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DEUTSCHES ARCHIV
KLINISCHE MEDIZIN
VON
Pror. AUFRECHT m Berm, Pror. BAEUMLER ın Freisung, Pror. BOSTRÖM In GIESSEN,
Pror. BRAUER m Hawsure, Proy. CURSCHMANN m Rostock, Pror. FÜRBRINGER IN BERLIN,
Pror. GRAFE ım WORZBURG, Pror. HIRSCH m Boxy, Pror. HIS IN BERLIN, Pror. v. JAKSCH m
Prao, Pror. v. KÉTLY m Buparest, Pror. KRAUS m BERLIN, Pror. KREHL ın HEIDELBERG,
Pror. LICHTHEIM ıx Berx, Pror. MATTHES m KöĒxiessggka, Pror. E. MEYER IN GÖTTINGEN,
Pror. MORAWITZ m Leırzio, Pror. MORITZ ın KOLN, Pror. F. MÜLLER m MOncHen, Pror.
L. R. MÜLLER ım ErLangen, Pror. O. MÜLLER ın TÜBINGEN, Pror. v. NOORDEN IX FRANKFURT,
Peor. PENZOLDT m ERLANGEN, Pror. ROMBERG ın MOncHEnN, Pror. RUMPF m Bonn, Pror.
SAHLI m Berx, Pror. SCHREIBER m KÖONIGSssERG, Pror. F. SCHULTZE ın Bonn, Pror.
SCHWENKENBECHER m MarBurg, Pror. STEPP m Jena, Pror. STINTZING m Jena, Pror.
H. STRAUB ıs GreirswauLp, Pror. VOIT m Giessen, Pror. VOLHARD m HALLE
REDIGIERT
VON
Dr. L. KREHL De. F. MORITZ
PROF. DER MEDIZINISCHEN KLINIK PROF. DER MEDIZINISCHEN KLINIK
IN HEIDELBERG IN KÖLN
Der. F. MÜLLER UND Dr. E. ROMBERG
PROF. DER II. MEDIZINISCHEN KLINIK PROF. DER I. MEDIZINISCHEN KLINIK
IN MÜNCHEN IN MÜNCHEN
151. Band
Mit 18 Abbildungen im Text, 20 Kurven und 4 Tafeln
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LEIPZIG
VERLAG VON F.C. W. VOGEL
1926
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Inhalt des einhunderteinundfünfzigsten Bandes.
Erstes und Zweites Heft
ausgegeben im April 1926. Seite
Westphal u. Bär, Über die Entstehung des Schlaganfalles. I. Pathologisch-
anatomische Untersuchungen zur Frage der N des Schlag-
anfalles. (Mit 3 Tafeln). . . 1
Westphal, Über die Entstehung ie Seni, iles: TI. Klinische Citi
suchungen zum Problem der a des Schl: u (Mit 1 Kurve
und 4 Abbildungen) 1e euan ee
Westphal, Über die a i Schlaganfalles. 1T. Erperimentelle
Untersuchungen zum Apoplexieproblem. (Mit 5 Abbildungen) . . . . 96
von Strasser, Untersuchungen über «las diastatische Ferment im Blute. . 110
Besprechungen :
“1. Moynihan, Zwei Vorlesungen über das Magen- und Duodenal-
geschwür (v. Redwit). > 2 2 a on nee. . 118
2. Meyer u. Gottlieb, Die experimentelle Pharmakologie als Grund-
lage der Arzneibehandlung (Trendelenbura) . . 2 2 220220.2..109
3. Meyer, Pharmakologische Grundlagen der Reizkörpertherapie
(Trendelenburg) a. 2. 8 na Re ee O
4. Sauerbrueh, Die Chirurgie der Brustorgane (Kreh). . . 2... 432
d.von Romberg., Lehrbuch der Krankheiten des Herzens und der
Blutgefäße (Kreh . . . d Bene re a
6. Tendeloo, Allgemeine Pathologie (rale: 4
t. Sebreiber, Deutsche Medizin und Notgemeinschaft der deutse hen
Wissenschaft (Martini) . 2 2. a aaa 129
8. Die Krebskrankheit (Grol) . oo 2 2 aaa 126
9. Misch-Zeitschrift (Kranz) . 2 2 on nn. 126
Drittes und Viertes Heft
ausgegeben im Mai 1920.
Marañon, Über die hypophysäre Fettsucht. (Mit 5 Abbildungen) . . . . 129
Wiemer, Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum . . 154
Sahli, Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung . . . .20......1072
Schaefer, Zur Difierentialdiagnose der Agranuloeytose . . 191
Mahler u. Rischawy, Klinischer Beitrag zur Frage des Dite innocens. 212
Stein u. v. Weizsäcker, Über klinische Sensibilitätsprüfungen. (Mit 1 Abb) 280
Besprechungen:
1. Sergius Voronvff. Organüberptlanzung und ihre praktische Ver-
wertung beim Haustier (Borst) 2 220m nn Pd
er
— IV —
2. Zweifel u. Payr, Die Klinik der bösartigen Geschwülste. II. Bd.
(Groll) neea aa ee ee A RR ee a A, o ae Di
3. Klein u. Steuber, Die gasanalytische Methodik des dynamischen
Stoffwechsels (Felix) a
4. Funk ‚ Mikroelementaranalyse nach der Mikro-Dennstedt-Methode (Fel ix)
Fünftes und Sechstes Heft
ausgegeben im Juni 1926.
Wiechmann u. Schürmeyer, Schwankungsbreite und Sn akunaaurt der
Durchmesser menschlicher Erythrocyten. (Mit 3 Kurven).
Ganter, Gefäßstudien. IV. Mitteilung. Über den Blutdruck in seiner Ab-
hängigkeit von Gefäßweite und erztätigkeit. (Mit 5 Kurven)
Scharpff, Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der menschlichen
Haut (Cutis marmorata). (Mit 1 farbigen Tafel) . . .
Wiechmann u. Horster, Studien über experimentelle Infektionskrankheiten.
I. Mitteilung. Uber das Serumeiweißbild bei der ee Re-
kurrensinfektion der Ratte. (Mit 1 Kurve) . i b y
Stuber u. Nathansohn, Klinische Magenstudien II. (Mit 9 Kurven)
Görl, Zur Frage der Bluttransfusion und der Lebensdauer transfundierter
Erythrocyten . ; .
Watermann, Unsere Erfolge wit der: Tabes- Tornsbandage, (Mit 3 Abb.)
Katsch u. Stern, Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung .
Wiechmann u. Dominick, Über das Verhalten intravenös einverleibten
Glykokolls beim Normalen und beim Diabetiker . PER E
Reiche, Über akute Lebereirrhosen ganz
Besprechungen:
1. Ebstein, Deutsche Ärzte (Krehl) . .
2. Kyrle, Vorlesungen über Histo-Biologie der menschlichen Haut und
ihrer Erkrankungen (Siemens) . ne a ee
3. Tulay, Ekzem und Urtikaria (Siemens)
4, Neumann, Die Klinik der beginnenden Tuberkulose Erwachsener.
II. Das Heer der nicht tuberkulösen DEINEN. und der fälschlich
sogenannten Apizitiden (Ranke) j i
Aus dem pathologisch-anatomischen Institut der Universität Frank-
furt a. M. (Direktor: Prof. Dr. B. Fischer.)
Über die Entstehung des Schlaganfalles.
I. Pathologisch-anatomische Untersuchungen zur Frage der
Entstehung des Schlaganfalles.
Von
Karl Westphal,
Privatdozent für innere Medizin, Oberarzt der Mediz. Univ.-Klinik Frankfurt a. M.
und
Richard Bär,
früherem Assistenten des Pathologischen Instituts.
(Mit 3 farbigen Tafeln.)
Die Entstehung der Hirnblutung beim Schlaganfall, der nicht
bedingt ist durch einen syphilitischen oder embolischen Prozeß im
Gehirn, erscheint bei der ersten Betrachtung so einfach: es platzen
ein — oder auch mehrere — durch arteriosklerotische Prozesse
veränderte Gefäße im Gehirn unter dem Einfluß des ja meist gleich-
zeitig vorhandenen erhöhten Blutdruckes und so entsteht die mehr
oder weniger wichtige Partien des Gehirns schädigende Blutung.
Demnach scheint es fast müßig, diesem Phänomen weitere Beach-
tung zu schenken. Und doch ergibt die genauere Betrachtung der
Vorgänge am Kranken, die dem Schlaganfall vorauszugehen und
seinen Eintritt zu begleiten pflegen, sowie die genaue Unter-
suchung der pathologisch-anatomischen Bilder des eingetretenen
Prozesses, daß auch hier wie so oft in der Natur an Stelle des an-
scheinend so leicht verständlichen ein komplizierteres Geschehen
waltet.
Ein Blick in das Schrifttum lehrt, wie die älteste und einfachste
Vorstellung von der Entstehung der Apoplexie durch Ruptur einer
größeren Hirnarterie einst vertreten wurde durch Morgangie, Dietl
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 1
2 WestpHaL u. BÄR
und Rokitanski. Doch schon bei Dietl und Rokitanski finden
wir bereits angegeben, daß neben der Blutung aus den großen Gefäßen
zahlreiche kleine Blutaustritte, „Kapillarapoplexien“, durch Zusammenfluß
zu einem großen Blutungsherd führen können. Deutlich betont lesen
wir dann bereits bei Hasse den Einwand, daß wohl niemals mit Sicher-
heit die Berstung eines größeren Gefäßes innerhalb des Gehirns gefunden
sei dagegen ausgesprochene Veränderungen an kleinen Gehirnarterien,
daß es sich demnach nicht um Blutungen aus größeren Gefäßen handele,
sondern aus einer Anzahl kleinerer Arterien. An diesen kleinen arteri-
ellen Gefäßen des Gehirns beschrieben zuerst Koelliker, Pestalozzi,
Virchow, Heschel und Paulicki aneurysmenartige Bildungen, die
nach vorhergegangener Zerreißung der Tunica media und intima durch
einen BlutergußB zwischen Media und Adventitia entstehen und von
Virchow als Aneurysmata dissecantia bezeichnet wurden, eine Ruptur
an den inneren Häuten sah Virchow nicht.
- Diese Aneurysmen an den kleinen Hirnarterien spielen
nun in der Folgezeit im Anschluß an eine an ausgedehntem Material
von 77 Fällen von Apoplexien durchgeführte Untersuchung von Charcot
und Bouchard die entscheidende Rolle für die allgemeine Auffassung
von der Entstehung des Schlaganfalls. Die senile Hirnblutung ist die
Folge des Berstens der Hirnaneurysmen. Diese mit bloßem Auge sicht-
baren Miliaraneurysmen, 0,2—1 mm groß, hängen oft in kugeliger Ge-
stalt an den kleinen Arterien, sie werden aus dem Blutungsherd durch
vorsichtiges Bespülen desselben dargestellt, sie kommen auch außerhalb
desselben vor, aber entsprechend dem hauptsächlichen Sitz der Blutung
besonders im Streifenhügel, Sehhügel, im Markweiß der Hemisphären, in
den Kleinhirn- und Großbirnwiudungen. Sie finden sich ebenso wie bei
Heschel nur selten vor dem 40. Lebensjahr. Die Arteriosklerose sei
nicht Ursache der Aneurysmen, sondern eine diffuse Periarteriitis, die
mit Verdickung und Zellwucherung der Adventitia und Muskularis ein-
hergeht. Ein sicherer Nachweis dieser Aneurysmen war allerdings bei
den 77 Fällen frischer und älterer Apoplexie nur in 56 °/, möglich, nur
dreimal waren sie als wirklich geplatzt erkennbar.
Der nachhaltige Einfluß dieser Arbeit spiegelt sich in nun folgenden
Untersuchungen von Zacher, Weiß, Eichler und Rindfleisch
wieder. Alle finden als Ursache die Blutung der kleinen Hirnaneurysmen.
Die gründliche Bearbeitung des Themas durch Löwenfeld bringt
ein wichtiges neues Moment in die Betrachtung. Auch er findet aus-
gedehnte kleine Aneurysmen an den Arterien. Er trennt sie, wie dies
schon Virchow tat, von den einfachen varıkösen Ektasien, die er als
Ausdruck eines wechselnden Muskeltonus auffaßt und findet bei den
selteneren eine einfache Atrophie am ausgesprochensten auf der Höhe
der Ektasie, viel häufiger eine schwere Erkrankung der Muskelschicht
an dieser Stelle in Form einer sog. granulösen Degeneration. Er lehnt
für deren Entstehung sowohl die Bedeutung einer Periarteriitis — es
sei da wohl manches als pathologisch gedeutet, was noch in den Bereich
des Normalen gehöre — und auch der Arteriosklerose ab und betont
als wesentlich Neues, daß es in der GefäßBwand apoplektischer Gehirne
schwere (sefäßstörungen gäbe, die sich vor allem in der Media abspielen,
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 3
im wesentlichen als granulöse Degeneration herdweise isoliert
besonders an größeren Arterien, mehr diffus an kleineren und kleinsten
Gefäßen auftreten kann. In dem ersten Stadium quillt die Muskelfaser
auf, sie kann das Vielfache einer normalen Faser erreichen, sie gewinnt
ein stärkeres Lichtbrechungsvermögen. Die Kerne verschwinden und die
ganze Masse wird feinkörnig, später manchmal auch grobkörnig mit
gleichzeitiger Abnahme des Lichtbrechungsvermögens. Es kann so zu
einem gänzlichen Untergang der Muskelschicht kommen. Bei dieser Er-
krankung bleibt die Intima nur geschont im Anfangsstadium des Prozesses,
kommt es zu ausgedehntem Zerfall der Muskelfasern, so verschwinden
und zerfallen auch die Endothelzellen, Atheromatose der Intima kann
dabei vorhanden sein. Die Körner der zerfallenen Media haben nichts
mit Fett oder Amyloid zu tun. Relativ am seltensten erkrankt die
Adventitia, sie kann an diesem Prozeß teilnehmen, manchmal können die
Kerne hier vermehrt sein. Im adventitiellen Lymphraum fanden sich
oft Fettkörnchenzellen, rote und weiße Blutkörperchen, stellenweise zu
Aneurysmata dissecantia in Gestalt kleiner Blutextravasate angehäuft,
Zerreißung der Innenhäute sah er dabei nicht, Diapedese und kleinste
Kontinuitätstrennung nimmt er daher eher als Ursache an. Die näm-
lichen Vorgänge einer Gefäßnekrose können auch Venen und Kapillaren
zerstören.
Diese Degeneration der Gefäße war bei weitem am reichlichsten in
apoplektischen Herden und deren nächster Nachbarschaft vorhanden, im
apoplektischen Gehirn und in solchen alter zur Apoplexie disponierter
Leute waren sie bisweilen auch an anderen Stellen nachweisbar. Die
Miliaraneurysmen treten demnach für Löwenfeld schon sehr in ihrer
Bedeutung zurück, sie werden zu einer Teil- und Folgeerscheinung einer
allgemeinen schweren Gefüßschädigung, aus dem degenerierten Gefäße
kommt durch Diapedese und Kontinuitätstrennungen der große Blut-
austritt zustande. Diese 1886 erschienenen Untersuchungen haben die all-
gemeine Auffassung über die Entstehung der Apoplexie nicht in so starkem
Maße beeinflußt, wie es eigentlich zu erwarten gewesen wäre, trotzdem
Eppinger bei einer allgemeinen Untersuchung über Aneurysmen die
Löwenfeld’sche Ansicht im wesentlichen anerkennt.
Monakow betont dann wieder die Bedeutung der miliaren Aneu-
rysmen, ähnlich auch Pöhlmann.
Pick hat endlich zusammen mit Ellis unter Zuhilfenahme der
modernen Serienschnittmethodik und der alten Schüttelmethoden die Frage
dieser Miliaraneurysmen noch einmal einer gründlichen Durch-
arbeitung bei 30 Fällen von Apoplexie unterworfen. Es fanden sich sog.
Miliaraneurysmen in 20 Fällen, jedoch nur an 4 Gehirnen wirklich rup-
turierte Säckchen, diese waren meist über miliar- bis erbsengroß. Weder
im Schnitt, noch in isolierten, dann eingesetzten und geschnittenen mili-
aren und übermiliaren Aneurysmen ließen sich wahre, d. h. von der
ursprünglichen, wenn auch veränderten Gefäßwand umgebene Aneurysmen
feststellen. Sie erwiesen sich sämtlich als dissoziierende Formen
oder Aneurysmata spuria, als extramurale Hämatome, begrenzt durch
Fibrin, verändertes Hirngewebe und undeutlich gewordene Elemente der
zerrissenen Gefäßwand. Die tödliche Blutung erfolgt nach Pick ent-
1%
4 Westpuar u. BiR
weder aus einem größeren oder mehreren Aneurysmen oder aus dem
arteriosklerotischen aneurysmenfreien rupturierten Blutgefäß. Die Arterio-
sklerose sieht Pick sowohl für die dissoziierenden Aneurysmen, wie für
die dann erfolgende Blutung als wesentliche Ursache an, auf die Media-
nekrose Löwenfeld’s geht er nicht ein. Wichtig ist jedoch noch die
Festlegung der Beobachtung, daß um die falschen Aneurysmen so gut
wie keine Reaktion des Hirngewebes zu sehen ist, das spricht für ein
kurzes Vorhandensein dieser Gefäßveränderungen vor dem Tode.
Pick’s Resultate und besonders die zuletzt angeführte Beobachtung
von der Kurzlebigkeit dieser falschen Aneurysmen verschieben auch
wieder das Hauptgewicht der Fragestellung auf die gemeinsame Ursache
beider, der Schädigung der Arterien und der Blutung ob mit oder ohne
Aneurysmen, und demnach auf die Erkrankung der Gefäßwand, die er
als arteriosklerotisch bedingt ansieht.
Untersuchungen, die Neues bringen wollen, müssen sich mit dieser
Erkrankung der Gefäßwand als wesentlichem Problem auseinandersetzen,
aber in keinem anderen Organ kennen wir diese falschen Aneurysmen
als Folgeerscheinungen der reinen Arteriosklerose, was führt gerade im
Gehirn dazu?
Sehr gründlich in der Untersuchungstechnik mit ausgedehnten Reihen
von Serienschnitten an einem Material von 12 Fällen und unter ein-
gehender Würdigung der ganzen bisher vorliegenden Literatur ist als
letzter Rosenblath an das Problem der Entstehung des Hirnschlages
herangetreten. Eine Bemerkung in einer alten französischen Abhandlung
von Rochoux (1833) scheint ihm für seine Arbeitsrichtung einen Hin-
weis gegeben zu haben, in der Umgebung des apoplektischen Herdes
finde sich oft eine reichliche Menge von kleinen Blutungen. An diesen
meint er eher einen klaren Einblick für die Blutungsgenese gewinnen zu
können wie inmitten der blutigen Erweichung. Rosenblath untersucht
diese und ebenso das stark von Blutung durchsetzte Gebiet. Schon
wegen des makroskopischen Aussehens der Gebiete lehnt er die Ent-
stehung der Hirnblutung aus einer einzelnen Ruptur eines großen Ge-
fäßBes ab, gegen rein mechanisch wirksame Kräfte bei der Zerstörung des
BHirngewebes durch eine arterielle Blutung spricht Form und Ausdehnung
des Prozesses in vielen Fällen z. B. mangeinder Durchbruch in Seiten-
ventrikel trotz ausgedehnter Zerstörung in deren Nachbarschaft. Die
kleinen und kleinsten Blutungen, die in der Umgebung des großen Herdes
gefunden werden, sind mit dieser wesensverwandt. Sowohl an den Ge-
fäßen in ihrem Inneren wie an dem nervösen Gewebe sind nekrotisierende
Vorgänge nachweisbar.
Innerhalb des großen apoplektischen Herdes geht ein großer Teil
des gesamten Gewebes, also Nervenfasern und Zellen, Glia und Gefäß-
system zugrunde und macht eine Umwandlung durch, wodurch es ver-
flüssigt, jedenfalls dem morphologischen Nachweis entzogen wird. Von
den Gefäßen erhalten sich nur wenige Arterien und diese um so eher,
je diekwandiger und sklerotischer sie sind. In und an der Wand des
Blutergusses sind die abgestorbenen Arterien leichter nachweisbar als im
Innern. Die sog. Miliaraneurysmen sind eine mehr nebensächliche Form,
unter der der abgestorbene Gefäßschlauch auftreten kann. Die ab-
vri
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 5
gestorbenen Arterien sind häufig durch Thromben verschlossen. Es ist
anzunehmen, daß die Blutung vorwiegend aus massenhaft vernichteten
Kapillaren und Venen stammt.
Die eigentliche Ursache des Prozesses ist für Rosenblath folgende:
„Eine unbekannte, mit äußerst wirksamen chemischen Kräften aus-
gestattete Schädlichkeit befällt plötzlich einen Bezirk“. Die chronische
Nephritis spielt nach seiner Ansicht, da sie Ilmal und unter seinen
12 Fällen nachweisbar war, eine große Rolle. „Ohne die Annahme,
daß in dem unter dem Einfluß der Nierenentzündung geänderten Stoff-
wechsel plötzlich fermentativ wirkende Kräfte frei werden, die in kurzer
Zeit ganze Hirnteile zu vernichten und chemisch wie morphologisch um-
zuwandeln vermögen, wird man nicht auskommen.“ Genaueres über
diese pathologische Funktion der Nieren ist ihm nicht klar. „Nur das
eine darf man sagen, daß weder die Erhöhung des Blutdrucks noch die
häufig vorhandene Arteriosklerose die Disposition erklärt.“
Die so wichtige Rosenblath’sche Arbeit wurde neben den
Pick’schen und den alten Löwenfeld’schen Untersuchungen in
ihren Resultaten und Folgerungen genauer zitiert, weil sie mit
ein wesentlicher Ausgangspunkt dieser Untersuchung wurde. Diese
ging in ihrer eigentlichen ersten Anregung zurück auf Beobach-
tungen am Krankenbett von ganz besonders ausgeprägten vaso-
motorischen Erscheinungen am Organismus von Apoplektikern und
anderen zur Apoplexie disponierten Kranken mit erhöhtem Blut-
druck. Aber bevor aus diesen, rein klinischen Beobachtungen
Schlüsse gezogen werden konnten, war eine Nachuntersuchung der
anatomischen Befunde Rosenblath’s notwendig. Ist es wirklich
so, daß die miliaren Aneurysmen nur als sekundäre Folge einer
schweren Gefäßwandnekrose auftreten, so wie es bereits Löwen-
feld schilderte, daß also die starke Wandschädigung aller Arterien,
Venen und Kapillaren die eigentliche Ursache ist, die nach Rosen-
blath’s Ansicht auch oft in gleicher Gewebsschädigung das Hirn
mitbefällt, so ist die Apoplexie ein Vorgang, der sich im ärztlichen
Denken völlig von der Idee einer einfachen Gefäßwandschädigung
bei der Arteriosklerose, wie sie etwa noch Pick vertritt, lösen
muß und der mit seinem schlagartigen Auftreten einer schweren
allgemeinen Gewebsschädigung nicht nur für diese Spezialfrage der
Entstehung der Hirnblutung, sondern auch für das allgemein patho-
logische Denken größte Beachtung verdient.
Es wurden daher an einer größeren Reihe von Kranken, im
ganzen 16, die unter den klinischen Erscheinungen einer älteren
oder frischen Apoplexie gestorben waren, neben der üblichen makro-
skopischen Sektionstechnik des Gehirns stets mehrere Stücke von
dem Rande des erkrankten Gewebes und aus gesunden Gehirn-
6 WESTPHAL u. BAR
partien entnommen, Gefrierschnitte in größerer Reihe davon an-
gefertigt und von den besonders interessierenden Stellen Serien-
schnitte vom eingebetteten Präparat hergestellt. Außerdem wurde
noch an einer Reihe von Gehirnen, im ganzen 6, auf Vorschlag des
Herrn Professor B. Fischer durch Schütteln und Überspülen nach
dem Vorgange von Pick der Gefäßapparat isoliert, um an diesem über
die Häufigkeit des Auftretens von sog. Miliaraneurysmen einen Ein-
druck zu gewinnen. Nur zweimal ließen sich diese mit Sicherheit
feststellen. Die größte Beachtung wurde bei den mikroskopischen
Untersuchungen den kleinen Blutungen am Rande des geschädigten
Gebietes geschenkt, weil diese in Übereinstimmung mit der An-
sicht Rosenblath’s für die Entstehung des großen Zerstörungs-
gebietes Wesentliches aussagen mußten. Bei der Durcharbeitung
und Sichtung des Materiales, bei der auch teilweise auch die kli-
nische Anamnese, soweit es hier notwendig erschien, Mitbenutzung
erfuhr, ergaben sich recht verschiedene Bilder anatomischer Art
von Zuständen, die unter dem Namen „Apoplexie“ zur Sektion ge-
kommen waren. Eine Gliederung soll im folgenden versucht werden.
I. Fälle mit reiner Hirnblutung.
Fall I, 1: 423/23. Joseph D., 44 jähriger Arbeiter. Gest. 12. IV. 23.
Klinische Diagnose: Apoplexie mit Lähmung der linken Seite bei
Hypertonie. Gesichtsfurunkel. In der Nacht vom 9.—10. IV. plötz-
licher Zusammenbruch mit Lähmung der linken Seite, Bewußtsein an-
fänglich gut erhalten, später komatöser Zustand und Exitus.
Die Sektion ergab: frische Blutung in die rechten Stammganglien,
durchgebrochen in den rechten Seitenventrikel. Hypertrophie des ganzen
Herzens, besonders des linken, Sklerose der Aorta, Koronar- und basalen
Gebirnarterien, Stauungsorgane, konfluierende Pneumonie der rechten
Lunge usw. Mikroskopisch besteht an den Nieren ausgedehnte Arterio-
sklerose sowie Wandverfettung der kleinen Arterien, verödete Glomeruli
sind nur in mäßiger Zahl vorhanden.
Die mikroskopische Untersuchung mehrerer Stellen vom Rande der
blutigen Erweichung ergibt das Vorkommen zahlreicher kleiner Blutungen,
ziemlich weit in das gesunde Gebiet hineinragend, manchmal deutlich
entlang an kleinen Gefäßen. Das Hirngewebe erscheint hier und da etwas
wabig gelockert, grobe Veränderungen lassen sich an den Gliazellen nicht
nachweisen. In dem nicht durchbluteten Randgebiete finden sich einige
kleine Arterien mit stark gedehnter Wand und praller Füllung ohne
irgendwelche pathologischen Veränderungen der Wand. Daneben aber
bieten zahlreiche kleine Arterien und Arteriolen, die von kleinen Blutungs-
herden umgeben sind, folgende Beobachtungen. Die kleinen Arterien
zeigen außerhalb der Blutungsherde eine normale Wand, nur stellenweise
bei Fettfärbung an Gefrierschnitte geringe fleckförmige Intimaverfettung,
nur an sehr wenigen Stellen erscheint die Media etwas gequollen, aber
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 7
die Kerne sind hier, im nicht durchbluteten Gebiet noch gut gefärbt.
Deutliche Hyalinisierung an der Grenze zur Intima fehlt bei allen. In
den Blutungsherden ist dagegen die Gefäßwand häufig ganz stark ge-
quollen, kernlos, nur in kleineren Blutungsherden finden sicb hier und
da noch Kerne in der Media erhalten. Auch bei zwei größeren Herden
ist ausgesprochene hyaline Quellung und völlige Kernlosigkeit der Arterien-
media bei erhaltenen Kernen der Intima vorhanden in einem von breiter
Blutung umgebenen Bezirk, während im weiterem Verlauf der Gefäße an
den nichtblutungsumgebenen Stellen der Wand noch deutlich Kerne in
der Muskularis erkennbar sind. Auch Übergangsstellen von normaler
Wand zu glasiger Quellung bei noch erkennbaren Kernen sind gut zu
übersehen.
Die kleinen Blutungsherde erscheinen quergetroffen oft kreisrund
oder oval, sie sind bei geringer Ausdehnung häufig begrenzt von der
noch gut erkennbaren Gefäßscheide, die nur stellenweise überschritten
ist von der Blutung. An zwei größeren Arterien läßt sich folgender
Befund erheben: die eine Hälfte der Gefäßwand scheint völlig intakt
mit gut erhaltenen Kernen, auf der anderen Seite befindet sich über-
sehbar in ibrer ganzen Ausdehnung eine starke glasige Quellung der
Media mit völligem Kernschwund und über diesem Gebiet ein prall mit
Erythrocyten gefülltes, die Gefäßscheide umschrieben stark vorwölbendes
Blutsäckchen, einige rote Blutkörperchen lassen sich in der gequollenen
Media erkennen. In der Umgebung dieser Blutsäckchen dieser typischen
dissoziierenden Aneurysmen fehlt wie in der Pick’schen Beschreibung
jede Anhäufung von Rundzellen oder Leukocyten als Zeichen der reaktiven
Entzündung.
An einer stark gedehnt erscheinenden Arterie zeigt sich verfolgbar
auf einer ganzen Reihe von Schnitten eine Aufspaltung der Wand mit
zum Teil noch gut erkennbarem Mediakernen und überall zwischen den
Maschen der Intima, Media und Adventitia deutlich Erythrocyten, die in
dicht gedrängter Blutung das Gefäß umgeben. — Vgl. Abb. Nr. I, 1.
Um eine Arteriole mit glasig gequollener kernloser Media liegt eine
Ringblutung mit Häufung von Erythrocyten am Rande und deutlich ge-
lockerten zentralen Partien mit nur wenigen roten Blutkörperchen.
Jedoch nicht bloß um Arterien, auch um zahlreiche, oft breitgedehnt
erscheinende kleine Venen und Kapillaren mit stellenweise noch erkenn-
baren Kernen finden sich kleine Blutungen oft nur als eng umschriebene
in die Gefäßscheide, oft aber auch über sie binausgehend.. Am Rande
der massiven Blutung erscheinen die kleinen Blutungsherde dichter ge-
drängt. In der gleichmäßig von Erythrocytenmasse durchsetzten Blutung
sind Einzelheiten nur schwer erkennbar, aber an einer Stelle ist in einer
anatomisch sehr gedehnt erscheinenden Arterie noch deutlich erkennbare
Kernfärbung der Media zu sehen.
Fettkörnchenzellen finden sich vereinzelt am Rande der Blutung um
einige Arterien, sehr geringe Leukocytenansammlungen um einige ge-
dehnte Kapillaren sind dort ebenfalls vorhanden, weit im Gesunden findet
sich noch eine Arterie mit einem kleinen Blutungsherd um sie ohne er-
kennbare Veränderungen an der Wand. Ausgesprochene Arteriosklerose
ist an den kleinen Arterien im Gesunden nicht zu erkennen, nur sehr
8 WestpHaL u. BÄR
vereinzelte Lipoidflecken finden sich bier und da in der Intima. Sehr
vereinzelt findet sich hyaline Quellung zwischen Intima und Media bei
den meist nicht veränderten Arteriolen. |
Fall I, 2: 534/23. Heinrich Kn., 45 J. Gest. im Hosp. z. Heiligen
Geist am 9. V. 23.
Angeblich immer gesund gewesen. Am 9. V. 23 um 8 Uhr abends
bewußtlos zusammengestürzt, gegen 9 Uhr eingeliefert mit Bewußtlosig-
keit und Lähmung der linken Seite.
Anatomische Diagnose: frische Hirnblutung, Blutung in die linken
Stammganglien und in die Pons, durchgebrochen in die Ventrikel. Hyper-
trophie des linken Herzens, Sklerose der Aorta, Coronar- und Basal-
arterien. Fibröse Spitzenherdchen der Lungen beiderseitig. Mikroskopisch
an den Nieren an zahlreichen Arteriolen Wandverdickung und Verfettung.
Einzelne Glomeruli verödet.
Bei der mikroskopischen Untersuchung des Gehirns an Schnitten
aus verschiedenen Stellen der Blutung mit umgebendem Hirngewebe
zeigen sich auch hier wieder sehr zahlreiche kleine Blutungen von ver-
schiedener Ausdehnung am Rande der kompakten Blutung. Diese kleinen
Blutungen dringen ein in Hirngewebe mit gut erhaltener Färbung der
Kerne von Ganglienzellen und Gliazellen. Die kleinen Blutungsherde
zeigen in ihrer Mitte fast immer gut erkennbar Gefäße, bei größeren
makroskopisch erkennbaren etwa stecknadelkopfgroßen mehrere neben-
einander, z. B. einmal zwei kleine Venen, ein andermal drei kleine Arteriolen.
Besonders an den kleinen Venen und Kapillaren finden sich in diesem
Falle die Blutaustritte, es lassen sich oft die Reste dieser kleinen Ge-
fäße ohne jegliche Kernfärbung umgeben von der prall gefüllten, stark
überdehnten Gefäßscheide inmitten einer über diese weithinausgegangenen
Blutung erkennen. Vereinzelt finden sich auch Ringblutungen mit hellem
Zentrum, besonders in den äußersten Randpartien des befallenen Gebietes
um kleinste Gefäße. Die Arteriolen zeigen oft auf zahlreichen Schnitten
verfolgbar noch gute Kernfärbung der Muskularis inmitten der kleinen .
Blutungen, jedoch findet sich auch an mehreren deutlich fehlende Kern-
färbung der glasig erscheinenden Media, aber ohne besondere Verdickung
derselben.
Inmitten der Blutung fehlen erkennbare Reste von Ganglienzellen
ebenso am eigentlichen großen Blutungsherd. In diesem ist vereinzelt
noch die Wand von Arterien zu erkennen, meist ist sie kernlos, um zwei
Arterien finden sich, hereinreichend in die große Blutung bei kernloser
Media, prall mit Blut gefüllte säckchenförmige Verwölbungen der Adventitis.
Im intakten Randgebiet sind zahlreiche kleine Gefäße sehr prall gefüllt.
Die Erscheinungen von Arteriosklerose und Arteriolosklerose sind nur.
vereinzelt und gering im Gesunden. Die gleichen mikroskopischen Ver-
änderungen zeigt auch
Fall I, 3: 75jährige Frau mit einer frischen Hirnblutung in das
linke Corpus striatum.
Fall I, 4: 63jährige Frau mit einer frischen Hirnblutung in die
linken Stammganglien. Hier fanden sich besonders ausgeprägt wieder
zahlreiche kleine Blutungen um den großen Herd, wie marmoriert er-
scheint der Blutungsrand durch gut erhaltene ödematöse Reste von Hirn-
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 9
gewebe zwischen Blutungspartien, in denen noch zum Teil deutlich er-
kennbar die überdehnten Wände kleiner Venen erkennbar sind. Ebenso
Fall I, 5: 59jährige Frau mit frischer Hirnblutung in die rechten
Stammganglien und
Fall I, 6: 72jährige Frau mit frischer Hirnblutung im Bereich der
rechten Stammganglien. Hier war neben den üblichen Veränderungen
ganz auffallend eine hochgradige Erweiterung einiger der kleinen Gefäße
innerhalb des Blutungsherdes auf das 5—10 fache bei zum Teil gut er-
haltener Kernfärbung.
Sehr wenige lipoide Intimaverdickungen an einigen kleinen Arterien
im Gesunden, sonst erscheinen diese völlig intakt. Dagegen findet sich
an den durch Ausschüttiung des Gehirns gewonnenen Gefäßen ein sehr
interessanter Befund an einer mittelgroßen Arterie, die nicht aus der
engsten Nachbarschaft der Blutung stammt. Die Media dieses (Gefäßes
ist in etwa !/, ihres Umfanges völlig ersetzt durch ein dichtes Rund-
zelleninfiltrat. Die Intima ist über diesem Gebiete und dessen Nachbar-
schaft sebr verdickt mit ausgedehnter Neubildung von elastischen Fasern,
das Gebiet des Rundzelleninfiltrates erscheint in mäßigem Grade nach
außen aneurysmenartig ausgebuchtet. Für einen syphilitischen Prozeß
findet sich in dem Organismus kein Anhaltspunkt, Sachs-Georgi ist
negativ. Dagegen war vor zwei Jahren bereits ein Schlaganfall ein-
getreten, viel Kopfschmerzen bestanden in den letzten Jahren. Als alte
kledianekrose infolge früherer apoplektiformer Insulte mit später erfolgter
reaktiver Rundszelleninfiltration wird dieser Herd angesehen. Es wird
später wieder auf ähnliche Prozesse hingewiesen werden.
Eine kurze Übersicht über die bisher mitgeteilten 6 Fälle
zeigt als Gemeinsames bei allen das Vorhandensein einer großen
durchgehenden Blutung zweimal kombiniert mit anderen in dem
Gebiete der Stammganglien und am Rande derselben zahlreiche
kleine, meist makroskopisch gut erkennbare Blutungen. Diese gehen
an Menge, Ausdehnung und in der Form des oft allmählichen
Überganges über das hinaus, was an gleichen Diapedesisblutungen
im Gebiete reaktiver Hyperämie auf eine stattgehabte Blutung
möglich wäre. Die Untersuchung der kleinen Blutungen läßt mehr
an Einzelheiten erkennen, wie das Zentrum des völlig durchbluteten
Bezirkes. Es finden sich dabei in allen Fällen inmitten der kleinen
Blutungen kleine und kleinste Gefäße aller Art, Kapillaren, Venen
und Arterien verschiedener Größe. Häufig sind diese sehr stark
gedehnt, besonders die Kapillaren und kleinen Venen, am aus-
gesprochensten bei Fall I, 6, und oft ist an den kleinsten Blutungs-
herden deutlich erkennbar, wie diese Blutung eng und scharf um-
grenzt nur in die Gefäßscheide stattgefunden und zu einer starken
UÜberdehnung derselben geführt hat, ohne sie zu durchbrechen, man
sieht dann nach Art eines Doppelringes die Reste der eigentlichen
Gefäßwand und am Rande die Gefäßscheide. Häufig ist dasselbe
10 WeESTPHAL u. BÄR
Phänomen auch noch gut inmitten von weit über diese Gefäßscheide
hinausgegangenen Blutungsherden festzustellen.
An der eigentlichen Wand imponiert an vielen Kapillaren und
Venen oft der deutliche Schwund von Kernen und klarer Struktur,
doch nicht immer zeigt sich eine starke Schädigung so deutlich,
manchmal finden sich auch intensive Blutungen um Gefäße mit
deutlich erkennbaren Kernen und nur überdehnter Wand.
Eindrucksvoller noch gestalten sich die Veränderungen an den
Arterien und Arteriolen. Es finden sich dort in jedem Falle, in
manchen stärker hervortretend (I, 1 und I, 3) in anderen weniger
(I, 5 und I, 6) hochgradige Veränderungen an der Gefäßwand, die
sich im wesentlichen an der Media abspielen in Gestalt deutlicher
Quellung der Muskelfasern mit stärkerer Lichtbrechung, so daß sie
völlig wie hyalin erscheinen, häufig ist dabei vorhanden völliger
Kernschwund, manchmal Vakuolisierung der Media. Doch soll aus-
drücklich betont werden, daß besonders bei Fall I, 5 und I, 6, aber
auch in den übrigen Fällen zahlreiche Schnittreihen sich fanden,
wo an einer größeren Menge von kleineren, von umschriebener
Blutung umgebenen Arterien solcher Kernschwund und die starke
Quellung der Media oder andere grobe Veränderungen derselben
vermißt wurden. Auch in Fall I, 1 finden sich Erythrocyten-
ansammlungen in der Gefäßwand mit umgebender Blutung, ohne
Muskelkernschwund. Die Schädigung der Arterien- und auch der
Venenwände kann demnach anscheinend bis zum Eintritt von
Diapedesisblutungen sich entwickeln, ohne daß grobe Veränderungen
der Arterienmedia sichtbar werden müssen. Aber wir können sie
auch in diesen Fällen annehmen, da wir die Weiterentwicklung
bis zur schwersten Medianekrose im gleichem Blutungsherde so
oft finden.
Wichtig sind die Bilder bei I, 2 und 5, wo auch makroskopisch
erkennbare, etwa stecknadelkopfgroße, säckchenförmige Ausstül-
pungen der Gefäßscheide bedingt durch Medianekrose und Durch-
blutung der Arterienwand eingetreten waren. Eigentliche Risse
derselben wurden hier nicht gesehen. Die Gefäßwandnekrose war
bei solchen kleinen Blutungen in die Gefäßscheide, oft ganz eng
umschrieben einseitig, perivaskuläre Zellinfiltrate am Rande fehlten
hier. Ausgedehnte, kolbige Anschwellungen der nekrotischen Gefäß-
wand wurden nicht beobachtet. Die umschriebenen Blutergüsse in
die Gefäßscheide entsprechen den miliaren Aneurysmen Charcot’s,
aber wir sehen hier in Übereinstimmung mit den Rosenblath-
schen Befunden und der Pick’schen Ansicht, daß sie als kleine
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Deutsches Archiv für klin. Medizin, Band 151 Tafel I
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Abbildung Nr. I, ı Leitz Okular 1, Objektiv 7
Erythrocyten in der aufgefaserten, noch kernhaltigen Wand einer kleinen Arterie
bei umgebender Blutung. (Fall I, r.)
Abbildung Nr. I, 2 Leitz Okular 1, Objektiv 3
Gebiet aus dem Rande des Blutungsherdes mit Schwund der Ganglienzellen, Auflockerung und
Durchblutung und schwer geschädigten Gefäßen. Die allgemeine Angionekrose tritt hervor an
einer mittelgroßen Arterie und Vene sowie kleineren Gefäßen. (Fall II, r.)
Westphal Verlag von F. C, W. Vogel in Leipzig.
DRUCK VON FR.RICHTER G.M.B.H. LEIPZIG
rn
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 11
Aneurysmata dissecantia nur eine nicht einmal sehr wesentliche
Erscheinungsform von umschriebener Blutung bei der allgemeinen
Gefäßwandschädigung im apoplektischen Herde sind.
Auf die Ringblutung im Fall 1 und 4 sei vorläufig nur hin-
gewiesen. Um einige kleine Gefäße am Rande der Blutung fanden
sich- Leukocytenansammlungen.
Die in etwas größerer Distanz von der Blutung mehrmals gè-
fundenen kleinsten Blutergüsse um einzelne Arterien (Fall I, 1 und
Fall I, 4) und das Rundzelleninfiltrat in Fall I, 6 scheinen uns in
enger Verwandtschaft zu der schweren Gefäßschädigung im Blu-
tungsherde zu stehen. Sie sind Ausdruck derselben, aber diesmal
enger lokalisierten Alteration besonders der Media der Arterien,
wie wir sie mitten in der Blutung finden, oder wie das Rundzellen-
infiltrat, Folge einer solchen Schädigung.
Im übrigen gibt die weitere Nachbarschaft des Blutungsherdes
in diesen Fällen keinen Hinweis für die Entstehung der Blutung.
An dem Rande treffen sich Erythrocytenextravasate und intakte
Ganglien- und Gliazellen. Nur einmal finden sich an Ganglien-
zellen geringe Veränderungen, acidophile Färbung und manchmal
Kernzerfall. Markscheidenfärbungen wurden nicht gemacht. Die
nun folgende Serie soll jedoch in der Richtung dieser Frage: sind
Hirnveränderungen für die Gefäßschädigung nicht sehr mit maß-
gebend ? Weiteres aussagen.
II. Kombination von weißer Erweichung und Blutung in
einem Herde. |
Fall II, 1: Hermann von Th., 52 jähriger Arbeiter, Sektions-
nummer 25/24. Klinische Diagnose: Genuiner Hypertonus mit links-
seitiger Apoplexie, bewußtlos eingeliefert am 30. XII. 23. Gest. am
9. I. 24 mit doppelseitiger Pneumonie.
Anatomische Diagnose: Frische Hirnblutung mit Zerstörung der
rechten Stammganglien und der rechten inneren Kapsel. Durchbruch in
die Ventrikel. Arteriosklerotische Schrumpfnieren leichten Grades, Hyper-
trophie des ganzen Herzens. Geringgradige Sklerose der Coronar- und
basalen Hirnarterien. Konfluierende Bronchopneumonie beider Unter-
lappen usw.
Nieren mikroskopisch: Ausgesprochene Arteriolosklerose vereinzelter
Arteriolen. Hier und da fibröse Glomeruli.
Hirn: Es wurde von 4 Stellen der Blutung mit den anschließenden
Randpartien zur Untersuchung entnommen. In allen 4 Gebieten ist am
Rande eine ausgesprochene Zone mit schwerer allgemeiner Gewebs-
schädigung vorhanden, diese meist mehrere Millimeter breite Zone ist
diffus mehr oder minder dicht gedrängt von kleinen Blutungen durch-
12 WeESTPHAL u. BÄR
setzt, auch innerhalb der Gebiete kompakter Blutung finden sich kleine
Inseln von nicht von Erythrocyten durchsetztem nekrotischem Gebiet.
Diese nichtdurchbluteten Partien der Erweichung setzen sich meist scharf
gegen das gesunde Hirngewebe ab. Sie zeichnen sich deutlich ab durch
fast völligen Kernschwund, nur vereinzelt sind hier und da noch Zellen
erkennbar, die kleinen Ganglienzellen sind verschwunden oder zerfallen,
die Gewebspartie erscheint wie ödematös durchtränkt und grobmaschig
aufgelockertt. Am Rande im Gesunden liegen sehr vereinzelt Fett-
körnchenzellen.
Die Gefäße in dem nekrotischen Randgebiete zeigen zu einem großen
Teile schwerste Veränderungen (vgl. Abb. Nr. I, 2). Sie sind fast sämtlich,
ob umgeben von Blutung oder nicht, stark gedehnt, mit dementsprechend
oft verdünnter Wand, bis auf wenige Kerne ebenso wie die Umgebung
kernlos, an Kapillaren, kleinen Venen und Arteriolen besteht der gleiche
Befund. An diesen findet sich oft dabei eine glasig erscheinende, breite
Aufquellung der Gefäßwand und oft wieder um sie die umschriebene
Blutung in die stark überdehnte Gefäßscheide. Deutlicher wie an dem
bisher aufgeführten Material tritt hier in der geschädigten Wand kleiner
und großer Arterien das Vorhandensein von Blutkörperchen hervor. Es
finden sich gedehnte und aufgefaserte Arterien mit Schwund auch der
Kerne in der Intima und in der nicht ausgesprochen gequollenen
Muskularis, die überall zwischen Intima und bis zum Außenrande der
Adventitia durchsetzt sind von Erythrocyten und vereinzelten Leukocyten,
daneben an 2 Stellen eigenartige Bilder von netzförmiger Auflösung mit
Bildung zahlreicher Vakuolen in der Gefäßwand kleiner Arterien bei
durchbluteter Umgebung und starker von Vakuolen durchsetzter Quellung der
Intima im Innern des sehr gedehnten Gefäßes. Schließlich finden sich
auch große Arterien mit Nekrose der Wand in sämtlichen Schichten,
starker Quellung der Intima, ebenso wie der kernlosen Media, die hier
und da durchsetzt sind von Erythrocyten (vgl. Abb. Nr. I, 3). Besonders
deutlich treten auch bei Elastikafärbung diese schweren Schädigungen
arterieller Gefäßwände dem Betrachter entgegen. Am Rande der Blutung
und Erweichung zeigt sich, wie die elastischen Fasern auf der einen Seite
der stark deformierten Arterie völlig aufgelöst und zerrissen sind, nur
hier und da sind feine Reste von ihnen zu erkennen. Die gequollenen
Gefäßwandreste sind von Blutkörperchen hier und da durchsetzt (vgl.
Abb. Nr. I, 4a). Ein Übergang von Diapedesis- zur Rhexisblutung ist
bei solchen Zerstörungen der Gefäßwand geschaffen. Aus einer nekroti-
schen Partie inmitten der Blutung, die selbst frei von solcher ist, läßt
sich mit Elastikafärbung noch eine Arterie darstellen. Auch hier zeigt
sich als letzter erkennbarer Rest des Gefäßes die schwer geschädigte
Elastika. Der blaugefärbte Ring zeigt hier und da deutliche Kontinuitäts-
trennung, wie aufgeschnurrt erscheinende elastische Fasern bilden zer-
rissene Reste des früheren Ringes (vgl. Abb. Nr. I, 4b).
Auch an großen Venen sind die gleichen Verhältnisse zu sehen,
Kernschwund, Quellung allerdings nicht in so starkem Maße, Durch-
setzung der Wand mit Blutkörperchen.
Ganz am Rande der Erweichung findet sich um eine Anzahl nicht
erkennbar veränderter Arteriolen und Kapillaren ein aufgehelltes Gebiet
Deutsches Archiv für klin. Medizin, Band 151 Tafel II
Leitz Okular 5, Objektiv 3
Abbildung Nr. 1,3
Nekrotisierte große und kleine Arterie mit totalem Kernschwund und Vakuolisierung
der gequollenen Media in weißen Se am Rande der Blutung.
(Fall II.)
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Leitz Okular 1, Objektiv 4 a b Leitz Okular 3, Objektiv 5
Abbildung Nr. I, 4
Elastikafärbungen vom Rande des Blutungs- und Erweichungsgebietes
a) am Rande des blutigen Erweichungsherdes schwer degeneriertes Gefäß mit teilweise zerstörter
Elastica und Erythrocyten in der vakuolisierten Gefäßwand und um diese.
b} Aufgefaserte Elastica als Rest einer Arterie im nekrotischen, nur wenig durchbluteten Gebiet.
(Fall II, 1.)
Westphal Verlag von F, C. W. Vogel in Leipzig.
DRUCK VON FR.RICHTER G.M B.H.. LEIPZIG
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 13
mit Lockerung und Dehnung der Gewebsmassen, einige Erythrocyten be-
finden sich dabei außerhalb der stark gefüllten Gefäße.
In weiterer Umgebung und an Schnitten aus anderen Hirnpartien
finden sich keine wesentlichen Veränderungen, hier und da geringe
Arteriolosklerose mit geringer hyaliner Quellung der Grenzschichten
zwischen Intima und Media.
Fall II, 2: Maria R., 70 Jahre. Gest. am 14. XII. 22 im Bürger-
hospital an einer frischen Blutung in den linken Nucleus lentiformis,
durchgebrochen in die Seitenventrikel.
Gehirn mikroskopisch: Von drei verschiedenen Partien des Blutungs-
herdes entnommene Blöcke zeigen außer an einer Serie typischer durch-
bluteter Gebiete mit den zur Genüge beschriebenen Gefäßschädigungen
an den zwei anderen Schnittreihen jedesmal in dem durchbluteten Rand-
gebiete nekrotische nicht durchblutete Bezirke mit völligem Kernschwund
in denselben; in dem einen Abschnitt fanden sich eine größere und drei
kleinste Arterien alle mit kernloser gequollener Wand, die in diesem Ge-
biete nicht durchblutet waren, in einem anderen Abschnitt fand sich eine
größere Vene ebenfalls mit Kernschwund in ihrer Wand. Die Blutung
setzte erst in dem nahe der großen Blutung gelegenen Abschnitt der
Vene ein.
Fall II, 2: Susanne E., 65 Jahre. Gest. im Hospital zum Heiligen
Geist, Sektionsnummer 543/24.
Klinische Diagnose: Apoplexie und Pneumonie des rechten Unter-
lappens. Im Oktober 23 wegen apoplektiformen Insultes im Kranken-
hause, am 29. IV. 24 plötzliche Lähmung im linken Arm und linken
Bein, Blutdruck 210 : 130.
Anatomische Diagnose: Hochgradige Sklerose der größeren, mittleren
und kleineren Arterien, auch der Kranzarterien des Herzens und der
Basalarterien des Gehirns. Hypertrophie des linken Herzens. Arterio-
sklerotische Schrumpfnieren mäßigen Grades. Mehrere verschiedenartige
Erweichungsherde des Gehirns.
Nieren mikroskopisch: Arteriolosklerotische Schrumpfniere.
Das Gehirn zeigt makroskopisch einen ausgedehnten frischen Er-
weichungsherd im linken Frontallappen, der sich vorwiegend auf die
Marksubstanz desselbeu beschränkt, und zum großen Teile den Balken
zerstört. Im Rindenraum des Erweichungsherdes reichlicher dicht neben-
einander stehende zum Teil konfluierende punktförmige Blutungen. Er-
weichungsherde sind außerdem an anderen Stellen des Hirns vorhanden,
im rechten Thalamus, in dessen vorderen Teil ein zum Teil cystisch ge-
wordener weißer Erweichungsherd, das ganze Gebiet des linken Putamens
ist von einer frischen weißen Erweichung eingenommen, ein kleiner rost-
brauner Erweichungsherd ist auch in der Brücke feststellbar.
Bei dieser interessanten Kombination von weißer und brauner Er-
weichung und an verschiedenen Stellen von weißer Erweichung und
Blutung, besonders im linken Frontalhirn erschien gerade dieses Gebiet
für die mikroskopische Untersuchung lohnend. Von 3 Stellen des linken
Vorderbirns wurden Blöcke eingelegt, 3 von Gebieten reiner Erweichung,
l von mit Durchblutung durchsetzter Erweichung. Sie ergeben. bei
14 WESTPHAL u. BÄR
Durchsicht in Schnittreihen 1: um die beiden Erweichungsstellen wenig
Fettkörnchenzellen am Rande. In der Mitte derselben völliger Zerfall
des Gewebes mit nur hier und da erhaltenen Gliazellkernen. Sämtliche
Gefäße im erweichten Gebiete sind entweder blutleer oder mit nur wenig
Blutkörperchen gefüllt und meist eng kontrahiert. An einer ganzen An-
zahl von kleinen Arterien, aber auch kleinen Venen deutliche Schädigung
der Wand mit sehr weitgehendem Kernschwund und oft mäßig gequollener
Media. Bei Elastikafärbung, die im Gesunden sehr gute Bilder ergab,
war zum Teil Zerfaserung der Elastika feststellbar, zum Teil fehlte eine
deutliche Darstellung derselben. An der schweren Zerstörung der Gefäß-
wand der Arterien im erweichten Gebiete ist hier demnach kein Zweifel.
Auch ganz außerhalb des Erweichungsherdes findet sich sehr deutlich
eine mittelgroße Arterie mit anscheinend gesunder Umgebung, dicht unter
dem Ependym des linken Ventrikels mit mäßiger Quellung der Media
und völligem Kernschwund derselben auf 10 Schnitten. Bei Elastika-
färbung schlechte Färbung und Auflockerung derselben. Dieses Gefäß
ist ebenfalls blutleer. Am Rande zum Gesunden findet sich nur sehr
stellenweise etwas stärkere Füllung der Gefäße. Sehr wenige Male sind
kleine Blutungen in den Kapillaren vorhanden, dagegen sind sehr auf-
fällig zum Teil noch im erweichten Gebiete, neben wenigen Fettkörnchen-
zellen nur kleine Arterien und Venen kleine Rundzellenanhäufungen,
zum Teil aus allerdings nur wenigen gelapptkernigen Leukocyten be-
stehend.
2. Das durchblutete Gebiet zeigt einen sehr interessanten Befund.
Am Erweichungsherde sind überall sehr ausgesprochene Blutungen in
dem nach der Rinde zu gelegenen Gebiete feststellbar. Fettkörnchen-
zellen fehlen hier. Die Blutungen liegen um stark gedehnte Kapillaren,
Venen und Arteriolen. Dabei finden sich sehr schöne Bilder, wo auf
ganz langer Strecke verfolgbar um Kapillaren und Venen neben diesen
Gefäßen Blutungen in im ganzen doppelter Gefäßbreite vorhanden sind,
eine Art glasiger Quellung war auch hier an der Wand der Präkapillaren
stellenweise erkennbar mit Diapedesisblutungen in die Gefäßscheide, die
Bilder von Kernlosigkeit, Quellung und starkem Lichtbrechungsvermögen
in der Arterienwand fanden sich ebenfalls wieder, zum Teil mit den
übrigen kreisföormigen Blutungen. Nirgends konfluieren auf diesen
Schnitten die Blutungsherde zu einem großen. An blutungsfreien Stellen
am Rande des Erweichungsherdes im Gebiete des Markes finden sich
um prallgefüllte Kapillaren Ringe von gelapptkernigen Leukocyten. Einige
Leukocytenanhäufungen sind auch in Kapillaren. In anderen Gebieten
ohne Leukocytenansammlungen finden sich perivaskulär um mittelstark
gefüllte Gefäße Kundzelleninfiltrate mit nur geringer Beimengung von
gelapptkernigen Leukocyten im anscheinend intakten Gewebe, Resorptions-
erscheinungen sind dieses wohl (vgl. Abb. Nr. I, 5).
3. Auf allen Schnitten finden sich im nicht erweichten Gebiete an
einer größeren Arterie sehr ausgesprochene Intimawucherungen, die
meist ? des Lumens von der einen Hälfte der Gefäßwand ausgehend
einnehmen, oft durchsetzt sind von ausgedehnten Neubildungen der
Elastika. Die Media erscheint in diesem Gebiete häufig etwas ver-
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 15
schmälert. Im übrigen ist sie anscheinend bis auf die eine oben be-
schriebene Stelle nicht grob verändert.
Die Arterien des Gehirns zeigen makroskopisch eine hochgradige
Sklerose der größeren, mittleren und auch kleineren Gefäße.
Es finden sich also hier bei multiplen Erweichnngsherden bei schwerer
Arteriosklerose mit Intimawucherung im Gehirn im Gebiete der Er-
weichungsherde 1. schwere Gefäßwandschädigungen bei Blutleere der Ge-
fäße, 2. perivaskuläre Zellinfiltrate am Rande der Erweichung, 3. am
Randgebiete eines Erweichungsherdes zur Hirnrinde hin in einer Partie
mit gut bluthaltigen zuführenden Gefäßen ausgedehnte kleine Blutungen
aus Arteriolen, Venen und Kapillaren bei deutlich geschädigter Gefäßwand.
Fall II, 4: Ludwig G. Gest. 16. II. 24 im Krankenhause Sand-
hof, Sektionsnummer 149/24.
Klinische Diagnose: Sekundäre Schrumpfniere nach 1899 auf-
getretener Nierenentzündung mit Hypertonus über 200 mm Hg, mit
Retinitis albuminurice, stark erhöhtem Rest-N im Blute, starken Kopf-
schmerzen in letzter Zeit und Erbrechen.
Anatomische Diagnose: Sekundäre Schrumpfriere mit Rindenver-
fettung, Hypertropbie des ganzen Herzens, frische Blutung im rechten
Stirnhirn, konfluierende Bronchopneumonie beider Unterlappen usw.
Mikroskopische Niere: Ausgesprochene sekundäre Schrumpfniere mit
Arteriolosklerose.
Hirn: Die markstückgroße blutige Erweichung im rechten Stirnhirn
zeigt bei mikroskopischer Untersuchung einen ausgesprochenen Wechsel
in ungefähr gleicher Ausdehnung von voll und gleichmäßig durchbluteten
Partien mit nur nekrotischen ohne Blutung, mit ausgeprägten Kern-
schwund und Kernzerfall. Am Rande überwiegen diese nur nekrotischen
Partien, ım Übergang zu dem normalen erscheint dabei das Gewebe
ödematös durchtränkt. Die Gefäße zeigen im durchbluteten und nicht-
durchbluteten Erweichungsgebiete, vor allem in diesem die üblichen Ver-
änderungen. Es finden sich Arteriolen mit kernloser, gequollener, zum
Teil hyaliner Media und kleine Venen mit kernloser und zum Teil sehr
gedehnter Wand. Diese Gefäße sind sämtlich mit Blut breit gefüllt. In
der Nachbarschaft finden sich auf der einen Seite wenig kleine Blutungen,
auf der anderen reichlicher. Bisweilen sind in ihnen Gefäße erkennbar,
meist sehr gedehnte kleine Venen. An einer Stelle aus den Wand-
gebieten imponiert ein kleines Gefäß, anscheinend eine kleine Arterie mit
sehr gelockerter Wand durch starke Quellung der Zellkerne, Kernzerfall
dabei und hochgradige Vakuolenbildung in den Zellen, in der Umgebung
ist eine kleine Blutung. Vereinzelt finden sich auch typische Ring-
blatungen in den Randzonen. Sehr auffallend an diesem Fall ist ferner
der Befund sehr zahlreicher perivaskulärer Zellinfiltrate in diesem Rand-
gebiete, um kleine Venen und Arteriolen einmal auch um eine größere
Arterie. Es bandelt sich dabei stets um Gefäße mit anscheinend völlig
unveränderter Wand, sehr guter Kernfärbung usw. Ein Eindringen der
Infiltrate in die Media wurde nicht gesehen, im Blutungs- oder Er-
weichungsherde finden sich diese Zellanhäufungen nicht. Sie bestehen
im wesentlichen aus Rundzellen, Fibroblasten, vereinzelten gelapptkernigen
Leukocyten, sie sind bis zu 8—10 im Querschnitt um die Gefäße ver-
16 WestpHaL u. Bir
sammelt. Fettkörnchenzellen sind am Rande der Erweichung wenig vor-
handen. Sehr geringe Arteriosklerose ist im Gebiete der weiteren Um-
gebung erkennbar.
Diese angeführten 4 Fälle zeigen als typisch gemeinsam das
gleichzeitige Vorhandensein von schwerer Schädigung des Hirn-
gewebes in Gestalt von nur weißer Erweichung und von Blutung.
Außer in Fall II, 3 steht dabei die Blutung durchaus im Vorder-
grunde des Bildes, bei einfacher makroskopischer Besichtigung
treten bei den anderen Fällen die nichtdurchbluteten Partien kaum
am Rande der Blutung hervor. Ihr Befund ist von großer Wichtig-
keit, zeigt er doch, wie ein gemeinsames schädigendes Agens, so
wie es Rosenblath schon hervorhebt, zuerst zur schwersten
Schädigung umschriebener Gehirnpartien und damit gleichzeitig
der darin enthaltenen Gefäße führen kann. Gerade an diesen Ge-
fäßen aller Art am Rande des durchbluteten und des nur nekro-
tischen Gebietes finden sich zum Teil ausgesprochener noch wie
bei den reinen Blutungsfällen die schwersten Veränderungen. Eine
allgemeine Angionekrose von Kapillaren, Venen und Arterien ist
vorhanden, sie zeigt sich auch an größeren Venen mit völligem
Kernschwund und ausgedehnter Durchblutung der Wand und noch
stärker und charakteristischer an den Arterien. Die Arterionekrose
kann verschiedene Bilder annehmen neben einfachem von den
früheren Bildern her geläufigem Kernschwund mit Quellung der
Media finden sich durch ausgedehnte Vakuolenbildung in der Wand
netzartig aufgelöste kleine Arterien, schwere Nekrose in sämt-
lichen Schichten von Intima mit Quellung besonders wieder der Media
doch auch manchmal der Intima und der Erythrocytenansammlung
in der so geschädigten Gefäßwand. Bei Elastikafärbung, die manch-
mal auch noch mitten in durchbluteten Geweben Reste der zer-
störten Gefäßwand erkennen ließ, tritt einem die Schädigung der
Arterienwand ebenfalls sehr ausgesprochen entgegen. Sie ist manch-
mal allerdings nur schlecht zu erzielen im nekrotischen Gebiet, in
anderen Fällen aber sehr klar und zeigt dann an breiten Einrissen
am gedehnten Gefäß, wie zwischen Diapedesis-, Diairrhesis- und
Rhexisblutung hier in weitem Maße Übergänge möglich sind.
Wichtig ist für das Zustandekommen der einzelnen Blutungen
die Beobachtung am Fall II, 2, wo im Vordergrunde stehen die
multiplen weißen Erweichungsherde bei sehr hochgradiger Arterio-
sklerose. Nur an dem ins Rindengrau übergehenden Teil des Er-
weichungsherdes im Frontallappen, wo die Versorgung durch
Arterien aus dem Rindengebiete zu der des Markgebietes hinzu-
Deutsches Archiv für klin. Medizin, Band 151 Tafel III
Fall von Kombination von weißer Erweichung und Blutung Nr. II, 2.
Typisches Bild einer allgemeinen Schädigung der kleinen Gefäße.
Stück aus den Rindenpartien in kombinierter Zeichnung. Rechts nekrotische Kapillare mit typi-
scher Blutung in überdehnte Gefäßscheide und über diese hinaus. Weiter links glasige Quellung
der Gefäßwand einer kleinen Arteriole mit erhaltenen Intimakernen und ausgedehnter Blutung
in die Gefäßscheide. Weiter links perivaskuläres Zellinfiltrat und ganz links kleine Vene mit
ausgedehnter Blutung längs des ganzen Gefäßverlaufes. (Fall II, 2.)
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Abbildung Nr. I, 6 Leitz Okular 1, Objektiv 2
Ausgedchnte Blutung im Kleinhirn um zahlreiche zum Teil überdehnte Gefäße
mit guter Kernfärbung ihrer Wand. (Fall III, 1.)
Westphal Verlag von F, C. W. Vogel in Leipzig.
DRUCK VON FR.RICHTER G.M.B.H.,LEIPZIG
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 17
tritt, ist es zu Blutungen gekommen. Die übrigen Arterien und
Arteriolen sind meist blutleer, auch ohne daß hier eine Erweichung
stattgefunden hat findet sich an einer in gesunder Umgebung
ebenso wie an denen im erweichten Gebiet Kernschwund und aller-
dings mäßige Mediaquellung. Doch die Blutung in diesen Er-
weichungsbezirken fehlt völlig, wir müssen annehmen, weil der
Nachstoß des Blutstromes nach dem Eintritt der Gefäßwandschädi-
gung infolge des zentral gelegenen arteriosklerotischen Gefäß-
verschlusses in den Arterien dauernd unterblieben ist, nur im
Rindengebiete, wo kollateraler Zustrom möglich war, ist es zur
Ausbildung zahlreicher kapillärer Blutungen gekommen, die be-
sonders schön die genaue Übersicht des Zusammenhanges zwischen
einzelnen kleinen Blutungsherden und geschädigter Gefäßwand ge-
statten. |
Diese gemeinsame Kombination im gleichen Herde von durch-
bluteter und nicht durchbluteter Erweichung schien uns für die
Frage nach der Entstehung der Hirnblutung so Wichtiges zu bieten,
daß in einer dritten Gruppe die Fälle zusammengestellt wurden,
bei denen sich zusammen, aber überwiegend in getrennten Gebieten
Blutung und weiße Erweichung fanden. Die Auszüge aus den
Protokollen sollen hier, um nicht Bekanntes wieder zu breit aus-
zuführen, gekürzter gegeben werden.
III. Getrennte Kombination von weißer Erweichung und
Blutung.
Fall IIJ, 1: Siegmund G., 49 jähriger Kaufmann. Gest. am 23. V. 25
an Apoplexie und akuter gelber Leeberatrophie.
Gehirn: Der genaue Sektionsbefund des Gehirns beschreibt in der
rechten Temporalgegend einen kleinen frischen suppialen roten Er-
weichungsherd von 15 mm Länge und 8 mm Breite, in seinem Umkreise
findet sich ein weißer Erweichungsbezirk von 20:10 mm Größe Auf
der linken Seite in der weißen Substanz der Insel, dicht vor der Capsula
externa liegt eine braune Erweichungscyste von 8:2 mm Größe. An
der Schädelbasis schwere Arteriosklerose der Arterien. Ein Frontal-
schnitt durch das formolfixierte Kleinhirn zeigt eine frische rote Blutung
durch das Zentrum des Kleinhirns in etwa Zweimarkstückgröße. Die
Sklerose sämtlicher Hirnarterien ist beträchtlich.
Zur mikroskopischen Untersuchung war leider nur Kleinhirn ein-
gelegt. Die Schnittreihen zeigen bei der Blutung wieder am Rande der
kompakten zahlreiche kleine perivaskuläre Blutaustritte meist von der
üblichen Form in die Gefäßscheide hinein. Auffallend ist nur, daß wohl
hier und da in dem Gebiet von mäßiger Blutung anatomisch erkennbare
Gefäßveränderungen auffindbar sind, mit Kernschwund an kleinen dila-
tierten Venen und Kapillaren, nie an Arteriolen, daß aber die miliaren
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 2
18 WestpHar u. Rir
Blutungen am Rande wohl Überdehnung besonders der kleinen Venen
aufweisen, daß aber ebenso wie bei zahlreichen vorgefundenen Arteriolen
inmitten von Blutungen keine deutlichen Veränderungen an ihrer Wand
erkennbar sind, sie zeigen gut färbbare und erhaltene Kerne. Trotzdem
also eine schwere anatomische Schädigung an ihnen nicht erkennbar ist,
haben doch nach der Lage der Blutungen oft ringförmig um sie in die
(efäßscheide ausgedehnte Blutungen aus ihnen stattgefunden. Auch das
benachbarte Hirngewebe zeigt keine Zeichen von Schädigungen. Gut
färbbare Ganglienzellen mit deutlicher Kernzeichnung liegen dicht am
Blutungshberde (vgl. Abb. Nr. I, 6). Im Gesunden findet sich nur an
sehr vereinzelten Arteriolen deutliche Arteriosklerose.
Fall III, 2: Thekla Ei, 64 Jahre alt. Gest. 8. X. 23 zeigt eben-
falls Kombination von großem, weißem Erweichungsherd im rechten
Temporallappen mit multiplen rotbraunen Erweichungsherden und Cysten
in den Stammganglien. Der mikroskopische Befund zeigt die typischen
angionekrotischen Prozesse.
Fall III, 3: Karl. F., 53jähriger Arbeiter. Gest. am 17. I. 24 an
Urämie bei chronischer Nephritis mit sekr. Schrumpfniere, weist im
Gehirn eine frische, etwa erbsengroße Blutung in der Pons auf und
mehrere kleine Erweichungsherde im Thalamus, sowie mikroskopische
angionekrotische Prozesse in allen Herden.
Fall III, 4: Maria H., 64 Jahre alt. Gest. am 2. VI. 23. Zeigt bei
mehreren kleinen Erweichungsherden in den Stammganglıen Kombination
von roten und weißen, in den zuführenden Arterien finden sich hoch-
gradige, zum Teil ganz verschließende Intimawucherungen, mikroskopisch
findet sich im übrigen das übliche Bild.
Fall III, 5: Heinrich Mö., 74 Jahre alt. Gest. am 16. XI. 23 in
der Medizinischen Klinik, Sektionsnummer 1209/23.
Klinisch: Eine nach genauen Angaben des Patienten plötzlich ein-
getretene Apoplexie mit linksseitiger Lähmung, seit 10 Wochen vor
dem Tode bestehend. Im Jahre 1922 bereits zwei Schlaganfälle.. Sonst
postapoplektische senile Demenz, mäßiger Hypertonus.
Anatomisch: Allgemeine Arteriosklerose. Größerer, nur auf der
Schnittfläche etwas eingesunkener Erweichungsherd im Nucleus lentiformis
rechts, braune Erweichungscyste und kleine braune Erweichungsherdchen
Nucleus condatus links. Bronchopneumonie usw.
Mikroskopisch ist der Befund wegen seiner Abweichung von den
übrigen sehr interessant. In dem rechtsseitigen größeren Herde findet
sich ein ganz ausgedehnter Schwund von Glia- und Ganglienzellkernen,
doch zum Teil sind diese noch eben erkennbar gefärbt. Dagegen tritt
die Färbung der Gliazellkerne noch gut und klar hervor in ganz schmalen
Zonen um die das schwergeschädigte Gebiet durchziehenden Gefäße.
Diese erscheinen sämtlich hochgradig verengt, die Wand der Kapillaren
und Venen zeigt gute Kernfärbung, keine anderen irgendwie erkennbaren
Veränderungen, ihr schmales Lumen ist gefüllt mit ganz vereinzelten
Erythrocyten. An den Arteriolen dieses Bezirkes, nicht so sehr an den
großen Arterien, sind schwere Veränderungen erkennbar, hochgradige
Verkalkung der Media seltener Wucherung der Intima mit Verengerung
des Lumens. Auch an einer Anzahl von Arteriolen, besonders in den
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 19
äußeren Teilen des nekrotischen Gebietes ist Kernlosigkeit mit mäßiger
glasiger Quellung der Media vorhanden ohne Verkalkung. Die Arteriolen
sind nur wenig mit Blut gefüllt. Am Rande des Erweiochungsgebietes
vereinzelt Fettkörnchenzellen, keine Hyperämie.
Schnitte von der anderen Seite vom Rande der Erweichungscyste
zeigen zwei auf langer Strecke verfolgbare, sehr gedehnte dünnwandige
Venen. Um eine derselben vereinzelte kleine Blutungen, ohne das Ge-
täßwandschädigung erkennbar ist. Kontrollschnitte aus den Gesunden
zeigen hier und da auch Verkalkung der Media kleiner Arterien und
Intimawucherung derselben.
Wieder tritt in dieser Reihe von Apoplexiefällen das Gemein-
same des Vorkommens von weißer und roter Erweichung entgegen.
Bei III, 1 sehen wir in Parallele zu der vorhergehenden Serie die
Kombination am gleichen Ort von Blutung und Erweichung im
rechten Stirnhirn und einer frischen Blutung im Kleinhirn. Nr. III, 2
zeigt eine große weiße Erweichung im rechten Temporallappen,
gleichzeitig mit multiplen roten Erweichungsherdchen in den Stamm-
ganglien. Nr. III, 3 weist neben kleinen Blutungsherden in der
Pons mehrere kleinere weiße Erweichungsherdchen im Thalamus
und in der Pons auf, Nr. III, 4 einige kleine aus Venen stammende
Blutungen in größerer Entfernung vom weißen Erweichungsherd,
sie sind also kaum als reaktiv aufzufassen, und schließlich der
letzte Fall Kombination von weißer Erweichung und roten und
weißen Erweichungsherden und Cystchen in den Stammganglien.
Wenn auch dieses gemeinsame Vorkommen an getrennten
Stellen keineswegs so gegen die alte Auffassung von einer Gefäß-
ruptur als Ursache der Blutung spricht, wie die Kombination in
einem Herd, so ist doch wieder die ausgedehnte Angionekrose, wie
sie sich bei III, 2 und III, 3 besonders zeigt, ein Ausdruck der
engen Beziehung dieser weißen und roten Erweichung bei diesem
Prozeß. Wichtig ist als stetiges Merkmal in den durchgesehenen
weißen Erweichungsherden die geringe oder fehlende Füllung der
Gefäße, vor allem der arteriellen, diese gibt zusammen mit der ge-
fundenen Thrombose zum Beispiel in Nr. III, 3 die Erklärung ab
für das Fehlen der Nachblutung in den abgestorbenen Geweben
und in gleicher Weise bei den klinisch plötzlich nach Art einer
Apoplexie eingetretener Erweichungsprozeß bei III, 5.
Die schwere Mediaschädigung zeigt sich bei diesen erst längere
Zeit nach dem Anfall verstorbenen Kranken nicht so sehr in gla-
siger Quellung wie in ausgesprochener Verkalkung der Media, die
weit über das in gesunden Gegenden vorhandene hinausgeht. Viel-
leicht ist die in geringem Maße möglich gebliebene Durchblutung
2%
29 WestPHAaL u. BiR
quellung der Gewebselemente und sebr weit fortgeschrittener Kern-
losigkeit ähnliche Bilder fanden sich auch wenige Male ohne Ring-
blutung am Rande. Daß auch in ihnen die Gefäße einem nekroti-
sierenden Prozeß unterworfen waren, ist im Zusammenhang mit
den schweren Schädigungen an den anderen Gefäßen sehr wahr-
scheinlich. Auch das Versagen der Markscheidenfärbung (Rosen-
blath) in diesen Herden spricht für solche Auffassung.
Am Rande der Erweichungsherde fanden sich in manchen
Fällen stark ausgeprägt gelapptkernige Leukocyten um gedehnte
kleine Venen und Kapillaren ohne Erythrocytenbeimengung, wohl
ein Erfolg der Stase am Rande der Blutung.
Die schwere allgemeine Gefäßschädigung sehen wir auch ent-
standen in den Fällen von Kombination von Erweichung und Blu-
tung. Ein entsprechender Vorgang wie die erfahrungsgemäß häufig
zu Erweichungsprozessen führende Anämie entstanden infolge
Thrombose oder durch arteriosklerotische Intimawucherung bietet
daher u. E. auch die nächstliegende Erklärung für diese allgemeine
Gewebsschädigung bei der Blutung. Es ist dann die Annahme
unnötig eines plötzlich einsetzenden, in seiner Herkunft dunkeln
fermentativen Vorganges als Ursache, wie Rosenblath es glaubt.
Der wesentliche Unterschied ist u. E. nur der, daß ungehemmte,
besonders arterielle Blutzufuhr bei der Blutung nach Vorausgang
einer gründlichen Anämisierung eintreten muß, die starke Füllung
und Dehnung aller, vor allem der arteriellen Gefäße in den
Schnitten der blutigen Erweichung bestätigt diese theoretisch ein-
leuchtende Annahme einer starken arteriellen Blutzufuhr, während
beim weißen Erweichungsherde diese Zuführung arteriellen Blutes
im wesentlichen unterbleibt. Ein Beleg für solche Ansicht bietet.
folgender Fall von Thrombose in den Arterien mit Erweichung und
verschiedenartigen Blutungen am Rande dieses weißen Nekrose-
gebietes.
Arterionekrose bei Erweichung nach Thrombose.
Nr. 1342/24: August Z., 60 Jahre alt. Gest. am 23. XII. 23 im
Hospital zum Heiligen Geist.
Klinische Diagnose: Apoplexie. 8 Tage vor Einlieferung kaltes
Gefühl und Kribbeln im linken Arm und linken Bein. 3 Tage später
plötzlich Lähmung im linken Bein, später auch im linken Arm, allmäh-
liche Zunahme der Stärke der Lähmung, nach einigen Tagen Sprach-
störung. Ab 20. XII. Pneumonie.
Anatomische Diagnose: gut wallnußgroßer Erweichungsherd in der
rechten Großhirnhemisphäre und zwar dicht unter der Rinde des
`
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 23
Schläfenlappens, Hypertrophie des linken Ventrikels, Arteriosklerose der
Aorta, der Kranzarterien und der Basalarterien des Gehirns. Mikro-
skopisch: Nierenarteriolen unverändert.
Hirn: Mikroskopisch im Erweichungsherd ausgedehnte Nekrose mit
fast völlig geschwundenen Gliazellen, keine erkennbaren Ganglienzellen
mehr vorhanden. Reichlich Fettkörnchenzellen an ihrem Rande. Das
Innere des nekrotischen Bezirkes zeigt keine Gefäßfüllung. Auch nicht
in den zum Teile noch gut erkennbare Zellkerne in ihrer Wand zeigenden
Venen. Eine große mitten in dieses Gebiet führende Arterie der Rinde
und ihre benachbarten großen Verzweigungen sind völlig verschlossen
durch einen Fibrin und sehr reichlich gelapptkernige Leukocyten ent-
haltenen Thrombus. Am Rande des Erweichungsherdes finden sich in
gleicher Höhe wie die Fettkörnchenzellen in nicht sehr breiter Zone
ganz stark erweiterte Venen, Kapillaren und vereinzelt kleine Arterien.
In großer Entfernung vom Erweichungsgebiete finden sich wieder völlig
normal breite Gefäße. In dieser reaktiv hyperämischen Zone sind an
der innersten zur Nekrose hin gelegenen Teilen vereinzelt kleine Blutungs-
berde vorhanden. Von diesen Blutungen sind die interessantesten neben
mehreren um kleine Venen etwas größere um zwei Arteriolen, die nur
noch in ihren abgestorbenen Resten einen jetzt blutleeren Schlauch dar-
stellen mit engem Lumen und ganz stark gequollener, glasiger, kernloser
Wand. Solche Arterienveränderungen finden sich nach einigem Suchen
in den nekrotischen Partien ebenfalls, mehrere kleine Arterien zeigen die
gleiche Medianekrose bei gut erhaltenen Intimazellen mit minimaler
Füllung durch Erythrocyten und Leukocyten im Lumen, an anderen
Arterien waren Kerntrümmer in der etwas gequollenen Media, zum Teil
auch völlige Auflockerung der Media vorhanden.
Bei diesem Fall einer nach dem klinischen und anatomischen
Bilde langsam fortschreitenden Erweichung bei Thrombose fanden
sich am Rande neben reaktiver Hyperämie und neben kleinen
Blutungen um Venen auch solche um Arteriolen mit stark ge-
schädigter Wand, die gleich hochradigen Wandveränderungen be-
stehen auch im Innern der Erweichung. Sie sind Effekt der
Ischämie, es kommt im Zentrum der weißen Erweichung nicht zur
“Blutung, weil der starke arterielle Nachstrom fehlt, der in der
Hirnrinde bei den kleinen Anastomosen mit den Nachbargefäßen
streckenweise möglich ist.
Verlangt nach den vorliegenden pathologisch - anatomischen
Bildern die nahe Verwandtschaft zwischen weißer und roter Er-
weichung auch einen verwandten Entstehungsmechanismus, so kann
dieser doch in einem wesentlichen Punkte nicht der gleiche sein.
Die schweren Gefäßschädigungen der weißen Erweichung gingen
stets einher mit leeren oder faßt leeren Blutgefäßen, besonders
arteriellen, während wir bei der roten Erweichung immer wieder
starke Füllung, oft auch Erweiterung der Mehrzahl der geschädigten
4
24 WESTPHAL u. BÄR
Arterien im befallenen Bezirk sahen. Eine über Venen und
Kapillaren nach arteriellem Verschluß eingetretene rückläufige
Füllung der Arterien von so starkem Maße erscheint als Ursache
der großen Blutaustritte unwahrscheinlich, sie müßte dann eigent-
lich auch bei fast allen weißen Erweichungen eintreten. Außer
in der Hirnrinde, wo eine stärkere kollaterale Ausbildung vorliegt,
hindert auch sonst im Hirn das Vorhandensein von Endarterien
in strengerem Sinne der Überfüllung aus dem kollateralen Kreis-
lauf und die Entstehung größerer Blutungen. Es bleibt daher als
einzige Möglichkeit, in ein und demselben arteriellen Gefäß oder
auch mehreren die Ursache beider, zuerst die Anämisierung, die
eine genügend lange Dauer haben muß, um zu einer genügenden
Schädigung von Gehirn- und Gefäßwand zu führen, und dann der
starken reaktiven Hyperämisierung und damit der Durchblutung
des vorher geschädigten Bezirkes zu suchen. Als einfachste Lösung
dieser Frage ergibt sich, daß hochgradige Störungen in der Be-
wegungsfunktion der Arterien, die einen Angiospasmus derselben
von genügend langer Dauer und dann wieder spätere Lösung
desselben gestatten würden, solche zeitweilige Schädigung des
Hirngewebes und seiner Gefäße mit nachfolgender Durchblutung
bedingten.
Solche kinetischen Störungen an den Arterien sind
bei der großen Krankheitsgruppe, die mit wenigen Ausnahmen als
Grundlage der nicht durch Embolie oder Syphilis entstandenen
Apoplexie vorhanden ist, dem arteriellen Hochdruck, sehr häufig.
Im klinischen Teile soll näher darauf eingegangen werden. Hier
genügt die Feststellung der Tatsache, daß auch in den bisher an-
geführten 16 Fällen die Herzhypertrophie als Beweis eines voraus-
gegangenen Dauerhochdruckes da war. Dabei war nur einmal
eine schwere sekundäre Schrumpfniere vorhanden, 5mal eine schon .
makroskopisch deutlich auffallende hochgradige genuine Schrumpf-
niere mit ausgeprägter Arteriolosklerose, 8mal waren mikroskopisch
hyaline Glomeruli, kleine Rundzelleninfiltrate in der Rinde und
eine Arteriolosklerose nicht so starken Grades in den Nieren vor-
handen, 2mal tehlte diese Arteriolosklerose und andere Verände-
rungen, in dem für unsere Fragen nicht so bedeutungsvollen letzten
Fall und in dem wichtigeren I, 5. Daß eine hochgradige Insufficienz
der Nieren entsprechend den Anschauungen Rosenblath’s als
Ursache seines hypothetischen plötzlichen Fermentangriffes auf das
Hirn hier oft anzunehmen gewesen wäre, erscheint daher nicht
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 25
wahrscheinlich. Auch die klinische Erfahrung spricht nicht in
solchem Sinne.
Im Gehirn war die Arteriolosklerose stets in viel geringerem
Grade auch bei den Kontrollschnitten aus den nicht geschädigten
Partien entwickelt wie in der Niere. Meist war sie nur recht
mäßigen Grades, neben sehr vielen unveränderten kleinsten Arterien
fand sich nur eine geringe Zahl von solchen mit deutlicher Hyalini-
sierung zwischen Media und Intima, Intimawucherung und Ver-
fettung. Nur dreimal war sie hochgradig entwickelt, einmal fehlte
sie ganz. Veränderungen an den größeren Arterien der Basis
wurden nie vermißt, doch bestanden sie oft nur in wenigen Intima-
flecken. In anderen Fällen bestanden auch Kalkeinlagerungen der
Media, gleichzeitig waren stets entsprechende Bilder an den Kranz-
gefäßen des Herzens, an der Aorta usf. vorhanden. Doch wichtig
ist die Tatsache, daß die großen Mengen der mittleren und kleineren
Arterien des Gehirnes, wie es sich vor allem auch bei den Aus-
schüttelungspräparaten desselben ergab, frei waren von erheblichen
Veränderungen bei der Mehrzahl der Apoplexien, hier und da
lipoiddurchsetzte Verdickungen der Intima waren sehr oft der
einzige Befund.
Der Befund bei dem größeren Teile unserer Apoplexien einer
nur mäßigen Arteriolosklerose im Gehirn bei ebenso mäßiger Ent-
wicklung von arteriosklerotischen Prozessen an .den mittleren
Arterien — an den großen Basisgefäßen. war dieser Prozeß des
öfteren stärker —, ist bedeutsam wegen der Frage: Wie sind die
Zusammenhänge zwischen den im blutigen Erweichungsherde ge-
fundenen angionekrotischen Prozessen und der Arteriosklerose. Mit
Pick und Ernst nimmt auch H. Lindemann wieder die
Arteriosklerose als ursächliche Gefäßkrankheit bei der Apoplexie
an. U. E. ist die Beziehung nur indirekter Art. Eine direkte
Folge der Arteriosklerose sind sie nicht. Für die Anschauung
spricht die schon von Rosenblath betonte Tatsache, daß in
anderen Organen solche Veränderungen nicht gefunden wurden.
Allerdings konnte Liebermeister in einer Diskussionsbemerkung
zu einem Vortrag über diese Befunde auf dem Internistenkongreß
1925 darauf hinweisen, daß er in einem Falle von Apoplexie
ähnliche Angionekrosen mit umgebender Blutung auch in der
Leber und hier gesehen habe. Aber solche Beobachtungen sind
wohl Ausnahmefälle. Wichtiger erscheint uns die Tatsache, daß
es sich bei den ausgebildeten Apoplexien stets um eine allgemeine
Angionekrose auch der Venen und Kapillaren handelt, und daß die
26 WESTPHAL u. BAR
Angionekrose im durchbluteten Gebiete mit solcher Häufung auf-
tritt, daß sie weit über den Rahmen einer einfachen Fortentwick-
lung eines arteriosklerotischen Prozesses hinausgeht. Die Fälle
von jugendlichen nicht auf Syphilis, Embolie, beruhenden Apoplexien
ohne Arteriosklerose sprechen auch dagegen.
Die Befunde von nekrotischen Arteriolen und Arterien in den
Gehirnen der Apoplektiker außer in engster Nachbarschaft des
Blutungsherdes oder in diesem selbst sind in unserem Materiale
selten gewesen, trotzdem stets aus zwei bis drei gesunden Partien
Kontrollschnitte durchgesehen wurden. Einmal fand sich ein solches
Bild ausgeprägt in weiterer Nachbarschaft der Erweichung, aber
völlig im Gesunden (Fall II, 2) an einer blutleeren Arterie. Dann
gehört u. E. hierher, auch der auffallende Befund, wo an einer
großen Arterie etwa ein Drittel der Wand von Rundzellen infiltriert
war. Dieser wird als Resorptionsvorgang eines nekrotischen Be-
zirks der Arterienwand angesehen. Daß oft nur ein Teil der
Arterienwand nekrotisch werden kann und dadurch gerade Ent-
stehungsmöglichkeiten für die Charcot’schen Miliaraneurysmen
abgegeben werden, wurde schon früher betont. Die Befunde solcher
angionekrotischen Partien an anderer Stelle von apoplektischen
Gehirnen ist nicht so häufig, daß er nicht auf ähnliche Vorgänge,
wie diejenigen, die zur Apoplexie führen, zurückgeführt werden
könnte. Im klinischen Teil wird auf die Häufigkeit prokapoplek-
tischer Zustände beim Hypertoniker hingewiesen werden. Solche
pathologischen Vorgänge werden auch manchmal an Gehirnen, die
keine Apoplexie aufweisen, Arterienwandschädigungen setzen können,
Löwenfeld fand diese auch bei einigen alten Leuten.
Bei den kleinsten Gefäßen im Gehirn ist allerdings manchmal
das Bild von Arteriolosklerose mit sehr weitgehender hyaliner
Degeneration in die Media hinein von angionekrotischen Prozessen
nicht immer mit völliger Sicherheit zu trennen. Doch waren solche
Befunde im Gesunden ganz selten, meist waren, wenn auch ver-
schmälert, Mediagebiete mit gut erhaltener Kernfärbupg deutlich
zu erkennen. Außerdem spricht ja gerade die Häufung des Er-
griffenseins der ganzen Arterienwand im nekrotischen Bezirk für
das Andersartige des Prozesses.
Wenn demnach die direkten Beziehungen zwischen der Arterio-
sklerose und den angionekrotischen Bildern abgelehnt werden, so
werden doch auch hier starke indirekte Beziehungen betont. Später
soll näher auf sie eingegangen werden. Schließlich wäre es auch
theoretisch nicht zu bestreiten, daß es bei fleckförmiger Lipoid-
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 27
und Kalkeinlagerung in die Intima bei plötzlichen starken Deh-
nungen in der Gefäßwand auch einmal im Nachbargebiet zu einem
Einriß der Elastika vielleicht auch Media und so zu einer Rhexis-
blutung kommen könnte Wie gefährlich es wäre, dieses nach
unserem Material kaum eine Rolle spielende Moment zu über-
schätzen, zeigt die vor kurzem aus dem gleichen Institut erschienene
Untersuchung von Lampert, die darauf hinweist, wie hohe Drucke
mittels künstlicher Flüssigkeitsauffüllung im Gefäßsystem notwendig
sind, um die Hirngefäße zur Zerreißung zu bringen. Bei einem
Druck von 1—2 Atmosphären, das entspricht einem Blutdruck von
1520 mm Hg, gelang es an 10 Hypertonikerleichen 'nur zweimal
eine deutliche Zerstörung von Gehirnsubstanz zu erzielen, auch
sonst wurden unter 30 Fällen nur noch zweimal bei Lues ähnliche
Gefäßzerreißungen herbeigeführt. Solche starken Druckbelastungen
kommen aber im menschlichen Arteriensystem nicht vor.
Kurz sei noch hingewiesen auf die perivaskulären Infiltrate
am Rande der blutigen Erweichung. In der alten Literatur
(Charcot und Bouchard) spielen sie als Ursache der Bereit-
schaft der Gefäße zur Blutung und zur Bildung der miliaren
Aneurysmen eine gewisse Rolle. Sie sind u. E. teils Effekt einer
Resorption von Zerfallsprodukten aus dem Erweichungsherde, die
auf dem Lymphwege abtransportiert in der Gefäßscheide zur reak-
tiven Zellvermehrung führen, teils allerdings seltener fand sich das
Zellinfiltrat vereinzelt um nekrotische Arterienstücke, wohl hier
ein Effekt der von der hochgradig geschädigten Gefäßmedia aus-
gehenden Alteration.
Wird die Ursache der Apoplexie in einer pathologischen Gefäß-
funktion gesehen, so erscheint es zum Schluß dieser Abhandlung
wichtig, bevor auf das für solche Auffassung sprechende klinische
Material hingewiesen wird, noch auf eine bedeutsame Tatsache
einzugehen, nämlich auf die in der pathologischen Anatomie des
öfteren vorkommende, einer klinisch festgestellten Apo-
plexie ohne entsprechenden anatomischen Befund.
Auch hier ließ sich während der Beobachtungszeit 4 mal diese Tat-
sache feststellen. Die beiden ersten Fälle konnten leider aus
äußeren Gründen nicht mikroskopisch untersucht werden.
Fall I: Frau Luise W., 50 Jahre alt. Genuiner Alterhypertonus
180 : 85. Entsprechende Herzvergrößerung nach links. Geringe senile
Demenz, sonst Nervensystem ohne pathologischen Befund. Am 19. V. 24
2,30 Uhr nachts ist Patientin zum Urinlassen außer Bett, sie bricht
dabei ganz plötzlich zusammen. Danach Befund einer rechtsseitigen
28 WESTPHAL u. Bär
Hemiplegie, Sehnenreflexe rechts stärker als links, Babinski rechts positiv,
links negativ. Rechter Mundfacialis deutlich gelähmt, „Tabakblasen“.
Keine Aphasie, Bewußtsein erhalten.
Trotz Aderlaß von 500 ccm keine wesentliche Besserung, Blutdruck
nach dem Aderlaß 175 : 90, abends 10,15 Uhr Exitus, nachdem während
des Tages noch mehrmals Attacken bis zu einstündiger vorübergehender
Bewußtlosigkeit eingetreten waren. Der Tod tritt 20 Stunden nach der
Apoplexie ein.
Die Sektion zeigte am Gehirn makroskopisch keinen pathologischen
Befund, seine Arterien zeigten eine mittelstarke Arteriosklerose, auch in
den anderen Organen war diese vorhanden, hochgradige Atheromatose
der Aorta. Leichte Schrumpfniere mit geringgradiger Arteriolosklerose,
bronchopneumonische Herde im rechten Unterlappen.
Fall II: Ko., Ludwig, 63 Jahre alt, Weißbinder. Patient hat viel
mit Bleiweiß gearbeitet. Er wird am 22. I. 24 wegen Bronchitis in
die Klinik eingeliefert. In der Nacht vom 22. bis 23. I. 24 überfallt
ihn eine rechtsseitige Lähmung mit Beteiligung des Facialis und Hypo-
glossus. Die Parese des rechten Armes und Beines geht einher mit
gesteigerten Sehnenreflexen rechts, Babinski, Gordon, Oppenheim ist
rechts positiv, links negativ. Keine Aphasie, keine Bewußtlosigkeit. Der
Blutdruck nach dem Anfall ist nur mäßig erhöht 155:90. Es findet
sich kein Anhaltspunkt für eine hochgradige Schrumpfniere im Urin-
sediment, dem normalen Rest-N — 0,036 °/,, dem Harnsäuregehalt des
Blutes von 2,1 mg°/, und schließlich dem Konzentrationsvermögen der
Nieren bis 1025. In den nächsten Tagen geringe Besserung des Zu-
standes, die motorische Aphasie schwindet, der Blutdruck steigt auf 185: 80.
Am 26. I. morgens beträgt der maximale Blutdruck 200, es soll
ein Aderlaß vorgenommen werden, um l Uhr vormittags setzt plötzlich
eine zweite Apoplexie ein mit völliger Bewußtlosigkeit, großer vertiefter
Atmung. Diese Bewußtlosigkeit hält bis nachmittags an, nach ihrem
Schwinden besteht völlige Sprachläbmung, dieses Bild bleibt bis zu dem
am 29. I. nach Eintritt einer Pneumonie erfolgenden Tode.
Der Obduktionsbefund zeigt außer einer doppelseitigen Broncho-
pneumonie eine mäßige Hypertrophie besonders des linken Herzens,
Atheromatose der Aorta, geringe Arteriosklerose an Kranzarterien des
Herzens im und Hirn. Am Gehirn selbst war nichts Pathologisches fest-
stellbar, auch keine Erweichung. Die Nieren zeigten mikroskopisch ge-
ringe Arteriolosklerose und vereinzelt fibröse Glomeruli.
Nach Ttägigem Bestehen einer ausgesprochenen rechtsseitigen
Apoplexie fehlte bei K. — bei Frau W. nach 20stündigem Be-
stehen einer solchen — bei der Hirnsektion völlig ein makro-
skopischer pathologischer Befund. Für rein "toxische Einwirkung
auf die Hirnsubstanz, etwa im Sinne einer echten Urämie war bei
beiden Patienten kein Anhalt gegeben. Die Erklärung solcher
Befunde, die sich ebenso wie die ausgebildeten Apoplexien auch
hier auf der Basis der Hypertonie einstellten — später können
noch zwei gleichliexende mikroskopisch genau untersuchte mit-
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 29
geteilt werden —, muß ebenfalls in der Richtung eines plötzlich
eintretenden, umschriebenen Ausfalls von entsprechenden Hirn-
partien gesucht werden, die Schädigung geht aber nicht so weit,
daß es zu einer makroskopisch-erkennbaren Erweichung oder Durch-
blutung kommt.
Die Schilderung Löwenfeld’s und Rosenblath’s der ana-
tomischen Befunde bei der Apoplexie wird also weitgehend be-
stätigt. Es findet sich im blutigen Erweichungsherde
und seiner Umgebung eine wechselnde, meist sehr
weitgehende, bis zur völligen Nekrose fortschreitende
Schädigung aller Gefäße, der Arterien, Arteriolen,
Kapillaren und Venen Diese allgemeine Angio-
nekrose und die damit oft verbundene Arterionekrose
hat keine direkten Beziehungen zur Arteriosklerose
der Gehirngefäße Aus sämtlichen Gefäßen erfolgt
die Blutung. Die sog. miliaren Aneurysmen Charcot’s
und Bouchard’s sind dabei nur eine Form der Durch-
blutung der geschädigten Gefäßwand in eng um-
schriebenem Bezirk in die Gefäßscheide Manchmal
finden sich auch ausgedehnte Blutungen ohne deut-
lich erkennbare Schädigung der Gefäße. Viele apo-
plektische Herde zeigen am Rande die deutliche Ent-
stehung aus zahlreichen kleinen Blutungsherden.
Die Kombination von weißer und roter Erweichung
in einem Herd im Gehirn oder von mehreren ver-
schiedenartigen im gleichen Gehirn weist auf eine
gemeinsame Ursache für beide Auch unter Hinweis
auf das Vorkommen von Apoplexien ohne entsprechen-
den anatomischen Befund wird die Auffassung von
einer primärfementativenSchädigung umschriebener
Hirnpartien abgelehnt. Plötzlich einsetzende Anä-
misierung umschriebener Gehirnpartien durch angio-
spastische and arteriosklerotische Funktionsstö-
rungen an den Gehirnarterien wird eher als das Pri-
märe angesehen. Eine sekundäre Wiedereröffnung
des arteriellen Gefäßes führt dann erst zur Durch-
blutung. Daher soll in dem klinischen Bilde der Gefäßfunktion
bei der Apoplexie und bei den zur Apoplexie Disponierten im
folgenden eingehende Untersuchungen gewidmet werden.
Herrn Korntner, dem Zeichner des Pathologischen Instituts,
30 WestpaaL.u. Bär, Über die Entstehung des Schlaganfalles.
wird auch an dieser Stelle bestens für die geschickte Ausführung
der Abbildungen gedankt.
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schr. für Arnold), 1907. — 19. Stein, Beitrag zur Ätiologie der Gehirnblutungen.
Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. 7, 1895. — 20. Virchow, Uber die Er-
weiterung kleiner Gefäße. Virchow’s Arch. Bd. 3, 1851. — Ders., Uber Naevi
vasculosi des Gehirns. Virchow’s Arch. Bd. 30, 1864. — 21. Weiß, Zur Patbo-
genese der (sehirnhämorrhagie. Dissert. Erlangen 1869. zit. nach Rosenblath.
31
Aus der Medizinischen Universitäts-Klinik Frankfurt a. M.
(Direktor: Prof. G. v. Bergmann.)
Über die Entstehung des Schlaganfalles.
II. Klinische Untersuchungen zum Problem der Entstehung
des Schlaganfalles.
Von
Karl Westphal,
Privatdozent für innere Medizin, Oberarzt der Mediz. Univ.-Klinik Frankfurt a. M.
(Mit 1 Kurve u. 4 Abbildungen.)
Ein einfaches Platzen arteriosklerotisch veränderter Arterien
oder miliarer Aneurysmen an diesen genügt nicht als Erklärung
für die Entstehung der apoplektischen Blutung. Das zeigen ein-
wandfrei in Übereinstimmung mit den Untersuchungen von Löwen-
feld, Rosenblath, H. Lindemann, die in der vorausge-
gangenen Arbeit mit R. Bär niedergelegten Befunde. Es muß
sich eine Lösung finden lassen, die allen Erscheinungsformen, in
denen das pathologisch-anatomische Bild des Schlaganfalls auftritt,
gerecht wird, und die sich außerdem mit allen klinischen Erschei-
nungen, die vorausgehend und gleichzeitig mit der schweren anato-
mischen Schädigung eintreten, gut in Übereinstimmung bringen
läßt. Sehen wir auch hier wieder ab von den selteneren und leichter
zu verstehenden gleichartigen Prozessen durch Embolie und syphili-
tische Erkrankungen, sowie nach Thrombosen und schweren Gefäß-
schädigungen durch Infektionskrankheiten und Encephalitis, so ist
für die hier interessierende große Mehrzahl dieser Hirnerkrankungen
die alle Erscheinungsformen verständlich machende gemeinsame
Beziehung m. E. zu sehen in der Grundkrankheit des Schlaganfalls,
dem arteriellen Hochdruck. Wenn auch nicht die einfache Gefäß-
zerreißung infolge zu hohen Druckes in Betracht kommen kann, so
sind es doch die eng mit dieser Grundkrankheit verbundenen, an
32 WESTPHAL
den verschiedensten Organen oft zu beobachtenden in isoliertem
Gefäßgebiet sich einstellenden starken arteriellen Gefäßkontraktionen
mit ihren sekundären Folgeerscheinungen, die uns hier m. E. zum
Verständnis der komplizierten pathologisch-physiologischen Vorgänge
gelangen lassen. Am Gehirn sind nur so erklärbare Erscheinungen
besonders häufig bei den verschiedenartigen Hypertonien.
Die Ansicht, daß die Entstehung der Apoplexie im wesentlichen
auf vasomotorische Ursachen zurückzuführen sei, wurde zum erstenmal
ausgesprochen von dem Verfasser auf dem Südwestdeutschen Pathologen-
tag 1924 unter Hinweis auf klinische Beobachtungen und auf das mit
Bär zusammen untersuchte pathologisch - anatomische Material. Auch
Dietrich erkannte dann im weiteren Verlauf der Diskussion diese Er-
klärung als einleuchtend an und in einer später erfolgten Publikation
H. Lindemann’s über die Hirngefäße von 4 Apoplexiefällen ließ er
dann ebenfalls auf solche Möglichkeiten kurz hinweisen.
Die häufige Verbindung von Hirnblutung mit dem
arteriellen Hochdruck und seinem anatomischen Ausdruck,
der besonders linksseitig ausgeprägten Herzhypertrophie, ist all-
gemein bekannt.
Herzhypertrophie an Leichenmaterial findet Löwenfeld bei 60 Apo-
plektikern 27 mal, Kirkes bei 22 Fällen 17 mal. A. Lippmann sah
bei 84 Apoplektikern 79mal einen Blutdruck über 140 mm Hg., bei
der Sektion in 84 Fällen 56 mal Hypertrophie des linken Ventrikels,
57 mal Nephrosklerose. Bär sah bei einer auf Jaffé’s Veranlassung
erfolgten Zusammenstellung am pathologisch-anatomischen Material des
Frankfurter Instituts bei 112 Apoplexien Amal akute oder chronische
Glomerulonephritis, 2 mal Aneurysmen der Arteria carotis interna, 3 mal
bestand ein Zusammenhang mit einem Trauma, in 95 Fällen war von
den übrigen 101 eine genuine Hypertonie teils klinisch, teils anatomisch
durch Herzhypertrophie sichergestellt, in weiteren 4 sehr wahrscheinlich.
An 8 Fällen von Herzhypertrophie fehlten ausgesprochene Veränderungen
der Nierengefäße im Sinne der Arteriolosklerose.
Die entsprechenden klinischen Beobachtungen von erhöhtem Blut-
druck wurden ebenfalls oft betont: Kisch weist dabei auf die häufige
Verknüpfung mit Fettleibigkeit hin, Strasser und E. Herrmann
meinen, daß besonders die Hypertonie mit sog. arteriosklerotischen Be-
schwerden und bei sekundärer Schrumpfniere zur Blutung disponiert
wäre. Romberg findet bei 46 Sektionen Hirnblutung auf sklerotischer
Grundlage nur bei Menschen, die einen Blutdruck über 150 mm Hg
gehabt hatten, auch die Hälfte der sklerotischen Erweichung hatte ein
so erhöhtes Niveau. Ein normaler Blutdruck spricht also für Encephalon-
malacie, ein erhöhter aber nicht dagegen. Friedrich Kauffmann
und nach ihm Hanse bauen ebenfalls bei der interessanten Feststellung
der jahreszeitigen Schwankung der Apoplexie auf der Hypertonie als
Grundkrankheit auf.
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 33
Unter dem hier vorliegenden Material von 60 Apoplexiefällen
stellt sich auch hier der arterielle Hochdruck als stets begleitenden
Symptom mit dar. Durch die in der v. Bergmann’'schen Klinik
nach dem Vorgang von Fahrenkamp und F. Kauffmann
durchgeführten Dauerblutdruckmessungen mit 1—2 täglichen Be-
stimmungen war es dabei möglich, bei längerem Aufenthalt der
Kranken, mehr wie einige wenige Zahlen über dessen Höhe zu
gewinnen. Diese Blutdruckkurven zeigen naturgemäß wieder die
bekannte Tatsache der engen Verknüpfung von Hypertonus und
Hirnschlag.
Ein Blutdruck schwankend zwischen 140—160—180—210 mm Hg
fand sich bei 23 von 60 Apoplexikern, 22 hatten einen Blutdruck der
konstant noch höher, dabei oft auch noch mit stärkeren Ausschlägen nach
oben verlief zwischen 180—210-—230—260, also bei weitem in der
Überzahl, 45 mal unter 60, d. h. in 75 ° ist ein Dauerhochdruck kon-
statierbar. Bei dem Rest kam besonders bei längerer Bettruhe ein Ab-
steigen des Maximaldrucks völlig zur Norm 120--130 mm Hg vor, da-
neben finden sich aber stets höhere Ausschläge konstatiert besonders im
Anfang der Beobachtung oder bei geringen Aufregungen, ab und zu
auch ohne erkennbaren Grund bei völliger körperlicher und seelischer
Ruhe auf 160—170—180, manchmal auch noch höher ansteigend. Diese
Patienten mit solchen bei Dauerblutdruckmessung der Norm angenäherten
Blutdruckwerten könnten es überhaupt in Frage stellen, ob die Beziehungen
zwischen Hirnblutung und Blutdrucksteigerung im allgemeinen überhaupt
so eng sind, wie es hier angenommen wird.
Rosenblath, der so gründliche Untersucher des anatomischen
Bildes, lehnt dies ja auch ab zugunsten der Annahme einer plötzlichen
auf das Gehirn einwirkenden fermentativen Kraft. Er meint: „Nur das
eine darf man sagen, daß weder die Erhöhung des Blutdruckes noch die
so häufig vorhandene Arteriosklerose die Disposition erklärt. Tritt doch
der Schlaganfall oft genug, wie schon erwähnt, bei geringer Druck-
steigerung ein, und überrascht er doch nicht selten den Patienten im
Zustande völliger Ruhe, mitten im Schlafe, wo auch von einer vorüber-
gehenden Blutdrucksteigerung gar nicht die Rede sein kann.“
Die durch Karl Müller, Katsch und Pansdorf festgestellte
Tatsache, daß die physiologische nächtliche Blutdrucksenkung (Brusch
und Tayerweather u. a.) auch bei der essentiellen Hypertonie sehr
starke Grade annimmt, scheint auf den ersten Blick für diese Ansicht
zu sprechen, daß bei solchen mitten im Schlafe vorkommenden Schlag-
anfällen der Blutdruckanstieg keine Rolle spielen kann. Nun sind solche
Schlaganfälle mitten in der Nacht nicht zu häufig. Wir konnten 5 unter
60 Patienten zählen, häufiger sind sie am Morgen beim Aufstehen, wenn
der noch tiefe nächtliche Blutdruck plötzlich wieder auf seine Tageshöhe
anspringt (Römhild). Das findet auch Hanse 61 mal unter 135 Apo-
plexie-Krankengeschichten. Aber auch die Nacht ist nicht frei von
Blutdruckkrisen. Katsch und Panstorf zeigen einen solchen Fall mit
einer Aorteninsufficienz, der plötzlich im Schlaf einen hochgradigen An-
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 3
34 WESTNHAL
stieg von 120 mm auf mehr als 220 mm Hg aufweist. Panstorf teilte
dem Verf. mündlich mit, daß besonders bei Träumen 4—5 mal starke
Blutdruckanstiege der Hypertoniker von ihm gesehen wurden, die dann
mitten im Schlaf um 40—60 mm Hg den Blutdruck erhöhten.
Wichtiger erscheinen in dieser Beziehung noch direkte Be-
obachtungen beim apoplektischem Insult. Die bei den Dauerblut-
druckmessungen feststellbaren starken Schwankungen des
Blutdrucks nach oben lassen sich auch oft sofort nach dem
Schlaganfall, aber auch, was noch wichtiger erscheint, sofort mit
dem Eintreten seiner ersten Prodromalerscheinungen an geeigneten
Patienten nachweisen.
Eine 74jährige Frau zeigt sofort eingeliefert nach plötzlichem Zu-
sammenbruch infolge zweier bei der Sektion nachgewiesener Erweichungs-
herde einen Blutdruck von 180 mm Hg, die späteren Werte schwanken
zwischen 120 — 150, einmal erfolgt noch ein Anstieg auf 170. Stärker
ist der Ausschlag bei einer mit rechtsseitiger Apoplexie und motorischer
Aphasie eingelieferten 64 jährigen Patientin nach oben auf 250 mm Hg,
am nächsten Morgen werden bereits 190 gemessen, später schwankt die
Blutdruckkurve zwischen 140—180 bei l4tägiger Beobachtung. Ebenso
weist ein 62jähriger Patient mit ganz frischer Apoplexie einen Hochdruck
von 225:110 gegenüber später gewonnenen Werten von 165—180 auf.
Eine 59 jäbrige Patientin mit rechtsseitiger Apoplexie zeigt sofort nach
Eintritt derselben einen Wert von 260, später 190—210 mm Hg.
Könnte man bei diesen Kranken, die sofort bei der Aufnahme
gemessen so erhöhte Blutdruckwerte aufweisen, manchmal auch
geneigt sein, diesen Anstieg nach Art einer allgemeinen Blutdruck-
krise im Sinne Pal’s auf den Reiz am Vasomotorenzentrum durch
die Blutung (Kahler) und die Beeinflussung des Organismus durch
Transport, neue Umgebung usf. zu schieben, so geben uns noch
einige Beobachtungen, bei denen vor unsern Augen ausgeprägte
Apoplexieerscheinungen eintreten und mit ihnen gleichzeitig ekla-
tanter Blutdruckanstieg die Sicherheit einer ganz engen Verbindung
dieser beiden Erscheinungen.
Frau Anna Bl., 6ljährige Ehefrau, hat Anfang September 24
einen Schlaganfall erlitten mit Lähmung der rechten Seite, sehr geringen
Sprachstörungen, einer Inkontinenz von Stuhlgang und Urin. Bei der
Untersuchung finden sich neben einem leichten Diabetes die entsprechenden
neurologischen Zeichen der Lähmung, positiver Babinski und Oppenheim,
Facialisparese und Hypoglossusparese sind schwach angedeutet rechts,
sehr geringe motorisch-aphasische Störungen sind eben feststellbar. Bis
Anfang Dezember tritt eine ganz weitgehende Besserung der Sprache
und der Facialislähmung ein, ebenso der Parese des rechten Beines.
Der Blutdruck bewegt sich in der Höhe von 135—165 mm Hg, an der
Niere finden sich bei genauer Untersuchung keine ausgesprochenen
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 35
Funktionsschädigungen. In der Nacht vom 8. zum 9. XII. um 2 Uhr
schellt die Patientin und teilt der Schwester mit, sie könne nicht mehr
sprechen. Die sofortige Blutdruckmessung ergibt jetzt mitten in der
Nacht eine Höhe von 220 mm Hg. Am nächsten Morgen findet sich
eine völlige motorische Aphasie, die Facialisparese rechts ist stark aus-
geprägt, ebenso ist das rechte Bein wieder völlig gelähmt. Der Blut-
druck ist wieder abgesunken auf 150 mm Hg (vgl. nebenstehende Kurve:
Am 10. XII. kann die Patientin, die am Vortage nur lallte, wieder etwas
sich verständigen. Die Besserung der Aphasie und Facialisparese ist
am 17. XII. wieder sehr weitgehend eingetreten, Ende Dezember sind
keine wesentlichen Störungen an Sprache und Facialis mehr feststellbar.
Der Blutdruck bleibt dauernd in mittlerer Höhe.
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Kurve”1. Blutdruckkurve. Blutdruckkrisen zusammen mit apoplektiformen
Insulten am 60. und 90. Krankheitstage bei Frau Anna Bl., genuine Hypertension,
Diabetes, Apoplexie.
&@ Am 7. I. 25 findet morgens früh um 7 Uhr wieder ein Anfall,
diesmal mit völliger Bewußtlosigkeit, statt, der Blutdruck ist wieder
emporgestiegen auf 230/110, wieder besteht danach völlige motorische
Apbasie und hochgradige Facialisparese rechts. Es wird sofort ein aus-
giebiger AderlaB gemacht, um 8!/, beträgt der Blutdruck bereits 155/75,
um 9 Uhr 150/75. Am 8. I. ist die Aphasie wieder weitgehend ge-
bessert, um am 10. I. wieder völlig geschwunden zu sein, ebenso auch
die akute Verschlimmerung der Facialisparese und der Augenmuskel-
lähmung. Solche Anfälle kehren in der Folgezeit nicht wieder, nur mußte
noch einmal am 22. I. bei hochgradig gerötetem Kopf starkem Schwindel-
gefühl und einem Blutdruckanstieg auf 195 ein Aderlaß gemacht werden.
Die Patientin wurde im März entlassen.
Diese akuten Recidive der Apoplexie, die wir ja auf ähnliche
Vorgänge zurückführen müssen wie dessen erste Entstehung, waren
Zr
36 WESTPHAL
hier also stets von ausgesprochenen Blutdruckkrisen, Anstiegen bis auf
230 von einem Durchschnittniveau von 140-—165 begleitet. Noch
ausgeprägter war die enge Verknüpfung Blutdruckanstieg, Halb-
seitenlähmung bei der nächsten Kranken.
Diese 71 jährige Frau, Anna Ein., bietet aus verschiedenen Gründen
Interessantes. Bis Anfang März 24 hatte sich die Kranke wohl be-
funden. 3 Wochen lang häufig Kopfschmerz in Schläfe und Stirn rechts
und links gleichmäßig, dabei leichte Schwindelanfälle. Es wurde ihr für
kurze Augenblicke schwarz vor den Augen, nach einer !/, Stunde hörten
die Kopfschmerzen auf, dann wieder völliges Wohlbefinden. 1!/, Wochen
vor der Einlieferung ins Krankenhaus beim Aufwachen vom Nachmittags-
schlaf machte die Kranke plötzlich die Beobachtung, daß die rechte
Kopfseite, die rechte Gesichtshälfte sowie rechter Arm, rechtes Bein und
rechte Rumpfseite ein taubes Gefühl hatten, daß es in ihnen wie einge-
schlafen kribbelte, Bewegungen mit dieser Körperseite waren nicht gut
möglich, sie war steif, die Kranke hat den rechten Arm mit der linken
Hand zurecht legen müssen, und dann ist es ihr erst allmählich wieder
möglich gewesen, den rechten Arm und das rechte Bein zu bewegen.
Beim Herumgehen im Zimmer ist sodann auch die Gefühlsstörung nach
einigen Minuten wieder verschwunden. Einige Tage später fühlte sich
die Patientin bei plötzlich während der Arbeit auftretenden starken Kopf-
schmerzen sehr unwohl, sie legte sich in einem Anfall von Bewußtlosig-
keit ins Bett, und kommt deswegen ins Krankenhaus.
Hier findet sich an der mageren Frau eine Blutdruckerhöhung von
130—150 mm bei normaler Nierenfunktion, negativem Wassermann und
normalen Liquorbefund bei Lumbalpunktion. Am Augenhintergrund
außer engen Arterien und weiten Venen kein pathologischer Befund.
Es kommen hier täglich, besonders auch morgens, manchmal bis zu
4 Anfällen vor, bei denen die Frau erst leicht benommen ist, dann in
wenigen Minuten bewußtlos wird, manchmal bleibt noch die Reaktion
auf Anruf und auch Kneifen erhalten. In anfallfreien Zeiten finden sich
bei ihr neurologisch völlig normale Verhältnisse auch in der Sensibilität,
während des Anfalles ist der Babinski links oft sehr ausgeprägt positiv,
manchmal nur gering, rechts selten angedeutet, meist rechts völlig fehlend.
Oppenheim deutlich positiv links, Gordon ebenfalls, rechts Gordon manch-
mal auslösbar, die Bauchdeckenreflexe sind links fehlend, rechts vorhanden.
Die Sehnenreflexe sind nicht deutlich gestört, größere Schlaffheit der
linken Extremitäten ist manchmal erkennbar, die Kopfhaltung ist oft
auffallend verändert, er sinkt nach rechts und einmal zeigt sich deutlich
an den Augen ausgeprägte Schielstellung nach rechts. Inkontinenz-
erscheinungen von Stuhl und Urin bestehen nicht. Anfangs dauerten
die Anfälle 4—5 Minuten, später bis zu !/, Stunde. Sie waren sehr
wechselnd in ihrer Intensität während dieser halben Stunde. Der Blut-
druck zeigt in dieser Anfallszeit gemessen stets eine ausgesprochene Er-
höhung auf 175—185 mm Hg gegen 130— 150 sonst. Die linke Pupille
reagiert manchmal während des Anfalles nicht auf Lichteinfall, der Ge-
sichtsausdruck wird während des Anfalles starr.
Am 10. II. 24 stirbt die Patientin in der Nacht anscheinend an
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 37
einem ähnlichen Anfall. Der Sektionsbefund, der später noch einer ge-
nauen Würdigung bedarf, zeigte an dem in toto eingelegten und ge-
härteten Gehirn auf schmalen Schnittreihen im Thalamusgebiet einen
kleinen Erweichungsherd, rechts und links ungefähr gleichgroß, 0,5 cm breit
und 2 cm hoch, nicht länger wie 1,5 cm. Das Gebiet der inneren
Kapsel und seiner Nachbarschaft war rechts wie links völlig frei, auch
bei mikroskopischer Untersuchung. Die Nieren waren nur wenig ver-
ändert, sie zeigten eine mäßige Arteriolosklerose, am linken Herzen be-
stand eine geringe Hypertrophie.
Diese ausgeprägten apoplektiformen Attaken traten also jedesmal
ein zusammen mit einem ausgesprochenen Blutdruckanstieg, die
Blutdruckkrise ist also auch hier wieder eng mit der plötzlich
wieder eintretenden Halbseitenlähmung verbunden. Dieser geringe
anatomische Befund zeigt Hinweise auf die enge Verwandtschaft
mit den sogenannten „pseudourämischen Insulten* Vollhard'’s,
auch bei ihnen fanden sich gleiche Blutdruckanstiege bei flüchtiger
Lähmung, ohne daß Anhaltspunkte für eine anatomische Schädigung
vorhanden waren, so z.B. bei einer 52 jährigen Frau mit plötzlicher
Bewußtlosigkeit, Blutdruckanstieg über 200 mm Hg, nach 24 Stunden
war bei klarem Bewußtsein der Blutdruck wieder niedrig, er
schwankte später zwischen 115—155 mm Hg.
Wesentlich ist: die Fälle mit geringer Blutdruck-
erhöhung, aber auch solche mit ausgesprochener zeigen
oft verbunden mit dem Eintritt der Apoplexie und
recidivähnlichen Attaken derselben spontane Blut-
druckanstiege weit über ihr normales Niveau hinaus.
Solche Blutdruckkrisen stellen eine ganz besondere Steigerung des
pathologischen Geschehens beim arteriellen Hochdruck dar, sie
können aufgepflanzt auf eine noch an der Grenze der Norm
stehende Blutdruckkurve Ursache einer an und für sich schwerer
verständlichen besonderen pathologischen Belastung der Hirn-
gefäße abgeben, erst recht natürlich bei Anstiegen auf etwa
250 mm Hg bei einem dauernd höher eingestellten Hypertonus.
Diese im Rahmen vieler Hypertonien vorkommenden, bei manchen
stärkeren, bei anderen schwächeren Schwankungen, sind nicht nur Aus-
löser zahlreicher Beschwerden, Pal hat als erster auf die große Be-
deutung der Blutdruckkrisen aufmerksam gemacht, mein Lehrer v. Berg-
mann betont die Wichtigkeit auch kleinerer Schwankungen für die Ent-
stehung vieler Hypertonusbeschwerden am Herzen und anderen Organen,
sie scheinen mir auch an der Hand dieser Einzelbeobachtungen für die
Auslösung des zur Apoplexie führenden Vorganges neben der allgemeinen
Bedeutung des erhöhten Blutdruckes oft eine besonders wichtige Rolle
zu spielen.
38 WESTPHAL
In der Einschätzung der geringen direkten Bedeutung
der Arteriosklerose besteht dagegen mit Rosenblath Über-
einstimmung. Der in der vorigen Arbeit betonte geringe anato-
mische Befund von wenigen Lipoidflecken an der Intima der
mittleren und kleinen Hirnarterien in vielen Fällen ist dafür zu
gering, auch die Arteriolosklerose am Hirn ist meist nur mäßigen
Grades.
Der pathologische Nierenbefund ist ebenfalls klinisch
wie anatomisch nicht genügend ausgeprägt, um plötzliche
fermentartig wirkende Giftwirkungen im Sinne Rosenblath’s
am Gehirn zu erklären.
Nach Ausscheidung von 6 anamnestisch und klinisch nicht genügend
geklärten Fällen bleiben unter den 54 zur Verfügung stehenden Apo-
plexien 6 mit ausgesprochenen schweren Nierenveränderungen, 3 stellen
sekundäre Schrumpfnieren nach früherer Glomerulonephritis dar, 3 sind
sog. maligne primäre Schrumpfnieren, 1 eine schwere Bleischrumpfniere.
Der Rest, 47, sind primäre Hypertensionen ohne ausgesprochenen patho-
logischen Befund im Sediment mit allerdings manchmal einer geringen
Beschränkung der Konzentrationsfähigkeit.
Der Gutartigkeit dieser dann oft auch anatomisch gefundenen leichten
arteriosklerotischen Schrumpfnierenform, die beim Schlaganfall die über-
wiegende Mehrzahl bilden, entspricht einer Reihenbestimmung des Rest-
stickstoffs bei 20 Apoplexien: Es fanden sich nur 2 mal erhöhte Werte
auf 56—58 und 56 mg”), bei sog. malignen Schrumpfnieren, die
übrigen 18 wiesen normale Werte zwischen 20—45 mg°/, auf. Die
Harnsäurewerte waren bisweilen etwas erhöht, 6,7; 7,5 mg°/, bei sonst
normalem Nierenbefund, für die Beurteilung der Nieren lassen sich daraus
ja (E. Kraus) keine Schlüsse ziehen.
Das Alter der Patienten betrug bei 8 zwischen 40—50, bei
23 zwischen 50—60, bei 19 zwischen 60—70 und bei 10 zwischen
70—80 Jahren. Über 50°), waren also vor dem 60. Lebensjahre
vom Schlaganfall befallen, ihn als reine senile Abnutzungser-
scheinung zu bezeichnen, ist demnach verkehrt, und eine bessere
Erkenntnis seiner Genese könnte manchen Menschen mit noch
guter Lebensfreudigkeit und Arbeitskraft vielleicht vor einem zu
frühen Eintritt solcher Hirnblutung bewahren.
Bevor wieder auf eine nähere Würdigung des arteriellen Hoch-
drucks und seiner Schwankungen für die Entstehung der Apoplexie
eingegangen werde, sei noch kurz hingewiesen auf einige Momente
an den Blutgefäßen der Apoplektiker und der dazu Disponierten,
die gerade dem Verf. die erste Veranlassung zu diesen Unter-
suchungen abgaben. Betrachtet man den Körper der Schlaganfall-
kranken, so fällt es oft auf, wie übersät die Haut erscheint von
Über die Entstehung des Schlaganfallex. 39
zahlreichen kleinen Hämangionen von kleinstem Grad
mit dem bloßen Auge erkennbaren Kaliber bis zu gut Linsengröße.
Fragt man intelligente Kranke dieser Art, so erfährt man oft, daß
diese Gebilde erst im Laufe der Jahre entstanden sind, manchmal
sehr schnell und plötzlich, besonders bei Frauen nach dem Klimak-
terium. Bei stark vasomotorischen Hypertonikern mit ausgeprägtem
Dermographismus und einem Reflexerytniem am Rande desselben
war es mehreremal möglich, plötzlich das Auftreten solcher kleiner
Gefäßerweiterungen allerdings nur kleinsten Kalibers mit unbe-
waffnetem Auge zu sehen, die Hyperämie hatte zu einer stärkeren
Auffüllung wohl schon vorher überdehnter Kapillarschlingen geführt.
Diese Hämangiome sind als „senile Hämagiome“ vorkommend bei
älteren Leuten in der Literatur bekannt (Unna, Raff u. a). Ein
früher angenommener Zusammenhang mit dem Auftreten von Carcinom
wird jetzt abgelehnt (Gebele). Ihr gehäuftes Vorkommen bei Hyper-
tonus ist bereits auch R. Schmidt aufgefallen.
Bei einer Zählung an 30 Hypertonikern, darunter 25 Apoplektikern,
fand sich, daß nur bei 1 kein Hämangiom auffindbar war, 1—5 wiesen
9 Kranke auf, 6— 10 Hämangiome hatten 7 Kranke, 11—19 Hämangiome
batten 6 Kranke, 20 fanden sich an 3 Patienten, 26, 27, 29 je an 1
und schließlich als größte Zahl 38 an einer Kranken. Sie treten nicht
nur auffallend oft bei den ältesten Hypertonikern auf, sondern auch bei
solchen zwischen 40 und 60 Jahren. Aber sie stellen keineswegs ein
auf diese Krankheit isoliertes Vorkommnis dar, im Alter findet sich
parallel zur gesteigerten Disposition zu Hypertonus auch die Vermehrung
dieser Hämangiome. Aber auch bei jugendlichen besonders vasomoto-
rischen Individuen fanden sie sich des öftern, bei manchen tuberkulösen
und Ulcus ventriculi-Kranken allerdings nur in geringer Menge. Ott-
fried Müller erwähnt sie auch als Begleitsymptom seiner „vasoneuro-
tischen Diathese“.
Ihr gehäuftes Auftreten bei genuiner Hypertension interessierte
hier auch deshalb, weil daneben oft andere dem klinischen Be-
obachter geläufige Dinge am Apparat vor allem der kleinen und
kleinsten Gefäße zu sehen sind, die an einen anderen Steuerungs-
mechanismus derselben denken lassen. Es sei erinnert an die
zahlreichen kleinen Teleangiektasien vor allem kleiner Venen im
Gesicht besonders an der Wangenhaut vieler „roter Hypertoniker“
im Sinne Volhard’s, an die bläulich-rote Cutis marmorata be-
sonders der Oberarmrückseite bei manchen dieser Kranken. Kapillar-
mikroskopisch findet sich bei etwa der Hälfte der Hypertoniker
Erweiterung seltener ganzer Kapillarschlingen und des subpapillären
venösen Plexus in der Haut der Brust und des Oberarms, häufiger
umschrieben in Gestalt kleiner Kapillarektasien (s. O. Müller
und seine Schule) an den Umbiegungsstellen der Hautkapillaren,
40 WESTPHAL
manchmal am Oberarm von auffallender Menge und Intensität.')
Dieses Bild steht oft in vollem Gegensatz zu den engen haarnadel-
förmigen Schleifen der Kapillaren mit jagender Strömung am
Limbus des Nagelrandes. Von den Augenärzten (Zeller u. a.)
sind an den kleinen Gefäßen der Bindehaut dieselben varikösen
Erweiterungen folgend auf umschriebene Verengerung als charakte-
ristisch für Atherosklerose beschrieben worden.
Diese weiten kleinsten venösen Gefäße der Körperhaut erklären sich
zum Teil durch die bei manchen dieser Typen vorbandene Polyglobulie,
eventuell verbunden mit einer absoluten Vermehrung der Blutmenge.
Zum Teil sind sie vielleicht auch als Effekt einer gestörten Korrelation
zwischen Arteriolen, Kapillaren und kleinsten Venen bei dieser Erkran-
kung anzusehen. Auch ein sehr stark ausgeprägter Dermograpbismus
mit 1—1,5 cm breitem Reflexerythem zeigte uns bei etwa der Hälfte
unserer Hochdruckler auf diesem Gebiete eine gesteigerte Reizbarkeit
im Sinne erleichterter Erweitbarkeit der venösen Schenkel der Kapillaren
und der kleinsten Venen.
Die kapillar-mikroskopische Untersuchung einer großen Reihe
von Patienten mit solchen Hämangiomen, die zum Teil von meinem
leider früh verstorbenen Mitarbeiter Aschaffenburg in sehr
gründlicher Weise vorgenommen wurde, zeigte, daß in der Haut
solcher Patienten öfters Übergangsformen von einfachen runden
Erweiterungen an den Umbiegungsstellen der Kapillaren bis zu
jenen Hämangiomen sich finden lassen.
Diese kleinen Blutgefäßtumoren zeigen bei dieser Untersuchungsform
zwei wesentlich verschiedene Gestalten. Die einen stellen sich als sehr
einfache mehr oder minder knäuelartige, sehr deutlich erweiterte Win-
dungen der kleinsten Venen der subpapillären Plexus dar, die sich im
ganzen Verlauf recht gut verfolgen und in ihrem zumeist engen Zu- und
Abfluß deutlich erkennen lassen; manchmal zeigt sich auch an den nicht
ganz erweiterten Partien der kleinen Venen die Kontraktionsmöglichkeit
erhalten, nach Streichen oder Beklopfen mit einem Nadelkopf ver-
schmälern sie sich zeitweise. Diese varıkösen Bildungen kleinster Venen
fanden wir kaum bei Hypertonikern, sondern seltener einige Male bei
Normalen, nicht einmal ausgesprochen bei vasomotorischen Personen am
Handrücken und im Gesicht.
Bei Hypertonikern und bei alten Leuten handelt es sich dagegen
ganz überwiegend um Erweiterungen von Kapillaren. In einem eng
umschriebenen Bezirk stehen dann dicht, mehr oder minder deutlich enge
ZAwischenräume erkennen lassend, Blut gefüllte blasenförmige Ausbuch-
D’ In der nach Abschluß dieser Arbeit erschienenen interessanten Studie
„Über Hypertonie" von O. Müller und Hübener (Dtsch. Arch. f. klin. Med.
Bd. 1409, H. 1 u. 2) werden diese kapillarmikroskopischen Bilder ebenfalls ein-
gehend geschildert, vgl. Abb. 2—4.
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 41
tungen, die stellenweise deutlich Strömung des Blutes zeigen, stellenweise
scheint völlige Stagnation des Blutes darin zu bestehen. Bei eifrigem
Sucben finden sich an andern Stellen der Haut makroskopisch noch
nicht erkennbar hochgradig variköse Erweiterungen von Kapillarschlingen
einzeln oder zu zwei bis drei manchmal dicht nebeneinander mit deutlich
hindurch passierender Strömung und oft wechselnder Füllung und Form-
gestaltung dieser erweiterten Gefäßschlingeu. Diese Bildungen stellen
u. E. die Übergangsformen von einfachen Kapillarektasien zu den Kapillar-
varizen dar und in der Entwicklung die Vorstufen. Denn wenn sich
beim Dermographismus etwa oder im Erythema pudicitiae das plötzliche
makroskopisch sichtbar werdende Aufschießen solcher Hämangiömchen
feststellen ließ, so handelt es sich um eine bei der aktiven Hyperämie
dann eintretende starke Füllung solcher vorher schon erweiterter
Kapillarschlingen.
Die Entwicklung selbst bis zum linsengroßen Hämangiom ist nur
eine schrittweise. Die von Cruveilhier übernommene Bezeichnung
Virchow’s als „Kapillarvarizen“ iet auch nach der hier durch-
geführten histologischen Untersuchung richtig. Es handelte sich nach
den Untersuchungen an zwei solchen Hämangiomen in großen Schnitt-
reihen um rein dem Kapillarsystem angehörige Bildungen, an die jedes-
mal nur eine kleine Arterie herantrat und 2 oder 3 kleinste Venen als
abführende Gefäße heraus. Im Stratum papillare und im Stratum germi-
nativum finden sich die Knäuel hochgradiger kapillärer Gefäßerweiterungen,
die auch im Serienschnitt nicht ganz in einzelne Schlingen auflösbar
sind, zwischen den Gefäßwandungen liegt ein kollagenes, kernarmes
Gewebe, das sich bei van Gieson-Färbung gelblich-rot färbt, in einzelnen
Gefäßschlingen lagen massenhaft gelapptkernige Leukocyten. Dieser Be-
fund deckt sich mit den Ogawa’s aus Ribbert’s Institut. In der
Nachbarschaft finden sich oft auch im histologischen Präparat beutel-
artige kleine Überdehnungen der normalen Kapillaren an ihrer Um-
biegungsstelle. l
Allmähbliche Dehnungen und wohl auch Wachstum der bestehenden
Kapillarschlingen scheint demnach Ursache dieser Kapillarvarizen zu sein.
Die allmähliche Entwicklung zeigt das Kapillarmikroskop in ähn-
lich angelegten, aber noch kleinen Bildungen. Daß die Gefäßfunktion
der Kapillaren für ihre Entstehung eine Rolle spielt neben im Alter ge-
steigerter Wachstumstendenz, ist demnach bei den häufig gleichzeitig
vorhandenen kleinen Kapillarektasien sehr wahrscheinlich.
Diese kapillären Varizen zeigen ebenso wie die kleinen
Gefäßerweiterungen im roten Gesicht vieler genuiner Hyper-
tensionen, ebenso auch die Neigung zu einem starken Dermographismus
mit Reflexerythem bei manchem derselben, daß bei dieser Krank-
heit oft auch eine erhöhte Dehnungsbereitschaft an
kleinsten Gefäßen vorhanden ist. Dieser an den Kapillaren
und an den kleinen Venen, in manchen Partien des Körpers be-
sonders der roten Hypertoniker, vorhandene Disposition zu stärkerer
Ektasie und im Gegensatz dazu die überall anzunehmende tonische
42 WESTPHAL
Dauerkontraktion der kleinen Arterien und Arteriolen sind beide
Ausdruck einer starken Disharmonisierung im Apparat der kleinsten
Blutbahnen, der sowohl Kontraktions- wie Lähmungsbereitschaft
aufweist. Ob bei dieser Dehnungsbereitschaft ein Kausalnexus
nervöser oder chemischer Art zu der tonischen Sperrung der
Arteriolen besteht, muß vorläufig dahingestellt bleiben.
Direkte Beziehungen dieser Naevi vasculosi zu ähnlichen Bildungen
im Gehirn, die nach Virchow am Boden des 4. Ventrikels am
häufigsten gefunden werden, konnten trotz eifrigen Suchens am Sektions-
material nicht festgestellt werden. Nur einmal fanden sich ähnliche kleine
Bildungen bei der an Apoplexie gestorbenen Patientin, Sektionsnummer
1070/23, jedoch ohne örtlichen Zusammenhang mit der Blutung.
Über diese Erscheinungen von Kapillarvarizenbildung und
Erweiterung kleinster Venen hinaus bis zur gesteigerten
Blutungsbereitschaft geht die Tatsache, daß bei dem
Rumpel-Leede’schen Versuch der Armstauung bei vielen
genuinen Hypertonikern reichlich kleine Hautblutungen auftraten.
Das konnte hier oft festgestellt werden. Schon nach einer etwas
protrahierten Blutdruckmessung können öfter kleinste Blutungen
am Unterarm der Hypertoniker auftreten. Bittorf wies auch
einmal kurz darauf hin, daß beim Arteriosklerotiker das Rumpel-
Leede’sche Phänomen oft positiv ist. Kürzlich hat Weißmann
sehr interessante Untersuchungen über die starke Blutungsbereit-
schaft der Hypertoniker veröffentlicht.
Er untersuchte 300 Fälle verschiedenartigster Erkrankungen nach
der von Stephan vorgeschlagenen Tecknik des Rumpel-Leede’schen
Verfahrens, 5 Minuten Stauung durch. die Blutdruckmanschette mit einem
Druck von 70—80 mm Hg, beim Hypertoniker um 20—30 mm höher.
Er fand diese Blutungen nur bei chronischer Endokarditis und Hyper-
tonie. Vou 21 Hypertonikern ohne ausgesprochene Nierenveränderung
waren alle positiv bis auf 3, die dabei auftretenden kapillären Blutungen
. waren regelmäßig stark ausgesprochen. Die einfache Erklärung, die
Ursache des so ausgeprägten Rumpel-Leede’schen Phänomens ist
der relativ höhere Kapillardruck infolge der venösen Stauung bei erhöhtem
arteriellen Druck, stimmt nicht, bei Kapillardruckmessungen nach Kylin
findet nämlich W., daß während der 5 Minuten langen Blutstauung der
Kapillardruck sowohl beim Hypertoniker wie beim Normalen die gleiche
Höhe erreicht, etwa 500 mm Wasser. Dabei wird der Unterarm der
Hypertoniker von einer Menge kleinster Blutungen übersät, während bei
Gesunden keine Reaktion eintrat. Dieser positive Rumpel-Leede
kann also bei der Hypertonie nur durch Anderung der Durchlässigkeit
der Kapillarwand erklärt werden. Die Frage drängt sich auf: ist die
dauernde starke Drosselung der arteriellen Zufuhr bei der Hypertonie
im Sinne einer Anderung des Gewebschemismus hier mitwirksam und
schädigt sie die Dichtigkeit der Kapillarwand’?
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 43
Es erschien wichtig für das Verständnis der Apoplexieent-
stehung diese Zeichen gesteigerter Dehnungs- und erhöhter Blutungs-
bereitschaft der Kapillaren und kleinsten Venen bei Hypertonikern
zu betonen, denn sie treten bei einfacher Betrachtung dieser Krank-
heit zurück hinter dem überragenden Phänomen des gesteigerten
Blutdrucks, das wir nach unserer jetzigen Auffassung zurückführen
auf eine hochgradige Verengerung der Strombahn im Gebiet der
kleinsten Arterien und Arteriolen.
Enger stellen sich hier im klinischen Bilde der genuinen und
nephrogenen Hypertension die Beziehungen zu den Hirnblutungen
dar, wenn wir neben dem Moment derallgemeinentonogenen
Sperrung der Arterien und Arteriolenmuskulatur als wesentliche
Ursache der dauernden Höhereinstellung des Blutdruckes das
kinetische (Pal) besonders in umschriebenen Gefäßbezirken be-
trachten. Dieses kann sich, wenn es als allgemeine arterielle Ge-
fäßkontraktion einsetzt, äußern in jenen oben gezeigten allge-
meinen Blutdruckkrisen, es kann eng lokalisiert in
umschriebener Gefäßprovinz auftreten, es sei nur ohne
Aufzählung aller hierher zu rechnenden Krankheitszeichen kurz
verwiesen auf die Angina pectoris-Anfälle Raynaud-artige
Attacken, intermittierendes Hinken, plötzlich einsetzende und ver-
schwindende Amaurosen, um auf die am Gehirn ganz besonders
gehäuften Symptome solcher Zustände näher einzugehen. Denn
hier zeigen sich Bilder, die bei schwersten und ausgeprägtesten
Formen dem krankhaften Geschehen bei der Apoplexie durchaus
gleichende, aber schnell wieder verschwindende Erscheinungen auf-
weisen. Von Volhard sind diese beschriebenen als „pseudo-
urämische Äquivalente“, F. Kauffmann aus unserer Klinik be-
zeichnet sie recht glücklich als „angiospastische Insulte“. Von
Lichtwitz, Grödel und Hubert wurde ebenfalls über solche
Zustände beim Hypertoniker berichtet. Die ersten Schilderungen
der englischen Autoren Peabody und Osler zeigen bereits das
ganze klinische Bild: plötzlich einsetzende Attacken von Lähmung
in den verschiedensten Formen als typische Hemiplegie oder Mono-
plegie, Aphasie, manchmal oft sich wiederholend bis zum Tode,
bei der Sektion findet sich wohl Arteriosklerose an den Hirngefäßen,
aber kein Erweichungs- oder Blutungsherd, daher die Annahme
herdförmiger spastischer Ischämie und der Vergleich mit den sicht-
baren Spasmen der Netzhautgefäße bei der transitorischen Amaurose.
Auf die relative Häufigkeit und die verschiedenen Formen des
Auftretens solcher angiospastischer cerebraler Insulte
44 WESTPHAL
beim Hypertoniker muß hier näher eingegangen werden, denn
für die Art der Entstehung der Apoplexie zeigen sie m. E. Ent-
scheidendes. Hirngefäßkrisen, die dem apoplektischen Insult
klinisch sehr ähnliche, oder völlig gleichende, aber bald wieder
schwindende Bilder erzeugten, sahen wir z. B. an folgenden Patienten:
1. Fl., Karl, 6l jähriger Kaufmann, mit einer Hyperglobulie von
7—8 Millionen Roten, guter Nierenfunktion mit einem Rest-N von
0,036 °/ und einem ganz hochgradig schwankenden Hypertonus von 145
bis 200 Maximaldruck, ohne organischen Befund am Nervensystem hat
mit 58 Jahren bereits einmal für 5 Minuten aus der Straße plötzliche
Unfähigkeit bemerkt, das rechte Bein zu bewegen, dabei keine Sensi-
bilitätsstörungen. 14 Tage später trat dasselbe Phänomen wieder auf,
dabei war aber die ganze rechte Seite wie abgestorben, besonders in den
Fingern der rechten Hand Ameisenkribbeln. Nach 10 Minuten war diese
Attacke wieder geschwunden. Im ganzen 5mal ist es seitdem vorge-
kommen, daß er für 1—2 Minuten die Sprache plötzlich verlor, er war
unfähig, die Zunge richtig zu bewegen, dabei bemerkte er auffallend
starken Speichelfluß in dem Mund. 2 mal war er auf dem rechten Auge
für 2 Minuten völlig blind. Seit einem Jahre sind oft Schwindelanfälle
vorhanden, oft dabei ein Gefühl von Taumeln, starke Kopfschmerzen und
Abnahme des Gedächtnisses stören sehr. Nach starken Aderlässen und
Röntgenbestrahlung der langen Röhrenknochen wegen der Hypoglobulie
weitgehende Besserung der Beschwerden, Rückgang des Hypertonus und
seiner Schwankungen, Das Allgemeinbefinden des Patienten ist jetzt
gut, eine Apoplexie ist bisher nicht eingetreten.
Flüchtige motorische Lähmung am linken Arm mit Sensibilitäts-
störungen der linken Seite, motorische Aphasie, Amaurosen, schwere
Schwindelanfälle und starker Kopfschmerz zeigen bei diesem Kranken
ein vielseitiges Bild von angiospastischen Insulten am Gehirn des Hyper-
tonikers, der seit über einem Jahre beobachtete Schwund der Beschwerden
nach Beseitigung der Hypertonie und Hyperglobulie spricht für den
sekundär auf die Hypertonie aufgeplanzten Charakter dieser Beschwerden.
2. He. Berta, 50 jährige Ehefrau, hat seit 2 Jahren häufig Schwindel-
anfälle und Kopfschmerzen gehabt, öfter waren auch starke Angina
pectoris-Anfälle aufgetreten. Am 8. X. 25 wurde ihr nach starkem
Treppensteigen plötzlich schwindlig, dann trat Bewußtlosigkeit ein, als
sie aufwachte, waren linker Arm und linkes Bein gelähmt. Die in
diesem Zustande sofort in das Krankenhaus eingelieferte Frau zeigte
einen arteriellen Hochdruck von 185:115, ein deutlich nach links ver-
größertes Herz. Die Niere bietet keinen auffallenden pathologischen
Befund, Wassermann negativ. Bei der Aufnahme besteht noch eine
linksseitige Lähmung mit positivem Babinski und einer leichten Be-
nommenheit. Am folgenden Tage, also innerhalb 24 Stunden ist die
Lähmung bereits geschwunden, der positive Babinski ist nicht mehr auslös-
bar. Der Blutdruck sinkt schnell ab auf 135—125 mm Hg. Am 13. X.
steigt der Blutdruck beim Wasserversuch der Nierenprüfung plötzlich
wieder auf 190:100, am folgenden Tage bekommt die Patientin beim
Zurichten des Bettes wiederum einen Insult mit völliger motorischer
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 45
Aphasie. Zeichen rechtsseitiger Lähmung treten nicht auf, der Blut-
druck beträgt an diesem Morgen 155:80. Diese motorische Aphasie
bleibt zweimal 24 Stunden bestehen, dann tritt auch hier schnell fort-
schreitende Wiederherstellung der Funktion ein bei niedrig bleibendem
Blutdruck von 120—135 mm Hg. Am 20. X. ist die motorische
Aphasie ganz geschwunden, auch recht schwierige Worte werden gut
ausgesprochen. Weiter gutes Allgemeinbefinden. Als einziger Rest der
überstandenen Lähmung ist eine sehr geringe Hypertonie im linken
Beine zeitweise feststellbar. Vielleicht haben bei den apoplektiformen
Attacken die Stammganglien hier eine leichte Schädigung zurückbehalten.
Der eigentliche Lähmungsbezirk war aber stets einer schnellen Rück-
bildung des Funktionsausfalles fähig. Daher werden auch diese Krank-
heitszustände im wesentlichen als angiospastisch bedingt angesprochen
mit folgenden leichten Ernährungsstörungen, Ödembildung usw., die einer
schnellen weitgehenden Besserung fähig waren.
3 Frau Emilie Ha., 53jährig, mit sehr labilem und psychisch sehr
weitgehend beeinflußtem Hypertonus, schwankend von 145:155 auf
200:110. Sie hat oft Raynaud-artige Attacken in beiden Armen
starke Cyanose und Marmorierung der Arme, vom unteren Drittel des
Unterarmes bis abwärts zu den Fingern, manchmal dabei das Gefühl
des Abgestorbenseins. Normale Nierenfunktion und normaler Rest-N.
Augenbintergrund: o. B. Serum-Cholesterin: 0,24 g°/,. In der letzten
Zeit sind mehrere starke Schwindelanfälle vorgekommen, zweimal dabei
Anfälle von plötzlicher Bewußtlosigkeit für ca. 5 Minuten, einmal ist sie
dabei vom Stuhl gefallen. Kein Anhaltspunkt für Epilepsie. Neuro-
logisch kein objektiver Befund für eine anatomische Läsion.
Es werden daher im Zusammenhang mit dem sehr schwankenden
Hypertonus und dem sichtbaren Raynaud ähnliche Gefäßkrisen im
Gehirn als Ursache dieser plötzlichen Bewußtseinstrübungen angenommen.
4. Frau Margarete H., 39 Jahre, klagt in den letzten Jahren über
zunehmende Fettsucht und Wachstum eines Kropfes, außer einer leichten
Protusio bulbi keine Zeichen eines Basedow. Seit drei Monaten häufige
Anfälle von intermittierendem Hinken des linken Beines, starke Angina-
Pectoris-Anfälle, schwere Schwindelanfälle auch ohne Herzbeschwerden
auf der Straße, wenige Male dabei eine plötzliche Lähmung im linken
Arm und zweimal Übergang dieser Schwindelanfälle in völlige Bewußt-
losigkeit für 1,—3 Stunden. Die Herzaktion ist während der Zeit vom
Hausarzt normal befunden worden, kein Anbaltspunkt für Herzklopfen.
Der linke Arm ist nachher wieder gut beweglich gewesen. Bei der nur
einmal in der Sprechstunde möglichen Untersuchung fand sich bei der
etwas adipösen Frau, die stark vasomotorisch erschien, kein Zeichen einer
Läsion im Zentralnervensystem, ein normaler Blutdruck von 130 mm Hg,
kein pathologischer Urinbefund, kein Hypertonikerherz. Ein dauernd
erhöhter Blutdruck ist also auch bei solchen vielartigen Gefäßkrisen nicht
unbedingt notwendige Voraussetzung. Die linksseitige Armlähmung mit
späterem Bewußtseinsverlust wird als cerebraler angiospastischer Insult
aufgefaßt.
5. Lau., Adolf, 56jäbriger Schlosser, berichtet bei einem mittleren
schwankenden Blutdruck von 130--180 mm Hg ohne Zeichen patho-
46 WESTPHAL
logischer Nierenfunktion neben flüchtigen muskelrheumatischen Schmerzen
im linken Bein mit gleichzeitig kalt werdendem linken Fuß von 4 An-
fällen folgender Art: Zu Hause bei ruhiger Körperhaltung mußte er
zuerst 5 Minuten lang dauernd gähnen, dann wurde ihm übel, Schweiß
brach am ganzen Körper aus, er bekam Brechreiz, einmal auch Durchfall
gleichzeitig und er wurde dann für einige Minuten ohnmächtig. Kam
er wieder zu sich, so fühlte er sich sehr matt. Solche Antälle von
Gähnen, Erbrechen werden oft in den Prodromalerscheinungen einer
Apoplexie geschildert. Hier fand sich für eine solche gar kein Anhalts-
punkt. Diese Bewußtseinsverluste mit den eigentümlichen Reizerschei-
nungen am vegetativen Nervensystem werden auch als angiospastisch be-
dingt aufgefaßt, durch flüchtige Ischämisierung von Gebieten am Boden
des 3. und 4. Ventrikels.
Einleuchtender noch als diese nur klinisch und anamnestisch
erhobenen Feststellungen sind die folgenden mit den dazu erhobenen
autoptischen Befunden:
l. u. 2. Es wird verwiesen auf den in der vorhergehenden Arbeit
mitgeteilten 2 Fälle.
3. Frau Ein., deren Anamnese- und Krankenhausbeobachtungsbefund
mit den hier oft bis zu viermal täglich einsetzenden, sehr häufig dann
mit einem Blutdruckanstieg auf 180 mm von der Norm 120 mm Hg
verbundenen rechtsseitigen Lähmungen mit entsprechenden neurologischen
Befunden früher genau geschildert ist.
Die Sektion zeigte eine mäßige Hypertrophie des linken Herzens,
geringe allgemeine Arteriosklerose, an den Hirngefäßen ebenso gering, an
den Nieren mikroskopisch geringe Arterioloskleroee. Das Gehirn wurde,
weil sich bei den ersten orientierenden Schnitten keine Apoplexie fand
in toto eingelegt. Bei späterer Untersuchung fand sich bei sehr eng
angelegten Querschnitten im Thalamusgebiet ungefähr in der Mitte, ober-
halb des Nucleus ruber ein Gebiet weißer Erweichung rechts und links,
ungefähr gleichgroß, nach Art einer Schmetterlingsfigur, 0,5 cm breit
und 2 cm hoch. Rechts reicht es weiter nach unten, die Länge beträgt
1-—1,5 cm. In der Nachbarschaft der inneren Kapsel oder an der
weißen Substanz selbst oder in anderen Gebieten der notorischen Region
selbst ist weder rechts noch links eine Veränderung erkennbar.
Mikroskopisch finden sich im Erweichungsgebiete neben der noch
ganz gut erkennbaren Gliastruktur ausgedehnte Ansammlungen von Fett-
körnchenzellen. In dem Gebiet an der größeren Arterie zum Teil aus-
gesprochene Intimawucherung mit starker Verengerung des Lumens. In
einer kleinen Arterie ein organisierter T'hrombus, keine ausgesprochene
Arteriolosklerose. Die Media der Arterien im Erweichungsgebiet ist zum
Teil ausgedehnt kernlos. Im Gebiet und Nachbarschaft der inneren
Kapsel links wie rechts dagegen keine auffallenden mikroskopischen Ver-
änderungen, nirgends Fettkörnchenzellen, geringe Arteriosklerose mit gut
durchgängigem Gefüßlumen an allen sichtbaren Arterien.
Dieser Fall wird, da der sehr kleine Erweichungsherd im Thalamus-
gebiet nicht die auffallenden, immer wiederkehrenden apoplektiformen
Anfille erklären kann, unter die angiospastischen Insulte eingereiht, weil
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 47
nur die Annahme einer solchen pathologischen Gefäßfunktion diese zu-
erst einmal links, später immer wieder rechts eintretenden flüchtigen
Halbseitenläbmungen verständlich manchen kann. Noch auffallender stellt
sich das klinische und anatomische Bild der nächsten Kranken dar mit
häufig recidivierender Apoplexie.
4. Die Ehefrau Margarete En., 50 Jahre alt, früher stets gesund,
` hat nur seit einem Jahre häufig Kopfschmerzen. Im September 1924
erfolgte eines Tages „ein Schlaganfall“ mit völliger Lähmung des linken
Armes und Beines. Nach einigen Stunden waren die Lähmungen völlig
verschwunden. Am 16. II. 25 morgens wieder ein Schlaganfall mit
Lähmung dieses Mal der rechten Seite, Patientin konnte dabei nicht
sprechen, nach 1!/, Stunden waren die Störungen völlig verschwunden.
Zwei Tage später, am 18. II. 25, morgens erneuter Schlaganfall,
wieder mit Lähmung der rechten Seite. Patientin kann wiederum nicht
mehr sprechen. Sie wird deswegen in die Klinik eingeliefert. Die
mittelgroße adipöse Frau zeigt hier einen Blutdruck von 195:155, ein
entsprechendes Herz, im Urinbefund sebr vereinzelt byaline Zylinder,
sonst normale Nierenfunktion, Hypercholesterinämie von 0,25 g°/,. Es
besteht typische rechtsseitige Apoplexie mit Lähmung von Armen und
Beinen, von Facialis und Hypoglossus mit positivem Babinski und Oppen-
heim, Steigerung der Sehnenreflexe rechts und motorischer Apbasie.
Das Bewußtsein ist klar, am 20. II. ist bereits wieder sprachlich eine
gewisse Verständigung möglich. Am Morgen des 22. II. neuer schwerer
Insult, tiefes Koma der Patientin mit Cheyne-Stokes’scher Atmung,
Blutdruckanstieg auf 220. Nach AderlaB von 200 ccm allmählich
Bessung, Atmung regelmäßig nach Rückkehr des Bewußtseins. 24. Il.
Apbasie weitgehend gebessert, kleine Sätze werden im Zusammenhang
gesprochen, Besserung des Allgemeinbefindens. Einige bronchopneu-
monische Herde sind feststellbar. 25. II. die motorische Apbasie nimmt
wieder zu. 27. II. plötzlicher Eintritt völliger Lähmung auf der linken
Seite mit typischen Reflexstörungen, Babinski, schwerer Benommenbheit,
zeitweise aussetzender Atmung. Am nächsten morgen, am 28. JI. erfolgt
Exitus letalis, die doppelseitige Lähmung hat weiter bestanden, ebenso
die schwere Bewußtseinstrübung.
Die Sektion ergab bochgradige Hypertropbie des ganzen Herzens,
parietale Thromben im rechten Ventrikel, einige Embolien in Lungen-
arterienästen, Stauungslungen. Hochgradige Sklerose der Aorta und
der peripheren Arterien mit vereinzelten atheromatösen Herdchen, Sklerose
und Athromatose der weiten Coronararterien, mäßige Sklerose der basalen
Hirnarterien. Stauungsorgane. An den Nieren mikroskopisch Arteriosklerose
und Arteriolosklerose mäßigen Grades, vereinzelte verödete Glomerulie.
Der makroskopische Sektionsbefund zeigt am Gehirn
nichts, auch keine Embolien in den Gefäßen. An den mittleren Hirn-
arterien sind hier und da atheromatöse Fleckchen vorhanden, keine Media-
sklerose. Das Gehirn wird darauf in toto eingelegt. Die nach Fixierung
eng hintereinander angelegten Querschnitte zeigen, daß im gesamten
Vorderhirn links eine deutliche Anämie gegenüber den übrigen Hirn-
gebieten vorhanden ist. Auf der rechten Seite finden sich im Gebiet
der inneren Kapsel und der großen Stammganglien makroskopisch keine
48 WESTPHAL
wesentlichen Veränderungen, außer einem kleinstecknadelkopfgroßen
Cystchen in der Mitte des Putamen, links gar keine Veränderungen ;
auch an den hinteren Gebieten an den Pedunculi cerebri fehlen rechts
wie links erkennbare Veränderungen. In der Mitte der Pons findet sich
etwas rechts und oben gelegen eine 1:3 mm große etwa 2 mm tiefe
auf bräunliche Erweichung verdächtige Stelle. .
Die mikroskopische Untersuchung, bei der Herr Kollege Kino
vom Neurologischen Institut (Prof. Goldstein) die große Freundlichkeit
hatte, durch Herstellung von Nissel- und Weigert’scher Markscheiden-
färbung an einer Reihe von Präparaten und durch deren Durchsicht mich
zu unterstützen, zeigt bei Untersuchung von Schnittserien mit Einschluß
der verdächtigen Stellen beiderseits aus dem Stirnhirn, beiderseits von je
zwei Blöcken entnommen aus den Basalganglien und der inneren Kapsel
in Höhe der mittleren Commissur, dann beiderseits aus der Gegend der
Pendunculi cerebri und schließlich aus der Pons folgendes:
Im Stirnhirn findet sich rechts wie links kein wesentlich patho-
logischer Befund, ebenso in der Gegend der Pedunculi cerebri, in der
Pons dagegen der makroskopisch festgestellte kleine Erweichungsherd
mit zahlreichen Fettkörnchenzellen, in seiner nächsten Nachbarschaft gut
erhaltene Ganglienzellen. An einigen Arterien der Pons wenige lipoid-
haltige Intimawucherungen, im übrigen ist die Gegend der Brücke ohne
Besonderheiten.
Wichtiger und auffallender sind dagegen beiderseits die Verände-
rungen im Gebiet der Basalganglien und der inneren Kapseln, dort, wo
eigentlich rechts wie links eine ausgedehnte Erweichung zu erwarten ge-
wesen wäre. Rechts in dieser Gegend, welche der vor ?!/, Jahr für
wenige Stunden erlittenen Lähmung entspricht und der einen Tag vor
dem Tode zu der rechtsseitigen hinzugetretenen neuen, findet sich in den
Schnittreihen in und hinter der Gegend der mittleren Commissur eine
ganze Reihe, im ganzen 4, von kleinen Erweichungsherden, die etwa
1/„—?®/), mm im Durchmesser groß sind, außerdem einige ganz kleine
nur durch Auflockerung des Gewebes und Kernarmut desselben erkenn-
bare, zum Teil im Gebiet der inneren Kapsel zum Teil in den Stamm-
ganglien, am ausgesprochendsten ist der Befund der Erweichung an einem
in der Höhe der Commissur gelegenen schmalen etwa 2 mm breitem
Bezirk, der quer von der unteren Grenze von Putamen-Pallidum über
die innere Kapsel zieht bis zum inneren Teil des Striatum. Im Putamen
einige ganz kleine Erweichungsherde, Palliddum und Thalumus sind im
ganzen verschont von Erweichung. Die Erweichungsherde sind zum Teil
stark durchsetzt von Fettkörnchenzellen und zeigen am Rande oft aus-
gesprochen Gefäßneubildung.
In diesem Gebiete finden sich zum Teil ganz auffallende Ge-
fäßBveränderungen. An den Arterien, am stärksten an einer
großen im Putamen, findet sich völlige Kernlosigkeit und
uellung der Media mit perivaskulärem Zellinfltrat, an einer
anderen in Nachbarschaft des beschriebenen größeren Erweichungs-
herdes umschriebenrer Kernschwund der Media. Am schwersten
sind die Veränderungen einer ganzen Reihe etwa 7—8, von Ge-
fäßstäimmen in den basalen Stammganglien (vgl. Abb. II, 1). Sie
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 49
zeigen eine zum Teil ganz hochgradig auf das 2—5fache ver-
breiterte Wand, so daß das eigentliche manchmal unveränderte rote
Blutkörperchen enthaltende Gefäßlumen auf etwa !/,—!/, seines Durch-
messers verkleinert erscheint, die Gefäßöffnung erscheint manchmal kreis-
rund, manchmal verschoben und eckig, es ist wenige Male mit einer
zum Teil noch gut erkennbaren nur einfachen Lage von Epithelien be-
deckt, darunter befindet sich bis zu den gut erkennbaren Adventitiazellen
reichend ein breites Band kernloser und keine Zellstruktur mehr auf-
weisender entweder gleichmäßig glasiger oder von zahlreichen Maschen
und Vakuolen durchbrochener Masse. Zellkerne sind nirgends deutlich
darin erkennbar, Struktur von Muskelfasern auch nicht. Bei Hämatoxolin-
Abb. II, 1. Photographie aus dem anzunehmenden Gebiete eines vor 6 Monaten
erfolgten apoplektiformen Insultes von mehreren Stunden Dauer ohne eingetretene
Blutung oder größere Erweichung. Eine Reihe von schwer geschädigten mittleren
und kleineren Gefäßen, nach Elastikapräparaten zum Teil sicher Arterien, mit
Auflockerung, Quellung und Kernlosigkeit der gesamten Wand und geringen, nur
teilweise vorhandenen Zellinfiltraten in der Umgebung. Schnitt a. d. Gebiet der
basalen Stammganglien und der inneren Kapsel rechts. Fall 4, Margarete E.
Vergrößerung 75fach, Leitz.
Eosinfärbung sieht die gequollene Wand blaßblau-rot aus, manchmal mit
stärkerer blauer Tönung, bei van Gieson- Färbung schmutzig-bräunlich-
gelb, am Rande leicht rot getönt. An manchen Gefäßen ist die Quellung
der Wand nur in der Hälfte des Umfanges, aber dann oft noch stärker
wie an den anderen etwa auf das 6fache des normalen Wanddurch-
messers eingetreten (vgl. Abb. II, 3), zweimal finden sich neben deutlich
gut erhaltener Arterien an Abzweigungsstellen derselben ein völlig ge-
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 4
50 WESTPHAL
quollener, nur noch eben erkennbarer Zweig gleichen oder größeren
Kalibers mit Schwund der Gefäßöffnung. In dem Lumen einiger dieser
Gefäße liegt manchmal eine gleichmäßig hyaline Masse, anscheinend Blut-
gerinsel ohne Blutkörperchen, in anderen Erythrocyten. Daneben finden
sich einige verschlossene Venen mit organisierten Thromben.
Durch Elastikafärbung ist feststellbar, daß die so hochgradig
veränderten Gefäße des öfteren eine meist gut erhaltene kräftig entwickelte,
aber nicht durch Neubildung vermehrte Elastika aufweisen (vgl. Abb. II, 2).
Diese liegt überraschenderweise stets ganz am Außenrand dieser ge-
quollenen Wandschicht, weiter nach außen liegt meist im Schnitt eine
schmale Lücke, an deren anderer Seite im allgemeinen nur wenig ver-
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Abb. II, 2. Mehrere Gefäße, darunter zwei Arterien aus dem gleichen Gebiet wie
bei Abb. 1 bei Elastikafärbung. Man erkennt die gequollene kernlose Intima,
sieht an zwei Gefäßen deutlich den Schwund der Media und an einer Stelle ge-
ringes adventitielles Zellinfiltrat. Schnitt a. d. Gebiet der basalen Stammganglien
und der inneren Kapsel rechts. Fall 4, Margarete E. Vergrößerung 75fach, Leitz.
mehrt adventitielle Zellen. In der weiteren Umgebung ist meist sehr
gut erhaltenes Hirngewebe mit Ganglienzellen vorhanden. An wenig
gänzlich verquollenen Gefäßwänden verschwindet streckenweise die Elastika
in der Aufquellung. Die auffallenden Gefäßveränderungen, so grob an
7—8 Gefäßen gefunden, stellen demnach meist Reste von Arterien
dar, deren Media verschwunden ist, deren Intima hochgradig ge-
quollen, zum Teil vakuolisiert erscheint. Eigentliche Endothelwucherung
konnte nirgends festgestellt werden außer an einer ganz normalen in
diesem Gebiet erkennbaren Arterie mit teilweiser Elastikaneubildung.
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 51
Im übrigen treten eigentliche arteriosklerotische Prozesse in diesem
ganzen Gebiet sowie im ganzen übrigen Gehirn sehr zurück, dagegen
finden sich noch einige kleine Arterien ohne diese auffallenden Ver-
änderungen nur mit kernloser Media, die jedoch bei van Gieson-
Schnitten und Elastikafärbung noch gut als solche zu erkennen sind.
In Nachbarschaft einer unveränderten etwas größeren Arterie und Vene
findet sich eine kleine Blutung in die Gefäßscheide. Die Venen er-
scheinen überhaupt im ganzen Gehirn besonders die kleinen auffallend
weit, sie sind meist prall mit Blut gefüllt.
Auf der linken Seite sind die Veränderungen trotz der
8 Tage lang bestehenden Lähmung viel weniger ausgeprägt. Es
Abb. II, 3. Photographie aus dem anzunehmenden Gebiete eines vor 6 Monaten
erfolgten apoplektiformen Insultes von mehreren Stunden Dauer ohne eingetretene
Blutung. Schwerste Degeneration der Gefäßwand einer mittleren Arterie mit
Xernlosigkeit, Quellung und Vakuolisierung der Wand und geringen adventitiellen
Zellinfiltraten. Schnitt a. d. Gebiet der basalen Stammganglien und der inneren
Kapsel rechts. Fall 4, Margarete E. Vergrößerung 125fach, Leitz.
finden sich in der Marksubstanz und auch in den basalen Ganglien hier
und da kleine Gebiete mit Auflockerung des Gewebes, Kernarmut und
stellenweise Kernschwund, manchmal liegen sie um kleine Gefäße be-
sonders deutlich durch Auflockerung des Gewebes. Erweichungsherde
mit ausgesprochenen Fettkörnchenzellinfiltraten sind im allgemeinen nicht
feststellbar. An einigen kleinen Gefäßen findet sich wieder Kernschwund
der Wand, zum Teil sind dies Arterien, ihr Lumen ist meist mit etwas
Gerinnsel gefüllt.
Viel imponierender sind die Veränderungen an einer Reihe größerer
4*
52 WeSTPHAI
arterieller Gefäße im Putamen: hier findet sich Schwund des
größten Teils der Kerne der Media, geringe Quellung derselben
bei gut färbbaren Intimakernen, in den Gefäßen im stark verengten
Lumen meist Erythrozyten, ein ausgesprochenes Rundzellinfiltrat liegt
um die so veränderte Media, in der weiteren Nachbarschaft des Gefäßes
einige eisenpigmenthaltige Zellen und ein kleines Fettkörnchenzellinfiltrat,
vgl. Abb. II, 4. Bei Scharlachfärbung eine rötliche Tinktion der ver-
änderten Media, nur an zwei kleineren von den fünf im Schnitt ge-
troffenen Arterien lipoidhaltige Intimawucherungen. Ein ähnliches Bild
findet sich bei einer zweiten Arterie im Putamen, gleiche Kernlosigkeit
der Media, Rundzellinfiltrate in der Umgebung, an einer dritten ein
Abb. II, 4. Bündel von zum Teil nekrotischen Arterien mit Kernschwund, glasiger
(uellung der Media bei meist erhaltenen Intimakernen, z. T. ausgedehnte Rundzellen-
infiltrate um die geschädigten Gefäßwände. Die Gefäße befinden sich in dem
Gebiet, wo eine 7 Tage lang vor dem Tode klinisch bestehende Apoplexie schwere
Zerstörungen hätte erwarten lassen. Schnitt a. d. Gebiet der basalen Stamm-
ganglien links (Putamen) und der inneren Kapsel. Fall 4, Margarete E. Ver-
gr. 7dfach, Leitz.
geringes perivaskuläres Infiltrat und nur teilweise Kernschwund in der
Media. Ein Thrombus ist in einer Vene im gleichen Gebiet vorhanden.
In den übrigen Gehirnpartien ist die Veränderung der Arterien
mikroskopisch im ganzen eine geringe, wenig Arteriolosklerose, wenige
Atheromatose. Nirgends sonst Erscheinungen von Arterionekrose. Die
Venen sind überall weit und stark gefüllt entsprechend den übrigen
Stauungsorganen.
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 53
Auch der mikroskopische Sektionsbefund klärt demnach nicht das
klinische Bild zur Genüge. Wohl finden sich eine Reihe älterer kleinerer
Erweichungsherde, zum Teil mit Gefäßneubildung am Rande, aber diese
sind viel ausgesprochener auf der rechten Seite in dem Gebiet und der
Nachbarschaft der inneren Kapsel, wo vor !/, Jahr ein flüchtiger angio-
spastischer Insult sich eingestellt hatte und erst 24 Stunden vor dem
Tode von neuen Lähmungserscheinungen. Die Veränderungen der linken
Seite sind geringer an Menge und Ausdehnung, trotz der 10 Tage nach
Vorausgang einer Präapoplexie bestehenden Lähmung. Immerhin besteht
auch hier und da fleckförmig verteilt eine Auflockerung mit Kernschwund
des Gewebes. Dieser geringe anatomische Befund erklärt aber durchaus
nicht das plötzliche Einsetzen der Lähmung, ihr Schwanken im Anfang.
Sondern da fügt sich gerade dieser Fall mit dem Präapoplexien im
klinischen Bilde und dem geringen anatomischen Befunde gut ein in die
Vorstellung der Angiospasmen als Auslöser der plötzlich auftretenden
Lähmungserscheinung. Daß solche Gefäßkontraktionen !/, Jahr
vor dem Tode rechtsseitig im Hirn zu einer ischämischen
Störung geführt haben, bei der es zu einer schweren Schädigung
der Arterien im blutleeren Gebiet kam, mit Nekrotisierung der
Media, und zur Ausbildung einiger Erweichungsherdchen und zur
Thrombenbildung in einigen gleichfalls wandgeschädigten und im Stase-
zustand befindlichen Venen gibt m. E. für den jetzigen Befund die beste
Erklärung. Die nekrotische Media wurde resorbiert, die schwere Intima-
veränderung mit Schwellung und teilweiser Vakuolisierung ist vielleicht
seitdem geblieben oder allmählich entstanden, die Elastika hat anscheinend
zum Teil eine Rbexisblutung der Gefäßwand verhindert. Auf der
anderen Seite, die nach einer Präapoplexie 12 Tage vor dem
Tode, dann 10 Tage lang einen in seiner Intensität sehr schwankenden
Funktionsausfall zeigte, finden sich ebenfalls schwere Media-
nekrosen mit ausgedehnten Zellinfiltraten der Nachbarschaft als Aus-
druck der Reizantwort auf die Alteration durch die schwer geschädigte
Media. Diese Prozesse können 10—12 Tage alt sein, der stellenweise
Kernschwund in der Hirnsubstanz zeigt auch dort vorhandene Schädi-
gungen. Daß bereits früher einmal ähnliche Gefäßschädigungen dort
gewirkt haben, beweisen die allerdings nur geringen Eisenpigmentan-
bäufungen in Nachbarschaft der einen geschädigten Arterie. Das Auf-
fallendste ist, daß hier, wo wir solche Schädigungen sehen wie an den
großen Gefäßen im apoplektischen Herd, rechtsseitig weit über solche
hinausgehend, keine allgemeine Blutung eingesetzt hat, trotz des dauernd
hohen Bilutdrucks von über 200 mm Hg. Die eine gefundene kleine
Blutung steht in gar keinem Verhältnis zu der Schädigung zahlreicher
Gefäße. Eine Reihe der kleinen mit Muskelkernschwund ist allerdings
nicht mit Blut gefüllt, mehrmals nur mit Gerinnsel, die anderen stark
geschädigten zeigen nur eine geringe Füllung. Ob dauernd starke Ver-
engerungen oberhalb gelegener Arterienpartien oder verstärkte Resistenz
zahlreicher kleiner Gefäße oder herabgesetzte Autolysebereitschaft des
Hirngewebes im ganzen die Ursache für den Nichteintritt der Blutung
in diesem und ähnlichen Fällen abgeben, kann nicht entschieden werden.
Diese den im apoplektischen Herd gefundenen so ähnelnden Gefäß-
54 , WESTPHAL
schädigungen einfach als arteriosklerotisch anzusehen, geht kaum an,
dazu siud die hochgradigen Veränderungen zu eng lokalisiert auf die
Gebiete der basalen Ganglien und fehlen im übrigen Hirn, außerdem
fallen sie durch den Mediaschwund völlig aus dem Rahmen des bei der
Arteriosklerose Bekannten heraus.
Es wäre sehr erwünscht, da an den für die Klärung des vor-
liegenden Problems so wichtigen Fällen von Apoplexien ohne ent-
sprechenden anatomischen Befund möglichst oft genaue Untersuchungen
angestellt würden, auch am gewöhnlichen Hypertonikergehirn und an
Gehirnen alter Leute, um über die Art des Vorkommens der Arterien-
veränderungen genaues zu erfahren. Löwenfeld berichtet, daB er
selten allerdings auch Mediaschädigung wie bei der Apoplexie am Gehirn
alter Leute gefunden habe. Wichtig wäre dabei die genaue Untersuchung,
ob es sich um Hypertoniker handelt oder nicht. Findet sich bei solchen
im allgemeinen nur derartige Mediauekrose an Arterien, so spricht ein
solcher Befund keineswegs gegen die Auffassung des Verfassers, daB es
sich dabei oft um vice-versa-Schädigung von ischämischen Hirnpartien
auf die Gefäßwand handelt. Bei der Häufigkeit von Zeichen flüchtiger
Hirnischämie bei solchen Kranken wäre das ja auch nicht erstaunlich.
5. An einem fünften Falle von einer 3—4 Tage bestehenden Halb-
seitenlähmung bei einem Hypertoniker ohne makroskopischen Befund am
Gehirn hatte ich durch die Freundlichkeit des Herrn Kollegen Klauber
vom Pathologischen Institut Gelegenheit, die Schnitte aus den als Ort
der Lähmung in Betracht kommenden Partien der Hirnsubstanz zu sehen.
Es fanden sich mikroskopisch dort keine Erweichungsherdchen, nur an
zwei Arterien stellenweise Kernschwund in der Media mittlerer Arterien,
aber keine so schweren Schädigungen wie in dem vorhergehenden Fall,
wiederum auch nur geringe Arteriosklerose.
In einer verhältnismäßig kurzen Zeit, im Zeitraum von etwa
2 Jahren, läßt sich demnach eine ganze Reihe von der Apoplexie
klinisch durchaus gleichenden Zuständen an Kranken feststellen,
bei denen ein entsprechender Befund fehlt, bei denen sich in einem
Falle, da allerdings sehr ausgeprägt, an Arterienwänden Verände-
rungen finden lassen, mit schwerster Nekrose und Schwund der
Media, wie wir sie inmitten des Blutungsherdes der Apoplexie zu
sehen gewohnt sind, an dem letzten Falle waren gleiche Verände-
rungen angedeutet, ohne daß sich hier jedoch die Blutung ent-
wickelte. Das spricht für ganz ähnliche Vorgänge bei beiden Er-
scheinungen. Als erstes beiden gemeinsames wird der Angiospasmus
an Arterien beim Hypertonus in Anspruch genommen.
Neben diesem nicht allzu häufigem Ereignis beim arteriellen
Hochdruck der Apoplexie ohne entsprechenden Befund oder mit
ganz schnellem Schwund des klinischen Bildes der Lähmung gibt
es nun gerade am Gehirn eine ganze Reihe von nicht so alarmierenden
aber dafür um so häufigeren Erscheinungen, die auf die gleiche
vasomotorische Genese zurückzuführen sind.
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 55
In erster Linie muß da der „Schwindel“ der Hyper-
toniker genannt werden.
Seltener stellt er sich ein vom Typ des echten Menidre mit aus-
gesprochenem nach einer Seite gerichteten Drehschwindel, wie er durch
Angiospasmen der Arterien auditiva interna hervorgerufen werden könnte,
sondern häufiger als ein plötzliches den Kranken überfallendes Schwäche-
gefühl, bei dem ibm oft für kurze Zeit schwarz vor Augen wird, das
dann nach einigen Minuten sich wieder bessern kann, das ihn aber oft
zwingt, sich auf der Straße an eine Hauswand zu lehnen, sich zu setzen
oder hinzulegen. Daneben werden ungefähr ebenso häufig Beschwerden
eines längere Zeit andauernden Gefühls des Leerseins im Kopf, des
Schwindligseins und leichter Benommenheit angegeben. Als Krankheits-
zeichen von Arteriosklerose der Gehirngefäße sind diese Zustände seit
langem in der Literatur bekannt, ihre enge Verknüpfung mit dem essen-
tiellen Hochdruck betonte Bauer, ihr vasomotorisches Bedingtsein in-
folge ihrer häufig durch Diuretin möglichen Beseitigung H. Cursch-
mann.
Wir können ihn als Ausdruck der plötzlichen Veränderung der
Zirkulationsverhältnisse im Gehirn ansprechen, ob dabei solchen im Cere-
belum und dem mit ihm verknüpften Stirnhirn besondere Beachtung
zukommt, bleibe dahingestellt. Wahrscheinlich spielen Anämisierungen
des ganzen Zentralgebietes des Hirnstammes für das Auftreten dieser
mehr oder minder akut einsetzenden Schwindelanfälle eine Rolle. Denn
wir finden bei Apoplektikern mit dauernd vorhandenem Schwindel oft
gerade in den Stammganglien Erweichungsherde. Friedrich Kauff-
mann stellte an unserer Klinik 28mal bei 48 Kranken mit essentiellem
Hochdruck diese Schwindelanfälle fest. Bei weiteren 25 Kranken mit
genuinem Hochdruck konnten 13 mal in der Anamnese deutliche Angaben
über solche Beschwerden erhoben werden. Bei über 50°), der Hyper-
toniker scheint er demnach aufzutreten. Übergänge von dem Gefühl des
hochgradigen Benommenseins im Kopf bis zur völligen Bewußtlosigkeit
kommen gar nicht selten vor, plötzliches Umfallen auf der Straße mit
Verletzungen seltener. Diese Schwindelanfälle sind fast häufiger bei
Patienten mit noch schwankendem Blutdruck als bei solchem, der hoch
fixiert ist.
Ein Kranker mit guter Beobachtung und Schilderung dieses seit
langem vorhandenen Krankheitszeichens hat in den letzten drei Jahren
die Schwindelanfälle sehr ausgeprägt erlitten. „Es waren plötzliche
Schwächeanfälle, man kann nicht weiter denken und stürzt dann zu-
sammen.“ Ein Drebschwindel sei nicht dabei eingetreten, er sei nur
zurückgetaumelt und dann umgefallen, das Bewußtsein habe er dabei
nicht verloren, einmal hätten einige Männer ihn in ein Haus getragen,
nach !/, Stunde konnte er weitergehen. Dieser Kranke weist in der
Klinik bei längerer Beobachtung einen stark schwankenden Blutdruck
von 120—180 mm Hg auf, nur einmal beim plötzlichen Blutdruckanstieg
auf 210 sind gleichzeitig schwere Schwindelbeschwerden vorhanden.
Bei einer 5öjährigen Patientin mit einer genuinen Hypertension von
170—190 treten bei Blutdruckanstieg auf 315 ebenfalls starke Schwindel- ~
56 WESTPHAL
gefühle auf. Plötzliche Blutdrukanstiege scheinen also auch hier wie bei
den Recidiven der Apoplexie eine Rolle zu spielen. Das konnte in der
Klinik noch öfter beobachtet werden. Allerdings kommen daneben auch
Blutdruckanstiege bei Hypertonikern vor ohne irgendwelcbe subjektive
Beschwerden. Dag körperliche Anstrengung, Bücken, psychische Er-
regungen, starke Hitze besonders bei schwülem Wetter (Kauffmann),
kurz alle Geschehnisse, die den Blutdruck zu steigern imstande sind, zu
ihrer Auslösung beitragen, ist daher auch gut verständlich.
=. Der plötzliche Eintritt des Schwindels, die mit ihm oft ver-
bundenen leichten Ohnmachtsattacken, lassen beim Schwindel in
den meisten Fällen die Annahme einer schnell eintretenden und
schnell wieder schwindenden Anämisierung wichtiger Hirnpartien
als wahrscheinlichste Lösung erscheinen, nicht so einfach gestaltet
sich die Deutung bei dem zweiten ebenso häufigen Krankheits-
zeichen des Hypertonus am Gehirn, dem Kopfschmerz.
Es wäre zu einseitig, hier die Anämisierungszustände am Hirn als
einzige Ursache anzusehen, viel wahrscheinlicher ist nach allem, was wir
als Ursache des Kopfschmerzes anzusehen gewohnt sind, daß die vaso-
motorische Ataxie ganz allgemein auslösend ist. Die durch Angiospasmen
entstandene Anämie von kürzerer Dauer, nach der Lösung auftretende
starke venöse Hyperämie und Ödembildung, auch stasenähnliche Zustände
mit starker venöser Stauung, wie wir sie bei schlechtem arteriellen Zu-
fluß an den Händen zu sehen gewohnt sind beim Raynaud, und schließ-
lich vielleicht auch manchmal der Eintritt hochgradiger Kontraktionen
der Gefäßwand selbst, alles kann Ursache solcher Schmerzsensationen
werden, denn der Kopfschmerz spielt beim Hypertonus eine sehr häufige,
oft so im Vordergrund stehende Rolle, daß die Beziehungen zur patho-
logischen Gefäßfunktion dabei ausschlaggebend sein müssen. Als arterio-
sklerotischer Kopfschmerz ist er der Medizin seit langem geläufig, und
seine Formen können sehr wechselnde sein.
Mehr als allgemeiner dumpfer Schmerz wird der morgendliche Kopf-
schmerz besonders nach zu langem Morgenschlaf von Hypertonikern an-
gegeben. Neben den Franzosen R&non und Vaquez wiesen v. Berg-
mann und besonders Friedrich Kauffmann auf seine Häufigkeit
hin. Dieser findet ihn 37 mal unter 132 Kranken. Ausgesprochener
ist oft ein mehr oder minder plötzlich manchmal mit Schwindel ver-
bunden die Kranken überfallendes Schmerzgefühl, das manchmal deutlich
lokalisiert in den verschiedensten Hirnpartien sein kann, bis zum ausge-
sprochenen migräneartigen Halbseitenschmerz. In manchen Fällen wird
er als starker Druck auf Stirn und Scheitel empfunden, in anderen ist
er besonders bei Frauen und hier wieder besonders in zeitlicher Nähe
des Klimakteriums verbunden mit starkem Gefühl von Blutandrang zum
Kopf, von Wallungen, fliegender Hitze. Steigerungen desselben treten
ein, auch ohne daß ein Halbseitencharakter vorhanden ist, mit Reizung
des Brechzentrums. Sogar bei einer Patientin 4 mal derart, daß sie ge-
weckt mitten in der Nacht durch einen intensiven Kopfschmerz dann
nach starkem Erbrechen in Bewußtlosigkeit versank.
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 57
Solche Kopfschmerzen fanden wir bei 25 Hypertonikern in starkem
Grade 12mal, 4mal war dabei oft vorhanden der Typ einer ausgeprägten
Migräne. F. Kauffmann sah diesen Schmerztyp noch öfter, 21 mal
bei 48 genuinen Hypertensionen. Wir kennen diese engen Beziehungen
zwischen Migräne und Hypertonus aus der Literatur durch Gaisbök,
v. Monakow, Hadlich, Lichtwitz, F. Kauffmann, und die
z. Zt. überwiegend herrschende allgemeine Auffassung von dem vielleicht
anaphylaktisch mitbedingten Zustandekommen des Anfalles durch einen
Gefäßkrampf (H. Curschmann, F. Schultze, H. Oppenheim,
Flatau u. a.) in entsprechenden Gehirnprovinzen, mögen auch manch-
mal erst dessen Folgezustände am Gehirn in Gestalt von Odem und ge-
steigerter reaktiver Hyperämie die Schmerzen mitbedingen, läßt das Auf-
treten solcher Schmerzattacken im Rahmen besonders der noch stark
schwankenden Hypertension gut verstehen. Die in der Literatur (vgl.
Oppenheim) beschriebenen passageren Ausfallserscheinungen beim
Migräneanfall: Die Hemianopsie, Aphasie, Hemiparesen und die Augen-
muskellähmungen fügen sich gut in das Bild dieser Gefäßkrampftheorie
ein. Auch hier konnten zweimal flüchtige Augenmuskellähmungen bei
jugendlichen Migränekranken ohne Hypertonus beobachtet werden, das
eine Mal mit einseitiger Pupillenverengerung, und wir empfinden die weit-
gehende Verwandtschaft zwischen solchen Migräneformen mit flüchtiger
Lähmung und dem angiospastischen Insult bei Hypertonikern. In der
Vorgeschichte der Apoplexie werden wir vereinzelt diese engen Be-
ziehungen wiederfinden,
Neben Schwindel und Kopfschmerz verlangt noch ein Drittes
als häufiges Zeichen cerebraler Hypertonusbeschwerden Erwähnung:
die eigentümlichen psychischen Veränderungen bei manchen
dieser Kranken.
Daß es ihnen „im Kopf oft duselig“ sei, daß starke Benommenheit,
hochgradige Angst, auch ohne Angina-Pectorisattacken sie häufig stören,
ist eine häufige Angabe. Daß sie zeitweise sehr langsam hei der Arbeit
wären, das Gedächtnis sehr nachgelassen habe, darüber klagen sie oft.
Zustände von starker Depression, Abgeneigtsein von jeder Geselligkeit
fallen als unmotiviert dem Kranken selbst auf. Solche Zustände können
sich oft bessern bei geeigneter Behandlung, sie sind also wohl kein Effekt
einer Dauerläsion im Gehirn, sondern hängen mit ischämischen Zuständen
in demselben zusammen.
Diese Krankheitserscheinungen des Hypertonus am Gehirn
übertreffen an Häufigkeit — oder sie kommen an Zahl zum
mindesten gleich — die meist auf ähnliche durch Gefäßkontraktion
bedingte Zustände zurückzufübrenden unangenehmen Sensationen
in anderen Körpergegenden: Die Angina-Pectoris, das Ohrensaußen,
den Hochdruck-Muskelrheumatismus, das intermittierende Hinken usf.
Angina-Pectoris-Anfälle wurden von 25 hier vorliegenden Hyper-
tonikern nur 8mal angegeben. Das Gehirn erscheint also wohl
58 WEsSTPHAL
infolge der besonderen Empfindlichkeit der Ganglienzellen gegen-
über auch nur flüchtiger Anämisierung und infolge von später
genauer zu erörternden Besonderheiten seiner Vasomotorenfunktion
den Angriffen der Hochdruckkrankheit ganz besonders ausgesetzt.
Ingleicher Weisenuroftnochinmancher Hinsicht
stark gesteigert finden wir diese Hypertonusbe-
schwerden am Hirn wieder in der Anamnese der von
Apoplexie Befallenen. Die Annahme, daß diese als Prodromal-
erscheinungen der Hirnblutungen und selten auch einer akut ein-
setzenden weißen Erweichung zu deren Entstehung enge Be-
ziehungen haben, verlangt genaueres Eingehen auf Häufigkeit und
Art dieser Sensationen.
Es mußten bei der Durchsicht der vorliegenden 60 Apoplektiker-
Anamunesen 10 Fälle ausgeschieden werden, weil der Zustand der Kranken
keine Erhebung der Vorgeschichte möglich machte. Bei den verbleibenden
50 Kranken wiesen nur 13 keine Prodromalerscheinungen am Hirn auf.
Bei 2 dieser vordem Beschwerdefreien ist die Lähmung im Schlaf
eingetreten, bei 2 morgens beim Aufstehen, 2mal bei stärkerer körper-
licher Anstrengung, 2 mal fanden sich interessanterweise bei ganz plötz-
lichem Eintritt der Lähmung nur weiße Erweichungsherde. Eine Blut-
druckerhöhung zumeist sehr beträchtlichen Grades war bei allen Kranken
mit plötzlich eingetretenen Apoplexien vorhanden, nur bei einem sehr
roten Pykniker mit Hyperglobulie war stets ein geringer Hypertonus von
140—160 meßbar.
Ausgeprägte Schwindelattacken gaben mehr oder minder
lange, manchmal 4—5 Tage vor dem Eintreten des Insultes 18 Kranke
an. Umgefallen bei solchen Schwindelanfällen mit anschließender kurzer
Bewußtlosigkeit waren 2; Bücken, Heben schwerer Lasten war auch
hier manchmal auslösende Ursache. Auch wurde öfter eine lange Dauer
solcher Anfälle, 3—5 Minuten, angegeben, eigentliche Meni&resymptome
fehlten stets.
Über hochgradigen Kopfschmerz, lange vorausgehend der
Lähmung wurde 21 mal unter den 50 Kranken geklagt, bei 3 derselben
hatte er einen ausgesprochenen Halbseitencharakter.
Enger werden die Beziehungen zur Apoplexie bei der ebenfalls
großen Zahl von Kranken, welche der definitiven Lähmung mehr
oder minder lange vorausgehende flüchtige Krankheitsbilder der
gleichen Art aufweisen. Solche angiospastische Insulte
fanden wir 15mal. Wegen des starken Eindruckes, den eine solche
Vorgeschichte der Lähmung immer wieder machte, und wegen der
großen Wichtigkeit der Präapoplexien seien diese Kranken-
geschichten in kurzem Auszug mitgeteilt.
l. Frau Christine Re., 52 Jahre alt, fette rote Pyknikerin mit
submyxödematösen Zeichen, schwankendem Hypertonus von 145—180 mm
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 59
Hg, Nierenfunktion bis auf Konzentrationsbeschränkung bis 1025 o. B.,
Augenhintergrund o. B., hochgradiger Dermographismus mit starkem
Reflexerythem. Wassermann: negativ. Frau R. hat seit langen Jahren
Migräneanfälle gehabt, stets rechtsseitig an der Seite des Mittel- und
Hinterschädels, besonders häufig kurz vor der Menstruation. Im Früh-
jahr 23 alle 14 Tage sehr schwere Migräneanfälle, es wurde ihr oft
schwarz vor Augen für 5—10 Minuten, Atemnot trat dabei auf, auch
einige Male für wenige Minuten völlige Steifheit und Unmöglichkeit der
Bewegung im linken Arm. Im Juni 23, 8 Tage nach einem solchen
Migräneanfall, wurde ihr plötzlich schwarz vor Augen, sie ist hingefallen,
dann nach langer Bewußtlosigkeit mit Lähmung der linken Seite auf-
gewacht. Kopfschmerz danach für mehrere Monate geschwunden, die
Hemiplegie wurde wieder ganz weitgehend gebessert. Anfangs November
wieder heftige Kopfschmerzattacken an alter Stelle. Ende November bei
einem neuen Kopfschmerzenanfall wieder neue Bewußtlosigkeit für einige
Tage, seitdem besteht völlige Läbmung links mit entsprechenden neuro-
logischen Zeichen. Seit dem zweiten Anfall bestehen keine Kopf-
schmerzen mehr.
Die enge Verknüpfung der Apoplexie mit der Migräne, das Voraus-
gehen von Ohnmachtsanfällen und flüchtigen Paresen im linken Arm,
sind hier sehr charakteristisch, wichtig ist auch das Wegbleiben der
Migräne nach der Apoplexie, infolge der Zerstörung der zum Schmerz
führenden Gefäße?!
2. Mie. Wenzel, Werkmeister, 65 Jahre alt. Genuine Hypertension
von 160—180 bei klinisch guter Nierenfunktion. Wassermann: negativ;
früher gesund, vor 8 Tagen plötzlich starker Schwindelanfall auf der
Straße mit kurzer Bewußtlosigkeit, konnte sofort danach wieder gehen,
aber nicht mehr sprechen. Nach 4 Stunden ist die Sprache wieder völlig
wiedergekehrt. 3 Tage später erneuter Anfall mit Lähmung der rechten
Seite, auch diese Lähmung ist in wenigen Stunden vorübergegangen.
Jetzt nach 5 Tagen dritter Anfall mit völliger Lähmung der linken Seite.
Diese bleibt mit positivem Babinski usf. Auf der rechten Seite sind
neurologisch keine Zeichen überstandener Parese vorhanden, die Sprache
ist intakt.
3. Katharina Sch., 70 jährige Witwe, mit einem genuinen schwan-
kenden Hochdruck von 160—220 mm Hg ohne schwere Funktionsstörung
der Nieren. Wassermann: negativ. Hat viel Kopfschmerzen, in den
letzten 20 Jahren oft Schwindelanfälle. In den ersten Tagen des März
morgens beim Haarmachen konnte sie plötzlich den linken Arm und das
linke Bein nicht mehr bewegen. Nach wenigen Stunden schon wieder
Rückgang der Lähmung, nach 4 Tagen war sie völlig geschwunden. In
der Mitte des März trat noch einmal morgens die gleiche linksseitige
Lähmung ein, nach 24 Stunden war sie wieder völlig geschwunden. Am
26. März verlor die Patientin plötzlich beim Urinlassen nachts um 2 Uhr
das Bewußtsein, sie fiel dabei hin, als sie wieder zu sich kam, war sie
zum drittenmal linksseitig gelähmt. Die Lähmung blieb jetzt mit den
typischen neurologischen Symptomen.
4. Katharina We., 49jährige Ehefrau. Sekundäre Schrumpfniere
nach 1912 durchgemachter Nierenentzündung mit vereinzelten Erythro-
60 WESTPHAL
cyten im Sediment 0,040—0,051 RestN, 5,1 mg Harnsäure im Serum,
sekundäre Anämie von 3,4 Millionen roten, hochgradiger Retinitis albu-
minurica. Wassermann: negativ. Häufige Kopfschmerzen. Am 11. XI.
24 bemerkt die Patientin in der Nacht plötzlich eine Lähmung des linken
Armes und Beines, Bewegung mit beiden war unmöglich. Sie schlief
wieder ein, am Morgen war sie vollkommen beschwerdefrei mit guter
Beweglichkeit der linken Körperhälfte. Am folgenden Tage 5mal An-
fälle folgender Art: Es wurde der Patientin etwas „duselig“ und sie
konnte den linken Arm und das linke Bein nicht bewegen. Ihr Gesicht
habe auch dabei schief gestanden, der linke Mundwinkel hing herab, sie
konnte nur schwer sprechen. Dauer dieser Zustände etwa 5 Minuten.
In der Zwischenzeit völlige Beschwerdefreiheite. Am Abend legte sich
Patientin wie immer zu Bett, am folgenden Morgen beim Erwachen war
linker Arm, linkes Bein geläbmt, Facialisparese links. Im Krankenhaus
finden sich die entsprechenden neurologischen Zeichen,
5. Wilhelm Bu., 56jähriger Wirt, mit Blutdruck über 200, bei an-
scheinend genuiner Hypertonie. Kommt mit typischer Halbseitenlähmung
rechts in die Klinik: 2 Tage vor der Apoplexie auffallend starke Kopf-
schmerzen, 1 Tag vor derselben plötzliches Umfallen mit Bewußtlosigkeit,
diese dauerte nur !/, Stunde, beim Aufwachen bestand danach Sprach-
läbmung. Diese schwand nach !/, Stunde bereits, irgendwelche anderen
Lähmungserscheinungen waren nicht mehr vorhanden, in der folgenden
Nacht schlief er gut, am Morgen konnte er nur noch lallen und war
rechtsseitig gelähmt.
