auf Wiedergabe anderer Kurven, die ähnliche 
Bilder bieten. 

Fall W., indessen, von dem wir oben angaben, daß er nach 
Histamin besonders auf 2 mg mit Blässe statt Rötung des Gesichts 
und mit Magenschmerzen reagierte, ging auf die Mehrzufuhr von 
2 mg Histamin nicht weiter in die Höhe. Die Aciditätswerte lagen 
etwas niedriger als auf 1 mg Histamin. 

Bei Kurven, die auf Alkoholprobetrunk bereits hohe Aciditäts- 
werte zeigen und bei 1 mg Histamin nicht wesentlich oder gar 
nicht ansteigen, darf man nicht vorzeitig den Schluß ziehen, der 
Magen leiste schon maximale Arbeit. Instruktiv ist in dieser 
Hinsicht Fall L. (Ulcus duodeni; Diagnose röntgenologisch gesichert 
durch Cholecystographie und Magendarmaufnahme), bei dem die 
Dauerausheberungen folgende Ergebnisse hatten: 


Vorlage von 


nach Minuten 300 ecem 5°, Alko- 300 cem 5° Alko- !500 cem 5°, Alko- 
hol. Titration nach hol und 1 mg Hist- | hol und 2 mg Hist- 


Sahlj | amin amin 
10 | (ph = 6,0) +17 | + 22 
20 +12 + 28 + 48 
30 + 32 4 + 66 
40 -+ 78 +4 + 88 
DO + 85 +51 + 94 
60 + 86 +65 + 
70 +75 +78 + 114 
50 + 58 +50 +115 
90 | Ao +83 115 
100 +73 +83 +115 
110 +82 + x0 
120 | +70 +8 


Fall L. ist bisher einer von den wenigen Fällen, die in unserem 
Material eine bei Ulcus duodeni beschriebene Kurvenform boten. 
Meistens waren das gar nicht Patienten aus der Freiburger Gegend. 
Aus den mitgeteilten Aciditätswerten dieses Falles geht hervor, 
daß 1 mg Histamin bei Vorlage von 300 cem Alkohol nicht mehr 
leistet als dieselbe Menge Alkohol ohne 1 mg Histamin. Auf2 mg 
Histamin ist die Acidität erhöht. 

Bemerkenswert erscheint uns noch, mitzuteilen, daß diedurch 
Histamin bewirkte Steigerung der Acidität meistens 
keine Steigerung der „Hyperaciditätsbeschwerden“ macht. 
Eine Patientin, die fast dauernd Beschwerden hatte (sie zeigte 
auch überstürzte Neutralrotausscheidung nach Alkoholprobetrunk) 
fühlte sich gerade nach Histamin, das eine erhebliche Steigerung 
der Salzsäurereaktion bewirkte, besonders wohl. 


Klinische Magenstudien II. 301 


Histaminwirkung bei gleichzeitiger Injektion von 
Adrenalin, Pilokarpin oder Atropin. 


Popielski (Arch. f. d. ges. Physiol. 178, 1920) sah bei Hunden 
auf Histamininjektion Magensaftsekretion nach Durchtrennung des 
Vagus, nach Atropin und nach Skopolamin. Er schließt daraus, daß 
das Histamin seinen Angriffspunkt in der Drüsenzelle selbst habe. 


P. Schenk (Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 89, 1921) 
glaubte im Hinblick auf die Kupierung gewisser durch Histamin 
auszulösender Symptome (Blutdrucksenkung, Hautrötung) hinsichtlich 
des Kreislaufes an eine Lähmung des Sympathicus oder Lähmung 
der myoneuralen Junktionsstelle zwischen Muskel und Nerv. 


Bei den Beziehungen, die von manchen Autoren zwischen vege- 
tativem Nervensystem und Verdauungsorganen (Eppinger und 
Heß, Petrén und v. Bergmann) angenommen werden, lag es 
nahe für uns, klinisch experimentell zu prüfen, ob zwischen 
dem Histamin als mächtigem Erreger der Magensaftsekretion und 
denjenigen Pharmaka, denen man heute eine gewissermaßen elektive 
Affinität zu bestimmten Nervenelementen zuschreibt, solche Be- 
ziehungen nachzuweisen sind. Wir schritten deswegen an 4 Fällen 
zu Serienversuchen. Wir gingen so vor, daß wir an 2 Fällen, 
{Fall M. und Fall W.) Histamin subkutan, Adrenalin subkutan, 
Pilokarpin sowie Atropin intravenös für sich allein einwirken ließen, 
außerdem letztere 3 in Verbindung mit Histamin, gleichzeitig jedes- 
mal 300 ccm 5°/, Alkohol per os vorlegten und Dauerausheberung 
vornahmen. Der dritte, von uns weiter unten beschriebene Fall 
{Fall Li.) hatte insofern eine Erweiterung der Versuchsanordnung, 
als wir noch Dauerausheberungen ohne Vorlage von Alkohol 
machten, um den Einfluß von Adrenalin und Atropin auf den reinen 
durch Histamin ausgelösten Magensaftfluß zu studieren. Der 4. Fall 
endlich (Fall Br.) beschäftigte sich lediglich mit der Beeinflussung 
des Histaminmagensaftflusses durch Adrenalin, Pilokarpin und 
Atropin. 


Fall M. Ulcus pylori mit Hypersekretion bei 18jähr. Frau. 


1. untere Magengrenzen (nach Brausepulver) 7 cm unter- 
halb des Nabels. 


2. Motor. Funktion: 


Chlorophyliprobe nach Boas: von 400 ccm nach 
1 Std. 130 ccm Rest. 


3. Sekretor. Funktion: 


309 STUBER U. NATHANSOHN 


a) Semmel-Tee: Boas-Ewald: 400 ccm Tee, 2 Semmel 
nach !/, Std.= 200 ccm. Freie HC1I+10 
Ges.-Acid.+ 24 
ph=1,9 
b) Trockenprobefrühstück: (50 g Semmel) nach 
ı/, Std. 100 cem Inhalt: Filtrierte Saftmenge 50 ccm. 
Freie HCl= + 3 (n. Sahli) 
Ges.- Acid. = + 43 
ph = 3,2 
c) nüchtern: 26 cem freie HCI-+ 8 (n. Sahli) 
Ges.- Acid. + 17 
ph = 1,95 
10 Min. Kauen von Brotrinde, danach Ausheberung. 
Menge: 70 ccm Saft, freie HCI+ 1 (n. Sahli) 
Ges.-Acid. + 12 
ph = 4,0. 


Ergebnisse der Dauerausheberungen 


I E j M j IV | v | W, W WIj 
| 2 mg | | 2m ta cg 
| Hist- Hist- |Pilocarp. 
300 c u un amin u. 1 mg | mg | amin “Ja CR | i 


cm i 3 . V. 

, è 1l mg | 2 mg Atrop. ı Pilocarp.! 
Min. 5% ei 1mg|; : Adren., subk. 1mg 
Alkohol| Hist- | Hist- Atropin| intra- | subk, | 1 mg | Dt Hise- 


amin | amin intra- | venös ' Adren. venös | nu 
venös subk. ı | subk. 
ph ph: ph | ph ph ph ph | ph | ph 
| | | 
10 | 1,95 185 | 1,75. 1) Te | 1,6 laa | ag 
20 | 20 14 1.55 | l4 | 16 | 1.8 12 |19 | 14 
30 | 1,75 | 12 1,85; ull | 15 |18 1,15, 16 ; 1,25 
40 | 165 ' 125 12 115| 195 | 20 11,14 | 18 
50 17 115 1,1 WE 21 1,95 |ull 12 12 
60 1,6 12 juli jull!| 16 1.4 ull | Ii jull 
70 ‚13 Juli!/|ull 1.6 1.4 u 1,1! 1.2 u 1,1! 
s | 16 14 luliiluli | 165 155 Juli . 12 L1’ 
90 | L55 145 ull!jull | 145 | 14 11! ı 135 1.2 
10 | 16 145. 1111 20 | 14 | 18 Ii rer 14 1.8 
110 1,5 18, 12, 18 | 13 1,55 \ 1 f 165 | 1,55 
120 1,4 185 | 14 | 175| 135 | 18 Jj] ” 16 | 18 
Nüchternwerte nach Einlegen der Sonde: 
Port | | | 
1 | 62 47 41 20 20 35 | 41 2.0 41 
u | 6 22 $2 | 17% 20, 16 42 22 | 20 
MI | i9 j l4 o 17 0 185 20 1,5 Ä 
IV | 20 | ia 20 | 22 | | 
Vv | 20 14 | | | 
u = unter. a, Tag nach Pilokarpin- Henni nüchtern kein Schmerz mehr, ex 


fand sich 1 Tag nach Pilokarpin-Histamin kein Nüchternsekret mehr. 


Klinische Magenstudien II. 303 


In bezug auf die Fragestellung dieses Abschnittes ergibt sich, 
daß bei Fall M. weder 1 mg Atropin intravenös, noch 1 mg Adre- 
nalin subkutan die durch 2 mg Histamin ausgelöste Steigerung der 
Acidität bei peroraler Vorlage von Alkohol hemmend beeinflußt, 
dagegen °/, ceg Pilokarpin intravenös die durch 1 mg Histamin 
subkutan ausgelöste Acidität fördert. 

Wir weisen kurz darauf hin, daß die nach Einlegen der Sonde 
entnommenen Einzelportionen des Nüchternsekrets bis auf die in 
Kolonne VIII an Acidität zunehmen. 


i HCl n.Sahlı IMG ISIMNA een 
CEREREA 
+20 Pan 


EE 7 70 0 W 700 TO IN 
Kurve 4a 
H CI nSahlı 
MERNE 
+20 vaá 


Ba En 


Kurve 4b. 


HC] n.Sahlı 
+% 


I 
W 20 JO 40O 50° OO 70° 80 90° 100' 1C RC 
Kurve 4c. 


304 STUBER U. NATHANSOHN 


Fall W. Ulcus ventriculi, weibl. 22 Jahre alt. 

Auf 3 Kurven (Kurve 4 a, b und c) finden sich die Ergeb- 
nisse der Dauerausheberung, bei peroraler Vorlage von 300 cem 
Alkohol (5°/,). — Es ergibt sich aus ihnen (Acidität ausgedrückt 
‚in freier HC], Kristallviolettmethode nach Sahli), daß in diesem 
Falle 1 mg Atropin intravenös in geringem Grade, 1 mg Adrenalin 
subkutan in stärkerem Grade die Acidität von 1 mg Histamin 
herabdrückt, während ?/, cg Pilokarpin intravenös in mäßigem Grade 
aciditätsfördernd zu wirken scheint. 

Fall Li. weibl. 20 Jahre alt. 

Gastrocoloptose, anfänglich mit atonischer Erweiterung des 
Magens, bei der Entlassung normaler Tonus (gesichert durch 
Röntgenaufnahme). Klinikaufenthalt 24. VIII. 25 bis 9. XL 25, 
während dieser Zeit 25 Dauerausheberungen. 10 kg Gewichts- 
zunahme! Besonders starker Appetit nach Dauerausheberung mit 
Histamin. 

Erste Versuchsserie bei Vorlage von 300 ccm 
5%, Alkohol: 

(Aus Gründen der Raumersparnis Kurven hier nicht beigefügt.) 

Die Aciditätskurve von 3 mg Histamin wird durch Suprarenin 
hydrochlor. gehemmt, indessen durch 1 mg stärker als 1,5 mg Supra- 
renin, 1 mg Atropin intravenös hemmt die Acidität von 3 mg 
Histamin, °/, cg Pilokarpin und 1 mg Histamin haben höhere 
Aciditätskurven als jede für sich allein. 

Da es auffällig war, daß 1 mg Suprarenin und 3 mg Histamin 
zusammen stärker aciditätsherabsetzend wirken, als 1,5 mg Supra- 
renin und 3 mg Histamin — ein Ergebnis, das überlegungsgemäß 
anders erwartet wurde — wurden entsprechende Kontrollen 
ohne perorale Vorlage von Alkohol gemacht, lediglich 
reiner Histaminsaftfluß erzeugt, und dessen Beeinflussung durch 
1 mg, 1,5 mg Suprarenin subkutan, sowie 1 mg Atropin sulf. intra- 
venös studiert. 

Das Ergebnis dieser Versuche findet sich in Kurve 5 graphisch 
dargestellt. 

Eine Hemmung der Histaminsekretion ist nanmehr nicht mehr 
zu konstatieren. Trotz 1 mg Atropin. sulf. intravenös, 1,5 mg Supra- 
renin subkutan und 3 mg Histamin subkutan lassen gegenüber dem 
reinen Safttluß keinen deutlichen Unterschied erkennen. 

Somit sind die Ergebnisse der Versuchsserie dieses Falles 
bei Vorlage von 300 cem 5°, Alkohol per os verschieden 
von der Serie ohne Vorlage von Alkohol. 


Klinische Magenstudien II. 305 
HC1nSohli 
750 


BEER 
A 
730 2 

Eur 2 


70 20 230° 40 SO 00° 7O 3O 90° T00 10 1720' 


Kurve 5. 


Histamin 3 mg subkutan (Safttlub). 
—-—:—: Histamin 3 mg subkutan, 1 mg Atropin. sulf. intrav. 
nennen Histamin 3 mg subkutan, 1 mg Suprarenin hydrochl. subk. 
— — -- — Histamin 3 mg subkutan. 1,5 mg Suprarenin hydrochl. subk. 


Fall Br. Ulcus ventriculi, weibl. 18 Jahre alt. 

Wir verzichteten in diesem Fall auf perorale Vorlage von 
Alkohol und studierten lediglich den reinen Magensaftfluß auf 
3 mg Histamin, sowie in Kombination mit 1 mg, 1,5 mg Suprarenin 
hydrochlor. mit 1 mg Atropin sult. intravenös und ®/, cg Pilokarpin 
hydrochlor. intravenös. 


Das Ergebnis findet sich auf Kurve 6 und 7 dargestellt. 
(Titration nach Sahli mit Kristallviolett) Atropin-Histamin und 
Pilokarpin-Histamin (Kurve 6) liegen hier dicht beieinander, auch 
die Suprarenin-Histaminkurven (1 mg, bzw. 1,5 mg Suprarenin und 
Histamin, Kurve 7) decken sich fast. Gegenüber der Kurve von 
3 mg Histamin ist kein großer Unterschied zu entdecken. 


Somit ist eine sichere Heminung oder Förderung der Histamin- 
sekretion durch Suprarenin, Pilokarpin oder Atropin bei dieser 
Versuchsanordnung nicht zu erkennen. 

Deutsches Arehiv für klin. Medizin. 151. Bd. 20 


306 TUBER U. NATHANSOHN 


+ 730 _A CL n Sehli 


sal L AI 
1 / Ash 


+ 3 
W 20' 3O 40 50° 600 7O gO 90 700° TIO T20 


Kurve 6. 


3 mg Histamin subkutan (Safttluß) 
—— —— 3ö mg Histamin subkutan, 1 mg Supraren. hydrochl. subk. 
ren 3 mg Histamin subkutan, 1,5 mg Supraren. hydrochl. subk. 


70'207 30° 90° 50° 060° 0’ &0' 30° 700' 70'720 
Kurve 7. 
3 mg Histamin subkut. (Safttlub) 


— — — — 3 mg Histamin subkut., 3, eg Pilokarpin. hydrochl. intravenös 
rennen 3 mg Histamin subkut.. 1 mg Atropin sulfur intravenös 


Klinische Magenstudien II. 307 


Besprechung der Versuchsergebnisse: 


Die Versuchsserien ohne Vorlage von Alkohol zeigen, daß 
die Histaminsekretion bezüglich der Höhe ihrer Acidität unabhängig 
sein kann von Pharmaka, denen man eine Wirkung auf das vege- 
tative Nervensystem zuschreibt. Jedoch fällt das Ergebnis nicht 
eindeutig aus. Die Versuchsserien bei Vorlage von 
Alkohol (Fall M., Fall W. und Fall Li.) fallen bei Fall M. 
zugunsten der Unbeeinflußbarkeit der Histaminsekretion durch 
Adrenalin oder Atropin aus, während Pilokarpin leicht fördernd 
wirkt. Fall W. und Fall Li. zeigen Abhängigkeit der Histamin- 
sekretion von Adrenalin und Atropin im Sinne einer Hemmung der- 
selben, von Pilokarpin im Sinne einer Förderung derselben. Dabei 
ist auffallend, daß bei Fall Li. 1 mg Adrenalin stärker aciditäts- 
hemmend auf die Histaminsekretion wirkt als 1,5 mg Adrenalin. 


Eine gesonderte Besprechung erfordert bei Fall Li. die Diver- 
genzder Versuchsergebnisse bei Vorlagevon Alkohol 
und ohne Vorlage von Alkohol. Der durch Histamin aus- 
gelöste reine Magensaftfluß ohne Vorlage von Alkohol bleibt nach 
Injektion von Suprarenin bezüglich der Höhe der Acidität unge- 
ändert. Die Acidität geht auf intravenöse Atropininjektion sogar 
noch in die Höhe. Bei Vorlage von Alkohol per os zeigt sich 
indessen Abhängigkeit der Histaminsekretion von Atropin und 
Suprarenin im Sinne einer Hemmung, von Pilokarpin im Sinne 
einer Förderung. Wir konstatieren diese Tatsache, ohne eine be- 
stimmte Deutung dafür geben zu können. 


Die Verdünnung des Magensaftes durch Vorlage von 300 ccm 
Alkohol könnte man zur Erklärung heranziehen, wenn der nach 
Histaminwirkung ohne Vorlage von Alkohol erzeugte Saftfluß stets 
höhere Aciditätswerte geben würde als bei Vorlage von Alkohol. 
Dem ist aber nicht so, wir verweisen hier auf die Protokolle des 
ersten Falles. Man könnte fernerhin daran denken, daß durch die 
Alkoholvorlage andere motorische Bedingungen geschaffen werden. 
Katsch und Kalk orientierten sich durch Zusatz von Methylen- 
blau zum Alkohol, wir verzichteten darauf, da wir jedesmal die 
motorische Funktion durch die Chlorophyllmethode von Boas 
prüfen. Auch hier versagt die Erklärung, wenn wir auf Fall M. 
dieser Arbeit hinweisen, bei dem die Alkoholvorlage keinen Einfluß 
hatte auf die Höhe der Acidität, ganz gleichgültig, ob man Histamin 
allein oder in Verbindung mit Atropin (intravenös) und Adrenalin 
einwirken läßt. 


20* 


308 STUBER U. NATHANSOHN 


Trennen wir die Bedingungen eines pharmakodynamischen 
Versuchs am Menschen in äußere und innere Versuchsbedingungen, 
so können wir wohl aussagen, daß wir die äußeren in der Hand 
haben, die inneren nicht. Heyer’s Versuche weisen auf den 
Anteil der Psyche am motorischen und sekretorischen Geschehen 
des Magens hin. Unser Fall Rh. zeigt weiterhin, daß die Ansprech- 
barkeit auf bestimmte Reize sich erheblich ändern kann. Wir 
werden dadurch auf die Annahme einer individuell schwankenden 
Reaktionsbereitschaft hingewiesen, die nur retrograd aus dem Ab- 
lauf des pharmakodynamischen Versuches wahrscheinlich gemacht 
werden kann, vorher aber diagnostisch nicht faßbar ist. Unsere 
Ergebnisse erinnern an die bekannte bivalente Wirkungsweise der 
Pharmaka am Gefäßsystem, deren Abhängigkeit von dem jeweiligen 
Spannungszustand des Gefäßsystems durch die Untersuchungen von 
Stuber und Proebsting (Zeitschr. f. d. exp. Med. Bd. 41, 1924) 
experimentell nachgewiesen wurde. War in diesen Versuchen, die 
am Froschgefäßsystem durchgeführt wurden, die verschiedene Tonus- 
lage leicht experimentell zu variieren, so versagt diesbezüglich die 
klinische Methodik. Fraglos spielt aber für den sekretorischen 
Effekt eines Reizstoffes, sei es, daß es sich um ein Pharmakon oder 
ein Sekretin der natürlichen Nahrungsstoffe handelt, die momentane 
Reaktionsbereitschaft eine wesentliche Rolle, wobei das psychische 
Moment bestimmend mitwirkt. Jedenfalls sprechen unsere Unter- 
suchungen in diesem Sinne, auch die Divergenz unserer Versuchs- 
ergebnisse im Falle Li. dürfte darin begründet sein. Klinisch 
stehen wir damit aber zurzeit noch einer Gleichung mit mehreren 
Unbekannten gegenüber. 


Histamin und Neutralrotausscheidung. 


Unter den Farbstoffen, die vom Magen ausgeschieden werden, 
und chromodiagnostisch Verwendung finden, spielt das Neutrairot 
eine Rolle (Literaturangaben und Literatur siehe Galewski, 
Glässner und Wittgenstein, Luria und Mikrin Arch. f. 
Verdauungskrankh. 34, 1925.) 

Nach Glässner und Wittgenstein speichern die Beleg- 
zellen der Magendrüsen das intramuskular injizierte Neutralrot und 
scheiden es aus. Sie fanden bei bypersekretorischen Affektionen 
beschleunigte, bei hyposekretorischen verlangsamte, bei Achylie 
fehlende Ausscheidung. 

Uns interessierte nun bei Analyse der Achylie die Vergleichung 
der Neutralrotmethode mit der Histaminmethode und ferner die 


Klinische Magenstudien II. 


309 


Kombination beider, sowie die Abhängigkeit der Neutralrotaus- 
scheidung von dem weiteren von uns benutzten Reiz Fleischbrühe 


und Ei. 


Fall A., dessen Kurve (Nr. 2) uns eingangs beschäftigt hat, 


zeigte folgende Ergebnisse: 


Fleischbrühe 


| ò 4 ccm intramus- 
BE 2 do. und 1 mgt NEN kular, 300 ccm | + Ei aus 
Zeit 0: alkoho] Histamin ihor gQ) een, Alkohol 5%, ;100 g Fleisch 
In a. 090° subkutan ‚hol, cemi 2 1 mg Hist- | 300 ccm, 
Min. | PETRS amin subkutan | 0,90% NaCl 
ph ph F. ph F. ph F. ph 
| 
10 | 7,5 7.7 74, 7,3 56 
20) 7,3 | il 13 . (+)  Wl 6,7 
30 1,3 1,1 7.3 + 5.9 6,2 
40 1,3 | 3,4 745 1+(-) 50 5,9 
50 7.3 2,9 Br u (+) 57 
60 7.3 3,25 kr To (+) 50 
70 7,3 3,1 | 75 | +(+) 30 
RO 13 ! 7,5 +(+) 2,2 
90 7,3 | 175. I + 88 
w | 78 T5 | 4) 655 
110 1.3 | i 7,5 | | 7.0 
120 T6 | | 71 
F. = Farbstoffausscheidung. (+) = angedeutet. + = deutlich. — (+) = stärker. 


+ + = sehr stark. 


In den Ergebnissen kommt zum Ausdruck, daß Histamin die 
Ausscheidung des Farbstoffes begünstigt. Bei gleichzeitiger Aus- 
scheidung von Farbstoff und Säure nach Histamininjektion ist die 
aktuelle Acidität geringer als in dem Parallelversuch ohne Farb- 
stof. Aber auch Fleischbrühe und Ei trägt zur Begünstigung der 
Farbstoffausscheidung bei, sie setzt hier später ein, nimmt an In- 
tensität zu, aber auch die Acidität steigt langsam an. 

Es erscheint bemerkenswert, daß sowohl Histamin, wie Fleisch- 
brühe und Ei, die beide säureerregend wirken, auch die Neutral- 
rotausscheidung in bezug auf Dauer und Intensität begünstigen 
können. 


Zusammenfassung. 


Die Kurvenform der echten Achylie bei Dauerausheberung 
nach Vorlage von Alkohol, kann im alkalischen Bereich liegen, 
doch ist dieser Verlauf für echte Achylie nicht unbedingt beweisend. 
Aufschluß darüber kann gegeben werden durch Wiederholung der 
Dauerausheberung unter subkutaner Injektion von Histamin, durch 
Vorlage von Fleischbrühe und Ei, oder Riegel’sche Probemahlzeit. 


310 STUBER U. NATHANSOHN, Klinische Magenstudien II. 


Die Ansprechbarkeit auf irgendeinen Reiz kann sich erheblich 
ändern. Es ist deshalb eine echte, resp. periodische Achylie erst 
dann bewiesen, wenn verschiedene der oben angeführten Reize bei 
Dauerausheberung anacide Werte ergeben. Erweist sich dabei 
irgendein Reiz als säureweckend, so liegt keine Achylie vor, sondern 
lediglich eine veränderte Ansprechbarkeit auf den bestimmten Reiz. 
den wir oben durch Annahme einer individuell schwankenden 
Reaktionsbereitschaft zu erklären versucht haben. 

Bezüglich des Histamins konnte gezeigt werden, daß im all- 
gemeinen in den verwendeten Dosen (1—4 mg) die Höhe der Salz- 
säuresekretion abhängig ist von der Höhe der Dosis, wobei das 
Optimum der Dosis individuell verschieden hoch liegt. Bei Über- 
schreitung dieses Optimums kann dann die Acidität wieder sinken. 

Ist die Acidität auf Alkoholprobetrunk bereits hoch (Fall L, 
Ulcus duodeni) und tritt auf 1 mg Histamin eine weitere Steige- 
rung noch nicht ein, so kann zur Provokation stärkerer Acidität 
erst die höhere Dosis (z. B. 2 mg) beitragen. 

Die durch Histamin bewirkte Steigerung der Salzsäuresekretion 
bedeutet bei vorhandenen „Hyperaciditätsbeschwerden“ nicht immer 
Verstärkung derselben. Das Gegenteil konnte beobachtet werden. 

Die auf Histamin eintretende Steigerung der Magensaftacidität 
. kann von Pharmaka, wie Adrenalin (subkutan injiziert) Atropin 
und Pilokarpin (intravenös injiziert) unbeeinflußt bleiben, andere 
Ergebnisse kommen jedoch vor. 

Histamin und Fleischbrühe, die beide säureweckend sind, können 
die Ausscheidung von Neutralrot hinsichtlich Dauer und Intensität 
begünstigen. 


all 


Aus der Medizinischen Klinik Würzburg. 
(Vorstand: Prof. Dr. Morawitz.) 


Zur Frage der Bluttransfusion und der Lebensdauer 
transfundierter Erythrocyten. 


Von 


Dr. Paul 6örl, 


Assistent der Klinik. 


In den letzten Jahren hat die Bluttransfusion auf dem ge- 
samten Gebiete der Medizin wesentlich an Bedeutung gewonnen. 
Die Streitfrage, ob es sich dabei um eine Reiz- oder Substitutions- 
therapie handelt, ist zwar noch keineswegs entschieden; aber in 
neuester Zeit neigen zahlreiche Autoren (Opitz (1), Naegeli (2), 
Bürger (3) u. a. besonders amerikanische Forscher) der Ansicht 
zu, daß das Hauptgewicht auf den Ersatz der Erythrocyten zu 
legen sei, und sind infolgedessen dazu übergegangen, möglichst 
große Blutmengen zu transfundieren. Eine der Hauptstützen dieser 
Ansicht bilden die Untersuchungen Ashbys(4) und mehrerer 
Autoren nach ihm, die mit Hilfe der Isohämagglutination des 
menschlichen Blutes eine wesentlich längere Lebens- und Funktions- 
dauer transfundierter Erythrocyten feststellten, als bisher ange- 
nommen wurde. Auf die Methode Ashbys werde ich später zu 
sprechen kommen. 

Ferner hat die Transfusion ihre Schrecken verloren; denn es ist uns 
jetzt durch eine einfach auszuführende Voruntersuchung die Möglichkeit 
gegeben, die früher mit Recht gefürchteten Transfusionserscheinungen 
mit ziemlicher Sicherheit zu vermeiden. Wir wissen, daß dieselben durch 
die Wirkung von Isoagglutininen und Isobämolysinen entstehen, und daß 
es zu einer Agglutination der zugeführten Erythrocyten durch das 
Empfängerblut kommt. Landsteiner (5), von Dungern und 
Hirschfeld (6) u. a. haben die individuelle Verteilung der Isoag- 
glutinine geklärt, MoB (7) deren Einteilung in 4 Gruppen aufgestellt und 
damit die praktische Verwendungsmöglichkeit gegeben. 


312 | GÖRL 


Eine theoretische Erklärung der Agglutinationsvorgänge wurde durch 
die Annahme von 2 Agglutininen A und B in den Seren und 2 korre- 
spondierenden Receptoren a und b an den Zellen versucht. Dieselben 
verteilen sich auf die einzelnen Gruppen (nach Moß) wie folgt: 


Gruppe I: im Serum keine Agglutinine, in den Zellen Receptoren a u. b 


a l n Agglutinin A, „p „ „ Receptor b 

„n M: , n n sin n n n a , 

a IV n = A und B, in den Zellen keine 
Receptoren. 


Es agglutiniert also das Serum der Gruppe IV die Erythrocyten 
sämtlicher anderer Gruppen, während die Erythrocyten IV von keinem 
Serum agglutiniert werden. Das umgekehrte Verhältnis findet sich bei 
Gruppe I. Gruppe II agglutiniert I und III, ihre Erythrocyten werden 
von III und IV agglutiniert; Gruppe III agglutiniert I und II und wird 
von II und IV agglutiniert. Eine Agglutination der Spendererythrocyten 
durch das Empfängerblut kann demnach nicht auftreten: 


a) bei Transfusionen innerhalb der gleichen Gruppe 
b) bei Transfusionen von Gruppe IV auf sämtliche andere Gruppen und 
c) von Gruppe II und III auf Gruppe I. 


I. 


Die agglutinierende Wirkung des bei der Transfusion mit zu- 
geführten Serums wurde bisher vernachlässigt in der Annahme, daß 
dasselbe in der Gesamtblutmenge des Empfängers derartig verdünnt 
wird, daß ein schädigender Einfluß auf die Empfängererythrocyten 
nicht möglich sei. Nachdem nun durch die in neuester Zeit geübten 
großen Transfusionen, die in der Pädiatrie nicht selten */,, sogar "s 
der Gesamtblutmenge des Empfängers ausmachen, erhebliche Mengen 
Serum mit zugeleitet werden, erschien die Frage berechtigt: 


Bei welchem Mengenverhältnis von Empfänger- 
und Spenderblut macht sich die Agglutinationskraft 
des Spenderserums bemerkbar? 

Zur Klärung dieser Frage habe ich in vitro eine Reihe von 
Versuchen vorgenommen. Zu einer bestimmten Blutmenge von 
Gruppe II oder I wurden steigende Blutmengen von Gruppe IV 
respektive II zugesetzt, und zwar wurde, um eine vorzeitige Ge- 
rinnung hintan zu halten, teils mit Citrat — teils mit defibriniertem 
Blute gearbeitet. Diese Mischungen wurden dann gut durchge- 
schüttelt, ein Tropfen davon auf einen Objektträger gebracht und 
beubachtet, bei welchem Mengenverhältnis noch Agglutination auf- 
trat. Dabei fand ich als höchsten Grenzwert das Verhältnis 1:6 
von Spender und Empfängerblut. Die meisten Werte lagen jedoch 


Zur Frage d. Bluttransfusion u. d. Lebensdauer transfundierter Erythrocyten. 313 


etwas tiefer, in einem Falle war die Grenze sogar schon bei 1:3 
erreicht. Diese Unterschiede erklären sich aus der individuellen 
Verschiedenheit sowohl der Agglutinationskraft des Serums, als der 
Agglutinabilität der Erythrocyten. Durch zahlreiche Veröffent- 
lichungen ist bekannt, daß der Agglutinationstiter der einzelnen 
Seren erheblich differieren, ebenso, daß derselbe auch beim selben 
Individum zeitlich in gewissen Grenzen schwanken kann. Auch 
die Agglutinabilität der Erythrocyten verschiedener Individuen 
demselben Serum gegenüber ist eine ziemlich wechselnde. Diese 
durch Dyke (8) berichtete Beobachtung konnte ich durch einen 
kurzen Versuch bestätigen. 

Je 0,1 cm einer Reihe fallender Verdünnungen eines mir von früheren 
Agglutinationsproben her als hochwertig bekannten Serums wurden auf 
dem Objektträger mit 20 cmm Blut verschiedener Individuen ohne Rück- 


sicht auf deren Gruppenzugehörigkeit beschickt. Die Ergebnisse gehen 
aus folgender Tabelle hervor. 


Agglutination bis zu einer Verdünnung von 
l: 8 mit Blut einer Person der Gruppe II 


1:11 „ ” n n ” ” II 
lell-% 5. % iz > H 
l: 6 ” n n ” r n III 
l: 8 n n ” n n n Il 
l:l2 „ n n ” n ” II 
l: 3 ” ” ” n n n II 
Bio oa a e k a 
1:10 p non n ” „ HI 
l: 8 p non „on „ H 


Aus den vorstehenden Versuchen geht hervor, daß bei Trans- 
fusionen, deren Menge ein Sechstel der Gesamtblutmenge des Emp- 
fängers überschreitet, Vorsicht geboten ist, sofern das Spenderserum 
einen hohen Agglutinationstiter zu den Empfängererythrocyten be- 
sitzt. Dies scheint mit den Angaben der Pädiater, die ja, wie 
schon erwähnt, mit gutem Erfolge Transfusionen bis zu ", der 
Blutmenge des Empfängers anwenden, in Widerspruch zu stehen. 
Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß nach den Arbeiten von 
Happ (9) und Heß (10) sich bei Neugeborenen und Kindern bis 
zu einem Monat das Phänomen der Isoagglutination überhaupt 
nicht findet, sondern sich erst bis zum Ende des 2.—3. Jahres voll 
einstellt. Infolgedessen können in einem derartigen Alter auch 
größere Transfusionen ohne Gefahr für den Empfänger vorgenommen 
werden. 


314 GÖRL 


II. 


Die Lebensdauer der transfundierten Erythrocyten wird von 
Ashby mit durchschnittlich 2—3 Monaten angegeben; ebenso 
fanden Wearn (11) und seine Mitarbeiter, die ebenfalls nach der 
Methode Ashby’s vorgehen, einen Durchschnittswert von 2 bis 
3 Monaten, während andere Autoren auf Grund gleicher Unter- 
suchungen zum Teil zu niedrigeren Werten kamen, so Jerwell (12), 
5 Wochen, Moons (13) 15—30 Tagen, Hotz (14) 6 Wochen, 
Zerwell 1—2 Monate. Diese Zahlenangaben, besonders die An- 
gaben von Ashby und Wearn, die auch in der deutschen Literatur 
vielfach zitiert werden, scheinen sich den über die Lebensdauer 
normaler Erythrocyten bekannten Tatsachen schwer einzufügen. 
Sprechen doch alle bisher bekannten Methoden, besonders die Uro- 
bilinmethode, dafür, daß die normale Lebensdauer eines Erythro- 
cyten, auch wenn nicht transfundiert wurde, 40 Tage nicht über- 
steigt. Und nun sollten transfundierte Erythrocyten so viel 
länger leben! 


Der Gedankengang der Ashby’schen Methode ist folgender: 
Es müßte, wie aus dem weiter oben gegebenen Moß’schen Schema 
leicht ersichtlich ist, theoretisch möglich sein, bei einem Gemisch 
von Erythrocyten, die z. B. den Gruppen II und IV angehören, durch 
Zusatz von Serum IV die Erythrocyten der Gruppe II zur Aggluti- 
nation zu bringen und die nicht agglutinierten Erythrocyten der 
Gruppe IV zahlenmäßig zu erfassen. Hiermit wäre also nach einer 
Transfusion von Blut der Gruppe IV auf ein Individuum der Gruppe II 
oder III die Möglichkeit gegeben, durch Zusatz von Serum IV, das 
die Erythrocyten des Empfängers agglutiniert, die Zahl der trans- 
fundierten, nicht agglutinierten Spendererythrocyten zu bestimmen 
und durch in regelmäßigen Zeitabständen vorgenommenen Kontrollen 
bis zu ihrem Verschwinden aus der Blutbahn zu verfolgen. 


In der von Wearn etwas modifizierten Weise wird die Methode 
Ashby’s folgendermaßen gehandhabt: 


Blut von einer Person, der eine größere, der IV. Gruppe angehörigen 
Blutmenge transfundiert worden war, wird mit einer Leukocytenpipette 
bis zum Teilstrich 5 aufgesaugt und ein hochwertiges Viererserum bis 
zur Marke 11 nachgezogen. Nach kräftigem Mischen wird der Inhalt 
der Pipette in ein kleines Röhrchen ausgeblasen, das 40 Minuten lang unter 
öfterem Umschütteln auf einer Temperatur von 37° gehalten wird. Das 
Röhrchen kommt dann über Nacht in den Eisschrank und muß kurz vor 
der Zählung aufgeschüttelt werden. Die nicht agglutinierten Zellen lassen 
sich dann in der Zählkammer leicht auszählen. 


Zur Frage d. Bluttransfusion u. d. Lebensdauer transfundierter Erythrocyten. 315 


Dabei macht sich bereits der Umstand störend bemerkbar, daß auch 
bei Verwendung von Seren mit hohem Agglutinationstiter praktisch keine 
vollständige Agglutination der Empfängererythrocyten eintritt, sondern 
eine mehr oder weniger große Anzahl, nach Wearn 20000 bis 50 000 
im cmm, unagglutiniert bleiben. Es muß deshalb bereits vor der Trans- 
fusion eine Zählung dieser unagglutinierten Zellen vorgenommen werden. 
Die genannten Autoren glauben nun annehmen zu dürfen, daß die Zahl 
der unagglutinierten Zellen, die die Kontrollzahl vor der Transfusion 
überschreitet, die in der Zirkulation vorhandenen Spenderzellen darstellt, 
wobei natürlich Voraussetzung ist, daß zu sämtlichen Zählungen bei dem- 
selben Falle das nämliche Serum IV verwendet wird. 

Ich habe nun diese Methode Ashbys einer Kontrolle unter- 
zogen. Dabei fiel mir zunächst auf, daß die Zahl der un- 
agglutinierten Erythrocytenbeidemgedachten Emp- 
fänger keinekonstante ist. Über mehrere Tage fortgesetzte 
tägliche Zählungen an zwei gesunden Personen der Gruppe II ließen 
nicht unerhebliche Schwankungen erkennen, so in dem einen Falle 
von 25800 bis 45200 unagglutinierter Zellen in cmm, ähnliche, 
nicht ganz so starke auch bei der anderen Person. Die Zählungen 
wurden stets doppelt vorgenommen mit einem IV. Serum, das einen 
Titer von 1:12 besaß. Derartige Zahlenunterschiede sind wohl für 
die Beurteilung der Verhältnisse nach einer Transfusion kaum von 
ausschlagender Bedeutung, dürften aber großenteils mit einem 
Mangel der Methode in Zusammenhang stehen, der wesentlich 
schwerer ins Gewicht fällt. Die Erythrocyten werden, um eine 
möglichst gute Agglutination zu erzielen, mehrere Stunden mit dem 
Serum zusammengebracht und setzen sich dabei am Boden des 
Röhrchens ab, weshalb dasselbe kurz vor der Zählung aufgeschüttelt 
werden muß. Nun ist bekanntlich die Agglutination ein reversibler 
Vorgang, und die Bindung zwischen den einzelnen Zellen scheint 
wenigstens zum Teil eine ziemlich lockere zu sein. Es ist daher 
ohne weiteres möglich durch verschieden starkes Schütteln außer- 
ordentlich abweichende Zahlen von nicht bzw. nicht mehr agglu- 
tinierten Erythrocyten zu erhalten. 

Ich will kurz einen meiner diesbezüglichen Versuche anführen. 
Ein Röhrchen wurde zunächst soweit aufgeschüttelt, daß eine 
einigermaßen gleichmäßige Verteilung der Erythrocyten zustande 
kam. Die Zählung ergab 19200 unagglutinierte Zellen im cmm. 
Eine andere Probe, die mit der ersten von derselben Person zur 
selben Zeit entnommen und vollkommen gleichmäßig behandelt 
worden war, zeigte nach kräftigerem Schütteln 158000 unagglu- 
tinierte Zellen, nach nochmaligen starkem Durchschütteln 368 400 
Zellen. 


316 _ GÖRL 


Man sieht also, daß mit stärkerem Schütteln ein sprunghaftes 
Ansteigen der unagglutinierten Erythrocyten stattfindet, und ich 
halte es nicht für möglich bei den zahlreichen Zählungen diesen Faktor 
vollkommen gleichmäßig zu gestalten. Ich will hiermit keineswegs 
in die Frage eingreifen, ob die großen Zahlenunterschiede von un- 
agglutinierten Zellen vor und kurz nach der Transfusion auf die 
Spendererythrocyten zurückzuführen sind oder nicht. Isaacs (16) 
konnte nämlich nachweisen, daß unreife Erythrocyten von Seris, 
welche die reifen Erythrocyten desselben Individuums agglutinieren, 
nicht angegriffen werden. Er glaubt ferner bewiesen zu haben, 
daß die Zahl der nicht agglutinablen Zellen meist innerhalb von 
2—4 Tagen nach einer Transfusion durch die Zahl dieser jungen, 
in das Blut angeschwemmten Erythrocyten erreicht wird. Wenn 
wir trotzdem den Standpunkt Ashby’s für den richtigen halten 
würden, so glaube ich doch, daß den Zählungen, bei denen die 
Transfusion schon längere Zeit zurückliegt und der Unterschied 
infolgedessen kein derartig großer mehr ist, mit einer gewissen 
Skepsis gegenübergetreten werden müßte, da es bei der Fehlerbreite 
der Methode keineswegs festzustellen ist, ob es sich auch dann 
noch um nicht agglutinierte Zellen des Spenders handelt. Ich 
halte daher eine derartig lange Lebensdauer trans- 
fundierter Erythrocyten, wiesie besonders von Ashby 
und Wearn angenommen wird, durchaus noch nicht 
für bewiesen. Das würde auch allen sonstigen Erfahrungen 
widersprechen. 

Wesentlich einwandfreiere Resultate würde nach meinem Dafür- 
halten der andere Weg bieten, die Spenderzellen zur Agglutination 
zu bringen. Ich konnte mich durch Versuche mit gewaschenen 
Erythrocyten der Gruppen II und III davon überzeugen, daB es 
bei einem Mischungsverhältnis von 1:40 durch Zusatz eines III. 
Serums noch möglich ist, die Zellen der Gruppe II zu agglutinieren 
und diesen Vorgang ohne weiteres makroskopisch auf dem Objekt- 
träger zu verfolgen. Leider ist dieser Weg infolge der Verteilung 
der Agglutinine und der Receptoren beim Erwachsenen nicht 
gangbar. Bei Neugeborenen, bei denen ja wie oben erwähnt, die 
Isoagglutininen noch nicht gebildet sind, müßte jedoch ein derartiger 
Versuch durchführbar sein, wozu mir allerdings an unserer Klinik 
das nötige Material nicht zur Verfügung stand. 

Ashby (17) hat ferner in jüngster Zeit versucht, mit Hilfe 
seiner Methode durch Umrechnung der Zahl der nicht agglutinierten 
Erythrocyten auf die Raumeinheit des Empfängerblutes bei be- 


Zur Frage d. Bluttransfusion u. d. Lebensdauer transfundierter Erythrocyten. 317 


kannter Gesamtzahl der transfundierten Erythrocyten einen Schluß 
auf die Gesamtblutmenge zu ziehen. Ich glaube nicht, daß nach 
dem oben Gesagten die Methode für derartige Untersuchungen ge- 
eignet ist. Auch in der Frage der Lebensdauer transfundierter 
Erythrocyten sollte den Werten, die auf Grund dieser Methode 
gefunden wurden, nicht die ausschlaggebende Bedeutung zugemessen 
werden, die sie, wie eingangs erwähnt, in der letzten Zeit besonders 
auch in der deutschen Literatur gefunden haben. 


Zusammenfassung. 


1. Es wird durch Versuche in vitro nachgewiesen; daß bei 
Transfusion einer Blutmenge, die die Gesamtblutmenge des Emp- 
fängers um ein Sechstel übersteigt, die agglutinierende Kraft des 
Spenderserums wirksam werden kann. 

2. Es wird die Methode Ashby’s zur Feststellung der Lebens- 
dauer transfundierter Erythrocyten nachgeprüft. Die Methode ist 
nicht zuverlässig. Die auf ihr sich aufbauenden Schlüsse können 
nicht als zwingend anerkannt werden. 


Literatur. 


1. Opitz. Klin. Wochenschr. Nr. 46, 1925. — 2. Naegeli, Therapie der 
Gegenwart 63, 1922. — 3. Bürger, Therap. Halbmonatsschr. S. 386. 1921. — 
4. Ashby, Journ. of exp. med. S. 127, 1921. — 5. Landsteiner, Wien. klin. 
Wochenschr. 14, 1901 — 6. v. Dungern u. Hirschfeld, Zeitschr. f. Immunitäts- 
forsch. und exp. Therapie VI, 8, 1911. — 7. Moß, Bull of the John Hopkins hosp. 
21. 1910. — 8. Dyke, British journ. of exp. path. Bd. 3. — 9. Happ, Journ. of 
exp. med. Bd. 31, Nr. 3. — 10. Heß, Dtsch. med. Wochenschr. Nr. 9, 1921. — 
il. Wearn, Warren u. Ames, Americ. Arch. of intern. med. Bd. 29, 1922. — 
12. Jervell, Acta pathol. et fnierobivol. scandinav. Bd. I, 1924. — 13. Nach 
Hempel, Bruns’ Beitr. z. klin. Chirurg. 132. — 14. Hotz, Zentralbl. f. Chirurg. 
1921. — 15. Zervell, Dtsch. med. Wochensehr. S. 1214, 1925. — 16. Isaacs, 
Arch. of intern. med. Bd. 34, 1924. — 17. Ashby, Arch. uf intern. med. Bd. 35, 
1925. 


318 


Aus der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg. 
(Direktor: Prof. Dr. Hans v. Baeyer). 


Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage. 
Von 
Dr. Hermann Watermanın, 


Assistent der Klinik. 


(Mit 3 Abbildungen.) 


1922 gab v. Baeyer ein Verfahren an, wie man mittels einer 
Bandage den Fehlgang bei Tabikern günstig beeinflussen könne. 
Er nannte sie kurz Tonusbandage. Auf dem 19. Orthopädenkongreß 
in Graz wies Graf in Kürze auf ihre Vorzüge hin, die von Port 
bestätigt wurden. Zweck dieser Arbeit soll sein, unsere bisherigen 
Erfahrungen und Erfolge an einigen Fällen festzulegen, um den 
Beweis zu erbringen, daß den Ataktikern durch die Tonusbandage 
sehr erheblich geholfen werden kann. 

Durch die Tonusbandage soll erreicht werden, den Teil der 
Koordinationsstörungen beim Tabiker mechanisch auszugleichen, 
der auf mechanischen Defekten beruhe. Die Koordinations- 
störungen bei den Ataxien beruhen nach unseren augen- 
blicklichen Vorstellungen von dem Wesen der tabischen Ataxie auf 
der Atonie bzw. Hypotonie der Muskulatur und auf dem Fehlen 
bzw. auf der Herabsetzung der Sensibilität. Es ist nun 
nachgewiesen, daß koordinierte Bewegungen erfolgen können, ohne 
daß besondere bewegungsgebende Impulse in die verschiedenen, 
die bewegten Gelenke versorgenden Muskeln gesandt oder sistiert 
werden. (Mechanische Koordination.) Durch die eigenartige An- 
ordnung der mehrgelenkigen Muskeln findet nämlich ein geordnetes 
Zusammenspiel statt, dessen Ordnung und Zweckmäßigkeit nicht 
durch koordinierte zentrale Impulse bedingt ist, was v. Baeyer 
als muskuläre Koordination bezeichnet hat. Am einfachsten und 
am besten hat v. Baeyer dieses an der Hand demonstriert. 


Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage. 319% 


Lassen wir nämlich unsere Hand möglichst schlaff herunterhängen, 
so sind die Finger fast völlig gestreckt und wenig gespreizt. 
Wird diese Hand nun passiv mit Hilfe der anderen Hand dorsal- 
flektiert, ohne daß wir die Muskeln kontrahieren, so können wir 
feststellen, daß die Spreizstellung schwindet, die Finger flektiert 
und der Daumen in leichter Beugestellung an den zweiten oder 
dritten Finger adduziert wird. Diese „mitläufig“* genannte Be- 
wegung beruht einzig und allein auf der Kuppelung der Hand- 
wurzel- und Fingergelenke durch die tonisch gespannten mehr- 
gelenkigen Muskeln. Fehlt der Tonus, so kommt diese Transmissions- 
wirkung nicht zustande. 

Bei der Tabes ist nun das Zusammenspiel der melırgelenkigen 
Muskeln durch das Fehlen des Tonus gestört und damit auch die 
selbsttätige Koordination der einzelnen Gliedabschnitte. Ebenso- 
wenig erfolgt die reflektorische Regulierung des Tonus, weil durch 
das Fehlen der Sensibilität die Empfindung für die Spannung und 
Erschlaffung der Muskeln für die Lage und Stellung der einzelnen 
Gliedabschnitte mangelt. Der Tonusbandage fällt also eine doppelte 
Aufgabe zu, einmal den Tonus auszugleichen und andererseits die 
Tiefensensibilität zu ersetzen. Dieses wurde auf folgende Weise 
erreicht: der fehlende Tonus wurde ersetzt durch die Spannung von 
elastischen Zügen, die dem Verlaufe der wichtigsten Muskeln ent- 
sprechend befestigt wurden und zwar in der Weise, daß durch sie 
auch der Transmissionsmechanismus für die einzelnen Gelenke 
wieder hergestellt ist. Andererseits wird durch Substitution des 
verloren gegangenen Tiefengefühls, nämlich mittels Übertragung der 
Bewegung von peripheren Abschnitten auf zentralere Hautpartien, 
die noch gut fühlen, die fehlende Tiefensensibilität ersetzt. Die 
Tonusbandage hat noch den dritten Vorteil, daß sie wieder den 
Kraftschluß der Gelenke bewirkt, auch an freihängenden Glied- 
maßen. Es ist das deshalb ungemein wichtig, weil durch den 
Kraftschluß der Gelenke an einer freihängenden Extremität kleine 
Distraktionen verhindert werden, die bei häufigem Auftreten dem 
Gelenkapparat auf die Dauer schädlich sein müssen. 

Der Beschreibung der Tonusbandage möge man an den 
Abb. 1—3 folgen: Das Becken und die Hüften umgibt ein festes, 
breites Band in der Form eines Leibchens aus festem Drell. Von 
diesem gehen breite Träger über die Schultern, um eine bessere 
Verteilung der am unteren Leibchenende wirkenden Zugkräfte der 
dort beginnenden Gummizüge zu erzielen. Zirkuläre breite Leder- 
bänder umfassen die Gegend ober- und unterhalb der Knie. An 


320 WATERMANN 


diese zirkulären Bänder am Becken und an den Knien werden nun 
die elastischen Züge, durch welche der Grad der Spannung auch 
auf die Haut dieser Gegend übertragen wird, in der Anordnung 
der mehrgelenkigen Muskeln angebracht. 

Die Zahl, die Anordnung und die Spannung der Züge ist fast 
in jedem einzelnen Falle verschiedenartig anzubringen. Will man 


Abb. 1. Abb. 2. 


einen guten Ertolg der Tonusbandage erwarten, so muß man die 
Bewegungsstörung in jedem Einzelfalle genau analysieren. Oft 
hilft der Patient selber mit, indem er die Züge entsprechend spannt 
oder lockert. ln fast allen unseren Fällen mußten ersetzt werden 
an den Öberschenkeln die Glutaei, der Rectus femoris und die 
ischio-crurale Gruppe, oft auch ein Außen- oder Einwärtsdreher; 
am Unterschenkel wurden Züge angebracht, die dem Verlauf des 
Tib. ant., der Peronaei, dem Gastroenemius und Soleus entsprachen. 


a nn u o — 


Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage. 321 


Die beiden letzteren wurden an der Fersenkappe, die beiden 
ersteren in der Gegend über dem I. und V. Grundgelenk im Stiefel- 
befestigt. Sind Genua recurvata vorhanden, so daß man zu Hülsen- 
apparaten mit vorzeitigem Knieanschlag greifen muß, so hat sich 
auch hier die Bandage mit den Hülsenapparaten gut bewährt. 
Unsere Beobachtungen ließen uns nun folgende Vorteile der Tonus- 
bandage erkennen: Schon 
Graf hat auf dem 19. 
Orthopädenkongreß einen 
Fall gezeigt, eine Frau, 
die schon über 2 Jahre an 
den Fahrstuhl gefesselt 
mit Hilfe der Bandage 
wieder imstande war, sich 
im Haushalte zu betätigen. 
Wir hatten nur Fälle mit 
mittelschweren oder sehr 
schweren — Bewegungsstö- 
rungen, die aber geführt 
doch noch gehen konnten. 
Der Erfolg in den ersteren 
war größer und auch ein- 
facher zu erzielen als in 
den ganz schweren Fällen. 
An Mißerfolgen hatten wir 
nur einen einzigen Fall 
aufzuweisen, bei dem nur 
eine gewisse Besserung der 
Standsicherheit erreicht 
wurde. Es ist mitunter 
staunenswert zu sehen, wie 
Patienten, die vorher nur 
mit Kontrolle ihrer Augen Abb. 3. 

Treppen hinauf- und hin- 

unter gehen konnten, in der Bandage mit geradeaus gerichtetem 
Blick die einzelnen Stufen nehmen. Mit dem wachsenden Vertrauen in 
die Bandage machen sie sich zumeist von selbst an alle jene Ver- 
richtungen, die sie bisher nicht mehr auszuführen imstande waren, 
besonders an diejenigen, die sie als die unangenehmsten empfanden. 
In einem Falle erlebten wir es, daß der Patient sich auf den Stuhl 
stellte, um einen Nagel in die Wand zu klopfen, was ihm gelang 

Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 151. Bd. 21 


322 WATERMANN 


und was er bisher nicht konnte; das Aufstehen und Hinsetzen 
erfolgte ohne Hilfe der Hände; beim Gesichtwaschen, das nur mit 
offenen Augen erfolgen konnte, mußte er sich immer spreizbeinig 
an dem Waschbecken anlehnen; jetzt kann er sich ohne Anlehnen 
mit geschlossenen Augen waschen. Das Angstgefühl, das er beim 
Überschreiten eines kleinen Wassertümpels hatte, verschwand. 
Beim Besteigen des Bürgersteiges brauchte er nicht mehr wie früher 
in kleinen trippelnden Schritten bis nahe an den Rand zu treten, 
sondern schreitet vorwärts, ohne im Gang zu stocken. Das un- 
sichere Stehen in der Dunkelheit schwindet, der bisher unmögliche 
Gang im Dunkeln wird frei, oft ohne Zuhilfenahme der Stöcke. 
Auf der Straße können sich die Patienten wieder in Begleitung 
anderer unterhalten, ohne die Beine mit den Augen kontrollieren 
oder sich mit den Augen an einem bestimmten Punkte gewisser- 
maßen festhalten zu müssen. Die Wendungen im Gehen erfolgen 
mit einer einzigen Drehung, während die Patienten früher eine Kehrt- 
wendung nicht wagten. Die Patienten fühlen wieder festen Boden 
unter sich; sie haben nicht mehr das Gefühl, als wenn der Boden 
unter ihnen nachgebe oder als wenn sie auf Gummi oder weichem 
Ackerboden gehen. Psychisch machen diese Patienten einen 
frischeren Eindruck. Ihre Lebensfreude ist sichtlich gehoben. 
Ganz treffend äußerte sich einmal ein Patient, er habe durch die 
Bandage wieder „Verstand in die Beine“ bekommen. In allen 
Fällen bis auf einen wurde das Romberg’sche Phänomen wesentlich 
schwächer, in einigen wurde es völlig aufgehoben. Der Gang er- 
folgte sicherer, er ist nicht mehr stampfend; die Unterschenkel 
werden durch den ischiocruralen Gummizug in ihren schleudernden 
Bewegungen gehemmt. Der Knielıackenversuch wird negativ, die 
Patienten vermögen im Liegen wieder die Lage ihrer Beine zu 
beschreiben. Vor allem können die Patienten auch wieder größere 
Wegstrecken zurücklegen, ohne wie früher sehr schnell zu ermüden. 

Wie jeder Apparat, der über längere Zeit getragen wird, so 
hat auch die Tonusbandage den Nachteil, daß sie von Zeit zu Zeit 
einer Kontrolle und Ausbesserung unterzogen werden muß. Die 
Spannung in den Gummizügen läßt mit der Zeit nach und muß 
durch neue ersetzt werden, und zwar bei den schwersten Geh- 
störungen am frühesten. Die Patienten nehmen diesen Nachteil 
aber gerne in Kauf gegenüber den Vorteilen, die sie durch die 
Tonusbandage gewinnen. Ich lasse jetzt kurze Auszüge aus einigen 
Krankengeschichten folgen mit dem Betunde und den Klagen bei 
der Aufnahme und deren Besserung durch die Tonusbandage. 


Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage. 323 


Fall 1. R. H., 45 Jahre. Aufnahme Dezember 23. 1905 Infektion. 
1914 plötzlich beim Vormarsch im Felde Gangstörungen. 1918 größere 
Unsicherheit im Gange und Gefühlsstörung in den Füßen. Konnte 
damals aber noch ohne Stöcke gehen. 1920 Grippe; seitdem Gang mit 
einem Stocke. Verschiedentlich mit Salvarsankuren und Badekuren be- 
handelt. Jetzige Beschwerden: könne nur unter Kontrolle der Augen 
gehen. Gang und Stand in der Dunkelheit unmöglich. Beim Gehen 
das Gefühl, als wenn er auf Gummi ginge. Befund: kräftiger Mann. 
Pupillen klein; reagieren nicht auf Licht und Konvergenz; keine Sprach- 
störungen; es fehlen sämtliche Reflexe. Romberg stark positiv. Der 
Gang ist hochgradig ataktisch, ungeschickt, über das Ziel hinausschießend. 
Kniehacken- und Finger-Nasenversuch stark positiv. Wenn der Gesichts- 
sinn noch dabei ausgeschaltet wird, so ist diese Ataxie noch verstärkt. 
Reichliche Sensibilitätsstörungen, hauptsächlich an den Unterschenkeln 
und den Streckseiten der Oberschenkel. Tiefensensibilität an den unteren 
Gliedmaßen aufgehoben. 4. XII. 23: Anlegen der Tabesprobebandage. 
Übungen. 9. XI. 23: Ablieferung der neuen Bandage. Patient steht 
sofort viel sicherer. Der Romberg wesentlich geringgradiger. Knie- 
hackenversuch gelingt ganz gut. Patient gibt an, er habe das Gefühl, 
als wenn er von hinten von jemandem an den Hüften gehoben wird. Geh- 
und Umdrehübungen, Übungen im Sitzen und Aufstehen. 12. XII. 23: 
Patient macht sehr gute Fortschritte. Er kann bereits ohne Stock im 
Dunkeln mit guter Sicherheit gehen. Er hat nach Ablegen der Bandage 
noch 2—3 Stunden das Gefühl, als habe er die Bandage noch an. 
Aufstehen und Niedersetzen ist ohne Unterstützung möglich. Kehrt- 
wendungen gut möglich. Beim Waschen usw. kann Patient ganz sicher 
stehen, auch in gebückter Haltung. Unter anderem getraut er sich das 
Gesicht mit geschlossenen Augen abzuwaschen in gebückter Stellung. 
13. XII. auch Treppensteigen mit gerade ausgerichtetem Blick ganz gut. 
14. XII. Entlassung. 

Fall 2. L. M., 53 Jahre. Aufnahme 24. IX. 23. Leidet seit 
10 Jahren an Ataxie. In letzter Zeit zunehmende Stärke; bat von der 
Tonusbandage gehört und möchte sich eine anpassen lassen. Befund: 
Blasser abgemagerter Mann, Lichtstarre, kleine Pupillen. Der Gang ist 
hochgradig ataktisch, verhackt sich leicht mit den Fußspitzen. Bei 
Prüfung des Romberg’schen Phänomens verliert der Patient nach 2 bis 
3 Sekunden vollständig das Gleichgewicht. Wendungen im Gehen können 
nur ganz langsam und allmählich ausgeführt werden. Blasen-Mastdarm- 
störungen. 27. IX. Probeanpassung der Tonusbandage, sitzt gut. Nur 
die Hosenträgergurten müssen in der Länge noch etwas geändert werden. 
Sofort nach Verpassen der Bandage kann der Patient bei Prüfung des 
Romberg’schen Phänomens beliebig lange sein Gleichgewicht ausbalancieren. 
Gang erheblich sicherer und ruhiger. Wendungen können leidlich aus- 
geführt werden. 29. IX. Bandage fertig; Patient verläßt die Klinik. 

Fall 3. Th. W.,46 Jahre. Aufnahme 27. XI. 23. Vor 15 Jahren 
Infektion. 1913 in den Knien Schwäche und Zittern, allmählich Schmerzen 
in den Beinen (wie Nadel- und NMesserstiche), dann auch Gürtelgefühl. 
1918 pelziges Gefühl in den Beinen. Dann trat Schwanken und Un- 
sicherheit im Gehen und Stehen auf. Vor 3—4 Jahren Laufen im 

21* 


324 WATERMANN 


Dunkeln noch möglich, seit 2 Jahren unmöglich. Jetzige Klagen: Es 
fehle die Kontrolle über die Beine, dann und wann reißende Schmerzen 
in beiden Beinen. Er könne etwa eine Stunde mit einem Stock gehen. 
Im Stehen Unsicherheit. Bei geschlossenen Augen würde er umfallen. 
Im Dunkeln könne er allein nicht gehen. Fühle er sich beobachtet, so 
sei der Gang am schlechtesten; in engen Gassen Gang am besten. Vom 
Sitzen zum Stehen müsse er sich immer mit den Händen abstoßen und 
sich gleich an der Stuhllehne halten. Beim Umdrehen besonders un- 
sicher, nur mit Halten und unter Augenkontrolle möglich. Auch in 
den Armen etwas Unsicherheit, ebenfalls pelziges Gefühl in Händen 
und Fingern. Beim Gehen und Auftreten habe er das Gefühl als 
wenn der Boden elastisch sei und nachgebe. Es trete rasche Ermüdung 
auf; nach etwa einer Stunde müßte er ausruhen. Befund: mittel- 
kräftiger Mann mit gut entwickelter Muskulatur. Pupillen ziemlich 
klein, starr, reagieren nicht auf Lichteinfall und Konvergenz. Zunge 
zittert etwas beim Vorrücken. Obere Gliedmaßen: in beiden Armen 
besteht mäßige Ataxie; der Finger- Nasenversuch beiderseites gleich 
schlecht ausführbar. Im rechten Zeigefinger besteht erhebliche Schwäche 
und Schlaffheit, so daß Patient auch im Halten der Feder behindert 
ist. Die Schrift aber zeigt wenig ausfahrende Bewegungen. Untere 
Gliedmaßen: Rohe Kraft erhalten. Erhebliche Ataxie. Kniehacken- 
versuch beiderseits nicht ausführbar. Stellungen werden nicht emp- 
funden. Reflexe erloschen. Sensibilität: am linken äußeren Knöchel 
kleine handtellergroße Partie, in der das Gefühl für feine Berührung 
herabgesetzt ist, sonst ist die Sensibilität erhalten. Stehen: ist nur unter 
alle Augenblicke sich wiederholender Kontrolle der Augen möglich: 
sonst tritt stärkeres Schwanken nach vorn und hinten und auch nach den 
Seiten auf. Romberg: Bei geschlossenen Augen sind die Schwankungen 
so stark, daß Patient meistens nach halber Sekunde umfällt und zwar 
nach vorn. Es fehlt ihm völlig das Urteil, in welcher Lage bzw. in 
welchem Grad der Abweichung von der Schwerkraftlinie sich der Körper 
befindet. Kniehackenversuch: dabei trifft die Ferse nach längerem 
Schwanken des betreffenden Beines meist den Oberschenkel, ab und zu 
auch den Unterschenkel. Wenn man dem Patienten bei geschlossenen 
Augen ein Bein passiv in eine Lage bringt, so vermag er diese Position 
des Beines nicht zu beurteilen und dementsprechend zu beschreiben. 
Gang: beim Versuch ohne Stock zu gehen steht Patient da und sieht 
auf seine Füße und die Gegend des Bodens vor seinen Füßen, wagt es 
aber nicht zu starten. Mit einem Stock riskiert er es zu gehen, weicht 
dabei aber erheblich von der geraden Richtung ab; er fährt unnötig weit 
mit dem Beine nach außen und vorn, setzt die Füße, mit der Fußspitze 
zuerst, stampfend und tappend auf. Beim Niedersetzen hält er sich am 
Stuhl, dreht sich langsam um und läßt sich dann mit einem starken 
Ruck auf den Stuhl nieder, ungebremst. Beim Aufstehen aus dem Sitzen 
benötigt er die Arme um sich abzustoßen, und muß dann darauf achten, 
daß er nicht nach vorn stürzt. 

29. XI. 23: Maßnahme der Ataxiebandage. Inzwischen soll Patient 
Ruhe haben, da die Anproben und Übungen mit der Bandage seine ganze 
Kraft erfordern werden. 31. XI. 23 erste Anprobe 1. XD. 23: 


Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage. 325 


Bandageablieferung. Mit der Bandage ist der Gang sehr viel besser; 
Patient kann ohne Stock gehen, zunächst noch mit etwas eiligen Schritten 
und nur kürzere Strecken. Romberg fast negativ. Es tritt auch noch 
Schwanken auf, aber Patient fängt sich immer wieder in den Zügen. 
Aufsteben freihändig möglich ; ebenso Niedersetzen ohne vorheriges Halten 
am Stuhl. Kniebackenversuch wird gut ausgeführt. Auch weiß der 
Patient die Lage seiner Beine, die Winkelstellungen der Gelenke anzu- 
geben. Es tritt noch leichte Ermüdung ein. Patient hatte nach Ablegen 
der Bande noch 3—4 Stunden das Gefühl, als habe er die Bandage 
noch an. 2. XII. 23: Heute geht Patient schon im dunkeln Gang mit 
einem Stock sicher. 3. XII. 23 Entlassung. 

Fall 4. E. H., 43 Jahre alt. Aufnahme 13. V. 23. Vor sieben 
Jahren bei einer militärischen Untersuchung Tabes dorsalis entdeckt. Er 
wurde damals erst auf seine Gangstörungen aufmerksam, seitdem wurden 
sie immer schlimmer. Gehe sehr unsicher und ermüde sehr leicht. 
Gewisse Besserung durch die Fraenkel’sche Übungstherapie. Von einem 
Arzte aus Budapest hierhergesandt. Befund: Gang sehr steif, ausfahrend 
und stampfend, kann im dunklen Gang nicht ohne Hilfe gehen. Im 
Stehen bei der Unterhaltung immer wieder gezwungen auf die Füße zu 
sehen. Romberg sehr stark, Umkehren sehr schlecht, taumelt dabei. 
Pupillen reagieren träge. Patellarreflexe erloschen. Sensibilität: die 
Oberflächensensibilität ist überall erhalten, doch von der Hüftbeuge an 
beiderseits herabgesetzt. In diesem Bereich ist auch spitz und stumpf 
unsicher. Am rechten Bein ist etwa im Bereiche der Patella und des 
Vastus medialis die Oberflächensensibilität sehr stark herabgesetzt. Tiefen- 
gensibilität: Prüfung mit der v. Baeyer’schen Hautverschiebung. An 
beiden Beinen wird Hinauf- und Hinunterschieben gar nicht mehr unter- 
schieden. Von der Hüftbeuge bis zum Rippenbogen besteht ebenfalls 
starke Unsicherheit. Ein ganz genauer Befund läßt sich nicht erheben, 
da der Patient dabei sehr schnell unaufmerksam und ungeduldig wird 
und dann ganz verschieden angibt. 14. V. Anpassung der Tonusbandage. 
Prüfang des Romberg: steht beliebig lange mit geschlossenen Augen, 
schwankt dabei, aber bekommt sich immer wieder in die Gewalt. Gang 
deutlich gebessert, viel sicherer, weniger ausfahrend. Kehrtwendungen 
weniger schwankend, werden gut ausbalanciert. Geht auf dunklem Korridor 
ohne Stock ziemlich sicher, was vorher nicht möglich war. Kann sich 
freistehend lange unterhalten. Nach längerem Gehen wird er nicht so 
müde wie bisher; wäre gezwungen kleinere Schritte zu machen, viel 
größere Sicherheit durch die Bremsung. 

Gehübungen auf unebenem Gelände. Patient ist sehr befriedigt. Ermüdet 
viel weniger. 16. V. Entlassung. 29. VI. 24 Patient kommt zurück 
zur Neuanfertigung einer Bandage. Er macht folgende Angaben über 
ihre Wirkung. Das Material hält die Beanspruchung 3—4 Monate aus, 
so daB die Bandage während dieser Zeit im großen und ganzen den An- 
forderungen genügt. Im nervösen und ermüdeten Zustande ist die 
Bandage weniger brauchbar. Der Gang, der früher unter steter Augen- 
kontrolle erfolgte, sei leichter geworden. Das Angstgefühl beim Treppauf- 
und -abwärtsgehen sei durch die Bandage geschwunden. In der Bandage 
würden die Muskeln schwächer; daher dürften die Übungen nicht ver- 


326 WATERMANN 


säumt werden. In der Frühe und im ausgeruhten Zustande sei das 
Gehen ausgezeichnet; die Sensibilität an der Sohle habe ohne und mit 
Bandage nachgelassen. Er habe jetzt kein Gefühl des Ackerganges mehr. 
Mit Bandage könne er sehr gut eine halbe Stunde gehen ohne zu er- 
müden, ohne Bandage nur ganz kurze Zeit. Er trage die Bandage jetzt 
ein Jahr. Der Gang im Dunkeln sei zwar nicht ideal, aber viel besser. 
Das Schwanken beim Stehen mit geschlossenen Augen sei geringer. Die 
Kontrolle der Bandage ergibt, daß die Gummizüge vollkommen nach- 
gelassen haben (Folgen von schlechtem Nachkriegsmaterial); darum Er- 
satz der Gummizüge und Neuanfertigung von zwei Bandagen. 

Fall 5. E. L., 50 Jahre. Aufnahme 30. VII. 24. Seit 10 Jahren 
Tabes mit Stichen im Rücken begonnen. Vor 8 Jahren Schwächer- 
werden der Beine, der Gang wurde wackelig. Vor 3 Jahren plötzliche 
Verschlimmerung, verlor vollkommen das Gefühl in den Beinen, so daß 
Fortbewegen unmöglich wurde. In letzter Zeit starke Schwellung am 
rechten Knie. Mit den üblichen Kuren behandelt. Befund: mittelkräftige 
Frau. Rechte Pupille weiter als linke. Lichtreaktion rechts träge, links 
aufgehoben; auf Konvergenz beiderseits positiv. Untere Gliedmaßen: 
beiderseits Hypotonie der Muskulatur. Muskulatur am rechten Bein. 
atrophisch. Konturen des rechten Knies verwaschen, deutliches Tanzen 
der Patella. Rechts erhebliches Genu recurvatum; Überstreckbarkeit um 
40° gegenüber links um 10°. Lagegefühl zum Teil erhalten, ausge- 
sprochene Ataxie. Reflexe erloschen. Stehen und Gehen unmöglich. 
Bei Unterstützung starkes Schleudern der Beine. Erhält Hülsenapparat 
mit Tonusbandage. 8. VIII. Gehübungen mit Unterstützung. Geht kurze 
Zeit allein. 3. IX. Läuft im Apparat allein und gut. Entlassung. 

Fall 6. P. B.. 35 Jahre, Fabrikarbeiter. Aufnahme 15. IV. 25. 
Juli 24 bemerkt, daß der linke Fuß schlaffer wurde. Diese Erscheinung 
verschwand wieder. Von etwa April bis Dezember 24 heftige Schmerzen 
im Kreuz und Unsicherheit in beiden Ober- und Unterschenkeln. In- 
fektion angeblich unbekannt. Befund: Hochgradige Ataxie. Kann im 
Dunkeln nicht gehen, Reflexe erloschen. 16. IV. 24 Anlegen der Tonus- 
bandage. Nach 4 Tagen ergibt sich folgender Befund: könne Wen- 
dungen besser machen als früher. Brauche sich beim Treppaufwärts- 
steigen nicht mehr am Geländer festzuhalten und seine Füße mit den 
Augen zu kontrollieren. Er weib dabei jetzt, ob er mit der Ferse oder 
mit der Spitze auf die Stufe auftrete, früher nicht. Beim Hinsetzen 
und Aufstehen braucht er sich nicht mehr zu stützen. Könne im 
Dunkeln sebr gut gehen, früher auch mit 2 Stöcken nicht möglich. Das 
Angstgefühl beim Uberqueren von Wassertümpeln und Unebenheiten sei 
geschwunden, könne sich mit offenen Augen waschen, habe wieder festen 
Boden unter den Füßen. Das Angstgefühl beim Stehen auf erhöhten 
Gegenständen sei geschwunden. Wenn er die Bandage einen Tag ge- 
tragen habe, so habe er noch ein bis eineinhalb Tage hinterher dasselbe 
Gefühl der Sicherheit, das Gefühl, als habe er die Bandage noch an. 
Romberg negativ. 

Fall 7. H. P., 40 Jahre alt, Kaufmann. Aufnahme 3. VII. 25. 
War lange Zeit als Kaufmann in Kamerun tätig. 1900 Infektion. 1912 
Malaria in den Tropen. 1913 Ischiasbeschwerden im rechten Bein. 


Unsere Erfolge mit der T’abes-Tonusbandage. 327 


Konnte während des Krieges als Kraftwagenführer ungehindert tätig 
sein. 1920 Ischias im linken Bein. 1922 Tabes festgestellt. Bade- 
kuren in Wildbad und Oeynhausen. 1924 bei einem Falle den linken 
Arm ausgekugelt. Der Gang sei in letzter Zeit immer unsicherer ge- 
worden. Befund: großer beleibter Mann. Pupillen gleich weit, mittel- 
weit, starr. Untere Gliedmaßen, die Konturen des linken Knies sind 
verschwommen; Patella tanzt. Kniebeugung etwas eingeschränkt. Im 
Stehen hochgradige Genua recurvata. Hochgradige Gangataxie. Reflexe 
erloschen. Kniehackenversuche beiderseits positiv. Gefühl für Haut- 
verschiebung fehlt im Bereiche beider Beine. Romberg positiv. Gang 
im Dunkeln unmöglich. 4. VII. erster Versuch mit der Probe-Tonus- 
bandage, die nur notdürftig sitzt. Trotzdem ist festzustellen, daß Patient 
mit der Bandage länger das Gleichgewicht zu halten vermag. Patient 
gibt schon heute an, beim Gehen eine wesentliche Erleichterung zu 
spüren. Es wird Maß genommen für die Bandage. Außerdem die An- 
fertigung eines Hülsenapparates für das linke Knie, der die Überstreckung 
verhindert. 14. VII. täglich Übungen unter ärztlicher Aufsicht. Will- 
kürliche Einstellung der Füße und Unterschenkel in bestimmte Lagen 
und richtiges Erraten von passiv vorgenommenen Stellungen. 5. VIO. 
25 der Gang mit der Bandage hat sich gebessert, besonders des rechten 
Beines. Auch die Ubungen mit der Bandage fallen besser aus, mit 
geringerer Ataxie und mehr Gleichmäßigkeit.e.. Die Beinhülse links 
mildert die Knieüberstreckung wesentlich und trägt sehr zur Verbesse- 
rung des Ganges bei. Patient ist mit den Fortschritten sichtlich zu- 
frieden. 26. IX. 25: Schreiben des Patienten, daß die Bandage ihm 
außerordentlich gute Dienste leiste. Der Körper habe viel mehr Halt 
und beim Gehen habe er größere Sicherheit. Auch Gehen im Dunkeln 
mit einem Stock möglich. 


Zusammenfassend können wir auf Grund unserer bisherigen 
Erfahrungen sagen, daß in allen nicht übermäßig schweren Fällen 
von Beinataxien eine Besserung zu erzielen ist, wenn mitunter 
auch nur in der Kombination mit Hülsenapparaten und Übungs- 
behandlung. Die Vorteile der Tonusbandage sehen wir darin, daß 
durch sie die sonst so lange Übungstherapie wesentlich abgekürzt 
und erleichtert wird; es wird den Ataktikern ermöglicht, bis zu 
einem beträchtlichen Grade wieder die Herrschaft über die Beine 
zu gewinnen, weniger schnell zu ermüden, unabhängig von der 
Augenkontrolle zu werden, so daß sie sich auch in der Dunkelheit 
wieder zurechtfinden können. Dies wird erreicht durch eine Ban- 
dage, die den verloren gegangenen Tonus und die mangelnde 
Tiefensensibilität ersetzt und den Kraftschluß der Gelenke wieder 
herstellt. 


Die infolge und auch ohne Bandage auftretende Atrophie der 
Muskulatur läßt sich wirksam bekämpfen durch eine systematische 
Gymnastik. Nur der oberflächliche Beobachter schätzt die Besse- 


328 WATERMANN, Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage. 


rung gewisser Verrichtungen, die im alltäglichen Leben scheinbar 
nur eine untergeordnete Rolle spielen, gering, derjenige aber, der 
nicht mehr imstande ist, manches frühere auszuführen und in vielen 
Arbeiten gehemmt ist, ist glücklich, Verlorengegangenes wieder 
zu besitzen. 


Literatur. 


v. Baeyer, Ein neues Symptom bei der Tabes. Münch. med. Wochenschr. 
1914, 20, S. 1105. — Ders., Orthopädischer Ausgleich der Hypotonie und Tiefen- 
anästhesie bei Tabikern. Münch. med. Wochenschr. 1922, 2, S. 38. — Ders., 
Bewegungslehre und Orthopädie. Verh. d. dtsch. orthop. Ges., 19. Kongreß, 1924. 
— Graf, Uber die orthopädische Behandlung ataktischer Gangstürungen bei 
Tabes dorsalis. Verh. d. dtsch. orthop. Ges., 19. Kongreß, 1924. — Port, Ebenda. 


329 


Aus der Medizinischen Universitäts-Klinik Frankfurt a. M. 
(Direktor: Prof. G. v. Bergmann). 


Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 


Von 


Professor Dr. Gerhardt Katsch und Dr. Grete Stern. 


Vor einigen Jahren machte Katsch die überraschende Fest- 
stellung, daß die Alkaptonurie des Alkaptonurikers gesetzmäßig 
verschwindet, wenn dieser in den Zustand der Acetonämie versetzt 
wird. Dieser Fund ließ sich mit der herrschenden Lehre über das 
Wesen der alkaptonurischen Stoffwechselstörung nicht ganz einfach 
in Einklang bringen. Faßt man, wie üblich, diese Anomalie als 
recessiv mendelnden Fermentdefekt auf, so kann man schwerlich 
annehmen, ein von Geburt an fehlendes Ferment werde gerade 
dann gebildet, wenn der Organismus durch Hunger und Fieber oder 
durch Eiweißfettkost in eine veränderte ungünstige Stoffwechsel- 
lage versetzt ist. Die Hilfshypothese drängte sich auf, daß die 
homozyklischen Aminosäuren (Tyrosin und Phenylalanin) im Zustande 
der Ketonämie auf einem anderen Abbauwege zerlegt werden, 
nicht auf dem als Normweg angesehenen über die Homogentisin- 
säure, der im Falle des Alkaptonurikers durch Fermentdefekt nicht 
gangbar ist. Ein Schema für einen solchen zweiten Abbauweg 
haben Frommherz und Herrmann'’s entworfen. | 

Es lag daher Grund vor, dem Wesen der alkaptonurischen 
Stoffwechselstörung erneut nachzugehen. Wenn man vielfach auf 
die Ansicht stößt, Alkaptonurie sei eine seltene Störung und des- 
halb von geringem Interesse, so möchten wir dem entgegenhalten, 
daß gute Kenntnis dieser Stoffwechselanomalie, die durchschaubarer 
ist als vielleicht alle anderen, auch für andere Gebiete Bedeutung 
gewinnen kann. Der von Katsch am Alkaptonuriker erbrachte 
Nachweis, daß mangelnde Kohlehydratzufuhr nicht nur (wie lange 
bekannt) die Stickstoftbilanz, sondern qualitativ die intermediären 


330 KATscH u. STERN 


Vorgänge des Eiweißabbaues beeinflußt — ist nur ein Beispiel 
hierfür. 


I. 


Die mit dem Jahre 1859 einsetzende Alkaptonliteratur kennt 
zwei Theorien der Störung: die enterale und die intermediäre. 
Nachdem Ogden und ebenso Stange gesehen hatten, daß bei 
reichlicher Eiweißzufuhr der Alkaptonuriker viel mehr Homogentisin- 
säure ausscheidet, als bei wenig eiweißreicher Kost, gelangten 
Wolkow und Baumann mit Rücksicht auf die zyklische Kon- 
stitution der Homogentisinsäure zu der Annahme, diese sei ein Ab- 
kömmlig aromatischer Eiweißbestandteille.e Füttert man einen 
Alkaptonuriker mit Tyrosin, so erscheinen entsprechend höhere 
Mengen von Homogentisinsäure im Harn. 

Für die Umwandlung von Tyrosin in Homogentisinsäure war 
eine Wanderung der Seitenkette notwendig. Diese chemische Um- 
wandlung glaubte man damals dem Organismus nicht zutrauen zu 
dürfen und so verfielen Wolkow und Baumann auf die Hypothese, 
diese eigenartige Umwandlung sei das Werk von Bakterien, die 
den Darm des Alkaptonurikers besiedeln. 

Diese Theorie wurde jedoch bald widerlegt. Es gelang nie, 
Homogentisinsäure in den Fäces nachzuweisen (H. Embden). 
Abderhalden, Bloch und Rona spritzten einem Alkaptonuriker 
parenteral Homogentisinsäurebildner ein und sahen auch hierauf eine 
Mehrausscheidung von Homogentisinsäure im Harn. 

Als erste haben Garnier und Voirin die Vermutung aus- 
gesprochen, daß der intermediäre Übergang von Tyrosin in Homo- 
gentisinsäure eine normale Stufe im Stoffwechsel darstellt. Mittel- 
bach tritt 1901 zuerst mit der Ansicht hervor: die Bildung der 
Homogentisinsäure aus den aromatischen Komplexen des Eiweißes 
sei ein fermentativer Vorgang, der sich beim Normalen wie 
beim Alkaptonuriker in gleicher Weise vollzieht. Jedoch sei der 
weitere Abbau beim Alkaptonuriker gehemmt. 

Seit der Mittelbach’schen Arbeit ist von allen Autoren, 
die sich mit der Alkaptonurie beschäftigt haben, nur noch die 
intermediäre Theorie verteidigt und durch neue Belege gestützt 
worden. Verschiedene synthetisch dargestellte, Phenylalanin oder 
Tyrosin enthaltende Dipeptide, die vom Magen- und Pankreassaft 
nicht oder fast nicht angegriffen werden, lieferten z. B. bei Fütterung 
per os an einen Alkaptonuriker „in engen Grenzen die ihrem Ge- 


Zur Theorie der alkaptonurischen Stofiwechselstörung. 331 


halte an Tyrosin resp. an Phenylalanin entsprechende Menge 
Homogentisinsäure“ (Abderhalden, Bloch und Rona). 

Verschiedene Schattierungen zeigen jedoch die Auffassungen 
über das Wesen der angenommenen intermediären 
Störungen. Gehen wir von den Tatsachen aus, so steht fest, 
daß der Alkaptonuriker Homogentisinsäure ausscheidet, wenn er diese 
oder geeignete Muttersubstanzen zugeführt bekommt, während der 
stoffwechselgesunde Organismus diese Stoffe verbrennt (H. Embden 
u. a.) Es liegt also fraglos beim Alkaptonuriker eine ganz spezi- 
fische Abbauinsufficienz vor für Homogentisinsäure, bzw. für gewisse 
zyklische Aminosäuren in dem Sinne, daß er sie nur bis zur Stufe 
der Homogentisinsäure abbauen kann. Vielseitige Versuche zeigten 
{Neubauer u. a.), welche natürlichen und künstlichen Aminosäuren 
und zyklische Komplexe enthaltenden Dipeptide diese Abbau- 
insufficienz betrifft — während andere auch vom Alkaptonuriker 
abgebaut werden. Eine gute Übersicht gibt ein Referat von 
Pinkussohn 1912. . 

Eine grobe Aufbauinsufficienz, die etwa zur Folge hätte, daß 
die Gewebe des Alkaptonurikers an zyklischen Aminosären ärmer 
wären als normale Gewebe, ist von vornherein wenig wahrscheinlich, 
da der Alkaptonuriker — bis auf die ochronotische Altersarthritis 
— sich wie ein Gesunder verhält. Außerdem haben Abderhalden 
und Falta gezeigt, daß die Bluteiweißkörper des Alkaptonurikers 
sowie die Keratine seiner Haare und Nägel genau so viel Tyrosin 
und Phenylalanin enthalten wie unter normalen Verhältnissen. 

Wenn somit diecharakteristische Abbauinsufficienz 
in der letzten Etappe desintermediären Stoffwechsels 
liegen und als erwiesen angesehen werden muß, kann es befremdlich 
erscheinen, daß vereinzelte Autoren — es sind soweit ich sehe, 
Dakin und Knoop — außerdem eine zweite weiter rück- 
wärtsim Intemediärstoffwechsel gelegene Störung vermuten. Dakin, 
der diese Hypothese sehr ausdrücklich formuliert, also außer der 
Abbauinsufficienz der Hemogentisinsäure eine fehlerhafte 
Bildung von Homogentinsäure annimmt, bringt keine 
zwingenden Gründe dafür bei. Er fand, daß der von ihm beobachtete 
Alkaptonuriker manche verhältnismäßig einfachen Abkömmlinge des 
Tyrosins und Phenylalanins (Paramethylphenylalanin und Para- 
metoxyphenylalanin) so gut wie vollständig verbrannte Knoop 
macht geltend, daß der Hund zwar ein beschränktes Oxydations- 
vermögen für Homogentisinsäure hat, nie jedoch nach Fütterung 
mit Phenylalanin dunkelfarbigen Harn bekommt. Der Hund hat 


332 KaTtscH u. STERN 


also eine Abbauinsufficienz für Homogentisinsäure, verhält sich aber 
doch ganz anders als ein Alkaptonuriker. Die Frage hängt aufs 
Engste mit jener anderen zusammen: ob die Homogentisin- 
säure alsnormales, obligatorischesZwischenprodukt 
beim physiologischablaufenden intermediären Abbau 
bestimmter zyklischer Eiweißgruppen (Tyrosin und Phenylalanin) 
anzusehen ist. Und deshalb erhält diese Frage sofort eine Be- 
deutung, die hinausgreift über den engen Problemkreis der Al- 
kaptonurie. In verschiedenen Arbeiten ist diese Frage übrigens mit 
wenig Klarheit behandelt, insofern von normalem Zwischenprodukt 
gesprochen wird, obwohl sinngemäß hervorgeht, daß „obligatorisches“ 
Zwischenprodukt gemeint ist. — Ist allerdings die Homogentisin- 
säure normales, obligatorisches Zwischenprodukt auf dem Abbau- 
wege von Phenylalanin und Tyrosin, so erscheint es sinnlos, außer 
der erwiesenen Abbauinsufficienz eine weitere rückwärtigere Stoff- 
wechselstörung beim Alkaptonuriker anzunehmen. Eine solche wird 
daher folgerichtig geleugnet von allen den Autoren, die in der 
Homogentisinsäure ein normales Intermediärprodukt sehen. Es ist 
die bei weitem überwiegende Mehrzahl aller neueren Autoren, die 
sich mit der Alkaptonurie beschäftigt oder darüber geschrieben 
haben; wir nennen nur Mittelbach, Neubauer, H. Embden, 
G.Embden, Abderhalden, Falta, Langstein und Meyer, 
Umber, Bürger. Ein letzter Beweis für die Richtigkeit dieser 
Anschauung ist insofern nicht geliefert, als es bisher nicht gelungen 
ist, aus normalem Blut Homogentisinsäure zu gewinnen. 
Aber es sprechen doch viele Wahrscheinlichkeitsgründe dafür. daß 
tatsächlich dieser so labile, leicht oxydable, farbstoffbildende Körper, 
der sicheres Abbauprodukt der aromatischen Aminosäuren im 
alkaptonurischen Organismus ist, auch ein normales Zwischenprodukt 
darstellt. Wir verweisen auf eine eingehende Erörterung der Frage 
durch Neubauer. Suchen wir nach stützenden, experimentellen 
Tatsachen, so spricht in gewissem Sinne für die Annahme, Homo- 
gentisinsäure sei normales Zwischenprodukt, daß sie in der über- 
lebenden Leber demselben Abbau unterliegt wie Tyrosin und Phenyl- 
alanin: sie zerfällt, ebenso wie diese, unter Bildung von Aceton. 
Doch ist dies kein Beweis (s. w. u.) Als stärkste Stütze wird ein 
Versuch von Abderhalden angeführt, der an seinen gesunden 
Laboratoriumsdiener große Mengen I-Tyrosin verfütterte (50 g, von 
denen 44 g resorbiert wurden). Hierauf wurde aus dem Harn eine 
minimale Menge Homogentisinsäure gefunden und durch Schmelz- 
punktbestimmung identifiziert. Ein normaler Organismus kann 


Zur Theorie der alkaptonurischen Stofiwechselstörung. 333 


also aus Tyrosin Homogentisinsäure bilden. Dennoch ist dieser 
Versuch — Fütterung einer abnorm großen Menge — nicht unbe- 
dingt beweisend dafür, daß Homogentisinsäure ein normales Zwischen- 
produkt ist. Vor allem aber nicht dafür, daß sie ein obli- 
gatorisches Zwischenprodukt beim Abbau der aromatischen 
Aminosäuren ist. Um so weniger als verschiedene andere Tyrosin- 
fütterungsversuche nicht zu einer Alkaptonausscheidung führten. 
So andere Versuche Abderhalden’s — mit Fütterung bis zu 
150 g. So Versuche die Herr Keller auf Veranlassung von 
Katsch an Gesunden und Kranken durchführte; er fütterte bis 
zu 30 g l-Tyrosin pro Tag (vgl. Keller's Frankfurter Dissertation 
1922). Bemerkenswert ist aus den Versuchen von Keller der eine, 
den er an einer Kranken mit Morbus Addisonii ausführte. Diese 
hatte nach subkutaner Einspritzung von 1 g Homogentisinsäure 
(in 2°/,iger Lösung) geringe Mengen von Homogentisinsäure mit 
dem Harn ausgeschieden, wurde jedoch nach 15 g Tyrosin per os 
nicht alkaptonurisch. Es ist das einer der Fälle, in denen Katsch 
von relativer Alkaptonurie spricht. 


Unsere Frage berührt sich ferner eng mit jener underen: „ob 
dieStoffwechselstörung bei der Alkaptonurie „maxi- 
mal“, „total“, „absolut“ ist,.wie viele der besten Kenner an- 
nehmen (Wolkow und Baumann, Mittelbach, Falta, 
Abderhalden, Bloch und Rona u.a.), d.h., daß der Alkapton- 
uriker beim Abbau von Tyrosin und Phenylalanin die größtmög- 
lichste Menge Homogentisinsäure bildet. Die Frage ist ja durch- 
aus gleichbedeutend mit der: ob der Abbauweg des Tyrosins und 
Phenylalanins (zunächst beim Alkaptonuriker, dann aber auch beim 
Gesunden) obligatorisch über die Homogentisinsäure geht. 
Trotzdem die Tyrosinfütterungsversuche an Alkaptonurikern u. E. 
durchaus nicht beweisend im Sinne einer solchen „totalen“ Störung 
ausgefallen sind, wird ein Zuwenig an gefundener Alkaptonmenge 
gegenüber der berechneten maximal möglichen im allgemeinen von 
den Autoren auf unvollständige Resorption des Tyrosins vom Darm 
aus zurückgeführt, ohne, daß ein genauer Nachweis darüber ge- 
führt wäre. Nur so bleiben die experimentellen Befunde mit der 
Annahme einer maximalen Alkaptonurie vereinbar. Wir stellen in 
einer Tabelle eine Anzahl der in der Literatur niedergelegten 
Fütterungsversuche zusammen, in denen zu einer gleichmäßigen 
Standartkost an einem Tage gewisse Tyrosinmengen verabfolgt 
wurden. 


334 KATSCH u. STERN 


Tabelle 1. 
| 
Verfüttert Berechnete Tatsächlich aus- 
Autoren | in 24 Stunden Menge an Homo geschiedene 

Tyrosin in g ing Homo in g 
Wolkow und Baumann 10 9,28 6.9 
Wolkow und Baumann 11,5 10,7 : 94 
Wolkow und Baumann 12 11.6 | 9.4 
H. Embden | 15 139 | 5 
Mittelbach | 8.5 7.89 | 7,38 
Langstein u. Meyer 10 9,27 54 
Katsch u. Keller | 5 4,64 | 2.82 


| 


In dem Mittelbach’schen Versuch kommt die ausgeschiedene 
Menge Homogentisinsäure, mit 93,5°/, der theoretisch berechneten 
am nächsten. Mittelbach führte das darauf zurück, daß er im 
Gegensatz zu den älteren Versuchen, das Tyrosin in kleinen, ver- 
zettelten, über den Tag verteilten Dosen verfüttert hatte. Dadurch 
sei die Resorption vollständiger. Indessen war in den späteren 
Versuchen von Langstein und Meyer sowie von Katsch und 
Keller die Ausbeute wesentlich geringer, trotzdem die Mittel- 
bach’sche Vorschrift der verzettelten Verabreichung befolgt wurde. 
Auch Fromherz fand in einigen Tyrosinfütterungsversuchen nur 
bis zu 75°/, als Homogentisinsäure im Harn wieder. Einen sicheren 
Beweis für die „Totalität“ der Störung kann man u. E. aus 
diesen Tyrosinfütterungsversuchen nicht entnehmen. Und ebenso- 
wenig, wie wir gleich hinzufügen, aus den vorhandenen Stoffwechsel- 
versuchen, die mit natürlichen Nahrungsmitteln am Alkaptonuriker 
durchgeführt sind. Übrigens wird zweierlei nicht von allen Autoren 
klar auseinander gehalten: die Abbauinsufficienz für einmal vor- 
handene (intermediär gebildete oder künstlich eingeführte) Homo- 
gentisinsäure scheint beim Alkaptonuriker in der Tat ungefähr total 
zu sein. Eine „maximale“ Alkaptonurie, so wie sie geschildert und 
als bestehend angenommen wird, setzt indessen ein zweites voraus: 
daß entweder im normalen und im alkaptonurischen Stoffwechsel 
oder mindestens beim Alkaptonuriker Tyrosin und Phenylalanin 
ausschließlich über die Homogentisinsäure abgebaut werden, nicht 
etwa teilweise auf einem andenen Wege. 

Alle soeben erörterten Fragen hängen daher aufs engste mit 
der weiteren zusammen: gibtesimIntermediärstoffwechsel 
nur einen oder mehrere Abbauwege für die gleichen 
aromatischen Eiweißspaltlinge? einer Frage, die wegen 


Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 335 


möglicher Analogieschlüsse weittragendes Interesse für die gesamte 
Physiologie und Pathologie des Intermediärstoffwechsels beanspruchen 
darf. Die allgemeine Vorstellung ist die, daß ein Abbauweg für 
Tyrosin und Phenylalanin gegeben ist, etwa entsprechend dem von 
Neubauer entworfenen Schema. Dieser Abbauweg wäre für den 
Normalen und den Alkaptonuriker gleich bis zur Etappe Homo- 
gentisinsäure.e Hier besteht im Falle des Alkaptonurikers eine 
Barriere. 

Die von den meisten Autoren angenomme Theorie der Ein- 
gleisigkeit des Abbaues wird nun durch gewisse neuere Tat- 
sache sehr bestreitbar. Es hat Dakin, wie erwähnt, herausgehoben, 
daß Substanzen wie Paramethylphenylalanin und Parametoxyphenyl- 
alanin, deren Umwandlung in Chinolderivate im Sinne des Neu- 
bauer'schen Abbauschemas chemisch höchst unwahrscheinlich ist, 
vom Normalen und vom Alkaptonuriker verbrannt werden. Diese 
Phenylalaninderivate ergeben trotzdem, durch die überlebende 
Hundeleber geschickt, Acetessigsäure und Aceton. Es besteht also 
für aromatische Körper, die nicht alkaptonbildend, aber den Alkapton- 
bildnern nahe verwandt sind, ein Abbauweg, der nicht über die 
Homogentisinsäure führt; dieser Weg ist auch beim Alkaptonuriker 
gangbar. Fromherz und Hermanns bestätigten Dakin’s Be- 
fund in bezug auf das p-Methylphenylalanin, fanden aber weiterhin, 
daß auch das m-Phenylalanin, das nach der Neubauer’schen 
Theorie in Methylhomogentisinsäure übergehen müßte, vom Al- 
kaptonuriker verbrannt wird. Ebenso verbrennt der Alkaptonuriker 
m-Methyltyrosin. Ferner fanden Fromherz und Hermanns in 
einem theoretisch sehr wichtigen Versuch, daß nach Verfütterung 
von 8 g p-Oxyphenylbrenztraubensäure nur etwa ?!/, der bei quanti- 
tativem Übergang möglichen Menge vom Alkaptonuriker in 
Homogentisinsäure umgesetzt wurden, während der größere Teil 
wahrscheinlich verbrannt wurde und sie mangelhafte Resorption 
glauben ausschließen zu können. Fromherz und Hermanns 
folgern, daß dem Alkaptonuriker und dem Normalen mehrere, min- 
destens 2 Abbauwege für die Verbrennung der aromatischen Amino- 
sänren zur Verfügung stehen. Sie stellen sich vor, daß für die 
p-Oxyphenylbrenztraubensäure ein Abbauweg über die Hydrochinon- 
essigsäure (Homogentisinsäure), ein anderer über die Brenzkatechin- 
essigsäure läuft. Nur der erste Weg ist beim Alkaptonuriker ge- 
sperrt. Die relative Konstanz des Verhältnisses Hom'N, die in ver- 
schiedenen Stoffwechselversuchen gefunden wurde, ist ein Ausdruck 


336 KartscH u. STERN 


dafür, daß „die verschiedenen Abbauwege in bestimmtem quanti- 
tativem Verhältnis zueinander begangen werden.“ 

Geht man auf diese Vorstellungen ein, so wird ver ständlich, 
daß Schwankungen im Verhältnis Hom/N, die am gleichen Alkapton- 
uriker vorkommen (vgl. Allard und Groß) auf Bahnungsschwan- 
kungen der verschiedenen Abbauwege beruhen könnten. In den 
meisten Stoffwechselversuchen sind freilich die Schwankungen des 
Quotienten Hom/N ziemlich gering, so daß es etwas durchaus Neues 
darstellte, als Katsch zeigte, daß durch Änderung anderer inter- 
mediärer Vorgänge der Quotient Hom/N in größtem Ausmaße 
schwankt. Bei durch Kohlehydrathunger erzeugter Acetonämie 
schied ein kindlicher Alkaptonuriker Fritz G. gar keine Homo- 
gentisinsäure aus; der Quotient wurde unendlich groß. Auch im 
Beginn einer fieberhaften Angina wurde der Quotient abnorm groß. 
Ähnliches bedeutet ein Versuch von Baar und Freud (195), 
die kürzlich fanden, daß nach parenteraler Proteinkörperinjektion 
die Homogentisinsäureausscheidung des Alkaptonurikers zurückgeht. 
In diesem Versuch der Wiener Autoren, die die Arbeiten von 
Katsch nicht kennen, ist leider auf Stoffwechselbilanz, Kohle- 
hydratzufuhr, Acetonkörperbildung nicht geachtet und auch über 
Temperaturschwankungen nichts mitgeteilt. 

Versucht man die Stoffwechselversuche von Katsch mit der 
eingleisigen Abbautheorie in Einklang zu bringen, so wäre zu 
fordern, daß der Alkaptonuriker im Zustand der Acetonämie Homo- 
gentisinsäure abbaut, da eine Umgehung dieses obligatorischen 
Zwischenproduktes nicht möglich wäre. Prüfstein für diese An- 
nahme wäre ein Versuch, in dem der durch Acetonämie nicht- 
alkaptonurisch gewordene Alkaptonuriker Homogentisinsäure per 
os oder parenteral zugeführt bekäme. Ein solcher Versuch, den 
Katsch schon seinerzeit forderte (1920), ist inzwischen nicht 
durchführbar gewesen. Wohl aber hat Katsch mit Nemet an 
einem stoffwechelgesunden Hungerkünstler einen genauen Versuch 
durchgeführt, der nicht uninteressant für diese Frage verlief. 
Dieser Hungerkünstler erhielt bei normaler Ernährung in kleinen 
Dosen 4 g Homogentisinsäure. Sie wurden von ihm restlos ver- 
brannt. Als in der Hungerperiode deutliche Acetonurie eingetreten 
war, wurde dieselbe Menge Homogentisinsäure in derselben Weise 
verabreicht. Jetzt lieferte der Mann Alkaptonharn. Der Versuch, 
der an anderer Stelle ausführlich veröffentlicht werden soll, spricht 
mindestens nicht dafür, daß beim Normalen durch Acetonämie ein 
gesteigertes Verbrennungsvermögen für Homogentisinsäure herbei- 


Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 337 


geführt wird. Wir lelınen daher, zur Deutung des Versuches von 
Katsch, bis auf weiteres die Annahme ab, daß die Abbauinsuffi- 
cienz für einmal gebildete Homogentisinsäure beim Alkaptonuriker 
durch die aus Kohlehydratkarenz resultierende Stoffwechselum- 
stimmung aufgehoben wird. 

Vom Standpunkt der mehrgleisigen Abbautheorie würde man 
anzunehmen haben, daß im Kohlehydrathunger beim Abbau der 
aromatischen Aminosäuren der Hydrochinonweg vermieden und 
statt dessen bevorzugt der Brenzkatechinweg oder irgendein anderer, 
bereits vor der Chinolbildung abzweigender, beschritten wird. 

Uns erscheint die Mehrgleisigkeit des Abbaues, 
dieein wählendes Mehrbelasten bald des einen, bald 
des anderen Weges gestattet, eine auf biologische 
Verhältnisse, auf die vorauszusetzendeSchmiegsam- 
keitderIntermediärvorgänge viel besser passende An- 
nahme als die starre Eingleisigkeit des Abbau- 
mechanismus, die etwa einem fest eingefahrenen, chemischen 
Fabrikbetriebe gleichen würde. 

Trotzdem Umber in der eben erschienenen Neuauflage seines 
Lehrbuches der Stoffwechselkrankheiten die Alkaptonurie als die 
bestgekannte unter den Stoffwechselstörungen bezeichnet, geht aus 
dem Vorstehenden hervor, daß noch recht verschiedene Anschauungen 
über die Intermediärvorgänge bei der Alkaptonurie möglich sind 
und auch tatsächlich vertreten werden. Ebenso verschieden sind 
die möglichen Rückschlüsse auf die normalen Intermediärvorgänge. 
Wenn wir unsere eigene Auffassung kurz zu formulieren suchen, 
so nehmen wir an, daß für die aromatischen Aminosäuren mehrere 
Abbauwege vorhanden sind — beim Alkaptonuriker und beim 
Normalen. Nur der eine Weg führt über die Homogentisinsäure 
— beim Alkaptonuriker und beim Normalen. Konstellationen des 
Stoffwechsels und innere Bedürfnisse, die wir im einzelnen nicht 
kennen, bestimmen, in welchem Verhältnis die verschiedenen Wege 
beschritten werden. Die Homogentisinsäure ist also wahrscheinlich 
ein normales Zwischenprodukt. Sie ist indessen kein obligatorisches 
Zwischenprodukt dieses Abbaues, da auch andere Wege verfügbar 
sind — beim Normalen und beim Alkaptonuriker. Eine fehler- 
hafte intermediäre Mehrbildung von Homogentisinsäure, wie sie 
Dakin beim Alkaptonuriker annimmt, also die Theorie der 
Doppelstörung scheint uns unwahrscheinlich. Die 
Stoffwechselstörung bei der Alkaptonurie ist „total“ höchstens in 
dem Sinne, daß einmal gebildete Homogentisinsäure nicht weiter 


D-utsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 2A 


338 KATscH u. STERN 


abgebaut werden kann, sie ist aber nicht maximal oder total in 
dem Sinne, daß aus Tyrosin und Phenylalanin die höchstmögliche 
Menge von Homogentisinsäure gebildet wird. 


II. 


Kommen wir nunmehr auf die mit voller Sicherheit vorhandene 
Unfähigkeit des Alkaptonurikers zurück, die mindestens bei durch- 
schnittlicher Stoffwechsellage für ihn besteht, einmal gebildete 
Homogentisinsäure weiter zu den normalen Endprodukten zu 
oxydieren! Welches ist das Wesen dieser Störung, dieser „ange- 
borenen chemischen Mißbildung“ (nach dem Ausdruck von Garrod)? 
Wenn es richtig ist, daß Homogentisinsäure ein normales Zwischen- 
produkt ist, was setzt ihrem weiteren Abbau beim Alkaptonuriker 
eine Schranke ? 

Seit Mittelbach wird der fermentative Charakter 
dieses Abbaues betont. Mittelbach fußte unter anderem auf 
einer Angabe von Gonnermann, der die Dunkelfärbung der 
Rübensäfte auf eine Oxydation von Homogentisinsäure durch eine 
pflanzliche Tyrosinase zurückführte.. Diese Annahme stellte sich 
später- als irrig heraus (Gonnermann). 

Einen ähnlichen Befund glaubten Czapek und Bertel erheben 
zu können. Sie gaben an, daß das in den Keimlingen von Lupinus 
albus reichlich entstehende Tyrosin z. T. in den oberen Wurzel- 
teilen zu Homogentisinsäure wird. Diese werde in die Wurzelspitze 
geleitet. Extrakte daraus gäben mit einer Tyrosinase Dunkel- 
färbung. Doch ist die Identität des extrahierten Körpers mit 
Homogentisinsäure unerwiesen (Schulze und Castoro, Fitting). 

Immerhin wurde in Pflanzen und bei Tieren ziemlich ver- 
breitet eine Gruppe von Fermenten gefunden, die eine Untergruppe 
der Oxydasen darstellt und die man als Tyrosinasen bezeichnet. 
Sie wirken sehr häufig dort mit, wo aromatische Komplexe in 
Pigmente umgewandelt werden (Literatur bei von Fürth, Nen- 
berg, Bertrand, Oppenheimer u. a.). Die entstehenden Farb- 
stoffe bezeichnet man als Melanine. Da nun aus Homogentisinsäure 
das bekannte Alkaptonmelanin oder Ochronosemelanin entsteht, lag 
es nahe, für diese Umwandlung eine Tyrosinase verantwortlich zu 
machen. Auch fanden Abderhalden und Guggenheim, dab 
eine Tyrosinase aus Russula delica die Homogentisinsäure angreift 
und in einen braunen Farbstoff verwandelt. 

1914 erschien dann eine wichtige Mitteilung von Groß „Über 
den Einfluß des Blutserums des Normalen und des Alkaptonurikers 


Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 339 


auf Homogentisinsäure“. Groß zeigte, daß Homogentisinsäure bei 
Brutschranktemperatur aus normalem menschlichem und Tierserum 
verschwindet. Anfangs proportional zur Zeitdauer des Versuches, 
später langsamer. Er schrieb diesen Abbau der Anwesenheit eines 
Fermentes zu. „Es zeigte sich, so schreibt er, daß in verschiedenen 
Seris die Widerstandsfähigkeit des Ferments gegen Erwärmung 
Schwankungen unterliegt, die keinerlei Konstanz haben und sich 
sowohl beim Menschen als auch bei verschiedenen Tieren zeigen.“ 
Im Gegensatz zu diesem Versuch konnte Groß in analogen Ver- 
suchen mit Alkaptonurikerserum die hinzugefügte Homogentisinsäure 
nach 24 stündigem Stehen im Brutschrank unverändert quantitativ 
nachweisen. Er schloß daraufhin, „daß in dem Alkaptonurikerserum 
das homogentisinsäureabbauende Ferment fehlt“. 

Nimmt man diese Schlußfolgerung an, so gelangt man zu der 
Auffassung, daß ein recessiv mendelnder Fermentdefekt das Wesen 
der alkaptonurischen Stoffwechselstörung ausmacht. Dies ist die 
heut allgemein geltende Lehre. 

Wegen der grundlegenden Bedeutung dieser Versuche von 
Groß, haben ‚wir es unternommen, sie auf breiter Basis und unter 
Anstellung verschiedenartiger Kontrollen zu wiederholen. 

Wir fanden, in voller Übereinstimmung mit Groß, jenen 
interessanten Gegensatz im Verhalten des normalen und des Al- 
kaptonurikerserums zu einer beigefügten Lösung von Homogentisin- 
säure. Andererseits können wirbeweisen, daß die An- 
nahme vonGroßirrigist: einFermentim Normalserum 
zerstöre die Homogentisinsäure und dieses Ferment 
fehle dem Alkaptonuriker. 


Versuche, 


Wir gingen im engen Anschluß an die Versuchsanordnung von 
Groß vor. Es wurde Homogentisinsäure verwendet, die teilweise von 
Katsch’s erstem Alkaptonuriker Fritz G. stammte, teils von einer neuen 
Alkaptonurikerfamilie, über die Näheres in einer Studie über den Erb- 
gang der Alkaptonurie von Katsch und Dilcher mitgeteilt werden 
wird. Es wurde nach der Vorschrift von Baumann die chemisch reine 
Substanz über das Bleisalz gewonnen. Schmelzpunkt 147°. 

10 ccm klares, nicht bämolytisches Serum wurden mit der gleichen 
Menge destillierten Wassers versetzt, in welcher vorher eine genau ab- 
gewogene Menge Homogentisinsäure gelöst worden war. Diese Lösung 
zeigte eine leicht gebliche Färbung, stark saure Reaktion. Die Mischung 
wurde gut umgeschüttelt, in einem verschlossenen Kölbchen mehrere 
Standen im Brutschrank bei 37,5° stehen gelassen. Dann wurde auf das 


Zehnfache mit Aqua dest. verdünnt und nach Zusatz einiger Tropfen 
22% 


310 Karscn u. STERN 


einer konzentrierten Zinksulfatlösung im Wasserbad 15—20 Minuten ge- 
kocht. Das ausgefallene Eiweiß wurde abfiltriert, im klaren Filtrat die 
Homogentisinsäure nach Baumann quantitativ bestimmt. Wir über- 
zeugten uns zunächst, daß das Baumann’sche Verfahren in dieser Weise 
für das Serum ebensogut anwendbar ist wie für den Harn. Die dem 
Serum zugefügte, gravimetrisch gemessene Menge Homogentisinsäure konnte 
durch Tritration nach Baumann recht genau darin nachgewiesen werden. 


Tabelle 2. 
Einfluß von Serum Stoffwechselgesunder auf Homugentisinsäurt. 
o o Wieder. |, Ye 
| Im Serum! Versuchs- gefundene! Schwundene 
; | jan gelöste | dauer : Menge Hz. 
Name, Alter | Diagnose | Menge ibei 37,50 E- enge in ug und 
Hgs.inmg: in Std. gs. in 9, der gr- 
Ä | | g lösten Menge 
| | 
1. H., 7, 55 J. Apoplexie | 150 | b | 83 [17 = 780 
2. Oc, æ, 56 J. | Apoplexie 10 | 5 82 8=453°, 
|l 150 |! 10 4 19= Tr, 
3. Schr., 9, 69 J.)  Apoplexie > 150 | 2 ! 99 Het, 
| | 160 ee 7 EEE 
4. D, 9, 56 J. Apoplexie 150 |} 2 82 | 68 = 453°, 
| + 150 4 65  B5= 551", 
| 150 | 12 4 109-727 
- 150 ° 24 36 114=76°, 
150 ' 36 3 117=78°, 
10.48 3 17=-7° 
5G. JTJ | Urämie 10 5 82 68 = 453", 
6. St, Q Ä p aß | 3 uNreme, 
1. M, 9,70 J. ©- Hypertonus 150 6 82 GR — 4h3°, 
rn 150 2; da mei” 
8.5,34,26J. Gesund ı 180 6 >: 49 101 = 67.3", 
9. F, ?, 18. Akute Glomerulo-: 150 12 82 B8 = 453, 
| nephritis | | ' | 
10. L, F ;  Hypertonus 10. 14 66 84 = 6.1 °, 
11. Rọ, x. 36 J.  , Leuchtgasversif- | 10 . 19 66 B SDGs. 
| tung | | | 
12. K, 2,481. Urämie 189 I 5; 4 | Wem, 
13. Sti, 2. 58 J. Hypertonus 150 Bo B2 O BBs Bn 
14. E, Q. 491. Sae d 50 0O O16 0 124 ee 
15. Ba o, DG. Apoplesie #10 0 16 ° 82 0 68 =433", 
16. Fi, z. 12.1, Hypertonus 1500 | 4 | 41 109 = 12.1 °, 
17. P. 2,22). . Leuehteasvereif- NO 17 | 41 39-2488", 


tung < | 


Zur Theorie der ulkaptonurischen Stoffwechselstörung. 341 


Tabelle 2 berichtet über die Befunde, die uns Sera von stoffwechsel- 
gesunden Personen ergaben. Die Sera waren durch Absitzen auf Eis 
gewonnen, in der Regel 24 Stunden alt, vollkommen klar und von schwach 
alkalischer Reaktion. Beim Zusammengeben von Serum und Homo- 
gentisinsäurelösung trat manchmal eine leichte Trübung auf, die nach 
wenigen Minuten Umschüttelns wieder verschwand. In seltenen Fällen 
bildete sich ein Niederschlag — wahrscheinlich genügte die Homogentisin- 
säure zur Ausfällung einiger Eiweißkörper — diese Sera wurden nicht 
verwendet. 

Die Reaktion der Mischung war stets sauer. 

Bei Herausnabme aus dem Brutschrank zeigte die Flüssigkeit eine 
leichte Trübung, eine ganz geringe Verfärbung ins Graue, jedoch so 
gering, daß dies nur durch Nebeneinanderhalten mit einer frisch bereiteten 
Lösung festgestellt werden konnte. Die Reaktion der Flüssigkeit war 
auch am Ende des Versuchs stark sauer. 

Wie die Tabelle 2 zeigt, sind während der einzelnen Versuche 
sehr verschiedene Mengen von Homogentisinsäure aus den ver- 
schiedenen Seris verschwunden. Die Restmenge der Homogentisin- 
säure vermindert sich anfangs proportional der Zeit, später lang- 
samer, nach langer Versuchsdauer fast gar nicht mehr. 

Wir untersuchten ferner Sera von einigen Kranken, bei denen 
die Möglichkeit intermediärer Störungen im Eiweißabbau bestand. 
Katsch hatte in früheren Versuchen gefunden, daß manche derartig 
kranke Organismen parenteral einverleibte Homogentisinsäure (1 g) 
teilweise mit dem Harn wieder ausscheiden, also eine relative Ab- 
bauinsufficienz für Homogentisinsäure aufweisen. Bei manchen 
derartigen Kranken kommt es nur zur Ausscheidung von Alkapton- 
chromogenen (Katsch und Nemett). 


Tabelle 3 berichtet über die Sera von diesen ausgesuchten 
Kranken. Auch hier zeigen die einzelnen Sera untereinander 
erhebliche Schwankungen in bezug auf das Abbauvermögen für 
Homogentisinsäure. So betrug der Verlust im Serum einer perni- 
ziösen Anämie in 5 Stunden 84 mg, in dem einer anderen in 
2] Stunden nur 51 mg. 

In diesen Fällen wurde am Tage nach der Blutentnahme 1 g 
Homogentisinsäure (in 30 cem Aqua dest. gelöst) subkutan gegeben 
und der stündlich gelassene Harn auf Homogentisinsäure und auf 
Alkaptonchromogene untersucht. In keinem dieser Fälle konnte 
Homogentisinsäure im Harn nachgewiesen werden. Zwei der unter- 
suchten Fälle (Fall 2 und 6) zeigten Alkaptonchromogene: die 
2—6 Stunden nach der Einspritzung gelassenen Harnportionen 
dunkelten bei alkalischer Reaktion langsam im Laufe des Tages 
nach und hatten 3—4 Tage später braunschwarze Farbe ange- 


342 KarTtscu u. STERN 


nommen. Aber auch die Sera dieser beiden Fälle zeigten in ihrem 
Einfluß auf die Homogentisinsäure nichts besonders. 


Tabelle 3. 


Patientenserum von Krankheiten, bei denen Pigmentverschie- 
bungen vorkommen, in seinem Verhalten gegenüber 
Homogentisinsäure. 


| l E 
| | | Urin- 
> Serum Versuchs-| Wieder- Ver- ‚ befund 
: Diay elöste | dauer gefundene; schwundene nach In- 
Name, Alter Diagnose | enge | bei 37,5°| Menge | Menge Hgs., jektion 
i |Hgs.in mg in Std. Dose in mg vn 1 Hes. 


| | uDkutan 

i | 

1. Lu, o", 62 J.'Lebercirrhose! 150 5 25 =) — 

2. Kr., 9,67 J. Gallenblasen- 150 | 4 9 |51=34° Has. neg. 
Ca. Kachexie | | | | Alkapton. 
| | Chromo- 
| | gene stark 
ge | | | pos. 

3. Bau., 9, da Anämie 150 5 ıı 66 84 = 56 °% Hgs. neg. 
68 J. Ed | Alkapton. 

| | | Chromo- 

| | | | gene —. 

4. P., æ, 81 J. Lebercirrhose 150 ' po | 41 :109=727%  — 

b. E., A, 41d. 'Pern. ae 150 18 91 | 59 = 39,3 o His. neg. 

F. J.: 1,25 | ' Alkapton. 
| | Chromo- 
| | | gene —. 

6. B., 9,72 J. Pylorus-Ca. 150 | 21 91 | 9 = 39,8 °: h u Hgs. neg. 
Schwere | | Alkapton 

Kuchexie | | Chromo- 
| ‚gene stark 
| : | | +. 

1. Ba, 26 J. Addisensche| 80 | 21 |; 49 ,31=388°), Hgs. neg. 

Krankheit | ; Alkapten. 
| | : Chromo- 
| Ä | | gene —. 

8. Gr... 59 J. Pern. Anämie 150 21 | 99 ° ı51—=34°, Hgs. neg. 

AEE e | ‚ Alkapton. 
| ' Chromo- 
| | | gene —. 


Eine ganze Reihe von Versuchen ergab nun, daß der „Abbau“, 
den Homogentisinsäure im Serum erfährt, nicht durch die Anwesen- 
heit eines Fermentes ermöglicht wird. Wir erwähnen nur kurz 
unsere Versuchsreihen. Ausführliche Tabellen darüber sind in der 
Frankfurter Dissertation von Grete Stern (1925) niedergelegt. 
Sera die 1 Monat und länger auf Eis gestanden hatten oder 8 Tage 


Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 343 


in Brutschrank bei 37,5° standen, verhielten sich gegenüber einer 
Homogentisinsäurelösung genau wie in frischem Zustande Es 
steht das im Gegensatz dazu, daß Groß erwähnt, in einem Falle 
habe nach 24 stündigem Stehen im Brutschrank die „fermentative 
kraft“ des Serums erheblich nachgelassen. !/, stündiges oder selbst 
3 Stunden langes Erwärmen des Serums auf 56—60° änderte den 
Ablauf des Abbauversuches nicht. Ebensowenig Bestrahlung mit 
der Quarzlampe (2 Stunden lang). Ebensowenig vorheriger Zusatz 
von Chloroform oder Chinin. Brutschranktemperatur ist für den 
Versuch überflüssig. 

Wir unterwarfen das Serum der Ultrafiltration mit Bechhold- 
schen Tigeln, deren Membran aus 10 °/, iger Eisessigkollodiumlösung 
hergestellt ist. Das wasserklare Ultrafiltrat verhielt sich im Ab- 
bauversuch wie frisches Serum. Auch das Filtrat nach Enteiweißung 
des Serums zeigte keine Änderung und destilliertes Wasser 
verhielt sich genau wie Serum. Das Verschwinden 
eines Teiles der Homogentisinsäure kann also nur 
auf einer einfachen Oxydation durch den Sauerstoff 
der Luft beruhen (s. Tab. 4). 

Unter völlig „anaeroben“ Bedingungen ließ sich das Schwinden 
der Homogentisinsäure aus der Lösung verhindern. Dazu folgende 
Versuchsanordnung: 

In ein weites Röhrchen wurden 5 ccm Serum gefüllt. In dieses 
Röhrchen wurde eine kleine zugeschmolzene Ampulle gestellt aus dünnstem 
Glas, die vorher mit einer abgewogenen Menge von Homogentisinsäure 
in wässeriger Lösung beschickt war. In das breite Röhrchen kamen nun 
Watte, Pyrogallol und Kalilauge. Fester Verschluß mit Gummistopfen. 
Nach 4 Stunden wurde durch kurze Erschütterung die Glasampulle zer- 
brochen, so daß nun Homogentisinsäure und Serum sich ohne Anwesen- 
heit von Sauerstoff mischten. Nunmehr war auch in mehrstündigem 
Brutschrankversuch kein Verschwinden von Homogentisinsäure zu ver- 
zeichnen. 


Tabelle 4. 


Einwirkung von destilliertem Wasser auf Homogentisinsäure. 


| Verschwundene 


Im Substrat | VersuchstHauer Wieder- Menge Hgs. in 
Substrat , gelöste Menge bei 37,5° gefundene Menge; mg und in %, 
Hgs. in mg | in Stunden Hgs. in mg der gelösten 
Menge 
i | 

l. Aqua dest. 150 24 | 124 26=1739, 
2. Aqua dest. 170 | 23 | 115 55 = 32.4 
3. Aqua dest. | 220 24 Ä 143 mare, 
4 24 | 230 120 = 34.3 %% 


. Aqua dest. 3 


344 KatscH u. STERN 


Hiernach ergibt sich mit Sicherheit, daß das Verschwinden 
eines Teils der Homogentisinsäure in dem Groß’schen Versuch, 
d. h. beim Zusammenbringen von Serum und Homogentisinsäurt- 
lösung auf einem einfachen Oxydationsprozeß durch den 
Sauerstoff der Luft beruht. Es ist kein fermentativer Vor- 
gang. Der Versuch besagt also gar nichts über intermediäre Vor- 
gänge im Körper, selbstverständlich auch nicht in dem Sinne, daß 
nunmehr innerhalb des Organismus fermentative Einwirkungen beim 
Abbau der Homogentisinsäure undenkbar oder unwahrscheinlich 
geworden wären. Die Versuche besagen nur aufs Neue, daß die 
Homogentisinsäure ganz außerordentlich oxydierbar ist. Bereits 
der Sauerstoff, den das Blut den Geweben zuführt, dürfte für diese 
Oxydation genügen. 

Neu ist ferner die Tatsache, daß auch beisaurer Reaktion 
die Homogentisinsäure so außerordentlich leicht oxydiert wird. 
Hiermit wird zugleich eine Fehlerquelle aufgedeckt, die bisher bei 
Stoffwechselversuchen keine Beachtung finden konnte: auch wenn 
Alkaptonharn, weil er sauer reagiert, seine Farbe nieht verändert. 
so wird dennoch die Homogentisinsäure darin teilweise oxydiert 
und dem Titrationsnachweis nach Baumann unzugänglich. Harne 
die 24 Stunden offen stehen bis zur Bestimmung, wie das in Stof- 
wechselversuchen häufig ist, büßen einen Teil ihres Frischgehaltes 
an Homogentisinsäure ein. Das kann durchaus belangvolle Fehler 
ergeben und darf wohl zur Erklärung herangezogen werden für 
manche schwerverständlichen Schwankungen der Homogentisinsäure- 
ausscheidungen, wie sie in den Stoffwechselversuchen der Literatur 
vorkommen. 


Ill. 


Interesse verdient das Oxydationsprodukt, das entsteht. 
wenn entsprechend den Versuchen des Abschnitts II 
Homogentisinsäure in sauerer Lösung oxydiert wird. 
Es handelt sich hier um einen neuen Körper. Bisher kannte man 
nur farbige Oxydationsprodukte der Homogentisinsäure, in erster 
Linie das braunschwarze Alkaptonmelanin. 

Groß schreibt in der mehrfach zitierten Arbeit (1914): „Was 
nun die weiteren Eigenschaften des fermentativen Prozesses be- 
trifft, so kann es sich nicht um einen oxydativen Prozeß handeln. 
da die Flüssigkeit ihre helle Farbe behält und nicht die bei Oxy- 
dation der Homogentisinsäure entstehenden schwarzen Produkte 
enthält“. 


Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 345 


Da sich uns, im Gegensatz zu Groß der Prozeß mit Sicher- 
heit als einfache Oxydation erwies, werden wir gedrängt ein in 
sauerer Lösung entstandenes farbloses Oxydations- 
produkt anzunehmen. Groß glaubte, Homogentisinsäure werde 
durch das vermeintliche Serumferment bis zu Aceton abgebaut, 
was ihm die Lieben’sche Probe wahrscheinlich machte. Das war 
für uns unwahrscheinlich geworden. Und es entstand für uns die 
Aufgabe zu untersuchen, ob das bei saurer Reaktion entstehende 
Oxydationsprodukt (nennen wir es einmal Oxyalkapton) in irgend- 
welchen Beziehungen steht zu dem bei alkalischer Reaktion durch 
Oxydation entstehenden Melanin. 

Wiederholt man den Abbauversuch bei nur schwach alkalischer 
Reaktion, so verschwindet ebenfalls Homogentisinsäure. Jedoch zeigt die 
Lösung schon bald eine braune Farbe und wird während des Brutschrank- 
aufenthaltes vollkommen schwarz. 

Verwendeten wir für den Versuch statt der reinen Homogentisinsäure 
deren Ester (nach dem Verfahren von Schumm hergestellt), so war die 
Mischung von Serum und Homogentisinsäureesterlösung schwach alkalisch 
und nahm zunehmend eine braune bis schwarze Farbe an. 

Wir stellten nun folgenden Versuch an: ein sauer reagierendes 
Gemisch von Serum und reiner Homogentisinsäurelösung wurde für 
einige Stunden in den Brutschrank gebracht, bis ein namhafter 
Verlust von Homogentisinsäure eingetreten war. Das (Gemisch 
blieb dabei vollkommen farblos. Nun wurden 5 ccm davon in ein 
weites Röhrchen verbracht. In die Lösung hinein gaben wir eine leicht 
zerbrechliche zugeschmolzene Glasampulle, die 3 cem 2°/„iger Kali- 
lauge enthielt. Das weite Röhrchen wurde dann mit Watte, Pyro- 
gallol und Kalilauge, sowie mit einem Gummistopfen verschlossen. 
Nach 4 Stunden durften wir annehmen, daß in dem Röhrchen voll- 
kommener Sauerstoffmangel eingetreten sei. Nun wurde die innere 
kleine Glasampulle zerschlagen (durch Schütteln). Die Flüssigkeit 
wurde jetzt alkalisch, ohne daß Sauerstoff hinzutreten konnte. So- 
fort trat eine hellbraune Verfärbung auf, die im Laufe der nächsten 
Stunden dunkler und fast schwarz wurde. 


Hierzu zwei Kontrollen: 

1. In das weite Röhrchen wurde Homogentisinsäurelösung gefüllt, 
in die Glasampulle 2 °/ ige Kalilauge. Anaörobe Bedingungen wie oben 
beschrieben. Nach 4 Stunden Zerschlagen der Ampulle. Es kamen jetzt 
Homogentisinsäure und Kalilauge bei Sauerstoffimangel zusammen. Die 
Flüssigkeit blieb dauernd farblos. 

2. In das weite Röhrchen wurde Serum und Homogentisinsäurelösung 
gefüllt, in die Ampulle 2°, ige Kalilauge. Anaerobe Bedingungen. 
Nach 4 Stunden Zerschlagen der Glasampullee Die Flüssigkeit blieb 
dauernd farblos. 


346 KatscH u. STERN 


Es gibt wohl nur zwei Möglichkeiten diesen Versuch zu deuten: 

Entweder entsteht bei saurer Reaktion unter dem Einfluß des 
Luftsauerstoffs ein Oxyalkapton, das, sobald die Reaktion alkalisch 
wird, das bekannte Alkaptonmelanin bildet — und zwar im Gegen- 
satz zur Homogentisinsäure, ohne daß hierbei Sauerstoff benötigt 
würde. 

Oder aber: das bei Alkalizutritt trotz Sauerstoffmangel ent- 
stehende Melanin wird aus dem in der Flüssigkeit vorhandenen 
unabgebauten Rest von Homogentisinsäure gebildet. Dann müßte 
gleichzeitig ein leicht reduzierbarer Körper anwesend (durch die 
vorherige Oxydation eines Teils der Homogentisinsäure entstanden) 
sein ; dieser Körper würde den zur Bildung von Melanin aus dem 
Homogentisinsäurerest nötigen Sauerstoff abgeben. 

Welche von den beiden Möglichkeiten gilt, wird sich ent- 
scheiden lassen, wenn es gelingt, nach dem Oxydationsversuch das 
entstandene Oxydationsprodukt von dem Homogentisinsäurerest zu 
trennen. Versuche in dieser Richtung sind im Gang. Wir halten 
vorläufig die erste Möglichkeit für wahrscheinlicher. 

Wenn man übrigens durch große Erfahrung kennt, wie farb- 
lose Alkaptonharne sich verhalten, sobald Alkali zugeführt wird, 
so darf man als auffällig bemerken, daß nach der Alkalisierung 
wohl in der Mehrzahl der Fälle die Schwarzfärbung zuerst an der 
Oberfläche erscheint und langsam, entsprechend dem Eindringen 
des Luftsauerstofts von oben nach unten vordringt. In anderen 
Fällen färbt sich auffallend schnell der Inhalt des ganzen Reagenz- 
glases schwarz. Ist in diesen letzten Fällen neben Homogentisin- 
säure bereits das von uns vermutete farblose Oxyalkapton an- 
wesend? und ist vielleicht in solchen Harnen die quantitative Be- 
stimmung der Homogentisinsäure nach Wolkow und Baumann, 
die das Reduktionsvermögen benutzt, ungenau, insofern ein bereits 
oxydierter Anteil von Homogentisinsäure der Messung entgeht? 
Sicher ist auf Grund unserer Versuche dringend zu empfehlen, die 
quantitative Bestimmung der Homogentisinsäure möglichst in frischen 
Harnen vorzunehmen. lm alten Harn müssen, auch wenn er noch 
farblos geblieben ist (saure Reaktion), erhebliche Bestimmungsfehler 
vorkommen. 

Als wichtigstes Ergebnis dieser Versuchsreihe buchen wir: 
daß bei saurer Reaktion durch den Luftsauerstoff 
ein bisher unbekanntes farbloses Oxydationsprodukt 
der Homogentisinsäure entsteht. 


Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 347 


IV. 


Nach dem bisher Mitgeteilten ergab sich für uns bereits 
zwingend, daß wir die zweite Annahme von Groß: im Alkapto- 
nurikerserum fehle ein die Homogentisinsäure oxydierendes Ferment, 
ablehnen mußten. Um so interessanter war es, das Verhalten 
einer Mischung von Homogentisinsäurelösung und 
Alkaptonurikerserum zu studieren. 


Wir konnten Serum von zwei Alkaptonurikern der oben schon 
erwähnten Familie erhalten. Es handelte sich um ein 10 jähriges 
und ein 18jähriges Mädchen. 


Das steril entnommene Blut wurde 24 Stunden auf Eis gestellt. In 
dem abgehobenen, nicht hämolytischen Serum von schwach alkalischer 
Reaktion, erwies sich im einen Fall der Serumeiweißgehalt der nur in 
diesem Fall untersucht wurde, als durchaus normal (Gesamteiweiß 8,451, 
Fibrinogen 0,237 °/,). Es wurde sofort auf Homogentisinsäure geprüft. 
Alle Homogentisinsäureproben fielen negativ aus, auch die von Katsch 
und Német beschriebene äußerst empfindliche Alkaptocyanreaktion. 
Proben von unverändertem, sowie von stärker alkalisch gemachtem Serum 
zeigten beim Stehenlassen an der Luft, selbst nach Wochen keinerlei 
Nachdunkeln. 


Es stimmt dieser Befund überein mit dem anderer Arbeiten, 
in denen nach Homogentisinsäure vergeblich gefahndet wurde 
(Fürbringer, Umber und Bürger) Nur Abderhalden 
gelang es in einem komplizierten Versuch im Serum eines Alkapto- 
nurikers Homogentisinsäure nachzuweisen. 

Wir kommen nun zu den Oxydationsversuchen. 


Da nur kleine Mengen Serum zur Verfügung standen, wurde im 
einen Fall mit 2 Portionen von 5 ccm und 2,5 ccm die Untersuchung 
vorgenommen (also der Hälfte bzw. !/, der in den anderen Versuchen 
verwendeten Menge). Im zweiten Falle arbeiteten wir mit 3 Portionen 
von 10 ccm, 5 cem, und 5 ccm Serum. Den kleineren Mengen Serum 
entsprechend, wurden kleinere Mengen destillierten Wassers gewählt, in 
die — um einer vollständigen Lösung sicher zu sein — eine kleinere 
Menge Homogentisinsäure hineingegeben wurde (80 mg in 5 ccm Aqua 
dest., 41 mg in 2,5 ccm). 

Weder nach dem Zusammengießen, noch nach dem Brutschrank- 
aufenthalt zeigte die Flüssigkeit in ihrem Aussehen und in ihrer Reaktion 
irgendwelche Unterschiede gegenüber den untersuchten Normalsera. 

Im übrigen wurden die Versuche genau wie die im ersten Abschnitt 
geschilderten durchgeführt. 


Es ergab sich in 6 Versuchen, daß keine Homogentisin- 
säure oxydiert wurde. Selbst im 48stündigen Versuch blieb 
die Menge der Homogentisinsäure in dem Gemisch unverändert. 


3418 KatscH u. STERN 


Wir bestätigen hiermit also den einen sehr wichtigen Befund 
von Groß. Allerdings zwingt uns die Gesamtheit unserer Ver- 
suche zu vollkommen anderer Deutung. Dem Alkaptonuriker- 
serum wohnt eine oxydationshemmende Kraft inne. 
Und es entsteht die sehr interessante Frage, welcher Art der 
Hemmungskörper ist, der diese Eigentümlichkeit des Alkapto- 
nurikerserums und vielleicht die ganze Stotfwechselstörung bewirkt. 
Ist dies ein anderweitiges Stoffwechselprodukt, das im Blute des 
Alkaptonurikers kreist, so daß der Nichtabbau der Homogentisin- 
säure uns als Zweitstörung in Abhängigkeit von einer anderen, noch 
unbekannten Anomalie erscheinen müßte? Oder handelt es sich 
um eine Art Hemmungshormon intermediärer Vorgänge, das auch 
physiologisch vorkommen könnte und nur beim Alkaptonuriker in 
anormaler Weise überwiegt? Handelt es sich um kleine Anomalien 
im Ionengefüge? das alles wissen wir nicht. Und es ergibt sich 
aus unseren Versuchen zwar ein neuer Baustein zum Verständnis 
dieser seltsamen Stoffwechselstörung, aber andererseits ergeben 
sich reichlich neue Probleme und die Erkenntnis, daß über diese 
vermeintlich bestgekannte Stoffwechselstörung noch recht viel zu 
erforschen ist. 

Noch einmal ist es uns kürzlich gelungen, etwas Alkapto- 
nurikerserum zu erhalten. Diesmal stammte es von einem 20 jährigen 
jungen Mann aus derselben Familie. Es ergab sich, daß der 
eigentümliche Hemmungskörper nach Enteiweißung 
des Serums im Filtrat anwesend ist. Es handelt sich also 
nicht um eine eiweißartige Substanz. 

Kommen wir nun noch einmal auf die Tatsache zurück, dab 
in der durch Kohlehydrathunger entstehenden Acidose die Alkapto- 
nurie verschwindet, so gibt es auf der Basis, die unsere neuen 
Versuche schaffen, wohl zwei Erklärungsmöglichkeiten: 

entweder wird in der Acidose gar keine Homogentisinsäure 
intermediär gebildet (mehrgleisige Abbautheorie entsprechend Ab- 
schnitt I dieser Mitteilung); 

oder aber der „Hemmungskörper“ des Alkaptonurikers ist in der 
Acidose irgendwie anderweitig gebunden oder unwirksam gemacht. 

Es ist schon manchem reizvoll erschienen, die Alkaptonurie 
mit anderen Stoffwechselstörungen zu vergleichen. Seit man die 
Arthritis alkaptonurica kennt, drängt sich besonders ein Vergleich 
mit der Gicht auf (vgl. die Arbeiten von Heilner). So liegt es 
auch für uns nahe zu vermuten, daß Hemmungskörper intermediärer 
Vorgänge ähnlich dem im Alkaptonurikerserum von uns auf- 


Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 349 


gefundenen, auch bei anderen Stoffwechselkrankheiten und ebenso 
in der Physiologie des Intermediärstoffwechsels von Bedeutung sein 
können. Es scheint deshalb durchaus vorschnell, wenn man glaubt 
aus einer Beschäftigung mit der so seltenen Alkaptonurie könnten 
sch niemals praktisch wichtige Befunde ergeben. 


Literatur. 


Literatur bis 1912 s. bei: L. Pincussohn, Alkaptonurie. Ergebn. d. inn. 
Med, u. Kinderheilk. Bd. 8, S. 455, 1912. 

Neuere Literatur: E. Abderhalden, Zeitschr. f. physikal. Chem. 77, 454. 
123. — Baar u. Freud, Klin. Wochenschr. Nr. b, 2388, 1925. — Fromherz 
u Hermanns, Zeitschr. f. physikal. Chem. Bd. 91, 1914. — O. Groß, Biochew. 
Zeitschr. 61, 163, 1914. — E. Heilner, Münch. med. Wochenschr. 28, 997, 1916. 
— Ders., Münch. med. Wochenschr. Nr. 29, 933, 1917. — Ders., Münch. med. 
Wuchenschr. 36, 983, 1918. — G. Katsch, Münch. med. Wochenschr. 44, 1180, 
uis. — Ders., Dtsch. Arch. f. klin. Med. 127, 210, 1918. — Ders., Dtsch. Arch. 
f. klin. Med. 134, 59, 1920. — Ders. u. Géza Német, Biochem. Zeitschr. 120, 
212. 1921. — Oppenheimer, Die Fermente und ihre Wirkungen, 5. Aufl., 1924. 
— Fr. Umber, Lehrb. der Stoffwechselkrankh. 1925. — Ders., Münch. med. 
Wichensehr. Nr. 1. N. 6, 1924. — Ders. u. Bürger, Dtsch. med. Wochenschr. 
43. 2337. 1913. 


350 


Aus der Medizinischen Klinik Lindenburg der Universität Köln. 
(Direktor: Geheimrat Moritz.) 


Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls 
beim Normalen und beim Diabetiker. 


Von 


Privatdozent Dr. Ernst Wiechmann und Dr. M. Dominick. 


Nachdem Galambos und Tauss (1), Labbé und Bith (2, 
Löffler (3), Cammidge (4) schon früher festgestellt hatten, daß 
schwere diabetische Störungen des Zuckerhaushaltes von ver- 
mehrter Ausscheidung von Aminosäuren begleitet sind, zeigte kürz- 
lich Okada (5), daß die Entfernung des Pankreas bei Hunden im 
Blut einen Anstieg der Aminosäuren ebenso wie des Zuckers be- 
wirkt. Wiechmann (6) wies nach, daß das Insulin den Gehalt 
des Blutes und seiner einzelnen Bestandteile an Aminosäuren-N 
ebenso wie die Aminosäuren-N-Ausscheidung im Harn beim Diabe- 
tiker deutlich erniedrigt. Der Beweis, daß das Insulin den Amino- 
säurengehalt des Blutes herabdrückt, wurde von Wiechmann 
noch auf andere Weise zu führen versucht. Es konnte von ihm 
gezeigt werden, daß der Aminosäurengehalt des Blutes beim Nor- 
malen und beim leichten Diabetiker nach oraler Belastung mit 
Glukose abnimmt. Beim schweren Diabetiker dagegen blieb er 
ungeändert. Diese Senkung des Aminosäurenspiegels des Blutes 
beim Normalen und beim leichten Diabetiker wurde auf die durch die 
Glukosezufuhr hervorgerufene vermehrte Insulinproduktion zurück- 
geführt. Da das Pankreas des schweren Diabetikers offensichtlich 
nicht imstande ist, auf Glukosezufuhr mit gesteigerter Insulinab- 
sonderung zu reagieren, bleibt in einem solchen Fall die Senkung 
des Aminosäurenspiegels des Blutes nach Glukosezufuhr aus. Bei 
der Avitaminose, deren Kohlehydratstoffwechselstörung mit dem 
Diabetes eine gewisse Ähnlichkeit haben soll, fanden Bickel 


Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls usw. 351 


und Collazo (7) ebenfalls unter der Insulinwirkung ein Zurück- 
gehen des Aminosäurengehaltes des Blutes. 

Wie es beim Diabetes zu der Erhöhung des Aminosäurenge- 
haltes des Blutes kommt, und auf welche Weise das Insulin dessen 
Senkung bewirkt, ist noch nicht entschieden. Ohne alle Möglich- 
keiten erschöpfen zu wollen, sei hier nur auf zwei Möglichkeiten 
hingewiesen. Schon Pflüger vertrat die Ansicht, daß die Leber- 
zellen Reserveeiweiß aus der Nahrung aufstapeln, genau so wie 
sie Reservekohlehydrat in Form von Glykogen ansammeln. Experi- 
mentelle Beweise haben sich bis heute weder für noch gegen diese 
Anschauung erbringen lassen. Man könnte annehmen, daß dieser 
Mechanismus, dieser Aufbau von Aminosäuren zu Polypeptiden in 
der Leber beim Diabetiker gestört ist, und daß das Insulin ihn 
wieder zur Norm zurückführt. Die zweite Möglichkeit hat bereits 
mehr experimentelle Beweise für sich. Es hat sich zeigen lassen, 
daß, wenn Aminosäuren an phloridzinvergiftete Tiere, welche 
alles, was physiologisch dazu fähig ist, in Glukose umwandeln, ver- 
füttert werden, Glykokoll, Alanin, Asparagin- und Glutaminsäure 
die Glukoseausscheidung vermehren, während Leucin und Tyrosin 
es nicht tun. (Lusk (8)). Aminosäuren können also zur Neu- 
bildung von Kohlehydrat dienen. Unter diesen Umständen ist der 
Gedanke naheliegend, daß bei der diabetischen Stoffwechselstörung 
mehr Eiweiß zerfällt als in Zucker umgewandelt werden kann. 
Unter der Insulinwirkung werden normale Verhältnisse wieder her- 
gestellt. Mit dieser Anschauung würden sich auch die Beobach- 
tungen von v. Falkenhausen (9) in Einklang bringen lassen. 

Zur weiteren Aufklärung haben wir untersucht, ob sich 
zwischen Gesunden und Diabetikern Differenzen im 
Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls nach- 
weisen lassen. Wir haben den Weg der intravenösen Injek- 
tion gewählt, weil die Resorptionsverhältnisse reiner Aminosäuren 
noch gänzlich ungeklärt sind. Es sei nur daran erinnert, daß 
v. Falkenhausen (10) bei Leberkranken mit Ikterus nach oraler 
Aufnahme von 20 g Rektamin, einem Aminosäurengemisch, im 
Gegensatz zu dem Verhalten beim Gesunden keinen irgendwie be- 
achtenswerten Ausschlag im Amino-N-Gehalt des Blutes nach- 
weisen konnte. v. Falkenhausen nimmt an, daß der Darm die 
Aminosäuren bei diesen Erkrankungen nicht oder äußerst verzögert 
resorbiert, so daß ein meßbarer Anstieg des Amino-N nicht erfolgt. 
Andererseits muß man sich darüber klar sein, daß nach Injektion 
der Aminosäuren in die Armvene diese der Leber nur teilweise 


352 \WIECHMANN U. DOMINICK 


und zum Teil „auf falschem Wege“, etwa ähnlich wie nach An- 
legung einer Eckschen Fistel zugeführt werden. In jedem einzelnen 
Fall wurden 15 ccm einer 15°/,igen Glykokollösung, also 2,25 g 
Glykokoll = 420 mg Amino-N injiziert. Nimmt man eine Gesamt- 
blutmenge von 5 Litern beim Menschen an, so wurde der Amino- 
säurengehalt des Blutes also mehr als verdoppelt. Die intravenöse 
Injektion von Aminosäuren in dieser Menge ist nach unseren Fr- 
fahrungen, welche zu den Angaben von v. Falkenhausen und 
Boehm (11) im Gegensatz stehen, ein gänzlich irrelevanter Ein- 
griff. Bei etwa 35 Injektionen, die zum Teil in kurzen Zeitab- 
ständen wiederholt wurden, haben wir kein einziges Mal einen 
Schüttelfrost oder einen anaphylaktischen Shock auftreten sehen. 
Nie wurde von den Versuchspersonen irgendwelches Übelbefinden 
geäußert. Zur quantitativen Bestimmung des Amino-N diente die 
von Folin (12) angegebene Originalmethode resp. ihre von 
Wolpe (13) ausgearbeitete Modifikation.?) Beide geben identische 
Werte. Die Methode ist außerordentlich exakt; keinesfalls fallen 
bei ihr Werte von 1,2 mg°/, wie es v. Falkenhausen und 
Boehm (11) von der von van Slyke angegebenen Methode be- 
haupten, in den Bereich der Fehlergrenze.e Um mit möglichst 
wenig Blut auszukommen, erfolgten die Amino-N-Bestimmungen im 
Gesamtblut. Wie Folin und Berglund (14) gezeigt haben, sind 
die quantitativen Änderungen der Aminosäuren im Plasma nicht 
weniger deutlich aus ihrer Bestimmung im Gesamtblut ersichtlich. 
Bei jeder Blutentnahme wurden nie mehr als 2 ccm Blut ent- 
nommen. Wiederholte Bestimmungen von Hämoglobingehalt und 
Erythrocytenzahl, die zugleich mit den Blutentnahmen am Haut- 
blut vorgenommen wurden, ergaben, daß eine Verwässerung des 
Blutes, die zu falschen Schlußfolgerungen betreftfs der gefundenen 
Aminosäurenwerte hätte führen müssen, durch die Glykokollinjek- 
tion nicht hervorgerufen wird. Das Glykokoll wurde in n;10 Soda 
gelöst und nach Filtration und Sterilisation verwandt. Nach den 
Untersuchungen von Siegfried (15) reagiert es bei Gegenwart von 
CO, infolge Bildung von Carbaminoessigsäure sauer. 

Im einzelnen wurde den seit mindestens 12 Stunden nüchternen 


Versuchspersonen — es handelte sich stets um weibliche Individuen — 
Blut aus der Vene zur Bestimmung des Nüchternwertes entnommen und 


D Das tür diese Bestimmung erforderliche Natriumsalz der Naphtboöchin‘n- 
»ultosäure wurde uns liebenswürdigerweise von Herrn Prof. Folin (Boston: zur 
Vertüenng gestellt. Auf unsere Veranlassung wird es künftig von der Firm. 
E. Merek in Darmstadt hergestellt und in den Handel gebracht werden. 


Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokulls usw. 353 


alsdann die Glykokollösung in die Vene injiziert. In bestimmten Zeit- 
abständen, die aus den Tabellen ersichtlich sind, wurde alsdann wieder 
Blut entnommen und sein Amino-N-Gehalt bestimmt. Das Blut wurde 
in einem mit Natriumoxalat (Konzentration des Natriumoxalats im Blut 
ungefähr 0,25 g °/,) bestäubten Gläschen aufgefangen. 


Tabelle 1 soll die Verhältnisse beim Normalen illustrieren. 
Die gefundenen Nüchternwerte stimmen mit den von Folin (16), 
Wolpe (17), Wiechmann (18), v. Falkenhausen (19) u. a. 
angegebenen gut überein. Sie stehen im Gegensatz zu den An- 
gaben von Hülse und Strauß (20), die im Gesamtblut normaler 
Menschen bis 12,4 mg°/, Amino-N fanden. Nochmals sei darauf 
hingewiesen, daß die Amino-N-Werte im Gesamtblut höher liegen 
als im Plasma oder Serum, da die Erythrocyten mehr Aminostick- 
stoff enthalten als das Plasma. 5 Minuten nach Injektion von 
15 ccm der 15 °/,igen Glykokollösung zeigt der Aminosäurengehalt 
des Blutes noch eine deutliche Erhöhung. Wenn man aber be- 
denkt, daß im ganzen 420 mg Amino-N injiziert wurden, so ist 
ohne weiteres klar, daß der größte Teil der injizierten Aminostick- 
stoffs bereits innerhalb der ersten 5 Minuten nach der Injektion 
aus der Blutbahn verschwunden ist. Das war nach früheren Er- 
fahrungen nicht anders zu erwarten. van Slyke und Meyer (21) 
injizierten einem Hund 12 g Alanin in die Vene und konnten 5Mi- 
nuten nach der Injektion nur noch 10°% davon im Blut nach- 
weisen. 25—45 Minuten nach der Injektion ist in unseren Ver- 
suchen der Ausgangswert im allgemeinen wieder erreicht. Wo- 
fern man den Amino-N-Spiegel des Blutes nur lange genug ver- 
tolgt, kommt es schließlich sogar zu einer Erniedrigung unter den 
Nüchternwert. 


Ein ganz anderes Bild bieten die Resultate gleichsinniger 
Untersuchungen bei Diabetikern (vgl. Tabelle 2). Was die Nüch- 
ternwerte anlangt, so überschreiten sie entgegen den Angaben von 
Wolpe (17) und der von Wiechmann (18) ausgesprochenen Ver- 
mutung den von Folin (16) angegebenen Maximalwert von 
78 mg’; höchstens in einem Fall von Coma diabeticum. Dieser 
Gegensatz zu den oben angeführten Feststellungen von Okada (5) 
ist möglicherweise darauf zurückzuführen, daß der Diabetes des 
Menschen dem kompletten Pankreasdiabetes des Hundes doch nicht 
ohne weiteres entspricht. 5 Minuten nach der Glykokollinjektion 
ist die relative Erhöhung des Amino-N-Gehaltes des Blutes keines- 
wegs höher als beim Normalen. Der Ausgangswert ist dagegen erst 
65 Minuten nach der Injektion und noch später wieder erreicht. 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 23 


354 WIECHBMANN U. DOMINICK 
Ta- 
Das Verhalten intravenös einver- 
| | | x Amino- 
Vers.- ı Name Klinische Apa | u 
Nr. | Datum und Alter Diagnose E = nüch- | En 
| tem | menge 
- 
1 | 27. XI. 24 je. K., 20 J. Tbe. pulm. apicis! 56,2 | 5,8 15 cem 15% 
| ı Lösung 
2 | 29. XI. 24 |E. H. 18 J. a | 45,5 60 P 
3 ! 4. XII 24 |F. R., 17 J., ohne klinischen , 53,4 | 6,1 3 
\ Befund | 
4 15. I. 25 |R. P., 24 J N 54,0 5,2 | = 
5 | 29.125 |J. B. 23 J i | 490 | 58 
6 | 5.1.25 |C. P., 16 7 | $ #80 | 66 | ; 
7 12. II. 25 |A. T., 15 J., 5 | 50,2 6,3 | 5 
8 19. II. 25 M. W. 28 J. s 57,3 | 53 3 
9 8. II. 25 |S. J., 20 J. 5 | 53,2 5,1 8 
10 3. II. 25 JA. H., 26 J. Tbe. pulm. apran 48,0 6,7 n 
11 19. V. 25 |E. C. AJ. ‚ohne klinischen | 54,1 68 | 5 
Befund | | 
12 | 28. V. 25 IM. S.19J. | u | 46,6 | 6,9 | - 
Ta- 
Das Verhalten intravenös einver- 
= | KR u re 
Ä Kli- minc- 
: Körper- | aE N 
Vers.- Name nische p nüch- | sag | BR 
Nr. Datum | and Alter Dia- a tn a eure 
| Br | menge | Min. Min. 
| Br 
la |11. XII. 24 M. T., 54 J. |Diabetesi 86.0 | 6,2 16 com 15%, 83.13 
Lösung 
lb |16. XII. 24: M. T., 54 J. a 860 | 67 6 179 78 
2a 13. XII. 24| K. S, 68 J.) , 60,7 5,8 8375 
3a 3. II. 25 |G. D., 22 J. : 51,4 5,9 z 1173 
| | 
ı/ 015 IM. K, 763) , | 555 | 48 i 10 65 
j | i 
5 i27. II 25| P. S, 53J à 83.5 57 r 68.5.9 
6 |29. II. 25 |H. M., 23 J : 20 | 79 g 93 
7 |1. IV.25'R.H.,69J = 5I5 64 ; Ta T2: 
| 
8 |28. IV. 251E. J 2J] , 956 | 65 r 7,7 68 
9 ; 2. V.25 |B. R. 56 J. Diabetes] 725 | 5,7 5 11.68 
multiple i p ; 


Skler ose | | | | | 


Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls usw. 355 


belle 1. 
leibten Glykokolls beim Normalen. 


säuren-N pro 100 ccm Gesamtblut in mg 


nach nach nach 
in.60 Min.65 Min. i Min. 


| 
= | 
Pr 


| | 
nach | nach ; nach | nach | nach | nach | a 
5 Min. 10 Min. ý Min. ia Min.)35 Min. = Min. Be 
| 


7,1 6,3 6,3 | 5,7 | 5,7 5,6 
11 71 69 1 67 | 64 6,1 
8,0 7.4 10 |! 66 6,4 6,1 
T6 72 6,1 60 | 51 5,0 | 4,8 
64 63 | 59 | 59| 538 | 53 | 58 5,0 
85. 77 | 74 | 68 | 64 | 6l | 6l 
82: 72 7,3 6.5 6,2 63 ` 59 
10 | 61 5,7 5,5 5,3 52 |, 48 4.7 
6.7 6,5 59 5,7 5,2 49 | 47 4,7 
8.0 81 1,0 65 | 62 5,7 | 5,5 | 
94 | 8,3 7,2 7,1 | 
91 | | 79 6,5 Ä ! 6.5 
belle 2. 
leibten Glykokolls beim Diabetiker. 
suren- N pro 100 ccm Gesamtblut in mg | 
nach nach nach nach nach nach nach an nach nach nach gach nach iadi a ` 
ó. 35| 40 | 45 | 55 | 65 | 70 | 75 | 80 : 90 95 110120 |130| Merkungen 
in „Min. Min.| Min. Min. Min. |Min. Min. ‚Min. .|Min., ‚Min. .|Min. „Min. Min. 
7,0! 7,1 7,1 69 6,9 | 6,6 | | | | Mittel- 
nehmer Fall 
7.0 7,0| 6,9] 6,9 6.8 6.6 
7.1] 6,7 6,7 | 6,3 | 6,3! 6.1 58| Mittel- 
| l schwerer Fall 
1165 6,3; 6,1 | 5,8 5,7 5,9 Schwerer 
| | ‚ Jugendlicher 
Ä Diabetes 
| | | 
62 | 5,7 58 54 5,4 5,3 52 ' Mittel- 
| ‚schwerer Fall 
BTI 5.7 5,7 5,7 15,7. 5,6 ‚Leichter Fall 
8,7 84 vr 'SchwererFall. 
| , | Im Koma 
| , untersucht 
‘3171 6,9 68! 6,8 6,7 = Mittel- 
| | | sehwerer Fall 
6, 63, 6.5: 6.2| 6,1 6.2 6.2 Leichter Fall 
G5] 6,5 6,6. 6,3] 63 oe | Mittel- 
T | schwerer Fall 
| 


23% 


356 WIECHMANN u. DoMINICK 


Eine Ausnahme bilden zwei Fälle von leichtem Diabetes, bei denen 
der Amino-N-Spiegel des Blutes schon 25 Minuten nach der In- 
jektion wieder zum Nüchternwert zurückgekehrt ist. 

Man könnte den Einwand machen, daß die erhaltenen Amino- 
N-Werte nicht durch die Glykokollinjektion bedingt sind, sondern 
auf die Venenpunktionen zu beziehen sind. Tatsächlich geben 
v. Falkenhausen und Boehm (11) an, daß auf eine bloße 
Venenpunktion mit Entnahme von 1—3 cem Blut innerhalb von 
10 Minuten durchweg eine Änderung des Amino-N-Spiegels des 
Blutes im Ausmaß von 1—3 mg), und zwar sowohl nach oben 
als auch nach unten, erfolgt. In Übereinstimmung mit den An- 
gaben von Rosenbaum (22) können wir diese Angabe nicht be- 
stätigen. Am schärfsten wird ein derartiger Einwand aber wohl 
durch die Tatsache entkräftet, daß die von uns gewonnenen Amino- 
N-Werte sich immer in derselben Richtung bewegen. Es wäre 
mehr als eigenartig, wenn Entnahmen von so kleinen Blutmengen 
ein derartig gesetzmäßiges Verhalten des Amino-N-Spiegels zur 
Folge hätten. | 

Es erhebt sich die Frage, wie es beim schweren Dia- 
betiker zu dem verzögerten Verschwinden desGlyko- 
kolls aus der Blutbahn kommt. Zu ihrer Beantwortung 
müssen wir auf die bekannten Versuche von van Slyke und 
Meyer (21) zurückgreifen. van Slyke und Meyer analysierten 
verschiedene Organe und Gewebe vom Tier vor und einige Zeit ' 
nach der Injektion von Aminosäurelösungen. Es zeigte sich, daß 
die Muskeln bis zu 80 mg°j,, die Leber bis 150 mg’), Amino- 
stickstoff aufnehmen können. Die absorbierten Aminosäuren sind 
mit den Geweben sehr locker verbunden, denn sie können durch 
so schwache Reagentien wie Wasser oder verdünnten Alkohol 
extrahiert werden. Um einen bloßen Diffusionsvorgang kann es 
sich nicht handeln, da ihre Konzentration in den Geweben höher 
ist als im Blut. Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen liegt 
es daher nahe, anzunehmen, daß die Absorptionsfähigkeit 
der Gewebe des Diabetikers für Aminosäuren herab- 
gesetzt ist. Die von Wiechmann (23) gemachte Feststellung, 
daß die Permeabilität der Kapillaren bzw. Gewebe für Aminostick- 
stoff — Permeabilität im weitesten Sinne — beim Normalen und 
beim Diabetiker im nüchternen Zustande gleich ist, steht hiermit 
nicht im Widerspruch. Denn im Nüchternzustande hat jeder Or- 
ganismus das Bestreben, sich in einen gewissen Gleichgewichts- 
zustand zu setzen. Eine Entscheidung dieser Fragen wird ver- 


Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls usw. 357 


mutlich dadurch herbeigeführt werden können, daß bei gesunden 
und zuckerkranken Tieren vor und einige Zeit nach Aminosäuren- 
injektion der Aminostickstoffgehalt des Blutes und der verschie- 
denen Gewebe bestimmt wird, und beide Werte miteinander ver- 
glichen werden. 

Da andererseits von Wiechmann nachgewiesen ist, daß das 
Insulin den Aminosäurengehalt des Blutes beim Diabetiker er- 
niedrigt (18), und daß es die Permeabilität der Kapillaren und Ge- 
webe für Aminostickstoff beim nüchternen Diabetiker erhöht (23), 
war anzunehmen, daß es auch die bei Belastung herabgesetzte 
Absorptionsfähigkeit der Gewebe des Diabetikers für Aminostick- 
stoff wieder zur Norm zurückführt. Wir haben daher bei zwei 
Diabetikern, deren Verhalten hinsichtlich des Amino-N-Spiegels des 
Blutes nach intravenöser Glykokollinjektion in früheren Versuchen 
festgelegt war, den Nüchtern-Amino-N-Wert des Blutes bestimmt, 
100 Einheiten Insulin !) injiziert, eine Stunde darauf das Glykokoll 
injiziert und nun wieder in bestimmten Zeitabständen das Ver- 
halten des Aminosäurenspiegels verfolgt. Die Ergebnisse sind in 
Tabelle 3 wiedergegeben. Nach vorheriger Insulin- 
injektion und darauffolgender Glykokollinjektion 
erreicht der Amino-N-Gehalt des Blutes beim 
Diabetiker noch viel schneller seineu Ausgangswert 
als in der Norm. Auch hier wieder folgt, ähnlich wie beim 
Gesunden, der Erhöhung des NH,-Wertes eine Erniedrigung des 
Nüchternwertes. 

Die Erniedrigung des NH,-Spiegels unter den Nüchternwert 
nach vorübergehender Erhöhung infolge von intravenöser Glykokoll- 
injektion steht mit früheren Erfahrungen durchaus in Einklang 
und wurde auch schon von Rosenbaum (22) bei Säuglingen 
beobachtet. Offenbar handelt es sich hier um ein allgemeines 
Prinzip. Wird irgendein Nahrungsstoff enteral oder parenteral 
dem Organismus zugeführt, so sucht dieser das Gleichgewicht, das 
durch zu hohe Konzentration des betreffenden Stoffes im Blut ge- 
stört ist, wieder herzustellen und schießt dabei bisweilen über das 
Ziel hinaus. Spiro (24) spricht von „Gleichgewichtsfermenten“. 
Dieser Mechanismus gilt sowohl für das Wasser (Siebeck (25)) als 
auch für Salze (Siebeck (26)) und für den Traubenzucker 
(Staub (27)). In die gleiche Rubrik gehört auch die von Wiech- 


l) Verwandt wurde Insulin „Bayer“. 


358 WIECHMANN u. DoMINICK 


Ta- 


Das Verhalten intravenös einverleibten 


| | | | Amino- 
r | ; pa Körper- 
Verse 7 Name Klinische $ eina EAEE 
. Datum . ın: gewicht |. „_  injizierte injizierte 
Nr. | | und Alter | Diagnose "in gg | 2At Insulin- | Glykokall- | 
| | | | menge | menge | 
- 
2a 18. X1l.24 K. S., 68 J. Diabetes | 60,7 | 5,8 | — 15 cem 15%, 
| l Lösung 
2b 27. I. 25| K. S., 68 J. j 607 ! 66 100 Einh. | 2 
Ba '3.1.25|6.0.29| , A 59 o — n 
3b ‚17.11. 25; G. D., 22 J., 5 | ld ; 62 100 Einh. | à 
Ta- 


Das Verhalten des Amino-N-Spiegels des Blutes beim 


| 


i Amino- 
P N Körper- —— —- 7 
a Datum a gewicht | ich. | injizierte ‚nach, nach nach 
RN x Glykokoll- , 5 I 25 | 4 


in k 
| ten menge |Min.' Min. Min.. 


| 
19V35EC,219 541 | 68 |15 cem 15%] 9,4 [83 | 72 
| | ' Lösung | | | 
| 
| | 
| | | 
| 


12 28. v.25 M. S. 19). 46,6 | 6.9 2 91 79 65 
| 
| | 


mann (28) gemachte Beobachtung, daß nach Glukosezufuhr der 
Aminosäurengehalt des Blutes beim Normalen genau so absinkt, 
wie es beim Diabetiker nach Insulininjektion der Fall ist. 

Wenn das Absinken des Amino-N-Spiegels unter den Nüchtern- 
wert tatsächlich einen Vorgang der Überkompensation darstellt, so 
scheint es wahrscheinlich, daß bei einer zweiten intra- 
venösen Glykokollinjektion der Amino-N-Gehalt des 
Blutes nicht so sehr ansteigt wie nach der ersten In- 
jektion. Bei zwei gesunden Individuen haben wir in der an- 
gegebenen Weise Glykokoll injiziert, den Amino-N-Spiegel des Blutes 
verfolgt, nach einer bestimmten Zeit die Injektion wiederholt und 
wieder den Amino-N-Gehalt des Blutes verfolgt. Die Ergebnisse 


Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls usw. 359 


belle 3. 


ulykokulls beim Diabetiker nach Insulininjektion. 


säuren- N pro 100 cem Gesamtblut in mg 


i | 
T nach | nach i nach nach | nach nach nach nach Di nach nach nach nach 


o 15 . 25 | 35 | 45 | 55 65 | 70 | 75 | 108 , 120 oi 135 
Min. Min. Min. Min. | Min.: | Min. | Min. Min. | Min. Mn. ‚Min. ‚Min. Min. Min. 
T i | | 

S3 75 71 6,7 E 6,7 63 | 63 61 | Tas 
14,59 56 5.0 |, 50 | | | 51: | 4,3 
1 783 [71 165 |68 61 | 5.8 57 | 5,9 

ni 99 Da 5.8 | 5 | 52 51 


belle 4. 


Gesunden nach wiederholter intravenöser Glykokollinjektion. 


säuren- N pro 100 cem Gesamtblut in mg 


nach nach nach , nach | nach | nach nach | nach 
100 0 ' 110 ` 118 |130 133 |150 |165 
Min. Min. | Min. | Min. Min. Min. | Min. | Min. 


Ka nach | nach? 
HU 653 70 
Min. Min. Min. 


apear |! 80 | | 78 ai | 
150a | | 
L Glyku- | | 
kollösung 
| intrav. | | 
| 65 1 lem | 72 1 10 68 
i | 19:97, 
Glyko- i 
‚kollösung 
| intrav. 


} 
| [l 


sind in Tabelle 4 wiedergegeben. Sie scheinen für die Richtigkeit 
der oben ausgesprochenen Vermutung zu sprechen, denn der zweite 
Anstieg des Blut-Amino-N ist keineswegs so hoch wie der erste. 


Zusammenfassung. 


1. Wird Gesunden und schweren Diabetikern intravenös 
Glykokoll injiziert und fortlaufend der Amino-N-Gehalt des Blutes 
bestimmt, so wird der Ausgangswert beim Normalen viel schneller 
wieder erreicht als beim Diabetiker. Dies wird so gedeutet, daß 
beim Diabetiker die Absorptionsfähigkeit der Gewebe für Amino- 
säuren herabgesetzt ist. 

2. Wird den Diabetikern vor der Glykokollinjektion Insulin 


360 WiıecHhmann u. Dosminick, Verhalten intravenös einverleibten Glykokalls usw. 


injiziert, so wird der Nüchternwert schneller als beim Normalen 
wieder erreicht. 

3. Beim Gesunden kommt es in zahlreichen Fällen im An- 
schluß an die der Glykokollinjektion folgende Erhöhung zu einem 
Absinken des Aminostickstoffspiegels unter den Nüchternwert. Das 
gleiche gilt für den Diabetiker nach vorheriger Insulininjektion. 

4. Folgt beim Gesunden der ersten Glykokollinjektion in kurzer 
Zeit eine zweite, so ist der Anstieg des Amino-N-Gehaltes des 
Blutes nicht so hoch wie nach der ersten Injektion. 


Literatur. 


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Berlin 1924. — 25. Siebeck, Physiologie des Wasserhaushalts im Handb. d. nor- 
malen u. pathol. Physiol. Bd. 17, Correlationen III. Julius Springer. Berlin 1926. 
— 26. Ders., Klin. Wochenschr. Nr. 50, 1922. 27. Staub, Insulin. Julius 
Springer, Berlin 1924. — 28. W iechmann, Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. 4, 
158. 1924. 


361 


Aus dem Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Barmbeck. 


Über akute Lebereirrhosen. 
Von 


Prof. Dr. F. Reiche. 


Über den zeitlichen Verlauf einer atrophischen Lebereirrhose 
wird sich bei ihrer ungemein schleichenden Entwicklung nur in 
seltenen Fällen ein sicheres Urteil fällen lassen. Ihr Beginn und 
das Auftreten manifester Symptome decken sich in der Regel nicht, 
im Gegenteil, es ist pathologisch-anatomisch verständlich, daß die 
ersten Beschwerden erst bei gröberen Veränderungen sich zeigen. 
Dazu kommt die bei Wegfall der ursächlichen Schädlichkeit vor- 
handene Möglichkeit weitgehender Stillstände und Remissionen, die 
selbst durch Jahrzehnte einer klinischen Heilung gleichkommen 
können (Ehret.Y)) Die reichliche Anlage des Leberparenchyms 
und seine große Fähigkeit kompensatorischer Gewebsneubildung 
wirken da mit. Und wie hier voll ausgeprägt gewesene Cirrhosen 
nach der funktionellen Seite hin über lange Zeiträume ganz aus- 
geglichen, „stabilisiert“ werden, so erlebt man es bisweilen, daß 
vorgeschrittene interstitielle Hepatitiden ein unerwarteter Neben- 
befund bei Sektionen an anderen Krankheiten Verstorbener sind 
— Hilton Fagge?) hatte es in 43 von 130 Fällen —, ohne daß 
die Anamnese oder die klinischen Zeichen sie nahegelegt hätten. 
Selbst da nicht in 2 unserer jüngsten Beobachtungen, wo der stark 
positive Ausfall der Tetrachlorphenolphthaleinprobe bei einem 
49jährigen Nephritiskranken und einer 70Ojährigen Patientin mit 
Magenkrebs ganz allgemein auf eine nicht unerhebliche Parenchym- 
schädigung der Leber hinwies. Dadurch wird es bedingt, daß in 
der einschlägigen Literatur die Dauer des Leidens mit sehr ver- 


1! Münch. med. Wochenschr. 8, 1903. 
2) Zit. b Weissberger, Wien. klin. Wuchenschr. 42. 1594. 


362 REICHE 


schiedenen Zahlen angegeben wird: Strümpell?!) läßt die aus- 
gesprochenen Erscheinungen „1—3 Jahre, zuweilen aber auch noch 
viel länger“, Bamberger?) längstens 3 Jahre und im Durch- 
schnitt 11 Monate währen, Hoppe-Seyler?) schätzt die ganze 
Krankheit für die Mehrzahl der Fälle nur vermutungsweise auf 
„viele (10 und mehr)“, Stadelmann +) auf weniger als 6—8 Jahre; 
Bleichroeder®) spricht von der „bekannten Tatsache“, daß auch 
Verlaufsbilder von 2—3 Jahrzehnten gesehen werden. 

Die sehr viel selteneren Beobachtungen einer akuten Form 
der Laännec’schen Cirrhose haben weniger Beachtung gefunden, 
vornehmlich wohl deswegen, weil der pathologisch-anatomische Be- 
fund in diesen Fällen sich nicht oder nur wenig von den in lang- 
samer Progredienz lethal geendeten Formen unterschied; es schien 
am ungezwungensten, hier das stürmische klinische Bild nur als 
ein letztes Stadium einer latent über lange Zeit ausgebildeten, 
ihrem Wesen nach chronischen interstitiellen Lebererkrankung 
anzusehen, um so mehr als eine schubweise Entwicklung der 
Cirrhose hin und wieder schon klinisch zum Ausdruck kommt und 
nach den mikroskopischen Bildern aus der kranken Leber von 
vornherein anzunehmen ist. Hoppe-Seyler erklärt direkt, er 
glaube es nach der Natur des Prozesses nicht, daß die Cirrhose 
akut in wenigen Monaten zu verlaufen vermöge, — gleichzeitige 
Stauungshyperhämie oder Fettinfiltration müßten in ihrem Schwinden 
den Übergang der vergrößerten in die geschrumpfte Leber vor- 
getäuscht haben. Diese an sich einleuchtende Argumentation kann 
allein durch sorgfältigst geprüfte gegenteilige Beobachtungen er- 
schüttert werden. Nicht alle veröffentlichten Fälle von akuter 
Cirrhose halten strenger Kritik stand, insbesondere sind die Be- 
obachtungen als unsicher auszuschalten — so auch Rößle’s®) wegen 
der ungenügenden klinischen Verfolgung —, in denen intra vitam 
neben den schweren Allgemeinerscheinungen sich nicht an der 
Leber das sonst übliche langsame und wegen seiner Chronicität 
nur selten durch alle Stadien verfolgte, zuweilen — vor allem bei 
den kindlichen Cirrhosen — einmal auch mehr subakut sich ab- 
rollende Bild der Hepatitis interstitialis gleichsam in gedrängtester 


1) Lehrb. d. spez. Pathol. u. Therapie I. 

2) Zit. b. Eichhorst. Virchow's Arch. CXLIX. 1897. 
3) Die Krankheiten der Leber 1912. 

4) Verhandl. d. Kongr. f. inn. Med. 1802. 

Ər Virchow's Arch. CLXXVII. 

6) Virchuw's Arch. CLAXXXVIII. 


Über akute Lebereirrhosen. 363 


kürze vollzog: die anfängliche, nicht auf Stauungen zurückführ- 
bare Vo)lumsvermehrung, dann die mehr minder rasche Ver- 
kleinerung. Daß dabei der klinische Symptomenkomplex der 
Laönnec’schen Cirrhose völlig verwischt wurde bzw. werden 
mußte und die Bilder einen mehr toxisch-infektiösen Charakter 
trugen, kann nicht Wunder nehmen. 


Also nicht das plötzliche Einsetzen der Krankheit inmitten 
voller Gesundheit und ihr alsdann rascher Gang sind für sich 
allein das Charakteristische.e In Weissberger’s!) Beobachtungen 
bei 3 Patienten im Alter von 37—53 Jahren umfaßte der Verlauf 
6 Wochen, 2!/, und 4!/, Monate vom Auftreten der ersten Symptome 
an und doch lag schließlich klinisch nur eine reine Schrumpfleber 
mit ihren konsekutiven Stauungserscheinungen vor, die akute, ein- 
mal anscheinend durch ein Erysipel ausgelöste, Exacerbation eines 
lange vordem latent entwickelten Prozesses. Lenhartz’s?) 
Fall, bei dem die Zeitdauer nicht genau angegeben wird, ist eben- 
falls eher hierher zu rechnen, wenn auch fraglos bei dem 68 jährigen 
Mann ein verhältnismäßig recht rascher Verlauf nicht nur klinisch, 
sondern auch hinsichtlich des leberschädigenden Momentes vorlag; 
der 68jährige Mann hatte im Gefolge einer schweren seelischen 
Erschütterung durch ?/, Jahre vor seinem Erkranken täglich über 
1 l reinen Nordhäuser getrunken. 


Ganz anders in dem Stricker’schen Fall (36jähriger Patient) 
von rapidem Ablauf einer interstitiellen Hepatitis binnen 
6 Wochen: Fieber, Icterus catarrhalis, Retinahämorrhagien und 
häufige Diarrhöen bestanden, der Höhendurchmesser der Leber 
nahm in den 4'/, Wochen bis zum Tode um 13 cm ab, alle Stauungs- 
erscheinungen fehlten, eine Beteiligung der Nieren war aus dem 
Urin nicht erkennbar, die Milz war klein. Eichhorst’s?) Patient 
zählte 47 Jahre: der Verlauf, der kaum 2!/, Wochen umspannte, 
glich mit dem anhaltenden hohen Fieber und der stark vergrößerten 
weichen Milz einer schweren Infektion, Ascites und Gelbsucht 
fehlten, der Harn war eiweißfrei. Die Leber veränderte sich in 
der kurzen, nur 13tägigen Krankenhausbeobachtung anscheinend 
nicht. In dem großen und leicht höckrigen Organ fand sich eine 
sehr bedeutende multi- und monolobulär angeordnete, dort zellen- 
arme, hier rundzellenreiche Wucherung des interstitiellen Binde- 


1) Wien. klin. Wochenschr. 42, 1894. 
2) Verhandl. d. Kongr. f. inn. Med. 1892. 
3 Virchows Arch. CXLIX, 1897. 


364 REICHE 


gewebes mit einer erstaunlichen Vermehrung kleiner Gallengangs- 
gefäße. 

Mehrere Fälle akuter klinischer Leberecirrhose, die ich 
im Laufe einer langen Reihe von Jahren zu sehen Gelegenheit 
hatte, veranlassen mich, die in vieler Hinsicht interessante Frage 
dieses Krankheitsbildes bzw. dieser Krankheitsbilder zu berühren, 
und desto mehr, als der letzte von ihnen in ätiologischer und 
physiologisch-chemischer Hinsicht uns wichtige Besonder- 
heiten erschloß. 

' Ich beginne mit einer Beobachtung, welche nur in ihrer 
klinischen Zeitdauer mit den 3 übrigen Fällen echter akuter inter- 
stitieller Hepatitiden etwas gemeinsam hat: es unterliegt kauın 
einem Zweifel, daß hier, analog wie bei Weissberger’s Kranken, 
eine längst vorbereitete, bis dahin quiescente atrophische Cirrhose 
durch Hinzutritt eines an sich einfachen Gastroduodenalkatarrhs 
oder aber in ihrem schicksalsmäßigen Ablauf mit einem letzten 
besonders schweren Schub der Krankheit offenkundig wurde und 
nun rasch zum Ende führte. 


I. Maria B., 50 Jahre (Krankenhaus Bethanien). 

Frühere Krankheiten: Asthma und Arthritis der Kniegelenke. Keine 
Lues. Kein übermäßiger Potus. Erkrankte am 17. II. 1914 in bester 
Gesundheit mit Ikterus, am 18. von mir gesehen. Keinerlei sonstige 
Beschwerden durch mehrere Wochen; der Stuhl war anfänglich weißlich 
hell, später dunkel. Urin reich an Gallenfarbstoff, ohne Eiweiß. Haut- 
jucken, zunehmende Mattigkeit. Von Mitte März ab wachsender Meteo- 
rismus, am 19. III. Benommenheit, die rasch zum Coma sich steigert. 
Keine Temperaturerhebung. Gelbsucht unverändert stark, der Meteo- 
rismus läßt den anfänglich gut palpablen Rand der leicht den Rippen- 
bogen überragenden, während dieser 4 Wochen in seiner Größe nicht 
veränderten Leber nicht mehr abtasten, die Milz ist gerade palpabel. 
Stuhl dunkel. Am 23. III. Probelaparotomie (Geh. Rat Kümmell!:: 
eine mäßige Menge Ascitesflüssigkeit entleert sich, die Leberobertläche 
ist grobgranuliert cirrhotisch. Kurz danach Exitus. 


A utopsie: Lungen kongestioniert. Milz leicht vergrößert. Leber- 
cirrhose, die auch mikroskopisch (Dr. Bonhoff) den typischen Befund 
zeigt mit diffuser inter- und intraacinöser Bindegewebsentwicklung. 


Die augenfälligen Alterationen, die sich bei den anderen 
Patienten während des Lebens an der Leber selbst vollzogen. 
unterscheiden sie völlig von obigem Bilde; nicht nur das letzte 
Stadium einer gelegentlich selbst bis zum Ende latent bleibenden 
Erkrankung trat bei ihnen akut in die Erscheinung, sondern ihre 
verschiedenen Phasen nahmen unter unserer Beobachtung 
einen ungewöhnlich raschen Gang. 


Über akute Lebereirrhosen. 365 


II. Frau B., 35 Jahre, aufgen. 4. II. 1909 (Krankenhaus Eppendorf). 
Der Fall ist von Fette bereits in den Jahrbüchern der Hamburger 
Staatskrankenanstalten (X1V. 1909) mitgeteilt. Bemerkenswert ist ein 
schwerer seit der Jugend bestehender Alkoholismus. 2 Wochen vor der 
Aufnahme mit hohem Fieber und Anschwellung der Leber erkrankt; in 
der 6!, wöchigen Krankenhausbeobachtung dauernd remittierende Tempe- 
raturen zwischen 37,50 (Achsel) bis 40,1 und 40,2°, einmal 41,2°. 
Kein Ikterus, kein Ascites. Mäßige Milzschwellung und eine lange 
stationäre, unter unseren Augen noch ein wenig zunehmende beträchtliche 
Vergrößerung der derben unempfindlichen Leber, die dann akut sich ver- 
kleinert, wobei Erbrechen und neben profusen wässerigen Diarrhoen tage- 
lange delirierende Benommenheit in tiefes letales Coma überführt. Bei 
reduziertem Hb-Gehalt und Erythrocytenverminderung anfänglich ganz 
leichte Hyperleukocytose mit 48,0 °/, Lymphocyten, 50,5 °/, Neutrophilen 
0,5 Eosinophilen und 1°/, Mononukleären, später normale Leukocyten- 
werte mit einmal 47 ° Lymphocyten und 0,5 °/, eosinophilen Zellen, an 
den letzten 3 Tagen steigende Zahlen: 14900, 19100, 21000. Wasser- 
mannreaktion bei 2 Gelegenheiten negativ, zweimalige Blutkultur steril, 
aus den Entleerungen wurde nur Bact. coli gezüchtet. Im bakteriologisch 
sterilen Urin zeitweise geringste Eiweißmengen, vorübergehend ganz ver- 
einzelte hyaline Zylinder. Nach Jodkali eine tuberöse Joddermatitis. 
Ascites, Ikterus, Meteorismus waren nicht aufgetreten. 


Sektion: Milztumor: 17:10:3, Follikel sehr zahlreich, geschwollen, 
Trabekel zart. Schwere interstitielle Hepatitis mit extra- und intra- 
lobulärer Bindegewebsneubildung und mit reichlicher Einlagerung von 
Rundzellen, ohne Zeichen einer Cholangitis (Prof. E. Fraenkel). Kein 
für Lues sprechender Organbefund. In den Nieren leichte chronische 
interstitielle Veränderungen, auch im Pankreas eine mäßige Neubildung 
von interstitiellem Gewebe. Starkes Odem der etwas getrübten weichen 
Hirnhäute und geringe Granulierung des Ependyms der Seitenventrikel. 


II. Hans K., 32 Jahre, aufgen. 4. III. 1913 (Krankenhaus 
Eppendorf.) l 


Früher gesund, Keine Lues. Potus in Bier und Schnaps zugestanden. 
Vor 3 Wochen in voller Gesundheit mit Gelbsucht erkrankt, später 
Schmerzen und Schwellung in den Beinen. Wiederholt nachts Leib- 
schmerz und Erbrechen, kein Fiebergefühl. Der Leib schwoll stark an, 
der Harn war dunkel, der Stuhl angehalten, die Entleerungen nicht 
entfärbt. 


Stat. praes. 5. III.: Guter Ernährungszustand. Intensiver Ikterus 
der Haut und Schleimhäute. Odem des unteren Rückens, der Unter- 
schenkel und Füße. Reflexe normal. Brustorgane normal. Leib auf- 
getrieben, Umfang 102 cm. Leber bis 3 querfingerbreit unter Nabelhöhe 
in der Papillarlinie fühlbar, mit harter, glatter Oberfläche; unterer Rand 
29 cm, oberer 5!/, cm unter der Papille; Milz perkutorisch vergrößert. 
Kein deutlicher Ascites. Urin nicht sehr reichlich, enthält Gallenfarb- 
stoff, kein Urobilin, kein Urobilinogen, keinen Zucker, aber eine Spur 
Albumen; im Zentrifugat zahlreiche zum Teil gelb gefärbte Epithelien, 
grauulierte und hyaline Zylinder und Leukocyten. Blutrotgehalt 52" ,, 


366 ReıcHk 


Erythrocytenzabl 2420000, Leukocyten 29200, darunter (auf 400 
ausgezählt) 89%, polynukleäre Neutrophile, 2,75 °/, große und 6,5°, 
kleine Lymphocyten, 0,5 °/, mononukleäre Neutrophile und 1,25 °, Eosino- 
phile. Wassermannreaktion negativ. 


7. III.: Die Stühle sind entfärbt. Wiederholt Nasenbluten. Urin 
unverändert. Das aus einer Armvene entnommene Blut erweist sich mit 
Agar, Gallenagar und Traubenzuckeragar vermischt und in Bouillon steril. 
Temperatur am 5. III. 38,50 erreichend, ist auf 37,8% abgefallen. 
Leukocyten seit dem 4. III.: 22300, 29200, 26600, 34200. 


10. III.: Abdomen 105 cm; Erguß darin deutlich. Leberdämpfung 
kleiner, der untere Rand steht höher. Milz palpabel. Ikterus unver- 
ändert. Temperatur am 8. und 9. III. bis 37,7, heute 36,6—37,0°. 


13. III.: Große Schwäche. Am Herzen Galopprhythmus und peri- 
carditisches Reiben. Stuhl auf Karlsbader Salz, nicht völlig entfärbt, 
Weber’sche Probe negativ. Retinae frei. Erythrocyteumenge: 3 460 000. 
Leukocyten seit dem 8. III. 41400, 46800, 38600, 46800, 40600, 
48200. Weißes Blutbild 8. III.: polynukleäre Neutrophile 94,4° 
mononukleäre 1,9 °/,, kleine Lymphocyten 2,2, große Lymphocyten 
1,5 9o 

14. III.: Sanguinolentes Sputum; im Unterlappen der rechten Lunge 
ein umschriebener Herd von Dämpfung und Knisterrasseln. Abdominal- 
umfang unverändert (104 cm). Leichter Erguß. Im Urin eine Spur 
Albumen; spez. Gewicht 1008—1010. Stuhl gefärbt, blutspurenfrei. 
Leber weiter verkleinert. Ikterus stark. Milz deutlich gegen früher 
vergrößert. 


16. III.: Meteorismus und deutlicher Ascites. Benommenheit und 
leichte Unruhe. Lumbalpunktion: Druck 210 cm, Liquor klar, Phase I 
negativ, Pandy negativ, Lymphocytenzahl 4:3. Zunehmende Schwäche, 
Abends Exitus. Leukocytenzahl vom 14.—16. III.: 56800, 50800, 
27800. Temperatur der letzten Tage 36—36,8°., 


Autopsie: Hochgradiger Ikterus. Leichte Ödeme. In der Bauch- 
höhle etwa 31 klarer, grünlich-gelber Flüssigkeit. Peritoneum feucht 
glatt und glänzend. Pericarditis fibrinosa. Fettige Degeneration des 
Herzmuskels. Vereinzelte broncho-pneumonische Herde in den Lungen. 
Weicher Milztumor 20,5:10:3 cm. Stauungsnieren. Chronische inter- 
stitielle Hepatitis mit Ikterus und Fettinfiltration 31:23:11 cm. Cirr- 
hose und Fettnekrose des Pankreas. 


Im Herzblut bei der bakteriologischen Untersuchung vereinzelte 
Kolonien von hämolytischen Streptokokken. 


ln mikroskopischen Bildern aus der Leber sind die einzelnen Acini 
nicht mehr abzugrenzen, die Leber ist auf das dichteste mit Bindegewebs- 
massen durchsetzt, so daß in einem nach van Gieson gefärbten Schnitt 
makroskopisch alles rot aussieht. Die Leberzellen hochgradig verfettet. 
Die Teberzellenbalken sind von Bindegewebe stark durchwachsen und in 
kleine Zellkomplexe geteilt. Die Bindegewebszüge sind vielfach zellarm. 
an anderen Stellen kleinzellig infiltriert. Hier und da neugebildete Gallen- 
gänge (Prof. E. Fraenkel). 


Über akute Lebereirrhosen. 567 


IV. Georg N., 35 Jahre, aufgen. 6. X. 25 (Krankenhaus Barmbeck). 

Kräftiggebauter, schlanker Schiffsingenieur, früher im allgemeinen 
gesund. Kriegsteilnehmer. War Raucher; sehr geringer AlkoholgenußB. 
Mai 1925 Ulcus durum, das er vernachlässigte, bis im Juli eine schmerz- 
hafte beiderseitige Hodenanschwellung auftrat; erhielt dann in einer 
anderen Stadt zweimal 0,6 Neosalvarsan, kam Ende Juli nach Hamburg, 
wo ihm zwischen 1. VIII. und 7. IX. in 7 Einspritzungen 2,25 g — nie 
über 0,4 g pro dosi — Neosalvarsan und bis 14. IX. in 9 Injektionen 
je 1,0 Novasurol injiziert wurden. Am 10. IX. plötzlich heftiges Er- 
brechen und starker Durchfall — nach Genuß von Obst —, am 15. IX. 
starke Auftreibung des Leibes und Anschwellung der Beine. | 

7. X.: Mäßiger Ernährungszustand.. Temperatur 36,2 — 36,6°. 
Kein Ikterus. Keine Drüsenschwellungen. Blutwassermanın ——+-. 
Blutdruck 135:90. Füße und Unterschenkel stark geschwollen, an letzteren 
ausgedehnte kleinfleckige Hautblutungen. Abdomen aufgetrieben, gespannt, 
93cm. Leber vergrößert, Milz nicht palpabel. Im Urin !/, °/,, Albumen 
(Esbach), kein Bilirubin, Urobilin oder Urobilinogen, kein Zucker, im 
Centrifugat vermehrte Leukocyten. Weiße Blutzellen 9600, darunter 
84° Neutrophile; 676800 Thrombocyten. Therapie: Jodkali. 


16. X.: Temperatur dauernd 36,2—36,8, einmal auf 37,9° steigend. 
Eiweißgehalt des Urins !/,—!/,°/,0, der Eiterzellengehalt schwankt sehr; 
Gesamt-N 1526 mg °/,, Rest-N 1465 mg °/,. Tetrachlorphenolphtbalein- 
und Galaktoseprobe stark positiv. Bauchpunktion: nur 800 ccm fließen 
ab; spez. Gewicht 1010, Albumengehalt 8°,,, Zuckergehalt 0,147 °/,. 


20. X.: Im Urinzentrifugut viel Leukocyten, einzelne Erythrocyten, 
kulturell Bact. coli, Albumen !/, %/,,, Urobilinogen und Urobilin nicht 
vorhanden. Blutdruck 115/75. 1500 ccm Wasser sind in 24 Stunden 
noch nicht ganz ausgeschieden, Konzentration bis 1022. 


29. X.: Dauernd fieberfrei. Im Urin nur noch Spuren Eiweiß 
Bauchpunktion: 5000 cem opaleszierender Flüssigkeit, spez. Gewicht 1007, 
Esbach 4°), 0, ges. Fett 0,34 g°),. Die Leber ist an Größe zurück- 
gegangen. Milz nicht palpabel. 

4. XI.: Im Mageninhalt nach Probefrühstück freie Salzsäure 18, 
Gesamtacidität 31, Lab +, Pepsin +, Milchsäure Ø. Temperatur ständig 
36—36,7°, Urin seit 5 Tagen eiweißfrei. Odeme der Beine sehr ver- 
ringert. 

9. XI.: Bauchpunktion 5000 cem, spez. Gewicht 1010, Esbach 4 °/, ,, 
Fettgehalt 0,52 g’. Urin: ohne Eiweiß, Zucker, Gallenfarbstoff, Uro- 
bilin und Urobilinogen. im Zentrifugat viel Leukocyten. 

13. XI.: Ist von 77,2 bis 56,2 kg abgemagert. 

23. XI.: Temperatur 35,6—36,8°. Urin wie früher. Stühle dauernd 
dunkel gefärbt. Hb-Gehalt 85 °/,, Erythrocyten 4300000, Leukocyten 
9800, Polynukleäre 91 °/,, Lympbocyten 3°/,, Mononukleäre 3%, Über- 
gangszellen 1°/,, Plasmazellen 2°). Galaktose- und Tetrachlorphenol- 
phthaleinprobe stark positiv. Viel Brechreiz. Schwere Kachexie. Zu- 
nehmende Benommenheit. Nackenstarre und positiver Kernig. Augen- 
hintergrund frei. Die Blutflecken an den Beinen haben sich verloren, 
neue sind nicht aufgetreten. 


368 


25. XI.: Lumbalpunktion: 
Nonne- und Pandyprobe +, Zellenzahl 900,3. 


negativ. 


ReıcHE 


Druck 


erhöht. 


Wassermannreaktion 


Urin: kein 


Eiweiß, kein Urobilin oder Urobilinogen, kein Zucker. 


30. XI.: Temperatur 36,2—36,4, Puls bis 120. 
läßt unter sich. 


Dauernd Benommenheit und Unruhe. 


Urin wie früher, 
Kein Ikterus. 


4. XII.: Kryoskopie des Blutes: 0,615. Lumbalpunktion: Wasser- 
mannreaktion negativ, Nonneprobe positiv, die Kurve der Ausflockung 


in Mastixlösung verlief wie bei Lues cerebri. 


angehalten, in den letzten Tagen leicht diarrhoisch. 

5. XII.: Große Unruhe. 
reaktion +, 930:3 Zellen, bakteriologisch steril. 
kein Urobilin, kein Eiweiß, kein Zucker; viel Leukocyten im Zentrifugat. 


7. XII.: Tagelanges Coma. 


Stuhl anfänglich leicht 


Lumbalpunktion: 380 mm Druck, Nonne- 


Temperatur 36—36,7. 


Urin unverändert: 


Puls 96 bis 


116. Bauchpunktion: 5000 ccm, 1018 spez. Gewicht, kein Bilirubin. 

Schwerste Abmagerung. Exitus. 

Die Untersuchungen des Blutes und in den letzten Tagen auch des 

` Lumbalpunktates, des Peritonealergusses und Urins ergaben folgende 
Resultate (Dr. Halberkann): 


| 
| 
| 


Blut 


TES & AR | Ås- 
rn: ; 

Urin | cites ' punk- 
, tal 


| 28. XI. | 26. XI. | 28. XI. |1. XILJ4. XIL7. XII/7. XILT. XIL5. XII 
Í 
| 
R.N. mg’ | 160 | 124 | 102 105 h23 148?) — leo mw 
Harnstoff N mg% | 52 (7 42 — ,8 11673); 694,41 55,6 ' 1250 
Harnsäure mg% | 9.08 8,3 | 7,68 | 668° 716 908. 89:1112 IM 
Kreatinin mg °/o 3,0 1,56 1,98 204! 351| 441! — ` 469 — 
Ges.-Kreatinin mgp; 8,4 72 624 | 624. 696 1032! — | 912 — 
Blutzucker 0119 | 0104 | 0135 | 0,125 0,092! 0072 — 008 — 
Bilirubin-Einheiten 0,5 0,65 0,8 = 0 Spuren — 0 — 
1 : 400 000,1 : 308 000 1 : 250 000: | | | 
Gallensäuren schw. + | schw. +) 0 | — 0 | — | — | — — 
Chloride mg®, NaCl, 524 684 574 68 628 5 | 130 644 776 
Calcium mg °% 968 — — sw a a a te e — 
HO 0% 93 92 1 0 9% 2 ey S 
| | | ; 
Autopsie 8. XII. (Dr. Gerlach): 
Zusammenfassung: Dilatation des Herzens bei syphilitischer Mesa- 
ortitis. Lebercirrhose. Chronische interstitielle Pancreatitis. Schwerer 


chronischer pigmentierter Magenkatarrh. Milzhyperplasie (250 g). Ge- 


ringer Ascites. Stauung und Odem, der Lunge. 


Alter tuberkulöser Herd 


der rechten Lunge; Kalkherd im zugehörigen Lymphknoten. 
Im Arcus aortae starke narbige Schrumpfungen der Gefäßwand; eine 


l) Wert zu niedrig; wegen Mangels an Material mußte die Bestimmung nach 
einer anderen Methode — im Natrium-Wolframatfiltrat — gemacht werden, wäh- 
rend sonst mit kolloidalem Eisenhydroxyd enteiweißt wird. 

2) Zweimal bestimmt! 


z 


Über akute Lebereirrhosen. 369 


etwa haselnußgroße Narbe ist leicht nach außen vorgebuchtet. Im An- 
tangsteil der Aorta einige hanfkorn- bis linsengroße gelblich-weiße Flecken 
in der Wand. 

Mikroskopische Untersuchung. Nieren: Die Glomeruli sind in 
entsprechender Zahl vorhanden, die Schlingen blutgefüllt; in manchen 
finden sicb geringfügige Hyalinisierungen von Schlingen, doch hat die 
Amyloidfärbung ergeben, daß es sich nicht um Amyloid handelt. Stärkere 
Veränderungen zeigen die Kanälchen der Rinde. Ihre Epithelien sind 
glatt, in den Kanälchen starke Eiweißausscheidungen, neben kernlosen 
Epithelien finden sich mehrkernige Riesenepithelien, wie man sie wohl 
als Zeichen eines Regenerationsversuches auffassen kann. Irgendwelche 
gröbere Narbenbildungen fehlen, ebenso entzündliche Veränderungen; 
Neutralfette fehlen vollkommen, im polarisierten Licht nur ganz spärlich 
doppelbrechende Fette. Es handelt sich also um eine schleichende 
Nephrose nicht sehr beträchtlichen Grades ohne irgendwie nennenswerten 
Befund an den Glomeruli. Leber: Fortgeschrittene Cirrhose mit hoch- 
gradigem Umbau, groben Narben und noch vorhandener beträchtlicher 
interstitieller Entzündung. Geringe Gallengangswucherung. Pankreas: 
Zum Teil gut erhalten, mit großen, schön gebauten Inseln, an anderen 
Stellen schwere interstitielle Pankreatitis mit Aufteilung der Läppchen 
und Neubildung von sklerosierendem Bindegewebe. Hoden: Völlig 
fehlende Spermiogenese, fast vollkommene Verschwielung. Starke Pigmen- 
tation der Zwischenzellen. Interstitielle Orchitis. In den Schnitten aus 
allen 3 Organen keinerlei gummöse und an den Gefäßen keine syphi- 
litischen Alterationen. Weiche Häute: Geringe Lymphocytenver- 
mehrung, an den Gefäßen keine luischen Veränderungen. 


In drei stark voneinander differierenden Bildern präsentiert 
sich hier der klinische Ablauf der akuten Cirrhose. Ein- 
mal besteht (Fall II) in einem 8'/, Wochen beanspruchenden — 
6', in Krankenhausbeobachtung — Krankheitsgange wie in der 
Eichhorst’schen Beobachtung Fieber: hohe remittierende, nach 
dem wiederholt steril befundenen Blut und dem Sektionsbefund 
ausschließlich auf das Leberleiden beziehbare Temperaturen, denen 
aber nur anfänglich leicht erhöhte, dann normale und erst sub 
finem ansteigende Leukocytenwerte entsprachen unter Erhöhung 
der Lymphocytenzahlen (47—48,6°,) und nicht völligem Ver- 
schwinden der Eosinophilen; dabei keine Gelbsucht, keiu Meteorismus, 
kein Ascites, gegen Ende aber profuse Diarrhoen. Im allgemeinen 
verläuft die Lebercirrhose fieberlos, doch sollen nach Ebstein 
gelegentlich, aber zumeist nur leichte, Temperaturerhöhungen an- 
scheinend besonders in den frühen Stadien des Prozesses vorhanden 
sein. Das andere Mal (Fall III) sehen wir bei nicht ganz 5 Wochen 
Dauer analog dem Stricker’schen Falle, von dem unserer jedoch 
sich durch das Fehlen der Retinahämorrhagien und die noch zu- 
nehmende Milzvergrößerung unterscheidet, von Anfang an schwere 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 24 


370 REICHE 


 Gelbsucht mit nicht dauernd entfärbten Stühlen und nur in 


der ersten Hälfte des 12-tägigen Krankenhausaufenthaltes eine 
leicht erhobene, dann normale Eigenwärme, — hier aber eine 
mächtige, unter unserer Beobachtung ansteigende und 56800 er- 
reichende Hyperleukocytose mit Polynucleose, die Eosino- 
philen waren auch bei ihm nicht ganz geschwunden; Meteorismus 
und leichter Peritonealerguß bestanden. Die klinische Blutent- 
nahme war gleichfalls steril gewesen, der Tod erfolgte durch eine 
hinzugetretene Bronchopneumonie und Pericarditis fibrinosa; aus 
dem Leichenblut wuchsen einzelne Kolonien von hämolytischen 
Streptokokken. 

Der 3. sehr viel länger — über 12 Wochen — sich hin- 
erstreckende Fall (IV) nähert sich im klinischen Aspectus schon 
mehr dem der gewöhnlichen chronischen Schrumpfleber: dauernd 
niedrige Temperaturen, frühzeitiger Ascites, nur ganz passagäre 
unbedeutende Mengen von Bilirubin und Gallensäuren im Blut- 
serum; die Gesamtleukocytenzahl war — nach allerdings nur 2 
Bestimmungen — wenig vermehrt, die Neutrophilen in hohem Pro- 
zentsatz zugegen. Der Erwähnung bedarf, daß im ganzen Verlauf 
trotz sehr häufiger Proben Urobilin und Urobilinogen nicht im 
Harn festgestellt wurde und daß der Reststickstoff, der Harnstoff, 
die Harnsäure und das Kreatinin im Blut eine, namentlich am 
letzten Tage, sehr erhebliche, zum Teil exzessive Anlıäufung er- 
fuhren. Dasselbe galt für die Ascitesflüssigkeit, während im Spinal- 
punktat nur Rest-N und Harnstoff, weit weniger die Harnsäure 
sich in großen Mengen nachweisen ließ; im Urin wurde der Harn- 
stoff- und Harnsäuregehalt sehr gesteigert gefunden. 

Die Leber erfuhr in diesen 3 Fällen, wie schon erwähnt, im 
Verlauf des Krankenhausaufenthaltes eine deutliche, im ersten (II) 
besonders stark ausgeprägte Verkleinerung. Die Milz war 
allemal geschwollen, bei IlI und IV nahm sie bei uns noch an 
Umfang zu. Fall IV war mit einer leichten Pyelitis per bacterium 
coli kompliziert, sonst traten Anzeichen von Seiten der Nieren 
ganz in den Hintergrund. Um so schwerer waren die cere- 
bralen Symptome, die in II und IV sich über viele Tage hin- 
zogen, wobei in beiden anatomisch, in diesem auch schon klinisch 
— mit Pleocytose — Veränderungen an den Hirnhäuten vorlagen; 
in dem durch interkurrente Infektion mit beschleunigtem Abschlud 
verlaufenen Fall IIl. hatte die Lumbalpunktion auch bereits eine 
Druckerhöhung ergeben. Das Pankreas war bei keinem unserer 
Kranken normal gewesen, bei dem einen (III) bestand eine inter- 


Über akute Lebereirrhosen. 371 


stitielle Erkrankung mit Fettnekrose, bei dem anderen (II) eine 
mäßige Neubildung von Bindegewebe und bei dem dritten (IV) eine 
stellenweise schwere chronische Pankreatitis. 


Das Zustandekommen und die Bedeutung der in allem Gegen- 
satz zu den Befunden bei der üblichen Ablaufsform der Laënnec- 
schen Cirrhose stehenden Feststellungen hinsichtlich des dauernden 
Nichtvorhandenseins von Urobilin und Urobilinogen im Urin bei 
unserem letzten Fall sei hier nur andeutungsweise berührt. Auf 
Gegenwart von Urobilinogen war in diesem Harn nicht mehr zu 
rechnen, da eine begleitende Colipyelitis vorlag, die durch Bildung 
von Nitriten oxydierend auf jenes, in Urobilin es umwandelnd 
wirken mußte; dieses jedoch wäre unbedingt, wie durch den ver- 
dienstvollen, weil in Abhandlungen und Lehrbüchern kaum be- 
rührten Hinweis Weltmann’s!) angeregte Untersuchungen in vitro 
uns lehrten, zu erwarten gewesen. Nach Fischer, Hilde- 
brand u. a. haben wir in der Urobilinurie den allgemeinen Aus- 
druck alterierter Leberfunktion, hier fehlte sie trotz schwerster 
Veränderungen im Lebergewebe bis zuletzt, während die Chole- 
gnostyl-L-Probe stark positiv ausfiel. Zweierlei muß daraus er- 
erschlossen werden: daß der Prozeß in diesem Falle doch in erster 
Linie das interstitielle Gewebe ergriff und daß die Prüfung 
mit Tetrachlorphenolphthalein auch schon bei verhält- 
nismäßig geringer Schädigung der Funktion des Paren- 
chyms zu bejahenden Ergebnissen zu führen scheint. Ebenso be- 
merkenswert und im gleichem Sinne verwertbar präsentieren sich 
bei diesem Kranken die gewaltigerhöhten Werte für Rest- 
stickstoff, Harnstoff, Harnsäure und Kreatinin im 
Blut, für Harnstoff und Harnsäure im Urin, welche hier — im 
Gegensatz zu anderen degenerativen Lebererkrankungen — die 
akut oder subakat verlaufende Entzündung des Leberbindegewebes 
ansteigend bis zum Tode begleiteten; dabei war das blutreinigende 
Ausscheidungsorgan, die Nieren, klinisch und schließlich auch mi- 
kroskopisch nur ganz gering an dem schweren Krankheitsbild be- 
teiligt, wie auch Fieber als Begleiterscheinung fehlte. Bei der 
chronischen atrophischen Cirrhose vom Laännec’schen Typus be- 
steht nach Ascoli?) und er glaubt damit einen Gegensatz zur 
Hanot’schen hypertrophischen Cirrhose festgestellt zu haben, eine 
Tendenz zu scheinbarer N-Speicherung, zu einem N-Defizit im Harn 


1) Med. Klinik 8, 1926. 
2; Dtsch. Arch. f. klin. Med. LXXI. 1901. 


372 REICHE 


und Kot, hier stoßen wir auf einen pathologischen Eiweißzerfall, 
wie er nur mit schwersten febrilen und toxisch-infektiösen Er- 
krankungen, mit ihnen aber in der Regel in weit geringerem 
Maße, einhergeht. Eine solche intensive Schädigung des 
inneren Stoffwechsels, die der ganzen Affektion ihren be- 
sonderen Stempel gibt, weist ihrerseits auf die Akuität dieser 
Lebereirrhosen wie in den anderen Fällen das hohe Fieber (II) 
oder die ungewöhnlich starke Hyperleukocytose (III). 


Gewiß ist Hoppe-Seyler zuzustimmen, daß der bis zu 
schwieliger Bindegewebsneubildung vorgeschrittene interstitielle 
hepatitische Prozeß nicht das Produkt der 6- (II) oder 2'/, wöchigen 
(III) offenkundigen Krankheit gewesen sein kann, boten beide 
ja auch relativ früh im Krankheitsverlauf, als sie zur ärztlichen 
Kenntnis kamen, eine bereits erheblich vergrößerte Leber dar, — 
alle jene klinischen Daten zwingen aber zu der Annahme, daß in 
den letzten 3 Fällen nicht allein ein spätes und dann über nur 
wenige Wochen sich hinziehendes Manifestwerden der üblichen 
chronischen Schrumpfleber vorlag, ihr letzter und durch seine 
Kürze relativ stürmisch erscheinender Schub im Sinne der Weiß- 
berger’schen Beobachtungen und unseres Falles Il, sondern ein 
tatsächlich durchaus akutes Krankheitsbild mit scharf es 
als solches charakterisierenden allgemeinen, in den einzelnen Fällen 
variierenden Zügen und mit lokalen in Gestalt von Veränderung 
des Lebervolumens, wie sie in der Regel so selten nur sich bei 
der gewöhnlichen Lebereirrhose deutlich verfolgbar offenbart, 
daß Rosenstein?) unter Berufung auch auf Todd sie noch ganz 
bestritt. 


Das anatomische Bild gewährt uns gerade bei der atro- 
phischen interstitiellen Hepatitis nur unzureichenden Aufschluß 
hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung der histologischen 
Alterationen, sowohl hinsichtlich einer besonders langen wie auch 
zur Entscheidung der Frage einer ungewöhnlich kurzen Dauer und 
ebensowenig läßt sich gemeinhin aus einer Berücksichtigung der 
ätiologischen Faktoren gewinnen, da der in der überwiegenden Mehr- 
zahl aller Beobachtungen als disponierend?) erkannte chro- 
nische Alkoholismus gerade über lange Zeiträume fortgesetzte, 
sich allmählich summierende Schädigungen entfaltet. 

Hier nun gibt unser letzter Fall (IV) eine erfreulich prompte 


1) Verhandl. d. Kongr. f. inn. Med. 1802. 
2) Klopstoek. Virehow's Arch. CXLVIII. 


Über akute Lebereirrhosen. 373 


Antwort. In den beiden anderen (Il, III) war protrahierter Alko- 
holabusus anam nestisch, dort jedoch lag er nicht vor, wohl aber 
ist eine anfänglich vernachlässigte, sehr schwere syphilitische 
Infektion als wrsächliches Moment anzuschuldigen, — eine sehr 
schwere, denn sie führte unbehandelt bereits wenige Monate nach 
ihrem Ausbruch zu tertiären Erscheinungen, für den Patienten 
selbst erkennbar in einer doppelseitigen Orchitis, p. m. erwiesen 
in der bis Zu beginnender Aneurysmabildung vorgerückten Mesa- 
ortitis des Aortenbogens. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß 
bei dem 34jJährigen Mann die interstitielle Bindegewebswucherung 
mit schwielenartig cirrhotischen Prozessen ebenso wie sie in ganz 
gleichartiger Form zweifellos in den Hoden syphilitischer Natur 
war, es auch in der Leber und weiterhin in der Bauchspeichel- 
drüse gewesen sein muß. Die tertiäre Lues der parenchymatösen 
Organe kann sich entweder in der diffusen interstitiellen Form 
oder mit Bildung isolierter Gumma, wie es von den Testes bekannt 
ist!) so auch in der Leber äußern. Meine Erfahrungen stimmen 
mit Ebstein’s2) überein, daß außer sämtlichen angeborenen und 
einer großen Zahl der kindlichen Cirrhosen sich mehr Fälle von 
Lebereirrhose, als man gewöhnlich annimmt, auf dem Boden 
der Syphilis ausbilden, zahlenmäßige Daten hierüber beizu- 
bringen, ist schon bei der Häufigkeit des Alkoholismus und ange- 
sichts der Tatsache, daß auch noch weitere, zum Teil unbekannte 
Noxen (Blei, Gewürze, gastrointestinale Autointoxikation u. a.) zur 
Hepatitis interstitialis führen, unmöglich. Wie selten spielt eınem 
ein glücklicher Zufall eine so eindeutige Beobachtung wie die 
obige in die Hände! Im Juli trat hier die Orchitis nach der bis 
da nicht beachteten, im Mai bemerkten Infektion in die Erschei- 
nung, Zu gleicher Zeit frühestens, denn für die Hoden ist das Er- 
griffenwerden im frühen Sekundärstadium eine zwar seltene, aber 
durchaus bekannte, schon nach 2 Monaten beobachtete?) Tatsache, 
wird das Leberbindegewebe befallen gewesen sein — d. h. also 
längstens 5 Monate vor dem im Dezember erfolgten Tode! 12 
Wochen a. m. waren bereits die aseitischen Folgezustände der 
Lebereirrhose zugegen, bei der Autopsie eine fortgeschrittene Ent- 
zündung Mit groben Narben neben frischen entzündlichen Bildern. 
Wir brauchen für diese bindegewebigen progressen Veränderungen 
keine längere Entwicklungsdauer zu postulieren, als für die wesens- 


1) Meirowg ski-Pinkus. Die Syphilis. Berlin 1525. 
2) Handb, A, prakt. Med. ILS. 411. 
3) H azen., Syphilis. St. Louis 1921. 


374 REICHE 


gleiche interstitielle Orchitis mit fast vollkommener Verschwielung 
der Hoden; ihre Entstehung aber können wir vom ersten Beginn 
bis zu dem mikroskopisch erhärtetem cirrhotischen Endstadium mit 
aufgehobener Spermiogenese verfolgen. 

Fast der vierte Teil aller luischen Orchitiden ist übrigens 
bilateral (Meirowsky-Pincus). 

Wichtig erscheint mir der nochmalige Hinweis auf die be- 
gleitende sklerosierende Pancreatitis, die auch hier sicher 
syphilitischer Natur war und als gleichzeitig mit der Lebercirrhose 
entstanden angesehen werden muß. Zu Zuckerausscheidung mit 
dem Urin oder Fettstühlen hatte sie nicht geführt, war, wie so 
viele andere, latent verlaufen. | 

Daß hier an der Leber ein Effekt der Salvarsanbehand- 
lung, die in den jetzt üblichen Dosen erfolgte, vorgelegen haben 
könnte, ist meines Dafürhaltens schon nach den vorstehenden Dar- 
legungen völlig ausgeschlossen. Die hepatotoxische Wirkung 
des Salvarsans äußert sich nach allen bekannt gewordenen Be- 
richten ’) nicht als interstitiell produktive Erscheinung, sondern 
als schwere Störung am sezernierenden Epithel: eine solche 
war nicht voraufgegangen, Ikterus hatte das Bild nicht eingeleitet 
und auch später nicht begleitet, eine Parenchymschädigung der 
Leber war bis zuletzt nur in dem verhältnismäßig so geringem 
Grade zugegen, daß es als zu ihrem funktionellen Ausdruck noch 
nicht zu einer Urobilinurie gekommen war und vor allem auch 
Harnstoff in exzessiven Mengen noch aus dem untergehenden Ei- 
weiß gebildet werden konnte. 

Letzteres Moment läßt mich des weiteren für Fälle dieser 
Art, wobei ich weniger an die seltenen akuten Cirrhosen, als an 
die syphilitische diffus interstitielle Entzündung denke, die von 
Weigert und Kretz vertretene, von Brugsch?) als durch die 
klinischen Erfahrungen vollauf gerechtfertigt erachtete, von 
Bleichroeder°) jedoch mit gewichtigsten Argumenten bekämpfte 
Anschauung ganz ablehnen, daß bei der Cirrhose die Degeneration 
des Parenchyms das Primäre, die Bindegewebsentwicklung der se- 
kundäre Vorgang sei. Jedenfalls ergab sich ein pathologisch-ana- 
tomisch von der üblichen Laönnec’schen Cirrhose durch nichts 
sich unterscheidender Befund in diesem einem Falle mit sicher 
primären interstitiellen Vorgängen. 

1) Kolle-Zieler, Salvarsantherapie 1924. 

2) Krauß-Brugsch VI. 2. 

3) Virehow's Arch. CLXXVI. 


Über akute Lebereirrhosen. 375 


Zum Schluß spricht derselbe auch durch die genaue Verfol- 
sung gerade der die Tätigkeit des Leberparenchyms charakteri- 
serenden Vorgänge aus gleichen Gründen dagegen, daß hier eine 
Form der als Cirrhoses graisseuses bezeichneten akuten bzw. sub- 
akuten parenchymatösen und interstitiellen Hepatitiden mit fettiger 
Entartung der Zellen vorlag, die nach Ebstein das Gros der als 
akute Lebercirrhosen beschriebenen Fälle ausmachen sollen. Nur 
unser Fall III würde nach seinem von Anfang an mit Ikterus ein- 
hergehenden und besonders raschen Verlauf sowie nach den mikro- 
skopischen Schnitten aus dem Lebergewebe diesen Krankheits- 
bildern sich nähern, II und IV sind nach Allem reine binde- 
gewebige akute Cirrhosen. 


376 


Besprechungen. 


1. 


Erich Ebstein, Deutsche Ärzte, Reden aus dem 19. Jahrhundert. 
Springer, Berlin 1926. 


Das Buch enthält Gelegenheitsreden von Reil, Schoenlein. 
Oppolzer, Wunderlich, Griesinger, Rokitansky, du Bois- 
Reymond, Helmholtz, H. Hoffmann, Pettenkofer, Virchow, 
Naunyn, v. Bergmann, Koch, Waldeyer, Ehrlich, Kocher, 
Strümpell. Es ist ein Teil unserer Größten, die zu uns sprechen. 
Freund und Feind ruhen friedlich beieinander. Die Gelegenheiten, bei 
denen gesprochen wird, sind außerordentlich verschiedene. Auch das, 
was gesprochen ist, ist nach allen Richtungen hin ganz verschieden je 
nach der Art der Gelegenheit, nach dem Wesen des Gelehrten, nach der 
Größe der Persönlichkeit. Für jeden Leser ist das Buch außerordentlich 
lehrreich. Wir hören von vielen dieser großen Männer, wie sie zu ihrer 
Wissenschaft standen, von einzelnen erfahren wir ihr Verhältnis zu den 
letzten Fragen des Lebens — dazu ist in wissenschaftlichen Abhand- 
lungen kaum je (Gelegenheit gegeben. Und noch mehr! So manchen 
unserer großen Vorgänger und Vorbilder können wir ins Herz sehen. 
Ja wir gelangen zu einer Vorstellung, wie sie waren. Eine Reihe vor- 
trefflichen Bilder unterstützt das auf das allerbeste. Ich erinnere z. B. 
an die Bilder von Schoenlein, Oppolzer, Wunderlich. Von 
den beiden großen Leipziger Klinikern Oppolzer und Wunderlich 
hörte ich als Kind und als junger Mensch in meiner Vaterstadt noch 
viel sprechen und erzählen: über den fabelhaften Einfluß, den die Güte 
OÖppolzer’s auf die Menschen ausübte, über die imponierende Gröte 
von Wunderlich. Können wir das nicht nachfühlen nach diesen 
Bildern und diesen Reden? Wie heben sich die eisige, alles überragende 
Höhe von Helmholtz und die herzenswarme Klarheit Pettenkofers 
voneinander ab! Ich verdanke dem schönen Buche Ebstein's viel und 
rate zahlreichen Arzten und allen Privatdozenten es zu lesen. Wir 
werden gehoben, wenn wir diesen Männern nachzufolgen suchen. In 
Not und Elend dieser Zeit sind wir stolz auf diese Geschichte und von 
Herzen dankbar für sie. ‚Krehl. 


Besprechungen. 377 


2. 


Prof. Dr. Josef Kyrle, Vorlesungen über Histo-Biologie 
der menschlichen Haut und ihrer Erkrankungen. 
I. Band. Mit 222 zum großen Teil farbigen Abb. [IX +345 S.] 
Jul. Springer Berlin, 1925. Pr. 45,— M., geb. 47,70 M. 


Das Buch ist aus Vorlesungen entstanden und in der Form nieder- 
geschrieben, wie sie sich dem Verf. beim Unterricht als zweckmäßig er- 
wiesen hat. Es beschränkt sich nicht allein auf die histologische Morpho- 
logie, sondern zieht stets auch allgemeinpathologische Fragen in Betracht 
in dem Bestreben, hierdurch die trockene Materie der Histo-Pathologie 
der Haut belebter und damit zugleich auf den Schüler tiefer wirkend zu 
machen. Jede Vorlesung setzt sich demnach aus zwei Teilen zusammen: 
einem mehr allgemeinbiologischen und einem, der in der Demonstration 
histologischer Präparate besteht. 

Auf diese Weise ist ein Werk zustande gekommen, daß zwar kein 
Lehrbuch der Histo-Pathologie der Haut im gewöhnlichen Sinne ist, das 
aber für die Verbreitung bistologischer Bildung unter den Dermatologen 
vielleicht mehr leisten wird, auf jeden Fall mehr leisten kann als das 
gründlichste, alle morphologischen Einzelheiten berücksichtigende Hand- 
buch. Es ist ein Buch, das man wirklich von Anfang bis Ende durch- 
lesen kann ohne zu ermüden. Ich möchte es deshalb geradezu als die 
Aufgabe des Referenten betrachten, diejenigen dermatologisch interessierten 
Kollegen auf das Buch nachdrücklich hinzuweisen, denen weniger daran 
liegt, über bestimmte wissenschaftliche Einzelfragen etwas nachzuschlagen, 
sondern vielmebr eine lebendige Anschauung von der Histologie der er- 
krankten Haut und damit ein vertieftes und geläutertes Verständnis ihrer 
pathologischen Vorgänge zu gewinnen. Es wäre lebhaft zu wünschen, 
da8 das Buch auch in die Hände recht zahlreicher dermatologischer 
Praktiker käme; man kann sich keine Histologie der Hautkrankheiten 
denken, die besser hierzu geeignet wäre. Die didaktischen Absichten des Verf. 
werden unterstützt durch einen, zum großen Teil farbigen Bilderschmuck, 
der in der bisherigen dermatologischen Weltliteratur ohne Beispiel ist. 

Der bis jetzt vorliegende erste Band enthält nach einer Einleitung 
über die Histo-Biologie der gesunden Haut die Pigmentanomalien, die 
Atrophien und Hypertrophien, die Pilzkrankheiten und die durch tierische 
Parasiten bedingten Erkrankungen der Haut. Es ist daraus zu entnehmen, 
daß dem zweiten Bande hauptsächlich die Dermatitiden und die Tumoren 
der Haut vorbehalten sind. (Siemens, München.) 


3. 


Dr. Erwin Pulay Wien. Ekzem und Urtikaria. Klinik, Patho- 
genese und Therapie. [XI 1918.) Berlin u. Wien, Urban 

und Schwarzenberg 1925. Pr. geh. 7,50 M., geb. 9,30 M. 
Im Vorwort sagt der Verf., daß es ihm nicht so schr darauf an- 
kam, die vielen bestehenden Abhandlungen über die Symptomatologie des 


378 Besprechungen. 


Ekzems um eine neue Darstellung zu vermehren, sondern daß es viel- 
mehr sein Bestreben war, das Ekzemproblem von den verschiedensten 
Seiten aus zu beleuchten, da weder die einseitige Betrachtung der Morphe, 
noch auch die der ätiologischen Gesichtspunkte allein die Lösung dieses 
Problems bringen könnte. Diese Absicht mache es auch verständlich. 
daß sich Verf. — neben manchen gesicherten Tatsachen — noch viel 
auf hypothetischem Boden bewegen müsse. 

In den einzelnen Kapiteln des Buches behandelt Verf. zuerst die 
Symptomatologie und Atiologie der Ekzeme, geht näher auf die Arbeiten 
Weidenfelds, Blochs und Lewandowskys ein, bespricht die Be- 
deutung der nervösen Einflüsse, des Elektrolytstoffwechsels, der Allergie 
und des Zusammenhangs mit inneren Störungen (Kohlehydrat-, Purin- 
stoffwechsel, Magen-Darmstörungen, Mineralstoffwechsel, innere Sekretion). 
In zwei weiteren Kapiteln erörtert er Klinik und Pathogenese der Urti- 
karia; in einem umfangreichen Schlußkapitel behandelt er die Therapie 
des Ekzems. 

Die Art, in der Verf. den in Rede stehenden Problemen entgegen- 
tritt, möge durch Wiedergabe einiger seiner Schlußsätze angedeutet sein. 
Die Ekzembereitschaft besteht in einer Überempfindlichkeit der Epidermis 
und der sensiblen Nervenendigungen. Die Ursache der nervösen Uber- 
empfindlichkeit ist in der Regel in abnormen Stoffwechselvorgängen zu 
suchen. Die Sensibilisierung der Haut kann durch exogene und endogene 
Reize bedingt sein. Endogene Reize setzen als Reaktion: bei Über- 
empfindlichkeit des Gefäßsystems Urtikaria, bei Überempfindlichkeit 
epidermidaler Zellen Dermatitis, bei Überempfindlichkeit sensibler Nerven- 
endigungen Pruritus, bei Überempfindlichkeit von Epiderm plus Nerven- 
zelle Ekzem. Ekzem resultiert nur, wenn früher einmal „primäres 
Ekzem“ bestanden hat; dieses aber ist Folge exogener Traumen (Kratzen). 
Letzten Endes sind Ekzem und Urtikaria Zustandsänderungen des Zell- 
eiweißes. Die Überempfindlichkeit, also die erhöhte Reizbarkeit, wurzelt 
im Zellgedächtnies. 

Die empirischen Unterlagen für solche Hypothesen sind, wie Verf. 
schon im Vorwort andeutet, oft gering, zum mindesten außerordentlich 
auslegungsfälhig. Wenn man aber auch deshalb dem Verf. oft nicht wird 
folgen wollen, so kann man doch manche Anregung aus seinem Büchlein 
schöpfen, 

Den Schluß bildet ein 23 Seiten starkes Literaturverzeichnis. 

(Siemens, Munchen ı 


4. 


Prof. Dr. Wilhelm Neumann, Privatdozent an der Universität Wien, 
Vorstand der II. med. Abteilung des Wilhelminenspital. Die 
Klinik derbeginnenden Tuberkulose Erwachsener. 
Ill. Das Heer der nicht tuberkulösen Apizitiden 
und der fälschlich sogenannten Apizitiden. Mit 
‘2 Textabbildungen. Verlag v. Julius Springer, Wien 1925. 
Der dritte Band der beginnenden Tuberkulose Erwachsener bringt 
eine eingehende Differentialdiagnostik und sucht damit eine Lücke zu 


Bespreenungen. 379 


füllen, die nicht nur in unserer Literatur sehr. fühlbar ist, sondern vor allem 
such im Bereich des Könnens und Wissens unserer gesamten Ärzteschaft, 
die sich fast auf Schritt und Tritt gerade mit der Diagnose der be- 
gionenden Tuberkulose herumzuschlagen bat. Die damit an die Arzte- 
schaft als Ganzes herangetragene Aufgabe ist aber ebenso schwierig wie 
unabweislich und so ist es geradezu verhängnisvoll, daß ein gesichertes 
Können der Allgemeinheit für ihre Beantwortung noch nicht zu Gebot 
steht. Meinung steht hier gegen Meinung und die Urteile weichen nur 
allzuoft in einer für den Kranken und die Behörden geradezu uner- 
träglichen Weise voneinander ab. Wir stehen eben in einer Übergangs- 
zeit, in der eine neue Forderung erst allmählich auf Grund einer natur- 
gemäß zunächst vielfach irrenden Erfahrung ihre endliche, praktisch 
einigermaßen ausreichende Befriedigung finden wird. 

Unter diesen Umständen ist es ein besonderer Wert des Neymann- 
schen Beitrags, daß in ihm in erster Linie eine reiche, selbständige, 
eigene Anschauung und Erfahrung in glücklicher Weise zu Wort kommt, 
Theorien aber ihr gegenüber zurücktreten. Es ist klar, daß das letzte 
Wort immer der genauesten Beobachtung des Tatbestandes zufällt, und 
daß Theorien gerade in solchen Übergangszeiten nur soweit Wert zu- 
zubilligen ist, als sie die Beobachtung aufs neue an die Tatsachen ver- 
weisen, die ja immer viel reicher sind, als die zu Ordnungszwecken ver- 
einfachten theoretischen Darstellungen. Es gilt übrigens allgemein, daß 
der praktische Wert einer neuen Auffassung sich nahezu ganz in dem in 
ihr liegenden Hinweis auf bisher übersehene Tatbestände und Zusammen- 
hänge erschöpft, und in ihrer Forderung vermehrter Genauigkeit und 
Vollständigkeit der Untersuchung, die sich so leicht in einseitigen Geleisen 
einfährt. Der Reichtum des neu erbauten Bildes an bisher Übersehenem, 
für das nun die Augen geöffnet sind, gibt der Forschung die Grundlage 
zu einer Bewegung, in der sich immer mehr und mehr Neues in den 
Bereich des lebendigen Wissens eingliedern kann. Der Feind dieser 
Lebensbewegung der Wissenschaft ist überall das tote Schema als Wahn- 
system, das die Augen nicht öffnet, sondern schließt und das, was auch 
dann noch nicht passen will, dem Prokrustesbett mit dem Beil des 
Fanatikers anpaßt. 

Neumann’s Arbeit zeigt in allen Teilen, daß der Verfasser mit 
offenen Augen auf die Tatsachen blickt, und daß er diese offenen Augen 
an einem außergewöhnlich reichen Material gut verwendet hat. Man 
spürt dabei als Reichsdeutscher wohl schon etwas von der noch wesent- 
lich größeren Häufigkeit der Tuberkulose in den österreichischen Landen, 
ein Vorteil, um den man den Wiener Kollegen allerdings nicht beneiden 
wird. Dieser Reichtum der persönlichen Anschauung wird nun überall 
sorgfältig geordnet, soweit das eben heute schon möglich ist. Wo dazu 
ein Schema verwendet wird, ist es mit Glück lebendig und beweglich 
und damit anpassungsfähig an das tatsächlich Beobachtete erhalten worden. 

Der abschließende dritte Teil gliedert sich in zwei Abschnitte, in 
die Schilderung von Lungenkrankheiten, die als Krankheitsbild im ganzen 
einer beginnenden Lungentuberkulose ähneln, und in die Besprechung 
des diagnostischen Wertes derjenigen Einzelsymptome, die allein für sich 
schon häufig zur Annahme einer Lungentuberkulose verleiten „obwohl die 


380 Besprechungen. 


genaue Untersuchung der Lungen gar keine diesbezüglichen Verände- 
rungen erkennen läßt“. Der erste Abschnitt umfaßt die Tumoren und 
die nicht tuberkulösen chronischentzündlichen Krankheiten der Lungen 
und Bronchen. Im zweiten Abschnitt werden Hämoptoe, chronische Fieber- 
zustände und chronische Abmagerung nichttuberkulöser Natur, die nicht- 
tuberkulösen Spitzendämpfungen, dann Brustschmerzen und andere hervor- 
stechende Symptome ähnliche Art besprochen. 

Im ersten Abschnitt sind eine große Anzahl sehr interessanter 
Krankengeschichten mitgeteilt, die zum Teil seltene und doch praktisch 
wichtige Beobachtungen enthalten. Etwas zu kurz für ihre Reichhaltig- 
keit sind die Ausführungen über die chronische Bronchitis geraten. Auf 
nicht ganz neun Seiten (!) sind die chronische Influenza, die Bronch- 
ektasien, die chron. Bronchitis der Alkoholiker, eine Amöbenbronchitis, 
chron. Jlalaria, Typhusbronchitis, die Pneumonokomiosen, darunter das 
Ursolasthma, die Porzellanerlunge, Ultramarinablagerungen, dann die 
Bronchitis obliterans, eine ganze Anzahl Tumoren usw., schließlich noch 
die „Restbronchitiden“ und, demgegenüber auffallend breit, die Verände 
rungen des Lungenbefundes bei Pharyngitiden, die Schluck- und Schulter- 
geräusche abgehandelt. Das kann naturgemäß nicht viel mehr sein als 
eine Aufzählung für den, der das alles schon genau kennt, wird aber 
der Bedeutung der chronischen Bronchitis für die Differentialdiagnose 
gegen Tuberkulose gewiß nicht gerecht. Es fehlt sogar eine Be- 
schreibung der klinischen Erscheinungen der chronischen Bronchitis 
und ihrer Unterscheidung gegen die Lungentuberkulose. Auch das Asthma 
mit seinen mehrseitigen Beziehungen zur Tuberkulose bedarf dringend 
einer eingehenderen Darstellung, als es — auf den letzten Seiten des 
zweiten Abschnittes — gefunden hat. Es wird wohl besser sein, es in 
späteren Durcharbeitungen gleich zur chronischen Bronchitis zu stellen 
und mehr die klinische Beobachtung zu Worte kommen zu lassen. 

Das nunmehr abgeschlossene Buch behandelt die beginnende Tuber- 
kulose Erwachsener stellenweise noch allzusehr unter der ganzen Arzte- 
generationen älterer Dezennien gewohnten Suggestion, daB die Tuber- 
kulose des Erwachsenen in der Lunge beginnen müsse. Das spricht sich 
unter anderem auch in ihrer Gleichsetzung mit „Apizitis“ aus. Diese 
letztere Bezeichnung wird allerdings mehrfach als falsch bezeichnet. Da 
sie aber nicht nur falsch, sondern auch außerordentlich häßlich und ein 
im allgemeinen deutschen Sprachgebiet ungebräuchliches Wiener Idiotikon 
ist, so sollte ein Buch von so hohem Wert für die gesamte deutsche 
ärztliche Wissenschaft es besser ganz fallen lassen. Es scheint mir besser 
es „totzuschweigen* und so der verdienten Vergessenheit anheimfallen 
zu lassen, als es durch so häufige Erwähnung in einem so guten und 
wichtigen Werk zu verewigen. 

Soll das Buch sich seinem Titel die Klinik der beginnenden Tuber- 
kulose Erwachsener wirklich anpassen, so müßte der zweite Teil, der unter 
dem Titel „Der Formenkreis der Tuberkulose“ ausschließlich „Die Formen 
der Lupgentuberkulose* behandelt, doch noch um ein wesentliches erweitert 
werden. So wie es jetzt vorliegt, ist es eine sehr vollständige Schilde- 
rung der beginnenden Lungentuberkulose des Erwachsenen. Als solche 
ist es aber eine Leistung von hohem Rang und ausgesprochener Eigenart 
und kann allen Interessenten aufs wärmste empfohlen werden. ‚Ranke. 


G Patz’sche Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H.. Naumburg a. d. 5. 


DEUTSCHES ARCHIV 


KLINISCHE MEDIZIN 


VON 


Pror. AUFRECHT m BerLın, Pror. BAEUMLER ın FREIBURG, Pror. BOSTRÖM IN GIESSEN, 
Peor. BRAUER ın Hausurg, Pror. CURSCHMANN ın Rostock, Pror. FÜRBRINGER ın BERLIN, 
Pror. GRAFE IN WORZBURG, Pror. HIRSCH 1N Bonn, Pror. HIS m BERLIN, Pror. v. JAK SCH IN 
Prag, Pror. v. KETLY m BuparesT, Pror. KRAUS m BERLIN, Pror. KREHL ı HEIDELBERG, 
Pror. LICHTHEIM rx Bern, Pror. MATTHES mm KÖNIGSBERG, Pror. E. MEYER IN GÖTTINGEN, 
Pror. MORAWITZ m Lerzia, Pror. MORITZ m Körn, Pror. F. MÜLLER IN MOncHEn, Pror. 
L. R. MÜLLER m ERLANGEN, Pror. O. MÜLLER IN TOBIngen, Pror. v. NOORDEN In FRANKFURT, 
Peor. PENZOLDT m ERLANGEN, Pror. ROMBERG m MOncHeEn. Pror. RUMPF m Bonn, Pror, 
SAHLI m Bern, Pror. SCHREIBER m KöOnıgsBers, Pror. F. SCHULTZE m Bons, Pror. 
SCHWENKENBECHER IN MARBURG, Pror. STEPP m Jena, Pror. STINTZING mn JENA, PROF, 
H. STRAUB m GREIFSWALD, Pror. VOIT Ix Giessen, Pror, VOLHARD m HALLE 


REDIGIERT 


VON 


Dr. L. KREHL Dr. F. MORITZ 
PROF. DER MEDIZINISCHEN KLINIK PROF. DER MEDIZINISCHEN KLINIK 
IN HEIDELBERG IN KÖLN 
Dr. F. MÜLLER UND Dr. E. ROMBERG 
PROF. DER II. MEDIZINISCHEN KLINIK PROF. DER I. MEDIZINISCHEN KLINIK 
IN MÜNCHEN IN MÜNCHEN 
152. Band 


Mit 28 Abbildungen und 25 Kurven im Text 


LEIPZIG 


VERLAG VON F.C. W. VOGEL 
1926 


Inhalt des einhundertzweiundfünfzigsten Bandes. 


Erstes und Zweites Heft 
ansgegeben im Juli 1926. 


Reiche, Anaemia perniciosa im Setolge sehr Ber ner Erkran- 
kungen . 
Hansen u. Goldhofer. Über Popillenungleichheit und vegetative Asymmetrie 
bei Postencephalitis : 
Günther, Konstitutionstypen der Tdiosynkrakie, (Mit 1 Abbildung) 
Hanser, Vom Aneurysma dissecans der Aorta 
Becher u. Herrmann, Studien über das Verhalten der Xanikonrotöinreaktion 
im enteiweißten Blut unter normalen und pathologischen Verhältnissen 
Piney, Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik bei der 
Beurteilung gefärbter Blutausstriche. (Mit 2 Abbildungen) . 
Besprechungen: 
1. Heubner, Affekt und Logik in der Homöopathie (Hanee 
2. Hansen, Zur Theorie der Narkose (Hafner). . . 
3. Pincussen, Mikromethodik (Felix) . 
4. London, Experimentelle Physiologie "und ` Pathologie der Ver- 
dauung (Felix) : 
5. Fürth, Lehrbuch der physiologischen "und pathologischen Chemie in 
75 Vorlesungen (Felix) . . 
6. Noeggerathu. Eckstein, Die Urogenitalerkrankungen der Kinder. 
Störungen und Erkrankungen der Harnbereitung und der Geschlechts- 
sphäre, sowie ihrer Organe (Kielleuthner) . Be A 


Drittes und Viertes Heft 


ausgegeben im August 1926. 
Schliephake, Zur Kenntnis der a unE auf den menschlichen Blut- 
kreislauf. (Mit 9 Abbildungen) . 


Wiechmann u. Horster, Studien über experimentelle Toiéktionskrankheiten. 
(Mit 1 Kurve) Se 


Hermanns, Über den Ueprung: der Ehrlich’schen Diaz: Reaktion f 
Delhougne, Untersuchungen über die Magensaftsekretion. (Mit 2 kiren 
Stenström, Einige Bemerkungen über spontanes hypoglykämisches Coma 


Krahn, Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose“ (p: Leu- 
kämieform?). (Mit 2 Abbildungen im Text) en 

Benjamin, Einige Beobachtungen an Scharlachkranken . 

Zinsser, Zur Frage, ob das Insulin beim Gesunden auf die Aussc DENDIS von 
Gesamtstickstoff, Aminosäurenstickstoff und kupferoxydreduzierende Sub- 
stanzen im Harn einen Einfluß hat FE ar u 


108 


110 


113 


136 
153 
106 
173 


179 
202 


219 


— IE — 


Uehlinger, Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herz- 
klappen zum spezifischen Muskelsystem. (Mit 5 Abbildungen). 
Kubasch, Beitrag zur Chemie des Sputums . 
Besprechungen: 
1. Strümpell +, Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie der 


inneren Krankheiten für Studierende und Arzte (Müller) . as 
2. Bergmann u. Staehlin, Handbuch der inneren Medizin (Müller) 


Fünftes und Sechstes Heft 
ausgegeben im Oktober 1926. 


Mehlin, Über akute use Arteriitis der Pulmonalarterie. (Mit 6 Ab- 
bildungen) . Bi 

Curschmann u. Bachmann, Ü ber den respiratorischen Stoffw aie bei Bern: 
ziöser Anämie. (Mit 2 Kurven) . 


Schott, Über experimentelle Beeinflussung der Form Mes Ektora torunn 
(Mit 10 Kurven) 


Lange, Die Gestalt der Blutkapillaren bei inertne Mit 3 Abbildungen) 
v. Bernuth, Über Kapillarbeobachtungen bei Ampu und anderen hämor- 
rhagischen Diathesen . . 
Westphal u. Blum, Die Rhödntherapie des gemien arteriellen Hoch- 
drucks und ihre theoretische Begründung. (Mit 5 Kurven). 
Marx, Untersuchungen über den Wasserhaushalt. (Mit 5 Kurven). 
Besprechungen: 

1. Cushing, The Life of Sir William Osler ( Wenckebach) . 

2. Voelcker u. Ledderhose, Chirurgische Erkrankungen und Ver- 
letzungen der Harnorgane. Pels- Leusden, Chirurgische Erkran- 
kungen und Verletzungen der männlichen Geschlechtsorgane (Kiel- 
leuthner) EN 

3. Leyser, Herzkrankheiten und Psychosen (Rombery) 

4. Renner, Schlafmittel (Hafner). . 

b. v.d.Veldenu.W olff, Einführung in die Pharmakotherapie (Huffner) 

6. Martin, Anthropometrie (Kämmerer). 


Vom Büchertisch der Redaktion . 


Aus dem Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Barmbeck. 


Anaemia perniciosa im Gefolge sehr protrahierter typhöser 
Erkrankungen. 
Von 


Prof. Dr. F. Reiche. 


Der vor Jahren veröffentlichten Beobachtung, daß eine bei 
einem 46jährigen Manne in mensa bestätigte echte perniziöse 
Anämie aus einer chronischen Dysenterie entstand!), schließen 
sich in weiterem Sinne drei Fälle an, in denen das typische Syndrom 
jener perniziös-anämischen Veränderungen ein typhöses Leiden 
begleitete. Nur daß ihr Bild hier ein sehr viel akuteres war und 
bei der Sektion noch sichere Zeichen des Typhus vorlagen, während 
bei unserem Ruhrpatienten die aus einem Rückfall der Krankheit 
entwickelte, durch zwei Bluttransfusionen in ihrem Verlauf nur vor- 
übergehend aufgehaltene Anämie erst nach rund 3 Jahren ihren 
letalen Abschluß fand und bei der Autopsie Residuen der vorauf- 
gegangenen bazillären Dysenterie nicht mehr aufgedeckt wurden; 
mit behobener Krankheitsursache bildeten sich hier nicht, wie etwa 
bei manchen schweren Bothriocephalusanämien, die Blutverände- 
rungen zurück, und wir müssen in der Deutung dieses Falles nicht 
nur an eine erstmalige Wirkung der bakteriellen Toxine des Grund- 
leidens auf das Blut und die hämopoetischen Organe bei vor- 
handener Disposition denken, sondern auch weiterhin an die den 
Achlorhydrien jeder ausgeprägten Ruhr verknüpften langdauernden 
Magendarmstörungen. 

Von jenem drei Kranken habe ich den ersten vor mehr als 
13 Jahren — noch auf meiner Abteilung im Krankenhause Eppen- 
dorf — den zweiten vor fast 11'/, Jahren — im Krankenhause 
Barmbeck — behandelt; erst der jüngst auf meine Station auf- 


1) Jahreskurse f. ärztl. Fortbild. 1923, Sept. 
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 152. Bd. 1 


2 REICHE 


genommene dritte schloß sie aus seltensten, völlig isolierten und 
anfänglich jedes Vergleichs ermangelnden Einzelbeobachtungen 
trotz mancherlei Verschiedenheiten im jeweiligen Verlauf zu einem 
einheitliche Züge tragenden Ganzen zusammen. 

Die Krankengeschiehten, auf das Wesentlichste gekürzt, lauten: 


I. Carl N., 61 Jahre, aufgen. 29. VIII. 1912. Als Kind Kalt- 
wasserfieber, sonst stets gesund. Erkrankte vor 4 Wochen mit „In- 
fluenza*, nachdem er vorher schon einige Zeit Mattigkeit verspürt und 
durch seine Blässe aufgefallen war. Abmagerung und Kräfteverfall, in 
letzter Zeit auch Durchfall. Keine Schmerzen. Wegen Geschwulst in 
der Milzgegend auf der chirurgischen Abteilung aufgenommen. 

Während der Beobachtungstage dortselbst bis 7. IX. 1912 wurden 
tägliche Temperatursteigerungen bis zuböchst 38,7°, tiefe Blässe, Hämo- 
globinverminderung und ein großer harter Milztumor festgestellt. Zur 
inneren Abteilung. 

7. IX.: Tiefe gelbliche Blässe, geringer Ernährungszustand, 43,5 kg. 
Knochen nicht druckempfindlich. Im Augenhintergrund beiderseits 
multiple kleinere und größere Blutungen, Herzdämpfung ein wenig nach 
links verbreitert. Spitzenstoß in der Papillarlinie im 5. Interkostalraum. 
An der Spitze und am 5. Punkt neben dem 1. Ton ein leises blasendes 
Geräusch; 2. Pulmonalton verstärkt. Leib etwas aufgetrieben, Umfang 
78 cm, Leber bis fast zur Nabelhöhe vergrößert, unterer Rand 20 cm 
unterhalb der Brustwurze, ist ziemlich scharf, nicht druckempfindlich. 
Die glatte, harte stumpfrandige Milz ragt tief ins Abdomen, mißt im 
längsten Durchmesser unterhalb des Rippenbogens 20 cm. Stuhl ge- 
bunden, braun, frei von Blutspuren; keine Wurmeier. Urin o. B., auch 
Urobilin und Urobilinogen nicht vorhanden, im Zentrifugat vereinzelte 
Leukocyten. Temperatur 37,5—38,2°. DBilutrot: 37°/,, rote Zellen 
1820000, weiße Zellen 2200. Färbeindex 1,02. Wassermann’sche 
Reaktion negativ. Blutdruck: 123 Hg.. 

8. IX.: Erythrocyten 1852000, weiße Zellen 2600; unter 500 
36 °/, neutrophile Polymorphnucleäre, 52,8°/, Lymphocyten und 10,8“, 
Stabkernige, 0,4%, Basophile und auf diese Zahl 12 Normo- und 
4 Mikro- und 2 Megaloblasten unter den Erythrocyten. Letztere sind 
zum Teil stark polychromatophil und zeigen starke Poikilocytose und 


Anisocytose, viel Megalocyten. Unter den Lymphocyten überwiegen die 
kleinen. 


9. IX.: Erythrocyten 1974800, weiße Zellen 3200, darunter 59°, 
Lymphocyten. Hämoglobin 37 °/,, Färbeindex 0,95. 

11. IX.: Temperatur bislang dauernd zwischen 36,9—38,6 °., 
Erythrocyten 1931200, weiße Zelle 2800, auf 500 werden 7 Normo-, 
6 Mikro- und 4 Megaloblasten gezählt. Hämoglobin 36 °/,, Färbeindex 
0,93. Stuhl fest, braun. Urin o. B. Puls 84—92. 

14. IX.: Erythrocyten 1960000, weiße Zellen 3000. Die mit 
20 ccm Blut aus einer Armvene angelegten Agarmischplatten bleiben 
steril. 1 Stunde nach nach einem Probefrühstück wird nur ganz wenig 
alkalischer schleimiger Mageninhalt ausgehebert. Puls 92—108. 


Anaemia perniciosa im Gefolge sehr protrahierter typhöser Erkrankungen. 3 


16. IX.: Körpergewicht unverändert, 43,5 kg. Temperatur immer 
zwischen 36,9 und 38,4°, Stuhl regelmäßig, geformt. Weber’'sche Probe 
wiederholt negativ. Urin frei. Hb-Gehalt des Blutes: 36 J Leuko- 
cyten 4400, Erythrocyten 1887520, Färbeindex 0,95. 

22. IX.: Hb 36°/,, Färbeindex 0,96. Leukocyten 4800, darunter 
58,7%), Lymphocyten, 41°), Neutrophile und 0,3 °;, Basophile. Erythro- 
cyten 1870000, auf 5000 weiße Zellen 8 Normo-, 2 Mikro- und 6 Megalo- 
bla-ten. 

l. X.: Körpergewicht 44,5 kg. Puls 112—132. Temperatur 
36,5—38,4, einmal 39,8%. Stuhl leicht obstipiert; Weber’sche Blut- 
probe stets negativ. Urin dauernd ohne Eiweiß, Urobilin und Urobi- 
linogen. Die Leukocytenwerte bewegten sich zwischen 2800 und 4800. 
Miliz- und Lebergröße unverändert. Im Augenhintergrund zahlreiche 
Blutungen. Die Therapie besteht in steigenden Arsendosen. 

10. X.: Leukocytenmenge 1400. Milzgröße unverändert. Tempe- 
ratur 36,4—38,7°. 

27. X.: Knöchelödeme. Gewicht 46 kg. Hb-Menge 30 °/,, Erythro- 
cyten 780000. Leukocyten 3800. Dauernd starke Poikilo- und Aniso- 
cytose, viel Megalocyten; Färbeindex 1,92. Urin immer eiweißfrei, 
Stuhl geformt. 

31. X.: Temperatur 37—39,2°. Auf den Lungen diffuse bron- 
chitische Geräusche. Uber allen Herzostien, am lautesten über der 
Pulmonalis systolische Geräusche, Puls weich, regelmäßig, 126—154. 
Stuhl fest, leichte Obstipation. Weißes Blutbild: 63°, Lymphocyten, 
37°, Neutropbile, darunter 6,7 °/, Jugendformen, auf 500 weiße Zellen 
8 Normo- und 12 Megaloblasten. 

6. XI.: Im Urin Urobilinogen und Spuren Eiweiß. Leukocyten- 
menge 4000; Lymphocyten 62,6 °/,, Neutrophile 36,8 °/,, Basophile 0,6 °;,, 
auf 500 Leukocyten 10 Normo-, 2 Mikro- und 8 Megaloblasten. Leichte 
Übstipation. Zunehmende Schwäche. Milzmaße nicht verändert. Puls 
120—136. 

8. XI.: Rascher Exitus. Temperatur der letzten Zeit 37,1—38,6. 

Autopsie: Myodegeneratio cordis adiposa. Necrosis epiglottidis. 
Tumor lienis. Hämosiderosis. Pachymeningitis haemorrhagica. Im 
unteren Ileum liegen 3 größere und 3 kleinere längsgestellte an die 
Peyer'schen Plaques gebundene Geschwüre mit nicht verdicktem, glattem 
Rande und glattem, reinem Grund. Die Schleimhaut ist im übrigen dünn 
und glatt, Follikelschwellungen fehlen. 

In den mit dem Herzblut angelegten Agarmischkulturen, auf den 
mit Abstrichen von Milzparenchym und Knochenmark beschickten Nähr- 
medien wachsen Paratyphus-B-Bazillen. 

II. Wilhelmine K., 45 Jahre, aufgen. 2. VI. 1914. Nie früher 
krank gewesen, stets schwächlich. Seit 4 Monaten kränkelnd und blaß 
und unfähig zur Arbeit: allgemeine Schwäche, Zucken in den Gliedern, 
aufgeregtes Wesen. Seit 8 Tagen sehr starker, fast wässeriger Durch- 
fall. Kein Erbrechen. Die Menses haben in diesen 4 Monaten zessiert. 

2. VI.: Sehr reduzierter Ernährungszustand, 40,5 kg. Starke Blässe. 
Temperatur 38,1—39,4°. Puls 92. Blutdruck 105:50. Erythrocyten 
960000, Leukocyten 3200, Hb 25°',, Färbeindex 1,3%,. Leber leicht 

j“ 


4 REICHE 


vergrößert. Urin: ohne Urobilin und Urobilinogen, enthält Albumen und 
im Zentrifugat Leukocyten, Epithelien, hyaline und granulierte Zylinder. 
Wässeriger hellbräunlicher Durchfall; Stuhl mikroskopisch ohne Befund. 

3. VI.: Temperatur 37,2—39°. DBilutausstrich: starke Poikilocytose 
und Anisocytose, polychromasiebasophile Punktierung, Jollykörper, 
Ringkörper, Normo- und Erythroblasten ; Neutrophile 63,5 °/,, Lympho- 
cyten 33 °/,, große Mononukleäre 3 °/,, Eosinophile 0,5 °p, auf 400 weiße 
Zellen 16 kernhaltige rote und viele Megalocyten. 

4. VI.: Temperatur 38,3—39,2°. Weassermannreaktion im Blut 
negativ. Blutdruck 105:55. Hb 25°,, Erythrocyten 800 000, Leuko- 
cyten 7000, Färbeindex 1,5; Neutrophile 66 °%,, Lymphocyten 28°. 
große Mononukleäre 5 °/,, Basophile 1°/,, auf 200 Leukocyten 14 kern- 
haltige rote, z. T. sehr große Formen. Im Augenhintergrund zahlreiche 
Hämorrhagien. Im Urin geringe Eiweißmengen. Trinkt leidlich; bricht 
nicht. Der Durchfall hält an, 3—4 Entleerungen täglich, in den vom 
Stuhl am 2. VI. angelegten Drigalski-Platten sind Paratyphus-B-Stäbchen 
gewachsen. 

5. VI.: Temperatur 38,2— 41,10. Puls 112—120. Undeutliche 
Roseola.. Das vor 2 Tagen aus der Armvene entnommene Blut bleibt 
kulturell steril. Hb 25°,, Erythrocyten 1080000, Leukocyten 7400, 
ee 1,16), ; Neutrophile 58,5°',, Lymphocyten 36°;,, Mononukleäre 

59 Eosinophile 0,5°%,. Auch aus den am 3. VI. mit dem Stuhl ge- 
gossenen Platten wurden Paratypus-B-Bazillen isoliert. 

6. VI.: Temperatur 39,7—41—41,2—41,9°, kurz ante exitum. Blut- 
druck 95:50. Hb 20°/,, Erythrocyten 800000, JLeukocyten 8400, 
Färbeindex 1,25. 


Autopsie: Schwere dysenterieähnliche Entzündung des Dickdarms. 
Leber groß: Eisenreaktion. Anämie der parenchymatösen Organe. Be- 
ginnende Arteriosklerose. Ödem der weichen Hirnhäute. Lymphoid- 


mark. Mesenterialdrüsen graugelblich, weichgeschwollen, Milz klein, 
8:6:4 cm. 


III. Heinrich B., 50 Jahre, Bäckermeister, aufgen. 25. III. 1925. 
1910—1912 Gelenkrheumatismus, sonst gesund. Vor ca. 8 Monaten 
angeblich erkrankt, anfünglich längere Zeit unbestimmtes Fieber. Zu- 
nehmende Mattigkeit und Blässe, später Schmerzhaftigkeit der Zunge, 
zumal bei warmen und sauren Speisen, Appetitmangel, Gewichtsabnahme, 
häufige Verstopfung. Kein Fiebergefühl in letzter Zeit. 


25. III.: Geringer Ernährungszustand, 53 kg. Leichte gelbliche 
Blässe.. Augenhintergrund frei. Zunge glatt, Atrophie der Papillen, 
frische Glossitis. Systolisches Geräusch über der Herzspitze. Leber und 
Milz nicht vergrößert. Blutdruck: 95:45. Temperatur 38°. Puls 96. 
Im Urin eine Spur Eiweiß, kein Sedimentbefund. 


26. III. : Temperatur 37,2—38,4°. Puls 96. Erythrocyten: 1310000, 
Leukocyten 1600, Hb 42°/,, Färbeindex 1,6. Im Serum etwas mehr 
als !/, Bilirubineinheit (1:360000). Im Ausstrich: Poikilo- und Aniso- 
cytose, Megalocyten und Megaloblasten, Neutrophile 54°, , Lympho- 
cyten 44 °/,, Eosinophile 2°/,, wenig Blutplättchen. 

27. III.: Temperatur 36,5—38,3°. Puls 76—88. Die aus dem 


Anaemia perniciosa im Gefolge sehr protrahierter typhöser Erkrankungen. 5 


Armvenenblut angelegten Kulturen bleiben steril. Urin eiweißfrei. Der 
Stubl enthält keine Parasiteneier. 

28. III.: Temperatur 36,4—37,3°. Aus dem mit der Duodenal- 
sonde gewonnenen Duodenalsaft wachsen Colibazillen. Der Magensaft 
ist nüchtern leer, nach Probefrühstück freie Salzsäure 7, Ges.-Acidität 16. 

29. III. : Temperatur 36,6—37,3°. Hb 40 °/,, Erythrocyten 1 740 000, 
Leukocyten 2000, Färbeindex 1,2. 

30. III.: 37,1. Biluttransfusion von 750 ccm. Am Abend Schüttel- 
frost, Temperaturanstieg bis 39,2°. 

31. III.: Temperatur 38,7— 39,2%, Hb 46 °/,, Erythrocyten 2 080 000, 
Leukocyten 1880. Färbeindex 1,15. Neutrophile 48° , Lymphzellen 
46°, Mononukleäre 2 °%;,, Eosinopbile 4°‘. Urin frei, auch von Blut- 
farbstoff. Ri 

1. IV.: Uber dem linken Unterlappen hat sich eine Pneumonie ent- 
wickelt. Im Blut neben Poikilocytose starke Anisocytose, Megalocyten, 
Normoblasten. 

4. IV.: Unter dauernd hohen Temperaturen Exitus. 

Autopsie: Tiefe allgemeine Anämie. Schlaffes Herz. Leichte 
Haemosiderosis hepatis. Lymphoide Umwandlung des Knochenmarks. 
Ausgedehnte Geschwürsbildung im unteren Ileum. Alte tuberkulöse 
Herde in den Hilusdrüsen. Die Darmgeschwüre sind sämtlich längs- 
gestellt, an die Peyer’schen Plaques gebunden, der Grund ist gereinigt. 
Muscularis liegt frei zutage, der Rand ist vielfach leicht wallartig er- 
haben. Mikroskopisch: In der Leber Spuren von Eisen, reichlich braunes 
Pigment. In den Nieren kein Eisen, Glomeruli o. B., in den Kanilchen 
etwas Eiweißausscheidung. Milz blutreich. Follikel klein, spärlich Eisen, 
mäbig reichliche Phngocytose. Knochenmark: zellig umgewandeltes Fett- 
mark von außerordentlich dichter Zusammensetzung; mäßig reichliche 
Megakaryocyten, Myeloblasten, Myelocyten, reichlich Normoblasten und 
Megaloblasten; reichlich Eisen, teils intra- teils extrazellulär. In den 
Darmgeschwüren fehlen alle auf Tuberkulose weisenden Veränderungen, 
sie entsprechen späten typhösen Läsionen (Dr. Gerlach). 


Eine bakteriologische Untersuchung, intra vitam war die Blut- 
kultur steril und auch aus dem Duodenalsaft wurden keine Baziilen 
der Typhusgruppe isoliert, ist in letzterem Falle leider nicht p. m. 
vorgenommen worden, — so bleibt es in dieser Hinsicht unent- 
schieden, ob der anatomisch zweifelsfreie Jleotyphus durch 
Eberth’sche Stäbchen oder ebenfalls durch den Para- 
trphus-B-Baecillus bedingt war. Auch kamen serologische 
Bestimmungen der Agglutinationsverhältnisse des Blutes auf die 
Bakterien der Typhusreihe bei keinem dieser Kranken zur Aus- 
führung; sie hätten nur in Fall II nahegelegen, in dem der Para- 
typhus-B-positive bakteriologische Befund bereits i. v. erhoben, 
jedoch bei der nur wenig über 4 Tage in Krankenhausbehandlung 
gestandenen Frau erst in einem Stadium rapider Verschlechterung 
bekannt wurde. 


6 RECHE 


Bemerkenswert ist es aber, daß unser Fall III dem mecklen- 
burgischen Städtchen B. mit 5000 Einwohnern entstammte, in dem 
1924 keinerlei Typhėn nach den dankenswerten Mitteilungen der 
3 dort praktizierenden Kollegen beobachtet wurden, 1925 aber nach 
Ostern und in den Sommermonaten sich im ganzen 13 Fälle er- 
eigneten, die ausnahmslos durch die bakteriologischen Unter- 
suchungen des Landesuntersuchungsamtes als Paratyphen erkannt 
wurden. Wie weit hier ein Zusammenhang unseres Falles, wenig- 
stens mit den ersten dieser Erkrankungen vorgelegen haben mag, 
entzieht sich der Feststellung, ihn zu vermuten, sind wir berechtigt, 
da er durch viele Monate noch nicht beendeter Rekonvalescenz 
ein Lebensmittelgeschäft leitete. 


Klinisch stand allemal eine schwere perniziöse Anämie 
ganz im Vordergrund, auch bei unserer hochfiebernden Patientin, 
deren Darmentleerungen schon nach den Feststellungen am Kranken- 
bett Paratyphusbazillen beherbergten. Die Sektionen deckten es 
auf, daß sie in jedem Fall neben typhösen Darmveränderungen 
bestand. Sich auch aus ihnen entwickelte? Gerade diese Frage 
ist angesichts der extremen Seltenheit unserer Beobachtungen be- 
sonders scharfer Kritik unterworfen. Die Unsicherheit aller ana- 
mnestischen Angaben, auf die wir auch hier zum Teil angewiesen 
sind, spielt da mit hinein. Immerhin möchte ich nach Allem für 
unseren Fall II annehmen, daß eine bereits an perniziöser Anämie 
Erkrankte eine Paratyphusbazilleninfektion akquirierte, — ein 
sicher extrem seltenes, aber bei Berücksichtigung der weiten Ver- 
breitung der Paratyphusbazillen und ihres häufigen Vorkommens 
im Darm unserer Haustiere durchaus nicht unwahrscheinliches Er- 
eignis; sah Schottmüller!) doch diese Komplikation in der sehr 
viel kürzeren Zeitspanne eines Scharlachablaufs. Der uncharakte- 
ristische Anfang ihres Leidens und der durch starken Durchfall 
8 Tage vor der Aufnahme sich ankündigende Hinzutritt der dann 
schnell zum Tode führenden Darmaffektion rücken diese Wahr- 
scheinlichkeit am nächsten und voll harmoniert damit der frische 
Dickdarmveränderungen und weiche Mesenterialdrüsenschwellungen 
zeigende Sektionsbefund. Der Färbeindex war auch bei dieser 
hochfebrilen Affektion ein gesteigerter (1,16—1,5), die vorhandene 
Leukopenie blieb trotz der in den 5 Beobachtungstagen im Kranken- 
haus sich vollziehenden Steigerung der Leukocytenwerte relativ 
sehr deutlich zugegen; interessant ist, daß die Eosinophilen bei 


1) Mohr-Stachelin. Handbuch, Bd. I. 


Anacmia perniciosa im Gefolge sehr protrahierter typhöser Erkrankungen. 7 


der 2mal vorgenommenen Differenzierung der weißen Blutzellen 
nicht ganz aus dem Blute verschwunden waren, ein Verhalten, daß 
wir von den als akute Gastroenteritis ablaufenden Paratyphus- 
bazilleninfektionen kennen. Im übrigen entsprach klinisch die 
Blässe mit den zahlreichen Retinalblutungen, die auf 800000 ab- 
gesunkene Erythrocytenziffer, die erwähnte Hyperchromie des 
poikilo- und anisocytotischen Blutes mit vielen Megalocyten, Normo- 
und Megaloblasten und pathologisch-anatomisch mit Eisenleber und 
Lymphoidmark ganz der perniziösen Anämie; es mag ihrem durch 
den Paratyphus verkürzten Ablauf zuzuschreiben sein, daß der 
Herzmuskel noch nicht die charakteristische streifige Verfettung 
aufwies, 

Völlig hiervon verschieden gestalteten sich die Verhältnisse 
in den 2 anderen Fällen, von denen der eine (I) durch mehr als 
10 Wochen in unserer Beobachtung stand. Hier vertrete ich die 
Auffassung, daß sich eine in allen ihren Zügen perniciosa-ähnliche 
bzw. -gleiche Anämie nicht nur zeitlich, sondern ursächlich 
aus der ungewöhnlich hingezogen verlaufenen typhösen Erkrankung 
entwickelte. Die letztere war in ihren akuteren Stadien bereits 
abgelaufen, als der erste von diesen beiden — er wußte von einer 
unbestimmten fieberhaften Attacke 4 Wochen zuvor zu berichten, 
der Krankheitsbeginn lag nach seinen sonstigen Angaben sicher 
früher — mit bleicher Haut und Augenhintergrundhämorrhagien, 
mit Hyperchromie, starker Aniso- und Poikilocytose und megalo- 
evtotischem und megaloblastischem Blutbild ins Krankenhaus kam, 
aber ein mächtiger Milztumor war ebenso wie die bis zuletzt an- 
haltende meist abendliche leichte T'emperaturerhöhung — die auch 
dem Bilde seiner tiefen Anämie sich eingeordnet hätte — und eine 
ausgeprägte Leukopenie (bis zu 2200) als Folge des mehr chronisch 
gewordenen Paratyphus anzusehen; war auch die klinische Blut- 
entnahme steril gewesen, aus dem Herzblut der Leiche, aus Milz 
und Knochenmark wurden Paratyphusstäbchen gezüchtet, welche 
die Krankheit zusammen mit den noch nicht zur Ausheilung ge- 
langten Darmulcerationen als noch in aktiver Form vorhanden er- 
wiesen. In den Zeichen der Anämie erfolgten während der Wochen 
` im Krankenhause nur allmähliche Veränderungen, der Färbeindex 
bot wiederholt ganz wenig unter 1 stehende Werte, die Erythro- 
cyten sanken — unter der Arsentherapie in steigenden Dosen? — 
nur sehr langsam ab. Die Autopsie hatte das überraschende Er- 
gebnis, daß eine Reihe typischer typhöser Ileumgeschwüre noch 
zugegen war, die mit glatt gereinigtem Grunde an ihre sonstige 


8 REICHE 


Beschaffenheit in der 4. und 5. Krankheitswoche eines Typhus er- 
innerten. 

Dieses glich dem Sektionsbefund bei unserem III. Kranken 
mit ebenfalls echter klinischer — nur das Fehlen von retinalen 
Blutungen sei erwähnt — perniziöser Anämie, die durch den sehr 
erhöhten Färbeindex von 1,6, schwere Form- und Größenver- 
änderungen der auf 1310000 abgesunkenen roten Zellen, Megalo- 
cyten und Megaloblasten und verringerte Blutplättchen als solche 
charakterisiert war und Colibazilleneinwanderung in den oberen 
Verdauungstraktus bei starker Hypochlorhydrie darbot. Er deckte 
bei dem anscheinend seit langem fieberlosen Mann ohne Milztumor, 
aber mit ungewöhnlich starker (1600 —2800) Leukopenie sehr zahl- 
reiche völlig gleichartige Ulcera ilei neben Iymphoidem Knochen- 
mark, schlaffem Myokard und leichter Hämosiderosis auf. War für 
jenen Fall (I) durch die lange klinische Beobachtung eine mit 
mindestens 3'/, Monaten weit über den normalen Heilungsverlauf 
typhöser Darmulcerationen sich hinziehende Dauer sicher erwiesen, 
so ist damit eine Brücke geschlagen zu Fall IIl, in dem eine noch 
sehr viel längere torpide lentescierende Persistenz der Geschwüre, 
ein in dieser geringen Heilungstendenz weit mehr den Ulcerationen 
in den tieferen Darmabschnitten — so bei der Dysenterie — 
gleichendes Verhalten als wahrscheinlich angenommen werden muß. 
Der anfängliche Typhus lag wohl schon 8 Monate zurück und viele 
Monate vor Beginn der zuerst durch die Hunter’sche Zunge sich 
verratenden Anämie. Ob auch hier noch lebende Keime bis zu- 
letzt zugegen waren, ist leider nicht untersucht worden, die vor- 
handene Armut an Leukocyten läßt dies als Möglichkeit zu, die 
sehr verschiedene Beteiligung der Milz bei Vergleich mit unserem 
I. Falle könnte dagegen verwertet werden. Es besagt in dieser 
Hinsicht wenig, daß das Blut klinisch kulturell steril geblieben 
war, bedeutungsvoller ist, daß aus dem Duodenalsaft nur Coli- 
bazillen wuchsen. | 

Jedenfalls gibt es nach diesen unseren Beobachtungen typhöse 
Infektionen von derartig protrahiertem Ablauf, und es ist mir 
durchaus wahrscheinlich, daß in ihnen, und zwar am wahrschein- 
lichsten durch Vermittlung langdauernder Toxin- 
wirkungen, ein Grund gegeben ist für die Entwicklung perniziös- 
anämischer Blutalterationen, ganz nach Analogie anderer sekundärer, 
von den essentiellen oder besser kryptogenetischen perniziösen 
Anämien nicht oder kaum sich unterscheidender schwerster perniziöser 
Blutentartungen nach subakuten bakteriellen Erkrankungen; Len- 


Anaemia perniciosa im Gefolge sehr protrabierter typhöser Erkrankungen. 9 


hartz!) erwähnt in mancher Hinsicht auffällig mit dem Bild der 
perniziösen Anämie übereinstimmende Alterationen bei langdauernden 
Kokkeninfektionen, Golubow?) sah progressive perniziöse Anämie 
aus Sepsis im Anschluß an eine binnen 8 Monaten letal endende 
gemischte Infektion von den oberen Atemwegen aus hervorgehen, 
sehr perniziosaähnliche Blutveränderungen durch über Monate sich 
hinziehende Endocarditis sind bekannt und wurden wiederholt von 
uns bis zum letalen Ende verfolgt. Auch die jetzt viel verfochtene 
Theorie der intestinalen Entstehung der Biermer’schen Krank- 
heit rechnet schließlich mit Bakteriotoxinen als kausalen Faktor. 
In unseren Fällen, gerade bei T'yphen, rückt die von Fraenkel 
nachgewiesene Einschwemmung und lange Haftung der Erreger 
im Knochenmark unter Bildung von Nekrosen ohne celluläre 
Reaktionen uns eine Erklärungsmöglichkeit für die Schädigung der 
blutbildenden Gewebe und des Blutes nahe, mehr aber noch als 
diese Annahme solcher direkten lokalen Bakterienwirkung läßt 
sich die Hypothese stützen, daß die sich bei jedem Typhus in 
einer gehemmten Genese und damit veränderten Ausschwemmung 
von Granulocyten dokumentierende, mit einer lähmenden Aktion 
der Typhustoxine erklärte Insufficienz des Knochenmarks (Naegeli) 
sich bei sehr langem Bestehen der Krankheit auch in schweren 
und irreparablen Beeinträchtigungen der Erytlıropoiese zu äußern 
vermag. Im gewöhnlichen Bilde selbst schwerster Typhen tritt 
eine so hochgradige Beeinträchtigung nicht hervor, — einfache 
anämische Zustände begleiten sie in der Regel, deren langsames 
Ausgeglichenwerden nur hin und wieder auffällt: nach Cursch- 
mann?) hatte es sich bisweilen selbst in 7 Wochen nach ab- 
gelaufenem Fieber noch nicht vollzogen. In solcher Hinsicht stehen 
unsere Beobachtungen isoliert da. Es ist nach unseren bisherigen 
unzureichenden Kenntnissen von der Ätiologie der „Kryptogenen“ 
Biermer’schen Anämie ebenso möglich, daß bei jenen Kranken 
von vornherein eine Disposition zu ihr vorgelegen haben mag, wie 
auch, daß bei verzögerter Krankleitsdauer eine anfängliche an 
sich einfache, aber doch höhergradige infektiöse Anämie die sonst 
gewöhnlich in 5—6 Wochen beendete Epithelisierung der Typhus- 
geschwüre und die Überwindung des bazillären Infekts nicht zu- 
stande kommen ließ und nun im Circulus vitiosus das blutbildende 
Knochenmarksgewebe immer nachhaltiger toxisch beeinflußt wurde. 


l) Nothnagel's Handb. Bd. VII. 
2) Zentralbl. f. inn. Med. 9. 1913. 
3) Nothnagels Handb. Bd. V. 


10 REICHE 


Aber auch diese Form der protrahierten Typhen bzw. 
Paratyphen hat kaum Parallelen. Als atypische Verlaufsart wird 
vom Typhus ein über Monate selbst sich hinschleppendes, durch 
Komplikationen nicht erklärtes nicht sehr hohes hektisches Fieber 
von Schottmüller erwähnt, der es bis über 95 Tage sich er- 
strecken sah; dann aber erfolgte klinische Heilung, während in 
unseren beiden Fällen die lethale perniziosaähnliche Blutentmischung 
sich ausgebildet hatte, neben der bei dem einen bis zuletzt fiebernden 
Mann ein mächtiger Milztumor sich fand, bei dem anderen allem 
Anschein nach seit langer Zeit bereits Apyrexie bestand: und beide 
Male saßen noch unverheilte Typhusulcerationen im [leum und bei 
dem einen bakteriologisch untersuchten Patienten gelang der Nach- 
weis weit noch im Körper verbreiteter Paratyphuskeime. Eine 
derartig unter uns unbekannten Bedingungen verzögerte Heilung 
läßt uns Beobachtungen wie die Schottmüller’s verstehen, sie 
selbst wird nicht durch sie erklärt. Etwas näher liegt unseren 
Fällen der von Freund?) veröffentlichte, einen Paratyplius be- 
treffend, welcher mit hohem stark remittierendem, erst gegen Ende 
allmählich niedriger werdendem Fieber sich bis zum 183. Tage 
hinzog und bei seiner Entlassung am 205. „abgesehen von einer 
mäßigen Anämie“ fast zur Norm sich zurückgebildet hatte. Je- 
doch auch hier besteht eine große Differenz in dem schließlich 
benignen Ausgang der Krankheit und der fehlenden tiefen und 
irreparablen Schädigung des Blutes. 

Die von F. Meyer?) aus dem Felde mitgeteilten Beobach- 
tungen über chronischen Typhus und Paratyphus seien der Voll- 
ständigkeit halber erwähnt, wenn auch die afebrilen und undulierend 
subfebrilen sowie die periodisch fieberhaften Verlaufsformen durch 
ihren Fieberablauf nicht minder wie durch den Mangel mancher 
sie charakterisierender Begleitsymptome, Kopfschmerzen, Schlaf- 
losigkeit, Appetitlosigkeit, rheumatischer Beschwerden, Schienbein- 
schmerzen, und den gutartigen Gesamtverlauf bei fast immer nor- 
malen Leukocytenwerten gewichtige Verschiedenheiten boten, auclı 
die betonte auffallende Blässe nur in einer Herabsetzung des Hb- 
Gehaltes und in Zeichen einer sekundären Anämie ihre Begründung 
fand. Gleiches gilt von Krehl’s auf dem Internen-Kongreß in 
Warschau gemachten Bemerkungen über atypische Verlaufsbilder 
der Typhen — daß die Milz in diesen oft bis zu erstaunlich hohen 


l) Dtsch. Arch. f. klin. Med. CVH, 1912. 
2) Münch. med. Wochenschr. 35, 1918. 


Anaemia perniciosa im Gefolge sehr protrabierter typhöser Erkrankungen. 11 


Graden sich vergrößert zeigte, sei im Hinblick auf unseren Fall I 
herausgehoben —, denn seine vielfach über lange Zeit, nicht selten 
Monate, und gerade bei ganz leichten Krankheitserscheinungen, 
sich erstreckenden Fälle waren nur durch ihre den Meisten neue 
Dauer bemerkensweit; und diese letztere wieder, wie auch in 
der überwiegenden Mehrzahl der Meyer’schen Fälle, war durch 
die voraufgegangenen Schutzimpfungen der Kriegsteilnelimer erklärt. 

Die unter dem klinischen und anatomischen Bilde 
des Abdominaltyphus ablaufende Form der sehr ver- 
schielener Äußerungen fähigen Paratyphusbazilleninfektionen 
zeichnet sich gemeinhin durch schwächeres Ausgesprochensein der 
Symptome und der Neigung zu Komplikationen, durch sehr viel 
niedrigere Letalität und somit weit bessere Prognose aus, — es 
ist um so bemerkenswerter, daß wir gerade bei ihr diese über 
Monate sich hinzögernden und selbst in so langer Zeit anatomisch 
nicht zur Ausheilung gelangenden Ablaufsformen und einen Über- 
gang in eine schwere unaufhaltsame letale Störung der Erythro- 
poiese feststellen konnten, sowohl in unserer einen bakteriologisch 
gesicherten als auch in der anderen nur epidemiologisch wahr- 
scheinlich gemachten Beobachtung von Paratyphus abdominalis; 
dab die Paratyphen trotz der im Vergleich mit den Typhen durch 
Eberth’'sche Bazillen größeren Benignität durchweg den Organis- 
mus schwer affizieren, hatten Meslay und Coville?) schon unter 
Hinweis auf die langen nach ihnen notwendigen Rekonvalescenzen 
behauptet. 


I Gaz. des höpit. LXXX. 51. 


12 


Aus der Medizinischen Klinik Heidelberg. 


Über Pupillenungleichheit und vegetative Asymmetrie bei 
Postencephalitis. 
Von 


Dr. K. Hansen und cand. med. Goldhofer. 


Häufiger, als es nach den Angaben der Literatur den An- 
schein hat, treffen wir auf postencephalitische Krankheitsbilder der 
hemilateralen Form: die Anamnese, die Klagen, der Krankheits- 
verlauf, der unmittelbare Eindruck des Kranken verraten schon 
unzweideutig den Encephalitiker, eingehendere Untersuchung be- 
stätigt die Diagnose, — aber eigentümlicherweise scheinen die 
Symptome auf eine Körperseite beschränkt, jedenfalls auf einer 
Körperseite auffallend viel deutlicher ausgeprägt als der anderen: 
nicht immer rechts und links so scharf geschieden wie bei folgen- 
dem Patienten (J.): 

Der linke Arm schlenkert während des Gehens rhythmisch mit, 
der rechte steht, wie aus Wachs geformt, leblos am Rumpf und 
hebt sich nur auf Aufforderung langsam, unfrei, wie von einer 
unpersönlichen inneren Mechanik bewegt, und doch zielsicher je 
nach der gewählten Aufgabe. Versucht man den rechten Arm 
passiv zu bewegen, so ist es, als ob man einen Stab durch zäh- 
fiüssigen Teer durchführen müsse. Am linken Arm ist nichts von 
dieser Rigidität zu spüren. Und ähnlich verschieden sind linkes 
und rechtes Bein. Die Mimik des linken Gesichtes spricht, lächelt 
und erschrikt usw., — über dem rechten Antlitz liegt eine un- 
heimliche Ruhe, eine zur unpersönlichen Grimasse erstarrte Be- 
wegungsarmut, belebt nur durch eine sprechende Wärme des Auges. 
Aber das Auge scheint in Tränen zu ruhen, während das linke 
nur den feuchten Glanz notwendiger und gewöhnlicher Benetzung 
hat. Am rechten Rockaufschlag und an der Weste sind Spuren 
feuchter Flecken; und wenn nicht ein Taschentuch der Mund ver- 


Über Pupillenungleichheit und vegetative Asymmetrie bei Postencephalitis. 
l i ) l < 


birgt, kann man gelegentlich sehen, wie ein Speicheltropfen aus 
dem rechten Mundwinkel abfließt und zu jener Benetzung des An- 
zuges Anlaß wird usf. 

Nicht in allen Fällen ist das Bild so kraß, rechts gegen links, 
oft sind nur Unterschiede dem Grade nach, immer aber in den 
hier gemeinten Fällen deutlich, auffallend. 

Was — in einem anderen größeren Zusammenhang — unser 
besonderes Interesse an diesen Patienten erzwang, war das Ver- 
halten der Pupillen. Bei allen hier zu schildernden Patienten des 
„Halbseitentypus“ fanden wir trotz normaler Refraktion und intakter 
Augenmuskelleistung, prompter Licht- und Konvergenzreaktion stets 
eine Pupillenungleichheit mit weiterer Pupille auf der erkrankten 
Seite. Wir meinen nicht eine wechselnde Anisokorie, nicht eine 
springende Mydriasis, die wir wie Cords (2), Heß (6), Pette (13), 
Westphal(15) u.a. bei akuter Encephalitis beobachten konnten; 
die in dieser Mitteilung beschriebenen Kranken boten seit Monaten 
und Jahren ein völlig stationäres Krankheitsbild, und da- 
mit mag wohl auch die Konstanz des Pupillenbefundes zusammen- 
hängen. Wir haben die Kranken während vieler Wochen, manche 
sogar während Monaten und Jahren beobachtet und immer den 
gleichen Befund erheben können. Dabei ist für die Prüfung der 
Pupillenweite wohl zu beachten, daß gleiche Belichtungsstärke für 
beide Augen sowie gleicher Lichteinfallswinkel (Hoche (7)) ge- 
geben sind, daß keine Refraktionsanomalien, keine lokalen Augen- 
erkrankungen vorliegen (Corneatrübungen, Linsentrübungen usw., 
Synechien usw.) Die beobachtete Differenz beträgt gewöhnlich 
"„—1l mm für den Pupillendurchmesser, manchmal auch 1'/,, ja 
2 mm. Undeutliche Unterschiede werden bei Fernakkommodation 
und Dunkeladaptation deutlich. 

Die Verknüpfung von Mydriasis und extrapyramidalen Symptomen 
der gleichen Seite bei Abwesenheit sonstiger Augenstörungen legt 
es nahe, die Pupillenstörung in einen etwas weiteren funktionellen 
Zusammenhang einzuordnen als in den der isolierten Sphinkter- 
kernläsion, der für Pupillenstörungen bei der Encephalitis gewöhn- 
lich verantwortlich zu machen ist. Die Pupillenweite, als Erfolg 
einer abgestuften und ausgeglichenen Beziehung zweier korrespon- 
dierender Wirkungen des autonomen Nervensystems, veranlaßte für 
die genannten Fälle eine eingehendere Prüfung der Leistungen des 
autonomen Nervensystems, die sich, vergleichend zwischen rechts 
und links, auf folgende Funktionen erstreckte: Schweißsekretion, 
Salivation, Tränensekretion, Piloerektion, Gefäßinnervation, Rigor 


14 HaNsEN u. GOLDHOFER 


und Tremor. Die Ergebnisse sind tabellarisch geordnet (siehe 
Tabelle), doch sind vor ihrer Betrachtung einige methodische und 
prinzipielle Anmerkungen zu machen: 


Die Beobachtung erfolgt am unbeeinflußten Patienten, so wie er 
sich der ärztlichen Untersuchung darbietet. Es hat sich jedoch als 
zweckmäßig berausgestellt, in mehreren Fällen die vegetativen Funktionen 
durch Darreichung von sog. vago- bzw. sympatbicotropen Giften zu 
steigern: durch subkutane Injektionen von 1 mg Adrenalin hydrochlor., 
l ceg Pilocarpin hydrochlor.; erst danach wurde häufig eine latent be- 
stehende Differenz der vegetativen Funktionen von rechter und linker 
Seite manifest. 


Die Schweißsekretionen beurteilten wir — makroskopisch — 
in Hinsicht auf Zeit des Eintritts nach der Injektion und auf Stärke der 
Schweißabsonderung. Durch Bestimmung des elektrischen Hautwider- 
standes („relativer Minimalwiderstand* Sahlı (14)) — konstanter gal- 
vanischer Strom, unpolarisierbare ZnSO, Elektroden von je 1 cm Durch- 
messer — wurde die Beurteilung ergänzt. Salıvation: ebenfalls ein- 
fache Beobachtung. Tränensekretion: ebenfalls einfache Beobachtung. 
— Eine wertvolle Ergänzung bedeuten die Angaben der Patienten über 
allfällige vermehrte Hautfeuchtigkeit einer Seite, relative Trockenheit der 
einen Mundhälfte, vermehrte Feuchtigkeit des einen Auges. — Pilo- 
erektion: bestehen Unterschiede zwischen rechts und links dem Grade 
nach, so läßt sich auch für gewöhnlich ein Unterschied in der Dauer, 
besonders aber im Zeitpunkt des Beginnes der Piloerektion nach Pilocarpin- 
gabe feststellen. Gefäßinnervation: sie drückt sich aus in der Haut- 
röte, der Hautwärme, dem Blutdruck (s. u... Nur bei deutlich sicht- 
und fühlbarem Unterschiede wurde für die beiden ersteren eine Ver- 
schiedenheit als bestehend anerkannt. Dabei untersuchten beide Ver- 
fasser unabhängig und gelangten ausnahmslos zu der gleichen Beurteilung. 
Auf eine quantitative Bestimmung der Hautwärme haben wir verzichtet, da die 
zuverlässige Methode von Siemens- Halske (Widerstandsthermometer) wegen 
der relativ raschen Verschiebung der Hauttemperatur unserer Patienten, 
die Messung der Wärmestrahlung nach Cobet u. Bramigk(la) 
wegen noch unbehobener technischer Schwierigkeiten der Methode nicht 
anwendbar waren. — Gewisse Einwände drängen sich auf für die Be- 
wertung von Blutdruckdifferenzen zwischen rechts und links. Mehrfach 
beobachtet (Goldstein (5), Kahler (9), u. a.), sind sie insbesondere 
von Golant-Ratner (3, 4) als Zeichen einer „Äsymmetrie der vege- 
tativen Innervation“ betrachtet worden. Gesetzt, daß infolge einer ver- 
schiedenen Stärke der Gefäßinnervation Veränderungen der Arterien- 
spannung zwischen rechter und linker Seite aufträten, so ist darum aus 
mechanischen Gründen noch nicht zu verstehen, wieso auch der Druck 
der eingeschlossenen Blutflüssigkeit an entsprechenden Stellen verschieden 
sein soll rechts gegen links; Druckdifferenzen würden in einem geschlossenen 
Röhrensystem sogleich ausgeglichen werden. Die differenten Manometer- 
werte auf veränderte Muskelspannungen der die Arterie umgebenden 
Muskeln zu beziehen geht nicht für alle Fälle an (Kahler und Soll- 
mann (9)), da auch unabhängig von den Muskelspannungen differente 


Uber Pupillenungleichheit und vegetative Asymmetrie bei Posteneephalitis. 15 


„Blutdruckwerte“ bei cerebralen Läsionen gefunden sind (Goldstein (5)). 
Keine Schwierigkeit besteht hingegen, die relative Hypertension einer 
Seite zu beziehen auf den erhöhten Gefäßtonus dieser Seite, der bei der 
Messung nach Riva-Rocci stets mitgemessen. wird. 

Kurzer Auszug aus den Krankengeschichten. 

1. J. Beginn September 1923. Chronischer Verlauf: langsame Zu- 
nahme der Symptome bis Ende 23. ‚Jetzt charakteristisches Bild: Be- 
wegungsarmut des rechten Armes sowie des rechten Beines. Rigor, 
feinschlägiger Tremor, rechts; Speichelfluß stets aus rechtem Mundwinkel: 
„Trockenheit der linken Mundhälfte*. Amimie rechts; links kaum. Ge- 
ringe Intelligenz, keine Arbeitslust; apatisch. 

2. D. Beginn 1920 mit hohem Fieber, Doppelsehen, Schlafsucht. 
Nach Rückbildung des akuten Schubs leichte Ermüdbarkeit; seit 1923 
erschwerte Bewegung des linken Beins, Zittern im linken Bein, ebenso 
im linken Arm. Speichelfluß; fast völlige Amimie des ganzen Gesichts, 
Salbengesichtt. Gute Intelligenz, große Arbeitslust,e Auf Hyoscin 
Besserung. 

3. Z. Beginn März 1920 mit Fieber, Doppelsehen, Schlaflosigkeit, 
Unruhe, choreatischen Zuckungen, letztere hauptsächlich im rechten Arm. 
Später Schlafsucht. — Jetzt ganz charakteristisches Bild mit Betonung 
der rechten Seite. 

4. H. Juni 1924 Beginn mit Schlafsucht, bald Besserung und 
Arbeitsfähigkeit. Nach drei Monaten zunehmende Steifheit des linken 
Arms, der auch seither während des Gehens nicht mehr sthlenkerte. 
Steifer Gang, linkes Bein schnell ermüdbar, vermehrter Rigor gegen 
rechts. Facialisschwäche links. 

5. Sch. Beginn 1920 mit Schlafsucht und Doppelsehen, linksseitig 
gelähmt. Lähmung und Sehstörung nach vier Monaten zurückgegangen. 
Ein Jahr zu Bett, jetzt charakteristisches Bild mit vermehrtem Rigor 
links, keine Paresen, keine Pyramidenzeichen, keine Sensibilitätsstörungen. 

6. Ku. Beginn 1918 mit Fieber, Schlafsucht, Kopfschmerzen, 
Doppelsehen. Besserung nach einem halben Jahre bis zur Arbeitsfähig- 
keit. 1922 Bewegungsverlangsamung, hauptsächlich der rechten Seite. 
Zunehmend bis zu völliger Arbeitsunfähigkeit. Charakteristisches Bild 
mit vermehrtem Rigor rechts. 

7. Ke. September 1918 beim Militär angeblich an „Genickstarre“ 
erkrankt. Mai 1919 bemerkt Patient bei der Arbeit öfters Zittern des 
rechten Armes, das mehrere Stunden anhält. Dies Zittern ist nie ganz 
geschwunden, macht sich aber seit Oktober 1924 stärker und störend 
bemerkbar. Befund Januar 1925: starres Gesicht ohne Mimik, dauernder 
Tremor des rechten Armes, Rigidität der rechten oberen und unteren 
Extremität. Keine Pyramidenzeichen. Facialisschwäche rechts, Kon- 
vergenzschwäche. 

8. E. Februar 1920 langsamer Beginn mit Zittern im rechten Arm, 
zunehmend bis September 1924; bei Aufregungen verstärkt, erhebliche 
zentrale Schwerhörigkeit rechts. Rigor rechts, vermehrte Tränensekretion 
rechts. Keine Pyramidenzeichen. 

9. Sa. Beginn April 1920 mit Fieber, Schlafsucht, Doppelsehen, 
Steifheit im ganzen Körper (sehr schweres Bild). Geringe Besserung 


16 Hansen u. (fOLDHOFER 


Juli 1920; immerhin seither fast völlige Bewegungsarmut, sehr starkes 
Zittern, Speichelfluß usw. Rigor und Zittern rechts stärker als links, 
bei Aufregungen besonders ausgeprägt, ebenso während der Menses. — 
Besserung durch Hypnose s. u. 

10. Wa. Beginn 1918 mit Verwirrtheitszustand, Schlafsucht, Lähmung 
der rechten Seite, seither Bewegungserschwerung, verringerte Kraft im 
rechten Arm, Zittern. Leidet zunehmend unter seinen Beschwerden. 
Januar 1925 typisches postencephalitisches Bild mit Rigor und Zittern 
rechts. Objektiv sind Paresen nicht nachweisbar, linke Seite frei. Gute 
Intelligenz. Ebenfalls auffallende Besserung nach Hypnose s. u. 

Bei Patient H (4) und K (7) bestand noch eine Facialisschwäche, 
bei K (7) außerdem eine Konvergenzschwäche. Sonst waren jedoch in 
keinem der genannten Fälle Muskelparesen, Sensibilitätsstörungen, Pyra- 
midenzeichen nachzuweisen. 


Ergebnis. 


Aus der Tabelle ersieht man, daß bei allen angeführten Patienten 
außer der Pupillenungleichheit eine Störung in den Funktionen des 
autonomen Nervensystems vorliegt und zwar im Sinne der Un- 
gleichheit rechts zu links. Wenn eine Mydriasis rechts besteht. 
so sind Schweißsekretion, Tränensekretion, Salivation, Piloerektivn. 
Gefäßtonus, Rigor und Tremor der gleichen rechten Seite vermehrt 
gegenüber links und entsprechend Hautwiderstand, Hautröte und 
Hautwärme rechts herabgesetzt. Nicht in allen Fällen sind alle 
vegetativen Funktionen gleichmäßig gestört; auch ist die Ver- 
schiedenheit nicht immer gleich deutlich. Aber immer sind ın 
allen Fällen die Funktionsstörungen einer Seite gleichsinnig: Über- 
erregbarkeiten des sympathischen bzw. Untererregbarkeiten des 
parasympathischen Systems. Wie bereits erwähnt, lassen sich die 
Verschiedenheiten einiger Funktionen erst durch Adrenalin oder 
Pilocarpin darstellen; oder eine an sich schon deutliche Differenz 
wird durch die genannten Gifte besonders hervorgehoben. 

Das prinzipielle Ergebnis ist in allen Fällen gleich oder ähn- 
lich: Bei allen besteht eine bilaterale vegetative Asym- 
metrie, d. h. eine Ungleichheit des Verhaltens der effektorischen 
Organe des vegetativen Nervensystems zwischen rechts und links. 
im Sinne einer mehr oder weniger deutlichen allgemeinen einseitigen 
Übererrerbarkeit des sympathischen bzw. Untererregbarkeit des 
parasympathischen Nervensystems. 

Da wir für einen bestimmten Erregungszustand eines autonomen 
Effektors — etwa die Pupille — aber nicht ohne weiteres ent- 
scheiden können, inwieweit er Folge einer Erregung des Agonisten 
‘oder einer Hemmung des Antagonisten oder einer reciproken Inner- 


Über Pupillenungleichheit und vegetative Asymmetrie bei Postencephalitis. 17 


vation beider ist, möchten wir für die genannten Fälle jedenfalls 
von einer Verwendung der Begriffe Sympatikotonie und Vagotonie 
absehen und sie ersetzen durch den Begriff des Sympathiko-Vago- 
quotienten, oder kurz des autonomen Erregungsquotienten, der 
innerhalb einer gewissen Reaktionsbreite bei Gesunden in der Ruhe- 


lage gleich 1 ist il und für gewöhnlich auch auf beiden 
el elel TE PEET Sy _ . Sy 
Seiten gleich ist: re y, = li va’ 


Die geschilderten Befunde bei der Postencephalitis würden 
danach also bezeichnet werden können als bilaterale Asym- 
metrie des autonomen Erregungsquotienten. 

Die als Horner’sches Syndrom bei Schädigung des Halssym- 
pathicus bzw. des Cervikalmarks bekannte Trias hat Möbius (11) 
durch Hinzufügung der Störungen von Hautwärme und Hautröte 
erweitert; Minor (10) hat entsprechende Beobachtungen in großer 
Zahl bei traumatischen Affektionen des Halssympathikus mitgeteilt. 
Nicht gesetzmäßige Differenzen in den vegetativen Funktionen 
beider Körperseiten bei Hemiplegien sind von Nothnagel, 
Charcot, Bikeles und Gerstmann (1) [Schweißsekretionen 
auf der gelähmten Seite] u. a. mitgeteilt worden (Oppenheim (12)). 
Aber erst Golant-Ratner (3)(4) haben den Begriff einer Asym- 
metrie der vegetativen Innervation eingeführt und zwar auf Grund 
ihrer Befunde bei Otosklerose, Tuberkulose und Tetanie. Wir 
achten seit Jahren auf eine solche allgemeine bilaterale Asymmetrie 
bei nicht nervösen inneren Krankheiten entsprechend den in diesen 
Fällen sehr häufig nachweisbaren Pupillenditferenzen. Eine all- 
gemeine vegetative Asymmetrie hat sich jedoch in keinem von uns 
beobachteten Fall einer nicht neurologischen inneren Erkrankung 
mit befriedigender Sicherheit nachweisen lassen. Unter den vielen 
hundert untersuchten Patienten haben wir 25, die besonders ge- 
eignet schienen in der gleichen Weise durchgeprüft wie die ge- 
schilderten 10 Postencephalitiker, jedoch nie eine gesetzmäßige 
deutliche Differenz in den vegetativen Funktionen von rechter und 
linker Seite gefunden. Die geschilderten Befunde an Postencephaliti- 
kranken hingegen sind eindeutig und dürfen wohl — auch im 
Sinne Golant-Ratner’s — als Ausdruck einer „Asymmetrie der 
vegetativen Innervation“ (Erregbarkeit) betrachtet werden, wobei 
allerdings zu bedenken ist, daß in den hier geschilderten Fällen 
als Grundlage der Störung eine anatomische Veränderung (klein- 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 2 


18 HaAnsEN u. GOLDHOFER 


LJ.” | T aLa | LD2 
vo. | Ai 


i. normal > 
2. nach Adrenalin 0.001 >+ 
3. nach Pilocarpin 0,01 g > 


Schweißsekretion: 
1. normal 
2. Adrenalin 
3. Pilocarpin | paa 
Hautwiderstand: !) | 
l. normal | 3300 3800 N 2600 | 1500 
2. Adrenalin 2800 |, 3300 | 1900 
| 
| 


Pupillenweite: Hi | | 


3. Pilocarpin : 725 ; 1100 
Tränensekretion: 


1. normal ` i 
2. Adrenalin | | | 
3. Pilocarpin | 
Salivation: 
i. normal 
2. Adrenalin 
3. Pilocarpin 


| 
| 
Piloerektion: 


Hirn 


1. normal 
2. Adrenalin 


3. Pilocarpin | H~n +w 


Gefäßinjektion: 
l. normal > nn In 
2. Adrenalin | | > 

3. Pilocarpin | | 


Hautwärme: | | | 
1. normal > m nm | ON nm 
2. Adrenalin >>, | | | 
3. Pilocarpin er | 

Blutdruck : °) | | 
l. normal 158 140 | 134 134 112 | 
2. Adrenalin 184 | 164 | 134 I 134 | ' | 
3. Piloearpin | | 


Rigor: i 
l. normal > | | | 
2. Adrenalin | ++ | 


3. Pilocarpin 


Tremor: | | | | 
1. normal | + 0 0 + 0 + 0,0 | 
2. Adrenalin ++| 0 0 ++ 0 ++ 0 +H, 
3. Piloearpin ++ 0 > | 


1) In Ohm. 


Über Pupillenungleichheit und vegetative Asymmetrie bei Postencephalitis. 19 


8 E.F 932 O IOW 


3, Sh. 9 | 6. Ku. 9 7. Ke. 4 | 
w: l | re | li re | li re li > re ; li | re | li 
| 
| = 
| > D Ap N 
! | | +~ +~ 
>> 92 F 
3470 | 3470 | 4600 4600 3000 4000 5450 |, 5450 
| | | 
| | 
Ze. > > | | 
= | T Sies F | 
| | 
n 
| | | 2’ | | jede 
O | früher | | 
| als _ | 
| links | | 
| | | a 
| >>| | 2? 
früher 

| als | 

| | | ‚links Ä 

| | | 

T S 2 a ~ yo o> o 
| 2 
| | | 
| | 
| m m > | > Ay MA S wN ~ 
Dr Ä 
Ä ~ >w 
t ' | ! 

! i ; vok | | 
130. 180 148 148 ° 120 : 120 144 140 | 136 , 130 
Ww 186 : 184 ; 166 146 146 | 154 ; 154 | 110 9 

| | ' ' . | 
| | | 
$ p > ©) > Ser A J 
| 
fi | | ' ' 
0 00 0, 4j 0l 0b + 0 
Oi +i +t 0 ++ pO e O | + 0 


440 
2 in mm Hg Csystolisch). a 


20 Hansen u. (iOLDHOFER, Über Pupillenungleichheit usw. 


zellige Infiltration) in der Gegend der benachbart liegenden vege. 
tativen Centren einer Seite anzunehmen sei (8) (8a). 


Zusammenfassung. 


Bei 10 Postencephalitispatienten werden Störungen der vege- 
tativen Funktionen beschrieben, die immer im Sinne einer ein- 
seitigen Übererregbarkeit des sympathischen bzw. Untererregbarkeit 
des parasympathischen Nervensystems miteinander verknüpft sind. 
Dadurch entsteht ein Symptomenkomplex, der als bilaterale 
vegetative Asymmetrie bezeichnet werden kann. Eine be- 
stehende Pupillenungleichheit ist als Ausdruck dieses Symptomen- 
komplexes aufzufassen. 


Nachtrag. 


Bei Pat. S. (9) erzielten wir jedesmal nach tiefer Hypnose eine 
24—48 Stunden anhaltende auffallende Besserung des Tremors so- 
wie des Allgemeinbefindens. Komplizierte, m. E. durch den Tremor 
gestörte, Bewegungsabläufe wie Flechten der Zöpfe, Führung der 
Nadel zu Handarbeiten, Einführen des Schlüssels ins Schlüsselloch, 
kurz, eine Reihe der zu den genannten Handlungen nötigen Be- 
wegungen, die sonst völlig unmöglich schienen und waren, gelangen 
für die genannte kurze Zeit (24—48 Std.) befriedigend. Eine 
länger dauernde Wirkung der Hypnose war bei dieser Patientin 
mit sehr schwer gestörtem Organbefund nicht zu erreichen. 

Bei Pat. W.(10) erzielten wir durch Hypnose eine solche an- 
haltende Besserung des Tremors, Rigors und des subjektiven Be- 
findens, daß Pat. als „geheilt“ entlassen worden ist. Er teilt mit, 
daß sein guter Zustand sich gehalten hat. 


Literatur. 


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bet u Bramigk, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 144, S. 45, 1924. — 2. Cords, 
Zentralbl. f. d. ges. Augenheilk. 8, S. 225, 1021. — 3. Golant-Ratner, klin. 
Wochensehr. 3, S. 1666, 1924. — 4. Dies., Ebenda $, S. 1549, 1925. — 5. Gold- 
stein, Münch. med. Wochensehr. 65, S. 65, 104, 1918. — 6. Heß, Ebenda 68. 
Ss. 481, 1921. — 7. Hoche, Difterentialdiagnose zwischen Epilepsie und Hysterie. 
Hirsehwald, Berlin 1902. — 8. Jakob. Extrapyramidale Erkrankungen. Springer, 
Berlin 1923. — 8a. Lewy, Tonus. Springer, Berlin 1923. — 9. Kahler u. Soll- 
mann, Wien. med. Wochenschr. 36, 5. 883, 1923. — 10. Minor, Zeitschr. f. d. 
ges. Neurol. u. Psychiatrie 85, S. 482, 1923. — 11. Möbius, Berlin. klin. 
Wochenschr. 1884, S. 231. — 12. Oppenheim, Lehrbuch, VIIL Aut. S. 1055. 
1097, 1250 ff., 1923. — 13. Pette, Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. 76, S. 1. 1925. 
— 14. Nahli, Lehrbuch d. klin. Untersuchungsmethoden 6. Auti., Bd. I. S. £, 
1913. — 15. A. Westphal, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 68, S. 226, 1921. 


21 


Aus der medizin. Klinik der Universität Leipzig. 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 


(Zugleich ein Beitrag zur Frage der experimentellen Über- 
tragung der Arzneimittel-Idiosynkrasie.) 
Von 


Prof. Dr. Hans Günther. 
(Mit 1 Abbildung.) 


Das Problem der Arzneimittelidiosynkrasie war abgesehen von 
häufigen dermatologischen Beschreibungen öfters Gegenstand der 
Anaphylaxieforschung, entbehrt aber noch einer zusammenfassenden 
klinischen Bearbeitung besonders bezüglich der Frage der kon- 
stitutionellen Disposition. Eine solche Bearbeitung fordert zugleich 
eine persönliche theoretische Stellungnahme zum Problem der 
Anaphylaxie. 

Der Zustand der Idiosynkrasie äußert sich in eigentüm- 
lichen krankhaften Erscheinungen, welche durch ganz spezifische 
Reize, meist bestimmte Eiweißkörper, ausgelöst werden nicht im 
Sinne einer krankhaft gesteigerten Empfindlichkeit („Überempfind- 
lichkeit*) gegen diese Reize, sondern als Ausdruck einer „Anders- 
empfindlichkeit“. „Idiosynkrasie ist der Zustand eines Organismus, 
der auf bestimmte Reize mit einer Reaktion antwortete, welche bei 
normalen Organismen auf diese Reize überhaupt nicht erfolgt.“ 
Nach dem jetzigen Stande der Anaphylaxieforschung ist (nach der 
Bearbeitung von Seligmann und v. Gutfeld) Anaphylaxie 
eine gesetzmäßige Erscheinung, die durch geeignete Vorbehandlung 
beijedem Vertreter einer Spezies ausgelöst werden kann, während 
dieldiosynkrasie eine anormale Reaktion darstellt, welche an- 
geblich keiner Sensibilisierung bedarf. Eine theoretische Klar- 
stellung ist damit noch nicht erreicht. Es ergibt sich die Frage, 
ob die Idiosynkrasie ein von der Anaphylaxie völlig verschiedener 


22 (GÜNTHER 


Vorgang ist, oder ob sie etwa einen besonderen anaphylaktischen 
Zustand auf einer anormalen konstitutionellen Basis darstellt. 
Diese Frage ist von der Anaphylaxieforschung noch nicht gelöst 
worden. Gegen die mir wahrscheinliche Annahme, daß die Idio- 
synkrasie eine auf Grund einer anormalen konstitutionellen Disposition 
auf oft unbekannte Weise erworbene Anaphylaxie darstellt, hat die 
Anaphylaxieforschung keine Beweise erbracht. Die anormale kon- 
stitutionelle Disposition kann natürlich familiär oder hereditär sein. 
Ich kann daher die gegenseitige Ausschließung der Begriffe Idio- 
synkrasie und Anaphylaxie nicht anerkennen, welche in der Definition 
liegt: „Die Anaphylaxie ist eine gesetzmäßige, erworbene, kon- 
ditionelle Eigenschaft, die Idiosynkrasie ist ein abnormes, ererbtes, 
Konstitutionelles Phänomen.“ 

Die begriffliche Deutung der Anaphylaxie hält sich zunächst 
auf induktivem Wege an die äußere klinische Symptomatologie von 
Vorgängen, deren inneres Wesen uns noch ein Rätsel ist. Die 
Konstitutionsforschung ist geneigt, den umgekehrten deduktiven 
Weg zu gehen, um die Phänomene im Rahmen der Ganzheit ver- 
stehen zu lernen. Ich gehe aus von der grundlegenden Definition, 
daß „Konstitution“ die Ordnung der den Organismus be- 
stimmenden biologischen Faktoren ist (1). Ferner bezeichnete ich 
a. a. O. (2) als wichtige biologische Tatsache „die Erhaltung 
individueller Konstanten bei der Integration der morphologischen 
und physiologischen Wesenkonstitution im fortschreitenden Lebens- 
prozeß“. Als Beweis dafür führte ich die anaphylaktische Reaktion 
nach parenteraler Einverleibung von fremdem Eiweiß an. „Der 
anaphylaktische Shock bei der Reinjektion zeigt einen energischen 
und komplizierten Abwehrkampf gegen diese exogene Gefährdung 
der Konstitution an, da der Organismus unbedingt seinen individuellen 
Eiweißbestand gegen Verunreinigungen durch fremde Elemente 
schützen muß. Es gelingt dies auf dem Umwege der Bildung von 
„Antikörpern“, deren Bindung an das Fremdeiweiß wohl unter 
gleichzeitiger Adsorption der lipoiden Schutzkolloide zum Abbau 
und daher zur Elimination des Fremdeiweißes führt. Dieser Prozeß 
ist allerdings mit dem Auftreten von giftigen Abbauprodukten und 
der Gefahr der Selbstverdauung des Organismus durch seine eigenen 
Proteasen verbunden. Die überschüssig gebildeten Antikörper 
können sich lange Zeit als mnemische Faktoren (1) und gewisser- 
maßen als Wächter der Konstitution im Organismus erhalten, so 
daß dieser sich noch in allergischer Umstimmung befindet. Hier 
dient also die „Umstimmung“ zur Erhaltung der Konstitution. 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 23 


Wie mit Eiweißkörpern lassen sich auch mit solchen Stoffen 
anaphylaktische Erscheinungen hervorrufen, die dem Organismus 
angehörige Eiweißstoffe körperfremd zu machen vermögen, dagegen 
gelingt es nicht, den Organismus durch Fette oder Kohlenhydrate 
in gleicher Weise, wie mit Proteinen allergisch umzustimmen, 
Daraus kann man schließen, daß Eiweißkörper das organisch- 
chemische Substrat des konstitutionellen individuellen Ordnungs- 
komplexes eines Organismus bilden, während Fette und Kohlen- 
hydrate nur als Stoffwechselmaterial in diesen Komplex eingeschaltet 
sind“ (2). Die Anaphylaxie erscheint bei dieser Betrachtung als 
ein Zeugnis von dem im Biokosmos herrschenden Gesetz der 
Erhaltung der Ordnung d. c. 3), die Idiosynkrasie als eine 
besondere Form der Anaphylaxie, welche auf Grund einer anormalen 
Disposition nur bei wenigen Individuen entstehen kann. 

Die anaphylaktische Reaktion erscheint somit als eine Funktion 
der Ganzheit des Organismus, wenn auch ihre Auswirkung 
natürlich an die Funktion gewisser Körperzellen gebunden ist. Die 
heutige Anaphylaxieforschung betont die gewebliche Lokalisation 
der anaphylaktischen Reaktion. „Der an die Gewebe fixierte Anti- 
körper bedingt Anaphylaxie, der frei kreisende Immunität. Das 
anaphylaktische Tier hat Mangel, das immune Überschuß an freien 
Antikörpern“ (Seligmann und v. Gutfeld). 

Auch für die Anaphylaxie wird, besonders von Besredka und 
Doerr, die „celluläre Natur“ der Reaktionen hervorgehoben, die 
oft durch die individuelle Eigenart der Lokalisation imponiert. Es 
ist also weniger die chemische Natur des Mittels für die Lokali- 
sation entscheidend, wenn auch nähere Beziehungen, z. B. des Jodo- 
forms zur Haut, der Ipecacuanha zu den Bronchien symptomatisch 
bekannt sind. Die individuelle Verschiedenheit der Reaktionen 
weist vielmehr auf die grundlegende Bedeutung konstitutioneller 
Faktoren hin. Jeder Arzt kennt aus eigener Erfahrung derartige 
Beispiele. Bei einem mir bekannten Chemiker hatte eine Hühner- 
eiweißidiosynkrasie eine lästige Schwellung der Lippe und Heiser- 
keit zur Folge. Auch bei kutaner Applikation zeigen solche Nahrungs- 
mittelidiosynkrasien nach Jacquelin und Richet jedesmal die 
der Person eigentümliche Reaktion, wie Diarrhöe, Ödem an be- 
stimmten Körperstellen, Urtikaria. 

Aufgabe der Konstitutionsforschung ist es nun, diese Mannig- 
faltigkeit der individuellen idiosynkrasischen Reaktionen systematisch 
zu ordnen und besondere physiologische oder pathologische Korre- 
lationen nachzuweisen. Eine gewaltige Zahl von Tierversuchen 


24 GÜNTHER 


zeigte den Experimentatoren, die sich für feinere klinische Details 
weniger interessierten, bei einer Tierart immer wieder den von der 
chemischen Konstitution des vorbereitenden Mittels unabhängigen, 
in großen Zügen einheitlichen, charakteristischen Verlauf des 
anaphylaktischen Shocks, der als eine gesetzmäßige physiologische 
Erscheinung angesehen werden mußte. Andererseits waren aber 
auch die artspezifischen Unterschiede des anaphylaktischen Shocks 
bekannt; der Meerschweinchentyp und der Kaninchentyp des Shocks 
zeigen u. a. weitgehende Differenzen. Für die experimentelle 
„physiologische“ Anaphylaxie ist also mindestens die Konstitution 
der Spezies maßgebend. Rassenunterschiede sind besonders bei der 
Präzipitingewinnung bekannt; unter den verschiedenen Laboratori- 
umstieren geben Kaninchen die günstigsten Resultate und unter 
diesen wieder sind nach Uhlenhuth die langohrigen Kaninchen 
am besten geeignet, doch bestehen nach Dold noch beträchtliche 
individuelle Unterschiede bezüglich der Eignung zur Präzipitin- 
bildung. Die klinischen Erfahrungen über Idiosynkrasie weisen 
ohne weiteres auf die Bedeutung der Individualkonstitution hin. 

Zur Ausarbeitung der Konstitutionstypen der Idiosynkrasie 
scheint mir anfänglich der Weg ungeeignet zu sein, die Idiosyn- 
krasie im allgemeinen ohne Rücksicht auf das auslösende Mittel 
zusammenzufassen. Doch liegen in dieser Richtung Versuche vor. 
Ohne Zweifel sind Idiosynkrasiker sehr oft psychisch labile, 
leicht erregbare, erethische, „neuropathische“ Individuen; genauere 
Forschungen müssen erst ergeben, ob es sich um eine gesetzmäßige 
Korrelation handelt. !) 

In der Bearbeitung von Seligmann und v. Gutfeld werden 
in Übereinstimmung mit H. Wiedemann verschiedene klinische 
Typen aufgestellt, je nachdem die Hauptreaktionen die Lunge, den 
Darm oder die Haut betreffen. Die Autoren unterscheiden 1. eine 
asthmatische Form, welche außer Asthma starke Cyanose und 
Urtikaria aufweisen kann, 2. eine gastrointestinale Form, 
welche mit Schleimhautschwellungen der Lippen, Zunge, des Darmes, 
mit Erbrechen, Durchfall und Urtikaria verlaufen kann, und 3. eine 


1) Diese Beteiligung des Nervensystems wurde in früherer Zeit, wo aller- 
dings der Begriff der Idiosynkrasie nicht so eng gefaßt war, als heute, mehr 
hervorgehoben, wie eine Definition des Bonner Klinikers Naumann (1835) er- 
kennen läbt. nach welcher die („bei zivilisierten Völkern häufiger“) Idiosynkrasie 
„eine in der Regel angeborene, bisweilen erbliche, selten erst erworbene Stimmung 
des Nervensystems, vermöge welcher dasselbe gegen einzelne der gewöhnlichen 
Lebensreize auf ganz eigentiimliche Weise reagiert“. 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 25 


„dermatogene* Form, welche außer Urtikaria auch andere Exantheme 
enthält. Die Urtikaria ist also nicht auf einen Typus beschränkt. 
Starke Fieberreaktionen scheinen den Autoren nicht bekannt zu 
sein, denn „höchstens begleiten leichte Fiebererscheinungen den 
Ausbruch“ der exanthematischen Form. 

In der Regel erstreckt sich die Idiosynkrasie auf einen be- 
stimmten chemischen Körper; zuweilen kann man bei weiteren 
Familienmitgliedern andere Idiosynkrasiearten nachweisen; selten 
kommen auch bei demselben Individuen mehrere Idiosynkrasiearten 
vor. Eine Übersicht über eine größere Zahl solcher Idiosyn- 
krasiekomplexe kann vielleicht weitere Schlüsse ermöglichen. 

Ich beschränke das zur Feststellung konstitutioneller Typen 
dienende Material zunächst nur auf die Idiosynkrasie gegen Arznei- 
mittel der Antipyringruppe, über die eine große Zahl klinischer 
Beobachtungen vorliegt. Hiergegen könnte der Einwand gemacht 
werden, daß es sich um eine besondere Auslese handele, da nur 
zu bestimmten Krankheiten Disponierte erfaßt werden. Im Beginn 
der Antipyrintherapie (1884) wurden allerdings vorwiegend Gelenk- 
rheumatismen, Hochfiebernde (Typhus, Tuberkulose) und Migräne- 
patienten behandelt. Mit dem weiteren Ausbau der pharmazeuti- 
schen Kombinationen sind aber viele die Antipyrinkomponente ent- 
haltende Mittel so sehr bei allerlei kleinen und größeren Beschwerden 
Mode geworden, daß eine besondere Auslese nicht mehr in Be- 
tracht kommt. 

Als Mittel der Antipyringruppe sind hauptsächlich zu nennen 
neben dem Antipyrin oder Phenyldimethylpyrazolon selbst, für 
welches hier das Zeichen U] eingeführt wird: 

Pyramidon= Dimethylamido-Antipyrin = O — N(CH, ),. 


Melubrin == Antipyrin-amidomethansulfonsaures Natr. 
— O — NH.(CH,)-SO,ONa. 
Novalgin == Antipyrin-methylamidosulfonsaures Natr. 
= O —N:CH,:CH,:S0,0Na. 
Salipyrin = Salizylsaures Antipyrin. 
Migränin = Antipyrin 0,85, Koffein 0,09, Acid. citric. 0,06. 
Veramon == Dimethylamino- Antipyrin 4 Veronal. 
Trigemin = Pyramidon +4 Butylchlorhydrat. 
Allional ==Isopropylpropanylbarbitursaur. Pyramidon. 