6. Anna Wa., 63jährige Architektenwitwe. Zarter, stark vaso-
motorischer Mensch mit genuiner Hypertension von 200 mm Hg ohne
klinisch ausgesprochene Nierenfunktionsstörung. Beide Eltern sind an
Schlaganfall gestorben, sie leidet seit 20 Jahren an starken Kopfschmerzen,
hat in den letzten Jahren oft Schwindelanfälle.. Bei einem schweren
Schwindelanfall vor 4 Jahren ist ihr der linke Arm heruntergefallen,
erst nach einigen Stunden ist die Lähmung geschwunden. Jetzt nach
starken Aufregungen über die mißratene Tochter plötzlich Lähmung der
rechten Seite mit entsprechendem neurologischem Befund, die langsam
zurückgeht. In der Klinik viel Klagen über Schwindelanfälle und Kopf-
schmerzen, bei einem solchen Kopfschmerzenanfall mitten in der Nacht
wurde ihr bei dem Versuch, sich aufzurichten, plötzlich taumelig, und
sie fiel bewußtlos zurück. Solche Apoplexie-Recidive wiederholten sich
oft, sie schienen zum Teil derselben flüchtigen Art zu sein, wie die
erste Attacke.
Motorische Ausfallerscheinungen so charakteristischer Art, wie
sie bisher geschildert werden konnten, in sehr verschiedenem Zeit-
abstand Stunden, Tage, sogar Jahre vorher auftretend, mit flüchtigen
Paresen am Arm (Nr. 1, 6) oder Arm und Bein (Nr. 3, 4) mit
entsprechender Halbseitenlähmung oder von motorischer Aphasie
(Nr. 2, 5) vor der rechtsseitigen Hemiplegie, zeigen in einwandfreier
Weise, daß hier nach Art angiospastischer Insulte wieder schnell
reparable Störungen am Gehirn in genau denselben Gefäßbezirk,
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 61
in dem sich später die Lähmung entwickelt, vorhanden sein können.
In der Lokalisation weniger deutlich aber sonst in der Erscheinung
ebenso ausgesprochen sind die flüchtigen Insulte, bei denen
nur eine tiefe länger dauernde Bewußtlosigkeit, eventuell
verbunden mit cerebralen Reizerscheinungen eintritt. Diese Formen
bilden den Übergang zu den typischen leichten Schwindelanfällen der
Hochdruckkranken.
Frau Katharina We., Wwe. von 55 Jahren, genuine Hypertonie von
180/200 mm Hg. Arteriosklerotische Schrumpfniere mäßigen Grades
(Sektionsbefund) mit guter Nierenfunktion. Eingeliefert wegen links-
seitiger Lähmung. Die Sektion zeigte zwei Monate später einen großen
braunen Erweichungsherd in den rechten Stammganglien. Seit 5 Jahren
bestehen Schwindel- und Ohnmachtsanfälle. Dabei besonders im Früh-
jahr und Herbst ausgelöst manchmal durch Überarbeitung als Lehrerin
Anfälle von Bewußtlosigkeit, bei denen sie 3—4 Stunden ohnmächtig
liegen blieb, Weihnachten vor 3 Jahren hat sie eine ganze Nacht so
gelegen. Sie wurde am Morgen bewußtlos aufgefunden. Gelähmt war
sie nach solchen Anfällen nie, bei einem hat sie sich eine schwere Kopf-
verletzung zugezogen, deren Narbe noch sichtbar ist. Für Epilepsie
kein Anbaltspunkt. 4 Tage vor der Lähmung Übelkeit, dauernd Brech-
reiz, mehrmals Erbrechen, schließlich am Morgen beim Versuch, die
Wohnung aufzuschließBen, Versagen der linken Hand, dann Hinfallen und
Bewußtlosigkeit für 2'/, Stunden. Neurologisch typische Halbseiten-
lähmung links.
Der Sektionsbefund, der nur eine Erweichung in den rechten Stamm-
ganglien zeigt, trotz der schweren vorausgehenden Attacken, spricht dafür,
daß anatomische Schädigungen schwerer Art sich bei diesen nicht aus-
gebildet haben. Diese schweren Zustände von Kollaps werden auch als
angiospastische Insulte, die vielleicht besonders im Hirnstamm sich ab-
gespielten, aufgefaßt.
Zu dieser Form der präapoplektischen Erscheinungen seien auch
hier gerechnet noch ganz besondersschwere Schwindelanfälle
bei 5 Patienten, einer 70 jährigen Frau, die ein Jahr vor der rechts-
seitigen Apoplexie bei einem solchen Anfall von Bewußtlosigkeit umfiel
und sich den Arm brach, aber nachher keine Lähmungserscheinungen
aufwies, und bei 4 anderen Patienten einem 50jährigen, einem 55 und
einem 70jährigem Mann und einer Frau von 59 Jahren. Sie bieten
sämtlich bei einer genuinen Hypertonie schwere Schwindelanfälle mit
ausgesprochener Bewußtseinstrübung, so daß sie sich hinlegen mußten,
von 5—10—15 Minuten Dauer.
Es handelt sich bei diesen Kollapszuständen der Hypertoniker
ja nur um graduelle Steigerung der früher beschriebenen Schwindel-
anfälle. Aber der Unterschied vom Eintritt einer wirklichen Hirn-
blutung besteht bei solcher Schwere der Symptome nur in dem
schnellen Rückgang der Erscheinung. Ob nicht bisweilen solche
Zustände doch schon zur Entwicklung kleiner Erweichungsherde
62 WESTPHAL
in den Stammganglien führen, läßt sich naturgemäß bei der Schwierig-
keit des klinischen Nachweises derselben auch bei genauester
neurologischer Untersuchung kaum entscheiden. Aber die Häufig-
keit solcher Schwindelanfälle bei Hypertension und die relative
Seltenheit ganz multipler verschieden alter Erweichungsherde im
Gehirn beim Hypertoniker und Apoplektiker spricht dagegen, daß
dies Ereignis häufig ist.
12 angiospastische Insulte schwerer Art, 6 davon
mit flüchtigen Paresen, können demnach bei 50 Apo-
plexien vorausgehend der definitiven anatomischen
Läsion nachgewiesen werden.
Aber auch der Eintritt dieser Schädigung selbst zeigt bei
genauer Betrachtung vieles, was gegen die alte Auffassung von
der akut eintretenden Gefäßruptur spricht. Auf der einen Seite
die Plötzlichkeit des Eintritts in vielen Fällen, das schlagartige,
nach dem der Krankheitsprozeß seinen Namen erhalten hat. Es
muß schon ein ganz plötzlich einsetzender ausgedehnter Ausfall
von wichtigen Gebieten der Stammganglien und der inneren Kapseln
sein; bei Gefäßembolie läßt sich so etwas gut verstehen, kaum
durch eine dort aus einer Ruptur erst nach und nach einsetzende
Blutung, viel eher wieder durch eine plötzliche Anämisierung infolge
einer totalen Arterienkontraktion. Ist diese noch schwankend, läßt
sie ab und zu geringe Mengen arteriellen Blutes zu den asphyk-
tischen Hirnpartien durchtreten, so wird man am Eingang der
Apoplexie auch dementsprechende Bilder einer erst allmählich und
schwankend einsetzenden Ausbildung des Lähmungsprozesses neben
dem imponierenden plötzlichen Einbruch derselben erwarten können.
Diese direkten Prodromalerscheinungen finden sich auch
oftmals, 183mal unter unseren 50 Apoplektikern im Gegensatz
zu nur 13 ohne irgendwelche kürzer oder länger vorausgegangenen
Alarmzeichen. Sie scheinen demnach an Zahl nicht gering für den,
der sich die Mühe einer genauen Erhebung der Anamnese macht.
Was erhalten wir da für Angaben? Über starken Kopfschmerz
öfter auf der der Lähmung entgegengesetzten Seite, Schwindel-
gefühle, starke Müdigkeit häufig verbunden mit Depressionsgefühl
und Angst berichten viele. Ebenso über Denkunfähigkeit, so
daß die Patienten ganz still sich verhalten. Schließlich entwickeln
als cerebrale Reizsymptome sich oft noch Erbrechen oder dauernde
Brechneigung als starke Übelkeit empfunden und Gähnkrämpfe,
also alles Dinge, wie wir sie ohne Entwicklung einer Hirnblutung
aus den Angaben der Hypertoniker zu hören gewohnt sind. Sollen
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 63
Zahlen gegeben werden, so wurde berichtet von Kopfschmerz 5 mal,
Schwindel 5mal, hochgradiger Müdigkeit und leichter Benommen-
heit zum Teil mit Depression 7 mal, starker Übelkeit und Erbrechen
manchmal mit starkem Speichelfluß ebenfalls 7 mal. Einige charakte-
ristische Krankengeschichten in kurzem Auszug:
1. Friederike Sch., 62 Jahre alt, genuiner Hypertonus von 160 bis
180 bei Diabetes. Früher ohne besondere Beschwerden. Am 5. I. 25
morgens starke Müdigkeit, Kopfschmerzen, gegen Mittag wurde ihr so
schwindelig, daß sie aufhören mußte, zu arbeiten, und nach Hause ge-
fübrt werden mußte. Dort legte sie sich zu Bett. Beim Versuch am Abend
aufzustehen, stürzte sie vor dem Bett hin, war eine Zeitlang bewußtlos,
nach dem Aufwachen konnte sie wieder allein ins Bett gehen, alles be-
wegen, sprechen, aber fühlte sich weiter sehr elend und schwindelig.
Beim Erwachen am nächsten Morgen bestand völlige motorische Aphasie,
die sich in 8 Tagen sehr weitgehend besserte.
2. Frau Barbara Mi., 49 Jahre alt, sehr adipöse Frau mit genuinem
Hypertonus von 220—240 mm Hg mit guter Nierenfunktion, Wasser-
mann negativ. Am 21. V. 23 mittags plötzlich starke Müdigkeit, Übel-
keit, bäufige Brechanfälle, im Laufe des Nachmittags wurde sie sehr still,
dauernd etwas benommen, starkes und häufiges Gähnen, dazwischen Timer
wieder Erbrechen. Abends um 8 Uhr hing plötzlich die rechte Mund-
seite herunter, gleichzeitig besteht motorische Aphasie. In der Nacht
und am nächsten Tage tiefes Coma. Am übernächsten Tage ist die
Apbasie geschwunden, dann setzt wieder tiefe Bewußtlosigkeit bis zu
dem am uächsten Tage erfolgenden Tode ein.
Die Sektion zeigt eine große Hirnblutung in der rechten Hemi-
sphäre in der Gegend der Insel.
3. H., Adam, 5öjähriger Postaushelfer, leichte genuine Hypertonie
an der Grenze der Norm von 150—160 mit Schwankungen bis 180.
Wassermann negativ. In den letzten 14 Tagen vor der Apoplexie
bäufig Schwindelanfälle, besonders beim Bücken, die stets rasch ver-
schwanden. Abends, am 16. VIII. 24, bemerkt Patient plötzlich, daß er
den rechten Arm und das rechte Bein schlecht bewegen und daß er
schlecht sprechen kann. Die Lähmung geht bald zurück, so daß er
wieder Nachtdienst machen kann, am nächsten Morgen setzt wieder,
diesmal bleibend, Lähmung der rechten Seite mit motorischer Apbasie ein.
Neben diesen langsam einsetzenden, zuerst manchmal noch
schwankenden Lähmungserscheinungen, die sich über Stunden aus-
dehnen können, pflegt bei anderen der Eintritt der Lähmungser-
scheinungen sich auf 10—20—30 Minuten zu erstrecken.
Bei einer 64 jährigen Frau mit linksseitiger Hemiplegie ist zuerst
die Lähmung des linken Armes vorhanden, dann fällt sie wenige Minuten
später bei dem Versuch einen Stuhl aufzunehmen und wird dann erst
bewußtlos. Ein Patient mit einer Ponsblutung bekommt erst leichte
Läbmungen beider Arme, dann telephoniert er selbst nach der Rettungs-
wache, weil dauernde Übelkeit weiter besteht und wird erst 10 Minuten
64 WESTPHAL
später bewußtlos. Ein 56 jähriger Hypertoniker bemerkt ein allgemeines
Schwächegefühl, er schellt nach seinen Angehörigen, läuft noch eine
Treppe herunter, dann knickt er zusammen, weil das rechte Bein ver-
sagt, allmählich wird die Lähmung rechts ausgesprochener, schwindet
auch die Sprache und er wird bewußtlos. Alles entwickelt sich in
20 Minuten.
Häufiger aber noch wie dieser allmähliche Eintritt der moto-
rischen Ausfallserscheinungen sind allgemeine cerebrale Störungen:
Schwindel, es wird schwarz vor den Augen, allgemeine Steifigkeit
der Bewegungen, depressive Stimmung, alles Dinge, die m. E. für
prodromale ischämische Zustände in den Stammganglien sprechen,
in denen sich ja auch der wesentliche Teil der Blutungen zu ent-
wickeln pflegt.
Werden diese so häufigen cerebralen Erscheinungen der Hyper-
tonien und die Hirnblutungen sowie wenige plötzlich eintretende
Erweichungen bei Hypertonus ohne Thrombose oder obliterierende
Arteriosklerose nur als verschiedene Entwicklungsstufen ein und
desselben Prozesses aufgefaßt, so ist es für eine solche Anschauung
sehr verständlich, daß auch nach Eintritt der Hirnblutung
die Erscheinungen cerebraler Ischämie weiter auf-
treten. Das ist nämlich häufiger der Fall. Starke Schwindel-
anfälle zum Teil mit Erbrechen, Kopfschmerzen sind auf Stationen,
auf denen eine größere Anzahl von Schlaganfallkranken vereint
ist, oft gehörte Klagen. Diese manchmal plötzlich einsetzenden
starken Attacken solcher Beschwerden sprechen dagegen, dab es
sich etwa immer nur um einfache Folgezustände der blutigen Er-
weichung handelt, auch der Eintritt erneuter Apoplexien in solchem
Anfall ist am ehesten im Sinne einer besonderen Steigerung solcher
ischämischen Zustände zu verstehen. Ein starker Wechsel des
Bildes der Lähmung mit Zeiten starker Bewußtseinstrübungen und
flüchtigen Lähmungserscheinungen in sonst nicht gelähmten Ge-
bieten oder auch plötzlich kommende und gehende Lähmungen
allein neben dem anatomisch bedingten Funktionsausfall sind Tat-
sachen, die nicht etwa durch den Druck der Blutung oder ein
Ödem am Rande der blutigen Erweichung zu klären sind, wie
manche im Anfang einer Apoplexie schnell wieder schwindenden
Lähmungssymptome, sondern hier müssen den angiospastischen
Insulten, wie sie bei den einfachen Hypertensionen beschrieben
wurden, gleichende Vorgänge weiter spielen am Gehirn.
Eine 67 jährige Köchin, Babette Sch., mit genuiner stark schwan-
kender Hypertension von 120—210 hat anfangs März eine leichte Apo-
plexie erlitten mit Armbruch beim Hinfallen. Seitdem Facialisparese
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 65
links, ganz schlechtes Gedächtnis, starker Intelligenzdefekt und Weiner-
lichkeit. Sonst Reflexe o. B. Keine ausgesprochenen Lähmungen, öfter
Kopfschmerzen und Schwindel. Am 18. IV. morgens nach Verlassen
des Bettes plötzliche motorische Aphasie, starker Kopfschmerz links und
taubes Gefühl am linken Arm. Nach einer halben Stunde allmähliche
Rückkehr der Sprache mit anfänglichen Sprachstörungen, mittags um
12 Uhr waren die letzten Spuren des Anfalls vorüber, abends noch
einmal bis 7 Uhr für eine halbe Stunde hochgradiges Taubheitsgefühl in
den beiden Armen mit starkem Kopfschmerz. Am nächsten Tage und
in der Folgezeit keine derartigen Erscheinungen mehr.
Bei einem anderen Patienten, einem 43jährigen genuinen Hyper-
toniker mit Hyperglobulie, der vorher zweimal leichte Apoplexien er-
litten hatte, auch oft vorhandene Zustände mehr oder minder ausgeprägter
Benommenheit mit starken Kopfschmerzen, erfolgt plötzlich eines Tages.
für 20 Minuten ein Anfall völliger Bewußtlosigkeit und rechtsseitiger
Lähmung mit stark gesteigerten Sehnenreflexen ohne Babinski, ausge-
sprochene Augenmuskellähmung mit Blickeinstellung nach links, tiefer
Blässe des sonst hochroten Gesichtes und Absinken des sonst auf 200
stehenden Blutdruckes auf 145:80 mm. Nach 20 Minuten wieder guter
Allgemeinzustand mit Schwund der Lähmung, dann noch einmal für
5 Minuten Halbseitenlähmung rechts, der völlig bei Bewußtsein gebliebene
Patient versucht vergebens zu sprechen, dann wieder schneller Rückgang
des Zustandes. Bei einem anderen langdauernden Anfall von motorischer
Aphasie und Kopfschmerz war sein Blutdruck von einem Dauerniveau
von 220 auf 250 angestiegen.
Gleiche Attacken flüchtiger oft sich wiederholender Lähmungen nach
eingetretener anatomischer Schädigung jedesmal mit starker Blut-
druckkrise nach aufwärts zeigten zwei früher genauer geschilderten
Frauen, eine dritte wies Anfälle von starker Bewußtseinstrübung ohne
motorische Ausfälle bei Blutdruckanstieg auf 250 mm Hg anstatt der
Normalhöhe von 180—200 mm auf.
Das Gehirn der Patienten, die eine Hirnblutung erlitten haben,
ist eben häufig dauernd weiter den gleichen ischämischen Insulten
ausgesetzt, daher sehen wir auch so oft den Eintritt neuer Apo-
plexien. Wollen wir diesen Zustand der Blutgefäße am Gehirn
verstehen, so gestattet m. E, da ja das Gehirn leider sich unserer
direkten Beobachtung entzieht, den besten Einblick der Vergleich
mit dem Augenhintergrund der Hypertoniker.
Die bekannte (Gunn, Leber, Volhard, Schik) außerordentlich
auffallende Verdünnung des Arterienkalibers, „Silberdrahtarterie*, das
fast völlige Schwinden, besonders des arteriellen Teiles der Kapillaren
und dabei meist eine deutliche, manchmal das 2 bis 3fache betragende
Verbreiterung der Venen, die bisweilen sogar ampullenförmige Erweiterung
zeigen, bieten uns dort Bilder, die für die Großartigkeit der Anderung
der Gefäßfunktion auch im Gehirn Rückschlüsse gestatten. Volhard
und Schik vertreten bekanntlich den Standpunkt, daß die bei der großen
Anzahl von Dauerhypertonikern auch ohne Zeichen des Nierenversagens
ld
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 9
66 WESTPHAL
auftretende Retinitis nur Folge dieser dauernden Ischämie sei, die anato-
mischen Gefäßveränderungen, Blutungen, Ödeme, Exsudate, die lipoid-
baltigen Degenerationsherde der Retina werden von ihm alle nur als
Folgen dieser angiospastischen Ernährungsstörungen angesehen. Auch
für die Netzhautveränderungen der Diabetiker weist Grafe auf das
Vorhandensein eines erhöhten Blutdruckes als unbedingt notwendiger
Voraussetzung hin. Und wenn auch im Eondausgang mancher Nieren-
leiden die Addition Hypertonie und Azotämie für die Schwere der
Retinitis ausschlaggebend sein mag, so zeigen doch die in der Literatur
niedergelegten und die auch hier mit liebenswürdiger Unterstützung des
Herrn Kollegen Metzger von der Augenklinik beobachteten Menschen
ohne jeden Nierenfunktionsausfall, daß allein die Ischämie durch zuerst
rein funktionelle Netzhauterterienverengerung die Ursache schwerster
‚anatomischer Störungen abgeben kann. Auf die Parallele zur Hirnblutung
soll nicht weiter hingewiesen werden, eher auf das auch hier bei Hyper-
tonikern zweimal, einmal davon bei einem mit späterer Apoplexie, be-
obachtete flüchtige Auftreten von Amaurosen, die wir entsprechend der
schönen ophthalmoskopischen Beobachtung von Elschnig auf eine wieder
schwindende Anämie durch arteriellen Gefäßkrampf zurückführen möchten.
Ein zweites Organ, das direkter Beobachtung zugänglich ist,
sind die Hände von Kranken mit Akroparästhesien und Ab-
sterben der Finger, also leichteren Erscheinungsformen
der Raynaud’schen Krankheit, die ja im ausgesprochenen
Bilde erst zur symmetrischen Gangrän führt. Die Tatsache, daß
den leichteren Formen der Raynaud’schen Krankheit gleichende
oder sehr nahestehende Krankheitsprozese gerade auf dem
Boden der genuinen Hypertension sich gerne entwickeln,
ist meines Wissens bisher noch nicht zur Genüge betont, viermal
fanden wir diese Beziehung deutlich ausgeprägt.
l1. Bei einer 48jährigen Frau nach Kastration mit stark schwan-
kender Hypertonie von 100—180 mm Hg mit Migräne, starkem Schwindel-
und leichten Raynaud- Attacken.
2. Bei einer ö3jährigen Frau mit stark schwankendem Hypertonus
von 145—200 mit Neigung zu häufigen Anfällen flüchtiger Bewußtlosig-
keit, an den Händen oft Zustände schwerster Oyanose, Kälte und starke
Parästhesien.
3. Bei einer 46 jährigen Kranken mit einer Apoplexie bei genuiner
Hypertonie von 190—200, wo seit einem Jahre hochgradige Anfälle von
Taubheit, Absterben der Finger bei tiefer Blässe und zum Teil bläulicher
Verfärbung auftreten, manchmal auch begleitet von schwächeren Sensa-
tionen ähnlicher Art an beiden Händen und Füßen.
4. Bei einer 59 jährigen Frau mit genuiner Hypertonie von 190 bis
220, die seit Jahren über starke Kopfschmerzen, Schwindel, Angina
pectoris-Attacken klagt und 2 Apoplexien erlitten hat.
Die alte Auffassung des Schrifttums, daß wir es beim Raynaud
mit einer auf dem Boden einer neurovaskulären Diathese (Oppen -
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 67
heim) entstandenen, im wesentlichen durch pathologische Gefäß-
funktion bedingten Krankheit zu tun haben, ist besonders durch
die kapillarmikroskopischen Untersuchungen der letzten Jahre, vor
allem der O. Müller’schen Schule, von Weiß, Parrisius,
Niekau sowie Pribrams und Halperts bestätigt worden. Auch
hier war es bei zwei dieser Kranken möglich, mit dieser Technik
die Kapillaren des Nagellimbus und der benachbarten Fingerhaut
zu betrachten.
Bei Patientin Nr. 4 wurde sie vorgenommen während eines mittel-
starken Anfalles, wo bei erbaltenem Radialispulsa an der ganzen linken
Hand subjektiv und objektiv sehr starkes Kältegefühl vorhanden war.
An den Fingern waren besonders die beiden letzten Glieder tiefblaß,
streckenweise von bläulichem Ton, kalt und gefübllos. Parästhesien be-
stehen im Unterarm. Kapillarmikroskopisch sind weite Gebiete nicht
blog am Limbus, auch an der benachbarten Fingerhaut tief blaß, nur
sehr wenige Kapillaren sind erkennbar. An der nur aus wenigen perl-
schnurartig aneinandergereihten Erythrocyten bestehenden Füllung ist
meist gar keine Bewegung erkennbar, nur an wenigen bier und da ganz
langsame, wie schiebende Bewegung. Daneben finden sich Gebiete mit
ganz hochgradiger Füllung aller Kapillaren, besonders stellenweise an
der Fingerhaut, aber völligen Stillstand aller Bewegungen in den Schlingen,
die mittelbreit, unregelmäßig konturiert sind und mit grobgekörntem
Inhalt gefüllt sind. Die grobe Körnelung der Biutsäule würde die ge-
rıngste Bewegung erkennen lassen, sie fehlt bei einer Dauerbeobachtung
von 30 Minuten. Der gleiche Zustand besteht am benachbarten Ring-
finger, nur daß hier die Gegenden der Stase mit starker Kapillarfüllung
überwiegen.
Nach einer Stunde besteht noch das gleiche Bild. Hier und da im
blassen Gebiet in ganz schmal gefüllten Kapillaren ganz geringe Be-
wegungen, im cyanotischen Gebiet bei starker Füllung aller Kopillaren,
weiter völliger Stillstand der Blutbewegung. Nach 1!/, Stunden noch
ein ähnliches Bild. Es erscheint die Strömung in den blauen Partien
ein wenig deutlicher. Es wird jetzt eine Umschnürung des Oberarmes
vorgenommen mit der Gummimanschette des Blutdruckapparates, durch
hochgradiges Aufblasen derselben für 1 Minute die arterielle Zufuhr des
Armes abgeschnitten (sog. Umschnürungsreflex), bei Offuung der Ab-
schnürung setzt sofort starke Füllung aller Kapillarschlingen in den
blassen Gebieten ein, und gekörnte etwas beschleunigte Normalströmung
in allen auch vorher stagnierenden Kapillaren, die Hand wird warm und
rosa gefärbt. In den nächsten Tagen nochmals Kapillarmikroskopie, sie
bietet diesmal das Bild normaler Hypertonikerströmung an der jetzt
beschwerdefreien Hand.
2. Das gleiche kapillarmikroskopische Bild ließ sich bei der Patientin
Nr. 1 erheben, nur daß hier die Erscheinungen völliger Stase in zum
Teil viel erheblicher erweiterten Kapillarschlingen mehr in den Vorder-
grund traten gegenüber der Anämie. Eine Stunde wurde diese zweite
Hr
68 WESTPHAL
Beobachtung durchgeführt mit gleichbleibender Anämie und Stase in
dem befallenen Gebiete.
Diese Krankheitszustände an Hypertonikern, die allerdings
niemals zu der klassischen Form der doppelseitigen Gangrän führten,
sondern nur leichte Formen wieder zurückgehender Ernährungs-
störungen darstellten — über die Nomenklatur: ob Akroparästhesie,
Doigts morts oder leichte Formen von Raynaud'scher Krankheit,
kann man streiten, sachlich stellen sie aber sehr ähnliche, nur ver-
schieden stark entwickelte Stufen derselben pathologisch-physiolo-
gischen Vorgänge dar — zeigen ähnlich wie bei den Beobachtungen
von Niekau, Pribram, Leriche und Policard neben der
kapillären Kontraktion auch Gebiete mit weiten Schenkeln der
Kapillaren, der Mangel an nachfließendem Blut schien uns bei
dieser Beobachtung das Ursächliche. Es handelte sich demnach
um ischämische Stasen: Den ganzen Prozeß müssen wir zurück-
führen auf hochgradige Kontraktion der mittleren und kleinen
Arterien, die zum Teil begleitet ist von solchen der Kapillaren
und kleinen Venen. Diese Beobachtungen scheinen uns eine
Parallele zu bieten fürdieZuständeinmanchem Hyper-
tonikergehirn besonders bei präapoplektischen Erscheinungen.
Direkte Beobachtungen über Gefäßkontraktionen bei Raynaud sind
in der Literatur verschiedentlich niedergelegt, Raynaud sah einmal
eine Kontraktion der Arteria centralis retinae. A. Westphal be-
obachtete ein Verschwinden der Fußpulse, ähnliche Beobachtungen liegen
von Morgan, Waren, Roques, Friedemann vor. Das Ver-
sohwinden der Arteria radialis wurde auch öfter beobachtet. Und was
hier in diesem Zusammenhange am wichtigsten erscheint, passagäre cere-
brale Störungen, Aphasie, epileptiforme Zustände, Lähmungserscheinungen
wurden wiederholt gesehen. (Osler, Oppenheim, Kassierer,
Rülf).
Bei 4 der oben angeführten Patienten finden wir ebenfalls
dreimal NeigungzustarkemSchwindelund flüchtigen
Kollapszuständen, zweimal eine Apoplexie Enge Be-
ziehungen zwischen solchen Kollapszuständen und den Erscheinungen
der Doigts morts scheint des öfteren zu bestehen:
Ein 19jähriges junges Mädchen, die wegen Brechdurchfall einge-
liefert wird und über abgestorbene Hände und Unterarme manchmal zu
klagen hat, hat diese Doigts morts oft kurz vor der Regel und häufig
gleichzeitig leichte Schwindelanfälle und Kollapszustände. Die gleichen
Parallelerscheinungen finden wir bei einem 15 jährigen Lehrling mit
häufiger auftretenden Ohnmachtsanfällen.
Komplizierter gestalten sich die verschiedenen Ausdrucksformen einer
solchen starken vasomotorischen Labilität zum Hypertonus bei folgender
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 69
Beobachtung. Ein jetzt 49 jähriger Schneider hat seit dem 11. Lebens-
jahre nach einem Typhus häufig tiefblasse kalte Hände und Füße. Dabei
oft Steigerung dieses Zustandes bei kaltem Wetter, häufiger die ausge-
sprochenen Anfälle von Gefühllosigkeit, Kälte und Parästhesien mit zum
Teil tiefblasser, zum Teil blauer Verfärbung der Finger hinauf bis zum
Handgelenk. Gleichzeitig bei solchen Sensationen in der Hand ist er
oft plötzlich bewußtlos hingefallen, hat sich nie dabei verletzt, nie unter
sich gelassen. Nach 2—4 Minuten ist er immer wieder aufgewacht.
Seit dem 44 Lebensjahre kam oft vorausgehend solchen Kollapsen starkes
Druckgefühl in der Herzgegend dazu. Zustände völliger Bewußtlosigkeit
konnten in der Klinik bei dem Kranken nicht beobachtet werden. Sein
allgemeiner Untersuchungsbefund bietet sonst nichts, Herz o. B. nicht
nach links vergrößert, Nieren frei, der Blutdruck beträgt bei zweimal
täglicher Dauermessung 120—140 mm Hg als Maximum. Bei einem
leichten Anfall von Raynaud mit leichter Bewußtseinstrübung und ge-
ringen Angina pectoris-Erscheinungen ist das Gesicht rot-blau, die Pupillen
reagieren gut auf Licht, der Blutdruck steigt auf 165:90. Vier Tage
später nach Klagen über Kopfschmerz plötzlich Druckgefühl in der Herz-
gegend bei erhaltenem Bewußtsein, Blutdruck 205:110, nach Nitro-
glyzerin und Amylnitrit Besserung des Zustandes, Blutdruck 200:110,
eine halbe Stunde später 180:110, am nächsten Morgen und an den
folgenden Tagen beträgt der Blutdruck wieder 120—135 mm Hg.
Die lokale Disposition zur arteriellen Kontraktion scheint bei diesen
Kranken in höherem Alter auf den ganzen Organismus überzugehen, bei
der Migräne sehen wir öfters ähnliches, daher vielleicht jetzt bei dem
Kranken die Disposition zu solchen Gefäßkrisen auch ohne cerebrale
Erscheinungen. Ausgeprägte Hypercholesterinämie bestand hier.
Wichtig erscheint auch hier neben den Beziehungen zum
arteriellen Hochdruck die Verknüpfung von Kollapszuständen mit
angiospastischem Absterben der Finger. Das gibt auch in Ver-
bindung mit den soeben angeführten Kranken m. E. das Verständnis
für einen Schlaganfall bei einem erst 30jährigen Kollegen, der
seit Jahren über starke Kopfschmerzen und oft über abgestorbene
Finger zu klagen hatte. Bei Arbeiten im Laboratorium mußte er
sich oft lange die Finger über der Glasflamme wärmen, um sie
bewegen zu können. Der Sektionsbefund gab keinen Anhaltspunkt
für Embolie, Syphilis oder Hypertonus. In dem ausgeschüttelten
Gefäßbaum des Gehirns fanden sich neben einigen, ganz wenigen
kleinen Lipoidflecken zwei kleine Aneurysmata dissecantia in der
Nachbarschaft der Blutung. Die gleiche pathologische Gefäßfunktion
hat hier auch ohne Vorhandensein von Zeichen allgemeiner Blut-
druckerhöhung zu einer Hirnblutung geführt. Denn das isolierte
Gefäßspamen des Gehirns in solchen Fällen, in denen wir
zweimal typische angiospastische Insulte flüchtiger Art auch
ohne Blutdrucksteigerung sahen, einmal zu einer Dauer-
70 WESTPHAL
schädigung im Gehirn führen können, erscheint sehr wahr-
scheinlich, mein Lehrer von Bergmann berichtete mir auch von
einem solchen Fall von Apoplexie ohne Hypertonus. |
Beziehungen zur pathologischen Gefäßfunktion über das arterielle
Kontraktionsmoment hinaus bieten mehrere Beobachtungen, wo ein
starkes Ödem des Gesichtes der Blutung vorausging.
Bei zwei Patienten mit frischer Apoplexie bei Hypertonus ohne aus-
gesprochene Zeichen von Nierenschädigung war einen Tag vor der Apo-
plexie ein starkes Ödem im Gesicht aufgetreten, bei der einen an der
Oberlippe, bei dem anderen ein Ödem von Oberlippe und Nase mit blau-
roter, sonst nicht vorhandener Verfärbung derselben.
Eine 47 jährige Patientin, die dreimal eingeliefert wird in die Klinik
wegen plötzlicher Kollapszustände nach Vorausgang von heftigsten Kopf-
schmerzen für 12—14 Stunden, wies das eine Mal eine Gefäßkrise mit
einem Blutdruckanstieg auf 195:130 auf bei sonst ganz normalem Blut-
druck, ein zweites Mal hatte sie nach dem Vorausgang von gleichem
Kopfschmerz dauernde Benommenheit, einen Blutdruck von 140:90 und
bei gleichzeitig bestehendem starken linken Kopfschmerz ein hochgradiges
Ödem der linken Schläfen- und Augengegend, obne irgendwelche ent-
zündlichen Erscheinungen, im Liquor finden sich zahlreiche Erythrocyten
und bei späterer Lumbalpunktion Hämoglobin.
Dem Quincke’schen Ödem nahestehende Zustände
an den Weichteilen des Kopfes erscheinen also hier in engstem
zeitlichem Zusammenhang mit dem Auftreten von Blutungen. Diese
Befunde zeigen auch an anderen Orten wie am Hirn eine plötzlich
gesteigerte Durchlässigkeit und Schädigung der Gefäße. Sie durften
daher bei der Schilderung der vasomotorischen Begleiterscheinungen
der Apoplexie nicht weggelassen werden.
Verlassen wir das eigene Beobachtungsmaterial, so zeigt auch
ein Blick in das Schrifttum ähnliche Beobachtungen zur Genüge.
Die neurologische Literatur kennt flüchtige hin und wieder vor-
kommende Paresen, bei denen dann schließlich eine Apoplexie sich ent-
wickeln kann, seit langem. Von Erb, Brissaud, Grasset ist für
die flüchtigen angiospastischen Insulte des Gehirns der glückliche Ver-
gleich mit dem intermittierenden Hinken gezogen worden,
Stertz beschreibt das gleiche als periodisches Schwanken der
Hirnfunktion. An sehr ausgedehntem Material prüfte Idelson die
Beziehungen des intermittierenden Hinkens selbst zu
anderen Erkrankungen, er findet darunter eine ganze Reihe von Kranken
mit hohem Blutdruck, frühzeitigem Arcus lipoides und anginösen Be-
schwerden und neben flüchtigen hemiparetischen Erscheinungen und Zu-
ständen von Depression eine ganze Reihe von echten Halbseitenlähmungen,
von denen er angibt, daß sie eine gute Neigung zum Rückgang hätten,
die aber ohne Zeichen von Lues sich fanden, oft auffallend früh eintreten,
mit z. B. 22, 32 und 39 Jahren. Die Entwicklung der Clauditatio
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 7L
intermittens war meist vor der Halbseitenlähmung eingetreten, die Neigung
zu isolierten Angiospasmen des Organismus hat hier früh zu schweren
Schädigungen im Großhirn geführt, vielleicht vor der Entwicklung eines
ausgesprochenen Hypertonus. Mendel schildert kürzlich auch einen
39 jährigen Kranken mit intermittierendem Hinken und Hirnblutung.
Daß nach langdauernden Migräneattacken neben flüchtigen motorischen
Ausfallserscheinungen sich vereinzelt auch dauernde einstellen, ist von
Oppenheim, Flatau und Thomas beschrieben worden.
Auch auf die oben geschilderten Prodromalerscheinungen der
meisten Apoplexien ist schon von verschiedener Seite hingewiesen
worden.
Kisch betont neben der Adipositas als disponierendes Moment auch
die ausgesprochenen Erscheinungen von cerebraler Arteriosklerose: Kopf-
schmerz, Schwindel, anhaltend gestörter Schlaf, Gedächtnisschwäche,
leichte Bewegungsstörungen in Hand und Fuß, transitorische Sprach-
störungen und flüchtige Sensibilitätsstörungen. Auf die gleichen Vor-
zeichen weist kurz E. Hermann hin, von anderen regionären Gefäß-
krisen wird von ihr intermittierendes Hinken, von Kisch die abdominelle
Dyspraxie angegeben. An einem großen Material der Kieler Klinik
schildert kürzlich Hanse an der Hand von 135 Krankengeschichten
von Apoplexien, von denen allerdings 34 für die vorliegende Frage-
stellung wegen des Vorhandenseins von Lues, Vitium cordis, Encephalitis
bei Grippe oder auch Pneumonie, Trauma oder Gasvergiftung ausfallen,
kurz die Prodromalsymptome, die bei ihm 18mal nur fehlen. Man sieht,
auch hier tritt das ganz Überraschende dieses Ereignisses zurück bei
genauem Erheben der Anamnese. 13 Kranke klagten seit Jugend über
Kopfweh, Migräne, Schwindel, bei 41 Kranken wurden vorausgehend
Neigung zu Depressionen von den Angehörigen angegeben. Bei dem
Anfall gingen voraus oder stellten sich gleichzeitig mit der Lähmung
ein: 53 mal Zustände von Verwirrtheit, ängstlicher Unruhe, 22 Kranke
klagten über Schwindel und heftigem Kopfschmerz, 21 waren vergeßlich
und zerstreut, 6 klagten über Mattigkeit, Schläfrigkeit, Arbeits- und
Konzentrationsunfähigkeit. Die zeitliche Dauer dieser präapoplektischen
Erscheinungen wird auch hier ganz verschieden angegeben.
Wir sehen, dem, der sich überhaupt genauer mit dem Erheben
der Vorgeschichte der im Durchschnittsbetriebe einer Klinik nun
nicht gerade als sehr „interessanter Krankheitsfall“ angesehenen
Apoplexie bei Hypertonie abgibt, drängen sich die ausgesprochenen
präapoplektischen Erscheinungen ohne weiteres auf. Ihre Existenz
und auch ihre Deutung scheint mir zur Genüge gesichert. Wenn
auch direkte Einsicht in die Gefäßversorgung des Gehirns nicht
möglich ist wie am Augenhintergrund oder durch Betasten der
Fußpulse beim intermittierenden Hinken oder durch kapillarmikro-
skopische Betrachtung beim abgestorbenen Finger, so gestatten
doch die engen klinischen Beziehungen zu diesen Krankheitsbildern
72 WESTPHAL
genügend überzeugende Schlüsse für das Zustandekommen ischä-
mischer Zustände am Großhirn. Doch scheint es dem Verfasser
nicht berechtigt, sich das Zustandekommen solcher umschriebener
Ischämien im Gehirn zu einfach vorzustellen, denn es treten einer
solchen Deutung zwei Tatsachen entgegen, 1. das konträre Ver-
halten der Gehirnarterien auf Adrenalin bei intravenöser Gabe im
Sinne einer Erweiterung und 2. die Notwendigkeit einer längeren
Dauer der totalen Gefäßkontraktion bis zur Entstehung schwerer
ischämischer Schädigung.
Ahnlich wie am Herzen, wo wir durch Langendorf, Krawkow,
Morawitz und Zahn, sowie F. Mayer die dilatierende Wirkung des
Adrenalins an den Kranzarterien kennen, ist auch an den Hirngefäßen
durch eine einfache intravenöse Adrenalingabe eine anscheinend passive
Dehnung beobachtet worden durch Biedl und Reiner, Lewan-
dowskiund Wehr, Winkler. Direkte intraarterielle Injektion in die
hirnwärts ziehenden Arterien erzielte jedoch auch hier wie an anderen
Organen durch Adrenalin Arterienkontraktion (Biedl und Reiner,
Wigers, Knauer und Enderlen).
Daß die mit guter Muskulatur ausgestatteten Arterien des Gehirns
zu einer von Vasomotoren geleiteten Verengerung und Erweiterung
überhaupt fähig sind, ist eine nach 1890 von Roy und Scherrington
bestrittene, aber durch Berger, Müller, Siebek und Ernst Weber
gesicherte Tatsache. Weber nimmt ein besonderes zentralwärts vom
Vasomotorenzentrum in der Medulla oblongata gelegenes Gefäßzentrum
für die Hirngefäße an. Über die weitgehende Beeinflussung der Hirn-
gefäße durch termische, physikalische und psychische Reize berichtet zu-
sammenfassend Hirschfeld. Verschiedene pharmakologische Beein-
flussung der Hirngefäße untersuchte neuerdings Heupke. Besonders
schön zeigen die dauernden Änderungen der Gehirngefäße, Kontraktion
und Erweiterung, die mikro-photographischen Beobachtungen von Jakobi
zusammen mit Georg Magnus.
Wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, daß übereinstimmend
mit der intravenösen Adrenalinwirkung O. Müller und Siebeck bei
sehr lebhaften Blutdrucksteigerungen ganz allgemein fanden: die dem
Gehirn zufließenden nervösen Reize werden unter Umständen soweit
durch eine passive Dehnung der Gehirngefäße überwunden, so daß statt
einer Kontraktion eine Dilatation eintritt. Sie denken bei diesem Vor-
gang an eine zweckmäßige Schutzeinrichtung, damit unter allen Um-
ständen dafür gesorgt sei. daß dem Gehirn stets reichlich frisches Blut
zugeführt werde, damit seine lebenswichtigen Zentren keine Not leiden.
Greift ein adrenalin-ähnlicher Reiz bei einer der
häufigen Schwankungen, wie sie ja bei allen Hypertonien vor-
kommen und wie wir sie eingehend bei apoplektiformen Insulten
im Sinne eines starken Blutdruckanstieges schildern konnten, die
Hirngefäße an, so werden wir dort in Parallele zu diesen Experi-
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 73
menten oft nicht eine gleichsinnige Kontraktion, sondern eine
primäre passive Dehnung erwarten müssen. Aber gerade
eine solche Erweiterung kann dann sekundär als Eigenreflex
des Gefäßsystems (Heß) nach der Erfahrung von Baylis
und Wacholder, daß starke Dehnung eines Gefäßes sekundär
zur Kontraktion führt, eine hochgradige Kontraktion auslösen,
die in dem komplizierten pathologisch-physiologischen Milieu des
Hypertonus mit seiner Neigung zu inversen Gefäßreflexen zu einer
ganz besonders starken und dauernden werden kann.
Daß besonders starke Dehnung der Arterien bei stark
schwankendem Blutdruck mit stark schwankender Füllung dieser
Gefäße am Gehirn solche hochgradigen Kontraktionen auslösen
kann, zeigen uns besonders schön die Beobachtungen an
Kranken mit Aorteninsuffizienz.
So wird der 20jährige Kaufmann Richard Dr. wegen folgender An-
fälle bei einer hochgradigen an der Grenze der Dekompensation stehenden
Aorteninsufficienz infolge eines seit dem 13. Lebensjahre öfter recidi-
vierenden Gelenkrheumatismus eingeliefert: Vor 1!/, Jahren zum ersten
Male nach schnellem Treppensteigen Anfall von Übelkeit, Brechreiz,
Atemnot und Einsetzen einer 2 Stunden anhaltenden Bewußtlosigkeit.
An sehr heißen Tagen des vorigen Sommers mehrere Male Wiederholung
solcher Ohnmachtsanfälle mit vorausgehender Übelkeit. Jetzt vor 14 Tagen
bei Bettruhe Herzschmerzen, dann plötzlich Bewußtlosigkeit für !/, Stunde,
einige Tage später plötzlich starke Schmerzen, besonders in der Stirn-
gegend, dabei wieder Atemnot und Herzschmerzen. Die Kopfschmerzen
nehmen allmählich sehr an Stärke zu, nach !/, stündiger Dauer dieser
Vorboten Bewußtlosigkeit, diesmal nur für eine !/, Stunde, beim Auf-
wachen ist der Patient „dösig“, auf die Fragen der Mutter ist er nicht
dazu imstande, die in Gedanken vorhandenen Worte auszusprechen, beim
Versuch sich zu stützen, versagt der rechte Arm völlig und ist gefühllos.
Nach einer halben Stunde völliges Zurückgehen der Lähmungserscheinungen
des Armes und der Sprache.
Der Patient zeigt eine sehr verstärkte Herzaktion des hochgradig
vergrößerten linken Ventrikels, einen sehr ausgesprochenen Pulsus celer
et altus mit einem Minimaldruck von 0. Der Blutdruck bewegt sich bei
Dauermessungen zwischen 120—160:0. Für frische Endokarditis kein
Anhaltspunkt, Wassermann negativ, Reflexe normal. In der Klinik ge-
langen zwei Attacken zur Beobachtung bei denen bei plötzlich ein-
setzenden starken Kopf- und Herzschmerzen Übelkeit und tiefe Blösse
des Patienten, aber ohne Kollaps, bestehen, außerdem eine Tachykardie von
130 und eine so starke Herzaktion, daß sogar die Bettdecke dauernd
miterschüttert wird, und ein Blutdruckanstieg auf über 260:0. Durch
Nitroglyzerin tritt schnelle Beruhigung dieser Anfälle ein.
Diese Gefäßkrisen führten demnach bei einem ganz jugendlichen
Menschen mit schwerer Insufficienz der Aortenklappen zu ohnmachts-
anfällen und Kopfschmerz, Übelkeit, Brechen und transitorischen Läh-
74 | WESTPHAL
mungen. Die Parallele zu den angiospastischen Insulten ist eine völlige.
Daß hier die stärkste Debnung nach völliger disstolischer Entleerung bei
dem Minimumdruck von O der Hirnarterien als Auslöser solcher Anfälle
angesehen wird, erscheint nicht gezwungen. Embolion in solcher Häufung
erscheinen nicht gut möglich. Die Blutcholesterinwerte waren normal.
Außerdem hatten wir noch dreimal Gelegenheit bei Aorteninsufficieng
ähnliche Zustände zu beobachten.
2. Hermann Gi., ein 64jähriger Schreiber, mit einer luetischen
Aorteninsufficienz und Mesaortitis, aber einem wassermannegativem
Lumbalpunktat mit normaler Zellenzahl bekommt hier stets in Ver-
bindung mit Blutdruckanstiegen über das Durchschnittsniveau von 140
bis 150:0 auf 200—220 :0 manchmal tagelang anhaltende Anfälle von
Cheyne-Stockes’scher Atmung, zeitweiser Benommenheit, hochgradigem
Hinterkopfschmerz, Erbrechen. Dabei ist oft der Oppenheim doppel-
seitig positiv, sonst keine neurologischen Symptome. Der Tod erfolgt
später an Pneumonie, er ergibt am Gehirn und Medulla oblongata keinen
pathologischen Befund, nur sehr geringe Arteriosklerose.
3. Konrad G., 55 Jahre alt, Invalide, bekommt ebenfalls oft
Schwindel- und Obnmachtsanfälle bei einer Aorteninsufficienz. Bei einem
5 Minuten dauernden Anfall von Bewußtlosigkeit in der Klinik ist er
tiefblaß bei sehr vollem kräftigem Pulse, kurz vor dem Anfall besteht starkes
Gähnen und Müdigkeit, auch Schmerzen der Herzgegend. Blutdruck
während des Anfalles 125:60. Auch hier wird an vasomotorische Er-
scheinungen als Ursache für diese Störungen im Gebiet der Hirnarterien und
Kranzgefäße des Herzens als Ursache der Kollapszustände gedacht.
4. Gr., Karl, 48 Jahre, luetische Aorteninsufficienz. Es sind bereits
öfter Ohnmachtsanfälle vorgekommen, er hatte jetzt vor der Einlieferung
ins Krankenhaus im Dienst plötzlich ein starkes Schwächegefühl, sah
gleichzeitig sehr blaß aus, konnte nicht mehr sprechen und ist dann für
!/, Stunde bewußtlos geworden nach diesem Vorstadium von etwa
3 Minuten Dauer.
5. Kr., Heinrich, 57 jähriger Schneider, mit luetischer Aorten-
insufficienz, hat ebenfalls des öfteren Kollapszustände erlitten. Er wird
mit einem Blutdruck von 210—65 und einer frischen linksseitigen Apo-
plexie eingeliefert. An Tagen, wo ein Bilutdruckanstieg von seinem
Durchschnittsniveau von 150—160:40—50 auf 190—200 stattfindet, oft
Klagen über starke Schwindelbeschwerden.
Der ÜbergangvonSchwindelundKollapszuständen,
zum Teil mit flüchtigen motorischen Lähmungen bis
zur definitiven Apoplexie, findet sich demnach auch hier
bei der Aorteninsufficienz, und wenn auch bei denjenigen mit syphi-
litischer Genese dadurch bedingte Prozesse am Hirn und seinen
Arterien nicht mit Sicherheit ausgeschlossen werden können, So
scheint doch die Häufungen solcher Zustände bei der Aorteninsuffi-
cienz — Romberg weist ebenfalls in seinem Lehrbuch auf das
(Geläufige dieser Erscheinungen, der Ohnmachtsanwandlungen und
der Blutungen im Gehirn in der Klinik dieses Herzklappenfehlers,
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 75
hin — für den engen Zusammenhang des Pulses celer et altus, der
manchmal völligen diastolischen Entleerung der Arterien und ihrer
hochgradigen bei Blutdrucksteigerung ganz besonders gesteigerten
systolischen Auffüllung mit den vasomotorischen Erscheinungen am
am Gehirn zu sprechen. Auch die hochgradige Blässe der Aorten-
insufficienzkranken, bei kapillarmikroskopischer Betrachtung die
oft so geringe Füllung ihrer Kapillaren und die nach Abschnürung
eintretende momentane Abblassung derselben (Jürgensen, eigene
Beobachtungen zusammen mir Stockhausen) sprechen bei diesem
Klappenfehler dafür, daß überall an den Arterien die starke Dehnung
nach oft völliger, zum Teil rückläufiger Entleerung zu gesteigerter
Kontraktion der kleinen und kleinsten Arterien und sekundär auch
der Kapillaren führt. Am Hirn scheint vor allem bei plötzlichen
in ihrer Genese nicht immer genau erklärbaren Blutdruckanstiegen
diese zuerst eintretende bei dem schnellenden Pulse ganz besonders
starke passive Dehnung dann zur gesteigerten Dauerkontraktion
einzelner Gefäßabschnitte zu führen und so transitorische Bewußt-
seinsverluste, Cheyne-Stokes’sches Atmen, Erbrechen, Kopfschmerz
und flüchtige Lähmung zu erzeugen. Daß auf solchem Boden sich
wirkliche Apoplexien auch ohne Vorhandensein luetischer Gefäß-
prozesse entwickeln können, erscheint nach den früheren Ausfüh-
rungen durchaus möglich.
Auch beim einfachen arteriellen Hochdruck läßt sich ein ähn-
licher Auslösungsmechanismus manchmal näher erweisen.
Sehr starkes Pressen der Bauchmuskulatur, z. B. beim Stuhlgang,
verursacht beim Hypertoniker öfter Kollapszustände und löst vereinzelt
den Schlaganfall aus. Nach stärkerer Dehnung tritt auch hier nach-
folgend gesteigerte Kontraktion der Hirnaterien ein. Denn durch
Berger, Resnikow und Dawidenkow wissen wir, daß in solchem
Zustande der Anspannung der Bauchpresse bei geschlossener Stimmritze
eine Vermehrung des Hirnvolumens mit langdauerndem folgendem Abfall
stattfindet, d. h. erst starke Erweiterung, dann lange Verengerung der
Hirngefäße. An den mikrophotographischen Aufnahmen der Hirngefäße
von Jakobi tritt solche starke Erweiterung besonders der Venen schon
bei tiefer Exspiration schön hervor.
Man wird gegen diese Auffassung, daß es sich bei den Hirn-
gefäßkrisen zum Teil um eine indirekte Auslösung des arteriellen
Krampfes auf starken Dehnungsreiz folgend bei einem plötzlichen
Blutdruckanstieg — am Herzen liegen im Angina-Pectorisanfall
vielleicht oft die Verhältnisse ähnlich — den Einwand erheben:
Sind diese paroxysmellen Blutdruckanstiege nicht erst verursacht
durch Anämisierung im Großhirn ?
76 WESTPHAL
Nach Naunyn’s und Schreiber’s sowie Cushing’s experi-
mentellen Untersuchungen wird durch Anämisierung und Sauerstoffver-
armung in den bulbären Zentren neben Cheyle-Stokes’schem Atmen und
Schwankungen der Pupillenweite eine oft rhythmisch verlaufende Blut-
drucksteigerung erzeugt. Daß regulatorische Blutdrucksteigerungen zentral
ausgelöst bei angiospastischer Anämisierung im Gebiet des Vasomotoren-
zentrums manchmal eintreten können, wird daher keineswegs bestritten.
Aber solche Auslösung der Blutdruckkrisen gilt kaum für die große
Mehrzahl dieser Anfälle, denn des öfteren sieht man in der Klinik bei
Dauerblutdruckmessungen zuerst Druckgefühle in der Herzgegend lange
vor Auftreten von Hirnerscheinungen, oft auch völliges Fehlen derselben
und trotzdem ganz hochgradige Blutdruckanstiege. Ganz allgemein die
leichten Erscheinungen cerebraler Anämie wie Schwindel und Kopf-
schmerz etwa als Beweis einer cerebralen Vasomotorenreizung und eines
cerebral bedingten Hypertonus anzusehen (Kahler) heißt m. E. Ursache
und Wirkung verwechseln, diese Gehirnsymptome gehören koordiniert in
die gleiche Reihe zu den pathologischen Erscheinungen der genuinen
Hypertension mit ihren allgemeinen Arterien- und Arterioleukontraktionen
etwa an Niere, Herz und Augenhintergrund und in den verschiedensten
anderen Gefäßprovinzen, nur in Ausnahmefällen wird zentrale Vaso-
motorenreizung im Circulus vitiosus den Blutdruck mit hochpeitschen.
Daß andere lokale Gefäßspasmen durch primäre Schmerz-
erregung z. B. solche Blutdruckkrisen auslösen können, erscheint mir
nach eigenen an anderer Stelle mitgeteilten Beobachtungen über
den starken Einfluß gerade psychischer Vorgänge beim Hyper-
tonus auf das Blutdrucknivenau sehr wahrscheinlich, in ähnlicher
Weise werden auch nächtliche Träume, psychische Vorgänge ganz
allgemein, körperliche Anstrengung, der Coitus usw. das Niveau
emporschnellen lassen, und so Gelegenheit zur Auslösung eines
Schlaganfalles abgeben. Aber für einen großen Teil der plötzlichen
Anstiege, die aus völligem Wohlbefinden bei Krankenhausruhe z. B.
plötzlich stattfinden, fehlt noch eine Erklärung. Fr. Kauffmann
konnte bei gewissen Fällen in deutlicher Weise eine starke Be-
einflussung durch die Umwelt, durch Hitze und schwüles Wetter,
nachweisen, in anderen Fällen könnte man mit Volhard und W. Frey
daran denken, daß starke Anämisierung gerade der Nieren zu
plötzlichen Krisen führe. Ob nicht neben inkretorischen Einflüssen,
die zu akuten Abgaben pressorischer Substanzen führen, auch plötz-
liche für uns noch nicht genügend übersehbare Umstellungen in
der chemischen und chemisch-physikalischen Zusammensetzung des
Blutserums und der Gefäßmuskelzellen hier mit wirksam sein können,
muß vorläufig noch dahingestellt bleiben. Aber vielleicht lassen
sich gerade auf diesem Gebiete ebenso wir für Epilepsie und Mi-
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 77
gräne unsere Anschauungen stark beeinflussende Feststellungen in
Zukunft erheben.
Neben den allgemeinen arteriellen Kontraktionen bei Hyper-
tonus und solchen besonderen Steigerungen der Verengerung der
der Hirnarterien infolge eines lokalen Gefäßreflexes auf Dehnung
bei plötzlichem Blutdruckanstieg ist das pathologische Milieu des
arteriellen Hochdrucks mit seiner weit gehenden Beeinfiussung der
Gefäßmuskelfunktion Auslöser ganz besonders intensiver lokaler
Arterienspasmen. Wir treffen bei dieser Krankheit oft auf ganz
verkehrte inverse Reaktionen der Gefäße im Ganzen und
in Einzelprovinzen.
Der Blutdruckanstieg beim Aufenthalt in stark erwärmten Zimmern
zeigt bei einer gewissen Anzahl von Hypertonikern eine der normalen
entgegengesetzte (sefäßreaktion (Fr. Kauffmann). Auf mechanische
Reizung der Haut erfolgt bei Patienten mit intermittierendem Hinken,
das nach früheren Auseinandersetzungen enge Beziehungen zum Hyper-
tonus haben kann, nicht reaktive Hyperämie, manchmal sogar ein Erblassen
der Haut (Zack). H. Schlesinger findet bei Kranken mit dieser
lokalen Gefäßkrise auch bei Wärmeanwendung den umgekehrten Erfolg,
in heißem Wasser wird das kranke Bein leichenfahl. Hochgradige Ab-
blassung an Fingern einzelner Hypertoniker nach Aufenthalt in heißem
Wasser beschreiben R. Schmidt und Fr. Kauffmann. H. Cursch-
mann fand bei Raynaud-Kranken ebenfalls paradoxe Gefäßreflexe z. B.
Kontraktion bei Applikation von Wärme.
An 35 Hypertonikern, darunter 32 genuine Hypertonien konnte der
Verf. zeigen, daß bei diesen in der Mehrzahl bei einer im ganzen nur
eine Minute dauernden Abschnürung durch die Blutdruckmanschette die
zu erwartende reaktive Hyperämie bei kapillarmikroskopischer Betrachtung
nicht eintritt, sondern das (Gegenteil, eine deutliche Abblassung mit
Schwund oder Verengerung der Kapillaren für 5—10—20 Minuten, nur
bei der Minderzahl, 13, fehlte diese paradoxe Reaktion oder war sehr
abgeschwächt. Es lagen bei diesen besondere Gründe, wie ein versagendes
Herz oder die sehr breit gefüllten Kapillaren des roten Hypertonikers
vor. „Diese inverse Reaktion der Hypertoniker auf kurze Abschnürung
zeigt als Wesentliches, daß bei ihm die Erweiterungsfähigkeit der kleinen
und kleinsten arteriellen Gefäße auf das schwerste gestört ist und daß
dieser Reiz sogar im Gegensatz zum Physiologischen zu einer noch
größeren Verengerung führt und diese dann sehr lange Zeit beibehalten
wird.“ Diese bei Wärmeapplikation des öfteren und bei Abschnürung
bei der Mehrzahl der Hypertoniker und was wichtig ist auch bei Kranken
mit lokalen Gefäßkrisen (intermittierendes Hinken, Raynaud) be-
obachteten ganz paradoxen Gefäßreaktionen können: wir okne Zwang auch
im Großhirn solcher Kranken des öfteren annehmen.
Bei stärkerer Beanspruchung desselben etwa durch geistige
Arbeit, nach passiver Dehnung bei Blutdruckanstieg werden wir
in ihm auch oft solche inversen Reaktionen der Arterien und Arte-
78 WESTPHAL
riolen erwarten können, und diese so ausgelösten Kontrak-
tionen können dann beim Hochdruck von besonders langer
Dauer sein. Das zeigt die kapillarmikroskopische Beobachtung
des Abschnürungsprozesses besonders schön. Die Erweiterungsfähig-
keit der Hypertonikerarterien ist durch eine Art von pathologischem
Sperrungsmechanismus der glatten Gefäßmuskulatur eine ganz be-
sonders gehemmte, nur langsam in gleitender Sperrung (Uexküll)
nimmt die Arterien- und Arteriolenmuskulatur wieder ihre ur-
sprüngliche Länge an. Ob als Auslöser solcher inverser Reflexe
eine abnorme Säuerung der Gewebe infolge der dauernden leichten
Ischämisierung (Frey, Fr. Kauffmann) in Betracht kommt, muß
vorläufig dahingestellt bleiben. Der Verfasser denkt mehr an physi-
kalisch-chemische Änderungen, vor allem am Gefäßmuskel selbst.
Neben solchen pathologischen Reaktionen auf Dehnung und
der Neigung zu inversen Reaktionen der Gefäße der Hypertoniker
überhaupt darf die Bedeutung der rhythmischen Arterien-
bewegung nicht ganz unberücksichtigt bleiben für das Zustande-
kommen totaler Gefäßkontraktion in umschriebenen Kreislauf-
provinzen ganz allgemein beim Hochdruck und besonders im Gehirn
(0. B. Meyer, Full, Rothlin, Krawkow, Anitschkow).
Von Anitschkow liegen nun Experimente an Fingerarterien
von Kranken verschiedenster Art vor, die über das Normale hin-
aus ganz hochgradig gesteigerte Tendenz zu totalen Gefäßkon-
striktionen zeigen.
In einem Falle von Spontangangrän einer Zehe reagierten die
Arterien der benachbarten Zehe auf Koffein mit einer starken Ver-
engerung anstatt nach normaler leichter Verengerung mit Erweiterung,
und auf Adrenalin mit einem langdauernden Spasmus von außerordent-
licher Stärke. Von 8 Fingern von Arteriosklerotikern zeigten 5 eine
erhöhte Gefäßreaktion im Sinne einer ausgesprochenen Neigung zur
spastischen Kontraktion. Während Adrenalin am Normalen eine unvoll-
kommene, rasch vorübergehende Zusammenziehung bewirkt, ergab die-
selbe Lösung bei einer an Apoplexia cerebri gestorbenen alten Frau
eine totale Kontraktion der Fingergefäße, Koffein ergab eine verstärkte
Kontraktion ohue nachfolgende Erweiterung. In 2 Fällen von Arterio-
sklerose war die Kontraktionsfähigkeit normal, die Erweiterungsfähigkeit
aufgehoben, in einem Fall fehlte eine Reaktion vollkommen.
Auch an den Kranzgefäßen des Herzens zeigte sich im Gegensatz
zum Tierversuch und zu Versuchen an menschlichen Herzen und Neu-
geborenen und Föten. wo sich auf Adrenalin die bekannte Erweiterung
einstellte, bei fortschreitendem Alter Neigung zur Kontraktion (Krawkow).
Daß dagegen ganz sklerosierte Gefäße beim Arteriosklerutiker überhaupt
keiner Reaktion mehr fähig sind, ist durchaus verständlich.
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 79
Als Wichtigstes imponierte in diesen Versuchen der russischen
Autoren für diesen Zusammenhang die hochgradige Kon-
traktion mit völligem langdauerndem Arterienver-
schluß beider Mehrzahl der Fällen mit mittlerer Arterio-
sklerose, besonders schön und einleuchtend tritt das hervor in
dem Falle der Gangrän und der Apoplexie. Die Annahme, daß
die Steigerungen dieser spontanen rhythmischen Kontraktionen in
dem pathologischen Milieu des arteriellen Hochdrucks auch Mit-
auslöser solcher Totalspasmen sein können, vor allem, wenn irgend-
welche Reize in früher angeführtem Sinne mitwirksam sind, erscheint
daher durchaus wahrscheinlich. Und so wird hier diese Trias:
gesteigerte rhythmische Arterienbewegung, Neigung zu paradoxer
Gefäßreaktion und Herantreten abnormer Dehnungsreize an die
Hirnarterien bei plötzlichem Blutdruckanstieg als Auslöser der
hochgradig gesteigerten Arterienkontraktionen besonders am Groß-
hirn bei arteriellem Hochdruck angesehen.
Auch die besondere Intensität und Dauer dieser Arterien-
kontraktionen beim Hypertoniker muß wieder verursacht sein durch
das besondere pathologische Milieu, auf dem sich der genuine
arterielle Hochdruck aufbaut. Störungen im Lipoidstoff-
wechselundin derinneren Sekretion scheinen dem Verfasser
dabei als Ursache eine besonders wichtige Rolle zu spielen. In
einer ausführlichen Mitteilung, die sich auf größeres klinisches und
exerimentelles Material stützen kann, glaubt er gezeigt zu haben
zum Teil in Übereinstimmung mit den Schmidtmann’schen Unter-
suchungen am Kaninchen, daß das Cholesterin als Sensibilisator für
Arterienkontraktion hervorrufende Reize z. B. Adrenalin, Sauer-
stof von großer Bedeutung zu sein scheint. Auch am Menschen
wird stärkere Anreicherung mit diesem Lipoid im Blute und Arterien-
wand unter besonderen Verhältnissen — Beziehungen zu den ver-
schiedenen Eiweißkörpern:: Albumin, Globulin, Fibrinogen erschienen
da neben dem gesamten ionalen Milieu besonders wichtig — als
Mitauslöser der tonogenen Sperrung der glatten Muskulatur der
kleinen und kleinsten Arterien bei der genuinen Hypertension und
der isolierten spastischen Gefäßkonstriktion bei derselben angesehen.
Aber auch ohne Vorhandensein einer dauernden allgemeinen Blat-
druckerhöhung weist bei isolierten Gefäßspasmen, wie intermit-
tierendem Hinken, Raynaud, Migräne, die dort gefundene Hyper-
cholesterinämie auf die Möglichkeit einer solchen Sensibilisation
der Arterienwand für kontrahierende Reize hin. Einzelheiten und
Schrifttum sind in der angeführten Arbeit nachzulesen. Hier ge-
80 WESTPHAL
nügt der Hinweis, daß auch die Mehrzahl der Apoplektiker und
die Patienten mit ausgeprägten Hirngefäßkrisen die Hyper-
cholesterinämie zeigen. Unter 32 Apoplektikern finden sich
bei 25 meist sehr ausgesprochene Erhebungen der Blutserumchole-
sterinwerte über die Norm von 0,12—0,18 g°/,, das wäre in 78°/,.
Die Werte betragen: 0,19 0,2 0,202 0,204 0,224 0,224 0,224
0,225 0,235 0,237 0238 025 0,25 0,26 0,26 0.266 0,266
0,286 0,268 0,28 0,28 0,294 0,31 0,358 0,37 g°,. 4 Apo-
plexien finden sich mit einem Normalwert von 0,12—0,18 g°/,,
3 mit einem Wert unter 0,12 g°/,. Unter den Patienten mit nor-
malen und erniedrigten Cholesterinwerten befinden sich mehrere
mit Pneumonie oder starker Kachexie, Krankheitszustände, bei
denen erfahrungsgemäß die Blutcholesterinwerte stark absinken.
Auch der Aorteninsuffiicienzkranke mit Apoplexie wies eine Hyper-
cholesterinämie von 0,22 und 0,236 g °/ auf.
Auch Kranke mit wieder schnell gebesserten angiospastischen
Insulten des Gehirns mit meist flüchtigen Lähmungen verschiedener
Art boten 11mal Gelegenheit zur Untersuchung. Einmal wurde
ein normaler Wert, 10 mal zum Teil wieder sehr bedeutend erhöhte
Cholesterinwerte bis auf das 1!/, fache der Norm gefunden: 0,15
0,19 022 0,22 022 025 0296 0,3 031 033 034 g°),.
3mal befanden sich unter diesen Patienten mit normalem Blut-
druck, wo 1mal bei Migräne, 2 mal ohne diese flüchtige motorische
Ausfallserscheinungen als angiospastisch bedingt angesehen wurden.
Auch die Mitteilung Idelson’s, daß bei seinen zahlreichen Patienten
mit intermittierendem Hinken und den oft früh auftretenden Apo-
plexien häufig ein Arcus lipoides vorhanden war, spricht für die
erhöhte Anreicherung dieser Stoffe auch im Blut seiner Kranken.
Bei den in der Genese der Apoplexie sehr zurücktretenden
Kranken mit einer Glomerulonephritis oder deren Spätstadium,
der sekundären Schrumpfniere, spielt das Cholesterin als Sensibili-
sator kaum eine Rolle. Hier sind vielleicht nach Hülse pepton-
artige Eiweißabbauprodukte in ähnlicher Weise mit wirksam. Daß
solche und ähnliche Stoffe (Amine) auch bei der genuinen Hyper-
tension außer diesem Lipoid unwirksam sein könnten, wird natür-
lich nicht bestritten.
Besonders auch für das Problem der langen Dauer einmal ein-
getretener (sefäßkontraktionen erschien in Anlehnung an gemein-
sam mit Herrmann durchgeführte Gefäbstreifenversuche das
Cholesterin dem Verfasser wichtig. Die abdichtende Wirkung des
Cholesterin hemmt den Wasser- und loneneintritt und die Wieder-
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 81
ausdehnung nach einmal eingetretener Kontraktion der Muskelfaser
und verursacht so eine Sperrung der glatten Gefäßmuskulatur.
Das ist ein allerdings vorläufig noch durchaus hypothetischer Er-
klärungsversuch der Cholesterinwirkung.
Neben einer solchen Einwirkung auf die Art der Kontraktion
der Arterienmuskulatur ist die Hypercholesterinämie der meisten
Hypertoniker noch weiter wirksam in der Genese der Apoplexie
aus einem rein mechanischen Grunde, der engen Beziehung der-
selben zur eigentlichen Arteriosklerose in der bei der Apoplexie
so häufig vorkommenden Form der Intimafleckenbildung mit um-
schriebener Wucherung derselben bei gut erhaltener Media. Natur-
gemäß kommt es bei der oft beträchtlichen Stärke dieser Jipoid-
durchsetzenden Intimawucherungen durch diese viel eher zu einem
totalen Verschluß der Gefäße bei stärkerer Kontraktion. Auf zahl-
reichen Querschnitten durch Gefäßbündelpräparate, die von Herrn
Kollegen Bär durch Ausschüttelung des Gehirns gewonnen waren,
trat dieser Eindruck dem Verfasser immer wieder entgegen, wie
sehr ein solcher Intimaknopf den absoluten arteriellen Verschluß
erleichtern kann. Für solche Art der Mitwirkung werden dem-
nach die bisher so überbetonten Beziehungen der reinen Arterio-
sklerose zur Genese des Schlaganfalles unterschrieben, wenn auch
die übliche Annahme des erleichterten Platzens so veränderter Ge-
fäße nur für selbst nicht gesehene Ausnahmefälle zugegeben werden
kann.
Auf den Aufbau der Hypercholesterinämie, der Arteriosklerose
und der Apoplexie überhaupt im allgemeinen konstitutionellen und
innersekretorischen Milieu soll vorläufig nicht weiter eingegangen
werden. Hier interessiert vorerst mehr die Möglichkeit der weiteren
Entwickelung im lokalen Bezirk der Erweichung und Blutung, in
dem angiospastisch bedingten und längere Zeit so erhaltenen
ischämischen Gebiet. Als Dauer dieser ursächlichen Gefäßkontrak-
tion können wir nach dem Beispiel der Raynaud-Kranken, des
intermittierenden Hinkens, dafür nicht nur 5—10—20—30—60 Mi-
nuten, sondern auch manchmal Stunden, vereinzelt vielleicht sogar
Tage annehmen.
Das Gehirn stellt für solche Zustände von Anämie das
bei weitem empfindlichste Organ dar.
Es wird fast momentan abgetötet, in ihren klassischen Versuchen
stellten Kußmaul und Tenner fest, daß nach 3—4 Minuten die Er-
holungsfähigkeit nach völliger Anämisierung des Gehirns nicht mehr
möglich war. Veränderungen an Ganglienzellen sind im Experiment
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 151. Bd. 6
32 o WESTPHAL
nach !/, Stunde nachgewiesen (Dietrich), das ist auch die Zeit, die
als ausgesprochene Gefahrgrenze bei künstlicher partieller Anämisierung
dem Gebirnchirurgen bekannt ist, Nach 10—15 Minuten Anämisierung
sah S. Mayer an Kaninchen nie Wiederkehr willkürlicher Bewegung,
nur Atemzentrum und Vasomotorenzentrum waren noch nach !/, Stunde
durch Wiederherstellung der Blutzufuhr zu beleben. An Niere und Darm
treten Erscheinungen der Abtötung erst nach 1 Stunde auf, an den
Extremitäten bekanntlich noch viel später (Esmarch’sche Blutleere!).
Als sehr wichtiges Moment kommt hinzu, daß die Arterien
des Basalbezirks, welche den Hirnstamm mit den großen Ganglien
und das Gebiet der inneren Kapsel versorgen, diesen Prädilektions-
sitz der blutigen Erweichung, fast rechtwinkelig abbiegend aus
den großen Gefäßstämmen der Gehirnbasis entspringen. Sie treten
sofort in die Hirnsubstanz ein und verästeln sich in derselben
ohne Kommunalarterien mit den benachbarten Gefäßen. Diese
Hirngefäße sind Endarterien im Sinne Cohnheim’s (Wernicke).
Die Arterien der Hirnrinde aber laufen vor ihrem Eintritt in die
Gehirnsubstanz erst eine lange Strecke in der Pia fort und kom-
munizieren hier vielfach miteinander. Das erklärt die Seltenheit
blutiger Erweichung in diesem Gebiete.
Von Mendel ist an einem aus Gummischläuchen mit einge-
schalteten Manometern gebauten Modell der Versuch gemacht worden,
in den Arterien des Corpus striatum mit ihrem direkten Abgang
aus den großen Hirngefäßen einen höheren Druck nachzuweisen wie in
den vielfach verzweigten Rindenarterien. Wenn das wohl sicherlich nicht
zutrifft bei dauerndem arteriellen Hochdruck, so ist es doch nicht aus-
geschlossen, daß bei plötzlicher Blutdrucksteigerung die Stärke der
passiven Dehnung im allerersten Einsatz derselben an diesen Endarterien
eine größere ist, und daß die oben geschilderte reaktive Sekundärkon-
traktion an ihnen dann besonders stark einsetzt. Der Lieblingsort der
Blutung, die zentralen Ganglien das Corpus striatum, der Thalamus
opticus und die benachbarten Markfaserzüge der inneren und äußeren
Kapsel — dann folgt an Häufigkeit das Centrum semiovale, die Rinde, die
Brücke und Kleinhirn, schließlich Vierhügel und Medulla oblongata
(Pfeiffer in Oppenheim’s Lehrbuch) — bietet noch aus anderen Gründen
eine besondere erhöhte Disposition zur Blutung. Schwarz hat kürs-
lich das isolierte Befallensein grad der grauen Substanz der Stammganglien
mit oft fehlendem Hinübergreifen auf die Marksubstanz ganz besonders
betont. An der Hand seiner schönen Präparate und auch bei eigenen
Beobachtungen drängte sich diese Tatsache oft auf.
Die graue Substanz des Gehirns in Rinde und Stammganglien
ist nun auch in ihrer chemischen Zusammensetzung viel weit-
eehender differenziert wie die weiße Substanz des Marks. Be-
sonders au ihr sind wegen des starken Sauerstoffbedürfnisses eher
als irgendwo anders im Organismus tiefgehende Zerstörungen denk-
m dm U un 2
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 83
bar, die sich mit einfacher histologischer Technik nicht immer
fassen lassen. Die von Pflüger, Langendorff, F. Müller
und Ott u. a. gefundene Tatsache, daß die alkalische Reak-
tion der Hirnrinde mit dem Eintritt des Todes oder nach
Unterbindung der arteriellen Blutzufuhr in wenigen
Minuten abnimmt und in eine Säuerung umschlägt, ist für
solche Auffassung eine weitgehende Stütze.
Pflüger durchspülte mit eiskalter Lösung von neutralem Natrium-
sulfat nach Durchschneidung des rechten Herzens von der Aorta aus
das Gehirn von Kaninchen, nahm es in l Minute heraus, und drückte
es zerschnitten auf empfindliches Reagenzpapier. Die Reaktion war in
der weißen Substanz oft schwach alkalisch, in der grauen selten ebenso,
meist schwach sauer, und diese saure Reaktion nabm mit erstaunender
Geschwindigkeit zu. Viel weniger geschah dies mit der weißen Substanz.
Auch die nicht aus der Rinde der Hemisphären entnommene graue Sub-
stanz verhielt sich ungefähr ebenso. Langendorff sah an kleinen
frisch abgetragenen Stückchen der Hirnrinde von Kaninchen und Meer-
schweinchen zuerst alkalische Reaktion mit Lackmuspapier, einige Minuten
nach Exstirpation war bereits deutliche Säuerung da. Bei Abklemmung
der 4 Gehirnarterien schwindet die alkalische Reaktion oft bereits nach
2 Minuten, sicher deutlich nach 4 Minuten. Später nimmt die anfangs
geringe Acidität deutlich zu. Wichtig ist für das vorliegende Problem,
daß die durch Abklemmung des arteriellen Blutstroms sauer gewordene
Rinde nach deren Beseitigung wieder alkalisch werden kann. Der Ver-
such des Abbaltens und Wiederzulassens des Blutes konnte von Langen-
dorff 3mal mit demselben Erfolge wiederholt werden, nach 5, 7 und
9 Minuten dauernder Anämisierung konnte die eingetretene Säuerung
durch den zugelassenen Blutstrom jedesmal wieder zum Schwinden ge-
bracht werden. Das letztemal war allerdings nach 38 Minuten noch
neutrale, nicht alkalische Reaktion da,
Auch P. Ehrlich erhielt bei seinen zahlreichen intravitalen Injek-
tionen von Alizarinnatrium und Indophenolweiß deutliche Hinweise dafür,
daß in der Hirnrinde nach Aufhören der Blutzufuhr lebhafte Reduktions-
prozesse einsetzen. Auch Bethe betont den großen Unterschied zwischen
grauer Substanz und den eigentlichen leitenden Gebilden im Stoffwechsel.
Franz Müller und A. Ott konstatierten wieder, daß am Gehirn der
grauen Rindensubstanz sehr schnell gegen Lackmus sauer reagierende
Substanzen gebildet werden, und daß die Wiederbelebungsversuche der
Rindenfunktion durch Serum ähnlich zusammengesetzte Lösungen, auch
wenn Sauerstoffmangel dabei vermieden wurde, nicht erzielt werden konnte.
Für den hier vertretenden Gedankengang erschien die Beob-
achtung Pflüger’s besonders wichtig, daß die graue Substanz
der Stammganglien sich ebenso verhält wie die der
Rinde. In einer größeren Reihe von Untersuchungen, über deren
Anordnung später berichtet wird, konnte hier festgestellt werden,
daß am vorher anämisierten Gehirn von Kaninchen, Katzen und
6*
84 WESTPHAL
auch von Hunden 5—10 Minuten nach dem Tode des Tieres eine
ausgesprochen saure Reaktion von Rinde und Stammganglien vor-
handen war im Gegensatz zu alkalischer Reaktion der Rinde am
Gehirn des lebenden Tieres. Ein Abklatsch mit gutreagierendem
Laackmuspapier an Gehirnquerschnitten ergab stets eine mehr oder
minder deutlich hervortretende Bänderung mit roter Verfärbung
der grauen Hirnpartien in Rinde und Hirnstamm und Erhalten-
bleiben des blauen Farbtons am Lackmuspapier im Gebiete des
Markes. Die schnellen chemischen Umsetzungen finden demnach
nach Aufhören arterieller Blutzufuhr auch in den großen Stamm-
ganglien statt. Diese sind vielleicht außerdem noch durch ihren
großen Gefäßreichtum von einer besonderen Empfindlichkeit. Man
denke auch an die leichten Schädigungsmöglichkeiten gerade dieser
Hirnpartien bei der Encephalitis oder bei der Chorea. Es ist auch
möglich, daß Besonderheiten des Stoffwechselchemismus in den
Stammganglien wieder bei Anämisierung zu einer besonders schnellen
Schädigung der Ganglienzellen und der Gefäße führen, im Putamen
und Pallidum ist diese Empfindlichkeit vielleicht eine besonders große.
Langendorff’s interessante Angabe, daß das Großhirn neu-
geborener Tiere selbst nach 24 Stunden überall alkalische Re-
aktion zeige, ließ mit Gescheidlen daran denken, daß es sich
bei dieser postmortalen Säuerung um einen weiter ablaufenden
vitalen Prozeß mit Milchsäurebildung handelt. Mangelnder
Abtransport derselben bei stockender arterieller Blutzufuhr oder
ähnlich der von Meyerhof gefundenen anoxybiotischen Milchsäure-
‘entwicklung am Muskel eintretende Vorgänge könnten hier viel-
leicht stattfinden. Daher wurde mein Mitarbeiter M. E. Mayer im
Tierexperiment veranlaßt, quantitativ am Gehirn sofort nach dem
Tode und 1—2 Stunden später Bestimmungen der Milchsäuremenge
zu machen, um über die Art dieser postmortalen Säuerung Genaueres
zu erfahren. Seine bisher noch nicht völlig abgeschlossene Unter-
suchungen zeigen meist eine deutliche Vermehrung der Milchsäure-
mengen.
Es wird genauer darüber berichtet werden.
Die ungeheuer schnell bei Absperrung der arteriellen Blutzufuhr
eintretende Säuerung der grauen Hirnsubstanz und ihre Beseitigung nach
5-7-9 minutenlangem Bestehen durch erneute Blutzufuhr zeigen die
gleichen Möglichkeiten sehr schnell eintretender bedeutsamer chemischer
Umsetzungen nach Anämisierung von Großhirnleiden unter den patho-
logischen Verhältnissen des Hypertonus mit angiospastischen Insulten
und wir verstehen die Rückgangsmöglichkeiten der Erscheinung noch
nach kurzdauernder bis zu etwa 10 minutenlanger Anämisierung —
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 85
®e
Schwankungen der individuellen Resistenz werden den kritischen Zeit-
punkt nach beiden Richtungen verschieben können — wir verstehen aber
auch die Unmöglichkeit völliger Wiederherstellung nach zu lange dauernder
Schädigung, und wir verstehen schließlich, was hier besonders wichtig
erscheint, daß in dem Gebiet der Stammganglien, wo im Gegensatz zum
Rindengrau Endarterien vorhanden sind, diese Gefahr der angiospastischen
Anämisierung sich am stärksten steigert, daB an dieser Stelle das mit
hochgradigem Sauerstoffbedürfnis arbeitende Zellmaterial schnell irreparablen
chemischen Umsetzungen zufällt. Auch die so oft deutliche scharfe Be-
grenzung der apoplektischen Erweichung auf das Grau im Corpus striatum
mit nur geringen Schädigungen der inneren Kapsel findet so eine ein-
leuchtende Erklärung.
Die schnell eintretende Säuerung scheint in doppelter Hinsicht
den pathologischen Prozeß zu beschleunigen. Die Autolyse des
Gehirns wird, wie die aller Organe (Hedin) durch Gegenwart
geringer Säuremengen am stärksten in 0,2°, Essigsäure
(Levene und Stookey) befördert. Am schwächsten ist sie in
05°, Natriumkarbonatlösung. Die autolytischen Prozesse im
anämischen Gebiet erfahren demgemäß durch die Ansäuerung eine
ausgesprochene Förderung. Ganz speziell bei ausgedehnten Zer-
störungen der Hirnsubstanz muß diese Mitwirkung ausgesprochen
autolytischer Prozesse oft vorhanden sein, sie wirkt besonders früh
und stark ein auf die Gefäßwände nicht bloß der kleinen Kapillaren
and Venen sondern vor allem auch der Arterien selbst von be-
trächtlichem Kaliber, besonders in der Media, mit dort schnell ein-
setzendem Kernschwund und einer wohl zum größten Teil physi-
kalisch-chemisch durch die Säureeinwirkung bedingten Quellung
mit verstärkter Hydratation des Gewebes. Denn das zeigen uns
die Befunde vom Rande der apoplektischen Herde und jener vor-
her genauer geschilderte schöne Fall mit Apoplexie ohne ent-
sprechenden makroskopisch-anatomischen Befund, daß erst durch
das Zusammenwirken dieser beiden Faktoren: schnelle Änderung
des Hirnchemismus und ganz besondere Empfindlichkeit der Hirn-
gefäße für diese Änderung, die schwere allgemeine zur Blutung
führende Gefäßschädigung sich entwickeln kann.
In dieser Faktorenreihe: Anämie umschriebener
Hirngebiete durch Angiospasmus bei Hypertonus,
schnelle chemische Umsetzung in Richtung einer An-
säuerung im anämischen Gebiete mit Erleichterung
autolytischer Prozesse, dadurch wieder starke Schädi-
gung der Gefäße aller Art, besonders auch der Arterien-
media mit sofort eintretender ausgedehnter Blutung
beim Aufhören des Angiospasmus spielt die im Ein-
86 WESTPHAL
gang derArbeit betonte erleichterte Blutungsbereit-
schaft der Hypertoniker und ihre Neigung zur Gefäß-
dilatation von Kapillaren und Venen noch eine stark
unterstützende Rolle, die als wichtiges Moment —
man denke zum Vergleich z. B. an angiospastische
Zustände bei Migräne ohne Blutungsfolgen — bei der
Entstehung der Blutung mitwirksam sind.
Die gesteigerte Disposition vieler Hypertoniker, besonders der
roten zu kapillärer und venöser Hyperämie erleichtert auch in
manchen Fällen außerordentlich den Eintritt der Blutung, vor allem
da in Anlehnung an das Bild des Augenhintergrundes bei dieser
Krankheit im Gehirn auch oft wohl geringe venöse Ektasien zu
erwarten sind und leichte Dauerschädigung des Gehirns bei Hyper-
tonie entsprechend den Veränderungen des Augenhintergrundes.
Es genügen dann vielleicht schon minutenlange Anämisierungen
zum Eintritt einer ausgedehnten Blutung, in das schon vorher
dauernd leicht ischämisierte Gebiet. Einzelne Fälle aus dem
Sektionsmaterial, wo eine ausgesprochene histologische Schädigung
der im Zentrum kleiner Diapedesisblutungen gelegenen Arteriolen,
Kapillaren und Venen mikroskopisch nicht zu erkennen war, lassen
an solche Möglichkeiten denken.
In den hochgradig kontrahierten Arterien der Hypertoniker,
welche durch eine besondere Steigerung ihrer pathologischen
tonischen Sperrung der Arterien- und Arteriolen-Muskulatur längere
Zeit in einer Art von Kontraktionsstarre völlig geschlossen gehalten
werden, findet vielleicht auch durch die Änderung des chemischen
Milieus der Nachbarschaft durch die Anämie ein plötzlicher Tonus-
sturz statt mit völligem Versagen, Überdehnung, Durchlässigkeits-
steigerung und Aufquellung dieser Substanz der glatten Muskel-
fasern. Komplizierte physikalisch-chemische Verhältnisse scheinen
da vorzuliegen.
Auch unter normalen Verhältnissen kommen an gewissen Muskeln
solche plötzlichen hochgradigen Tonusänderungen vor. Uxküll be-
schreibt sie bei der Autotomie der Schlagensterne, wo bei hochgradiger
tonischer Versteifung der Muskulatur der Armspitzen ein Tonusabfall
der zentral gelegenen Muskelpartien diese plötzlich zur Erschlaffung und
Erweichung bringt, so daß die geringste von der versteiften Spitze über-
geleitete Berührung genügt, den Arm zum Abreißen zu bringen.
Eine seltene Form von Hirnblutung, die kapillären Spät-
apoplexien (Bollinger) nach Commotio cerebri werden von
Ricker und besonders von Knauer und Enderlen an der
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 87
Hand ihrer schönen experimentellen Beobachtungen auch als eine
unmittelbare Folge der experimentell bei Commotio zu beobachtenden
starken Schwankungen der Gefäßmotilität und zwar der oft sekundär
dann eintretenden paralytischen Wanderschlaffung der Hirngefäße
angesehen. Die Entstehung toxisch auf die Gefäße wirkender Sub-
stanzen bei einer zum Teil durch mangelnde arterielle Blutzufuhr
eintretenden Ansäuerung der Rinde spielt auch in Knauer’s und
Enderlen’s Anschauung eine wichtige Rolle.
Für eine andere nicht häufige Form der Hirnblutung, die
spontanen diffusen Meningeal-Blutungen, haben in den
letzten Jahren zwei Autoren unabhängig voneinander, Goldflam
und Meylan auf das Versagen der Auffassung einer ursächlichen
einfachen Gefäßruptur hingewiesen.
Vor allem sind die Sektionsbefunde Meylan’s in dieser Richtung
überzeugend, daß es sich dabei um ausgedehnte Diapedesisblutungen
handele auf der Grundlage schwerer vasomotorischer Störung. Gold-
flam führt dafür als Beleg die häufige Koinzidenz mit Migräne an,
5 unter 15 solcher Patienten litten daran. Hier konnte nur in einem
Fall eine diffuse Meningealblutung bei einem 34 jährigen Mann mit einer
frischen Glomerulonephritis mit Hochdruck und septischer Endokarditis
beobachtet werden. Es ist möglich, daß die bekannten mit dem Kapillar-
mikroskop sichtbaren Anderungen aller Kapillaren hier die Ursache
solcher diffusen Blutungen abgegeben haben.
Kehren wir zurück zur eigentlichen Apoplexie, so verlangt
diese neue Auffassung der Entstehung der Hirnblutung durch
einen angiospastischen Insult hineingestellt zu werden in die alte
Erfahrung der Ärzte von der ausgesprochenen Disposition einer
bestimmten körperlichen Konstitutionsform des sog. Habitus
apoplecticus. Die Erfahrung, daß dem konstitutionellen Moment
ganz allgemein in der Genese des Schlaganfalles eine große Be-
deutung zukommt, stützt sich erstens. auf die starke Erblichkeit
dieser Erkrankung. Auch wirsahen ganze Apoplektiker- und Hyper-
tonikerfamilien, doch läßt sich eine gründliche Familiendurch-
forschung hier in der Großstadt mit ihrer fluktuierenden, oft
traditionslosen Bevölkerung nicht so durchführen, wie unter länd-
lichen kleinstädtischen Verhältnissen bei den schönen Feststellungen
von Weiß,
Sie stützt sich zweitens auf die Tatsache, daß ein gewisser
körperlicher Habitus, der des gedrungen gebauten Sthenikers mit
Neigung zu erhöhtem Fettansatz und oft einer mehr oder minder
ausgeprägten Policythämie, vielleicht auch begleitet von einer
Plethora vera, zu dieser Erkrankung besonders disponiert erscheint.
88 WESTPHAL
Wir fanden diesen Habitus apoplecticus, dem Pykniker Kretsch-
mar’s oft nahestehend, in unserem Materiale nicht so stark über-
wiegend, in etwa 60°,. 22mal unter den 60 Patienten waren
ausgesprochen vermehrter Fettansatz notiert, aber auch eine ganze
Anzahl von Personen mit mittlerem Körperbau, selten auch mit
ausgesprochenen Zügen der Asthenie, dann besonders mit starken
vasomotorischen Zeichen, wurden von der Apoplexie befallen. Auch
Erblichkeit fand sich bei diesen grazilen Typen. Doch im allgemeinen
überwiegt der Typ des kräftigen, gedrungenen muskulären Menschen
mit einer gewissen Neigung zum Emphysem, leichtem Meteo.
rismus, zum Fettansatz, an dem wir zum Teil folgend R. Schmidt
auch an unserer Klinik oft eine verringerte Schweißsekretion,
eine fehlende Neigung zu Temperaturerhöhungen und eine geringe
Disposition zu entzündlichen Erkrankungen überhaupt betonen
möchten. Auf die engen Beziehungen zu dem meist harmlosen
Altersdiabetes, zur Gicht und zur schweren Fettsucht sei hier nur
kurz hingewiesen.
Ein wesentliches Moment der Konstitutionsart des genuinen
Hochdrucks, nicht der sekundären Schrumpfniere, sieht der Ver-
fasser in der Stoffwechselstörung der dauernden Hypercholesterin-
ämie, auf deren Bedeutung an anderer Stelle eingehend hinge-
wiesen wurde. |
Klarer schälen sich auch bei dieser Einstellung zum Problem
des genuinen Hochdruckes die innersekretorischen Ein-
wirkungen heraus. Auf das sehr komplizierte Zusammenspiel
aller Drüsen mit innerer Sekretion zu der Einstellung des Blut-
druckniveaus soll hier nicht wieder eingegangen werden, wichtig
erschienen dem Verfasser vor allem zwei mit ihrer deutlicher aus-
gesprochenen Einwirkung, die Keimdrüsen und die Schild-
drüse,
Kastration erzeugt Hypercholesterinämie (Neumann und Herr-
mann, Lindemann, de Bella, eigene Beobachtungen). Bei einer
ganzen Reihe hypothyreoider Patienten mit Hochdruck fand der Verf.
Hypercholesterinämie, Leupold senkt durch Thyreoidinfütterung den
Cholesterinspiegel. Die engen Beziehungen zwischen arteriellem Hoch-
druck, Kastration und weiblicher Klimax sind seit Schickele, F.Meyer,
Kisch, Munk u. a. uns bekannt, der Verf. konnte neue Beispiele dafür
bei bringen, auch Störungen der Keimdrüsenfunktion durch kleincystische
Degeneration der Ovarien wirken danach in gleicher Richtung. Über
den Cholesterinspiegel und vielleicht auch zum Teil ohne diesen sind
daher Erhöhungen des Blutdruckniveaus bei Subfunktion der Keimdrüsen
und bei geringer Subfunktion der Schildrüse möglich. Genauer sind
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 89
diese komplizierten Verhältnisse in der früher zitierten Arbeit des Verf.
nachzulesen.
Die von A. Westphal kürzlich mitgeteilten Beobachtungen
über Apoplexie nach vorausgegangener Kastration fügen sich zwang-
los in diese Anschauung ein, ebenso der Bericht Bauer’s über ein
30jähriges Mädchen mit kleincystischer Degeneration der Ovarien,
die aus einer Apopleptikerfamilie stammend plötzlich an einer Hirn-
blutung stirbt. Hirngefäßkrisen infolge Hypercholesterinämie und
vielleicht auch anderer endokriner Wirkung mit oder ohne schon
entwickelten allgemeinen Hochdruck bei Unterfunktion der Keim-
drüsen waren hier die Auslöser der Blutung, als epileptiforme
Anfälle sind angiospastische Insulte anscheinend. bei der einen
Patientin A. Westphal’s auch voraufgegangen.
In diesem Zusammenhang sind auch sehr interessant die Fest-
stellungen F. Kaufmann’s und Hanse’s über die jahreszeit-
lichen Schwankungen der Häufigkeit der Apoplexie.
Wenn z. B. Hanse im Monat März 29, im April 17, im Oktober
27 Schlaganfälle notiert, im Gegensatz zu 6 bis 8 in den übrigen
Monaten des Jahres, so ist der Eindruck ein sehr tiefer, wie stark
ganz allgemein der Gesamtzustand des Organismus über den bloßen
arteriellen Hochdruck hinaus das Zustandekommen der Hirnblutung
beeinflußt. Von der peptischen Ulcera kennen wir die Vorliebe
der Exacerbation in den gleichen Jahreszeiten, bei der Tetanie
wies Morro auf den Frühlingsgipfel hin. Daß in ähnlicher Weise
starke Umstellung im Organismus in den Übergangsjahreszeiten
besonders am Apparat der innersekretorischen Funktion diesen
weitgehend beeinflussen — als Beispiel sei hingewiesen auf die
von der Straub’schen Schule betonte Verschiebung des Säure-
basengleichgewichts des Blutes im Frühjahr — und dementsprehend
auch Gefäßmotilität, Neigung zu Blutdruckkrisen und lokalen
Angiospasmen und vor allem wohl auch Gefäßdurchlässigkeit, kurz
alles, was zum Entstehungskomplex der Apoplexie gehört, kann
danach zwanglos angenommen werden.
Ist das Gehirn auch infolge seines besonders starken Sauer-
stoffbedürfnisses und vielleicht auch wegen seiner komplizierten
Vosomotorenregulation schweren Schädigungen bei angiospastischen
Insulten ganz besonders ausgesetzt, so darf doch zum Schlusse der
Hinweis nicht fehlen, das öfter wie es bisher angenommen wird,
besonders bei der Grundkrankheit des genuinen arteri-
ellen Hochdrucks hochgradige arterielle Kontrak-
tionen zu Schädigungen auch an anderen Organen
90 WESTPHAL
führen können. Daß die chronische Ischämisierung des genuinen
Hypertonus zu schweren pathologisch-anatomischen Veränderungen
führen kann, ist ja eine von Volhard für die Genese der Retinitis
albuminurica und für das Zustandekommen der sog. malignen
Schrumpfnierenform weitgehend betonte Ansicht. Liebermeister
weist auf Blutungen mit den im apoplektischen Herd gefundenen
Gefäßveränderungen ähnlichen in Leber und Niere bei gleichzeitiger
Apoplexie hin. Daß ein akuter Angiospasmus auch an anderen
Orten zu schwerer Schädigung führen kann, zeigt uns folgende
Beobachtung:
Ein 50jähriger Kaufmann Martin W., der drei Jahre vorher eine
weitgehend gebesserte rechtseitige Apoplexie erlitten hat, ist wegen ver-
schiedenartiger Beschwerden seines genuinen Hochdrucks in der medi-
zinischen Klinik. Der im Anfang bis über 200 hinauf gehende Blut-
druck stellt sich bei Bettruhe auf etwa 160 als Maximum ein, eine
Arrhythmia perpetua ist nach kurzer Chinidinbehandlung verschwunden.
Am 26. I. tritt bei dem psychisch sehr labilen Patienten im Anschluß
an leichte Aufregung nachmittags um 4 Uhr plötzlich ein Anfall stärkster
Herzschwäche ein und wieder totale Arrbythmie mit hochgradiger Tachy-
kardie bei ganz kleinem kaum fühlbaren Pulse, starke Cyanose, Dyspnoe
und beginnendes Lungenödem. Doch treten innerhalb dreier Stunden
auf Kampfer, Koffein, Nitroglyzerin wieder gute Kreislaufverhältnisse ein.
Die Erholung des Herzens hält an, jedoch ist am nächsten und über-
nächsten Tage Temperatursteigerung auf 38,5 feststellbar, feines Reiben
ist während dieser Zeit in der Gegend des linken Ventrikels hörbar.
Die Temperatur bleibt noch 4 Tage subfebril, dann wieder Rückkehr
zur Norm. Drei Monate später wieder Einlieferung in die Klinik mit
versagender Herztätigkeit bei totaler Arrhythmie. Es erfolgt hier 8 Tage
später unter den Zeichen zunehmenden Kreislaufversagens und Lungen-
infarktbildung der Tod.
Bei der Sektion findet sich neben einer frischen Thrombose beider
Femoralisvenen und Lungenembolien in dem linken Unterlappen mit In-
farktbildung ein brauner Erweichungsherd in den rechten Stammganglien,
eine ganz geringgradige Schrumpfniere mit Arteriolosklerose mikroskopisch,
am Herzen Hypertrophie und Dilatation des ganzen Herzens. In der
Wand des linken Ventrikels finden sich zusammenhängend ausgedehnte
weitgraue Stellen, das Perikard zeigt darüber in der Nachbarschaft
weißlich-graue Flecken. Die Coronararterien sind gut durchgängig, ihr
Lumen ist überall weit, sie zeigen stellenweise eine mittelstarke Ent-
wicklung von gelben Intimaflecken, die Media ist nirgends sklerosiert.
Der fehlende Befund einer Thrombenbildung in den Kranzarterien
des Herzens oder verschließender arteriosklerotischer Pruzesse läßt es in
diesem Falle als die wahrscheinliche Lösung erscheinen, daß ein länger-
dauernder arterieller Krampfverschluß bier zur Nekrosenbildung am Herz-
muskel geführt hat mit nachfolgender Perikarditis und Resorptions-
temperaturen sowie späterer Schwielenbildung.
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 91
Das gleiche Krankheitsbild: leichte Temperaturanstiege nach
Angina pectoris-Anfällen mit myomalacischen Erscheinungen am
Herzen und evtl. Bildung von Herzaneurysmen, sowie von Peri-
karditis ist von Kernig und Löwenberg geschildert, von
einer Pericarditis stenocardiaca in gleichem Sinne spricht Stern-
berg. Wichtig ist, daß von G. B. Gruber und Lanz ein Fall
vonischämischerHerzmuskelnekrose nach Angina pectoris
ähnlichen Beschwerden bei einem 29jährigen Epileptiker gefunden
wurde ohne irgendwelche Veränderungen an den Gefäßen. Sie
führen die schweren Veränderungen auf vasomotorische Er-
scheinungen in der Aura zurück. Daß Herzmuskelnekrosen und
Schwielen häufiger wie wir bisher glauben durch solche zeitweiligen
funktionellen Arterienverschlüsse bedingt sind, erscheint ja keines-
wegs unmöglich.
Zweimal konnten wir bei Hypertonikern bei sonst normalem
Sediment und bis auf geringe Einschränkung der Konzentrations-
fähigkeit sonst normale Nierenfunktion ohne vorausgegangene
Glomerulonephritis ganz plötzlich einsetzende starke Blutbei-
mengungen zum Urin feststellen, die nach kurzer Zeit, in 6 bis
10 Tagen wieder schwanden ohne Auftreten von größeren Mengen
von Zylindern im Urin oder Zeichen stärkerer Niereninsufficienz.
Daß hier kurz dauernde Ischämie durch Kontraktion größerer
Nierenarterien zu solchen hämorrhagischem Infarkt ähnlichen
Blutungen geführt hat, ist durchaus möglich, der gar nicht seltene
Befund von Infarktnarben bei leichteren Schrumpfnieren ohne Vor-
handensein von Ausgangsstellen für frühere Embolien an Herz-
klappen usf. und ohne verschließende Arteriosklerose der Nieren-
gefäße — Herr Prof. Jaffe vom pathologischen Institut machte
mich auf solche Befunde aufmerksam — läßt in gleicher Richtung
denken. Für akut einsetzende Pankreasapoplexien bei Hypertonikern,
die nicht gleichzeitig an Erscheinungen von Erkrankungen der
Gallenwege leiden, für die seltenen, beim arteriellen Hochdruck
erst nach dessen Ausbildung einsetzenden peptischen Ulcera, gelten
vielleicht die gleichen Beziehungen. Doch an Bedeutung treten
diese ähnlichen Erscheinungen an anderen Organen sehr zurück
hinter der Apoplexia cerebri. Die hochgradige Empfindlichkeit
gegen vorübergehende Anämisierung wird eben in keinem der
anderen Organe erreicht.
Wir kommen zum Schluß. Er verlangt in Weiterführung der
vorgetragenen Gedankengänge energischer wie bisher vom Arzt
die Therapie der leichten und flüchtigen Erschei-
99 WESTPHAL
nungen am Hirn der Hypertoniker, des Schwindels, des
Kopfschmerzes, der leichten Ohnmachten usf., denn können wir
diese hemmen, so verhindern wir voraussichtlich oft die Entwick-
lung der folgenschweren Steigerung solchen krankhaften Geschehens
der Apoplexie. Von der reichlichen Zahl der gegen den arteriellen
Hochdruck genannten Mittel sei hier nur wieder hingewiesen auf
das Diuretin wegen seiner direkt gefäßerweiternden Wirkung und
auf das altbekannte Jod. Besser und energischer wie beide wirkt
oft Rhodan .in kleinen Dosen. Es wird über diese gute Erfolge
aufweisende Therapie an anderer Stelle genauer berichtet werden.
Im Gedankengang der Hypercholesterinämie als ursächlichem Faktor
erscheint eine lange und konsequent durchgeführte Fettentziehung
nicht ohne Nutzen, ebenso bei den angedeuteten Zusammenhängen
mit der Subfunktion der Keimdrüsen länger durchgeführte Gaben
von deren Präparaten und ev. von Thyroidin. Gute Dienste tat
einige Male bei Patienten mit Hirngefäßkrisen und Angina pectoris-
Anfällen die proteinkörperähnliche Behandlung mit Schwefelin-
jektionen, wie sie Rusznyak zur Behandlung der Hypertonie
empfohlen hat. Zu warnen ist unbedingt vor kritikloser Anwendung
von heißen Bädern auch in Kombination mit Kohlensäure beim
ausgesprochenen arteriellen Hochdruck, es sei nur erinnert an die
Versuche F. Kaufmann’s mit den starken Blutdruckanstiegen
bei hitzeempfindlichen Hypertoniekranken, und an die Schwindel-
anfälle, die beim heißen Baden den Hypertoniker manchmal be-
fallen. Eine Ruhe- und Liegekur in nicht zu warmem klimatischen
Milieu wirkt hier oft besser wie übertriebene Bäderbehandlung.
Über 50°/, unserer Apoplektiker waren vor dem 60. Lebensjahr be-
fallen. Eine konsequente Therapie der Prodromalerscheinungen ist
nicht nur eine Behandlung einer senilen Abnutzungserscheinung,
die in oft sehr glücklicher Weise ein schnelles Ende herbeiführt,
sondern sie kann auch zahlreiche noch.-Rüstige und Schaffensfreudige
bewahren vor jahrelanger Lähmung und Krankenlager.
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Über die Entstehung des Schlaganfalles. 95
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96
Aus der Medizinischen Universitäts-Klinik Frankfurt a. M.
(Direktor: Prof. G. v. Bergmann).
Über die Entstehung des Schlaganfalles.
ill. Experimentelle Untersuchungen zum Apoplexieproblem.
Von
Karl Westphal,
Privatdozent für innere Medizin, Oberarzt der Medizinischen Universitäts-Klinik.
(Mit 5 Abbildungen.)
Tierexperimente, die den in der klinischen Arbeit auseinander-
gesetzten Entstehungskomplex der Hirnblutung beim Hypertoniker
nachahmen wollen, können sich nur auf einen sehr plumpen Ver-
such der Imitation beschränken. Denn das so komplizierte und
oft jahrelang vor der Blutung auf das Gehirn einwirkende patho-
logische Milieu des meist der genuinen Form angehörigen arteriellen
Hochdruckes schafft am Gehirn durch die ähnlich dem Bilde des
Augenhintergrundes bei dieser Erkrankung lange vorausgehenden
Ischämien schwankenden Grades und dadurch eintretende Schädi-
sungen, durch die erhöhte Blutungsneigung der Hypertoniker und
schließlich durch das eng auf das Versorgungsgebiet meist nur
einer größeren Endarterie umschriebene Gebiet von Anämisierung
und Erweichung in einem im übrigen in seinem Lebensprozesse
nicht so grob gestörten Cerebrum so komplizierte Verhältnisse, daß
sie sich wenigstens im akuten Experiment schlecht imitieren lassen.
In der Tierheilkunde sind Gehirnblutungen auch nicht als häufig bei
irgendeiner Tierart bekannt. Altere Hunde leiden allerdings verhältnis-
mäßig oft an Nierenschrumpfung. Spaeth und Clauß haben auch be-
deutende arterielle Blutdruckanstiege bei ihnen festgestellt, auf 170 bis
210 mm Hg gegen 140 als Norm, aber ob bei Tieren eine Gehirn-
arteriosklerose in Verbindung mit erhöhtem Blutdruck als Ursache von
(tehirnblutung in Frage kommt, ist nicht erwiesen, jedenfalls ist diese
Erkrankung im Gegensatz zum Menschen bei den Tieren höchst selten
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 97
(Hutyra und Morch). An einer bestimmten Tierart experimentell
vorzugehen, erschien daher kaum lohnend.
Durch häufige intravenöse Adrenalininjektionen konnte B.
Fischer größere Hirnblutungen bei Kaninchen erzeugen, die nach
bisher nicht veröffentlichten Abbildungen in beträchtlicher Aus-
dehnung in verschiedensten Hirngebieten auftreten und klinisch
unter dem Bilde des Schlaganfalles verliefen. Ob diese sich aber
in direkte Beziehung zur Hypertonusblutung setzen lassen, erscheint
bei dem bekannten Eintreten schwerer Medianekrosen an den großen
Gefäßen durch die Adrenalininjektionen und voraussichtlich ähn-
licher Prozesse an den Gehirnarterien selbst fraglich. |
Es wurden daher die experimentellen Untersuchungen be-
schränkt auf folgende Fragen: 1 Beteiligen sich spontan auch Arterien
mittleren Kalibers an so ausgesprochenen Kontraktionen, daß diese
bei längerer Dauer im Gehirn zu Ernährungsstörungen führen
können? 2. Lassen sich durch akute Anämisierung in umschriebenen
Gehirngebieten dem angiospastischen Insult und der Apoplexie ähn-
liche Bilder erzeugen? 3. Lassen sich bei genügend langer Dauer von
Anämie im Gehirn Spontanblutungen erzeugen?
Ein gutes Beobachtungsobjekt für die Frage; wieweit beteiligen
sich unter physiologischen Verhältnissen die Arterien nicht ganz
kleinen Kalibers an ausgesprochenen Motilitätsvorgängen ? bot die
in der pathologischen Anatomie für Stase und Entzündungsprobleme
z. B. von Samuel, Ricker und Regendanz, ganz neuerdings
auch von Tannenberg benutzte, durch die Durchspülungsver-
suche des Russen Krawkow am überlebenden Präparat zur Zeit
wieder für ähnliche Fragestellung wie hier bekanntgewordene große
Ohrarterie des Kaninchens.
Diese bietet gute Möglichkeiten zur direkten Beobachtung von Be-
wegungsphänomenen an einer mittleren Arterie dar, denn sie verläuft in
der Mitte des Ohres auf der Außenseite von der Basis bis zur Spitze
vereinzelt Seitenäste abgebend auf der durchsichtigen harten Knorpel-
unterlage und ist überzogen von einer dünnen bei den meisten Tieren
nur wenig behaarten Haut. Daher bietet sie sowohl bei direkter Be-
sichtigung des Ohres von oben oder besser noch bei einer im durch-
scheinenden Licht einer 5—10 cm hinter dem Ohr aufgestellten starken
Lampe ein genaues Abbild aller Bewegungen und Füllungszustände.
Bei 4 so beobachteten Kaninchen war ein hochgradiger Wechsel in
der Füllung zu beobachten, der sowohl ganz spontan auftrat, wie künst-
lich durch verschiedene Eingriffe zu erzeugen war.
Die spontanen Schwankungen in der arteriellen Gefäßweite waren
am stärksten bei dem jüngsten, einem leicht erregbaren !/, jährigen
Kanin, Hinaufbeben auf den Untersuchungstisch zeigte in den Arterien
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 1
98 WESTPHAL
zuerst für 20 Sekunden fast völlige Leere, nur ein zwirnsfadendünner
roter Streifen zeigte den Gefäßverlauf an, dann erfolgte plötzlich ein-
tretend Füllung der Arterien auf etwa 1,5 mm Breite, mit prallem
Hervortreten derselben über dem Knorpel. Bei 10 Minuten langer Dauer
der Beobachtung war stets ein starker Wechsel der Füllung imponierend,
manchmal trat dieser deutlich ruckweise ein, manchmal allmählicher,
zwischen 0,5 und 1,5 mm pendelt die Gefäßweite dauernd hin und her,
etwa l mal in jeder Minute war bis zum Schluß der Beobachtung ein
plötzliches von dem Ohransatz zur Spitze laufendes fast völliges Schwinden
der arteriellen Füllung zu beobachten.
Bei den anderen Tieren war der Befund ähnlich, nicht immer sind
die Schwankungen gehäuft und stark aufgetreten. Am hochgradigsten
waren die Kontraktionen bei dem ältesten, einem 4jährigen unter
Cholesterinfütterung stehendem Weibchen, wo beim Aufsetzen des Tieres
auf den Tisch eine völlige Kontraktion und Blutentleerung der Ohrarterie
erfolgte, nach 25 Sekunden trat dann plötzlich eine hochgradige Füllung
ein, die Arterie erscheint als ganz dicker, 2,5—3 mm breiter Wulst,
auf dem Ohrknorpel vorspringend, nach 30— 40 Sekunden geht die Gefäß-
weite auf 1,5 mm zurück, um dann wieder weiteren, nicht so starken
Schwankungen ausgesetzt zu sein.
Durch psychische Reize, Kneifen des Tieres, Beklopfen ließen sich
bei allen Kaninchen mehr oder minder starke Kontraktionen der Ohr-
arterien erzielen. Durch intravenöse Adrenalininjektion, 0,1 mg, ließ
sich für 20 Sekunden Verengerung auf 0,5 mm, nachher reaktive Er-
weiterung auf 2—2,5 mm erzeugen, durch Kompression an der Basis
die gleiche Verengerung und sekundär Hyperämie mit starker Erweiterung.
Kneifen eines umschriebenen Arterienstückes mit einer Pinzette rief an-
dauernde Kontraktion dieses Abschnittes hervor, in den folgenden Tagen
war an der gleichen Stelle oft deutliche Erweiterung feststellbar. Am
anderen Ohr erfolgten die arteriellen Kontraktionen oft gleichsinnig, aber
durchaus nicht immer. Spontanrhythmen oder ein besonderer Turnus der
Schwankungen ließen sich bei dieser Methode der Beobachtung nicht
feststellen. Auf genaue Wiedergabe der Protokolle wird verzichtet.
Es genügt hier die Feststellung der Tatsache, daß in ganz
ausgedehntem Maße auch mittelgroße, zum mindesten nicht ganz
kleine Arterien des Körpers von einem lichten Durchmesser von
1—2 mm bereits unter physiologischen Verhältnissen sich andauernd
weitgehend an der Gefäßmotilität beteiligen, daß wir durch diese
einfache Beobachtung an der Ohrarterie des Kaninchens feststellen
können, wie die bekannten Erscheinungen etwa psychogenen Er-
rötens und Erblassens nicht bloß in den kleinen und kleinsten Ge-
fäßen sich abspielen, sondern daß die Schwankungen der Gefäß-
weite dauernd auch die etwas größeren Arterien mitbefallen. Wenn
wir auch unter pathologischen Verhältnissen am Menschen als
seltene klinische Beobachtung das zeitweise Verschwinden der
Fußpulse beim intermittierendem Hinken kennen, das der Radialis-
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 99
pulse in wenigen Fällen von Raynaud’schen Attacken und schließ-
lich Totalkontraktionen der Arteria centralis retinae bei flüchtiger
Amaurose, so bietet doch die Häufigkeit solcher Schwankungen
der Gefäßweite an den Ohrarterien des Kaninchens
einen geeigneten Vergleich mit der Bewegungsmöglichkeit der
Hypertonikerarterien besonders am Gehirn, wo Gefäße gleichen
Kalibers nach der hier vorgetragenen Auffassung durch eine dann
allerdings unter besonderen Verhältnissen an Intensität noch ge-
steigerte Kontraktionsfähigkeit zu schweren Schädigungen des Or-
gans führen können.
Die zweite Fragestellung: Lassen sich durch arterielle Kon-
traktion der Apoplexie ähnliche Bilder erzeugen?, war nicht direkt
zu lösen. Durch intraarterielle Injektionen von verdünnter Supra-
reninlösung iin Ringer’scher Flüssigkeit in die linke oder rechte
Carotis von Hunden ließen sich wohl Zustände von Coma mit zeit-
weisem Aussetzen der Atmung, manchmal im Typ ähnlich der
Cheyne-Stockes’schen Atmung erzeugen, auch waren Erscheinungen
von Parese der entsprechenden Körperhälfte bei dem Aufwachen der
Tiere, besonders an den Hinterbeinen, zu beobachten, aber Befunde
deutlicher anatomischer Schädigung waren an der durch Suprarenin-
injektion allerdings abgeblaßt und anämisch erscheinenden Hirn-
hälfte nicht zu erheben. Die gute Anastomosenbildung des Arterien-
kranzes an der Hirnbasis verhinderte dies wohl und auch die
mangelnde Disposition der Versuchstiere zu länger dauerndem
arteriellem Krampfverschluß.
Es mußte daher zur Erzielung sicherer Anämie am Gehirn
ein anderer Weg gewählt werden. Er bot sich durch einen weiteren
Ausbau der Versuche von Kußmaul und Tenner, deren
Grundanschauung das „durch plötzlich aufgehobene Ernährung des
Gehirns fallsüchtige Anfälle zustande kommen können“, ja zum
Teil in sehr ähnlicher Form in dem klinischen Teil dieser Unter-
suchungen vertreten wurde.
Die Technik der Versuche wurde so gewählt, daß an Hunden und
Katzen in Athernarkose nach Tracheotomie Auer-Meltzer’sche Atmung
durchgeführt wurde unter einem gewissen Überdruck, so daß auch bei
Pleuraeröffnung die Sauerstoffversorgung des Organismus eine gute war.
Nach Wegnahme der Brustbeinspitze und der anliegenden Clavikulateile
wurde rechts der Stamm der Subclavia und der bei den hier benutzten
Versuchstieren in einem gemeinsamen Stamme des Truncus anonymus mit
abgehenden beiden Carotiden durch eine Ligatur unterbunden und ebenso
links in der Tiefe am Aortenbogen die Subclavis an ihrer. Abgangsstelle.
Die Blutversorgung des Gehirns durch Carotider ‘und. Arturia» vertebvasen
7
100 WESTPHAL
war dadurch verlegt. Die Unterbindung geschah zur Schonung der Ge-
fäße mit vorher durch Kochen zur Quellung gebrachtem Katgut, nach
Lösung dieser elastischen Unterbindung war stets eine gute Passage des
Blutstroms in den Arterien wieder möglich. Die Anämie wurde je nach
Plan und Zustand des Tieres verschieden lang, 30 Minuten und länger,
durchgeführt, bei Eröffnung der Unterbindung gleichzeitig intravenös und
kurz vorher auch intramuskulär Suprarenin gegeben, um eine möglichst
gute Durchblutung des anämischen Gehirns unter erhöhtem Blutdruck zu
erzielen. Der Tod der Versuchstiere erfolgte spontan oder häufiger durch
Entziehung der künstlichen Atmung. Auf eine genaue Wiedergabe der
Versuchsprotokolle wird verzichtet.
An den Gehirnen fanden sich nie makroskopisch erkennbare Ver-
änderungen, nur mikroskopische. Diese wurden festgestellt an einer großen
Reihe von Schnitten, die gewonnen wurden durch einen Querschnitt durch
die Mitte des Gehirns. Es wird hier in den Berichten nur die Anzahl
der Blutung in einem dieser Schnitte wiedergegeben. Den Herren Kollegen
Schreiber, Albrecht und Kuckuk sowie dem Laboranten Lind
danke ich auch an dieser Stelle vielmals für die bei der Durchführung
der Experimente geleistete Hilfe.
Katze I: 17. III. 25. Operation 5—5‘°. Unterbindung des
Trunkus anonymus rechts, links der Subclavia beendigt, Apnoe des Tieres,
weite reaktionslose Pupillen, Herztätigkeit 150 in der Minute.
61° nach 30 Minuten Eröffnung der Ligatur. Herzaktion kurz
vorher schlecht wegen verkehrt funktionierender künstlicher Atmung.
613 Exitus. Eine deutliche Pulsation der Carotiden ist nicht mehr
eingetreten.
Mikroskopisch findet sich am Gehirn nur eine mäßige Blutfüllung
der Gefäße. An einer Reibe von Schnitten aus der linken und rechten
Hemisphäre lassen sich vereinzelt kleine Blutungen feststellen, 3 z. B. in
einem Schnitt von links, um nur mäßig gefüllte Kapillaren im Rinden-
gebiet unweit der weißen Substanz, 2 im Stammgangliengebiet, 1 davon
um eine kleine Vene. Rechts in einem Schnitt nur im Stammgangliengebiet
an 4 Stellen, 2mal um durchaus nicht stark gefüllte Venen, 2mal um
Kapillaren deutliche Blutung in die Umgebung. In einer Vene fand sich
Gerinnung angedeutet, an den anderen nichts dergleichen, deutliche Wand-
veränderungen sind nicht an den Gefäßen erkennbar. Es handelt sich
hier also um Blutungen, die bei Stase in den Gehirngefäßen nach der
Unterbindung bereits erfolgt sein müssen, da die erst beim Versagen des
Kreislaufs erfolgende Eröffnung der Gefäßligaturen nicht mehr zu einer
deutlichen Füllung der Carotiden ausreichte.
Katze II: 19. Ill. 25. Operation 5—5°°. Tier liegt nach Ge-
fäßunterbindung in Apnoe mit weiten reaktionslosen Pupillen, Puls 120.
Später zeitweise spontan vereinzelt ganz tiefe Atemzüge bis zu 12 in
der Minute. Herzaktion bleibt kräftig bis 6°’. 6°% 2 mal ®/, mg Supra-
renin intramuskulär, 6°° Eröffnung der Ligatur, die unterbundenen
Arterien pulsieren danach voll und kräftig, auch bald danach gute
Füllung der Halsvenen, 6!! Suprarenin '/, mg intravenös, 6°° Suprarenin
Vo mg, intzavenös.« Nech der Injektion verstärkte und etwas beschleunigte
Herzaktion und Puisat:on.: JMe Pupillen bleiben lichtstarr und weit auch
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 101
nach der erneuten Hirndurchblutung, die Muskulatur schlaff und regungslos.
64° Beendigung des Versuches durch Herausnehmen der Trachealkanüle.
Der Schädel wird eröffnet durch eine kleine Kreissäge, das Gehirn bleibt
nach Freilegung in der Schädelkapsel, es wird mit dem Schädel zusammen
mit 10°/ iger Formalinlösung fixiert, am nächsten Tage erst von der
Schädelbasis abpräpariert. Die Basisgefäße sind gut durchblutet.
Querschnitte aus dem Vorderteil des Gehirns zeigen mikroskopisch
z. B. an einer Stelle 3 Blutungen in die Stammganglien, rechts und
links 2 kreisrund um prall gefüllte Kapillaren, 1 ausgedehnte um eine
kleine Vene.
Querschnitte aus dem Mittelteil des Gehirns zeigen links, z.B, ein-
mal an 6 Stellen, Blutungen in das Gebiet der Stammganglien um eine
kleine Vene, um eine Arteriole, an einer Stelle um eine große Vene und
daneben um eine ganze Reihe von Kapillaren, außerdem im Rinden-
gebiet 2 mal deutliche Blutungen um Kapillaren. Die Wand der Gefäße
erscheint dabei wenig verändert, nur die Wand einer größeren Vene
erscheint glasig gequollen. Stauung und überstarke Füllung der Gefäße
besteht im Gehirn nicht. Rechts finden sich im Mittelteil des Gehirns
in einem Schnitt z. B. 5 Blutungen, 3 um kleine Venen 1l um eine
kleine Arterie, 3 finden sich wieder in den Stammganglien, 2 in der
Rinde. An anderen Schnitten finden sich noch Blutungen in der
Marksubstanz, nirgends sind Gerinnungserscheinungen in den Gefäßen zu
sehen. Vereinzelt läßt sich an kleinen Venen glasige Quellung der
Wand feststellen, jedoch keine Kernveränderungen im Blutungsgebiet.
Die Blutungsherde sind nie groß, ihr Durchmesser beträgt das Doppelte,
seltener 3—4 fache von dem der betroffenen Gefäße.
Katze lII, IV, V: zeigen unter gleichen oder ähnlichen Versuchs-
bedingungen 2 mal bei III und IV mikroskopisch vereinzelt kleine
Blutungen z. B. III rechts 4 im Rindengewebe an der Basis, 2 mal um
Arteriolen, 2 mal um Kapillaren in der Mitte der Hemisphäre im Mark-
gebiet, links nur 1 um eine Arteriole an der Basis. Bei IV fanden
sich auf einem Querschnitte durch die Mitte des Gehirns beispielsweise
5 Blutungen, 1 um eine große Vene, l um eine Arteriole und 3 um
kleine Venen, zum Teil in Rindenpartien an der Basis des Gehirns. Auf-
fällig sind hier an den Kernen einer Arteriolen und zweier kleinen Venen
Veränderungen im Sinne einer Verklumpung, solche Kernveränderungen
finden sich noch in einer Arteriolenwandung ohne Blutung in die Um-
gebung. Bei Katze V zeigt die mikroskopische Untersuchung außer
einigen kleinen Blutungen unter dem Ependym an den Seitenventrikeln
in der Nähe des Plexus nichts Pathologisches.
Katze VI: 18. VI. 25. 43-415 Operation. Nach Gefäßunter-
biodung Spontanatmung und Cornealreflex erhalten, Pupillen lichtstarr,
vereinzelte Bewegungen des Körpers und der Extremitäten. 6215, also
erst nach 1!/, Stunden, Entfernung der Unterbindung, danach gute Füllung
der Halsarterien und Venen, vereinzelte leichte Streckkrämpfe. Supra-
renin l mg intravenös, 2 mg intramuskulär. Volle kräftige Herzaktion
lange erhalten, bis 80%, 81° bei hochgradigen Streckkrämpfen in den
Extremitäten schlechte Herztätigkeit, die sich nicht wieder gut erholt,
bis um 11°° der Exitus spontan erfolgt. Die Versuchsdauer der An-
102 WESTPHAL
ämisierung betrug also hier 1!/, Stunden, danach Fortsetzung des Ver-
suchs noch ca. 5 Stunden, das Gehirn wurde erst am nächsten Morgen
aus dem Schädel entnommen.
An den mikroskopischen Präparaten fiel hier auf, daß sich neben
einer ganzen Reihe von kleinen und kleinsten Arterien eine schmale
Zone von Odem befand, die sich bei Hämatoxolin-Eosinfärbung rosa färbte,
auch in wenigen Arterien selbst bestand die Füllung nur aus solcher glasigen
rosa Masse, wohl Blutserum. Neben solcher ödematösen Durchtränkung
der Gefäßnachbarschaft fanden sich um eine kleine Arterie, die gefüllt
mit seröser Flüssigkeit war, eine ausgesprochene Blutung ohne erkennbare
Veränderung der Wand inmitten der Stammganglien (vgl. Abb. III, 1).
Abb. III, 1. Blutung um Arterie mit Gerinnselbildung im Innern bei Katze 4
ohne erkennbare Wandschädigung des Gefäßes im Corpus striatum. Vergrößerung
27Vfach, Leitz.
2mal fanden sich außerdem um kleinste Arterien mit Blutfüllung
Blutungen, 3mal Blutungen zum Teil auch im Mark, lmal nach Art
einer Ringblutung kreisförmig angeordnet mit ödematöser Durchtränkung
der inneren Partien um das Gefäß selbst. Schwere Veränderungen
waren an den Gefäßen nirgends erkennbar. An den Kontrollschnitten
fanden sich die gleichen Veränderungen wie die beschriebenen.
Auffallend war hier neben den üblichen kleinen Blutungen die seröse
Druchtränkung der Arteriennachbarschaft an manchen Stellen. Sie ist
der Ausdruck der gleichen gesteigerten Gefäßwanddurchlässigkeit wie bei
den Blutungen. An den Ganglienzellen waren nirgends in diesen Fällen
auch bei gut durchgeführten Nisselpräparaten ausgesprochene Verände-
rungen festzustellen. Herr Dr. Kino vom Neurologischen Institut (Prof.
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 103
Goldstein) hatte dankenswerterweise die große Freundlichkeit, gerade
daraufhin die Präparate mit durchzusehen.
Aber von den schnell geänderten Verhältnissen der grauen Sub-
stanz des Gehirns gibt besser Auskunft eine Prüfung derselben mit Lack-
muspapier. Während am unberührten Gehirn auch in unseren Versuchen
eine schwach alkalische Reaktion der Rinde festzustellen war, zeigten
bald nach der Unterbindung, 10 Minuten später z. B., Rinde und Stamm-
ganglien ausgesprochen saure Reaktion. Durch Aufdrücken von blauem
Lackmuspapier auf Hirnquerschnitte der berausgenommenen Gehirne ließ
sich stets eine mehr oder minder klar hervortretende Bänderung mit rosa
Verfärbung der grauen Substanz in Rinde und Stammganglien und blau
bleibender der weißen feststellen. Dieser Umschlag in der Reaktion
stimmte mit den früher eingehend mitgeteilten Literaturangaben überein.
An Hunden wurden 2 mal die gleichen Experimente vorgenommen.
I. Hellgraue Hündin, 6 kg Gewicht, Operation 5°°—6, 5. VII.
25. Nach Unterbindung der arteriellen Gefäßstämme zuerst totale Apnoe.
kurzdauernder Streckkrampf, Pupillen ohne Lichtreaktion, Cornealreflex
auslösbar, Herzaktion kräftig, 80 in der Minute. 6?°—-6° spontane
Atmung, 6°° Lösung der Unterbindungen, Herzaktion danach verlangsamt
auf 48 in der Minute mit Extrasystolen. 2 mg Suprarenin langsam
intravenös. Danach Puls 60, Extrasystolen verschwinden für einige Zeit.
Gute Füllung der Carotiden und Halsvenen, 7!° Entfernung der Tracheal-
kanüle, 78° Tötung durch Herzschnitt, da die Atmung spontan weiter geht.
Hirn blutreich bei der Sektion. Bei der mikroskopischen Unter-
suchung findet sich eine Reihe von Blutungen durch rechte wie linke
Hemisphäre, z. B. rechts in einem Schnitt an 11 Stellen, 4 um Arteriolen,
3 um Venen, der Rest um Kapillaren, stellenweise gehäuft um solche,
z. B. an einer Stelle im oberen Teil des Rindengraus um 7 Kapillaren.
Die Blutungen sind überall verteilt, z. B. auch im Mark, eine besondere
Bevorzugung der Stammganglien ist nicht feststellbar. Links ist der
Befund der gleichen auch hier etwa 10 Blutungen in einem Schnitt,
einmal um eine Arteriole, 4 mal um Venen, 2mal dabei um etwas größere
Venen (vgl. Abb. III, 3). Bei Nisselfärbung ist nichts Besonderes an
den Ganglienzellen festzustellen.
Hund II: schwarze Hündin, 5 kg schwer, 12. VII. 25 48°_—5°5
Operation. Nach Unterbindung spontan tiefe Atmung, Cornealreflex er-
halten, Lichtreaktion der Pupillen negativ. Puls voll und kräftig, 88—92.
6‘° Lösung der Unterbindung, danach sehr langsamer Puls, 25—28 in
der Minute, langsame tiefe Atmung 5mal in der Minute, intramuskuläre
Suprareningaben, 1X 1,2 2 mg, bessern Herzaktion wenig. 82% Ent-
fernung der Kanüle, Exitus.
Die mikroskopische Untersuchung des Gehirns zeigt rechts an einem
Querschnitt aus der Mitte wieder eine Reihe von Blutungen, z. B. 6,
zum Teil um kleine Venen, zum Teil um Kapillaren, anscheinend etwas
gehäufter im Basalteil der Stammganglien. Links finden sich ausge-
sprochenere Bilder, hier sind 2mal in der Tiefe, im Rindengrau (vgl.
Abb. III, 3) aber unweit von der Marksubstanz, an Arteriolen mit deut-
lich veränderten geschrumpften und verklumpten Kernen kleine Blutungen
vorhanden, ähnliche Kernveränderungen finden sich auch bei eifrigem
104 WESTPHAL
Abb., III, 2. Blutung um eine Vene in der Gegend der Stammganglien links-
seitig bei Hund 1. Vergrößerung 270 fach, Leitz.
Abb. III. 3. Blutung um Arteriole mit verklumpten Kernen in der Media bei
Hund 2 in grauer Substanz der Rinde des Temporallappens. Vergrößerung
270 fach, Leitz,
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 105
Suchen an 3 Arteriolen aber ohne Blutung in der Nachbarschaft, außerdem
sind an verschiedenen Teilen des Gehirns auch im Mark um kleine Venen
und Kapillaren deutliche Blutergüsse, im ganzen 9.
Die erzielten Veränderungen zeigen demnach keineswegs eine
Gleichheit oder ausgesprochene Ähnlichkeit mit der massierten
Blutung der apoplektischen Herde, auch die einige Male vor-
kommende größere Häufigkeit von kleinen Blutungsherden in der
grauen Substanz der Stammganglien war keineswegs so ausge-
sprochen, daß daraus Vergleichsmöglichkeiten für die Pathologie
sich ergäben.
Als einziges sicheres Resultat kann bei dieser Veruchsanord-
nung nur festgestellt werden, daß an diesen Gehirnen, die wohl
infolge der starken allgemeinen Schädigungen des Kreislaufs durch
die Versuchsanordnung im allgemeinen nicht die Zeichen stärkerer
reaktiver Hyperämie aufwiesen, an einer ganzen Reihe
kleinerer arterieller, venöser und kapillärer Ge-
fäße Wandschädigungen, die zum Teil sogar ana-
tomischerkennbarsind, eintraten, die zuDiapedesis-
blutungen geführt haben, daß demnach die zeitweise
l Stunde und länger dauernde Anämisierung des
Gehirns gleichzeitig mit den an der grauen Substanz eintreten-
den chemischen Veränderungen im Sinne eines Umschlages nach
der sauren Seite zu deutlicher blutungserzeugenden Gefäßschädi-
gung führen kann. Wenn diese nicht den Umfang und die Schwere
der apoplektischen Blutung annelımen, so kann dies daran liegen,
daß hier die vorher aufgeführten pathologischen Bedingungen des
Hypertonus nicht vorhanden sind, und daß hier die später wieder
eintretende arterielle Zufuhr trotz der Adrenalininjektionen eine
abgeschwächte war.
Wie eng die Beziehungen zwischen zeitweiser Anämisierung
im Gehirn und Blutungsentstehung auch unter anderen Bedingungen
wie denen des Hypertonus sind, zeigte ein fast nach Art der vor-
her geschilderten Experimente an einer Kranken sich ab-
spielender Vorgang.
Gelegentlich konsultativer Tätigkeit wurde der Verf. auf der chirur-
gischen Klinik zu einer Patientin gebeten, an der infolge Eintritts von
völligem Stillstand der Herztätigkeit und Atmung bei einer
Operation wegen ausgedehnter eiteriger von den Adnexen ausgehender
Peritonitis 15 Minuten lang vergeblich Wiederbelebungsversuche durch
künstliche Atmung usf. gemacht worden waren, bis dann schließlich eine
intrakardiale Suprarenininjektion das Herz zu neuer Tätigkeit und damit,
so könnte man hier sagen, den ganzen Menschen zu neuem Leben er-
106 WESTPHAL
weckte. Die Operation geschah abends zwischen 10 und 11 Uhr. Die
28 jährige Patientin blieb auch am nächsten Tage völlig bewußtlos, die
Muskulatur war meist in tonischem Krampfzustand, selten traten klonische
Zuckungen auf, hochgradige Nackensteifigkeit, Streckkrämpfe der Beine
und gesteigerte Sehnenreflexe, ohne Zeichen von Pyramidenbahnenunter-
brechung bestanden fast dauernd.
Am nächsten Vormittag wird ein nochmaliger Anfall von Atem-
und Herzstillstand durch erneute intrakardiale Suprarenininjektion be-
hoben, bei noch einmal wiederholtem Auftreten eines solchen Zustandes
bessert eine Lumbalpunktion weitgehend das Allgemeinbefinden, für
12 Stunden besteht gute Herztätigkeit und Atmung, die Streckkrämpfe
treten zurück, am zweiten Tage nach der Operation trat infolge der
Peritonitis bei allmählich versagendem Kreislauf der Tod ein, zirka
36 Stunden nach dem operativem Eingriff. In dem kurz vor dem Tode
entnommenen Urin fanden sich interessanterweise massenhaft granulierte
Zylinder und Eiweiß. Herrn Kollegen Fischer II von der Chirurgischen
Klinik bin ich für die genaueren Angaben über den Zustand der Patientin
sehr dankbar.
Der genaue Sektionsbefund dieses Gehirns erschien, weil
hier einmal an einem Menschen eine Viertelstunde lang ein Stillstand der
arteriellen Blutversorgung des Gehirns eingetreten war, ganz besonders
wichtig. Schon makroskopisch fiel an dem zuerst in Formalin gehärtetem
Gehirn beim Anlegen von Querschnitten auf, daß die weiße Substanz
überall durch ein besonders starkes Hervortreten der Gefäßzeichnung aus-
gezeichnet war, daß sie dadurch sehr ausgedehnt, fein längs ge-
sprenkelt erschien und stellenweise sogar deutlich bis kleinhirse-
korngroße Blutungsherdchen erkennen ließ. Die graue Substanz
zeigte dieses nicht.
Mikroskopisch fanden sich kleine Blutungen in der weißen
Substanz des gesamten Gehirns in ausgedehntem Maße, daneben eine
ausgesprochene Hyperämie mit praller Füllung der Gefäße ohne Er-
scheinungen von Thrombose. Diese Blutungen konnten nur im Mark,
nirgends in grauer Substanz auch nicht in den Stammganglien gefunden
werden. Nur in manchen Grenzgebieten von Mark und grauer Substanz
in der Rinde erschienen sie gedrängter. Sie waren im Mark im
Vorder-, Mittel- und Hinterteil des Großhirns rechts wie links gleich-
viel und gleichstark ausgeprägt vorhanden. Dieses isolierte Befallensein
gerade der weißen Substanz ist auffallend, der Befund deckt sich mit
der von Schwarz betonten Disposition des Gehirns zu solcher um-
schriebenen Isolierung von Schädigungen, warum hier in diesem Falle
gerade das Mark so stark befallen erscheint, ist schwer zu erklären.
Vielleicht spielt die Narkose dabei mit ihren engen chemischen Be-
ziehungen zur Hirnsubstanz eine Rolle.
Bei der genauen mikroskopischen Untersuchung sieht man in der
Rinde, besonders auch im Mark, eine ausgesprochene Hyperämie. Die
kleinen Blutungsherde befinden sich um Kapillaren, aber nicht mehr zahl-
reich, häufiger um kleine Venen und Arteriolen. Die Größe der Blutungen
kann bisweilen das 8—10fache des Durchmessers der kleinen Gefäße
betragen, Anhäufungen mehrerer zu größeren Blutungsherden finden sich
Über die Entstehung des Schlaganfalles. 107
Abb. III, 4. Blutung um Arteriole mit glasiger Quellung der Wand bei Patientin
mit 1!/;, Tage vor dem Tode eingetretenem viertelstündigem Herzstillstand. Ver-
größerung 180fach, Leitz.
Abb. III, 5. Blutung um Vene mit Wandnekrose in weißer Hirmsubstanz bei
Patientin mit 1'/, Tage vor dem Tode eingetretenem viertelstündigem Herzstill-
stand. Vergrößerung Töfach, Leitz.
108 WESTPHAL
nicht, wohl aber auf einer Reihe von Schnitten verfolgbar, Blutungen
um eine kleine Arterie und ihre Verzweigungen, so daß 3 kleine Blutungs-
herde dann zusammenhängen können. Um einige größere Arterien finden
sich sehr vereinzelte Blutextravasate. Die Gefäße sind überall prall mit
Blut gefüllt, deutliche Thrombenbildung ist nirgends feststellbar.
Die Blutaustritte finden sich des öfteren als schmale Extravasaten
in die Gefäßscheide bei anatomisch nicht deutlich veränderter Wand.
An den großen Blutungen, die sich z. B. bei mehreren Venen (vgl.
Abb. III, 5) ausgedehnt parallel verlaufend den Gefäßen feststellen lassen,
stellte sehr häufig die Gefäßwand einen gerade noch erkennbaren, stark
überdehnten schmalen Saum dar, in dem nirgends mehr Kerne deutlich
erkennbar waren. Ahnlich war auch das Bild bei kleinen Blutungsherden
und Kapillaren, die oft noch innerhalb der Gefäßscheide verblieben. Am
eklatantesten waren die Gefäßwandschädigungen zu sehen an kleinen
Arterien, wo sich bei deutlicher Verbreiterung der Wand des auch hier
meist stark gedehnten Gefäßes des öfteren ein völliger Kernschwund der
Media, glasige Quellung derselben und eine erhöhte Neigung zum Nieder-
schlag von Formalinpigment in diese nekrotische Media (vgl. Abb. III, 4),
wie auch manchmal bei den Präparaten der Apoplexiegehirne, bei
Erhaltensein guter Kernfärbung der Intima, konstatieren ließ. Bei
van Gieson-Färbung zeigte diese Muscularis keine grüne Färbung mehr,
sondern eine schmutzig-rosa Tinktion. Die Elastikafärbung zeigte im
Gegensatz zu gut erhaltener Elastica an den Rinden- und manchen Mark-
arterien, an Arterien mit gequollener Wand bisweilen nur eine diffuse
bläuliche Verfärbung der in Betracht kommenden Gebiete, manchmal
Partien mit gut erkennbaren, sehr gestreckten elastischen Fasern und
teilweise fehlender Färbung. An der Media auch nicht umbluteter Ge-
füße von Venen und Arteriolen fiel stellenweise ebenfalls eine geringe
Quellung der Wand und schlechte Färbbarkeit der vergrößerten Kerne
der Media auf.
Nekroseerscheinungen an der Wand der kleinen
Arterien, Venen und Kapillaren mit Kernschwund oder
Kernschädigung der Media, teilweise glasiger Quellung der ganzen
Media und um diese Gefäße mehr oder minder ausgedehnte
Blutungsherde stellen demnach in diesem Falle ein dem in der
ersten Arbeit zur Genüge geschilderten Bilde des Randbezirkes
von apoplektischen Herden durchaus Ähnliches dar. Daher die
große Wichtigkeit dieser ja nur selten möglichen Einzelbeob-
achtungen für das zur Diskussion stehende Problem der Apoplexie-
entstehung. Hier führte tatsächlich die als Ursache der Apoplexie
angenommene Ischämie nach einer ’/,stündigen Anämisierung zu
schweren Gefäßschädigungen mit sekundärer Blutung. Daß die
Blutung hier zahlreicher und ausgedehnter eintrat wie in den vor-
her geschilderten Tierexperimenten, liegt vielleicht an der großen
Schwierigkeit der Erhaltung guter Kreislaufverhältnisse beim
Experiment und einer ja sehr gut möglichen erhöhten Empfindlich-
Über die Entstehung die Schlaganfalles. 109
keit gerade des menschlichen Gehirns gegenüber mangelnder Ver-
sorgung mit arteriellem Blut.
Daß wieder schwindende Anämie am Gehirn Ge-
fäßschädigung und Blutung bedingen kann, zeigten
demnach an Mensch und Tier die mitgeteilten Beobachtungen.
Literatur.
1. B. Fischer, Zur Frage der experimentellen Arterioskferose durch Adre-
nalininjektionen. Berlin. klin. Wochenschr. Nr. 9, 1907. — 2.Hutyrau.Morch,
Spezielle Pathologie und Therapie der Haustiere. Jena 1917. — 3. Kußmaul
u. Tenner, Untersuchungen über Umfang und Wesen der fallsuchtartigen
Zuckungen bei der Verblutung, sowie der Fallsucht überhaupt. Moleschott’s
Untersuchungen Bd. 3, S. 1, 1857. — 4. Ricker u. Regendanz, Virchow’s
Arch. 231, I, 1921. — 5. Tannenberg, Experimentelle Untersuchungen über
lokale Kreislaufstörungen, Bd. 1—3. Frankfurt. Zeitschr. f. Pathol. Bd. 31, 1925.
110
Aus der Medizinischen Klinik Heidelberg.
Untersuchungen über das diastatische Ferment im Blute.
Von
Dr. von Strasser,
Assistent der Klinik.
Die ärztliche Beurteilung der Pankreasstörungen macht noch
immer Schwierigkeiten, wenn auch durch die Arbeiten von
A. Schmidt, Brugsch und Katsch Fortschritte gemacht
wurden. Katsch hat gewiß völlig Recht mit der Annahme, daß
mancherlei Abdominalsymptome, die von Störungen der Pankreas-
arbeit abhängen, vielfach aus Gewohnheit — weil das Pankreas
weniger als andere Organe im Blickfeld unseres Interesses steht,
und die diagnostischen Methoden noch nicht so voll ausgebildet
sind — anderen Organen zugerechnet werden. Wir haben immer
auf das Pankreas geachtet. Bereits Adolf Schmidt wies in
seinen Arbeiten auf die leichteren Störungen des Pankreas hin,
doch schienen diese durch die Arbeiten von Brugsch zum Teil
widerlegt und in den Hintergrund geschoben.
Wir haben zunächst untersucht, wie sich die diastatische Wir-
kung des Blutes bei verschiedenen Menschen gestaltet, und ob sich
bei Organerkrankungen regelmäßig Veränderungen zeigen.
Wir bedienten uns der Methode von Wohlgemuth: Dem Kranken
werden morgens nüchtern 10 ccm Blut entnommen ; dieses wird sofort
nach der Entnahme durch Schütteln mit Glasperlen defibriniert. Wie wir
erprobten, genügt ein Schütteln von 10 Minuten, um ein gänzliches Aus-
fallen des Fibrins zu bewirken. Das so defibrinierte Blut wird unmittel-
bar danach zentrifugiert, und zwar empfiehlt es sich 20 Minuten bei
2500 Umdrehungen zu zentrifugieren, um ein möglichst rein abgesetztes
Serum zu erhalten. Für praktische Zwecke sei bemerkt, daß man das
zentrifugierte Blut einige Stunden stehen lassen kann, ohne eine Ver-
änderung der darin enthaltenen Diastase befürchten zu müssen. Man
verteilt dann das Serum in 10 vorher bezeichneten Reagensgläsern in
fallenden Mengen, so daß sich im Glas 1 l ccm, in Glas 2 0,5 ccm, in
Untersuchungen über das diastatische Ferment im Blut. 111
Glas 3 0,25 ccm usf. Serum befindet. Als Verdünnungsflüssigkeit be-
nützten wir 1l°/ ige Kochsalzlösung. Dazu ist zu bemerken, daß zwar
Block in seinen Arbeiten angegeben hat, die Diastase sei abhängig von
der Salzkonzentration; deshalb fordert er, daß eine Diastaseuntersuchung
ohne Zusatz von Kochsalzlösung ausgeführt werden sollte. Abgesehen
davon, daß bei Verdünnung mit einer bestimmten Lösung immer der
gleiche Fehler unterlaufen würde, haben wir gesehen, daß eine Verdünnung
mit 1°/ iger Kochsalzlösung auf die Resultate selbst keinen Einfluß hat.
Wir werden im Laufe dieser Arbeit hierauf noch zu sprechen kommen. —
Zu dem in geometrischer Progression verdünnten Serum fügt man je
2 ccm einer 0,1°/,igen Stärkelösung und läßt die Reagensglasreihe
30 Minuten bei 33—40° im Brutschrank stehen. Unmittelbar nach dem
Herausnehmen werden die Gläser abgekühlt und zu jedem Glas 1—2 Tropfen
einer n/30 Jodlösung zugefügt. Es ergibt sich dann bei einem der Gläser
ein deutlicher Farbenumschlag in blau, wie er die Jod-Stärke-Reaktion
eigentümlich ist. Zur Ablesung nimmt man das erste Glas, bei welchem
eine deutliche Veränderung der Serum-Verdünnungs-Eigenfarbe durch
den Jodzusatz erfolgt, auch wenn der Ton noch nicht ausgesprochen blau,
sondern mehr violett ist. Bei dieser Form der Ablesung läßt sich ein
Fehler mit ziemlicher Sicherheit vermeiden, wenn man folgendes beachtet:
nach Hinzufügen der Jodlösung wartet man 1—2 Minuten und findet
dann bei der Ablesung stets einen deutlichen Unterschied, während man
oft unmittelbar nach dem Jodzusatz schon im vorhergehenden Glas eine
leichte Violettfärbung wahrnehmen konnte. Läßt man die Reihen noch
weiter bei Zimmertemperatur stehen, so tritt erst nach längerer Zeit eine
Nachverdauung der Stärke ein, die zu falschen Werten führt. Der Ab-
bau der Stärke geht ın jedem Glas der Versuchsreihe weiter vor sich,
und somit verändert sich die Farbe der einzelnen Lösungen bei längerer
Beobachtung weiter. Man findet dabei verschiedene Färbungen, den Über-
gang von dunkelblau, blauviolett, violett, rotviolett und gelb, je nachdem
die einzelnen Lösungen reine Stärke, Stärke + Erythrodextrin oder nur
Erythrodextrin oder Achroodextrin bzw. Zucker enthalten, worauf auch
schon Wohlgemuth hingewiesen hat. Wenn wir nun, wie in fast
allen Fällen, einen deutlichen Farbunterschied zweier benachbarter Gläser
gefunden hatten, so konnten wir feststellen, daß nach 15 Minuten dieser
Gegensatz noch ausgesprochen bestand. Nach 30 Minuten war die ur-
sprünglich tiefblaue Lösung schon hellblau geworden, nach 40 Minuten
trat hellviolette Färbung auf, nach 60 Minuten war die Farbe schon so
ausgesprochen rot, daß wir bei einer Ablegung zu diesem Zeitpunkt zu
dem nächsthöheren Werte gekommen wären. Auf neuerlichen Jodzusatz
erhielten wir wieder die ursprünglichen Werte; das auftretende Blau hatte
bisweilen dabei einen schmutzigen Ton. Nach Verlauf von 24 Stunden
war auch die Stärke im Glas 10, das nur noch 0,002 ccm Serum ent-
hielt, abgebaut; erneuter Jodzusatz ergab kein ausgesprochenes Blau
mehr, sondern nur tiefviolette Färbung. Angestellt wurden diese Be-
obachtungen bei Zimmertemperaturen von 15—20° ©. Die neuerlichen
Jodzusätze ergaben in den gleichen Zeiten auch wieder die gleichen Farb-
veränderungen. Dies entspricht den Beobachtungen von Biedermann
und Starkenstein, die angaben, daß bei niederen Temperaturen der
112 VON STRASSER
Prozeß zwar sehr langsam verläuft, aber auch bei 0° noch nicht gänzlich
aufgehoben ist, und daß weiter die Diastase als Ferment sich nicht ver-
braucht, sondern imstande ist, nach Ablauf ihrer Wirkungen — wenigstens
im Versuch — unter gleichen Bedingungen in der gleichen Zeit die
gleiche Arbeit nochmals zu leisten.
Wir lasen also stets erst eine Minute nach Jodzusatz ab und er-
hielten dadurch mit verschwindenden Ausnahmen einen deutlichen Gegen-
satz zwischen roter und blauer Farbe. — Zur Berechnung der diastatischen
Kraft D bedient man sich folgender Formel:
m:2=l:x,
wobei m die Serummenge und x die diastatische Kraft D bedeuten. Hat
man z. B. gefunden, daß bei Glas 5 zuerst eine Blaufärbung auftrat, so
ergibt sich nach obiger Formel:
0,125:2=1:x
2 38°
*= 0,125 30 Min.
Man berechnet die diastatische Kraft in der Weise, daß man die Anzahl
von Kubikzentimeter einer 0,1°/ igen Stärkelösung bestimmt, die durch
l ccm der Fermentlösung in der für den Versuch angewandten Zeit und
bei der angewandten Temperatur bis zum Dextrin abgebaut wird. — Man
soll, wie Block empfiehlt, stets die gleiche Stärkeart benutzen und die
Lösungen namentlich im Sommer stets frisch bereiten; auch müssen diese
frei von jeder Ausflockung sein.
— 16; D=16 bei
Diastase wird, wie bekannt, nicht nur vom Pankreas, sondern
von allen Zellen gebildet, die mit dem Umsatz des Glykogens zu
tun haben (Wohlgemuth). Hunde, denen der Ductus wirsungi-
anus unterbunden ist, zeigen wie Langendorff und Rosen-
berg nachwiesen, keine wesentliche Störung in der Darmresorption
der Kohlehydrate. Im Serum dieser Tiere steigt der Gehalt an
Diastase, und der Darm scheidet mehr Diastase aus. Man muB
annehmen, daß aus dem Pankreas, dessen Ausführungsgänge gegen
den Darm hin abgeschlossen sind, das Ferment in steigendem Maße
resorbiert wird. Deshalb ist es berechtigt, wenn sonst keine Stö-
rungen vorhanden sind, und wenn die Krankheitssymptome auf
das Pankreas hinweisen, zu untersuchen, ob tatsächlich aus ver-
änderten Diastasewerten des Serums auf eine gestörte Arbeit der
Pankreaszellen geschlossen werden darf. Natürlich muß hierfür
genau bekannt sein, wie Größe und Schwankungen des Wertes
für die diastatische Wirkung des Serums bei Menschen sich ge-
stalten, die sicher keine Pankreasstörungen haben.
Untersucht wurden 202 Menschen. Gesunde und Kranke, 150
männlichen und 52 weiblichen Geschlechts:
Untersuchungen über das diastatische Ferment im Blute. 113
Männer D=8 D=16 D = 32 D = 64 Ges.
Anzahl 8 87 55 0 150
Prozent 5,8 58 36,7 0 100
Frauen D =8 D = 16 D = 32 D = 64 Ges.
Anzahl 5 31 15 3} 52
Prozent 9,6 59,6 28,8 E 100
Diese Zusammenstellung zeigt deutlich, daß die Grenze der
Norm zwischen D=8 und D = 32 liegt. Der eine Wert von
D = 64 fand sich bei einer Kranken mit schwerster Tuberkulose,
bei der eine Untersuchung der Pankreasfunktion wegen ihres Zu-
stands nicht möglich war. Dieser Befund blieb also unaufgeklärt.
Die Kranke sagte uns später, daß sie unmittelbar vor der Unter-
suchung sehr viel Kuchen gegessen hatte. Zwei Monate später
zeigte der Diastasewert die Zahl 16, war also ganz normal.
Um einen etwaigen Einfluß des Alters auf die Funktion der
Diastasesekretion festzustellen, haben wir unsere Untersuchten in
drei Klassen eingeordnet: 15—30 Jahre, 30—45 Jahre, über 45 Jahre.
Iıgendwelche deutlich klaren Unterschiede, namentlich für
D=16 und D=32, also für die Werte, die die Mehrzahl der
Untersuchten aufwies, zeigten sich nicht. Etwa die Hälfte der
Untersuchten aller Altersklassen hatten Werte von D=16. Bei
der anderen Hälfte fanden wir zu *, Werte bei D=32. Der
Rest hatte D-Werte,°die unter 16 liegen. Eine Verminderung von
D unter 8 haben wir in keinem der untersuchten Fälle gefunden.
Es interessiert weiter festzustellen, ob irgendwelche Krank-
heiten bei den zur Untersuchung herangezogenen Patienten eine
Beziehung zu den Werten für D zeigten. Bei völlig Gesunden er-
hielten wir die gleichen Zahlen. 70 Kranke mit allen möglichen
Zuständen, aber nur solchen, bei denen Anamnese, Beschwerden
und objektiver Befund keinen Anhalt für eine deutliche funktionelle
Beteiligung der Abdominalorgane ergab, wiesen ebenfalls keine
anderen Zahlen auf. Die Betrachtung von Herzkrankheiten, von
Erkrankungen der Atemwege auch von Tuberkulösen ergaben
nichts Neues. Nur bei letzteren war die Zahl der Werte für D=8
größer als die für D=32. Unseres Erachtens kann man nichts
daraus schließen. 24 Kranke mit sicherem Ulcus ventriculi zeigten
völlig normale Werte. 8 Kranke mit Duodenalgeschwür zeigten
D=8 in 38°%,, D=16 in 62%,. Werte darunter und darüber
fehlten. Bei 10 Kranken mit Magen- oder mit Darmcareinom
hatten wir einmal D=8, 8mal D=16 und einmal D = 32. 38
Kranke mit allen möglichen anderen Zuständen von Dyspepsie
wiesen völlig normale Werte auf.
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 151. Bd. 8
114 VON STRASSER
Kranke mit Störungen der Nieren, der Leber, der Gallenwege,
zeigten nichts Besonderes. Auch die Syphilis hatte keinen Einfluß.
Ebensowenig hatte ihn bei Frauen die Menstruation.
Wir haben dann bei 12 Patienten eine doppelte Untersuchung ge-
macht, um festzustellen, ob bei einer Verdünnung mit aqua. dest.
ein anderer Wert gefunden würde wie bei der Verdünnung mit
1°%/,iger Kochsalzlösung. Alle 12 Fälle ergaben übereinstimmend
die gleichen Werte. Nur in der Färbung ergaben sich Verschieden-
heiten. Während die mit Salzlösung verdünnten Sera ein tiefes
Blau bei dem Farbenumschlag gaben, war bei den mit Wasser
verdünnten Reihen das Blau von einem etwas schmutzigen Unterton,
ein Umstand, der die Ablesung bei etwas zweifelhaften Farbum-
schlägen schwieriger machte.
Von 16 leichten und mittelschweren Diabetikern zeigten
14 Werte für D, die völlig innerhalb der normalen Grenzen blieben.
Ein Diabetiker mit D=128 hatte gleichzeitig eine Cholecystitis,
so daß die Annahme nahe lag, daß durch einen Infekt der großen
Gänge eine Pankreasmiterkrankung zustande gekommen sei. Ein
anderer Diabetiker zeigte den Wert D=512. Hier bestand eine
Arteriosklerose mit einem arteriellen Druck von 170 mm Hg, was
die Annahme einer arteriosklerotischen Pankreaserkrankung als
Ursache des Diabetes rechtfertigte.
Wir fanden die Norm überschreitende Werte in einem Falle
H. D=512. Diese Patientin war mit unbestimmten Schmerzen
im Leib erkrankt; die objektive Untersuchung ergab eine hyper-
ästhetische Zone bei D.S.8 auf der linken Seite. Wir nahmen
eine Belastung der Pankreasfunktion vor, indem wir der Patientin
150 g Brot verabreichten, worauf deutliche Zuckerausscheidung
im Urin auftrat. Wir hielten uns nun für berechtigt, eine Pan-
kreatitis zu vermuten, zumal Katsch aus einer Head’schen Zone
im 8. Dorsalsegment und aus einer Fermentvermehrung im Serum
wichtige diagnostische Schlüsse zieht.
Noch zwei weitere Fälle ergaben pathologische Werte.
1. Mann D=128
2. Frau D=256.
Im ersten Fall handelte es sich um einen Kranken, der multiple
Gummata im Abdomen hatte. Ein dabei gummös verändertes
Pankreas und eine daraus durch entzündliche oder kompressive
Vorgänge folgende Supersekretion würde die Erhöhung des D-Wertes
durchaus erklären.
Untersuchungen über das diastatische Ferment im Blute. 115
Im zweiten Fall lag ein Rectumcarcinom vor, bei dem multiple
Metastasen im Abdomen klinisch nachweisbar waren. Auch in
diesem Fall muß man wohl das Vorhandensein von Metastasen im
Pankreas annehmen. Es sei indessen bemerkt, daß Carcinom-
metastasen im Pankreas keine Vermehrung der Serumdiastase
zur Folge haben müssen. Dies zeigte uns ein Kranker mit in-
operablem Magencarcinom, bei dem durch Laparotomie Pankreas-
metastasen festgestellt worden waren.
Um ein Urteil darüber zu gewinnen, ob die Serumdiastase von
der Art der Ernährung abhängig sei, haben wir folgende Unter-
suchung angestellt. Wir nahmen:
1. eine Serie von Patienten, die vorwiegend mit kohlehydrat-
reicher Nahrung ernährt wurden, d. h., sie erhielten neben der ge-
wöhnlichen Kost in reichem Maße Weißbrot und Kartoffeln.
2. Eine Serie von Patienten, die vorwiegend mit Eiweiß er-
nährt wurden, d.h. sie bekamen an Kohlehydraten nur das unum-
gänglich Notwendige, während sie zu den Zwischenmahlzeiten Eier
und andere eiweißhaltige Nahrungsmittel als Zusatzkost erhielten.
Die Dauer der Versuche war etwa eine Woche. Das zur Unter-
suchung verwandte Serum wurde jeweils morgens nüchtern ent-
nommen und dabei folgendes gefunden.
Kohlehydratreich:
| Versuchs
Nr. oL Blutentnahme | D-Wert lII. Blutentnahme; D-Wert dauer
| age
| | | |
1 21. VII. 32 28. VIII. 8 | 7
2 | a 16 u 16 7
3 Š 16 ® 16 7
4 ` | 16 3 16 7
> 5 16 A 16 7
6 22. VHI. 16 —- — entlassen
7 | : 16 29. VIII. 16 7
8 : 16 2 16 | 7
y | à R j 8 7
10 | ji l 8 | = — © entlassen
|
|
Aus diesen Beobachtungen geht hervor, daß die Werte für D durch
reichliche Zufuhr von Kohlehydraten keine Erhöhung erfahren.
Fall 6 und 10 mußten entlassen werden, da die Patienten sich
nicht länger zurückhalten ließen. Aus der Erniedrigung des Wertes
im Fall 1 können keine Schlüsse gezogen werden, da es sich um
Schwankungen handelt, die vielleicht durch die starken Differenzen
gr
116 von STRASSER
der Außentemperatur an den einzelnen Versuchstagen bedingt sind,
oder die sich aus der spezifischen Behandlung erklären, unter der
Patient zur Zeit der Versuche stand.
Eiweißreich:
Versuchs-
D-Wert |II. Blutentnahme) D-Wert dauer
Nr. I. Blutentnahme
1 26. VII. 16 | 31. VIII. 16 5
2 5 16 N 16 5
3 i 16 ý 16 5
4 i 6 5
b $ 16 b. IX. 16 10
6 k 16 31. VII. 16 5
7 27. VII 16 3. IX. 16 7
8 a 8 i 8 7
9 É 16 $ 16 7
10 ú 32 á 16 7
Auch aus dieser Tabelle ergibt sich, daß zwischen Art der
Nahrung und Serumdiastase kein deutlicher Zusammenhang be-
steht. Die Abweichungen in Fall 4 und 10 finden wohl ihre Er-
klärung in den veränderten äußeren Versuchsbedingungen, die be-
sonders durch die Temperaturschwankungen an den verschiedenen
Tagen gegeben waren.
Wir haben noch einen weiteren Versuch angestellt, um fest-
zustellen, ob nach reichlicher Zufuhr von Traubenzucker und der
damit verbundenen Erhöhung des Blutzuckers auch eine Erhöhung
der Serumdiastase parallel geht. Folgende Werte wurden fest-
gestellt:
Blutentnahme Blutzucker Diastase
p ‚08 90 8
2. 840 0,08 9, 16 (nach 100 g Traubenzucker)
3. gos 0,08%, 8
Aus diesen Werten geht hervor, daß mit der Anreicherung des
Körpers an Kohlehydraten auch das kohlehydratspaltende Ferment
eine Erhöhung erfährt, die nach kurzer Zeit wieder zum Ausgangs-
wert zurückkehrt.
Zusammenfassend können wir also sagen, daß die normalen
Diastasewerte im Serum zwischen D=8 und D=16 liegen. Werte
über D=32 weisen vielleicht schon auf eine Veränderung des
Pankreas hin. Eine bestimmte Nahrungsform — sei sie vorwiegend
kohlehydrat- oder eiweißreich — hat auf die D-Werte keinen Ein-
fluß; die Werte von D erfahren vielleicht unmittelbar nach einer
Untersuchungen über das diastatische Ferment im Blut. 117
kohlehydratreichen Mahlzeit eine leichte Erhöhung, gehen aber
bereits nach wenigen Stunden wieder auf den Ausgangswert zurück;
der Körper sucht die Serumdiastase möglichst konstant zu erhalten.
Literatur.
1. Adam, Diastasebestimmungen f. klin. Zwecke. Klin. Wochenschr. 1923,
Nr. 33, S. 1548. — 2. W. Block, Die praktische Verwertbarkeit der Amylase-
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pathol. Zustände. Zeitschr. f. klin. Med. Nr. 93, S. 381. — 3. Glaeßner, Stuhl-
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Diagnostik der Pankreaserkrankungen. Klin. Wochenschr. 1924, S. 364. —
5. Heiberg, Erkrankungen des Pankreas. Wiesbaden 1924. — 6. Groß-Gu-
lecke, Die Erkrankungen des Pankreas. 1924. — 7. Hoppe-Seyler, Münch.
med. Wochenschr. 1924, Nr. 9, S. 260. — 8. Isaak-Krieger, Duodenale Pan-
kreasdiagnostik. Zeitschr. f. klin. Med. S. 259, 1921. — 9. Katsch, Die Dia-
gnose der leichten Pankreatitis. Klin. Wochenschr. 1925, Nr. 7, S. 289. —
10. Ders., Referat zur Klinik der Pankreaserkrankungen. Berlin 1924. Ber. üb.
d. Tagung d. Ges. f. Verdauungs- u. Stoffwechsel-Krankh. Ref. Klin. Wochenschr.
1924, S. 2361. — 11. Kulenkampf,. Uber akute Pankreatitis und ihre Bedeu-
tung. Therapie d. Gegenw. Oktbr. 1924. — 12. Piersol, Kongreßbl. f. inn.
Med. 1925. Bd. 39, S. 921. — 13. Rona, Pankreaslipase im Serum. Klin. Wochen-
schr. 29, 1923. — 14. Wohlgemuth, Biochem. Zeitschr. 1908, Nr. 9, S. 1. —
15. re ee 1909, Nr. 21, S. 381. — 16. Ders., Klin. Wochenschr. 1923,
Nr. 48, S. 2208.
118
Besprechungen.
1.
Sir Berkley Moyniban, Zwei Vorlesungen über das Magen- und
Duodenalgeschwür, ein Bericht auf Grund zehnjähriger Er-
fahrung. Übersetzt von P. Clairmont und Ch. A. Huyssen.
Verlag von Julius Springer, Berlin 1925. Brosch. 2,70 GM.
Der englische Chirurg Sir Berkley Moynihan, dessen Ver-
dienste um die Klinik und die Erforschung der Pathogenese des Duodenal-
geschwürs allgemein bekannt sind, faßt in diesen beiden Vorträgen seine
reichen Erfahrungen (531 Fälle von Ulcus duodeni; 164 Fälle von Ulcus
ventriculi) über die Behandlung des Magen- und Duodenalgeschwürs zu-
sammen. In seinen gedankenreichen und durchaus eigenartigen Aus-
führungen über die Klinik der Erkrankung wird seine bekannte Ansicht
über die Wichtigkeit der Anamnese für die Diagnose des Duodenal-
geschwürs und die Wichtigkeit der Beurteilung der sog. Periodizität der
Schmerzen, welche beim Magen- und Duodenalgeschwür einen ganz ver-
schiedenen Rhythmus zeigen, besonders hervorgehoben. Für das chronische
Geschwür lehnt Moynihan die interne Behandlung ab. Sie gehe von
zum Teil falschen Voraussetzungen über den Chemismus des Geschwürs-
magens aus. Nach der Statistik der Leeds-Infirmary seien ihr
zudem weitaus mehr Todesfälle durch Verblutung und Perforation und
Peritonitis zur Last zu legen, als der chirurgischen Behandlung. Auch
die Gefahr der malignen Entartung des Geschwürs (nach Ansicht des
Verf. werden ca. 18,5 °, der Ulcusfälle carcinomatös) werde durch die
innere Behandlung des Geschwürs nicht gebannt. Moynihan bevorzugt
in der chirurgischen Behandlung des Magengeschwürs die Resektion.
Läßt sie sich beim hochsitzenden Geschwür nicht durchführen, so wendet
er entwender die Balfour’sche Operation oder eine Y-förmige Gastro-
enterostomie mit Jejunostomie im abführenden Schenkel an. Beim
Duodenalgeschwür wird die Exzision ausgeführt, gegebenenfalls die Gastro-
duodenostomie mit Entfernung des Geschwürs oder, wenn diese Operationen
nicht möglich sind die (sastro-jejunostomie, nach welcher sich 90°), der
Patienten wieder gesund fühlen. Diese Operation bedarf einer exakten
Indikation. Infolge häufig unlogischer und gedankenloser Indikation ist
diese Operation mit Unrecht in Mißkredit geraten. Ebenso wichtig wie
die Operation hält Moynihan die Nachbehandlung. Besonders warme
Worte werden der Zusammenarbeit von Internisten und Chirurgen ge-
widmet. Moynihan’s Wunsch, daß die Besuche der Internisten bei
Besprecnungen. 119
den Chirurgen und die Gegenbesuche (die nicht weniger nötig seien)
häufiger stattfinden möchten, damit ein Ausweg gefunden würde „aus den
großen Nachteilen, die aus der so häufigen Trennung von Geist und
Hand in der Medizin hervorgehen,“ kann nur geteilt werden. Die
beiden Vorlesungen legen ein beredtes Zeugnis ab von der hohen und
ehrfürchtigen Berufsauffassung des Verf. und berichten von geradezu
glänzenden Öperationserfolgen, wie sie nur durch sorgfältigste klinische
Arbeit Hand in Hand mit einer offenbar sehr exakten Tecknik errungen
werden können. Die Schrift kann jedem Arzt, sei er Internist oder
Chirurg, der sich für das Problem des Magen- und Duodenalgeschwürs
interessiert aufs wärmste empfohlen werden, aber auch jedem, der für
klinische Fragen überhaupt und insbesondere für die Frage der Zusammen-
arbeit von Inneren und Chirurgen Verständnis besitzt.
(E. v. Redwitz, München.)
Hans H. Meyer und R. Gottlieb, Die experimentelle Pharma-
kologie als Grundlage der Arzneibehandlung. Ein
Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 7. neubearbeitete Aufl.
Urban und Schwarzenberg, Berlin-Wien- 1925 (geh. M. 27.—).
Die Erfolge des Meyer-Gottlieb’schen Lehrbuchs, die äußerlich durch
die Tatsache offenbar werden, daß seit dem Erscheinen im Jahre 1910
nun schon die 7. Auflage herauskommt, beruhen wohl in erster Linie darauf,
daß es als erstes Lehrbuch der Pharmakologie die Darstellung konsequent
auf der Physiologie und der pathologischen Physiologie aufbaut und daß
es, dem Titel gerecht werdend, nie den Gesichtspunkt verliert, die
praktische Arzneibehandlung theoretisch zu fundieren.
Der Gefahr, die jedes Lehrbuch läuft, mit jeder Auflage zwar wieder
modern zu werden, aber an Geschlossenheit der Darstellung mehr und
mehr zu verlieren, wurde dadurch begegnet, daß viele Kapitel dieser
Auflage zwar im alten Geiste aber in neuer Form gefaßt sind. Daß
dies nicht durchweg geschah und man in manchen Abschnitten wertvolle
Feststellungen und Anregungen unter dem Striche suchen muß, die man
heber im Texte sähe, liegt an äußeren Umständen, besonders an dem zu
frühen Hinscheiden G ottlie bs.
Das Buch vereint eine meisterhaft klare, vollendete Form der Dar-
stellung und die in den jetzt so beliebten Viel-Männer-Handbüchern oft
so schmerzlich vermißte Einheitlichkeit der Darstellung — es hat die
Vorzüge eines klassischen Lehrbuches — mit der Materialfülle eines
Handbuches. Jeder, der die naturwissenschaftlichen Grundlagen der all-
gemeinen Pharmakologie erkennen will, jeder der sich über das Wesen der
Wirkung spezieller Heilmittel oder Gifte unterrichten will, tut gut daran,
sich in erster Linie in diesem Buche Rat zu holen.
Seinen Höhepunkt erreicht das Buch in dem, zum großen Teil neu
entstandenen Schlußkapitel über Wesen und Bedingungen der Arznei-
wirkung, in dem H. H. Meyer unter anderen die erkenntnistheoretischen
120 Besprechungen.
Grundlagen der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise von Heilmittel-
wirkungen erörtert. (P. Trendelenburg, Freiburg i. B.)
3.
Prof. Hans Horst Meyer in Wien. Pharmakologische Grund-
lagen der Reizkörpertherapie. Aus: Zur Kritik
der Homöopathie. Verlag Georg Thieme, Leipzig 1925.
(2 RM.).
An die durch die bekannten Veröffentlichungen A. Bier’s bewirkte
Neuerweckung des Interesses auch der nicht homöopathisch gläubigen
Arzte für die Lehren der Homöopathie darf man zwei Hoffnungen knüpfen,
so skeptisch auch immer man über die Richtigkeit der homöopathischen
Vorstellungen denken mag.
Einmal ist zu hoffen, daß die zur Stützung oder Widerlegung der
homöopathischen Lehren nun erneut aufgenommenen therapeutischen
Versuche zu therapeutischen Fortschritten führen werden — selbst, wenn
die Vorstellungen, die im Einzelfalle zur, Wahl eines bestimmten Mittels
bei einer bestimmten Krankheit den Anlaß abgaben, ganz falsch sind.
Auch in der nichthomöopsthisch denkenden Medizin sind ja Fälle be-
kannt, wo falsche natutwissenschaftliche Theorien zur Entdeckung wert-
voller Heilmittel führten.
Zweitens aber darf man hoffen, daß die in Fluß gekommenen Er-
örterungen zu einer Klärung des ärztlichen Denkens und der Vor-
stellungen über die allgemeinen biologischen Grundlagen der Arznei-
mittelwirkung führen werden. Diese Klärungen werden am sichersten
Worte bringen, die von einem so klaren und unvoreingenommenen Ver-
stande eingegeben sind, wie er aus den kurzen, aber inbaltvollen Sätzen
von H. H. Meyer spricht. (Die Sätze sind ein Auszug aus einer in
der Wien. med. Wochenschr. veröffentlichten Abhandlung.) In kurzen
Ausführungen wird die Absurdität eines streng auf dem Grundsatz des
Similia similibus curantur aufgebauten Heilverfahrens nachgewiesen und
warum die Reizkörpertherapie nicht für jenen Grundsatz in Anspruch
genommen werden kann. Zu dem 2. Hauptsatz der Homöopathie, nach
dem die Verdünnung und Verteilung des Heilmittels eine Steigerung der
Heilwirkung auslösen soll und das Hingelangen des Mittels an das zu
behandelnde Organ erleichtern soll, wird kritisch Stellung genommen,
und mit Recht darauf hingewiesen, daß dieser Satz Uneinsichtbares be-
hauptet und eine reine Glaubensäußerung ist. Schließlich weist Meyer
im einzelnen nach, daß die sog. Arndt-Schulz’sche Regel wissenschaftlich
nicht begründet ist, aber vielleicht trotz ihrer Unhaltbarkeit als Richt-
schnur ärztlichen Handelns Nützliches zu leisten vermag.
(P. Trendelenburg, Freiburg i. B.)
Besprechungen. 121
4.
F. Sauerbruch, Die Chirurgie der Brustorgane. Springer,
Berlin 1925. 258 Mk.
Sauerbruch’s großes Werk ist auch für den innern Arzt von
außerordentlicher Bedeutung und erheblichttem Werte. Denn es hat
und vollzieht die Absicht: „die Klinik der Brustkrankheiten zusammen-
zuhalten“. Es enthält also ein Programm und ist den Werken der großen
Kliniker aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts, die ein Organsystem
noch unter einheitlichen Gesichtspunkten zu betrachten vermochten, an
die Seite zu stellen.
In einer anatomischen Darlegung bringt zunächst W. Felix, der
Züricher Anatom, eine sehr klare und höchst lehrreiche Beschreibung
der Topographie der Brustorgane, der Brustwand, des Mittelfells, der
Pleuren, des Perikards, des Zwerchfells, der Lungen und des Herzens.
Durch zahlreiche vortreffliche Abbildungen wird der Leser in den Stand
gesetzt eine klare Anschauung von den Lagerungsverhältnissen der Brust-
organe im Thoraxraum zu gewinnen. Das ist für den Chirurgen natürlich
unerläßlich. Aber auch der innere Arzt wird für die diagnostischen Er-
wägungen sowie für therapeutische Maßnahmen z. B. Probepunktionen und
Punktionen die hier gegebenen Darlegungen mit größten Nutzen
gebrauchen.
Nach einer Geschichte der Herzchirurgie und einer Darlegung über
allgemeine Pathologie des Herzens sowie einer solchen über allgemeine Dia-
gnostik der Herzkrankheiten betritt Sauerbruch in den großen Abschnitten
über Chirurgie des Herzens, Chirurgie der großen Gefäßstämme und
Chirurgie des Mittelfellraumes sein eigenstes Gebiet. Mit größter Be-
wunderung folgen wir den außerordentlichen Fortschritten ‚die die Chirurgie
des Herzens machte. Für jeden Arzt von erheblicher Bedeutung ist die
Kenntnis der Symptome von Herzverletzungen, die chirurgisch beein-
fußbar sind; ich verweise auf die klaren Darlegungen S. 216 bis 228.
Von besonderem Interesse für innere Arzte ist die Schilderung der ent-
sündlichen Erkrankungen des Herzbeutels, z. B. der Gesetze nach denen
die Ausbreitung des Exsudats im Herzbeutel erfolgt (S. 269). Für die
Punktion des Perikards bevorzugt Sauerbruch den linken Rippen-
brustbeinwinkel, weil die Entleerung des Herzbeutels von dort aus ohne
Verletzung der Pleura möglich und am ungefährlichsten ist. Auch die
Schilderung der Perikardiotomie ist für uns von großer Bedeutung. Bei
eitriger Perikarditis ist sie immer nötig. Aber unter verwickelten Um-
ständen könnte sie auch für andere Ergüsse den Vorsprung verdienen.
Es folgt dann eine bedeutsame Schilderung der Pericarditis chronica
adhaesiva und ihrer chirurgischen Behandlung.
Die Chirurgie des Ductus thoracicus und der Thymusdrüse haben
mehr chirurgisches Interesse. Dann folgt die Chirurgie des Brustteils der
Speiseröhre. Nach einer vortrefflichen physiologischen Einleitung werden
erst die Verletzungen, dann das Geschwür, die Divertikel, schließlich
die Verengungen des Ösophagus geschildert. Operativ-therapeutisch ist
122 Besprechungen.
‘bier alles noch im Werden und unsere Hoffnung, speziell bei dem Öso-
phaguscarcinom, liegt in der Zukunft.
Nach Darlegung der Chirurgie des Zwerchfells folgt die Chirurgie
des Brustfells, geschildert von Jehn und Sauerbruch. Erst eine
allgemeine Pathologie, dann die Schilderung des Pneumothorax. Wiederum
von größtem Interesse, auch für den Internisten! Dann Besprechung der
verschiedenen Formen des pleuritischen Exsudats, sowie der anderen
pleuralen Ergüsse. Außerordentlich lehrreich ist die Schilderung der
Empyeme sowie ihrer verschiedenartigen Entstehungsform. Die Behand-
lung der Empyeme erfordert die größte Sachkenntnis; sie ist eine
schwierige Operation. Wenn gerade hier gewiß nicht selten von Unbe-
rufenen zum Nachteile der Kranken gehandelt wird, so macht es auf
mich den größten Eindruck, mit welcher Vorsicht und Umsicht ein Meister
gerade auf dem Gebiete der Thoraxchirurgie wie Sauerbruch diese
vielen als „einfach“ geltende Operation vornimmt. Zum Schlusse werden
dann noch die tuberkulösen sowie die selteneren Erkrankungen des
Brustfells (Syphilis, Aktinomykose, Geschwülste) geschildert. Die ver-
schiedenen Formen der bei Tuberkulose vorkommenden Empyeme sowie
ihre je nach ibrer Art ganz verschiedene Behandlung erfahren eine für
jeden Arzt höchst lebrreiche Darlegung.
Es ist ein wundervolles Werk, voller Weisheit und erfüllt von einer
Fülle wichtiger Erfahrungen. Die Ausstattung ist ausgezeichnet, die
Zahl der wirklich sehr schönen Bilder fast überreich. (Krehl.)
ð.
Ernst von Romberg, Lehrbuch der Krankheiten des
Herzens und der Blutgefäße. 4. u. 5. Aufl. Ferdinand
Enke, Stuttgart 1925.
Im Vorwort der 2. Auflage (der ersten Sonderausgabe) dieses Werks
schrieb Romberg: „das Buch möge die gesunde Verbindung von
Empirie und wissenschaftlicher Betrachtung fördern helfen, auf welcher
das Fortschreiten der Medizin beruht. Nur wenn wir den Zusammen-
hang der Erscheinungen experimentell und anatomisch zu begreifen
suchen, wird unser Blick für die tägliche Beobachtung am Krankenbett
geschärft. Und umgekehrt ist ein fruchtbringendes wissenschaftliches
Arbeiten zur Aufklärung der menschlichen Pathologie, zum Verständnis
und zur Förderung der Therapie nur denkbar bei steter enger Fühlung
mit der Beobachtung und Behandlung von Kranken“. Diesen Grund-
sätzen, die man zugleich als das Programm der inneren Klinik der
letzten 50 Jahre ansehen darf, ist der Verfasser durch alle Neu-
erscheinungen seines Lebenswerks, die in unserem Archiv von F. Moritz
und D. Gerhardt besprochen wurden, treu geblieben. Die Anordnung
des Stoffs ist auch in der neuen Auflage im wesentlichen unverändert
erhalten. Romberg bleibt damit den großen Traditionen der alten
Klinik treu, indem er (nach seinen eigenen Worten) bei der Beurteilung
und Behandlung des Kranken ausgeht von dem geschädigten Organ oder
Besprechungen. 123
von dem geschädigten Ablauf einer bestimmten Tätigkeit des Körpers.
Also nicht das, was letztlich funktionell die Entscheidung gibt, wird in
den Mittelpunkt gestellt, sondern der Arzt geht aus von dem dem Kranken
und dem ärztlichen Beobachter sinnlich Wahrnehmbaren, dem zunächst
in die Augen Fallenden. Auch das ist ein Programm: es ist das Pro-
gramm der ärztlichen Klinik. Aber einer Klinik, die sich fest stützt auf
den zeitlichen Stand der experimentellen Physiologie und Pathologie und
der pathologischen Anatomie.
Eine Einleitung über den modernen Stand der Herzphysiologie und
der Untersuchung der Kreislaufswerkzeuge eröffnet das Buch. Das
pathologisch-physiologische wird in einer Darlegung der Symptomatik
sowie in den einzelnen Abschnitten abgehandelt. Es folgen dann die
großen Abschnitte über die chronische Insufficienz des Herzmuskels mit
ihren einzelnen Formen und Unterarten, über die Klappenfehler, die
seltenen Veränderungen des Herzens, akute Myokarditis und Endokarditis,
die Perikarditis, die Krankheiten der Arterien und Venen, die Herz- und
Gefäßneurosen. In jedem Abschnitt sind alle Seiten des Prozesses mit
gleichmäßiger Vollendung besprochen. Einmal finden wir vorzügliche
klinisch-symptomatische Erörterungen. Das Bild der „Krankheit“, das
uns der Kranke klagt und als reine Empfindungen äußert, das was er
„objektiv“ zeigt, ist liebevoll, lebendig und mit größter Erfahrung be-
schrieben. Hier gleicht das Werk den alten berühmten Darstellungen.
Ich gedenke dabei lebhaft seines und meines Lehrers H. Curschmann,
dessen plastische Schilderungen wir nie vergessen werden. Mit der
gleichen Liebe und dem gleichen durchdringenden Verständnis sind aber
auch die theoretischen Grundlagen der krankhaften Vorgänge und der
therapeutischen Maßnahmen erörtert. Der Verf. steht hier im engsten
Zusammenhang mit den Ergebnissen der modernen Pathologie und Ex-
perimentalwissenschaft und mit der Pharmakologie. Die Literatur ist bis
ins einzelne und bis auf die letzte Zeit berücksichtigt; mir scheint das
liebenswürdige Naturell des Verf. in der Anerkennung sogar manchmal
etwas weit zu gehen. Ist bis hierher die Darstellung ruhig und streng
objektiv, so zeigt der Verf. seine ganze Eigenart mit — wie es bei jeder
Form von Therapie sein muß — stark subjektiver Färbung in der Er-
örterung der Behandlung. Sie ist ausführlich und sowohl nach dem
Ganzen wie nach dem Einzelnen hin ganz erschöpfend besprochen.
Gleich vorzüglich für den Arzt der lernen will wie interessant für den
Kenner. Es gibt wenige Werke, in denen die letzte eigentliche Aufgabe
des Arztes dem Kranken zu helfen so sorgfältig, so lehrreich und zu-
gleich so fest auf dem Boden der gegenwärtigen Theorie abgehandelt
wird. Auch für die neue Auflage wiederhole ich, was Moritz schon
1906 von dem Werke sagte: es ist nicht nur das beste deutsche Lehr-
buch der Herzkrankheiten, sondern es ist, absolut genommen, ein ausge-
zeichnetes Werk. (Krehl.)
124 Besprechungen.
6.
Dr. N. Ph. Tendeloo Professor der Pathologie an der Uni-
versität Leiden. Allgemeine Pathologie. II. ver-
mehrte und verbesserte Aufl. 1040 Seiten mit 368 zum Teil
farbigen Abbildungen. Verlag von Julius Springer, Berlin.
Preis geb. 66 M.
Der Verfasser betont mit Recht, daß es keine „vollständige allge-
meine Pathologie“ gäbe, und wie schwierig es ist, deren Gebiet abzugrenzen.
Da Tendeloo vor der Übernahme der Professur für Pathologie 8 Jahre
lang als praktischer Arzt tätig war, so baut er in diesem „Ergebnis
vieljähriger Arbeit“ nicht nur auf der pathologischen Anatomie auf,
sondern er hat sich einen weiten Blick auch für die klinischen Krank-
heitserscheinungen gewahrt. Er sucht vor allem den Zusammenhang
der krankhaften Erscheinungen mit ihren ursächlichen Momenten festzu-
stellen und betont ausdrücklich, daß es nicht auf einen bestimmten
ursächlichen Faktor ankommt, sondern immer auf eine Konstellation
mehrere Faktoren in einem gegebenen Augenblick und während be-
stimmter Zeit. Er spürt der Regel und wenn möglich dem (Gesetze
nach, dem sich eine Erscheinung unterordnen läßt. Von diesen Gesichts-
punkten ausgehend, beschränkt sich der Verf. nicht darauf, das Wesen
der Entzündung, des Fiebers, des Odems, der Infektion, der Virulenz
und der Immunität darzustellen, sondern er geht auch des genaueren auf
die Bedeutung der Heredität, der Konstitution und des gesamten Stoff-
wechsels ein. Es berührt wohltuend, daß Tendeloo scharfe Definitionen
aufzustellen sucht und daß er streng zwischen Tatsachen und Gesetzen
einerseits und Hypothesen andererseits unterscheidet. Entsprechend dem
mathematischen Geist, der zur Zeit die gesamte holländische Wissenschaft
durchzieht, liebt Tendeloo auch das pathologische Geschehen in mathe-
matische Formeln zu kleiden, und es ist aus Tendeloo’s früheren
Arbeiten bekannt, daß er der Mechanik bei der Erklärung des
Emphysems und anderer Lungenkrankheiten, der Kreislaufsprobleme usw.
mit Erfolg einen weiten Spielraum gewährt hat. Es ist erstaunlich, mit
welcher Gewissenhaftigkeit und Gründlichkeit sich der Verf. in die ver-
schiedenartigsten Gebiete seines weitausgedehnten Themas vertieft hat,
und für den deutschen Leser ist es von besonderem Wert, daß in diesem
Buche nicht nur die deutsche Literatur ausgiebig herangezogen ist,
sondern daB es auch wichtige Hinweise auf die englische, französische
und holländische wissenschaftliche Tätigkeit enthält. Trotz des gewaltigen
Umfanges seines Themas hat Tendeloo es verstanden durch seine
präzise Darstellungskunst dem Buch nur einen mäßigen Umfang zu ver-
leihen, und es damit zu einem Lehrbuch für Studierende zu gestalten.
In der neuen Auflage, welche der ersten nach wenigen Jahren gefolgt
ist, hat er unter A. auch noch die allgemeinen Störungen der Ernährung
und des Stoffwechsels mit einbezogen. Es ist begreiflich, daß bei der
großen Mannigfaltigkeit des pathologischen Geschehens nicht alle Kapitel
mit der gleichen Meisterschaft beherrscht sein können. So kann z. B.
das letzte Kapitel, nämlich die Pathologie des Nervensystems trotz der
u m e
Besprechungen. | 125
Heranziehung der neuesten Ergebnisse sowie auch dasjenige über die
Heredität nicht als erschöpfend betrachtet werden.
(Friedrich Müller, München.)
T.
Georg Schreiber, Deutsche Medizin und Notgemeinschaft
der deutschen Wissensohaft. Leipzig 1925.
Fruchtbare Wissenschaft hat zur Voraussetzung gesunde Volkswirt-
schaft. Wir wurden dessen in der Vorkriegszeit nicht bewußt, damals
als unsere wissenschaftliche Basis für alle Fälle festgewurzelt erschien in
dem selbstverständlichen Reichtum des Staates. Heute zweifelt keiner
"mehr an jener lebenswichtigen Abhängigkeit, zu sehr haben wir alle sie
miterlebt. Ihre Folgen ruft Schreiber in seinem Buch in unsere
Erinnerung zurück und wohl viele von uns erfahren darüber hinaus zum
ersten Male die ganze Größe der wissenschaftlichen Verluste, die Deutsch-
land im In- und Ausland von 1915 an erlitten.
Wie aber auch das Leben der Wirtschaft abhängig ist vom Leben
der technischen Wissenschaft, nicht nur direkt und technisch, sondern
auch durch die Kultivierung des völkischen Bodens, aus dem die Wirt-
schaft ihre Säfte zieht, dafür bringt Schreiber bittere aber unwider-
legliche Zahlen.
Die wissenschaftlichen Lebensbedingungen haben sich wieder in
manchem zum Besseren gewendet, wir spüren es täglich. Nicht von
selbst ist es so geworden, sie wurden zum besseren gewendet von weit-
blickenden Führern, die mitten in dem wogenden Neubildungsprozeß nach
neuen Wegen suchten und sie fanden vor allem den Männern, die mit
Schmidt-Ott der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft Leben
einhauchten. Einer der unermüdlichsten und erfolgreichsten von ihnen
ist — das darf hier nicht verschwiegen werden — der Verf. des vor-
liegenden Buches selbst, der eben durch dies Buch neue wertvolle Arbeit
geleistet hat zur Erreichung seines Zieles.
Wir erfahren von einer erstaunlichen Vielseitigkeit der Hilfe, von
der der Medizin ein besonders großer Anteil zugeflossen ist, Einzelzu-
wendungen an Institute, Forscher und den wissenschaftlichen Nachwuchs,
Material- und Tierbeschaffungen, Bibliothekszuschüsse und Ergänzungen
für Unterstützung der Bücherproduktion; eine ganz besondere Aus-
dehnung und lebensnotwendige Wichtigkeit erreichte diese Hilfe bei der
jetzt noch nicht ganz abgeschlossenen Ausfüllung der großen Lücken,
die der Krieg und die Nachkriegsjahre den Beständen an ausländischer
Literatur unseren Bibliotheken geschlagen.
Einsicht und Opferwilligkeit des Staates und der Industrie haben
den Wandel ermöglicht. Die Vertiefung und Verbreitung der Einsicht,
daB wissenschaftliche Blüte Bürge des Volkswohls im Innnern sowohl,
wie der Weltgeltung und dazu heilige Pflicht des Volkes ist, ist der
Anstrengung der Besten wert. (P. Martini, München.)
126 Besprechungen.
8.
Die Krebskrankheit. Ein Zyklus von Vorträgen. Herausgegeben
von der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung und
Bekämpfung der Krebskrankheiten. Verleg von Julius Springer,
Wien 1925.
Der Inhalt des vorliegenden Buches ist in 2 Teile getrennt. Im
kürzeren allgemeinen Teil behandeln in den 2 ersten Vorträgen Maresch
und Sternberg in übersichtlicher Weise Morphologie und Atiologie
des Carcinoms und die Malignität der Geschwülste.e Freund legt in
seinem Vortrag über die Biochemie des Carcinoms den Hauptnachdruck
auf die Ergebnisse seiner eigenen Untersuchungen, während Kraus im
Kapitel über die Ergebnisse der experimentellen Geschwulstforschung
einen Bericht über die Geschwulstübertragung, Geschwulsterzeugung und
Zellkultur gibt und — in gewissem Gegensatz zu Freund — auf die
Unzulänglichkeit der bisherigen biologischen Tumordiagnostik und experi-
mentellen Therapie hinweist. J. Bauer berichtet über Krebskonstitution
und gibt eine Theorie der konstitutionellen Krebsdisposition. Peller
behandelt statistische Fragen. Von dem ausführlichen speziellen Teil
seien hier nur die Titel der Vorträge erwähnt, aus denen hervorgeht,
daß die wichtigsten Krebsfragen — es fehlen eigentlich nur Lungen- und
Bronchialkrebs — zum Teil sehr ausführlich besprochen werden. „Die
präkanzerösen Stadien der Haut“ (Kyrle). „Über Hautcarcinom“
(Riehl). „Über den Brustkrebs“ (Fränkel). „Carcinom und Nerven-
system“ (Redlich). „Kieferkrebs* (Pichler). „Das Carcinom der
Zunge und der Speiseröhre“ (Denk). „Das Carcinom des Rachens“
(Marschik). „Das Carcinom der Schilddrüse“ (Breitner). „Der
Larynxkrebs“* (Hajek). „Diagnose des Magencarcinoms“ (Gläßner).
„Prognose und Therapie den Magencarcinoms* (Eiselsberg). „Das
Gallenblasen- und Pankreascarcinom“ (Steindl). „Über Dickdarm- und
Mastdarmcarcinom“ (Hochenegg). „Der Nierenkrebs“ (Blum). „Das
Blasencarcinom“ (Schwarz). „Das Prostatacarcinom“ (Rubritius).
„Das Ovarialcarcinom“ (Thaler). „Das primäre Tubencarcinom* (Thaler).
„Uteruscarcinom“ (Peham). „Chorioepitheliom“ (Frankl). „Das
Carcinom des äußeren Genitale“ (Weibel). „Das Carcinom der Scheide“
(Weibel). „Über die Röntgentherapie des Carcinoma“ (Kienböck).
„Die Radiumtherapie der Carcinome“ (Kumer). Jedenfalls ist mit
dieser reichhaltigen Auswahl von Vorträgen die Absicht der Österreichischen
Gesellschaft zur Erforschung und Bekämpfung der Krebskrankheiten voll-
ständig erfüllt, nämlich eine, besonders für die Bedürfnisse des praktischen
Arztes zugeschnittene, Theorie und Praxis umfassende Übersicht über
die Krebsfrage zu geben. (Groll, München.)
_— oo U a a
9.
Misch verfolgt mit seiner Zeitschrift den Zweck, in deren ersterem
Teil die Ergebnisse der gesamten Zahnheilkunde auf theoretischem und
praktischem Gebiete lehrbuchartig zu besprechen und durch- seine ver-
schiedenen Mitarbeiter alles das, was wissenschaftlich und praktisch als
‚Besprechungen. 127
gesichtert gilt, speziell unter Rücksichtnahme auf die Bedürfnisse der
Praxis, den Praktikern zugänglich zu machen.
Im zweiten Teil, dem Literaturarchiv, bringt er eine Übersicht über
die zahnärztliche Weltliteratur , „auch in erster Linie den Erforder-
nissen des Praktikers Rechnung tragend“.
Es wird zunächst die Anatomie von R. Weber-Köln, besprochen.
An Hand der Arbeit von Huber werden die Resultate der Forschung über
die Facialis-Muskulatur eingehend gewürdigt, die Arbeit Landsberg’s
über die kontinuierliche Wachstumsbewegung des Alveolarfortsatzes, auch
der Bau der Gaumenschleimhaut hinsichtlich seiner Bedeutung für die
Prothetik. In gedrängter, gut gewählter Übersicht bringt der Verf. leicht
verständlich und flott geschrieben die den Zahnarzt interessierenden
Resultate der neuesten Forschungen auf diesem Gebiete.