Zunächst sei hervorgehoben, daß die Antipyrin-Idiosynkrasie 
nichts mit der eigentlichen Antipyrinvergiftung zu tun hat. Als 
Symptome der Antipyrinintoxikation werden Herzlähmung, Schädi- 
gungen des Zentralnervensystems (Krämpfe, Lähmungen), Blutdruck- 


26 GÜNTHER 


steigerung angegeben. Ein Fall eigener Beobachtung verlief 
folgendermaßen: 


P. A. 19jähr. Drogist. 10.— 20. II. 1920 in medizin. Klinik Leipzig. 
Mit 11 Jahren epinale Kinderlähmung, sonst nicht krank gewesen, 
Nimmt am 9. II. abends 7b aus Arger über familiäre Angelegenheit in 
selbstmörderischer Absicht etwa 30 g Antipyrin. Danach die ganze 
Nacht ruhig geschlafen. Am 10. II. früh 8 nach Erwachen bei klarem 
Sensorium Muskelschmerzen besonders in beiden Oberarmen. Bewegungen 
der Extremitäten erschwert, konnte nur mit Mühe nach einem Glas 
Wasser greifen und es nicht zum Munde führen. Stehen wegen Schwindel- 
gefühl nicht möglich. Mittags 1b zweimal Erbrechen. 23° Aufnahme. 
Klagen über Mattigkeit und starke Schmerzen in Oberarmen. Befund: 
Gesichtsröte, starke Schweißsekretion (besonders an Stirn), kein Haut- 
exanthem. Selbstgewählte Bauchlage. Temp. 37,0. Beiderseits Hammer- 
zeben und geringer Pes equinovarus. Atrophie und Verkürzung des 
linken Beines (von Poliomyelitis ant.), schlaffe Lähmung linken Fußes. 
Normale Mobilität des rechten Beines. Linkes Bein zeigt gegen rechts 
geringere Behaarung, weniger Schweiß, neigt aber mehr zum Kältegefühl. 
Kann ohne Schwindel stehen, Gang sehr unsicher. Grobe Kraft der Arme 
normal. Druckschmerz der Oberarmmuskulatur (besonders des Biceps). 

Mydriasis, Patellarrefl. r. schwach, l. fehlend, Achillesrefl. fehlt bds. 
Kremasterrefl. fehlt. Keine Ataxie des r. Beines. Sensibilität normal, 
keine Blasenstörung. Puls 110. Blutdruck min. 80, max. 130 mm Hg. 

Urin sauer, dunkelrotbraun. Albuminurie (5 °/,,), Hämoglobinurie, 
kein Urobilin, eine Spur Hämatoporphyrin (l. c. 5 in Tabelle angeführt), 
mit Eisenchlorid starke Rotfärbung (Antipyrinreaktion). Im Sediment 
sehr viele Zylinder, Leukocyten, keine Erythrocyten. 

11. II. Rückenlage. Gesichtsröte noch vorhanden. Hyperalgesie 
der Oberarme, Ameisenkribbeln und Hyperämie beider Hände. Saures 
Aufstoßen. Starke Cylindrurie. Urin 1100, spez. Gew. 1010. Schwäche 
in Armen und Händen. Blutdruck 115. Puls 132. 

12. II. Hämoglobinurie geschwunden. Spur Albumen. Urin 
hellrötlich. 

Hyperämie und Schwäche der Hände besteht noch. Starke Reactio 
rubra der Hautgefäße, Blutdruck 105. 

13. II. Oberarmschmerzen bestehen noch, Handröte geringer. Urin 
weniger Zylinder, kein Hb. 

14. II. Hyperalgesie der Oberarme. Handröte geschwunden. Urin 
frei von Eiweiß und Zylinder. 

20. II. Schwäche des linken Beines sei noch in höherem Grade vor- 
handen, als vor der Vergiftung. Sonst beschwerdefrei entlassen. 


Andererseits kann nach längerem Gebrauch eine Gewöhnung 
und Wirkungslosigkeit des Mittels eintreten, die Lewin als Anti- 
pyrinismus bezeichnet. 

Daß Antipyrin-Idiosynkrasie bei der ersten Einverleibung des 
Mittels auftreten kann, scheint mir nicht hinreichend verbürgt zu 
sein. In der Regel tritt die Idiosynkrasie auf, nachdem das Mittel 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 27 


längere Zeit hindurch (etwa 8 Tage) in wiederholten Gaben auf 
den Organismus gewirkt hat. Besondere Resorptionsvorgänge aus 
dem Darm spielen keine Rolle, da die parenterale Einverleibung 
des Mittels an sich auch nicht zur Idiosynkrasie führt. Wahr- 
scheinlich bewirkt das Mittel auf der Basis einer anormalen Kon- 
stitution, deren Wesen uns unbekannt ist, nach längerer wieder- 
holter Einwirkung die Veränderung besonderer Eiweißkörper des 
Organismus, welche dadurch die Bedeutung eines körperfremden 
Antigens gewinnen, gegen welches Antikörper gebildet werden. 
Der anormale konstitutionelle Boden der Antigenbildung kann auf 
weiter oder enger begrenzte Gewebsteile beschränkt sein. Die 
individuelle Lokalisation des Antigens bildet wohl die Grundlage 
für die verschiedenen Konstitutionstypen der Idiosynkrasie, während 
die Antikörper bei dieser Anschauung nicht primär örtlich fixiert 
zu sein brauchen. Wo und in welcher Weise diese anormale 
chemische Reaktion qualitativ verläuft, ist unbekannt. Einen Hin- 
weis auf die konstitutionelle anormale Anlage gibt auch die Be- 
obachtung einer Antipyrin-Idiosynkrasie bei Mutter und Tochter 
(Besnier). Die Anomalie scheint nicht sehr selten zu sein, denn 
schon in der ersten Zeit der Antipyrin-Ära wurden zahlreiche Fälle 
bekannt, nachdem bereits 1884 Ernst und Alexander auf Anti- 
prrinexantheme aufmerksam gemacht hatten. Mit der Zunahme 
der Publikationen, die nicht nur dermatologische Befunde solcher 
Exantheme betrafen, mußte die Mannigfaltigkeit der Reaktionen 
auffallen. Die Frage drängt sich auf, ob die oben angedeutete 
anormale chemische Reaktion stets in dem gleichen Sinne verläuft, 
so daß abgesehen von quantitativen Schwankungen die individuelle 
Verschiedenheit der Reaktion gegen stets den gleichen qualitativen 
Reiz nur auf konstitutionellen Unterschieden der Patienten beruht, 
oder ob die konstitutionelle Abweichungen der Disposition auch 
darin zu suchen sind, daß die anormalen chemischen Reaktionen 
bei verschiedener konstitutioneller Grundlage in differenten Rich- 
tungen verlaufen können. Letztere Annahme ist weniger wahr- 
scheinlich, doch muß sie später noch einmal diskutiert werden. 
Das klinische Material ist also daraufhin zu untersuchen, ob 
verschiedene konstitutionelle Typengruppen aufgestellt werden 
können, die nach Antipyringabe in bestimmter Weise auf die 
sekundären Produkte reagieren. Dabei scheiden gewisse auf patho- 
logischer Basis erstandene Reaktionen aus. So kann bei einem 
Epileptiker im idiosynkrasischen Zustande ein epileptischer Anfall 
ausgelöst werden, Crampi, Tremor, Neuraleien, Ischurie wurden 


98 GÜNTHER 


notiert, an Störungen des Kreislaufs Leidende können schweren 
Kollaps bekommen. Bei subkutaner Anwendung des Mittels wurden 
zuweilen an der Injektionsstelle schmerzhafte Schwellungen, sogar 
Gangrän beobachtet. 

Es werden hier drei Hauptgruppen aufgestellt. Die erste 
Gruppe enthält die „Pyretiker“, welche mit hohem Fieber meist 
unter Auftritt eines Exanthems reagieren, die zweite Gruppe die 
„Oxyphilen“, also solche Individuen, welche auch unter der 
hämatologischen Etikette der „eosinophilen Diathese* zusammen- 
gefaßt werden und klinische Symptome von Asthma, Urtikaria, 
eosinophilem Darmkatarrh bieten können, die dritte Gruppe die 
„Herpetiker“. 

I. Gruppe der Pyretiker. 

Das Antipyrin wurde bekanntlich, wie auch der Name sagt, 
anfangs als fieberherabsetzendes Mittel verordnet. Normalerweise 
wird nach pharmakologischer Ansicht durch Antipyrin der Er- 
` regungszustand des zentralen Wärmezentrums herabgesetzt; es er- 
folgt dann unter Erweiterung der Hautgefäße eine Steigerung der 
Wärmeabgabe. Bei Ausschaltung des Wärmezentrums im Hypo- 
thalamus verändert Antipyrin nach Isenschmidt die Körper- 
temperatur nicht; es könne dann aber öfters zu Temperatursteigerung 
kommen durch Steigerung des Muskeltonus und der Atemfrequenz. 
Eine solche scheinbar konträre Wirkung dürfte aber nur nach sehr 
hohen Dosen auftreten, wie sich auch aus der oben geschilderten 
Toxikologie des Mittels ergibt. 

Ein ganz anderes Phänomen ist das „Antipyrinfieber“ 
des Idiosynkrasikers, welches zuerst von Fraenkel und von 
Laache (1886) beobachtet wurde, da es nicht als eine direkte 
„Konträre Antipyrinwirkung“ (Laache) aufzufassen ist, sondern 
als die Reaktion einer besonderen konstitutionellen Gruppe der 
Pyretiker auf ein im Körper nach Antipyringaben gebildetes 
sekundäres Produkt. Der Pyretiker weist also erstens die kon- 
stitutionelle Anomalie der Disposition zur Antipyrin-Idiosynkrasie 
und zweitens die konstitutionelle Besonderheit der meist von 
Exanthem begleiteten Fieberreaktion, — vielleicht auch im Sinne 
R.Schmidt’sein erhöhtes „pyrogenetisches Reaktionsvermögen“ auf. 

Es wurde bereits erwähnt, daß diese Idiosynkrasie wenigstens 
in der Regel erst nach mehrfacher Anwendung des Mittels eintritt, 
also auf einer erworbenen Umstimmung des Organismus beruht. 
In der ersten Zeit der hohen Antipyrindosen erfolgte die Um- 
stimmung nach Einnahme von 19g in 9 Tagen (Bernoulli), 30g 


Konstitutionstypen der Idivsynkrasie. 29 


in 6 Tagen (Fraenkel), 30 g in 10 Tagen (Laache), 34 g in 
10 Tagen (Ruge). Ein von mir beobachteter Fall, der später be- 
schrieben wird, vertrug zunächst etwa 14 g Pyramidon in 3 Wochen, 
ohne daß eine Idiosynkrasie auftrat. Ob wesentlich geringere 
Dosen schon zu dieser Umstimmung führen, wie es z. B. von 
Müller’s Patient berichtet wird, ist nicht einwandfrei erwiesen, 
da eventuell vorheriger Gebrauch des Mittels der Feststellung ent- 
gangen ist. 

Die der Disposition zugrunde liegende konstitutionelle Anomalie 
muß nach der klinischen Erfahrung als ziemlich selten bezeichnet 
werden. Nur durch den sehr häufigen Gebrauch des Mittels ist 
eine ziemlich große Zahl von Fällen bekannt geworden. Nach 
Beobachtungen an der Berliner Charite, wo etwa 1000 Patienten 
mit Gelenkrheumatismus der Antipyrintherapie unterworfen wurden, 
schätzte Ruge die Häufigkeit der pyretischen Idiosynkrasiefälle 
auf etwa 3 pro Mille. Alter und Geschlecht scheinen keinen Ein- 
fluß zu haben. Fieberreaktion mit Exanthem wurde im Alter von 
10 Jahren und auch 52 Jahren beobachtet; Demme scheint sie 
mehrmals bei Kindern beobachtet zu haben (Freuchen berichtet 
von erworbener Antipyrin-Idiosynkrasie bei einem 9 Monate alten 
Kinde). S. Welt behauptet, daß das Antipyrinexanthem häufiger 
bei Frauen vorkommen, doch ergibt die Berechnung des mittleren 
Fehlers, daß unter Berücksichtigung der Zufallsschwankungen eine 
solche Annahme (9,6 °; der behandelten Männer, 11,6°/, der Frauen) 
nicht statthaft ist. 


Es mag eine Folge der früher weit verbreiteten Mode der 
Antipyrinbehandlung des Gelenkrheumatismus sein, daß diese Form 
der Idiosynkrasie relativ oft bei Gelenkrheumatismus beschrieben 
wurde Immerhin muß hervorgehoben werden, daß die Mehrzahl 
der genauer publizierten Fälle Patienten mit Gelenkrheumatismus 
betrafen; meist war es akuter Gelenkrheumatismus (Fraenkel, 
Ruge, Müller) oder subakute Polyarthritis mit Pleuroserositis 
(Bernoulli); ein eigener Fall betrifft chronische Arthritis. 


Eine Idiosynkrasie gegen andere Arzneimittel (außerhalb der 
Antipyringruppe) ist meist nicht zum Vorschein gekommen. Salizyl- 
säure wurde gewöhnlich gut vertragen (Bernoullis Patientin 
bekam nach Salizylsäure Pruritus universalis, vertrug aber Anti- 
febrin). Dies ist besonders deshalb hervorzuheben, weil auch nach 
Salizylsäure Fieberreaktionen beobachtet wurden (Lürmann be- 
schrieb 1876 Schüttelfrost, Fieber, Ödeme an Unterarmen und Unter- 


30 GÜNTHER 


schenkeln, Baruch nach 2,0 Fieber bis 40° ohne Exanthem, Erb 
Fieber bis 40,2, Erythem, Abschuppung). 

Das Fieber der Antipyrin-Idiosynkrasie tritt etwa 1—2 Stunden 
nach Einnahme des Mittels oft unter initialem Schüttelfrost und 
steilem Anstieg auf und erreicht eine Höhe von 39—40° (Eisen- 
mann, Ruge), 40—41° (Fraenkel, Müller, Laache, Bernoulli, 
eigene Beobachtung), sogar 41,5° (Fedeli). Der Puls zeigt ent- 
sprechende Frequenz. Die Dauer der Fieberreaktion beträgt mehrere 
Stunden. 

Hautexaäntheme begleiten in der Regel die Fieberreaktion 
dieser Gruppe. Doch kommen auch Fieberreaktionen ohne Exantlhem 
vor; hierfür werde ich später eine eigene Beobachtung anführen. 

Hautexantheme wurden ja zuerst als „Nebenwirkungen“ des 
Antipyrins (Ernst, Alexander) beschrieben und auch nach 
Pyramidon (Reitter, Scherber), Melubrin (Krabbel, Müller) 
gesehen. Die Hautsymptome wurden oft dermatologisch geschildert 
ohne Angabe der Körpertemperatur; vielleicht sind auch die Fieber- 
reaktionen öfters infolge ungenügender Temperaturmessung der 
Beobachtung entgangen. Es sind daher diese Mitteilungen für die 
Symptomatologie dieser Gruppe nur bedingt zu verwerten, da ein 
Teil dieser Fälle sicher hinzugehört. Wir können eine gleiche 
Genese, eine Umstimmung des Organismus durch mehrfachen Ge- 
brauch des Mittels voraussetzen. Bei den von Welt beobachteten 
Fällen, welche ohne den Nachweis stärkerer Fieberreaktionen ver- 
laufen zu sein scheinen, betrug die Gesamtdosis Antipyrin bis zum 
Eintritt des Exanthems im Minimum 6 g; bei größerer Gesamtdosis 
nahm die relative Häufigkeit der Idiosynkrasiefälle nicht zu. Vom 
dermatologischen Standpunkte aus lassen sich diese Exantheme ein- 
teilen in lokalisierte und generalisierte. 

Das lokalisierte Exanthem, welches bei Recidiven immer 
wieder an derselben Stelle erscheint, ist der beste Beweis für 
anormale konstitutionelle Disposition. Es wurden auch Fälle be- 
kannt, bei denen die lokalisierte Hauteruption nicht nur nach 
Antipyrin, sondern auch nach anderen Reizmitteln erschien (Ehr- 
mann, Freudenberg, Steinhardt, zit. Apolant). Meist 
handelt es sich nur um Erythemflecke Apolant bekam 
selbst im Anfall außer Schwellungen der Lider und Lippen Erythem- 
flecke an rechter Schläfe, linker Stirn und an Skrotum. Die lokali- 
sierte „éruption erythömato-pigmentee“ (Brocgq) wurde nach Anti- 
pyrintherapie von Benzler, Brocgq, Ducastel (zit. Apolant) 
beschrieben. 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 31 


Häufiger sind die generalisierten Exantheme, welche 
meist als masernartig oder scharlachartig geschildert werden und 
besonders an der Streckseite lokalisiert sind. Beidem morbillösen 
Exanthem kann die Ähnlichkeit mit Masern so groß sein, daß 
Fournier in einem Falle die Diagnose „Masern“ nur ausschloß 
durch das Fehlen einer Bronchitis. Das Gesicht soll weniger als 
bei Masern befallen werden, die Flecke sind zuweilen schärfer ab- 
gegrenzt. Selten werden die morbillösen Flecke hämorrhagisch, 
wie bei Bielschowsky’s Fall. Hämorrhagische Exantheme 
wurden von Grandcl&öment und bei drei männlichen Typhus- 
kranken von Welt beschrieben. Das scarlatiforme Exanthem 
kann besonders dann diagnostische Schwierigkeiten bereiten, wenn 
es mit einem stärkeren Enanthem des Mundes und Rachens ver- 
bunden ist (Eosinophilie, Urochromogenreaktion, Auslöschphänomen 
können zur Sicherung einer Scharlachdiagnose dienen). Das scarlati- 
forme Antipyrinexanthem zeigt öfters kleienförmige Abschuppung, 
dagegen nur selten großblätterige Desquamation, auch Bläschen- 
bildung oder Miliaria (Pusinelli, Reihlen) Jesionek er- 
erwähnt noch das Erythema papulatum und Erythema nodosum 
nach Antipyrin und Pyramidon. 


In unserer Gruppe der Pyretiker findet sich gewöhnlich ein 
generalisiertes morbillöses oder scarlatinöses Exanthem und eventuell 
Exanthem des Mundes und Rachens. Beachtlicherweise kam es 
mehrmals vor, (Laache, Bernoulli, Bielschowsky), daß das 
Enanthem beim 1. Anfall masernartigen, beim 2. Anfall scharlach- 
artiren Charakter hatte. 

Von weiteren Symptomen sind zu nennen: Schwindel, Ohren- 
sausen, Hyperhidrosis, Hautparästhesien (Prickeln, Brennen), 
ödematöse Schwellung der Lider oder Lippen; Galewsky bekam 
Schwellung der Mundschleimhaut mit „Nekrose“. Einmal trat im 
Anfall ein starker Milztumor auf, der jedesmal mit Rückgang der 
Symptome wieder verschwand. Stärkere Cyanose (Eisenmann) 
und hochgradige Dyspnoe (Ruge) lassen Grenzfälle mit der Gruppe 
der Oxyphilen (Asthmatiker) vermuten. Auch zur Gruppe der 
Herpetiker finden sich vielleicht Übergänge (Fälle Graul, 
Scheel, Spitz). 

Zur Schilderung des Verlaufes eines in diese Gruppe gehörigen 
Anfalles seien zunächst 2 Fälle der Literatur kurz mitgeteilt. 

Laache’s Patient (25 jähriger Phthisiker) erhielt wegen lange Zeit 


anhaltenden Fiebers Antipyrin zur Entfieberung; es erfolgte auch bei 
l—2 g täglich ein Fieberabfall, nach 10 Tagen wurde das Mittel wegen 


32 GÜNTHER 


Auftretens eines masernähnlichen Exanthems abgesetzt. Nach einer 
Pause von 12 Tagen wurde nochmals 2,0 Antipyrin gegeben. Bald 
danach trat im Munde brennendes Gefühl auf, welches sich nach Pharynr. 
Nase, Augen verbreiterte, außerdem Erbrechen; nach !/, Stunde Schüttel- 
frost, nach 1!/, Stunde 40,8° Temperatur, 160 Puls; am folgenden Tage 
scarlatiformes Exanthem und Schwellung der Augenlider. Dieser An- 
fall hatte vielleicht einen günstigen Einfluß auf den ganzen Krankheits- 
verlauf, denn nach etwa 4 Wochen war das bisher hartnäckige Fieber 
ganz verschwunden. Bei Bernoulli’s Patient begann der Anfall 
3 Minuten nach Einnahme von 1,0 g mit Schmerzen in Oberbrust und 
Abdomen, Blässe, Angstschweiß, Erbrechen, motorische Unruhe; am 
folgenden Tag gedunsenes Gesicht, Erythem des Rumpfes, fleckiges, 
Exanthem der Extremitäten, 39,2° Fieber. Beim 2. Anfall nach 1,0 g 
scarlatiformes Exanthem. 


Eine eigene Beobachtung wird genauer beschrieben. 

Else Bu. geb. 23. II. 1878. Medizin. Klinik Leipzig seit 8. VIII. 
1921 wegen Arthritis chronica. In Kindheit normale Entwicklung, 
normales Fettpolster, stets geringe Neigung zum Schwitzen. Vom 6. bis 
25. Lebensjahr fast jährlich einmal Angina mit Herpes labialis, später 
seltener. 1909 Bronchitis mit Pleuritis. Frühjahr 1915 Anschwellung 
des linken Knies mit stechenden Schmerzen, später Schmerzen an Fut- 
gelenken und rechtem Knie (Beginn ohne Schüttelfrost oder Angina). 
Die Beschwerden nahmen allmählig zu, 1916 wurden auch die Hände 
befallen. Sommer 1916 trat eine bis Sommer 1917 anhaltende Amenorrlioe 
auf (Menstruation früher regelmäßig, seit 22. Lebensjahr verheiratet, keine 
Kinder oder Fehlgeburten, Febr. 1923 Menopause). Ende Sommer 1916 
Fettzunahme in der Hüftgegend, geringer Haarausfall. Seit 1917 teil- 
weise, seit 1921 ganz bettlägerig. In früheren Lebensjahren nie idio- 
synkrasische Symptome. In Familie kein Rheumatismus; die Mutter 
konnte in mittlerem Alter (etwa 40 J.) keine Eier vertragen (starb an 
Leberkrebs), sonst über familiäre Idiosynkrasie nichts bekommt. Kurzer 
Auszug aus Krankenblatt: 

Klinikaufnoahme 8. VIII. 1921. Chronische Anthritis fast aller 
Gelenke. Wassermann negativ. Sept. 1921 Angina mit Herpes. März 
1923 Dysenterie, April 1923 Typhus. Seit Febr. 1923 Menopause. Seit 
Ende 1923 Parästhesien (Brennen und Jucken) am ganzen Körper. 

Status I. 1924: Mittelgroß, kräftig gebaut, 55 kg. Hyperstlhenischer 
Habitus. Viereckige, nach unten etwas breitere Gesichtsform. Kopfhaar 
wenig dicht, stellenweise ergraut, Augenbrauen lateral spärlich, geringer 
Schnurbart. Wangen bräunlich pigmentiert, ziemlich derb (myxödemartig) 
und druckempfindlich. Haut glatt, trocken, an oberer Brustgegend und 
besonders entlang den vorderen Rippenbögen gewulstet, sklerodermieartig 
verhärtet und druckempfindlich, au Unterschenkeln glänzend, atropisch. 
Leichte Adipositas, stärkere Fettansammlung an Oberarmen, oberer Häifte 
der Unterarme und Trochantergegend. Hände stark deformiert, Gelenke 
verdickt, Fingerendglieder atrophisch, Schultergelenke wenig beweglich. 
Hüftgelenke gut beweglich, Kniegelenke verdickt (starke Crepitation). 
Zehen nach außen abduziert. Plantarreflexe fehlen, sonst normale Retlexe. 
Neuropathie. 


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Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 33 


Durch Thyreoidintherapie wird Sklerodermie fast beseitigt, Körper- 
gewicht nicht beeinflußt. Seit März 1924 häufiger Pruritus. Dez. 1925 
Angina mit Herpes lab. Blutstatus (Nov. 1924): weiße Zellen 5000 bis 
6000, rote 5,2.10°, Hämoglobin 60 °,,. Neutrophile 63, Eosinophile 2, 
Lymphocyten 30, Monocyten 5°/,., Am 12. I. 1926 Lymphocyten 41,7, 
Eosinophile 3,5 ®/,. Bilutkörperchen-Senkung stark beschleunigt. 

Therapie: Im Beginn der Erkrankung (1915) auf Verordnung 
des Hausarztes Salizylsäure, aber wegen starken Obrensausens wurde das 
Mittel bald ausgesetzt und nur stets lindernde Wärmetherapie angewendet. 
Bei Verschlimmerung des Leidens 1917 wurde Atophan verordnet; 
nachdem in 8 Tagen 20 Tabl. eingenommen waren, trat Jucken am 
ganzen Körper, Schwellung von Gesicht und Händen, aber kein Erythem 
auf; der Zustand dauerte etwa 8 Tage. Im Frühjahr 1921 wurde noch- 
mals Atophan versucht (20 Tabl. in 8 Tagen); wiederum trat starkes 
Jucken auf, welches am Kopfe begann und sich über den ganzen Körper 
verbreitete, außerdem habe sich Schüttelfrost, Fieber bis 39°, Rötung 
und Schwellung des Gesichts, Dyspnoe eingestellt (diesmal keine Schwellung 
der Hände). [In der Klinik trat Febr. 1923 nach 2,0 Atophan Schüttel- 
frost und Schmerz in allen Gelenken auf. Am 6. I. 1926 wurde 
0,5 Artamin (= Atophan) ohne Nebenwirkung vertragen.] 

Aspirin wurde seit 1917 wieder regelmäßig in kleinen Dosen ge- 
nommen, zunächst mit längeren Pausen (wöchentlich 2—3 Tabl.), später 
fast täglich 0,5, da stets Linderung der Schmerzen und bessere Be- 
weglichkeit eintrat (niemals Ohrensausen). 

In der Klinik wurde hauptsächlich Wärmetherapie (Glühlicht, Sand- 
bad, heiße Bäder bis 40°) Massage, Elektrisieren, aktive Bewegungs- 
übungen versucht. Arsenkur, Organotherapie (Thyreoidin, Ovarial- 
tabletten, Hypophysin). Außerdem Schlafmitte, wie Veronal 0,5, 
Medinal 0,2, Luminal 0,1 ohne Nebenwirkung. 


Reizkörpertherapie wurde mit zahlreichen Mitteln an- 
gewendet. Sie hatte meist Schmerzreaktionen in verschiedenen 
Gelenken zur Folge. Auch nach Melubrin traten Gelenkschmerzen 
auf, aber nur in den am stärksten affizierten Gelenken mit mehr 
intermittierendem Charakter; die Intensität erreichte während des 
Schüttelfrostes ihr Maximum. Nach Pepton traten jedesmal (ohne 
Fieber) anhaltende Schmerzen und Spannungsgefühl in allen Ge- 
lenken auf, stärker als nach Melubrin und über 24 Stunden an- 
haltend. Schmerzreaktionen an pathologisch veränderten Körper- 
stellen nach Reizkörpertherapie sind ja bekannt (Pribram erwähnt 
Magenschmerz bei der Ulcusbehandlung mit Novoprotin). 

Die Fieberbereitschaft zeigte bei der Reiztherapie starke 
Schwankungen. So ergaben sich z. B. nach Collargol- und Milch- 
injektionen an verschiedenen Tagen die in Tabelle 1 verzeichneten 
Temperaturen (später wurde Collargol und Milch ohne Fieber ver- 
tragen). 


Dentsches Archiv f. klin. Medizin. 152. Bd. 3 


34 GÜNTHER 


Tabelle 1. 
Mittel | Collargol 5 cem k Milch 5 cem 
Datum (1921) 31. VIIL| 9. IX. |17. IX. 24. IX. x. J10 10. x is 13. x. u X 
ae 384 394 | 385 | 377 370 | 876 2 i 870 


Nach Sanarthrit (Juli 1922) Fieber bis 39,7, nach Schwefelöl 
(Dez. 1922) bis 39,6 (einmal mit Herpes lab.) Hypertherman er- - 
zeugte Okt. 1923 nach 2 ccm minimale Reaktion, Nov. 1923 nach 
4 ccm 39,5, nach 5 ccm 37°, nach 6 ccm 40,3. 5°, Peptonlösung 
(3—5 ccm intramuskulär) verursachte kein Fieber. 

Die Ausbildung der Antipyrin-Idiosynkrasie läßt sich 
bei der Patientin an Hand der klinischen Notizen genau verfolgen. 
Vor der Klinikaufnahme hat Patientin keine Mittel dieser Gruppe 
eingenommen. Vom 17. X. 1921 bis 8. I. 1922 wurden täglich 2mal 
0,3 Pyramidon verordnet, dann 20. und 21. VIII. und 20. XI. 1922 
nochmals je 0,3 Pyramidon und am 21. VI. 1922 zwei Tabletten 
Trigemin, ohne Nebenwirkungen. Am 23. VII. 1923 erfolgte nach 
4mal 0,5 Melubrin Schüttelfrost: und Fieber bis 39,8°; das Mittel 
wurde aber (tägl. 4mal 0,5) bis 19. VIII. 1923, also 4 Wochen lang 
weitergegeben ohne Nebenwirkungen. Außerdem wurde seit 
17. VI. 1923 öfters ein Mischpulver Antipyrin 0,5, Phenacetin 0,25, 
Antifebrin 0,25 ohne Nebenwirkung vertragen, am 7. IX. 1923 auch 
nach diesem Mittel Fieber bis 40,1°. Gleiche Reaktionen traten 
am 6. I. 1924 nach 2,0 Melubrin, am 6. II. nach 1,0 Melubrin, am 
17. III. nach 0,5 Antipyrin auf. Am 23. VII. 1924 nach 0,5 Melubrin 
Schüttelfrost, Fieber 39°, am 26. und 30. VII. dagegen nach 0,5 Anti- 
pyrin keine Reaktion, nach einer längeren Pause von 8 Tagen aber 
am 7. VIII. nach 0,5 Antipyrin Fieber 38,6°. Am 13., 20., 28. VII. 
und 4. IX. je 0,5 Antipyrin, ohne daß Reaktionen notiert oder aus 
Temperaturkurve ersichtlich sind. Am 15. XI. nach 0,3 Pyramidon 
und 0,5 Antipyrin 39° Fieber, am 13. I. 1925 nach 0,3 Novalgin 
39,1%, am 31. IL. nach 0,5 Melubrin 39,5°. Alle Fieberreaktionen 
hatten initialen Schüttelfrost. Es sei besonders hervorgehoben, daß 
die Patientin, welche früher besonders nach Angina häufig Herpes 
labialis bekam, im Antipyrinanfall niemals Herpes zeigte. 

Die parenterale Zuführung hatte den gleichen Erfolg. Bei 
der subkutanen Injektion fiel die langsame Resorption der Lösung 
(aber auch einer physiol. NaCl-Lösung) auf. Nachdem am 22. XI. 1925 
eine Starke Reaktion nach 0,3 Pyramidon per os erfolgt war, 
wurden am 24. XI. Impfschnitte am Arm mit 8°, Pyramidonlösung 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 35 


benetzt, welche am folgenden Tag gegenüber den Kochsalzkon- 
trollen eine minimale Infiltration zeigten. Am 25. XI. subkutan 
0,1 Pyramidon ohne Wirkung, am 27. XI. subkutan 0,2 Pyramidon 
ohne lokale Reaktion, Temp. 375°. Am 28. XI. intramuskulär 
0,1 Pyramidon ohne Erfolg, am 30. XI. intramuskulär 0,3 Pyramidon, 
nach 1’/, Stunde Schüttelfrost und Fieber bis 38,9°; Schmerz und 
Druckempfindlichkeit der Injektionsstellee Am 9. XII. erfolgte 
3Stunden nach intrakutaner Quaddelbildung mit 50 °/, iger Melubrin- 
lösung (4 Quaddeln, in Summa 0,2 Melubrin) Schüttelfrost und 
Temperaturanstieg, der nach 4!/, Stunden 39,4° erreichte. Pepton- 
behandlung hatte keinen Einfluß auf die Intensität der Idio- 
spnkrasie. Vom 8.—25. I. 1926 hatte Patientin in Summa 19 ccm 
=0.95 g Witte-Pepton bekommen. Am 26. I. erfolgte 2 Stunden 
nach 0,5 Melubrin intramuskulär Schüttelfrost, das 18 Stunden an- 
haltende Fieber erreichte nach 3 Stunden das Maximum 39.2°. 

Vergleichsweise seien die Erfahrungen bei der anaphylaktischen 
Seramkrankheit angeführt. Dieses konditionelle Phänomen: 
tritt unter unbekannten Voraussetzungen ziemlich häufig auf, nach 
Schittenhelm bei über 10 °/, der Serum behandelten; die Häufig- 
keit ist von der Serumart abhängig. An der Leipziger Klinik trat 
bei Diphtherie nach Dorner in 5°/, der Serumbehandelten Fälle 
Serumkrankheit auf. Für das individuelle Symptomenbild spielt 
natürlich, wie Schittenhelm hervorhebt, die Konstitution eine 
ausschlaggebende Rolle. Am häufigsten (ca. 90°;,) ist nachSchitten- 
helm das meist urtikarielle Hautexanthem, Fieber tritt bei 70°, 
ohne bestimmten Typus auf, Ödem nur in 10°, der Fälle; es 
kommen Schwellungen der regionären Lymphdrüsen und zuweilen 
der Milz vor. 

II. Gruppe der Oxyphilen. 

Unter dieser, der Hämatologie entstammenden Bezeichnung 
werden die zur sog. eosinophilen Diathese gehörigen Reaktionen, 
wie Asthma bronchiale und Urtikaria zusammengefaßt. 

Die bei manchen Antipyrin-Idiosynkrasien auftretenden stark 
juckenden Exantheme mit geringen Hautschwellungen sind zu 
unterscheiden von der typischen Urtikaria, welche zuweilen nach 
Antipyrin auftritt (Alexander, Besnier, Labbee, Martino, 
Roch, Spietschka), einmal einseitig (Schwabe). Eine Patientin 
Guttmann’s, die wegen Kopfschmerzen 1,0 Antipyrin nahm, be- 
kam Urtikaria, Ödem der Lider, Unterarme und Hände und eine 
1 Minute anhaltende Amaurose (In Spietschka’s Fall trat 
Urtikaria auch nach Chinin und Phenacetin auf.) Lundgaard's 


> 


36 GÜNTHER 


Patientin, die früher Antipyrin vertrug, bekam nach 1,0 Salipyrin 
Urtikaria, Glottisödem, Erbrechen und Ohnmachtsanfälle.. Bechers 
Patient hatte früher lange Zeit Acetanilid genommen und bekam 
nach Pyramidon Lippenödem, Urtikaria und Petechien der Unter- 
schenkel. 

Reaktionen im Bereiche des Respirationstraktus, besonders das 
typische Asthma bronchiale, können mit Urtikaria kombiniert 
sein. Sturges Fall bekam Gesichtsödem, Tränen, Hyperhidrosis, 
Bronchitis mit reichlichem Auswurf, Dyspnoe und Urtikaria. Bayer 
berichtet von einer 38jährigen Frau, die seit dem 16. Lebensjahre 
wegen Kopfschmerzen, Neuralgien, Dysmenorrhöe oft Pyramidon 
nahm (durchschnittlich 3 mal 0,3 in der Woche); erst nach 20 jährigem 
Gebrauch traten Überempfindlichkeitserscheinungen ein, die sich 
(auch nach Trigemin) darin äußerten, daß 2—15 Minuten nach der 
Einnahme trockene Kehle, Öhrjucken, Nasenjucken, Nießen, 
Schwellung der Nasenschleimhaut bis zur völligen Behinderung der 
Nasenatmung, Dyspnoe, Kongestionen und Hämmern der Schläfen 
auftraten (kein Exanthem); dieser Zustand dauerte bis 15 Minuten. 
Im Anfall war die Körpertemperatur unverändert, der Puls sank 
von 80 auf 65, der Blutdruck wurde geringer, die Erregbarkeit 
der Hautgefäße war gesteigert, die Blutgerinnungszeit nicht ver- 
ändert, die trypsinhemmende Wirkung des Serums nicht vermehrt, 
aber Verminderung des Komplementgehaltes, kein Leukocytensturz, 
aber geringe Zunahme der Eosinophilen. Königsfeld ver- 
danken wir eine Selbstbeobachtung. Während einer fieberhaften 
„Grippe“erkrankung, die mit sehr schmerzhafter Schwellung in Ge- 
lenken und Sehnenscheiden verlief, wurde Aspirin, Phenacetin, 
Diplosal, Atophan gut vertragen. Nach 0,5 Melubrin und auch 
nach 0,2 Pyramidon traten Asthmaanfälle auf (4 Anfälle). Früher 
nie Asthma oder Idiosynkrasien. Der 3. Anfall verlief folgender- 
maßen: abends 78° wegen Kopfschmerzen 0,2 Pyramidon, 11 Uhr 
Nießen, dünnflüssiges Nasensekret, 12 Uhr starker Schnupfen und 
Hustenreiz, 3 Uhr Asthma bronchiale. Das voluminöse serös-eiterige 
Bronchialsekret enthielt „fast nur eosinophile Zellen“. Puls 
langsam, klein; kein Fieber. Am folgenden Tag 8°/, Eosinophile 
im Blut (gewöhnlich 3-4 °/,). 

Andererseits wird berichtet, daß ein Anfall von Asthma 
bronchiale nach 2mal 0,75 Antipyrin aufhörte (Smith). 

Cooke sind Reaktionen dieser konstitutionellen Gruppe be- 
sonders nach Aspirin begegnet. Unter 15 Idiokrasikern hatten 
9 Asthma und 3 Urtikaria (3 neigten auch sonst zu Asthma, 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie, 37 


Urtikaria oder Heufieber, bei 12 waren in der Familie Überempfind- 
lichkeiten nachweisbar). 

II. Gruppe der Herpetiker. 

Das Symptom des Herpes stellt eine konstitutionelle Reaktion 
anf Reize verschiedener Art dar und ist nicht als einheitliche 
Krankheit sui generis aufzufassen. Manche Personen zeichnen sich 
durch sehr häufige Herpesrecidive aus. Auf die Lokalisation des 
Herpes und ihre Beziehung zu bestimmten Infektionskrankheiten 
bin ich a. a. O. (4) eingegangen. Mit Herpes verlaufende Infektions- 
krankheiten haben eine günstigere Prognose Es gibt fieberhafte 
Herpeseruptionen, z. B. den Herpes febrilis, und Herpeseruptionen 
ohne Steigerung der Körpertemperatur. 

Unter den Antipyrin-Idiosynkrasikern findet sich auch eine 
Gruppe, deren Kardinalsymptom Herpeseruptionen an verschiedenen 
Körperstellen sind. 

Ein Herpes labialis kann sich als regelmäßiges Symptom der 
Antipyrin-Idiosynkrasie finden. Widal und Radot untersuchten 
eine 42jährige Frau, die seit 8 Jahren an Diabetes und früher 
häufig an Migräne litt, welche sie mit Antipyrin bekämpfte; nach 
einer bjährigen Pause nahm sie wieder einmal eine Dosis, be- 
kam nach 5 Minuten Rötung und Spannung der Oberlippe und 
nach einigen Stunden einen Herpes labialis (Anfälle traten schon 
nach 0,1 Antipyrin auf). 

Solche Fälle, die nur das gewöhnliche und häufige Symptom 
des Herpes labialis bieten, stellen nichts Außerordentliches dar. 
Es ist aber hervorzuheben, daß die von mir beschriebene Patientin 
der ersten Gruppe, welche zu Herpes labialis disponiert war und 
diesen regelmäßig bei Angina, aber auch bei anderen Gelegenheiten 
bekam, im Antipyrinanfall niemals Herpes zeigte. 

Die klassischen Fälle in der Gruppe der Herpetiker bieten 
einen ganz besonderen Symptomenkomplex, der durch das Syndrom 
eines Herpes labialis oder oralis mit einem Herpes genitalis ausge- 
zeichnet ist. 

Gewisse Zusammenhänge des Herpes labialis mit den Sexual- 
organen verrät schon der sehr häufige Herpes menstrualis. Es 
gibt ferner eine auf einer besonderen konstitutionellen Basis auf- 
tretende, durch unbekannte Reize ausgelöste Form eines chronisch- 
rezidivierenden Herpes, welcher Mund, Zunge und Genitale bevorzugt. 

Flatau beschrieb einen solchen Fall 1891. Ein 38 jähriger 
Mann bekam einige Monate nach Typhus (1874) einen seitdem 
häufig rezidivierenden Herpes meist der Lippen und Wangen- 


38 UHÜNTHER 


schleimhauts, selten der Zunge. 1887 traten auch kleine Bläschen am 
Skrotum auf, 1891 Herpes buccalis und an Herpes derselben Stelle des 
Hodensackes und 10 Tage später mehrere kleine Bläschen am 
sulcus coronarius des Penis. Fournier hob besonders das Symptom 
des Herpès recidivant hervor, welches er unter seinem Luetiker- 
material öfters beobachtete (96 °/, dieser Fälle waren — wohl zu- 
fällig — Luetiker). Nach dem 30. Lebensjahre kann nach Fournier 
auch Arthritismus die Grundlage sein. Das Syndrom Herpes pharyngis 
und Herpes genitalis wurde 1890 von Schach erwähnt, Rosen- 
thal berichtete 1894 über 3 Fälle. Der von v. Mikulicz be- 
schriebene chronisch recidivierende Aphthen ist wohl als eine älın- 
liche Affektion aufzufassen. Dieser Herpes oro-genitalis 
befällt vornehmlich junge Männer (vgl. Trautmann). Eine eigene 
Beobachtung führe ich hier an. 


H. Schn. 28jähr. Kaufmann. 11.—19. Nov. 1921 in medizin. 
Klinik Leipzig. Fast jedes Jahr Halsentzündunpg mit Schlingbeschwerden 
und kurzdauerndem Fieber, Bläschenbildung an Lippen, Brennen an der 
Zunge und am Gaumen. Auch bei völligem Wohlbefinden öfters schmerz- 
hafte Bläschen an der Wangenschleimhaut. Mehrmals Gonorrhöe, sonst 
außer Kinderhrankheiten keine ernsteren Erkrankungen. Am 9. 11. mit 
Schüttelfrost, Fieber, Kopf- und Halsschmerz und Hustenreiz erkrankt. 
nachdem schon mehrere Tage vorher allgemeines Krankheitsgefühl (Mattig- 
keit, Appetitlosigkeit, Muskelschmerzen) bestanden hatte. Abends Brennen 
und Bläschenbildung an der Glans penis, Bei früheren Herpeseruptionen 
war das Genitale angeblich niemals beteiligt. 

Befund: Fieber 40,1°, Puls 98. Gewicht 62,2. Am harten Gaumen 
einzelne stecknadelkopfgroße Bläschen. Pharyngitis, Zunge streifenförmig 
grauweiß belegt, trocken. Nasenatmung etwas behindert, geringer Reiz- 
husten. Submaxillar- und Inguinaldrüsen vergrößert. An der linken 
Seite der Eichel mehrere fast eingetrocknete Bläschen (Herpes genitalis). 
Milz nicht vergrößert. Leichte febrile Albuminurie, geringe Indicanune, 
Urobilinurie. Einige Leukocyten im Urinsediment. Im Blut 8000 Leuko- 
cyten. Verlauf: 

12. XI. Stärkere Schwellung des Rachenringes, an rechter Ton- 
sille einige weißliche Fleckchen, Gaumenbläschen vermehrt und vergrößrrt. 
Submaxillardrüsen stärker geschwollen. Temp. auf 37,7. Am 13. NI. 
Fieber 39,6. Stärkere Schluckbeschwerden und Schwellung der Sub- 
maxillardrüsen. Angina follicularis stärker ausgebildet. An linkem vorderen 
Gaumenbogen linsengroßer, graugelblicher Fleck mit stark gerötetem 
Hof (Aphthen?). Herpes am Zungenrücken. Gaumenherpes zurück- 
gehend. Zahnlleisch normal. Rachenabstrich ergibt mäßig viel Diplo- 
Streptokokken, keine Löftlerbazillen (Kultur). Lungen gesund. Rhino- 
skopisch Nasenschleimhaut etwas geschwollen und hyperämisch. Spina 
septi nach links. Am 14. XI. Fieberabfall. Stärkere Anginabeläge, 
gelbliche Flecke an linkem vorderen Gaumenbogen. Tonsillen und regionäre 
Drüsen stark geschwollen. Inguinaldrüsen abgeschwollen. Herpes gutturalis, 


em ame re 


Konstitutionstypen der Idiovsynkrasie. 39 


lingualis und genitalis im Abheilen. Am 15. XI. an Stelle der zer- 
fallenen Herpesbläschen graugelbe, unregelmäßig geformte, scharf um- 
randete, flache Ulcerationen. Wassermann im Blut negativ. Fieberfrei. 
Erhielt von Medikamenten nur Aspirin 2X0,5. Am 19. XI. nach 
weiterer Besserung entlassen. 

Dieses Herpessyndrom wurde bei Antipyrin-Idiosynkrasie mehr- 
mals beschrieben. Folgende Tabelle 2 gibt eine Übersicht der 
typischen Fälle. Die eingeklammerten Zeichen bedeuten, daß nicht 
Herpes, sondern Ekzem beschrieben wurde. Der in der Tabelle 
mit angeführte Fall (2) Levins (Migränin) wird nicht mit als 
typischer Fall gerechnet, da über Herpes genitalis nichts berichtet 
wird. Unter den übrigen 18 Fällen befinden sich nur 2 Frauen. 
Man findet daher auch hier eine Prädisposition des männlichen 
Geschlechts. 


Tabelle 2. 


| Herpeseruptionen an : Ödem der 
Aut ‚ Mund- SO , | | 
i Lippe schleim- Zunge. Penis De | Hand ee Lippe Lider 
| haut | za | 
| 
Hahn a T T an F zy 
Veiel + + Eart i 
Caspary + +. anal 
Short — — + + Nase + 
Möller + | ; 
Petrini + Vulva | + ; Mamma T I + 
| | | | 
EE UE RB > © i pi a | en | 
’ullitzer | | | Ir | 
Levisseur + + l + + <- | Ohr, Kinn 
Jadassohn + | a a | 
Brasch | + | En + Ä ae We 
| | | 
Paschkis I + + | Vulva | Nue | Ä 
Graul | + | (+ + 
Steinhardt | + + + , (+) = si 
Sn (+ Ho H Se 
Briquet ! | + anal | 
alche + | + | 
Wechsel- | + o +o HH © anal | | 
mann | | i | 
Levin +- "E E R | + 


Die Einheitlichkeit der Symptome liegt klar, wenn auch zu- 
weilen bei der Beschreibung andere Ausdrücke gebraucht wurden, 
Es wurden plaques muqueuses an Lippen und Mund (Hahn), 
Rachenenanthem mit Blasen am harten Gaumen (Graul), Stomatitis 
ulcerosa (Dalch&) angegeben. Der Herpes ist selten hämorrhagisch 


40 GÜNTHER 


(Fall Freudenberg), nach Heilung der Blasen können Pigment- 
flecke am Lippenrot zurückbleiben (Caspary, Brasch) Im 
Munde kann der Herpes nur den Gaumen (Veiel, Graul, Briquet) 
befallen. Die Lippen zeigen häufig, die Augenlider seltener ödematöse 
Schwellung. 

Am Penis findet sich der Herpes meist an der Eichel; es 
wird vereinzelt auch nur von Rötung und Schwellung des Präputiums 
(Freudenberg), Blasen am Präputium (Hahn), Urtikaria der 
Eichel (Veiel) oder auch Ulcerationen an der Eichel (Möller) 
gesprochen. Zuweilen besteht auch starker Pruritus genitalis, 
der durch Kratzen zum Kratzekzem führt, wie in Steinhardt's 
Fall. Die Affektionen des Skrotums werden daher mitunter als 
Ekzem beschrieben (Graul, Stein, Steinhardt); oder es wird 
nur Erythem des Skrotums erwähnt (Möller). Schmey be- 
obachtete nach Salipyrin Ulcerationen am Skrotum. Der Herpes 
genitalis kann sehr schmerzhaft sein (Levisseur, Dalche). 

Auch die Extremitäten sind öfters beteiligt. Herpeseruptionen 
werden am Handrücken (Petrini, Pollitzer) und Zehen neben 
„Urtikaria“ an Handteller und Fußsohlen (Veiel) erwähnt. Auch 
Brocq beobachtete nach Antipyrin Herpes genitalis und Blasen 
am Handgelenk. Ferner findet sich Herpes an Nase, Ohr, Kinn, 
Mamma, Anus oder (bei Pollitzer’s Fall) an Augenlid und Ge- 
hörgang. 

Die Anfälle scheinen meist ohne Fieber zu verlaufen. Pruritus 
universalis kommt zuweilen vor (Dalch&). Ferner werden schmerz- 
hafte Rötung und Schwellung der Finger und Fingergelenke 
(Möller), Rötung der Endphalangen (Graul), juckende Schwellung 
der Finger (Brasch) genannt. Mehrere Fälle betreffen die Autoren 
selbst (Steinhardt, Brasch, Stein). Zur Schilderung des Ver- 
laufes seien einige Fälle angeführt. 

Brasch schildert seine eigene Idiosynkrasie. Nach 1,0 Antipyrin tritt 
Lidödem, Schwellung der linken Oberlippe und rechten Unterlippe unter 
Prickeln und Stechen ein; am Zungenrand finden sich schmerzbafte weißliche 
Fleckchen, die später ulcerieren, ferner Herpes labialis, juckende Schwellung 
und Rötung am Dorsum penis und Sulcus coronarius, die zu Verschorfungen 
und Ulcerationen führte. Bei einem Anfall trat juckende Schwellung an 
Lidern, Nase, Fingern und Anus auf, die mit Abschuppung heilte. Die 
Eruptionen heilten ohne Narbenbildung. Während des Anfalles, der 
etwa 14 Tage bis zur völligen Heilung dauerte, war die regelmäßig ge- 
messene Körpertemperatur stets normal. Möller beschrieb einen Anfall 
mit Ödematöser Schwellung an Lippen, Nasenflügel, äußerem Gehörgang, 


Konjunktivitis, Schwellung der Fingergelenke, Erythem des Skrotums 
und Ulcerationen der Eichel; im 2. Anfall (nach 1,0 Antipyrin) bestanden 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasıe. 41 


schmerzhafte Rötung und Schwellung der Finger, Erythem des Skrotums, 
Exkoriationen an Glans und einzelne juckende Hautstellen, an denen 
nach Reiben herpetiforme Bläschen auftraten. Stein bekam selbst nach 
längerem Gebrauch von Antipyrin ein schweres „Ekzem“ am harten 
Gaumen, Genitale und linker Hand; nach kleinsten Dosen trat nur ein 
Ekzem am Dorsum des Metacarpus I der linken Hand auf. 8 Jahre 
später machte sich eine Überempfindlichkeit gegen Sublimat bemerkbar, 
indem 4 Tage nach der Sublimatwirkung ein Ekzem auftrat. Fournier 
beschrieb als Antipyrinidiosynkrasie ein eigentümliches schwarzfleckiger 
Exanthem an Penis, Füßen und einer Hand bei einem Diabetiker unter 
Betonung, daß es sich um keine diabetische Gangrän handelt. 

Wenn die Lokalisation nur den Mund und das Genitale be- 
treffen würde, so könnte man daran denken, daß bei der leichten 
Resorbierbarkeit des Mittels durch die Mundschleimhaut und seiner 
Ausscheidung mit dem Harn die durch lokale Resorption ermög- 
lichte örtliche Antigenbildung die eigentümliche Lokalisation des 
idiosynkrasischen Prozesses bedinge. 


Bei einzelnen Fällen wurde besonders hervorgehoben, daß 
früher Antipyrin gut vertrugen wurde (Briquet, Dalche). 
Briquet’s Fall reagierte schon auf 0,08 Antipyrin mit Herpes 
oro-genitalis. 

Mit dem Herpetisme der Franzosen (Lancereaux) hat 
die Gruppe der Herpetiker nichts zu tun. 


Die vorliegenden Feststellungen haben die große Bedeutung 
der Konstitution des Organismus für die Art der Manifestation des 
idiosynkrasischen Zustandes erwiesen. Drei Gruppen klinisch scharf 
begrenzter Reaktionstypen sind hiermit aufgestellt. Es bleibt noch 
der Versuch, in das Wesen des idiosynkrasischen Prozesses tiefer 
einzudringen. 


Gegeben ist die klinische Erfahrung, daß durch Aufnahme 
einer bestimmten chemischen Verbindung, z. B. Antipyrin, in den 
Darm unter bestimmten Voraussetzungen eine Idiosynkrasie auf- 
treten kann. Hieraus folgt zunächst die Frage, ob lediglich dieser 
ganz bestimmte chemische Komplex des Antipyrin für die Aus- 
lösung des idiosynkrasischen Prozesses entscheidend ist, oder ob 
entweder Teilgruppen des Antipyrinmoleküles genügen, oder anderer- 
seits höhere Molekülverbindungen, welche den Antipyrinkomplex 
enthalten, den gleichen Effekt haben. Die klinische Beobachtung 
hat ja schon ergeben, daß auch die anderen pharmazeutischen Pro- 
dukte der Antipyringruppe Idiosynkrasien verursachen können. 
Wie verhalten sich aber verschiedene Präparate bei demselben 
Individuum? Bei meinem Falle bewirkten alle geprüften Präparate 


42 GÜNTHER 


der Antipyringruppe einen Anfall; es ist also hier das Antipyrin- 
molekül oder Teile desselben spezifisch wirksam. Bei Königs- 
feld hatten Pyramidon und Melubrin den gleichen Effekt. Anderer- 
seits sind aber Fälle anzuführen, deren theoretische Deutung 
Schwierigkeiten macht. Klausner berichtet über einen Fall, wo 
nur Antipyrin, nicht aber Pyramidon auslösend wirkte, während 
umgekehrt bei Reitter’s Fall Pyramidon, nicht aber Antipyrin 
wirkte. Man kann hier Bedenken äußern, ob beim zweiten Versuch 
das verordneteMittel wirklich genommen wurde; vor allem muß 
aber in Erwägung gezogen werden, ob der zweite Versuch viel- 
leicht gerade in die sog. „antianaphylaktische“ Phase zu kurz nach 
dem ersten Versuch gefallen ist. Vorerst können wir nur als ge- 
sichert annehmen, daß der Antipyrinkomplex die Umstimmung des 
Organismus verursacht und auch in den Kombinationspräparaten 
das spezifische Agens darstellt. Die weitere Analyse, ob Teil- 
komplexe des Antipyrinmoleküls zur Auslösung der Idiosynkrasie 
genügen, steht noch aus. 

Weiterhin waren experimentelle Untersuchungen nötig, ob die 
Darmpassage zur Auslösung des Prozesses nötig war oder ob die 
Art der Einführung in den Körper gleichgültig ist. 

Frühere Zeiten hatten bezüglich experimenteller Untersuchungen 
am Menschen in rein wissenschaftlichem Interesse, besonders be- 
züglich Indikation zu Eingriffen (Injektionen usw.) strengere 
Maximen. Bernoulli hätte bereits 1887 gern den experimentellen 
= Weg beschritten; er schrieb aber: „wäre es statthaft gewesen, so 
hätten hypodermatische Antipyrininjektionen bei meiner Patientin 
zu weiterer Klarheit verholfen.“ Die heutige therapeutische Mode, 
die manche ernste Kritik verdient und auch unlängst erfahren hat 
(vgl. v. Strümpell, Hirsch), kommt der Experimentierfreudig- 
keit entgegen. Es läßt sich leicht nachweisen, daß subkutane, 
intrakutane und intramuskuläre Injektionen des Mittels den gleichen 
Effekt haben. Das Antipyrin wird durch alle Schleimhäute leicht 
resorbiert. Besnier berichtet von einer Patientin, die auf eine 
orale Verabreichung von Antipyrin mit Urtikaria reagierte und 
bei einer lokalen Verwendung des Mittels als Stypticum bei Nasen- 
bluten Brennen der Lippen und des Mundes bekam. Daß Antipyrin 
durch die Haut gut resorbiert wird, konnte Apolant an lokal 
disponierten Hautstellen, die bei interner Gabe mit lokalem Exanthem 
reagierten, feststellen. Die Anwendung einer 10°/,igen Antipyrin- 
salbe verursachte an dieser Stelle nach 10 Minuten Jucken, nach 
15 Minuten Erythem. Solche örtlich disponierten Hautstellen 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 43 


sprechen schon auf minimale Antipyrinmengenan. Apolant bekam 
nach oraler Einnahme von 0,05 Antipyrin an der disponierten 
Hautstelle nach 20 Minuten ein Exanthem; bei äußerlicher An- 
wendung genügte an dieser Stelle 0,001 Antipyrin. 


Die Disposition zur Antipyrin-Idiosynkrasie ist als kon- 
stitutionelle Anomalie anzusehen, die nur einen sehr kleinen Teil 
der Individuen einer Population betrifft. Unter diesen wird die 
Idiosynkrasie nur dann manifest, wenn durch mehrmalige Vor- 
behandlung mit diesem Mittel eine Umstimmung des Organismus 
erfolgt ist. Ist dieser Zustand erreicht, so ist es logisch nicht 
richtig, von einer Überempfindlichkeit gegen Antipyrin zu sprechen, 
da ja der idiosynkrasische Anfall nicht auf einer primären Wirkung 
des Antipyrins beruht, sondern die Reaktion auf ein unter Ver- 
mittlung des Antipyrins im Organismus entstandenes körperfremdes 
Eiweiß darstellt. Die „Umstimmung“ bedeutet also die Möglich- 
keit der cellulären Bildung eines körperfremden Eiweißes im Organis- 
mus, welche normalerweise nicht besteht. Ob diese Umstimmung 
dann für die ganze Lebensdauer des betroffenen Organismus anhält 
oder nach längerer Zeit wieder dauernd verschwinden kann, ist 
bisher noch kaum erforscht. Wenn letzteres der Fall ist, kann 
man vermuten, daß das disponierte Individuum durch eine neue 
Vorbereitung mit dem Mittel wieder idiosynkrasisch wird. 

Eine eigene Beobachtung ergibt, daß eine Antipyrin-Idiosynkrasie 
nach 36 Jahren erloschen ist. M. We. $ (geb. 1873) wurde in der 
medizinischen Klinik 1889 wegen akuter Polyarthritis rheum. mit Mitral- 
stenose behandelt. Nachdem in 11 Tagen 25,0 g Antipyrin gegeben 
waren, trat ohne Fiebersteigerung am ganzen Körper ein morbillöses 
Exanthem auf. Es wurde in den 5 folgenden Tagen je 3,0 Salicylsäure 
verordnet. Am 6. Tage wurde wieder 4X0,5 Antipyrin gereicht. Am 
Nachmittag traten Schnupfen, Kopf- und Gliederschmerzen und Fieber 
bis 40,30 auf (das Fieber hielt 3 Tage lang an). Es wurde ein Influenza- 
anfall vermutet und Antipyrin 30 Tage lang weitergegeben. Es handelte 
sich zweifellos um eine erworbene Idiosynkrasie. Seit 1925 hatte W. 
mehrmals embolische Hemiplegien. Er wurde deshalb 1926 wieder in 
die Klinik aufgenommen. Einmal wurde versuchsweise 0,25 Antipyrin 
gegeben; 8 Stunden später 38,3} Fieber ohne irgendwelche weiteren 
Symptome. Es handelte sich aber nur um eine zufällige Komplikation, 
denn in den folgenden Wochen wurde noch 2 mal je 0,25 Antipyrin per 
os gegeben und einmal 4 Melubrinquaddeln intrakutan gesetzt, ohne dab 
irgendwelche Erscheinungen von Idiosynkrasie auftraten. 

Es wird über Schwankungen in der Intensität des Idiosynkrasie- 
Zustandes berichtet. Bayer glaubt bei seinem Fall auch eine 
Abnahme der Intensität nach längerer pyramidonfreier Pause an- 


44 GÜNTHER 


nehmen zu können. Daß interkurrente Krankheiten einen Einfluß 
auf die Intensität haben oder gar die Manifestation der Idio- 
synkrasie bewirken können, ist nicht bewiesen und unwahrscheinlich. 
Die Annahme von Königsfeld scheint mir nicht genügend be- 
gründet, daß seine Idiosynkrasie durch eine infektiöse Erkrankung 
(„Grippe“) ausgelöst worden sei. Tatsache ist nur, daß Pyramidon 
und Melubrin vor Manifestation der Idiosynkrasie „gelegentlich 
eingenommen wurden“ und daß die „Grippe“ der äußere Anlaß war, 
daß diese Mittel wieder angewendet wurden. Nach der Beschreibung 
wurde etwa 3 Monate nach Heilung der Krankheit durch Einnahme 
von 0,2 Pyramidon wiederum ein Anfall hervorgerufen, der aller- 
dings leichter als die drei vorhergehenden Anfälle war (Dyspnoe, 
Hustenreiz, vermehrte dünnflüssige Nasensekretion). Das berechtigt 
nicht zu der Folgerung: „Daher ist auch im oben beschriebenen 
Fall die Idiosynkrasie nach Aufhören der auslösenden Ursache, der 
Grippe, allmählich abgeklungen.“ 

Wenn die Theorie richtig ist, daß die Antipyrin-ldiosynkrasie 
auf der cellulären Bildung eines körperfremden Eiweißes als Antigen 
beruht, so gehört sie unstreitie in das Gebiet der Anaphylaxie, 
wenn sich auch gewisse Unterschiede von der klassischen experi- 
mentellen Anaphylaxie ergeben mögen. Diese Unterschiede sind 
daraus verständlich, daß es sich hier nicht um grobe Laboratiums- 
tierversuche handelt, sondern um eine Auslese anormal disponierter 
Menschen, welche nicht einheitlich, sondern auf der Basis ihrer 
besonderen, individuell verschiedenen, anormalen Konstitution 
reagieren. 

Es ist daher unwahrscheinlich, daß sich jedesmal die schul- 
mäßig festgelegten Typen des anaphylaktischen Shocks, besunders 
die von den Franzosen bevorzugten hämatologischen Kriterien 
finden. Wenn man aber die „typische“ Anaplıylaxie in dieser 
Richtung dogmatisch einschränken will, so muß man eben eine 
Idiosynkrasie, wie die Antipyrin-Idiosynkrasie als atypische Ana- 
phylaxie bezeichnen. Daher kam auch Bayer, da er bei seinem 
Falle mehrere als typisch geltende Kardinalsymptome vermißte, zu 
der Ansicht, daß keine typische Anaphylaxie vorliege. 

Es gilt hier auch nicht das Dogma, daß der kleine Shock mit 
Steigerung der Körpertemperatur, der große mit Temperatursturz 
verlaufe. Der schulmäßige erste Shock verläuft mit Temperatur- 
sturz, eine Reinjektion nach Ablauf dieses Shocks verursacht 
aber nach Pfeiffer gewöhnlich keine Hypothermie, am antiana- 
phylaktischen Tier tritt dagegen Fieber auf (Friedberger und 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 45 


Mita). Die Breite der anaphylaktischen Fieberreaktionen soll 
zwischen einer minimalen und maximalen pyrogenen Dosis liegen. 
Nach Pfeiffer's Erfahrungen hat sich die Fieberreaktion „als 
eines der feinsten und exaktesten Kriterien der anaphylaktischen 
Reaktion bewährt“. 

Andererseits sind manche Stigmen des Schulfalles konstatierbar. 
Widal fand Leukocytensturz im Anfall; er zählte vor Beginn des 
Pruritus 7500, bei Beginn der subjektiven Beschwerden 5500, später 
9900 und nach Verschwinden des Erythems 7800. Vallery-Rado] 
und Mitarbeiter stellten die hämoklasische Krise im Anfall fest. 

Für die Anaphylaxie gilt die Regel, daß nach einem Shock 
eine Phase der Reaktionsunfähigkeit folgt, die als „Antianaphylaxie“ 
bezeichnet wird. Bei der Antipyrin-Idiosynkrasie kann man sich 
vorstellen, daß das zur Bildung des körperfremden Eiweißes zur 
Verfügung stehende anormale Material durch einen Anfall ver- 
braucht ist, so daß in der folgenden Phase kein Antigen mehr ge- 
bildet werden kann. Hier scheinen aber auch individuelle Unter- 
schiede zu bestehen. Die klinische Beobachtung meines Falles 
ergibt, daß solche negativen Phasen vorkommen können (vgl. S. 34). 
Bayer vermißte dagegen bei seinem Fall nach dem Anfall eine 
solche Phase. Widal gelang es, eine Patientin durch allmählich 
steigende Dosen zu desensibilisieren; nach einer Pause von 3 Monaten 
war aber der idiosynkrasische Zustand (Herpes) wieder vorhanden; 
es genügte sogar zum Wiedereintritt eine 4tägige Pause. 

Die Grundlage der Antipyrin-Idiosynkrasie bildet also eine 
auf einer anormalen konstitutionellen Disposition beruhende be- 
sondere Zellreaktion. Wenn man die Idiosynkrasie von diesem 
Standpunkte aus zu verstehen sucht, dürfte man kaum auf die Idee 
kommen, diese Disposition durch Einspritzen von Serum des Trägers 
auf ein anderes Lebewesen zu übertragen. Wenn wirklich solche 
Versuche ausgeführt worden sind, so waren die Experimentatoren 
durch das Schema der Anaphylaxieforschung dazu verleitet worden. 
Wie soll es möglich sein, daß eine Antipyrin-Idiosynkrasie auf ein 
Meerschweinchen verpflanzt wird, indem 5 ccm Idiosynkrasiker- 
serum dem Tier parenteral zugeführt werden? Es wird zwar eine 
Anaphylaxie gegen Menschenserum resultieren, und wenn wirklich 
etwas von dem anormalen Eiweißkörper (Antigen) in diesem Serum 
vorhanden war, werden vielleicht auch Antikörper gegen diesen 
gebildet. Um aber dann einen anaphylaktischen Shock zu erzeugen, 
muß neues Antigen eingeführt werden, aber nicht Antipyrin. 
Oder sollte jemand glauben, durch die Seruminjektion die anormale 


46 GÜNTHER 


konstitutionelle Disposition im Körper des Versuchstieres hervor- 
zaubern zu können ? 


Und doch behaupteten Bruck und Klausner, diese und 
andere Idiosynkrasien auf Meerschweinchen übertragen zu haben. 
Klausner spritzte ein Meerschweinchen mit 5 cem Idiosynkrasiker- 
serum und nach 24 Stunden mit 0,3 Antipyrin (Kontrolle mit 
Normalserum); nach wenigen Stunden erfolgte der Tod des Tieres. 
Wurde bei einem 2. Tiere die Pause zwischen beiden Injektionen 
auf 48 Stunden verlängert, so folgte das gleiche Resultat; bei einem 
3. Tier wurde die Pause auf 8 Tage verlängert, — es erfolgten in 
den ersten Sekunden nach der Antipyrininjektion schwere tonisch- 
klonische Krämpfe, von denen sich das Tier aber erholte.e Wurden 
von einem vorbehandelten Tier 4 ccm Serum auf ein anderes Tier 
übertragen, so sei auch hier die Sensibilisierung gelungen. Die 
Versuche wurden schon von Bayer, Königsfeld u. a. kritisiert, 
eine für Meerschweinchen typische Anaphylaxie wurde nicht be- 
obachtet. Königsfeld’s Versuche an Meerschweinchen (Idio- 
synkrasikerserum subkutan, 0,005 Melubrin intravenös) verliefen 
negativ; er erlebte aber einen geringen Shock, wenn die Meer- 
schweinchen nicht mit Serum allein, sondern mit Serum + 10°, 
Melubrinlösung ää behandelt wurden. Bayer versuchte sogar, die 
Idiosynkrasie auf sich selbst zu übertragen, indem er sich 5 ccm 
Serum eines Patienten einspritzte, der auf Pyramidon mit Asthma 
reagierte; natürlich mit negativem Resultat. Ä 


Trotz der mangelhaften theoretischen Basis entschloß ich mich 
dazu, die Meerschweinchenversuche in der Weise zu reproduzieren, 
daß zunächst die Verträglichkeit von 1 ccm 50°/,iger Melubrin- 
lösung subkutan (also 0,5 Melubrin) festgestellt wurde. Es wurden 
3 Meerschweinchen mit je 5 ccm Serum meines Antipyrin-Idio- 
synkrasiefalles vorbehandelt (dazu eine Kontrolle mit Normalserum); 
nach 24 Stunden erhielten die vorbehandelten Tiere und 3 nicht 
vorbehandelte je 1 ccm 50° piger Melubrinlösung subkutan (also 
eine wesentlich höhere Dosis als in Königsfeld’s Versuch). Es 
traten keinerlei Zeichen eines Shocks auf. Auch die nach 8 Tagen 
erfolgte nochmalige Injektion von 1 ccm Melubrinlösung war 
wirkungslos. 

Da wir das Eiweißantigen nicht kennen, auch nicht wissen, ob es 
vielleicht eine Eiweißverbindung des Antipyrins ist, sind weitere Versuche 
in dieser Richtung nicht möglich. Es sei aber nebenbei erwähnt, daß 


Mayer und Alexander Meerschweinchen gegen diazotiertes Atoxyl- 
Pferdeserum sensibilisieren konnten, nicht aber gegen Atoxyl allein. 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 47 


Für die Übertragungsversuche mit der intrakutanen 
Quaddelmethode gelten dieselben theoretischen Erörterungen. 
Außerdem ist nicht einmal vorauszusetzen, daß ein Idiosynkrasiker 
auf die intrakutane Applikation des spezifischen Mittels immer an 
dieser Stelle reagiert. Cooke weist darauf hin, daß Aspirin-Idio- 
synkrasiker nur dann mit Aspirin eine positive Kutanreaktion 
geben, wenn sie bei interner Verabreichung im Anfall mit Haut- 
exanthem (Urtikaria) reagieren und daß umgekehrt Fälle mit 
dauernd negativer Intrakutanreaktion nach Aspirineinnahme nur 
Asthma, aber kein Exanthem bekommen. Demnach brauchen nicht 
alle Antipyrin-Idiosynkrasiker eine positive Intrakutanreaktion 
zeigen, außerdem brauchen nicht alle positiven Reaktionen in der 
gleichen Weise verlaufen. 

Eine positive Intrakutanreaktion stellte Königsfeld an sich 
selbst fest. Auf die intrakutane Injektion von 0,1 ccm einer 
50% igen Melubrinlösung erfolgte nach 1 Stunde Rötung und 
Schwellung von 3 cm Durchmesser und zentraler Blasenbildung, 
nach 2 Stunden Rückgang der reflektorischen Rötung und Schwellung, 
aber hämorrhagische Verfärbung der Blase, nach 7 Stunden 
Schnupfen und Husten, nach 9 Stunden Zunahme der Nasenreaktion, 
Dyspnoe, nach 11 Stunden Anfangszustand (nach 4 Monaten noch 
linsengroße, gerötete glatte Narbe an Injektionsstelle). Aus eigenen 
Versuchen folgt, daß die lokalen Hautsymptome noch nicht als 
lokale idiosynkrasische Reaktion aufgefaßt werden müssen. 

Bei meiner Patientin zeigte die Intrakutanprobe eine andere 
lokale Reaktion. Verwendet wurde gleichfalls eine 50 °/,ige Melubrin- 
lösung. An jedem Unterarm wurden vorm 9°° zwei Melubrinquaddeln 
zu 0,1 ccm gesetzt (Melubrindosis in Summa 0,2), außerdem zur 
Kontrolle mit 0,1 ccm physiologische Kochsalzlösung 6 Quaddeln 
(Durchmesser der Quaddeln unter 1 cm). Nach 20 Minuten waren 
die Melubrinquaddeln leicht gerötet und hatten größere Flächen- 
ausdehnung gewonnen (1,5 bis 2,0 cm Durchmesser), außerdem am 
linken Arm an oberer Quaddel geringe zentrale Hämorrhagie, an 
unterer Quaddel Spur einer Hämorrhagie. Von 11 Uhr Frösteln. 
Hautbrennen am ganzen Körper, stärkere Gelenkschmerzen, 11°° 
Konjunktivitis, Ausdehnung der Quaddeln, die als große weiße 
Flecke sichtbar sind, auf 3 bis 5 cm Durchmesser. 12?° Schüttel- 
frost, Temp. 37,6, stärkerer Schulterschmerz. Das Fieber erreicht 
2 Uhr sein Maximum (394°) und ist abends 8 Uhr noch 38°. 
Nachm. 53° sind die Quaddeln geschwunden, keine Blasenbildung 
nachweisbar; aber an allen Injektionsstellen eine tiefer liegende, 


48 GÜNTHER 


gegen Druck nicht empfindliche Gewebsverhärtung von etwa 
5 cm Durchmesser fühlbar. Die Kochsalzkontrollstellen ver- 
hielten sich dauernd völlig normal. Am folgenden Tag vorm. 11 Uhr 
sind die ziehenden Gelenkschmerzen geringer, Konjunktivitis ist 
geschwunden, die Temperatur normal. Die sensationsfreien Melubrin- 
injektionsstellen sind als dunkler und cyanotisch gefärbte Kreis- 
flächen von etwa 2 cm Durchmesser (l. u. von 5 cm Durchm.) sicht- 
bar; die cyanotische Farbe schwindet bei Druck mit der Glasplatte. 
Am linken Arm sind noch Spuren der geringen zentralen Hämor- 
rhagie bemerkbar. Es besteht Hautjucken an Rücken und Beinen 
{Pruritus bestand in letzter Zeit häufig und auch unabhängig von 
Medikamenten). Es war also eine deutliche lokale und allgemeine 
Reaktion aufgetreten. 

Die Übertragungsversuche von Königsfeld verliefen 
folgendermaßen: Bei drei Versuchspersonen wurden an beiden 
Unterarmen je eine intrakutane Quaddel mit Idiosynkrasiker-Serum 
und Normalserum gesetzt und am folgenden Tage an der gleichen 
Stelle je 0,1 ccm 50°/,iger Melubrinlösung injiziert. Eine positive 
Reaktion wurde dann angenommen, wenn Jucken, stärkeres reflek- 
torisches Erythem und stärkere Schwellung als an den Kontrollstellen 
(Normalserum und ohne Serum) und (bei 3 von 6 Quaddeln) eine 
zentrale Blasenbildung auftrat. Es wurde daher bei allen 3 Per- 
sonen ein positives Resultat verzeichnet. 

Meine Versuche wurden in entsprechender Weise angestellt. 
Am 8. XII. 1925 Blutentnahme bei der antipyrin-idiosynkrasischen 
Patientin B. und intrakutane Injektion dieses „Serum B.“ bei 
3 Personen (I. Gei. 27jähr. 2, Cystitis; II. Gör. 25jähr. 2 eosinophile 
Diathese, Asthma, III. Sti. 19jähr. @ Gonorrhöe, Cystitis). Bei 
allen Personen wurde in der Mitte der Beugeseite jeden Unter- 
armes je eine intrakutane Quaddel mit 0,1 Serum B uud 4 ccm 
oberhalb eine Quaddel mit Normalserum gesetzt. Es traten danach 
keine besonderen Reaktionen auf, am folgenden Tag war nur eine 
Spur der Einstichstelle sichtbar. Am 9. XII. wurden 24 Stunden 
nach der Serumvorbereitung in jede Seruminjektionsstelle je 0,1 ccm 
50 °', Melubrinlösung injiziert und außerdem 4 ccm unterhalb dieser 
Stellen noch je eine Melubrinquaddel in unvorbereitete Haut 
appliziert. In Summa wurden also bei jeder Person 6 Quaddeln 
gesetzt. Bei den 3 Personen I—III ergab sich der in Tabelle 3 
verzeichnete Verlauf. Fieber trat bei keiner Patientin auf. 

Aus meinen Versuchen ergibt sich, daß die von Königsfeld 
als positiv bezeichneten Reaktionen nur Folgen der toxischen 


49 


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152. Bd. 


izin. 


Deutsches Archiv für klin. Med 


50 GÜNTHER 


Wirkung der hochprozentigen Melubrinlösung sind und keineswegs 
die Übertragung einer Idiosynkrasie beweisen können. Denn die 
mit Idiosynkrasiker-Serum vorbehandelten Stellen meiner Versuchs- 
personen zeichneten sich durch keine wesentlichen Besonderheiten 
vor den Kontrollstellen aus. (Den minimalen Infiltraten der In- 
jektionsstellen nach 24 Stunden bei 2 Personen kann kein be- 
sonderes Gewicht beigelegt werden, da sie auch bei Normalserum 
vorkamen.) Im Gegensatz hierzu hatten die Intrakutanreaktionen 
meiner Idiosynkrasie-Patientin in tiefere Gewebsschichten sich ver- 
breitende, harte, lokale Infiltrate und eine starke Allgemein- 
reaktion zur Folge. Eine Übertragung der Antipyrin-Idiosynkrasie, 
welche schon nach meiner Theorie unwahrscheinlich ist, läßt sich 
also durch das Experiment nicht einwandfrei nachweisen. 

Die hier aufgestellten konstitutionellen Reaktionstypen gelten 
zunächst nur für die Antipyrin-Idiosynkrasie. Eine Verallge- 
meinerung ist nicht statthaft. Die Typen haben nicht einmal für 
alle Arzneimittelidiosynkrasien Geltung, schon aus dem Grunde, 
weil manche sog. Arzneimittel-Idiosynkrasien gar keine Idiosyn- 
krasien im Sinne unserer Definition sind. 

Idiosynkrasie ist eine besondere Form anaphylaktischer „Über- 
empfindlichkeit“, sie zeigt aber keine Steigerung der reizadäquaten 
Empfindlichkeit an, sondern eine Empfindlichkeit, die auf einer 
normalen konstitutionellen Basis überhaupt nicht eintritt. Es 
handelt sich daher nicht um eine „Überempfindlichkeit“, sondern 
um eine Andersempfindlichkeit. „Überempfindlichkeit“ be- 
deutet eigentlich eine Steigerung der schon normalerweise er- 
folgenden Reaktion. Da aber das Wort „Überempfindlichkeit“ sich 
in der Wissenschaft schon zu sehr in der verschobenen Bedeutung 
eingebürgert hat, soll es hier in seiner eigentlichen Bedeutung 
überhaupt nicht angewendet werden, um Mißverständnisse zu ver- 
meiden. Eine über die Norm gesteigerte, reizadäquate Reaktion 
soll hier Überreizbarkeit (Superirritabilität) benannt werden; 
der Gegensatz ist die Unterreizbarkeit (Subirritabilität). Werden 
bei einer großen Zahl von Individuen einer Population die Reaktionen 
auf einen bestimmten Reiz untersucht, so ergeben sich mannigfaltige 
quantitative Abstufungen der Reizbarkeit, welche wir in eine 
fluktuierende Variationsreihe mit den Normbereichen der Unter- 
reizbarkeit, normalen Reizbarkeit und Überreizbarkeit einordnen 
können, deren äußerste Enden die anormale Überreizbarkeit und 
anormale Unterreizbarkeit darstellen. Die Idiosynkrasie dagegen, 
resp. die Andersempfindlichkeit stellt der reizadäquaten Empfindlich- 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 51L 


keit gegenüber eine alternative Variante dar; die Idiosynkrasiker 
sind im Sinne meiner Konstitutionslehre bezüglich ihrer anormalen 
konstitutionellen Disposition Heterotypen. 

Als Beispiel sei die „Jodidiosynkrasie“ unter Ausschluß 
der Jodoformidiosynkrasie angeführt. Es wird behauptet, daß eine 
Idiosynkrasie gegen Jodkali vorkomme, also eine Andersempfindlich- 
keit gegenüber der bekannten Jodintoxikation mit dem Kardinal- 
symptom der Akne. Wohl jedem Arzt sind die großen individuellen 
Unterschiede der Reizbarkeit bei der Jodkalitherapie aufgefallen, 
der Auftritt der Jodakne wird als warnendes Signal gesichtet. 
Nicht nur eine konstitutionelle Disposition ist für den Grad der 
Reizbarkeit entscheidend, sondern vielmehr pathologische Zustände. 
Es werden Patienten mit manchen Infektionskrankheiten (Lepra), 
Dermatitis herpetiformis, Graviditätsdermatosen als jodüberreizbar 
bezeichnet (Jadassohn). Besonders werden Fälle mit Herz- oder 
Niereninsufficienz infolge mangelhafter Jodausscheidung zu einer 
Kumulation des Jodes im Organismus neigen und schon nach ge- 
ringeren Dosen Intoxikationserscheinungen, speziell Akne zeigen. 
Eine toxische Überreizbarkeit bei Jodbehandlung kann daher viel- 
leicht weniger auf anormaler konstitutioneller Grundlage entstehen, 
als eher in einem durch Krankheit geschädigten Organismus, be- 
sonders bei Erhöhung des toxischen Reizes infolge mangelhafter 
Ausscheidung des Giftes. Wenn in solchen Fällen schon nach ge- 
ringen Jodgaben eine starke Jodakne auftritt, so darf man diesen 
Zustand nicht als Idiosynkrasie bezeichnen, da keine durch Um- 
stimmung des Organismus erworbene Andersempfindlichkeit nach- 
weisbar ist. Die in der Literatur verzeichneten Fälle von „Jod- 
idiosynkrasie* (Klausner) erweisen sich nicht als Idiosynkrasie. 
Es wurde aber von Klausner sogar die Übertragbarkeit der ver- 
meintlichen Jodkaliidiosynkrasie auf Meerschweinchen durch In- 
jektion des Patientenserums behauptet. 


Über zwei selbst beobachtete Fälle von Jod-Superirritabilität 
wird im folgenden berichtet. 


l. Fall. Wenzel U. 50 jähriger Arbeiter. In mediz, Klinik 13. XII. 
1920 bis 21. IV. 1921 wegen chronischer Endokarditis, Perikarditis, 
Verdacht auf Viridans sepsis; wurde fiebernd gegen Revers entlassen. 
Antipyrin hatte er längere Zeit gut vertragen. Am 12. V. 1921 
Wiederaufnahme in sehr schwerem Krankheitszustande. Es bestand eine 
chronisch-septische Erkrankung, ulceröse Endokarditis der Aorten- und 
Mitralklappen, chronische Perikarditis, hämorrhagische Nephritis, Ascites, 
Anasarka, sekundäre Anämie. Wiederholte Blutkulturen blieben steril. 
Wassermannreaktion negativ. 


4# 


52 GÜNTHER 


Am 16. V. erhielt er 2mal 0,5 Antipyrin. Am gleichen Tage 
wurden zahlreiche Petechien an beiden Unterschenkeln bemerkt, einzelne 
am Rumpf und rechten Unterarm. Antipyrin wurde ausgesetzt. Am 
17. V. wurde 2mal 0.5, am 18. V. 3mal 0,5 Jodkali als Expectorans 
gegeben (damals wurde auch wieder Jod bei septischen Erkrankungen 
von Boudreau empfohlen). Am 18. V. wurden linsengroße Papeln 
an der Brust bemerkt. Jod wurde ausgesetzt. Am 19. V. zahlreiche 


Abb. 1. 


Aknepusteln an Brust und Rücken (stärker an rechter Seite, auf der 
Patient immer liegt). 20. V. traten auch Eruptionen an Kopf, Gesicht 
und Hals auf, teils seröse Bläschen, teils Pusteln (Schleimhäute und Fuß- 
sohlen frei). Starker Juckreiz und Kratzeffekt. Am folgenden Tag er- 
schienen einzelne Pusteln gedellt und gekammert, Isolation wegen Variola- 
verdacht. Am 23. V. Purpura ziemlich abgeblaßt. Kratzekzem im 
Gesicht. .Jodreaktion im Urin positiv, nicht im Pustelinhalt. Impf- 
versuche der Kaninchencornea negativ. Am 24. V. große Pusteln bis 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 53 


0,5 cm Durchmesser am Kopf, am Rumpf keine weitere Ausbreitung, 
zunehmende Suppuration; abends am Kopf bis Lohnengroße Blasen mit 
trübserösem Inhalt, Stomatitis. 25. V. wurde Diagnose Variola von Herrn 
Prof. Rille ausgeschlossen. An Händen treten Flecke mit zentralen 
schwärzlichen Nekrosen auf. Blutentnahme zum Meerschweinchenversuch 
(s. u.) Pusteln bisher steril, enthalten jetzt reichlich Staphylokokken. 
Am 26. V. treten am Rücken neue Effloreszenzen auf (vgl. Abb. 1). 
Die Jodprobe des Urins ist bisher täglich positiv und noch am 27. V., 
also 9 Tage nach Aussetzen des Jodkali schwach positiv. Am 28. V. 
Erysipel am rechten Oberarm; am 29. V. Exitus an Herzschwäche. Die 
Sektion ergab außerdem eine eitrige Pleuritis mediastinalis rechts und 
Leptomeningitis. 

Diese Krankheitsbeschreibung zeigt, daß die Deutung der 
mannigfaltigen Hautexantheme große Schwierigkeiten verursachte. 
Die Purpuraerscheinungen an den unteren Extremitäten konnten 
durch den septischen Zustand bedingt sein; sie traten aber am 
gleichen Tage auf, an dem der Patient zweimal 0,5 Antipyrin er- 
halten hatte, das er vor einigen Monaten ohne Nebenerscheinungen 
vertragen hatte. An die Möglichkeit einer Umstimmung durch die 
frühere Antipyrintherapie und einer jetzt manifesten Antipyrin- 
idiosynkrasie war zu denken; das Mittel wurde sofort ausgesetzt, 
die Purpuraerscheinungen gingen nach 7 Tagen zurück. 

Das pustulöse juckende Exanthem, welches seltsame dermato- 
logische Adspekte bot und zeitweilig variolaverdächtig war, trat 
am 2. Tage der Jodtherapie (nach etwa 2 g Kal. jodat.) auf. 
Einzelne bis bohnengroße Blasen, mehrkammerige Pusteln, zentrale 
Nekrosen, Kratzekzem geben ein kompliziertes Symptomenbild. lm 
Harn wurde noch 9 Tage lang nach Aussetzen der Jodtherapie Jod 
ausgeschieden, es fand also eine hochgradige Retention statt. Die 
Pusteln waren in der ersten Zeit steril, im Eiter kein Jod nach- 
weisbar. Nicht mit absoluter Sicherheit, aber mit größter Wahr- 
scheinlichkeit konnte ein Jododerma bullosum angenommen 
werden. 

Die Wahrscheinlichkeit wird noch dadurch erhöht, daß am 
Ende des gleichen Jahres ein ganz analoger Fall von Schoen- 
hof beschrieben wurde. Es handelte sich bier ebenfalls um eine 
(wohl septische) Endokarditis der Aorten- und Mitralklappen und 
hämorrhagische Nephritis bei einem 34jährigen Mann, der außer- 
dem eine apoplektische Hemiplexie bekam. Nach 3 Tage langen 
kleinen Jodgaben (in Summa 0,7 „Jod“) trat an Gesicht und Händen 
ein Jododerma bullosum auf (bis dattelgroße Blasen). Auch hier 
gelang noch am 9. Tage nach Aussetzen des Mittels der Jodnach- 


54 | GÜNTHER 


weis im Harn. Die Hautatfektion heilte völlig aus. Der Patient 
starb später nach nochmaliger Apoplexie (durch Sektion bestätigt. 
Die Entstehung des Jododerma wurde auf starke Retention des 
Jodes infolge Niereninsufficienz zurückgeführt. Bezüglich der 
Nekrosenbildung bei meinem Patienten sei ein vielleicht analoger 
Fall angeführt, der von Fischer 1856 als Jodexanthem be- 
schrieben wurde. Bei einem jungen Menschen mit letaler Endo- 
und Pericarditis färbte sich im Stadium des Kollapses das Jod- 
exantlıem („Quaddeln“) dunkelrot, dann schwarz und gangränes- 
zierte in ganzer Hautschicht bis zum Unterhautzellgewebe. 

Einige Jahre später kam ein ganz entsprechender Fall in 
klinische Beobachtung, der sicher als Jododerma zu bezeichnen ist. 

Fall 2. A. J. 42jähr. Fräulein mit starker Kyphoskoliose. Seit 
Kindheit Herzbeschwerden. 1921 bei Behandlung einer Handphlegmone 
Unverträglichkeit der Jodtinktur aufgefallen. Febr. 1924 mit Herz- 
beschwerden erkrankt. Am 14. V. Aufnabme in mediz. Klinik. Am 
16. und 17. V. je 2 g Kal. jodatum. Am 18. V. starke Jodakne im 
G:sicht, geringere an Nacken und Unterarmen. Am 21. V. erreichte die 
Akne ihr Maximum, es bestanden große, eingedellte Pusteln, Tachykardıe. 
Fieber bis 38,2%. Jodkali wurde am 18. V. ausgesetzt (in Summa 
4 g erhalten. Nach 8 Tagen waren die Hauteruptionen geheilt. 
Klinische Diagnose: Chronisch-septische Endokarditis, hämorrhagische 
Nepbritis, Milziumor, Anämie, Jododerma. Die Erkrankung fühıite am 
19. XI. 1924 zum Exitus. 

Die Tatsache ist beachtenswert, daß die Jodsuperirritabilität 
in den drei vorliegenden Fällen auf der gleichen pathologischen 
Basis entstanden ist, die in den Bereich der „Endocarditis lenta“ 
gehört. In allen Fällen muß die bestehende Nieren- und Herz- 
insufficienz als Ursache der erhöhten Jodretention in erster Linie 
für die Hauterscheinungen verantwortlich gemacht werden, wenn 
auch der allgemeine chronisch-septische Zustand möglicherweise zu 
einer Steigerung der Irritabilität mit beitragen kann. Diese Tripli- 
zität der Fälle bei dem sonst nicht so häufigen Vorkommen des 
schweren ‚Jododerma kann zu der umgekehrten Fragestellung ver- 
leiten. ob vielleicht zur Endocarditis lenta Disponierte relativ 
häufiger eine konstitutionelle Disposition zur Jodsuperirritabilität 
haben. Wenn auch die Steigerung der Jodintoxikation durch die 
Erkrankung in erster Linie für die Ätiologie des Jododerma mab- 
geblich erscheint, darf doch eine weitere konstitutionelle Kum- 
ponente nicht ganz auber acht gelassen werden, zumal bei einer 
Patientin (2. Fallı gewisse Hinweise vorhanden sind, daß bereits 
vor Beginn des schweren Leidens eine Jodsuperirritabilität (bei 
äuberlicher Anwendung des Jod) bestanden hat. 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 55 


Obwohl in den von mir beobachteten Fällen das Jododerma als 
Jodintoxikation infolge mangelhafter Ausscheidung des Jodes, viel- 
leicht bei einer gleichzeitigen konstitutionellen Disposition zur Jod- 
superirritabilität aufzufassen war und kein Grund zur Annahme 
einer Jodidiosynkrasie vorlag, wurde doch mit Rücksicht auf die in 
der Literatur vorliegende Behauptung das Experiment der Serum- 
übertragung auf Meerschweinchen vorgenommen. 

Am 23. V. 1921 erhielten Meerschweinchen I u. II früh 83° je 
0,25 Kalium jodatum intraperitoneal. Am 24. V. früh 9*° wurde 
bei M. I 5 ccm Serum eines Nephritikers mit abgelaufener Urämie, bei 
M. II und M. III je 5 ccm Serum des 1. Falles von Jododerma subkutan 
eingespritzt. In den folgenden Stunden zeigte M. I krampfartige 
Zuckungen, Mattigkeit, Schwäche der Hinterbeine, während M. II sich 
normal verhielt und M. III etwas matt war. Nachm. 31° erhalten M. I 
und M. II nochmals 0,25 Kal. jodat. intraperitoneal. Danach bleibt 
M. I, das sich vorher völlig erholt hatte, normal, M. II bekommt sofort be- 
schleunigte keuchende Atmung, nach 20 Min. Krämpfe (nach 4 Std. 
völlig munter). In den folgenden 2 Tagen verhalten sich alle 3 Tiere 
ganz munter, am 27. V. früh ist M. I tot. 

Dieses Ergebnis könnte zu der unvorsichtigen Deutung ver- 
leiten, daß durch das Patientenserum eine Jodüberempfindlichkeit 
übertragen wurde. Doch stammt erstens das Serum nicht von einem 
Idiosynkrasiker und zweitens haben die Symptome bei Meer- 
schweinchen II, falls sie überhaupt auf die Seruminjektion bezogen 
werden sollen, nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Krankheits- 
erscheinungen des Serumspenders. 

Auch bei Fall 2 wurden Übertragungsversuche auf Meer- 
schweinchen vorgenommen und zwar wurde der Versuch viermal 
mit den nötigen Kontrollen wiederholt, ohne jemals ein einwand- 
freies positives Ergebnis zu haben. 

Diese Versuche haben also ein Resultat, wie es nach den hier 
gegebenen theoretischen Erörterungen nicht anders zu erwarten 
ist. Eine Arzneisuperirritabilität läßt sich ebensowenig, wie eine 
Idiosynkrasie, auf Versuchstiere übertragen. Erst wenn es gelingt, 
das entsprechende Antigen zu isolieren, kann man mit diesem eine 
experimentelle Anaphylaxie erzeugen. 

Wenn auch die genauer beschriebenen Fälle nicht als Idio- 
synkrasie gegen Jodkali zu deuten sind, ist es trotzdem nicht aus- 
geschlossen, daß es eine echte Jod-Idiosynkrasie gibt. Diese Ver- 
mutung wird besonders durch eine ältere Mitteilung (1859) von 
Fischer bekräftigt. Dieser Autor teilt die Jodexantheme in 
4 Gruppen ein: 1. Fieber mit Eıythem, 2. Urtikaria ohne Fieber, 


6 GÜNTHER 


3. pustulöses Exanthem, 4. das seltene Jodekzem, welches meist 
am behaarten Kopf und in der Umgebung des Skrotums auftritt. 
Von anderer Seite sind auch Ödeme der Augenlider beschrieben 
worden. Ich kann daher den Hinweis nicht unterlassen, dağ 
Fischer’s Gruppen 1, 2 und 4, falls sie sich wirklich auf Idic- 
synkrasien gegen Jod beziehen, den von mir aufgestellten drei 
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie nahe stehen. Seine Gruppe 3 
umfaßt wohl Fälle von Jod-Superirritabilität, wie sie auch hier be- 
schrieben wurden. 

Es seien hier einige Beispiele gegeben, daß auch andere Arznei- 
Idiosynkrasien die hier gegebenen Konstitutionstypen aufwiesen. 
Nach Mitteln der Veronalgruppe reagierten als Pyretiker mit 
Exanthem und hohem Fieber die Fälle von Fürbringer, Haug, 
Juliusburger und König (mein Antipyrinfall reagierte auf diese 
Substanzen nicht). Interessant ist ein Fall Zeislers, der auf 
Antipyrin mit Urtikaria reagierte und nach 0,3 bis 0,5 Veronal 
Symptome der Gruppe 3 bot (mehrmals nach 12—18 Stunden rote 
runde juckende Flecke an Präputium und Glans, Bildung seröser 
Blasen und Krusten). Ein anderer Fall Zeislers bekam nach 
Veronal ekzematöse Eruptionen an der Eichel. Silberstein 
reagierte selbst nach Purgentabletten (Phenolphthalein) als Herpe- 
tiker mit bullöser Stomatitis und herpesähnlichen Eruptionen am 
Glied. 

Wenn man von der Jod-Superirritabilität absieht, behandeln 
vorliegende Feststellungen ein einheitliches, abgegrenztes Material 
in dem größeren Gebiete der Anaphylaxie. Wünschenswert ist eine 
entsprechende Bearbeitung der übrigen klinischen Formen der Ana- 
phylaxie. Dann wird sich ergeben, welche Bedeutung die hier auf- 
gestellten konstitutionellen Typen im Bereiche der klinischen Ana- 
phylaxie überhaupt haben, und ob noch weitere Typen aufgestellt 
werden müssen. Der anaphylaktische Shock ist zweifellos ein 
monogenetischer Krankheitszustand, da ein Toxin zu seiner 
Auslösung als einziger Faktor bei einem bestimmten Individuum 
genügt. Auf den Begriff des monogenetischen und polygenetischen 
Krankheitszustandes bin ich in einer früheren Arbeit (6) näher 
eingegangen, wo ich besonders die Beziehung zur Symmetrie und 
Lokalisation des Krankheitsherdes klarzustellen suchte. Nun ist 
es bekannt, daß es zur Idiosynkrasie disponierte Individuen gibt, 
die nicht nur durch ein bestimmtes Reizmittel, sondern auch durch 
ein anderes oder mehrere andere in den anaphylaktischen Zustand 
geraten. Für diesen Vorgang darf man aber nicht die Bezeichnung 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. DT 


„polygenetisch“ anwenden, die sich nur auf den gegebenen 
Krankheitszustand selbst und seine Ätiologie bezieht. Man kann 
aber von einer polyvalenten Umstimmung sprechen und darunter 
die Möglichkeit verstehen, daß mehrere Reize ein bestimmtes Indi- 
viduum anaphylaktisch umzustimmen vermögen. Wie ich bereits 
hervorgehoben habe, kann es für die Konstitutionslehre Bedeutung 
haben, wenn für eine größere Zahl solcher Individuen die Poly- 
valenz-Komplexe und eventuell gewisse Gesetzmäßigkeiten 
dieser Komplexe festgestellt werden. Ferner ist zu untersuchen, 
ob ein Individuum mit polyvalenter Umstimmung stets mit dem 
Symptomenbild einer konstitutionellen Gruppe reagiert, oder ob 
verschiedenartige Antigene bei demselben Individuum verschiedene 
Modifikationen des Shockes auslösen; letztere Annahme ist weniger 
wahrscheinlich. Die Familienforschung findet Stammbäume mit 
hereditärer Disposition zu Idiosynkrasien mit verschiedenartigen 
Manifestationen der Anaphylaxie und wird später versuchen, die 
inneren konstitutionellen Zusammenhänge solcher familiären 
Idiosynkrasiekomplexe aufzuspüren. 

Eine Sammelforschung Hanbart’s z. B. über 2000 Pollenidiosyn- 
krasiker ergab, daB 34°, der Fälle familiär waren und 9 °/, auch andere 
Idiosynkrasien in der Familie aufwiesen, dab 10°, der Pollenidiosyn- 
krasiker auch gegen andere Eiweibe, wie Erdbeeren, Primeln, Pferde- 
serum, Käse, Eier, Fische, Krebse anaphylaktis-h und relativ selten mit 
Arzneimittelidiosynkrasien (Antipyrin usw.) behaftet waren. 

Solche vorbereitenden Arbeiten sind nötig, ehe wir uns auf 
weitere konstitutionelle Theorien einlassen. Es liegen schon Ver- 
suche vor, konstitutionelle Korrelationen aufzustellen, doch sind sie 
rein spekulativer Art. Die Anaphylaxie entstehe auf der Basis 
des „Status degenerativus“, „Status Iymphaticus“, „Arthritismus“. 
Sie sei durch niedrigen Harnsäurespiegel und Calciumgehalt des 
Blutes charakterisiert. Die wissenschaftliche Konstitutionslehre 
kann mit dem Status degenerativus nicht viel anfangen und be- 
wertet auch den Status lymphaticus nicht mehr in dem Maße, wie 
vor 10—20 Jahren. Auch das Schlagwort „Arthritismus* — in 
Frankreich Mode, bei uns geduldet — wird keine Vertiefung des 
Problemes bringen und sich für die anaphylaktischen Zustände 
generell nicht anwenden lassen. Der Arthritismus soll äußerlich durch 
den hypersthenischen Habitus (Brevitypus, Breitwuchs) charakte- 
risiert sein. Jeder wird Idiosynkrasiker kennen, welche gerade den 
entgegengesetzten hyposthenischen Habitus (Longitypus) aufweisen. 

Es ist auch zu viel behauptet, wenn die Anaphylaxie schlecht- 
hin als eosinophile Diathese gedeutet wird oder in noch 


D8 GÜNTHER 


weiter gesponnener Spekulation englischer Autoren als „Hyp- 
adrenalismus“ oder Hypofunktion der Nebennieren. Nach meinen 
Feststellungen sind wir vorläufig nur berechtigt, die Mitglieder 
meiner 2. Gruppe der Oxyphilen der eosinophilen Diathese zuzu- 
ordnen, die Mitglieder der beiden anderen Gruppen dagegen nicht. 
Die Korrelation zur Neuropathie oder Psychopathie ist noch plan- 
mäßig zu prüfen. 

Es ergibt sich also vorläufig kein weiterer einheitlicher kon- 
stitutioneller Gesichtspunkt, unter dem die Idiosynkrasie zusammen- 
gefaßt werden kann, als der in der Definition bereits gegebene. 

Wir kommen zu folgenden Schlußsätzen: 

1. Die Idiosynkrasie ist eine auf einer anormalen konstitutio- 
nellen Disposition entstandene besondere Form der Anaphylaxie. 
Sie beruht nicht auf einer reizadäquaten, gesteigerten Empfindlich- 
keit des Organismus, also nicht auf einer Überreizbarkeit (Super- 
irritabilität), sondern auf einer Andersempfindlichkeit 
infolge anaphylaktischer Umstimmung des Organismus. Während 
die Vorbereitung der Schulanaphylaxie gewöhnlich durch paren- 
teral zugeführte körperfremde Eiweißkörper als Antigene geschieht, 
erfolgt bei der Idiosynkrasie die Entstehung des körperfremden 
Eiweißes durch anormale Vorgänge in dem dazu konstitutionell 
disponierten Organismus selbst. Der Nachweis der durch das gleiche 
Reizmittel erfolgten Vorbereitung zur Umstimmung ist nicht immer 
möglich, aber auch die Nahrungsmittel-Idiosynkrasie ist auf gleiche 
Weise entstanden zu denken. 

2. Das Studium der anaphylaktischen Symptome bei der hier 
behandelten Antipyrin-Idiosynkrasie, die nur auf anormaler 
konstitutioneller Basis entstehen kann, ergibt, daß diese Auslese 
anormaler Individuen nicht nach einem einheitlichen Schema 
reagiert, sondern individuelle Unterschiede zeigt, welche sich in 
3 Gruppen von konstitutionellen Reaktionstypen ordnen lassen. 
Die erste Gruppe der Pyretiker reagiert mit einem von Schüttel- 
frost eingeleiteten hohen Fieberanfall, lokalen Schmerzen bei patlıo- 
logischen Prozessen und oft örtlich fixierten oder universellen 
Exanthemen verschiedener Art. Die zweite Gruppe der Oxy- 
philen bietet die Symptome der Urtikaria, Asthma bronchiale, 
angioneurotische Ödeme (bei Eosinophilie des Blutes). Die dritte 
Gruppe der Herpetiker ist neben geringen Reaktionen eines 
solitären Lippenherpes durch das besondere Syndrom des Herpes 
orogenitalis ausgezeichnet, nämlich Herpes der Mundgegend (Lippen, 
Zunge, Wangenschleimhaut, Gaumen) und des Genitales (Penis, 


Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 59 


scrotum, vulva), dazu mitunter Herpeseruptionen an anderen Körper- 
stellen; diese Gruppe weist eine deutliche Prädisposition des männ- 
lichen Geschlechtes auf. 

3. Die beschriebenen, durch Jodkali bedingten Krankheits- 
zustände sind nicht als Idiosynkrasie, sondern als $uperirri- 
tabilität zu deuten. Es besteht die Möglichkeit, daß es auch 
eine echte Jod-Idiosynkrasie gibt. 

4. Die Antipyrin-Idiosynkrasie und die Jod-Superirritabilität 
lassen sich nicht experimentell durch Injektion von Pätientenserum 
auf Versuchstiere übertragen. Auch die intrakutane Methode führt 
bei Antipyrin-Idiosynkrasie in der Haut von Nichtidiosynkrasikern 
zu keiner Reaktion, welche als Idiosynkrasie gedeutet werden 
könnte, besonders auch nicht zu einer Allgemeinreaktion. 


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61 


Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 


Zugleich über eine neue Entstehungsweise der Hämo- 
globinurie. 
Von 


Dr. A. Hanser, Mannheim. 


Im Arch. f. klin. Med. (Bd. 42) hat Boström schon 1888 auf 
einige eigene und Beobachtungen anderer Autoren gestützt eine 
interessante und praktisch sehr wertvolle Arbeit über „das ge- 
heilte Aneurysma dissecans der Aorta“ veröffentlicht. die 
für alle späteren Beobachter ein geradezu klassischer Ausgangs- 
punkt geblieben ist. Gaben doch die festgestellten Befunde und 
die daraus sich ergebenden Schlüsse grundlegende Hinweise für 
Diagnose und Prognosestellung, auch besonders für die Verant- 
wortung des Begutachters von gewissen Unfällen. 

Inzwischen hat die neuere Literatur, auch manche Kriegs- 
beobachtung, nicht nur weitere „geheilte Fälle von Aneurysma 
dissecans der Aorta“, sondern die Häufigkeit dieses Vorgangs über- 
haupt bestätigen können. Auch konnte die Vielgestaltigkeit der 
Befunde nach Entstehung, Entwicklung und Verlauf so verschieden- 
artige Bilder liefern, daß keines dem andern gleicht. Um so mehr 
erscheint es tunlich, gewisse drastische Fälle mit Rücksicht auf 
die praktische Wichtigkeit nicht nur als kasuistische Beiträge zu 
veröffentlichen, sondern in ihrer prinzipiellen Bedeutung hervor- 
zuheben. Wenn dies hier geschehen soll, so gilt dies besonders 
für den zweiten zu beschreibenden Fall, wo der dissezierende 
Prozeß am Aortenstamm durch weitgehende und durch die Plötz- 
lichkeit des Geschehens besonders tiefe Einwirkungen auf die 
Strömung von Blut und Lymphe im Brust- und Bauchraum zur 
seltenen Komplikation einer Hämoglobinurie -—— wohl ohne Hämo- 
globinämie — geführt hat. 

Erste Beobachtung: 48jähr. Bankherr, von Jugend auf 


schwerer Neurastheniker, Neigung zu Kopfschmerzen, Depressionen, 
trotzdem sportliebend. Seit 40er Jahren mehr Klagen, Schwindel, 


62 HANSER 


Nackenschmerzen (Vater Gichtiker); 1908 linkss. Nierenkolik mit 
Steinabgang. Wiederholt Karlsbader Kur. Links oft Schmerzen in 
Unterbauchgegend, teils als Ureteren- teils als Darmschmerz gedeutet. 
Mehrfach Sanatorien. Blutdruckerhöhung, Nierenbeobachtung ergibt keine 
Insufficienz, wohl zeitweise etwas Alb. Im Blut Wa. schwach +. Blutdr. 
schwankt zwischen 200—240 Wasser. 


Am 17. V. 1914 plötzliche Schmerzen in]. Nieren gegend: 
erster Eindruck (begreiflich) Nierenkolik! (Morph. inj.). Abends nach 
Ureteren- und Blasengegend ausstrahlend.. Aber bei wiederholter Urin- 
untersuchung kann in den nächsten Tagen kein Blut, wohl einzelne 
Zylinder und mehr Alb. (0,3—0,6°/,,) gefunden werden. Temp. an 
l. Tag normal, in den nächsten allmählich steigend bis 39 rekt., bleibt 
vom 6. Tag ab subfebril bis auf weiteres. 


Die Schmerzen waren weiterhin zwar schwächer, aber nie weg. 
wechselnd in Heftigkeit und Lokalisation, bald mehr seitlich, bald mehr 
nach der Mitte des Leibes. Kopfschmerz, Schwindel, Nackenschmerz 
(tägliche Klagen seit Jahren) waren wie verschwunden. Man hatte 
` trotz der Unklarheit der Ursache der Schmerzen und ihrer Bedeutung 
den Eindruck einer erheblichen, vielleicht vorwiegenden psychischen 
Komponente: denn die günstige Beeinflussung der Schmerzen durch Besuch 
und sonstige Ablenkung war ungewöhnlich. Auch der Chirurg, der schon 
wegen der Frage des paranephr. Abscesses, des Ureterenkathetrismas 
usw. zugezogen war, fand keine Erklärung; schließlich hat auch eime 
interne Autorität das psychische Moment in den Vordergrund bei der 
Beurteilung des zweifelhaften Falles gestellt. Der leichte Wa gab 
freilich Grund, an das Gefäßsystem zu denken, doch fehlten alle objektiven 
Zeichen, wie Geräusche, Fehlen des Pulses usw. Der Stuhl, sonst von 
tadelloser Regelmäßigkeit, war neuerdings eher angehalten. Rektal kein 


Befund. 


Plötzlich am 5. V. abends 10 Uhr beim Aufstehen aus dem Pett 
(üblicher Stuhlgang) tiefe Ohnmacht, aus der der Pat. bald erwachte; 
Puls darnach verlangsamt. Andern Tags P. 70—80, Blutdr. 240 Wasser. 
Seit dem Anfall Aufblähung des Colon. Darmentleerung morgens noch 
außer Bett, Herz in ganz gutem Zustand, Töne rein. Bauch auf 
Druck nicht empfindlich. Bei Abendbesuch wieder ganz be 
friedigendes Allgemeinbefinden. Am 7. VI. früh 3 Uhr wieder gleicher 
Schwächeanfall im Liegen, worauf rasch Exitus. 

Die Autopsie ergab: Herz stark hypertrophisch, nicht dilatiert: 
Brustaorta kaum verändert, um so mehr Vertikaläste der Koronargef. 
verkalkt, die queren Aste derselben wohl durchgängig. Überraschende 
Sklerose der sämtlichen Hirngefäße. — Im Abdomen ca. !/, | flüssiges 
Blut. Riesigees Hämatom in der linken Bauchseite, in radix mesent., 
para-, perirenal. R. retroperitoneal nach unten von der Niere und retro- 
cökal ebenfalls Hämatome. PBlutungsquelle: Aneur. dissecans aort. 
abd., dieht an der l. Nierenart. beginnend, setzt sich mit größerem 
l., als r. Sack fort bis zur Bifurkation, wo in der l, Iliaca eine Rück- 
perforation nachweisbar ist. In dem Ikss. Sack ein großer, tagealter 
Thrombus. Die genauere Stelle, wo die Säcke perforiert waren, lieb sich an 


Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 63 


dem Hämatomen nicht nachweisen. Die Nieren selbst makroskopisch 
kaum verändert, kein Konkrement, keine Schrumpfung, Kapsel abziehbar. 


Epikritisch wird sich schwer sagen lassen, ob sich das An. 
diss. aort. abd. schon länger (Zusammenhang mit dem ]. im Bauch 
geklagten Schmerzen) entwickelt hat. Vermutlich dürfte jeden- 
falls am 17. V. eine große Veränderung, wohl schon allmähliche 
Blutextravasate, sich gebildet haben (Fieber!) und in den letzten 
Tagen — am 5.—7. VI. eine ruckweise Vergrößerung der allmäh- 
lich gewachsenen Hämatome mit Druck auf den Splanchnicus 
'Pulsverlangsamung bei Ohnmacht!) und am 7. VI. früh eine mehr 
weniger plötzliche Perforation des unter hohem Druck stehenden 
Blutsackes in die freie Bauchhöhle, womit in ähnlicher Weise auch 
schon der erste Kollaps zusammengehängt haben mag. 


Zweite Beobachtung: 59jähr. Architekt XI. 1924 Hypertonie 
(270 Aqu.) Spur Alb., keine Lues. Herzhypertrophie. Cale. Diuret. 


Mitte Febr. 1925 stärkstes nächtliches Nasenbluten, mit dessen 
Stillung der Rhinologe (über 1 1 Blustverlust geschätzt!) schwierige Arbeit 
hatte. In nächster Nacht ausgesprochene rechtsseitige Lähmung 
mit Sprachstörung ohne Bewußtseinsverlust (Hirnblutung!, s. Autopsie). 
Diese Erscheinungen gehen im Lauf weniger Tage bis auf eine noch 
längere Zeit bestehende Sprachstörung und Schwäche in Arm und Hand 
rasch zurück. 

12. VI. 1925 Befinden verhältnismäßig gut, geht sogar dem Beruf 
etwas nach. Am 22. VI. abends 10 Uhr gerufen, erfahre ich, daß der 
Kranke einige Tage besuchsweise anwesend war, sich sehr wohl gefühlt 
habe, ob zwar die Lebensweise nicht ganz vorschriftsmäßig war (Wein- 
genuß usw.). Nach noch guter Reise am Nachmittag heimgekehrt, fühlt 
er sich schon nicht ganz wohl, nimmt nur etwas Wurst und Käse zu 
sich. Da das Unbehagen größer wurde, zeitig ins Bett. Als er dann 
nochmals aufstand, um Urin zu entleeren, konnte er dies nicht, bekam 
urplötzlich einen heftigen Schmerz im Oberbauch, wobei 
ihm „Stimme und Atem wie auf einmal abgeschnitten waren“. Der 
Schmerz steigerte sich ins Unerträgliche.. Als ich den Patienten nachher 
sah, klagte er über einen äußerst heftigen Schmerz im Epigastrium, 
anfangs mehr nach rechts, den er aber schließlich mehr nach 
links, fast eher nach der Nierengegend (Vorderfläche) lokalisierte. 
Gleichzeitig hatte sich mehrfaches Erbrechen eingestellt. — Das Aus- 
sehen war ganz gut, nicht kollabiert, auch keine Üyanose, obwohl freilich 
der Ausdruck begreiflich ängstlich war. Die Atmung war frei, kein 
Rasseln, kein subjektives Gefühl von Atemnot, soweit nicht durch das 
Stöhnen und den Schmerz eine gewisse Hemmung bestand. Im Gegen- 
satz zum Gesicht waren die Hände kühl, mit etwas Schweiß bedeckt. 
R. Radialpuls entschieden schwächer als l., früher jedenfalls keine 
derartige Differenz. Herzbefund außer der Hypertrophie ohne wesentliche 
Veränderung, keine Geräusche, auch kein Reiben; ebensowenig an der 
Aorta. P. 66 (früher eher rascher). 


64 HANSER 


Abdomen entschieden auf Druck etwas empfindlich, aber Unter- 
suchung sehr erschwert; keinesfalls peritonitische Empfindlichkeit, keine 
Darmsteifung, kein Urindrang, Blase jedenfalls nicht überfüllt, keine be- 
sondere Auftreibung des Leibes; Bruchpforten frei. Während der An- 
wesenheit 2 mal Erbrechen, kein Fieber rekt.! Auf heiße Applikation 
allmähliche Beruhigung und Nachlaß der Schmerzen. Klysmaversuch 
ohne Erfolg, aber schmerzlos.. Nach 1 Stunde entschiedene Besserung: 
später mehr wegen der Aufregung und Unrube, als wegen des Schmerzes. 
Morph. c. Atropiu subc. 


23. VI. Nacht schließlich leidlich. Schmerzen heute früh fast 
ganz weg, noch am ehesten empfindlich nach LU, gegen den vorderen 
unteren Nierenpol, resp. Milzgegend. Auch jetzt nirgends Reiben an 
Brust- oder Bauchoberfläche. Objektiv sonst nichts wesentlich verändert. 
P. 66, r. schwach und klein, l. kräftiger, Blutdr. 330 Wasser l., kein 
Urin bisher entleert, Pat. bricht noch, aber weniger gewaltsam melır. Blase 
nicht gefüllt, keine Prostatabypertrophie. 


23. VI. Mittags 12 Uhr (nach ca. 20 Stunden) wird erster 
Urin entleert: ca. 50 cem, dunkelbraunschwarz, durchscheinend. 
1014 spez. Gew., gerinnt auf Kochen fast vollständig, mikr. kaum 
ein deutlicher Erythrocyt, viel Detritus, einzelne breite auch daraus 
bestehende zylindrische Streifen, kein richtiger Zylinder, kaum sonstige 
zellige Elemente. Abends 4 Uhr bereits 2mal ein Viertelliter 
noch ähnlichen, auch noch stark album en haltigen Urins, der wie der 
erstgelassene im durchscheinenden Licht durch seine Klarheit auftällt. 
L Blutdr. abends 275 W., Schmerzen bleiben verschwunden. Er- 
brechen noch ab und zu, nicht quälend, Durst. „Gefühl in der Herz- 
gegend“, keine Atemnot, Extremitäten warm. Aussehen gut. Puls ruhig. 
sonst noch gleich. 

24. VI. Nacht ganz befriedigend. Morgens l}, l hellen. 
gelben Urins, noch ca. !/, Volumen flockiger Eiweißlällung, keine 
Erythrocyten, sonst ähnliches, aber spärlicheres Sediment, wie 
gestern, spez. Gew. 1013. Subj. ab und zu Stiche in der Höhe des 
Z/werchfells rechts und links. Nirgends Reiben an Leber, Milz oder 
Pleura. Kein Katarrh. Seit gestern Abend kein Erbrechen mehr. 

Aussehen etwas blasser, als am 22. VI. abends, aber doch ganz gut. 
Lippen nicht cyanotisch. Nie Fieber bei Rektalmessung! Jedenfalls 
Gesamtzustand ganz beruhigend, Krisis anscheinend überwunden. 

Am 25. VI. früh 4 Uhr werde ich gerufen und finde den Patienten 
nach angeblich guter Nacht tot vor, auffallend blaß. Eine perkutorische 
Kontrolle der Vorderbrust, ob eine Dämpfung sich inzwischen entwickeit 
hätte (Durchbruch einer Blutung) ergab nichts Positives. Patient soll 
plötzlich erwacht („komisches Gefühl im Rücken“) und gleich um- 
gesunken sein. 

FEpikritisch ließ sich vermuten, daß (Pulsdifferenz) eine 
schwere Zirkulationsstörung vorliegen könne, die sich 
aber mangels bestimmter Symptome nicht lokalisieren ließ: diesen 
Verdacht, den ich gerade in Erinnerung an den ersterlebten Fall 


Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 65 


hatte, ließ ich schließlich nachdem der Urinbefund denjenigen 
auf eine Nierenkolik ausgeschlossen hatte, fallen, da das kaum 
erklärliche Symptom der zweifellosen Hämoglobinurie 
an einen toxischen Grund (Käse, Wurst!) denken ließ. Auch 
in dieser Annahme ließ das schnelle Verschwinden der Hämoglobin- 
wie neben der günstigen Allgemeinverfassung des Patienten der 
Überleeung Oberhand, daß das praktische Handeln sich in erster 
Linie durch das nil nocere beeinflussen lassen mußte. So unter- 
blieb auch alle weitere Maßnahme, wie Blutentnahme, die ja wohl 
auch im gebesserten Zustand kein Resultat mehr gezeitigt hätte. 

Um so überraschender der autoptische Befund, der glücklicher- 
weise möglich war (Prosektor Dr. Löschcke): 


Auffallend blasse Leiche, die Leichenflecke auch in den abhängigen 
Partien nur angedeutet. Keine Odeme. Bei Eröffnung der Bauchhöhle 
erscheint die Leber heruntergedrängt, das rechte Zwerchfell stark nach 
unten vorgewölbt, deutlich fluktuierend. Bei Eröffnung der Brusthöhle 
legt die rechte Lunge der vorderen Brustwand an, sie schwimmt 
auf einem sehr großen Bluterguß, der die rechte Brusthöhle aus- 
füllt, zum größten Teil geronnen ist und sich als großer Blutkuchen 
herausheben läßt. In der linken Pleurahölle sind kaum 100 cem blutig 
gefärbte Flüssigkeit. Die Blutmassen im rechten Pleuraraum betragen 
schätzungsweise 3 l. Bei Zurückziehen der Lungen sieht man rechts 
und links neben der Wirbelsäule einen retropleuralen Bluterguß, 
der rechts im oberen Drittel der Pleurahöhle eine längsgestellte schlitz- 
förmige Perforationsöffnung durch die Pleura zeigt. Im Herz- 
beutel finden sich etwa 100—150 cem blutig gefärbte Flüssigkeit, aber 
kein geronnenes Blut. Das Bindegewebe am Herzhilus ist blutig durch- 
tränkt, ohne daß eine direkte Perforation des Epikards zu finden ist. 


Brust- und Bauchorgane werden im ganzen zusammenhängend aus 
dem Rumpf ausgelöst unter Mitnahme der Aorta und des Zwerchfells. 
Die Aorta wird von hinten längs aufgeschnitten. Ihre Innenfläche 
zeigt im Brust- und Bauchteil starke Atheromatose. Etwa 2 cm ober- 
halb der Abgangsstelle der A. coeliaca findet sich in der Gefäßwand ein 
rechtwinkliger Riß, dessen vertikaler Schenkel 1 cm, der horizontale 
eine Länge von 2 cm mißt. Der Riß liegt dicht oberhalb des 
Durchtritts der Aorta durch das Zwerchfell. 


Vom Riß aus führt in der Vorderwand des Gefäßes zwischen Intima 
und Media ein Kanal aufwärts, der die Brustaorta in ganzer Länge durch- 
setzt. Am Aortenbogen verbreitert sich der Spalt und trennt im auf- 
steigenden Teil der Aorta ringförmig zirkulär die Media von der Intima. 
In diesem Bereich ist die Intima ziemlich stark in das Gefüßlumen vor- 
gebuchtet und verengt es besonders stark dicht oberhalb der Aorten- 
klappen. Hier findet sich auch eine kaum stecknadelkopfgroße 
Rückperforation in das Gefäüblumen. 

Außer dem beschriebenen Aneurysma dissecans zwischen Intima und 
Media ist von der Rißstelle aus auch Blut durch die ganze Wand der 


- 


Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. Ə 


66 Hanser 


Aorta durchgetreten und bildet einen großen Blutmantel um die 
Aorta retropleural. Ia diesem Blutmantel liegt der Ösophagus 
und der Ductus thoracicus vollständig von Blutmassen um- 
schlossen. Sämtliche Blutergüsse liegen streng oberhalb des Zwerch- 
fells. Unterhalb desselben fallen die retroperitonealen Lymph- 
knoten und Lymphbahnen dadurch auf, daß sie prall mit einer 
hellen durchscheinenden roten Flüssigkeit gefüllt sind. 

Das Herz zeigt starke Hypertrophie besonders des linken Ventrikels, 
alle Klappen intakt. Starke Sklerose der ÜCoronargefiBe ohne wesent- 
liche Stenose. In der Muskulatur keine größeren Narben. Die Inter- 
kostalarterien werden nicht von dem An. diss. betroffen, seitlich laufen 
sie stellenweise durch das periaortale Hämatom. — Beide Nieren stark 
verkleinert, sehr blaß, Oberfläche feingranuliert, Rinde sebr 
derb, gleichmäßig stark verschmälert. Die Gefäße des Querschnitts 
klaffen. — Im Hirn eine alte ausgedehnte Blutung in der rechten 
äußeren Kapsel. Sehr starke Arteriosklerose der sämtlichen Hirngefäbe. 

Histologischer Befund: 

l. Niere: Sehr starke Elastikahyperplasie der größeren und mittleren 
Gefäße, hochgradige Verfettung der Arteriolen. Zahlreiche Glomeruli 
total hyalinisiert, die zugehörigen Tubuli atrophisch, Narbenbildungen, 
einzelne kleine Rundzelleninfiltrate. Hyalintropfige Degeneration in ein- 
zelnen Kanälchensystemen. Nephrocirrhosis arterio- und arteriolosklerotica. 


2. Lymphdrüse aus der Nierengegend: Die Endothelien 
der Lymphsinus enthalten reichlich Eisenpigment. 


3. Nierenbecken: Das Nierenbecken zeigt an seiner Änsatzstelle 
an die Niere eine Zone, in der sämtliche Lymphgefäße prall mit 
Mengen eisenhaltigen Pigmentes gefüllt sind. Das Pigment 
liegt größtenteils in den Endothelien. auch frei. Die Niere selbst ist 
frei von Eisenpigmenten, ebenso die unteren Abschnitte des 
Nierenbeckens. 

Dieser Sektionsbefund mit namentlich seinen histologischen 
Einzelheiten erklärt, wie wir sehen werden, mit nicht geringer Be- 
weiskraft den ganzen Fall, der sonst völlig im Dunkel geblieben 
wäre. An dieser Stelle schon mag auf den Nebenbefund der 
cerebralen Blutung aufmerksam gemacht werden, die der 
oben erwähnten Hemiplerie im Februar offenbar zugrunde lag. 
Diese erbrachte Bestätigung beleuchtet fast ironisch die vom Ader- 
laß erwartete Beeinflussung einer drohenden Hirnblutung: hat 
doch hier der riesige lokale (an den nächsten Kollateralen 
der Hirngefäbe!) spontane Aderlaß nicht zu verhindern 
vermocht, daß schon in der der Epistaxis folgenden Nacht die 
Hirnblutung erfolgte! 

Die beiden beschriebenen Fälle von An. diss. sind nun geeignet, 
nicht nur in ditferentialdiaenostischem und allgemein nosologischem 
Interesse besonders zu belehren, sondern auch in prinzipieller Be- 


E ae n 


Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 67 


ziehung pathologisch-physiologische Möglichkeiten zu demonstrieren, 
welche praktisch und theoretisch von nicht geringem Interesse sein 
Jürften. 

Der erste Fall zeigt zunächst, wie offenbar ungeahnt gerade 
das Atherom der Bauchaorta sich entwickelt. Die Röntgendiagnose 
als das bei den Veränderungen der Brustaorta so wesentliche und 
oft entscheidende Hilfsmittel fehlt vorläufig hier. Die von Ortner 
inaugurierte „dyspragia intermittens angiosclerotica“ läßt meist 
mehr die isolierte Teilaffektion der mesenterialen, bzw. gastroin- 
testinalen Gefäße vermuten. Wenn z. B. nicht zufällig die Bein- 
gefäße in Kombination mit Bauchsymptomen durch ihre Pulslosig- 
keit auf eine Sklerose der Bauchaorta mit ihren Fortsetzungen 
hinweisen, wenn nicht schon eine abnorme Pulsation oder eine be- 
sondere Vorwölbung, bzw. gleichzeitig nachweisbare auskultatorische 
Befunde den Verdacht auf ein Aneurysma abd. erwecken, so fehlt 
eigentlich jeder bestimmte Anhaltspunkt, gerade eine wesentliche 
Beteiligung der Bauchaorta an einer allgemeinen Atheromatose, 
bzw. eine solche der Bauchaorta allein zu diagnostizieren. 

Und doch lehren gerade diese Fälle einerseits bei unklaren 
Baucherscheinungenjaauchaneine Erkrankung ihrer 
Aorta zu denken, andererseits auch beiBauchsymptomen, — 
wie z. B. beim rechtsseitigen Bauchschmerz nicht nur an den 
Appendix, sondern auch an die Lunge, — an eine primäre Ur- 
sache im Brustraum zu denken. 

Und hier spielt gerade das An. diss. in seiner Entwicklung 
und seinen Folgen eine nicht zu vergessende Rolle. 

Diese Krankheit ist klinisch schwer zu erfassen, wie aus den 
Berichten einer schon recht reichen Literatur hervorgeht. 

Boström definiert in der oben erwähnten Arbeit das von 
Laënnec zuerst beschriebene An. diss. so: „Wir verstehen darunter 
eine Erkrankung der Arterien, in specie der Aorta, bei welcher 
durch Zerreißung einzelner Schichten der inneren Arterienhäute 
an einer mehr oder weniger zirkumskripten Stelle eine Ablösung 
der äußeren nicht durchrissenen Wandbestandteile durch das sich 
zwischen die Schichten hereinwühlende Blut erfolgt. Auf diese 
Weise bildet sich ein durch den primären Riß der inneren Schichten 
mit dem eigentlichen Gefäßlumen zusammenhängender äußerer Sack 
— das Aneurysma, welches also innerhalb der Arterienwandung 
gelegen ist und nach außen allerseits von den äußeren Gefäbwand- 
schichten begrenzt wird.“ 

Der Riß entsteht nach den Ansichten der Autoren bald 


x 


.)” 


68 HANSER 


zwischen Intima und Media, bald und wohl am häutiesten 
zwischen den Schichten der Media selbst, während die 
Adventitia schließlich erst sekundär unter besonderen Umständen 
reißen wird. Daß ein solches diss. An. im funktionellen Sinn des 
Blutkreislaufs, auch pathologisch-anatomisch narbig, heilen kann, 
hat erstmals eben auch Boström in jener klassischen Arbeit dar- 
getan und ist seitdem wiederholt an der Leiche oft nach langen 
Jahren des vermutlichen Bestehens bestätigt worden. 

In der Entstehung der Affektion spielt das Atherom. bzw. 
auch die Gefäßlues begreiflicherweise eine Rolle, die so groß sein 
zu können scheint, daß die oft anzunehmende Gelegenheitsursache 
eines Trauma irgendwelchen Ursprungs oder Grades gar nicht nech 
vorausgesetzt zu werden braucht. 

Und doch — schon Boström weist darauf hin — haben die 
Beobachtungen vieler Autoren Grund gegeben, das Trauma als 
eine conditio sine qua non hinzustellen. Boström glaubt nach 
seiner Erfahrung Recht zur Annahme zu haben, daß die aller- 
meisten, wenn nicht alle Fälle von An. diss. auf ein Trauma zurück- 
geführt werden müssen. Nun wird man freilich einen gewissen 
Unterschied doch machen müssen, ob die Aorta nur reißt und viel- 
leicht nur ein periaortales Hämatom entsteht oder ob sich im An- 
schluß an den Riß ein An. diss. entwickelt. Aber man wird sich 
ebenso vorstellen können, daß ein — z. B. traumatisch, wozu auch 
eine ganz plötzliche erhebliche Blutdrucksteigerung gehören kann. 
verursachter — Einriß in die Intima, bzw. Media der Aorta wohl 
mehr weniger rasch zu geringer Dissezierung der Wandschichten 
führt und nur ein mehr intramurales Hämatom entstehen 
kann, das sogar durch Resorption ausheilt. Beide Möglichkeiten 
werden schwer vorauszusehen sein, da die Auswirkung in vivo 
kaum je nachweisbar und wohl doch nur auf dem Sektionstisch 
behauptet werden kann. Ob dann eineschonerkrankte Aorta 
eher zu jener Dissezierung führt, als eine vorher gesunde 
lediglich unter der Gewalt der traumatischen Ursache, ist ebenfalls 
schwer zu sagen, doch — sollte man es annehmen müssen. Darf 
doch andererseits dabei auch die von Babes und Minorescu 
als „dissezierende Aortitis“ beschriebene Affektion nicht vergessen 
werden, auf die besonders auch Krukenberg hinweist. 

Der primäre Riß als solcher (ganz unabhängig ob ein An. 
diss. daraus entsteht oder nicht) freilich scheint in der Tat nach 
sorgfältigen Untersuchungen insbesondere auch von Oppenheim, 
der auch experimentell — mit freilich klinisch kaum in Betracht 


Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 69 


kommenden besonders hohen Druckwerten — arbeitet und u. A. 
eine Prädilektionsstelle für Aortenrisse nächst den Klappen fest- 
stellen will, auch bei gesunder Aorta entstehen zu können. 
Bestätigen doch auch Jenner, Letterer, Busse, Bay usw. 
diese Möglichkeit an Fällen, wo verschiedenste Ursachen, ebenso 
stumpfe Gewalt, als z. B. Pressen beim Stuhl bei anscheinend ge- 
sınder Aorta zum Einriß führen konnten; so sind auch Fälle nach 
Sturz bei Glatteis (Chiari), beim Schlittschuhlaufen (Wasastjerna) 
beschrieben, wo nach 3 bzw. 8 Tagen durch Perforation in Pleura, 
bzw. Epikard der Tod eintrat. Freilich verlangt Schilling 
als Beweis für die rein traumatische Verursachung eines An. diss. 
die mikroskopische Untersuchung der Aortenwand als unerläßliche 
Anerkenntnis der Intaktheit derselben. Wogegen andere Autoren 
— vielleicht nicht mit Unrecht — darauf hinweisen, daß bei dieser 
ätiologischen Einstellung dann nur zu verwundern sei, daß das 
An. diss. bzw. der Aortenriß nicht viel häufiger ist, als es in der 
Tat die ärztliche Beobachtung und Erfahrung annehmen läßt. 
Denn so leichte Aortenveränderungen, die nur mikroskopisch nach- 
weisbar sind, sind doch als alltäglich und zalıllos anzusehen, dem 
gegenüber freilich auch Traumen, wie die genannten, auch ebenso 
alltärliche Erlebnisse sind. Erst kürzlich hat übrigens eine Arbeit 
von Paschkis anläßlich eines Falles von Aortenruptur bei normaler 
Gefäßwand die diesbezüglichen Gesichtspunkte zusammengestellt 
mit einigen neueren Literaturangaben. 

Die Entscheidung darüber wird aber trotz allem schließlich 
eine offene Frage bleiben, während man mehr eine zufällige Kombi- 
nation verschiedener Ursachen voraussetzen muß, darunter freilich 
(sefäßerkrankung und Trauma an erster Stelle stehen. 

Mehr glaube ich der Wahrscheinlichkeit Ausdruck geben zu 
dürfen und zu können, daß geschädigte Arterienwände im 
wesentlichen zur Möglichkeit der Rückperforation 
fülren werden. 

In beiden beschriebenen Fällen ging dem wenigstens 
den Beginn der Erkrankung bedeutenden Augenblick, bzw. Stadium 
derselben keinerlei Trauma voraus; wenigstens hat auch die 
genauere Nachforschung z. B. auch beim zweiten Fall auch anläß- 
lich der Heimreise keinen Anhaltspunkt dafür ergeben und der 
erste Schmerzanfall des ersten Kranken trat auf, während er ruhig 
auf einem Stuhl saß. 

Bezüglich der Symptomatologie des An. diss. Ist einer- 
seits auffällig, wie verschieden die ersten Erscheinungen bei der 


70 HANSER 


Entstehung zu sein scheinen: Es sind Fälle berichtet, wo bei zu- 
fällig, z. B. an Apoplexie, Verstorbenen der Befund eines „geheilten 
An. diss.“ gefunden wurde, während von einer eigentlichen früheren 
Erkrankung gar nichts bekannt war, als daß man annehmen mußte, 
daß ganz allmählich und so fast symptomlos diese enorme Gefäß- 
veränderung entstanden war. Und in anderen Fällen sind die Fr- 
scheinungen als so katastrophale berichtet, daß plötzliches Zu- 
sammenstürzen und Bewußtseinsverlust den Vorgang einleiten. 
Auch nach der vermutlich ersten Entwicklung kann der weitere 
Verlauf, wie in unseren beiden Fällen, begreiflicherweise auch im 
symptomatischen Ausdruck ein ganz verschiedenes Gesicht zeigen. 

Bei allen solchen Epikrisen darf aber ja nicht vergessen 
werden, daB wir nie wissen, wann der Riß stattgefunden, 
wann das autoptisch nachgewiesene An. diss. zur Entwicklung 
gekommen, auch nicht ob es sich schubweise vergrößert hat, wie 
vielleicht im ersten Fall. In diesem hat ja jedenfalls die Autopsie 
mit dem riesigen Befund für die schon lange bestehenden Schmerzen, 
die ich als Ureterenschmerzen verdächtig, andere als Darmschmerzen 
aufgefaßt hatten, die Erklärung nahe legen können, daß sie jeden- 
falls durch die ausgedehnte Arteriosklerose der Bauchgefäße bedingt 
gewesen sein mochten, wobei aber often bleibt, daß diese Schmerzen 
schon einen Zusammenhang mit der Komplikation des Einrisses, 
bzw. des sich entwickelnden An. diss. haben konnten. 

Wie irreführend die direkten Folgen eines sich entwickelnden 
An. diss. sein können, so daß ein Krankheitsbild in den Vorder- 
grund treten kann, dessen Pathogenese nicht geahnt werden kann. 
beweist ein Fall von Reitter, wo eine Paraplegie als Folge eines 
rasch zur Entwicklung gekommenen An. diss. auftrat, bei welchem 
acht Paare der Interkostalarterien bei der Dissezierung der Wandung 
der Aorta rissen und zu schwerer akuter Schädigung der Ernährung 
des Rückenmarks Anlaß gegeben hatten. 

Insofern hat aber auch der berichtete Fall I irregeführt, wo 
die Tücke der Lokalisation des Schmerzes an der gleichen Stelle, 
wo früher ein typischer Anfall von Nierenkolik beobachtet war, 
die Einstellung der Diagnose immer wieder zur Niere geleitet hat. 
Es war deshalb nicht uninteressant, in einem Sitzungsbericht der 
Berl. Ges. f. Chir. v. 28. VII. 1913. (Münch. med. Wochenschr. 1913, 
Nr. 31) zu lesen, daß bei einem wegen der Diagnose Nierenstein- 
kolik operierten (Holländer) Kranken durch die Operation ein 
großer pulsierender Tumor festgestellt wurde, der die l. Niere 
nach vorn gedrängt hatte und sich als ein durchgebrochenes Aneu- 


Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 71 


rysma der Bauchaorta erwies; auch wenn es nicht als dissezierend 
beschrieben ist, sei der Vergleich erlaubt! 

Bemerkenswert ist weiter, daß Hart noch 1917 schrieb, daß 
„in keiner einzigen der in der Literatur niedergelegten Be- 
obachtungen es nach sekundärer Perforation des Aneurysmasackes 
nach innen zu der verhängnisvollen Ruptur nach außen gekommen 
ist. Unsere beiden Fälle widerlegen diese Erfahrung: im ersten 
hat die beschriebene Rückperforation nicht verhindern können, 
daß gar in offenbarer Allmählichkeit der fortgesetzte Druck des 
sich anscheinend immer noch durchwühlenden Blutes zu weiteren 
Hämatombildungen und schließlich zur Perforation in den freien 
Bauchraum führte. Und im zweiten hat wohl die Rückperforation 
die allererste Verwirrung des Säfteumlaufs im Thoraxraum, wie 
wir später noch sehen werden, etwas zu ordnen vermocht, aber 
eben auch nicht verhindern können, daß schon vermutlich am nächsten 
Tag der Sack in den rechten Pleuraraum durchbrach. 

Mit diesen Feststellungen verlassen wir jetzt den Gegenstand 
des An. diss. als solchen. Wir ziehen aus denselben die Lehre, 
daß der vorsichtige Arzt bei ungewöhnlichen Schmerzen 
im Brust- oder Bauchraum, zumal wenn dieselben nach Un- 
fällen oder großen körperlichen Anstrengungen, gar bei älteren 
Leuten geklagt werden, an die Möglichkeit des Entstehens 
eines An. diss. bzw. auch nur eines Aortenrisses denke, 
auch — wenn keinerlei objektive Symptome oder entsprechende 
andere Beschwerden direkt darauf hindeuten. Es wird tunlich sein, 
abwartend den Kranken vor Erhöhung drohender Gefahr zu 
schützen, und als Gutachter schon den Gedanken an die 
Möglichkeiten der Aortenläsion mitentscheiden zu lassen, 
auch wo anscheinend das Gefäßsystem als gesund an- 
genommen wird. 

Wenden wir uns nun zu der Komplikation, die, wie erwähnt, 
dem Verlauf im zweiten Fall die besondere praktisch und wissen- 
schaftlich wertvolle Bedeutung gibt: der dabei in die Erscheinung 
getretenen merkwürdigen Form akuter Hämoglobinurie, wie 
sie anscheinend nicht beschrieben ist. 

Von vornherein erkläre ich mich der Lücke bewußt, daß hier 
der für die Beobachtung einer Hämoglobinurie erforderliche Nach- 
weis, ob auch eine Hämoglobinämie vorlag, fehlt. Einerseits mag 
sie der rasche Verlauf des Falles, gerade weil er einen günstigen 
Verlauf nehmen zu wollen schien, und. daß er nicht in der Klinik, 
sondern in der Hauspraxis zur Beobachtung kam, verzeihlich machen. 


12 HANSER 


Aber ich glaube, aus dem ganzen Geschehen und vor allem dem 
autoptischen Befund mit namentlich den mikroskopischen Einzel- 
heiten der Nieren- resp. Nierenbeckenuntersuchung den Wahr- 
scheinlichkeitsbeweis antreten zu können, daß hier ein ganz 
anderer Typus und eine ganz andere Pathogenese der 
Hämoglobinurie vorliegt, als bisher als alleinmöglich ange- 
nommen ist. Dann wird auch die Frage wegen des Fehlens des 
etwaigen freien Hämoglobinnachweises im Blut vielleicht nicht mehr 
im Sinn einer so großen Lücke in der Beurteilung des unter allen 
Umständen recht bemerkenswerten Falles beantwortet sein. 

Bekanntlich setzt allerdings die Auffassung von der Entstehung 
der Hämoglobinurie eine gleichzeitig bestehende Hämo- 
globinämie als „heutzutage ganz selbstverständlich“ 
voraus. So drückt sich auch J. W. Miller, dessen neuerer Dar- 
stellung über dieses Thema ich zunächst gerne folge, aus. Er 
schreibt: „Allmählich erkannte man als Voraussetzung jeder Hämo- 
globinurie das Bestehen einer Hämoglobinämie, das Vorhandensein 
freien den Erythrocyten entstammenden Blutfarbstotts im strömenden 
Blut.“ Von der mit den Nachwirkungen der Bluttransfusion (zu- 
nächst artfremden Blutes) zusammenhängenden Serumhämo- 
gelobinurie ausgehend unterscheidet Miller die Verbrennungs-, 
Kälte-, Marsch- und Gifthämoglobinurie, diejenige bei In- 
fektionskrankheiten, bei Gravidität, die posthämor- 
rhagische (zu welcher wohl auch die nach schweren Muskel- 
traumen gehört) und die Hämoglobinurie der Haustiere. Wenn 
dann noch die „paralytische* (Paul) — analog der H. der 
Pferde —, der mit Muskellähmungen einhergehende Fall von 
Meyer-Betz (hier ist der Nachweis von freiem Hämoglobin im 
Blut nicht erbracht) erwähnt sind, so werden damit die bisher be- 
kannten Entstehungsmöglichkeiten erschöpft sein. Bliebe nur noch 
die oft mit Hämoglobinurie einhergehende „Haffkrankheit“ zu 
nennen, bei der allerdings Lewin im Blut spektroskopisch keine 
Veränderung fand. 

Während wohl meistens dabei hämolytische Vorgänge 
nachgewiesen sind, die Hämoglobinurien also eine biologisch ähnliche 
Auswirkung verschiedener Ursachen darstellen, wie bei der paroxys- 
malen, so hat doch schon Krehl auch auf Anfälle hingewiesen, 
wo das Blutplasma frei von Hämoglobin gefunden wurde, so 
daß man die Auflösung des Hämoglobins auch erst in den Nieren 
vermuten könne. 

Es frägt sich nun, wie in unserem Fall die Entstehung 


Vom Ancurysma dissecans der Aorta. 13 


der H. zu erklären ist, warum Hämoglobinämie unwahr- 
scheinlich ist, und wodurch vor allem der ganz anders zu 
deutende Vorgang der Ausscheidung von Hämoglobin mit dem Harn 
von den bisher bekannten Formen sich unterscheidet. 

Der Hergang ist doch folgendermaßen vorzustellen: Das initiale 
Schmerzsymptom mit seiner Projektion nach dem Abdomen wird 
durch die Autopsie als die Folge des dicht über dem Zwerchfell 
erfolgten Durchbruchs der innern Aortenhäute und der rasch nach 
oben weitergehenden Dissezierung derselben mit der intramuralen 
Hämatombildung bis hinauf zum Aortenbogen erwiesen. Gerade 
die gewiß seltene gegen die Blutstromrichtung innerhalb 
des Aortenstamms erfolgende Hineinwühlung des Blutes bedarf in 
ihrer aktuellen Auswirkung besonderer Aufmerksamkeit. Der Rib 
in der Nähe des Zwerchfells kann dasselbe schon reflektorisch an 
der Durchtrittsstelle zur Umklammerung der Aorta reizen, wozu 
noch der dieselbe steigernde mechanische Druck des sich in nächster 
Nähe entwickelnden und aufsteigenden Hämatoms kommt und be- 
greiflich macht, daß das Blut arteriellnach oben gestaut 
in Diapedese schließlich durch die ganze Gefäßwand, also auch die 
unverletzte Adventitia hindurchtretend zu Sugillation und Durch- 
tänkung der retroaortalen Gewebe führt, wie dies die Autopsie 
in so drastischer Weise erkennen ließ. Damit dürfte einerseits 
auch die Erklärung für das trotz der Schwere der Attacke ver- 
hältnismäßig gute Aussehen des Kranken während derselben ge- 
geben sein, während andererseits vermutlich durch die akute Ab- 
schnürung der Aorta am Zwerchfelldurchtritt und die dadurch be- 
dingte plötzliche Anämisierung der Bauchgefäße das Auftreten 
der unerträglichen ersten Schmerzen gerade im Bauch verständlich 
werden kann. Dieselben konnten nachlassen, bzw. verschwinden, 
je mehr sich das in der Aorta im Abfluß gelhinderte Blut seine 
Auswege in der beschriebenen Weise oder schließlich mit der Rück- 
perforation suchte und fand. Umgekehrt, wie mit dem Höhersteigen 
des intramuralen Hämatoms über den Aortenbogen hinaus eine 
Abknickung z. B. der r. a. subclavia zur schlechteren Füllung 
der r. a. radial. führte. 

In diesem Geschehen, das unter gewaltigen Druckänderungen 
im Brustraum weniger zu allgemeiner venöser Stauung in dem- 
selben — es bestand auch keine Cyanose — als zu lokalen mechanisch 
wirkenden Aufquellungen im hinteren Mediastinum führte, muĝ und 
darf nun die Quelle derjenigen mechanischen Störung gesucht 
werden, die zu der im Sektionsbericht beschriebenen Stauung 


14 HANSER 


vor allem der intrathorakalen Hauptlymphwege führte 
und deren Rückstauung bis — ins Nierenbecken'! Daß 
in dieser durch den Druck des in den Gefäßschichten wühlenden 
Blutes verursachten Blutdurchtränkung des Gewebes um die Organe 
des hinteren Mediastinums gerade auch der Ductus thorac. 
(ebenso wohl auch der Duct. lymph. dext.) einbezogen wurde. mag 
wohl als Zufälligkeit erscheinen. Ebenso wie auch vielleicht der 
Umstand, daß der N. vagus dort in Mitleidenschaft gezogen war. 
den fortgesetzten Brechreiz, den verhältnismäßig langsamen Puls 
und die „wie abgeschnittene Stimme und Atmung“ erklären kann. 

Jedenfalls aber wird man um die Berechtigung der Annahme, 
daß Blut, bzw. Blutfarbstoff bei derselben Gelegenheit auch 
in die Lymphflüssigkeit selbst eindringen konnten. nicht 
herumkommen. Ob dabei freilich lediglich der Farbstoff von den 
Endothelien der Gefäßwände durchgelassen wurde oder ob auch 
Stromata, vielleicht sogar Blutplasma sich zur Lymphe gemischt 
haben, wird schwer zu entscheiden sein. Fast möchte man in 
diesem Fall die letztere Annahme gelten lassen, weil gerade viel- 
leicht von der Lymphe „verdaute“ Stromata, aus denen der Farb- 
stoff frei wurde, die Ursache des besonders starken Eiweißgehalts 
des hämoglobinurischen Harns gewesen sein könnte; doch können 
wir auch nicht wissen, ob nicht vielleicht stark gestaute Lymphe 
durch Mitnahme von Gewebseiweiß an sich stärker eiweiß- 
haltig wird. 

Alle diese immerhin ungewohnten Zusammenhänge, die hier 
durch die Wirkung des hier lokalisierten An. diss. geschaffen 
wurden, insbesondere die Neuheit einer — wie wir annalımen — 
mechanischbedingten Stauungshämoglobinurie regten 
zu (sedankengängen an, die nach Anhaltspunkten an bisher Be- 
kanntem suchten. Und da erschienen mir zwei Arbeiten geeignet. 
die Situation beleuchten zu helfen. 

(Juincke hat in einer Arbeit „Über Lymphurie“, welche in 
weitschauender Weise die Beziehungen speziell zwischen Lymph- 
gefäbsystem und Harnweeen, bzw. Harnausscheidung behandtit. 
darauf hingewiesen. daB es bei der Kommunikation der Lymph- 


gefäße mit der Lichtung der Harnwege — er bezieht sich dabel 
auf grundlegende Arbeiten der Hasse — Schüler Stahr und 


Kumita über den Lymphapparat der Niere, bzw. die Lymphgrfäße 
der Nieren — nicht immer, sondern nur unter gewissen Bedingungen 
zu einem Übertritt von Lymphe in den Harn kommt, wobei der in 
Lymphbahnen herrschende Druck eine wesentliche Rolle spielen 


Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 75 


werde. Hasse selbst hat in einer ergänzenden Arbeit über 
„Fragen und Probleme auf dem Gebiete der Anat. und Physiol. 
der Lymphwege“ u. a. darauf hingewiesen, daß die Venen in ihrer 
Scheide von einem Lymphgefäßsystem umstrickt sind und daß der 
Gedanke naheliegt, daß die Lymphe schon während ihres Strömens 
an der Gefäßwand Stoffe aus dieser aufnimmt. Wie um so be- 
greiflicher, wenn der so von Blut umsickerte Hauptliymphgefäß- 
stamm in größerer Menge davon oder wesentliche Bestandteile 
davon, wie den Farbstoff aufnimmt. — Es gehört nicht hierher, 
auf die weiteren Schlüsse einzugehen, mit welchen Quincke auf 
demselben Wege zur Pathogenese der orthotischen Albuminurie 
Stellung nimmt. 


Die andere hier nutzbringende Arbeit ist eine sehr eingehende 
klinisch-pathologische Zusammenfassung von H. Groß über „Lymph- 
stauung und ihre Produkte“. In dieser weitangelegten Betrachtung, 
die wohl verdient auch vom Internisten beachtet zu werden, ent- 
wickelt er aus eigenen und reichen Erfahrungen, wie sie auch in 
ausländischer Literatur niedergelegt sind, gewisse Vorstellungen 
und tatsächliche Beobachtungen, von denen ich als hier verwertbar 
folgende hervorheben möchte: Sind sie auch aus dem Zusammen- 
hang herausgerissen, so können sie — weil die ganze Groß'sche 
Abhandlung Beziehungen zwischen Blutzirkulation (besonders des 
Venensystems) und Lymphbahnen, bzw. Lymphausscheidung betrifft 
— doch auch als Einzelvorstellung glaubhafte unentstellte Ver- 
wertung finden. 


Groß weist nach, daß Lymphstauung eine gleichzeitige Kompression 
der Venen voraussetzt, die zur venösen Stauung und Mehrproduktion 
von Lymphe führt. Er sagt an anderer Stelle (S. 115): Eine gewisse 
Stauung muß dagewesen sein, denn nur durch eine solche läßt sich die 
bläschenförmige Ektasie der Lymphspalten erklären. S. 162 spricht er 
davon, daß die „Lymphstauung den Speisesaftins Abdomen 
und das Nierenbecken zurückwirft“ — was natürlich vom 
Chylus gilt, kann ungezwungen von der Lymphe überhaupt angenommen 
werden — 8. 112/113 läßt er Curveiller über einen Sektionsbefund be- 
richten, wo der in eine Supraklavikulardrüse eingebettete Duct. thorac. 
sich durch eine leichtrosige Flüssigkeit beträchtlich aus- 
gedehnt erwies. Und S. 166 heißt es: „Es gibt auch abdominelle und 
thorakische Krisen; oft in stürmischem Bild beanspruchen sie durchaus 
ihre Stellung. Seltener bei protrahiertem Verlauf, weit öfter im Beginn 
und bei schneller Entwicklung der Krankheit glaubt man zur Zeit des 
Schubes eine allgemeine Lymphstauung in stürmischem Vorstoß vor sich 
zu haben; besonders frappiert der Vorgang, wo bei anscheinend 
völligem Wohlbefinden plötzlich eine solche das ganze 


6 HANSER 


Lymphsystem alterierende Krise einsetzt und dann nach 
ihrem Abklingen zum ersten Male eine solche Außerung der Lymph- 
stauung, wie Ascites (hier Hämoglobinurie!) sich manifestiert.“ 

Wenn wir so gewissermaßen unter der Leitung dieser Dar- 
legungen die Auswirkung der durch die Dissezierung der Aorta 
bedingten mechanischen Gewebs- und Zirkulationsstörungen be- 
trachten, so läßt sich wohl verstehen, daß bei der krisen- 
artigen plötzlichen Stauung der großen Lymphwege 
ihr Inhalt nach dem von Druck freien Bauch zurück- 
eeworfen wird und dort spez. im Nierenbecken dem 
vielleicht sonst unveränderten und zur Entleerung 
schon bereiten Harn beigemengt und mit diesem ausge- 
schieden wird. Ist nun aber dieser Inhalt der groben Lymph- 
bahnen durch Blut, bzw. Blutfarbstoffbeimengung verändert, so 
erscheint diese blutig gefärbte Lymphe — Hämolymphe — im 
Harn wieder und führt zur Hämoglobinurie. 

Überzeugender wirkt nun allerdings ja schon der makro- 
skopische autoptische Befund, wie er oben berichtet ist: Im 
Vordergrund steht dabei die pralle Füllung der retroperitonealen 
Lymphknoten und Lymphbalnen mit der klaren durchscheinend 
roten Flüssigkeit“. 

Aber weit wichtiger sind die auffälligen Tatsachen der mikro- 
skopischen Untersuchung der Harnwege: Während die 
Nieren selbst frei von allem Blutpiement gefunden wurden, enthielt 
zunächst das Endotheleiner Lymphdrüse der Nierengegend reichliches 
Kisenpigment und ebenso zeigt weiter der unterste Teil des Nieren- 
beckens in seinen (wohl abführenden) Lymphgefäßen eine pralle 
Füllung mit Eisenpigment. 

Dieser glücklicherweise feststellbare und festgestellte Nachweis 
des als Eisen ausgeschiedenen Blutfarbstoffs gerade 
nicht in der (und durch die) Niere, sondern lediglich in den 
von den Nieren nach dem Zentrum strebenden Lymplbahnen 
spricht deutlicher vielleicht als der (leider unterbliebene) Nachweis, 
daß im Blut freies Hämoglobin kreise, dafür, daß hier einvoller 
Gegensatz zu den in der Regel bei den sonstigen 
Formen der Hämoglobinurien nachgewiesenen Befunden in 
den Nieren besteht. 

Am besten hat wohl auch J. W. Miller — zum Teil hilfs 
einer von ihm selbst inaugurierten elektiren Färbung — darauf 
hingewiesen, daß das Hämoglobin bei der menschlichen H. von den 
Epithelien der gewundenen Harnkanälchen erster Ordnung und 


Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 17 


den Henle'schen Schleifen ausgeschieden wird. In geringem Maß 
konnten die Pigmente auch in den Zellen der Bowmann’schen 
Kapseln gefunden werden. 

Was könnte deutlicher machen, daß das Hämoglobin der be- 
kannten Formen von Hämoglobinurie eben aus dem die Nieren 
kommenden mit freiem Hämoglobin belasteten Blut durch den Harn 
ausgeschieden und eben zum Teil in seinen hängen bleibenden Resten 
in den Geweben der Niere selbst noch wiedererkannt werden kann, 
während sichtlich nicht das Blut den Farbstoff in unserem Fall der 
Niere zugeführt hat, sondern der Farbstoff mit der ihn enthaltenden 
Lymphe lediglich unter dem rückstauenden Druck auf dem Weg 
der Lymphgefäße, die vom Nierenbecken, bzw. den Anfängen der 
Harnleiter kommen, dem der Ausscheidung gewärtigen Harn bei- 
gemengt ausgeschieden wird. 

Es wäre vielleicht gar nicht ausgeschlossen, daß man zur 
selben Zeit im Magen- oder Darminhalt mit chemischen Metlioden 
ebenfalls hätte Blutfarbstoff nachweisen können. 

Schließlich gibt der weitere Verlauf des Falles der erörterten 
Auffassung weiter recht, indem mit der offenbar schnell (wohl 
schon nach ca. 18 Stunden) auftretenden Rückperforation der 
Druck auf die Lymphbahnen nachläßt, denselben und 
ihrem Inhalt den Weg wieder frei gibt, so daß entweder die dem 
Urin je noch beigemischte Lymphe rasch auch hämoglobinfrei wird, 
oder überhaupt die Lymphstauung aufhört und die auch noch Reste 
von Farbstoff enthaltende Lymphe wieder ihre normalen Abflub- 
wege findet. 

Daß bei der fehlenden Hämolyse auch die Fieberlosigkeit 
des Kranken gegenüber dem meist die Hämoglobinurien begleitenden 
Fieber erklärlich ist, bedarf keiner Begründung. 


Aber gerade mit Rücksicht auf das Neue an diesem Fall ver- 
dient die Vollständigkeit unserer Beweisführung, auf den ersten 
der Fälle von Boström zurückzukommen, weil er Anlaß geben 
kann, an ihm weniger eine Anomalie der Harnausscheidung, als 
die Möglichkeit zu demonstrieren, daß auch dort einst im Anschluß 
an die vermutliche Entstehung des An. diss. merkwürdige Vorgänge 
im Sinn einer unter ähnlichen Einflüssen entstandenen Lymphstauung 
abgelaufen sein könnten. 