Ausführlich bespricht Guido Fischer- Hamburg, auf Grund einiger
Forschungen und Erfahrungen die Lokalanästhesie. Nach ihm muß „die
Injektionslösung frisch und ateril hergestellt sein. Sie darf nicht unter
0,9°/, Natr. chlor. und soll außerdem Calc. chlor. 0,02°/ und Calec.
chlor. 0,008°/, enthalten. Das Suprarenin darf erst kurz vor Gebrauch
der Lösung zugegeben werden. Der frischen Lösung ebenbürtig ist nur
die Doppelampulle von Woelm, weil sie die labilen Salze Novokain
und Suprarenin trocken im Vakuum aufbewahrt, die Flüssigkeit aber
davon getrennt hält. Jede Abweichung von dieser Form führt zu
Lösungen, die, was den anästhetischen Effekt anlangt, zwar wirksam sind,
sich aber stets mehr oder weniger gewebsschädigend und reizend ver-
halten. Nicht einwandfrei sind deshalb alle Ampullenpräparate, welche
Novokain-Suprarenin mit allen Salzen fertig gelöst enthalten. Das
Novokain in Verbindung mit Suprarenin ist noch heute das beste Lokal-
anästhetikum für die Mundhöhle. Die günstigsten Konzentrationen liegen
von 1—3°/,. Anatomisch topographische Untersuchungen am Alveolar-
fortsatz des Ober- und Unterkiefers haben überzeugend dargetan, daß
alle Einstiche zum Zwecke einer Plexusanästhesie immer von der Um-
schlagsfalte aus zu erfolgen haben; die Einspritzung am straffen Gewebe
der Alveolarschleimhaut führt vielfach zur Infiltration der bier inserierenden
Muskelschichten und löst nach Abklingen der Anästhesie schmerzhafte
Ödeme und Funktionshemmungen der Muskulatur aus.
Die Stammanästhesie des N. maxillaris, welche bisher nur extraoral
geübt wurde, kann auch intraoral durch den Canalis pterygopalatinus
vom F'oramenpal. ant. aus leichter und mit gutem Erfolge ausgeführt werden.
Langsame Einspritzungen körperwarmer frischer Lösungen überwinden
konstitutionelle Schwierigkeiten, wie z. B. bei Herzkranken, Arterio-
eklerotikern und Nephritikern, Bo daß die Indikationsstellung der örtlichen
Betäubung im Munde heute weiter gezogen werden kann als früher. In
technischer Hinsicht sind die rostfreien Kanülen als wertvolle Ver-
besserungen des letzten Jahres aufzufassen.“
Es empfiehlt sich die Arbeit mit ihren zahlreichen Abbildungen und
ihrem lehrreichen Literaturverzeichnis im Orginal nachzulesen.
E. Hauberisser-Göttingen bespricht in kurzen Zügen und klaren
Worten die Narkose. Die Allgemeinnarkose beschränkt sich heute in
der Mundchirurgie auf phlegmonöse Prozesse. Hauberisser empfiehlt
128 Besprechungen.
vor allem die Chloräthyl-Narkose für kurz dauernde Eingriffe, für größere
Eingriffe die Skopolmorphin-Athertropfnarkose. H. gibt für den Praktiker
sehr wertvolle Brauchbarkeitsprüfungen, sowohl für den Äther, wie für
das Äthylchlorid und das Chloroform an. Für die mundchirurgischen
Eingriffe empfiehlt er die modifizierte Kuhn’sche perorale Intubations-
narkose (Ponndorf). l
Die allgemeine Chirurgie bespricht G. Axhausen-Berlin, in über-
sichtlicher Form. Im Kapitel Wundheilung bringt er die Vorgänge in
den Haut-, Knochen- und Muskulaturgeweben, Heilung bei freier Ge-
websüberpflanzung, bei Knochen- und Fettgewebs-Transplantationen.
Er erörtert eingehend die Mundinfektion, toxische Allgemeininfektion,
die putride Infektion, den Starrkrampf, sowie die luetische und tuber-
kulöse Infektion und daran anschließend die Wundbehandlung. Neben
den antiseptischen Methoden bespricht er die Anwendung der Morgenroth-
schen Chininderivate, die Behandlung infizierter Wunden, Knochen und
Gelenke, die Wunddiphtherie, die akute Osteomyelitis und die Tetanus-
infektion und schließt mit einem erschöpfenden Literaturverzeichnis seine
interessante Abhandlung.
Im Literaturverzeichnis werden alle einschlägigen Arbeiten aus der
Anatomie, Histologie, Pharmakologie, Allgemeinchirurgie, Mundchirurgie,
Prothetik, konservierenden Zahnheilkunde und den verschiedensten Grenz-
gebieten gebracht.
Alles in allem wird das Misch-Heft nicht nur dem Zahnarzt,
sondern auch dem Allgemeinmedisiner eine sehr interessante und anregende
Lektüre sein, aus der sowohl der Wissenschaftler wie der Praktiker
Nutzen schöpfen kann.
Misch scheint das sich gesteckte Ziel voll und ganz zu erreichen.
(P. Kranz, München.)
129
Aus der medizinischen Abteilung des Hospital General in Madrid
(Leiter: Dr. G. Marañon).
Über die hypophysäre Fettsucht.
Von
Dr. G. Maraüon.
(Mit 5 Abbildungen.)
I.
Gibt es eine hypophysäre Fettsucht? Mit dieser Frage be-
schäftigen sich gegenwärtig mit besonderem Interesse die Neuro-
logen und Endokrinologen; auch ich will zu deren Lösung einige
Betrachtungen, sowie einige aus meiner bereits recht stattlichen
Zahl von praktischen Fällen gesammelten Erfahrungen beitragen.
Schon seit langer Zeit beobachtete man Fälle von Fettsucht
in Verbindung mit Gehirngeschwülsten und im besondern von Ge-
schwülsten an der Basis des Encephalon. Die erste Beschreibung
jedoch über eine, von Fettsucht begleitete hypophysäre Geschwulst
— und besonders auf den Bauch beschränkte Fettsucht — ver-
dankt man Mohr vom Jahre 1840 (1). Abgesehen davon stellte
Fröhlich erst 1901 eine kausale Beziehung zwischen der Ver-
letzung der Hypophyse einerseits und der genitalen Insufficienz
andererseits fest, und war außerdem der erste, welcher das, von
ihm selbst beschriebene „Adiposo-Genital-Syndrom“ speziell auf
eine ungenügende Funktion der erwähnten Drüse zurückführte.
Bereits in der im Jahre 1910 erschienenen Auflage seines Buches
über Fettsucht nahm Noorden die Existenz einer, dem Hypo-
pituarismus zuzuschreibenden, Fettsucht als eine feststehende Tat-
sache an; auch veröffentlichte er damals ein, freilich ein etwas ge-
künsteltes, Schema, in welchem die einzelnen Krankheitserschei-
nungen des Fröhlich’schen Syndroms, der Reihe nach denen beim
hyperpituitarem Syndrom oder der Acromegalie auftretenden, wider-
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 9
130 MARAÑON
sprachen; geradeso wie die Myxödemsymptome denen, welche bei
der Basedow-Krankheit beobachtet werden, gegenüberstehen.
Unendlich ist die Zahl der bestätigenden Fälle, welche seit
Fröhlich’s Mitteilung bekannt wurden, und in allen in den letzten
15 Jahren erschienenen medizinischen Abhandlungen kommt inner-
halb der Hypophysen-Pathologie das Adiposo-Genitalsyndrom als
unbestreitbare klinische Einheit vor.
In den letzten Jahren aber hat diese Hypophysärpathologie
in der Kritik einen heftigen Gegenangriff von fast allen Physiologen
der ganzen Welt erlitten, besonders seit Bekanntwerden der Ar-
beiten von Gley; und auch von nicht wenigen, von den Ideen
jener Physiologen, beeinflußten Klinikern.
In einem, kürzlich von mir erschienenen, Buche (4) habe ich
versucht gerade diese Phase, welche sozusagen den Namen des
„Hypercriticismus* der Geschichte der Endocrinologie verdient,
einer möglichst unparteiischen Kritik zu unterziehen. Diese Periode
darf somit als eine gerechte und zugleich nützliche Reaktion gegen
die hyperbolische Phase betrachtet werden, welche in den vorher-
gegangenen Jahren gedroht hatte die inneren Absonderungen zum
Schlüssel der ganzen Medizin und sogar der gesamten Biologie zu
stempeln.
Aber weder die Verteidiger der einen noch der anderen An-
sicht hatten in diesem Streite vollständig Recht, die Wirklichkeit
lag in der Mitte; das haben zum Beispiel auch die derzeitigen Er-
fahrungen über die Physiopathologie der Nebenniere gezeigt —
ein Gebiet in welchem die Endocrinologie einen leidenschaftlichen
Kampf führte. Es steht heute fest, daß das Adrenalin nicht der
wesentliche Faktor bei der Regulierung des arteriellen
Druckes, des Kohlehydrat-Stoffwechsel und anderer vitaler Tätig-
keiten, wie man früher annahm, ist; aber wir wissen auch, daß es
keineswegs ein inertes Abfallprodukt, eine im physiologischen
Sinne wertlose Ausscheidung ist, wie Gley und seine Anhänger
annahmen, sondern eine vom physiologischen wie pathologischen
Standpunkt aus höchst wichtige Sekretion. Ähnliches entwickelt
sich gegenwärtig hinsichtlich der Hypophysis.
Nachdem man annahm, daß diese Drüse in der Stoffwechsel-
regulierung der Fette und der Kohlenhydrate, in der Diurese, in
der Sexualaktivität usw. eine fundamentale Rolle spiele, entzog ihr
die „hypereritische* Richtung alle die Funktionen, welche den
„antihypophysären“ Forschern nach in den benachbarten Nerven-
zentren, in den Kernen der infundibularen und hypothalamischen
Über die hypophysäre Fettsucht. 131
Gegend liegen, so daß die Drüse auf ein mit zweifelhaften und
nebensächtlichen Funktionen ausgestattetes Organ beschränkt wird,
deren Annullierang ganz gut mit der Lebensfähigkeit vereinbar ist.
In der vorliegenden Arbeit ist die Gesamtheit der Probleme
der hypophysären Physiopathologie nicht zu umfassen. Vor kurzem
habe ich alles auf die Regulierungsfunktion der Diurese Bezügliche
erörtert (5) Heute will ich mich mit ihrem Einfluß auf den Fett-
stoffwechsel befassen. Dazu werde ich zuerst der klinischen Cha-
raktere der „hypophysären“ Fettsucht gedenken und dann auf ihre
Ausdehnung sowie ihre Pathogenie zu sprechen kommen.
Il.
Die hypophysäre Fettsucht charakterisiert sich im allgemeinen
meiner Erfahrung nach viel mehr durch die Art ihrer Verteilung,
als durch ihre Intensität. Das heißt, es handelt sich fast niemals
um große Fettsuchten, um bedeutende Gewichtszunahmen, sondern
vielmehr um bescheidene Verfettungsgrade; jedoch typisch durch
ihre besondere Lagerung der Fettanhäufungen. Manchmal sind
die Kranken sogar mager, aber das Fett sammelt sich immer
an ganz eigentümlich gewählten Stellen an: die retromammäre
Gegend: bei den Frauen durch beträchtliches Hervorstehen der
Brüste und bei den Männern den Glauben an eine Brusthyper-
trophie erweckend; und die Hüften- und Schenkelgegend, und vor
allem die vordere Fläche des Abdomens. Meiner Erfahrung nach
ist jedoch unter all den erwähnten Körperteilen als
wirklich typische Lokalisierung gerade die Epi-
gastriumgegend anzusehen, da sie frühzeitig und in
konstanter Weise angegriffen wird. Im Anfangsstadium,
wenn man von eigentlicher Fettsucht noch nicht reden kann, be-
obachtet man tatsächlich schon diese Fettpolster in der Magen-
gegend so klar, daß bei zwei mir vorgekommenen Fällen wenig
gebildete Patienten vermuteten, es handle sich um eine „Magen-
geschwulst.“
Ist die Fettsucht allgemein, so mildert sich bei vielen Männern
die Gesamtmorphologie, und dieser Umstand, vereint mit der Pro-
minenz der Brüste und dem geringen Hervortreten der Geschlechts-
organe gibt der ganzen Figur ein zweifelhaft sexuales Aussehen,
pseudohermaphroditischen und manchmal direkt gynekomastischen
Typus. Die mangelhafte Entwicklung der Geschlechtsorgane be-
darf keiner ausführlichen Besprechung. Der Penis und die Hoden
sind — innerhalb verschiedener Grade — kleiner als dem Alter
gx
132 MARANON
des Kranken zukommt, und die Fettansammlung in der Pubisgegend
trägt dazu bei diese Hypoplasie noch mehr zum Ausdruck zu
bringen, denn der im Fettpolster eingebettete Penis ragt kaum
1 cm über die Hautfläche heraus; es genügt diese mit den Fingern
zurückzudrücken, um den verborgenen Teil zum Vorschein zu bringen.
Dabei fehlen die Schamhaare, die der Achselhöhlen, die Haare am
Körper sowie die Gesichtshaare beim Mann.
Nicht selten liegt auch, wenn es sich um Jünglinge handelt,
einseitige oder doppelseitige Kryptorchie in permanenter oder vor-
übergehender Weise vor. Diese vorübergehende Kryptorchie
stellt einen geringeren Grad von Hypoplasia genitalis dar, deren
genauerem Studium ich besondere Aufmerksamkeit gewidmet habe.
Manchmal kommen die Hoden nur in den Hodensack solange der
Kranke sich in ruhigem Zustand befindet, um sich bei dem ge-
ringsten kremasterischen Reflex wieder in den Ductus inguinalis
zu verbergen. Dazu kann die Erregung einer ärztlichen Unter-
suchung genügen, und der Kliniker kann dann irrtümlicherweise
vorübergehende Fälle, die natürlich viel weniger ernst zu nehmen
sind, für permanente Kryptorchie ansehen. In anderen Fällen ist
es notwendig durch mechanischen Reflex den Hoden zum aufsteigen
in den Ductus zu bringen; um dies zu erreichen, genügt manchmal
ein leichter Fingerdruck, ähnlich eines Druckes auf einen elek-
'trischen Knopf, auf die Innenseite des Schenkels um das Symptom,
das ich als aufsteigende Hoden bezeichnet habe, hervor-
zurufen (4).
Abgesehen von diesen beiden wesentlichen Erscheinungen, Fett-
sucht und Hypogenitalismus, können die von mir beschriebenen
Kranken auch andere Eigentümlichkeiten aufweisen wie geringe,
manchmal direkt zwerghafte Körpergröße, deren Vorkommen oder
Ausbleiben wahrscheinlich von der Intensität abhängt mit der das
vordere Läppchen der Hypophysis angegriffen ist.
Die psychischen Störungen, welche manchmal bei derartigen
Individuen zu bemerken sind, die entweder melancholischen, oder
kindischen, oder auch euphorischen Typus aufweisen, wie ich selbst
beobachtet habe, zeigen nichts Charakteristisches. Die Euphorie
kann, wie ich kürzlich in einem meiner Fälle gesehen habe, sogar
einen Menschen mit, zur Ausführung geschlechtlicher Funktionen,
vollständig unfähigen Geschlechtsorganen zum heiraten führen.
Cushing (6) und verschiedene andere Autoren haben mit Nach-
druck auf die Häufigkeit hingewiesen, mit welcher sich bei solchen
Kranken epileptiforme Anfälle einstellen, deren Vorkommen auch
Über die hypophysäre Fettsucht. 133
ich in einigen interessanten Fällen, welche ich demnächst veröffent-
lichen werde, bestätigen konnte.
Öfters ist die genitale Fettsucht von Diabetes iisipidus be-
gleitet, entweder in permanenter Weise oder als vorübergehende
Polyuresis, was man genau erforschen muß, da die Kranken in den
meisten Fällen nicht von selbst darüber reden. Die geringe Toleranz
für Kohlenhydrate, welcher die amerikanischen Autoren solche
Wichtigkeit beilegen, ist nach meinen Erfahrungen sehr beschränkt.
Tatsächlich habe ich beinahe immer diese Toleranz normal be-
funden, und auch normal oder nur wenig verringert die Glykämie
in nüchterem Zustand. Kürzlich bemerkte ich auch, daß bei diesen
Kranken keine besondere Empfindlichkeit für Insulin besteht, wie
es bei anderen pathologischen Zuständen, in denen wirklich eine
Abnahme der Toleranz für Kohlenhydrate vorliegt, der Fall zu
sein pflegt (7).
Ebenso mit Carrasco fand ich regelmäßiger einen Nieder-
gang im basalen Stoffwechsel, auf welchen Punkt ich noch später
ausführlicher zurückkommen werde (8).
Diesen allgemeinen Erscheinungen sind die fokalen
oder Herdsymptome durch hypophysäre Geschwülste verursacht,
hinzuzufügen. Diese Symptome sind, abgesehen von chronischem
Kopfschmerz, Erbrechen usw. die bei jeder Gehirngeschwulst vor-
kommen, die bitemporale Hemianopsie, die bis zur vollständigen
Erblindung und Anwachsen des Türkensattels ausarten kann, wie
aus dem Röntgenbild ersichtlich wird. Dabei muß besonders be-
achtet werden, dab manchmal enorme Anschwellungen
der hypophysären Gegend nicht das geringste fokale
Symptom hervorrufen, und nur durch die Radiographie wahr-
genommen werden können. Es ist ferner in Betracht zu ziehen,
daß eine zerstörende Verletzung der Drüse vorliegen
kann, ohne daß dieselbe an Größe zugenommen hat
und infolgedessen ohne jegliche Herdverletzung, die
in Röntgenbildung sichtbar würde (Kysten, Blutungen,
Entzündungen, welche vom Knochen oder von den benachbarten
Knochenhöhlen ausgingen, zehrende Zustände usw.). Was die radio-
graphische Diagnostik des Türkensattels anbelangt, berechtigen
meine sich über mehr als 200 Fälle erstreckenden Erfahrungen
von radiographisch studierten hypophysären Störungen die größte
Vorsicht in der Auslegung dieser Dokumente anzuempfehlen, da
die Verschiedenheit der Form und Größe des Türkensattels sehr
134 | MARAÑON
groß und sehr beeinflußt sein kann von technischen Einzelheiten.
Das, von mir zum Klassifizieren dieser Variationen veröffentlichte,
Schema (5) kann, m. E. nach, in unklaren Fällen recht nützlich sein.
III.
Die vorstehende Schilderung bezieht sich auf Fälle von hypo-
physärer Insufficienz in der Kindheit, die anscheinend am häufigsten
vorkommt. Bei diesen hat der Kliniker gleich von Anfang an ein
deutliches Krankheitsbild vor Augen. Tritt aber die Erkran-
kung in späteren Jahren — im vollen Mannesalter —
auf, dann wird das klinische Bild viel verworrener.
Die Fettanhäufung ist dann fast die einzige ins Auge
fallende Krankheitserscheinung, und selbst bei ihr be-
merkt man die Lokalisationsangaben nicht so deutlich, außer der
abdominalen Verfettung, die nicht zu fehlen pflegt, wie bei jungen
Hypopituitärkranken.
Die geschlechtlichen Symptome bleiben gewöhnlich auf den
rein funktionellen Charakter beschränkt (Ausbleiben der Menstrua-
tion bei der Frau und verminderte Begehrlichkeit beim Manne);
da diese Erscheinungen sehr häufig bei allen Arten der Fettsucht
vorkommen, selbst wenn sie nichts mit der Hypophysis zu tun
haben, nimmt ihr diagnostischer Wert bedeutend ab. Nur in ganz
schweren und langwierigen Fällen kann man zuletzt einen ge-
wissen Zustand von atrophischen Rückgang der Geschlechtsorgane
beobachten.
IV.
Diese Ausführungen bringen uns nun dazu die hypophysäre
Fettsucht noch von einer anderen Seite, die ich auch besprechen
möchte, zu betrachten, nämlich: die Ausdehnung und die
Grenzen, welche die Krankheit erreichen kann.
Seit der ersten Beobachtung von Fröhlich setzten viele
Autoren tatsächlich voraus, daß jeder von geschlechtlicher In-
suffizienz begleitete Fall von Fettsucht endogener Natur sei, selbst
wenn keine Herdsymptome von Erkrankung der Drüse vorliegen,
da diese mangelhaft funktionieren, kann, ohne ihre Größenverhält-
nisse zu verändern, wie ich bereits erwähnte.
Vom teoretischen Standpunkt aus betrachtet, kann man selbst-
verständiich diese Hypothese nicht verneinen. Es liegt kein Grund
vor, dab die den Hypopituitarismos hervorrufenden Erkrankungen
immer in Tumoren bestehen, ebenso wie eine hypofunktionelle Er-
Über die hypophysäre Fettsucht. 135
krankung der Schilddrüse nicht immer einen voluminösen Kropf
darzubieten braucht, sondern auch bei einer normalen oder kleinen
Schilddrüse vorkommen kann. In der Praxis soll man aber,
meiner Meinung nach, außer in ganz besonderen
Fällen nicht wagen die Diagnose auf hypophysäre
Fettsucht zu stellen, wenn keine Herdsymptome vor-
handen sind, die erlauben eine Verletzung dieser
Drüse festzustellen oder wenigstens zu vermuten.
Man beachte dabei, daß die, von verschiedenen Autoren als Hilfs-
mittel zur Diagnose der hypophysären Störungen vorgeschlagene
funktionelle Probe, wie Thermoreaktion, die Probe der
Glycosurie usw., meiner Erfahrung nach gar keinen Wert haben.
Infolge dieses einschränkenden Urteils fühle ich mich nicht
berechtigt von hypophysärer Fettsucht zu reden, wie Mouri-
quand (9) ganz vernünftig beurteilt hat, in den vielen Fällen
von infantilen Fettsuchten in der prä-puberalen
Periode, welche von ungenügender geschlechtlicher Entwicklung
begleitet sind. Trotz der großen klinischen Analogie zwischen
diesen Verfettungen und denen der hypophysären Geschwülsten,
berechtigt nichts bei diesen jugendlichen Fettsuchten, die im all-
gemeinen vorübergehend und immer leicht zu behandeln sind, die
Vermittlung dieser Drüse zu behaupten. Es ist auch nicht be-
stimmt, daß die von Massalongo u. Piazza (10) und zu hypo-
physären Fettsuchten gezählten Fälle von post-infektiöser
Fettsucht diesen Ursprung haben. Kürzlich habe ich z. B. mit
Bonilla (11) zusammen einen Fall von ungeheurer post-syphi-
litischer Fettsucht veröffentlicht, bei dessen Obduktion wir die
Hypophyse intakt fanden, trotzdem alle klinischen Anzeichen eine
Verletzung dieser Drüse vermuten ließen. In verschiedenen meiner
Veröffentlichungen habe ich stets nachdrücklich auf diesem Kriterium
bestanden; trotzdem hat ein so gewissenhafter Autor wie M. Labbé
in einem kürzlich erschienenen Buche (12) mir die Behauptung zu-
geschrieben „daß die unermeßliche Mehrheit der Verfettungsfälle,
hypophysären Ursprungs seien“. An anderer Stelle (13) habe ich
die, ohne Zweifel, falsche Auslegung Labbe&’s aufgeklärt.
V.
Um wieder auf das Problem der Pathogenie unseres Syndroms
zurückzukommen, will ich daran erinnern, daß die klinische Er-
fahrung, welche die Fettsucht und die geschlechtliche Insuffizienz
einer zerstörenden Erkrankung der Drüse zuschreibt — in Über-
136 MABANON
einstimmung mit den Versuchen von Ascoli u. Legnani (14),
Biedl (15), Aschner (16), Cushing (6) usw, welche die-
selbe Symptomatologie erreicht haben, indem sie bei
Hunden und Katzen die Hypophyse herausnahmen —
in den letzten Jahren einer vielleicht nicht so strengen wie leiden-
schaftlichen Kritik unterzogen wurde, die zu beweisen ver-
suchte, daß die wirkliche Ursache der geschlecht-
lichen Verfettung nicht in der Störung einer Drüse
besteht, sondern in Erkrankung von bestimmten
Nervenzentren, die in der Infundibulärgegend, also
sehr nahe der Hypophyse, liegen und durch die ex-
perimentell oder spontanen Verletzungen der Drüse
sekundär angegriffen sind.
Die Verfechter dieser Berichtigung der klassischen Ideen über
die hypophysäre Fettsucht waren: Erdheim (17) hauptsächlich
seit 1904 und neuerdings andere amerikanische Physiologen (18)
aber besonders Camus und Roussy (19) und Bailey und
Bremer (20). Diese letzteren Autoren stützen ihre Kritik auf
sorgfältige Versuche, aus denen hervorgeht, daß, wenn man bei
einem Tier die Hypophyse entfernt, die Verletzung der neben-
liegenden Nervenzentren fast unvermeidlich ist. Infolgedessen muß
man dieser unwillkürlichen Nervenerkrankung und nicht dem Fehlen
der Drüse die nachfolgende Symptomatologie zuschreiben. Wird
aber die betreffende Operation mit äußerster Vorsicht ausgeführt,
so daß die dort gelegene Nervensubstanz nicht im geringsten dar-
unter zu leiden hat, so stellen sich, nach Ansicht dieser Autoren,
weder Fettsucht noch geschlechtliche Störungen ein, selbst wenn
die Zerstörung der Hypophyse restlos gewesen ist; und umgekehrt:
verletzen wir in vorsätzlicher Weise die besagten Nervenzentren
und lassen die Hypophyse an ihrem Platz, so erscheint der experi-
mentelle distrophia adiposo-genitalis.
Zu diesen recht wichtigen, im Laboratorium festgestellten,
Tatsachen kommt dann noch ein ziemlich umfangreicher klinischer
Beitrag durch die Beobachtungen von dem bereits erwähnten
Erdheim (17), sowie Reverchon (21), Waldorp (22), Lere-
boullet (23), Ricaldoni (24), Balduzzi (25) usw. zusammen-
gestellt, welche entweder den Adiposo genital Syndrom mit Ver-
letzung in der dritten Kammer und nicht in der Hypophyse, oder
zerstörende Erkrankungen der Hypophyse ohne das geringste
klinische Anzeichen des Fröhlich’schen Syndroms fanden.
Welche Stellungnehmen wir dem so aufgestellten
Über die hypophysäre Fettsucht. 137
Problem gegenüber ein? Ich schicke meine diesbezügliche
Ansicht darin voraus: Bei dem jetzigen Stand unserer
Kenntnisse kann man die Existenz der trophischen
Zentrenderpara-hypophysärenGegendnichtleugnen,
gerade so wenig wie die direkte Teilnahme der Drüse
bei der Entstehung der Verfettung wie die nach-
folgenden Tatsachen beweisen.
VI.
Selbstverständlich müssen wir den Erfahrungen von Camus u.
Roussy, Houssay, Bayley u. Brener usw. ihren vollen Wert
beilegen, denn in den biologischen Wissenschaften dürfen Tat-
sachen nur mit anderen experimentellen Tatsachen, derselben
Kategorie, diskutiert werden.
Wir wollen daher nicht denselben Weg einschlagen, den
Wollny (26) in seiner, der Logik nicht entbehrenden Kritik der
besagten Experimente genommen hat. Aber selbst, wenn man die-
selben ohne Vorbehalt annimmt, selbst wenn man voraussetzt, daß
dank ihnen alle früheren experimentellen Tatsachen (Cushing,
Biedl, Ascoli und Legnani u.a. m.) vollständig wertlos würden,
so werden dadurch doch alle, in der menschlichen Klinik gemachten,
Beobachtungen ihren Wert nicht verlieren. Wir würden dann zu
der Schlußfolgerung kommen, daß der Hypophyse bei ge-
wissen Tierarten Funktionen obliegen, deren Quali-
tät und Funktion verschieden von denen bei Men-
schen sind, eine in der Endokrinologie nicht unge-
wöhnliche Behauptung; es genüge daran zu erinnern, daß
man bei der Herausnahme der Schilddrüse bei den Nagetieren
niemals die Folgen vermutet hätte, die die Zerstörung dieser Drüse
bei den Menschen nach sich zieht.
VII.
Was die menschliche Klinik betrifft, so ist in erster Linie ein
Argument ins Auge zu fassen, welches die Verteidiger der Nerven-
theorie als Grundlage ansehen, nämlich das Vorhandensein
des adiposo genitalen Syndroms in Fällen der Er-
krankung der Infundibulargegend und vollständige
Unversehrtheit der darunterliegenden Drüse. Für uns
die wir die eklektische Theorie, auf die ich später eingehen
werde, annehmen, liegt nichts Überraschendes darin, daß eine, auf
diese Zentren beschränkte Krankheit, die Hypophyse funktionell
138 MARANON
blockiert, isoliert ohne sie zerstören zu müssen. Schon vor langer
Zeit versicherten Paulesco (27), Biedl (15) teilweise Cushing (6),
daß dieselben Wirkungen, wie durch Herausnahme der Hypophyse,
auch durch experimentellen Durchschnitt des Hypophysenstiel er-
reicht werden, Versuche die auch ich bei Kaninchen vornahm, wo-
bei ich mir auf orbitalem Wege Zugang zur Hypophyse verschaffte.
Ich gebe zu, daß diese Versuche nicht beweisend wären, da ja
eine Durchschneidung des Hypophysenstiels aufs Geratewohl sehr
oft eine beabsichtigte Verletzung der benachbarten Zentren nach
sich führen kann. Tatsache ist aber in der menschlichen Klinik,
daß in fast allen diesen Fällen von para-hypophysären
Geschwülsten die sekundäre Kompression der Drüse
sich bestätigt, selbst in vielen von ihren Autoren mit augen-
scheinlichem antihypophysärem Vorurteil beschriebenen Fällen.
Marburg (28) kritisierte in diesem Sinne die von Erdheim als
Beweis zugunsten der Nerventheorie angeführten Fälle, indem-
er bemerkte, daß in fast allen Geschwulstfällen, selbst wenn die
Geschwulst nicht in der Hypophyse wäre, „diese durch die Neu-
bildung stark komprimiert wurde“. Grahaud (29) zitiert in seiner
durch Launois beeinflußten Thesis, ebenfalls verschiedene Fälle,
in denen die das Adiposo-Genital-Syndrom verursachende Erkran-
kung zwar nicht direkt hypophysärer Art war, bei denen aber
doch immer eine ersichtliche Kompression der Drüse vorlag. Der-
selbe Fall von Lereboullet, Muzon und Cathala, den diese
Autoren beobachtet, und zugunsten der Nerventheorie ausgelegt
haben, ist daher zweifelhaft, wie sie selbst eingestehen, indem sie
anführen: „On peut admettre le rôle de la compression de l’hypo-
physe par la tumeur et relever notament ce fait que latige pitui-
taire était coincée par la lame calcaire de la tumeur.“ Die Un-
verletztheit der Gewebe der Drüse bei dieser Beobachtung von
Lereboullet ist auch kein entscheidender Beweis, da ja im
allgemeinen unsere Kenntnis über die Gewebe der endo-
krinären Organe bei der Diagnose der etwas gröberen
Erkrankungen uns nützen, aber keineswegs um den
funktionellenZustand der Drüse in der Mehrzahl der
Fällebeurteilenzukönnen. Lhermitte (30) sowie Lere-
boullet (23) selbst legen auch dem Falle von Maraüon u.
Pintos (31) den Wert eines neurologischen Beweises bei, indem
sie das Adiposo Genitale Syndrom nebst Polyurie infolge eines
Schusses auf die Verletzung der infundibulären Zentren, in denen
die Kugel stecken geblieben, ohne die Hypophyse selbst zu ver-
Über die hypophysäre Fettsucht, 139
letzen, zurückführten. Sie vergessen aber eine histologische Tat-
sache dabei, die ich meinerseits für äußerst wichtig halte, nämlich:
das Vorhandensein eines Vernarbungsprozesses um das Geschoß
herum, der den Hypophysenstiel sozusagen vollständig abschnitt
und die Hypophyse blockierte.e Der Umstand, daß die Symptome
in diesem Falle nicht sofort nach dem Schluß auftraten, sondern
wahrscheinlich mit der Bildung des Narbengewebes erst einige
Monate später, bestärkt meine Auslegung.
Bei Fällen, in denen das adiposo-genitale Syndrom infolge
von Hydrocephalus vorliegt, ist die Existenz der sekundären Kom-
pression der Hypophyse nach Müller (32) konstant, auch Babon-
neix u. Denoyelle (33) sind dieser Ansicht.
Was den Zustand der Hypophyse in Fällen von Encephalitis
lethargica, die mit Fettsucht oder Polyurie einhergehen, betrifft,
und den erstmals Rodriguez Fornos (34) und dann noch
mehrere andere Autoren beschrieben haben, so fehlen uns noch
genaue anatomisch - pathologische Angaben, wenngleich auch alles
vermuten läßt, daß es sich bei dieser Gelegenheit um reine Wir-
kungen der Nervenerkrankung handelt.
Wir können somit kurz zusammenfassend sagen: Die ana-
tomisch-pathologischen Daten, die wir gegenwärtig
über das Syndrom von Fröhlich besitzen, schließen,
unparteilich beurteilt, keineswegs die manchmal
ursprüngliche Intervention der Hypophyse aus.
VIII.
Die pathologische Anatomie selbst verschafft uns aber neue
hypophysäre Beweise und von solcher Wichtigkeit, daß es erstaun-
lich ist, wie gegenseitig beeinflußte Kliniker und Phisiologen die-
selben übersehen konnten. Ich beziehe mich auf die hypo-
physāren Geschwülste der Acromegaliker, die sehr
oft umfangreich sind und dadurch auch auf die be-
nachbarten Nervenzentren mindestens in demselben
Grade wie die Geschwülste des Fröhlich’schen Syn-
droms wirken; trotzdem ist die Acromegalie weder
mit Fettsucht verbunden, noch mit genitaler Hypo-
plasie noch mit einem anderen Symptom, des so be-
strittenen Hypopituitarismus, außer in seltenen
Fällen in denen diese Erscheinungen später auftreten,
und die Symptome der reinen Acromegaliker in den
Hintergrund drängen.
140 . MARAKON
Wie die meisten Praktiker habe auch ich viele Fälle von
Acromegalie gesehen mit ungeheuren hypophysären Geschwülsten,
mit schweren Herdsymptomen, mit einem sechs- oder siebenfach
vergrößerten Türkensattel und endlich mit necropsischem Befund
einer voluminösen Geschwulst, die ganz nachweisbar die
Infundibulärgegend zusammendrückte, aberohnedas
geringste Symptom des von Fröhlich beschriebenen
Krankheitsbildes. Worin unterscheiden sich nun diese sich
immer wiederholende Fälle von denen der hypophysären Ge-
schwülste mit genitaler Fettsucht? Selbstverständlich liegt der
Unterschied nicht in dem Druck oder Nichtdruck des Nerven-
systems, welcher bei einen und andern analog ist, sonderen in einem
anderen wesentlichen Merkmal, nämlich: daß die Histologie
der Geschwulste bei den Fällen von Acromegalie
hyperplasischen Charakters ist, während sie bei den
Fällen des Fröhlich’schen Syndroms ein zerstörendes
Bild darstellen.
Es ist wohl wahr, daß Camus, Bailey und Bremer so-
weit kamen, anzunehmen, die riesenhafte Knochenentwicklung der
Acromegaliker habe vielleicht auch einen nervösen Ursprung. Als
Gegenbeweis genügt aber die Tatsache, daß, wenn das Fröhlich’sche
Syndrom von extrahypophysären Geschwülsten verursacht sein kann,
insofern die Drüse gedrückt oder blockiert ist, die Acromegalie
nur durch eine unbedingte Erkrankung der Hypophyse verschuldet
wird, da der hyperfunktionelle Zustand niemals durch
entfernt gelegene Erkrankungen entstehen kann,
wie der hypofunktionelle.
IX.
Außerdem gibt es noch einen anderen ebenfalls anatomischen
Beweis vom größten Wert zugunsten der hypophysen Theorie; ein
Beweis, den die Gegner dieser Theorie auch ungerechterweise ver-
gessen, nämlich die Existenz von adiposo-genitalen Sym-
ptomen bei Fällen von zerstörender Erkrankung der
Hypophyse, ohne Größenzunahme dieser Drüse und
darum ohne daß eine sekundäre Erkrankung der in-
fundibulären Zentren möglich ist. Viele von den, hin-
sichtlich des Frölich’schen Syndroms sowie der Polyurie und der
hypophysären Kachexie, veröffentlichten Fällen schienen das Be-
stehen von Geschwülsten auszuschließen, da weder Herdsymptome
noch Veränderungen in der Größe und Form des Türkensattels
Über die hypophysäre Fettsucht. 141
vorlagen. Abgesehen davon, daß in diesen Fällen natürlich die
Diagnose nicht immer sicher ist, wie früher bemerkt wurde, so
konnte man die Möglichkeit auch nicht ausschließen, daß die Er-
krankung in den nebenliegenden Nervenzentren ihren Sitz haben
könnte. Ich gebe deshalb einzig allein den durch Obduktion fest-
gestellten Fällen wert.
Vor allem ist hier ein, von Luzzato (35) beobachteter, Fall
anzuführen; ein Fall von ungeheurer Polyurie und Kachexie bei
dessen Sektion Blutung mit sklerosischen Rückwirkungen an dem
hinteren Läppchen der Hypophyse festgestellt wurde; aber das
„Tuber cinereum erschien unbeschädigt, das Infundibulum ein-
schließlich des infundibularen Ependyms war vollkommen normal
ebenso die retroinfundibuläre Nervensubstanz des dritten Kammer-
bodens und des optischen Chiasmas“. „Auch waren keine wich-
tigen Erkrankungen in den Nervenknoten der Basis und der subta-
lamischen Gegend.“ Dieser Fall, den die Antihypophysären ver-
gessen anzuführen, ist überzeugend und bestätigt meine Diagnose
von hypophysärer Blutung in den verschiedenen, von mir veröffent-
lichten Fällen, von traumatischer Diabetes insipidus (5).
Von mir aus kann ich zwei Fälle anführen, wovon einer viel-
leicht entscheidend für meine Folgerung ist, weil er lange Zeit
und mit besonderer Sorgfalt beobachtet wurde.
Der erste dieser Fälle 1911 (35) veröffentlicht und von Falta (36),
Pende (37) und anderen besprochen, ist im großen ganzen folgender:
Ein 4Ujähriger, groBer Mann, mit blasser und trockener Haut,
wenig behaartem Gewebe, kleinen und harten Hoden, wenig entwickeltem
Penis und allgemeiner Fettsucht. Er hatte mit Gift Selbstmord be-
gangen und seine Leiche war im Madrider Gerichts-Depot eingeliefert,
wo die Obduktion vorgenommen wurde. Es war unmöglich konkrete
Angaben über seine klinische Krankheitsgeschichte zu erhalten, aber es
konnte vermutet werden, daß Geschlechtsimpotenz der Grund des frei-
willigen Todes gewesen war.
Bei der, besonders auf die Organe der inneren Sekretion gerichteten
Leichenschau fand man nichts wichtiges außer der Erkrankung der Hypo-
physe. Bei der Herausnahme des Gehirns erschien diese Drüse in
normaler Größe und ragte nicht aus dem Türkensattel
heraus. Auch ihr äußerliches Aussehen war normal, als
wir sie aber von vorn nach hinten aufschnitten, kam
eine veraltete hämorrhagische Cyste zum Vorschein, die
sich vom Pars intermedia nach vorn erstreckte und fast
den ganzen mittleren und vorderen Teil dieses Organes
einnahm.
Unter dem Mikroskop wurde die cystische Erkrankung bestätigt
und außerdem bezeugte die sie umgebende dichte fibröse Kapsel ihr
142 MARANON
Alter. Um diese Läsion herum war das Organgewebe auf einen engen
Ring beschränkt, der aus kleinen Zellen von geringem granulösem Proto-
plasma gebildet war, die durch Hämatoxylin und Eosin leicht zu färben
waren. Nur sehr kleine Mengen von Kolloiden, welche in den Bläs-
chen in der Nähe des zerstörten Pars intermedia lagen. Der hintere
Teil der Drüse schien intakt.
Von den naheliegenden Nervengegenden wurde nur eine makro-
skopische Untersuchung vorgenommen, die einen normalen Zustand ohne
Entzündung, Blutung, Kompression usw. erkennen ließ.
In diesem Falle fehlt ein vollständiges klinisches Studium;
aber man kann nicht umhin als den, an der Leiche festgestellten
unzweifelhaften, Adiposo-Genital-Syndrom auf die Erkrankung der
Hypophyse zu beziehen, und diese, wiederhole ich, beschränkte
sich strikt auf die Drüse ohne die geringste ence-
phalische Erkrankung.
Im zweiten Fall werden die Lücken der vorstehenden Beobach-
tung vollständig ergänzt. Nachstehend die Krankheitsgeschichte:
G. F. 39 J. alt, wurde im Januar 1923 in das Hospital General
von Madrid aufgenommen und machte folgende Angaben:
Er sei verheiratet und habe zwei gesunde Kinder, habe niemals
Syphilis noch sonst eine Krankheit gehabt, bis vor 3 Monaten als er,
eines Nachmittags von der Feldarbeit nach Hanse kommend, stolperte
und zu Boden fiel, dabei einen StoB am Kopf erlitt ohne sich äußerlich
zu verletzen. Als nach einigen Minuten die Kommotion vorüber war
und er sich erholte, ging er zu Fuß nach Hause ohne dem Erlebten
Wichtigkeit beizulegen. Aber einige Tage später bemerkte der starke,
an schwere Körperarbeit gewöhnte Mann, daB er hauptsächlich in der
Bauchgegend dicker wurde. Diese Zunahme schritt immer rascher und
stärker voran und wenn er auch nicht angeben konnte, wieviel er zu-
nahm, so glaubte er beinahe das Doppelte seines früheren Ge-
wichtes zu haben. Bald nach seiner Aufnahme in das Spital wog er
102 kg bei einer Körpergröße von 1,60 m.
Darüber kümmerte er sich nicht viel, bis er kurz nachher plötzlich
merkte, daB sein Geschlechtstrieb geringer wurde und nach
einigen Wochen sogar ganz aufhörte.. Sein, sonst tätiger und
unternehmungslustiger, Charakter fing gleichzeitig an,
apathisch und gleichgültig zu werden, bis zu dem Grade, daß
ihm seine tägliche Arbeit große Anstrengung kostete, was ihn dann ver-
anlaßte in das Spital zu gehen.
Die klinische Untersuchung ergab Fettsucht, mit dem oben
angegebenen Gewicht, die sich fast ausschließlich auf
den Unterleib beschränkte (Abb. 1 und 2), den Brustkasten und
die Glieder aber verschonte. Keine Störungen im Kreislauf, außer einer
mäßigen Hypertension: 180 max., 100 min. Nichts an den Atmungs-
noch sonstigen Organen. Anatomisch ganz normale Geschlechtsorgane.
Nervensystem (Reflex, Augenhintergrund, Radiographie des Sella turcica)
Über die hypophysäre Fettsucht. 143
normal. Psychische Gleich-
gültigkeit und geistige Träg-
heit, welche die Zusammenstellung
seiner klinischen Krankheitsgeschichte
ziemlich erschweren.
Basal Stoffwechsel: — 10°, ;
Urin normal.
Mit diesen Daten stellte ich eine
endgültige Diagnose auf:
Abb. 1. Der Kranke G. F. Abb. 2. Der Kranke G. F.
Hypophysäre Blutung, wahrscheinlich im mittleren
und hinteren Teil. Es schien mir tatsächlich, daß keine
andere Erkrankung außer der hypophysären die plötz-
liche Fettzunahme, die Lokalisation derselben im Unter-
leib, den Verlust der Geschlechtstätigkeit dazu den
gleichgültigen psychischen Zustand erklären konnte,
Andererseits hatten mich meine Beobachtungen an
Leichen von Personen, die infolge Falles oder heftigen
Stößen, verstorben waren und bei Kranken, die nach
Trauma diese Syndrome aufwiesen, diemehr oder weniger
einstimmig auf den Hypopituitarismus (Fettsucht, Dia-
144 MARANON
betes insipidus usw.) zurückzuführen sind, überzeugt von
der Häufigkeit mit der die Blutungen der Hypophyse
auftreten. Diese Blutungen sind ohne Zweifel veranlaßt durch die
reichlichen Gefäßbildungen, den geringen Schutz der Bindehaut der Drüse
und vielleicht auch durch ihre mit der Schädelbasis verwachsene Lage.
Danach zweifelte ich nicht an der oben erwähnten Diagnose, die
allerdings nicht immer ohne Vorbehalt und sogar mit einer gewissen
Ironie von den zahlreichen spanischen und ausländischen Kollegen an-
genommen wurde, denen ich den Fall innerhalb der einundeinhalb Jahren,
seit der Aufnahme des Kranken ins Spital bis zu seinem Tode, vor-
führte. Das Fehlen der subjektiven und objektiven Herdsymptomen ließ
natürlich annehmen, daß, wie es oft vorkommt, diese Blutung die Dimen-
sion der Drüse selbst nicht überschritt, aber es blieb der Zweifel, ob
nicht auch die nebenliegenden Nervenzentren von der vermuteten Blutung
angegriffen seien. —
Mehrere Monate hindurch war bei dem Kranken nichts besonders
Abnormes zu beobachten. Er aß gut, klagte über nichts, und außer
den Hilfeleistungen bei den Krankenpflegern der Klinik, führte er ein
ruhiges, zurückgezogenes Leben ohne den Wunsch zu äußern nach
Hause zurückzukehren. Auf eine Schilddrüsenbehandlung hin magerte
er etwas ab, sie wurde aber unterbrochen, weil sie ihm Appetitlosigkeit
und Herzklopfen verursachte. Zweimal versuchte man eine hypophysäre
Behandlung mit totaler Drüse per os, welche ebenfalls kein Resultat
geb (ich muß allerdings bemerken, daß die verwendeten Präparate mir
kein großes Vertrauen einflößten).
Im Mai 1924 fing die abdominale Verfettung wieder an
sehr rasch zuzunehmen, und es ließen sich Zeichen von Herz-
insufficienz, Atemnot bei Anstrengungen, Cyanose, und leichtes Ldem der
Füße bemerken. Der Blutdruck war auf 210—140 gestiegen. Die Urin-
untersuchung ergab folgendes: Menge 2000 g. Spez. Gew.: 1,012. Harn-
stoff: 8,96. Chloride: 5. Eiweiß negativ. Granulierte Zylinder und
viele rote Blutkörperchen. Harnstoff im Blut: 0,52. Es war somit
offenbar ein Zustand von Nierensklerose vorhanden (16. Juni).
Eine Blutprobe (18. Juni) ergab 8400000 rote Blutkörperchen
(sekundäre Policythämie) mit normaler Leukocytose.
Er wurde zur Ader gelassen, bekam starke Abführmittel und Diät,
auch Digitalis in kleiner Dosis. Es schien nun besser zu gehen. Am
26. Juni betrug der Blutdruck 140 und 110, Cyanose geringer, weniger
Atemnot, ohne Odem und keine roten Blutkörperchen im Urin. Aber
die folgende Nacht ging es schlimmer; die Temperatur, die immer niedrig
war, stieg auf 38° und gegen Morgen starb er „unter Beklemmungen“.
Nach 6 Stunden konnten wir die Obduktion vornehmen, wobei wir
folgende Befunde feststellten:
Sehr cyanotische Leiche ohne Anzeichen von Verwesung.
Bedeutend vermehrte abdominale Fettschicht; an
einigen Stellen erreichte der Panniculus bis zu 20 cm
Dicke.
Bei Öffnung des Bauches bricht das, auch stark vere
mehrte epiploische, Fett gewaltig hervor.
Über die hypophysäre Fettsucht. 145
Scheinbar normale Nieren, mit einigen kleinen Cysten. Die histo-
logische Untersuchung ergab jedoch eine ausgesprochene Glomernulitis in
Verbindung mit denen bei Lebzeiten beobachteten Symptomen.
Mäßige Fettdegeneration an der Leber. Normale eher etwas kleine
Milz, und normal im Schnitt.
Makroskopisch normale Hoden und Penis. Unglücklicherweise kamen
diese Organe abhanden, so daß man keine histologische Untersuchung
machen konnte.
Herzbeutel mit starker Fettinfiltration. Wenig vermehrtes Herzfett.
Herzmuskel in Farbe von welkem Laub. Normale Dicke der Herzwände.
Beträchtliche Erweiterung der rechten Höhlen.
Lungen gut bis auf eine leichte Ektasie der Basis.
Die Schilddrüsen von normalem Aussehen und Umriß.
Fehlen der Thymusreste.
Abb. 3. Umriß und Durchschnitt der linken Nebenniere des Kranken G. F.
Natürliche Größe. Die schraffierte Zeichnung läßt den Umriß und Durchschnitt
einer normalen Drüse ersehen.
Die wichtigsten Erkrankungen fanden sich in den
Nebennieren und der Hypophyse Jene waren von un-
geheurer Größe: die linke wog 16 g, die rechte 25 g.
Beide wiesen beim Durchschneiden eine starke Hyper-
trophie der Mark- und Rindenteile auf; ein ganz un-
geheuerliches adenomatöses Aussehen, vollständig un-
gewohnt für jemand, der an mehr als 3000 Leichen die
Nebennierensezierthat(Abb. 3). Diehistologische Unter-
suchung (Dr. Del Rio und Vara y Lopez) bestätigt diesen
byperfunktionellen Zustand. Die wirklich adenomatöse Rinden-
substanz wies außerdem eine ziemliche Iymphocytäre Infiltration auf, ein
Zeichen von subakuten Entzündungsreaktionen. Auch die Marksubstanz
läßt ebenso einen starken adenomatösen Zustand erkennen mit an chrom-
affınschen Substanzen sehr reichen Zellen und mit reichlichen argento-
filen Granulationen (Abb. 4). B
Hypophysäre Erkrankungen: Beim Öffnen des Schädels er-
scheint das Gehirn mit etwas Blutandrang und leichter innerer Hydro-
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 10
146 MARANON
Abb. 4. Nebennierendrüse des Kranken G. F. Markhaltiger Teil. Die enorme
adenomatöse Hypertrophie ist ersichtlich (Dr. Del Rio und Vara).
cephalie. Als wir die Gebirnmasse in die Höhe hoben, erschien ihre
Basis vollständig normal, ohne meningitische Entzündungen noch Kom-
pressionen. Die Hypophyse reichte nicht über den, an
Größe ganz normalen, Türkensattel hinaus. Beim Ab-
schneiden der hinteren processus clinoidei (um die Drüse
an ihrem Platz zu beobachten), bemerkte man aber eine
dunkle Bildung, die wiealtesorganisiertes Gerinnselaus-
sah und am hinteren Teil des Organs sich zeigte. Auf
dieser Höhe haftete die Drüse fest am Knochen, so daß sie ein wenig
beschädigt wurde als wir die Knochenlamelle sprengten. Die heraus-
genommene Hypophyse wog 49 cg. Sie hatte ihre normale
Form beibehalten und ließ einen großen Teil der hämor-
rhagischen Erkrankung entblößt (Abb. 5). - Von vorn
Abb. 5. Hypophyse des Kranken G. F. Natürliche Größe. Links: Äußere An-
sicht der Drüse mit der, von der Blutung durchbrochenen äußeren Kapsel. —-
Rechts: Von vorn nach hinten aufgeschnittene Drüse mit der, das ganze hintere
Läppchen und Pars intermedia einnehmenden Blutung.
Über die hypophysäre Fettsucht. 147
nach hinten durchgeschnitten, konnte man die ganze Er-
krankung sehen in Form von einer mit schwarzem und
formlosen Gerinnsel angefüllten Cyste und umgeben von
einer sichtbaren fibrösen Kapsel, die den ganzen mitt-
leren Teil und das ganze hintere Läppchen der Drüse
umfaßte (Abb. 5).
Unter dem Mikroskop (Dr. Tello u. Del Rio) wird die
makroskopische Erkrankung mit vollständigem Schwund
des normalen Gewebes des mittleren und hinteren Teiles
bestätigt und außerdem das Vorhandensein von weiteren
kleinen Blutungsherden in der Drüsensubstanz, deren
Gewebe ziemlich gut erhalten ist. Starker Blutandrang in den
Gefäßen. Die Infundibulargegend normal.
Dieser Fall zeigt, meiner Ansicht nach, voll-
ständig unzweifelhaft die Möglichkeit, daß eine, auf
die Hypophyse beschränkte, Erkrankung ohne die
Nervenzentren in Mitleidenschaft zu ziehen, das
Fröhlich’sche Adiposo-Genital-Syndrom hervorrufen
kann.
Es erübrigt sich noch von diesem Fall die ungewöhnliche
adenomatöse Erkrankung der Nebennieren anzulegen. Nach m. E.
handelte es sich um eine sekundäre Reaktion. Da aber ihre ge-
naue Bedeutung und ihre Beziehung zu den Symptomen unseres
Kranken in das Gebiet der Hypothese gehört, halte ich mich jetzt
nicht mit weiteren Erklärungen auf.
X.
Es bleiben noch einige Tatsachen anzuführen, die auch gegen
die, von den neueren Forschern beschlossene physiologische Aus-
scheidung der Hypophyse zeugen. In erster Linie ist es der
niedere Stand von basalem Stoffwechsel, den man bei
den Fällen des Fröhlich’schen Syndroms nach den klassi-
schen Forschungen von Bernstein (39) und Blumer (von Beck
zitiert (40), bei den Menschen und von Aschner u. Porges (41)
und Benedikt and Homans (42) bei dem Hunde ohne Hypo-
physe findet. Dank den modernen Verfahren zur Bestimmung des
Basalstoffwechsels war es verschiedenen Verfassern (Marañon y
Carrasco (8), Labbe et Stevenin (43)) ermöglicht dies zu be-
stätigen. Die Gehirnerkrankung allein würde dieses Sinken nicht
rechtfertigen. Vor allem ist zu bemerken, daß in Fällen von Ence-
phalitis letargica, welche Erkrankung gerade in den neben der
Hypophyse liegenden Nervenzentren sitzt und auch manchmal von
10*
148 MARANON
adiposogenitalen Symptomen begleitet ist, Meana in unserer Klinik
die Forschungen von van Bogaert (44) hinsichtlich der Nor-
malität des basalen Stoffwechsels bei allen Arten besagter Krank-
heit (selbstverständlich bei den Fällen ohne Fröhlich’sches Syndrom)
bestätigt hat. Trotzdem erkenne ich an, daß Geschlechts-
insufficienz den Niedergang des Stoffwechsels in
Fällen von adiposo-genitaler Degeneration beein-
flussen kann, da ja bei Geschlechtsinsufficienz, wie ich schon
wiederholt feststellte, der Basalstoffwechsel immer zu niederen
Ziffern neigt. Vergleicht man aber diesen Hypometabolismus des
Fröhlich’schen Syndroms mit dem konstanten und manchmal recht
hohen Hypermetabolismus des entgegengesetzten hypophysären Zu-
standes der Akromegalie, so wird uns die Hypothese, daß dieser
Umstand tatsächlich eine Folge von Insuffcienz der Drüse sei,
glaubhaft scheinen.
XI.
Eine enorm wertvolle Gegenprobe zugunsten des
hypopituitären Ursprungs des Fröhlich’schen Syn-
droms wäre ihre Besserung oder Heilung durch sub-
stitutive Opotherapie, d. h. durch den hypophysären
Extrakt. Trotzdem ist nicht zu leugnen, daß diese
Extrakte in den meisten Fällen unwirksam sind.
Selbst bei jenen Beobachtungen, die als günstig für die hypo-
physäre Opotherapie angeführt werden, muĝ man eine ganze Gruppe
von den Fällen ausschalten, bei denen der Hypophysen - Extrakt
zusammen mit Schilddrüsen-Extrakt verabreicht wurde; also ist
wenigstens diesem ein großer Teil der erzielten Wirkungen, wie
Abmagerung und andere, zuzuschreiben.
Aber selbst mit diesem Vorbehalt ist sicher, daß
beianderen Fällendiehypophysäre Opotherapieallein
Verfettungen vermindert hat, die allen früheren Be-
handlungen Widerstand geleistet hatten. Ich beschränke
mich auf diese Anführung, weil bei der Besserung von anderen
Erscheinungen, wie der Libido, psychische Störungen usw. auch
suggestive Faktoren Einfluß haben können. In einem meiner
Bücher (45) habe ich einen gerade in diesem Sinne sehr über-
zeugende Fälle beschrieben; auch Axenfeld (46), Leopold
Levi u. Barthelemy (47), Lereboullet (23) u. a. haben
ähnliche Beobachtungen veröffentlicht. In dem Falle von Leopold
Leviu. Barthelemy führte die hypophysäre Opotherapie nicht
Über die hypophysäre Fettsucht. 149
nur zu einer raschen Gewichtsabnahme des Kranken von über
10 Kilo, sondern sie veranlaßte auch eine subjektive Besserung
und eine beträchtliche Zunahme in der Körperbehaarung „die selbst
bei dem Kranken Erstaunen erregte“. Beck (40) hat in 46 mit
hypophysären Extrakten behandelten, gut diagnosierten Fällen, bei
26 eine deutliche und endgültige Besserung, bei 9 eine gut schätz-
bare Besserung und in 11 gar keinen Erfolg erzielt. Den größten
Erfolg der Behandlung — fügt er hinzu — erreicht man bei der
Fettverteilung besonders bei jungen Frauen; schließlich bemerkt
noch dieser Verfasser (dessen Optimismus mir etwas übertrieben
scheint) daß, wenn auch bei einigen seiner Fälle die hypophysäre -
Opotherapie in Verbindung mit anderen Drogen — manchmal Tyroidin
— oder mit diätischen oder physiotherapeutischen Verordnungen
angewandt wurde, andere Male die pituitäre Behandlung allein
Verwendung fand. Ich erwähne hier andere Fälle zugunsten der
hypophysären Opotherapie, angeführt von Carnot (48), Falta (37),
Cushing (6) usw.
Alle diese Tatsachen, von denen viele jede Kritik ausschließen,
haben zugunsten der metabolischen Rolle der Hypophyse einen
Wert, den die Gegner dieser Hypothese nicht außer acht lassen
sollten. Lereboullet selbst, der im ganzen Verlauf seiner kürz-
lichen bewunderungswerten Monographie über die hypophysären
Syndrome (23) von der Ansicht der anti-hypophysären Physiologen
eingenommen zu sein schien, kann nicht umhin, als er an diesen
Abschnitt der Therapie kommt, von dem er große persönliche Er-
fahrungen hat, auszurufen: „Ces resultats therapeuthiques á eux
seuls suffiraient á justifier la theorie hypophysaire.“
Außerdem muß man noch in Betracht ziehen, daß ein großer
Teil der Mißerfolge dieser Opotherapie sekundären Ursachen zuzu-
schreiben ist, wie z. B.: daß es sich um sehr vorgeschrittene Fälle
handelt (Beck — 40 —), durch falsche Diagnose, hauptsächlich
wenn es sich nicht um rein hypophysäre Fälle handelt, sondern
um pluri-glanduläre Degenerationen (Beck); besonders ist zu be-
achten, daß die Hypophysen oftmals unter schlechten Bedingungen
herausgenommen und ihre Extrakte zubereitet werden. In diesem
Punkt verfüge ich über wiederholte Erfahrungen und habe auch
mehr als einmal schon Nachdruck darauf gelegt (4).
Hierbei ist es interessant zu bemerken, wie viele Forscher die
den Organextrakten (oftmals mit Recht) jeden physiologischen Wert
absprechen, trotzdem physiologische Argumente in Tatsachen suchen,
150 MARAÑON
die so groben Irrtümern ausgesetzt sind wie das Mißlingen einer
bestimmten Opotherapie.
Im selben Sinne wie die Erfolge der Opotherapie zeugen einige
der Fälle, bei denen man die Besserung oder die Heilung der hypo-
pituitären Symptome durch chirurgische Druckverminderung der
Hypophysengegend erreichte, wie von Lec&ne u. Morax (49) ver-
öffentlicht, obgleich mir nicht unbekannt ist, daß diese Beobachtungen
und noch viel mehr die über Herausnahme des pituitären Ge-
schwulstes von den Anhängern der Theorie der Kompression der
infundibulären Nervenkerne auch zu ihren Gunsten gedeutet werden
können.
Denselben zweideutigen Wert hätten auch die durch Bestrahlung
der Hypophyse erlangten Besserungen — wie die von Jaugeas,
Beck, Lereboullet und anderen erwähnten Fälle — da durch
dieses Verfahren eine Verminderung der Drüsenaktivität erreicht
wird, aber auch ein Rückgang in dem Volumen der Geschwulst,
welcher die Kompression der Nervenzentren aufheben könnte.
XI.
Schließlich fehlen noch die veröffentlichten Fälle zu besprechen,
bei denen eine zerstörende Erkrankung der Hypophyse ohne das
geringste Symptom von Adiposo-Genital-Degeneration vorlag. Diese
Fälle kann der Kliniker nicht „a priori“ endgültig
gegen die hypophysäre Theorie anführen, nachdem
er ebenso paradoxe Tatsachen auf dem Gebiete von
anderen inneren Sekretionsdrüsen kennt; so z.B. nach-
dem er ausgedehnte Krebszustände in der Bauchspeicheldrüse vor-
fand, die keine diabetischen Symptome hervorgerufen hatten; degene-
rative Kröpfe ohne hypothyroidische Erscheinungen; alte, bei der
Obduktion vorgefundene, zerstörende Erkrankungen der Neben-
nierendrüsen usw. Um alle diese Vorkommnisse genau auslegen
zu können, wären sehr bestimmte und ausführliche anatomopato-
logische Angaben, die nicht immer vorhanden sind, über sie nötig.
So z. B. ist es sicher, daß bei dem kürzlichen Fall von Bal-
duzzi (25), dem sein Autor eine große Bedeutung gegen die hypo-
physäre Theorie beilegt, die zerstörende Erkrankung der Hypo-
physe kein hypopituitäres Symptom (außer großer Schlafsucht)
hervorgerufen hatte, aber man kann auch nicht behaupten, daß
die Geschwulst auf die Hypophyse beschränkt gewesen wäre, weil
sie Amaurosis, Schädel-Hypertension und Erweiterung des Türken-
sattels erzeugte. Daraus ist logischerweise anzunehmen, daß sie
Über die hypophysäre Fettsucht. 151
auf die infandibulären Zentren, die sicher bei der Erkrankung in:
Mitleidenschaft gezogen waren, einen Druck ausübte, da der Kranke
infolge eines Blutergusses der dritten Kammer starb und dieses
bei gesunden Geweben nicht verkommt.
Demnach könnte der Fall sowohl gegen die hypophysäre
Thecrie als auch gegen die Nerventheorie ausgelegt werden, wenn
es nicht vorzuziehen wäre, ihm überhaupt nur die
relative Wichtigkeit beizulegen, die man in der Bio-
logie vereinzelten und negativen Fällen gibt.
XIII.
Wir haben also einerseits die auf Erfahrungen ge-
gründeten Tatsachen, welche die heutzutage nicht
zu verneinende Wichtigkeit der nahe der Hypophyse
gelegenen Nervenkerne beweisen, und denen Funk-
tionen obliegen, die man früher der Hypophyse allein
zuschrieb. Diese, letzthin sehr ausführlich erforschte Kerne —
siehe z. B. die kürzlich erschienene Arbeit von L. R. Müller u
Greving (50) — sind hauptsächlich zwei: die eigentlichen
Tuberkerne, die auf beiden Seiten des niedrigsten Teiles des
Infundibulums, wo dieses sich mit dem Tuber verlängert, liegen
und die para-ventrikulären Kerne, welche sich weiter oben
zu beiden Seiten der Kammerhöhle, zwischen dieser und der sog.
Columna Fornix befinden.
Auf der anderen Seite stehen all die in vorliegender Arbeit
besprochenen Tatsachen und Gründe, diemeinerAnsichtnach
vollständig das Mitwirken der Hypophyse selbst bei
der Entstehung der beschriebenen Störungen be-
weisen.
Um beide Gruppen von Tatsachen miteinander in Einklang zu
bringen, haben viel Autoren schon seit Jahren zu einer eklekti-
schen Theorie Zuflucht genommen, nach der dieinnere Sekre-
tion der Hypophyse direkt auf die nebenliegenden
Nervengewebe überginge und durch ihren Einfluß
deren Tätigkeit reguliere. So wäre es auch zu er-
klären, daß einbestimmtesSymptom oder eine Gruppe
von Symptomen sowohl die Folge von hypophysärer
Erkrankung, als auch von Nervenerkrankung sein
könnte.
Die Hypothese wurde seit 1911 von Edinger und später
von Biedl (15), Paulesco (27), Pende (38), mir (5), Zondek
152 MARAÑON
(51) usw. mehr oder weniger genau mit dem Dargelegten überein-
stimmend, aufrecht erhalten. Heutzutage streben eine Reihe von
Tatsachen dahin zu beweisen, daß die alte Hypothese auf Wirk-
lichkeit beruht, denn C. de Costa (52), Abel (53) und Collin (54)
haben sowohl bei Tieren wie bei Menschen, die, von den Bläschen
der vorderen und hinteren Teile der Hypophyse, abgesonderte
Kolloidsubstanz gefunden und nicht nur in dem hinteren oder
Nerventeil derselben, sondern auch in dem tuber cinereum selbst,
sowie in der neurologischen Wand des Infundibulums, wo sie die
perivaskulären Konjunktionsscheiden und interstitiellen Zwischen-
räume der Neurologie ausfüllten. Abel hat diese Substanz selbst
in dem vorderen Abschnitt desHypothalamus vorgefunden. Binet (55)
besteht auf dem Wert dieser Tatsachen in einem kürzlich er-
schienenen Artikel, worin er äußerst interessante Angaben und
Figuren von Collin veröffentlicht.
Nach Aussagen seines Schülers Binet, bekannte sich Camus
selbst am Ende seines unglücklichen Lebens als Anhänger dieser
eklektischen Theorie, die wahrscheinlich Aussicht hat, endgültig
in der Wissenschaft angenommen zu werden. Sie bestätigt die,
von verschiedenen Forschern und Klinikern seit über 10 Jahren
aufrecht erhaltenen, Vermutungen.
Der Zweck vorliegender Arbeit ist nicht allein alles, was zur
Erkenntnis der Entwicklung der biologischen Ideen von Wert ist,
ins Gedächtnis zurückzurufen, sondern außerdem nachdrücklich
darauf hinzuweisen, daß die Hypophyse, innerhalb der
eklektischen Theorie, an erster Stelle steht und ihre
Erkrankung allein schon das Fröhlich’sche Adiposo-
Genital-Symdrom verursachen kann. |
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1924 et Acut 1925. — 55. Binet, Presse med. 1925.
154
Aus dem städtischen Krankenhaus München r. d. Isar.
(Prof. Dr. Sittmann.)
Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion
im Blutserum.
Von
Dr. Paul Wiemer,
Assistenzarzt der med. Abteilung.
Vorbemerkung.
Die Grundlage für die quantitative Schätzungsmethode des
Gallenfarbstoffs im Blutserum nach H. v. d. Bergh (1) ist die von
Ehrlich und Pröscher (2) angegebene Kuppelungsreaktion, die
der Gallenfarbstoff mit Diazoniumlösung in mineralsaurer Mitte
eingeht; die dabei entstehende rote Farbe des sich bildenden Azo-
farbstoffes wird kolorimetrisch mit Gallenfarbstofflösungen bekannter
Konzentration verglichen. Hierzu bedient man sich eines Auten-
rieth’schen Kolorimeters unter rechnerischer Berücksichtigung
etwaiger Verdünnungen der zu untersuchenden Flüssigkeit gegen-
über der Vergleichslösung. Obwohl für kolorimetrische Unter-
suchungen das Erfordernis besteht, stets nur die Farbdichte des
gleichen Stoffes sowohl in der Untersuchungsflüssigkeit als auch
in der Vergleichslösung zu benützen, ist in der von H. v. d. Berg h
angegebenen „verbesserten Vergleichslösung“ ein bequemer Ersatz
für die wenig haltbaren und kostspieligen echten Bilirubinlösungen
geschaffen. Diese „verbesserte Vergleichslösung“ ist eine Lösung
von Ferrirhodanid in Äther, so gewählt, daß sie der Farbe einer
Azobilirubinlösung mit einer Konzentration von 1:200000 gleich-
kommt. Wir wollen im folgenden bei den nach dieser Methode
gewonnenen Werten der Kürze halber nur jenen Faktor in An-
wendung bringen, der angibt, wievielmal stärker oder geringer
der Gallenfarbstoffgehalt als jene Einheit Y,,0000 ist. Es bedeutet
1 1
also z. B. 2,0 = 2,0 X 500000 ~ 100000
Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 155
Das Material, das nach der eben erwähnten Methode zur
Untersuchung kam, stammt von Blutseren und serösen Flüssigkeiten
Kranker mit und ohne sichtbarer Gelbsucht aus dem Zeitraum von
Oktober 1923 bis Juli 1925 und umfaßt etwa 400 Einzelunter-
suchungen. Es ist besonderer Wert darauf gelegt, daß die kolori-
metrischen Ablesungen unter stets gleichen Beleuchtungsverhält-
nissen vorgenommen wurden und es finden nur jene Ergebnisse
Verwendung, die vom Verfasser selbst in mehrfacher Ablesung
unter Annahme eines Mittelwertes gefunden wurden.
Der Gang der Untersuchung war folgender: Das Blutserum
bzw. Punktat wurde unter Vermerkung des Zeitraumes zwischen
Entnahme und Untersuchung scharf abzentrifugiert. In einem
Teil wurde in völliger Übereinstimmung mit der v. d. Bergh’schen
Methode der Gallenfarbstoffgehalt nach Fällung mit 96°, Alkohol
bestimmt. In einem anderen Teil wurde die direkte Diazoreaktion
derart ausgeführt, daß zu 1,0 Serum die gleiche Menge der oben
verwendeten Diazoniumlösung hinzugefügt wurde und mittels Stopp-
uhr der Beginn und die Erreichung stärkster Färbung bestimmt
wurde. Zum leichteren Erkennen der Normalreaktion wurde in
einem weiteren Röhrchen gleichen Durchmessers der völlige Ab-
lauf der Reaktion abgewartet. Sodann wurde unter Berücksichti-
gung der notwendigen Wasserverdünnung soweit möglich auch
eine quantitative Gallenfarbstoffbestimmung vorgenommen. Über
jene Fälle, die bei der Ausführung dieser Bestimmung Schwierig-
keiten machten, wird in späteren Abschnitten noch ausführlich die
Rede sein.
Die Alkoholfällungen der Seren zur quantitativen Bestimmung
des Bilirubins wurden nach 1’ langem Schütteln 10’ lang bei stets
gleicher Umlaufszahl zentrifugiert. Nach Abgießen des bilirubin-
haltigen Alkohols wurde die Farbe des Alkoholpräzipitats in einer
Skala bestimmt, die empirisch so zusammengestellt war, daß von
1—20 aufeinanderfolgende Röhrchen mit organischen Farbstoffen
gefüllt und zu einer Reihe von weiß bis braungelb abgetönt waren,
wie sie dem wechselnden Farbgehalt des Alkoholeiweißpräzipitates
an Gallenfarbstoff entsprach. Das Röhrchen Nr. O0 bezeichnete da-
bei das weißeste, das Röhrchen Nr. 20 das braungelblichste. Das
Alkoholpräzipitat des völlig normalen Blutes liegt etwa bei
Röhrchen Nr. 5.
Die Notwendigkeit dieser Skala entstand aus dem Bedürfnis,
ganz relative Zahlen für den Farbstoffgehalt der durch den Alkohol
156 WIENER
erzielten Eiweißniederschläge zu erhalten; da sie keinerlei quantita-
tive Bedeutung haben, verzichten wir auf die Angabe des Füllungs-
materials der Röhrchen.
In einer Reihe von Fällen kam außerdem das Verfahren von
Vogl und Zins (3) zur Anwendung, das in einer Fällung des Serums
mit Trichloressigsäure besteht. Der Filterrückstand wird getrocknet
und unter Collodium fixiert zu späteren Vergleichen aufbewahrt.
Wir wollen nunmehr versuchen das nach diesen Methoden
untersuchte Material einer kritischen Betrachtung zu unterziehen,
um für das Verständnis der Reaktion und ihre Bedeutung für die
Klinik einige Aufschlüsse zu erhalten.
Zur Frage des physiologischen Gehaltes des Blutes an Gallen-
farbstoff ist naturgemäß das Material eines Krankenhauses theo-
retisch nicht das geeignete. Wir beschränken uns hier nur auf
eine kurze Zusammenfassung unserer Befunde.
Wir fanden bei Grenzwerten von 0,15—1,5 einen Mittelwert
von 0,415 und den durchschnittlichen Farbgehalt der Alkohol-
präzipitate an unserer Skala verglichen bei Röhrchen Nr. 5.
Die Angaben der Literatur lassen eine recht gute Überein-
stimmung erkennen, wie nachfolgende Beispiele an gesundem
Material zeigen:
H. v. d. Bergh (1) 0,5 (maxim. beob. 2,5)
Lepehne (4) 0,3
Botzian (5) 0,2—1,5
und andere Forscher, die zu ganz ähnlichen Werten kommen.
Bezüglich der physiologischen Schwankungen des Serumbili-
rubins haben schon Gilbert und Herscher 1906 (6) die Behaup-
tung aufgestellt, daß im Hungerzustand der Gallenfarbstoffspiegel
des Blutserums eine geringe Steigerung erfahre. Gilbert be-
schrieb familiär auftretende Bilirubinämie, die mangels irgend-
eines Krankheitsbefundes als physiologisch zu betrachten ist, und
von ihm als „Chol&emie simple familiale“ bezeichnet wurde.
H. v. d. Bergh glaubt diesen Zustand häufiger bei der jüdischen
Rasse beobachtet zu haben. — Die höchsten Werte physiologischer
Gallenfarbstoffvermehrung im Blutserum (2,0—7,0 finden sich nach
den Arbeiten von v. d. Bergh, v. Westrienen (7), Ylppö (8)
und Ada Hirsch (9) im Nabelstrangblut und im Blutserum Neu-
geborener während der ersten 10 Tage. Der Befund ist so regel-
mäßig, daß diese Hyperbilirubinämie als physiologisch angesprochen
werden kann; dabei steht diese Vermehrung des Gallenfarbstoffes
Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 157
im Blute in keinem Zusammenhange mit dem eventuellen später
in Erscheinung tretenden Ikterus neonatorum.
Wenden wir uns nun zu den Befunden bei jenen Blutseren
deren Werte teils weit oberhalb der äußersten physiologischen
Grenzen liegen, teils durch klinische Erscheinungen als krankhaft
bedingt angesehen werden müssen.
Zum genauerem Studium unserer Ergebnisse ordneten wir eine
größere Anzahl von Untersuchungen so, daß sie nach fallenden
Werten der indirekten Reaktion zusammengestellt wurden. Neben
der Diagnose und einer kurzen Charakterisierung der Stärke des
bestehenden Ikterus wurde der Urinbefand hinsichtlich der Alde-
hydreaktion und des Nachweises von Gallenfarbstoff vermerkt,
außerdem ein kurzer Befund über die Stuhluntersuchung auf Fett
und Anwesenheit von Gallenfarbstoffendprodukten durch die Sublimat-
probe. Die Untersuchung des Blutserums wurde in der vorhin
geschilderten Weise vorgenommen.
Das zunächst auffallendste in dieser Zusammenstellung ergab
sich aus dem Vergleich der Werte der quantitativ direkten und
indirekten Reaktion. Während die indirekten Werte nach fallender
Größe geordnet waren, schienen die zugehörigen direkten Zahlen
inder Mehrzahl wesentlich höher, aber doch in keinem erkennbaren
Verhältnis zu den indirekten zu stehen. Der besseren Übersicht
halber führten wir Verhältniszahlen zwischen dem quantitativ
direkten und indirekten Werte ein, die wir kurz den „Bilirubin-
Index“ (B.I.) nannten.
Wir fanden nun, daß dieser Bilirubinindex zwischen den
Grenzwerten von 0,62 und 5.52 scheinbar regellosen Schwankungen
unterworfen war. Eine einzige Beziehung ließ sich entnehmen,
nämlich die, daß in den Seren, deren indirekter Wert kleiner als
etwa 10. war, der B.I. nur dann Werte von über 2,5 annahm,
wenn die Alkohol-Präzipitate auffallend stark gefärbt waren. Ver-
gegenwärtigen wir uns noch einmal den Sinn dieser Beobachtung.
Je größer der B.I. ist, desto größer ist der direkte quantitativ
gefundene Bilirubinwert gegenüber dem nach der Alkoholfällung
vorgenommenen indirekten und desto mehr Gallenfarbstoff wird
an den Eiweißniederschlag adsorbiert. Wir drücken uns absicht-
lich nach diesen Beobachtungen zunächst ganz allgemein aus, um
für die später noch zu besprechenden Beziehungen der Gallen-
farbstoffadsorption zu dem B.I. nichts zu präjudizieren.
Ehe wir diese Beziehungen weiter verfolgen, sollen kurz noch die
anderen Ergebnisse unserer Zusammenstellung erwähnt werden. Die
158 WIEMER
Beurteilungen des Ausfalles der Trichloressigsäurefällung des Serums
nach Vogl und Zins erscheinen uns für genauere Beurteilungen
des Bilirubinspiegels im Blutserum nach unseren Erfahrungen
ganz ungeeignet. Es ist wohl mit dem tatsächlich sinkenden Bili-
rubinwert auch ein Hellerwerden des grünen Präzipitates zu beob-
achten, aber verhältnismäßig erst große Unterschiede werden nach-
weisbar. Die Methode ist zweifellos für genauere Beurteilungen
ungeeigneter und auch nicht einfacher auszuführen, als der schon
lange bekannte Vergleich des Serums mit einer Kaliumbichromat-
lösung im Wasser von 1:3800. — Wir konnten allerdings be-
stätigen, daß die Fällung mit Trichloressigsäure ziemlich lange
nach einem abgelaufenen Ikterus noch eine deutliche Reaktion er-
gab, wenn die mittels der v. d. Bergh’schen Methode untersuchten
Seren schon völlig normale Werte zeigten. Wir glauben hierfür
eine Erklärung und Abänderung der Bergh’schen Versuchsanord-
nung gefunden zu haben, die jenen Befunden nach abgelaufenem
Ikterus Rechnung trägt, wie wir später noch zeigen werden.
Wir untersuchten auch den Ablauf der direkten Reaktion nach
Feigl und Querner, wobei wir von einer „Phbasen-Einteilung“ Ab-
stand nahmen, sondern wir versuchten den Reaktionsverlauf einiger-
maßen zeitlich zahlenmäßig auszudrücken. Ist es schon häufig
schwierig, den Beginn der Rotfärbung zeitlich genau zu erfassen,
so erscheint es unseres Erachtens in manchen Fällen eine Unmög-
lichkeit, den Endpunkt der sich langsam vertiefenden Röte anzu-
geben; wir betrachteten die Resultate immer mit dem Vorbehalt, daß
sie nur eine subjektive Messung darstellten. Wenn man sehr viele
solcher Reaktionsabläufe selber beobachtet hat, neigt man dazu,
sich auf die ersten Angaben v. d. Bergh’s zu beschränken, nämlich:
prompt, verzögert oder negativ. Wir sehen übrigens in diesen
fließenden Übergängen im Reaktiosablauf und seiner zweifellos
etwas überfeinerten Auswertung für die Klinik eher eine Schwäche
der Methode, deshalb haben wir uns am Krankenbett stets nur
mit den Angaben prompt, verzögert oder negativ begnügt. Die
Einordnung in diese drei Gruppen erscheint uns Aufgabe des
Laboratoriums zu Sein, um einen klinischen Nutzen daraus ziehen
zu können.
Der Bilirubin-Index.
Die Beziehungen der Werte der direkten und indirekten Diazo-
Reaktion, deren Verhältniszahl wir kurz den B.I. nannten, unter-
suchten wir nun an einer Reihe von Ikterusfällen. Zum besseren
Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 159
Verständnis sei folgendes noch bemerkt: Schon v. d. Bergh fand
in seinen ersten Bilirubinstudien, daß der Wert der indirekten
Reaktion nach vorheriger Verdünnung des Serums mit der 4fachen
Menge Wasser unter Fehlen jeglichen Alkoholpräzipitates einen
Wert ergibt, der ziemlich gut mit dem Wert der direkten Reaktion
übereinstimmt. Wir haben uns von dieser Tatsache ebenfalls über-
zeugen können. Leider tritt bei dergestalt wässerig verdünnten
Seren sehr häufig eine nicht zu entfernende Trübung auf, die dann
den kolorimetrischen Vergleich sehr erschwert, wenn nicht unmög-
lich macht. V. d. Bergh schloß aus dem Unterschied der Werte
des verdünnten und unverdünnten Serums, daß dies der Verlust
sei, den das ausfallende Eiweiß beim unverdünnten Serum adsorbiert
und ins Zentrifugat mitreißt. Er sagt, daß der Verlust in dem
Eiweißpräzipitat im allgemeinen um so größer ist, je reicher das
Serum an Gallenfarbstoff ist unter der Voraussetzung, da es sich
um Seren von mechanischem Stauungsikterus handelt.
Wir haben nun bis auf eine Reihe von Kontrollen von der
Ausführung der indirekten Reaktion am 4fach verdünnten Serum
Abstand genommen, einmal aus dem oben erwähnten Grunde, da
die dabei häufig auftretende Trübung den kolorimetrischen Ver-
gleich sehr beeinträchtigt und andererseits, da wir in der viel
bequemeren Ausführung der direkten Reaktion den absoluten Ge-
halt des Blutserums an Gallenfarbstoff zuverlässiger ermitteln zu
können glaubten. Hierbei trat allerdings eine Schwierigkeit in
den Fällen mit verhältnismäßig geringem Bilirubingehalt auf, da
dann die Restfarbe des Blutserums recht störend wirkte. Diese
Schwierigkeit ließ sich jedoch leicht dadurch beseitigen, daß dem
Vergleichskeil des Authenrieth’schen Kolorimeters ein 2. Keil
ins optische System vorgeschaltet wurde, der mit einer Kalium-
bichromatlösung von 1:3800 gefüllt war. Es ließ sich damit in
nahezu sämtlichen Fällen die störende Restfarbe des Blutserums
am Vergleichskeil kompensieren. Die Ungleichheit der dadurch
entstehenden optischen Systeme erscheint uns nur mehr als ein
Grund für ein theoretisches Bedenken; wenn man aber berücksichtigt,
daß sich die ganze Methode nur anheischig macht, eine quantitative
Schätzungsmethode zu sein, und daß der Fehler stets der gleiche
ist, so erscheinen uns die sonst gut übereinstimmenden Werte
verschiedener Kontrollen als brauchbare Ergebnisse.
Thannhauser und Andersen (10) geben eine Methode zur
Bestimmung des absoluten Gehaltes des Serums an Gallenfarbstoff
an, indem sie bei Seren mit Stauungsikterus zunächst die Kuppelunes-
160 WIEMER
reaktion mit der Diazoniumlösung eintreten lassen. Der sich
bildende Azofarbstoff soll dann bei der nachfolgenden Alkoholfällung
in gleichmäßiger Verteilung zwischen Alkohol und Präzipitat sein.
Sie erhalten so Werte, die den absoluten Gehalt des Blutserums
an Gallenfarbstoff darstellen sollen. Die Vergleichstabelle zeigt
an 5 Beispielen, daß die so ermittelten Bilirubineinheiten z. T.
beträchtlich höher sind, als die nach der v. d. Berghschen
Methode gefundenen. Leider sind die quantitativen Werte der
direkten Reaktion ohne Alkoholfällung in der Tannhauser’schen
Arbeit nicht beigefügt, wir glauben aber, daß sie wohl kaum
wesentlich von den dort gefundenen abweichen würden. Eine
Prüfung der Methode für unsere Zwecke konnten wir leider nicht
vornehmen, da uns die Beschaffung des dazu notwendigen chemisch
reinen Bilirubins unmöglich war.
Hiernach nehmen wir also an, daß wir bei der kolorimetrischen
Messung der im Blutserum ohne vorherige Alkoholfällung ausge-
führten direkten Diazoreaktion den tatsächlichen Gehalt an Gallen-
farbstoff finden, wohingegen wir bei der Bestimmung des Wertes
der indirekten Reaktion nur jene Menge des Bilirubins erfassen,
die nach der Adsorption durch das Alkoholpräzipitat in das al-
koholische Serum übergeht. Mit anderen Worten: Je kleiner der
Wert der indirekten Reaktion gegenüber der direkten ist, eine
desto größere Menge Gallenfarbstoff ist von dem Alkoholpräzipitat
mitgerissen worden. Der Bilirubinindex soll diese Beziehung
zwischen direkter und indirekter Reaktion veranschaulichen; er
ist um so größer, je mehr Bilirubin bei der indirekten Reaktion
vom Alkoholpräzipitat mitgerissen wird, und dadurch der Wert
der indirekten kleiner als der der direkten Reaktion wird; er ist
gleich 1, wenn die Werte der direkten und indirekten Reaktion
gleich groß sind und er ist kleiner als 1, wenn die indirekte Re-
aktion an Stärke die direkte übertrifft. Zum weiteren Studium
dieser Beziehungen untersuchten wir fortlaufend eine größere Reihe
von Ikterusfällen in wenigen Tagesabständen.
Das Ergebnis unserer Beobachtungen führte uns zu folgenden
Schlüssen:
1. Beim Übertritt von Gallenfarbstoft ins Blut infolge von Ver-
schluß der großen Gallengänge und rückwärtige Stauung oder in-
folge Schädigung und Durchlässigkeit der kleinsten Gallenwege ist
zu Beginn der Erkrankung die Verhältniszahl des direkten zum
indirekten Wert der Diazoreaktion (B.I.) um so kleiner, je früher
man nach Ausbruch der Krankheit untersucht, dabei sinkt nach
Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 161
unseren Erfahrungen dieser Bilirabinindex niemals auf die Zahl 1,0.
im allgemeinen ist er in typischen Fällen akuter Gallenstauung in
den ersten Tagen um den Wert 1,5 ohne Rücksicht auf die Höhe
der absoluten Zahlen von der direkten und indirekten Reaktion.
2. Im weiteren Verlauf der Krankheit steigt der Bilirubin-
index an, und zwar um so rascher, je vollständiger die Ursache
des Gallenübertrittes ins Blut beseitigt wird; dabei können Werte
bis nahezu 10 erreicht werden. Die höchsten Werte werden im
allgemeinen erst dann erreicht, wenn die indirekte Reaktion sich
dem physiologischen Bilirubinspiegel nähert.
3. Von diesem Zeitpunkt ab, wenn die indirekte Reaktion einen
normalen Wert ergibt, beginnt ein langsames Abfallen des Bili-
rubinindex, das ungefähr parallel geht mit dem Verschwinden der
letzten Reste des klinisch nachweisbaren Ikterus.
4. Eine Störung dieses typischen Ablaufes durch neuerliche
Behinderung des Gallenabflusses, die noch nicht einmal zu einer
nennenswerten Erhöhung der absoluten Werte des Bilirubinspiegels
führen braucht, bedingt eine Verzögerung des Anstieges des B.I.
oder gar ein Absinken.
5. Aus den vorseitigen Erklärungen des B.I. war zu ersehen,
daß er um so größer ist, je mehr Bilirubin von dem Alkoholpräzi-
pitat adsorbiert und mitgerissen wird. Unsere Untersuchungen
ergaben, daß die Adsorptionsfähigkeit des Alkoholpräzipitates
in keiner Weise, wie v. d. Bergh annimmt, von dem absoluten
Gehalt des Serums an Bilirubin abhängt.
Es mag hier ein beliebiges Beispiel den strikten Gegenbe-
weis führen:
L Fall X. Schw. Direkte Diazoreaktion 14,2 Indirekte 4,6 B.I. 3,1
IL Fall F.N. 5 a 14,0 = 80 „ 1,75
Es ist hier also bei nahezu gleichem absoluten Gehalt des
Blutes an Gallenfarbstoff im Falle I. t mehr Gallenfarbstoff ad-
sorbiert worden. Wir können daraus schließen, daß die Adsorp-
tionsfähigkeit des Bilirubins in dem alkoholischen Serum an das
Präzipitat denselben Schwankungen wie der B.I. unterliegt. Diese
Beziehung ist ja auch durchaus begreiflich, da mit der Vergröße-
rung des B.I. die Notwendigkeit eines kleinen indirekten Wertes
gegenüber dem direkten gegeben ist; der Unterschied an Gallen-
farbstoff dieser beiden Werte ist demnach vom Alkoholpräzipitat
adsorbiert. Die Stärke der Präzipitatfärbung erwies sich dann
auch an der Skala gemessen zu jenen Fällen relativ am größten.
in denen der B.I. trotz niedrigen indirekten Wertes am größten ist.
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 11
162 WIEMER
6. Eine Tatsache, die sich leider der Möglichkeit einer objektiven
Darstellung entzieht, erscheint uns doch bemerkenswert, da wir
- glauben, daraus einen Hinweis für das Verständnis des ganzen
Bilirubinproblems zu erhalten. Trotz unseres ziemlich umfangreichen
lkterusmaterials ist hier weitere Nachprüfung verschiedener Be-
obachter notwendig. Wir beabsichtigen vorerst nur eine Arbeits-
hypothese aufzustellen. — Es handelt sich um die Beobachtung,
daß Fälle mit mechanischem Stauungsikterus bei nahezu oder oft
sogar völlig gleichem Gehalt des Serums an Gallenfarbstoff dennoch
einen grundverschiedene starken Haut- und Sklerenikterus darbieten
können. Wir wählen zu dieser Betrachtung nur jene Fälle, die
etwa eine gleich lange Krankheitsdauer und einen ähnlichen Ver-
lauf hinter sich haben, denn es ist natürlich selbstverständlich, daß
ein Fall, dessen Bilirubinspiegel vor wenigen Tagen noch einen
Wert von z.B. 40 hatte und dann auf 12 abgesunken ist, einen
stärkeren Hautikterus haben wird, als ein Fall, dessen maximaler
Bilirubinserumwert von z. B. 15 auf 12 abgesunken ist. Um einen
Vergleich völlig exakt anzustellen, wäre es weiter notwendig, daß
diese Kranken gleichzeitig in Beobachtung stünden, denn es ist
ja allzu schwer, Farbenintensitäten wie bei einem Hautikterus mit
Erinnerungsbildern zu vergleichen. Ein objektiver Maßstab für
den Vergleich fehlt uns bislang. Leider wird das Material für
diese Beobachtungen auch in einer großen Anstalt nur spärlich
sein. Ein einziges Paar von Fällen erfüllte die Erfordernisse eines
objektiven Vergleichs. Beide Fälle lagen in benachbarten Betten
zur gleichen Beobachtungszeit. Fall I erkrankte vor 4 Tagen mit
Magenkatarrh, Durchfall, Übelkeit und Erbrechen. 2 Tage vor
Krankenhauseintritt rasch zunehmender Ikterus, der am Tage der
Aufnahme sehr stark war. Fall II ist seit 6 Wochen an Magen-
katarrh erkrankt, Druckschmerz am Duodenum. Schon zu Beginn
der Erkrankung mäßige Gelbsucht, die aber fast völlig verschwand.
3 Tage vor Krankenhauseintritt plötzliche Verschlechterung und
Anstieg der Gelbsucht.
Beide Fälle waren am 10. V. auf nahezu gleichem absoluten
(direkten) Bilirubingehalt im Blutserum:
Fall I 20,0 Fall II 23,5
Der Hautikterus bei Fall I war aber wesentlich stärker und
gelb mit einem Stich ins grünliche; bei Fall II zwar deutlich be-
sonders an den Skleren, aber die Haut gelb-bräunlich. Nach den
Beobachtungen von Schumm und Schottmüller (11) dachten
wir an einen Hämatinikterus, konnten jedoch im Serum nichts da-
Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 163
von nachweisen. Der Hautikterus der beiden Fälle war an Stärke
so grundverschieden, daß man nach den allgemeinen Erfahrungen
eher bei dem Falle I auf den doppelten bis 1!/,fachen Wert des
Falles II geschlossen hätte, wohingegen tatsächlich bei dem Falle I
der Wert eher kleiner war. Im weiteren Verlauf ging der Ikterus
im Falle I rasch zurück und war nach 18 Tagen völlig verschwunden.
Fall II zeigte nur ganz allmähliche Abblassung des Hautikterus
und ließ sogar bei der Entlassung nach 20 Tagen noch deutliche
Spuren der Hautverfärbung erkennen.
Diese Beobachtung konnten wir öfters machen, natürlich nur
durch den Vergleich mit Erinnerungsbildern zu früheren Fällen.
Unsere Eindrücke möchten wir hierzu in folgendem zusammen-
fassen:
a) Tritt ein vollständiger Verschluß der großen ableitenden
Gallenwege ein und bleibt dieser durch einige Tage bestehen mit
völligem Verschwinden des Gallenfarbstoffes und seiner Abbaupro-
dukte im Stuhle, so tritt rasch intensive Gelbverfärbung der Haut
und sichtbaren Schleimhäute auf, die in wenigen Tagen häufig
einen Stich ins Grünliche annimmt. Der B.I. schwankt in diesen
Fällen um den Wert 1,5 (1,2—1,8). Bei fortbestehendem kompletten
Gallengangsverschluß steigt der Wert des BI. nur langsam an,
selten über 3,0, bei beginnender Wegsamkeit dann zunehmend
rasch bis auf Werte von 10,0 und darüber.
b) In jenen Fällen von Ikterus, die durch Gallenübertritt ins
Blut infolge Erkrankung und Destruktion des Leberparenchyms
im Sinne Eppinger’s (12) entstehen, mehr schleichenden Beginn
und keine nachweisliche Behinderung des Gallenabflusses zeigen,
beobachteten wir bei gleichem oder oft höherem Bilirubinspiegel
als der Fälle unter a) einen geringeren Hautikterus, dessen gelb-
licher Farbton eher einen Stich ins Bräunliche hatte. Bei diesen
Fällen ist natürlich vorausgesetzt, daß nicht kurz zuvor eine
stärkere Gallenstauung vorangegangen ist. — Hierbei ist der B.I.
fast stets höher als in den unter a) genannten Fällen im Beginne
der Erkrankung. Treten Verschlechterungen im Sinne einer
stärkeren Behinderung des Gallenabflusses in den Darm ein, oder
erfolgt aus anderen Gründen ein vermehrter Übertritt von Gallen-
farbstoff ins Blut, so sinkt der Wert des B.I. bis auf 1,2 und dar-
anter. Erst wenn die Bilanz des gesamten Serumbilirubins für
den Körper jene günstige Wendung zu nehmen beginnt, daß die
Ausscheidung des Gallenfarbstoffes aus der Blutbahn seine Zufuhr
übertrifft, beginnt ein Anstieg des B.I., der um so rascher und
11*
164 WIEMER
höher erfolgt, je eher und je vollständiger die Zufuhr dieses serum-
fremden Stoffes versiegt.
Die Tatsache, daß in den ersten Tagen nach vollständigem
Gallengangsverschluß ohne tiefgreifende Schädigung des Leber-
parenchyms der Bilirubinindex eine verhältnismäßige Konstanz
des Wertes zeigt (1,2—1,8), legte die Vermutung nahe, daß die
aus der Gallenblase gewonnene Galle experimentell in Serum ge-
bracht ähnliche Reaktionen geben würde. Zur Klärung dieser
Frage wurden folgende Versuche angestelk:
Blasengalle wurde durch sterile Punktion kurz nach dem Tode
von 3 Leichen entnommen und nach mehrfacher Filtration wurden
wässerige Lösungen davon in verschiedenen Konzentrationen her-
gestellt. Zu 4,0 ccm von Serum eines gesunden Menschen wurden
jeweils 2,0 der wässerigen Gallelösungen hinzugefügt, so daß der
Eiweißgehalt der Mischung jedesmal 66 ?/, °/, des normalen Serums
betrug. Die Gallelösung wurde so gewählt, daß der Gallegehalt
der Mischung in allen Fällen ungefähr gleich groß war. Das Er-
gebnis war folgendes:
Versuch 1.
Misch
Galle- ae | Eiweiß- | Wert der| Wert der| p.;.1pin.
lösung | ccm der | cem des | gehalt | direkten indirekten, d a Skala
Nr. Galle- | Normal- ur Reaktion | Reaktion | "
lösung | serums | |
L | 20 4,0 66%, 3,7 35 | 108 | 12
II. 2,0 4, 66 2), 4,3 41 106 | 1
m. © 20 | 40 662 ' 8389 ' 36 11 | 12
IV. 20 | 40 66? > 46 ; 44 1,03 ı 12
Menschliche frische Gallenlösungen mit Normalserum gemischt
in dem Verhältnis, daß der absolute Gallenfarbstoffgehalt um den
Wert 4,0 legt, ergeben in 4 Fällen einen B.I. von ziemlich kon-
stanter Größe, im Durchschnitt 1,06. Dieser Wert liegt nur um
wenig unter dem tiefsten Grenzwerte jener Fälle von akutem
Choledochusverschluß während der ersten Tage des Gallenübertrittes
ins Blut.
. Von fernerhin großer Bedeutung erschien uns eine Untersuchung
des Einflusses wechselnden Galle- und Eiweißgehaltes auf den Bili-
rubinindex. Hierzu stellten wir folgende Versuche an:
2,0 Normalserum wurden jeweils mit 2,0 ccm einer Gallen-
lösung versetzt, wobei also der Eiweißgehalt an Serumeiweiß in
Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 165
allen Fällen etwa 50°, des Normalserums betrug. Die Galle-
lösungen wurden durch prozentuale Steigerungen aus einer Aus-
gangslösung hergestellt. Die folgende Zusammenstellung mag dies
veranschaulichen:
Versuch 2.
P i o Gehalt Eiweiß |
or ONE der Aus-; %, zum Direkte | direkte. BI | Skal
ia Serum | Galle- | gangs- 'normalen Reaktion p, A a 3
ae ccm | lösung | (allelsg., Serum | en |
1. 20 | 20 18 50 4,5 2,7 1,66 9
2, 20 | 20 34 50 8,25 5,5 15 >»: 10
3 120 |; 20 46 50 11,2 8,0 14 : 1
4 | 20 2,0 58 50 14,0 10,5 1,33 12
5 ' 20 2,0 66 50 17,0 13,2 1,29 12
6 230 2,0 88 50 20,2 16,8 12 | M
1. 2,0 | 2,0 00 50 23,0 19,4 1,14 14
|
1 14
| |
Einen weiteren Versuch gestalteten wir so, daß wir bei
gleichem Gallengehalt der Mischung durch wässerige Verdünnung
des Serums den Gesamtgehalt an Serumeiweiß herabsetzten. Er
ergab folgendes:
Versuch 3.
er EER -Ge- | u
ANIE h I,
7 EEE mai mdali Ta
` i 9 A i
chen om | Beer | cem | vangs- Normal- Reak- | Reak- | BI | Skala
A. Serum | Wasser Galle- | Fatie- | lösung | HR | tion
| lösung | özun g & |
1. 2,0 0,0 2,0 88 50 20,0 16,7 1,19 14
2 | 15 | oœ | 20 | 88 | 375 | 201 | 182 | 110 | 15
3 | 10 10 | 20] 8 |2% 198 | 191 | 1% | 17
4. 0,5 15 | 20 | 88 12,5 | 198 | 23,9 | 0,83 | 20
5 j 00 2,0 2,0 88 0,0 Trübung
Zu den Ergebnissen dieser Versuche fügen wir noch den Be-
richt eines weiteren, der in seiner Anlage ebenso gewählt war,
wie die erwäbnten, nur statt der Verwendung einer aus Blasen-
galle hergestellten Gallelösung bedienten wir uns des Serums eines
an schwerem Ikterus erkrankten Menschen. Der Zweck des Ver-
suches war also der, die vorhin gefundenen Beziehungen zwischen
Blasengallegehalt und B.I. bei gleichbleibendem Serumeiweißgehalt
an dem gallenfarbstoffhaltigen Serum eines ikterischen Kranken
zu untersuchen.
166 WIENER
Der Versuch wurde sinngemäß den vorigen angelegt:
Versuch 4.
T | i e = Es o p iin = fe De Ze i 2
+, Misch /o-Ge- |%0-Gehalt
Röhrl. ne Sn ya am Eiweiß | Direkte Indirekte
An Normal- | Galle- | Galle- izumNorm. Reaktion! Reaktion B.I. Skala
‘ | Serum | Serum | Serum | Serum |
|
<-
o
1. | 230 0,2 | 9 100 595 | 35 1,7 9
2. | 20 0,4 17 10 : 80 | 47 1,7 10
8. 2,0 0,6 23 100 © 92 | 51 1,8 11
4. | 20 0,8 29 100 | 1l 5,4 2,06 13
5. 2,0 1,0 33 100 150 | 70 2,14 15
6. 2,0 1,2 38 100 | 182 8,3 219 | 15/16
7. 2,0 1,6 44 100 ' 21,0 | 105 2,0 17
8. 2,0 2,0 50 100 | 24,0 12,5 1,92 16
9. | 20 3,0 60 100 | 30,8 14,0 22 17
10. | 230 4,0 66 100 | 345 15,0 2,3 18
11. | 230 8,0 80 100 | 406 | 1605 | 253 | 18
12. | 20 2,0 100 100 | 50,0 ` 195 2,56 19
| |
Fassen wir die Ergebnisse dieser 4 Versuche kurz zusammen,
so läßt sich folgendes erkennen:
Ein normales Serum mit sehr frisch entnommener Blasengalle-
lösung versetzt ergibt bei Auswertung mittels der Azoreaktion
einen Bilirubinindex, der etwa an der unteren Grenze jener Werte
liegt, die wir bei akuter Gallestauung in den ersten Tagen im
kreisenden Blutserum finden. Vergrößert man in dieser Mischung
bei gleichem Eiweißgehalt die Konzentration der Blasengalle, so
fällt der Wert des B.I.
Der ähnliche Versuch, jedoch statt der Blasengalle mit
ikterischem Serum ausgeführt, ergibt bei gleichem Eiweißgebalt
ein Anwachsen des B.I. bei Zunahme der absoluten Gallekonzen-
tration. Sinkender Eiweißgehalt bewirkt in beiden Fällen auch
Absinken des B.I?)
Wir glauben nun aus diesen Tatsachen, die wir übrigens im
Rahmen anderer spezieller Adsorptionsversuche immer wieder be-
stätigt fanden, zumindest den Schluß siehen zu dürfen, daß der
Gallenfarbstoff im Blute bei Gallenstauung trotz seiner weitgehend
chemischen Verwandtschaft mit dem Gallenfarbstoff der Blasen-
galle sich dennoch physikalisch-chemisch von diesem unterscheidet;
um von Vermutungen zunächst abzusehen, so jedenfalls sicher in
Bezug auf seine Fähigkeit adsorbiert zu werden. — Wir glauben
1) Für die Mischung mit ikterischem Serum hier nicht eigens angeführt.
Ar o— le 0...
nn
Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 167
sogar noch einen Schritt weiter gehen zu können, indem wir auch
dem Gallenfarbstoff im Blute während der Dauer des ganzen
Ikterus eine Einheitlichkeit im physiko-chemischen Sinne ab-
sprechen und zwar ist sein Verhalten um so ähnlicher dem des
Blasengallenfarbstoffes, je kürzere Zeit er im Blutkreislauf ver-
weilt und um so verschiedener, je länger sein Verweilen im Orga-
nismus währtee Wir haben diese Vorgänge im B.I. zu erfassen
versucht, der in seinem Wesen als Maßstab für den Wechsel des
Adsorptionsvermögens des Gallenfarbstoffes an das Alkoholprä-
zipitat dient.
Die Ursachen dieses wechselnden Verhaltens aufzudecken,
hieße vorerst Theorien aufstellen. An eines wäre dabei zu er-
innern: Wenn wir aus dem wechselnden Verhalten des Gallenfarb-
stoffes zu dem Alkoholpräzipitat Schlüsse ziehen wollten, die für
die tatsächliche Adsorption des Bilirubins an das Serumeiweiß —
also im strömenden Blut — Geltung hätten, so begehen wir den
Fehler, daß wir das Adsorptionsvermögen des Eiweißes sowohl
wie des Gallenfarbstoffes unter gänzlich verschiedenen Bedingungen
einander gleich setzten, nämlich einmal im unveränderten Serum,
das andere Mal nach der Alkoholfällung. Tatsächlich wäre das
erst durch geeignete Versuche zu erweisen, die wir uns ähnlich
jenen Bechhold’s (13) über die Verteilung von Methylenblau in
wässeriger Serumeiweißlösung denken.
Trotzdem hat diese Annahme unseres Erachtens zunächst
manches für sich. Die Vorstellung, die wir von den Vorgängen
im strömenden Blut Ikterischer gewannen, ist nun etwa folgende:
Durch den Verschluß der abführenden Gallengänge erfolgt ein
Übertritt von Galle ins Blut. Die Verteilung des Gallenfarb-
stoffes zwischen Serumeiweiß als Adsorbens und Plasma als Lösungs-
mittel ist in einem labilen Gleichgewicht. Dieses wird bestimmt,
einmal von dem Lösungsvermögen in dem Plasma, andererseits
von der reversiblen Adsorption an das Serumeiweiß. Wir wissen
aber, daß die Gallensäuren die Löslichkeit des Gallenfarbstoffes
zu erhöhen vermögen, andererseits durch Verminderung der Ober-
flächenspannung selber starker Adsorption unterliegen. Das Gleich-
gewicht des Gallenfarbstoffes zwischen Plasma und Eiweiß wird
somit zugunsten der größeren Löslichkeit verschoben. Mit dem
Wiederwegsamwerden der großen Gallengänge erfolgt keine neuer-
liche Vermehrung der Blutgallensäuren, sie werden ziemlich rasch
aus dem Körper ausgeschieden und damit verändert sich der Gleich-
168 WIENER
gewichtszustand des Bilirubins zwischen Plasma und Eiweiß zu-
gunsten zunehmender Adsorption an das Eiweiß.
Die vorseitig geschilderten Beobachtungen an jenen Fällen,
die trotz gleichen absoluten Gehaltes an Blutgallenfarbstoff oft
einen auffallenden Unterschied in der Stärke des Hautikterus
zeigen, finden nunmehr eine neue Möglichkeit der Deutung. Wir
sagten, daß diejenigen Ikterusfälle, die frühzeitig schon mit einem
verhältnismäßig hohen B.I. einhergehen, gewöhnlich gegenüber
solchen mit dem für akuten Choledochusverschluß charakteristischen
B.I. (1,2—1,8) an Intensität der Gelbfärbung der Haut erheblich
nachstehen trotz gleich hohen Wertes des Bilirubinspiegels. Fast
ausnahmslos finden sich bei diesen Fällen alle klinischen Zeichen
für einen nicht vollständigen Choledochusverschluß.
Die Erklärung dieser Erscheinung folgt unserer Theorie. Aus
dem Anstieg des B.I. schlossen wir auf verstärkte Adsorption an
das Serumeiweiß. Die wesentlichste Ursache für die wechselnde
Stärke der Adsorption erblickten wir in dem verschiedenen Ge-
halt des Blutes an Gallensäuren. Da nun in jenen Ikterusfällen,
die trotz hohen Blutbilirubins mit verhältnismäßig geringerer Haut-
verfärbung einhergehen, der B.I. hoch ist und keine klinisch nach-
weisbare Behinderung des Choledochus besteht, schließen wir auf
einen relativ geringeren Gehalt an Blutgallensäuren. Nach unseren
vorhergehenden Überlegungen würde also in diesen Fällen die
Bilanz des Blutbilirubins zugunsten verstärkter Adsorption an das
Serumeiweiß verschoben sein. Damit sinkt aber der im Plasma
vorhandene Anteil des Gallenfarbstoffes, den wir vornehmlich für
die Färbung des Gesamtorganismus verantwortlich machen, da er
wegen der minimalen Löslichkeit des Bilirubins gewissermaßen
der leichtest verfügbare Anteil im strömenden Blut ist.
Am deutlichsten werden diese Verhältnisse beim abklingenden
Ikterus nach der klinisch nachweisbaren Wegsamkeit des Chole-
dochus. Die Gallensäuren verschwinden ziemlich rasch aus dem
Blute, der B.I. steigt, so daß wir häufig bei nahezu normalen in-
direkten Werten dennoch den absoluten Gehalt an Gallenfarbstoff
im Blute beträchtlich erhöht finden. In dieser Zeit erfolgt ein
fortschreitendes Abblassen des Hautikterus. Der im Plasma vor-
handene Anteil des Bilirubins erreicht seinen tiefsten Stand. Mit
der Ausscheidung des Gallenfarbstoffes aus dem Blute erhöht sich
die Autnahmefähigkeit des Plasmas für den Farbstoff zum Ab-
transport aus den Geweben, wobei das Verteilungsverhältnis zwischen
Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 169
Plasma und Serumeiweiß von den Gesetzen der Löslichkeit und
der Adsorption bestimmt wird.
Man könnte versuchen, die Ergebnisse der Versuche II und
IV zu Wiederlegungen unserer Theorien heranzüziehen. Im Ver-
such II zeigten wir, daß bei gleichem Eiweißgehalt der Mischung
mit zunehmendem Blasengallengehalt die Adsorption des Bilirubins
sinkt, obwohl tätsächlich doch mit der Vermehrung der Blasen-
galle auch der Gehalt an Gallensäuren steigt. Dabei ist aber zu
bedenken, daß wir die tatsächliche Adsorptionskurve des Gallen-
farbstoffes gar nicht kennen und demnach nicht wissen, wie der
im gleichen Verhältnis der Bilirubinkonzentration zunehmende
Gallensäuregehalt den Verlauf der Adsorption zu beeinflussen ver-
mag. Zudem ist die Wirkung der Gallensäuren bezüglich ihres
Einflusses auf die Oberflächenspannung an eine bestimmte Breite
der Wasserstoffionenkonzentration gebunden, die wir aber in diesem
Versuche ohne sie eigens zu bestimmen schon rein rechnerisch in
grober Weise änderten. Als weiterer Einwand käme noch dazu,
daß man unmöglich ein künstlich hergestelltes Gemisch ohne weiteres
auf die Verhältnisse im strömenden Blute beziehen kann. Wir
versuchten wenigstens den Einfluß der Dauer der Einwirkung der
Gallensäuren und die Temperatur zu berücksichtigen und fanden
folgendes Ergebnis:
Versuch.
a a mn —
Röhr- Mischung com | |
Eiweiß ' Galle | Untersucht |p. In-
chen | IGalle-| 0 0 Direkt) .: B.I. | Skala
Nr. Seram lösung o | lo am | direkt
. 20 | 1,0 | 66%, | 881, |gleichen Tag! 46 | 44 11,06 | 78
2 2,0 1,0 66°, 331, 2. Tag 4,4 3,7 | 1,19 7
3, 2,0 1,0 66°, 331), 3. Tag 3,5 2,8 | 125 | 7/8
4 20 | 10 | 66?/, 331, 4. ya 1,83 | 14 | 13 7/8
5 20 : 10 | 66%, | 33%, | nach 24 Std.| 5,0 3,8 | 1,34 8
| i Brutschrank
6. 20 1,0 — 66% , 38%, | nach 20' 5380| 3,8 37 | 1,08 | 7/8
Dieser Versuch lehrt, wie sowohl die Dauer der Einwirkung
als auch die Körpertemperatur auf das Adsorptionsvermögen von
Einfluß sind. Am stärksten ist die Erhöhung der Adsorption durch
den Brutschrank zu erzielen, während die scheinbare Erhöhung
bei mehrtägiger Einwirkung schwerer beurteilbar wird durch das
Sinken des absoluten Gehaltes an Bilirubin, das wohl durch Um-
wandlung des Bilirubins in Biliverdin seine Erklärung finden dürfte.
170 WIEMER
Andererseits beobachteten wir im Versuche IV einen Anstieg
der Adsorption des Bilirubins an das Alkoholpräzipitat bei stei-
gender Konzentration der Mischung mit ikterischem Serum. Wir
nehmen auch in diesem Falle nicht an, daß der damit verbundene
Anstieg der Gallensäuren bei der kurzdauernden Einwirkung im
Reagenzglas eine nennenswerte Rolle spielt, sondern machen die
gleichen Bedenken für diese Erklärung geltend, die wir bereits
bei der Erörterung des Versuches II erwähnten. Es erscheint
uns am wahrscheinlichsten, daß die relative Zunahme der Adsorption
bei steigendem Gehalt an ikterischem Serum in der Mischung auf
die Zunahme des ikterischen Serumeiweißes zurückzuführen ist.
Zugegeben auch, daß die Adsorption ein reversibler Vorgang ist,
so dürfte dennoch die Dauer der Einwirkung, die Temperatur und
die Verschiedenheit des Milieus einmal im strömenden Blut,
andererseits im isolierten Serum von großem Einfluß sein.
Wir wollten mit den Versuchen II und IV lediglich das eine
zeigen, daß bei den gleichen Fehlern des Versuches gegenüber
dem strömenden Blute der Gallenfarbstoff der Blasengalle und des
ikterischen Blutes physiko-chemisch ein verschiedenes Verhalten
` zeigt.
Vergleichen wir kurz noch einmal unsere Anschauungen über
die Beziehungen 'der direkten und indirekten Diazoreaktion mit
den klinischen Befunden. Die Verhältniszahl der direkten zur
indirekten Reaktion — also der Bilirubin-Index — gab uns einen
Anhalt für die wechselnden Adsorptionsfähigkeit des Gallenfarbstoffes
an das Serumeiweiß im strömenden Blute, wobei wir uns den Gallen-
farbstoff in einem labilen Gleichgewichtszustand bezüglich seiner
Verteilung zwischen Serumeiweiß und Plasma dachten. Eine Ände-
rung des Gleichgewichtszustandes entweder zugunsten stärkerer
Adsorption oder zugunsten stärkerer Löslichkeit im Plasma wird
durch den wechselnden Spiegel der Blutgallensäuren bedingt. Mit
dem Anstieg der Blutgallensäuren erhöht sich die Löslichkeit des
Gallenfarbstoffes im Plasma unter Absinken seiner Adsorptions-
fähigkeit an das Serumeiweiß. Der im Plasma vorhandene also
nicht an Serumeiweiß adsorbierte Anteil des Gallenfarbstoffes ist
wegen seines geringen Lösungsbestrebens für den Transport von
und zu den Geweben allein verantwortlich. Beim abklingenden
Ikterus, bei dem keine Behinderung des Gallenabflusses mehr nach-
weisbar ist, erreichen die Blutgallensäuren ihren tiefsten Stand;
damit sinkt die Löslichkeit des Gallentarbstoffes im eiweißfreien
o "e-a Ana
”
Über die direkte und indirekte Diazo-Reaktion im Blutserum. 171
Plasma auf ein Minimum, wohingegen wir sowohl in den Geweben
als auch adsorbiert an Serumeiweiß z. T. beträchtliche Mengen
Gallenfarbstoff nachweisen können. Daraus erklärt sich auch die
verhältnismäßig lange Dauer bis zum völligen Abtransport des
in den Geweben aufgespeicherten Gallenfarbstoffes aus dem Körper,
da gewissermaßen das Gefälle aus den Geweben ins Blut durch
die minimale Löslichkeit im eiweißfreien Plasma seinen Tiefstand
erreicht.
Diese Vorgänge glauben wir durch den Bilirubin-Index ver-
folgen zu können.
Bei vollständiger Behinderung des Galleabflusses schwankt er
zwischen den Werten 1,2 und 1,8 und steigt dann mit der Er-
reichung eines Gleichgewichtszustandes der Verteilung des Gallen-
farbstoffes bezüglich Lösung und Adsorption langsam bis auf 'etwa
25 an. Mit der Verbesserung des Galleabflusses erfolgt dann
rascher Anstieg bis auf Werte von 10,0 und darüber, wobei jede
neuerliche Verschlechterung des Galleabflusses eine Verzögerung
des Anstieges oder sogar ein zeitweiliges Absinken seines Wertes
bedingt. Mit der fortschreitenden Genesung erfolgt dann ein
auffallend langsamer Abfall des Wertes des B.I. etwa parallel
gehend mit der Abblassung des Hautikterus, bis dann schließlich
die immer stärker verzögerte direkte Reaktion eine weitere Be-
stimmung des B.I. unmöglich macht.
Literatur.
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lich u. Pröscher, Zeitschr. f. analyt. Chem. Bd. 23, 1883; Pröscher, Zeitschr.
f. phys. Chem. Bd. 29, 1900. — 3. Vogl u. Zins, Med. Klinik H. 21, 1922. —
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Mitt. a. d. Grenzgeb. 32, H. 1, 1921. — 6. Gilbert u. Herscher, Cholemie
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60. 257—318, 1907, zit. i. Bechhold, Kolloide i. Biologie u. Med. S. 26, 1919.
172
Aus der medizinischen Klinik in Bern.
Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung.
Von
Prof. H. Sahli, Bern.
Zugleich eine Erwiderung zu dem Aufsatz
von H. Straub und Ch. Krötz
„Zur Kritik der Pulsuntersuchung“
in dieser Zeitschrift Bd. 149, H. 3/4, S. 230.
Die auffällige Verschiedenheit meiner eigenen Ansichten von
derjenigen, welche H. Straub und Ch. Krötz in der oben ge-
nannten Arbeit niederlegen, kann bloß an fundamentalen Ver-
schiedenheiten der beiderseitigen hämodynamischen und physi-
kalischen Grundanschauungen liegen. Was mich betrifft, so habe
ich wiederholt, zuletzt in den Ergebnissen der inneren Medizin und
Kinderheilkunde Bd. 27 und in dem Handbuch der speziellen Patho-
logie und Therapie von Kraus und Brugsch Bd. IV, 2, meine
hämodynamischen Grundanschauungen, speziell in betreff des Wesens
der Pulswelle, als Basis der Hämodynamik und der Volumbolometrie
eingehend dargestellt. Solange diese Grundanschauungen nicht
widerlegt sind, besteht meine Darstellung der Hämodynamik und
dynamischen Pulsuntersuchung zu Recht. Meine Gegner haben
sich dagegen nicht über ihre eigenen Grundanschauungen in der
Wellenlehre ausgesprochen. Die Diskussion muß deshalb an der
Oberfläche haften und es ist unvermeidlich, daß man mehr oder
weniger aneinander vorbeiredet. Ich will deshalb nur auf einige
Punkte der angeführten Arbeit eingehen, welche einer Widerlegung
bedürfen, und mir Gelegenheit bieten werden, meinen neueren Dar-
stellungen der dynamischen Pulsuntersuchung noch einige Er-
gänzungen hinzuzufügen.
1. Die erneute Behauptung, die Volumbolometrie sei „eine un-
zulängliche Manometrie“, muß ich nochmals zurückweisen und als
Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 113
mir ganz unverständlich bezeichnen, da ja bei der Volumbolometrie,
im Gegensatz zu der älteren, nun verlassenen Druckbolometrie, nicht
ein Druck, sondern, isotonisch, ein Volum gemessen wird. Jene Be-
hauptung wird damit begründet, daß es die Blutdruckschwankungen
seien, welche bei der Volumbolometrie die Volumschwankungen
hervorrufen. Dies ist natürlich ganz richtig und ich habe es nie
bestritten. Aber die daraus gezogene Schlußfolgerung ist dennoch
falsch. Ohne daß den Blutdruckschwankungen bei jedem Puls immer
wieder neues Blut zur Verfügung gestellt wird, kann kein Pulsvolumen
und auch keine Zirkulation zustande kommen. Das durch den Ein-
fluß der Entleerung des Herzens unter systolischer Druckzunahme
in der Aorta zustande kommende Pulsvolumen, für welches das auf
die Querschnittseinheit des Arterienlumens reduzierte bolometrische
periphere Pulsvolumen ein klinisches Maß ist, besitzt doch ein
mindestens ebenso großes Interesse, wie die vom Herzen erzeugten
systolischen Druckschwankungen an sich, und zwar vor allem, weil
es uns Aufschluß gibt über die Größe der Zirkulation, mehr nebenbei
aber auch, weil uns erst das Pulsvolumen durch Multiplikation mit
dem Druck, gegen welchen es ausgeworfen wird, Schlüsse gestattet
auf die Größe der bei der Systole geleisteten Arbeit. Demgegenüber
besagt uns die Größe der systolischen Druckschwankung über die
Beschaffenheit der Zirkulation an sich sehr wenig. Der arterielle
Druck ist der Intensitätsfaktor der Zirkulationsmaschine, das Puls-
volumen dagegen ihr Extensitätsfaktor. Nur wenn man beide kennt,
kennt man die Art der Tätigkeit der Maschine. Ich muß fast um
Entschuldigung bitten, daß ich dieses von mir schon so oft Gesagte
immer wiederholen muß. Aber meine Gegner zwingen mich dazu.
Ich muß bei den Mißverständnissen, welche in diesen Fragen immer
noch herrschen, immer wieder die alten Vergleiche mit technischen
Maschinen hervorholen. Nehmen wir eine technische Wasserpumpe.
Unter welchem Druck und unter welchen Druckschwankungen der
Kolben einer solchen arbeitet, das sagt uns über die Förderleistung
der Pumpe gar nichts Bestimmtes. Was wir für die Beurteilung
einer Pumpe in erster Linie wissen müssen, ist die mit jedem
Kolbenstoß geförderte Wassermenge. In zweiter Linie interessiert
uns natürlich aber auch das Produkt des Pumpendrucks in das
durch jeden Kolbenstoß geförderte Wasservolumen. Denn von diesem
Produkt ist die Arbeit oder Energie abhängig, die wir für die
Inbetriebsetzung der Pumpe aufwenden müssen. Natürlich ist für
die Beschaftung dieser Arbeitsgröße auch der Druck, unter welchem,
und gegen welchen der Kolben wirkt, an sich von Interesse, denn
174 SaaLı
wir wünschen auch zu wissen, bis auf welche Höhe uns die Pumpe
das Wasser zu fördern vermag und außerdem muß auch dieser
Druck, nicht bloß die Wassermenge, von dem Techniker be-
schafft werden. Auch in der Technik sind die zu beschaffende Druck-
größe und die zu beschaffende Wassermenge voneinander unab-
hängig. Das Problem ist also genau das gleiche wie bei dem
Studium der Zirkulation durch die Untersuchung des Pulses. Wenn
der Techniker aus den angeführten Gründen das Fördervolumen
seiner Pumpe mißt, oder, was er im Gegensatz zu der Klinik tun
kann, durch Ausmessung des Querschnittes und der Hubhöhe des
Kolbens berechnet, so wird man ihm doch nicht den Vorwurf machen,
er führe damit eine unzulängliche Druckmessung aus. Er bestimmt
vielmehr daneben mit zulänglichen Methoden auch den Druck.
Geradeso verfahren wir bei der Pulsuntersuchung.
Wenn O. Frank sagt, die sphygmobolometrische Arbeitsberech-
nung habe „keine andere Bedeutung als die Berechnung der Arbeit,
die an einem beliebigen in den Kreislauf eingeschalteten Manometer
geleistet wird, so stimme ich dem bei. Es muß aber erstens be-
merkt werden, daß es sich bei der dynamischen Pulsuntersuchung
gar nicht in erster Linie um die Arbeitsberechnung des
Pulses handelt. Diese kommt vielmehr erst in zweiter Linie und
die Hauptsache an der dynamischen Pulsuntersuchung ist klinisch
die Vo)lummessung. Und selbst die Arbeitsmessung, der ich also
klinisch bloß sekundäre Bedeutung zuschreibe, ist vor der Ein-
führung der dynamischen Pulsuntersuchung eben an Kranken nie
gemacht worden, weil man sich dafür nicht, sondern nur für Druck-
bestimmungen interessierte. Auch ist die Arbeitsmessung an einem
„beliebigen“ Manometer gar nicht in einfacher und einwandfreier
Weise möglich, und überhaupt nicht, wenn man dabei nicht die
Grundprinzipien der dynamischen Pulsuntersuchung zugrunde legt.
Denn ein „beliebiges Manometer“ gibt keine Arbeitswerte, sondern
niemals etwas anderes als Druckwerte Daß sich die erwähnte
Bemerkung O. Franks gerade auf die Arbeitsmessung bezieht,
die in der heutigen Volumbolometrie gegenüber der Volummessung
‚ nur eine sekundäre Rolle spielt, beruht wohl darauf, daß der Autor
dabei das älteste, längst verlassene und verfehlte Instrument zur
dynamischen Pulsmessung aus dem Jahre 1907 vor Augen hat, in
welchem ich, ohne Berücksichtigung des Pulsvolumens, die Puls-
arbeit direkt zu messen versuchte, wobei sich dann eben die
Schwierigkeit zeigte, diese Pulsarbeit mit einem „beliebigen“ Mano-
meter zu messen. In der heutigen dynamischen Pulsuntersuchung
Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 175
ist aber überhaupt neben der Volumbestimmung des Pulses nur
nebenbei von der Arbeitsmessung des Pulses die Rede.
Nach diesen Erörterungen ist es mir völlig unverständlich, wie
meine Gegner am Schlusse ihres Aufsatzes zu der seltsamen Ansicht
kommen, daß Pulsvolumen und Pulsenergie Begriffe seien, „denen
keine Realität im natürlichen Kreislauf zukomme“. Wenn das zu-
treffen würde, so hätten die analogen Begriffe in der Lehre von
den Wasserpumpen ebenfalls keine Realität, womit sich wohl kein
Ingenieur einverstanden erklären wird.
Wenn ferner die Verfasser, entgegen meiner, wie mir scheint,
klaren physikalischen Auseinandersetzung, die Behauptung auf-
stellen, die volumbolometrisch gemessene Volumgröße sei „ein
direkter und unmittelbarer Ausdruck der Blutdruckschwankungen“,
so ist dies ein Irrtum und ein Rückfall in die alten längst wider-
legten hämodynamischen Vorstellungen, welche seinerzeit aus dem
„Pulsdruck* oder der „Pulsamplitude“, dem „Blutdruckquotienten“,
dem „Amplitudenfrequenzprodukt“ usw. auf die Größe der Zirku-
lation Schlüsse ziehen wollten. Es ist bekannt, daß alle diese Ver-
suche vollkommen gescheitert sind und scheitern mußten, weil sie
von unklaren pbysikalischen Begriffen ausgingen und statische und
dynamische Begriffe verwechselten. An die Stelle dieser unzuläng-
lichen Versuche ist heute die Volumbolometrie getreten, die auf
klarer physikalischer Basis steht.
Der Beweis, wie unrichtig und unmöglich es ist, aus statischen
Blutdruck werten Schlüsse auf die Größe und Güte der Zirkulation
zu ziehen, geht, abgesehen von jeder Theorie, aus schon sehr alten
klinischen Tatsachen hervor. Ich erinnere an die bekannten und
häufigen Fälle von arterieller Hypertension, bei welchen, trotz des
hohen, durch einwandfreie Methoden gemessenen systolischen
Blutdruckwertes, die Zirkulation, nach allen klinischen Kriterien,
schlecht und klein, und mit allen Zeichen der Kompensationsstörung
and Stauung verbunden ist, und wo in voller Bestätigung der
klinischen Erscheinungen die Volumbolometrie trotz des hohen
Druckes abnorm kleine Werte für das auf die Kalibereinheit der
Radialis reduzierte Pulsvolumen ergibt. Die Erklärung dieser be-
kannten klinischen Vorkommnisse der Hochdruckstauung liegt
auf der Hand. Man braucht sich bloß die arterielle Strombahn eng
oder starr oder eng und starr zu denken, um einzusehen, daß in
diesem Fallschon ein ganz kleines Auswurfsvolumen des Herzens mit
kleiner Zirkulationsgröße einen hohen systolischen Druck hervorzu-
rufen vermag. Auch der umgekehrte Fall, großes Pulsvolumen bei
176 Saurı
niedrigem systolischem Druck, kommt häufig vor, z. B. im Fieber.
Auch dies ist leicht zu verstehen: eine große Systole des Herzens
kann ein großes Pulsvolumen erzeugen, ohne daß, falls wie im Fieber,
die Gefäße erschlafft und erweitert sind, daraus ein hoher systolischer
Druck resultiert. Diese Beispiele zeigen wie berechtigt es ist, den Be-
griff der Größe des Pulsvolumens von dem eines hohen systolischen
Drucks oder Pulsdrucks ganz scharf zu trennen, wie es übrigens
die beiden Ausdrücke klar genug markieren, und wie sehr es sich
deshalb lohnt, beide Größen getrennt zu bestimmen, da sie im
Gegensatz zu den Ansichten meiner Gegner in gar keiner direkten
Abhängigkeit stehen. Alles das haben schon die alten Ärzte,
lange bevor wir eine Sphygmomanometrie oder gar eine dynamische
Pulsuntersuchung hatten, gestützt auf die einfache Beobachtung
des Pulses mittels der Palpation klar erkannt, und nun will man
das alles wieder vergessen. Die alten Ärzte wußten wohl zu unter-
scheiden zwischen einem gespannten oder harten Puls, der
einen hohen Druck anzeigt, aber dabei zuweilen ganz klein sein
kann (Drahtpuls) und einem großen Puls, der ein großes Puls-
volumen, eine große Herzsystole anzeigt und dabei das eine Mal
weich (mit niedrigem Druck verbunden, großer weicher Puls,
z. B. im Fieber) oder gleichzeitig gespannt und hart (mit hohem
Druck verbunden, starker Puls von großem Energiegehalt) sein
kann. Es braucht, um diese allbekannten Unterschiede anzuer-
kennen, keiner gelehrten physikalischen Erörterungen sondern bloß
genügender Beobachtungsgabe bei der Palpation des Pulses. Die
Volumbolometrie zusammen mit der klinischen Manometrie hat
alles dies bestätigt und physikalisch präzisiert und in messende
Zahlen zu fassen gestattet. Von der rein gefühlsmäßigen Benutzung
hämodynamischer Meßinstrumente, vor welcher die Verfasser im
Anfang ihres Aufsatzes mit Recht warnen, ist dabei jedenfalls nicht
die Rede. Im Gegenteil bin ich mir bewußt, bei der Begründung
der dynamischen Pulsuntersuchung, mehr als andere, auf eine
verstandesmäßige rein physikalische Auffassung der Zirkulation
hingewiesen zu haben. Der Ausdruck dieser nun endlich exakt
gewordenen physikalischen Auffassung ist eben die Volumbolometrie.
Um zu zeigen, in welchem Maße die Klinik, wenn sie, wie
die meinige, die neuen exakten physikalischen Vorstellungen an-
nimmt und praktisch anwendet, dieselben mit wichtigen Ergeb-
nissen quittiert, will ich u. A. hier bloß nochmals die schon von den
verschiedensten Seiten bestätigte Tatsache anführen, daß die
typische günstige Digitaliswirkung bei Kompensationsstörungen
u
En Bas,
Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 177
sich regelmäßig durch die Vergrößerung eines zuvor kleinen Puls-
volumens verrät, wobei bezeichnenderweise der arterielle Druck
bald steigt bald sinkt und sich dadurch für die Beurteilung als
völlig insuffizient und irrelevant erweist. Wie reimt sich diese
von Ärzten, welche den Puls dynamisch messen, täglich zu be-
stätigende Tatsache, die gerade für die Indikationsstellung der
Digitalistherapie von großer Wichtigkeit geworden ist, mit der
Behauptung meiner Gegner, die Volumbolometrie sei eine „unzu-
längliche Blutdruckmessung“ und das bolometrisch gemessene Puls-
volumen sei der „unmittelbare und direkte Ausdruck der Blutdruck-
schwankungen“? |
2. Auf Seite 235 verwundern sich die Autoren darüber, daß
ich, „der ich früher die Vorzüge der pneumatischen Pelotte be-
sonders ausdrücklich und überzeugend betont habe, bei meinem
Verfahren der sphygmographischen Bolometrie oder Bolographie
(Schweiz. med. Wochenschr. Nr. 18, 1922 und Nr. 33, 1923) wieder
zu den von mir verurteilten starren Pelotten zurückkehre“. Hier
liegt ein doppeltes Mißverständnis vor. Erstens habe ich zwar
starre Pelotten aus klaren Gründen (wegen des Pascal’schen Ge-
setzes) für die Druckmessungen, nie aber für die Sphygmo-
graphie, von welcher hier die Rede ist, „verurteilt“. Zweitens bin
ich aber durchaus nicht zu den starren Pelotten „zurückgekehrt“,
sondern ich habe sie für die Aufnahme gewöhnlicher Sphygmo-
gramme gar nie verlassen, da ich diese Methode, falls sie sich
eines einwandfreien, die O. Frank’schen Postulate berücksichtigen-
den Sphygmographen, wie des neuen Jaquet’schen bedient, für
eine durchaus brauchbare Methode ansehe. Und ebensowenig habe
ich etwa, wie man nach den Worten meiner Gegner glauben könnte,
die pneumatische Pelotte für die Volumbolometrie verlassen, da
ich vielmehr das Verfahren mit der pneumatischen Radialispelotte
immer noch als das Normalverfahren der dynamischen Pulsunter-
suchung betrachte. Die Begründung der neuen Methode der
sphygmographischen Bolometrie mittels des Jaquet’schen Sphygmo-
graphen (Sphygmobolographie genannt) hat vielmehr den Sinn einer
Erweiterung der Methodik und soll keineswegs die pneumatische
Volumbolometrie verdrängen. Den Anlaß zu dieser Erweiterung
der Methodik gab, abgesehen davon, dab man, neben den vielen
unbrauchbaren Methoden, nie genug brauchbare haben kann, die
Absicht, denjenigen, welche sich bisher auf die einfache Sphygmo-
graphie beschränkt haben, die Verwertung des Sphygmogramms
im Sinne der dynamischen Pulsuntersuchung zu ermöglichen, was,
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 12
178 Santi
wie ich zeigte. ganz gut geht. Es führen eben verschiedene Wege
nach Rom. Dabei zeigte sich, daß die dynamische Verwertung
der Sphygmographie um so wertvoller ist, als sich mit ihr in sehr
einfacher Weise eine automatische Arteriometrie verbinden läßt,
wie ich sie beschrieben habe. Denn die Bedeutung der Arterio-
metrie als Ergänzung aller dynamischen Pulsuntersuchungen, zum
Zwecke, den Einfluß von Kaliberanomalien der Radialis zu be-
rechnen, habe ich schon vor sehr langer Zeit hervorgehoben.
3. Zu den Bemerkungen oben auf Seite 232 habe ich folgendes
zu sagen. In welcher Weise uns die Sphygmographie mit dem
Jaquet’schen Sphygmographen Aufschlüsse über Druckschwankungen
und Volumschwankungen der Radialis und über die Arbeitsleistung
des Radialispulses gibt, habe ich in meinen früheren Arbeiten und
ebenso in der im Druck befindlichen Neuauflage meines Lehr-
buches der Untersuchungsmethode genau besprochen und ich kann
nicht nochmals darauf eingehen. Dagegen muß ich mich hier doch
gegen die Behauptung verwahren, daß ich mich „zu dem Trug-
schluß versteige, der lineare Ausschlag des Sphygmographen habe
die Dimension eines Volumens“. Dies entspricht nicht dem, was
ich gesagt habe. Vielmehr zitiere ich wörtlich aus den Ergebn.
d. inn. Med. und Kinderheilk. Bd. 27, S. 64 folgendes: „Das schein-
bare Paradoxon, daß das Pulsvolumen durch eine lineare Größe,
die Pelottenexkursion, ausgedrückt werden kann, löst sich nämlich
ohne weiteres, wenn man berücksichtigt, daß unter der gemachten
Voraussetzung eben die zwei anderen Dimensionen des Volumbegriffs
gegeben sind.“ Der Sinn hiervon ist so ziemlich das Gegenteil
von dem, was meine Gegner verstanden zu haben scheinen, wenn
sie sagen, ich lege der linearen Pelottenexkursion die Dimension
eines Volumens bei. Eine lineare Größe hat natürlich nie an sich
die Dimension eines Volumens (Länge?), wohl aber kann sie unter
Umständen als relatives Maß eines Volumens dienen. In dem in-
kriminierten Fall der Volumbolographie liegen Volumina vor, welche
sich als Prismen von gleicher Grundfläche aber verschiedener Höhe
charakterisieren. Da wird wohl niemand bestreiten, daß in der
Tat die Höhen der Prismen das relative Maß der Volumina sind.
Der nämliche Fall liegt ja auch bei der pneumatischen Indexbolo-
metrie vor. Hier wird das Volumen des Pulses durch die lineare
Größe des Indexausschlages gemessen, weil der Index sich in einer
zylindrischen Kapillare von bekanntem Querschnitt verschiebt.
Der Leser mag die betreffende Stelle mit Aufmerksamkeit durch-
lesen und wird sich dann überzeugen, daß ich mich nicht zu un-
Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 179
gereimten Behauptungen „versteige“, sondern die tatsächlichen Ver-
hältnisse durchaus richtig physikalisch charakterisiere.
4. Warum die Autoren auf Seite 236 meinem Indexmanometer
den Makel der Trägheit anhängen und auf Seite 242 sogar von
einer großen Trägheit desselben sprechen, ist mir unerfindlich.
Ich selbst betrachte demgegenüber das Volumbolometer von allen
mechanisch registrierenden Pulsinstrumenten als eines der wenigst
trägen, ja als praktisch trägheitsfrei. Eine solche Differenz der
Ansichten bedarf einer näheren und gründlichen Erörterung. Was
lehrt die Physik über den Begriff der Trägheit? Sie lehrt, daß
. bis zu einem gewissen Grade alle Körper Trägheit besitzen, da
dieser der Begriff der Materie anhaftet, und daß die Trägheit, als
Widerstand gegen positiv und negativ beschleunigende Kräfte, der
Masse der bewegten Körper proportional ist und diese wieder
proportional ihrem Gewicht. Was soll nun in dem inkriminierten
Volumbolometer so besonders träge sein? Da das Instrument von
der durch die Autoren und auch durch mich selbst verwendeten
optischen Registriervorrichtung, über deren Trägheit sie nicht
klagen, sich nur durch die Einschaltung des Indexmanometers unter-
scheidet, so kann, wie es die Verfasser übrigens auch sagen, bei
dem Vorwurf der Trägheit nur das Indexmanometer und in diesem,
da die Luft je nicht in Betracht kommt, bloß der Index gemeint
sein. Dieser Index hat nun, je nach der Länge, die man ihm gibt,
ein Volumen von 0,07—0,15 ccm, im Mittel also von 0,11 ccm, und da
er aus Alkohol besteht, ein Gewicht von im Mittel 0,09 g. Die
Masse des Index, als Maß der Trägheit, berechnet sich nach der
Formel m = S, worin m die Masse in Massengrammen, G das Gewicht
in Grammen und g die Beschleunigung der Schwerkraft in Zenti-
metern, nämlich 981 a ist. Somit ist die Masse des Index
. , 0,09
gleich OBT
nung wollen wir den etwas zu großen, einer etwas größeren Träg-
heit entsprechenden Wert von 0,0001 Maßengramm annehmen.
Wie wirkt nun diese Masse, bzw. die durch sie gemessene
Trägheit auf die Bewegungen eines solchen Index störend? Theo-
retisch dadurch, daß ein trägerer Körper, d.h. ein solcher von
größerer Masse durch eine beschleunigende Kraft sich weniger
rasch in Bewegung setzt und die Endgeschwindigkeit weniger rasch
annimmt, dafür aber, wenn er einmal in Bewegung ist und die
12*
= 0,00009 Massengramm. Zur Vereinfachung der Rech-
180 SAHLI
Endgeschwindigkeit erreicht hat, diese gegenüber einer Gegenkraft
sowie gegenüber Reibungs- und andern Widerständen (im Volum-
bolometer gegenüber dem pneumatischen Optimaldruck) weniger
rasch verliert als ein weniger träger Gegenstand mit kleinerer
Masse. Bei der Aufnahme von Pulskurven äußert sich deshalb
bekanntlich die Trägheit von Registriervorrichtungen ganz allge-
mein einerseits dadurch, daß der Anstieg der Kurve verlangsamt
und dabei auch die Detailzeichnung derselben verwischt wird,
andererseits dadurch, daß die Registriervorrichtung durch die im
Verlauf der Bewegung erworbene kinetische Energie über das der
Größe des Bewegungsanstoßes entsprechende Ziel hinausgetrieben
wird, und also dabei eine von der zu verzeichnenden Bewegung
nicht mehr direkt abhängige Eigenbewegung ausführt. Durch diese
Eigenbewegung können unter dem Einfluß der Eigenschwingungen
des Systems durch Interferenz mit der wirklichen Pulsbewegung
Zacken in die Kurve hineinkommen, welche reine Artefakte sind
und also ebenfalls ein falsches Bild von der Pulsbewegung geben.
Man nennt diese zweite Wirkung der Trägheit das Schleudern
träger Registriervorrichtungen.
Daß Trägheitserscheinungen in den Indexbewegungen des
Volumbolometers sich nicht bemerkbar machen, zeigt sich schon
darin, daß die direkt aufgenommenen photographischen Kurven der
Indexexkursionen in allen wesentlichen Eigenschaften des Haupt-
gipfels mit guten Sphygmogrammen und auch mit den optischen
Spiegelvolumbologrammen, wie Staub und Krötz sowie ich selbst
sie aufgenommen haben, übereinstimmen.
Es läßt sich aber die Frage, ob bei den Indexablesungen
störende Wirkungen der Trägheit des Index in Betracht kommen.
auf Grund der oben ausgeführten numerischen Berechnung der
Masse bzw. Trägheit des Index, auch mathematisch behandeln. Es
ist dabei vorauszuschicken, daß bei den Indexausschlägen die Masse
als solche als das Maß der Trägheitswirkung in Betracht kommt,
bei den Hebelvorrichtungen dagegen außerdem das von der Länge
des Hebels abhängige Trägheitsmoment. Auf letzteres brauche
ich hier nicht einzugehen, da im Volumbolometer keine Hebelvor-
richtung vorliegt.
Zunächst die mathematische Fassung der oben definierten
Schleuderwirkungen für unseren Index: Ihr Maß ist nach der Formel
2}
A f at ee, N .
der kinetischen Energie die Größe - z7» Worin m die Masse des
Index, v die Geschwindigkeit des Anstieges des Index ist. Wir
ST a un x
u ne
Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 181
können bei dem sogut wie gradlinigen Anstieg, welchen der Puls
bei direkter Registrierung der Indexausschläge wie bei anderen Puls-
aufnahmen zeigt, von Geschwindigkeit schlechtweg sprechen, ohne
zwischen Anfangsgeschwindigkeit, mittlerer und Endgeschwindigkeit
zu unterscheiden. Nach meinen Kurven beträgt die Dauer des Anstieges
sowohl bei den direkt photographierten Indexkurven als bei den
Spiegelaufnahmen mit der Doppelkapsel ca. 0,1—0,2 Sekunden, was
für einen mittleren linearen Weg des Index von ca. 3 cm, der einem .
mittleren Pulsvolumen von 0,1 ccm entspricht, eine Geschwindigkeit
von 15—30 = ergibt. Daraus berechnet sich für diesen Fall der durch
2
die Formel es gegebene Wert der Schleuderung, wenn wir den,
wie erwähnt, mit 0,0001 Massengramm etwas zu groß angenommenen
Wert der Masse des Index und die angeführte Geschwindigkeit
in die Formel einsetzen. Wir erhalten dann die kinetische Energie
der Schleuderung zu 0,0001 mal 112 bis 0,0001 mal 450, im Mittel
also zu 0,0281 gem. Dieser Wert bedeutet gem deshalb, weil
die Formel für die kinetische Energie die nämliche Dimension hat,
wie diejenige der Arbeit, nämlich M-L?.T?*) und wir die Einheiten
nach dem gem System gewählt haben. Es ergibt sich also, daß
die kinetische Energie, welche der Index durchschnittlich bei seiner
Exkursion vermöge seiner Masse und Trägheit annimmt, im Mittel
0.0281 gem beträgt. Das ist ein sehr kleiner Wert. Seine Be-
deutung für unsere Frage wird aber erst deutlich, wenn wir ihn
mit dem Gesamtarbeitswert des Pulsanstieges vergleichen. Der
letztere berechnet sich in gem nach den Regeln der Volumbolo-
metrie und gemäß der Passavant’schen Formel durch Multiplikation
des Indexausschlages in Zentimetern mit dem Optimaldruck, in
cm Hg, und dem spezifischen Gewicht des Hg und beträgt, bei einem
durchschnittlichen Volumbologramm hiernach 0,1-10:13,6=13,6 gem.
Daraus ergibt sich, daß der für die Schleuderung in Betracht
kommende Energieanteil 2,7°/,, der Gesamtpulsenergie beträgt, und
da im Volumbolometer die Arbeit für einen gegebenen Optimaldruck
durch eine lineare Exkursion gemessen wird, die durchschnittlich
normalerweise etwa 3 cm beträgt, so folgt, daß für diese Kurvenhöhe
a el
1000 1000 100
beträgt, also einen in der Kurve nicht mehr erkennbaren und prak-
linear der Schleuderungsfehler
* M = Masseneinheit, L = Längeneinheit, T = Zeiteinheit.
182 SaAHLI
tisch deshalb zu vernachlässigenden Wert hat. Damit stimmt wie
gesagt die Tatsache überein, daß man an den direkt photographierten
Kurven der Indexausschläge keine Zeichen von Schleuderung er-
kennen kann, da sie mit den mit der Spiegeldoppelkapsel aufge-
nommenen Kurven übereinstimmen. Auch konnte ich zeigen, daß
künstliche Pulse, die man mittels einer Pravaz’schen Spritze in der
Größe natürlicher Pulse auf den Index wirken läßt, den gleichen
Ausschlag geben, ob man den Stempel langsam oder mit der Ge-
schwindigkeit des natürlichen Pulsanstieges vorschiebt. Dabei zeigten
sich auch keine Eigenschwingungen des Index.
Dies ist nun bloß die eine Seite des Trägheitsfehlers, nämlich
die Schleuderung, die also beim Volumbolometer keine Rolle spielt.
Die andere Seite des Trägheitsfehlers würde, wie wir sahen, darin
bestehen, daß der Index infolge seiner Masse, zu wenig rasch in
Bewegung kommt, woraus einerseits eine Verzögerung des Anstieges,
andererseits eine Verwischung eventueller Details des Anstieges
zustande käme. Der physikalische Vorgang dabei ist folgender.
Nach der allgemeinen, nicht speziell auf die Schwerkraft bezogenen
Formel der Masse m = : (worin K eine beliebige Kraft, m — Masse,
a die an ihr durch die Kraft K hervorgerufene Beschleunigung
bedeutet) äußert sich die Masse oder Trägheit bei der beschleunigten
Bewegung zunächst darin, dab die gegebene Kraft an einem trägeren
Körper eine geringere Beschleunigung und somit eine geringere
Geschwindigkeit hervorruft, als an einem weniger trägen Körper.
Hierauf beruht die erwähnte Verlangsamung des Anstiegs und die
Verwischung der Details. Offenbar würde dies nun einen scheinbaren
Arbeitsverlust während des Anstiegs infolge des Verlustes an Weg
bedeuten. Die Größe dieses scheinbaren Verlustes ließe sich eben-
falls berechnen. Einfacher aber ist es, sie auf Grund folgender
Überlegung zu beurteilen, indem man den Wert. der terminalen
Schleuderung zugrunde legt. Diese Schleuderung bedeutet nämlich
durch die damit verbundene Vermehrung des Wegs eine schein-
bare Vermehrung der Arbeit. Daß jene initiale Verminderung und
diese terminale Vermehrung der Arbeit als bloß scheinbar be-
zeichnet werden müssen, ergibt sich aus dem Gesetz von der Er-
haltung der Energie. Daraus folgt aber auch, daß es sich bei den
Erscheinungen der initialen Verlangsamung und der terminalen
Schleuderung bloß um eine zeitliche Verschiebung der Energie-
leistung handelt, daß somit der numerische Betrag des scheinbaren
initialen Arbeitsverlustes beim Beginn der Exkursion und der
- ge
Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 183
scheinbare Arbeitsgewinn durch terminale Schleuderung gleich
sind, aber umgekehrtes Vorzeichen besitzen. Daraus folgt, daß der
oben berechnete Wert der Schleuderung numerisch auch für den
Trägheitsfehler des Kurvenanfangs gilt, und da wir gefunden haben,
daß der Schleudernngsfehler zu klein ist um in der Kurve merklich
zu werden, so kommen wir also zu dem Ergebnis, daß auch die
im Anfang der Kurve theoretisch vorhandene Verzögerung des
Anstiegs und die Verwischung der Details des Anstieges in der
Kurve wegen der Kleinheit der Trägheit des Index unmerklich
sind. Alles das bestätigt sich durch die vollkommene Identität des
Anstiegs in den durch direkte photographische Aufnahme der Index-
exkursionen erhaltenen und in den durch Spiegelschreibung mittels
der optischen Doppelkapsel erhaltenen Kurven.
In diesen Auseinandersetzungen war zunächst bloß von dem
aufsteigenden Schenkel der Indexausschläge die Rede. Im
absteigenden Schenkel liegt nicht mehr die vom Puls selber
bzw. dem Herzen direkt geleistete Arbeit vor, sondern die Arbeit
des absteigenden Schenkels wird geliefert durch die in der Luft
des pneumatischen Systems durch den Puls angesammelte poten-
tielle Energie im Verein mit allfälligen Reflexwellen. Es liegt
auf der Hand, daß auch hier der Index als praktisch trägheitsfrei
betrachtet werden kann, d. h. daß auch hier seine Trägheit keine
Störungen bedingt, nachdem ich es für den Anstieg bewiesen habe.
Man kann also das Volumbolometer nicht einer stö-
renden Trägheit beschuldigen.
Ich will bei diesem Anlaß nochmals darauf aufmerksam machen,
daß ich den Index auch in betreff des Einflusses derReibung
untersucht und, wie ich an anderem Ort zeigte, gefunden habe,
daß auch sie keine Störungen bedingt, solange die Indexlänge,
welche für die Reibung maßgebend ist, das vorgeschriebene Maß
von 3cm nicht erheblich überschreitet. Es ergibt sich dies daraus,
daß die Ausschläge des Index gleich ausfallen ob man dem Index eine
Länge von 1 oder 3 cm gibt. Eine Störung durch Reibung müßte,
da diese der Länge des Index proportional ist, sich in einer von
der Länge des Index abhängigen erkennbaren Verschiedenheit der
Ausschläge äußern, was innerhalb dieser Grenzen nicht der Fall
ist. Erst bei unzulässig langem Index (erheblich über 3 cm) machen
sich störende Reibungserscheinungen bemerkbar.
5. Bei der Erwähnung der von mir (Ergebn. d. inn. Med. u.
Kinderheilk. Bd. 27 und Ergebn. d. Physiol. Bd. 24 sowie Handb.
d. spez. Pathol. u. Therapie von Kraus und Brugsch Bd. IV, 2)
181 Sauıı
beschriebenen, nach dem Prinzip der Doppelkapsel konstruierten
optischen Spiegelschreibvorrichtung zum Volumbolometer, welche
offenbar im Wesentlichen mit der auch von Straub und Krötz
verwendeten Vorrichtung übereinstimmt, sagen die Verfasser, daß
bei meiner Anordnung die zwecklose Einschaltung des „trägen“
Index den Gebrauch der optischen Registrierung illusorisch mache.
Dazu bemerke ich, daß erstens nach dem von mir erbrachten Nach-
weis, daß der Index nur eine minimale und nicht störende Trägheit
hat, diese Einschaltung keine merkliche Bedeutung haben würde,
zweitens aber, daß bei dem Gebrauch der Spiegelregistrierung der
Index, ohne daß man das Instrument auseinander zu nehmen braucht,
durch Abfließenlassen der Flüssigkeit in eine der Ampullen eliminiert
werden kann, wie ich es in meiner Darstellung in den Ergebnissen
der innern Medizin (l. c. S. 21) zum Überfluß noch speziell angegeben
habe. Hierdurch wird die Bahn zwischen der Pelotte und der
optischen Doppelkapsel vollkommen freigegeben. In meiner schema-
tischen Abbildung ist der Index zum Zweck des besseren Verständ-
nisses des Anschlusses der optischen Kapsel an das System mitge-
zeichnet worden.
6. Mit Befriedigung konstatiere ich, daß die Autoren bei der
Anwendung der Volumbolometerpelotte für die Radialis mit der
optischen Doppelkapselregistrierung volumbolometrische Kurven
erhielten, „die allen technischen Anforderungen, die an ein Sphygmo-
gramm gestellt werden können, entsprechen“ (S. 245) indem der
Hauptgipfel und die Sekundärelevationen bei wechseindem Pelotten-
druck ihre zeitliche Lage nicht veränderten. Dies stimmt damit
überein, daß ich die volumbolometrischen Aufnahmen als die beste
Methode zum Schreiben isotonischer Sphygmogramme bezeichnet habe.
Daß demgegenüber die Autoren mit der, merkwürdigerweise trotz-
dem nachher zur prinzipiellen Kontrolle derrichtigen Volumbolometrie
verwendeten, „Manschettenbolographie“ schlechte, für die
einzelnen Drucke ganz verschiedene Kurven erhielten, scheint mir
durchaus nicht verwunderlich, und ich muß bei diesem Anlaß, da
man glauben könnte, ich empfehle eine solche „Manschetten-
bolometrie* (während sie meiner Ansicht nach vielmehr ganz in das
Gebiet der „Gefühlshämodynamik“ gehört), darauf hinweisen, daß
ich, abgesehen von meinen ersten tastenden Versuchen über dy-
namische Pulsuntersuchung, welche bald 20 Jahre zurückliegen, vor
der Anwendung von Manschetten nicht bloß für Druckmessungen,
sondern namentlich bei Anlaß -meiner Polemiken mit Christen und
Hediger, auch für die dynamischen Untersuchungen gewarut habe.
Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 185
Die Kritik der Autoren gegenüber der „Manschettenbolometrie“ ge-
schieht also ganz in meinem Sinne und ich habe dieses Verfahren
auf das entschiedenste abgelehnt.
Auch an dem richtigen, d.h. dem mittels der Radialispelotte
gewonnenen, Volumbologramm setzen die Autoren jedoch das aus,
daß die Sekundärelevationen, obschon sie, wie gesagt an den rich-
tigen zeitlichen Stellen sich ausprägen, doch je nach dem ver-
wendeten Pelottendruck nicht gleich hoch im Verhältnis zum
Hauptgipfel ausfallen, daß vielmehr das Höhenverhältnis der ersten
und zweiten Sekundärelevation zum Hauptgipfel sich mit dem
Pelottendruck verändert. Ich bemerke, daß dies sich genau gleich
auch bei tadellosen gewöhnlichen Sphygmogrammen verhält, wie
schon v. Frey (Die Untersuchung des Pulses, 1892, Springer)
hervorhob. Die Autoren geben den Grund dieser Erscheinung nicht
an. Mir scheint sie selbstverständlich und naturgesetzlich zu sein.
Denn natürlich kann der Pelottendruck, wenn er für den Hauptgipfel
optimal eingestellt ist, nicht auch zugleich für die Sekundärelevationen,
die einem geringeren arteriellen Druck entsprechen, optimal sein,
sondern jeder Sekundärelevation würde eigentlich ein besonderer
Optimaldruck entsprechen.!) Das scheint mir aber ein geringer
Nachteil zu sein, sowohl für das Volumbologramm als für das
Drucksphygmogramm. Denn die Höhendimensionen werden in beiden
Fällen wesentlich bloß für den Hauptgipfel zu klinischen Schluß-
folgerungen verwertet. Die Sekundärelevationen finden ja in
der neueren Auffassung der Pulskurve fast nur in betreff ihres
zeitlichen Auftretens und nicht in betreff ihrer Höhe klinische
Verwertung. Sie haben überhaupt einen großen Teil des Wertes,
den ihnen die ältere Sphygmographie, auf Grund falscher Deu-
tangen ihrer Entstehung, gegeben hatte, eingebüßt, seitdem
v.Frey und Krehl in überzeugenden Untersuchungen nachge-
wiesen haben, daß es sich dabei einfach um Reflexwellen handelt,
die von sehr vielen Zufälligkeiten abhängig sind. Diese Auffassung
ist einer der wesentlichsten Fortschritte der neueren Pulslehre.
Denn die v. Frey-Krehl’schen Uniersuchungen sind durch die
1) Auf die theoretisch-pragmatische Erklärung und den eigentlichen Begrifi
des Optimaldruckes, der außer von dem Maximaldruck auch von der Form des ab-
steigenden Kurvenschenkel, für den Hauptgipfel von der Pulsfrequenz und für
die Sekundärelevationen von dem zeitlichen Verhalten der letztern abhängig ist,
kann ich hier nicht eingehen. Die Theorie des Optimaldruckes wird in dem in
Druck befindlichen Neuauflage meines Lehrbuches der Untersuchungesmethoden
gegeben.
186 Sauti
Untersuchungen von O. Frank über den Arterienpuls (Zeitschr.
f. Biol., N. F., Bd. 28, 1905} welche die ältere Auffassung zum
Teil zu rehabilitieren suchen, durchaus nicht widerlegt.
7. Erfreulich ist es, daß auch Straub und Krötz, auf ganz
andere Wege und durch andere Argumente als ich selbst, zu dem
Resultat gekommen sind, daß die breiten Oberarmmanschetten
nach dem Typus Recklinghausen für die arterielle Druckmessung
nichts taugen. Nur hätten sie einen Schritt weiter gehen und
den Schluß ziehen sollen, daß die Oberarmmanschetten überhaupt,
auch wenn sie nicht gerade so breit sind wie die Recklinghausen-
sche, da sie alle die nämlichen prinzipiellen Fehler haben, nichts
taugen, und namentlich sollte sich daraus der Schluß ergeben, daß
eine Methode, welche prinzipiell fehlerhaft ist, auch praktisch nicht
brauchbar ist. Für die Praxis ist das Beste gerade gut genug.
Statt dessen machen die Autoren einen mir unverständlichen Kom-
promiß und stehen nicht an, trotz des schlechten Ergebnisses ihrer
eigenen experimentellen Prüfungen, nicht nur die Manschetten
überhaupt, sondern sogar die breiten Recklinghausen ’schen Man-
schetten den Praktikern für die Blutdruckmessungen fernerhin zu
empfehlen. Liegt da nicht etwas „Gefühlshämodynamik“ vor, gegen
welche die Autoren im Beginn ihres Aufsatzes mit Recht Front
machen? Sie motivieren ihren, an einem innern Widerspruch
leidenden, Standpunkt damit, daß es angeblich am Krankenbette
bloß auf die Gewinnung relativer Werte ankomme und daß
außerdem nur große Differenzen klinisch verwertet werden können.
Beide Argumente halten nicht Stand. Wenn man durch ein noch
dazu viel einfacheres und für den Arzt und Patienten angenehmeres
Verfahren, nämlich durch die von uns empfohlene Pelottenmethode
der Druckmessung richtigere Werte erhält, welche theoretisch den
absoluten Werten ganz nahe kommen, und praktisch ohne weiteres
als richtig betrachtet werden können, warum soll man dann nicht
die einfachere und richtige Methode einer fehlerhaften vorziehen?
Aber mehr noch: Die „relativen“ Werte der Recklinghausen-
und Riva-Roccimanschetten würden bloß dann praktisch brauchbar
sein, wenn die Fehler derselben immer gleiches Vorzeichen hätten
und einen ungefähr gleichen prozentischen Betrag des Gesamt-
wertes ausmachen würden. Wenn sich z. B. ergeben würde, daß
die Manschettenwerte immer, sagen wir 30°,, zu niedrig sind, so
könnte man ja eine entsprechende Korrektur anbringen und die
Methode wäre trotz ihrer bluß relativen Richtigkeit praktisch
brauchbar. Man würde dann, sozusagen, mit einem reduzierten
Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 187
Maßstab messen. So liegt aber die Sache durchaus nicht. Denn
je nach der Breite der Manschette (die von den Praktikern ge-
wöhnlich nicht einmal angegeben wird), und sogar bei der An-
wendung immer der gleichen Manschette kann der Fehler nicht
bloß numerisch, sondern besonders bei den schmälern Manschetten
auch in betreff des Vorzeichens von Fall zu Fall verschieden sein,
d.h. das eine Mal sind die Werte in unbekanntem Maße zu klein,
das andere Mal in unbekanntem Maße zu groß. Ich habe in zahl-
reichen Arbeiten gezeigt, daß neben der Breite der Manschetten
auch die Art der Applikation, die verschiedene Beschaffenheit der
Weichteile, der wechselnde Muskeltonus und evtl. unbewußte aktive
Muskelspannungen, ferner Reflexwirkungen des Manschettendrucksso-
wohl auf den Muskeltonus als auf die Vasomotoren und endlich die von
der Methode untrennbare venöse Stauung unberechenbare Fehler
hervorrufen können, die im Einzelfall je nach den besondern Be-
dingungen ganz verschieden sind und sogar verschiedenes Vorzeichen
haben können. Die Autoren sagen selbst (S. 241 ihres Aufsatzes), daß
„ein konstanter Korrektionsfaktor selbst für die einheitliche breite
Manschette nicht angegeben werden kann, weil der Fehler bei
jeder Messung eine andere Größe annehmen kann“. Eine solche
Methode, welche nicht bloß, wie die Autoren zugeben, in betreff der
numerischen. Größe der Fehler, sondern wie ich gezeigt habe, auch
in betreff des Vorzeichens der Fehler so unberechenbar ist, verdient
gerade auch praktisch kein Vertrauen. Sie erscheint mir auch zu
„vergleichenden“ Untersuchungen gänzlich untauglich, und ich
sehe denn auch täglich an Kranken, die von anderen Ärzten mit
Manschetten gemessen wurden, welch ein diagnostisches und thera-
peutisches Unheil aus dieser schlechten und unglückseligen Man-
schettenmethodik entsteht. Dabei ist die Methode oft (bei hohem
Druck) sehr unangenehm für die Kranken (ich habe dabei einmal
einen Anfall von Angina pectoris ausgelöst werden sehen) und viel
komplizierter und schwieriger als die Pelottenmethode, wenn sich
der Untersuchende wenigstens die Mühe geben will, die Manschette
auch nur einigermaßen korrekt anzulegen, wovon bei dem blinden
Vertrauen in die Methode und dem herrschenden gefühlsmäßigen
Betrieb der Hämodynamik gewöhnlich gar nicht die Rede ist.
8. Ganz besonderes Gewicht für die Bekämpfung der Volum-
bolometrie scheinen die Verfasser auf die Feststellung zu legen,
daß, wenn man bei verschiedenen Personen das Pulsvolumen einer-
seits mit der richtigen Pelottenbolometrie der Radialis, das andere
Mal mit der (nach den eigenen Angaben der Autoren unrichtigen!)
188 SAHLI
Manschettenbolometrie am Oberarm mißt, sich diese Personen nach
der Größe ihres Radialispulsvolumens anders ordnen als nach der
Größe ihres Brachialispulsvolumens, d. h., daß Personen, welche an
der Brachialis ein größeres Pulsvolumen haben als die andern, an
der Radialis das kleinere Pulsvolumen haben können als diese,
und umgekehrt.
Die Frage, ob diese Unterschiede nicht zum Teil einfach mit
den bekannten zeitlichen Schwankungen der Pulswerte zusammen-
hängen, muß hier unerörtert bleiben, da Zeitangaben und Kontroll-
versuche über zeitliche Veränderungen bei gleichbleibender Methode
fehlen. Jeder der sich mit Pulsuntersuchungen ausgiebiger be-
faßt hat, weiß, daß oft schon innerhalb kurzer Zeit selbst ohne
äußerlich erkennbare Ursache, der Puls, zum Teil wohl unter dem
Einfluß psychischer Momente, seine Beschaffenheit stark verändern
kann.
Doch nehmen wir an, daß solche zeitliche Schwankungen in
den Untersuchungen der Autoren keine Rolle gespielt haben. Dann
wären allerdings die angeführten Befunde sehr paradox — falls
beide Methoden richtig wären! Aber offenbar liegt die einfache
Erklärung des scheinbaren Paradoxons darin, daß die Manschetten-
bolometrie eben, wie ich wiederholt betonte, eine gänzlich unbrauch-
bare Methode ist, deren Resultate infolge der von den Verfassern
selbst nachgewiesenen schlechten Übertragungsverhältnisse allen
möglichen Zufälligkeiten unterworfen sind und in keinem konstanten
Verhältnis zu der Größe des wirklichen Pulsvolumens in der Afterie
stehen. Die Übertragungsbedingungen des Pulses bei einer solchen
„Manschettenbolometrie“ sind von Messung zu Messung durchaus
unkonstant. Aus diesem Grund habe ich diese „Manschettenbolo-
metrie“ in allen meinen neueren Arbeiten speziell gegen Christen
und Hediger, auf das bestimmteste abgelehnt. Alle jene Fehler,
welche ich und zum Teil auch Straub und Krötz für die Man-
schettendruckmessungen nachgewiesen haben, machen sich natür-
lich für die „Manschettenbolometrie* in mindestens gleichem, ja
noch höherem Maße geltend, auch wenn man immer die nämliche
Manschette verwendet. Die Verschiedenheiten der Applikation
der Manschette, die Verschiedenheiten der Weichteilwirkungen
überhaupt und speziell die Pulsverluste durch das Nachgeben der
oben und unten die Manschette seitlich begrenzenden Weichteile,
die verschiedenen Grade der venösen Stauung, die wechselnden
Reflexwirkungen der schnürenden Manschette auf den Muskeltonus
und die Vasomotoren, unbewußte aktive Kontraktionen der Muskeln
Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsuntersuchung. 189
bedingen für die Manschettenbolometrie schwere und unberechen-
bare Fehler. Die Eichung der Manschettenwerte, welche die
Autoren vornahmen, schützt natürlich nicht gegen diese Fehler.
Sie kann zwar den von der Dicke des Arms, der Festigkeit der
Manschettenapplikation und der Höhe des Füllungsdruckes ab-
bängigen Einfluß der Größe des Manschettenluftraumes eliminieren,
aber niemals die unberechenbaren Verschiedenheiten der Voll-
ständigkeit der Übertragung des Pulses selbst von der Arterie
auf die Weichteile, und von da auf den Luftraum der Manschette.
Diese Vollständigkeit der Übertragung wechselt unter dem Ein-
fluß der angeführten Faktoren in unübersehbarer Weise von Fall
zu Fall. Man stelle sich bloß einmal vor, was es für die Größe
der gefundenen dynamischen Werte für einen Unterschied ausmacht,
ob der Puls durch dünne oder dicke, starre oder nachgiebige
Weichteile und Muskelschichten hindurch sich auf die Manschetten-
luft überträgt, und ob infolge der verschiedenen Dicke der Arm-
weichteile und der verschieden festen Applikation ein größerer
oder kleinerer Anteil des der Grundfläche der Manschette ent-
sprechenden Pulsbetrages an den oberen und unteren Seitenrändern
der Manschette durch das Nachgeben der Weichteile sich nach
außen verliert ohne auf die Manschettenluft zu wirken, ganz ab-
gesehen von den wechselnden Einflüssen der venösen Stauung und
reflektorischer Beeinflussungen. Unter solchen unkonstanten und
ungünstigen Übertragungsverhältnissen mag man lange für die
Isotonie im pneumatischen System sorgen und gestützt auf
diese Isotonie die Luftpulse eichen. Trotzdem sind die noch so
korrekt gemessenen Luftpulse weit davon entfernt, ein korrektes
Maß des wirklichen Pulsvolumens darzustellen. Denn abgesehen von
den anderen erwähnten Fehlern spricht alles dagegen, daß bei
dieser Methode in den Arterien und den Weichteilen
selbst die Isotonie, welche die Bedingung der richtigen Messung
des Pulsvolumens ist, gewahrt bleibt, während dies bei der Pelotten-
übertragung in großer Annäherung angenommen werden kann.
Durch die eigenen Versuche der Autoren, in welchen sie nach-
wiesen, daß je nach dem Manschettendruck eine verschiedene Ver-
spätung des Hauptgipfels eintrat, ist eine solche isotonische d. h.
korrekte Übertragung des Pulses auf die Manschettenluft ausge-
schlossen. Diese groben und fundamentalen Fehler werden durch
die „Eichung“ der Luftpulse natürlich keinesweg eliminiert. Man
mag die Luftpulse eichen, so genau man will, sie entsprechen eben
in ihrer Größe nicht den Arterienpulsen. Die erwähnten para-
190 Sanur, Weitere Beiträge zur Kritik der Pulsunfersuchung.
doxen Resultate der Verfasser, daß sich die Patienten nach der
Größe ihres Pulsvolumens anders ordneten wenn man es an der
Brachialis maß, als wenn die Bestimmung desselben an der Radialis
vorgenommen wurde, haben also in der Tat „periphere Genese“, wie
die Autoren sich ausdrückten, aber nicht im Sinn ihrer wenig klaren
hämodynamischen Vorstellungen, sondern bloß als Folge der Fehler-
haftigkeit der „Manschettenbolometrie“. Sie beruhen auf Instrumental-
fehlern der „Manschettenbolometrie,“ die allerdings sehr „peripher“
sind. Es gibt keinen einwandfreieren Beweis für die Unbrauchbarkeit
der Manschettenbolometrie als gerade die Versuche von H. Straub
und Ch. Krötz. Statt dessen haben diese Autoren ganz unbe-
rechtigterweise diese unbrauchbare Methode „ernst genommen“,
bzw. als maßgebend betrachtet. Wenn ich seinerzeit gegenüber
Brösamlen darauf hingewiesen habe, daß man an der Subklavia
nicht volumbolometrieren kann, so gilt dies natürlich aus den an-
geführten Gründen auch von der Brachialis.. Trotzdem fängt man
jetzt mit solchen alten Fehlern wieder an und zwar merkwürdiger-
weise zu dem Zweck, mit so fehlerhafter Methode die eigentliche
Volumbolometrie mittels der Radialispelotte, deren Vorzüge in be-
treff der Richtigkeit der Übertragung der Pulse auf den Luftraum die
Verfasser selbst hervorgehoben haben, zu kritisieren. Man kann
doch nicht eine bessere Methode mit einer notorisch schlechten
kontrollieren. Haben denn die Autoren hier vergessen, was sie in
einem früheren Teil ihrer Arbeit zu ungunsten der Manschetten-
übertragung des Pulses gesagt haben?
9. Zusammenfassend komme ich also zu dem Resultat, daß das
Gebäude der Volumbolometrie in ihrer richtigen, von mir ange-
gebenen Form als Radialisbolometrie durch die Straub Krötz’sche
Kritik in keiner Weise erschüttert ist und daß die Volumbolometrie,
wie ich in so zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen habe,
eventuell unter Herbeiziehung der Arteriometrie, ein klinisch durch-
aus brauchbares und seit Jahren praktisch bewährtes Maß des
Auswurfvolumens des Herzens gibt und daß erst durch diese Methode
die „Gefühlshämodynamik* überwunden wurde, vor welcher meine
Gegner selbst mit Recht warnen, und zu der ich auch die Be-
hauptung meiner Gegner rechne, „die Volumbolometrie sei eine
unzulängliche Druckmessung“.
191
Aus der Medizinischen Universitätsklinik Königsberg in Pr.
(Direktor: Geh. Med.-Rat Prof. M. Matthes.)
Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose.
Von
Dr. Rudolf Schaefer,
Assistent der Klinik.
Seitdem im Jahre 1922 das Krankheitsbild der „Agranulocy-
tose“ von W. Schulz umrissen wurde, sind in der deutschen und
in der ausländischen Literatur unter dem Namen Agranulocytose
eine ganze Anzahl Krankheitsfälle beschrieben worden, die in ihrem
Symptomenkomplex teilweise mit den Fällen von W. Schulz über-
einstimmen, teilweise mehr oder weniger große Ähnlichkeit mit
ihnen zeigen. An verschiedenen Stellen, und gerade noch in
neuester Zeit hat sich W. Schulz mit den Autoren auseinander-
gesetzt und einen Teil der beschriebenen Fälle als echte Agranulo-
cytosen anerkannt, andere abgelehnt. Da W. Schulz die Frage,
ob das von ihm umgrenzte Krankheitsbild eine ätiologische Einheit
darstellt, offenläßt, und in erster Linie das Charakteristische des
Symptomenkomplexes betont, so soll auch im folgenden seine ätio-
logisch unverbindliche Nomenklatur insofern beibehalten werden,
als nur das mit dem Namen Agranulocytose bezeichnet werden
wird, was mit den erstbeschriebenen Fällen in guter Überein-
stimmung steht. Die wichtigsten Merkmale der echten Agranulo-
cytose sind: gangräneszierende Prozesse in der Mundrachenhöhble,
im Intestinaltraktus oder in der Vagina, hohes Fieber, Ikterus,
hochgradige Verminderung der Gesamtleukocytenzahl, wobei die
Neutrophilen und Eosinophilen bis auf Null herabgesetzt sein
können, nur geringfügige Veränderungen des roten Blutbildes,
keine allgemeine hämorrhagische Diathese und tödlicher Ausgang
der schnell verlaufenden Erkrankung.
Die hier zu beschreibenden Fälle genügen zum Teil diesen
Forderungen restlos. Zum Teil jedoch sind sie keine echten Agra-
192 SCHAEFER
nulocytosen im Sinne von W.Schulz und sollen auch keineswegs
durch die Veröffentlichung unter obigem Titel als solche rubriziert
werden, sondern der Gedanke, sie mitzuteilen, entspringt dem
Wunsche, differentialdiagnostische Fragen an dem vorliegenden
Material zu ventilieren.
Die beiden ersten Fälle sind echte Agranulocytosen:
Fall 1. Ida L., Ehefrau 50 Jahre.
Vorgeschichte: Früher immer gesund. Vor etwa 4 Wochen
erkrankte Pat. fieberhaft. Die Temperatur schwankte stark. Einige
Tage später traten Halsschmerzen auf. Nach Mitteilung des behandelnden
Arztes handelte es sich damals um eine nekrotische Angina. Diese heilte
ab. Dann trat im Rücken ein fleckiger Ausschlag auf, der nach einigen
Tagen verschwand. Unter dauernd remittierendem Fieber bildete sich
schließlich ein belegtes Geschwür auf dem Zungenrücken aus.
Befund: Am 23. IV. 24 erfolgte die erste Untersuchung durch
einen Arzt der Klinik: Hochfiebernde subikterische Pat. Am rechten
Mundwinkel eine etwa bohnengroße braunrote Verfärbung der Haut. Auf
dem Zungenrücken ein sehr schmerzhaftes, bräunlich belegtes Geschwür.
Herz und Lungen bieten regelrechten Befund. Die Gallenblase ist tast-
bar und sehr druckempfindlich. Der Leberrand ist glatt und überragt
den Rippenbogen, besonders seitwärts, sebr deutlich. Der Puls ist
frequent und mittelkräftig. Die Tonsillen sind frei. Keine Drüsen-
.schwellungen. Milz nicht vergrößert. Der Blutausstrich zeigt bei
flüchtiger Durchsicht außerordentlich wenig weiße Blutzellen, und zwar
ausschließlich Lymphocyten. — Überführung in die Klinik.
Am 25. IV. Aufnahme in die Klinik. Der Befund hat sich nicht
erheblich geändert. Blutbild: Hb 61 °/,, Erythroc. 4 100 000, Leukoc. 1350,
Poly. 3°/,, kleine Lymphoc. 93 °/,, große Lymphoc. 4°/,. Blutplättchen:
150000. — Urin: Eiweiß positiv, Zucker negativ, Urobilinogen stark
positiv, Urobilin positiv, Diazo. negativ. Sediment: reichlich granulierte
Zylinder. — Blutkultur: steril. — Widal: 1:0. —
Verlauf: Im Laufe der nächsten 2 Tage änderte sich der Befund
nur unwesentlich. Die Temperatur schwankte zwischen 38° und 40°,
Am 28. IV. unter den Zeichen zunehmender Herzschwäche Exitus letalis.
Pathologisch-anatomische Diagnose: Adipositas. — Zwei
eingetrocknete Blutblasen am Kinn. — Starke Füllung der Gallenblase. —
Epikardiale Blutungen, — Rotfärbung der cervikalen Lymphdrüsen. —
Hypostasen des linken Unterlappens.. Anämie und Blähung der übrigen
Lungenteile.. — Hämorrhagien in der Gegend der Zungenspitze. Zwei
Nekroseherde an der Epiglottis. — Trübe Schwellung der Nieren. —
Glatte Atrophie der Scheidenschleimhaut. — Trübe Schwellung der Leber.
Aus dem Sektionsbefund sınd noch folgende Einzelheiten erwähnens-
wert: Die Haut ist gelblich. Am Kinn sieht man 2 kirschkerngroße
Bläschen, deren Inhalt zu einem Brei eingetrocknet ist. — Am Kehl-
deckel sieht man 2 scharfbegrenzte grauweiße 2:3 mm messende Ver-
färbungen, deren Oberfläche gekörnt ist. Die (aumenmandeln sind nur
kirschkerngroß und haben eine zerklüftetete grauweiße Oberfläche. Der
Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 193
Zungengrund weist in der Schleimhaut zahlreiche bis pfefferkorngroße
grauweiße unscharf begrenzte Herde auf. An der Zungenspitze sieht
man 2 streifenförmige scharfbegrenzte, 2 cm lange, parallel verlaufende,
blaurote Verfärbungen. — Die Milz hat eine zarte grauweiße Kapsel.
Das Organ fühlt sich fest an.
Mikroskopischer Befund: (Dr. Mueller.)
Knochenmark: Im Ausstrich keinerlei polymorphkernige Zellen,
keine Granulocyten. — Leber: In ganz unregelmäßiger Anordnung
finden sich herdförmige Nekrosen, die ohne scharfe Grenzen sind. Inner-
halb der Nekroseherde sind die Leberzellgrenzen deutlich sichtbar, die
Kerne dagegen schwach oder gar nicht gefärbt. Man sieht keine Zell-
infiltrate wie sie dem Bilde der Leukämie zukommen, und keine Poly-
morpbkernigen, keine Granulocyten. — Milz: Es besteht eine deutliche
Atrophie der Lymphfollikel. Die Milzsinus sind prall gefüllt. In ihnen
sind keinerlei granulierte Zellen nachweisbar. Überall liegt reichlich
scholliges und körniges Pigment, das die Eisenreaktion gibt. Granulo-
cyten und Polymorphkernige fehlen vollkommen. — Lunge: In den
hypostatischen Herden des linken Unterlappens sind kaum Leukocyten,
insbesondere keine Granulocyten zu finden. — Schleimhautnekrosen
der Epiglottis: Das Epithel und die Submukosa fehlen. Der Knorpel
ist bedeckt mit einer körnigen Masse, die aus nekrotischem Zellmaterial
und reichlich Bakterien besteht. Zellige Infiltrate fehlen, nur vereinzelt
liegen Iymphocytenäbnliche Zellen am Rande des Nekroseherdes.
Fall 2. Therese B., Ehefrau. 46 Jahre.
Vorgeschichte: Pat. ist, abgesehen von einigen Kinderkrank-
heiten, immer gesund gewesen. Zum ersten Male im Jahre 1914 traten
Gallensteinkoliken auf mit folgender Gelbsucht. Derartige Anfälle wieder-
holten sich oft, zum letzten Male etwa 2 Monate vor der Klinikaufnahme.
Die jetzige Erkrankung begann vor 12 Tagen mit starken Kopfschmerzen,
Atemnot, Fieber, Halsschmerzen und Schluckbeschwerden.
Befund: bei der Aufnahme am 29. Juli 24: Mittelgroße Pat. in
gutem Ernährungszustand. — Fettpolster sebr reichlich. — Haut und
Skleren von normaler Beschaffenheit und Farbe. — In der rechten
Schenkelbeuge eine kleine reizlose Drüse. Am Hals sehr schmerzhafte,
aber nicht vergrößerte Drüsen. — Die Zunge ist dick weißlich belegt,
besonders die Tonsillen. Die Rachenschleimbaut ist stark entzündlich
gerötet. — Herz, Lungen und Leib: ordnungsmäßiger Befund. — Leber
und Milz nicht zu fühlen. — Urin: Reaktion sauer, Eiweiß: Spur, Uro-
bilinogen: neg., Zucker: neg., Aceton: pos., Acetessigsäure: pos., Indikan:
neg., Diaz: neg., im Sediment: vereinzelt Erythroc., etwas vermehrte
Leukoc. und Epith. — Wassermann’sche Reaktion im Blut: neg. — Widal:
1:200 schwach pos. — Blutbild: Hb 75 %,. Erythroc. 4270000, Leukoc.
3850, Lymphoc. 99,5 °/,, Monoc. 0,5 %/,. — Temperatur: 39,2. Verlauf:
l. August. Temperatur 39,4, starke Atembeschwerden, die Sprache ist
erschwert, Pat. ist unruhig und leicht benommen. Blutbild: Hb 75°),
FErythroc. 4330000, Leukoc. 1900, Lymphoc. 99°/,, Monoc. 1°%
2. August: starker Fieberanstig, nachts deliröse Zustände. Am Tage
ist Pat. klar. Leukoc. 2100. Der Rachenabstrich ergab Streptokokken
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 150. Bd. 13
194 SCHAEFER
und Staphylokokken positiv, keine Pneumokokken. — 3. August: sub-
ikterische Verfärbung der Haut und der Skleren. Benommenheit. Tem-
peratur: 40,6. — 4. August: Exitus unter den Zeichen der Herzschwäche.
Pathologisch-anatomische Diagnose: Leichter Ikterus. —
Adipositas. — Bronchopneumonische Herde in beiden Lungenunterlappen. —
Beläge auf der Rachenschleimhaut. — Infektiöse Hyperplasie der Milz. —
Multiple frische anämische Nekrosen in der Milz. — Beginnende Granular-
atrophie beider Nieren mit Vermehrung des Hilusfettgewebes. — Trübe
Schwellung der Nieren und der Leber. — Hämorrhagischer Infarkt der
Leber. — Cholesterinkalksteine in der Gallenblase. — Pericholecystitis
fibrinosa.
Aus dem Sektionsbefund sind noch folgende Einzelheiten erwähnens-
wert: die Milz wiegt 140 g. Sie ist von kegelförmigen, mit der Basis
der Milzoberfläche aufsitzenden blauroten Herden durchsetzt. Die Milz-
knötchen sind gut zu erkennen. — Die Leber wiegt 1380 g. Auf der
dem Ziwerchfell anliegenden Seite befindet sich ungefähr in der Mitte ein
blauroter Fleck von etwa 1 cm Durchmesser. Die Läppchenzeichnung
ist undeutlich.
Mikroskopischer Befund: (Dr. Mueller.)
Leber. Die Zellgrenzen der Leberzellen sind deutlich zu erkennen.
Die Kerne haben sich dagegen schlecht gefärbt. Im Protoplasma der
Leberzellen finden sich diffuse, feintröpfige Fettinfiltrationen. Um-
schriebene Nekroseherde fehlen. Etwas vermehrtes Gallepigmet. Die
Kapillaren sind prall gefüllt. In ihrem Lumen finden sich auffallend
wenig Leukocyten, insbesondere keine Granulocyten. Zellinfiltrate fehlen,
und zwar auch am Rande des hämorrhagischen Infarktee. — Milz.
Keine Follikelatrophie. Es finden sich scharf begrenzte keilförmige
Nekroseherde, an deren Rand keine wesentliche Zellvermehrung festzu-
stellen ist. — Lunge. In den bronchopneumonischen Herden sind die
Alveolen angefüllt mit reichlich abgeschilferten Alveolarepithelien und
roten Blutkörperchen. Auch bei Fibrinfärbung sind Fibrinfäden nicht
sichtbar. Zellige Infiltrate fehlen. — Knochenmark: konnte aus
äußeren Gründen nicht untersucht werden.
Diese beiden Fälle sind so typisch, daß über ihre Einordnung
kein Zweifel besteht. Erwähnenswert erscheint nur das Verhalten
des Ikterus. Während bei Fall 1 die Verfärbung der Haut schon
stark ausgeprägt war, als die Aufnahme in die Klinik erfolgte,
trat bei Fall 2 erst am Tage vor dem Exitus ein leichter Ikterus
auf. Parallel dazu ergibt die mikroskopische Untersuchung der
Leber im Fall 1 das Bestehen zahlreicher Herdnekrosen, während
im Fall 2 nur mäßige Verfettung, sonst aber keine umschriebenen
Veränderungen im histologischen Bilde der Leber feststellbar sind.
Im Zusammenhang mit dieser Beobachtung interessiert ein Ver-
gleich der Vorgeschichten, aus denen hervorgeht, daß die Krank-
heitsdauer im Fall 1 vier Wochen, im Fall 2 dagegen nur zwei
Wochen betrug. Der Ikterus und die mikroskopisch feststellbare
Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 195
Leberschädigung scheinen also erst nach einer gewissen Dauer der
Erkrankung in die Erscheinung zu treten. Es soll damit jedoch
keineswegs eine Entscheidung gefällt werden über die Frage, ob
die Leberschädigung bei der Agranulocytose ein primärer oder ein
sekundärer Vorgang ist.
Der folgende Fall scheint fast für das erstere zu sprechen
und beleuchtet überhaupt die hier vermuteten Beziehungen zwischen
dem Ikterus, den histologischen Leberveränderungen und der
Schnelligkeit des Krankheitsverlaufes in bemerkenswerter Weise.
Es handelt sich hier um einen Patienten, der in der hiesigen Klinik
lange vor dem Auftreten agranulocytotischer Erscheinungen wegen
einer subakuten, schubweise verlaufenden Leberatrophie in Be-
handlung war, und von dem ausführliche, mikroskopische Befunde
der Organe vorliegen. Die wesentlichen Daten aus der Kranken-
geschichte folgen hier:
Fall 3. Walter H., Apotheker 48 Jahre.
Vorgeschichte: In früheren Jahren immer gesund gewesen, nur
litt er bäufiger an Bronchialasthma. Er hat immer viel Alkohol ge-
trunken und leidet stets unter großem Durst. — Das jetzige Leiden be-
gann 5 Tage vor der Einlieferung in die Klinik mit hohem Fieber und
heftigen Schmerzen im Oberbauch. Kein Erbrechen. Von Anfang an
leichte Gelbsucht. Der Urin war nicht besonders dunkel, und der Stuhl
braun. Es besteht kein Durchfall. _
Befund: Kleiner, etwas blasser, leicht septisch und ikterisch aus-
sehender Mann. Keine Odeme, keine Exantheme, keine vergrößerten
Drüsen. — Skleren etwas gelblich. — Zunge belegt. — Thorax: etwas
emphysematös. — Das rechte Zwerchfell steht etwas höher als das linke.
Die Grenzen verschieben sich mäßig. — Herz: ordnungsmäßiger Befund.
— Blutdruck: Riva-Rocci 150/90. — Abdomen: im ganzen etwas auf-
getrieben. Druckempfiodlichkeit in der Mittellinie und zu beiden Seiten
im Oberbauch. Die Leber ist hart, etwas höckerig, druckempfindlich
und überragt den Rippenbogen um Handbreite Milz nicht fühlbar,
perkutorisch vergrößert. — Urin: Reaktion sauer, Eiweiß positiv, Zucker
positiv, Urobilinogen positiv, Urobilin Spur, Aceton positiv, Acetessig-
säure negativ. Im Sediment vereinzelt hyaline Zylinder, einige granulierte
Zylinder, ganz vereinzelt Wachszylinder, kleine runde Epithelien, etwas
vermehrte Erythrocyten, vereinzelt Leukocyten. Blutbild: Hb 75°/,,
Erythroc. 4030000, Leukoc. 10100, Poly. 64°/,, Stabk. 15,5 0%,
Lymphoc. 20,5 °/,, geringe Polychromasie. — Blutkultur: steril. —
Widal: Typhus 1:0. — Wassermann’sche Reaktion im Blut negativ. —
Blutzucker: (nüchtern) 265 mg °/,. — Durchleuchtung: Lungen und Herz
ordnungsmäßiger Befund. Leber und Milz vergrößert.
Verlauf: Während bei der Aufnahme die Körpertemperatur bei
etwa 39 Grad lag, fiel sie in den nächsten Tagen fast bis zur Norm
herab, um dann nach etwa 2 Wochen abermals für einen Tag so hoch
zu steigen und nach weiteren 2 Wochen zum zweitenmal diesen Wert
13*
196 SCHAEFER
zu erreichen. Dann fiel sie unter leichten Schwankungen zur Norm ab.
Die Zuckerwerte im Urin lagen bei der Aufnahme etwa bei 2,5 °),.
Unter Insulin und Diät wurde Pat. im Laufe der nächsten Wochen
zuckerfrei. Das Blutbild zeigte bei mehrfachen Untersuchungen einen
zunehmenden Anstieg der Lymphocyten. Die Werte, sieben Wochen
nach der Aufnahme waren folgende: Hb 70°/,, Erythroc. 4360000,
Leukoc. 6700, Poly. 42,5, Stabk. 2,5, Lymphoc. 47,5 °/,, Eosinoph. 6 %/,,
Mastz. 1°/, und Monoc. 0,5 °/,. — Die Schmerzhaftigkeit in der Leber-
gegend hatte während des Klinikaufenthaltes langsam abgenommen, je-
doch war die Leber bei der Entlassung am 8. VII. 25 noch erheblich
vergrößert und höckerig. Der Urinbefund war bis auf einen Hauch Ei-
weiß normal.
Klinische Diagnose: Diabetes mellitus. — Atrophia hepatis
subacuta.
.„. Am 15. VIII. 25 kam Pat. zur Wiederaufnahme in die Klinik.
Über die Zwischenzeit wurde folgende Auskunft gegeben:
Bald nach Verlassen der Klinik war Fieber eingetreten, das einige
Tage anhielt und nach Einnahme von Salicyl zurückging. Dann bestand
mehrere Wochen völliges Wohlbefinden. Zehn Tage vor der jetzigen
Wiederaufnahme traten plötzlich Halsschmerzen, Schluckbeschwerden und
langsam ansteigendes Fieber auf. Pat. fühlte sich sehr elend und matt.
Befund: 15. VIII. 25. Sehr elendes Aussehen. Gesicht dabei
aber hochrot. — Leichter Ikterus. — Zunge belegt. — Sehr ausgedehnter
Soor im ganzen Munde und Rachen. — Die Tonsillen sind gerötet, aber
ohne Ulcera und ohne Beläge. Im linken Sinus pyriformis ein linsen-
großes, schmierig belegtes, ziemlich tiefes Ulcus. — Herz und Lunge
ordnungsmäßiger Befund. — Die Leber ist wie bei der Entlassung. —
Die Milz ist nicht zu fühlen, jedoch perkutorisch vergrößert. — Urin:
sauer. Eiweiß: pos. Zucker: 0,2 °. — Aceton: pos. Acetessigsäure: neg.
Urobilinogen: fraglich. Im Sediment: Leukocyten, Epith. und ganz ver-
einzelt granulierte Zylinder. — Blutbild: Hb 80 °/,, Erythroc. 4540000,
Leukoc. 2200, Lymphoc. 85 °/,, Eosinoph. 12 °/,. Mastz. 3°/.. — Tem-
peratur 39,5.
Verlauf: In den nächsten Tagen wurde der Zustand des Pat.
dauernd schlechter. Sowohl eine Neosalvarsaninjektion als auch eine
Trypaflavininjektion blieben ohne jeden Erfolg. Der Soor wurde durch vor-
sichtige Sublimatwaschung größtenteils beseitigt. Temperatur schwankend
zwischen 39,0 und 40,2. Am 19. VIII. trat der Exitus letalis ein unter
den Zeichen der Herzschwäche.
Pathologisch-anatomische Diagnose: Hypepikardiale
punkt- und flächenförmige Blutungen. — Bronchopneumonische Herde
verschiedener Stadien und Odeme in den Lungenunterlappen. — Parenchy-
matöse Degeneration beider Nieren. — Hypertrophische Form der Leber-
cirrhose. — Zahlreiche Geschwüre am weichen Gaumen, auf dem Zungen-
grund, der Epiglottis und auf den Liramenta aryepiglottica. — Soor.
Aus dem Sektionsbefund sind folgende Einzelheiten erwähnenswert:
Die Hautfarbe ist grüngelb. -— Die Leber ragt über den Rippenbogen
vor, ist stark vergrößert, sehr hart, von rötlichgrauer Farbe und gekörnt. —
Die dunkelrote Milz ist vergrößert und weich. Sie wiegt 300 g. — In
Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 197
der Mundhöhle finden sich zahlreiche verstreut liegende hirsekorngroße
Geschwüre von gelblichgrüner Verfärbung mit erhabenem Rande. Und
zwar liegen sie besonders zahlreich am Zungenrgrunde, auf dem Kehl-
deckel und auf den Bändern des Kehlkopfes.
Mikroskopische Untersuchung durch Prof. Lepehne.
„Knochenmark. Im mikroskopischen Bilde zeigt sich außer-
gewöhnlich viel Fettgewebe, während das eigentliche Mark nur in dünnen
Zügen vorhanden ist. An diesen Stellen findet sich eine auffallende
Hyperämie und eine Erweiterung der Kapillaren. In der Wand der
Kapilleren und ebenso mitten im Knochenmarksgewebe liegen sehr
reichlich große Zellen mit rundlichen Kernen, die mit einem gelbbraunen,
teils körnigen, teils scholligen Pigment erfüllt sind. Dieses Pigment in
den genannten Zellen hat mitunter die Form kreisrunder Scheibchen,
etwa von der Größe eines roten Blutkörperchens und färbt sich bei An-
stellung der Eisenreaktion blau. Es handelt sich also um Hämosiderin.
Dieser Befund spricht dafür, daß zahlreiche rote Blutkörperchen, sei es
intracellulär, sei es intrakapillär, zugrunde gegangen sind, und ihr Pig-
ment in den Endothelzellen aufgespeichert ist. Eine Vermehrung von
Zellen mit spindelförmigen oder ovalen Kernen (Endothelien) läßt sich
nicht konstatieren. Dagegen sieht man einzelne Endothelien mit stark
vergrößertem Kern und vergrößertem Zelleib. Hier und da glaubt man
Zellen zu erkennen, die unverdaute Erythrocyten phagocytiert haben.
Was die Zellen des eigentlichen Knochenmarkgewebes anbetrifft, so
herrschen große Zellen mit großen runden Kernen bei weitem vor. Bei
Betrachtung mit Ölimmersion läßt sich eine Granulierung des Proto-
plasmas dieser Zellen nicht erkennen. Das Protoplasma der genannten
Zellen hat sich bei der Pappenheimfärbung etwas dunkler blau gefärbt
als der Kern. Kernkörperchen, wie sie bei Myeloblasten so ausgeprägt
vorhanden sind, lassen sich an dünnen Stellen des Schnittes wenn auch
nur vereinzelt mit Sicherheit feststellen. Neben diesen großen runden
Zellen finden sich sehr wenige Riesenzellen und eine Reihe kleiner
Zellen mit runden Kernen, die etwa kleinen Lymphocyten entsprechen
könnten. Gelapptkernige granulierte Zellen und granulierte Myelo-
<yten sind überhaupt nicht anzutreffen. An den Erythrocyten sind
Veränderungen, wie z. B. Zertrümmerungen nicht zu erkennen. —
Milz. Der Bau der Milz ist im großen ganzen erhalten, insbesondere
an den Lymphfollikeln ist kein pathologischer Befund zu erheben. Auf-
fallend ist eine außerordentlich starke Hyperämie der Milzsinus. Ferner
sieht man teils in Retikuloendothelien, teils scheinbar innerhalb von
Pulpazellen reichlich körniges und scholliges braunes Eisenpigment, fast
noch mehr als im Knochenmark. Am auffallendsten ist es, daß inner-
halb der Sinus sich sehr zahlreiche, besonders große, meist rundliche
Zellen finden mit einem runden, helleren Kern und tief dunkelblauem
ungranuliertem Protoplasma, ganz ähnlich denen, wie sie oben im
Knochenmark gefunden und beschrieben wurden. Bei der Betrachtung
mit ÖOlimmersion erkennt man in einigen dieser Zellen deutlich Kern-
körperchen, und zwar liegen meist zwei in einem Kern. Die genannten
Zellen heben sich von den der Umgebung liegenden Milzzellen durch
ihre dunkelblaue Färbung deutlich ab. (Angewandt wurde die panoptische
198 SCHABFER
Färbung nach Pappenheim; May-Grünwald-Giesma, differenziert in Essig-
säure.) Auch in der Milz fehlen die neutrophilen Polynukleären und die
Myelocyten vollständig, nur vereinzelt sind eosinophile Zellen nachweisbar,
deren Kerne kaum Lappung zeigen. — Leber. Das Parenchym der
Leber zeigt nicht mehr den typischen Acinusbau, wie er einer normalen
Leber zukommt. Nur noch an wenigen Stellen glaubt man Reste radiärer
Acinuszeichnung zu erkennen. Zumeist sieht man kleinere und größere
von Bindegewebszügen umgebene Inseln von Lebergewebe, deren Leber-
zellbalken vollständig unregelmäßig durcheinander laufen und am Rande
zum Bindegewebe hin, hier und da ringförmig angeordnete, abgeplattete
Zellbalken zeigen. Anscheinend handelt es sich bei diesen Inseln von
Lebergewebe größtenteils um neugebildetes Parenchym und wohl nur
stellenweise um Reste alter Acini. Im Gegensatz zu vorgeschrittenen
Cirrhosen ist das zwischenliegende Bindegewebe locker, außerordentlich
zellreich und durchzieht die Leber in breiten Bändern. In diesem Binde-
gewebe liegen zahlreiche neugebildete Gallengänge und mäßig reichlich
blutgefüllte Kapillaren. Bei genauerer Untersuchung des Bindegewebes
erkennt man in ibm neben den epindelförmigen Bindegewebszellen eine
Infiltration mit rundkernigen Zellen, anscheinend kleinen Lymphocyten,
neben denen aber auch noch Zellen mit größeren blasigen Kernen zu
finden sind. Diese letzteren stimmen nicht mit den in Milz und Knochen-
mark beschriebenen großen, großkernigen Zellen überein, sondern es
könnten fixe Bindegewebszellen oder auch untergehende Leberzellen sein.