Es handelte sich dort um einen 6ljährigen Mann, der nach langer 
klinischer Behandlung (Bronchitis, Nephritis, Pleuritis) schließlich an 
einer Ponsblutung gestorben war. Die Sektion ergab ein ganz ungewöhn- 
lich ın Heilung übergegangenes An. diss. der Brust- und Bauchaorta, 


18 HANSER 


welches anscheinend nach einem schweren Trauma vor 22 Jahren 
entstanden sein mub. Boström berichtet, daß der Patient ungefähr 
22 Jahre vor dem Tod im Wald überfallen und geprügelt worden 
sei. Nach Haus gekommen, habe er sich sofort ins Bett gelegt, über 
äußerst heftige Schmerzen im Rücken geklagt und bis zum Abend sei 
der ganze Körper faßförmig angeschwollen gewesen, so 
daß er ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Am anderen Tag sei 
die ganze Körperhaut dunkel kirschrot, dann kupferbraun 
gewesen, so daß Prof. Kußmaul, der damalige Direktor der Erlanger 
Klinik, geäußert habe, er glaube einen Indianer in Behandlung zu haben. 
Patient sei dann 5 Monate krank gewesen. Leider sei eine ausführliche 
Krankengeschichte nicht zu bekommen gewesen. 

Es ist nicht uninteressant, B.’s Überlegungen über die Entwicklung 
der bei der Bildung des Aneurysma mit einem Male eingetretenen 
sekundären Perforationen nachzulesen. Auf diese bezieht B. die sich 
am Abend schon einstellende faßförmige Anschwellung des ganzen Körpers. 
Er führt die kirschrote, später kupferbraune Farbe auf das zugrunde- 
gehen vieler roten Blutkörperchen, die von Endothel entblößte Fläche 
des GefäBrohrs und das Hineingelangen roter Blutkörperchen ins Gewebe 
zurück und erklärt die nachträgliche Braunfärbung als hämatogenen Ikterus. 

Ich sehe zunächst ab davon, daß gerade z. B. J. W. Miller 
darauf hinweist, daß bei der Hämoglobinämie, bzw. also Hämo- 
globinurie die konsekutive Eindickung der Galle nachträglich zu 
einem Resorptionsikterus führe, während er einen häma- 
togenen auch hier als unmöglich leugnet. 

Dagegen gibt gerade die Schilderung Boström’s doch manches 
Bedenken, ob seine Erklärung besonders betreffs der Entstehung 
der faßförmigen Anschwellung zu Recht bestehen kann. Denn es 
wäre doch wirklich schwer zu begreifen, daß lediglich unter dem 
Einfluß eines solchen Vorgangs, wie ihn das An. diss. auch mit 
den sekundären Perforationen bedeutet, der Körper diffus so an- 
schwellen sollte Wäre es da nicht viel naheliegender, dab auch 
hier analog unserem Fall, namentlich bei dem noch viel gewaltigeren 
Trauma und einer Aneurysmabildung, die auch enorme Dimensionen 
gehabt haben muß, es zu einer Ähnlich erfolgten riesigen Lymph- 
stauung gekommen sein könnte, die nun wirklich viel eher das 
allgemeine Anschwellen des ganzen Körpers begreifen läßt. Mit 
der mit Blut ebenfalls gefärbten Lymphe, deren Stauung freilich 
in anderer Weise gedacht sein müßte, als in unserem Fall, wo die 
Nähe des Zwerchfellschlitzes eine besondere Rolle gespielt haben 
mag, konnte ja der Blutfarbstoff in die ganze Haut gelangen und 
die gerade so gleichmäßig verteilte Färbung der Haut 
erklärem Die Lymphe als Farbträgerin mag doch 
viel plausibler für diese universelle Schwellung und Färbung 


at m. 


Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 19 


verantwortlich gemacht werden, als wie es nach Boström das 
Blut selbst fertig bringen soll. 

Kehren wir zu unserem eigenen Fall zurück, so darf man wohl 
behaupten, daß hier, wenn auch ein Zufallsprodukt, doch 
immerhin ein prinzipiell neues vorliegt, eine noch nicht be- 
schriebene Form von Hämoglobinurie, neu in der Ent- 
stehung, damit aber auch neu im Wesen. Keine der bisher be- 
schriebenen Formen läßt das Blut selbst eine so sekundäre Rolle 
spielen, während hier anscheinend auch nur ein Transport 
frei gewordenen Blutfarbstoffs und nicht ein Schein 
eines biochemischen Prozesses abläuft. 

Daß ein solcher Blutfarbstofftransport auch aus anderer 
Grundursache auf dem Weg der Lymphstauung bis zur Harn- 
entleerung möglich wäre, ist wohl denkbar; nur müßte die 
Plötzlichkeit des Eintritts der Störung der Zirkulation in den 
Hauptlymphbahnen vorausgesetzt werden, ohne die ja ein 
Kollateralausgleich günstige Kompensationsbedingungen schaffen 
würde. Zufällig anatomisch gelagerte und damit sich aus- 
wirkende Traumen, den großen Lymplhstämmen benachbarte 
Tumoren mit z. B. plötzlich innerhalb oder außerhalb derselben 
einsetzenden Blutungen könnten ähnliche Voraussetzungen 
schaffen, wie sie hier tatsächlich unter der komplizierten Aus- 
wirkung des an sich schon ungewöhnlichen An. diss. gegeben 
waren. 

Auch experimentell wäre interessant, vielleicht durch 
temporäre Unterbindung der groben Lymplhstämme und Injektion 
von Blutfarbstoff in dieselben (oder eventuell auch Blut) die Aus- 
wirkung zu prüfen, insbesondere, ob sich auch so künstlich diese 
Form der Hämoglobinurie erzeugen läßt und vor allem auch der 
beweiskräftige Nachweis gelingt, daß auch mikroskopisch Restfarb- 
stoffe in gewissen Lymphbahnen, wie hier im Nierenbecken, den 
Weg bestätigen, den die rückwärts gestaute Lymphe genommen 
hat. Der Blutfarbstoff hätte dann, wie ja eigentlich im 
vorliegenden Fall in Wirklichkeit, als künstliche Suspension 
für den Versuch gedient, gerade wie wir es bei pathologisch- 
experimentellen Fragestellungen mit anderen Farbstoffen probieren. 

Überdenkt man nun angesichts allerdings aller dieser Aus- 
fülrnngen und vor allem des ihnen zugrunde liegenden Geschehens, 
was den Fall m. E. doch recht interessant macht, so kann man 
wohl Hasse beipflicbten, wenn er am Schluß des oben erwähnten 
Aufsatzes sagt: „Ich glaube, so viel ist sicher, dab die Be- 


80 HANSER 


deutung des Lymphsystems eine viel weitgehendere 
ist, als bisher angenommen wurde, wenigstens ebenso- 
weittragend und erforschenswert, wie die des Blut- 
systems. 

- Alles zusammenfassend ergibt sich aus der Darstellung 
dieser beiden Fälle von An. diss. als wesentlich: 

1. Die Wichtigkeit, bei gewissen Fällen an Aortenrupturen, bzw. 
ihre mögliche Folge, das An. diss. zu denken, besonders auch da, 
wo es sich um Begutachtungen von Unfällen, bzw. Überanstrengungen 
handelt, die den Rumpf treffen. 

2. Daß die Entstehung eines An. diss. Aortae, bzw. einer 
Rupt. aort. auch da als möglich in Betracht kommt, wo eine 
Erkrankung der Gefäßwand nicht vorausgesetzt ist. 

3. Daß Rückperforationen beim An. diss. nicht. wie 
einzelne Autoren meinen, die Gefahr des verhängnisvollen 
Durchbruchs desselben in Pleura oder Perikard ausschließen. 

4. Daß das An. diss. aort. — abgesehen von anatomischer und 
funktionellen Heilungsmöglichkeiten und andererseits katastrophalenı 
sofortigen oder wenigstens raschem Tod — auch zu weitgehenden 
und die verschiedensten Organe in Mitleidenschaft ziehenden Komjli- 
kationen Anlaß geben kann, bei deren Entstehung Störungen 
der Blut- und Lymphzirkulation mitwirken. 

5. So führte hier ein An. diss. a. thor. zur mechanischen 
Stauung der großen Körperlymphbahnen mit zufällig 
bedingter Hämoglobinurie, die als eine neue Form 
derselben in Entstehung und Wesen prinzipielle Be- 
deutung hat. 

6. Diese Art Hämoglobinurie ist als eine einfache Aus- 
schwemmung von zufälligin die Lymphbahnen direkt 
geratenen Hämoglobins zu betrachten, bei deren Entstehung 
durchaus auch andere Möglichkeiten, als die gerade hier gegebene, 
denkbar sind. 

7. Damit dürfen wohl auch hier hämolytische Vorgänge aus- 
zuschlieben sein, zumal der anatomisch-mikroskopische Nachweis 
den mehr mechanischen Charakter dieser Art von Hämoglobinurie 
aufdeckt. 

Daß dieser Fall als solcher überhaupt erkannt und seine Ver- 
öffentlichung möglich war, verdankt er nur der Autopsie, da ja 
die klinische Beobachtung, wie auch beim ersten Fall, den Arzt 
auber Möglichkeit gesetzt hatte, das wirkliche Geschehen auch nur 
zu ahnen. Hatte ich auch nach dem Erlebnis des ersten bei den 


Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 81 


merkwürdigen ersten Erscheinungen des zweiten an einen ähnlichen 
Vorgang, wie beim ersten, gedacht und sogar den Prosektor von 
diesem Gedankengang — er hatte ja die Sektion auch des ersten 
Falles gemacht — in Kenntnis gesetzt, so hatte mich doch gerade 
die Erscheinung der Hämoglobinurie wieder von der richtigen 
Fährte abgelenkt.. Es bestätigt sich darum wieder, wie not es tut, 
gerade Fälle plötzlichen Todes, auch wenn z. B. die Annahme eines 
Koronartodes naheliegt, möglichst dennoch der Autopsie zuzuführen, 
Ich finde immer, daß es auch in der Praxis draußen, namentlich 
in den Städten, wo besonders sachverständige Leichenöffnungen 
möglich sind, durchaus erfolgreich ist, bei den Angehörigen diese 
Aufklärung der Krankheit durchzusetzen. Können doch gerade 
auch aus der Praxis zufällige und wichtige Erfahrungen zur Er- 
kenntnis gebracht werden, die nur noch zufälliger in Klinik und 
Krankenhaus zur Beobachtung kommen und damit, auch wenn die 
ärztliche Beobachtung selbst vielleicht begreiflicherweise durch die 
schwierigeren Untersuchungsmöglichkeiten lückenhafter sein mögen, 
der Wissenschaft doch dienen. 


Literatur. 


Babes u. Minorescu. Ziegler Beitr. z. pathol. Anat. 48. — Bay, Frank- 
furt. Zeitschr. f. Pathol. 6. — Boström, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 42. — Busse, 
Virchow's Arch. 183. — H. Groß, Dtsch. Zeitschr. f. Chirurg. 127. — Hart, 
Berlin. klin. Wochenschr. 1917. — Hasse, Arch. f. Anat. u. Physiol., Anat. Abt. 
Ian. — Holländer, Münch. med. Wochenschr. Nr. 31, 1913. — Jenner, +, 
arch. 226. — Krehl, Pathol. Physiol. 9. Aufl. — Krukenberg, Ziegler Beitr. 
f. pathol. Anat. 67. — Kumita, Arch. f. Anat. u. Physiol., Anat. Abt. 1909. -— 
Letterer, Virchow’s Arch. 253. — Lewin, Dtsch. med. Wochenschr. 1925. — 
Mever-Betz, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 101. — J. W. Miller, Berlin. klin. 
Wachensehr. 1912. — Ders., Frankfurt. Zeitschr. f. Path. 11. — Ders., Frank- 
furt. Zeitschr. f. Pathol. 22. — Oppenheim, Münch. med. Wochenschr. 1918. — 
Paschkis, Med. Klinik 1925. — Paul, Wien. Arch. f. inn. Med. 7. — Quincke, 
Münch. med. Wochenschr. 1912. — Reitter, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 119. —- 
Schilling,‘ Frankfurt. Zeitschr. f. Pathol. 27. — Stahr, Arch. f. Anat. u. 


Physiol., Anat. Abt. 1900. 


Nachtrag: Die nach Abschluß der Arbeit erst entdeckten „Beiträge zur 
Frage des An. diss.“ von L. Mayr (Zentralbl. f. Herzkrankh. 1925, Nr. 17) sollen 
nieht unerwähnt bleiben, weil auch dort darauf hingewiesen wird, daß die arterio- 
sklerotische Wandveränderung für die Intimaruptur „nicht ohne Bedeutung“ sei, 
während die Entstehung der Ruptur durch erhöhten Blutdruck (Nephritis) 
— letzten Endes ja auch die mindestens lokale Wirkung eines Traumas! — be- 


günstigt werde. 


Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 6 


82 


Aus der medizinischen Klinik in Halle a. d. S. (Prof. Volhard.) 


Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion 
im entweißten Blut unter normalen und pathologischen 
Verhältnissen. 


II. Mitteilung. 


Die Xanthoproteinkvlorimeterwerte bei Krankheiten. 


Von 


Erwin Becher und Elfriede Herrmann. 


Mit Hilfe der in der ersten Arbeit!) angegebenen Methode 
haben wir mehrere Tausend Blut- und Gewebsanalysen bei Ge- 
sunden und bei verschiedenen Erkrankungen ausgeführt. Wie schun 
früher erwähnt wurde, fallen die mit der Methode erhaltenen 
Resultate bei verschiedenen Erkrankungen durchaus gesetzmälig 
aus. Daher ist es auch möglich, die sehr einfach auszuführende 
Reaktion, deren Stärke man Kolorimetrisch gut bestimmen kann. 
für die Diagnose mancher Krankheiten zu verwerten. Wir haben 
zunächst die Kolorimeterzahlen bei direkter Ausführung der Reaktion 
angegeben. Bei vielen Fällen wurde dann auch eine Trennung in 
die nach Hydrolyse ätherlösliche und ätherunlösliche Fraktion vor- 
genommen. 

Tabelle 1 zeigt eine Zusammenstellung der Kolorimeterwerte 
beim Gesunden und verschiedenen Erkrankungen mit Ausnahme 
von Nierenkrankheiten. Es sind allemal der Durchschnittswert und 
die Grenzwerte von einer großen Analysenreihe wiedergegeben. 
Normalerweise liegt: der XKanthoproteinkolorimeterwert etwa bei 
20, Werte über 25 bedeuten eine Erhöhung. Das enteiweißte Blut 
gibt nach der in der ersten Mitteilung angegebenen Methode ver- 
arbeitet, stets eine Nanthoproteinreaktion. Die niedrigsten Werte 


S a A 


D Becher, Dtseh. Arch. f. klin. Med. Bd. 145, 1925, S. 159. 


Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion usw. 83 


liegen bei 14—15, wenn man sich genau an die für die Anstellung 
der Reaktion gegebenen Vorschriften hält.!) Dieselben Werte wie 
in der Norm finden sich auch bei vielen Erkrankungen, z. B. bei 
Arthritiden, Nervenkrankheiten, Ulcus ventriculi, Emphysem, 
Cystitis u. a. Auch bei Herzfehlern, Diabetes, Infektionskrank- 
heiten und Tumoren beobachtet man, so lange keine Komplikationen 
vorliegen, keine nennenswerten Erhöhungen gegenüber der Norm. 


Tabelle 1. 
. | Xanthoproteinkolorimeterw ert 
Krankheiten 
| Durchschnitt | Grenzen 
| 
1. Normalfälle | 21 14—24 
2. Arthritiden | 21 19 23 
3. Diabetes 21 19—25 
4. Infektionskrankh., Eiterungen u. Tuberkulose 23 17—30 
5. Tumoren 24 20—27 
6. Herzkrankheiten 25 15---34 
1. Blutkrankheiten 27 22—33 
N. Fälle mit vermehrter Indolbildung 29 24—39 
9. Pneumonien 30 21—48 
10. Leberkrankheiten 31 17—46 
ll. Endocarditis lenta | 37 | 21---50 
12. Leichenblut und kurz vor dem Tode ent- 17 24—208 
i nommenes Blut | 


. Fälle nach künstlicher Einfuhr arovmatischer RE 56—156 
Stoffe | 


Bei dekompensierten Vitien und bei Herzinsufficienz aus anderen 
Ursachen fiel die Xanthoproteinprobe in der Regel auch nicht ver- 
stärkt aus. Werte an der oberen Grenze der Norm und seltener 
auch geringe Erhöhungen kommen jedoch vor. Das Verhalten der 
Xanthoproteinwerte bei Herzinsufficienz entspricht dem Indikan, 
welches dabei auch in der Regel im Blute nicht ansteigt. Im 
Gegensatz dazu kann bekanntlich bei Herzinsufficienz der Blut- 
Rest-N und Harnstoffwert, wie auch Tabelle 2?) zeigt, deutlich 


—— 


Il) Wenn man mit einem anderen Kolorimeter oder mit einer anderen Ver- 
gleichslösung arbeitet, was durchaus möglich ist, muß man den Normalwert natür- 
lich erst neu feststellen. 

2) In der Arbeit ist nur ein ganz kleiner Teil der Analvsenresultate mit- 
geteilt. In den Tabellen ist in der rechts von der Diagnose stehenden Rubrik 
die Art des untersuchten Materials angegeben: GB. == Gesamtblut, S. = Serum, 
PI, = Plasma. Die Indikanprobe wurde nach der von Haas angegebenen Modi- 
hkation der Jolles’schen Methode ausgeführt (Haas, Münch. med. Wochensehr, 
1417, Nr. 42). 

6 


84 BEcHER u. HERRMANN 


erhöht sein. Bei Endocarditis lenta finden sich meist deutliche 
Zunahmen des Xanthoproteinkolorimeterwertes, zum Teil mag dafür 
eine Niereninsufficienz verantwortlich zu machen sein. Das kann 
jedoch nicht die alleinige Ursache sein. 


Tabelle 2. 


Herzkrankheiten. 


a „oe a 
TE EEE EEE EEG 


‚ Xanthoprotein- 


| Diagnose kolarııneterwert Bemerkungen 
| | z 
1 |Endocarditis lenta: GB. 29 RN 58 mg’, U 86 ng®, 
2 3 u A 4) Indikan im Serum: ø 
3 |Aortenvitium de- S. 20 IRN 64 mg °g, Ü 87 mg", Serum- 
kompens. | | indikan: ø 
4 |Mitralinsufficienz| 8. 15 |U 31 mg°;, Serumindikan: ø 
kompens. | 
5 |luet. Aorteninsuf-; GB. 21 RN 48 mg °,, Ü 63 mg ?,, Serum- 
ticienzdekompena. | indikan: 9 
| | 


| 


Es wurden zahlreiche Analysen bei Infektionskrankheiten. 
Eiterungen und Tuberkulose ausgeführt. Mit wenigen Ausnahmen 
fanden wir normale Werte. Das war auch zu erwarten. Wir 
wissen einerseits, daß, solange die Niere intakt ist, Darmfäulnis- 
produkte sich im Blut nicht anhäufen, und daß andererseits keine 
nennenswerten Vermehrungen der Aminosäuren sich dabei finden.) 
Wenn Zunahmen vorkommen, liegen besondere Ursachen vor. Eine 
Vermehrung bei einem jauchigen postpneumonischen Empyem ist 
wohl auf vermehrte Bildung von aromatischen Fäulnisprodukten zu 
beziehen. Bei einem schweren Paratyphus mit sehr starken Durch- 
fällen war die Vermehrung durch eine hochgradige Oligurie zu 
erklären. Der Trockenrückstand und Rest-N-Gehalt des Blutes 
waren stark erhöht. Bei einer Miliartuberkulose bestand gleich- 
zeitig eine Nierenkomplikation mit Niereninsufficienz. Einmal 
fanden wir auch bei einer käsigen Pneumonie einen erhöhten Wert. 

Bei Zuckerkrankheit wurden, solange nicht kurz vor dem Tode 
untersucht wurde,?) normale Werte auch bei schweren Fällen ge- 
funden. Der Durchschnittswert lag nicht höher als beim Gesunden. 
auch bei Kranken mit Ketonurie und stark erhöhtem Blutzucker. 


1) Vgl. Wolpe, Münch. med. Wochenschr. 1924, Nr. 12. — Becher u. 
Herrmann, Minch. med. Wochenschr. 1925, Nr. 51. 

2) Kurz vor dem Tode können im diabetischen Coma im Blut Phenole und 
aromatische Oxysäuren vermehrt sein (Becher, Litzner, Doenecke). 


Studien über las Verhalten der Kanthoproteinreaktion usw. 85 


Bei Tumoren verschiedener Art bestanden meist keine Er- 
höhungen, solange nicht kurz vor dem Tode untersucht wurde. Die 
Durchschnittswerte lagen jedoch etwas höher als beim Gesunden, 
überschritten aber in der Regel nicht die obere Grenze der Norm. 
Auch beim Magencarcinom lagen die Werte meist noch im Bereich 
der Norm. l 

Bei schweren Pneumonien fanden wir leichte Erhöhungen des 
Xanthoproteinkolorimeterwertes. Oft lagen die Werte noch im 
Bereich der Norm. Da leichte Zunahmen des Blutaminosäurewertes 
bei Pneumonien vorkommen, könnte die geringe Steigerung auf 
aromatische Aminosäuren zu beziehen sein. Die Darmfäulnisprodukte 
sind in der Regel bei Pneumonie im Blut nicht vermehrt. 


Tabelle 3. 
Blutkrankheiten. 
m | Xanthoprotein- | 
Mi S ; 
Diagnose LOOT ICTA | Bemerkungen 
l Polyeythämie GB. 28 Ä — 
2a i 5. 20 26 mg °, Č, 9 mg”, Amino-Stickstoff 
3 perniziüse Anämie $ 29 25mg”, C, 65mg’; Amino-Stickstoff 
4 e 8 al BLI mge, C, Serumindikan: 8 
> = 53 Serumindikan: 4- 
6, Iymphatische S 25 69 mg”, Amino-Stickstoff. 44000 
Leukämie Leukveyten 
q myeloische Leuk-; Pl. 23 400 000 Leukocyten 


| ümie | 

Bei Polycythämien beobachteten wir einigemal geringe Er- 
höhungen des Xanthoproteinwertes (Tabelle 3). Die Probe kann 
aber auch ganz normal ausfallen. Wir fanden bei Polycythämien 
manchmal leichte Zunahmen der Amino-N-Werte im Blut. Feste 
Beziehungen zwischen diesen und den stärkeren Xanthoproteinproben 
bestanden jedoch nicht. Perniziöse Anämien zeigen oft deutliche 
Zunahmen des Xanthoproteinkolorimeterwertes (Tabelle 3). Manch- 
mal findet man auch das Indikan erhöht. Wahrscheinlich wird die 
Vermehrung hier durch aromatische Darmfäulnisprodukte bewirkt. 
Aromatische Aminosäuren kommen wahrscheinlich nicht in Frage, 
da der Aminosäure-N bei perniziöser Anämie nicht erhöht, sondern 
eher niedriger als in der Norm ist. Bei Leukämien fanden wir 
in der Regel normale Xanthoproteinwerte. Bei starker Vermehrung 
der weißen Blutkörperchen kann die Xanthoproteinprobe bei 
schweren Leukämien stärker ausfallen. Man findet dann erhebliche 


86 BECHER u. HERRMANN 


Zunahmen der freien und gebundenen Aminosäuren im Blut.!) Es 
ist möglich, daß ein vermehrter Gehalt an aromatischen Amino- 
säuren im enteiweißten Blut die Ursache für den höheren Xantho- 
proteinwert ist. Dafür spricht auch die Tatsache, daß wir im 
Vogelblut, wo wahrscheinlich infolge des Kerngehaltes der Erythro- 
tyten die Aminosäurewerte hoch sind, auch stets erhöhte Xantho- 
proteinwerte fanden, und zwar ist die nach Hydrolyse nicht ätheı- 
lösliche Fraktion, welche die aromatischen Aminosäuren anzeigt, ver- 
mehrt (Tabelle 4). Hohe Amino-N-Werte bei Leukämien mit hohen 
Leukocytenzahlen gehen jedoch keineswegs immer mit hohen Xantho- 
proteinwerten einher. 


Tabelle 4. 
Vogelblut. 


| | Xanthoproteinkolorimeterwert 


| EN nach Hydrolyseu. mg °. Amino-N 
| Arer} Atherextraktion 

1 Huhn GB. | 35 35 010 

2 , 44 42 | 174 

3 ” il 3N 35 | 17.4 

4 . | a 34 | 34 16,0 

5 | Ente i P DV | 57 Ä 20,0 


Bei Lebererkrankungen findet man oft Erhöhungen des Xantho- 
proteinkolorimeterwertes im enteiweißten Blut (Tabelle 5). Im 
großen und ganzen finden sich die Zunahmen bei hohen Blutbili- 
rubinwerten. Dabei sind jedoch die Xanthoproteinwerte nicht immer 
erhöht. Da bei Lebererkrankungen nur selten Vermehrungen der 
Aminosäuren im Blut vorkommen, kann die Zunahme, wenn wir 
von der akuten gelben Leberatrophie, bei der der Blutaminosäure- 
wert stark ansteigt, absehen, nicht ohne weiteres auf aromatische 
Aminosäuren bezogen werden. Andererseits sind auch die Darm- 
fäulnisprodukte nicht vermehrt. Auch das Bilirubin selbst, welches 
ebenfalls die Xanthoproteinprobe gibt, kann nicht in Frage kommen, 
da es bei der Enteiweißung ausgefällt wird. Es müssen also wohl 
bei Lebererkrankungen noch unbekannte Stoffe in Betracht kommen, 
wenn man nicht die Annahme machen will, daß auch bei normalem 
Amino-N-Gehalt der Anteil der aromatischen Aminosäuren über- 
wiegt. 


D Vgl. Becher u. Herrmann. L c. 


Studien über das Verhalten der Xanthoproteinrenktion usw. 87 


Tabelle 5. 
Leberkrankheiten. 


Xanthoprotein- | 


)] R N 
Diagnose kolorimeterwart Bemerkungen 
| 
1 Ikterus katarrh. S. 35 12,8 mg°, Serumbilirubin, Indikan 
' im Serum: 9 
2 IkterusbeiLeber- GB. | 31 19,5 mg’, Serum-Ü 
lues | | 
3. Choleevstitis S. 26 0,83 mg’, Serumbilirubin 
4 Ikterusb.tallen- S. 43 13 mg”, Serumbilirubin 
>  blaseneareinom | | | 
Akute gelbe S. 100 12,5 mg”, Serumbilirubin, 28 mg”, 


Leberatrophie ae ® 
l | Serum-U 


In Tabelle 6 sind einige Fälle mit starker Indikanurie ange- 
führt. Die Xanthoproteinwerte sind erhöht oder liegen an der 
oberen Grenze der Norm. Die Ursache ist hier zweifellos in der 
vermehrten Bildung von aromatischen Fäulnisprodukten in Darm 
oder Lunge zu suchen. Es kommen bekanntlich dabei auch leichte 
Indikanvermehrungen vor (Haas, Rosenberg, Becher). Die 
Zunahmen des Xanthoproteinwertes betreffen die nach Hydrolyse 
ätherlösliche Fraktion und sind, solange die Nierenfunktion intakt 
ist, relativ gering. 


Tabelle 6. 
Fälle mit vermehrter Indolbildung. 
. Ä Xanthoprotein- | i f 
Diagnose ! | ls metörwert Ä Bemerkungen 
i | | | =Z 
1 Inyaginationsileus: GB. i 39 Im Harn Indikan: +++ 
2 Bronchiektasie | S. 31 Dur „  : +++ 
3 Enteritis O Soo 24 m s „+++ 
4 Akute Peritonitis GB. | 30 5 à „ : +-+. Blut- 
| indikan schwach + 


Ə Lungengangrän GB. 29 ; Im Harn Indikan: +++ 


Tabelle 7 zeigt die Xanthoproteinkolorimeterwerte nach Ein- 
fuhr aromatischer Substanzen. Große Gaben von Natrium salicyl. 
mehrere Tage hindurch gegeben, führen zu starken Anstiegen des 
Wertes im Blut. Salicylsäure gibt auch die Xanthoproteinprobe. 
Daß die Reaktion bei Phenolvergiftung stärker ausfällt, ist nicht 
verwunderlich. 


88 BECHER u. HERRMANN 


Tabelle 7. 


Fälle nach künstlicher Einfuhr aromatischer Stoffe. 


pus es - ni u E ge 


Diagnose kolorimeterwert Bemerkungen 
1 Paaride GB. 65 | tgl. 8 g Natr. salicyl., 28 me '„ RN 
2; = 2 | GB. 12 | 3 g ,» N 30 mg”. RN 
3 Phenolvergiftung : S. 156 vor 3 Std. große Mengen Phenol 
| getrunken 
4 = Ss. 56 ‚ derselbe Fall ' Tag nach der Ver- 
| © giftung 


Interessanterweise findet man im Leichenblut und im kurz vor 
dem Tode entnommenem Blut meist Steigerungen des Xanthoprotein- 
wertes (Tabelle 8); die Zunahmen sind relativ beträchtlich. Zum 
Teil mag der dann gleichzeitig auftretende Anstieg der Blutamino- 
säuren als Ursache in Frage kommen.!) Bei anderen Fällen, z. B. 
bei perniz. Anämie, Lungengangrän, Peritonitis sind Darmfäulnis- 
produkte für die Verstärkung der Probe im Leicheublut verant- 
wortlich zu machen. Bei einigen Fällen mag auch eine terminale 
Niereninsufficienz mit im Spiele sein. Bemerkenswert ist, daß beim 
Diabetes einigemal normale Werte im Leichenblut gefunden wurden. 


Tabelle 8. 
Leichenblut und kurz vor dem Tode entnommenes Blut. 
| | Xantho- 
A protein- | 
Diagnose | Eolorımeter: | Bemerkungen 
i wert | 
$ | $ 
1 Senium, Arterio- S. kurz vor dem Tode! 60 RN 64 mg?e, mg °C, 
| sklerose entnommen | 27 mg’, U, Serum- 
| Ä r 
2 Staphylokokken-.GB. in der Agone ent- '236 mg’, U, Serumindi- 
| sepsis | nommen | kan: ø 
i l + 
3 | Myodegeneratio ‘GB. kurz vor dem Tode, 100 102 mg°, U, Serumindi- 
i cordis entnommen ı kan: + 
4 Lungentuber-- GB. Leichenblut 30 ‚Blutindikan: ø 
kulose 
5 ‚Mitralvitium de-), GB. Leiehenblut 89 
kompensiert Ä 
6 | Diabetes, Coma | GB. Leichenblut ' 32 


1) Vgl. Becher u. Herrmann, L e. 


Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion usw. 89 


In Tabelle 9 ist die nach Hydrolyse ätherlösliche und äther- 
unlösliche Fraktion getrennt. Die erste Rubrik enthält den direkten 
Wert, die zweite den Wert nach Hydrolyse am Rückflußkühler, 
die dritte den Wert nach Hydrolyse und Ätherextraktion und die 
vierte die Differenz der 2. und 3. Rubrik, also den nach Hydrolyse 
ätherlöslichen Anteil. Einigemal ist der Wert nach Hydrolyse am 
Rückflußkühler allein nicht bestimmt. Wir haben dann die äther- 
lösliche Fraktion durch Abziehen des Wertes der 3. Rubrik vom 
direkten Wert (1. Rubrik) berechnet. Der Unterschied des Xantho- 
proteinkolorimeterwertes bei direkter Ausführung der Reaktion und 


Tabelle 9. 


Differenzierung des Xanthoproteinkolorimeterwertesin die nach 
Hydrolyse ätherunlösliche und ätherlösliche Fraktion. 


Xanthoproteinkolorimeterwert 
| nach Hydro- | 


Diagnose e nach Hvdro-| lyse und | Differenz 
direkt | in de 3 
| vse Ather- 
| extraktion 
l Gesunder GB. 21 23 18 5 
2 Gesunder GB. 24 23 19 
3| Ulcus ventriculi S. 22 21 15 6 
4 Typhus abdominalis; GB. 23 24 24 
5 | Ikterus katarrhalis | GB. 33 31 30 1 
6 | Ikterus nach Lues | GB. 46 3 39 4 
und Salvarsan 
7 Akute gelbe Leber-| GB. 64 = 62 2 
atrophie | 
8! Pneumonie nach GB. 67 65 55 10 
Typhus 
9 \Jauchiges Empyem | GB. 30 36 21 15 
10 Ileus | GB. 50 48 24 24 


nach Hydrolyse am Rückflußkühler ist in der Regel gering (vzl. 
auch Tabelle 18). Bei an sich erhöhten Werten kann allerdings 
durch die Hydrolyse eine geringe Verstärkung auftreten. Die nach 
Hydrolyse ätherunlösliche Fraktion ist normalerweise wesentlich 
höher als die ätherlösliche (Fall 1—4). Das rührt daher, daß 
normalerweise die Darmfäulnisprodukte im Blut nur wenig aus- 
machen. Die ätherunlösliche Fraktion beruht im wesentlichen auf 
den aromatischen Aminosäuren, die im enteiweißten Blut stets vor- 
handen sind. Bei den Fällen mit erhöhten Werten (Fall 5—10) 
zeigen die Leberkrankheiten ganz vorwiegend eine Zunahme der 
nach Hydrolyse ätherunlöslichen Fraktion (Fall 5, 6, 7). Bei den 
Infektionskrankheiten ist, wenn Erhöhungen vorkommen, ebenfalls 


00 Becuer u. HERRMANN 


vorwiegend der ätherunlösliche Anteil vermehrt. Bei einigen 
Pneumonien (Fall 8) war allerdings im Leichenblut und im kurz 
vor dem Tode entnommenen Blut auch der ätherlösliche Anteil 
stärker als in der Norm. Bei den Erkrankungen mit vermehrter 
Bildung von aromatischen Fäulnisprodukten (Fall 9, 10) ist die 
ätherlösliche Fraktion hoch, bei der perniziösen Anämie ist 
im Leichenblut auch die ätherunlösliche Fraktion erhöht. Bei 
dekompensierten Vitien beruht der Anstieg, wenn er überhaupt 
besteht, auf einer Zunahme des ätherunlöslichen Teiles. Im Leichen- 
blut findet sich in der Regel eine Zunahme beider Fraktionen. 


Von besonderem Interesse ist das Verhalten der Xanthoprotein- . 
probe im enteiweißten Blut bei Nierenerkrankungen. Becher 
hatte darauf aufmerksam gemacht, daß sich bei Niereninsufficienz 
Phenole und Phenolderivate in beträchtlicher Menge in Blut und 
Geweben anhäufen können.!) Es war daher zu erwarten, daß die 
Xanthoproteinreaktion dann verstärkt ausfällt. Das ist, wie der 
eine von uns schon früher kurz mitgeteilt hat, tatsächlich der Fall. 
Das Resultat der sehr einfach ausführbaren Xanthoproteinreaktion 
kann zur Diagnose einer Niereninsufficienz verwandt werden. Es 
hat sich herausgestellt, daß der Ausfall der Probe bei verschiedenen 
Formen von Nierenerkrankungen verschieden ist, und daß der 
Xanthoproteinkolorimeterwert dem Rest-N, dem Harnstoff, dem 
Indikan und der Harnsäure nicht immer parallel geht. Becher 
und Koch?) hatten früher darauf hingewiesen, daß starke Xantho- 
proteinreaktionen im Blut, die auf erheblicher Vermehrung der nach 
Hydrolyse ätherlöslichen Fraktion beruhen, gerade bei echter 
Urämie vorkommen. In der Regel verhält sich der Xanthoprotein- 
wert des enteiweißten Blutes ähnlich wie das Indikan, was ver- 
ständlich ist, weil beide Reaktionen aromatische Darmfäulnisprodukte 
anzeigen. Ein vollkommener Parallelismus besteht aber auch da nicht. 
Man beobachtet nicht selten leicht erhöhte Xanthoproteinreaktionen 
bei noch normalem Blutindikan und auch das Umgekehrte. 

Bekanntlich steigt der Indikangehalt bei Niereninsufficienz der 
akuten Nephritis nicht oder nur relativ wenig und spät an. Ein 
ganz entsprechendes Verhalten zeigt der Xanthoproteinkolorimeter- 
wert. In Tabelle 10 sind die Befunde bei einigen akuten Nephri- 
tiden zusammengestellt. Bei den ersten 7 Fällen ist der Xantho- 
proteinwert völlig normal, trotzdem Rest-N, Harnstoff und Harn- 

D Becher., Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 145, 1924. 

2) Becher u. Koch, Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 145, 1925. 


Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion usw. 91 


säure das Bestehen einer Niereninsufficienz anzeigen. In einem 
Teil der Fälle ist diese, nach dem Blutharnstoff und Rest-N zu 
beurteilen, gar nicht gering (Fall 1, 4, 6). Bei Fall 8 und 9 ist 
der Xanthoproteinwert entsprechend dem Indikanwert ganz wenig 
vermehrt. Auch hier steht die geringe Zunahme in keinem Ver- 
hältnis zu dem schon beträchtlichen Harnstoffanstieg. Wenn es im 
Verlauf einer akuten Nephritis zu Anurie oder hochgradiger Oli- 
gurie kommt, kann auch der Xanthoproteinkolorimeterwert stärker 
ansteigen, wie Fall 10 zeigt. Bei akuten Herdnephritiden bleibt 
der Xanthoproteinwert entsprechend den anderen Werten im Blut 
normal. Bei ausgedehnten herdförmigen Erkrankungen kann be- 
kanntlich auch Niereninsufficienz auftreten, dann steigt auch der 
Xanthoproteinwert an. Zur Diagnose einer akuten Nephritis ist 
die Xanthoproteinreaktion ebenso wie die Indikanprobe nicht 
geeignet. Die Harnstoff- und Rest-N-Bestimmung und besonders 
die Harnsäurebestimmung verdienen dann, wie Tabelle 10 zeigt, den 
Vorzug. 


Tabelle 10. 
Akute Nephritiden. 


| Xantho- | 
rotein- Inn FE j ; EAT 
Fall | en RN mg % U mg°, | Indikan | Umg®, 
| | wert | 
1 Be. | | 20 107 172 -+ — 
2! Be. später GB. 16 48 55 Ø ‚4 
3 Ka. 20 30 27 Ø 5,6 
4 Ni. GB. | 22 112 191 Ø | — 
I Scha. OFE] 18 53 84,5 Ø 8 
6 | Scha. später | PI. 21 | 75 129 Ø 8,6 
7| Er. S. 18 ae 51 Ø 2,9 
8| Schn. Pl. 27 = | 3 (+) — 
9 Ta. Pi. 33 — 126 (+ | 69, 
10 Pe Pl. 72 — 124 (+) — starke 
Oligurie 
l1 akute Herd- S. 19 I 19,2 | Ø — 
nephritis | | 


| | 

Bei Nephrosen (Tabelle 11) bleibt entsprechend der intakten Nieren- 
funktion auch der Xanthoproteinkolorimeterwert im Bereich der Norm. 
Das gilt für die verschiedenen Formen der Erkrankung, auch für 
die Amyloidnephrose, solange die Nierenfunktion ungestört ist. 

Bekanntlich ist bei essentiellen Hypertonien die Nierenfunktion 
nicht immer völlig intakt. Vermehrungen der Blutharnsäure sind 
kein seltener Befund bei benigner Sklerose. Sie brauchen nicht 


9? BECHER u. HERRMANN 


Tabelle 11. 


Nephrosen. 


| 
I 


| Xantho- | l a 
; protein- ‚RN U Indi- RE 
Diagnose | kolorimeter- | mg’g mg®, kan | En 
| wert | 
| FE a a. 

1 ; luetische Nephrose , GB. 20 B | ø = 
2  luetische Nephrose: 8. 25 2 19 ø 43 
3 , Amyloidnephrose | GB. ` 18 — 36 | ø Pee 
4 genuine Nephrose So i 15 — ., 19 ) ø — 325 mg’, 

| i i 


| Cholesterin 


in jedem Falle auf Niereninsufficienz zu beziehen sein, sie können 
auch durch Herzinsufficienz oder andere Komplikationen bedingt 
sein. In der Regel ist der Xanthoproteinkolorimeterwert im ent- 
eiweißten Blut bei essentiellen Hypertonien völlig normal. Selten 
beobachteten wir ganz geringe Erhöhungen (Tabelle 12, Fall 1 u. ‘). 
Das entspricht der Tatsache, daß beim Übergang der benignen in 
die maligne Sklerose der Blutphenol- und Oxysäuregehalt schon 
frühzeitig erhöht sein kann, während Harnstoff und Rest-N noch 
normal sind. 


Tabelle 12. 


Essentielle Hypertonien. 


X: anthoprotein- | | 


Fall | Kolorimeter- RN mg’, Ü mg% ı Indikan U mg’, 
wert | 
| | f 

i | ! } l 
1 HA | PL | 27 E 4 
2 Ro © GR. 20 | — | 48 ø sÀ 
3 Ki. GB. | 14 32 — Ø aY 
4 R. GRB 21 31 34 ø 49 
5 H. 20 32 36 ø 6.1 
6 Ra. 24 42 | B9 Ø pA 
[i Ki. Pl. Za — 31 Ø ON 

| 


Tabelle 13. 


Chronische diffuse Glomerulonephritis, Stadium I. 


7 | Xanthoprotein- u 
Fall ' kolorimeterwert RNmg®, X mg°, Indikan t DE 
| 
] Ko. GR. 17 30 36 ø 3 
2 Ki. DL 22 | 39 ø 42 
3 N. N. 17 — 19 ø 3a 
4 Ei. GB. IS — 28 ø z 


Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion usw. 93 


Im Stadium II der chronischen diffusen Glomerulonephritis 
(Tabelle 13) fanden wir normale Xanthoproteinwerte bei normalem 
Verhalten der übrigen harnfähigen Substanzen. 


Tabelle 14. 


Sekundäre Schrumpfnieren. 


- Xantho- 


rotein- RN U . : f 
Fall koennte mg’, mg’, Indikan | U mg’ 
| wert | | ' | 
1 i 
1 Ei. | GB. | 24 | 56 | BI | Ø = 
2 Ei. GB. | 20 67 I 9 -+ — 
3 Sch. S. o 31 — 27 ø -- 
4 Rü. | GB 28 0 93 ø 9.6 
h) St. PI 25 3 17 -+ — kardial dekompens. 
6 Hu. S 57 144 . 211 + 
7 Us. p] 96 — 14 ++ | 6.5 
8 Ne. S 158 -468 HHHH echte Urämie 
9 Ach. Pl 224 . — ` 4483 ++ | Z £ 
10 Co. GB. 215 40,728 +++. a a 
11 Bu. S 140 138: 224 +++ echte Urämie pyelo- 


peut Schrumpfniere 


Bei sekundären Schrumpfnieren (Tabelle 14) steigt entsprechend 
der Vermehrung der aromatischen Darmfäulnisprodukte der Xantho- 
proteinwert im Blut an. Bei beginnender Niereninsufficienz kann 
man normale Xanthoproteinwerte bei schon erhöhtem Harnstoff und 
Rest-N-Gehalt beobachten (Fall 1 und 2). Bei anderen Fällen 
(Fall 3) kann der Xanthoproteinwert vor dem Blutharnstoff ver- 
mehrt sein. Wie Tabelle 14 zeigt, fällt Xanthoprotein- und Indikan- 
probe bei beginnender Niereninsufficienz nicht immer in demselben 
Sinne aus. Da, wie in der ersten Mitteilung genauer ausgeführt 
wurde, der Xanthoproteinwert im Serum bei Niereninsufficienz 
höher liegt wie im Gesamtblut,') während der Harnstoffgehalt 
nahezu derselbe ist, ist es zweckmäßiger, dann das Serum zu unter- 
suchen. Hier können schon mäßige Erhöhungen bestehen, die sich 
im Gesamtblut noch nicht zeigen. Bei stärkerer Niereninsufficienz 
der sekundären Schrumpfnieren (Fall 6—11) ist der Xanthoprotein- 
wert beträchtlich erhöht. Die Fälle mit den höchsten über 100 
gelegenen Werten zeigen klinische Symptome von echter Urämie 
(Fall 8—11). 


l) Der Phenol- und Indikangehalt ist im Serum höher wie im Gesamtblut. 
während der Aminosäure-N-Wert sich gerade umgekehrt verhält. 


94 BECHER u. HERRMANN 


Bei genuinen Schrumpfnieren liegen die Verhältnisse ganz 
ähnlich, wie aus Tabelle 15 zu ersehen ist. Die Vermehrung des 
Xanthoproteinkolorimeterwertes kann ebenso wie die des Indikans 
auch hier das erste Zeichen der beginnenden Niereninsufficienz sein 
(Fall 2 und 3). Es kann aber auch die Vermehrung des Rest-N, 
des Harnstoffs und der Harnsäure gegenüber der des Xanthoprotein- 
wertes überwiegen (Fall 1 und 6). 


Tabelle 15. 


Genuine Schrumpfnieren. 


‘ 


m 
——— | 


Xanthoprotein- | $ 3 o 
| Fall Ä kolorimeter- an en U | Indikan | U mg’, 
| | wert Be, | 
| i 
1; Hi S. 19 59 99 - -— 
2 : Hü. 28 — | (> + - 
3 Le. 29 39 +471 + _ 
4 Hi. S. 30 — | 65 | -+ — 
5 0 Kä S. 45 80 0 141 | ++ 7.6 
6 Kä. später GB. 27 85 ; 125 g 10,9 
Too Kr Pl. 83 10 | 197° +44 | - 
8 | Na. Pl. 189 BE it 
| | schrumptfniere, 
| echte Urämie 


Bei Anurie (Tabelle 16) findet man ein Ansteigen sämtlicher 


harnfähiger Substanzen im Blut; auch hier beobachtet man bei 
hohen Xanthoproteinwerten über 100 Zeichen von echter Urämie. 


Tabelle 16. 


Anurien. 
| Xantho- ee i l 
. TR protein- RN į; U Indi- a 
Diagnose kolorimeter- mg °, |mg%| kan U mg“, 
| wert 
| ' | zz 
1 Anurie nach ausge- GB. 60 e de 3 E | ++ 11,8 
dehnter Herdnephri- | | Ä | 
tis nach Scharlach | | | 
2  Anurie bei infek- © So 63 223 | 889 +i — 
tösem Ikterus | | | | 
3 Anurie bei Prostata- S5. | 112 ee 265 = = 
carcinom | | | | je 
| eriite 
4 Anurie durch Ure-! Pl. | 150 a 228 |++-+4+ —{ Urämie 
terenverschlußb bei | | 
UÜteruseareinom | | | 


Studien über das Verhalten der Kanthoproteinreaktion usw. 95 


In Tabelle 17 sind die Befunde bei einigen Erkrankungen der 
harnabführenden Wege mitgeteilt. Aus der Tabelle geht hervor, 
daß bei einem mechanischen Hindernis der Harnentleerung im 
Bereich der Harnwege der Rest-N und Harnstoff früher und 
stärker ansteigt als der Xanthoprotein- und Indikanwert. Wenn 
der Verschluß vollständig oder nahezu vollständig ist, geht auch 
der Wert der aromatischen Substanzen stark in die Höhe; es 
kommt zu echter Urämie (Fall 6). Seltener beobachteten wir bei 
Prostatahypertrophie einen im Vergleich zum Rest-N frühzeitigen 
Anstieg des Xanthoproteinwertes (Fall 5). Es können schon ganz 
erhebliche Blutharnstoff- und Rest-N-Werte bei Prostatahypertrophie 
bestehen, während der Xanthoprotein- und Indikanwert noch lange 
nicht entsprechend stark angestiegen sind (Fall 4). 


Tabelle 17. 


Erkrankungen der harnabführenden Wege. 


+ 


: Xanthoprotein- RN | U 


Diagnose |l kolorimeter- ee Bon Indikan 
i l ! 
i ' 
l Striktur der Urethra | 24 | DE zu 8B Ø 
| mit Polyurie ' | | 
2 ‘Nieren- und Blasen- GB. | 28 63o - + 
tuberkulose | | ' 
3 , Retentio urinae bei | S. 21 62 1250 8 
‚Lues u. essent. Hyper- | 
tonie | 
| Bine A ; W 
4 - Prostatahypertrophie) GB. 39 284 ı 465 + 
d  Prostatahypertrophie. 29 2 =V (+) 
6 Prostatacareinom mit S. 112 — 265 | + + echte 
Anurie Urämie 


Wenn man den Xanthoproteinkolorimeterwert bei Nieren- 
erkrankungen in den nach Hydrolyse ätherlöslichen und ätherun- 
löslichen Teil differenziert (Tabelle 18), findet man bei Nieren- 
insufficienz eine ganz erhebliche Zunahme der ätherlöslichen 
Fraktion (Fall 7—12). Wenn der ätherlösliche Teil sehr hoch ist, 
bestehen Symptome der echten Urämie (Fall 7, 8, 10, 12). Bei 
Nierenerkrankungen mit normalem oder nur wenig erhöhtem Xantho- 
proteinwert (Fall 1—6) ist auch die ätherlösliche Fraktion gegen- 
über der Norm überhaupt nicht oder nur wenig vermehrt. Bei 
akuter Nephritis kann trotz enorm gesteirertem Blutharnstoff der 
Betrag der ätherlöslichen Fraktion ganz gering sein (Fall 4). Bei 


BrwmBa) yea 


| 
| 


sıtagdou 
-ODIYAWOLF) UORNYIP dop 


-H+ + :uuyıpay o Zu gip n “oa Bu pgg NH 96 FL 021 931 Id UIOgKmMBjaa A IMAN | GI 
+-+ :uvypug '%2u gL NA á Zu 02 p9 Z9 'S aaaruydamayag aumuag) | TI 
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FR HH Upu Oo BW9IZN AV IUPINA | zE IE 0 g 69 'Id i i 6 
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F | auem u urq 
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Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion usw. 97 


akuter Nephritis kommt es, solange nicht Anurie oder hochgradige 
Oligurie besteht, nicht zu einer Ansammlung von aromatischen 
Substanzen im Blut; daher neigen akute Nephritiden nicht zu echter 
Urämie. Bei starken Erhöhungen des Xanthoproteinwertes ist auch 
die nach Hydrolyse ätherunlösliche Fraktion erhöht (Fall 7—12). 
Die Zunahme ist aber mit dem Normalbetrag verglichen bei weitem 
nicht so stark, wie bei der nach Hydrolyse ätherlöslichen Fraktion, 
deren Wert in der Norm nur ganz gering ist. 


Zusammenfassung der Resultate. 


Die Xanthoproteinreaktion fällt im enteiweißten Blut bei 
Arthritiden, Diabetes, Infektionskrankheiten, Tuberkulose, Tumoren, 
Herzkrankheiten nicht stärker aus als in der Norm. 

Bei Polycythämie, perniziöser Anämie, Pneumonie, Leberkrank- 
heiten mit Ikterus, bei Endokarditis lenta und bei Krankheiten mit 
vermehrter Indolbildung findet man meist stärkere Xanthoprotein- 
proben. 

Im Vogelblut ist die Probe stärker infolge des höheren Ge- 
haltes an aromatischen Aminosäuren. 

Nach künstlicher Einfuhr aromatischer Substanzen (Salicy]- 
säure, Phenol) und im Leichen- und kurz vor dem Tode entnommenen 
Blut ist die Xanthoproteinreaktion stärker als in der Norm. 

Die bei Leberkrankheiten vorkommenden Verstärkungen der 
Xanthoproteinprobe beruhen auf einer Zunahme der nach Hydrolyse 
ätherunlöslichen Fraktion. 

Bei Krankheiten mit vermehrter Indolbildung ist die nach 
Hydrolyse ätherlösliche Fraktion vermehrt. 

Die Xanthoproteinprobe verhält sich bei Nierenkrankheiten 
ähnlich wie das Indikan; vollkommen parallel geht der Ausfall 
beider Proben jedoch nicht. 

Bei akuter Nephritis steigt. solange es nicht zu Anurie oder 
hochgradiger Oligurie kommt, der Xanthoproteinwert im ent- 
eiweißten Blut im Vergleich zu den intermediären Eiweißabbau- 
produkten überhaupt nicht oder nur relativ wenig und spät an. 

Bei Nephrosen, essentieller Hypertonie, chronischer diffuser 
Glomerulonephritis, Stadium II, fällt die Xanthoproteinprobe normal 
aus. Selten findet man bei essentieller Hypertonie leichte Er- 
höhungen; man kann dann mit einem baldigen Übergang in maligne 
Sklerose rechnen. 

Bei sekundären und genuinen Schrumpfnieren kann ein erhöhter 
Xanthoproteinkolorimeterwert das erste Zeichen einer Nieren- 


Dentsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. q 


98 Becher u. HRRRMANN, Studien über d. Verhalten d. Xanthoproteinreaktion usw. 


insufficienz sein. Es können aber auch bei Schrumpfnieren die 
aromatischen Darmfäulnisprodukte später im Blut ansteigen wie die 
intermediären Eiweißabbauprodukte. Bei Schrumpfuieren steigt bei 
zunehmender Niereninsufficienz der Xanthoproteinwert im Blut 
immer stärker an. Bei echter Urämie findet man immer starke 
Xanthoproteinreaktionen. 

Bei Anurien steigen die aromatischen Substanzen gleichmäßig 
mit anderen harnfähigen Stoffen im Blut an. 

Bei Erkrankungen mit Widerständen in den harnabführenden 
Wegen steigt, solange es nicht zu Anurie oder Oligurie kommt, 
der Xanthoproteinwert und das Indikan im Vergleich zu Rest-N, 
Harnstoff und Harnsäure meist spät und wenig an. 

Bei Niereninsufficienz nimmt in erster Linie der nach Hydrolyse 
ätherlösliche Teil der die Xanthoproteinprobe gebenden Substanzen 
zu. Bei echter Urämie ist diese Fraktion besonders hoch. Der 
nach Hydrolyse ätherlösliche Teil steigt bei Niereninsufficienz auch 
an, aber im Vergleich zu der die aromatischen Darmfäulnisprodukte 
enthaltenden ätherlöslichen Fraktion nur relativ wenig. 


99 


Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik 
bei der Beurteilung gefärbter Blutausstriche. 
Von 
A. Piney, M. D., M. R. C. P. 
Direktor des path. Instituts, Charing Cross Hospital, London, England. 


Mit 2 Abbildungen.) 


A. Methodik. 

Die großen Meinungsverschiedenheiten über Bau und Natur 
der Blutzellen, die sich in der hämatologischen Literatnr finden, 
sind nicht nur durch die verschiedene Deutungen der morpho- 
logischen Befunde der Zellen bedingt, sondern wohl in der Haupt- 
sache durch die Anwendung verschiedener Methoden in Färbung 
und Betrachtung. 

Es ist allgemein zugegeben und anerkannt, daß dem Bau des 
Kernes besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muß, da eine 
eindeutige Beurteilung der verschiedenen Blutzellen aus der cyto- 
plasmatischen Beschaffenheit allein nicht möglich ist. Auch die 
Darstellung der Granula darf in keiner Weise vernachlässigt 
werden. 

Die älteren Methoden von Jenner und Ehrlich (Triazid- 
Färbung) färben zwar die Granula in sehr schöner Weise, lassen 
aber die Kerne blaß und zeigen keine genauen Einzelheiten in der 
Anordnung und Verteilung des Chromatin. Pappenheim’'s 
panoptische Färbung — die sich überall in der hämatologischen 
Technik eingebürgert hat — liefert wieder schöne Kernbilder, die 
Protoplasma-Granula erscheinen jedoch nicht scharf darstellbar. 
Selbst bei der Anwendung seiner verbesserten Panchrom-Methode 
färben sich wohl die Kerne, die Granula jedoch nur sehr undeutlich 
und unscharf. Ich habe nun anderswo (11) eine Methode angegeben 
und beschrieben, die nicht nur das Protoplasma der Zellen, sondern 
auch Kern und Granula in besonders schöner und klarer Weise 


zu färben gestattet. 
1% 


100 Pıney 


Im folgenden soll eine kurze Darlegung dieser Färbungs- 
methodik gegeben werden, um im Anschluß daran die Bedeutung 
einheitlicher Besichtigungsart (der mit dieser Methode gefärbten 
Präparate) darzulegen. 

Als wesentlich wurde dabei betont, nur auf Deckgläsern an- 
gefertigte Ausstriche zu gebrauchen um die Färbung in einen 
Uhrschälchen zu ermöglichen. Die beschickte Seite wird nach unten 
gelegt, wobei unangenehme Niederschläge am leichtesten vermieden 
werden können. Die Zeit der Färbung entspricht genau der bei 
der panoptischen Methode angewendeten. 


Gang der Färbung. 


1. Färben 3 Minuten in May-Grünwald-Jenner-Lösung. 

2. Nach Ablauf dieser 3 Minuten Hinzufügen einer gleichen 
Menge destillierten Wassers und Färben in dieser Lösung durch 
weitere 2 Minuten. 

3. Nach Abgießen dieser Farbflüssigkeit Färbung 5—10 Minuten 
in einer neuen Lösung, deren Zusammensetzung hier angegeben sei: 


Destilliertes Wasser: 3 ccm. 
Giemsa oder besser Panchrom: 4 Tropfen. 
Lösung A:') 3 Tropfen. 


4. Schnelles Abspülen mit Aq. dest. und rasches Trocknen ohne 
die Anwendung von Hitze (Gebrauch von Filtrierpapier zum 
Trocknen wurde vermieden, da leicht Fäserchen am Ausstrich 
kleben bleiben und das Bild verunreinigen). 


5. Einschließen im neutralem Balsam oder in Dammar. (Wir 


fanden das Gilson’sche „Euparal vert“ (7) dafür besonders geeignet). 


Die Ausstriche, gefärbt mit dieser Methode bringen die Kern- 
struktur und die Granula der Zellen in besonders vorzüglicher 
Weise zur Darstellung. 

Für die Beurteilung der verschiedenen Blutzellen ist jedoch 
nicht nur die Anwendung einer einheitlichen Färbungsmethode von 
größter Bedeutung, sondern auch eine einheitliche, gleichbleibende 
Benützung von Mikroskop und Lichtquelle wesentlich. 


D Kine gesättigte. wiisserige Lösung von Methvl-Grün wird mit einem 


gleichen Teile einer gesätfigen wässerigen Lösung von Orange G versetzt. Der 
Niederschlag wird abhltriert und an der Luft getrocknet. Dieser getrocknete 


Niederschlag wird dann bis zur Sättigung in Methylalkohol puriss. gelöst. Die 
Lösung hält sieh gut. darf aber mit Giemsa nur unmittelbar vor dem Gebrauch 
gemischt werden. 


Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik usw. 101 


Abb. 1. Der Rand der Flamme im Felde des Mikroskops. 650 X. Nur die Mitte 
des hell beleuchteten Dreiecks ist wirklich kritisch beleuchtet. 


Abb. 2. Eine bequeme und wirklich angebrachte Anordnung der wertvollen 
mikroskopischen Bestandteile. 


102 Pınky 


Bevor wir die Methodik unserer Betrachtungsart beschreiben, sollen 
in Kürze einige mikroskopische Bestandteile und ihre Anwendungen er- 
wähnt werden, die wir bei unseren Untersuchungen immer wieder als 
unentbehrlich empfanden. 

l. Zeiß-Schlitten-Objektivwechsler, mit größter Vorsicht zentriert, 
damit eine Zelle bei Gebrauch aller möglichen Vergrößerungen immer in 
die Mitte des Feldes zu liegen kommt. 

2. Schrauben am Kondensor, die ebenfalls unentbehrlich sind, da 
es immer wieder nötig ist diesen Apparat richtig zu zentrieren. Die 
Methode der Zentrierung bietet keine Schwierigkeiten. Unter Benützung 
einer kleinen Vergrößerung und mit geschlossener Kondensorblende dreht 
man die Kondensorschrauben bis die Offnung der Blende genau in der 
Mitte des Feldes liegt. Da alle Objektive richtig zentriert sind (s. o.), 
können sie auch ohne weiteres gebraucht werden. 

3. Ein achromatischer Kondensor ist unbedingt nötig. Ölimmersion- 
kondensor soll nur bei starken Vergrößerungen gebraucht werden. Da 
für uns hier nur solche in Frage kommen, so erwähnen wir nur den Ge- 
brauch des Ölkondensors. 

4. Der Kondensor muß am Mikroskop so angebracht werden, dal 
er richtig in seinen Brennpunkt gebracht werden kann. Dazu ist es 
auch nötig, daß nur eine kleine Lichtquelle benützt wird, da sonst un- 
möglich die gröbte Schärfe erzielt werden kann. 

5. Die gewöhnlich gebrauchte elektrische Lampe ist als kritische, 
mikroskopische Beleuchtungsquelle nicht brauchbar. Es ist unbedingt 
nötig die Lichtquelle so klein zu wählen, dab der Rand des Lichtes im 
Felde des Mikroskops gesehen werden kann, um den exakten Brennpunkt 
des Kordensors zu erhalten. Ich kenne keine Lichtquelle, die für diesen 
Ziweck geeigneter ist, als eine Öllampe mit schwarzem Blechzylinder. An 
einer Seite ist ein flaches Glas angebracht und das ganze Licht kann 
herumgedreht werden, so dab nur der Rand der Flamme im Felde des 
Bildes scharf sichtbar ist (s. Abb. 1). 

6. Außerdem ist es natürlich nötig die richtige Tubuslänge zu ge- 
brauchen. 


Man kann sich leicht überzeugen, daß ganz kleine Fehler in 
der Anordnung des Systemes, besonders in der Einstellung des 
Brenupunktes des Kondensors, alle Einzelheiten des morphologischen 
Bildes verwischen können: es ist daher besondere Vorsicht in dieser 
Beziehung zu gebrauchen. Alle optischen Teile des Apparates in 
ihren Brennpunkt gebracht, zeigen die Zellen — in der Mitte des 
beleuchteten Dreieckes — in all ihren morphologischen Eigen- 
schaften in klarster Weise. 

Das verwendete Licht erscheint natürlich etwas gelblich und 
es ist daher gut ein hell blaues Glasfilter zwischen Mikroskop und 
Lichtquelle einzuschieben, um künstliches Tageslicht zu erhalten. 
Diese Beleuchtung ist nur für die allgemeine Übersicht von Prä- 
paraten wertvoll. Für die Darstellung von Einzelheiten müssen 


Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik usw. 103 


jedoch besondere Filter gewählt werden. Es ist ja bekannt, daß 
bei der Mikrophotographie gefärbte Lichtfilter unentbebrlich sind; 
bei visuellen Untersuchungen sind diese nicht oft gebraucht, ob- 
gleich ihre Anwendung viele Vorteile bieten würde. Dabei ist 
natürlich nötıg, daß solche Filter auf beiden Seiten optisch flach 
und nicht beim längeren Gebrauch verbleicht sind. Ich kenne nur 
eine Art von Filtern, die diese beiden Bedingungen erfüllen: 
Watson und Son in London verkaufen drei Filter, die mir für 
hämatologische Zwecke besonders wertvoll erscheinen, d. s. Grün-, 
Plau- und Grau-Filter. Die Anwendung der Lichtfilter bietet wenig 
Schwierigkeit; immerhin müssen sie individuell ausgeprobt werden. 
Meiner Erfahrung nach sind blaue Glasfilter für Beobachtung der 
Nukleolen besonders wertvoll; das grüne Glasfilter dient zur Ver- 
folgung der feinsten Einzelheiten des Chromatins; das graue Glas 
ist nur nötig, wenn das Licht zu hell erscheint. 

Man könnte erwarten, daß die gebrauchte Öllampe als Licht- 
quelle ungenügend sein würde; dies ist jedoch nie der Fall, wenn 
jeder optische Teil des Apparates genau im Brennpunkt liegt. 
Selbst das grüne Glasfilter kann ohne zu große Schwächung des 
Lichtes gebraucht werden. 

Die beschriebene Methode benutzte ich zuerst zar Unter- 
suchung von schwer zu unterscheidenden Zellformen, z. B. Myeloblast 
und Lymphoblast. Eine längere Erfahrung zeigte mir jedoch, daß 
sie für alle hämatologische Zwecke besonders brauchbare und 
schöne Resultate liefert. Jeder einzelne Bestandteil der Zelle kann 
zur Ansicht gebracht werden, ja selbst morphologische Feinheiten 
sind darstellbar. 

Im folgenden Abschnitt soll nun über einige Ergebnisse be- 
richtet werden, die ich bei Anwendung dieser Methode erzielte. 


B. Einige Ergebnisse bei Anwendung der oben beschriebenen 
Methode. 


Es sollen hier nicht alle morphologischen Merkmale der Zellen 
beschrieben sein, sondern nur die Feinheiten und Einzelheiten 
herausgehoben werden, die bei Anwendung dieser Methode sichtbar 
werden. Insbesondere seien entscheidende Unterschiede berück- 
sichtigt, die zwischen den myeloischen und den Iymphatischen Zellen 
bestehen. 

Es gibt wohl keinen Zweifel, daß der granulierte polymorph- 
kernige Leukocyt zur myeloischen Zellreihe gehört; er soll zuerst 
in seinen Eigentümlichkeiten beschrieben werden. Die vorsichtige 


104 Pısev 


Betrachtung seines Kernes zeigt immer einen scharfen Gegensatz, 
zwischen Oxy- und Basi-Chromatin. Man gewinnt den Eindruck, 
als ob da keine Diffusionsprozesse zwischen beiden Chromatinarten 
vor sich gingen. Die Verteilung erscheint immer gleich scharf, 
obwohl die Kernform ständig wechselt. 

Die Metamyelocyten weisen dasselbe Verhalten der beiden 
Chromatinarten auf; der Kern erscheint aber natürlich weniger 
tachychromatisch, als bei den polymorphkernigen Leukocyten. 

Das Kerngerüst der Myelocyten entspricht ebenfalls genau dem 
der polymorphkernigen Leukocyten und der Metamyelocyten. 

Nach Delamare (3) sollen — im Follikulargewebe der Lymph- 
drüsen von Kaninchen und Schweinen Myelocyten von Lympho- 
cyten abstammen, wobei er angibt, daß diese granulierten Zellen 
einen Lymphocytenkern besitzen. In ähnlicher Weise sah 
Stschnastny (14) in der Peritonealflüssigkeit von Meerschweinchen 
eosinophile granulierte Zellen mit Lymphocytenkernen. Auch 
Downey und Weidenreich (5) berichteten über „Myelocyten“ 
in Lymphknoten, deren Kerne die Merkmale von Lymphocyten auf- 
wiesen. Es erscheint mir nun sehr fraglich, ob diese Zellen wirklich 
wahren Myelocyten entsprechen; in meinen Präparaten weisen die 
Kerne der Myelocyten — wie in Knochenmarkspräparaten — immer 
eine scharfe Trennung des Oxy- und Basi-Chromatins auf. Das 
bloße Vorhandensein von Granula im Protoplasma von Lympho- 
cyten darf um so weniger als myelocytisches Zellmerkmal aufge- 
faßt werden, als Granula in der verschiedensten Zellen angetroffen 
werden können. 

Auch bei der Betrachtung unreifer myeloischer Zellen (Pro- 
myelocyten) findet sich immer wieder die scharfe Trennung der 
beiden Chromatinarten, nur die feinere Verteilung und Anordnung 
des Chromatins ist etwas verschieden von der in reiferen myeloischen 
Zellen. Das Basi-Chromatin der Promyelocyten ist in sehr 
schmalen länglichen Klümpchen, nach Art eines unvollständiges 
Netzes, angeordnet. Niemals ist eine Verdichtung des Basi- 
Chromatins um die scharf hervortretenden Nukleoli oder am Rand 
des Kernes nachweisbar. 

Was nun die myeloblastische Stammzelle anlangt — die immer 
noch Sache heftiger Diskussionen ist — so zeigt auch sie (abge- 
sehen von Mangel an Granula) dieselben Kernmerkmale wie der 
Promyelocyt, d. h. feine, netzartige Anordnung des Basi-Chromatins, 
Nukleoli, und Mangel an Verdichtung des Chromatins um die 
Kernkörperchen und den Kernrand. Die Oxydasereaktion die in 


Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik usw. 105 


der myeloblastischen Stammzelle immer negativ ist, kann nur dann 
erhalten werden, wenn Granula (selbst in kleinster Anzahl) im Proto- 
plasma vorhanden sind (Piney (11)). 

Einschaltend sei hier bemerkt, daß wohl kein Zweifel besteht, 
daß die positive Oxydasereaktion an die Anwesenheit von Granula 
gebunden ist. Da Lymphocyten manchmal, wenn auch selten eine 
positive Oxydasereaktion geben (Menten (9)), so kann diese 
Reaktion wohl auch nicht als entscheidendes Unterschiedsmerkmal 
zwischen myeloischen Stammzellen und Iymphatischen Zellen, die 
für die monophyletische Schule ein und dasselbe sind, angesehen 
werden. 

Im folgenden soll nun die Frage beantwortet werden, ob es 
überhaupt morphologische Merkmale gibt, die eine Unterscheidung 
myeloischer Stammzellen von Ilymphatischen Zellen ermöglichen. 
Lenaz (8), der die Kernverhältnisse der Lymphocyten mit sehr großer 
Genauigkeit beschrieb, fand, daß das Basi-Chromatin vier oder fünf 
unregelmäßige Klumpen bildet, zwischen denen sich nur spärliches 
Oxy-Chromatin befindet. Letzteres nimmt verschiedene Formen an, 
indem es sich den von dem Basi-Chromatin freigelassenen Raume 
anpaßt. Nach Lenaz ist weiterhin die unscharfe Trennung der 
beiden Chromatinarten besonders charakteristisch. Ich kann dieser 
Darstellung Lenaz nur beipflichten, möchte aber hinzufügen, daß 
dieses Verhalten mehr oder weniger für alle lymphatische Zell- 
formen gilt. 

In der hämatologischen Literatur sind zahlreiche Lymphoido- 
cytenleukämien beschrieben ohne Angabe, ob die genannten Zellen 
als Lymphoblasten oder als myeloblastische Stammzellen aufgefaßt 
werden müssen. Domarus (4) und auch Butterfield (1) — ob- 
wohl Dualisten — kennen keine morphologischen Unterschiede 
zwischen den Stammzellen der Lymphocyten und der Granulocyten. 
Chosrojeff (2), der einen Fall von mikromyeloblastischer Leuk- 
ämie beschrieb, glaubte, daß die positive Oxydasereaktion den 
myeloischen Charakter des Falles beweise, obgleich im Blute alle 
Zwischenformen bis zum Lymplocyten nachweisbar waren. 
Schultze gibt an, daß die Unterschiede zwischen Myeloblasten 
und Lymphoblasten so gering sind, daß es für viele Hämatologen 
unmöglich ist, zwei getrennte Zellformen (im Sinne der dualistischen 
Lehre) zu unterscheiden. 

Meine oben beschriebene Methode ermöglicht nun selbst in 
Fällen, in denen im Blute alle Übergänge zwischen myeloblastischen 
Stammzellen und Lymphocyten vorhanden zu sein scheinen — eine 


106 Pıney 


genaue Unterscheidung der myeloblastischen und Iymphatischen 
Zellen durchzuführen. Der Oxydasereaktion kann — wie oben er- 
wähnt — zur Unterscheidung der einzelnen Zellformen keine Be- 
deutung beigemessen werden. Nur sehr vorsichtige, mor- 
phologische Beobachtungen sind hier von Werte. In 
Fällen, in denen die morphologischen Unterschiede sehr klein sind, 
kann in vorteilhafter Weise ein grünes Lichtfilter gebraucht werden, 
obwohl die wichtigsten Merkmale auch bei künstlichem Tageslicht 
sichtbar erscheinen. 

Was nun die genauen morphologischen Merkmale der sog. 
„Myeloblasten“ anlangt, die in Jymphatischen Leukämiefällen vor- 
kommen sollen, so besteht auf den ersten Anblick hin sicherlich 
eine gewisse Ähnlichkeit dieser Zellen mit den myeloblastischen 
Stammzellen. Bei kritischer Beobachtung zeigen sich jedoch Unter- 
schiede, die ein scharfes Auseinanderhalten der beiden genannten 
Zellarten gestatten. Wie schon erwähnt, besitzt die myeloblastische 
Stammzelle (Myeloblast) einen gleichmäßig gezeichneten Kern ohne 
Verdichtung des Basi-Chromatins um die Nukleoli oder am Kern- 
rand; die lymphatische Zelle dagegen weist ein mehr oder weniger 
gröberes Basi-Chromatin und die bereits früher angegebene Ver- 
dichtung dieser Substanz um die Kernkörperchen und am Kern- 
rand auf. Die Netzforın des Basi-Chromatins mangelt den lym- 
phatischen Zellen ebenfalls. Gegen die Auffassung, daß die an- 
gegebene Verdichtung des Basi-Chromatins das Ergebnis ver- 
schiedener zeitlicher Reifung ist, muß angeführt werden, daß der 
Promyelocyt eine ältere Zellform als der Myeloblast darstellt und 
doch mangeln dem Kern die erwähnten Verdichtungen. 

Auf Grund dieser angeführten Befunde, die eine bestimmte 
und klare Unterscheidung der genannten zwei Zellformen auf- 
zeigen, kann ich der üblichen Auffassung von der Identität dieser 
beiden Zellarten (die, z. B. in Ferratas Hämocytoblast zum 
Ausdruck kommen) nicht beipfichten. Ich möchte daher 
neuerdings eine scharfe Trennung der myeloblasti- 
schen Stammzelle von der lymphatischen Zelle befür- 
worten. 

Anfügend sei hier noch bemerkt, daß ich eine ähnliche Tren- 
nung auch zwischen Megaloblasten und Normoblasten vorgeschlagen 
habe (10, 12, 13) Darüber sowie über die Beziehungen der 
myeloischen Stammzelle zu den Normoblasten soll in einer späteren 
Mitteilung berichtet werden. | 


Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik usw. 107 


Literatur. 


l. Butterfield, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 1908, XCII, 336. — 2. Chos- 
rujeff, Fola Haemat. 1916, XX, 33. — 3. Delamare, Cpt. rend. soc. de biol. 
Wil. LI, 849. — 4. Domarus, Folia Haemat. 1908, VI, 337. — 5. Downey 
u. Weidenreich, Arch. f. mikroskop. Anat. 1912, LXXX, 306. — 6. Ferrata, 
„Le Emopatie” 1918, I. — 7. Gilson, La cellule 1906, XXIIT, 427. — 8. Lenaz, 
Folia Harmat. 1921, XXVI, 151. — 9. Menten, Journ. med. research. 1919, XL, 
455. - 1. Piney, Journ. of pathol. a. bacteriol. 1924, XXVI, 249. — 11. Ders., 
Journ. of pathol, a. bacteriol. 1925, XXVIH, 39. — 12. Ders.. Zeitschr. f. Kon- 
stitutionsl. 1925, X, 659. — 13. Ders., Proc. of the roy. soe. of med. (Path. seet.) 
1125. XVII. 89. - - 14. Schultze, Münch. med. Wochenschr. 1909, LVI. 167. — 
15. Stschastny, Zieglers Beitr. 1905, XXXVII, 456. 


108 


Besprechungen. 


1. 


Prof. W. Heubner Göttingen. Affekt und Logik in der Homöo- 
pathie. “Springer, Berlin 1925. Sonderdruck aus Klinischer 
Wochenschrift 1925, Nr. 29 u. 30. Nach einem ım Verein f. 
innere Medizin in Berlin gehaltenen Vortrage. 


Dem Verf. liegt vor allem am Herzen, die allgemein unwisser- 
schaftliche Denkweise der Homöopathie aufzuzeigen und ım 
Laufe des Vortrags wird das Überwuchern der Logik durch gefühls-, 
glaubens- und handwerksmäßige Elemente für jede Phase des „homöo- 
therapeutischen“ Denkprozesses nachgewiesen. Zum Speziellen weist Verf. 
zunächst auf die große Unsicherheit hin, welche sich für die Indikations- 
stellung aus der so viele Irrmöglichkeiten bietenden Arzneiprüfung am 
Menschen ergeben muß. Die Hauptstützen des Lehrgebäudes: simila 
similibus curentur und die besondere Wirksamkeit der kleinen Dosen. 
samt ihrer scheinbaren Rechtfertigung, der Arndt-Schulz’schen Regel, 
sind ganz unberechtigte Verallgemeinerungen einzelner zu- 
treffender Fälle. Die mitunter zu beobachtende Gegensätzlichkeit der 
Wirkung kleiner und großer Dosen kann auf einem Konglomerat der 
verschiedenartigsten Erscheinungen beruhen z. B. der Wirkung an ver- 
schiedenen Angriffspunkten. Milliardenfache Verdünnungen werden auch 
in der Medizin alltäglich verwendet; während aber hierbei immer noch 
Billionen von Molekülen anwesend sind, wird bei D. 30 und darüber 
das Vorhandensein auch nur eines einzigen Moleküls in der Arznei immer 
unwahrscheinlicher. Ehe diese wohlfundierten Ergebnisse der Chemie 
und Physik angezweifelt werden, ziemt es sich, der Sicherheit der Kranken- 
beobachtung zu mißtrauen. Haffner’ 


Klaus Hansen, Zur Theorie der Narkose. Oslo 1925. 2638. 

Deutsch abgefabte gründliche Untersuchung des bei Poulsson 
arbeitenden norwegischen Pharmakologen. Nach eingehender Kritik der 
verschiedenen Narkosetheorien wird über neue Versuche des Verf. 


EEE er 0 ni e 


Besprechungen. 109 


berichtet. An Kaninchen wurde für Alkohol, Aceton, Äther und Chloro- 
form im narkotischen oder vornarkotischen Stadium die Verteilung auf 
die verschiedenen Organe chemisch analytisch ermittelt unter gleichzeitiger 
Bestimmung des Gehalts der Organe Wasser, Atherextrakt- und Rest- 
trockenstoff.!) Trotz nicht unbeträchtlicher Abweichungen entspricht 
die Verteilung im großen ganzen der Meyer-Överton’schen Theorie. 
427 Nummern, besonders auch ausländischer Literatur. 

Ein 2. Teil bringt die chemische Methodik; auf Grund umfangreicher 
Versuche gibt Verf. eine Makro- und Mikromethode zur Alkoholbe- 
stimmung nach dem Bichromatprinzip an. Anhangsweise wird die Möglich- 
keit besprochen, durch Narkotikumbestimmung im Blut Anhaltspunkte 
über den Gesamtgehalt des Organismus an Wasser, Lipoid (Ather- 


extrakt) und Resttrockenstoff in vivo zu erhalten. (Haffner.) 
3. 
Pincussen, Mikromethodik. 3. Aufl. Georg Thieme, Leipzig. 
4,50 M. 


Das kleine Werkchen von Pincussen über die Mikromethoden 
zur Untersuchung des Harns und des Blutes bedart wohl keiner be- 
sonderen Empfehlung mehr. Es enthält die gebräuchlichsten Methoden, 
die zum Teil auch vom Verfasser selbst modifiziert worden sind, und ist 
in der neuen Auflage wesentlich erweitert worden. K. Felix, München.) 


4, 


E. S. London, Experimentelle Physiologie und Pathologie 
der Verdauung. Urban u. Schwarzenberg, Berlin u. Wien 
1925. Geh. 9.—, geb. 10.80 M. 


Diese Monographie ist kein Lehrbuch und auch kein Nachschlage- 


1) Für die einzelnen Organe (Kaninchen) wurden folgende, vielleicht 
allgemeiner interessierende Mittelwerte (in °,) gefunden: 


Äther- Resttrocken- 


Wasser extrakt stoff 
Blut | 82,92 0,19 16,74 
Gehirn 78,16 9,19 12,50 
Leber 74,10 4,01 21,79 
Niere | 17.28 3.80 18,81 
Milz | 76,61 3.19 20.45 
Testikel 72,51 16.96 10,37 
Herzmuskel 77,05 6,47 16,78 
Skelettmuskel 15,39 1,67 | 22,89 
Fettgewebe (capsula renalis) 1,23 91,11 1,45 
Fettgewebe (Inguinalgrube) 8,08 89,02 2,44 


Fettgewebe (subkutan) 7.31 90,38 2.06 


110 Besprechungen. 


werk, enthält keine Zitate, sondern ist die schriftliche Wiedergabe von 
Vorlesungen, die der Verfasser an verschiedenen Hochschulen gehalten 
hat. Zu ihnen hat er seine langjährigen persönlichen experimentellen 
Erfahrungen über die operative Methodik der Behandlung der Verdauungs- 
probleme niedergelegt. Man liest das Buch mit großem Interesse und 
bedauert nur, daB die Lektüre etwas beeinträchtig wird durch das schwer- 
fällige und manchmal auch fehlerhafte Deutsch. (K. Felix, München.) 


baai 


Ə. 


Otto Fürth, Lehrbuch der physiologischen und patho. 
logischen Chemie in 75 Vorlesungen. I. Band: 
Organchemie, 1. Lieferung Bausteine des Organismus 
— Blut, Vorlesung I—XVI. F.C. W. Vogel, Leipzig 1925, 
15 RM. 

Der Verfasser hat sein bekanntes Buch über die Probleme der 
physiologischen und pathologischen Chemie in der neuen Auflage zu 
einem Lehrbuch erweitert, indem er nun auch den Anfängerstoff aufge- 
nommen hat, und sich damit bei dem erhöhten Interesse, das erfreulicher- 
weise namentlich von klinischer Seite der physiologischen Chemie ent- 
gegen gebracht wird, einen größeren Leserkreis gesichert. Iu Dar- 
stellung und Sprache ist die Form der Vorlesung beibehalten, dadurch 
wird seine Lektüre anregend und belebend. Die vorliegende 1. Liefe- 
rung behandelt die Eigenschaften des Protoplasmas und seiner Bausteine, 
der Eiweißkörper, Kohlehydrate, Fette, Phosphatide, ferner das Blut und 
die Lymphe, Exsudate und Transsudate. Überall war der Verfasser be- 
müht, die neuesten Ergebnisse zu berücksichtigen. Er hatte aber nicht 
die Absicht das gesamte Tatsachenmaterial vollständig aufzunehmen, 
sondern das Wesentliche, unsere Erkenntnis vom gesamten biochemischen 
(Geschehen Fördernde auszuwählen. Nur da und dort vermißt man, nach 
Ansicht des Referenten wenigstens Hinweise auf wichtige Arbeiten. Für 
den Abschnitt über die Struktur der Eiweißkörper war es ein unglücklicher 
Zufall, daß gerade die interessanten Arbeiten von Bergmann, Wald- 
schmidt-Leitz u. a. zu spät erschienen sind. Man hätte sich diesen 
Abschnitt überhaupt etwas breiter angelegt gewünscht, mit den Arbeiten 
Kossel’s und seiner Schule über die Protamine als Grundlage, ein Ge- 
biet von dem der Verfasser selbst sagt, daß „man bei seinem Betreten 
überall dankbar den festen Untergrund empfindet, den solide Arbeit hier 
geschaffen hat und auf dem sich solid weiter bauen läßt.“ Bei der Be- 
sprechung der Versuche, fremde Gruppen in das Eiweißmolekül einzu- 
führen, wird bemerkt, daß neben dem Tyrosin auch das Tryptophan bei 
der Nitrierung Nitrogruppen aufnimmt und das Clupein eine Sonder- 
stellung einnimmt, insofern als bei ihm auch die Guanidingruppen nitriert 
werden. Demgegenüber ist hervorzuheben, daß sich in jedem Protein 
die freien (Guanidingruppen nitrieren lassen. In diesem Zusammenhang 
dürften auch die Arbeiten EdIbacher’s über die Methylierung der 
Proteine nicht fehlen. Zur Charakterisierung der Histone hätte neben 


Besprechungen. 111 


den Fällungsreaktionen noch auf das Histopepton hingewiesen werden 
müssen, das bei ihrer Verdauung durch Pepsinsalzsäure entsteht. Die 
Arginase, das Ferment, welches Arginin in Harnstoff und Ornithin zerlegt, 
wird bei den Protaminen behandelt und von einer „fermentativen Protamin- 
spaltung durch Arginase“ gesprochen, als ob die Guanidingruppe des 
noch im Protamin gebundenen Arginins von der Ärginase angegriffen 
würden, was noch nicht erwiesen ist. Bei der Razemisation der Proteine 
vermißt man die interessanten Versuche Woodman's. Die physikalisch- 
chemischen Probleme und Tatsachen sind etwas zu kurz weggekommen, 
so vor allem in dem Abschnitt über das Serum und Odem. Eine Reihe 
von Druckfehlern werden sich wohl nachträglich noch berichtigen lassen. 


Das Buch wird sich durch seine leichte Verständlichkeit und flüssige 
Diktion gewiß viele Freunde erwerben. :K. Felix, München.) 


6. 


Noeggerath u. Eckstein, Die Urogenitalerkrankungen 
der Kinder. Störungen und Erkrankungen der 
Harnbereitung und der Geschlechtssphäre, sowie 
ihrer Organe. Mit 54 Abb. im Text in drei farbigen Tafeln. 
Verlag von F. ©. W. Vogel, Leipzig 1925. 


Die Erkrankungen des Harnsystems beim Kinde sind in manchen 
Teilgebieten noch ungeklärt, manche vom Erwachsenen her bekannte 
Krankheitsbilder beim Kinde noch nicht oder nur selten und unzureichend 
beschrieben. Die beiden Verfasser haben sich in fast zehnjähriger Arbeit 
diesen Fragen ganz besonders gewidmet und unter Mitbeteiligung Aschoff's 
eine wirklich ausgezeichnete Monographie dieser Materie geschrieben. 


Besonders gut gelungen scheint mir das Kapitel der Enuresis. Die 
verschiedenen Ansichten erfahren eine eingehende kritische Würdigung, 
Klinik und besonders Therapie sind bis ins einzelne dargestellt. Ebenso 
bietet der Abschnitt über orthostatische Albuminurie einen lückenlosen 
Überblick über die verschiedenen Theorien dieser Erkrankung, wobei die 
Verfasser zu dem Ergebnis kommen, daß es sich dabei in der Hauptsache 
um eine Vasoneurose der Nierengefäße handle. Daß die Nephritiden und 
Nephrosen einen großen Raum in der Besprechung einnehmen, liegt auf 
der Hand. Sie sind in allen Einzelheiten, in ihrer Eigenart bei Kindern, 
in ihren Komplikationen, in allen Möglichkeiten der therapeutischen Be- 
einflussung in ausgezeichneter Weise dargestellt. Überall finden wir 
kritisch gewürdigte Literaturquellen, überall auch die durch reiche Er- 
fahrung begründete persönliche Ansicht. 


In kurzen Strichen werden die chirurgischen Erkrankungen des Harn- 
apparates gezeichnet. Aufgefallen ist mir, daß die Lithotripsie — wohl 
mit Unrecht -— abgelehnt wird. Nach den Mitteilungen französischer 
und ganz besonders russischer Urologen wird die Steinzertrümmerung bei 
Mädchen überhaupt und bei Knaben vom 5. Lebensjahre an als die weit- 
aus ungefährlichste und damit beste Art der Therapie angesehen. Bei 


112 Besprechungen. 


dem Kapitel der Nierengeschwülste darf als gutes diagnostisches Merkmal 
das eigenartige Fieber, das das Wachstum der Geschwülste begleiten 
kann, nicht vergessen werden. 

Das wirklich gute Buch ist nicht nur für den Spezialisten, sondern 
für jeden gebildeten Arzt eine Quelle der neuesten wissenschaftlichen Er- 
kenntnis. Die Bilder sind durchwegs vorzüglich, die Ausstattung erst- 
klassig. (Kielleuthner, Müncher. 


113 


Aus der medizinischen Klinik Jena. (Direktor: Prof. Dr. Stepp.) 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen 
| Blutkreislauf. 


Von 


Dr. Erwin Schliephake, 


Assistent der med. Klinik Jena. 


(Mit 9 Abbildungen.) 


Für die Annahme, daß das Cholin in gleicher Weise auf das 
parasympathische Nervensystem wirkt, wie das Adrenalin auf das 
sympathische, sprechen heute schon viele gewichtige Gründe. 

Im Tierexperiment sind verschiedentlich die Wirkungen des 
Cholins besonders auf den Darm untersucht worden, wobei sich eine 
weitgehende Übereinstimmung mit den durch andersartige Vagus- 
reizung hervorgerufenen Erscheinungen zeigte. Besonders Magnus 
(1, 2) hat hier weitgehende Klärung geschaffen. Siehe ferner 
Le Heux (3), Arieff(4), Klee u. Grossmann (5). 

Neben diesen Wirkungen auf den Darm wurde auch von ver- 
schiedenen Forschern Blutdrucksenkung beobachtet (Lohmann 
(7, 8, Hunt u. Renshaw (9), Hunt u. Taveau (10) Mendel 
u. Underhill (11), Mendel, Lafayette, Underhill, Renshaw 
(12, Abderhalden u. Müller (13), Pal (14)). 

Auch der Einfluß auf das überlebende Herz wurde untersucht 
und mit den bekannten Folgen der elektrischen Vagusreizung ver- 
glichen; aus den spärlichen Berichten über solche Versuche geht 
hervor, daß Cholin die gleichen Erscheinungen hervorruft wie 
letztere (Hunt u. Taveau (10), Straub (15), Loewi (16), 
Lussana (17)). 

Über die Entstehung des Cholins ist sicheres noch nicht be- 
kannt, es wird angenommen, daß es im Mark der Nebenniere 
(Lohmann (7)) oder im Magendarmkanal entsteht (Zuelzer (6), 
Boehm (18, 19), Dale (20, 21)). 


Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. S 


114 SCHLIEPHAKE 


Da es Zerfallsprodukt mancher Phosphatide ist, steht noch die 
Frage zur Erörterung offen, ob nicht Cholin bei der Verdauung 
aus dem Darminhalt entsteht und resorbiert wird. 

Im Blut kreist das Cholin in einer Verdünnung von 1:2000% 
bis 1:400000 und ist in verschiedenen Organen in verschiedener 
Stärke enthalten, wobei anscheinend die Haut besonders als Cholin- 
speicher wirkt (Ellinger (22), Guggenheim u. Löffler 23 
Zucco u. Martini (24), Kinoshita (25)). 

Nach den Erfahrungen mit der Cholininjektion bei der paroxv:- 
malen Tachykardie (Stepp u. Schliephake (26)) erschien es 
erwünscht, im einzelnen die Cholinwirkung aufs menschliche Herz 
zu untersuchen, und zwar zunächst beim Gesunden, dann aber auch 
bei verschiedenen Erkrankungen. Es kam mir dabei, einer An- 
regung vou Prof. Stepp folgend, hauptsächlich auf die Klärung 
folgender Fragen an: 

1. Gleichen die nach Cholininjektion auftretenden Erscheinungen 
den von der elektrischen Vagusreizung im Tierversuch bekannten 
Phänomenen am Herzen? 

Wie verhält sich: 

a) die Reizbildung? 

b) Systole und Diastole? 

c) die Erregungsleitung ? 

d) die Dauer der Kammerkomplexe im Elektrokardiogramn’ 

e) Form und Größe der Elektrokardiogrammzacken ? 

f) die Herztöne? 

g) Venen- und Arterienpuls? 

h) der Blutdruck ? 

2. Was für Erscheinungen werden außer der Kreislaufwirkung 
beobachtet? 

3. Wirkt das Cholin bei subkutaner Injektion anders als bei 
intravenöser ? 

4. Wie verhalten sich Herzkranke und Kranke mit gewissen 
endokrinen Störungen gegenüber dem Cholin? 

5. Wie verhalten sich Kranke mit starken Blutdrucksteige- 
rungen ? 


Verfahren. 


Ich verwandte das gleiche Acetyl-Cholinpräparat, das Prof. Stepp 
und ich schon bei der paroxysmalen Tachykardie benutzt hatten, in mei:t 
6" „iger Lösung intravenös, wobei im allgemeinen 0,04 g der Substanz 
gegeben wurden. In einigen Fällen, die besonders erwähnt sind, wurde 
es auch subkutan eingespritzt. 


a nn nn na ae 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 115 


Die Flüssigkeit wurde intravenös ganz langeam (in 2—3 Minuten) 
einflieben lassen, wegen der noch zu besprechenden Kollapsgefahr. 
Registriert wurde mit dem großen Edelmann’schen Saitengalvanometer bei 
einer Empfindlichkeit von 1 Millivolt = 1 cm. Die Stimmgabel markiert 
il, Sek. 

u Meist wurde Nadelableitung von der Brust nach Straub angewandt, 
da die Störung durch die Polarisation bei den rein zeitmessenden Ver- 
suchen keine Rolle spielt, außerdem ja nur die Verhältnisse bei einem 
und demselben Individuum miteinander verglichen werden, wobei die Nadeln 
dauernd am gleichen Platz liegen bleiben. Nur in Versuchen, bei denen 
die Form der Zacken beobachtet werden sollte, wurde Wannenableitung 
verwandt. Verschiedentlich registrierte ich gleichzeitig Venenpuls, 
Radialpuls und Herztöne mit dem Frank’schen Spiegelsphygmographen. 
Die Verzögerung durch die Luftübertragung beträgt 0,003 Sek. 


Aufnahmen wurden in Abständen von '/, Minute gemacht; leider 
wurde ein Teil der Kurven durch das Zittern der Kranken nach der 
Injektion stark entstellt und dadurch unbrauchbar. 


Gemessen wurden in den Kurven die Abstände vom Beginn der 
P- bis zum Beginn der Q-Zacke (P-Q), vom Beginn der Q- zum Ende 
der S-Zacke (Q-R-S) und vom Beginn der Q- zum Ende der T-Zacke 
(Q-T). Weiterhin wurden die Abstände zwischen den R-Zacken und wo 
es nötig erschien, zwischen den P-Zacken bestimmt. Systole und Diastole 
wurden an den Herztönen gemessen, jeweils von der ersten großen 
Schwingung zur nächsten. Der Blutdruck wurde nach Riva-Rocci 
bestimmt, 


In jedem Kurvenabschnitt wurde eine größere Anzahl der ver- 
schiedenen Abstände ausgemessen und von den gefundenen Zahlen der 
arithmethische Mittelwert errechnet. Einige der so gefundenen Werte 
sind in den Tabellen S. 116 ff. niedergelegt. 

Zur elektrokardiographischen Untersuchung kamen zusammen 37 Fälle, 
‘ völlig Gesunde und 5 Neurotiker, dann 25 Kranke mit Störungen 
der Herztätigkeit, davon 

2 extrasystolische Arrhythmien 

l Sinusvorhofarrhythmie 

6 Vorhofflimmern 

13 Überleitungsstörungen 

3 Thyreotoxikosen. 
Blutdruckuntersuchungen wurden ferner bei 6 Kranken mit Hypertonie 
gemacht. 

Leider kann ich wegen der Schwierigkeiten beim Druck nur einen 
kleinen Teil meiner Kurven und Tabellen veröffentlichen. 


1. Gesunde Individuen (Tabelle 1—4). 


a) Die Reizbildung. Die Reaktion auf das Cholin ist 
individuell etwas verschieden, jedoch läßt sich im großen ganzen 
ein einheitlicher Verlauf der Wirkung feststellen. 


116 


Erläuterungen der Tabellen. 


SCHLIEPHAKE 


(Siehe auch S. 115.) 


R-R bedeutet den Abstand von einer R-Zacke bis zur nächster, also die 
Gesamtschlagdauer und ist folglich gleich der Summe von Systole und Diastöle. 
Letztere sind an den Herztönen gemessen, und zwar ist Syst. die Entfernung von 
der ersten Zacke des ersten Tons bis zur ersten Zacke des zweiten Tons, Diast. der 


Abstand von da bis wieder zur ersten Zacke des ersten Tons. 


P-Q ist der Abstand vom Beginn der P-Zacke zum Beginn der W-Zacke. 
Q-S derjenige vom Beginn von Q zum Ende von S. Q-T ist die Spanne vum 


Beginn der Q- bis zum Ende der T-Zacke. 


Die Zahlen sind Durchschnittszahlen 


aus verschiedenen Messungen und bedeuten Sigma (!/‚ooo Sekunden). Als Mabstab 
diente die am Fußpunkt jeder Kurve angebrachte Zeitschreibung, in der jede 


Doppelschwingung !/so Sekunde beträgt. 


Vor Cholin 
Nach Cholin Y, Min. 
1 Min. 


EI SUMEN 


Vor Cholin 


Nach Cholm 
1 Min. 


2 


so 
ww 


=] 


D 


1, Min. 


R-R 


850 
706 
790 
860 
530 
830 
830 
TH 
750 
T90 
780 
740 
SO) 
14 
T10 
520) 
700 


Tabelle 1. 
Gesund. 
R-R P-Q 
539 143 
550 152 
604 170 
691 150 
183 156 
804 154 
869 173 
866 165 
658 153 
187 148 
838 170 


Tabelle 2. 


Gesund, 


Syst. 
290 


2N 
320 
303 
290) 
320 
304 
300 
D) 
300 
300 
>10 
306 
290) 
IX) 
2) 


Diast. 


340 


510 
D40) 
HT 
D40 
51O 
4%) 
480 
490 
450 
440 
490 
465 
480 
D2) 


450 


Q-S 
80 
84 
80 
80 
76 
70 
76 
75 
72 
82 
80 


Q-T 
293 
252 
270 
316 
300 
330 
330 
336 


328 
324 


spi 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 


Vor Cholin 
Nach Cholin Y/, Min. 
Min 


1: 
19 


[3 


Myokarditis, 


Vor Cholin 


Nach Cholin Y, Min. 


1 Min. 


Mvokarditis, Dilatation, Sinusvorhofarrhythmie, 


Vor Cholin 
Cholin '⁄ Min. 


Nach Choli 


to 


—] 


© D 


n 


Min 


Ile Min. 


P-Q 
160 
164 
175 
180 
179 
179 
180 
190 
180 
180 
182 
180 
180 
163 
160 
180 
180 


Vorhofsextrasystolie nach Cholin. 


Tabelle 3. 
Gesund. 
R-R Syst. Diast. 
560 260 300 
550 300 250 
616 300 316 
580 280 300 
620 310 310 
678 330 348 
620 320 300 
p90 290 300 
628 300 328 
600 300 300 
610 300 310 
620 300 320 
580 300 280 
580 300 280 
620 300 320 
600 300 300 
620 320 300 
Tabelle 4. 
R-R Syst. Diast. 
779 305 474 
866 302 564 
841 344 547 
883 35t 525 
853 3 500 
T85 349 436 
183 337 446 
141 307 434 
757 300 457 
Tabelle 5. 
R-R Syst. Diast. 
631 268 363 
642 286 356 
642 282 360 
1382 300 1082 
1186 = em 
1452 322 1160 
1510 530 980 
1516 326 1190 
1512 328 1184 
958 322 636 
826 296 530 
810 = s 
818 208 520 
832 296 536 
158 278 480 
168 265 503 
T4 280 468 
128 256 472 
38 258 480 


P-Q 
226 


202 


218 
211 
355 
232 
227 


P-Q 


226 
226 
238 
230 
240 
230 
230 
243 
240 
237 
250 
234 
234 
234 
220 
222 
224 
240) 
236 


Q-S 
110 


104 


104 
110 
116 
116 
110 


117 


118 SCHLIEPHAKE 


Tabelle 6. 


Myokardschädigung mit verlängerter Überleitung. 


R-R Syst. Diast. P-Q Q-S Q-T 

Vor Cholin 907 | 198 74 350 
Nach Cholin tẹ Min. 879 | 208 14 AN) 
1 Min. 88) 212 0 382 

2 1219 263 65 420 

3 1207 | 225 14 420 

4 693 | | 205 115 BI) 
DD a 10D | 199 Fia zu 

6 709 i 222 12 320 

{ 694 189 82 360 

S 192 2083 82 312 
9o S00 207 18 Bis 
10 . 824 207 {5 a) 
1. N23 200 TEE 
2 € TOS 179 SU 30 


Tabelle 7. 
Myodegeneratio cordis. 
R-R Syst. Diast. P-Q Q-S Q-T 
Vor Cholin T16 280 496 186 90 370 
Nach Cholin !', Min. 770 B10 460 156 74 370 Q verschwunden 
1 Min. 1154 202 952 204 66 358 Block 2:1 
1320 354 966 218 80 875 


2 640 244 396 230 76 378 Block aufgehoben 
676 8312 364 232 50 382 ö 

3. 106 324 382 203 75 356 
740 862 375 156 80 BW 

+4 712 322 B90 188 s0 B37 
690 310 B80 186 85 372 

SS 664 300 364 186 75 B865 2mal Schenkelbluck li. 
710 340 430 186 S50 344 

6 722 B530 392 200 76 35S 
726 524 402 191 4 368 

T. 742 BBG 406 195 78 865 


Bei der intravenösen Einverleibung ist zunäclıst 
eine Erhöhung der Frequenz die Regel, die dann wieder bis 
zur ursprünglichen Schlagzahl zurückgeht (nach etwa 2—3 Min.: 
und danach oft (nicht immer) einer Verlangsamung Platz macht. 

Häufig tritt nur die Beschleunigung der Schlagfolge in Er- 
scheinung, ohne nachfolgende Verzögerung (Tab. 2). 

Manchmal folgt auf die anfängliche Beschleunigung zunächst 
eine Verlangsamung, nach der die Frequenz nochmals zunimmt, um 
dann erst endgültig langsamer zu werden, so daß wir bei der 
graphischen Darstellung eine zweigipflige Kurve erhalten (Tab. 3. 

b) Der Anteil von Systole und Diastole an diesen 
Frequenzänderungen ließ sich aus den Herztonaufnalımen feststellen. 
Wie aus den Tabellen ersichtlich, sind beide Phasen ungefähr in 
gleicher Weise, d. h. proportional zu ihrem Verhältnis vor der In- 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 119 


jektion, an den Rhythmusschwankungen beteiligt. Diese Tatsache 
ist durchaus bemerkenswert, da sich ja bei sonstigen Änderungen 
der Schlagdauer bei Ruhe und Bewegung oder bei der Atmung im 
allgemeinen hauptsächlich die Diastole verlängert oder verkürzt, 
während die Dauer der Systole weniger verändert zu werden pflegt. 
Diese Veränderung der Systolendauer ist auch schon Hunt und 
Taveau (10) aufgefallen. 

Was bei Betrachtung längerer Kurvenstücke noch merkwürdig 
erscheint, ist die starke Unregelmäßigkeit in der Dauer der einzelnen 
Herzschläge nach der Einspritzung. Es hat den Anschein, als ob 
die respiratorischen Unterschiede jetzt viel stärker ausgeprägt 
wären als vorher. So wurden in einem Fall Schwankungen in der 
Schlagdauer von 0,928—0,965 beobachtet, nach der Einspritzung 
Schwankungen von 0,462—0,700. Vielleicht kann man sich das 
Zustandekommen dieser Ungleichheiten so erklären, daß das Cholin 


Abb. 1. Verschiedene Formen von P und T, verzögerte Überleitung nach Cholin. 


die Vagusendapparate bzw. die von ihnen versorgten Organe für 
die Schwankungen des zentralen Vagustonus empfänglicher macht. 

c) Die Überleitung. Die Veränderungen der Überleitungs- 
zeit gehen denen der Reizbildung nur in den wenigsten Fällen 
parallel, meist bestehen keine direkten gegenseitigen Beziehungen. 
Immer aber besteht der Cholineinfluß auf die Erregungsleitung in 
einer Hemmung. In vielen Fällen ist der Sinusrhythmus verlang- 
samt, ohne daß die Überleitungszeit eine merkliche Verlängerung 
erfährt; umgekehrt kann bei sehr stark veränderter Leitungszeit 
die Schlagfolge gleich bleiben (Tab. 3). Bei sehr vielen, ja den 
meisten Fällen, ist das Verhalten der Reizbildung dem der Er- 
regungsleitung gerade entgegengesetzt oder mindestens sehr stark 
davon verschieden. Nur in einem von mir beobachteten Fall war 
der Verlauf beider Kurven ähnlich. 

Die Verlangsamung der Überleitung tritt meist früher zutage 
als die der Reizbildung. Oft ist schon nach "/, Min. die P-Q-Zeit 


120 SCHLIEPHAKE 


deutlich verlängert, während der Systolenabstand noch ganz wie 
früher geblieben oder etwas verkürzt ist (Tab. 2. Nach 10 bis 
12 Min. kann eine geringe Verkürzung der Leitungszeit eintreten. 

d) Die Dauer des Kammerkomplexes. In allen be- 
obachteten Fällen zeigte sich eine große Ähnlichkeit im Verhalten 
der Q-T-Dauer mit dem der Gesamtschlagdauer. In einem aller- 
dings pathologischen Fall (Tab. 4), wo sich die Systolen ganz 
anders verhalten als die Gesamtschlagdauer, fällt ganz besonders 
auf, daß die Q-T-Zeiten nicht den Systolen proportional sind, sondern 
vielmehr der Schlagdauer. 

Es kann somit unmöglich richtig sein, die Q-T-Zeit mit der 
Systolendauer in direkte Beziehung zu bringen, ja, sie dieser gleich- 
zusetzen. 

Auch bei der Bestimmung der Q-T-Zeiten fällt das starke 
Schwanken der Einzelwerte unter der Cholineinwirkung auf (siehe 
Tabellen). 

Die Dauer des Ablaufs der Q-R-S-Zeit wurde ebenfalls ge- 
messen. Sie folgt in den meisten Fällen ungefähr der Schlagdauer, 
wenngleich auch hiervon verschiedene Ausnahmen vorkommen. 
Eine bestifnmte Regel läßt sich jedenfalls nicht aufstellen. 

e) DieForm und Größe der Zacken erfährt nach Cholin- 
injektion mancherlei Veränderungen, auf die ich nur kurz eingehen 
will. Die P-Zacke nimmt gewöhnlich nach Y,—1 Min. ab, um 
nach 2—3 Min. wieder größer zu werden, manchmal sogar größer 
als vorher. 

Gelegentlich nimmt sie merkwürdige Formen an; so fallen eine 
kurze spitze, eine sehr langgezogene, ebene und eine gespaltene 
Form besonders ins Auge. Das erinnert an Beobachtungen von 
Ganter (27), wo dieser Autor zwei nahezu gleichzeitig tätige 
Reizbildungsherde annimmt, deren Erregungswellen in verschiedener 
Weise interferieren und dadurch die verschiedenen Formen der 
P-Zacke zustande bringen. Diese Deutung scheint mir bei meinen 
Fällen wenig Wahrscheinlichkeit für sich zu haben, ebenso kann 
ich nicht an eine Verzögerung der Erregungsleitung vom Sinus 
zum Vorhof glauben, da der Ausdruck einer Sinuserregung im 
menschlichen Ekg. noch nie mit Sicherheit nachgewiesen ist. Viel- 
mehr möchte ich annehmen, daß hier die verzögerte Erregungs- 
leitung innerhalb der Vorhöfe eine Rolle spielt, wie sie in meinen 
Versuchen (28) bei Vagusreizung eintrat. 

Über die Dauer des Ablaufs der Q-R-S-Gruppe habe ich mich 
schon ausgelassen. Obwohl man bei Verlängerung dieser Zeit ein 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 121 


Größerwerden der Zacken erwarten sollte, ist dies nicht der Fall, 
ja, es ist sogar eine Verkleinerung häufiger; im übrigen besteht 
keinerlei Beziehung der Zackengröße zu ihrer Ablaufsdauer. Auf 
die Ursachen dieses Verhaltens einzugehen, ist hier nicht der Platz. 
Man muß immer in Betracht ziehen, daß auch Änderungen des 
Gewebs- und Hautwiderstandes auf die Größe der Zacken Einfluß 
haben können. 

Die T-Zacke wird meist kleiner, langgezogener und flacher 
oder verschwindet; sie vergrößert sich später wieder, ähnlich wie 
die P-Zacke. Manchmal kommen auch nach der Injektion diphasische 


T-Zacken vor (Abb. 1). 
Radial. NE d 


MAA | siin a 


~ a == pi 


= -' ek 7 
LA 


Te e 
Dun, 

E aa iee -E 
AITEELELETTT TEL N] 77 TU 


TE MELITTTEEETTTEIEITERTT TITEL T i i 
nr Be my m mr mE Al 


OAU IN mr 


Abb. 2a. Oben: Radialpuls, Mitte: Herz- Abb. 2b. Vergrößerung der Radialpuls- 
töne, Unten: Venenpuls und Ekg. welle und Verstärkung der Herztöne 
1'/ Min. nach Cholin. 


f) Die Herztonaufnahmen zeigen !,—1 Min. nach der 
Cholingabe ein Größerwerden der Ausschläge (Abb. 2), bald danach 
aber eine Abschwächung derselben. Auch auskultatorisch läßt sich 
das Schwächerwerden der Herztöne gut wahrnehmen. Schon nach 
etwa 3 Min. haben die Töne aber wieder die frühere Stärke an- 
genommen. Vielleicht kommt hier für kurze Zeit die negativ 
inotrope Vaguswirkung zum Ausdruck. 

g) Im Venenpuls sind keine besonderen Veränderungen fest- 
zustellen; natürlich tritt die verlängerte Überleitungszeit auch in 
einer Verlängerung des a-c-Abstandes in Erscheinung. Wo die 
P-Zacke im Ekg. gespalten ist, ist häufig auch eine Spaltung oder 


122 SCHLIEPHAKE 


Abflachung der a-Welle- bemerkbar. Kurz nach der Injektion 
(a Min.) wurde auch manchmal ein Größerwerden der c-Welle im 
Gegensatz zur unverändert gebliebenen a-Welle festgestellt. 

Der Radialpuls wurde wiederholt mit aufgenommen und sonst 
palpatorisch verfolgt: Kurz nach der Cholineinspritzung war er 
gewöhnlich verstärkt (Abb. 2), auch konnte man bei manchen 
Patienten dann starkes Klopfen anderer peripherer Pulse sehen: 
schon sehr bald aber wurde der Puls wieder ganz normal, vorüber- 
gehend auch manchmal etwas gegen früher abgeschwächt. 

h) Der Blutdruck wies eine deutliche Senkung auf, die oft 
schon während der langsam erfolgenden Injektion begann. Nach 
1 Min. stieg der Druck wieder etwas an, aber nicht wieder bis 
zur alten Höhe. Dieser Anstieg dauert nur ganz kurz, höchstens 
ı/, Min, dann erfolgt ein starker Abfall, nach dem sich der Blut- 
druck 5—6 Min. auf gleicher Höhe hält, um dann langsam wieder 
anzusteigen. Die alte Höhe wird nach meist 10—12 Min. wieder 
erreicht. 

Die Senkung war bei Gesunden nach den von uns angewandten 
Cholinmengen nicht allzu groß. In einem Fall z. B. war der Blut- 
druck vorher 120 mm Hg. Bei der Einspritzung sank er auf 110. 
stieg wieder auf 115 nach 1 Min. und sank dann ab bis 105. Die 
anderen untersuchten Fälle verhielten sich genau so, allerdings war 
der Gipfel nach 1 Min. nicht bei allen so deutlich ausgeprägt. 

2. Über die sonstigen körperlichen Erscheinungen 
wären noch kurz einige Worte zu sagen. 

Nach '/,—®/, Min. klagen die meisten Patienten über einen 
dumpfen Kopfschmerz und ein Nachlassen der Willenskraft, das 
sich bis zu ohnmachtsähnlichem Schwächegefühl steigern kann. 
Kollapserscheinungen kamen bei Gesunden nie vor. Schon nach 
1 Min. war das Schwächegefühl wieder behoben, jedoch bestand 
dann noch 1—2 Min. lang ein starkes Muskelzittern, wobei von 
einigen Patienten ein leichtes Vibrieren oder Kribbeln in den 
Armen angegeben wurde. 

Ferner trat nach 1”/,—2 Min. eine starke Rötung der ganzen 
Körperhaut, besonders am Kopf auf mit oft profusem Schweibaus- 
bruch, der bis zu 10 Min. anhielt. 

Unter manchen Patiefiten bildeten sich ganze Lachen von 


Untersuchungen Aufschlub geben., Zunächst muß ich die Frage offen lassen, ob 
hier eine parasympathische Innervation der Schweißdrüsen anzunehmen ist, oder 
ob andere Ursachen eine Rolle spielen. 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 123 


Speichel- und Tränenfluß sowie Schleimabsonderung im Hals mit 
Hustenreiz. Die Atmung war in der ersten Zeit der Cholinwirkung 
meist vertieft und beschleunigt. 

Das Gefühl nach der Einspritzung wird von einem intelligenten 
Menschen folgendermaßen geschildert: Es trat ein Druckgefühl am 
Scheitel auf, das von dort nach unten zog. Als das Gefühl in 
Stirnhöhe war, begannen die Tränen zu fließen, dann am Mund 
der Speichel; schließlich blieb eine würgende Empfindung am Hals 
zurück, auf die Schleimabsonderung folgte. Von anderen Kranken 
werden etwas andere Angaben gemacht, jedoch ist die Art der 
Erscheinungen im großen ganzen sehr ähnlich. 

Unangenehme Folgeerscheinungen traten nie auf; nur in einem 
Fall wurde nachher noch eine Zeitlang über Schwere in den 
Gliedern geklagt. 

Erscheinungen von seiten des Darmtraktus wurden sehr selten 
beobachtet, nur ganz vereinzelt wurde nach 1 Stunde über 
Blähungen geklagt. 

Die geschilderten Erscheinungen waren indiviuell von sehr 
wechselnder Stärke. Dabei war der Ernährungs- und Kräftezustand 
ohne Bedeutung, denn selbst sehr elende Kranke reagierten oft mit 
ganz geringen Symptomen, während andererseits gut genährte ge- 
sunde Individuen sehr schwere Schwächezustände zeigten. 

Vielmehr scheint hier die Einstellung des vegetativen Nerven- 
systems eine Rolle zu spielen. Vasomotorische Neurotiker reagierten 
auffallend schwach, besonders Individuen vom Sympathicustyp. 

Das Verhalten bei der subkutanen Applikation des 
Mittels ist etwas anders als bei der intravenösen Anwendung. Die 
individuellen Verschiedenheiten treten dabei noch mehr in den 
Vordergrund. 

Gewöhnlich verläuft die Wirkung ähnlich wie sie schon von 
der intravenösen Gabe bekannt ist, nur mit langsameren Über- 
gängen; in den meisten Fällen erfolgt eine allmähliche Verlang- 
samung der Schlagzahl, die nach und nach wieder in die frühere 
Frequenz übergeht. 

Die sonstigen körperlichen Erscheinungen traten naturgemäß 
etwas später zutage, jedoch war eine deutliche Wirkung oft schon 
nach 1 Min. zu bemerken, während sie bei manchen Individuen 
länger auf sich warten ließ. 

Die Wirkung bei der subkutanen Einspritzung war im allge- 
meinen viel nachhaltiger als bei der venösen, noch nach 10 bis 
15 Min. war die Verlangsamung der Herzfrequenz deutlich. 


124 SCHLIEPHAKE 


Verhalten bei Herzkranken. 


Wie aus dem ersten Teil dieser Arbeit ersichtlich ist, sind bei 
Gesunden niemals ernstere Störungen des Herzrhythmus vorge- 
kommen. 

Auch sonst habe ich verschiedentlich Injektionen selbst größerer 
Cholinmengen bei Gesunden gemacht, ohne Unregelmäßigkeiten des 
Herzschlags danach zu beobachten. Ganz anders verhielten sich 
in dieser Beziehung Herzkranke, bei denen schon eine manifeste 
oder latente Störung der Reizbildung oder Erregungsleitung vor- 
handen war. 


1. Cholin und Störungen der Reizbildung. 


Hierher gehören nach meiner Ansicht auch diejenigen Fälle, 
wo eine Rhythmusstörung zunächst noch nicht sicher nachweisbar 
ist, sondern erst durch die Cholininjektion deutlich wird. 

So kamen verschiedene Kranke mit Myokarditis zur Unter- 
suchung, die zwar über gelegentliches Aussetzen des Herzschlags 
geklagt hatten, wo aber während der Beobachtungszeit keine Un- 
regelmäßigkeiten aufgetreten waren. Nach der Cholineinspritzung 
sah ich bei solchen Kranken wiederholt Vorhofsextrasystolen. 
Abb. 3 zeigt solche verfrühten Vorhofsschläge, die übrigens hier 
eine bedeutend längere Leitungszeit beanspruchen als die normalen 
Schläge und sich in der Form deutlich von letzteren unterscheiden, 
was für ihre heterotope Entstehung spricht. Siehe auch Tab. 4. 

Nach solchen Befunden lag die Vermutung nahe, daß auch die 
wichtigste Reizbildungsstörung in den Vorhöfen, das Flimmern, 
irgendwie beeinflußt würde Diese Annahme bestätigte sich aber 
nicht. Es wurde so gut wie kein Erfolg der Einspritzung ge- 
sehen, höchstens hatte es den Anschein, als ob die einzelnen Flimmer- 
wellen etwas deutlicher zum Vorschein kämen. Die Kammerfrequerz 
blieb sich im großen ganzen gleich, außer wenn, wie in einem 
später zu schildernden Fall, totaler a-v-Block eintrat. 

Eine sehr seltene Störung ist die Sinusvorhofarhythmie 
(Martini u. Müller (25)). In dem einen Fall, den ich zu be- 
obachten Gelegenheit hatte, war die Vorhofstätigkeit meist voll- 
kommen unregelmäßig, wie Abb. 4 zeigt. 

Eine Andeutung von Periodenbildung, wie sie bei der An- 
nahme eines „Sinoauriculären Blocks“ nachweisbar sein müßte, ist 
nicht vorhanden. Hier scheint der Schrittmacher für die Cholin- 
wirkung ganz besonders empfänglich zu sein, denn die eintretende 
Verlangsamung ist ganz außerordentlich, über das Doppelte der 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 1925 


früheren Schlagzeit (Abb. 4, Tab. 5). Der verlangsamte Rhythmus 
ist ganz regelmäßig und hält etwa 3 Min. in dieser Weise an. 
Auch die sehr starke Verlängerung der Q-T-Zeit ist bei diesem 
Kranken, der an einer schweren Myokarditis leidet, auffallend. 
Es ist nicht leicht, für das veränderte Verhalten der Reiz- 
bildung in diesem Fall eine Erklärung zu finden. Warum das 
Cholin, das doch, wie wir früher gesehen haben, respiratorische 


Eine Reihe 


von Extrasystolen des linksseitigen Typs. 


COAT TATEN 
LOCUITE TEn namn aa n a T 


CALI] 


| 


1 Minute nach Cholin. 


5. 
Pan DRITTEN 


Abb. 


TES IT TEET 
AN 
i 


A A 
Abb. 4b. Nach Cholin regelm., sehr langs. Herztätigk. 


Vorhofsextrasystole mit 


sehr langer Uberleitungszeit bei X. 
Sinusvorhofarrhythmie, 


4a. 


A bb. 


Abb, 3. 8 Minuten nach C'holin. 


126 SCHLIEPHAKE 


und sonstige Unregelmäßigkeiten des. Sinusrhythmus befördert. 
gerade hier zu einer ganz regelmäßigen Tätigkeit führt, ist nicht 
ohne weiteres einzusehen. 

Die Annahme, daß ein s-a-Block 2:1 eingetreten sei, läßt sich 
wohl kaum aufrecht erhalten, weil ja damit die unregelmäßige 
Tätigkeit des Sinus keineswegs verändert würde und auch weiter- 
hin eine unregelmäßige, nur verlangsamte Schlagfolge der tieferen 
Herzteile nach sich ziehen müßte. Am meisten Wahrscheinlichkeit 
hat die Erklärung für sich, daß die Automatie des Sinus bis zum 
Unterliegen unter andere Rhythmen gehemmt wird oder daß ein 
totaler sinoauriculärer Block eingetreten ist, durch den der Sinus 
die Führung des Rhythmus völlig verliert, so daß nun der Coronar- 
teil des Aschoff-Tawara’schen Knotens als heterotopes Zentrum die 
Schlagfolge bestimmt. 

Die starke Förderung der heterotopen Reizbildung war auch 
da zu beobachten, wo gelegentlich oder häufiger Kammerextra- 
systolen vorkamen, wie z. B. in einem Fall mit Extraschlägen nach 
jeder 4.--5. Systole 1!/, Min. nach der Einspritzung hatten sich 
diese heterotopen Schläge so gehäuft, daß ein Pulsus bigeminus in 
Erscheinung trat. 

Abb. 5 stammt von einem Fall mit vor der Cholininjektion 
bestehendem Bigeminus. Nach Cholin ist von der nomotopen Reiz- 
bildung überhaupt nichts mehr zu bemerken, sie wird völlig über- 
deckt von einer Reihe sich ohne Pause folgender Extrasystolen. 
Selbst noch nach 7 Min. sind mehr Extrasystolen als Normalschläge 
vorhanden. 


2. Cholin bei gestörter Überleitung. 

Abb. 3 zeigt das Elektrokardiogramm einer Kranken mit 
Myokarditis, in welchem zunächst keine Rhythmusstörungen zu 
sehen waren; das einzig Krankhafte war neben der geringen 
Spaltung in der invertierten R-Zacke der mit Nadelelektroden von 
der Brust aufgenommenen Kurve die über die Norm hinausgehende 
Länge der Überleitungszeit (2140). 

!, Min. nach der intravenösen Injektion machte sich zunächst 
heftiges Muskelzittern in der Kurve sehr störend bemerkbar, ohne 
daß eine Störung der Herztätigkeit hervortrat; nur die Diastu.e 
weist eine Verlängerung von 0,46 auf 0,56 Sek. auf. Erst nach 
4 Min. ist auch die Beeinflussung der Systole deutlich geworden, 
sie Ist von 0,305 auf 0.357 Sek. angewachsen. 

Nach 5—6 Min. ist der Rhythmus nicht mehr ganz regel- 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 127 


mäßig, und in der Kurve sehen wir, daß schwere Veränderungen 
eingetreten sind. 

Anscheinend ist ein heterotopes Zentrum in den Vorhöfen tätig 
geworden, denn es sind jetzt P-Zacken sichtbar geworden, die sich 
in ihrer Gestalt von den vorhergegangenen unterscheiden und 
zeitlich gleich auf die vorangehende T-Zacke folgen, ja sogar in 
sie hineinfallen. Das in seiner Leitfähigkeit geschädigte Bündel 
ist nicht imstande, diese verfrühten Erregungen überzuleiten, 
sondern beansprucht dazu die Zeit von 0,34—0,36 Sek. wie bei x; 
ebenso wird die Erregung von der wieder in normaler Zeit nach- 
folgenden P-Zacke extrem lange übergeleitet. 

Auch ohne Störungen der Vorhofstätigkeit können atrioventri- 
kuläre Überleitungsstörungen bei Herzkranken nach Cholininjektion 
vorkommen. So ließ in einem Fall das Elektrokardiogramm er- 
kennen, daß die zunächst ganz regelmäßige Schlagfolge in Wencke- 
bach'sche Periodenbildung übergegangen war. 

Die Reizbildung war dabei beschleunigt, war doch der Abstand 
P-P von durchschnittlich 0,89 Sek. vor der Einspritzung auf 
0,65 Sek. zurückgegangen. 

Bei dem gleichen Fall war auf der Höhe der Cholinwirkung 
nach 1 Min. eine vollständige Rhythmushalbierung, ein a-v-Block 
2:1 für kurze Zeit vorhanden. 

Diese letztere Erscheinung ist auch wiederholt bei anderen 
Herzkranken mit Myokardschädigungen nach der Cholineinspritzung 


Abb. 6. Nach Cholin. a-v-Block 2:1. Auf zwei P-Zacken fällt ein 
Kammerkomplex. 


128 SCHLIEPHAKE 


vorgekommen (Tab. 7) Abb. 6 stellt die Kurve eines solchen 
Falles dar, wo sehr gut zu sehen ist, wie auf je 2 P-Zacken ein 
Kammerkomplex fällt. 

Auch bei einem Kranken, wo eine Myokarditis durch die 
üblichen Untersuchungsverfahren nicht nachweisbar war, sah ich 
eine solche Rhythmushalbierung eintreten. Es bestand ein Tumor 
der Hirnbasis .mit vagotonischen Erscheinungen. Im Ekg. sind 
weder die Form des Kammerkomplexes noch die Überleitungszeit 
von 0,165 Sek. als pathologisch anzusprechen. Die Kammern 
schlagen mit einem Intervall von durchschnittlich 0,84 Sek. Schon 
nach !/, Min. sinkt das Vorhofsintervall auf durchschnittlich 
0,59 Sek., wobei die Überleitung anscheinend so gehemmt ist, daß 
nur jede zweite Erregung zur Entstehung eines Kammerschlages 
führt. Dabei ist die a-v-Zeit, wie das bei besserer Erholungs- 
möglichkeit des Bündels häufig beobachtet wird, eher etwas kürzer 
als früher, sie beträgt jetzt 0,161 Sek. Nach einer sehr langen 
Überleitungszeit von 0,27 Sek. tritt im Verlauf der zweiten Minute 
plötzlich normale Schlagfolge ein. 

Das in den nächstfolgenden Schlägen noch etwas verlängerte 
a-v-Intervall (0,174 Sek.) ist schon nach 1'/, Minuten wieder ganz 
zu seiner früheren Länge zurückgekehrt. 

Die Länge der Q-T-Zeit ändert sich auch in den meisten 
krankhaften Fällen gleichsinnig mit der Revolutionsdauer, und zwar 
ist dabei auffällig, daß der Sinusrhythmus keine Rolle zu spielen 
scheint. Ganz außerordentlich ist ja die Verlängerung der Q-T- 
Zeit in der Tab. 5 nach 1'/, Min., die das gewohnte Maß weit über- 
schreitet. Auch die Gestalt der T-Zacke ist bei den Elektrokardiv- 
grammen myokardgeschädigter Herzen nach der Cholininjektion ofi 
sehr stark verändert. Meist ist sie stark abgeflacht, oft auch sehr 
verbreitert und in ihrer Ablaufszeit verlängert, manchmal geht sie 
ohne isoelektrische Strecke aus der S-Zacke hervor und nimmt 
spitze, gespaltene oder diphasische Formen an. 

Ein kompletter atrioventrikulärer Block wurde von mir nur 
einmal bei einem Kranken mit Vorhofflimmern beobachtet. Die 
ganz regellose Herztätigkeit ging nach der Cholingabe in einen 
äuberst langsamen ganz regelmäßigen Rhythmus über. Auch die 
vorher ganz ungleiche Gestalt der einzelnen Kammerkomplexe 
änderte sich, die Zacken nahmen eine andere Form an und sehen 
sich durchaus ähnlich. Auf Grund des in 3 Ableitungen aufge- 
nommenen Elektrokardiogranıms konnte man annehmen, daß eine 
Verlangsamung in einem der Tawara’schen Schenkel bestanden 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 129 


hatte, die jetzt in einen kompletten Schenkelblock übergegangen 
war. Der totale a-v-Block bestand für die Dauer von etwa 8 bis 
10 Herzschlägen, um dann wieder der alten unregelmäßigen Schlag- 
folge Platz zu machen. 

Der Eintritt einer Schenkelblockierung bei einer anderen 
Kranken läßt sich ferner aus Abb. 7 ersehen. Es handelte sich 
um eine Frau mit Unregelmäßigkeiten des Pulses unbestimmter 
Art, bei der ein sicher krankhafter Befund während der kurzen 
Beobachtungszeit nicht zu erheben war. Auch im Ekg. war nichts 
Krankhaftes nachzuweisen, erst die Cholininjektion ließ ein von 
der Norm abweichendes Verhalten zutage treten. Nachdem kurze 
Zeit ein a-v-Block 2:1 bestanden hatte, kamen nach etwa 5 Min. 
Kammerkomplexe vom linksseitigen Typ vor, die als Ausdruck einer 
Blockierung des rechten Tawara’schen Schenkels zu deuten sind, 
da ihnen eine P-Zacke in nor- 
malem Abstand vorangeht und 
ihre Gestalt sich auch stark 
von der einiger bei der gleichen 
Kranken registrierter Extra- 
systolen unterscheidet. 

Außer solchen Kranken mit 
direkten Schädigungen des 
ee aeie 
kamen auch solche zur Unter- blocks. 
suchung, bei welchen die Kreis- 
lauforgane nur indirekt in Mitleidenschaft gezogen waren. 

Besonders bei den thyreotoxischen Erkrankungen war auf- 
fallend, daß die mit ihnen behafteten Menschen auf das Cholin nur 
mit ganz schwachen Erscheinungen reagierten. Schon subjektive 
Beschwerden, wie sie von anderen Individuen geklagt wurden, 
waren kaum vorhanden. Höchstens wurde leichter Druck im Kopf 
angegeben, Schweißausbruch kam nie vor, ja nicht einmal Hitze- 
gefühl, was bei der bekannten Neigung solcher Kranken zu Schweißen 
um so auffallender ist. Auch Speichel- und Tränenfluß waren 
kaum in merklichem Maße vermehrt. 

Ebenso war die Blutdruckwirkung nur schwach, in einem Fall 
z. B. Senkung von 135 auf 125 mm Hg mit Rückkehr zur alten 
Höhe schon nach 5 Min. Der Sinusrhythmus wurde zwar deutlich ver- 
langsamt, dagegen war der Einfluß auf die Erregungsleitung kaum 
merklich. Auch sonstige gröbere Veränderungen im Ekg. wurden 
vermißt. 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 9 


130 SCHLIEPHAKE 


Weitere Untersuchungen wurden an verschiedenen Kranken mit 
Hypertonie bei Nephritis und Schrumpfniere vorgenommen. 

Das Verhalten der Herztätigkeit war hier dasselbe, wie ich es 
im ersten Teil als typisch für Gesunde beschrieben habe. Dagegen 
war die Blutdruckwirkung ganz ausgesprochen. In einem Fall zum 
Beispiel sank der systolische Druck von 230 auf 180 mm Hg, bei 
einem zweiten Kranken von 210 auf 170, bei zwei weiteren 
Patienten von 190 auf 140, bzw. von 200 auf 155 mm Hg. 


Auch diese Kranken hatten außer Schweißausbruch und dumpfem 
Druckgefühl im Kopf gleich nach der Injektion verhältnismäßig 
geringe Beschwerden, vor allem nie Übelkeitsgefühle oder Brech- 
reiz, gaben aber alle an, nach Abklingen der ersten Erscheinungen 
eine deutliche Erleichterung verspürt zu haben, die allerdings bei 
der intravenösen Einverleibung nur '/,—!/, Stunde anhielt. 


Die Kurve des Blutdrucks, die in Abständen von */, Min. ge- 
messen wurde, verläuft ähnlich wie beim Gesunden: Nach anfäng- 
lichem kurzen Abfall Wiederanstieg und dann erst endgültige 
Senkung. Schon nach 3—4 Min. ist der tiefste Punkt erreicht, 
und der Druck beginnt langsam wieder zu steigen, bis er nach 
10—12 Min. wieder auf der alten Höhe angelangt ist. 


Viel länger hält die Blutdrucksenkung bei der intramuskulären 
Einspritzung des Cholins an. Diese Art der Einverleibung hat 
auch den Vorzug, daß man bedeutend größere Mengen geben kann, 
natürlich auch mit den notwendigen, später noch genauer zu be- 
schreibenden Vorsichtsmaßregeln. 


So konnte bei einem Kranken durch Injektion von 2 ccm der 
20°/,igen Lösung intramuskulär der Druck von 230 auf 135 mm 
gesenkt werden. Die ersten Zeichen der Wirkung machten sich 
dabei schon nach 1 Min. bemerkbar: der Tiefpunkt war nach 3'/, Min. 
erreicht. Dieser Stand blieb mit geringen Schwankungen einige 
Minuten bestehen und ging dann in den ganz allmählichen Wieder- 
anstieg über. Noch nach 1 Stunde wurden 190 mm gemessen, und 
nach 1?/, Stunde war der Ausgangswert noch nicht wieder erreicht. 


Profuser Schweißausbruch begleitete die geschilderten Er- 
scheinungen. Daß auch das subjektive Befinden dabei günstig be- 
einflußt sein mußte, bewies die Bitte des Kranken um Wieder- 
holung der Injektion. 


Wenn wir nun die Erscheinungen, die durch das Cholin am 
Kreislauf des Menschen hervorgebracht werden, nochmals im Zu- 
sammenhang betrachten, so finden wir, daß sie in allen Stücken 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 131 


dem entsprechen, was wir aus Tierversuchen von den Folgen der 
elektrischen Vagusreizung wissen. 

Allerdings gilt das nur in dem Stadium, wo die Wirkung ihren 
Höhepunkt erreicht hat; vorher ist eine teilweise Umkehrung des 
Verhaltens zu beobachten, indem eine Beschleunigung und Ver- 
stärkung des Pulsschlags eintritt. Ob diese Erscheinungen, denen 
sich die Verstärkung der Herztöne gleichsinnig anreiht, auf eine 
anfängliche unmittelbare positiv inotrope Einwirkung auf das Herz 
zurückzuführen sind, will ich dahingestellt sein lassen. Bekannt- 
lich wirkt ja jede Blutdrucksenkung auf das Vaguszentrum im 
Sinne einer Herabsetzung seiner Erregbarkeit ein, so daß alle 
Einflüsse auf den Körper, die den Blutdruck herabsetzen, zugleich 
auch den Herzschlag verändern. Es wäre also die Aufgabe weiterer 
pharmakologischer Forschung festzustellen, inwieweit bei der ersten 
Phase der Cholinwirkung solche sekundären Erscheinungen vor- 
liegen, oder ob die Konzentrationsänderungen des Cholins im Blut 
an dem beschriebenen Verhalten etwa in dem Sinne schuld sind, 
als beim ersten Eintritt kleinster Mengen eine inverse Wirkung 
auf das vegetative System zustande käme. Für die erstere Auf- 
fassung spricht das sofortige Ansprechen der Erregungsleitung im 
Sinne einer Verzögerung. 

Das erste Stadium pflegt in kurzer Zeit abzuklingen (siehe 
Tabellen), worauf die Vagussymptome trotz der noch bestehenden 
Blutdrucksenkung deutlich in Erscheinung treten. 

Die negativ inotrope Wirkung äußert sich dabei in einem 
Schwächerwerden der Herztöne und einer Abnahme der Pulswelle; 
die Schlagfolge ist mehr oder weniger verlangsamt, die Überleitung 
wird so gehemmt, daß bei myokardgeschädigten Kranken sogar 
Blockerscheinungen auftreten, und der Ablauf der Kammerkomplexe 
wird in gleicher Weise verzögert, wie es schon de Boer (30) für die 
Vagusreizung durch Morphin beschrieben hat. Besonders die oft 
beträchtliche Verlängerung der Q-T-Zeit scheint mir für die Be- 
urteilung des Erregungsablaufs innerhalb der Kammern von Be- 
deutung zu sein, da das Ende der T-Zacke nach Lewis (31) mit 
dem Ende der Refraktärzeit der Kammern zusammenfällt. Viel- 
leicht ist also eine ungünstige Beeinflussung des Refraktärzustandes 
am kranken Herzen die Ursache für die Verlängerungen der 
Q-T-Zeit. 

Auch die Formveränderungen der einzelnen Zacken sprechen 
für den verlangsamten Ablauf der Erregung. So ist oft die S-Zacke 
nicht scharf von der folgenden isvelektrischen Strecke abgesetzt, 

ox 


132 SCHI IEPHAKE 


sondern der Übergang ist allmählich; die T-Zacke wird niedriger 
oder verschwindet ganz; daß auch diphasische und gespaitene 
T-Zacken vorkommen, habe ich erwähnt. 


Ebenso scheint auch innerhalb der Vorhöfe die Erregungsleitung 
verlangsamt zu sein, wie aus der häufigen Verbreiterung und 
Spaltung der P-Zacken zu schließen ist (s. S. 120). 


Das ganz verschiedene Verhalten der einzelnen Gebilde gegen- 
über dem Cholin spricht dafür, daß sie eine verschiedene An- 
spruchsfähigkeit auf den Vagus besitzen. Das entspricht den im 
Tierversuch mit elektrischer Vagusreizung gemachten Erfahrungen 
(Schliephake (28)); auch hier ließ sich keinerlei Gesetzmäßigkeit 
im gegenseitigen Verhalten der Herzteile feststellen. Immerhin 
waren die damaligen Versuche noch nicht beweisend, weil sie am 
freigelegten Herzen ausgeführt wurden, das ja schon durch die 
Schädigungen der Operation krankhaft verändert zu sein pflegt. 


Daß sich der Erfolg der Vagusreizung durch Cholin beim 
Herzkranken viel heftiger äußert als beim Gesunden, ist nicht ver- 
wunderlich. Nachdem schon Donders (32) durch Vagusreiz 
Störungen der atrioventrikulären Überleitung hervorgerufen hatte, 
konnte viel später H. E. Hering (33) zeigen, daß ein durch Sauer- 
stoffmangel und andere Einflüsse geschädigtes Reizleitungssystem 
gegenüber der Vaguserregung viel empfindlicher ist und leichter 
mit Block antwortet. Da ich Unterbrechungen der Erregungs- 
leitung bei Gesunden selbst bei viel größeren als den gewöhnlich 
angewandten Cholingaben nie gesehen habe, glaube ich mich zu 
der Annahme berechtigt, daß nach Injektion von 0,04 g des von 
mir verwandten Cholinpräparates auftretende echte Überleitungs- 
störungen für eine Schädigung der erregungsleitenden Gebilde 
sprechen. 

Wie die Erregungsleitung, so wird auch die Reizbildung beim 
Kranken oft ganz erheblich beeinflußt. Während der normale 
Schrittmacher gehemmt ist, werden heterotope Zentren angeregt. 
was sich im Zustandekommen von Extrasystolen äußert. So sahen 
wir ja verschiedentlich Vorhofsextraschläge auftreten, und bei den 
Fällen mit Kammerextrasystolen fiel eine ganz außerordentliche 
Häufung der heterotopen Schläge auf. 


Für dieses Verhalten haben wir eine Analogie im Tierversuch 
in den bekannten Untersuchungen von Rothberger und Winter- 
berg (35), die durch gleichzeitige Vagus- und Sympathicusreizung 
Extrasystolen erzeugen konnten. 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 133 


Nach diesen Erfahrungen glaube ich, daß wir im Cholin ein 
gutes Mittel besitzen, um bei Verdacht auf latente Störungen der 
Reizbildung und Erregungsleitung die Herzfunktion zu prüfen. 
Treten nach der intravenösen Einspritzung von 0,04 g des Prä- 
parates deutliche Unregelmäßigkeiten des Pulses auf, so muß immer 
an eine Myokarderkrankung gedacht werden. Schon Wencke- 
bach (36), der den Czermak’schen Vagusdruckversuch in die 
klinik eingeführt hat, hat diesen Versuch zu diagnostischen Zwecken 
angewandt. Er glaubt bei stark positivem Ausfall der Probe eine 
schlechte Prognose der Erkrankung stellen zu müssen. Gegenüber 
dem Vagusdruckversuch (besser nach Hering (34) Carotisdruck- 
versuch) hat die Cholineinspritzung den entschiedenen Vorteil, daß 
hier der Reiz ganz genau abgestuft werden kann, während der 
Ausfall des Carotisdruckversuchs von zu vielen verschiedenen 
Faktoren abhängt, als daß daraus bestimmte Schlüsse gezogen 
werden Könnten. 

Für einen teilweisen Antagonismus des vagotropen Cholins 
und des sympathicotropen Hormons der Schilddrüse spricht die 
Tatsache, daß die Individuen mit thyreotoxischen Erscheinungen 
so schwach auf die Cholininjektion reagieren. 

Sehr beachtenswert erscheint mir die überaus starke senkende 
Wirkung auf den Blutdruck der Hypertoniker. Wenn auch die 
Herabsetzung des Druckes nur bis zu etwa 1?’/, Stunden anhält, 
so haben wir doch ein Mittel in der Hand, um Menschen, die an 
den Folgen des hohen Blutdrucks leiden, wenigstens vorübergehend 
Erleichterung zu verschaffen. Einer häufigen Wiederholung der 
Injektion steht nichts im Wege, denn das Cholin wird im Körper 
anscheinend sehr schnell wieder zerstört. Ellinger (2) konnte 
bei Kaninchen z. B. schon 11 Min. nach intravenöser Injektion im 
Blut keine Erhöhung des normalen Cholinspiegels mehr feststellen. 

Wenn auch die länger bestehenden Nachwirkungen annehmen 
lassen, daß die Ausscheidung beim Menschen mehr Zeit in An- 
spruch nimmt, ist doch wohl eine Kumulation des Mittels nicht 
zu befürchten. 

Das Acetylcholin kam in meinen Versuchen als 6°/,igeund 20° ige 
Lösung zur Anwendung. Es kann subkutan, intramuskulär oder 
intravenös gegeben werden, je nachdem eine rasch eintretende 
kurzdauernde oder allmählicher ansteigende, dafür aber anhaltende 
Wirkung gewünscht wird. Obwohl, wie schon erwähnt, bei der 
Injektion der 6 °/,iger Lösung niemals irgendwelche zu Besorgnis An- 
laß gebenden Erscheinungen vorkamen, möchte ich doch Vorsicht 


134 SCHLIEPHAKE 


empfehlen, da die Empfindlichkeit der einzelnen Individuen so sehr 
verschieden ist. 

Ich pflege jetzt folgendermaßen zu verfahren: Zunächst lasse 
ich !/,. cem einfließen und warte ab, ob der Patient danach irgend- 
welche besonderen Beschwerden äußert, die im gegebenen Fall 
nach 1 Min. einzutreten pflegen. Werden keine Klagen laut, so 
kann der Rest langsam injiziert werden. 

Auf diese Art werden auch bei der 20 ° igen Lösung ernstere Zu- 
fälle vermieden, die bei unvorsichtiger Applikation gelegentlich 
vorkommen können. Nach zu rascher Einspritzung sahen wir 
zweimal Kollapszustände eintreten, die allerdings nicht von ernsteren 
Schädigungen gefolgt waren. Dabei bestand Atemnot, Beklemmungs- 
‚gefühl und nachfolgender starker Schweißausbruch. Auch bei der 
subkutanen und intramuskulären Einverleibung empfiehlt sich ent- 
sprechende Vorsicht; man sollte das Mittel, wenn es in 20; iger 
Lösung gegeben wird, in mindestens 6—7 Min. einfließen lassen. 

Sollten trotz aller Vorsichtsmaßregeln einmal bedenkliche Sym- 
ptome auftreten, so ist das natürliche Gegengift des Cholins, das 
Atropin, sofort intravenös anzuwenden. 

Auf keinen Fall darf Cholin Schwangeren gegeben werden, 
denn nach Hippel und Pagenstecher (37) sowie Werner 
und Lichtenberg (38) trat im Tierversuch nach Cholininjektion 
Absterben und Resorption der Föten ein. 


Zusammenfassung. 


Das Cholin entfaltet beim gesunden Menschen die gleichen 
Wirkungen, wie sie durch Vagusreizung im Tierversuch erzeugt 
worden sind. 

Es entsteht eine Verlangsamung der Reizbildung, Verzögerung 
der Überleitung und Veränderungen in der Form der Kammer- 
komplexe, ferner eine Förderung heterotoper Reizbildung. 

Bei Fällen krankhafter Schädigung der Herztätigkeit traten 
partieller und totaler Block und Periodenbildung auf. Da Rhyth- 
musstörungen nach Cholin nur bei Kranken mit Myokardschädi- 
gungen vorkamen, wird sich die Cholininjektion als Funktionsprüfung 
in Zukunft vielleicht verwenden lassen. 

Außer der Herzwirkung trat eine Blutdrucksenkung ein. 

Kranke mit thyreotoxischen Erscheinungen reagierten nur 
äußerst schwach auf Cholin. 

Bei arteriellem Hochdruck bei Schrumpfniere und Nephritis 
war die Blutdrucksenkung sehr stark. 


Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 135 


Neben den Wirkungen auf den Blutkreislauf wurden noch 
Schwindelgefühl, Schwäche, sowie starke Speichel- und Tränen- 
absonderung beobachtet. 


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berg. Zur Beeinflussung der Giravidität .. . Dtsch. med. Wochenschr. 39, 1906. 


136 


Aus der Medizinischen Klinik Lindenburg der Universität Köln. 
(Direktor: Geheimrat Moritz.) 


Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 


II. Mitteilung. 


Physikalische und chemische Untersuchungen des Blutes bei 
der experimentellen Malariainfektion des Menschen. 


(Ausgeführt mit Unterstützung der Rockefeller- 
Foundation.) 


Von 


Privatdozent Dr. Ernst Wiechmann und Dr. Hermann Horster. 
(Mit 1 Kurve.) 


Bis vor kurzem war es völlig unmöglich, das Verhalten des 
menschlichen Organismus bei akuten Infektionskrankheiten exakt 
zu studieren. Dies lag daran, daß man wohl den Reaktionsablauf 
im Organismus während und nach der Infektion verfolgen konnte, 
des gesunden Zustandes als unbedingt notwendigen Ausgangspunktes 
aber entbehren mußte. Damit war die Inkubationszeit nur unge- 
nügend erfaßt. Hier ist inzwischen ein Wandel eingetreten. Die 
von Wagner-Jauregg inaugurierte Malariatherapie der Paralyse 
und der Neurolues überhaupt gestattet, einen so prägnanten akuten 
Infekt, wie es die Malaria ist, in seinem ganzen Mechanismus und 
Ablauf eingehend zu erforschen. Ohne daß der therapeutische 
Endzweck irgendwie dadurch berührt wird, ist es jetzt möglich, 
diesen akuten Infekt unter den Bedingungen des Fxperimentes 
zu analysieren. Nicht ganz mit Unrecht halten Doerr und 
Kirschner (1) es für möglich, ja für wahrscheinlich, daß dieses 
Nebenprodukt der Wagner’schen Arbeitsrichtung einmal größeren 
Wert gewinnt als die Ausbeute auf dem Gebiet der Paralysetherapie. 

“ Nichtsdestoweniger darf man nicht übersehen, daß auch die 
bei der AMalariatherapie experimentell gemachten Beobachtungen 


Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 137 


mit einer gewissen Einschränkung beurteilt werden müssen. Denn 
das Objekt dieser Therapie ist — das liegt schon im Begriff 
„Therapie“ — nicht der gesunde Mensch, sondern das mit Lues 
infizierte Individuum. Durch die Lues wird aber der Gesamt- 
organismus umgestimmt, und die somatischen Veränderungen, die 
wir beim Paralytiker oder Tabiker finden, sind sicherlich zum 
groben Teil durch die Lues an sich bedingt. Wir erinnern in diesem 
Zusammenhang nur daran, daß das von Plaut (2) bei der pro- 
gressiven Paralyse, Tabes und Lues cerebri beobachtete Phä- 
nomen der beschleunigten Sedimentierung der Erythrocyten nach 
den Untersuchungen von Popper und Wagner(3) nicht als 
alleinige Sekundärfolge einer etwa vom Cerebralprozeß abhängi- 
gen, allgemeinen Körperveränderung zu deuten ist. sondern wahr- 
scheinlich durch die Grundursache jener nervösen Erkrankungen, 
durch die Lues, verursacht ist. Im gleichen Sinne wiesen Berger 
und Untersteiner (4) nach, daß die von Winternitz (5) u. a. 
bei chronischer Lues häufig festgestellte Erhöhung der Gesamt- 
eiweibkonzentration im Serum auch bei der Paralyse zu finden ist. 
In praktischer Beziehung scheint aber gerade die Beobachtung 
der durch das Konkurrieren zweier Infekte, der Lues und der 
Malaria, für die Gesamtphysis geschaffenen charakteristischen Ver- 
änderungen ein Urteil über den Grad der Reparationsvorgänge und 
damit über den therapeutischen Erfolg zu versprechen. 

Andererseits ist zu überlegen, ob der zu therapeutischen 
Zwecken gesetzte Malariainfekt völlig mit der natürlichen Malaria- 
infektion identifiziert werden darf. Das Verhalten der Fieber- 
anfälle nach Ausbruch der inokulierten Infektion spricht, worauf 
wohl Gerstmann (6) und Doerr und Kirschner (7) zuerst 
aufmerksam gemacht haben, dagegen. Auch wir haben beobachtet, 
daß der Fieberablauf bei der therapeutischen Malariainfektion außer- 
ordentlich polymorph ist. Ursprüngliche Anfälle vom Tertianatypus 
gehen häufig, unter zunehmender Verkürzung der Zwischenzeiten 
um einige Stunden, allmählich in einen Quotidianatypus über. Auch 
die immer wieder Erstaunen hervorrufende Empfindlichkeit der 
künstlichen Malaria gegen Chinin unterscheidet diese von dem 
natürlichen Infekt. Schließlich deutet auch das von Gerst- 
mann (8), Weygandt, Mühlens und Kirschbaum (9), 
Nonne (10) und auch von uns bei der Impfmalaria häufig kon- 
statierte Fehlen des Milztumors, der bei der gewöhnlichen Malaria 
wohl kaum vermißt wird, auf eine Sonderstellung dieser experi- 
mentellen Erkrankung hin. 


138 | WIECHMANN u. HORSTER 


Wir haben bei einer Reihe von Individuen das Verhalten des 
Serumeiweißes, der Serumviskosität, des Albumins und Globulins 
im Serum und des Aminosäurenspiegels des Serums vor, während 
und nach der Malariainfektion fortlaufend untersucht. Auf eine 
möglichst häufige, zeitweise tägliche Bestimmung der verschiedenen 
Werte haben wir dabei besonderen Nachdruck gelegt. Im allge- 
meinen wurde die Infektion nach 8—10 ausgesprochenen Fieber- 
anfällen unterbrochen. 


I. Gesamteiweißkonzentration. 


Das Blut wurde im nüchternen Zustand unter allen Kautelen 
aus der Fingerbeere gewonnen. In dem Serum wurde nach Reiß 
mit dem Pulfrich’schen Eintauchrefraktometer das Lichtbrechungs- 
vermögen bestimmt und daraus der prozentuelle Eiweißgehalt be- 
rechnet. Stets wurden Doppelbestimmungen ausgeführt, die gut 
übereinstimmten. Untersucht wurden im ganzen 10 Personen, die 
entweder bettlägerig waren oder sich seit längerer Zeit vor der 
Blutentnahme im Zustand körperlicher Ruhe befanden. Tabelle 1 
soll die Ergebnisse illustrieren. 

Vor der Infektion mit dem plasmodienhaltigen Blut wurde bei 
den Versuchspersonen regelmäßig an mehreren aufeinander folgenden 
Tagen die Konzentration des Gesamteiweißes im Serum bestimmt. 
Von diesen Werten, die kaum voneinander abwichen, wurde der 
Mittelwert genommen. Er wird in der Tabelle 1 als Ansgangs- 
wert bezeichnet. Dieser Ausgangswert, d. h. also die Eiweiß- 
konzentration im Serum vor der Infektion schwankt 
zwischen 7,22 g°/, und 8,20 g°/, Eiweiß, oder mit anderen Worten, 
in 100 g Serum befinden sich bei unseren Versuchspersonen 7,22 g 
bis 8,20 g Eiweiß. Da als Normalwerte von Reiß (11) 7 bis9g°,. 
von Veil (12) 6,23 bis 7,33 g°%, und von Naegeli (13) 7,0 bis 
9,1 g? Eiweiß angegeben werden, resultiert, daß von einer irgend- 
wie ins Gewicht fallenden Erhöhung der Gesamteiweißkonzentration 
bei den von uns untersuchten Tabikern und Paralytikern keine 
Rede sein kann. 

Wenn man die Gesamteiweißkonzentration täglich bestimmt, 
so findet man eigentlich regelmäßig in der Inkubation, d. h. in 
der Zeit zwischen der Injektion des plasmodienhaltigen Blutes 
und dem Ausbruch des Fiebers ein Absinken, das von einem 
Wiederansteigen gefolgt ist. Die gleiche Beobachtung 
wurde von Berger und Untersteiner (14) schon früher bei der 
experimentellen Malariainfektion des Menschen, von Wiechmann 


139 


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140 WIECHMANN U. HORSTER 


und Horster bei der experimentellen Trypanosomeninfektion des 
Kaninchens (15) und bei der experimentellen Rekurrensinfektion 
der Ratte (16) gemacht. Offenbar handelt es sich um einen ge- 
setzmäßigen Vorgang. Da von Berger (17) im Tierexperiment 
nach Injektion artfremden Eiweißes eine vorübergehende Senkung 
des Eiweißspiegels nachgewiesen ist, ist es an sich schon wahr- 
scheinlich, daß diese Hypoproteinämie auf das körperfremde Blut 
und nicht auf die Inkubation an sich zurückzuführen ist. Mit Recht 
weisen Berger und Untersteiner (14) darauf hin, daß man, 
wenn diese Konzentrationsverminderung ein Inkubationssymptom 
wäre, ihr Maximum am Ende und nicht am Anfang der Inkubations- 
periode erwarten müßte. Um diese prinzipiell wichtige Frage zu 
entscheiden, haben wir einem gesunden Individuum die gleiche 
Menge Blut wie bei der experimentellen Malariainfektion injiziert 
und fortlaufend täglich die Gesamteiweißkonzentration bestimmt. 
Tatsächlich fand sich auch hier eine der Injektion des körper- 
fremden Blutes folgende Hypoproteinämie. Damit ist bewiesen, 
daß die Inkubation auf den Eiweißgehalt des Serums 
keinen Einfluß hat. 

Die Fieberperiode weist gegenüber den Ausgangswerten 
stets eine Konzentrationsverminderung des Serum- 
eiweißes auf. Diese infektiöse Hypoproteinämie ist seit den 
Untersuchungen von Becquerel und Rodier (18) am Kindbett- 
fieber allgemein bekannt. Sie scheint aber nie mit dem ersten 
Fieberanfall, sondern meist erst nach drei, in seltenen Fällen nach 
fünf Anfällen in Erscheinung zu treten. Der Abstieg der Serum- 
eiweißkonzentration erfolgt in den meisten Fällen nicht allmählich, 
sondern von einem Tag auf den anderen. Wir können in dieser 
Beziehung die Angaben von Berger und Untersteiner J£ 
vollkommen bestätigen. Das Minimum der Eiweißkonzentration 
wird bei einem der letzten Anfälle, keineswegs aber immer erst 
mit dem letzten Anfall erreicht. 

Durch diese Feststellungen wurde für uns die Frage aufge- 
worfen, ob die Serumeiweißkonzentration zeitlich zu 
dem Fieberanfall in Beziehung steht, ob also die 
gefundenen Kiweißwerte irgendwie von der Zeit der 
Blutentnahme abhängig sind. Bei mehreren Versuchs- 
personen haben wir zur Zeit der Fieberperiode im Verlauf von 
24 Stunden mehrstündlich den Eiweißgehalt des Serums bestimmt. 
Alle diese Versuche führten zu einem gleichsinnigen Ergebnis. Ein 
Beispiel ist in Kurve 1 wiedergegeben. Die Kurve lehrt, dab 


Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 141 


Temperaturanstieg und Serumeiweißkonzentration 
nicht parallel gehen. Der Eiweißspiegel erreicht im Anfall 
sein Maximum vor dem Temperaturmaximum und vor Beginn des 
Schüttelfrostes. Er ist im großen und ganzen bereits zum Aus- 
gangswert zurückgekehrt, wenn die Temperatur sich noch auf der 
Fieberhöhe befindet. Zur Deutung dieses Befundes müssen wir auf 
die Vorgänge, die sich während eines Anfalles im Organismus ab- 
spielen, zurückgreifen. Der klassische Anfall setzt sich aus den 
drei Symptomen Frost, Hitze und Schweiß zusammen. Der 
Schüttelfrost ist oft nur angedeutet durch leichtes Kältegefühl; in 
anderen Fällen wieder ist er so stark, daß das Bett zittert. Die 
Haut ist im Frost blaß und blutleer. Im Hitzestadium ist das 
Gesicht gerötet, die Haut blutreich und glühend heiß. Die Tem- 
peratur erreicht jetzt ihr Maximum, Im Schweißstadium ist die 


8 9 mn RM 7? 2 34% 567 89 Wr 2 72 3% 56 


Kurve 1. J. H.. 26.27. VIII 1925. 


Zeichenerklärung: ------ Temperatur. —— (sesamtprotein. 


Haut naß und gerötet. Die Temperatur sinkt zur Norm ab. Jeder 
Fieberanfall entspricht der Reifung einer Parasitengeneration. In- 
fizierte rote Blutkörperchen zerfallen, Eiweiß der Malariaparasiten 
wird frei. Die Höhe der im Anfall festgestellten Gesamteiweiß- 
konzentration kann demnach durch zwei Momente bedingt sein: 
1l. durch das Verhalten des Gefäßtonus und 2. durch in die Blut- 
bahn gelangendes körperfremdes und körpereigenes Eiweiß. Das 
erste Moment knüpft an die Grundlagen an, die seinerzeit zur 
Verwendung der Serumeiweißbestimmung als Blutkonzentrations- 
bestimmung geführt haben. Verengerung der Gefäße bedingt Blut- 
eindickung, ihre Erweiterung Blutverdünnung. Da nun aber die 
plethysmographische Untersuchung der Armgefäße beim Fiebernden 
gezeigt hat (19), daß die Blutgefäße sich zu verengern beginnen, 
wenn noch keine Temperatursteigerung bemerkbar ist, und dab 


142 WIECHNANN u. HORSTER 


dem Absinken der Temperatur die Erweiterung der Gefäße vorauf- 
geht, und unter stärkerer Dilatation derselben die Temperatur zum 
Normalpunkt wieder zurücksinkt, glauben wir annehmen zu müssen. 
daß die im einzelnen Fieberanfall beobachtete Zu- 
nahme der Eiweißkonzentration in erster Linie auf 
Veränderungen des Gefäßtonus zurückzuführen ist. 
Daneben kommt für die Eiweißvermehrung im Frost selbst noch 
die geleistete Muskelarbeit in Frage, die bekanntermaßen zu einer 
starken Zunahme der Serumkonzentration führt. Erst in zweiter 
Linie findet im Fieberanfall eine primäre Zunahme der Eiweiß- 
menge statt, die sich in einer Verschiebung der Relation Albumin: 
Globulin zugunsten des Globulins ausdrückt. Diese Feststellungen 
sind von prinzipieller Bedeutung. Aus ihnen geht hervor, daß 
es zweckmäßig ist, die Gesamteiweißkonzentration 
zeitlich möglichst entfernt vom Frost zu bestimmen. 
Andererseits ist es doch bemerkenswert, daß der Eiweißspiegel zur 
Zeit des Anfalls den Ausgangspunkt vor der Infektion nie erreichte. 


Tabelle 2. 


eiweibes beginnt eiweibes wieder erreicht wird. 

1 D 15 

2 1 q 

3 15 60 

4 25!) 40 

D B) 39 

6 9 Ausgangswert nach 11 Wochen nicht 

| erreicht 
q 3 > 
o D Ausgangswert nach 8 Wochen nicht 


| erreicht 
i | 

Wie aus Tabelle 2 hervorgeht, hielt die Erniedrigung des 
Eiweißspiegels in Bestätigung der Angaben von Berger und 
Untersteiner (14) auch über das Fieberende hinaus an. Somit 
kam es erst in der Rekonvalescenz zu einem Wieder- 
ansteigen der Gesamteiweißkonzentration. Die Zeit, 
innerhalb deren nach der Entfieberung der Ausgangswert wieder 
erreicht wurde, schwankte zwischen 7 und 60 Tagen. Meist kam 
es noch zu einer vorübergehenden Überhöhung des Ausgangswertes 


1) In dieser Zeit nur in größeren Abständen untersucht. 


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Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 143 


(vgl. Tabellel 1. Der Endwert war in einigen Fällen gegenüber 
dem Ausgangswert ungeändert, in anderen erniedrigt, in noch 
anderen erhöht. Irgendeine Gesetzmäßigkeit konnte in dieser Be- 
ziehung nicht herausgefunden werden. Besondere Beachtung ver- 
dient aber die lange Nachwirkung des Infekts auf das Serumeiweiß. 

Die Untersuchungen haben somit ergeben, daß der Eiweißspiegel 
des Blutserums im Verlauf der experimentellen Malariainfektion 
gewisse, typische Veränderungen aufweist. Im Fieber, und dieses 
überdauernd kommt es zu einer Hypoproteinämie, im Stadium der 
Reparation dagegen meist zu einer vorübergehenden Hyperprotein- 
ämie. Sind diese Änderungen primär durch Änderung der Eiweiß- 
menge bei gleichbleibender Wassermenge bedingt, oder sind sie 
bei gleichbleibender Eiweißmenge nur durch Änderung der in der 
Blutbahn enthaltenen Wassermenge hervorgerufen? Nach Zie- 
mann (20) hat die Verringerung des Eiweißgehaltes des Blutes 
ihren Grund darin, daß sich die roten Blutkörperchen vermindern, 
und daß dadurch das Serum wasserreicher wird. Dieser Stand- 
punkt scheint uns heute nicht mehr haltbar. Wenn man gleich- 
zeitig mit den Proteinwerten die Erythrocytenzahlen ermittelt, so 
findet man tatsächlich in der Fieberperiode eine Abnahme, in der 
Rekonvalescenz dagegen eine Zunahme der Erythrocytenwerte, 
Von einem Parallelismus zwischen den Gesamteiweißwerten und 
den Erythrocytenwerten ist aber keine Rede. Der Eiweißspiegel 
beginnt erst nach mehreren Frösten abzusinken, wenn die Erythro- 
cytenzahl bereits abgenommen zu haben pflegt, und er steigt in 
der Rekonvalescenz erst wieder an, wenn der Ersatz der zerfallenen 
roten Blutkörperchen zum großen Teil schon erfolgt ist. Aus diesen 
Gründen glauben wir, daß die von uns beobachteten 
Schwankungen der Proteinmenge zum mindesten mit 
primär bedingt sind. 


IL Globulin und Albumin. 


Mit dem Heß’schen Viskosimeter (Laboratoriumsmodell) wurde 
die Viskosität des Serums bestimmt. Aus Refraktion und Viskosität 
wurde dann nach dem von Naegeli und Rohrer angegebenen 
Verfahren der Gehalt des Serums an Globulin und Albumin er- 
rechnet. Zu den Einwänden, die gegen dieses Verfahren erhoben 
werden, haben wir in der I. Mitteilung Stellung genommen. Hier 
sei nur darauf hingewiesen, daß Alder und Zarnski (21) neuer- 
dings den Standpunkt vertreten, daß die Rohrer’sche Methode 
qualitativ die Veränderungen richtig und zudem viel feiner als die 


WIECHMANN u. HORSTER 


144 


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Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 145 


chemisch-physikalischen Methoden anzeigt, daß sie aber quantitativ 
nur bei normalen und annähernd normalen Seren mit diesen über- 
einstimmt. 

Zunächst soll rein qualitativ die Verschiebung 
des Globulin-Albuminverhältnisses in Prozehten des 
Gesamteiweißes betrachtet werden. Tabelle 3 illustriert 
die Verhältnisse. 

Normalerweise setzt sich das Serumeiweiß bei Verwendung 
der von Rohrer angegebenen Methode aus 20—40 °/, Globulin 
und 60—80 °/, Albumin zusammen (Naegeli (22)). Die von uns 
vor der Injektion gefundenen Ausgangswerte be- 
trugen 38, 36, 33, 47, 50, 45, 38, 63, 77, 62%, Globulin. 
In vier Fällen bewegten sie sich an der oberen Grenze des Nor- 
malen; in den anderen sechs Fällen waren die Werte wesentlich 
erhöht. Ähnliche Beobachtungen sind von Berger und Unter- 
steiner (14) an Paralytikern gemacht worden. Diese relative 
Globulinvermehrung ist offenbar durch den durch die Spirochäten 
gesetzten chronischen Infekt bedingt. So ist auch von anderen 
chronischen Infekten wie der Tuberkulose (23) und der chronischen 
Encephalitis (24) bekannt, daß sie mit relativer Globulinvermehrung 
einhergehen. 

In der Periode der Inkubation fand sich in fast 
allen Fällen eine vorübergehende relative Globulin- 
vermehrung. Sie war in vereinzelten Fällen von einer Ver- 
minderung der Globulinverhältniszahl gefolgt; gegen Ende der In- 
kubation waren aber die Ausgangswerte stets wieder erreicht. 
Es liegt nahe, hier genau so wie bei der in der Inkubation nach- 
gewiesenen Vermehrung des Gesamteiweißes die Injektion des plas- 
modienhaltigen Blutes als Ursache der relativen Globulinvermeh- 
rung anzusprechen. Bei jenem normalen Individuum, bei dem wir 
den Einfluß einer Blutinjektion auf den Gesamteiweißgehalt und 
die Globulinverhältniszahl des Serums studierten, fand sich auch 
tatsächlich eine geringe relative Globulinvermehrung, so daß uns 
die Ursache dieser in der Inkubation festgestellten relativen 
Globulinvermehrung aufgeklärt zu sein scheint. 

Die Fieberperiode läßt sich zwanglos in zwei Abschnitte 
einteilen. In dem ersten ist die Gesamteiweißkonzentration noch 
ungeändert; in dem zweiten liegt die oben eingehend beschriebene 
Hypoproteinämie vor. 

Zu jener Zeit, wo bereits die Fröste eingesetzt hatten, die 
Gesamteiweißkonzentration aber noch nicht erniedrigt war, war die 

Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 152. Bd. 10 


146 WIECHMANN U. HORSTER 


Globulinverhältniszahl in sechs von den zehn Fällen gegenüber dem 
Ausgangswert erhöht. In zwei Fällen war sie gegenüber dem 
Ausgangswert ungeändert, in zwei weiteren Fällen ausgesprochen 
erniedrigt. Bezeichnenderweise lagen für diese letzten vier Fälle 
die Globulinverhältniszahlen in der Inkubation vorübergehend höher 
als zu Beginn des Fiebers. Gegen Ende der Fieberperiode waren 
die Globulinverhältniszahlen in sieben Fällen höher als vor der 
Infektion. In zwei Fällen waren sie gegenüber dem Ausgangswert 
deutlich erniedrigt, in dem anderen Fall ungeändert. 


Die relative Hyperglobulinämie hielt bis in die 
Rekonvalescenz hinein an. In mehreren Fällen wurde das 
Maximum der relativen Globulinvermehrung sogar erst in dieser 
Periode der Erkrankung erreicht. Die orale Verabreichung 
von Chinin, die zur Beseitigung der experimentellen Infektion 
vorgenommen werden mußte, war auf die Gestaltung dieser 
relativen Globulinvermehrung ohne Einfluß. Schon 
Hanson und Quarrie (25) haben nachgewiesen, daß dem Chinin 
keine globulinvermehrende Wirkung zukommt. Wir können diese 
Angabe vollkommen bestätigen. Wir haben einem normalen Indi- 
viduam 4 Tage lang mal 0,2 Chinin hydrochlor. pro die ver- 
abreicht und keine Änderung des vorher im Serum vorhandenen 
Globulin-Albuminverhältnisses feststellen können. 


Die Dauer dieser relativen Hyperglobulinämie war außr:- 
ordentlich lange. Das ergibt sich schon daraus, daß drei von den 
acht bis in die Rekonvalescenz verfolgten Fällen am Ende der 
Beobachtung, d. h. 20—24 Wochen nach dem ersten Tage der 
Entfieberung den Ausgangswert noch nicht wieder erreicht hatten. 
Bei keinem der übrigen Fälle unterschritt der Endwert den Aus- 
gangswert in irgendwie beachtenswerter Weise. 

Einen klareren Einblick in das Verhalten des Globulins uni 
Albumins während der Infektion erhält man, wenn man nicht. wie 
wir es vorstehend getan haben, rein qualitativ die Verschiebung 
des Globulin-Albuminverhältnisse in Prozenten des Gesamteiwelbrs 
betrachtet, sondern quantitativ in Grammprozenten berechnet, wie- 
viel (Globulin und Albumin auf 100 g Serum entfällt. Wir sind 
auch derart vorgegangen und werden im folgenden darüber be- 
richten. Wir beginnen mit dem Verhalten des Albumins, das durch 
Tabelle 4 illustriert wird. 

In der Inkubation nahm die Albuminmenge genau 
so wie die besamteiweißmenge zunächst ab. Aus oben 


147 


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148 WIECHMANN u. HORSTER 


erörterten Gründen müssen wir annehmen, daß es sich hier um 
eine Injektionsfolge handelte. 


Mit Beginn des Fiebers sank die Albuminmenge 
in der Mehrzahl der Fälle sofort ab. Nur in zwei Fällen 
kam es zu einem erheblichen Anstieg der Albuminkonzentration. 
Unsere Befunde stehen somit mit denen von Berger und Unter- 
steiner (14) nicht ganz in Einklang, die bei vier Fällen von 
Paralyse erst nach den ersten Fieberanfällen eine Verminderung 
der Albuminkonzentration fanden. Während der Fieberperiode 
konnte in allen Fällen, die genügend oft untersucht wurden, eine 
kräftige Verminderung der Albuminkonzentration nachgewiesen 
werden. 


Die Albuminverminderung überdauerte die Fieber- 
periode. Hierin verhielt sich das Albumin genau so wie das 
Gesamteiweiß. Im weiteren Verlauf der Rekonvalescenz 
kam es in der Mehrzahl der Fälle zu einem Anstieg 
der Albuminkonzentration über den Ausgangswert. 


Die Endwerte waren in fünf Fällen, darunter einem Fall 
mit pathologisch erniedrigtem Ausgangswert, den Ausgangswerten 
angenähert gleich. In drei Fällen waren sie gegenüber dem Aus- 
gangswert erniedrigt. 


Über die Schwankungen der in 100 g Serum enthaltenen 
Globulinmenge orientiert Tabelle 5. 


In der Inkubation fand sich gleichzeitig mit dem der 
Injektion des plasmodienhaltigen Blutes folgenden Albuminabfall 
. ein Globulinanstieg. | 


Schon Berger und Untersteiner (14) geben an, daß die 
Konzentration des Globulins in der Fieberperiode nicht so sinn- 
fällig beeinflußt wird wie die des Albumins. Sie halten es aber 
für wahrscheinlich, daß die Globulinkonzentration des Serums in 
der Fieberperiode ebenfalls vermindert wird und an der Verminde- 
rung des Gesamteiweißes Anteil hat, wenn auch nicht so stark 
und nicht so regelmäßig wie die Verminderung der Albumin- 
konzentration. Unsere Untersuchungen zeigen, daß es tatsächlich 
in der Fieberperiode in der Mehrzahl der Fälle zu einer Er- 
niedrigung der Globulinkonzentration kommt. In drei Fällen, 
darunter einem Fall mit pathologisch erniedrigtem Ausgangswert 
fand sich dagegen auffälligerweise zu dieser Zeit eine Erhöhung 
der Globulinkonzentration. Weiteren Untersuchungen muß es vor- 
behalten bleiben zu entscheiden, ob diese wechselnden Befunde 


149 


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150 WIECHMANN u. HORSTER 


auf eine verschiedene Reaktionsfähigkeit des Organismus zurück- 
zuführen sind. 

InderRekonvalescenzzurZeitderGesamteiweiß- 
vermehrung wurde der Ausgangswertin allen Fällen 
mit einer Ausnahme wesentlich überschritten. Die 
Endwerte lagen teils höher, teils niedriger als die Ausgangswerte. 

Wenn wir nunmehr die gesamten beschriebenen Veränderungen 
nochmals überblicken, so muß zunächst festgestellt werden, daß 
unsere Ergebnisse mit den von Berger und Untersteiner (14) 
an viel kleinerem Material erhobenen im wesentlichen überein- 
stimmen. Diese Übereinstimmung istum so wertvoller, 
als sie mit verschiedenen Methoden, der von Robert- 
son einerseits und jener von Reiß-Naegeli-Rohrer 
andererseits, gewonnen wurde. 

Die festgestellten Eiweißveränderungen sind nicht Folge- 
erscheinungen der fieberhaften Erhöhung der Eigentemperatur, 
sondern sie gehören zu den Abweichungen des Stoffwechsels, welche 
dem Infekt an sich eigentümlich sind. Die Schwankungen der 
Globulin- und Albuminkonzentration gehen durchaus nicht absolut 
parallel. Sie sind genau so wie jene der Gesamtproteinmenge 
rein primär bedingt. Mit Berger (17) u. a. sehen wir sowohl 
die quantitativen als auch die qualitativen Veränderungen am 
Serumprotein als celluläre Phänomene an. Es steht nur 
noch dahin, in welche Zellen die betreffenden Prozesse zu verlegen 
sind. In erster Linie kommen hierfür wohl das Endothel und die 
Leberzellen in Betracht. Körpereigene rote Blutkörperchen zer- 
fallen, Stoffwechselprozesse seitens der Plasmodien schieben sich 
in den Stoffwechsel des Wirts ein; der Stoffwechsel des gesamten 
Organismus reagiert hierauf mit jenen Veränderungen am Protein, 
und es scheint vielleicht nicht übertrieben, diese Veränderungen 
den Abwehrleistungen des Organismus zuzurechnen. Ein kompli- 
zierendes Moment ist nur, daß diese Veränderungen sich im 
speziellen Fall nicht in einem ursprünglich gesunden, sondern in 
einem mit Metalues behafteten Organismus abspielen. 

Irgendwelche Beziehungen der nachgewiesenen Veränderungen 
zu dem therapeutischen Endeffekt konnten nicht festgestellt werden. 
Wenn man annimmt, daß diese Veränderungen von der Reaktions- 
fähigkeit des Organismus abhängig sind, wird dies auch erst bei 
einem ganz großen Material möglich sein. 


Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 151 


II. Aminosäurenspiegel des Serums. 


Donath und Heiliger (26) haben neuerdings den Eiweiß- 
zerfall beim natürlichen und künstlichen Fieber mit einander ver- 
glichen. Als Maßstab hierfür haben sie den Aminostickstoffgehalt 
des Plasmas verwendet. Sie machten die interessante Feststellung, 
daß die Fieberarten, die durch eine Infektion bedingt sind, trotz 
hohen Fieberanstiegs eine Vermehrung des Aminostickstoffs im 
Blut vermissen lassen, während bei den Fieberanstiegen, die durch 
Injektion von verschiedenen Proteinkörpern hervorgerufen werden, 
regelmäßig eine Erhöhung des Aminostickstoffs im Plasma bis um 
61°% eintritt. Zu den Fiebertypen, die keinen Anstieg des Amino- 
stickstoffs auf der Fieberhöhe aufwiesen, gehörte auch die Impf- 
malaria. Diese Untersuchungen verdienen besonderes Interesse, da 
sie erneut die Frage aufwerfen, ob die Malariatherapie anderen 
sog. unspezifischen Behandlungsmethoden der Neurolues völlig 
gleichzusetzen ist. Andererseits teilte Wolpe (27) einen Fall 
von Intermittens mit, bei dem der Aminosäurenwert im Serum, der 
vor dem Anfall 3,9 mg°/, betragen hatte, während des Fieber- 
anfalles auf 6,5 mg °% anstieg und nach Abklingen des Fiebers 
wieder auf 4,1 mg’, absank. Ob es sich in diesem Fall um eine 
experimentelle Malaria gehandelt hat, teilt Wolpe nicht mit. 
Durch die angewandte verschiedene Methodik, die von van Slyke 
einerseits und die von Folin andererseits, können die Differenzen 
der Befunde nicht erklärt werden. 

Bei dieser Lage der Dinge haben wir bei drei Fällen 
von Tabes, die zu therapeutischen Zwecken mit Ma- 
laria infiziert wurden, vor der Infektion, vor dem 
Schüttelfrost und sowohl im steilsten Abschnitt der 
Temperaturkurve als auch im Temperaturmaximum 
den Amino-N-Gehalt des Serums bestimmt. Die Be- 
stimmung erfolgte nach der von Folin (28) angegebenen Methode. 
Von einer tabellarischen Wiedergabe der völlig eindeutigen Ergeb- 
nisse sehen wir aus Gründen der Raumersparnis ab. In keinem 
einzigen Fall konnte ein über die Fehlergrenze der 
Methode hinausgehender Anstieg des Aminostick- 
stoffs im Fieberanfall nachgewiesen werden. Wir 
können somit die Angaben von Donath und Heiliger bestätigen. 


152 Wiıecnmann u. HorSTeER, Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 


Literatur. 


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153 


Aus der 2. med. Klinik in München (Geh. Rat Prof. Friedr.v. Müller) 
und der med. Poliklinik (Prof. Richard May). 


Über den Ursprung der Ehrlich’schen Diazo-Reaktion. 
Von 


Dr. med. et rer. nat. Leo Hermanns. 


Bisher konnte die Ehrlich’sche Diazoreaktion, die bekanntlich 
in einer roten Farbstoffbildung bei Zugabe von Diazoniumsalz zum 
Urin besteht, lediglich als klinisches Symptom gewertet werden, 
das im Bereiche der Krankheitserscheinungen eine rätselhafte 
Rolle spielte. Die Ursache der Reaktion blieb trotz der zahlreichen 
darauf gerichteten Untersuchungen ganz in Dunkel gehüllt. 
Paul Ehrlich, der die Reaktion im Jahre 1882 im Urin eines 
Typhuskranken entdeckte, hatte bewiesen, daß sie nicht auf 
Zersetzungsprodukte in Darmkanal zurückzuführen ist, und er 
unternahm bereits Versuche um dem Produkt, das im Urin mit 
Diazoniumsalz kuppelt, auf die Spur zu kommen. Er beschrieb 
die Darstellung des Zinksalzes einer Substanz, die starke Diazo- 
reaktion gab aber wegen ihrer Zersetzlichkeit nicht gereinigt und 
analysiert werden konnte. 

Seitdem sind viele Hypothesen über die Reaktion ausgesprochen 
worden, ohne daß exakte Beweise geliefert und eine Überein- 
stimmung mit den chemischen Tatsachen erzielt wurde. Sehr ein- 
drucksvoll erschien die Ansicht, daß die Reaktion auf vermehrter 
Ausscheidung des Histidins, das auch im normalen Urin vielleicht 
in Spuren vorhanden ist, beruhen sollte, da die Imidazolderivate 
mit Diaziumsalzen Azofarbstotffe geben. Aus diesem Grunde wurde 
von mir der Azofarbstoff des Histidins dargestellt und zwar durch 
Kupplung des Histidins und des Benzoylhistidins mit Dichlordiazo- 
benzol. Man erhält Farbstoffe die zwei Azoreste gebunden ent- 
halten. Dies ergab sich aus der Analyse des in Nadeln kristalli- 
sierenden Azofarbstoffes des Benzoylhistidins. 


154 HERMANNS 


Analyse: Cl-Bestimmung: 
6,681 mg Substanz geben 6,39 mg AgCI 
, ‚ berechnet Cl 23,52 °% 
Cas His N;C1,0;: gefunden Cl 23,65 °, 

Die übrigen Mikrobestimmungen passen ebenso wie die Chlor- 
bestimmung zu der Formel eines Diazobenzoylhistidins. Die Farb- 
stoffe des Histidins verhielten sich im übrigen wie Indikatoren, 
beim Ansäuern schlägt die rote Farbe in gelb um. 

Dieses Verhalten ist nicht in Einklang zu bringen mit dem 
des Urinfarbstoffes. Das Histidin kann daher zur Erklä- 
rung der Diazoreaktion nicht herangezogen werden. 

Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob die Diazoreaktion 
mit dem gelben Urinfarbstoff, dem sog. Urochrom bzw. mit dessen 
Vorstufe dem Urochromogen in ursächlichem Zusammenhange steht, 
eine Auffassung die neuerdings von M. Weiß in seinen Arbeiten 
vertreten wird. 

Bevor diese Frage erörtert werden kann, ist es erforderlich 
sich einen Einblick in die chemische Zusammensetzung der Sub- 
stanz, die der Ehrlich’schen Diazoreaktion zugrunde liegt, zu ver- 
schaffen. Erst, wenn dies gelungen ist, und wir eine Vorstellung 
von der chemischen Struktur des betreffenden Produktes besitzen, 
sind wir imstande, seine Herkunft abzuleiten und zu entscheiden, 
ob es sich um Stoffe handelt, die einem krankhaften Eiweißstoff- 
wechsel entstammen, oder um Substanzen, die wie das Urochromogen 
auch im normalen Urin ausgeschieden werden. 

Als die nun folgenden Untersuchungen begonnen wurden, lagen 
keinerlei exakte Ergebnisse über diese Fragen vor, und es galt 
zunächst eine Darstellungsmethode zu finden, die die Isolierung des 
Produktes in reinem Zustande ermöglichte. 


Darstellungsmethode: 


Da es sich um ein Produkt handelt, das nur in minimalen 
Mengen im Urin enthalten ist und, wie bereits Paul Ehrlich 
festgestellt hat, sehr große Neigung zu Oxydativen und Zersetzung 
zeigt, wählte ich zu seiner Isolierung die Darstellung des bei der 
Reaktion entstehenden Azofarbstoffes und zwar durch Kupplung 
des Urins mit Dichlordiazobenzol. Dieses letztere zeichnet sich 
vor der bei der Ehrlich’schen Probe gebräuchlichen Sulfanilsäure 
durch seine Eigenschaft aus, schwer lösliche Azofarbstoffe zu 
bilden, und entsteht durch Diazotieren von Dichloranilin. Zur Be- 
reitung des Farbstoffes wurde der Urin zunächst im Vacum bei 


Über den Ursprung der Ehrlich'schen Diazou-Reaktion. 155 


60° stark eingeengt und mit neutralem Bleiazetat geklärt. Die 
Herstellung des Azofarbstoffes geschah durch Kupplung mit der 
Lösung des Dichlordiazobenzols bei alkalischer Reaktion. Auf diese 
Weise gewinnt man einen roten Farbstoff, der sich mit Äther, dem 
etwas Pyridin beigemischt ist, gut extrahieren läßt. 

Diese Kupplungsmethode ließ sich dann auch auf Extrakte 
des Urins anwenden. Zu diesem Gedanken führte die Beobachtung, 
daß es gelingt durch saure Hydrolyse des eingeengten Urins die 
kuppelnde Substanz in Freiheit zu setzen, so daß sie sich mit 
Äther oder Essigester extrahieren läßt. Voraussetzung für dieses 
Verfahren ist die starke Konzentrierung des Urins im Vacum, da das 
Produkt außerordentlich leicht in Wasser löslich ist. Der so ge- 
wonnene Ätherextrakt zeigt nach weiterer Reinigung mit Blei- 
zucker eine hellgelbe Farbe und intensiv rote Diazoreaktion. Beim 
Stehen im Exsikator bildet sich ein Sirup, der noch nach Monaten 
eine tief rote Diazoreaktion gibt. Demnach scheint bei neutraler 
Reaktion eine Zersetzung der Subsatz nicht stattzufinden. Aus 
dem Sirup läßt sich nach der oben beschriebenen Methode auch 
der Azofarbstoff bereiten. 

Das Resultat der nach diesem Plane geführten Untersuchungen 
wirft ein neues Licht auf den Ursprung der Ehrlich’schen Reaktion. 
Wir machten die Erfahrung, daß der Diazoprobe kein 
einheitlicher chemischer Stoff zugrunde liegt, son- 
dern daß den verschiedenen Krankheiten auch ver- 
schiedene Ausscheidungsprodukte im Urin zu- 
kommen. Von diesen gelang es drei Produkte in Form der be- 
treftenden Azofarbstoffe zu fassen und ihre Zusammensetzung auf- 
zuklären. In Zukunft wird man also nicht mehr von einer ein- 
heitlichen Ursache der Diazoreaktion sprechen können, nachdem 
durch unsere Feststellungen erwiesen ist, daß mehrere Substanzen 
für die Ehrlich’sche Diazoreaktion in Betracht kommen. Wie wir 
sehen werden, handelt es sich dabei um aromatische Verbindungen, 
deren Ringsystem der oxydativen Aufsprengung im Organismus 
entgangen ist, wahrscheinlich um Endprodukte des Stoftwechsels, 
die nicht den durch die Nahrung aufgenommenen Eiweißsubstanzen 
entstammen, sondern dem endogenen (sewebsstoffwechsel, der sich 
innerhalb des Zellbetriebs abspielt. 

Bekanntlich nimmt das in den Geweben organisierte Eiweiß, 
das normalerweise im Kraftstoffwechsel nicht verwertet wird, eine 
Sonderstellung im Verbrennungsprozeß ein. Aus dieser Tatsache 
ergeben sich zwei Arten des Eiweißstoffwechsels, die sich durch 


156 HERMANNS 


die Art und Weise der Abbauwege voneinander unterscheiden, 
worauf in den letzten Jahren besonders Folin aufmerksam ge- 
macht hat. Er stellte nämlich fest, daß bei eiweißreicher 
Nahrung hauptsächlich Harnstoff und anorganische Schwefelsäure, 
dagegen wenig Kreatinin und kein Neutralschwefel ausgeschieden 
werden, während bei eiweißarmer Nahrung Kreatinin und Neutral- 
schwefel in den Vordergrund treten. Diese letzteren sind Produkte 
des endogenen Gewebsstoffwechsels und offenbar unabhängig vom 
Eiweißgehalt der Nahrung. Ebenso verhält es sich bekanntlich mit 
der endogenen Harnsäure. Sie steht in Beziehung zum Zerfall der 
Kernsubstanzen und pflegt bei Leukämie in stark vermehrter Menge 
im Urin ausgeschieden zu werden, ferner auch — wie dies 
Lauter u. a. feststellen konnte — bei Röntgenbestrahlungen, wo 
im Minimumversuch auch nach der Bestrahlung die Harnsäure über 
100 °/, stärker am Gesamt-N beteiligt ist wie vor dieser Prozedur. 
Wir möchten annehmen, daß zu diesen Produkten, 
die vom Zellzerfall herrühren, auch die der Diazo- 
reaktion zugrunde liegenden Substanzen zu rechnen 
sind. Der Gedanke liegt nahe durch ihre quantitative. Bestim- 
mung im Urin ein Maß für den pathologischen Gewebszertall im 
Fieber zu gewinnen, doch ist daran zu erinnern, daß bereits nor- 
malerweise die Ausscheidung der endogenen Endprodukte im Urin 
sehr großen Schwankungen unterworfen ist. 

Von Interesse war ferner noch, daß zwei der isolierten Pro- 
dukte stickstofffreie Substanzen sind, die demnach am sog. Stick- 
stoffminimum nicht beteiligt sind. 

Im folgenden sollen die Resultate der Untersuchung bei den 
verschiedenen Krankheiten mitgeteilt werden. 


1. Die Diazoreaktion bei einem Fall von Leberkrebs. 


Bei Fällen von Carcinom wird die Diazoreaktion sehr selten 
beobachtet. In der Literatur sind nur einige derartige Beobachtungen 
vermerkt z. B. erwähnt Lenhartz einen Fall von Lungencarcinom 
bei dem die Reaktion positiv war. Ich machte bei einer Kranken mit 
Lebercarcinom die Feststellung, daß der Urin neben einer positiven 
Diazoreaktion zugleich die Jaffe’sche Indikanprobe gab, auber- 
dem fand sich eine deutliche Urorosein-Reaktion. Diese letztere 
ist bekanntlich von Nencki und Sieber im Urin entdeckt worden 
und besteht in einer Rotfärbung, die bei Zusatz von konzentrierter 
Salzsäure und einem Tropfen Natriumnitritlösung zum Harn auf- 
tritt. Herter erbrachte den Beweis, daß sie auf die Ausscheidung 


Über den Ursprung der Ehrlich'schen Diazo-Reaktion. 157 


von Indolessigsäure zurückzuführen ist und Ellinger spricht die 
Vermutung aus, daß bei der Reaktion ein Triindylmethanfarbstoft 
entsteht. Im vorliegenden Fall war diese Reaktion von besonderer 
Wichtigkeit. Sie legte die Vermutung nahe, daß es sich um die 
Ausscheidung eines Derivates der Indolessigsäure handelte. 

Der durch Kupplung mit Dichlordiazobenzol in alkalischer 
Lösung aus dem Harn erhaltene Azofarbstoff ließ sich leicht mit 
Äther extrahieren. Aus dem Ätherextrakt kristallisierte er beim 
Eindunsten in prachtvollen dunkel-roten Nadeln. Er war in Soda- 
lösung leicht löslich, was dem Charakter einer Säure entspricht. 
Die durchgeführte Mikroanalyse des Farbstoffes ergab die Zu- 
sammensetzung: 

Cie H11 N,0,C1, 

Analyse: Cl-Bestimmung 
5,332 mg Substanz ergaben 4,125 mg AgCI 
berechnet: 19,24 9, 
gefunden: 19,48 /,. 

Nach Abzug des angekuppelten Dichlorazobenzolrestes erhält 
man die Formel: C,,H,NO,. Aus der Chlorbestimmung ergibt sich 
das Molekulargewicht. Diese Formel entspricht einer Oxyindol- 


essigsäure von folgender Konstitution: 
OH 


N onoo 


| 
y 

Außer durch die mitgeteilten Reaktionen des Urins ließ sich 
diese Auffassung der Struktur durch das Ergebnis der Reduktion 
des Azofarbstoffes mittels Zinnchlorürlösung bestätigen. (8) 

Die Oxyindolessigsäure war bisher als Ausscheidungsprodukt 
nicht bekannt. Wir irren wohl nicht, wenn wir in ihr ein Oxy- 
dationsprodukt des Tryptophans sehen. Über den Abbau des Tryp- 
tophans im Organismus des Menschen besitzen wir bisher noch 
keine klaren Vorstellungen. Beim Hund und auch beim Kaninchen 
geht das Tryptophan, wie dies A. Ellinger nachgewiesen hat, 
inKynurensäure über: 


N Nu 
ww. 


Die Oxydation ergreift demnach bei diesen Tieren zunächst 
den Pyrrolring und führt, wie dies Ellinger und Matsuoka in 


158 HERMANNS 


neueren Untersuchungen nachgewiesen haben, über die Indolbrenz- 
traubensäure unter Aufspaltung des Pyrrolringes zur Kynurensäure. 


In unserem Falle liegt ein phenolartiges Abbauprodukt des 
Tryptophans vor, das bezüglich der Frage, wie normalerweise diese 
Aminosäure im Organismus abgebaut wird, nur sehr unsichere 
Schlüsse zuläßt. Möglicherweise wird bei ihrem intermediären 
Abbau nach Desaminierung der Seitenkette — beim Menschen in 
anderer Weise wie beim Hund — nicht der Pyrrolring, sondern 
der Benzolring von der Oxydation ergriffen und aufgespalten. 


2. Die Diazoreaktion beim Typhus abdominalis. 


Beim Typhuskranken tritt die Diazoreaktion meist am 3. Tage 
auf und pflegt im Stadium decrementi zu verschwinden. Sie zeichnet 
sich darch ihre intensive Rotfärbung aus. Ferner besteht, wie 
wir dies feststellen konnten, gegenüber der Diazoreaktion bei 
Tuberkulose ein Unterschied darin, daß die Reaktion nicht 
eintritt, wenn man vor Zusatz des Diazoreagens den Urin einige 
Minuten mit konzentrierter Säure erhitzt und zwar beruht dies 
darauf, daß das „Chromogen“, das im Typhusurin vorhanden ist. 
mit Wasserdämpfen flüchtig ist. Ich benutzte diese Eigentümlich- 
keit, um es aus dem Destillat des Urins darzustellen. 

Zu diesem Zweck wurde der Urin mit verdünnter Schwefel- 
säure angesäuert und die Substanz mit Wasserdampf überdestillient. 
bis der Kolbeninhalt keine Diazoreaktion mehr gab. Aus einen 
Teile des Destillats wurde das „Chromogen“ mit Äther ausge- 
schüttelt. Es ist sehr leicht in Äther löslich. Nach Abdampfen 
des Äthers hinterblieb ein öliger Rückstand, der mit Eisenchlorid- 
lösung eine grüne Farbreaktion gab und ammoniakalische Silber- 
lösung in der Kälte reduzierte. Da es sich möglicherweise um ein 
Imidazolderivat, die bekanntlich mit Wasserdämpfen zum Teil 
Nüchtig sind, handeln konnte, wurde der Versuch gemacht, die 
Substanz mit ätherischer Oxalsäurelösung auszufällen. Da dies 
nicht gelang — ein Imidazolderivat lag offenbar nicht vor — und 
die vorhandenen minimalen Mengen zu einer Analyse nicht hin- 
reichten, wurden die beiden Portionen des Destillates wieder mit- 
einander vereinigt und auf Azofarbstoff verarbeitet. 

Darstellung des Azotarbstoffes: 16 g Dichloranilin 
wurden in 50 cem heibem Wasser durch Zusatz von 10 ccm kon- 
zentrierter Salzsänre gelöst und die abgekühlte Lösung mit 100 ccm 
n 10-Natriumnitritlösung diazotiert. Man läßt dann die klare, gelb- 


EEE — Ar. 


Über den Ursprung der Ehrlich’schen Diazv-Reaktion. 159 


lich gefärbte Diazoniumsalzlösung solange zu dem mit Natronlauge 
alkalisch gemachten Destillat zufließen, bis das Gemisch mit R-Salz 
Rotfärbung gibt. Es wurden !/,,. Mol. verbraucht. Der auf diese 
Weise gewonnene rote Azofarbstoff wurde nach Ansäuern der Lö- 
sung in Äther aufgenommen. Nach dem Eindunsten des Äthers 
hinterblieb ein kristallinischer Rückstand, der durch Umkristalli- 
sieren aus Alkohol in schönen roten Nädelchen vom Schmelzpunkt 
132° erhalten wurde. Die Kristalle sind leicht löslich- in Äther 
und Pyrridin und schwer löslich in Wasser, Benzol und Petrol- 
äther. Die vorhandene Menge reichte nur zu einer Stickstoff- 
bestimmung aus. 


Mikro-Analyse: 


1,62 mg Substanz gaben 0,3822 cem N, (16° 717 mm) 
C3H,ı0,N,Cl, berechnet: N: 9,36 °% 

gefunden 921°, 
Diese Analyse stimmt auf die Formel: Cis H}: NaCl; 
oder nach Abzug des Azorestes auf: C,H,O,. 


Diese letztere Formel würde, da eine Oxysäure den Eigen- 
schaften der gefundenen Substanz nicht entspricht, auf ein Oxy- 
kresol passen. Von den Oxykresolen kommt in erster Linie ein 
Brenzkatechinderivat in Betracht, da Hydrochinonverbindungen 
nicht mit Diazokörpern kuppeln und Resorcinderivate, wie wir 
feststellen konnten, keine roten Farbstoffe bilden. 


Dagegen erhält man vom Homobrenzkatechin einen Azofarbstoff 
von roter Farbe, der den Eigenschaften des aus dem Urin darge- 
stellten entsprechen würde. Insbesondere spricht für diese An- 
nahme die Eisenchloridreaktion und die Tatsache, daß das „Chro- 
mogen“, wie ich bereits erwähnte, ammoniakalische Silberlösung 
in der Kälte reduzierte. 

Der von mir zur Feststellung der Identität auf syntheti- 
schem Wege aus Homobrenzkatechin mit Dichlordiazobenzol dar- 
gestellte Farbstoff bestätigt die angenommene Vermutung. Er 
zeigte bezüglich seiner Eigenschaften völlige Übereinstimmung niit 
dem aus Typhusurin gewonnenen Azofarbstuff und kristallisierte 


160 HERMANNS 


in roten Nädelchen aus Alkohol, die denselben Mischschmelzpunkt 
mit dem Typhusfarbstoff ergaben. 


Analyse: Cl-Bestimmung: 


0,235 g Substanz ergaben 0,291 AgCl 

C,sH,ı0,N,Cl,: berechnet: Cl = 23,83 °% 

gefunden: Cl = 23,87 o 
Das Homobrenzkatechin ist, wie man wohl mit Sicherheit an- 
nehmen kann, kein normales Abbauprodukt des Eiweiß-Stoffwechsels. 
Es ist bekannt, daß die Kresole bei der Fäulnis von Eiweiß- 
substanzen gebildet werden. Sie entstehen z. B. durch reduktive 

Desaminierung des Tyrosins auf folgende Weise: 


CH(NH,) CH, p-Kresol 


Derartige reduktive Desaminierungen kommen, wie wir an- 
nehmen müssen, im intermediären Stoffwechsel des Menschen nicht 
vor. Die geringen Mengen von Kresol, die trotzdem im menschlichen 
Urin enthalten sind, entstammen der Darmfäulnis, denn normaler- 
weise erfolgt, wie Franz Knoop und O. Neubauer durch ihre 
Versuche bewiesen haben, der Abbau des Tyrosins auf dem Wege 
einer oxydativen Desaminierung, bei der aus einer Aminosäure 
die entsprechende Ketosäure wird. Andererseits erinnert das Homo- 
brenzkatechin auch an Produkte, die normalerweise beim Abbau 
des Tyrosins auftreten. Aus Versuchen, die Hermanns und 
Fromherz beim Alkaptonuriker anstellten, hat sich ergeben, dab 
die Paraoxyphenylbrenztraubensäure von diesem zum großen Teil 
verbrannt wird, und demgemäß der Weg über die Hydrochinon- 
essigsäure bzw. Homogentisinsäure nicht die einzige Möglichkeit 
des Abbaus des Tyrosins darstellt. Es beschränkt sich die Stof- 
wechselanomalie nämlich auf den Teil der aromatischen Kerne, die 
über das Hydrochinonderivat abgebaut werden. Der zweite Weg 
führt höchstwahrscheinlich über ein Brenzkatechinderivat und dieser 
letztere steht auch dem Alkaptonuriker zur Verfügung. Allerdings 
führt dieser zweite Abbaumodus nicht über das Homobrenzkatechin, 
sondern es erfolgt normalerweise eine Aufsprengung des Benzol- 
ringes, bevor die Seitenkette gekürzt ist. 


Über den Ursprung der Ehrlich’schen Diazo-Reaktion. 161 


3. Die Diazoreaktion bei Tuberkulose. 


Die Untersuchung des Tuberkuloseurins ergab zunächst die 
schon erwähnte Tatsache, daß bei diesem die mit dem Diazoreagens 
kuppelnde Substanz in gebundenem Zustande, nämlich als Äther- 
schwefelsäure vorhanden ist. Es gelingt durch saure Hydro- 
lyse, das Produkt in Freiheit zu setzen und aus dem Urin mit 
Äther oder Essigester zu extrahieren. Die Extraktion läßt sich 
also nur durch vorherige Hydrolyse des Urins bewerkstelligen. 
Ein zweiter Beweis dafür, daß das Produkt als Ätherschwefelsäure 
ausgeschieden wird, ließ sich durch unvollständige Hydrolyse 
des Urins erbringen. Man erhält auf diese Weise bei der Kupp- 
lung mit Dichlordiazobenzol zwei verschiedene Azofarbstoffe, von 
denen der eine in Äther löslich, während der andere in Wasser 
und Äther unlöslich dagegen in verdünnter Kalilauge leicht löslich 
ist. Letzterer kann auf diesem Wege gereinigt werden und zwar 
durch Umfällen. Er spaltet bei der Hydrolyse Schwefelsäure 
ab, die sich mit Barytlauge nachweisen läßt. 

Nach dem oben an zweiter Stelle beschriebenen Verfahren ge- 
lang es, einen vollkommen klaren hellgelben Sirup aus den Urin- 
extrakten zu gewinnen, der noch nach Monaten eine intensivrote 
Diazoreaktion zeigte. Eine Zersetzung tritt nur auf Zusatz von 
Natronlauge oder Ammoniak auf. Es ist erforderlich bei der Auf- 
arbeitung der Extrakte darauf zu achten, daß stets bei saurer 
Reaktion gearbeitet wird. Extrakte, die aus dem Urin verschiedener 
Herkunft hergestellt waren, ergaben übereinstimmend die folgenden 
Reaktionen. 


1. Mit dem Ehrlich’schen Reagens bereits in Spuren eine tief 
dunkelrote Färbung. 


2. Mit stark verdünnter Eisenchloridlösung in soda-alkalischer 
Reaktion dunkelrote Färbung. 

3. Mit verdünnter Permanganatlösung intensive Gelbfärbung. 

4. Bromeisessiglösung wird momentan entfärbt. 

5. Mit Millons-Reagens entsteht beim Kochen deutliche Rot- 
färbung. 

Die Knoop’sche Histidinprobe und die Biuretreaktion fallen 
negativ aus. 

Diese Reaktionen weisen darauf hin, daß es sich um ein 
Phenol handelt, das den Charakter einer ungesättigten Ver- 
bindung trägt. 

Um aus den Extrakten, die, wie nachträglich ausdrücklich 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 11 


162 HERMANNS 


betont sei, keinen organisch gebundenen Schwefel mehr enthielten, 
ein kristallisiertes Produkt zu gewinnen, versuchte ich durch 
Fällung mit absolutem Äther aus Acetonlösang die Reinigung der 
Substanz fortzusetzen. Dabei bildete sich ein körniger Nieder- 
schlag, der jedoch, sobald man ihn auf das Filter brachte, voll- 
kommen verharzte. Deshalb entschlossen wir uns, den Azofarb- 
stoff aus den Extrakten darzustellen. Allerdings machte die 
Reinigung auch dieses Produktes sehr große Schwierigkeiten. Der 
reine Azofarbstoff löste sich in Pyrridin mit tiefroter Farbe, in 
Wasser ist er unlöslich. Er hat einen Schmelzpunkt von 68°. Die 
bereits veröffentlichten Mikroanalysen stimmen auf einen azofreien 
Rest von der Formel: C,H,O,, der keinen Stickstoff enthält. 


Aus dem Reichtum der Substanz an Sauerstoff geht hervor. 
daß ein mehrwertiges Phenol vorliegt, ferner sprechen seine Zu- 
sammensetzung und seine Eigenschaften dafür, daß es sich viel- 
leicht um ein im Benzolkern oxydiertes Kumaron handelt v.n 
der Struktur: 


Es ist bekannt, daß Kumaron und seine Derivate sehr gerne 
verharzen und leicht Brom anlagern, Reaktionen, die auch für 
unser Produkt charakteristisch sind. Aus der Phenolnatur der 
Substanz ergibt sich weiterhin ihre leichte Zersetzlichkeit bei 
alkalischer Reaktion, sowie ihr Verhalten gegenüber Eisenchlorii 
und Millons-Reagens. Man muß noch daran denken, daß der Zu- 
sammensetzung nach eine Säure oder ein Lakton vorliegen könnte. 
Für diesen Fall wäre aber zu erwarten gewesen, daß die Substanz 
oder eines ihrer Salze in kristallisiertem Zustand zu erhalten 
wären. Zahlreiche Versuche in dieser Richtung blieben ergebnis- 
los. Gegen diese Annahme spricht außerdem das Resultat der 
Kalischmelze, die ich zur Sicherung der Konstitution mit dem 
Produkt noch vornahm. Sie wurde in der üblichen Weise bei 
1:0" ausgeführt und ergab eine dunkelbraune, zäh flüssige Masse. 
die in Wasser gelöst, angesäuert und mit Äther extrahiert wurde. 
Aus dem Ather schieden sich beim Eindunsten in kleiner Menge 
Kristalle ab, die eine violette Eisenchloridreaktion ergaben. Sie 
zeigten nach dem Umkristallisieren einen Schmelzpunkt von 21°”. 
Es lag offenbar Phlorogluein vor, das durch Überführen in das 


e smt o mo 


-m 


Über den Ursprung der Ehrlich’schen Diazo-Reaktion. 163 


Triacetat vom Schmelzpunkt 105° mittels Essigsäure-Anhydrid 
identifiziert wurde. 


Dieser Befund stünde in guter Übereinstimmung mit der Vor- 
stellung, daß es sich um ein phenolartiges Kumaron handelt. Die 
Diazoreaktion des Tuberkulose-Urins ist wohl hauptsächlich auf 
die Ausscheidung dieses Produktes zurückzuführen. 


Dasselbe Produkt ist, wie sich feststellen ließ, 
auch im normalen Urin vorhanden. Der normale Urin er- 
gibt, wenn man ihn genügend konzentriert, ebenfalls eine positive 
Diazoprobe. Die Substanz konnte in derselben Weise wie dies 
beim Tuberkuloseharn geschah, isoliert werden. Der aus den 
Extrakten dargestellte Azofarbstoff zeigte dieselben Eigenschaften 
wie der Tuberkulosefarbstof. Er löst sich in Pyrridin — mit 
dunkelroter Farbe — und hat denselben Mischschmelzpunkt. Er 
enthält keinen Schwefel, sein Stickstoffgehalt stimmt auf die gleiche 
Formel wie der Tuberkulosefarbstoff. 

Analyse: N-Bestimmung: 4,749 mg Substanz ergaben 0,349 
Stickstoff (18° und 726 mm) 

C,H,N,C1,0, berechnet: N = 823°, 
gefunden: 818 „ 

Mithin ist die positive Diazoreaktion bei Tuberkulose auf die 
vermehrte Ausscheidung eines auch beim Normalen vorkommenden 

Ausscheidungsproduktes zurückzuführen, das unserer Meinung nach 
endogenen Ursprungs ist. 

Während der intermediäre Stoffwechsel oder was dasselbe be- 
sagt, der Kraftstoffwechsel den Kern der aromatischen Aminosäuren, 
wie dies Neubauer, Hermanns undFromherz dartun konnten, 
aufspaltet und verbrennt, gelingt diese Umwandlung dem endogenen 
Zellchemismus offenbar nicht. Die Ringsysteme bleiben bei der 
Oxydation erhalten und werden mit Sauerstoff beladen im Urin als 
Polyphenole ausgeschieden. Wir zweifeln nicht daran, daß 
mehrere derartige Produkte im Urin vorhanden und an der Diazo- 
reaktion noch beteiligt sind. Da sie eine geringere Affinität zum 
Diazoreagens besitzen, so entziehen sie sich der Isolierung. 

Daß es sehr wahrscheinlich endogene Endprodukte 
sind, geht daraus hervor, daß dieDiazoprobe in ihrer 
Intensität unabhängig von der Nahrung ist, ebenso 
wenig ist, wie ich durch Versuche ermitteln konnte, 
die Zufuhr von Tryptophan oder Tyrosin von Einfluß 


auf die Ausscheidung des betreffenden Produktes. 
11* 


164 HERMANNS 


Wäre noch die Frage zu beantworten, ob die Diazoprobe in 
ursächlichem Zusammenhang mit dem gelben Urinfarbstof. dem 
Urochrom, steht, wie M. Weiß dies annimmt. 

Weiß geht von der Beobachtung aus, daß solche Urine die 
eine positive Diazoprobe geben, noch in starker Verdünnung mit 
1 prom. Permanganatlösung unter Gelbfärbung reagieren und 
nimmt an, daß hierbei aus dem Urochromogen das gelb gefärbte 
Urochrom entsteht. Um das Urochromogen zu gewinnen und einer 
quantitativen Schätzung zugänglich zu machen bedient er sich der 
Methode von Garrod, welcher die Farbstoffe des Urins durch 
Aussalzen mit konzentrierter Ammonsulfatlösung trennte. Er stellt 
fest, daß das mit Alkohol extrahierte Filtrat des Ammonsulfät- 
niederschlages die Reaktion des Urochromogens, also positive Diazu- 
probe und Gelbfärbung mit Permanganatlösung zeigt. 

Obwohl ein befriedigender Beweis für diese Ansicht bisher 
von M. Weiß nicht erbracht werden konnte, so verdient doch die 
auffallende Erscheinung, daß die nach dem von mir angewandten 
Verfahren erhaltenen Extrakte aus Tuberkulose-Urin mit Per- 
manganatlösung eine intensive Gelbfärbung geben, die mit der 
Farbe des normalen Urins übereinstimmt, große Beachtung. Es 
wurde daher der Versuch gemacht das sog. Urochromogen aus dem 
gereinigten Extrakt des Tuberkulose-Urins zu gewinnen. Zu diesem 
Zweck wurde ein kleiner Teil des Extraktes in wenig Wasser ge- 
löst und mit Kaliumpermanganat in Azetonlösung unter Zutrojfen 
oxydiert. Nach Abfiltrieren von Manganoxyd, Abdampfen de: 
Äthers und Reinigen mittels Bleiacetat hinterblieb ein intensiv 
gelb gefärbter Rückstand, der ähnliche Reaktionen wie eine Chinon- 
verbindung zeigte: Er machte aus Jodkalilösung Jod frei und lieb 
sich mit SO, reduzieren. Chinone lassen sich durch Oxydation 
aus Dioxybenzolen gewinnen. Es besteht die Möglichkeit, daß aus 
dem phenolartigen Kumaron des Urins durch Oxydation chinonartige 
Substanzen entstehen und daß der gelbe Farbstoff des Urins in 
derartiger Beziehung zum Träger der Diazoreaktion steht. 

Die mitgeteilten Ergebnisse liefern den Beweis. 
dab es keinen einheitlichen Ursprung der Ehrlich- 
schen Diazoreaktion gibt. Sie beruht auf der Aus- 
scheidung phenolartiger Substanzen, die je nach der 
Krankheit verschieden sind und wahrscheinlich einer 
toxischen Gewebsschädigung ihre Entstehung ver- 
danken. 


= mm m Lt E 


Uber den Ursprung der Ehrlich’schen Diazo-Reaktion. 165 


Literatur. 


l. Bondzinski, Dombrowski, Panek, Zeitschr. f. phys. Chem. Bd. 46, 
s74. -- 2. P. Clemens, Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 63, S. 74. — 8. P. Ehr- 
ieh. Charite-Annalen Bd. 8, 1883. — 4. Ellinger, Chem. Ber. Bd. 37, 1501. 
- 5. Ders. u. Matsuoka, Zeitschr. f. physiol. Chem. Bd. 109, 5. 259. — 
6 Engeland, Münch. med. Wochenschr. Bd. 55, (1643). — 7. Grafe, Ebenda 
1913. 18691. Klin. Wochenschr. 1924, (1002). — 8. L. Hermanns, Zeitschr. f. 
physiol. Chem. Bd. 122, (95). — Ders. u. P. Sachs, Ebenda Bd. 114, (79). — 
Fromherz,u. Hermanns, Ebenda Bd. 89, (113); Bd. 91, (194). — 9. Herter, 
Journ. of biol. chem. Bd. 4. (238). — 10. Lenhartz, Dtsch. med. Wochenschr. 
I24, 450). — 11. E. Huber, Die Ehrlich’sche Diazo-Reaktion. Dissert. Bern 
10. — 12. Lauter u. Jenke, Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 146, (323). — 
13. Friedrich Müller, Stoffwechselprobleme (Levden-Vortrag). Dtsch. med. 
Wochenschr. 1922, (545). — 14. M. Weiß, Biochem. Zeitschr. 134, (200). — 
Ders.. Dtsch. med. Wochenschr. 1923. (303). 


166 


Aus der Medizinischen Poliklinik Bonn. 
(Direktor: Professor Dr. Siebeck.) 


Untersuchungen über die Magensaftsekretion. 


vV. 

Über die Magenlipase. 
Von 

Dr. Franz Delhougne, 


Assistenzarzt. 


(Mit 2 Kurven.) 


Das von Volhard 1900 entdeckte fettspaltende Ferment des 
Magens ist Gegenstand verschiedener Untersuchungen geworden. 
Besonders durch Volhard selbst und seine Mitarbeiter ist das 
physikalisch-chemische Verhalten dieses Fermentes, das als Magen- 
steapsin oder Magenlipase bezeichnet wird, weitgehend aufgeklärt 
worden. Dagegen sind klinische Untersuchungen über die Magen- 
lipase nur vereinzelt angestellt worden. Ihre Ergebnisse stimmen 
nicht überein. Diese Untersuchungen wurden im Mageninhalt. nicht 
im Magensatft ausgeführt. Im Mageninhalt ausgeführte Unter- 
suchungen sagen uns aber nichts aus über die wirklich vorhandene 
Menge des Fermentes, da wir den Grad der Verdünnung nicht 
kennen. Auch wissen wir nicht, wieweit die Untersuchungsergeb- 
nisse durch Gallerückfluß, durch Pankreas — und Darmsaft beein- 
flugt wurden. Dagegen haben wir im reinen Magensaft die Mrr- 
lichkeit, das Verhalten der Magenlipase bei Gesunden und Kranken 
unter verschiedenen Bedingungen näher festzustellen. Über solche 
Untersuchungen soll im folgenden kurz berichtet werden. 

Methodik: Für die Bestimmung der Magenlipase kommen vor allem 
zwei Methoden in Frage: 1. die Methode von Volhard und 2. die von 
Davidsohn. Das Prinzip der Volhard’schen Methode ist folgendes: 
eine Eivelbemulsion wird mit einigen Kubikzentimeter Magensaft versetzt 
und unter Toluolzusatz der Verdauung überlassen. Nach 24 Stund:2 


Untersuchungen über die Magensaftsekretion. 167 


wird das Gemisch mit Äther ausgeschüttelt, dann längere Zeit (bis 
24 Stunden) auf siedendem Wasser am Rückflußkühler verseift, neutra- 
lisiert und titriert. Die Titrationswerte geben den Gehalt an abgespal- 
tenen und noch abspaltbaren Fettsäuren an. Diese Methode ist für klini- 
sche Zwecke zu umständlich und kompliziert. Auch soll nach einer 
Angabe von Saxl die Fehlerquelle dieser Methode nicht gering sein. 
Wir verwandten daher mit einigen Abänderungen die Methode von 
Davidsohn. Sie greift zurück auf die Arbeiten von Rona und 
Michaelis, die die Oberflächenspannung von wässerigen Lösungen von 
Glyzerinestern und einfachen Fetten messen und die Anderung der 
Oberflächenspannung als Maß für den Ablauf fermentativer Vorgänge 
benutzten. Die Glyzerinester erniedrigen die Öberflächenspannung des 
Wassers selbst ın sehr geringer Konzentration, während die bei Ferment- 
wirkung entstehenden Spaltprodukte nur eine ganz geringe Wirkung 
suf die Oberflächenspannung haben. Wir gehen im einzelnen folgender- 
maßen vor: Der Magensaft wird 50- und nötigenfalls 100fach ver- 
dünnt. Von diesen Verdünnungen werden 0,5 und 1 ccm mit 75 ccm 
einer gesättigten. ne Tributyrinlösung versetzt. Zu jedem Röhr- 


chen werden 1 ccm Fr primäres Natriumphosphat (oder 1 ccm 5 sekun- 


däres Natriumphosphat) zur Beschleunigung der Reaktion zugesetzt. 
Man läßt das Gemisch im Thermostaten oder bei Zimmertemperatur eine 
Stunde stehen und bestimmt nun die Oberflächenspannung. Wir be- 
stimmten dieselbe mittels des Stalagmometers von Traube (Hersteller: 
Firma C. Gerhardt-Bonn) aus der Zahl der Tropfen, die sich beim Ab- 
tropfen eines durch 2 durchgehende Marken abgegrenzten kugelförmigen 
Volumens von einer kreisrunden Abtropffläche von bestimmter Dimension 
loslösen. Mit Hilfe der Skala ober- und unterhalb der Kugel kann man 
noch Bruchteile eines 'Tropfens bis auf 0,05 Tropfen gut abschätzen, 
indem man bestimmt, wieviel Skalenteile oben und unten einem Tropfen 
entsprechen. Nach der Angabe von Traube darf die Abtropfgeschwin- 
digkeit, welche durch die Kapillarröhre reguliert wird, nicht zu groß 
sein, da sie sonst die Tropfenzahl beeinflußt. Jedenfalls dürfen sich 
nicht mehr als 12 Tropfen in der Minute ablösen. Andernfalls ist durch 
Auflegen des Fingers auf die obere UOffnung des Stalagmometers ein 
langsameres Ablösen der Tropfen zu bewerkstelligen. Bei zunehmender 
Temperatur wird die Tropfenzahl bekanntlich größer. Bei 100 Wasser- 
tropfen beträgt die Zunalime der Tropfenzahl bei Steigerung der Tem- 
peratur um 5 Grad Celsius einen Tropfen. Eine Temperaturkorrektion 
kann demnach praktisch vernachlässigt werden. Für medizinische Zwecke 
genügt die Angabe der relativen Tropfenzahl. Die Berechnung der 
eigentlichen Größe der Öberflächenspannung ist überflüssig und daher 
in den Untersuchungsergebnissen nicht durchgeführt. Nach der Angabe 
von Traube kann sie leicht auf Grund folgender Formel durchgeführt 


r 


Zw À 
werden: Die Konstante der Oberflächenspannung y = 7,30 s8 A Zenti- 
4 


IA 
BEE LIW ; 5 ; J 
metergramme, oder 7158,4 8 y Erg. wenn s das spezifische Gewicht 
d 
der betreffenden Flüssigkeit, Z die Tropfenzahl für die zu untersuchende 


168 DELHOUTGNE 


Flüssigkeit und Zw die Tropfenzahl für Wasser ist. Bei meinen Ver- 
suchen betrug die Normaltropfenzahl bei 20°C für Wasser 68,75 Tropfen, 
für eine gesättigte wässerige Tributyrinlösung 146,5 Tropfen. Die im 
folgenden mitgeteilten Werte der Tropfen der Tributyrinlösung unter 
dem Einfluß der Lipase beziehen sich, wenn nicht anders vermerkt, 
auf 50fach verdünnten Magensaft. 

Bezüglich der Technik zur Gewinnung des reinen Magensaftes ver- 
weise ich auf die früheren Mitteilungen (Dtsch. Arch. f. klin. Med. 
Bd. 150, Heft 1/2). 

Um die Anwesenheit von Pankreaslipase im Magensaft möglichst 
auszuschließen, benutze ich die von Volhard gefundene Empfindlichkeit 
der Magenlipase gegen Alkali, während die Pankreaslipase bekanntlich 
alkaliresistent ist. Es wurde bei jedem Versuche auch eine Lipase- 
bestimmung bei alkalischer Reaktion des Magensaftes vorgenommen. 
Magensäfte, bei denen dann noch eine deutliche Lipasewirkung nach- 
weisbar war, wurden für die Versuche nicht verwandt. 


Versuchsergebnisse. 


Betrachten wir zunächst das Verhalten der Magenlipase während 
des Ablaufes einer Sekretionsperiode. Bei der ersten Entnahme 
von Magensaft nach 10 Minuten ist Lipase nur in sehr geringen 
Mengen nachweisbar. Sie nimmt dann an Menge sehr schnell zu 
und erreicht ihr Maximum nach 20—30 Minuten. Die Werte bleiben 
dann 10—20 Minuten auf annähernd gleicher Höhe, um dann all- 
mählich abzunehmen. In anderen Fällen — es sind vorwiegend 
solche mit hoher Acidität des Magensaftes — scheint der Lipase- 
wert nach Erreichung des Höhepunktes nach 20—30 Minuten steil 
abzufallen. Dieser steile Abfall ist aber nur ein scheinbarer. Die 
abgeschiedene Fermentmenge hat in solchen Fällen nur wenig abge- 
nommen, vielmehr wird ihre Wirksamkeit durch die hohe Acidität 
des Magensaftes gehemmt. Gibt man zu solchen Magensaftprüben 
Alkali solange hinzu, bis die Acidität ungefähr der der nach 
20 Minuten bis 30 Minuten entnommenen Saftproben entspricht, so 
beoachtet man eine entsprechende Lipasewirkung (vgl. dazu Kurve 
1 und 2). Aus den Versuchen ergibt sich also, daß das Maximum der 
Lipase während des Ablaufes einer Sekretionsperiode durchschnittlich 
nach 20—30 Minuten erreicht wird. Die Lipasewerte bleiben dann 
10—20 Minuten auf gleicher Höhe und fallen dann allmählich ab. 

Erniedrigt man die Acidität der Magensaftproben, so nimmt 
die Wirkung deı Lipase zu. In 20 Versuchen fand ich das Optimum 
der Lipasewirkung bei einer Titrationsacidität zwischen 5 und 10. 
Bei neutraler Reaktion trat keine weitere Zunahme, eher eine Ab- 
nahme der Lipasewirkung auf. Das Optimum für die Lipasewirkung 


Untersuchungen über die Magensaftsekretion. 1069 


liegt also bei ganz schwacher sauerer Reaktion des Magensaftes. 
Diese Beobachtung steht in guter Übereinstimmung zu der Fest- 
stellung von Rona (zitiert nach Davidsohn), der als Optimum 
für die Wirkung der Serumlipase eine annähernd neutrale Reaktion 
fand. In diesem Zusammenhange darf vielleicht auch daran er- 
innert werden, daß beim Säugling, bei dem die Magenlipase ja 
eine größere Rolle spielt als beim Erwachsenen, die Reaktion des 
Magensaftes relativ wenig sauer ist. 

Die abgeschiedene Lipasemenge ist weitgehend abhängig von 
den verschiedenen Sekretionsreizen. Im Magensaft, der unter der 


O B Ba 
0 A RR: SE 
AUBRES SNERI 
720: SE mES. Er Lipasekuere l 
i | l l i i T T el 
PPC LıPasehAurre. | Ar ER: VE 
= | ne 
79° FR I | z] | 
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i | | Acsarrtatskurre. N 
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J.A Acıdıtatskurre a | 
i | i—i | — 
u AR | SAFE 
70 = w | i | 
70° EEE SIE i E E S E S 
0’ 203040" 50'00' 70.309010 O: 5060 7080907900 
Kurve 1. Wasser 68, 75 Tropfen. Ge- Kurve2. ------ = Lipasekurve in den- 
sättigte wässerige Tributyrinlösung selben Saftproben nach Herabsetzung 
146,5 Tropfen. der Acidität auf 60. 


Einwirkung des Sondenreizes sezerniert wurde, ist sieam geringsten. 
Im reinen Magensaft, der aspiriert wurde, nachdem ein Alkohol- 
probetrunk von 100 ccm 5°/,igem Alkohol den Magen verlassen 
hatte, ist die Lipasemenge wesentlich größer. — Gibt man am 
Abend vor der Untersuchung eine größere Fettmahlzeit, so sind 
im Magensaft bei annähernd gleicher Acidität Lipasewerte nach- 
weisbar, die das Doppelte der Lipasemenge ausmachen, die wir 
nach reiner Kohlehydratmahlzeit am Vorabend beobachen (z. B. 
19:110 Tropfen). . 

Ich habe weiter das Verhalten der Magenlipase unter ver- 
schiedenen äußeren Bedingungen untersucht. Angestrengte körper- 
liche Arbeit, welche die Acidität des Magensaftes bedeutend ver- 


170 DELHOUGNE 


mehrt, hat auf die Lipase keinen Einfluß. Im Magensaft, der nach 
intensiver Muskelarbeit aspiriert wurde, war Lipase gar nicht oder 
nur in geringen Spuren nachweisbar. Auch diese Beobachtung 
spricht für die früher von mir vertretene Annahme, daß es sich 
bei der Abscheidung saurer Valenzen in den Magen unter der Ein- 
wirkung von Muskelarbeit nur um einen Ausgleichsvorgang des 
Organismus handelt, sich vor der zunehmenden Verschiebung der 
Blutreaktion nach der sauren Seite zu schützen. 

Histamin, Pilocarpin, Adrenalin, Atropin und Koffein haben 
bis zur Maximaldosis parenteral zugeführt, keinen Einfluß auf die 
Lipase des Magens. 

Wie verhält sich nun die Magenlipase bei Magenkranken’ 
Ich habe 22 Kranke, 14 mit Super- und 8 mit Subacidität unter- 
sucht. Das Ergebnis ist kurz zusammengefaßt folgendes: Bei 
Kranken mit Superacidität erscheint die Lipase sehr gering. Doch 
ist der geringe Lipasegehalt nur ein scheinbarer. Setzt man 
nämlich die Acidität solcher Magensaftproben durch Zugabe von 
Alkali herab, so zeigt sich normale Lipasewirkung. Es besteht 
also keine Fermentverminderung, sondern nur eine Hemmung der 
Fermentwirkung durch Salzsäure. Z. B. betrugen die relativen 
Tropfenzahlen derselben Magensaftprobe bei einer Acidität von 140 
126, bei einer Acidität von 80 94 Tropfen. — Bei Kranken mit 
Subaeidität fand ich die Lipase regelmäßig vermindert. 

Größere Bedeutung kommt der Lipasebestimmung im Magen- 
saft, so interessant ihre Ergebnisse im einzelnen auch sein mögen, 
für klinische Zwecke kaum zu. Die Lipasebestimmung im Magen- 
saft sagt uns nämlich nichts aus, was wir nicht auch schon auf 
Grund der wesentlich einfacheren Aciditätsbestimmungen feststellen 
können. 

Endlich babe ich noch Versuche über die Beeinflussung der 
Magenlipase durch verschiedene chemische Agentien angestellt. 
Ausgehend von der Tatsache, daß hohe Acidität die Wirkung der 
Lipase hemmt, versuchte ich festzustellen, bei welcher Acidität 
die Lipasewirkung völlig erlischt. Ich fand eine Titrationsacidität 
von 200. Neutralisiert man eine solche Saftprobe wieder, so wird 
die Lipase wieder wirksam. Macht man aber den Magensaft noch 
saurer (Titrationsacidität von 300 und mehr), so wird die Lipase 
völlig zerstört, denn nachträglicher Zusatz von Alkali vermag die 
Lipasewirkung nicht wieder herzustellen. 

Weiter ergaben meine Versuche, daß auch die Magenlipase — 
ähnlich wie andere Esterasen — durch oxydierende Agentien sehr 


Untersuchungen über die Magensaftsekretivn. 171 


schnell zerstört wird. Nach Zusatz von 1—3 ccm einer 3°,,igen 
Wasserstoffsuperoxydlösung zur Saftprobe, trat keine Lipase- 
wirkung mehr auf. Dasselbe gilt von Chlorkalk (1 ccm einer ge- 
sättigten Lösung) und 1 ccm einer !/ ooo Kaliumpermanganatlösung. 

Esterasen können bekanntlich durch Phosphate aktiviert 
werden. Ich untersuchte die Wirkung der Natriumphosphate auf 
die Magenlipase. Die größte Aktivierung, gemessen an der Re- 
aktionsgeschwindigkeit, fand ich bei einer Titrationsacidität des 
n 
5 
Ob das primäre oder das sekundäre Natriumphosphat verwandt 
wurde, war gleichgültig. Stärkere Lösungen haben keinen deut- 
lichen Mehreffekt. Handelt es sich dagegen um Magensäfte, deren 
Acidität zwischen 100 4 160 liegt, so läßt sich ohne Alkalizusatz 
durch weiteren Zusatz von 0,5—1,5 ccm einer 5 Natriumphosphat- 
lösung eine weitere Aktivierung erzielen. — Zusatz von mehreren 
Kubikzentimeter einer n Natriumphosphatlösung zerstört die 
Lipase völlig. 


Magensaftes von 70—80 bei 1 ccm einer Natriumphosphatlösung. 


Tabelle 1. 
Lipasekurve (relative Tropferzahlen: bei 4 Gesunden (Mittelwerte aus je 3 Versuchen). 
1o 20 50 40 0 60 ww 80 
I. 140 117 A) 1095 110 123 136 
II. 137 111 oz 10$ 121 150 137 
1. 158 105 >U 105 11% 125 AU 
IV. 1839 1m 81 94 111 124 130 144 


Lipasekurve bei einem Kranken mit Superacilität (Beispiel aus 14 Ähnlichen Kurven) 
(Arıditätswerte). 


140 115 111 124 129 145 145 

(ld) 40) (0; (ND, 1251 (140) (150) 
Lipasekurye bei einem Kranken mit Subaeidität (Beispiel aus 8 ähnlichen Kurven). 

140 126 120 124 151 131 156 

(10) (15) (ID (tO) (Di Kur 


Zusammenfassung. 

1. Die Magenlipase erreicht während des Ablaufes einer 
Sekretionsperiode nach ca. 20 Minuten ihren Höhepunkt, bleibt 
ca. 20 Minuten auf annährend gleicher Höhe und fällt dann mehr 
oder minder langsam ab. 

2. Starke Acidität des Magensaftes hemmt die Lipasewirkung. 
Das Optimum für die Wirkung der Magenlipase liegt bei schwach 
saurer Reaktion. 


172 DELHOUGNE, Untersuchungen über die Magensaftsekretion. 


3. Die Lipasesekretion ist weitgehend abhängig von den ver- 
schiedenen Sekretionsreizen. 

4. Histamin, Pilocarpin, Adrenalin, Atropin und Koffein haben 
keinen Einfluß auf die Lipase. 

5. Bei Superaciden besteht eine geringe Lipasewirkung. aber 
keine Verminderung der Fermentmenge. Dagegen ist bei Sub- 
bzw. Anaciden die Lipasemenge regelmäßig vermindert. 

6. Schwache Säuren und oxydierende Agentien zerstören die 
Lipase. Geringer Phosphatzusatz steigert die Lipasewirkung. 
stärkerer Phosphatzusatz hemmt bzw. zerstört sie. 


Literatur. 


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14. Ders., Münch. med. Wochenschr. Nr. 49, 1925. 


173 


Aus dem Städtischen Krankenhaus zu Hälsingborg, Schweden. 


Einige Bemerkungen 
über spontanes hypoglykämisches Coma. 


Von 


Thor Stenström, 


Dirigierendem Arzt der inneren Abteilung. 


Die folgende Darstellung gründet sich auf eine klinische Be- 
obachtung, die ich vor einigen Monaten zu machen Gelegenheit 
hatte. In der Nacht auf den 18.11. d. J. wurde eine 34jährige, 
verheiratete Frau (Journ.-Nr. 106/1926) in bewußtlosem Zustand 
in die medizinische Abteilung des Krankenhauses. zu Hälsingborg 
eingeliefert, wo sie bereits einmal früher im Herbste vorher wegen 
einer akuten Nephropathie gepflegt worden war. Ihre Krankheit 
hatte bei der Aufnahme am 9. X. 1925 recht ernst ausgesehen, 
mit starker Beeinflussung des Allgemeinzustandes, leichten Ödemen 
des Gesichts, einem Rest-N im Blute von 93 mg °/,, einem Eiweiß- 
gehalt von 1—2°/,, in einem Harn, der außerdem reichlich Zylinder 
und rote Blutkörperchen enthielt. Ihr Zustand besserte sich in- 
dessen rasch, und bei der Entlassung am 21. XII. war sie dem 
Anschein nach völlig gesund ohne objektiv nachweisbare Symptome 
der durchgemachten Nierenkrankheit. 

Nach der Heimkehr hatte sie sich, von einer gewissen Müdig- 
keit abgesehen, wohl gefühlt, bis ihre jetzige Krankheit nach nur 
zweitägigen unbestimmten Prodromalsymptomen in einer voll- 
ständigen Bewußtlosigkeit kulminierte. Die Beschreibung des bei 
der Erkrankung hervortretenden Symptomenkomplexes, die ich nach 
diesen orientierenden Vorbemerkungen hier gebe, gründet sich teils 
auf die eigenen Angaben der Patientin, teils auf von ihrem Mann 
gemachte Beobachtungen. 

Am 16. II. begann Pat. eine ausgesprochene Mattigkeit 
und Unwohlsein zu fühlen, sie verlor den Appetit, hatte kalte 


174 STENSTRÖM 


Schweiße und bekam allmählich recht heftige Kopfschmerzen, 
Diese Beschwerden hielten im großen ganzen unverändert an, bis 
am Nachmittag des 18. II. eine entschiedene Verschlechterung ein- 
trat. Sie begann da laut Angabe des Mannes verwirrt zu werden, 
sprach unzusammenhängend und lachte unmotiviert, trat mit einem 
Wort — um den eigenen Ausdruck des Mannes anzuwenden — 
wie eine berauschte Person auf. Schließlich schlief sie tief ein 
und konnte weder durch Anreden noch durch Schütteln erweckt 
werden. Ärztlicherseits einige Stunden später dem Krankenhaus 
überwiesen, befand sie sich bei der Aufnahme in einem tiefen Coma 
mit einer ausgesprochenen Rigidität des ganzen Körpers, die am 
stärksten in den unteren Extremitäten ausgeprägt war. 

Das Krankheitsbild war in seiner Gesamtheit sehr rätselhaft, 
und sichere Anhaltspunkte für seine Beurteilung lieferten weder 
die anamnestischen Angaben noch die objektive Untersuchung. 
Zu diagnostischen Zwecken wurde eine Lumbalpunktion vorge- 
nommen. Der Befund war in allen Hinsichten normal, und die 
Bewußtlosigkeit der Patientin wurde dadurch nicht beeinflußt. 

Pat. war am folgenden Morgen andauernd tief bewußtlos. Die 
Atmung war ruhig und gleichmäßig, der Puls weich und klein mit 
einer Frequenz von 82. Temp. 35,4°C. Eine durch Katheterisierung 
erhaltene Harnprobe enthielt keine pathologischen Bestandteile. 
Rest-N im Blut 34 mg °/,. Ausgesprochene Rigidität der Extremitäten. 
Die Pupillen reagierten auf Licht. Ophthalmoskopisch normale 
Verhältnisse. Bauchreflexe konnten nicht mit Sicherheit nachge- 
wiesen werden, Patellarreflexe pos., Babinski pos. an beiden Füßen. 

Die Ursache der Bewußtlosigkeit der Pat. war mir andauernd 
ein Rätsel. Schon während ihres früheren Krankenhausaufenthalts 
hatten indessen eine eigentümliche, blaß gelbliche Hautfarbe, eine 
anhaltende Übelkeit, die dann und wann ein Erbrechen auslöste, 
ein ausgeprägter Schlaffheitszustand der Muskulatur und ein 
niedriger Blutdruck, der bisweilen unter 100 betrug, Aufmerksam- 
keit erweckt und an die Möglichkeit einer Nebenniereninsufficienz 
denken lassen. Darauf gerichtete Untersuchungen hatten jedoch 
zu keiner bestimmten Auffassung geführt. In lebhafter Erinnerung 
an ihren damaligen Zustand wurde indessen beschlossen, eine Blut- 
zuckerbestimmung auszuführen, und es wurde ferner für, theoretisch 
gesehen, in gewissem Grade indiziert erachtet, der Pat. eine sub- 
kutane Injektion von 1 mg Adrenalin zu geben. 

Das Resultat dieses letzteren Eingriffes war ebenso über- 
raschend wie erfreulich. Als ich %, Stunde danach auf die Auf- 


Einige Bemerkungen über spontanes hypvglykämisches Coma. 175 


forderung einer Krankenschwester zur Patientin zurückkehrte, war 
sie bei vollem Bewußtsein und antwortete klar und ordentlich, 
wenn auch etwas träge, auf Fragen. Die Rigidität in den Extremi- 
täten war vollständig verschwunden, und Pat. bewegte sich unbe- 
hindert, obwohl etwas langsam. Kurz nachher kam Antwort aus 
dem Laboratorium: Blutzucker 0,035 °).. 

Bei dieser Nachricht erhielt das Personal die Weisung, das 
Nötige für eine subkutane Glykoseinfusion vorzubereiten, und eine 
Stunde später erhielt Pat. 700 cem einer 7 "/,igen Glykoselösung. 
Während der folgenden Woche erhielt sie nebst gewöhnlicher Kost, 
von der sie wegen Übelkeit und Appetitlosigkeit wenig genoß, 
Glykose in Tropfenklistier und Zuckerlösung per os, und außerdem 
1 mg Adrenalin 3mal täglich in subkutaner Injektion. Dabei stieg 
die Temperatur auf normales Niveau, und der Blutzucker, der bei 
nüchternem Magen bei mehreren Gelegenheiten einen so niedrigen 
Wert wie 0,04 °/, zeigte, stieg auf 0,07—0,08. Auch im übrigen 
schritt die Besserung der Pat. stetig fort, und am 11. III. wurde 
sie symptomenfrei aus dem Krankenhause entlassen. Es wurden 
ihr da Suprarenin in Stuhlpillen, 1mg><2, und Thyreoideatabletten, 
0,30x.3, verschrieben. 

Nach der Heimkehr ist ihr Zustand befriedigend gewesen, und 
sie hat ohne Schwierigkeit die sämtlichen Arbeiten einer Haus- 
frau in einem Arbeiterheim ausführen können. Bei mehreren Ge- 
legenheiten vorgenommene Untersuchungen ihres Blutzuckergehalts 
haben Werte ergeben, die zwischen 0,05 und 0,11°, schwankten. 


Die Ähnlichkeit zwischen dem Symptorgenkomplex, den die 
Patientin während ihrer letzten Krankheit darbot, und dem klinischen 
Bild, das nach einer Überdosierung von Insulin eintritt, ist un- 
verkennbar. Die Erkrankung mit ihrer in ausgesprochenem Grade 
hervortretenden Mattigkeit und Unruhe, den wiederholten Aus- 
brüchen von kaltem Schweiß und der eigentümlichen Beeinflussung 
der Psyche der Patientin sind Symptome, die ich Gelegenheit ge- 
habt habe, persönlich nach einer zu kräftig ausgeübten Insulin- 
behandlung mehrmals zu beobachten. Auch der später eintretende 
comatöse Zustand mit erhöhtem Muskeltonus, subnormaler Tempe- 
ratur und niedrigem Blutzuckergehalt ist eine allzu wohlbekannte 
Erscheinung bei einer schwereren Insulinvergiftung, als daß die 
Parallele eigentlich besonders betont zu werden braucht. Da 
hierzu der schlagende therapeutische Effekt der Adrenalininjektion 
kommt, deren günstiger Einfluß bei Insulinvergiftung wohlbekannt 


u aat 


176 STENSTRÖM 


ist, habe ich kein Bedenken getragen, das beschriebene Krankhrcits- 
bild als ein spontanes hypoglykämisches Coma zu bezeichnen. 

Am nächsten lag es natürlich, den Anlaß zum Hervortreten 
desselben in Störungen der inneren Sekretion zu suchen, und die 
Einstellung der Untersuchung in dieser Richtung gab auch Resul- 
tate von Wert. Nach einem im August 1924 durchgemachten 
Partus (Placenta praevia lateralis) waren die Menses der Patientin 
ganz ausgeblieben.- Schon während der Schwangerschaft hatte sie 
einen nicht unbedeutenden Haarabfall vom Kopfe beobachtet, und 
auch an den übrigen Teilen des Körpers sind seitdem ausgesprochene 
Anomalien im Haarwuchse hervorgetreten. In den Achselhöhlen 
fehlte so bei der objektiven Untersuchung jede Spur von Haaren, 
in der Pubesregion fanden sich nur Lanugohaare, die Augenbrauen 
waren gleich dem Haare auf dem Kopfe spärlich mit kurzen. ab- 
gebrochenen Haaren. Die Nägel waren platt, dünn und spröde. 
Eine Bestimmung des Ruhestoffwechsels nach Krogh zeigte am 
10. III. eine Herabsetzung von 30 ,,. 

Am 26. II. wurde nach subkutaner Injektion von 1 mg Adre- 
nalin Zählung des Pulses und Messung des Blutdrucks vorge- 
nommen. Die Untersuchung ergab in beiden Fällen ein vom 
Normalen abweichendes Resultat. Die Pulskurve zeigte statt des 
normal vorkommenden Anstiegs eine Senkung während mehrerer 
Stunden nach der Injektion, und der Blutdruck hielt sich praktisch 
genommen unverändert. Der Blutzuckerspiegel zeigte von einem 
Anfangswert von 0,078°, aus nach ’/, Stunde eine maximale 
Steigerung von 0,027°;,. Nach 1Y/, Stunden war der Blutzucker 
auf seinen Ursprungswert zurückgegangen (s. Tabelle 1). 


Tabelle 1. 
t 
Blutdruck | Puls en | Harnzucker 
(i) 
Am 26. IT. 1926 um 11084 | 72 0.073 ` Almén neg 
8 Uhr 5 Min. vorm. sub- 
kutane Injektion von 1 meg 
Adrenalin 
S Uhr 20 Min. 108 S5 TO | Z - T 
Roa Bo o‘ 105 55 62 | 0.103 . 
Joo P o 11285 DG 70,108 Rap 
E a 112 82 DN 0.093 A -~ 
OO 106 50 64 Ä 0.001 R 
ICh... 0 oau 1002 HO 0,093 


TO or. I0D50 62 0008 f 
2 A Ə a nachm. 11456 12 0.090 - 


.— — Le er a ee. e e e ae e o — O 


PEN ETNEN — a | —.. 


Einige Bemerkungen über spontanes hypoglykämisches Coma. 177 


Die eben angeführten Tatsachen sprechen für eine Störung 
des endokrinen Systems, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für 
eine pluriglanduläre Insufficienz. Die Entwicklung der ersten 
Krankheitssymptome im Anschluß an eine Schwangerschaft und 
die nach. Partus ausgebliebenen Menses weisen auf eine Affektion 
der Ovarien, wenn auch die letztere Anomalie in den Rahmen 
einer Insufficienz der Thyreoidea eingefügt werden kann, wofür 
die nachgewiesene Störung des Haarwuchses und die Herabsetzung 
des Ruhestoffwechsels mit Sicherheit sprechen. Die allgemeine 
Muskelhypotonie, die Hypoglykämie, vielleicht auch der Ausfall der 
Adrenalinprobe deuten auf die Möglichkeit einer Hypofunktion der 
Nebennieren hin. 


Von größtem Interesse wäre es gewesen, eine Bestimmung des 
Insulingehalts des Organismus auszuführen, und ich hatte auch die 
Anstalten für die Ausführung einer solchen Untersuchung im 
Physiologischen Institut in Lund getroffen. Leider scheiterte die 
Sache an der entschiedenen Weigerung der Patientin, sich weiteren 
Untersuchungen zu unterziehen. 


Eine Funktionsprobe mit Glykose wurde am 8. III. ausgeführt, 
wo die Pat., die 52 kg wog, auf nüchternen Magen 52 g Glykose 
in 10°/ iger wässeriger Lösung erhielt. Wie aus Tabelle 2 hervor- 
geht, bietet das Untersuchungsresultat keine Abweichungen von 
dem Normalen dar. 


Tabelle 2. 
Blutzucker ae 
| un en 
4. III. um 8 Uhr 20 Min. vorm. 0,083 Alınen neg. 
8 50 n a | 0,103 ” . 
2 U. | 0.161 
v 0.139 N 
10 |. 20 . n V,OSO 
10 a 50 noo ‘n | 0.064 
11 n 20 nooo 0.059 
12 D e a | 0.073 


n ” 


Es kann ja für die Patientin als ein glücklicher Zufall ange- 
sehen werden, daß sie früher in der Abteilung gepflegt worden 
war, und daß ihr damaliger Zustand Anlaß zum Nachdenken ge- 
geben hatte. Anderenfalls wäre sie wohl mit dem größten Grad 
von Wahrscheinlichkeit dem Tode entgegengegangen, in dia- 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 12 


178  Stenström, Einige Bemerkungen über spontanes hypoglykämisches Coma. 


gnostischer Hinsicht unaufgeklärt wie so viele andere Krankheits- 
fälle. In ihren praktischen Konsequenzen ist die gemachte Be- 
obachtung vielleicht von geringerer Bedeutung, da es wohl kaun 
anzunehmen ist, daß Zustände dieser Art allgemeiner vorkommen. 
Theoretisch gesehen, dürfte der Fall dagegen ein gewisses Inter- 
esse darbieten, da es meines Wissens das erste Mal ist, daß ein 
Krankheitsbild dieses Typus beschrieben worden ist. 


. 119 


Aus dem Pathologischen Institut der Universität Jena. 
(Direktor Professor Dr. Berblinger.) 


Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose“ 
(3. Leukämieform ?). 


Von 


Dr. med. Hans Krahn, 


Volontärassistent am Institut. 


(Mit 2 Abbildungen im Text.) 


Durch die Abgrenzung der Monocyten als dritte selbständige 
Blutzellklasse von der lymphatischen und myeloischen Reihe hat 
auch der bisherige Leukämiebegriff, der nach den zwei Arten 
leukopoetischen Gewebes nur eine Iymphatische und eine myeloische 
Form umfaßte, eine Erweiterung erfahren. So ist zur Lymphadenose 
und Myelose als dritte Leukämieform die Reticuloendotheliose, s. 
Monocytenleukämie hinzugekommen. Wie nun die Lymphadenose 
und Myelose in eine aleukämische und leukämische Form zerfällt, 
wird auch bei der Reticuloendotheliose zwischen einer aleukämischen 
und leukämischen Form unterschieden und die aleukämische Reti- 
culoendotheliose wieder getrennt in eine aleukämische Reticulose 
und eine aleukämische Endotheliose, je nachdem an der Proli- 
feration nur Reticulumzellen oder. Endothelzellen beteiligt sind. 

Hyperplasien des Iymphatischen oder myeloischen Systems 
lassen eine zweifache Deutung zu. Entweder sind sie aufzufassen 
als Iymphatische oder myeloische Reaktionen bei Infektionen oder 
aber als irreparable Vegetationsstörungen, d. h. echte Leukämien. 
Die Entscheidung kann manchmal schwierig sein. So vermag es 
nach Naegeli schon aus relativ geringer Veranlassung heraus bei 
Kindern zum Auftreten granulocytärer, Iymphocytärer und erythro- 
cytärer Jugendformen im Blute und weiter zu erythropoetischen, 
myeloischen Bildungen in Milz, Leber, Knochenmark, Lymphknoten, 


ja selbst zur Entwicklung eines großen Milztumors zu kommen, 
12* 


180 . Krans 


ohne daß eine echte Leukämie zu bestehen braucht, vgl. Fall 
Nelken: 4jähr. Knabe, multiple Drüsenschwellung, Milztumor, 
große schleierartig belegte Tonsillen, 58000 Leukocyten, davon 
56 °/, Lymphocyten mit atypischen Formen ; selbst die mikroskopische 
Untersuchung einer exzidierten Drüse ließ an Jymphatische Leu- 
kämie denken, erst durch den günstigen Ausgang wurde bewiesen, 
daß nur eine Jymphatische Reaktion vorlag. Wie bei Kinden 
vermögen auch bei Erwachsenen akute Infektionen von leukämoiden 
Blutveränderungen und myeloiden Metaplasien in den verschieden- 
sten Organen begleitet oder gefolgt zu sein. (Werzberg, 
Franco, Herzenberg) C. Sternberg spricht in solchen 
Fällen nur von „biologischer Reaktion auf gewisse Infektionserreger 
vornehmlich Streptokokken“ und lehnt die akute Leukämie als 
selbständiges Krankheitsbild ab. 

Ist nun schon bei Hyperplasie des Iymphatischen wie myeloischen 
Systemes die Deutung oder Auffassung unsicher, so gilt dies erst 
recht für das sog. dritte oder monocytäre Blutzellsystem (reticulo- 
endotheliales System), denn wir wissen, daß es gerade eine der 
hervorragendsten Eigenschaften des Reticuloendothels ist und direkt 
in seinen physiologischen Funktionen begründet liegt, auf die 
mannigfachsten Ursachen hin, in schnellster und ergiebigster Form 
zu reagieren. Schilling, Siegmund, Herzog, Oeller, 
Kuczinsky, Wolff, Domagk u. a. haben in zahlreichen Tier- 
versuchen gezeigt, daB auf verschiedenste Reize, wie subkutane, 
intraperitoneale, intravenöse Einverleibung von Bakterien, Toxinen, 
kolloidalen Eiweißkörpern und Metallen, artfremden Blutzellen u. a. 
eine starke celluläre Reaktion von seiten des reticuloendothelialen 
Systems einsetzt, die nicht nur auf Milz, Leber, Lymphdrüsen, 
Knochenmark beschränkt zu bleiben braucht, sondern darüber 
hinaus auch in anderen Organen und Geweben eintreten kann. 
Schon 20 Min. nach intravenöser Hühnerblutinjektion konnte 
Oeller eine erhebliche adventitielle Reaktion in Form von Zell- 
neubildung und adventitieller Einscheidung größerer und kleinerer 
Arterien nachweisen. Er konnte weiter zeigen, daß neben dieser 
adventitiellen Reaktion eine endotheliale Reaktion verläuft, die 
anfangs nur in Abschilferung von Milzsinus- und Lungenkapillar- 
endothelien besteht, bald aber in so starke endotheliale Wucherungen 
übergehen kann, daß endarteriitische und endophlebitische Bilder 
entstehen. Solcher histiocytären Reaktion in den Geweben geht 
im Blute nach Schittenhelm und Ehrhardt eine Vermehrung 
der Monocyten parallel. 


tetieuloendotheliale Reaktion oder „Reticulvendotheliose“ (3. Leukämiefuorm ?). 181 


Aus mannigfacher Ursache heraus sehen wir also eine 
Wucherung der Reticuloendothelien nicht nur in den Hauptbezirken 
des Reticuloendothelialen Systems, sondern gewissermaßen heterotop 
in allen Organen (Adventitiazellen) einsetzen, sehen wir weiter im 
Blute Monocyten in vermehrter Menge und sogar deren unreife 
Vorstufen auftreten, und doch werden wir hier nicht von einer 
reticuloendothelialen Leukämie sondern einem experimentell er- 
zeugten, reaktiven Vorgang sprechen müssen. 

Solche tierexperimentell gewonnenen Befunde finden ihre 
Parallele in der menschlichen Pathologie. Schilling, Kaznelson, 
Naegeli, Weil, Baader, Elkeles u. a. haben reticuloendo- 
theliale Reaktionen mit Monocytenvermehrung und Makrophagen- 
auftreten in zahlreichen Fällen infektiöser, toxischer und parasitärer 
Erkrankungen beschrieben, so bei Typhus, Malaria, Trypanosomiasis, 
Ankylostomiasis, Angina, Endocarditis ulcerosa, Variola vera, 
Streptokokkenpyämie, Sepsis, Tuberkulose, Endocarditis lenta, 
Salvarsanintoxikation u. a. Um ein Beispiel herauszugreifen, so 
fand Schilling in zwei Fällen von Endocarditis ulcerosa in der 
Milz „strichweise ein wirres Maschenwerk von anastomosierenden 
Elementen, aus deren Verbande sich vielfach einzelne Zellen ab- 
rundeten und ablösten mit und ohne Phagocytose,* an den Sinus- 
endothelien „Proliferation, Vorspringen in das Lumen und Phago- 
eytose*. Am Leberschnitt „fielen die sehr vermehrten Sternzellen 
auf“, und die Pfortaderkapillaren waren in der Peripherie teilweise 
„direkt verstopft mit den sich ablösenden und freien Monocyten 
und Makrophagen.“ Im Blute bestand hochgradige Monocyten- und 
Makrophagenvermehrung. Da nun unter den proliferierten Reti- 
culoendothelien zahlreiche fixe und sich ablösende Makrophagen 
vorkamen, und zwischen diesen uud den Blutmonocyten fließende Über- 
sänge bestanden, sieht Schilling in den freien Makrophagen die 
ausgeschwemmten Stammzellen der Monocyten. Auf dem Boden 
einer Allgemeininfektion (Diplococcus crassus) war es also hier 
analog den Tierbefunden zu ungewöhnlich starken Wucherungs- 
erscheinungen am reticuloendothelialen System, nicht nur zu einer 
vermehrten Ausschwemmung reifer Monocyten, sondern sogar deren 
unreifer Vorstufen, der Makrophagen, gekommen. Ähnlich sind die 
Befunde, die Baader in Fällen schwerer Allgemeininfektion nach 
nekrotisierender Angina mit Leber-, Milz-, Drüsenschwellung, mit 
hochgradiger anhaltender Monocytenvermehrung erhoben hat, und 
die er deshalb unter der Bezeichnung „Monocytenangina* zusammen- 
faßt. Hierher gehören auch die Angina agranulocytotica (Elkeles), 


182 Kraus 


die monocytäre Reaktion bei Salvarsandarreichung (Kohn), die akute 
infektiöse Stammzellenvermehrung (83 °/,) bei Angina (Hopmann), 
die hochgradigen reticuloendothelialen Monocytosen (bis 80 °/,) bei 
Endocarditis lenta (Joseph) u. a. m. Stets handelt es sich um 
hochgradige retieuloendotheliale Metaplasien mit leukämoidem 
monocytärem Blutbild (Mouocytose, unreife Vorstufen, Stammzellen.) 

Fragt man sich, warum denn nicht jede Infektion mit solcher 
monocytären Reaktion verläuft, so wird man mit Baader und 
Hopmann in erster Linie an eine besondere Art des jeweiligen 
Infektionserregers zu denken haben. Wie es nach Sternberg 
Streptokokkenstämme gibt, die ganz besonders leicht zu myeloiden 
Reaktionen der hämatopoetischen Organe und zu Myelocytosen führen, 
so dürfte es auch andere Stämme geben, die hauptsächlich reizend 
am reticuloendothelialen System angreifen und vielleicht das myelo- 
ische System gleichzeitig hemmend beeinflussen, wie uns ähnliches 
vom Typhusbacillus bereits bekannt ist. Konstitutionelle Momente 
im Sinne einer Granulocytenminderwertigkeit, wie sie Türk be- 
sonders betont hat, dürften hier weniger eine Rolle spielen, weil 
bei solchen Individuen jeder Infekt zur Monocytenvermehrung 
führen müßte, was jedoch nicht den tatsächlichen Verhältnissen 
entspricht (Baader, Sprunt, Evans). Auch sind nach F. Mar- 
chand Individuen nicht bekannt, die dauernd an einer wesent- 
lichen Verminderung polymorphkerniger Zellen leiden, wie man es 
bei der Annahme einer angeborenen Verkümmerung des Granulo- 
cytensystemes doch erwarten sollte. So dürften denn allein auf 
infektiös-toxischer Basis reticuloendotheliale Metaplasien und 
leukämoide Blutbilder entstehen und zwar in einem Ausmaße, wie 
es uns für analoge Fälle Jymphatischer und myeloischer Reaktion 
fremd ist. Daß bei solchen Befunden die Deutung: echte Leukämie 
oder leukämoide Reaktion schwierig ist, liegt auf der Hand. 

Von Reschad-Schilling, Ewald, Bingel, Letterer 
u.a. sind nun derartige Fälle reticuloendothelialer Hyperplasie als 
Leukämie und zwar als Reticuloendotheliosen leukämischer oder 
aleukämischer Form beschrieben worden. Ich selbst hatte Gelegen- 
heit einen ähnlichen Fall anatomisch zu beobachten, konnte mich 
jedoch in der Deutung der Befunde nicht der Ansicht genannter 
Autoren anschließen.) 


5jähr. Mädchen, Beginn der Erkrankung vor ca. 6 Monaten mit 
Mattigkeit und Appetitlosigkeit, ab und zu Fieber. In letzter Zeit 


1) Für die freundliche Überlassung der Krankengeschichte bin ich Herm 
Prof. Dr. Ibrahim zu besonderem Danke verpflichtet. 


Retieuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose“ (3. Leukämieform ?). 183 


Brennen beim Wasserlassen. Blut im Harn. Einweisung in die hiesige 
Kinderklinik von seiten des praktischen Arztes unter der Diagnose Cy- 
stitis und Anämie. Familienanamnese o. B. Befund: Für sein Alter 
um 10 cm zu kleines Kind, in hochfieberhaftem Zustande (40,8 °). Auf- 
fallend blasse Hautfarbe, ziemlich herabgesetzter Ernährungszustand, 
blasse Nägel, blasse Schleimhäute mit leicht gelblichem Schimmer. Ver- 
größerung der nuchalen, cubitalen, axillaren, inguinalen Lymphdrüsen. 
. Rachen nicht gerötet, große Tonsillen, Zunge belegt. Lungen o. B. 
Herz: Aktion sehr erregt, systolisches Geräusch über der Spitze. Leber: 
etwas vergrößert, Milz nicht palpabel. Reflexe lebhaft, o. B. Harn: 
Albumen 4, Sach. —, Urobilinogen: —, Diazo: —. Im Sediment’ 
Leukocyten, vereinzelte Erythrocyten, hyaline und granulierte Zylinder. 
Blutbild: Hämoglobingehalt: 13 °/,. Erythrocyten: 1,06 Millionen, Aniso- 
cytose, Poikilocytose, Mikro- und Makrocyten, keine Megalocyten, keine 
Normo- und Megaloblasten. Leukocyten: 3000, davon: Lymphocyten: 
80 °/,, große Lymphocyten: 8°/,, Übergangsformen: 3 %/,, Jugendformen: 
2°, Stabkernige: 1 °/,, Segmentkernige: 10 °,. Eosinophile: 2 °/,. 
Gerinnungszeit: 11,5 Min. Bilutungszeit über 10,5 Min. Thrombocyten: 
99000. Rumpel-Leede: +. Auf Agarbouillon und Traubenzucker- 
kulturen waren keine Erreger nachweisbar. Verlauf: Durch Elektro- 
kollargol und Bluttransfusionen vorübergehend Temperaturabfall uuf 37,4°, 
Ansteigen der Erythrocytenzahl von 1,06 auf 2,6 Millionen, des Hämo- 
globingehaltes von 13"), auf 42 °),, Leukocyten fallen von 3000 auf 
1600 ab. Auf 1 ccm Adrenalin keine Leukocytenausschwemmung, unter 
weiterem Absinken der Leukocyten auf 500 und Auftreten von Ikterus: 
Exitus letalis. 


Klinische Diagnose: Sepsis mit aregenerativer Anämie. 
Aleukämische Iymphatische Leukämie? 

Sektion am 12. XI. 1925, 8 Std. p. m. S. Nr. 493/25, Patho- 
logisches Institut Jena. Wesentliche anatomische Befunde: 


Leiche eines ca. 5jähr., 100 cm langen, 14 kg schweren, grazil ge- 
bauten Mädchens. In Achselhöhlen, Leistenbeugen, am Halse bis bohnen- 
grobe, derbe, verschiebliche Lymphdrüsen, Skleren gelb, Schleimhäute blaß, 
Haut subikterisch. Leber überragt in der Mamillarlinie um 1 Querfinger 
den Rippenbogen. Mesenteriale, periportale, perilienale Lymphdrüsen stark 
vergrößert, von fester Konsistenz und geröteter, feuchter Schnittfläche. 
Thymus klein, blaß. Beide Lungen weisen an der Vorderfläche sub- 
pleurale Blutungen verschieden starker Ausdehnung auf, die im Zen- 
trum weißliche Bezirke erkennen lassen. Die gleichen Veränderungen 
finden sich auch an den hinteren und unteren Lungenabschnitten und 
nehmen an Dichte zwerchfellwärts zu. Die Pleura ist im Bereich dieser 
Stellen getrübt. Beide Pleurahöhlen frei von Verwachsungen, enthalten 
eine geringe Menge trüben, hämorrhagischen Exsudates. Herz: unter 
dem Epikard, besonders zahlreich an der Rückseite des Herzens, steck- 
nadelkopfgroße Blutungen. Beide Ventrikel und Vorhöfe dilatiert, ihre 
Wände nicht hypertrophisch. Herzmuskelfleisch blaß, von gleichmäbig 
gelbbrauner Farbe. Lungen: Die anfangs erwähnten Blutungsherde 
erweisen sich auf der Schnittfläche als keilförmig hämorrhagisch in- 


184 KRAHN 


farzierte Bezirke, die zentrale Partie ist erweicht und läßt sich als trockner, 
nekrotischer Pfropf herausheben. Bronchialschleimhaut leicht gerötet, 
Hiluslymphdrüsen geschwollen, auf der Schnittfläche feucht, braunrot. 
Halsorgane: Lymphatischer Apparat des Zungengrundes kräftig ent- 
wickelt, Tonsillen groß, stark zerklüftet, auf dem Schnitt frei von Eiter- 
herden. Milz: vergrößert, 85 g schwer, Follikel klein, Pulpa breit, 
dunkelrot, nicht abstreifbar. Nieren: an der Oberfläche um unregel- 


mäßig begrenzte, gelbe, erweichte Partien herum ausgedehnte Blutungen, . 


die auf dem Schnitt streifenföormig Rinde und Mark durchsetzen und bis 
in die Markpapillen herabreichen. Zum Nierenbecken hin nehmen die 
Veränderungen an Stärke zu. Größere Nekroseherde und Blutungen, be- 
sonders im unteren Pol der rechten Niere. In der Nierenbecken- und 
Ureterenschleimhaut zahlreiche stecknadelkopfgroße Blutungen. Harn- 
blasenschleimhaut geschwollen, in der Gegend des Trigonum Lieutaudii 
wie des Blasenscheitels von Blutungen durchsetzt. Leber: etwas ver- 
größert, Konsistenz leicht vermehrt, auf dem Schnitt Läppchenzeichnung 
angedeutet. In der Gallenblase dunkle, dickflüssige Galle. In Brust- 
und Bauchaorta fleckige und streifig angeordnete Intimaverfettung. 
Femurmark: von splenoider Beschaffenheit. Schädel: o. B. 

Anatomische Diagnose: Cysto-Pyelonephritis. Hämatogene 
Nierenabscesse und Lungenabscesse, subpleurale und subepicardiale 
Blutungen. Dilatation sämtlicher Herzhöhlen. Anämie. Hyper- 
plasie derabdominalen,axillaren, inguinalen Lymph- 
drüsen. Splenoide Beschaffenheit desKnochenmarks. 
Milzhyperplasie. Streifige Intimaverfettung der Aorta, Hirn- 
ödem, Ikterus universalis. 

Mikroskopische Untersuchung: Untersucht wurden: 
Milz, Leber, axillare, inguinale, mesenteriale und paraaortale Lymph- 
drüsen, Tonsillen, Knochenmark, Nieren, Nebennieren, Lungen. 
Zwerchfell, Herzmuskel, Blase, fixiert in Orth’scher und Zenker'scher 
Lösung und in Formalin. Neben den üblichen Färbemetlhoden 
wurden angewandt: Mallory's Säurefuchsin - Anilinblau - Orange 
Methode, Panoptische Färbung nach Pappenheim (May-Grünwald 
und Giemsa) und die Oxydasereaktion. 


Mikroskopischer Befund. 


Milz: Lymphatisches Gewebe im ganzen reduziert: kleine, zellarme 
Lymphfollikel, geringe Lymphocytenanhäufungen nur noch in unmittel- 
barer Umgebung der Gefäße. Das Gesichtsfeld wird beherrscht durch 
die in breiten Straßen zwischen den spärlichen Resten Iymphatischen 
(Gewebes hinziehende Pulpa. Stellenweise um intra- und extrakapıl.är 
gelegene Bakterienhaufen herum Nekrosen und Blutungen. Die breite 
Pulpa setzt sich aus stark gewuclherten, spindeligen Zellen mit hellem 
feingezeichnetem, meist längsovalem Kern zusammen. Der verhältnis- 
mäbig schmale Zelleib hat 2 oder 3 spitz auslaufende Fortsätze, die un- 


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Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose“ (3. Leukämieform?) 185 


mittelbar in Reticulumfasern übergehen. Die Maschen dieses breiten 
reticulären Netzes sind ausgefüllt mit blassen Erythrocyten und großen 
einkernigen Zellen, die morphologisch viel Ähnlichkeit mit den Reticulum- 
zellen besitzen. Ihr Kern ist ebenfalls groß, feinwabig, verhältnismäßig 
chromatinarm, nur zeigt er eine vorwiegend runde Form. Der Proto- 
plasmaleib ist selten spindelig, meistens polygonal bis rund und im Gegen- 
satz zu den lymphatischen Zellen recht breit. Da fließende Übergänge 
zwischen sich eben ablösenden Sinuswandzellen und solchen frei in den 
Maschen liegenden Zellen zu sehen sind, kann es sich nur um abge- 
stoßene, gewucherte Sinusendothelien handeln. Auch in den an Zahl 
und Ausdehnung ganz zurücktretenden Malpighischen Körperchen ist das 
reticuläre Gerüst stärker als gewöhnlich betont. Zwischen typischen, 
dunkelkernigen, plasmaarmen Mikro- und Makrolymphocyten liegen un- 
regelmäßig verstreut große Zellelemente mit großem, rundem, hellem Kern 
und breitem polygonalem Protoplasma, die wegen ihres Zusammenhanges 
mit dem Reticulum ebenfalls als gewucherte Reticulumzellen angesprochen 
werden müssen. ÖOxydasereaktion negativ. 

Lymphdrüsen: An sämtlichen Lymphdrüsen (axillaren, inguinalen, 
mesenterialen, paraortalen, periportalen, perilienalen) lassen sich die 
gleichen Befunde wie an der Milz erheben, nur sind die Veränderungen 
bier quantitativ noch stärker. Das Iymphatische Gewebe wird durch die 
gewucherte Pulpa oft fast ganz erdrückt, nur in der Rindensubstanz und 
an einzelnen Stellen der Markstränge erkennt man noch Lymphocyten- 


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Abb. 1. Wucherung der Reticulum- und Endothelzellen in der Lymphdrüse. 
Schwache Vergrößerung. 


186 KRAHN 


häufchen als Reste lymphatischen Gewebes. Die Marksubstanz wird fast 
ausschließlich von stark vermehrten plasmareichen Zellen gebildet, die in 
ihrer Gesamtheit durch die Parallelstellung der Kerne eine streifige 
Struktur darbieten. Es handelt sich auch hier um stark gewucherte 


7 DA: 


Dieselbe Lymphdrüse bei starker Vergrößerung. 


R = Gewucherte Reticulumzellen 


7° 


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E = In Ablösung begriffene Endothelzellen 


B = Bakterienhaufen 


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Reticulumzellen. Stellenweise nehmen sie mehr rundere, plumpere 
Formen an, lösen sich aus dem Zusammenhang mit den übrigen Reti- 
culumzellen los und liegen dann frei in den Maschen zwischen Lympho- 
und Erythrocyten, so daß die Unterscheidung von abgeschilferten Endo- 
thelzellen äußerst schwierig oder unmöglich sein kann. Die Sinusendo- 
thelien zeigen ebenfalls starke Proliferation; fast in jedem Gesichtsfeld 


Retieuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose“ (3. Leukämieform ?) 187 


sieht man, wie einzelne Endothelzellen in Ablösung begriffen sind. Oft 
ist dabei der Zusammenhang mit dem Wandendothel so locker, daß man 
gar nicht sagen kann, ob es sich schon um freie, oder noch haftende 
endotheliale Elemente handelt. Auch die Iymphatischen Rindenknötchen 
und Markstränge sind diffus mit gewucherten und losgelösten Reticulum- 
und Endothelzellen durchsetzt, so daß oft der Knötchencharakter in der 
Anordnung der Iymphatischen Zellen ganz verloren geht. An zahlreichen 
Stellen der Rinden- und Markzone finden sich um Bakterienhaufen herum 
die gleichen 'Nekroseherde wie in der Milz. Oxydasereaktion negativ. 


Knochenmark: Das Mark ist mäßig zellreich, bei starker Ver- 
größerung sieht man überall das verbreiterte reticuläre Gewebe zwischen 
den einzelnen Blutzellnestern. Auch an den Kapillarendothelien besteht 
deutliche Proliferation mit Vorspringen in das Lumen und Abstoßung 
der gewucherten Zellen. Das myeloische Gewebe ist wie die Oxydase- 
reaktion zeigt, stark reduziert, reifere granulocytäre Formen fehlen fast 
ganz, Riesenzellen sind spärlich, Lymphocyten und Lymphoblasten zahl- 
reicher vertreten. 


Leber: Normale Leberstruktur überall erhalten. Kupffer’sche 
Sternzellen vermehrt, oft in das Lumen abgestoßen, stellenweise mit 
phagocytierten Leukocyten beladen, doch bleibt die Stärke der endo- 
thelisalen Reaktion hinter der in Milz und Lymphdrüsen zurück. Inter- 
lobulär in der Umgebung der Pfortaderäste Rundzellinfiltrate, oft mit 
Bakterienhaufen. Polynucleäre Zellformen fehlen in diesen Infiltraten fast 
ganz. Oxydasereaktion negativ. 


Nieren: Um zentrale Bakterienhaufen ausgedehnte Nekrosen mit 
Blutungen; sie durchsetzen die ganze Nierensubstanz, halten sich in der 
Marksubstanz vorwiegend an den geraden Verlauf der Sammelröhren, in 
der Rindensubstanz an den der Markstrahlen. Die schwersten Verände- 
rungen liegen in der Nähe der Markpapillen. Die Randpartien dieser 
Nekroseherde sind diffus durchblutet und mit Infiltratzellen durchsetzt; 
auch hier besteht wie in der Leber das Gros der Infiltratzellen nicht 
aus polynukleären Leukocyten, sondern aus großen und kleinen rund- 
kernigen Zellelementen mit negativer Oxydasereaktion. Außer diesen 
schweren Veränderungen finden sich noch in der Rinde in der Umgebung 
der Vasa afferentia und in einzelnen Glomerulusschlingen umschriebene 
Kokkenhaufen, die noch nicht zu Nekrose und zellulärer Reaktion ge- 
führt haben. Lungen: Kokkenemboli in den Kapillaren, in der Um- 
gebung Nekrose und Blutungen. In den Tonsillen Vermehrung der 
Reticulumzellen und Hyperplasie der Iymphatischen Elemente. Epithel 
intakt. 


Im Leichenblut (Hygienisches Institut Jena) Bakterium Coli und 
Bazillus Proteus. 

Bei dem uncharakteristischen Krankheitsbeginn,. den wechseln- 
den Beschwerden, dem geringen Organbefund war es klinisch nicht 
möglich, zu einer sicheren Deutung des ganzen Krankheitsbildes 
zu kommen. Die hohen Temperaturen, das schlechte Allgemein- 
befinden, die schwere Schädigung des Granulocytenapparates und 


188 Kraun 


die hochgradige Anämie ließen einerseits an Sepsis mit aregenera- 
tiver Anämie denken, andererseits war bei der diffusen Hyper- 
plasie des gesamten Iymphatischen Apparates, der Vermehrung der 
lymphatischen Zellen im Blute (88°,) eine leukämische Lymph- 
adenose nicht mit Sicherheit auszuschließen. 


Die Klärung war erst durch den pathologisch-anatomischen 
Befund gegeben: Die streifenförmigen Nekrosen und Hämorrhagien 
in beiden Nieren, die Blutungen in der Nierenbecken-, Ureteren- 
und Blasenschleimhaut sind zweifellos Ausdruck einer ascendieren- 
den, eitrigen Pyelonephritis, die ihrerseits wieder zur Allgemein- 
infektion, zu den Bakterienembolien mit Nekrosen und Hämorrhagien 
in Lungen, Milz, Lymphdrüsen, Leber, Glomerulusschlingen geführt 
hat. Die geringe Beteiligung granulocytärer Formen an den ent- 
zündlichen Infiltraten in Leber und Nieren, das Fehlen eigentlicher 
Abscesse, die Thrombo- und Neutropenie, das Ausbleiben einer 
Adrenalinleukocytose finden’ ihre Erklärung in der Reduktion des 
myeloischen Gewebes, in der Verminderung der Megakaryocyten 
und in dem Fehlen reiferer granulocytärer Zellelemente im Knochen- 
mark. Die Vergrößerung von Milz und Lymphdrüsen aber ist be- 
dingt durch eine außergewöhnlich starke Hyperplasie der Reticulum- 
und Endothelzellen, die mikroskopisch auch in gleichem Maße im 
Knochenmark und weniger deutlich in der Leber seitens der 
Kupffer’schen Sternzellen festzustellen ist. In Milz und Lymph- 
drüsen wird das normale Gewebe durch die enorme reticuloendo- 
theliale Wucherung fast ganz verdrängt, so daß stellenweise direkt 
leukämieähnliche Bilder entstehen. Nach dem ganzen klinischen, 
makroskopischen und mikroskopischen anatomischen Befund, handelt 
es sich jedoch um eine Sepsis mit myeloischer Insufficienz, die nur 
zu ungewöhnlich hoher (leukämoider) reticuloendothelialer Reaktion 
geführt hat. 


Ganz ähnlich wie in diesem mitgeteilten Falle reticuloendo- 
thelialer Hyperplasie sind auch die Befunde, die Reschad- 
Schilling, Fleischmann, Ewald, Hirschfeld, Bingel, 
Letterer und Goldschmid-Isaac in ihren Fällen erhoben 
haben, nur kommen genannte Autoren zu einer anderen Deutung, 
insofern sie nicht von einer reticuloendothelialen Reaktion bei 
Allgemeininfektion, sondern von einer selbständigen Krankheit im 
Sinne einer 3. Leukämieform, einer „Reticuloendotheliose* sprechen. 
\Wieweit eine solche Auffassung zu Recht besteht, ob man bis heute 
überhaupt berechtigt ist, von einer reticuloendothelialen Leukämie 


Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticulvendothelivse“ (3. Leukämieform?) 189 


zu sprechen, möchte ich, angeregt durch die vorstehende Beob- 
achtung, an Hand der einzelnen Fälle hier noch erörtern. 

Ich gehe zunächst auf die mit charakteristischem Blutbild ver- 
laufenden, also „leukämischen Reticuloendotheliosen“ ein, von denen 
bisher fünf in der Literatur zu finden sind. Es handelt sich um 
die Veröffentlichungen von Reschad-Schilling, Fleisch- 
mann, Ewald, Hirschfeld und Bingel. Ich bringe als 
ersten den Fall Reschad-Schilling etwas ausführlicher, da 
sich auf diesen, als auf die erste diesbezügliche Veröffentlichung 
(1913) die weiteren Beobachtungen hauptsächlich stützen. 


Ein 33jähr. Maurer erkrankt aus voller Gesundheit heraus mit Zahn- 
fleischentzündung, Schüttelfrost, Hautblutungen, Nasenbluten, Durchfällen. 
Klinisch läßt sich ein besonderer Organbefund nicht erheben. Im Harn 
1°/, Albumen, zahlreiche Leukocyten und granulierte Zylinder. Blut- 
befund: Erythrocyten: 2245000, Leukocyten: 15100, große Mononu- 
cleäre und Übergangsformen : rundkernig: 7,4, polymorphkernig: 64,4 °/,, 
zusammen: 71,8°,. Basophile u. Eosinophile: 0, Myelocyten: 0,2, Meta- 
myelocyten: 2,4, Stabkernige: 2,2. Segmentkernige 10,6 °/, = regene- 
rative Verschiebung der Neutrophilen mittleren Grades, Lymphocyten: 
12°',, Reizformen: 0,4°;,. Schließlich Milzschwellung, Ansteigen der 
Leukocyten auf 43000; der genauere Blutbefund im großen und ganzen 
unverändert, etwas geringere regenerative Verschiebung der Neutrophilen 
„absolut müssen die Zellen jedoch eine erhebliche Zunahme erfahren 
haben“, da sie mit der allgemeinen Zahlerhöhung ziemlich Schritt halten. 
Große Mononucleäre und Übergangsformen werden z. T. atypisch: „zen- 
trale Vakuolen oder sehr große Sphärenbildung mit deutlichen Zentro- 
somen®. Die großen Einkernigen werden auch von Pappenheim und 
Naegeli für Monocyten gehalten. Nach Naegeli liegen in dem ihm 
zugesandten Präparat jedoch nur „typische Mononucleäre und Übergangs- 
formen“ vor. Die Sektion ergibt: Starke Milzschwellung, Perisplenitis, 
Siderosis hepatis, Trübung der Nieren als Hauptbefund. Histologisch 
finden sich in der Haut adventitielle Infiltrate aus großen einkernigen 
Zellen, im Femurmark beginnende Umbildung zu myeloischem Gewebe 
mit auffallend wenig Erythropoese, positive Oxydasereaktion. In den 
Mesenterialdrüsen reichliche Spuren der Erythrophagocytose, Umwand- 
lung des interfollikulären Gewebes in normales myeloisches Gewebe mit 
stärkster Oxydasereaktion, adventitielle Anbäufung von großen Einkernigen 
mit negativer Oxydasereaktion. In der Leber kleinzellige Infiltration des 
interlobulären Gewebes, in den Gefäßen der Acini massenhaft große, gut 
erkennbare Splenocyten ohne ÖOxydasereaktion. Milzabstriche bestehen 
fast rein aus Splenocyten, Follikel kaum noch erkennbar, Pulpa vollge- 
stopft mit Erythrophagen, großen Herden vom Plasmazellen und außer- 
ordentlichen Mengen der großen Einkernigen. Einzelne normale, reife 
Myelocyten sind stellenweise vorhanden, und scheinen Herden beginnen- 
der myeloischer Umwandlung anzugehören, keine Riesenzellen; myeloische 
Zellen geben stärkste Oxydasereaktion, während die große Zellmasse 
weiß bleibt. 


190 KRAHN 


Zur Begründung ihrer Diagnose Splenocytenleukämie führen 
Reschad-Schilling aus: „Da die klinischen Daten unzweifel- 
haft für das Krankheitsbild sprachen, welches man bei akuter 
großzelliger Leukämie beobachtet, alle Anzeichen einer leukämi- 
schen Entartung der Granulocyten oder der Lymphocyten völlig 
und dauernd fehlten und nur massenhafte große Mononucleäre und 
Übergangsformen in leukämischen Graden zu finden waren, so 
stellten wir die Diagnose auf reine, bisher unbekannte Splenocyten- 
leukämie“. Als weitere Stütze für diese Diagnose geben sie an: 
die leukämische Zahlenhöhe der Monocyten im Blut, die Verdrän- 
gung der normalen Hämatopoese und das infiltrative Wachstum der 
Splenocyten. 

Einer Auslegung des angeführten Falles in diesem Sinne kann 
ich nicht beistimmen. Was zunächst das klinische Bild der akuten 
Leukämie anbelangt, so ist es so wenig charakteristisch und be- 
sitzt so weitgehende Parallelen mit septischen Erkrankungen, daß 
Sternberg, Wilbur u.a. die akuten Leukämien aus der Gruppe 
der echten Leukämien ausscheiden wollten. Auch in diesem Falle 
Reschad-Schillings sprechen der akute Beginn der Erkrankung 
aus voller Gesundheit heraus bei dem kräftigen Manne mit Zahn- 
fleischentzündung, Hautblutungen, Schüttelfrost usw., der weitere 
Verlauf mit Durchfällen, Albuminurie, die Milzschwellung und 
schließlich das Blutbild mit regenerativer Verschiebung der Neutro- 
philen, Neutropenie und enormer Monocytose ebenso für eine sep- 
tische wie für eine leukämische Erkrankung. 

Was weiter die leukämische Zahlenhöhe der Monocyten anbe- 
trifft, so wissen wir, daß bei schweren Infektionen mit starker 
monocytärer Reaktion ähnliche, selbst noch höhere Werte längere 
Zeit vorkommen können (Endocarditis lenta 80°% Joseph, Angina 
83°, Hopmann, Kohn 74°, u. a... Das Auftreten gewisser 
atypischer monocytärer Formen bei infektiösen Erkrankungen ist 
durch die hohe Inanspruchnahme des reticuloendothelialen Schutz- 
apparates verständlich und des öfteren gefunden worden. Selbst 
die unreifen Vorstufen der Monocyten, die Makrophagen und endo- 
theloiden Stammzellen treten bei solcher gesteigerten reticuloendo- 
thelialen Reaktion im Blute auf. Solche Stammzellen aber, auf 
die wir doch bei der Diagnose einer Leukämie den Hauptwert 
legen müßten, fehlen im Falle Reschad-Schilling ganz. 
Naegeli spricht ja auch nach dem ihm vorgelegten Präparat nur 
von typischen Mononucleären und Übergangsformen. Es erlaubt 
also das Blutbild ebensowenig wie das klinische Bild, die An- 


Reticuloendutheliale Reaktion oder „Retieuloendotheliose* (3. Leukämieform ?) 193 


Erachtens gar nicht in Frage, meine ablehnende Einstellung einer 
reticuloendothelialen Leukämie gegenüber zu entkräften, zumal 
man noch hier die Parallele Monocytose und Myelocytose im Sinne 
Naegelis für die myeloische Genese der Monocyten verwerten 
könnte. 

Der von Bingel als Monocytenleukämie beschriebene Fall 
betrifft einen 48jähr. Mann, der 3 Wochen nach einem mittel- 
schweren Typhus von neuem unter septischen Temperaturen, Hals- 
schmerzen, Zahnfleischentzündung, Durchfällen und roten, derben 
Flecken der Haut erkrankte. Blutbefund: Hämoglobin 50°/,, 
Erythrocyten 2,5 Millionen, Leukocyten 16500, davon Neutrophile 
38,75 °,,, Eosinophile, Mastzellen und Myelocyten 0, Lymphocyten 
14,75 %,. Plasmazellen 2,25°/,, Übergangsformen 42,25 °;,, große 
Mononucleäre 2°,. Bei der Sektion fanden sich frischere und 
ältere Typhusgeschwüre, tuberkulöse Kehlkopfgeschwüre, tuber- 
kulöse Halslymphdrüsen. Bingel selbst scheint von der Leukämie- 
natur des Krankheitsbildes nicht fest überzeugt zu sein und meint: 
„darüber, ob es sich in unserem Falle nur um eine starke Mono- 
cytenreaktion oder um eine fortschreitende Erkrankung, um eine 
Monocytenleukämie handelte, ließ sich bei der leider nur dreitägigen 
Beobachtung nur schwer ein Urteil bilden“. Da atypische Mono- 
cyten und unreife monocytäre Vorstufen fehlten, die histologische 
Untersachung kein infiltratives histiocytäres Wachstum ergab, 
außerdem Typhus und Tuberkulose vorlagen, zwei Erkrankungen, 
von denen jede mit starker Beteiligung des reticuloendothelialen 
Systems einherzugehen pflegt, kann es sich m. E. auch hier nur 
um eine hochgradige monocytäre Reaktion gehandelt haben. 

In keinem der fünf mitgeteilten Fälle „Leukämischer Reticulo- 
endotheliose“ ist also die Leukämienatur zwingend bewiesen. 

Auf solchen unsicheren Befunden aufbauend, sind nun bereits 
„aleukämische Reticuloendotheliosen“ beschrieben worden, d.h. Krank- 
heitsbilder, die nur mit reticuloendothelialen Wucherungen in ver- 
schiedensten Organen, im übrigen aber mit ganz uncharakteristischem 
Blutbild einhergehen sollen. Diese aleukämischen Verlaufsformen 
wurden wieder in „aleukämische Reticulosen“ und „aleukämische 
Endotheliosen“ geteilt. Eine solche scharfe Trennung zweier gleich- 
berechtigter Anteile eines einheitlichen Systems erscheint mir nicht 
ganz berechtigt. 

Bestehen doch nach Ansicht der meisten Autoren in genetischer 
Hinsicht zwischen Reticulumzelle und Endothelzelle nahe verwandte 
Beziehungen. Die Reticulumzelle soll sich direkt aus der Endothel- 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 13 


194 KRAAN 


zelle entwickeln, und wie für das fötale soll auch für das postfötale 
Leben dieser Entwicklungsmodus gelten. So glaubt Aschoff, 
daß dieselbe Zelle auskleidende Endothelzelle und zugleich Bildner 
des Reticulums sein kaun. Nach Mollier soll überhaupt das 
Milzsinusendothel beim Hunde dauernd reticulär sein. In morpho- 
logischer Beziehung gilt das gleiche. Jeder, der sich mit 
histologischen Bildern reticuloendothelialer Reaktion beschäftigt 
hat, weiß, daß es oft ganz unmöglich ist, bei losgelösten freien 
histiocytären Zellen zu entscheiden, ob sie reticulärer oder endo- 
thelialer Natur sind. Und was schließlich die funktionelle Seite 
anbelangt, so war es ja gerade die beiden Zellarten gleichmäßig 
zukommende Eigenschaft der Phagocytose und Speicherung, die 
Aschoff und Landau überhaupt veranlaßte, von einem Reti- 
culoendothelialen System zu sprechen. Erst in jüngster Zeit hat 
Paschkis wieder gezeigt, daß naclı Carmininjektion die Farb- 
stoffspeicherung in Endothel- und Reticulumzelle völlig gleichartig 
verläuft. Bei der Lipoidaemia diabetica sollen nach Siegmund 
und Lutz ebenfalls neben den Reticulumzellen die Endothelzellen 
beteiligt sein, und bei der experimentellen Cholesterinsteatose ver- 
halten sich nach Anitschkow Endothelien und Reticulumzellen 
in Milz, Lymphdrüsen und Knochenmark völlig identisch. Bei der 
Splenomegalie Typ Gaucher scheinen die Ansichten noch geteilt 
zu sein; während Pick und Schlagenhaufer für eine Wuche- 
rung vorwiegend reticulärer Elemente eintreten, kommen Mandle- 
baum und Downey nach eingehenden Untersuchungen zu dem 
Schluß, daß auch hier „die Möglichkeit einer Mitbeteiligung der 
Endothelien in den venösen Milzsinus nicht geleugnet werden kann“. 

Bei so naher genetischer, morphologischer, funktioneller und 
patho-physiologischer Beziehung zwischen Reticulumzelle und Endo- 
thelzelle sind die Voraussetzungen für die scharfe Trennung in 
eine „Reticulose* und „Endotheliose* m. E. nicht gegeben. Die 
beiden bisher mitgeteilten Beobachtungen (Letterer, Gold- 
schmid-Isaac) vermögen mich auch nicht von dem Vorkommen 
solcher in sich geschlossener Krankheitsbilder zu überzeugen. 

Im Falle Letterer handelt es sich um ein 6 Monate altes Kind, 
das mit punktförmigen Blutungen, eitrigem Ohrausfluß und hohen Tempera- 
turen erkrankte. Bald gesellten sich dazu Drüsenschwellungen, Milz- 
und Lebertumor, schließlich Drüsenabscesse. Blutbefund: Erythrocyten 
5,6 Millionen, weiße Blutkörperchen 26000, davon Neutrophile 65 °;,, 
Lymphocyten 25 °/,, Mononucleäre 8°/,, Übergangsformen 2°/,, Hämo- 
globin 65 °/,, Färbeindex 0,58. Klinische Diagnose: Otitis media puru- 
lenta beiderseits, Absceß am linken Hinterkopf, Sepsis, Purpura, Broncho- 


Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose* (3. Leukämieform?) 195 


pneumonie. Die Sektion ergibt hochgradigste Purpura mit hämor- 
rbagischer Diathese und systematischer Erkrankung aller Iymphatischer 
Apparate (ausgenommen in Dünndarm und in mesenterialen Lymph- 
drüsen), subpleurale, subendo- und subepikardiale Blutungen ; Broncho- 
pneumonien; Phlegmone am linken Hinterhaupt, rechter Axillar- und 
linker Inguinalgegend. Otitis media purulenta beiderseits. Mikro- 
skopisch findet sich: Hochgradige Wucherung der Reticulumzellen in 
Milz, Lymphdrüsen, Solitärfollikeln des Dickdarms, Knochenmark, Haut- 
gefäßadventitia; Proliferation der Leberkapillarendothelien; Neigung zu 
knötchenförmigen Bildungen, Hämorrhagien und Nekrosen, Riesenzellen 
in Milz und Lymphdrüsen, adventitielle großzellige Infiltrate in der 
Glissonscheide der Leber. 


Überblickt man diese Befunde, so ist auch hier wieder an eine 
Allgemeininfektion zu denken. Die Lymphdrüsenvereiterungen, die 
erwähnten Hämorrhagien und Nekrosen, die Infiltrate der Glisson- 
scheide dürften zusammen mit dem klinischen Befund sich zwanglos 
in das Bild einer Sepsis fügen. Was die eigentümliche, systema- 
tische Proliferation der Reticulumzellen anbelangt, so wissen wir, 
wie auch der von mir mitgeteilte Fall zeigt, daß solche Bilder 
sehr wohl auf dem Boden einer Infektion entstehen können. Let- 
terer selbst führt einen von ihm beobachteten Typhusfall an, der 
weitgehende Parallelen mit diesem von ihm als aleukämische Reti- 
culose beschriebenen Fall besitzt. Denn auch dort bestand Wuche- 
rung von Reticulumzellen in Milz und Lymphdrüsen, oft von knöt- 
chenförmigem Charakter, mit Nekrosen. Darum neigt auch Let- 
terer in der Frage nach der Ätiologie dieser als aleukämische 
Reticuloendotheliose hingestellten Beobachtung dazu, einen infek- 
tiößsen Prozeß anzunehmen und einen chronischen, von Geburt an 
datierenden, abzulehnen, — die Infektion etwa als interkurrent, 
bzw. als sekundär anzusehen, weist er selber schon zurück. Damit 
geht der Leukämiecharakter des Krankheitsbildes verloren. Die 
Bezeichnung „aleukämische Reticulose“ läßt sich dann nicht mehr 
halten; denn wir sind nur berechtigt, von Aleukämien zu sprechen, 
wenn wirklich im klinischen wie pathologisch-anatomischen Befund 
mit Ausnahme des uncharakteristischen Blutbildes weitgehende Ana- 
logien mit der „Leukämie“ vorliegen (Cohnheim, Wunderlich). 


Unter der Bezeichnung „Endothelhyperplasie als Systemerkran- 
kung des hämatopoetischen Apparates“ ist von Goldschmid-Isaac 
ein Fall beschrieben worden, der bei uncharakteristischem Blut- 
bild in Milz, Leber und Knochenmark eine Wucherung der Endo- 
thelien und zahlreiche Riesenzellen aufwies. Die Autoren neigen 
dazu, hier ein ganz ähnliches Krankheitsbild anzunehmen, wie es 

13* 


196 Kraun 


uns mehr isoliert in dem Endotheliom der Leber entgegentritt. 
Sie streifen aber auch die Frage, ob nicht hier eine leukämische 
Erkrankung vorliegt, in Form von Stammzellwucherungen ohne 
Weiterdifferenzierung dieser Stammzellen zu Lymphoidocyten bzw. 
Myeloblasten, und sprechen deshalb von „Gefäßwandzellenpseudo- 
leukämie“, 

Der Verwertung dieses Falles als aleukämische Form der 
dritten Leukämie, und zwar als „aleukämische. Endotheliose* 
(Gödel), kann ich nicht beipflichten. Da reifere Zellformen mye- 
loischer, Jymphatischer oder monocytärer Art gänzlich fehlen, ist 
eine Entscheidung dahin, ob es sich hier um eine monocytäre, lym- 
phatische oder myeloische Stammzellenaleukämie handelt, m. E. 
unmöglich. Wie schwierig die Deutung solcher indifferenter Stamm- 
zellen selbst bei leukämischem Blutbild sein kann, zeigen die Fälle 
Ewald, Frehse und Hennig. Schließlich wäre, wenn es sich 
in diesem Falle wirklich um eine „aleukämische Endotheliose“ als 
Gegenstück zu Ewalds „leukämischer Endotheliose* handelte, zu 
fordern, daß die Stammzellen beider Fälle weitgehend überein- 
stimmten. Während nun aber Goldschmid-Isaac in ihren 
Stammzellen das Fehlen der Plasmabasophilie und das konstante 
Auftreten von immer nur einem Nucleolus besonders betonen, be- 
schreibt Ewald das Protoplasma seiner Stammzellen als basophil 
und die Zahl der Nucleolen als schwankend zwischen 1 und 5. 
Da ferner in letzter Zeit von Barth endotheliale Proliferation 
mit Riesenzellenbildung als „leukämische Endotheliose“ beschrieben 
worden ist, im Falle Barth aber eindeutig eine myeloische Leu- 
kämie vorlag, scheint es mir nicht berechtigt, die ähnlichen Be- 
funde des Goldschmid-Isaac’schen Falles im Sinne einer 
dritten Leukämie zu deuten. Man kann wohl an eine Stamm- 
zellenpseudoleukämie denken, wobei dann die histiocytären Ele- 
mente, in diesem Falle die Endothelien, zu Hämocitioblasten 
(Ferrata), also pluripotenten Stammzellen geworden sind, doch 
verliert damit der Fall jede prinzipielle Bedeutung als Beitrag 
zur „aleukämischen Reticuloendotheliose“. Ich stimme deshalb 
Letterer darin bei, daß man diese Endothelhyperplasie Gold- 
schmid-Isaac’s nur als „Sonderfall einer speziellen proliferativen 
Erkrankung des reticuloendothelialen Systems mit einseitigen Mani- 
festationen an der endothelialen Komponente auffassen darf, dem 
eine prinzipielle Sonderstellung nicht zukommt“. 

Holler und Haumeder haben als „aleukämische Reticulo- 
endotheliose auch die Lymphogranulomatose gedeutet. Sie gingen 


Reticuloendutheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose* (3. Leukämieform?) 197 


von folgenden Überlegungen dabei aus: Durch fermentative Pro- 
zesse, die die Kittsubstanz um die Zellen zur Lösung bringen, werden 
(nach Holler) die reifen Blutzellen aus ihrem Keimgewebe aus- 
geschwemmt. So gelang es genannten Autoren, durch Protein- 
körperinjektion in Leukämiefällen mit aleukämischem Blutbefund 
eine reichliche Zellausschwemmung der in Hyperplasie begriffenen 
Gewebe unter Auftreten zahlreicher jugendlicher Zellformen zu 
erzielen, gewissermaßen dadurch also die aleukämische Form in 
die leukämische überzuführen. Da nun bei gleichem Vorgehen 
auch beim Lymphogranulom eine reichliche Zellausschwemmung 
und zwar von Monocyten eintrat, folgerten Holler und Hau- 
meder daraus, daß das Lymphogranulom eine aleukämische Form 
der reticuloendothelialen Leukämie sei. 

Ganz abgesehen von dem, was ich schon allgemein über die 
reticuloendotheliale Leukämie gesagt habe, möchte ich hier noch 
auf folgendes hinweisen: Wir wissen, daß bei allen infektiösen 
Prozessen, besonders aber bei den infektiösen Granulomen, zu denen 
wir auch das Lymphogranulom gerechnet haben, das reticuloendo- 
theliale System eine besondere Rolle spielt. Wir wissen weiter, 
daß es durch Proteinkörperinjektion gelingt, einen proliferativen 
Reiz auf das reticuloendotheliale System auszuüben und eine Mono- 
cytose herbeizuführen (Schittenhelm, Ehrhardt u.a) Es 
wird uns also nicht verwunderlich erscheinen, wenn bei einer in- 
fektiösen Erkrankung, wie sie die Lymphogranulomatose zweifellos 
darstellt, durch Proteinkörpereinverleibung das an und für sich 
schon in gesteigerter Tätigkeit befindliche reticuloendotheliale 
System eine weitere Leistungssteigerung erfährt und schließlich 
eine Monocytenvermehrung resultiert. Wir werden m. E. in solcher 
Monocytose lediglich den Ausdruck erhöhter reticuloendothelialer 
Reaktion und nicht das Signum einer „aleukämischen Reticulo- 
endotheliose* zu erblicken haben. 

Hier, wie in den anderen angeführten Beobachtungen „aleu- 
kämischer und leukämischer Reticuloendotheliosen“ konnte ich aus 
Gründen, die schon im einzelnen erwähnt, mich nicht davon über- 
zeugen, daß wirklich die Berechtigung zur Aufstellung einer neuen 
Leukämieform gegeben ist. 

Die ganze Monocytenfrage scheint mir heute noch zu wenig 
geklärt, als daß wir schon von einer Monocytenleukämie als dritter 
Leukämie oder reticuloendothelialer Leukämie sprechen könnten. 
Die Ansichten der Autoren gehen hinsichtlich Stellung und Genese 
der Monocyten ja weit auseinander. Schon Paul Ehrlich brachte 


198 Krann 


durch die Bezeichnung „Übergangsformen“ zum Ausdruck, daß die 
Entstehung dieser Zellen keine einheitliche sei. Maximow, 
Dantschakoff, Weidenreich u. a. lehnten die Monocyten als 
selbständige Zellklasse von vornherein ab. Benda, Ferrata, 
Helly erklären sie für Lymphocytenabkömmlinge Pappenheim 
sieht in ihnen nur tiefstehende, mehr oder weniger pluripotente 
Zellelemente mit Entwicklungsmöglichkeiten zu Lymphocyten, wie 
auch Myeloleukocyten. Grawitz hält sie für regelrechte Über- 
gangszellen zwischen Lymphocyten und Neutrophilen, Naegeli, 
Türk, Ziegler u. a. glauben wieder an rein myeloische Zellele- 
mente, deren Mutterzelle der Knochenmarkmyeloblast ist (weil Oxy- 
dasereaktion der Monocyten positiv, Monocytose oft kombiniert mit 
Leukocytose, Monocyten sehr ähnlich pathologischen Myeloblasten, 
zwischen Myeloblasten und Monocyten Übergangsformen — Promono- 
cyten, initiale Monocytenlenkämien in Myeloblastenleukämien über- 
gehen. Sternberg und Jagi? lassen nur unter pathologischen 
Verhältnissen auch aus reticuloendothelialen Zellen Monocyten ber- 
vorgehen. Die Trialisten Aschoff, Kiyono, Schilling u.a 
stellen die Monocyten als drittes spezifisches Blutzellsystem den 
beiden anderen Systemen, dem Iymphatischen und myeloischen gegen- 
über (weil: Oxydasereaktion der Monocyten negativ, vitale Farb- 
stoffspeicherung nur in monocytären Blutzellen, Makrophagocytose 
nur bei Monocyten, eigene Monocytenlinksverschiebung und eigene 
monocytäre Stammformen von endotheloidem Typ). Da nun die 
Speicherungsversuche von Goldmann, Kiyono, Pappenheim 
u. a. gezeigt haben, daß nicht alle Monocyten speichern, daß solche 
Speicherzellen nur im venösen System vorkommen, und analog den 
Knochenmarksriesenzellen in den Lungenkapillaren oder dem linken 
Herzen zugrunde gehen, so daß im peripheren Blut nur ungespeicherte 
Monocyten anzutreffen sind, wird die einheitliche Genese aller 
Monocyten angezweifelt. Kiyono unterscheidet jedenfalls auf Grund 
supravitaler Toluidinblaufärbungen drei verschiedene Klassen von 
Monocyten: Bluthistiocyten (intravital färbbar), myeloische Ver- 
wandtschaft aufweisende Monocyten (Ehrlichs Übergangsformen, 
supravital färbbar), Iymphogene Monozyten (weder intra- noch 
supravital färbbar). Auch Pappenheim glaubt, daß die echten 
(chromophoben) Monocyten nicht identisch sein können mit den 
Aschoff’schen carminspeichernden Histiocyten. Schilling faßt 
wieder alle Monocyten einheitlich als reticuloendothelialer Natur 
auf und sieht in dem gespeicherten Histiomonocyt und dem nicht 
speichernden Monocyt nur verschiedene Funktionszustände ein 


Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose* (3. Leukämieform?) 199 


und derselben Zellart, wobei eine in die andere übergehen kann. 
Naegeli meint, daß es sich bei den Histiomonocyten, da sie im 
peripheren Blut nahezu fehlen, um alternde Formen handelt, die 
in der Blutbahn schnell zugrunde gehen. Auch Schridde sieht 
in ihnen nur „geschädigte Zellen oder Zelleichen“, die ohne eine 
Funktion auszuüben irgendwo im Blutkreislauf abgelagert und ver- 
arbeitet werden. 

Während so die einen Autoren für reticuloendotheliale Genese 
eintreten und damit die Monocyten als dritte Zellklasse von der 
Iymphatischen und myeloischen Reihe abtrennen, glauben die anderen 
wieder an eine rein myeloische bzw. lymphatische Genese oder 
lassen schließlich aus allen drei Keimlagern gemeinsam die Mono- 
cyten hervorgehen. So lange wir in dieser Frage aber nicht klarer 
sehen, sollte man m. E. noch nicht von einer Monocytenleukämie 
als dritter Leukämie sprechen. 


Zusammenfassung. 


Schon bei Lymphadenosen und Myelosen kann es schwierig 
sein, zu entscheiden, ob eine leukämoide, Jymphatische, resp. mye- 
loische Reaktion auf infektiöser Basis oder aber eine irreparable 
Vegetationsstörung im Sinne einer echten Leukämie vorliegt. Bei 
den echten Leukämien fand Berblinger eine starke myeloische 
Metaplasie unter anderem auch im Zwerchfell, die er bei rein 
leukämoiden Reaktionen vermißte. Er sieht in der Ausbreitung 
der myeloischen Metaplasien eine Trennung zwischen den beiden 
Proliferationen am hämatopoetischen Apparat, betont aber auch, 
daß bei den akuten Leukämien meist Leukocytenwerte erreicht 
werden, die weit über das Maß bei infektiösen Leukocytosen 
hinausgehen. 

Beim reticuloendothelialen System ist eine solche Entscheidung 
noch schwieriger, weil das Reticuloendothel als Schutzapparat auf 
die verschiedensten Reize hin in ausgiebigster (leukämoider) Form 
reagiert. So können bei Tier und Mensch im Verlauf von infek- 
tiösen, toxischen, parasitären Prozessen in Organen und Geweben 
Bilder entstehen, die fast ganz denen bei echter Leukämie gleichen. 
In Lymphdrüsen, Milz, Leber, Knochenmark kann es, wie die eigne 
Beobachtung zeigt, zu ausgesprochenen reticuloendothelialen Wuche- 
rungen kommen, selbst unreife, endotheliale, monocytäre Stamm- 
zellen und atypische Formen können bei leukämischen Monocyten- 
werten im Blute auftreten, ohne daß eine echte Leukämie, eine 
Monocytenleukämie, vorzuliegen braucht. Auch die bisher bekannt 


200 Kraun 


gegebenen „leukämischen und aleukämischen Reticuloendotheliosen “ 
sind nicht eindeutig als echte Leukämien anzusprechen und lassen 
Deutungen als leukämoide reticuloendotheliale Reaktionen zu. 


‘Nach Abschluß der Arbeit finde ich in Virchow’s Archiv, Bd. 260, 
H.1 (1926, 30. März) von Rynicki Akiba aus dem C. Stern- 
berg’schen Institut eine Auffassung vertreten, die sich z. T. — 
wenigstens hinsichtlich der aleukämischen Verlaufsform der Reti- 
culoendotheliose — mit meinen Ansichten deckt. Auch Akiba 
meint, daß es sich bei der aleukämischen Reticulose Letterer 
um keine echte Leukämie, sondern um einen durch Allgemein- 
infektion hervorgerufenen Symptomenkomplex handelt. 


Literatur. 


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Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendothelivse“ (3. Leukämieform?) 201 


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Zeitschr. f. Pathol. Bd. 18, 1916. — Schilling-Reschad, Über eine neue 
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Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 88, 1919. — Ders., Das Hämogramm in der Poliklinik. 
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Schridde, Myeloblasten ymphocyten ‚und lymphoblastische Plasmazellen. 
Ziegler's Beitr. Bd. 41, 1907. — Ders., Uber Regeneration des Blutes bei nor- 
malen und krankhaften Verhältnissen. Zentralbl. f, allg. Pathol. u. pathol. Anat. 
Bd. 29, 1908. — Ders., Die blutbereitenden Organe in Aschofi’s Lehrb. d. Pathol. 
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Verhandl. d. dtsch. Pathol. Ges. 1912/13. — Ders., Leukosarcomatose und Myelo- 
blastenleukämie. Ziegler's Beitr. Bd. 61, 1916. — Ders., Uber einige neue Be- 
grite und Termini aus der Pathologie der Erkrankungen des blutbildenden 
Apparates. Vortrag i. d. Ges. d. Arzte Wiens. Med. Klinik Nr. 50. 1925. -- 
Ders., Zur Frage der aleukämischen Reticulose. Vortrag i. d. Verein dtsch. 
Arzte in Prag. Klin. Wochenschr. Nr. 7, 1926. 


202 


Aus der akademischen Kinder- und Infektionsklinik Düsseldorf. 
(Direktor: Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. Schloßmann.) 


Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 
e Von 


Dr. Karl Benjamin, 
ehemaligem Assistent der Klinik, Kinderarzt in Essen. 


Angesichts der lebhaften Bemühungen, die gegenwärtig der 
Entdeckung des Scharlacherregers gelten, mag es vielleicht minder 
wichtig erscheinen, das schon überreiche Symptomenbild des Schar- 
lachs von neuem um einige Züge zu ergänzen. Die Beschreibung 
der folgenden rein phänomenologischen Beobachtungen, die ganz 
unbekümmert um ätiologische Fragen angestellt wurden, entspringt 
indes nicht nur der Freude des klinischen Zuschauers beim mannig- 
faltigen Wechsel der Scharlacherkrankungen in allen ihren Abarten: 
sie rechtfertigt sich vielmehr durch den Glauben, daß die patho- 
genetische Aufklärung der Besonderheiten gerade des Scharlachs 
(anaphylaktische Erscheinungen, zweites Kranksein, Immunisations 
vorgänge usw.) von der Bakteriologie allein nicht zu erwarten ist, 
daß es ebensosehr auf die Aufhellung der biologischen Zusammen- 
hänge ankommt, und daß hierzu selbst die einfache Krankenbeob- 
achtung noch einiges beitragen kann. 

Meine Erfahrungen umfassen nur 8 Monate und zufällig gerade 
100 Kranke, sind also nach Zeit und Zahl klein, dafür aber auf 
möglichst eingehende Beobachtung gestützt. Ein großer Vorzug 
des Materials liegt darin, daß es alle Lebensalter einschließt, und 
zwar in einer Proportion, die vermutlich den Morbiditätsziffern 
der Altersstufen einigermaßen entspricht (indem nämlich berufs- 
tätige Erwachsene relativ häufiger wegen mangelnder Pflege- und 
Isvliermöglichkeit ins Krankenhaus eingewiesen werden als Kinder. 
Kinder andererseits wieder oft als Insassen von Heimen und Pflege- 
anstalten). 


Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 203 


Die Statistik meines Materials bestätigt zunächst die bekannte 
Tatsache, daß das 
Kleinkindesalter 


vom Scharlach relativ wenig betroffen wird. Von meinen 100 
Kranken waren 

Erwachsene: 36, Kinder von 5 bis 14 Jahren: 48, Kinder von 
2 bis 5 Jahren: 16, Kinder unter 2 Jahren: 0. 

Auffallender noch als die kleine Scharlachmorbidität des Klein- 
kindes ist bei meinen Fällen die geringe Intensität der Erkrankung. 
In zwei Fällen (die hier trotzdem mitgezählt sind) blieb die 
Scharlachdiagnose überhaupt zweifelhaft,’) aber auch in mehreren 
anderen Fällen war die Entscheidung schwierig, weil das Krank- 
heitsbild, das beim Erwachsenen und beim größeren Kinde ge- 
wöhnlich von unverkennbarer Eigenart ist, beim Kleinkinde manche 
Züge gar nicht, manche nur verwischt erkennen läßt. 

Schon der stürmische, anaphylaxieartige Beginn der Erkrankung 
gehört nicht zum Scharlach des Kleinkindes. Erbrechen, das doch 
sonst beim Kleinkinde fast jeden akuten Infekt einleitet, fand sich 
nur 3mal in der Anamnese von Kleinkindern, fehlte bei 12 Fällen 
(in 1 Fall fehlen Angaben darüber). Das Fieber steigt meist nicht 
plötzlich zu voller Höhe, sondern langsam und gewöhnlich nicht 
hoch, in 6 Fällen nicht einmal über 38°. Ein typisches Scharlach- 
exanthem sah ich nur bei 5 Kleinkindern, bei den übrigen nur 
flüchtige, schwache und uncharakteristische Ausschläge, einigemal 
an den Extremitäten relativ großfleckige, morbilliforme Exantheme. 
Mit der Angina machte ich ähnliche Erfahrungen: eine typische 
Scharlachangina sah ich nur 2mal bei 4jährigen Kindern, bei 
7 Kleinkindern war die Rachenrötung so gering, daß man die An- 
nahme einer Angina dem subjektiven Belieben des Untersuchers 
anheimstellen mußte. Die verstärkte Urobilinogenreaktion, die 
sonst als wichtiges Scharlachdiagnosticum gilt, versagt beim Klein- 
kinde ebenfalls; nur 2mal fand ich die Reaktion positiv, in 2 Fällen 
wurde sie nicht untersucht, bei den übrigen 12 fehlte die Uro- 
bilinogenvermehrung. Auch das direkte oder indirekte Auslösch- 
phänomen, das sonst bei Zweifeln oft Klärung bringt, läßt gerade 
beim Kleinkinde meist im Stich. 

Es wäre allerdings verkehrt, aus diesem meist leichten Verlauf 
des ersten Krankseins auf einen harmlosen Charakter des Scharlachs 


1) Außer beim Kleinkinde sind in meiner Statistik nur sichere Scharlachfälle 
berücksichtigt. 


204 BENJAMIN 


beim Kleinkind überhaupt zu schließen. Es scheint vielmehr, daß 
gerade die mangelhafte primäre Reaktion einem stärkeren zweiten, 
wohl auch dritten und vierten Kranksein Raum läßt (ungenügende 
Antikörperbildung?). Ich zählte unter meinen 16 Kleinkindern 5, 
bei denen die Fieberhöhe des zweiten oder dritten die des ersten 
Krankseins übersteigt, einigemal reihten sich die Otitiden, Anginen 
und Lymphadenitiden viele Wochen hindurch aneinander. 


Auch der Scharlach der Erwachsenen hat ihn besonders aus- 
at Eigentümlichkeiten, so vor allem das 


„Scharlachrheum atoid“. 


Ich wähle diese Bezeichnung für dje das erste Kranksein be- 
gleitenden Gliederschmerzen, um jede Verwechslung mit. der (pyämi- 
schen) Synovitis zu vermeiden, die als weniger harmlose Komplika- 
tion trotz ihrer Seltenheit einen viel breiteren Raum in den Lehr- 
büchern einnimmt. Das ungefährliche Rheumatoid ist im Gegenteil 
sehr häufig: von 36 Erwachsenen brachten 22 ungefragt in der 
ersten bis zweiten Krankheitswoche Klagen über Gelenk- und 
Gliederschmerzen vor. Von Kindern waren Angaben über derartige 
Beschwerden auch bei Nachfrage nie zu erhalten. Die Schmerzen 
sitzen am häufigsten in Schultern und Nacken, oft auch in Hand- 
wurzel- und Fingergelenken, weniger häufig im ganzen Arm oder 
Bein. Meist ist leicht zu erkennen, daß außer den Gelenken auch 
die Muskulatur betroffen ist. 


Eine merkwürdige Beobachtung konnte ich über den Zeitpunkt 
dieser- Schmerzen machen. Sie treten nämlich auf, sobald der 
Gipfel der Temperaturkurve überschritten ist, am ersten oder zweiten 
Tage des beginnenden Fieberabstiegs, dann gewöhnlich am stärksten, 
wenn auch die Temperatur steil und tief abstürzt. Die Gültigkeit 
dieser Regel erwies sich mir bei Nachprüfung meiner sämtlichen 
Fälle (mit Ausnahme eines undeutlichen, nur schwach fiebernden). 

Die Entstehung der Beschwerden möchte man vielleicht auf 
kapillare Blutungen in Muskeln und Gelenken beziehen. Nicht 
nur kleine Hautblutungen, sondern auch Schleimhautblutungen, be- 
sonders der Nase, sind beim Scharlach gerade des Erwachsenen 
fast immer anzutreffen. (Davon konnten wir uns gut überzeugen, 
weil wir von jedem neuen Kranken einen Nasen- und Rachen- 
abstrich zur bakteriologischen Untersuchung abzunehmen pflegten.) 
Aber ein Zusammentreffen dieser Blutungen mit dem Rheumatoid 
war nicht zu erweisen. 

Dagegen ergaben sich Zusammenhänge ganz anderer Art. Es 


Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 205 


fiel auf, daß die schwersten Rheumatoide bei den Patienten beob- 
achtet wurden, die mit stark gedunsenem Gesicht oder gar mit 
deutlichem Ödem eingewiesen wurden, — ebenfalls ein initiales 
Scharlachsymptom, das vornehmlich bei Erwachsenen zu beobachten 
ist. Die Aufmerksamkeit wird dadurch auf den 


Wasserhaushalt 


der Scharlachkranken gelenkt. Unverkennbar ist zunächst die 
Wasserretention beim Beginn der Krankheit, während des Fieber- 
anstiegs: Schwellung des Gesichts, manchmal sogar leichte Ödeme 
der Extremitäten, Durst und Erhöhung des Körpergewichts. 
Während der Entfieberung sinkt das Gewicht wieder, beim Er- 
twachsenen gewöhnlich um etwa 2 kg, das Gesicht schwillt rasch 
ab. In überraschendem Gegensatz dazu lehren die Kurven der 
Harnausscheidung, daß die Harnmengen während der Entfieberung 
keineswegs vermehrt, sondern meist sogar vermindert sind, und 
daß die große Ausschwemmung erst gegen Ende des Fieberstadiums 
oder gar nach völliger Entfieberung einsetzt. Das Verschwinden 
der subödematösen Hautdurchtränkung geht dem Beginn der Harn- 
fiut in allen daraufhin beobachteten Fällen zeitlich voran. Man 
könnte vermuten, daß die Entfieberung mit vermehrter extrarenaler 
Ausscheidung beginnt und die renale Ausschwemmung erst später 
nachfolgt; meine wenigen darauf gerichteten Beobachtungen reichen 
noch nicht aus, um diese Frage zu entscheiden. Dann bleibt aber 
noch die Möglichkeit, daß beim Verschwinden der sichtbaren Haut- 
ödeme das angesammelte Wasser zunächst nicht ausgeschieden, 
sondern nur innerhalb des Organismus verschoben wird. Diese 
Annahme scheint mir durch analoge Befunde im Verhalten des 
Blutes gestützt. Ich habe in einigen Scharlachfällen und bei Pa- 
tienten mit experimentell (durch Injektion pyrogener Substanzen) 
erzeugtem Fieber den Wassergehalt des Blutserums (durch Re- 
fraktometrie) und gleichzeitig (mit dem Hämatokrit) das Volum- 
verhältnis zwischen Blutkörperchen und Plasma, also den Quellungs- 
zustand der Erythrocyten, bestimmt und dabei folgendes gefunden: 
beim Fieberanstieg ist das Volumen, d. h. der Wassergehalt der 
Erythrocyten stark vermehrt, der Wassergehalt des Serums ent- 
weder gar nicht oder relativ viel weniger, beim Fieberabstieg da- 
gegen nimmt der Wassergehalt des Serums beträchtlich zu, während 
die Erythrocyten ihr Wasser wieder abgeben. So findet also (ab- 
gesehen von der mit anderen Methoden nachweisbaren Wasser- 
retention des Gesamtblutes) eine Verschiebung des Wassers zwischen 


206 BENJAMIN 


Blutzellen und Plasma statt, beim Fieberanstieg vom Plasma in 
die Zellen, beim Abstieg in umgekehrter Richtung. Aus allge 
meinen physikalisch-chemischen Gründen ist zu vermuten, daß die 
gleichen Bedingungen auch bei den eigentlichen Körperzellen zu 
entsprechenden Wasserverschiebungen führen, beim Temperatur- 
anstieg Wasserbindung in den Geweben, beim Abstieg Entquellung 
der Zellen und Ausscheidung des Wassers in die Gewebsflüssigkeit 
und von dort ins Blut. 