Jedenfalls sieht man auch hier keinerlei granulierte, polymorphkernige
Zellen, auch nicht an stark infiltrierten Stellen. Die Blutkapillaren
innerhalb der Leberzellinseln zeigen nur eine geringe Blatfüllung. Auch
in diesen Kapillaren sieht man keine granulierten Zellen. Die Kupfer-
schen Sternzellen enthalten hier und da etwas braunes Pigment. In den
Leberzellen, deren Kerne gut gefärbt sind, sieht man an wenigen Stellen
ein teils feinkörniges, teils grobkörniges gelbbraunes Pigment. Hier und
da erkennt man die Gallenkapillaren und zwar ungefüllt. Bei der Sudan-
fettfärbung sieht man nur an wenigen Stellen Fett in den Leberzellen
auftreten, und zwar befindet sich das Fett in der Regel in den Rand-
partien der Leberzellinseln, teils in Form von größeren Tropfen, teils in
Form von feineren Granula.
Es handelt sich also bei diesem Leberbefund um ein Bild,
wie man es bei der sog. subchronischen Leberatrophie findet. Es
spricht dafür, in Übereinstimmung mit dem klinischen Befund, daß
der Patient einen akuten Schub von Leberdegeneration früher durch-
gemacht hat, an den sich regenerative Bindegewebsbildung und
Leberzellneubildung angeschlossen hat. Bemerkenswerterweise ist
an den Leberschnitten irgendein Einfluß der späteren tödlichen
Agranulocytose, sei es auf die Leberzellen selbst, sei es auf die Stern-
zellen oder auf die in den Bindegewebszügen liegenden Zellen nicht
feststellbar. Es muß besonders betont werden, daß sich im Gegen-
satz zur chronischen sowie akuten Leukämie keinerlei leukämieartige
Infiltrate vorfinden. Die oben beschriebenen Rundzelleninfiltrate des
Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 199
Bindegewebes sind ein sowohl bei subakuten, bzw. subchronischen
Leberatrophien, als auch bei Lebercirrhosen üblicher Befund.“
Die hier beschriebene, sichere Lebererkrankung bei einem
Patienten, der später an Agranulocytose zugrunde ging, lenkte
die Aufmerksamkeit auf diejenigen Fälle aus der Literatur, die
auch Leberschädigungen oder ähnliches zeigten. Daß der Ikterus
von W. Schulz als pathognomonisch angesehen wird, ist schon
erwähnt. Die Intensität der Hautfärbung aber schwankt bei den
publizierten Fällen erheblich, ebenso wie der Zeitpunkt des Auf-
tretens ein wechselnder ist. Die Verhältnisse liegen keineswegs
immer so, wie bei den hier beschriebenen Fällen 1 und 2, daß
bei einer etwas länger dauernden Erkrankung der Ikterus sich
intensiv entwickelt, während bei ganz akutem! Krankheitbilde
erst ante exitum Hautverfärbungen auftreten. Dagegen findet
sich u. a. auch bei Schulz und Jacobowitz Fall 1 ein Beispiel
dafür, daß der Subikterus der Haut und der Skleren erst kurz
vor dem Tode feststellbar wird..— Das Bestehen einer Lebereir-
rhose, wie es in ausgeprägter Weise in dem vorliegenden Fall 3
beschrieben wurde, konnte auch im Fall 5 der Veröffentlichung
von Schulz und Jacobowitz nachgewiesen werden. Die patho-
logisch-anatomische Diagnose lautete: „Beginnende Lebercirrhose
im hypertrophischen Stadium mit beginnender feiner Granulierung
der Oberfläche.“ Der in Frage stehende Patient hatte eine Lues
und die Autoren erklären die Leberveränderungen durch die Syphi-
li. Das kann zweifellos richtig sein. Da in der hiesigen Klinik
nun aber auch ein Fall von regenerativer Bindegewebs- und Leber-
zellneubildung beobachtet wurde, so beansprucht die Agranulocytose
nach Leberschädigung vermehrte Aufmerksamkeit. Der hier be-
schriebene Fall bot keinerlei Anhaltspunkte für das Bestehen einer
Lues. Dagegen lag Alkoholabusus vor, dessen schädlicher Einfluß
auf die Leber außer Frage steht. Der Patient von Schulz und
Jacobowitz hatte drei Neosalvarsankuren durchgemacht, so daß
auch hier durchaus mit der Möglichkeit zu rechnen ist, das primär
degenerative Vorgänge in der Leber sich abgespielt haben,
während die auf dem Sektionstisch gefundene beginnende Leber-
cirrhose einen sekundären, regenerativen Vorgang darstellt,
so daß im pathologischen Geschehen weitgehende Übereinstimmung
zwischen beiden Fällen bestände. Es ist nun weiter zu bedenken,
daß von den 23 Fällen, die W. Schulz in der letzten Arbeit als
echte Agranulocytosen anerkennt, viermal bei der Autopsie Gallen-
steine gefunden wurden, daß ein weiterer Fall mit Gallensteinen
200 SCHAEFER
(Fall 2) hier beschrieben wurde, und daß endlich zwei Fälle, die
oben besprochen wurden, das Bild cirrhotischer Prozesse in der
Leber zeigten, und der ebenfalls oben aufgeführte (Fall 1) zahl-
reiche Nekroseherde in der Leber aufweist. In etwa einem Viertel
der bekannt gewordenen Fälle also finden sich krankhafte Ver-
änderungen erheblicher Natur an der Leber oder an den Gallen-
wegen und es ist leicht denkbar, daß dieser Prozentsatz krank-
hafter Leberbefunde ein noch höherer wäre, wenn sich die be-
sondere Aufmerksamkeit der Untersucher diesem Gegenstand zu-
gewandt hätte.
Der hier gegebene Hinweis auf das Verhalten der Leber bei
Agranulocytose kann selbstverständlich nicht die Pathogenese der
Agranulocytose klären. Es soll nur die Notwendigkeit dargetan
werden, bei späteren Fällen intra vitam den Leberfunktionsprüfungen
und etwa auch dem Verhalten des Bilirubins im Blut die Auf-
merksamkeit zuzuwenden, und bei der Autopsie auf das Bestehen
makroskopischer oder mikroskopischer Leberveränderungen besonders
zu achten.
Im Zusammenhang mit den beiden ersten hier beschriebenen
Fällen wurde darauf hingewiesen, daß die Intensität des Ikterus
und der Zeitpunkt, an dem die Verfärbung der Haut auftritt, stark
schwanken. Da also dieses Symptom quantitativ ausgesprochen in-
konstant ist, so hat u. a. Lauter in einem seiner Fälle bei der
Stellung der Diagnose Agranulocytose ganz auf dieses Symptom
verzichten zu können geglaubt. W. Schulz stimmt dem nicht
zu, und auch die oben entwickelte Ansicht über die Mitbeteiligung
der Leber bei der Agranulocytose erweckt Bedenken gegen Fälle
ohne Ikterus. Jedoch auch unter dem Material der hiesigen Klinik
befindet sich ein Fall, der einerseits außerordentlich verdächtig
auf Agranulocytose ist, andererseits aber jede Andeutung von
Ikterus vermissen läßt. Verlauf und Befund folgen hier:
Fall 4. Wilhelm H., Bahnvorsteher. 56 Jahre.
Vorgeschichte: Früher nie krank gewesen bis auf eine an-
gebliche Malaria im Jahre 1918. Damals will H. siebzehn Wochen zu
Bett gelegen haben. — Die jetzige Erkrankung begann angeblich im
Februar 1925 mit Fieber, Halsentzündung und Rückenschmerzen. Auch
soll vorübergehend Gelbsucht bestanden haben. Es trat vorübergehende
Besserung auf und erst Ende August erkrankte Pat. von neuem mit
Kopf- und Leibschmerzen. Er will in dieser letzten Zeit weder Fieber
noch Halsschmerzen gehabt haben.
Befund bei der Aufnahme am 28. IX. 25: Mann in gutem Er-
nährungszustand und üppigem Fettpolster. — Die Tonsillen sind groß,
Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 201
die Rachenschleimhaut ist gerötet. — Im übrigen weder klinisch noch
röntgenologisch irgendein krankhafter Organbefund. — Urin: Eiweiß:
deutliche Trübung. Urobilinogen: Spur. Urobilin: pos., Zucker: neg.,
Sediment: vereinzelt Leukoc., einige hyaline Zylinder, vermehrte Epi-
thelien. Schleimfäden. Harnsaures Natron. — Temperatur 36,4. —
Wassermann’sche Reaktion im Blut: neg.
Verlauf: 29. IX. Blutbild: Hb 100°/,, Erythroc. 5080000,
Leukoc. 1400, Poly. 1°%,, Lymphoc. 98 °/,, Monoc. 1°/,. Pat. hat 39,8
Temperatur und ist benommen. Keinerlei krankhafter Organbefund nach-
weisbar. 30. IX. Exitus unter den Erscheinungen der Herzschwäche.
Pathologisch-anatomische Diagnose: Allgemeine Adi-
positas. — Lipomatosis cordis. — Hypostasen der Lungen. — Hyper-
trophie der Zungenbalgdrüsen. — Parenchymatöse Degeneration der
Nierenrinde. — Fettleber. — Zahlreiche reizlose Schleimhautdefekte im
Rectum und im unteren Teil des Sigmoid.
Aus dem Sektionsbefund sind folgende Einzelheiten erwähnenswert:
Die stark entwickelten Fett- sowie die Bindegewebskapseln beider Nieren
lassen sich leicht abziehen. Die Oberfläche ist braunrot und zeigt dicht-
stehende, dunkelrote Punkte. Sie ist glatt bis auf 2—3flache, kleine,
strahlige Einziehungen an jeder Niere. Auf der Schnittfläche ist die
bräunliche, einen lehmfarbenen Beiton zeigende Rinde, die von zahlreichen,
eben sichtbaren, anscheinend aber nicht die Nierenkörperchen darstellenden,
dunkelroten Punkten durchsetzt ist, gut von dem braunroten Mark zu
unterscheiden. — Im unteren Teil des Sigmoids und über das ganze
Rectum verstreut finden sich zahlreiche, flache zusammenfließende unregel-
mäßig begrenzte Schleimhautdefekte von dunkelgrauer Farbe. Sie sind
erbsen- bis zehnpfennigstückgroß und die Ränder sind leicht erhaben.
Die Umgebung zeigt keinerlei auffälligen Blutreichtum.
Mikroskopische Untersuchung durch Prof. Lepehne.
„Tonsille: Der Lymphknötchenbau ist gut erhalten. Am Epithel
kein Befund. In einer Krypte sieht man zahlreiche Zellen liegen, die
sich bei starker Vergrößerung teils als Epithelien mit größeren Kernen
erweisen, teils Rundzellen und zwar Lymphocyten sind. Endlich finden
sich an dieser Stelle auch ganz vereinzelt Erythrocyten, jedoch keine
Polymorphkernigen und keine Bakterien. Das die Lymphknoten um-
gebende Bindegewebe zeigt sich auf weite Strecken hin kernlos und mit
völlig verwischter Faserzeichnung. Der Rand dieser Partien ist auf
weite Strecken demarkationsartig von zahlreichen ausgetretenen roten
Blutkörperchen begrenzt. In dieser Grenzzone liegen auch hier und da
spindelkernige und rundkernige Zellen, aber keine Polymorphkernigen,
ferner hier und da Körnchen gelbbraunen Pigmentes.. An ganz ver-
einzelten Stellen sieht man innerhalb des Lymphknötchengewebes ein
Häufchen von Bakterien liegen. Bei der Betrachtung mit Olimmersion
erkennt man, daß es sich anscheinend um Staphylokokken handelt. In
der Umgebung dieser Herde keine Eiterkörperchen, auch sonst keine
Reaktion. In den nekrotischen Bindegewebsteilen sind einwandfreie
Bakterienanhäufungen nicht zu finden. Allerdings sieht man an den
verschiedensten Stellen größtenteils innerhalb von feinen, spindeligen
Bindegewebszellen zahlreiche feinste dunkelblaue, punktförmige Gebilde,
202 SCHAEFER
hier und da auch im umliegenden Gewebe zerstreut, die man wohl als
basophile Granulationen ansprechen muß (Pappenheimfärbung). Knochen-
mark: ist außerordentlich blut- und zellreich. Fettmark ist an dem
vorliegenden Schnitt nicht in besonders auffallendem Maße vorhanden.
Bei der Betrachtung mit Ölimmersion sieht man, daß die zelligen
Elemente des Knochenmarkes zur Hauptsache aus rundkernigen Zellen
bestehen, und zwar haben diese Zellen vielfach den Charakter kleiner
Lymphocyten, während man daneben auch größere Zellen mit runden
Kernen und deutlicher Kernzeichnung sieht, deren Protoplasma keine
Granula aufweist. Neben diesen rundkernigen Zellen sieht man aber
doch an einigen, verhältnismäßig wenigen Stellen polymorphkernige Ge-
bilde. Etwas vermehrt erscheinen die spindelförmigen Endothelien. Die
Knochenmarksriesenzellen sind in normaler Menge vorhanden. Erythro-
blasten trifft man reichlich an. Hier und da finden sich basopbile, rund-
kernige Zellen. Einwandfreie Myelocyten lassen sich mit Sicherheit nicht
feststellen. Vielfach liegen mitten zwischen den geschilderten Zellen
größere rundliche Zellen mit einem fast die ganze Zelle ausfüllenden
runden Kern, der deutliche Kernkörperchen aufweist. Das Proto-
plasma dieser Zellen ist noch etwas dunkler blau gefärbt als der
Kern. Granula fehlen in diesen Zellen. An einigen Stellen finden
sich kleine Anhäufungen von punktförmigen Gebilden, die wohl Granula
sind (Pappenheimfärbung). Niere. Der Nierenschnitt zeigt auf den
ersten Blick, daß fast alle Tubuli contorti in der Gegend der Rinde
Kernnekrosen aufweisen und einen Zerfall der Nierenepithelien. Diese
Nekrose ist so ausgedehnt, daß nur die Glomeruli und die Kanälchen
mit niedrigem kubischen Epithel, anscheinend Teile der Henle’schen
Schleifen, ihre normale Kernfärbung erhalten haben. Auch die Wände
der Blutgefäße sind von der Nekrose verschont. An den Glomeruli
siebt man die Schlingen prall mit Blut gefüllt. Die roten Blat-
körperchen haben nicht mehr überall Eosinfärbung angenommen, sondern
sind stellenweise nur noch als Schatten erkennbar. Die Blutgefäße
zwischen den Kanälchen sind fleckweise auffallend mit roten Blut-
körperchen vollgepfropft, die sich hier mit Eosin gut gefärbt haben.
Man hat den Eindruck, daß die Blutgefäße an diesen Stellen erweitert
sind. Hier und da sind rote Blutkörperchen aus den Blutgefäßen in
das umliegende Gewebe eingedrungen. Stellenweise finden sich in er-
weiterten Kanälchen Harnzylinder. In einer großen mit Blut vollge-
stopften Vene lassen sich bei Pappenheimfärbung keine polynukleären
Leukocyten nachweisen, sondern nur rundkernige Zellen in normaler
Menge und Beschaffenheit. Irgendwelche Zellfiltrate im Nierengewebe
sind nirgends zu finden. Als Nebenbefund zeigen sich in der Rinde ganz
vereinzelt kleine, alte, sklerotische Herde. Es läßt sich nicht entscheiden,
ob die schweren Epithelveränderungen der Niere intravital entstanden
sind, oder als postmortale Fäulniserscheinung anzusprechen sind. Darm-
geschwür: Ein Schnitt durch das Darmgeschwür läßt erkennen, daß
ziemlich scharf die gesunde Schleimhaut mit ihren Drüsen in den
nekrotischen Teil übergeht, an dem bis zur Muskularis hin die Zell-
färbung fehlt, oder sehr schlecht ausgebildet ist. Eine Reaktions- oder
Demarkationszone um diesen nekrotischen Teil herum ist nicht zu er-
Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 203
kennen. Es fehlt jedes Zellinfiltrat. Bei der Betrachtung mit Ölimmersion
sieht man, daß das ganze nekrotische Gewebe bis zur obersten Schicht
der Muskularis, ebenso aber die benachbarten gut gefärbten Darmteile
durchsetzt sind von zahllosen Stäbchen und Kokken. Man hat den
Eindruck, daß es sich um postmortale Einwanderung handelt. Ein vom
Schnitt getroffenes Lymphknötchen ist normal (Pappenheimfärbung).
Leber: Es besteht mäßige periphere Verfettung. Zellnekrosen lassen
sich nicht finden. Ebenso fehlen interstitielle Zellinfiltrationen vollständig.
An einigen Stellen findet man in der Peripherie der Acini eine gewisse
Dissoziation der Leberzellen, jedoch sind auch in diesen Stellen Zell-
nekrosen nicht sicher festzustellen. Die Kapillaren sind besonders in
der Peripherie der Acini stark mit Blut gefüllt. Innerhalb der Blut-
gefäße kann man auch bei längerem Durchmustern des Präparates keine
polymorphbkernigen Leukocyten feststellen, sondern nur Lymphocyten in
normaler Zahl und Beschaffenheit (Pappenheimfärbung). Hier und da
erscheinen die Kupfer’schen Sternzellen etwas vermehrt, und sie enthalten
ein feinkörniges, schwärzliches Pigment. Milz: Die Struktur der Milz
ist gut erhalten, nur die Lymphknötchen erscheinen etwas atrophisch,
Auffalend ist die außerordentlich starke Hyperämie des Organes. Sowohl
die arteriellen Blutgefäße, als auch die Milzsinus sind strotzend mit roten
Blutkörperchen gefüllt. An vielen Stellen ist es direkt zu Blutungen
in das Milzgewebe gekommen. Bei Betrachtung mit Olimmersion finden
sich in dem nach Pappenheim gefärbten Präparat unter den Zellen
der Milzeinus keine polymorphkernigen Leukocyten, überhaupt keine
Granulocyten.“
Es sei betont, daß hier die Diagnose Agranulocytose mit allem
Vorbehalt gestellt wird. Die Vorgeschichte ergibt, daß eine fieber-
hafte Erkrankung mit Halsentzündung und vorübergehender Gelb-
sucht bestanden hat. Dann aber ist Patient sieben Monate lang
nur ganz leicht krank, jedenfalls nicht bettlägerig gewesen. In
diesem Zustand kam er in die Klinik und klagte über ziemlich-
geringfügige Beschwerden alllgemeiner Natur. Ein krankhafter
Organbefund war nicht zu erheben, insbesondere bestand kein
Fieber, kein Rachenbelag und kein Ikterus. Schon nach 24 Stunden
hatte sich das Bild schlagartig geändert. Patient hatte 39,8
Temperatur und machte einen außerordentlich schwerkranken Ein-
druck. Leider wurde erst jetzt ein Blutbild gemacht, das typisch
agranulocytotisch war. Weitere 24 Stunden später war Patient
tot, ohne daß ein Ikterus oder Mund-Rachenveränderungen feststell-
bar gewesen wären. Bei der Sektion wurden zahlreiche reaktions-
lose Schleimhautdefekte im Enddarm festgestellt, ferner zeigte die
mikroskopische Untersuchung der Tonsillen ausgedehnte Binde-
gewebsnekrosen mit demarkationsartigen Blutungen am Rande,
und endlich fehlten in allen untersuchten Organen die polymorph-
kernigen, granulierten Zellen fast vollständig.
204 SCHAEFER
Es fragt sich nun, ob diese Befunde zur Diagnose Agranulo-
cytose genügen, obgleich die schweren Veränderungen der Nieren,
die, wenn sie nicht Fäulnisvorgänge sind, durch nichts erklärt
werden können und im klinischen Bilde gar nicht hervortraten, und
der Zellreichtum des Knochenmarkes dem typischen Krankheits-
bilde, wie W. Schulz es beschrieb, fremd sind. Wenn man sich
trotzdem zur Eingruppierung des geschilderten Krankheitsbildes
in die Gruppe der Agranulocytose entschließt, so kann es sich nur
um einen ganz akut verlaufenen Fall gehandelt haben. Es wäre
möglich, daß der Ikterus und die Leberschädigung keine Zeit hatten,
sich auszubilden, wobei man mit aller Vorsicht die mikroskopisch
feststellbare, leichte Dissoziation der Leberzellen in der Peripherie
der Acini vielleicht als die ersten Anzeichen beginnender De-
generation deuten könnte. Mit größerer Berechtigung noch kann
angenommen werden, daß die Nekrosen in den Tonsillen bei ge-
nügend langer Dauer der Erkrankung zu Ulcerationen geworden
wären. Die epikritische Zusammensetzung des ganzen Krankheits-
bildes würde sich also so gestalten, daß sieben Monate vor der
Klinikaufnahme ein erster Schub von Agranulocytose aufgetreten
ist, der in typischer Weise mit Fieber, Rachenveränderungen und
Ikterus einherging. Dann setzte eine bisher noch nicht beschriebene
und, wie nochmals betont sei, hier nur angenommene Remission
ein, auf die dann kurz nach der Klinikaufnahme ein zweiter, akut
tödlich verlaufender Schub folgte.
Anschließend an diese vier Fälle ist nun über zwei Beob-
achtungen kurz zu berichten, für die die Diagnose Agranulocytose
‚abgelehnt werden muß, die aber differentialdiagnostisch in dieses
Gebiet hineinreichen. Der Verlauf gestaltete sich folgendermaßen:
Fall 5. Hermann R., Krankenwärter. 46 Jahre.
Vorgeschichte: Pat. selbst ist bis vor einem Jahre nie ernstlich
krank gewesen, abgesehen von einem Zwölffingerdarmgeschwür, das operativ
behandelt wurde. Die jetzige Erkrankung begann angeblich schon vor
einem Jahr mit Kreuzschmerzen, die besonders nachts auftraten, jedoch
war Pat. voll arbeitsfähig. Vor 8 Tagen fühlte sich Pat. plötzlich sehr
matt, bekam Schwindelgefühle und Herzklopfen und wurde gelb im
Gesicht. 4 Tage später wurde zum ersten Male Fieber festgestellt (an-
geblich 39 Grad) und am Tage darauf traten starke Halsschmerzen auf.
In diesem Zustande wird Pat. in die Klinik eingeliefert.
Befund am 3. VIII. 25: Guter Ernährungszustand. — Bilasse
Hautfarbe. — Sichtbare Schleimhäute schlecht durchblutet. — Haut und
Skleren ikterisch. — Der Leib weist eine Operationsnarbe auf. — Am
rechten Kieferwinkel mäßig geschwollene, druckempfindliche Drüsen. —
Auf der Unterseite der Zunge links von der Mittellinie ein kirschkern-
Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 205
großes Geschwür mit wulstigen Rändern, dessen Zentrum einen gelblich-
weißen Belag zeigt, der sich abstreichen läßt und dann einen flachen
Geschwürskrater bloßlegt. — Beide Tonsillen zeigen dicke, gelblichweiße
Beläge, und auf beiden finden sich unter diesen Belägen rundliche
ziemlich reaktionslose Geschwüre. In den genannten Belägen Diphtherie-
bazillen nicht nachweisbar. — Lungen und Herz: ordnungsmäßiger Be-
fand. — Röntgendurchleuchtung des Thorax: ordnungsmäßiger Befund. —
Leber nicht vergrößert. — Milz perkutorisch etwas größer, als normal,
jedoch nicht tastbar. — Urin: Eiweiß stark positiv. Sediment: granulierte
und hyaline Zylinder. — Butbild: Hb 35°), Erythroc. 2170000,
Leukoc. 850, Lymphoc. 94 °/,, große Lymphoc. 4°/,, Monoc. 2°. —
Temperatur 39,5. — Profuse Durchfälle. — Im Stuhl: Benzidin negativ. —
Therapie: 0,3 Neosalvarsan (nach Friedemann).
Verlauf: 5. VIII. Temperatur 40,1. Der Mundbefund ist derselbe.
Pat. klagt über starke Schluckbeschwerden. — Wassermann: negativ.
6. VIII. 0,45 Neosalvarsan. Abends Temperatur 36,9. Puls 90.
Gut gefüllt und kräftig.
7. VIII. Die Geschwüre an der Zunge und auf den Tonsillen haben
sich gereinigt, nur die Randwülste sind noch deutlich sichtbar. Blut-
bild: Hb 40°,, Erythroc. 2650000, Leukoc. 3250, Poly. 20%.
Stabk. 27 °/,, Jugendformen 3 °/,, Lymphoc. 49 °/,, große Lymphoc. 1°/,.
Pat. fühlt sich wohl. Die Durchfälle haben aufgehört.
8. VIII. 0,45 Neosalvarsan. Pat. ist fieberfrei. Böntgenbestrahlung
(!!, H.E.D.) des Knochenmarks. (Unterschenkel.) 11. VIII. Blutbild:
Hb 35 °/,, Erythroc. 1630000, Leukoc. 4150, Poly. 42 °/,, Stabk. 15,5 °/,,
Jugendformen 7,5 °/,, Myeloc. 0,5 °/,, Lymphoc. 32,5 °/,,, große Lymphoc.
0,5 °;,, Eosinoph. 0,5 ®/,, Monoc. 0,5°/,, Mastz. 0,5 °/,. Einzelne Megalo-
cyten.
17. VIII. Pat. ist dauernd fieberfrei. 2 kg Gewichtszunahme. Blut-
bild: Hb 50°%,, Erythroc. 2330000, Leukoc. 3050, Poly. 40°/,,
Stabk. 6 °/,, Lymphoc. 52,5 %,, Eosinoph. 0,5 %/,, Mastz. 1°/,.
24. VIII. Pat. ist dauernd fieberfrei. Mund und Rachen kein
krankhafter Befund mehr. Blutbild: Hb 62°/,, Erythroc. 2520000,
Leukoc. 3400, Poly. 39°, , Stabk. 9°%,, Lymphoc. 50,5%, Eosinoph.
1,5°%/,, Poikilocytose. Polychromasie. Vereinzelte Innenkörperchen. _
4. IX. Pat. ist dauernd fieberfrei. Erhebliche Zunahme an Körper-
gewicht. Blutbild: Hb 750%, Erythroc. 3720000, Leukoc. 5800,
Poly. 51,5°/,, Stabk. 2,5°/,, Lymphoc. 41,5°/,, Eosinoph. 1°/,, Mastz. 0,5%.
12. IX. Pat. wird entlassen. Die Gesamtzunahme an Körpergewicht
beträgt 6 kg. Blutbild: Hb 80 °),, Erythroc. 3850000, Leukoc. 5700,
Poly. 53 °/,, Stabk. 6°/,, Lymphoc. 37 °/,, Eosinoph. 3 %/,. Mastz. 1/,.
Am 1. X. stellt sich Pat. zur Nachuntersuchung vor. Keinerlei
krankhafter Organbefund. Subjektiv Wohlbefinden. Blutbild: Hb 91 /,.
Erythroc. 4880000, Leukoc. 7950, Poly. 48°,,, Stabk. 6 °/,, Jugend-
formen 4°/,, Myeloc. 2°%/,, Lymphoc. 36 °/,, Eosinoph. 3°/,, Mastz. 1°|,.
Die klinische Diagnose blieb bis zur Entlassung des Patienten
in der Schwebe. Auf Grund des ersten Untersuchungsbefundes
wurde an eine Agranulocytose gedacht, nur die erhebliche Ver-
206 SCHARFER
minderung des Hämoglobins und der Erythrocythen paßten nicht
in dieses Krankheitsbild. In Betracht kam ferner eine perakute,
aleukämische Lymphadenose, obgleich die Verminderung der Leuko-
cyten auf 850 im cmm bei Aleukien als seltener Befund anzu-
sprechen ist. Eine Sepsis mit Leukopenie und eine Amyelie wurde
ebenfalls in Erwägung gezogen, konnten jedoch ebensowenig ge-
sichert werden, wie die beiden erstgenannten Diagnosen. Die ganz
überraschend schnelle Besserung, sowohl des Allgemeinbefindens,
als auch des Blutbildes, die vollständige Entfieberung und die
Reinigung der Geschwüre auf Zunge und Tonsillen innerhalb weniger
Tage machten alle oben genannten diagnostischen Vermutungen
hinfällig, und als Patient sechs Wochen nach der Aufnahme mit
fast normalem Blutbild entlassen wurde, konnte der Fall nur den
Symptomen nach als akute, fieberhafte Leukopenie mit Fehlen der
Polymorphkernigen eingeordnet werden. Eine Nachuntersuchung
drei Wochen nach der Entlassung ergab eine erhebliche Besserung
des Hämoglobin- und Erythrocytenbefundes. Auch das weiße Blut-
bild war fast normal, abgesehen von dem Vorhandensein einiger
typischer Myelocyten, die etwa 2°/, aller weißen Zellen ausmachten.
Es wurde diesem Befunde keine Bedeutung beigelegt, sondern eine
etwas überstürzte Ausschwemmung granulierter Elemente im un-
reifen Stadium als Heilungsvorgang angesehen. Die sehr über-
raschende Klärung erfolgte, als Patient etwa fünf Wochen nach
der letzten Untersuchung zur abermaligen Aufnahme in die Klinik
kam. Aus der Krankengeschichte folgen hier die wesentlichsten
Notizen:
Fortsetzung Fall5.
Am 2. XI. 25 wird Pat. erneut in die Klinik aufgenommen. Nach
der Entlassung vor 2 Monaten hat sich Pat. anfangs sehr wohl gefühlt.
Zeitweise konnte er sogar seinen Dienst versehen. Seit etwa 4 Wochen
stellte sich jedoch Schlaf- und Appetitlosigkeit ein, ohne daB größere Be-
schwerden auftraten. Vor einer Woche bekam Pat. leichte Temperatur-
steigerungen, sowie Rücken-, Leib- und Schienbeinschmerzen. Drei
Tage vor der Aufnahme in die Klinik traten an verschiedenen Stellen
des Körpers rote Pünktchen auf. Auch fühlte sich Pat. in den letzten
Tagen sehr müde und zerschlagen und litt unter starken Schweißen.
Befund am 2. XI. 25: Elendes Aussehen. — Haut und sichtbare
Schleimhäute sehr blaß. — Am linken Kieferwinkel und in beiden
Leistenbeugen einige mäßig vergrößerte, nicht schmerzhafte Drüsen. —
Über den ganzen Körper verteilt feine, rote, punktförmige Blutungen. —
Auf der Conjunctiva bulbi rechts, unmittelbar am Rand der Cornea be-
ginnend, eine zackig begrenzte etwa erbsengroße Blutung. — Auf der
Wangenschleimhaut, auf dem ganzen Gaumen und im Rachen zahlreiche
Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 207
punkt- und flächenförmige Blutungen. — Lunge und Herz: ordnungs-
mäßiger Befund. — Leib in: den oberen Abschnitten druckempfindlich. —
Leber deutlich vergrößert. — Ebenso Milz. — Thorax röntgenologisch:
ordnungsmäßiger Befund. — Rumpel-Leede’sches Phänomen: stark positiv.
— Im Stuhl vereinzelt Trichocephaluseier. — Urin: Eiweiß: Spur, Zucker:
neg., Urobilinogen: neg., Urobilin: neg., Diazo: neg., Indican: neg.,
Sediment: vereinzelt hyaline Zylinder. — Temperatur 37,4. — Blutbild:
Hb 82°/,, Erythroc. 5260000, Leukoc. 70100, große Myelobl. 70 °»
Poly. 30°/,, Lymphoc. 15,5°,, Eosinoph. 1°/,, Stabk. 0,5%. —
Therapie: Röntgenbestrahlungen der Milz.
Verlauf: 7. XI. Leukoc. 72370. — Temperatur 38,6. — Die
Haut- und Schleimhautblutungen haben zugenommen. Leichtes Nasen-
bluten.
10. XI. Pat. wird zusehends elender. Die Milzbestrahlung ist be-
endet, 3 Felder zu je einer H.E.D. — Blutbild: Hb 70°, Erythroc.
4320000, Leukoc. 24400, große Myelobl. 79°%,, Lymphoc. 15°,
Poly. 6°
16. XI. Pat. macht einen schwerkranken Eindruck und klagt über
starke Schmerzen im Oberbauch. — Leber und Milz sind deutlich größer
geworden. — Blutbild: Hb 57 €f, Erytbroc. 3330000, Leukoc. 11650,
große Myelobl. 87,5 °/,, Poly. 2°/,, Lymphoc. 10°/,, Eosinoph. 0,5 %/,.
19. XI. Temperatur 40,3. — Pat. ist leicht benommen. — Die ge-
samte Mund- und Rachenschleimhaut ist blutig unterlaufen. Pat. hat
sehr oft Nasenbluten und ständig blutigen Auswurf. — Am linken Zungen-
rand findet sich eine etwa bohnengroße Blutblase. —
20. XI. Temperatur 40,6. — Der Puls ist klein, zeitweise aussetzend
und stark beschleunigt. — Blutbild: Hb 42°), Erythroc. 2590000,
Leukoc. 24800, große Myelobl. 18,8°/,, Lymphoc. 81,5 °/,.
21. XI. Exitus letalis.
Die Sektion konnte aus äußeren Gründen nicht ausgeführt werden.
Jetzt lag das typische Bild einer akut tödlich verlaufenden
Myeloblastenleukämie vor, dem besonders die ausgedehnten Haut-,
Schleimhaut- und Konjunktivalblutungen eigen sind. Bei diesem
Krankheitsbild ist das Bestehen von aleukämischen und subleu-
kämischen Vorstadien bekannt und Naegeli sagt sogar: „Für
die Gewißheit des akuten Verlaufes (der Myeloblastenleukämie)
müßte zuerst ein aleukämisches oder doch subleukämisches Stadium
konstatiert werden.“ Was aber das hier geschilderte Krankheits-
bild von allen mir aus der Literatur bekannt gewordenen akuten
Myelosen unterscheidet, ist einmal die scheinbar vollständige
Remission bis zur Norm sowohl im klinischen Befunde wie im
Blutbilde, zum anderen das vollständige Fehlen polymorphkerniger
Zellen im Beginn der Erkrankung. Es braucht nicht besonders
betont zu werden, daß die bei der ersten Untersuchung festge-
stellten 98°, Lymphocyten auch wirklich Lymphocyten waren,
208 SCHAEFER
um so weniger, als ausdrücklich eine Unterteilung vorgenommen
wurde in 4°/, große und 94°), kleine Lymphocyten. Denn die im
vorliegenden Falle typischen kleinen Lymphocyten sind kaum zu
verkennen. Man muß vielmehr annehmen, daß im Beginn der Er-
krankung die polymorphkernigen Elemente vollständig aus dem
Blute verschwunden waren, während die Lymphocyten sowohl in
ihren absoluten, wie in ihren relativen Werten kaum von der
Norm abwichen. Diese Beobachtung wirft ein sehr interessantes
Streiflicht auf die Unabhängigkeit des myeloischen und lympha-
tischen Systems voneinander. — Es erscheint bemerkenswert, daß
während der Remission auch das rote Blutbild ganz zur Norm
zurückgekehrt ist. Man könnte nämlich geneigt sein, die im zeit-
lichen Mittelpunkt der Erkrankung beobachteten Normalzahlen der
polymorphkernigen Leukocyten in eine gerade Linie einzuordnen,
die von dem aleukämischen Stadium über einen nur scheinbar
normalen Zustand zu dem finalen leukämischen Bilde führt. Das
würde also heißen, daß die Erkrankung des myeloischen Systems
während der ganzen Zeit in konstant und gleichmäßig zunehmender
Intensität bestanden habe. Dem ist aber sicher nicht so, wie der
klinische Befund und das rote Blutbild beweisen. Es hat sich um
eine echte, das myeloische System mitbeteililgende Remission ge-
handelt, die bis zur scheinbaren Heilung führte. Ob die in diesem
Falle angewandten, sehr großen Salvarsandosen, die bei der Agra-
nulocytose schon von Friedemann angewandt wurden, den Ein-
tritt und die Stärke der Remission irgendwie beeinflußt haben,
kann nicht beantwortet werden. Die im zweiten Stadium der Er-
krankung vorgenommene Milzbestrahlung schien eher ungünstig
als günstig zu wirken.
Der letzte hier zu erwähnende Fall, der ebenfalls wegen einer
Leukopenie mit hochgradiger Verminderung der Polymorphkernigen
zu difterentialdiagnostischer Berücksichtigung der Agranulocytose
zwang, verlief wie folgt:
Fall 6. Gertrud A., Haustochter. 19 Jahre.
Vorgeschichte: Bis zum Beginn der jetzigen Erkrankung immer
gesund gewesen. Vor etwa 6 Wochen Ohnmachtsanfälle und Schwindel.
Der zugezogene Arzt stellte Nierenentzündung und Herzfehler fest. Auf
Diät und Medikamente hin Besserung. Vor 10 Tagen plötzlich Fieber
bis zu 40°, ohne daß der Arzt eine Organerkrankung feststellen konnte.
Fünf Tage vor der Aufnahme in die Klinik traten Blutungen aus der
Mund- und Nasenschleimhaut und Halsschmerzen auf. Da die Blutung
bedrohlich wurde, Überweisung in die Klinik.
Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 209
Befund: am 29. VII. 1925. Mittelgroßes Mädchen in stark redu-
ziertem Ernährungszustand. Die Gesichtsfarbe ist wachsartig gelb. Die
Schleimhäute sind fabl. Am linken. Unterarm mehrere zehnpfennigstück-
große, bläuliche, unscharf begrenzte Flecke. — Temperatur 39,7. —
Puls 120. Der hochgradige Schwächezustand der Pat. macht eine
gründliche Untersuchung unmöglich. Starke Blutung aus Mund- und
Nasenschleimhaut, die übersät ist mit punktförmigen, roten Blutstippohen. —
Starker Foetor ex ore. — Nekrotisierende Angina mit hochgradigem
Zerfall der linken Tonsille. — Lungen und Herz: ordnungsmäßiger Be-
fund. — Leib diffus druckempfindlich, jedoch kein Anhalt für eine Peri-
tonitis. — Milz nicht fühlbar. — Blutbild: Hb 18°/,, Erythroc. 750000,
Leukoc. 2000, große Lymphoc. 2,5 %,, kleine Lymphoc. 76,5 °/,, Poly.
11°, Eosinoph. 0,5°/,, Mastz. 0,5 °/,, Poikilocytose. Innenkörperchen.
Blutplättchen 12000. — Urin: Eiweiß Hauch. Urobilinogen positiv,
Zucker negativ. Im Sediment: reichlich hyaline, granulierte und Wachs-
zylinder. Vereinzelt Erythrocyten. — Wegen der starken Blutung aus
der Nase wird ein Bellogtampon eingelegt.
Verlauf: 30. VII. Temperatur 40%. — Pat. ist benommen und
erscheint moribund. Es blutet weiter stark aus Mund und Rachen. Die
blauen Flecken am linken Unterarm sind größer geworden.
31. VII. Exitus letalis.
Pathologisch-anatomische Diagnose: Ekchymosen auf
Endo- und Perikard. — Bronchopneumonische Herde im unteren rechten
Lungenlappen. — Zahlreiche diffuse Blutungen in Leber und Milz. —
Punktförmige Blutungen in der Nierenrinde. — Parenchymatöse Dege-
neration der Nierenrinde. — Punktförmige Blutungen im Nierenbecken. —
Nekrosen der Papillenspitzen der linken Niere. — Schwellung der Solitär-
follikel und hämorrhagischer Hof im anteren Teil des Dickdarms. —
Jıerfallende Geschwüre auf beiden Tonsillen, auf der Epiglottis, auf beiden
(aumenbögen und auf der Zungenspitze. — Sehr zahlreiche, punktförmige
Blutungen auf der Schleimhaut des Mundes, des Rachens und der Nase.
Aus dem Sektionsbefund sind folgende Einzelheiten erwähnenswert:
Die Haut ist gelblich. — Auf der Mitte des Nasenrückens befindet sich
ein etwa zebnpfennigstückgroßer, nicht abgegrenzter blauroter Fleck.
Am linken Unterarm befinden sich auf der Außenseite einige blaurote
hirsekorn- bis linsengroße Flecke. — Unter der Herzaußenhaut finden
sich in der Gegend der Herzspitze zahlreiche punktförmige intensiv hell-
rote Flecken. Unter der Herzinnenhaut der linken Kammer sieht man
gleichfalls 2 stecknadelkopfgroße blaurote Stippchen. — Die Kapsel
der blauroten Milz ist glatt und man sieht unter ihr mehrere erbsengroße,
dunkelrote Punkte. Die Konsistenz der Milz ist fest. Auf dem Schnitt
sind Bälkchen und Knötchen deutlich zu erkennen. Milzmasse läßt sich
nur wenig abstreifen. — Die Oberfläche der braunrötlichen Nieren ist
von zahlreichen, kaum stecknadelkopfgroßen, dunkelroten Punkten be-
deckt. Die Innenhaut der Nierenbecken ist feucht und glatt, man sieht
unter ihr mehrere feine hellrote Stippchen. — Die braunrote Leber ist
von sehr zahlreichen kirschkerngroßen, von der Umgebung unscharf ab-
gegrenzten, blauvioletten Flecken übersät. Auf dem Schnitt sind diese
Flecken gleichfalls zu finden. Sie durchsetzen die gasamte Leber. —
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 14
210 SCHAEFER
Die Magenschleimhaut zeigt in der Gegend des Pylorus zahlreiche dicht-
stehende, dunkelrote, stecknadelkopfgroße Punkte.
Mikroskopischer Befund: (Dr. Eichelbaum).
Leber: Die Struktur des Organs ist erhalten. Die Leberzellen
und Kerne sind gut gefärbt. Nur an kleinen, allerdings sehr zahlreichen
Stellen, zentral um die Venen gelegen, zeigen sich beginnende Nekrose-
herde. Keine zelligen Infiltrate. In den weiten Kapillaren fehlen, wie
auch an allen anderen Stellen, granulierte Zellen, insbesondere polymorph-
kernige, vollständig. Knochenmark: Konnte aus äußeren Gründen
nicht untersucht werden. Milz: Die Follikel sind klein. Die Blut-
füllung erscheint normal. In der Milzpulpa sieht man in mäßig reich-
licher Menge Zellen mit braunem Pigment in Form von Scheibehen und
Köruchen. Ferner finden sich verhältnismäßig zahlreiche Zellen, die
rote und weiße Blutkörperchen phagocytiert haben. Polynukleäre Zellen
sind in scheinbar normaler Zahl und Beschaffenheit feststellbar. Außerdem
sieht man die üblichen Zellen der Pulpa. An den Erythrocyten kein
abnormer Befund.
. Es handelt sich anscheinend um eine aplastische Anämie E hr-
lich’s, oder, soweit diese Krankheitsbilder bis jetzt zu trennen
sind, um eine Amyelie im Sinne Klemperer’s. Jedenfalls muß
die Diagnose Agranulocytose abgelehnt werden, und zwar einmal
wegen der hochgradigen Verminderung von Hämoglobin und Erythro-
cyten, zum anderen wegen der schweren hämorrhagischen Diathese.
Derartig schwere unstillbare Blutungen aus der Schleimhaut des
Nasenrachenraumes und der Mundhöhle sind u. a. auch bei dem
Fall Herbert H., den W. Schulz in seinem Werk: „Die akuten
Erkrankungen der Gaumenmandeln“ als Amyelie einreiht, be-
schrieben worden. Immerhin muß die Einordnung als aplastische
Anämie, bzw. als Amyelie in der Schwebe bleiben, weil das Knochen-
mark nicht untersucht werden konnte. Eine Sepsis im üblichen
Sinne kann, vor allem auf Grund des Milzbefundes, mit großer Wahr-
scheinlichkeit ausgeschlossen werden.
Bei der Besprechung obiger sechs Fällen ist die Frage nach
der Ätiologie der Agranulocytose fast vollständig unberücksichtigt
geblieben. Das hatte seinen Grund darin, daß das vorhandene
Material in ätiologischer Beziehung keine neuen Gesichtspunkte
bot. Auch geben die bisherigen Angaben über bakteriologische
Befunde ein so wenig einheitliches Bild, daß die Grenzen des
Symptomkomplexes „Agranulocytose“ eher gefährdet, als gefestigt
werden. Es wurde also angestrebt, die klinischen und pathologisch-
anatomischen Befunde bei der Agranulocytose zu bestätigen und
zu vervollständigen, unter Beibehaltung der Symptomalogie, die
W.Schulz für dieses Krankheitsbild aufgestellt hat, und es wurde
Zur Differentialdiagnose der Agranulocytose. 211
vermieden, auch nur vermutungsweise die gemeinschaftliche Ent-
stehungsursache eines Krankheitsbildes anzunehmen, das patho-
logisch-anatomisch noch keineswegs endgültig charakterisiert er-
scheint.
Ich möchte auch an dieser Stelle Herrn Professor Kaiser-
ling für die Überlassung der Sektionsbefunde und insbesondere
Herrn Professor Lepehne für die ausführliche mikroskopische
Untersuchung der Fälle 3 und 4 meinen ergebenen Dank sagen.
Zusammenfassung.
1. Es werden zwei typische Fälle von Agranulocytose nebst
Sektionsbefunden beschrieben.
2. An Hand eines weiteren Falles von Agranulocytose, der de-
generative und regenerative Leberveränderungen aufweist, werden
die Beziehungen zwischen Leberveränderungen und Agranulocytose
diskutiert.
3. Ein vierter Fall, der mit agranulocytotischem Blutbild akut
tödlich endete, wird unter Vorbehalt als perakute Agranulocytose
angesprochen.
4. Ein Fall von akuter Myeloblastenleukämie und ein Fall
von aplastischer Anämie reichen differentialdiagnostisch in das Ge-
biet der Agranulocytose hinein.
Literatur.
1. W. Schulz, Berlin. Verein f. inn. Med. Dtsch. med. Wochenschr. Nr. 44,
Ss. 1495, 1922. — 2. W. Schulz u. Jakobowitz. Med. Klinik Nr. 44, S. 1642,
1925 (s. dort Literatur). — 3. W. Schulz, Die akuten Erkrankungen der Gaumen-
mandeln. Springer, Berlin 1925 (s. dort Literatur). — 4. Lauter, Med. Klinik
Nr. 38, S. 1324, 1924. — 5. Friedemann, Med. Klinik Nr. 41, S. 1357, 1923.
—- 6. Naegeli, Blutkrankheiten. IV. Aufl. Springer, Berlin, S. 392. — 7. Ehr-
mann u. Preuß, Klin. Wochenschr. Nr. 6, S. 267, 1925. — 8. Licht u. Hart-
mann, Dtsch. med. Wochenschr. Nr. 37, S. 1518, 1925. — 9. Pfab, Wien. klin.
Wochenschr. Nr. 49, S. 1302, 1925.
14*
212
Aus der medizin. Univ.-Klinik Jaksch-Wartenhorst, Prag.
Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens.
Von
P. Mahler und E. Rischawy, Sekundärärzte.
(Mit 1 Kurve.)
Als Jaksch(l) vor 28 Jahren auf die Existenz von „Er-
krankungen diabetischer Natur, die mit Pankreaserkrankungen
nichts zu tun haben“, hinwies, wurde dieser Ansicht vielfach
Widerstand entgegengesetzt. Seither hat es sich gezeigt, daß wohl
der größte Teil, aber durchaus nicht alle Glykosurien, pankreatogenen
Ursprungs sind; ist doch auch der Apparat, den der Organismus
zur Regulierung des Kohlehydratstoffwechsels aufbietet, ein viel zu
großer, als daß nicht auch an anderen Stellen desselben Schäden
auftreten könnten!
Obwohl wir noch weit davon entfernt sind, jede Glykosurie
aus ihren Ursachen heraus erklären zu können, kennen wir doch
bereits eine Anzahl von Möglichkeiten verschiedenster Art, deren
gemeinsamer Endeffekt die Ausscheidung von Zucker im Harn ist.
Für die Prognose und Therapie ist natürlich die Ursache von
größter Bedeutung; ganz besonders gilt dies von der noch so un-
klaren innozenten Glykosurie. |
In allen neueren Arbeiten, die sich mit derselben beschäftigen,
wird hervorgehoben, daß eine scharfe Grenze zwischen ihr und dem
Diabetes mellitus nicht gezogen werden kann (Salomon (2),
Kulcke (3) Umber und Rosenberg(4), usw.), da wir keine Methode
besitzen, die imstande wäre das Zustandekommen der Glykosurie,
ihre Pathogenese und ihren Zusammenhang mit der inkretorischen
Leistungsfähigkeit der Langerhans’schen Zellen auch nur annährend
präzis zu fixieren; der ungleichartige Verlauf der beschriebenen
Fälle und ihre Verschiedenheit untereinander hat dazu beigetragen,
das zwar seit 1895 (L&pine, Klemperer) bekannte, aber
Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 213
durchaus ungeklärte Krankheitsbild eher zu verschleieren und zu
verwischen, als diagnostisch auszubauen. So ist bis zum heutigen
Tage der Verlauf der Erkrankung das einzig sichere Kriterium
geblieben und wir stimmen — um es gleich vorweg zu nehmen —
Umber u. Rosenberg vollständig zu, daß wir die Diagnose
„Glycosuria innocens* endgültig erst nach langer und einge-
hender Beobachtung des Patienten zu stellen berechtigt sind, da
selbst sichere Fälle mitunter später doch in echten Diabetes mellitus
übergehen können. Nichtsdestoweniger besitzen wir eine Reihe
von Untersuchungsmethoden, die einen weitreichenden Wahrschein-
lichkeitsschluß zulassen, wenn sie alle in gleicher Weise eindeutig
und nach einer Richtung hinweisen.
Wir hatten in letzter Zeit Gelegenheit, zwei Fälle mehrere
Monate hindurch zu beobachten, die alle Merkmale einer innozenten
Glykosurie darboten.
Zunächst einige wichtige Daten über den ersten Fall, V. Kr., 39 Jahre
alt, Faßbinder. Der Pat. ist ziemlich muskulös, knochig, etwas blaß, von
rubigem Temperament, bei Aufregung stottert er mitunter. Familien-
anamnese belanglos. An Kinderkrankheiten kann er sich nicht erinnern,
1917 angeblich Lungenspitzenkatarrh, 1918 Malaria, 1922 an der Klinik
Schloffer wegen Magengeschwür gastroenterostomiert. Seit Juni 1925
neuerdings Schmerzen, besonders bei leerem Magen, einige Male auch
Erbrechen. Drei Röntgenbefande ergaben zusammenfassend: Magen-
resektionsstumpf mit glatt durchgängiger Anastomose, der linke Schenkel
besser durchgängig wie der rechte. Jejunalschlinge ist druckschmerzhaft
(Verdacht auf eine Erosio gastrojejunalis an dieser Stelle). Der Magen
schräg gestellt, tiefster Punkt einen Querfinger über dem Nabel. Be-
weglichkeit der Pars praepylorica eingeschränkt, Sekretion nicht vermehrt,
drei lineare Einziehungen der Pars praepylorica an der großen Curvatur,
gegenüber erscheint die kleine Curvatur unregelmäßig aber scharf kon-
turiert. Vier Stunden p. c. Magen leer. Der Bulbus duodeni ist infolge
der geringen und flüchtigen Füllung nicht genau zu analysieren. — Die
interne Untersuchung ergab bis auf eine Schallverkürzung über der rechten `
Spitze mit erhöhter Bronchophonie daselbst nichts von Belang. Probe-
frühstück: Freie HCl 34, Gesamtacidität 64. Außere Sekretion des
Pankreas normal. Erythrocyten 4350000, Hb 1,11, FI 0,91, weißes
Blutbild siehe weiter unten. Die Körpermaße seien in Kürze mitgeteilt:
Schulterbreite (Zirkel) 36 cm, Brustumfang im 4. IKR. 94 cm, Bauch-
umfang (Meßband) zwischen Processus xiph. und Nabel 86 cm. Ober-
arm 31 cm, Unterarm 28,5 cm, Hand (Vola) 11 cm, Jugulum-Symphyse
61 cm, Trochanter — capit. fibulae 50,5, capit. fibulae — malleolus lat.
37 cm, Oberlänge (Scheitel-Symphyse) 90,5 cm, Unterlänge 90 cm, Ge-
samtlänge 180,5 cm, Spannweite 190 cm. Gewicht: 76,2 kg. Im Harn
Zucker positiv, alles andere negativ. Der Zucker konnte durch Gärung
und Phenylhydrazinprobe als Dextrose identifiziert werden.
214 MAHLER u. Rıschawy
Die Zuckerausscheidung bewegte sich zwischen 0—22 g und
war von der Art der zugeführten Nahrung, wenn auch nicht voll-
kommen, so doch weitgehend unabhängig. Wir prüften zunächst
den Kohlehydratstoffwechsel bei peroraler und intravenöser Glukose-
belastung. Der Blutzucker steigt beim Normalen bei oraler Ver-
abreichung an, erlangt nach '/, bis spätestens 1 Stunde den Gipfel
und soll nach 2 Stunden seinen Ausgangswert wieder erreicht
haben (Rosenberg (5) Umber u. Rosenberg l. c.) Beim
Diabetiker ist die Reaktion verlängert, das Culmen wird erst nach
mehreren Stunden erstiegen, die Differenz gegenüber den Anfangs-
wert (Nüchternwert) beträgt über 100°, (Jakobson (6), Offen-
bacher u. Hahn (7)) wie aus der Tabelle 1 zu ersehen ist,
verhält sich der Pat. in dieser Hinsicht vollkommen normal und
zeigt keines von den für den Diabetes mellitus charakteristi-
schen Zeichen. Es schien uns freilich wichtig den gleichen Ver-
such, der das erstemal am rechtsliegenden Pat. ausgeführt worden
war, im Sitzen zu wiederholen, da die Möglichkeit zu erwägen war,
ob nicht etwa infolge der Gastroenterostomie sich die Blutzucker-
kurve verschieden verhielt, je nachdem der Hauptteil des Zuckers
das Duodenum passiert, oder direkt in die Jejunalschlinge gelangt.
Die Tabelle 1 zeigt, daß diese Annahme richtig war: Der Blut-
zucker steigt im Sitzen um 68 mg°/, höher an wie bei Rechts-
lage. Um nachzuweisen, daß es sich wirklich dabei daram handelt,
ob der duodenale oder der künstlich angelegte jejunale Weg be-
nützt wird und nicht etwa andere Momente (Druck oder Zug am
Pankreas) für die Differenz der Blutzuckerkurven ausschlaggebend
sind, wiederholten wir die Glukosebelastung nach Einführung der
Duodenalsonde, das eine Mal ins Duodenum, das zweite Mal in die
Jejunalschlinge; nachdem wir uns vor dem Röntgenschirm von der
richtigen Lage des Sondenknopfes überzeugt hatten, spritzten wir
die Glukoselösung ein. Der Unterschied fiel diesmal ebenso deut-
lich aus und es erscheint daher zweifellos, daß hier die tadellos
funktionierende Gastroenterostomie das Entstehen der Glykosurie
begünstigt.
Von Jörgensonu. Plum (8), Thannhauser u. Pfitzer (9)
und Umber u. Rosenberg wurde die intravenöse Glukoseinjek-
tion zur Differentialdiagnose der innozenten Glykosurie empfohlen.
Die Verläßlichkeit dieser Belastungsprobe wurde inzwischen von
mehreren Seiten bestätigt. Sie hat gegenüber der peroralen Zu-
fuhr den Vorteil, daß die individuellen Unterschiede der Resorp-
tion und Passagegeschwindigkeit wegfallen, zwei Fehlerquellen,
Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 215
Tabelle 1.
| T
we a | nn
Nach Nach
Blutzucker 60° | 120:
SE
| 194 | 240 | 214 | 61
| i
|
100 g Glukose sitzend getrunken |
100 g Glukose in Rechtslage getrunken | 158 | 173 ' 145 73
100 g Glukose ins Jejunum eingespritzt. Harn- | i
zucker: 1,44 g | 96 , 227 | 235 | 220 ; 108
100 g Glukose ins Duodenum eingespritzt. |
Harnzucker: 0,38 g | 76 : 144 | 175 | 192 66
100 g Lävulose. Harnzucker: ø | 69 | 112 | 123 80 ; 66
40 g Galaktose. Harnzucker: 8,6 75 135 | 172 | 105 24
150 g Fleisch. Harnzucker: ø | ə |101 | 10 | 9%] 9
30 E. Insulin u. 100 g Glukose nach 45°) 561)| 98 | 181 | 214 | 81
Harnzucker: 1,0 g (82) ; A |
die bei unserem Fall wegen der unberechenbaren Verhältnisse im
oberen Teil des Digestionstraktes besonders schwerwiegend sein
dürften. Tatsächlich hat auch, wie Tabelle 2 demonstriert, der
intravenöse Glukoseversuch noch sicherer einen echten Diabetes
mellitus ausschließen lassen. Der Blutzuckerausgangswert, der
nach 75—80 Minuten erreicht sein soll, wurde bereits nach etwa
60 Minuten passiert, gleich hernach folgt die negative Phase, die
sogar abnorm tief nach unten führt und den bei stoffwechsel-
gesunden Menschen recht seltenen Wert von 48 mg°/, erreicht.
Übrigens sind wir dieser auffallenden Labilität der Blutzucker-
werte nach unten hin im Verlaufe der Versuche des öfteren be-
gegnet, wie denn auch die Nüchternwerte (s. weiter unten) nam-
haftere Schwankungen aufweisen als dies sonst der Fall zu sein
pflegt (s. diesbezüglich auch den Fall von Üdinghoff (10)).
Zwar erreicht das Maximum der Kurve einen Wert, der dem Fuß-
punkt gegenüber eine Steigerung von nahezu 200°), beträgt, doch
kann dies mit Rücksicht auf den tiefsten Ausgangswert unmöglich
als diabetisches Stigma verwertet werden, zumal der absolute
Maximalwert (174 mg °/,) noch durchaus im Bereiche physiologischer
Grenzen gelegen ist und bereits nach 20 Minuten der Blutzucker
wieder auf 104 gesunken ist.
Tabelle 2.
Vorher Nach der Injektion
m) Nasen, A re ERBE green? OEE e EE ET nenn
60 5 H 20° 45' 60' 75' 9o
BZ. 59 60 174 104 84 q0 48 D2
1) In Klammer der BZ. vor der Insulininjektion, darüber der Wert vor Ge-
nuß der Glukose.
216 Maneg u. Rıschawr
Tabelle 3.
15 Minuten nach der Nach weiteren
ever” Se EEE ren Ve Ne
Vorher 1. Gabe 2. Gabe 3. Gabe 30 60‘ 120°
von 20 g Zucker
110
BZ. 80 118 112 100 93 16
Ebensowenig wie die perorale und intravenöse Zuckerbelastung
sprach die mehrfache Kohlehydratbelastung nach Traugott (11)
für einen Diabetes (s. Tab. 3) und schließlich sei hervorgehoben,
daß der Durchschnittsnüchternwert aus 16 Bestimmungen 81,5 mg °;
betrug (Minimum 48, Maximum 104), obwohl wir gerade auf diesen
Punkt am wenigsten Gewicht legen möchten, da es bekanntlich
eine große Reihe von Erkrankungen gibt, die zu einer Erhöhung
der Nüchternwerte führen, übernormale Werte auch bei vollkommen
Gesunden vereinzelt gefunden wurden (Raab (12)) und endlich
Normalwerte bei zweifellos Diabetischen durchaus keine Seltenheit
sind. Was als Normalnüchternwert aus großen Serienunter-
suchungen angenommen wird, geht aus untenstehender Tabelle 4
hervor: die Werte der einzelnen Autoren stimmen im allgemeinen
sehr gut überein, bis auf die etwas höheren Zahlen Maraüons (13),
die sich dahin deuten lassen, daß bei Südländern der Wert
im Durchschnitt höher liegen dürfte. — Der vorletzte Versuch in
Tabelle 1 zeigt, daß auch keine Eiweißempfindlichkeit vorliegt,
Tabelle 5 die weitgehende, wenn auch durchaus nicht vollkommene
Unabhängigkeit von der Ernährung. Durch gleichzeitige Verab-
reichung großer Mengen Kohlehydrate, Eiweiß und Fett wurde im
Blutzuckeranstieg keine Veränderung gegenüber der einfachen KH-
Belastung erzielt. |
Tabelle 4.
Bang ‘0—110 Kahler 909—110
Hagedorn 62—109 ©. Kraus 97—114
Bing und Windelöw 98 Jacobson W—116
Bing und Jacobsen 60—120 Liefmann und Stern 65—105
Purjesz 50—80 Ryser 86
Tabelle 5.
Bei 60 g KH 8 g Harnzucker
„ 240 g KH Ø g a
„ 150 g KH 21 g S
„ 450 g KH 28 g R
„ 54 g KH dtg z
ea. 200 g KH 15,0 g
Nachdem wir in der Gastroenterostomie und der aus ihr resul-
tierenden Sturzentleerung eine Ursache der Glykosurie klargelegt
Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 217
hatten, gingen wir nun dazu über, nach den weiteren Komponenten
zu fahnden. Wir prüften zu dem Zweck die einzelnen Organ-
systeme in bezug auf Leistungsfähigkeit und Ansprechbarkeit durch.
Unsere Resultate seien übersichtshalber in drei Hauptgruppen zu-
sammengefaßt, obwohl wir uns wohl bewußt sind, durch diese
Schematisierung komplexe biologische ni in ein starres
Maß einzuzwängen.
I. Da durch Jaksch-Wartenhorst(14) und seine Schüler
ein Fall publiziert worden ist, bei dem sich eine monatelang be-
obachtete Insulinresistenz durch gleichzeitige Erkrankung mehrerer
inkretorischer Drüsen hat erklären lassen, war es für uns nahe-
liegend, von Anfang an auch hier nach Störungen im Gleichge-
wicht der innersekretorischen Drüsen zu suchen. Da sich hierfür
kein Anhaltspunkt bot, sei auf diese Untersuchungsserie nur in aller
Kürze eingegangen. So bietet der Fall absolut nichts, was für eine
Hyperfunktion der Nebennieren spräche, wie das G.Rosenfeld(14)
für seine Fälle von Glycosuria innocens angenommen hat, die Sella
turcica (Röntgenaufnahme Doz. Dr. Herrnheiser) und die Schild-
drüse sind vollkommen normal.
Die Reaktion auf subkutan injiziertes Insulin verläuft eben-
falls normal, wird jedoch nach der Insulininjektion Glukose verab-
reicht, so bricht, wie Tab. 1 zeigt, die Insulinwirkung ab und die
Zuckerkurve verläuft als ob kein Insulin injiziert worden wäre.
Auch die Untersuchung des Serumeiweißgehaltes, der Erythrocyten
und Chloride im Blut nach O. Klein (16) ergibt nichts, was für
eine Beteiligung anderer Blutdrüsen spräche (Tabelle 6) oder sonst-
wie von der Norm abweiche.
Tabelle 6.
Ser
FR Erythrocyten x o
Zeit in Tausenden refraktion NaCl mg °%
l l |
5' vor d. Injekt.| 4,640 52 | 504
i |
‘Injektion von 20 Einh. Insulin subk.
10' später ' 4410 | 49 498
30 „ | 4265 | 48 | 467
I, Ä 4,140 50 | 475
2 on 4,460 51 473
r ..n 4,185 49,5 546
218 Maner u. Rıschawy
II. Zur Funktionsprüfung der Leber wurden aus naheliegen-
den Gründen in erster Linie die Belastungsproben mit Galaktose
und mit Lävulose herangezogen. Die von R. Bauer (17) ange-
gebene Belastung mit 40 g chemisch reiner Galaktose bot wohl die
überraschendste Erscheinung, die wir in diesem Fall beobachten
konnten: Trotz des mäßigen Anstieges des Blutzuckers (von 75 auf
172 mg°/,), und raschen Abfalles desselben, trat eine mächtige
Glykosurie auf (8,4°/, in einer der Teilportionen, s. Tab. 1), und
.die Gesamtausscheidung an Zucker in 3 Stunden überschritt
8,5 g, also eine eminente Vermehrung der obersten Normalgrenze,
die Bauer (18) mit 3g, Reis u. Jehn (19) mit 2 g festsetzen.
Die Diskrepanz zwischen Harn- und Blutzucker erscheint nicht un-
verständlich, wenn man die diesbezüglichen Versuche Isaac’s (20)
in Betracht zieht. Wenn auch v. Noorden (21) die Assimilations-
grenze für Galaktose tiefer setzt, E. Hoffmann (22) sogar 15 g
als obere Grenze annimmt, so muß doch auf Grund zahlreicher in-
zwischen publizierter Versuchsreihen eine derart hohe Ausscheidung
wie in unserem Falle unbedingt als pathologisch bezeichnet werden.
Auch der Umstand, daß Zucker nach Galaktosebelastung bei Neu-
rasthenie auftreten kann (Hirose (22)) besagt gar nichts, da eine
derartige neurasthenische Überempfindlichkeit ja doch auch eine
Ursache haben muß und vermutlich auch in funktionellen Inner-
vationsstörungen der Leber hat, gleichgültig ob dies nun direkt
oder auf dem Umweg über die Nebennieren vor sich geht. — Aus-
gezeichnet toleriert wurde die Lävulose wie dies auch bei dem
von Klein u. Rischawy (23) mitgeteilten Fall von innozenter
Schwangerschaftsglykosurie beobachtet worden ist. Der Blutzucker-
anstieg beträgt zwar auch bei unserem Fall 82°,,, doch erklärt
sich das wiederum aus dem abnorm tiefen Nüchternwert (von 69
auf 123 mg°/,), Zucker trat im Harn überhaupt nicht auf.
Es sei aus Gründen der Raumersparnis nur in Kürze erwähnt,
daß die nicht auf die Kohlehydratverwertung gerichteten Leber-
funktionsprüfungen nichts ergaben, was irgendwie für eine Störung
spräche; übrigens war dies ja auch gar nicht zu erwarten, da die
Leistungen dieses in seiner Tätigkeit so komplizierten Organes im
Kohlehydratstoffwechsel nicht mit den anderen Funktionen auf
gleiche Stufe gestellt werden dürfen. Erwähnt sei nur, daß die
Chromocholoskopie, die wir nach Lepehne (24) u. Hatiégan u (25)
mittels Indigokarmin vornahmen, normale Verhältnisse ergab: Der
intravenös eingespritzte Farbstoff erschien im Duodenalsaft nach
20 Minuten und verschwand nach ca. 2!/, Stunden, wobei das Aus-
Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 219
scheidungsmaximum nach etwa 1!/, Stunden erreicht wurde. Vor-
berige und gleichzeitige Verabreichung von Adrenalin (subkutan
und rektal) in einem Parallelversuch ergab keine Änderung dieser
Resultate. Auch die Urobilinurie und Belastung mit 3 g Fel tauri
siccum kann als normal bezeichnet werden (Falta 26)).
Tabelle 7.
. | Harnmenge Urobilin j
Zeit | in ccm in mg
7—9 105 | 0,446
9—10R 45 0,806
10—11* 35 0,296
11—12h 80 0,880
12—13® 90 1,148
13—7" 650 | 5,525
In 24 | 1005 | 8,601
len im Harn nach Einnahme von 3 g Fel tauri sice. (in Kapseln)
m 9 Khr. Bestimmung nach der Methode von A. Adler (27).
Wenn wir das Resultat unserer Leberfunktionsprüfungen über-
blicken, so können wir zwar eine schwere Störung mit voller
Sicherheit ausschließen, müssen aber zugeben, daß die glykopekti-
schen Funktionen der Leber den durch die Gastroenterostomie ver-
änderten Resorptionsverhältnissen nicht nachzukommen vermögen.
Ein ähnliches Verhalten ist übrigens auch ohne Gastroenterostomie
bei vielen Ulcuskranken von MacLean (28) beobachtet worden
und von Hijmans v.denBergh u.Siegenbeck van Heuke-
lom (29) nebst einer Reihe englischer und amerikanischer Autoren
bestätigt worden. MacLean hat diese rasch emporschießenden
und ebenso rasch wieder abfallenden Blutzuckerkurven als „lag-
curve“ (— Nachschleppkurve) bezeichnet, da offenbar die Blut-
zuckerregulation dem Tempo der Verdauungsvorgänge nicht nach-
zukommen vermag. Mit Recht nimmt Hijmans an, daß es sich
hier um eine Störung des nervösen Reflexmechamismus handeln
dürfte, da eine sekundäre Läsion des Pankreas sich mit der „lag-
curve“ logischerweise nicht in Einklang bringen läßt. Um dies-
bezüglich ganz sicher zu gehen und die perigastritischen Adhäsionen
als Ursache der Blutzuckersteigerungen auszuschließen, haben wir
zweimal Luftaufblasungen des Magens und oberen Dünndarms mittels
Duodenalsonde und Luftpumpe vorgenommen; man konnte vor dem
Röntgenschirm sehr schön die Lageverschiebung der Baucheinge-
weide sehen, der Pat. spürte das auch sehr wohl, eine Änderung
im Blutzucker blieb jedoch aus und damit schließt sich auch die
220 MAHLER u. RıscHhawy
Möglichkeit dieses Zusammhanges aus. Übrigens widersprechen
bei unserem Fall die oft subnormalen Blutzuckerwerte und die
Unabhängigkeit der Intensität der Glykosurie von der Nahrungs-
aufnahme a priori der Möglichkeit, daß eine Schädigung eines
Teiles der Langerhans’schen Inselzellen durch Adhäsionen vor-
läge und dies eine Ursache der Glykosurie sei. Wir können daher
Hijmans beipflichten, daß es sich bei der „lag-curve“ um eine
Störung in einem nervösen vom Magen-Duodenum zur Leber gehen-
den Reflexbogen handelt, zu dem freilich als erschwerendes Moment
in unserem Fall noch die Sturzentleerung des Magens hinzutritt.
Daß aber diese Leberfunktionsstörung sekundärer Art ist, dafür
sprechen die eben angeführten Funktionsprüfungen und wir stehen
daher in vollem Einklang mit dem, was Klein u. Rischawy (30)
über die Leberfunktionsstörung bei der Schwangerschaftsglykosurie
gesagt haben, nur mit dem Unterschied, daß dort inkretorische
Störungen für die Störungen im Kohlehydratstoffwechsel verant-
wortlich gemacht werden müssen, während hier alles auf das vege-
tative Nervensystem als Urheber hinweist. on
III. Prüfung des vegetativen Nervensystems. Die mechanische
Prüfung auf Vagotonie durch den Aschner’schen Druckversuch
und das Erben’sche Hock-Phänomen fiel negativ aus. Auf den
Czermak’schen Druckversuch wurde mit Rücksicht auf die neueren
diesbezüglichen Arbeiten verzichtet. Pharmakodynamisch wurde
mittels Adrenalin. Atropin und Pilokarpin geprüft, die Resultate
sind der besseren Übersicht wegen in den Tabelle 8 zusammengefaßt.
Die Pharmaca können bekanntlich sowohl subkutan als auch intra-
venös gegeben werden, doch ist bis jetzt noch nicht entschieden
worden, welche der beiden Methoden die verläßlicheren Resultate
liefert. Dresel (31) hat für das Adrenalin die subkutane Methode
empfohlen, Cahn u. Steiner (32), Kaufmann (33), Aschner (34),
Balint u. Goldschmidt (35), Louros (36) u. Billigheimer (37)
haben sich ihm darin angeschlossen. Sanguinetti (38) u. Cs&pai (39)
plaidierten für die intravenöse Prüfungsform und fanden in Hassen-
kamp (40), Deike u. Hülse (41), Peyser (42), Heß (43), Wein-
berg (44) u. v.a. Anhänger ihrer Methode Kylin (45), der die
Resultate in groß angelegten Versuchsreihen nachgeprüft hat, läßt
wohl beide Formen prinzipiell gelten, führt aber gegen die intra-
venöse Applikation Bedenken ins Treffen, die sicherlich ihre Be-
rechtigung haben. Wir haben in unseren Versuchen durchwegs
-mit der subkutanen Methode gearbeitet, ohne jedoch damit für
eines der beiden Prinzipien Stellung nehmen zu wollen. Die Unter-
Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 221:
suchungsserie spricht wie aus Tab. 8 hervorgeht, eindeutig für ein
Überwiegen des Tonus im sympathischen Nervensystem und würde
daher a priori auf einen Diabetes hindeuten, da nach Kylin
sich vor allem 3 Krankheitszustände durch diese Kurvenform aus-
zeichnen, das sind die Glomerulonephritis, der Morbus Basedow
und der pankreatogene Diabetes.
Tabelle 8.
Blutdruck Blutzucker
RR Steigerung . Steigerun Harn-
Injektion P | Maxi- Aus- | , & & | Maxi- zucker
gangs, Gipfel!. in mm in 9, z m gangs- Gipfel |. an o Mi mum Sae in g
I++ H| Er
AA
Adrenalin 108 ' 178 70 +648 6 85 | 168 97,6| 30 Spuren
Adren.-Cale. | 96 | 161 416771 7 | 82 | 178 171 30 | ø
Adren-Kal. | 106 | 155 | +49 +462 20 | 79 | 101 2 27,8 60 ø
Atropin 122 : 118 |! —4 '— 34, 25 | 84 | 73 |—11 -ısıl 60 ø
Be | 113 |—6 — bll 4
Pilsearpin .. 419: 125 6 + BOL 40 91 80 |— 111-111! 60 Ø
Calcium I 114 | 128 14 + 12,3 1 — — — — | — ø
Kalium kaor ea e a7, ee en, aE ø
Das bei unserem Fall ein Diabetes nicht in Frage kommt,
wurde bereits eingehend erörtert. Gegenüber der intensiven Re-
aktion des Blutdruckes und Blutzuckers auf Adrenalin und Adre-
nalin 4 Calcium, ja selbst auf Adrenalin + Kalium, sind die Re-
aktionen auf Atropin und Pilokarpin minimal. Die Blutdruck-
schwankungen liegen hier nur knapp außerhalb der Fehlergrenzen
und normalen Variationsbreite, die Blutzuckersenkungen deuten
schon durch ibre Gleichmäßigkeit in beiden Fällen darauf hin, daß
die geringe Senkung einfache Hungerwirkung ist, in den Puls-
kurven zeigt das Atropin einen subnormalen, das Pilokarpin einen
an der unteren Grenze des Normalen gelegenen Ausschlag.
Mag man auch der pharmakologischen Prüfung des vegetativen
Nervensystems noch so skeptisch gegenüber stehen, so muß immer-
hin zugegeben werden, daß diese Versuchsserie nebst der sicheren
Sympathikotonie mit großer Wahrscheinlichkeit für eine zwar nicht
hochgradige, aber deutliche Steigerung der Ansprechbarkeit des
sympathischen Teils und für eine sehr geringe, offenbar sogar ver-
minderte Reizempfänglichkeit des parasympathischen Anteils des
vegetativen Nervensystems spricht. Zwar bezieht sich diese nicht
auf alle Organsysteme, so z. B. nicht auf die Schweißdrüseninner-
vation und Speichelsekretion, sie ist aber auf den Gebieten Blut-
druck, Blutzucker und Puls so ausgesprochen, daß man un-
222 Maner u. RıschawyY
möglich achtlos an ihr vorübergehen kann. Von einer Wieder-
gabe unserer diesbezüglichen Versuchsreihen muß aus räumlichen
Gründen abgesehen werden. Es muß zwar zugestanden werden,
daß die Akten über vieles auf diesen Gebieten noch lange nicht
geschlossen sind — so sahen Platz (47), Bornstein (48) nach
Pilokarpin Erhöhungen des Blutzuckers, Toeniessen (49) hin-
gegen Senkungen —, doch scheinen uns die Ausschläge in unserem
Falle doch durchwegs ein gut Stück hinter dem zurückzubleiben,
was sonst als Normalmaß und Durchschnittswirkung aufgefaßt wird;
besonders deutlich wird dies, wenn man unsere Puls- und Blut-
druckkurven nach Adrenalin, Pilokarpin und Atropin mit den Para-
digmen aus L. R. Müller’s (46) Lehrbuch vergleicht.
Dazu kommt nun noch eine weitere Beobachtung, die in ganz
gleichem Sinne spricht. E. Fr. Müller, H. J. Wiener u. R. P.
Wiener(50) konnten zeigen, daß nach intrakutanen Insulin-
injektionen der Blutzucker rascher absinkt wie bei subkutanen.
In erster Linie gilt dies wohl für den Diabetiker aber auch beim Ge-
sunden konnte diese Beobachtung regelmäßig und in einwandfreier
Weise gemacht werden. In konsequent durchgeführten Versuchs-
serien konnten sie weiters zeigen, daß dieses Phänomen darauf be-
ruht, daß bei der Intrakutaninjektion sich zur gewöhnlichen hormo-
nalen Insulinwirkung eine zweite nervöse Komponente hinzugesellt.
Daß dieser Reflexvorgang von der Haut zur Leber in seinem An-
fangs- und Endteil auf parasympathischen Bahnen verläuft, konnten
sie in einer weiteren Versuchsreihe beweisen. Da nun in unserem
Falle, wie Kurve 1 zeigt, die Wirkung der subkutanen Injektion
früber eintritt wie die der Intrakutaninjektion, ja in dem einen
Fall (bei abnorm tiefem Blutzuckerausgangswert) die Wirkung der
Intreakutaninjektion überhaupt ausfällt, so ist es naheliegend aus
diesem Kffektausfall auf ein Versagen des Parasympathicus auf
diesen Reiz hin zu schließen, da ja für die Unterbrechung dieses
Reflexbogens an anderer Stelle durchaus kein Anhaltspunkt vor-
liegt. Da unsere Insulinkurve I fast aufs Haar der von Müller u.
Wiener abgebildeten Intrakutan-Insulinkurve nach vorheriger
Atropinblockierung gleicht, so versuchten wir, die erstere durch
Pilokarpin zu beeinflussen; daß dies sehr gut gelang, spricht für
die Richtigkeit unserer Anschauung einerseits, für die Müller-
Wiener’schen Hypothese andererseits. Zur Entscheidung der
Frage, ob die Störung im 1. oder im 2. Abschnitt der parasym-
pathischen Bahn zu suchen sei, machten wir die von denselben
Autoren angegebene Intrakutaninjektion von Aolan; da der erwartete
Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 223
Leukocytensturz prompt eintrat (7700—4000), so erscheint eine
Störung im zweiten Teil der Bahn sehr wahrscheinlich. Wenn wir
auch zugeben müssen, daß beide von uns angewendeten Methoden
zu jung und zu unerprobt sind, um zu strikten, geschlossenen Be-
weisführungen verwendet zu werden, so glauben wir doch, durch
den parallelen Ausfall zweier toto genere verschiedener Unter-
suchungsmethoden die herabgesetzte Reizempfindlichkeit des Para-
sympathicus in unserem Falle in hohem Grade wahrscheinlich ge-
macht zu haben.
Insulin, 20 E.
Ar intrakutan (dicke Striche)
II. subkutan (dünner Strich)
IV. intrakutan 30 Min. nach 0,01 Pilo-
karpin subkutan (strichuliert).
Kurve 1.
Es wurde früher bezweifelt, daß das parasympathische Nervensystem
einen Einfluß auf die Blutzuckerregulation habe, da verschiedene Tier-
versuche eher dagegen zu sprechen schienen. Heute verfügen wir über
zwei in entgegengesetztem Sinne sprechende Versuche: De Corral(51)
konnte zeigen, daß Vagusreizung nach Ausrottung der sympathischen
Nervenfasern der Leber Hypoglykämie hervorruft und Eiger (52) erhielt
bei Schildkröten trotz Ausschaltung des Pankreas nach Reizung des
peripheren Vagusendes vermehrte Glykogenbildung in der Leber. Obendrein
macht ja allein das Gesetz der antagonistischen Innervation den Einfluß
des Parasympathicus auf die Kohlehydratfunktionen der Leber so gut wie
sicher, da die doppelte Wirkung des Sympathicus auf diese (direkt und
via Nebennieren) ja längst bekannt ist. Auf diesem Standpunkt stehen
auch Greving (53) u. Toeniessen (54).
Man hat nun zwei Möglichkeiten, sich die primäre Ursache der
Leberfunktionsstörung vorzustellen: Entweder ist die parasym-
pathische Reiztaubheit darin begründet, daß die Ulcera ventriculi
mit ihren Begleiterscheinungen längere Zeit hindurch einen über-
starken Reiz auf die zentripetalen Vagusfasern ausgeübt haben,
so daß die schwachen alimentären Reize zur Regulation nicht so-
fort hinreichen. Die Mac Lean’sche „lag-curve* ließe sich auf
294 MaAHLER u. Rıschawr
diese Weise sehr einfach deuten, und daß die Hijman’schen Fälle
fast alle weit zurückreichende TIIcusanamnesen haben, könnte auch
in diesem Sinne sprechen. Oder aber es besteht eine Störung in
dem von Eisner u. Forster (55) und von Rosenberg (56)
sichefgestellten Reflex von Magen-Duodenum zur Leber; die Bahnen
dieses Reflexes sind unbekannt, daß sie sympathisch und para-
sympathisch gehen, ist nicht unwahrscheinlich. Eine Störung in
der Reizempfänglichkeit der parasympathischen Leberfasern, wie
wir sie oben erörtert haben, würde zu dieser Ansicht ganz gut
passen, und erscheint uns mit Rücksicht auf die oben besprochenen
Versuche näher liegend.
IV. Die Feststellung der Nierenschwelle im Verlaufe unserer
Versuche ergab, daß diese ca. bei 170 mg°/, liegen dürfte. Eine
genauere Fixierung schließt sich von selbst aus, da die Aus-
scheidungsschwelle schwankt und von einer Reihe von Umständen
abhängt (Labbé u. Nepveux(57), Nakayama (58). — Einer
uns gänzlich unerklärlichen Merkwürdigkeit muß hier noch gedacht
werden: Als wir einmal 1 mg Atropin ca. °/, Stunden nach einer
intrakutanen Aolaninjektion (1 ccm) injizierten, trat eine bis 1,8 °/,
betragende Glykosurie bei Blutzuckerwerten auf, die zwischen
10—82 schwankten. Es war dies das einzige Mal, daß wir bei
diesem Fall eine Herabsetzung der Nierenschwelle konstatieren
konnten. In zwei Parallelversuchen bei Gesunden zeigte sich nichts
ähnliches. Eine derartige Beobachtung findet sich unseres Wissens
in der Literatur nicht, höchstens wäre in diesem Zusammenhange
die Annahme von J oel (59) erwähnenswert, daß der renale Diabetes
auf Sympathikotonie basieren soll.
Wenn wir kurz zusammenfassen, welche Kompo-
nenten sich in unserem Fall für dieGlykosurie haben
ermitteln lassen, so können wir mit Sicherheit die
Sturzentleerung des Magens, die Sympathikotonie
und eine sekundäre Störung der Leber in bezug auf
den Kohlehydratstoffwechsel nennen; mit großer
Wahrscheinlichkeit kommt daneben — als inter-
essantestes Moment — eine herabgesetzte Ansprech-
barkeit des Parasympathicusin Betracht, die ihrer-
seits vielleicht wiederum auf die Magenerkrankung
zurückgeführt werden kann.
In Kürze seien einige Beobachtungen angeführt die wir an
einem zweiten Fall von. Glykosuria innocens machen konnten.
Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 225
X. Y., 28 Jahre alt, einem Intelligenzberuf angehörend, entstammt
einer Familie, in der echter Diabetes mellitus in allen Zweigen des
Stammbaums sehr häufig ist, ob auch Diabetes innocens-Fälle darunter
waren, ist unsicher, doch sind zwei Fälle diesbezüglich sehr verdächtig,
so weit man dies retrospektiv beurteilen kann. Aus der Anamnese des
Patienten sind Pertussis, Morbillen und Varizellen zu erwähnen. Des
öfteren litt er in den Jahren des Wachstums an Magenbeschwerden, die
damals auf eine Ptose und Atonie des Magens zurückgeführt wurden.
Vor 5 Jahren Furunkulose, Zucker wurde damals im Harn nicht ge-
funden. Verschiedene Stigmata des Stiller’schen Habitus. Familiäre
Neigung zu Ekzemen, Lymphocytose zwischen 37—48°/, schwankend.
Nach Aufregungen keine Glykosurie und auch keine Erhöhung des Blut-
zuckers. Sympathikotonie mäßigen Grades (nach 1 mg Adrenalin Steige-
rung des Blutdruckes von 98 auf 150 mm, des Blutzuckers von 65 auf
112 mg/,). Schulterbreite (Meßband) 33 cm, Brustumfang im 4. IKR.
81 cm, Bauchumfang zwischen Processus xiph. und Nabel 70 cm, Ober-
arm (Akromion bis Ellbogen) 35 cm, Unterarm 25 cm, Vola manus 11 cm,
Gewicht (nackt) 59,6 kg, Jugulum-Symphyse 56 cm, Oberschenkel (Tro-
chanter — Capit. fibulae) 42,5, Unterschenkel (Capit. fibulae-malleolus lat.)
36 cm, Oberlänge (Scheitel-Symphyse) 85,5 cm. Unterlänge 90,5 cm,
Gesamtlänge 176 cm, Spannweite 179 cm. . Nach der Oder’schen Formel
beträgt das Gewichtemanko 28,4 kg.
Vor mehr als einem halben Jahr wurde bei ihm zum ersten-
mal Glykosurie beobachtet, der Zucker durch die Phenylhydrazin-
und Gärungsprobe als Dextrose identifiziert. Die vollkommene Un-
abhängigkeit von der Art der genossenen Nahrung ließ sogleich
an Glycosuria innocens denken, eine Annahme, die durch die diffe-
rentialdiagnostischen Proben auch wirklich bestätigt wurde Die
jetzt neuerlich vorgenommene Kontrolle ergab ähnliche Resultate,
obwohl sich die Glykosurien in der Zwischenzeit immer wieder
gezeigt hatten. Nach längerem Suchen gelang es uns, dasjenige
Moment zu entdecken, das offenbar die auslösende Ursache dieser
Glykosurie ist: Sie tritt immer nur dann auf, wenn der Pat. sich
mittags sogleich nach dem Essen zum Nachmittagsschläfchen nieder-
legt. Bewegung oder selbst ruhiges Sitzen durch 30—40 Minuten
nach dem Essen genügen, um die Glykosurie mit; Sicherheit hint-
anzuhalten. Desgleichen konnte weder Glykosurie noch eine irgend-
wie über das Normalmaß hinausgehende Hyperglykämie konstatiert
werden, wenn der Pat. sich zwar sogleich nach dem Essen ruhig
niederlegte, jedoch wach blieb. Einflüsse von seiten der Nahrung
bestehen überhaupt keine, da beim eben erwähnten Versuch nebst
viel Fleisch und Fett über 200 g Kohlehydrate, davon der größte
Teil als Zucker gereicht wurden, während ein andermal nach ein-
stündigem Schlaf 0,5°, Dextrose im Harn auftrat, trotzdem der
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 15
226 MAHLER u. Rıschawy
Pat. bloß leere Suppe, Fleisch und Gemüse gegessen hatte. Daß
der Vorbelastung (s. Staub (60)) keine ausschlaggebende Rolle
zukommt, ist sicher, da der Pat. zum Frühstück und vormittags
gewöhnlich dasselbe ißt, und auch seine Betätigung (Muskelarbeit,
geistige Anstrengung) sich wenig ändert. Wichtiger erscheint uns,
daß wir auch hier, ebenso wie bei unserem ersten Fall des öfteren
im Hunger abnorm tiefe Blutzuckerwerte beobachten konnten, was
unter gleichen Bedingungen bei Gesunden nicht der Fall zu sein
pflegt (42, einmal sogar 39 mg°/,). Einige Male konnte beobachtet
werden, daß die Glykosurien bei Blähung des Magens und Darms
höher sind wie sonst. Unter anderen Bedingungen konnte eine
Glykosurie oder Hyperglykämie nie festgestellt werden, trotzdem
der Harn diesbezüglich weit über 100 mal, der Blutzucker von den
Versuchen abgesehen etwa 20 mal kontrolliert wurde. Leider waren
eingehendere Versuche über diese interessante Stoffwechselstörung
mit Rücksicht auf Stellung und Beruf dieses Kranken unmöglich,
und wir sehen daher davon ab, Hypothesen an unsere Beobachtung
zu knüpfen, so verlockend dies auch erscheint.
Ob eine Therapie der an und für sich ganz harmlosen Ano-
malie zweckvoll ist, läßt sich nur schwer entscheiden. Die meisten
Autoren empfehlen Einschränkungen der Kohlehydratzufuhr. Da
ein Teil der Fälle im Laufe der Jahre in echten Diabetes mellitus
übergehen soll und die sichere Diagnose erst nach längerer Be-
obachtungszeit gestellt werden darf, so erscheint tatsächlich dauernde
Schonung ratsam. Auf jeden Fall ist prophylaktisch der Genuß
von Zucker zu verbieten und Stärke und Weißmehl einzuschränken.
Ein einheitliches Vorgehen ist schon deshalb unangebracht, weil
es wohl eine Masse von Ursachen für innozente Glykosurien gibt,
Ursachen, die in den verschiedensten Organsystemen ihren Sitz
haben können. Nur ein genaues Studium der zweifellos nicht allzu
seltenen Fälle wird uns einen Einblick in die komplizierte Patho-
genese dieser Fälle gewähren und die vorläufig noch so wider-
sprechenden Mitteilungen ordnen helfen, denn höchstwahrschein-
lich beruhen die scheinbaren Widersprüche der Literatur einfach
darauf, daß hier unter einem Sammelnamen eine Reihe ätiologisch
ganz verschiedener Erscheinungen zusammengeworfen wird. Die
innozente Glykosurie selbst wird dann vermutlich zu einem bloßen
Symptom herabsinken, hinter dem sich, ähnlich wie bei den experi-
mentellen Glykosurien, eine Vielheit pathologisch-physiologischer Vor-
gänge verbergen kann. Nur eine möglichst eingehende Beobachtung
Klinischer Beitrag zur Frage des Diabetes innocens. 227
aller Fälle wird eine Einteilung nach ätiologischen Prinzipien er-
möglichen. Bis dahin müssen wir uns diesbezüglich mit den beiden
Einteilungsprinzipien begnügen, die, wenn auch nach rein äußer-
lichen Momenten, doch eine gewisse Ordnung in dieses so unklare
Gebiet zu bringen trachten. Das eine stammt von Wijnhausen
u Elzas (61) und gruppiert die Fälle nach den augenfälligsten
Erscheinungen ihrer Symptomatologie:
Gruppe Blutzucker a, g Glykosurie Erscheinungen Verlauf
1. - Normal Normal Gering Keine oder geringe Günstig
2. N Erhöht a > s
3. 3 Stark erhöht Nüchtern gering, Deutlich Ungünstig
nach KH groß
4. 3 Normal Stark Keine oder geringe Günstig
Unser erster Fall ließe sich unter Gruppe II, der zweite Fall
am ehesten unter Gruppe I dieses Schemas unterbringen.
Die zweite Einteilung läßt sich nach Salom on’s (62) umfassen-
der Arbeit folgendermaßen zusammenstellen:
1. Konstante, geringe Glykosurie (diese Gruppe dürfte sich
wohl mit dem Diabetes renalis decken),
2. Glykosurie von einer bestimmten Toleranzgrenze aufwärts,
sonst aber mit allen Zeichen der innozenten Glykosurie,
3. Fälle mit hoher perzentueller Zuckerausscheidung, oft auch
mit Ketonurie,
4. Intermittierende und transitorische Glykosurien. WieSalomon
hervorhebt, handelt es sich hier meist um nervöse Individuen; die
Beobachtung, daß bei solchen die Zuckertoleranzgrenze herabgesetzt
ist, wurde bereits 1895 zum ersten Male von Jaksch (63) mit-
geteilt.
Hier läßt sich unser zweiter Fall mit Sicherheit unter Gruppe IV
der erste Fall mit Reserve unter Gruppe II einteilen. Von einer
Toleranzgrenze, fix und ausgeprägt wie bei den leichten Diabetes-
fällen, kann bei letzterem freilich nicht die Rede sein. Es wäre
wohl richtiger zu sagen, daß diese Fälle oft auch aglykosurisch
sein können, was bis zu gewissem Grade nebst von anderen Faktoren
auch von der Art der Ernährung abhängig ist.
Zur Untersuchung der Fälle möchten wir als Resultat unserer
Beobachtungen folgenden Modus empfehlen:
1. Sicherung der Diagnose durch die bekannten und eingangs
erwähnten Differentialdiagnostica.
2. Komplette Untersuchung aller inkretorischen Organe.
15*
298 Maner u. Riscuawy
3. Bestimmung der Nierenschwelle und einiger Blutzucker
a) nüchtern, b) nach KH, c) nach EK, d) nach gemischter Kost.
4. Leberfunktionsprüfungen a) solche, die auf die Glykogen-
funktionen gerichtet sind, b) solche, die über andere Leberfunktionen
Aufschluß erteilen.
5. Prüfung des vegetativen Nervensystems.
6. Untersuchung des Magens, oberen Dünndarms und eventuell
noch anderer Organe, von denen reflektorisch eine Beeinflussung
der Blutzuckerregulation angenommen werden könnte.
7. Psychische Untersuchung; Beachtung von Schädeltraumen
(Raab hat einen solchen Fall beschrieben, der eine auffallende
Labilität des Blutzuckers aufwies) und Läsionen des Zentralnerven-
systems.
8. Untersuchung bezüglich konstitutioneller Minderwertigkeiten.
In unseren beiden Fällen ließ sich durch diesen Untersuchungs-
modus das Pankreas als Ursache der Glykosurie ausschließen und
im ersten Falle der ätiologische Kausalkonnex ziemlich genau fest-
stellen.
Wir glauben mit Recht annehmen zu dürfen, daß eine Unter-
suchung einer größeren Anzahl Fälle hinreichen wird, um eine
solide Basis eines ätiologischen Einteilungsprinzipes dieser bisher
mit Unrecht arg vernachlässigten Stoffwechselanomalie zu begründen.
Darüber hinaus aber versprechen Studien an diesen Fällen einen
Einblick in die Merkwürdigkeiten des Kohlehydratstoffwechsels
und seiner Regulationsmechanismen, wie er sich sonst wohl nur
selten darbietet.
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1414. — 63. Jaksch, Verhandl. d. Kongr. f. inn. Med. 13, 535, 1895.
230
Aus der Nervenabteilung der medizinischen Klinik zu Heidelberg.
Über klinische Sensibilitätsprüfungen.
Von
H. Stein und V. v. Weizsäcker.
(Mit 1 Abbildung.)
Einleitung.
Die neuere Entwicklung der Sinnesphysiologie und Wahr-
nehmungspsychologie hat auf die klinische Forschung am kranken
Menschen einen fühlbaren Einfluß auszuüben eben erst begonnen.
Auf der einen Seite finden wir uns mit einer Reihe wichtiger neuer
Reizmethoden ausgerüstet, an deren Spitze die von v. Frey (14) ge-
schaffenen stehen; auf der anderen Seite hat die als Gestaltpsycho-
logie sich bezeichnende Experimentalforschung die Aufmerksamkeit
auf Erscheinungen gelenkt, welche geeignet sind das Grundsätzliche
des Sinnesproblems in neuer Weise zur Diskussion zu stellen. Wer nun
an die besonderen Gebiete der von der Haut und dem Bewegungs-
apparat ausgehenden Sinnesleistungen, also an die in der Klink kurz-
weg „Sensibilität“ genannten Funktionen, herantritt, wird trotz jener
neueren Entwicklung oft über den Mangel an Vorarbeit zu klagen
haben und feststellen, daß im Vergleiche zur Ophthalmologie bzw.
physiologischen Optik dieses Gebiet in den Anfängen steckt. Eben-
sooft wird die Arbeit dann aufgehalten durch die Notwendigkeit,
die physiologische Methodik für die Krankenuntersuchung umzu-
bilden. Aber noch wichtiger als die Überwindung solcher methodi-
schen Schwierigkeiten ist, daß wir uns von dem Denkzwang, der
von den theoretischen Folgerungen der Physiologie und Psychologie
des Normalen ausgeht, nicht binden lassen; daß wir nicht erwarten,
die pathologischen Erscheinungen würden voraussichtlich eine
rationale Konsequenz oder Anwendung der physiologischen sein.
Die Erfahrung lehrt, daß das Geschehen beim Kranken Fragen
stellt, welche die Physiologie des Gesunden nicht erwarten ließ
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 231
und nicht beantwortet. Es ist ein Vorurteil, das Pathologische
sei nichts als das Normale unter veränderten Bedingungen. Gerade
hierauf aber beruht die Notwendigkeit und Fruchtbarkeit des Zu-
sammenwirkens der beiden Wissenschaften.
Da nicht nur in klinischen Lehr- und Handbüchern von der
Entwicklung der Sensibilitätsforschung vielfach kaum Notiz ge-
nommen wird, sondern auch in wissenschaftlichen Untersuchungen
oft ein unhaltbar gewordenes System theoretischer und methodischer
Lehren vorausgesetzt wird, so beabsichtigen wir hier eine kurze
Übersicht derjenigen Methoden zu geben, welche sich uns als
die für den alltäglichen klinischen Gebrauch geeignetsten heraus-
gestellt haben, nachdem wir durch die Anwendung exakter
Methoden im Laboratorium neue Gesichtspunkte für die Pathologie
der Sensibilität überhaupt glauben gewonnen zu haben. Denn
diese Methoden des Laboratoriums sind naturgemäß weniger auf
diagnostische als auf theoretische Ziele eingestellt; aber ihre Er-
gebnisse dienen als Leitfaden für den Zweck, am Krankenbett
rasch zu den grundsätzlichen Feststellungen zu kommen. Dabei
meinen wir aber nicht nur grobe und bequeme Schnellmethoden
sondern solche, die im Einklang mit der Funktionstheorie der
Sensibilität die Leistung treffen, welche bei Krankheiten gewöhn-
lich verändert ist. Für diese Funktionstheorie verweisen wir auf
unsere früheren Arbeiten und ihre Zusammenfassung in einem Re-
ferat (1— 11). Nach ihnen ergibt sich die hier kurz skizzierte Auf-
fassung der Sensibilität, derzufolge es nicht nur auf den Nach-
weis von „Ausfällen“ und ihre topographische Ausbreitung an-
kommt, sondern ebenso wesentlich auf die Funktionsprüfung der
zwar veränderten aber eben nur nach anderen Gesetzen noch
funktionierenden Sensibilität. Neben das Ausfallschema hat das
Funktionsdiagramm einer solchen veränderten Leistung zu treten.
Um diese letztere Gruppe von Erscheinungen deutlich von den
bloßen Ausfällen der Sensibilität zu trennen, sprechen wir von
einem pathologischen Funktionswandel.
Einleitend stellen wir einige allgemein orientierende Sätze
und Definitionen zusammen, welche unsere Resultate teilweise vor-
wegnehmen und daher erst nach deren Kenntnisnahme völlig ver-
ständlich werden.
1. Zunächst müssen wir solche Leistungen, bei denen ein re-
lativ einfacher Empfindungsinhalt, z. B. Schmerz oder ein einfaches
Erlebnis wie Gliedbewegung gegeben ist, unterscheiden von solchen,
in welchen Urteile über bestimmte Umweltbeziehungen gefordert
232 STEIN u. v. WEIZSÄCKER
werden, wie z. B. über Ort, Größe, Gewicht eines Objektes oder
über seine Dingidentität („Messer“, „Bleistift“. Wir bezeichnen
jene erste Gruppe als ästhetische, die zweite als noötische
Leistung, da bei jenen eine Qualität der Empfindung oder ein
empfindungsähnlicher Eindruck, bei diesen aber ein namentlich
räumlich, zeitlich oder sachlich präzisiertes Urteil über Gegen-
stände verlangt wird. Es ist zwar diese Unterscheidung von
no@tischen und ästhetischen Leistungen vor dem Forum einer
tieferdringenden psychologisch-logischen Kritik keine letztgültige,
weil es keine reinen Empfindungen gibt und weil jede Unter-
suchungsmethode vom Untersuchten eine ästhetisch-noätische, also
eine gemischte Leistung erfordert. Indes macht es doch einen
wesentlichen Unterschied, ob ich verlange, daß jemand ein Urteil
darüber angebe, ob er ein Tetraäder oder einen Würfel taste,
oder darüber, ob er Kälte oder Wärme spüre; denn der Grad der
Rationalisierung ist in diesen beiden Fällen doch verschieden.
Darum ist ihre Unterscheidung erlaubt und nützlich.
2. Gegenüber früheren Aufstellungen ist sodann festzuhalten,
daß die Ausdrücke Oberflächen- und Tiefen-Sensibilität
nur die rein topographisch-anatomische Lage bestimmter Rezeptoren
bedeuten, nicht aber irgendeinen Hinweis auf bestimmte Leistungen
enthalten dürfen. Wir halten es, wie an anderer Stelle ausführlich
begründet wurde, mitv. Frey z.B. für völlig unhaltbar, die Wahr-
nehmung von Lage, Vibration, Bewegung und tiefem Druck als
das Reservat einer Tiefensensibilität anzusehen, weil die ganz
maßgebende Rolle des oberflächlichen Rezeptoren für diese Lei-
stungen erwiesen ist, während die zweifellos mögliche Rolle tiefer
Rezeptoren in exakter Weise eben nur für den Kraftsinn feststeht.
Welche Bedeutung aber der Kraftsinn für die genannten Leistungen
hat, eben dies ist wiederum noch nicht bekannt.
3. Vielmehr haben wir davon auszugehen, daß derselbe Re-
zeptor Träger verschiedenartiger Leistungen ist. Er
kann in den Dienst einer ästhetischen ebensogut wie einer noö-
tischen Leistung gestellt sein; so die Rezeptoren des (oberflächlichen)
Drucksinnes, wenn wir einmal einfache Berührung wahrnehmen,
ein andermal den Ort der Berührung im Raum angeben sollen.
Aber auch in der Art der Erregung einzelner und des Zusammen-
wirkens mehrerer Rezeptoren erschließt sich eine reiche Mannig-
faltigkeit der Leistungen; so wenn jener Rezeptor einmal im
Sinne einmaligen Druckes, dann im Sinne einer Vibration erregt
wird, oder wenn bei Gliedbewegungen die Gesamtheit der über
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 233
dem Gelenk vorhandenen Hautrezeptoren durch Spannungsände-
rungen in charakteristischer Form erregt wird und so eine Be-
wegungswahrnehmung entsteht.
4. Es sind nachweislich in erster Linie die zentralen Sub-
stanzen des Nervensystems, an deren Integrität diese verschieden-
artige Verwendungsweise der peripheren Erregungen gebunden ist.
Wenn nun eine lokalisierte zentrale Störung eintritt, dann kann
diese Verwendung der Rezeptoren so verändert werden, daß eine
Art der Leistung aufgehoben, eine andere Art aber noch erhalten
ist. Der Abbau der Leistungen erfolgt unter pathologischen Ver-
hältnissen daher für dieselben Rezeptoren in verschiedener
Weise und in Stufen. So kann das Bild einer „dissoziierten“
Sensibilitätstörung entstehen, ohne daß wir aus solchen Dissozia-
tionen ohne weiteres auf den organologischen Aufbau des peripheren
Apparates schließen dürfen. Z. B. können die einzelnen Rezep-
toren für Druck normal erregbar sein, ohne doch jene fälschlich
allein der „Tiefensensibilität“ zugeschriebenen Leistungen der
Vibrations- oder der Bewegungswahrnehmungen noch ausüben zu
können.
5. Es ist unter pathologischen wie unter physiologischen Ver-
hältnissen unerläßlich, die phänomenologische von der physiolo-
gischen Betrachtungsform zu trennen. Es ist nämlich im allgemeinen
nicht gestattet, aus dem Inhalt des sinnlichen Erlebnisses Schlüsse
auf den physiologischen Vorgang zu ziehen. Z.B. kann man den Ein-
druck haben, eine Empfindung stamme aus der Tiefe, aber die
Analyse beweist, daß sie durch Oberflächenerregung bedingt ist; oder
man hat den Eindruck, ein heißer Körper errege nur den „Tempe-
ratursinn“, aber die Analyse beweist, daß auch der „Schmerzsinn“
zu dem Eindruck beitrug. Es sind also direkte Argumentierungen
aus den Erlebnisinhalten auf die physiologischen Vorgänge ohne
physiologisch analysierende Prüfung einer Behauptung wie in der
ganzen Sinnesphysiologie so auch hier unzulässig. Andererseits ist
es aber auch nicht gestattet, daraus daß wir bisher nur Rezeptoren
für Druck, kalt, warm und Schmerz anzunehmen pflegen, den
vereinfachenden Schluß zu ziehen, unsere Erlebnisse enthielten nicht
mehr als nur Komplexe von 4 solchen Elementaremfindungen. Die
Welt der Phänomene ist überaus reich und stellt noch unzählige
ungelöste Fragen an die Physiologie, eben weil die Art ihres
Zustandekommens nur in wenigen Fällen auf die Erregungsart
jener 4 Hauptvorgänge zurückgeführt werden konnte. Unter patho-
logischen Verhältnissen treten überdies Empfindungsqualitäten und
234 STEIN U. v. WEIZSÄCKER
Wahrnehmungen auf, welche der normale Mensch überhaupt nicht
besitzt.
Indem wir für alles Nähere auf die genannten Mitteilungen
verweisen, wenden wir uns jetzt zu einer schematischen Darstellung
der hauptsächlichen Funktionstörungen und der Methode ihrer Fest-
stellung mit dem ausdrücklichen Bemerken, daß wir diese neue Be-
arbeitung der Sensibilitätsprüfungen keineswegs nach jeder Richtung
für abgeschlossen halten und nur meinen, daß die bisher erreichten
Fortschritte eine Zusammenfassung an dieser Stelle rechtfertigen.
Selbstverständlich wird hier keine vollständige Methodenlehre ge-
geben; vieles, was unbedingt zu beachten ist: psychologische Vor-
aussetzungen, Fehlerberechnung, experimentelle Sauberkeit, ferner
subjektive Phänome und vieles andere was genügsam literarisch
erörtert ist, kommt nicht zur Sprache. Ebenso liegt es ganz außer-
halb dieser Darstellung, uns mit den theoretischen Grundfragen der
Sensibilität auseinanderzusetzen; ihr Zweck ist lediglich, einige
Hinweise und Vorschläge zu machen, wie man bei der täglichen
klinischen Untersuchung dem modernen Stand der Sensibilitätslehre
Rechnung tragen soll und kann, auch wenn man sich in die
schwierige wissenschaftliche Methode nicht einzuarbeiten wünscht.
Entsprechend den einleitenden Bemerkungen unterscheiden wir
zunächst die Untersuchung auf Ausfälle und die auf Funktions-
wandel. Eine Leistung kann ja aufgehoben, aber sie kann auch
der Art nach verändert sein.
I. Ausfälle und Schwellenerhöhungen.
Bekanntlich ist ein totaler Ausfall der Sensibilität (Anästhesie)
ein in der Klinik nicht so sehr häufiges Vorkommnis. Viel öfter
ist der Fall gegeben, wo wir, um einen Sinneseindruck zu bewirken,
den Reiz verstärken müssen (Hypästhesie). Gleich hier aber wird
oft nicht genug beachtet, daß der Wirkungswert eines Reizes auf
einer Sinnesfläche wie der Haut nicht nur von der Intensität sondern
auch von seiner Extensität abhängt; mehrere einzeln genommen un-
wirksame Reize können, wenn sie flächenhaft und an verschiedenen
Stellen zugleich gesetzt werden, durch gegenseitige „Verstärkung“
wirksam werden. Und dasselbe gilt aber auch für gewisse Fälle
der Succession von Reizen; also neben dem räumlichen schließt sich
auch noch ein zeitlicher Faktor an den der Intensität an.
Die Folge dieser Tatsache ist, daß wir, wie wir auch reizen
mögen, nur dann zu verständlichen Ergebnissen kommen, wenn der
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 235
Reiz nach jeder dieser Richtungen klar definiert ist; es ist nicht
so wichtig, daß die zur Reizung benutzten Instrumente eine möglichst
„feine“ oder „exakte“ Ablesung haben; viel mehr kommt darauf
an, daß sie beim Aufsetzen nicht verschoben werden können, nicht
mit verschiedener Geschwindigkeit und in konstanter Reizfläche
wirken, daß sie nicht mehrere Qualitäten zugleich reizen u. dgl. m.
Kurz, der Modus der Applikation und die raumzeitliche Gestalt,
in der gewisse Energien zugeführt werden, ist ebenso wichtig wie
diese selbst. Von einer normalen Schwelle, einer erhöhten Schwelle,
kann nur gesprochen werden mit dem Zusatze: für den im soeben
bezeichneten Sinne definierten Reiz. Angaben von Druckkräften, von
Temperaturen usw. für sich allein können eine Erregbarkeit niemals
definieren. Wir können darauf verzichten, die danach von selbst
sich ergebende Kritik der zahlreichen in der Literatur mitgeteilten
und höchst ungleichwertigen Instrumente hier vorzunehmen.
Pinsel, Wattebausch und Fingerbeere genügen dieser Forderung .
an sich nun ebensowenig, wie die von der Hand des Untersuchers
geführte Nadel und die temperierten Reagenzgläser. Trotzdem
bleibt diese Technik bei einiger Gewohnheit zulänglich für eine
Orientierung. Jeder Geübte weiß, daß mit diesen Utensilien bei
vielen pathologischen Zuständen der Reizwert steigt, wenn man
statt einen Ort möglichst lokal zu berühren das Objekt auf der
Haut verrückt, bewegt, breiter anlegt oder rasch wiederholt
appliziert. Solche Varianten sind also zu vermeiden. Die Schwierig-
keiten beginnen, wenn eine Aussage über die Schwere und die
örtliche Ausdehnung eines Ausfalles gemacht werden soll.
Die eben erwähnten üblichen Untersuchungen (Pinsel, Watte-
bausch, Fingerbeere, Nadel und Reagenzglas) sind keine Schwellen-
methoden. Sie sagen am meisten aus bei vergleichender Unter-
suchung zwischen kranken und symmetrisch gelegenem gesundem
Feld oder bei schrittweiser Überschreitung einer Grenzzone zwischen
gesundem und krankem Feld (womöglich senkrecht gegen die Grenz-
kontur). Man verfährt hier am besten analog der Perkussion,
nämlich vergleichend, und nicht indem man die Patienten nur durch
„ja“ oder „jetzt“ signalisieren läßt, ob sie „es“ gespürt haben oder
nicht. Vielmehr fragt man, ob zwei Reize gleich oder ungleich
seien, und worin die Ungleichheit bestehe; sie besteht in einem
Intensitätsunterschied, aber ebensooft in einem Qualitätsunter-
schied der Empfindung.
Wünscht man nun den Grad einer Störung im Sinne der Er-
regbarkeitsveränderung zu kennen, so ist, wie schon be-
236 STEIN u. v. WEIZSÄCKER
merkt, die Rücksicht auf den räumlichen und den zeitlichen Reiz-
faktor unerläßlich. Die isolierte Reizung der Sinnespunkte ist ein
bei kranken durchaus erreichbares Ziel.
Druckreize. Das Reizhaar nach v. Frey ist unbedingt
überlegen, weil es ‘gestattet einzelne Druckpunkte zu reizen, weil
es äußerst bequem zu handhaben ist, weil es wirkliche Schwellen-
untersuchung gestattet, weil es, wenn man das Abgleiten vermeidet,
eine streng örtlich begrenzte Applikation erlaubt und endlich weil
(infolge seiner geringen Masse) die nicht immer streng gleiche Ge-
schwindigkeit des Aufpralls beim Aufsetzen keine erhebliche Energie-
änderung bedeutet und eine wichtige Fehlerquelle so vermieden
ist. Es ist also die unersetzliche Methode zur Auffindung und Er-
regbarkeitsbestimmung von Druckpunkten.
a) Bei peripheren, neuritischen oder traumatischen Nerven-
läsionen, und bei gewissen zentralen Erkrankungen, finden wir nun
die Rarefikation der Druckpunkte, d. h. wir finden im
gestörten Felde weniger zahlreiche aber normalschwellige Druck-
punkte (v. Frey (1) an Nervenverletzten, Franz (2) und Stein
auch an spinal Erkrankten. Nach Stein kommt die Rarefikation
bei Syringomyelie und Brown-Sequard’schem Syndrom vor und sie ist
offenbar ein für die Hinterhorn- und Seitenstrangerkrankung
charakteristisches Bild.
b) Ein zweiter Fall ist der, daß wir bei Reizhaaruntersuchungen
überhaupt keine normalen Druckpunktschwellen mehr finden, sondern
nur erhöhte Schwellen. Auch dann finden wir aber ausgezeichnete
Stellen die besser erregbar sind als ihre Umgebung: Druckpunkte
mit verminderter Erregbarkeit. Dieser Befund kommt,
wie wir neuerdings sahen (Dr. Cohen (16)), auch im Regenerat
einer peripheren Läsion vor. Auf das besondere Verhalten bei
spinaler Hinterstrangstörung kommen wir zurück.
c) Wenn wir Rarefikation oder Erregbarkeitsminderung der
Druckpunkte haben, so brauchen wir beim Absuchen eines Feldes
eine durchschnittlich viel größere Zahl von Reizungen um eine ge-
gebene Anzahl von positiven Reizerfolgen zu erhalten. Wir werden
aber auch einen in 100°/, der Applikation wirksamen Reiz erst in
einem viel stärkeren Haar besitzen als unter normalen Verhält-
nissen. Man kann nun unter Verzicht auf das Aufsuchen einzelner
Druckpunkte rein statistisch feststellen, in wieviel °% der
Reizungen die Haare eines Satzes von ansteigender Stärke wirk-
sam sind und erhält so eine Kurve. Diese Kurve beginnt im Falle
der Rarefikation mit einem normalen Schwellenwert, im Falle der
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 237
allgemein verminderten Erregbarkeit von vornherein mit einem er-
höhten Schwellenwert (Franz (2)).
d) Hyperästhesien im Sinne der Schwellenerniedrigung
von Druckpunkten sind klinisch bisher niemals gefunden worden.
Auch im Meskalinrausch haben Mayer-Groß und Stein (15) die
absoluten Schwellen bisher nie erniedrigt gefunden.
e) Wenn wir Reizhaare benutzen, welche überschwellig für
Druckpunkte sind, so erregen wir ein größeres Areal, weil die
Deformation der Haut in der Fläche und Tiefe zunimmt. Es ist
nun für viele Zwecke bequemer, sich eines Reizhaares zu bedienen,
welches eben hinreicht um nicht nur am Druckpunkte sondern an
jedem Punkte eine Empfindung auszulösen. Dies ist um so weniger
bedenklich, als die Druckpunktschwellen einer Region normaler-
weise verschiedene sind und als sie ja in verschiedenen Regionen
verschieden dicht angeordnet sind. Wir stehen an der Grenze der
Verfahren, bei denen man mehrere Druckpunkte zugleich bzw. eine
dem Auge als solche schon imponierende Fläche reizt. Dies
empfiehlt sich auch dann, wenn die Schwellen mit Haaren schon
mehr als 5—10 g betragen.
Zur Feststellung der Flächenreizschwellen ist allein eine
Methode zulässig, bei der keine Verschiebung auf der Haut und
kein Tangentialzug an der Haut vorkommen kann und bei der die
Geschwindigkeit des Aufsetzens eines Gewichtes nicht variieren
kann. Diesen Bedingungen genügen die üblichen Barästhesiometer
nicht. Wir benutzen mit verschiedenen Modifikationen die von
Hansen (13) geschilderte Methode, bei der eine aufgeklebte Scheibe
durch einen Hebel angedrückt wird, der seinerseits wieder so be-
lastet wird, daß keine mechanische Störung, insbesondere keine
Fallbeschleunigung vorkommen kann (4) (5).
Die Untersuchung mit Flächenreizen ergab uns nun, daß auch
bei der bloßen Rarefikation (bei der also normal erregbare Druck-
punkte noch da sind), die Flächenreizschwelle erhöht gefunden
wird, wie nach den Untersuchungen von v. Frey zu erwarten war.
Man darf daher umgekehrt aus einer Hypästhesie für Flächenreize
nicht auf eine solche für Druckpunktreize schließen (v. Frey
sprach daher in solchen Fällen von „scheinbarer“ Hypästhesie); und
die klinisch üblichen Methoden sind ja „Flächenreize“.
f Wir haben bisher nur von absoluten Schwellen gesprochen.
Besonders in den Anschauungen von H. Head ist die Tätigkeit,
Druckunterschiede wahrzunehmen, auch theoretisch als sehr
wichtig erkannt und als „kortikale“ Funktion gedeutet worden.
238 Stein u. v. WEIZSÄCKER
Die unter e) besprochene Methode eignet sich zu einer (quanti-
tativen) Untersuchung der Unterschiedschwellen am besten. Auch
v. Strümpell pflegte seinen „tiefen Drucksinn“ in der Weise zu
prüfen, daß dem Patienten verschieden tiefe Fingerdrucke zum Ver-
gleich aufgegeben wurden, aber diese Untersuchungsweise ist in
mehrfacher Hinsicht ungeeignet. Es ist nämlich durch v. Frey
und seine Schule sichergestellt, daß bei den überschwelligen
Druckreizen der intensive von einem exteusiven Faktor nicht zu
trennen ist, weil die Hautdeformation auch des nicht von der Reiz-
fläche berührten umgebenden Gebietes mitgereizt wird und in den
Erregungskomplex mit eingeht; in welchem Betrage dies im Einzel-
falle und bei verschiedenen Reizstärken der Fall ist, darüber wissen
wir noch nicht genug. Auf weitere Bedenken kommen wir später
zu sprechen. Bei peripheren Läsionen der Nerven kann man zeigen,
daß die relative Unterschiedschwelle auch dann nicht merklich ver-
ändert zu sein braucht, wenn in einem Gebiete Rarefikation der
Druckpunkte und erhöhte Flächenreizschwelle besteht (Cohen 16)).
g) Tiefer Druck. Drückt man die Haut, namentlich über
Weichteilen, etwas tiefer ein, so entsteht, wie schon ein scharfes
Zusehen mit dem unbewaffneten Auge zeigt, eine überaus weit-
ausgreifende Formänderung des Gliedes, die bei der hohen Erregbar-
keit der taktilen Endigungen nicht verfehlen kann, ein großes
Areal auf eigentümliche Weise zu erregen. Darum muß tiefer
Druck immer als ein sehr unübersichtlicher, wenig brauchbarer
Reiz betrachtet werden. Die von v. Frey nie rund bestrittenen,
sondern ihm nur als unbewiesen geltenden Druckrezeptoren in der
Unterhaut und in den Muskeln, Sehnen, Aponeurosen, Gelenken,
Knochen usw. sind daher für gewöhnlich praktisch nicht isoliert
untersuchbar, worauf in dieser schwierigen Frage doch alles an-
käme. Wir haben uns neuerdings der Annahme tiefer ge-
legener Rezeptoren für Druckreize zugeneigt; aber es gibt bisher
keine geeignete Methode, diese Rezeptoren für sich zu prüfen. Was
wir bei tiefem Druck untersuchen, ist eine weitgreifende Defor-
mation und damit Reizung zunächst der Cutis, die teils mehr in
senkrechter, teils in mehr tangentialer Richtung auf ihre Re-
zeptoren wirkt.
h) Verstärkung. Wenn es danach vorläufig nicht aussichts-
voll ist, neben den Schwellen für Druck schlechtweg (sei er klein-
oder großflächig ausgeübt) noch einen „tiefen Druck“ sui generis
zu unterscheiden, so kann doch die Frage aufgeworfen werden,
welches überhaupt die Bedeutung der Extensität (Reizfläche) als
-— ——— me ——.__
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 239
solcher für den Reizwert der Drucke sei. Wir stellen uns ja doch
irgendein Zusammenwirken der räumlich auseinanderliegenden Re-
zeptoren vor, und dies Zusammenwirken ist, wie schon bemerkt,
beim Normalen dem Gesetz der gegenseitigen Verstärkung unter-
worfen. Eine solche ist auch bei der Retina bekannt und sie ist
von Sherrington bei der Untersuchung der Reizbedingungen des
Kratzreflexes gefunden und in die Form geprägt worden, daß die
(sc. Vergrößerung der) Extensität dieselbe Wirkung hat wie die
(sc. Vergrößerung der) Intensität. In pathologischen Fällen ist nun
eine Veränderung oder Ungültigkeit dieses Prinzips der Verstärkung,
bisher wenigstens, in keinem Falle gefunden worden (4). Auch
diese Versuche wurden im Prinzip nach der Methode von Hansen
durchgeführt.
i) Geführte Bewegungen. Daß bei der Wahrnehmung
geführter („passiver“) Bewegungen die Hautsensibilität eine große
Rolle spielt und jedenfalls die Last der feineren und feinsten, ge-
nauer: der schwellennäheren Empfindungen trägt, geht aus v. Frey’s
Untersuchungen unwiderlegt hervor (vgl. H. Stein (17). Man kann
am Krankenbett ohne einen Apparat, der die Winkelgrößen und
-geschwindigkeiten mißt, keine exakten Schwellenuntersuchungen
anstellen. Unter pathologischen Verhältnissen aber nimmt, wie sich
zeigte, gerade Winkelgröße und -geschwindigkeit einen sehr wesent-
lichen Anteil am Reizwert einer passiven Bewegung. Wir finden
eine etwas raschere Bewegung wirksam, während eine langsame vom
gleichen Ausmaß unwirksam ist. Neben dem Raumwert ist also
hier der Zeitwert des Reizes wichtig und zuweilen ist die Ge-
schwindigkeitschwelle wesentlich erhöht. Während wir nun diesen
Geschwindigkeitsfaktor bei einer gewöhnlichen manuellen Unter-
suchung des Gesunden überhaupt nicht demonstrieren können, gelingt
es bei Kranken oft leicht die Anästhesie gegen langsamere, die
Empfindbarkeit von schnelleren Bewegungen schon im manuellen
Versuch nachzuweisen.
k) Bewegte Reize. Schon beim Normalen ist, wie neuere
Untersuchungen zeigten (H. Ahringsmann u. A. Buch (7), ein
Druckreiz von bestimmter Stärke wirksamer, wenn er auf der Haut
fortbewegt wird; so kann das einfache Aufsetzen eines bestimmten
Druckes unwirksam sein, bewegt man ihn aber von der Stelle, so
wird er wirksam. Auch Wegstrecke und Geschwindigkeit sind von
Einfluß auf den Reizwert. Dieser Tatbestand ist von hoher Bedeutung
auch für die Kritik an bestimmten Methoden. Die üblichen klinischen
Methoden sind sehr schwer oder gar nicht so anzuwenden, daß
240 STEIN u. v. WEIZSÄCKER
Bewegung auf der Haut beim Auf- und Absetzen vermieden bleibt.
Als Symptom aber für bestimmte Sensibilitätstörungen ist es charakte-
ristisch, daß Reize von gewisser Stärke, die beim Gesunden längst
überschwellig sind, beim Kranken erst wirksam sind, wenn sie eine
mehr oder weniger lange Strecke auf der Haut fortbewegt werden.
l) Kraftsinn. Beim Auflegen von Gewichten auf die Haut
wird von einem gewissen Druck an die eventuell unter der Haut
liegende Muskulatur ebenfalls deformiert. Aber wir wissen nichts
über die nur denkbare Beteiligung der Muskelsensibilität. Anders
bei Spannung des Muskels in der Längsrichtung unter Benutzung
der natürlichen Gelenk- und Hebelvorrichtungen. Hier gelingt
(v. Frey) der Nachweis einer selbständigen und von der Mit-
wirkung des Drucksinnes der Haut unabhängigen Leistung der
Muskel- bzw. Sehnensensibilität. Um aber die Wirkung der haut-
sinnlichen Faktoren auszuschalten, sind ganz besondere, in klini-
schen Fällen selten befriedigend durchführbare Bedingungen zu
schaffen (vgl. Hansen (18). Vielmehr liegt bei den gewöhnlich
anwendbaren Methoden des Gewichtschätzens mit Hitzig’schen
Kugeln oder Manschetten eine gemeinsame Beanspruchung von
Kraftsinn (Muskelsinn) und Drucksinn (Hautsinn) vor, die über-
dies von sehr vielen Faktoren abhängt, die nicht alle leicht zu
beherrschen sind (Panzel (6). Von einer klinischen Methode,
welche gestattete Ausfälle oder Schwellenänderungen des Kraft-
sinnes festzustellen, kann man daher bis jetzt nach unserer
Meinung nicht sprechen.
m) Die Erzeugung von Schmerz- und Temperaturemp-
findungen darf hier kurz erledigt werden. Wir benutzen, um
Schmerzpunkte und die Schwelle für Schmerzempfindungen zu prüfen,
die von v. Frey analog dem Reizhaar erfundene Stachelborste nach
seinen Angaben, zur Auffindung der Kaltpunkte die kupferne Knopf-
sonde, für die Warmpunkte seine elelektrisch erwärmte Platin-
schlinge. Bei den Temperaturreizen ist die Beachtung der Reiz-
fläche von ganz beherrschender Wichtigkeit und es scheinen für
die Erregung der Kälte- und Wärmepunkte mit punkt- und mit
flächenförmigen Reizen dieselben Verhältnisse zu gelten, wie für
die oben für den Druck entwickelten. Es besteht kein Zweifel,
daß auch für die Temperatursinnstörungen beides vorkommt: die
Rarefikation und die allgemeine Schwellenerhöhung für die Erregung
der Temperaturpunkte. Beide Störungen dokumentieren sich durch
eine Schwellenerhöhung bei Anwendung flächenförmiger Reize.
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 241
II. Funktionswandel.
Die bisher besprochenen Untersuchungsmethoden gehen über
die in der Klinik der Nervenkrankheiten allgemein und die von
physiologisch orientierten Forschern wiè Goldscheider, Head
und verschiedenen anderen befolgten besonderen Verfahrungsweisen
grundsätzlich nicht allzusehr hinaus. Das Studium der Sinnes-
punkte ist ja von verschiedenen Klinikern aufgenommen worden,
nachdem Goidscheider, Blix und v. Frey, ihre Entdeckungen
vorgelegt hatten. — Anders steht es mit den nunmehr zu be-
sprechenden Methoden, die nicht nur aufdecken sollen, ob eine be-
stimmte Empfindungsqualität noch erzeugt werden kann oder nicht,
und in welchem Grade etwa die Erregbarkeit für sie gesunken ist;
vielmehr ist im folgenden gefragt: wie verläuft unter pathologischen
Verhältnissen der Erregungsvorgang in zeitlicher und räumlicher
Beziehung, wie erfolgt das Zusammenwirken der Teile des sensibeln
Organes zu einem Ganzen, zu einer Gesamtleistung. Wir haben bei
früheren Gelegenheiten ausgeführt und oben schon angedeutet, daß
in der klinischen Sensibilitätslehre wie sie gegenwärtig noch weit-
verbreitet ist und in den Lehrbüchern, z. B. auch von Dejerine
in seiner S&miologie, dargestellt wird, einige fundamentale Irrtümer
vorliegen. Vor allem handelt es sich dabei um den Versuch, eine
Reihe von Funktionen der sog. Tiefensensibilität zuzuschreiben, die
nachweislich schon von den Hautrezeptoren geleistet werden, und
ferner um den Versuch, aus bestimmten dissoziierten Sensibilitäts-
störungen Schlüsse auf getrennte Rezeptoren und Leitungsbahnen
zu ziehen, während man doch zeigen kann, daß solche Dissoziationen
dadurch entstehen, daß ein Sinnesapparat für eine seiner ver-
schiedenen Funktionen tüchtig bleibt, für eine andere untüchtig
wird, wobei zugleich ein eigentümlicher Funktionswandel eintreten
kann. Allgemein sei bemerkt, daß der letztere Punkt uns für die
Pathologie greifbarer und zur Zeit übersehbarer erscheint, als die
topographische Frage nach der Lagerung bestimmter Rezeptoren
in der Oberfläche oder Tiefe, wie wohl es für das Verständnis des
pathologischen Funktionsabbaues ganz entscheidend ist zu wissen,
daß Vibration, Bewegung und Lage, Ort und Figur, Druck und tiefer
Druck zunächst einmal sicher von den oberflächlich gelegenen
Hautrezeptoren vermitttelt werden, während der Anteil tiefer Emp-
fänger zumindest noch unsicher ist. Aber man muß auch dann,
wenn man die Mitwirkung der (sicher viel spärlicher vorhandenen)
tiefen Rezeptoren für wahrscheinlich hält, bedenken, daß mit dieser
topographischen Einsicht nichts gewonnen ist für die Frage, wie
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 16
242 STEIN u. v. WEIZSÄCKER
denn die gewaltige Mannigfaltigkeit von Empfindungen und Wahr-
nehmungen, welche z. B. unsere Hand vermittelt zustande komme.
Sicher ist heute nur soviel: es geht nicht an für jede neue Leistung,
die sich ein Untersucher zu untersuchen vornimmt (sei es die
Prüfung auf Vibration, Bewegungswahrnehmung, Tiefendruck oder
was auch immer), ein neues Organ, einen neuen anatomisch-
physiologischen Repräsentanten, eine neue Leitungsbahn und einen
neuen Sinn zu postulieren, wozu die ältere Epoche allzusehr ge-
neigt schien. Sondern wir müssen die Grundlage der Sensibilität
zunächst nur als das auffassen, als was sie uns gegeben ist: als
ein einheitliches Gesamtorgan, welches eine große Mannigfaltigkeit
von Leistungen nicht nur dadurch erzielt, daß es in Unter- oder
Teilorgane differenziert ist, sondern auch dadurch, daß es auf sehr
verschiedenen Weisen und in mannigfaltigen Formen in Tätigkeit
gerät, denen jedesmal qualitativ andere Empfindungen und Wahr-
nehmungen entsprechen.
Pathologie deszeitlichen Erregungsablaufs. Wenn
die allgemeine Orientierung über sensible Ausfälle erreicht ist,
wenden wir uns zur Prüfung des Verhaltens in zeitlicher Beziehung.
: 1. Schwellenlabilität (Stein (3). Mit einem Reizhaar,
welches bei beliebigem Aufsetzen in einem Umkreis von 2 oder 3 cm?
jedesmal eben wirksam gefunden wird, also jedenfalls einen un-
gefähren Schwellenreiz darstellt, fährt man fort in einem Rhythmus
von etwa ',—1 Sekunde zu reizen. Der Patient muß bei jeder
Empfindung mit „ja“ antworten. In gewissen noch zu bezeichnenden
Fällen findet man dann das Haar nach 10 oder 20 Reizen un-
wirksam werden. Man geht jetzt zu dem um 0,1 oder 0,2 g stärkeren
Haar über und findet es zunächst wirksam, aber bei wie vorher
rhytlimisch wiederholter Reizung verliert auch dieses seine Wirkung.
Dasselbe wiederholt sich bei der nächsthöheren Haarstärke und
die Schwelle kann so fort bis zu einem definitiven Wert von mehreren
(Gramm ansteigen, um auf ihm stehen zu bleiben.
Dieses Phänomen der Schwellenlabilität ist auch für Schmerz-
reize bei Anwendung geaichter Stachelborsten nachweisbar (Stein 8))
und wurde neuerdings auch bei der Erregung von Temperaturpunkten
mit spitz zulaufenden Thermoden erwiesen (Cohen 16)). Es wurde
bisher ausschließlich bei zentralen (spinalen und cerebralen) Er-
krankungen gefunden und unter den spinalen wiederum, wie es bis
jetzt scheint, nicht bei den auf die Seitenstränge beschränkten
Herden; die Schwellenlabilität ist vielmehr charakteristisch für die
Hinterstrangerkrankung.
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 243
Der Zustand der infolge von Labilität erhöhten Schwelle breitet
sich über den gereizten Bezirk hinaus nur wenig, vermutlich nicht
über eine Segmentbreite, aus. Er hält den Grad der Störung ent-
sprechend längere oder kürzere Zeit an (wenige Minuten bis eine
Viertelstunde) und bildet sich nur allmählich zurück. Da nun bei
der gewöhnlichen Prüfung auf Ausfälle der Untersucher den Ort
der Reizung fortwährend ändert und da Labilität bei Kranken
vorkommt, deren Schwellen primär und für die ersten Reize normal
sind, so muß diese Funktionstörung den üblichen Methoden not-
wendig entgehen 1). In der Tat hat die Labilität auch eine völlig
andere klinische und physiologische Bedeutung als der Ausfall.
Die Erscheinung der Labilität läßt sich nun nicht nur mit
Reizbaaren usw. nachweisen. Man kann in ausgesprochenen Fällen
bei sorgsamer Reizung mit der Fingerkuppe bei rhythmischer Wieder-
holung an derselben Stelle ebenfalls das Unwirksamwerden leichter
Berührung, das Wiederauftreten und Wiederverschwinden bei
stärkerer Reizung feststellen. Aber auch das Anschreiben von
Zahlen auf die Haut zeigt, daß die ersten Zahlen erkannt, die
folgenden, an dieselbe Stelle geschriebenen nicht erkannt werden.
Einigemale bemerkten wir, daß die von Strümpell vorgeschlagene
Aufgabe, den Intensitätswechsel von tiefem Druck an derselben
Stelle zu erkennen, von dem Kranken schon nach einigen wenigen
Versuchen nicht mehr gelöst wird, wenn hochgradige Schwellen-
labilität besteht. Es ist nach dem Vorstehenden leicht zu verstehen,
wie Strümpell durch die zugleich erhaltene Berührungsempfind-
lichkeit der Haut, deren Labilität ihm entgehen mußte, zu dem
Fehlschluß auf eine selbständige und isoliert ausfallende Sensibilität
für tiefen Druck gelangen konnte. Endlich kann man bei der
Prüfung der Wahrnehmung geführter Beweguugen, wenn man diese
oft genug (10-20 mal und öfter) wiederholt, ein rasches Erlahmen
der Leistung mit Fehlurteilen und schließlichkem Wahrnehmungs-
ausfall feststellen. Es ist bei diesen Fällen übrigens zu zeigen,
daß eine sehr kräftige Beanspruchung, z. B. ein kräftiges Frottieren,
aber auch sehr brüske und ausgiebige Bewegungen ebenfalls ge-
eignet sind, das Ansteigen der labilen Schwellen herbeizuführen.
Andererseits wird, wo Labilität besteht, die Untersuchung auf
„die“ Erregbarkeitsschwelle immer dann illusorisch, wenn die
Untersuchungsmethode dazu zwingt ein und dasselbe Sinnesfeld
1) Nur Head war auf sie gestoßen, hat. sie aber infolge seiner Unter-
suchungsweise für eine Unfähigkeit, Intensitätsunterschiede zu erkennen, gehalten.
16*
244 Stein u. v. WEIZSÄCKER
oder Rezeptorengebiet wiederholt und kurz hintereinander zu be-
anspruchen. Geschieht dies, so erhält man jene dem Kliniker wohl
bekannte „Unbestimmtheit“, „Unsicherheit“, „Inkonstanz“ der An-
gaben, die aber eben gerade nicht auf solchen Dingen, sondern im
Gegenteil auf einem in sich gesetzmäßigen Wandel der Funktion,
und zwar auf einer pathologischen Verzögerung des in jedem
Sinnesorgan nach jeder Erregung notwendigen Restitutionsvorgang
der Erregbarkeit beruht.
2. Vibration. Obwohl die Tatsache, daß die Oberflächen-
rezeptoren der Haut den Eindruck der Vibration vermitteln und
die Annahme einer Empfänglichkeit der Knochen-Periostsensibili-
tät für Vibration von verschiedenen Seiten stark erschüttert und
durchaus nicht nötig ist um die Erscheinungen zu erklären, halten
viele Untersucher unbeirrt an der Gleichsetzung von Vibrations-
empfindung und Knochensensibilität fest. Es ist z. B. interessant,
daß der erfahrene Döje&rine schreibt, man pflege den Vibrations-
sinn bei schwerster Querschnittlähmung als letzte und einzige
sensible Qualität an den Beinen erhalten zu finden. Dieser Satz
ist ein stärkeres Argument als viele andere für die auch von
v. Frey vertretene Auffassung, daß die Knochen lediglich die
Rolle eines mechanischen Überträgers der Schwingungen von
anästhetischen auf noch empfindlich gebliebene -Hautgegenden
spielen. Die Stimmgabel ist also völlig ungeeignet, topographische
Untersuchungen zu ermöglichen und sie fördert auch nicht die
Funktion eines besonderen Sinnesorgans zutage. Vielmehr ist
sie ein geeignetes Mittel zur Untersuchung der Fähigkeit des
Hautsinnes, rasch wiederholte mechanische Erschütterungen als
eigentümliche Qualität — „Vibrationsgefühl“ — zu empfinden.
Man darf hier von Empfindung sprechen, weil eine gesonderte
Wahrnehmung und Unterscheidung der Einzelstöße nicht in Frage
kommt.
Wenn nun die Methode befolgt wird, bei der man feststellt,
wie lange die Vibration einer Stimmgabel empfunden wird, so
stellt die Methode entweder eine gewöhnliche Schwellenuntersuchung
dar: wir erfahren, daß bei Abnahme der Amplitude eine sonst noch
empfundene Schwingungsgröße nicht mehr wirksam ist. Dies kann
z. B. bei peripherer Nervenläsion eintreten. Oder aber, wenn
Labilität vorliegt, so kann die Beanspruchung als solche zu einer
raschen Schwellenzunahme und damit einer vorzeitigen Erschöpfung
der Empfindung führen. Die Abkürzung der Empfindungsdauer
einer Stimmgabelvibration ist also kein eindeutiger Befund, was
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 245
den Wert der Methode entschieden beeinträchtigt. Andererseits
ist die neuerdings wieder betonte Tatsache, daß Vibrationsemp-
findungstörungen als Frühsymptom bei Tabes gefunden werden,
sehr verständlich, eben weil die Schwellenlabilität für die tabische
Hinderstrangerkrankung bezeichnend ist.
Eine brauchbare Schwellenmethode für die Vibrationsempfindung
schlechtweg ohne jene Einführung des Zeitfaktors und ohne Be-
nutzung des spontanen Abklingens der Stimmgabel existierte bis-
her nicht, ist aber jetzt von Hansen und Stein im Anschluß an
v. Frey an unserer Abteilung ausgearbeitet, aber noch nicht ver-
öffentlicht worden. Wir verfolgen dieses Spezialproblem hier nicht
weiter, sondern gehen über zu der allgemeinen Frage der Unter-
suchung, wie sich der Hautsinn bei rasch aufeinanderfolgender
mechanischer Erregung derselben Stelle verhält.
3. Nachdauer und Verschmelzung (Störung der Um-
stimmung). Es gibt Kranke bei denen ein auf einen ersten taktilen
folgender zweiter gleichstarker Reiz schwächer oder gar nicht
empfunden wird, wenn das Intervall zwischen dem Aufhören des
ersten und dem Beginn des zweiten 1 bis 10 Sekunden beträgt
{Stein (5). Es kann diese Feststellung in exakter Weise mit
Flächenreiz und Hebelvorrichtungen (s. 0.) gemacht werden. Im
alltäglichen Gebrauch kann man sich damit begnügen, zwei auf-
einanderfolgende Drucke mit der Fingerbeere oder einem Reizhaar
von 5—8 g auf dieselbe Stelle auszuüben. Man läßt den ersten
Reiz, der deutlich überschwellig sein soll, ca. 5 Sekunden lasten;
nach einem Intervall von 1—56 Sekunden wiederholt man diesen
Reiz und läßt angeben ob der zweite Reiz empfunden und ob er
ebenso stark empfunden wurde wie der erste.
Dabei tritt ferner in Erscheinung, daß trotz Entfernung des
ersten Reizes die Empfindung fortdauert, ja bis zu dem Grade,
daß die Entfernung gar nicht bemerkt wird. Eben mit dieser
Nachdauer hängt es zusammen, daß der einfallende 2. Reiz weniger
oder gar nicht gespürt wird, also mit dem ersten verschmilzt.
Man kann diese Phänomene als Folge einer gestörten Restitution,
als abnorme Umstimmung des Sinnesorganes auffassen, die mit dem
positiven Nachbild des Gesichtssinnes zu vergleichen ist. Es zeigt
sich, daß es dieselben krankhaften Störungen sind, welche Labilität
und welche diese Umstimmung des Drucksinnes bewirken; wir
brauchen sie nicht nochmals zu nennen. Statt eines Doppelreizes
kann man auch längere Serien verwenden, etwa so, daß man in
kurzen Intervallen einen nicht zu leisen Druck mit der Finger-
246 STEIN u. v. WEIZSÄCKER
beere ausübt und den Patienten zählen läßt, wie oft er berührt
worden sei. Diese für weniger Intelligente nützliche Methode er-
faßt aber wiederum auch das Gebiet der Schwellenlabilität; da aber
diese diagnostisch eine ähnliche Bedeutung hat, kann man dies
gelegentlich vernachlässigen.
Besonders bequem zu untersuchen und eindrucksvoll sind ferner
die folgenden Phänomene, die (Stein(19)) wohl ebenfalls vor allem
durch Nachdauer und Verschmelzung von Successivreizen entstehen:
man zeichnet mit Finger oder Stift Kreise, Halbkreise, Kreuze,
kurze Gerade auf die Haut. Dabei sehen wir dann, wenn wir
den Kranken mit der eigenen Hand und geschlossenen Augen das
Gezeichnete nach jedem Reiz auf seiner Brust oder auf ein Papier
+ Orc
Wahrnehmungsfi gur A'n
+tOktg
Rerıfıgur B Wahrnehmungsfigur B’: Bt
Abb. 1.
nachzeichnen lassen, etwa folgende Ergebnisse. In der Figur sind
2 Beispiele der bei Funktionswandel vorkommenden Wahrnehmungs-
täuschungen beim Aufzeichnen von Kreuzen (Reizfigur A und B)
dargestellt. Zeichnet man also z. B. das Kreuz A, so kann es beim
ersten Male vielleicht noch richtig erkannt werden; aber bei Wieder-
holung an derselben Stelle wird statt dessen ein Kreis oder ein Kreis-
fragment (A,—A,) wahrgenommen und schließlich geben manche
Kranke an, überhaupt nichts mehr unterscheiden zu können. Die
Bilder dürfen nicht als strenge Gesetzmäßigkeiten, aber doch als ein
sehr gewöhnlicher Typus der Erscheinung angesehen werden. Bei
einfachen Strichbewegungen in gleicher Richtung an gleichem Ort
mehrmals hintereinander tritt oft der Funktionswandel so zutage, daß
nach einigen Reizen nur noch einfache Punktberührung empfunden
wird. — Diese Erscheinungen machen sich auch bei der ja längst
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 247
gebräuchlichen Methode des Anschreibens von Zahlen auf die Haut
geltend und erklären deren Wert, weil man dort ja wohl meist un-
absichtliche (und in Unkenntnis, daß dies gerade wesentlich ist) auf
derselben Hautstelle mehrmals hintereinander verharrte. Die
Zahlen sind aber weniger zweckmäßig, weil sie sehr ungleichwertig
sind und weil z. B. die eckige 4 im Sinne unserer Figur falsch als
runde Zahl wahrgenommen wird, während die 0, die 6 und die 9 leichter
erkannt werden. Außerdem haben die Zahlenzeichen beim Schreiben
einen eigentümlichen zeitlichen Rhythmus (sozusagen eine Melodie),
welcher sich als besonderes Erkennungsmerkmal neben dem rein
räumlichen in ungleicher Weise geltend macht (man vergleiche
z. B. 4, 5, 9).
Endlich ist zuweilen eine leicht demonstrierbare Täuschung
bei Funktionswandel diese: man setzt eine Serie von in einer Ge-
raden liegenden einfachen Berührungen: ..... Dabei empfindet
der Kranke mit Funktionswandel eine einfache Strichbewegung: >
Überblick.
Überblickt man die hier besprochenen Methoden, so wird man
leicht gewahr, daß sich die klinische Untersuchungstechnik auf
falschem Wege befände, wenn sie ihre Ergebnisse dadurch wesent-
lich zu verbessern hoffte, daß sie sich statt der üblichen Methoden
den experimentellen, quantitativen und die Messung „verfeinern-
den“, kuz den instrumentellen Methoden zuwendete. Dies ist zwar
für wissenschaftliche Fragen in der Regel absolut notwendig; auch
können wir gewisse schwierige Diagnosen heute gelegentlich durch
die Verfeinerung der Methode im quantitativ-messenden Sinne
fördern und ein Satz verschieden starker gleicher Reizhaare ist
kaum zu entbehren. Aber entscheidend ist für die Klinik wie und
was untersucht wird, nicht: daß es um jeden Preis messend unter-
sucht wird. Und hier scheint uns das wichtigste erstens: daß
nicht auf Ausfälle und Hypästhesien im Sinne irgendwelcher
durch zufällige Aufgabenstellung definierter Methoden, sondern im
Sinne physiologisch definierter Funktionen untersucht werde (Ab-
schnitt I); zweitens aber: daß die elementaren Funktionen nicht
nur auf Schwellenwerte schlechtweg sondern auf räumlichen und
zeitlichen Funktionswandel untersucht werden (Abschnitt II). Die
zweite Forderung geht nun schon daraus hervor, daß, versäumt
man das letztere, die Sensibilität als völlig „intakt“ erscheinen
kann, während sie doch schwer gestört ist, wie der eine von uns
(Stein (?)) für die Friedreich’sche Krankheit eingehend gezeigt hat
248 STEIN u. v. WEIZSÄCKER
und wie es ganz besonders häufig für die multiple Sklerose gilt.
Aber die Bedeutung dieses Unterschieds wird dann noch klarer,
wenn man auf das in der Klinik besonders wesentliche Interesse
der Lokalisationen eingelit. — Zweitens aber, und dies ist ein
damit verbundenes mehr theoretisches Problem, müssen wir fragen,
was sich ergibt, wenn wir nicht nach dem Ort der Läsion, sondern
nach ihrer Bedeutung für die Leistungen des Organismus fragen,
also sowohl nach jenen meist lebensfremden Leistungen, die vom
Untersucher und Experimentator gefordert werden, wie auch nach
den für das normale Leben wichtigen und ihm natürlichen: durch-
weg Leistungen die vom Standpunkt der Elementarphysiologie aus
als komplexe erscheinen.
Was nun die lokalisatorische Bedeutung der verschiedenartigen
Befunde anlangt, so war es längst in allem Wesentlichen eigent-
lich .seit Brown-Séquard bekannt, daß die Erkrankung der
phylogenetisch jüngeren Hinterstränge sich nicht so sehr in An-
ästhesien oder Hypästhesien als in Störung derjenigen Funktionen
äußert, welche man oft als „Tiefensensibilität“ auffaßte, und zu
welchen vor allem Lage- und Bewegungswahrnehmung (sogar als
besonderer „Sinn“ aufgefaßt), Vibrationsempfindung, Gewichts-
schätzungsvermögen gerechnet wurden; freilich war auch immer klar,
daß eine Gleichsetzung von Hinterstrangs- und Tiefensensibilität
nicht zulässig sein kann, weil doch Lokalisation, Diskrimination
und andere „raumsinnliche“* Leistungen der oberflächlichen Haut
ebenfalls elektiv durch Hinterstrangerkrankung betroffen werden.
Immerhin geriet man in beträchtliche Verlegenheit wegen der Frage,
wie eigentlich raumsinnliche und nur qualitative Leistungen des
oberflächlichen Drucksinnes auf Hinter- und Seitenstränge verteilt
zu denken seien. Ein Gabelung und örtliche Trennung z. B. eines
„Lokalzeichens* von der Empfindung, der es anhaftet, ist eine
physiologisch ganz unanschauliche, nicht recht vollziehbare Vor-
stellung. Man muß sagen, daß diese Schwierigkeit heute noch
nicht gelöst ist. Indes glauben wir einen wesentlichen Schritt zur
Lösung des Problems dann getan zu haben, wenn wir zeigen können,
wie und warum gewisse Leistungen ausfallen, gewisse andere nicht.
Wir glauben, daß es ein falscher Weg war, solche Dissoziationen
ohne weiteres auf eine Mehrheit von anatomischen Organisationen
zurückzuführen, wie es immer wieder geschah und geschieht; wenn
wir nämlich zeigen können, daß im Erregungsablauf schon ganz
elementare Veränderungen zeitlicher und räumlicher Art eintreten,
ohne daß die Erregung und die Erregbarkeit schlechthin dadurch
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 249
berührt ist, so müssen ja auch alle komplizierteren Leistungen da-
durch verändert und gestört werden. Und nun ist leicht zu er-
kennen, daß fast alles, was man Hinterstrangs- oder „Tiefensensi-
bilität“ genannt hat, komplizierte, ja zum Teil hoch komplizierte
Leistungen sind. Nicht also die Lage der Rezeptoren, nicht die
Lokalisation und Fortleitung ihrer „Leistungen“ im Hinterstrang
als solche ist das die Bewegungs-, Vibrations-, Raumwahrnehmung
usw. auszeichnende, sondern daß sie komplizierte Leistungen sind
und daß ihr Gelingen mit einem ganz exakten Arbeiten eines
komplizierten Systems steht und fällt — das ist das Besondere an
ihnen. Es ist physiologisch daher unzulässig, Leistungen wie Druck-,
Wärme-, Kälte- und Schmerzempfindung schlechtweg zu koordinieren
mit Angaben über Bewegung, Ort, Zeitgestalt u. dgl. eines ob-
jektiviert wahrgenommenen Reizes. Es ist eben darum auch wohl
schon unzulässig, sich Hinter- und Seitenstränge wie zwei ähnliche
Arten von Leitungsbahnen vorzustellen: die Hinterstränge sind ge-
wissermaßen lediglich im Dienste der Herstellung einer Kommuni-
kation mit den großen cerebralen Organen wichtig, eigentlich da-
her ein Stück Gehirnfunktionsträger, während die (übrigens nicht
rein durchlaufenden) sensibeln Seitenstrangbahnen primitiveren, viel-
leicht archaischen Charakter tragen.
So können wir auch sagen (vgl. Einleitung): die einfachen
Ausfälle von sensibeln Qualitäten wie Berührung, Druck, Warm,
Kalt, Schmerz und vielleicht Kitzel sind als bloß „ästhetische“
Leistungsdefekte ohne weiteres durch Leitungsbehinderung der Seiten-
strangbahnen zu verstehen. Das meiste im Abschnitt I a)—e) und m)
aufgeführte gehört hierher und ist wahrscheinlich intraspinal an die
Hinterhorn- und Seitenstrangintegrität gebunden. Auch wo die
peripheren Bahnen unterbrochen oder dezimiert sind, haben wir
solche einfache Ausfälle mit Rarefikation und Schwellenerhöhung
in der geschilderten Weise zu erwarten. Dieses System allein ist
aber völlig unvermögend irgendeine kompliziertere Leistung zu be-
herrschen. Dazu wird eine Verbindung mit noch anderen, ausge-
dehnteren und auch im Gehirn lokalisierten Organen erforderlich
und diese vermitteln die Hinterstränge. Wo diese fehlen, da tritt
ein Funktionswandel ein mit den charakteristischen zeitlichen und
räumlichen Ablaufstörungen der Einzelerregung, und mit „Koordi-
nationstörungen“ ihres Zusammenwirkens.. Wenn die Schwellen
nicht mehr konstant, die Erregungsdauer abnorm verlängert, die
Umstimmungsvorgänge verzögert und die räumliche Gestaltung der
Erregungsbilder verwirrt sind, dann müssen trotz erhaltener Er-
350 STEIN u. v. WEIZSÄCKER
regbarkeit und trotz primär normaler Schwellen die im Ab-
schnitt I f)—e) und die unter II aufgeführten Leistungen unmöglich
werden. Einige derselben können schon den noëtischen zugerechnet
werden; fügt man dort nicht Erwähntes, wie Stereognosie, Größen-
schätzen, Raumschwellen, Dingtasterkennen noch hinzu, so läßt sich
für alle diese Leistungen zusammen sagen, daß sie als noetische
ausnahmslos einen solchen sehr exakten Ablauf der Elementar-
funktion voraussetzen und durch Funktionswandel störbar sind.
Umgekehrt werden sie gerade, wie die Untersuchung der peripheren
Nervenläsion zeigt, durch einfachen Ausfall (Rarefikation und
Schwellenerhöhungen) auffallend wenig beeinträchtigt, solange noch
einige Reste von erregbaren Sinnesorganen da sind, die, weil sie
keinen Funktionswandel aufweisen, mit der gewohnten Präzision
und Konstanz arbeiten.
Es ist aber unzweckmäßig bei der Untersuchung sich auf die
Prüfung von Dingtasterkennen, Sterognosie, Tastkreisen (Diskri-
mination), Bewegungswahrnehmung, Gewichtschätzen, Vibrations-
dauer in erster Linie zu stützen. Alle diese hochwertigen Leistungen
können durch elementaren Funktionswandel beeinträchtigt sein,
müssen aber nicht immer diese Ursache haben. Sie sind, wie schon
gelegentlich angedeutet worden, zweideutig, sie können auch anders
zustande kommen. Ein schwerer Ausfall (z. B. peripherer Art)
kann sie ebenso stören, psychische Momente können sie hindern.
Zuerst muß man feststellen ob Funktionswandel elementarer
Art vorliegt. Liegt er vor, dann ist es selbstverständlich, daß auch
die komplizierteren Leistungen geschädigt sind. Es steht heute
noch nicht fest, in welchem Umfang durch einen Zusammenhang
dieser Art Agnosie vorgetäuscht worden ist, d. h. eine Unfähigkeit
zu komplizierten Leistungen bei als erhaltenen angenommener
Sensibilität; wir halten es nur für sicher, daß eine nicht geringe
Reihe der Fälle, die als Tastagnosie (Wernicke) beschrieben
wurden, solche sind, bei denen ein elementarer Funktiouswandel in
unserem Sinne, also eine gestörte Sensibilität vorlag, aber über-
sehen wurde, weil nur auf Ausfälle untersucht wurde. Und auch
wo Ausfälle von Leistungen untersucht werden, die wie die Wahr-
nelımung der Bewegungen, die Raumschwellen, als relativ einfach
galten (in unserem Sinne aber schon recht kompliziert sind), kommt
es nun gerade hier auf quantitative Methoden an, weil nur sie
gewisse geringere Schwellenänderungen aufdecken, die aber gerade
wichtig für das Zustandekommen des präzisen Eindruckes sind.
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 251
Bemerkung über den praktischen Gang der
Untersuchung.
Eine schematische Anweisung über die Aufnahme des Sensi-
bilitätsstatus hat große Bedenken. Nur daran ist in jedem Falle
festzuhalten, daß die Untersuchung in zwei getrennten Abschnitten
1. auf Ausfälle und 2. auf Funktionswandel gerichtet sein muß.
In diesen beiden Phasen der Statusaufnahme verhält sich der
Untersucher völlig verschieden. In der ersten bewegt es sich fort-
gesetzt von einer Körperstelle zur nächsten usf. und gewinnt so
ein topographisches Schema; in der zweiten verharrt er bei einem
einzigen ausgewählten kleinen Stück der Sinnesfelder,”bei einem
einzigen Gliedabschnitt und prüft das zeitliche und das räumliche
Verhalten des Erregungsprozesses und gewinnt so ein funktionelles
Diagramm. Diese zweite Aufgabe ist technich durchaus nicht
schwieriger als die erste; beide können für diagnostische Zwecke
mit einfachen Mitteln gelöst, für quantitative Messungen nur mit
nach ganz bestimmten Grundsätzen wirkenden instrumentellen Reiz-
methoden gelöst werden.
Da die gleichmäßig vollständige Durchforschung der ganzen
Körperoberfläche und aller Einzelglieder ungeheuer zeitraubend ist,
so halten wir uns je nach den klinischen Syndromen bei der Unter-
suchung auf Ausfälle zunächst an die topographisch-anatomisch
durch Nervenausbreitung, Spinalsegmente und cerebrale Lokali-
sationen vorgezeichneten Grenzlinien, während wir bei der Unter-
suchung auf Funktionswandel beachten, daß dieser letztere am
leichtesten nachweisbar und relativ stärksten ausgeprägt an den
jeweils distaleren Gliedabschnitten aufzutreten pflegt.
Die vorhergehende Darstellung ging absichtlich nur auf einen
kleinen Teil der klinisch, im Lauf der Zeit üblich gewordenen
Untersuchungsarten ein und brachte andererseits Dinge zur Sprache,
die, wie die Sinnespunkte, immer nur von einzelnen Forschern be-
achtet wurden, und sie bringt endlich drittens einige Methoden zur
Sprache, die bisher überhaupt nicht in die Klinik eingeführt sind.
Wir erlauben uns daher zum Schluß noch einmal diejenigen Methoden
kurz zusammenzustellen, welche wir bei einer alltäglichen und rein
diagnostisch orientierenden Untersuchung für besonders wesent-
lich halten und lassen dabei diejenigen weg, welche nach unserem
Dafürhalten ungeeignet sind, auf raschem und einfachem Weg zu
grundsätzlich eindeutigen und wichtigen Feststellungen zu gelangen.
I. Ausfälle. Man benutzt die Fingerbeere der eigenen Hand,
252 Stein u. v. WBEIZSÄCKER
Pinsel oder Flaumfeder. Von Ort zu Ort fortschreitende Prüfung
unter möglichst weitgehender Verwendung der an (womöglich)
symmetrischen Stellen vergleichenden Methode (analog der ver-
gleichenden Perkussion), unter Vermeidung der Bewegung oder des
tangentialen Zugs und häufigem Fragen nach qualitativen Diffe-
renzen des empfindungsmäßigen Eindruckes. — Für Schmerz und
Temperatur die üblichen Methoden in gleicher Weise wie vorhin.
— Bei quantitativer Untersuchung auf Schwellen für Drucksinn:
Reizhaare von abgestufter Stärke, für Schmerz: Stachelborste (mit
Distelstachel armiertes Reizhaar nach v. Frey); für Kaltpankte:
Kupferknopfsonde, für Warenpunkte: Platinöse mit elektrischer
Heizung. Diese Temperatursinnprüfungen gestatten aber nur ein
Aufsuchen der Sinnespunkte, keine Schwellenmessung.
IL. Funktionswandel. An derselben Stelle untersucht man
in einem Bezirk von 2—3 cm? auf Schwellenlabilität des
Drucksinnes: mit einem Satz abgestufter Reizhaare (s. o.), noch
einfacher (nicht immer ausreichend) durch rhythmisch wiederholte
möglichst schwellennahe Berührung mit Finger, Pinsel oder Flaum-
feder; auf Labilität der Wahrnehmung von Bewegungen durch in
der Geschwindigkeit abgestufte (je langsamer desto geringer der
Reizwert) passive Bewegungen, die längere Zeit rhythmisch wieder-
holt werden; auf Labilität des Figurenerkennens durch immer an
derselben Stelle wiederholtes Anschreiben von Figuren oder Zahlen
mit dem Finger. Bei jeder dieser Methoden hat der Patient nach
jedem Reiz mit „ja“ bzw. der Angabe von Richtung bzw. Figur
oder Zahl zu antworten.
Auf Nachdauer und Verschmelzung wird untersucht
durch Wiederholen von ein, zwei oder mehr leichten Druckreizen
an derselben Stelle von etwa gleicher Stärke und Dauer. Der
Patient hat anzugeben 1. wann eine Empfindung aufhört, 2. wie
viele Reize einer gegebenen Serie er empfunden hat (dabei kann
bei längeren Serien die Wirkung der Labilität sich einmischen.
Dasselbe gilt von folgender Methode: man zeichnet einfachste
Figuren (Striche verschiedener Länge und Richtung, Bögen, Kreise,
Kreuze) auf eine Stelle. Der Patient hat mit seinem Zeigefinger
bei geschlossenen Augen die betreffende Figur in identischer Rich-
tung auf einen beliebigen Untergrund nachzuzeichnen.
Über klinische Sensibilitätsprüfungen. 253
Literatur.
1. M. v. Frey, Physiologische Sensibilitätsprüfungen. Verhandl. d. 37.
Kongr. f. inn. Med. 1924, S. 19. (Mit physiol. Literatur). — 2. K. Franz, N. U.
Nr. 2.1) Untersuchungen mit Reizhaaren nach statistischer Methode. Dtsch. Zeit-
schr. f. Nervenheilk. 78, 212, 1923. — 3. H. Stein, N. U. Nr. 3. Die Labilität
der Drucksinnschwelle bei Sensibilitätsstörungen. Ib. 80, 57, 1923. — 4. V. v.W eiz-
säcker, N. U. Nr. 4. Untersuchung des Drucksinns mit Flächenreizen bei Nerven-
kranken (Phänomen der Verstärkung). Ib. 80, 159, 1923. — 5. H. Stein, N. U.
Nr. 5. Nachempfindungen bei Sensibilitätsstörungen als Folge gestörter Um-
stimmung (Adaptation). Ib. 80, 218, 1923. — 6. A. Panzel, N. U. Nr.9. Unter-
suchungen über das Vergleichen von Gewichten bei Gesunden und Kranken. Ib.
8,161. 1925. — 7. H. Ahringsmann u. A. Buch, N. U. Nr. 10. Uber die Wahr-
nehmung von bewegten Reizen auf der Haut. Zeitschr. f. Biol. 1926. — 8. H. Stein,
N.U. Nr. 11. Über die bei Friedreich’scher Ataxie usw. Dtsch. Zeitschr. f. Nerven-
heilk. 1926. — 9. v. Weizsäcker, Uber die Sensibilität, insbesondere den Druck-
sinn vom physiologischen Gesichtspunkte aus. Klin. Wochenschr. 2, 2109, 1923.
— 10. v. Weizsäcker, Über den Funktionswandel, besonders des Drucksinnes,
bei organisch Nervenkranken und über Beziehungen zur Ataxie. Pflüger’s Arch.
f. d. ges. Physiol. 201, 317, 1923. — 11. A. Panzel, Inaug.-Diss. Heidelberg 1923.
—12. V.v. Weizsäcker, Die Pathologie der Oberflächen- und Tiefensensibilität.
Verhandl. d. 37. Kongr. f. inn. Med. Wiesbaden 1925, S. 33. — 13. K. Hansen,
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Zeitschr. f. Biol. 62, 1918. — 14. ". v. Frey, Einige Beobachtungen an Nerven-
verletzten. Sitzungsber. d. physiol. med. Ges. Würzburg. S. 26, 1916/17. —
lb. Mayer-Groß u. Stein, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie. —
16. G. Cohen, in Vorbereitung. Dtsch. Zeitschr. f. Nervenheilk. — 17. H. Stein,
Uber die Wahrnehmung geführter Bewegungen und das Zustandekommen einer
Scheinnewegungswahrnehmung in einem Fall von Pseudoartherose. Zeitschr. f
Biol. 84, 33, 1926. — 18. K. Hansen, Verhandl. d. 37. Kongr. f. inn. Med. 1924.
— 19. H. Stein, Ib.
1) N. U. — „Neurophysiologische Untersuchungen“ aus unserer Abteilung.
254
Besprechungen.
1;
Sergius Voronoff, Organüberpflanzung und ihre praktische
Verwertung beim Haustier. Erschienen bei Werner Klink-
hardt, Leipzig. VIII u. 37 S., 59 Abb. auf Taf., ins Deutsche
übersetzt von Dr. Gerhard Golm.
Der Verfasser gibt eine eigene Methode der Einpflanzung des Hodens
in den Hodensack (innerhalb oder außerhalb der Tunica vaginalis) an.
Durch diese Methode soll die Hodenpfropfung zu einem vollen Erfolg
geführt werden können. Die histologischen Untersuchungen der Pfropfungen
Voronoff’s hat Prof. Retterer in Paris ausgeführt wobei er in
monatlichen Zwischenräumen durch zwei Jahre hindurch den Prozeß der
Einheilung des verpflanzten Hodens verfolgte. Eine einzige histologische
Abbildung, welche das Erhaltenbleiben des gepfropften Hodens beweisen
soll, ist dem Buche Voronoff’s beigegeben; sie wirkt durchaus nicht
überzeugend.
Voronoff’s eigene Versuche an Ziegenböcken, Widdern, Stieren,
Ferkeln, Pferden sollen zeigen, in welch auffallend fördernder Weise die
Verpflanzung eines dritten Hodens auf Gewicht, Fell (Wolle), Fettansatz,
Muskulatur (Fleischmenge) wirkt. In bezug auf Verlängerung der Lebens-
zeit und der Zeugungskraft sollen ebenfalls Erfolge erzielt worden sein.
Die große wirtschaftliche Bedeutung solcher Hodentransplantationen wird
in sehr optimistischer Form hervorgehoben. Der Optimismus erreicht
seinen Höhepunkt in der Ankündigung der Möglichkeit, durch generations-
weise wiederholte Pfropfungen neu erworbene Eigenschaften konstant zu
machen und neue Rassen zu schaffen, welche wirtschaftlich besser aus-
nutzbar wären!
In einem kurzen Vorwort zu Voronoff’s Schrift betont R. Müh-
sam seine Auffassung von der auf die Dauer wirkungslosen Hodenüber-
` pflanzung beim Menschen, hält aber eine kritische Nachprüfung der
Voronoff’schen Versuche für wünschenswert.
Diesem Wunsche kann man sich nur anschließen. Vor allem müßte
geklärt werden, ob die behaupteten Erfolge auf die Resorption spezifischer
Hormone oder unspezifischer Stoffe aus dem Transplantat zurückzuführen
sind und ob andere Einflüsse (Ernährung usw.) ausgeschlossen werden
können. Das dauernde Erhaltenbleiben des transplantierteun Hodengewebes
müßte durch überzeugende histologische Bilder bewiesen werden.
(Borst.)
Besprechungen. l 255
Die Klinik der bösartigen Geschwülste II. Bd. Heraus-
gegeben von P. Zweifel und E. Payr. Verlag von 8. Hirzel,
Leipzig 1925.
Der vorliegende zweite Band der „Klinik der bösartigen Geschwülste“
umfaßt die bösartigen Neubildungen der Brustorgane (Krampf und
Ssuerbruch), der Speiseröhre (Rehn), der Bauchdecken (Sonntag),
des Magendarmkanals (Kleinschmidt, Payr, Schmieden, Clair-
mont), der Leber, der Gallenwege, des Pankreas und der Milz (Heller),
der Harnorgane und männlichen Geschlechtsorgane (Kümmell, Völcker
und Böminghaus), der Wirbelsäule (Guleke) und Extremitäten
(Frangenheim). Den Schluß des Bandes bildet ein Kapitel über die
Beziehungen zwischen Geschwulstbildung und Trauma (Frangenheim).
Stets ıst bei den einzelnen Kapiteln die pathologische Anatomie be-
rücksichtigt, die klinischen Erscheinungen werden ausführlich bebandelt,
insbesondere auch Diagnose und Differentialdiagnose sowie Prognose er-
örter, Die Besprechungen der therapeutischen Maßnahmen, vor allem
der operativen Technik, zeigen, was hinsichtlich der Bekämpfung bösartiger
Geschwülste heute schon erreicht ist und was wir noch von der Zukunft
erhoffen müssen. Der Inhalt des Werkes wird vor allem seiner Anlage
entsprechend den Chirurgen interessieren, aber auch jeder Praktiker und
Theoretiker wird in allen Fragen über die Klinik der in diesem Band
behandelten bösartigen Geschwülste die erhoffte Auskunft finden, wozu
besonders auch die ausführlichen Literaturangaben mit beitragen. Sehr
zablreiche, schön ausgeführte Abbildungen und Tafeln sind dem Bande
beigegeben, überhaupt entspricht die würdige äußere Ausstattung voll-
kommen dem wertvollen Inhalt des Werkes. (Groll, München.)
3
W. Klein u. M. Steuber. Die gasanalytische Methodik des
dynamischen Stoffwechsels. Georg Thieme Leipzig,
1925. 5,40 M.
Die Verfasser geben in dem kurzen Werkchen (99 Seiten) eine vor-
zügliche Übersicht über Methodik, Technik und Apparatur zur Unter-
suchung des respiratorischen Stoffwechsels, wie sie von Zuntz am tier-
physiologischen Institut der landwirtschaftlichen Hochschule in Berlin
erprobt worden sind. Zunächst werden Respirationsapparate für physio-
logische Zwecke, wie der Pettenkofer-Tigerstedt’sche Apparat, der von
Auntz-Geppert, der von Reignault-Reiset, das pneumatische
Kabinett und auch ein Respirationsapparat für kleine Tiere nach Haldane
geschildert. Von den einfacheren Apparaten, die zur Bestimmung der
Abweichungen bekannter physiologischer Reaktionen wie des Grundumsatzes
oder der spezifisch-dynamischen Wirkung des Eiweiß dienen, daher für
klinische Zwecke geeignet sind und sich auch längst eingeführt haben,
sind in erster Linie die von Benedikt u. Krogh ausgewählt worden.
Die Technik und Berechnung wird jeweils an Hand von Versuchsbei-
256 Besprechungen.
spielen erläutert. Von Gasanlysenapparaten sind der von Haldane
und der von Klein modifizierte Differentialapparat nach Sonden-
Tigerstedt beschrieben. In einem besondern Abschnitt werden die ge-
bräuchlichsten Absorptionsmittel für CO, und O, bebandelt. Vervollständigt
wird das Werk durch einen Anhang, in dem sämtliche für die Gasanalyse
und für die Berechnung der Körperoberfläche aus dem Gewicht in Betracht
kommenden Tabellen einschließlich des Diagramms von Du Bois aufge-
fübrt sind. Dadurch wird es zum praktischen Laboratoriumsbuch und
sich bald nicht nur in den physiologischen sondern auch den klinischen
Stoffwechsellaboratorien einführen. (K. Felix, München.)
4,
C. Funk, Mikroelementaranalyse nach der Mikro-Denın-
stedt-Methode. Bergmann München, 1925, 1,50 M.
Verfasser hat eine neue Form der Mikroelementaranalyse ausge-
arbeitet, die im wesentlichen auf dem Prinzip der Dennstedt’schen
Methode und der vereinfachten Mikroelementaranalyse von Dubsky
beruht. Bei der Kohlenstoff-Wasserstoff-Bestimmung ist die Rohrfüllung
auf einzelne Porzellanschiffchen verteilt. Bei dem Mikro-Dumas liegt
das reduzierte Kupfer nicht am Anfang wie bei der Pregl’schen Füllung
sondern wie bei Dubsky am Ende Für den Kjeldahl wird im
wesentlichen die Pregl’sche Anordnung benützt. Die Resultate, die
Verf. mit seiner Methode erzielt, erscheinen befriegend.. Er verwendet
mehr Substanz zur Verbrennung, etwa 5—10 mg, während man bei der
Pregl’schen Anordnung bereits mit 3—5 mg auskommt. Ob die neue
Methode sich auch in anderen Laboratorien bewährt, muß sich erst zeigen.
(K. Felix, München.)
257
Aus der Medizinischen Klinik Lindenburg der Universität Köln.
(Direktor: Geheimrat Moritz.)
Schwankungsbreite und Schwankungsart der Durchmesser
menschlicher Erythrocyten. -
Von
Privatdozent Dr. Ernst Wiechmann und Dr. Albert Schürmeyer.
(Mit 3 Kurven.)
In einer früheren Arbeit (1) hatten wir gezeigt, daß der mittlere
Erythrocytendurchmesser beim Menschen unter den verschiedensten
Bedingungen verschieden groß ist. Schon die Art des untersuchten
Blutes ist entscheidend für seine Größe. In dem durch Arterien-
punktion gewonnenen arteriellen Blut ist der mittlere Durchmesser
der Erythrocyten wesentlich kleiner als im Venenblut. Im ersten
Tropfen Hautblut, das durch Einstich in die Fingerbeere mit der
Francke’schen Nadel gewonnen ist, ist er angenähert ebenso groß
wie im venösen Blut. Macht man aber Einschnitte in die Finger-
beere und schaltet die ersten Blutstropfen aus, so ist der mittlere
Durchmesser der Erythrocyten in dem so gewonnenen Hautblut
dem der roten Blutkörperchen des Arterienbluts fast völlig gleich.
Untersucht man immer dieselbe Blutart, so ist der bei ein und
demselben Individuum an verschiedenen Tagen zur gleichen Tages-
zeit festgestellte mittlere Durchmesser innerhalb ganz geringer
Schwankungen gleich. Im Schlaf nimmt er regelmäßig an Größe
zu. Durch bis zur Erschöpfung gehende körperliche Anstrengung
(Treppenlaufen) wird der mittlere Durchmesser vergrößert, durch
forcierte Atmung verkleinert. Der mittlere Radius der Erythro-
cyten acidotischer Diabetiker ist größer als der Norm entspricht
und wird nach Insulininjektion kleiner. Bei den Neugeborenen ist
der mittlere Durchmesser wesentlich größer als bei den Normalen
und bei ihren eigenen Müttern.
Unsere früheren Mitteilungen hatten sich im wesentlichen auf
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 17
958 WIECHMANN U. SCHÜRMEYER
den mittleren Erythrocytendurchmesser bezogen. Nur für die
Normalen, die Neugeborenen und ihre Mütter hatten wir jeweils.den
größten und kleinsten Durchmesser angegeben. Neuerdings haben
nun Ohno und Gisevius (2), offenbar ohne Kenntnis unserer
Arbeit, die Schwankungsbreite und Schwankungsart der Erythro-
cytendurchmesser zum Gegenstand einer Arbeit gemacht. Die von
ihnen mitgeteilten Ergebnisse haben uns veranlaßt, unsere früheren
Protokolle unter dem gleichen Gesichtspunkte zu betrachten. Hier-
über und über einige ergänzende Untersuchungen soll im folgenden
berichtet werden.
Was die Methodik anlangt, so sei auf unsere frühere Arbeit
verwiesen. Betont sei nur, daß jedesmal je 100 gefärbte und un-
gefärbte Erythrocyten gemessen wurden. Wie wir (1) früher ge-
zeigt haben, und wie auch Ohno (3) nachgewiesen hat, ist der
mittlere Durchmesser der Erythrocyten desselben Blutes im trocknen
Ausstrichpräparat gleich groß wie im Plasma resp. Serum, und die
Färbung des Ausstrichpräparates nach Pappenheim ändert an dem
Durchmesser nichts. Wir weisen hierauf ausdrücklich hin, weil
Ohno und Gisevius in der Zusammenfassung ihrer neuerlichen
Arbeit (2) sagen, daß „es unbedingt erforderlich ist, nur an solchen
Präparaten zu messen, in denen die Erythrocyten gegenüber physio-
logischen Bedingungen in ihrer Größe unverändert erhalten sind,
also entweder im Plasmapräparat oder im ungefärbten Trocken-
ausstrich“. Daß unsere Messungen ohne irgendeine Größenaus-
wahl und nur an einzeln liegenden und vollkommen kreisrunden
Erythrocyten vorgenommen wurden, ist selbstverständlich.. Wenn
es nicht anders angegeben ist, beziehen sich die Werte immer auf
durch Einstich mit der Francke’schen Nadel gewonnenes Hautblut.
In Tabelle I sind die Verhältnisse bei Normalen, männlichen
und weiblichen Individuen, dargestellt. Dort ist der mittlere Erythro-
cytendurchmesser angegeben; die Einzelergebnisse sind von 0,25
zu 0,25 u der Größe nach geordnet, und das prozentuale Verhältnis
ist errechnet. Man erkennt, daß der bei einem und demselben
Individuum an verschiedenen Tagen zur gleichen Tageszeit fest-
gestellte mittlere Erythrocytendurchmesser innerhalb ganz geringer
Schwankungen konstant ist, ohne daß aber die prozentuale Ver-
teilung der Einzelgrößen gleich ist (Versuchs-Nr. la, 1b, 1c, ld
und 4a, 4b, 4c der Tabelle I) Im Gegensatz zu den Angaben von
Ohno (3) und Ohno-Gisevius (2), wonach der mittlere Erythro-
cytendurchmesser bei den weiblichen Personen etwas größer sein
soll als bei den männlichen, konnten wir keinen Unterschied zwischen
259
Schwankungsbreite u. Schwankungsart d. Durchmesser menschl. Erythrocyten.
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17
260 WIECHMANN U. SCHÜRMEYER
den beiden Geschlechtern nachweisen. Auch die prozentuale Ver-
teilung der Einzelgrößen ist bei beiden Geschlechtern ziemlich
gleich. Während unsere für den mittleren Erythrocytendurchmesser
gefundenen Werte mit den von Ohno und Gisevius angegebenen
gut übereinstimmen (7,90: 7,96), differiert der Abstand des größten
vom kleinsten Durchmesser in beiden Fällen außerordentlich, und
auch die prozentuale Verteilung der Einzelgrößen ist in beiden
Fällen völlig verschieden. Wir finden zwischen Maximum- und
Minimumwert eine Differenz von 1,14 u, Ohno und Gisevius da-
gegen von 3,15 u. Demgemäß hat die von uns auf Grund von 5200
Messungen von Erythrocytendurchmessern gewonnene Erythrocyten-
durchmesser - Normalkurve (vgl. Kurve 1) einen ganz anderen Ver-
lauf als eine von Ohno und Gisevius für einen Normalfall an-
gegebene. Unsere Kurve hat eine viel schmälere Basis und steigt
viel höher an als jene Kurve, die Ohno und Gisevius wieder-
geben. Während z.B. Ohno und
. Gisevius 21°% aller Durch-
= messer zwischen 7,75 und 7,99 u
Be finden, beträgt unser entsprechen-
z der Wert 65 °/,. Man erkennt schon
hieraus, woraufspäter noch zurück-
i zukommen sein wird, daß der
Jo mittlere Erythrocytendurchmesser
20 in zwei verschiedenen Fällen
vo gleich sein kann, auch wenn die
j Differenz zwischen Maximum und
20 25 80 a5 u
Minimum und die prozentuale Ver-
Rue Sonne Arsen teilung der Einzelgrößen weit-
gehend differieren. Das Studium
der Schwankungsbreite und Schwankunbsart der Erythrocyten-
durchmesser hat also seine innere Berechtigung.
In jenen Fällen aber, wo die Werte für den mittleren Durch-
messer verschieden sind, muß auch die prozentuale Verteilung der
einzelnen Größengruppen differieren. Wie dies schon der Fall ist,
je nachdem, aus welchem Gefäßbezirk das Blut stammt, erhellt ein-
drucksvoll aus Tabelle II. Entsprechend dem angenähert gleichen
mittleren Durchmesser der Erythrocyten im arteriellen und durch
Einschnitt gewonnenen Hautblut ist hier auch die prozentuale Ver-
teilung der Einzelgruppen ungefähr gleich. Beim arteriellen und
venösen Blut dagegen differiert nicht nur der mittlere Durchmesser,
sondern auch die einzelnen Grüßengruppen variieren in ganz be-
261
v
v
‚ Durchmesser mensehl. Erythrocyten.
Schwankungsbreite u. Schwankungsart d
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37044
262 WIECHMANN U. SCHÜRMEYER
stimmter Weise. So finden sich im arteriellen Blut durchschnittlich
nur 4° aller Durchmesser zwischen 8,00 und 8,24 u, im venösen
Blut dagegen 34 °/,. Interessanterweise stimmen aber die einzelnen
Größengruppen im venösen und in dem durch Einstich mit der
Franke’schen Nadel gewonnenen Hautblut nicht sehr gut überein,
obgleich die mittleren Durchmesserwerte sich fast decken. In
ähnlicher Weise wie im arteriellen und venösen Blut schwanken die
Einzelgrößen der Durchmesser bei einem und demselben Individuum
im Hautblut nach übermäßiger Atmung und nach schwerer körper-
licher Anstrengung (vgl. Kurve 2). Schwankungsbreite und Schwan-
kungsart gehen im großen und ganzen immer parallel.
Schwankungsbreite und Schwankungsart der Durchmesser
scheinen aber nicht in allen Lebensperioden die gleichen zu sein.
Normal
een nach ubermässıger Atmung
60) "Mch schwerer körperlicher Anstrengung:
0 e e
60 A ß 7 A 8I Jo Ad
Kurve 2. Prozentuale Verteilung der Durchmesser-Gruppenwerte beim Normalen
nach übermäßiger Atmung und nach schwerer körperlicher Anstrengung.
Wie wir früher gezeigt haben, ist bei den Neugeborenen der mittlere
Erythrocytendurchmesser wesentlich größer als dem Befund bei
den Normalen und auch bei ihren eigenen Müttern entspricht. Dem-
entsprechend ist auch die Differenz zwischen Maximum- und Mini-
mumwert erheblich größer als in der Norm, und auch die Einzel-
gruppen verteilen sich auf eine viel größere Breite als in der Norm.
Während bei den Müttern der mittlere Erythrocytendurchmesser
ungefähr der Norm entspricht, ist der Abstand zwischen größtem
und kleinstem Durchmesser größer als sonst, und auch die pro-
zentuale Verteilung der Einzelgruppen umfaßt einen viel größeren
Bezirk als gewöhnlich (vgl. Tabelle III). Sowohl bei den Neu-
geborenen als auch bei ihren Müttern sind diese Befunde als Zeichen
einer verstärkten Tätigkeit des Knochenmarks zu deuten. So fand
E. Grawitz (4) im Blut ausgetragener Neugeborener in 20°% der
Fälle kernhaltige rote Zellen, und die beträchtliche Anisocytose
263
Schwankungsbreite u. Schwankungsart d. Durchmesser menschl. Erythrocyten.
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TII OIB AV L
264 WIECHMANN U. SCHÜRMRYER
im Blutbild der Schwangeren ist wohl jedem Beschauer aufgefallen.
Makro- und Mikrocyten sind von Payer (ö), Poikilocyten von
Schäffer (6) beschrieben worden.
Wir wollen hier davon absehen, den Einfluß der diabetischen
Acidose und des Insulins, vom Schlaf, von Bikarbonat- und Morphium-
zufuhr auf Schwankungsbreite und Schwankungsart der Durchmesser
zu erörtern. Nur auf die Verhältnisse bei der perniziösen Anämie
soll noch hingewiesen werden. In Kurve 3 ist die prozentuale Ver-
teilung der Durchmessergruppenwerte bei 2 Fällen von perniziöser
Anämie dargestellt. Während der mittlere Erythrocytendurchmesser
bei diesen Fällen ungefähr normal ist, nämlich 7,90 und 7,75 a
beträgt, ist die Erythrocytendurchmesserkurve mit der von uns
angegebenen Normalkurve überhaupt nicht zu vergleichen. Sie
hat eine außerordentlich breite Basis und eine vollkommen unregel-
mäßige Form. Ihr höchster Punkt liegi wesentlich tiefer als in
der Norm. Auch diese Beobachtungen lehren wieder, daß die An-
40 43 30 3s 77) 65 70 75 30 45 RS u
Kurve 3. Prozentuale Verteilung der Durchmesser-Gruppenwerte bei 2 Fällen
von perniziöser Anämie.
gabe des mittleren Erythrocytendurchmessers durchaus nicht immer
genügt, und daß es sich wohl empfiehlt, auf Schwankungsbreite und
Schwankungsart der Durchmesser einzugehen.
Zusammenfassung.
Bei Größenmessungen von Erythrocyten nach der von Ohno
angegebenen Methode ergibt sich für das durch Einstich mit der
Francke’schen Nadel gewonnene Hautblut eine Schwankungsbreite
der Durchmesserwerte von 6,90—8,60 u. Die durchschnittliche
Differenz von Maximum- und Minimumwert beträgt 1,14 u. Die
Schwankungsart der Durchmesser wird durch eine Erythrocyten-
durchmesser-Normalkurve wiedergegeben. Abweichungen von der
normalen Schwankungsbreite und Schwankungsart finden sich im
arteriellen Blut, nach schwerer körperlicher Anstrengung und über-
mäßiger Atmung und bei den Neugeborenen und ihren Müttern.
Der mittlere Erythrocytendurchmesser kann normal sein, auch wenn
Schwankungsbreite u. Schwankungsart d. Durchmesser menschl. Erythrocyten. 265
Schwankungsbreite und Schwankungsart der Durchmesser weit-
gehend von der Norm abweichen. Dies gilt vor allem für die
perniziöse Anämie.
Literatur.
1925 l. Wiechmann u. Schürmeyer, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 146, 362,
50 — 2 Ohno u. Gisevius, Pflüger's Arch. f. d. ges Physiol. 210, 315,
1925. — 3, Ohno, Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. 201, 376, 1923. — 4. E. Gra-
witz, Klin. Pathol. des Blutes. Georg Thieme, Leipzig 1911. — 5. Payer,
o i ‚Gynäkol. 71, 421, 1904. — 6. Schäffer, Zentralbl. f. Gynäkol. 29,
ty, RAID,
266
Aus der Medizinischen Klinik Würzburg.
(Vorstand: Prof. Morawitz.)
Getäßstudien.
IV. Mitteilung.
Über den Blutdruck in seiner Abhängigkeit von Gefäßweite
und Herztätigkeit.
Von
Prof. &. Ganter, Rostock.
(Mit 5 Kurven.)
Dem Verhalten des Blutdrucks wird in der Klinik große Be-
deutung beigemessen. Man geht neuerdings soweit, bei gewissen
Kranken die Blutdrucksteigerung direkt als Krankheitsbezeichnung
zu verwenden. Das Symptom wurde zur Diagnose. So spricht
man von einer genuinen oder essentiellen Hypertonie, wenn
sich keine der bekannten Ursachen für die Blutdrucksteigerung
feststellen läßt.
Als Grundlage jeglicher Hypertonie wird allgemein die Ver-
mehrung der Gefäßwiderstände in der Peripherie des großen Kreis-
laufs angenommen. Volhard?) hat dies in seinem Wiener Re-
ferat ausdrücklich hervorgehoben.
Da bei Sektionen von Hypertonien an den Gefäßen mikro-
skopisch nachweisbare Veränderungen oft fehlen, da andererseits
auch Blutdrucksteigerungen zurückgehen können, so scheinen als
Ursache für die Hypertonie in erster Linie funktionelle Ver-
änderungen an den Gefäßen in Frage zu kommen.
Von etwa vorhandenen Veränderungen der Herztätigkeit im
Sinne einer Vergrößerung des Minutenvolumens, die wenigstens
theoretisch ebenfalls als Ursache einer Blutdrucksteigerung in
1) F. Volhard, Verhanidl. d. dtsch. Ges. f. inn. Med. 35, S. 134, 1923.
Gefäßstudien. 267
Frage kommen, wird kaum je gesprochen. Man hat anscheinend
bisher solche Zustände nicht feststellen können.
Bei Versuchen, die ich zu anderen Zwecken ausgeführt habe,
sind mir nun Befunde begegnet, die geeignet ensehemen; einen
Beitrag zu dieser Frage zu liefern.
Bei diesen Versuchen habe ich in einer Kurve Blutdruck,
Herzfrequenz und Gefäßweite aufgeschrieben. Über die Einzel-
heiten der Methode verweise ich auf meine Arbeit im Archiv f.
exper. Path. und Pharm. Bd. 110. Hier soll nur soviel zum Ver-
ständnis der abgebildeten Blutdruckkurven gesagt werden, daß der
von Zeit zu Zeit sichtbare Abfall der Kurve künstlich hervor-
gerufen ist und zur Bestimmung der Gefäßweite dient. Die Zahl
der Sekunden, die zwischen den Schnittpunkten der beiden parallel
abfallenden Kurven liegt, gibt den Maßstab für die Gefäßweite.
Die Getäßweite ist dabei um so geringer, je größer die Zahl der
Sekunden ist, sie ist um so größer, je näher die Schnittpunkte an-
einander rücken.
Bei einem Teil der Versuche wurden die Arterien des einen
Beines des Versuchstieres (Katze, Hund) geprüft. In einer früheren
Arbeit habe ich nachgewiesen, daß die gesamten, größeren Arterien
(Diaca, Nieren, Splanchnikusgebiet) auf dieselben Eingriffe in
gleichem Sinne reagieren, daß also eine einheitliche Reaktion der
gesamten Arterien des großen Kreislaufs vorhanden ist. Bei einem
Teil der Versuche wurden die Nierenarterien und die Beinarterien
ausgeschaltet und die Arterien des Tripus Halleri, die Arteria
meseraica superior und inferior zusammen geprüft. Diesen letzteren
Versuchen möchte ich eine besondere Bedeutung beimessen, nehmen
wir doch allgemein an, daß die Gefäße des Splanchnicusgebietes
den Blutdruck und damit den Kreislauf beherrschen.
Nach dem Gesagten scheint mir der Schluß erlaubt, daß die
an den einzelnen Gefäßgebieten festgestellten Änderungen der Ge-
fäßweite obne weiteres auch auf die übrigen Gefäße übertragen
werden können, daß also alle Gefäße sich bei den einzelnen Ein-
griften übereinstimmend verhalten.
Zunächst bilde ich eine Kurve ab, die das Verhalten zeigt, das man
regelmäßig erwarten sollte.
In Kurve 1 (Katze, 22. X. 25, Beinarterie) ist durch Kompression
der zum Gehirn fübrenden Arterien bei f eine Hirnasphyxie erzeugt
worden. Man erkennt den Anstieg des Blutdruckes bei entsprechender
Getäßverengerung. Bei — wird die Blutzufuhr zum Gebirn freigegeben.
Die Gefäße erweitern sich, der Blutdruck sinkt entsprechend ab.
268 GANTER
Kurve 1. Von # bis — Kompression der Hirnarterien.
In Kurve 2 (Katze, 9. XII. 25, Splanchnicus) ist die Herzfrequenz
relativ niedrig. Bei ? setzt die Hirnasphyxie ein. Der Blutdruck steigt
an; die Gefäße werden enger. Während der dritten Gefäßweitenprüfung
geht die Herzfrequenz plötzlich in die Höhe, trotzdem bleibt der Blut-
druck etwa gleich. Hier muß also
das Schlagvolumen beträchtlich ge-
sunken sein. Im weiteren Verlauf
nimmt die Gefäßweite noch mehr
ab; entsprechend zeigt der Blut-
druck einen Anstieg. Kurz nach
der vierten Gefäßweitenbestimmung
Kurve 2. Bei # Kompression der Hirn- gebt plötzlich die Herzfrequenz
arterien. etwas herunter; entsprechend sinkt
vorübergehend der Blutdruck.
In Kurve 3 (Katze, 4. XI. 25, Beinarterie) wurde wiederum eine
Hirnasphyxie durch Kompression der Hirnarterien erzeugt.
Der anfängliche Druckanstieg beruht auf der Einengung des Strom-
bettes infolge der Carotidenkompression. Obgleich die Gefäßweite ab-
nimmt und die Herzfrequenz zunächst etwa gleich bleibt, steigt der
Druck nicht weiter an. Das Minutenvolumen muß also abgenommen
haben. Jetzt geht die Herzfrequenz zurück. Der Maximaldruck steigt
trotzdem etwas an; der Minimaldruck sinkt. Die Amplitude wird größer.
Kurve 3. Von # bis — Kompression der Hirnarterien.
Das Schlagvolumen muß zugenommen haben. Nach der vierten Gefäß-
weitenprüfung ist die Herzfrequenz weiter gesunken; auch der Druck
ist abgefallen; zugleich haben sich die Gefäße weiter zusammengezogen.
Das Minutenvolumen muß also gesunken sein. Bei — wird die Hirn-
asphyxie beseitigt. Die Frequenz und der Blutdruck steigt an, die Ge-
fäße werden weiter. Das Minutenvolumen nimmt zu.
In den bisherigen Kurven ändert sich zum Teil die Herzfrequenz.
Die Änderung des Schlag- und Minutenvolumens überrascht dabei nicht.
In folgender Kurve 4 (Katze, 27. XI. 25, Beinarterie), wird bei t
durch eine Kanüle Kohlensäure in die Trachea geleitet, wo sich die
Kohlensäure mit der Atemluft mischt. Es wird also eine allgemeine
Gefäßstudien. 269
Asphyxie erzeugt. Die Gefäße ziehen sich beträchtlich zusammen. Die
Herzfrequenz zeigt keine deutliche Anderung. Sie nimmt vielleicht etwas
zu. Trotzdem steigt der Druck nur ganz geringgradig an. Hier muß
also das Schlag- und Minutenvolumen abgenommen haben. Auch nach-
dem bei — die Kohlensäureeinleitung aufgehoben wird und die Gefäße
Kurve 4. Von # bis — Einleitung von Kohlensäure in die Trachea.
sich wieder erweitern, bleibt der Druck auf gleicher Höhe, obgleich die
Herzfrequenz sich nicht ändert. Es muß also hier das Schlag- und
Minutenvolumen wieder zugenommen haben.
Schließlich sei noch Kurve 5 (Hund, 23. X. 25, Beinarterie) wieder-
gegeben. Bei f wurde °/, mg Gynergen eingespritzt, die Gefäßweite
nimmt deutlich zu. Die Frequenz ändert sich nicht erkennbar, trotzdem
steigt der Blutdruck an. Es muß also das Schlagvolumen bei Erweiterung
der Gefäße zugenommen haben.
Kurve 5. Bei $ Injektion von "g mg Gynergen in die Halsvene.
Ich könnte aus meiner Sammlung die Zahl der Beispiele ähnlicher
Art beliebig vermehren.
Allen Kurven, mit Ausnahme der ersten, ist ge-
meinsam, daß der Blutdruck eine weitgehende Unab-
hängigkeit von der Gefäßweite zeigt.
Es kann der Blutdruck absinken, obgleich eine
Gefäßverengerung auftritt (Kurve 3). Es kann der
Blutdruck gleich bleiben, obgleich die Gefäßver-
engerung sehr beträchtlich ist (Kurve 4). Es kann der
Blutdruck ansteigen, obgleich eine Gefäßerweiterung
auftritt (Kurve 5) Um einen Anhaltspunkt über die Größe
der Blutdruckänderung zu geben, will ich hinzufügen, “daß dem
senkrechten Abstand der beiden Kurven, die bei der Gefäßweiten-
bestimmung deutlich zu sehen sind, etwa 30 cm Wasserdruck ent-
sprechen. Die Blutdruckänderungen sind also nicht unerheblich.
Danach kann es keinem Zweifel unterliegen, daß bei den an-
270 GANTER
geführten Versuchen zum Teil gewaltige Änderungen des Schlag-
und Minutenvolumens aufgetreten sind.
Daß das Schlag- und Minutenvolumen eine Änderung erfährt,
wenn die Herzfrequenz sich ändert, ist nach den Untersuchungen
von O. Frank!) ohne weiteres verständlich. Es besteht allerdings,
wie Frank das nachgewiesen hat, keine einfache Beziehung
zwischen Herzfrequenz und Minutenvolumen. In einem gewissen
Frequenzbereich nimmt zwar das Minutenvolumen mit zunehmender
Frequenz zu. Steigt die Frequenz über diese Frequenzbreite hinaus,
so nimmt das Schlagvolumen ab und das Minutenvolumen kann
noch zu- oder abnehmen. Sinkt dagegen die Frequenz unter die
Breite, dann nimmt zwar das Schlagvolumen zu, das Minuten-
volumen dagegen ab.