Erinnern wir uns nun nochmals der Beobachtungen beim 
Rheumatoid, so waren seine beiden merkwürdigsten Eigentümlicl- 
keiten die Verknüpfung mit stärkerer Hautschwellung (gedunsenen 
Gesicht) und das Auftreten im Moment des beginnenden Fieber- 
abstiegs, also gleichzeitig mit dem Schwinden des Ödems. Es er- 
gibt sich daraus ungezwungen die Hypothese: die Muskel- und 
Gelenkschmerzen sind bedingt durch das Einsickern von Wasser 
aus den entquellenden Geweben in die Gewebsspalten, durch die 
Umwandlung von Quellungswasser in Imbibitionswasser. 


Die weitere Frage nach der Ursache der Wasserverschiebungen 
entfernt sich zu weit vom Thema, das auf die klinische Kranken- 
beobachtung beschränkt bleiben soll; ich will ihre Beantwortung 
im Rahmen einer späteren Veröffentlichung versuchen, in der ich 
auch die Richtigkeit der vorstehenden Angaben durch Unter- 
suchungsprotokolle belegen werde. Dennoch ist es notwendig. ein- 
zelne Ergebnisse und Überlegungen schon hier anzuführen, weil 
sie auch auf andere Vorkommnisse beim Scharlach ein neues Licht 
werfen. 


. Der Antagonismus zwischen dem Fieberanstieg einerseits. der 
Akme und dem Abstieg des Fiebers andererseits zeigt sich am 
augenfälligsten im Verhalten des Blutkreislaufs: beim initialen 
Temperaturanstieg kleiner, harter Puls, blasse Haut, Retention des 
Blutes im Splanchnicusgebiet und geringe Herzfüllung, auf der 
Fieberhöhe voller, weicher Puls, starke Durchblutung der Peri- 
pherie und vermehrte Herzfüllung. Diese Regel gilt für Fieber- 
zustände aller Art, und das läßt schon vermuten, daß dieser 
Doppelphasigkeit im Kreislauf allgemeinere Ursachen, Abweichungen 
des Stoffwechsels, zugrunde liegen. 

Als die zentrale Bedingung dieser Veränderungen betrachtet 
man den Wechsel im Tonus des autonomen Nervensystems oder. 
was damit gleichbedeutend ist, 


Verschiebungen der Elektrolytgleichgewichte. 


Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 207 


Ich habe mich durch Bestimmungen der Säure-Basenausscheidung 
im Harn überzeugt, daß die erwartete Doppelphasigkeit tatsäch- 
lich besteht, beim Fieberanstieg acidotische Stotfwechselrichtung 
(= zunehmende lonisierung des Blutkalks), auf der Höhe des 
Fiebers und beim Fieberabfall alkalotische Stoffwechselrichtung 
(= Entionisierung des Blutkalks). Dieses Ergebnis deckt sich 
nicht ganz mit den Angaben früherer Untersucher; ich werde den 
Beweis für seine Richtigkeit an anderer Stelle nachholen ?). 

Zu meiner Überraschung fand ich bei meinen Scharlachkranken, 
daß auch das Verhalten des Facialisphänomens oft die vorhandenen 
Elektrolytverschiebungen anzeigt. Gerade beim Erwachsenen wird 
sonst das Chvostek’sche Phänomen nicht als Zeichen einer „Al- 
kalose“, einer absteigenden Ca-Ionisierung, gewertet, sondern als 
dauernde, konstitutionelle Eigentümlichkeit.e Doch sah ich bei 
zahlreichen Individuen, die sonst kein Facialisphänomen hatten, 
während der Entfieberung und oft auch noch einige Zeit nachher 
positives Facialisphänomen auftreten, andererseits bei Kranken, 
die ein dauerndes, „konstitutionelles* Facialisphänomen aufwiesen, 
eine Abschwächnng oder Aufhebung des Symptoms beim Fieber- 
beginn, eine Verstärkung während und nach der Entfieberung. 

Damit will ich die Besprechung des initialen Fiebers schließen 
und die des Il. Krankseins mit der ` 


Scharlachnephritis 


als seiner wichtigsten Komplikation beginnen. Die pathologische 
Anatomie kennt seit langem neben der hämorrhagischen Glomerulo- 
nephritis die interstitielle Iymphocytäre Nephritis als ebenfalls nicht 
seltene Form der Scharlachniere. Bei den Klinikern hat diese 
Feststellung bisher kaum einen Widerhall gefunden, und es ist 
wohl an der Zeit, die Tatsachen der Sektionsbefunde klinisch zu 


1) Für die Intensität der Vagus- oder Sympathicuswirkung ist wahrschein- 
lich nur der Grad der Zu- oder Abnahme, also das Differential der wirksamen 
Ionenverschiebung maßgebend, nicht der absolute Wert der Ionenverteilung. Bei 
einer einmaligen Störung der normalen Elektrolytverteilung und deren rück- 
läufigen Ausgleich muß das Differential dieser Verschiebung zweiphasig verlaufen, 
im einfachsten Falle dem Berg und Tal einer Sinuskurve entsprechend. Auf 
diese Weise erkläre ich mir die Tatsache, daß man jetzt bei zahlreichen Pharmaka, 
Hormonen und physiologischen Einwirkungen einen zweiphasigen Verlauf der 
Erregung des autonomen Nervensystems gefunden hat. Das Fieber fügt sich 
dieser Regel ein, Sympathieus- und Vaguserregung folgen einander wie Fieber- 
anstieg und -abstieg. Auch die Tatsachen der „Elektrolyt-Akkommodation“ und 
„Elektrolyt-Inversion“ (Kraus und Zondek) scheinen mir auf diese Weise 
zwanglos erklärt. 


208 BENJAMIN 


bestätigen und zu ergänzen: der glomerulären Scharlachnephritis 
geht ein Stadium mit seröser Exsudation und Iymphocytärer In- 
filtration der Nieren voraus, das klinisch durch den Nachweis von 
Leukocyten und Eiweiß im Harn festgestellt werden kann und 
zwar, soweit ich nach meinen wenigen Nephritisfällen schließen 
darf, wohl gar nicht selten. Die anatomische Bestätigung dieser 
Diagnose ist am ehesten beim toxischen Scharlach zu erwarten. 
in den Fällen, die noch während des initialen Krankseins zum 
Tode führen, also in einem Stadium, das die Blutanschoppung der 
Glomeruli noch nicht oder erst im Beginn zeigt. Folgende Bei- 
spiele mögen das erläutern: 

Der erste Fall (nach der Krankheitsdauer geordnet), ein 5 jähriger 
Knabe, starb am 6. Krankheitstage. Im Urin hatte er Eiweiß und viele 
Leukocyten, daneben wenige Erythrocyten. Die Sektion ergab eine stark 
gequollene, hellgraue, im Schnitt glasige und feuchte Niere mit verwaschener 
Zeichnung, mikroskopisch dichte kleinzellige Infiltration, also eine typische 
interstitielle Nephritis. 

Der zweite Fall, ein Mädchen von 10 Jahren, starb am 10. Tage. 

Im Harn wurden zunächst nur Leukocyten und Eiweiß gefunden. 
erst 3 Tage vor dem Tode auch wenige Erythrocyten und Zylinder bei 
abnehmendem Eiweißgehalt. In den letzten Lebenstagen sehr kleine Ham- 
mengen. Sektionsbefund: interstitielle Nephritis mit wenigen glomerulären 
und streifenförmigen interstitiellen Blutungen. 

Der dritte Fall, ein 4jähriger Knabe, starb am 12. Tage, batte im 
Urin von Anfang an viel Eiweiß, viele weiße und wenige rote Blutzellen, 
erst am 11. Krankheitstag, eineu Tag vor dem Tode, auch stärkere 
Hämaturie. Wie bei den beiden vorerwähnten Fällen auch hier starke 
extrarenale Flüssigkeitsausscheidung (große Atmung!) und hochgradige 
Exsikkose, aber diesmal keine Harnsperre; noch am Vortage des 
Todes wurden 485 ccm Urin ausgeschieden, am Todestage selbst noch 
300 ccm. Die Sektion zeigte an der Niere auch bei histologischer Unter- 
suchung außer beträchtlicher Blutfülle nichts Krankhaftes. 

Der Fall gibt ein eindringliches Beispiel, wie wenig die mor- 
phologischen Harnbestandteile als Maßstab für die Schwere der 
anatomischen Nierenveränderung zu werten sind. Die Funktions- 
tüchtigkeit der Niere hatte sich auch klinisch erwiesen, als Tode- 
ursache war sicher nicht die Nephritis, sondern andere Folgen der 
Intoxikation (Exsikkose, Lähmung zerebraler Zentren, pathologische 
Blutverteilung) anzuschuldigen. Die Funktionsprüfung der Nieren 
hat uns in anderen Fällen das gleiche gelehrt, sie beweist z. B. 
oft die Harmlosigkeit noch fortdauernder Zyturien nach funktionell 
ausgeheilten Nephritiden, andererseits aber auch die eingeschränkte 
Funktionsbreite der Nieren bei manchen frisch Erkrankten, auch 
wenn kein Sedimentbefund zu erheben ist. Auf „Wasserversuch” 


nn Sr - 


Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 209 


und „Durstversuch“ lernte ich hierbei allerdings verzichten, weil 
sie den Fieberkranken quälen. Aber schon die Verfolgung der 
physiologischen Konzentrations- oder Aciditätsschwankungen (vor 
allem bei Tag und Nacht) kann manchen überraschenden Aufschluß 
geben. Leider habe ich derartige Beobachtungen nicht systematisch, 
sondern nur gelegentlich angestellt und bin vorläufig dabei ge- 
blieben, die Diagnose der interstitiellen Nephritis auf den Befund 
von Eiweiß und Leukocyten zu gründen. 

Von meinen 8 Nephritiskranken wurden 3 erst im II. Krank- 
sein mit voll entwickelter Glomerulonephritis eingewiesen, scheiden 
also für die Frage des interstitiell-nephritischen Vorstadiums aus. 
So bleiben außer den 3 toxischen noch 2 Fälle, bei denen die Ent- 
wicklung der Nephritis vom Beginn an beobachtet werden konnte: 

11!/, jähriger Knabe. Erstes Kranksein mit hohem Fieber, schwerer 
Angina und Lympbadenitis. Urin eiweißhaltig, ohne krankhafte Form- 
bestandtelle.e Am 17. Krankheitstage zweiter Fieberanstieg. Danach 
zunächst nur Gewichtszunahme, erst 3 Tage später starke Albuminurie, 
Oligurie und Ödeme. Im Harnsediment massenhaft Leukocyten, Zylinder 
und vereinzelte Erythrocyten. An den folgenden Tagen Urämie und 
eklamptische Pseudourämie bei fast völliger Anurie. Am 24. Tag im 
Sediment wenige Leukocyten und viele Erythrocyten, gleichzeitig be- 
ginnende Entfieberung und in den folgenden Tagen zunehmende Diurese. 
Die Ödeme waren in kurzer Zeit vollständig ausgeschwemmt, auch der 
anfangs stark erhöhte Reststickstoff im Serum war nach 2 Wochen zur 
Norm zurückgekehrt. Isosthenurie beim Wasser- und Durstversuch und 
dauernde Gefäßhypertension bestanden indes noch bei der Entlassung in 
der 9. Krankheitswoche, so daB schon ein Übergang in chronische Ne- 
phropathie befürchtet werden mußte, spätere Nachuntersuchungen ergaben 


aber doch völlige Heilung. 

8 jähriges Mädchen. Während des lang hinziehenden initialen Fiebers 
waren Eiweiß und Leukocyten im Harn gefunden worden, danaclı folgte 
ein Intervall mit normalem (oder fast normalem?) Harnbefund, während 
dessen schon ein leichter Anstieg des Körpergewichts die Wasserretention 
der kommenden Nephritis ankündigte, dann ziemlich unvermittelt Albumin- 
urie und Hämaturie, in den ersten Tagen wiederum mit starker, später 
mit schwächerer Beimengung von Leukocyten. Ausgang in Heilung. 


Die angeführten Krankengeschichten lehren in guter Überein- 
stimmung: bei der primären Scharlachintoxikation erkrankt die 
Niere im Sinne einer interstitiellen Nephritis, mit diffuser Exsuda- 
tion und zelliger Infiltration. Je früher die Fälle zum Tode und 
zur Sektion kommen, um so reiner findet man dieses Bild, bei zu- 
nehmender Krankheitsdauer mehren sich die Zeichen der hinzu- 
tretenden hämorrhagischen Glomerulonephritis. So kann es, wenn 
auch in seltenen Fällen (weil die schweren primären Intoxika- 

Deutsches Arcbiv für klin. Medizin. 152. Bd. 14 


210 BENJAMIN 


tionen meist schon vorher zum Tode führen), noch während des 
ersten Krankseins zur hämorrhagischen Nephritis kommen (auch 
von Pospischillund Weiß!) beobachtet). In den meisten Fällen 
aber beginnt schon nach leichter entzündlicher Infiltration die 
Heilung, und erst, wenn die sich bereits erholende Niere durch das 
zweite Kranksein wiederum geschädigt wird, schreitet der Prozeß 
bis zum Stadium der glomerulären Stase fort. Die Identität oder 
wenigstens die pathogenetische Zusammengehörigkeit der erst- und 
zweitmaligen Nierenschädigung ist sehr wahrscheinlich, bleibt aber 
doch zunächst Hypothese; um sie weiter zu stützen, habe ich des- 
halb auch bei den leichteren, ohne grobe Insufficienzerscheinungen 
verlaufenden Nierenschädigungen des II. Krankseins nachgeprüft, 
wie sich die Niere beim Krankheitsbeginn verhalten hatte. Solche 
Fälle mit stärkerer Eiweißausscheidung beim II. Kranksein, z. T. 
auch mit pathologischen Formelementen zählte ich außer den er- 
wähnten Fällen mit echter Nephritis 13 unter meinen 100 Kranken; 
bei 11 von diesen war auch beim I. Kranksein ein gleichartiger 
Urinbefund erhoben worden. In 6 weiteren Fällen waren Albumi- 
nurie bzw. Leukocyturie beim II. Kranksein so gering, daß man 
nicht mit Sicherheit eine frische Nierenschädigung annehmen darf, 
aber auch unter diesen hatten 5 schon beim Krankheitsbeginn Ei- 
weiß ausgeschieden. Im Gegensatz dazu fehlte bei den zahlreichen 
Kranken mit normalem Harnbefund während des II. Krankseins 
die Nierenschädigung auch beim I. Kranksein in den meisten Fällen. 


Pospischillund Weiß vertreten die Ansicht, daß das zweite 
Kranksein überhaupt eine im Wesen gleichartige Wiederholung des 
ersten ist. Die zeitliche Sonderstellung der typischen glomerulären 
Scharlachnephritis machte dieser Auffassung einige Schwierigkeit, 
die aber behoben wirid, sobald man auch für die Nierenstörungen 
die pathogenetische Einheit beider Krankheitsphasen annehmen 
darf. Einige weitere Einzelbeobachtungen über Wiederholung von 
Symptomen des Krankheitsbeginnes beim II. Kranksein bestärkten 
mich in diesem Glauben: ein Fall mit kapillaren Hautblutungen, 
drei Fälle mit typischer Anaphylaxie (Brechen, Blässe, Leib- 
schmerzen und Tachykardie), schließlich die auch sonst gelegentlich 
beobachteten Fälle mit zweitem Exanthem. 

Die merkwürdige Tatsache, daß beim Scharlach gleichartige 
Krankheitserscheinungen nach einem freien Intervall wiederholt 
werden, erklärt man meist so, daß aus inneren Gründen nach 


1) Über Scharlach. Verlag S. Karger, Berlin 1911. 


Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 211 


vorübergehender Immunität die Resistenz gegen den Erreger oder 
seine Toxine zur Zeit des II. Krankseins wieder absinkt und da- 
durch noch vorhandenes oder neu eindringendes Virus seine Wirk- 
samkeit von neuem entfalten kann. Daß der Erreger auch nach 
überstandener Erkrankung im Körper verbleiben kann, ja dab es 
geradezu „Bazillenträger“ des Scharlachs gibt, wissen wir von den 
sogenannten „Heimkehrfällen“. Daß aber gelegentlich auch 
exogene Reinfektionen 
beim II. Kranksein anzuschuldigen sind, möchte ich nach meinen 
Beobachtungen gleichfalls nicht ablehnen. Mehr als einmal konnte 
ich erleben, daß nach der Aufnahme eines frisch Erkrankten oder 
auch nach einem zunächst vereinzelten Falle von heftigerem 
ll. Kranksein mit einem Schlage mehrere Patienten des gleichen 
Saales mit Anginen oder Lymphadenitiden rückfällig wurden, daß 
manchmal förmliche Endemien des IL Krankseins zu gleicher Zeit 
den ganzen Saal befielen. Die in kleineren Eigzelzimmern unter- 
gebrachten Kranken hatten dementsprechend auch viel weniger 
unter den Übeln des II. Krankseins zu leiden (wobei ich allerdings 
nicht weiß, ob dabei nicht auch die Altersdisposition dieser meist 
erwachsenen Patienten mitspielt). 
Was ich aus der 


Pathologie des Herzens und des Blutkeislaufes 


an Scharlachkranken zu sehen bekam, entspricht dem, was nach 
früher von mir dargelegten Regeln !) für den Blutkreislauf bei In- 
fektionskrankheiten überhaupt gilt: die oben erwähnten wechseln- 
den Phasen der Blutverteilung und die dadurch bedingten Phäno- 
mene am Herzen, besonders das „atonische“ Herzgeräusch während 
des Fiebers und der Rekonvalescenz. Ich zweifele nicht, daß aus Un- 
kenntnis dieser Vorgänge noch viele Fehldiagnosen auf Endokar- 
ditis, Myokarditis oder „Myasthenie“ gestellt werden, zumal auch 
die vagotonischen Arrııythmien der Rekonvalescenz noch oft ver- 
kannt werden. Ich selbst habe keinen Fall von Endokarditis beim 
Scharlach erlebt und neige mit Pospischill zu der Annahme, 
daß die Scharlach-Endokarditis wohl überhaupt seltener ist, als 
meist geglaubt wird. 

Die kapillar-vasomotorischen Hauterscheinungen beim Schar- 
lach, wie der rotumränderte Dermographismus .albus, sind hin- 
reichend oft beschrieben worden, dagegen dürfte weniger bekannt 
sein, daß beim toxischen Scharlach zugleich mit dem Zerfließen 


1) Dtsch. med. Wochenschr. Nr. 35, 1924. 
14* 


212 BENJAMIN 


des Exanthems zu einer gleichförmigen Röte die Kapillarerregbar- 
keit vollständig erlischt. Ich bin geneigt, dieses Phänomen mit 
der lebensbedrohenden Kapillarlähmung der Eingeweide in Parallele 
zu bringen und ihm prognostischen Wert beizumessen. 

Eine weitere Scharlachkomplikation, die ebenfalls leicht zu 
schwerwiegender Fehldiagnose Anlaß geben kann, ist die 


Scharlachvaginitis. 


Ein 9jähriges Mädchen, das die erste Periode des Scharlachs gut 
überstanden hatte, bekam am 20. Tage unter Fieberanstieg auf 39,0° 
plötzlich einen starken, dünnflüssigen, grünlich-gelben Ausfluß aus der 
Scheide. Die mikroskopische Untersuchung zeigte massenhaft Leuko- 
cyten, dazwischen wenige Diplokokken, die beim ersten Anblick sehr 
wohl für Gonokokken gehalten werden konnten, zumal jede weitere 
Bakterienflora fehlte. Die extrazelluläre Lagerung. die grampositive 
Färbung und auch die etwas abweichende Form (es fehlte die Abplattung 
an den einander zugewandten Seiten) ließen aber die Diagnose Gonorrhöe 
ausschließen, und die Kultur erlaubte die Identifizierung hämolysierender 
Streptokokken, die ja bei ihrem Vorkommen im Körper gewöhnlich in 
kurzen, oft nur zweigliedrigen Ketten wachsen. Der Fluor ließ bald an 
Menge nach, heilte aber erst in 4 Wochen ganz ab. Während dieser 
ganzen Zeit blieben die Streptokokken in Reinkultur nachweisbar. 

Die eitrige Vaginitis als Scharlachkomplikation ist in der 
Literatur nicht unbekannt, doch wird sie zu Unrecht für ein ver- 
hältnismäßig seltenes Vorkommen gehalten. Seit diesem besonders 
eindringlichen Fall habe ich bei 19 scharlachkranken Mädchen und 
2 Frauen wiederholte Vaginalabstriche bakteriologisch untersuchen 
lassen und fand dabei eitrigen Fluor mit Streptokokken bei 9 Mäd- 
chen und 1 Frau, hämolysierende Streptokokken, aber ohne deat- 
lichen Fluor, bei 2 Mädchen, keine Streptokokken und keinen Fluor 
bei 8 Mächen und 1 Frau. Die Streptokokkenvaginitis ist also 
keineswegs selten. Sie gehört zu den üblichen Manifestationen des 
I. wie des II. Krankseins, in 4 Fällen fand ich sie so stark, dab 
sie auch ohne besondere Genitalinspektion kaum zu übersehen war. 
Bakteriologisch fanden sich immer Streptokokken, meist hämoly- 
sierende, anfangs in Reinkultur, später oft in Gesellschaft mit 
Pneumokokken, Staphylokokken oder Colibakterien. Der Zustand 
heilt immer spontan, seine Kenntnis ist aber wichtig, um Ver- 
wechselung mit Gonorrhöe zu vermeiden. 

Aus der Zahl der 


kleineren Einzelbeobachtungen während der 
Rekonvalescenz 


führe ich hier einige an, weil sie zeitlich, wenn auch nicht immer 


Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 913 


ursächlich, zum II. Kranksein gehören. Ziemlich häufig traten bei 
Erwachsenen, seltener bei Kindern im Verlauf der Rekonvalescenz 
Neuralgien auf, am häufigsten der Interkostalnerven und des Nervus 
ischiadicus. 

In einem Falle schweren toxischen Scharlachs wurde neben stark 
positivem Kernigsymptom, gesteigerten Patellarreflexen und Fußklonus 
ein dem Strümpell’schen Tibialisphänomen ähnlicher Reflex beobachtet: 
schon leichte Hüftbeugung des gestreckten Beines löste regelmäßig eine 
starke Babinski-Stellung der Zehen aus. 

Bei einem 19 jährigen asthenischen, neuro- und psycholabilen Manne 
wurde bei der Entfieberung des II. Krankseins eine vorübergehende 
vagoneurotische Überleitungsstörung am Herzen bemerkt. Die Puls- 
frequenz sank bis 44 ab, die Art der Rhythmusstörung wurde (nach dem 
Versuch einer rein auskultatorischen Analyse ohne Elektrokardiogramm) 
als partieller Block mit Systolenausfall kombiniert mit extrasystolischer 
Bigeminie gedeutet. 

Zum Schluß dieses Abschnittes noch wenige Worte über eine 
Erscheinung, die, obwohl wahrscheinlich schon längst den Scharlach- 
kennern bekannt, in den Lehrbüchern nie erwähnt ist, bis sie vor 
kurzem in zwei besonderen Veröffentlichungen gewürdigt und aus- 
führlich beschrieben wurde [Kleeberg,'!) Fanconi,?)] nämlich 
über das 

„Schuppungserythem“. 

Bei vielen Scharlachkranken sieht man zur Zeit der Schuppung 
eine fleckige, streifige oder netzförmige Rötung mancher Hautpartien, 
oft sehr augenfällig und intensiv rot, wie aus den Abbildungen 
Fanconi's gut zu erkennen ist. Von den echten Exantlemrezi- 
diven sind diese Bilder auf den ersten Blick verschieden. 

Der Name „Schuppungserythem“ war bei uns in Gebrauch, 
bevor wir die Bezeichnungen von Kleeberg und Fanconi als 
postskarlatinöses Exanthem oder Spätexanthem kennen lernten. 
Ein Exanthem ist ein Ausschlag, der aus der gesunden Haut, wie 
der Name sagt: „herausblüht“, dageren bezeichnet man reaktiv 
entzündliche Rötungen der Haut, um die es sich auch nach An- 
nahme der beiden genannten Autoren handelt, besser als Erytheme. 
Der Zusammenhang mit der Schuppung ist leicht ersichtlich bei 
den streifigen und netzförmigen Erythemen. Man erkennt un- 
schwer, daß diese Zeichnungen der Form der Schuppung ent- 
sprechen, indem überall in den Lücken und Rissen des abschuppenden 
Stratum corneum die tieferen Hornlautschichten mit roter Farbe 


l; Zeitschr. f. Kinderheilk. 38, S. 577. 
2) Jahrb. f. Kinderheilk. 107, S. 18. 


214 BENJAMIN 


vorleuchten. Die vorzeitige Entblößung mangelhaft verhornter 
junger Epidermisschichten genügt vielleicht schon allein, entzünd- 
liche Hyperämie, Schwellung und das vor allem von Erwachsenen 
lästig empfundene Gefühl des Brennens auszulösen; es ist aber zu- 
zugeben, daß auch bei schwacher und oberflächlicher Abschilferung 
starke Erytheme vorkommen (von Kleeberg mit Psoriasis, vun 
Fanconi mit Pithyriasis verglichen), und ich stimme Fanconi 
darin bei, daß wohl auch andere (reparative?) Vorgänge in der 
durch den Scharlachprozeß veränderten Haut bei disponierten 
Menschen die entzündliche Rötung bedingen können. 

Die 

epidemiologischen Beobachtungen, 

zu denen ich Gelegenheit hatte, machen mich geneigt der An- 
sicht derer beizustimmen, die im Scharlach eine Angina erblicken. 
welche bei gegebener (ihrem Wesen nach unbekannter) Disposition !) 
unter dem besonderen Bilde des Scharlachs verläuft. Die geläufige 
Erfahrung, daß Scharlacherkrankungen in chirurgischen und otia- 
trisch-rhinologischen Kliniken oft „autochthon“ auftreten und dann 
meist nicht zu größeren Endemien führen, sondern sporadisch bleiben, 
scheint mir als Argument für diese Ansicht verwertbar. Wir selbst 
erhielten einen Teil unserer Kranken aus einem Waisenhaus, in 
dem kaum ein Monat ohne Neuerkrankungen verlief, in dem es 
aber nie zu gehäuften Erkrankungen kam. Die fast gleich- 
mäßige Verteilung der Scharlachfälle aus diesem Waisenhaus wird 
durch beistehende Tabelle verdeutlicht. Nicht minder eindrucksvoll 


Oktober | November Dezeniher ‚Januar Kran März April 
| ! ' 


| | | | 
| | | | TE | | | ' 
sind Einzelbeobachtungen nach Art der nachfolgenden: ein Arzt, 
der als Kind mit Sicherheit Scharlach gehabt hat, wird von einem 
Scharlachkranken bei der Racheninspektion angehustet und er- 
krankt kurz darauf an Halsentzündung und starker Lymphadenitis. 
Wenige Tage später hat er die meisten seiner Haushaltsgenossen 
angesteckt, und zwar erkranken seine Frau und das Hausmädchen 
an Scharlach, das 1ljährige Kind und die 59jährige Großmutter 
aber, die beide durch ihr Lebensalter weniger zum Scharlach dispi- 
niert sind, nur an starker Angina. 


1) Daß diese in einer Sensibilisierung durch vorangehende Infekte bestehen 
soll, ließ sich durch meine Anamnesen nieht bestätigen. 


Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 215 


Ist danach also die Angina der wichtigste und zentrale Be- 
standteil des Scharlachs, so scheint die 


Lehre vom anginafreien Wundscharlach 


dieser Ansicht zu widersprechen. Man nahm bisher an, daß bei 
extrapharyngealer Infektion keine Angina zu erwarten sei. Viel- 
leicht ist aber schon diese Voraussetzung irrig, jedenfalls verträgt 
sie sich nicht mit der neueren, besonders von Fein!) vertretenen 
Auffassung des Anginaproblems: über der Angina steht die „Angi- 
nose“, über der lokalen Erkrankung des Schlundrings die entzünd- 
liche Reaktion des gesamten Iymphatischen Systems in allen Or- 
ganen. Denn damit verliert eine Sonderstellung der „Eintritts- 
pforte“ Sinn und Bedeutung. Wäre es nicht denkbar, daß die 
widersprechende Meinung vom Wundscharlach ohne Angina mehr 
auf irrigen Theorien als auf guten Beobachtungen aufgebaut ist? 
Und umgekehit: auch was von der Anginosenlehre zu halten sei, 
könnte gar nicht besser geprüft werden als durch eine kritische 
Untersuchung des Verhaltens beim Wundscharlach. 

Unter diesem Gesichtspunkt habe ich aus meinem Material 
die Fälle mit sicherem Wundscharlach (bei denen das Exanthem 
kurz nach einer Verwundung einsetzte und von der Wundumgebung 
ausging), die Fälle mit wahrscheinlichem bzw. möglichen Wund- 
scharlach (bei denen meist kleinere Wunden oder Hauterkrankungen 
mit Epitheldefekten in Frage kamen), ferner die Fälle von sog. 
Menstruationsscharlach (wenn Angina und Exanthem nach dem 
Beginn der Menses auftraten) und schließlich alle Fälle ohne nach- 
weisbare extrapharyngeale Eintrittspforte ausgesondert und weiter 
nach der Intensität der Anginen gruppiert: starke Anginen, wenn 
Rötung, Schwellung und Belag gefunden wurde; schwache, wenn 
deutlicher Belag und beträchtliche Schwellung fehlten; unsichere, 
wenn sich der Zustand beim Krankheitsbeginn wegen späterer 
Einlieferung dem Urteil entzog, aber anamnestisch Angina an- 
gegeben wurde; keine, wenn die geringe Rötung oder Schwellung 
nicht sicher als pathologisch zu bezeichnen war und anamnestisch 
keine Halsentzündung angegeben wurde. 

Dabei ergab sich folgendes. S. Tabelle auf nächster Seite. 

An der Übersicht ist zunächst auffallend, in wie vielen Fällen, 
die trotzdem als sicherer Scharlach zu diagnostizieren waren, keine 
zweifellose Angina beobachtet wurde. Die Ursache liegt darin, 
daß viele Patienten erst nach den ersten Krankheitstagen ein- 


1) Die Anginose. Verlag Urban u. Schwarzenberg. Wien 1921. 
‘ 


216 BENJAMIN 


geliefert wurden. Weiter ist aber beachtenswert, daß die meisten 
Fälle von sicherem oder wahrscheinliichem Wundscharlach mit 
Angina verliefen (auch wenn von den beiden Nasenoperierten ab- 
gesehen wird, bei denen die Eintrittswunde im Zuflußgebiet der 
lymphatischen Rachendrüsen liegt), in meiner kleinen Statistik 
zufällig sogar in höherer relativer Beteiligung als die Fälle mit 
vermutlich pharyngealer Infektion. 


| | 


Angina: starke schwache unsichere : keine Summe 


| | 


sicherer Wundscharlach | 


a) nach Nasenoperationen | — 2 = = 2 
b) nach anderen verauns — 1 E= S G 2 

dungen | | 
wahrscheinlicher Wund-| 2 | 6 1 | 4 13 

scharlach | | | 
Menstruationsscharlach — |! 2 | 2 2: 6 
kein Wundscharlach 6 26 S | 97 IM 
100 


Zugegeben, daß der Widerspruch dieses Ergebnisses gegen 
die bisherige Lehre auf dem Fehler der kleinen Zahl beruhen mag, 
so ist doch sicher erwiesen, daß erstens die Angina bei extra- 
pharyngealem Wundscharlach nicht immer fehlt, zweitens wäre 
aber sogar ein sicher nachgewiesenes Überwiegen der Anginen bei 
pharyngeal Infizierten noch keineswegs ein Argument gegen die 
Richtigkeit der Anginosenlehre bzw. für die lokale Erkrankung 
der Eintrittspforte. Denn es leuchtet doch ein, daß bei Individuen, 
die konstitutionell zu Katarrhen der Atemwege disponiert sind 
und die bei hyperplastischem Iymphatischen Apparat oft und stark 
an Anginen erkranken, auch die Möglichkeit einer pharyngealen 
Infektion gesteigert ist. Wenn es also bisher hieß: wer pharyı- 
geal infiziert wird, kriegt eine stärkere Angina, — so wird man 
fortan sagen müssen: wer starke Anginen kriegt, wird wohl auch 
leicht pharyngeal infiziert. 

Ich habe den sog. 


„Menstruationsscharlach“ 


herkömmlicherweise als Sonderfall des Wundscharlachs angeführt, 
obwohl es von vornherein schwer zu glauben ist, daß der Uterus 
in einem doch häufigen und physiologischen Zustand zum Ausgangs- 
ort einer Allgemeininfektion werden soll. Es ist zwar unbestritten, 
daß ein großer Feil der scharlachkranken Frauen in den ersten 
Tagen des Krankenhausanfenthalts menstruiert ist, in meinen 


Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 217 


Material 19 von 24 Frauen. Bei weiterer Prüfung fand ich aber, 
daß der Beginn des Scharlachs meist nicht der Menstruation folgt, 
wie bei dem vermuteten Zusammenhang zu erwarten wäre, sondern 
daß die Menses oft erst nach dem Auftreten der Scharlachangina 
oder des Exanthems einsetzen. 

Unter meinen 24 Fällen erfolgte der Beginn des Scharlachs 
(Angina oder Exanthem) 

innerhalb der Inkubationszeit (1—5 Tage) nach den Menses 
6 mal, kurze Zeit (1—3 Tage) vor dem Beginn der Menses _ 
13mal(!), ganz unabhängig von den Menses 5mal. 

In den meisten Fällen folgte also die Menstruation kurz nach 
dem Beginn des Scharlachs. Die naheliegende Vermutung, daß die 
Blutung infolge der Krankheit verfrüht eintritt, ließ sich an meinem 
Material nicht bestätigen. Es bleibt also nur die Folgerung, daß 
weniger die Menstruation selbst als die prämenstruelle Zeit eine 
besondere Scharlachempfänglichkeit schafft. Nicht die blutende 
Wundfläche des Uterus, sondern die endokrinen oder Stoffwechsel- 
wirkungen der Eireife dürften also das disponierende Moment ab- 
geben. 

Es ist verwunderlich, daß diese einfache Feststellung in den 
früheren Veröffentlichungen über den Menstruationsscharlach ver- 
säumt worden ist und sich so eine falsche Auffassung über seine 
Natur festsetzen konnte. 


Ergebnisse. 

1. Im Säuglings- und Kleinkindesalter ist der Scharlach selten, 
sein Bild ist symptomenärmer und weniger charakteristisch als 
beim älteren Kinde und beim Erwachsenen. 

2. Den Scharlach der Erwachsenen zeichnet das Rheumatoid 
aus, das beim Beginn der Entfieberung auftritt und wahrschein- 
lich durch den Übertritt von Wasser aus den entquellenden Zellen 
in die Gewebsinterstitien bedingt wird. 

3. Als Ausdruck der Elektrolytverschiebungen tritt beim Fieber- 
abstieg oder kurz danach häufig ein vorübergehendes Facialis- 
phänomen auf, in anderen Fällen verschwindet ein schon konstitu- 
tionell vorhandenes im Fieber und kehrt bei der Entfieberung ver- 
stärkt zurück. 

4. In Übereinstimmung mit den Sektionsbetunden lehrt auch 
die Klinische Beobachtung, daß eine interstitielle Iymphocytäre 
Niereninfiltration der typischen Glomerulonephritis vorangeht. 

5. Endokarditis und Myokarditis sind keine häufigen Scharlach- 


218 Benyamın, Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 


komplikationen, nur aus Mißdeutung der vasomotorischen Blutver- 
schiebung, der „atonischen“ Geräusche und der vagotonischen Re- 
konvalescenz-Arrhythmien oft fälschlich diagnostiziert. 

6. Die Streptokokkenvaginitis ist eine häufige Manifestation 
des ersten und zweiten Krankseins. Da die Ketten der Erreger 
oft nur zweigliedrig sind, ist eine Verwechselung mit Gonorrhöe 
möglich. 

7. Die Lehre vom anginafreien Wundscharlach entspricht weder 
den klinischen Tatsachen, noch der richtigeren Auffassung der 
Angina als einer allgemeinen Systemerkrankung (nicht nur einer 
lokalen Reaktion der „Eintrittspforte*). 

8. Der sog. „Menstruationsscharlach“ ist nicht die Folge einer 
uterinen Infektion, sondern anderer prämenstrueller oder menstru- 
eller Vorgänge; denn der Beginn des Scharlachs geht dem Einsetzen 
der menstrnellen Blutung meist um kurze Zeit voraus. 


219 


Aus der medizinischen Universitätsklinik Köln-Lindenburg. 
(Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Moritz.) 


Zur Frage, 
ob das Insulin beim Gesunden auf die Ausscheidung von 
Gesamtstickstofl, Aminosäurenstickstoff und Kupferoxyd- 
reduzierenden Substanzen im Harn einen Einfluß hat. 


Von 


Fritz Zinsser. 


Seit den grundlegenden Untersuchungen von Banting und 
Best besteht kein Zweifel mehr darüber, daß das Insulin mit 
einem Pankreasinkret identisch ist, und daß es dem Diabetiker 
etwas ganz Wesentliches ersetzt. Daraus ergibt sich schon, daß 
das Insulin auch für den gesunden Menschen zur Erhaltung des 
Stoffwechselgleichgewichtes erforderlich sein wird. Wenn sich auch 
naturgemäß die Literatur in erster Linie mit dem Einfluß des In- 
sulins auf den Diabetiker beschäftigt, so finden sich dennoch hier 
und da Hinweise, die seine Bedeutung für das normale Individuum 
dartun. 

Cammidge (1) und vor allem Harris (2) schildern die Be- 
schwerden mehrerer Patienten, welche darin bestanden, daß sie 
längere oder kürzere Zeit nach einer Mahlzeit über außerordent- 
lich starkes Hunger- und Mattigkeitsgefühl, über Zittern und Ohn- 
machtsanfälle klagten. Beim Fehlen jedes abnormen klinischen 
Befundes war nur der Blutzucker erniedrigt. Gab man den Pa- 
tienten etwas Fruchtsaft, so schwanden die Krankheitserscheinungen 
sofort; sie traten überhaupt nicht auf, wenn die Personen die Zeit- 
räume zwischen den Mahlzeiten verkürzten. Nicht ohne Unrecht 
führen Cammidge und Harris dieses so häufig beobachtete 
Krankheitsbild auf eine Insulinwirkung zurück. In eine ähnliche 
Richtung weisen die Versuche von Staub (3) Staub ließ einen 
Gesunden eine reichliche Kohlehydratmahlzeit zu sich nehmen und 


220 ZINSSER 


transfundierte 5 Stunden später 400—500 ccm seines Blutes einem 
Diabetiker, dessen Blutzucker gleich nach der Injektion für ca. 
4 Stunden erheblich unter den Wert sank, der allein aus der Ver- 
dünnung des Diabetikerblutes zu berechnen war. Transfundierte 
er dagegen Blut von einem Gesunden, der 24 Stunden gehungert 
hatte, so trat beim diabetischen Empfänger die Blutzuckersenkung 
nicht ein. 

Wiechmann (4) fand bei Gesunden und leichten Diabetikern 
nach oraler Glukosezufuhr ein Absinken der Aminosäurenwerte 
im Blute, wie er sie in ähnlicher Weise beim Diabetiker nach 
Insulinzufuhr nachweisen konnte. Beim schweren Diabetiker da- 
gegen blieb die Senkung des Aminosäurenspiegels des Blutes nach 
Glukosezufuhr aus. Man geht wohl nicht fehl, wenn man sowohl 
die Versuche von Staub als auch die von Wiechmann dahin 
deutet, daß das Pankreas des Gesunden und des leichten Diabe- 
tikers auf die Glukosezufuhr mit vermehrter Insulinproduktion 
antwortet. 

Im Hinblick auf diese „physiologische* Rolle des Insulins 
habe ich auf Veranlassung von Herrn Privatdozent Dr. Wiech- 
mann untersucht, welchen Einfluß das Insulin beim Gesunden auf 
die Ausscheidung von Gesamtstickstoff, Aminosäurenstickstoff und 
Kupferoxyd-reduzierenden Substanzen mit dem Harn ausübt. Man 
muß annehmen, daß sich ein Teil der Vorgänge, die sich im Blut 
und Gewebe abspielen, im Harn wiederspiegelt. 

Die Untersuchungen wurden an fünf weiblichen Individuen 
angestellt, die entweder vollkommen gesund waren oder nur ganz 
unwesentliche Spitzenbefunde aufwiesen. Daß sie fieberfrei waren, 
braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden. Sie wurden auf 
eine bestimmte Kost und Flüssigkeitszufuhr eingestellt; mit den 
Insulinversuchen wurde erst begonnen, nachdem die Werte für die 
zu untersuchenden Substanzen konstant waren. Die Urine wurden 
von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends und von 8 Uhr abends bis 
8 Uhr morgens getrennt gesammelt. Menge und spezifisches Ge- 
wicht wurden festgestellt. Bei allen Untersuchungen wurden 
Doppelbestimmungen angestellt, die gut übereinstimmten. Das 
Insulin wurde jedesmal eine halbe Stunde vor der Mahlzeit sub- 
kutan injiziert. Zur Verwendung kamen Insulin „Bayer“ und das 
englische Insulin „AB“ (Brand). Die Wirkung beider war iden- 
tisch. Die höchste injizierte Kinzeldosis betrug 20, die höchste 
injizierte Tagesdosis 70 Einheiten. 


Zur Frage, ob das Insulin usw. 221 


I. Gesamtstickstoff. 


Über den Einfluß des Insulins auf die Ausscheidung des Ge- 
samtstickstoffs mit dem Harn herrschen in der Literatur verschie- 
dene Ansichten. Es erscheint zweckmäßig, die Beobachtungen, die 
man an Diabetikern und an pankreas-diabetischen Tieren gemacht 
hat, von jenen zu trennen, die anı gesunden Menschen und an nor- 
malen Tieren angestellt wurden. 

Die Erfahrungen beim menschlichen Diabetes und bei dem 
durch Pankreasexstirpation experimentell hervorgerufenen Diabetes 
decken sich im allgemeinen. An pankreas-diabetischen Tieren be- 
obachteten McCarthy und Olmstead (5), daß das Insulin die 
Stickstoffausscheidung herabsetzt, welche nach den Erfahrungen 
Minkowski’ (6) beim menschlichen Diabetes erhöht zu sein 
pflegt. In ähnlicher Weise fanden Nash (7) und Ringer (8) bei 
phloridzin-diabetischen Hunden eine Abnahme der Stickstoffaus- 
scheidung unter der Einwirkung des Insulins. In dieselbe Rich- 
tung weisen die Beobachtungen Wiechmann’s (4) und Pollak’s (9) 
beim Diabetes des Menschen. 

Im Gegensatz zu diesen übereinstimmenden Befunden am dia- 
betischen Individuum gehen die Ansichten der Autoren über den 
Einfluß des Insulins anf die Gesamtstickstoffausscheidung beim 
normalen Menschen resp. Tier erheblich auseinander. Collazo 
und Haendel (10) fanden bei Tauben nach Insulininjektion eine 
Zunahme der Stickstoffausscheidung. Nash (7) stellte bei Hunden 
4 Stunden nach der Injektion von 7,5 Einheiten Insulin eine Zu- 
nahme der Stickstoffausscheidung um nahezu 25°/, fest, die von 
einem. Absinken gefolgt war. Labbé und Theodoresco (11) 
stellten Versuche an normalen Hunden an und fanden ebenfalls 
nach Insulin starke Stickstoffverluste. Labbé und Theodoresco 
glauben sogar den Tod eines ihrer Versuchstiere auf zu große 
Stickstoffverluste zurückführen zu müssen. Mit diesen Versuchen 
stimmen die Befunde von Blatherwick, Bell und Hill (12) 
nicht überein. Ihre Beobachtungen an gesunden Individuen zeigen, 
daß nach Insulinzufuhr anfänglich eine gesteigerte Stickstoffaus- 
scheidung stattfindet, daß diese aber bei fortgesetzter Insulingabe 
einem allmählichen Absinken der Stickstoffwerte unter die Norm 
Platz macht. Kudrjawzewa (13) stellte bei gleichmäßig er- 
nährten Kaninchen gleichfalls ein Absinken der Stickstoffausschei- 
dung, manchmal sogar bis auf die Hälfte der Normalwerte fest. 

Bei den eigenen Versuchen wurden die Versuchspersonen 9 bis 
12 Tage lang beobachtet, und immer die 12stündigen Urinportionen 


222 ZINSSER 


untersucht. Die Bestimmung des Gesamtstickstoffs erfolgte durch 
das Makro-Kjeldahlverfahren. Alle Versuche verliefen in gleicher 
Richtung. Als Ergebnis kann zusammenfassend gesagt werden, 
daß sich in keinem von den fünf Fällen ein Einfluß 
des Insulins auf die Ausscheidung des Gesamtstick- 
stoffs im Urin nachweisen ließ. Tabelle 1 soll die Ergeb- 
nisse illustrieren. Von der Wiedergabe der übrigen Tabellen sehen 
wir aus Gründen der Raumersparnis ab. 

Der Übersicht halber wurden von den Tagen, an welchen kein 
Insulin gegeben wurde, und von denen, an welchen die Versuchs- 
personen Insulin in steigenden Dosen erhielten, die Mittelwerte 
der Ausscheidungszahlen bestimmt. Bei einem Fall stieg der 
mittlere Ausscheidungswert von 5,09 g ohne Insulin auf 6,34 g mit 
Insulin, während bei einem anderen die mittlere Gesamtstickstoff- 
ausscheidung von 5,60 g ohne Insulin auf 4,80 g mit Insulin herab- 
sank. Diese nach oben und unten veränderten Ausscheidungszahlen 
liegen jedoch scheinbar noch innerhalb der Variationsbreite, welche 
sich auch ohne Insulinzufuhr findet. Entsprechend der größeren 
Urinmenge am Tage war die Gesamtstickstoffausscheidung am Tage 
in der Regel größer als in der Nacht. 

Nach den in der Literatur niedergelegten sich widersprechenden 
Beobachtungen war ebensogut mit einem Ansteigen als auch mit 
einem Absinken der Gesamtstickstoffausscheidung zu rechnen. Unsere 
Untersuchungen ergaben jedoch bei genau gleichbleibender Er- 
nährung und konstantem Körpergewicht keine Veränderung in der 
Ausscheidung des Gesamtstickstoffs unter Insulinzutuhr. Es wäre 
aber immerhin denkbar, daß ein anfängliches Ansteigen und ein 
darauffolgendes Absinken der Stickstoffausscheidung, wie es bei- 
spielsweise von Blatherwick, Bell und Hill (12) innerhalb 
6 Stunden beobachtet wurde, bei unseren Versuchsanordnungen 
deswegen nicht zutage trat, weil sich die Abweichung nach oben 
und unten bei Untersuchung der zwölfstündigen Harnportionen kom- 
pensierte. Wäre der Urin etwa zweistündig untersucht worden, so 
hätte man möglicherweise einen Ausschlag nach der einen oder 
anderen Richtung finden können. 


II. Aminosäurenstickstoff. 


Wie sich die Aminosäurenausscheidung im Harn nach Insulin- 
zufuhr beim Gesunden verhält, darüber existieren bisher keine An- 
gaben in der Literatur. Nur der Einfluß des Insulins auf die 
Aminosäurenausscheidung des Diabetikers ist verschiedentlich unter- 


223 


Zur Frage, ob das Insulin usw. 


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224 ZINSSER 


sucht worden. Wiechmann (4) fand beim Diabetiker eine deut- 
liche Verminderung des Aminosäurengehaltes in Blut und Harn 
nach Insulingaben. Beim pankreaslosen Hunde beobachtete 
v. Falkenhausen (14) dagegen keine wesentliche Beeinflussung 
der Aminosäurenausscheidung durch Insulininjektion. 

Es wurden die gleichen fünf Personen untersucht. Die Be- 
stimmung des Aminostickstoffs geschah nach der von Folin (15) 
angegebenen Methode. Alle Untersuchungen führten zu dem gleichen 
Ergebnis. Ein Beispiel ist in Tabelle 1 wiedergegeben. 

Die Tabelle. zeigt, daß sich die Mittelwerte der abso- 
luten Aminosäurenausscheidung (0,037 g vor und 0,038 g 
nach Insulininjektion) nicht geändert haben. Außer ganz 
geringen Schwankungen, welche in der Variationsbreite liegen, 
konnte diese Tatsache bei allen 5 Versuchspersonen beobachtet 
werden. 

Die interessanten Feststellungen vonSchmitzundSiwon(16), 
daß eine Vermehrung der Harnmenge mit einer vergrößerten Amino- 
säurenausscheidung meist Hand in Hand geht, daß also ein ge- 
wisser Parallelismus zwischen Wasser- und Aminosäurenausschei- 
dung besteht, konnten fast durchweg bestätigt werden. Aus der 
Tabelle ist ersichtlich, daß z. B. am 19. I., 21. I., 24.1. und 28.1], 
also an den Tagen, an welchen die Harnmenge sehr groß war, die 
Zahlen für die Aminosäurenausscheidung ziemlich hohe Werte er- 
reichten. In den anderen Fällen wurde die gleiche Beobachtung 
gemacht. 

Wenn man das Verhältnis von Amino-N und Gesamt-N vor 
und nach Insulininjektion errechnet, so finden sich auch hier un- 
veränderte Werte. 


III. Kupferoxyd-reduzierende Substanzen. 

Nach Blatherwick, Bell und Hill (12) übt das Insulin 
keinen Einfluß auf die Ausscheidung der reduzierenden Substanzen 
des Harnes beim Gesunden aus. Blatherwick, Bell und Hill 
haben beobachtet, daß die Menge des gärungsfähigen sowohl wie 
des nichtgärungsfähigen Zuckers durch Insulin nicht beeinflußt wird. 

Wir haben die Kupferoxyd-reduzierenden Substanzen nach 
Moritz (17) bestimmt und können die Feststellungen von Blather- 
wick, Bell und Hill für alle fünf untersuchten Fälle bestätigen 
(vgl. Tabelle 2). Geringe Schwankungen der Ausscheidung nach 
oben wie nach unten kommen sowohl mit als auch ohne Insulin- 
zufuhr vor. 


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Zur Frage, ob das Insulin usw. 


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226 Zınsser, Zur Frage, ob das Insulin usw. 


Eine annähernde Konstanz der Ausscheidung von reduzierenden 
Substanzen im Harn von 24 Stunden, wie sie von Moritz (17) 
beschrieben worden ist, geht auch aus unserer Tabelle deutlich 
hervor. Die prozentuale Ausscheidung ist im Nachtharn ent- 
sprechend seiner höheren Konzentration eine größere, während 
andererseits eine große Urinmenge wie z. B. am 13. II., 15. IL, 16.11. 
und 21.1I. mit einer vergrößerten absoluten Ausscheidung der redu- 
zierenden Substanzen einhergeht. 

Beim Gesunden bewirkt Insulin eine Herabsetzung des Blut- 
zuckergehaltes unter die Norm, und man könnte daher auch eine 
Verringerung der reduzierenden Substanzen im Harn erwarten. Da 
sich jedoch die Blutzuckersenkung im wesentlichen auf den Glu- 
kosegehalt des Blutes bezieht, und da der Gehalt des normalen 
Harnes an Traubenzucker außerordentlich gering ist, so ist es er- 
klärlich, daß eine Hypoglykämie nicht in einer verminderten Aus- 
scheidung von reduzierenden Substanzen im Harn zum Ausdruck 
zu kommen braucht. 


Zusammenfassung. 


Bei fünf gesunden Individuen wurde der Einfluß des Insulins 
auf die Ausscheidung von Gesamtstickstoffl, Aminosäurenstickstoff 
und Kupferoxyd-reduzierenden Substanzen im Harn untersucht. 
Eine Veränderung, speziell im Sinne einer Verminderung, konnte 
in keinem Fall nachgewiesen werden. 


Literatur. 


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hausen, Untersuchungen über den Eiweißstofiwechsel beim experimentellen 
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— 15. Folin, Journ. of biol. chem. 51, 377, 1922, — 16. Schmitz u. Siwon, 


Biochem. Zeitschr. 160, 1, 1925. — 17. Moritz, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 46, 
217, 1890. 


227 


Aus dem Pathologisch-anatomischen Institut Zürich. 
(Direktor: Prof. Dr. H. von Meyenburg.) 


Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen 
der Herzklappen zum spezifischen Muskelsystem. 


Von 


E. Vehlinger, 


Assistent am Institut. 


(Mit 5 Abbildungen.) 


Die pathologisch-anatomische Klassifikation des Adams-Stokes- 
schen Symptomenkomplexes verdanken wir den Arbeiten von 
Nagayo und Mönckeberg. Sie unterscheiden 


I. Neurogene Formen a) zentraler Typus (Morgagni), 
b) peripherer Typus. 

II. Cardiale Formen a) Reizleitungstypus, 
b) muskulärer Typus, 
c) Isolierungstypus. 


In dieser letzteren, von Mönckeberg aufgestellten Form, 
ist das Atrioventrikularbündel selbst vollkommen intakt, dagegen 
vom Vorhof oder Ventrikelmyokard oder von beiden zugleich ge- 
trennt. Die kardiale Form des Adams-Stokes’schen Symptomen- 
komplexes unterscheidet sich klinisch von der neurogenen Form 
durch ihre Unbeeinflußbarkeit durch Atropin. Ihr, wie auch dem 
unvollkommenen und vollkommenen Herzblock ohne cerebrale Be- 
gleiterscheinungen, liegt pathologisch-anatomisch in den meisten 
Fällen der Reizleitungstypus zugrunde. — Das spezifische Muskel- 
system kommt in seinem Verlauf vom Coronarsinus durch den An- 
nulus fibrosus und das Kammerseptum zur Herzspitze absteigend, 
dann wieder subendokardial zur Herzbasis und in die Papillar- 
muskeln ansteigend, in ausgedehnte Berührung mit dem Myokard 
und Endokard, unter fast vollkommener Umgehung der Klappen. 


Es sind daher vor allem Myokard- und Wandendokardprozesse die 
15* 


228 ÜEHLINGER 


per continuitatem auf das spezifische Muskelsystem übergreifen, es 
schädigen und zerstören. Die Folge sind Überleitungsstörungen, 
denen pathologisch-anatomisch fibröse, eiterige, rheumatische und 
gummöse Myokarditiden und Parietalendokarditis zugrunde liegen. 

Nur der kurze Durchtritt durch den zentralen Bindegewebs- 
körper bringt das Crus commune in unmittelbare Nähe von Aorten-, 
Tricuspidal- und Mitralklappen. Trotzdem sind Überleitungs- 
störungen im Verlaufe einer Endokarditis selten, was einerseits 
durch die Lokalisation der Entzündungen am freien Klappen- 
rand, andererseits durch die Seltenheit von Tricuspidalleiden be- 
dingt ist. Nur für die basalen Klappenaffektionen ist der natür- 
liche Ausbreitungsweg der Übergriff auf den Annulus fibrosus und 
damit auf das His’sche Bündel. Dieses gewissermaßen typische 
Ausbreitungsbild zeigen 

1. die ascendierende Arteriosklerose der Aortenklappen, 

2. die maligne destruierende, ulceröse Endokarditis. 

Mönckeberg hat in seiner Arbeit: Der normale histologische 
Bau und die Sklerose der Aortenklappen, 2 Typen scharf heraus- 
gearbeitet. Die primäre ascendierende Klappensklerose beginnt am 
Ansatzrand und bleibt im wesentlichen auf die innerste, dem Sinus 
Valsalvae zugewendete. von elastischen Fasern freie Schicht be- 
schränkt. Die Veränderungen bestehen zunächst nur in geringen 
Verdickungen und vereinzelten Verkalkungen der Ansatzränder. 
Die Segel selbst bleiben zart, leicht beweglich. Histologisch findet 
man herdförmige Nekrosen, Infiltrate, Verfettung und geringgradige 
Verkalkung der Intercellularsubstanz. Mit Fortschreiten der Skle- 
rose bildet sich ein Kalkrosenkranz an der Klappenbasis aus, da 
in dem Auftreten eines Kalkherdes immer zugleich die Tendenz 
zu seinem appositionellen Wachstum liegt. Die Kalkschollen fließen 
zusammen, drängen das Endothel gegen den Sinus Valsalvae vor, 
breiten sich in der Klappe selbst aus und strahlen in die Basis 
des großen Mitralsegels und das subendokardiale Gewebe des 
Kammerseptums aus. Die Klappen bleiben dabei vollkommen 
schlußfähig, da die Pars luxurians von jeder Entartung verschont 
bleibt. Dagegen ist in den schweren Fällen das Aortenostium 
insufficient und eingeengt, die Kommissuren sind miteinander ver- 
wachsen. Die die Sinus fast vollkommen ausfüllenden Kalknester 
durchbrechen das Endothel, und die den Defekt zudeckenden Fibrin- 
massen fallen selbst wieder der Verkalkung anheim. 
= Die Erstarrung des Aortenostiums führt zur ungehemmten 
Übertragung des Blutrückstoßes auf den Annulus fibrosus. Die 


Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 9229 


Folgen sind mannigfache Verzerrungen und Verschiebungen seiner 
Fibrillenbündel und Störungen im Gewebssäftestrom, eine be- 
schleunigte Gewebsabnützung, ein vorzeitiges Altern. Zellen und 
Intercellularsubstanz verfetten. Das hyaline Bindegewebe wandelt 
sich in knorpelähnliches Gewebe um, das Gerüst verkalkt. Die 
ersten Kalkschollen treten z. T. selbständig auf, meist aber bilden 
Verfettung und knorpelige Degeneration nur die Vorbedingungen 
für ein rasches Fortschreiten der Verkalkung von den Aorten- 
klappen auf den Annulus fibrosus. Damit treten die Altersprozesse 
in unmittelbare Nähe des His’schen Bündels. 

In S-förmiger Biegung gegen die rechte Septumseite weicht 
dieses zunächst den vordringenden Kalkmassen aus. Bogenförmig 
wird das Bündel über die Kalkkugeln ausgespannt und sehr bald 
entwickeln sich in ihm Druckschädigungen. Die Muskelfasern 
werden schmal, langgezogen, verlieren ihre Querstreifung und 
schwinden teilweise vollkommen. Hand in Hand damit kommt es 
zu starker Vermehrung des fibrillären Binde- und Fettgewebes, 
das sich in breiten Strängen zwischen die noch erhaltenen Muskel- 
fasern einlagert. In den Endstadien wird das Bündel durchbrochen. 
Die Gefäße bleiben meist schmalwandig, im Gegensatz zur arterio- 
sklerotischen Knotenatrophie. 

Eine zweite Lieblingslokalisation für Kalkablagerungen im 
Herzen bilden die Spitzen der Papillarmuskeln und das Septum 
membranaceum. Die in seine hintere Umrandung eingelagerten 
Kalkmassen gefährden besonders den linken Schenkel. Anderer- 
seits haben diese Kalkablagerungen das Bestreben zu wachsen. 
Sie dringen ebenfalls in den Annulus fibrosus ein und das Crus 
commune wird zwischen diesen und den von den Aortenklappen 
einstrahlenden Kalkschollen zusammengepreßt, und bei Zusammen- 
fluß der Kalknester mehr oder weniger vollkommen unterbrochen. 

Klinisch weisen zuerst ventrikuläre Extrasystolen auf die 
Reizung des spezifischen Muskelsystems durch die vordringenden 
Kalkmassen hin. Mit. zunehmender Durchtrennung des Bündels 
kommt es zur Verlängerung der Überleitungszeit, Kammersystolen- 
ausfall, und in den Endstadien zu unvollkommener, selten voll- 
kommener Dissoziation der Vorhofkammerschlagfolge. 

Solche Fälle sind schon zahlreich in der Literatur beschrieben 
worden von Mönckeberg, Nagayo, Aschoff usw. Als Bei- 
spiel will ich kurz einen von Mönckeberg veröffentlichten Fall 
anführen: 


230 ÜEHLINGER 


59 jähriger Mann, litt seit 5 Jahren an plötzlich und regellos ein- 
tretenden Schwindelarfällen mit Bewußtlosigkeit. Die Untersuchung er- 
gab starke Herzvergrößerung nach links. Puls 28—42, regelmäßig, voll. 
gespannt. Sekundenherztod. Bei der Sektion findet man schwerste 
ascendierende Arteriosklerose der Aortenklappen mit Verschmelzung der 
beiden vorderen Klappen und verkalkender Thrombose. A.orteninsufficienz. 
‘Von der rechten Aortenklappe erstrecken sich die Kalkablagerungen 
bis zum Grunde des Septum membranaceums und verschmelzen mit Kalk- 
schollen, die in dessen untere Umrandung eingelagert sind. Die Kalk- 
massen durchtrennen das Crus commune im Bereich seiner Teilungsstelle. 
Die Anfangsteile der beiden Schenkel fehlen vollkommen, der rechte bleibt 
auf einer Strecke von 3,5 mm. der linke auf einer Strecke von 5,6 mm 
unterbrochen. Die proximalen Schenkelenden splittern sich in das derb- 
fasrige, die Kalkmassen umzieliende Bindegewebe auf. Das Crus commune 
endigt links, subendokardial, unter einer starken Endokardverdickung. 


Die ersten Stadien der Bündelverdrängung durch die vordrin- 
genden Kalkablagerungen, und selbst hochgradige Druckatrophie 
des spez. Muskelsystems können klinisch aber auch absolut sym- 
ptomlos bleiben. Trotzdem besteht eine gewisse Leistungsbeein- 
trächtigung, die sich in einer erhöhten Vagusempfindlichkeit zeigt. 
Der überraschende, plötzliche, in Sekunden eintretende Herztod im 
Alter, aus scheinbar voller Gesundheit heraus, beruht meist auf 
seniler Atrophie oder Druckschädigung des Reizleitungssystems. 
dessen Leitfähigkeit durch den plötzlich gesteigerten Vagustonus 
aufgehoben wird. (Kohlensäureüberladung des Blutes bei schlechter 
Atmung.) 

In dem ersten von mir untersuchten Fall hatte bei dem 66 jäh- 
rigen Patienten, der wegen Atembeschwerden (Emphysem und 
Bronchitis catarrhalis) in Spitalbehandlung eingetreten war, eine 
gewisse Pulsunregelmäßigkeit, bei regelmäßigem Venenpuls auf 
eine Überleitungsstörung hingewiesen. Die Herzgrenzen waren 
leicht verbreitert, die Töne rein. In der Nacht nach Spitaleintritt 
plötzlicher Herztod in wenigen Minuten. 

Die Sektion ergab (S.-P. 284/1925): Endocarditis chronica 
fibrosa calculosa mit Übergreifen auf das Septum ventriculorum 
und das große Mitralsegel.e. Exzentrische Herzhypertrophie. be- 
sonders links. Braune Atrophie des Herzens. Chronisch-substan- 
tielles Lungenemphysem. Stauungsbronchitis Chronischer Milz- 
tumor. Stauungsorgane. 

Herzbefund: Im Herzbeutel 10 ccm klare gelbe Flüssigkeit. 
Herz etwas größer als die Faust der Leiche, wiegt 440 g. mibt 
vom Sulcus terminalis bis zur Spitze 14 cm, von der Kranzfurche 
bis zur Spitze 8 cm, ist straff kontrahiert. Spitze rund, von beiden 


Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 9231 


Ventrikeln gebildet. Epikard und Perikard glatt, glänzend. Sub- 
epikardiales Fettgewebe hellgelb, an der Spitze reichlich entwickelt. 
Venöse Ostien für 2 Finger durchgängig. Arterielle Ostien halten 
auf Wassereinlauf. 

Mitralis am freien Rand guirlandenförmig verdickt, Sehnen- 
fäden schlank, frei. Tricuspidalis und Pulmonalis zart. Klappen 
durchsichtig, leicht beweglich. Aortenklappen am gesamten An- 
satzrand wulstartig verdickt und knotig verkalkt. Die Sinus Val- 
salvae, besonders der hinteren und rechten Klappe, fast vollkommen 
mit festhaftenden, papillären und traubenartigen Gebilden aus zu- 
sammenhängenden Kalkkugeln angefüllt.e In den Kommissuren 
Klappenränder 3—5 mm weit miteinander verwachsen. In die 
Verwachsungsfläche Kalkschollen eingelagert. Die übrige Pars 
luxurians zart, leicht beweglich im Gegensatz zur starren Klappen- 
basis. Von der Basis der hinteren Aortenklappe greift die Ver- 
kalkung einerseits auf den Annulus fibrosus über, durchsetzt ihn 
vollkommen als stacheliges, walzenförmiges Gebilde, das Endokard 
und Ansatzgebiet der hinteren, medialen Tricuspidalklappe in die 
rechte Kammer vorwölbend; andererseits greift die Verkalkung auf 
die Basis des großen Mitralsegels über (Zone Sato III), rafft und 
spannt das Segel an. Die Aorta mißt über den Klappen 7, die 
Pulmonalis 8 cm. Linker Vorhof und linker Ventrikel mäßig er- 
weitert. Myokard im linken Ventrikel auf Schnitt braunrot, trans- 
parent, mißt 15 mm. Papillarmuskeln und Trabekel kräftig. Rechter 
Vorhof und rechter Ventrikel stark erweitert, Muskulatur wie links, 
mittlere Breite 6 mm. Beide Herzohren frei. Intima der Coronar- 
arterien überall verdickt, gelb, z. T. verkalkt. Lumen weit. 

Histologischer Befund: Zur histologischen Untersuchung 
wurde aus dem Septum ein Block herausgeschnitten mit Atrio- 
ventrikularknoten, His’schem Bündel und proximalen Schenkelteilen. 
Einbettung in Parafin. Serienschnitte bei horizontaler Schnitt- 
richtung. Schnittdicke 10—20 u. Färbung abwechselnd in Häm- 
alaun-Eosin und van Gieson. 

In den ersten Schnitten sind Vorhofsseptum, hintere und rechte 
Aortenklappe quer getroffen. Die Ansatzränder der Klappen werden 
durch ein lockeres, mittelzellreiches Bindegewebe mit sternförmigen 
Zellen, das in der innersten, von elastischen Fasern freien Wand- 
schicht liegt, stark verbreitert. Auf den folgenden Schnitten sind 
in dieses lockere Bindegewebe Kalkkugeln eingelagert, die anfangs 
noch durch ein kernarmes, stark hyalinisiertes, fibrilläres Binde- 
gewebe voneinander getrennt werden. Die Kalkkugeln nehmen in 


232 | UEHLINGER 


den nächsten Schnitten rasch an Zahl zu, fließen zusammen, drängen 
das Endothel, von dem sie nur eine schmale Bindegewebsschicht 
trennt, gegen den Sinus Valsalvae vor, füllen ihn fast vollkommen 
aus. Zugleich treten neue Kalkschollen subendothelial im Septum 
auf, stellen eine brückenartige Verbindung zwischen den knotig- 
verkalkten Klappenansatzrändern her und dringen andererseits in 
den Annulus fibrosus ein. 

Mit Schnitt 270 beginnt das spezifische Muskelsystem. Seine 
Muskelfasern sind zart, lang, schmal und werden durch reichlich 
zwischengelagertes Fettgewebe und feinste Bindegewebsfibrillen 
auseinander gedrängt. Gefäße zart. Spärlich perivaskulär ge- 
lagerte Lymphocyten- und Plasmazellinfiltrate.e Auf Schnitt 330 
treten am Ansatzrand des Tricuspidalsegels neue Kalkschollen auf. 
die in den folgenden Schnitten rasch an Masse zunehmen, und 
ebenfalls in den Annulus fibrosus und das Vorhofmyokard eindringen. 
Der Atrioventrikularknoten wird durch diese Kalkmassen gegen 
die linke Septumseite ausgebogen und die Muskelfasern halbmond- 
förmig über die kugelige Oberfläche der Kalkschollen ausgespannt. 
Die in den Annulus fibrosus eingedrungenen Kalkmassen vereinigen 
sich mit den Kalkkugeln der muskulären Septumspitze und stellen 
so eine Kalkschranke zwischen Vorhof- und Ventrikelmyokard her. 
Auf Schnitt 400 tritt plötzlich eine starke Massenzunahme der 
Kalknester im Sinus Valsalvae der hinteren Aortenklappe ein. 
Diese dringen auch in den Annulus ein und das auf diesen 
Schnitten längsgetroffene His’sche Bündel wird zwischen die beiden 
Kalklager eingefaßt (Abb. 1). In S-förmiger Krümmung sucht das 
Reizleitungssystem den vordringenden Kalkmassen auszuweichen. 
In den nächsten Schnitten vereinigen sich aber die Kalkmassen 
zu einem einzigen, ceircinär begrenzten Knoten, der das Crus com- 
mune vollkommen unterbricht. Um den Kalk verläuft ein breites 
Band aus hyalinisiertem, fibrillärem Bindegewebe mit herdförmiren 
Lymphocyteninfiltraten, die stellenweise auf Ventrikel und Vor- 
lofmyokard und spezifisches Muskelsystem übergreifen. Mit 
Schnitt 450 schwinden die Kalkschollen wieder. Nur eine, zwischen 
Ansatz des Tricuspidalsegels und hinterer Aortenklappe sich aus- 
breitende Kalkspange bleibt noch bis Schnitt 720 sichtbar. Von 
distalen Fragment des His’schen Bündels spaltet sich in den letzten 
Serienschnitten der linke Schenkel ab und der rechte senkt sich 
in das Septummyokard ein. Beide Schenkel sind im weiteren Ver- 
lauf vollkommen intakt. 

Der Sinusknoten kräftig entwickelt, intakt. 


Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 233 


Ventrikelmyokard: Muskelfasern schmal, mit deutlicher 
Streifung, wenig braunem Pigment, ohne Fett. Das fibrilläre Stroma 
zart, nicht infiltriert. 

Die fabelhafte Leistungs- und Anpassungsfähigkeit des spezi- 
fischen Muskelsystems zeigt sich in diesem Fall sehr anschaulich. 
Die von 3 Seiten gegen das Crus commune vordringenden Kalk- 
massen hatten das His’sche Bündel fast vollkommen unterbrochen. 
Trotzdem. war die Überleitung nur wenig gehemmt und die gering- 
gradige Pulsarrhythmie bei 100 Schlägen in der Minute wahrschein- 
lich durch ventrikuläre Extrasystolen bedingt. Nur der Minuten- 


‚Abb. 1. Zusammenpressen des Crus commune zwischen den, in den Annulus 
fibrosus von links und rechts einstrahlenden Kalkmassen. 


herztod weist auf die Schädigung des spezifischen Muskelsystems 
hin. Der: gesteigerte Vagustonus, bedingt durch eine Kohlensäure- 
überladung des Blutes bei dem schlechten Gasaustausch infolge des 
Emphysems und der Bronchitis, führte zur plötzlichen, vollkommenen 
Unterbrechung der Überleitung. Damit waren die Bedingungen 
für die Entwicklung einer Kammerautomatie und des Kammer- 
fimmerns geschaffen. 

Typisch ist in diesem Fall die Lokalisation der Kalkeinlage- 
rungen an den mechanisch am meisten beanspruchten Organteilen, 
l. in den Gelenken der Klappen (Klappenansatzränder), 2. in der 
unteren Umrandung des Septum membranaceums, das als Sehne 


234 ÜEHLINGER 


der longitudinalen Myokardschichten gleichfalls zahlreichen Zer- 
rungen ausgesetzt ist. | 


II. 


Im Gegensatz zur ascendierenden, primären Arteriosklerose 
der Aortenklappen wird durch die sekundäre, von der Aorta ascen- 
dens auf die Pars luxurians der Klappen descendierende Arterio- 
sklerose, das Reizleitungssystem nicht unmittelbar in Mitleiden- 
schaft gezogen. Auch die Mesaortitis luetica greift nur auf den 
freien Klappenrand über und führt zu Stenose und Insufficienz des 
Aortenostiums. Aneurysmabildungen der Sinus Valsalvae sind daher 
sehr selten, da die mesaortitischen Infiltrate auf der Höhe des 
Schließungsrandes der Aortenklappen glatt aufhören. Doch siud 
von Roth zwei Fälle beschrieben worden, in denen kirschkern- 
große Ausbuchtungen der hinteren Aortentaschen, das Vorhofseptum, 
über dem hinteren Fünftel des medialen Tricuspidalsegels in den 
rechten Vorhof eingedrückt und so zu einer mehr oder weniger 
vollkommenen Durchtrennung des Atrioventrikularknotens geführt 
hatten. (Keine histologische Untersuchung.) In beiden Fällen be- 
stand klinisch vollkommener Herzblöck. Die zahlreichen Fälle von 
Überleitungsstörungen bei Lues sind durch gummöse Myokarditis 
und Endartritis obliterans bedingt und sind ganz unabhängig von 
gleichzeitigen Aortenaffektionen. 


III. 


Die Seltenheit von Überleitungsstörungen im Verlauf einer 
Endocarditis verrucosa wird durch die typische Lokalisation der 
Effloresceenzen am Schließungsrande und unmittelbar darüber ver- 
ständlich. Dem Destruktionsprozeß der malignen Endokarditis, der 
rücksichtslos die Klappen zerstört und in Form tiefer Ulcerationen 
auf Vorhof und Kammerwand übergreift, kann dagegen das spezi- 
fische Muskelsystem ebenfalls zum Opfer fallen. Durch Abklatsch- 
ulcerationen am Septum bei losgelösten Mitralsegeln, wird be- 
sonders der linke Schenkel beschädigt und unterbrochen. James 
hat einen Fall von akuter, ulceröser Endokarditis bei einem 
65jährigen Manne beschrieben, wo eine ulceröse, von der medialen 
Kommissur der Mitralis ausgehende Endokarditis ein 3:11, cm 
messendes Ulcus in die Kammerscheidewand gefressen hatte und 
Atrioventrikularnoten und den proximalen Teil des linken Schenkels 
zerstörte. Die dann vollkommen unabhängig voneinander schlagen- 
den Vorhöfe und Kammern wurden beide in verschiedener Weise 


Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 235 


durch das septische Fieber beeinflußt. Adams-Stokes’sche Anfälle 
fehlten. 

Der Endocarditis ulcerosa können Verkalkungen, die vom Klap- 
penansatzrand in das Septum membranaceum ausstrahlen, den Aus- 
breitungsweg vorzeichnen. Eine solche Kombination von schwer- 
ster ascendierender Arteriosklerose der Aortenklappen mit Knochen- 
bildung und destruierender, ulceröser Endokarditis, die zu einer 
fast vollkommenen Unterbrechung des spezifischen Muskelsystems 
geführt hat, zeigt der folgende Fall. 

Die 64 jährige Patientin mit Sepsis lenta und Aorteninsufficienz 
zeigte in den letzten Tagen vor dem Tode einen auffallend lang- 
samen, regelmäßigen, vom Fieber kaum beeinflußten Puls von un- 
gefähr 40 Schlägen in der Minute. Die Sektion ergab: 

Sepsis lenta. Endocarditis chronica fibrosa calculosa retrahens 
recurrens valvulae aortae mit Übergreifen auf Ventrikel und Vor- 
hofseptum. Absceßbildung in der Herzscheidewand mit Durch- 
bruch in den Sinus Valsalvae der hinteren Aortenklappe. Aorten- 
stenose. Exzentrische Hypertrophie des linken Ventrikels. Akuter 
Milztumor mit hyalinen Follikelzentren. Zentrale Lebernekrosen. 
Hyperämie der Bauchorgane. Stauungsinduration und Infarkt- 
narben der Nieren. Submuköses Leiomyom des Magens. Leiomyo- 
mata uteri. 

Herzbefund: Im Herzbeutel finden sich 20 ccm klare, gelbe 
Flüssigkeit. Herz vergrößert, mißt von der Spitze bis zum Sulcus 
terminalis 14, bis zur Kranzfurche 9 cm. 

Spitze abgerundet, vom linken Ventrikel gebildet. Perikard und 
Epikard glatt. Venöse Ostien für 2 Finger durchgängig. Aorten- 
klappen lassen das Wasser durch. Mitralsegel zart, am freien 
Rand zahlreiche, harte, glatte Knötchen. Sehnenfäden schlank, 
nicht verwachsen. Mitralis mißt über den Klappen 8cm. Tricus- 
pidalis und Pulmonalis zart. Tricuspidalis mißt 9, Pulmonalis 7!/, cm. 
Aorta mit 6 cm Umfang besitzt nur 2 Klappen Beide vorderen 
Taschen miteinander verwachsen. Verwachsungsfläche bis auf eine 
ausgezackte, die Klappen vereinigende und ausspannende Leiste 
zerstört. Pars luxurians aller Klappen wulstig verdickt. Ansatz- 
ränder grobknotig verkalkt. Sinus Valsalvae der beiden vorderen 
Klappen fast vollkommen mit korallenstockähnlichen Kalkmassen 
angefüllt. Von der hinteren Aortenklappe breiten sich die Kalk- 
massen, besonders auf das große Mitralsegel und in Form von 
großen Kalkkugeln auf die untere Umrandung des Septum mem- 
branaceums aus. Über den großen, breiten Kalkmassen, die sich 


236 U EHLINGER 


von der Basis der hinteren Aartenklappe auf das vordere Mitralsegel 
erstrecken, ist das Endocard ulceriert. Der circinär begrenzte, 
5:5 mm messende, flache Substanzdefekt ist z. T. durch graurote, 
thrombotische Massen verdeckt, seine Ränder sind unterminiert, 
schlaf. Mit der Sonde gelangt man in eine große Absceßhöhle, 
die sich in Vorhofkammer- und Vorhofseptum ausbreitet, in den 
hinteren Sinus Valsalvae durchbricht und das Endokard, sowohl 
in den linken Vorhof über der medialen Kommissur der Mitralis, 
als auch im rechten Vorhof in einem dreieckigen Feld zwischen 
Ansatz der hinteren Mitralklappe, Todaro’sche Sehne und Coronar- 
sinus halbkugelig vorwölbt. Im Bereich dieser drohenden Durch- 
bruchstellen ist das Endokard beiderseits sclımutzig, blutig dunkel- 
blaurot unterlaufen. Die spaltförmige Rißstelle im hinteren Sinus 
Valsalvae ist mit frischen, roten Thromben belegt. Linker Vorhof 
und linker Ventrikel erweitert. Myokard auf Schnitt graurot bis 
graugelb, trübe, mißt im linken Ventrikel 12—15, im rechten 3—4 mm. 
Papillarmuskeln und Trabekel mittelkräftig, auf Schnitt wie die 
Wandmuskulatur. Rechter Vorhof und rechter Ventrikel weit. 
Herzohren frei. Coronararterien an den Abgangsstellen durch 
polsterartige, gelbe Verdickungen und im Verlauf durch zahlreiche, 
gelbe Intimaverdickungen eingeengt. 

Zur histologischen Untersuchung wurde aus dem Septum ein 
Block herausgeschnitten, der die gesamte Absceßhöhle und den 
proximalen Teil des Reizleitungssystems umfaßte. Serienschnitte 
bei transversaler Schnittrichtung. 

Histologischer Befund: Am Aortenostinum haben sich 
2 zeitlich getrennte Prozesse abgespielt, die sich histologisch streng 
auseinander halten lassen. 

1. Eine schwere ascendierende Arteriosklerose. 

2. Eine frische, akute, ulceröse destruierende Endocarditis. 

In allen 3 Klappen sind die Taschen mit dichtgelagerten Kalk- 
kugeln angetüllt, die von einem kernarmen, hyalinen, fibrillären 
Bindegewebe eingehüllt werden und die in den beiden vorderen 
Klappen streng auf die innerste, den Sinus Valsalvae zugekehrte 
Klappenschicht beschränkt bleiben, dagegen in der hinteren Tasche 
das ganze Segel in seinem Ansatzbereich durchbrochen haben und 
in breiten Zügen seitlich auf das Septum membranaceum, absteigend 
auf das muskuläre Septum übergreifen. In der Durchbruchstelle 
umschließen die Kalkmassen schalenförmig spongiöses Knochen- 
gewebe. Die lamellär-gebauten Knochenbälkchen liegen z. T. den 
Kalkschalen unmittelbar an, z. T. bilden sie ein grobmaschiges 


Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 9237 


Netzwerk und werden fast vollkommen von flachen Osteoblasten- 
säumen bekleidet. In den Markräumen liegt Fettmark. Über den 
gesamten Kalkknochenmassen der hinteren Aortenklappe ist das 
Endokard zerstört und mit einer dicken Lage von geschichteten, 
plumpen Fibrinfäden und polynucleären Leukocyten belegt. Die 
noch erhaltenen Reste des subendokardialen Bindegewebes sind auf- 
gequollen, mehr oder weniger dicht mit Leukocyten infiltriert. Be- 
sonders breit, unregelmäßig geschichtet, zerfressen ist dieser Belag 
über den unterhalb der hinteren Aortenklappen gelegenen Kalk- 
knoten. Von dieser Stelle bricht das Infiltrat in das Vorhof- 
kammerseptum ein. Dichte Leukocytenstränge dringen zwischen 
den Kalkkugeln vor und umspühlen sie. Von diesen Randwällen 
aus strahlen die Infiltrate in breiten, fächerförmigen Zügen in das 
Vorhofseptum ein, und häufen sich an zahlreichen Stellen zu 
knötchenförmigen Abscessen, die von konzentrisch geschichteten 
Fibrinfäden umhüllt werden und in denen jede (Gewebsstruktur 
vollkommen verschwunden ist. Besonders große und stark blutig- 
durchsetzte Abscesse wölben das Endokard über dem medialen 
Trieuspidalsegel und über der medialen Kommissur der Mitralis in 
die Vorhöfe vor. Die noch erhaltenen Muskelfasern werden durch 
reichliche Gewebsflüssigkeit, Leukocyten, Plasmazellen, mit peri- 
vaskulärer Häufung, auseinandergedrängt. Viele haben ihre Quer- 
streifung verloren. Das Protoplasma bildet eine homogene, sich 
mit Eosin schlecht rosafärbende Masse. Die Kerne sind verklumpt, 
gelappt, fragmentiert, umgeben von reichlich feinkörnigem Pigment. 
Die Gefäße sind strotzend mit Blut gefüllt, ihre Wandschichten 
durch leukocytäre Infiltrate lamellär aufgesplitter. Durch die 
gegen den linken Vorhof vordringenden Infiltrate wird der proxi- 
male Teil des Reizleitungssystems in die eiternde abscedierende 
Entzündung miteinbezogen. 

In den ersten Serienschnitten sind die Ausstrahlungen des 
Aschoff-Tawara’schen Knotens in den Coronarsinus quergetroffen. 
Dem überall vordringenden Infiltrat setzt der Annulus fibrosus 
eine Grenze. In der Mitte des Septums, unmittelbar dem Annulus 
anliegend, häufen sich die Leukocyten zu einem 2 mm großen 
Absceß, der die kranialsten Bündel des Atrioventrikularknotens 
einschließt (Abb. 2). In der Randzone liegen zwischen zirkulär an- 
geordneten Fibrinfasern, in Bündeln gelagerte Sarkolemmschläuclıe, 
die kern- und fibrillenlos sind. Die Hauptmasse des Knotens aber 
bleibt in allen Schnitten mehr oder weniger gut erhalten, doch 
werden die einzelnen Muskelfasern besonders im Bereich der den 


238 UEHLINGER 


Knoten durchziehenden beiden Arterien durch reichliche Ödem- 
flüssigkeit und ganz diffus verstreute Leukocyten stark auseinander 
gedrängt. Einzelne Muskelfasern besitzen vielgestaltige, gekerbte, 
kompakte Kerne, in vielen ist die Querstreifung fast vollkommen 
verloren gegangen, viele sind von zentral-gelegenen, großen Vakuolen 
durchsetzt. Die Bindegewebszellen sind rund, aufgequollen, die 
Kerne oval, stark basophil. In den folgenden Schnitten sammeln 
sich die einzelnen Bündel des spezifischen Muskelsystems zu einem 
kompakten Knoten, der durch strichförmige, leukocytäre Infiltrate, 


Abb. 2. Absceß im Vorhofseptum, z. T. auf den ödematös aufgelockerten Atrio- 
ventrikularknoten übergreifend. 


die sich gegen den Ansatzpunkt des medialen Tricuspidalsegels 
vordrängen, vom Annulus fibrosus abgehoben wird. Bis auf 
Schnitt 480 bleiben die Verhältnisse dieselben, dann treten einzelne, 
fast vollkommen infiltratfreie Muskelfaserbündel als Crus commune 
in den zentralen Bindegewebskörper ein. Auf Schnitt 520 bricht 
plötzlich, entlang einem vom Vorhof zum His’schen Bündel vor- 
dringenden Gefäß, der große Absceß im Vorhofseptum in das Reiz- 
leitungssystem ein. Dieses wird dicht mit Leukocyteninfiltraten 
durchsetzt. Die kranial gelegenen Muskelfasern zerfallen schollig 


Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 239 


und verlieren jede Struktur. Die Verhältnisse bleiben im ganzen 
Verlauf des Crus commune unverändert; kranial nekrotische, kaudal 
leukocytär infiltrierte Muskelfaserbündel. Mit Schnitt 750 setzt 
der Abgang des linken Schenkels ein, während der rechte vorerst 
noch seine Lage auf dem Scheitel des muskulären Ventrikelseptums 
einhält. Die Schenkel sind in ihrem ganzen Verlauf infiltratfrei, 
intakt. | 

Der kräftige Sinusknoten wird von einer zartwandigen weiten 
Arterie durchzogen. Das Myokard besitzt mittelbreite Muskel- 
fasern, mit wenig feinkörnigem, braunem Pigment. Das Stroma 
ist zart. 


Die auffallend langsame und von den Temperaturschwankungen 
ganz unbeeinflußte Pulszahl (um 40) hat ihre morphologische Grund- 
lage in der teilweisen Zerstörung des Atrioventrikularknotens und 
des His’schen Bündels. Die ausgedehnte Absceßbildung im Vorhof- 
septum hat aber jedenfalls auch die Überleitung vom Sinus- zum 
Atrioventrikularknoten stark beeinträchtigt. (Leider fehlen Ekg.) 
Auch die Reizleitung im spezifischen Muskelsystem selbst war in- 
folge der toxischen Schädigung der noch erhaltenen Muskelfasern 
(Verfettung) eine sehr schlechte. Die alte Sklerose an den Aorten- 
klappen mit der großartigen Verkalkung und Knochenbildung hat 
einerseits die Lokalisation des Streptococcus viridans begünstigt 
aber auch der Ausbreitung der Entzündung zahlreiche Hindernisse 
in den Weg gelegt. Daher spielt sich auch die ausgedehnteste 
Zerstörung im kranialen Teil des Vorhofseptums ab, während nur 
kleine Abscesse weiter gegen die Tricuspidalis vordringen und auf 
das spezifische Muskelsystem übergreifen. 

Viel rascher und ungehemmter ist der Verlauf und die Zer- 
störung von Myokard und spezifischem Muskelsystem im folgenden 
Fall, wo die Ausbreitung der ulcerösen Streptokokkenendokarditis 
nicht durch Sklerose und Verkalkung der Aortenklappen gehemmt 
wurde. 

Der 51jährige Patient !) erkrankte am 2. Dezember 1925 plötz- 
lich mit Schüttelfrost und hohem Fieber; er wird als Grippe be- 
handelt. Am 4. und 5. XII. ist die Temperatur afebril, dann treten 
wieder Steigerungen ein, erst nur abends, dann mehrmals täglich. 
Am 28. XII. ergibt die Untersuchung des Herzens über der Pulmo- 
nalis und Aorta ein systolisches Geräusch mit accentuiertem 2. Ton; 


1) Die klinischen Angaben verdanke ich der Liebenswürdigkeit von Herrn 
Prof. Dr. Löffler, Direktor der Med. Poliklinik Zürich. 


240 U EHLINGER 


an der Herzspitze und über der Mitte des Sternums ein diasto- 
lisches Geräusch mit accentuiertem erstem Ton. Puls 40. Temp. 
axillär 37,4° C. B.-D. 120/60. Der Blutbefund ergibt 30 000—40 000 
weiße Elemente. Neutrophile 87,4°%, mit toxischer Granulierung. 
Linksverschiebung, Riesenformen mit 7—10 Kernsegmenten, Eosino- 
phile 0,6 %,, Monocyten 7,4 °/,, Lymphocyten und Plasmazellen 4.6° .. 
Rote Blutkörperchen oft blaß, Normo-Mikro-Anisocytose. Polychro- 
masie spärlich. Ordination: Cardiaca. Das Krankheitsbild bleibt 
in den folgenden Tagen unverändert. Dauernd besteht eine Brady- 
kardie von 40 Schlägen. Am 31. XII. 10'/, Uhr morgens plötz- 
licher Exitus. 

In den Blutkulturen wächst ein hämolysierender Streptococcus 
pyogenes. 

Path.-anat. Diagnose: (S.-Protokoll 827/25) Streptokokkensepsis. 
Endocarditis ulcerosa et polyposa valvulae aortae mit Perforation 
in das Septum atrio-ventriculorum. Dilatation und braune Atrophie 
des Herzens. Trübe Schwellung von Nieren und Leber. Septische 
Infarkte in Milz und Nieren. Verfettung der Leber. Septische 
Schleimhautblutungen im Dünndarm. Rotbraune Induration der 
Lungen. Struma nodosa colloides, pt. fibrosa pt. cystica. 

Herzbefund: Im Herzbeutel ca. 20 ccm einer klaren, gelben 
Flüssigkeit. Herz wiegt 595 g, ist größer als die Faust der Leiche. 
mißt im gesamten 18 cm, von der Spitze bis zur Kranzfurche 
13 cm. Spitze vom linken Ventrikel gebildet, abgerundet. Peri- 
kard und Epikard glatt, spiegelnd; reichlich subepikardiales Fett- 
gewebe, besonders an der Herzvorderfläche. Venöse Ostien für 
2 Finger durchgängig. Aortenostium insufficient. Mitralis zart. 
Umfang 10 cm. Am freien Rand im Bereich der Ansätze der 
Sehnenfäden einige leistenförmige, fibröse, transparente Verdickungen. 
Auf der Ventrikelseite des vorderen Segels eine bandförmige gelbe 
Intimaverdickung. Tricuspidalis zart, mißt über den Klappen 10';, cm. 
Pulmonalis zart, mißt 7 cm. Die beiden aneinanderstoßenden Hälften 
der hinteren und rechten Aortenklappe und die entsprechenden 
Sinus Valsalvae sind vollkommen zerstört. Durch den 2 cm im 
Durchmesser haltenden, circinär begrenzten, Substanzdefekt in der 
Aortenwand gelangt man mit der Sonde in eine Absceßhöhle im 
Septum atrioventriculorum, die an der Kommissur des hinteren und 
medialen Triceuspidalsegels in die rechten Herzhöhlen durchbricht. 
Die beiden stehengebliebenen Aortenklappenhälften werden durch 
ein polypöses Gebilde miteinander verbunden. Dieses mißt 2' ,:3 cm. 
ist graurot, matt, auf Schnitt graugrün, geschichtet und mit einem 


Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 9241 


hackenförmigen Fortsatz in der Septumabsceßhöhle verankert. 
Zwischen der hinteren und linken Aortenklappe liegt ein 1 cm 
langes, flaches Ulcus mit hellrotem, fein granuliertem Grund. Der 
linke Vorhof ist weit, das Endokard ganz zart. Das Herzohr frei. 
Der linke Ventrikel ist stark dilatiert, das Endokard spiegelnd. 
Das Myokard auf Schnitt braunrot, mäßig transparent, mißt im 
Mittel 15 mm. Papillarmuskeln und Trabekel mittelkräftig. Rechter 


W 
y 


Abb. 3. Linke Herzhöhlen. Ulceröse Endokarditis der hinteren und rechten 
Aortenklappe mit Zerstörung der Taschen und der Sinus Valsalvae ; Einbruch 
in das a 


Vorhof sehr weit, Herzohr frei. Foramen ovale geschlossen. Der 

durchbrechende Septumabsceß bildet eine flache, ca. 1 cm breite 

Vorwölbung, die von einem Kranz von hellroten, strich- und fleck- 

förmigen Blutungen umgeben wird. Rechter Ventrikel dilatiert, 

das Myokard auf Schnitt wie links, 6 mm dick. Papillarmuskeln 

und Trabekel sehr kräftig. Coronararterien zart, weit. Die Aorta 
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 16 


242 UEHLINGER 


ascendens zeigt zahlreiche, in Gitterfiguren angeordnete, hellgelbe 
Intimaverdickungen, zwischen denen zarte, blaßrote Intima liegt. 

Auf einem transversalen Schnitt durch Septum (Abb. 4) und die 
Mitte der hinteren Aortenklappe zeigt sich, daß der keilförmige Absceß 
die Basis von Vorhofseptum 
und Spitze des Ventrikel- 
septums vollkommen zerstört 
hat und breit in den rechten 
Vorhof durchgebrochen ist. 
Die Absceßhöhle ist mit ge- 
schichteten, grauen und roten 
Massen ausgekleidet, gegen 
das Myokard durch gelbe 
Striche und Knoten abgesetzt, 
die fächerförmig in die Mus- 
kulatur eindringen und sich 
in ihr verlieren. 

Zur histologischen Unter- 
suchung wurde wieder der 
gesamte proximale Teil des 
spezifischen Muskelsystems in 
Serien geschnitten bei trans- 
versaler Schnittrichtung. 

Die polypösen Gebilde, 
die die rechte und hintere 
Klappe vereinigen, bestehen 
aus gewellten Schichten, z. T. 
homogener, z. T. körniger, 
kernloser Massen, in die Bündel 
aufgesplitterter und zertrüm- 
merter, elastischer Fasern ein- 
gelagert sind. Zwischen den 
einzelnen Schichten liegen 
wolkenförmige Züge in Haufen 
zusammengeballter Strepto- 
kokken. Mit einem hacken- 
förmig umgebogenen Fortsatz 
Abb. 4. Transversalschnitt durch das Septum sind diese Auflagerungen, in 
in der Mitte der hinteren Aortenklappe. dem das ganze Septum durch- 
Durchbruch des Septumabscesses in den brechenden Absceß verankert. 


rechten Vorhof im Bereich des Atrio- e 3 \ 
ventrieularknotens. Die Sinus Valsalvae der hin- 


Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 243 


teren und rechten Aortenklappen, große Teile des zentralen Binde- 
gewebskörpers sind vernichtet. Der Durchbruch erfolgt über und be- 
sonders unter dem Ansatz des medialen Tricuspidalsegels und ist 
durch kern- und formlose, nekrotische Thromben verdeckt. Die 
ganze Absceßhöhle ist mit geschichteten, z. T. mit Kerntrümmern 
durchsetzten, größtenteils kernlosen Massen ausgekleidet, zwischen 
die strichförmig rote Blutkörperchen eingelagert sind. Die Scheide- 
wand gegen das Myokard bildet ein breiter Leukocytenrandwall, 
der sich oft zu kugeligen Abscessen verdichtet, die dicht mit roten 
Blutkörperchen durchsetzt sind. Von dieser Randzone aus strahlen 
die Infiltrate strichförmig in das Vorhof- und Ventrikelseptum- 
myokard aus, splittern die Reste des Annulus fibrosus auf und ver- 
lieren sich allmählich im Myokard. In den absceßfernen Infiltraten 
finden sich neben neutrophilen auch zahlreiche eosinophile Leuko- 
cyten und Plasmazellen. 

Die Absceßnekrose mit dem Durchbruch in die rechten Herz- 
höhlen haben den Ventrikelteil des Aschofti-Tavara’schen Knotens, 
das ganze Crus commune und die proximalen Teile der beiden 
Schenkel vernichtet. Von dem Vorhofsteil des Atrioventrikular- 
knotens sind nur noch spärliche Muskelbündel und die Ausstrah- 
lungen gegen den Sinus coronarius zu erhalten. In diesen Resten 
sind die Muskelfasern vollkommen intakt, das Stroma stark mit 
Gewebsflüssigkeit durchtränkt, kaum infiltriert. 

Der linke Schenkel ist in seinem proximalen Teil durch Abs- 
cesse vernichtet worden. In breiten Zügen durchsetzen und um- 
grenzen die Leukocyten die Purkinje’schen Fasern fast bis in die 
Mitte des Kammerseptums. Besonders dicht gelagert ist das Infiltrat 
in den perifaszikulären Lymphscheiden. In den Purkinje’schen Fasern 
selbst treten im zentralen Sarkoplasma Vakuolen auf. Der Kern hängt 
im Mittelpunkt des sternförmigen Sarkoplasmanetzes. Gleichzeitig 
nimmt die Zahl der Fibrillen ab. Diese beschränken sich auf eine 
schmale, peripher gelegene Zone, in extremsten Fällen verschwinden 
sie ganz. Die Muskelfaser stellt dann nur noch eine große, un- 
förmliche, ovale Vakuole dar mit wandständig gelegenem, spindel- 
föürmigem Kern (Abb. 5). 

Im Gegensatz dazu kann man im übrigen Myokard in den 
Muskelfasern, selbst wenn sie dicht von Leukocyten umringt sind 
oder unmittelbar an blutig durchtränkte Abscesse angrenzen keine 
vakuoläre Degeneration feststellen. Die Muskelfasern verfallen 
unverändert der Nekrose, werden homogen, körnig, die Kerne zer- 


splittern in kleinste Fragmente. Die Anfänge des rechten Schenkels 
10* 


244 ÜEHLINGER 


finden sich erst auf den letzten Serienschnitten, bei seinem Eintritt 
in das Septummyokard. 

Der vollkommene Block hat in der ausgedehnten Zerstörung 
des Atrioventrikularknotens, des gesammten Crus commune und 
der proximalen Schenkelteile seine path.-anat. Grundlage. Das 
Vorherrschen der Nekrose, die fast rein leukocytäre Infiltration, 
die ausgedehnten Bakterienrasen, das Fehlen jeder Bindegewebs- 


Abb. 5. Vacuoläre Degeneration der Purkinje’schen Fasern. 


und Gefäßalteration weisen auf den raschen Verlauf und die rück- 
sichtslose Zerstörung hin, die keine Anpassung an neue Verhält- 
nisse gestatteten. (Entwicklung des nodalen Rhythmus.) 

Allen 3 Fällen von Endocarditis ulcerosa mit Übergreifen auf 
die Kammerscheidewand und mit Zerstörung des Atrioventrikular- 
knotens und des His’schen Bündels lag eine Streptokokkensepsis zu- 
grunde (1 mal Strept. viridans). 


IV. Zusammenfassung. 
Atrioventrikularknoten und Crus commune, im Kreuzpunkt von 
Aorten-Tricuspidalklappen und der Herzscheidewand gelegen, können 
durch Ausbreitung von ursprünglich rein valvulären Entzündungs- 


Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 245 


und Degenerationsprozessen geschädigt und zerstört werden. Dieses 
Wachstums- und Ausbreitungsbestreben ist der ascendierenden 
Arteriosklerose der Aortenklappen und der ulcerösen Endokarditis 
gemeinsam, die im übrigen sowohl klinisch wie morphologisch 
schroffe Kontraste bilden. 


Die ascendierende Klappensklerose ist die Krankheit des hohen 
Alters, der Arbeit, der Abnützung. Wie das Alter unmerkbar ein- 
tritt, schleichend sich entwickelt, den Zusammenhang mit dem Leben 
solange als möglich aufrecht zu erhalten sucht, so ist auch das 
morphologische Geschehen ein gegenseitiges Anpassen, Ausweichen 
und trotzdem ein unaufhaltsam fortschreitender Degenerationsvor- 
gang und Gewebsumbau. Solang als möglich sucht das Crus com- 
mune den von den Klappen: vordringenden Kalkmassen auszu- 
weichen, bis es schließlich, in Kalkschollen eingemauert, festgehalten 
und unterbrochen wird. Im Leben sind die Verlängerung der Über- 
leitungszeit, Ventrikelsystolenausfall, unvollkommene und schließlich 
vollkommene Dissoziation der Ausdruck der mangelhafteren An- 
passung und der Zerstörung des spezifischen Muskelsystems, wie 
andererseits das vollkommene Fehlen irgendeiner Rhythmusstörung, 
trotz weit vorgedrungener Verkalkung die Zeichen der erstaun- 
lichen gegenseitigen Anpassungsfähigkeit sind.. Der plötzliche 
Sekundenherztod aus scheinbar voller Gesundheit heraus ist die 
einzige und letzte Manifestation der schwer geschädigten Über- 
leitung. 

Im krassen Gegensatz dazu ist die Endocarditis ulcerosa des- 
truens eine schwere Krankheit mit überstürztem Verlauf. Die in 
wenigen Tagen sich entwickelnde Aorten- oder Mitralinsufficienz 
und ein plötzlicher Pulsabfall auf 30—40 Schläge, trotz der hohen 
Zacken des septischen Fiebers, sind die Zeichen der sich aus- 
breitenden Zerstörung, des Übergreifens der Nekrose von den 
Klappen auf das Myokard und der Vernichtung von Atrioventri- 
kularknoten oder Crus commune. Blutstauung im Gefolge der 
Klappeninsufficienz und toxische Myokardschädigung führen rasch 
zum Tode. Jedes Alter wird befallen. Die Erreger sind Strepto- 
kokken. 


Literatur. 


E. Hering, Der Sekundenherztod mit besonderer Berücksichtieung des 
Herzkammertlimmerns. Springer 1915. — James, A clinical Study of some 
Arsthmias of the Heart. The Amerie. journ. of the med. sciences 10908. — 


246 UkauınGer, Die Beziehungen d. Entzündungen u, Sklerosen d. Herzklappen usw, 


Mönckeberg, Das spezifische Muskelsystem des Herzens. Ergebn. d. allgem. 
Pathol. u. pathol. Anatomie. XIV. Jahrg., S. 594, 1910; XIV. Jahrg., S. 325, 1921 
(Lit.!). — Ders., Der normale histologische Bau und die Sklerose der Aorten- 
klappen. Virchow’s Arch. Bd. 176, S. 472, 1904. — Ders., Zur Einteilung und 
Anatomie des Adams-Stokes’schen Symptomenkomplexes. Ziegler's Beitr. zur 
allg. Pathol. und pathol. Anat. Bd. 65, S. 77, 1917. — Ders., Handb. d. spez. 
Pathol. Bd. II. Springer 1924. — Nagayo, Pathologisch-anatomische Beiträge 
zum Adams-Stockes’schen Symptomenkomplex, Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 67, 
S. 495, 1909. — Roth, Zur Kenntnis der Uberleitungsstörungen des Herzens. 
Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 112, S. 141, 1913. 


247 


Aus der Mediz. Klinik Heidelberg. 


Beitrag zar Chemie des Sputums. 


Von 


Agnes Kubasch. 


Den wesentlichsten Fortschritt in der Chemie des Sputums 
brachten uns Friedr. Müller und seiner Schüler (1) Studien über 
die Fermente, die man für den Abbau des Eiweißes verantwortlich 
machen muß. Simon (2) untersuchte die chemischen Vorgänge 
bei der Lösung pneumonischer Infiltrate und konnte so Tyrosin und 
Leucin darstellen. Fr. Müller (3) erbrachte bei Fortsetzung der 
Arbeit noch den Nachweis von Lysin. Böhm (4) fand bei Auto- 
lyse pneumonischer Lungenteile Histidin und Arginin. In frischen 
Lungen mit grauer Hepatjsation fand Böhm diese Stoffe noch nicht, 
ebensowenig geht nach Simon der Abbauprozeß in der Lunge 
mit roter Hepatisation vor sich; es fanden sich nämlich nach 
14 tägigem Stehen noch die gleichen Werte für unkoagulablen und 
Albumosenstickstoff wie zu Beginn des Versuches. Einen geringen 
Abbau des Eiweißes wies Simon bei einer Lunge mit sehr starker 
Bronchitis nach. Zu den eben erwähnten Tatsachen paßt die Be- 
obachtung Wanners (ö), daß im Verlauf einer Pneumonie der 
Gehalt an abiuretem Stickstoff im Sputum ansteigt. Es spiegelt 
sich also gewissermaßen in dem Gehalt an unkoagulablen Stick- 
stoff der in den Lungen stattfindende Auflösungsvorgang wieder. 


Im frischen Sputum sind die bei der Autolyse gefundenen 
Aminosäuren außer Tyrosin, welches Birmer und Stadelmann (6) 
schon gefunden hatten, und Leucin, das zuerst Petters (7) nach- 
wies, nicht dargestellt worden. Kürzlich konnte Reinwein den 
Nachweis von Histidin erbringen. Die Möglichkeit, daß auch 
Arginin auftreten kann, ist aus seinem Befunde des Tetramethylen- 
diamin wahrscheinlich, da wir seit den Untersuchungen von Acker- 


248 Kusasch 


mann (9) wissen, daß bei Fäulnis von Eiweiß Putrescin nur aut- 
treten kann, wenn Arginin vorhanden ist. Als Basen des Sputums 
sind außer dem eben erwähnten Putrescin bisher Metylamin (Lay- 
kok) und das von Reinwein dargestellte Neosin sicher gefunden 
worden. Vielleicht findet sich manchmal Kadaverin (Loebisch 
und Rokitanski). 

Gerade was das Vorhandensein von Eiweißabbauprodukten be- 
trifft, gibt es eine Reihe wichtiger Fragen: es sei hier nur auf die 
Möglichkeit hingewiesen, daß durch Resorption bestimmter Spalt- 
produkte Intoxikationszustände auftreten können. Diese Frage ist 
wohl einerseits wenig in Angriff genommen worden, da eine halb- 
flüssige, halbgallertige, zudem ekelerregende Masse wie das Sputum 
einer chemischen Aufarbeitung schwer zugänglich ist, andererseits 
die diagnostische Bedeutung solcher Untersuchungen durch die Er- 
rungenschaften der Röntgenkunde sehr eingeschränkt bleiben. 

Auf Anregung und unter Beihilfe von Dr. Reinwein unter- 
suchte ich die Frage, ob in jedem Sputum Imidazolderivate vor- 
handen sind und ob sich neben den Aminosäuren auch stets Amine 
nachweisen lassen. Eine chemische Trennung ist durch das be- 
kannte Kossel-Kutschersche Verfahren möglich. 

Methode: Es wurden die täglichen Sputummengen untersucht. 
die Patienten hatten ihren Auswurf in ein reines Glas, das etwas 
Toluol enthielt, zu entleeren. Da im Laufe der nächsten 24 Stunden 
die weitere Aufarbeitung erfolgte, braucht man die Autolyse, die 
nur relativ langsam vor sich geht, nicht zu befürchten. Der 
24stündige Auswurf wurde mit 3%, Essigsäure versetzt und kräftig 
geschüttelt. Dann wurde solange 20°), neutrale Bleiacetatlösung 
hinzugefügt, bis kein Niederschlag mehr erfolgte. Aus dem Filtrat 
wurde mit Schwefelsäure das Blei entfernt, das nun entstandene 
Filtrat, das kongosauer reagierte, solange mit Äther ausgeschüttelt 
bis in der letzten Ätherprobe Essigsäure nicht mehr nachweisbar 
war; die überschüssige Schwefelsäure durch Baryt entfernt und 
in das Filtrat zur Ausfüllung des Bariums Kohlensäure eingeleitet. 
Das nun erhaltene Filtrat wurde gegen Phenolphtalein neutralisiert 
und auf dem Wasserbade eingeengt. Jetzt wurde nochmals auf 
das Vorhandensein des Eiweißes geprüft, das nur in 2 Fällen nach- 
weisbar war. Diese beiden Male erfolgte eine weitere Entfernung 
des Eiweißes durch Alkoholzusatz. Um nach Koessler den Ge- 
halt an Imidazolderivaten feststellen zu können, wurde zur Ent- 
fernung des Ammoniaks Luft durch die barytalkatische Lösung ge- 
saugt. Die Bestimmung des Histidin erfolgte in strenger Anlch- 


249 


es Sputums. 


Beitrag zur Chemie d 


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250 KusascH 


nung an die Arbeiten von Koessler (12) mittels des Bürkerschen 
Colorimeter. Außerdem wurden in der Phosphorwolframsäure- 
füllung und -Filtrat Mikrokjeldalbestimmungen nach Pregl aus- 
geführt, um einen gewissen Anhalt über das Verhältnis der Hexon- 
basen zu den Aminosäuren zu gewinnen. 

In vorstehender Tabelle sind die gefundenen Werte zusammen- 
gestellt. 

Bei der Verfolgung des Krankheitszustandes einer Pneumonie 
findet sich wieder ein Ansteigen des abiureten Stickstoffes. Der 
höchste Gehalt an unkoagulablen Stickstoff fand sich wie es nicht 
wundernimmt, bei einer schweren kavernösen Phthise. Sehr über- 
raschend hoch war der Stickstoffgehalt bei Fall 18 (Bronchial- 
asthma in und nach dem Anfall). Vielleicht kann man sich dieses 
so erklären, daß vor dem Anfall eine Stagnation stattgefunden hatte. 

Aus dem Verhältnis der Hexonbasen zu dem abiuretem Stick- 
stoff sind weitgehende Folgerungen nicht möglich. Man ersiehıt 
nur daraus, daß immerhin relativ beträchtliche Mengen von Aminen 
vorhanden sein können. 

Histidin, das heißt richtiger gesagt Imidazolverbindungen, die 
die Paulische Reaktion geben, fanden sich in 14 von 20 Fällen. 
Das Vorhandensein dieser Verbindungen ist deshalb so interessant, 
da wir durch Ackermann (13) wissen, daß Bakterienmischkul- 
turen imstande sind, aus dem Histidin das physiologisch so wirk- 
same Histamin zu bilden. Es gelingt bekanntlich mit Histamin 
asthmaähnliche Zustände zu erzeugen. Als physiologisch wirk- 
same Substanz kommt ja auch noch das Tyramin in Frage. 

Harkavy (14) hat festgestellt, daß der Alkoholextrakt des 
Sputum in 8 Fällen von Bronchialasthma Substanzen enthielt, die 
Katzendarm zur spastischen Kontraktion brachten. Berthelot 
und Bertrand (15) haben nun andererseits einen Bacillus vom 
Typus des Pneumococcus Friedländer gefunden, der imstande ist. 
aus Histidin Histamin zu bilden. Diese Fähigkeit scheint auch 
anderen Bakterien zuzukommen, denn O. Brienne konnte an 30 
verschiedenen Bakterienarten dieselbe Eigenschaft feststellen. 

Da wir aus den Arbeiten von Hanke und Koessler wissen. 
daß die Zusammensetzung des Sputum (Vorhandensein von an- 
organischen Substanzen, Kohlehydrate und Eiweiß) das Wachstum 
und die fermentative Fähigkeit der Bakterien begünstigen dürfte. 
scheint die Möglichkeit gegeben, daß auch in dem Alkoholextrakt 
von Harkavy Substanzen waren, die durch den Abbau von 
Histidin entstanden. 


Beitrag zur Chemie des Sputums. 251 


Literatur. 


1. Friedrich Müller, Verhandl. des XX. Kongr. f. inn. Med. 1902. — 
2. Simon, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 70, 1901. — 3. Fr. Müller, Verhandl. d. 
Naturforsch. Ges. in Basel Bd. 13, 1901. — 4. Böhm, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 
1910, S. 583. — 5. Wanner, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 1903, S. 347. — 
6. Biermer, Die Lehre vom Auswurf 1855. Stadelmann, Dtsch. Arch. f. 
klin. Med. 45, S. 585, 1903. — 7. Petters, Prag. med. Wochenschr. Nr. 4, 1864. 
— 8. Reinwein, Zeitschr. ee ae Chem. — 9. Ackermann, Zeitschr. 
f. physiol. Chem. Bd. 65, S. . — 10. Laykok, Allg. med. Zentralztg. 
Nr. 71, S. 6388, 1865. — 11. Loebisch u. Rokitanski, Zentralbl. f. inn. 
Med. XI, 1, 1890. — 12. Koessler, Milton u. Hanke, Journ. of biol. 
chem. 39, S. 497, 1919 und 43, S. 527, 1920. — 13. Ackermann, Zeitschr. f. 
physiol. Chem. Bd. 65, s. auch Guggenheim, Biogene Amine. — 14. Har- 
kavy, Proc. of ce soc. f. exp. biol. a. med. Bd. 22, S. 225, 1925. — 15. Ber- 
thelot u. Bertrand, Cpt. rend. hebdom des seances de l’acad. des seiences 154, 
p. 1643. — 16. O'Brien, zit. nach Barger. Abderhalden, Handb. der 
Biochem. Arbeitsmethoden Bd. 8, S. 266. 


252 


Besprechungen. 


l. 


Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie der 
inneren Krankheiten für Studierende und Arzte 
von Prof. Dr. Adolf Strümpell7. Fünfundzwanzigste völlig 
neu bearbeitete Auflage von Prof. Dr. med. et phil. Carly 
Seyfarth. Leipzig 1926. 


Das Lebrbuch von Strümpell feiert mit seiner fünfundzwanzigsten 
Auflage ein Jubiläum und beweist eine Lebenskraft, wie sie kaum einem 
anderen Lehrbuch zuteil geworden ist. — Man wird zu einem richtigen 
Verständnis von der Bedeutung dieses Buches nur gelangen können, 
wenn man sich vergegenwärtigt, daB es vor 45 Jahren von einem jungen 
Dozenten entworfen und in frischem Zug einheitlich niedergeschrieben 
worden ist. Es trat damals an die Stelle des veralteten Lehrbuches der 
speziellen Pathologie und Therapie von Felix Niemeyer und de- 
jenigen von Eichhorst, welches durch seine Überladung mit Einzel- 
heiten als Lehrbuch für Studenten unbrauchbar geworden war. Die 
innere Medizin stand um jene Zeit noch völlig unter dem Bann der 
pathologischen Anatomie; Strümpell hat dagegen von Anfang an die 
ärztliche Beobachtung in den Vordergrund gestellt. 

Im Laufe der Jahrzehnte hat das Buch manche Umwandlungen er- 
fahren und Strümpell hat für jede Neuauflage ein oder mehrere 
Kapitel einer gründlichen Umarbeitung unterzogen. Trotzdem hat es 
bis auf den heutigen Tag seinen ursprünglichen Umfang kaum über- 
schritten und seine Einheitlichkeit bewahrt. Darin, sowie in der behag- 
lichen Flüssigkeit des Stieles liegt sein Hauptwert im Vergleich zu 
anderen Lelrbüchern, bei welchen der Stoff auf eine größere Anzahl 
von Spezialforschern verteilt ist. — Ich stehe nicht an, das Kapitel der 
Nierenkrankheiten als besonders eindrucksvoll zu bezeichnen, obwohl 
Strümpell auf diesem Gebiete niemals gearbeitet hat. In der knappen 
historischen Einleitung, in der Darlegung der Symptome versteht es der 
Verf. meisterlich, das Wesentliche herauszuheben. Er verliert sich 
nicht in eine Diskussion über die Theorien des Tages, er steht über 
seinem Thema, indem er den soliden Boden der klinischen Beobachtung 
nicht verläßt, aber man gewinnt aus den Darlegungen dieses ehrlichen. 
unparteiischen Forschers den erschütternden Einblick in die Unzuläng- 
lichkeit unserer Erkenntnis. 

Ein Glanzpunkt des Buches war von Anfang an der Abschnitt über 


Besprechungen. 253 


die Erkrankungen des Nervensystems, also des eigentlichen Forschungs- 
gebietes von Strümpell, auf dem er durch seinen Instinkt für das 
Richtige und seine feine Beobachtungsgabe unendlich viel Nutzen ge- 
schaffen hat. Strümpell hat dieses Kapitel noch in seinem letzten 
Lebensjahr einer gründlichen Neubearbeitung unterzogen und wir finden 
darin ein klares Bild von dem heutigen Stand des Wissens. Vielleicht 
würde mancher daran aussetzen können, daß er in dem Abschnitt über 
die Neurasthenie die einzelnen Formen jener krankhaften Seelenzustände 
auf dem Grenzgebiete zwischen innerer Medizin und Psychiatrie nicht 
klar genug unterscheidet, oder daß er die große Bedeutung der vege- 
tativen Nervensystems nicht hervorgehoben hat, daß von Vagotonie und 
Sympathicotonie kaum die Rede ist und daß die Störungen des Trieb- 
lebens keine Erwähnung finden. Aber Strümpell hielt wohl die Zeit 
noch nicht für reif, um diese Fragen in lehrbuchmäßiger Form darzu- 
legen. Auch wird man nicht verkennen, daß die Anordnung des 
Stoffes nicht immer einheitlich durchgeführt und den heutigen Anschau- 
ungen angepaßt ist. Gehört Pellagra und Beri-Beri wirklich unter die 
Infektionskrankheiten? Oder die Tetanie in das Kapitel der Nerven- 
krankheiten ? Sollte die Tuberkulose nicht unter den Infektionskrank- 
heiten eine zusammenhängende Darstellung finden und auch die Syphilis 
in ihrem ganzen Verlaufe geschildert werden? Aber das sind unlösbare 
Fragen, über welche die Einteilung jedes Lehrbuches der inneren Medizin 
strauchelt. Wenn z. B. die akute Polyarthritis im Anschluß an Angina 
und Sepsis erörtert wird, wo sie als Infektionskrankheit eigentlich hin- 
gehört, dann geht der Zusammenhang mit den chronischen Gelenkleiden 
verloren, und das ärztliche Verständnis leidet darunter, wenn die Phthisis 
pulmonum, der Keuchhusten und das Asthma aus dem Kapitel der 
Lungenkrankheiten herausgenommen und unter die Infektionskrankheiten 
oder die Allgemeinleiden eingereiht werden. Ahnliche Schwierigkeiten 
erheben sich auch bei der Anordnung der Nervenkrankheiten: Die Menin- 
gitis cerebrospinalis, die Heine-Medin’sche Krankheit, die Encephalitis 
letargica sind Infektionskrankheiten und können nur a potiori und nicht 
einmal vom rein anatomischen Standpunkt unter die Erkrankung der 
Häute oder des Gehirns oder des Rückenmarks eingeordnet werden. 
Eine wirklich logische Einteilung des Stoffes auf der Grundlage des 
pathologischen Geschehens und der Atiologie läßt sich bei der Unvoll- 
kommenheit unserer Erkenntnis nicht restlos durchführen. Doch soll 
ausdrücklich hervorgehoben werden, daß die Darstellung der Infektions- 
krankheiten durch Seyfarth eine ausgezeichnete Neubearbeitung er- 
fahren hat und daß er in ebenso knapper wie klarer Weise die neuesten 
Ergebnisse auf diesem Gebiete, auch bei den tropischen Krankheiten, 
aus eigener Anschauung, geliefert hat. Es wird seine Aufgabe sein, bei 
den nächsten Neuauflagen, auch in einigen anderen Kapiteln, z. B. in 
demjenigen der Herzkrankheiten, den neuen Forschungsergebnissen Rech- 
nung zu tragen: Das Studium der Herzarrhythmien hat uns so viel neue 
und wichtige Erkenntnisse gebracht, daß diese unter Vorlage typischer 
Elektrokardiogramme auch dem Studierenden auseinander gesetzt werden 
müssen; sie dürfen nicht in der Darstellung der Myokarderkrankungen 
aufgehen. Auch sind die Sphygmogramme veraltet, wie überhaupt die 


954 Besprechungen. 


Abbildungen vielfach zu wünschen übrig lassen. So eröffnen sich für 
den Herausgeber von Strümpell’s Lebenswerk manche neue und schöne 
Aufgaben. Er wird es sich aber zum Grundsatz machen müssen, den 
ursprünglichen Charakter des Buches aufrecht zu erhalten. Sit ut e-t 
aut non sit. Das Lehrbuch von Strümpell hat in den 43 Jahren 
seines Bestehens eine Ausbreitung über die ganze Welt erfahren. Es 
ist in alle Kultursprachen übersetzt worden und hat in hohem Mabe 
dazu beigetragen, das Ansehen der deutschen Medizin in der Welt zu 


verbreiten. ‚Friedrich Müller, München. 


2. 


Handbuch der inneren Medizin. Zweite Auflage, herausgegeben 
von G. v. Bergmann und R. Staehelin. I. Band: Infek- 
tionskrankheiten, Teil 1, gebunden 45.— M., Teil 2, gebunien 
54.— M. Verlag von Julius Springer, Berlin 1925. 


Während das eben besprochene Lehrbuch von Strümpell dazu 
geschaffen ist um in einem Zuge durchgelesen zu werden, stellen sich 
die Anforderungen an ein Handbuch ganz anders dar; denn eın 
solches dient niemals dem Anfänger, sondern nur dem fertig ausgebildeten 
Arzt und dem Lehrer als Nachschlagewerk, wenn er sich in irgendeinem 
bestimmten Kapitel über die neuesten Fortschritte orientieren will: es 
setzt also bereits eine große Menge von Kenntnissen über die Grund- 
begriffe voraus und hat diese nicht in derselben Weise zu erörtern, als 
wie es in einem Lehrbuch nötig ist. Von diesem Gesichtspunkt aus 
haben sich die Herausgeber entschlossen, bei der Neubearbeitung des 
ersten Bandes, nämlich der Infektionskrankheiten, jenen allgemeinen Teil 
über Bakteriologie und Serologie wegzulassen, der die erste Auflage ein- 
leitete. Man kann dies bedauern. Tatsächlich sucht aber der bildung=- 
bedürftige Arzt die allgemeine Pathologie der Infektionskrankheiten 
nicht in einem solchen Nachschlagewerk. Es war ein Wagnis, die Dar- 
stellung der Infektionskrankheiten mit einem Kapitel zu beginnen, welches 
voll von Schwierigkeiten steckt wie kaum ein anderes, nämlich mit einer 
Erörterung der Serumkrankbeit und damit der erworbenen und konstitu- 
tionellen Überempfindlichkeitsreaktionen überhaupt. Schittenhelm 
hat sich dieser schwierigen Aufgabe mit großer Gründlichkeit unterzogen. 
Unter Hintansetzung seiner eigenen früheren Arbeiten auf diesem Ge- 
biete hat er sich mit Recht in der Hauptsache den Anschauungen von 
Dörr angeschlossen., Indem er die widerspruchsvollen Angaben aus der 
umfangreichen Literatur zusammenstellt, zeigte er, daß diese Überempfind- 
lichkeitsreaktionen sich nicht nur bei den Einspritzungen von körper- 
fremdem Serum äußeren, sondern daß sie auch weit auf andere Gebiete 
der Pathologie ausstrahlen. Aus Schittenhelm’s Feder stammen in 
dem vorliegenden ersten Bande außerdem noch die wichtigen Kapitel 
über Tetanus, Ruhr (einschließlich der Amöbenruhr), Weil’sche Krank- 
heit, Wolhynisches Fieber und Fleckfieber, also über Krankheiten, welche 
Schittenhelm während des Krieges eingehend zu studieren imstande 
war und über die er sogar am eigenen Leib Erfahrungen sammeln 


Besprechungen. 255 


konnte. Dadurch gewinnen diese Darstellungen einen besonderen Wert 
und große Anschaulichkeit. 

Diesen Kapiteln von Schittenhelm schließen sich ebenbürtig an 
die Beschreibungen der Cholera durch Elias und Dörr, ferner des 
Keuchhustens und der Parotitis epidemica durch Klotz, sowie der 
Diphtherie durch Göppert. Es berührt wohltuend, daß Göppert 
bei der Besprechung der therapeutischen Erfolge des Behring’schen 
Serums auf der experimentellen Grundlage aufbaut, vollkommen unpar- 
teiisch die Statistiken abwägt und auch den Angaben Bingel’s gegen- 
über den Heilwert des Diphtherieserums hochhält. Sollten wir Arzte 
uns bei der Beurteilung des Diphtherieserums wirklich alle so sehr geirrt 
haben? In besonders gründlicher Weise erörtert Massini die Grippe- 
erkrankung, und seine Stellungnahme zu der Bedeutung des Pfeiffer- 
schen Influenzabacillus ist von sympathischer Klarheit. Die Darstellung 
der akuten Exantheme durch Rolly baut auf umfangreichem, eigenem 
Beobachtungsmaterial auf, ist aber mehr lehrbuchartig gehalten und läßt 
ein näheres Eingehen in die neuesten Kontroversen auch der amerikani- 
schen Literatur vermissen. Es ist sehr zu begrüßen, daß neben der 
Meningitis cerebrospinalis epidemica auch die epidemische Kinderlähmung 
und die Encephalitis letargica in dem Band der Infektionskrankheiten 
aufgenommen sind, denn sie gehören hierher und nicht unter die Nerven- 
erkrankungen. Freilich wird sich dann die Notwendigkeit ergeben, auch 
bei der Darstellung der Gehirn- und Rückenmarkskrankheiten vom neu- 
rologischen Standpunkt aus nochmal auf die beiden letzteren Infektions- 
krankheiten und ihre Folgen zurückzukommen. Eduard Müller hat 
seiner Darstellung der Heine-Medin’schen Krankheit hauptsächlich 
seine persönlichen Erfahrungen über die Hessische Epidemie zugrunde 
legen können und er hat daneben über den Nachweis der Erreger und 
über deren Übertragung auf Tiere in sehr vollständiger Weise berichtet. 

Der zweite Teil eröffnet mit einer Beschreibung des Erysipels und 
des akuten Gelenkrheumatismus durch Hegler und daran schließt sich 
in organischer Folge eine ausführliche Darstellung der septischen Er- 
krankungen durch Schottmüller an. Diese Arbeit Schottmüller’s 
ist durch ihre Gründlichkeit und ihre Originalität besonders wertvoll. 
Freilich ermüdet sie etwas durch allzu große Ausführlichkeit, aber sie ist 
eine Fundgrube für alle, die sich auf diesem Gebiete orientieren wollen. 
Gehört das Kapitel über die allgemeine Miliartuberkulose wirklich hierher 
oder sollte sich dieses nicht organischer in die Gesamtdarstellung der 
Tuberkulose einreihen lassen? Von Schottmüller stammt auch die 
Beschreibung der typhösen Erkrankungen, unter denen er den T. abdomi- 
nalis, den Paratyphus und den T. wandschuricus zusammenfaßt. Das 
Rückfallieber wie auch das Fleckfieber, welche in früheren Lehrbüchern 
nach dem Vorbild von Murchison unter den typhösen Erkrankungen 
eingereiht waren, sind glücklicherweise aus dem Typhusbegriff ausge- 
schieden und an passender Stelle untergebracht. Maltafieber, Pappataci- 
fieber, Denguefieber, Malaria, Rekurrens-, Gelbfieber und die Trypanosomen- 
krankheiten sind von Schilling mit einem Beitrnoz von Chagas über 
die amerikanische Trypanosomiasis verfaßt und mit zahlreichen Kurven 
und Bildern anschaulich gemacht. Aber gehört die Beri-Beri wirklich 


256 Besprechungen. 


hierher? Unter den Zoonosen faßt Lommel die Akinomykose, den 
Rotz, Maul- und Klauenseuche, Trichinose, Milzbrand und Wut zusammen. 
Es ist dies meiner Ansicht nach keine sehr glückliche Anordnung, denn 
die Übertragbarkeit einer Infektionskrankheit vom Tier auf den Menschen 
kann doch nicht als Einteilungsprinzip verwertet werden. Sonst müßte 
man auch viele Fälle von Pest, von Boviner Tuberkulose und selbst von 
Paratyphus B unter die Zoonosen rechnen. 

Die vorliegende zweite Auflage unterscheidet sich von der rasch 
vergriffenen Auflage in vorteilhafter Weise, indem sie die Ergebnisse 
wissenschaftlicher Forschung bis auf die neueste Zeit berücksichtigt. 
Mehrmals sind die Kapitel in andere Hände übergegangen, und zwar 
aus dem traurigen Grunde, weil manche der früheren Mitarbeiter unter- 
dessen den Tod gefunden haben. 

Man erkennt allenthalben, mit welcher Gewissenhaftigkeit und Ver- 
tiefung die beiden Herausgeber G. v. Bergmann und R. Staehelin 
ihren Einfluß auf die Ausgestaltung, Gesamtordnung und Einzeldar- 
stellungen ausgeübt haben und sie können des wärmsten Dankes der 
deutschen Ärzteschaft und der Kliniken sicher sein, indem sie ein Nach- 
schlagewerk von solcher wissenschaftlicher Gründlichkeit und Gerechtig- 
keit geschaffen haben. Sie haben es sich zur Aufgabe gestellt, die 
pathologisch-physiologische Betrachtungsweise als Grundlage 
des klinischen Denkens und Handelns zum Ausdruck zu bringen, ohne 
jedoch dabei die Bedeutung der pathologischen Anatomie zu verkennen. 
Wenn dieses Programm mehr sein soll als ein modernes Schlagwort, so 
wird man die Absicht der Herausgeber wohl dahin zusammenfassen 
können, daß sie die krankhaften Störungen der Funktion mehr in den 
Vordergrund stellen wollen als den morphologischen Befund und 
daß sie der experimentellen Forschung über Krankheitsursachen, Krank- 
heitssymptome und Therapie den ihr gebührenden Platz einräumen woilen. 
Mögen die folgenden Bände in ebenso glücklicher Weise eine Neubearbeitung 
erfahren; manche Kapitel hatten in der ersten Auflage eine nicht ganz 
befriedigende Darstellung gefunden, oder durch allzu umfangreiche theo- 
retische Auseinandersetzungen den Leser ermündet und verwirrt. 

(Friedrich Müller, München.. 


257 


Aus dem pathologisch-anatomischen Institut Basel. 
(Vorsteher: Professor R. Rößle.) 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 


Von . 


Dr. Hans Mehlin, 


Assistent am Institut. 


(Mit 6 Abbildungen.) 


Im Gegensatz zu der bekannten Pulmonalsklerose bei Wider- 
ständen im kleinen Kreislauf und der seltenen sog. primären oder 
idiopathischen Endarteriitis obliterans der kleinen Lungenarterien 
unbekannter Herkunft (Fälle von Romberg, Aust, Rößle, 
Mönckeberg, Posselt) ist die echte Arteriitis der Lungen- 
schlagader, im Sinne einer akuten infektiösen Entzündung der 
Gefäßwand, nur sehr wenig bekannt. Sie wäre gleichzusetzen der 
akuten Aortitis, die, wenn auch ebenfalls selten, doch erheblich 
häufiger beobachtet wurde, und bis zu einem gewissen Grade auch 
den Arteriitiden der kleineren Arterien, die in der Form embolisch 
mykotischer Arteriitis bekannt sind. 

Die Entstehung der phlegmonösen und eitrigen Entzündung 
einer großen Arterie kann nach der Zusammenstellung von Jores 
in dem Kapitel über die Pathologie der Arterien in dem eben er- 
schienenen zweiten Band des Handbuchs von Henke und Lu- 
barsch erfolgen: 


1. Durch Übergreifen von einem Herd der Nachbarschaft. 

2. Durch Fortleitung von den Aorten- bzw. Pulmonalklappen. 

3. Als primäre Aortitis (Stumpf), besser als hämatogen ent- 
standene zu bezeichnen (Öttiker). 

Daneben ist aber noch eine verruköse und verrukös-uiceröse 
Endarteriitis speziell der großen Arterien bekannt, welche das 
Analogon bildet zur Endocarditis. Daneben findet sich eine davon 

Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 152. Bd. 17 


258 MEHLIN 


getrennte Klappenerkrankung; die Infektion der Gefäßwand erfolgt 
von der Lichtung her durch die Intima. 

Die Fälle, bei denen der Entzündungsprozeß primär an der 
Innenfläche der großen Gefäße entstanden ist, sind selten. (Stumpf 
cit Bergé, Bizot, Buhl, Barbaceci, siehe auch Posselt.) 

Als Vergleichsobjekt diene uns zunächst die akute Aortitis. 
In einer kürzlich erschienenen Arbeit hat Öttiker dieganze Literatur 
über dieses Gebiet zusammengestellt. Als klinisches Bild kommt sie 
kaum in Betracht, die Diagnose kann wohl vermutet, niemals aber 
mit Sicherheit gestellt werden. Französische Autoren kennen eine 
„Aortiteabdominale aigue“, die aber mit einer wirklichen Entzündung 
nichts zu tun hat, sondern der „angina pectoris“ evtl. der „angina 
abdominalis“ (Frey) entspricht, also als Sklerose, evtl. Angio- 
spasmus zu betrachten wäre. Allerdings wird auch eine „Aortite 
aigue maligne“ beschrieben, die eher unserer infektiösen, akuten 
Aortitis entspricht. „Makroskopisch bietet die akute Aortitis die 
verschiedensten Bilder: Ulcera, Aneurysmen, beide u. U. perforiert, 
Einrisse oder thrombotische Auflagerungen jeder Art und Größe* 
(Öttiker). 

Die Ausgänge der akuten Aortitiden sind sehr verschieden. 
Der Zustand der Vernarbung kommt selten zur Beobachtung. 
Öttiker hat ihn bei 85 aus der Literatur zusammengestellten 
Fällen nur zweimal gesehen. Das mag sich dadurch erklären, daß 
die Narben von einem akut-entzündlichen Prozeß schwer von 
atheromatösen Plaques zu trennen sind. „Der größte Teil der 
schweren Entzündungen führt zu Ruptur oder Aneurysma und 
kommt entweder in frühem Zustand zur Autopsie oder vernarbt 
in derselben Weise wie die entsprechenden traumatischen und 
chronischen Affektionen.* 

An Präparaten von mehreren Fällen mehr oder minder akuter 
Aortitis (Sammlung von Professor Rößle) haben wir uns über- 
zeugt, daß die Entzündung des Pulmonalisstammes dieselben histo- 
logischen Bilder darbietet. 

Die Pulmonalitis im Gegensatz zur Aortitis — darunter 
verstehe ich die Entzündung des Pulmonalisstammes, nicht der 
mittleren und kleineren Äste!) — ist erheblich viel seltener. 
Jores (a. a. O.) erwähnt sie nur kurz unter Anführung von 8 Fällen. 


1) Einen sehr interessanten Fall von Periarteriitis nodosa der kleinen Lungen- 
arterienäste hat in jüngster Zeit Sternberg beschrieben. Durch diesen ProzeL 
war es zur Bildung zahlreicher Aneurysmen und Gefäßrupturen gekommen. 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 259 


Bei der Frage nach der Pathogenese wäre zu prüfen, ob sie 
derjenigen der bekannteren Aortitis entspricht. Es kommen dann 
folgende Möglichkeiten in Betracht: 

1. Übergreifen eines entzündlichen Prozesses aus der Nachbar- 
schaft der Pulmonalis auf deren Wandung, also vom Herz- 
beutel, vom Herzen, von der Aorta, vom Lungenhilus, von 
den Lymphdrüsen. 


2. Von den Pulmonalklappen oder von den Aortenklappen bei 
offenem Ductus Botalli fortgeleitete Entzündung (per con- 
tinuitatem aut contiguitatem). 


3. Primäre hämatogene Entzündung (vermittels durch die Vasa 
vasorum). (Hämatogen embolische Pulmonalitis.) 


4. Infektion von der Intima her aus dem vorbeiströmenden 
Blute. 


Das Übergreifen entzündlicher Prozesse aus der Umgebung auf den 
Pulmonalisstamm ist wohl ein sehr seltenes, wenn überhaupt beschrie- 
benes Vorkommnis. Hödlmoser (s. unten) beschreibt ein myko- 
tisches Aneurysma der Aorta, das in die Pulmonalis durchgebrochen 
war, doch steht auch bei diesem Falle nicht sicher fest, ob es sich 
nicht um eine Entzündung des offen gebliebenen Ductus Botalli gehandelt 
hat. Selbst die Mesaortitis luetica, die in der Adventitia der Aorta oft 
sehr massige Infiltrate bildet, greift nie, nicht einmal an der Kreuzungs- 
stelle, auf die Pulmonalis über. Anders verhalten sich die mittleren 
und vor allem die kleineren Aste der Lungenschlagader. Entzündungen 
im Lungenparenchym greifen fast regelmäßig auf dieselben über. Von 
praktischer Bedeutung ist das hauptsächlich bei der Lungentuberkulose. 


Eine schwere mykotische Arteriitis der Pulmonalishauptäste wurde 
von Oberndorfer in zwei rapid verlaufenden Fällen von Influenza 
beschrieben. Sehr interessant ist der histologische Befund, indem er 
nämlich zeigt, daß die Intima am Entzündungsprozeß am meisten beteiligt 
ist. Bei Gramfärbung wimmelt hier alles von Streptokokken. Es sind 
dies beides Fälle, wo aller Wahrscheinlichkeit nach die Infektion primär 
von der Intima ausgegangen ist. 


Ebenfalls eine Endarterütis der Pulmonalis bei Influenza beschreibt 
Schlagenhaufer (1901), doch sind hier sehr bemerkswerte Besonder- 
heiten vorhanden. Es handelt sich um einen 13 jährigen Knaben, der 
mit fieberhaften Symptomen erkrankt war. Er wies ein systolisches und 
diastolisches Geräusch, letzteres maximal über der Aorta, auf, dazu kardiale 
Insufficienzerscheinungen. Die Autopsie ergab u. a. folgendes: Alle 
Klappen außer der Aorta sind zart, letztere zeigen hahnenkammartige, 
festhaftende, weißliche Vegetationen. Die Abgangsstelle des Ductus 
Botalli, der offen ist, weist dieselben Exkrescenzen auf, ebenso die Pul- 
monalis bis zur Teilungsstelle. Bakteriologisch findet sich ein Bacillus, 
der mit größter Wahrscheinlichkeit als Pfeiffer’scher Influenzabacillus an- 
gesprochen werden muß. 

1” 


260 MEBLIN 


Dies ist der erste Fall mykotischer Endarteriitis des Pulmonalis-. 
stammes. Das Haftenbleiben der infektiösen Teilchen an der Arterien- 
wand ist durch den offenen Ductus Botalli und die dadurch entstehenden 
abnormen Wirbelbewegungen und die nen der Gefäßwand wohl 
hinreichend erklärt. 

Ähnliche Fälle einer Endarteriitis pulmonalis bei offenem Ductus 
Botalli sind noch mehrere bekannt: 

C. Hart beschreibt zwei Fälle einer Endocarditis verrucosa der 
Aortenklappen, bei denen durch den offenen Ductus Botalli hindurch end- 
arteriitische Vegetationen sich in der Pulmonalarterie am die Einmündung 
derselben festgesetzt hatten. Ahnliche Fälle waren früher schon be- 
schrieben worden von Babington, de Amalgro; Buchwald, 
Murray, Rickards, Percy Kidd, Ganchery (zit. nach Hart). 

Daß endarteriitische Vegetationen von den Aortenklappen- aus durch 
den offenen Ductus Botalli rückwärts sogar die Pulmonalklappen sekundär 
infizieren können beweist ein Fall, den Sommer beschrieben hat. Von 
einer Endocarditis ulcerosa der Aortenklappen hatte sich eine Endarteriitis 
der Aorta, des offenen Ductus Botalli und der Pulmonalis gebildet. Auf 
der vorderen Pulmonalklappe saß ein hirsekorngroßer, reichzerklüfteter, 
roter Knoten. Daß der Infektionsmodus umgekehrt gewesen wäre, ist 
wegen der Druckdifferenzen und den Strömungsverhältnissen sehr un- 
wahrscheinlich. 

Den umgekehrten Weg, d. h. die Infektion der Aorta von kranken 
Pulmonalklappen aus, beschreibt Hochhaus. Die Pulmonalklappen 
zeigen eine schwere Endokarditis, von der aus sich Auflagerungen 
thromboarteriitischer Natur in der Pulmonalarterie, im Ductus Botalli 
und in der Aorta bis zum Bogen gebildet hatten. Der Kranke starb 
unter den Symptomen einer recidivierenden Endokarditis mit pyämischen 
Erscheinungen. 

In neuester Zeit hat Terplan einen Fall eines mykotischen Anen- 
rysmas des Stammes der Pulmonalarterie mit Endarteriitis des offenen 
Ductus Botalli bei einem Falle von Sepsis lenta publiziert. Eine rekur- 
rierende polypös-ulceröse Endokarditis der Aortenklappen hatte zur In- 
fektion der Pulmonalis durch den offenen Ductus Botalli geführt, die 
Thrombendarteriitis des Stammes der Pulmonalarterie ihrerseits wieder 
zu einem umschriebenen Äneurysma. Intra vitam war aus dem Blute der 
Streptococcus viridans gezüchtet worden. 

Ein auch klinisch sehr interessanter Fall von Pulmonalarterien- 
entzündung findet sich von Hödlmoser beschrieben. Eine 37 jährige 
Frau erkrankt an Ödemen mit vorübergehenden Temperatursteigerungen. 
{m 2. IKR. 1l. Fr&missement sichtbar, daselbst ist auch das über dem 
ganzen Herzen hörbare systolische Geräusch am lautesten. Das Röntgen- 
bild zeigt an derselben Stelle einen beträchtlich breiten, ausgebuchteten 
bogenförmig begrenzten Schatten entsprechend der Pulmonalarterie. Das 
Herz ist besonders nach links verbreitert. Anatomisch besteht eine 
Vergrößerung des linken Herzens. Auf der Mitralis finden sich teils 
feinwarzige, teils größere weiche Auflagerungen von grünlichgrauer Farbe; 
auf einer Aortenklappe eine ca. linsengroße, weichere, endokarditische 
Auflagerung. Der Einmündung des Ductus Botalli entsprechend findet 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 961 


sich hinter einer querverlaufenden Leiste eine flach-trichterartig gegen 
die Pulmonalarterie ausgebuchtete Aortenwand. Dieser Trichter ist mit 
zarten, feinwarzigen Auflagerungen besetzt. Der Trichter führt durch 
ein rundes Loch direkt in die Pulmonalarterie, in welcher sich dieselben 
zarten Exkrescenzen finden. Der Autor faßt den Fall als ein in die 
Pulmonalarterie perforiertes Aneurysma auf, läßt aber die Möglichkeit 
offen, daß es sich um einen offen gebliebenen Ductus Botalli handelt. 

Der umgekehrte Weg der Infektion wurde von Richards be- 
schrieben. 


In allen diesen Fällen sind wohl die abnormen Wirbelbewe- 
gungen und Strömungsverhältnisse für die Lokalisation der end- 
arteriitischen Veränderungen verantwortlich zu machen. Auch auf 
dem Boden einer Gefäßsklerose entwickeln sich gerne entzündliche 
Vorgänge der Intima (von Schrötter). 

Mitteilungen über isolierte Entzündung der Pulmonal- 
arterie sind sehr selten. 

Reiche beschreibt zwei Fälle von Arteriitis der Pulmonalis, 
von denen der zweite als isolierte Entzündung der Arterienwand 
aufzufassen ist, ohne daß das übrige Gefäßsystem affiziert wäre. 
Die Krankheitsdauer war in beiden Fällen drei Wochen. 


Im ersten Falle handelt es sich um ein 17jähriges Mädchen, das 
unter Herzsymptomen erkrankte und plötzlich ad exitum kam. Die 
Sektion zeigte Folgendes: Das Herz ist im ganzen vergrößert, auf den 
Pulmonalklappen finden sich mehrere weißliche, knötchenartige, kleine 
Gebilde. Das Anfangsstück der Pulmonalis zeigt in einer Höhe von 
mehreren Zentimetern über den Semilunarklappen an der Seite, an der 
sie der Aorta anliegt, eine fast markstückgroße, rundliche Region mit 
papillären Exkrescenzen. 

Im zweiten Fall handelt es sich um einen 21 jährigen Mann, der 
nach zwei Wochen, nachdem er an unbestimmten fieberhaften Symptomen 
erkrankt war, ad exitum kam. Anatomisch zeigte er einen recht inter- 
essanten Befund: der rechte Ventrikel war mäßig dilatiert, alle Klappen 
zart, dagegen fand sich in der Arteria pulmonalis, 3—4 cm oberhalb der 
Semilunarklappen ein mit breiter Basis aufsitzender Thrombus, die darunter- 
liegende Pulmonalarterienwand ist eine ca. 5 Pfennigstückgroße, leicht 
erhabene Fläche mit unregelmäßigen welligen Rändern. Auch hier hat 
es sich zweifellos um eine echt entzündliche Veränderung der Arterien- 
wand gehandelt. Die mikroskopische Untersuchung wurde nicht ausgeführt. 


Gotthardt beschreibt auch einen Fall von Endarteriitis ver- 
rucosa arteriae pulmonalis bei Endocarditis der Pulmonalklappen, 
bei einem 18?/, jährigen Mädchen. 

Auffallend ist bei allen diesen Fällen das jugendliche Alter, 
so daß also Gefäßsklerose kaum als Mitbedingung in Betracht 
kommt. 


262 MEHLIN 


Eine Arteriitis der Pulmonalis mit Aneurysmenbildung fand 
E. Kaufmann in einem Fall osteomyelitischer Pyämie. 

Die Erreger dieser Arteriitiden sind — soweit sie in den 
Publikationen überhaupt genannt werden — Staphylokokken und 
Streptokokken, nach Posselt kommt auch der Scharlach und selten 
die Gonorrhöe!) als Ätiologie in Betracht. 

Auf Veranlassung von Professor Rössle sollen im folgen- 
den einige weitere Fällemykotisch-endarteriitischer 
Veränderungen an der Pulmonalis beschrieben werden. 
Herrn Geheimrat Romberg in München und Herrn Pro- 
fessor Hotz in Basel bin ich für die Überlassung der entsprechen- 
den Krankengeschichten zu Dank verpflichtet. 

Von den folgenden Fällen ist besonders der erste von Wichtig- 
keit, weil er auch klinisch zu sehr interessanten differentialdia- 
gnostischen Erwägungen Anlaß gab. 


Fall I. 


Der ledige 25jährige E. S. bekam im Dezember 1921 plötzlich 
Beklemmungsgefühl und Schmerzen auf der Brust und in der Herzgegend, 
die in den linken Arm ausstrahlten, dabei hatte er starken Lufthunger, 
mußte sich im Bett aufrichten, wurde blau im Gesicht und hatte das 
Gefühl der Todesangst. Solche Anfälle wiederholen sich öfters Nachts, 
sind von kurzer Dauer, ca. 10 Minuten. Er trat deswegen in der 
Münchner I. medizinischen Klinik ein. 

Herr Geheimrat R o m ber g stellte auf Grund der sehr ausgesprochenen 
Geräusche über der Pulmonalis und der Herzkonfiguration die Diagnose 
einer Pulmonalinsufficienz fest. Die Herzfigur ist in der neuen 
: Ausgabe des Lehrbuches der Krankheiten des Herzens von Herrn Ge- 
heimrat Romberg auf Seite 330 abgebildet. 

Im Juni 1924 trat Pat. in der Basler chirurgischen Klinik ein 
wegen Verdacht auf Nierentuberkulose. Er war zwischen München und 
Basel noch in mehreren kleineren Spitälern gewesen, überall war eine 
andere Diagnose gestellt worden. Er erholte sich jeweilen wieder 
ordentlich und soll bis vor 2 Monaten blühend ausgesehen haben, seither 
ist er abgemagert und blaß geworden. Es sollen öfters Darmblutungen 
aufgetreten sein. 

Da die Temperatur meist afebril war und nur einmal eine leichte 
Zacke zeigte, zweifelte man an der Diagnose einer Sepsis, trotzdem die 
übrigen Symptome dazu paßten. Aus äußeren Gründen unterblieb die 
Blutkultur. 

Am 2. VII. notiert die Klinik: Das Hämoglobin nimmt ständig ab, 
Pat. verfällt langsam, der Puls wird schwach, Appetit fehlt vollkommen. 


1) Kürzlich beschrieb Lindau einen Fall gonorrloischer Aortitis mit Bil- 
dung eines Aneurysmas. Auch hier war die Infektion offenbar von der Intima 
aus angegangen. 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 963 


Am 5. VII. erfolgt der Exitus letalis unter den Erscheinungen einer 
Herzinsufficienz. 


Die am gleichen Tage vorgenommene Sektion (SN 
398/24) ergab Folgendes: Sepsis lenta, — Hyperplasie des 
Knochenmarkes. — Starke chronische Milzschwellung. — Insuffi- 
cienz der Pulmonalklappen durch vollständig abgelaufene Endo- 
karditis, Thromboendarteriitis des Stammes der Pulmonalis. — Di- 
latation und mäßige Hypertrophie der rechten, keine solche des 
linken Herzens. — Chronische seröse Perikarditis. — Geringer beid- 
seitiger Hydrothorax. — Braune Induration der Lungen. — Mäßiges 
Lungenemphysem. — Terminale, schlaffe Pneumonie der hinteren 
Teile des rechten Unterlappens. — Hämorrhagische Nephritis als 
Recidiv einer älteren schleichenden Nephritis mit Nephrose. — 
Leberschwellung (im wesentlichen toxisches Ödem). — Stauungs- 
ödeme des Magens und des Darms. Hämolymphdrüsen im Bereich der 
Lungenwurzel. — Alter Käseherd in Bronchiallymphknoten. — Ob- 
literation und Verwachsung der Wurmfortsatzspitze, gallertige Atro- 
phie des Fettgewebes, Hautnarben, starke Anämie und Abmagerung. 


Aus dem ausführlichen Sektionsprotokoll: Mittelgroße, männliche, 
sehr lange, schlanke Leiche in sehr stark herabgesetztem Ernährungs- 
zustand. Auffallend ist die starke Blässe des ganzen Körpers, die Haut 
in langen Falten abhebbar, zeigt über dem rechten Schienbein, rechtem 
Oberschenkel und besonders über der Brust am rechten Schlüsselbein 
verschiedene strahlige Narben. An den Knöcheln leichte: Odeme, keine 
Hautblutungen, die Drüsen in den Gelenkfalten sowie am Hals sind nur 
klein durchfühlbar. Die Muskulatur ist sehr dürftig, einzig am Kiefer 
ist die Totenstarre vorhanden. Die Leichenflecken fehlen, die Behaarung 
ziemlich reichlich, auch am Ober- und Unterschenkel neben den ge- 
wöhnlichen Stellen. Uber dem Kreuzbein oberflächliche, eingetrocknete 
Hautdefekte.e. An den Armen Zeichen ärztlicher Einstichstellen. Die 
Schleimhäute an Lippen und Konjunktiven sind stark blaß, die Skleren 
weiß, die Gesichtsfarbe leicht gelblich, sonst keine subikterische Ver- 
färbung. 

Die Leber überragt den unteren rechten Rippenbogen um 2 Quer- 
finger. Zwerchfell steht links im 4. IKR, rechts am unteren Rand der 
5. Rippe, ist noch schlaf. Die Rippenknorpel schneiden sich leicht, 
Rippen nicht brüchig. In der rechten Pleurahöhle befindet sich 
500 ccm gelbliche, getrübte Flüssigkeit. Die linke Lunge ist im Ober- 
lappen strangartig verwachsen, ähnliche spangenartige Verwachsungen 
finden sich am Unterlappen, sowohl an der Spitze als gegen das Zwerch- 
fell zu. Im Herzbeutel finden sich 300 ccm gelbliche, leicht getrübte 
Flüssigkeit. Am Aortenbogen, besonders aber auch an der Herzspitze 
finden sich bindegewebige, derbe Spangen zwischen den beiden Blättern 
des Herzbeutels. 

Der Herzbeutel im übrigen mit ganz frischen, fibrinösen Auflage- 


264 MEHLIN 


rungen, besonders über der rechten Hälfte, daselbst finden sich auch 
frische punktförmige Blutungen. Das epikardiale Fettgewebe ist stark 
dunkelgelblich, gequollen. 


Das Herz etwas verbreitert, fühlt sich in der linken Hälfte mäßig 
fest an, in der rechten dagegen stark schlaff. In beiden Herzkammern 
findet sich ziemlich viel ungeronnenes Blut, das ganz wässerig hell ist; 
kein Blutgerinnsel. Der gleiche Inhalt findet sich in der Pulmonalis. 

Die Pulmonalis zeigt an der Gabelung in die bei- 
den Äste eine warzenartige, zerklüftete, haselnuß- 
große Auflagerung, die der Wand fest anhaftet, die 
feinhöckerige Oberfläche ist mit geronnenem Blut 
bedeckt. Die darunterliegende Arterienwand ist ver- 
dickt, die Schwiele verursacht an der Außenwand 
der Arterie an der entsprechenden Steile eine Vor- 
wölbung. Die Lymphdrüsen in der Nähe sindklein, 
ohne Verwachsungen, ohne Narben. Die Pulmonal- 
klappen selbst sind ziemlich dick und milchig, etwas 
steif, spielen nur schwach im Wasserstrahl, zeigen 
aber keine frischen Auflagerungen. An einer Klappe 
ist der Nodulus Arantii verschoben. Die Berührungs- 
stelle zweier Klappen wird von einem akzessori- 


Abb. 1. Akute mykotische Pulmonalitis. Fall I. 
a Thrombotische Auflagerung. b Accessorische Klappenbildung. 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 265 


schen, festen, sehnig glänzenden, einem Segel ähn- 
lichen Streifen überdacht (s. Abb. 1). 


Die Pulmonalis selbst ist etwas weit, zeigt sonst keine Besonder- 
heiten, auch nicht in den mittelgroßen Asten. Die Tricuspidalklappen 
sind zart und dünn, ohne frische oder alte Auflagerungen. Der gleiche 
Befund zeigt sich an den Mitral- und Aortenklappen. Der Anfangsteil 
der Aorta ist ganz glatt, elastisch, die Kranzarterien sind leer mit 
glatter, elastischer Wand. Der Herzmuskel ist in der ganzen Ausdehnung 
sehr stark blaßgelb, blutleer, etwas matt und zeigt dazwischen feine, zahl- 
reiche grauweiße Schwielen. Der rechte Ventrikel ist sichtlich erweitert 
und dünn, das eirunde Loch geschlossen. 

Die linke Lunge hat im Oberlappen glatte, glänzende Pleura, gegen 
den Unterlappen zu bestehen bindegewebige Verwachsungen. Der Ober- 
lappen stark gebläht, zeigt hellrote, blutarme Schnittfläche, der Saftgehalt 
ist mäßig reichlich, das Gewebe knistert laut, Narben sind nicht nach- 
weisbar, der Unterlappen zeigt auch bindegewebige Verwachsungen, be- 
sonders im Bereich des Zwerchfells, daselbst sind auch derbe, binde- 
gewebige Einziehungen der Pleura sichtbar, die paravertebralen Teile 
zeigen auf der Pleura einen matten, fibrinösen Belag mit spärlichen 
Blutungen. Im Schnitt zeigen die oberen und unteren Teile eine gelb- 
rötliche Fläche mit stark erhöhtem Saftgehalt und viel feinem, abstreif- 
barem Schaum. Eine mittlere Zone ist gelbbraun verdichtet, fühlt sich 
fest und brüchig an, ist feinkörnig, der Luftgehalt hier aufgehoben. In 
den Bronchien feinschaumiger, reichlicher Inhalt, die Schleimhaut ganz 
blaß, intakt. Die bronchialen Lymphknoten sind klein, schiefrig, hier 
ohne besondere Einlagerungen. 

Die rechte Lunge: auch hier zeigen die vorderen Partien des Ober- 
lappens, der ganze Mittellappen und ein kleiner vorderer Saum des 
Unterlappens eine glatte, glänzende Pleura. Im Schnitt sind diese 
Partien ganz hell, sehr blutarm, knistern laut beim Aufschneiden. Die 
hinteren Teile des Oberlappens und fast der ganze Unterlappen sind da- 
gegen gleichmäßig gelbbraun verdichtet, matt, feinkörnig, fest. 

Die Milz ist stark vergrößert, mittelfest, die Kapsel glatt, im Schnitt 
wenig Blut abstreifbar, hellrote Farbe, in der die Trabekel und Follikel 
eben sichtbar sind. 


Die Leber mittelgroß, mit glatter Kapsel, im Schnitt ziemlich viel 
stark verdünntes Blut abfließend, das Gewebe glänzend, saftreich, braun- 
rot, mit eben sichtbarer Läppchenzeichnung. In der Gallenblase mittel- 
reichlich dünnflüssige, hellgrüne Galle, die Schleimhaut intakt, nicht rot. 

Beide Nebennieren sind mittelgroß. Das Knochenmark im mittleren 
Teil des Femur braunrot, saftreich, gequollen, wenig fetthaltig. 