Meine oben beschriebenen Versuche bestätigen zunächst die
Befunde Franks. In Kurve 2 ist trotz der etwa vervierfachten
Frequenz der Druck zunächst eher gesunken. Da die Gefäßweite
während dieser Zeit keine Änderung erfahren hat, so muß das
Schlagvolumen beträchtlich abgenommen haben. Das Minuten-
volumen ist etwas zurückgegangen. In Kurve 3 sinkt, obgleich
die Gefäße enger werden, der Blutdruck infolge der Abnahme der
Herzfrequenz. Das Minutenvolumen muß beträchtlich herunterge-
gangen sein; denn es genügt, trotz der Gefäßverengerung, die
ausgeworfene Blutmenge nicht, um den ursprünglichen Blutdruck
aufrecht zu erhalten.
Von größerem Interesse sind aber hier die Kurven 4 u. 5,
wo eine Frequenzänderung nicht eingetreten ist. In Kurve 4 steigt
trotz beträchtlicher Verengerung der Gefäße der Blutdruck nur
ganz wenig an. Da die Herzfrequenz dieselbe geblieben ist, muß
also sowohl das Schlagvolumen, als auch das Minutenvolumen ab-
genommen haben. Da der Druck sich auch nicht ändert, während
die Gefäße weiter werden, so muß hier Schlag- und Minutenvolumen
wieder zugenommen haben. Es ist bei diesem Versuche anzu-
nehmen, daß durch die Kohlensäure zwar eine Reizung des Vagus-
zentrums herbeigeführt wird, daß diese Reizung zu keiner Ver-
minderung der Herzfrequenz führt, aber das Herz negativ inotrop
beeinflußt, Daß durch die Kohlensäure das Herz selbst geschädigt
wird, ist nach den Versuchen von Itami?) wenig wahrscheinlich.
In Kurve 5 steigt nach Gynergen der Blutdruck an, ob-
1) O. Frank, Zeitschr. f. Biol. 41, S. 1, 1901.
- 2) Itami, Journ. of physiol. 45. S. 342, 1912.
Gefäßstudien. 271
gleich die Gefäße sich erweitern. Da die Herzfrequenz dieselbe
geblieben ist, so muß also eine beträchtliche Zunahme des Schlag-
und Minutenvolumens eingetreten sein.
Da in diesem Versuch durch Gynergen, wie ich in einer
anderen Arbeit zeige, der Sympathikus ausgeschaltet ist, so ist hier
möglicherweise durch das Überwiegen des Vagus das Schlag-
volumen vergrößert worden. Auch der Wegfall des Sympathicus-
tonus könnte theoretisch das Schlagvolumen vergrößern. Es ist
allerdings nicht auszuschließen, daß das Gynergen am Herzen
selbst, also rein muskulär, die positiv inotrope Wirkung entfaltet.
Nebenbei sei auf das Verhalten der Amplitude aufmerksam
gemacht. Das Trägheitsmoment ist bei der tonometrischen Blut-
druckmessung nach v. Frey, die ich bei obigen Versuchen ange-
wandt habe, nur gering. Man kann deshalb annehmen, daß im
den Kurven die Schleuderung nicht allzu groß ist. Infolgedessen
kann eine auftretende Änderung der Amplitudengröße mit einiger
Sicherheit aus den Kurven verwendet werden. Bei der letzten
Kurve (5) nimmt die Größe der Amplitude bei Erweiterung der
Gefäße und bei Zunahme des Blutdruckes ab, obgleich das Schlag-
volumen zweifellos größer geworden ist. In Kurve 4 ändert sich
die Amplitude bei Verengerung der Gefäße und Abnahme des
Schlagvolumens nur wenig. Wir sehen daraus, daß auch die Ampli-
tude keineswegs eine Funktion der Gefäßwiderstände allein dar-
stellt, daß vielmehr die Größe des Schlagvolumens für die Größe
der Amplitude von mindestens ähnlicher Bedeutung ist, wie die
Größe der Gefäßwiderstände.
Aus den Versuchen ergibt sich, daß wir in dem Verhalten
des Blutdruckes keineswegs ohne weiteres einen Maßstab für die
Widerstände in den Gefäßen zu erblicken haben. Der Blutdruck
kann ansteigen bei einer Gefäßerweiterung, er kann absinken bei
Gefäßverengerung. Das Schlag- resp. Minutenvolumen ist für die
Höhe des Blutdrucks von ausschlaggebender Bedeutung. Nur wenn
das Minuten- oder Schlagvolumen gleich bleiben, ist der Blutdruck
ein einigermaßen brauchbarer Maßstab für die Gefäßweite. Um-
gekehrt kann bei gleichem Gefäßwiderstand der Blutdruck einen
Maßstab für das Minuten- resp. Schlagvolumen abgeben.
Wenn einstweilen diese nur bedingte Abhängigkeit des Blut-
druckes von den Gefäßwiderständen einzig am Tier unter besonderen
Versuchsbedingungen festgestellt ist, so möchte ich doch nicht an-
stehen, die im Tierversuch gewonnenen Vorstellungen auch auf den
Menschen zu übertragen. Ich bin der Meinung, daß die Be-
272 GANTER
dingungen, die wir am Tier durch unsere Methodik schaffen können,
lange nicht so mannigfaltig sind wie diejenigen, die unter patho-
logischen Bedingungen am menschlichen Organismus spontan ent-
stehen. Ist doch die Krankheit der größte Experimentator.
Danach möchte ich annehmen, daß die Bedingungen, die hier
im Tierversuch künstlich gestaltet wurden, auch am Menschen
unter der Einwirkung von Krankheiten auftreten. Es ist bekannt,
daß trotz ausgedehnter, anatomisch feststellbarer Veränderungen
der Gefäße z. B. bei Arteriosklerose keineswegs eine Blutdruck-
steigerung vorhanden sein muß. Wir wissen ja, daß die Blutdruck-
steigerung bei Arteriosklerose ein fakultatives Symptom darstellt.
Die Blässe, nicht nur der Haut, sondern auch der inneren Organe,
die wir bei Arteriosklerose nicht selten und auch dort, wo keine
Blutdrucksteigerung besteht, feststellen können, weist darauf hin,
daß die Gefäßwiderstände infolge Gefäßverengerung erhöht sind.
Wenn dabei der Druck nicht erhöht ist, so muß das Minuten-
volumen vermindert sein. Wenn aber das Minutenvolumen dauernd
vermindert ist, so ist eine Abnahme der Muskelmasse des Herzens
zu erwarten, da das Herz weniger Arbeit zu leisten hat. Dieser
Atrophie ‚des Herzens begegnen wir bei alten Leuten gar nicht
selten. Die Atrophie des gesamten Körpers, die im Alter häufig
eintritt, steht wahrscheinlich damit im Zusammenhang. Auch die
verminderte, körperliche Leistungsfähigkeit des Alters hängt wohl
z. T. damit zusammen.
Weiterhin haben nicht alle Fälle von chronischer Nephritis
eine Blutdrucksteigerung, obgleich die Haut blaß ist, und auch bei
Besichtigung des Augenlintergrundes, der Blasen- und Mastdarm-
schleimhaut aus der Enge der Gefäße auf einen vermehrten Ge-
fäßwiderstand geschlossen werden kann. Auch hier ist eine Ab-
nahme des Minutenvolumens anzunehmen.
Im Gegensatz dazu gibt es auch klinisch Zustände, bei denen
eine Gefäßverengerung nicht vorhanden ist, bei denen aber trotz-
dem eine Blutdrucksteigerung besteht. Die Gefäße sind dabei
sogar erweitert. Ob die Erweiterung primär oder auch als Folge
des Hochdruckes aufzufassen ist, kann einstweilen nicht gesagt
werden. Es ist dies die rote Hypertonie von Volhard').
Daß dieser rote Hochdruck ganz anders zu bewerten ist als der
blasse, hat Volhard in seinem Wiener Referate auseinanderge-
setzt. Ich möchte annehmen, daß bei der roten Hypertonie nicht
l) Volhard. l. e.
(refäßstudien. 273
ein vermehrter peripherer Widerstand die Blutdrucksteigerung ver-
ursacht, sondern die Vergrößerung des Schlagvolumens. Es würde
die rote Hypertonie in ihrem Entstehungsmechanismus vergleich-
bar sein mit dem Versuch der Kurve 5, wo ein Anstieg des Blut-
druckes auftrat ohne Verengerung, ja sogar bei Erweiterung der
Gefäße.
Hier wäre vielleicht auch die Blutdrucksteigerung zu nennen,
die bei körperlicher Arbeit bei nicht Geübten beobachtet wird.
Wir wissen, daß bei körperlicher Arbeit zum mindesten die Arterien
der arbeitenden Muskeln erweitert werden. Eine kompensatorische
Verengerung anderer (z. B. des Splanchnicus) Gebiete ist bisher nicht
nachgewiesen. Wenn trotzdem eine Blutdrucksteigerung auftritt
oder der Blutdruck nur nicht sinkt, so ist die Annahme einer
Vergrößerung des Minutenvolumens nicht zu umgehen.!)
Wahrscheinlich liegen die Verhältnisse bei einem Teil der
Basedowkrankheitsfälle ähnlich.
Meine ausgeführten Versuche sollen zeigen, daß neben der Er-
höhung der Widerstände in der Peripherie auch eine Vergrößerung
des Minutenvolumens zu einer Steigerung des Blutdruckes führen
kann. Es ist dies im akuten Tierversuche hier nachgewiesen,
und es ist nicht einzusehen, warum in der menschlichen Pathologie
nicht ähnliche Bedingungen verwirklicht sind.
Wenn auch in der Mehrzahl der Fälle von Blutdrucksteigerung
eine Vermehrung der peripheren Widerstände vorhanden ist, so be-
ruht die Blutdrucksteigerung im Grunde doch auf einem Mißver-
hältnis des Minutenvolumens und der Gefäßwiderstände Eine
Blutdrucksteigerung kann in seltenen Fällen bei normalem Ver-
halten der Gefäße zweifellos auftreten, wenn nur das Minutenvolumen
aus irgendwelchen Gründen gesteigert ist (z. B. bei körperlicher
Arbeit). Es scheint mir danach nicht berechtigt immer bloß von
der Vermehrung der peripheren Widerstände zu sprechen. Es
muß m. E. in Zukunft ebenso das Verhalten des Minutenvolumens
berücksichtigt werden. Wir haben bisher das Minutenvolumen
wohl deshalb vernachlässigt, weil wir im Gegensatz zur Messung
des Blutdruckes keine zuverlässige Methode besitzen, die uns über
die Größe des Minuten- oder Schlagvolumens Auskunft gibt.
Wenn meine am Tier gemachten Feststellungen auf den
Menschen übertragen werden können, dann wird man doch Be-
_—.
|
l) Anm. bei der Korrektur. In neueren Versuchen habe ich nachgewiesen,
dab bei der Arbeit die Gefäße der nicht arbeitenden Organe eine Verengerung
erfahren.
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 13
274 Ganter, Gefäßstudien.
denken tragen, der Blutdrucksteigerung jene ausschließliche Be-
deutung für manche Krankheitszustände beizumessen, wie dies
meistens geschieht. Man wird vielleicht dazu kommen, die Blut-
drucksteigerung nicht mehr als Krankheit aufzufassen, sondern ihr
wieder den Wert beimessen, der ihr ursprünglich zukam, nämlich
den eines Symptoms. Es ist die Blutdrucksteigerung für viele
Zustände wahrscheinlich nicht einmal ein obligates Symptom, also
ein Symptom, das vorhanden sein muß, es kann vielmehr derselbe
Zustand bei einem Kranken bestehen, ohne daß dieses Symptom
vorhanden ist. Auch ich möchte mich nach dem Gesagten auf
Grund meiner Versuche der Anschauung anschließen, die von der
Fr. Müllerschen Schule, besonders von v. Monakow’!) vertreten
wird, daß der Blutdrucksteigerung für die meisten Zustände die
Wertigkeit eines fakultativen Symptomes zukommt.
Damit ist dem Wert der Blutdruckmessung und dem Werte
dieses Symptomes an sich für unsere Diagnosenstellung in keiner
Weise Abbruch getan. Dort, wo die Blutdrucksteigerung tatsäch-
lich vorhanden ist, behält sie dieselbe Bedeutung für die Diagnose
und ebenso für die Prognose wie bisher. Wir müssen in der Blut-
drucksteigerung ein Symptom erblicken, das als solches gewisse Ge-
fahren in sich schließt, Gefahren, die fehlen, wenn bei sonst
gleichen Veränderungen der Blutdruck nicht erhöht ist.
1) v. Munakow, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 183, S. 129, 1920.
275
Aus der medizinischen und Nervenklinik Tübingen.
(Vorstand: Professor O. Müller.)
Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der
menschlichen Haut (Cutis marmorata).
Von
Dr. W. Scharpff,
früher Assistent der Klinik, jetzt Arzt an der Kuranstalt Neuwittelsbach, München.
(Mit 1 farbigen Tafel.)
Die bei Vasoneurosen eigenartigen Abweichungen der Kapillaren
und der subpapillären Plexus der Haut vom Normalzustand, wie sie von
0. Müller und seinen Schülern!) mit seiner Kapillarmikroskopie
beobachtet und geschildert wurden, sind bekannt. Frühere Ver-
suche, eine anatomische Grundlage auch nur für eine dieser Ver-
änderungen zu finden, waren stets gescheitert.
Da sich die im Kapillarmikroskop beobachteten Veränderungen,
vor allem die Schlängelung der Kapillaren, ihre wechselnde Füllung,
das enge arterielle und das weite venöse Rohr der Kapillaren,
starke Ausbuchtungen und Erweiterungen in einzelnen Teilen der
Kapillaren, vor allem im Schaltstück histologisch nicht feststellen
ließen, so mußten diese Erscheinungen als ein funktioneller Zustand
der Haargefäße betrachtet werden, der mit dem Tod des Indivi-
duums, oder auch nur mit dem Absterben eines exstirpierten Haut-
stückes zu bestehen aufhörte. Neuere Beobachtungen von O. Müller
u Heimberger?) und dadurch angeregte histologische Unter-
sachungen von Schminke?) u. Duschl*) ergaben, daß sich in
1) Die Kapillaren der menschlichen Körperoberfläche in gesunden und kranken
Tagen von Prof. O. Müller in Gemeinschaft mit E. Weiß, B. Minkow und
W. Parrisius. Enke, Stuttgart 1922.
2) O. Müller u. Heimberger, Dtsch. Zeitschr. f. Chirurgie 1925.
3) Schmincke, Münch. med. Wochenschr. Nr. 52, 1923.
4) Duschl, Dtsch. Zeitschr. f. Chirurgie 1925.
; 18*
276 SCHARPEFF
der Schleimhaut der Ulcusmägen und zwar ferne vom Ulcus, ganz
ähnliche Veränderungen finden, wie sie mit dem Kapillarmikroskop
an der Haut nachgewiesen werden können. Es ist ein Verdienst
von Duschl, durch exakte Rekonstruktion der Kapillaren mittels
Serienschnitten nachgewiesen zu haben, daß das morphologische
Bild dieser Kapillaren ein abnormes ist: keine Harmonie und gleich-
förmige Anordnung der kleinsten Gefäße, keine gleichförmige Weite,
sondern enge und weite Stellen miteinander wechselnd, die in
ihrer physiologischen Bedeutung als spastische und atonische Zu-
stände angeselıen werden müssen. Dieser histologische Befund war
die erste anatomische Bestätigung für die von O. Müller fest-
gestellten Veränderungen in den Magenkapillaren, wie er sie zuerst
mittels des Zeiß’schen Binoculars an frisch exstirpierten Schleim-
häuten der Ulcusmägen gesehen hatte. Diese Untersuchungen
legten wieder den Gedanken nahe, ob es nicht doch gelingen könnte,
auch an der Haut die veränderten Kapillaren vasoneurotischer
Störungen zu erfassen. Während die histologischen Untersuchungen
der Magenkapillaren keinen besonderen Schwierigkeiten unter-
worfen sind, bestehen solche bei der Untersuchung der Haut-
kapillaren. Esist bekannt und von Magnus!) nachgewiesen, daß
im Tod die Hautkapillaren leer laufen. Erst mit der Bildung von
Totenflecken füllen sie sich wieder. Die Totenflecke sind bekannt-
lich an den abhängigen Partien der Leiche angeordnet. Sie ent-
stehen durch eine Senkung des noch flüssigen Blutes, dem Gesetz
der Schwere folgend. Beim Einschneiden der Haut finden sich
Blutpunkte in der Lederhaut, von den durchschnittenen Haut-
kapillaren herrührend; das Unterhautzellgewebe dagegen ist blaß
und enthält in seinen Maschen kein Blut (Kratter, Gerichtliche
Medizin).
Wenn man normale Haut ganz kurz nach dem Tode an einer
beliebigen Stelle histologisch untersucht, so findet man stets nur
enge, kontrahierte, blutleere Haargefäße, ganz in Übereinstimmung
mit den Magnus’schen Beobachtungen. Schneidet man Stücke aus
Totenflecken heraus, so finden sich aber auch hier nur kontrahierte,
oder höchstens vereinzelt, mäßig erweiterte Kapillaren. Die Weite
der Kapillaren ist jedenfalls geringer, als nach der Verfärbung der
Haut zu erwarten wäre. Dies hat seinen Grund darin, daß ein
exstirpiertes Hautstück sich außerordentlich stark zusammenzieht.
Durch dieses Zusammenschrumpfen der Haut werden die kleinsten
1) Dtsch. Zeitschr. f. Chirurg.
Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der menschlichen Haut. 277
sefäße und Kapillaren größtenteils passiv komprimiert und mehr
oder weniger leer gedrückt. Es hat also bei Untersuchungen der
Hautkapillaren auf ihre Weite oder Form hin wenig Sinn, nach
dem Herausschneiden des Hautstückes dasselbe wieder so stark zu
spannen, in dieser Spannung dann festzuhalten und so zu fixieren,
daß es seine ursprüngliche Größe wieder bekommt. Die Verände-
rung der Kapillarform ist durch die Hautschrumpfung schon bei
der Herausnahme eingetreten. Aus solchen Präparaten läßt sich
jedenfalls nichts, oder nur wenig Sicheres über die Größe, Form
und Füllung einer Kapillare aussagen. Es sind also 2 Faktoren,
welche die Hautkapillaren im histologischen Bild gegenüber dem
Leben verändern:
1. die agonale aktive Kontraktion der Hautkapillaren und
2. die passive Kompression derselben in einem exstirpierten
Hautstück durch die Schrumpfungs- und Verkleinerungsneigung der
herausgenommenen Haut selbst.
Es ist mir aufgefallen, daß 'l'otenflecke gelegentlich nicht nur an
den nach abwärts gelegenen Teilen einer Leiche auftreten, sondern
auch an anderen Stellen, aber nicht nur dieses, sondern daß schon
mit dem eingetretenen Tode Totenflecke vorhanden sind und zwar
sind die Stellen, an denen ich gelegentlich einmal solche auftreten
sah, Prädilektionsstellen der Cutis marmorata. Gerade in einem
Fall ganz besonders hochgradiger Cutis marmorata, die am stärksten
in der Gegend der Kniee vorhanden war, ließ sich diese Erscheinung
sehr schön beobachten. In diesem Fall waren die Totenflecke nicht
nur wie normalerweise bei Rückenlage der Leiche, auf der Rück-
seite der Beine, sondern ebenso stark, wenn nicht noch stärker, an
der Vorderseite über den Knieen angeordnet. An diesen Stellen
war die Cutis marmorata im Leben so stark gewesen, daß sie zu
einer anhaltenden blauroten Verfäbung dieser Hautpartien mit
charakteristischer fleckförmiger Anordnung geführt hatte. Diese
Stellen waren mit dem Tode sofort in ausgedehnte Totenflecke
übergegangen.
Auf Grund von Untersuchungen über die Cutis marmorata,
welche R. Mayer-List!) mit dem Kapillarmikroskop in der
Tübinger Klinik durchgeführt hat, sind die schweren Veränderungen
der Hautkapillaren im Gebiet einer ausgesprochenen Cutis marmorata
in vivo bekannt. Auf Grund dieser Beobachtungen schien mir die
Cutis marmorata von den verschiedenen vasoneurotischen Kapillar-
L R. Mayer-List, Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 148. S. 6%. 1925.
278 SCHARPFF
veränderungen zunächst einmal am geeignetsten für einen neuen
Versuch zur Feststellung, ob es nicht doch möglich sei, histologische
Veränderungen an Hautkapillaren zu finden. Auffallend war gerade
das Verhalten dieser Hautkapillaren im Tode, es war zweifellos
ein anderes wie das normaler Kapillaren, denn die Leichenblässe,
die sonst überall an der Haut eintritt, fehlte hier.
Für meine speziellen Untersuchungen handelte es sich aber
noch darum, etwaige Veränderungen oder Beeinflussungen auszu-
schließen, welche durch die Technik der histologischen Unter-
suchungen entstehen, so vor allem die passive Kompression der
Hautkapillaren durch das Zusammenschrumpfen der Haut bei ihrer
Herausnahme. Um dies zu verhindern, habe ich eine einfache
Methode bei meinen Untersuchungen angewandt, die ich an anderer
Stelle eingehend veröffentliche!),. Mit Hilfe dieser Methode sind
die reproduzierten Bilder gewonnen.
Die histologische Untersuchung von Haut, die im Leben eine
schwere Cutis marmorata zeigt, förderte ein überraschendes Er-
gebnis zutage: ?)
Die Kapillaren einer hochgradigen Cutis marmorata befinden
sich nicht, wie normalerweise (Abb. 1) im kontrahierten Zustand,
sondern sie sind stark erweitert, prall gefüllt mit Blut (Abb. 2 u. 3).
Die erweiterten Kapillaren und subpapillaren Plexus springen jedem
Betrachter im Mikroskop als auffallendste Erscheinung in die
Augen. Sehr schön sieht man diese Erscheinung bei Färbung
der Haut mit Safranin, Pikrinsäure und Indigocarmin, wobei die
gelb bis gelbrot gefärbten roten Blutkörperchen und roten Zell-
kerne sich vom blaugrünen kollagenen Bindegewebe stark abheben.
Am stärksten sind die venösen Teile der Kapillaren erweitert, nur
in geringem Grade die arteriellen. An manchen Stellen ist der
arterielle Schenkel blutleer oder blutarm (Abb. 2). Solche Be-
obachtungen lassen sich allerdings nicht an einem einzigen Prä-
parat machen, sondern erst bei der Durchsicht vieler Präparate
läßt sich ein solcher Befund mit Sicherheit erheben, am allerbesten
an Serienschnitten. Aber nicht nur die Kapillaren, sondern auch
die subpapillären Plexus verhalten sich abnorm. Bis ins Unter-
D An dieser Stelle möchte ich Herrn Professor Heidenhain, dem Leiter
des anatom. Instituts Tübingen. meinen besten Dank aussprechen für eine Reihe
der Ratschläge. die er mir zur Herstellung guter Hautschnitte gegeben hat.
2) Scharpff. Ein Beitrag zur Teehnik der histologisehen Untersuchungen
menschl, Hautkapillaren. — Erscheint demnächst in der Zeitschr. f. wissensch.
Mikroskopie.
Über histolugische Befunde an Kapillar-Neurosen der menschlichen Haut. - 279
hautfettgewebe hinein finden sich an manchen Stellen stark er-
weiterte Gefäße. Auch hier fällt auf, daß weitaus am stärksten
die venösen Plexus dilatiert sind, während die arteriellen viel
weniger Blut enthalten und meist eng sind. Dies ist eine Er-
scheinung, die sich von den histologischen Befunden an Totenflecken
grundsätzlich unterscheidet, denn bei ihnen finden sich nach den
Angaben von Kratter und auch nach eigenen Präparaten im
Unterhautzellgewebe niemals solche mit Blut prall gefüllten Gefäße.
Es ist keineswegs gleichgültig, ob nur ein einziges Präparat,
oder ob mehrere aus verschiedenen nicht sehr weit auseinander
liegenden Hautstücken betrachtet werden. Es finden sich Stellen
— bei günstigen Schnitten kann es fast im ganzen Präparat der
Fall sein —, in denen eine Kapillare wie die andere voll von
Blut ist. Aber dann gibt es wieder Stellen, in denen sich so gut
wie gar kein Blut vorfindet, deren Kapillaren also kontrahiert sind
und sich ganz wie normale Kapillaren verhalten. Der Übergang
von engen zu erweiterten Haargefäßen ist fast durchwegs ein scharf
begrenzter und zwar erstreckt sich diese Grenze nicht nur auf die
Kapillaren selbst, sondern auch auf die subpapillären Plexus; aller-
dings ist meist das Gebiet der Erweiterung bei den subpapillären
Plexus etwas größer als bei den Hautkapillaren selbst. Die ver-
schiedene Kapillarfüllung entspricht den cyanotischen und den
blassen, weißen Partien der Cutis marmorata. Dieser Befund
stimmt vollkommen mit den Beobachtungen von Mayer-List')
überein, der diesen plötzlichen Übergang von engen zu weiten
Kapillaren im Kapillarmikroskop am Lebenden sah.
Es wird durch die Ausdehnung der Gefäßerweiterung in die
Tiefe verständlich, warum eine so ausgesprochene Cyanose der
Haut vorhanden ist. Wären die Kapillaren allein erweitert, so
könnte eine so intensive Verfärbung der Haut nicht entstehen;
erst dadurch, daß auch die subpapillären Plexus bis ins subkutane
Fettgewebe hinein stark erweitert sind und in allen diesen Gefäß-
gebieten eine verlangsamte Strömung entsteht (Mayer-List),
kann eine so tiefe Cyanose der Haut auftreten, wie sie in ausge-
sprochenen Fällen von Cutis marmorata vorhanden ist.
Betrachtet man die Kapillaren im einzelnen, so ist noch
mancherlei zu erkennen. In den ausgesprochenen Fällen sind sie,
je näher sie der Epidermis liegen, desto stärker geschlängelt.
Aber es fällt auf, daß nicht nur die Kapillaren, sondern auch die
DOS oa a. O.
280 SCHARPFF
Plexus keineswegs immer gerade verlaufen, vereinzelt können auch
sie stark geschlängelt sein. Die Veränderung der Kapillarform
dehnt sich also auch auf die Plexus aus, eine Veränderung, die
bis jetzt nach Untersuchung mit dem Kapillarmikroskop nur ver-
mutet, mit Sicherheit aber noch nicht festgestellt werden konnte.
An manchen Stellen ist in den Kapillaren diese Schlängelung so
gesteigert, daß es geradezu zu einer Knäuelbildung kommt. Wenn
durch Drehen der Mikrometerschraube der Schnitt in verschiedenen
Tiefen betrachtet werden kann, so läßt sich feststellen, wie die
einzelnen Kapillarabschnitte miteinander zusammenhängen. Manch-
mal ist die Knäuelbildung so stark und so ausgedehnt, daß bei
einem Schnitt durch eine solche veränderte Kapillare eine Reihe
von Gefäßquerschnitten, dicht beieinander liegend, sich abbilden.
Ich habe bis zu 12 Querschnitten dicht nebeneinander gezählt, die
zweifellos einer einzigen kranken Kapillarschlinge angehörten
(Abbildung 3). Im Kapillarmikroskop fallen manchmal weniger stark
gewundene als außerordentlich weite Haargefäße auf. O. Müller
hat sie auf Grund seiner kapillarmikroskopischen Untersuchungen
als Kapillaraneurysmen bezeichnet. Ich glaube, es ist mir gelungen,
sie im histologischen Schnitt aufgefunden zu haben. Man sieht
plötzlich unter der Haut eine Erweiterung, die so groß ist, daß
eine Kapillare die Weite eines größeren subpapillären Plexus über-
schreitet. Die Schlängelung tritt ganz hinter der Weite des Ge-
fäßes zurück, die außerordentlich frappant ist. Abbildung 4 zeigt
ein solches Kapillaraneurysma; man vergleiche dazu einige typische
Kapillarerweiterungen einer Cutis marmorata (Abbildung 2} oder
gar normale Kapillaren (Abb. 1; die Abbildungen 1—4 sind sämtlich
in der gleichen Vergrößerung von 200 zu 1 wiedergegeben).
Kapillaren, bei’denen etwa enge spastische und weite atonische
Stellen innerhelb der gleichen Schlingen abwechseln, wie sie
Duschl bei den Magenkapillaren von Ulcusmägen zeigen konnte,
habe ich nicht finden können.
Die Frage nach der Ursache solch starker morphologischer
Abweichungen von der Norm ist naheliegend. Ich habe lange Zeit
nach einer Veränderung in der Wandung der pathologischen
Kapillaren gesucht, bei kritischer Betrachtung aber ohne einen
sicheren Befund zu gewinnen. Im Hämatoxilin- oder Eisenhäma-
toxilinpräparat, das ja die besten Färbungen gibt, läßt sich kein
greifbarer Unterschied feststellen. In manchen Präparaten sah es
aus, als ob die Zellen der Kapillarwand vermehrt seien. Zum
Vergleich habe ich einerseits enge gesunde Kapillaren und weite eines
Deutsches Archiv für klin. Medizin, Band 151 Tafel 1V
Abb. ı Abb. 2
Abb. 3 Abb. 4
Scharpff Verlag von F. C. W. Vogel in Leipzig.
DRUCK VON FR.RICHTER G.M B H..LEIPZIG
Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der menschlichen Haut. 281
gleichen Hautstückes betrachtet, andererseits kranke mit Kapillaren
normaler Haut in Parallele gesetzt. Bei der Betrachtung im Mikro-
skop schien es, als ob tatsächlich eine Zellvermehrung vorläge. Ich
wollte mich damit aber nicht begnügen und habe es für richtig
gefunden, an gesunder Haut, die genau so behandelt war, wie die
kranke (Cutis marmorata) in Serienschnitten die Zahl der Kerne
eines Haargefäßes auf einem gleichlangen Stück im ganzen Um-
fang der Kapillaren festzustellen. Ich habe dabei stets solche
Kapillaren untersucht, die parallel der Schnittführung — zunächst
also tangential, dann längs und dann wieder tangential — ange-
schnitten waren. Bei den pathologischen Kapillaren konnte ich
natürlich nur solche zu dem Vergleich heranziehen, die zwar stark
erweitert, aber nicht sonderlich geschlängelt oder gewunden waren.
Eine ganze Reihe von Auszählungen an Serienschnitten hat aber
nur eine so geringe Vermehrung der Kernzahl bei den kranken
Kapillaren ergeben, daß sie noch in die Fehlergrenzen fallen kann.
Eine Veränderung der Kapillarwand, die sich etwa in einer Ver-
minderung oder Vermehrung der Zellkerne zu erkennen gäbe, kann
daher nicht mit Sicherheit angenommen werden. Allerdings fällt
auf, daß die Wand eines Kapillaraneurysmas außerordentlich kern-
reich ist. Es finden sich in der Wand eines Kapillaraneurysmas
Stellen, wo ein Zellkern neben dem andern liegt, so daß es durchaus
den Eindruck macht, als sei es bei einer solch abnormen Ver-
größerung der Kapillaren doch zu einer Vermehrung der Zellen
der Kapillarwand gekommen. Es ist also bei geringeren Verände-
rungen nicht möglich, irgendeine Besonderheit in der Kapillarwand
nachzuweisen, bei schweren Veränderungen aber erscheint die An-
nahme berechtigt, daß die Zellen der Kapillarwand vermehrt sind.
Vimtrup!') glaubt auf Grund seiner Untersuchungen Endo-
thelzellen von Rouget’schen (kontraktilen) Zellen deutlich unter-
scheiden zu können. Obwohl ich seinen technischen Angaben genau
gefolgt bin, so konnte ich mich nicht davon überzeugen, daß es
möglich sei, diese beiden Zellarten jederzeit zu unterscheiden.
Die von ihm gerühmte Färbung mit Safranin, Indigocarmin und
Pikrinsäure erscheint mir nicht so zuverlässig, als daß nicht durch
technische Einflüsse eine Ungleichheit in der Färbung der Zellkerne
entstehen könnte. Andererseits läßt sich nicht leugnen, daß in
der Wand pathologischer Kapillaren die Kerne sich verschieden
I) Vimtrup, Zeitschr. f. d. ges. Anat. 1. Abt. Zeitschr. f. Anat. u. Ent-
wicklungsgeseh. Bd. #5, 1922, S. 150 u. Bd. 68, S. 470, 1923.
982 SCHARPFF
färben, teilweise hell, teilweise intensiv. Auch ihre Größe ist oft
sehr verschieden. Je mehr Präparate ich durchgesehen habe, desto
mehr habe ich mich davon überzeugt, daß alle Übergänge von
schwach zu intensiv gefärbten Kernen sich auffinden lassen und
ebenso ist es auch mit der Größe der Zellkernee Marchand)
hat bei normalen Kapillaren schon immer diesen Befund erhoben.
Als Ausgangszelle für alle um eine Kapillare liegenden Zellen sieht
er die Endothelzelle an. Mir scheint es, als ob bei den patho-
logischen Kapillaren die gleichen Verhältnisse vorliegen. Man sieht
die verschiedensten Zellen, die zweifellos der Kapillarwand ange-
hören, aber sie lassen sich nicht, wie Vimtrup angibt, in Endo-
thel- und Rouget’schen Zellen scharf trennen.
Auch die Kerne veränderter Kapillaren selbst zeigen kein
Zeichen, das als pathologisch angesehen werden könnte. Ebenso-
wenig konnte ich irgendwelche Veränderungen im Protoplasma
feststellen; höchstens Könnte es als krankhaft gelten, daß der Quer-
schnitt einer pathologischen Kapillarwand, trotz ihrer starken
Dilatation dicker erscheint, als normal. Möglicherweise hängt diese
Erscheinung eben damit zusanımen, daß die Zahl der Wandzellen
vermehrt ist. Trotz dieser fraglichen Befunde muß aber eine
schwere Veränderung der Kapillarwand in ihrer Leistung ange-
nommen werden. Denn wie wäre es sonst möglich, daß die Kapillaren
sich im Tode nicht wie normale kontrahieren, sondern ganz gegen
ihr sonstiges Verhalten in stark erweitertem Zustand bleiben und
sich so festhalten lassen.
Die Bedeutung meiner Untersuchungen liegt meiner Auffassung
nach darin: bei menschlichen Hautkapillaren im Zustand der Cutis
marmorata läßt sich durch eine geeignete Technik nachweisen, daß
eine mehr oder minder große Zahl von Hautkapillaren anatomischen
Veränderungen unterworfen ist. Sie sind in ihrer Form stark ver-
ändert, sie sind strotzend voll von Blut. Ihre normale Kontrak-
tilität, die sich im Tode durch ein Leerlaufen der Kapillaren äußert,
haben diese Kapillaren verloren. Solche Veränderungen können
aber nicht mehr nur als Folge einer Funktionsänderung ange-
sehen werden, sie sind organischer Natur. Ich will damit nicht
sagen, daß bei allen Hautkapillaren, die im Sinne einer Cutis mar-
morata reagieren, sich histologische Veränderungen nachweisen
lassen müssen; nur in besonders schweren Fällen ist dies möglich.
Offenbar reagieren die meisten Menschen nach der Arbeit von
1) F. Marchand, Münch. med. Wochenschr. 1923, S. 385, Nr. 13.
Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der menschlichen Haut. 283
Mayer-List auf Abkühlung nicht mit einer Cutis marmorata,
sondern mit einer „Gänsehaut“ bei kapillarmikroskopisch absolut
engen Kapillaren. Nur bei einer kleineren Zahl von Menschen tritt
auf Abkühlung eine Cutis marmorata auf. Diese Reaktionsform
läßt sich histologisch nicht fassen, denn diese Haargefäße haben
auf besonders starke Reize hin, zum Beispiel in der Agonie, die
Fähigkeit mit einer Kontraktilität zu reagieren, nicht eingebüßt.
Sie unterscheiden sich dann im Präparat nicht mehr von normalen
kKapillaren. Erst die Haargefäße hochgradiger Cutis marmorata
bleiben im Tode weit; sie haben also wahrscheinlich ihre letzte
und primitivste Eigenschaft, im Tode sich zu kontrahieren, ver-
loren. Auf Grund dieser Untersuchungsmethode müssen wir die
Grenze zwischen funktionell und organisch dort ziehen, wo im
histologischen Bild ein faßbarer Unterschied gegenüber der Norm
auftritt. Das ist bei den Hautkapillaren der Fall, wenn die agonale
Kontraktilität verloren gegangen ist. Wir sind uns dabei bewußt,
daß es bei diesen Veränderungen keine scharfe Grenze gibt, sondern
daß in der Natur fließende Übergänge bestehen. Die beschriebene
Veränderung war bisher noch nicht bekannt. Sie ist gewiß auch
nicht zu häufig, denn ganz schwere Fälle von Cutis marmorata
sind selten. Sie ist aber gelegentlich nachweisbar und erstreckt
sich dann über das Gebiet der Hautkapillaren hinaus bis in die
subpapillären Plexus der Lederhaut und des Unterhautzellgewebes
hinein.
Von organisch so schwer veränderten Kapillaren dürfen wir als
sicher annehmen, daß sie in ihrer Gesamtfunktion stark beeinträchtigt
sind. Es ist unmöglich, daß in solchen Haargefäßen im Leben die
Zirkulation, der Stoffaustausch zwischen Gewebe und Gefäßen usw.
der Norm entspricht. Die Ansprechbarkeit auf Temperaturreize,
vor allem auf kalte, muß zum mindesten stark vermindert, wenn
nicht ganz aufgehoben sein. Es braucht dann aber auch nicht
mehr zu erstaunen, wenn solche Hautpartien selbst Veränderungen
unterliegen können — bei der Raynaud’schen Krankheit sind sie
ja schon lange bekannt — auch ist es verständlich, daß in solchen
Hautpartien Beschwerden, eventuell sogar Schmerzen entstehen
können. Manche Klagen von Kranken müssen uns nach dem uns
jetzt nicht nur funktionelle, sondern organische Veränderungen der
Hautkapillaren bekannt sind, in einem anderen Licht erscheinen.
Zusammenfassend läßt sich also auf Grund dieser Beobachtungen
sagen: Histologische Untersuchungen an hochgradiger Cutis marmo-
rata haben ergeben, daß die Kapillaren und subpapillären Plexus
284 Scuanprr, Über histologische Befunde an Kapillar-Neurosen der mensch]. Haut.
verändert sind. Sie sind maximal erweitert, meist geschlängelt
oder gewunden und strotzend voll von Blut. Normalerweise kon-
trahieren sich die Hautkapillaren im Tode; die veränderten
Kapillaren der Cutis marmorata besitzen diese Kontraktionsfähig-
keit nicht mehr. Es liegt in diesen Fällen eine organische
Kapillarschädigung vor, die bis jetzt nur als ein funktionell ver-
änderlicher vasoneurotischer Zustand der Hautkapillaren angesehen
wurde.
Tafelerklärungen.
Abb. 1. Gesunde Haut mit kontrahierten Kapillaren und engem subpapillärm
Plexus. Man sieht die Kapillaren in soleh kurzen Stücken, dab an einer Kapillare
oft nur einige wenige Kerne im Schnitt vorhanden sind. Hämatoxylin-Eosin-Far-
bung, 12 u. Vergrößerung 2W:1.
Abb. 2. Cutis marmorata. Ganze Kapillarschlinge. Der arterielle Schenkel malig.
der venöse Schenkel stark erweitert; enorm weiter subpapillärer Plexus. Häma-
toxylin-Eosin-Färbung, 12 x. Vergrößerung 200: 1.
Abb. 3. Cutis marmorata. Pathölogische Schlängelung und Knäuelbildung viner
Kapillare. Hämatoxylin-Eosin-Färbung, 12 v. Vergrößerung 200:1.
Abb. 4. Cutis marmorata. Kapillaraneurysma. Die Schlängelung tritt gegen-
über der enormen Weite zurück. Hämatoxylin-kEosin-Färbung, 12 u. Vergrube-
rung 20:1.
285
Aus der Medizinischen Klinik Lindenburg der Universität Köln.
(Direktor: Geheimrat Moritz.)
Studien über experimentelle Infektionskrankheiten.
I. Mitteilung.
Über das Serumeiweißbild bei der experimentellen Rekurrens-
infektion der Ratte.
(Ausgeführt mit Unterstützung der Rockefeller-
Foundation.)
Von
Privatdozent Dr. Ernst Wiechmann und Dr. Hermann Horster.
(Mit 1 Kurve.)
Wenn man den Ablauf einer Rekurrensinfektion mikroskopisch
im Blut verfolgt, so bietet sich immer wieder dasselbe eindrucks-
volle Bild: Während des ganzen Anfalles sind die Spirochäten
zuerst spärlich, später in wachsender Zahl lebhaft beweglich im
Blut nachweisbar. Kurz vor der Krise tritt eine auffällige Ver-
langsamung der Bewegungen ein. Selten liegen die Spirochäten
dann einzeln für sich; meist lagern sie sich zu mehreren oder auch
zu Agglomeraten zusammen. Zu gleicher Zeit kommt es zu einer
Agglomeration resp. Agglutination!) der roten Blutkörperchen.
Bisweilen hat man sogar den Eindruck, als wenn rote Blutkörperchen
und Spirochäten miteinander verfilzt wären.
Diese Haufenbildung der Spirochäten kurz vor der Krise ist
bisher entweder als Folge der Klebrigkeit der Spirochäten (Heyden-
reich (1)) oder als Produkt der Spiralform (Roßbach (2)) ange-
sehen worden. Die gleichzeitige Agglutination der roten Blut-
kürperchen hat man bei der Erklärung des Phänomens unbeachtet
D Wir sprechen weiterhin immer von Agglutination statt Agglomeration,
weil ersterer Ausdruck sieh allgemein eingebürgert hat.
286 WIECHNANN u. HORSTER
gelassen, obgleich es mehr als wahrscheinlich ist, daß beide Er-
scheinungen, die Haufenbildung der Spirochäten und die Agglu-
tination der roten Blutkörperchen, dieselbe Ursache haben. Konnte
man für eine der beiden eine experimentell begründete Deutung
finden, so war anzunehmen, daß damit auch die andere einer Er-
klärung nähergebracht war. |
Aus den Untersuchungen der letzten Jahre weiß man, daß Zu-
nahme der Sedimentierungsgeschwindigkeit und vermehrte Agglu-
tination der Erythrocyten streng parallel gehen. Die Aggregat-
bildung kommt nach den Feststellungen Höber’s und seiner
Schüler wahrscheinlich durch eine Verminderung der negativen
Ladung der roten Blutkörperchen zustande, da ja die Attraktions-
kräfte zwischen den Teilchen einer Suspension und ihr elektrisches
Potential in entgegengesetzter Richtung wirken. Vieles spricht
dafür, daß die elektrische Ladung den roten Blutkörperchen durch
die Eigenschaften resp. das Mengenverhältnis der im Blut vor-
handenen Eiweißfraktionen aufgedrückt wird. Jedenfalls ließ sich
im Reagenzglas zeigen, daß die negative Ladung der Erythrocyten
um so mehr gegen den Neutralpunkt verschoben wird, je globulin-
reicher und je albuminärmer das Eiweißgemisch ist. Dies hängt
offenbar mit der verschiedenen Lage des isoelektrischen Punktes
zusammen. Dieser liegt für Albumin bei pn —=4,7 und für Globulin
bei pa = 5,4 (3).
Da somit die Frage nach der Ursache der Agglutination der
Erythrocyten beantwortet zu sein scheint, lag es nahe anzunehmen,
daß die bei der Rekurrensinfektion kurz vor der Krise gleichzeitig
mit der Erythrocytenagglutination beobachtete Haufenbildung der
Spirochäten auf dieselbe Weise erklärt werden kann. Diese An-
nahme schien um so berechtigter, da nach unseren Untersuchungen ')
die Rekurrensspirochäten genau so wie die roten Blutkörperchen
negativ geladen sind. Um diese Frage einer Entscheidung näher
zu bringen, haben wir daher das Verhalten des Globulins und
Albumins im Blut während der Rekurrensinfektion bis zur Krise
untersucht.
Als Versuchstiere dienten Ratten gleichen Alters und gleichen
(männlichen) Geschlechts, die auf dieselbe Weise ernährt worden
waren. Da naturgemäß bei-ihnen nicht fortlaufend Blut entnommen
1) Die Untersuchungen wurden mit dem von Michaelis (Praktikum der
physikalischen Chemie, Julius Springer, Berlin 1922) angegebenen Apparat an-
gestellt.
Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 287
werden konnte, wurden zu jeder Versuchsserie immer zehn Ratten
verwandt. Der an je 10 Tieren erhaltene Mittelwert diente immer
als Repräsentant eines Erkrankungstages. Demgemäß findet sich
in der Tabelle immer nur dieser Mittelwert angegeben. Daß die
Einzelwerte von dem Mittelwerte abwichen, liegt auf der Hand;
dennoch gibt der Mittelwert mit Sicherheit die Richtungstendenz
der Einzelwerte an. Die Ratten waren seit mindestens 12 Stunden
nüchtern. Sie wurden aufgespannt, und das Blut ohne Verwendung
von Narkoticis durch Herzpunktion mit fein ausgezogenen U-Röhrchen
gewonnen. Alsdann wurde nach der von Reiß(4) angegebenen
Weise verfahren. Mit Rücksicht darauf, daß nur kleine Blutmengen
— etwa 2 ccm — zur Verfügung standen, wurde nach Reiß mit
dem Pulfrich’schen Eintauchrefraktometer das Lichtbrechungsver-
mögen des Serums bestimmt und daraus der prozentuelle Eiweiß-
gehalt berechnet. Zu gleicher Zeit wurde mit dem Heß’schen
Viskosimeter (Laboratoriumsmodell) die Viskosität gemessen, und
nach Naegeli und Rohrer (5) aus Lichtbrechungsvermögen und
Viskosität der Prozentgehalt des Serums an Globulin und Albumin
errechnet. Hinsichtlich der neuerdings vielfach an der kombinierten
Refrakto-Viskosimetrie geübten Kritik sei betont, daß selbst Berger
und Petschacher (6), die'eifrigsten Verfechter der Robertson-
schen Methode, zugeben, daß bei mehrmaliger Untersuchung am
selben Individuum während des Ablaufes einer Krankheit die
Globulinwerte der verschiedenen Methoden sich gleichsinnig bewegen,
und daß die Reiß-Rohrer- Methode bei Reihenuntersuchungen mit
gewissen Vorbehalten brauchbare Werte liefert. Auch Naegeli (7)
hat noch auf dem letzten Kongreß für innere Medizin zum Aus-
druck gebracht, daß die Robertson’sche Methode keine Vorzüge
gegenüber der kombinierten Refrakto-Viskosimetrie besitzt. Den-
jenigen, der Anforderungen der analytischen Chemie an die Globulin-
Albuminbestimmung stellt, wird auch die Robertson’sche Methode
nicht befriedigen.
Zur Infektion diente ein Rekurrensspirochätenstamm, der uns
von Herrn Privatdozent Dr. Krantz (Köln)!) liebenswürdigerweise
zur Verfügung gestellt war. Durch das von Krantz (8) angegebene
Verfahren zur Konservierung der Rekurrensspirochäten war es
möglich, die Tiere gleichmäßig zu infizieren, und zwar erhielten
die Tiere je 0,5 ccm Rekurrensblut-Eiweißlösung subkutan. Das
l) Herrn Privatdozent Dr. Krantz sind wir hierfür wie auch für manche
Ratschläge zu Dank verpflichtet.
288 WIECHMANN u. HOBSTER
Blut der Tiere wurde regelmäßig im Dunkelfeld mikroskopisch
kontrolliert. Die Blutentnahmen erfolgten alle 24 Stunden und
außerdem unmittelbar, nachdem die oben beschriebene Agglutination
der Erythrocyten und Spirochäten mikroskopisch festgestellt war.
In diesem Fall betrug der Abstand zwischen zwei Blutentnahmen
8—12 Stunden.
Die Ergebnisse sind in Tabelle I wiedergegeben.
Tabelle I.
| | nach der Infektion
| gesund | ‚4. Tag.
| | 1. Tag 2. Tag | 3. Tag kurz vor
| | | der Krise
EBENE DR TERN a a
Gesamtproteinprozent | 79 7,4 7,5 81 38
Globulinverhältnis in Pro- | |
zenten des Gesamtprotein 44 42 54 55 OH
Globulinprozent l 8D 32 © 40 4.5 3.9
Albuminprozent p dd 4,2 3,5 | 3,6 3.4
Viskosität (r) ı 1,75 1.66 176 | 186 ; 18
we; +
j
Rekurrensspirochäten im Blut | -T e
Für die Eiweißkonzentration im Serum der gesunden
Ratten wurde ein Durchschnittswert von 7,9 g°/, (d.i.7,9g Eiweiß
in 100 g Serum) gefunden. Dieser Wert liegt etwas höher als der
von Hurwitz und Meyer (9) und Berger (10) für die Kaninchen
angegebene Maximalwert von 7,0 g°,. In der Zeit zwischen der
Infektion und dem ersten Nachweis der Rekurrensspirochäten im
Blut zeigte sich ein Absinken der Eiweißkonzentration, das später-
hin von einem Wiederansteigen gefolgt war. Da aus den Unter-
suchungen von Berger (10) bekannt ist, daß Injektionen von art-
fremdem Eiweiß den Eiweißspiegel vorübergehend senken können,
ist auch hier die Ursache für die transitorische Senkung der Eiweiß-
konzentration in der Injektion der Blut-Eiweißlösung und nicht in
den Spirochäten zu suchen. Unmittelbar vor der Krise, zu jenem
Zeitpunkt, wo rote Blutkörperchen und Spirochäten mikroskopisch
das Bild der Agglutination boten, kam es zu einer deutlichen Kon-
zentrationsverminderung des Eiweißes. Dieser Befund ist von den
akuten Infektionskrankheiten im Fieberstadium lange bekannt und
wurde zuerst im Jahre 1845 von Becquerel und Rodier (11)
beim Kindbettfieber erhoben.
Eine Erörterung des Mengenverhältnisses der Serum-
Eiweißfraktionen ist auf zweifache Weise möglich. Es kann
Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 289
entweder rein qualitativ die Verschiebung des Globulin-Albumin-
verhältnisses in Prozenten des Gesamteiweißes (Hammarstens
Proteinquotient) betrachtet werden, oder aber es kann quantitativ
die absolute Menge von Albumin und Globulin in Grammprozenten
auf 100 g Serum berechnet werden.
Wir beginnen mit der qualitativen Betrachtungsweise. Normaler-
weise entfallen beim Menschen 20—35°/, des gesamten Eiweißes
auf Globulin und 80—65°/, auf Albumin (Berger und Unter-
steiner (12). Wir fanden, daß
bei den Ratten durchschnittlich
44 Prozent des Gesamteiweißes
aus Globulin besteht, also wesent-
lich mehr, als für den Menschen
als Maximalwert angegeben ist.
Bezüglich dieser Diskrepanz sei
darauf verwiesen, daß nach den
Untersuchungen von Berger
und Petschacher (6) die mit
der viskosimetrischen Methode
ermittelten Globulinverhältnis-
zahlen höher zu liegen pflegen
als die mit der Robertsonmethode
oder mit Kjeldahl-Bestimmungen
erhaltenen. Die oben für den
Menschen angegebenen Darch-
; Kurve 1.
schnittswerte waren aber nach Kurven von Gesamtprotein, Globulin und
der Robertsonmethode gewonnen. Albumin nach Infektion mit Rekurrens-
24 St d h f ] t I , spirochäten. f
ungen nach erloigter IN- Zeichenerklärung — + ‚Gesamtprotein
fektion ist eine geringfügige Er- ---0--- Globulin
niedrigung der durchschnittlichen ze A AMN
Globulinverhältniszahl nachweisbar. Dann aber kommt es zu einer
erheblichen relativen Globulinvermehrung, die bis zum Beginn der
Krise anhält. Irgendeine Verknüpfung der relativen Globulinver-
mehrung mit der Eiweißverminderung ist nicht vorhanden.
Die quantitativen Verhältnisse d. h. die absoluten in 100 g Serum
enthaltenen Globulin- und Albuminmengen lassen sich am besten
an Hand einer Kurve (vgl. Kurve 1) übersehen. Die Globulinver-
änderungen lassen einen ähnlichen Ablauf erkennen wie die Ge-
samtproteinkurve, ohne daß sich jedoch eine regelrechte Parallelität
nachweisen läßt. Typisch für die Globulinkurve bis zur Krise ist
eine Globulinvermehrung, der jedoch am ersten Tage nach der In-
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 19
290 WIECHMANN u. HORSTRR
fektion ein Abfall vorausgeht. Eine ähnliche initiale Globulinver-
minderung vor der Vermehrung ist vonHurwitz und Whipple (13)
nach Bakterieninjektion, von Berger (10) nach Eiweißinjektion
beobachtet worden. Das Maximum der Globulinvermehrung fällt
nicht auf jenen Zeitpunkt, wo sich mikroskopisch im Blut die für uns
im Vordergrund des Interesses stehende Agglutination der Erythro-
cyten und Spirochäten nachweisen läßt, sondern 8—12 Stunden
früher, also auf den dritten Tag nach der künstlich gesetzten In-
fektion. Im Gegensatz zu der Globulinkurve weist die Albumin.
kurve eine stete Verminderung auf. Bis zum Beginn der Krise
kommt es zu einem Kreuzen der Globulin- und Albuminkurve, zu
einer völligen Umkehrung des normalerweise vorhandenen Verhält-
nisses von Globulin zu Albumin, wie es von uns (14) bereits bei
der Trypanosomeninfektion, worauf in einer späteren Mitteilung
ausführlich eingegangen werden soll, und von Berger (10) nach
Eiweißinjektion festgestellt wurde.
Läßt sich auf Grund der vorstehend mitgeteilten Untersuchungen
eine Beziehung zwischen der kurz vor der Krise beobachteten
Agglutination der Erythrocyten und Verklumpung der Spirochäten
und dem Globulingehalt des Serums finden, oder mit anderen
Worten, ist diese Agglutination physikalisch-chemisch, durch eine
relative Entladung der Erythrocyten und Spirochäten zu erklären ?
Unsere Untersuchungen lehren, daß ein eindeutiger Parallelismus
zwischen jener Agglutination und der Globulinvermehrung nicht
besteht. Das Maximum der Globulinvermehrung findet sich 8 bis
12 Stunden vor der mikroskopisch zu beobachtenden Agglutination.
Trotzdem halten wir es für wahrscheinlich, daß zwischen beiden
Erscheinungen ein innerer Zusammenhang besteht. Es ist zu auf-
fällig, daß das Maximum der Globulinvermehrung gerade 8 bis
12 Stunden vor der beobachteten Agglutination liegt, und vor allem
auch, daß sich um diese Zeit die größte Viskosität im Serum findet.
Denn schon Fahraeus (15) betonte, daß im Gegensatz zu allen
Erwartungen gerade die Fibrinogenlösung, die die größte agglu-
tinierende Kraft besitzt, am viskösesten ist. Die Viskosität weist
aber, wie Höber (16) besonders auf Grund der Untersuchungen
von Hatschek (17), W.R. Heß (18) und Loeb (19) unterstreicht,
auf das Vorhandensein submikroskopischer Aggregate hin, die
weiterhin beim Stehen der Lösung sich zu größeren Flocken zu-
sammenlagern können, und beim Haften an der Oberfläche der
Blutkörperchen und, wie wir vermuten, auch der Rekurrensspiro-
chäten diese mit in die Flockung hineinbeziehen. Letzten Endes
Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 291
wird die Ursache für die nicht eindeutige Beantwortung der von
uns aufgeworfenen Frage in der nicht abzuändernden, mangelhaften
Methodik zu suchen sein. Bei der Ratte überstürzt sich die
Rekurrensinfektion förmlich, wie ja auch aus den pathologisch-ana-
tomischen Befunden hervorgeht. Es ist und bleibt ferner völlig
unmöglich, die Infektion fortlaufend am Blut ein und desselben
Tieres zu verfolgen.
Die Annahme, daß die kurz vor der Krise festgestellte Agglu-
tination der Erythrocyten und Verklumpung der Spirochäten auf
eine gemeinsame Ursache zurückzuführen ist, konnte man noch
durch andere Beobachtungen zu stützen hoffen. Es ist bekannt,
daß die Erythrocyten (20) und gewisse Bakterien (21) ähnlich wie
durch Gravid- und entzündliches Plasma auch durch bestimmte
Stoffe wie Histon, Protamin, Gelatine, durch Gummi, durch die
Salze seltener Erden .u. a. zur Verklumpung gebracht werden
können. Gilt das gleiche auch für die Spirochäten? Wir haben
Blutkörperchen-Rekurrensspirochäten-Emulsion (in 0,95°/, NaCl)
za m/1000 Lanthannitrat (in 0,95°%, NaCl), zu je 10°), Gelatine
und Gummi (ebenfalls in 0,95°/, NaCl) hinzugesetzt und den Effekt
mikroskopisch verfolgt. Tatsächlich waren nicht nur die Blut-
körperchen agglutiniert, sondern auch die Spirochäten waren zu-
sammengeballt und zum großen Teil bewegungslos. Diese an sich
positiv ausgefallenen Versuche können aber nicht im Sinne eines
Modellversuchs gewertet werden, da bekanntlich die Spirochäten in
solchem fremden Milieu zu leicht geschädigt werden.
Zusammenfassung.
Wenn man den Ablauf einer Rekurrensinfektion mikroskopisch
im Blut verfolgt, so findet man kurz vor der Krise, daß nicht nur
die Spirochäten bewegungslos werden und zu mehreren zusammen-
geballt sind, sondern daß auch die Erythrocyten agglutiniert sind.
Mit Rücksicht darauf, daß die Agglutination der Erythrocyten neuer-
dings auf eine Verminderung ihrer negativen Ladung infolge Globulin-
vermehrung im Serum zurückgeführt wird, wurde an Ratten unter-
sucht, ob sich zur Zeit jener Agglutination der Erythrocyten und
Spirochäten eine Globulinvermehrung im Serum nachweisen läßt.
Das quantitative Verhalten des Gesamteiweißes, des Globulins
und Albumins wurde bis zum Beginn der Krise nach Reiß-
Naegeli-Rohrer untersucht. Es wurde festgestellt, daß die
Rekurrensspirochäten negativ geladen sind.
Für die Eiweißkonzentration im Serum der gesunden Ratten
19*
992 WIECHMANN u. HoRSTER, Studien über experimentelle Infektionskrankheiten.
wurde ein Durchschnitiswert von 7,9 g°/, ermittelt. In der Zeit
zwischen der Infektion und dem ersten Nachweis der Rekurrens-
spirochäten im Blut zeigte sich ein Absinken der Eiweißkonzentration,
das von einem Wiederansteigen gefolgt war. Unmittelbar vor der
Krise kam es zu einer Konzentrationsverminderung des Eiweißes.
Typisch für die Globulinkurve bis zur Krise ist eine Globulinver-
mehrung, der jedoch am ersten Tage nach der Infektion ein Abfall
vorausgeht. Das Maximum fällt nicht auf jenen Zeitpunkt, wo sich
mikroskopisch im Blut die Zusammenballung der Erythrocyten und
Spirochäten nachweisen läßt, sondern 8—12 Stunden früher. Im
Gegensatz zu der Globulinkurve weist die Albuminkurve eine stete
Verminderung auf. Es kommt zu einem regelrechten Kreuzen der
Globulin- und Albuminkurve.
Ein eindeutiger Parallelismus zwischen der Agglutination und
der Globulinvermehrung ist also nicht vorhanden. Trotzdem wird
es, besonders mit Rücksicht auf das Verhalten der Serumviskosität,
als wahrscheinlich erachtet, daß zwischen beiden Erscheinungen
ein innerer Zusammenhang besteht. Beobachtungen, nach denen nicht
nur, wie bereits bekannt, Erythrocyten und Bakterien, sondern auch
Rekurrensspirochäten durch Lanthannitrat, Gelatine und Gummi
zusammengeballt werden, können hierfür keine sichere Stütze sein,
da die Spirochäten in diesem fremden Milieu zu leicht geschädigt
werden.
Literatur.
1. Heydenreich, Zit. nach Eggebrecht, Febris recurrens in Nothnagel.
Spezielle Pathologie und Therapie. Wien 1902. — 2. Roßbach, Zit. nach
Eggebrecht, Febris recurrens in Nothnagel, Spezielle Pathologie und Therapie.
Waien 1902. — 3. Vgl. hierzu Höber, Physikalische Chemie der Zelle und der
Gewebe. 5. Auflage, Leipzig 1922/24: Mond, Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol.
197, 574, 1922: Kanai, Pħūüger's Arch. f. d ges. Physiol. 197, 583, 1922: Ley.
Pflüger's Arch. f. d. ges. Physiol. 197, 599, 1922. — 4. Reiß, Refraktometrische
Blutuntersuchungen in Abderhalden, Handb. d. Biochem. Arbeitsmethoden, Abt. 4,
Teil 3, 8. 299. — 5. vgl. Reiß, l.c. — 6. Berger u. Petschacher, Zeitschr.
f. d. ges. exp. Med. 36, 258, 1923. — 7. Naegeli, Verh. d. Dtsch. Ges. f. inn.
Med. in Wiesbaden 1925. München 1925. — 8. Krantz, Münch. med. Wochen-
sehr. 1925, Nr. 1. — 9. Hurwitz u. Meyer, Journ. of exp. Med. 24, 515, 1916.
— 10. Berger, Zeitschr. f. ges. exp. Med. 28. 1, 1922. — 11. Becquerel u.
Rodier, Untersuchungen iber die Zusammensetzung des Blutes im gesunden und
kranken Zustande. Erlangen 1845. -- 12. Berger u. Untersteiner, Wien.
Arch. f inn. Med. 9. 273, 1924. — 13. Hurwitz u. Whipple, Journ. "of exp.
Med. 25, 231, 1917. — 14. Wiechmann und Horster, Verh. d. Dtsch. Ges. f
inn. Med. in Wiesbaden 1925. München 1925. — 15. Fabraeus, Acta med.
scandinav. 55, 1. 1921. — 16. Höher, Physikalische Chemie der Zelle und der
Gewebe. 5. Auflage. Leipzig 192224. — 17. Hatschek, Kolloilzeitschr. 8. 34.
1911. — 18. W. R. Heß, Kolloidzeitschr. 27, 154. 1920. — 19. Loeb, Zit. navrh
Höber, l. e — 20. Linzenmeier ‚ Pllüger's Arch. f. d. ges. Physiol. 186, 272.
1921. — 21. Vorsehütz, Pilüger's Arch. f. d. ges. Physiol. 186, 290, 1921.
293
Aus der Medizinischen Klinik der Universität Freiburg i. Br.
Klinische Magenstudien lI.
von
B. Stuber und A. Nathansohn.
(Mit 9 Kurven.)
Zur Analyse der Achylie (Forts.).
In Mitteilung I (Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 150, H. 1/2)
konnten wir zeigen, daß Fälle, die auf die üblichen vorgelegten
Reize (Probefrühstück nach Boas-Ewald, Alkoholprobetrunk nach
Ehrmann) gar nicht, oder nur wenig, mit Aciditätssteigerung an-
sprachen, dennoch auf Reize anderer Art, z. B. auf Verabfolgung
von Fleischbrühe und Ei, ferner auf subkutane Histamininjektionen
Salzsäure und Pepsin abscheiden können.
In der Literatur sind als Erreger der Magensaft-, bzw. Säure-
sekretion eine ganze Anzahl Reize angegeben worden, teils als
Standardreize, teils als Extrareize, wenn mit den üblichen keine
Säureproduktion nachweisbar ist. Bezüglich der Fleischbrühe ist
in letzter Zeit von Katsch und Kalk auf die Purinbasen hin-
gewiesen worden, und auf Grund der Überlegung, diese wären die
wirksamen Erreger der Sekretion, wurde nach Angabe der Autoren
für manche Fälle statt des Alkoholprobetrunk eine Koffeinreiz-
lösung empfohlen.
Im folgenden berichten wir über die an einem Fall vorgelegten
Reize und Ergebnisse der Dauerausheberung bei Einwirkung dieser
Reize. Es handelt sich um den Fall S (Kurve 6) unserer Mit-
teilung I, der inzwischen näher analysiert werden konnte.
Vorgelegte Reize:
1. Boas-Ewald’sches Probefrühstück (Dauerausheberung).
2. Alkoholprobetrunk (Ehrmann).
3. Reines Wasser (Vändorfy, Klin. Wochenschr. Nr. 29, 1925).
294 SICBER U. NATHANSOHN
. Probemahlzeit nach Riegel (Dauerausheberung).
. Alkoholprobetrunk und 1 mg Histamin subkutan.
. Fleischbrühe 300 ccm, aus 50 g Ochsenfleisch, 0,9°/, NaCl.
. Fleischbrühe 300 ccm, aus 50 g Ochsenfleisch u. 5 g Eatan.
. Fleischbrühe 300 ccm, aus 50 g Ochsenfleisch u. Ei, 0,9 °/, NaCl.
. Wasser 300 ccm u. Extr. Op. 0,02 (Jarno, Arch. f. Verdauungs-
krankh. Bd. 27, 1921).
10. Wasser 300 cem u. Extr. Op. 0,04 (Jarno, ebenda).
11. Bohnenkaffee 300 cem (Katsch u. Kalk, Münch. med. Wochen-
schr. 1924).
12. Wasser 300 ccm u. 0,5 Theobromin pur.
13. Wasser 300 ccm u. 0,5 Theophyllin pur.
14. Wasser 300 ccm u. 0,48 Euphyllin intravenös.
15. Wasser 300 ccm per os, 0,4 Digipurat intravenös (Veil u.
Heilmeyer, Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 147).
16. 1 mg Histamin (Saftfluß ohne Vorlage von Flüssigkeit per os).
DD X 1 OU
Ergeb-
.. 1300 En 300 ccm ‘300 cem ! Fleisch- | 300 cem
a | Tee. 300 cem 300 ccm 5%, Alk. a Fleisch- | brühe Ä Wasser
„2 | Boas- 5°% Alk. Wasser |+ Img| osch-| brühe | 5g | — 0,02 |
Min. | . brühe :
Hi. subk. | — Ei | Eatan |Extr. Op.)
| | | | |
0,61 | 71 j 64 6,2 6,1 6,7 5,2 | 5,6
20 64 | 59 | 63 31 5.8 6,2 4,9 59 |
30 70 — 57 ' 63 2,0 3.3 6,1 3,9 6,6
40 — 7 | 64 1,4 1.8 6,1 3,7 5,7
50 l — D2 j 65 1,2 1,8 4,2 35 57
60 39 | 73 ı2 | 35 | 33 | 31 61
10: g 381738 | 16 5.5 28 2,7 6,1
80 61 40 > 74 | 16 6,7 28 | 62 |
90 > — 38 1 72 ! I8 | 72 3,8 29 | 62 |
10 I = 40 ` © I8 j 22 | 48 33 i 65
110 = Jo > 73 23 | 1 | 55 66 ' —
120 ; — 40 71 | 86 | = l 5 66 ; — |
Ea
Es ergibt sich aus diesen Versuchen, daß für Fall S als
wesentlichste Reize in Betracht kommen: Fleischbrühe, Fleischbrühe
und Ei, Fleischbrühe und Eatan, Riegel’sche Probemahlzeit, sowie
Histamin subkutan.
Keine oder nur ganz geringe Reize sind: Wasser, Boas-Kwald-
sches Probefrühstück, Alkoholprobetrunk, Bohnenkaffee, Theobromin,
Theophyllin per os, Euphyllin intravenös, Extr. Op. 0,02 und 0,04
per os, Digipurat intravenös.
Klinische Magenstudien II. 295
Die Riegelmahlzeit ist in diesem Falle zwar ein guter Reiz,
aber die Tatsache, daß der Schlauch sich häufig verstopft und
weiterhin die lange Zeit, die man häufig braucht, um das Maximum
der Acidität (ph 2,2 nach 310 Min.) zu erhaschen, erschweren die
Verwendung als Standardreiz.
Über das unterschiedliche Verhalten der Fleischbrühe in bezug
auf Aciditätssteigerung siehe den nächsten Fall.
Die Prüfung der hier verwendeten Purinbasen auf säureweckende
Eigenschaften fällt zu ungunsten derselben aus.
Zur periodischen Achylie.
Die Ansprechbarkeit desselben Individuums auf denselben Reiz
kann sich erheblich ändern. Besonders deutlich geht das aus den
Protokollen des Falles Rh. (Ulcus pylori) hervor.
Mitte September 25 zeigte derselbe deutliche Acidität sowohl
im Nüchternwert (ph 1,8—2,0) wie auch bei Dauerausheberung nach
nisse,
MÒ cem | 300 ccm 300 ccm ‚300 cem |300 cem |
ARa ‚300 cem' Wasser | Wasser | Wasser | Wasser | 1 mg
uu g Bohnen-, +0,5 g +0,58 +0,48 g| — 0,4 g | Histam.
8 kaffee | Theo- | Theo- , Euphyl. | Digipur. | Safttluß '
at pa
Min. Riegel
DIR: ks brom. pur. phyllin | intrav. | intrav. |
Al 7.0 | 6,2 6,1 | 6.4 6.2 | 7.4 | 10 | 6.0
6.2 6.4 6,3 63 68 6.0 61- 160 | 6l
61 62 6.3 65 | 6l 5A 38 |17 | 39
5.7 6.1 63 | 65 | 6l 6.2 2.0 180 | K. +
3.8 6.1 65:63 61 6.4 2.8 | 220 5.5
5.7 6.8 TO i Bes 6.0 1: 18 280 | 81
38 13 130365 6.7 73 | 25 | B0 22
> 7.1 73 | 65 7.1 73 0 81 |
A.T 65 72 6.6 7.1 = 3.2
il 13 1 72 63 1 65 7.5 3,4
64 = 7.2 6.4 6.1 7,4 | '
6. 13 1.3 6.3 6.1 | 1.5
Vorlage von 300 cem 5°% Alkohol (Maximum der Acidität ph = 1,2
nach 70 Min.). Am 21. September auf Vorlage von 300 cem 5°),
Alkohol und 1 mg Histamin subkutan ebenfalls deutliche Acidität,
(Maximum nach 50 Min., fr. HCl=40 u. Sahli). Am 26. September
1925 nach Vorlage von 300 cem 5°, Alkohol und 2 mg Histamin
subkutan nach 80 Min. Maximum der Acidität, freie HCl = 52 nach
Sahli. Alsdann folgte ein Versuch, in dem 1 mg Atropin sulfur.
intravenös verabreicht wurde, ebenfalls nach Alkoholvorlage. Dabei
296 STUBER U. NATHANSOHN
fiel die Acidität stetig von ph 4,6 nach 10 Min. auf ph 7,5 nach
120 Min. Seit dieser Injektion änderte sich die Ansprechbarkeit.
Parallelversuche mit 1 mg Adrenalin subkutan, mit °/, ceg Pilokarpin
intravenös bewirkten keinen Säureanstieg mehr. Selbst auf 1 mg
Histamin bei Vorlage von 300 ccm 5°), Alkohol war die Mehrzahl
der ph-Werte alkalisch, nach 80 Min. Maximum der Acidität
ph = 6,4. Indessen wäre es ein Fehlschluß gewesen, nunmehr eine
echte oder etwa periodische Achylie anzunehmen. Denn auf
Fleischbrühe und Ei war deutliche Acidität zu erzielen. Am 14. Ok-
tober erhielt Patientin 300 ccm Fleischbrühe und Ei (0,9°/, NaCl)
hergestellt aus 50 g Ochsenfleisch, am 17. Oktober erhielt sie die-
selbe Menge, jedoch hergestellt aus 100 g Ochsenfleisch.
EST III,
EEE in.
>=s>ALIo IT
TRESS
7 a o E IRI
ERENER BE ER ER RNV A HE BE
aAA DE KR DE ER EEE ER ER BE BR ER
0 20 JO #0' 50' 60° 70° 00 90' OO 770° 720° 730700
I = Fleischbrühe (aus 50 g en + Ei = 300 cem, 0,9%, NaCl
II = Fleischbrühe (aus 100 g Ochsenfleisch) + Ei = 300 ccm, 0,9°%/, Naci
Kurve 1.
Die beigefügte Kurve zeigt deutlich, daß die aus 100 g Fleisch
hergestellte Fleischbrühe mehr leistet als die aus 50 g. Der erste
Teil der Sekretion bis 50 Min. bei I und II in Kurve 1 läuft
ziemlich parallel. Nach 70 Min. sinkt ph bei II stärker als bei lI,
auf die stärker konzentrierte Fleischbrühe zeigt sich nach 100 Min.
ph=2,0 die schwächer konzentrierte ph=4,1 nach 110 Min.
Es ist möglich, daß der Unterschied in der Höhe der Acidität des
Magensaftes durch den verschiedenen Gehalt an erregender Substanz be-
dingt ist. Ein sicherer Nachweis ist schwierig, da das Ausgangsmaterial
stets verschieden ist. Er erscheint uns dann erst erbracht, wenn es
gelänge, nach Isolierung der erregenden Reinsubstanzen quantitative
Unterschiede in der Magensaftsekretion tierexperimentell zu finden.
Die Säureausscheidung tritt auch bei Verabreichung von Fleischbrühe
mit Ei durch die Sonde ein. Der diesbezügliche Versuch bei Fall II
ergab eine geringere Acidität (bis ph = 5,4) als bei peroraler Darreichung
(bis ph = 2,2). Es dürfte deshalb neben dem chemischen auch ein
psychischer Reiz für den Aciditätsgrad eine Rolle spielen.
Klinische Magenstudien II. 297
Ab 19. Oktober 25 wurde bei der Patientin eine Sippykur
durchgeführt und zunächst von Dauerausheberungen abgesehen. Am
2. November 25 wieder Dauerausheberung nach Vorlage von
300 ccm 5°, Alkohol. Die Kurve wies als Maximum ein ph=5,7
auf. Am 25. November 25 300 ccm Fleischbrühe und Ei (aus 100 g
Ochsenfleisch bereitet) dabei nach 120 Min. Säureanstieg bis ph = 1,6
nach 120 Min.
Der Fall zeigt, daß die Ansprechbarkeit desselben
Individuums auf denselben Reiz sich im Laufe der
Zeit erheblich ändern kann. Zu Anfang auf 5°), Alkohol
und auf Histamin noch deutliche Acidität, später nur unwesentliche
Aciditätssteigerung. Dagegen erweist sich Fleischbrühe und Ei,
und zwar besonders die aus 100 g Ochsenfleisch bereitete, daß der
Magen noch fähig ist, Säure abzuscheiden.
Auf Grund der mitgeteilten Versuche kann man von einer
periodischen Achylie nicht sprechen, — denn auf Fleisch-
brühe und Ei wird Säure produziert — sondern lediglich von einer
veränderten Ansprechbarkeit auf gewisse Reize.
Achylie und Kurvenverlauf.
Heilmeyer (Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 148) weist darauf
hin, daß die echten Achylien ein charakteristisches Kurvenbild
zeigen. Bezüglich der H'-Ionenkonzentration fand er meist Werte
um den Neutralpunkt herum, meist aber nach der alkalischen Seite
verschoben, zwischen ph 7 und 8.
Auf Grund unserer eigenen zahlreichen Untersuchungsergebnisse
kann dieser Befund bei echter Achylie erhoben werden, ist aber
ph OoVe
70
En Zn
UL] herm, EV
tt aH
Æ’ 20° 30' #0' 50’ 00 70° &0' 90'900 IM IN
Kurve 2.
298 STUBER U. NATHANSOHN
für echte Achylie nicht unbedingt charakteristisch. Das zeigt
Kurve 2 von Fall A., aufgenommen in die Klinik wegen Pyelitis,
die abklang, im Laufe der Behandlung Durchfälle, die eine Magen-
untersuchung notwendig machten.
Fall A., weibl. 52 Jahre alt, Rekonvaleszenz von Pyelitis.
Patientin erhielt:
. 300 ccm 5°, Alkohol.
. 300 cem 5°/, Alkohol u. 1 mg Histamin subkutan.
. 300 ccm 5°%, Alkohol u. 2 mg Histamin subkutan.
. 300 com Wasser u. 0,2 Cof. pur. (Katsch u. Kalk).
. 300 cem Wasser u. 0,4 Coff. pur.
. 800 cem 5°, Alkohol, 0,2 g Coff. natr. salicyl. intravenös.
. 300 ccm Fleischbrühe u. Ei (hergestellt aus 100 g Ochsenfleisch,
0,9 °/ NaCl).
(Das Verhalten des Falles auf Injektion von Neutralrot siehe
am Schlusse der Arbeit.)
Im Interesse der Übersicht mußten wir auf Wiedergabe der
auf die Verabfolgung der beiden Koffeinreizlösungen erhaltenen
Kurven verzichten. Sie verliefen ähnlich wie der Alkoholprobetrunk,
nämlich dauernd im Alkalischen. Koffein intravenös bewirkte
maximal ph = 6,1 nach 60 Min. Fleischbrühe und Ei dagegen
ergibt als Maximum der Acidität ph=2,2 nach 80 Min.
1 mg Histamin Maximum ph=2,9 nach 50 Min.
2 mg Histamin Maximum ph=2,0 nach 90 Min.
Das Ergebnis läßt es nicht als gerechtfertigt erscheinen, die
Koffeinreizlösung in diesem Falle mit Fleischbrühe in Parallele
zu setzen.
~ 0O O Aa U N e
II. Zur Wirkungsweise des Histamins.
1. Salzsäuresekretion und Histamindosis.
In der Literatur (Schenk, Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol.
Bd. 89, 1921) finden wir die Angabe, daß 15 mg Histamin subkutan
verabreicht werden können, wenn gleichzeitig 1,5 mg Adrenalin
subkutan injiziert wird. Wir selbst sind über 4 mg Histamin sub-
kutan nicht hinausgegangen. Fast immer tritt auf Injektion von
Histamin mehr oder minder starke Rötung des ganzen Körpers ein,
wobei sogar die Conjunctiva bulbi et palpebrarum Gefäßinjektionen
zeigen können. Einige Patienten klagen über Kopfschmerzen von
wechselnder Intensität. Weiterhin geben manche Patienten ein
Wärmegefühl im ganzen Körper, auch im Magen an, das einige
Klinische Magenstudien II. 299
ganz angenehm empfinden. Nur einmal (Fall W., Ulcus ventric.)
sehen wir statt der Rötung mehr Blässe des Gesichts, auf Verab-
reichung von 2 mg Histamin stärker als auf 1 mg Histamin.
Dabei traten auch Magenschmerzen auf. Andere Pharmaka, die
injiziert wurden, machten der Patientin diese Beschwerden nicht.
Ohne daß es ihr gesagt wurde, kannte sie Histamin heraus. —
Eine Patientin mit Mitralstenose ohne Dekompensationszeichen
zeigte statt Rötung Cyanose. Soweit das Symptomatologische.
Uns interessierte nun die Frage, in welcher Abhängigkeit die
Salzsäuresekretion von der Höhe der verabreichten Dosis stand.
Kurve 3, die die Aciditätswerte des Falles Li. nach Sahlis-
Titration der Indikatorlösung mit Kristallviolett enthält bei Ver-
wendung des Komparators von Walpole (wie Kalk und Kugel
HCl n.Sahlı
Eae a BR N ER IF IE
Frau Bun
Img Histamin subc.
4mg Fıirtamin subc.
IA TEN.
VIII U
FABBERBERNE
Ei
:50' 00° 70 680° %0' 700° 10 720
/mg Hisiamin subc.
Zmg ltislamin Subc.
300 cem 5°, per os, Histamin subkutan.
Kurve 3.
mann, klin. Wochenschr. Nr. 38, 1925, verwendeten wir die Mikro-
bürette), gibt darüber Auskunft.
Jedesmal wurden 300 ccm 5°% Alkohol vorgelegt und je
1,2, 3, 4 ccm Histamin subkutan injiziert.
Mit höherer Dosis steigt im allgemeinen die Acidität. Das
Optimum derselben liegt indessen bei 3 mg (nach 90 Min. fr.
HCI. = 108). Auf 4 mg erfolgt zwar schnellerer Anstieg der Kurve,
jedoch Maximum der Acidität freie HC]=99 nach 110 Min.
300 STUBER U. NATHANSOHN
Wir verzichten auf Wiedergabe anderer Kurven, die ähnliche
Bilder bieten.
Fall W., indessen, von dem wir oben angaben, daß er nach
Histamin besonders auf 2 mg mit Blässe statt Rötung des Gesichts
und mit Magenschmerzen reagierte, ging auf die Mehrzufuhr von
2 mg Histamin nicht weiter in die Höhe. Die Aciditätswerte lagen
etwas niedriger als auf 1 mg Histamin.
Bei Kurven, die auf Alkoholprobetrunk bereits hohe Aciditäts-
werte zeigen und bei 1 mg Histamin nicht wesentlich oder gar
nicht ansteigen, darf man nicht vorzeitig den Schluß ziehen, der
Magen leiste schon maximale Arbeit. Instruktiv ist in dieser
Hinsicht Fall L. (Ulcus duodeni; Diagnose röntgenologisch gesichert
durch Cholecystographie und Magendarmaufnahme), bei dem die
Dauerausheberungen folgende Ergebnisse hatten:
Vorlage von
nach Minuten 300 ecem 5°, Alko- 300 cem 5° Alko- !500 cem 5°, Alko-
hol. Titration nach hol und 1 mg Hist- | hol und 2 mg Hist-
Sahlj | amin amin
10 | (ph = 6,0) +17 | + 22
20 +12 + 28 + 48
30 + 32 4 + 66
40 -+ 78 +4 + 88
DO + 85 +51 + 94
60 + 86 +65 +
70 +75 +78 + 114
50 + 58 +50 +115
90 | Ao +83 115
100 +73 +83 +115
110 +82 + x0
120 | +70 +8
Fall L. ist bisher einer von den wenigen Fällen, die in unserem
Material eine bei Ulcus duodeni beschriebene Kurvenform boten.
Meistens waren das gar nicht Patienten aus der Freiburger Gegend.
Aus den mitgeteilten Aciditätswerten dieses Falles geht hervor,
daß 1 mg Histamin bei Vorlage von 300 cem Alkohol nicht mehr
leistet als dieselbe Menge Alkohol ohne 1 mg Histamin. Auf2 mg
Histamin ist die Acidität erhöht.
Bemerkenswert erscheint uns noch, mitzuteilen, daß diedurch
Histamin bewirkte Steigerung der Acidität meistens
keine Steigerung der „Hyperaciditätsbeschwerden“ macht.
Eine Patientin, die fast dauernd Beschwerden hatte (sie zeigte
auch überstürzte Neutralrotausscheidung nach Alkoholprobetrunk)
fühlte sich gerade nach Histamin, das eine erhebliche Steigerung
der Salzsäurereaktion bewirkte, besonders wohl.
Klinische Magenstudien II. 301
Histaminwirkung bei gleichzeitiger Injektion von
Adrenalin, Pilokarpin oder Atropin.
Popielski (Arch. f. d. ges. Physiol. 178, 1920) sah bei Hunden
auf Histamininjektion Magensaftsekretion nach Durchtrennung des
Vagus, nach Atropin und nach Skopolamin. Er schließt daraus, daß
das Histamin seinen Angriffspunkt in der Drüsenzelle selbst habe.
P. Schenk (Arch. f. exp. Pathol. u. Pharmakol. 89, 1921)
glaubte im Hinblick auf die Kupierung gewisser durch Histamin
auszulösender Symptome (Blutdrucksenkung, Hautrötung) hinsichtlich
des Kreislaufes an eine Lähmung des Sympathicus oder Lähmung
der myoneuralen Junktionsstelle zwischen Muskel und Nerv.
Bei den Beziehungen, die von manchen Autoren zwischen vege-
tativem Nervensystem und Verdauungsorganen (Eppinger und
Heß, Petrén und v. Bergmann) angenommen werden, lag es
nahe für uns, klinisch experimentell zu prüfen, ob zwischen
dem Histamin als mächtigem Erreger der Magensaftsekretion und
denjenigen Pharmaka, denen man heute eine gewissermaßen elektive
Affinität zu bestimmten Nervenelementen zuschreibt, solche Be-
ziehungen nachzuweisen sind. Wir schritten deswegen an 4 Fällen
zu Serienversuchen. Wir gingen so vor, daß wir an 2 Fällen,
{Fall M. und Fall W.) Histamin subkutan, Adrenalin subkutan,
Pilokarpin sowie Atropin intravenös für sich allein einwirken ließen,
außerdem letztere 3 in Verbindung mit Histamin, gleichzeitig jedes-
mal 300 ccm 5°/, Alkohol per os vorlegten und Dauerausheberung
vornahmen. Der dritte, von uns weiter unten beschriebene Fall
{Fall Li.) hatte insofern eine Erweiterung der Versuchsanordnung,
als wir noch Dauerausheberungen ohne Vorlage von Alkohol
machten, um den Einfluß von Adrenalin und Atropin auf den reinen
durch Histamin ausgelösten Magensaftfluß zu studieren. Der 4. Fall
endlich (Fall Br.) beschäftigte sich lediglich mit der Beeinflussung
des Histaminmagensaftflusses durch Adrenalin, Pilokarpin und
Atropin.
Fall M. Ulcus pylori mit Hypersekretion bei 18jähr. Frau.
1. untere Magengrenzen (nach Brausepulver) 7 cm unter-
halb des Nabels.
2. Motor. Funktion:
Chlorophyliprobe nach Boas: von 400 ccm nach
1 Std. 130 ccm Rest.
3. Sekretor. Funktion:
309 STUBER U. NATHANSOHN
a) Semmel-Tee: Boas-Ewald: 400 ccm Tee, 2 Semmel
nach !/, Std.= 200 ccm. Freie HC1I+10
Ges.-Acid.+ 24
ph=1,9
b) Trockenprobefrühstück: (50 g Semmel) nach
ı/, Std. 100 cem Inhalt: Filtrierte Saftmenge 50 ccm.
Freie HCl= + 3 (n. Sahli)
Ges.- Acid. = + 43
ph = 3,2
c) nüchtern: 26 cem freie HCI-+ 8 (n. Sahli)
Ges.- Acid. + 17
ph = 1,95
10 Min. Kauen von Brotrinde, danach Ausheberung.
Menge: 70 ccm Saft, freie HCI+ 1 (n. Sahli)
Ges.-Acid. + 12
ph = 4,0.
Ergebnisse der Dauerausheberungen
I E j M j IV | v | W, W WIj
| 2 mg | | 2m ta cg
| Hist- Hist- |Pilocarp.
300 c u un amin u. 1 mg | mg | amin “Ja CR | i
cm i 3 . V.
, è 1l mg | 2 mg Atrop. ı Pilocarp.!
Min. 5% ei 1mg|; : Adren., subk. 1mg
Alkohol| Hist- | Hist- Atropin| intra- | subk, | 1 mg | Dt Hise-
amin | amin intra- | venös ' Adren. venös | nu
venös subk. ı | subk.
ph ph: ph | ph ph ph ph | ph | ph
| | |
10 | 1,95 185 | 1,75. 1) Te | 1,6 laa | ag
20 | 20 14 1.55 | l4 | 16 | 1.8 12 |19 | 14
30 | 1,75 | 12 1,85; ull | 15 |18 1,15, 16 ; 1,25
40 | 165 ' 125 12 115| 195 | 20 11,14 | 18
50 17 115 1,1 WE 21 1,95 |ull 12 12
60 1,6 12 juli jull!| 16 1.4 ull | Ii jull
70 ‚13 Juli!/|ull 1.6 1.4 u 1,1! 1.2 u 1,1!
s | 16 14 luliiluli | 165 155 Juli . 12 L1’
90 | L55 145 ull!jull | 145 | 14 11! ı 135 1.2
10 | 16 145. 1111 20 | 14 | 18 Ii rer 14 1.8
110 1,5 18, 12, 18 | 13 1,55 \ 1 f 165 | 1,55
120 1,4 185 | 14 | 175| 135 | 18 Jj] ” 16 | 18
Nüchternwerte nach Einlegen der Sonde:
Port | | |
1 | 62 47 41 20 20 35 | 41 2.0 41
u | 6 22 $2 | 17% 20, 16 42 22 | 20
MI | i9 j l4 o 17 0 185 20 1,5 Ä
IV | 20 | ia 20 | 22 | |
Vv | 20 14 | | |
u = unter. a, Tag nach Pilokarpin- Henni nüchtern kein Schmerz mehr, ex
fand sich 1 Tag nach Pilokarpin-Histamin kein Nüchternsekret mehr.
Klinische Magenstudien II. 303
In bezug auf die Fragestellung dieses Abschnittes ergibt sich,
daß bei Fall M. weder 1 mg Atropin intravenös, noch 1 mg Adre-
nalin subkutan die durch 2 mg Histamin ausgelöste Steigerung der
Acidität bei peroraler Vorlage von Alkohol hemmend beeinflußt,
dagegen °/, ceg Pilokarpin intravenös die durch 1 mg Histamin
subkutan ausgelöste Acidität fördert.
Wir weisen kurz darauf hin, daß die nach Einlegen der Sonde
entnommenen Einzelportionen des Nüchternsekrets bis auf die in
Kolonne VIII an Acidität zunehmen.
i HCl n.Sahlı IMG ISIMNA een
CEREREA
+20 Pan
EE 7 70 0 W 700 TO IN
Kurve 4a
H CI nSahlı
MERNE
+20 vaá
Ba En
Kurve 4b.
HC] n.Sahlı
+%
I
W 20 JO 40O 50° OO 70° 80 90° 100' 1C RC
Kurve 4c.
304 STUBER U. NATHANSOHN
Fall W. Ulcus ventriculi, weibl. 22 Jahre alt.
Auf 3 Kurven (Kurve 4 a, b und c) finden sich die Ergeb-
nisse der Dauerausheberung, bei peroraler Vorlage von 300 cem
Alkohol (5°/,). — Es ergibt sich aus ihnen (Acidität ausgedrückt
‚in freier HC], Kristallviolettmethode nach Sahli), daß in diesem
Falle 1 mg Atropin intravenös in geringem Grade, 1 mg Adrenalin
subkutan in stärkerem Grade die Acidität von 1 mg Histamin
herabdrückt, während ?/, cg Pilokarpin intravenös in mäßigem Grade
aciditätsfördernd zu wirken scheint.
Fall Li. weibl. 20 Jahre alt.
Gastrocoloptose, anfänglich mit atonischer Erweiterung des
Magens, bei der Entlassung normaler Tonus (gesichert durch
Röntgenaufnahme). Klinikaufenthalt 24. VIII. 25 bis 9. XL 25,
während dieser Zeit 25 Dauerausheberungen. 10 kg Gewichts-
zunahme! Besonders starker Appetit nach Dauerausheberung mit
Histamin.
Erste Versuchsserie bei Vorlage von 300 ccm
5%, Alkohol:
(Aus Gründen der Raumersparnis Kurven hier nicht beigefügt.)
Die Aciditätskurve von 3 mg Histamin wird durch Suprarenin
hydrochlor. gehemmt, indessen durch 1 mg stärker als 1,5 mg Supra-
renin, 1 mg Atropin intravenös hemmt die Acidität von 3 mg
Histamin, °/, cg Pilokarpin und 1 mg Histamin haben höhere
Aciditätskurven als jede für sich allein.
Da es auffällig war, daß 1 mg Suprarenin und 3 mg Histamin
zusammen stärker aciditätsherabsetzend wirken, als 1,5 mg Supra-
renin und 3 mg Histamin — ein Ergebnis, das überlegungsgemäß
anders erwartet wurde — wurden entsprechende Kontrollen
ohne perorale Vorlage von Alkohol gemacht, lediglich
reiner Histaminsaftfluß erzeugt, und dessen Beeinflussung durch
1 mg, 1,5 mg Suprarenin subkutan, sowie 1 mg Atropin sulf. intra-
venös studiert.
Das Ergebnis dieser Versuche findet sich in Kurve 5 graphisch
dargestellt.
Eine Hemmung der Histaminsekretion ist nanmehr nicht mehr
zu konstatieren. Trotz 1 mg Atropin. sulf. intravenös, 1,5 mg Supra-
renin subkutan und 3 mg Histamin subkutan lassen gegenüber dem
reinen Safttluß keinen deutlichen Unterschied erkennen.
Somit sind die Ergebnisse der Versuchsserie dieses Falles
bei Vorlage von 300 cem 5°, Alkohol per os verschieden
von der Serie ohne Vorlage von Alkohol.
Klinische Magenstudien II. 305
HC1nSohli
750
BEER
A
730 2
Eur 2
70 20 230° 40 SO 00° 7O 3O 90° T00 10 1720'
Kurve 5.
Histamin 3 mg subkutan (Safttlub).
—-—:—: Histamin 3 mg subkutan, 1 mg Atropin. sulf. intrav.
nennen Histamin 3 mg subkutan, 1 mg Suprarenin hydrochl. subk.
— — -- — Histamin 3 mg subkutan. 1,5 mg Suprarenin hydrochl. subk.
Fall Br. Ulcus ventriculi, weibl. 18 Jahre alt.
Wir verzichteten in diesem Fall auf perorale Vorlage von
Alkohol und studierten lediglich den reinen Magensaftfluß auf
3 mg Histamin, sowie in Kombination mit 1 mg, 1,5 mg Suprarenin
hydrochlor. mit 1 mg Atropin sult. intravenös und ®/, cg Pilokarpin
hydrochlor. intravenös.
Das Ergebnis findet sich auf Kurve 6 und 7 dargestellt.
(Titration nach Sahli mit Kristallviolett) Atropin-Histamin und
Pilokarpin-Histamin (Kurve 6) liegen hier dicht beieinander, auch
die Suprarenin-Histaminkurven (1 mg, bzw. 1,5 mg Suprarenin und
Histamin, Kurve 7) decken sich fast. Gegenüber der Kurve von
3 mg Histamin ist kein großer Unterschied zu entdecken.
Somit ist eine sichere Heminung oder Förderung der Histamin-
sekretion durch Suprarenin, Pilokarpin oder Atropin bei dieser
Versuchsanordnung nicht zu erkennen.
Deutsches Arehiv für klin. Medizin. 151. Bd. 20
306 TUBER U. NATHANSOHN
+ 730 _A CL n Sehli
sal L AI
1 / Ash
+ 3
W 20' 3O 40 50° 600 7O gO 90 700° TIO T20
Kurve 6.
3 mg Histamin subkutan (Safttluß)
—— —— 3ö mg Histamin subkutan, 1 mg Supraren. hydrochl. subk.
ren 3 mg Histamin subkutan, 1,5 mg Supraren. hydrochl. subk.
70'207 30° 90° 50° 060° 0’ &0' 30° 700' 70'720
Kurve 7.
3 mg Histamin subkut. (Safttlub)
— — — — 3 mg Histamin subkut., 3, eg Pilokarpin. hydrochl. intravenös
rennen 3 mg Histamin subkut.. 1 mg Atropin sulfur intravenös
Klinische Magenstudien II. 307
Besprechung der Versuchsergebnisse:
Die Versuchsserien ohne Vorlage von Alkohol zeigen, daß
die Histaminsekretion bezüglich der Höhe ihrer Acidität unabhängig
sein kann von Pharmaka, denen man eine Wirkung auf das vege-
tative Nervensystem zuschreibt. Jedoch fällt das Ergebnis nicht
eindeutig aus. Die Versuchsserien bei Vorlage von
Alkohol (Fall M., Fall W. und Fall Li.) fallen bei Fall M.
zugunsten der Unbeeinflußbarkeit der Histaminsekretion durch
Adrenalin oder Atropin aus, während Pilokarpin leicht fördernd
wirkt. Fall W. und Fall Li. zeigen Abhängigkeit der Histamin-
sekretion von Adrenalin und Atropin im Sinne einer Hemmung der-
selben, von Pilokarpin im Sinne einer Förderung derselben. Dabei
ist auffallend, daß bei Fall Li. 1 mg Adrenalin stärker aciditäts-
hemmend auf die Histaminsekretion wirkt als 1,5 mg Adrenalin.
Eine gesonderte Besprechung erfordert bei Fall Li. die Diver-
genzder Versuchsergebnisse bei Vorlagevon Alkohol
und ohne Vorlage von Alkohol. Der durch Histamin aus-
gelöste reine Magensaftfluß ohne Vorlage von Alkohol bleibt nach
Injektion von Suprarenin bezüglich der Höhe der Acidität unge-
ändert. Die Acidität geht auf intravenöse Atropininjektion sogar
noch in die Höhe. Bei Vorlage von Alkohol per os zeigt sich
indessen Abhängigkeit der Histaminsekretion von Atropin und
Suprarenin im Sinne einer Hemmung, von Pilokarpin im Sinne
einer Förderung. Wir konstatieren diese Tatsache, ohne eine be-
stimmte Deutung dafür geben zu können.
Die Verdünnung des Magensaftes durch Vorlage von 300 ccm
Alkohol könnte man zur Erklärung heranziehen, wenn der nach
Histaminwirkung ohne Vorlage von Alkohol erzeugte Saftfluß stets
höhere Aciditätswerte geben würde als bei Vorlage von Alkohol.
Dem ist aber nicht so, wir verweisen hier auf die Protokolle des
ersten Falles. Man könnte fernerhin daran denken, daß durch die
Alkoholvorlage andere motorische Bedingungen geschaffen werden.
Katsch und Kalk orientierten sich durch Zusatz von Methylen-
blau zum Alkohol, wir verzichteten darauf, da wir jedesmal die
motorische Funktion durch die Chlorophyllmethode von Boas
prüfen. Auch hier versagt die Erklärung, wenn wir auf Fall M.
dieser Arbeit hinweisen, bei dem die Alkoholvorlage keinen Einfluß
hatte auf die Höhe der Acidität, ganz gleichgültig, ob man Histamin
allein oder in Verbindung mit Atropin (intravenös) und Adrenalin
einwirken läßt.
20*
308 STUBER U. NATHANSOHN
Trennen wir die Bedingungen eines pharmakodynamischen
Versuchs am Menschen in äußere und innere Versuchsbedingungen,
so können wir wohl aussagen, daß wir die äußeren in der Hand
haben, die inneren nicht. Heyer’s Versuche weisen auf den
Anteil der Psyche am motorischen und sekretorischen Geschehen
des Magens hin. Unser Fall Rh. zeigt weiterhin, daß die Ansprech-
barkeit auf bestimmte Reize sich erheblich ändern kann. Wir
werden dadurch auf die Annahme einer individuell schwankenden
Reaktionsbereitschaft hingewiesen, die nur retrograd aus dem Ab-
lauf des pharmakodynamischen Versuches wahrscheinlich gemacht
werden kann, vorher aber diagnostisch nicht faßbar ist. Unsere
Ergebnisse erinnern an die bekannte bivalente Wirkungsweise der
Pharmaka am Gefäßsystem, deren Abhängigkeit von dem jeweiligen
Spannungszustand des Gefäßsystems durch die Untersuchungen von
Stuber und Proebsting (Zeitschr. f. d. exp. Med. Bd. 41, 1924)
experimentell nachgewiesen wurde. War in diesen Versuchen, die
am Froschgefäßsystem durchgeführt wurden, die verschiedene Tonus-
lage leicht experimentell zu variieren, so versagt diesbezüglich die
klinische Methodik. Fraglos spielt aber für den sekretorischen
Effekt eines Reizstoffes, sei es, daß es sich um ein Pharmakon oder
ein Sekretin der natürlichen Nahrungsstoffe handelt, die momentane
Reaktionsbereitschaft eine wesentliche Rolle, wobei das psychische
Moment bestimmend mitwirkt. Jedenfalls sprechen unsere Unter-
suchungen in diesem Sinne, auch die Divergenz unserer Versuchs-
ergebnisse im Falle Li. dürfte darin begründet sein. Klinisch
stehen wir damit aber zurzeit noch einer Gleichung mit mehreren
Unbekannten gegenüber.
Histamin und Neutralrotausscheidung.
Unter den Farbstoffen, die vom Magen ausgeschieden werden,
und chromodiagnostisch Verwendung finden, spielt das Neutrairot
eine Rolle (Literaturangaben und Literatur siehe Galewski,
Glässner und Wittgenstein, Luria und Mikrin Arch. f.
Verdauungskrankh. 34, 1925.)
Nach Glässner und Wittgenstein speichern die Beleg-
zellen der Magendrüsen das intramuskular injizierte Neutralrot und
scheiden es aus. Sie fanden bei bypersekretorischen Affektionen
beschleunigte, bei hyposekretorischen verlangsamte, bei Achylie
fehlende Ausscheidung.
Uns interessierte nun bei Analyse der Achylie die Vergleichung
der Neutralrotmethode mit der Histaminmethode und ferner die
Klinische Magenstudien II.
309
Kombination beider, sowie die Abhängigkeit der Neutralrotaus-
scheidung von dem weiteren von uns benutzten Reiz Fleischbrühe
und Ei.
Fall A., dessen Kurve (Nr. 2) uns eingangs beschäftigt hat,
zeigte folgende Ergebnisse:
Fleischbrühe
| ò 4 ccm intramus-
BE 2 do. und 1 mgt NEN kular, 300 ccm | + Ei aus
Zeit 0: alkoho] Histamin ihor gQ) een, Alkohol 5%, ;100 g Fleisch
In a. 090° subkutan ‚hol, cemi 2 1 mg Hist- | 300 ccm,
Min. | PETRS amin subkutan | 0,90% NaCl
ph ph F. ph F. ph F. ph
|
10 | 7,5 7.7 74, 7,3 56
20) 7,3 | il 13 . (+) Wl 6,7
30 1,3 1,1 7.3 + 5.9 6,2
40 1,3 | 3,4 745 1+(-) 50 5,9
50 7.3 2,9 Br u (+) 57
60 7.3 3,25 kr To (+) 50
70 7,3 3,1 | 75 | +(+) 30
RO 13 ! 7,5 +(+) 2,2
90 7,3 | 175. I + 88
w | 78 T5 | 4) 655
110 1.3 | i 7,5 | | 7.0
120 T6 | | 71
F. = Farbstoffausscheidung. (+) = angedeutet. + = deutlich. — (+) = stärker.
+ + = sehr stark.
In den Ergebnissen kommt zum Ausdruck, daß Histamin die
Ausscheidung des Farbstoffes begünstigt. Bei gleichzeitiger Aus-
scheidung von Farbstoff und Säure nach Histamininjektion ist die
aktuelle Acidität geringer als in dem Parallelversuch ohne Farb-
stof. Aber auch Fleischbrühe und Ei trägt zur Begünstigung der
Farbstoffausscheidung bei, sie setzt hier später ein, nimmt an In-
tensität zu, aber auch die Acidität steigt langsam an.
Es erscheint bemerkenswert, daß sowohl Histamin, wie Fleisch-
brühe und Ei, die beide säureerregend wirken, auch die Neutral-
rotausscheidung in bezug auf Dauer und Intensität begünstigen
können.
Zusammenfassung.
Die Kurvenform der echten Achylie bei Dauerausheberung
nach Vorlage von Alkohol, kann im alkalischen Bereich liegen,
doch ist dieser Verlauf für echte Achylie nicht unbedingt beweisend.
Aufschluß darüber kann gegeben werden durch Wiederholung der
Dauerausheberung unter subkutaner Injektion von Histamin, durch
Vorlage von Fleischbrühe und Ei, oder Riegel’sche Probemahlzeit.
310 STUBER U. NATHANSOHN, Klinische Magenstudien II.
Die Ansprechbarkeit auf irgendeinen Reiz kann sich erheblich
ändern. Es ist deshalb eine echte, resp. periodische Achylie erst
dann bewiesen, wenn verschiedene der oben angeführten Reize bei
Dauerausheberung anacide Werte ergeben. Erweist sich dabei
irgendein Reiz als säureweckend, so liegt keine Achylie vor, sondern
lediglich eine veränderte Ansprechbarkeit auf den bestimmten Reiz.
den wir oben durch Annahme einer individuell schwankenden
Reaktionsbereitschaft zu erklären versucht haben.
Bezüglich des Histamins konnte gezeigt werden, daß im all-
gemeinen in den verwendeten Dosen (1—4 mg) die Höhe der Salz-
säuresekretion abhängig ist von der Höhe der Dosis, wobei das
Optimum der Dosis individuell verschieden hoch liegt. Bei Über-
schreitung dieses Optimums kann dann die Acidität wieder sinken.
Ist die Acidität auf Alkoholprobetrunk bereits hoch (Fall L,
Ulcus duodeni) und tritt auf 1 mg Histamin eine weitere Steige-
rung noch nicht ein, so kann zur Provokation stärkerer Acidität
erst die höhere Dosis (z. B. 2 mg) beitragen.
Die durch Histamin bewirkte Steigerung der Salzsäuresekretion
bedeutet bei vorhandenen „Hyperaciditätsbeschwerden“ nicht immer
Verstärkung derselben. Das Gegenteil konnte beobachtet werden.
Die auf Histamin eintretende Steigerung der Magensaftacidität
. kann von Pharmaka, wie Adrenalin (subkutan injiziert) Atropin
und Pilokarpin (intravenös injiziert) unbeeinflußt bleiben, andere
Ergebnisse kommen jedoch vor.
Histamin und Fleischbrühe, die beide säureweckend sind, können
die Ausscheidung von Neutralrot hinsichtlich Dauer und Intensität
begünstigen.
all
Aus der Medizinischen Klinik Würzburg.
(Vorstand: Prof. Dr. Morawitz.)
Zur Frage der Bluttransfusion und der Lebensdauer
transfundierter Erythrocyten.
Von
Dr. Paul 6örl,
Assistent der Klinik.
In den letzten Jahren hat die Bluttransfusion auf dem ge-
samten Gebiete der Medizin wesentlich an Bedeutung gewonnen.
Die Streitfrage, ob es sich dabei um eine Reiz- oder Substitutions-
therapie handelt, ist zwar noch keineswegs entschieden; aber in
neuester Zeit neigen zahlreiche Autoren (Opitz (1), Naegeli (2),
Bürger (3) u. a. besonders amerikanische Forscher) der Ansicht
zu, daß das Hauptgewicht auf den Ersatz der Erythrocyten zu
legen sei, und sind infolgedessen dazu übergegangen, möglichst
große Blutmengen zu transfundieren. Eine der Hauptstützen dieser
Ansicht bilden die Untersuchungen Ashbys(4) und mehrerer
Autoren nach ihm, die mit Hilfe der Isohämagglutination des
menschlichen Blutes eine wesentlich längere Lebens- und Funktions-
dauer transfundierter Erythrocyten feststellten, als bisher ange-
nommen wurde. Auf die Methode Ashbys werde ich später zu
sprechen kommen.
Ferner hat die Transfusion ihre Schrecken verloren; denn es ist uns
jetzt durch eine einfach auszuführende Voruntersuchung die Möglichkeit
gegeben, die früher mit Recht gefürchteten Transfusionserscheinungen
mit ziemlicher Sicherheit zu vermeiden. Wir wissen, daß dieselben durch
die Wirkung von Isoagglutininen und Isobämolysinen entstehen, und daß
es zu einer Agglutination der zugeführten Erythrocyten durch das
Empfängerblut kommt. Landsteiner (5), von Dungern und
Hirschfeld (6) u. a. haben die individuelle Verteilung der Isoag-
glutinine geklärt, MoB (7) deren Einteilung in 4 Gruppen aufgestellt und
damit die praktische Verwendungsmöglichkeit gegeben.
312 | GÖRL
Eine theoretische Erklärung der Agglutinationsvorgänge wurde durch
die Annahme von 2 Agglutininen A und B in den Seren und 2 korre-
spondierenden Receptoren a und b an den Zellen versucht. Dieselben
verteilen sich auf die einzelnen Gruppen (nach Moß) wie folgt:
Gruppe I: im Serum keine Agglutinine, in den Zellen Receptoren a u. b
a l n Agglutinin A, „p „ „ Receptor b
„n M: , n n sin n n n a ,
a IV n = A und B, in den Zellen keine
Receptoren.
Es agglutiniert also das Serum der Gruppe IV die Erythrocyten
sämtlicher anderer Gruppen, während die Erythrocyten IV von keinem
Serum agglutiniert werden. Das umgekehrte Verhältnis findet sich bei
Gruppe I. Gruppe II agglutiniert I und III, ihre Erythrocyten werden
von III und IV agglutiniert; Gruppe III agglutiniert I und II und wird
von II und IV agglutiniert. Eine Agglutination der Spendererythrocyten
durch das Empfängerblut kann demnach nicht auftreten:
a) bei Transfusionen innerhalb der gleichen Gruppe
b) bei Transfusionen von Gruppe IV auf sämtliche andere Gruppen und
c) von Gruppe II und III auf Gruppe I.
I.
Die agglutinierende Wirkung des bei der Transfusion mit zu-
geführten Serums wurde bisher vernachlässigt in der Annahme, daß
dasselbe in der Gesamtblutmenge des Empfängers derartig verdünnt
wird, daß ein schädigender Einfluß auf die Empfängererythrocyten
nicht möglich sei. Nachdem nun durch die in neuester Zeit geübten
großen Transfusionen, die in der Pädiatrie nicht selten */,, sogar "s
der Gesamtblutmenge des Empfängers ausmachen, erhebliche Mengen
Serum mit zugeleitet werden, erschien die Frage berechtigt:
Bei welchem Mengenverhältnis von Empfänger-
und Spenderblut macht sich die Agglutinationskraft
des Spenderserums bemerkbar?
Zur Klärung dieser Frage habe ich in vitro eine Reihe von
Versuchen vorgenommen. Zu einer bestimmten Blutmenge von
Gruppe II oder I wurden steigende Blutmengen von Gruppe IV
respektive II zugesetzt, und zwar wurde, um eine vorzeitige Ge-
rinnung hintan zu halten, teils mit Citrat — teils mit defibriniertem
Blute gearbeitet. Diese Mischungen wurden dann gut durchge-
schüttelt, ein Tropfen davon auf einen Objektträger gebracht und
beubachtet, bei welchem Mengenverhältnis noch Agglutination auf-
trat. Dabei fand ich als höchsten Grenzwert das Verhältnis 1:6
von Spender und Empfängerblut. Die meisten Werte lagen jedoch
Zur Frage d. Bluttransfusion u. d. Lebensdauer transfundierter Erythrocyten. 313
etwas tiefer, in einem Falle war die Grenze sogar schon bei 1:3
erreicht. Diese Unterschiede erklären sich aus der individuellen
Verschiedenheit sowohl der Agglutinationskraft des Serums, als der
Agglutinabilität der Erythrocyten. Durch zahlreiche Veröffent-
lichungen ist bekannt, daß der Agglutinationstiter der einzelnen
Seren erheblich differieren, ebenso, daß derselbe auch beim selben
Individum zeitlich in gewissen Grenzen schwanken kann. Auch
die Agglutinabilität der Erythrocyten verschiedener Individuen
demselben Serum gegenüber ist eine ziemlich wechselnde. Diese
durch Dyke (8) berichtete Beobachtung konnte ich durch einen
kurzen Versuch bestätigen.
Je 0,1 cm einer Reihe fallender Verdünnungen eines mir von früheren
Agglutinationsproben her als hochwertig bekannten Serums wurden auf
dem Objektträger mit 20 cmm Blut verschiedener Individuen ohne Rück-
sicht auf deren Gruppenzugehörigkeit beschickt. Die Ergebnisse gehen
aus folgender Tabelle hervor.
Agglutination bis zu einer Verdünnung von
l: 8 mit Blut einer Person der Gruppe II
1:11 „ ” n n ” ” II
lell-% 5. % iz > H
l: 6 ” n n ” r n III
l: 8 n n ” n n n Il
l:l2 „ n n ” n ” II
l: 3 ” ” ” n n n II
Bio oa a e k a
1:10 p non n ” „ HI
l: 8 p non „on „ H
Aus den vorstehenden Versuchen geht hervor, daß bei Trans-
fusionen, deren Menge ein Sechstel der Gesamtblutmenge des Emp-
fängers überschreitet, Vorsicht geboten ist, sofern das Spenderserum
einen hohen Agglutinationstiter zu den Empfängererythrocyten be-
sitzt. Dies scheint mit den Angaben der Pädiater, die ja, wie
schon erwähnt, mit gutem Erfolge Transfusionen bis zu ", der
Blutmenge des Empfängers anwenden, in Widerspruch zu stehen.
Dabei ist aber zu berücksichtigen, daß nach den Arbeiten von
Happ (9) und Heß (10) sich bei Neugeborenen und Kindern bis
zu einem Monat das Phänomen der Isoagglutination überhaupt
nicht findet, sondern sich erst bis zum Ende des 2.—3. Jahres voll
einstellt. Infolgedessen können in einem derartigen Alter auch
größere Transfusionen ohne Gefahr für den Empfänger vorgenommen
werden.
314 GÖRL
II.
Die Lebensdauer der transfundierten Erythrocyten wird von
Ashby mit durchschnittlich 2—3 Monaten angegeben; ebenso
fanden Wearn (11) und seine Mitarbeiter, die ebenfalls nach der
Methode Ashby’s vorgehen, einen Durchschnittswert von 2 bis
3 Monaten, während andere Autoren auf Grund gleicher Unter-
suchungen zum Teil zu niedrigeren Werten kamen, so Jerwell (12),
5 Wochen, Moons (13) 15—30 Tagen, Hotz (14) 6 Wochen,
Zerwell 1—2 Monate. Diese Zahlenangaben, besonders die An-
gaben von Ashby und Wearn, die auch in der deutschen Literatur
vielfach zitiert werden, scheinen sich den über die Lebensdauer
normaler Erythrocyten bekannten Tatsachen schwer einzufügen.
Sprechen doch alle bisher bekannten Methoden, besonders die Uro-
bilinmethode, dafür, daß die normale Lebensdauer eines Erythro-
cyten, auch wenn nicht transfundiert wurde, 40 Tage nicht über-
steigt. Und nun sollten transfundierte Erythrocyten so viel
länger leben!
Der Gedankengang der Ashby’schen Methode ist folgender:
Es müßte, wie aus dem weiter oben gegebenen Moß’schen Schema
leicht ersichtlich ist, theoretisch möglich sein, bei einem Gemisch
von Erythrocyten, die z. B. den Gruppen II und IV angehören, durch
Zusatz von Serum IV die Erythrocyten der Gruppe II zur Aggluti-
nation zu bringen und die nicht agglutinierten Erythrocyten der
Gruppe IV zahlenmäßig zu erfassen. Hiermit wäre also nach einer
Transfusion von Blut der Gruppe IV auf ein Individuum der Gruppe II
oder III die Möglichkeit gegeben, durch Zusatz von Serum IV, das
die Erythrocyten des Empfängers agglutiniert, die Zahl der trans-
fundierten, nicht agglutinierten Spendererythrocyten zu bestimmen
und durch in regelmäßigen Zeitabständen vorgenommenen Kontrollen
bis zu ihrem Verschwinden aus der Blutbahn zu verfolgen.
In der von Wearn etwas modifizierten Weise wird die Methode
Ashby’s folgendermaßen gehandhabt:
Blut von einer Person, der eine größere, der IV. Gruppe angehörigen
Blutmenge transfundiert worden war, wird mit einer Leukocytenpipette
bis zum Teilstrich 5 aufgesaugt und ein hochwertiges Viererserum bis
zur Marke 11 nachgezogen. Nach kräftigem Mischen wird der Inhalt
der Pipette in ein kleines Röhrchen ausgeblasen, das 40 Minuten lang unter
öfterem Umschütteln auf einer Temperatur von 37° gehalten wird. Das
Röhrchen kommt dann über Nacht in den Eisschrank und muß kurz vor
der Zählung aufgeschüttelt werden. Die nicht agglutinierten Zellen lassen
sich dann in der Zählkammer leicht auszählen.
Zur Frage d. Bluttransfusion u. d. Lebensdauer transfundierter Erythrocyten. 315
Dabei macht sich bereits der Umstand störend bemerkbar, daß auch
bei Verwendung von Seren mit hohem Agglutinationstiter praktisch keine
vollständige Agglutination der Empfängererythrocyten eintritt, sondern
eine mehr oder weniger große Anzahl, nach Wearn 20000 bis 50 000
im cmm, unagglutiniert bleiben. Es muß deshalb bereits vor der Trans-
fusion eine Zählung dieser unagglutinierten Zellen vorgenommen werden.
Die genannten Autoren glauben nun annehmen zu dürfen, daß die Zahl
der unagglutinierten Zellen, die die Kontrollzahl vor der Transfusion
überschreitet, die in der Zirkulation vorhandenen Spenderzellen darstellt,
wobei natürlich Voraussetzung ist, daß zu sämtlichen Zählungen bei dem-
selben Falle das nämliche Serum IV verwendet wird.
Ich habe nun diese Methode Ashbys einer Kontrolle unter-
zogen. Dabei fiel mir zunächst auf, daß die Zahl der un-
agglutinierten Erythrocytenbeidemgedachten Emp-
fänger keinekonstante ist. Über mehrere Tage fortgesetzte
tägliche Zählungen an zwei gesunden Personen der Gruppe II ließen
nicht unerhebliche Schwankungen erkennen, so in dem einen Falle
von 25800 bis 45200 unagglutinierter Zellen in cmm, ähnliche,
nicht ganz so starke auch bei der anderen Person. Die Zählungen
wurden stets doppelt vorgenommen mit einem IV. Serum, das einen
Titer von 1:12 besaß. Derartige Zahlenunterschiede sind wohl für
die Beurteilung der Verhältnisse nach einer Transfusion kaum von
ausschlagender Bedeutung, dürften aber großenteils mit einem
Mangel der Methode in Zusammenhang stehen, der wesentlich
schwerer ins Gewicht fällt. Die Erythrocyten werden, um eine
möglichst gute Agglutination zu erzielen, mehrere Stunden mit dem
Serum zusammengebracht und setzen sich dabei am Boden des
Röhrchens ab, weshalb dasselbe kurz vor der Zählung aufgeschüttelt
werden muß. Nun ist bekanntlich die Agglutination ein reversibler
Vorgang, und die Bindung zwischen den einzelnen Zellen scheint
wenigstens zum Teil eine ziemlich lockere zu sein. Es ist daher
ohne weiteres möglich durch verschieden starkes Schütteln außer-
ordentlich abweichende Zahlen von nicht bzw. nicht mehr agglu-
tinierten Erythrocyten zu erhalten.
Ich will kurz einen meiner diesbezüglichen Versuche anführen.
Ein Röhrchen wurde zunächst soweit aufgeschüttelt, daß eine
einigermaßen gleichmäßige Verteilung der Erythrocyten zustande
kam. Die Zählung ergab 19200 unagglutinierte Zellen im cmm.
Eine andere Probe, die mit der ersten von derselben Person zur
selben Zeit entnommen und vollkommen gleichmäßig behandelt
worden war, zeigte nach kräftigerem Schütteln 158000 unagglu-
tinierte Zellen, nach nochmaligen starkem Durchschütteln 368 400
Zellen.
316 _ GÖRL
Man sieht also, daß mit stärkerem Schütteln ein sprunghaftes
Ansteigen der unagglutinierten Erythrocyten stattfindet, und ich
halte es nicht für möglich bei den zahlreichen Zählungen diesen Faktor
vollkommen gleichmäßig zu gestalten. Ich will hiermit keineswegs
in die Frage eingreifen, ob die großen Zahlenunterschiede von un-
agglutinierten Zellen vor und kurz nach der Transfusion auf die
Spendererythrocyten zurückzuführen sind oder nicht. Isaacs (16)
konnte nämlich nachweisen, daß unreife Erythrocyten von Seris,
welche die reifen Erythrocyten desselben Individuums agglutinieren,
nicht angegriffen werden. Er glaubt ferner bewiesen zu haben,
daß die Zahl der nicht agglutinablen Zellen meist innerhalb von
2—4 Tagen nach einer Transfusion durch die Zahl dieser jungen,
in das Blut angeschwemmten Erythrocyten erreicht wird. Wenn
wir trotzdem den Standpunkt Ashby’s für den richtigen halten
würden, so glaube ich doch, daß den Zählungen, bei denen die
Transfusion schon längere Zeit zurückliegt und der Unterschied
infolgedessen kein derartig großer mehr ist, mit einer gewissen
Skepsis gegenübergetreten werden müßte, da es bei der Fehlerbreite
der Methode keineswegs festzustellen ist, ob es sich auch dann
noch um nicht agglutinierte Zellen des Spenders handelt. Ich
halte daher eine derartig lange Lebensdauer trans-
fundierter Erythrocyten, wiesie besonders von Ashby
und Wearn angenommen wird, durchaus noch nicht
für bewiesen. Das würde auch allen sonstigen Erfahrungen
widersprechen.
Wesentlich einwandfreiere Resultate würde nach meinem Dafür-
halten der andere Weg bieten, die Spenderzellen zur Agglutination
zu bringen. Ich konnte mich durch Versuche mit gewaschenen
Erythrocyten der Gruppen II und III davon überzeugen, daB es
bei einem Mischungsverhältnis von 1:40 durch Zusatz eines III.
Serums noch möglich ist, die Zellen der Gruppe II zu agglutinieren
und diesen Vorgang ohne weiteres makroskopisch auf dem Objekt-
träger zu verfolgen. Leider ist dieser Weg infolge der Verteilung
der Agglutinine und der Receptoren beim Erwachsenen nicht
gangbar. Bei Neugeborenen, bei denen ja wie oben erwähnt, die
Isoagglutininen noch nicht gebildet sind, müßte jedoch ein derartiger
Versuch durchführbar sein, wozu mir allerdings an unserer Klinik
das nötige Material nicht zur Verfügung stand.
Ashby (17) hat ferner in jüngster Zeit versucht, mit Hilfe
seiner Methode durch Umrechnung der Zahl der nicht agglutinierten
Erythrocyten auf die Raumeinheit des Empfängerblutes bei be-
Zur Frage d. Bluttransfusion u. d. Lebensdauer transfundierter Erythrocyten. 317
kannter Gesamtzahl der transfundierten Erythrocyten einen Schluß
auf die Gesamtblutmenge zu ziehen. Ich glaube nicht, daß nach
dem oben Gesagten die Methode für derartige Untersuchungen ge-
eignet ist. Auch in der Frage der Lebensdauer transfundierter
Erythrocyten sollte den Werten, die auf Grund dieser Methode
gefunden wurden, nicht die ausschlaggebende Bedeutung zugemessen
werden, die sie, wie eingangs erwähnt, in der letzten Zeit besonders
auch in der deutschen Literatur gefunden haben.
Zusammenfassung.
1. Es wird durch Versuche in vitro nachgewiesen; daß bei
Transfusion einer Blutmenge, die die Gesamtblutmenge des Emp-
fängers um ein Sechstel übersteigt, die agglutinierende Kraft des
Spenderserums wirksam werden kann.
2. Es wird die Methode Ashby’s zur Feststellung der Lebens-
dauer transfundierter Erythrocyten nachgeprüft. Die Methode ist
nicht zuverlässig. Die auf ihr sich aufbauenden Schlüsse können
nicht als zwingend anerkannt werden.
Literatur.
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Gegenwart 63, 1922. — 3. Bürger, Therap. Halbmonatsschr. S. 386. 1921. —
4. Ashby, Journ. of exp. med. S. 127, 1921. — 5. Landsteiner, Wien. klin.
Wochenschr. 14, 1901 — 6. v. Dungern u. Hirschfeld, Zeitschr. f. Immunitäts-
forsch. und exp. Therapie VI, 8, 1911. — 7. Moß, Bull of the John Hopkins hosp.
21. 1910. — 8. Dyke, British journ. of exp. path. Bd. 3. — 9. Happ, Journ. of
exp. med. Bd. 31, Nr. 3. — 10. Heß, Dtsch. med. Wochenschr. Nr. 9, 1921. —
il. Wearn, Warren u. Ames, Americ. Arch. of intern. med. Bd. 29, 1922. —
12. Jervell, Acta pathol. et fnierobivol. scandinav. Bd. I, 1924. — 13. Nach
Hempel, Bruns’ Beitr. z. klin. Chirurg. 132. — 14. Hotz, Zentralbl. f. Chirurg.
1921. — 15. Zervell, Dtsch. med. Wochensehr. S. 1214, 1925. — 16. Isaacs,
Arch. of intern. med. Bd. 34, 1924. — 17. Ashby, Arch. uf intern. med. Bd. 35,
1925.
318
Aus der Orthopädischen Universitätsklinik Heidelberg.
(Direktor: Prof. Dr. Hans v. Baeyer).
Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage.
Von
Dr. Hermann Watermanın,
Assistent der Klinik.
(Mit 3 Abbildungen.)
1922 gab v. Baeyer ein Verfahren an, wie man mittels einer
Bandage den Fehlgang bei Tabikern günstig beeinflussen könne.
Er nannte sie kurz Tonusbandage. Auf dem 19. Orthopädenkongreß
in Graz wies Graf in Kürze auf ihre Vorzüge hin, die von Port
bestätigt wurden. Zweck dieser Arbeit soll sein, unsere bisherigen
Erfahrungen und Erfolge an einigen Fällen festzulegen, um den
Beweis zu erbringen, daß den Ataktikern durch die Tonusbandage
sehr erheblich geholfen werden kann.
Durch die Tonusbandage soll erreicht werden, den Teil der
Koordinationsstörungen beim Tabiker mechanisch auszugleichen,
der auf mechanischen Defekten beruhe. Die Koordinations-
störungen bei den Ataxien beruhen nach unseren augen-
blicklichen Vorstellungen von dem Wesen der tabischen Ataxie auf
der Atonie bzw. Hypotonie der Muskulatur und auf dem Fehlen
bzw. auf der Herabsetzung der Sensibilität. Es ist nun
nachgewiesen, daß koordinierte Bewegungen erfolgen können, ohne
daß besondere bewegungsgebende Impulse in die verschiedenen,
die bewegten Gelenke versorgenden Muskeln gesandt oder sistiert
werden. (Mechanische Koordination.) Durch die eigenartige An-
ordnung der mehrgelenkigen Muskeln findet nämlich ein geordnetes
Zusammenspiel statt, dessen Ordnung und Zweckmäßigkeit nicht
durch koordinierte zentrale Impulse bedingt ist, was v. Baeyer
als muskuläre Koordination bezeichnet hat. Am einfachsten und
am besten hat v. Baeyer dieses an der Hand demonstriert.
Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage. 319%
Lassen wir nämlich unsere Hand möglichst schlaff herunterhängen,
so sind die Finger fast völlig gestreckt und wenig gespreizt.
Wird diese Hand nun passiv mit Hilfe der anderen Hand dorsal-
flektiert, ohne daß wir die Muskeln kontrahieren, so können wir
feststellen, daß die Spreizstellung schwindet, die Finger flektiert
und der Daumen in leichter Beugestellung an den zweiten oder
dritten Finger adduziert wird. Diese „mitläufig“* genannte Be-
wegung beruht einzig und allein auf der Kuppelung der Hand-
wurzel- und Fingergelenke durch die tonisch gespannten mehr-
gelenkigen Muskeln. Fehlt der Tonus, so kommt diese Transmissions-
wirkung nicht zustande.
Bei der Tabes ist nun das Zusammenspiel der melırgelenkigen
Muskeln durch das Fehlen des Tonus gestört und damit auch die
selbsttätige Koordination der einzelnen Gliedabschnitte. Ebenso-
wenig erfolgt die reflektorische Regulierung des Tonus, weil durch
das Fehlen der Sensibilität die Empfindung für die Spannung und
Erschlaffung der Muskeln für die Lage und Stellung der einzelnen
Gliedabschnitte mangelt. Der Tonusbandage fällt also eine doppelte
Aufgabe zu, einmal den Tonus auszugleichen und andererseits die
Tiefensensibilität zu ersetzen. Dieses wurde auf folgende Weise
erreicht: der fehlende Tonus wurde ersetzt durch die Spannung von
elastischen Zügen, die dem Verlaufe der wichtigsten Muskeln ent-
sprechend befestigt wurden und zwar in der Weise, daß durch sie
auch der Transmissionsmechanismus für die einzelnen Gelenke
wieder hergestellt ist. Andererseits wird durch Substitution des
verloren gegangenen Tiefengefühls, nämlich mittels Übertragung der
Bewegung von peripheren Abschnitten auf zentralere Hautpartien,
die noch gut fühlen, die fehlende Tiefensensibilität ersetzt. Die
Tonusbandage hat noch den dritten Vorteil, daß sie wieder den
Kraftschluß der Gelenke bewirkt, auch an freihängenden Glied-
maßen. Es ist das deshalb ungemein wichtig, weil durch den
Kraftschluß der Gelenke an einer freihängenden Extremität kleine
Distraktionen verhindert werden, die bei häufigem Auftreten dem
Gelenkapparat auf die Dauer schädlich sein müssen.
Der Beschreibung der Tonusbandage möge man an den
Abb. 1—3 folgen: Das Becken und die Hüften umgibt ein festes,
breites Band in der Form eines Leibchens aus festem Drell. Von
diesem gehen breite Träger über die Schultern, um eine bessere
Verteilung der am unteren Leibchenende wirkenden Zugkräfte der
dort beginnenden Gummizüge zu erzielen. Zirkuläre breite Leder-
bänder umfassen die Gegend ober- und unterhalb der Knie. An
320 WATERMANN
diese zirkulären Bänder am Becken und an den Knien werden nun
die elastischen Züge, durch welche der Grad der Spannung auch
auf die Haut dieser Gegend übertragen wird, in der Anordnung
der mehrgelenkigen Muskeln angebracht.
Die Zahl, die Anordnung und die Spannung der Züge ist fast
in jedem einzelnen Falle verschiedenartig anzubringen. Will man
Abb. 1. Abb. 2.
einen guten Ertolg der Tonusbandage erwarten, so muß man die
Bewegungsstörung in jedem Einzelfalle genau analysieren. Oft
hilft der Patient selber mit, indem er die Züge entsprechend spannt
oder lockert. ln fast allen unseren Fällen mußten ersetzt werden
an den Öberschenkeln die Glutaei, der Rectus femoris und die
ischio-crurale Gruppe, oft auch ein Außen- oder Einwärtsdreher;
am Unterschenkel wurden Züge angebracht, die dem Verlauf des
Tib. ant., der Peronaei, dem Gastroenemius und Soleus entsprachen.
a nn u o —
Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage. 321
Die beiden letzteren wurden an der Fersenkappe, die beiden
ersteren in der Gegend über dem I. und V. Grundgelenk im Stiefel-
befestigt. Sind Genua recurvata vorhanden, so daß man zu Hülsen-
apparaten mit vorzeitigem Knieanschlag greifen muß, so hat sich
auch hier die Bandage mit den Hülsenapparaten gut bewährt.
Unsere Beobachtungen ließen uns nun folgende Vorteile der Tonus-
bandage erkennen: Schon
Graf hat auf dem 19.
Orthopädenkongreß einen
Fall gezeigt, eine Frau,
die schon über 2 Jahre an
den Fahrstuhl gefesselt
mit Hilfe der Bandage
wieder imstande war, sich
im Haushalte zu betätigen.
Wir hatten nur Fälle mit
mittelschweren oder sehr
schweren — Bewegungsstö-
rungen, die aber geführt
doch noch gehen konnten.
Der Erfolg in den ersteren
war größer und auch ein-
facher zu erzielen als in
den ganz schweren Fällen.
An Mißerfolgen hatten wir
nur einen einzigen Fall
aufzuweisen, bei dem nur
eine gewisse Besserung der
Standsicherheit erreicht
wurde. Es ist mitunter
staunenswert zu sehen, wie
Patienten, die vorher nur
mit Kontrolle ihrer Augen Abb. 3.
Treppen hinauf- und hin-
unter gehen konnten, in der Bandage mit geradeaus gerichtetem
Blick die einzelnen Stufen nehmen. Mit dem wachsenden Vertrauen in
die Bandage machen sie sich zumeist von selbst an alle jene Ver-
richtungen, die sie bisher nicht mehr auszuführen imstande waren,
besonders an diejenigen, die sie als die unangenehmsten empfanden.
In einem Falle erlebten wir es, daß der Patient sich auf den Stuhl
stellte, um einen Nagel in die Wand zu klopfen, was ihm gelang
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 151. Bd. 21
322 WATERMANN
und was er bisher nicht konnte; das Aufstehen und Hinsetzen
erfolgte ohne Hilfe der Hände; beim Gesichtwaschen, das nur mit
offenen Augen erfolgen konnte, mußte er sich immer spreizbeinig
an dem Waschbecken anlehnen; jetzt kann er sich ohne Anlehnen
mit geschlossenen Augen waschen. Das Angstgefühl, das er beim
Überschreiten eines kleinen Wassertümpels hatte, verschwand.
Beim Besteigen des Bürgersteiges brauchte er nicht mehr wie früher
in kleinen trippelnden Schritten bis nahe an den Rand zu treten,
sondern schreitet vorwärts, ohne im Gang zu stocken. Das un-
sichere Stehen in der Dunkelheit schwindet, der bisher unmögliche
Gang im Dunkeln wird frei, oft ohne Zuhilfenahme der Stöcke.
Auf der Straße können sich die Patienten wieder in Begleitung
anderer unterhalten, ohne die Beine mit den Augen kontrollieren
oder sich mit den Augen an einem bestimmten Punkte gewisser-
maßen festhalten zu müssen. Die Wendungen im Gehen erfolgen
mit einer einzigen Drehung, während die Patienten früher eine Kehrt-
wendung nicht wagten. Die Patienten fühlen wieder festen Boden
unter sich; sie haben nicht mehr das Gefühl, als wenn der Boden
unter ihnen nachgebe oder als wenn sie auf Gummi oder weichem
Ackerboden gehen. Psychisch machen diese Patienten einen
frischeren Eindruck. Ihre Lebensfreude ist sichtlich gehoben.
Ganz treffend äußerte sich einmal ein Patient, er habe durch die
Bandage wieder „Verstand in die Beine“ bekommen. In allen
Fällen bis auf einen wurde das Romberg’sche Phänomen wesentlich
schwächer, in einigen wurde es völlig aufgehoben. Der Gang er-
folgte sicherer, er ist nicht mehr stampfend; die Unterschenkel
werden durch den ischiocruralen Gummizug in ihren schleudernden
Bewegungen gehemmt. Der Knielıackenversuch wird negativ, die
Patienten vermögen im Liegen wieder die Lage ihrer Beine zu
beschreiben. Vor allem können die Patienten auch wieder größere
Wegstrecken zurücklegen, ohne wie früher sehr schnell zu ermüden.
Wie jeder Apparat, der über längere Zeit getragen wird, so
hat auch die Tonusbandage den Nachteil, daß sie von Zeit zu Zeit
einer Kontrolle und Ausbesserung unterzogen werden muß. Die
Spannung in den Gummizügen läßt mit der Zeit nach und muß
durch neue ersetzt werden, und zwar bei den schwersten Geh-
störungen am frühesten. Die Patienten nehmen diesen Nachteil
aber gerne in Kauf gegenüber den Vorteilen, die sie durch die
Tonusbandage gewinnen. Ich lasse jetzt kurze Auszüge aus einigen
Krankengeschichten folgen mit dem Betunde und den Klagen bei
der Aufnahme und deren Besserung durch die Tonusbandage.
Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage. 323
Fall 1. R. H., 45 Jahre. Aufnahme Dezember 23. 1905 Infektion.
1914 plötzlich beim Vormarsch im Felde Gangstörungen. 1918 größere
Unsicherheit im Gange und Gefühlsstörung in den Füßen. Konnte
damals aber noch ohne Stöcke gehen. 1920 Grippe; seitdem Gang mit
einem Stocke. Verschiedentlich mit Salvarsankuren und Badekuren be-
handelt. Jetzige Beschwerden: könne nur unter Kontrolle der Augen
gehen. Gang und Stand in der Dunkelheit unmöglich. Beim Gehen
das Gefühl, als wenn er auf Gummi ginge. Befund: kräftiger Mann.
Pupillen klein; reagieren nicht auf Licht und Konvergenz; keine Sprach-
störungen; es fehlen sämtliche Reflexe. Romberg stark positiv. Der
Gang ist hochgradig ataktisch, ungeschickt, über das Ziel hinausschießend.
Kniehacken- und Finger-Nasenversuch stark positiv. Wenn der Gesichts-
sinn noch dabei ausgeschaltet wird, so ist diese Ataxie noch verstärkt.
Reichliche Sensibilitätsstörungen, hauptsächlich an den Unterschenkeln
und den Streckseiten der Oberschenkel. Tiefensensibilität an den unteren
Gliedmaßen aufgehoben. 4. XII. 23: Anlegen der Tabesprobebandage.
Übungen. 9. XI. 23: Ablieferung der neuen Bandage. Patient steht
sofort viel sicherer. Der Romberg wesentlich geringgradiger. Knie-
hackenversuch gelingt ganz gut. Patient gibt an, er habe das Gefühl,
als wenn er von hinten von jemandem an den Hüften gehoben wird. Geh-
und Umdrehübungen, Übungen im Sitzen und Aufstehen. 12. XII. 23:
Patient macht sehr gute Fortschritte. Er kann bereits ohne Stock im
Dunkeln mit guter Sicherheit gehen. Er hat nach Ablegen der Bandage
noch 2—3 Stunden das Gefühl, als habe er die Bandage noch an.
Aufstehen und Niedersetzen ist ohne Unterstützung möglich. Kehrt-
wendungen gut möglich. Beim Waschen usw. kann Patient ganz sicher
stehen, auch in gebückter Haltung. Unter anderem getraut er sich das
Gesicht mit geschlossenen Augen abzuwaschen in gebückter Stellung.
13. XII. auch Treppensteigen mit gerade ausgerichtetem Blick ganz gut.
14. XII. Entlassung.
Fall 2. L. M., 53 Jahre. Aufnahme 24. IX. 23. Leidet seit
10 Jahren an Ataxie. In letzter Zeit zunehmende Stärke; bat von der
Tonusbandage gehört und möchte sich eine anpassen lassen. Befund:
Blasser abgemagerter Mann, Lichtstarre, kleine Pupillen. Der Gang ist
hochgradig ataktisch, verhackt sich leicht mit den Fußspitzen. Bei
Prüfung des Romberg’schen Phänomens verliert der Patient nach 2 bis
3 Sekunden vollständig das Gleichgewicht. Wendungen im Gehen können
nur ganz langsam und allmählich ausgeführt werden. Blasen-Mastdarm-
störungen. 27. IX. Probeanpassung der Tonusbandage, sitzt gut. Nur
die Hosenträgergurten müssen in der Länge noch etwas geändert werden.
Sofort nach Verpassen der Bandage kann der Patient bei Prüfung des
Romberg’schen Phänomens beliebig lange sein Gleichgewicht ausbalancieren.
Gang erheblich sicherer und ruhiger. Wendungen können leidlich aus-
geführt werden. 29. IX. Bandage fertig; Patient verläßt die Klinik.
Fall 3. Th. W.,46 Jahre. Aufnahme 27. XI. 23. Vor 15 Jahren
Infektion. 1913 in den Knien Schwäche und Zittern, allmählich Schmerzen
in den Beinen (wie Nadel- und NMesserstiche), dann auch Gürtelgefühl.
1918 pelziges Gefühl in den Beinen. Dann trat Schwanken und Un-
sicherheit im Gehen und Stehen auf. Vor 3—4 Jahren Laufen im
21*
324 WATERMANN
Dunkeln noch möglich, seit 2 Jahren unmöglich. Jetzige Klagen: Es
fehle die Kontrolle über die Beine, dann und wann reißende Schmerzen
in beiden Beinen. Er könne etwa eine Stunde mit einem Stock gehen.
Im Stehen Unsicherheit. Bei geschlossenen Augen würde er umfallen.
Im Dunkeln könne er allein nicht gehen. Fühle er sich beobachtet, so
sei der Gang am schlechtesten; in engen Gassen Gang am besten. Vom
Sitzen zum Stehen müsse er sich immer mit den Händen abstoßen und
sich gleich an der Stuhllehne halten. Beim Umdrehen besonders un-
sicher, nur mit Halten und unter Augenkontrolle möglich. Auch in
den Armen etwas Unsicherheit, ebenfalls pelziges Gefühl in Händen
und Fingern. Beim Gehen und Auftreten habe er das Gefühl als
wenn der Boden elastisch sei und nachgebe. Es trete rasche Ermüdung
auf; nach etwa einer Stunde müßte er ausruhen. Befund: mittel-
kräftiger Mann mit gut entwickelter Muskulatur. Pupillen ziemlich
klein, starr, reagieren nicht auf Lichteinfall und Konvergenz. Zunge
zittert etwas beim Vorrücken. Obere Gliedmaßen: in beiden Armen
besteht mäßige Ataxie; der Finger- Nasenversuch beiderseites gleich
schlecht ausführbar. Im rechten Zeigefinger besteht erhebliche Schwäche
und Schlaffheit, so daß Patient auch im Halten der Feder behindert
ist. Die Schrift aber zeigt wenig ausfahrende Bewegungen. Untere
Gliedmaßen: Rohe Kraft erhalten. Erhebliche Ataxie. Kniehacken-
versuch beiderseits nicht ausführbar. Stellungen werden nicht emp-
funden. Reflexe erloschen. Sensibilität: am linken äußeren Knöchel
kleine handtellergroße Partie, in der das Gefühl für feine Berührung
herabgesetzt ist, sonst ist die Sensibilität erhalten. Stehen: ist nur unter
alle Augenblicke sich wiederholender Kontrolle der Augen möglich:
sonst tritt stärkeres Schwanken nach vorn und hinten und auch nach den
Seiten auf. Romberg: Bei geschlossenen Augen sind die Schwankungen
so stark, daß Patient meistens nach halber Sekunde umfällt und zwar
nach vorn. Es fehlt ihm völlig das Urteil, in welcher Lage bzw. in
welchem Grad der Abweichung von der Schwerkraftlinie sich der Körper
befindet. Kniehackenversuch: dabei trifft die Ferse nach längerem
Schwanken des betreffenden Beines meist den Oberschenkel, ab und zu
auch den Unterschenkel. Wenn man dem Patienten bei geschlossenen
Augen ein Bein passiv in eine Lage bringt, so vermag er diese Position
des Beines nicht zu beurteilen und dementsprechend zu beschreiben.
Gang: beim Versuch ohne Stock zu gehen steht Patient da und sieht
auf seine Füße und die Gegend des Bodens vor seinen Füßen, wagt es
aber nicht zu starten. Mit einem Stock riskiert er es zu gehen, weicht
dabei aber erheblich von der geraden Richtung ab; er fährt unnötig weit
mit dem Beine nach außen und vorn, setzt die Füße, mit der Fußspitze
zuerst, stampfend und tappend auf. Beim Niedersetzen hält er sich am
Stuhl, dreht sich langsam um und läßt sich dann mit einem starken
Ruck auf den Stuhl nieder, ungebremst. Beim Aufstehen aus dem Sitzen
benötigt er die Arme um sich abzustoßen, und muß dann darauf achten,
daß er nicht nach vorn stürzt.
29. XI. 23: Maßnahme der Ataxiebandage. Inzwischen soll Patient
Ruhe haben, da die Anproben und Übungen mit der Bandage seine ganze
Kraft erfordern werden. 31. XI. 23 erste Anprobe 1. XD. 23:
Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage. 325
Bandageablieferung. Mit der Bandage ist der Gang sehr viel besser;
Patient kann ohne Stock gehen, zunächst noch mit etwas eiligen Schritten
und nur kürzere Strecken. Romberg fast negativ. Es tritt auch noch
Schwanken auf, aber Patient fängt sich immer wieder in den Zügen.
Aufsteben freihändig möglich ; ebenso Niedersetzen ohne vorheriges Halten
am Stuhl. Kniebackenversuch wird gut ausgeführt. Auch weiß der
Patient die Lage seiner Beine, die Winkelstellungen der Gelenke anzu-
geben. Es tritt noch leichte Ermüdung ein. Patient hatte nach Ablegen
der Bande noch 3—4 Stunden das Gefühl, als habe er die Bandage
noch an. 2. XII. 23: Heute geht Patient schon im dunkeln Gang mit
einem Stock sicher. 3. XII. 23 Entlassung.
Fall 4. E. H., 43 Jahre alt. Aufnahme 13. V. 23. Vor sieben
Jahren bei einer militärischen Untersuchung Tabes dorsalis entdeckt. Er
wurde damals erst auf seine Gangstörungen aufmerksam, seitdem wurden
sie immer schlimmer. Gehe sehr unsicher und ermüde sehr leicht.
Gewisse Besserung durch die Fraenkel’sche Übungstherapie. Von einem
Arzte aus Budapest hierhergesandt. Befund: Gang sehr steif, ausfahrend
und stampfend, kann im dunklen Gang nicht ohne Hilfe gehen. Im
Stehen bei der Unterhaltung immer wieder gezwungen auf die Füße zu
sehen. Romberg sehr stark, Umkehren sehr schlecht, taumelt dabei.
Pupillen reagieren träge. Patellarreflexe erloschen. Sensibilität: die
Oberflächensensibilität ist überall erhalten, doch von der Hüftbeuge an
beiderseits herabgesetzt. In diesem Bereich ist auch spitz und stumpf
unsicher. Am rechten Bein ist etwa im Bereiche der Patella und des
Vastus medialis die Oberflächensensibilität sehr stark herabgesetzt. Tiefen-
gensibilität: Prüfung mit der v. Baeyer’schen Hautverschiebung. An
beiden Beinen wird Hinauf- und Hinunterschieben gar nicht mehr unter-
schieden. Von der Hüftbeuge bis zum Rippenbogen besteht ebenfalls
starke Unsicherheit. Ein ganz genauer Befund läßt sich nicht erheben,
da der Patient dabei sehr schnell unaufmerksam und ungeduldig wird
und dann ganz verschieden angibt. 14. V. Anpassung der Tonusbandage.
Prüfang des Romberg: steht beliebig lange mit geschlossenen Augen,
schwankt dabei, aber bekommt sich immer wieder in die Gewalt. Gang
deutlich gebessert, viel sicherer, weniger ausfahrend. Kehrtwendungen
weniger schwankend, werden gut ausbalanciert. Geht auf dunklem Korridor
ohne Stock ziemlich sicher, was vorher nicht möglich war. Kann sich
freistehend lange unterhalten. Nach längerem Gehen wird er nicht so
müde wie bisher; wäre gezwungen kleinere Schritte zu machen, viel
größere Sicherheit durch die Bremsung.
Gehübungen auf unebenem Gelände. Patient ist sehr befriedigt. Ermüdet
viel weniger. 16. V. Entlassung. 29. VI. 24 Patient kommt zurück
zur Neuanfertigung einer Bandage. Er macht folgende Angaben über
ihre Wirkung. Das Material hält die Beanspruchung 3—4 Monate aus,
so daB die Bandage während dieser Zeit im großen und ganzen den An-
forderungen genügt. Im nervösen und ermüdeten Zustande ist die
Bandage weniger brauchbar. Der Gang, der früher unter steter Augen-
kontrolle erfolgte, sei leichter geworden. Das Angstgefühl beim Treppauf-
und -abwärtsgehen sei durch die Bandage geschwunden. In der Bandage
würden die Muskeln schwächer; daher dürften die Übungen nicht ver-
326 WATERMANN
säumt werden. In der Frühe und im ausgeruhten Zustande sei das
Gehen ausgezeichnet; die Sensibilität an der Sohle habe ohne und mit
Bandage nachgelassen. Er habe jetzt kein Gefühl des Ackerganges mehr.
Mit Bandage könne er sehr gut eine halbe Stunde gehen ohne zu er-
müden, ohne Bandage nur ganz kurze Zeit. Er trage die Bandage jetzt
ein Jahr. Der Gang im Dunkeln sei zwar nicht ideal, aber viel besser.
Das Schwanken beim Stehen mit geschlossenen Augen sei geringer. Die
Kontrolle der Bandage ergibt, daß die Gummizüge vollkommen nach-
gelassen haben (Folgen von schlechtem Nachkriegsmaterial); darum Er-
satz der Gummizüge und Neuanfertigung von zwei Bandagen.
Fall 5. E. L., 50 Jahre. Aufnahme 30. VII. 24. Seit 10 Jahren
Tabes mit Stichen im Rücken begonnen. Vor 8 Jahren Schwächer-
werden der Beine, der Gang wurde wackelig. Vor 3 Jahren plötzliche
Verschlimmerung, verlor vollkommen das Gefühl in den Beinen, so daß
Fortbewegen unmöglich wurde. In letzter Zeit starke Schwellung am
rechten Knie. Mit den üblichen Kuren behandelt. Befund: mittelkräftige
Frau. Rechte Pupille weiter als linke. Lichtreaktion rechts träge, links
aufgehoben; auf Konvergenz beiderseits positiv. Untere Gliedmaßen:
beiderseits Hypotonie der Muskulatur. Muskulatur am rechten Bein.
atrophisch. Konturen des rechten Knies verwaschen, deutliches Tanzen
der Patella. Rechts erhebliches Genu recurvatum; Überstreckbarkeit um
40° gegenüber links um 10°. Lagegefühl zum Teil erhalten, ausge-
sprochene Ataxie. Reflexe erloschen. Stehen und Gehen unmöglich.
Bei Unterstützung starkes Schleudern der Beine. Erhält Hülsenapparat
mit Tonusbandage. 8. VIII. Gehübungen mit Unterstützung. Geht kurze
Zeit allein. 3. IX. Läuft im Apparat allein und gut. Entlassung.
Fall 6. P. B.. 35 Jahre, Fabrikarbeiter. Aufnahme 15. IV. 25.
Juli 24 bemerkt, daß der linke Fuß schlaffer wurde. Diese Erscheinung
verschwand wieder. Von etwa April bis Dezember 24 heftige Schmerzen
im Kreuz und Unsicherheit in beiden Ober- und Unterschenkeln. In-
fektion angeblich unbekannt. Befund: Hochgradige Ataxie. Kann im
Dunkeln nicht gehen, Reflexe erloschen. 16. IV. 24 Anlegen der Tonus-
bandage. Nach 4 Tagen ergibt sich folgender Befund: könne Wen-
dungen besser machen als früher. Brauche sich beim Treppaufwärts-
steigen nicht mehr am Geländer festzuhalten und seine Füße mit den
Augen zu kontrollieren. Er weib dabei jetzt, ob er mit der Ferse oder
mit der Spitze auf die Stufe auftrete, früher nicht. Beim Hinsetzen
und Aufstehen braucht er sich nicht mehr zu stützen. Könne im
Dunkeln sebr gut gehen, früher auch mit 2 Stöcken nicht möglich. Das
Angstgefühl beim Uberqueren von Wassertümpeln und Unebenheiten sei
geschwunden, könne sich mit offenen Augen waschen, habe wieder festen
Boden unter den Füßen. Das Angstgefühl beim Stehen auf erhöhten
Gegenständen sei geschwunden. Wenn er die Bandage einen Tag ge-
tragen habe, so habe er noch ein bis eineinhalb Tage hinterher dasselbe
Gefühl der Sicherheit, das Gefühl, als habe er die Bandage noch an.
Romberg negativ.
Fall 7. H. P., 40 Jahre alt, Kaufmann. Aufnahme 3. VII. 25.
War lange Zeit als Kaufmann in Kamerun tätig. 1900 Infektion. 1912
Malaria in den Tropen. 1913 Ischiasbeschwerden im rechten Bein.
Unsere Erfolge mit der T’abes-Tonusbandage. 327
Konnte während des Krieges als Kraftwagenführer ungehindert tätig
sein. 1920 Ischias im linken Bein. 1922 Tabes festgestellt. Bade-
kuren in Wildbad und Oeynhausen. 1924 bei einem Falle den linken
Arm ausgekugelt. Der Gang sei in letzter Zeit immer unsicherer ge-
worden. Befund: großer beleibter Mann. Pupillen gleich weit, mittel-
weit, starr. Untere Gliedmaßen, die Konturen des linken Knies sind
verschwommen; Patella tanzt. Kniebeugung etwas eingeschränkt. Im
Stehen hochgradige Genua recurvata. Hochgradige Gangataxie. Reflexe
erloschen. Kniehackenversuche beiderseits positiv. Gefühl für Haut-
verschiebung fehlt im Bereiche beider Beine. Romberg positiv. Gang
im Dunkeln unmöglich. 4. VII. erster Versuch mit der Probe-Tonus-
bandage, die nur notdürftig sitzt. Trotzdem ist festzustellen, daß Patient
mit der Bandage länger das Gleichgewicht zu halten vermag. Patient
gibt schon heute an, beim Gehen eine wesentliche Erleichterung zu
spüren. Es wird Maß genommen für die Bandage. Außerdem die An-
fertigung eines Hülsenapparates für das linke Knie, der die Überstreckung
verhindert. 14. VII. täglich Übungen unter ärztlicher Aufsicht. Will-
kürliche Einstellung der Füße und Unterschenkel in bestimmte Lagen
und richtiges Erraten von passiv vorgenommenen Stellungen. 5. VIO.
25 der Gang mit der Bandage hat sich gebessert, besonders des rechten
Beines. Auch die Ubungen mit der Bandage fallen besser aus, mit
geringerer Ataxie und mehr Gleichmäßigkeit.e.. Die Beinhülse links
mildert die Knieüberstreckung wesentlich und trägt sehr zur Verbesse-
rung des Ganges bei. Patient ist mit den Fortschritten sichtlich zu-
frieden. 26. IX. 25: Schreiben des Patienten, daß die Bandage ihm
außerordentlich gute Dienste leiste. Der Körper habe viel mehr Halt
und beim Gehen habe er größere Sicherheit. Auch Gehen im Dunkeln
mit einem Stock möglich.
Zusammenfassend können wir auf Grund unserer bisherigen
Erfahrungen sagen, daß in allen nicht übermäßig schweren Fällen
von Beinataxien eine Besserung zu erzielen ist, wenn mitunter
auch nur in der Kombination mit Hülsenapparaten und Übungs-
behandlung. Die Vorteile der Tonusbandage sehen wir darin, daß
durch sie die sonst so lange Übungstherapie wesentlich abgekürzt
und erleichtert wird; es wird den Ataktikern ermöglicht, bis zu
einem beträchtlichen Grade wieder die Herrschaft über die Beine
zu gewinnen, weniger schnell zu ermüden, unabhängig von der
Augenkontrolle zu werden, so daß sie sich auch in der Dunkelheit
wieder zurechtfinden können. Dies wird erreicht durch eine Ban-
dage, die den verloren gegangenen Tonus und die mangelnde
Tiefensensibilität ersetzt und den Kraftschluß der Gelenke wieder
herstellt.
Die infolge und auch ohne Bandage auftretende Atrophie der
Muskulatur läßt sich wirksam bekämpfen durch eine systematische
Gymnastik. Nur der oberflächliche Beobachter schätzt die Besse-
328 WATERMANN, Unsere Erfolge mit der Tabes-Tonusbandage.
rung gewisser Verrichtungen, die im alltäglichen Leben scheinbar
nur eine untergeordnete Rolle spielen, gering, derjenige aber, der
nicht mehr imstande ist, manches frühere auszuführen und in vielen
Arbeiten gehemmt ist, ist glücklich, Verlorengegangenes wieder
zu besitzen.
Literatur.
v. Baeyer, Ein neues Symptom bei der Tabes. Münch. med. Wochenschr.
1914, 20, S. 1105. — Ders., Orthopädischer Ausgleich der Hypotonie und Tiefen-
anästhesie bei Tabikern. Münch. med. Wochenschr. 1922, 2, S. 38. — Ders.,
Bewegungslehre und Orthopädie. Verh. d. dtsch. orthop. Ges., 19. Kongreß, 1924.
— Graf, Uber die orthopädische Behandlung ataktischer Gangstürungen bei
Tabes dorsalis. Verh. d. dtsch. orthop. Ges., 19. Kongreß, 1924. — Port, Ebenda.
329
Aus der Medizinischen Universitäts-Klinik Frankfurt a. M.
(Direktor: Prof. G. v. Bergmann).
Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung.
Von
Professor Dr. Gerhardt Katsch und Dr. Grete Stern.
Vor einigen Jahren machte Katsch die überraschende Fest-
stellung, daß die Alkaptonurie des Alkaptonurikers gesetzmäßig
verschwindet, wenn dieser in den Zustand der Acetonämie versetzt
wird. Dieser Fund ließ sich mit der herrschenden Lehre über das
Wesen der alkaptonurischen Stoffwechselstörung nicht ganz einfach
in Einklang bringen. Faßt man, wie üblich, diese Anomalie als
recessiv mendelnden Fermentdefekt auf, so kann man schwerlich
annehmen, ein von Geburt an fehlendes Ferment werde gerade
dann gebildet, wenn der Organismus durch Hunger und Fieber oder
durch Eiweißfettkost in eine veränderte ungünstige Stoffwechsel-
lage versetzt ist. Die Hilfshypothese drängte sich auf, daß die
homozyklischen Aminosäuren (Tyrosin und Phenylalanin) im Zustande
der Ketonämie auf einem anderen Abbauwege zerlegt werden,
nicht auf dem als Normweg angesehenen über die Homogentisin-
säure, der im Falle des Alkaptonurikers durch Fermentdefekt nicht
gangbar ist. Ein Schema für einen solchen zweiten Abbauweg
haben Frommherz und Herrmann'’s entworfen. |
Es lag daher Grund vor, dem Wesen der alkaptonurischen
Stoffwechselstörung erneut nachzugehen. Wenn man vielfach auf
die Ansicht stößt, Alkaptonurie sei eine seltene Störung und des-
halb von geringem Interesse, so möchten wir dem entgegenhalten,
daß gute Kenntnis dieser Stoffwechselanomalie, die durchschaubarer
ist als vielleicht alle anderen, auch für andere Gebiete Bedeutung
gewinnen kann. Der von Katsch am Alkaptonuriker erbrachte
Nachweis, daß mangelnde Kohlehydratzufuhr nicht nur (wie lange
bekannt) die Stickstoftbilanz, sondern qualitativ die intermediären
330 KATscH u. STERN
Vorgänge des Eiweißabbaues beeinflußt — ist nur ein Beispiel
hierfür.
I.
Die mit dem Jahre 1859 einsetzende Alkaptonliteratur kennt
zwei Theorien der Störung: die enterale und die intermediäre.
Nachdem Ogden und ebenso Stange gesehen hatten, daß bei
reichlicher Eiweißzufuhr der Alkaptonuriker viel mehr Homogentisin-
säure ausscheidet, als bei wenig eiweißreicher Kost, gelangten
Wolkow und Baumann mit Rücksicht auf die zyklische Kon-
stitution der Homogentisinsäure zu der Annahme, diese sei ein Ab-
kömmlig aromatischer Eiweißbestandteille.e Füttert man einen
Alkaptonuriker mit Tyrosin, so erscheinen entsprechend höhere
Mengen von Homogentisinsäure im Harn.
Für die Umwandlung von Tyrosin in Homogentisinsäure war
eine Wanderung der Seitenkette notwendig. Diese chemische Um-
wandlung glaubte man damals dem Organismus nicht zutrauen zu
dürfen und so verfielen Wolkow und Baumann auf die Hypothese,
diese eigenartige Umwandlung sei das Werk von Bakterien, die
den Darm des Alkaptonurikers besiedeln.
Diese Theorie wurde jedoch bald widerlegt. Es gelang nie,
Homogentisinsäure in den Fäces nachzuweisen (H. Embden).
Abderhalden, Bloch und Rona spritzten einem Alkaptonuriker
parenteral Homogentisinsäurebildner ein und sahen auch hierauf eine
Mehrausscheidung von Homogentisinsäure im Harn.
Als erste haben Garnier und Voirin die Vermutung aus-
gesprochen, daß der intermediäre Übergang von Tyrosin in Homo-
gentisinsäure eine normale Stufe im Stoffwechsel darstellt. Mittel-
bach tritt 1901 zuerst mit der Ansicht hervor: die Bildung der
Homogentisinsäure aus den aromatischen Komplexen des Eiweißes
sei ein fermentativer Vorgang, der sich beim Normalen wie
beim Alkaptonuriker in gleicher Weise vollzieht. Jedoch sei der
weitere Abbau beim Alkaptonuriker gehemmt.
Seit der Mittelbach’schen Arbeit ist von allen Autoren,
die sich mit der Alkaptonurie beschäftigt haben, nur noch die
intermediäre Theorie verteidigt und durch neue Belege gestützt
worden. Verschiedene synthetisch dargestellte, Phenylalanin oder
Tyrosin enthaltende Dipeptide, die vom Magen- und Pankreassaft
nicht oder fast nicht angegriffen werden, lieferten z. B. bei Fütterung
per os an einen Alkaptonuriker „in engen Grenzen die ihrem Ge-
Zur Theorie der alkaptonurischen Stofiwechselstörung. 331
halte an Tyrosin resp. an Phenylalanin entsprechende Menge
Homogentisinsäure“ (Abderhalden, Bloch und Rona).
Verschiedene Schattierungen zeigen jedoch die Auffassungen
über das Wesen der angenommenen intermediären
Störungen. Gehen wir von den Tatsachen aus, so steht fest,
daß der Alkaptonuriker Homogentisinsäure ausscheidet, wenn er diese
oder geeignete Muttersubstanzen zugeführt bekommt, während der
stoffwechselgesunde Organismus diese Stoffe verbrennt (H. Embden
u. a.) Es liegt also fraglos beim Alkaptonuriker eine ganz spezi-
fische Abbauinsufficienz vor für Homogentisinsäure, bzw. für gewisse
zyklische Aminosäuren in dem Sinne, daß er sie nur bis zur Stufe
der Homogentisinsäure abbauen kann. Vielseitige Versuche zeigten
{Neubauer u. a.), welche natürlichen und künstlichen Aminosäuren
und zyklische Komplexe enthaltenden Dipeptide diese Abbau-
insufficienz betrifft — während andere auch vom Alkaptonuriker
abgebaut werden. Eine gute Übersicht gibt ein Referat von
Pinkussohn 1912. .
Eine grobe Aufbauinsufficienz, die etwa zur Folge hätte, daß
die Gewebe des Alkaptonurikers an zyklischen Aminosären ärmer
wären als normale Gewebe, ist von vornherein wenig wahrscheinlich,
da der Alkaptonuriker — bis auf die ochronotische Altersarthritis
— sich wie ein Gesunder verhält. Außerdem haben Abderhalden
und Falta gezeigt, daß die Bluteiweißkörper des Alkaptonurikers
sowie die Keratine seiner Haare und Nägel genau so viel Tyrosin
und Phenylalanin enthalten wie unter normalen Verhältnissen.
Wenn somit diecharakteristische Abbauinsufficienz
in der letzten Etappe desintermediären Stoffwechsels
liegen und als erwiesen angesehen werden muß, kann es befremdlich
erscheinen, daß vereinzelte Autoren — es sind soweit ich sehe,
Dakin und Knoop — außerdem eine zweite weiter rück-
wärtsim Intemediärstoffwechsel gelegene Störung vermuten. Dakin,
der diese Hypothese sehr ausdrücklich formuliert, also außer der
Abbauinsufficienz der Hemogentisinsäure eine fehlerhafte
Bildung von Homogentinsäure annimmt, bringt keine
zwingenden Gründe dafür bei. Er fand, daß der von ihm beobachtete
Alkaptonuriker manche verhältnismäßig einfachen Abkömmlinge des
Tyrosins und Phenylalanins (Paramethylphenylalanin und Para-
metoxyphenylalanin) so gut wie vollständig verbrannte Knoop
macht geltend, daß der Hund zwar ein beschränktes Oxydations-
vermögen für Homogentisinsäure hat, nie jedoch nach Fütterung
mit Phenylalanin dunkelfarbigen Harn bekommt. Der Hund hat
332 KaTtscH u. STERN
also eine Abbauinsufficienz für Homogentisinsäure, verhält sich aber
doch ganz anders als ein Alkaptonuriker. Die Frage hängt aufs
Engste mit jener anderen zusammen: ob die Homogentisin-
säure alsnormales, obligatorischesZwischenprodukt
beim physiologischablaufenden intermediären Abbau
bestimmter zyklischer Eiweißgruppen (Tyrosin und Phenylalanin)
anzusehen ist. Und deshalb erhält diese Frage sofort eine Be-
deutung, die hinausgreift über den engen Problemkreis der Al-
kaptonurie. In verschiedenen Arbeiten ist diese Frage übrigens mit
wenig Klarheit behandelt, insofern von normalem Zwischenprodukt
gesprochen wird, obwohl sinngemäß hervorgeht, daß „obligatorisches“
Zwischenprodukt gemeint ist. — Ist allerdings die Homogentisin-
säure normales, obligatorisches Zwischenprodukt auf dem Abbau-
wege von Phenylalanin und Tyrosin, so erscheint es sinnlos, außer
der erwiesenen Abbauinsufficienz eine weitere rückwärtigere Stoff-
wechselstörung beim Alkaptonuriker anzunehmen. Eine solche wird
daher folgerichtig geleugnet von allen den Autoren, die in der
Homogentisinsäure ein normales Intermediärprodukt sehen. Es ist
die bei weitem überwiegende Mehrzahl aller neueren Autoren, die
sich mit der Alkaptonurie beschäftigt oder darüber geschrieben
haben; wir nennen nur Mittelbach, Neubauer, H. Embden,
G.Embden, Abderhalden, Falta, Langstein und Meyer,
Umber, Bürger. Ein letzter Beweis für die Richtigkeit dieser
Anschauung ist insofern nicht geliefert, als es bisher nicht gelungen
ist, aus normalem Blut Homogentisinsäure zu gewinnen.
Aber es sprechen doch viele Wahrscheinlichkeitsgründe dafür. daß
tatsächlich dieser so labile, leicht oxydable, farbstoffbildende Körper,
der sicheres Abbauprodukt der aromatischen Aminosäuren im
alkaptonurischen Organismus ist, auch ein normales Zwischenprodukt
darstellt. Wir verweisen auf eine eingehende Erörterung der Frage
durch Neubauer. Suchen wir nach stützenden, experimentellen
Tatsachen, so spricht in gewissem Sinne für die Annahme, Homo-
gentisinsäure sei normales Zwischenprodukt, daß sie in der über-
lebenden Leber demselben Abbau unterliegt wie Tyrosin und Phenyl-
alanin: sie zerfällt, ebenso wie diese, unter Bildung von Aceton.
Doch ist dies kein Beweis (s. w. u.) Als stärkste Stütze wird ein
Versuch von Abderhalden angeführt, der an seinen gesunden
Laboratoriumsdiener große Mengen I-Tyrosin verfütterte (50 g, von
denen 44 g resorbiert wurden). Hierauf wurde aus dem Harn eine
minimale Menge Homogentisinsäure gefunden und durch Schmelz-
punktbestimmung identifiziert. Ein normaler Organismus kann
Zur Theorie der alkaptonurischen Stofiwechselstörung. 333
also aus Tyrosin Homogentisinsäure bilden. Dennoch ist dieser
Versuch — Fütterung einer abnorm großen Menge — nicht unbe-
dingt beweisend dafür, daß Homogentisinsäure ein normales Zwischen-
produkt ist. Vor allem aber nicht dafür, daß sie ein obli-
gatorisches Zwischenprodukt beim Abbau der aromatischen
Aminosäuren ist. Um so weniger als verschiedene andere Tyrosin-
fütterungsversuche nicht zu einer Alkaptonausscheidung führten.
So andere Versuche Abderhalden’s — mit Fütterung bis zu
150 g. So Versuche die Herr Keller auf Veranlassung von
Katsch an Gesunden und Kranken durchführte; er fütterte bis
zu 30 g l-Tyrosin pro Tag (vgl. Keller's Frankfurter Dissertation
1922). Bemerkenswert ist aus den Versuchen von Keller der eine,
den er an einer Kranken mit Morbus Addisonii ausführte. Diese
hatte nach subkutaner Einspritzung von 1 g Homogentisinsäure
(in 2°/,iger Lösung) geringe Mengen von Homogentisinsäure mit
dem Harn ausgeschieden, wurde jedoch nach 15 g Tyrosin per os
nicht alkaptonurisch. Es ist das einer der Fälle, in denen Katsch
von relativer Alkaptonurie spricht.
Unsere Frage berührt sich ferner eng mit jener underen: „ob
dieStoffwechselstörung bei der Alkaptonurie „maxi-
mal“, „total“, „absolut“ ist,.wie viele der besten Kenner an-
nehmen (Wolkow und Baumann, Mittelbach, Falta,
Abderhalden, Bloch und Rona u.a.), d.h., daß der Alkapton-
uriker beim Abbau von Tyrosin und Phenylalanin die größtmög-
lichste Menge Homogentisinsäure bildet. Die Frage ist ja durch-
aus gleichbedeutend mit der: ob der Abbauweg des Tyrosins und
Phenylalanins (zunächst beim Alkaptonuriker, dann aber auch beim
Gesunden) obligatorisch über die Homogentisinsäure geht.
Trotzdem die Tyrosinfütterungsversuche an Alkaptonurikern u. E.
durchaus nicht beweisend im Sinne einer solchen „totalen“ Störung
ausgefallen sind, wird ein Zuwenig an gefundener Alkaptonmenge
gegenüber der berechneten maximal möglichen im allgemeinen von
den Autoren auf unvollständige Resorption des Tyrosins vom Darm
aus zurückgeführt, ohne, daß ein genauer Nachweis darüber ge-
führt wäre. Nur so bleiben die experimentellen Befunde mit der
Annahme einer maximalen Alkaptonurie vereinbar. Wir stellen in
einer Tabelle eine Anzahl der in der Literatur niedergelegten
Fütterungsversuche zusammen, in denen zu einer gleichmäßigen
Standartkost an einem Tage gewisse Tyrosinmengen verabfolgt
wurden.
334 KATSCH u. STERN
Tabelle 1.
|
Verfüttert Berechnete Tatsächlich aus-
Autoren | in 24 Stunden Menge an Homo geschiedene
Tyrosin in g ing Homo in g
Wolkow und Baumann 10 9,28 6.9
Wolkow und Baumann 11,5 10,7 : 94
Wolkow und Baumann 12 11.6 | 9.4
H. Embden | 15 139 | 5
Mittelbach | 8.5 7.89 | 7,38
Langstein u. Meyer 10 9,27 54
Katsch u. Keller | 5 4,64 | 2.82
|
In dem Mittelbach’schen Versuch kommt die ausgeschiedene
Menge Homogentisinsäure, mit 93,5°/, der theoretisch berechneten
am nächsten. Mittelbach führte das darauf zurück, daß er im
Gegensatz zu den älteren Versuchen, das Tyrosin in kleinen, ver-
zettelten, über den Tag verteilten Dosen verfüttert hatte. Dadurch
sei die Resorption vollständiger. Indessen war in den späteren
Versuchen von Langstein und Meyer sowie von Katsch und
Keller die Ausbeute wesentlich geringer, trotzdem die Mittel-
bach’sche Vorschrift der verzettelten Verabreichung befolgt wurde.
Auch Fromherz fand in einigen Tyrosinfütterungsversuchen nur
bis zu 75°/, als Homogentisinsäure im Harn wieder. Einen sicheren
Beweis für die „Totalität“ der Störung kann man u. E. aus
diesen Tyrosinfütterungsversuchen nicht entnehmen. Und ebenso-
wenig, wie wir gleich hinzufügen, aus den vorhandenen Stoffwechsel-
versuchen, die mit natürlichen Nahrungsmitteln am Alkaptonuriker
durchgeführt sind. Übrigens wird zweierlei nicht von allen Autoren
klar auseinander gehalten: die Abbauinsufficienz für einmal vor-
handene (intermediär gebildete oder künstlich eingeführte) Homo-
gentisinsäure scheint beim Alkaptonuriker in der Tat ungefähr total
zu sein. Eine „maximale“ Alkaptonurie, so wie sie geschildert und
als bestehend angenommen wird, setzt indessen ein zweites voraus:
daß entweder im normalen und im alkaptonurischen Stoffwechsel
oder mindestens beim Alkaptonuriker Tyrosin und Phenylalanin
ausschließlich über die Homogentisinsäure abgebaut werden, nicht
etwa teilweise auf einem andenen Wege.
Alle soeben erörterten Fragen hängen daher aufs engste mit
der weiteren zusammen: gibtesimIntermediärstoffwechsel
nur einen oder mehrere Abbauwege für die gleichen
aromatischen Eiweißspaltlinge? einer Frage, die wegen
Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 335
möglicher Analogieschlüsse weittragendes Interesse für die gesamte
Physiologie und Pathologie des Intermediärstoffwechsels beanspruchen
darf. Die allgemeine Vorstellung ist die, daß ein Abbauweg für
Tyrosin und Phenylalanin gegeben ist, etwa entsprechend dem von
Neubauer entworfenen Schema. Dieser Abbauweg wäre für den
Normalen und den Alkaptonuriker gleich bis zur Etappe Homo-
gentisinsäure.e Hier besteht im Falle des Alkaptonurikers eine
Barriere.
Die von den meisten Autoren angenomme Theorie der Ein-
gleisigkeit des Abbaues wird nun durch gewisse neuere Tat-
sache sehr bestreitbar. Es hat Dakin, wie erwähnt, herausgehoben,
daß Substanzen wie Paramethylphenylalanin und Parametoxyphenyl-
alanin, deren Umwandlung in Chinolderivate im Sinne des Neu-
bauer'schen Abbauschemas chemisch höchst unwahrscheinlich ist,
vom Normalen und vom Alkaptonuriker verbrannt werden. Diese
Phenylalaninderivate ergeben trotzdem, durch die überlebende
Hundeleber geschickt, Acetessigsäure und Aceton. Es besteht also
für aromatische Körper, die nicht alkaptonbildend, aber den Alkapton-
bildnern nahe verwandt sind, ein Abbauweg, der nicht über die
Homogentisinsäure führt; dieser Weg ist auch beim Alkaptonuriker
gangbar. Fromherz und Hermanns bestätigten Dakin’s Be-
fund in bezug auf das p-Methylphenylalanin, fanden aber weiterhin,
daß auch das m-Phenylalanin, das nach der Neubauer’schen
Theorie in Methylhomogentisinsäure übergehen müßte, vom Al-
kaptonuriker verbrannt wird. Ebenso verbrennt der Alkaptonuriker
m-Methyltyrosin. Ferner fanden Fromherz und Hermanns in
einem theoretisch sehr wichtigen Versuch, daß nach Verfütterung
von 8 g p-Oxyphenylbrenztraubensäure nur etwa ?!/, der bei quanti-
tativem Übergang möglichen Menge vom Alkaptonuriker in
Homogentisinsäure umgesetzt wurden, während der größere Teil
wahrscheinlich verbrannt wurde und sie mangelhafte Resorption
glauben ausschließen zu können. Fromherz und Hermanns
folgern, daß dem Alkaptonuriker und dem Normalen mehrere, min-
destens 2 Abbauwege für die Verbrennung der aromatischen Amino-
sänren zur Verfügung stehen. Sie stellen sich vor, daß für die
p-Oxyphenylbrenztraubensäure ein Abbauweg über die Hydrochinon-
essigsäure (Homogentisinsäure), ein anderer über die Brenzkatechin-
essigsäure läuft. Nur der erste Weg ist beim Alkaptonuriker ge-
sperrt. Die relative Konstanz des Verhältnisses Hom'N, die in ver-
schiedenen Stoffwechselversuchen gefunden wurde, ist ein Ausdruck
336 KartscH u. STERN
dafür, daß „die verschiedenen Abbauwege in bestimmtem quanti-
tativem Verhältnis zueinander begangen werden.“
Geht man auf diese Vorstellungen ein, so wird ver ständlich,
daß Schwankungen im Verhältnis Hom/N, die am gleichen Alkapton-
uriker vorkommen (vgl. Allard und Groß) auf Bahnungsschwan-
kungen der verschiedenen Abbauwege beruhen könnten. In den
meisten Stoffwechselversuchen sind freilich die Schwankungen des
Quotienten Hom/N ziemlich gering, so daß es etwas durchaus Neues
darstellte, als Katsch zeigte, daß durch Änderung anderer inter-
mediärer Vorgänge der Quotient Hom/N in größtem Ausmaße
schwankt. Bei durch Kohlehydrathunger erzeugter Acetonämie
schied ein kindlicher Alkaptonuriker Fritz G. gar keine Homo-
gentisinsäure aus; der Quotient wurde unendlich groß. Auch im
Beginn einer fieberhaften Angina wurde der Quotient abnorm groß.
Ähnliches bedeutet ein Versuch von Baar und Freud (195),
die kürzlich fanden, daß nach parenteraler Proteinkörperinjektion
die Homogentisinsäureausscheidung des Alkaptonurikers zurückgeht.
In diesem Versuch der Wiener Autoren, die die Arbeiten von
Katsch nicht kennen, ist leider auf Stoffwechselbilanz, Kohle-
hydratzufuhr, Acetonkörperbildung nicht geachtet und auch über
Temperaturschwankungen nichts mitgeteilt.
Versucht man die Stoffwechselversuche von Katsch mit der
eingleisigen Abbautheorie in Einklang zu bringen, so wäre zu
fordern, daß der Alkaptonuriker im Zustand der Acetonämie Homo-
gentisinsäure abbaut, da eine Umgehung dieses obligatorischen
Zwischenproduktes nicht möglich wäre. Prüfstein für diese An-
nahme wäre ein Versuch, in dem der durch Acetonämie nicht-
alkaptonurisch gewordene Alkaptonuriker Homogentisinsäure per
os oder parenteral zugeführt bekäme. Ein solcher Versuch, den
Katsch schon seinerzeit forderte (1920), ist inzwischen nicht
durchführbar gewesen. Wohl aber hat Katsch mit Nemet an
einem stoffwechelgesunden Hungerkünstler einen genauen Versuch
durchgeführt, der nicht uninteressant für diese Frage verlief.
Dieser Hungerkünstler erhielt bei normaler Ernährung in kleinen
Dosen 4 g Homogentisinsäure. Sie wurden von ihm restlos ver-
brannt. Als in der Hungerperiode deutliche Acetonurie eingetreten
war, wurde dieselbe Menge Homogentisinsäure in derselben Weise
verabreicht. Jetzt lieferte der Mann Alkaptonharn. Der Versuch,
der an anderer Stelle ausführlich veröffentlicht werden soll, spricht
mindestens nicht dafür, daß beim Normalen durch Acetonämie ein
gesteigertes Verbrennungsvermögen für Homogentisinsäure herbei-
Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 337
geführt wird. Wir lelınen daher, zur Deutung des Versuches von
Katsch, bis auf weiteres die Annahme ab, daß die Abbauinsuffi-
cienz für einmal gebildete Homogentisinsäure beim Alkaptonuriker
durch die aus Kohlehydratkarenz resultierende Stoffwechselum-
stimmung aufgehoben wird.
Vom Standpunkt der mehrgleisigen Abbautheorie würde man
anzunehmen haben, daß im Kohlehydrathunger beim Abbau der
aromatischen Aminosäuren der Hydrochinonweg vermieden und
statt dessen bevorzugt der Brenzkatechinweg oder irgendein anderer,
bereits vor der Chinolbildung abzweigender, beschritten wird.
Uns erscheint die Mehrgleisigkeit des Abbaues,
dieein wählendes Mehrbelasten bald des einen, bald
des anderen Weges gestattet, eine auf biologische
Verhältnisse, auf die vorauszusetzendeSchmiegsam-
keitderIntermediärvorgänge viel besser passende An-
nahme als die starre Eingleisigkeit des Abbau-
mechanismus, die etwa einem fest eingefahrenen, chemischen
Fabrikbetriebe gleichen würde.
Trotzdem Umber in der eben erschienenen Neuauflage seines
Lehrbuches der Stoffwechselkrankheiten die Alkaptonurie als die
bestgekannte unter den Stoffwechselstörungen bezeichnet, geht aus
dem Vorstehenden hervor, daß noch recht verschiedene Anschauungen
über die Intermediärvorgänge bei der Alkaptonurie möglich sind
und auch tatsächlich vertreten werden. Ebenso verschieden sind
die möglichen Rückschlüsse auf die normalen Intermediärvorgänge.
Wenn wir unsere eigene Auffassung kurz zu formulieren suchen,
so nehmen wir an, daß für die aromatischen Aminosäuren mehrere
Abbauwege vorhanden sind — beim Alkaptonuriker und beim
Normalen. Nur der eine Weg führt über die Homogentisinsäure
— beim Alkaptonuriker und beim Normalen. Konstellationen des
Stoffwechsels und innere Bedürfnisse, die wir im einzelnen nicht
kennen, bestimmen, in welchem Verhältnis die verschiedenen Wege
beschritten werden. Die Homogentisinsäure ist also wahrscheinlich
ein normales Zwischenprodukt. Sie ist indessen kein obligatorisches
Zwischenprodukt dieses Abbaues, da auch andere Wege verfügbar
sind — beim Normalen und beim Alkaptonuriker. Eine fehler-
hafte intermediäre Mehrbildung von Homogentisinsäure, wie sie
Dakin beim Alkaptonuriker annimmt, also die Theorie der
Doppelstörung scheint uns unwahrscheinlich. Die
Stoffwechselstörung bei der Alkaptonurie ist „total“ höchstens in
dem Sinne, daß einmal gebildete Homogentisinsäure nicht weiter
D-utsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 2A
338 KATscH u. STERN
abgebaut werden kann, sie ist aber nicht maximal oder total in
dem Sinne, daß aus Tyrosin und Phenylalanin die höchstmögliche
Menge von Homogentisinsäure gebildet wird.
II.
Kommen wir nunmehr auf die mit voller Sicherheit vorhandene
Unfähigkeit des Alkaptonurikers zurück, die mindestens bei durch-
schnittlicher Stoffwechsellage für ihn besteht, einmal gebildete
Homogentisinsäure weiter zu den normalen Endprodukten zu
oxydieren! Welches ist das Wesen dieser Störung, dieser „ange-
borenen chemischen Mißbildung“ (nach dem Ausdruck von Garrod)?
Wenn es richtig ist, daß Homogentisinsäure ein normales Zwischen-
produkt ist, was setzt ihrem weiteren Abbau beim Alkaptonuriker
eine Schranke ?
Seit Mittelbach wird der fermentative Charakter
dieses Abbaues betont. Mittelbach fußte unter anderem auf
einer Angabe von Gonnermann, der die Dunkelfärbung der
Rübensäfte auf eine Oxydation von Homogentisinsäure durch eine
pflanzliche Tyrosinase zurückführte.. Diese Annahme stellte sich
später- als irrig heraus (Gonnermann).
Einen ähnlichen Befund glaubten Czapek und Bertel erheben
zu können. Sie gaben an, daß das in den Keimlingen von Lupinus
albus reichlich entstehende Tyrosin z. T. in den oberen Wurzel-
teilen zu Homogentisinsäure wird. Diese werde in die Wurzelspitze
geleitet. Extrakte daraus gäben mit einer Tyrosinase Dunkel-
färbung. Doch ist die Identität des extrahierten Körpers mit
Homogentisinsäure unerwiesen (Schulze und Castoro, Fitting).
Immerhin wurde in Pflanzen und bei Tieren ziemlich ver-
breitet eine Gruppe von Fermenten gefunden, die eine Untergruppe
der Oxydasen darstellt und die man als Tyrosinasen bezeichnet.
Sie wirken sehr häufig dort mit, wo aromatische Komplexe in
Pigmente umgewandelt werden (Literatur bei von Fürth, Nen-
berg, Bertrand, Oppenheimer u. a.). Die entstehenden Farb-
stoffe bezeichnet man als Melanine. Da nun aus Homogentisinsäure
das bekannte Alkaptonmelanin oder Ochronosemelanin entsteht, lag
es nahe, für diese Umwandlung eine Tyrosinase verantwortlich zu
machen. Auch fanden Abderhalden und Guggenheim, dab
eine Tyrosinase aus Russula delica die Homogentisinsäure angreift
und in einen braunen Farbstoff verwandelt.
1914 erschien dann eine wichtige Mitteilung von Groß „Über
den Einfluß des Blutserums des Normalen und des Alkaptonurikers
Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 339
auf Homogentisinsäure“. Groß zeigte, daß Homogentisinsäure bei
Brutschranktemperatur aus normalem menschlichem und Tierserum
verschwindet. Anfangs proportional zur Zeitdauer des Versuches,
später langsamer. Er schrieb diesen Abbau der Anwesenheit eines
Fermentes zu. „Es zeigte sich, so schreibt er, daß in verschiedenen
Seris die Widerstandsfähigkeit des Ferments gegen Erwärmung
Schwankungen unterliegt, die keinerlei Konstanz haben und sich
sowohl beim Menschen als auch bei verschiedenen Tieren zeigen.“
Im Gegensatz zu diesem Versuch konnte Groß in analogen Ver-
suchen mit Alkaptonurikerserum die hinzugefügte Homogentisinsäure
nach 24 stündigem Stehen im Brutschrank unverändert quantitativ
nachweisen. Er schloß daraufhin, „daß in dem Alkaptonurikerserum
das homogentisinsäureabbauende Ferment fehlt“.
Nimmt man diese Schlußfolgerung an, so gelangt man zu der
Auffassung, daß ein recessiv mendelnder Fermentdefekt das Wesen
der alkaptonurischen Stoffwechselstörung ausmacht. Dies ist die
heut allgemein geltende Lehre.
Wegen der grundlegenden Bedeutung dieser Versuche von
Groß, haben ‚wir es unternommen, sie auf breiter Basis und unter
Anstellung verschiedenartiger Kontrollen zu wiederholen.
Wir fanden, in voller Übereinstimmung mit Groß, jenen
interessanten Gegensatz im Verhalten des normalen und des Al-
kaptonurikerserums zu einer beigefügten Lösung von Homogentisin-
säure. Andererseits können wirbeweisen, daß die An-
nahme vonGroßirrigist: einFermentim Normalserum
zerstöre die Homogentisinsäure und dieses Ferment
fehle dem Alkaptonuriker.
Versuche,
Wir gingen im engen Anschluß an die Versuchsanordnung von
Groß vor. Es wurde Homogentisinsäure verwendet, die teilweise von
Katsch’s erstem Alkaptonuriker Fritz G. stammte, teils von einer neuen
Alkaptonurikerfamilie, über die Näheres in einer Studie über den Erb-
gang der Alkaptonurie von Katsch und Dilcher mitgeteilt werden
wird. Es wurde nach der Vorschrift von Baumann die chemisch reine
Substanz über das Bleisalz gewonnen. Schmelzpunkt 147°.
10 ccm klares, nicht bämolytisches Serum wurden mit der gleichen
Menge destillierten Wassers versetzt, in welcher vorher eine genau ab-
gewogene Menge Homogentisinsäure gelöst worden war. Diese Lösung
zeigte eine leicht gebliche Färbung, stark saure Reaktion. Die Mischung
wurde gut umgeschüttelt, in einem verschlossenen Kölbchen mehrere
Standen im Brutschrank bei 37,5° stehen gelassen. Dann wurde auf das
Zehnfache mit Aqua dest. verdünnt und nach Zusatz einiger Tropfen
22%
310 Karscn u. STERN
einer konzentrierten Zinksulfatlösung im Wasserbad 15—20 Minuten ge-
kocht. Das ausgefallene Eiweiß wurde abfiltriert, im klaren Filtrat die
Homogentisinsäure nach Baumann quantitativ bestimmt. Wir über-
zeugten uns zunächst, daß das Baumann’sche Verfahren in dieser Weise
für das Serum ebensogut anwendbar ist wie für den Harn. Die dem
Serum zugefügte, gravimetrisch gemessene Menge Homogentisinsäure konnte
durch Tritration nach Baumann recht genau darin nachgewiesen werden.
Tabelle 2.
Einfluß von Serum Stoffwechselgesunder auf Homugentisinsäurt.
o o Wieder. |, Ye
| Im Serum! Versuchs- gefundene! Schwundene
; | jan gelöste | dauer : Menge Hz.
Name, Alter | Diagnose | Menge ibei 37,50 E- enge in ug und
Hgs.inmg: in Std. gs. in 9, der gr-
Ä | | g lösten Menge
| |
1. H., 7, 55 J. Apoplexie | 150 | b | 83 [17 = 780
2. Oc, æ, 56 J. | Apoplexie 10 | 5 82 8=453°,
|l 150 |! 10 4 19= Tr,
3. Schr., 9, 69 J.) Apoplexie > 150 | 2 ! 99 Het,
| | 160 ee 7 EEE
4. D, 9, 56 J. Apoplexie 150 |} 2 82 | 68 = 453°,
| + 150 4 65 B5= 551",
| 150 | 12 4 109-727
- 150 ° 24 36 114=76°,
150 ' 36 3 117=78°,
10.48 3 17=-7°
5G. JTJ | Urämie 10 5 82 68 = 453",
6. St, Q Ä p aß | 3 uNreme,
1. M, 9,70 J. ©- Hypertonus 150 6 82 GR — 4h3°,
rn 150 2; da mei”
8.5,34,26J. Gesund ı 180 6 >: 49 101 = 67.3",
9. F, ?, 18. Akute Glomerulo-: 150 12 82 B8 = 453,
| nephritis | | ' |
10. L, F ; Hypertonus 10. 14 66 84 = 6.1 °,
11. Rọ, x. 36 J. , Leuchtgasversif- | 10 . 19 66 B SDGs.
| tung | | |
12. K, 2,481. Urämie 189 I 5; 4 | Wem,
13. Sti, 2. 58 J. Hypertonus 150 Bo B2 O BBs Bn
14. E, Q. 491. Sae d 50 0O O16 0 124 ee
15. Ba o, DG. Apoplesie #10 0 16 ° 82 0 68 =433",
16. Fi, z. 12.1, Hypertonus 1500 | 4 | 41 109 = 12.1 °,
17. P. 2,22). . Leuehteasvereif- NO 17 | 41 39-2488",
tung < |
Zur Theorie der ulkaptonurischen Stoffwechselstörung. 341
Tabelle 2 berichtet über die Befunde, die uns Sera von stoffwechsel-
gesunden Personen ergaben. Die Sera waren durch Absitzen auf Eis
gewonnen, in der Regel 24 Stunden alt, vollkommen klar und von schwach
alkalischer Reaktion. Beim Zusammengeben von Serum und Homo-
gentisinsäurelösung trat manchmal eine leichte Trübung auf, die nach
wenigen Minuten Umschüttelns wieder verschwand. In seltenen Fällen
bildete sich ein Niederschlag — wahrscheinlich genügte die Homogentisin-
säure zur Ausfällung einiger Eiweißkörper — diese Sera wurden nicht
verwendet.
Die Reaktion der Mischung war stets sauer.
Bei Herausnabme aus dem Brutschrank zeigte die Flüssigkeit eine
leichte Trübung, eine ganz geringe Verfärbung ins Graue, jedoch so
gering, daß dies nur durch Nebeneinanderhalten mit einer frisch bereiteten
Lösung festgestellt werden konnte. Die Reaktion der Flüssigkeit war
auch am Ende des Versuchs stark sauer.
Wie die Tabelle 2 zeigt, sind während der einzelnen Versuche
sehr verschiedene Mengen von Homogentisinsäure aus den ver-
schiedenen Seris verschwunden. Die Restmenge der Homogentisin-
säure vermindert sich anfangs proportional der Zeit, später lang-
samer, nach langer Versuchsdauer fast gar nicht mehr.
Wir untersuchten ferner Sera von einigen Kranken, bei denen
die Möglichkeit intermediärer Störungen im Eiweißabbau bestand.
Katsch hatte in früheren Versuchen gefunden, daß manche derartig
kranke Organismen parenteral einverleibte Homogentisinsäure (1 g)
teilweise mit dem Harn wieder ausscheiden, also eine relative Ab-
bauinsufficienz für Homogentisinsäure aufweisen. Bei manchen
derartigen Kranken kommt es nur zur Ausscheidung von Alkapton-
chromogenen (Katsch und Nemett).
Tabelle 3 berichtet über die Sera von diesen ausgesuchten
Kranken. Auch hier zeigen die einzelnen Sera untereinander
erhebliche Schwankungen in bezug auf das Abbauvermögen für
Homogentisinsäure. So betrug der Verlust im Serum einer perni-
ziösen Anämie in 5 Stunden 84 mg, in dem einer anderen in
2] Stunden nur 51 mg.
In diesen Fällen wurde am Tage nach der Blutentnahme 1 g
Homogentisinsäure (in 30 cem Aqua dest. gelöst) subkutan gegeben
und der stündlich gelassene Harn auf Homogentisinsäure und auf
Alkaptonchromogene untersucht. In keinem dieser Fälle konnte
Homogentisinsäure im Harn nachgewiesen werden. Zwei der unter-
suchten Fälle (Fall 2 und 6) zeigten Alkaptonchromogene: die
2—6 Stunden nach der Einspritzung gelassenen Harnportionen
dunkelten bei alkalischer Reaktion langsam im Laufe des Tages
nach und hatten 3—4 Tage später braunschwarze Farbe ange-
342 KarTtscu u. STERN
nommen. Aber auch die Sera dieser beiden Fälle zeigten in ihrem
Einfluß auf die Homogentisinsäure nichts besonders.
Tabelle 3.
Patientenserum von Krankheiten, bei denen Pigmentverschie-
bungen vorkommen, in seinem Verhalten gegenüber
Homogentisinsäure.
| l E
| | | Urin-
> Serum Versuchs-| Wieder- Ver- ‚ befund
: Diay elöste | dauer gefundene; schwundene nach In-
Name, Alter Diagnose | enge | bei 37,5°| Menge | Menge Hgs., jektion
i |Hgs.in mg in Std. Dose in mg vn 1 Hes.
| | uDkutan
i |
1. Lu, o", 62 J.'Lebercirrhose! 150 5 25 =) —
2. Kr., 9,67 J. Gallenblasen- 150 | 4 9 |51=34° Has. neg.
Ca. Kachexie | | | | Alkapton.
| | Chromo-
| | gene stark
ge | | | pos.
3. Bau., 9, da Anämie 150 5 ıı 66 84 = 56 °% Hgs. neg.
68 J. Ed | Alkapton.
| | | Chromo-
| | | | gene —.
4. P., æ, 81 J. Lebercirrhose 150 ' po | 41 :109=727% —
b. E., A, 41d. 'Pern. ae 150 18 91 | 59 = 39,3 o His. neg.
F. J.: 1,25 | ' Alkapton.
| | Chromo-
| | | gene —.
6. B., 9,72 J. Pylorus-Ca. 150 | 21 91 | 9 = 39,8 °: h u Hgs. neg.
Schwere | | Alkapton
Kuchexie | | Chromo-
| ‚gene stark
| : | | +.
1. Ba, 26 J. Addisensche| 80 | 21 |; 49 ,31=388°), Hgs. neg.
Krankheit | ; Alkapten.
| | : Chromo-
| Ä | | gene —.
8. Gr... 59 J. Pern. Anämie 150 21 | 99 ° ı51—=34°, Hgs. neg.
AEE e | ‚ Alkapton.
| ' Chromo-
| | | gene —.
Eine ganze Reihe von Versuchen ergab nun, daß der „Abbau“,
den Homogentisinsäure im Serum erfährt, nicht durch die Anwesen-
heit eines Fermentes ermöglicht wird. Wir erwähnen nur kurz
unsere Versuchsreihen. Ausführliche Tabellen darüber sind in der
Frankfurter Dissertation von Grete Stern (1925) niedergelegt.
Sera die 1 Monat und länger auf Eis gestanden hatten oder 8 Tage
Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 343
in Brutschrank bei 37,5° standen, verhielten sich gegenüber einer
Homogentisinsäurelösung genau wie in frischem Zustande Es
steht das im Gegensatz dazu, daß Groß erwähnt, in einem Falle
habe nach 24 stündigem Stehen im Brutschrank die „fermentative
kraft“ des Serums erheblich nachgelassen. !/, stündiges oder selbst
3 Stunden langes Erwärmen des Serums auf 56—60° änderte den
Ablauf des Abbauversuches nicht. Ebensowenig Bestrahlung mit
der Quarzlampe (2 Stunden lang). Ebensowenig vorheriger Zusatz
von Chloroform oder Chinin. Brutschranktemperatur ist für den
Versuch überflüssig.
Wir unterwarfen das Serum der Ultrafiltration mit Bechhold-
schen Tigeln, deren Membran aus 10 °/, iger Eisessigkollodiumlösung
hergestellt ist. Das wasserklare Ultrafiltrat verhielt sich im Ab-
bauversuch wie frisches Serum. Auch das Filtrat nach Enteiweißung
des Serums zeigte keine Änderung und destilliertes Wasser
verhielt sich genau wie Serum. Das Verschwinden
eines Teiles der Homogentisinsäure kann also nur
auf einer einfachen Oxydation durch den Sauerstoff
der Luft beruhen (s. Tab. 4).
Unter völlig „anaeroben“ Bedingungen ließ sich das Schwinden
der Homogentisinsäure aus der Lösung verhindern. Dazu folgende
Versuchsanordnung:
In ein weites Röhrchen wurden 5 ccm Serum gefüllt. In dieses
Röhrchen wurde eine kleine zugeschmolzene Ampulle gestellt aus dünnstem
Glas, die vorher mit einer abgewogenen Menge von Homogentisinsäure
in wässeriger Lösung beschickt war. In das breite Röhrchen kamen nun
Watte, Pyrogallol und Kalilauge. Fester Verschluß mit Gummistopfen.
Nach 4 Stunden wurde durch kurze Erschütterung die Glasampulle zer-
brochen, so daß nun Homogentisinsäure und Serum sich ohne Anwesen-
heit von Sauerstoff mischten. Nunmehr war auch in mehrstündigem
Brutschrankversuch kein Verschwinden von Homogentisinsäure zu ver-
zeichnen.
Tabelle 4.
Einwirkung von destilliertem Wasser auf Homogentisinsäure.
| Verschwundene
Im Substrat | VersuchstHauer Wieder- Menge Hgs. in
Substrat , gelöste Menge bei 37,5° gefundene Menge; mg und in %,
Hgs. in mg | in Stunden Hgs. in mg der gelösten
Menge
i |
l. Aqua dest. 150 24 | 124 26=1739,
2. Aqua dest. 170 | 23 | 115 55 = 32.4
3. Aqua dest. | 220 24 Ä 143 mare,
4 24 | 230 120 = 34.3 %%
. Aqua dest. 3
344 KatscH u. STERN
Hiernach ergibt sich mit Sicherheit, daß das Verschwinden
eines Teils der Homogentisinsäure in dem Groß’schen Versuch,
d. h. beim Zusammenbringen von Serum und Homogentisinsäurt-
lösung auf einem einfachen Oxydationsprozeß durch den
Sauerstoff der Luft beruht. Es ist kein fermentativer Vor-
gang. Der Versuch besagt also gar nichts über intermediäre Vor-
gänge im Körper, selbstverständlich auch nicht in dem Sinne, daß
nunmehr innerhalb des Organismus fermentative Einwirkungen beim
Abbau der Homogentisinsäure undenkbar oder unwahrscheinlich
geworden wären. Die Versuche besagen nur aufs Neue, daß die
Homogentisinsäure ganz außerordentlich oxydierbar ist. Bereits
der Sauerstoff, den das Blut den Geweben zuführt, dürfte für diese
Oxydation genügen.
Neu ist ferner die Tatsache, daß auch beisaurer Reaktion
die Homogentisinsäure so außerordentlich leicht oxydiert wird.
Hiermit wird zugleich eine Fehlerquelle aufgedeckt, die bisher bei
Stoffwechselversuchen keine Beachtung finden konnte: auch wenn
Alkaptonharn, weil er sauer reagiert, seine Farbe nieht verändert.
so wird dennoch die Homogentisinsäure darin teilweise oxydiert
und dem Titrationsnachweis nach Baumann unzugänglich. Harne
die 24 Stunden offen stehen bis zur Bestimmung, wie das in Stof-
wechselversuchen häufig ist, büßen einen Teil ihres Frischgehaltes
an Homogentisinsäure ein. Das kann durchaus belangvolle Fehler
ergeben und darf wohl zur Erklärung herangezogen werden für
manche schwerverständlichen Schwankungen der Homogentisinsäure-
ausscheidungen, wie sie in den Stoffwechselversuchen der Literatur
vorkommen.
Ill.
Interesse verdient das Oxydationsprodukt, das entsteht.
wenn entsprechend den Versuchen des Abschnitts II
Homogentisinsäure in sauerer Lösung oxydiert wird.
Es handelt sich hier um einen neuen Körper. Bisher kannte man
nur farbige Oxydationsprodukte der Homogentisinsäure, in erster
Linie das braunschwarze Alkaptonmelanin.
Groß schreibt in der mehrfach zitierten Arbeit (1914): „Was
nun die weiteren Eigenschaften des fermentativen Prozesses be-
trifft, so kann es sich nicht um einen oxydativen Prozeß handeln.
da die Flüssigkeit ihre helle Farbe behält und nicht die bei Oxy-
dation der Homogentisinsäure entstehenden schwarzen Produkte
enthält“.
Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 345
Da sich uns, im Gegensatz zu Groß der Prozeß mit Sicher-
heit als einfache Oxydation erwies, werden wir gedrängt ein in
sauerer Lösung entstandenes farbloses Oxydations-
produkt anzunehmen. Groß glaubte, Homogentisinsäure werde
durch das vermeintliche Serumferment bis zu Aceton abgebaut,
was ihm die Lieben’sche Probe wahrscheinlich machte. Das war
für uns unwahrscheinlich geworden. Und es entstand für uns die
Aufgabe zu untersuchen, ob das bei saurer Reaktion entstehende
Oxydationsprodukt (nennen wir es einmal Oxyalkapton) in irgend-
welchen Beziehungen steht zu dem bei alkalischer Reaktion durch
Oxydation entstehenden Melanin.
Wiederholt man den Abbauversuch bei nur schwach alkalischer
Reaktion, so verschwindet ebenfalls Homogentisinsäure. Jedoch zeigt die
Lösung schon bald eine braune Farbe und wird während des Brutschrank-
aufenthaltes vollkommen schwarz.
Verwendeten wir für den Versuch statt der reinen Homogentisinsäure
deren Ester (nach dem Verfahren von Schumm hergestellt), so war die
Mischung von Serum und Homogentisinsäureesterlösung schwach alkalisch
und nahm zunehmend eine braune bis schwarze Farbe an.
Wir stellten nun folgenden Versuch an: ein sauer reagierendes
Gemisch von Serum und reiner Homogentisinsäurelösung wurde für
einige Stunden in den Brutschrank gebracht, bis ein namhafter
Verlust von Homogentisinsäure eingetreten war. Das (Gemisch
blieb dabei vollkommen farblos. Nun wurden 5 ccm davon in ein
weites Röhrchen verbracht. In die Lösung hinein gaben wir eine leicht
zerbrechliche zugeschmolzene Glasampulle, die 3 cem 2°/„iger Kali-
lauge enthielt. Das weite Röhrchen wurde dann mit Watte, Pyro-
gallol und Kalilauge, sowie mit einem Gummistopfen verschlossen.
Nach 4 Stunden durften wir annehmen, daß in dem Röhrchen voll-
kommener Sauerstoffmangel eingetreten sei. Nun wurde die innere
kleine Glasampulle zerschlagen (durch Schütteln). Die Flüssigkeit
wurde jetzt alkalisch, ohne daß Sauerstoff hinzutreten konnte. So-
fort trat eine hellbraune Verfärbung auf, die im Laufe der nächsten
Stunden dunkler und fast schwarz wurde.
Hierzu zwei Kontrollen:
1. In das weite Röhrchen wurde Homogentisinsäurelösung gefüllt,
in die Glasampulle 2 °/ ige Kalilauge. Anaörobe Bedingungen wie oben
beschrieben. Nach 4 Stunden Zerschlagen der Ampulle. Es kamen jetzt
Homogentisinsäure und Kalilauge bei Sauerstoffimangel zusammen. Die
Flüssigkeit blieb dauernd farblos.
2. In das weite Röhrchen wurde Serum und Homogentisinsäurelösung
gefüllt, in die Ampulle 2°, ige Kalilauge. Anaerobe Bedingungen.
Nach 4 Stunden Zerschlagen der Glasampullee Die Flüssigkeit blieb
dauernd farblos.
346 KatscH u. STERN
Es gibt wohl nur zwei Möglichkeiten diesen Versuch zu deuten:
Entweder entsteht bei saurer Reaktion unter dem Einfluß des
Luftsauerstoffs ein Oxyalkapton, das, sobald die Reaktion alkalisch
wird, das bekannte Alkaptonmelanin bildet — und zwar im Gegen-
satz zur Homogentisinsäure, ohne daß hierbei Sauerstoff benötigt
würde.
Oder aber: das bei Alkalizutritt trotz Sauerstoffmangel ent-
stehende Melanin wird aus dem in der Flüssigkeit vorhandenen
unabgebauten Rest von Homogentisinsäure gebildet. Dann müßte
gleichzeitig ein leicht reduzierbarer Körper anwesend (durch die
vorherige Oxydation eines Teils der Homogentisinsäure entstanden)
sein ; dieser Körper würde den zur Bildung von Melanin aus dem
Homogentisinsäurerest nötigen Sauerstoff abgeben.
Welche von den beiden Möglichkeiten gilt, wird sich ent-
scheiden lassen, wenn es gelingt, nach dem Oxydationsversuch das
entstandene Oxydationsprodukt von dem Homogentisinsäurerest zu
trennen. Versuche in dieser Richtung sind im Gang. Wir halten
vorläufig die erste Möglichkeit für wahrscheinlicher.
Wenn man übrigens durch große Erfahrung kennt, wie farb-
lose Alkaptonharne sich verhalten, sobald Alkali zugeführt wird,
so darf man als auffällig bemerken, daß nach der Alkalisierung
wohl in der Mehrzahl der Fälle die Schwarzfärbung zuerst an der
Oberfläche erscheint und langsam, entsprechend dem Eindringen
des Luftsauerstofts von oben nach unten vordringt. In anderen
Fällen färbt sich auffallend schnell der Inhalt des ganzen Reagenz-
glases schwarz. Ist in diesen letzten Fällen neben Homogentisin-
säure bereits das von uns vermutete farblose Oxyalkapton an-
wesend? und ist vielleicht in solchen Harnen die quantitative Be-
stimmung der Homogentisinsäure nach Wolkow und Baumann,
die das Reduktionsvermögen benutzt, ungenau, insofern ein bereits
oxydierter Anteil von Homogentisinsäure der Messung entgeht?
Sicher ist auf Grund unserer Versuche dringend zu empfehlen, die
quantitative Bestimmung der Homogentisinsäure möglichst in frischen
Harnen vorzunehmen. lm alten Harn müssen, auch wenn er noch
farblos geblieben ist (saure Reaktion), erhebliche Bestimmungsfehler
vorkommen.
Als wichtigstes Ergebnis dieser Versuchsreihe buchen wir:
daß bei saurer Reaktion durch den Luftsauerstoff
ein bisher unbekanntes farbloses Oxydationsprodukt
der Homogentisinsäure entsteht.
Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 347
IV.
Nach dem bisher Mitgeteilten ergab sich für uns bereits
zwingend, daß wir die zweite Annahme von Groß: im Alkapto-
nurikerserum fehle ein die Homogentisinsäure oxydierendes Ferment,
ablehnen mußten. Um so interessanter war es, das Verhalten
einer Mischung von Homogentisinsäurelösung und
Alkaptonurikerserum zu studieren.
Wir konnten Serum von zwei Alkaptonurikern der oben schon
erwähnten Familie erhalten. Es handelte sich um ein 10 jähriges
und ein 18jähriges Mädchen.
Das steril entnommene Blut wurde 24 Stunden auf Eis gestellt. In
dem abgehobenen, nicht hämolytischen Serum von schwach alkalischer
Reaktion, erwies sich im einen Fall der Serumeiweißgehalt der nur in
diesem Fall untersucht wurde, als durchaus normal (Gesamteiweiß 8,451,
Fibrinogen 0,237 °/,). Es wurde sofort auf Homogentisinsäure geprüft.
Alle Homogentisinsäureproben fielen negativ aus, auch die von Katsch
und Német beschriebene äußerst empfindliche Alkaptocyanreaktion.
Proben von unverändertem, sowie von stärker alkalisch gemachtem Serum
zeigten beim Stehenlassen an der Luft, selbst nach Wochen keinerlei
Nachdunkeln.
Es stimmt dieser Befund überein mit dem anderer Arbeiten,
in denen nach Homogentisinsäure vergeblich gefahndet wurde
(Fürbringer, Umber und Bürger) Nur Abderhalden
gelang es in einem komplizierten Versuch im Serum eines Alkapto-
nurikers Homogentisinsäure nachzuweisen.
Wir kommen nun zu den Oxydationsversuchen.
Da nur kleine Mengen Serum zur Verfügung standen, wurde im
einen Fall mit 2 Portionen von 5 ccm und 2,5 ccm die Untersuchung
vorgenommen (also der Hälfte bzw. !/, der in den anderen Versuchen
verwendeten Menge). Im zweiten Falle arbeiteten wir mit 3 Portionen
von 10 ccm, 5 cem, und 5 ccm Serum. Den kleineren Mengen Serum
entsprechend, wurden kleinere Mengen destillierten Wassers gewählt, in
die — um einer vollständigen Lösung sicher zu sein — eine kleinere
Menge Homogentisinsäure hineingegeben wurde (80 mg in 5 ccm Aqua
dest., 41 mg in 2,5 ccm).
Weder nach dem Zusammengießen, noch nach dem Brutschrank-
aufenthalt zeigte die Flüssigkeit in ihrem Aussehen und in ihrer Reaktion
irgendwelche Unterschiede gegenüber den untersuchten Normalsera.
Im übrigen wurden die Versuche genau wie die im ersten Abschnitt
geschilderten durchgeführt.
Es ergab sich in 6 Versuchen, daß keine Homogentisin-
säure oxydiert wurde. Selbst im 48stündigen Versuch blieb
die Menge der Homogentisinsäure in dem Gemisch unverändert.
3418 KatscH u. STERN
Wir bestätigen hiermit also den einen sehr wichtigen Befund
von Groß. Allerdings zwingt uns die Gesamtheit unserer Ver-
suche zu vollkommen anderer Deutung. Dem Alkaptonuriker-
serum wohnt eine oxydationshemmende Kraft inne.
Und es entsteht die sehr interessante Frage, welcher Art der
Hemmungskörper ist, der diese Eigentümlichkeit des Alkapto-
nurikerserums und vielleicht die ganze Stotfwechselstörung bewirkt.
Ist dies ein anderweitiges Stoffwechselprodukt, das im Blute des
Alkaptonurikers kreist, so daß der Nichtabbau der Homogentisin-
säure uns als Zweitstörung in Abhängigkeit von einer anderen, noch
unbekannten Anomalie erscheinen müßte? Oder handelt es sich
um eine Art Hemmungshormon intermediärer Vorgänge, das auch
physiologisch vorkommen könnte und nur beim Alkaptonuriker in
anormaler Weise überwiegt? Handelt es sich um kleine Anomalien
im Ionengefüge? das alles wissen wir nicht. Und es ergibt sich
aus unseren Versuchen zwar ein neuer Baustein zum Verständnis
dieser seltsamen Stoffwechselstörung, aber andererseits ergeben
sich reichlich neue Probleme und die Erkenntnis, daß über diese
vermeintlich bestgekannte Stoffwechselstörung noch recht viel zu
erforschen ist.
Noch einmal ist es uns kürzlich gelungen, etwas Alkapto-
nurikerserum zu erhalten. Diesmal stammte es von einem 20 jährigen
jungen Mann aus derselben Familie. Es ergab sich, daß der
eigentümliche Hemmungskörper nach Enteiweißung
des Serums im Filtrat anwesend ist. Es handelt sich also
nicht um eine eiweißartige Substanz.
Kommen wir nun noch einmal auf die Tatsache zurück, dab
in der durch Kohlehydrathunger entstehenden Acidose die Alkapto-
nurie verschwindet, so gibt es auf der Basis, die unsere neuen
Versuche schaffen, wohl zwei Erklärungsmöglichkeiten:
entweder wird in der Acidose gar keine Homogentisinsäure
intermediär gebildet (mehrgleisige Abbautheorie entsprechend Ab-
schnitt I dieser Mitteilung);
oder aber der „Hemmungskörper“ des Alkaptonurikers ist in der
Acidose irgendwie anderweitig gebunden oder unwirksam gemacht.
Es ist schon manchem reizvoll erschienen, die Alkaptonurie
mit anderen Stoffwechselstörungen zu vergleichen. Seit man die
Arthritis alkaptonurica kennt, drängt sich besonders ein Vergleich
mit der Gicht auf (vgl. die Arbeiten von Heilner). So liegt es
auch für uns nahe zu vermuten, daß Hemmungskörper intermediärer
Vorgänge ähnlich dem im Alkaptonurikerserum von uns auf-
Zur Theorie der alkaptonurischen Stoffwechselstörung. 349
gefundenen, auch bei anderen Stoffwechselkrankheiten und ebenso
in der Physiologie des Intermediärstoffwechsels von Bedeutung sein
können. Es scheint deshalb durchaus vorschnell, wenn man glaubt
aus einer Beschäftigung mit der so seltenen Alkaptonurie könnten
sch niemals praktisch wichtige Befunde ergeben.
Literatur.
Literatur bis 1912 s. bei: L. Pincussohn, Alkaptonurie. Ergebn. d. inn.
Med, u. Kinderheilk. Bd. 8, S. 455, 1912.
Neuere Literatur: E. Abderhalden, Zeitschr. f. physikal. Chem. 77, 454.
123. — Baar u. Freud, Klin. Wochenschr. Nr. b, 2388, 1925. — Fromherz
u Hermanns, Zeitschr. f. physikal. Chem. Bd. 91, 1914. — O. Groß, Biochew.
Zeitschr. 61, 163, 1914. — E. Heilner, Münch. med. Wochenschr. 28, 997, 1916.
— Ders., Münch. med. Wochenschr. Nr. 29, 933, 1917. — Ders., Münch. med.
Wuchenschr. 36, 983, 1918. — G. Katsch, Münch. med. Wochenschr. 44, 1180,
uis. — Ders., Dtsch. Arch. f. klin. Med. 127, 210, 1918. — Ders., Dtsch. Arch.
f. klin. Med. 134, 59, 1920. — Ders. u. Géza Német, Biochem. Zeitschr. 120,
212. 1921. — Oppenheimer, Die Fermente und ihre Wirkungen, 5. Aufl., 1924.
— Fr. Umber, Lehrb. der Stoffwechselkrankh. 1925. — Ders., Münch. med.
Wichensehr. Nr. 1. N. 6, 1924. — Ders. u. Bürger, Dtsch. med. Wochenschr.
43. 2337. 1913.
350
Aus der Medizinischen Klinik Lindenburg der Universität Köln.
(Direktor: Geheimrat Moritz.)
Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls
beim Normalen und beim Diabetiker.
Von
Privatdozent Dr. Ernst Wiechmann und Dr. M. Dominick.
Nachdem Galambos und Tauss (1), Labbé und Bith (2,
Löffler (3), Cammidge (4) schon früher festgestellt hatten, daß
schwere diabetische Störungen des Zuckerhaushaltes von ver-
mehrter Ausscheidung von Aminosäuren begleitet sind, zeigte kürz-
lich Okada (5), daß die Entfernung des Pankreas bei Hunden im
Blut einen Anstieg der Aminosäuren ebenso wie des Zuckers be-
wirkt. Wiechmann (6) wies nach, daß das Insulin den Gehalt
des Blutes und seiner einzelnen Bestandteile an Aminosäuren-N
ebenso wie die Aminosäuren-N-Ausscheidung im Harn beim Diabe-
tiker deutlich erniedrigt. Der Beweis, daß das Insulin den Amino-
säurengehalt des Blutes herabdrückt, wurde von Wiechmann
noch auf andere Weise zu führen versucht. Es konnte von ihm
gezeigt werden, daß der Aminosäurengehalt des Blutes beim Nor-
malen und beim leichten Diabetiker nach oraler Belastung mit
Glukose abnimmt. Beim schweren Diabetiker dagegen blieb er
ungeändert. Diese Senkung des Aminosäurenspiegels des Blutes
beim Normalen und beim leichten Diabetiker wurde auf die durch die
Glukosezufuhr hervorgerufene vermehrte Insulinproduktion zurück-
geführt. Da das Pankreas des schweren Diabetikers offensichtlich
nicht imstande ist, auf Glukosezufuhr mit gesteigerter Insulinab-
sonderung zu reagieren, bleibt in einem solchen Fall die Senkung
des Aminosäurenspiegels des Blutes nach Glukosezufuhr aus. Bei
der Avitaminose, deren Kohlehydratstoffwechselstörung mit dem
Diabetes eine gewisse Ähnlichkeit haben soll, fanden Bickel
Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls usw. 351
und Collazo (7) ebenfalls unter der Insulinwirkung ein Zurück-
gehen des Aminosäurengehaltes des Blutes.
Wie es beim Diabetes zu der Erhöhung des Aminosäurenge-
haltes des Blutes kommt, und auf welche Weise das Insulin dessen
Senkung bewirkt, ist noch nicht entschieden. Ohne alle Möglich-
keiten erschöpfen zu wollen, sei hier nur auf zwei Möglichkeiten
hingewiesen. Schon Pflüger vertrat die Ansicht, daß die Leber-
zellen Reserveeiweiß aus der Nahrung aufstapeln, genau so wie
sie Reservekohlehydrat in Form von Glykogen ansammeln. Experi-
mentelle Beweise haben sich bis heute weder für noch gegen diese
Anschauung erbringen lassen. Man könnte annehmen, daß dieser
Mechanismus, dieser Aufbau von Aminosäuren zu Polypeptiden in
der Leber beim Diabetiker gestört ist, und daß das Insulin ihn
wieder zur Norm zurückführt. Die zweite Möglichkeit hat bereits
mehr experimentelle Beweise für sich. Es hat sich zeigen lassen,
daß, wenn Aminosäuren an phloridzinvergiftete Tiere, welche
alles, was physiologisch dazu fähig ist, in Glukose umwandeln, ver-
füttert werden, Glykokoll, Alanin, Asparagin- und Glutaminsäure
die Glukoseausscheidung vermehren, während Leucin und Tyrosin
es nicht tun. (Lusk (8)). Aminosäuren können also zur Neu-
bildung von Kohlehydrat dienen. Unter diesen Umständen ist der
Gedanke naheliegend, daß bei der diabetischen Stoffwechselstörung
mehr Eiweiß zerfällt als in Zucker umgewandelt werden kann.
Unter der Insulinwirkung werden normale Verhältnisse wieder her-
gestellt. Mit dieser Anschauung würden sich auch die Beobach-
tungen von v. Falkenhausen (9) in Einklang bringen lassen.
Zur weiteren Aufklärung haben wir untersucht, ob sich
zwischen Gesunden und Diabetikern Differenzen im
Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls nach-
weisen lassen. Wir haben den Weg der intravenösen Injek-
tion gewählt, weil die Resorptionsverhältnisse reiner Aminosäuren
noch gänzlich ungeklärt sind. Es sei nur daran erinnert, daß
v. Falkenhausen (10) bei Leberkranken mit Ikterus nach oraler
Aufnahme von 20 g Rektamin, einem Aminosäurengemisch, im
Gegensatz zu dem Verhalten beim Gesunden keinen irgendwie be-
achtenswerten Ausschlag im Amino-N-Gehalt des Blutes nach-
weisen konnte. v. Falkenhausen nimmt an, daß der Darm die
Aminosäuren bei diesen Erkrankungen nicht oder äußerst verzögert
resorbiert, so daß ein meßbarer Anstieg des Amino-N nicht erfolgt.
Andererseits muß man sich darüber klar sein, daß nach Injektion
der Aminosäuren in die Armvene diese der Leber nur teilweise
352 \WIECHMANN U. DOMINICK
und zum Teil „auf falschem Wege“, etwa ähnlich wie nach An-
legung einer Eckschen Fistel zugeführt werden. In jedem einzelnen
Fall wurden 15 ccm einer 15°/,igen Glykokollösung, also 2,25 g
Glykokoll = 420 mg Amino-N injiziert. Nimmt man eine Gesamt-
blutmenge von 5 Litern beim Menschen an, so wurde der Amino-
säurengehalt des Blutes also mehr als verdoppelt. Die intravenöse
Injektion von Aminosäuren in dieser Menge ist nach unseren Fr-
fahrungen, welche zu den Angaben von v. Falkenhausen und
Boehm (11) im Gegensatz stehen, ein gänzlich irrelevanter Ein-
griff. Bei etwa 35 Injektionen, die zum Teil in kurzen Zeitab-
ständen wiederholt wurden, haben wir kein einziges Mal einen
Schüttelfrost oder einen anaphylaktischen Shock auftreten sehen.
Nie wurde von den Versuchspersonen irgendwelches Übelbefinden
geäußert. Zur quantitativen Bestimmung des Amino-N diente die
von Folin (12) angegebene Originalmethode resp. ihre von
Wolpe (13) ausgearbeitete Modifikation.?) Beide geben identische
Werte. Die Methode ist außerordentlich exakt; keinesfalls fallen
bei ihr Werte von 1,2 mg°/, wie es v. Falkenhausen und
Boehm (11) von der von van Slyke angegebenen Methode be-
haupten, in den Bereich der Fehlergrenze.e Um mit möglichst
wenig Blut auszukommen, erfolgten die Amino-N-Bestimmungen im
Gesamtblut. Wie Folin und Berglund (14) gezeigt haben, sind
die quantitativen Änderungen der Aminosäuren im Plasma nicht
weniger deutlich aus ihrer Bestimmung im Gesamtblut ersichtlich.
Bei jeder Blutentnahme wurden nie mehr als 2 ccm Blut ent-
nommen. Wiederholte Bestimmungen von Hämoglobingehalt und
Erythrocytenzahl, die zugleich mit den Blutentnahmen am Haut-
blut vorgenommen wurden, ergaben, daß eine Verwässerung des
Blutes, die zu falschen Schlußfolgerungen betreftfs der gefundenen
Aminosäurenwerte hätte führen müssen, durch die Glykokollinjek-
tion nicht hervorgerufen wird. Das Glykokoll wurde in n;10 Soda
gelöst und nach Filtration und Sterilisation verwandt. Nach den
Untersuchungen von Siegfried (15) reagiert es bei Gegenwart von
CO, infolge Bildung von Carbaminoessigsäure sauer.
Im einzelnen wurde den seit mindestens 12 Stunden nüchternen
Versuchspersonen — es handelte sich stets um weibliche Individuen —
Blut aus der Vene zur Bestimmung des Nüchternwertes entnommen und
D Das tür diese Bestimmung erforderliche Natriumsalz der Naphtboöchin‘n-
»ultosäure wurde uns liebenswürdigerweise von Herrn Prof. Folin (Boston: zur
Vertüenng gestellt. Auf unsere Veranlassung wird es künftig von der Firm.
E. Merek in Darmstadt hergestellt und in den Handel gebracht werden.
Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokulls usw. 353
alsdann die Glykokollösung in die Vene injiziert. In bestimmten Zeit-
abständen, die aus den Tabellen ersichtlich sind, wurde alsdann wieder
Blut entnommen und sein Amino-N-Gehalt bestimmt. Das Blut wurde
in einem mit Natriumoxalat (Konzentration des Natriumoxalats im Blut
ungefähr 0,25 g °/,) bestäubten Gläschen aufgefangen.
Tabelle 1 soll die Verhältnisse beim Normalen illustrieren.
Die gefundenen Nüchternwerte stimmen mit den von Folin (16),
Wolpe (17), Wiechmann (18), v. Falkenhausen (19) u. a.
angegebenen gut überein. Sie stehen im Gegensatz zu den An-
gaben von Hülse und Strauß (20), die im Gesamtblut normaler
Menschen bis 12,4 mg°/, Amino-N fanden. Nochmals sei darauf
hingewiesen, daß die Amino-N-Werte im Gesamtblut höher liegen
als im Plasma oder Serum, da die Erythrocyten mehr Aminostick-
stoff enthalten als das Plasma. 5 Minuten nach Injektion von
15 ccm der 15 °/,igen Glykokollösung zeigt der Aminosäurengehalt
des Blutes noch eine deutliche Erhöhung. Wenn man aber be-
denkt, daß im ganzen 420 mg Amino-N injiziert wurden, so ist
ohne weiteres klar, daß der größte Teil der injizierten Aminostick-
stoffs bereits innerhalb der ersten 5 Minuten nach der Injektion
aus der Blutbahn verschwunden ist. Das war nach früheren Er-
fahrungen nicht anders zu erwarten. van Slyke und Meyer (21)
injizierten einem Hund 12 g Alanin in die Vene und konnten 5Mi-
nuten nach der Injektion nur noch 10°% davon im Blut nach-
weisen. 25—45 Minuten nach der Injektion ist in unseren Ver-
suchen der Ausgangswert im allgemeinen wieder erreicht. Wo-
fern man den Amino-N-Spiegel des Blutes nur lange genug ver-
tolgt, kommt es schließlich sogar zu einer Erniedrigung unter den
Nüchternwert.
Ein ganz anderes Bild bieten die Resultate gleichsinniger
Untersuchungen bei Diabetikern (vgl. Tabelle 2). Was die Nüch-
ternwerte anlangt, so überschreiten sie entgegen den Angaben von
Wolpe (17) und der von Wiechmann (18) ausgesprochenen Ver-
mutung den von Folin (16) angegebenen Maximalwert von
78 mg’; höchstens in einem Fall von Coma diabeticum. Dieser
Gegensatz zu den oben angeführten Feststellungen von Okada (5)
ist möglicherweise darauf zurückzuführen, daß der Diabetes des
Menschen dem kompletten Pankreasdiabetes des Hundes doch nicht
ohne weiteres entspricht. 5 Minuten nach der Glykokollinjektion
ist die relative Erhöhung des Amino-N-Gehaltes des Blutes keines-
wegs höher als beim Normalen. Der Ausgangswert ist dagegen erst
65 Minuten nach der Injektion und noch später wieder erreicht.
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 23
354 WIECHBMANN U. DOMINICK
Ta-
Das Verhalten intravenös einver-
| | | x Amino-
Vers.- ı Name Klinische Apa | u
Nr. | Datum und Alter Diagnose E = nüch- | En
| tem | menge
-
1 | 27. XI. 24 je. K., 20 J. Tbe. pulm. apicis! 56,2 | 5,8 15 cem 15%
| ı Lösung
2 | 29. XI. 24 |E. H. 18 J. a | 45,5 60 P
3 ! 4. XII 24 |F. R., 17 J., ohne klinischen , 53,4 | 6,1 3
\ Befund |
4 15. I. 25 |R. P., 24 J N 54,0 5,2 | =
5 | 29.125 |J. B. 23 J i | 490 | 58
6 | 5.1.25 |C. P., 16 7 | $ #80 | 66 | ;
7 12. II. 25 |A. T., 15 J., 5 | 50,2 6,3 | 5
8 19. II. 25 M. W. 28 J. s 57,3 | 53 3
9 8. II. 25 |S. J., 20 J. 5 | 53,2 5,1 8
10 3. II. 25 JA. H., 26 J. Tbe. pulm. apran 48,0 6,7 n
11 19. V. 25 |E. C. AJ. ‚ohne klinischen | 54,1 68 | 5
Befund | |
12 | 28. V. 25 IM. S.19J. | u | 46,6 | 6,9 | -
Ta-
Das Verhalten intravenös einver-
= | KR u re
Ä Kli- minc-
: Körper- | aE N
Vers.- Name nische p nüch- | sag | BR
Nr. Datum | and Alter Dia- a tn a eure
| Br | menge | Min. Min.
| Br
la |11. XII. 24 M. T., 54 J. |Diabetesi 86.0 | 6,2 16 com 15%, 83.13
Lösung
lb |16. XII. 24: M. T., 54 J. a 860 | 67 6 179 78
2a 13. XII. 24| K. S, 68 J.) , 60,7 5,8 8375
3a 3. II. 25 |G. D., 22 J. : 51,4 5,9 z 1173
| |
ı/ 015 IM. K, 763) , | 555 | 48 i 10 65
j | i
5 i27. II 25| P. S, 53J à 83.5 57 r 68.5.9
6 |29. II. 25 |H. M., 23 J : 20 | 79 g 93
7 |1. IV.25'R.H.,69J = 5I5 64 ; Ta T2:
|
8 |28. IV. 251E. J 2J] , 956 | 65 r 7,7 68
9 ; 2. V.25 |B. R. 56 J. Diabetes] 725 | 5,7 5 11.68
multiple i p ;
Skler ose | | | | |
Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls usw. 355
belle 1.
leibten Glykokolls beim Normalen.
säuren-N pro 100 ccm Gesamtblut in mg
nach nach nach
in.60 Min.65 Min. i Min.
|
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| |
nach | nach ; nach | nach | nach | nach | a
5 Min. 10 Min. ý Min. ia Min.)35 Min. = Min. Be
|
7,1 6,3 6,3 | 5,7 | 5,7 5,6
11 71 69 1 67 | 64 6,1
8,0 7.4 10 |! 66 6,4 6,1
T6 72 6,1 60 | 51 5,0 | 4,8
64 63 | 59 | 59| 538 | 53 | 58 5,0
85. 77 | 74 | 68 | 64 | 6l | 6l
82: 72 7,3 6.5 6,2 63 ` 59
10 | 61 5,7 5,5 5,3 52 |, 48 4.7
6.7 6,5 59 5,7 5,2 49 | 47 4,7
8.0 81 1,0 65 | 62 5,7 | 5,5 |
94 | 8,3 7,2 7,1 |
91 | | 79 6,5 Ä ! 6.5
belle 2.
leibten Glykokolls beim Diabetiker.
suren- N pro 100 ccm Gesamtblut in mg |
nach nach nach nach nach nach nach an nach nach nach gach nach iadi a `
ó. 35| 40 | 45 | 55 | 65 | 70 | 75 | 80 : 90 95 110120 |130| Merkungen
in „Min. Min.| Min. Min. Min. |Min. Min. ‚Min. .|Min., ‚Min. .|Min. „Min. Min.
7,0! 7,1 7,1 69 6,9 | 6,6 | | | | Mittel-
nehmer Fall
7.0 7,0| 6,9] 6,9 6.8 6.6
7.1] 6,7 6,7 | 6,3 | 6,3! 6.1 58| Mittel-
| l schwerer Fall
1165 6,3; 6,1 | 5,8 5,7 5,9 Schwerer
| | ‚ Jugendlicher
Ä Diabetes
| | |
62 | 5,7 58 54 5,4 5,3 52 ' Mittel-
| ‚schwerer Fall
BTI 5.7 5,7 5,7 15,7. 5,6 ‚Leichter Fall
8,7 84 vr 'SchwererFall.
| , | Im Koma
| , untersucht
‘3171 6,9 68! 6,8 6,7 = Mittel-
| | | sehwerer Fall
6, 63, 6.5: 6.2| 6,1 6.2 6.2 Leichter Fall
G5] 6,5 6,6. 6,3] 63 oe | Mittel-
T | schwerer Fall
|
23%
356 WIECHMANN u. DoMINICK
Eine Ausnahme bilden zwei Fälle von leichtem Diabetes, bei denen
der Amino-N-Spiegel des Blutes schon 25 Minuten nach der In-
jektion wieder zum Nüchternwert zurückgekehrt ist.
Man könnte den Einwand machen, daß die erhaltenen Amino-
N-Werte nicht durch die Glykokollinjektion bedingt sind, sondern
auf die Venenpunktionen zu beziehen sind. Tatsächlich geben
v. Falkenhausen und Boehm (11) an, daß auf eine bloße
Venenpunktion mit Entnahme von 1—3 cem Blut innerhalb von
10 Minuten durchweg eine Änderung des Amino-N-Spiegels des
Blutes im Ausmaß von 1—3 mg), und zwar sowohl nach oben
als auch nach unten, erfolgt. In Übereinstimmung mit den An-
gaben von Rosenbaum (22) können wir diese Angabe nicht be-
stätigen. Am schärfsten wird ein derartiger Einwand aber wohl
durch die Tatsache entkräftet, daß die von uns gewonnenen Amino-
N-Werte sich immer in derselben Richtung bewegen. Es wäre
mehr als eigenartig, wenn Entnahmen von so kleinen Blutmengen
ein derartig gesetzmäßiges Verhalten des Amino-N-Spiegels zur
Folge hätten. |
Es erhebt sich die Frage, wie es beim schweren Dia-
betiker zu dem verzögerten Verschwinden desGlyko-
kolls aus der Blutbahn kommt. Zu ihrer Beantwortung
müssen wir auf die bekannten Versuche von van Slyke und
Meyer (21) zurückgreifen. van Slyke und Meyer analysierten
verschiedene Organe und Gewebe vom Tier vor und einige Zeit '
nach der Injektion von Aminosäurelösungen. Es zeigte sich, daß
die Muskeln bis zu 80 mg°j,, die Leber bis 150 mg’), Amino-
stickstoff aufnehmen können. Die absorbierten Aminosäuren sind
mit den Geweben sehr locker verbunden, denn sie können durch
so schwache Reagentien wie Wasser oder verdünnten Alkohol
extrahiert werden. Um einen bloßen Diffusionsvorgang kann es
sich nicht handeln, da ihre Konzentration in den Geweben höher
ist als im Blut. Unter Berücksichtigung dieser Tatsachen liegt
es daher nahe, anzunehmen, daß die Absorptionsfähigkeit
der Gewebe des Diabetikers für Aminosäuren herab-
gesetzt ist. Die von Wiechmann (23) gemachte Feststellung,
daß die Permeabilität der Kapillaren bzw. Gewebe für Aminostick-
stoff — Permeabilität im weitesten Sinne — beim Normalen und
beim Diabetiker im nüchternen Zustande gleich ist, steht hiermit
nicht im Widerspruch. Denn im Nüchternzustande hat jeder Or-
ganismus das Bestreben, sich in einen gewissen Gleichgewichts-
zustand zu setzen. Eine Entscheidung dieser Fragen wird ver-
Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls usw. 357
mutlich dadurch herbeigeführt werden können, daß bei gesunden
und zuckerkranken Tieren vor und einige Zeit nach Aminosäuren-
injektion der Aminostickstoffgehalt des Blutes und der verschie-
denen Gewebe bestimmt wird, und beide Werte miteinander ver-
glichen werden.
Da andererseits von Wiechmann nachgewiesen ist, daß das
Insulin den Aminosäurengehalt des Blutes beim Diabetiker er-
niedrigt (18), und daß es die Permeabilität der Kapillaren und Ge-
webe für Aminostickstoff beim nüchternen Diabetiker erhöht (23),
war anzunehmen, daß es auch die bei Belastung herabgesetzte
Absorptionsfähigkeit der Gewebe des Diabetikers für Aminostick-
stoff wieder zur Norm zurückführt. Wir haben daher bei zwei
Diabetikern, deren Verhalten hinsichtlich des Amino-N-Spiegels des
Blutes nach intravenöser Glykokollinjektion in früheren Versuchen
festgelegt war, den Nüchtern-Amino-N-Wert des Blutes bestimmt,
100 Einheiten Insulin !) injiziert, eine Stunde darauf das Glykokoll
injiziert und nun wieder in bestimmten Zeitabständen das Ver-
halten des Aminosäurenspiegels verfolgt. Die Ergebnisse sind in
Tabelle 3 wiedergegeben. Nach vorheriger Insulin-
injektion und darauffolgender Glykokollinjektion
erreicht der Amino-N-Gehalt des Blutes beim
Diabetiker noch viel schneller seineu Ausgangswert
als in der Norm. Auch hier wieder folgt, ähnlich wie beim
Gesunden, der Erhöhung des NH,-Wertes eine Erniedrigung des
Nüchternwertes.
Die Erniedrigung des NH,-Spiegels unter den Nüchternwert
nach vorübergehender Erhöhung infolge von intravenöser Glykokoll-
injektion steht mit früheren Erfahrungen durchaus in Einklang
und wurde auch schon von Rosenbaum (22) bei Säuglingen
beobachtet. Offenbar handelt es sich hier um ein allgemeines
Prinzip. Wird irgendein Nahrungsstoff enteral oder parenteral
dem Organismus zugeführt, so sucht dieser das Gleichgewicht, das
durch zu hohe Konzentration des betreffenden Stoffes im Blut ge-
stört ist, wieder herzustellen und schießt dabei bisweilen über das
Ziel hinaus. Spiro (24) spricht von „Gleichgewichtsfermenten“.
Dieser Mechanismus gilt sowohl für das Wasser (Siebeck (25)) als
auch für Salze (Siebeck (26)) und für den Traubenzucker
(Staub (27)). In die gleiche Rubrik gehört auch die von Wiech-
l) Verwandt wurde Insulin „Bayer“.
358 WIECHMANN u. DoMINICK
Ta-
Das Verhalten intravenös einverleibten
| | | | Amino-
r | ; pa Körper-
Verse 7 Name Klinische $ eina EAEE
. Datum . ın: gewicht |. „_ injizierte injizierte
Nr. | | und Alter | Diagnose "in gg | 2At Insulin- | Glykokall- |
| | | | menge | menge |
-
2a 18. X1l.24 K. S., 68 J. Diabetes | 60,7 | 5,8 | — 15 cem 15%,
| l Lösung
2b 27. I. 25| K. S., 68 J. j 607 ! 66 100 Einh. | 2
Ba '3.1.25|6.0.29| , A 59 o — n
3b ‚17.11. 25; G. D., 22 J., 5 | ld ; 62 100 Einh. | à
Ta-
Das Verhalten des Amino-N-Spiegels des Blutes beim
|
i Amino-
P N Körper- —— —- 7
a Datum a gewicht | ich. | injizierte ‚nach, nach nach
RN x Glykokoll- , 5 I 25 | 4
in k
| ten menge |Min.' Min. Min..
|
19V35EC,219 541 | 68 |15 cem 15%] 9,4 [83 | 72
| | ' Lösung | | |
|
| |
| | |
|
12 28. v.25 M. S. 19). 46,6 | 6.9 2 91 79 65
|
| |
mann (28) gemachte Beobachtung, daß nach Glukosezufuhr der
Aminosäurengehalt des Blutes beim Normalen genau so absinkt,
wie es beim Diabetiker nach Insulininjektion der Fall ist.
Wenn das Absinken des Amino-N-Spiegels unter den Nüchtern-
wert tatsächlich einen Vorgang der Überkompensation darstellt, so
scheint es wahrscheinlich, daß bei einer zweiten intra-
venösen Glykokollinjektion der Amino-N-Gehalt des
Blutes nicht so sehr ansteigt wie nach der ersten In-
jektion. Bei zwei gesunden Individuen haben wir in der an-
gegebenen Weise Glykokoll injiziert, den Amino-N-Spiegel des Blutes
verfolgt, nach einer bestimmten Zeit die Injektion wiederholt und
wieder den Amino-N-Gehalt des Blutes verfolgt. Die Ergebnisse
Über das Verhalten intravenös einverleibten Glykokolls usw. 359
belle 3.
ulykokulls beim Diabetiker nach Insulininjektion.
säuren- N pro 100 cem Gesamtblut in mg
i |
T nach | nach i nach nach | nach nach nach nach Di nach nach nach nach
o 15 . 25 | 35 | 45 | 55 65 | 70 | 75 | 108 , 120 oi 135
Min. Min. Min. Min. | Min.: | Min. | Min. Min. | Min. Mn. ‚Min. ‚Min. Min. Min.
T i | |
S3 75 71 6,7 E 6,7 63 | 63 61 | Tas
14,59 56 5.0 |, 50 | | | 51: | 4,3
1 783 [71 165 |68 61 | 5.8 57 | 5,9
ni 99 Da 5.8 | 5 | 52 51
belle 4.
Gesunden nach wiederholter intravenöser Glykokollinjektion.
säuren- N pro 100 cem Gesamtblut in mg
nach nach nach , nach | nach | nach nach | nach
100 0 ' 110 ` 118 |130 133 |150 |165
Min. Min. | Min. | Min. Min. Min. | Min. | Min.
Ka nach | nach?
HU 653 70
Min. Min. Min.
apear |! 80 | | 78 ai |
150a | |
L Glyku- | |
kollösung
| intrav. | |
| 65 1 lem | 72 1 10 68
i | 19:97,
Glyko- i
‚kollösung
| intrav.
}
| [l
sind in Tabelle 4 wiedergegeben. Sie scheinen für die Richtigkeit
der oben ausgesprochenen Vermutung zu sprechen, denn der zweite
Anstieg des Blut-Amino-N ist keineswegs so hoch wie der erste.
Zusammenfassung.
1. Wird Gesunden und schweren Diabetikern intravenös
Glykokoll injiziert und fortlaufend der Amino-N-Gehalt des Blutes
bestimmt, so wird der Ausgangswert beim Normalen viel schneller
wieder erreicht als beim Diabetiker. Dies wird so gedeutet, daß
beim Diabetiker die Absorptionsfähigkeit der Gewebe für Amino-
säuren herabgesetzt ist.
2. Wird den Diabetikern vor der Glykokollinjektion Insulin
360 WiıecHhmann u. Dosminick, Verhalten intravenös einverleibten Glykokalls usw.
injiziert, so wird der Nüchternwert schneller als beim Normalen
wieder erreicht.
3. Beim Gesunden kommt es in zahlreichen Fällen im An-
schluß an die der Glykokollinjektion folgende Erhöhung zu einem
Absinken des Aminostickstoffspiegels unter den Nüchternwert. Das
gleiche gilt für den Diabetiker nach vorheriger Insulininjektion.
4. Folgt beim Gesunden der ersten Glykokollinjektion in kurzer
Zeit eine zweite, so ist der Anstieg des Amino-N-Gehaltes des
Blutes nicht so hoch wie nach der ersten Injektion.
Literatur.
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Berlin 1924. — 25. Siebeck, Physiologie des Wasserhaushalts im Handb. d. nor-
malen u. pathol. Physiol. Bd. 17, Correlationen III. Julius Springer. Berlin 1926.
— 26. Ders., Klin. Wochenschr. Nr. 50, 1922. 27. Staub, Insulin. Julius
Springer, Berlin 1924. — 28. W iechmann, Zeitschr. f. d. ges. exp. Med. 4,
158. 1924.
361
Aus dem Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Barmbeck.
Über akute Lebereirrhosen.
Von
Prof. Dr. F. Reiche.
Über den zeitlichen Verlauf einer atrophischen Lebereirrhose
wird sich bei ihrer ungemein schleichenden Entwicklung nur in
seltenen Fällen ein sicheres Urteil fällen lassen. Ihr Beginn und
das Auftreten manifester Symptome decken sich in der Regel nicht,
im Gegenteil, es ist pathologisch-anatomisch verständlich, daß die
ersten Beschwerden erst bei gröberen Veränderungen sich zeigen.
Dazu kommt die bei Wegfall der ursächlichen Schädlichkeit vor-
handene Möglichkeit weitgehender Stillstände und Remissionen, die
selbst durch Jahrzehnte einer klinischen Heilung gleichkommen
können (Ehret.Y)) Die reichliche Anlage des Leberparenchyms
und seine große Fähigkeit kompensatorischer Gewebsneubildung
wirken da mit. Und wie hier voll ausgeprägt gewesene Cirrhosen
nach der funktionellen Seite hin über lange Zeiträume ganz aus-
geglichen, „stabilisiert“ werden, so erlebt man es bisweilen, daß
vorgeschrittene interstitielle Hepatitiden ein unerwarteter Neben-
befund bei Sektionen an anderen Krankheiten Verstorbener sind
— Hilton Fagge?) hatte es in 43 von 130 Fällen —, ohne daß
die Anamnese oder die klinischen Zeichen sie nahegelegt hätten.
Selbst da nicht in 2 unserer jüngsten Beobachtungen, wo der stark
positive Ausfall der Tetrachlorphenolphthaleinprobe bei einem
49jährigen Nephritiskranken und einer 70Ojährigen Patientin mit
Magenkrebs ganz allgemein auf eine nicht unerhebliche Parenchym-
schädigung der Leber hinwies. Dadurch wird es bedingt, daß in
der einschlägigen Literatur die Dauer des Leidens mit sehr ver-
1! Münch. med. Wochenschr. 8, 1903.
2) Zit. b Weissberger, Wien. klin. Wuchenschr. 42. 1594.
362 REICHE
schiedenen Zahlen angegeben wird: Strümpell?!) läßt die aus-
gesprochenen Erscheinungen „1—3 Jahre, zuweilen aber auch noch
viel länger“, Bamberger?) längstens 3 Jahre und im Durch-
schnitt 11 Monate währen, Hoppe-Seyler?) schätzt die ganze
Krankheit für die Mehrzahl der Fälle nur vermutungsweise auf
„viele (10 und mehr)“, Stadelmann +) auf weniger als 6—8 Jahre;
Bleichroeder®) spricht von der „bekannten Tatsache“, daß auch
Verlaufsbilder von 2—3 Jahrzehnten gesehen werden.
Die sehr viel selteneren Beobachtungen einer akuten Form
der Laännec’schen Cirrhose haben weniger Beachtung gefunden,
vornehmlich wohl deswegen, weil der pathologisch-anatomische Be-
fund in diesen Fällen sich nicht oder nur wenig von den in lang-
samer Progredienz lethal geendeten Formen unterschied; es schien
am ungezwungensten, hier das stürmische klinische Bild nur als
ein letztes Stadium einer latent über lange Zeit ausgebildeten,
ihrem Wesen nach chronischen interstitiellen Lebererkrankung
anzusehen, um so mehr als eine schubweise Entwicklung der
Cirrhose hin und wieder schon klinisch zum Ausdruck kommt und
nach den mikroskopischen Bildern aus der kranken Leber von
vornherein anzunehmen ist. Hoppe-Seyler erklärt direkt, er
glaube es nach der Natur des Prozesses nicht, daß die Cirrhose
akut in wenigen Monaten zu verlaufen vermöge, — gleichzeitige
Stauungshyperhämie oder Fettinfiltration müßten in ihrem Schwinden
den Übergang der vergrößerten in die geschrumpfte Leber vor-
getäuscht haben. Diese an sich einleuchtende Argumentation kann
allein durch sorgfältigst geprüfte gegenteilige Beobachtungen er-
schüttert werden. Nicht alle veröffentlichten Fälle von akuter
Cirrhose halten strenger Kritik stand, insbesondere sind die Be-
obachtungen als unsicher auszuschalten — so auch Rößle’s®) wegen
der ungenügenden klinischen Verfolgung —, in denen intra vitam
neben den schweren Allgemeinerscheinungen sich nicht an der
Leber das sonst übliche langsame und wegen seiner Chronicität
nur selten durch alle Stadien verfolgte, zuweilen — vor allem bei
den kindlichen Cirrhosen — einmal auch mehr subakut sich ab-
rollende Bild der Hepatitis interstitialis gleichsam in gedrängtester
1) Lehrb. d. spez. Pathol. u. Therapie I.
2) Zit. b. Eichhorst. Virchow's Arch. CXLIX. 1897.
3) Die Krankheiten der Leber 1912.
4) Verhandl. d. Kongr. f. inn. Med. 1802.
Ər Virchow's Arch. CLXXVII.
6) Virchuw's Arch. CLAXXXVIII.
Über akute Lebereirrhosen. 363
kürze vollzog: die anfängliche, nicht auf Stauungen zurückführ-
bare Vo)lumsvermehrung, dann die mehr minder rasche Ver-
kleinerung. Daß dabei der klinische Symptomenkomplex der
Laönnec’schen Cirrhose völlig verwischt wurde bzw. werden
mußte und die Bilder einen mehr toxisch-infektiösen Charakter
trugen, kann nicht Wunder nehmen.
Also nicht das plötzliche Einsetzen der Krankheit inmitten
voller Gesundheit und ihr alsdann rascher Gang sind für sich
allein das Charakteristische.e In Weissberger’s!) Beobachtungen
bei 3 Patienten im Alter von 37—53 Jahren umfaßte der Verlauf
6 Wochen, 2!/, und 4!/, Monate vom Auftreten der ersten Symptome
an und doch lag schließlich klinisch nur eine reine Schrumpfleber
mit ihren konsekutiven Stauungserscheinungen vor, die akute, ein-
mal anscheinend durch ein Erysipel ausgelöste, Exacerbation eines
lange vordem latent entwickelten Prozesses. Lenhartz’s?)
Fall, bei dem die Zeitdauer nicht genau angegeben wird, ist eben-
falls eher hierher zu rechnen, wenn auch fraglos bei dem 68 jährigen
Mann ein verhältnismäßig recht rascher Verlauf nicht nur klinisch,
sondern auch hinsichtlich des leberschädigenden Momentes vorlag;
der 68jährige Mann hatte im Gefolge einer schweren seelischen
Erschütterung durch ?/, Jahre vor seinem Erkranken täglich über
1 l reinen Nordhäuser getrunken.
Ganz anders in dem Stricker’schen Fall (36jähriger Patient)
von rapidem Ablauf einer interstitiellen Hepatitis binnen
6 Wochen: Fieber, Icterus catarrhalis, Retinahämorrhagien und
häufige Diarrhöen bestanden, der Höhendurchmesser der Leber
nahm in den 4'/, Wochen bis zum Tode um 13 cm ab, alle Stauungs-
erscheinungen fehlten, eine Beteiligung der Nieren war aus dem
Urin nicht erkennbar, die Milz war klein. Eichhorst’s?) Patient
zählte 47 Jahre: der Verlauf, der kaum 2!/, Wochen umspannte,
glich mit dem anhaltenden hohen Fieber und der stark vergrößerten
weichen Milz einer schweren Infektion, Ascites und Gelbsucht
fehlten, der Harn war eiweißfrei. Die Leber veränderte sich in
der kurzen, nur 13tägigen Krankenhausbeobachtung anscheinend
nicht. In dem großen und leicht höckrigen Organ fand sich eine
sehr bedeutende multi- und monolobulär angeordnete, dort zellen-
arme, hier rundzellenreiche Wucherung des interstitiellen Binde-
1) Wien. klin. Wochenschr. 42, 1894.
2) Verhandl. d. Kongr. f. inn. Med. 1892.
3 Virchows Arch. CXLIX, 1897.
364 REICHE
gewebes mit einer erstaunlichen Vermehrung kleiner Gallengangs-
gefäße.
Mehrere Fälle akuter klinischer Leberecirrhose, die ich
im Laufe einer langen Reihe von Jahren zu sehen Gelegenheit
hatte, veranlassen mich, die in vieler Hinsicht interessante Frage
dieses Krankheitsbildes bzw. dieser Krankheitsbilder zu berühren,
und desto mehr, als der letzte von ihnen in ätiologischer und
physiologisch-chemischer Hinsicht uns wichtige Besonder-
heiten erschloß.
' Ich beginne mit einer Beobachtung, welche nur in ihrer
klinischen Zeitdauer mit den 3 übrigen Fällen echter akuter inter-
stitieller Hepatitiden etwas gemeinsam hat: es unterliegt kauın
einem Zweifel, daß hier, analog wie bei Weissberger’s Kranken,
eine längst vorbereitete, bis dahin quiescente atrophische Cirrhose
durch Hinzutritt eines an sich einfachen Gastroduodenalkatarrhs
oder aber in ihrem schicksalsmäßigen Ablauf mit einem letzten
besonders schweren Schub der Krankheit offenkundig wurde und
nun rasch zum Ende führte.
I. Maria B., 50 Jahre (Krankenhaus Bethanien).
Frühere Krankheiten: Asthma und Arthritis der Kniegelenke. Keine
Lues. Kein übermäßiger Potus. Erkrankte am 17. II. 1914 in bester
Gesundheit mit Ikterus, am 18. von mir gesehen. Keinerlei sonstige
Beschwerden durch mehrere Wochen; der Stuhl war anfänglich weißlich
hell, später dunkel. Urin reich an Gallenfarbstoff, ohne Eiweiß. Haut-
jucken, zunehmende Mattigkeit. Von Mitte März ab wachsender Meteo-
rismus, am 19. III. Benommenheit, die rasch zum Coma sich steigert.
Keine Temperaturerhebung. Gelbsucht unverändert stark, der Meteo-
rismus läßt den anfänglich gut palpablen Rand der leicht den Rippen-
bogen überragenden, während dieser 4 Wochen in seiner Größe nicht
veränderten Leber nicht mehr abtasten, die Milz ist gerade palpabel.
Stuhl dunkel. Am 23. III. Probelaparotomie (Geh. Rat Kümmell!::
eine mäßige Menge Ascitesflüssigkeit entleert sich, die Leberobertläche
ist grobgranuliert cirrhotisch. Kurz danach Exitus.
A utopsie: Lungen kongestioniert. Milz leicht vergrößert. Leber-
cirrhose, die auch mikroskopisch (Dr. Bonhoff) den typischen Befund
zeigt mit diffuser inter- und intraacinöser Bindegewebsentwicklung.
Die augenfälligen Alterationen, die sich bei den anderen
Patienten während des Lebens an der Leber selbst vollzogen.
unterscheiden sie völlig von obigem Bilde; nicht nur das letzte
Stadium einer gelegentlich selbst bis zum Ende latent bleibenden
Erkrankung trat bei ihnen akut in die Erscheinung, sondern ihre
verschiedenen Phasen nahmen unter unserer Beobachtung
einen ungewöhnlich raschen Gang.
Über akute Lebereirrhosen. 365
II. Frau B., 35 Jahre, aufgen. 4. II. 1909 (Krankenhaus Eppendorf).
Der Fall ist von Fette bereits in den Jahrbüchern der Hamburger
Staatskrankenanstalten (X1V. 1909) mitgeteilt. Bemerkenswert ist ein
schwerer seit der Jugend bestehender Alkoholismus. 2 Wochen vor der
Aufnahme mit hohem Fieber und Anschwellung der Leber erkrankt; in
der 6!, wöchigen Krankenhausbeobachtung dauernd remittierende Tempe-
raturen zwischen 37,50 (Achsel) bis 40,1 und 40,2°, einmal 41,2°.
Kein Ikterus, kein Ascites. Mäßige Milzschwellung und eine lange
stationäre, unter unseren Augen noch ein wenig zunehmende beträchtliche
Vergrößerung der derben unempfindlichen Leber, die dann akut sich ver-
kleinert, wobei Erbrechen und neben profusen wässerigen Diarrhoen tage-
lange delirierende Benommenheit in tiefes letales Coma überführt. Bei
reduziertem Hb-Gehalt und Erythrocytenverminderung anfänglich ganz
leichte Hyperleukocytose mit 48,0 °/, Lymphocyten, 50,5 °/, Neutrophilen
0,5 Eosinophilen und 1°/, Mononukleären, später normale Leukocyten-
werte mit einmal 47 ° Lymphocyten und 0,5 °/, eosinophilen Zellen, an
den letzten 3 Tagen steigende Zahlen: 14900, 19100, 21000. Wasser-
mannreaktion bei 2 Gelegenheiten negativ, zweimalige Blutkultur steril,
aus den Entleerungen wurde nur Bact. coli gezüchtet. Im bakteriologisch
sterilen Urin zeitweise geringste Eiweißmengen, vorübergehend ganz ver-
einzelte hyaline Zylinder. Nach Jodkali eine tuberöse Joddermatitis.
Ascites, Ikterus, Meteorismus waren nicht aufgetreten.
Sektion: Milztumor: 17:10:3, Follikel sehr zahlreich, geschwollen,
Trabekel zart. Schwere interstitielle Hepatitis mit extra- und intra-
lobulärer Bindegewebsneubildung und mit reichlicher Einlagerung von
Rundzellen, ohne Zeichen einer Cholangitis (Prof. E. Fraenkel). Kein
für Lues sprechender Organbefund. In den Nieren leichte chronische
interstitielle Veränderungen, auch im Pankreas eine mäßige Neubildung
von interstitiellem Gewebe. Starkes Odem der etwas getrübten weichen
Hirnhäute und geringe Granulierung des Ependyms der Seitenventrikel.
II. Hans K., 32 Jahre, aufgen. 4. III. 1913 (Krankenhaus
Eppendorf.) l
Früher gesund, Keine Lues. Potus in Bier und Schnaps zugestanden.
Vor 3 Wochen in voller Gesundheit mit Gelbsucht erkrankt, später
Schmerzen und Schwellung in den Beinen. Wiederholt nachts Leib-
schmerz und Erbrechen, kein Fiebergefühl. Der Leib schwoll stark an,
der Harn war dunkel, der Stuhl angehalten, die Entleerungen nicht
entfärbt.
Stat. praes. 5. III.: Guter Ernährungszustand. Intensiver Ikterus
der Haut und Schleimhäute. Odem des unteren Rückens, der Unter-
schenkel und Füße. Reflexe normal. Brustorgane normal. Leib auf-
getrieben, Umfang 102 cm. Leber bis 3 querfingerbreit unter Nabelhöhe
in der Papillarlinie fühlbar, mit harter, glatter Oberfläche; unterer Rand
29 cm, oberer 5!/, cm unter der Papille; Milz perkutorisch vergrößert.
Kein deutlicher Ascites. Urin nicht sehr reichlich, enthält Gallenfarb-
stoff, kein Urobilin, kein Urobilinogen, keinen Zucker, aber eine Spur
Albumen; im Zentrifugat zahlreiche zum Teil gelb gefärbte Epithelien,
grauulierte und hyaline Zylinder und Leukocyten. Blutrotgehalt 52" ,,
366 ReıcHk
Erythrocytenzabl 2420000, Leukocyten 29200, darunter (auf 400
ausgezählt) 89%, polynukleäre Neutrophile, 2,75 °/, große und 6,5°,
kleine Lymphocyten, 0,5 °/, mononukleäre Neutrophile und 1,25 °, Eosino-
phile. Wassermannreaktion negativ.
7. III.: Die Stühle sind entfärbt. Wiederholt Nasenbluten. Urin
unverändert. Das aus einer Armvene entnommene Blut erweist sich mit
Agar, Gallenagar und Traubenzuckeragar vermischt und in Bouillon steril.
Temperatur am 5. III. 38,50 erreichend, ist auf 37,8% abgefallen.
Leukocyten seit dem 4. III.: 22300, 29200, 26600, 34200.
10. III.: Abdomen 105 cm; Erguß darin deutlich. Leberdämpfung
kleiner, der untere Rand steht höher. Milz palpabel. Ikterus unver-
ändert. Temperatur am 8. und 9. III. bis 37,7, heute 36,6—37,0°.
13. III.: Große Schwäche. Am Herzen Galopprhythmus und peri-
carditisches Reiben. Stuhl auf Karlsbader Salz, nicht völlig entfärbt,
Weber’sche Probe negativ. Retinae frei. Erythrocyteumenge: 3 460 000.
Leukocyten seit dem 8. III. 41400, 46800, 38600, 46800, 40600,
48200. Weißes Blutbild 8. III.: polynukleäre Neutrophile 94,4°
mononukleäre 1,9 °/,, kleine Lymphocyten 2,2, große Lymphocyten
1,5 9o
14. III.: Sanguinolentes Sputum; im Unterlappen der rechten Lunge
ein umschriebener Herd von Dämpfung und Knisterrasseln. Abdominal-
umfang unverändert (104 cm). Leichter Erguß. Im Urin eine Spur
Albumen; spez. Gewicht 1008—1010. Stuhl gefärbt, blutspurenfrei.
Leber weiter verkleinert. Ikterus stark. Milz deutlich gegen früher
vergrößert.
16. III.: Meteorismus und deutlicher Ascites. Benommenheit und
leichte Unruhe. Lumbalpunktion: Druck 210 cm, Liquor klar, Phase I
negativ, Pandy negativ, Lymphocytenzahl 4:3. Zunehmende Schwäche,
Abends Exitus. Leukocytenzahl vom 14.—16. III.: 56800, 50800,
27800. Temperatur der letzten Tage 36—36,8°.,
Autopsie: Hochgradiger Ikterus. Leichte Ödeme. In der Bauch-
höhle etwa 31 klarer, grünlich-gelber Flüssigkeit. Peritoneum feucht
glatt und glänzend. Pericarditis fibrinosa. Fettige Degeneration des
Herzmuskels. Vereinzelte broncho-pneumonische Herde in den Lungen.
Weicher Milztumor 20,5:10:3 cm. Stauungsnieren. Chronische inter-
stitielle Hepatitis mit Ikterus und Fettinfiltration 31:23:11 cm. Cirr-
hose und Fettnekrose des Pankreas.
Im Herzblut bei der bakteriologischen Untersuchung vereinzelte
Kolonien von hämolytischen Streptokokken.
ln mikroskopischen Bildern aus der Leber sind die einzelnen Acini
nicht mehr abzugrenzen, die Leber ist auf das dichteste mit Bindegewebs-
massen durchsetzt, so daß in einem nach van Gieson gefärbten Schnitt
makroskopisch alles rot aussieht. Die Leberzellen hochgradig verfettet.
Die Teberzellenbalken sind von Bindegewebe stark durchwachsen und in
kleine Zellkomplexe geteilt. Die Bindegewebszüge sind vielfach zellarm.
an anderen Stellen kleinzellig infiltriert. Hier und da neugebildete Gallen-
gänge (Prof. E. Fraenkel).
Über akute Lebereirrhosen. 567
IV. Georg N., 35 Jahre, aufgen. 6. X. 25 (Krankenhaus Barmbeck).
Kräftiggebauter, schlanker Schiffsingenieur, früher im allgemeinen
gesund. Kriegsteilnehmer. War Raucher; sehr geringer AlkoholgenußB.
Mai 1925 Ulcus durum, das er vernachlässigte, bis im Juli eine schmerz-
hafte beiderseitige Hodenanschwellung auftrat; erhielt dann in einer
anderen Stadt zweimal 0,6 Neosalvarsan, kam Ende Juli nach Hamburg,
wo ihm zwischen 1. VIII. und 7. IX. in 7 Einspritzungen 2,25 g — nie
über 0,4 g pro dosi — Neosalvarsan und bis 14. IX. in 9 Injektionen
je 1,0 Novasurol injiziert wurden. Am 10. IX. plötzlich heftiges Er-
brechen und starker Durchfall — nach Genuß von Obst —, am 15. IX.
starke Auftreibung des Leibes und Anschwellung der Beine. |
7. X.: Mäßiger Ernährungszustand.. Temperatur 36,2 — 36,6°.
Kein Ikterus. Keine Drüsenschwellungen. Blutwassermanın ——+-.
Blutdruck 135:90. Füße und Unterschenkel stark geschwollen, an letzteren
ausgedehnte kleinfleckige Hautblutungen. Abdomen aufgetrieben, gespannt,
93cm. Leber vergrößert, Milz nicht palpabel. Im Urin !/, °/,, Albumen
(Esbach), kein Bilirubin, Urobilin oder Urobilinogen, kein Zucker, im
Centrifugat vermehrte Leukocyten. Weiße Blutzellen 9600, darunter
84° Neutrophile; 676800 Thrombocyten. Therapie: Jodkali.
16. X.: Temperatur dauernd 36,2—36,8, einmal auf 37,9° steigend.
Eiweißgehalt des Urins !/,—!/,°/,0, der Eiterzellengehalt schwankt sehr;
Gesamt-N 1526 mg °/,, Rest-N 1465 mg °/,. Tetrachlorphenolphtbalein-
und Galaktoseprobe stark positiv. Bauchpunktion: nur 800 ccm fließen
ab; spez. Gewicht 1010, Albumengehalt 8°,,, Zuckergehalt 0,147 °/,.
20. X.: Im Urinzentrifugut viel Leukocyten, einzelne Erythrocyten,
kulturell Bact. coli, Albumen !/, %/,,, Urobilinogen und Urobilin nicht
vorhanden. Blutdruck 115/75. 1500 ccm Wasser sind in 24 Stunden
noch nicht ganz ausgeschieden, Konzentration bis 1022.
29. X.: Dauernd fieberfrei. Im Urin nur noch Spuren Eiweiß
Bauchpunktion: 5000 cem opaleszierender Flüssigkeit, spez. Gewicht 1007,
Esbach 4°), 0, ges. Fett 0,34 g°),. Die Leber ist an Größe zurück-
gegangen. Milz nicht palpabel.
4. XI.: Im Mageninhalt nach Probefrühstück freie Salzsäure 18,
Gesamtacidität 31, Lab +, Pepsin +, Milchsäure Ø. Temperatur ständig
36—36,7°, Urin seit 5 Tagen eiweißfrei. Odeme der Beine sehr ver-
ringert.
9. XI.: Bauchpunktion 5000 cem, spez. Gewicht 1010, Esbach 4 °/, ,,
Fettgehalt 0,52 g’. Urin: ohne Eiweiß, Zucker, Gallenfarbstoff, Uro-
bilin und Urobilinogen. im Zentrifugat viel Leukocyten.
13. XI.: Ist von 77,2 bis 56,2 kg abgemagert.
23. XI.: Temperatur 35,6—36,8°. Urin wie früher. Stühle dauernd
dunkel gefärbt. Hb-Gehalt 85 °/,, Erythrocyten 4300000, Leukocyten
9800, Polynukleäre 91 °/,, Lympbocyten 3°/,, Mononukleäre 3%, Über-
gangszellen 1°/,, Plasmazellen 2°). Galaktose- und Tetrachlorphenol-
phthaleinprobe stark positiv. Viel Brechreiz. Schwere Kachexie. Zu-
nehmende Benommenheit. Nackenstarre und positiver Kernig. Augen-
hintergrund frei. Die Blutflecken an den Beinen haben sich verloren,
neue sind nicht aufgetreten.
368
25. XI.: Lumbalpunktion:
Nonne- und Pandyprobe +, Zellenzahl 900,3.
negativ.
ReıcHE
Druck
erhöht.
Wassermannreaktion
Urin: kein
Eiweiß, kein Urobilin oder Urobilinogen, kein Zucker.
30. XI.: Temperatur 36,2—36,4, Puls bis 120.
läßt unter sich.
Dauernd Benommenheit und Unruhe.
Urin wie früher,
Kein Ikterus.
4. XII.: Kryoskopie des Blutes: 0,615. Lumbalpunktion: Wasser-
mannreaktion negativ, Nonneprobe positiv, die Kurve der Ausflockung
in Mastixlösung verlief wie bei Lues cerebri.
angehalten, in den letzten Tagen leicht diarrhoisch.
5. XII.: Große Unruhe.
reaktion +, 930:3 Zellen, bakteriologisch steril.
kein Urobilin, kein Eiweiß, kein Zucker; viel Leukocyten im Zentrifugat.
7. XII.: Tagelanges Coma.
Stuhl anfänglich leicht
Lumbalpunktion: 380 mm Druck, Nonne-
Temperatur 36—36,7.
Urin unverändert:
Puls 96 bis
116. Bauchpunktion: 5000 ccm, 1018 spez. Gewicht, kein Bilirubin.
Schwerste Abmagerung. Exitus.
Die Untersuchungen des Blutes und in den letzten Tagen auch des
` Lumbalpunktates, des Peritonealergusses und Urins ergaben folgende
Resultate (Dr. Halberkann):
|
|
|
Blut
TES & AR | Ås-
rn: ;
Urin | cites ' punk-
, tal
| 28. XI. | 26. XI. | 28. XI. |1. XILJ4. XIL7. XII/7. XILT. XIL5. XII
Í
|
R.N. mg’ | 160 | 124 | 102 105 h23 148?) — leo mw
Harnstoff N mg% | 52 (7 42 — ,8 11673); 694,41 55,6 ' 1250
Harnsäure mg% | 9.08 8,3 | 7,68 | 668° 716 908. 89:1112 IM
Kreatinin mg °/o 3,0 1,56 1,98 204! 351| 441! — ` 469 —
Ges.-Kreatinin mgp; 8,4 72 624 | 624. 696 1032! — | 912 —
Blutzucker 0119 | 0104 | 0135 | 0,125 0,092! 0072 — 008 —
Bilirubin-Einheiten 0,5 0,65 0,8 = 0 Spuren — 0 —
1 : 400 000,1 : 308 000 1 : 250 000: | | |
Gallensäuren schw. + | schw. +) 0 | — 0 | — | — | — —
Chloride mg®, NaCl, 524 684 574 68 628 5 | 130 644 776
Calcium mg °% 968 — — sw a a a te e —
HO 0% 93 92 1 0 9% 2 ey S
| | | ;
Autopsie 8. XII. (Dr. Gerlach):
Zusammenfassung: Dilatation des Herzens bei syphilitischer Mesa-
ortitis. Lebercirrhose. Chronische interstitielle Pancreatitis. Schwerer
chronischer pigmentierter Magenkatarrh. Milzhyperplasie (250 g). Ge-
ringer Ascites. Stauung und Odem, der Lunge.
Alter tuberkulöser Herd
der rechten Lunge; Kalkherd im zugehörigen Lymphknoten.
Im Arcus aortae starke narbige Schrumpfungen der Gefäßwand; eine
l) Wert zu niedrig; wegen Mangels an Material mußte die Bestimmung nach
einer anderen Methode — im Natrium-Wolframatfiltrat — gemacht werden, wäh-
rend sonst mit kolloidalem Eisenhydroxyd enteiweißt wird.
2) Zweimal bestimmt!
z
Über akute Lebereirrhosen. 369
etwa haselnußgroße Narbe ist leicht nach außen vorgebuchtet. Im An-
tangsteil der Aorta einige hanfkorn- bis linsengroße gelblich-weiße Flecken
in der Wand.
Mikroskopische Untersuchung. Nieren: Die Glomeruli sind in
entsprechender Zahl vorhanden, die Schlingen blutgefüllt; in manchen
finden sicb geringfügige Hyalinisierungen von Schlingen, doch hat die
Amyloidfärbung ergeben, daß es sich nicht um Amyloid handelt. Stärkere
Veränderungen zeigen die Kanälchen der Rinde. Ihre Epithelien sind
glatt, in den Kanälchen starke Eiweißausscheidungen, neben kernlosen
Epithelien finden sich mehrkernige Riesenepithelien, wie man sie wohl
als Zeichen eines Regenerationsversuches auffassen kann. Irgendwelche
gröbere Narbenbildungen fehlen, ebenso entzündliche Veränderungen;
Neutralfette fehlen vollkommen, im polarisierten Licht nur ganz spärlich
doppelbrechende Fette. Es handelt sich also um eine schleichende
Nephrose nicht sehr beträchtlichen Grades ohne irgendwie nennenswerten
Befund an den Glomeruli. Leber: Fortgeschrittene Cirrhose mit hoch-
gradigem Umbau, groben Narben und noch vorhandener beträchtlicher
interstitieller Entzündung. Geringe Gallengangswucherung. Pankreas:
Zum Teil gut erhalten, mit großen, schön gebauten Inseln, an anderen
Stellen schwere interstitielle Pankreatitis mit Aufteilung der Läppchen
und Neubildung von sklerosierendem Bindegewebe. Hoden: Völlig
fehlende Spermiogenese, fast vollkommene Verschwielung. Starke Pigmen-
tation der Zwischenzellen. Interstitielle Orchitis. In den Schnitten aus
allen 3 Organen keinerlei gummöse und an den Gefäßen keine syphi-
litischen Alterationen. Weiche Häute: Geringe Lymphocytenver-
mehrung, an den Gefäßen keine luischen Veränderungen.
In drei stark voneinander differierenden Bildern präsentiert
sich hier der klinische Ablauf der akuten Cirrhose. Ein-
mal besteht (Fall II) in einem 8'/, Wochen beanspruchenden —
6', in Krankenhausbeobachtung — Krankheitsgange wie in der
Eichhorst’schen Beobachtung Fieber: hohe remittierende, nach
dem wiederholt steril befundenen Blut und dem Sektionsbefund
ausschließlich auf das Leberleiden beziehbare Temperaturen, denen
aber nur anfänglich leicht erhöhte, dann normale und erst sub
finem ansteigende Leukocytenwerte entsprachen unter Erhöhung
der Lymphocytenzahlen (47—48,6°,) und nicht völligem Ver-
schwinden der Eosinophilen; dabei keine Gelbsucht, keiu Meteorismus,
kein Ascites, gegen Ende aber profuse Diarrhoen. Im allgemeinen
verläuft die Lebercirrhose fieberlos, doch sollen nach Ebstein
gelegentlich, aber zumeist nur leichte, Temperaturerhöhungen an-
scheinend besonders in den frühen Stadien des Prozesses vorhanden
sein. Das andere Mal (Fall III) sehen wir bei nicht ganz 5 Wochen
Dauer analog dem Stricker’schen Falle, von dem unserer jedoch
sich durch das Fehlen der Retinahämorrhagien und die noch zu-
nehmende Milzvergrößerung unterscheidet, von Anfang an schwere
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 151. Bd. 24
370 REICHE
Gelbsucht mit nicht dauernd entfärbten Stühlen und nur in
der ersten Hälfte des 12-tägigen Krankenhausaufenthaltes eine
leicht erhobene, dann normale Eigenwärme, — hier aber eine
mächtige, unter unserer Beobachtung ansteigende und 56800 er-
reichende Hyperleukocytose mit Polynucleose, die Eosino-
philen waren auch bei ihm nicht ganz geschwunden; Meteorismus
und leichter Peritonealerguß bestanden. Die klinische Blutent-
nahme war gleichfalls steril gewesen, der Tod erfolgte durch eine
hinzugetretene Bronchopneumonie und Pericarditis fibrinosa; aus
dem Leichenblut wuchsen einzelne Kolonien von hämolytischen
Streptokokken.
Der 3. sehr viel länger — über 12 Wochen — sich hin-
erstreckende Fall (IV) nähert sich im klinischen Aspectus schon
mehr dem der gewöhnlichen chronischen Schrumpfleber: dauernd
niedrige Temperaturen, frühzeitiger Ascites, nur ganz passagäre
unbedeutende Mengen von Bilirubin und Gallensäuren im Blut-
serum; die Gesamtleukocytenzahl war — nach allerdings nur 2
Bestimmungen — wenig vermehrt, die Neutrophilen in hohem Pro-
zentsatz zugegen. Der Erwähnung bedarf, daß im ganzen Verlauf
trotz sehr häufiger Proben Urobilin und Urobilinogen nicht im
Harn festgestellt wurde und daß der Reststickstoff, der Harnstoff,
die Harnsäure und das Kreatinin im Blut eine, namentlich am
letzten Tage, sehr erhebliche, zum Teil exzessive Anlıäufung er-
fuhren. Dasselbe galt für die Ascitesflüssigkeit, während im Spinal-
punktat nur Rest-N und Harnstoff, weit weniger die Harnsäure
sich in großen Mengen nachweisen ließ; im Urin wurde der Harn-
stoff- und Harnsäuregehalt sehr gesteigert gefunden.
Die Leber erfuhr in diesen 3 Fällen, wie schon erwähnt, im
Verlauf des Krankenhausaufenthaltes eine deutliche, im ersten (II)
besonders stark ausgeprägte Verkleinerung. Die Milz war
allemal geschwollen, bei IlI und IV nahm sie bei uns noch an
Umfang zu. Fall IV war mit einer leichten Pyelitis per bacterium
coli kompliziert, sonst traten Anzeichen von Seiten der Nieren
ganz in den Hintergrund. Um so schwerer waren die cere-
bralen Symptome, die in II und IV sich über viele Tage hin-
zogen, wobei in beiden anatomisch, in diesem auch schon klinisch
— mit Pleocytose — Veränderungen an den Hirnhäuten vorlagen;
in dem durch interkurrente Infektion mit beschleunigtem Abschlud
verlaufenen Fall IIl. hatte die Lumbalpunktion auch bereits eine
Druckerhöhung ergeben. Das Pankreas war bei keinem unserer
Kranken normal gewesen, bei dem einen (III) bestand eine inter-
Über akute Lebereirrhosen. 371
stitielle Erkrankung mit Fettnekrose, bei dem anderen (II) eine
mäßige Neubildung von Bindegewebe und bei dem dritten (IV) eine
stellenweise schwere chronische Pankreatitis.
Das Zustandekommen und die Bedeutung der in allem Gegen-
satz zu den Befunden bei der üblichen Ablaufsform der Laënnec-
schen Cirrhose stehenden Feststellungen hinsichtlich des dauernden
Nichtvorhandenseins von Urobilin und Urobilinogen im Urin bei
unserem letzten Fall sei hier nur andeutungsweise berührt. Auf
Gegenwart von Urobilinogen war in diesem Harn nicht mehr zu
rechnen, da eine begleitende Colipyelitis vorlag, die durch Bildung
von Nitriten oxydierend auf jenes, in Urobilin es umwandelnd
wirken mußte; dieses jedoch wäre unbedingt, wie durch den ver-
dienstvollen, weil in Abhandlungen und Lehrbüchern kaum be-
rührten Hinweis Weltmann’s!) angeregte Untersuchungen in vitro
uns lehrten, zu erwarten gewesen. Nach Fischer, Hilde-
brand u. a. haben wir in der Urobilinurie den allgemeinen Aus-
druck alterierter Leberfunktion, hier fehlte sie trotz schwerster
Veränderungen im Lebergewebe bis zuletzt, während die Chole-
gnostyl-L-Probe stark positiv ausfiel. Zweierlei muß daraus er-
erschlossen werden: daß der Prozeß in diesem Falle doch in erster
Linie das interstitielle Gewebe ergriff und daß die Prüfung
mit Tetrachlorphenolphthalein auch schon bei verhält-
nismäßig geringer Schädigung der Funktion des Paren-
chyms zu bejahenden Ergebnissen zu führen scheint. Ebenso be-
merkenswert und im gleichem Sinne verwertbar präsentieren sich
bei diesem Kranken die gewaltigerhöhten Werte für Rest-
stickstoff, Harnstoff, Harnsäure und Kreatinin im
Blut, für Harnstoff und Harnsäure im Urin, welche hier — im
Gegensatz zu anderen degenerativen Lebererkrankungen — die
akut oder subakat verlaufende Entzündung des Leberbindegewebes
ansteigend bis zum Tode begleiteten; dabei war das blutreinigende
Ausscheidungsorgan, die Nieren, klinisch und schließlich auch mi-
kroskopisch nur ganz gering an dem schweren Krankheitsbild be-
teiligt, wie auch Fieber als Begleiterscheinung fehlte. Bei der
chronischen atrophischen Cirrhose vom Laännec’schen Typus be-
steht nach Ascoli?) und er glaubt damit einen Gegensatz zur
Hanot’schen hypertrophischen Cirrhose festgestellt zu haben, eine
Tendenz zu scheinbarer N-Speicherung, zu einem N-Defizit im Harn
1) Med. Klinik 8, 1926.
2; Dtsch. Arch. f. klin. Med. LXXI. 1901.
372 REICHE
und Kot, hier stoßen wir auf einen pathologischen Eiweißzerfall,
wie er nur mit schwersten febrilen und toxisch-infektiösen Er-
krankungen, mit ihnen aber in der Regel in weit geringerem
Maße, einhergeht. Eine solche intensive Schädigung des
inneren Stoffwechsels, die der ganzen Affektion ihren be-
sonderen Stempel gibt, weist ihrerseits auf die Akuität dieser
Lebereirrhosen wie in den anderen Fällen das hohe Fieber (II)
oder die ungewöhnlich starke Hyperleukocytose (III).
Gewiß ist Hoppe-Seyler zuzustimmen, daß der bis zu
schwieliger Bindegewebsneubildung vorgeschrittene interstitielle
hepatitische Prozeß nicht das Produkt der 6- (II) oder 2'/, wöchigen
(III) offenkundigen Krankheit gewesen sein kann, boten beide
ja auch relativ früh im Krankheitsverlauf, als sie zur ärztlichen
Kenntnis kamen, eine bereits erheblich vergrößerte Leber dar, —
alle jene klinischen Daten zwingen aber zu der Annahme, daß in
den letzten 3 Fällen nicht allein ein spätes und dann über nur
wenige Wochen sich hinziehendes Manifestwerden der üblichen
chronischen Schrumpfleber vorlag, ihr letzter und durch seine
Kürze relativ stürmisch erscheinender Schub im Sinne der Weiß-
berger’schen Beobachtungen und unseres Falles Il, sondern ein
tatsächlich durchaus akutes Krankheitsbild mit scharf es
als solches charakterisierenden allgemeinen, in den einzelnen Fällen
variierenden Zügen und mit lokalen in Gestalt von Veränderung
des Lebervolumens, wie sie in der Regel so selten nur sich bei
der gewöhnlichen Lebereirrhose deutlich verfolgbar offenbart,
daß Rosenstein?) unter Berufung auch auf Todd sie noch ganz
bestritt.
Das anatomische Bild gewährt uns gerade bei der atro-
phischen interstitiellen Hepatitis nur unzureichenden Aufschluß
hinsichtlich der zeitlichen Entwicklung der histologischen
Alterationen, sowohl hinsichtlich einer besonders langen wie auch
zur Entscheidung der Frage einer ungewöhnlich kurzen Dauer und
ebensowenig läßt sich gemeinhin aus einer Berücksichtigung der
ätiologischen Faktoren gewinnen, da der in der überwiegenden Mehr-
zahl aller Beobachtungen als disponierend?) erkannte chro-
nische Alkoholismus gerade über lange Zeiträume fortgesetzte,
sich allmählich summierende Schädigungen entfaltet.
Hier nun gibt unser letzter Fall (IV) eine erfreulich prompte
1) Verhandl. d. Kongr. f. inn. Med. 1802.
2) Klopstoek. Virehow's Arch. CXLVIII.
Über akute Lebereirrhosen. 373
Antwort. In den beiden anderen (Il, III) war protrahierter Alko-
holabusus anam nestisch, dort jedoch lag er nicht vor, wohl aber
ist eine anfänglich vernachlässigte, sehr schwere syphilitische
Infektion als wrsächliches Moment anzuschuldigen, — eine sehr
schwere, denn sie führte unbehandelt bereits wenige Monate nach
ihrem Ausbruch zu tertiären Erscheinungen, für den Patienten
selbst erkennbar in einer doppelseitigen Orchitis, p. m. erwiesen
in der bis Zu beginnender Aneurysmabildung vorgerückten Mesa-
ortitis des Aortenbogens. Es ist wohl nicht zu bezweifeln, daß
bei dem 34jJährigen Mann die interstitielle Bindegewebswucherung
mit schwielenartig cirrhotischen Prozessen ebenso wie sie in ganz
gleichartiger Form zweifellos in den Hoden syphilitischer Natur
war, es auch in der Leber und weiterhin in der Bauchspeichel-
drüse gewesen sein muß. Die tertiäre Lues der parenchymatösen
Organe kann sich entweder in der diffusen interstitiellen Form
oder mit Bildung isolierter Gumma, wie es von den Testes bekannt
ist!) so auch in der Leber äußern. Meine Erfahrungen stimmen
mit Ebstein’s2) überein, daß außer sämtlichen angeborenen und
einer großen Zahl der kindlichen Cirrhosen sich mehr Fälle von
Lebereirrhose, als man gewöhnlich annimmt, auf dem Boden
der Syphilis ausbilden, zahlenmäßige Daten hierüber beizu-
bringen, ist schon bei der Häufigkeit des Alkoholismus und ange-
sichts der Tatsache, daß auch noch weitere, zum Teil unbekannte
Noxen (Blei, Gewürze, gastrointestinale Autointoxikation u. a.) zur
Hepatitis interstitialis führen, unmöglich. Wie selten spielt eınem
ein glücklicher Zufall eine so eindeutige Beobachtung wie die
obige in die Hände! Im Juli trat hier die Orchitis nach der bis
da nicht beachteten, im Mai bemerkten Infektion in die Erschei-
nung, Zu gleicher Zeit frühestens, denn für die Hoden ist das Er-
griffenwerden im frühen Sekundärstadium eine zwar seltene, aber
durchaus bekannte, schon nach 2 Monaten beobachtete?) Tatsache,
wird das Leberbindegewebe befallen gewesen sein — d. h. also
längstens 5 Monate vor dem im Dezember erfolgten Tode! 12
Wochen a. m. waren bereits die aseitischen Folgezustände der
Lebereirrhose zugegen, bei der Autopsie eine fortgeschrittene Ent-
zündung Mit groben Narben neben frischen entzündlichen Bildern.
Wir brauchen für diese bindegewebigen progressen Veränderungen
keine längere Entwicklungsdauer zu postulieren, als für die wesens-
1) Meirowg ski-Pinkus. Die Syphilis. Berlin 1525.
2) Handb, A, prakt. Med. ILS. 411.
3) H azen., Syphilis. St. Louis 1921.
374 REICHE
gleiche interstitielle Orchitis mit fast vollkommener Verschwielung
der Hoden; ihre Entstehung aber können wir vom ersten Beginn
bis zu dem mikroskopisch erhärtetem cirrhotischen Endstadium mit
aufgehobener Spermiogenese verfolgen.
Fast der vierte Teil aller luischen Orchitiden ist übrigens
bilateral (Meirowsky-Pincus).
Wichtig erscheint mir der nochmalige Hinweis auf die be-
gleitende sklerosierende Pancreatitis, die auch hier sicher
syphilitischer Natur war und als gleichzeitig mit der Lebercirrhose
entstanden angesehen werden muß. Zu Zuckerausscheidung mit
dem Urin oder Fettstühlen hatte sie nicht geführt, war, wie so
viele andere, latent verlaufen. |
Daß hier an der Leber ein Effekt der Salvarsanbehand-
lung, die in den jetzt üblichen Dosen erfolgte, vorgelegen haben
könnte, ist meines Dafürhaltens schon nach den vorstehenden Dar-
legungen völlig ausgeschlossen. Die hepatotoxische Wirkung
des Salvarsans äußert sich nach allen bekannt gewordenen Be-
richten ’) nicht als interstitiell produktive Erscheinung, sondern
als schwere Störung am sezernierenden Epithel: eine solche
war nicht voraufgegangen, Ikterus hatte das Bild nicht eingeleitet
und auch später nicht begleitet, eine Parenchymschädigung der
Leber war bis zuletzt nur in dem verhältnismäßig so geringem
Grade zugegen, daß es als zu ihrem funktionellen Ausdruck noch
nicht zu einer Urobilinurie gekommen war und vor allem auch
Harnstoff in exzessiven Mengen noch aus dem untergehenden Ei-
weiß gebildet werden konnte.
Letzteres Moment läßt mich des weiteren für Fälle dieser
Art, wobei ich weniger an die seltenen akuten Cirrhosen, als an
die syphilitische diffus interstitielle Entzündung denke, die von
Weigert und Kretz vertretene, von Brugsch?) als durch die
klinischen Erfahrungen vollauf gerechtfertigt erachtete, von
Bleichroeder°) jedoch mit gewichtigsten Argumenten bekämpfte
Anschauung ganz ablehnen, daß bei der Cirrhose die Degeneration
des Parenchyms das Primäre, die Bindegewebsentwicklung der se-
kundäre Vorgang sei. Jedenfalls ergab sich ein pathologisch-ana-
tomisch von der üblichen Laönnec’schen Cirrhose durch nichts
sich unterscheidender Befund in diesem einem Falle mit sicher
primären interstitiellen Vorgängen.
1) Kolle-Zieler, Salvarsantherapie 1924.
2) Krauß-Brugsch VI. 2.
3) Virehow's Arch. CLXXVI.
Über akute Lebereirrhosen. 375
Zum Schluß spricht derselbe auch durch die genaue Verfol-
sung gerade der die Tätigkeit des Leberparenchyms charakteri-
serenden Vorgänge aus gleichen Gründen dagegen, daß hier eine
Form der als Cirrhoses graisseuses bezeichneten akuten bzw. sub-
akuten parenchymatösen und interstitiellen Hepatitiden mit fettiger
Entartung der Zellen vorlag, die nach Ebstein das Gros der als
akute Lebercirrhosen beschriebenen Fälle ausmachen sollen. Nur
unser Fall III würde nach seinem von Anfang an mit Ikterus ein-
hergehenden und besonders raschen Verlauf sowie nach den mikro-
skopischen Schnitten aus dem Lebergewebe diesen Krankheits-
bildern sich nähern, II und IV sind nach Allem reine binde-
gewebige akute Cirrhosen.
376
Besprechungen.
1.
Erich Ebstein, Deutsche Ärzte, Reden aus dem 19. Jahrhundert.
Springer, Berlin 1926.
Das Buch enthält Gelegenheitsreden von Reil, Schoenlein.
Oppolzer, Wunderlich, Griesinger, Rokitansky, du Bois-
Reymond, Helmholtz, H. Hoffmann, Pettenkofer, Virchow,
Naunyn, v. Bergmann, Koch, Waldeyer, Ehrlich, Kocher,
Strümpell. Es ist ein Teil unserer Größten, die zu uns sprechen.
Freund und Feind ruhen friedlich beieinander. Die Gelegenheiten, bei
denen gesprochen wird, sind außerordentlich verschiedene. Auch das,
was gesprochen ist, ist nach allen Richtungen hin ganz verschieden je
nach der Art der Gelegenheit, nach dem Wesen des Gelehrten, nach der
Größe der Persönlichkeit. Für jeden Leser ist das Buch außerordentlich
lehrreich. Wir hören von vielen dieser großen Männer, wie sie zu ihrer
Wissenschaft standen, von einzelnen erfahren wir ihr Verhältnis zu den
letzten Fragen des Lebens — dazu ist in wissenschaftlichen Abhand-
lungen kaum je (Gelegenheit gegeben. Und noch mehr! So manchen
unserer großen Vorgänger und Vorbilder können wir ins Herz sehen.
Ja wir gelangen zu einer Vorstellung, wie sie waren. Eine Reihe vor-
trefflichen Bilder unterstützt das auf das allerbeste. Ich erinnere z. B.
an die Bilder von Schoenlein, Oppolzer, Wunderlich. Von
den beiden großen Leipziger Klinikern Oppolzer und Wunderlich
hörte ich als Kind und als junger Mensch in meiner Vaterstadt noch
viel sprechen und erzählen: über den fabelhaften Einfluß, den die Güte
OÖppolzer’s auf die Menschen ausübte, über die imponierende Gröte
von Wunderlich. Können wir das nicht nachfühlen nach diesen
Bildern und diesen Reden? Wie heben sich die eisige, alles überragende
Höhe von Helmholtz und die herzenswarme Klarheit Pettenkofers
voneinander ab! Ich verdanke dem schönen Buche Ebstein's viel und
rate zahlreichen Arzten und allen Privatdozenten es zu lesen. Wir
werden gehoben, wenn wir diesen Männern nachzufolgen suchen. In
Not und Elend dieser Zeit sind wir stolz auf diese Geschichte und von
Herzen dankbar für sie. ‚Krehl.
Besprechungen. 377
2.
Prof. Dr. Josef Kyrle, Vorlesungen über Histo-Biologie
der menschlichen Haut und ihrer Erkrankungen.
I. Band. Mit 222 zum großen Teil farbigen Abb. [IX +345 S.]
Jul. Springer Berlin, 1925. Pr. 45,— M., geb. 47,70 M.
Das Buch ist aus Vorlesungen entstanden und in der Form nieder-
geschrieben, wie sie sich dem Verf. beim Unterricht als zweckmäßig er-
wiesen hat. Es beschränkt sich nicht allein auf die histologische Morpho-
logie, sondern zieht stets auch allgemeinpathologische Fragen in Betracht
in dem Bestreben, hierdurch die trockene Materie der Histo-Pathologie
der Haut belebter und damit zugleich auf den Schüler tiefer wirkend zu
machen. Jede Vorlesung setzt sich demnach aus zwei Teilen zusammen:
einem mehr allgemeinbiologischen und einem, der in der Demonstration
histologischer Präparate besteht.
Auf diese Weise ist ein Werk zustande gekommen, daß zwar kein
Lehrbuch der Histo-Pathologie der Haut im gewöhnlichen Sinne ist, das
aber für die Verbreitung bistologischer Bildung unter den Dermatologen
vielleicht mehr leisten wird, auf jeden Fall mehr leisten kann als das
gründlichste, alle morphologischen Einzelheiten berücksichtigende Hand-
buch. Es ist ein Buch, das man wirklich von Anfang bis Ende durch-
lesen kann ohne zu ermüden. Ich möchte es deshalb geradezu als die
Aufgabe des Referenten betrachten, diejenigen dermatologisch interessierten
Kollegen auf das Buch nachdrücklich hinzuweisen, denen weniger daran
liegt, über bestimmte wissenschaftliche Einzelfragen etwas nachzuschlagen,
sondern vielmebr eine lebendige Anschauung von der Histologie der er-
krankten Haut und damit ein vertieftes und geläutertes Verständnis ihrer
pathologischen Vorgänge zu gewinnen. Es wäre lebhaft zu wünschen,
da8 das Buch auch in die Hände recht zahlreicher dermatologischer
Praktiker käme; man kann sich keine Histologie der Hautkrankheiten
denken, die besser hierzu geeignet wäre. Die didaktischen Absichten des Verf.
werden unterstützt durch einen, zum großen Teil farbigen Bilderschmuck,
der in der bisherigen dermatologischen Weltliteratur ohne Beispiel ist.
Der bis jetzt vorliegende erste Band enthält nach einer Einleitung
über die Histo-Biologie der gesunden Haut die Pigmentanomalien, die
Atrophien und Hypertrophien, die Pilzkrankheiten und die durch tierische
Parasiten bedingten Erkrankungen der Haut. Es ist daraus zu entnehmen,
daß dem zweiten Bande hauptsächlich die Dermatitiden und die Tumoren
der Haut vorbehalten sind. (Siemens, München.)
3.
Dr. Erwin Pulay Wien. Ekzem und Urtikaria. Klinik, Patho-
genese und Therapie. [XI 1918.) Berlin u. Wien, Urban
und Schwarzenberg 1925. Pr. geh. 7,50 M., geb. 9,30 M.
Im Vorwort sagt der Verf., daß es ihm nicht so schr darauf an-
kam, die vielen bestehenden Abhandlungen über die Symptomatologie des
378 Besprechungen.
Ekzems um eine neue Darstellung zu vermehren, sondern daß es viel-
mehr sein Bestreben war, das Ekzemproblem von den verschiedensten
Seiten aus zu beleuchten, da weder die einseitige Betrachtung der Morphe,
noch auch die der ätiologischen Gesichtspunkte allein die Lösung dieses
Problems bringen könnte. Diese Absicht mache es auch verständlich.
daß sich Verf. — neben manchen gesicherten Tatsachen — noch viel
auf hypothetischem Boden bewegen müsse.
In den einzelnen Kapiteln des Buches behandelt Verf. zuerst die
Symptomatologie und Atiologie der Ekzeme, geht näher auf die Arbeiten
Weidenfelds, Blochs und Lewandowskys ein, bespricht die Be-
deutung der nervösen Einflüsse, des Elektrolytstoffwechsels, der Allergie
und des Zusammenhangs mit inneren Störungen (Kohlehydrat-, Purin-
stoffwechsel, Magen-Darmstörungen, Mineralstoffwechsel, innere Sekretion).
In zwei weiteren Kapiteln erörtert er Klinik und Pathogenese der Urti-
karia; in einem umfangreichen Schlußkapitel behandelt er die Therapie
des Ekzems.
Die Art, in der Verf. den in Rede stehenden Problemen entgegen-
tritt, möge durch Wiedergabe einiger seiner Schlußsätze angedeutet sein.
Die Ekzembereitschaft besteht in einer Überempfindlichkeit der Epidermis
und der sensiblen Nervenendigungen. Die Ursache der nervösen Uber-
empfindlichkeit ist in der Regel in abnormen Stoffwechselvorgängen zu
suchen. Die Sensibilisierung der Haut kann durch exogene und endogene
Reize bedingt sein. Endogene Reize setzen als Reaktion: bei Über-
empfindlichkeit des Gefäßsystems Urtikaria, bei Überempfindlichkeit
epidermidaler Zellen Dermatitis, bei Überempfindlichkeit sensibler Nerven-
endigungen Pruritus, bei Überempfindlichkeit von Epiderm plus Nerven-
zelle Ekzem. Ekzem resultiert nur, wenn früher einmal „primäres
Ekzem“ bestanden hat; dieses aber ist Folge exogener Traumen (Kratzen).
Letzten Endes sind Ekzem und Urtikaria Zustandsänderungen des Zell-
eiweißes. Die Überempfindlichkeit, also die erhöhte Reizbarkeit, wurzelt
im Zellgedächtnies.
Die empirischen Unterlagen für solche Hypothesen sind, wie Verf.
schon im Vorwort andeutet, oft gering, zum mindesten außerordentlich
auslegungsfälhig. Wenn man aber auch deshalb dem Verf. oft nicht wird
folgen wollen, so kann man doch manche Anregung aus seinem Büchlein
schöpfen,
Den Schluß bildet ein 23 Seiten starkes Literaturverzeichnis.
(Siemens, Munchen ı
4.
Prof. Dr. Wilhelm Neumann, Privatdozent an der Universität Wien,
Vorstand der II. med. Abteilung des Wilhelminenspital. Die
Klinik derbeginnenden Tuberkulose Erwachsener.
Ill. Das Heer der nicht tuberkulösen Apizitiden
und der fälschlich sogenannten Apizitiden. Mit
‘2 Textabbildungen. Verlag v. Julius Springer, Wien 1925.
Der dritte Band der beginnenden Tuberkulose Erwachsener bringt
eine eingehende Differentialdiagnostik und sucht damit eine Lücke zu
Bespreenungen. 379
füllen, die nicht nur in unserer Literatur sehr. fühlbar ist, sondern vor allem
such im Bereich des Könnens und Wissens unserer gesamten Ärzteschaft,
die sich fast auf Schritt und Tritt gerade mit der Diagnose der be-
gionenden Tuberkulose herumzuschlagen bat. Die damit an die Arzte-
schaft als Ganzes herangetragene Aufgabe ist aber ebenso schwierig wie
unabweislich und so ist es geradezu verhängnisvoll, daß ein gesichertes
Können der Allgemeinheit für ihre Beantwortung noch nicht zu Gebot
steht. Meinung steht hier gegen Meinung und die Urteile weichen nur
allzuoft in einer für den Kranken und die Behörden geradezu uner-
träglichen Weise voneinander ab. Wir stehen eben in einer Übergangs-
zeit, in der eine neue Forderung erst allmählich auf Grund einer natur-
gemäß zunächst vielfach irrenden Erfahrung ihre endliche, praktisch
einigermaßen ausreichende Befriedigung finden wird.
Unter diesen Umständen ist es ein besonderer Wert des Neymann-
schen Beitrags, daß in ihm in erster Linie eine reiche, selbständige,
eigene Anschauung und Erfahrung in glücklicher Weise zu Wort kommt,
Theorien aber ihr gegenüber zurücktreten. Es ist klar, daß das letzte
Wort immer der genauesten Beobachtung des Tatbestandes zufällt, und
daß Theorien gerade in solchen Übergangszeiten nur soweit Wert zu-
zubilligen ist, als sie die Beobachtung aufs neue an die Tatsachen ver-
weisen, die ja immer viel reicher sind, als die zu Ordnungszwecken ver-
einfachten theoretischen Darstellungen. Es gilt übrigens allgemein, daß
der praktische Wert einer neuen Auffassung sich nahezu ganz in dem in
ihr liegenden Hinweis auf bisher übersehene Tatbestände und Zusammen-
hänge erschöpft, und in ihrer Forderung vermehrter Genauigkeit und
Vollständigkeit der Untersuchung, die sich so leicht in einseitigen Geleisen
einfährt. Der Reichtum des neu erbauten Bildes an bisher Übersehenem,
für das nun die Augen geöffnet sind, gibt der Forschung die Grundlage
zu einer Bewegung, in der sich immer mehr und mehr Neues in den
Bereich des lebendigen Wissens eingliedern kann. Der Feind dieser
Lebensbewegung der Wissenschaft ist überall das tote Schema als Wahn-
system, das die Augen nicht öffnet, sondern schließt und das, was auch
dann noch nicht passen will, dem Prokrustesbett mit dem Beil des
Fanatikers anpaßt.
Neumann’s Arbeit zeigt in allen Teilen, daß der Verfasser mit
offenen Augen auf die Tatsachen blickt, und daß er diese offenen Augen
an einem außergewöhnlich reichen Material gut verwendet hat. Man
spürt dabei als Reichsdeutscher wohl schon etwas von der noch wesent-
lich größeren Häufigkeit der Tuberkulose in den österreichischen Landen,
ein Vorteil, um den man den Wiener Kollegen allerdings nicht beneiden
wird. Dieser Reichtum der persönlichen Anschauung wird nun überall
sorgfältig geordnet, soweit das eben heute schon möglich ist. Wo dazu
ein Schema verwendet wird, ist es mit Glück lebendig und beweglich
und damit anpassungsfähig an das tatsächlich Beobachtete erhalten worden.
Der abschließende dritte Teil gliedert sich in zwei Abschnitte, in
die Schilderung von Lungenkrankheiten, die als Krankheitsbild im ganzen
einer beginnenden Lungentuberkulose ähneln, und in die Besprechung
des diagnostischen Wertes derjenigen Einzelsymptome, die allein für sich
schon häufig zur Annahme einer Lungentuberkulose verleiten „obwohl die
380 Besprechungen.
genaue Untersuchung der Lungen gar keine diesbezüglichen Verände-
rungen erkennen läßt“. Der erste Abschnitt umfaßt die Tumoren und
die nicht tuberkulösen chronischentzündlichen Krankheiten der Lungen
und Bronchen. Im zweiten Abschnitt werden Hämoptoe, chronische Fieber-
zustände und chronische Abmagerung nichttuberkulöser Natur, die nicht-
tuberkulösen Spitzendämpfungen, dann Brustschmerzen und andere hervor-
stechende Symptome ähnliche Art besprochen.
Im ersten Abschnitt sind eine große Anzahl sehr interessanter
Krankengeschichten mitgeteilt, die zum Teil seltene und doch praktisch
wichtige Beobachtungen enthalten. Etwas zu kurz für ihre Reichhaltig-
keit sind die Ausführungen über die chronische Bronchitis geraten. Auf
nicht ganz neun Seiten (!) sind die chronische Influenza, die Bronch-
ektasien, die chron. Bronchitis der Alkoholiker, eine Amöbenbronchitis,
chron. Jlalaria, Typhusbronchitis, die Pneumonokomiosen, darunter das
Ursolasthma, die Porzellanerlunge, Ultramarinablagerungen, dann die
Bronchitis obliterans, eine ganze Anzahl Tumoren usw., schließlich noch
die „Restbronchitiden“ und, demgegenüber auffallend breit, die Verände
rungen des Lungenbefundes bei Pharyngitiden, die Schluck- und Schulter-
geräusche abgehandelt. Das kann naturgemäß nicht viel mehr sein als
eine Aufzählung für den, der das alles schon genau kennt, wird aber
der Bedeutung der chronischen Bronchitis für die Differentialdiagnose
gegen Tuberkulose gewiß nicht gerecht. Es fehlt sogar eine Be-
schreibung der klinischen Erscheinungen der chronischen Bronchitis
und ihrer Unterscheidung gegen die Lungentuberkulose. Auch das Asthma
mit seinen mehrseitigen Beziehungen zur Tuberkulose bedarf dringend
einer eingehenderen Darstellung, als es — auf den letzten Seiten des
zweiten Abschnittes — gefunden hat. Es wird wohl besser sein, es in
späteren Durcharbeitungen gleich zur chronischen Bronchitis zu stellen
und mehr die klinische Beobachtung zu Worte kommen zu lassen.
Das nunmehr abgeschlossene Buch behandelt die beginnende Tuber-
kulose Erwachsener stellenweise noch allzusehr unter der ganzen Arzte-
generationen älterer Dezennien gewohnten Suggestion, daB die Tuber-
kulose des Erwachsenen in der Lunge beginnen müsse. Das spricht sich
unter anderem auch in ihrer Gleichsetzung mit „Apizitis“ aus. Diese
letztere Bezeichnung wird allerdings mehrfach als falsch bezeichnet. Da
sie aber nicht nur falsch, sondern auch außerordentlich häßlich und ein
im allgemeinen deutschen Sprachgebiet ungebräuchliches Wiener Idiotikon
ist, so sollte ein Buch von so hohem Wert für die gesamte deutsche
ärztliche Wissenschaft es besser ganz fallen lassen. Es scheint mir besser
es „totzuschweigen* und so der verdienten Vergessenheit anheimfallen
zu lassen, als es durch so häufige Erwähnung in einem so guten und
wichtigen Werk zu verewigen.
Soll das Buch sich seinem Titel die Klinik der beginnenden Tuber-
kulose Erwachsener wirklich anpassen, so müßte der zweite Teil, der unter
dem Titel „Der Formenkreis der Tuberkulose“ ausschließlich „Die Formen
der Lupgentuberkulose* behandelt, doch noch um ein wesentliches erweitert
werden. So wie es jetzt vorliegt, ist es eine sehr vollständige Schilde-
rung der beginnenden Lungentuberkulose des Erwachsenen. Als solche
ist es aber eine Leistung von hohem Rang und ausgesprochener Eigenart
und kann allen Interessenten aufs wärmste empfohlen werden. ‚Ranke.
G Patz’sche Buchdr. Lippert & Co. G. m. b. H.. Naumburg a. d. 5.
DEUTSCHES ARCHIV
KLINISCHE MEDIZIN
VON
Pror. AUFRECHT m BerLın, Pror. BAEUMLER ın FREIBURG, Pror. BOSTRÖM IN GIESSEN,
Peor. BRAUER ın Hausurg, Pror. CURSCHMANN ın Rostock, Pror. FÜRBRINGER ın BERLIN,
Pror. GRAFE IN WORZBURG, Pror. HIRSCH 1N Bonn, Pror. HIS m BERLIN, Pror. v. JAK SCH IN
Prag, Pror. v. KETLY m BuparesT, Pror. KRAUS m BERLIN, Pror. KREHL ı HEIDELBERG,
Pror. LICHTHEIM rx Bern, Pror. MATTHES mm KÖNIGSBERG, Pror. E. MEYER IN GÖTTINGEN,
Pror. MORAWITZ m Lerzia, Pror. MORITZ m Körn, Pror. F. MÜLLER IN MOncHEn, Pror.
L. R. MÜLLER m ERLANGEN, Pror. O. MÜLLER IN TOBIngen, Pror. v. NOORDEN In FRANKFURT,
Peor. PENZOLDT m ERLANGEN, Pror. ROMBERG m MOncHeEn. Pror. RUMPF m Bonn, Pror,
SAHLI m Bern, Pror. SCHREIBER m KöOnıgsBers, Pror. F. SCHULTZE m Bons, Pror.
SCHWENKENBECHER IN MARBURG, Pror. STEPP m Jena, Pror. STINTZING mn JENA, PROF,
H. STRAUB m GREIFSWALD, Pror. VOIT Ix Giessen, Pror, VOLHARD m HALLE
REDIGIERT
VON
Dr. L. KREHL Dr. F. MORITZ
PROF. DER MEDIZINISCHEN KLINIK PROF. DER MEDIZINISCHEN KLINIK
IN HEIDELBERG IN KÖLN
Dr. F. MÜLLER UND Dr. E. ROMBERG
PROF. DER II. MEDIZINISCHEN KLINIK PROF. DER I. MEDIZINISCHEN KLINIK
IN MÜNCHEN IN MÜNCHEN
152. Band
Mit 28 Abbildungen und 25 Kurven im Text
LEIPZIG
VERLAG VON F.C. W. VOGEL
1926
Inhalt des einhundertzweiundfünfzigsten Bandes.
Erstes und Zweites Heft
ansgegeben im Juli 1926.
Reiche, Anaemia perniciosa im Setolge sehr Ber ner Erkran-
kungen .
Hansen u. Goldhofer. Über Popillenungleichheit und vegetative Asymmetrie
bei Postencephalitis :
Günther, Konstitutionstypen der Tdiosynkrakie, (Mit 1 Abbildung)
Hanser, Vom Aneurysma dissecans der Aorta
Becher u. Herrmann, Studien über das Verhalten der Xanikonrotöinreaktion
im enteiweißten Blut unter normalen und pathologischen Verhältnissen
Piney, Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik bei der
Beurteilung gefärbter Blutausstriche. (Mit 2 Abbildungen) .
Besprechungen:
1. Heubner, Affekt und Logik in der Homöopathie (Hanee
2. Hansen, Zur Theorie der Narkose (Hafner). . .
3. Pincussen, Mikromethodik (Felix) .
4. London, Experimentelle Physiologie "und ` Pathologie der Ver-
dauung (Felix) :
5. Fürth, Lehrbuch der physiologischen "und pathologischen Chemie in
75 Vorlesungen (Felix) . .
6. Noeggerathu. Eckstein, Die Urogenitalerkrankungen der Kinder.
Störungen und Erkrankungen der Harnbereitung und der Geschlechts-
sphäre, sowie ihrer Organe (Kielleuthner) . Be A
Drittes und Viertes Heft
ausgegeben im August 1926.
Schliephake, Zur Kenntnis der a unE auf den menschlichen Blut-
kreislauf. (Mit 9 Abbildungen) .
Wiechmann u. Horster, Studien über experimentelle Toiéktionskrankheiten.
(Mit 1 Kurve) Se
Hermanns, Über den Ueprung: der Ehrlich’schen Diaz: Reaktion f
Delhougne, Untersuchungen über die Magensaftsekretion. (Mit 2 kiren
Stenström, Einige Bemerkungen über spontanes hypoglykämisches Coma
Krahn, Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose“ (p: Leu-
kämieform?). (Mit 2 Abbildungen im Text) en
Benjamin, Einige Beobachtungen an Scharlachkranken .
Zinsser, Zur Frage, ob das Insulin beim Gesunden auf die Aussc DENDIS von
Gesamtstickstoff, Aminosäurenstickstoff und kupferoxydreduzierende Sub-
stanzen im Harn einen Einfluß hat FE ar u
108
110
113
136
153
106
173
179
202
219
— IE —
Uehlinger, Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herz-
klappen zum spezifischen Muskelsystem. (Mit 5 Abbildungen).
Kubasch, Beitrag zur Chemie des Sputums .
Besprechungen:
1. Strümpell +, Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie der
inneren Krankheiten für Studierende und Arzte (Müller) . as
2. Bergmann u. Staehlin, Handbuch der inneren Medizin (Müller)
Fünftes und Sechstes Heft
ausgegeben im Oktober 1926.
Mehlin, Über akute use Arteriitis der Pulmonalarterie. (Mit 6 Ab-
bildungen) . Bi
Curschmann u. Bachmann, Ü ber den respiratorischen Stoffw aie bei Bern:
ziöser Anämie. (Mit 2 Kurven) .
Schott, Über experimentelle Beeinflussung der Form Mes Ektora torunn
(Mit 10 Kurven)
Lange, Die Gestalt der Blutkapillaren bei inertne Mit 3 Abbildungen)
v. Bernuth, Über Kapillarbeobachtungen bei Ampu und anderen hämor-
rhagischen Diathesen . .
Westphal u. Blum, Die Rhödntherapie des gemien arteriellen Hoch-
drucks und ihre theoretische Begründung. (Mit 5 Kurven).
Marx, Untersuchungen über den Wasserhaushalt. (Mit 5 Kurven).
Besprechungen:
1. Cushing, The Life of Sir William Osler ( Wenckebach) .
2. Voelcker u. Ledderhose, Chirurgische Erkrankungen und Ver-
letzungen der Harnorgane. Pels- Leusden, Chirurgische Erkran-
kungen und Verletzungen der männlichen Geschlechtsorgane (Kiel-
leuthner) EN
3. Leyser, Herzkrankheiten und Psychosen (Rombery)
4. Renner, Schlafmittel (Hafner). .
b. v.d.Veldenu.W olff, Einführung in die Pharmakotherapie (Huffner)
6. Martin, Anthropometrie (Kämmerer).
Vom Büchertisch der Redaktion .
Aus dem Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Barmbeck.
Anaemia perniciosa im Gefolge sehr protrahierter typhöser
Erkrankungen.
Von
Prof. Dr. F. Reiche.
Der vor Jahren veröffentlichten Beobachtung, daß eine bei
einem 46jährigen Manne in mensa bestätigte echte perniziöse
Anämie aus einer chronischen Dysenterie entstand!), schließen
sich in weiterem Sinne drei Fälle an, in denen das typische Syndrom
jener perniziös-anämischen Veränderungen ein typhöses Leiden
begleitete. Nur daß ihr Bild hier ein sehr viel akuteres war und
bei der Sektion noch sichere Zeichen des Typhus vorlagen, während
bei unserem Ruhrpatienten die aus einem Rückfall der Krankheit
entwickelte, durch zwei Bluttransfusionen in ihrem Verlauf nur vor-
übergehend aufgehaltene Anämie erst nach rund 3 Jahren ihren
letalen Abschluß fand und bei der Autopsie Residuen der vorauf-
gegangenen bazillären Dysenterie nicht mehr aufgedeckt wurden;
mit behobener Krankheitsursache bildeten sich hier nicht, wie etwa
bei manchen schweren Bothriocephalusanämien, die Blutverände-
rungen zurück, und wir müssen in der Deutung dieses Falles nicht
nur an eine erstmalige Wirkung der bakteriellen Toxine des Grund-
leidens auf das Blut und die hämopoetischen Organe bei vor-
handener Disposition denken, sondern auch weiterhin an die den
Achlorhydrien jeder ausgeprägten Ruhr verknüpften langdauernden
Magendarmstörungen.
Von jenem drei Kranken habe ich den ersten vor mehr als
13 Jahren — noch auf meiner Abteilung im Krankenhause Eppen-
dorf — den zweiten vor fast 11'/, Jahren — im Krankenhause
Barmbeck — behandelt; erst der jüngst auf meine Station auf-
1) Jahreskurse f. ärztl. Fortbild. 1923, Sept.
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 152. Bd. 1
2 REICHE
genommene dritte schloß sie aus seltensten, völlig isolierten und
anfänglich jedes Vergleichs ermangelnden Einzelbeobachtungen
trotz mancherlei Verschiedenheiten im jeweiligen Verlauf zu einem
einheitliche Züge tragenden Ganzen zusammen.
Die Krankengeschiehten, auf das Wesentlichste gekürzt, lauten:
I. Carl N., 61 Jahre, aufgen. 29. VIII. 1912. Als Kind Kalt-
wasserfieber, sonst stets gesund. Erkrankte vor 4 Wochen mit „In-
fluenza*, nachdem er vorher schon einige Zeit Mattigkeit verspürt und
durch seine Blässe aufgefallen war. Abmagerung und Kräfteverfall, in
letzter Zeit auch Durchfall. Keine Schmerzen. Wegen Geschwulst in
der Milzgegend auf der chirurgischen Abteilung aufgenommen.
Während der Beobachtungstage dortselbst bis 7. IX. 1912 wurden
tägliche Temperatursteigerungen bis zuböchst 38,7°, tiefe Blässe, Hämo-
globinverminderung und ein großer harter Milztumor festgestellt. Zur
inneren Abteilung.
7. IX.: Tiefe gelbliche Blässe, geringer Ernährungszustand, 43,5 kg.
Knochen nicht druckempfindlich. Im Augenhintergrund beiderseits
multiple kleinere und größere Blutungen, Herzdämpfung ein wenig nach
links verbreitert. Spitzenstoß in der Papillarlinie im 5. Interkostalraum.
An der Spitze und am 5. Punkt neben dem 1. Ton ein leises blasendes
Geräusch; 2. Pulmonalton verstärkt. Leib etwas aufgetrieben, Umfang
78 cm, Leber bis fast zur Nabelhöhe vergrößert, unterer Rand 20 cm
unterhalb der Brustwurze, ist ziemlich scharf, nicht druckempfindlich.
Die glatte, harte stumpfrandige Milz ragt tief ins Abdomen, mißt im
längsten Durchmesser unterhalb des Rippenbogens 20 cm. Stuhl ge-
bunden, braun, frei von Blutspuren; keine Wurmeier. Urin o. B., auch
Urobilin und Urobilinogen nicht vorhanden, im Zentrifugat vereinzelte
Leukocyten. Temperatur 37,5—38,2°. DBilutrot: 37°/,, rote Zellen
1820000, weiße Zellen 2200. Färbeindex 1,02. Wassermann’sche
Reaktion negativ. Blutdruck: 123 Hg..
8. IX.: Erythrocyten 1852000, weiße Zellen 2600; unter 500
36 °/, neutrophile Polymorphnucleäre, 52,8°/, Lymphocyten und 10,8“,
Stabkernige, 0,4%, Basophile und auf diese Zahl 12 Normo- und
4 Mikro- und 2 Megaloblasten unter den Erythrocyten. Letztere sind
zum Teil stark polychromatophil und zeigen starke Poikilocytose und
Anisocytose, viel Megalocyten. Unter den Lymphocyten überwiegen die
kleinen.
9. IX.: Erythrocyten 1974800, weiße Zellen 3200, darunter 59°,
Lymphocyten. Hämoglobin 37 °/,, Färbeindex 0,95.
11. IX.: Temperatur bislang dauernd zwischen 36,9—38,6 °.,
Erythrocyten 1931200, weiße Zelle 2800, auf 500 werden 7 Normo-,
6 Mikro- und 4 Megaloblasten gezählt. Hämoglobin 36 °/,, Färbeindex
0,93. Stuhl fest, braun. Urin o. B. Puls 84—92.
14. IX.: Erythrocyten 1960000, weiße Zellen 3000. Die mit
20 ccm Blut aus einer Armvene angelegten Agarmischplatten bleiben
steril. 1 Stunde nach nach einem Probefrühstück wird nur ganz wenig
alkalischer schleimiger Mageninhalt ausgehebert. Puls 92—108.
Anaemia perniciosa im Gefolge sehr protrahierter typhöser Erkrankungen. 3
16. IX.: Körpergewicht unverändert, 43,5 kg. Temperatur immer
zwischen 36,9 und 38,4°, Stuhl regelmäßig, geformt. Weber’'sche Probe
wiederholt negativ. Urin frei. Hb-Gehalt des Blutes: 36 J Leuko-
cyten 4400, Erythrocyten 1887520, Färbeindex 0,95.
22. IX.: Hb 36°/,, Färbeindex 0,96. Leukocyten 4800, darunter
58,7%), Lymphocyten, 41°), Neutrophile und 0,3 °;, Basophile. Erythro-
cyten 1870000, auf 5000 weiße Zellen 8 Normo-, 2 Mikro- und 6 Megalo-
bla-ten.
l. X.: Körpergewicht 44,5 kg. Puls 112—132. Temperatur
36,5—38,4, einmal 39,8%. Stuhl leicht obstipiert; Weber’sche Blut-
probe stets negativ. Urin dauernd ohne Eiweiß, Urobilin und Urobi-
linogen. Die Leukocytenwerte bewegten sich zwischen 2800 und 4800.
Miliz- und Lebergröße unverändert. Im Augenhintergrund zahlreiche
Blutungen. Die Therapie besteht in steigenden Arsendosen.
10. X.: Leukocytenmenge 1400. Milzgröße unverändert. Tempe-
ratur 36,4—38,7°.
27. X.: Knöchelödeme. Gewicht 46 kg. Hb-Menge 30 °/,, Erythro-
cyten 780000. Leukocyten 3800. Dauernd starke Poikilo- und Aniso-
cytose, viel Megalocyten; Färbeindex 1,92. Urin immer eiweißfrei,
Stuhl geformt.
31. X.: Temperatur 37—39,2°. Auf den Lungen diffuse bron-
chitische Geräusche. Uber allen Herzostien, am lautesten über der
Pulmonalis systolische Geräusche, Puls weich, regelmäßig, 126—154.
Stuhl fest, leichte Obstipation. Weißes Blutbild: 63°, Lymphocyten,
37°, Neutropbile, darunter 6,7 °/, Jugendformen, auf 500 weiße Zellen
8 Normo- und 12 Megaloblasten.
6. XI.: Im Urin Urobilinogen und Spuren Eiweiß. Leukocyten-
menge 4000; Lymphocyten 62,6 °/,, Neutrophile 36,8 °/,, Basophile 0,6 °;,,
auf 500 Leukocyten 10 Normo-, 2 Mikro- und 8 Megaloblasten. Leichte
Übstipation. Zunehmende Schwäche. Milzmaße nicht verändert. Puls
120—136.
8. XI.: Rascher Exitus. Temperatur der letzten Zeit 37,1—38,6.
Autopsie: Myodegeneratio cordis adiposa. Necrosis epiglottidis.
Tumor lienis. Hämosiderosis. Pachymeningitis haemorrhagica. Im
unteren Ileum liegen 3 größere und 3 kleinere längsgestellte an die
Peyer'schen Plaques gebundene Geschwüre mit nicht verdicktem, glattem
Rande und glattem, reinem Grund. Die Schleimhaut ist im übrigen dünn
und glatt, Follikelschwellungen fehlen.
In den mit dem Herzblut angelegten Agarmischkulturen, auf den
mit Abstrichen von Milzparenchym und Knochenmark beschickten Nähr-
medien wachsen Paratyphus-B-Bazillen.
II. Wilhelmine K., 45 Jahre, aufgen. 2. VI. 1914. Nie früher
krank gewesen, stets schwächlich. Seit 4 Monaten kränkelnd und blaß
und unfähig zur Arbeit: allgemeine Schwäche, Zucken in den Gliedern,
aufgeregtes Wesen. Seit 8 Tagen sehr starker, fast wässeriger Durch-
fall. Kein Erbrechen. Die Menses haben in diesen 4 Monaten zessiert.
2. VI.: Sehr reduzierter Ernährungszustand, 40,5 kg. Starke Blässe.
Temperatur 38,1—39,4°. Puls 92. Blutdruck 105:50. Erythrocyten
960000, Leukocyten 3200, Hb 25°',, Färbeindex 1,3%,. Leber leicht
j“
4 REICHE
vergrößert. Urin: ohne Urobilin und Urobilinogen, enthält Albumen und
im Zentrifugat Leukocyten, Epithelien, hyaline und granulierte Zylinder.
Wässeriger hellbräunlicher Durchfall; Stuhl mikroskopisch ohne Befund.
3. VI.: Temperatur 37,2—39°. DBilutausstrich: starke Poikilocytose
und Anisocytose, polychromasiebasophile Punktierung, Jollykörper,
Ringkörper, Normo- und Erythroblasten ; Neutrophile 63,5 °/,, Lympho-
cyten 33 °/,, große Mononukleäre 3 °/,, Eosinophile 0,5 °p, auf 400 weiße
Zellen 16 kernhaltige rote und viele Megalocyten.
4. VI.: Temperatur 38,3—39,2°. Weassermannreaktion im Blut
negativ. Blutdruck 105:55. Hb 25°,, Erythrocyten 800 000, Leuko-
cyten 7000, Färbeindex 1,5; Neutrophile 66 °%,, Lymphocyten 28°.
große Mononukleäre 5 °/,, Basophile 1°/,, auf 200 Leukocyten 14 kern-
haltige rote, z. T. sehr große Formen. Im Augenhintergrund zahlreiche
Hämorrhagien. Im Urin geringe Eiweißmengen. Trinkt leidlich; bricht
nicht. Der Durchfall hält an, 3—4 Entleerungen täglich, in den vom
Stuhl am 2. VI. angelegten Drigalski-Platten sind Paratyphus-B-Stäbchen
gewachsen.
5. VI.: Temperatur 38,2— 41,10. Puls 112—120. Undeutliche
Roseola.. Das vor 2 Tagen aus der Armvene entnommene Blut bleibt
kulturell steril. Hb 25°,, Erythrocyten 1080000, Leukocyten 7400,
ee 1,16), ; Neutrophile 58,5°',, Lymphocyten 36°;,, Mononukleäre
59 Eosinophile 0,5°%,. Auch aus den am 3. VI. mit dem Stuhl ge-
gossenen Platten wurden Paratypus-B-Bazillen isoliert.
6. VI.: Temperatur 39,7—41—41,2—41,9°, kurz ante exitum. Blut-
druck 95:50. Hb 20°/,, Erythrocyten 800000, JLeukocyten 8400,
Färbeindex 1,25.
Autopsie: Schwere dysenterieähnliche Entzündung des Dickdarms.
Leber groß: Eisenreaktion. Anämie der parenchymatösen Organe. Be-
ginnende Arteriosklerose. Ödem der weichen Hirnhäute. Lymphoid-
mark. Mesenterialdrüsen graugelblich, weichgeschwollen, Milz klein,
8:6:4 cm.
III. Heinrich B., 50 Jahre, Bäckermeister, aufgen. 25. III. 1925.
1910—1912 Gelenkrheumatismus, sonst gesund. Vor ca. 8 Monaten
angeblich erkrankt, anfünglich längere Zeit unbestimmtes Fieber. Zu-
nehmende Mattigkeit und Blässe, später Schmerzhaftigkeit der Zunge,
zumal bei warmen und sauren Speisen, Appetitmangel, Gewichtsabnahme,
häufige Verstopfung. Kein Fiebergefühl in letzter Zeit.
25. III.: Geringer Ernährungszustand, 53 kg. Leichte gelbliche
Blässe.. Augenhintergrund frei. Zunge glatt, Atrophie der Papillen,
frische Glossitis. Systolisches Geräusch über der Herzspitze. Leber und
Milz nicht vergrößert. Blutdruck: 95:45. Temperatur 38°. Puls 96.
Im Urin eine Spur Eiweiß, kein Sedimentbefund.
26. III. : Temperatur 37,2—38,4°. Puls 96. Erythrocyten: 1310000,
Leukocyten 1600, Hb 42°/,, Färbeindex 1,6. Im Serum etwas mehr
als !/, Bilirubineinheit (1:360000). Im Ausstrich: Poikilo- und Aniso-
cytose, Megalocyten und Megaloblasten, Neutrophile 54°, , Lympho-
cyten 44 °/,, Eosinophile 2°/,, wenig Blutplättchen.
27. III.: Temperatur 36,5—38,3°. Puls 76—88. Die aus dem
Anaemia perniciosa im Gefolge sehr protrahierter typhöser Erkrankungen. 5
Armvenenblut angelegten Kulturen bleiben steril. Urin eiweißfrei. Der
Stubl enthält keine Parasiteneier.
28. III.: Temperatur 36,4—37,3°. Aus dem mit der Duodenal-
sonde gewonnenen Duodenalsaft wachsen Colibazillen. Der Magensaft
ist nüchtern leer, nach Probefrühstück freie Salzsäure 7, Ges.-Acidität 16.
29. III. : Temperatur 36,6—37,3°. Hb 40 °/,, Erythrocyten 1 740 000,
Leukocyten 2000, Färbeindex 1,2.
30. III.: 37,1. Biluttransfusion von 750 ccm. Am Abend Schüttel-
frost, Temperaturanstieg bis 39,2°.
31. III.: Temperatur 38,7— 39,2%, Hb 46 °/,, Erythrocyten 2 080 000,
Leukocyten 1880. Färbeindex 1,15. Neutrophile 48° , Lymphzellen
46°, Mononukleäre 2 °%;,, Eosinopbile 4°‘. Urin frei, auch von Blut-
farbstoff. Ri
1. IV.: Uber dem linken Unterlappen hat sich eine Pneumonie ent-
wickelt. Im Blut neben Poikilocytose starke Anisocytose, Megalocyten,
Normoblasten.
4. IV.: Unter dauernd hohen Temperaturen Exitus.
Autopsie: Tiefe allgemeine Anämie. Schlaffes Herz. Leichte
Haemosiderosis hepatis. Lymphoide Umwandlung des Knochenmarks.
Ausgedehnte Geschwürsbildung im unteren Ileum. Alte tuberkulöse
Herde in den Hilusdrüsen. Die Darmgeschwüre sind sämtlich längs-
gestellt, an die Peyer’schen Plaques gebunden, der Grund ist gereinigt.
Muscularis liegt frei zutage, der Rand ist vielfach leicht wallartig er-
haben. Mikroskopisch: In der Leber Spuren von Eisen, reichlich braunes
Pigment. In den Nieren kein Eisen, Glomeruli o. B., in den Kanilchen
etwas Eiweißausscheidung. Milz blutreich. Follikel klein, spärlich Eisen,
mäbig reichliche Phngocytose. Knochenmark: zellig umgewandeltes Fett-
mark von außerordentlich dichter Zusammensetzung; mäßig reichliche
Megakaryocyten, Myeloblasten, Myelocyten, reichlich Normoblasten und
Megaloblasten; reichlich Eisen, teils intra- teils extrazellulär. In den
Darmgeschwüren fehlen alle auf Tuberkulose weisenden Veränderungen,
sie entsprechen späten typhösen Läsionen (Dr. Gerlach).
Eine bakteriologische Untersuchung, intra vitam war die Blut-
kultur steril und auch aus dem Duodenalsaft wurden keine Baziilen
der Typhusgruppe isoliert, ist in letzterem Falle leider nicht p. m.
vorgenommen worden, — so bleibt es in dieser Hinsicht unent-
schieden, ob der anatomisch zweifelsfreie Jleotyphus durch
Eberth’sche Stäbchen oder ebenfalls durch den Para-
trphus-B-Baecillus bedingt war. Auch kamen serologische
Bestimmungen der Agglutinationsverhältnisse des Blutes auf die
Bakterien der Typhusreihe bei keinem dieser Kranken zur Aus-
führung; sie hätten nur in Fall II nahegelegen, in dem der Para-
typhus-B-positive bakteriologische Befund bereits i. v. erhoben,
jedoch bei der nur wenig über 4 Tage in Krankenhausbehandlung
gestandenen Frau erst in einem Stadium rapider Verschlechterung
bekannt wurde.
6 RECHE
Bemerkenswert ist es aber, daß unser Fall III dem mecklen-
burgischen Städtchen B. mit 5000 Einwohnern entstammte, in dem
1924 keinerlei Typhėn nach den dankenswerten Mitteilungen der
3 dort praktizierenden Kollegen beobachtet wurden, 1925 aber nach
Ostern und in den Sommermonaten sich im ganzen 13 Fälle er-
eigneten, die ausnahmslos durch die bakteriologischen Unter-
suchungen des Landesuntersuchungsamtes als Paratyphen erkannt
wurden. Wie weit hier ein Zusammenhang unseres Falles, wenig-
stens mit den ersten dieser Erkrankungen vorgelegen haben mag,
entzieht sich der Feststellung, ihn zu vermuten, sind wir berechtigt,
da er durch viele Monate noch nicht beendeter Rekonvalescenz
ein Lebensmittelgeschäft leitete.
Klinisch stand allemal eine schwere perniziöse Anämie
ganz im Vordergrund, auch bei unserer hochfiebernden Patientin,
deren Darmentleerungen schon nach den Feststellungen am Kranken-
bett Paratyphusbazillen beherbergten. Die Sektionen deckten es
auf, daß sie in jedem Fall neben typhösen Darmveränderungen
bestand. Sich auch aus ihnen entwickelte? Gerade diese Frage
ist angesichts der extremen Seltenheit unserer Beobachtungen be-
sonders scharfer Kritik unterworfen. Die Unsicherheit aller ana-
mnestischen Angaben, auf die wir auch hier zum Teil angewiesen
sind, spielt da mit hinein. Immerhin möchte ich nach Allem für
unseren Fall II annehmen, daß eine bereits an perniziöser Anämie
Erkrankte eine Paratyphusbazilleninfektion akquirierte, — ein
sicher extrem seltenes, aber bei Berücksichtigung der weiten Ver-
breitung der Paratyphusbazillen und ihres häufigen Vorkommens
im Darm unserer Haustiere durchaus nicht unwahrscheinliches Er-
eignis; sah Schottmüller!) doch diese Komplikation in der sehr
viel kürzeren Zeitspanne eines Scharlachablaufs. Der uncharakte-
ristische Anfang ihres Leidens und der durch starken Durchfall
8 Tage vor der Aufnahme sich ankündigende Hinzutritt der dann
schnell zum Tode führenden Darmaffektion rücken diese Wahr-
scheinlichkeit am nächsten und voll harmoniert damit der frische
Dickdarmveränderungen und weiche Mesenterialdrüsenschwellungen
zeigende Sektionsbefund. Der Färbeindex war auch bei dieser
hochfebrilen Affektion ein gesteigerter (1,16—1,5), die vorhandene
Leukopenie blieb trotz der in den 5 Beobachtungstagen im Kranken-
haus sich vollziehenden Steigerung der Leukocytenwerte relativ
sehr deutlich zugegen; interessant ist, daß die Eosinophilen bei
1) Mohr-Stachelin. Handbuch, Bd. I.
Anacmia perniciosa im Gefolge sehr protrahierter typhöser Erkrankungen. 7
der 2mal vorgenommenen Differenzierung der weißen Blutzellen
nicht ganz aus dem Blute verschwunden waren, ein Verhalten, daß
wir von den als akute Gastroenteritis ablaufenden Paratyphus-
bazilleninfektionen kennen. Im übrigen entsprach klinisch die
Blässe mit den zahlreichen Retinalblutungen, die auf 800000 ab-
gesunkene Erythrocytenziffer, die erwähnte Hyperchromie des
poikilo- und anisocytotischen Blutes mit vielen Megalocyten, Normo-
und Megaloblasten und pathologisch-anatomisch mit Eisenleber und
Lymphoidmark ganz der perniziösen Anämie; es mag ihrem durch
den Paratyphus verkürzten Ablauf zuzuschreiben sein, daß der
Herzmuskel noch nicht die charakteristische streifige Verfettung
aufwies,
Völlig hiervon verschieden gestalteten sich die Verhältnisse
in den 2 anderen Fällen, von denen der eine (I) durch mehr als
10 Wochen in unserer Beobachtung stand. Hier vertrete ich die
Auffassung, daß sich eine in allen ihren Zügen perniciosa-ähnliche
bzw. -gleiche Anämie nicht nur zeitlich, sondern ursächlich
aus der ungewöhnlich hingezogen verlaufenen typhösen Erkrankung
entwickelte. Die letztere war in ihren akuteren Stadien bereits
abgelaufen, als der erste von diesen beiden — er wußte von einer
unbestimmten fieberhaften Attacke 4 Wochen zuvor zu berichten,
der Krankheitsbeginn lag nach seinen sonstigen Angaben sicher
früher — mit bleicher Haut und Augenhintergrundhämorrhagien,
mit Hyperchromie, starker Aniso- und Poikilocytose und megalo-
evtotischem und megaloblastischem Blutbild ins Krankenhaus kam,
aber ein mächtiger Milztumor war ebenso wie die bis zuletzt an-
haltende meist abendliche leichte T'emperaturerhöhung — die auch
dem Bilde seiner tiefen Anämie sich eingeordnet hätte — und eine
ausgeprägte Leukopenie (bis zu 2200) als Folge des mehr chronisch
gewordenen Paratyphus anzusehen; war auch die klinische Blut-
entnahme steril gewesen, aus dem Herzblut der Leiche, aus Milz
und Knochenmark wurden Paratyphusstäbchen gezüchtet, welche
die Krankheit zusammen mit den noch nicht zur Ausheilung ge-
langten Darmulcerationen als noch in aktiver Form vorhanden er-
wiesen. In den Zeichen der Anämie erfolgten während der Wochen
` im Krankenhause nur allmähliche Veränderungen, der Färbeindex
bot wiederholt ganz wenig unter 1 stehende Werte, die Erythro-
cyten sanken — unter der Arsentherapie in steigenden Dosen? —
nur sehr langsam ab. Die Autopsie hatte das überraschende Er-
gebnis, daß eine Reihe typischer typhöser Ileumgeschwüre noch
zugegen war, die mit glatt gereinigtem Grunde an ihre sonstige
8 REICHE
Beschaffenheit in der 4. und 5. Krankheitswoche eines Typhus er-
innerten.
Dieses glich dem Sektionsbefund bei unserem III. Kranken
mit ebenfalls echter klinischer — nur das Fehlen von retinalen
Blutungen sei erwähnt — perniziöser Anämie, die durch den sehr
erhöhten Färbeindex von 1,6, schwere Form- und Größenver-
änderungen der auf 1310000 abgesunkenen roten Zellen, Megalo-
cyten und Megaloblasten und verringerte Blutplättchen als solche
charakterisiert war und Colibazilleneinwanderung in den oberen
Verdauungstraktus bei starker Hypochlorhydrie darbot. Er deckte
bei dem anscheinend seit langem fieberlosen Mann ohne Milztumor,
aber mit ungewöhnlich starker (1600 —2800) Leukopenie sehr zahl-
reiche völlig gleichartige Ulcera ilei neben Iymphoidem Knochen-
mark, schlaffem Myokard und leichter Hämosiderosis auf. War für
jenen Fall (I) durch die lange klinische Beobachtung eine mit
mindestens 3'/, Monaten weit über den normalen Heilungsverlauf
typhöser Darmulcerationen sich hinziehende Dauer sicher erwiesen,
so ist damit eine Brücke geschlagen zu Fall IIl, in dem eine noch
sehr viel längere torpide lentescierende Persistenz der Geschwüre,
ein in dieser geringen Heilungstendenz weit mehr den Ulcerationen
in den tieferen Darmabschnitten — so bei der Dysenterie —
gleichendes Verhalten als wahrscheinlich angenommen werden muß.
Der anfängliche Typhus lag wohl schon 8 Monate zurück und viele
Monate vor Beginn der zuerst durch die Hunter’sche Zunge sich
verratenden Anämie. Ob auch hier noch lebende Keime bis zu-
letzt zugegen waren, ist leider nicht untersucht worden, die vor-
handene Armut an Leukocyten läßt dies als Möglichkeit zu, die
sehr verschiedene Beteiligung der Milz bei Vergleich mit unserem
I. Falle könnte dagegen verwertet werden. Es besagt in dieser
Hinsicht wenig, daß das Blut klinisch kulturell steril geblieben
war, bedeutungsvoller ist, daß aus dem Duodenalsaft nur Coli-
bazillen wuchsen. |
Jedenfalls gibt es nach diesen unseren Beobachtungen typhöse
Infektionen von derartig protrahiertem Ablauf, und es ist mir
durchaus wahrscheinlich, daß in ihnen, und zwar am wahrschein-
lichsten durch Vermittlung langdauernder Toxin-
wirkungen, ein Grund gegeben ist für die Entwicklung perniziös-
anämischer Blutalterationen, ganz nach Analogie anderer sekundärer,
von den essentiellen oder besser kryptogenetischen perniziösen
Anämien nicht oder kaum sich unterscheidender schwerster perniziöser
Blutentartungen nach subakuten bakteriellen Erkrankungen; Len-
Anaemia perniciosa im Gefolge sehr protrabierter typhöser Erkrankungen. 9
hartz!) erwähnt in mancher Hinsicht auffällig mit dem Bild der
perniziösen Anämie übereinstimmende Alterationen bei langdauernden
Kokkeninfektionen, Golubow?) sah progressive perniziöse Anämie
aus Sepsis im Anschluß an eine binnen 8 Monaten letal endende
gemischte Infektion von den oberen Atemwegen aus hervorgehen,
sehr perniziosaähnliche Blutveränderungen durch über Monate sich
hinziehende Endocarditis sind bekannt und wurden wiederholt von
uns bis zum letalen Ende verfolgt. Auch die jetzt viel verfochtene
Theorie der intestinalen Entstehung der Biermer’schen Krank-
heit rechnet schließlich mit Bakteriotoxinen als kausalen Faktor.
In unseren Fällen, gerade bei T'yphen, rückt die von Fraenkel
nachgewiesene Einschwemmung und lange Haftung der Erreger
im Knochenmark unter Bildung von Nekrosen ohne celluläre
Reaktionen uns eine Erklärungsmöglichkeit für die Schädigung der
blutbildenden Gewebe und des Blutes nahe, mehr aber noch als
diese Annahme solcher direkten lokalen Bakterienwirkung läßt
sich die Hypothese stützen, daß die sich bei jedem Typhus in
einer gehemmten Genese und damit veränderten Ausschwemmung
von Granulocyten dokumentierende, mit einer lähmenden Aktion
der Typhustoxine erklärte Insufficienz des Knochenmarks (Naegeli)
sich bei sehr langem Bestehen der Krankheit auch in schweren
und irreparablen Beeinträchtigungen der Erytlıropoiese zu äußern
vermag. Im gewöhnlichen Bilde selbst schwerster Typhen tritt
eine so hochgradige Beeinträchtigung nicht hervor, — einfache
anämische Zustände begleiten sie in der Regel, deren langsames
Ausgeglichenwerden nur hin und wieder auffällt: nach Cursch-
mann?) hatte es sich bisweilen selbst in 7 Wochen nach ab-
gelaufenem Fieber noch nicht vollzogen. In solcher Hinsicht stehen
unsere Beobachtungen isoliert da. Es ist nach unseren bisherigen
unzureichenden Kenntnissen von der Ätiologie der „Kryptogenen“
Biermer’schen Anämie ebenso möglich, daß bei jenen Kranken
von vornherein eine Disposition zu ihr vorgelegen haben mag, wie
auch, daß bei verzögerter Krankleitsdauer eine anfängliche an
sich einfache, aber doch höhergradige infektiöse Anämie die sonst
gewöhnlich in 5—6 Wochen beendete Epithelisierung der Typhus-
geschwüre und die Überwindung des bazillären Infekts nicht zu-
stande kommen ließ und nun im Circulus vitiosus das blutbildende
Knochenmarksgewebe immer nachhaltiger toxisch beeinflußt wurde.
l) Nothnagel's Handb. Bd. VII.
2) Zentralbl. f. inn. Med. 9. 1913.
3) Nothnagels Handb. Bd. V.
10 REICHE
Aber auch diese Form der protrahierten Typhen bzw.
Paratyphen hat kaum Parallelen. Als atypische Verlaufsart wird
vom Typhus ein über Monate selbst sich hinschleppendes, durch
Komplikationen nicht erklärtes nicht sehr hohes hektisches Fieber
von Schottmüller erwähnt, der es bis über 95 Tage sich er-
strecken sah; dann aber erfolgte klinische Heilung, während in
unseren beiden Fällen die lethale perniziosaähnliche Blutentmischung
sich ausgebildet hatte, neben der bei dem einen bis zuletzt fiebernden
Mann ein mächtiger Milztumor sich fand, bei dem anderen allem
Anschein nach seit langer Zeit bereits Apyrexie bestand: und beide
Male saßen noch unverheilte Typhusulcerationen im [leum und bei
dem einen bakteriologisch untersuchten Patienten gelang der Nach-
weis weit noch im Körper verbreiteter Paratyphuskeime. Eine
derartig unter uns unbekannten Bedingungen verzögerte Heilung
läßt uns Beobachtungen wie die Schottmüller’s verstehen, sie
selbst wird nicht durch sie erklärt. Etwas näher liegt unseren
Fällen der von Freund?) veröffentlichte, einen Paratyplius be-
treffend, welcher mit hohem stark remittierendem, erst gegen Ende
allmählich niedriger werdendem Fieber sich bis zum 183. Tage
hinzog und bei seiner Entlassung am 205. „abgesehen von einer
mäßigen Anämie“ fast zur Norm sich zurückgebildet hatte. Je-
doch auch hier besteht eine große Differenz in dem schließlich
benignen Ausgang der Krankheit und der fehlenden tiefen und
irreparablen Schädigung des Blutes.
Die von F. Meyer?) aus dem Felde mitgeteilten Beobach-
tungen über chronischen Typhus und Paratyphus seien der Voll-
ständigkeit halber erwähnt, wenn auch die afebrilen und undulierend
subfebrilen sowie die periodisch fieberhaften Verlaufsformen durch
ihren Fieberablauf nicht minder wie durch den Mangel mancher
sie charakterisierender Begleitsymptome, Kopfschmerzen, Schlaf-
losigkeit, Appetitlosigkeit, rheumatischer Beschwerden, Schienbein-
schmerzen, und den gutartigen Gesamtverlauf bei fast immer nor-
malen Leukocytenwerten gewichtige Verschiedenheiten boten, auclı
die betonte auffallende Blässe nur in einer Herabsetzung des Hb-
Gehaltes und in Zeichen einer sekundären Anämie ihre Begründung
fand. Gleiches gilt von Krehl’s auf dem Internen-Kongreß in
Warschau gemachten Bemerkungen über atypische Verlaufsbilder
der Typhen — daß die Milz in diesen oft bis zu erstaunlich hohen
l) Dtsch. Arch. f. klin. Med. CVH, 1912.
2) Münch. med. Wochenschr. 35, 1918.
Anaemia perniciosa im Gefolge sehr protrabierter typhöser Erkrankungen. 11
Graden sich vergrößert zeigte, sei im Hinblick auf unseren Fall I
herausgehoben —, denn seine vielfach über lange Zeit, nicht selten
Monate, und gerade bei ganz leichten Krankheitserscheinungen,
sich erstreckenden Fälle waren nur durch ihre den Meisten neue
Dauer bemerkensweit; und diese letztere wieder, wie auch in
der überwiegenden Mehrzahl der Meyer’schen Fälle, war durch
die voraufgegangenen Schutzimpfungen der Kriegsteilnelimer erklärt.
Die unter dem klinischen und anatomischen Bilde
des Abdominaltyphus ablaufende Form der sehr ver-
schielener Äußerungen fähigen Paratyphusbazilleninfektionen
zeichnet sich gemeinhin durch schwächeres Ausgesprochensein der
Symptome und der Neigung zu Komplikationen, durch sehr viel
niedrigere Letalität und somit weit bessere Prognose aus, — es
ist um so bemerkenswerter, daß wir gerade bei ihr diese über
Monate sich hinzögernden und selbst in so langer Zeit anatomisch
nicht zur Ausheilung gelangenden Ablaufsformen und einen Über-
gang in eine schwere unaufhaltsame letale Störung der Erythro-
poiese feststellen konnten, sowohl in unserer einen bakteriologisch
gesicherten als auch in der anderen nur epidemiologisch wahr-
scheinlich gemachten Beobachtung von Paratyphus abdominalis;
dab die Paratyphen trotz der im Vergleich mit den Typhen durch
Eberth’'sche Bazillen größeren Benignität durchweg den Organis-
mus schwer affizieren, hatten Meslay und Coville?) schon unter
Hinweis auf die langen nach ihnen notwendigen Rekonvalescenzen
behauptet.
I Gaz. des höpit. LXXX. 51.
12
Aus der Medizinischen Klinik Heidelberg.
Über Pupillenungleichheit und vegetative Asymmetrie bei
Postencephalitis.
Von
Dr. K. Hansen und cand. med. Goldhofer.
Häufiger, als es nach den Angaben der Literatur den An-
schein hat, treffen wir auf postencephalitische Krankheitsbilder der
hemilateralen Form: die Anamnese, die Klagen, der Krankheits-
verlauf, der unmittelbare Eindruck des Kranken verraten schon
unzweideutig den Encephalitiker, eingehendere Untersuchung be-
stätigt die Diagnose, — aber eigentümlicherweise scheinen die
Symptome auf eine Körperseite beschränkt, jedenfalls auf einer
Körperseite auffallend viel deutlicher ausgeprägt als der anderen:
nicht immer rechts und links so scharf geschieden wie bei folgen-
dem Patienten (J.):
Der linke Arm schlenkert während des Gehens rhythmisch mit,
der rechte steht, wie aus Wachs geformt, leblos am Rumpf und
hebt sich nur auf Aufforderung langsam, unfrei, wie von einer
unpersönlichen inneren Mechanik bewegt, und doch zielsicher je
nach der gewählten Aufgabe. Versucht man den rechten Arm
passiv zu bewegen, so ist es, als ob man einen Stab durch zäh-
fiüssigen Teer durchführen müsse. Am linken Arm ist nichts von
dieser Rigidität zu spüren. Und ähnlich verschieden sind linkes
und rechtes Bein. Die Mimik des linken Gesichtes spricht, lächelt
und erschrikt usw., — über dem rechten Antlitz liegt eine un-
heimliche Ruhe, eine zur unpersönlichen Grimasse erstarrte Be-
wegungsarmut, belebt nur durch eine sprechende Wärme des Auges.
Aber das Auge scheint in Tränen zu ruhen, während das linke
nur den feuchten Glanz notwendiger und gewöhnlicher Benetzung
hat. Am rechten Rockaufschlag und an der Weste sind Spuren
feuchter Flecken; und wenn nicht ein Taschentuch der Mund ver-
Über Pupillenungleichheit und vegetative Asymmetrie bei Postencephalitis.
l i ) l <
birgt, kann man gelegentlich sehen, wie ein Speicheltropfen aus
dem rechten Mundwinkel abfließt und zu jener Benetzung des An-
zuges Anlaß wird usf.
Nicht in allen Fällen ist das Bild so kraß, rechts gegen links,
oft sind nur Unterschiede dem Grade nach, immer aber in den
hier gemeinten Fällen deutlich, auffallend.
Was — in einem anderen größeren Zusammenhang — unser
besonderes Interesse an diesen Patienten erzwang, war das Ver-
halten der Pupillen. Bei allen hier zu schildernden Patienten des
„Halbseitentypus“ fanden wir trotz normaler Refraktion und intakter
Augenmuskelleistung, prompter Licht- und Konvergenzreaktion stets
eine Pupillenungleichheit mit weiterer Pupille auf der erkrankten
Seite. Wir meinen nicht eine wechselnde Anisokorie, nicht eine
springende Mydriasis, die wir wie Cords (2), Heß (6), Pette (13),
Westphal(15) u.a. bei akuter Encephalitis beobachten konnten;
die in dieser Mitteilung beschriebenen Kranken boten seit Monaten
und Jahren ein völlig stationäres Krankheitsbild, und da-
mit mag wohl auch die Konstanz des Pupillenbefundes zusammen-
hängen. Wir haben die Kranken während vieler Wochen, manche
sogar während Monaten und Jahren beobachtet und immer den
gleichen Befund erheben können. Dabei ist für die Prüfung der
Pupillenweite wohl zu beachten, daß gleiche Belichtungsstärke für
beide Augen sowie gleicher Lichteinfallswinkel (Hoche (7)) ge-
geben sind, daß keine Refraktionsanomalien, keine lokalen Augen-
erkrankungen vorliegen (Corneatrübungen, Linsentrübungen usw.,
Synechien usw.) Die beobachtete Differenz beträgt gewöhnlich
"„—1l mm für den Pupillendurchmesser, manchmal auch 1'/,, ja
2 mm. Undeutliche Unterschiede werden bei Fernakkommodation
und Dunkeladaptation deutlich.
Die Verknüpfung von Mydriasis und extrapyramidalen Symptomen
der gleichen Seite bei Abwesenheit sonstiger Augenstörungen legt
es nahe, die Pupillenstörung in einen etwas weiteren funktionellen
Zusammenhang einzuordnen als in den der isolierten Sphinkter-
kernläsion, der für Pupillenstörungen bei der Encephalitis gewöhn-
lich verantwortlich zu machen ist. Die Pupillenweite, als Erfolg
einer abgestuften und ausgeglichenen Beziehung zweier korrespon-
dierender Wirkungen des autonomen Nervensystems, veranlaßte für
die genannten Fälle eine eingehendere Prüfung der Leistungen des
autonomen Nervensystems, die sich, vergleichend zwischen rechts
und links, auf folgende Funktionen erstreckte: Schweißsekretion,
Salivation, Tränensekretion, Piloerektion, Gefäßinnervation, Rigor
14 HaNsEN u. GOLDHOFER
und Tremor. Die Ergebnisse sind tabellarisch geordnet (siehe
Tabelle), doch sind vor ihrer Betrachtung einige methodische und
prinzipielle Anmerkungen zu machen:
Die Beobachtung erfolgt am unbeeinflußten Patienten, so wie er
sich der ärztlichen Untersuchung darbietet. Es hat sich jedoch als
zweckmäßig berausgestellt, in mehreren Fällen die vegetativen Funktionen
durch Darreichung von sog. vago- bzw. sympatbicotropen Giften zu
steigern: durch subkutane Injektionen von 1 mg Adrenalin hydrochlor.,
l ceg Pilocarpin hydrochlor.; erst danach wurde häufig eine latent be-
stehende Differenz der vegetativen Funktionen von rechter und linker
Seite manifest.
Die Schweißsekretionen beurteilten wir — makroskopisch —
in Hinsicht auf Zeit des Eintritts nach der Injektion und auf Stärke der
Schweißabsonderung. Durch Bestimmung des elektrischen Hautwider-
standes („relativer Minimalwiderstand* Sahlı (14)) — konstanter gal-
vanischer Strom, unpolarisierbare ZnSO, Elektroden von je 1 cm Durch-
messer — wurde die Beurteilung ergänzt. Salıvation: ebenfalls ein-
fache Beobachtung. Tränensekretion: ebenfalls einfache Beobachtung.
— Eine wertvolle Ergänzung bedeuten die Angaben der Patienten über
allfällige vermehrte Hautfeuchtigkeit einer Seite, relative Trockenheit der
einen Mundhälfte, vermehrte Feuchtigkeit des einen Auges. — Pilo-
erektion: bestehen Unterschiede zwischen rechts und links dem Grade
nach, so läßt sich auch für gewöhnlich ein Unterschied in der Dauer,
besonders aber im Zeitpunkt des Beginnes der Piloerektion nach Pilocarpin-
gabe feststellen. Gefäßinnervation: sie drückt sich aus in der Haut-
röte, der Hautwärme, dem Blutdruck (s. u... Nur bei deutlich sicht-
und fühlbarem Unterschiede wurde für die beiden ersteren eine Ver-
schiedenheit als bestehend anerkannt. Dabei untersuchten beide Ver-
fasser unabhängig und gelangten ausnahmslos zu der gleichen Beurteilung.
Auf eine quantitative Bestimmung der Hautwärme haben wir verzichtet, da die
zuverlässige Methode von Siemens- Halske (Widerstandsthermometer) wegen
der relativ raschen Verschiebung der Hauttemperatur unserer Patienten,
die Messung der Wärmestrahlung nach Cobet u. Bramigk(la)
wegen noch unbehobener technischer Schwierigkeiten der Methode nicht
anwendbar waren. — Gewisse Einwände drängen sich auf für die Be-
wertung von Blutdruckdifferenzen zwischen rechts und links. Mehrfach
beobachtet (Goldstein (5), Kahler (9), u. a.), sind sie insbesondere
von Golant-Ratner (3, 4) als Zeichen einer „Äsymmetrie der vege-
tativen Innervation“ betrachtet worden. Gesetzt, daß infolge einer ver-
schiedenen Stärke der Gefäßinnervation Veränderungen der Arterien-
spannung zwischen rechter und linker Seite aufträten, so ist darum aus
mechanischen Gründen noch nicht zu verstehen, wieso auch der Druck
der eingeschlossenen Blutflüssigkeit an entsprechenden Stellen verschieden
sein soll rechts gegen links; Druckdifferenzen würden in einem geschlossenen
Röhrensystem sogleich ausgeglichen werden. Die differenten Manometer-
werte auf veränderte Muskelspannungen der die Arterie umgebenden
Muskeln zu beziehen geht nicht für alle Fälle an (Kahler und Soll-
mann (9)), da auch unabhängig von den Muskelspannungen differente
Uber Pupillenungleichheit und vegetative Asymmetrie bei Posteneephalitis. 15
„Blutdruckwerte“ bei cerebralen Läsionen gefunden sind (Goldstein (5)).
Keine Schwierigkeit besteht hingegen, die relative Hypertension einer
Seite zu beziehen auf den erhöhten Gefäßtonus dieser Seite, der bei der
Messung nach Riva-Rocci stets mitgemessen. wird.
Kurzer Auszug aus den Krankengeschichten.
1. J. Beginn September 1923. Chronischer Verlauf: langsame Zu-
nahme der Symptome bis Ende 23. ‚Jetzt charakteristisches Bild: Be-
wegungsarmut des rechten Armes sowie des rechten Beines. Rigor,
feinschlägiger Tremor, rechts; Speichelfluß stets aus rechtem Mundwinkel:
„Trockenheit der linken Mundhälfte*. Amimie rechts; links kaum. Ge-
ringe Intelligenz, keine Arbeitslust; apatisch.
2. D. Beginn 1920 mit hohem Fieber, Doppelsehen, Schlafsucht.
Nach Rückbildung des akuten Schubs leichte Ermüdbarkeit; seit 1923
erschwerte Bewegung des linken Beins, Zittern im linken Bein, ebenso
im linken Arm. Speichelfluß; fast völlige Amimie des ganzen Gesichts,
Salbengesichtt. Gute Intelligenz, große Arbeitslust,e Auf Hyoscin
Besserung.
3. Z. Beginn März 1920 mit Fieber, Doppelsehen, Schlaflosigkeit,
Unruhe, choreatischen Zuckungen, letztere hauptsächlich im rechten Arm.
Später Schlafsucht. — Jetzt ganz charakteristisches Bild mit Betonung
der rechten Seite.
4. H. Juni 1924 Beginn mit Schlafsucht, bald Besserung und
Arbeitsfähigkeit. Nach drei Monaten zunehmende Steifheit des linken
Arms, der auch seither während des Gehens nicht mehr sthlenkerte.
Steifer Gang, linkes Bein schnell ermüdbar, vermehrter Rigor gegen
rechts. Facialisschwäche links.
5. Sch. Beginn 1920 mit Schlafsucht und Doppelsehen, linksseitig
gelähmt. Lähmung und Sehstörung nach vier Monaten zurückgegangen.
Ein Jahr zu Bett, jetzt charakteristisches Bild mit vermehrtem Rigor
links, keine Paresen, keine Pyramidenzeichen, keine Sensibilitätsstörungen.
6. Ku. Beginn 1918 mit Fieber, Schlafsucht, Kopfschmerzen,
Doppelsehen. Besserung nach einem halben Jahre bis zur Arbeitsfähig-
keit. 1922 Bewegungsverlangsamung, hauptsächlich der rechten Seite.
Zunehmend bis zu völliger Arbeitsunfähigkeit. Charakteristisches Bild
mit vermehrtem Rigor rechts.
7. Ke. September 1918 beim Militär angeblich an „Genickstarre“
erkrankt. Mai 1919 bemerkt Patient bei der Arbeit öfters Zittern des
rechten Armes, das mehrere Stunden anhält. Dies Zittern ist nie ganz
geschwunden, macht sich aber seit Oktober 1924 stärker und störend
bemerkbar. Befund Januar 1925: starres Gesicht ohne Mimik, dauernder
Tremor des rechten Armes, Rigidität der rechten oberen und unteren
Extremität. Keine Pyramidenzeichen. Facialisschwäche rechts, Kon-
vergenzschwäche.
8. E. Februar 1920 langsamer Beginn mit Zittern im rechten Arm,
zunehmend bis September 1924; bei Aufregungen verstärkt, erhebliche
zentrale Schwerhörigkeit rechts. Rigor rechts, vermehrte Tränensekretion
rechts. Keine Pyramidenzeichen.
9. Sa. Beginn April 1920 mit Fieber, Schlafsucht, Doppelsehen,
Steifheit im ganzen Körper (sehr schweres Bild). Geringe Besserung
16 Hansen u. (fOLDHOFER
Juli 1920; immerhin seither fast völlige Bewegungsarmut, sehr starkes
Zittern, Speichelfluß usw. Rigor und Zittern rechts stärker als links,
bei Aufregungen besonders ausgeprägt, ebenso während der Menses. —
Besserung durch Hypnose s. u.
10. Wa. Beginn 1918 mit Verwirrtheitszustand, Schlafsucht, Lähmung
der rechten Seite, seither Bewegungserschwerung, verringerte Kraft im
rechten Arm, Zittern. Leidet zunehmend unter seinen Beschwerden.
Januar 1925 typisches postencephalitisches Bild mit Rigor und Zittern
rechts. Objektiv sind Paresen nicht nachweisbar, linke Seite frei. Gute
Intelligenz. Ebenfalls auffallende Besserung nach Hypnose s. u.
Bei Patient H (4) und K (7) bestand noch eine Facialisschwäche,
bei K (7) außerdem eine Konvergenzschwäche. Sonst waren jedoch in
keinem der genannten Fälle Muskelparesen, Sensibilitätsstörungen, Pyra-
midenzeichen nachzuweisen.
Ergebnis.
Aus der Tabelle ersieht man, daß bei allen angeführten Patienten
außer der Pupillenungleichheit eine Störung in den Funktionen des
autonomen Nervensystems vorliegt und zwar im Sinne der Un-
gleichheit rechts zu links. Wenn eine Mydriasis rechts besteht.
so sind Schweißsekretion, Tränensekretion, Salivation, Piloerektivn.
Gefäßtonus, Rigor und Tremor der gleichen rechten Seite vermehrt
gegenüber links und entsprechend Hautwiderstand, Hautröte und
Hautwärme rechts herabgesetzt. Nicht in allen Fällen sind alle
vegetativen Funktionen gleichmäßig gestört; auch ist die Ver-
schiedenheit nicht immer gleich deutlich. Aber immer sind ın
allen Fällen die Funktionsstörungen einer Seite gleichsinnig: Über-
erregbarkeiten des sympathischen bzw. Untererregbarkeiten des
parasympathischen Systems. Wie bereits erwähnt, lassen sich die
Verschiedenheiten einiger Funktionen erst durch Adrenalin oder
Pilocarpin darstellen; oder eine an sich schon deutliche Differenz
wird durch die genannten Gifte besonders hervorgehoben.
Das prinzipielle Ergebnis ist in allen Fällen gleich oder ähn-
lich: Bei allen besteht eine bilaterale vegetative Asym-
metrie, d. h. eine Ungleichheit des Verhaltens der effektorischen
Organe des vegetativen Nervensystems zwischen rechts und links.
im Sinne einer mehr oder weniger deutlichen allgemeinen einseitigen
Übererrerbarkeit des sympathischen bzw. Untererregbarkeit des
parasympathischen Nervensystems.
Da wir für einen bestimmten Erregungszustand eines autonomen
Effektors — etwa die Pupille — aber nicht ohne weiteres ent-
scheiden können, inwieweit er Folge einer Erregung des Agonisten
‘oder einer Hemmung des Antagonisten oder einer reciproken Inner-
Über Pupillenungleichheit und vegetative Asymmetrie bei Postencephalitis. 17
vation beider ist, möchten wir für die genannten Fälle jedenfalls
von einer Verwendung der Begriffe Sympatikotonie und Vagotonie
absehen und sie ersetzen durch den Begriff des Sympathiko-Vago-
quotienten, oder kurz des autonomen Erregungsquotienten, der
innerhalb einer gewissen Reaktionsbreite bei Gesunden in der Ruhe-
lage gleich 1 ist il und für gewöhnlich auch auf beiden
el elel TE PEET Sy _ . Sy
Seiten gleich ist: re y, = li va’
Die geschilderten Befunde bei der Postencephalitis würden
danach also bezeichnet werden können als bilaterale Asym-
metrie des autonomen Erregungsquotienten.
Die als Horner’sches Syndrom bei Schädigung des Halssym-
pathicus bzw. des Cervikalmarks bekannte Trias hat Möbius (11)
durch Hinzufügung der Störungen von Hautwärme und Hautröte
erweitert; Minor (10) hat entsprechende Beobachtungen in großer
Zahl bei traumatischen Affektionen des Halssympathikus mitgeteilt.
Nicht gesetzmäßige Differenzen in den vegetativen Funktionen
beider Körperseiten bei Hemiplegien sind von Nothnagel,
Charcot, Bikeles und Gerstmann (1) [Schweißsekretionen
auf der gelähmten Seite] u. a. mitgeteilt worden (Oppenheim (12)).
Aber erst Golant-Ratner (3)(4) haben den Begriff einer Asym-
metrie der vegetativen Innervation eingeführt und zwar auf Grund
ihrer Befunde bei Otosklerose, Tuberkulose und Tetanie. Wir
achten seit Jahren auf eine solche allgemeine bilaterale Asymmetrie
bei nicht nervösen inneren Krankheiten entsprechend den in diesen
Fällen sehr häufig nachweisbaren Pupillenditferenzen. Eine all-
gemeine vegetative Asymmetrie hat sich jedoch in keinem von uns
beobachteten Fall einer nicht neurologischen inneren Erkrankung
mit befriedigender Sicherheit nachweisen lassen. Unter den vielen
hundert untersuchten Patienten haben wir 25, die besonders ge-
eignet schienen in der gleichen Weise durchgeprüft wie die ge-
schilderten 10 Postencephalitiker, jedoch nie eine gesetzmäßige
deutliche Differenz in den vegetativen Funktionen von rechter und
linker Seite gefunden. Die geschilderten Befunde an Postencephaliti-
kranken hingegen sind eindeutig und dürfen wohl — auch im
Sinne Golant-Ratner’s — als Ausdruck einer „Asymmetrie der
vegetativen Innervation“ (Erregbarkeit) betrachtet werden, wobei
allerdings zu bedenken ist, daß in den hier geschilderten Fällen
als Grundlage der Störung eine anatomische Veränderung (klein-
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 2
18 HaAnsEN u. GOLDHOFER
LJ.” | T aLa | LD2
vo. | Ai
i. normal >
2. nach Adrenalin 0.001 >+
3. nach Pilocarpin 0,01 g >
Schweißsekretion:
1. normal
2. Adrenalin
3. Pilocarpin | paa
Hautwiderstand: !) |
l. normal | 3300 3800 N 2600 | 1500
2. Adrenalin 2800 |, 3300 | 1900
|
|
Pupillenweite: Hi | |
3. Pilocarpin : 725 ; 1100
Tränensekretion:
1. normal ` i
2. Adrenalin | | |
3. Pilocarpin |
Salivation:
i. normal
2. Adrenalin
3. Pilocarpin
|
|
Piloerektion:
Hirn
1. normal
2. Adrenalin
3. Pilocarpin | H~n +w
Gefäßinjektion:
l. normal > nn In
2. Adrenalin | | >
3. Pilocarpin | |
Hautwärme: | | |
1. normal > m nm | ON nm
2. Adrenalin >>, | | |
3. Pilocarpin er |
Blutdruck : °) | |
l. normal 158 140 | 134 134 112 |
2. Adrenalin 184 | 164 | 134 I 134 | ' |
3. Piloearpin | |
Rigor: i
l. normal > | | |
2. Adrenalin | ++ |
3. Pilocarpin
Tremor: | | | |
1. normal | + 0 0 + 0 + 0,0 |
2. Adrenalin ++| 0 0 ++ 0 ++ 0 +H,
3. Piloearpin ++ 0 > |
1) In Ohm.
Über Pupillenungleichheit und vegetative Asymmetrie bei Postencephalitis. 19
8 E.F 932 O IOW
3, Sh. 9 | 6. Ku. 9 7. Ke. 4 |
w: l | re | li re | li re li > re ; li | re | li
|
| =
| > D Ap N
! | | +~ +~
>> 92 F
3470 | 3470 | 4600 4600 3000 4000 5450 |, 5450
| | |
| |
Ze. > > | |
= | T Sies F |
| |
n
| | | 2’ | | jede
O | früher | |
| als _ |
| links | |
| | | a
| >>| | 2?
früher
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| | | ‚links Ä
| | |
T S 2 a ~ yo o> o
| 2
| | |
| |
| m m > | > Ay MA S wN ~
Dr Ä
Ä ~ >w
t ' | !
! i ; vok | |
130. 180 148 148 ° 120 : 120 144 140 | 136 , 130
Ww 186 : 184 ; 166 146 146 | 154 ; 154 | 110 9
| | ' ' . |
| | |
$ p > ©) > Ser A J
|
fi | | ' '
0 00 0, 4j 0l 0b + 0
Oi +i +t 0 ++ pO e O | + 0
440
2 in mm Hg Csystolisch). a
20 Hansen u. (iOLDHOFER, Über Pupillenungleichheit usw.
zellige Infiltration) in der Gegend der benachbart liegenden vege.
tativen Centren einer Seite anzunehmen sei (8) (8a).
Zusammenfassung.
Bei 10 Postencephalitispatienten werden Störungen der vege-
tativen Funktionen beschrieben, die immer im Sinne einer ein-
seitigen Übererregbarkeit des sympathischen bzw. Untererregbarkeit
des parasympathischen Nervensystems miteinander verknüpft sind.
Dadurch entsteht ein Symptomenkomplex, der als bilaterale
vegetative Asymmetrie bezeichnet werden kann. Eine be-
stehende Pupillenungleichheit ist als Ausdruck dieses Symptomen-
komplexes aufzufassen.
Nachtrag.
Bei Pat. S. (9) erzielten wir jedesmal nach tiefer Hypnose eine
24—48 Stunden anhaltende auffallende Besserung des Tremors so-
wie des Allgemeinbefindens. Komplizierte, m. E. durch den Tremor
gestörte, Bewegungsabläufe wie Flechten der Zöpfe, Führung der
Nadel zu Handarbeiten, Einführen des Schlüssels ins Schlüsselloch,
kurz, eine Reihe der zu den genannten Handlungen nötigen Be-
wegungen, die sonst völlig unmöglich schienen und waren, gelangen
für die genannte kurze Zeit (24—48 Std.) befriedigend. Eine
länger dauernde Wirkung der Hypnose war bei dieser Patientin
mit sehr schwer gestörtem Organbefund nicht zu erreichen.
Bei Pat. W.(10) erzielten wir durch Hypnose eine solche an-
haltende Besserung des Tremors, Rigors und des subjektiven Be-
findens, daß Pat. als „geheilt“ entlassen worden ist. Er teilt mit,
daß sein guter Zustand sich gehalten hat.
Literatur.
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1913. — 15. A. Westphal, Zeitschr. f. d. ges. Neurol. u. Psychiatrie 68, S. 226, 1921.
21
Aus der medizin. Klinik der Universität Leipzig.
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie.
(Zugleich ein Beitrag zur Frage der experimentellen Über-
tragung der Arzneimittel-Idiosynkrasie.)
Von
Prof. Dr. Hans Günther.
(Mit 1 Abbildung.)
Das Problem der Arzneimittelidiosynkrasie war abgesehen von
häufigen dermatologischen Beschreibungen öfters Gegenstand der
Anaphylaxieforschung, entbehrt aber noch einer zusammenfassenden
klinischen Bearbeitung besonders bezüglich der Frage der kon-
stitutionellen Disposition. Eine solche Bearbeitung fordert zugleich
eine persönliche theoretische Stellungnahme zum Problem der
Anaphylaxie.
Der Zustand der Idiosynkrasie äußert sich in eigentüm-
lichen krankhaften Erscheinungen, welche durch ganz spezifische
Reize, meist bestimmte Eiweißkörper, ausgelöst werden nicht im
Sinne einer krankhaft gesteigerten Empfindlichkeit („Überempfind-
lichkeit*) gegen diese Reize, sondern als Ausdruck einer „Anders-
empfindlichkeit“. „Idiosynkrasie ist der Zustand eines Organismus,
der auf bestimmte Reize mit einer Reaktion antwortete, welche bei
normalen Organismen auf diese Reize überhaupt nicht erfolgt.“
Nach dem jetzigen Stande der Anaphylaxieforschung ist (nach der
Bearbeitung von Seligmann und v. Gutfeld) Anaphylaxie
eine gesetzmäßige Erscheinung, die durch geeignete Vorbehandlung
beijedem Vertreter einer Spezies ausgelöst werden kann, während
dieldiosynkrasie eine anormale Reaktion darstellt, welche an-
geblich keiner Sensibilisierung bedarf. Eine theoretische Klar-
stellung ist damit noch nicht erreicht. Es ergibt sich die Frage,
ob die Idiosynkrasie ein von der Anaphylaxie völlig verschiedener
22 (GÜNTHER
Vorgang ist, oder ob sie etwa einen besonderen anaphylaktischen
Zustand auf einer anormalen konstitutionellen Basis darstellt.
Diese Frage ist von der Anaphylaxieforschung noch nicht gelöst
worden. Gegen die mir wahrscheinliche Annahme, daß die Idio-
synkrasie eine auf Grund einer anormalen konstitutionellen Disposition
auf oft unbekannte Weise erworbene Anaphylaxie darstellt, hat die
Anaphylaxieforschung keine Beweise erbracht. Die anormale kon-
stitutionelle Disposition kann natürlich familiär oder hereditär sein.
Ich kann daher die gegenseitige Ausschließung der Begriffe Idio-
synkrasie und Anaphylaxie nicht anerkennen, welche in der Definition
liegt: „Die Anaphylaxie ist eine gesetzmäßige, erworbene, kon-
ditionelle Eigenschaft, die Idiosynkrasie ist ein abnormes, ererbtes,
Konstitutionelles Phänomen.“
Die begriffliche Deutung der Anaphylaxie hält sich zunächst
auf induktivem Wege an die äußere klinische Symptomatologie von
Vorgängen, deren inneres Wesen uns noch ein Rätsel ist. Die
Konstitutionsforschung ist geneigt, den umgekehrten deduktiven
Weg zu gehen, um die Phänomene im Rahmen der Ganzheit ver-
stehen zu lernen. Ich gehe aus von der grundlegenden Definition,
daß „Konstitution“ die Ordnung der den Organismus be-
stimmenden biologischen Faktoren ist (1). Ferner bezeichnete ich
a. a. O. (2) als wichtige biologische Tatsache „die Erhaltung
individueller Konstanten bei der Integration der morphologischen
und physiologischen Wesenkonstitution im fortschreitenden Lebens-
prozeß“. Als Beweis dafür führte ich die anaphylaktische Reaktion
nach parenteraler Einverleibung von fremdem Eiweiß an. „Der
anaphylaktische Shock bei der Reinjektion zeigt einen energischen
und komplizierten Abwehrkampf gegen diese exogene Gefährdung
der Konstitution an, da der Organismus unbedingt seinen individuellen
Eiweißbestand gegen Verunreinigungen durch fremde Elemente
schützen muß. Es gelingt dies auf dem Umwege der Bildung von
„Antikörpern“, deren Bindung an das Fremdeiweiß wohl unter
gleichzeitiger Adsorption der lipoiden Schutzkolloide zum Abbau
und daher zur Elimination des Fremdeiweißes führt. Dieser Prozeß
ist allerdings mit dem Auftreten von giftigen Abbauprodukten und
der Gefahr der Selbstverdauung des Organismus durch seine eigenen
Proteasen verbunden. Die überschüssig gebildeten Antikörper
können sich lange Zeit als mnemische Faktoren (1) und gewisser-
maßen als Wächter der Konstitution im Organismus erhalten, so
daß dieser sich noch in allergischer Umstimmung befindet. Hier
dient also die „Umstimmung“ zur Erhaltung der Konstitution.
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 23
Wie mit Eiweißkörpern lassen sich auch mit solchen Stoffen
anaphylaktische Erscheinungen hervorrufen, die dem Organismus
angehörige Eiweißstoffe körperfremd zu machen vermögen, dagegen
gelingt es nicht, den Organismus durch Fette oder Kohlenhydrate
in gleicher Weise, wie mit Proteinen allergisch umzustimmen,
Daraus kann man schließen, daß Eiweißkörper das organisch-
chemische Substrat des konstitutionellen individuellen Ordnungs-
komplexes eines Organismus bilden, während Fette und Kohlen-
hydrate nur als Stoffwechselmaterial in diesen Komplex eingeschaltet
sind“ (2). Die Anaphylaxie erscheint bei dieser Betrachtung als
ein Zeugnis von dem im Biokosmos herrschenden Gesetz der
Erhaltung der Ordnung d. c. 3), die Idiosynkrasie als eine
besondere Form der Anaphylaxie, welche auf Grund einer anormalen
Disposition nur bei wenigen Individuen entstehen kann.
Die anaphylaktische Reaktion erscheint somit als eine Funktion
der Ganzheit des Organismus, wenn auch ihre Auswirkung
natürlich an die Funktion gewisser Körperzellen gebunden ist. Die
heutige Anaphylaxieforschung betont die gewebliche Lokalisation
der anaphylaktischen Reaktion. „Der an die Gewebe fixierte Anti-
körper bedingt Anaphylaxie, der frei kreisende Immunität. Das
anaphylaktische Tier hat Mangel, das immune Überschuß an freien
Antikörpern“ (Seligmann und v. Gutfeld).
Auch für die Anaphylaxie wird, besonders von Besredka und
Doerr, die „celluläre Natur“ der Reaktionen hervorgehoben, die
oft durch die individuelle Eigenart der Lokalisation imponiert. Es
ist also weniger die chemische Natur des Mittels für die Lokali-
sation entscheidend, wenn auch nähere Beziehungen, z. B. des Jodo-
forms zur Haut, der Ipecacuanha zu den Bronchien symptomatisch
bekannt sind. Die individuelle Verschiedenheit der Reaktionen
weist vielmehr auf die grundlegende Bedeutung konstitutioneller
Faktoren hin. Jeder Arzt kennt aus eigener Erfahrung derartige
Beispiele. Bei einem mir bekannten Chemiker hatte eine Hühner-
eiweißidiosynkrasie eine lästige Schwellung der Lippe und Heiser-
keit zur Folge. Auch bei kutaner Applikation zeigen solche Nahrungs-
mittelidiosynkrasien nach Jacquelin und Richet jedesmal die
der Person eigentümliche Reaktion, wie Diarrhöe, Ödem an be-
stimmten Körperstellen, Urtikaria.
Aufgabe der Konstitutionsforschung ist es nun, diese Mannig-
faltigkeit der individuellen idiosynkrasischen Reaktionen systematisch
zu ordnen und besondere physiologische oder pathologische Korre-
lationen nachzuweisen. Eine gewaltige Zahl von Tierversuchen
24 GÜNTHER
zeigte den Experimentatoren, die sich für feinere klinische Details
weniger interessierten, bei einer Tierart immer wieder den von der
chemischen Konstitution des vorbereitenden Mittels unabhängigen,
in großen Zügen einheitlichen, charakteristischen Verlauf des
anaphylaktischen Shocks, der als eine gesetzmäßige physiologische
Erscheinung angesehen werden mußte. Andererseits waren aber
auch die artspezifischen Unterschiede des anaphylaktischen Shocks
bekannt; der Meerschweinchentyp und der Kaninchentyp des Shocks
zeigen u. a. weitgehende Differenzen. Für die experimentelle
„physiologische“ Anaphylaxie ist also mindestens die Konstitution
der Spezies maßgebend. Rassenunterschiede sind besonders bei der
Präzipitingewinnung bekannt; unter den verschiedenen Laboratori-
umstieren geben Kaninchen die günstigsten Resultate und unter
diesen wieder sind nach Uhlenhuth die langohrigen Kaninchen
am besten geeignet, doch bestehen nach Dold noch beträchtliche
individuelle Unterschiede bezüglich der Eignung zur Präzipitin-
bildung. Die klinischen Erfahrungen über Idiosynkrasie weisen
ohne weiteres auf die Bedeutung der Individualkonstitution hin.
Zur Ausarbeitung der Konstitutionstypen der Idiosynkrasie
scheint mir anfänglich der Weg ungeeignet zu sein, die Idiosyn-
krasie im allgemeinen ohne Rücksicht auf das auslösende Mittel
zusammenzufassen. Doch liegen in dieser Richtung Versuche vor.
Ohne Zweifel sind Idiosynkrasiker sehr oft psychisch labile,
leicht erregbare, erethische, „neuropathische“ Individuen; genauere
Forschungen müssen erst ergeben, ob es sich um eine gesetzmäßige
Korrelation handelt. !)
In der Bearbeitung von Seligmann und v. Gutfeld werden
in Übereinstimmung mit H. Wiedemann verschiedene klinische
Typen aufgestellt, je nachdem die Hauptreaktionen die Lunge, den
Darm oder die Haut betreffen. Die Autoren unterscheiden 1. eine
asthmatische Form, welche außer Asthma starke Cyanose und
Urtikaria aufweisen kann, 2. eine gastrointestinale Form,
welche mit Schleimhautschwellungen der Lippen, Zunge, des Darmes,
mit Erbrechen, Durchfall und Urtikaria verlaufen kann, und 3. eine
1) Diese Beteiligung des Nervensystems wurde in früherer Zeit, wo aller-
dings der Begriff der Idiosynkrasie nicht so eng gefaßt war, als heute, mehr
hervorgehoben, wie eine Definition des Bonner Klinikers Naumann (1835) er-
kennen läbt. nach welcher die („bei zivilisierten Völkern häufiger“) Idiosynkrasie
„eine in der Regel angeborene, bisweilen erbliche, selten erst erworbene Stimmung
des Nervensystems, vermöge welcher dasselbe gegen einzelne der gewöhnlichen
Lebensreize auf ganz eigentiimliche Weise reagiert“.
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 25
„dermatogene* Form, welche außer Urtikaria auch andere Exantheme
enthält. Die Urtikaria ist also nicht auf einen Typus beschränkt.
Starke Fieberreaktionen scheinen den Autoren nicht bekannt zu
sein, denn „höchstens begleiten leichte Fiebererscheinungen den
Ausbruch“ der exanthematischen Form.
In der Regel erstreckt sich die Idiosynkrasie auf einen be-
stimmten chemischen Körper; zuweilen kann man bei weiteren
Familienmitgliedern andere Idiosynkrasiearten nachweisen; selten
kommen auch bei demselben Individuen mehrere Idiosynkrasiearten
vor. Eine Übersicht über eine größere Zahl solcher Idiosyn-
krasiekomplexe kann vielleicht weitere Schlüsse ermöglichen.
Ich beschränke das zur Feststellung konstitutioneller Typen
dienende Material zunächst nur auf die Idiosynkrasie gegen Arznei-
mittel der Antipyringruppe, über die eine große Zahl klinischer
Beobachtungen vorliegt. Hiergegen könnte der Einwand gemacht
werden, daß es sich um eine besondere Auslese handele, da nur
zu bestimmten Krankheiten Disponierte erfaßt werden. Im Beginn
der Antipyrintherapie (1884) wurden allerdings vorwiegend Gelenk-
rheumatismen, Hochfiebernde (Typhus, Tuberkulose) und Migräne-
patienten behandelt. Mit dem weiteren Ausbau der pharmazeuti-
schen Kombinationen sind aber viele die Antipyrinkomponente ent-
haltende Mittel so sehr bei allerlei kleinen und größeren Beschwerden
Mode geworden, daß eine besondere Auslese nicht mehr in Be-
tracht kommt.
Als Mittel der Antipyringruppe sind hauptsächlich zu nennen
neben dem Antipyrin oder Phenyldimethylpyrazolon selbst, für
welches hier das Zeichen U] eingeführt wird:
Pyramidon= Dimethylamido-Antipyrin = O — N(CH, ),.
Melubrin == Antipyrin-amidomethansulfonsaures Natr.
— O — NH.(CH,)-SO,ONa.
Novalgin == Antipyrin-methylamidosulfonsaures Natr.
= O —N:CH,:CH,:S0,0Na.
Salipyrin = Salizylsaures Antipyrin.
Migränin = Antipyrin 0,85, Koffein 0,09, Acid. citric. 0,06.
Veramon == Dimethylamino- Antipyrin 4 Veronal.
Trigemin = Pyramidon +4 Butylchlorhydrat.
Allional ==Isopropylpropanylbarbitursaur. Pyramidon.
Zunächst sei hervorgehoben, daß die Antipyrin-Idiosynkrasie
nichts mit der eigentlichen Antipyrinvergiftung zu tun hat. Als
Symptome der Antipyrinintoxikation werden Herzlähmung, Schädi-
gungen des Zentralnervensystems (Krämpfe, Lähmungen), Blutdruck-
26 GÜNTHER
steigerung angegeben. Ein Fall eigener Beobachtung verlief
folgendermaßen:
P. A. 19jähr. Drogist. 10.— 20. II. 1920 in medizin. Klinik Leipzig.
Mit 11 Jahren epinale Kinderlähmung, sonst nicht krank gewesen,
Nimmt am 9. II. abends 7b aus Arger über familiäre Angelegenheit in
selbstmörderischer Absicht etwa 30 g Antipyrin. Danach die ganze
Nacht ruhig geschlafen. Am 10. II. früh 8 nach Erwachen bei klarem
Sensorium Muskelschmerzen besonders in beiden Oberarmen. Bewegungen
der Extremitäten erschwert, konnte nur mit Mühe nach einem Glas
Wasser greifen und es nicht zum Munde führen. Stehen wegen Schwindel-
gefühl nicht möglich. Mittags 1b zweimal Erbrechen. 23° Aufnahme.
Klagen über Mattigkeit und starke Schmerzen in Oberarmen. Befund:
Gesichtsröte, starke Schweißsekretion (besonders an Stirn), kein Haut-
exanthem. Selbstgewählte Bauchlage. Temp. 37,0. Beiderseits Hammer-
zeben und geringer Pes equinovarus. Atrophie und Verkürzung des
linken Beines (von Poliomyelitis ant.), schlaffe Lähmung linken Fußes.
Normale Mobilität des rechten Beines. Linkes Bein zeigt gegen rechts
geringere Behaarung, weniger Schweiß, neigt aber mehr zum Kältegefühl.
Kann ohne Schwindel stehen, Gang sehr unsicher. Grobe Kraft der Arme
normal. Druckschmerz der Oberarmmuskulatur (besonders des Biceps).
Mydriasis, Patellarrefl. r. schwach, l. fehlend, Achillesrefl. fehlt bds.
Kremasterrefl. fehlt. Keine Ataxie des r. Beines. Sensibilität normal,
keine Blasenstörung. Puls 110. Blutdruck min. 80, max. 130 mm Hg.
Urin sauer, dunkelrotbraun. Albuminurie (5 °/,,), Hämoglobinurie,
kein Urobilin, eine Spur Hämatoporphyrin (l. c. 5 in Tabelle angeführt),
mit Eisenchlorid starke Rotfärbung (Antipyrinreaktion). Im Sediment
sehr viele Zylinder, Leukocyten, keine Erythrocyten.
11. II. Rückenlage. Gesichtsröte noch vorhanden. Hyperalgesie
der Oberarme, Ameisenkribbeln und Hyperämie beider Hände. Saures
Aufstoßen. Starke Cylindrurie. Urin 1100, spez. Gew. 1010. Schwäche
in Armen und Händen. Blutdruck 115. Puls 132.
12. II. Hämoglobinurie geschwunden. Spur Albumen. Urin
hellrötlich.
Hyperämie und Schwäche der Hände besteht noch. Starke Reactio
rubra der Hautgefäße, Blutdruck 105.
13. II. Oberarmschmerzen bestehen noch, Handröte geringer. Urin
weniger Zylinder, kein Hb.
14. II. Hyperalgesie der Oberarme. Handröte geschwunden. Urin
frei von Eiweiß und Zylinder.
20. II. Schwäche des linken Beines sei noch in höherem Grade vor-
handen, als vor der Vergiftung. Sonst beschwerdefrei entlassen.
Andererseits kann nach längerem Gebrauch eine Gewöhnung
und Wirkungslosigkeit des Mittels eintreten, die Lewin als Anti-
pyrinismus bezeichnet.
Daß Antipyrin-Idiosynkrasie bei der ersten Einverleibung des
Mittels auftreten kann, scheint mir nicht hinreichend verbürgt zu
sein. In der Regel tritt die Idiosynkrasie auf, nachdem das Mittel
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 27
längere Zeit hindurch (etwa 8 Tage) in wiederholten Gaben auf
den Organismus gewirkt hat. Besondere Resorptionsvorgänge aus
dem Darm spielen keine Rolle, da die parenterale Einverleibung
des Mittels an sich auch nicht zur Idiosynkrasie führt. Wahr-
scheinlich bewirkt das Mittel auf der Basis einer anormalen Kon-
stitution, deren Wesen uns unbekannt ist, nach längerer wieder-
holter Einwirkung die Veränderung besonderer Eiweißkörper des
Organismus, welche dadurch die Bedeutung eines körperfremden
Antigens gewinnen, gegen welches Antikörper gebildet werden.
Der anormale konstitutionelle Boden der Antigenbildung kann auf
weiter oder enger begrenzte Gewebsteile beschränkt sein. Die
individuelle Lokalisation des Antigens bildet wohl die Grundlage
für die verschiedenen Konstitutionstypen der Idiosynkrasie, während
die Antikörper bei dieser Anschauung nicht primär örtlich fixiert
zu sein brauchen. Wo und in welcher Weise diese anormale
chemische Reaktion qualitativ verläuft, ist unbekannt. Einen Hin-
weis auf die konstitutionelle anormale Anlage gibt auch die Be-
obachtung einer Antipyrin-Idiosynkrasie bei Mutter und Tochter
(Besnier). Die Anomalie scheint nicht sehr selten zu sein, denn
schon in der ersten Zeit der Antipyrin-Ära wurden zahlreiche Fälle
bekannt, nachdem bereits 1884 Ernst und Alexander auf Anti-
prrinexantheme aufmerksam gemacht hatten. Mit der Zunahme
der Publikationen, die nicht nur dermatologische Befunde solcher
Exantheme betrafen, mußte die Mannigfaltigkeit der Reaktionen
auffallen. Die Frage drängt sich auf, ob die oben angedeutete
anormale chemische Reaktion stets in dem gleichen Sinne verläuft,
so daß abgesehen von quantitativen Schwankungen die individuelle
Verschiedenheit der Reaktion gegen stets den gleichen qualitativen
Reiz nur auf konstitutionellen Unterschieden der Patienten beruht,
oder ob die konstitutionelle Abweichungen der Disposition auch
darin zu suchen sind, daß die anormalen chemischen Reaktionen
bei verschiedener konstitutioneller Grundlage in differenten Rich-
tungen verlaufen können. Letztere Annahme ist weniger wahr-
scheinlich, doch muß sie später noch einmal diskutiert werden.
Das klinische Material ist also daraufhin zu untersuchen, ob
verschiedene konstitutionelle Typengruppen aufgestellt werden
können, die nach Antipyringabe in bestimmter Weise auf die
sekundären Produkte reagieren. Dabei scheiden gewisse auf patho-
logischer Basis erstandene Reaktionen aus. So kann bei einem
Epileptiker im idiosynkrasischen Zustande ein epileptischer Anfall
ausgelöst werden, Crampi, Tremor, Neuraleien, Ischurie wurden
98 GÜNTHER
notiert, an Störungen des Kreislaufs Leidende können schweren
Kollaps bekommen. Bei subkutaner Anwendung des Mittels wurden
zuweilen an der Injektionsstelle schmerzhafte Schwellungen, sogar
Gangrän beobachtet.
Es werden hier drei Hauptgruppen aufgestellt. Die erste
Gruppe enthält die „Pyretiker“, welche mit hohem Fieber meist
unter Auftritt eines Exanthems reagieren, die zweite Gruppe die
„Oxyphilen“, also solche Individuen, welche auch unter der
hämatologischen Etikette der „eosinophilen Diathese* zusammen-
gefaßt werden und klinische Symptome von Asthma, Urtikaria,
eosinophilem Darmkatarrh bieten können, die dritte Gruppe die
„Herpetiker“.
I. Gruppe der Pyretiker.
Das Antipyrin wurde bekanntlich, wie auch der Name sagt,
anfangs als fieberherabsetzendes Mittel verordnet. Normalerweise
wird nach pharmakologischer Ansicht durch Antipyrin der Er-
` regungszustand des zentralen Wärmezentrums herabgesetzt; es er-
folgt dann unter Erweiterung der Hautgefäße eine Steigerung der
Wärmeabgabe. Bei Ausschaltung des Wärmezentrums im Hypo-
thalamus verändert Antipyrin nach Isenschmidt die Körper-
temperatur nicht; es könne dann aber öfters zu Temperatursteigerung
kommen durch Steigerung des Muskeltonus und der Atemfrequenz.
Eine solche scheinbar konträre Wirkung dürfte aber nur nach sehr
hohen Dosen auftreten, wie sich auch aus der oben geschilderten
Toxikologie des Mittels ergibt.
Ein ganz anderes Phänomen ist das „Antipyrinfieber“
des Idiosynkrasikers, welches zuerst von Fraenkel und von
Laache (1886) beobachtet wurde, da es nicht als eine direkte
„Konträre Antipyrinwirkung“ (Laache) aufzufassen ist, sondern
als die Reaktion einer besonderen konstitutionellen Gruppe der
Pyretiker auf ein im Körper nach Antipyringaben gebildetes
sekundäres Produkt. Der Pyretiker weist also erstens die kon-
stitutionelle Anomalie der Disposition zur Antipyrin-Idiosynkrasie
und zweitens die konstitutionelle Besonderheit der meist von
Exanthem begleiteten Fieberreaktion, — vielleicht auch im Sinne
R.Schmidt’sein erhöhtes „pyrogenetisches Reaktionsvermögen“ auf.
Es wurde bereits erwähnt, daß diese Idiosynkrasie wenigstens
in der Regel erst nach mehrfacher Anwendung des Mittels eintritt,
also auf einer erworbenen Umstimmung des Organismus beruht.