Die bakteriologische Untersuchung der Milz ergab: 

Im Abstrich spärlich grampositive Diplokokken, vereinzelt in kurzen 
Ketten, reichlich gramnegative Stäbchen, vereinzelte grampositive Stäbchen. 

Kulturell: Bact. coli und Streptococcus viridans. 

Die mikroskopische Untersuchung der Organe ergab folgende Befunde: 


Herz: Sowohl rechts wie links kleine Schwielen, keine Myokarditis, 
mäßige braune Degeneration. Vereinzelte Faserverfettungen. 


266 MEHLIN 


Milz: Chronische Milzschwellung mit Hypertrophie von Pulpaelementen 
und reichlich Phagocytosen. 

Lunge: Kruppöse Pneumonie im Stadium der gelben Hepatisation 
mit Herzfehlerzellen im r. Unterlappen. 

Leber: Lymphocytäre Infiltrate der Glisson’schen Kapsel. Hyper- 
ämie des Parenchyms. Geringe grobtropfige Verfettung. 

Nieren: Eiweißausscheidung und Zylinder. Chronische Glomeraulitis. 
Geringe vereinzelte Infiltrate.. Keine Verfettung. Ödem der Nieren- 
beckenschleimhaut und Ekchymosen. 

Aorta: sowohl in den oberen Partien als auch im Bauchteil ohne 
Veränderungen. 

Mesenterialdrüse: o. B. 

Bronchialdrüse: Starke Erweiterung der Sinus durch Blut und teil- 
weise sehr zahlreiche Wucherungen, stellenweise mit Fibrinausscheidung. 

Knochenmark: einfache, mäßige Hyperplasie. 

Hoden: Verdickung der Hodenkanälchenhüllen. Mäßig reichlich 
Zwischenzellen. 

Zur Untersuchung der Pulmonalarterie an der Stelle der Auflagerung 
wurden folgende Färbetechniken angewandt: Hämalaun-Eosin, Elastin- 
van Gieson, Plasmazellfärbung nach Unna-Pappenheim, Bakterienfärbung 
nach Gram und Weigerts Fibrinfärbung. Mikroskopisch zeigte sich 
folgendes Bild (siehe Abb. 2—4): 

Die Pulmonalarterie ist im Bereich der Auflagerungen erheblich 
verdickt, vorwiegend im Bereich der Intima. Es lassen sich daselbst 
deutlich drei Prozesse unterscheiden: in der im ganzen sklerosierten 
Intima finden sich jüngere, leicht strahlig angeordnete Narbenbildungen, 
daneben in einer sklerotischen Platte ein ganz frischer, aus polynucleären 
Leukocyten bestehender Absceßherd mit Zeichen eitriger Einschmelzung. 
In den oberflächlichen Lagen ist das Endothel defekt, in den innersten 
Intimaschichten liegen fibrinoide Degenerationsherdchen, die sich manch- 
mal auch unter einem noch erhaltenen Endothelhäutchen finden. An der 
Stelle, wo der Thrombus der Arterienwand aufliegt, findet sich auch in 
ihrer innersten Schicht fädiges Fibrin, das in direktem Zusammenhang 
steht mit den Auflagerungen. Diese bestehen vor allem aus throm- 
botischen Massen: Fibrin, Blutplättchen, reichlichen Leukocyten und 
einzelnen Lymphocyten. Die Intima ist daselbst stark aufgelockert und 
zeigt an einzelnen Stellen Einpressung von roten Blutkörperchen zwischen 
ihre Lamellen. Neben dem obenerwähnten Absceßherd findet sich in den 
erweiterten Saftlüäcken der Intima reichlich kleinzellige Infiltration von 
lymphoidem, vorwiegend aber von leukocytärem Charakter, parallel den 
Faserrichtungen angeordnet. Gegen die Grenze zur Media werden die 
Zellanhäufungen massiger, an einzelnen Stellen verdichten sie sich phleg- 
monenartig, von einzelnen Nekrosen begleitet (Abb. 2). Auch in der 
Media finden sich mehrere Absceßbildungen (Abb. 4), aus massenhaften 
Leukocyten bestehend. Die elastischen Faserbündel sind durch diese 
Herde unregelmäßig aufgesplittert, teilweise eingeschmolzen (Abb. 3). 
Daneben zeigen sich in der Media Kernwucherungen ohne Absceßhildung 
oder Zeichen frischer Infiltration, aus protoplasmaarmen, undeutlich be- 
grenzten, mit groBen gekerbten Kernen versehenen Zellen bestehend. 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 267 


Abb. 2. Akute mykotische Pulmonalitis. Hämalaun-Eosin. Phlegmone der Media. 
Vergr.: Leitz Obj. 3. Zeiß Kompens. Ok. 4 


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Abb. 3. Akute mykotische Pulmonalitis. Elastinfärbung nach Weigert und Binde- 
| gewebsfärbung nach van Gieson. a Absceß der Media. b Endarteriitisch-myko- 
tische Auflagerung. 


Vergr.: Leitz Obj. 2. Zeiß Kompens. Ok. 4. 


268 MEHLIN 


Dieselben sind offenbar aus Adventitialzellen der vasa vasorum hervor- 
gegangen. Den Gewebsdruckverhältnissen angepaßt sind sie hier streifen- 
förmig angeordnet, während sich in der Adventitia ähnliche, aber zu 
Knötchen gelagerte Kernwucherungen. finden, ähnlich den rheumatischen 
Knötchenbildungen. Dieselben großzelligen Wucherungen zeigen sich in 
Nerven um kleinste Gefäße gelagert. Sie sind sehr dicht aufgebaut, beinahe 
an Krebsnester erinnernd. Sie bestehen aus Zellen mit ovalem Kern 
und undeutlich abgesetztem Protoplasma, erst in der lockeren Adventitia 
finden sich gemeine Rundzelleninfiltrate. Die in den Nerven verlaufenden 
Gefäßchen zeigen Endothelwucherungen. Der Adventitia aufgelagert 
finden sich vielschichtigte, teilweise papillär angeordnete Serosaepithel- 


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Abb. 4. Akute mykotische Pulmonalitis. Hämalaun-Eosin. 
a Mediaabsceß. b verdickte Intima. c endarterütisch-mykotische Auflagerung. 


Vergr.: Leitz Obj. 2. Zeiß Kompens. Ok. 4. 


wucherungen des Perikards.. Im Grampräparat finden sich, in den Auf- 
lagerungen und diffus in der Wand verteilt, besonders reichlich in den 
Absceßherden, grampositive, meist zu Diplokokken gelagerte Strepto- 
kokken. 

Wir haben hier also das typische Bild einer phlegmonösen, 
zum Teil abscedierenden Entzündung der Wand der Lungenschlag- 
ader vor uns. Fragen wir uns nach dem Infektionsweg, so sind 
wir wohl zur sicheren Annahme berechtigt, daß die Bakterien vom 
Lumen aus in die Wandung eingedrungen sind. Die Erscheinungen 
frischer Entzündung in der Intima und in der Media bei Fehlen 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 269 


jeglicher akuten Entzündungserscheinungen in der Adventitia, 
speziell auch um und an den vasa vasorum bestätigt diese Ansicht. 
Auf dem Boden der Enndarteriitis setzte sich der Gefäßwand sekun- 
där ein Thrombus auf. 

Was ist nun der Grund dieser seltenen Lokalisation einer Ent- 
zündung? Fassen wir nochmals die früher publizierten Fälle ins 
Auge so ist sehr auffallend, daß in allen genauer beobachteten sich 
eine Hypertrophie und Dilatation des rechten Herzens oder ein 
durchgängiger Ductus Botalli findet. Auch in unserem Falle war 
das rechte Herz enorm hypertrophisch und dilatiert infolge einer 
Insufficienz der Pulmonalklappen. Bei der enormen Exposition der 
Pulmonalis für Infektionen — sämtliche in den venösen Kreislauf 
eingedrungenen Keime passieren dieses Gefäß — ist man ge- 
zwungen, eine gewisse Nicht-Disposition ihrer Wandungen anzu- 
nehmen, für die der geringere Druck im kleinen Kreislauf eine 
vielleicht nur teilweise Erklärung gibt. Ändern sich die normalen 
Druck- und Strömungsverhältnisse im kleinen Kreislauf, so ist die 
Wandung der Pulmonalarterie wahrscheinlich infolge Dehnung der 
schützenden Endothelschicht und erhöhter mechanischer Inanspruch- 
nahme für Infektionen bedeutend empfänglicher. Einen sehr inter- 
essanten Nebenbefund bildet die akzessorische Klappen- 
bildungunmittelbar über demPulmonalostium (s. Abb.1). 
Im linken arteriellen Ostium sind solche Taschenbildungen, meist 
mit Aorteninsufficienz kombiniert, schon mehrfach beschrieben auch 
im Bereich der Ausflußbahn, von den einen (Zahn) auf rein mecha- 
nische Ursachen zurückgeführt, von anderen auf rein entzündliche 
(Wilke). Sotti hält sie für teratologische Erscheinungen. Die 
Taschen sind fast stets aortenwärts gerichtet. Fälle, wo die Klap- 
penbildungen umgekehrt gerichtet waren, sind selten beschrieben. 
Krasso publizierte kürzlich einen solchen mit genauer histologi- 
scher Beschreibung. Er nimmt an, daß primär eine Verdickung 
des Endocards, sei es auf entzündlicher, sei es auf rein mechani- 
scher Basis, stattgefunden habe. Der sich an diesen Stellen brechende 
Blutstrom hat dann die Aushöhlung der Verdickung und ihre Um- 
wandlung in eine Tasche bewirkt. Ganz eigenartig liegen die Ver- 
hältnisse in unserem Falle: Da wir an den Pulmonalklappen deut- 
liche Reste einer Endokarditis mit Insufficienzerscheinungen haben 
und da an der sonst glatten Intima keine präformierte Taschen- 
bildung vorhanden ist, so ist eine entzündliche Entstehung das 
Wahrscheinlichste und zwar sich sekundär anschließend an klein- 
sten wandständigen, später organisierten Thrombus, der durch die 


270 MEHLIN 


Mechanik der Insufficienz der Klappe sozusagen ausgehöhlt und so 
zu einer akzessorischen Klappe umgebildet wurde. Eine histo- 
logische Untersuchung der Bildung wurde nicht vorgenommen, um 
das Präparat zu schonen. 

Das Besondere an unserem Falle ist also, daß sich die 
Klappenbildung im Gebiete des rechten Herzens und 
zwar über den Klappen findet. Dazu kommt noch, daß sie 
nach unten gerichtet ist (s. Abb. 1b). Von zwei weiteren 
Fällen von Arteriitis der Pulmonalarterie stehen mir nur mit 
Hämalaun — Eosin gefärbte Präparate zur Verfügung, so daß eine 
Untersuchung auf Bakterien leider nicht ausgeführt werden konnte. 


Fall II. 


Der 11jährige Walter L. hatte seit 4. IV. 1916 zeitweise Aufstoben, 
Erbrechen, starke Durchfälle, 6 Wochen lang blutige Durchfälle. Am 
4. VI. trat wieder Erbrechen, Durchfall und Blut im Stuhl auf. Am 
17. VI. erfolgte die Aufnahme in die chirurgische Klinik in Jena. Die 
Operation ergab eine eitrige Peritonitis mit Kot in der Bauchhöhle. Im 
unteren Dünndarm fand sich eine walnußgroße Perforation. Es wurde 
eine Resektion von 25 cm des untersten Dünndarms ausgeführt. Trotz- 
dem kam Pat. ad exitum. Nach Angabe des Vaters soll er zur Zeit 
einer kurz vorher in der Stadt ausgebreiteten Epidemie keinen Typhus 
mitgemacht haben. 

Die am 18. VI. ausgeführte Sektion (S. N.. 263/16 des Pathol. In- 
stituts Jena) ergab folgende Diagnose: 

Chronischer Typhus. Schwerste chronische lleocolitis. Begionäre 
Lymphadenitis. Diffuse eitrig-fibrinöse Peritonitis. Zeichen vorgenommener 
lleo-Colo-Anastomose und Resektion der untersten Ileumschlingen (nach 
Angabe wegen Perforation eines Geschwürs), chronische Milzschwellung. 
Embolische Myocarditis. Frische Thromboarteriitis der Pulmonalis 
hinter einer Klappe. Diphtheroide beiderseitige Pyelitis. Multiple 
Konglomerattuberkulose der linken Lunge, zum Teil abgekapselt. Kalk- 
herd einer linksseitigen Bronchialdrüse. Akutes terminales Lungenödem. 

Protokoll (im Auszug): Leiche eines schmächtigen Knaben in starker 
Totenstarre. Lippen sehr bleich. In der Mittellinie des Bauches, unter- 
halb des Nabels, ist eine Schnittwunde, durch die die Bauchhöhle drei- 
fach drainiert ist. Die Därme sind gebläht, mit Fibrin belegt. Die 
unterste Ileumschlinge ist entfernt, ihr Mesenterium vernäht. Oberhalb 
des Ileumstumpfes, der durch Naht verschlossen ist, ist der Dünndarm 
an das Colon transversum vernäht. 

Herz: von normaler Größe, gut kontrahiert. In der Pulmonalis 
Speckhautgerinnsel. Die Klappen sind. ohne Veränderungen. Hinter 
einer Klappe trägt die Pulmonalis  weißliche. Beläge. . Das Herzfleisch 
ist fleckig, enthält weiße streifige Herde und kleine Blutungen. Aorta 
zeigt ein paar gelbe Flecken, Kranzgefäße sind o. B. 

Lungen: sind gebläht und elastisch. Im linken Oberlappen mehrere 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 271 


größere Käseherde, deren Umgebung narbig ist. Ein größerer nicht abge- 
kapselter und miliare Knoten unter der Spitze. Im übrigen sind alle 
Lappen gut lufthaltig, auf der Schnittfläche bleich, ziemlich trocken, ohne 
Knötchen. Die Unterlappen sind etwas blutreicher als die Oberlappen. 
Am linken Hilus ein Kalkherd in einer Drüse. Auch in der Spitze des 
linken Unterlappens ein abgekapselter Kreideherd. 

Halsorgane zeigen genarbte linke Tonsille, sonst o. B. 

Milz: ziemlich groß, Oberfläche nicht verwachsen, Schnittfläche 
bleich, rosarot, Pulpa nicht quellend, Follikel deutlich. 

Leber, Gallenwege, Ureteren, Nebennieren und Nieren zeigen keine 
Besonderheiten. Im Nierenbecken beiderseits ist die Schleimhaut dunkel- 
grau, grün verfärbt, mißfarben belegt, rauh. 

Die im hygienischen Institut vorgenommene bakteriologische Unter- 
suchung der Milz ergab Typhusbazillen. 


Die mikroskopische Untersuchung der Pulmonalarterie im 
Bereich der im Protokoll erwähnten weißlichen Beläge ergibt 
folgenden Befund: 

Die Auflagerungen bestehen aus Fibrin, Blutplättchen und reichlich 
Leukocyten. Im Bereich des Thrombus fehlt das Endothel größtenteils, 
an seiner Stelle liegen fädige, streifenförmige Elemente, die mit reichlich 
Leukocyten untermischt sind. Die etwas verdickte Intima ist sehr zell- 
reich, sie enthält neben kleinen runden Zellen reichlich polynucleäre 
Leukocyten, die sich aber nirgends zu einem Absceß verdichten. Die 
Media enthält neben reichlicher kleinzellulärer leukocytärer Infiltration 
kleine streifenförmige Zellkonglomerate, deren Zellen mit großen ge- 
kerbten Kernen und undeutlich abgegrenztem Protoplasma versehen sind. 
Die Adventitia zeigt vorwiegend perivasculär gelagerte, kleinzellige In- 
filtration; doch finden sich auch hier dieselben großzelligen, in dieser 
Schicht zu kleinen Knötchen gelagerten Wucherungen. 

Wir haben hier also auch eine frische phlegmonöse Entzündung 
der Pulmonaliswand vor uns. Trotzdem keine Bakterienfärbung 
ausgeführt werden konnte, ist dieser Prozeß olıne Zweifel auf 
bakteriellen Ursprung zurückzuführen und zwar auf die Typhus- 
bazillensepsis. Die ‘Infektion ist bei der außerordentlichen Be- 
teiligung der Intima sicher vom Gefäßlumen her eingedrungen. 


Fall IH. 


Beim dritten Fall konnten wir keine klinischen Angaben er- 
halten, da die Patientin im Versorgungshaus starb, wo keine 
Krankengeschichten geführt werden. Es handelt sich um eine 
79jährige Frau. 

Die Sektionsdiagnose (S.N. 603/22 Basel) lautete: 

Weicher und teilweise nekrotischer Krebs des kleinen Beckens, 
wahrscheinlich ausgehend vom linken Ovar. Vereinzelte Milz- 


272 | MEHLIN 


metastasen. Metastatische Knoten der Wand der Flexura sigmoidea. 
Allgemeine Kachexie und Anämie. Seniles Emphysem. Chronische 
eitrige Bronchitis. Polypöser Thrombus der Pulmonalis 
über den Klappen (s. Abb.5). Vereinzelte, wahrscheinlich davon 
ausgehende Embolie eines Pulmonalishauptastes. Braune Degenera- 
tion des Myocards und Polyposis ventriculi. Frischere Perikarditis 


Abb. 5. Akute mykotische Pulmonalitis. Fall III endarteriitisch-mykotische 
Auflagerung über den Klappen. 
über der Herzwurzel. Vereinzelte Polypen der Flexura sigmoidea. 
Hochgradige Erweiterung der Blase mit leichter trabekulärer Hyper- 
trophie. Zysten des Blasenausganges. Apoplektische Zyste im 
rechten Putamen. Hydrocephalus ext. und int. Chronische Pachy- 
und Leptomeningitis. 


Protokoll: (im Auszug). Leiche einer kleinen Frau in herabgesetztem 
Ernährungszustand. Totenstarre nur an den unteren Extremitäten er- 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 273 


halten. Leichenflecken spärlich blaurot am Rücken. Zwerchfellstand 
rechts 4. IKR. links 5. Rippe. Das kleine Becken ausgefüllt durch 
größere Tumormassen. Lungen mäßig kollabiert und retrahiert, beider- 
seits völlig frei, in den Pleurahöhlen keine freie Flüssigkeit, im Herz- 
beutel einige Kubikzentimeter klare Flüssigkeit. 


Herz mittelgroß, schlaff. In beiden Kammern flüssiges Blut und 
Cruor. In der Pulmonalis ein Speckhautgerinnsel. Über der vorderen 
Klappe sitzt in der Pulmonalis ein gestielter, ca. 1 cm großer, polypöser 
grauroter, unregelmäßig geformter Thrombus (s. Abb. 5). Die Klappen 
des rechten Herzens zart, frei spielend. Die Mitralis etwas verdickt, : 
die Sehnenfäden plump. Die Aortenklappen zart. Die Aorta ascendens 
7! cm, zeigt zarte Intima mit wenig gelben Verdickungen. Die Coronar- 
arterien zart. Die Wanddicke links 12, rechts 4 mm. Auf Schnitten 
ist das Myokard braun, transparent, das Endokard spiegelnd. Das foramen 
ovale geschlossen. 

Die linke Lunge mittelgroß, von leicht erhöhtem Luftgehalt, schlaff, 
Pleura glatt und glänzend. Abstreifen läßt sich vom Unterlappen in 
reichlicher Menge blutige, schaumige, klare Flüssigkeit. Gewebe nach dem 
Abstreifen dunkelgraurot, glatt und glänzend, schlaff. Die rechte Lunge 
von auen wie links, Pleura glatt und glänzend. Unterlappen wie links, 
Mittel- und Öberlappen wie linker Oberlappen. Die Bronchien beider- 
seits mittelweit mit blutig schleimigem Inhalt, die Schleimhaut hyper- 
ämisch. Die Lungengefäße zart, in der linken Lunge in einem Gefäß 
ein kleiner gerippter, grauroter Embolus. Die Hilusiymphknoten anthra- 
kotisch, gering vergrößert. 

Die mikroskopische Untersuchung der Pulmonalis an der 
Stelle, wo sich die gestielte Auflagerung findet, ergibt folgendes Resultat: 
Die Auflagerung in der Pulmonalarterie ist ein fast reiner Plättchen- 
thrombus mit Zeichen von Organisation. Die darunterliegende Arterien- 
wand ist teilweise ihres Endothels beraubt. Zwischen die aufgelockerten und 
verdickten Intimalamellen sind Erytbrocyten eingepreßt. Die Intima ist 
verbreitert, ihre Fasern teilweise verfettet. In den Saftlücken, parallel 
den Fasern, sind reichlich kleine Rundzellen und einzelne Leukocyten 
eingelagert. Die Media zeigt im großen und ganzen gehörigen Aufbau, 
nur an einer Stelle in der Tiefe zeigt sie einen aus vorwiegend größeren 
Zellen mit teilweise gekerbten Kernen bestehenden, mit Leukocyten unter- 
mischten Entzündungsherd. In der Adventitia etwas vermehrte klein- 
zellige Infiltration ohne frische Entzündungszellen. 


Dieser Fall bietet ein wesentlich verschiedenes Bild von den 
vorhergehenden, sowohl mikroskopisch als auch was seine Ent- 
stehung betrifft. Es handelt sich um eine in Vernarbung begriffene, 
herdförmige Entzündung in der Tiefe der Media. Die Beteiligung 
der inneren Schichten an der leukozytären Infiltration spricht auch 
hier für eine Entstehung vom Lumen her. Allerdings bleibt es 
eine offene Frage, ob sie mykotisch bedingt ist, zumal eine sichere 
Quelle dafür nicht aufzufinden ist. Eine bakteriologische Blut- 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 18 


274 MEBLIN 


untersuchung wurde leider unterlassen und über klinische Angaben 
verfügen wir nicht. Es wäre höchstens die Frage zu diskutieren, 
ob vielleicht vom nekrotischen Krebs des Beckens eine Allgemein- 
infektion sich ausgebildet hatte. Die fehlende septische Milz- 
schwellung spricht nicht dagegen, da der Prozeß sicher älter ist. 
Auch in diesem Falle ist interessant, daß sich ein ausgesprochenes 
seniles Emphysem fand. Der landläufigen Ansicht gemäß soll zwar 
das senile, atrophische Emphysem keine Druckzunahme im kleinen 
` Kreislauf verursachen, nach den Erhebungen von W. Fischer kommt 
dasselbe aber ebenso wie das substantielle als Ätiologie der Pul- 
monalsklerose in Betracht, ein Zeichen dafür, daß doch veränderte 
Druckverhältnisse im kleinen Kreislauf herrschen können. Auch 
hier fanden sich wieder rote Blutkörperchen zwischen den innersten 
Intimalamellen unter dem Endothel wie im ersten meiner Fälle. 


Fall 4. 


Es handelt sich um einen 22jährigen Gärtner, dessen Krankenge- 
schichte mir in liebenswürdiger Weise von Herrn Professor Lutz zur 
Verfügung gestellt wurde. 

Der Mann erkrankte am 14. V. 1925 an Gelenkschmerzen, die sich 
zuerst in der linken Schulter, später in beiden Fußgelenken, in den 
Ellbogengelenken und im linken Knie festsetzten. Die Körperwärme hielt 
sich damals dauernd auf 39°, Wa.R. negativ. Ein Abstrich aus der 
Harnröhre am 3. VI. ergab positiven Gonokokkenbefund, trotzdem Patient 
jede Infektion abstritt. Eine Blutkultur ergab grampositive Kokken, 
keine Gonokokken, die Diagnose einer Sepsis war also sicher. Auf eine 
Schwitzkur besserten sich die Gelenksymptome. 

Die Untersuchung des Herzens ergab eine geringe Verbreiterung 
nach rechts und links, Spitzenstoß hebend, lautes systolisches und dia- 
stolisches Geräusch über dem ganzen Herzen, besonders laut über der 
Spitze und über der Pulmonalis. Am 25. VII. traten allgemeine Odeme 
auf, die sich auf Calcium-Diuretin und Einschieben von Milchtagen 
besserten. Ein Monat später steigerten sich die Insufficienzerscheinungen 
des Herzens ziemlich akut, es zeigte sich starkes Herzklopfen und Hals- 
venenpuls, am 12. IX. erfolgte der Exitus letalis unter den Zeichen der 
Herzinsufficienz. Die Temperaturen waren in der letzten Zeit dauernd 
nach Art des septischen Fiebers, sie stiegen bis 40°, der Puls sehr 
wechselnd, seine Frequenz betrug zwischen 90—130 Schläge in der 
Minute, Blutdruck normal. 


Die am gleichen Tage vorgenommene Sektion 
(S.N. 583/25) ergab folgende Diagnose: 

Chronische Sepsis bei Urethritis posterior. Endocarditis ulcerosa 
der Pulmonalklappen mit fast vollständiger Zerstörung aller Klappen 
und großen thrombotischen Auflagerungen. Endarteriitis throm- 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 275 


botica des Pulmonalisstammes durch Übergreifen. von den Klappen. 
Kleine Parietalthromben des Endokards vom rechten Ventrikel. 
Chronische septische Milzschwellung. Schwerste Nephrose mit 
starker Verfettung der Rinde. Rote Umwandlung des Knochen- 
marks. Schwerste allgemeine Anämie. Trübung und Ödem der 
braunatrophischen Leber; embolische Verschlüsse mehrerer Äste 
beider Arteriae pulmonales. Ältere, bereits entfärbte und frischere 
hämorrhagische Infarkte der Lungen, besonders beider Unterlappen. 

Hypertrophie des rechten Ventrikels und geringe Dilatation, 


Abb. 6. Schwere ulcerös-polypöse Endokarditis der Pulmonalklappen mit Über- 
greifen auf die Lungenschlagader. . 


allgemeine Ödeme des subkutanen Fettgewebes. Ascites. Hydro- 
thorax besonders rechts. Atelektase des rechten Unterlappens, 
braune Atrophie der Leber und des Herzmuskels. Blähung der 
Randteile der Lungen. Chronische schiefrige Tonsillitis mit Pfröpfen. 
Struma colloides nodosa. Ascariden. Ödem der Darmschleimhaut. 
Cyste der Epiphyse. 

Protokoll (im Auszug): Mittelgroßer, schlank gewachsener gut ge- 
bauter Mann in gutem Ernährungszustand, ohne Totenstarre, keine 
Leichenflecken. Haut außergewöhnlich blaß, am ganzen Körper etwas ge- 


dunsen, im Bereich des Bauches, des Sorotan und beider Beine starke 
Ödeme. In den Flanken des Bauches und an den Oberschenkeln 


18* 


276 MEHLIN 


Dehnungsstreifen; Ohren, Nase o. B. Im Mund gute Zähne, sehr blasse 
Lippen, Skleren weiß, Pupillen beiderseits mittelweit, aus der Harnröhre 
läßt sich weder Eiter noch Flüssigkeit auspre@sen. After o. B. Im 
Bauch 800 ccm milchiger chylöser Ascites (im Mikroskop nur Fett- 
tröpfehen). Serosa zart. Freier Leberrand eben sichtbar. Die Pleura- 
höhlen enthalten beiderseits klare gelbe Ergüsse, rechts 500, linka 300 ccm. 

Herz. Herzbeutel zart, enthält klare, nicht vermehrte Flüssigkeit, 
Herz geringgradig vergrößert, besonders nach rechts, der rechte Ventrikel 
klafft auf Schnitt, enthält meist flüssiges, wässeriges Blut. Der linke 
Ventrikel völlig zusammengezogen. 

Die Pulmonalklappen (s. Abb. 6) sind ausgedehnt zerstört, an ihrer 
Stelle finden sich der Wand locker aufsitzende, teilweise flottierende, 
graurote Auflagerungen, durch dieselben ist das Lumen stark eingeengt, 
das Ostium aber schlußunfähig, einzig die vordere Semilunarklappe ist 
noch erhalten, zeigt aber reichliche Auflagerungen. Die rechte und die 
linke Semilunarklappe sind vollkommen zerstört. Reichlich kleine Wärzchen 
in Form graurötlicher Gebilde sitzen auf dem Endokard des Conus 
arteriosus auf. Der Prozeß greift teilweise kontinuierlich von den Klappen- 
wurzeln auf die Pulmonalarterie über, teilweise sitzen aber vollkommen 
isolierte Geschwüre am oberen Rande der Sinus arteriae pulmonalis, den 
zerstörten freien Rändern der Pulmonalklappen gegenüber, woselbst die 
Zerstörung der Wand am tiefsten ist. Die Geschwüre sind von un- 
scharfen zackigen Rändern begrenzt und zeigen dieselben feinen Wärzchen 
aufgelagert, wie das Endokard. Das größte Geschwür hat seine obere 
Begrenzung 27 mm oberhalb des Ansatzes der vorderen Semilunarklappe. 

Die Wand der rechten Kammer ist deutlich verdickt, mit ausge- 
prägtem Innenrelief. Alle übrigen Herzklappen sind völlig 
zart, das eirunde Loch ist geschlossen, Kranzgefäße unverändert, Herz- 
muskel blutarm, stark braun und trübe. 

Lungen klein, leicht knisternd, besonders in den Randteilen, da~ 
Gewebe blaß, der rechte Unterlappen fast luftleer. An beiden Seiten 
enthalten die unteren Lungenteile zahlreiche keilartig verdichtete, derbe 
Knollen. In zahlreichen gröberen und feineren Verzweigungen der Arteria 
pulmonalis finden sich lose oder in Organisation begriffene helle krümelige 
Blutgerinnsel von derselben Beschaffenheit wie das an Stelle der Pulmonal- 
klappen befindliche Material. 

Milz wenig vergrößert, schlaff, Kapsel zart, das Gewebe schmutzig 
und weich, blaßgraurot. 

Leber eher klein, ziemlich derb, der Schnitt blutarm, feucht, 
stark braun. 

Nieren groß, rundlich, schneiden sich auffallend weich, Oberfläche 
blaßgraugelb, trüb, glatt. 

Genitalorgane. Die Urethra ist überall gleichmäßig weit, die 
Schleimhaut nirgends merklich gerötet oder sonst verändert, zuleitende 
Samenwege und Keimdrüsen zart. 

Knochenmark des Femur schmutzig rot, sehr feucht. 

Die durch das bakteriologische Institut vorgenommene Untersuchung 
des steril entnommenen Herzblutes ergab folgendes Resultat: 

Grampositive Haufenkokken, gramnegative Diplokokken verschiedener 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie: 277 


Form und Größe, gramnegative Stäbchen. Eine Kultur auf Schottmüller 
Blutplatte ergab u. a. makroskopisch hämolysierende Staphylokokken- 
kolonien. 

Sichere Anhaltspunkte für Gonokokken konnten nicht gefunden 
werden. 

Mikroskopisch zeigt die Lungenschlagader im Gebiet der makro- 
skopisch sichtbaren Geschwürsbildung das Bild einer schweren phlegmonös- 
ulcerösen Entzündung. Die Intima der Arterie fehlt fast durchwegs, an 
ihrer Stelle finden sich sehr reichliche Auflagerungen von Fibrin und 
mykotischen Rasen, teilweise ist sie von dichten entzündlichen Infiltraten 
unterminiert. Die Media ist ausgedehnt von Leukocyten, weniger von 
kleinen Rundzellen und Plasmazellen durchsetzt, die sich zum Teil den 
Fasern parallel anordnen, zum Teil aber zur dissezierenden Phlegmone 
anhäufen. Streckenweise sind die elastischen Fasern gut erhalten, strecken- 
weise aber bunt durcheinandergewürfelt, unterbrochen und in ihrer An- 
ordnung verworfen. Stellenweise ist auch die Media von der Lichtung 
her stark abgefressen, an der makroskopisch tiefsten Stelle, der Geschwüre, 
den Klappenschließungsrändern gegenüber, fehlt sie vollkommen. Zwischen 
den zertrümmerten elastischen Fasern liegen auch zablreiche Nekroseherde 
und Abscesse. Von der Adventitia her dringen feine Kapillarsprossen 
in die Media vor und bilden ein junges Granulationsgewebe. Daneben 
finden sich auch umschriebene narbige Stellen mit echtem, nach van 
Gieson sich leuchtend rot färbendem Bindegewebe. Bei den mit Kresyl- 
violett gefärbten Schnitten tritt deutlich eine Metachromasie des Binde- 
gewebes im Sinne vermehrter „mukoider Grundsubstanz* in die Er- 
scheinung. 

Die Adventitia ist hochgradig ödematös gelockert, zeigt ebenfalls 
zerstreute, meist perivaskulär gelagerte, massige Zellinfiltrate, hier größten- 
teils aus Rundzellen bestehend. Dazwischen findet sich ein eigenartiges 
Netz feiner Fädchen, welche Lücken zwischen sich fassen. Sie färben 
sich mit der Weigert’schen Fibrinmethode typisch blau, nach van Gieson 
gelb, mit Kresylviolett zart himmelblau. Sie dürfen wohl als Fibrinoid 
anzusprechen sein. In älteren Zellinfiltraten zeigt sich schon straffes, 
echtes Bindegewebe als Ausdruck einer Narbenbildung, auch jüngere 
Stadien mit stark geschlängelten Kapillaren sind deutlich zu beobachten. 


Der ganze Fall darf wohl als Gonokokkensepsis mit Misch- 
infektion aufgefaßt werden, bei der die Staphylokokken über- 
wucherten und in der Blutuntersuchung dominierten. Auch im 
Schnitt bestanden die oben erwähnten mykotischen Rasen aus 
Haufenkokken, die zuweilen auch als Streptokokken imponierten. 


Das Bild der mykotischen Veränderungen in der Gefäßwand 
zeigt gegenüber den drei vorher beschriebenen wesentliche Unter- 
schiede. Wir haben hier, im Gegensatz zur embolischen Genese 
der übrigen Fälle, das direkte Übergreifen der Entzündung von 
den Klappen — per continuitatem — und als Abklatschgeschwüre 
— per contiguitatem. Es dürfte dieser Entstehungsmodus mit. 


278 MEHLIN 


durch die außerordentliche Virulenz der Erreger bedingt sein. 
Dafür spricht auch das mikroskopische Bild, das eine rezidivierende, 
z. T. fast perakut verlaufende, ungeheure entzündliche Zerstörung 
der Arterienwand zeigt. Daneben finden sich auch ältere Ver- 
änderungen, jüngeres und älteres Granulationsgewebe, ja sogar 
Narbenbildungen. 

Die Gonorrhöe wurde schon von Posselt als Ätiologie der 
mykotischen Endarteriitis der Pulmonalis bezeichnet, wir haben in 
diesem letzten Fall'eine neue Bestätigung dafür gefunden. 


Zusammenfassung. 


Die in der Literatur beschriebenen Beobachtungen von End- 
arteriitis der Pulmonalarterie zeigen, daß sich in den meisten Fällen 
eine Hypertrophie und Dilatation des rechten Herzens, zum minde- 
sten aber Veränderungen finden, die erfahrungsgemäß zu einer 
solchen führen, als Ausdruck einer Überbelastung und Druck- 
erhöhung in der Pulmonalis; dazu gehören auch offen gebliebene 
fötale Kommunikationen. 

Auch unser erster Fall zeigt Zeichen starker Mehrbelastung 
des rechten Herzens infolge Pulmonalinsufficienz. Die beiden 
anderen weisen Befunde auf, die dem rechten Herzen zweifellos 
Mehrarbeit verursachten, die aber im ganzen doch zu geringfügig 
sind, als daß sie als sichere kausale Faktoren dieser speziellen 
Lokalisation einer Entzündung angesprochen werden dürften. In 
beiden Fällen fehlt eine Hypertrophie des rechten Herzens. 

Gänzlich verschieden von den drei ersten in Beziehung auf 
seine Genese stellt sich der letzte Fall dar, indem hier ein direktes 
Übergreifen der Entzündung von der Nachbarschaft her — nämlich 
von den erkrankten Klappen — nachzuweisen ist. Die Pulmo- 
nalitis ist hier mit größter Wahrscheinlichkeit darauf zurück- 
zuführen, daß eine primäre isolierte Endocarditis ulcerosa der Pul- 
monalklappen durch Abklatsch auf der Intima der Lungenschlag- 
ader die Infektion deren Wand vermittelte. In den ersten hier 
beschriebenen Fällen fehlte diese Möglichkeit, da die Pulmonal- 
klappen nicht an der mykotischen Entzündung beteiligt waren. 
Doch muß angenommen werden, daß die Pulmonalitis unmittelbar 
hämatogen von der Intima her entstand, da die inneren Wand- 
schichten am stärksten beteiligt waren. Für die dritte Möglichkeit, 
nämlich die Infektion auf embolischem Wege, vermittels der Vasa 
vasorum, haben unsere Fälle keinen Anhaltspunkt geliefert. 


Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 279 


Literatur. 


W. Fischer, Über die Sklerose der Lungenarterien und ihre Entstehung. 
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Veränderungen bei der Sklerose der Pulmonalarterie. Ziegler's Beitr. Bd. 36. — 
Wilke u. Zahn, zit. nach Krasso. 


280 


Aus der Medizinischen Universitäts-Klinik zu Rostock. 


Über den respiratorischen Stoffwechsel bei 
perniziöser Anämie. 


Von 


Prof. Hans Curschmann und Dr. Fr. Bachmann. 
(Mit 2 Kurven.) 


Die Frage nach dem Gaswechsel bei perniziöser Anämie hat 
heute nach mehreren Richtungen hin erhöhtes Interesse gewonnen. 
Einerseits gestattet die Untersuchung des respiratorischen Aus- 
tausches Schlüsse auf die Fähigkeit des Hämoglobins dieser Kranken 
trotz erheblicher Reduzierung sich hinreichenden Sauerstoff zu ver- 
schaffen. Daß diese Fähigkeit nicht durch besondere Eigenschaften 
des Hämoglobins zu erklären ist, dürfte feststehen. Eher ist mit 
Morawitz an eine bessere Ausnützung des Blutfarbstoffs etwa 
durch eine beschleunigte Zirkulation des Blutes in den Kapillaren 
zu denken. 

Andererseits gibt uns die Bestimmung des Grundumsatzes (G. U.: 
unter Umständen eine Antwort auf die von manchen Autoren be- 
sprochene und angenommene Bedeutung endokriner Faktoren. 
für die Entstehung der Biermer’schen Krankheit. Denn neben 
Funktionsstörungen der Nebennieren und des Pankreas hat man 
auch an solche der Schilddrüse gedacht. Das hat bei einigen 
Klinikern bereits zur regelmäßigen Thyreoidinbehandlung der p. A. 
geführt. Wenn eine solche Berechtigung hätte, so würde die 
Untersuchung des Grundumsatzes, der bei thyreoidinbedürftiger 
Schilddrüsen-Insufficienz sicher herabgesetzt wäre, dies erweisen 
können. 

Eine weitere, bisher noch nicht unternommene Aufgabe der 
Stoffwechseluntersuchung bei p. A. betrifft die Feststellung der 
spezifisch-dynamischen Eiweißwirkung auf den G. U. Auch wenn 
wir weit davon entfernt sind, diese Funktion bezüglich ihrer 


Über den respiratorischen Stoffwechsel bei perniziüser Anämie. 281 


Spezifität in patho-physiologischer und speziell diagnostischer Be- 
ziehung zu überschätzen, wie das in letzter Zeit bisweilen ge- 
schehen ist, so ist ihre Untersuchung aus noch zu erörternden 
Gründen gerade bei der p. A. von Interesse. 

Bevor wir nun zur Frage des respiratorischen Umsatzes selbst 
kommen, seien einige Bemerkungen über die pathogenetische Rolle 
der endokrinen Drüsen bei p. A. vorausgeschickt. Naegeli deutet 
sie an, ohne gerade bei der p. A. näher auf sie einzugehen. 
Stephan nimmt auf Grund klinischer Erfahrungen und experi- 
menteller Untersuchungen eine Unterfunktion der Nebennieren als 
Ursache der p. A. an. Histologische Untersuchungen von Roos 
(zit. nach Schaumann) haben nun gewiß erhebliche Verminderung 
der Lipoide und der chromaffinen Substanz der Nebennieren bei 
diesen Kranken gezeigt. Trotzdem bin ich mit Morawitz der 
Meinung, daß weder histologischer Befund, noch klinische Funk- 
tionsprüfung, noch das Tierexperiment bisher berechtigen, eine 
Hypofunktion der Nebenniere (oder einzelner Teile) als patho- 
genetisch irgendwie bedeutsam für die p. A. zu erachten. Gegen 
einen Hypadrenalismus sprach ja auch die von Johnsson und 
unserem Mitarbeiter Hardt festgestellte Tatsache der häufigen 
Hyperglykämie gerade bei schweren Fällen von p. A. 

In noch schärferer Weise aber müssen wir, wie bereits früher 
anderenorts, die Meinung ablehnen, daß eine Schilddrüseninsufficienz 
ursächlich für die p. A. irgendwie in Betracht käme; sei es auch 
nur bei der Formung des (nach Fr. Martius und O. Schaumann 
ja vorauszusetzenden) Konstitutionstypus der Biermerpatienten. Es 
spricht klinisch nichts für diese Annahme; eingehende Blutunter- 
suchungen an über 20 Fällen von Myxödem haben uns im Gegen- 
satz zu einigen Beobachtungen von Unverricht gezeigt, daß 
unter ihnen niemals eine der p. A. entsprechende Blutveränderung 
vorkam. Und die klinische Beobachtung an über 100 Fällen von 
p. A. in den letzten 4 Jahren haben uns gelehrt, daß von irgendwie 
eindeutigen hypothyreoiden Symptomen in einiger Konstanz bei 
ihnen gar keine Rede war.) 

Wenn trotzdem, wie bereits bemerkt, von manchen Autoren 
die T'hyreoidinbehandlung der p. A. bereits empfohlen wurde, so 
sei darauf hingewiesen, daß irgendwie ausreichende anatomische 


1) Auch die neueste Arbeit von H. Zondek und Koehler, die erst nach 
Abschluß dieser Arbeit erschien, kann in bezug auf die pathogenetische Be- 
deutung der Schilddrüse oder einer pluriglandulären Insufficienz mit vorwiegen(ler 
Hypotliyreose keineswegs überzeugen. 


2892 ÜURSCHMANN U. BACHMANN 


Untersuchungen über die Schilddrüse bei p. A. überhaupt noch nicht 
vorzuliegen scheinen; gleiches gilt übrigens auch von der Thymus, 
der Hypophyse und den Keimdrüsen (O. Schaumann). Schon 
daraus ist ersichtlich, auf wie schwachen Füßen diese Therapie 
steht. Unsere Untersuchungen werden dies bestätigen. 

Kraus und Chvostek und später Thiele und Nehring 
fanden bei ihren Gaswechseluntersuchungen, daß sich die Oxy- 
dationsverhältnisse bei p. A. kaum anders abspielen, wie bei 
normalen Menschen. O,-Verbrauch und CO,-Ausscheidung sollen 
bezüglich ihrer Quantitäten keine besonderen Änderungen erfahren, 
ja Kraus fand sogar Werte, die an der oberen Grenze der Norm 
lagen. 

Schaumann bemängelt an diesen Versuchen mit Recht, daß 
sie an einem viel zu kleinen Material ausgeführt worden sind, und 
daß sie des Vergleichs mit normalen Personen entbehren, die ja 
individuell in gewissen (nicht erheblichen Grenzen) wechselnde 
Stoffwechselwerte zeigen. Er erwähnt auch die Befunde Eber- 
stadts, der neuerdings bei experimentellen Anämien Herabsetzung 
der Oxydationen gefunden hat. Die Untersuchungen Olin’s (auf 
O. Schaumann’s Veranlassung bei R. Tigerstedt ausgeführt) 
ergaben in 8 Fällen von kryptogenetischer p. A. und 5 Fällen von 
Bothriocephalusanämie, daß die Kohlensäureproduktion sich bei 
ihnen ungefähr mit denen normaler Menschen deckt. Trotz der 
hochgradigen Herabsetzung des Hämoglobingehaltes und der Erythro- 
cytenzahl sind also nach Olin und Schaumann die Verbrennungs- 
vorgänge bei p. A. durchaus vollständige. Wie dies zu deuten ist, 
wird uns später beschäftigen. 

Unsere eigenen Untersuchungen waren zum größten Teil bereits 
beendet, ehe wir von denjenigen Schaumann’s Kenntnis erhielten. 

Unsere Untersuchungen wurden mit dem Gasstoffwechselapparat 
nach Knipping vorgenommen, der sich uns in der Klinik bei 
kurzfristigen Untersuchungen als durchaus zuverlässig erwiesen 
hat. In allen Fällen wurde zunächst klinisch das Stadium der 
Krankheit, ob Remission oder Progression vorlag, erforscht. Außer- 
dem wurde streng darauf geachtet, daß nicht etwa Temperatur- 
steigerungen das Ergebnis der Untersuchung beeinflußten. Nur in 
einem Falle (Fall 8 der Tabelle) wurde aus anderen Gründen die 
wiederholte Untersuchung durchgeführt, obgleich am Abend vorher 
eine Temperatur von 38,2° C bestanden hatte. Hier war 20 Stunden 
vorher eine Transfusion von 640 ccm Blut vom Sohn auf den Vater 
gemacht worden. Selbstverständlich wurde darauf geachtet, daß 


Über den respiratorischen Stoffwechsel bei perniziöser Anämie. 283 


die Patienten spätestens 12 Stunden vorher die letzte Nahrung zu 
sich genommen hatten, und sich in absoluter Muskelruhe befanden. 
Es soll gleich hier erwähnt werden, daß die weiteren Unter- 
suchungen über die spezifisch-dynamische Eiweißwirkung an die 
Bestimmung des Grundumsatzes angeschlossen wurde. Hatten 
mindestens 2 Versuche von je 10 Min. Dauer übereinstimmende 
Werte ergeben, so wurde die Standardkost (bestehend aus 200 g 
Rindfleisch in 50 g Butter gebraten und 100 g Weißbrot) gereicht 
und in Abständen von 1 Stunde nach 1, 2, 3, in einigen Fällen 
auch nach 4 Stunden der respiratorische Gaswechsel geprüft. 


Tabelle 1. 
| | | Nor- 
| F ` Ery- iai 0,- Ruhe-; mal- 
i iew, Ea gl. y um- | zahl + — g 
Alter Geschl. in kgieyten! 9, Verbr satz | nach | in o | tadium 
in a m eem in Kal.Bene- 
| | dikt 
| 
1. E. | 47 m. 60 2,7 62 | 200,4] 1463 | 1435 +19. Remiss. 
2.1L. ' 64 wW. 42,5 | 1,65 | 56 | 184,1 | 1318 | 1224 ! +7 do. 
3. St. , 65 m. , 72,5 | 24 64 : 199,3 1428 | 1479 | — 3 | do 
$ Seb. 39 | m | 60 |25 | 57 |18}6] 1321| 1444 —7 do. 
3. N. DBH m. 59 3,1 83 | 174,9| 1277 | 1349 1—5 | do. 
6. H. 39 | m. 74 1,9 74 | 254,0 1828 | 1726 | +5 | Progr 
1. P. 64 m. | 61 1,8 61 | 220,0 1579 | 1318 , +19 do. 
8. W.!' 54 m. | 
25. III 54 1,4 52 | 217,8 1562 | 1305 I+19 | do 
4.V. 57 | 1,6 50 | 218,2 1567 | 1346 | +16 | 20 Std 
| | | | n. Blut- 
transf 
9. B. 56 m. 55 0,8 | 22 | 2284| 1642 | 1300 |-}-26 | Progr. 
10. H. 36 m. : 80 2,12 60 | 274,8) 1978 | 1814 |+9 | Remiss. 
11.K. ; 53 | m. 61 | 1,95 | 55 | 227,7| 1636 | 1498 | + 10 do. 


Aus der Tabelle 1 ergibt sich, wenn man mit Benedikt und 
Harris eine individuelle Variationsbreite beim Stoffwechsel-Ge- 
sunden von + — 10°% annimmt, für 8 von 11 Fällen ein normaler 
respiratorischer Grundumsatz. 

In 7 von diesen Fällen war im Verlaufe einer längeren oder 
kürzeren klinischen Behandlung eine offensichtliche Remission ein- 
getreten, zumeist im Anschluß an eine, in 2 Fällen an wiederholte 
Bluttransfusionen. Bei Fall 8 der Tabelle 1, der uns seit 3 Jahren 
bekannt ist, und der bei der Aufnahme und weiteren Beobachtung 
das Bild einer langsam fortschreitenden p. A. bot, wurde bei der 
ersten Untersuchung eine Steigerung des Grundumsatzes von 19°), 
festgestellt. Bei der dann am Tage nach der Transformation vor- 


984 (URSCHNANN U. BACHMANN 


genommenen Untersuchung betrug die Steigerung des Grundum- 
satzes noch 16°/,. Doch ist hierbei die im Anschluß an die Trans- 
fusion aufgetretene Temperatursteigerung zu beachten. Immerhin 
ist auffallend, daß bei Fall 7 und 9 der Tabelle 1 — Patienten, 
die sich in einem Zustand langsam zunehmender Verschlechterung 
befanden, ebenfalls eine Steigerung des Grundumsatzes um 19 °% 
bzw. 26°, festgestellt wurde. Ob es sich hier um eine Gesetz- 
mäßigkeit für die p. A. handelt, läßt sich auf Grund unserer bis- 
herigen Beobachtungen noch nicht entscheiden. 


Frank und Herzger fanden bei einem Fall von p. A. eine 
deutliche Steigerung (4,87 ccm O,-Verbrauch pro kg/Min.) und aus 
dem von Olin auf Schaumann’s Veranlassung vorgenommenen 
Untersuchungen entnehmen wir die Ergebnisse bei einem Fall, der 
bei Hgl. 20, Erythroc. 0,890 Millionen einen Kalorien-Verbrauch 
von 1,42 pro kg/Std., 5 Wochen später bei Hgl. 28 und Erythroc. 
0,95 Mill. einen Kalorienverbrauch von 1,13 pro kg/Stunde aufwies. 
Ob es sich bei diesem Fall um eine Remission gehandelt hat, geht 
aus der Aufstellung Schaumann’s nicht hervor. Bei einem weiteren 
Fall unserer Beobachtung (Fall 6 der Tabelle 1) betrug die Steige- 
rung nur 5°/, und blieb damit innerhalb der Grenze der individuellen 
Variationsbreite, obgleich auch hier klinisch eine Progression, jedoch, 
wie aus der Tabelle hervorgeht, ein noch leidlicher Zustand vorlag. 
Weitere Untersuchungen sind nötig, um hier Klarheit zu schaffen. 


‘ Wir kommen nunmehr zu dem zweiten Punkt unserer Unter- 
suchungen. Bei allen in Tabelle 1 ausgeführten Patienten wurde 
die spezifisch dynamische Eiweißwirkung geprüft, ebenso die Sekre- 
tion und Motilität des Magens. In den meisten . Fällen bestand 
eine Hypochlorhydrie, in einigen Fällen Achylie. ‘In allen Fällen 
fand sich röntgenologisch eine gesteigerte Motilität und beschleunigte 
Austreibung des Mageninhaltes. Dementsprechend fanden wir in 8 
von 11 Fällen bei teilweise wiederholter Untersuchung das Maximum 
der spezifisch dynamischen Eiweißwirkung nach 1 Stunde, während 
übereinstimmend bei anderen Autoren und auch bei uns selbst beim 
Stoffwechsel-Gesunden das Maximum der spezifisch-dynamischen 
Eiweißwirkung zumeist nach 1'/, Stunden einzutreten pflegt. 

Die folgenden Kurven geben einen Überblick über die einzelnen 
Untersuchungsergebnisse. 

Hieraus geht hervor, daß die Steigerung des respiratorischen 
Gaswechsels nach Eiweißzufuhr bei fast allen p. A.-Kranken, deren 
Umsatz normal war, fast die Höhe von Stoffwechsel-Gesunden er- 


Über den respiratorischen Stoffwechsel bei perniziöser Anämie. 285 


reichte. Nur in 2 Fällen, Fall 6 und 10 der Tabelle 1 (vgl. Kurven) 
blieb die spezifisch-dynamische Eiweißwirkung nennenswert zurück. 
In den 3 Fällen, die eine Steigerung des Grundumsatzes von 16 
bzw. 19°), bzw. 26°, aufwiesen, konnten wir in Übereinstimmung 
mit Pollitzer und Stolz, Duerr, Bahn u. a., die eine gewisse 
umgekehrte Proportionalität zwischen der Höhe des G.U. und der- 
jenigen der spezifisch-dynamischen Eiweißwirkung fanden, ein er- 


Fall 1. 
A 2. —— — 
I. 
A O E 
DO NXXX 
10. —x—-> 
11. 000000000 


157d. 2 srd. “I S’d. 4 5/d. 
Kurve 1. 


1Srd. RStd. ISrd. 45rd. 


Kurye 2. 


hebliches Zurückbleiben der spezifisch-dynamischen Eiweißwirkung 
feststellen. Wir glauben in diesen 3 Fällen nicht eine besondere 
Veränderung der Sekretion und Motilität des Magens hierfür ver- 
antwortlich machen zu können. An sich wäre natürlich durchaus 
denkbar, daß infolge mangelhafter Resorption der zugeführten 
Standardkost eine verminderte Wirkung eintreten könnte. Jedoch 
die übrigen Fälle, die sich hinsichtlich der Sekretion und Motilität 
des Magens gar nicht von diesen unterschieden, sprechen nicht 
gerade dafür. Nach dem jetzigen Stande unseres Wissens von der 
Bedeutung der spezifisch-dynamischen Eiweißwirkung müssen wir 
uns damit begnügen, zu registrieren, daß beide Fälle in den 
Rahmen der bisher empirisch gefundenen Tatsachen passen. 


1) Die Arbeit von Gosta Becker, Acta med. scandinav. Bd. 68, 1926, er- 
schien erst nach Abschluß dieser Arbeit und wurde nicht mehr berücksichtigt. 


986 Curschmann u. BACHMANN, Über d. respiratorischen Stoffwechsel bei p. A. 


Zusammenfassung: 1. Die Untersuchung des respirato- 
rischen Gaswechsels ergab bei 7 in Remission befindlichen 
Kranken mit Biermer’scher Anämie normale Werte. Bei 4 
in Progression befindlichen Kranken einmal keine deutliche 
Steigerung, dreimal eine deutliche Steigerung des Grund- 
umsatzes. Es ist möglich, daß dieser Befund für die progressiven 
Fälle typisch ist. 

Diese Befunde bilden ein weiteres Argument gegen die An- 
nahme einer Schilddrüseninsufficienz und gegen die Indikation einer 
Thyreoidinkur bei solchen Kranken. 

2. Die Bestimmung der spezifisch-dynamischen Eiweiß- 
wirkung auf den respiratorischen Gaswechsel ergab keine aus 
dem Rahmen der bisher bekannten Ablaufsarten herausfallende, 
für die p. A. charakteristische Änderung, abgesehen davon, daß 
das Maximum der Einwirkung bereits nach der ersten Stunde 
eintrat, also früher, als normal; ein Verhalten, das wir auf die 
beschleunigte Magenaustreibung bei Achylie zurückführen möchten 


Literatur. 
Bahn, Münch. med. Wochenschr. 1926, Nr. 8. — Duerr, Klin. Wochenschr 
1925, Nr. 31. — Eberstadt, zit. nach Schaumann (loc. citat.) — Franck 


u. Herzger, Klin. Wochenschr. 1926, Nr. 19. — E. Grafe, Pathologische 
Physiologie des Stoffwechsels. München 1923. — Hardt, Inaug. -Diss. Rostock 
1923. — Johnsson, Acta med. scandinav. Suppl. III, S. 139. — Kraus u. 
Chvostek, Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 22, 1893. — P. Morawitz, Handb. d. 
inn. Med. von Mohr u. Staehelin Bd. 4, Berlin 1912. — O. Naegeli, 'Blutkrank- 
heiten und Blutdiagnostik 4. Aufl., Berlin 1923. — Pollitzer u. Stolz, Wien. 
Arch. f. inn. Med. Bd. 10, H. 1. — O. Schaumann u. F. Saltzmann, Schitten- 
helm’s Handb. der Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe. Berlin 
1925. — Stephan, Münch. med. Wochenschr. 1925, Nr. 16. — Thiele u. 
Nehring, zit. nach O. Schaumann. — Unverricht, Klin. Wochenschr. 1925. 
Nr. 4. — H. Zundek u. Köhler, Klin. Wochenschr. 1926, Nr. 20. 


287 


Aus der Medizinischen Klinik Lindenburg der Universität Köln. 
(Direktor: Geh. Rat Moritz.) 


Über experimentelle Beeinflussung der Form 
des Elektrokardiogramms. 


4. Mitteilung (1). 


Die Veränderung der Form des Elektrokardiogramms unter 
der Wirkung von Säure, Alkali und Methylenblau. 


Von 


Prof. Dr. E. Schott, 


Oberarzt der Klinik. 
(Mit 10 Kurven.) 


Bei der Betrachtung des Elektrokardiogramms von Einzel- 
individuen drängt sich immer wieder die Frage auf, durch welche 
Momente die Größe und Anordnung seiner Zacken bedingt sein 
kann. Gewiß spielt die Art der Ableitung und die Lage des 
Herzens im Thorax eine Rolle, ebenso wie die Hypertrophie einzelner 
Herzabschnitte in einer Mehrzahl von Fällen gleichartige Ver- 
änderungen der Form des Ekg. im Gefolge hat. Aber diese Koeffi- 
zienten reichen doch bei weitem nicht zu einer Ausdeutung der 
überaus großen Mannigfaltigkeit der Ekg.-Formen im Einzelfall 
und zu einer Aufklärung über die Genese von Veränderungen in 
der Form des Ekg. im Verlaufe von pathologischen Prozessen aus. 

Um zu einer Klärung zu gelangen, hat man in großen Zahlen- 
reihen empirisch die Form des Ekg. mit den klinisch festgestellten 
Veränderungen am Herzen verglichen, man hat die pathologisch- 
anatomischen Befunde zur Ekg.-Form in Parallele gesetzt, ebenso 
mannigfache experimentelle Läsionen und die physikalisch-mecha- 
nischen Änderungen der Herztätigkeit unter der Einwirkung von 
Giften. Der letztere Weg erscheint uns noch immer aussichtsreich 
um zur Aufstellung von allgemeineren Richtlinien zu kommen. Um 


288 SCHOTT 


nach dieser Richtung hin weiteres Material zu sammeln, wurden 
die im folgenden niedergelegten Untersuchungen angestellt. 

Es wurde bei den experimentellen Beobachtungen Wert darauf 
gelegt, den Verhältnissen am Krankenbett möglichst nahezukommen 
— soweit ein solcher Parallelismus im Tierexperiment möglich ist 
— und es wurde daher das Herz des Kaninchens am unversehrten 
Tier untersucht und auch das Froschherz in situ belassen ohne 
Rücksicht darauf, daß dabei die Einflüsse der Herznerven im 
Spiele bleiben. 


1. Versuche mit Säure und Alkali. 


Entsprechend den vielfachen bekannten Einflüssen von Ver- 
änderungen des Säure-Basenhaushalts auf die Vorgänge im 
Organismus wurde zunächst deren Einflußnahme auf die Aktions- 
ströme des Herzens einer Untersuchung unterzogen. 


a) Versuche am Kaninchen. 


Technisch bielten wir uns an das Vorgehen von Wieland und 
Schön (2) bei ibren Untersuchungen über die Beziehungen zwischen 
Pupillenweite und Kohlensäurespannung des Blutes: den mit Urethan 
narkotisierten Kaninchen wurden in Abständen von etwa je 5° je 5 ccm 
is bzw. e saures Phosphat in die Ohrvene einlaufen lassen, im ganzen 
bis zu 50 ccm; sobald eine Einwirkung auf die Form des Ekg. sowie 
Veränderungen der Atmung im Sinne des Auftretens einer Acidose fest- 
zustellen waren, erfolgte in gleicher Weise Einverleibung von 5 °/ Na,C0,. 

Kontrollversuche wurden in der Art ausgeführt, daß den Tieren 
nach dem Vorgang von Walter 0,4°/, Salzsäure in 3 Gaben im Ver- 
lauf von 16 Stunden in einer Menge per os gegeben wurde, die im 
ganzen 0,9 g HCl pro kg Tier enthielt. Nach Einsetzen schwerer Ver- 
giftungserscheinungen intravenöse Alkalizufuhr. 

Sehr häufige Elektrokardiogramms, bis zu 30 Abschnitte im Einzel- 
versuch. Ableitung mit Neusilberelektroden vom ÜÖsophagus- Anus. 
Kleines Edelmann’sches Saitengalvanometer. Saitenspannung 1 MV — 2 cm. 


Im voraus sei bemerkt, daß bei peroraler wie intravenöser 
Zufuhr von gleich großen Mengen Wasser bzw. physiologischer 
NaCl-Lösung erkennbare Veränderungen in der Form des Ekg. 
nicht eintreten. 

Das Ergebnis eines Säureversuches ist aus den Abbildungen 
der Kurve 1 ersichtlich; die einzelnen Versuche zeitigten unter- 
einander weitgehende Übereinstimmung. 

Es zeigt sich, daß bei fortschreitender Säurevergiftung das 
Elektrokardiogramm im ganzen größer wird; dabei bleiben die 


Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 289 


f, AA Aaf F 


„à 


Kurye 1. Versuch vom 20. VII. 25. Kaninchen, 2100 g. a = Norm; b = 23' p., 
nach intravenöser Infusion von 35 ccm 5 NaH,PO,; e = 17' nach b, nach ins- 


gesamt 50 ccm saurem Phosphat; danach Infusion von 5%, Na,CO;; d = 27' nach 
c, nach Infusion von 55 ccm, e= 13' nach d. 


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Kurve 2. Kaninchen, 3600 g, hungert seit 9. VIII. 25. a= 11. VIII. 7? p. m., dar- 
nach 75 ccm 0,8% HCl per os, b = 12. VIII. 8 a. m., darnach 100 cem HCl wie 
oben, ebenso um 1è p. m., c = 12. VII. 7* 50 p. m., nochmals 100 cem, d = 13. VIII. 
5" a. m., dann 50 ccm 5°, NaCO; intravenös, e= 12 30 p. m., f = 630 p. m. 


Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 19 


290 . SCHOTT 


Proportionen der einzelnen Zacken untereinander wie auch das 
Verhältnis ihrer Abstände zueinander nahezu oder völlig unver- 
ändert; lediglich die R-Zacke wächst etwas stärker als es den 
allgemeinen Proportionen entspricht. Durch Zufuhr von Na,CO, 
lassen sich diese Veränderungen wieder zum Rückgang bringen 
und es kommt schließlich zum entgegengesetzten Ergebnis: Das 
Elektrokardiogramm wird im ganzen, wieder unter Wahrung der 
proportionalen Verhältnisse eher kleiner als es vor Beginn des 
Versuches gewesen war. Besonders klar zeigten auch die Ver- 
suchstiere, welchen Säure peroral zugeführt wurde, die beschriebenen 
Veränderungen (s. Kurve 2), allerdings waren hier die Vorgänge nicht 
mehr so glatt zur Rückbildung zu bringen wie bei intravenöser 
Zufuhr; der Vergiftungsprozeß ist dann langsamer vor sich ge- 
gangen und die Rettung solcher Tiere durch intravenöse Alkali- 
zufuhr gelingt nicht immer. 


b) Die Verhältnisse am Froschherzen. 


Technik. Zerstörung des Rückenmarks. Aufbinden in Rücken- 
lage. Einbinden einer Glaskanüle in die V. cava inf., einer 2. Kanüle 
in die linke Aorta, Abbinden der r. Aorta. T-Rohr führt von der Ein- 
flußkanüle in die Cava zu 2 Mariotte’schen Flaschen, von denen die eine 
mit Frosch-Ringerlösung, die andere mit dem Medikamente gefüllt ist. 
Die Höhe des Venendrucks wurde im allgemeinen auf 4 cm gehalten. 
Ausflußhöhe 2 cm über Aortenhöhe. Ableitung mit feinen Platindrähten, 
von denen der eine am Bulbus aortae durch einen Seidenfaden befestigt 
ist, welcher um die Aortenkanüle geschlungen ist; die 2. Elektrode ist 
mit einer kleinen Ose in die Herzspitze eingehakt. Die Herzspitze ist 
mit Hilfe des leicht federnden Platindrahts etwas angehoben. 


Als saure Durchströmungsflässigkeit diente Frosch-Ringerlösung, 
welche durch Zusatz von a NaH, PO, auf eine Konzentration gebracht 


wurde, bei der eine sehr ausgesprochene Wirkung eintritt, die aber nicht 
zum raschen Stillstand des Froschherzens führt. Während Staub (4) 


bei einer Konzentration von i saurem Phosphat noch eine eher günstige 


Wirkung auf den Herzmuskel des Frosches feststellen konnte, führt 
Ja lösung nach unseren Feststellungen nach wenigen Schlägen zum dia- 
= 
20 


führten Forderung entspricht. Die alkalische Lösung war o stark; die 


“stolischen Stillstand. Wir verwandten lösung, die der eben aufge- 


meisten Froschherzen schlagen bei einer Durchströmung mit einer solchen 
Lösung länger als eine balbe Stunde. 


Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 291 


Bei der Durchströmung mit der sauren Lösung geht das 
Froschherz alsbald in ausgesprochene diastolische Stellung; der 
Ventrikel ist nach allen Richtungen hin etwa um das !/, fache 
erweitert, die systolischen Kontraktionen werden weniger ausgiebig, 
verlaufen langsamer und werden deutlich träge; das Schlagvolumen, 
an der aus der Aortenkanüle austropfenden Flüssigkeitsmenge ge- 
messen, geht rasch auf die Hälfte, bald auf noch geringere Werte 
zurück; es kommt zu starker Pulsverlangsamung und schließlich 
zum Herzstillstand. 

Bei Durchströmung mit der alkalischen Ringerlösung sind 
die Erscheinungen ganz ähnliche, aber weniger stark ausgesprochen. 
Die diastolische Stellung ist deutlich erkennbar, ebenso die Träg- 
heit der Systolen; Verringerung der Auswurfsmengen und Verlang- 
samung des Pulsschlages treten aber erst nach längerer Durch- 
spülung ein und es kann vorübergehend zu einer deutlichen Er- 
holung kommen. Durchspülung von etwa 1 Stunde führt, wenn 
auch nicht regelmäßig, zum irreparablen Stillstand. 

Die Veränderungen in der Form des Elektrokardiogramms bei 
direkter Ableitung vom freigelegten Froschherzen sind bei Durch- 
strömung mit saurem Phosphat und mit Na,CO, einander außer- 
ordentlich ähnlich: es kommt nämlich unter der Wirkung der einen 
wie der anderen Lösung zu einer sehr ausgesprochenen Ver- 
kleinerung aller Zacken, wobei die ursprüngliche Form des 
Ekg. nahezu vollständig erhalten bleibt, s. Kurve 3 und 4. 

In bezug auf die Beeinflussung der Form des Ekg. durch Alkali 
haben also die Versuche am Kaninchenherzen bei der Ableitung Öso- 
phagus-Anus und am Froschherzen bei direkter Ableitung vom 
Herzen übereinstimmende Resultate ergeben: es kommt zu einer 
Verkleinerung aller Zacken. Während aber unter der 
Säurewirkung beim Kaninchen eine allgemeine Ver- 


a b 


Kurve 3. Frosch. a Durchströmung mit Ringerlösung, b nach 2° Durchströmung 
mit saurem Phosphat (s. Text). 
19* 


292 SCHOTT 


größerung eintrat, hat am Froschherz eine solche nicht 
statt, es kommt vielmehr zur Verkleinerung des Ekg. 

Wir haben versucht, diesen Unterschied in folgender Weise zu 
klären. Man mußte daran denken, daß die Verschiedenheit in den 
Versuchsergebnissen durch die Art der Ableitung oder durch Be- 
einflussung der Leitfähigkeit der Gewebe durch das saure Phosphat 
beim Kaninchen hervorgerufen war. Es wurden daher Frösche 
nach Einbinden der Durchströmungskanülen zunächst, um die Ein- 
wirkung von Drüsenströmen zu vermeiden, von der Haut befreit 
und sodann der ganze Frosch in eine kleine Wanne gelegt. Sodann 
wurde die Wanne mit Ringerlösung gefüllt und das Herz mit 
Ringer- bzw. Säure- bzw. Alkalilösung durchströmt. In anderen 
Versuchen wurde das Herz mit Ringerlösung durchspült und die 


a b c 


Kurve 4. Frosch. a Durchströmung mit Ringerlösung, b nach 2' Durchströmung 
mit alkalischer Lösung. Darnach wieder Ringerlösung und nach 10': c. 


Wanne nacheinander mit Ringer- bzw. Säure- bzw. Alkalilösung 
gefüllt. Die Ableitung geschah mit plättchenförmigen Platin- 
elektroden aus diagonalen Stellen der Wanne heraus, nach Art 
der „Fluidableitung“ (Boden und Neukirch )). 

Die Elektrokardiogramme, die man auf diese Weise beim 
Frosch gewinnen kann, sind sehr klein und Veränderungen in 
ihrer Form sind deshalb recht schwer zu beurteilen; wir nehmen 
von ihrer Wiedergabe hier Abstand und nennen als Ergebnis der 
Versuche lediglich die Feststellung, daß es zu einer deutlichen 
Vergrößerung wie beim Kaninchen nie gekommen ist. 


2. Methylenblau. 


Es war mir aus früheren Beobachtungen am Froschherzen 
bekannt, daß Methylenblau in stärkerer Konzentration zu einer 


Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 293 


deutlichen Erweiterung des Froschherzens während der Diastole 
und zu unvollständiger Systole führen kann — daß seine Ein- 
wirkung also zu ähnlichen Erscheinungen Veranlassung gibt wie 
die Vergiftung mit Säure und Alkali. Aus diesem Grunde wurden 
die Veränderungen des Ekg. unter Methylenblauwirkung zum Ver- 
gleich herangezogen. 


a) Kaninchen. 


Über die Beeinflussung des Herz-Gefäßsystems durch Methylenblau 
liegen im Vergleich zur Kenntnis der anderweitigen Wirkungen des 
Mittels (s. z. B. Heffter (6)) nur wenige Untersuchungen vor. Kowa- 
lewsky (7) sah nach intravenöser Injektion von 2 ccm einer 2°/,, 
Lösung von Methylenblau, die er bis zu 20 mal wiederholte, den Druck 
in der A. carotis um 12—16°/, vorübergehend ansteigen, die Pulszahl 
verminderte sich etwas; nach etwa 1 Minute waren die Verhältnisse 
wieder die gleichen wie vor der Injektion. Wiederholte Einspritzungen 
hatten jeweils die gleichen Veränderungen im Gefolge. Lundberg (8) 
fand bei Durchströmung von Herzen von Kaninchen und Meerschweinchen 
nach Langendorff unter Zusatz von Methylenblau in Konzentrationen 
von 0,0000001°/,—0,004 °/, vagotropähnliche Wirkungen mit myotoxischen 
Symptomen; Systole und Diastole werden kleiner, die Frequenz nimmt 
ab, die Herzgefäße werden dilatiert. Bei Katzen tritt auf Injektion von 
3—6 ccm, 0,33 °/, Methylenblaulösung oder von einigen Kubikzentimeter 
1—4 °/, Lösung eine Blutdrucksteigerung bis auf das Doppelte der Norm 
ein, deren Maximum rasch unterschritten wird, eine geringere Steigerung 
überdauert aber. 


Wir haben unsere Versuche am Kaninchen in analoger Art 
ausgeführt wie die Infusion von Säure und Alkali. Es wurde 
Methylenblau Höchst 1:1000 ver- 
wandt und von dieser Lösung je 10 
bis 20 cem intravenös infundiert. Die 
Veränderungen in der Form des Ekg. 
sind dabei nicht sehr auffallend und 
gehen rasch wieder vorüber (s. Kurve5). 
Die R-Zacke wird etwas kleiner, die 
T-Zacke höher. Die Sektion von 
Tieren, welchen bis zu 100 ccm dieser 
Lösung einverleibt wurde, zeigte, in 
Analogie zu den Befunden von Ko- 
walewsky, nur eine verhältnismäßig karye 5. Kaninchen. a Norm, 
geringe Blaufärbung des Herzens — b Rasch vorübergehende Form- 
deutlich wahrnehmbar nur am rechten Veränderung des Ekg. nach intra- 


$ di ., venöser Einverleibung von 20 cem 
Herzen —, während der größere Teil Methylenblau 1: 1000. 


a b 


294 ScHoTT 


des Farbstoffs in anderen Organen abgefangen oder bereits in 
den Magen wieder ausgeschieden war. 


b) Die Wirkung von Methylenblau auf das 
Froschherz. 


Von den Untersuchungen über die Wirkung des Methylenblau 
auf das Froschherz liegt lediglich die Mitteilung von Heymans 
und Maigre (9) vor, wonach nach Durchströmung mit dem Mittel 
die Vagusreizung erfolglos bleibt. Wir haben daher zunächst die 
Wirkung des Mittels auf die Schlagfolge und das Schlagvolumen 
festgestellt. Das Froschherz wurde mit Ringerlösung durchblutet 
und sodann wurde der Durchströmungsflüssigkeit Methylenblau in 
verschiedenen Konzentrationen zugesetzt. Das Herz arbeitete unter 
einem venösen Druck von 4 cm gegen einen konstanten Aortendruck 
von der gleichen Höhe. Die in der Zeiteinheit austretende Tropfen- 
zahl wurde jeweils bestimmt. Unter Verzicht auf die Wiedergabe 
von Protokollen sollen nur die Ergebnisse der Versuche hier zu- 
sammengefaßt werden. 

Die Erscheinungen bei der Metlıylenblauvergiftung des Frosch- 
herzens sind, soweit sie zum Vergleich mit den elektrokardio- 
graphischen Veränderungen in Betracht kommen, folgende: Sowohl 
bei Vergiftung durch langsam ansteigende niedere Konzentrationen 
von Methylenblau wie auch bei einer einmaligen 2—5 Minuten 
dauernden Durchspülung mit Methylenblau in einer Konzentration 
von 1:1000 kommt es zunächst zu Verlangsamung des Herz- 
schlages, zu. verstärkter diastolischer Stellung des Herzens und 
unvollständiger Systole. Es folgt ein Stadium, in welchem es zu 
Herzblock, schließlich zum Stillstand des Ventrikels kommt. Läßt 
man das Herz sodann wieder mit Ringerlösung durchströmen, so 
erholt sich das Herz rasch, obschon es tiefblau verfärbt bleibt. Es 
stellt sich dann ein Zustand ein, welcher für den Vergleich mit 
den Veränderungen nach Durchspülung mit Alkali oder Säuren 
insofern eine weitgehende Parallele bietet als die Diastole des 
Ventrikels in ähnlicher Weise wie bei Schädigung. mit Alkali und 
Säure erheblich verstärkt ist. Ein Unterschied besteht allerdings 
insofern als es bei Vergiftung mit Methylenblau zu erhöhtem 
Schlagvolumen kommt, während bei den zunächst mit Alkali und 
Säuren vergifteten und danach wieder mit Ringerlösung durch- 
strömten Herzen die Systole sehr viel unvollständiger bleibt. 

Die elektrokardiographischen Veränderungen sind nun bei der 
Methylenblauvergiftung folgende (vgl. Kurve 6): Bei Durchströmung 


Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 295 


des Herzens mit Methylenblau 1:1000000 sind deutliche Ver- 
änderungen im Ekg. nicht nachweisbar (Fig. 6b). Das gleiche ist 
bei 6° dauernder Durchströmung mit Methylenblau 1:100000 der 
Fall. Bei Durchströmung mit Methylenblau 1:10000 sieht man 


ap. N u. 
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~ 


I 
l 


pülung mit Ringerlösung. b 


mit Methylenblaulösung 1: 1000000. c = nach 15’ langer Durchspülung mit 
Sodann Durchspülung mit Ringerlösung 


e= nach 8' langer Durchströmung mit Methylenb 


Norm. Danach Durchströmung mit Methylenblaulösun 


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MEZ = 


die Pulszahl langsamer werden. Die Nachschwankung verschwindet 
fast vollständig und R und S werden sehr viel kleiner (Kurve 6c). 
Bei der nachfolgenden Durchströmung mit Ringerlösung (Kurve 6d) 
erholt sich die Nachschwankung wieder sichtlich, während R und S 


296 ScHoTT 


die ursprüngliche Größe nicht mehr erreichen. Im ansteigenden 
Schenkel von R ist eine Spaltung erkennbar. Bei der nachfolgenden 
Durchströmung mit M 1:1000, 8 Minuten lang, verschwindet die 
Nachschwankung, R und S werden kleiner, R bleibt gespalten 
(Kurve 6e). 

Bei Vergiftung mit Methylenblau 1: 1000 wird (Kurve 7) sofort 
das ganze Ekg. sehr viel kleiner (7b); bei länger dauernder Durch- 
spülung wird R gespalten (7c), schließlich deutlich zweizipflig (7d) 
und auch bei der nachfolgenden Durchspülung der Ringerlösung 
stellt sich die ursprüngliche Form des Ekg. nicht wieder her (7e), 
es bleibt vielmehr R zweizipflig und die Nachschwankung verläuft 
träger und zeigt nicht mehr die gleich starken Ausschläge wie 
vor der Vergiftung. Es liegt nahe, die Verdoppelung der R-Zacke 
in Zusammenhang zu bringen mit den bei Augenbeobachtung (s. 
Protokolle) feststellbaren Veränderungen im Charakter der Systole. 
Die beiden nach aufwärts gerichteten Zacken dürften den in 
kurzem zeitlichem Abstand erfolgenden Kontraktionen der Basis 
und der Spitze entsprechen. Eine solche Deutung würde weniger 
im Sinne der weit verbreiteten Auffassung über die Entstehung 
des Ekg. (z. B. F. B. Hofmann (10)) sprechen, wonach der ab- 
steigende Schenkel des Ekg. der Kontraktion der Spitze seinen 
Ursprung verdankt; vielmehr sind unsere Beobachtungen besser 
mit der Auffassung anderer Autoren, z.B. Fredericqu’s (11), zu 
vereinbaren, wonach jeder einzelne Herzabschnitt, isoliert beobachtet, 
eine melırphasige Kurve ergibt, deren erste Zacke einer Elektro- 
negativität entspricht. 


Es mußte nunmehr der Versuch gemacht werden, eine Ent- 
scheidung nach der Richtung hin zu treffen, ob es sich bei den 
beobachteten Veränderungen des Ekg. um Vorgänge handelte, 
welche einer spezifischen Giftwirkung ihre Entstehung verdanken, 
etwa wie bei der Phosphorvergiftung oder bei der Einwirkung von 
Salizylsäure, Chinin u. a. oder ob sie lediglich auf Veränderungen 
im Füllungszustand bzw. der Kontraktionsstärke oder des Ablaufes 
der Kontraktion des Herzens zu beziehen sind. Die letztere Mög- 
lichkeit wird durch die Untersuchungen von Straub (12), See- 
mann (13), Weitz (14) und Frey (15) nahegelegt. 


Straub hat gezeigt, daß bei vermehrter Füllung und Anfangs- 
spannung der Ausschlag der Ventrikelzacke und insbesondere der der 
Finalschwankung kleiner wird. Seemann gibt Kurven wieder, aus 
denen zu ersehen ist, daß bei isometrischer Füllung des Froschherzens 
(d. h. bei Bestehenbleiben des venösen Zuflusses und Abklemmung der 


Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 297 


Aorta) das ganze Ekg. im Vergleich zum isometrisch leer schlagenden 
Herzen (venöser Zufluß gesperrt, Aorta offen) viel kleiner wird. Weitz 
sah am Katzenherzen bei vermehrter Kontraktionskraft und verringerter 
Blutfüllung die Zacken P und T sich vergrößern, bei verminderter Kon- 
traktionskraft und vergrößerter Blutfüllung sich verkleinern; auf die 
Zacken Q, R und S war ein sicher erkennbarer Einfluß nicht fest- 
zustellen. 

Unter den komplizierten Verhältnissen einer Vergiftung wird 
man vergleichbare Resultate am ehesten bei möglichst vereinfachten 
Versuchsbedingungen erhalten. Als solche haben sich uns ver- 
gleichende Aufnahmen des Ekg. am leer schlagenden 
vergifteten Froschherzen bewährt. 

Die Ausflußöffnung der Aortenkanüle wurde auf die Höhe 
des Ventrikels eingestellt und der venöse Zufluß unterbrochen. 

Am gesunden Froschherzen (Kurve 8) zeigt das Ekg. dann 
verhältnismäßig geringe, aber immerhin deutliche Veränderungen. 
R wird kleiner, S größer, und T wird etwas größer und breiter. 

'Klemmt man bei dem unter der Wirkung der Säure in stark 
diastolischer Stellung schlagenden Froschherzen die Zufuhr ab, so 
sieht man (Kurve 9) von Schlag zu Schlag die bis dahin stark 
verkleinerten Zacken R und S größer werden und T, das nahezu 
völlig verschwunden war, wird wieder deutlich erkennbar. Das 
Ekg. erreicht nicht völlig, aber nahezu wieder die gleiche 
Form, welche es vor der Säurewirkung aufgewiesen 
hatte. | 

Die Verhältnisse am methylenblau-vergifteten Herzen stellen 
sich folgendermaßen dar (s. Kurve 10): Wenn das Herz in stark 
diastolischer Stellung bei ausgesprochener Vergiftung schlägt, so 
erkennt man vom ganzen Ekg. nur noch die verdoppelte R-Zacke 
(Kurve 10a) und eine eben erkennbare Nachschwankung. Auch 
hier werden bei Sistieren der Durchströmung (Kurve 10b) alle 
Zacken mit jedem Schlag größer (Kurve 10c) — die durch das 
Methylenblau bedingte Formveränderung des Ekg. in Gestalt der 
Verdoppelung der R- und S-Zacke bleibt jedoch bestehen (Kurve 10c 
und d). Sofort nach Wiederherstellen der Zufuhr (Kurve 10e) unter 
einem V.D. von 4cm wie vor dem Abklemmen des Zuflusses, ver- 
größert sich die Füllung des Ventrikels wieder und das Ekg. weist 
abermals sehr kleine Ausschläge auf (Kurve 10f). 

Aus dem Vergleich zwischen dem Verhalten des leer schlagenden 
Froschherzens unter der Wirkung von Säure einerseits, von Methylen- 
blau andererseits, läßt sich folgendes erschließen. Im einen wie 
im anderen Fall gehen die unter der Wirkung der Ver- 


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uawwapyqy q y "Yeydsoq.[ waınes uoa zyesnz aayun Zunsof4odury yu Funus] ƏuIA =q won =8 Um p = pupuaua‘ 
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p 9 q s q 8 


298 


Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 299 


giftung entstandenen Formveränderungen insofern 
zurückalsdie VerkleinerungallerZacken weitgehend 
beseitigt wird Während aber das Methylenblau- 
vergiftete Froschherzeineähnlich charakteristische 
Formveränderung beibehält wie wir sie früher unter 
der Einwirkung z. B. des Chinidins oder von Salizyl- 
säure feststellen konnten, ähnelt die Form des leer 
schlagenden säurevergifteten Froschherzens wieder 
weitgehend derjenigen, welche das Ekg. vor Einsetzen 
der Vergiftung gehabt hatte. 

Bei dem heutigen Stande des Wissens läßt sich nicht über- 
sehen, welchen Momenten die beschriebenen Veränderungen des 
Ekg. im einzelnen ihre Entstehung verdanken. Es ist naheliegend, 
die am freiliegenden Herzen beobachtete Verkleinerung der Zacken- 
größe in Parallele zu bringen mit der Verkleinerung der Aus- 
schläge, die nach Einthoven und Hugenholtz (15) bei ab- 
nehmender Kontraktionsgröße des Herzens zu beobachten ist. So- 
weit die Augenbeobachtung ein Urteil zuläßt, trifft ein solcher 
Parallelismus für die Vorgänge bei Säure- und Alkalivergiftung zu; 
auch die Ergebnisse A. J. Clark’s (16) bei graphischer Registrie- 
rung der Aktion des Froschherzens zeigen eine erhebliche Ab- 
nahme der Ausschläge bei Durchströmung mit saurer Ringerlösung 
wie mit Karbonat- oder Phosphat-Ringerlösung, die durch Zusatz 
von NaOH alkalisch gemacht war. Jedoch läßt sich diese Deutung 
nicht vereinigen mit der Beobachtung, daß trotz großen Auswurfs- 
volumens das Ekg. des Methylenblau-vergifteten Herzens sehr 
kleine Ausschläge aufweist und auch nicht damit, daß die Zacken- 
größe wächst, sobald die Füllung eines solchen Herzens abnimmt. 

Es ist daher wahrscheinlich, daß noch weitere Bedingungen 
für das Zustandekommen der Formveränderungen des Ekg. verant- 
wortlich zu machen sind. Eine dieser Bedingungen dürfte die 
sein, daß die Leitfähigkeit der Ringerlösung für den elektrischen 
Strom durch den Zusatz von Säure und Alkali verändert wird. 
Maßgebend für diese Überlegung ist die Auffassung von See- 
mann. Seemann (13) hat gezeigt, daß die Schwankungen des 
Ekg. bei Zunahme der Füllung des isolierten Froschherzens ab- 
nahmen; er deutet diese Beobachtung in dem Sinne, daß bei stär- 
kerer Füllung des Herzens die entstehenden elektrischen Spannungs- 
unterschiede besser abgeglichen werden können. 

Seemann hat den Beweis für die Richtigkeit dieser Behaup- 
tung in der Art erbracht, daß er das Froschherz mit nichtleitender 


300 SCHOTT 


Petroleumlösung durchspülte; dabei blieb die Verkleinerung der 
Zackengröße bei Vermehrung der Füllung aus. Wir haben analoge 
Versuche in der Art angestellt, daß wir bei gleichbleibendem 
venösem Druck das Herz abwechselnd mit Ringerlösung und mit 
Sauerstoff durchströmt haben. Man sieht bei dieser Versuchs- 
anordnung, daß die Proportionen der Einzelzacken des Ekg. zu- 
einander nahezu unverändert bleiben, das Ekg. nimmt aber im 
ganzen bei Sauerstoffüllung des Herzens erheblich an Größe zu. 

Veränderungen in der Leitfähigkeit des Blutes und der Ge- 
webe für den elektrischen Strom glauben wir auch, neben anderen 
unbekannten Momenten, für die Deutung der Beobachtung heran- 
ziehen zu sollen, daß am unversehrten Kaninchen bei Ableitung 
von der Körperoberfläche die Zackengröße des Ekg. zunimmt — 
ohne daß wir aber imstande wären eine Erklärung dafür abzugeben. 
weshalb am freiliegenden Herzen die Zackengröße sowohl bei Säure- 
wie bei Alkalidurchspülung abnimmt, und eine solche Abnahme 
bei der Ableitung Ösophagus-Anus zwar bei Alkalizufuhr gleich- 
falls, unter der Wirkung der Säure aber ein gegensätzliches Ver- 
halten festzustellen ist. 


Für die Übertragung der experimentellen Beobachtungen auf 
die Verhältnisse am Krankenbett ergeben sich nach dem Gesagten 
Schwierigkeiten. Vergleichbar dürften nur die Vorgänge sein, 
welche am unversehrten Tier in Erscheinung traten. Wir hatten 
bis jetzt noch keine Gelegenheit, das Ekg. bei Fällen von schwerer 
Säurevergiftung mit Ausgang in Heilung aufzunehmen. Es mag 
Erwähnung finden, daß Staub (4) alkalische Lösungen in relativ 
großer Menge am Menschen intravenös gegeben und danach Besse- 
rung der Herztätigkeit gesehen hat; er veröffentlicht nur eine einzige 
elektrographische Kurve, aus der aber eine Abnahme der Zacken- 
größe ersichtlich ist. Erhebliche Verschiebungen des Säure-Basen- 
gleichgewichts wie sie beim Eintritt des Coma diabeticum bzw. 
beim Verschwinden dieses Zustandes, etwa unter der Wirkung von 
Insulin, auftreten, dürften in Parallele zu unseren experimentellen 
Beobachtungen gleichfalls mit Veränderungen in der Zackengröße 
des Ekg. einhergehen — auch über Beobachtungen nach dieser 
Richtung hin verfügen wir bisher noch nicht; es sei aber bemerkt, 
daß aus den Kurven von Wittgenstein und Mendel (17) mit 
dem Fortschreiten der Insulinvergiftung am Hunde eine Verkleine- 
rung der Zackengröße sich feststellen läßt. 


Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 301 


Zusammenfassung. 


Bei intravenöser und peroraler Zufuhr von saurem Phosphat 
bzw. Salzsäure wächst beim Kaninchen die Zackengröße des Ekg. 
bei Ableitung Ösophagus-Anus, während sie bei intravenöser Zufuhr 
von Soda abnimmt. 

Am freiliegenden Froschherzen nimmt die Größe der Ausschläge 
des Ekg. bei Durchspülung mit Alkali wie mit Säure ab. 

Methylenblau ändert den diastolischen Füllungszustand des 
Froschherzens in ähnlicher Weise wie Säure und Alkali; bei er- 
höhter Füllung tritt auch unter Wirkung des Methylenblau eine 
Verkleinerung der Schwankungen des Ekg. auf. 

Während mit Verminderung der Füllung (Unterbrechung der 
Zufuhr) das unter Alkali- und Säurewirkung stehende Herz nahezu 
wieder die Form des Ekg. aufweist, die ihm vor Eintritt der Ver- 
giftung zukam, wächst auch bei dem Methylenblau-vergifteten 
Herz die Zackengröße, das Ekg. behält aber auch beim leer 
schlagenden, noch dunkelblau verfärbten Herzen seine charakte- 
ristische Formveränderung (insbesondere Verdoppelung der R- und 
S-Zacke). 

Neben Änderungen der Kontraktionsgröße und des Füllungs- 
zustandes des Herzens kommen als Koeffizienten für die Änderung 
der Größe des Ekg. unter Säure und Alkali die durch Zufuhr 
dieser Agentien bedingten Schwankungen der Leitfähigkeit des 
Blutes und der Gewebe für den elektrischen Strom in Betracht. 

Klinische Parallelen sind für Größenänderungen des Ekg. z. B. 
bei Säurevergiftung und im Coma diabeticum zu erwarten. 


Literatur. 


1. Vgl. a) Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 107; b) ebenda, Bd. 134; c) Arch. 
f. exp. Pathol. u. Pharmakol. Bd. 87. — 2. Wieland u. Schön, Arch. f. exp. 
Pathol. u. Pharmakol. Bd. 100. — 3. Walter, Ebenda Bd. 26. — 4. Staub, 
Biochem. Zeitschr. Bd. 128. — 5. Boden u. Neukirch, Dtsch. Arch. f. klin. 
Med. Bd. 136. — 6. Heffter, Handb. d. exp. Pharmakol. Bd. 1, 1923. — 7. Ko- 
walewsky, Zentralbl. d. med. Wissensch. 1888, 209. — 8. Lundberg, Skan- 
dinav. Arch. f. Phys. Bd. 45. — 9. Heymans u. Maigre, Cpt. rend. de la soc. 
de biol. Bd. 85, 45, 1921. — 10. F. B. Hofmann, Dtsch. med. Wochenschr. 1926. 
— 11. Fredericg, Cpt. rend de la soc. de biol. Bd. 85. — 12. Straub, Zeitschr. 
f. Biol. Bd. 53. — 13. Seemann, Zeitschr. f. Biol. Bd. 57 u. Münch. med. 
Wochenschr. 1911. — 14. Weitz, Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 111. — 
15. Einthoven u. Hugenholtz, Arch. neerl. de phys. 5, 1921. — 16. Clark, 
un physiol. Bd. 47. — 17. Wittgenstein u. Mendel, Klin. Wochen- 
schr. 1924. 


302 


Aus der I. Medizinischen Klinik der Universität München. 
(Direktor: Prof. Dr. von Romberg.) 


Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 
Von 


Dr. Fritz Lange, 


Assistenzarzt der Klinik. 


(Mit 3 Abbildungen.) 


Angeregt durch die Ausführungen von Otfried Müller und 
G. Hübener über Hypertonie (1) habe ich die Protokolle über die 
Kapillaren der von mir in den letzten 3 ‚Jahren untersuchten 
Hypertoniker statistisch zusammengestellt. Wenn ich alle Hyper- 
toniker unberücksichtigt Jasse, bei denen eine Dekompensation des 
Kreislaufes eine Änderung in der Form der Kapillaren bedingen 
konnte, und nur die Protokolle benutze, bei denen mir eine Skizze 
und Messung vorliegt, so kann ich über die Kapillaren von 154 
Hypertonikern berichten. Eine nach denselben Gesichtspunkten 
geordnete Statistik der Kapillaren nicht hypertonischer Menschen 
etwa gleichen Alters stellte ich zum Vergleich daneben. Die 
Hypertoniker gruppierte ich wie Otfried Müller nach ihrer 
nachweisbaren und nichtnachweisbaren Nierenschädigung. 

Die Technik meiner Kapillarmikroskopie ist im Prinzip die gleiche, 
wie die in der Tübinger Klinik geübte; ich verdanke ihre Kenntnis dem 
Entgegenkommen des Herrn Prof. O. Müller, der mir ihre Erlernung 
in liebenswürdiger Weise gestattete.. Zur Beobachtung der Hautkapillaren 
benutzte ich ein ohne Tisch beweglich montiertes Zeißmikroskop mit 
Objektiv AA und Okular I, mit einer 52 Kerzen starken Lichtquelle, 
deren Wärmestrahlung durch eine Blauwasserkugel abgefangen wird. Die 
Kapillaren der Lippe werden mit einem binokularen und binobjektiven 
Mikroskop mit einer daran von Zeiß beweglich montierten Lampe be- 
obachtet. Die Länge der Kapillaren wurde stets mit dem Zeiß’schen 
Meßplättchen gemessen, die Zahl der auf eine Skalalänge fallenden 
Kapillaren festgestellt und dementsprechend eine Skizze entworfen. 
Währenddessen wurden Angaben über die Anordnung, die Länge, über 


Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 303 


das Dickenverhältnis von arteriellen und venösen Schenkeln, die Schlingen- 
form, die Sichtbarkeit des subpapillären Plexus, Farbe der Kapillaren 
und des Untergrundes und über die Art der Blutdurchströmung diktiert. 


Nach den Mitteilungen in der Literatur ist es schwer, ein 
Urteil über typische Gestaltung der Kapillaren des Normalen und 
des Hypertonikers zu gewinnen. 

Schon die Beurteilung, welche Form der Kapillaren für normal 
anzusehen ist, stößt auf Schwierigkeiten. 


Die normale Topographie der Kapillaren an der Körperoberfläche, 
wie sie Otfr. Müller (2) aufgestellt hat, bietet uns eine verlässige 
Grundlage. Man muß die Grenzen des Normalen recht weit ziehen, 
um nicht Irrtümern anheim zu fallen. So besteht die Warnung Otfr. 
Müller’s (2) zu Recht, andere als ausgesprochene Verlängerungen und 
Verkürzungen unter 0,2 mm in Rechnung zu stellen oder jede mehrfach 
gewundene Achtertour als abnorm anzusehen. 


Ebenso schwierig ist es „die Strömungsart als normal oder 
pathologisch zu werten“ (Kraus (3)). 


Die Strömung des Blutes ist unter normalen Verhältnissen in den 
Haargefäßen der menschlichen Haut „im großen und ganzen regelmäßig 
und gleichmäßig“. (Otfr. Müller (2)) und die Strömung so schnell, 
„daß sie als solche auf den ersten Blick in ihrem kontinuierlichen Strome 
gar nicht erkannt werden kann“ (Eugen Weiß(4). Nach anderen 
Beobachtern ist jedoch die Kapillarströmung beim „Normalen durchaus 
nicht immer gleichmäßig, sondern sie variiert häufig“ (Neumann (5)). 
Selbst in nebeneinander liegenden Kapillaren kann zu derselben Zeit in 
einem Gefäß direkt Stase herrschen und im nächstliegenden Gefäße das 
Blut blitzartig durchschießen (Schur (6)). 


Wenn man sehr häufig Gelegenheit hatte, die Kapillaren bei 
Einwirkung von Wärme und Kälte zu beobachten, so weiß man, 
wie leicht sich Stillstand oder körnige Strömung in schnelle und 
jagende verwandeln kann. Zimmertemperatur, Körpertemperatur, 
Temperatur des beobachteten Körperteils, ja selbst Tageszeit und 
psychische Einflüsse ändern die Strömungsart in den Kapillaren 
desselben Menschen, und alle Mitteilungen über die Strömung ohne 
Berücksichtigung dieser Faktoren sind wertlos. 

Auch die Befunde an den Hautkapillaren bei Hypertonie 
sind keineswegs einheitlich. 

Bei der Nephritis acuta beschreiben die einen Beobachter in 
beiden Schenkeln erweiterte und stark gewundene Kapillarschlingen mit 
fast bis zum Stillstand verlangsamter körniger Strömung. (Weiß (4, 7)) 
(Thaller und Braga (8)). Dem entgegen stehen Beobachtungen, 
nach denen die ischämischen Kapillaren als sehr eng, oft haarfein aus- 


gezogen, vielfach ganz blutleer, oft geschlängelt beschrieben werden 
(Volhard (9), Kraus (3), Schur (6). Oder aber die Kapillar- 


304 LANGE 


schlingen zeigen bei der Nephritis ganz verschiedene Formen, einzelne sind 
von normalem Kaliber, andere fadendünn, fast blutleer (Jürgensen (10)). 

Auf Grund der wechselnden Bilder bei sehr zahlreichen Versuchen 
konnte Schur (6) den Zusammenhang zwischen den Abnormitäten der 
Kapillaren am Nagelrand und der Nephritis nicht für erwiesen ansehen. 
Dazu führte ihn vor allen Dingen die Beobachtung, daß er bei be- 
stehender Nepbhritis auch in den ersten Tagen der Erkrankung bei sehr 
häufigen Untersuchungen niemals das Auftreten der beschriebenen Ver- 
änderungen’nachweisen konnte. Wo beim Eintritt in die Anstalt an den 
Limbusgefäßen keine Abnormitäten zu sehen waren, traten sie auch im 
weiteren Verlaufe nicht auf. 


Auch sonst wird die Änderung der Form und Durchströmung 
der Kapillaren im Krankheitsbilde der Hypertonie verschieden be- 
schrieben. Einheitlich wird nur die Verlängerung der Schlingen 
festgestellt. Von dem sonst wechselnden Verhalten unterrichten 
die Beschreibungen ihrer namhaftesten Beobachter. 


In einem Teil der Fälle wird die starke Schlängelung hervorgehoben 
(WeiB (11), Jürgensen (10)), in anderen erscheint ihre Gestalt lang- 
gestrekt (Otfr. Müller (12)). Die Kapillaren sind um so stärker ge- 
schlängelt, je mehr das klinische Bild der insterstitiellen Nephritis zu- 
neigt (Weiß (11)). Die starke Schlängelung wird sowohl bei arteriolo- 
sklerotischer Schrumpfniere (W eiß (4)) als auch bei genuiner Schrumpf- 
niere beschrieben (Weiß (11)). 

Die Weite der Schlingen wird durchaus verschieden beobachtet. Bei 
arteriolosklerotischer Niere werden die Schlingen meist als verschmälert 
bezeichnet (Weiß (7)), oder aber die „Schaltstücke“ sind stark erweitert 
und zeigen den 3—4fachen Durchmesser der Kapillargefäße.. (Jür- 
gensen (10)). Von wesentlichem Einfluß auf die Weite der Kapillaren 
wird dabei die Kompensation des Kreislaufs hervorgehoben. So lange 
der hypertonische Kreislauf vollständig kompensiert ist, erscheint — bei 
Hypertonie gleichviel auf welcher Grundlage — der arterielle Schenkel in 
der Regel deutlich kontrahiert und dünn, der venöse normal weit. Bei 
Dekompensation tritt zunächst Erweiterung des venösen Schenkels und eine 
cyanotische Verfärbung des Gefäßinhaltes auf (Otfr. Müller (12)). 

Sichere Unterschiede in der Form der Kapillaren bei Schrumpf- 
nierenerkrankung und peripherer Arteriosklerose sind nach der Literatur 
nicht zu erkennen. „Sklerotische Nierenveränderungen geben die gleichen 
Kapillarbilder wie Arteriosklerose“ (Niekau (13) und O. Müller (2)). 

Die Strömungsgeschwindigkeit in den Kapillaren ist entweder be- 
schleunigt oder verlangsamt. Beschleunigung der Stiömung finden wir be- 
schrieben bei Hypertonie im Stadium der Kompensation (Weiß (11). 
Müller (12)), Verlangsamung der Strömung bei genuiner und arterio- 
skerotischer Schrumpfniere (Weiß (7), (11)) und bei Hypertonie bei 
Dekompensation des Kreislaufes (Müller (12)). 

Nach Otfr. Müller und Hübener (1) unterscheiden sich die 
Kapillaren bei Hypertonie ohne nachweisbare Nierenbeteiligung von den 
bei einer sicheren Schrumpfniere grundlegend. Bei der Hypertonie 


Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 305 


ohne nachweisbare Nierenbeteiligung findet sich nach diesen 
Autoren 

l. eine völlige Planlosigkeit und Unordnung im Gefäßaufbau, 

2. eine „Dysergie“, i. e. ein gegensätzliches Verhalten des arteriellen 
und venösen Gefäßanteils.. Beide Schenkel sind reichlich gewunden, der 
arterielle Schenkel überaus eng kontrahiert, der venöse varicenartig er- 
weitert. Der subpapilläre Plexus ist deutlich erkennbar. Am Oberarm 
sind die Umbiegungsstellen aneurysmenartig erweitert; 

3. keine kontinuierliche, vielfach körnige, oft lange Zeit stockende 
Strömung. 

4. Kapillarknäuel an Brust, Oberarm, Lippe. 

An den Kapillaren einer sicheren sekundären Schrumpfniere 
beobachteten sie dagegen: 

l. eine gewisse Ordnung und Planmäßigkeit im Gefäßaufbau, 

2. keine „Dysergie“, keinen „spastisch-atonischen Symptomenkomplex“; 
die Schlingen sind normal oder eher spastisch. Der subpapilläre Plexus 
ist nicht oder kaum sichtbar. Der Grundton der Haut ist blasser; 

3. eine kontinuierliche Strömung, meist beschleunigt 

4. das Fehlen der Kapillarknäuel. 

Zu fast genau entgegengesetzten Feststellungen war ein Jahr vorher 
Redisch (14) bei Bied? gelangt. Er sah bei Beteiligung der 
Nieren immer Verlängerung im Sinne von Ausbuchtungen, Windungen 
der Schlingen bis zu Teppichklopferformen, während gerade die essen- 
tiellen Hypertonien auffallend langgestreckte Kapillaren meist mit 
lebhafter Strömung hatten. 

Auch die Statistik, die jüngst Groedel und Hubert (15) an 
reichem Material veröffentlichten, scheint gegen die Thesen O. Müller’s 
und Hübener’s zu sprechen. 

Die Autoren berichten unter anderem über 120 Fälle von Hyper- 
tonie. Dabei fanden sich 

bei nephrosklerotischen Hypertonien (57 Fälle) 

in 19,3 °/, Haarnadelform, 
in 52,3 °/, Schlängelung; 
bei arteriolosklerotischen Hypertonien (38 Fälle) 
in 80,2 °/, Haarnadelform, 
in 20°, Schlängelung; 
bei nervösen Hypertonien (8 Fälle) 
in 25°), Haarnadelform, 
in 25°), Schlängelung; 
bei klimakterischen Hypertonien (10 Fälle) 
in 43,5%, Haarnadelform, 
in 37,4 °/, Schlängelung. 

Danach ist bei Hypertonien mit nicht nachweisbarer Nierenschädi- 
gung, zu denen wir wohl die beiden letzten Gruppen rechnen dürfen, 
die Haarnadelform gleich häufig oder weit häufiger als die geschlängelte 
Kapillarform. 


Die angeführten Beschreibungen sind, wie wir sehen, durchaus 


widersprechend. Da an der Richtigkeit der Beobachtungen bei 
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 20 


306 LANGE 


der Gewissenhaftigkeit der bekannten Beobachter nicht zu zweifeln 
ist, muß die Schwierigkeit in der Sache selbst liegen. 


Wir stellen im folgenden Befunde an 154 Hypertonikern, 154 
Nichthypertonikern, insgesamt 308 Fällen zusammen. 

Unter den Hypertonikern sind ohne Auswahl alle Patienten 
aufgeführt, die mir mit einem Maximaldruck von 160 mm Hg und 
mehr zur Untersuchung kamen. Davon haben einen maximalen 
Blutdruck von 

160—170 = 28 Fälle 
170—180 = 52 „ 
180—200 = 38 , 
200—220 = 20 , 
220—240 = 12 , 
240—280 — 4 „ 
154 Fälle. 

Es handelt sich dabei um 58 Männer und 96 Frauen. 

Diesen 154 Hypertonikern stellte ich aus meinem Material 
von Nichthypertonikern eine gleiche Zahl gegenüber, deren Aus- 
wahl ich lediglich so traf, daß wieder 58 Männer und 96 Frauen 
zur Statistik herangezogen wurden. Es handelt sich dabei zum 
kleineren Teil um völlig gesunde, zum größeren Teil um Patienten, 
deren Krankheit mit den Kreislauforganen in keinem direkten Zu- 
sammenhang steht. 

Ich ordnete die Kapillarbilder in) 

A. Typie= regelmäßige Anordnung der Schlingen. DieSchlingen 
stehen im großen und ganzen in Reihen parallel geordnet (Skizze 1a). 

B. Atypie = unordentliche Anordnung der Schlingen. Die An- 
ordnung läßt eine Regel vermissen. Reihen sind nicht zu erkennen. 
Neben weit nach vorne liegenden Schlingen stehen weit zurück- 
liegende. Die Stellung der Schlingen zueinander ist nicht parallel. 
Oft scheinen sie sich zu überkreuzen. Der Abstand der Schlingen 
voneinander ist ungleich, neben dicht stehenden Büscheln von 
Schlingen sind kapillarlose Lücken (Skizze 2a). 

C. Übergang von A zu B. Solche Kapillarbilder, die sich ohne 
Zwang weder in A noch in B einreihen ließen (Skizze 3a). 

Die Länge der sichtbaren Schlingen, mit dem Zeiß’schen Meg- 
okular gemessen, ist 

1. kurz = bis 10 Teilstriche der Skala (Skizze 2a), 

2. mittel = 10—20 Teilstriche der Skala (Skizze 1a), 

3. lang = 20 Teilstriche und darüber (Skizze 3a). 


1) Vgl. Skizze 1—3. 


Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 307 


Das Verhältnis von arteriellem zum venösen Schenkel ist 
eingeteilt: 

a) Verhältnis arterieller Schenkel zum venösen ist normal, d.h. 
arterieller etwas enger als venöser (Skizze 1a), 

b) enge arterielle, weite venöse Schenkel (Skizze 3a), 

c) enge arterielle und enge venöse Schenkel (Skizze 2a), 

d) weite arterielle und weite venöse Schenkel (Skizze 2a). 

Die Einzelschlingen besitzen 

a) Haarnadelform (Skizze 1a), 

8) geringe Schlängelung (Skizze 2a), 

y) starke Schlängelung (Skizze 3a). 

ò) Der subpapilläre Plexus ist sichtbar (Skizze 2a). 


o 10 20 30 


Skizze la. Fingerlimbus. Anordnung: regelmäßig (Typie) [A]. Länge: mittel, 
bis 18 Teilstr. [2]. Verhältnis arterieller zu venöser Schenkel normal [a]. 
Haarnadelform [a]. 

Skizze la, lb, lc stammt von 6ljähr. Frau, R.R. 210/125. 

Klinische Beschwerden: Kopfschmerz, Schwindel, Aufgeregtheit. 
Urin, kein Eiweiß. Sediment o. B. Rest-N 35 mg°/,. Wasserversuch 
"Hedinger I. Hedinger II völlig normal. Kochsalzkonzentration 
bis 2%/,. 15 g Salz werden in 8 Stunden ausgeschieden. 

20* 


308 LANGE 


Skizze 1b. Lippe. 


Skizze 1c. Ellenbogen. 


Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 309 


Vergleich der Kapillaren der Hypertoniker und 


Nichthypertoniker. 

Bei Hypertonikern Bei Nichtbypertonikern insgesamt 
Typie 120 = 77,92 °/, 106 = 68,83 |, 226 — 73,37 9), 
Atypie 28 — 18,18%), 22 — 14,28 9), 50 = 16,23 9), 
Zwischenfrrm 6= 3,89), 26 — 16,88 1 32 = 10,887, 


Ergebnis: Es findet sich bei unseren Hypertonikern die 
regelmäßige Anordnung in 9°, der Fälle häufiger als bei Nicht- 
hypertonikern. Dem steht die größere Zahl der Zwischenformen 
bei den Nichthypertonikern gegenüber. Der Unterschied zwischen 
beiden ist somit — im ganzen betrachtet — bei unserem Material 
zu gering, als daß man die Anordnung der Kapillaren bei der 
Hypertonie als charakteristisch bezeichnen könnte. 


0 10 20 30 40 


Skizze 2a. Fingerlimbus. Anordnung: unregelmäßig (Atypie) [B]. Länge: Kurz, 
— bis 10 Teilstriche, nur wenige darüber [1]. Verhältnis arterieller zu venöser 
Schenkel: beide eng [c] oder beide weit [d]. Schlängelung gering [8]. 
Subpapillärer Plexus sichtbar. 

Skizze 2a, 2b, 2c stammt von 58jähr. Frau, R.R. 180/110. 

Klinische Diagnose: Apoplexie, Arteriosklerotische Schrumpfniere, 
Schrumpfnierenherz. Urin, Eiweiß-Opalescenz, einige Zylinder, keine 
roten Blutkörperchen, starke Isosthenurie. 


310 LANGE 


Skizze 2c. Ellenbogen. 


Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 311 


Die Länge der sichtbaren Kapillarschlingen 


bei Hypertonikern bei Nichthypertonikern insgesamt 
kurz 26 = 16,88 °/, 24 — 15,58 °/, 50 = 16,23 
mittel 44 = 28,57 €o 64 — 41,55"), - 108 = 35,06 9 
lang 84 — 54,54 °/, 66 = 42,85 ° 150 = 48,70 °/, 


Ergebnis: Die Hypertoniker haben in 12°, der Fälle häufiger 
lange Kapillaren als die Nichthypertoniker. Dagegen übersteigt 
die Zahl der mittellangen Kapillaren beim Nichthypertoniker die 
beim Hypertoniker um 10°/,. 

Unsere Statistik bestätigt demnach den allgemeinen Eindruck, 
daß bei Hypertonie die Kapillaren oft verlängert sind. Immerhin 
ist auffällig, daß auch unter Nichthypertonikern die Prozentzahl 
der langen Kapillaren beträchtlich ist. 


0 10 20 30 40 


Skizze 3a. Fingerlimbus. Anordnung: zwischen Typie u. Atypie [C]. Länge: 
über 30 Teilstr. [3]. Enge arterielle, weite venöse Schenkel [b]. 
Starke Schlängelung [y]. 

Skizze 3a, 3b, 3c stammt von 70jähr. Mann, R.R. 230/110. 

Klinische Diagnose: Claudicatio intermittens. Angina pectoris. 
Urin, spez. Gew. zwischen 1005—1022 schwankend. Rest-N 44 mgr /,. 
Wasserversuch normal. Entlastungstag normal. Belastungstag mangel- 
hafte Ausscheidung und mangelhafte Konzentration. Sektion: Arteriolo- 
sklerotische Schrumpfniere. 


312 LANGE 


Skizze 3c. Ellenbogen. 


Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 313 


Die Form der Kapillaren 
bei Nicht- 
hypertonikern 
Haarnadelform 38 — 24,67%, 42 = 27,27%), 80 = 25,96 )/, 
geringe Schlängelung 84 — 54,55%, 86 = 55,84%), 170 = 55,20), 
starke Schlängelung 32 — 20,78%, 26 = 16,88% 58 — 18,83 ;, 

Ergebnis: Alle Arten von Kapillarformen kommen beim 
Hypertoniker in beträchtlicher Prozentzahl vor. Es finden sich 
bei Hypertonikern etwas häufiger stark geschlängelte Kapillaren 
und etwas seltener Haarnadelformen als bei Nichthypertonikern. 
Die Prozentzahlen weichen jedoch zu wenig von dem Gesamtdurch- 
schnitt ab, als daß man eine Form der Kapillaren als besonders 
typisch für Hypertonie ansehen könnte. 

Außer der unregelmäßigen Anordnung und Schlängelung der 
Kapillaren wird das unruhige Kapillarbild gelegentlich durch den 
sichtbaren subpapillären Plexus charakterisiert. 

Wir fanden Sichtbarkeit des subpapillären Plexus 

bei Hypertonikern bei Nichthypertonikern insgesamt 

48 = 31,16), 14 = 9,09 9), 62 — 20,13 9], 

Ergebnis: Der subpapilläre Plexus ist beim Hypertoniker 

sehr viel häufiger sichtbar, als beim Nichthypertoniker. 


bei Hypertonikern insgesamt 


Das Verhältnis desarteriellen zum venösen Schenkel. 


Verhältnis bei bei Nicht- . 
arteriell: venös Hypertonikern hypertonikern BEBSeN: 
normal 96 = 62,34 9}, 94 = 61,03), 190 = 61,68), 
eng: weit 22 — 14,28 24 = 15,58 |, 46 = 14,93 9), 
eng : eng 20 = 12,99 °/° 18 = 11,69 °/, 38 = 12,34 9), 
weit: weit 16 = 10,39 |, 18 = 11,69 9, 34 = 11,049, 


Ergebnis: Die Übereinstimmung in dieser Tabelle zwischen 
den Befunden bei Hypertonikern und Nichthypertonikern ist über- 
raschend. Es gibt demnach bei Hypertonie bei unserem Material 
keine typische Veränderung in der Weite der Kapillarschlingen 
und dem Verhältnis zwischen arteriellem und venösem Schenkel 
bei der Hypertonie. 

Zusammenfassend ist über den Vergleich der Kapillaren 
des Hypertonikers und Nichthypertonikers zu sagen: In Form und 
Kaliber der Schlingen stimmen die Kapillaren des Hypertonikers 
und Nichthypertonikers weitgehend überein. Die Kapillaren sind 
beim Hypertoniker häufiger lang und der subpapilläre Plexus ist 
häufiger sichtbar. Es wird aber auch beim Nichthyperteniker die 
lange Form der Kapillaren in einem sehr großen Teil und ein 


314 LANGE 


sichtbarer subpapillärer Plexus in einer beträchtlichen Zahl der 
Fälle angetroffen. Es kann demnach keine dieser Erscheinungs- 
formen als für die Hypertonie charakteristisch angesehen werden. 


Bei den untersuchten 154 Hypertonikern boten 141 klinisch 
sichere Zeichen einer Nierenschädigung, bei 13 Fällen war eine 
Nierenbeteiligung nicht nachweisbar. 

Wir fanden bei diesen Patienten 


Eiweiß 101 mal 

Zylinder 38 mal 

Rote Blutkörperchen 45mal; das spez. Gew. war stark fixiert 
105 mal. 


In 74 Fällen konnte aus dem gleichzeitigen Vorkommen mehrerer 
dieser Befunde bei stets völlig fixiertem spezifischen Gewicht die 
Beteiligung der Nieren mit Sicherheit erschlossen werden. In 80 
weiteren Fällen, und zwar bei allen Fällen, in denen nicht das 
Vorhandensein von Eiweiß, Zylindern oder roten Blutkörperchen 
bei fixiertem spezifischen Gewicht mit Sicherheit auf eine Nieren- 
schädigung hinwiesen, wurden weitere Nierenprüfungen angestellt. 

Dem Trinkversuch (1500 ccm Wasser früh nüchtern) wurde 
der Durstversuch am gleichen Tage angeschlossen. Bei diesen, bei 
77 Patienten angestellten Versuchen war die Wasserausscheidung 
prompt und die Konzentration gut in 43 Fällen, die Wasseraus- 
scheidung verzögert und die Konzentration mangelhaft in 34 Fällen. 

Bei 80 Patienten wurde mit der Probemahlzeit von Schlayer 
und Hedinger (16) der Nierenbelastungsversuch (Hedinger I) 
gemacht. Dabei fanden sich die Wasserausscheidung, spezifisches 
Gewicht und Kochsalzgehalt der Mahlzeit entsprechend gut 
schwankend in 29 Fällen, die Zeichen einer Nierenschädigung 
durch gleichförmige Wasserausscheidung, Fixierung des spezifischen 
Gewichtes und des Kochsalzgehaltes zum Teil verbunden mit 
Nykturie in 51 Fällen. 

Der Entlastungstag nach Hedinger (Hedinger II) mit 
geringer diuretisch wirkender Kost zeigte in 27 Fällen einen 
normalen Ausfall von Wasserausscheidung, der Konzentration und 
der Kochsalzausscheidung und in 53 Fällen die Zeichen einer 
Nierenschädigung. Im einzelnen ergaben die Funktionsprüfungen 
folgendes Ergebnis. 


Wassertag normal, Hedinger I und II normal 13 mal 
Wassertag normal, Hedinger I und II ungenügend 17 mal 
Wassertag normal, Hedinger I oder II ungenügend 17 mal 


Wassertag ungenügend, Hedinger I u. oder II ungenügend 33mal. 


Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 315 


Aus diesen Zahlen geht hervor, daß der Wasserdursttag am 
meisten normal erscheinenden Ausfall zeitigt, und häufig erst die 
Belastungs- oder Entlastungskost Nierenschäden zutage treten läßt. 
Der Wasserdursttag war für uns deshalb niemals allein ausschlag- 
gebend, sondern nur in Verbindung mit den Hedingertagen. 


Der Rest-N zeigte 23 mal unter allen Bestimmungen einen Wert 
von über 50 mg in 100 ccm Serum. Es sind das alles Fälle, die 
auch in den bisher besprochenen Untersuchungen Störungen gezeigt 
hatten. i 


Die 13 Fälle mit normalem Ausfall der Funktionsprüfungen 
hatten auch normalen Harnbefund und nicht erhöhten Rest-N. Bei 
Kochsalzbelastung zeigten einige dieser Fälle auffällig hoch konzen- 
trierte Kochsalzausscheidung. Im übrigen war uns der Versuch 
mit Kochsalzbelastung eine Bestätigung der bei Schon- und Be- 
lastungskost erhobenen Befunde. 


Zu unseren Untersuchungen wurden von uns — selbstverständ- 
lich — die Hypertoniker ohne Auswahl herangezogen, auch die, 
bei denen Störungen des vegetativ-endokrinen Systems oder nervöse 
und toxische Krankheitszustände vorlagen. 


Auffällig klein ist die Zahl unserer Hypertoniker ohne nach- 
weisbare Nierenschädigung gegenüber den von Fahrion (17) und 
von Otfr.Müllerund Hübener (1) genannten Zahlen. Fahrion 
errechnete aus 1763 Krankengeschichten von Hypertonikern mit 
einem Druck von über 140 mm Hg 949 mal, das ist in 53,8°/, der 
Fälle, ein Fehlen von Nierenbeteiligung, Otfr. Müller und 
Hübener stellten 50 nierennegative Fälle zusammen. 


Bei der Sorgfalt des Statistikers ist es bei einer nachträg- 
lichen Durchsicht der Krankengeschichten von Hypertonikern, die 
nicht speziell auf eine Nierenbeteiligung hin untersucht worden 
sind, ungemein schwierig, auf Grund des Urinbefundes und des 
Verlaufs der Diuresekurve eine Entscheidung zu treffen, ob eine 
Nierenschädigung vorgelegen hat oder nicht. Bei unseren 141 
Hypertonikern mit Nierenschädigung hätten wir ohne die ange- 
stellten Nierenfunktionsprüfungen lediglich auf Grund des Harn- 
befundes und des spezifischen Gewichtes 39 Fälle zu den nieren- 
negativen rechnen müssen. Eine Statistik aus einer großen nicht 
ad hoc untersuchten Zahl der Fälle wird demnach immer mehr 
nierennegative Fälle aufweisen müssen und wird in ihrem Ausfall 
— bei allem guten Willen — von der Einstellung des Statistikers 
beeinflußt sein. 


316 LANGE 


Die viel geringere Zahl unserer nicht nachweisbar nieren- 
geschädigten Hypertoniker gegenüber der von Otfr. Müller und 
Hübener gefundenen, dürfte vielleicht ihre Erklärung in der 
angewandten Methodik der Nierenfunktionsprüfung finden. Müller 
und Hübener untersuchten ihre Fälle 1. mit dem Verdünnungs- 
und Konzentrationsversuch, 2. mit Kochsalzbelastung, 3. mit Rest- 
stickstoffbestimmung, 4. mit Stickstoffbelastung. Wir legten 
außerdem, wie in dem oben ausgeführten ersichtlich, entscheidendes 
Gewicht auf den Belastungs- und Entlastungstag nach Hedinger 
und Schlayer. Aus unseren oben angeführten Zahlen geht hervor, 
daß der Verdünnungs- und Konzentrationsversuch (Wassertag) in 
34 Fällen normal ausfiel, obwohl Belastungs- und Entlastungstag 
eine sicher mangelhafte Nierenfunktion aufdeckte. 

In derselben Art, wie wir die Kapillaren der Nichthypertoniker 
und der Hypertoniker verglichen, stellten wir Vergleiche zwischen 
den Kapillaren von Hypertonikern mit und ohne nachweisbare 
Nierenschädigung an. 


Vergleich der Kapillaranordnung bei Hypertonikern 


ohne nachweisbare Nierenschädigung mit Nierenschädigung 
Typie 9 = 69,23), 111 = 78,72 0 
Atypie 3 — 23,08 |, 25 = 17,73, 
Ubergangsform 1 = 7,69%, 5 = 3,55°, 
13 141 


Ergebnis: Hypertoniker mit Nierenschädigung haben nur in 
9°), der Fälle häufiger typische Anordnung ihrer Kapillaren und 
nur in 6°/, der Fälle seltener atypische Anordnung als Hypertoniker 
ohne nachweisbare Nierenschädigung. 


Die Länge der sichtbaren Kapillarschlingen war bei 


Hypertonikern 
ohne nachweisbare Nierenschädigung mit Nierenschädigung 
kurz 1= 7,89%, 25 = 17,73, 
mittel 5 = 38,46 °/, 39 — 27,66 °/, 
lang 7 = 53,85 77 = 54,61 °% 


Ergebnis: Lange Kapillaren sind prozentual beim Hyper- 
toniker mit und ohne nachweisbarer Nierenveränderung gleich 
häufig. Mittellange Kapillaren sind beim Hypertoniker ohne 
nachweisbare Nierenschädigung häufiger, als bei den mit Nieren- 
schädigung. 


Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 317 


Die Form der Kapillaren 


ohne nachweisbare Nierenschädigung mit Nierenschädigung 
Haarnadelform 2 — 15,38), 36 — 25,53 9), 
geringe Schlängelung 7 = 53,85 °% 77 = 54,61), 
starke Schlängelung 4 = 30,77 %;, 28 — 19,86 9), 
13 TA 


Ergebnis: Mäßig gewundene Kapillaren sind bei Hyper- 
tonikern mit und ohne Nierenschädigung gleich häufig. Die Prozent- 
zahl der stark gewundenen Kapillaren ist bei den Hypertonikern 
ohne nachweisbare Nierenschädigung größer, als bei den mit Nieren- 
schädigung. 


Sichtbarkeit des subpapillären Plexus 


fand sich 
bei Hypertonikern 
ohne nachweisbare Nierenschädigung mit Nierenschädigung 
5:13 = 38,46 9), 43 : 141 = 30,50 9), 
also bei Hypertonikern ohne nachweisbare Nierenschädigung um 
8°/, häufiger, als bei den mit Nierenschädigung. 


Das Verhältnis des arteriellen zum venösen Schenkel 
bei Hypertonikern. 


Verhältnis ohne nachweisbare mit 
arter.:venös Nierenschädigung Nierenschädigung 
normal 4 = 30,77 h 92 = 65,25 o 
eng: weit 5 — 38,46 9), 17 = 12,06 °/, 
eng:eng 3 — 23,08), 17 = 12,06 ° 
weit: weit 1= 7,69%, 15 = 10,64 °), 
13 141 


Ergebnis: Bei Hypertonikern mit Nierenschädigung sind 
normale arterielle und venöse Schenkel um 35°/, häufiger, enge 
arterielle und weite venöse um 16°/, seltener, enge arterielle und 
enge venöse Schenkel um 11°/, seltener, weite arterielle und weite 
venöse um 3°/, häufiger als bei Hypertonikern olıne nachweisbare 
Nierenschädigung. 

Wohl sind beim Vergleich der Kapillaranordnung und -form 
des Hypertonikers mit und ohne nachweisbare Nierenschädigung 
zahlenmäßig geringe Unterschiede vorhanden, jedoch erscheinen 
sie zu klein, als daß man die Formveränderungen für eine der 
beiden Gruppen typisch nennen könnte. 

Die Zahl unserer Fälle von akuter Nephritis ist für eine 
Statistik zu gering. Bei der stark wechselnden Form der Kapillaren 


318 LANGE 


des Nichtnierenkranken, dürfte man nach den mitgeteilten Er- 
fahrungen erst dann die Kapillarform für eine Nephritis als 
charakteristisch ansehen, wenn sie sich mit der Erkrankung ge- 
ändert hat. Mir liegt ein Fall vor, dessen Kapillaren ich schon 
vor der Erkrankung gezeichnet und beschrieben hatte. 

Es handelte sich um eine 22jähr. Patientin, die mit Angina herein- 
kam. Acht Tage später trat mit Blutdrucksteigerung und entsprechendem 
Harnsediment eine akute Glomerulonepbritis auf. Nach weiteren 12 Tagen 
waren alle Erscheinungen wieder geschwunden. Das kapillar-mikroskopische 
Bild bot vor, während und nach der Nephritis stets dasselbe Bild hin- 
sichtlich der Form, der Weite der Kapillaren und ihrer Durchströmung. 
Es deckt sich diese Beobachtung durchaus mit der von Schur (6) 
mitgeteilten. 

Außer am Fingerlimbus wurden in einer großen Zahl der 
Fälle die Kapillaren an der Außenseite des rechten Oberarms, 
über der Brust an der Teststelle Niekau’s und an der Innenseite 
der Unterlippe untersucht.!) Von allen Hypertonikern ohne nach- 
weisbare Nierenschädigung liegen mir die Untersuchungsergebnisse 
an diesen Hautstellen vor. 

Unter diesen 13 Fällen war die Anordnung der Kapillaren an 
der Lippe regelmäßig in 7 Fällen, unregelmäßig in 5 Fällen. In 
denselben Fällen war die Form der Schlingen reichlich gewunden. 
Am Oberarm wurden aneurysmaartige Erweiterungen in 4 von den 
13 Fällen notiert. Von diesen 4 hatten 2 ähnliche Knäuelbildungen 
an der Brusiteststelle. 

Der Typus der Schlingen an Lippe und Fingerfalz stimmt 
oftmals nicht überein. Ich sah regellose Anordnung und gewundene 
Schlingen in der Lippenschleimhaut bei regelrechter Anordnung 
und geringer Schlängelung am Nagelfalz und umgekehrt. 

Im großen und ganzen stimmen diese an anderen Körperstellen 
erhobenen Befunde mit unseren statistischen Feststellungen am 
Fingerfalz überein. 

Wir können somit, wie aus unseren Aufstellungen hervorgeht, 
das Vorkommen der von Otfr. Müller und Hübener bei 
Hypertonie beschriebenen Kapillarformen durchaus bestätigen. Da 
wir jedoch beide von ihnen beschriebenen Typen sowohl bei 
Hypertonie als auch bei normalem Blutdruck, sowohl bei Hypertonie 
mit Nierenschädigung als auch ohne nachweisbare Nierenschädigung 
sahen, können wir keine dieser Typen für Hypertonie charakte- 
ristisch ansehen. 


1) Vgl. dazu die Skizzen 1—3 b und c. 


Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 319 


Auffällig häufig ist bei den Hypertonikern der Tübinger Klinik 
der Typus der Kapillarformen vertreten, die Otfr. Müller als 
spastisch-atonisch bezeichnet. Wenn wir der Otfr. Müller’schen 
Auffassung folgen, die diese Kapillarformen als Charakteristikum 
der Vasomotoriker ansieht, so dürfte das häufigere Vorkommen in 
der verschiedenen Art des Krankenmaterials beider Untersuchungs- 
reihen ihre Erklärung finden. Ist doch in der schwäbischen Be- 
völkerung, wie mir Herr Prof. von Romberg mitteilte, die Zahl 
der psycho- und vasolabilen Kranken viel größer, als in unserem 
Münchener Krankenbestand. 


Das Vorkommen so wechselnder Kapillarbilder findet nicht 
zuletzt seine Erklärung in der mannigfaltigen Beschaffenheit der 
menschlichen Haut. Die Unterschiede zwischen der turgorge- 
schwellten, rosigen Haut des jungen Menschen und der faltigen, 
glatten, zigarettenpapierdünnen, trockenen Haut des Greises läßt 
die wechselnden Formen der dazugehörigen Kapillaren schon 
normalerweise selbstverständlich erscheinen. Lebensgewohnheiten, 
Hautpflege, der geringere oder stärkere Einfluß der Witterung sind 
von Belang. 


Für die Bedeutung des konstitutionellen Momentes spricht eine Be- 
obachtung: eine Mutter, ihre zwei Töchter und ein Sohn, die auch sonst 
große Ahnlichkeit zeigten, hatten alle einen gewissen auffälligen Typus 
in Form und Anordnung ihrer Hautkapillaren. 


Die Vielgestaltigkeit der Formen bei Hypertonie ist nach 
allem nicht durch die Krankheit bedingt. Ebensowenig läßt sich 
die Genese der Hypertonie aus der Gestaltung der Hautkapillaren 
ableiten. 


Literatur. 


1. Otfr. Müller u. Gottfr. Hübener, Uber Hypertonie. Dtsch. Arch. 
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Brugsch 4. Bd., 1925. — 4. Eugen Weiß, Das Verhalten der Hautkapillaren 
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Münch. med. Wochenschr. S. 612, 1917. — 8. Thaller u. Draga, Die Be- 
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9. Volhard, Die doppelseitigen hämatogenen Nierenerkrankungen. Handb. d. 
inn. Med. (Mohr u. Staehelin) Bd. 3, Teil II. — 10. E. Jürgensen, Mikro- 
kapillarbeobachtung und Puls der kleinsten Gefäße. Zeitschr. f. klin. Med. 86 Bd., 


320 Lange, Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 


1918. — 11. Eugen Weiß, Uber Beobachtung der Hautkapillaren und ihre 
klinische Bedeutung. Münch. med. Wochenschr. S. 610, 1917. — 12. Otfr. 
Müller, Ergebnisse der Kapillarmikroskopie am Menschen. Klin. Wochenschr. 
2. Jahrg. 1197, 1923. — 13. Bruno Niekau, Ergebnisse der Kapillarbeobachtung 
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Bd. 22, 1922. — 14. Walter Redisch, Neue Beobachtungen mit dem Kapillar- 
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Gg. Hubert, Klinische Erfahrungen mit der mikroskopischen Kapillarunter- 
suchungsmethode. Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 100, 1924. — 16. Schlayer u. 
Hedinger, Dtsch. Arch. f> klin. Med. Bd. 114, S. 126, 1914. — 17. Fahrion. 


I.-D. Med. Tübingen 1925. 


321 


Aus der Universitätskinderklinik Jena. 
(Vorstand: Prof. Dr. Ibrahim.) 


Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie und anderen 
hämorrhagischen Diathesen. ') 
Von 


Dr. Fritz von Bernuth, 


Assistent der Klinik, 


In der Pathogenese der hämorrhagischen Diathesen ist vieles 
noch nicht geklärt. Wir wissen zwar, daß für die Hämophilie 
z. B. die Verlängerung der Gerinnungszeit oder für die Werl- 
hof’sche Krankheit die Verminderung der Blutplättchen und die 
Verlängerung der Blutungszeit von großer Bedeutung sind. Aber 
fast alle Forscher haben sich mit der Feststellung dieser Blut- 
veränderungen nicht begnügt, sondern haben außerdem irgendeine 

Schädigung der Gefäße angenommen. Denn die genannten patho- 
logischen Eigenschaften des Blutes können wohl die lange Dauer 
von einmal entstandenen Blutungen erklären, nicht aber das spon- 
tane Entstehen von Blutungen, das für die hämorrhagischen 
Diathesen charakteristisch ist. Außerdem ist man in letzter Zeit 
mehr und mehr zu der Erkenntnis gekommen, daß auch bei der 
normalen Blutstillung der Gerinnungsvorgang nicht die Rolle spielt, 
die man ihm früher zugeschrieben hat. Wir wissen heute, daß die 
Gefäße selbst daran einen großen Anteil haben, und zwar sowohl 
die großen Gefäße als auch die kleinen und die Kapillaren. Noch 
bestehen aber Zweifel darüber, in welcher Weise die Gefäße an 
der Blutstillung mitwirken. 

Werner Schultz (1) spricht einfach von einer „Selbststeuerung“ 


der Gefäße und versteht darunter das Zusammenwirken aller vom Ge- 
fäßinhalt unabhängigen Kräfte, die in der Gefäßwand und auf sie wirken; 


1) Nach einem Vortrag, gehalten am 2. Juni 1926 in der Medizinischen 
Gesellschaft zu Jena. 
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 21 


322 v. BERNUTH 


es sind dies Kontraktilität, Verklebungsfähigkeit durchschnittener Gefäß- 
enden, Wirkungen der Gewebsspannung, nervöse Einflüsse und anderes 
mehr; sie wirken im Bereich des kapillaren und des diesem benachbarten 
Gefäßabschnittes. 


Stegemann (2), (3) hat experimentell an der Schwimmhaut des 
Frosches und am Mesenterium des Kaninchens und des Meerschweinchens 
gearbeitet und faßt seine Beobachtungen dahin zusammen, daß er die 
Summe aller die Blutstillung bewerkstelligenden Kräfte als „autonome 
Umstellung des Kreislaufs“ bezeichnet, Die -Hauptrolle fällt seiner An- 
sicht nach der selbsttätigen Umleitung des Blütstroms in den Kollateral- 
kreislauf zu, wobei es kurze Zeit zu einer Umkehrung der Stromrichtung 
kommt. Die Kontraktion der angeschnittenen Gefäße und die Throm- 
‚bosierung sollen erst sekundäre Vorgänge sein, wenigstens an den größeren 
Gefäßen. Bei kleinen Gefäßen und besonders bei den Kapillaren findet 
so schnell eine Kontraktion statt, daß eine Entscheidung darüber, was 
das Primäre ist, nicht möglich ist. 

Auch Herzog (4) hat an der Froschzunge die Umleitung des Blut- 
stroms auf den Kollateralkreislauf und die Eröffnung neuer Kollateral- 
bahnen beobachtet. Das Wichtigste für die Blutstillung ist aber nach 
seiner Ansicht eine  Verklebung der Kapillarwände, die allein genügt. 
Dazu kann eine Kontraktion kommen, sie ist aber relativ selten mit 
Sicherheit zu erkennen. 


Magnus (5), (6) dagegen führt die Blutstillung sowohl bei großen 
Gefäßen als auch bei Kapillaren auf Kontraktion zurück. Seine Unter- 
suchungen an Kapillaren hat er an der Schwimmbaut von Fröschen und 
.am Nagelfalz des Menschen angestellt, indem er mit Hilfe des Zeiß’schen 
Mikromanipulators einzelne Kapillaren unter dem Mikroskop angeschnitten 
hat. Er hat dabei festgestellt, daß die Kapillaren im Anschluß an die 
“Verletzung ihren Inhalt auspressen, verschwinden und dann verschwunden 
bleiben. Er faßt das, wie gesagt, als einen Kontraktionsvorgang auf. 


Derselben Ansicht ist Heimberger (7), (8), der mit etwas anderer 
. Methode am Menschen zu demselben Ergebnis gekommen ist. Abweichend 
stellt er jedoch fest, daß ganz geringfügige Verletzungen, bei denen nur 
wenige Blutkörperchen aus dem Lumen austreten, nicht zu einem Ver- 
schwinden, sondern nur zu einer Kontraktion der Kapillaren führen. 
Diese Beobachtung habe auch ich machen können, jedoch kommen solche 
kleinen Blutungen nur äußerst selten vor, wenn man, wie ich es getan 
habe, nach dem Vorgang von Magnus mit dem Mikromanipulator 
‚arbeitet. Es sei hier gleich vorweg genommen, daß bei den Unter- 
suchungen, über die im folgenden berichtet werden soll, nur solche Ver- 
letzungen berücksichtigt worden sind, bei denen eine größere Blutung 
entsteht und bei denen also normalerweise die Kapillaren verschwinden. 


‚ Auch meiner Ansicht nach liegt es am nächsten, das Ver- 
schwinden der Kapillaren auf einen Kontraktionsvorgang zurück- 
zuführen. Man kann in vielen Fällen deutlich beobachten, wie 
der Inhalt der angeschnittenen Kapillare ausgepreßt wird und die 
Kapillare dann unsichtbar wird. Daß gleichzeitig der Kollateral- 


Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie usw. 323 


kreislauf erhöht in Anspruch genommen wird, hat schon Magnus 
festgestellt. Man kann das daran erkennen, daß in den u 
barten Kapillaren eine Hyperämie entsteht. 


Wenn nun auch über die Art und Weise des Va: ver- 
schiedene Ansichten herrschen, so geht doch aus allem klar her- 
vor, daß die Gefäße selbst normalerweise an der Blutstillung in 
erster Linie beteiligt sind. Der Gedanke liegt nahe, daß in 
pathologischen Fällen, bei schweren kaum stillbaren Blutungen, 
den Gefäßen diese Fähigkeit fehlt. Nachdem uns die Kapillar- 
mikroskopie mit ihren neueren Verbesserungen die Möglichkeit 
geboten hat, das Verhalten von Kapillaren auf Reize und Ver- 
letzungen direkt zu beobachten, konnte man hoffen, auf diese 
Weise dem Wesen solcher pathologischen Blutungen näher zu 
kommen. Insbesondere handelt es sich dabei um die hämorrhagi- 
schen Diathesen. Schon Magnus hat darauf hingewiesen, daß 
es sehr wichtig sein müsse, bei Blutern die Reaktion von Kapillaren 
zu prüfen. Da wir in letzter Zeit mehrere solcher Fälle beobachten 
konnten, habe ich die Gelegenheit wahrgenommen, en guter 
suchungen vorzunehmen. 


Ich bediente mich dazu, wie schon erwähnt, der Methode von 
Magnus. Mit Hilfe des Zeiß’ schen Mikromanipulators (Peterfi), 
in den ein kleines Messerchen, hergestellt aus dem Splitter eines 
Rasiermessers, eingesetzt ist, kann eine einzelne Kapillare unter 
dem Mikroskop angeschnitten werden. Zur Beobachtung dient 
ein gewöhnliches Mikroskop mit dem Objektiv von Zeiß’ „Apo- 
chromat 16 mm“. Mit Hilfe eines ebenfalls von der Firma Zeiß 
hergestellten photographischen Okulars läßt sich der Vorgang 
gleichzeitig beobachten und photographieren. 

Über das Ergebnis meiner ersten Untersuchung habe ich be- 
reits früher berichtet (9, 10). Auf den einen dieser Fälle muß ich 
hier jedoch noch einmal eingehen, da er besonders wichtig zu 
sein scheint, und da ich inzwischen auch Gelegenheit gehabt 
habe, ihn nachzuuntersuchen, wobei sich neue interessante Gesichts- 
punkte ergaben. | 

Der jetzt 12 jährige Werner R. leidet seit frühster Jugend an häufigen 
Blutungen, insbesondere an Schleimhaut- und Gelenkblutungen. Die 
Blutungen treten in den meisten Fällen spontan auf, nur bei den Gelenk- 
blutungen wird einige Male ein mehr oder weniger starker Stoß oder Fall als 
Ursache angegeben. Die Haut bleibt stets frei von auffallenden Blutungen. 
In der Familie lassen sich trotz genauester Nachforschung andere 


Bluter nicht feststellen. Die Blutungszeit bei dem Patienten ist normal 
21* 


324 | v. BERNUTH 


(bestimmt nach Duke). Die Plättchenzahl (nach Fonio) normal oder 
leicht vermehrt, die Gerinnungszeit verlängert. Letztere 
schwankte während des ersten Klinikaufenthaltes des Patienten von 
Januar bis November 1924 zwischen 13 und 17 Minuten, gemessen nach 
der Methode von Bürker (normal 7 Minuten). Der Rumpel-Leede- 
sche Stauungsversuch fiel negativ aus. Im Salzplasmaversuch nach 
Wooldridge (ll) erfolgte die Gerinnung normal nach 2 Stunden. 
Die Retraktion des Blutkuchens war normal. Bei der Kapillarunter- 
suchung ergab sich der äußerst interessante Befund, daB die Kapillaren 
im Anschluß an die Verletzung nicht verschwanden, sondern daß sie 
offen und durchgängig blieben. Die Blut- und Kapillarbefunde wurden 
durch therapeutische Maßnahmen nicht beeinflußt (Blutinjektionen). Im 
Januar 1926 hatten wir Gelegenheit, den Patienten nachzuuntersuchen. 
In der Zwischenzeit waren keine auffallenden Blutungen mehr eingetreten, 
nur war 8 Tage vor der Aufnahme durch Fall auf das rechte Knie, das 
schon durch häufige Blutungen deformiert und in der Bewegung be- 
schränkt war, ein stärkeres Hämatom aufgetreten. Der Blutbefund war 
dem früheren ähnlich, die Gerinnungszeit war bis auf 30 Minuten ver- 
längert. Die Kapillaruntersuchung ergab dasselbe Ergebnis wie bei dem 
ersten Aufenthalt. Bemerkt sei, daß die Prüfung der Kapillaren oft 
wiederholt wurde, und daß stets der gleiche Befund erhoben wurde. 
Abnlich lagen die Verhältnisse bei einem 2. Fall, den ich Dank der 
Liebenswürdigkeit von Herrn Prof. Bessau!) in der Leipziger Kinder- 
klinik untersuchen konnte. Der 12jährige Junge Alfred K. litt eben- 
falls seit früher Jugend an häufigen spontanen und schwer zu stillenden 
traumatischen Blutungen. Sehr oft traten bei ihm subkutane Blutergüsse 
auf. Schon als er ein halbes Jahr alt war, bemerkten die Eltern blaue 
Flecke am Körper, sobald er sich am Korbrande gedrückt hatte. Häufig 
hatte er Nasenbluten und beim Ausfallen des Milchgebisses heftige Zahn- 
fleischblutungen. Die Gelenke waren seltener in Mitleidenschaft gezogen. 
Bluter waren in der Familie nicht vorhanden. Die Auf- 
nahme in die Klinik erfolgte wegen eines starken Hämatoms ın der 
rechten Wade, das dadurch entstanden war, daß er beim Rückwärts- 
schreiten gegen eine Eisenstange gestoßen war. Das Hämatom erstreckte 
sich auf den ganzen rechten Unterschenkel von dicht unterbalb des Knies 
bis über die Knöchel hinaus. Die Blutungszeit war herabgesetzt 
(1—1!/, Minuten nach Duke). Die Plättchenzahl war auffallend ver- 
mehrt (825 000—1840000), die Gerinnungszeit war verlängert 
(27—87 Minuten). Bei der Aufnahme erhielt der Patient Clauden per 
os und intravenöse Blutinjektionen. Meine Kapillaruntersuchungen wurden 
14 Tage nach der Aufnahme vorgenommen. Dabei wurde festgestellt. 
daß die Kapillaren auf die Verletzung hin nicht verschwanden, sondern 
offen blieben. Bei dem Anschneiden einer Kapillare ergab sich folgendes 
Bild. Kurz nach dem Anschneiden wurde die Kapillare extrem weit, 
es entstand Stase und die ganze Kapillare war prall gefüllt mit zya- 
notischem Blut. Die Stase blieb 1!/, Stunden unverändert bestehen, dann 


1) Es sei mir gestattet, Herrn Prof. Bessau auch an dieser Stelle meinen 
ergebensten Dank zu sagen. 


Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie usw. 325 


trat eine Lücke im zuführenden Schenkel auf, die sich im Lauf der 
nächsten 20 Minuten wieder füllte, nun mit hellrotem Blut. Bald darauf 
` wurde die ganze Kapillare von hellrotem Blut durchströmt, sie war jetzt 
sehr eng. 


Bei diesen beiden Blutern also reagierten die Kapillaren auf 
eine Verletzung in paradoxer Weise. Sie verschwanden nicht, wie 
es normalerweise der Fall ist, sondern sie blieben offen und durch- 
gängig. Eine Kontraktion ließ sich nicht beobachten, im Gegen- 
teil, im einen Falle eine deutliche Dilatation. Die Fähigkeit zur 
Kontraktion ist an sich vorhanden. Das habe ich des Öfteren an 
der spontanen Veränderung der. Kapillarweite feststellen können, 
die man ja auch beim Normalen beobachtet. Bei dem zweiten 
Fall folgte außerdem auf die Dilatation und Stase eine deutliche 
Kontraktion. Worauf das paradoxe Verhalten bei den Verletzungen 
zurückzuführen ist, darüber lassen sich nur Vermutungen äußern, 
zumal die Frage über die kontraktilen Elemente an den Kapillaren 
und ihre Nervenversorgung noch nicht weit genug geklärt ist. 
Am ehesten möchte ich glauben, daß die Erregbarkeit des auto- 
nomen Gefäßnervensystenis verändert ist. Eine gute Erklärung 
hat Ricker (12) schon früher gegeben, der bei Blutern eine herab- 
gesetzte Erregbarkeit der Gefäßnerven annimmt, wodurch ein 
Übergewicht der Dilatatoren über die Konstriktoren entsteht. 
Dadurch wird bedingt, daß die Kapillaren sich auf Reize, die beim 
Normalen gar nicht oder mit Kontraktion beantwortet werden, er- 
weitern. Daß eine Dilatation der Kapillaren zu erhöhter Durch- 
lässigkeit der Gefäßwände führt, ist einwandfrei erwiesen. Es sei 
hier nur an die Arbeiten von Ricker, Krogh (13), Ebbecke (14), 
Herzog (4) und anderen erinnert. Auf diese Weise würden sich 
spontane Blutungen gut erklären lassen. Interessant sind in dieser 
Hinsicht Beobachtungen, die neuerdings Herzog an zwei Fröschen 
mit hämorrhagischer Diathese gemacht hat. Bei den beiden Tieren 
konnte er schon beim Ausbreiten der Zunge feststellen, daß rasch 
an einer Anzahl Kapillaren Stasen eintraten und daß es hier sehr 
leicht zum Blutaustritt kam. Nach der Injektion vom Chikagoblau 
oder Tusche konnte er sehen, daß die Farbstoffe durch die Gefäß- 
wand hindurchtraten und an einigen Stellen im umliegenden Ge- 
webe kleine Infiltrate bildeten. Wurde bei diesen Versuchen ein 
Tropfen Urethan auf die Zunge gebracht, so trat Dilatation und 
sehr häufig Stase der Kapillaren ein, wobei es oft zum Durchtritt 
von roten Blutkörperchen kam. Bei normalen Fröschen war eine 
Diapedese von roten Blutkörperchen nach Urethanaufträufelung 


326 v. BEBNUTH 


zwar auch schon gesehen worden, aber nie in dem Umfang wie 
bei diesen Tieren. “Also auch hier sehen wir die wichtige Rolle, 
die ‘das Verhalten der Gefäße für das’ spontane Entstehen von 
Blutungen spielt. | 

' Einen weiteren wichtigen Beitrag für- die Bedeutung der Ge- 
fäßnerven hat Heimberger (7, 8) geliefert. Nach parakapillärer 
Injektion von Atropin konnte er beim Gesunden auch bei mehr- 
tägiger Beobachtung nie eine sichere Wirkung feststellen; zuweilen 
schien es so, als ob die gereizte Kapillare etwas weiter wäre als 
zuvor. Bei einer-vasoneurotischen Patientin dagegen wiesen ‚die 
angegangenen Schlingen nach mehreren Tagen starke Erweiterung 
und Stase auf. Bei dieser Patientin kam auch bei einfacher Wand- 
reizung ohne Verletzung die sonst übliche Reaktion. nicht oder 
erst nach mehrmaliger kräftiger Reizung zustande. Diese Beobach- 
tung scheint mir außerordentlich wichtig zu sein, zeigt sie doch. 
daß auch bei Vasoneurosen ‚die Kapillaren sich anders als in der 
Norm verhalten. 

Auf einen wichtigen Befund bei dem Patienten Werner R. muß 
noch eingegangen werden. Wie erwähnt, blieben bei ihm die 
Kapillaren auch bei der 2. Aufnahme in die Klinik, bei der Ver- 
letzung offen, anstatt sich zu kontrahieren. Dieser Befund wurde 
mehrmals kontrolliert und bestätigt. Ich kam dann aus äußeren 
Gründen etwa 3 Wochen lang nicht zur Kapillaruntersuchung bei 
dem Jungen. Als ich sie wieder aufnahm, stellte ich zu meiner 
Überraschung fest, daß die Kapillaren sich nunmehr normal ver- 
hielten, daß sie sich also bei einer Verletzung kontrahierten und 
verschwanden. Nur hatte ich den Eindruck, als ob eine stärkere 
Verletzung als beim Normalen dazu gehörte, um die Kapillaren 
zum Verschwinden zu bringen. Dieeinmal verschwundenen Kapillaren 
blieben auch in der Folgezeit verschwunden. "Zu dieser Zeit be- 
stand bei dem Patienten keine auffällige Blutungstendenz Über- 
haupt war die Blutungstendenz bei ihm allmählich immer mehr 
zurückgegangen. Während seines ersten Klinikaufenthaltes von 
Januar bis November 1924 hatte er bis Mitte April neben den 
Gelenkblutungen an immer sich wiederholenden' 'profusen Schleim- 
hautblutungen gelitten. Es kamen Darmblutungen, Nasenbluten, 
Zahnfleischblutungen, Blutungen aus dem Mittelohr und auch eine 
kurz dauernde Nierenblutung vor. ‘Vom Mitte April’an blieben 
die Schleimhautblutungen völlig aus, und von nun an sahen wir 
uur noch bei ihm Gelenkblutungen auftreten. - -Zuhause sind dann 
auch diese immer seltener geworden; sie sind schließlich gar nicht 


Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie usw. 327 


mehr in die Erscheinung getreten bis auf die Kniegelenkblutung 
acht Tage vor der zweiten Aufnahme im Januar 1926.. Während 
der 7°!/, Wochen seines zweiten Klinikaufenthaltes' sind keine 
neuen Blutungen vorgekommen, obwohl der Junge außer‘ Bett war 
und mit den anderen Kindern herumtollte. Eine solch. Jange Pause 
hatten wir früher nie bei ihm gesehen. Ich glaube daher zu der 
Annahme berechtigt zu sein, daß die Blutungstendenz mit der 
Zeit geringer geworden ist, und daß der Umschwung in die nor- 
male Kapillarreaktion damit in Zusammenhang steht. Die Ge- 
rinnungszeit war übrigens nach wie vor verlängert, sogar noch 
mehr als früher. Sie betrug bei der letzten Unterspchung 53 bis 
68 Minuten. 

Nun erhebt sich die Frage, in weiche der bekannten hämor- 
rhagischen Diathesen sich die Krankheitsbilder der beiden Patienten 
eingliedern lassen. Zweifellos besteht mit der normalen oder ver- 
kürzten Blutungszeit, der verlängerten Gerinnungszeit und der 
Art und Weise des Auftretens und der Lokalisation der Blutung 
eine große Ähnlichkeit mit der Hämophilie. Die anderen Blutungs- 
übel kommen diagnostisch gar nicht in Betracht.: Gegen Hämo- 
philie spricht das Fehlen der hereditären Belastung in unseren 
Fällen. In Ermangelung. einer anderen Möglichkeit glaubte ich 
zunächst trotzdem eine Hämophilie annehmen zu dürfen, habe 
aber früher schon darauf hingewiesen, daß man ein endgültiges 
Urteil erst abgeben könne, wenn man zweifellos echte Hämophilie 
zum Vergleich untersuchen würde. Dazu habe ich . nun in letzter 
Zeit Gelegenheit gehabt. 

In dem einen Fall Georg K. handelt es sich um einen 8 iibrigen 
Juugen, der bereits von Opitz und Zweig (15) in einer Arbeit über 
Hämophilie verwertet worden ist. Dort ist auch sein Stammbaum ver- 
öffentlicht. Bei ihm bestehen die für Hämophilie charakteristischen 
Erblichkeitsverhältnisse. In der Familie der Mutter sind eine 
größere Anzahl von Blutern; ein Onkel von ihr und drei ihrer Brüder 
sind an Hämophilie gestorben. Der Patient leidet seit frühester Jugend 
an häufigen z. T. lebensbedrohenden Blutungen. Schleimhaut- und Ge- 
lenkblutungen stehen im Vordergrunde, aber auch Hautblutungen kamen 
häufig vor, ebenfalls mehrmals Blutungen innerer Organe. Die Ein- 
lieferung in die Klinik erfolgte wegen’ blutigen Erbrechens. Die 
Blutungszeit war normal, die Blutplättchenzahl leicht erhöht (384000), 
die Gerinnungszeit stark verlängert. Sie betrug 3 Stunden, 
gemessen nach der Uhrschälchenmethode. Im Salzplasmaversuch nach 
Wooldridge war nach 24 Stunden noch keine Gerinnung erfolgt 
(normal nach zwei Stunden). Die Kapillaren nun verhielten sich in 
diesem Fall normal, d. h. sie verschwanden auf die Verletzung hin und 
blieben verschwunden. Der zweite Fall betrifft einen 3!/, jährigen Jungen 


328 v. BERNUTH 


Walther J. Auch bei ihm besteht hereditäre Belastung. 
Zwei Brüder der Mutter sind an Hämophilie gestorben. Auch er bat 
des öfteren starke Blutungen gehabt, wenn auch nicht so häufig wie der 
vorige Patient. Die Einlieferung in die Klinik erfolgte wegen einer 
meningealen Blutung im Anschluß an einen Fall auf den Kopf. Die 
Blutungszeit war normal, die Plättchenzahl ebenfalls (336 000), die Ge- 
rinnungszeit betrug 27!/, Minuten, war also verlängert. Auch 
in diesem Fall verhielten sich die Kapillaren beim Anschneiden normal. 

Nun sind ja auch bei der Hämophilie spontane Remissionen 
in der Blutungstendenz bekannt. Man könnte daher vielleicht 
glauben, daß die beiden Patienten sich bei der Kapillarunter- 
suchung in einer Zeit herabgesetzter Blutungstendenz befunden 
hätten, und daß deshalb die Kapillaren normal reagierten. Für 
den ersten der beiden Fälle können wir das mit aller Bestimmt- 
heit verneinen, denn während seines Aufenthaltes in der Klinik 
traten immer wieder neue spontane Blutungen auf. Wir müssen 
daher annehmen, daß die Kapillaren bei der Hämophbilie 
auf eine Verletzung hin sich in normaler Weise kon- 
trahieren. Damit haben wir einen grundlegenden Unterschied 
gefunden zu den beiden zuerst untersuchten Fällen. Soweit aus 
zwei Fällen überhaupt ein Schluß gezogen werden kann, glauben 
wir daher zu der Annahme berechtigt zu sein, daß wir es hier 
mit zwei verschiedenen Krankheitsbildern zu tun haben. Wir 
haben einerseits die echte Hämophilie, bei der die 
Kapillaren sich normal verhalten, d. h. beim Anschneiden 
verschwinden. Ob gar keine Kapillarveränderungen vorliegen, 
kann man vorläufig nicht entscheiden. Jedenfalls aber lassen sich 
mit der angewendeten Methodik keine Veränderungen nachweisen. 
Von der echten Hämophilie abzutrennen ist eine 
andere Gruppe, die durch ein paradoxes Verhalten 
der Kapillaren charakterisiert ist. Hierbei fehlt den 
Kapillaren die Fähigkeit, sich auf eine Verletzung 
hin zu kontrahieren. Mit zunehmendem Alter scheint sich 
diese mangelhafte Kapillarfunktion zu bessern. Vielleicht wird 
man mit der Zeit auch noch weitere klinische Unterscheidungs- 
merkmale auffinden. Möglicherweise ist das Fehlen der Heredität 
bei der einen Gruppe schon als ein solches zu werten. 