In der ersten Zeit der hohen Antipyrindosen erfolgte die Um-
stimmung nach Einnahme von 19g in 9 Tagen (Bernoulli), 30g
Konstitutionstypen der Idivsynkrasie. 29
in 6 Tagen (Fraenkel), 30 g in 10 Tagen (Laache), 34 g in
10 Tagen (Ruge). Ein von mir beobachteter Fall, der später be-
schrieben wird, vertrug zunächst etwa 14 g Pyramidon in 3 Wochen,
ohne daß eine Idiosynkrasie auftrat. Ob wesentlich geringere
Dosen schon zu dieser Umstimmung führen, wie es z. B. von
Müller’s Patient berichtet wird, ist nicht einwandfrei erwiesen,
da eventuell vorheriger Gebrauch des Mittels der Feststellung ent-
gangen ist.
Die der Disposition zugrunde liegende konstitutionelle Anomalie
muß nach der klinischen Erfahrung als ziemlich selten bezeichnet
werden. Nur durch den sehr häufigen Gebrauch des Mittels ist
eine ziemlich große Zahl von Fällen bekannt geworden. Nach
Beobachtungen an der Berliner Charite, wo etwa 1000 Patienten
mit Gelenkrheumatismus der Antipyrintherapie unterworfen wurden,
schätzte Ruge die Häufigkeit der pyretischen Idiosynkrasiefälle
auf etwa 3 pro Mille. Alter und Geschlecht scheinen keinen Ein-
fluß zu haben. Fieberreaktion mit Exanthem wurde im Alter von
10 Jahren und auch 52 Jahren beobachtet; Demme scheint sie
mehrmals bei Kindern beobachtet zu haben (Freuchen berichtet
von erworbener Antipyrin-Idiosynkrasie bei einem 9 Monate alten
Kinde). S. Welt behauptet, daß das Antipyrinexanthem häufiger
bei Frauen vorkommen, doch ergibt die Berechnung des mittleren
Fehlers, daß unter Berücksichtigung der Zufallsschwankungen eine
solche Annahme (9,6 °; der behandelten Männer, 11,6°/, der Frauen)
nicht statthaft ist.
Es mag eine Folge der früher weit verbreiteten Mode der
Antipyrinbehandlung des Gelenkrheumatismus sein, daß diese Form
der Idiosynkrasie relativ oft bei Gelenkrheumatismus beschrieben
wurde Immerhin muß hervorgehoben werden, daß die Mehrzahl
der genauer publizierten Fälle Patienten mit Gelenkrheumatismus
betrafen; meist war es akuter Gelenkrheumatismus (Fraenkel,
Ruge, Müller) oder subakute Polyarthritis mit Pleuroserositis
(Bernoulli); ein eigener Fall betrifft chronische Arthritis.
Eine Idiosynkrasie gegen andere Arzneimittel (außerhalb der
Antipyringruppe) ist meist nicht zum Vorschein gekommen. Salizyl-
säure wurde gewöhnlich gut vertragen (Bernoullis Patientin
bekam nach Salizylsäure Pruritus universalis, vertrug aber Anti-
febrin). Dies ist besonders deshalb hervorzuheben, weil auch nach
Salizylsäure Fieberreaktionen beobachtet wurden (Lürmann be-
schrieb 1876 Schüttelfrost, Fieber, Ödeme an Unterarmen und Unter-
30 GÜNTHER
schenkeln, Baruch nach 2,0 Fieber bis 40° ohne Exanthem, Erb
Fieber bis 40,2, Erythem, Abschuppung).
Das Fieber der Antipyrin-Idiosynkrasie tritt etwa 1—2 Stunden
nach Einnahme des Mittels oft unter initialem Schüttelfrost und
steilem Anstieg auf und erreicht eine Höhe von 39—40° (Eisen-
mann, Ruge), 40—41° (Fraenkel, Müller, Laache, Bernoulli,
eigene Beobachtung), sogar 41,5° (Fedeli). Der Puls zeigt ent-
sprechende Frequenz. Die Dauer der Fieberreaktion beträgt mehrere
Stunden.
Hautexaäntheme begleiten in der Regel die Fieberreaktion
dieser Gruppe. Doch kommen auch Fieberreaktionen ohne Exantlhem
vor; hierfür werde ich später eine eigene Beobachtung anführen.
Hautexantheme wurden ja zuerst als „Nebenwirkungen“ des
Antipyrins (Ernst, Alexander) beschrieben und auch nach
Pyramidon (Reitter, Scherber), Melubrin (Krabbel, Müller)
gesehen. Die Hautsymptome wurden oft dermatologisch geschildert
ohne Angabe der Körpertemperatur; vielleicht sind auch die Fieber-
reaktionen öfters infolge ungenügender Temperaturmessung der
Beobachtung entgangen. Es sind daher diese Mitteilungen für die
Symptomatologie dieser Gruppe nur bedingt zu verwerten, da ein
Teil dieser Fälle sicher hinzugehört. Wir können eine gleiche
Genese, eine Umstimmung des Organismus durch mehrfachen Ge-
brauch des Mittels voraussetzen. Bei den von Welt beobachteten
Fällen, welche ohne den Nachweis stärkerer Fieberreaktionen ver-
laufen zu sein scheinen, betrug die Gesamtdosis Antipyrin bis zum
Eintritt des Exanthems im Minimum 6 g; bei größerer Gesamtdosis
nahm die relative Häufigkeit der Idiosynkrasiefälle nicht zu. Vom
dermatologischen Standpunkte aus lassen sich diese Exantheme ein-
teilen in lokalisierte und generalisierte.
Das lokalisierte Exanthem, welches bei Recidiven immer
wieder an derselben Stelle erscheint, ist der beste Beweis für
anormale konstitutionelle Disposition. Es wurden auch Fälle be-
kannt, bei denen die lokalisierte Hauteruption nicht nur nach
Antipyrin, sondern auch nach anderen Reizmitteln erschien (Ehr-
mann, Freudenberg, Steinhardt, zit. Apolant). Meist
handelt es sich nur um Erythemflecke Apolant bekam
selbst im Anfall außer Schwellungen der Lider und Lippen Erythem-
flecke an rechter Schläfe, linker Stirn und an Skrotum. Die lokali-
sierte „éruption erythömato-pigmentee“ (Brocgq) wurde nach Anti-
pyrintherapie von Benzler, Brocgq, Ducastel (zit. Apolant)
beschrieben.
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 31
Häufiger sind die generalisierten Exantheme, welche
meist als masernartig oder scharlachartig geschildert werden und
besonders an der Streckseite lokalisiert sind. Beidem morbillösen
Exanthem kann die Ähnlichkeit mit Masern so groß sein, daß
Fournier in einem Falle die Diagnose „Masern“ nur ausschloß
durch das Fehlen einer Bronchitis. Das Gesicht soll weniger als
bei Masern befallen werden, die Flecke sind zuweilen schärfer ab-
gegrenzt. Selten werden die morbillösen Flecke hämorrhagisch,
wie bei Bielschowsky’s Fall. Hämorrhagische Exantheme
wurden von Grandcl&öment und bei drei männlichen Typhus-
kranken von Welt beschrieben. Das scarlatiforme Exanthem
kann besonders dann diagnostische Schwierigkeiten bereiten, wenn
es mit einem stärkeren Enanthem des Mundes und Rachens ver-
bunden ist (Eosinophilie, Urochromogenreaktion, Auslöschphänomen
können zur Sicherung einer Scharlachdiagnose dienen). Das scarlati-
forme Antipyrinexanthem zeigt öfters kleienförmige Abschuppung,
dagegen nur selten großblätterige Desquamation, auch Bläschen-
bildung oder Miliaria (Pusinelli, Reihlen) Jesionek er-
erwähnt noch das Erythema papulatum und Erythema nodosum
nach Antipyrin und Pyramidon.
In unserer Gruppe der Pyretiker findet sich gewöhnlich ein
generalisiertes morbillöses oder scarlatinöses Exanthem und eventuell
Exanthem des Mundes und Rachens. Beachtlicherweise kam es
mehrmals vor, (Laache, Bernoulli, Bielschowsky), daß das
Enanthem beim 1. Anfall masernartigen, beim 2. Anfall scharlach-
artiren Charakter hatte.
Von weiteren Symptomen sind zu nennen: Schwindel, Ohren-
sausen, Hyperhidrosis, Hautparästhesien (Prickeln, Brennen),
ödematöse Schwellung der Lider oder Lippen; Galewsky bekam
Schwellung der Mundschleimhaut mit „Nekrose“. Einmal trat im
Anfall ein starker Milztumor auf, der jedesmal mit Rückgang der
Symptome wieder verschwand. Stärkere Cyanose (Eisenmann)
und hochgradige Dyspnoe (Ruge) lassen Grenzfälle mit der Gruppe
der Oxyphilen (Asthmatiker) vermuten. Auch zur Gruppe der
Herpetiker finden sich vielleicht Übergänge (Fälle Graul,
Scheel, Spitz).
Zur Schilderung des Verlaufes eines in diese Gruppe gehörigen
Anfalles seien zunächst 2 Fälle der Literatur kurz mitgeteilt.
Laache’s Patient (25 jähriger Phthisiker) erhielt wegen lange Zeit
anhaltenden Fiebers Antipyrin zur Entfieberung; es erfolgte auch bei
l—2 g täglich ein Fieberabfall, nach 10 Tagen wurde das Mittel wegen
32 GÜNTHER
Auftretens eines masernähnlichen Exanthems abgesetzt. Nach einer
Pause von 12 Tagen wurde nochmals 2,0 Antipyrin gegeben. Bald
danach trat im Munde brennendes Gefühl auf, welches sich nach Pharynr.
Nase, Augen verbreiterte, außerdem Erbrechen; nach !/, Stunde Schüttel-
frost, nach 1!/, Stunde 40,8° Temperatur, 160 Puls; am folgenden Tage
scarlatiformes Exanthem und Schwellung der Augenlider. Dieser An-
fall hatte vielleicht einen günstigen Einfluß auf den ganzen Krankheits-
verlauf, denn nach etwa 4 Wochen war das bisher hartnäckige Fieber
ganz verschwunden. Bei Bernoulli’s Patient begann der Anfall
3 Minuten nach Einnahme von 1,0 g mit Schmerzen in Oberbrust und
Abdomen, Blässe, Angstschweiß, Erbrechen, motorische Unruhe; am
folgenden Tag gedunsenes Gesicht, Erythem des Rumpfes, fleckiges,
Exanthem der Extremitäten, 39,2° Fieber. Beim 2. Anfall nach 1,0 g
scarlatiformes Exanthem.
Eine eigene Beobachtung wird genauer beschrieben.
Else Bu. geb. 23. II. 1878. Medizin. Klinik Leipzig seit 8. VIII.
1921 wegen Arthritis chronica. In Kindheit normale Entwicklung,
normales Fettpolster, stets geringe Neigung zum Schwitzen. Vom 6. bis
25. Lebensjahr fast jährlich einmal Angina mit Herpes labialis, später
seltener. 1909 Bronchitis mit Pleuritis. Frühjahr 1915 Anschwellung
des linken Knies mit stechenden Schmerzen, später Schmerzen an Fut-
gelenken und rechtem Knie (Beginn ohne Schüttelfrost oder Angina).
Die Beschwerden nahmen allmählig zu, 1916 wurden auch die Hände
befallen. Sommer 1916 trat eine bis Sommer 1917 anhaltende Amenorrlioe
auf (Menstruation früher regelmäßig, seit 22. Lebensjahr verheiratet, keine
Kinder oder Fehlgeburten, Febr. 1923 Menopause). Ende Sommer 1916
Fettzunahme in der Hüftgegend, geringer Haarausfall. Seit 1917 teil-
weise, seit 1921 ganz bettlägerig. In früheren Lebensjahren nie idio-
synkrasische Symptome. In Familie kein Rheumatismus; die Mutter
konnte in mittlerem Alter (etwa 40 J.) keine Eier vertragen (starb an
Leberkrebs), sonst über familiäre Idiosynkrasie nichts bekommt. Kurzer
Auszug aus Krankenblatt:
Klinikaufnoahme 8. VIII. 1921. Chronische Anthritis fast aller
Gelenke. Wassermann negativ. Sept. 1921 Angina mit Herpes. März
1923 Dysenterie, April 1923 Typhus. Seit Febr. 1923 Menopause. Seit
Ende 1923 Parästhesien (Brennen und Jucken) am ganzen Körper.
Status I. 1924: Mittelgroß, kräftig gebaut, 55 kg. Hyperstlhenischer
Habitus. Viereckige, nach unten etwas breitere Gesichtsform. Kopfhaar
wenig dicht, stellenweise ergraut, Augenbrauen lateral spärlich, geringer
Schnurbart. Wangen bräunlich pigmentiert, ziemlich derb (myxödemartig)
und druckempfindlich. Haut glatt, trocken, an oberer Brustgegend und
besonders entlang den vorderen Rippenbögen gewulstet, sklerodermieartig
verhärtet und druckempfindlich, au Unterschenkeln glänzend, atropisch.
Leichte Adipositas, stärkere Fettansammlung an Oberarmen, oberer Häifte
der Unterarme und Trochantergegend. Hände stark deformiert, Gelenke
verdickt, Fingerendglieder atrophisch, Schultergelenke wenig beweglich.
Hüftgelenke gut beweglich, Kniegelenke verdickt (starke Crepitation).
Zehen nach außen abduziert. Plantarreflexe fehlen, sonst normale Retlexe.
Neuropathie.
a Kar he
u N EER
Pr
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 33
Durch Thyreoidintherapie wird Sklerodermie fast beseitigt, Körper-
gewicht nicht beeinflußt. Seit März 1924 häufiger Pruritus. Dez. 1925
Angina mit Herpes lab. Blutstatus (Nov. 1924): weiße Zellen 5000 bis
6000, rote 5,2.10°, Hämoglobin 60 °,,. Neutrophile 63, Eosinophile 2,
Lymphocyten 30, Monocyten 5°/,., Am 12. I. 1926 Lymphocyten 41,7,
Eosinophile 3,5 ®/,. Bilutkörperchen-Senkung stark beschleunigt.
Therapie: Im Beginn der Erkrankung (1915) auf Verordnung
des Hausarztes Salizylsäure, aber wegen starken Obrensausens wurde das
Mittel bald ausgesetzt und nur stets lindernde Wärmetherapie angewendet.
Bei Verschlimmerung des Leidens 1917 wurde Atophan verordnet;
nachdem in 8 Tagen 20 Tabl. eingenommen waren, trat Jucken am
ganzen Körper, Schwellung von Gesicht und Händen, aber kein Erythem
auf; der Zustand dauerte etwa 8 Tage. Im Frühjahr 1921 wurde noch-
mals Atophan versucht (20 Tabl. in 8 Tagen); wiederum trat starkes
Jucken auf, welches am Kopfe begann und sich über den ganzen Körper
verbreitete, außerdem habe sich Schüttelfrost, Fieber bis 39°, Rötung
und Schwellung des Gesichts, Dyspnoe eingestellt (diesmal keine Schwellung
der Hände). [In der Klinik trat Febr. 1923 nach 2,0 Atophan Schüttel-
frost und Schmerz in allen Gelenken auf. Am 6. I. 1926 wurde
0,5 Artamin (= Atophan) ohne Nebenwirkung vertragen.]
Aspirin wurde seit 1917 wieder regelmäßig in kleinen Dosen ge-
nommen, zunächst mit längeren Pausen (wöchentlich 2—3 Tabl.), später
fast täglich 0,5, da stets Linderung der Schmerzen und bessere Be-
weglichkeit eintrat (niemals Ohrensausen).
In der Klinik wurde hauptsächlich Wärmetherapie (Glühlicht, Sand-
bad, heiße Bäder bis 40°) Massage, Elektrisieren, aktive Bewegungs-
übungen versucht. Arsenkur, Organotherapie (Thyreoidin, Ovarial-
tabletten, Hypophysin). Außerdem Schlafmitte, wie Veronal 0,5,
Medinal 0,2, Luminal 0,1 ohne Nebenwirkung.
Reizkörpertherapie wurde mit zahlreichen Mitteln an-
gewendet. Sie hatte meist Schmerzreaktionen in verschiedenen
Gelenken zur Folge. Auch nach Melubrin traten Gelenkschmerzen
auf, aber nur in den am stärksten affizierten Gelenken mit mehr
intermittierendem Charakter; die Intensität erreichte während des
Schüttelfrostes ihr Maximum. Nach Pepton traten jedesmal (ohne
Fieber) anhaltende Schmerzen und Spannungsgefühl in allen Ge-
lenken auf, stärker als nach Melubrin und über 24 Stunden an-
haltend. Schmerzreaktionen an pathologisch veränderten Körper-
stellen nach Reizkörpertherapie sind ja bekannt (Pribram erwähnt
Magenschmerz bei der Ulcusbehandlung mit Novoprotin).
Die Fieberbereitschaft zeigte bei der Reiztherapie starke
Schwankungen. So ergaben sich z. B. nach Collargol- und Milch-
injektionen an verschiedenen Tagen die in Tabelle 1 verzeichneten
Temperaturen (später wurde Collargol und Milch ohne Fieber ver-
tragen).
Dentsches Archiv f. klin. Medizin. 152. Bd. 3
34 GÜNTHER
Tabelle 1.
Mittel | Collargol 5 cem k Milch 5 cem
Datum (1921) 31. VIIL| 9. IX. |17. IX. 24. IX. x. J10 10. x is 13. x. u X
ae 384 394 | 385 | 377 370 | 876 2 i 870
Nach Sanarthrit (Juli 1922) Fieber bis 39,7, nach Schwefelöl
(Dez. 1922) bis 39,6 (einmal mit Herpes lab.) Hypertherman er- -
zeugte Okt. 1923 nach 2 ccm minimale Reaktion, Nov. 1923 nach
4 ccm 39,5, nach 5 ccm 37°, nach 6 ccm 40,3. 5°, Peptonlösung
(3—5 ccm intramuskulär) verursachte kein Fieber.
Die Ausbildung der Antipyrin-Idiosynkrasie läßt sich
bei der Patientin an Hand der klinischen Notizen genau verfolgen.
Vor der Klinikaufnahme hat Patientin keine Mittel dieser Gruppe
eingenommen. Vom 17. X. 1921 bis 8. I. 1922 wurden täglich 2mal
0,3 Pyramidon verordnet, dann 20. und 21. VIII. und 20. XI. 1922
nochmals je 0,3 Pyramidon und am 21. VI. 1922 zwei Tabletten
Trigemin, ohne Nebenwirkungen. Am 23. VII. 1923 erfolgte nach
4mal 0,5 Melubrin Schüttelfrost: und Fieber bis 39,8°; das Mittel
wurde aber (tägl. 4mal 0,5) bis 19. VIII. 1923, also 4 Wochen lang
weitergegeben ohne Nebenwirkungen. Außerdem wurde seit
17. VI. 1923 öfters ein Mischpulver Antipyrin 0,5, Phenacetin 0,25,
Antifebrin 0,25 ohne Nebenwirkung vertragen, am 7. IX. 1923 auch
nach diesem Mittel Fieber bis 40,1°. Gleiche Reaktionen traten
am 6. I. 1924 nach 2,0 Melubrin, am 6. II. nach 1,0 Melubrin, am
17. III. nach 0,5 Antipyrin auf. Am 23. VII. 1924 nach 0,5 Melubrin
Schüttelfrost, Fieber 39°, am 26. und 30. VII. dagegen nach 0,5 Anti-
pyrin keine Reaktion, nach einer längeren Pause von 8 Tagen aber
am 7. VIII. nach 0,5 Antipyrin Fieber 38,6°. Am 13., 20., 28. VII.
und 4. IX. je 0,5 Antipyrin, ohne daß Reaktionen notiert oder aus
Temperaturkurve ersichtlich sind. Am 15. XI. nach 0,3 Pyramidon
und 0,5 Antipyrin 39° Fieber, am 13. I. 1925 nach 0,3 Novalgin
39,1%, am 31. IL. nach 0,5 Melubrin 39,5°. Alle Fieberreaktionen
hatten initialen Schüttelfrost. Es sei besonders hervorgehoben, daß
die Patientin, welche früher besonders nach Angina häufig Herpes
labialis bekam, im Antipyrinanfall niemals Herpes zeigte.
Die parenterale Zuführung hatte den gleichen Erfolg. Bei
der subkutanen Injektion fiel die langsame Resorption der Lösung
(aber auch einer physiol. NaCl-Lösung) auf. Nachdem am 22. XI. 1925
eine Starke Reaktion nach 0,3 Pyramidon per os erfolgt war,
wurden am 24. XI. Impfschnitte am Arm mit 8°, Pyramidonlösung
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 35
benetzt, welche am folgenden Tag gegenüber den Kochsalzkon-
trollen eine minimale Infiltration zeigten. Am 25. XI. subkutan
0,1 Pyramidon ohne Wirkung, am 27. XI. subkutan 0,2 Pyramidon
ohne lokale Reaktion, Temp. 375°. Am 28. XI. intramuskulär
0,1 Pyramidon ohne Erfolg, am 30. XI. intramuskulär 0,3 Pyramidon,
nach 1’/, Stunde Schüttelfrost und Fieber bis 38,9°; Schmerz und
Druckempfindlichkeit der Injektionsstellee Am 9. XII. erfolgte
3Stunden nach intrakutaner Quaddelbildung mit 50 °/, iger Melubrin-
lösung (4 Quaddeln, in Summa 0,2 Melubrin) Schüttelfrost und
Temperaturanstieg, der nach 4!/, Stunden 39,4° erreichte. Pepton-
behandlung hatte keinen Einfluß auf die Intensität der Idio-
spnkrasie. Vom 8.—25. I. 1926 hatte Patientin in Summa 19 ccm
=0.95 g Witte-Pepton bekommen. Am 26. I. erfolgte 2 Stunden
nach 0,5 Melubrin intramuskulär Schüttelfrost, das 18 Stunden an-
haltende Fieber erreichte nach 3 Stunden das Maximum 39.2°.
Vergleichsweise seien die Erfahrungen bei der anaphylaktischen
Seramkrankheit angeführt. Dieses konditionelle Phänomen:
tritt unter unbekannten Voraussetzungen ziemlich häufig auf, nach
Schittenhelm bei über 10 °/, der Serum behandelten; die Häufig-
keit ist von der Serumart abhängig. An der Leipziger Klinik trat
bei Diphtherie nach Dorner in 5°/, der Serumbehandelten Fälle
Serumkrankheit auf. Für das individuelle Symptomenbild spielt
natürlich, wie Schittenhelm hervorhebt, die Konstitution eine
ausschlaggebende Rolle. Am häufigsten (ca. 90°;,) ist nachSchitten-
helm das meist urtikarielle Hautexanthem, Fieber tritt bei 70°,
ohne bestimmten Typus auf, Ödem nur in 10°, der Fälle; es
kommen Schwellungen der regionären Lymphdrüsen und zuweilen
der Milz vor.
II. Gruppe der Oxyphilen.
Unter dieser, der Hämatologie entstammenden Bezeichnung
werden die zur sog. eosinophilen Diathese gehörigen Reaktionen,
wie Asthma bronchiale und Urtikaria zusammengefaßt.
Die bei manchen Antipyrin-Idiosynkrasien auftretenden stark
juckenden Exantheme mit geringen Hautschwellungen sind zu
unterscheiden von der typischen Urtikaria, welche zuweilen nach
Antipyrin auftritt (Alexander, Besnier, Labbee, Martino,
Roch, Spietschka), einmal einseitig (Schwabe). Eine Patientin
Guttmann’s, die wegen Kopfschmerzen 1,0 Antipyrin nahm, be-
kam Urtikaria, Ödem der Lider, Unterarme und Hände und eine
1 Minute anhaltende Amaurose (In Spietschka’s Fall trat
Urtikaria auch nach Chinin und Phenacetin auf.) Lundgaard's
>
36 GÜNTHER
Patientin, die früher Antipyrin vertrug, bekam nach 1,0 Salipyrin
Urtikaria, Glottisödem, Erbrechen und Ohnmachtsanfälle.. Bechers
Patient hatte früher lange Zeit Acetanilid genommen und bekam
nach Pyramidon Lippenödem, Urtikaria und Petechien der Unter-
schenkel.
Reaktionen im Bereiche des Respirationstraktus, besonders das
typische Asthma bronchiale, können mit Urtikaria kombiniert
sein. Sturges Fall bekam Gesichtsödem, Tränen, Hyperhidrosis,
Bronchitis mit reichlichem Auswurf, Dyspnoe und Urtikaria. Bayer
berichtet von einer 38jährigen Frau, die seit dem 16. Lebensjahre
wegen Kopfschmerzen, Neuralgien, Dysmenorrhöe oft Pyramidon
nahm (durchschnittlich 3 mal 0,3 in der Woche); erst nach 20 jährigem
Gebrauch traten Überempfindlichkeitserscheinungen ein, die sich
(auch nach Trigemin) darin äußerten, daß 2—15 Minuten nach der
Einnahme trockene Kehle, Öhrjucken, Nasenjucken, Nießen,
Schwellung der Nasenschleimhaut bis zur völligen Behinderung der
Nasenatmung, Dyspnoe, Kongestionen und Hämmern der Schläfen
auftraten (kein Exanthem); dieser Zustand dauerte bis 15 Minuten.
Im Anfall war die Körpertemperatur unverändert, der Puls sank
von 80 auf 65, der Blutdruck wurde geringer, die Erregbarkeit
der Hautgefäße war gesteigert, die Blutgerinnungszeit nicht ver-
ändert, die trypsinhemmende Wirkung des Serums nicht vermehrt,
aber Verminderung des Komplementgehaltes, kein Leukocytensturz,
aber geringe Zunahme der Eosinophilen. Königsfeld ver-
danken wir eine Selbstbeobachtung. Während einer fieberhaften
„Grippe“erkrankung, die mit sehr schmerzhafter Schwellung in Ge-
lenken und Sehnenscheiden verlief, wurde Aspirin, Phenacetin,
Diplosal, Atophan gut vertragen. Nach 0,5 Melubrin und auch
nach 0,2 Pyramidon traten Asthmaanfälle auf (4 Anfälle). Früher
nie Asthma oder Idiosynkrasien. Der 3. Anfall verlief folgender-
maßen: abends 78° wegen Kopfschmerzen 0,2 Pyramidon, 11 Uhr
Nießen, dünnflüssiges Nasensekret, 12 Uhr starker Schnupfen und
Hustenreiz, 3 Uhr Asthma bronchiale. Das voluminöse serös-eiterige
Bronchialsekret enthielt „fast nur eosinophile Zellen“. Puls
langsam, klein; kein Fieber. Am folgenden Tag 8°/, Eosinophile
im Blut (gewöhnlich 3-4 °/,).
Andererseits wird berichtet, daß ein Anfall von Asthma
bronchiale nach 2mal 0,75 Antipyrin aufhörte (Smith).
Cooke sind Reaktionen dieser konstitutionellen Gruppe be-
sonders nach Aspirin begegnet. Unter 15 Idiokrasikern hatten
9 Asthma und 3 Urtikaria (3 neigten auch sonst zu Asthma,
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie, 37
Urtikaria oder Heufieber, bei 12 waren in der Familie Überempfind-
lichkeiten nachweisbar).
II. Gruppe der Herpetiker.
Das Symptom des Herpes stellt eine konstitutionelle Reaktion
anf Reize verschiedener Art dar und ist nicht als einheitliche
Krankheit sui generis aufzufassen. Manche Personen zeichnen sich
durch sehr häufige Herpesrecidive aus. Auf die Lokalisation des
Herpes und ihre Beziehung zu bestimmten Infektionskrankheiten
bin ich a. a. O. (4) eingegangen. Mit Herpes verlaufende Infektions-
krankheiten haben eine günstigere Prognose Es gibt fieberhafte
Herpeseruptionen, z. B. den Herpes febrilis, und Herpeseruptionen
ohne Steigerung der Körpertemperatur.
Unter den Antipyrin-Idiosynkrasikern findet sich auch eine
Gruppe, deren Kardinalsymptom Herpeseruptionen an verschiedenen
Körperstellen sind.
Ein Herpes labialis kann sich als regelmäßiges Symptom der
Antipyrin-Idiosynkrasie finden. Widal und Radot untersuchten
eine 42jährige Frau, die seit 8 Jahren an Diabetes und früher
häufig an Migräne litt, welche sie mit Antipyrin bekämpfte; nach
einer bjährigen Pause nahm sie wieder einmal eine Dosis, be-
kam nach 5 Minuten Rötung und Spannung der Oberlippe und
nach einigen Stunden einen Herpes labialis (Anfälle traten schon
nach 0,1 Antipyrin auf).
Solche Fälle, die nur das gewöhnliche und häufige Symptom
des Herpes labialis bieten, stellen nichts Außerordentliches dar.
Es ist aber hervorzuheben, daß die von mir beschriebene Patientin
der ersten Gruppe, welche zu Herpes labialis disponiert war und
diesen regelmäßig bei Angina, aber auch bei anderen Gelegenheiten
bekam, im Antipyrinanfall niemals Herpes zeigte.
Die klassischen Fälle in der Gruppe der Herpetiker bieten
einen ganz besonderen Symptomenkomplex, der durch das Syndrom
eines Herpes labialis oder oralis mit einem Herpes genitalis ausge-
zeichnet ist.
Gewisse Zusammenhänge des Herpes labialis mit den Sexual-
organen verrät schon der sehr häufige Herpes menstrualis. Es
gibt ferner eine auf einer besonderen konstitutionellen Basis auf-
tretende, durch unbekannte Reize ausgelöste Form eines chronisch-
rezidivierenden Herpes, welcher Mund, Zunge und Genitale bevorzugt.
Flatau beschrieb einen solchen Fall 1891. Ein 38 jähriger
Mann bekam einige Monate nach Typhus (1874) einen seitdem
häufig rezidivierenden Herpes meist der Lippen und Wangen-
38 UHÜNTHER
schleimhauts, selten der Zunge. 1887 traten auch kleine Bläschen am
Skrotum auf, 1891 Herpes buccalis und an Herpes derselben Stelle des
Hodensackes und 10 Tage später mehrere kleine Bläschen am
sulcus coronarius des Penis. Fournier hob besonders das Symptom
des Herpès recidivant hervor, welches er unter seinem Luetiker-
material öfters beobachtete (96 °/, dieser Fälle waren — wohl zu-
fällig — Luetiker). Nach dem 30. Lebensjahre kann nach Fournier
auch Arthritismus die Grundlage sein. Das Syndrom Herpes pharyngis
und Herpes genitalis wurde 1890 von Schach erwähnt, Rosen-
thal berichtete 1894 über 3 Fälle. Der von v. Mikulicz be-
schriebene chronisch recidivierende Aphthen ist wohl als eine älın-
liche Affektion aufzufassen. Dieser Herpes oro-genitalis
befällt vornehmlich junge Männer (vgl. Trautmann). Eine eigene
Beobachtung führe ich hier an.
H. Schn. 28jähr. Kaufmann. 11.—19. Nov. 1921 in medizin.
Klinik Leipzig. Fast jedes Jahr Halsentzündunpg mit Schlingbeschwerden
und kurzdauerndem Fieber, Bläschenbildung an Lippen, Brennen an der
Zunge und am Gaumen. Auch bei völligem Wohlbefinden öfters schmerz-
hafte Bläschen an der Wangenschleimhaut. Mehrmals Gonorrhöe, sonst
außer Kinderhrankheiten keine ernsteren Erkrankungen. Am 9. 11. mit
Schüttelfrost, Fieber, Kopf- und Halsschmerz und Hustenreiz erkrankt.
nachdem schon mehrere Tage vorher allgemeines Krankheitsgefühl (Mattig-
keit, Appetitlosigkeit, Muskelschmerzen) bestanden hatte. Abends Brennen
und Bläschenbildung an der Glans penis, Bei früheren Herpeseruptionen
war das Genitale angeblich niemals beteiligt.
Befund: Fieber 40,1°, Puls 98. Gewicht 62,2. Am harten Gaumen
einzelne stecknadelkopfgroße Bläschen. Pharyngitis, Zunge streifenförmig
grauweiß belegt, trocken. Nasenatmung etwas behindert, geringer Reiz-
husten. Submaxillar- und Inguinaldrüsen vergrößert. An der linken
Seite der Eichel mehrere fast eingetrocknete Bläschen (Herpes genitalis).
Milz nicht vergrößert. Leichte febrile Albuminurie, geringe Indicanune,
Urobilinurie. Einige Leukocyten im Urinsediment. Im Blut 8000 Leuko-
cyten. Verlauf:
12. XI. Stärkere Schwellung des Rachenringes, an rechter Ton-
sille einige weißliche Fleckchen, Gaumenbläschen vermehrt und vergrößrrt.
Submaxillardrüsen stärker geschwollen. Temp. auf 37,7. Am 13. NI.
Fieber 39,6. Stärkere Schluckbeschwerden und Schwellung der Sub-
maxillardrüsen. Angina follicularis stärker ausgebildet. An linkem vorderen
Gaumenbogen linsengroßer, graugelblicher Fleck mit stark gerötetem
Hof (Aphthen?). Herpes am Zungenrücken. Gaumenherpes zurück-
gehend. Zahnlleisch normal. Rachenabstrich ergibt mäßig viel Diplo-
Streptokokken, keine Löftlerbazillen (Kultur). Lungen gesund. Rhino-
skopisch Nasenschleimhaut etwas geschwollen und hyperämisch. Spina
septi nach links. Am 14. XI. Fieberabfall. Stärkere Anginabeläge,
gelbliche Flecke an linkem vorderen Gaumenbogen. Tonsillen und regionäre
Drüsen stark geschwollen. Inguinaldrüsen abgeschwollen. Herpes gutturalis,
em ame re
Konstitutionstypen der Idiovsynkrasie. 39
lingualis und genitalis im Abheilen. Am 15. XI. an Stelle der zer-
fallenen Herpesbläschen graugelbe, unregelmäßig geformte, scharf um-
randete, flache Ulcerationen. Wassermann im Blut negativ. Fieberfrei.
Erhielt von Medikamenten nur Aspirin 2X0,5. Am 19. XI. nach
weiterer Besserung entlassen.
Dieses Herpessyndrom wurde bei Antipyrin-Idiosynkrasie mehr-
mals beschrieben. Folgende Tabelle 2 gibt eine Übersicht der
typischen Fälle. Die eingeklammerten Zeichen bedeuten, daß nicht
Herpes, sondern Ekzem beschrieben wurde. Der in der Tabelle
mit angeführte Fall (2) Levins (Migränin) wird nicht mit als
typischer Fall gerechnet, da über Herpes genitalis nichts berichtet
wird. Unter den übrigen 18 Fällen befinden sich nur 2 Frauen.
Man findet daher auch hier eine Prädisposition des männlichen
Geschlechts.
Tabelle 2.
| Herpeseruptionen an : Ödem der
Aut ‚ Mund- SO , | |
i Lippe schleim- Zunge. Penis De | Hand ee Lippe Lider
| haut | za |
|
Hahn a T T an F zy
Veiel + + Eart i
Caspary + +. anal
Short — — + + Nase +
Möller + | ;
Petrini + Vulva | + ; Mamma T I +
| | | |
EE UE RB > © i pi a | en |
’ullitzer | | | Ir |
Levisseur + + l + + <- | Ohr, Kinn
Jadassohn + | a a |
Brasch | + | En + Ä ae We
| | |
Paschkis I + + | Vulva | Nue | Ä
Graul | + | (+ +
Steinhardt | + + + , (+) = si
Sn (+ Ho H Se
Briquet ! | + anal |
alche + | + |
Wechsel- | + o +o HH © anal | |
mann | | i |
Levin +- "E E R | +
Die Einheitlichkeit der Symptome liegt klar, wenn auch zu-
weilen bei der Beschreibung andere Ausdrücke gebraucht wurden,
Es wurden plaques muqueuses an Lippen und Mund (Hahn),
Rachenenanthem mit Blasen am harten Gaumen (Graul), Stomatitis
ulcerosa (Dalch&) angegeben. Der Herpes ist selten hämorrhagisch
40 GÜNTHER
(Fall Freudenberg), nach Heilung der Blasen können Pigment-
flecke am Lippenrot zurückbleiben (Caspary, Brasch) Im
Munde kann der Herpes nur den Gaumen (Veiel, Graul, Briquet)
befallen. Die Lippen zeigen häufig, die Augenlider seltener ödematöse
Schwellung.
Am Penis findet sich der Herpes meist an der Eichel; es
wird vereinzelt auch nur von Rötung und Schwellung des Präputiums
(Freudenberg), Blasen am Präputium (Hahn), Urtikaria der
Eichel (Veiel) oder auch Ulcerationen an der Eichel (Möller)
gesprochen. Zuweilen besteht auch starker Pruritus genitalis,
der durch Kratzen zum Kratzekzem führt, wie in Steinhardt's
Fall. Die Affektionen des Skrotums werden daher mitunter als
Ekzem beschrieben (Graul, Stein, Steinhardt); oder es wird
nur Erythem des Skrotums erwähnt (Möller). Schmey be-
obachtete nach Salipyrin Ulcerationen am Skrotum. Der Herpes
genitalis kann sehr schmerzhaft sein (Levisseur, Dalche).
Auch die Extremitäten sind öfters beteiligt. Herpeseruptionen
werden am Handrücken (Petrini, Pollitzer) und Zehen neben
„Urtikaria“ an Handteller und Fußsohlen (Veiel) erwähnt. Auch
Brocq beobachtete nach Antipyrin Herpes genitalis und Blasen
am Handgelenk. Ferner findet sich Herpes an Nase, Ohr, Kinn,
Mamma, Anus oder (bei Pollitzer’s Fall) an Augenlid und Ge-
hörgang.
Die Anfälle scheinen meist ohne Fieber zu verlaufen. Pruritus
universalis kommt zuweilen vor (Dalch&). Ferner werden schmerz-
hafte Rötung und Schwellung der Finger und Fingergelenke
(Möller), Rötung der Endphalangen (Graul), juckende Schwellung
der Finger (Brasch) genannt. Mehrere Fälle betreffen die Autoren
selbst (Steinhardt, Brasch, Stein). Zur Schilderung des Ver-
laufes seien einige Fälle angeführt.
Brasch schildert seine eigene Idiosynkrasie. Nach 1,0 Antipyrin tritt
Lidödem, Schwellung der linken Oberlippe und rechten Unterlippe unter
Prickeln und Stechen ein; am Zungenrand finden sich schmerzbafte weißliche
Fleckchen, die später ulcerieren, ferner Herpes labialis, juckende Schwellung
und Rötung am Dorsum penis und Sulcus coronarius, die zu Verschorfungen
und Ulcerationen führte. Bei einem Anfall trat juckende Schwellung an
Lidern, Nase, Fingern und Anus auf, die mit Abschuppung heilte. Die
Eruptionen heilten ohne Narbenbildung. Während des Anfalles, der
etwa 14 Tage bis zur völligen Heilung dauerte, war die regelmäßig ge-
messene Körpertemperatur stets normal. Möller beschrieb einen Anfall
mit Ödematöser Schwellung an Lippen, Nasenflügel, äußerem Gehörgang,
Konjunktivitis, Schwellung der Fingergelenke, Erythem des Skrotums
und Ulcerationen der Eichel; im 2. Anfall (nach 1,0 Antipyrin) bestanden
Konstitutionstypen der Idiosynkrasıe. 41
schmerzhafte Rötung und Schwellung der Finger, Erythem des Skrotums,
Exkoriationen an Glans und einzelne juckende Hautstellen, an denen
nach Reiben herpetiforme Bläschen auftraten. Stein bekam selbst nach
längerem Gebrauch von Antipyrin ein schweres „Ekzem“ am harten
Gaumen, Genitale und linker Hand; nach kleinsten Dosen trat nur ein
Ekzem am Dorsum des Metacarpus I der linken Hand auf. 8 Jahre
später machte sich eine Überempfindlichkeit gegen Sublimat bemerkbar,
indem 4 Tage nach der Sublimatwirkung ein Ekzem auftrat. Fournier
beschrieb als Antipyrinidiosynkrasie ein eigentümliches schwarzfleckiger
Exanthem an Penis, Füßen und einer Hand bei einem Diabetiker unter
Betonung, daß es sich um keine diabetische Gangrän handelt.
Wenn die Lokalisation nur den Mund und das Genitale be-
treffen würde, so könnte man daran denken, daß bei der leichten
Resorbierbarkeit des Mittels durch die Mundschleimhaut und seiner
Ausscheidung mit dem Harn die durch lokale Resorption ermög-
lichte örtliche Antigenbildung die eigentümliche Lokalisation des
idiosynkrasischen Prozesses bedinge.
Bei einzelnen Fällen wurde besonders hervorgehoben, daß
früher Antipyrin gut vertrugen wurde (Briquet, Dalche).
Briquet’s Fall reagierte schon auf 0,08 Antipyrin mit Herpes
oro-genitalis.
Mit dem Herpetisme der Franzosen (Lancereaux) hat
die Gruppe der Herpetiker nichts zu tun.
Die vorliegenden Feststellungen haben die große Bedeutung
der Konstitution des Organismus für die Art der Manifestation des
idiosynkrasischen Zustandes erwiesen. Drei Gruppen klinisch scharf
begrenzter Reaktionstypen sind hiermit aufgestellt. Es bleibt noch
der Versuch, in das Wesen des idiosynkrasischen Prozesses tiefer
einzudringen.
Gegeben ist die klinische Erfahrung, daß durch Aufnahme
einer bestimmten chemischen Verbindung, z. B. Antipyrin, in den
Darm unter bestimmten Voraussetzungen eine Idiosynkrasie auf-
treten kann. Hieraus folgt zunächst die Frage, ob lediglich dieser
ganz bestimmte chemische Komplex des Antipyrin für die Aus-
lösung des idiosynkrasischen Prozesses entscheidend ist, oder ob
entweder Teilgruppen des Antipyrinmoleküles genügen, oder anderer-
seits höhere Molekülverbindungen, welche den Antipyrinkomplex
enthalten, den gleichen Effekt haben. Die klinische Beobachtung
hat ja schon ergeben, daß auch die anderen pharmazeutischen Pro-
dukte der Antipyringruppe Idiosynkrasien verursachen können.
Wie verhalten sich aber verschiedene Präparate bei demselben
Individuum? Bei meinem Falle bewirkten alle geprüften Präparate
42 GÜNTHER
der Antipyringruppe einen Anfall; es ist also hier das Antipyrin-
molekül oder Teile desselben spezifisch wirksam. Bei Königs-
feld hatten Pyramidon und Melubrin den gleichen Effekt. Anderer-
seits sind aber Fälle anzuführen, deren theoretische Deutung
Schwierigkeiten macht. Klausner berichtet über einen Fall, wo
nur Antipyrin, nicht aber Pyramidon auslösend wirkte, während
umgekehrt bei Reitter’s Fall Pyramidon, nicht aber Antipyrin
wirkte. Man kann hier Bedenken äußern, ob beim zweiten Versuch
das verordneteMittel wirklich genommen wurde; vor allem muß
aber in Erwägung gezogen werden, ob der zweite Versuch viel-
leicht gerade in die sog. „antianaphylaktische“ Phase zu kurz nach
dem ersten Versuch gefallen ist. Vorerst können wir nur als ge-
sichert annehmen, daß der Antipyrinkomplex die Umstimmung des
Organismus verursacht und auch in den Kombinationspräparaten
das spezifische Agens darstellt. Die weitere Analyse, ob Teil-
komplexe des Antipyrinmoleküls zur Auslösung der Idiosynkrasie
genügen, steht noch aus.
Weiterhin waren experimentelle Untersuchungen nötig, ob die
Darmpassage zur Auslösung des Prozesses nötig war oder ob die
Art der Einführung in den Körper gleichgültig ist.
Frühere Zeiten hatten bezüglich experimenteller Untersuchungen
am Menschen in rein wissenschaftlichem Interesse, besonders be-
züglich Indikation zu Eingriffen (Injektionen usw.) strengere
Maximen. Bernoulli hätte bereits 1887 gern den experimentellen
= Weg beschritten; er schrieb aber: „wäre es statthaft gewesen, so
hätten hypodermatische Antipyrininjektionen bei meiner Patientin
zu weiterer Klarheit verholfen.“ Die heutige therapeutische Mode,
die manche ernste Kritik verdient und auch unlängst erfahren hat
(vgl. v. Strümpell, Hirsch), kommt der Experimentierfreudig-
keit entgegen. Es läßt sich leicht nachweisen, daß subkutane,
intrakutane und intramuskuläre Injektionen des Mittels den gleichen
Effekt haben. Das Antipyrin wird durch alle Schleimhäute leicht
resorbiert. Besnier berichtet von einer Patientin, die auf eine
orale Verabreichung von Antipyrin mit Urtikaria reagierte und
bei einer lokalen Verwendung des Mittels als Stypticum bei Nasen-
bluten Brennen der Lippen und des Mundes bekam. Daß Antipyrin
durch die Haut gut resorbiert wird, konnte Apolant an lokal
disponierten Hautstellen, die bei interner Gabe mit lokalem Exanthem
reagierten, feststellen. Die Anwendung einer 10°/,igen Antipyrin-
salbe verursachte an dieser Stelle nach 10 Minuten Jucken, nach
15 Minuten Erythem. Solche örtlich disponierten Hautstellen
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 43
sprechen schon auf minimale Antipyrinmengenan. Apolant bekam
nach oraler Einnahme von 0,05 Antipyrin an der disponierten
Hautstelle nach 20 Minuten ein Exanthem; bei äußerlicher An-
wendung genügte an dieser Stelle 0,001 Antipyrin.
Die Disposition zur Antipyrin-Idiosynkrasie ist als kon-
stitutionelle Anomalie anzusehen, die nur einen sehr kleinen Teil
der Individuen einer Population betrifft. Unter diesen wird die
Idiosynkrasie nur dann manifest, wenn durch mehrmalige Vor-
behandlung mit diesem Mittel eine Umstimmung des Organismus
erfolgt ist. Ist dieser Zustand erreicht, so ist es logisch nicht
richtig, von einer Überempfindlichkeit gegen Antipyrin zu sprechen,
da ja der idiosynkrasische Anfall nicht auf einer primären Wirkung
des Antipyrins beruht, sondern die Reaktion auf ein unter Ver-
mittlung des Antipyrins im Organismus entstandenes körperfremdes
Eiweiß darstellt. Die „Umstimmung“ bedeutet also die Möglich-
keit der cellulären Bildung eines körperfremden Eiweißes im Organis-
mus, welche normalerweise nicht besteht. Ob diese Umstimmung
dann für die ganze Lebensdauer des betroffenen Organismus anhält
oder nach längerer Zeit wieder dauernd verschwinden kann, ist
bisher noch kaum erforscht. Wenn letzteres der Fall ist, kann
man vermuten, daß das disponierte Individuum durch eine neue
Vorbereitung mit dem Mittel wieder idiosynkrasisch wird.
Eine eigene Beobachtung ergibt, daß eine Antipyrin-Idiosynkrasie
nach 36 Jahren erloschen ist. M. We. $ (geb. 1873) wurde in der
medizinischen Klinik 1889 wegen akuter Polyarthritis rheum. mit Mitral-
stenose behandelt. Nachdem in 11 Tagen 25,0 g Antipyrin gegeben
waren, trat ohne Fiebersteigerung am ganzen Körper ein morbillöses
Exanthem auf. Es wurde in den 5 folgenden Tagen je 3,0 Salicylsäure
verordnet. Am 6. Tage wurde wieder 4X0,5 Antipyrin gereicht. Am
Nachmittag traten Schnupfen, Kopf- und Gliederschmerzen und Fieber
bis 40,30 auf (das Fieber hielt 3 Tage lang an). Es wurde ein Influenza-
anfall vermutet und Antipyrin 30 Tage lang weitergegeben. Es handelte
sich zweifellos um eine erworbene Idiosynkrasie. Seit 1925 hatte W.
mehrmals embolische Hemiplegien. Er wurde deshalb 1926 wieder in
die Klinik aufgenommen. Einmal wurde versuchsweise 0,25 Antipyrin
gegeben; 8 Stunden später 38,3} Fieber ohne irgendwelche weiteren
Symptome. Es handelte sich aber nur um eine zufällige Komplikation,
denn in den folgenden Wochen wurde noch 2 mal je 0,25 Antipyrin per
os gegeben und einmal 4 Melubrinquaddeln intrakutan gesetzt, ohne dab
irgendwelche Erscheinungen von Idiosynkrasie auftraten.
Es wird über Schwankungen in der Intensität des Idiosynkrasie-
Zustandes berichtet. Bayer glaubt bei seinem Fall auch eine
Abnahme der Intensität nach längerer pyramidonfreier Pause an-
44 GÜNTHER
nehmen zu können. Daß interkurrente Krankheiten einen Einfluß
auf die Intensität haben oder gar die Manifestation der Idio-
synkrasie bewirken können, ist nicht bewiesen und unwahrscheinlich.
Die Annahme von Königsfeld scheint mir nicht genügend be-
gründet, daß seine Idiosynkrasie durch eine infektiöse Erkrankung
(„Grippe“) ausgelöst worden sei. Tatsache ist nur, daß Pyramidon
und Melubrin vor Manifestation der Idiosynkrasie „gelegentlich
eingenommen wurden“ und daß die „Grippe“ der äußere Anlaß war,
daß diese Mittel wieder angewendet wurden. Nach der Beschreibung
wurde etwa 3 Monate nach Heilung der Krankheit durch Einnahme
von 0,2 Pyramidon wiederum ein Anfall hervorgerufen, der aller-
dings leichter als die drei vorhergehenden Anfälle war (Dyspnoe,
Hustenreiz, vermehrte dünnflüssige Nasensekretion). Das berechtigt
nicht zu der Folgerung: „Daher ist auch im oben beschriebenen
Fall die Idiosynkrasie nach Aufhören der auslösenden Ursache, der
Grippe, allmählich abgeklungen.“
Wenn die Theorie richtig ist, daß die Antipyrin-ldiosynkrasie
auf der cellulären Bildung eines körperfremden Eiweißes als Antigen
beruht, so gehört sie unstreitie in das Gebiet der Anaphylaxie,
wenn sich auch gewisse Unterschiede von der klassischen experi-
mentellen Anaphylaxie ergeben mögen. Diese Unterschiede sind
daraus verständlich, daß es sich hier nicht um grobe Laboratiums-
tierversuche handelt, sondern um eine Auslese anormal disponierter
Menschen, welche nicht einheitlich, sondern auf der Basis ihrer
besonderen, individuell verschiedenen, anormalen Konstitution
reagieren.
Es ist daher unwahrscheinlich, daß sich jedesmal die schul-
mäßig festgelegten Typen des anaphylaktischen Shocks, besunders
die von den Franzosen bevorzugten hämatologischen Kriterien
finden. Wenn man aber die „typische“ Anaplıylaxie in dieser
Richtung dogmatisch einschränken will, so muß man eben eine
Idiosynkrasie, wie die Antipyrin-Idiosynkrasie als atypische Ana-
phylaxie bezeichnen. Daher kam auch Bayer, da er bei seinem
Falle mehrere als typisch geltende Kardinalsymptome vermißte, zu
der Ansicht, daß keine typische Anaphylaxie vorliege.
Es gilt hier auch nicht das Dogma, daß der kleine Shock mit
Steigerung der Körpertemperatur, der große mit Temperatursturz
verlaufe. Der schulmäßige erste Shock verläuft mit Temperatur-
sturz, eine Reinjektion nach Ablauf dieses Shocks verursacht
aber nach Pfeiffer gewöhnlich keine Hypothermie, am antiana-
phylaktischen Tier tritt dagegen Fieber auf (Friedberger und
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 45
Mita). Die Breite der anaphylaktischen Fieberreaktionen soll
zwischen einer minimalen und maximalen pyrogenen Dosis liegen.
Nach Pfeiffer's Erfahrungen hat sich die Fieberreaktion „als
eines der feinsten und exaktesten Kriterien der anaphylaktischen
Reaktion bewährt“.
Andererseits sind manche Stigmen des Schulfalles konstatierbar.
Widal fand Leukocytensturz im Anfall; er zählte vor Beginn des
Pruritus 7500, bei Beginn der subjektiven Beschwerden 5500, später
9900 und nach Verschwinden des Erythems 7800. Vallery-Rado]
und Mitarbeiter stellten die hämoklasische Krise im Anfall fest.
Für die Anaphylaxie gilt die Regel, daß nach einem Shock
eine Phase der Reaktionsunfähigkeit folgt, die als „Antianaphylaxie“
bezeichnet wird. Bei der Antipyrin-Idiosynkrasie kann man sich
vorstellen, daß das zur Bildung des körperfremden Eiweißes zur
Verfügung stehende anormale Material durch einen Anfall ver-
braucht ist, so daß in der folgenden Phase kein Antigen mehr ge-
bildet werden kann. Hier scheinen aber auch individuelle Unter-
schiede zu bestehen. Die klinische Beobachtung meines Falles
ergibt, daß solche negativen Phasen vorkommen können (vgl. S. 34).
Bayer vermißte dagegen bei seinem Fall nach dem Anfall eine
solche Phase. Widal gelang es, eine Patientin durch allmählich
steigende Dosen zu desensibilisieren; nach einer Pause von 3 Monaten
war aber der idiosynkrasische Zustand (Herpes) wieder vorhanden;
es genügte sogar zum Wiedereintritt eine 4tägige Pause.
Die Grundlage der Antipyrin-Idiosynkrasie bildet also eine
auf einer anormalen konstitutionellen Disposition beruhende be-
sondere Zellreaktion. Wenn man die Idiosynkrasie von diesem
Standpunkte aus zu verstehen sucht, dürfte man kaum auf die Idee
kommen, diese Disposition durch Einspritzen von Serum des Trägers
auf ein anderes Lebewesen zu übertragen. Wenn wirklich solche
Versuche ausgeführt worden sind, so waren die Experimentatoren
durch das Schema der Anaphylaxieforschung dazu verleitet worden.
Wie soll es möglich sein, daß eine Antipyrin-Idiosynkrasie auf ein
Meerschweinchen verpflanzt wird, indem 5 ccm Idiosynkrasiker-
serum dem Tier parenteral zugeführt werden? Es wird zwar eine
Anaphylaxie gegen Menschenserum resultieren, und wenn wirklich
etwas von dem anormalen Eiweißkörper (Antigen) in diesem Serum
vorhanden war, werden vielleicht auch Antikörper gegen diesen
gebildet. Um aber dann einen anaphylaktischen Shock zu erzeugen,
muß neues Antigen eingeführt werden, aber nicht Antipyrin.
Oder sollte jemand glauben, durch die Seruminjektion die anormale
46 GÜNTHER
konstitutionelle Disposition im Körper des Versuchstieres hervor-
zaubern zu können ?
Und doch behaupteten Bruck und Klausner, diese und
andere Idiosynkrasien auf Meerschweinchen übertragen zu haben.
Klausner spritzte ein Meerschweinchen mit 5 cem Idiosynkrasiker-
serum und nach 24 Stunden mit 0,3 Antipyrin (Kontrolle mit
Normalserum); nach wenigen Stunden erfolgte der Tod des Tieres.
Wurde bei einem 2. Tiere die Pause zwischen beiden Injektionen
auf 48 Stunden verlängert, so folgte das gleiche Resultat; bei einem
3. Tier wurde die Pause auf 8 Tage verlängert, — es erfolgten in
den ersten Sekunden nach der Antipyrininjektion schwere tonisch-
klonische Krämpfe, von denen sich das Tier aber erholte.e Wurden
von einem vorbehandelten Tier 4 ccm Serum auf ein anderes Tier
übertragen, so sei auch hier die Sensibilisierung gelungen. Die
Versuche wurden schon von Bayer, Königsfeld u. a. kritisiert,
eine für Meerschweinchen typische Anaphylaxie wurde nicht be-
obachtet. Königsfeld’s Versuche an Meerschweinchen (Idio-
synkrasikerserum subkutan, 0,005 Melubrin intravenös) verliefen
negativ; er erlebte aber einen geringen Shock, wenn die Meer-
schweinchen nicht mit Serum allein, sondern mit Serum + 10°,
Melubrinlösung ää behandelt wurden. Bayer versuchte sogar, die
Idiosynkrasie auf sich selbst zu übertragen, indem er sich 5 ccm
Serum eines Patienten einspritzte, der auf Pyramidon mit Asthma
reagierte; natürlich mit negativem Resultat. Ä
Trotz der mangelhaften theoretischen Basis entschloß ich mich
dazu, die Meerschweinchenversuche in der Weise zu reproduzieren,
daß zunächst die Verträglichkeit von 1 ccm 50°/,iger Melubrin-
lösung subkutan (also 0,5 Melubrin) festgestellt wurde. Es wurden
3 Meerschweinchen mit je 5 ccm Serum meines Antipyrin-Idio-
synkrasiefalles vorbehandelt (dazu eine Kontrolle mit Normalserum);
nach 24 Stunden erhielten die vorbehandelten Tiere und 3 nicht
vorbehandelte je 1 ccm 50° piger Melubrinlösung subkutan (also
eine wesentlich höhere Dosis als in Königsfeld’s Versuch). Es
traten keinerlei Zeichen eines Shocks auf. Auch die nach 8 Tagen
erfolgte nochmalige Injektion von 1 ccm Melubrinlösung war
wirkungslos.
Da wir das Eiweißantigen nicht kennen, auch nicht wissen, ob es
vielleicht eine Eiweißverbindung des Antipyrins ist, sind weitere Versuche
in dieser Richtung nicht möglich. Es sei aber nebenbei erwähnt, daß
Mayer und Alexander Meerschweinchen gegen diazotiertes Atoxyl-
Pferdeserum sensibilisieren konnten, nicht aber gegen Atoxyl allein.
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 47
Für die Übertragungsversuche mit der intrakutanen
Quaddelmethode gelten dieselben theoretischen Erörterungen.
Außerdem ist nicht einmal vorauszusetzen, daß ein Idiosynkrasiker
auf die intrakutane Applikation des spezifischen Mittels immer an
dieser Stelle reagiert. Cooke weist darauf hin, daß Aspirin-Idio-
synkrasiker nur dann mit Aspirin eine positive Kutanreaktion
geben, wenn sie bei interner Verabreichung im Anfall mit Haut-
exanthem (Urtikaria) reagieren und daß umgekehrt Fälle mit
dauernd negativer Intrakutanreaktion nach Aspirineinnahme nur
Asthma, aber kein Exanthem bekommen. Demnach brauchen nicht
alle Antipyrin-Idiosynkrasiker eine positive Intrakutanreaktion
zeigen, außerdem brauchen nicht alle positiven Reaktionen in der
gleichen Weise verlaufen.
Eine positive Intrakutanreaktion stellte Königsfeld an sich
selbst fest. Auf die intrakutane Injektion von 0,1 ccm einer
50% igen Melubrinlösung erfolgte nach 1 Stunde Rötung und
Schwellung von 3 cm Durchmesser und zentraler Blasenbildung,
nach 2 Stunden Rückgang der reflektorischen Rötung und Schwellung,
aber hämorrhagische Verfärbung der Blase, nach 7 Stunden
Schnupfen und Husten, nach 9 Stunden Zunahme der Nasenreaktion,
Dyspnoe, nach 11 Stunden Anfangszustand (nach 4 Monaten noch
linsengroße, gerötete glatte Narbe an Injektionsstelle). Aus eigenen
Versuchen folgt, daß die lokalen Hautsymptome noch nicht als
lokale idiosynkrasische Reaktion aufgefaßt werden müssen.
Bei meiner Patientin zeigte die Intrakutanprobe eine andere
lokale Reaktion. Verwendet wurde gleichfalls eine 50 °/,ige Melubrin-
lösung. An jedem Unterarm wurden vorm 9°° zwei Melubrinquaddeln
zu 0,1 ccm gesetzt (Melubrindosis in Summa 0,2), außerdem zur
Kontrolle mit 0,1 ccm physiologische Kochsalzlösung 6 Quaddeln
(Durchmesser der Quaddeln unter 1 cm). Nach 20 Minuten waren
die Melubrinquaddeln leicht gerötet und hatten größere Flächen-
ausdehnung gewonnen (1,5 bis 2,0 cm Durchmesser), außerdem am
linken Arm an oberer Quaddel geringe zentrale Hämorrhagie, an
unterer Quaddel Spur einer Hämorrhagie. Von 11 Uhr Frösteln.
Hautbrennen am ganzen Körper, stärkere Gelenkschmerzen, 11°°
Konjunktivitis, Ausdehnung der Quaddeln, die als große weiße
Flecke sichtbar sind, auf 3 bis 5 cm Durchmesser. 12?° Schüttel-
frost, Temp. 37,6, stärkerer Schulterschmerz. Das Fieber erreicht
2 Uhr sein Maximum (394°) und ist abends 8 Uhr noch 38°.
Nachm. 53° sind die Quaddeln geschwunden, keine Blasenbildung
nachweisbar; aber an allen Injektionsstellen eine tiefer liegende,
48 GÜNTHER
gegen Druck nicht empfindliche Gewebsverhärtung von etwa
5 cm Durchmesser fühlbar. Die Kochsalzkontrollstellen ver-
hielten sich dauernd völlig normal. Am folgenden Tag vorm. 11 Uhr
sind die ziehenden Gelenkschmerzen geringer, Konjunktivitis ist
geschwunden, die Temperatur normal. Die sensationsfreien Melubrin-
injektionsstellen sind als dunkler und cyanotisch gefärbte Kreis-
flächen von etwa 2 cm Durchmesser (l. u. von 5 cm Durchm.) sicht-
bar; die cyanotische Farbe schwindet bei Druck mit der Glasplatte.
Am linken Arm sind noch Spuren der geringen zentralen Hämor-
rhagie bemerkbar. Es besteht Hautjucken an Rücken und Beinen
{Pruritus bestand in letzter Zeit häufig und auch unabhängig von
Medikamenten). Es war also eine deutliche lokale und allgemeine
Reaktion aufgetreten.
Die Übertragungsversuche von Königsfeld verliefen
folgendermaßen: Bei drei Versuchspersonen wurden an beiden
Unterarmen je eine intrakutane Quaddel mit Idiosynkrasiker-Serum
und Normalserum gesetzt und am folgenden Tage an der gleichen
Stelle je 0,1 ccm 50°/,iger Melubrinlösung injiziert. Eine positive
Reaktion wurde dann angenommen, wenn Jucken, stärkeres reflek-
torisches Erythem und stärkere Schwellung als an den Kontrollstellen
(Normalserum und ohne Serum) und (bei 3 von 6 Quaddeln) eine
zentrale Blasenbildung auftrat. Es wurde daher bei allen 3 Per-
sonen ein positives Resultat verzeichnet.
Meine Versuche wurden in entsprechender Weise angestellt.
Am 8. XII. 1925 Blutentnahme bei der antipyrin-idiosynkrasischen
Patientin B. und intrakutane Injektion dieses „Serum B.“ bei
3 Personen (I. Gei. 27jähr. 2, Cystitis; II. Gör. 25jähr. 2 eosinophile
Diathese, Asthma, III. Sti. 19jähr. @ Gonorrhöe, Cystitis). Bei
allen Personen wurde in der Mitte der Beugeseite jeden Unter-
armes je eine intrakutane Quaddel mit 0,1 Serum B uud 4 ccm
oberhalb eine Quaddel mit Normalserum gesetzt. Es traten danach
keine besonderen Reaktionen auf, am folgenden Tag war nur eine
Spur der Einstichstelle sichtbar. Am 9. XII. wurden 24 Stunden
nach der Serumvorbereitung in jede Seruminjektionsstelle je 0,1 ccm
50 °', Melubrinlösung injiziert und außerdem 4 ccm unterhalb dieser
Stellen noch je eine Melubrinquaddel in unvorbereitete Haut
appliziert. In Summa wurden also bei jeder Person 6 Quaddeln
gesetzt. Bei den 3 Personen I—III ergab sich der in Tabelle 3
verzeichnete Verlauf. Fieber trat bei keiner Patientin auf.
Aus meinen Versuchen ergibt sich, daß die von Königsfeld
als positiv bezeichneten Reaktionen nur Folgen der toxischen
49
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152. Bd.
izin.
Deutsches Archiv für klin. Med
50 GÜNTHER
Wirkung der hochprozentigen Melubrinlösung sind und keineswegs
die Übertragung einer Idiosynkrasie beweisen können. Denn die
mit Idiosynkrasiker-Serum vorbehandelten Stellen meiner Versuchs-
personen zeichneten sich durch keine wesentlichen Besonderheiten
vor den Kontrollstellen aus. (Den minimalen Infiltraten der In-
jektionsstellen nach 24 Stunden bei 2 Personen kann kein be-
sonderes Gewicht beigelegt werden, da sie auch bei Normalserum
vorkamen.) Im Gegensatz hierzu hatten die Intrakutanreaktionen
meiner Idiosynkrasie-Patientin in tiefere Gewebsschichten sich ver-
breitende, harte, lokale Infiltrate und eine starke Allgemein-
reaktion zur Folge. Eine Übertragung der Antipyrin-Idiosynkrasie,
welche schon nach meiner Theorie unwahrscheinlich ist, läßt sich
also durch das Experiment nicht einwandfrei nachweisen.
Die hier aufgestellten konstitutionellen Reaktionstypen gelten
zunächst nur für die Antipyrin-Idiosynkrasie. Eine Verallge-
meinerung ist nicht statthaft. Die Typen haben nicht einmal für
alle Arzneimittelidiosynkrasien Geltung, schon aus dem Grunde,
weil manche sog. Arzneimittel-Idiosynkrasien gar keine Idiosyn-
krasien im Sinne unserer Definition sind.
Idiosynkrasie ist eine besondere Form anaphylaktischer „Über-
empfindlichkeit“, sie zeigt aber keine Steigerung der reizadäquaten
Empfindlichkeit an, sondern eine Empfindlichkeit, die auf einer
normalen konstitutionellen Basis überhaupt nicht eintritt. Es
handelt sich daher nicht um eine „Überempfindlichkeit“, sondern
um eine Andersempfindlichkeit. „Überempfindlichkeit“ be-
deutet eigentlich eine Steigerung der schon normalerweise er-
folgenden Reaktion. Da aber das Wort „Überempfindlichkeit“ sich
in der Wissenschaft schon zu sehr in der verschobenen Bedeutung
eingebürgert hat, soll es hier in seiner eigentlichen Bedeutung
überhaupt nicht angewendet werden, um Mißverständnisse zu ver-
meiden. Eine über die Norm gesteigerte, reizadäquate Reaktion
soll hier Überreizbarkeit (Superirritabilität) benannt werden;
der Gegensatz ist die Unterreizbarkeit (Subirritabilität). Werden
bei einer großen Zahl von Individuen einer Population die Reaktionen
auf einen bestimmten Reiz untersucht, so ergeben sich mannigfaltige
quantitative Abstufungen der Reizbarkeit, welche wir in eine
fluktuierende Variationsreihe mit den Normbereichen der Unter-
reizbarkeit, normalen Reizbarkeit und Überreizbarkeit einordnen
können, deren äußerste Enden die anormale Überreizbarkeit und
anormale Unterreizbarkeit darstellen. Die Idiosynkrasie dagegen,
resp. die Andersempfindlichkeit stellt der reizadäquaten Empfindlich-
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 51L
keit gegenüber eine alternative Variante dar; die Idiosynkrasiker
sind im Sinne meiner Konstitutionslehre bezüglich ihrer anormalen
konstitutionellen Disposition Heterotypen.
Als Beispiel sei die „Jodidiosynkrasie“ unter Ausschluß
der Jodoformidiosynkrasie angeführt. Es wird behauptet, daß eine
Idiosynkrasie gegen Jodkali vorkomme, also eine Andersempfindlich-
keit gegenüber der bekannten Jodintoxikation mit dem Kardinal-
symptom der Akne. Wohl jedem Arzt sind die großen individuellen
Unterschiede der Reizbarkeit bei der Jodkalitherapie aufgefallen,
der Auftritt der Jodakne wird als warnendes Signal gesichtet.
Nicht nur eine konstitutionelle Disposition ist für den Grad der
Reizbarkeit entscheidend, sondern vielmehr pathologische Zustände.
Es werden Patienten mit manchen Infektionskrankheiten (Lepra),
Dermatitis herpetiformis, Graviditätsdermatosen als jodüberreizbar
bezeichnet (Jadassohn). Besonders werden Fälle mit Herz- oder
Niereninsufficienz infolge mangelhafter Jodausscheidung zu einer
Kumulation des Jodes im Organismus neigen und schon nach ge-
ringeren Dosen Intoxikationserscheinungen, speziell Akne zeigen.
Eine toxische Überreizbarkeit bei Jodbehandlung kann daher viel-
leicht weniger auf anormaler konstitutioneller Grundlage entstehen,
als eher in einem durch Krankheit geschädigten Organismus, be-
sonders bei Erhöhung des toxischen Reizes infolge mangelhafter
Ausscheidung des Giftes. Wenn in solchen Fällen schon nach ge-
ringen Jodgaben eine starke Jodakne auftritt, so darf man diesen
Zustand nicht als Idiosynkrasie bezeichnen, da keine durch Um-
stimmung des Organismus erworbene Andersempfindlichkeit nach-
weisbar ist. Die in der Literatur verzeichneten Fälle von „Jod-
idiosynkrasie* (Klausner) erweisen sich nicht als Idiosynkrasie.
Es wurde aber von Klausner sogar die Übertragbarkeit der ver-
meintlichen Jodkaliidiosynkrasie auf Meerschweinchen durch In-
jektion des Patientenserums behauptet.
Über zwei selbst beobachtete Fälle von Jod-Superirritabilität
wird im folgenden berichtet.
l. Fall. Wenzel U. 50 jähriger Arbeiter. In mediz, Klinik 13. XII.
1920 bis 21. IV. 1921 wegen chronischer Endokarditis, Perikarditis,
Verdacht auf Viridans sepsis; wurde fiebernd gegen Revers entlassen.
Antipyrin hatte er längere Zeit gut vertragen. Am 12. V. 1921
Wiederaufnahme in sehr schwerem Krankheitszustande. Es bestand eine
chronisch-septische Erkrankung, ulceröse Endokarditis der Aorten- und
Mitralklappen, chronische Perikarditis, hämorrhagische Nephritis, Ascites,
Anasarka, sekundäre Anämie. Wiederholte Blutkulturen blieben steril.
Wassermannreaktion negativ.
4#
52 GÜNTHER
Am 16. V. erhielt er 2mal 0,5 Antipyrin. Am gleichen Tage
wurden zahlreiche Petechien an beiden Unterschenkeln bemerkt, einzelne
am Rumpf und rechten Unterarm. Antipyrin wurde ausgesetzt. Am
17. V. wurde 2mal 0.5, am 18. V. 3mal 0,5 Jodkali als Expectorans
gegeben (damals wurde auch wieder Jod bei septischen Erkrankungen
von Boudreau empfohlen). Am 18. V. wurden linsengroße Papeln
an der Brust bemerkt. Jod wurde ausgesetzt. Am 19. V. zahlreiche
Abb. 1.
Aknepusteln an Brust und Rücken (stärker an rechter Seite, auf der
Patient immer liegt). 20. V. traten auch Eruptionen an Kopf, Gesicht
und Hals auf, teils seröse Bläschen, teils Pusteln (Schleimhäute und Fuß-
sohlen frei). Starker Juckreiz und Kratzeffekt. Am folgenden Tag er-
schienen einzelne Pusteln gedellt und gekammert, Isolation wegen Variola-
verdacht. Am 23. V. Purpura ziemlich abgeblaßt. Kratzekzem im
Gesicht. .Jodreaktion im Urin positiv, nicht im Pustelinhalt. Impf-
versuche der Kaninchencornea negativ. Am 24. V. große Pusteln bis
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 53
0,5 cm Durchmesser am Kopf, am Rumpf keine weitere Ausbreitung,
zunehmende Suppuration; abends am Kopf bis Lohnengroße Blasen mit
trübserösem Inhalt, Stomatitis. 25. V. wurde Diagnose Variola von Herrn
Prof. Rille ausgeschlossen. An Händen treten Flecke mit zentralen
schwärzlichen Nekrosen auf. Blutentnahme zum Meerschweinchenversuch
(s. u.) Pusteln bisher steril, enthalten jetzt reichlich Staphylokokken.
Am 26. V. treten am Rücken neue Effloreszenzen auf (vgl. Abb. 1).
Die Jodprobe des Urins ist bisher täglich positiv und noch am 27. V.,
also 9 Tage nach Aussetzen des Jodkali schwach positiv. Am 28. V.
Erysipel am rechten Oberarm; am 29. V. Exitus an Herzschwäche. Die
Sektion ergab außerdem eine eitrige Pleuritis mediastinalis rechts und
Leptomeningitis.
Diese Krankheitsbeschreibung zeigt, daß die Deutung der
mannigfaltigen Hautexantheme große Schwierigkeiten verursachte.
Die Purpuraerscheinungen an den unteren Extremitäten konnten
durch den septischen Zustand bedingt sein; sie traten aber am
gleichen Tage auf, an dem der Patient zweimal 0,5 Antipyrin er-
halten hatte, das er vor einigen Monaten ohne Nebenerscheinungen
vertragen hatte. An die Möglichkeit einer Umstimmung durch die
frühere Antipyrintherapie und einer jetzt manifesten Antipyrin-
idiosynkrasie war zu denken; das Mittel wurde sofort ausgesetzt,
die Purpuraerscheinungen gingen nach 7 Tagen zurück.
Das pustulöse juckende Exanthem, welches seltsame dermato-
logische Adspekte bot und zeitweilig variolaverdächtig war, trat
am 2. Tage der Jodtherapie (nach etwa 2 g Kal. jodat.) auf.
Einzelne bis bohnengroße Blasen, mehrkammerige Pusteln, zentrale
Nekrosen, Kratzekzem geben ein kompliziertes Symptomenbild. lm
Harn wurde noch 9 Tage lang nach Aussetzen der Jodtherapie Jod
ausgeschieden, es fand also eine hochgradige Retention statt. Die
Pusteln waren in der ersten Zeit steril, im Eiter kein Jod nach-
weisbar. Nicht mit absoluter Sicherheit, aber mit größter Wahr-
scheinlichkeit konnte ein Jododerma bullosum angenommen
werden.
Die Wahrscheinlichkeit wird noch dadurch erhöht, daß am
Ende des gleichen Jahres ein ganz analoger Fall von Schoen-
hof beschrieben wurde. Es handelte sich bier ebenfalls um eine
(wohl septische) Endokarditis der Aorten- und Mitralklappen und
hämorrhagische Nephritis bei einem 34jährigen Mann, der außer-
dem eine apoplektische Hemiplexie bekam. Nach 3 Tage langen
kleinen Jodgaben (in Summa 0,7 „Jod“) trat an Gesicht und Händen
ein Jododerma bullosum auf (bis dattelgroße Blasen). Auch hier
gelang noch am 9. Tage nach Aussetzen des Mittels der Jodnach-
54 | GÜNTHER
weis im Harn. Die Hautatfektion heilte völlig aus. Der Patient
starb später nach nochmaliger Apoplexie (durch Sektion bestätigt.
Die Entstehung des Jododerma wurde auf starke Retention des
Jodes infolge Niereninsufficienz zurückgeführt. Bezüglich der
Nekrosenbildung bei meinem Patienten sei ein vielleicht analoger
Fall angeführt, der von Fischer 1856 als Jodexanthem be-
schrieben wurde. Bei einem jungen Menschen mit letaler Endo-
und Pericarditis färbte sich im Stadium des Kollapses das Jod-
exantlıem („Quaddeln“) dunkelrot, dann schwarz und gangränes-
zierte in ganzer Hautschicht bis zum Unterhautzellgewebe.
Einige Jahre später kam ein ganz entsprechender Fall in
klinische Beobachtung, der sicher als Jododerma zu bezeichnen ist.
Fall 2. A. J. 42jähr. Fräulein mit starker Kyphoskoliose. Seit
Kindheit Herzbeschwerden. 1921 bei Behandlung einer Handphlegmone
Unverträglichkeit der Jodtinktur aufgefallen. Febr. 1924 mit Herz-
beschwerden erkrankt. Am 14. V. Aufnabme in mediz. Klinik. Am
16. und 17. V. je 2 g Kal. jodatum. Am 18. V. starke Jodakne im
G:sicht, geringere an Nacken und Unterarmen. Am 21. V. erreichte die
Akne ihr Maximum, es bestanden große, eingedellte Pusteln, Tachykardıe.
Fieber bis 38,2%. Jodkali wurde am 18. V. ausgesetzt (in Summa
4 g erhalten. Nach 8 Tagen waren die Hauteruptionen geheilt.
Klinische Diagnose: Chronisch-septische Endokarditis, hämorrhagische
Nepbritis, Milziumor, Anämie, Jododerma. Die Erkrankung fühıite am
19. XI. 1924 zum Exitus.
Die Tatsache ist beachtenswert, daß die Jodsuperirritabilität
in den drei vorliegenden Fällen auf der gleichen pathologischen
Basis entstanden ist, die in den Bereich der „Endocarditis lenta“
gehört. In allen Fällen muß die bestehende Nieren- und Herz-
insufficienz als Ursache der erhöhten Jodretention in erster Linie
für die Hauterscheinungen verantwortlich gemacht werden, wenn
auch der allgemeine chronisch-septische Zustand möglicherweise zu
einer Steigerung der Irritabilität mit beitragen kann. Diese Tripli-
zität der Fälle bei dem sonst nicht so häufigen Vorkommen des
schweren ‚Jododerma kann zu der umgekehrten Fragestellung ver-
leiten. ob vielleicht zur Endocarditis lenta Disponierte relativ
häufiger eine konstitutionelle Disposition zur Jodsuperirritabilität
haben. Wenn auch die Steigerung der Jodintoxikation durch die
Erkrankung in erster Linie für die Ätiologie des Jododerma mab-
geblich erscheint, darf doch eine weitere konstitutionelle Kum-
ponente nicht ganz auber acht gelassen werden, zumal bei einer
Patientin (2. Fallı gewisse Hinweise vorhanden sind, daß bereits
vor Beginn des schweren Leidens eine Jodsuperirritabilität (bei
äuberlicher Anwendung des Jod) bestanden hat.
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 55
Obwohl in den von mir beobachteten Fällen das Jododerma als
Jodintoxikation infolge mangelhafter Ausscheidung des Jodes, viel-
leicht bei einer gleichzeitigen konstitutionellen Disposition zur Jod-
superirritabilität aufzufassen war und kein Grund zur Annahme
einer Jodidiosynkrasie vorlag, wurde doch mit Rücksicht auf die in
der Literatur vorliegende Behauptung das Experiment der Serum-
übertragung auf Meerschweinchen vorgenommen.
Am 23. V. 1921 erhielten Meerschweinchen I u. II früh 83° je
0,25 Kalium jodatum intraperitoneal. Am 24. V. früh 9*° wurde
bei M. I 5 ccm Serum eines Nephritikers mit abgelaufener Urämie, bei
M. II und M. III je 5 ccm Serum des 1. Falles von Jododerma subkutan
eingespritzt. In den folgenden Stunden zeigte M. I krampfartige
Zuckungen, Mattigkeit, Schwäche der Hinterbeine, während M. II sich
normal verhielt und M. III etwas matt war. Nachm. 31° erhalten M. I
und M. II nochmals 0,25 Kal. jodat. intraperitoneal. Danach bleibt
M. I, das sich vorher völlig erholt hatte, normal, M. II bekommt sofort be-
schleunigte keuchende Atmung, nach 20 Min. Krämpfe (nach 4 Std.
völlig munter). In den folgenden 2 Tagen verhalten sich alle 3 Tiere
ganz munter, am 27. V. früh ist M. I tot.
Dieses Ergebnis könnte zu der unvorsichtigen Deutung ver-
leiten, daß durch das Patientenserum eine Jodüberempfindlichkeit
übertragen wurde. Doch stammt erstens das Serum nicht von einem
Idiosynkrasiker und zweitens haben die Symptome bei Meer-
schweinchen II, falls sie überhaupt auf die Seruminjektion bezogen
werden sollen, nicht die geringste Ähnlichkeit mit den Krankheits-
erscheinungen des Serumspenders.
Auch bei Fall 2 wurden Übertragungsversuche auf Meer-
schweinchen vorgenommen und zwar wurde der Versuch viermal
mit den nötigen Kontrollen wiederholt, ohne jemals ein einwand-
freies positives Ergebnis zu haben.
Diese Versuche haben also ein Resultat, wie es nach den hier
gegebenen theoretischen Erörterungen nicht anders zu erwarten
ist. Eine Arzneisuperirritabilität läßt sich ebensowenig, wie eine
Idiosynkrasie, auf Versuchstiere übertragen. Erst wenn es gelingt,
das entsprechende Antigen zu isolieren, kann man mit diesem eine
experimentelle Anaphylaxie erzeugen.
Wenn auch die genauer beschriebenen Fälle nicht als Idio-
synkrasie gegen Jodkali zu deuten sind, ist es trotzdem nicht aus-
geschlossen, daß es eine echte Jod-Idiosynkrasie gibt. Diese Ver-
mutung wird besonders durch eine ältere Mitteilung (1859) von
Fischer bekräftigt. Dieser Autor teilt die Jodexantheme in
4 Gruppen ein: 1. Fieber mit Eıythem, 2. Urtikaria ohne Fieber,
6 GÜNTHER
3. pustulöses Exanthem, 4. das seltene Jodekzem, welches meist
am behaarten Kopf und in der Umgebung des Skrotums auftritt.
Von anderer Seite sind auch Ödeme der Augenlider beschrieben
worden. Ich kann daher den Hinweis nicht unterlassen, dağ
Fischer’s Gruppen 1, 2 und 4, falls sie sich wirklich auf Idic-
synkrasien gegen Jod beziehen, den von mir aufgestellten drei
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie nahe stehen. Seine Gruppe 3
umfaßt wohl Fälle von Jod-Superirritabilität, wie sie auch hier be-
schrieben wurden.
Es seien hier einige Beispiele gegeben, daß auch andere Arznei-
Idiosynkrasien die hier gegebenen Konstitutionstypen aufwiesen.
Nach Mitteln der Veronalgruppe reagierten als Pyretiker mit
Exanthem und hohem Fieber die Fälle von Fürbringer, Haug,
Juliusburger und König (mein Antipyrinfall reagierte auf diese
Substanzen nicht). Interessant ist ein Fall Zeislers, der auf
Antipyrin mit Urtikaria reagierte und nach 0,3 bis 0,5 Veronal
Symptome der Gruppe 3 bot (mehrmals nach 12—18 Stunden rote
runde juckende Flecke an Präputium und Glans, Bildung seröser
Blasen und Krusten). Ein anderer Fall Zeislers bekam nach
Veronal ekzematöse Eruptionen an der Eichel. Silberstein
reagierte selbst nach Purgentabletten (Phenolphthalein) als Herpe-
tiker mit bullöser Stomatitis und herpesähnlichen Eruptionen am
Glied.
Wenn man von der Jod-Superirritabilität absieht, behandeln
vorliegende Feststellungen ein einheitliches, abgegrenztes Material
in dem größeren Gebiete der Anaphylaxie. Wünschenswert ist eine
entsprechende Bearbeitung der übrigen klinischen Formen der Ana-
phylaxie. Dann wird sich ergeben, welche Bedeutung die hier auf-
gestellten konstitutionellen Typen im Bereiche der klinischen Ana-
phylaxie überhaupt haben, und ob noch weitere Typen aufgestellt
werden müssen. Der anaphylaktische Shock ist zweifellos ein
monogenetischer Krankheitszustand, da ein Toxin zu seiner
Auslösung als einziger Faktor bei einem bestimmten Individuum
genügt. Auf den Begriff des monogenetischen und polygenetischen
Krankheitszustandes bin ich in einer früheren Arbeit (6) näher
eingegangen, wo ich besonders die Beziehung zur Symmetrie und
Lokalisation des Krankheitsherdes klarzustellen suchte. Nun ist
es bekannt, daß es zur Idiosynkrasie disponierte Individuen gibt,
die nicht nur durch ein bestimmtes Reizmittel, sondern auch durch
ein anderes oder mehrere andere in den anaphylaktischen Zustand
geraten. Für diesen Vorgang darf man aber nicht die Bezeichnung
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. DT
„polygenetisch“ anwenden, die sich nur auf den gegebenen
Krankheitszustand selbst und seine Ätiologie bezieht. Man kann
aber von einer polyvalenten Umstimmung sprechen und darunter
die Möglichkeit verstehen, daß mehrere Reize ein bestimmtes Indi-
viduum anaphylaktisch umzustimmen vermögen. Wie ich bereits
hervorgehoben habe, kann es für die Konstitutionslehre Bedeutung
haben, wenn für eine größere Zahl solcher Individuen die Poly-
valenz-Komplexe und eventuell gewisse Gesetzmäßigkeiten
dieser Komplexe festgestellt werden. Ferner ist zu untersuchen,
ob ein Individuum mit polyvalenter Umstimmung stets mit dem
Symptomenbild einer konstitutionellen Gruppe reagiert, oder ob
verschiedenartige Antigene bei demselben Individuum verschiedene
Modifikationen des Shockes auslösen; letztere Annahme ist weniger
wahrscheinlich. Die Familienforschung findet Stammbäume mit
hereditärer Disposition zu Idiosynkrasien mit verschiedenartigen
Manifestationen der Anaphylaxie und wird später versuchen, die
inneren konstitutionellen Zusammenhänge solcher familiären
Idiosynkrasiekomplexe aufzuspüren.
Eine Sammelforschung Hanbart’s z. B. über 2000 Pollenidiosyn-
krasiker ergab, daB 34°, der Fälle familiär waren und 9 °/, auch andere
Idiosynkrasien in der Familie aufwiesen, dab 10°, der Pollenidiosyn-
krasiker auch gegen andere Eiweibe, wie Erdbeeren, Primeln, Pferde-
serum, Käse, Eier, Fische, Krebse anaphylaktis-h und relativ selten mit
Arzneimittelidiosynkrasien (Antipyrin usw.) behaftet waren.
Solche vorbereitenden Arbeiten sind nötig, ehe wir uns auf
weitere konstitutionelle Theorien einlassen. Es liegen schon Ver-
suche vor, konstitutionelle Korrelationen aufzustellen, doch sind sie
rein spekulativer Art. Die Anaphylaxie entstehe auf der Basis
des „Status degenerativus“, „Status Iymphaticus“, „Arthritismus“.
Sie sei durch niedrigen Harnsäurespiegel und Calciumgehalt des
Blutes charakterisiert. Die wissenschaftliche Konstitutionslehre
kann mit dem Status degenerativus nicht viel anfangen und be-
wertet auch den Status lymphaticus nicht mehr in dem Maße, wie
vor 10—20 Jahren. Auch das Schlagwort „Arthritismus* — in
Frankreich Mode, bei uns geduldet — wird keine Vertiefung des
Problemes bringen und sich für die anaphylaktischen Zustände
generell nicht anwenden lassen. Der Arthritismus soll äußerlich durch
den hypersthenischen Habitus (Brevitypus, Breitwuchs) charakte-
risiert sein. Jeder wird Idiosynkrasiker kennen, welche gerade den
entgegengesetzten hyposthenischen Habitus (Longitypus) aufweisen.
Es ist auch zu viel behauptet, wenn die Anaphylaxie schlecht-
hin als eosinophile Diathese gedeutet wird oder in noch
D8 GÜNTHER
weiter gesponnener Spekulation englischer Autoren als „Hyp-
adrenalismus“ oder Hypofunktion der Nebennieren. Nach meinen
Feststellungen sind wir vorläufig nur berechtigt, die Mitglieder
meiner 2. Gruppe der Oxyphilen der eosinophilen Diathese zuzu-
ordnen, die Mitglieder der beiden anderen Gruppen dagegen nicht.
Die Korrelation zur Neuropathie oder Psychopathie ist noch plan-
mäßig zu prüfen.
Es ergibt sich also vorläufig kein weiterer einheitlicher kon-
stitutioneller Gesichtspunkt, unter dem die Idiosynkrasie zusammen-
gefaßt werden kann, als der in der Definition bereits gegebene.
Wir kommen zu folgenden Schlußsätzen:
1. Die Idiosynkrasie ist eine auf einer anormalen konstitutio-
nellen Disposition entstandene besondere Form der Anaphylaxie.
Sie beruht nicht auf einer reizadäquaten, gesteigerten Empfindlich-
keit des Organismus, also nicht auf einer Überreizbarkeit (Super-
irritabilität), sondern auf einer Andersempfindlichkeit
infolge anaphylaktischer Umstimmung des Organismus. Während
die Vorbereitung der Schulanaphylaxie gewöhnlich durch paren-
teral zugeführte körperfremde Eiweißkörper als Antigene geschieht,
erfolgt bei der Idiosynkrasie die Entstehung des körperfremden
Eiweißes durch anormale Vorgänge in dem dazu konstitutionell
disponierten Organismus selbst. Der Nachweis der durch das gleiche
Reizmittel erfolgten Vorbereitung zur Umstimmung ist nicht immer
möglich, aber auch die Nahrungsmittel-Idiosynkrasie ist auf gleiche
Weise entstanden zu denken.
2. Das Studium der anaphylaktischen Symptome bei der hier
behandelten Antipyrin-Idiosynkrasie, die nur auf anormaler
konstitutioneller Basis entstehen kann, ergibt, daß diese Auslese
anormaler Individuen nicht nach einem einheitlichen Schema
reagiert, sondern individuelle Unterschiede zeigt, welche sich in
3 Gruppen von konstitutionellen Reaktionstypen ordnen lassen.
Die erste Gruppe der Pyretiker reagiert mit einem von Schüttel-
frost eingeleiteten hohen Fieberanfall, lokalen Schmerzen bei patlıo-
logischen Prozessen und oft örtlich fixierten oder universellen
Exanthemen verschiedener Art. Die zweite Gruppe der Oxy-
philen bietet die Symptome der Urtikaria, Asthma bronchiale,
angioneurotische Ödeme (bei Eosinophilie des Blutes). Die dritte
Gruppe der Herpetiker ist neben geringen Reaktionen eines
solitären Lippenherpes durch das besondere Syndrom des Herpes
orogenitalis ausgezeichnet, nämlich Herpes der Mundgegend (Lippen,
Zunge, Wangenschleimhaut, Gaumen) und des Genitales (Penis,
Konstitutionstypen der Idiosynkrasie. 59
scrotum, vulva), dazu mitunter Herpeseruptionen an anderen Körper-
stellen; diese Gruppe weist eine deutliche Prädisposition des männ-
lichen Geschlechtes auf.
3. Die beschriebenen, durch Jodkali bedingten Krankheits-
zustände sind nicht als Idiosynkrasie, sondern als $uperirri-
tabilität zu deuten. Es besteht die Möglichkeit, daß es auch
eine echte Jod-Idiosynkrasie gibt.
4. Die Antipyrin-Idiosynkrasie und die Jod-Superirritabilität
lassen sich nicht experimentell durch Injektion von Pätientenserum
auf Versuchstiere übertragen. Auch die intrakutane Methode führt
bei Antipyrin-Idiosynkrasie in der Haut von Nichtidiosynkrasikern
zu keiner Reaktion, welche als Idiosynkrasie gedeutet werden
könnte, besonders auch nicht zu einer Allgemeinreaktion.
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61
Vom Aneurysma dissecans der Aorta.
Zugleich über eine neue Entstehungsweise der Hämo-
globinurie.
Von
Dr. A. Hanser, Mannheim.
Im Arch. f. klin. Med. (Bd. 42) hat Boström schon 1888 auf
einige eigene und Beobachtungen anderer Autoren gestützt eine
interessante und praktisch sehr wertvolle Arbeit über „das ge-
heilte Aneurysma dissecans der Aorta“ veröffentlicht. die
für alle späteren Beobachter ein geradezu klassischer Ausgangs-
punkt geblieben ist. Gaben doch die festgestellten Befunde und
die daraus sich ergebenden Schlüsse grundlegende Hinweise für
Diagnose und Prognosestellung, auch besonders für die Verant-
wortung des Begutachters von gewissen Unfällen.
Inzwischen hat die neuere Literatur, auch manche Kriegs-
beobachtung, nicht nur weitere „geheilte Fälle von Aneurysma
dissecans der Aorta“, sondern die Häufigkeit dieses Vorgangs über-
haupt bestätigen können. Auch konnte die Vielgestaltigkeit der
Befunde nach Entstehung, Entwicklung und Verlauf so verschieden-
artige Bilder liefern, daß keines dem andern gleicht. Um so mehr
erscheint es tunlich, gewisse drastische Fälle mit Rücksicht auf
die praktische Wichtigkeit nicht nur als kasuistische Beiträge zu
veröffentlichen, sondern in ihrer prinzipiellen Bedeutung hervor-
zuheben. Wenn dies hier geschehen soll, so gilt dies besonders
für den zweiten zu beschreibenden Fall, wo der dissezierende
Prozeß am Aortenstamm durch weitgehende und durch die Plötz-
lichkeit des Geschehens besonders tiefe Einwirkungen auf die
Strömung von Blut und Lymphe im Brust- und Bauchraum zur
seltenen Komplikation einer Hämoglobinurie -—— wohl ohne Hämo-
globinämie — geführt hat.
Erste Beobachtung: 48jähr. Bankherr, von Jugend auf
schwerer Neurastheniker, Neigung zu Kopfschmerzen, Depressionen,
trotzdem sportliebend. Seit 40er Jahren mehr Klagen, Schwindel,
62 HANSER
Nackenschmerzen (Vater Gichtiker); 1908 linkss. Nierenkolik mit
Steinabgang. Wiederholt Karlsbader Kur. Links oft Schmerzen in
Unterbauchgegend, teils als Ureteren- teils als Darmschmerz gedeutet.
Mehrfach Sanatorien. Blutdruckerhöhung, Nierenbeobachtung ergibt keine
Insufficienz, wohl zeitweise etwas Alb. Im Blut Wa. schwach +. Blutdr.
schwankt zwischen 200—240 Wasser.
Am 17. V. 1914 plötzliche Schmerzen in]. Nieren gegend:
erster Eindruck (begreiflich) Nierenkolik! (Morph. inj.). Abends nach
Ureteren- und Blasengegend ausstrahlend.. Aber bei wiederholter Urin-
untersuchung kann in den nächsten Tagen kein Blut, wohl einzelne
Zylinder und mehr Alb. (0,3—0,6°/,,) gefunden werden. Temp. an
l. Tag normal, in den nächsten allmählich steigend bis 39 rekt., bleibt
vom 6. Tag ab subfebril bis auf weiteres.
Die Schmerzen waren weiterhin zwar schwächer, aber nie weg.
wechselnd in Heftigkeit und Lokalisation, bald mehr seitlich, bald mehr
nach der Mitte des Leibes. Kopfschmerz, Schwindel, Nackenschmerz
(tägliche Klagen seit Jahren) waren wie verschwunden. Man hatte
` trotz der Unklarheit der Ursache der Schmerzen und ihrer Bedeutung
den Eindruck einer erheblichen, vielleicht vorwiegenden psychischen
Komponente: denn die günstige Beeinflussung der Schmerzen durch Besuch
und sonstige Ablenkung war ungewöhnlich. Auch der Chirurg, der schon
wegen der Frage des paranephr. Abscesses, des Ureterenkathetrismas
usw. zugezogen war, fand keine Erklärung; schließlich hat auch eime
interne Autorität das psychische Moment in den Vordergrund bei der
Beurteilung des zweifelhaften Falles gestellt. Der leichte Wa gab
freilich Grund, an das Gefäßsystem zu denken, doch fehlten alle objektiven
Zeichen, wie Geräusche, Fehlen des Pulses usw. Der Stuhl, sonst von
tadelloser Regelmäßigkeit, war neuerdings eher angehalten. Rektal kein
Befund.
Plötzlich am 5. V. abends 10 Uhr beim Aufstehen aus dem Pett
(üblicher Stuhlgang) tiefe Ohnmacht, aus der der Pat. bald erwachte;
Puls darnach verlangsamt. Andern Tags P. 70—80, Blutdr. 240 Wasser.
Seit dem Anfall Aufblähung des Colon. Darmentleerung morgens noch
außer Bett, Herz in ganz gutem Zustand, Töne rein. Bauch auf
Druck nicht empfindlich. Bei Abendbesuch wieder ganz be
friedigendes Allgemeinbefinden. Am 7. VI. früh 3 Uhr wieder gleicher
Schwächeanfall im Liegen, worauf rasch Exitus.
Die Autopsie ergab: Herz stark hypertrophisch, nicht dilatiert:
Brustaorta kaum verändert, um so mehr Vertikaläste der Koronargef.
verkalkt, die queren Aste derselben wohl durchgängig. Überraschende
Sklerose der sämtlichen Hirngefäße. — Im Abdomen ca. !/, | flüssiges
Blut. Riesigees Hämatom in der linken Bauchseite, in radix mesent.,
para-, perirenal. R. retroperitoneal nach unten von der Niere und retro-
cökal ebenfalls Hämatome. PBlutungsquelle: Aneur. dissecans aort.
abd., dieht an der l. Nierenart. beginnend, setzt sich mit größerem
l., als r. Sack fort bis zur Bifurkation, wo in der l, Iliaca eine Rück-
perforation nachweisbar ist. In dem Ikss. Sack ein großer, tagealter
Thrombus. Die genauere Stelle, wo die Säcke perforiert waren, lieb sich an
Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 63
dem Hämatomen nicht nachweisen. Die Nieren selbst makroskopisch
kaum verändert, kein Konkrement, keine Schrumpfung, Kapsel abziehbar.
Epikritisch wird sich schwer sagen lassen, ob sich das An.
diss. aort. abd. schon länger (Zusammenhang mit dem ]. im Bauch
geklagten Schmerzen) entwickelt hat. Vermutlich dürfte jeden-
falls am 17. V. eine große Veränderung, wohl schon allmähliche
Blutextravasate, sich gebildet haben (Fieber!) und in den letzten
Tagen — am 5.—7. VI. eine ruckweise Vergrößerung der allmäh-
lich gewachsenen Hämatome mit Druck auf den Splanchnicus
'Pulsverlangsamung bei Ohnmacht!) und am 7. VI. früh eine mehr
weniger plötzliche Perforation des unter hohem Druck stehenden
Blutsackes in die freie Bauchhöhle, womit in ähnlicher Weise auch
schon der erste Kollaps zusammengehängt haben mag.
Zweite Beobachtung: 59jähr. Architekt XI. 1924 Hypertonie
(270 Aqu.) Spur Alb., keine Lues. Herzhypertrophie. Cale. Diuret.
Mitte Febr. 1925 stärkstes nächtliches Nasenbluten, mit dessen
Stillung der Rhinologe (über 1 1 Blustverlust geschätzt!) schwierige Arbeit
hatte. In nächster Nacht ausgesprochene rechtsseitige Lähmung
mit Sprachstörung ohne Bewußtseinsverlust (Hirnblutung!, s. Autopsie).
Diese Erscheinungen gehen im Lauf weniger Tage bis auf eine noch
längere Zeit bestehende Sprachstörung und Schwäche in Arm und Hand
rasch zurück.
12. VI. 1925 Befinden verhältnismäßig gut, geht sogar dem Beruf
etwas nach. Am 22. VI. abends 10 Uhr gerufen, erfahre ich, daß der
Kranke einige Tage besuchsweise anwesend war, sich sehr wohl gefühlt
habe, ob zwar die Lebensweise nicht ganz vorschriftsmäßig war (Wein-
genuß usw.). Nach noch guter Reise am Nachmittag heimgekehrt, fühlt
er sich schon nicht ganz wohl, nimmt nur etwas Wurst und Käse zu
sich. Da das Unbehagen größer wurde, zeitig ins Bett. Als er dann
nochmals aufstand, um Urin zu entleeren, konnte er dies nicht, bekam
urplötzlich einen heftigen Schmerz im Oberbauch, wobei
ihm „Stimme und Atem wie auf einmal abgeschnitten waren“. Der
Schmerz steigerte sich ins Unerträgliche.. Als ich den Patienten nachher
sah, klagte er über einen äußerst heftigen Schmerz im Epigastrium,
anfangs mehr nach rechts, den er aber schließlich mehr nach
links, fast eher nach der Nierengegend (Vorderfläche) lokalisierte.
Gleichzeitig hatte sich mehrfaches Erbrechen eingestellt. — Das Aus-
sehen war ganz gut, nicht kollabiert, auch keine Üyanose, obwohl freilich
der Ausdruck begreiflich ängstlich war. Die Atmung war frei, kein
Rasseln, kein subjektives Gefühl von Atemnot, soweit nicht durch das
Stöhnen und den Schmerz eine gewisse Hemmung bestand. Im Gegen-
satz zum Gesicht waren die Hände kühl, mit etwas Schweiß bedeckt.
R. Radialpuls entschieden schwächer als l., früher jedenfalls keine
derartige Differenz. Herzbefund außer der Hypertrophie ohne wesentliche
Veränderung, keine Geräusche, auch kein Reiben; ebensowenig an der
Aorta. P. 66 (früher eher rascher).
64 HANSER
Abdomen entschieden auf Druck etwas empfindlich, aber Unter-
suchung sehr erschwert; keinesfalls peritonitische Empfindlichkeit, keine
Darmsteifung, kein Urindrang, Blase jedenfalls nicht überfüllt, keine be-
sondere Auftreibung des Leibes; Bruchpforten frei. Während der An-
wesenheit 2 mal Erbrechen, kein Fieber rekt.! Auf heiße Applikation
allmähliche Beruhigung und Nachlaß der Schmerzen. Klysmaversuch
ohne Erfolg, aber schmerzlos.. Nach 1 Stunde entschiedene Besserung:
später mehr wegen der Aufregung und Unrube, als wegen des Schmerzes.
Morph. c. Atropiu subc.
23. VI. Nacht schließlich leidlich. Schmerzen heute früh fast
ganz weg, noch am ehesten empfindlich nach LU, gegen den vorderen
unteren Nierenpol, resp. Milzgegend. Auch jetzt nirgends Reiben an
Brust- oder Bauchoberfläche. Objektiv sonst nichts wesentlich verändert.
P. 66, r. schwach und klein, l. kräftiger, Blutdr. 330 Wasser l., kein
Urin bisher entleert, Pat. bricht noch, aber weniger gewaltsam melır. Blase
nicht gefüllt, keine Prostatabypertrophie.
23. VI. Mittags 12 Uhr (nach ca. 20 Stunden) wird erster
Urin entleert: ca. 50 cem, dunkelbraunschwarz, durchscheinend.
1014 spez. Gew., gerinnt auf Kochen fast vollständig, mikr. kaum
ein deutlicher Erythrocyt, viel Detritus, einzelne breite auch daraus
bestehende zylindrische Streifen, kein richtiger Zylinder, kaum sonstige
zellige Elemente. Abends 4 Uhr bereits 2mal ein Viertelliter
noch ähnlichen, auch noch stark album en haltigen Urins, der wie der
erstgelassene im durchscheinenden Licht durch seine Klarheit auftällt.
L Blutdr. abends 275 W., Schmerzen bleiben verschwunden. Er-
brechen noch ab und zu, nicht quälend, Durst. „Gefühl in der Herz-
gegend“, keine Atemnot, Extremitäten warm. Aussehen gut. Puls ruhig.
sonst noch gleich.
24. VI. Nacht ganz befriedigend. Morgens l}, l hellen.
gelben Urins, noch ca. !/, Volumen flockiger Eiweißlällung, keine
Erythrocyten, sonst ähnliches, aber spärlicheres Sediment, wie
gestern, spez. Gew. 1013. Subj. ab und zu Stiche in der Höhe des
Z/werchfells rechts und links. Nirgends Reiben an Leber, Milz oder
Pleura. Kein Katarrh. Seit gestern Abend kein Erbrechen mehr.
Aussehen etwas blasser, als am 22. VI. abends, aber doch ganz gut.
Lippen nicht cyanotisch. Nie Fieber bei Rektalmessung! Jedenfalls
Gesamtzustand ganz beruhigend, Krisis anscheinend überwunden.
Am 25. VI. früh 4 Uhr werde ich gerufen und finde den Patienten
nach angeblich guter Nacht tot vor, auffallend blaß. Eine perkutorische
Kontrolle der Vorderbrust, ob eine Dämpfung sich inzwischen entwickeit
hätte (Durchbruch einer Blutung) ergab nichts Positives. Patient soll
plötzlich erwacht („komisches Gefühl im Rücken“) und gleich um-
gesunken sein.
FEpikritisch ließ sich vermuten, daß (Pulsdifferenz) eine
schwere Zirkulationsstörung vorliegen könne, die sich
aber mangels bestimmter Symptome nicht lokalisieren ließ: diesen
Verdacht, den ich gerade in Erinnerung an den ersterlebten Fall
Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 65
hatte, ließ ich schließlich nachdem der Urinbefund denjenigen
auf eine Nierenkolik ausgeschlossen hatte, fallen, da das kaum
erklärliche Symptom der zweifellosen Hämoglobinurie
an einen toxischen Grund (Käse, Wurst!) denken ließ. Auch
in dieser Annahme ließ das schnelle Verschwinden der Hämoglobin-
wie neben der günstigen Allgemeinverfassung des Patienten der
Überleeung Oberhand, daß das praktische Handeln sich in erster
Linie durch das nil nocere beeinflussen lassen mußte. So unter-
blieb auch alle weitere Maßnahme, wie Blutentnahme, die ja wohl
auch im gebesserten Zustand kein Resultat mehr gezeitigt hätte.
Um so überraschender der autoptische Befund, der glücklicher-
weise möglich war (Prosektor Dr. Löschcke):
Auffallend blasse Leiche, die Leichenflecke auch in den abhängigen
Partien nur angedeutet. Keine Odeme. Bei Eröffnung der Bauchhöhle
erscheint die Leber heruntergedrängt, das rechte Zwerchfell stark nach
unten vorgewölbt, deutlich fluktuierend. Bei Eröffnung der Brusthöhle
legt die rechte Lunge der vorderen Brustwand an, sie schwimmt
auf einem sehr großen Bluterguß, der die rechte Brusthöhle aus-
füllt, zum größten Teil geronnen ist und sich als großer Blutkuchen
herausheben läßt. In der linken Pleurahölle sind kaum 100 cem blutig
gefärbte Flüssigkeit. Die Blutmassen im rechten Pleuraraum betragen
schätzungsweise 3 l. Bei Zurückziehen der Lungen sieht man rechts
und links neben der Wirbelsäule einen retropleuralen Bluterguß,
der rechts im oberen Drittel der Pleurahöhle eine längsgestellte schlitz-
förmige Perforationsöffnung durch die Pleura zeigt. Im Herz-
beutel finden sich etwa 100—150 cem blutig gefärbte Flüssigkeit, aber
kein geronnenes Blut. Das Bindegewebe am Herzhilus ist blutig durch-
tränkt, ohne daß eine direkte Perforation des Epikards zu finden ist.
Brust- und Bauchorgane werden im ganzen zusammenhängend aus
dem Rumpf ausgelöst unter Mitnahme der Aorta und des Zwerchfells.
Die Aorta wird von hinten längs aufgeschnitten. Ihre Innenfläche
zeigt im Brust- und Bauchteil starke Atheromatose. Etwa 2 cm ober-
halb der Abgangsstelle der A. coeliaca findet sich in der Gefäßwand ein
rechtwinkliger Riß, dessen vertikaler Schenkel 1 cm, der horizontale
eine Länge von 2 cm mißt. Der Riß liegt dicht oberhalb des
Durchtritts der Aorta durch das Zwerchfell.
Vom Riß aus führt in der Vorderwand des Gefäßes zwischen Intima
und Media ein Kanal aufwärts, der die Brustaorta in ganzer Länge durch-
setzt. Am Aortenbogen verbreitert sich der Spalt und trennt im auf-
steigenden Teil der Aorta ringförmig zirkulär die Media von der Intima.
In diesem Bereich ist die Intima ziemlich stark in das Gefüßlumen vor-
gebuchtet und verengt es besonders stark dicht oberhalb der Aorten-
klappen. Hier findet sich auch eine kaum stecknadelkopfgroße
Rückperforation in das Gefäüblumen.
Außer dem beschriebenen Aneurysma dissecans zwischen Intima und
Media ist von der Rißstelle aus auch Blut durch die ganze Wand der
-
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. Ə
66 Hanser
Aorta durchgetreten und bildet einen großen Blutmantel um die
Aorta retropleural. Ia diesem Blutmantel liegt der Ösophagus
und der Ductus thoracicus vollständig von Blutmassen um-
schlossen. Sämtliche Blutergüsse liegen streng oberhalb des Zwerch-
fells. Unterhalb desselben fallen die retroperitonealen Lymph-
knoten und Lymphbahnen dadurch auf, daß sie prall mit einer
hellen durchscheinenden roten Flüssigkeit gefüllt sind.
Das Herz zeigt starke Hypertrophie besonders des linken Ventrikels,
alle Klappen intakt. Starke Sklerose der ÜCoronargefiBe ohne wesent-
liche Stenose. In der Muskulatur keine größeren Narben. Die Inter-
kostalarterien werden nicht von dem An. diss. betroffen, seitlich laufen
sie stellenweise durch das periaortale Hämatom. — Beide Nieren stark
verkleinert, sehr blaß, Oberfläche feingranuliert, Rinde sebr
derb, gleichmäßig stark verschmälert. Die Gefäße des Querschnitts
klaffen. — Im Hirn eine alte ausgedehnte Blutung in der rechten
äußeren Kapsel. Sehr starke Arteriosklerose der sämtlichen Hirngefäbe.
Histologischer Befund:
l. Niere: Sehr starke Elastikahyperplasie der größeren und mittleren
Gefäße, hochgradige Verfettung der Arteriolen. Zahlreiche Glomeruli
total hyalinisiert, die zugehörigen Tubuli atrophisch, Narbenbildungen,
einzelne kleine Rundzelleninfiltrate. Hyalintropfige Degeneration in ein-
zelnen Kanälchensystemen. Nephrocirrhosis arterio- und arteriolosklerotica.
2. Lymphdrüse aus der Nierengegend: Die Endothelien
der Lymphsinus enthalten reichlich Eisenpigment.
3. Nierenbecken: Das Nierenbecken zeigt an seiner Änsatzstelle
an die Niere eine Zone, in der sämtliche Lymphgefäße prall mit
Mengen eisenhaltigen Pigmentes gefüllt sind. Das Pigment
liegt größtenteils in den Endothelien. auch frei. Die Niere selbst ist
frei von Eisenpigmenten, ebenso die unteren Abschnitte des
Nierenbeckens.
Dieser Sektionsbefund mit namentlich seinen histologischen
Einzelheiten erklärt, wie wir sehen werden, mit nicht geringer Be-
weiskraft den ganzen Fall, der sonst völlig im Dunkel geblieben
wäre. An dieser Stelle schon mag auf den Nebenbefund der
cerebralen Blutung aufmerksam gemacht werden, die der
oben erwähnten Hemiplerie im Februar offenbar zugrunde lag.
Diese erbrachte Bestätigung beleuchtet fast ironisch die vom Ader-
laß erwartete Beeinflussung einer drohenden Hirnblutung: hat
doch hier der riesige lokale (an den nächsten Kollateralen
der Hirngefäbe!) spontane Aderlaß nicht zu verhindern
vermocht, daß schon in der der Epistaxis folgenden Nacht die
Hirnblutung erfolgte!
Die beiden beschriebenen Fälle von An. diss. sind nun geeignet,
nicht nur in ditferentialdiaenostischem und allgemein nosologischem
Interesse besonders zu belehren, sondern auch in prinzipieller Be-
E ae n
Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 67
ziehung pathologisch-physiologische Möglichkeiten zu demonstrieren,
welche praktisch und theoretisch von nicht geringem Interesse sein
Jürften.
Der erste Fall zeigt zunächst, wie offenbar ungeahnt gerade
das Atherom der Bauchaorta sich entwickelt. Die Röntgendiagnose
als das bei den Veränderungen der Brustaorta so wesentliche und
oft entscheidende Hilfsmittel fehlt vorläufig hier. Die von Ortner
inaugurierte „dyspragia intermittens angiosclerotica“ läßt meist
mehr die isolierte Teilaffektion der mesenterialen, bzw. gastroin-
testinalen Gefäße vermuten. Wenn z. B. nicht zufällig die Bein-
gefäße in Kombination mit Bauchsymptomen durch ihre Pulslosig-
keit auf eine Sklerose der Bauchaorta mit ihren Fortsetzungen
hinweisen, wenn nicht schon eine abnorme Pulsation oder eine be-
sondere Vorwölbung, bzw. gleichzeitig nachweisbare auskultatorische
Befunde den Verdacht auf ein Aneurysma abd. erwecken, so fehlt
eigentlich jeder bestimmte Anhaltspunkt, gerade eine wesentliche
Beteiligung der Bauchaorta an einer allgemeinen Atheromatose,
bzw. eine solche der Bauchaorta allein zu diagnostizieren.
Und doch lehren gerade diese Fälle einerseits bei unklaren
Baucherscheinungenjaauchaneine Erkrankung ihrer
Aorta zu denken, andererseits auch beiBauchsymptomen, —
wie z. B. beim rechtsseitigen Bauchschmerz nicht nur an den
Appendix, sondern auch an die Lunge, — an eine primäre Ur-
sache im Brustraum zu denken.
Und hier spielt gerade das An. diss. in seiner Entwicklung
und seinen Folgen eine nicht zu vergessende Rolle.
Diese Krankheit ist klinisch schwer zu erfassen, wie aus den
Berichten einer schon recht reichen Literatur hervorgeht.
Boström definiert in der oben erwähnten Arbeit das von
Laënnec zuerst beschriebene An. diss. so: „Wir verstehen darunter
eine Erkrankung der Arterien, in specie der Aorta, bei welcher
durch Zerreißung einzelner Schichten der inneren Arterienhäute
an einer mehr oder weniger zirkumskripten Stelle eine Ablösung
der äußeren nicht durchrissenen Wandbestandteile durch das sich
zwischen die Schichten hereinwühlende Blut erfolgt. Auf diese
Weise bildet sich ein durch den primären Riß der inneren Schichten
mit dem eigentlichen Gefäßlumen zusammenhängender äußerer Sack
— das Aneurysma, welches also innerhalb der Arterienwandung
gelegen ist und nach außen allerseits von den äußeren Gefäbwand-
schichten begrenzt wird.“
Der Riß entsteht nach den Ansichten der Autoren bald
x
.)”
68 HANSER
zwischen Intima und Media, bald und wohl am häutiesten
zwischen den Schichten der Media selbst, während die
Adventitia schließlich erst sekundär unter besonderen Umständen
reißen wird. Daß ein solches diss. An. im funktionellen Sinn des
Blutkreislaufs, auch pathologisch-anatomisch narbig, heilen kann,
hat erstmals eben auch Boström in jener klassischen Arbeit dar-
getan und ist seitdem wiederholt an der Leiche oft nach langen
Jahren des vermutlichen Bestehens bestätigt worden.
In der Entstehung der Affektion spielt das Atherom. bzw.
auch die Gefäßlues begreiflicherweise eine Rolle, die so groß sein
zu können scheint, daß die oft anzunehmende Gelegenheitsursache
eines Trauma irgendwelchen Ursprungs oder Grades gar nicht nech
vorausgesetzt zu werden braucht.
Und doch — schon Boström weist darauf hin — haben die
Beobachtungen vieler Autoren Grund gegeben, das Trauma als
eine conditio sine qua non hinzustellen. Boström glaubt nach
seiner Erfahrung Recht zur Annahme zu haben, daß die aller-
meisten, wenn nicht alle Fälle von An. diss. auf ein Trauma zurück-
geführt werden müssen. Nun wird man freilich einen gewissen
Unterschied doch machen müssen, ob die Aorta nur reißt und viel-
leicht nur ein periaortales Hämatom entsteht oder ob sich im An-
schluß an den Riß ein An. diss. entwickelt. Aber man wird sich
ebenso vorstellen können, daß ein — z. B. traumatisch, wozu auch
eine ganz plötzliche erhebliche Blutdrucksteigerung gehören kann.
verursachter — Einriß in die Intima, bzw. Media der Aorta wohl
mehr weniger rasch zu geringer Dissezierung der Wandschichten
führt und nur ein mehr intramurales Hämatom entstehen
kann, das sogar durch Resorption ausheilt. Beide Möglichkeiten
werden schwer vorauszusehen sein, da die Auswirkung in vivo
kaum je nachweisbar und wohl doch nur auf dem Sektionstisch
behauptet werden kann. Ob dann eineschonerkrankte Aorta
eher zu jener Dissezierung führt, als eine vorher gesunde
lediglich unter der Gewalt der traumatischen Ursache, ist ebenfalls
schwer zu sagen, doch — sollte man es annehmen müssen. Darf
doch andererseits dabei auch die von Babes und Minorescu
als „dissezierende Aortitis“ beschriebene Affektion nicht vergessen
werden, auf die besonders auch Krukenberg hinweist.
Der primäre Riß als solcher (ganz unabhängig ob ein An.
diss. daraus entsteht oder nicht) freilich scheint in der Tat nach
sorgfältigen Untersuchungen insbesondere auch von Oppenheim,
der auch experimentell — mit freilich klinisch kaum in Betracht
Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 69
kommenden besonders hohen Druckwerten — arbeitet und u. A.
eine Prädilektionsstelle für Aortenrisse nächst den Klappen fest-
stellen will, auch bei gesunder Aorta entstehen zu können.
Bestätigen doch auch Jenner, Letterer, Busse, Bay usw.
diese Möglichkeit an Fällen, wo verschiedenste Ursachen, ebenso
stumpfe Gewalt, als z. B. Pressen beim Stuhl bei anscheinend ge-
sınder Aorta zum Einriß führen konnten; so sind auch Fälle nach
Sturz bei Glatteis (Chiari), beim Schlittschuhlaufen (Wasastjerna)
beschrieben, wo nach 3 bzw. 8 Tagen durch Perforation in Pleura,
bzw. Epikard der Tod eintrat. Freilich verlangt Schilling
als Beweis für die rein traumatische Verursachung eines An. diss.
die mikroskopische Untersuchung der Aortenwand als unerläßliche
Anerkenntnis der Intaktheit derselben. Wogegen andere Autoren
— vielleicht nicht mit Unrecht — darauf hinweisen, daß bei dieser
ätiologischen Einstellung dann nur zu verwundern sei, daß das
An. diss. bzw. der Aortenriß nicht viel häufiger ist, als es in der
Tat die ärztliche Beobachtung und Erfahrung annehmen läßt.
Denn so leichte Aortenveränderungen, die nur mikroskopisch nach-
weisbar sind, sind doch als alltäglich und zalıllos anzusehen, dem
gegenüber freilich auch Traumen, wie die genannten, auch ebenso
alltärliche Erlebnisse sind. Erst kürzlich hat übrigens eine Arbeit
von Paschkis anläßlich eines Falles von Aortenruptur bei normaler
Gefäßwand die diesbezüglichen Gesichtspunkte zusammengestellt
mit einigen neueren Literaturangaben.
Die Entscheidung darüber wird aber trotz allem schließlich
eine offene Frage bleiben, während man mehr eine zufällige Kombi-
nation verschiedener Ursachen voraussetzen muß, darunter freilich
(sefäßerkrankung und Trauma an erster Stelle stehen.
Mehr glaube ich der Wahrscheinlichkeit Ausdruck geben zu
dürfen und zu können, daß geschädigte Arterienwände im
wesentlichen zur Möglichkeit der Rückperforation
fülren werden.
In beiden beschriebenen Fällen ging dem wenigstens
den Beginn der Erkrankung bedeutenden Augenblick, bzw. Stadium
derselben keinerlei Trauma voraus; wenigstens hat auch die
genauere Nachforschung z. B. auch beim zweiten Fall auch anläß-
lich der Heimreise keinen Anhaltspunkt dafür ergeben und der
erste Schmerzanfall des ersten Kranken trat auf, während er ruhig
auf einem Stuhl saß.
Bezüglich der Symptomatologie des An. diss. Ist einer-
seits auffällig, wie verschieden die ersten Erscheinungen bei der
70 HANSER
Entstehung zu sein scheinen: Es sind Fälle berichtet, wo bei zu-
fällig, z. B. an Apoplexie, Verstorbenen der Befund eines „geheilten
An. diss.“ gefunden wurde, während von einer eigentlichen früheren
Erkrankung gar nichts bekannt war, als daß man annehmen mußte,
daß ganz allmählich und so fast symptomlos diese enorme Gefäß-
veränderung entstanden war. Und in anderen Fällen sind die Fr-
scheinungen als so katastrophale berichtet, daß plötzliches Zu-
sammenstürzen und Bewußtseinsverlust den Vorgang einleiten.
Auch nach der vermutlich ersten Entwicklung kann der weitere
Verlauf, wie in unseren beiden Fällen, begreiflicherweise auch im
symptomatischen Ausdruck ein ganz verschiedenes Gesicht zeigen.
Bei allen solchen Epikrisen darf aber ja nicht vergessen
werden, daB wir nie wissen, wann der Riß stattgefunden,
wann das autoptisch nachgewiesene An. diss. zur Entwicklung
gekommen, auch nicht ob es sich schubweise vergrößert hat, wie
vielleicht im ersten Fall. In diesem hat ja jedenfalls die Autopsie
mit dem riesigen Befund für die schon lange bestehenden Schmerzen,
die ich als Ureterenschmerzen verdächtig, andere als Darmschmerzen
aufgefaßt hatten, die Erklärung nahe legen können, daß sie jeden-
falls durch die ausgedehnte Arteriosklerose der Bauchgefäße bedingt
gewesen sein mochten, wobei aber often bleibt, daß diese Schmerzen
schon einen Zusammenhang mit der Komplikation des Einrisses,
bzw. des sich entwickelnden An. diss. haben konnten.
Wie irreführend die direkten Folgen eines sich entwickelnden
An. diss. sein können, so daß ein Krankheitsbild in den Vorder-
grund treten kann, dessen Pathogenese nicht geahnt werden kann.
beweist ein Fall von Reitter, wo eine Paraplegie als Folge eines
rasch zur Entwicklung gekommenen An. diss. auftrat, bei welchem
acht Paare der Interkostalarterien bei der Dissezierung der Wandung
der Aorta rissen und zu schwerer akuter Schädigung der Ernährung
des Rückenmarks Anlaß gegeben hatten.
Insofern hat aber auch der berichtete Fall I irregeführt, wo
die Tücke der Lokalisation des Schmerzes an der gleichen Stelle,
wo früher ein typischer Anfall von Nierenkolik beobachtet war,
die Einstellung der Diagnose immer wieder zur Niere geleitet hat.
Es war deshalb nicht uninteressant, in einem Sitzungsbericht der
Berl. Ges. f. Chir. v. 28. VII. 1913. (Münch. med. Wochenschr. 1913,
Nr. 31) zu lesen, daß bei einem wegen der Diagnose Nierenstein-
kolik operierten (Holländer) Kranken durch die Operation ein
großer pulsierender Tumor festgestellt wurde, der die l. Niere
nach vorn gedrängt hatte und sich als ein durchgebrochenes Aneu-
Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 71
rysma der Bauchaorta erwies; auch wenn es nicht als dissezierend
beschrieben ist, sei der Vergleich erlaubt!
Bemerkenswert ist weiter, daß Hart noch 1917 schrieb, daß
„in keiner einzigen der in der Literatur niedergelegten Be-
obachtungen es nach sekundärer Perforation des Aneurysmasackes
nach innen zu der verhängnisvollen Ruptur nach außen gekommen
ist. Unsere beiden Fälle widerlegen diese Erfahrung: im ersten
hat die beschriebene Rückperforation nicht verhindern können,
daß gar in offenbarer Allmählichkeit der fortgesetzte Druck des
sich anscheinend immer noch durchwühlenden Blutes zu weiteren
Hämatombildungen und schließlich zur Perforation in den freien
Bauchraum führte. Und im zweiten hat wohl die Rückperforation
die allererste Verwirrung des Säfteumlaufs im Thoraxraum, wie
wir später noch sehen werden, etwas zu ordnen vermocht, aber
eben auch nicht verhindern können, daß schon vermutlich am nächsten
Tag der Sack in den rechten Pleuraraum durchbrach.
Mit diesen Feststellungen verlassen wir jetzt den Gegenstand
des An. diss. als solchen. Wir ziehen aus denselben die Lehre,
daß der vorsichtige Arzt bei ungewöhnlichen Schmerzen
im Brust- oder Bauchraum, zumal wenn dieselben nach Un-
fällen oder großen körperlichen Anstrengungen, gar bei älteren
Leuten geklagt werden, an die Möglichkeit des Entstehens
eines An. diss. bzw. auch nur eines Aortenrisses denke,
auch — wenn keinerlei objektive Symptome oder entsprechende
andere Beschwerden direkt darauf hindeuten. Es wird tunlich sein,
abwartend den Kranken vor Erhöhung drohender Gefahr zu
schützen, und als Gutachter schon den Gedanken an die
Möglichkeiten der Aortenläsion mitentscheiden zu lassen,
auch wo anscheinend das Gefäßsystem als gesund an-
genommen wird.
Wenden wir uns nun zu der Komplikation, die, wie erwähnt,
dem Verlauf im zweiten Fall die besondere praktisch und wissen-
schaftlich wertvolle Bedeutung gibt: der dabei in die Erscheinung
getretenen merkwürdigen Form akuter Hämoglobinurie, wie
sie anscheinend nicht beschrieben ist.
Von vornherein erkläre ich mich der Lücke bewußt, daß hier
der für die Beobachtung einer Hämoglobinurie erforderliche Nach-
weis, ob auch eine Hämoglobinämie vorlag, fehlt. Einerseits mag
sie der rasche Verlauf des Falles, gerade weil er einen günstigen
Verlauf nehmen zu wollen schien, und. daß er nicht in der Klinik,
sondern in der Hauspraxis zur Beobachtung kam, verzeihlich machen.
12 HANSER
Aber ich glaube, aus dem ganzen Geschehen und vor allem dem
autoptischen Befund mit namentlich den mikroskopischen Einzel-
heiten der Nieren- resp. Nierenbeckenuntersuchung den Wahr-
scheinlichkeitsbeweis antreten zu können, daß hier ein ganz
anderer Typus und eine ganz andere Pathogenese der
Hämoglobinurie vorliegt, als bisher als alleinmöglich ange-
nommen ist. Dann wird auch die Frage wegen des Fehlens des
etwaigen freien Hämoglobinnachweises im Blut vielleicht nicht mehr
im Sinn einer so großen Lücke in der Beurteilung des unter allen
Umständen recht bemerkenswerten Falles beantwortet sein.
Bekanntlich setzt allerdings die Auffassung von der Entstehung
der Hämoglobinurie eine gleichzeitig bestehende Hämo-
globinämie als „heutzutage ganz selbstverständlich“
voraus. So drückt sich auch J. W. Miller, dessen neuerer Dar-
stellung über dieses Thema ich zunächst gerne folge, aus. Er
schreibt: „Allmählich erkannte man als Voraussetzung jeder Hämo-
globinurie das Bestehen einer Hämoglobinämie, das Vorhandensein
freien den Erythrocyten entstammenden Blutfarbstotts im strömenden
Blut.“ Von der mit den Nachwirkungen der Bluttransfusion (zu-
nächst artfremden Blutes) zusammenhängenden Serumhämo-
gelobinurie ausgehend unterscheidet Miller die Verbrennungs-,
Kälte-, Marsch- und Gifthämoglobinurie, diejenige bei In-
fektionskrankheiten, bei Gravidität, die posthämor-
rhagische (zu welcher wohl auch die nach schweren Muskel-
traumen gehört) und die Hämoglobinurie der Haustiere. Wenn
dann noch die „paralytische* (Paul) — analog der H. der
Pferde —, der mit Muskellähmungen einhergehende Fall von
Meyer-Betz (hier ist der Nachweis von freiem Hämoglobin im
Blut nicht erbracht) erwähnt sind, so werden damit die bisher be-
kannten Entstehungsmöglichkeiten erschöpft sein. Bliebe nur noch
die oft mit Hämoglobinurie einhergehende „Haffkrankheit“ zu
nennen, bei der allerdings Lewin im Blut spektroskopisch keine
Veränderung fand.
Während wohl meistens dabei hämolytische Vorgänge
nachgewiesen sind, die Hämoglobinurien also eine biologisch ähnliche
Auswirkung verschiedener Ursachen darstellen, wie bei der paroxys-
malen, so hat doch schon Krehl auch auf Anfälle hingewiesen,
wo das Blutplasma frei von Hämoglobin gefunden wurde, so
daß man die Auflösung des Hämoglobins auch erst in den Nieren
vermuten könne.
Es frägt sich nun, wie in unserem Fall die Entstehung
Vom Ancurysma dissecans der Aorta. 13
der H. zu erklären ist, warum Hämoglobinämie unwahr-
scheinlich ist, und wodurch vor allem der ganz anders zu
deutende Vorgang der Ausscheidung von Hämoglobin mit dem Harn
von den bisher bekannten Formen sich unterscheidet.
Der Hergang ist doch folgendermaßen vorzustellen: Das initiale
Schmerzsymptom mit seiner Projektion nach dem Abdomen wird
durch die Autopsie als die Folge des dicht über dem Zwerchfell
erfolgten Durchbruchs der innern Aortenhäute und der rasch nach
oben weitergehenden Dissezierung derselben mit der intramuralen
Hämatombildung bis hinauf zum Aortenbogen erwiesen. Gerade
die gewiß seltene gegen die Blutstromrichtung innerhalb
des Aortenstamms erfolgende Hineinwühlung des Blutes bedarf in
ihrer aktuellen Auswirkung besonderer Aufmerksamkeit. Der Rib
in der Nähe des Zwerchfells kann dasselbe schon reflektorisch an
der Durchtrittsstelle zur Umklammerung der Aorta reizen, wozu
noch der dieselbe steigernde mechanische Druck des sich in nächster
Nähe entwickelnden und aufsteigenden Hämatoms kommt und be-
greiflich macht, daß das Blut arteriellnach oben gestaut
in Diapedese schließlich durch die ganze Gefäßwand, also auch die
unverletzte Adventitia hindurchtretend zu Sugillation und Durch-
tänkung der retroaortalen Gewebe führt, wie dies die Autopsie
in so drastischer Weise erkennen ließ. Damit dürfte einerseits
auch die Erklärung für das trotz der Schwere der Attacke ver-
hältnismäßig gute Aussehen des Kranken während derselben ge-
geben sein, während andererseits vermutlich durch die akute Ab-
schnürung der Aorta am Zwerchfelldurchtritt und die dadurch be-
dingte plötzliche Anämisierung der Bauchgefäße das Auftreten
der unerträglichen ersten Schmerzen gerade im Bauch verständlich
werden kann. Dieselben konnten nachlassen, bzw. verschwinden,
je mehr sich das in der Aorta im Abfluß gelhinderte Blut seine
Auswege in der beschriebenen Weise oder schließlich mit der Rück-
perforation suchte und fand. Umgekehrt, wie mit dem Höhersteigen
des intramuralen Hämatoms über den Aortenbogen hinaus eine
Abknickung z. B. der r. a. subclavia zur schlechteren Füllung
der r. a. radial. führte.
In diesem Geschehen, das unter gewaltigen Druckänderungen
im Brustraum weniger zu allgemeiner venöser Stauung in dem-
selben — es bestand auch keine Cyanose — als zu lokalen mechanisch
wirkenden Aufquellungen im hinteren Mediastinum führte, muĝ und
darf nun die Quelle derjenigen mechanischen Störung gesucht
werden, die zu der im Sektionsbericht beschriebenen Stauung
14 HANSER
vor allem der intrathorakalen Hauptlymphwege führte
und deren Rückstauung bis — ins Nierenbecken'! Daß
in dieser durch den Druck des in den Gefäßschichten wühlenden
Blutes verursachten Blutdurchtränkung des Gewebes um die Organe
des hinteren Mediastinums gerade auch der Ductus thorac.
(ebenso wohl auch der Duct. lymph. dext.) einbezogen wurde. mag
wohl als Zufälligkeit erscheinen. Ebenso wie auch vielleicht der
Umstand, daß der N. vagus dort in Mitleidenschaft gezogen war.
den fortgesetzten Brechreiz, den verhältnismäßig langsamen Puls
und die „wie abgeschnittene Stimme und Atmung“ erklären kann.
Jedenfalls aber wird man um die Berechtigung der Annahme,
daß Blut, bzw. Blutfarbstoff bei derselben Gelegenheit auch
in die Lymphflüssigkeit selbst eindringen konnten. nicht
herumkommen. Ob dabei freilich lediglich der Farbstoff von den
Endothelien der Gefäßwände durchgelassen wurde oder ob auch
Stromata, vielleicht sogar Blutplasma sich zur Lymphe gemischt
haben, wird schwer zu entscheiden sein. Fast möchte man in
diesem Fall die letztere Annahme gelten lassen, weil gerade viel-
leicht von der Lymphe „verdaute“ Stromata, aus denen der Farb-
stoff frei wurde, die Ursache des besonders starken Eiweißgehalts
des hämoglobinurischen Harns gewesen sein könnte; doch können
wir auch nicht wissen, ob nicht vielleicht stark gestaute Lymphe
durch Mitnahme von Gewebseiweiß an sich stärker eiweiß-
haltig wird.
Alle diese immerhin ungewohnten Zusammenhänge, die hier
durch die Wirkung des hier lokalisierten An. diss. geschaffen
wurden, insbesondere die Neuheit einer — wie wir annalımen —
mechanischbedingten Stauungshämoglobinurie regten
zu (sedankengängen an, die nach Anhaltspunkten an bisher Be-
kanntem suchten. Und da erschienen mir zwei Arbeiten geeignet.
die Situation beleuchten zu helfen.
(Juincke hat in einer Arbeit „Über Lymphurie“, welche in
weitschauender Weise die Beziehungen speziell zwischen Lymph-
gefäbsystem und Harnweeen, bzw. Harnausscheidung behandtit.
darauf hingewiesen. daB es bei der Kommunikation der Lymph-
gefäße mit der Lichtung der Harnwege — er bezieht sich dabel
auf grundlegende Arbeiten der Hasse — Schüler Stahr und
Kumita über den Lymphapparat der Niere, bzw. die Lymphgrfäße
der Nieren — nicht immer, sondern nur unter gewissen Bedingungen
zu einem Übertritt von Lymphe in den Harn kommt, wobei der in
Lymphbahnen herrschende Druck eine wesentliche Rolle spielen
Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 75
werde. Hasse selbst hat in einer ergänzenden Arbeit über
„Fragen und Probleme auf dem Gebiete der Anat. und Physiol.
der Lymphwege“ u. a. darauf hingewiesen, daß die Venen in ihrer
Scheide von einem Lymphgefäßsystem umstrickt sind und daß der
Gedanke naheliegt, daß die Lymphe schon während ihres Strömens
an der Gefäßwand Stoffe aus dieser aufnimmt. Wie um so be-
greiflicher, wenn der so von Blut umsickerte Hauptliymphgefäß-
stamm in größerer Menge davon oder wesentliche Bestandteile
davon, wie den Farbstoff aufnimmt. — Es gehört nicht hierher,
auf die weiteren Schlüsse einzugehen, mit welchen Quincke auf
demselben Wege zur Pathogenese der orthotischen Albuminurie
Stellung nimmt.
Die andere hier nutzbringende Arbeit ist eine sehr eingehende
klinisch-pathologische Zusammenfassung von H. Groß über „Lymph-
stauung und ihre Produkte“. In dieser weitangelegten Betrachtung,
die wohl verdient auch vom Internisten beachtet zu werden, ent-
wickelt er aus eigenen und reichen Erfahrungen, wie sie auch in
ausländischer Literatur niedergelegt sind, gewisse Vorstellungen
und tatsächliche Beobachtungen, von denen ich als hier verwertbar
folgende hervorheben möchte: Sind sie auch aus dem Zusammen-
hang herausgerissen, so können sie — weil die ganze Groß'sche
Abhandlung Beziehungen zwischen Blutzirkulation (besonders des
Venensystems) und Lymphbahnen, bzw. Lymphausscheidung betrifft
— doch auch als Einzelvorstellung glaubhafte unentstellte Ver-
wertung finden.
Groß weist nach, daß Lymphstauung eine gleichzeitige Kompression
der Venen voraussetzt, die zur venösen Stauung und Mehrproduktion
von Lymphe führt. Er sagt an anderer Stelle (S. 115): Eine gewisse
Stauung muß dagewesen sein, denn nur durch eine solche läßt sich die
bläschenförmige Ektasie der Lymphspalten erklären. S. 162 spricht er
davon, daß die „Lymphstauung den Speisesaftins Abdomen
und das Nierenbecken zurückwirft“ — was natürlich vom
Chylus gilt, kann ungezwungen von der Lymphe überhaupt angenommen
werden — 8. 112/113 läßt er Curveiller über einen Sektionsbefund be-
richten, wo der in eine Supraklavikulardrüse eingebettete Duct. thorac.
sich durch eine leichtrosige Flüssigkeit beträchtlich aus-
gedehnt erwies. Und S. 166 heißt es: „Es gibt auch abdominelle und
thorakische Krisen; oft in stürmischem Bild beanspruchen sie durchaus
ihre Stellung. Seltener bei protrahiertem Verlauf, weit öfter im Beginn
und bei schneller Entwicklung der Krankheit glaubt man zur Zeit des
Schubes eine allgemeine Lymphstauung in stürmischem Vorstoß vor sich
zu haben; besonders frappiert der Vorgang, wo bei anscheinend
völligem Wohlbefinden plötzlich eine solche das ganze
6 HANSER
Lymphsystem alterierende Krise einsetzt und dann nach
ihrem Abklingen zum ersten Male eine solche Außerung der Lymph-
stauung, wie Ascites (hier Hämoglobinurie!) sich manifestiert.“
Wenn wir so gewissermaßen unter der Leitung dieser Dar-
legungen die Auswirkung der durch die Dissezierung der Aorta
bedingten mechanischen Gewebs- und Zirkulationsstörungen be-
trachten, so läßt sich wohl verstehen, daß bei der krisen-
artigen plötzlichen Stauung der großen Lymphwege
ihr Inhalt nach dem von Druck freien Bauch zurück-
eeworfen wird und dort spez. im Nierenbecken dem
vielleicht sonst unveränderten und zur Entleerung
schon bereiten Harn beigemengt und mit diesem ausge-
schieden wird. Ist nun aber dieser Inhalt der groben Lymph-
bahnen durch Blut, bzw. Blutfarbstoffbeimengung verändert, so
erscheint diese blutig gefärbte Lymphe — Hämolymphe — im
Harn wieder und führt zur Hämoglobinurie.
Überzeugender wirkt nun allerdings ja schon der makro-
skopische autoptische Befund, wie er oben berichtet ist: Im
Vordergrund steht dabei die pralle Füllung der retroperitonealen
Lymphknoten und Lymphbalnen mit der klaren durchscheinend
roten Flüssigkeit“.
Aber weit wichtiger sind die auffälligen Tatsachen der mikro-
skopischen Untersuchung der Harnwege: Während die
Nieren selbst frei von allem Blutpiement gefunden wurden, enthielt
zunächst das Endotheleiner Lymphdrüse der Nierengegend reichliches
Kisenpigment und ebenso zeigt weiter der unterste Teil des Nieren-
beckens in seinen (wohl abführenden) Lymphgefäßen eine pralle
Füllung mit Eisenpigment.
Dieser glücklicherweise feststellbare und festgestellte Nachweis
des als Eisen ausgeschiedenen Blutfarbstoffs gerade
nicht in der (und durch die) Niere, sondern lediglich in den
von den Nieren nach dem Zentrum strebenden Lymplbahnen
spricht deutlicher vielleicht als der (leider unterbliebene) Nachweis,
daß im Blut freies Hämoglobin kreise, dafür, daß hier einvoller
Gegensatz zu den in der Regel bei den sonstigen
Formen der Hämoglobinurien nachgewiesenen Befunden in
den Nieren besteht.
Am besten hat wohl auch J. W. Miller — zum Teil hilfs
einer von ihm selbst inaugurierten elektiren Färbung — darauf
hingewiesen, daß das Hämoglobin bei der menschlichen H. von den
Epithelien der gewundenen Harnkanälchen erster Ordnung und
Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 17
den Henle'schen Schleifen ausgeschieden wird. In geringem Maß
konnten die Pigmente auch in den Zellen der Bowmann’schen
Kapseln gefunden werden.
Was könnte deutlicher machen, daß das Hämoglobin der be-
kannten Formen von Hämoglobinurie eben aus dem die Nieren
kommenden mit freiem Hämoglobin belasteten Blut durch den Harn
ausgeschieden und eben zum Teil in seinen hängen bleibenden Resten
in den Geweben der Niere selbst noch wiedererkannt werden kann,
während sichtlich nicht das Blut den Farbstoff in unserem Fall der
Niere zugeführt hat, sondern der Farbstoff mit der ihn enthaltenden
Lymphe lediglich unter dem rückstauenden Druck auf dem Weg
der Lymphgefäße, die vom Nierenbecken, bzw. den Anfängen der
Harnleiter kommen, dem der Ausscheidung gewärtigen Harn bei-
gemengt ausgeschieden wird.
Es wäre vielleicht gar nicht ausgeschlossen, daß man zur
selben Zeit im Magen- oder Darminhalt mit chemischen Metlioden
ebenfalls hätte Blutfarbstoff nachweisen können.
Schließlich gibt der weitere Verlauf des Falles der erörterten
Auffassung weiter recht, indem mit der offenbar schnell (wohl
schon nach ca. 18 Stunden) auftretenden Rückperforation der
Druck auf die Lymphbahnen nachläßt, denselben und
ihrem Inhalt den Weg wieder frei gibt, so daß entweder die dem
Urin je noch beigemischte Lymphe rasch auch hämoglobinfrei wird,
oder überhaupt die Lymphstauung aufhört und die auch noch Reste
von Farbstoff enthaltende Lymphe wieder ihre normalen Abflub-
wege findet.
Daß bei der fehlenden Hämolyse auch die Fieberlosigkeit
des Kranken gegenüber dem meist die Hämoglobinurien begleitenden
Fieber erklärlich ist, bedarf keiner Begründung.
Aber gerade mit Rücksicht auf das Neue an diesem Fall ver-
dient die Vollständigkeit unserer Beweisführung, auf den ersten
der Fälle von Boström zurückzukommen, weil er Anlaß geben
kann, an ihm weniger eine Anomalie der Harnausscheidung, als
die Möglichkeit zu demonstrieren, daß auch dort einst im Anschluß
an die vermutliche Entstehung des An. diss. merkwürdige Vorgänge
im Sinn einer unter ähnlichen Einflüssen entstandenen Lymphstauung
abgelaufen sein könnten.
Es handelte sich dort um einen 6ljährigen Mann, der nach langer
klinischer Behandlung (Bronchitis, Nephritis, Pleuritis) schließlich an
einer Ponsblutung gestorben war. Die Sektion ergab ein ganz ungewöhn-
lich ın Heilung übergegangenes An. diss. der Brust- und Bauchaorta,
18 HANSER
welches anscheinend nach einem schweren Trauma vor 22 Jahren
entstanden sein mub. Boström berichtet, daß der Patient ungefähr
22 Jahre vor dem Tod im Wald überfallen und geprügelt worden
sei. Nach Haus gekommen, habe er sich sofort ins Bett gelegt, über
äußerst heftige Schmerzen im Rücken geklagt und bis zum Abend sei
der ganze Körper faßförmig angeschwollen gewesen, so
daß er ins Krankenhaus gebracht werden mußte. Am anderen Tag sei
die ganze Körperhaut dunkel kirschrot, dann kupferbraun
gewesen, so daß Prof. Kußmaul, der damalige Direktor der Erlanger
Klinik, geäußert habe, er glaube einen Indianer in Behandlung zu haben.
Patient sei dann 5 Monate krank gewesen. Leider sei eine ausführliche
Krankengeschichte nicht zu bekommen gewesen.
Es ist nicht uninteressant, B.’s Überlegungen über die Entwicklung
der bei der Bildung des Aneurysma mit einem Male eingetretenen
sekundären Perforationen nachzulesen. Auf diese bezieht B. die sich
am Abend schon einstellende faßförmige Anschwellung des ganzen Körpers.
Er führt die kirschrote, später kupferbraune Farbe auf das zugrunde-
gehen vieler roten Blutkörperchen, die von Endothel entblößte Fläche
des GefäBrohrs und das Hineingelangen roter Blutkörperchen ins Gewebe
zurück und erklärt die nachträgliche Braunfärbung als hämatogenen Ikterus.
Ich sehe zunächst ab davon, daß gerade z. B. J. W. Miller
darauf hinweist, daß bei der Hämoglobinämie, bzw. also Hämo-
globinurie die konsekutive Eindickung der Galle nachträglich zu
einem Resorptionsikterus führe, während er einen häma-
togenen auch hier als unmöglich leugnet.
Dagegen gibt gerade die Schilderung Boström’s doch manches
Bedenken, ob seine Erklärung besonders betreffs der Entstehung
der faßförmigen Anschwellung zu Recht bestehen kann. Denn es
wäre doch wirklich schwer zu begreifen, daß lediglich unter dem
Einfluß eines solchen Vorgangs, wie ihn das An. diss. auch mit
den sekundären Perforationen bedeutet, der Körper diffus so an-
schwellen sollte Wäre es da nicht viel naheliegender, dab auch
hier analog unserem Fall, namentlich bei dem noch viel gewaltigeren
Trauma und einer Aneurysmabildung, die auch enorme Dimensionen
gehabt haben muß, es zu einer Ähnlich erfolgten riesigen Lymph-
stauung gekommen sein könnte, die nun wirklich viel eher das
allgemeine Anschwellen des ganzen Körpers begreifen läßt. Mit
der mit Blut ebenfalls gefärbten Lymphe, deren Stauung freilich
in anderer Weise gedacht sein müßte, als in unserem Fall, wo die
Nähe des Zwerchfellschlitzes eine besondere Rolle gespielt haben
mag, konnte ja der Blutfarbstoff in die ganze Haut gelangen und
die gerade so gleichmäßig verteilte Färbung der Haut
erklärem Die Lymphe als Farbträgerin mag doch
viel plausibler für diese universelle Schwellung und Färbung
at m.
Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 19
verantwortlich gemacht werden, als wie es nach Boström das
Blut selbst fertig bringen soll.
Kehren wir zu unserem eigenen Fall zurück, so darf man wohl
behaupten, daß hier, wenn auch ein Zufallsprodukt, doch
immerhin ein prinzipiell neues vorliegt, eine noch nicht be-
schriebene Form von Hämoglobinurie, neu in der Ent-
stehung, damit aber auch neu im Wesen. Keine der bisher be-
schriebenen Formen läßt das Blut selbst eine so sekundäre Rolle
spielen, während hier anscheinend auch nur ein Transport
frei gewordenen Blutfarbstoffs und nicht ein Schein
eines biochemischen Prozesses abläuft.
Daß ein solcher Blutfarbstofftransport auch aus anderer
Grundursache auf dem Weg der Lymphstauung bis zur Harn-
entleerung möglich wäre, ist wohl denkbar; nur müßte die
Plötzlichkeit des Eintritts der Störung der Zirkulation in den
Hauptlymphbahnen vorausgesetzt werden, ohne die ja ein
Kollateralausgleich günstige Kompensationsbedingungen schaffen
würde. Zufällig anatomisch gelagerte und damit sich aus-
wirkende Traumen, den großen Lymplhstämmen benachbarte
Tumoren mit z. B. plötzlich innerhalb oder außerhalb derselben
einsetzenden Blutungen könnten ähnliche Voraussetzungen
schaffen, wie sie hier tatsächlich unter der komplizierten Aus-
wirkung des an sich schon ungewöhnlichen An. diss. gegeben
waren.
Auch experimentell wäre interessant, vielleicht durch
temporäre Unterbindung der groben Lymplhstämme und Injektion
von Blutfarbstoff in dieselben (oder eventuell auch Blut) die Aus-
wirkung zu prüfen, insbesondere, ob sich auch so künstlich diese
Form der Hämoglobinurie erzeugen läßt und vor allem auch der
beweiskräftige Nachweis gelingt, daß auch mikroskopisch Restfarb-
stoffe in gewissen Lymphbahnen, wie hier im Nierenbecken, den
Weg bestätigen, den die rückwärts gestaute Lymphe genommen
hat. Der Blutfarbstoff hätte dann, wie ja eigentlich im
vorliegenden Fall in Wirklichkeit, als künstliche Suspension
für den Versuch gedient, gerade wie wir es bei pathologisch-
experimentellen Fragestellungen mit anderen Farbstoffen probieren.
Überdenkt man nun angesichts allerdings aller dieser Aus-
fülrnngen und vor allem des ihnen zugrunde liegenden Geschehens,
was den Fall m. E. doch recht interessant macht, so kann man
wohl Hasse beipflicbten, wenn er am Schluß des oben erwähnten
Aufsatzes sagt: „Ich glaube, so viel ist sicher, dab die Be-
80 HANSER
deutung des Lymphsystems eine viel weitgehendere
ist, als bisher angenommen wurde, wenigstens ebenso-
weittragend und erforschenswert, wie die des Blut-
systems.
- Alles zusammenfassend ergibt sich aus der Darstellung
dieser beiden Fälle von An. diss. als wesentlich:
1. Die Wichtigkeit, bei gewissen Fällen an Aortenrupturen, bzw.
ihre mögliche Folge, das An. diss. zu denken, besonders auch da,
wo es sich um Begutachtungen von Unfällen, bzw. Überanstrengungen
handelt, die den Rumpf treffen.
2. Daß die Entstehung eines An. diss. Aortae, bzw. einer
Rupt. aort. auch da als möglich in Betracht kommt, wo eine
Erkrankung der Gefäßwand nicht vorausgesetzt ist.
3. Daß Rückperforationen beim An. diss. nicht. wie
einzelne Autoren meinen, die Gefahr des verhängnisvollen
Durchbruchs desselben in Pleura oder Perikard ausschließen.
4. Daß das An. diss. aort. — abgesehen von anatomischer und
funktionellen Heilungsmöglichkeiten und andererseits katastrophalenı
sofortigen oder wenigstens raschem Tod — auch zu weitgehenden
und die verschiedensten Organe in Mitleidenschaft ziehenden Komjli-
kationen Anlaß geben kann, bei deren Entstehung Störungen
der Blut- und Lymphzirkulation mitwirken.
5. So führte hier ein An. diss. a. thor. zur mechanischen
Stauung der großen Körperlymphbahnen mit zufällig
bedingter Hämoglobinurie, die als eine neue Form
derselben in Entstehung und Wesen prinzipielle Be-
deutung hat.
6. Diese Art Hämoglobinurie ist als eine einfache Aus-
schwemmung von zufälligin die Lymphbahnen direkt
geratenen Hämoglobins zu betrachten, bei deren Entstehung
durchaus auch andere Möglichkeiten, als die gerade hier gegebene,
denkbar sind.
7. Damit dürfen wohl auch hier hämolytische Vorgänge aus-
zuschlieben sein, zumal der anatomisch-mikroskopische Nachweis
den mehr mechanischen Charakter dieser Art von Hämoglobinurie
aufdeckt.
Daß dieser Fall als solcher überhaupt erkannt und seine Ver-
öffentlichung möglich war, verdankt er nur der Autopsie, da ja
die klinische Beobachtung, wie auch beim ersten Fall, den Arzt
auber Möglichkeit gesetzt hatte, das wirkliche Geschehen auch nur
zu ahnen. Hatte ich auch nach dem Erlebnis des ersten bei den
Vom Aneurysma dissecans der Aorta. 81
merkwürdigen ersten Erscheinungen des zweiten an einen ähnlichen
Vorgang, wie beim ersten, gedacht und sogar den Prosektor von
diesem Gedankengang — er hatte ja die Sektion auch des ersten
Falles gemacht — in Kenntnis gesetzt, so hatte mich doch gerade
die Erscheinung der Hämoglobinurie wieder von der richtigen
Fährte abgelenkt.. Es bestätigt sich darum wieder, wie not es tut,
gerade Fälle plötzlichen Todes, auch wenn z. B. die Annahme eines
Koronartodes naheliegt, möglichst dennoch der Autopsie zuzuführen,
Ich finde immer, daß es auch in der Praxis draußen, namentlich
in den Städten, wo besonders sachverständige Leichenöffnungen
möglich sind, durchaus erfolgreich ist, bei den Angehörigen diese
Aufklärung der Krankheit durchzusetzen. Können doch gerade
auch aus der Praxis zufällige und wichtige Erfahrungen zur Er-
kenntnis gebracht werden, die nur noch zufälliger in Klinik und
Krankenhaus zur Beobachtung kommen und damit, auch wenn die
ärztliche Beobachtung selbst vielleicht begreiflicherweise durch die
schwierigeren Untersuchungsmöglichkeiten lückenhafter sein mögen,
der Wissenschaft doch dienen.
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furt. Zeitschr. f. Pathol. 22. — Oppenheim, Münch. med. Wochenschr. 1918. —
Paschkis, Med. Klinik 1925. — Paul, Wien. Arch. f. inn. Med. 7. — Quincke,
Münch. med. Wochenschr. 1912. — Reitter, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 119. —-
Schilling,‘ Frankfurt. Zeitschr. f. Pathol. 27. — Stahr, Arch. f. Anat. u.
Physiol., Anat. Abt. 1900.
Nachtrag: Die nach Abschluß der Arbeit erst entdeckten „Beiträge zur
Frage des An. diss.“ von L. Mayr (Zentralbl. f. Herzkrankh. 1925, Nr. 17) sollen
nieht unerwähnt bleiben, weil auch dort darauf hingewiesen wird, daß die arterio-
sklerotische Wandveränderung für die Intimaruptur „nicht ohne Bedeutung“ sei,
während die Entstehung der Ruptur durch erhöhten Blutdruck (Nephritis)
— letzten Endes ja auch die mindestens lokale Wirkung eines Traumas! — be-
günstigt werde.
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 6
82
Aus der medizinischen Klinik in Halle a. d. S. (Prof. Volhard.)
Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion
im entweißten Blut unter normalen und pathologischen
Verhältnissen.
II. Mitteilung.
Die Xanthoproteinkvlorimeterwerte bei Krankheiten.
Von
Erwin Becher und Elfriede Herrmann.
Mit Hilfe der in der ersten Arbeit!) angegebenen Methode
haben wir mehrere Tausend Blut- und Gewebsanalysen bei Ge-
sunden und bei verschiedenen Erkrankungen ausgeführt. Wie schun
früher erwähnt wurde, fallen die mit der Methode erhaltenen
Resultate bei verschiedenen Erkrankungen durchaus gesetzmälig
aus. Daher ist es auch möglich, die sehr einfach auszuführende
Reaktion, deren Stärke man Kolorimetrisch gut bestimmen kann.
für die Diagnose mancher Krankheiten zu verwerten. Wir haben
zunächst die Kolorimeterzahlen bei direkter Ausführung der Reaktion
angegeben. Bei vielen Fällen wurde dann auch eine Trennung in
die nach Hydrolyse ätherlösliche und ätherunlösliche Fraktion vor-
genommen.
Tabelle 1 zeigt eine Zusammenstellung der Kolorimeterwerte
beim Gesunden und verschiedenen Erkrankungen mit Ausnahme
von Nierenkrankheiten. Es sind allemal der Durchschnittswert und
die Grenzwerte von einer großen Analysenreihe wiedergegeben.
Normalerweise liegt: der XKanthoproteinkolorimeterwert etwa bei
20, Werte über 25 bedeuten eine Erhöhung. Das enteiweißte Blut
gibt nach der in der ersten Mitteilung angegebenen Methode ver-
arbeitet, stets eine Nanthoproteinreaktion. Die niedrigsten Werte
S a A
D Becher, Dtseh. Arch. f. klin. Med. Bd. 145, 1925, S. 159.
Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion usw. 83
liegen bei 14—15, wenn man sich genau an die für die Anstellung
der Reaktion gegebenen Vorschriften hält.!) Dieselben Werte wie
in der Norm finden sich auch bei vielen Erkrankungen, z. B. bei
Arthritiden, Nervenkrankheiten, Ulcus ventriculi, Emphysem,
Cystitis u. a. Auch bei Herzfehlern, Diabetes, Infektionskrank-
heiten und Tumoren beobachtet man, so lange keine Komplikationen
vorliegen, keine nennenswerten Erhöhungen gegenüber der Norm.
Tabelle 1.
. | Xanthoproteinkolorimeterw ert
Krankheiten
| Durchschnitt | Grenzen
|
1. Normalfälle | 21 14—24
2. Arthritiden | 21 19 23
3. Diabetes 21 19—25
4. Infektionskrankh., Eiterungen u. Tuberkulose 23 17—30
5. Tumoren 24 20—27
6. Herzkrankheiten 25 15---34
1. Blutkrankheiten 27 22—33
N. Fälle mit vermehrter Indolbildung 29 24—39
9. Pneumonien 30 21—48
10. Leberkrankheiten 31 17—46
ll. Endocarditis lenta | 37 | 21---50
12. Leichenblut und kurz vor dem Tode ent- 17 24—208
i nommenes Blut |
. Fälle nach künstlicher Einfuhr arovmatischer RE 56—156
Stoffe |
Bei dekompensierten Vitien und bei Herzinsufficienz aus anderen
Ursachen fiel die Xanthoproteinprobe in der Regel auch nicht ver-
stärkt aus. Werte an der oberen Grenze der Norm und seltener
auch geringe Erhöhungen kommen jedoch vor. Das Verhalten der
Xanthoproteinwerte bei Herzinsufficienz entspricht dem Indikan,
welches dabei auch in der Regel im Blute nicht ansteigt. Im
Gegensatz dazu kann bekanntlich bei Herzinsufficienz der Blut-
Rest-N und Harnstoffwert, wie auch Tabelle 2?) zeigt, deutlich
——
Il) Wenn man mit einem anderen Kolorimeter oder mit einer anderen Ver-
gleichslösung arbeitet, was durchaus möglich ist, muß man den Normalwert natür-
lich erst neu feststellen.
2) In der Arbeit ist nur ein ganz kleiner Teil der Analvsenresultate mit-
geteilt. In den Tabellen ist in der rechts von der Diagnose stehenden Rubrik
die Art des untersuchten Materials angegeben: GB. == Gesamtblut, S. = Serum,
PI, = Plasma. Die Indikanprobe wurde nach der von Haas angegebenen Modi-
hkation der Jolles’schen Methode ausgeführt (Haas, Münch. med. Wochensehr,
1417, Nr. 42).
6
84 BEcHER u. HERRMANN
erhöht sein. Bei Endocarditis lenta finden sich meist deutliche
Zunahmen des Xanthoproteinkolorimeterwertes, zum Teil mag dafür
eine Niereninsufficienz verantwortlich zu machen sein. Das kann
jedoch nicht die alleinige Ursache sein.
Tabelle 2.
Herzkrankheiten.
a „oe a
TE EEE EEE EEG
‚ Xanthoprotein-
| Diagnose kolarııneterwert Bemerkungen
| | z
1 |Endocarditis lenta: GB. 29 RN 58 mg’, U 86 ng®,
2 3 u A 4) Indikan im Serum: ø
3 |Aortenvitium de- S. 20 IRN 64 mg °g, Ü 87 mg", Serum-
kompens. | | indikan: ø
4 |Mitralinsufficienz| 8. 15 |U 31 mg°;, Serumindikan: ø
kompens. |
5 |luet. Aorteninsuf-; GB. 21 RN 48 mg °,, Ü 63 mg ?,, Serum-
ticienzdekompena. | indikan: 9
| |
|
Es wurden zahlreiche Analysen bei Infektionskrankheiten.
Eiterungen und Tuberkulose ausgeführt. Mit wenigen Ausnahmen
fanden wir normale Werte. Das war auch zu erwarten. Wir
wissen einerseits, daß, solange die Niere intakt ist, Darmfäulnis-
produkte sich im Blut nicht anhäufen, und daß andererseits keine
nennenswerten Vermehrungen der Aminosäuren sich dabei finden.)
Wenn Zunahmen vorkommen, liegen besondere Ursachen vor. Eine
Vermehrung bei einem jauchigen postpneumonischen Empyem ist
wohl auf vermehrte Bildung von aromatischen Fäulnisprodukten zu
beziehen. Bei einem schweren Paratyphus mit sehr starken Durch-
fällen war die Vermehrung durch eine hochgradige Oligurie zu
erklären. Der Trockenrückstand und Rest-N-Gehalt des Blutes
waren stark erhöht. Bei einer Miliartuberkulose bestand gleich-
zeitig eine Nierenkomplikation mit Niereninsufficienz. Einmal
fanden wir auch bei einer käsigen Pneumonie einen erhöhten Wert.
Bei Zuckerkrankheit wurden, solange nicht kurz vor dem Tode
untersucht wurde,?) normale Werte auch bei schweren Fällen ge-
funden. Der Durchschnittswert lag nicht höher als beim Gesunden.
auch bei Kranken mit Ketonurie und stark erhöhtem Blutzucker.
1) Vgl. Wolpe, Münch. med. Wochenschr. 1924, Nr. 12. — Becher u.
Herrmann, Minch. med. Wochenschr. 1925, Nr. 51.
2) Kurz vor dem Tode können im diabetischen Coma im Blut Phenole und
aromatische Oxysäuren vermehrt sein (Becher, Litzner, Doenecke).
Studien über las Verhalten der Kanthoproteinreaktion usw. 85
Bei Tumoren verschiedener Art bestanden meist keine Er-
höhungen, solange nicht kurz vor dem Tode untersucht wurde. Die
Durchschnittswerte lagen jedoch etwas höher als beim Gesunden,
überschritten aber in der Regel nicht die obere Grenze der Norm.
Auch beim Magencarcinom lagen die Werte meist noch im Bereich
der Norm. l
Bei schweren Pneumonien fanden wir leichte Erhöhungen des
Xanthoproteinkolorimeterwertes. Oft lagen die Werte noch im
Bereich der Norm. Da leichte Zunahmen des Blutaminosäurewertes
bei Pneumonien vorkommen, könnte die geringe Steigerung auf
aromatische Aminosäuren zu beziehen sein. Die Darmfäulnisprodukte
sind in der Regel bei Pneumonie im Blut nicht vermehrt.
Tabelle 3.
Blutkrankheiten.
m | Xanthoprotein- |
Mi S ;
Diagnose LOOT ICTA | Bemerkungen
l Polyeythämie GB. 28 Ä —
2a i 5. 20 26 mg °, Č, 9 mg”, Amino-Stickstoff
3 perniziüse Anämie $ 29 25mg”, C, 65mg’; Amino-Stickstoff
4 e 8 al BLI mge, C, Serumindikan: 8
> = 53 Serumindikan: 4-
6, Iymphatische S 25 69 mg”, Amino-Stickstoff. 44000
Leukämie Leukveyten
q myeloische Leuk-; Pl. 23 400 000 Leukocyten
| ümie |
Bei Polycythämien beobachteten wir einigemal geringe Er-
höhungen des Xanthoproteinwertes (Tabelle 3). Die Probe kann
aber auch ganz normal ausfallen. Wir fanden bei Polycythämien
manchmal leichte Zunahmen der Amino-N-Werte im Blut. Feste
Beziehungen zwischen diesen und den stärkeren Xanthoproteinproben
bestanden jedoch nicht. Perniziöse Anämien zeigen oft deutliche
Zunahmen des Xanthoproteinkolorimeterwertes (Tabelle 3). Manch-
mal findet man auch das Indikan erhöht. Wahrscheinlich wird die
Vermehrung hier durch aromatische Darmfäulnisprodukte bewirkt.
Aromatische Aminosäuren kommen wahrscheinlich nicht in Frage,
da der Aminosäure-N bei perniziöser Anämie nicht erhöht, sondern
eher niedriger als in der Norm ist. Bei Leukämien fanden wir
in der Regel normale Xanthoproteinwerte. Bei starker Vermehrung
der weißen Blutkörperchen kann die Xanthoproteinprobe bei
schweren Leukämien stärker ausfallen. Man findet dann erhebliche
86 BECHER u. HERRMANN
Zunahmen der freien und gebundenen Aminosäuren im Blut.!) Es
ist möglich, daß ein vermehrter Gehalt an aromatischen Amino-
säuren im enteiweißten Blut die Ursache für den höheren Xantho-
proteinwert ist. Dafür spricht auch die Tatsache, daß wir im
Vogelblut, wo wahrscheinlich infolge des Kerngehaltes der Erythro-
tyten die Aminosäurewerte hoch sind, auch stets erhöhte Xantho-
proteinwerte fanden, und zwar ist die nach Hydrolyse nicht ätheı-
lösliche Fraktion, welche die aromatischen Aminosäuren anzeigt, ver-
mehrt (Tabelle 4). Hohe Amino-N-Werte bei Leukämien mit hohen
Leukocytenzahlen gehen jedoch keineswegs immer mit hohen Xantho-
proteinwerten einher.
Tabelle 4.
Vogelblut.
| | Xanthoproteinkolorimeterwert
| EN nach Hydrolyseu. mg °. Amino-N
| Arer} Atherextraktion
1 Huhn GB. | 35 35 010
2 , 44 42 | 174
3 ” il 3N 35 | 17.4
4 . | a 34 | 34 16,0
5 | Ente i P DV | 57 Ä 20,0
Bei Lebererkrankungen findet man oft Erhöhungen des Xantho-
proteinkolorimeterwertes im enteiweißten Blut (Tabelle 5). Im
großen und ganzen finden sich die Zunahmen bei hohen Blutbili-
rubinwerten. Dabei sind jedoch die Xanthoproteinwerte nicht immer
erhöht. Da bei Lebererkrankungen nur selten Vermehrungen der
Aminosäuren im Blut vorkommen, kann die Zunahme, wenn wir
von der akuten gelben Leberatrophie, bei der der Blutaminosäure-
wert stark ansteigt, absehen, nicht ohne weiteres auf aromatische
Aminosäuren bezogen werden. Andererseits sind auch die Darm-
fäulnisprodukte nicht vermehrt. Auch das Bilirubin selbst, welches
ebenfalls die Xanthoproteinprobe gibt, kann nicht in Frage kommen,
da es bei der Enteiweißung ausgefällt wird. Es müssen also wohl
bei Lebererkrankungen noch unbekannte Stoffe in Betracht kommen,
wenn man nicht die Annahme machen will, daß auch bei normalem
Amino-N-Gehalt der Anteil der aromatischen Aminosäuren über-
wiegt.
D Vgl. Becher u. Herrmann. L c.
Studien über das Verhalten der Xanthoproteinrenktion usw. 87
Tabelle 5.
Leberkrankheiten.
Xanthoprotein- |
)] R N
Diagnose kolorimeterwart Bemerkungen
|
1 Ikterus katarrh. S. 35 12,8 mg°, Serumbilirubin, Indikan
' im Serum: 9
2 IkterusbeiLeber- GB. | 31 19,5 mg’, Serum-Ü
lues | |
3. Choleevstitis S. 26 0,83 mg’, Serumbilirubin
4 Ikterusb.tallen- S. 43 13 mg”, Serumbilirubin
> blaseneareinom | | |
Akute gelbe S. 100 12,5 mg”, Serumbilirubin, 28 mg”,
Leberatrophie ae ®
l | Serum-U
In Tabelle 6 sind einige Fälle mit starker Indikanurie ange-
führt. Die Xanthoproteinwerte sind erhöht oder liegen an der
oberen Grenze der Norm. Die Ursache ist hier zweifellos in der
vermehrten Bildung von aromatischen Fäulnisprodukten in Darm
oder Lunge zu suchen. Es kommen bekanntlich dabei auch leichte
Indikanvermehrungen vor (Haas, Rosenberg, Becher). Die
Zunahmen des Xanthoproteinwertes betreffen die nach Hydrolyse
ätherlösliche Fraktion und sind, solange die Nierenfunktion intakt
ist, relativ gering.
Tabelle 6.
Fälle mit vermehrter Indolbildung.
. Ä Xanthoprotein- | i f
Diagnose ! | ls metörwert Ä Bemerkungen
i | | | =Z
1 Inyaginationsileus: GB. i 39 Im Harn Indikan: +++
2 Bronchiektasie | S. 31 Dur „ : +++
3 Enteritis O Soo 24 m s „+++
4 Akute Peritonitis GB. | 30 5 à „ : +-+. Blut-
| indikan schwach +
Ə Lungengangrän GB. 29 ; Im Harn Indikan: +++
Tabelle 7 zeigt die Xanthoproteinkolorimeterwerte nach Ein-
fuhr aromatischer Substanzen. Große Gaben von Natrium salicyl.
mehrere Tage hindurch gegeben, führen zu starken Anstiegen des
Wertes im Blut. Salicylsäure gibt auch die Xanthoproteinprobe.
Daß die Reaktion bei Phenolvergiftung stärker ausfällt, ist nicht
verwunderlich.
88 BECHER u. HERRMANN
Tabelle 7.
Fälle nach künstlicher Einfuhr aromatischer Stoffe.
pus es - ni u E ge
Diagnose kolorimeterwert Bemerkungen
1 Paaride GB. 65 | tgl. 8 g Natr. salicyl., 28 me '„ RN
2; = 2 | GB. 12 | 3 g ,» N 30 mg”. RN
3 Phenolvergiftung : S. 156 vor 3 Std. große Mengen Phenol
| getrunken
4 = Ss. 56 ‚ derselbe Fall ' Tag nach der Ver-
| © giftung
Interessanterweise findet man im Leichenblut und im kurz vor
dem Tode entnommenem Blut meist Steigerungen des Xanthoprotein-
wertes (Tabelle 8); die Zunahmen sind relativ beträchtlich. Zum
Teil mag der dann gleichzeitig auftretende Anstieg der Blutamino-
säuren als Ursache in Frage kommen.!) Bei anderen Fällen, z. B.
bei perniz. Anämie, Lungengangrän, Peritonitis sind Darmfäulnis-
produkte für die Verstärkung der Probe im Leicheublut verant-
wortlich zu machen. Bei einigen Fällen mag auch eine terminale
Niereninsufficienz mit im Spiele sein. Bemerkenswert ist, daß beim
Diabetes einigemal normale Werte im Leichenblut gefunden wurden.
Tabelle 8.
Leichenblut und kurz vor dem Tode entnommenes Blut.
| | Xantho-
A protein- |
Diagnose | Eolorımeter: | Bemerkungen
i wert |
$ | $
1 Senium, Arterio- S. kurz vor dem Tode! 60 RN 64 mg?e, mg °C,
| sklerose entnommen | 27 mg’, U, Serum-
| Ä r
2 Staphylokokken-.GB. in der Agone ent- '236 mg’, U, Serumindi-
| sepsis | nommen | kan: ø
i l +
3 | Myodegeneratio ‘GB. kurz vor dem Tode, 100 102 mg°, U, Serumindi-
i cordis entnommen ı kan: +
4 Lungentuber-- GB. Leichenblut 30 ‚Blutindikan: ø
kulose
5 ‚Mitralvitium de-), GB. Leiehenblut 89
kompensiert Ä
6 | Diabetes, Coma | GB. Leichenblut ' 32
1) Vgl. Becher u. Herrmann, L e.
Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion usw. 89
In Tabelle 9 ist die nach Hydrolyse ätherlösliche und äther-
unlösliche Fraktion getrennt. Die erste Rubrik enthält den direkten
Wert, die zweite den Wert nach Hydrolyse am Rückflußkühler,
die dritte den Wert nach Hydrolyse und Ätherextraktion und die
vierte die Differenz der 2. und 3. Rubrik, also den nach Hydrolyse
ätherlöslichen Anteil. Einigemal ist der Wert nach Hydrolyse am
Rückflußkühler allein nicht bestimmt. Wir haben dann die äther-
lösliche Fraktion durch Abziehen des Wertes der 3. Rubrik vom
direkten Wert (1. Rubrik) berechnet. Der Unterschied des Xantho-
proteinkolorimeterwertes bei direkter Ausführung der Reaktion und
Tabelle 9.
Differenzierung des Xanthoproteinkolorimeterwertesin die nach
Hydrolyse ätherunlösliche und ätherlösliche Fraktion.
Xanthoproteinkolorimeterwert
| nach Hydro- |
Diagnose e nach Hvdro-| lyse und | Differenz
direkt | in de 3
| vse Ather-
| extraktion
l Gesunder GB. 21 23 18 5
2 Gesunder GB. 24 23 19
3| Ulcus ventriculi S. 22 21 15 6
4 Typhus abdominalis; GB. 23 24 24
5 | Ikterus katarrhalis | GB. 33 31 30 1
6 | Ikterus nach Lues | GB. 46 3 39 4
und Salvarsan
7 Akute gelbe Leber-| GB. 64 = 62 2
atrophie |
8! Pneumonie nach GB. 67 65 55 10
Typhus
9 \Jauchiges Empyem | GB. 30 36 21 15
10 Ileus | GB. 50 48 24 24
nach Hydrolyse am Rückflußkühler ist in der Regel gering (vzl.
auch Tabelle 18). Bei an sich erhöhten Werten kann allerdings
durch die Hydrolyse eine geringe Verstärkung auftreten. Die nach
Hydrolyse ätherunlösliche Fraktion ist normalerweise wesentlich
höher als die ätherlösliche (Fall 1—4). Das rührt daher, daß
normalerweise die Darmfäulnisprodukte im Blut nur wenig aus-
machen. Die ätherunlösliche Fraktion beruht im wesentlichen auf
den aromatischen Aminosäuren, die im enteiweißten Blut stets vor-
handen sind. Bei den Fällen mit erhöhten Werten (Fall 5—10)
zeigen die Leberkrankheiten ganz vorwiegend eine Zunahme der
nach Hydrolyse ätherunlöslichen Fraktion (Fall 5, 6, 7). Bei den
Infektionskrankheiten ist, wenn Erhöhungen vorkommen, ebenfalls
00 Becuer u. HERRMANN
vorwiegend der ätherunlösliche Anteil vermehrt. Bei einigen
Pneumonien (Fall 8) war allerdings im Leichenblut und im kurz
vor dem Tode entnommenen Blut auch der ätherlösliche Anteil
stärker als in der Norm. Bei den Erkrankungen mit vermehrter
Bildung von aromatischen Fäulnisprodukten (Fall 9, 10) ist die
ätherlösliche Fraktion hoch, bei der perniziösen Anämie ist
im Leichenblut auch die ätherunlösliche Fraktion erhöht. Bei
dekompensierten Vitien beruht der Anstieg, wenn er überhaupt
besteht, auf einer Zunahme des ätherunlöslichen Teiles. Im Leichen-
blut findet sich in der Regel eine Zunahme beider Fraktionen.
Von besonderem Interesse ist das Verhalten der Xanthoprotein- .
probe im enteiweißten Blut bei Nierenerkrankungen. Becher
hatte darauf aufmerksam gemacht, daß sich bei Niereninsufficienz
Phenole und Phenolderivate in beträchtlicher Menge in Blut und
Geweben anhäufen können.!) Es war daher zu erwarten, daß die
Xanthoproteinreaktion dann verstärkt ausfällt. Das ist, wie der
eine von uns schon früher kurz mitgeteilt hat, tatsächlich der Fall.
Das Resultat der sehr einfach ausführbaren Xanthoproteinreaktion
kann zur Diagnose einer Niereninsufficienz verwandt werden. Es
hat sich herausgestellt, daß der Ausfall der Probe bei verschiedenen
Formen von Nierenerkrankungen verschieden ist, und daß der
Xanthoproteinkolorimeterwert dem Rest-N, dem Harnstoff, dem
Indikan und der Harnsäure nicht immer parallel geht. Becher
und Koch?) hatten früher darauf hingewiesen, daß starke Xantho-
proteinreaktionen im Blut, die auf erheblicher Vermehrung der nach
Hydrolyse ätherlöslichen Fraktion beruhen, gerade bei echter
Urämie vorkommen. In der Regel verhält sich der Xanthoprotein-
wert des enteiweißten Blutes ähnlich wie das Indikan, was ver-
ständlich ist, weil beide Reaktionen aromatische Darmfäulnisprodukte
anzeigen. Ein vollkommener Parallelismus besteht aber auch da nicht.
Man beobachtet nicht selten leicht erhöhte Xanthoproteinreaktionen
bei noch normalem Blutindikan und auch das Umgekehrte.
Bekanntlich steigt der Indikangehalt bei Niereninsufficienz der
akuten Nephritis nicht oder nur relativ wenig und spät an. Ein
ganz entsprechendes Verhalten zeigt der Xanthoproteinkolorimeter-
wert. In Tabelle 10 sind die Befunde bei einigen akuten Nephri-
tiden zusammengestellt. Bei den ersten 7 Fällen ist der Xantho-
proteinwert völlig normal, trotzdem Rest-N, Harnstoff und Harn-
D Becher., Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 145, 1924.
2) Becher u. Koch, Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 145, 1925.
Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion usw. 91
säure das Bestehen einer Niereninsufficienz anzeigen. In einem
Teil der Fälle ist diese, nach dem Blutharnstoff und Rest-N zu
beurteilen, gar nicht gering (Fall 1, 4, 6). Bei Fall 8 und 9 ist
der Xanthoproteinwert entsprechend dem Indikanwert ganz wenig
vermehrt. Auch hier steht die geringe Zunahme in keinem Ver-
hältnis zu dem schon beträchtlichen Harnstoffanstieg. Wenn es im
Verlauf einer akuten Nephritis zu Anurie oder hochgradiger Oli-
gurie kommt, kann auch der Xanthoproteinkolorimeterwert stärker
ansteigen, wie Fall 10 zeigt. Bei akuten Herdnephritiden bleibt
der Xanthoproteinwert entsprechend den anderen Werten im Blut
normal. Bei ausgedehnten herdförmigen Erkrankungen kann be-
kanntlich auch Niereninsufficienz auftreten, dann steigt auch der
Xanthoproteinwert an. Zur Diagnose einer akuten Nephritis ist
die Xanthoproteinreaktion ebenso wie die Indikanprobe nicht
geeignet. Die Harnstoff- und Rest-N-Bestimmung und besonders
die Harnsäurebestimmung verdienen dann, wie Tabelle 10 zeigt, den
Vorzug.
Tabelle 10.
Akute Nephritiden.
| Xantho- |
rotein- Inn FE j ; EAT
Fall | en RN mg % U mg°, | Indikan | Umg®,
| | wert |
1 Be. | | 20 107 172 -+ —
2! Be. später GB. 16 48 55 Ø ‚4
3 Ka. 20 30 27 Ø 5,6
4 Ni. GB. | 22 112 191 Ø | —
I Scha. OFE] 18 53 84,5 Ø 8
6 | Scha. später | PI. 21 | 75 129 Ø 8,6
7| Er. S. 18 ae 51 Ø 2,9
8| Schn. Pl. 27 = | 3 (+) —
9 Ta. Pi. 33 — 126 (+ | 69,
10 Pe Pl. 72 — 124 (+) — starke
Oligurie
l1 akute Herd- S. 19 I 19,2 | Ø —
nephritis | |
| |
Bei Nephrosen (Tabelle 11) bleibt entsprechend der intakten Nieren-
funktion auch der Xanthoproteinkolorimeterwert im Bereich der Norm.
Das gilt für die verschiedenen Formen der Erkrankung, auch für
die Amyloidnephrose, solange die Nierenfunktion ungestört ist.
Bekanntlich ist bei essentiellen Hypertonien die Nierenfunktion
nicht immer völlig intakt. Vermehrungen der Blutharnsäure sind
kein seltener Befund bei benigner Sklerose. Sie brauchen nicht
9? BECHER u. HERRMANN
Tabelle 11.
Nephrosen.
|
I
| Xantho- | l a
; protein- ‚RN U Indi- RE
Diagnose | kolorimeter- | mg’g mg®, kan | En
| wert |
| FE a a.
1 ; luetische Nephrose , GB. 20 B | ø =
2 luetische Nephrose: 8. 25 2 19 ø 43
3 , Amyloidnephrose | GB. ` 18 — 36 | ø Pee
4 genuine Nephrose So i 15 — ., 19 ) ø — 325 mg’,
| i i
| Cholesterin
in jedem Falle auf Niereninsufficienz zu beziehen sein, sie können
auch durch Herzinsufficienz oder andere Komplikationen bedingt
sein. In der Regel ist der Xanthoproteinkolorimeterwert im ent-
eiweißten Blut bei essentiellen Hypertonien völlig normal. Selten
beobachteten wir ganz geringe Erhöhungen (Tabelle 12, Fall 1 u. ‘).
Das entspricht der Tatsache, daß beim Übergang der benignen in
die maligne Sklerose der Blutphenol- und Oxysäuregehalt schon
frühzeitig erhöht sein kann, während Harnstoff und Rest-N noch
normal sind.
Tabelle 12.
Essentielle Hypertonien.
X: anthoprotein- | |
Fall | Kolorimeter- RN mg’, Ü mg% ı Indikan U mg’,
wert |
| | f
i | ! } l
1 HA | PL | 27 E 4
2 Ro © GR. 20 | — | 48 ø sÀ
3 Ki. GB. | 14 32 — Ø aY
4 R. GRB 21 31 34 ø 49
5 H. 20 32 36 ø 6.1
6 Ra. 24 42 | B9 Ø pA
[i Ki. Pl. Za — 31 Ø ON
|
Tabelle 13.
Chronische diffuse Glomerulonephritis, Stadium I.
7 | Xanthoprotein- u
Fall ' kolorimeterwert RNmg®, X mg°, Indikan t DE
|
] Ko. GR. 17 30 36 ø 3
2 Ki. DL 22 | 39 ø 42
3 N. N. 17 — 19 ø 3a
4 Ei. GB. IS — 28 ø z
Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion usw. 93
Im Stadium II der chronischen diffusen Glomerulonephritis
(Tabelle 13) fanden wir normale Xanthoproteinwerte bei normalem
Verhalten der übrigen harnfähigen Substanzen.
Tabelle 14.
Sekundäre Schrumpfnieren.
- Xantho-
rotein- RN U . : f
Fall koennte mg’, mg’, Indikan | U mg’
| wert | | ' |
1 i
1 Ei. | GB. | 24 | 56 | BI | Ø =
2 Ei. GB. | 20 67 I 9 -+ —
3 Sch. S. o 31 — 27 ø --
4 Rü. | GB 28 0 93 ø 9.6
h) St. PI 25 3 17 -+ — kardial dekompens.
6 Hu. S 57 144 . 211 +
7 Us. p] 96 — 14 ++ | 6.5
8 Ne. S 158 -468 HHHH echte Urämie
9 Ach. Pl 224 . — ` 4483 ++ | Z £
10 Co. GB. 215 40,728 +++. a a
11 Bu. S 140 138: 224 +++ echte Urämie pyelo-
peut Schrumpfniere
Bei sekundären Schrumpfnieren (Tabelle 14) steigt entsprechend
der Vermehrung der aromatischen Darmfäulnisprodukte der Xantho-
proteinwert im Blut an. Bei beginnender Niereninsufficienz kann
man normale Xanthoproteinwerte bei schon erhöhtem Harnstoff und
Rest-N-Gehalt beobachten (Fall 1 und 2). Bei anderen Fällen
(Fall 3) kann der Xanthoproteinwert vor dem Blutharnstoff ver-
mehrt sein. Wie Tabelle 14 zeigt, fällt Xanthoprotein- und Indikan-
probe bei beginnender Niereninsufficienz nicht immer in demselben
Sinne aus. Da, wie in der ersten Mitteilung genauer ausgeführt
wurde, der Xanthoproteinwert im Serum bei Niereninsufficienz
höher liegt wie im Gesamtblut,') während der Harnstoffgehalt
nahezu derselbe ist, ist es zweckmäßiger, dann das Serum zu unter-
suchen. Hier können schon mäßige Erhöhungen bestehen, die sich
im Gesamtblut noch nicht zeigen. Bei stärkerer Niereninsufficienz
der sekundären Schrumpfnieren (Fall 6—11) ist der Xanthoprotein-
wert beträchtlich erhöht. Die Fälle mit den höchsten über 100
gelegenen Werten zeigen klinische Symptome von echter Urämie
(Fall 8—11).
l) Der Phenol- und Indikangehalt ist im Serum höher wie im Gesamtblut.
während der Aminosäure-N-Wert sich gerade umgekehrt verhält.
94 BECHER u. HERRMANN
Bei genuinen Schrumpfnieren liegen die Verhältnisse ganz
ähnlich, wie aus Tabelle 15 zu ersehen ist. Die Vermehrung des
Xanthoproteinkolorimeterwertes kann ebenso wie die des Indikans
auch hier das erste Zeichen der beginnenden Niereninsufficienz sein
(Fall 2 und 3). Es kann aber auch die Vermehrung des Rest-N,
des Harnstoffs und der Harnsäure gegenüber der des Xanthoprotein-
wertes überwiegen (Fall 1 und 6).
Tabelle 15.
Genuine Schrumpfnieren.
‘
m
——— |
Xanthoprotein- | $ 3 o
| Fall Ä kolorimeter- an en U | Indikan | U mg’,
| | wert Be, |
| i
1; Hi S. 19 59 99 - -—
2 : Hü. 28 — | (> + -
3 Le. 29 39 +471 + _
4 Hi. S. 30 — | 65 | -+ —
5 0 Kä S. 45 80 0 141 | ++ 7.6
6 Kä. später GB. 27 85 ; 125 g 10,9
Too Kr Pl. 83 10 | 197° +44 | -
8 | Na. Pl. 189 BE it
| | schrumptfniere,
| echte Urämie
Bei Anurie (Tabelle 16) findet man ein Ansteigen sämtlicher
harnfähiger Substanzen im Blut; auch hier beobachtet man bei
hohen Xanthoproteinwerten über 100 Zeichen von echter Urämie.
Tabelle 16.
Anurien.
| Xantho- ee i l
. TR protein- RN į; U Indi- a
Diagnose kolorimeter- mg °, |mg%| kan U mg“,
| wert
| ' | zz
1 Anurie nach ausge- GB. 60 e de 3 E | ++ 11,8
dehnter Herdnephri- | | Ä |
tis nach Scharlach | | |
2 Anurie bei infek- © So 63 223 | 889 +i —
tösem Ikterus | | | |
3 Anurie bei Prostata- S5. | 112 ee 265 = =
carcinom | | | | je
| eriite
4 Anurie durch Ure-! Pl. | 150 a 228 |++-+4+ —{ Urämie
terenverschlußb bei | |
UÜteruseareinom | | |
Studien über das Verhalten der Kanthoproteinreaktion usw. 95
In Tabelle 17 sind die Befunde bei einigen Erkrankungen der
harnabführenden Wege mitgeteilt. Aus der Tabelle geht hervor,
daß bei einem mechanischen Hindernis der Harnentleerung im
Bereich der Harnwege der Rest-N und Harnstoff früher und
stärker ansteigt als der Xanthoprotein- und Indikanwert. Wenn
der Verschluß vollständig oder nahezu vollständig ist, geht auch
der Wert der aromatischen Substanzen stark in die Höhe; es
kommt zu echter Urämie (Fall 6). Seltener beobachteten wir bei
Prostatahypertrophie einen im Vergleich zum Rest-N frühzeitigen
Anstieg des Xanthoproteinwertes (Fall 5). Es können schon ganz
erhebliche Blutharnstoff- und Rest-N-Werte bei Prostatahypertrophie
bestehen, während der Xanthoprotein- und Indikanwert noch lange
nicht entsprechend stark angestiegen sind (Fall 4).
Tabelle 17.
Erkrankungen der harnabführenden Wege.
+
: Xanthoprotein- RN | U
Diagnose |l kolorimeter- ee Bon Indikan
i l !
i '
l Striktur der Urethra | 24 | DE zu 8B Ø
| mit Polyurie ' | |
2 ‘Nieren- und Blasen- GB. | 28 63o - +
tuberkulose | | '
3 , Retentio urinae bei | S. 21 62 1250 8
‚Lues u. essent. Hyper- |
tonie |
| Bine A ; W
4 - Prostatahypertrophie) GB. 39 284 ı 465 +
d Prostatahypertrophie. 29 2 =V (+)
6 Prostatacareinom mit S. 112 — 265 | + + echte
Anurie Urämie
Wenn man den Xanthoproteinkolorimeterwert bei Nieren-
erkrankungen in den nach Hydrolyse ätherlöslichen und ätherun-
löslichen Teil differenziert (Tabelle 18), findet man bei Nieren-
insufficienz eine ganz erhebliche Zunahme der ätherlöslichen
Fraktion (Fall 7—12). Wenn der ätherlösliche Teil sehr hoch ist,
bestehen Symptome der echten Urämie (Fall 7, 8, 10, 12). Bei
Nierenerkrankungen mit normalem oder nur wenig erhöhtem Xantho-
proteinwert (Fall 1—6) ist auch die ätherlösliche Fraktion gegen-
über der Norm überhaupt nicht oder nur wenig vermehrt. Bei
akuter Nephritis kann trotz enorm gesteirertem Blutharnstoff der
Betrag der ätherlöslichen Fraktion ganz gering sein (Fall 4). Bei
BrwmBa) yea
|
|
sıtagdou
-ODIYAWOLF) UORNYIP dop
-H+ + :uuyıpay o Zu gip n “oa Bu pgg NH 96 FL 021 931 Id UIOgKmMBjaa A IMAN | GI
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Studien über das Verhalten der Xanthoproteinreaktion usw. 97
akuter Nephritis kommt es, solange nicht Anurie oder hochgradige
Oligurie besteht, nicht zu einer Ansammlung von aromatischen
Substanzen im Blut; daher neigen akute Nephritiden nicht zu echter
Urämie. Bei starken Erhöhungen des Xanthoproteinwertes ist auch
die nach Hydrolyse ätherunlösliche Fraktion erhöht (Fall 7—12).
Die Zunahme ist aber mit dem Normalbetrag verglichen bei weitem
nicht so stark, wie bei der nach Hydrolyse ätherlöslichen Fraktion,
deren Wert in der Norm nur ganz gering ist.
Zusammenfassung der Resultate.
Die Xanthoproteinreaktion fällt im enteiweißten Blut bei
Arthritiden, Diabetes, Infektionskrankheiten, Tuberkulose, Tumoren,
Herzkrankheiten nicht stärker aus als in der Norm.
Bei Polycythämie, perniziöser Anämie, Pneumonie, Leberkrank-
heiten mit Ikterus, bei Endokarditis lenta und bei Krankheiten mit
vermehrter Indolbildung findet man meist stärkere Xanthoprotein-
proben.
Im Vogelblut ist die Probe stärker infolge des höheren Ge-
haltes an aromatischen Aminosäuren.
Nach künstlicher Einfuhr aromatischer Substanzen (Salicy]-
säure, Phenol) und im Leichen- und kurz vor dem Tode entnommenen
Blut ist die Xanthoproteinreaktion stärker als in der Norm.
Die bei Leberkrankheiten vorkommenden Verstärkungen der
Xanthoproteinprobe beruhen auf einer Zunahme der nach Hydrolyse
ätherunlöslichen Fraktion.
Bei Krankheiten mit vermehrter Indolbildung ist die nach
Hydrolyse ätherlösliche Fraktion vermehrt.
Die Xanthoproteinprobe verhält sich bei Nierenkrankheiten
ähnlich wie das Indikan; vollkommen parallel geht der Ausfall
beider Proben jedoch nicht.
Bei akuter Nephritis steigt. solange es nicht zu Anurie oder
hochgradiger Oligurie kommt, der Xanthoproteinwert im ent-
eiweißten Blut im Vergleich zu den intermediären Eiweißabbau-
produkten überhaupt nicht oder nur relativ wenig und spät an.
Bei Nephrosen, essentieller Hypertonie, chronischer diffuser
Glomerulonephritis, Stadium II, fällt die Xanthoproteinprobe normal
aus. Selten findet man bei essentieller Hypertonie leichte Er-
höhungen; man kann dann mit einem baldigen Übergang in maligne
Sklerose rechnen.
Bei sekundären und genuinen Schrumpfnieren kann ein erhöhter
Xanthoproteinkolorimeterwert das erste Zeichen einer Nieren-
Dentsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. q
98 Becher u. HRRRMANN, Studien über d. Verhalten d. Xanthoproteinreaktion usw.
insufficienz sein. Es können aber auch bei Schrumpfnieren die
aromatischen Darmfäulnisprodukte später im Blut ansteigen wie die
intermediären Eiweißabbauprodukte. Bei Schrumpfuieren steigt bei
zunehmender Niereninsufficienz der Xanthoproteinwert im Blut
immer stärker an. Bei echter Urämie findet man immer starke
Xanthoproteinreaktionen.
Bei Anurien steigen die aromatischen Substanzen gleichmäßig
mit anderen harnfähigen Stoffen im Blut an.
Bei Erkrankungen mit Widerständen in den harnabführenden
Wegen steigt, solange es nicht zu Anurie oder Oligurie kommt,
der Xanthoproteinwert und das Indikan im Vergleich zu Rest-N,
Harnstoff und Harnsäure meist spät und wenig an.
Bei Niereninsufficienz nimmt in erster Linie der nach Hydrolyse
ätherlösliche Teil der die Xanthoproteinprobe gebenden Substanzen
zu. Bei echter Urämie ist diese Fraktion besonders hoch. Der
nach Hydrolyse ätherlösliche Teil steigt bei Niereninsufficienz auch
an, aber im Vergleich zu der die aromatischen Darmfäulnisprodukte
enthaltenden ätherlöslichen Fraktion nur relativ wenig.
99
Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik
bei der Beurteilung gefärbter Blutausstriche.
Von
A. Piney, M. D., M. R. C. P.
Direktor des path. Instituts, Charing Cross Hospital, London, England.
Mit 2 Abbildungen.)
A. Methodik.
Die großen Meinungsverschiedenheiten über Bau und Natur
der Blutzellen, die sich in der hämatologischen Literatnr finden,
sind nicht nur durch die verschiedene Deutungen der morpho-
logischen Befunde der Zellen bedingt, sondern wohl in der Haupt-
sache durch die Anwendung verschiedener Methoden in Färbung
und Betrachtung.
Es ist allgemein zugegeben und anerkannt, daß dem Bau des
Kernes besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muß, da eine
eindeutige Beurteilung der verschiedenen Blutzellen aus der cyto-
plasmatischen Beschaffenheit allein nicht möglich ist. Auch die
Darstellung der Granula darf in keiner Weise vernachlässigt
werden.
Die älteren Methoden von Jenner und Ehrlich (Triazid-
Färbung) färben zwar die Granula in sehr schöner Weise, lassen
aber die Kerne blaß und zeigen keine genauen Einzelheiten in der
Anordnung und Verteilung des Chromatin. Pappenheim’'s
panoptische Färbung — die sich überall in der hämatologischen
Technik eingebürgert hat — liefert wieder schöne Kernbilder, die
Protoplasma-Granula erscheinen jedoch nicht scharf darstellbar.
Selbst bei der Anwendung seiner verbesserten Panchrom-Methode
färben sich wohl die Kerne, die Granula jedoch nur sehr undeutlich
und unscharf. Ich habe nun anderswo (11) eine Methode angegeben
und beschrieben, die nicht nur das Protoplasma der Zellen, sondern
auch Kern und Granula in besonders schöner und klarer Weise
zu färben gestattet.
1%
100 Pıney
Im folgenden soll eine kurze Darlegung dieser Färbungs-
methodik gegeben werden, um im Anschluß daran die Bedeutung
einheitlicher Besichtigungsart (der mit dieser Methode gefärbten
Präparate) darzulegen.
Als wesentlich wurde dabei betont, nur auf Deckgläsern an-
gefertigte Ausstriche zu gebrauchen um die Färbung in einen
Uhrschälchen zu ermöglichen. Die beschickte Seite wird nach unten
gelegt, wobei unangenehme Niederschläge am leichtesten vermieden
werden können. Die Zeit der Färbung entspricht genau der bei
der panoptischen Methode angewendeten.
Gang der Färbung.
1. Färben 3 Minuten in May-Grünwald-Jenner-Lösung.
2. Nach Ablauf dieser 3 Minuten Hinzufügen einer gleichen
Menge destillierten Wassers und Färben in dieser Lösung durch
weitere 2 Minuten.