Ich habe früher schon über Kapillaruntersuchungen bei einem 
Patienten mit Werlhof’scher Krankheit (essentielle Thrombo- 
penie) berichten können. Ich konnte feststellen, daß die Kapil- 
laren sich dabei normal verhielten. Denselben Befund 
habe ich inzwischen bei einem Fall von symptomatischer thrombo- 


Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie usw. 329 


penischer Purpura auf der Grundlage einer aplastischen Anämie 
erheben können, 

Der 11jährige Junge war früher immer gesund gewesen, Seit 
4 Monaten fiel den Eltern eine immer zunehmende Blässe auf. Seit 
derselben Zeit litt der Patient an häufigen Nasen- und Zahnfleischblutungen, 
die sehr stark und von langer Dauer waren. Es bestand eine hoch- 
gradige Anämie (Erythrocyten 1060000—720000, Hämoglobin (A uten- 
rieth) 28—18°/,, Leukocyten 3000—1425) ohne Regenerationsformen. 
Die Gerinnungszeit war normal. Die Plättchenzahl war äußerst herab- 
gesetzt, auf 8600—2160. Die Blutungszeit war verlängert, sie betrug 
30 Minuten. Der Rumpel-Leede’sche Stauungsversuch fiel positiv 
aus. Die Kapillaren verschwanden auf das Anschneiden und blieben 
verschwunden. 


Eigentlich ist es verwunderlich, daß bei der Werlhof’schen 
Krankheit, bei der man schon allein auf Grund des positiven 
Rumpel-Leede’schen Phänomens eine Gefäßschädigung an- 
nelimen muß, die Kapillaren normal reagieren. Es ist jedoch an- 
zunehmen, daß doch irgendwelche Gefäßveränderungen bestehen, 
die sich mit dieser Methode nicht nachweisen lassen. Bemerkens- 
wert ist, daß sich kein Zusammenhang zwischen Rumpel- 
Leede’schen Phänomen und der Reaktion verletzter Kapillaren 
feststellen läßt. 

Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung läßt sich kurz 
folgendermaßen zusammenfassen: Bei der von Magnus eingeführten 
Methode des Anschneidens von Kapillaren mit Hilfe des Mikro- 
manipulators verschwinden die Kapillaren normalerweise. Ebenso 
verschwinden sie bei echter Hämophilie.e. Von der Hämophilie 
abzutrennen sind andere Fälle, die zwar klinisch und im Blut- 
befund (verlängerte Gerinnungszeit bei normaler oder vermehrter 
Plättchenzahl und normaler Blutungszeit) große Ähnlichkeit mit 
ihr haben, bei der die Kapillaren aber paradox reagieren. Wenn 
überhaupt aus den wenigen Fällen Schlüsse erlaubt sind, so kann 
man annehmen, daß bisher unter dem Namen Hämophilie ver- 
schiedene Krankheitsbilder zusammengefaßt worden sind. Die ab- 
weichenden Fälle unterscheiden sich von der echten Hämophilie 
dadurch, daß die Kapillaren auf eine Verletzung hin offen und 
durchströmt bleiben, und daß — vielleicht — die Erblichkeit fehlt. 
Es müssen noch weitere Beobachtungen abgewartet werden, ehe 
man mit Sicherheit entscheiden kann, ob das, was wir bisher mit 
Hämophilie bezeichnet haben, ein einheitliches Krankheitsbild ist 
oder nicht. Ich glaube, daß die Kapillarmikroskopie uns darin 
weiter bringen wird und daß wir in ihr ein Mittel in der Hand 


330 v. BERNUTH, Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie usw. 


haben, um die noch immer nicht ganz .befriedigende Einteilung 
der hämorrhagischen Diathesen, vor allem bei den Grenzfällen, 
zu fördern. | 

Bei der Werlhof' schen Krankheit verhalten sich die Kapil- 
laren normal. 

Es ist beabsichtigt, die Untersnchnneen fortzusetzen, besonders 
auch an den anderen hämorrhagischen Diathesen, der Schönlein- 
Henoch’schen Purpura und dem Skorbut. Bei diesen beiden 
Blutungsübeln . müssen Gefäßveränderungen angenommen werden 
und es wird daher von. besonderem Auleresse sein, bei ihnen die 
Kapillarfunktion zu prüfen. 


Literatur. 


1. Schultz Pachöpänise und Therapie von Blutungen bei binon nasien 
Diathesen. Klin. Wochenschr. 1922, S. 2002. — 2 Stegemann, Experimentelle 
Beobachtungen über den Vorgang der selbsttätigen Blutstillung. Klin. Wochen- 
schr. 1924, S. 1163. — 3. Ders., Zur Kritik der gegenwärtigen Anschauung von 
der überragenden Bedeutun der Blutgerinnun für den Blutungsstillstand. Dtsch. 
Zeitschr. f. Chirurg. 1925, 188 S. 313. — 4. Herzog, Die Rolle der Kapillaren 
bei der. Blutstillung. Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. 1925, 207, S. 476. — 
5. Magnus, Uber den Vorgang der Blutstillung. Arch. f. klin. Chirurg. 1923 
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krampf und n Arch. f. klin. Chirurg. 1924, 130, S. 237. — 
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Wochenschr. 925, S. 1301. — 8. Ders., Beiträge zur Physiologie der mensch- 
lichen Kapillaren. Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. 1925, 46, S. 519. — 9. v. Ber- 
nuth, Uber das Verhalten von Kapillaren’ bei Blutungsübeln. Klin. Wochenschr. 
1925,. S. 830. .— 10. Ders., Über das Verhalten von Kapillaren bei Blutungzübeln. 
insbesondere bei der Hämophilie. Arch. f. Kinderheilk. 1925, 76, S. 54. — 
11. Wooldridge, zit. nach Glanzmann, Beiträge zur Kenntnis der Purpura 
im Kindesalter. Jahrb. f. Kinderheilk. 1916, 83, 5. 271. — 12. Ricker, Uber die 
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13. Krogh, Anatomie und Physiologie der Kapillaren. J. Springer, Berlin 1924. 
— 14. Ebbecke, Kapillarerweiterung, Urtikaria und Schock. Klin. Wochenschr. 
1923, S. 1341. — 15. Opitz u. Zweig, Die Hämophilie kein örtliches Gerinnungs- 
a sondern eine universellere konstitutionelle Frage. Jahrb. f. Kinderhtrilk. 

1924, 107, S. 158. f 


331 


_ Aus der Medizinischen Universitäts-Klinik Frankfurt a. Main. 
(Direktor: Professor Dr. G. v. Bergmaun)) 


Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks 
und ihre theoretische Begründung. 


3 Von 


Karl Westphal, 


Privatdozent und Oberarzt der Klinik, 


und 


Robert Blum, 


"früherer Assistent des städtischen Krankenhauses Sandhof, Frankfurt a. Maim: 


(Mit 5 Kurven.) 


-` Die Annahme, daß dem Cholesterin in der Reihe der zum 
genuinen arteriellen Hochdruck führenden Bedingungen eine be- 
sondere Bedeutung als tonpgener Substanz für die glatte 
Muskulatur der Arterien und Arteriolen zukomme, wurde 
die Veranlassung zu dem Versuch, durch Rhodansalze eine intensive 
Senkung des pathologisch gesteigerten Blutdrucks herbeizuführen. 
Über die ersten solcher Anschauung entsprechenden Beobachtungen 
konnte bereits kurz vor zwei Jahren berichtet werden. Die in- 
zwischen an einem großen Krankenmaterial durchgeführten Beob- 
achtungen gestatten jetzt eine bessere Beurteilung der ‚Frage, wie- 
weit das SCN auch wirklich eine Bedeutung in der. ärztlichen 
Therapie dieser Krankheit beanspruchen kann. , 

Als wesentlichstes Moment für die Entwicklung einèr ächernden Er- 
ħöhung des arteriellen Blutdruckes müssen wir-die Verengerung der 
arteriellen Strombahn besonders im Gebiet ihrer kleinen und kleinsten 
Gefäße ansehen. Die Verengerung kann nicht überwiegend anatomischer 
Art sein, zu große Gefäßgebiete, z. B. der quergestreiften Muskulatur 
und Haut bleiben meist von arteriolo-sklerotischen Prozessen frei, ein 
dauernd mehr oder minder verstärkter Kontraktionszustand der glatten 


Muskulatur der kleinsten Arterien und Arteriolen ist als das Ausschlag- 
gebende anzusehen. Wir sprechen bei diesem Zustand nach dem Vor- 


332 Westpaau u. BLUM 


gang von Pal besser nicht von einem Spasmus sondern von einer ver- 
änderten Tonuseinstellung, einer tonogenen Sperrung im Sinne der Physio- 
logen Grützner und Üxküll. Ein einfacher Versuch, eine Minute 
lang Abschnürung des Oberarms mit der Blutdruckmanschette, zeigt be- 
sonders charakteristisch bei der Betrachtung mit dem Kapillarmikroskop 
diese Neigung zur pathologischen Sperrung der Muskulatur der Arteriolen. 
Anstatt reaktiver byperämischer Erweiterung der Kapillaren sieht man 
beim Hypertoniker bis zu 20 Minuten anhaltend Verschwinden und hech- 
gradige Verengerung infolge mangelnder Erweiterungsfähigkeit der nach 
der Abschnürung engkontrahierten Arteriolen. Diese und ebenso die 
folgenden Mitteilungen über die Bedeutung des Cholesterins sind bereits an 
anderer Stelle mit ausführlicher Berücksichtigung der Literatur von dem 
einen von uns (W.) publiziert. Untersuchungen von O. Müller und 
Hübener sowie von Lange aus der Romberg’schen Klinik führen zu 
ähnlicher Auffassung auf Grund kapillarmikroskopischer Beobachtungen. 


Eine solche abnorme tonogene Sperrung der Muskulatur der Arte- 
riolen und Arterien kann theoretisch auf verschiedenen Wegen verursacht 
sein, erstens durch geänderte nervöse Steuerung: zentral vom Vaso- 
motorenzentrum aus oder peripher durch Eigenreflex des Gefäßsystems, 
zweitens humoral durch abnorme innersekretorische Beeinflussung oder 
durch andere Zustandsänderungen in der umgebenden Gewebsflüssigkeit 
und drittens durch Anderung der Struktur der glatten Muskelfasern der 
Gefäße selbst in ihrem sogenannten Substanztonus (Schulz). Dem Bei- 
spiel von O. Loewi’s grundlegenden Feststellungen am Herzen und 
anderen Untersuchungen der modernen Physiologie können wir allerdings 
entnehmen, daß nervöse und humorale Steuerung im Endeffekt an dem 
Erfolgsorgan sich oft nicht grundlegend unterscheiden, daß sie beide, 
teils durch chemisch stofflliche Veränderungen in der Bildung von 
örtlichen Reizstoffen, teils in physiko-chemischen Zustandsvariationen, 
Jonenverschiebungen, , Umänderungen der Kolloidteilchen und ihres 
Quellungszustandes, Anderung der Zellwandpermesbilität und dergleichen 
bestehen und daß so auch Einwirkungen auf den Substanztonus selbst 
in verschiedener Form hervorgerufen werden können. 


Aber aus Gründen praktischer Forschung am Krankenbett werden 
wir einem gewissen Schematisierungsbedürfnis nicht ausweichen und daher 
auch nicht dem Versuch, durch Gruppierung faßbarer Bedingungen in der 
noch völlig unklaren Genese dieser Krankheit weiter zu kommen. 


Für die eigenen Untersuchungen über das Zustandekommen der 
genuinen Hypertension wurde nun besonders die Frage geprüft, wie weit 
kommen humoral wirkende, peripher an der Gefäßmuskulatur und 
ihrem Substanztonus angreifende Stoffe für die Entstehung des Hoch- 
drucks in Betracht? Ausgangspunkt waren die interessanten Fest- 
stellungen der pathologischen Anatomen, daß unter den gleichen Be- 
dingungen, die im Tierexperiment zu atheromatösen Veränderungen 
der Gefäße führen, auch arterielle Blutdruckerhöhung stattfindet: von 
van Leersum, Fahr, am exaktesten durchgeführt von M.Schmidt- 
mann. Die von diesem Autor gefundene Tatsache, daß Cholesterin- 
fütterung bei vielen, nicht allen Kaninchen, wochen- und monatelang 


Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 333 


oft schwankende Blutdruckerhöhung hervorruft, konnte in eigenen Nach- 
untersuchungen bestätigt werden. Gleichzeitig mit der Blutdruckerhöhung 
fand sich dabei eine Vermehrung des Cholesterins im Serum. Dieses 
Lipoid wirkt nach gemeinsam mit F. Herrmann durchgeführten Ver- 
suchen von W. am isolierten Arterienstreifen als Sensibilisator für gefäß- 
kontrahierende Substanzen wie Adrenalin und Sauerstoff. Bei dem Ver- 
such der Übertragung dieser Feststellung auf das Krankheitsbild der 
genuinen Hypertension zeigte sich, daß hier in etwa 75°/, im Durch- 
schnitt eine meist recht ausgesprochene Hypercholesterinämie besteht. 

An dem Haupteinwand, der gegen die engen Beziehungen 
zwischen Cholesterinanreicherung im Organismus und arteriellem 
Hochdruck erhoben werden kann, nämlich daß es Zustände gibt, 
bei denen keine Blutdruckerhöhung vorhanden ist trotz hochgradiger 
Hypercholesterinämie, wie bei der Nephrose, Gravidität, Leber- 
erkrankungen und schwerem jugendlichen Diabetes; ersieht man die 
Kompliziertheit des vorliegenden Problems. Sie ist u. E. bedingt 
durch die enge Verknüpfung der Einwirkung des Cholesterins auf 
die Arterienwand mit dem physiko-chemischen Zustand im gesamten 
Organismus. Die hochgradige Umstellung der Eiweißkörper im 
Blute nach der Fibrinogen- und Globulinseite bei der Nephrose 
und Gravidität gibt uns hier z. T. im Einverständnis mit Munk, 
Kollert, Rusznyak Ausdruck von der völlig anderen Ein- 
stellung des Kolloidzustandes nicht bloß im Blut sondern auch im 
gesamten Körper, die den im Experiment festgestellten Cholesterin- 
effekt auf die Gefäßwand verhindert. Die flüchtigen Hypercho- 
lesterinämien bei vielen akuten und chronischen Leberschädigungen, 
auch im Anschluß an Gallensteinattacken, finden mit ihrer gleich- 
zeitigen Retention von Gallensäuren im Körper und anderen durch 
die Dysfunktion der Leber bedingten Stoffwechselstörungen ebenso 
wie die Blutcholesterinanreicherung bei schwerem zu Acidose und 
Coma neigendem jugendlichen Diabetes ebenfalls statt bei einem 
völlig anderen chemisch und physikalisch-chemischen Geschehen im 
Organismus wie die Dauerhypercholesterinämie beim Hypertoniker. 
Auf Einzelheiten soll hier nicht weiter eingegangen werden, auch 
nicht auf die anderen entscheidenden Unterschiede zur Lipoid- 
nephrose, wie z. B. auf das Absinken des Cholesterinspiegels zur 
Norm bei starker Wasserausscheidung der Nephrose. Uns erscheint 
die Entstehung der Hypercholesterinämie bei der genuinen Hyper- 
tension und bei der Nephrose aus völlig entgegengesetzten Gründen 
zu erfolgen, bei der Hypertension durch eine dauernd verstärkte 
Retention im Körper: Leber- und Hautfunktion, innersekretorische 
Steuerung, sowie physikalisch-chemische Bindungsverhältnisse werden 


334 WESTPHAL u. BLUM 


'hier für das Entscheidende gehalten, bei der Nephrose im Gegenteil 
durch eine Lockerung der Lipoide aus sämtlichen Zellmembranen, 
dadurch verstärktem Erscheinen im. Blut sowie Infiltration der 
Nierenepithelien. 

Es ist eben ein bestimmter Komplex von Bedingungen zur Ent- 
wicklung des dauernd erhöhten Blutdruckes auch bei Hypercho- 
lesterinämie notwendig, von nervöser Vasomotorensteuerung, inner- 
sekretorischer Beeinflussung der Gefäßmuskulatur — Nebenniere 
und Hypophyse seien da genannt als die bisher gesicherten — und 
allzgemeinem Kolloidzustand der Eiweißkörper des Organismus. Als 
wichtig wird ferner eine.nicht zu hochgradig veränderte Einstellung 
des normalen Verhältnisses von Albumin, Globulin und Fibrinogen 
“angesehen, bei hochgradiger Globulinvermehrung, z. B. beim Fieber 
sinkt auch der erhöhte Blutdruck oft ab, um später bei der Rückkehr 
zum normalen Albumingehalt wieder anzusteigen. Schließlich wird 
ebenso das gesamte ionale Milieu stark mitentscheidend sein bei 
seiner weitgehenden Beeinflussung jeder Körperzelle auge auch der 
glatten Muskelfaser. 

Für die Entstehung der zum Hypertonus führenden Hspercholesterin- 
ämie ist wohl oft endokrine Steuerung mit ausschlaggebend, am ge- 
sichertsten ist dies von der Keimdrüse, ibre Entfernung sowie das Zu- 
rücktreten ihrer Funktion im Klimakterium führt zur Hypercholesterin- 
ämie und oft zum Hypertonus, eine Subfunktion der Thyreoidea scheint 
in ähnlicher Richtung wirksam sein zu können. 

Bei der sekundären Schrumpfniere und bei der akuten Glomerulo- 
nephritis spielt eine Cholesterinanreicherung im Blut keine Rolle. Auch 
für die Entstehung besonders früh entwickelter genuiner Schrumpfnieren 
wird das Cholesterin keineswegs als einziger ursächlicher Faktor ange- 
sehen, die Mitwirkung anderer Stoffe, von Eiweißabbauprodukten, biogenen 
Aminen usw. soll da keineswegs ausgeschlossen sein, doch dieser bisher 
mit einer gewissen Sicherheit allein faßbare Faktor bei der Entwicklung 
von genuiner Blutdruckerhöhung, die Vermehrung an Cholesterin, solite 
vorerst in den Vordergrund der Betrachtung geschoben werden. 

Wie könnte man sich den feineren Mechanismus erhöhten 
Cholesterinangebotes auf die glatten Muskelfasern der kleinen und 
kleinsten Arterien vorstellen? Es können da vorläufig nur Hypo- 
thesen geäußert werden. Das hydrophobe Cholesterin als nicht 
wasserlösliche Substanz spielt nach unseren allgemeinen An- 
schauungen für die Bildung der aus Lipoiden und Eiweißkörpern 
aufgebauten Zellmembran eine wichtige Rolle, ein erhöhtes Angebot 
dieses Stoffes wird nicht bloß an Blutkörperchen (Brinkmann u. 
van Dam) und künstlichen Membranen (Pascuceci) zu erhöhter 
Abdichtung führen, sondern auch an den Muskelfasergrenzschichten 


Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 335 


der glatten Muskelfasern der Arterien. Eine solche Membranüber- 
dichtung könnte in irgendwelcher Beziehung zum Kontraktionsakt 
selbst stehen — am quergestreiften Muskel des Kaninchens haben 
die weißen, schnell zuckenden und schnell ermüdenden Muskeln einen 
viel geringeren Gehalt an Cholesterin als die roten, zu langsamerer 
Zuckung aber auch zu stärkerer Dauerleistung befähigten Muskeln 
(Embden und Lawascek, Behrendt) — und sie könnte zweitens 
nach eingetretener Kontraktion die entsprechend den Feststellungen 
von Meixs mit Wasser- und loneneintritt einhergehende Wieder- 
ausdehnung der glatten Muskelfasern der kleinen Arterien hemmen. 
Eine dauernde Entquellungsverkürzung derselben wäre bei solcher 
Vorstellung die für die Entstehung des Dauerhochdruckes ent- 
scheidende Veränderung an ihrem Substanztonus. Sehen wir die 
abdichtende Wirkung des Cholesterins als das Wesentliche seiner 
Einwirkung an, so muß ein entgegengesetzt wirkender Effekt mit 
starker Auflockerung, Permeabilitätssteigerung der Muskelfaser- 
grenzflächen auch einen entgegengesetzten Effekt auf den erhöhten 
Blutdruck ausüben, Erweiterung der kleinsten Arterien und Blut- 
drucksenkung. Aus dieser Überlegung wurde das Rhodan gewählt, 
da die dauernde Zufuhr großer so wirksamer Mengen von Lecithin, 
diesem dem Cholesterin in vielem antagonistisch wirkenden Lipoid, 
praktisch nicht möglich erschien. 

Rhodan (SCN) steht in der nach ihrem Entdecker Hofmeister 
benannten lyotropen Reihe der Anionen auf dem äußersten 
Flügel der auf Scheiben von Gelatinegallerte am stärksten quellend 
wirkenden Substanzen neben dem Jod, im Gegensatz zu dem oberhalb 
einer gewissen Konzentration stark entquellenden und schrumpfen- 
lassenden Sulfat, Tartrat usw. Die Anionen ordnen sich dabei in 
ihrer Quellungsfähigkeit in folgender Weise: SO, < Tartrat < Citrat 
< Acetat < Chlor < Brom NO, < Jod < Rhodan. Weniger deut- 
lich sind die Unterschiede bei den Kationen. Von der Anionenreihe 
wird in ähnlicher Weise beeinflußt die Erstarrungszeit von Gelatine, 
der osmotische Druck der Eieralbumine, und was für biologische 
Verhältnisse am wichtigsten erscheint, auch die Löslichkeit von 
Hühnereiweiß und Lecithin (Hofmeister, Höber, Porges und 
Neubauer, Pauli). Der rechte Flügel der Anionenreihe am 
stärksten SCN, weniger ausgesprochen Jod fällen sehr oft nicht nur 
nicht, sondern rufen sogar eine Aufhellung der Lösung hervor. 
Die Quellung und auflösende Wirkung des Rhodans und Jod ist 
nur in alkalischer und meist in neutraler Lösung vorhanden, in 
sauerer tritt ein umgekehrter Effekt der Iyotropen Reihe ein (Pauli, 


336 WestpHuaL u. BLUM 


Höber). Auch am lebenden Objekt sind gleichsinnige, meist der 
Wirkung und alkalischem Milieu entsprechende Beeinflussungen 
durch die Anionenreihe oftmals gezeigt. 

Die Hämolyse der Erythrocyten verschiedenster Tierarten erfolgt in 
schwach hypotonischer Salzlösung zeitlich entsprechend der Hofmeister- 
schen Anionreihe (Höber). Die pigmentierten Eizellen des Seeigels Arbacia 
zeigen Pigmentaustritt mit steigender Geschwindigkeit bei Variationen 
der Anionen in der gleichen Reihenfolge, die parthenogenetische Ent- 
wicklung findet in gleicher Folge am stärksten und schnellsten statt 
(Lillie). Bei Protozoen (Paramaecium) findet bei Rhodankali eine 
starke Vermehrung und Zellteilung statt mit Schwellung des Körpers ganz 
im Gegensatz z. B. zu CaCl, (Spek). An der Pigmentierung der 
Fischschuppen eines Teleostiers konnte Späth die Wirkung der 
lyotropen Anionenreihe an den im steigendem Maße expandierten 
Melanophoren direkt ablesen. Flimmerepithelien verschiedener Art 
(Weinland, Höber, Lillie) werden in ihrer Bewegung am 
schnellsten gelähmt, ja sogar bei den bewimperten Larven von Arenicolar 
zur Auflösung gebracht durch den Jodflügel der Anionenreihe, Spermatozoen 
in ähnlicher Weise geschädigt (Gellhorn). Turgormessungen an Pflanzen- 
zellen (Tröndle, Kahko) zeigten ebenfalls schön den gleichen 
quellenden Einfluß dieses Teils der Anionen. 


Alle diese Beobachtungen rechtfertigen den Standpunkt, daß 
auch am lebenden Objekt die Wirkung der Salze in einer Kolloid- 
zustandsänderung zu erblicken ist. In ähnlicher Weise wie 
Traube’sche Niederschlagsmembranen nach Walden für Chlor, 
Brom, Jod und Rhodanionen im allgemeinen durchlässig sind, 
während sie für Phosphate, Sulfate undurchlässig sind, können wir 
uns auch an den nach unserer begründeten Annahme nicht nur aus 
Lipoiden, Cholesterin und Lecithin sondern auch Eiweißkörpern 
bestehenden Plasmahäuten unter dem Einfluß des Rhodans 
am stärksten, unter den benachbarten Ionen weniger stark Auf- 
lockerung, Quellung und Permeabilitätssteigerung 
vorstellen. Sekundär werden die Salze dann auch im Zellinnern 
ihre Wirkungen auf die Kolloide ausüben können, als Effekt sehen 
wir dementsprechend die Hämolyse, den Pigmentaustritt, die Auf- 
quellung der Flimmerepithelien und Pflanzenzellen an dieser im 
wesentlichen aus dem Höber’schen Buche gewonnenen Zusammen- 
stellung. 

Auch am quergestreiften Muskel erweist die Hofmeister'sche 
Anionenreihe eine ausgesprochene Wirkung: Schwarz zeigte, daß die 
in Rohrzuckerlösung gelähmten Froschmuskeln durch Zusatz der Natrium- 
salze der Hofmeister’schen Reihe in niedriger Konzentration durch 


Rhodan und Jod am besten, schwächer durch Brom, Nitrat und Chlorid 
wieder erregbar gemacht werden konnten. In enger Beziehung zu dem 


Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 337 


starken Kontraktionseffekt des Rhodans und Jod stehen Feststellungen 
aus dem Embden’schen Institut (Embden und Lenhartz, Lange 
und Mayer), welche die stärkste Phosphorsäureabspaltung aus dem 
Lactacidogen unter dem Einfluß dieser beiden stark quellungsbegün- 
stigenden und permeabilitätssteigernden Ionen beobachteten im Gegensatz 
zur Sulfat- und Tartratwirkung und den sogar Lactacidogensynthese herbei- 
führenden Citrat und Fluorid. Physikochemisches und chemisches Ge- 
schehen erscheinen dabei am quergestreiften Muskel eng gepaart. 

In dieser, oft stärker wie beim Jod ausgeprägten kolloid- 
quellenden Wirkung des Rhodans und seiner Permeabilitätssteigerung 
an den Zellgrenzflächen wurde die gesuchte entgegengesetzte Wir- 
kung zum Cholesterineffekt gesehen. Daher erfolgte seine An- 
wendung zur Senkung des Blutdruckes. Die Wirkung am Kranken 
entsprach der Erwartung. Es erfolgten große und ausgesprochene 
Blutdrucksenkungen von 40—80 mm Hg. Nach der ersten Mit- 
teilung darüber machte Volhard in einer Besprechung darauf 
aufmerksam, daß bereits von Pauli und Pal Ähnliches über der 
Rhodanwirkung berichtet sei. Bei der dann vorgenommenen Durch- 
sicht der Literatur fand sich, daß Pauli bereits 1903, ebenfalls 
ausgehend von seinen eigenen Untersuchungen über die Wirkung 
der Anionenreihe an den Eiweißkörpern an Stelle des Jod Rhodan 
angewandt und seine stark blutdrucksenkende Wirkung konstatiert 
hat. Bestätigungen dieser Wirkung liegen von Pal und Dalmady 
vor. Seitdem ist jedoch die Rhodananwendung wieder so aus der 
ärztlichen Therapie und dem Wissen verschwunden, daß sie auf 
dem Kongreß für innere Medizin in Wien 1923 mit dem Haupt- 
thema „Arterieller Hochdruck“ keine Erwähnung fand. Dieses 
Verschwinden aus der allgemeinen ärztlichen Verwendung kann 
an den unangenehmen Nebenwirkungen der größeren von Pauli 
und Pal angewandten Dosierung liegen. 

Die hier vorliegenden Untersuchungen über die Einwirkung 
des Rlıodans auf den Blutdruck wurden stets mittels Dauerkurven 
desselben durchgeführt, die gewonnen waren mittels 1—2mal täg- 
licher Bestimmung nach dem Vorgange von Fahrenkamp, 
Kylin, F. Kauffmann. Es wurde vor Anwendung des Mittels 
mindestens 10—14 Tage lang der Blutdruck gemessen, um die 
spontan bei Bettruhe und auch manchmal bei Dekompensierten in- 
folge Besserung der Kreislaufverhältnisse — Sahli’s Hochdruck- 
stauung — eintretende Blutdrucksenkung nicht für eine rhodan- 
bedingte zu halten. Oft war die Zeit des Vorversuchs länger 
ausgedehnt, vor allem bei den durch den einen von uns (B.) unter- 
suchten Fällen aus dem Material des Krankenhauses Sandhof, die 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 22 


338 WestpHAL u. BLUM 


wir mit gütiger Erlaubnis des Herrn Professor Alwens dieser Be- 
handlung unterziehen konnten. | 

Die erste Serie von Kranken wurde mit größeren 
Rhodandosen behandelt, die Menge betrug, nachdem wir an 
dem ersten, hiermit beeinflußten Patienten nach 3tägiger Behand- 
lung mit je 3g Rhodankali neben dem Absturz des erhöhten Blut- 
drucks toxische Erscheinungen gesehen hatten, 3mal täglich 0,5 g. 
Diese Menge wurde 8—12 Tage lang gegeben. Bei 12 so be- 
handelten Patienten wurde nur dreimal eine ausgesprochene Blut- 
drucksenkung vermißt, sie betrug im Durchschnitt 40—50 mm Hg 
und trat etwa am 6.—10. Tage der Behandlung ein. Die Kranken 
waren zum großen Teil Patienten mit überstandenen Apoplexien, 
solche mit sekundärer Schrumpfniere oder ausgesprochen schwerer, 
maligner Form der genuinen Schrumpfniere befanden sich nicht 
darunter. Bei den mit subjektiven Beschwerden Behafteten trat 
oft eine weitgehende Besserung derselben auf, aber an deren Stelle 
traten häufig so unangenehme und schwere Nebenerschei- 
nungen, daß diese Art der Dosierung bald verlassen werden 
mußte. 


Es mag vielleicht an der Art der meisten so behandelten Kranken 
liegen, daß wir, im Gegensatz zu Pal, der 1—3 g Rhodansalz, und zu 
Pauli, der 1 g täglich gab, die Schädigungen so häufig und stark aus- 
geprägt sahen. Während Pauli z. B. nur ähnlich wie beim Jodismus 
von Rhodanschnupfen und Akne zu berichten weiß, wurde hier in viel 
stärkerem Maße eine Steigerung der Entzündungsbereitschaft an ver- 
schiedenen Organen gesehen. Dreimal trat, allerdings stets bei den dazu 
stärker disponierten Apoplexiekranken, eine Bronchopneumonie auf, bei 
zweien von ihnen mehrere, 6 und 10 Tage nach dem Absetzen des 
Mittels, wir werden später an dem Blutrhodangehalt sehen, daß hier trotz- 
dem ein Zusammenhang anzunehmen ist, einmal trat eine Laryngitis auf 
und einmal eine Angina, sowie gleichzeitig Konjunktivalblutungen, nicht 
durch einen lokalisierten und erkennbaren Prozeß bedingten Fieberanstieg 
auf 38,2 sahen wir bei einem Kranken — es sei an Höber’s Auf- 
fassung von Kochsalzfieber erinnert — und schließlich trat einmal ein 
Rhodanexanthem auf. 

Bei 4 Kranken bemerkten wir psychische Störungen, bei zweien 
waren sie geringen Grades, leichte kurzdauernde Verwirrtheitszustände 
verbunden mit einer gewissen Apathie im Verlaufe von 1—2 Tagen, bei 
den beiden anderen trat 2—3 Tage lang anhaltend ein psychoseartiger 
Zustand auf mit völliger Desorientiertheit, Visionen von Verwandten, 
Angstzuständen, der dann ohne irgendwelche Folgeerscheinungen ver- 
schwand. Volhard berichtet auch von solcher Rhodanwirkung. Endlich 
klagten 3 Patienten nach der schnellen Senkung des Blutdrucks etwa 
von 200 auf 125 bis 140 mm Hg über allgemeine Mattigkeit, leichte 
Übelkeit, ein flüchtiger Kollaps trat einmal ein, die muskuläre Schwäche 


Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 339 


war nicht bloß subjektiv vorhanden, sondern auch mit dem Dynamometer 
als stark ausgeprägt erkennbar. 
Diese Steigerung der Entzündungsbereitschaft, die hochgradige 
Schwäche der quergestreiften Muskulatur und die Neigung zu 
Psychosen erschienen uns sämtlich als Ausdruck der in jeder Zelle, 
vielleicht an jedem Eiweißkörper des Organismus angreifenden 
Wirkung des Rhodans, sie gehen weit über das vom nahestehenden 
Jod als Intoxikationserscheinung Bekannte hinaus und sind aus 
theoretischen Gründen als Ausdruck einer starken Permeabilitäts- 
steigerung an vielen Organzellen, z.B. den Kapillaren (Entzändungs- 
bereitschaft) und vielleicht auch den Ganglienzellen des Großhirns 
(Psychose) für Fragen der allgemeinen Pathologie und der Psych: 
iatrie sehr interessant. Diese Beobachtungen werden daher in 
gewisser Richtung von uns weiter verfolgt. | 
Für das praktische Handeln am Krankenbett bedeutete jedoch 
diese Erfahrung die Forderung einer starken Verkleinerung der 
therapeutischen Dosis. Es wurde jetzt gewählt als mittlere 
Rhodandosis 3mal 0,2 g Rhodankalium oder -natrium 
täglich, manchmal wurde bei guter Verträglichkeit nach langer 
Durchführung der Therapie mit der Dosierung angestiegen, etwa 


239 
AR 


Hige kat hod. 
20 Ie -IrQs ijl 
70 K Blutdruch fally 
200 S ANGER we 
90 $ 
80 3 Bee a a E EE 
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750 2a -30 -- EEE U -- -- 385 
Bge] 2343678 9WNRBRBEITE ~- =+ =- 27.28 8801139 —— DOA g NIR II IW- + 


5 a Re : 133 tioi it mi ınd größeren 
Kurye 1. Blutdruckkurve bei 135 tägiger Behandlung mit mittleren und gröbe 
Dosen von Rhodannatrium (3 mal 0,2-- 0.4 täglich) bei Frau G. C., 59jährig. 


790 
3o j. 
70 
60 
J0 \ : 
20 | 
u Praemar grip 


Akku am 
Tage 2345- -- -TOM- --15- == 202 - --25- -- -30-- --25- ---40-- -45-.-- -30-- --35- -- -OQAR 


Kurve 2. Blutdruckkurven unter 4wöchiger Behandlung mit mittleren Rhodan- 
kalidosen 3 mal 0,2 täglich bei Frau M. K., 63jährig. 
22* 


340 Westpruar u. BLUM 


bis 3mal 0,3 g. Es wurden 38 Patienten in dieser Weise 14 Tage 
bis 6 Monate lang behandelt. Die Beeinflussung ihres erhöhten 
Blutdrucks war dabei folgende: bei 19, also der Hälfte erfolgte 
eine ausgesprochene Senkung nach 8—10—20 Tagen, 30, meist 
40—60 mm Hg betragend, sie trat auffallenderweise manchmal 
erst nach Aussetzen der Rhodangaben ein, hielt im Durchschnitt 
4—6 Wochen an, um dann langsam wieder anzusteigen. Auch ein 
Kranker mit ursprünglich endokarditisch bedingter Aorteninsufficienz 
befindet sich unter den so Beeinflußten. Unter den Kranken mit 
geringer ausgeprägtem Effekt trat bei 9 eine Senkung um 10 bis 
20 mm ein, der Rest von 10 blieb in der Höhe des Blutdrucks 
unbeeinflußt. Rhodankalium machte wenige Male eine stärkere 
Senkung im Blutdruckniveau bei den gleichen Patienten als Rhodan- 
natrium, Kochsalzentziehung schien einigemal den vorher nicht so 
deutlichen Effekt der Rhodanwirkung zu beschleunigen. Zu den 
unbeeinflußten Fällen gehörten zum überwiegenden Teile die in 
unserem Krankenmaterial nicht so häufig vertretenen mit ausge- 
sprochener Funktionsstörung der Nieren. 


Unter ihnen waren 4 sekundäre Schrumpfnieren und 2 maligne 
genuine Schrumpfnieren. Bei einer dieser Kranken trat eine deutliche 
Blutdrucksenkung um 30 mm Hg ein, doch blieben ihre Angina pectoris- 
Beschwerden völlig unbeeinflußt. Auch bei den übrigen schwer Nieren- 
kranken blieben die Beschwerden, die Kopfschmerzen und leichte prä- 
urämische Erscheinungen weiter bestehen und außerdem zeigte sich 
selbst bei diesen kleineren Dosen eine starke Neigung zu Rhodan- 
intoxikationserscheinungen: Depressive Stimmung und Mattigkeit; eine 
wegen dauernder schwerer apoplektiformer Insulte mit stundenlanger Be- 
wußtlosigkeit mit 4mal 0,2 g 6 Tage lang behandelte Kranke wurde ge- 
bessert und klar, die Lähmungen schwanden größtenteils, dann setzte 
plötzlich eine 2 Tage lang anhaltende Rhodanpsychose ein. Ein 50jähriger 
Schneider mit sekundärer Schrumpfniere bekam nach 7 tägiger Behandlung 
mit 4mal 0,2 Rhodannatrium eine Angina, 9 Tage später eine Pneumonie, 
gleichzeitig bestand ein sehr hoher Rhodanspiegel im Blutserum und dem 
20 Tage nach Absetzen des Mittels festgestellten Pleursexsudat über 
der Pneumonie (vgl. Kurve 4). Wir werden später auf diese Frage 
näher eingehen. Auch ein hier nicht mitgezählter, mit 1 g Rhodan- 
natrium behandelter Kranker mit primärer genuiner Schrumpfniere und 
versagendem Kreislauf mit ausgedehnten Odemen wurde ebenso wie ein 
anderer Fall von jugendlicher maligner Schrumpfniere nicht beeinflußt. 
Nur an einer Patientin mit einer alten sekundären Schrumpfniere erlebten 
wir eine deutliche Blutdrucksenkung und Besserung ihrer Beschwerden, 
Im allgemeinen aber möchten wir wegen dieser Erfabrungen davon ab- 
raten, Kranke mit ausgesprochenem, leicht erkennbarem Versagen der 
Nieren und Krankheitserscheinungen derselben im Sediment, Rest N im 
Blute und bei Funktionsprüfung der Rhodantherapie zu unterziehen. 


Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 341 


Bei den übrigen Patienten, die sich zusammensetzten aus 
genuinen Hypertensionen ohne klinische Erscheinungen einer 
Nierenschädigung außer vielleicht einer leichten Einschränkung 
der Konzentrationsfähigkeit, und die in der Mehrzahl wohl als 
anatomischen Prozeß eine -leichte arteriosklerotische Schrumpfniere 
aufwiesen, sahen wir keine derartigen Intoxikationserscheinungen, 
bei ganz langer Durchführung der Therapie nur einmal am 
60. Tage ein Rhodanexanthem, das sofort durch eine Heliobrom- 
pinselung beseitigt werden konnte, einmal Rhodanschnupfen, zweimal 
nach 65 und 170 Tagen Magen-Darmerscheinungen mit Übelkeit 
und einmal auch Durchfällen, einmal eine Art von flüchtigem 
Quincke’schem Ödem und zweimal hörten wir Klagen über die 
Psyche nach wochenlanger Behandlung, einmal über leichte Auf- 
regung und einmal über leichte Depression. Alle diese leichten 
Beschwerden waren sofort nach Aussetzen des Mittels zu beseitigen, 
auch die geringe Müdigkeit, die sich bei einigen der Patienten (4) 
bemerkbar machte nach starker Senkung des Blutdrucks. 

Da besonders diese Müdigkeit den im subjektiven Befinden 
der Patienten sonst meist so eklatanten Erfolg in geringem Maße 
störte, wurde schließlich noch eine Therapie mit kleinen 
Rhodandosen verwandt. Es wurde 3 X< 0,1 g pro Tag gegeben, 
absteigend bis auf 10,1 und 0,05 g. Unter genauer klinischer 
Beobachtung wurden so behandelt 25 Kranke. Der Erfolg der 
Blutdrucksenkung war bei diesen so behandelten Patienten ein 
meist nur geringer, an den Blutdruckkurven sahen wir 4X eine 
Senkung um 30—50 mm Hg, bei 5 Kranken um 20 mm Hg; jedoch 
konnten wir öfter feststellen, daß die Stärke der Schwankungen 
des Bilutdrucks bedeutend nachließ (vgl. Kurve 5, auch 1—2). 
Gerade diese Schwankungen des Blutdrucks bei der genuinen 
Hypertonie sehen wir nach den Beobachtungen an der v. Berg- 
mann'schen Klinik hauptsächlich als Ursache der starken subjek- 
tiven Beschwerden und auch oft als Auslöser der angiospastischen 
Insulte des Gehirns an, über deren Bedeutung für die Entstehung 
der Apoplexie kürzlich der eine von uns (W.) eingehende Unter- 
suchungen veröftentlicht hat. 

Besonders durch dasZurücktreten dieser Blutdruckschwankungen 
und durch eine geringe arterielle Gefäßerweiterung in den für ischä- 
mische Zustände besonders empfindlichen Gebieten wie Hirn, Herz, 
Mittelohr usw. erklären wir uns den so günstigen, auch mit den 
kleinen Rhodandosen zu erzielenden Effekt. Bei 3 Patienten, die 
monatelang mit mittleren und kleinen Rhodandosen behandelt 


342 WESTPHAL u. BLUM 


wurden, war das subjektive Befinden unter den kleinen Dosen 
noch günstiger beeinflußt als mit den mittleren. Wir ziehen diese 
Art der Dosierung für die allgemeine Therapie daher im allge- 
meinen vor. Kopfschmerzen, manchmal in Form der Migräne, 
Schwindelanfälle, Schlaflosigkeit, Angina pectoris-Anfälle, Klagen 
über Herzklopfen und Druckgefühl in der Herzgegend, die Neigung 
zu angiospastischen Insulten des Gehirns, das Ohrensausen und die 
diffusen muskel-rheumatischen Beschwerden (Hochdruckrheumatis- 
mus) verschwinden sehr oft schon nach 3—4tägiger Behandlung, 
kurz, der gesamte für den mit dem Krankheitsbilde Erfahrenen so 
charakteristische Komplex der Beschwerden des arteriellen Hoch- 
druckes erfährt meist eine ausgezeichnete therapeutische Beein- 
flussung. Manchmal stellt sich während der Therapie eine Ab- 
blassung des Gesichtes des „roten“ Hypertonikers Volhards ein, 
wir halten diese Verengerung von kleinen Venen und venösen 
Schenkeln der Kapillaren für bedingt durch die Arteriolenerweite- 
rung, der spastischatonische Symptomenkomplex O. Müller’s wird 
in doppeltem Sinne günstig beeinflußt. 

Die Erfolge dieser an großem Krankenmaterial 
weiter durchgeführten Therapie mit den kleinen und 
mittleren Rhodandosen erschienen uns oft besser als mit 
der im allgemeinen bisher üblichen Behandlung mit Theobromin- 
präparaten, Jod, Nitriten, Fiebertherapie, Kalzium und Atropin. 
Vergleichsbehandlungen wurden öfter durchgeführt. Wegen 
dauernder Schwindelanfälle und Kopfschmerzen oder Angina pectoris- 
Beschwerden arbeitsunfähige Menschen wurden wieder arbeitsfähig. 
des öfteren von flüchtigen apoplektiformen Lähmungen und schweren 
Ohnmachtsanfällen Befallene blieben nun frei, wir sehen daher in 
einer konsequent durchgeführten Rhodantherapie auch eine gute 
Prophylaxe gegen den Eintritt der Apoplexie. Ganz auffallend 
besserten sich ebenfalls nach den an der Frankfurter Ohrenklinik 
von Herrn Kollegen Berberich erhobenen ausgedehnten Beobach- 
tungen die beim Hypertonus so häufigen Klagen über Ohrensausen 
und Schwerhörigkeit, Herr Dr. Berberich wird selbst darüber 
berichten. Die Dosierung wurde auch wegen der bei der Be- 
stimmung des Rhodangehalts im Blutserum gewonnenen Eindrücke 
in der letzten Zeit nach vielen Nachprüfungen an ambulant be- 
handelten Kranken als günstigste so gewählt, daß 3mal 0,1 g 
täglich in der ersten Woche, 2mal 0,1 g täglich in der zweiten 
Woche und 1 mal 0,1 g täglich in der dritten Woche gegeben wurde. 
dann 1 Woche nichts und anschließend gegebenenfalls wieder ein 


Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 343 


neuer Turnus in der gleichen Art von vier Wochen Dauer. 
Für monatelang durchgeführte Dauerkuren hat sich 0,1—0,05 g 
täglich auch oft gut bewährt. Irgendwelche störende Neben- 
erscheinungen traten bei diesen kleinen Rhodandosen nie auf. Das 
Medikament wird am besten nach dem Essen genommen, klagt 
mal ein sehr empfindlicher Patient über leichte Müdigkeit, so geht 
man mit der Dosis herunter oder setzt für einige Tage die 
Therapie aus. | | 


An Salzen wurden verwandt meist in wäßriger Lösung das 
Rhodan-Kalium, -Natrium und -Ammonium. Inder letzten Zeit hat 
sich uns sehr gut bewährt ein Rhodanpräparat der Chemisch- 
Pharmazeutischen Aktiengesellschaft Bad Homburg, das Rhoda- 
purin, das auf Anregung des einen von uns (W.) aus der Absicht 
entstanden ist, mit der guten Wirkung der kleinen Rhodandosen 
die gefäßerweiternde der Koffein- und Theobromingruppe zu ver- 
einigen. Es ist ein Komplexsalz des Rhodanammon mit dem 
Trimethylxanthin, gut haltbar in Tablettenform und bietet so eine 
völlig zuverlässige und bequeme Möglichkeit der Therapie mit den 
kleinen SCN-Dosen. Im ganzen verfügen wir jetzt zusammen mit 
dem Krankenmaterial des Herrn Dr. Berberich und einiger 
Kollegen, die auf unsere Bitte diese Therapie der Hypertension an- 
wandten, über eine Übersicht von etwa 300 Fällen, bei denen wir 
bis auf wenige Versager nur Gutes damit gesehen haben, wir 
können daher in der Form der kleinen Rhodandosen die Therapie 
nur empfehlen. 


Auch bei zwei der genuinen Hypertension wegen der in gleicher 
Weise vorhandenen Hypercholesterinämie wohl nicht ganz fern- 
stehenden anderen Krankheiten sahen wir allerdings an nur kleinem 
Krankenmaterial Gutes: bei den Kreislaufbeschwerden des Kli- 
makteriums oder der künstlich kastrierten Frauen mit den Blutdruck- 
schwankungen, Wallungen usw. und zweitens auch bei anfallsweise 
eintretenden angiospastischen Beschwerden ohne ausgesprochene 
Hypertension z. B. beim Altersdiabetes. Bei intermittierendem 
Hinken, Raynaud-Attacken erscheint uns ein Versuch mit ihr auch 
angebracht. | 

Große Rhodandosen wurden nur noch zweimal 
bier angewandt wegen drohenden Verlustes der Zehen durch 
Gangrän bei ausgesprochenen Hypertensionen, das eine Mal mit 
Diabetes, das andere Mal ohne diesen. Beide Male konnte schnell 
eine erhebliche Blutdrucksenkung und damit gleichzeitig bessere 


344 WestpHaL u. BLUM 


Durchblutung und Rettung der Zehen erreicht werden, im Falle 
des Diabetes zusammen mit energischer Insulintherapie. Hier war 
der therapeutische Effekt ein besonders schöner, da nicht nur die 
ganze große und Partien der 2. und 3. Zehe tiefblau verfärbt und 
kalt waren, sondern auch über den Strecksehnen benachbarte 
Partien des Mittelfußes. Mit der Blutdrucksenkung trat gute 
Durchblutung der von Gangrän bedrohten Partien ein (vgl. Kurve 3), 
der Patient konnte später mit völlig geheiltem Fuß das Kranken- 
haus verlassen. 


Als Gegenindikation der Behandlung auch mit kleinen 
Dosen von Rhodan betrachten wir erstens wegen der Steigerung 


Kurve3. Blutdruckurve — - 

und Rhodangehalt im Serum 
------ bei 6tägiger Behand- 
lung mit großen Rhodandosen 
(mal 0,3 Rhodannatrium;) bei 
0. B. 66jährigem Diabetiker 
mit beginnender Gangrän der 
1.—3. Zehe und benachbarter 
Mittelfußteile deslinken Fußes. 
Bei und nach der Blutdruck- 
senkung bessere Durchblutung 
der gefährdeten Zehen und Ein- 


1 Errak x setzen der Heilung der be- 
TOO 2IHSUTEIMMZ--IE- -- -B0-- --25- -- MN 'ginnenden Gangrän. 


der Entzündungsbereitschaft durch SCN Fälle von ausgesprochen 
entzündlichen Erkrankungen jeder Art, nicht abgeheilte 
Tuberkulosen usw., zweitens neben der akuten Glomerulonephritis 
und ihrer sekundären Schrumpfniere auch bei der genuinen Schrumpf- 
niere die ausgesprochenen Erscheinungen von Nieren- 
erkrankung wie große Eiweißmengen im Urin, schwerverändertes 
pathologisches Sediment, schwere Funktionsstörungen bei Aus- 
scheidungs- und Konzentrationsversuch, Rest-N-Erhöhung im Blut, 
präurämische und urämische Erscheinungen. Vereinzelte hyaline 
Zylinder im Sediment und eine geringe Beschränkung der Kon- 
zentrationsfähigkeit, wie sie bei der gutartigen Form der Nephro- 
sklerose vorzukommen pflegt, stellen kein Hindernis der Behand- 
lung dar, auch nicht leichte Dekompensationsstörungen des Kreis- 
laufes, wie geringe Ödeme, Stauung in Lunge und Leber. Im 
Gegenteil, wir sahen dann manchmal zusammen mit der Digitalis- 
einwirkung schöne dauernd anhaltende Erfolge in der Behandlung 
der Dekompensation besonders dann, wenn eine mäßige Blutdruck- 
erniedrigung eintrat. Schwere Dekompensation mit ausgedehntem 


Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 345 


Ödem und mit ausgeprägter Stauungsniere möchten wir wegen der 
Rhodanretentionsgefahr im allgemeinen von der Therapie aus- 
schließen. 


Damit kommen wir zu der Frage, ist die Blutdruck- 
senkung, wie sie bei der Behandlung mit den mittleren Rhodan- 
dosen oft eintritt, nicht für die Nierenfunktion schädlich? 
Traube’s alte Lehre von der kompensatorischen Herzhypertrophie, 
heute vertreten durch die Auffassung von der Nützlichkeit des 
hohen Biutdrucks bei der arteriosklerotischen Schrumpfniere durch 
H. Strauß, Goldscheider, Rosin, Ambard und Loeb 
steht da einer Auffassung gegenüber, wie sie etwa Krehl äußert: 
„verengern sie (die Nierengefäße) sich mit den anderen Gefäßen, 
so wird der allgemeine Erregungszustand im Gegenteil schädlich . 
für die Nierenarbeit sein“. Ähnlich denken auch Külbs und 
F. v. Müller und gerade nach den hier gewonnenen Erfahrungen 
möchten wir uns solcher Auffassung anschließen. Auf die in 
gleicher Richtung erfolgten Untersuchungen von Roßbach, 
Müller-Dehan und F. Kauffmann’s sei verwiesen. 


Es wurde hier bei einer Reihe von Kranken mit genuinem 
Dauerhochdruck und wohl auch oft arteriosklerotischer Schrumpf- 
niere vor und nach Eintritt der Blutdrucksenkung Konzentrations- 
fähigkeit und Ausscheidungsfähigkeit der Nieren sowie Rest-N im 
Blut bestimmt. 


Über 3 Kranke sei als Musterbeispiel genauer mit Zahlenangaben 
berichtet. 


1. R. Ö., 52jähriger Mann. Dauerhochdruck von 200—210 mm 
Hg. Nierenfunktion: Ausscheidung gut, Verdünnung bis 1001, Konzen- 
tration bis 1025. Rest-N im Blut 0,021 g°/,. Nach 7 Wochen lang 
durch mittlere Rhodangaben durchgeführter Senkung des Blutdrucks auf 
135—150 mm Hg. Nierenfunktionsprüfung: Ausecheidung gut, Ver- 
dünnung bis 1001, Konzentration bis 1026, Rest-N im Blut 0,023 g "h" 


2. G. C., 59jährige Frau. Blutdruck (vgl. Kurve 1) 200—230 mm 
Hg. Nierenfunktion: Ausscheidung gut, Verdünnung bis 1001, Konzen- 
tration bis 1020. Rest-N im Blut 0,030 g°’/,. Nach 15 Wochen langer 
Senkung des Blutdrucks durch Rhodan auf 150 —170 mm Hg. Nieren- 
funktion: Ausscheidung gut, Verdünnung bis 1001, Konzentration bis 
1025, Rest-N 0,024 g°/,. 

3. K. O., 63 jährige Frau. Blutdruck 160—190 mm Hg. Nieren- 
funktionsprüfung:. Ausscheidung gut, Verdünnung bis 1001, Konzen- 
tration bis 1025, Rest-N 0,035 g°%- Nach 10 Wochen Rhodan- 
behandlung Senkung auf 130—140 mm Hg. Nierenfunktion: Ausschei- 
dung gut, Verdünnung bis 1001, Konzentration 1030, Rest-N im Blut 
0,024 g °. 


346 Westpuan u. Buum 


Bei den übrigen Kranken verhielten sich die Zahlen in ähnlicher 
Weise. In einem Falle könnte man vielleicht von einer Erhöhung des 
Rest-N sprechen von 33 mg auf 40 mg °/,, aber auch diese Zahlen fallen 
noch in die Breite der normalerweise vorkommenden Schwankungen. 


nP 


.. Eine Schädigung der Nierenfunktion trat demnach niemals ein. 
Ödeme traten auch niemals auf. Entsprechend der geringen Er- 
weiterung der Kapillaren, die wir kapillarmikroskopisch öfter 
sahen nach der Blutdrucksenkung, und dem dann auch weniger 
ausgeprägten Umschnürungsreflex wird auch die Durchblutung der 
Niere dann im allgemeinen wenigstens in den anatomisch nicht 
zu stark veränderten Partien der Gefäße mindestens ebensogut 
sein wie vorher, wenn nicht besser. Der Standpunkt von 
H. Strauß, daß „bei arteriosklerotischen Veränderungen in der 
Niere die ausreichende Leistung derselben von der arteriellen 
Hypertension vermittelt wird“, kann daher für die Mehrzahl solcher 
Kranker nicht geteilt werden. 


Verfolgt man bei therapeutischen Rhodangaben die Aus- 
scheidung des SCN im Urin und Speichel, so sieht man dort eine 
deutliche Vermehrung desselben. Das ist im Schrifttum bekannt. 
(0. Adler, A. Edinger, Diena, A. Mayer, Saxl, Grober, 
Juergens), eine gute Zusammenstellung der gesamten Literatur 
gab neben gediegenen eigenen Untersuchungen vor kurzem 
Lickind. Im Serum konnte nun ebenfalls mit Hilfe einer 
zusammen mit unserem Mitarbeiter H. Schreiber ausgebauten 
Methodik ein deutlicher Anstieg der SCN-Ionen fest- 
gestellt werden. Dieser Nachweis erschien uns wichtiger als die 
dauernde Nachprüfung im Urin oder Speichel, da dort der Gehalt 
schon nach den alien und seitdem oft bestätigten Feststellungen 
Claude Bernards vom Tabakrauchen abhängig ist, die Re- 
sorption von Cyanverbindungen, die bei der Verbrennung der im 
Tabak vorhandenen Proteinkörper entstehen, ist anscheinend die 
Ursache dieser Vermehrung im Speichel. Unsere Methode geht 
aus von der bekannten Eisenchloridprobe, sie ist in der biochemi- 
schen Zeitschrift von Schreiber eingehend publiziert. 

Es wird aus dem Serum ein eiweißfreies Filtrat gewonnen, in dem 
2 ccm desselben mit gleichen Teilen 20°/,iger Trichloressigsäure ver- 
` setzt werden, dabei geht naturgemäß ein Teil des an die Kolloide ge- 
bundenen -oder adsorbierten SCN verloren, nur das wirklich gelöste 
ionisierte oder im Moment der Eiweißfällung freiwerdende SCN ist so 


feststellbar. Dann wird zur Anstellung der Rhodanreaktion benutzt ein 
folgendermaßen zusammengesetztes, farblosses Ferrireagens: 


Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 347 


10 ccm 10%, Fe(NO,), 
10 ccm N/10 HNO, 
30 Tropfen 20°, HNO, 


15 Tropfen davon geben dem Filtrat einen blaßgelben bis gelbroten 
Farbton, der verglichen wird mit einem Keil eines Autenrieth- 
Kolorimeters, dessen Füllung jedesmal neu geschehen muß mit einer 
1 mg’ Rhodan-Kali-Lösung und einen bestimmten NaCl-Zusatz und 
dem Ferrireagens. Dieser Keil wurde geeicht gegen Rhodan-Kali- 
Lösungen verschiedenen Gehaltes und eine Eichungskurve gewonnen, 
Darausergibt sich die Möglichkeit der Berechnung des Rhodangehaltes 
in dem zu untersuchenden Serum, bei großem Gehalt von SCN nach Ver- 
dünnung desselben. 


Bei einer Untersuchung an 225 Patienten schwankten die im Serum 
gefundenen Rhodanwerte zwischen 0,015—0,06 mg?/. Bei Diabetikern 
erschienen die Werte oft etwas höher als bei den anderen, deutlich er- 
höht erschienen sie auch bei Rauchern bis auf 0,1 mg °p, das entspricht 
auch der erhöhten Rhodanausscheidung im Speichel bei ihnen. Starke 
Schwankungen waren bei Normalen sonst nicht feststellbar. Nach intra- 
muskulärer Schwefelinjektion fand kein Anstieg statt, die SCN-Bildung 
spielt daher bei der Biutdrucksenkung durch solche Injektionen keine 
Rolle, diese erscheint eher bedingt durch das dabei erzeugte Fieber. 


Bei Normalen fanden wir nach mittleren Rhodangaben 
etwa 2—4mal 0,2g täglich einen Anstieg im Serum bis auf 
ca. 1,0 mg °/,, das ist das 20—30 fache der Norm. Nach Aussetzen der 
Rhodangaben erfolgt interessanterweise noch manchmal ein ge- 
ringer Anstieg — es sei an die gleichzeitig öfter gefundene starke 
Blutdrucksenkung erinnert —, dann nach wenigen Tagen ein 
schnelles Absinken, welches sich später verzögert, so daß sich noch 
etwa 2—3 Wochen lang erhöhte Rhodanwerte im Serum nach- 
weisen lassen. Edinger und Treupel konnten im Urin 14 Tage 
nach Aussetzen der Rhodanverabreichurg noch gesteigerte Aus- 
scheidung desselben feststellen. Auch bei dem Durchschnitt der 
genuinen Hypertensionen mit mehr oder minder ausgebildeter, un- 
komplizierter arteriosklerotischer Schrumpfniere ist meist nach 
3 Wochen der Rhodanspiegel zur Norm zurückgekehrt (cf. Kurve 3). 
Dagegen sahen wir bei einem 50 jährigen Kranken, der mit sekun- 
därer Schrumpfniere mit reichlichen Eiweißmengen im Urin, 
Erythrocyten und zahlreichen granulierten Zylindern im Sediment, 
schlechter Konzentrationsfähigkeit der Nieren und einem Rest-N 
im Blute von 73 mg°/, wegen frischer Apoplexie mit Dauerhoch- 
druck eingeliefert wurde, eine deutliche, über 6 Wochen sich hin- 
ziehende Retention des SCN im Blutserum und einen Anstieg zu 
den höchsten bei uns erlebten Werten von 1,3 mg °/,. Diese Werte 


348 WESTPHAL u. BLUM 


wurden 3 Wochen lang auf stark erhöhtem Niveau beibehalten, 
trotzdem nach 8tägiger Verabreichung von 4 x 0,2 Rhodannatrium 
bereits mit dieser Therapie aufgehört worden war. Eine Angina 
und Pneumonie mit späterer Exsudatbildung traten als Effekt der 
zu starken Rhodanspeicherung im Organismus auf, 6 Wochen lang 
hielt sich das Rhodanniveau auf über 0,8 mg°),, um erst dann 
allmählich abzufallen, nach 52 Tagen war der Normalgehalt noch 
nicht erreicht (cf. Kurve 4). Wichtig ist, daß auch im Pleura- 
punktat dieses Kranken ein Gehalt von 0,9 mg"), Rhodan fest- 
gestellt werden konnte. Zweimal konnte auch im Lumbalpunktat 
bei dieser Therapie ein deutlich erhöhter Gehalt gefunden 
werden, die Annahme, daß die Gewebe und Flüssigkeiten von 

Kurve 4. Rhodangehalt im 

Serum I --:--- nach 16 tägiger 


Behandlung mit 3mal 03 g 
Rhodannatrium täglich bei 


Qodi” jugendlichem Kranken mit 
TH mopar j syphilitischer Kniegelenksent- 
ZZ \ra fg 0 2 zündung. Rhodangehalt im 
M D Serum II nach dtäxriger 
= 5 Behandlung mit 4mal 0,2 g 
2 ar Khodannatrium täglich bei 


bOjährigem Kranken mit se- 
kundärer Schrumpfniere. Auf- 
treten von Angina und Pneu- 
monie infolge gesteigerter 
BIST ITIETANSBTBENEBETBUIEHEOHLD Khodanretention, im Pleura- 
erguß 0,9 mg °,iger Gehalt 
von Rhodan ebenfalls nach- 
weisbar. 


diesem leicht Membranen durchwandernden Anion durchtränkt 
werden, ist demnach berechtigt. 


Bei wochen- und monatelanger Durchführung der Rhodan- 
therapie mit kleinen Dosen sahen wir an einer größeren Anzahl 
von Patienten (14) meist einen Anstieg auf 0,3—0,4 mg /, (cf.Kurve5), 
nur bei einem einzigen auf 0,55 mg °/,, das Absinken zur Norm er- 
folgte auch hier in 3—4 Wochen, man sieht auch an diesen relativ 
niedrigen Rhodanwerten den Unterschied zu einem zweiten Falle 
von sekundärer Schrumpfniere mit schweren Nierenschädigungen, 
wo wir noch 4 Wochen nach dem Absetzen dieser Rhodankur 
deutlich erhöhte Werte von 0,4 mg°/, fanden. Die Neigung zur 
erhöhten Rhodanretention im Organismus bei den ausgesprochenen 
Nierenkranken zeigt wieder, daß dort diese Therapie im allge- 
meinen nicht indiziert erscheint. Nach diesen Beobachtungen 
liegt vielleicht die Möglichkeit vor, eine Funktionsprüfung der 


Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 349 


Nieren mittels des Rhodannachweises im Blutserum aufzubauen. 
Auffallend sind die gewaltigen Anstiege des Rhodans im Serum, 
vom Brom wissen wir Ähnliches. Die verhältnismäßig geringen Wir- 
kungen bei so hochgradigen Veränderungen im physiologischen 
Ionen-Antagonismus sprechen allerdings nur bis zu einem gewissen 
Grade für Schade’s Auffassung von der „Freiheit der Anionen“ 
im Organismus. Eine Herabsetzung des Cholesterinspiegels im Serum 
fand nach der Rhodaneinwirkung im Serum nicht statt, das stand 
auch kaum zu erwarten. 

Die theoretisch gar nicht unmögliche Annahme, die Wirkung 
des Rhodans im Organismus beruhe im wesentlichen auf den Einfluß 
seines Schwefelbestandteils, erscheint bei der großen Menge des im 
Serum nachweisbaren SCN kaum wahrscheinlich, außerdem spricht 
die Ähnlichkeit der Intoxikationserscheinungen mit dem Jod zu sehr 


Mronkheäsisge 1 2.3 4.50 789 DUUMEBITESDULE TARANAN 3 
apis 89 UK U DIOR VLIE 2333524733. 


RR SA gi as Natrum JQ Irgi ) 


Kurve 5. D. 52jährige Frau mit genuiner Hypertension bei Behandlung mit 
kleinen Rhodandosen, Rh.-Natrium 3mal 0,1. Kurve vom Blutdruck von 
Rhodangehalt im Serum ------ und Pulfrich-Refraktometer-Skalenteilen des Sun 
nach der „Globulin“-Fällung durch halbgesättigte Ammoniumsulfatlösung: 

Am Anfang ergibt die Berechnung Globulin zu Albumin = 52:58, am Ende > 61: .39, 
ca. vom 18. bis zum 35. Tage sind keine Albumine mehr erfaßbar nach Robertson- 
Reiß. Die Blutdrucksenkung ist unter kleinen Rhodandosen keine starke, doch 
treten die Schwankungen ee Rhodan-Anstieg im Serum bis auf 

mg "/o- 


für die hier vertretene Anschauung der Art der Rhodanwirkung. 
Das Umgekehrte erscheint jedoch nicht ausgeschlossen, daß konse- 
quente Schwefeltherapie z. T. über eine Rhodanwirkung im Orga- 
nismus ihre Wirksamkeit entfalten kann, wenn auch nach den In- 
jektionen mit kleinen Schwefelmengen sich keine Rhodanvermehrung 
im Serum feststellen ließ. 

Können wir aus der klinischen Beobachtung Genaueres über 
die Art und Weise der Rhodanwirkung im Organismus 
ermitteln? Die blutdrucksenkende Wirkung ist nicht bloß auf 


350 | WESTPHAL u. BLUM 


Hypertoniker beschränkt, auch beim Menschen mit nicht patho- 
logisch erhöhtem Blutdruck sahen wir dreimal nach 3—6 wöchiger 
Durchführung der Rhodanbehandlung mit mittleren Dosen eine 
Senkung des Blutdrucks um 10—20 mm. Hg. Der Vergleich 
mit dem Tierexperiment ist für diese Blutdrucksenkung nicht 
möglich. | 

Dort wissen wir aus alten Untersuchungen von Paschkis und 
Pauli’s, daß nach intravenöser Rhodaninjektion nach ganz flüch- 
tiger Blutdrucksenkung eine hochgradige Blutdrucksteigerung und 
Bradykardie eintritt. Auch eigene Versuche am isolierten Gefäß- 
streifen zeigten uns, daß Rhodan in bis zu 1°/,, verdünnter 
Lösung dort keine Dehnung, sondern hochgradige Kontraktion des- 
selben auslöst, selbst dann, wenn schon vorher durch eine starke 
Zusammenziehung mittels Adrenalin oder auch Adrenalin + Cholesterin 
der Streifen verkürzt war. Herr E. P. Ellinger, der auf Ver- 
anlassung des einen von uns (W.) in einer gründlich durchgeführten 
Dissertationsarbeit den Einfluß der gesamten Hofmeister’schen 
Anionenreihe auf den überlebenden Gefäßstreifen prüfte, sah unter 
allen Salzen neben dem Jod wieder das Rhodan als am stärksten 
kontrahierende Substanz. Wir sehen wieder das gleiche paradoxe 
Phänomen wie in den Versuchen von Trendelenburg am über- 
lebenden Bronchialstreifen, der auch auf Jod stärkste Kontraktion 
zeigt im Gegensatz zu der Bronchiallumina dehnenden Wirkung 
des Jod beim Bronchialasthma auch hier beim Hypertonus in der 
Rhodanwirkung. 

Sollte die Erklärung nicht so liegen? Im Moment der Permeabilitäts- 
steigerung der Plasmagrenzflächen der glatten Muskelfasern durch das 
Rhodan findet eine Erregung des in seinem Wesen noch unbekannten 
Kontraktionsvorganges statt und damit Eintritt erhöhten Blutdrucks im 
Tierversuch. Zweimal sahen wir auch bei peroral zugeführten großen 
Rhodandosen am ersten und zweiten Behandlungstag an Hypertonikern aus- 
geprägte, 20 mm betragende Blutdruckanstiege. Diese Anstiege ragten 
deutlich über das sonstige Niveau hinaus. Diese Blutdrucksteigerung 
entspräche einer ersten Phase der Rhodanwirkung, wie sie bei intra- 
venöser Einwirkung erzielt wird. 

Bei längerdauernder peroraler Rhodanzufuhr wird die dauernde 
Permeabilitätssteigerung der Grenzflächen der glatten Muskelfasern und 
die dann eintretende Wirkung auf die Binnenkolloide wohl im Sinne 
einer Quellung und Dehnung derselben eine geringere Ansprechbarkeit 
auf kontraktile Reize bewirken. An eine allgemeine zentral bedingte 
sedative Wirkung des Rhodans — Pauli denkt an solche Möglichkeiten 
— können wir wegen der gerade bei stärkster Blutdrucksenkung auf- 
tretenden psychischen Erregungszustände nicht glauben. Die erhöhte Ent- 


Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 351 


zündungsbereitschaft spricht auch eher für solche Permesbilitätssteigerung, 
allerdings nur in den kleinsten Gefäßen. 


Diese Vorstellung einer zweiphasigen Wirkung des Rhodans 
am glatten Gefäßmuskel, die erste parallelgehend dem Einsetzen 
der Permeabilitätssteigerung der Grenzflächen mit Erregung und 
Auslösung der Kontraktion, die zweite bei dauernder Permeabilitäts- 
steigerung der Grenzflächen nach Änderung der Binnenkolloide 
durch Rhodanwirkung mit herabgesetzter Erregbarkeit der Kon- 
traktion und Dehnung der Muskelfasern wohl infolge Quellung, 
stimmt auch in manchem überein mit jüngst mitgeteilten Gedanken- 
gängen von Höber, die in Weiterführung der Nernst’schen Vor- 
stellung von der Bedeutung der polarisatorischen Ionenkonzen- 
trationsveränderungen an den physiologischen Membranen für die 
elektrische Erregung und nach Beobachtungen von Gildemeister, 
Ebbeke u. A. über Erregung und Lähmung als physikalisch- 
chemischen Vorgängen geäußert wurden. Auch am quergestreiften 
Muskel beschreibt Höber in früheren Untersuchungen nach der 
zuerst eintretenden starken Rhodankontraktion ein zweites Stadium 
mit Herabsetzung der Erregbarkeit, die er auf das Eindringen der 
Rhodanionen ins Muskelfaserinnere zurückführt. Die hochgradige 
allgemeine Muskelschwäche der zu starken Rhodaneinwirkung an 
unseren Patienten halten wir ebenfalls durch eine solche zweite 
Phase der Schwächung am quergestreiften Muskel bedingt. 


Solche Auffassungen über die Art des Einwirkens des Rhodans 
auf die glatten Gefäßmuskeln lassen sich vorläufig leider nicht 
dırekt erweisen. Daß aber starke Änderungen der kolloidalen 
Struktur im Organismus unter der Rhodaneinwirkung sich ent- 
wickeln, zeigt uns die bei dieser Therapie stets beobachtete hoch- 
gradige Umstellung der Serum-Eiweißkörper. Das Mengenverhältnis 
der mit der halbgesättigten Ammoniumsulfatlösung ausfällbaren Ei- 
weißkörper des Serums, der „Globuline“, zu den „Albuminen“, welche 
normalerweise etwa 1:2 beträgt, wird in den meisten Fällen stark 
verändert, die Fraktion der sogenannten Albumine geht in wenigen 
Tagen an Menge sehr zurück, das Serum scheint bei der refrak- 
tometrischen Untersuchung nach Robertson-Reiß bis auf wenige 
Spuren nur aus Globulin zu bestehen (vgl. Kurve 5). Das sei hier 
nur kurz angedeutet. Es wird später über diese von dem einen 
von uns (W.) zusammen mit Herrn Albrecht ermittelten inter- 
essanten Tatsachen genauer berichtet werden und auch darüber, 
wieweit sich diese Verschiebungen als physiko-chemisch oder chemisch 


352 Westraar u. BLUM 


bedingt erklären lassen. Diese Änderung zeigt auch wieder die in 
der Einleitung ja zur Genüge betonte hochgradige Bedeutung der 
Bluteiweißkörper und wohl auch des gesamten kolloidalen Zustandes 
des Organismus für die Einstellung der Blutdruckhöhe und außer- 
dem die Parallele in dieser Blutdruckbeeinflussung durch Rhodan 
und Fieber, denn auch bei diesem findet ja in gleicher Richtung 
neben der Blutdrucksenkung die Verschiebung der Serum-Eiweiß- 
körper statt. 


Zum Schluß sei noch eine Bemerkung gestattet über die nahe 
Verwandtschaft der Rhodan- zur Jodtherapie, deren 
Art der Wirkung, besonders bei hohem Blutdruck noch so um- 
stritten ist. Sie geht auch bei dieser nach den hier geäußerten 
Ansichten nicht so sehr über die Schilddrüse wie im wesentlichen 
über chemisch-physikalische Wirkungen im Organismus. Auch bei ihr 
finden wir zusammen mit Albrecht manchmal das Zurückgehen 
der Albuminfraktion im Serum. Nur stärker und schneller wirkt 
meist das Rhodan. Dementsprechend erlebten wir auch bei dem 
alten klinischen Anwendungsgebiet des Jod, der Spätlues, ebenso 
wie Pauli und Dalmady auffallend bald eintretende Erfolge 
von Rhodan in mittleren Dosen. Gummen verschwanden in wenigen 
Tagen, ebenso die starken periostitischen Schwellungen der Tibia 
oder Kniegelenkserkrankungen gleicher Genese, luetische nächtliche 
Kopfschmerzen, einige Male auch tabische Krisen wurden ebensogut 
beeinflußt. Doch ist unser so behandeltes Syphilismaterial zu klein 
und verlangt noch der Nachprüfung. Der quellende und permea- 
bilitätssteigernde Effekt des Rhodans bedingt anscheinend auch hier 
die schnellere Resorption von entzündlichen Infiltrationen. 


Die Rhodantherapie in kleinen und mittleren Dosen kann dem- 
nach an der Hand der hier gewonnenen Erfahrungen in Zukunft 
bei der Behandlung der Krankheitserscheinungen der genuinen 
Hypertension, als Prophylaktikum des Schlaganfalls sowie bei ver- 
wandten funktionellen Gefäßerkrankungen und bei der Behandlung 
der Lues eine stärkere Beachtung beanspruchen als bisher. 


Literatur. 


1. Claude Bernard, Leçons sur les propriétés physiologies ete. Pari~ 
1859, S. 244. — 2. Dalmady, Zur therapeutischen Verwendung der Rhodan- 
verbindungen. Wien. klin. Wochenschr. 1912, S. 795. — 3. Dresel u. Stern- 
heimer, Klin. Wochenschr. 1925, Jahrg. 4, S. 826. — 4. Edinger u. Treupei. 
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Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 353 


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Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 211, H. 3—6, 1926. — 6. Embden, Che- 
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8. Höber, Über den Einfluß einiger organischer Alkulisalze auf die Muskeln usw. 
Pflüger's Arch. 1910, Bd. 134. — 9. Ders., Physikalische Chemie der Zelle u. 
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ellen Hypertension. Teil 2. Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. Bd. 43, 141, 1924. — 
12. F. Kauffmann, Uber die Häufigkeit einzelner wichtiger Klagen mit anam- 
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Wochenschr. 1924, Nr. 36, S. 1230. — 12a. Kollert, Das Problem der Lipoid- 
nephrose. Klin. Wochenschr. 1926, Nr. 11, S. 441. — 13. Krehl, Erkrankungen 
d. Herzens. 2. Aufl, 1913. — 14. F. Licking, Uber den Rhodangehalt des 
Speichels. Zeitschr. f. klin. Med. 1924, Bd. 100, H. 5. — 15. Fr. v. Müller, 
Die Bedeutung’ des Blutdrucks f. d. praktischen Arzt. Münch. med. Wochenschr. 
1923, Bd. 1, 5. 1. — 16. Munk, Benard u. Flockenhahn, Experimentelle 
Untersuchungen über d. Wesen der Albuminurie und der lipoiden Nephrose. Klin. 
Wochenschr. 1975, Nr. 18, S. 863. — 17. Pal, Die Gefäßkrisen 1905. — 18. Pasch- 
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ihrer therapeutischen Anwendung. Münch. med. Wochenschr. 1903, Nr. 4. — 
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matisch naturw. Klasse Bd. 113, Abt. 3, Januar 1904. — 21. Porges u. Neu- 
bauer, Physikal. chemische Untersuchungen über das Lecithin u. Cholesterin. 
Biochem. Zeitschr. 1908, Nr. 7, S. 153. — 22. Schreiber, Uber den Rhodan- 
gehalt im menschlichen Blutserum. Biochem. Zeitschr. 1925, Bd. 163, H. 1—3. 
— 23. H. Strauß, Die Rlutdrucksteigerung als Objekt der Therapie. Therap. 
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Pharmak. Bd. 81, 55, 1917. — 25. Volhard, Die doppelseitigen hämatugenen 
Nierenerkrankungen. Mohr-Staechelin Handb. d. inn. Med. Bd. 3, T. IL —- 
26. Westphal, Cholesterin und Blutdruck. Verhandl. d. dtsch. Ges. f. inn. Med. 
1924. — 27. Ders., Untersuchungen über die Entstehungsbedingungen des 
genuinen arteriellen Hochdrucks. Nr. I—IV, II zus. mit F. Herrmann. Zeit- 
schr. f. klin. Med. Bd. 101, H. 5 u. 6, 1925. — 28. Ders., Uber die Entstehung 
des Schlaganfalls Nr. 1—8, 1 zus. mit R. Bär. Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 151, 
H. 1—2, 1926. 


Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 23 


354 


Aus der Medizinischen Poliklinik Bonn.') 
(Direktor: Prof. Dr. Siebeck.) 


Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 


III. Mitteilung.. 


Über die Austauschvorgänge zwischen Blut und Gewebe 
bei Gesunden und Kranken. 
Von 


Dr. med. Hellmut Marx. 
(Mit 5 Kurven.) 


Die Vorgänge, die sich nach dem Trinken im Organismus ab- 
spielen, sind außerordentlich vielgestaltig. Um die Einzelheiten 
ihres Ablaufs kennen zu lernen, sind fortlaufende Untersuchungen 
des Blutes von Wichtigkeit. Diese geben uns zugleich einen Ein- 
blick in die Austauschvorgänge, die sich zwischen Blut und Gewebe 
abspielen. 

In früheren Versuchen (1, 2, 3), die sich hauptsächlich auf 
fortlaufende Hämoglobinbestimmungen mit dem sehr exakten Bürker- 
schen Kolorimeter gründeten, hatte sich ergeben: Nach dem Trinken 
tritt stets rasch eine deutliche Blutverdünnung ein, die in einer 
charakteristischen, doppelphasigen Kurve verläuft. Die Grüße 
dieser Blutverdünnung ist von der getrunkenen Menge weitgehend 
unabhängig, nach dem Trinken von nur 100 Wasser trat eine 
Blutverdünnung um etwa 10°, auf. Diese Tatsache ist auch von 
Blix (4) in Versuchen am Tier gefunden worden. Die Einzelheiten 
des Kurvenverlaufs sind nicht allein durch Resorption und Aus- 
scheidung zu erklären; das zeigen schon die Versuche mit kleinen 
Trinkmengen, in denen die Blutverdünnung typisch verläuft, ohne 
daß es zur Diurese kommt. Zur weiteren Prüfung dieser Frage 
habe ich Trinkversuche an doppelseitig nephrektomierten Hunden 
angestellt; die Tiere bekamen am dritten Tage nach der einzeitigen 


._——— M 


1) Ein Teil der Versuche wurden mit der gütigen Erlaubnis von Geheimirat 
Krehl in der medizinischen Klinik in Heidelberg gemacht. 


Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 355 


Operation mit der Sonde 150—200 Wasser zugeführt. Es zeigte 
sich eine rasches Absinken der Hb-Werte, die wie beim normalen 
Tier nach 2—3 Stunden zum Ausgangswert zurückkehrten. 

Nach alledem bildet die Aufnahme der Flüssigkeit einen Anstoß, 
der komplizierte Austauschvorgänge zwischen Blut und Gewebe 
zur Folge hat (5). Auch ist der Zusammenhang zwischen Hydrämie 
und Diurese nicht einfach der zwischen Ursache und Folge. Zwar 
sahen wir in etwa 200 verschiedenartigen Trinkversuchen bei 
Gesunden nie eine Diurese, ohne daß eine Blutverdünnung nach- 
weisbar war; doch kann es zu einer Blutverdünnung kommen, 
ohne daß eine Diurese folgen muß, z. B. bei kleinen Trinkmengen. 

(Hier möchte ich kurz anfügen, daß wir in gemeinsamen 
Versuchen mit Dr. Schröder bei manchen Versuchspersonen auf 
subkutane Adrenalininjektion eine deutliche Diurese eintreten 
sahen; in diesen Fällen war stets eine Blutverdünnung nachweisbar, 
oft nach anfänglicher Steigerung der Hb-Werte.) 

In einer weiteren Versuchsreihe konnte ich dann zeigen, daß 
es gelingt, durch Trinksuggestion in tiefer Hypnose eine typisch 
verlaufende Blutverdünnung und gleichzeitig deutliche Diurese zu 
erzeugen. Daraus geht hervor, daß auch die Austauschvorgänge 
und koordiniert mit ihnen die Diurese cerebral reguliert sind. 

Nun hatten wir in unseren früheren Versuchen nur das Blut 
der Fingerbeere untersucht und man könnte deshalb einwenden, 
die beschriebenen Vorgänge spielten sich nur im peripheren Blute 
ab. Freilich wird beim Einstich in die Fingerbeere nicht nur 
„Kapillarblut“ gewonnen, vielmehr werden dabei stets auch die 
präkapillaren Arterien und kleinen Venen eröffnet. Die Frage, 
ob die Erythrocyten in der Blutbahn gleichmäßig verteilt sind, 
und wie weit Änderungen im Erythrocytengehalt des peripheren 
Blutes auf ungleichmäßige Verteilung der Körperchen im Gefäß- 
system zu beziehen sind, ist vielfältig untersucht worden. Die 
neueren Ergebnisse von Heß(6), Hofmeier (7), Hopmann, 
Schüler (8) u. a. haben übereinstimmend gezeigt, daß beim Ge- 
sunden unter normalen Verhältnissen die Verteilung gleichmäßig 
ist. Im Trinkversuch haben Hopmann und Schüler eine gleich- 
mäßige Abnahme der Erythrocytenzahl im Blut der Vene, Finger- 
beere und Arterie (hier 6 = 13°/,) gefunden.!) Dennoch erschien es 
uns nötig, auch in unseren Versuchen das Venenblut fortlaufend 
zu untersuchen. (Bei der Häufigkeit der Entnahme war eine 
Arterienpunktion bei unseren Patienten nicht möglich.) Wir fanden 


1) Auch fanden diese Autoren einen diphasischen Verlauf der Blutverdünnung. 
23* 


356 Marx 


dabei im Blut der Kubitalvene genau die gleiche Kurve der Hb- 
Verminderung nach dem Trinken, wie im Blut der Fingerbeere 
(vgl. Abb. 1). Die Kreuze x geben die Hb-Werte im Venenblut an. 
Voraussetzung ist freilich, daß ohne jede Stauung und genau 
gleichzeitig entnommen wird, denn die Prozesse spielen sich, 
zumal im Anfang, sehr rasch ab. Deshalb stachen wir in die 
Fingerbeere während das Blut in die Spritze einfloß. Die Punktion 
der ungestauten Vene gelingt bei den meisten Menschen leicht. 
| Nach alledem können wir 

109 w @ » 7 » 2 x 730 annehmen, daß Änderung 

PEN AUGI der Erythrocytenzahl oder 
des Hämoglobins in kurzen 
Zeiträumen auf Änderung 
der Gesamtblutmenge zu be- 
un serrös- | ziehen sind, und daß auch 
die aus dem Blut der Finger- 

beere gewonnenen Werte in 
diesem Sinne verwertbar sind. 
In neuerer Zeit hat nun 
Barcroft(9) Beobachtungen 
mitgeteilt, nach denen die 
im Kreislauf zirkulierende 
Erythrocytenmenge erheb- 
lichen Schwankungen unter- 
worfen sein soll; die Ur- 
sache hierfür sollen Verände- 
rungen im Volumen der Milz 
sein und zwar soll dies Organ 
die Fähigkeit besitzen, je 
nach der umgebenden Außen- 
temperatur wechselnde Men- 
gen von Erythrocyten zu 
speichern und wieder in die 
Kurve 1. Dr. Sehr.. 32 J., 72 kg.. Vers. Nr. 131. Blutbahn auszuschwemmen. 
Wir haben deshalb, um 

solche Fehlerquellen ausschalten zu können, unsere Trinkver- 
suche an splenektomierten Patienten wiederholt. Es standen uns 
3 Patienten zur Verfügung, die vor 9 Jahren (Fall 1, wegen Peri- 
splenitis), vor 6 Wochen (Fall 2, wegen hämolytischem Ikterus) 
und vor 19 Tagen (Fall 3, traumatische Milzruptur) splenektomiert 
worden waren. Tabelle 1 zeigt von jeden einen Trinkversuch: 


Ausfuhr 730gr 


Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 357 


man erkennt die charakteristische Hb-Kurve, es findet sich keine 
Abweichung vom Normalen. Danach spielt jedenfalls die Milz in 
unseren Versuchen keine entscheidende Rolle und die beschriebenen 
Hb-Schwankungen können nicht auf von der Milz abhängige Ände- 
rungen der zirkulierenden Blutkörperchenmenge bezogen werden. 
Vielmehr weisen sie auf reziproke Änderungen der Gesamtblut- 
menge hin. 


Tabelle 1. 
1. F. L., operiert vor 2. P. V., operiert vor | 3. C. K., operiert vor 
9 Jahren 6 Wochen 14 Tagen 
Zeit Hb Zeit Hb Zeit Hb 
gh 12,60 g °% gh 13,58 g %, gh 12,25 g %,, 
800 H,0 1000 H, 1000 H,O 
915 11,28 „ 915 12,40 „ 9:0 1195 
940 12,45 „ 98 11.21 „ 930 11,22 „ 
10 11,96 „ 9‘5 12,20 „ 10 12,28 „ 
1020 1110. 10 11,65 „ 10% 12,40 „ 
11 11.DL. . 103 11,80 „ 11 11,92 „ 
12 11.78, 11 12,22 _ 12 11,02 „ 
1 12,52 „ 12 12,45 „ 1 11.85 .. 
1 138.35 , | 


Daß die Plasmamenge durch Austauschvorgänge zwischen Blut 
und Gewebe schwankt, geht nun weiter aus den folgenden Unter- 
suchungen hervor, die uns zugleich über die Zusammensetzung der 
ausgetauschten Flüssigkeit Aufschluß geben. 

Von den Bestandteilen der nach dem Trinken in das Blut 
einströmenden Flüssigkeit ist zunächst der Eiweißgehalt wichtig. 


Über quantitative Schwankungen des Bluteiweißgehaltes nach dem 
Trinken haben Veil (9, M. Daniel und Högler (11) einander 
widersprechende Ergebnisse mitgeteilt. Diese Untersuchungen wurde über- 
wiegend mit Hilfe der Refraktometrie ausgeführt; wie kürzlich wieder 
eine umfassende Kritik der Eiweißbestimmungsmethoden von Starlinger 
und Hart] (12) gezeigt hat, ist diese Methode jedoch zur Beurteilung 
derartiger Fragen nicht geeignet. Die Autoren kommen zu dem Schluß, 
daß „von einer einheitlich-konstanten spezifischen Refraktion des Gesamt- 
serumeiweißes überhaupt nicht gesprochen werden kann,“ und daßz. B. 
Verdünnung der Eiweißlösungen in vitro den Brechungsindex der Lösungen 
nicht gleichsinnig ändert. 

Qualitative Untersuchungen des Eiweißes, deren Bedeutung Falta (13) 
jüngst wieder betont hat, haben wir nicht vorgenommen. Wir unter- 
suchten ausschließlich den Trockenrückstand. 

Während der Trockengehalt des Gesamtblutes den Erythrocyten- 
schwankungen weitgehend entsprechend verläuft (vgl. Tab. 2) bietet der 
Trockenrückstand des Serums ein zuverlässiges Maß für den Eiweib- 
gehalt der Lösung. Die häufig benutzte Bang’sche Methode erwies sich 


358 Marx 


uns als zu ungenau, da die Wägungen mit der Torsionswage zu lange 
Zeit beanspruchen, während der sich der Trockengebalt der Blättchen 
stark ändern kann. Wir brachten deshalb in sorgfältig getrocknete und 
gewogene Wiegegläschen 300 = 400 mg Serum und wogen die ver- 
schlossenen Gläschen sofort auf der analytischen Wage; dann brachten 
wir sie in einen Vakuumexsikkator und trockneten bis zur Gewichts- 
konstanz, die gewöhnlich nach 24—48 Stunden erreicht war. Stets 
wurden Doppelbestimmungen ausgeführt; ihre gute Übereinstimmung 
zeigte, daß bei dieser Versuchstechnik keine wesentlichen Fehlerquellen 
bestehen, wovon wir uns auch in Kontrollversuchen überzeugt haben.!) 


` Es ergab sich, daß der Serumtrockenrückstand nach dem Trinken 
stets deutlich bis um 12°, absinkt. Freilich verläuft die Kurve 
anders, als die der Hb-Werte. Die Eiweißwerte kehren nämlich 
nach einmaliger Senkung schon nach etwa anderthalb Stunden zur 
Norm zurück, um sich während der sekundären Welle, die an den 
Hb-Werten stets deutlich zu erkennen war, nicht mehr zu ändern 
(vgl. Abb. 1). Aus dieser Kurve ergibt sich, daß bei der initialen 
Verdünnung eine fast eiweißfreie Lösung übertritt, während bei 
der sekundären Welle die Flüssigkeit fast den gleichen Eiweiß- 
gehalt wie das Plasma hat. Dies weist schon darauf hin, daß die 
beiden Wellen verschiedenartig sind; die erste folgt sofort auf das 
Trinken und ist zweifellos zum Teil durch die Resorption aus dem 
Darm bedingt; das sie hierdurch nicht vollständig erklärt werden 
kann, geht aus den Versuchen mit kleinen Trinkmengen und auch 
aus den Hypnoseversuchen hervor. Dagegen unterliegt die zweite 
Welle anderen Bedingungen. 


Weil Wasser- und Salzhaushalt auf das engste miteinander 
verknüpft sind, erschien die Beobachtung der Chlorbewegung nach 
dem Trinken von besonderer Bedeutung. Als Methodik erwies sich 
uns die Mikromethode von Koranyi-Rusznyak (14) als sehr 
zuverlässig; die Doppelbestimmungen differierten um höchstens 3" , 
des Wertes. 

Wir untersuchten zunächst das Gesamtblut und fanden hier 
nach dem Trinken stets eine deutliche Abnahme der Cl-Werte. 
Weil das Cl aber zwischen Plasma und Körperchen ungleichmäßig 
verteilt ist und Verschiebungen in ihrem Mengenverhältnis nach 
dem Trinkeu auftreten, schließlich - Austauschvorgänge zwischen 
Körperchen und Plasma im Bereich der Möglichkeit liegen, be- 
stimmten wir das CI weiterhin im Serum. Auch-hier fand sich ein 


D Die Mehrzahl der Troekenbestimmungen wurde von Frl. Dr. Hilden ans- 
geführt, der ich für ihre Hilfe sehr zu Dank verbunden bin. 


Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 359 


deutliches Absinken des Cl-Gehaltes um etwa 6—8°/, des Ausgangs- 
wertes (Abb. 1). 

Die gleiche Unabhängigkeit wie zwischen Hydrämie und Diurese 
zeigte sich zwischen den Cl-Schwankungen im Blut und der Cl- 
Ausscheidung im Harn; auch wo im Blute deutlich eine diphasische 
Kl-Kurve zu erkennen war, zeigte der Cl-Gehalt der einzelnen 
Harnportionen nur einfache Senkung und Wiederanstieg, parallel 
dem spezifischen Gewicht. 


83o 9 9g 710 s 7) æ 72 3 TI 8s 9 oO 30 V so 7 Jo 7 
- 7000 M0 


Nalli Serum 


NaCl i Ges blur z 


Na Cl Serum 


Trockenrück - 2 
fand i Serum 


Wernmenge 280 Aernmenge 7870 
Kurve 2. H. K., 22., 51,5 kg. 


Diese Cl-Bewegungen zwischen Blut und Gewebe sind nun von 
der Vorperiode abhängig. Während wir für gewöhnlich und nach 
NaCl-armer Vorperiode ein Absinken der Cl-Werte im Blute nach 
dem Trinken sahen, konnten wir nach NaCl-reicher Vorperiode ein 
Ansteigen nach dem Trinken beobachten. Abb. 2 zeigt einen 
solchen Doppelversuch; bei einem zweiten Doppelversuch mit einer 
anderen Versuchsperson ergaben sich die gleichen Verhältnisse. 

Die Abbildung 2 läßt außerdem den großen Einfluß der Vor- 
periode auf die Wasserbilanz im Trinkversuch erkennen; nach einer 
4tägigen NaCl- und flüssigkeitsarmen Vorperiode scheidet ein Ge- 
sunder in 5 Stunden von einem Liter nur 280 g Harn mit 1,47 g 
NaCl aus, während derselbe 4 Tage später (nach täglich je 15 g NaCl 


360 Marx 


und 2000 Flüssigkeit) nach Trinken von 1 Liter Wasser 1870 g 
mit 15,75 g NaCl ausscheidet. Im zweiten Versuch ist hierbei die 
Blutverdünnung deutlich stärker als im ersten; doch ist das nicht 
gesetzmäßig so. Die Blutverdünnung kann nach NaCl- und flüssig- 
keitsreicher Vorperiode im Trinkversuch auch geringer sein als 
vorher, trotz der stark negativen Wasserbilanz. Schließlich sieht 
man auf der Abbildung 2, daß der Nüchtern-Hb-Gehalt bei dem 
zweiten Versuch geringer ist, als vorher. Die Gründe für diese 
Erscheinung werden wir weiter unten besprechen. 

Man kann sich demnach vorstellen, daß der Füllungszustand 
gewisser Depots, den wir aus der Bilanz erschließen, für den Reak- 
tionsablauf nach dem Trinken maßgebend ist. Je mehr die Depots 
mit Cl gefüllt sind, desto Cl-reicher ist die nach dem Trinken über- 
tretende Flüssigkeit, je wasserreicher der Organismus, desto mehr 
Wasser scheidet er im Trinkversuch aus. 

Vielleicht ist freilich eine andere Vorstellung für das Ver- 
ständnis dieser Erscheinung noch wichtiger. Die wiederholte gleich- 
artige Beanspruchung einer Funktion, etwa durch reichliche wieder- 
holte NaCl-Zufuhr, kann zu einer veränderten Einstellung und 
Ansprechbarkeit dieser Funktion führen. Weil man nun annimmt, | 
daß diese Fähigkeit, Reize zu summieren, eine charakteristische 
Eigenschaft der nervösen Substanz ist, könnte die durch die Vor- 
periode veränderte Einstellung des Organismus auf eine wechselnde 
Funktion nervöser Zentralorgane bezogen werden. Daß sowohl die 
Austausch- als auch die Ausscheidungsvorgänge im Wasserhaushalt 
cerebral reguliert sind, haben sowohl frühere Untersuchungen, zumal 
von E. Meyer, als auch meine Hypnoseversuche deutlich erwiesen. 
Ähnlich wie sich die Erregbarkeit des Wärmezentrums im Fieber 
ändert oder wie das Atemzentrum nach einer Hyperpnoe den einzelnen 
Atemzug anders als sonst ablaufen läßt, könnte sich auch die Ein- 
stellung der Wasserbewegungszentren durch die Vorperiode ändern. 
derart, daß sie nın Austauschvorgänge und Diurese im Trinkversuch 
anders ablaufen lassen, als vorher. 

Wie weitgehend die Vorgänge zwischen Blut und Gewebe durch 
die Vorperiode zu beeinflussen sind, zeigt noch folgende Beobachtung: 
wenn statt Wasser im Trinkverbrauch eine 1° ige NaCl-Lösung 
getrunken wird, so tritt nach gewöhnlicher Kost und nach NaCl- 
reicher Vorperiode eine typische Blutverdünnung ein, wenn sie auch 
meist etwas stärker ist und länger dauert, als nach Wassertrinken 
(vgl. 1. Mitt, Falta, Brunn). Läßt man nun bei der gleichen 
Versuchsperson unter sonst gleichen Bedingungen, jedoch nach NaCl- 


Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 361 


armer Vorperiode einen Liter 1°/,iger NaCl-Lösung trinken, so zeigt 
die Kurve der Blutverdünnung ein völlig anderes Bild: es fehlt 
hierbei regelmäßig die initiale Verdünnung ; erst nach 50—70 Minuten 
sinken die Hb-Werte langsam zu einer einzelnen tiefen Verdünnungs- 
welle ab und kehren erst nach 6—7 Stunden zum Nüchternwert 
zurück (Abb. 3). Dabei kann die Diuresehemmung durch das NaCl 
in beiden Versuchen genau gleich stark sein; denn auch nach NaCl- 
reicher Vorperiode sahen wir meist eine starke Hemmung der 
Diurese auf Trinken von NaCl-Lösung. 


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73 


72 


77 Marnmenge 240 


Kurve 3. Frl, M. B.. 35 1. 527 kge. 157 m groß. 4 1000 9,0 +10 ge Nat. 
a) Nach Gtägierer NaCl-armer Vorperiode mit 1000 Flüssigkeit pro Tag. b) Nach 
“tägiger Nat'l-reicher Vorperiode, pro Tag 15 g NaCl- 2000 Flüssigkeit. 

Die eben beschriebene Kurve entspricht völlig dem Verlauf der 
Blutverdünnung, wie wir ihn bei parenteraler Zufuhr von Flüssig- 
keit sahen. Wir injizierten hierbei 1 Liter Normosal im Verlauf 
von 10—20 Minuten in die Subkutis des Oberschenkels und be- 
stimmten wie bei den anderen Versuchen fortlaufend das Hämoglobin. 
In diesen Versuchen sahen wir nie eine Diurese auftreten. Die 
Hämoglobinwerte sanken nach 40—60 Minuten zu einer einzelnen 
Verdünnungswelle ab; nach 4—5 Stunden war in der Regel der 
Nüchternwert wieder erreicht. Auch hierbei fehlte stets die rasch 
eintretende initiale Verdünnung und der diphasische Verlauf der 
Kurve. Diese sind also beide an die perorale Aufnahme gebunden 
und finden ihre Erklärung wohl auch zum Teil durch die hierdurch 
gegebenen besonderen Verhältnisse. So spielt wohl die Aufsaugung 
vom Darm her und die Passage der Leber, auf deren Funktion im 


362 MARX 


Wasserhaushalt besonders Pick, Molitor (15) und Eppinger (16) 
hingewiesen haben, eine wichtige Rolle in Ablauf dieser Vorgänge. 

Die wechselnde Einstellung des Organismus, die wir also zum 
Teil +) durch die Vorperiode erklärbar fanden, ist noch in folgendem 
zu erkennen: Nach allem bisher Gesagten ist es zur Bestimmung 
eines exakten Hämoglobinwertes, etwa zu hämatologischen Zwecken, 
unerläßlich, daß man morgens nüchtern entnimmt. Verfolgt man 
nun über Monate hin den Nüchtern-Hb-Gehalt eines gesunden 
Menschen, so findet man erhebliche Schwankungen, bis zu 20°. 
Diese treten'u. U. so rasch von einem einem Tage zum anderen auf, 
daß sie nicht auf Schwankungen der Hämatopoese bezogen werden 
können. Vielmehr klärt sich die Erscheinung, wenn wir die dabei 
die Abläufe im Wasserhaushalt des Organismus in Betracht ziehen. 
Hierzu genügt es, das Körpergewicht, das spezifische Gewicht des 
Nüchternharnes und den Ablauf des Trinkversuches an den einzelnen 
Tagen zu beobachten. 

Die Tabelle 2 zeigt die Nüchtern-Hb-Werte eines gesunden 
24jährigen Mannes von 68 kg an 26 Tagen im Verlauf von 4 Mo- 
naten. Man erkennt deutlich, daß der Hb-Gehalt an den Tagen 
höher ist, an denen auch das spezifische Gewicht des Nüchtern- 
harnes höher ist (es wurde dabei stets die Portion von 6—8 Uhr 
morgens gemessen), an denen die Bilanz im Trinkversuch positiv 
ist und das Körpergewicht erniedrigt ist. Hier besteht also zweifel- 
los eine Flüssigkeitsverarmung des Organismus, die z. B. am 9. 11. 25 
(siehe Tab.) durch einen anstrengenden Fußmarsch mit reichlich 
Schwitzen und wenig Trinken absichtlich erzeugt war. Hingegen 
fanden wir an den Tagen mit negativer Bilanz im Trinkversuch, 
mit niederem spez. Gewicht im Nüchternharn und höherem Körper- 
gewicht, also bei Wasserreichtum des Körpers einen niedrigeren 
Hb-Gehalt. Man erkennt an der Tabelle, wie selbst geringe Schwan- 
kung im Wasserhaushalt von gleichsinnigen Schwankungen der 
Hb-Werte begleitet werden. 

Diese Verhältnisse sind auch für die Praxis der Hb-Bestimmung 
von Bedeutung. Vielleicht kann z. B. die Zunahme der Hb-Werte 
im Hochgebirge zu einem Teil durch die veränderte Bedingung für 
den Wasserhaushalt (trockene Luft usw.) erklärt werden. 

Es sei noch hinzugefügt, daß wir aus 220 Nüchtern-Hb-Be- 


1) Daß auch idiotypische Momente für die Einstellung des Wasserhaushaltes 
von Bedeutung sind, zeigten uns Trinkversuche an eineiigen Zwillingen. Wir 
fanden bei einigen Paaren eine fast völlige Übereinstimmung sowohl im Ablauf 


der Diurese als auch in den Veränderungen im Blute. 


Untersuchungen über den Wasserhausbalt. 363 


stimmungen mit Hilfe des von Bürker selbst spektroskopisch ge- 
eichten Apparates von 90 Gesunden einen Mittelwert von 15,68 g °/, 
gefunden haben. Er liegt älso höher, als der Normalwert von 
Bürker mit 15 g°/, und der von Barcroft mit 14 g°/,. Neuer- 
dings fand Osgood bei der Untersuchung von 137 Gesunden am 

häufigsten Werte zwischen 15,5 und 16,0 g °h. 


Tabelle 2. 
H. M., 24 Jahre 68,5 kg. 


| 
'Bilanz im Körper- | Hb in , Trocken- 


Datum ; Wasser- | Ta gewicht a ‚rückstand Bemerkungen 
' versuch | i in kg 8’0 ‚Ges. Blut 
l | 

6. VII +280 | 1024 | 686 15,90 | 

9. „ + 80 | 1026 | 685 16,22 

10. „ +140 | 1035 68,7 16,48 

11. . | — 180 | 1026 691 15,82 | 

14. „ + 60 | 1027 | 692 16,29 

16. „ — 20 | 1026 ; 693 15,81 

18. 1320 ` 1027 |! 690 16,47 

2. VIIL | — 80 | 1021 | 691 15.60 | 

4. „ — 140 | 1027 69,1 15,20 | 

20. „ +240 | 1027 68,1 14,25 | Vom 7.—19. Infekt. 

22. | — 60 | 1020 68,0 14,18 | 

24. — 60 ! 1020 68,4 14,62 

2D. n 1027 | 68,1 15,05 | 22,55 

26... | —100 | 108 ; 686 14,65 

2T. 7 — 60 | 101 | 68 | 1420 

2o o — 120 ' 1020 | 689 14,30 22,20 

1. IX. —180 | 1021 | 688 14,45 

Di — 80 | 1019 ! 686 15.20 

10. „ © + 10 | 1022, 68,8 15.62 | 

5, | + 40i 106 | 687 15.82 15. IX.—1. X. in 

| | Berchtesgaden 

1. X —- so! 1023 ' 692 1512 | | 

5. „ + 60 | 1027 690 | 1555 ` | 

1. XL — 20 ! 1022 69,1 15,50, 2165 

9, . | -+ 240 | 1032 ° 686 1742 | 23.20! Am Vortage 5stünd. 
i | | | Marsch 

2... | -10: 1025 | 692 | 1580 21,80 

16. | —100 ; 1024 69,2 15,42 ° 21,70 


| 


Die bisher beschriebenen Vorgänge gelten nur für den gesunden 
Erwachsenen. Bei Kranken fanden wir bei der Untersuchung des 
Blutes nach dem Trinken eine Reihe von Abweichungen. Unser 
Material ist zwar noch zu klein, um weitgehende Schlüsse zu ge- 
statten, doch haben sich einige typische Verhältnisse ergeben. Die 
fortlaufenden Hb-Bestimmungen nach dem Trinken gewähren uns 
einen gewissen, wenn auch beschränkten Einblick in die Vorgänge 
zwischen Blut und Gewebe, deren Beobachtung bei manchen Er- 
krankungen besonders wichtig ist. 


| 


364 Marx 


Bei akuter Nephritis sahen wir in 4 Fällen ein spätes 
Eintreten (nach etwa 50 Minuten) und sehr langes Andauern einer 
einzelnen oft sehr tiefen Verdünnungswelle; erst nach 6—7 Stunden 
war der Nüchternwert wieder erreicht. Ähnliches beobachteten 
schon Daniel und Högler. Bei der schlechten Wasserausscheidung 
‘ dieser Kranken könnte man daran denken, daß das resorbierte Wasser 
durch die erkrankten Nieren in der Blutbahn zurückgehalten wird; 
so spricht Falta in diesem Falle von einer „Retentionshydrämie‘“. 
Für diese Auffassung spräche auch vielleicht noch, daß wir bei 
einem Kranken (siehe Abb. 4a, b) bei der Ausschwemmung der 
Ödeme und Besserung des Zustandes (b) einen Wiederanstieg der 
Hb-Werte nach 3 Stunden fanden, der vorher bei ihm im Stadium 
der starken Ödeme (a) gefehlt hatte. Doch haben wir wiederholt 
darauf hingewiesen, daß der Zusammenhang zwischen Hydrämie 
und Diurese wesentlich komplizierter ist. 

Bei manchen SchrumpfnierenkrankenmitIsostenurie 
sahen wir nach dem Trinken eine einzelne rasch vorübergehende 
(initiale) Verdünnungswelle, während nach 60 Minuten etwa die 
Hb-Werte unverändert auf dem Nüchternwert blieben und die 
sekundäre Welle vollständig fehlte. Es weist dies auf eine schwere 
Störung des Stoffaustausches zwischen Blut und Gewebe bei diesen 
Kranken hin; und der Gedanke liegt nahe, daß auch im Symptomen- 
komplex der „Sekretionsstarre* extrarenale Faktoren wesentlich 
mitbeteiligt sein können (Abb. 5). Man könnte sich wohl vorstellen. 
daß die gleichen krankhaften Veränderungen, wie sie an den Nieren- 
gefäßen am leichtesten anatomisch faßbar sind, das gesamte Kapillar- 
system betreffen und hier zu einer allgemeinen Funktionsstörung 
führen. Die Nierenveränderungen sind hierbei nur Teilerscheinungen, 
die „Funktion des Nierenrestes* nicht die einzige Störung, wenn 
freilich auch die Veränderungen in den anderen Gefäßgebieten weit 
schwieriger nachzuweisen sind. 

In diesem Zusammenhange möchte ich noch kurz erwähnen, 
daß ich bei Kranken mit essentieller Hypertonie den gleichen 
Kurvenablauf wie beim Gesunden fand. 

In Trinkversuchen an Kreislaufkranken fanden wir sowohl 
im Stadium der Kompensation, als auch bei hydropischen Kranken 
neben den Ausscheidungsstörungen Hb-Kurven, die vom Normalen 
stark abwichen. Tabelle 3 zeigt die Verhältnisse bei einer Kranken 
mit einem Mitralvitium, die seit über einem Jahr frei von Ödemen 
und arbeitsfähig ist; man erkennt einen ganz atypischen Verlauf 
mit 4 maliger tiefer Senkung der Hb-Werte. 


Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 365 


Tabelle 3. 
Frau Th., 40 Jahre. 


. Harn- N Körpergewicht . 0 
Zeit menge | Spez. Gew nn ke | Hb in g% 
845 80 1031 51,2 12,94 

1000 H,0 
9 52,2 12,05 
918 20 1026 11,62 
gw 12,20 
gen 130 1004 10,75 
1015 250 1001 | 11,70 
10 360 1000 13,18 
1148 RO 1007 11,72 
12143 50 1012 12,82 
145 y0 1018 , 51,1 13,02 


8w 9 æ 70 3x% N Jo T Jo 7 %2 


#8 9 Jo R zo 7T? g0 72 J30 7 0 


Harnmenge 100 


a 


Kurve 5. a) Herr K., 56 J.. 54 kg. b) Frau Nch., 
52 J., 62 kg. 


Kurve 4. Herr P., 54 J., 60,5 kg. 


Solche Befunde können für die Annahme verwertet werden, 
daß die Störung im Wasserhaushalt bei solchen Kranken nicht nur 
auf die mangelhafte mechanische Leistung des Herzens zu beziehen 
sind, sondern daß, wie bei den Nierenkranken, eine generalisierte 
Erkrankung der Gefäße mit Funktionsstörung auch des Kapillar- 
gebietes vorliegt. Von anderen Gesichtspunkten aus hat jüngst 
Eppinger pathologische Veränderungen im peripheren Kreislauf 
zur Erklärung des Asthma cardiale herangezogen. Die von ihm 
beobachteten vasomotorischen Störungen könnten die Grundlage für 
Veränderungen der Austauschvorgänge bilden. (Näheres hierüber 
in der folgenden 4. Mitteilung.) 

Sehr deutliche und auffallende Abweichungen fanden wir 
schließlich bei Kranken mit Störungen des Wasserhaushalts bei 


366 Marx 


Störungen der inneren Sekretion. Nächst der Schilddrüse, 
über deren Einfluß auf den Wasserhaushalt Eppinger (15) umfang- 
reiche Untersuchungen angestellt hat, wissen wir noch von Neben- 
nieren und Hypophyse, daß ihr Inkret eine Wirkung auf den inter- 
mediären Wasserwechsel hat. Neben ausgedehnten experimentellen 
Arbeiten liegen nur wenige Beobachtungen an Kranken vor. So 
hat Veil (16) über Veränderungen bei Myxödem und pluriglandu- 
lären Erkrankungen berichtet; von Diabetes insipidus ist lange 
bekannt, daß er mit Veränderungen in der Hypophyse i im Zusammen- 
hang stehen kann. 


Ich möchte nur kurz über 2 einander ähnliche Fälle berichten. 
Im ersten handelt es sich um eine 28jährige Patientin mit enormer 
Adipositas, die besonders den Körperstamm betrifft (1,61 m groß, 
Körpergewicht 88,6 kg). Die Fettsucht hat bei ihr im Laufe der 
letzten 3 Jahre stark zugenommen, gleichzeitig wurde die Men- 
struation unregelmäßig und sehr schwach. Schon seit 4 Jahren 
hat sie über stetes Durstgefühl zu klagen, so daß sie tagsüber 
etwa 4, nachts gewöhnlich 1 Liter Flüssigkeit (Wasser, Kaffee) trinkt. 
Die Harnausscheidung ist bei ihr ganz unregelmäßig, und zwar 
wechseln Tage mit ausgesprochener Obligurie, an denen das Körper- 
gewicht sprunghaft steigt, mit solchen Tagen, an denen sie große 
Flüssigkeitsmengen ausschwemmt. Während dieses Wechsels sind 
das Durstgefühl und die Trinkmengen unverändert gleich. Von 
allen versuchten Entfettungskuren half ihr nur eine Behandlung 
mit Hypophysin vor 7 Monaten vorübergehend. Jetzt klagt die 
Patientin über starke Kopfschmerzen, quälendes Durstgefühl und 
zunehmende Fettsucht; besonders morgens „sei sie oft so verquollen, 
daß sie kaum aus den Augen sehen könnte“. Der Harn ist frei 
von Eiweiß und Zucker, Sediment o. B. Blutdruck 120 mm Hg. 
Wa.R. neg. Sella turcia ohne Veränderungen. Die Tabelle 4 zeigt 
2 Trinkversuche von der Patientin zwischen denen 2 Tage lagen. 
Neben der schlechten Ausscheidung durch die Nieren fällt die stark 
verminderte extrarenale Wasserabgabe auf. Die Konzentrations- 
breite des Harnes ist deutlich eingeschränkt, besonders im zweiten 
Versuch (1010—1004). Die Hb-Werte zeigen keine Blutverdünnung. 
vielmehr steigen sie in beiden Versuchen nach dem Trinken prompt 
und deutlich an. Hier bewirkt das Trinken scheinbar einen Reiz 
für das Gewebe, Flüssigkeit aus der Blutbahn abzusaugen, es kommt 
zu einer deutlichen Bluteindickung. 


Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 367 


Tabelle 4. 
Frl. H., 28 Jahre 87,2 kg. 
Harn- Re | Körpergewicht | x Bo 
Zeit | menge | Spez. Gew. in kg Hb in g% 
5. V. 1926. 
gh | 60 | 1017 87,2 12,40 
| 1000 H,O 
9:5 — 88,2 14,32 
gso | 30 1015 13,72 
gss | = | | 13,80 
10 | 80 | 1009 13,98 
1030 150 1003 14,16 
11” 250 1003 13,10 
1230 80 1016 13,42 
1% 30 1018 87,5 13,38 
8. V. 1926 
ga 100 | 1007 : 87,6 | 12,52 
1000 H,O \ | 

> = | | 88,6 | 12,92 

; | _ | | 13,5 
gs0 | 180 1010 ()) 14,08 
10 90 1007 | 1835 
11 | 90 | 1004 14.30 
12 120 i 1007 13.42 
1 | 70 1010 | 13,32 
0] | en (9 
daa 30) | 1110 | 87,9 12,38 

Tabelle 5. 
J. D., o 36 Jahre 69,5 kg. 
PAE: Harn- F Körpergewicht . 
Zeit menge Spez. Gew. | in kg Hb in g% 
gr 40 1024 69,5 | 12,40 
~ 1000 4,0 z 

915 | — 70,5 12,22 
930 30 1021 Ä 11,70 
945 | en 11,75 
10 40 1020 | 11,72 
103° — | 11,90 
11 S 12,12 
1130 40 1020 | 12,40 
12 u | 12.25 
1 | = ' 12,02 
2 40 | 1020 | 70,25 11,85 


(i 


Der zweite Fall betriftt einen Kranken mit auch röntgeno- 
logisch an den Sellaveränderungen nachweisbarem Tumor der 
Hypophyse, der im Laufe von 5 Jahren zu einer Erblindung des 
Patienten durch Optikusatrophie und zu einer zunehmenden Fett- 
ansammlung besonders am Abdomen geführt hat; gleichzeitig ist 


368 Marx 


die Libido sexualis geschwunden. Bei diesem Kranken kommt es 
(Tab. 5) zwar nach dem Trinken zu einer geringen Abnahme der 
Hb-Werte, die Verdünnung ist jedoch sehr gering und der Kurven- 
verlauf ganz atypisch. Von einem Liter Wasser wurden in 
5 Stunden nur 160 g durch die Nieren, nur 50 g extrarenal aus- 
geschieden. 

Schließlich möchte ich noch kurz einen Patienten erwähnen, 
bei dem es nach einem Schrappnellschuß in das rechte Occipital- 
hirn zu einer schweren Polyurie mit Polydipsie kam. Im Laufe 
von 10 Jahren hat sich der Zustand langsam gebessert. Jetzt 
trinkt der Kranke noch etwa 4 Liter (nachts etwa ?/, Liter) neben 
den Mahlzeiten her, weil „er sonst so heiser. wird, daß er nicht 
sprechen kann“. Der Trinkversuch ergibt bei ihm (Tab. 6) eine 
weit überschießende Ausscheidung und deutlich eingeschränkte 
Konzentrationsbreite des Harnes. Der Hb-Gehalt steigt nach dem 
Trinken zunächst deutlich an und zeigt nur nach ?°/, Stunden eine 
geringe, rasch vorübergehende Blutverdünnung. 


Tabelle 6. 
Joh. Ad., 43 Jahre. 


7» 200 Kaffee 

98160/1014 

1? 130;1015 

FR | Harn- Körpergewicht : 
Zeit menge Ä Spez. Gew in fig Hb in g°% 
13 e | 15,60 
2 — | 15,55 
230 40 1015 69,4 | 15,62 
un 1000 4,0 | u 

2 = | 70,4 16,38 
3 140 1008 | 15.88 
333 — 15,05 
PEN 190 1008 | 15,50 
q 240 1003 15,16 
430 300 1003 | 15.30 
5 260 | 1003 1542 
p30 | 210 1006 | 16,12 
6 50 | 1008 16.20 
63° Ä 30 1010 15.90 
7. | 40 Ä 


1010 | 68,7 15,92 


Aus meinen Untersuchungen möchte ich als wichtig hervor- 
heben: | 

Bei der Betrachtung des Wasserhaushaltes dürfen wir weder 
allein die Nierenfunktion, noch allein die Austauschvorgänge 
zwischen Blut und Gewebe in Betracht ziehen, vielmehr müssen 


Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 369 


wir vor allem auf das Zusammenspiel aller am Wasserhaushalt 
beteiligten Vorgänge und auf die Funktion der sie beherrschenden 
Regulationsmechanismen sehen. 


Wenn wir nach dem Trinken den Einstrom einer eiweiß- und 
kochsalzarmen Flüssigkeit in die Blutbahn finden, so liegt es nahe, 
dies durch die Resorption der Flüssigkeit vom Darm her zu er- 
klären; die genauere Betrachtung zeigt jedoch, daß die Vorgänge 
viel verwickelter liegen und daß die Flüssigkeitsaufnahme nur den 
Anstoß bedeutet, während der Ablauf der Reaktion von ganz ver- 
schiedenen Momenten abhängt. Die Einzelheiten des Ablaufs und 
den anatomischen Ort, wo ame Vorgänge sich abspielen, kennen 
wir nur teilweise. 


Blutverdünnung und Diurese sind zweifellos miteinander ver- 
knüpft, aber nicht im Sinne einer einfachen Abhängigkeit von- 
einander. Vielmehr sind beide Funktionen miteinander koordiniert 
und unterstehen, wie meine Hypnoseversuche gezeigt haben, einer 
gemeinen zentralen Regulation. 


Für die Vorgänge im Wasserhaushalt nach Trinken ist die 
Vorperiode oft von entscheidender Bedeutung; sowohl die Zusammen- 
setzung der zwischen Blut und Gewebe ausgetauschten Flüssigkeit, 
als auch der Ablauf der Veränderungen im Blute zeigen sich von 
ihr abhängig. Weiterhin lassen sich in längeren Zeiten ganz er- 
hebliche Schwankungen im Wasserbestand des Körpers und in der 
Wasserverteilung besonders in der Plasmamenge unter den ver- 
schiedensten Bedingungen erkennen. Diese spiegeln sich besonders 
deutlich in den Abweichungen des früh nüchtern bestimmten Hämo- 
globingehaltes. 


Um den Wasserhaushalt des Organismus zu beurteilen, genügt 
es nicht den Zustand, etwa den Wasserbestand aus dem Körper- 
gewicht festzustellen; vielmehr ist es unsere Aufgabe, aus der 
Reaktion auf verschiedene Beeinflussung hin, etwa im Trinkversuch, 
ein Urteil über die Tendenz und die Einstellung des Wasser- 
haushaltes zu gewinnen. 


Auch für das Verständnis der Vorgänge bei Kranken ist es 
wichtig, auf die Korrelation der Funktionen und deren Störung 
zu achten. So sahen wir bei Kranken mit akuter Nephritis neben 
der Nierenstörung Veränderungen der Austauschprozesse zwischen 
Gewebe und Blut. Ebenso finden wir bei Kranken mit Schrumpf- 
nieren Abweichungen des Stoffaustausches, die nicht von der ge- 
störten Nierenfunktion abhängen. Auch bei diesen Kranken handelt 

Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 24 


370 Marx, Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 


es sich offenbar nicht nur um eine „Organerkrankung“ sondern um 
eine ganz allgemeine Störung in den Gefäßen und Geweben. 

Auch bei Kreislaufkranken fand ich eine deutliche Alteration 
dieser Vorgänge. 

In alledem erweist sich die „Plasmamenge“ als eine überaus 
variable Größe. Wir können danach verstehen, daß die nicht sehr 
zahlreichen einwandfreien Beobachtungen bisher nicht zu einem 
eindeutigen Ergebnisse geführt haben. Solche wären nur zu er- 
warten, wenn stets unter genau vergleichbaren Bedingungen unter- 
sucht werden könnte, und wenn nicht nur Momentaufnahmen 
gemacht würden, sondern zugleich der Ablauf unter verschiedenen 
Bedingungen untersucht würde. Schließlich möchte ich noch darauf 
hinweisen, daß die Schwankungen der Plasmamenge, die wechselnde 
Füllung der Gefäßbahn für die Kompensation des Kreislaufs sicher 
von großer Bedeutung ist. 


Literatur. 


1. H. Marx, Klin. Wochenschr. 1925, Nr. 49. — 2. Ders., Klin. Wochen- 
schr. 1926, Nr.3. — 3. Ders., Kongr. f. inn. Med. 1926. — 4. J. Blix, Biochem. 
Zeitschr. 1916, Bd. 74, S. 302. — 5. Siebeck, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 128, 
S. 173, 1919 u. Physiologie des Wasserhaushaltes. Handb. d. norm. u. pathol. 
Physiol. v. Bethe usw. Bd. 17, S. 161, 1926. — 6. F. 0O. Heß, Dtsch. Arch. 1993, 
Bd. 79, S. 128. — 7. Hofmeier, Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. 1923, Bd. 35. 
S. 191. — 8. Hofmann u. Schüler, Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. Bd. 30, 1922. 
S. 148. — 9. Barcroft, Naturwissenschaften 1925, Bd. 13, 8. 325. — 10. Veil. 
Ergebn. d. inn. Med. u. Kinderheilk. 1923, Bd. 23, S. 648. — 11. Daniel u. 
Högler, Wien. Arch. f, inn. Med. 1922, Bd. 4, S. 167. — 12. Starlinger u. 
Hartl, Biochem. Zeitschr. Bd. 160, S. 129. — 13. Falta, Wien. klin. Wochen- 
schr. 1926, Nr. 8, S. 205. — 14. Rusznyak, Biochem. Zeitschr. 1921, Bd. 114. 
S. 23. — 15. Pick u. Molitor, Arch. f. exp. Path. Bd. 79, 5. 335. — 16. Ep- 
pinger, v. Papp u. Schwarz, Das Asthma cardiale. Springer 1924. 


371 


Besprechungen. 


1. 


The Life of Sir William Osler, by Harvey Cushing. In 
two volumes. Clarendon Press, Oxford 1925. 


Wer Osler nicht gekannt, wer sich nie in dem von dieser merk- 
würdigen Persönlichkeit ausstrahlenden Lichte gesonnt hat, wird sich 
auch aus diesem umfangreichen und höchst bedeutenden Werk Cushing’s 
keine klare Vorstellung über ihn machen können. Er wird sich darüber 
wundern, daß eine so ausführliche, mit so zahllosen Dokumenten belegte 
Biographie einem Manne gewidmet wurde, dessen Namen er zwar aus 
der Literatur kennt, der aber nicht zu den großen Entdeckern und Re- 
formatoren der medizinischen Wissenschaft zu gehören scheint. 

Allerdings, beim Lesen der ersten Abschnitte dieses Werkes kann 
der Leser bemerken, daß in dem medizinisch gänzlich geschichts- und 
traditionslosen Amerika von vor 50 Jahren Osler der erste war, welcher 
nach kontinental-europäischen Begriffen einen regelrechten klinischen 
Unterricht aus ungefähr nichts geschaffen hat. Für Amerika war er 
ein Reformator und wie sehr diese Tatsache von den jetzt noch lebenden 
Zeitgenossen Osler’s anerkannt wird, geht aus der Widmung des hier 
besprochenen Werkes hervor, welche lautet: „Den Medizinstudierenden, 
in der Hoffnung, daß etwas von Osler’s Geist („spirit“) einer Genera- 
tion übermittelt werde, welche ihn nicht gekannt hat; und besonders den 
amerikanischen Studenten, damit nicht vergessen werde, wer er war, der 
es ihnen ermöglichte, in den Krankensälen am Krankenbette zu arbeiten.“ 

Rein wissenschaftliche Forschung wird hauptsächlich aus 
Osler’s Jugendjahren berichtet. Gefesselt durch das Mikroskop, wie 
so mancher junge Forscher in jener Zeit der sich entwickelnden Technik 
der Mikroskopie, begann er als Morphologe, studierte die kleinsten Lebe- 
wesen und wurde dabei von der eben erwachenden Bakteriologie und 
durch das Studium der Krankheitsursachen mitgerissen. Bald aber 
packte ihn das Interesse für den kranken Menschen selbst und für die 
zahllosen, am Krankenbette auftauchenden Fragezeichen und Probleme. 
Mit seinem warmen Herzen begeisterte er sich für die Bekämpfung der 
Leiden der Menschheit und drängte es ihn zur Mitteilung seines Wissens 
und seiner Ideen an Jüngere. So wurde er schon in jungen Jahren ein 
gesuchter und hochgeschätzter Lehrer und es wurden ihm Lehrämter an 
verschiedenen Medizinschulen angetragen. Nach seinen großen Erfolgen 
an McGill und Pennsylvania, bekam er die für sein Leben ent- 

24% 


372 Besprechungen. 


scheidende Aufforderung, in Johns Hopkins Hospital, Baltimore, eine 
„Medical school“ nach modernen Begriffen einzurichten. Er nahm sich 
dabei diejenige Lehrmethode zum Beispiel, welche man die deutsche 
nennen kann. Er kannte aus einer früheren Europareise die in den 
meisten Universitäten des Kontinents schon Dezennien herrschenden 
„wissenschaftlichen“ Prinzipien des medizinischen Unterrichts und nahm 
in 1890 neuerdings, auf einer zweiten Reise, seine Studien über diesen 
Gegenstand auf. Bezeichnend ist folgender Passus aus einem hier mit- 
geteilten Briefe aus Straßburg, in welchem es heißt: „I should say that 
the characteristic, which stands out in bold relief in German scientific 
life, is the paramount importance of knowledge for its own sake. 
The presence in every medical centre of a class of men devoted to 
scientific work gives a totally different aspect to professional aspi- 
rations.“ DBezeichnend ist auch die Tatsache, daß er unter dem Ein- 
druck des Gesehenen, schon im folgenden Jahr sein später berühmt ge- 
wordenes Lehrbuch „Principles and Practice of Medicine“ schrieb, 
welches, obgleich in vollkommen origineller Weise verfaßt, dem Bedürf- 
nisse nach möglichst wissenschaftlicher Grundlage unseres Denkens und 
Handelns voll entspricht. Auch dieses Lehrbuch bedeutete für Amerika 
eine umwälzende, reformatorische Tat. 

Als Lehrer, als leitender und führender Arzt, als Propagator wissen- 
schaftlicher Prinzipien in Forschung und Praxis war Osler unüber- 
troffen. Zur Erreichung seiner Ziele widmete er einen sehr großen Teil 
seines Tages oder auch seiner Nächte der medizinisch journalistischen 
Arbeit für die ärztliche Presse und dem Abhalten zahlreicher Vorträge 
für Arzte. Dann aber führte ihn sein Schicksal nach England auf den 
altehrwürdigen Posten des „regius professor of Medicine“ in Oxford. 
Hiermit hatte er die höchste für den englischen Arzt erreichbare Schwelle 
überschritten. 

Auch in England hat er Großes geschaffen, unter anderen auf dem 
Gebiete der Geschichte der Medizin und der alten Medizinischen Biblio- 
graphie. Groß war sein Einfluß in allen Schichten und Schattierungen 
der englischen Arzteschaft und doch — mit allen diesen Leistungen und 
Erfolgen hat Osler sich den Weltruf, die ungeteilte Bewunderung, 
Freundschaft und Liebe seiner Umgebung und auch dieses monumentale 
Werk nicht erobert. Es war Osler selbst, seine „Humanitas“, seine 
unendliche Güte, der Ernst seiner Überzeugung, seine wahrhafte Tugend 
und dabei sein unerschöpflicher Humor, es war seine ganze, kleine, leb- 
hafte, bezaubernde Person, welche ihm überall den Weg zum Herzen 
der ersten und der letzten seiner Mitmenschen finden ließ. Weir 
Mitchell, Psychiater und Dichter, preist Osler’s geistige Eigen- 
schaften und schließt mit diesen Worten: 

„And in the practice of life's happiest Art“ 
„You little guessed how easily you won 
The added Friendship of the open Heart.“ 

Es waren hohe Ideale, welche Osler mit schlichter Selbatverständ- 
lichkeit angestrebt hat; Th. Brown’s „religio medica“ gab ihm die 
Richtschnur nicht weniger als die Bibel, welche er, wenn auch im 
späteren Leben nicht mehr mit dem festen Glauben seiner Jugend, aus- 


Besprechungen. 373 


nehmend gekannt und befolgt hat. War es reine Güte, welche ihn mit 
lebhaftem Interesse und Humor seiner Umgebung in Freundschaft ver- 
band, es war seine große Tugend. welche nicht im schwarzen Priester- 
kleide, sondern mit herzgewinnender Heiterkeit, andere zur Tugend 
zwang. Garrison schreibt: „Wherever Osler went, the charm of 
bis personality brought men together; for the good in all men he saw, 
and as friends of Osler, all men met in peace.“ Tatsächlich 
wurden in seiner Nähe nichts Schlechtes über einen Abwesenden gesagt; 
Osler hätte es nicht vertragen; und wo noch jetzt über Osler ge- 
sprochen wird, da fühlt man sich in reiner Luft! Viele werden das 
vielleicht mit Recht als einen Erfolg im Leben betrachten, welcher 
mancher großen Entdeckung die Wage hält... . 

Sein Ideal des akademischen Lehrers fand er in jungen Jahren in 
seinem väterlichen Freunde James Bovell verkörpert, von dem er 
sagt: „and in him (was) all that one could desire in a teacher — a 
clear head and a loving heart.“ Übrigens waren seine Außerungen über 
den akademischen und im besonderen über den klinischen „Chef“ ebenso 
frisch und persönlich wie zutreffend. „From my point of view there is 
only one intellectual infection of any permanent value for tbe medical 
student: scientific spirit, outlook and attitudo of mind. If good it lea- 
vens his lifes work. That he may be steeped in it and be at the 
same time tboroughly practical is the experience of scores of teachers.“ 

Er ist ein Gegner des „whole time“ klinischen Professors u. a. 
wegen der Gefahr, welche darin liegt, daß der Student und zukünftige 
Praktiker an eine Gruppe von Lehrern ausgeliefert wird, die vollkommen 
unbekannt mit den Bedingungen sind, unter welchen er zu arbeiten 
haben wird. 

Wo er die Schwierigkeiten des Amtes des akademischen Lehrers 
bespricht, sagt er u. a.: „Nur eine Rettung gibt es für den Direktor 
einer Klinik oder eines Institutes, er muß Mitarbeiter („associates* = 
Assistenten) haben, welche von gewissen Unterrichtegegenständen mehr 
wissen als er selbst!“ 

Berühmt sind Osler’s Laienpredigten „Aegquanimitas“ und „A Way 
of life“, in welchen er die „attitude of mind“ des Arztes, die Lebens- 
weisheit, welche dieser braucht, in einer Weise schildert, wie vor und 
nach ihm vielleicht kein anderer. Beide Reden hielt er für Studenten; 
die letzte im 64. Lebensjahre, mit der ganzen Erfahrung eines reichen 
Lebens als Arzt und Wegweiser der Jugend. Sein Rat war: sorge nicht 
für das Morgen, laß’ das Gestern dich nicht drücken, leiste die Arbeit 
des Heute so gut du kannst und mit Liebe! „The load of to-morrow, 
added to that of yesterday, carried to-day makes the strongest falter.“ 
„The quiet life in day-tight compartments will help you to bear 
your own and other’s burdens with a light heart. Pay no heed to the 
Batrachians who sit croaking idly by the stream. Life is a straight, 
plain business and the way is clear, blazed for you by generations of 
strong men, into whose labours you enter and whose ideals must be your 
inspiration.“ 

Wer Osler nicht gekannt hat, wird schon aus den wenigen, hier 
übernommenen Aussprüchen, mehr und besser als aus seinen wissenschaft- 


374 Besprechungen. 


lichen Arbeiten, ersehen, welcher Art dieser Erstaunlichste aller Ärzte 
war. Ihn besser bekannt zu machen, seine ganz exzeptionelle Persön- 
lichkeit für die Nachwelt festzulegen, ist das Ziel, welches sich Cushing 
mit dieser Sammlung von Briefen und Biographien gestellt hat. Niemand 
kann dieses Buch zur Hand nehmen, ohne tiefen Respekt für die ge- 
leistete Arbeit zu empfinden, und für die Art in der sie geleistet wurde. 
Bei der Beurteilung ist es ein Gebot, nicht aus dem Auge zu verlieren, 
daß Cushing ausdrücklich „mömoires & service“ hat schreiben wollen. 
„Here are merely the outlines for the final portrait, to be painted when 
the colours, lights and sbadows come in time to be added.“ Wer das 
Werk allzu umfangreich findet und etwas ermüdend zu lesen, bedenke, 
daß er es später oft und oft in die Hand nehmen und ruhiger die hier 
aufgestapelten Schätze genießen wird, als bei der ersten Lesung, welche 
naturgemäß zum Ende drängt. Zweifellos hat sich Cushing nach einer 
von ihm zitierten Außerung Osler’s gerichtet: „Meine eigene Meinung 
ist, daß ausgewählte Briefe uns wenig über den Charakter eines Menschen 
sagen, daB man aber, wenn es möglich wäre, alle Briefe und Aufzeich- 
nungen und außerdem alle Schecks, welche diese Person in ihrem Leben 
geschrieben hat, zu sammeln, dann eine Meinung baben könnte.“ Aller- 
dings, alle Briefe Osler’s wären zu viel gewesen, denn er erfreute alle 
seine Freunde mit häufig kurzen, jedoch immer die Freundschaft be- 
friedigenden „Notes“. So wäre es auch mit seinen Schecks gewesen, 
doch liest man auch über diesen Punkt häufig nur zwischen den Zeilen 
dieser Biographie. Sie ist überhaupt in vielen Hinsichten einzig da- 
stehend oder jedenfalls „ein seltener Fall“. Es ist vor allem der 
Chirurg Harvey Cushing, der damit Jahre seines Lebens dem 
Andenken seines Freundes, des Internisten Osler opfert. Der Name 
des Biographen ist im mächtigen Namensregister nicht zu finden und 
seine Persönlichkeit läßt sich nur durch Eingeweihte an vielen Stellen 
binter persönlichen Mitteilungen vermuten. War je eine solche Be- 
scheidenheit eines Biographen? Komposition und Durchführung sind 
hoch zu loben. Daß man vor lauter Bäumen hier und da den Wald 
nur undeutlich sieht, daß bei dieser großartigen Analyse der Persönlich- 
keit Osler’s nicht immer der Mann uls Ganzes vor uns steht, scheint 
mir bei dieser so berechtigten Art der Behandlung des Stoffes unver- 
meidlich. DaB das Werk so umfangreich geworden ist und für den 
Durchschnitts-Mitteleuropäer unerreichbar, man möge es bedauern, es 
trifft damit den Autor kein Vorwurf. Vielleicht wäre es doch, trotz 
Ösler’s Worten über Briefe, erwünscht aus diesem riesigen Strauß ein 
kleineres, für einen weiteren Leserkreis von nicht intimen Freunden be- 
stimmtes Sträußchen zu sammeln; es wäre als abendliche Lektüre für 
den angehenden Mediziner ein prächtiger Wegweiser, dem Arzte nach 
schwerem Tage Trost und Stütze, dem jungen akademischen Lehrer der 
Wegbereiter zu hohen Idealen, dem zurückblickenden älteren Kämpfer 
ein lieber Genosse auf dem Wege zum Endziel des Lebens. 


(Wenckebach) 


Besprechungen. 375 


Voeleker und Ledderhose, Chirurgische Erkrankungen 
und Verletzungen der Harnorgane. Pels-Leusden, 
Chirurgische Erkrankungen und Verletzungen der 
männlichen Geschlechtsorgane. 10. Heft der Samm- 
lung „Diagnostische und therapeutische Irrtümer und deren Ver- 
hütung“, herausgegeben von J. Schwalbe, 136 Seiten. Thieme, 
Leipzig 1925. Preis 5.70 M. 


Der vorliegende Band ist in seinem diagnostischen Teil von Voelcker, 
in seinem therapeutischen von dem vor kurzem verstorbenen Ledder- 
hose bearbeitet. Die diagnostischen Schwierigkeiten, die ja am häufig- 
sten Veranlassung zu Irrtümern geben, sind in so klarer Weise darge- 
legt, ihre Vermeidung so sehr bis ins Einzelnste beleuchtet, daß ein auch 
nur wenig mit der Materie Vertrauter den richtigen Weg zur Diagnose 
und damit Therapie finden kann. Es ist aber auch für den auf diesem 
Gebiete Geübten ein reines Vergnügen, die aus der Feder V. stammenden, 
zum Teil in der Literatur noch nicht gehörten Auffassungen und Er- 
fahrungen kennen zu lernen. Das ist ganz besonders der Fall beim 
Kapitel der Prostataerkrankungen, der Harnblasenentzündungen, der 
Blasendivertikel.e. Einfach und klar ist V. Zusammenfassung der Sym- 
ptome bei paranephritischen Eiterungen je nach ihrer Lokalisation. . 
Abscesse an der Vorderseite der Niere liegen unter dem Bauchfell und 
machen infolgedessen peritoneale Reizerscheinungen wie Meteorismus, Ob- 
stipation, Aufstoßen. Die Abscesse am oberen Pol haben den Charakter 
der subphrenischen Abscesse, äußern sich durch Hochdrängen des Zwerch- 
fells und in den Anfangsstadien durch Singultus, Erbrechen und ähnliche 
Symptome. Die Abscesse an der Rückseite der Niere liegen nahe der 
Wirbelsäule und der Rückenmuskulatur und verursachen meistens von 
dieser Seite her Symptome: Schmerzen bei Bewegung der Wirbelsäule, 
einseitige Haltung im Sinne einer Skoliose, Druckschmerz unterhalb der 
letzten Rippe. Ganz besonders hat mir der kurze Absatz über Erwei- 
terungszustände der Niere gefallen. V. nennt sie absichtlich nicht 
„Hydronephrosen“, da dies ja nur einen Endzustand bedeute; ebenso 
wichtig können aber auch die Anfangsstadien sein. Der weitverbreiteten 
Meinung, daß nach Lösung einer großen Hydronephrose auch große 
Mengen Harns durch die Blase erscheinen müßten, tritt er entgegen, 
indem er auf die entscheidende Rolle des noch funktionsfäbigen Paren- 
chyms hinweist, das nach Nachlassen des Verschlusses sehr lebhaft secer- 
niert und in den nächsten Stunden sehr erhebliche Mengen ausscheiden 
kann. Große praktische Erfahrung vereint mit modernster Untersuchungs- 
technik zeigt endlich der allgemein interessierende Abschnitt: „Über die 
Frage, ob ein im Abdomen fühlbarer Tumor der Niere angehört oder 
nicht.“ 

Die Ausführungen Pels-Leusdens über die Irrtümer bei der 
Diagnose und Therapie der Penisverletzungen, Entzündungen, Hoden- 
und Samenblasenerkrankungen sind einfach und klar geschrieben. Wer 
sie gegenwärtig hat, wird vor mancher Fehldiagnose bewahrt sein. 


(Kielleuthner, München.) 


376 Besprechungen. 


3. 


E. Leyser, Herzkrankheiten und Psychosen. S8. Karger, 
Berlin 1924. 4, — M. 


Es ist sicher dankenswert, daß ein Psychiater sich mit den psy- 
chischen Störungen bei Herzkrankheiten beschäftigt. Dem Verf. standen 
verhältnismäßig zahlreiche Beobachtungen der Gießener und Frankfurter 
Klinik zur Verfügung. Es war mir von Interesse, daß der Psychiater 
offenbar viel häufiger als der innere Mediziner auch ernstere psychische 
Störungen bei Herzkrankheiten und Arteriosklerose günstig verlaufen 
sieht. Wir Inneren sehen ja überwiegend derartige Störungen als Vor- 
boten des Todes. Vom Standpunkt der inneren Medizin ist es nur be- 
dauerlich, daß die Schilderung der Krankheitserscheinungen auch auf 
psychischem Gebiete stark hinter den Bestrebungen einer Klassifikation 
zurücktritt. Auch außerhalb der Krankengeschichten würde ich anschau- 
lichere Krankheitsbilder gewünscht haben. Der körperliche Befund ist 
oft nicht ganz ausreichend geschildert. Insbesondere vermisse ich An- 
gaben über den Blutdruck und oft über die Temperatur. Es mag sein, 
daß die Schrift den Psychiater vollständiger befriedigt. 

(Romberg, München.) 


4. 


A. Renner, Schlafmittel. Erweiterter Sonderabdruck aus den Er- 
gebnissen der Innern Medizin und Kinderheilkunde 23. Bd. 
Berlin 1925. 125 S. 4,80 M. 


Der Verf. hat sich der verdienstvollen Aufgabe unterzogen, auf 
Grund eingehender Durcharbeitung des experimentellen und klinischen 
Materials und eigener mehrjähriger Prüfung eine kritische Übersicht über 
den heutigen Schlafmittelschatz zu geben. Die im ganzen wohl richtig 
getroffene Beurteilung der einzelnen Mittel, die unvoreingenommene Be- 
trachtung und vielseitige Beleuchtung Er Stoffes werden den Thera- 
peuten und allen, die es werden wollen, das Studium der Schrift anregend 
und nutzbringend machen. Mitunter möchte man wohl wünschen, gegen- 
über den klinischen Ergebnissen ebensoviel Vorsicht angewandt zu sehen, 
wie gegenüber dem Tierexperiment,. Weniger gelungen erscheinen dem 
Ref. die einleitenden Kapitel über die Theorie des Schlafes, seiner 
Störungen und der Schlafmittelwirkung im allgemeinen. Ursache und 
Wirkung im Erscheinungskomplex des Schlafes lassen sich doch heute 
sicherer auseinanderhalten, als es hier manchmal zu sein scheint. Auch 
fehlen die wichtigen Feststellungen H. Straub’s und seiner Mitarbeiter 
über den Schlaf des Atemzentrums. Die Übertragung der Beobachtungen 
am Atemzentrum auf das Gefäßzentrum dürfte z. B. gerade bei den 
ausführlich dargestellten Kreislaufverhältnissen im Schlaf zu einer wesentlich 
anderen Auffassung ihrer Bedeutung führen. — Alles zusammen jedoch 
eine wertvolle Bereicherung der pharmakotherapeutischen Literatur ! 

(Haffner, Königsberg.) 


Besprechungen. 377 


5. 


R. v. d. Velden u. P. Wolff, Einführung in die Pharmako- 
therapie. Für Mediziner u. Naturwissenschaftler. Leipzig 
1925. 200 S. 6,60 M. 


Eine Flugzeugaufnahme vom Gebiet der Pharmakologie; einige große 
Züge springen überzeugend in die Augen, manches ist vollständig be- 
schattet. Beim Nichtmediziner wird das Büchlein kaum Interesse für 
die Probleme der Pharmakotherapie erwecken können, weil eine solche 
Aufnahme an sich mehr oder weniger auf Anschaulichkeit verzichten muß. 
Für den fertigen Arzt dagegen, dem durch die Not am Krankenbett 
täglich so und so viele Fragen an die Pharmakologie aufgedrängt werden, 
dürfte es als Einführung und Leitfaden zur Vertiefung in die neuere 
pharmakotherapeutische Spezialliteratur von Nutzen sein. ` 

(Haffner, Königsberg.) 


6. 


R. Martin, Anthropometrie. J. Springer, Berlin 1925. 


„Anthropometrische Erhebungen können nur dann vergleichbare 
Resultate ergeben, wenn sie nach streng einheitlichen Methoden durch- 
geführt werden“ — sagt das Vorwort. Es ist das große Verdienst des 
leider viel zu früh versterbenen Verf., ausgezeichnete Methoden der 
Anthropometrie geschaffen und an einem jetzt schon erstaunlich großen 
Material erprebt zu’haben. Die in ihrem Umfang wohl einzig dastehende 
Erfahrung Martin’s über menschliche Körpermessungs- und sonstige 
bestimmende und beschreibende Methoden der Anthropologie ließ all- 
mählich die jetzige Apparatur entstehen, die in ihrer derzeitigen Aus- 
bildung eine bewunderungswürdige Vollkommenheit erreicht hat. Die 
vorliegende kurz gefaßte Anleitung ist in erster Linie für den Sozial- 
hygieniker geschrieben, hat aber zweifellos auch für den Kliniker gerade 
den geeigneten Umfang (47 Seiten). Das eigentliche Meßgerät besteht 
aus dem Anthropometer (zur Feststellung der Höhenlage irgendwelcher 
Körperpunkte über der Stand- oder Stützfläche), dem Stangen- oder 
Schieberzirkel (Körperbreiten usw.), Gleitzirkel (feinere Gesichts- und 
Winkelmessungen), Tasterzirkel (Kopfmaße), Bandmaß, Ansteckgoniometer 
(Abnahme verschiedener Winkel am Körper). Das wirklich fachmännische, 
kunstgerechte Meßvorgehen, ohne das vergleichbare Ergebnisse ausge- 
schlossen sind, erfährt eingehende Darstellung. Ein weiteres Kapitel 
enthält alle wesentlichen Verhältniszahlen und Indices, das nächste die 
Methoden für die Erfassung beschreibender Merkmale wie Haltungstypen, 
Haar- und Augenfarben. Der wissenschaftlich exakten, anthropologischen 
Photographie ist ein eigener Abschnitt gewidmet, den Schluß bildet die 
Darstellung von Proportionsfiguren zur Veranschaulichung der durch die 
Meßmethoden gewonnenen Resultate. Zu einer Zeit, in der das Interesse 
für die Konstitution und ihre Bewertung für Krankheitsentstehung und 
Krankheitsverlauf so groß ist, wie in der jetzigen, wird die Beherrschung 
anthropometrischer Methoden sicher vielen Klinikern und praktischen 
Arzten wichtig erscheinen und diese vorzügliche kurze Anleitung will- 
kommen sein. (H. Kämmerer, München.) 


EE EERE PAE 


378 


Vom Büchertisch der Redaktion. 
(Besprechung vorbehalten.) 


Abderhalden, Emil: Handbuch d. biolog. Arbeitsmethoden. Unters. v. Gewebs- 
u. Körperfl. A. Blut u. Lymphe. Lfg. 179, brosch. 7,20 M.; Lfg. 192, 
brosch. 7,50 M.; Lfg. 194, brosch. 7,80 M. Urban u. Schwarzenberg. Berlin 
1925/1926. 

Allgem. Deutsch. Bäderverband: Deutscher Bäderkalender Abt. A, 1926. 

Aschenbach, R.: Die Ischias u. ihre Behandlung. 48 S. Otto Gmelin, München 
1926, brosch. 2,— M. 

Aschner, Bernhard, Paracelsus. Sämtl. Werke, Bd. 1, 1 Bild, 1012 S. 
Gustav Fischer, Jena 1926, brosch. 35,— M., ge eb. 38, — =. 

Balneol. Gesellschaft Berlin: Hauskuren mit natürlichen Heilquellen und 
Quellprodukten i. d. kassenärztlichen Praxis. 32 S. Bäder- und Verkehrs- 
verlag, Berlin 1926. 

Boas- kelilar G.: Diätetik d. Magen- u. Darmkrankheiten. 2. Aufl., 19 Abb., 
242 S. Gg. Thieme, Leipzig 1926, brosch. 12,— M., geb. 14,40 =. 

Borchardt, L.: Konstitution und inn. Sekretion. 56 S. Karl Marhold, Halle a. 
1926, brosch. 2,20 M. 

Brunner u. Baer: Die chirurgische Behandlung der Lungentuberkulose. Er- 
fahrungen und krit. Betrachtungen. 13 Abb, 67 S. Jul. Springer, Berlin 
1926, brosch. 3,60 M. 

Breitner, B.: Die Bluttransfusion. 24 Abb., 113 S. Jul. Springer, Wien 1726. 

Dietrich-Kaminer, Handbuch der Balneologie. Bd. 5, S. 504. Georg Thieme. 
Leipzig 1926, broch. 36,— M., geb. 39, — 

Elias, u. Feller, A.: Stauungstypen bei Kreislaufstörungen m. bes. Berück- 
sichtigung der exsudativen Perikarditis. 93 z. T. farb. Abb., 232 S. Jul. 
Springer, Wien u. Berlin 1926, brosch. 24,— M. 

Elsner, Hans, Krebsentstehung u. endokrines System. 100 S. S. Karger, 
Berlin 1926, brosch. 5,40 M. 

Faulhaber, M. u. Katz, L.: Die Röntgendiagnostik der Speiserührenerkran- 
kungen. 2. Aufl., 4 'Abb., 45 S. Karl Marhold, Halle a. S. 1925. 

Gellhorn, Ernst, Neuere Ergebnisse der Physiologie. 446 S. F.C. W. Vogel, 
Leipzig 1926, ' brosch. 830, — M., geb. 32,50. 

Genß, A. B.: Was lehrt die Freigabe d. Abtreibung in Sowjet-Rußland? 1. Heft: 
Der Abort auf dem Lande. 38 S. Agis-Verlag, Wien 1926. 

Gutmann, M. J.: Die Lungentuberkulose i. d. allgemeinen Praxis. 48 S. 
Otto Gmelin, München 1926, brosch. 2,— M. 

Holfelder, H., Holthusen, H. usw.: Ergebnisse der med. Strahlenforschung. 
Bd. II, 350 teils farb. Abb., 3 phot. Tafeln, 594 S. Georg Thieme, Leipzig 
1926, broseh. 52.50 M., geb. 57, — M. 

H andovsky, H.: Elemente der Arzneiwirkungen. 71 S. Georg Thieme, Leipzig 
1026, brosch. 1.80 M. 

Harms, J. W.: Körper und Keimzellen. I. u. II. zus. 618 Abb., 1023 S. Jul. 
Springer, Be -rlin 1926, brosch. 66, — M., geb. 69, — 

Hartung, A.: Zur Therapie der primären Pyelitis und Cystopşelitis. 23 S 
Karl Heymanns Verlag, Berlin 1926, brosch. 2,— M. 


Vom Büchertisch der Redaktion. 379 


Johansson, Sven, Über die Knochen- und Gelenktuberkulose im Kindesalter. 

4 Sn u. 26 Tafeln, 255 S. Gustav Fischer, Jena 1926, brosch. 23,— M., 
e — M. 

Kämm. erer, Hugo: Allergische Diathese u. allergische Erkrankungen. 210 S. 
J. F. Bergmann, München 1926, brosch. 13,50 M., geb. 16,20. 

Kestner-Knipping, H. W.: Die Ernährung 'd. Menschen. 2. Aufl, 8 Abb., 
Tabellen. Jul. Singer, Berlin 1926, brosch. 5,70 M. 

Klieneberger, Karl: Uber Proteinkörper- bzw. Reizkörpertherapie. 25 S. 
Karl Marhold, Halle a. S. 1925, brosch. 1,— M. 

König, J.: Nahrung und Ernährung d. Menschen, gleichztg. 12. Aufl. d. „Nähr- 
werttafel“, S. 213. Jul. Springer, Berlin 1 26. 

Kraus, Fr.: Allgemeine und spezielle Pathologie d. Person. Bes. Teil, I. Tiefen- 
person. Klinische Syzygiologie. 252 S. Georg Thieme, Leipzig 1926, 
brosch. 18,— M., geb. 21,— M. 

Kretschmer, Ernst: Medizinische Psychologie. 3. Aufl, 24 Abb., 273 8. 
Georg Thieme, Leipzig 1926, brosch. 13,50 M., geb. 17,50 M. 

Kuttner, L.: Über abdominale Schmerzanfälle. 2. ' Aufl., 104 S. Karl Marhold, 
Halle a. 8. 1926., brosch. 3,20 M. 

Kylin, Eskil: Die Hypertoniekrankheiten. 22 Abb., 168 S. Jul. Springer, 
Berlin 1926, brosch. 8,40 M. 

Langstein, Leo: Dystrophien und Durchfallskrankheiten i. Säuglingsalter. 
as u. x Kurven., 207 S. Georg Thieme, Leipzig 1926, brosch. 14, — M., 
ge = 

Linnekogel, H.: Ist die Tuberkulose eine erbliche Krankheit? 47 S. Otto 
Gmelin, München 1926. 

Maas, Otto: Abhängigkeit der DE eena a u. Knochenerkrankungen 
von Störungen der inneren Sekretion. 55 S. Karl Marhold, Halle a. S. 
1926, brosch. 2,20 M. 

Müller. A.: Der Kreuzschmerz. 10 Abb., 76 S. A. Marcus u. E. Weber, Bonn 
1926, brosch. 2,50 M. m 

Nagelschmidt, Franz: Lehrbuch der Diathermie f. Ärzte u. Studierende. 
3. Aufl., 190 Textabb., 373 S. Jul. Springer, Berlin 1926, brosch. 21,— M. 

Pfeifer, Richard Arwed: Leitende Gesichtspunkte f. d. Psychopathologie d. 
Kindes i. vorschulptlichtigen Alter. 40 S. Karl Marhold, Halle a. S. 1926, 
brosch. 1,20 M. 

Saxl, Paul: Fortschritte u. Probleme in der Therapie inn. Krankheiten. 132 S. 
Jul. Springer, Berlin 1926, brosch. 6,60 M. 

Schaffer, Karl: Über d. morphologische Wesen u. die Histopathologie der 
hereditär systematischen Nervenkrankheiten. 135 Abb., 253 S. Jul. Springer, 
Berlin 1926, brosch. 24,— M. 

Schiff, Fritz: 'Die Technik der Blutgruppenuntersuchung. 28 Abb., 66 3. 
Jul. Springer, Berlin 1926, brosch. 6,— M. | 
Schmieden, V: Uber das Problem d. Krebses.. 26 S. Englert u. Schlosser, 

Frankfurt a. M. 1926, brosch. 1,— M. 

Scholz, W.: Die innere "Behandlung der Hautkrankheiten. 2. Aufl, 37 S. 
Karl Marhold, Halle a. S. 1925, brosch. 1,30 M. 

Schumacher, Jos.: Unters. z. Ätiologie u. Therapie d. Karzinoms. 5 Taf., 145 8. 
S. Karger, Berlin 1926, brosch. 7,20 M. 

Storm van Leeuwen: Allergische Krankheiten. 3 Abb., 119 S. Jul. Springer, 
Berlin 1926, brosch. 6,60 M. 

Strauß, H. u. Nelken, L.: Erkennung u. Behandlung v. Diarrhöen. 37 8. 
Karl Marhold, Berlin 1926, brosch. 1,30 M. 

Strempel, Rud.: Der gegenwärtige Stand des serologischen Luesnachweises 
mittels Flockungsreaktionen. 94 S. Karl Marhold, Halle a. S. 1926, brosch. 

— M. 

Strohl, J.: Die Giftproduktion hei Tieren v. zool.-physiolog. Standpunkt. 56 N. 
Georg Thieme, Leipzig 1926, broseh. 2.—- M. 

Stuber, Bernhard: Klinisehe Physiologie. 1. Teil, 3 Abb., 9 Tab., 150 S. 
J. F Bergm: unn. München 1926, brosch. 9,60 M. 

Schwalbe, J.: Diagnostische u. therapeut. Irrtümer u. deren Verhütung. 7. Heft, 
97 Abb., 188 8 Georg Thieme, Leipzig 1926, brosch. 8,10 M., geb. 9,60 M. 


380 Vom Büchertisch der Redaktion. 


Schweizer Vereinigung f. Krebsbekämpfung: Die Krebskrankheit u. 
ihre Bekämpfung. 2. Aufl., 151 S. Zürich, Rascher & Cie. A.G. 

Tandler, Jul.: Lehrbuch der systematischen Anatomie. 1. Bd.. 2. Autl., 352 Abb. 
meist farbig, 467 5. F. C. W. Vogel, Leipzig 1926, brosch. 36, — M.. geh. 

— M. 

v. d. Velden-Wolff: Handbuch d. prakt. Therapie als Ergebnis experimenteller 
Forschung. 1. Bd., 15 Abb., 1 farbige Tafel, 1. Hälfte, 1138 S. Joh. 
Ambr. Barth, Leipzig 1926, 1. u. 2. Hälfte, brosch. 66,— M., geb. 73,50 M. 

Veiel, F.: Die Behandlung d. Psoriasis. 29 S. Karl Marlıold, Halle a. 8. 1925. 
brosch. 1, — M. 

Wassermann, Sigmund: Asthma cardiale. 10 Abb., 3 Kurven. 1 farbige 
Tafel, 168 S. Urban u. Schwarzenberg, Berlin-Wien 1926, brosch. 9.60 M. 

Winterstein, Hans: Die Narkose. II. Aufl, 8 Abb., 474 S. Jul. Springer, 
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G. Pätz’sche Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H., Naumburg a. d. S. 


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