3. Nach Abgießen dieser Farbflüssigkeit Färbung 5—10 Minuten
in einer neuen Lösung, deren Zusammensetzung hier angegeben sei:
Destilliertes Wasser: 3 ccm.
Giemsa oder besser Panchrom: 4 Tropfen.
Lösung A:') 3 Tropfen.
4. Schnelles Abspülen mit Aq. dest. und rasches Trocknen ohne
die Anwendung von Hitze (Gebrauch von Filtrierpapier zum
Trocknen wurde vermieden, da leicht Fäserchen am Ausstrich
kleben bleiben und das Bild verunreinigen).
5. Einschließen im neutralem Balsam oder in Dammar. (Wir
fanden das Gilson’sche „Euparal vert“ (7) dafür besonders geeignet).
Die Ausstriche, gefärbt mit dieser Methode bringen die Kern-
struktur und die Granula der Zellen in besonders vorzüglicher
Weise zur Darstellung.
Für die Beurteilung der verschiedenen Blutzellen ist jedoch
nicht nur die Anwendung einer einheitlichen Färbungsmethode von
größter Bedeutung, sondern auch eine einheitliche, gleichbleibende
Benützung von Mikroskop und Lichtquelle wesentlich.
D Kine gesättigte. wiisserige Lösung von Methvl-Grün wird mit einem
gleichen Teile einer gesätfigen wässerigen Lösung von Orange G versetzt. Der
Niederschlag wird abhltriert und an der Luft getrocknet. Dieser getrocknete
Niederschlag wird dann bis zur Sättigung in Methylalkohol puriss. gelöst. Die
Lösung hält sieh gut. darf aber mit Giemsa nur unmittelbar vor dem Gebrauch
gemischt werden.
Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik usw. 101
Abb. 1. Der Rand der Flamme im Felde des Mikroskops. 650 X. Nur die Mitte
des hell beleuchteten Dreiecks ist wirklich kritisch beleuchtet.
Abb. 2. Eine bequeme und wirklich angebrachte Anordnung der wertvollen
mikroskopischen Bestandteile.
102 Pınky
Bevor wir die Methodik unserer Betrachtungsart beschreiben, sollen
in Kürze einige mikroskopische Bestandteile und ihre Anwendungen er-
wähnt werden, die wir bei unseren Untersuchungen immer wieder als
unentbehrlich empfanden.
l. Zeiß-Schlitten-Objektivwechsler, mit größter Vorsicht zentriert,
damit eine Zelle bei Gebrauch aller möglichen Vergrößerungen immer in
die Mitte des Feldes zu liegen kommt.
2. Schrauben am Kondensor, die ebenfalls unentbehrlich sind, da
es immer wieder nötig ist diesen Apparat richtig zu zentrieren. Die
Methode der Zentrierung bietet keine Schwierigkeiten. Unter Benützung
einer kleinen Vergrößerung und mit geschlossener Kondensorblende dreht
man die Kondensorschrauben bis die Offnung der Blende genau in der
Mitte des Feldes liegt. Da alle Objektive richtig zentriert sind (s. o.),
können sie auch ohne weiteres gebraucht werden.
3. Ein achromatischer Kondensor ist unbedingt nötig. Ölimmersion-
kondensor soll nur bei starken Vergrößerungen gebraucht werden. Da
für uns hier nur solche in Frage kommen, so erwähnen wir nur den Ge-
brauch des Ölkondensors.
4. Der Kondensor muß am Mikroskop so angebracht werden, dal
er richtig in seinen Brennpunkt gebracht werden kann. Dazu ist es
auch nötig, daß nur eine kleine Lichtquelle benützt wird, da sonst un-
möglich die gröbte Schärfe erzielt werden kann.
5. Die gewöhnlich gebrauchte elektrische Lampe ist als kritische,
mikroskopische Beleuchtungsquelle nicht brauchbar. Es ist unbedingt
nötig die Lichtquelle so klein zu wählen, dab der Rand des Lichtes im
Felde des Mikroskops gesehen werden kann, um den exakten Brennpunkt
des Kordensors zu erhalten. Ich kenne keine Lichtquelle, die für diesen
Ziweck geeigneter ist, als eine Öllampe mit schwarzem Blechzylinder. An
einer Seite ist ein flaches Glas angebracht und das ganze Licht kann
herumgedreht werden, so dab nur der Rand der Flamme im Felde des
Bildes scharf sichtbar ist (s. Abb. 1).
6. Außerdem ist es natürlich nötig die richtige Tubuslänge zu ge-
brauchen.
Man kann sich leicht überzeugen, daß ganz kleine Fehler in
der Anordnung des Systemes, besonders in der Einstellung des
Brenupunktes des Kondensors, alle Einzelheiten des morphologischen
Bildes verwischen können: es ist daher besondere Vorsicht in dieser
Beziehung zu gebrauchen. Alle optischen Teile des Apparates in
ihren Brennpunkt gebracht, zeigen die Zellen — in der Mitte des
beleuchteten Dreieckes — in all ihren morphologischen Eigen-
schaften in klarster Weise.
Das verwendete Licht erscheint natürlich etwas gelblich und
es ist daher gut ein hell blaues Glasfilter zwischen Mikroskop und
Lichtquelle einzuschieben, um künstliches Tageslicht zu erhalten.
Diese Beleuchtung ist nur für die allgemeine Übersicht von Prä-
paraten wertvoll. Für die Darstellung von Einzelheiten müssen
Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik usw. 103
jedoch besondere Filter gewählt werden. Es ist ja bekannt, daß
bei der Mikrophotographie gefärbte Lichtfilter unentbebrlich sind;
bei visuellen Untersuchungen sind diese nicht oft gebraucht, ob-
gleich ihre Anwendung viele Vorteile bieten würde. Dabei ist
natürlich nötıg, daß solche Filter auf beiden Seiten optisch flach
und nicht beim längeren Gebrauch verbleicht sind. Ich kenne nur
eine Art von Filtern, die diese beiden Bedingungen erfüllen:
Watson und Son in London verkaufen drei Filter, die mir für
hämatologische Zwecke besonders wertvoll erscheinen, d. s. Grün-,
Plau- und Grau-Filter. Die Anwendung der Lichtfilter bietet wenig
Schwierigkeit; immerhin müssen sie individuell ausgeprobt werden.
Meiner Erfahrung nach sind blaue Glasfilter für Beobachtung der
Nukleolen besonders wertvoll; das grüne Glasfilter dient zur Ver-
folgung der feinsten Einzelheiten des Chromatins; das graue Glas
ist nur nötig, wenn das Licht zu hell erscheint.
Man könnte erwarten, daß die gebrauchte Öllampe als Licht-
quelle ungenügend sein würde; dies ist jedoch nie der Fall, wenn
jeder optische Teil des Apparates genau im Brennpunkt liegt.
Selbst das grüne Glasfilter kann ohne zu große Schwächung des
Lichtes gebraucht werden.
Die beschriebene Methode benutzte ich zuerst zar Unter-
suchung von schwer zu unterscheidenden Zellformen, z. B. Myeloblast
und Lymphoblast. Eine längere Erfahrung zeigte mir jedoch, daß
sie für alle hämatologische Zwecke besonders brauchbare und
schöne Resultate liefert. Jeder einzelne Bestandteil der Zelle kann
zur Ansicht gebracht werden, ja selbst morphologische Feinheiten
sind darstellbar.
Im folgenden Abschnitt soll nun über einige Ergebnisse be-
richtet werden, die ich bei Anwendung dieser Methode erzielte.
B. Einige Ergebnisse bei Anwendung der oben beschriebenen
Methode.
Es sollen hier nicht alle morphologischen Merkmale der Zellen
beschrieben sein, sondern nur die Feinheiten und Einzelheiten
herausgehoben werden, die bei Anwendung dieser Methode sichtbar
werden. Insbesondere seien entscheidende Unterschiede berück-
sichtigt, die zwischen den myeloischen und den Iymphatischen Zellen
bestehen.
Es gibt wohl keinen Zweifel, daß der granulierte polymorph-
kernige Leukocyt zur myeloischen Zellreihe gehört; er soll zuerst
in seinen Eigentümlichkeiten beschrieben werden. Die vorsichtige
104 Pısev
Betrachtung seines Kernes zeigt immer einen scharfen Gegensatz,
zwischen Oxy- und Basi-Chromatin. Man gewinnt den Eindruck,
als ob da keine Diffusionsprozesse zwischen beiden Chromatinarten
vor sich gingen. Die Verteilung erscheint immer gleich scharf,
obwohl die Kernform ständig wechselt.
Die Metamyelocyten weisen dasselbe Verhalten der beiden
Chromatinarten auf; der Kern erscheint aber natürlich weniger
tachychromatisch, als bei den polymorphkernigen Leukocyten.
Das Kerngerüst der Myelocyten entspricht ebenfalls genau dem
der polymorphkernigen Leukocyten und der Metamyelocyten.
Nach Delamare (3) sollen — im Follikulargewebe der Lymph-
drüsen von Kaninchen und Schweinen Myelocyten von Lympho-
cyten abstammen, wobei er angibt, daß diese granulierten Zellen
einen Lymphocytenkern besitzen. In ähnlicher Weise sah
Stschnastny (14) in der Peritonealflüssigkeit von Meerschweinchen
eosinophile granulierte Zellen mit Lymphocytenkernen. Auch
Downey und Weidenreich (5) berichteten über „Myelocyten“
in Lymphknoten, deren Kerne die Merkmale von Lymphocyten auf-
wiesen. Es erscheint mir nun sehr fraglich, ob diese Zellen wirklich
wahren Myelocyten entsprechen; in meinen Präparaten weisen die
Kerne der Myelocyten — wie in Knochenmarkspräparaten — immer
eine scharfe Trennung des Oxy- und Basi-Chromatins auf. Das
bloße Vorhandensein von Granula im Protoplasma von Lympho-
cyten darf um so weniger als myelocytisches Zellmerkmal aufge-
faßt werden, als Granula in der verschiedensten Zellen angetroffen
werden können.
Auch bei der Betrachtung unreifer myeloischer Zellen (Pro-
myelocyten) findet sich immer wieder die scharfe Trennung der
beiden Chromatinarten, nur die feinere Verteilung und Anordnung
des Chromatins ist etwas verschieden von der in reiferen myeloischen
Zellen. Das Basi-Chromatin der Promyelocyten ist in sehr
schmalen länglichen Klümpchen, nach Art eines unvollständiges
Netzes, angeordnet. Niemals ist eine Verdichtung des Basi-
Chromatins um die scharf hervortretenden Nukleoli oder am Rand
des Kernes nachweisbar.
Was nun die myeloblastische Stammzelle anlangt — die immer
noch Sache heftiger Diskussionen ist — so zeigt auch sie (abge-
sehen von Mangel an Granula) dieselben Kernmerkmale wie der
Promyelocyt, d. h. feine, netzartige Anordnung des Basi-Chromatins,
Nukleoli, und Mangel an Verdichtung des Chromatins um die
Kernkörperchen und den Kernrand. Die Oxydasereaktion die in
Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik usw. 105
der myeloblastischen Stammzelle immer negativ ist, kann nur dann
erhalten werden, wenn Granula (selbst in kleinster Anzahl) im Proto-
plasma vorhanden sind (Piney (11)).
Einschaltend sei hier bemerkt, daß wohl kein Zweifel besteht,
daß die positive Oxydasereaktion an die Anwesenheit von Granula
gebunden ist. Da Lymphocyten manchmal, wenn auch selten eine
positive Oxydasereaktion geben (Menten (9)), so kann diese
Reaktion wohl auch nicht als entscheidendes Unterschiedsmerkmal
zwischen myeloischen Stammzellen und Iymphatischen Zellen, die
für die monophyletische Schule ein und dasselbe sind, angesehen
werden.
Im folgenden soll nun die Frage beantwortet werden, ob es
überhaupt morphologische Merkmale gibt, die eine Unterscheidung
myeloischer Stammzellen von Ilymphatischen Zellen ermöglichen.
Lenaz (8), der die Kernverhältnisse der Lymphocyten mit sehr großer
Genauigkeit beschrieb, fand, daß das Basi-Chromatin vier oder fünf
unregelmäßige Klumpen bildet, zwischen denen sich nur spärliches
Oxy-Chromatin befindet. Letzteres nimmt verschiedene Formen an,
indem es sich den von dem Basi-Chromatin freigelassenen Raume
anpaßt. Nach Lenaz ist weiterhin die unscharfe Trennung der
beiden Chromatinarten besonders charakteristisch. Ich kann dieser
Darstellung Lenaz nur beipflichten, möchte aber hinzufügen, daß
dieses Verhalten mehr oder weniger für alle lymphatische Zell-
formen gilt.
In der hämatologischen Literatur sind zahlreiche Lymphoido-
cytenleukämien beschrieben ohne Angabe, ob die genannten Zellen
als Lymphoblasten oder als myeloblastische Stammzellen aufgefaßt
werden müssen. Domarus (4) und auch Butterfield (1) — ob-
wohl Dualisten — kennen keine morphologischen Unterschiede
zwischen den Stammzellen der Lymphocyten und der Granulocyten.
Chosrojeff (2), der einen Fall von mikromyeloblastischer Leuk-
ämie beschrieb, glaubte, daß die positive Oxydasereaktion den
myeloischen Charakter des Falles beweise, obgleich im Blute alle
Zwischenformen bis zum Lymplocyten nachweisbar waren.
Schultze gibt an, daß die Unterschiede zwischen Myeloblasten
und Lymphoblasten so gering sind, daß es für viele Hämatologen
unmöglich ist, zwei getrennte Zellformen (im Sinne der dualistischen
Lehre) zu unterscheiden.
Meine oben beschriebene Methode ermöglicht nun selbst in
Fällen, in denen im Blute alle Übergänge zwischen myeloblastischen
Stammzellen und Lymphocyten vorhanden zu sein scheinen — eine
106 Pıney
genaue Unterscheidung der myeloblastischen und Iymphatischen
Zellen durchzuführen. Der Oxydasereaktion kann — wie oben er-
wähnt — zur Unterscheidung der einzelnen Zellformen keine Be-
deutung beigemessen werden. Nur sehr vorsichtige, mor-
phologische Beobachtungen sind hier von Werte. In
Fällen, in denen die morphologischen Unterschiede sehr klein sind,
kann in vorteilhafter Weise ein grünes Lichtfilter gebraucht werden,
obwohl die wichtigsten Merkmale auch bei künstlichem Tageslicht
sichtbar erscheinen.
Was nun die genauen morphologischen Merkmale der sog.
„Myeloblasten“ anlangt, die in Jymphatischen Leukämiefällen vor-
kommen sollen, so besteht auf den ersten Anblick hin sicherlich
eine gewisse Ähnlichkeit dieser Zellen mit den myeloblastischen
Stammzellen. Bei kritischer Beobachtung zeigen sich jedoch Unter-
schiede, die ein scharfes Auseinanderhalten der beiden genannten
Zellarten gestatten. Wie schon erwähnt, besitzt die myeloblastische
Stammzelle (Myeloblast) einen gleichmäßig gezeichneten Kern ohne
Verdichtung des Basi-Chromatins um die Nukleoli oder am Kern-
rand; die lymphatische Zelle dagegen weist ein mehr oder weniger
gröberes Basi-Chromatin und die bereits früher angegebene Ver-
dichtung dieser Substanz um die Kernkörperchen und am Kern-
rand auf. Die Netzforın des Basi-Chromatins mangelt den lym-
phatischen Zellen ebenfalls. Gegen die Auffassung, daß die an-
gegebene Verdichtung des Basi-Chromatins das Ergebnis ver-
schiedener zeitlicher Reifung ist, muß angeführt werden, daß der
Promyelocyt eine ältere Zellform als der Myeloblast darstellt und
doch mangeln dem Kern die erwähnten Verdichtungen.
Auf Grund dieser angeführten Befunde, die eine bestimmte
und klare Unterscheidung der genannten zwei Zellformen auf-
zeigen, kann ich der üblichen Auffassung von der Identität dieser
beiden Zellarten (die, z. B. in Ferratas Hämocytoblast zum
Ausdruck kommen) nicht beipfichten. Ich möchte daher
neuerdings eine scharfe Trennung der myeloblasti-
schen Stammzelle von der lymphatischen Zelle befür-
worten.
Anfügend sei hier noch bemerkt, daß ich eine ähnliche Tren-
nung auch zwischen Megaloblasten und Normoblasten vorgeschlagen
habe (10, 12, 13) Darüber sowie über die Beziehungen der
myeloischen Stammzelle zu den Normoblasten soll in einer späteren
Mitteilung berichtet werden. |
Wichtigkeit und Bedeutung einer einheitlichen Methodik usw. 107
Literatur.
l. Butterfield, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 1908, XCII, 336. — 2. Chos-
rujeff, Fola Haemat. 1916, XX, 33. — 3. Delamare, Cpt. rend. soc. de biol.
Wil. LI, 849. — 4. Domarus, Folia Haemat. 1908, VI, 337. — 5. Downey
u. Weidenreich, Arch. f. mikroskop. Anat. 1912, LXXX, 306. — 6. Ferrata,
„Le Emopatie” 1918, I. — 7. Gilson, La cellule 1906, XXIIT, 427. — 8. Lenaz,
Folia Harmat. 1921, XXVI, 151. — 9. Menten, Journ. med. research. 1919, XL,
455. - 1. Piney, Journ. of pathol. a. bacteriol. 1924, XXVI, 249. — 11. Ders.,
Journ. of pathol, a. bacteriol. 1925, XXVIH, 39. — 12. Ders.. Zeitschr. f. Kon-
stitutionsl. 1925, X, 659. — 13. Ders., Proc. of the roy. soe. of med. (Path. seet.)
1125. XVII. 89. - - 14. Schultze, Münch. med. Wochenschr. 1909, LVI. 167. —
15. Stschastny, Zieglers Beitr. 1905, XXXVII, 456.
108
Besprechungen.
1.
Prof. W. Heubner Göttingen. Affekt und Logik in der Homöo-
pathie. “Springer, Berlin 1925. Sonderdruck aus Klinischer
Wochenschrift 1925, Nr. 29 u. 30. Nach einem ım Verein f.
innere Medizin in Berlin gehaltenen Vortrage.
Dem Verf. liegt vor allem am Herzen, die allgemein unwisser-
schaftliche Denkweise der Homöopathie aufzuzeigen und ım
Laufe des Vortrags wird das Überwuchern der Logik durch gefühls-,
glaubens- und handwerksmäßige Elemente für jede Phase des „homöo-
therapeutischen“ Denkprozesses nachgewiesen. Zum Speziellen weist Verf.
zunächst auf die große Unsicherheit hin, welche sich für die Indikations-
stellung aus der so viele Irrmöglichkeiten bietenden Arzneiprüfung am
Menschen ergeben muß. Die Hauptstützen des Lehrgebäudes: simila
similibus curentur und die besondere Wirksamkeit der kleinen Dosen.
samt ihrer scheinbaren Rechtfertigung, der Arndt-Schulz’schen Regel,
sind ganz unberechtigte Verallgemeinerungen einzelner zu-
treffender Fälle. Die mitunter zu beobachtende Gegensätzlichkeit der
Wirkung kleiner und großer Dosen kann auf einem Konglomerat der
verschiedenartigsten Erscheinungen beruhen z. B. der Wirkung an ver-
schiedenen Angriffspunkten. Milliardenfache Verdünnungen werden auch
in der Medizin alltäglich verwendet; während aber hierbei immer noch
Billionen von Molekülen anwesend sind, wird bei D. 30 und darüber
das Vorhandensein auch nur eines einzigen Moleküls in der Arznei immer
unwahrscheinlicher. Ehe diese wohlfundierten Ergebnisse der Chemie
und Physik angezweifelt werden, ziemt es sich, der Sicherheit der Kranken-
beobachtung zu mißtrauen. Haffner’
Klaus Hansen, Zur Theorie der Narkose. Oslo 1925. 2638.
Deutsch abgefabte gründliche Untersuchung des bei Poulsson
arbeitenden norwegischen Pharmakologen. Nach eingehender Kritik der
verschiedenen Narkosetheorien wird über neue Versuche des Verf.
EEE er 0 ni e
Besprechungen. 109
berichtet. An Kaninchen wurde für Alkohol, Aceton, Äther und Chloro-
form im narkotischen oder vornarkotischen Stadium die Verteilung auf
die verschiedenen Organe chemisch analytisch ermittelt unter gleichzeitiger
Bestimmung des Gehalts der Organe Wasser, Atherextrakt- und Rest-
trockenstoff.!) Trotz nicht unbeträchtlicher Abweichungen entspricht
die Verteilung im großen ganzen der Meyer-Överton’schen Theorie.
427 Nummern, besonders auch ausländischer Literatur.
Ein 2. Teil bringt die chemische Methodik; auf Grund umfangreicher
Versuche gibt Verf. eine Makro- und Mikromethode zur Alkoholbe-
stimmung nach dem Bichromatprinzip an. Anhangsweise wird die Möglich-
keit besprochen, durch Narkotikumbestimmung im Blut Anhaltspunkte
über den Gesamtgehalt des Organismus an Wasser, Lipoid (Ather-
extrakt) und Resttrockenstoff in vivo zu erhalten. (Haffner.)
3.
Pincussen, Mikromethodik. 3. Aufl. Georg Thieme, Leipzig.
4,50 M.
Das kleine Werkchen von Pincussen über die Mikromethoden
zur Untersuchung des Harns und des Blutes bedart wohl keiner be-
sonderen Empfehlung mehr. Es enthält die gebräuchlichsten Methoden,
die zum Teil auch vom Verfasser selbst modifiziert worden sind, und ist
in der neuen Auflage wesentlich erweitert worden. K. Felix, München.)
4,
E. S. London, Experimentelle Physiologie und Pathologie
der Verdauung. Urban u. Schwarzenberg, Berlin u. Wien
1925. Geh. 9.—, geb. 10.80 M.
Diese Monographie ist kein Lehrbuch und auch kein Nachschlage-
1) Für die einzelnen Organe (Kaninchen) wurden folgende, vielleicht
allgemeiner interessierende Mittelwerte (in °,) gefunden:
Äther- Resttrocken-
Wasser extrakt stoff
Blut | 82,92 0,19 16,74
Gehirn 78,16 9,19 12,50
Leber 74,10 4,01 21,79
Niere | 17.28 3.80 18,81
Milz | 76,61 3.19 20.45
Testikel 72,51 16.96 10,37
Herzmuskel 77,05 6,47 16,78
Skelettmuskel 15,39 1,67 | 22,89
Fettgewebe (capsula renalis) 1,23 91,11 1,45
Fettgewebe (Inguinalgrube) 8,08 89,02 2,44
Fettgewebe (subkutan) 7.31 90,38 2.06
110 Besprechungen.
werk, enthält keine Zitate, sondern ist die schriftliche Wiedergabe von
Vorlesungen, die der Verfasser an verschiedenen Hochschulen gehalten
hat. Zu ihnen hat er seine langjährigen persönlichen experimentellen
Erfahrungen über die operative Methodik der Behandlung der Verdauungs-
probleme niedergelegt. Man liest das Buch mit großem Interesse und
bedauert nur, daB die Lektüre etwas beeinträchtig wird durch das schwer-
fällige und manchmal auch fehlerhafte Deutsch. (K. Felix, München.)
baai
Ə.
Otto Fürth, Lehrbuch der physiologischen und patho.
logischen Chemie in 75 Vorlesungen. I. Band:
Organchemie, 1. Lieferung Bausteine des Organismus
— Blut, Vorlesung I—XVI. F.C. W. Vogel, Leipzig 1925,
15 RM.
Der Verfasser hat sein bekanntes Buch über die Probleme der
physiologischen und pathologischen Chemie in der neuen Auflage zu
einem Lehrbuch erweitert, indem er nun auch den Anfängerstoff aufge-
nommen hat, und sich damit bei dem erhöhten Interesse, das erfreulicher-
weise namentlich von klinischer Seite der physiologischen Chemie ent-
gegen gebracht wird, einen größeren Leserkreis gesichert. Iu Dar-
stellung und Sprache ist die Form der Vorlesung beibehalten, dadurch
wird seine Lektüre anregend und belebend. Die vorliegende 1. Liefe-
rung behandelt die Eigenschaften des Protoplasmas und seiner Bausteine,
der Eiweißkörper, Kohlehydrate, Fette, Phosphatide, ferner das Blut und
die Lymphe, Exsudate und Transsudate. Überall war der Verfasser be-
müht, die neuesten Ergebnisse zu berücksichtigen. Er hatte aber nicht
die Absicht das gesamte Tatsachenmaterial vollständig aufzunehmen,
sondern das Wesentliche, unsere Erkenntnis vom gesamten biochemischen
(Geschehen Fördernde auszuwählen. Nur da und dort vermißt man, nach
Ansicht des Referenten wenigstens Hinweise auf wichtige Arbeiten. Für
den Abschnitt über die Struktur der Eiweißkörper war es ein unglücklicher
Zufall, daß gerade die interessanten Arbeiten von Bergmann, Wald-
schmidt-Leitz u. a. zu spät erschienen sind. Man hätte sich diesen
Abschnitt überhaupt etwas breiter angelegt gewünscht, mit den Arbeiten
Kossel’s und seiner Schule über die Protamine als Grundlage, ein Ge-
biet von dem der Verfasser selbst sagt, daß „man bei seinem Betreten
überall dankbar den festen Untergrund empfindet, den solide Arbeit hier
geschaffen hat und auf dem sich solid weiter bauen läßt.“ Bei der Be-
sprechung der Versuche, fremde Gruppen in das Eiweißmolekül einzu-
führen, wird bemerkt, daß neben dem Tyrosin auch das Tryptophan bei
der Nitrierung Nitrogruppen aufnimmt und das Clupein eine Sonder-
stellung einnimmt, insofern als bei ihm auch die Guanidingruppen nitriert
werden. Demgegenüber ist hervorzuheben, daß sich in jedem Protein
die freien (Guanidingruppen nitrieren lassen. In diesem Zusammenhang
dürften auch die Arbeiten EdIbacher’s über die Methylierung der
Proteine nicht fehlen. Zur Charakterisierung der Histone hätte neben
Besprechungen. 111
den Fällungsreaktionen noch auf das Histopepton hingewiesen werden
müssen, das bei ihrer Verdauung durch Pepsinsalzsäure entsteht. Die
Arginase, das Ferment, welches Arginin in Harnstoff und Ornithin zerlegt,
wird bei den Protaminen behandelt und von einer „fermentativen Protamin-
spaltung durch Arginase“ gesprochen, als ob die Guanidingruppe des
noch im Protamin gebundenen Arginins von der Ärginase angegriffen
würden, was noch nicht erwiesen ist. Bei der Razemisation der Proteine
vermißt man die interessanten Versuche Woodman's. Die physikalisch-
chemischen Probleme und Tatsachen sind etwas zu kurz weggekommen,
so vor allem in dem Abschnitt über das Serum und Odem. Eine Reihe
von Druckfehlern werden sich wohl nachträglich noch berichtigen lassen.
Das Buch wird sich durch seine leichte Verständlichkeit und flüssige
Diktion gewiß viele Freunde erwerben. :K. Felix, München.)
6.
Noeggerath u. Eckstein, Die Urogenitalerkrankungen
der Kinder. Störungen und Erkrankungen der
Harnbereitung und der Geschlechtssphäre, sowie
ihrer Organe. Mit 54 Abb. im Text in drei farbigen Tafeln.
Verlag von F. ©. W. Vogel, Leipzig 1925.
Die Erkrankungen des Harnsystems beim Kinde sind in manchen
Teilgebieten noch ungeklärt, manche vom Erwachsenen her bekannte
Krankheitsbilder beim Kinde noch nicht oder nur selten und unzureichend
beschrieben. Die beiden Verfasser haben sich in fast zehnjähriger Arbeit
diesen Fragen ganz besonders gewidmet und unter Mitbeteiligung Aschoff's
eine wirklich ausgezeichnete Monographie dieser Materie geschrieben.
Besonders gut gelungen scheint mir das Kapitel der Enuresis. Die
verschiedenen Ansichten erfahren eine eingehende kritische Würdigung,
Klinik und besonders Therapie sind bis ins einzelne dargestellt. Ebenso
bietet der Abschnitt über orthostatische Albuminurie einen lückenlosen
Überblick über die verschiedenen Theorien dieser Erkrankung, wobei die
Verfasser zu dem Ergebnis kommen, daß es sich dabei in der Hauptsache
um eine Vasoneurose der Nierengefäße handle. Daß die Nephritiden und
Nephrosen einen großen Raum in der Besprechung einnehmen, liegt auf
der Hand. Sie sind in allen Einzelheiten, in ihrer Eigenart bei Kindern,
in ihren Komplikationen, in allen Möglichkeiten der therapeutischen Be-
einflussung in ausgezeichneter Weise dargestellt. Überall finden wir
kritisch gewürdigte Literaturquellen, überall auch die durch reiche Er-
fahrung begründete persönliche Ansicht.
In kurzen Strichen werden die chirurgischen Erkrankungen des Harn-
apparates gezeichnet. Aufgefallen ist mir, daß die Lithotripsie — wohl
mit Unrecht -— abgelehnt wird. Nach den Mitteilungen französischer
und ganz besonders russischer Urologen wird die Steinzertrümmerung bei
Mädchen überhaupt und bei Knaben vom 5. Lebensjahre an als die weit-
aus ungefährlichste und damit beste Art der Therapie angesehen. Bei
112 Besprechungen.
dem Kapitel der Nierengeschwülste darf als gutes diagnostisches Merkmal
das eigenartige Fieber, das das Wachstum der Geschwülste begleiten
kann, nicht vergessen werden.
Das wirklich gute Buch ist nicht nur für den Spezialisten, sondern
für jeden gebildeten Arzt eine Quelle der neuesten wissenschaftlichen Er-
kenntnis. Die Bilder sind durchwegs vorzüglich, die Ausstattung erst-
klassig. (Kielleuthner, Müncher.
113
Aus der medizinischen Klinik Jena. (Direktor: Prof. Dr. Stepp.)
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen
| Blutkreislauf.
Von
Dr. Erwin Schliephake,
Assistent der med. Klinik Jena.
(Mit 9 Abbildungen.)
Für die Annahme, daß das Cholin in gleicher Weise auf das
parasympathische Nervensystem wirkt, wie das Adrenalin auf das
sympathische, sprechen heute schon viele gewichtige Gründe.
Im Tierexperiment sind verschiedentlich die Wirkungen des
Cholins besonders auf den Darm untersucht worden, wobei sich eine
weitgehende Übereinstimmung mit den durch andersartige Vagus-
reizung hervorgerufenen Erscheinungen zeigte. Besonders Magnus
(1, 2) hat hier weitgehende Klärung geschaffen. Siehe ferner
Le Heux (3), Arieff(4), Klee u. Grossmann (5).
Neben diesen Wirkungen auf den Darm wurde auch von ver-
schiedenen Forschern Blutdrucksenkung beobachtet (Lohmann
(7, 8, Hunt u. Renshaw (9), Hunt u. Taveau (10) Mendel
u. Underhill (11), Mendel, Lafayette, Underhill, Renshaw
(12, Abderhalden u. Müller (13), Pal (14)).
Auch der Einfluß auf das überlebende Herz wurde untersucht
und mit den bekannten Folgen der elektrischen Vagusreizung ver-
glichen; aus den spärlichen Berichten über solche Versuche geht
hervor, daß Cholin die gleichen Erscheinungen hervorruft wie
letztere (Hunt u. Taveau (10), Straub (15), Loewi (16),
Lussana (17)).
Über die Entstehung des Cholins ist sicheres noch nicht be-
kannt, es wird angenommen, daß es im Mark der Nebenniere
(Lohmann (7)) oder im Magendarmkanal entsteht (Zuelzer (6),
Boehm (18, 19), Dale (20, 21)).
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. S
114 SCHLIEPHAKE
Da es Zerfallsprodukt mancher Phosphatide ist, steht noch die
Frage zur Erörterung offen, ob nicht Cholin bei der Verdauung
aus dem Darminhalt entsteht und resorbiert wird.
Im Blut kreist das Cholin in einer Verdünnung von 1:2000%
bis 1:400000 und ist in verschiedenen Organen in verschiedener
Stärke enthalten, wobei anscheinend die Haut besonders als Cholin-
speicher wirkt (Ellinger (22), Guggenheim u. Löffler 23
Zucco u. Martini (24), Kinoshita (25)).
Nach den Erfahrungen mit der Cholininjektion bei der paroxv:-
malen Tachykardie (Stepp u. Schliephake (26)) erschien es
erwünscht, im einzelnen die Cholinwirkung aufs menschliche Herz
zu untersuchen, und zwar zunächst beim Gesunden, dann aber auch
bei verschiedenen Erkrankungen. Es kam mir dabei, einer An-
regung vou Prof. Stepp folgend, hauptsächlich auf die Klärung
folgender Fragen an:
1. Gleichen die nach Cholininjektion auftretenden Erscheinungen
den von der elektrischen Vagusreizung im Tierversuch bekannten
Phänomenen am Herzen?
Wie verhält sich:
a) die Reizbildung?
b) Systole und Diastole?
c) die Erregungsleitung ?
d) die Dauer der Kammerkomplexe im Elektrokardiogramn’
e) Form und Größe der Elektrokardiogrammzacken ?
f) die Herztöne?
g) Venen- und Arterienpuls?
h) der Blutdruck ?
2. Was für Erscheinungen werden außer der Kreislaufwirkung
beobachtet?
3. Wirkt das Cholin bei subkutaner Injektion anders als bei
intravenöser ?
4. Wie verhalten sich Herzkranke und Kranke mit gewissen
endokrinen Störungen gegenüber dem Cholin?
5. Wie verhalten sich Kranke mit starken Blutdrucksteige-
rungen ?
Verfahren.
Ich verwandte das gleiche Acetyl-Cholinpräparat, das Prof. Stepp
und ich schon bei der paroxysmalen Tachykardie benutzt hatten, in mei:t
6" „iger Lösung intravenös, wobei im allgemeinen 0,04 g der Substanz
gegeben wurden. In einigen Fällen, die besonders erwähnt sind, wurde
es auch subkutan eingespritzt.
a nn nn na ae
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 115
Die Flüssigkeit wurde intravenös ganz langeam (in 2—3 Minuten)
einflieben lassen, wegen der noch zu besprechenden Kollapsgefahr.
Registriert wurde mit dem großen Edelmann’schen Saitengalvanometer bei
einer Empfindlichkeit von 1 Millivolt = 1 cm. Die Stimmgabel markiert
il, Sek.
u Meist wurde Nadelableitung von der Brust nach Straub angewandt,
da die Störung durch die Polarisation bei den rein zeitmessenden Ver-
suchen keine Rolle spielt, außerdem ja nur die Verhältnisse bei einem
und demselben Individuum miteinander verglichen werden, wobei die Nadeln
dauernd am gleichen Platz liegen bleiben. Nur in Versuchen, bei denen
die Form der Zacken beobachtet werden sollte, wurde Wannenableitung
verwandt. Verschiedentlich registrierte ich gleichzeitig Venenpuls,
Radialpuls und Herztöne mit dem Frank’schen Spiegelsphygmographen.
Die Verzögerung durch die Luftübertragung beträgt 0,003 Sek.
Aufnahmen wurden in Abständen von '/, Minute gemacht; leider
wurde ein Teil der Kurven durch das Zittern der Kranken nach der
Injektion stark entstellt und dadurch unbrauchbar.
Gemessen wurden in den Kurven die Abstände vom Beginn der
P- bis zum Beginn der Q-Zacke (P-Q), vom Beginn der Q- zum Ende
der S-Zacke (Q-R-S) und vom Beginn der Q- zum Ende der T-Zacke
(Q-T). Weiterhin wurden die Abstände zwischen den R-Zacken und wo
es nötig erschien, zwischen den P-Zacken bestimmt. Systole und Diastole
wurden an den Herztönen gemessen, jeweils von der ersten großen
Schwingung zur nächsten. Der Blutdruck wurde nach Riva-Rocci
bestimmt,
In jedem Kurvenabschnitt wurde eine größere Anzahl der ver-
schiedenen Abstände ausgemessen und von den gefundenen Zahlen der
arithmethische Mittelwert errechnet. Einige der so gefundenen Werte
sind in den Tabellen S. 116 ff. niedergelegt.
Zur elektrokardiographischen Untersuchung kamen zusammen 37 Fälle,
‘ völlig Gesunde und 5 Neurotiker, dann 25 Kranke mit Störungen
der Herztätigkeit, davon
2 extrasystolische Arrhythmien
l Sinusvorhofarrhythmie
6 Vorhofflimmern
13 Überleitungsstörungen
3 Thyreotoxikosen.
Blutdruckuntersuchungen wurden ferner bei 6 Kranken mit Hypertonie
gemacht.
Leider kann ich wegen der Schwierigkeiten beim Druck nur einen
kleinen Teil meiner Kurven und Tabellen veröffentlichen.
1. Gesunde Individuen (Tabelle 1—4).
a) Die Reizbildung. Die Reaktion auf das Cholin ist
individuell etwas verschieden, jedoch läßt sich im großen ganzen
ein einheitlicher Verlauf der Wirkung feststellen.
116
Erläuterungen der Tabellen.
SCHLIEPHAKE
(Siehe auch S. 115.)
R-R bedeutet den Abstand von einer R-Zacke bis zur nächster, also die
Gesamtschlagdauer und ist folglich gleich der Summe von Systole und Diastöle.
Letztere sind an den Herztönen gemessen, und zwar ist Syst. die Entfernung von
der ersten Zacke des ersten Tons bis zur ersten Zacke des zweiten Tons, Diast. der
Abstand von da bis wieder zur ersten Zacke des ersten Tons.
P-Q ist der Abstand vom Beginn der P-Zacke zum Beginn der W-Zacke.
Q-S derjenige vom Beginn von Q zum Ende von S. Q-T ist die Spanne vum
Beginn der Q- bis zum Ende der T-Zacke.
Die Zahlen sind Durchschnittszahlen
aus verschiedenen Messungen und bedeuten Sigma (!/‚ooo Sekunden). Als Mabstab
diente die am Fußpunkt jeder Kurve angebrachte Zeitschreibung, in der jede
Doppelschwingung !/so Sekunde beträgt.
Vor Cholin
Nach Cholin Y, Min.
1 Min.
EI SUMEN
Vor Cholin
Nach Cholm
1 Min.
2
so
ww
=]
D
1, Min.
R-R
850
706
790
860
530
830
830
TH
750
T90
780
740
SO)
14
T10
520)
700
Tabelle 1.
Gesund.
R-R P-Q
539 143
550 152
604 170
691 150
183 156
804 154
869 173
866 165
658 153
187 148
838 170
Tabelle 2.
Gesund,
Syst.
290
2N
320
303
290)
320
304
300
D)
300
300
>10
306
290)
IX)
2)
Diast.
340
510
D40)
HT
D40
51O
4%)
480
490
450
440
490
465
480
D2)
450
Q-S
80
84
80
80
76
70
76
75
72
82
80
Q-T
293
252
270
316
300
330
330
336
328
324
spi
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf.
Vor Cholin
Nach Cholin Y/, Min.
Min
1:
19
[3
Myokarditis,
Vor Cholin
Nach Cholin Y, Min.
1 Min.
Mvokarditis, Dilatation, Sinusvorhofarrhythmie,
Vor Cholin
Cholin '⁄ Min.
Nach Choli
to
—]
© D
n
Min
Ile Min.
P-Q
160
164
175
180
179
179
180
190
180
180
182
180
180
163
160
180
180
Vorhofsextrasystolie nach Cholin.
Tabelle 3.
Gesund.
R-R Syst. Diast.
560 260 300
550 300 250
616 300 316
580 280 300
620 310 310
678 330 348
620 320 300
p90 290 300
628 300 328
600 300 300
610 300 310
620 300 320
580 300 280
580 300 280
620 300 320
600 300 300
620 320 300
Tabelle 4.
R-R Syst. Diast.
779 305 474
866 302 564
841 344 547
883 35t 525
853 3 500
T85 349 436
183 337 446
141 307 434
757 300 457
Tabelle 5.
R-R Syst. Diast.
631 268 363
642 286 356
642 282 360
1382 300 1082
1186 = em
1452 322 1160
1510 530 980
1516 326 1190
1512 328 1184
958 322 636
826 296 530
810 = s
818 208 520
832 296 536
158 278 480
168 265 503
T4 280 468
128 256 472
38 258 480
P-Q
226
202
218
211
355
232
227
P-Q
226
226
238
230
240
230
230
243
240
237
250
234
234
234
220
222
224
240)
236
Q-S
110
104
104
110
116
116
110
117
118 SCHLIEPHAKE
Tabelle 6.
Myokardschädigung mit verlängerter Überleitung.
R-R Syst. Diast. P-Q Q-S Q-T
Vor Cholin 907 | 198 74 350
Nach Cholin tẹ Min. 879 | 208 14 AN)
1 Min. 88) 212 0 382
2 1219 263 65 420
3 1207 | 225 14 420
4 693 | | 205 115 BI)
DD a 10D | 199 Fia zu
6 709 i 222 12 320
{ 694 189 82 360
S 192 2083 82 312
9o S00 207 18 Bis
10 . 824 207 {5 a)
1. N23 200 TEE
2 € TOS 179 SU 30
Tabelle 7.
Myodegeneratio cordis.
R-R Syst. Diast. P-Q Q-S Q-T
Vor Cholin T16 280 496 186 90 370
Nach Cholin !', Min. 770 B10 460 156 74 370 Q verschwunden
1 Min. 1154 202 952 204 66 358 Block 2:1
1320 354 966 218 80 875
2 640 244 396 230 76 378 Block aufgehoben
676 8312 364 232 50 382 ö
3. 106 324 382 203 75 356
740 862 375 156 80 BW
+4 712 322 B90 188 s0 B37
690 310 B80 186 85 372
SS 664 300 364 186 75 B865 2mal Schenkelbluck li.
710 340 430 186 S50 344
6 722 B530 392 200 76 35S
726 524 402 191 4 368
T. 742 BBG 406 195 78 865
Bei der intravenösen Einverleibung ist zunäclıst
eine Erhöhung der Frequenz die Regel, die dann wieder bis
zur ursprünglichen Schlagzahl zurückgeht (nach etwa 2—3 Min.:
und danach oft (nicht immer) einer Verlangsamung Platz macht.
Häufig tritt nur die Beschleunigung der Schlagfolge in Er-
scheinung, ohne nachfolgende Verzögerung (Tab. 2).
Manchmal folgt auf die anfängliche Beschleunigung zunächst
eine Verlangsamung, nach der die Frequenz nochmals zunimmt, um
dann erst endgültig langsamer zu werden, so daß wir bei der
graphischen Darstellung eine zweigipflige Kurve erhalten (Tab. 3.
b) Der Anteil von Systole und Diastole an diesen
Frequenzänderungen ließ sich aus den Herztonaufnalımen feststellen.
Wie aus den Tabellen ersichtlich, sind beide Phasen ungefähr in
gleicher Weise, d. h. proportional zu ihrem Verhältnis vor der In-
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 119
jektion, an den Rhythmusschwankungen beteiligt. Diese Tatsache
ist durchaus bemerkenswert, da sich ja bei sonstigen Änderungen
der Schlagdauer bei Ruhe und Bewegung oder bei der Atmung im
allgemeinen hauptsächlich die Diastole verlängert oder verkürzt,
während die Dauer der Systole weniger verändert zu werden pflegt.
Diese Veränderung der Systolendauer ist auch schon Hunt und
Taveau (10) aufgefallen.
Was bei Betrachtung längerer Kurvenstücke noch merkwürdig
erscheint, ist die starke Unregelmäßigkeit in der Dauer der einzelnen
Herzschläge nach der Einspritzung. Es hat den Anschein, als ob
die respiratorischen Unterschiede jetzt viel stärker ausgeprägt
wären als vorher. So wurden in einem Fall Schwankungen in der
Schlagdauer von 0,928—0,965 beobachtet, nach der Einspritzung
Schwankungen von 0,462—0,700. Vielleicht kann man sich das
Zustandekommen dieser Ungleichheiten so erklären, daß das Cholin
Abb. 1. Verschiedene Formen von P und T, verzögerte Überleitung nach Cholin.
die Vagusendapparate bzw. die von ihnen versorgten Organe für
die Schwankungen des zentralen Vagustonus empfänglicher macht.
c) Die Überleitung. Die Veränderungen der Überleitungs-
zeit gehen denen der Reizbildung nur in den wenigsten Fällen
parallel, meist bestehen keine direkten gegenseitigen Beziehungen.
Immer aber besteht der Cholineinfluß auf die Erregungsleitung in
einer Hemmung. In vielen Fällen ist der Sinusrhythmus verlang-
samt, ohne daß die Überleitungszeit eine merkliche Verlängerung
erfährt; umgekehrt kann bei sehr stark veränderter Leitungszeit
die Schlagfolge gleich bleiben (Tab. 3). Bei sehr vielen, ja den
meisten Fällen, ist das Verhalten der Reizbildung dem der Er-
regungsleitung gerade entgegengesetzt oder mindestens sehr stark
davon verschieden. Nur in einem von mir beobachteten Fall war
der Verlauf beider Kurven ähnlich.
Die Verlangsamung der Überleitung tritt meist früher zutage
als die der Reizbildung. Oft ist schon nach "/, Min. die P-Q-Zeit
120 SCHLIEPHAKE
deutlich verlängert, während der Systolenabstand noch ganz wie
früher geblieben oder etwas verkürzt ist (Tab. 2. Nach 10 bis
12 Min. kann eine geringe Verkürzung der Leitungszeit eintreten.
d) Die Dauer des Kammerkomplexes. In allen be-
obachteten Fällen zeigte sich eine große Ähnlichkeit im Verhalten
der Q-T-Dauer mit dem der Gesamtschlagdauer. In einem aller-
dings pathologischen Fall (Tab. 4), wo sich die Systolen ganz
anders verhalten als die Gesamtschlagdauer, fällt ganz besonders
auf, daß die Q-T-Zeiten nicht den Systolen proportional sind, sondern
vielmehr der Schlagdauer.
Es kann somit unmöglich richtig sein, die Q-T-Zeit mit der
Systolendauer in direkte Beziehung zu bringen, ja, sie dieser gleich-
zusetzen.
Auch bei der Bestimmung der Q-T-Zeiten fällt das starke
Schwanken der Einzelwerte unter der Cholineinwirkung auf (siehe
Tabellen).
Die Dauer des Ablaufs der Q-R-S-Zeit wurde ebenfalls ge-
messen. Sie folgt in den meisten Fällen ungefähr der Schlagdauer,
wenngleich auch hiervon verschiedene Ausnahmen vorkommen.
Eine bestifnmte Regel läßt sich jedenfalls nicht aufstellen.
e) DieForm und Größe der Zacken erfährt nach Cholin-
injektion mancherlei Veränderungen, auf die ich nur kurz eingehen
will. Die P-Zacke nimmt gewöhnlich nach Y,—1 Min. ab, um
nach 2—3 Min. wieder größer zu werden, manchmal sogar größer
als vorher.
Gelegentlich nimmt sie merkwürdige Formen an; so fallen eine
kurze spitze, eine sehr langgezogene, ebene und eine gespaltene
Form besonders ins Auge. Das erinnert an Beobachtungen von
Ganter (27), wo dieser Autor zwei nahezu gleichzeitig tätige
Reizbildungsherde annimmt, deren Erregungswellen in verschiedener
Weise interferieren und dadurch die verschiedenen Formen der
P-Zacke zustande bringen. Diese Deutung scheint mir bei meinen
Fällen wenig Wahrscheinlichkeit für sich zu haben, ebenso kann
ich nicht an eine Verzögerung der Erregungsleitung vom Sinus
zum Vorhof glauben, da der Ausdruck einer Sinuserregung im
menschlichen Ekg. noch nie mit Sicherheit nachgewiesen ist. Viel-
mehr möchte ich annehmen, daß hier die verzögerte Erregungs-
leitung innerhalb der Vorhöfe eine Rolle spielt, wie sie in meinen
Versuchen (28) bei Vagusreizung eintrat.
Über die Dauer des Ablaufs der Q-R-S-Gruppe habe ich mich
schon ausgelassen. Obwohl man bei Verlängerung dieser Zeit ein
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 121
Größerwerden der Zacken erwarten sollte, ist dies nicht der Fall,
ja, es ist sogar eine Verkleinerung häufiger; im übrigen besteht
keinerlei Beziehung der Zackengröße zu ihrer Ablaufsdauer. Auf
die Ursachen dieses Verhaltens einzugehen, ist hier nicht der Platz.
Man muß immer in Betracht ziehen, daß auch Änderungen des
Gewebs- und Hautwiderstandes auf die Größe der Zacken Einfluß
haben können.
Die T-Zacke wird meist kleiner, langgezogener und flacher
oder verschwindet; sie vergrößert sich später wieder, ähnlich wie
die P-Zacke. Manchmal kommen auch nach der Injektion diphasische
T-Zacken vor (Abb. 1).
Radial. NE d
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Abb. 2a. Oben: Radialpuls, Mitte: Herz- Abb. 2b. Vergrößerung der Radialpuls-
töne, Unten: Venenpuls und Ekg. welle und Verstärkung der Herztöne
1'/ Min. nach Cholin.
f) Die Herztonaufnahmen zeigen !,—1 Min. nach der
Cholingabe ein Größerwerden der Ausschläge (Abb. 2), bald danach
aber eine Abschwächung derselben. Auch auskultatorisch läßt sich
das Schwächerwerden der Herztöne gut wahrnehmen. Schon nach
etwa 3 Min. haben die Töne aber wieder die frühere Stärke an-
genommen. Vielleicht kommt hier für kurze Zeit die negativ
inotrope Vaguswirkung zum Ausdruck.
g) Im Venenpuls sind keine besonderen Veränderungen fest-
zustellen; natürlich tritt die verlängerte Überleitungszeit auch in
einer Verlängerung des a-c-Abstandes in Erscheinung. Wo die
P-Zacke im Ekg. gespalten ist, ist häufig auch eine Spaltung oder
122 SCHLIEPHAKE
Abflachung der a-Welle- bemerkbar. Kurz nach der Injektion
(a Min.) wurde auch manchmal ein Größerwerden der c-Welle im
Gegensatz zur unverändert gebliebenen a-Welle festgestellt.
Der Radialpuls wurde wiederholt mit aufgenommen und sonst
palpatorisch verfolgt: Kurz nach der Cholineinspritzung war er
gewöhnlich verstärkt (Abb. 2), auch konnte man bei manchen
Patienten dann starkes Klopfen anderer peripherer Pulse sehen:
schon sehr bald aber wurde der Puls wieder ganz normal, vorüber-
gehend auch manchmal etwas gegen früher abgeschwächt.
h) Der Blutdruck wies eine deutliche Senkung auf, die oft
schon während der langsam erfolgenden Injektion begann. Nach
1 Min. stieg der Druck wieder etwas an, aber nicht wieder bis
zur alten Höhe. Dieser Anstieg dauert nur ganz kurz, höchstens
ı/, Min, dann erfolgt ein starker Abfall, nach dem sich der Blut-
druck 5—6 Min. auf gleicher Höhe hält, um dann langsam wieder
anzusteigen. Die alte Höhe wird nach meist 10—12 Min. wieder
erreicht.
Die Senkung war bei Gesunden nach den von uns angewandten
Cholinmengen nicht allzu groß. In einem Fall z. B. war der Blut-
druck vorher 120 mm Hg. Bei der Einspritzung sank er auf 110.
stieg wieder auf 115 nach 1 Min. und sank dann ab bis 105. Die
anderen untersuchten Fälle verhielten sich genau so, allerdings war
der Gipfel nach 1 Min. nicht bei allen so deutlich ausgeprägt.
2. Über die sonstigen körperlichen Erscheinungen
wären noch kurz einige Worte zu sagen.
Nach '/,—®/, Min. klagen die meisten Patienten über einen
dumpfen Kopfschmerz und ein Nachlassen der Willenskraft, das
sich bis zu ohnmachtsähnlichem Schwächegefühl steigern kann.
Kollapserscheinungen kamen bei Gesunden nie vor. Schon nach
1 Min. war das Schwächegefühl wieder behoben, jedoch bestand
dann noch 1—2 Min. lang ein starkes Muskelzittern, wobei von
einigen Patienten ein leichtes Vibrieren oder Kribbeln in den
Armen angegeben wurde.
Ferner trat nach 1”/,—2 Min. eine starke Rötung der ganzen
Körperhaut, besonders am Kopf auf mit oft profusem Schweibaus-
bruch, der bis zu 10 Min. anhielt.
Unter manchen Patiefiten bildeten sich ganze Lachen von
Untersuchungen Aufschlub geben., Zunächst muß ich die Frage offen lassen, ob
hier eine parasympathische Innervation der Schweißdrüsen anzunehmen ist, oder
ob andere Ursachen eine Rolle spielen.
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 123
Speichel- und Tränenfluß sowie Schleimabsonderung im Hals mit
Hustenreiz. Die Atmung war in der ersten Zeit der Cholinwirkung
meist vertieft und beschleunigt.
Das Gefühl nach der Einspritzung wird von einem intelligenten
Menschen folgendermaßen geschildert: Es trat ein Druckgefühl am
Scheitel auf, das von dort nach unten zog. Als das Gefühl in
Stirnhöhe war, begannen die Tränen zu fließen, dann am Mund
der Speichel; schließlich blieb eine würgende Empfindung am Hals
zurück, auf die Schleimabsonderung folgte. Von anderen Kranken
werden etwas andere Angaben gemacht, jedoch ist die Art der
Erscheinungen im großen ganzen sehr ähnlich.
Unangenehme Folgeerscheinungen traten nie auf; nur in einem
Fall wurde nachher noch eine Zeitlang über Schwere in den
Gliedern geklagt.
Erscheinungen von seiten des Darmtraktus wurden sehr selten
beobachtet, nur ganz vereinzelt wurde nach 1 Stunde über
Blähungen geklagt.
Die geschilderten Erscheinungen waren indiviuell von sehr
wechselnder Stärke. Dabei war der Ernährungs- und Kräftezustand
ohne Bedeutung, denn selbst sehr elende Kranke reagierten oft mit
ganz geringen Symptomen, während andererseits gut genährte ge-
sunde Individuen sehr schwere Schwächezustände zeigten.
Vielmehr scheint hier die Einstellung des vegetativen Nerven-
systems eine Rolle zu spielen. Vasomotorische Neurotiker reagierten
auffallend schwach, besonders Individuen vom Sympathicustyp.
Das Verhalten bei der subkutanen Applikation des
Mittels ist etwas anders als bei der intravenösen Anwendung. Die
individuellen Verschiedenheiten treten dabei noch mehr in den
Vordergrund.
Gewöhnlich verläuft die Wirkung ähnlich wie sie schon von
der intravenösen Gabe bekannt ist, nur mit langsameren Über-
gängen; in den meisten Fällen erfolgt eine allmähliche Verlang-
samung der Schlagzahl, die nach und nach wieder in die frühere
Frequenz übergeht.
Die sonstigen körperlichen Erscheinungen traten naturgemäß
etwas später zutage, jedoch war eine deutliche Wirkung oft schon
nach 1 Min. zu bemerken, während sie bei manchen Individuen
länger auf sich warten ließ.
Die Wirkung bei der subkutanen Einspritzung war im allge-
meinen viel nachhaltiger als bei der venösen, noch nach 10 bis
15 Min. war die Verlangsamung der Herzfrequenz deutlich.
124 SCHLIEPHAKE
Verhalten bei Herzkranken.
Wie aus dem ersten Teil dieser Arbeit ersichtlich ist, sind bei
Gesunden niemals ernstere Störungen des Herzrhythmus vorge-
kommen.
Auch sonst habe ich verschiedentlich Injektionen selbst größerer
Cholinmengen bei Gesunden gemacht, ohne Unregelmäßigkeiten des
Herzschlags danach zu beobachten. Ganz anders verhielten sich
in dieser Beziehung Herzkranke, bei denen schon eine manifeste
oder latente Störung der Reizbildung oder Erregungsleitung vor-
handen war.
1. Cholin und Störungen der Reizbildung.
Hierher gehören nach meiner Ansicht auch diejenigen Fälle,
wo eine Rhythmusstörung zunächst noch nicht sicher nachweisbar
ist, sondern erst durch die Cholininjektion deutlich wird.
So kamen verschiedene Kranke mit Myokarditis zur Unter-
suchung, die zwar über gelegentliches Aussetzen des Herzschlags
geklagt hatten, wo aber während der Beobachtungszeit keine Un-
regelmäßigkeiten aufgetreten waren. Nach der Cholineinspritzung
sah ich bei solchen Kranken wiederholt Vorhofsextrasystolen.
Abb. 3 zeigt solche verfrühten Vorhofsschläge, die übrigens hier
eine bedeutend längere Leitungszeit beanspruchen als die normalen
Schläge und sich in der Form deutlich von letzteren unterscheiden,
was für ihre heterotope Entstehung spricht. Siehe auch Tab. 4.
Nach solchen Befunden lag die Vermutung nahe, daß auch die
wichtigste Reizbildungsstörung in den Vorhöfen, das Flimmern,
irgendwie beeinflußt würde Diese Annahme bestätigte sich aber
nicht. Es wurde so gut wie kein Erfolg der Einspritzung ge-
sehen, höchstens hatte es den Anschein, als ob die einzelnen Flimmer-
wellen etwas deutlicher zum Vorschein kämen. Die Kammerfrequerz
blieb sich im großen ganzen gleich, außer wenn, wie in einem
später zu schildernden Fall, totaler a-v-Block eintrat.
Eine sehr seltene Störung ist die Sinusvorhofarhythmie
(Martini u. Müller (25)). In dem einen Fall, den ich zu be-
obachten Gelegenheit hatte, war die Vorhofstätigkeit meist voll-
kommen unregelmäßig, wie Abb. 4 zeigt.
Eine Andeutung von Periodenbildung, wie sie bei der An-
nahme eines „Sinoauriculären Blocks“ nachweisbar sein müßte, ist
nicht vorhanden. Hier scheint der Schrittmacher für die Cholin-
wirkung ganz besonders empfänglich zu sein, denn die eintretende
Verlangsamung ist ganz außerordentlich, über das Doppelte der
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 1925
früheren Schlagzeit (Abb. 4, Tab. 5). Der verlangsamte Rhythmus
ist ganz regelmäßig und hält etwa 3 Min. in dieser Weise an.
Auch die sehr starke Verlängerung der Q-T-Zeit ist bei diesem
Kranken, der an einer schweren Myokarditis leidet, auffallend.
Es ist nicht leicht, für das veränderte Verhalten der Reiz-
bildung in diesem Fall eine Erklärung zu finden. Warum das
Cholin, das doch, wie wir früher gesehen haben, respiratorische
Eine Reihe
von Extrasystolen des linksseitigen Typs.
COAT TATEN
LOCUITE TEn namn aa n a T
CALI]
|
1 Minute nach Cholin.
5.
Pan DRITTEN
Abb.
TES IT TEET
AN
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A A
Abb. 4b. Nach Cholin regelm., sehr langs. Herztätigk.
Vorhofsextrasystole mit
sehr langer Uberleitungszeit bei X.
Sinusvorhofarrhythmie,
4a.
A bb.
Abb, 3. 8 Minuten nach C'holin.
126 SCHLIEPHAKE
und sonstige Unregelmäßigkeiten des. Sinusrhythmus befördert.
gerade hier zu einer ganz regelmäßigen Tätigkeit führt, ist nicht
ohne weiteres einzusehen.
Die Annahme, daß ein s-a-Block 2:1 eingetreten sei, läßt sich
wohl kaum aufrecht erhalten, weil ja damit die unregelmäßige
Tätigkeit des Sinus keineswegs verändert würde und auch weiter-
hin eine unregelmäßige, nur verlangsamte Schlagfolge der tieferen
Herzteile nach sich ziehen müßte. Am meisten Wahrscheinlichkeit
hat die Erklärung für sich, daß die Automatie des Sinus bis zum
Unterliegen unter andere Rhythmen gehemmt wird oder daß ein
totaler sinoauriculärer Block eingetreten ist, durch den der Sinus
die Führung des Rhythmus völlig verliert, so daß nun der Coronar-
teil des Aschoff-Tawara’schen Knotens als heterotopes Zentrum die
Schlagfolge bestimmt.
Die starke Förderung der heterotopen Reizbildung war auch
da zu beobachten, wo gelegentlich oder häufiger Kammerextra-
systolen vorkamen, wie z. B. in einem Fall mit Extraschlägen nach
jeder 4.--5. Systole 1!/, Min. nach der Einspritzung hatten sich
diese heterotopen Schläge so gehäuft, daß ein Pulsus bigeminus in
Erscheinung trat.
Abb. 5 stammt von einem Fall mit vor der Cholininjektion
bestehendem Bigeminus. Nach Cholin ist von der nomotopen Reiz-
bildung überhaupt nichts mehr zu bemerken, sie wird völlig über-
deckt von einer Reihe sich ohne Pause folgender Extrasystolen.
Selbst noch nach 7 Min. sind mehr Extrasystolen als Normalschläge
vorhanden.
2. Cholin bei gestörter Überleitung.
Abb. 3 zeigt das Elektrokardiogramm einer Kranken mit
Myokarditis, in welchem zunächst keine Rhythmusstörungen zu
sehen waren; das einzig Krankhafte war neben der geringen
Spaltung in der invertierten R-Zacke der mit Nadelelektroden von
der Brust aufgenommenen Kurve die über die Norm hinausgehende
Länge der Überleitungszeit (2140).
!, Min. nach der intravenösen Injektion machte sich zunächst
heftiges Muskelzittern in der Kurve sehr störend bemerkbar, ohne
daß eine Störung der Herztätigkeit hervortrat; nur die Diastu.e
weist eine Verlängerung von 0,46 auf 0,56 Sek. auf. Erst nach
4 Min. ist auch die Beeinflussung der Systole deutlich geworden,
sie Ist von 0,305 auf 0.357 Sek. angewachsen.
Nach 5—6 Min. ist der Rhythmus nicht mehr ganz regel-
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 127
mäßig, und in der Kurve sehen wir, daß schwere Veränderungen
eingetreten sind.
Anscheinend ist ein heterotopes Zentrum in den Vorhöfen tätig
geworden, denn es sind jetzt P-Zacken sichtbar geworden, die sich
in ihrer Gestalt von den vorhergegangenen unterscheiden und
zeitlich gleich auf die vorangehende T-Zacke folgen, ja sogar in
sie hineinfallen. Das in seiner Leitfähigkeit geschädigte Bündel
ist nicht imstande, diese verfrühten Erregungen überzuleiten,
sondern beansprucht dazu die Zeit von 0,34—0,36 Sek. wie bei x;
ebenso wird die Erregung von der wieder in normaler Zeit nach-
folgenden P-Zacke extrem lange übergeleitet.
Auch ohne Störungen der Vorhofstätigkeit können atrioventri-
kuläre Überleitungsstörungen bei Herzkranken nach Cholininjektion
vorkommen. So ließ in einem Fall das Elektrokardiogramm er-
kennen, daß die zunächst ganz regelmäßige Schlagfolge in Wencke-
bach'sche Periodenbildung übergegangen war.
Die Reizbildung war dabei beschleunigt, war doch der Abstand
P-P von durchschnittlich 0,89 Sek. vor der Einspritzung auf
0,65 Sek. zurückgegangen.
Bei dem gleichen Fall war auf der Höhe der Cholinwirkung
nach 1 Min. eine vollständige Rhythmushalbierung, ein a-v-Block
2:1 für kurze Zeit vorhanden.
Diese letztere Erscheinung ist auch wiederholt bei anderen
Herzkranken mit Myokardschädigungen nach der Cholineinspritzung
Abb. 6. Nach Cholin. a-v-Block 2:1. Auf zwei P-Zacken fällt ein
Kammerkomplex.
128 SCHLIEPHAKE
vorgekommen (Tab. 7) Abb. 6 stellt die Kurve eines solchen
Falles dar, wo sehr gut zu sehen ist, wie auf je 2 P-Zacken ein
Kammerkomplex fällt.
Auch bei einem Kranken, wo eine Myokarditis durch die
üblichen Untersuchungsverfahren nicht nachweisbar war, sah ich
eine solche Rhythmushalbierung eintreten. Es bestand ein Tumor
der Hirnbasis .mit vagotonischen Erscheinungen. Im Ekg. sind
weder die Form des Kammerkomplexes noch die Überleitungszeit
von 0,165 Sek. als pathologisch anzusprechen. Die Kammern
schlagen mit einem Intervall von durchschnittlich 0,84 Sek. Schon
nach !/, Min. sinkt das Vorhofsintervall auf durchschnittlich
0,59 Sek., wobei die Überleitung anscheinend so gehemmt ist, daß
nur jede zweite Erregung zur Entstehung eines Kammerschlages
führt. Dabei ist die a-v-Zeit, wie das bei besserer Erholungs-
möglichkeit des Bündels häufig beobachtet wird, eher etwas kürzer
als früher, sie beträgt jetzt 0,161 Sek. Nach einer sehr langen
Überleitungszeit von 0,27 Sek. tritt im Verlauf der zweiten Minute
plötzlich normale Schlagfolge ein.
Das in den nächstfolgenden Schlägen noch etwas verlängerte
a-v-Intervall (0,174 Sek.) ist schon nach 1'/, Minuten wieder ganz
zu seiner früheren Länge zurückgekehrt.
Die Länge der Q-T-Zeit ändert sich auch in den meisten
krankhaften Fällen gleichsinnig mit der Revolutionsdauer, und zwar
ist dabei auffällig, daß der Sinusrhythmus keine Rolle zu spielen
scheint. Ganz außerordentlich ist ja die Verlängerung der Q-T-
Zeit in der Tab. 5 nach 1'/, Min., die das gewohnte Maß weit über-
schreitet. Auch die Gestalt der T-Zacke ist bei den Elektrokardiv-
grammen myokardgeschädigter Herzen nach der Cholininjektion ofi
sehr stark verändert. Meist ist sie stark abgeflacht, oft auch sehr
verbreitert und in ihrer Ablaufszeit verlängert, manchmal geht sie
ohne isoelektrische Strecke aus der S-Zacke hervor und nimmt
spitze, gespaltene oder diphasische Formen an.
Ein kompletter atrioventrikulärer Block wurde von mir nur
einmal bei einem Kranken mit Vorhofflimmern beobachtet. Die
ganz regellose Herztätigkeit ging nach der Cholingabe in einen
äuberst langsamen ganz regelmäßigen Rhythmus über. Auch die
vorher ganz ungleiche Gestalt der einzelnen Kammerkomplexe
änderte sich, die Zacken nahmen eine andere Form an und sehen
sich durchaus ähnlich. Auf Grund des in 3 Ableitungen aufge-
nommenen Elektrokardiogranıms konnte man annehmen, daß eine
Verlangsamung in einem der Tawara’schen Schenkel bestanden
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 129
hatte, die jetzt in einen kompletten Schenkelblock übergegangen
war. Der totale a-v-Block bestand für die Dauer von etwa 8 bis
10 Herzschlägen, um dann wieder der alten unregelmäßigen Schlag-
folge Platz zu machen.
Der Eintritt einer Schenkelblockierung bei einer anderen
Kranken läßt sich ferner aus Abb. 7 ersehen. Es handelte sich
um eine Frau mit Unregelmäßigkeiten des Pulses unbestimmter
Art, bei der ein sicher krankhafter Befund während der kurzen
Beobachtungszeit nicht zu erheben war. Auch im Ekg. war nichts
Krankhaftes nachzuweisen, erst die Cholininjektion ließ ein von
der Norm abweichendes Verhalten zutage treten. Nachdem kurze
Zeit ein a-v-Block 2:1 bestanden hatte, kamen nach etwa 5 Min.
Kammerkomplexe vom linksseitigen Typ vor, die als Ausdruck einer
Blockierung des rechten Tawara’schen Schenkels zu deuten sind,
da ihnen eine P-Zacke in nor-
malem Abstand vorangeht und
ihre Gestalt sich auch stark
von der einiger bei der gleichen
Kranken registrierter Extra-
systolen unterscheidet.
Außer solchen Kranken mit
direkten Schädigungen des
ee aeie
kamen auch solche zur Unter- blocks.
suchung, bei welchen die Kreis-
lauforgane nur indirekt in Mitleidenschaft gezogen waren.
Besonders bei den thyreotoxischen Erkrankungen war auf-
fallend, daß die mit ihnen behafteten Menschen auf das Cholin nur
mit ganz schwachen Erscheinungen reagierten. Schon subjektive
Beschwerden, wie sie von anderen Individuen geklagt wurden,
waren kaum vorhanden. Höchstens wurde leichter Druck im Kopf
angegeben, Schweißausbruch kam nie vor, ja nicht einmal Hitze-
gefühl, was bei der bekannten Neigung solcher Kranken zu Schweißen
um so auffallender ist. Auch Speichel- und Tränenfluß waren
kaum in merklichem Maße vermehrt.
Ebenso war die Blutdruckwirkung nur schwach, in einem Fall
z. B. Senkung von 135 auf 125 mm Hg mit Rückkehr zur alten
Höhe schon nach 5 Min. Der Sinusrhythmus wurde zwar deutlich ver-
langsamt, dagegen war der Einfluß auf die Erregungsleitung kaum
merklich. Auch sonstige gröbere Veränderungen im Ekg. wurden
vermißt.
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 9
130 SCHLIEPHAKE
Weitere Untersuchungen wurden an verschiedenen Kranken mit
Hypertonie bei Nephritis und Schrumpfniere vorgenommen.
Das Verhalten der Herztätigkeit war hier dasselbe, wie ich es
im ersten Teil als typisch für Gesunde beschrieben habe. Dagegen
war die Blutdruckwirkung ganz ausgesprochen. In einem Fall zum
Beispiel sank der systolische Druck von 230 auf 180 mm Hg, bei
einem zweiten Kranken von 210 auf 170, bei zwei weiteren
Patienten von 190 auf 140, bzw. von 200 auf 155 mm Hg.
Auch diese Kranken hatten außer Schweißausbruch und dumpfem
Druckgefühl im Kopf gleich nach der Injektion verhältnismäßig
geringe Beschwerden, vor allem nie Übelkeitsgefühle oder Brech-
reiz, gaben aber alle an, nach Abklingen der ersten Erscheinungen
eine deutliche Erleichterung verspürt zu haben, die allerdings bei
der intravenösen Einverleibung nur '/,—!/, Stunde anhielt.
Die Kurve des Blutdrucks, die in Abständen von */, Min. ge-
messen wurde, verläuft ähnlich wie beim Gesunden: Nach anfäng-
lichem kurzen Abfall Wiederanstieg und dann erst endgültige
Senkung. Schon nach 3—4 Min. ist der tiefste Punkt erreicht,
und der Druck beginnt langsam wieder zu steigen, bis er nach
10—12 Min. wieder auf der alten Höhe angelangt ist.
Viel länger hält die Blutdrucksenkung bei der intramuskulären
Einspritzung des Cholins an. Diese Art der Einverleibung hat
auch den Vorzug, daß man bedeutend größere Mengen geben kann,
natürlich auch mit den notwendigen, später noch genauer zu be-
schreibenden Vorsichtsmaßregeln.
So konnte bei einem Kranken durch Injektion von 2 ccm der
20°/,igen Lösung intramuskulär der Druck von 230 auf 135 mm
gesenkt werden. Die ersten Zeichen der Wirkung machten sich
dabei schon nach 1 Min. bemerkbar: der Tiefpunkt war nach 3'/, Min.
erreicht. Dieser Stand blieb mit geringen Schwankungen einige
Minuten bestehen und ging dann in den ganz allmählichen Wieder-
anstieg über. Noch nach 1 Stunde wurden 190 mm gemessen, und
nach 1?/, Stunde war der Ausgangswert noch nicht wieder erreicht.
Profuser Schweißausbruch begleitete die geschilderten Er-
scheinungen. Daß auch das subjektive Befinden dabei günstig be-
einflußt sein mußte, bewies die Bitte des Kranken um Wieder-
holung der Injektion.
Wenn wir nun die Erscheinungen, die durch das Cholin am
Kreislauf des Menschen hervorgebracht werden, nochmals im Zu-
sammenhang betrachten, so finden wir, daß sie in allen Stücken
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 131
dem entsprechen, was wir aus Tierversuchen von den Folgen der
elektrischen Vagusreizung wissen.
Allerdings gilt das nur in dem Stadium, wo die Wirkung ihren
Höhepunkt erreicht hat; vorher ist eine teilweise Umkehrung des
Verhaltens zu beobachten, indem eine Beschleunigung und Ver-
stärkung des Pulsschlags eintritt. Ob diese Erscheinungen, denen
sich die Verstärkung der Herztöne gleichsinnig anreiht, auf eine
anfängliche unmittelbare positiv inotrope Einwirkung auf das Herz
zurückzuführen sind, will ich dahingestellt sein lassen. Bekannt-
lich wirkt ja jede Blutdrucksenkung auf das Vaguszentrum im
Sinne einer Herabsetzung seiner Erregbarkeit ein, so daß alle
Einflüsse auf den Körper, die den Blutdruck herabsetzen, zugleich
auch den Herzschlag verändern. Es wäre also die Aufgabe weiterer
pharmakologischer Forschung festzustellen, inwieweit bei der ersten
Phase der Cholinwirkung solche sekundären Erscheinungen vor-
liegen, oder ob die Konzentrationsänderungen des Cholins im Blut
an dem beschriebenen Verhalten etwa in dem Sinne schuld sind,
als beim ersten Eintritt kleinster Mengen eine inverse Wirkung
auf das vegetative System zustande käme. Für die erstere Auf-
fassung spricht das sofortige Ansprechen der Erregungsleitung im
Sinne einer Verzögerung.
Das erste Stadium pflegt in kurzer Zeit abzuklingen (siehe
Tabellen), worauf die Vagussymptome trotz der noch bestehenden
Blutdrucksenkung deutlich in Erscheinung treten.
Die negativ inotrope Wirkung äußert sich dabei in einem
Schwächerwerden der Herztöne und einer Abnahme der Pulswelle;
die Schlagfolge ist mehr oder weniger verlangsamt, die Überleitung
wird so gehemmt, daß bei myokardgeschädigten Kranken sogar
Blockerscheinungen auftreten, und der Ablauf der Kammerkomplexe
wird in gleicher Weise verzögert, wie es schon de Boer (30) für die
Vagusreizung durch Morphin beschrieben hat. Besonders die oft
beträchtliche Verlängerung der Q-T-Zeit scheint mir für die Be-
urteilung des Erregungsablaufs innerhalb der Kammern von Be-
deutung zu sein, da das Ende der T-Zacke nach Lewis (31) mit
dem Ende der Refraktärzeit der Kammern zusammenfällt. Viel-
leicht ist also eine ungünstige Beeinflussung des Refraktärzustandes
am kranken Herzen die Ursache für die Verlängerungen der
Q-T-Zeit.
Auch die Formveränderungen der einzelnen Zacken sprechen
für den verlangsamten Ablauf der Erregung. So ist oft die S-Zacke
nicht scharf von der folgenden isvelektrischen Strecke abgesetzt,
ox
132 SCHI IEPHAKE
sondern der Übergang ist allmählich; die T-Zacke wird niedriger
oder verschwindet ganz; daß auch diphasische und gespaitene
T-Zacken vorkommen, habe ich erwähnt.
Ebenso scheint auch innerhalb der Vorhöfe die Erregungsleitung
verlangsamt zu sein, wie aus der häufigen Verbreiterung und
Spaltung der P-Zacken zu schließen ist (s. S. 120).
Das ganz verschiedene Verhalten der einzelnen Gebilde gegen-
über dem Cholin spricht dafür, daß sie eine verschiedene An-
spruchsfähigkeit auf den Vagus besitzen. Das entspricht den im
Tierversuch mit elektrischer Vagusreizung gemachten Erfahrungen
(Schliephake (28)); auch hier ließ sich keinerlei Gesetzmäßigkeit
im gegenseitigen Verhalten der Herzteile feststellen. Immerhin
waren die damaligen Versuche noch nicht beweisend, weil sie am
freigelegten Herzen ausgeführt wurden, das ja schon durch die
Schädigungen der Operation krankhaft verändert zu sein pflegt.
Daß sich der Erfolg der Vagusreizung durch Cholin beim
Herzkranken viel heftiger äußert als beim Gesunden, ist nicht ver-
wunderlich. Nachdem schon Donders (32) durch Vagusreiz
Störungen der atrioventrikulären Überleitung hervorgerufen hatte,
konnte viel später H. E. Hering (33) zeigen, daß ein durch Sauer-
stoffmangel und andere Einflüsse geschädigtes Reizleitungssystem
gegenüber der Vaguserregung viel empfindlicher ist und leichter
mit Block antwortet. Da ich Unterbrechungen der Erregungs-
leitung bei Gesunden selbst bei viel größeren als den gewöhnlich
angewandten Cholingaben nie gesehen habe, glaube ich mich zu
der Annahme berechtigt, daß nach Injektion von 0,04 g des von
mir verwandten Cholinpräparates auftretende echte Überleitungs-
störungen für eine Schädigung der erregungsleitenden Gebilde
sprechen.
Wie die Erregungsleitung, so wird auch die Reizbildung beim
Kranken oft ganz erheblich beeinflußt. Während der normale
Schrittmacher gehemmt ist, werden heterotope Zentren angeregt.
was sich im Zustandekommen von Extrasystolen äußert. So sahen
wir ja verschiedentlich Vorhofsextraschläge auftreten, und bei den
Fällen mit Kammerextrasystolen fiel eine ganz außerordentliche
Häufung der heterotopen Schläge auf.
Für dieses Verhalten haben wir eine Analogie im Tierversuch
in den bekannten Untersuchungen von Rothberger und Winter-
berg (35), die durch gleichzeitige Vagus- und Sympathicusreizung
Extrasystolen erzeugen konnten.
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 133
Nach diesen Erfahrungen glaube ich, daß wir im Cholin ein
gutes Mittel besitzen, um bei Verdacht auf latente Störungen der
Reizbildung und Erregungsleitung die Herzfunktion zu prüfen.
Treten nach der intravenösen Einspritzung von 0,04 g des Prä-
parates deutliche Unregelmäßigkeiten des Pulses auf, so muß immer
an eine Myokarderkrankung gedacht werden. Schon Wencke-
bach (36), der den Czermak’schen Vagusdruckversuch in die
klinik eingeführt hat, hat diesen Versuch zu diagnostischen Zwecken
angewandt. Er glaubt bei stark positivem Ausfall der Probe eine
schlechte Prognose der Erkrankung stellen zu müssen. Gegenüber
dem Vagusdruckversuch (besser nach Hering (34) Carotisdruck-
versuch) hat die Cholineinspritzung den entschiedenen Vorteil, daß
hier der Reiz ganz genau abgestuft werden kann, während der
Ausfall des Carotisdruckversuchs von zu vielen verschiedenen
Faktoren abhängt, als daß daraus bestimmte Schlüsse gezogen
werden Könnten.
Für einen teilweisen Antagonismus des vagotropen Cholins
und des sympathicotropen Hormons der Schilddrüse spricht die
Tatsache, daß die Individuen mit thyreotoxischen Erscheinungen
so schwach auf die Cholininjektion reagieren.
Sehr beachtenswert erscheint mir die überaus starke senkende
Wirkung auf den Blutdruck der Hypertoniker. Wenn auch die
Herabsetzung des Druckes nur bis zu etwa 1?’/, Stunden anhält,
so haben wir doch ein Mittel in der Hand, um Menschen, die an
den Folgen des hohen Blutdrucks leiden, wenigstens vorübergehend
Erleichterung zu verschaffen. Einer häufigen Wiederholung der
Injektion steht nichts im Wege, denn das Cholin wird im Körper
anscheinend sehr schnell wieder zerstört. Ellinger (2) konnte
bei Kaninchen z. B. schon 11 Min. nach intravenöser Injektion im
Blut keine Erhöhung des normalen Cholinspiegels mehr feststellen.
Wenn auch die länger bestehenden Nachwirkungen annehmen
lassen, daß die Ausscheidung beim Menschen mehr Zeit in An-
spruch nimmt, ist doch wohl eine Kumulation des Mittels nicht
zu befürchten.
Das Acetylcholin kam in meinen Versuchen als 6°/,igeund 20° ige
Lösung zur Anwendung. Es kann subkutan, intramuskulär oder
intravenös gegeben werden, je nachdem eine rasch eintretende
kurzdauernde oder allmählicher ansteigende, dafür aber anhaltende
Wirkung gewünscht wird. Obwohl, wie schon erwähnt, bei der
Injektion der 6 °/,iger Lösung niemals irgendwelche zu Besorgnis An-
laß gebenden Erscheinungen vorkamen, möchte ich doch Vorsicht
134 SCHLIEPHAKE
empfehlen, da die Empfindlichkeit der einzelnen Individuen so sehr
verschieden ist.
Ich pflege jetzt folgendermaßen zu verfahren: Zunächst lasse
ich !/,. cem einfließen und warte ab, ob der Patient danach irgend-
welche besonderen Beschwerden äußert, die im gegebenen Fall
nach 1 Min. einzutreten pflegen. Werden keine Klagen laut, so
kann der Rest langsam injiziert werden.
Auf diese Art werden auch bei der 20 ° igen Lösung ernstere Zu-
fälle vermieden, die bei unvorsichtiger Applikation gelegentlich
vorkommen können. Nach zu rascher Einspritzung sahen wir
zweimal Kollapszustände eintreten, die allerdings nicht von ernsteren
Schädigungen gefolgt waren. Dabei bestand Atemnot, Beklemmungs-
‚gefühl und nachfolgender starker Schweißausbruch. Auch bei der
subkutanen und intramuskulären Einverleibung empfiehlt sich ent-
sprechende Vorsicht; man sollte das Mittel, wenn es in 20; iger
Lösung gegeben wird, in mindestens 6—7 Min. einfließen lassen.
Sollten trotz aller Vorsichtsmaßregeln einmal bedenkliche Sym-
ptome auftreten, so ist das natürliche Gegengift des Cholins, das
Atropin, sofort intravenös anzuwenden.
Auf keinen Fall darf Cholin Schwangeren gegeben werden,
denn nach Hippel und Pagenstecher (37) sowie Werner
und Lichtenberg (38) trat im Tierversuch nach Cholininjektion
Absterben und Resorption der Föten ein.
Zusammenfassung.
Das Cholin entfaltet beim gesunden Menschen die gleichen
Wirkungen, wie sie durch Vagusreizung im Tierversuch erzeugt
worden sind.
Es entsteht eine Verlangsamung der Reizbildung, Verzögerung
der Überleitung und Veränderungen in der Form der Kammer-
komplexe, ferner eine Förderung heterotoper Reizbildung.
Bei Fällen krankhafter Schädigung der Herztätigkeit traten
partieller und totaler Block und Periodenbildung auf. Da Rhyth-
musstörungen nach Cholin nur bei Kranken mit Myokardschädi-
gungen vorkamen, wird sich die Cholininjektion als Funktionsprüfung
in Zukunft vielleicht verwenden lassen.
Außer der Herzwirkung trat eine Blutdrucksenkung ein.
Kranke mit thyreotoxischen Erscheinungen reagierten nur
äußerst schwach auf Cholin.
Bei arteriellem Hochdruck bei Schrumpfniere und Nephritis
war die Blutdrucksenkung sehr stark.
Zur Kenntnis der Cholinwirkung auf den menschlichen Blutkreislauf. 135
Neben den Wirkungen auf den Blutkreislauf wurden noch
Schwindelgefühl, Schwäche, sowie starke Speichel- und Tränen-
absonderung beobachtet.
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136
Aus der Medizinischen Klinik Lindenburg der Universität Köln.
(Direktor: Geheimrat Moritz.)
Studien über experimentelle Infektionskrankheiten.
II. Mitteilung.
Physikalische und chemische Untersuchungen des Blutes bei
der experimentellen Malariainfektion des Menschen.
(Ausgeführt mit Unterstützung der Rockefeller-
Foundation.)
Von
Privatdozent Dr. Ernst Wiechmann und Dr. Hermann Horster.
(Mit 1 Kurve.)
Bis vor kurzem war es völlig unmöglich, das Verhalten des
menschlichen Organismus bei akuten Infektionskrankheiten exakt
zu studieren. Dies lag daran, daß man wohl den Reaktionsablauf
im Organismus während und nach der Infektion verfolgen konnte,
des gesunden Zustandes als unbedingt notwendigen Ausgangspunktes
aber entbehren mußte. Damit war die Inkubationszeit nur unge-
nügend erfaßt. Hier ist inzwischen ein Wandel eingetreten. Die
von Wagner-Jauregg inaugurierte Malariatherapie der Paralyse
und der Neurolues überhaupt gestattet, einen so prägnanten akuten
Infekt, wie es die Malaria ist, in seinem ganzen Mechanismus und
Ablauf eingehend zu erforschen. Ohne daß der therapeutische
Endzweck irgendwie dadurch berührt wird, ist es jetzt möglich,
diesen akuten Infekt unter den Bedingungen des Fxperimentes
zu analysieren. Nicht ganz mit Unrecht halten Doerr und
Kirschner (1) es für möglich, ja für wahrscheinlich, daß dieses
Nebenprodukt der Wagner’schen Arbeitsrichtung einmal größeren
Wert gewinnt als die Ausbeute auf dem Gebiet der Paralysetherapie.
“ Nichtsdestoweniger darf man nicht übersehen, daß auch die
bei der AMalariatherapie experimentell gemachten Beobachtungen
Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 137
mit einer gewissen Einschränkung beurteilt werden müssen. Denn
das Objekt dieser Therapie ist — das liegt schon im Begriff
„Therapie“ — nicht der gesunde Mensch, sondern das mit Lues
infizierte Individuum. Durch die Lues wird aber der Gesamt-
organismus umgestimmt, und die somatischen Veränderungen, die
wir beim Paralytiker oder Tabiker finden, sind sicherlich zum
groben Teil durch die Lues an sich bedingt. Wir erinnern in diesem
Zusammenhang nur daran, daß das von Plaut (2) bei der pro-
gressiven Paralyse, Tabes und Lues cerebri beobachtete Phä-
nomen der beschleunigten Sedimentierung der Erythrocyten nach
den Untersuchungen von Popper und Wagner(3) nicht als
alleinige Sekundärfolge einer etwa vom Cerebralprozeß abhängi-
gen, allgemeinen Körperveränderung zu deuten ist. sondern wahr-
scheinlich durch die Grundursache jener nervösen Erkrankungen,
durch die Lues, verursacht ist. Im gleichen Sinne wiesen Berger
und Untersteiner (4) nach, daß die von Winternitz (5) u. a.
bei chronischer Lues häufig festgestellte Erhöhung der Gesamt-
eiweibkonzentration im Serum auch bei der Paralyse zu finden ist.
In praktischer Beziehung scheint aber gerade die Beobachtung
der durch das Konkurrieren zweier Infekte, der Lues und der
Malaria, für die Gesamtphysis geschaffenen charakteristischen Ver-
änderungen ein Urteil über den Grad der Reparationsvorgänge und
damit über den therapeutischen Erfolg zu versprechen.
Andererseits ist zu überlegen, ob der zu therapeutischen
Zwecken gesetzte Malariainfekt völlig mit der natürlichen Malaria-
infektion identifiziert werden darf. Das Verhalten der Fieber-
anfälle nach Ausbruch der inokulierten Infektion spricht, worauf
wohl Gerstmann (6) und Doerr und Kirschner (7) zuerst
aufmerksam gemacht haben, dagegen. Auch wir haben beobachtet,
daß der Fieberablauf bei der therapeutischen Malariainfektion außer-
ordentlich polymorph ist. Ursprüngliche Anfälle vom Tertianatypus
gehen häufig, unter zunehmender Verkürzung der Zwischenzeiten
um einige Stunden, allmählich in einen Quotidianatypus über. Auch
die immer wieder Erstaunen hervorrufende Empfindlichkeit der
künstlichen Malaria gegen Chinin unterscheidet diese von dem
natürlichen Infekt. Schließlich deutet auch das von Gerst-
mann (8), Weygandt, Mühlens und Kirschbaum (9),
Nonne (10) und auch von uns bei der Impfmalaria häufig kon-
statierte Fehlen des Milztumors, der bei der gewöhnlichen Malaria
wohl kaum vermißt wird, auf eine Sonderstellung dieser experi-
mentellen Erkrankung hin.
138 | WIECHMANN u. HORSTER
Wir haben bei einer Reihe von Individuen das Verhalten des
Serumeiweißes, der Serumviskosität, des Albumins und Globulins
im Serum und des Aminosäurenspiegels des Serums vor, während
und nach der Malariainfektion fortlaufend untersucht. Auf eine
möglichst häufige, zeitweise tägliche Bestimmung der verschiedenen
Werte haben wir dabei besonderen Nachdruck gelegt. Im allge-
meinen wurde die Infektion nach 8—10 ausgesprochenen Fieber-
anfällen unterbrochen.
I. Gesamteiweißkonzentration.
Das Blut wurde im nüchternen Zustand unter allen Kautelen
aus der Fingerbeere gewonnen. In dem Serum wurde nach Reiß
mit dem Pulfrich’schen Eintauchrefraktometer das Lichtbrechungs-
vermögen bestimmt und daraus der prozentuelle Eiweißgehalt be-
rechnet. Stets wurden Doppelbestimmungen ausgeführt, die gut
übereinstimmten. Untersucht wurden im ganzen 10 Personen, die
entweder bettlägerig waren oder sich seit längerer Zeit vor der
Blutentnahme im Zustand körperlicher Ruhe befanden. Tabelle 1
soll die Ergebnisse illustrieren.
Vor der Infektion mit dem plasmodienhaltigen Blut wurde bei
den Versuchspersonen regelmäßig an mehreren aufeinander folgenden
Tagen die Konzentration des Gesamteiweißes im Serum bestimmt.
Von diesen Werten, die kaum voneinander abwichen, wurde der
Mittelwert genommen. Er wird in der Tabelle 1 als Ansgangs-
wert bezeichnet. Dieser Ausgangswert, d. h. also die Eiweiß-
konzentration im Serum vor der Infektion schwankt
zwischen 7,22 g°/, und 8,20 g°/, Eiweiß, oder mit anderen Worten,
in 100 g Serum befinden sich bei unseren Versuchspersonen 7,22 g
bis 8,20 g Eiweiß. Da als Normalwerte von Reiß (11) 7 bis9g°,.
von Veil (12) 6,23 bis 7,33 g°%, und von Naegeli (13) 7,0 bis
9,1 g? Eiweiß angegeben werden, resultiert, daß von einer irgend-
wie ins Gewicht fallenden Erhöhung der Gesamteiweißkonzentration
bei den von uns untersuchten Tabikern und Paralytikern keine
Rede sein kann.
Wenn man die Gesamteiweißkonzentration täglich bestimmt,
so findet man eigentlich regelmäßig in der Inkubation, d. h. in
der Zeit zwischen der Injektion des plasmodienhaltigen Blutes
und dem Ausbruch des Fiebers ein Absinken, das von einem
Wiederansteigen gefolgt ist. Die gleiche Beobachtung
wurde von Berger und Untersteiner (14) schon früher bei der
experimentellen Malariainfektion des Menschen, von Wiechmann
139
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140 WIECHMANN U. HORSTER
und Horster bei der experimentellen Trypanosomeninfektion des
Kaninchens (15) und bei der experimentellen Rekurrensinfektion
der Ratte (16) gemacht. Offenbar handelt es sich um einen ge-
setzmäßigen Vorgang. Da von Berger (17) im Tierexperiment
nach Injektion artfremden Eiweißes eine vorübergehende Senkung
des Eiweißspiegels nachgewiesen ist, ist es an sich schon wahr-
scheinlich, daß diese Hypoproteinämie auf das körperfremde Blut
und nicht auf die Inkubation an sich zurückzuführen ist. Mit Recht
weisen Berger und Untersteiner (14) darauf hin, daß man,
wenn diese Konzentrationsverminderung ein Inkubationssymptom
wäre, ihr Maximum am Ende und nicht am Anfang der Inkubations-
periode erwarten müßte. Um diese prinzipiell wichtige Frage zu
entscheiden, haben wir einem gesunden Individuum die gleiche
Menge Blut wie bei der experimentellen Malariainfektion injiziert
und fortlaufend täglich die Gesamteiweißkonzentration bestimmt.
Tatsächlich fand sich auch hier eine der Injektion des körper-
fremden Blutes folgende Hypoproteinämie. Damit ist bewiesen,
daß die Inkubation auf den Eiweißgehalt des Serums
keinen Einfluß hat.
Die Fieberperiode weist gegenüber den Ausgangswerten
stets eine Konzentrationsverminderung des Serum-
eiweißes auf. Diese infektiöse Hypoproteinämie ist seit den
Untersuchungen von Becquerel und Rodier (18) am Kindbett-
fieber allgemein bekannt. Sie scheint aber nie mit dem ersten
Fieberanfall, sondern meist erst nach drei, in seltenen Fällen nach
fünf Anfällen in Erscheinung zu treten. Der Abstieg der Serum-
eiweißkonzentration erfolgt in den meisten Fällen nicht allmählich,
sondern von einem Tag auf den anderen. Wir können in dieser
Beziehung die Angaben von Berger und Untersteiner J£
vollkommen bestätigen. Das Minimum der Eiweißkonzentration
wird bei einem der letzten Anfälle, keineswegs aber immer erst
mit dem letzten Anfall erreicht.
Durch diese Feststellungen wurde für uns die Frage aufge-
worfen, ob die Serumeiweißkonzentration zeitlich zu
dem Fieberanfall in Beziehung steht, ob also die
gefundenen Kiweißwerte irgendwie von der Zeit der
Blutentnahme abhängig sind. Bei mehreren Versuchs-
personen haben wir zur Zeit der Fieberperiode im Verlauf von
24 Stunden mehrstündlich den Eiweißgehalt des Serums bestimmt.
Alle diese Versuche führten zu einem gleichsinnigen Ergebnis. Ein
Beispiel ist in Kurve 1 wiedergegeben. Die Kurve lehrt, dab
Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 141
Temperaturanstieg und Serumeiweißkonzentration
nicht parallel gehen. Der Eiweißspiegel erreicht im Anfall
sein Maximum vor dem Temperaturmaximum und vor Beginn des
Schüttelfrostes. Er ist im großen und ganzen bereits zum Aus-
gangswert zurückgekehrt, wenn die Temperatur sich noch auf der
Fieberhöhe befindet. Zur Deutung dieses Befundes müssen wir auf
die Vorgänge, die sich während eines Anfalles im Organismus ab-
spielen, zurückgreifen. Der klassische Anfall setzt sich aus den
drei Symptomen Frost, Hitze und Schweiß zusammen. Der
Schüttelfrost ist oft nur angedeutet durch leichtes Kältegefühl; in
anderen Fällen wieder ist er so stark, daß das Bett zittert. Die
Haut ist im Frost blaß und blutleer. Im Hitzestadium ist das
Gesicht gerötet, die Haut blutreich und glühend heiß. Die Tem-
peratur erreicht jetzt ihr Maximum, Im Schweißstadium ist die
8 9 mn RM 7? 2 34% 567 89 Wr 2 72 3% 56
Kurve 1. J. H.. 26.27. VIII 1925.
Zeichenerklärung: ------ Temperatur. —— (sesamtprotein.
Haut naß und gerötet. Die Temperatur sinkt zur Norm ab. Jeder
Fieberanfall entspricht der Reifung einer Parasitengeneration. In-
fizierte rote Blutkörperchen zerfallen, Eiweiß der Malariaparasiten
wird frei. Die Höhe der im Anfall festgestellten Gesamteiweiß-
konzentration kann demnach durch zwei Momente bedingt sein:
1l. durch das Verhalten des Gefäßtonus und 2. durch in die Blut-
bahn gelangendes körperfremdes und körpereigenes Eiweiß. Das
erste Moment knüpft an die Grundlagen an, die seinerzeit zur
Verwendung der Serumeiweißbestimmung als Blutkonzentrations-
bestimmung geführt haben. Verengerung der Gefäße bedingt Blut-
eindickung, ihre Erweiterung Blutverdünnung. Da nun aber die
plethysmographische Untersuchung der Armgefäße beim Fiebernden
gezeigt hat (19), daß die Blutgefäße sich zu verengern beginnen,
wenn noch keine Temperatursteigerung bemerkbar ist, und dab
142 WIECHNANN u. HORSTER
dem Absinken der Temperatur die Erweiterung der Gefäße vorauf-
geht, und unter stärkerer Dilatation derselben die Temperatur zum
Normalpunkt wieder zurücksinkt, glauben wir annehmen zu müssen.
daß die im einzelnen Fieberanfall beobachtete Zu-
nahme der Eiweißkonzentration in erster Linie auf
Veränderungen des Gefäßtonus zurückzuführen ist.
Daneben kommt für die Eiweißvermehrung im Frost selbst noch
die geleistete Muskelarbeit in Frage, die bekanntermaßen zu einer
starken Zunahme der Serumkonzentration führt. Erst in zweiter
Linie findet im Fieberanfall eine primäre Zunahme der Eiweiß-
menge statt, die sich in einer Verschiebung der Relation Albumin:
Globulin zugunsten des Globulins ausdrückt. Diese Feststellungen
sind von prinzipieller Bedeutung. Aus ihnen geht hervor, daß
es zweckmäßig ist, die Gesamteiweißkonzentration
zeitlich möglichst entfernt vom Frost zu bestimmen.
Andererseits ist es doch bemerkenswert, daß der Eiweißspiegel zur
Zeit des Anfalls den Ausgangspunkt vor der Infektion nie erreichte.
Tabelle 2.
eiweibes beginnt eiweibes wieder erreicht wird.
1 D 15
2 1 q
3 15 60
4 25!) 40
D B) 39
6 9 Ausgangswert nach 11 Wochen nicht
| erreicht
q 3 >
o D Ausgangswert nach 8 Wochen nicht
| erreicht
i |
Wie aus Tabelle 2 hervorgeht, hielt die Erniedrigung des
Eiweißspiegels in Bestätigung der Angaben von Berger und
Untersteiner (14) auch über das Fieberende hinaus an. Somit
kam es erst in der Rekonvalescenz zu einem Wieder-
ansteigen der Gesamteiweißkonzentration. Die Zeit,
innerhalb deren nach der Entfieberung der Ausgangswert wieder
erreicht wurde, schwankte zwischen 7 und 60 Tagen. Meist kam
es noch zu einer vorübergehenden Überhöhung des Ausgangswertes
1) In dieser Zeit nur in größeren Abständen untersucht.
a nin Een EEE EEE nf EEE REES TEE nt
u
a nm a m e p
N PAN
— O. a Ml IMi pa
Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 143
(vgl. Tabellel 1. Der Endwert war in einigen Fällen gegenüber
dem Ausgangswert ungeändert, in anderen erniedrigt, in noch
anderen erhöht. Irgendeine Gesetzmäßigkeit konnte in dieser Be-
ziehung nicht herausgefunden werden. Besondere Beachtung ver-
dient aber die lange Nachwirkung des Infekts auf das Serumeiweiß.
Die Untersuchungen haben somit ergeben, daß der Eiweißspiegel
des Blutserums im Verlauf der experimentellen Malariainfektion
gewisse, typische Veränderungen aufweist. Im Fieber, und dieses
überdauernd kommt es zu einer Hypoproteinämie, im Stadium der
Reparation dagegen meist zu einer vorübergehenden Hyperprotein-
ämie. Sind diese Änderungen primär durch Änderung der Eiweiß-
menge bei gleichbleibender Wassermenge bedingt, oder sind sie
bei gleichbleibender Eiweißmenge nur durch Änderung der in der
Blutbahn enthaltenen Wassermenge hervorgerufen? Nach Zie-
mann (20) hat die Verringerung des Eiweißgehaltes des Blutes
ihren Grund darin, daß sich die roten Blutkörperchen vermindern,
und daß dadurch das Serum wasserreicher wird. Dieser Stand-
punkt scheint uns heute nicht mehr haltbar. Wenn man gleich-
zeitig mit den Proteinwerten die Erythrocytenzahlen ermittelt, so
findet man tatsächlich in der Fieberperiode eine Abnahme, in der
Rekonvalescenz dagegen eine Zunahme der Erythrocytenwerte,
Von einem Parallelismus zwischen den Gesamteiweißwerten und
den Erythrocytenwerten ist aber keine Rede. Der Eiweißspiegel
beginnt erst nach mehreren Frösten abzusinken, wenn die Erythro-
cytenzahl bereits abgenommen zu haben pflegt, und er steigt in
der Rekonvalescenz erst wieder an, wenn der Ersatz der zerfallenen
roten Blutkörperchen zum großen Teil schon erfolgt ist. Aus diesen
Gründen glauben wir, daß die von uns beobachteten
Schwankungen der Proteinmenge zum mindesten mit
primär bedingt sind.
IL Globulin und Albumin.
Mit dem Heß’schen Viskosimeter (Laboratoriumsmodell) wurde
die Viskosität des Serums bestimmt. Aus Refraktion und Viskosität
wurde dann nach dem von Naegeli und Rohrer angegebenen
Verfahren der Gehalt des Serums an Globulin und Albumin er-
rechnet. Zu den Einwänden, die gegen dieses Verfahren erhoben
werden, haben wir in der I. Mitteilung Stellung genommen. Hier
sei nur darauf hingewiesen, daß Alder und Zarnski (21) neuer-
dings den Standpunkt vertreten, daß die Rohrer’sche Methode
qualitativ die Veränderungen richtig und zudem viel feiner als die
WIECHMANN u. HORSTER
144
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Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 145
chemisch-physikalischen Methoden anzeigt, daß sie aber quantitativ
nur bei normalen und annähernd normalen Seren mit diesen über-
einstimmt.
Zunächst soll rein qualitativ die Verschiebung
des Globulin-Albuminverhältnisses in Prozehten des
Gesamteiweißes betrachtet werden. Tabelle 3 illustriert
die Verhältnisse.
Normalerweise setzt sich das Serumeiweiß bei Verwendung
der von Rohrer angegebenen Methode aus 20—40 °/, Globulin
und 60—80 °/, Albumin zusammen (Naegeli (22)). Die von uns
vor der Injektion gefundenen Ausgangswerte be-
trugen 38, 36, 33, 47, 50, 45, 38, 63, 77, 62%, Globulin.
In vier Fällen bewegten sie sich an der oberen Grenze des Nor-
malen; in den anderen sechs Fällen waren die Werte wesentlich
erhöht. Ähnliche Beobachtungen sind von Berger und Unter-
steiner (14) an Paralytikern gemacht worden. Diese relative
Globulinvermehrung ist offenbar durch den durch die Spirochäten
gesetzten chronischen Infekt bedingt. So ist auch von anderen
chronischen Infekten wie der Tuberkulose (23) und der chronischen
Encephalitis (24) bekannt, daß sie mit relativer Globulinvermehrung
einhergehen.
In der Periode der Inkubation fand sich in fast
allen Fällen eine vorübergehende relative Globulin-
vermehrung. Sie war in vereinzelten Fällen von einer Ver-
minderung der Globulinverhältniszahl gefolgt; gegen Ende der In-
kubation waren aber die Ausgangswerte stets wieder erreicht.
Es liegt nahe, hier genau so wie bei der in der Inkubation nach-
gewiesenen Vermehrung des Gesamteiweißes die Injektion des plas-
modienhaltigen Blutes als Ursache der relativen Globulinvermeh-
rung anzusprechen. Bei jenem normalen Individuum, bei dem wir
den Einfluß einer Blutinjektion auf den Gesamteiweißgehalt und
die Globulinverhältniszahl des Serums studierten, fand sich auch
tatsächlich eine geringe relative Globulinvermehrung, so daß uns
die Ursache dieser in der Inkubation festgestellten relativen
Globulinvermehrung aufgeklärt zu sein scheint.
Die Fieberperiode läßt sich zwanglos in zwei Abschnitte
einteilen. In dem ersten ist die Gesamteiweißkonzentration noch
ungeändert; in dem zweiten liegt die oben eingehend beschriebene
Hypoproteinämie vor.
Zu jener Zeit, wo bereits die Fröste eingesetzt hatten, die
Gesamteiweißkonzentration aber noch nicht erniedrigt war, war die
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 152. Bd. 10
146 WIECHMANN U. HORSTER
Globulinverhältniszahl in sechs von den zehn Fällen gegenüber dem
Ausgangswert erhöht. In zwei Fällen war sie gegenüber dem
Ausgangswert ungeändert, in zwei weiteren Fällen ausgesprochen
erniedrigt. Bezeichnenderweise lagen für diese letzten vier Fälle
die Globulinverhältniszahlen in der Inkubation vorübergehend höher
als zu Beginn des Fiebers. Gegen Ende der Fieberperiode waren
die Globulinverhältniszahlen in sieben Fällen höher als vor der
Infektion. In zwei Fällen waren sie gegenüber dem Ausgangswert
deutlich erniedrigt, in dem anderen Fall ungeändert.
Die relative Hyperglobulinämie hielt bis in die
Rekonvalescenz hinein an. In mehreren Fällen wurde das
Maximum der relativen Globulinvermehrung sogar erst in dieser
Periode der Erkrankung erreicht. Die orale Verabreichung
von Chinin, die zur Beseitigung der experimentellen Infektion
vorgenommen werden mußte, war auf die Gestaltung dieser
relativen Globulinvermehrung ohne Einfluß. Schon
Hanson und Quarrie (25) haben nachgewiesen, daß dem Chinin
keine globulinvermehrende Wirkung zukommt. Wir können diese
Angabe vollkommen bestätigen. Wir haben einem normalen Indi-
viduam 4 Tage lang mal 0,2 Chinin hydrochlor. pro die ver-
abreicht und keine Änderung des vorher im Serum vorhandenen
Globulin-Albuminverhältnisses feststellen können.
Die Dauer dieser relativen Hyperglobulinämie war außr:-
ordentlich lange. Das ergibt sich schon daraus, daß drei von den
acht bis in die Rekonvalescenz verfolgten Fällen am Ende der
Beobachtung, d. h. 20—24 Wochen nach dem ersten Tage der
Entfieberung den Ausgangswert noch nicht wieder erreicht hatten.
Bei keinem der übrigen Fälle unterschritt der Endwert den Aus-
gangswert in irgendwie beachtenswerter Weise.
Einen klareren Einblick in das Verhalten des Globulins uni
Albumins während der Infektion erhält man, wenn man nicht. wie
wir es vorstehend getan haben, rein qualitativ die Verschiebung
des Globulin-Albuminverhältnisse in Prozenten des Gesamteiwelbrs
betrachtet, sondern quantitativ in Grammprozenten berechnet, wie-
viel (Globulin und Albumin auf 100 g Serum entfällt. Wir sind
auch derart vorgegangen und werden im folgenden darüber be-
richten. Wir beginnen mit dem Verhalten des Albumins, das durch
Tabelle 4 illustriert wird.
In der Inkubation nahm die Albuminmenge genau
so wie die besamteiweißmenge zunächst ab. Aus oben
147
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148 WIECHMANN u. HORSTER
erörterten Gründen müssen wir annehmen, daß es sich hier um
eine Injektionsfolge handelte.
Mit Beginn des Fiebers sank die Albuminmenge
in der Mehrzahl der Fälle sofort ab. Nur in zwei Fällen
kam es zu einem erheblichen Anstieg der Albuminkonzentration.
Unsere Befunde stehen somit mit denen von Berger und Unter-
steiner (14) nicht ganz in Einklang, die bei vier Fällen von
Paralyse erst nach den ersten Fieberanfällen eine Verminderung
der Albuminkonzentration fanden. Während der Fieberperiode
konnte in allen Fällen, die genügend oft untersucht wurden, eine
kräftige Verminderung der Albuminkonzentration nachgewiesen
werden.
Die Albuminverminderung überdauerte die Fieber-
periode. Hierin verhielt sich das Albumin genau so wie das
Gesamteiweiß. Im weiteren Verlauf der Rekonvalescenz
kam es in der Mehrzahl der Fälle zu einem Anstieg
der Albuminkonzentration über den Ausgangswert.
Die Endwerte waren in fünf Fällen, darunter einem Fall
mit pathologisch erniedrigtem Ausgangswert, den Ausgangswerten
angenähert gleich. In drei Fällen waren sie gegenüber dem Aus-
gangswert erniedrigt.
Über die Schwankungen der in 100 g Serum enthaltenen
Globulinmenge orientiert Tabelle 5.
In der Inkubation fand sich gleichzeitig mit dem der
Injektion des plasmodienhaltigen Blutes folgenden Albuminabfall
. ein Globulinanstieg. |
Schon Berger und Untersteiner (14) geben an, daß die
Konzentration des Globulins in der Fieberperiode nicht so sinn-
fällig beeinflußt wird wie die des Albumins. Sie halten es aber
für wahrscheinlich, daß die Globulinkonzentration des Serums in
der Fieberperiode ebenfalls vermindert wird und an der Verminde-
rung des Gesamteiweißes Anteil hat, wenn auch nicht so stark
und nicht so regelmäßig wie die Verminderung der Albumin-
konzentration. Unsere Untersuchungen zeigen, daß es tatsächlich
in der Fieberperiode in der Mehrzahl der Fälle zu einer Er-
niedrigung der Globulinkonzentration kommt. In drei Fällen,
darunter einem Fall mit pathologisch erniedrigtem Ausgangswert
fand sich dagegen auffälligerweise zu dieser Zeit eine Erhöhung
der Globulinkonzentration. Weiteren Untersuchungen muß es vor-
behalten bleiben zu entscheiden, ob diese wechselnden Befunde
149
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150 WIECHMANN u. HORSTER
auf eine verschiedene Reaktionsfähigkeit des Organismus zurück-
zuführen sind.
InderRekonvalescenzzurZeitderGesamteiweiß-
vermehrung wurde der Ausgangswertin allen Fällen
mit einer Ausnahme wesentlich überschritten. Die
Endwerte lagen teils höher, teils niedriger als die Ausgangswerte.
Wenn wir nunmehr die gesamten beschriebenen Veränderungen
nochmals überblicken, so muß zunächst festgestellt werden, daß
unsere Ergebnisse mit den von Berger und Untersteiner (14)
an viel kleinerem Material erhobenen im wesentlichen überein-
stimmen. Diese Übereinstimmung istum so wertvoller,
als sie mit verschiedenen Methoden, der von Robert-
son einerseits und jener von Reiß-Naegeli-Rohrer
andererseits, gewonnen wurde.
Die festgestellten Eiweißveränderungen sind nicht Folge-
erscheinungen der fieberhaften Erhöhung der Eigentemperatur,
sondern sie gehören zu den Abweichungen des Stoffwechsels, welche
dem Infekt an sich eigentümlich sind. Die Schwankungen der
Globulin- und Albuminkonzentration gehen durchaus nicht absolut
parallel. Sie sind genau so wie jene der Gesamtproteinmenge
rein primär bedingt. Mit Berger (17) u. a. sehen wir sowohl
die quantitativen als auch die qualitativen Veränderungen am
Serumprotein als celluläre Phänomene an. Es steht nur
noch dahin, in welche Zellen die betreffenden Prozesse zu verlegen
sind. In erster Linie kommen hierfür wohl das Endothel und die
Leberzellen in Betracht. Körpereigene rote Blutkörperchen zer-
fallen, Stoffwechselprozesse seitens der Plasmodien schieben sich
in den Stoffwechsel des Wirts ein; der Stoffwechsel des gesamten
Organismus reagiert hierauf mit jenen Veränderungen am Protein,
und es scheint vielleicht nicht übertrieben, diese Veränderungen
den Abwehrleistungen des Organismus zuzurechnen. Ein kompli-
zierendes Moment ist nur, daß diese Veränderungen sich im
speziellen Fall nicht in einem ursprünglich gesunden, sondern in
einem mit Metalues behafteten Organismus abspielen.
Irgendwelche Beziehungen der nachgewiesenen Veränderungen
zu dem therapeutischen Endeffekt konnten nicht festgestellt werden.
Wenn man annimmt, daß diese Veränderungen von der Reaktions-
fähigkeit des Organismus abhängig sind, wird dies auch erst bei
einem ganz großen Material möglich sein.
Studien über experimentelle Infektionskrankheiten. 151
II. Aminosäurenspiegel des Serums.
Donath und Heiliger (26) haben neuerdings den Eiweiß-
zerfall beim natürlichen und künstlichen Fieber mit einander ver-
glichen. Als Maßstab hierfür haben sie den Aminostickstoffgehalt
des Plasmas verwendet. Sie machten die interessante Feststellung,
daß die Fieberarten, die durch eine Infektion bedingt sind, trotz
hohen Fieberanstiegs eine Vermehrung des Aminostickstoffs im
Blut vermissen lassen, während bei den Fieberanstiegen, die durch
Injektion von verschiedenen Proteinkörpern hervorgerufen werden,
regelmäßig eine Erhöhung des Aminostickstoffs im Plasma bis um
61°% eintritt. Zu den Fiebertypen, die keinen Anstieg des Amino-
stickstoffs auf der Fieberhöhe aufwiesen, gehörte auch die Impf-
malaria. Diese Untersuchungen verdienen besonderes Interesse, da
sie erneut die Frage aufwerfen, ob die Malariatherapie anderen
sog. unspezifischen Behandlungsmethoden der Neurolues völlig
gleichzusetzen ist. Andererseits teilte Wolpe (27) einen Fall
von Intermittens mit, bei dem der Aminosäurenwert im Serum, der
vor dem Anfall 3,9 mg°/, betragen hatte, während des Fieber-
anfalles auf 6,5 mg °% anstieg und nach Abklingen des Fiebers
wieder auf 4,1 mg’, absank. Ob es sich in diesem Fall um eine
experimentelle Malaria gehandelt hat, teilt Wolpe nicht mit.
Durch die angewandte verschiedene Methodik, die von van Slyke
einerseits und die von Folin andererseits, können die Differenzen
der Befunde nicht erklärt werden.
Bei dieser Lage der Dinge haben wir bei drei Fällen
von Tabes, die zu therapeutischen Zwecken mit Ma-
laria infiziert wurden, vor der Infektion, vor dem
Schüttelfrost und sowohl im steilsten Abschnitt der
Temperaturkurve als auch im Temperaturmaximum
den Amino-N-Gehalt des Serums bestimmt. Die Be-
stimmung erfolgte nach der von Folin (28) angegebenen Methode.
Von einer tabellarischen Wiedergabe der völlig eindeutigen Ergeb-
nisse sehen wir aus Gründen der Raumersparnis ab. In keinem
einzigen Fall konnte ein über die Fehlergrenze der
Methode hinausgehender Anstieg des Aminostick-
stoffs im Fieberanfall nachgewiesen werden. Wir
können somit die Angaben von Donath und Heiliger bestätigen.
152 Wiıecnmann u. HorSTeER, Studien über experimentelle Infektionskrankheiten.
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153
Aus der 2. med. Klinik in München (Geh. Rat Prof. Friedr.v. Müller)
und der med. Poliklinik (Prof. Richard May).
Über den Ursprung der Ehrlich’schen Diazo-Reaktion.
Von
Dr. med. et rer. nat. Leo Hermanns.
Bisher konnte die Ehrlich’sche Diazoreaktion, die bekanntlich
in einer roten Farbstoffbildung bei Zugabe von Diazoniumsalz zum
Urin besteht, lediglich als klinisches Symptom gewertet werden,
das im Bereiche der Krankheitserscheinungen eine rätselhafte
Rolle spielte. Die Ursache der Reaktion blieb trotz der zahlreichen
darauf gerichteten Untersuchungen ganz in Dunkel gehüllt.
Paul Ehrlich, der die Reaktion im Jahre 1882 im Urin eines
Typhuskranken entdeckte, hatte bewiesen, daß sie nicht auf
Zersetzungsprodukte in Darmkanal zurückzuführen ist, und er
unternahm bereits Versuche um dem Produkt, das im Urin mit
Diazoniumsalz kuppelt, auf die Spur zu kommen. Er beschrieb
die Darstellung des Zinksalzes einer Substanz, die starke Diazo-
reaktion gab aber wegen ihrer Zersetzlichkeit nicht gereinigt und
analysiert werden konnte.
Seitdem sind viele Hypothesen über die Reaktion ausgesprochen
worden, ohne daß exakte Beweise geliefert und eine Überein-
stimmung mit den chemischen Tatsachen erzielt wurde. Sehr ein-
drucksvoll erschien die Ansicht, daß die Reaktion auf vermehrter
Ausscheidung des Histidins, das auch im normalen Urin vielleicht
in Spuren vorhanden ist, beruhen sollte, da die Imidazolderivate
mit Diaziumsalzen Azofarbstotffe geben. Aus diesem Grunde wurde
von mir der Azofarbstoff des Histidins dargestellt und zwar durch
Kupplung des Histidins und des Benzoylhistidins mit Dichlordiazo-
benzol. Man erhält Farbstoffe die zwei Azoreste gebunden ent-
halten. Dies ergab sich aus der Analyse des in Nadeln kristalli-
sierenden Azofarbstoffes des Benzoylhistidins.
154 HERMANNS
Analyse: Cl-Bestimmung:
6,681 mg Substanz geben 6,39 mg AgCI
, ‚ berechnet Cl 23,52 °%
Cas His N;C1,0;: gefunden Cl 23,65 °,
Die übrigen Mikrobestimmungen passen ebenso wie die Chlor-
bestimmung zu der Formel eines Diazobenzoylhistidins. Die Farb-
stoffe des Histidins verhielten sich im übrigen wie Indikatoren,
beim Ansäuern schlägt die rote Farbe in gelb um.
Dieses Verhalten ist nicht in Einklang zu bringen mit dem
des Urinfarbstoffes. Das Histidin kann daher zur Erklä-
rung der Diazoreaktion nicht herangezogen werden.
Schwieriger ist die Frage zu entscheiden, ob die Diazoreaktion
mit dem gelben Urinfarbstoff, dem sog. Urochrom bzw. mit dessen
Vorstufe dem Urochromogen in ursächlichem Zusammenhange steht,
eine Auffassung die neuerdings von M. Weiß in seinen Arbeiten
vertreten wird.
Bevor diese Frage erörtert werden kann, ist es erforderlich
sich einen Einblick in die chemische Zusammensetzung der Sub-
stanz, die der Ehrlich’schen Diazoreaktion zugrunde liegt, zu ver-
schaffen. Erst, wenn dies gelungen ist, und wir eine Vorstellung
von der chemischen Struktur des betreffenden Produktes besitzen,
sind wir imstande, seine Herkunft abzuleiten und zu entscheiden,
ob es sich um Stoffe handelt, die einem krankhaften Eiweißstoff-
wechsel entstammen, oder um Substanzen, die wie das Urochromogen
auch im normalen Urin ausgeschieden werden.
Als die nun folgenden Untersuchungen begonnen wurden, lagen
keinerlei exakte Ergebnisse über diese Fragen vor, und es galt
zunächst eine Darstellungsmethode zu finden, die die Isolierung des
Produktes in reinem Zustande ermöglichte.
Darstellungsmethode:
Da es sich um ein Produkt handelt, das nur in minimalen
Mengen im Urin enthalten ist und, wie bereits Paul Ehrlich
festgestellt hat, sehr große Neigung zu Oxydativen und Zersetzung
zeigt, wählte ich zu seiner Isolierung die Darstellung des bei der
Reaktion entstehenden Azofarbstoffes und zwar durch Kupplung
des Urins mit Dichlordiazobenzol. Dieses letztere zeichnet sich
vor der bei der Ehrlich’schen Probe gebräuchlichen Sulfanilsäure
durch seine Eigenschaft aus, schwer lösliche Azofarbstoffe zu
bilden, und entsteht durch Diazotieren von Dichloranilin. Zur Be-
reitung des Farbstoffes wurde der Urin zunächst im Vacum bei
Über den Ursprung der Ehrlich'schen Diazou-Reaktion. 155
60° stark eingeengt und mit neutralem Bleiazetat geklärt. Die
Herstellung des Azofarbstoffes geschah durch Kupplung mit der
Lösung des Dichlordiazobenzols bei alkalischer Reaktion. Auf diese
Weise gewinnt man einen roten Farbstoff, der sich mit Äther, dem
etwas Pyridin beigemischt ist, gut extrahieren läßt.
Diese Kupplungsmethode ließ sich dann auch auf Extrakte
des Urins anwenden. Zu diesem Gedanken führte die Beobachtung,
daß es gelingt durch saure Hydrolyse des eingeengten Urins die
kuppelnde Substanz in Freiheit zu setzen, so daß sie sich mit
Äther oder Essigester extrahieren läßt. Voraussetzung für dieses
Verfahren ist die starke Konzentrierung des Urins im Vacum, da das
Produkt außerordentlich leicht in Wasser löslich ist. Der so ge-
wonnene Ätherextrakt zeigt nach weiterer Reinigung mit Blei-
zucker eine hellgelbe Farbe und intensiv rote Diazoreaktion. Beim
Stehen im Exsikator bildet sich ein Sirup, der noch nach Monaten
eine tief rote Diazoreaktion gibt. Demnach scheint bei neutraler
Reaktion eine Zersetzung der Subsatz nicht stattzufinden. Aus
dem Sirup läßt sich nach der oben beschriebenen Methode auch
der Azofarbstoff bereiten.
Das Resultat der nach diesem Plane geführten Untersuchungen
wirft ein neues Licht auf den Ursprung der Ehrlich’schen Reaktion.
Wir machten die Erfahrung, daß der Diazoprobe kein
einheitlicher chemischer Stoff zugrunde liegt, son-
dern daß den verschiedenen Krankheiten auch ver-
schiedene Ausscheidungsprodukte im Urin zu-
kommen. Von diesen gelang es drei Produkte in Form der be-
treftenden Azofarbstoffe zu fassen und ihre Zusammensetzung auf-
zuklären. In Zukunft wird man also nicht mehr von einer ein-
heitlichen Ursache der Diazoreaktion sprechen können, nachdem
durch unsere Feststellungen erwiesen ist, daß mehrere Substanzen
für die Ehrlich’sche Diazoreaktion in Betracht kommen. Wie wir
sehen werden, handelt es sich dabei um aromatische Verbindungen,
deren Ringsystem der oxydativen Aufsprengung im Organismus
entgangen ist, wahrscheinlich um Endprodukte des Stoftwechsels,
die nicht den durch die Nahrung aufgenommenen Eiweißsubstanzen
entstammen, sondern dem endogenen (sewebsstoffwechsel, der sich
innerhalb des Zellbetriebs abspielt.
Bekanntlich nimmt das in den Geweben organisierte Eiweiß,
das normalerweise im Kraftstoffwechsel nicht verwertet wird, eine
Sonderstellung im Verbrennungsprozeß ein. Aus dieser Tatsache
ergeben sich zwei Arten des Eiweißstoffwechsels, die sich durch
156 HERMANNS
die Art und Weise der Abbauwege voneinander unterscheiden,
worauf in den letzten Jahren besonders Folin aufmerksam ge-
macht hat. Er stellte nämlich fest, daß bei eiweißreicher
Nahrung hauptsächlich Harnstoff und anorganische Schwefelsäure,
dagegen wenig Kreatinin und kein Neutralschwefel ausgeschieden
werden, während bei eiweißarmer Nahrung Kreatinin und Neutral-
schwefel in den Vordergrund treten. Diese letzteren sind Produkte
des endogenen Gewebsstoffwechsels und offenbar unabhängig vom
Eiweißgehalt der Nahrung. Ebenso verhält es sich bekanntlich mit
der endogenen Harnsäure. Sie steht in Beziehung zum Zerfall der
Kernsubstanzen und pflegt bei Leukämie in stark vermehrter Menge
im Urin ausgeschieden zu werden, ferner auch — wie dies
Lauter u. a. feststellen konnte — bei Röntgenbestrahlungen, wo
im Minimumversuch auch nach der Bestrahlung die Harnsäure über
100 °/, stärker am Gesamt-N beteiligt ist wie vor dieser Prozedur.
Wir möchten annehmen, daß zu diesen Produkten,
die vom Zellzerfall herrühren, auch die der Diazo-
reaktion zugrunde liegenden Substanzen zu rechnen
sind. Der Gedanke liegt nahe durch ihre quantitative. Bestim-
mung im Urin ein Maß für den pathologischen Gewebszertall im
Fieber zu gewinnen, doch ist daran zu erinnern, daß bereits nor-
malerweise die Ausscheidung der endogenen Endprodukte im Urin
sehr großen Schwankungen unterworfen ist.
Von Interesse war ferner noch, daß zwei der isolierten Pro-
dukte stickstofffreie Substanzen sind, die demnach am sog. Stick-
stoffminimum nicht beteiligt sind.
Im folgenden sollen die Resultate der Untersuchung bei den
verschiedenen Krankheiten mitgeteilt werden.
1. Die Diazoreaktion bei einem Fall von Leberkrebs.
Bei Fällen von Carcinom wird die Diazoreaktion sehr selten
beobachtet. In der Literatur sind nur einige derartige Beobachtungen
vermerkt z. B. erwähnt Lenhartz einen Fall von Lungencarcinom
bei dem die Reaktion positiv war. Ich machte bei einer Kranken mit
Lebercarcinom die Feststellung, daß der Urin neben einer positiven
Diazoreaktion zugleich die Jaffe’sche Indikanprobe gab, auber-
dem fand sich eine deutliche Urorosein-Reaktion. Diese letztere
ist bekanntlich von Nencki und Sieber im Urin entdeckt worden
und besteht in einer Rotfärbung, die bei Zusatz von konzentrierter
Salzsäure und einem Tropfen Natriumnitritlösung zum Harn auf-
tritt. Herter erbrachte den Beweis, daß sie auf die Ausscheidung
Über den Ursprung der Ehrlich'schen Diazo-Reaktion. 157
von Indolessigsäure zurückzuführen ist und Ellinger spricht die
Vermutung aus, daß bei der Reaktion ein Triindylmethanfarbstoft
entsteht. Im vorliegenden Fall war diese Reaktion von besonderer
Wichtigkeit. Sie legte die Vermutung nahe, daß es sich um die
Ausscheidung eines Derivates der Indolessigsäure handelte.
Der durch Kupplung mit Dichlordiazobenzol in alkalischer
Lösung aus dem Harn erhaltene Azofarbstoff ließ sich leicht mit
Äther extrahieren. Aus dem Ätherextrakt kristallisierte er beim
Eindunsten in prachtvollen dunkel-roten Nadeln. Er war in Soda-
lösung leicht löslich, was dem Charakter einer Säure entspricht.
Die durchgeführte Mikroanalyse des Farbstoffes ergab die Zu-
sammensetzung:
Cie H11 N,0,C1,
Analyse: Cl-Bestimmung
5,332 mg Substanz ergaben 4,125 mg AgCI
berechnet: 19,24 9,
gefunden: 19,48 /,.
Nach Abzug des angekuppelten Dichlorazobenzolrestes erhält
man die Formel: C,,H,NO,. Aus der Chlorbestimmung ergibt sich
das Molekulargewicht. Diese Formel entspricht einer Oxyindol-
essigsäure von folgender Konstitution:
OH
N onoo
|
y
Außer durch die mitgeteilten Reaktionen des Urins ließ sich
diese Auffassung der Struktur durch das Ergebnis der Reduktion
des Azofarbstoffes mittels Zinnchlorürlösung bestätigen. (8)
Die Oxyindolessigsäure war bisher als Ausscheidungsprodukt
nicht bekannt. Wir irren wohl nicht, wenn wir in ihr ein Oxy-
dationsprodukt des Tryptophans sehen. Über den Abbau des Tryp-
tophans im Organismus des Menschen besitzen wir bisher noch
keine klaren Vorstellungen. Beim Hund und auch beim Kaninchen
geht das Tryptophan, wie dies A. Ellinger nachgewiesen hat,
inKynurensäure über:
N Nu
ww.
Die Oxydation ergreift demnach bei diesen Tieren zunächst
den Pyrrolring und führt, wie dies Ellinger und Matsuoka in
158 HERMANNS
neueren Untersuchungen nachgewiesen haben, über die Indolbrenz-
traubensäure unter Aufspaltung des Pyrrolringes zur Kynurensäure.
In unserem Falle liegt ein phenolartiges Abbauprodukt des
Tryptophans vor, das bezüglich der Frage, wie normalerweise diese
Aminosäure im Organismus abgebaut wird, nur sehr unsichere
Schlüsse zuläßt. Möglicherweise wird bei ihrem intermediären
Abbau nach Desaminierung der Seitenkette — beim Menschen in
anderer Weise wie beim Hund — nicht der Pyrrolring, sondern
der Benzolring von der Oxydation ergriffen und aufgespalten.
2. Die Diazoreaktion beim Typhus abdominalis.
Beim Typhuskranken tritt die Diazoreaktion meist am 3. Tage
auf und pflegt im Stadium decrementi zu verschwinden. Sie zeichnet
sich darch ihre intensive Rotfärbung aus. Ferner besteht, wie
wir dies feststellen konnten, gegenüber der Diazoreaktion bei
Tuberkulose ein Unterschied darin, daß die Reaktion nicht
eintritt, wenn man vor Zusatz des Diazoreagens den Urin einige
Minuten mit konzentrierter Säure erhitzt und zwar beruht dies
darauf, daß das „Chromogen“, das im Typhusurin vorhanden ist.
mit Wasserdämpfen flüchtig ist. Ich benutzte diese Eigentümlich-
keit, um es aus dem Destillat des Urins darzustellen.
Zu diesem Zweck wurde der Urin mit verdünnter Schwefel-
säure angesäuert und die Substanz mit Wasserdampf überdestillient.
bis der Kolbeninhalt keine Diazoreaktion mehr gab. Aus einen
Teile des Destillats wurde das „Chromogen“ mit Äther ausge-
schüttelt. Es ist sehr leicht in Äther löslich. Nach Abdampfen
des Äthers hinterblieb ein öliger Rückstand, der mit Eisenchlorid-
lösung eine grüne Farbreaktion gab und ammoniakalische Silber-
lösung in der Kälte reduzierte. Da es sich möglicherweise um ein
Imidazolderivat, die bekanntlich mit Wasserdämpfen zum Teil
Nüchtig sind, handeln konnte, wurde der Versuch gemacht, die
Substanz mit ätherischer Oxalsäurelösung auszufällen. Da dies
nicht gelang — ein Imidazolderivat lag offenbar nicht vor — und
die vorhandenen minimalen Mengen zu einer Analyse nicht hin-
reichten, wurden die beiden Portionen des Destillates wieder mit-
einander vereinigt und auf Azofarbstoff verarbeitet.
Darstellung des Azotarbstoffes: 16 g Dichloranilin
wurden in 50 cem heibem Wasser durch Zusatz von 10 ccm kon-
zentrierter Salzsänre gelöst und die abgekühlte Lösung mit 100 ccm
n 10-Natriumnitritlösung diazotiert. Man läßt dann die klare, gelb-
EEE — Ar.
Über den Ursprung der Ehrlich’schen Diazv-Reaktion. 159
lich gefärbte Diazoniumsalzlösung solange zu dem mit Natronlauge
alkalisch gemachten Destillat zufließen, bis das Gemisch mit R-Salz
Rotfärbung gibt. Es wurden !/,,. Mol. verbraucht. Der auf diese
Weise gewonnene rote Azofarbstoff wurde nach Ansäuern der Lö-
sung in Äther aufgenommen. Nach dem Eindunsten des Äthers
hinterblieb ein kristallinischer Rückstand, der durch Umkristalli-
sieren aus Alkohol in schönen roten Nädelchen vom Schmelzpunkt
132° erhalten wurde. Die Kristalle sind leicht löslich- in Äther
und Pyrridin und schwer löslich in Wasser, Benzol und Petrol-
äther. Die vorhandene Menge reichte nur zu einer Stickstoff-
bestimmung aus.
Mikro-Analyse:
1,62 mg Substanz gaben 0,3822 cem N, (16° 717 mm)
C3H,ı0,N,Cl, berechnet: N: 9,36 °%
gefunden 921°,
Diese Analyse stimmt auf die Formel: Cis H}: NaCl;
oder nach Abzug des Azorestes auf: C,H,O,.
Diese letztere Formel würde, da eine Oxysäure den Eigen-
schaften der gefundenen Substanz nicht entspricht, auf ein Oxy-
kresol passen. Von den Oxykresolen kommt in erster Linie ein
Brenzkatechinderivat in Betracht, da Hydrochinonverbindungen
nicht mit Diazokörpern kuppeln und Resorcinderivate, wie wir
feststellen konnten, keine roten Farbstoffe bilden.
Dagegen erhält man vom Homobrenzkatechin einen Azofarbstoff
von roter Farbe, der den Eigenschaften des aus dem Urin darge-
stellten entsprechen würde. Insbesondere spricht für diese An-
nahme die Eisenchloridreaktion und die Tatsache, daß das „Chro-
mogen“, wie ich bereits erwähnte, ammoniakalische Silberlösung
in der Kälte reduzierte.
Der von mir zur Feststellung der Identität auf syntheti-
schem Wege aus Homobrenzkatechin mit Dichlordiazobenzol dar-
gestellte Farbstoff bestätigt die angenommene Vermutung. Er
zeigte bezüglich seiner Eigenschaften völlige Übereinstimmung niit
dem aus Typhusurin gewonnenen Azofarbstuff und kristallisierte
160 HERMANNS
in roten Nädelchen aus Alkohol, die denselben Mischschmelzpunkt
mit dem Typhusfarbstoff ergaben.
Analyse: Cl-Bestimmung:
0,235 g Substanz ergaben 0,291 AgCl
C,sH,ı0,N,Cl,: berechnet: Cl = 23,83 °%
gefunden: Cl = 23,87 o
Das Homobrenzkatechin ist, wie man wohl mit Sicherheit an-
nehmen kann, kein normales Abbauprodukt des Eiweiß-Stoffwechsels.
Es ist bekannt, daß die Kresole bei der Fäulnis von Eiweiß-
substanzen gebildet werden. Sie entstehen z. B. durch reduktive
Desaminierung des Tyrosins auf folgende Weise:
CH(NH,) CH, p-Kresol
Derartige reduktive Desaminierungen kommen, wie wir an-
nehmen müssen, im intermediären Stoffwechsel des Menschen nicht
vor. Die geringen Mengen von Kresol, die trotzdem im menschlichen
Urin enthalten sind, entstammen der Darmfäulnis, denn normaler-
weise erfolgt, wie Franz Knoop und O. Neubauer durch ihre
Versuche bewiesen haben, der Abbau des Tyrosins auf dem Wege
einer oxydativen Desaminierung, bei der aus einer Aminosäure
die entsprechende Ketosäure wird. Andererseits erinnert das Homo-
brenzkatechin auch an Produkte, die normalerweise beim Abbau
des Tyrosins auftreten. Aus Versuchen, die Hermanns und
Fromherz beim Alkaptonuriker anstellten, hat sich ergeben, dab
die Paraoxyphenylbrenztraubensäure von diesem zum großen Teil
verbrannt wird, und demgemäß der Weg über die Hydrochinon-
essigsäure bzw. Homogentisinsäure nicht die einzige Möglichkeit
des Abbaus des Tyrosins darstellt. Es beschränkt sich die Stof-
wechselanomalie nämlich auf den Teil der aromatischen Kerne, die
über das Hydrochinonderivat abgebaut werden. Der zweite Weg
führt höchstwahrscheinlich über ein Brenzkatechinderivat und dieser
letztere steht auch dem Alkaptonuriker zur Verfügung. Allerdings
führt dieser zweite Abbaumodus nicht über das Homobrenzkatechin,
sondern es erfolgt normalerweise eine Aufsprengung des Benzol-
ringes, bevor die Seitenkette gekürzt ist.
Über den Ursprung der Ehrlich’schen Diazo-Reaktion. 161
3. Die Diazoreaktion bei Tuberkulose.
Die Untersuchung des Tuberkuloseurins ergab zunächst die
schon erwähnte Tatsache, daß bei diesem die mit dem Diazoreagens
kuppelnde Substanz in gebundenem Zustande, nämlich als Äther-
schwefelsäure vorhanden ist. Es gelingt durch saure Hydro-
lyse, das Produkt in Freiheit zu setzen und aus dem Urin mit
Äther oder Essigester zu extrahieren. Die Extraktion läßt sich
also nur durch vorherige Hydrolyse des Urins bewerkstelligen.
Ein zweiter Beweis dafür, daß das Produkt als Ätherschwefelsäure
ausgeschieden wird, ließ sich durch unvollständige Hydrolyse
des Urins erbringen. Man erhält auf diese Weise bei der Kupp-
lung mit Dichlordiazobenzol zwei verschiedene Azofarbstoffe, von
denen der eine in Äther löslich, während der andere in Wasser
und Äther unlöslich dagegen in verdünnter Kalilauge leicht löslich
ist. Letzterer kann auf diesem Wege gereinigt werden und zwar
durch Umfällen. Er spaltet bei der Hydrolyse Schwefelsäure
ab, die sich mit Barytlauge nachweisen läßt.
Nach dem oben an zweiter Stelle beschriebenen Verfahren ge-
lang es, einen vollkommen klaren hellgelben Sirup aus den Urin-
extrakten zu gewinnen, der noch nach Monaten eine intensivrote
Diazoreaktion zeigte. Eine Zersetzung tritt nur auf Zusatz von
Natronlauge oder Ammoniak auf. Es ist erforderlich bei der Auf-
arbeitung der Extrakte darauf zu achten, daß stets bei saurer
Reaktion gearbeitet wird. Extrakte, die aus dem Urin verschiedener
Herkunft hergestellt waren, ergaben übereinstimmend die folgenden
Reaktionen.
1. Mit dem Ehrlich’schen Reagens bereits in Spuren eine tief
dunkelrote Färbung.
2. Mit stark verdünnter Eisenchloridlösung in soda-alkalischer
Reaktion dunkelrote Färbung.
3. Mit verdünnter Permanganatlösung intensive Gelbfärbung.
4. Bromeisessiglösung wird momentan entfärbt.
5. Mit Millons-Reagens entsteht beim Kochen deutliche Rot-
färbung.
Die Knoop’sche Histidinprobe und die Biuretreaktion fallen
negativ aus.
Diese Reaktionen weisen darauf hin, daß es sich um ein
Phenol handelt, das den Charakter einer ungesättigten Ver-
bindung trägt.
Um aus den Extrakten, die, wie nachträglich ausdrücklich
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 11
162 HERMANNS
betont sei, keinen organisch gebundenen Schwefel mehr enthielten,
ein kristallisiertes Produkt zu gewinnen, versuchte ich durch
Fällung mit absolutem Äther aus Acetonlösang die Reinigung der
Substanz fortzusetzen. Dabei bildete sich ein körniger Nieder-
schlag, der jedoch, sobald man ihn auf das Filter brachte, voll-
kommen verharzte. Deshalb entschlossen wir uns, den Azofarb-
stoff aus den Extrakten darzustellen. Allerdings machte die
Reinigung auch dieses Produktes sehr große Schwierigkeiten. Der
reine Azofarbstoff löste sich in Pyrridin mit tiefroter Farbe, in
Wasser ist er unlöslich. Er hat einen Schmelzpunkt von 68°. Die
bereits veröffentlichten Mikroanalysen stimmen auf einen azofreien
Rest von der Formel: C,H,O,, der keinen Stickstoff enthält.
Aus dem Reichtum der Substanz an Sauerstoff geht hervor.
daß ein mehrwertiges Phenol vorliegt, ferner sprechen seine Zu-
sammensetzung und seine Eigenschaften dafür, daß es sich viel-
leicht um ein im Benzolkern oxydiertes Kumaron handelt v.n
der Struktur:
Es ist bekannt, daß Kumaron und seine Derivate sehr gerne
verharzen und leicht Brom anlagern, Reaktionen, die auch für
unser Produkt charakteristisch sind. Aus der Phenolnatur der
Substanz ergibt sich weiterhin ihre leichte Zersetzlichkeit bei
alkalischer Reaktion, sowie ihr Verhalten gegenüber Eisenchlorii
und Millons-Reagens. Man muß noch daran denken, daß der Zu-
sammensetzung nach eine Säure oder ein Lakton vorliegen könnte.
Für diesen Fall wäre aber zu erwarten gewesen, daß die Substanz
oder eines ihrer Salze in kristallisiertem Zustand zu erhalten
wären. Zahlreiche Versuche in dieser Richtung blieben ergebnis-
los. Gegen diese Annahme spricht außerdem das Resultat der
Kalischmelze, die ich zur Sicherung der Konstitution mit dem
Produkt noch vornahm. Sie wurde in der üblichen Weise bei
1:0" ausgeführt und ergab eine dunkelbraune, zäh flüssige Masse.
die in Wasser gelöst, angesäuert und mit Äther extrahiert wurde.
Aus dem Ather schieden sich beim Eindunsten in kleiner Menge
Kristalle ab, die eine violette Eisenchloridreaktion ergaben. Sie
zeigten nach dem Umkristallisieren einen Schmelzpunkt von 21°”.
Es lag offenbar Phlorogluein vor, das durch Überführen in das
e smt o mo
-m
Über den Ursprung der Ehrlich’schen Diazo-Reaktion. 163
Triacetat vom Schmelzpunkt 105° mittels Essigsäure-Anhydrid
identifiziert wurde.
Dieser Befund stünde in guter Übereinstimmung mit der Vor-
stellung, daß es sich um ein phenolartiges Kumaron handelt. Die
Diazoreaktion des Tuberkulose-Urins ist wohl hauptsächlich auf
die Ausscheidung dieses Produktes zurückzuführen.
Dasselbe Produkt ist, wie sich feststellen ließ,
auch im normalen Urin vorhanden. Der normale Urin er-
gibt, wenn man ihn genügend konzentriert, ebenfalls eine positive
Diazoprobe. Die Substanz konnte in derselben Weise wie dies
beim Tuberkuloseharn geschah, isoliert werden. Der aus den
Extrakten dargestellte Azofarbstoff zeigte dieselben Eigenschaften
wie der Tuberkulosefarbstof. Er löst sich in Pyrridin — mit
dunkelroter Farbe — und hat denselben Mischschmelzpunkt. Er
enthält keinen Schwefel, sein Stickstoffgehalt stimmt auf die gleiche
Formel wie der Tuberkulosefarbstoff.
Analyse: N-Bestimmung: 4,749 mg Substanz ergaben 0,349
Stickstoff (18° und 726 mm)
C,H,N,C1,0, berechnet: N = 823°,
gefunden: 818 „
Mithin ist die positive Diazoreaktion bei Tuberkulose auf die
vermehrte Ausscheidung eines auch beim Normalen vorkommenden
Ausscheidungsproduktes zurückzuführen, das unserer Meinung nach
endogenen Ursprungs ist.
Während der intermediäre Stoffwechsel oder was dasselbe be-
sagt, der Kraftstoffwechsel den Kern der aromatischen Aminosäuren,
wie dies Neubauer, Hermanns undFromherz dartun konnten,
aufspaltet und verbrennt, gelingt diese Umwandlung dem endogenen
Zellchemismus offenbar nicht. Die Ringsysteme bleiben bei der
Oxydation erhalten und werden mit Sauerstoff beladen im Urin als
Polyphenole ausgeschieden. Wir zweifeln nicht daran, daß
mehrere derartige Produkte im Urin vorhanden und an der Diazo-
reaktion noch beteiligt sind. Da sie eine geringere Affinität zum
Diazoreagens besitzen, so entziehen sie sich der Isolierung.
Daß es sehr wahrscheinlich endogene Endprodukte
sind, geht daraus hervor, daß dieDiazoprobe in ihrer
Intensität unabhängig von der Nahrung ist, ebenso
wenig ist, wie ich durch Versuche ermitteln konnte,
die Zufuhr von Tryptophan oder Tyrosin von Einfluß
auf die Ausscheidung des betreffenden Produktes.
11*
164 HERMANNS
Wäre noch die Frage zu beantworten, ob die Diazoprobe in
ursächlichem Zusammenhang mit dem gelben Urinfarbstof. dem
Urochrom, steht, wie M. Weiß dies annimmt.
Weiß geht von der Beobachtung aus, daß solche Urine die
eine positive Diazoprobe geben, noch in starker Verdünnung mit
1 prom. Permanganatlösung unter Gelbfärbung reagieren und
nimmt an, daß hierbei aus dem Urochromogen das gelb gefärbte
Urochrom entsteht. Um das Urochromogen zu gewinnen und einer
quantitativen Schätzung zugänglich zu machen bedient er sich der
Methode von Garrod, welcher die Farbstoffe des Urins durch
Aussalzen mit konzentrierter Ammonsulfatlösung trennte. Er stellt
fest, daß das mit Alkohol extrahierte Filtrat des Ammonsulfät-
niederschlages die Reaktion des Urochromogens, also positive Diazu-
probe und Gelbfärbung mit Permanganatlösung zeigt.
Obwohl ein befriedigender Beweis für diese Ansicht bisher
von M. Weiß nicht erbracht werden konnte, so verdient doch die
auffallende Erscheinung, daß die nach dem von mir angewandten
Verfahren erhaltenen Extrakte aus Tuberkulose-Urin mit Per-
manganatlösung eine intensive Gelbfärbung geben, die mit der
Farbe des normalen Urins übereinstimmt, große Beachtung. Es
wurde daher der Versuch gemacht das sog. Urochromogen aus dem
gereinigten Extrakt des Tuberkulose-Urins zu gewinnen. Zu diesem
Zweck wurde ein kleiner Teil des Extraktes in wenig Wasser ge-
löst und mit Kaliumpermanganat in Azetonlösung unter Zutrojfen
oxydiert. Nach Abfiltrieren von Manganoxyd, Abdampfen de:
Äthers und Reinigen mittels Bleiacetat hinterblieb ein intensiv
gelb gefärbter Rückstand, der ähnliche Reaktionen wie eine Chinon-
verbindung zeigte: Er machte aus Jodkalilösung Jod frei und lieb
sich mit SO, reduzieren. Chinone lassen sich durch Oxydation
aus Dioxybenzolen gewinnen. Es besteht die Möglichkeit, daß aus
dem phenolartigen Kumaron des Urins durch Oxydation chinonartige
Substanzen entstehen und daß der gelbe Farbstoff des Urins in
derartiger Beziehung zum Träger der Diazoreaktion steht.
Die mitgeteilten Ergebnisse liefern den Beweis.
dab es keinen einheitlichen Ursprung der Ehrlich-
schen Diazoreaktion gibt. Sie beruht auf der Aus-
scheidung phenolartiger Substanzen, die je nach der
Krankheit verschieden sind und wahrscheinlich einer
toxischen Gewebsschädigung ihre Entstehung ver-
danken.
= mm m Lt E
Uber den Ursprung der Ehrlich’schen Diazo-Reaktion. 165
Literatur.
l. Bondzinski, Dombrowski, Panek, Zeitschr. f. phys. Chem. Bd. 46,
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166
Aus der Medizinischen Poliklinik Bonn.
(Direktor: Professor Dr. Siebeck.)
Untersuchungen über die Magensaftsekretion.
vV.
Über die Magenlipase.
Von
Dr. Franz Delhougne,
Assistenzarzt.
(Mit 2 Kurven.)
Das von Volhard 1900 entdeckte fettspaltende Ferment des
Magens ist Gegenstand verschiedener Untersuchungen geworden.
Besonders durch Volhard selbst und seine Mitarbeiter ist das
physikalisch-chemische Verhalten dieses Fermentes, das als Magen-
steapsin oder Magenlipase bezeichnet wird, weitgehend aufgeklärt
worden. Dagegen sind klinische Untersuchungen über die Magen-
lipase nur vereinzelt angestellt worden. Ihre Ergebnisse stimmen
nicht überein. Diese Untersuchungen wurden im Mageninhalt. nicht
im Magensatft ausgeführt. Im Mageninhalt ausgeführte Unter-
suchungen sagen uns aber nichts aus über die wirklich vorhandene
Menge des Fermentes, da wir den Grad der Verdünnung nicht
kennen. Auch wissen wir nicht, wieweit die Untersuchungsergeb-
nisse durch Gallerückfluß, durch Pankreas — und Darmsaft beein-
flugt wurden. Dagegen haben wir im reinen Magensaft die Mrr-
lichkeit, das Verhalten der Magenlipase bei Gesunden und Kranken
unter verschiedenen Bedingungen näher festzustellen. Über solche
Untersuchungen soll im folgenden kurz berichtet werden.
Methodik: Für die Bestimmung der Magenlipase kommen vor allem
zwei Methoden in Frage: 1. die Methode von Volhard und 2. die von
Davidsohn. Das Prinzip der Volhard’schen Methode ist folgendes:
eine Eivelbemulsion wird mit einigen Kubikzentimeter Magensaft versetzt
und unter Toluolzusatz der Verdauung überlassen. Nach 24 Stund:2
Untersuchungen über die Magensaftsekretion. 167
wird das Gemisch mit Äther ausgeschüttelt, dann längere Zeit (bis
24 Stunden) auf siedendem Wasser am Rückflußkühler verseift, neutra-
lisiert und titriert. Die Titrationswerte geben den Gehalt an abgespal-
tenen und noch abspaltbaren Fettsäuren an. Diese Methode ist für klini-
sche Zwecke zu umständlich und kompliziert. Auch soll nach einer
Angabe von Saxl die Fehlerquelle dieser Methode nicht gering sein.
Wir verwandten daher mit einigen Abänderungen die Methode von
Davidsohn. Sie greift zurück auf die Arbeiten von Rona und
Michaelis, die die Oberflächenspannung von wässerigen Lösungen von
Glyzerinestern und einfachen Fetten messen und die Anderung der
Oberflächenspannung als Maß für den Ablauf fermentativer Vorgänge
benutzten. Die Glyzerinester erniedrigen die Öberflächenspannung des
Wassers selbst ın sehr geringer Konzentration, während die bei Ferment-
wirkung entstehenden Spaltprodukte nur eine ganz geringe Wirkung
suf die Oberflächenspannung haben. Wir gehen im einzelnen folgender-
maßen vor: Der Magensaft wird 50- und nötigenfalls 100fach ver-
dünnt. Von diesen Verdünnungen werden 0,5 und 1 ccm mit 75 ccm
einer gesättigten. ne Tributyrinlösung versetzt. Zu jedem Röhr-
chen werden 1 ccm Fr primäres Natriumphosphat (oder 1 ccm 5 sekun-
däres Natriumphosphat) zur Beschleunigung der Reaktion zugesetzt.
Man läßt das Gemisch im Thermostaten oder bei Zimmertemperatur eine
Stunde stehen und bestimmt nun die Oberflächenspannung. Wir be-
stimmten dieselbe mittels des Stalagmometers von Traube (Hersteller:
Firma C. Gerhardt-Bonn) aus der Zahl der Tropfen, die sich beim Ab-
tropfen eines durch 2 durchgehende Marken abgegrenzten kugelförmigen
Volumens von einer kreisrunden Abtropffläche von bestimmter Dimension
loslösen. Mit Hilfe der Skala ober- und unterhalb der Kugel kann man
noch Bruchteile eines 'Tropfens bis auf 0,05 Tropfen gut abschätzen,
indem man bestimmt, wieviel Skalenteile oben und unten einem Tropfen
entsprechen. Nach der Angabe von Traube darf die Abtropfgeschwin-
digkeit, welche durch die Kapillarröhre reguliert wird, nicht zu groß
sein, da sie sonst die Tropfenzahl beeinflußt. Jedenfalls dürfen sich
nicht mehr als 12 Tropfen in der Minute ablösen. Andernfalls ist durch
Auflegen des Fingers auf die obere UOffnung des Stalagmometers ein
langsameres Ablösen der Tropfen zu bewerkstelligen. Bei zunehmender
Temperatur wird die Tropfenzahl bekanntlich größer. Bei 100 Wasser-
tropfen beträgt die Zunalime der Tropfenzahl bei Steigerung der Tem-
peratur um 5 Grad Celsius einen Tropfen. Eine Temperaturkorrektion
kann demnach praktisch vernachlässigt werden. Für medizinische Zwecke
genügt die Angabe der relativen Tropfenzahl. Die Berechnung der
eigentlichen Größe der Öberflächenspannung ist überflüssig und daher
in den Untersuchungsergebnissen nicht durchgeführt. Nach der Angabe
von Traube kann sie leicht auf Grund folgender Formel durchgeführt
r
Zw À
werden: Die Konstante der Oberflächenspannung y = 7,30 s8 A Zenti-
4
IA
BEE LIW ; 5 ; J
metergramme, oder 7158,4 8 y Erg. wenn s das spezifische Gewicht
d
der betreffenden Flüssigkeit, Z die Tropfenzahl für die zu untersuchende
168 DELHOUTGNE
Flüssigkeit und Zw die Tropfenzahl für Wasser ist. Bei meinen Ver-
suchen betrug die Normaltropfenzahl bei 20°C für Wasser 68,75 Tropfen,
für eine gesättigte wässerige Tributyrinlösung 146,5 Tropfen. Die im
folgenden mitgeteilten Werte der Tropfen der Tributyrinlösung unter
dem Einfluß der Lipase beziehen sich, wenn nicht anders vermerkt,
auf 50fach verdünnten Magensaft.
Bezüglich der Technik zur Gewinnung des reinen Magensaftes ver-
weise ich auf die früheren Mitteilungen (Dtsch. Arch. f. klin. Med.
Bd. 150, Heft 1/2).
Um die Anwesenheit von Pankreaslipase im Magensaft möglichst
auszuschließen, benutze ich die von Volhard gefundene Empfindlichkeit
der Magenlipase gegen Alkali, während die Pankreaslipase bekanntlich
alkaliresistent ist. Es wurde bei jedem Versuche auch eine Lipase-
bestimmung bei alkalischer Reaktion des Magensaftes vorgenommen.
Magensäfte, bei denen dann noch eine deutliche Lipasewirkung nach-
weisbar war, wurden für die Versuche nicht verwandt.
Versuchsergebnisse.
Betrachten wir zunächst das Verhalten der Magenlipase während
des Ablaufes einer Sekretionsperiode. Bei der ersten Entnahme
von Magensaft nach 10 Minuten ist Lipase nur in sehr geringen
Mengen nachweisbar. Sie nimmt dann an Menge sehr schnell zu
und erreicht ihr Maximum nach 20—30 Minuten. Die Werte bleiben
dann 10—20 Minuten auf annähernd gleicher Höhe, um dann all-
mählich abzunehmen. In anderen Fällen — es sind vorwiegend
solche mit hoher Acidität des Magensaftes — scheint der Lipase-
wert nach Erreichung des Höhepunktes nach 20—30 Minuten steil
abzufallen. Dieser steile Abfall ist aber nur ein scheinbarer. Die
abgeschiedene Fermentmenge hat in solchen Fällen nur wenig abge-
nommen, vielmehr wird ihre Wirksamkeit durch die hohe Acidität
des Magensaftes gehemmt. Gibt man zu solchen Magensaftprüben
Alkali solange hinzu, bis die Acidität ungefähr der der nach
20 Minuten bis 30 Minuten entnommenen Saftproben entspricht, so
beoachtet man eine entsprechende Lipasewirkung (vgl. dazu Kurve
1 und 2). Aus den Versuchen ergibt sich also, daß das Maximum der
Lipase während des Ablaufes einer Sekretionsperiode durchschnittlich
nach 20—30 Minuten erreicht wird. Die Lipasewerte bleiben dann
10—20 Minuten auf gleicher Höhe und fallen dann allmählich ab.
Erniedrigt man die Acidität der Magensaftproben, so nimmt
die Wirkung deı Lipase zu. In 20 Versuchen fand ich das Optimum
der Lipasewirkung bei einer Titrationsacidität zwischen 5 und 10.
Bei neutraler Reaktion trat keine weitere Zunahme, eher eine Ab-
nahme der Lipasewirkung auf. Das Optimum für die Lipasewirkung
Untersuchungen über die Magensaftsekretion. 1069
liegt also bei ganz schwacher sauerer Reaktion des Magensaftes.
Diese Beobachtung steht in guter Übereinstimmung zu der Fest-
stellung von Rona (zitiert nach Davidsohn), der als Optimum
für die Wirkung der Serumlipase eine annähernd neutrale Reaktion
fand. In diesem Zusammenhange darf vielleicht auch daran er-
innert werden, daß beim Säugling, bei dem die Magenlipase ja
eine größere Rolle spielt als beim Erwachsenen, die Reaktion des
Magensaftes relativ wenig sauer ist.
Die abgeschiedene Lipasemenge ist weitgehend abhängig von
den verschiedenen Sekretionsreizen. Im Magensaft, der unter der
O B Ba
0 A RR: SE
AUBRES SNERI
720: SE mES. Er Lipasekuere l
i | l l i i T T el
PPC LıPasehAurre. | Ar ER: VE
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i | i—i | —
u AR | SAFE
70 = w | i |
70° EEE SIE i E E S E S
0’ 203040" 50'00' 70.309010 O: 5060 7080907900
Kurve 1. Wasser 68, 75 Tropfen. Ge- Kurve2. ------ = Lipasekurve in den-
sättigte wässerige Tributyrinlösung selben Saftproben nach Herabsetzung
146,5 Tropfen. der Acidität auf 60.
Einwirkung des Sondenreizes sezerniert wurde, ist sieam geringsten.
Im reinen Magensaft, der aspiriert wurde, nachdem ein Alkohol-
probetrunk von 100 ccm 5°/,igem Alkohol den Magen verlassen
hatte, ist die Lipasemenge wesentlich größer. — Gibt man am
Abend vor der Untersuchung eine größere Fettmahlzeit, so sind
im Magensaft bei annähernd gleicher Acidität Lipasewerte nach-
weisbar, die das Doppelte der Lipasemenge ausmachen, die wir
nach reiner Kohlehydratmahlzeit am Vorabend beobachen (z. B.
19:110 Tropfen). .
Ich habe weiter das Verhalten der Magenlipase unter ver-
schiedenen äußeren Bedingungen untersucht. Angestrengte körper-
liche Arbeit, welche die Acidität des Magensaftes bedeutend ver-
170 DELHOUGNE
mehrt, hat auf die Lipase keinen Einfluß. Im Magensaft, der nach
intensiver Muskelarbeit aspiriert wurde, war Lipase gar nicht oder
nur in geringen Spuren nachweisbar. Auch diese Beobachtung
spricht für die früher von mir vertretene Annahme, daß es sich
bei der Abscheidung saurer Valenzen in den Magen unter der Ein-
wirkung von Muskelarbeit nur um einen Ausgleichsvorgang des
Organismus handelt, sich vor der zunehmenden Verschiebung der
Blutreaktion nach der sauren Seite zu schützen.
Histamin, Pilocarpin, Adrenalin, Atropin und Koffein haben
bis zur Maximaldosis parenteral zugeführt, keinen Einfluß auf die
Lipase des Magens.
Wie verhält sich nun die Magenlipase bei Magenkranken’
Ich habe 22 Kranke, 14 mit Super- und 8 mit Subacidität unter-
sucht. Das Ergebnis ist kurz zusammengefaßt folgendes: Bei
Kranken mit Superacidität erscheint die Lipase sehr gering. Doch
ist der geringe Lipasegehalt nur ein scheinbarer. Setzt man
nämlich die Acidität solcher Magensaftproben durch Zugabe von
Alkali herab, so zeigt sich normale Lipasewirkung. Es besteht
also keine Fermentverminderung, sondern nur eine Hemmung der
Fermentwirkung durch Salzsäure. Z. B. betrugen die relativen
Tropfenzahlen derselben Magensaftprobe bei einer Acidität von 140
126, bei einer Acidität von 80 94 Tropfen. — Bei Kranken mit
Subaeidität fand ich die Lipase regelmäßig vermindert.
Größere Bedeutung kommt der Lipasebestimmung im Magen-
saft, so interessant ihre Ergebnisse im einzelnen auch sein mögen,
für klinische Zwecke kaum zu. Die Lipasebestimmung im Magen-
saft sagt uns nämlich nichts aus, was wir nicht auch schon auf
Grund der wesentlich einfacheren Aciditätsbestimmungen feststellen
können.
Endlich babe ich noch Versuche über die Beeinflussung der
Magenlipase durch verschiedene chemische Agentien angestellt.
Ausgehend von der Tatsache, daß hohe Acidität die Wirkung der
Lipase hemmt, versuchte ich festzustellen, bei welcher Acidität
die Lipasewirkung völlig erlischt. Ich fand eine Titrationsacidität
von 200. Neutralisiert man eine solche Saftprobe wieder, so wird
die Lipase wieder wirksam. Macht man aber den Magensaft noch
saurer (Titrationsacidität von 300 und mehr), so wird die Lipase
völlig zerstört, denn nachträglicher Zusatz von Alkali vermag die
Lipasewirkung nicht wieder herzustellen.
Weiter ergaben meine Versuche, daß auch die Magenlipase —
ähnlich wie andere Esterasen — durch oxydierende Agentien sehr
Untersuchungen über die Magensaftsekretivn. 171
schnell zerstört wird. Nach Zusatz von 1—3 ccm einer 3°,,igen
Wasserstoffsuperoxydlösung zur Saftprobe, trat keine Lipase-
wirkung mehr auf. Dasselbe gilt von Chlorkalk (1 ccm einer ge-
sättigten Lösung) und 1 ccm einer !/ ooo Kaliumpermanganatlösung.
Esterasen können bekanntlich durch Phosphate aktiviert
werden. Ich untersuchte die Wirkung der Natriumphosphate auf
die Magenlipase. Die größte Aktivierung, gemessen an der Re-
aktionsgeschwindigkeit, fand ich bei einer Titrationsacidität des
n
5
Ob das primäre oder das sekundäre Natriumphosphat verwandt
wurde, war gleichgültig. Stärkere Lösungen haben keinen deut-
lichen Mehreffekt. Handelt es sich dagegen um Magensäfte, deren
Acidität zwischen 100 4 160 liegt, so läßt sich ohne Alkalizusatz
durch weiteren Zusatz von 0,5—1,5 ccm einer 5 Natriumphosphat-
lösung eine weitere Aktivierung erzielen. — Zusatz von mehreren
Kubikzentimeter einer n Natriumphosphatlösung zerstört die
Lipase völlig.
Magensaftes von 70—80 bei 1 ccm einer Natriumphosphatlösung.
Tabelle 1.
Lipasekurve (relative Tropferzahlen: bei 4 Gesunden (Mittelwerte aus je 3 Versuchen).
1o 20 50 40 0 60 ww 80
I. 140 117 A) 1095 110 123 136
II. 137 111 oz 10$ 121 150 137
1. 158 105 >U 105 11% 125 AU
IV. 1839 1m 81 94 111 124 130 144
Lipasekurve bei einem Kranken mit Superacilität (Beispiel aus 14 Ähnlichen Kurven)
(Arıditätswerte).
140 115 111 124 129 145 145
(ld) 40) (0; (ND, 1251 (140) (150)
Lipasekurye bei einem Kranken mit Subaeidität (Beispiel aus 8 ähnlichen Kurven).
140 126 120 124 151 131 156
(10) (15) (ID (tO) (Di Kur
Zusammenfassung.
1. Die Magenlipase erreicht während des Ablaufes einer
Sekretionsperiode nach ca. 20 Minuten ihren Höhepunkt, bleibt
ca. 20 Minuten auf annährend gleicher Höhe und fällt dann mehr
oder minder langsam ab.
2. Starke Acidität des Magensaftes hemmt die Lipasewirkung.
Das Optimum für die Wirkung der Magenlipase liegt bei schwach
saurer Reaktion.
172 DELHOUGNE, Untersuchungen über die Magensaftsekretion.
3. Die Lipasesekretion ist weitgehend abhängig von den ver-
schiedenen Sekretionsreizen.
4. Histamin, Pilocarpin, Adrenalin, Atropin und Koffein haben
keinen Einfluß auf die Lipase.
5. Bei Superaciden besteht eine geringe Lipasewirkung. aber
keine Verminderung der Fermentmenge. Dagegen ist bei Sub-
bzw. Anaciden die Lipasemenge regelmäßig vermindert.
6. Schwache Säuren und oxydierende Agentien zerstören die
Lipase. Geringer Phosphatzusatz steigert die Lipasewirkung.
stärkerer Phosphatzusatz hemmt bzw. zerstört sie.
Literatur.
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klin. Med. 1901, Bd. 42, H. 56 und Bd. 43, H. 56. — 3. Ders., Verhandl. d
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14. Ders., Münch. med. Wochenschr. Nr. 49, 1925.
173
Aus dem Städtischen Krankenhaus zu Hälsingborg, Schweden.
Einige Bemerkungen
über spontanes hypoglykämisches Coma.
Von
Thor Stenström,
Dirigierendem Arzt der inneren Abteilung.
Die folgende Darstellung gründet sich auf eine klinische Be-
obachtung, die ich vor einigen Monaten zu machen Gelegenheit
hatte. In der Nacht auf den 18.11. d. J. wurde eine 34jährige,
verheiratete Frau (Journ.-Nr. 106/1926) in bewußtlosem Zustand
in die medizinische Abteilung des Krankenhauses. zu Hälsingborg
eingeliefert, wo sie bereits einmal früher im Herbste vorher wegen
einer akuten Nephropathie gepflegt worden war. Ihre Krankheit
hatte bei der Aufnahme am 9. X. 1925 recht ernst ausgesehen,
mit starker Beeinflussung des Allgemeinzustandes, leichten Ödemen
des Gesichts, einem Rest-N im Blute von 93 mg °/,, einem Eiweiß-
gehalt von 1—2°/,, in einem Harn, der außerdem reichlich Zylinder
und rote Blutkörperchen enthielt. Ihr Zustand besserte sich in-
dessen rasch, und bei der Entlassung am 21. XII. war sie dem
Anschein nach völlig gesund ohne objektiv nachweisbare Symptome
der durchgemachten Nierenkrankheit.
Nach der Heimkehr hatte sie sich, von einer gewissen Müdig-
keit abgesehen, wohl gefühlt, bis ihre jetzige Krankheit nach nur
zweitägigen unbestimmten Prodromalsymptomen in einer voll-
ständigen Bewußtlosigkeit kulminierte. Die Beschreibung des bei
der Erkrankung hervortretenden Symptomenkomplexes, die ich nach
diesen orientierenden Vorbemerkungen hier gebe, gründet sich teils
auf die eigenen Angaben der Patientin, teils auf von ihrem Mann
gemachte Beobachtungen.
Am 16. II. begann Pat. eine ausgesprochene Mattigkeit
und Unwohlsein zu fühlen, sie verlor den Appetit, hatte kalte
174 STENSTRÖM
Schweiße und bekam allmählich recht heftige Kopfschmerzen,
Diese Beschwerden hielten im großen ganzen unverändert an, bis
am Nachmittag des 18. II. eine entschiedene Verschlechterung ein-
trat. Sie begann da laut Angabe des Mannes verwirrt zu werden,
sprach unzusammenhängend und lachte unmotiviert, trat mit einem
Wort — um den eigenen Ausdruck des Mannes anzuwenden —
wie eine berauschte Person auf. Schließlich schlief sie tief ein
und konnte weder durch Anreden noch durch Schütteln erweckt
werden. Ärztlicherseits einige Stunden später dem Krankenhaus
überwiesen, befand sie sich bei der Aufnahme in einem tiefen Coma
mit einer ausgesprochenen Rigidität des ganzen Körpers, die am
stärksten in den unteren Extremitäten ausgeprägt war.
Das Krankheitsbild war in seiner Gesamtheit sehr rätselhaft,
und sichere Anhaltspunkte für seine Beurteilung lieferten weder
die anamnestischen Angaben noch die objektive Untersuchung.
Zu diagnostischen Zwecken wurde eine Lumbalpunktion vorge-
nommen. Der Befund war in allen Hinsichten normal, und die
Bewußtlosigkeit der Patientin wurde dadurch nicht beeinflußt.
Pat. war am folgenden Morgen andauernd tief bewußtlos. Die
Atmung war ruhig und gleichmäßig, der Puls weich und klein mit
einer Frequenz von 82. Temp. 35,4°C. Eine durch Katheterisierung
erhaltene Harnprobe enthielt keine pathologischen Bestandteile.
Rest-N im Blut 34 mg °/,. Ausgesprochene Rigidität der Extremitäten.
Die Pupillen reagierten auf Licht. Ophthalmoskopisch normale
Verhältnisse. Bauchreflexe konnten nicht mit Sicherheit nachge-
wiesen werden, Patellarreflexe pos., Babinski pos. an beiden Füßen.
Die Ursache der Bewußtlosigkeit der Pat. war mir andauernd
ein Rätsel. Schon während ihres früheren Krankenhausaufenthalts
hatten indessen eine eigentümliche, blaß gelbliche Hautfarbe, eine
anhaltende Übelkeit, die dann und wann ein Erbrechen auslöste,
ein ausgeprägter Schlaffheitszustand der Muskulatur und ein
niedriger Blutdruck, der bisweilen unter 100 betrug, Aufmerksam-
keit erweckt und an die Möglichkeit einer Nebenniereninsufficienz
denken lassen. Darauf gerichtete Untersuchungen hatten jedoch
zu keiner bestimmten Auffassung geführt. In lebhafter Erinnerung
an ihren damaligen Zustand wurde indessen beschlossen, eine Blut-
zuckerbestimmung auszuführen, und es wurde ferner für, theoretisch
gesehen, in gewissem Grade indiziert erachtet, der Pat. eine sub-
kutane Injektion von 1 mg Adrenalin zu geben.
Das Resultat dieses letzteren Eingriffes war ebenso über-
raschend wie erfreulich. Als ich %, Stunde danach auf die Auf-
Einige Bemerkungen über spontanes hypvglykämisches Coma. 175
forderung einer Krankenschwester zur Patientin zurückkehrte, war
sie bei vollem Bewußtsein und antwortete klar und ordentlich,
wenn auch etwas träge, auf Fragen. Die Rigidität in den Extremi-
täten war vollständig verschwunden, und Pat. bewegte sich unbe-
hindert, obwohl etwas langsam. Kurz nachher kam Antwort aus
dem Laboratorium: Blutzucker 0,035 °)..
Bei dieser Nachricht erhielt das Personal die Weisung, das
Nötige für eine subkutane Glykoseinfusion vorzubereiten, und eine
Stunde später erhielt Pat. 700 cem einer 7 "/,igen Glykoselösung.
Während der folgenden Woche erhielt sie nebst gewöhnlicher Kost,
von der sie wegen Übelkeit und Appetitlosigkeit wenig genoß,
Glykose in Tropfenklistier und Zuckerlösung per os, und außerdem
1 mg Adrenalin 3mal täglich in subkutaner Injektion. Dabei stieg
die Temperatur auf normales Niveau, und der Blutzucker, der bei
nüchternem Magen bei mehreren Gelegenheiten einen so niedrigen
Wert wie 0,04 °/, zeigte, stieg auf 0,07—0,08. Auch im übrigen
schritt die Besserung der Pat. stetig fort, und am 11. III. wurde
sie symptomenfrei aus dem Krankenhause entlassen. Es wurden
ihr da Suprarenin in Stuhlpillen, 1mg><2, und Thyreoideatabletten,
0,30x.3, verschrieben.
Nach der Heimkehr ist ihr Zustand befriedigend gewesen, und
sie hat ohne Schwierigkeit die sämtlichen Arbeiten einer Haus-
frau in einem Arbeiterheim ausführen können. Bei mehreren Ge-
legenheiten vorgenommene Untersuchungen ihres Blutzuckergehalts
haben Werte ergeben, die zwischen 0,05 und 0,11°, schwankten.
Die Ähnlichkeit zwischen dem Symptorgenkomplex, den die
Patientin während ihrer letzten Krankheit darbot, und dem klinischen
Bild, das nach einer Überdosierung von Insulin eintritt, ist un-
verkennbar. Die Erkrankung mit ihrer in ausgesprochenem Grade
hervortretenden Mattigkeit und Unruhe, den wiederholten Aus-
brüchen von kaltem Schweiß und der eigentümlichen Beeinflussung
der Psyche der Patientin sind Symptome, die ich Gelegenheit ge-
habt habe, persönlich nach einer zu kräftig ausgeübten Insulin-
behandlung mehrmals zu beobachten. Auch der später eintretende
comatöse Zustand mit erhöhtem Muskeltonus, subnormaler Tempe-
ratur und niedrigem Blutzuckergehalt ist eine allzu wohlbekannte
Erscheinung bei einer schwereren Insulinvergiftung, als daß die
Parallele eigentlich besonders betont zu werden braucht. Da
hierzu der schlagende therapeutische Effekt der Adrenalininjektion
kommt, deren günstiger Einfluß bei Insulinvergiftung wohlbekannt
u aat
176 STENSTRÖM
ist, habe ich kein Bedenken getragen, das beschriebene Krankhrcits-
bild als ein spontanes hypoglykämisches Coma zu bezeichnen.
Am nächsten lag es natürlich, den Anlaß zum Hervortreten
desselben in Störungen der inneren Sekretion zu suchen, und die
Einstellung der Untersuchung in dieser Richtung gab auch Resul-
tate von Wert. Nach einem im August 1924 durchgemachten
Partus (Placenta praevia lateralis) waren die Menses der Patientin
ganz ausgeblieben.- Schon während der Schwangerschaft hatte sie
einen nicht unbedeutenden Haarabfall vom Kopfe beobachtet, und
auch an den übrigen Teilen des Körpers sind seitdem ausgesprochene
Anomalien im Haarwuchse hervorgetreten. In den Achselhöhlen
fehlte so bei der objektiven Untersuchung jede Spur von Haaren,
in der Pubesregion fanden sich nur Lanugohaare, die Augenbrauen
waren gleich dem Haare auf dem Kopfe spärlich mit kurzen. ab-
gebrochenen Haaren. Die Nägel waren platt, dünn und spröde.
Eine Bestimmung des Ruhestoffwechsels nach Krogh zeigte am
10. III. eine Herabsetzung von 30 ,,.
Am 26. II. wurde nach subkutaner Injektion von 1 mg Adre-
nalin Zählung des Pulses und Messung des Blutdrucks vorge-
nommen. Die Untersuchung ergab in beiden Fällen ein vom
Normalen abweichendes Resultat. Die Pulskurve zeigte statt des
normal vorkommenden Anstiegs eine Senkung während mehrerer
Stunden nach der Injektion, und der Blutdruck hielt sich praktisch
genommen unverändert. Der Blutzuckerspiegel zeigte von einem
Anfangswert von 0,078°, aus nach ’/, Stunde eine maximale
Steigerung von 0,027°;,. Nach 1Y/, Stunden war der Blutzucker
auf seinen Ursprungswert zurückgegangen (s. Tabelle 1).
Tabelle 1.
t
Blutdruck | Puls en | Harnzucker
(i)
Am 26. IT. 1926 um 11084 | 72 0.073 ` Almén neg
8 Uhr 5 Min. vorm. sub-
kutane Injektion von 1 meg
Adrenalin
S Uhr 20 Min. 108 S5 TO | Z - T
Roa Bo o‘ 105 55 62 | 0.103 .
Joo P o 11285 DG 70,108 Rap
E a 112 82 DN 0.093 A -~
OO 106 50 64 Ä 0.001 R
ICh... 0 oau 1002 HO 0,093
TO or. I0D50 62 0008 f
2 A Ə a nachm. 11456 12 0.090 -
.— — Le er a ee. e e e ae e o — O
PEN ETNEN — a | —..
Einige Bemerkungen über spontanes hypoglykämisches Coma. 177
Die eben angeführten Tatsachen sprechen für eine Störung
des endokrinen Systems, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für
eine pluriglanduläre Insufficienz. Die Entwicklung der ersten
Krankheitssymptome im Anschluß an eine Schwangerschaft und
die nach. Partus ausgebliebenen Menses weisen auf eine Affektion
der Ovarien, wenn auch die letztere Anomalie in den Rahmen
einer Insufficienz der Thyreoidea eingefügt werden kann, wofür
die nachgewiesene Störung des Haarwuchses und die Herabsetzung
des Ruhestoffwechsels mit Sicherheit sprechen. Die allgemeine
Muskelhypotonie, die Hypoglykämie, vielleicht auch der Ausfall der
Adrenalinprobe deuten auf die Möglichkeit einer Hypofunktion der
Nebennieren hin.
Von größtem Interesse wäre es gewesen, eine Bestimmung des
Insulingehalts des Organismus auszuführen, und ich hatte auch die
Anstalten für die Ausführung einer solchen Untersuchung im
Physiologischen Institut in Lund getroffen. Leider scheiterte die
Sache an der entschiedenen Weigerung der Patientin, sich weiteren
Untersuchungen zu unterziehen.
Eine Funktionsprobe mit Glykose wurde am 8. III. ausgeführt,
wo die Pat., die 52 kg wog, auf nüchternen Magen 52 g Glykose
in 10°/ iger wässeriger Lösung erhielt. Wie aus Tabelle 2 hervor-
geht, bietet das Untersuchungsresultat keine Abweichungen von
dem Normalen dar.
Tabelle 2.
Blutzucker ae
| un en
4. III. um 8 Uhr 20 Min. vorm. 0,083 Alınen neg.
8 50 n a | 0,103 ” .
2 U. | 0.161
v 0.139 N
10 |. 20 . n V,OSO
10 a 50 noo ‘n | 0.064
11 n 20 nooo 0.059
12 D e a | 0.073
n ”
Es kann ja für die Patientin als ein glücklicher Zufall ange-
sehen werden, daß sie früher in der Abteilung gepflegt worden
war, und daß ihr damaliger Zustand Anlaß zum Nachdenken ge-
geben hatte. Anderenfalls wäre sie wohl mit dem größten Grad
von Wahrscheinlichkeit dem Tode entgegengegangen, in dia-
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 12
178 Stenström, Einige Bemerkungen über spontanes hypoglykämisches Coma.
gnostischer Hinsicht unaufgeklärt wie so viele andere Krankheits-
fälle. In ihren praktischen Konsequenzen ist die gemachte Be-
obachtung vielleicht von geringerer Bedeutung, da es wohl kaun
anzunehmen ist, daß Zustände dieser Art allgemeiner vorkommen.
Theoretisch gesehen, dürfte der Fall dagegen ein gewisses Inter-
esse darbieten, da es meines Wissens das erste Mal ist, daß ein
Krankheitsbild dieses Typus beschrieben worden ist.
. 119
Aus dem Pathologischen Institut der Universität Jena.
(Direktor Professor Dr. Berblinger.)
Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose“
(3. Leukämieform ?).
Von
Dr. med. Hans Krahn,
Volontärassistent am Institut.
(Mit 2 Abbildungen im Text.)
Durch die Abgrenzung der Monocyten als dritte selbständige
Blutzellklasse von der lymphatischen und myeloischen Reihe hat
auch der bisherige Leukämiebegriff, der nach den zwei Arten
leukopoetischen Gewebes nur eine Iymphatische und eine myeloische
Form umfaßte, eine Erweiterung erfahren. So ist zur Lymphadenose
und Myelose als dritte Leukämieform die Reticuloendotheliose, s.
Monocytenleukämie hinzugekommen. Wie nun die Lymphadenose
und Myelose in eine aleukämische und leukämische Form zerfällt,
wird auch bei der Reticuloendotheliose zwischen einer aleukämischen
und leukämischen Form unterschieden und die aleukämische Reti-
culoendotheliose wieder getrennt in eine aleukämische Reticulose
und eine aleukämische Endotheliose, je nachdem an der Proli-
feration nur Reticulumzellen oder. Endothelzellen beteiligt sind.
Hyperplasien des Iymphatischen oder myeloischen Systems
lassen eine zweifache Deutung zu. Entweder sind sie aufzufassen
als Iymphatische oder myeloische Reaktionen bei Infektionen oder
aber als irreparable Vegetationsstörungen, d. h. echte Leukämien.
Die Entscheidung kann manchmal schwierig sein. So vermag es
nach Naegeli schon aus relativ geringer Veranlassung heraus bei
Kindern zum Auftreten granulocytärer, Iymphocytärer und erythro-
cytärer Jugendformen im Blute und weiter zu erythropoetischen,
myeloischen Bildungen in Milz, Leber, Knochenmark, Lymphknoten,
ja selbst zur Entwicklung eines großen Milztumors zu kommen,
12*
180 . Krans
ohne daß eine echte Leukämie zu bestehen braucht, vgl. Fall
Nelken: 4jähr. Knabe, multiple Drüsenschwellung, Milztumor,
große schleierartig belegte Tonsillen, 58000 Leukocyten, davon
56 °/, Lymphocyten mit atypischen Formen ; selbst die mikroskopische
Untersuchung einer exzidierten Drüse ließ an Jymphatische Leu-
kämie denken, erst durch den günstigen Ausgang wurde bewiesen,
daß nur eine Jymphatische Reaktion vorlag. Wie bei Kinden
vermögen auch bei Erwachsenen akute Infektionen von leukämoiden
Blutveränderungen und myeloiden Metaplasien in den verschieden-
sten Organen begleitet oder gefolgt zu sein. (Werzberg,
Franco, Herzenberg) C. Sternberg spricht in solchen
Fällen nur von „biologischer Reaktion auf gewisse Infektionserreger
vornehmlich Streptokokken“ und lehnt die akute Leukämie als
selbständiges Krankheitsbild ab.
Ist nun schon bei Hyperplasie des Iymphatischen wie myeloischen
Systemes die Deutung oder Auffassung unsicher, so gilt dies erst
recht für das sog. dritte oder monocytäre Blutzellsystem (reticulo-
endotheliales System), denn wir wissen, daß es gerade eine der
hervorragendsten Eigenschaften des Reticuloendothels ist und direkt
in seinen physiologischen Funktionen begründet liegt, auf die
mannigfachsten Ursachen hin, in schnellster und ergiebigster Form
zu reagieren. Schilling, Siegmund, Herzog, Oeller,
Kuczinsky, Wolff, Domagk u. a. haben in zahlreichen Tier-
versuchen gezeigt, daB auf verschiedenste Reize, wie subkutane,
intraperitoneale, intravenöse Einverleibung von Bakterien, Toxinen,
kolloidalen Eiweißkörpern und Metallen, artfremden Blutzellen u. a.
eine starke celluläre Reaktion von seiten des reticuloendothelialen
Systems einsetzt, die nicht nur auf Milz, Leber, Lymphdrüsen,
Knochenmark beschränkt zu bleiben braucht, sondern darüber
hinaus auch in anderen Organen und Geweben eintreten kann.
Schon 20 Min. nach intravenöser Hühnerblutinjektion konnte
Oeller eine erhebliche adventitielle Reaktion in Form von Zell-
neubildung und adventitieller Einscheidung größerer und kleinerer
Arterien nachweisen. Er konnte weiter zeigen, daß neben dieser
adventitiellen Reaktion eine endotheliale Reaktion verläuft, die
anfangs nur in Abschilferung von Milzsinus- und Lungenkapillar-
endothelien besteht, bald aber in so starke endotheliale Wucherungen
übergehen kann, daß endarteriitische und endophlebitische Bilder
entstehen. Solcher histiocytären Reaktion in den Geweben geht
im Blute nach Schittenhelm und Ehrhardt eine Vermehrung
der Monocyten parallel.
tetieuloendotheliale Reaktion oder „Reticulvendotheliose“ (3. Leukämiefuorm ?). 181
Aus mannigfacher Ursache heraus sehen wir also eine
Wucherung der Reticuloendothelien nicht nur in den Hauptbezirken
des Reticuloendothelialen Systems, sondern gewissermaßen heterotop
in allen Organen (Adventitiazellen) einsetzen, sehen wir weiter im
Blute Monocyten in vermehrter Menge und sogar deren unreife
Vorstufen auftreten, und doch werden wir hier nicht von einer
reticuloendothelialen Leukämie sondern einem experimentell er-
zeugten, reaktiven Vorgang sprechen müssen.
Solche tierexperimentell gewonnenen Befunde finden ihre
Parallele in der menschlichen Pathologie. Schilling, Kaznelson,
Naegeli, Weil, Baader, Elkeles u. a. haben reticuloendo-
theliale Reaktionen mit Monocytenvermehrung und Makrophagen-
auftreten in zahlreichen Fällen infektiöser, toxischer und parasitärer
Erkrankungen beschrieben, so bei Typhus, Malaria, Trypanosomiasis,
Ankylostomiasis, Angina, Endocarditis ulcerosa, Variola vera,
Streptokokkenpyämie, Sepsis, Tuberkulose, Endocarditis lenta,
Salvarsanintoxikation u. a. Um ein Beispiel herauszugreifen, so
fand Schilling in zwei Fällen von Endocarditis ulcerosa in der
Milz „strichweise ein wirres Maschenwerk von anastomosierenden
Elementen, aus deren Verbande sich vielfach einzelne Zellen ab-
rundeten und ablösten mit und ohne Phagocytose,* an den Sinus-
endothelien „Proliferation, Vorspringen in das Lumen und Phago-
eytose*. Am Leberschnitt „fielen die sehr vermehrten Sternzellen
auf“, und die Pfortaderkapillaren waren in der Peripherie teilweise
„direkt verstopft mit den sich ablösenden und freien Monocyten
und Makrophagen.“ Im Blute bestand hochgradige Monocyten- und
Makrophagenvermehrung. Da nun unter den proliferierten Reti-
culoendothelien zahlreiche fixe und sich ablösende Makrophagen
vorkamen, und zwischen diesen uud den Blutmonocyten fließende Über-
sänge bestanden, sieht Schilling in den freien Makrophagen die
ausgeschwemmten Stammzellen der Monocyten. Auf dem Boden
einer Allgemeininfektion (Diplococcus crassus) war es also hier
analog den Tierbefunden zu ungewöhnlich starken Wucherungs-
erscheinungen am reticuloendothelialen System, nicht nur zu einer
vermehrten Ausschwemmung reifer Monocyten, sondern sogar deren
unreifer Vorstufen, der Makrophagen, gekommen. Ähnlich sind die
Befunde, die Baader in Fällen schwerer Allgemeininfektion nach
nekrotisierender Angina mit Leber-, Milz-, Drüsenschwellung, mit
hochgradiger anhaltender Monocytenvermehrung erhoben hat, und
die er deshalb unter der Bezeichnung „Monocytenangina* zusammen-
faßt. Hierher gehören auch die Angina agranulocytotica (Elkeles),
182 Kraus
die monocytäre Reaktion bei Salvarsandarreichung (Kohn), die akute
infektiöse Stammzellenvermehrung (83 °/,) bei Angina (Hopmann),
die hochgradigen reticuloendothelialen Monocytosen (bis 80 °/,) bei
Endocarditis lenta (Joseph) u. a. m. Stets handelt es sich um
hochgradige retieuloendotheliale Metaplasien mit leukämoidem
monocytärem Blutbild (Mouocytose, unreife Vorstufen, Stammzellen.)
Fragt man sich, warum denn nicht jede Infektion mit solcher
monocytären Reaktion verläuft, so wird man mit Baader und
Hopmann in erster Linie an eine besondere Art des jeweiligen
Infektionserregers zu denken haben. Wie es nach Sternberg
Streptokokkenstämme gibt, die ganz besonders leicht zu myeloiden
Reaktionen der hämatopoetischen Organe und zu Myelocytosen führen,
so dürfte es auch andere Stämme geben, die hauptsächlich reizend
am reticuloendothelialen System angreifen und vielleicht das myelo-
ische System gleichzeitig hemmend beeinflussen, wie uns ähnliches
vom Typhusbacillus bereits bekannt ist. Konstitutionelle Momente
im Sinne einer Granulocytenminderwertigkeit, wie sie Türk be-
sonders betont hat, dürften hier weniger eine Rolle spielen, weil
bei solchen Individuen jeder Infekt zur Monocytenvermehrung
führen müßte, was jedoch nicht den tatsächlichen Verhältnissen
entspricht (Baader, Sprunt, Evans). Auch sind nach F. Mar-
chand Individuen nicht bekannt, die dauernd an einer wesent-
lichen Verminderung polymorphkerniger Zellen leiden, wie man es
bei der Annahme einer angeborenen Verkümmerung des Granulo-
cytensystemes doch erwarten sollte. So dürften denn allein auf
infektiös-toxischer Basis reticuloendotheliale Metaplasien und
leukämoide Blutbilder entstehen und zwar in einem Ausmaße, wie
es uns für analoge Fälle Jymphatischer und myeloischer Reaktion
fremd ist. Daß bei solchen Befunden die Deutung: echte Leukämie
oder leukämoide Reaktion schwierig ist, liegt auf der Hand.
Von Reschad-Schilling, Ewald, Bingel, Letterer
u.a. sind nun derartige Fälle reticuloendothelialer Hyperplasie als
Leukämie und zwar als Reticuloendotheliosen leukämischer oder
aleukämischer Form beschrieben worden. Ich selbst hatte Gelegen-
heit einen ähnlichen Fall anatomisch zu beobachten, konnte mich
jedoch in der Deutung der Befunde nicht der Ansicht genannter
Autoren anschließen.)
5jähr. Mädchen, Beginn der Erkrankung vor ca. 6 Monaten mit
Mattigkeit und Appetitlosigkeit, ab und zu Fieber. In letzter Zeit
1) Für die freundliche Überlassung der Krankengeschichte bin ich Herm
Prof. Dr. Ibrahim zu besonderem Danke verpflichtet.
Retieuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose“ (3. Leukämieform ?). 183
Brennen beim Wasserlassen. Blut im Harn. Einweisung in die hiesige
Kinderklinik von seiten des praktischen Arztes unter der Diagnose Cy-
stitis und Anämie. Familienanamnese o. B. Befund: Für sein Alter
um 10 cm zu kleines Kind, in hochfieberhaftem Zustande (40,8 °). Auf-
fallend blasse Hautfarbe, ziemlich herabgesetzter Ernährungszustand,
blasse Nägel, blasse Schleimhäute mit leicht gelblichem Schimmer. Ver-
größerung der nuchalen, cubitalen, axillaren, inguinalen Lymphdrüsen.
. Rachen nicht gerötet, große Tonsillen, Zunge belegt. Lungen o. B.
Herz: Aktion sehr erregt, systolisches Geräusch über der Spitze. Leber:
etwas vergrößert, Milz nicht palpabel. Reflexe lebhaft, o. B. Harn:
Albumen 4, Sach. —, Urobilinogen: —, Diazo: —. Im Sediment’
Leukocyten, vereinzelte Erythrocyten, hyaline und granulierte Zylinder.
Blutbild: Hämoglobingehalt: 13 °/,. Erythrocyten: 1,06 Millionen, Aniso-
cytose, Poikilocytose, Mikro- und Makrocyten, keine Megalocyten, keine
Normo- und Megaloblasten. Leukocyten: 3000, davon: Lymphocyten:
80 °/,, große Lymphocyten: 8°/,, Übergangsformen: 3 %/,, Jugendformen:
2°, Stabkernige: 1 °/,, Segmentkernige: 10 °,. Eosinophile: 2 °/,.
Gerinnungszeit: 11,5 Min. Bilutungszeit über 10,5 Min. Thrombocyten:
99000. Rumpel-Leede: +. Auf Agarbouillon und Traubenzucker-
kulturen waren keine Erreger nachweisbar. Verlauf: Durch Elektro-
kollargol und Bluttransfusionen vorübergehend Temperaturabfall uuf 37,4°,
Ansteigen der Erythrocytenzahl von 1,06 auf 2,6 Millionen, des Hämo-
globingehaltes von 13"), auf 42 °),, Leukocyten fallen von 3000 auf
1600 ab. Auf 1 ccm Adrenalin keine Leukocytenausschwemmung, unter
weiterem Absinken der Leukocyten auf 500 und Auftreten von Ikterus:
Exitus letalis.
Klinische Diagnose: Sepsis mit aregenerativer Anämie.
Aleukämische Iymphatische Leukämie?
Sektion am 12. XI. 1925, 8 Std. p. m. S. Nr. 493/25, Patho-
logisches Institut Jena. Wesentliche anatomische Befunde:
Leiche eines ca. 5jähr., 100 cm langen, 14 kg schweren, grazil ge-
bauten Mädchens. In Achselhöhlen, Leistenbeugen, am Halse bis bohnen-
grobe, derbe, verschiebliche Lymphdrüsen, Skleren gelb, Schleimhäute blaß,
Haut subikterisch. Leber überragt in der Mamillarlinie um 1 Querfinger
den Rippenbogen. Mesenteriale, periportale, perilienale Lymphdrüsen stark
vergrößert, von fester Konsistenz und geröteter, feuchter Schnittfläche.
Thymus klein, blaß. Beide Lungen weisen an der Vorderfläche sub-
pleurale Blutungen verschieden starker Ausdehnung auf, die im Zen-
trum weißliche Bezirke erkennen lassen. Die gleichen Veränderungen
finden sich auch an den hinteren und unteren Lungenabschnitten und
nehmen an Dichte zwerchfellwärts zu. Die Pleura ist im Bereich dieser
Stellen getrübt. Beide Pleurahöhlen frei von Verwachsungen, enthalten
eine geringe Menge trüben, hämorrhagischen Exsudates. Herz: unter
dem Epikard, besonders zahlreich an der Rückseite des Herzens, steck-
nadelkopfgroße Blutungen. Beide Ventrikel und Vorhöfe dilatiert, ihre
Wände nicht hypertrophisch. Herzmuskelfleisch blaß, von gleichmäbig
gelbbrauner Farbe. Lungen: Die anfangs erwähnten Blutungsherde
erweisen sich auf der Schnittfläche als keilförmig hämorrhagisch in-
184 KRAHN
farzierte Bezirke, die zentrale Partie ist erweicht und läßt sich als trockner,
nekrotischer Pfropf herausheben. Bronchialschleimhaut leicht gerötet,
Hiluslymphdrüsen geschwollen, auf der Schnittfläche feucht, braunrot.
Halsorgane: Lymphatischer Apparat des Zungengrundes kräftig ent-
wickelt, Tonsillen groß, stark zerklüftet, auf dem Schnitt frei von Eiter-
herden. Milz: vergrößert, 85 g schwer, Follikel klein, Pulpa breit,
dunkelrot, nicht abstreifbar. Nieren: an der Oberfläche um unregel-
mäßig begrenzte, gelbe, erweichte Partien herum ausgedehnte Blutungen, .
die auf dem Schnitt streifenföormig Rinde und Mark durchsetzen und bis
in die Markpapillen herabreichen. Zum Nierenbecken hin nehmen die
Veränderungen an Stärke zu. Größere Nekroseherde und Blutungen, be-
sonders im unteren Pol der rechten Niere. In der Nierenbecken- und
Ureterenschleimhaut zahlreiche stecknadelkopfgroße Blutungen. Harn-
blasenschleimhaut geschwollen, in der Gegend des Trigonum Lieutaudii
wie des Blasenscheitels von Blutungen durchsetzt. Leber: etwas ver-
größert, Konsistenz leicht vermehrt, auf dem Schnitt Läppchenzeichnung
angedeutet. In der Gallenblase dunkle, dickflüssige Galle. In Brust-
und Bauchaorta fleckige und streifig angeordnete Intimaverfettung.
Femurmark: von splenoider Beschaffenheit. Schädel: o. B.
Anatomische Diagnose: Cysto-Pyelonephritis. Hämatogene
Nierenabscesse und Lungenabscesse, subpleurale und subepicardiale
Blutungen. Dilatation sämtlicher Herzhöhlen. Anämie. Hyper-
plasie derabdominalen,axillaren, inguinalen Lymph-
drüsen. Splenoide Beschaffenheit desKnochenmarks.
Milzhyperplasie. Streifige Intimaverfettung der Aorta, Hirn-
ödem, Ikterus universalis.
Mikroskopische Untersuchung: Untersucht wurden:
Milz, Leber, axillare, inguinale, mesenteriale und paraaortale Lymph-
drüsen, Tonsillen, Knochenmark, Nieren, Nebennieren, Lungen.
Zwerchfell, Herzmuskel, Blase, fixiert in Orth’scher und Zenker'scher
Lösung und in Formalin. Neben den üblichen Färbemetlhoden
wurden angewandt: Mallory's Säurefuchsin - Anilinblau - Orange
Methode, Panoptische Färbung nach Pappenheim (May-Grünwald
und Giemsa) und die Oxydasereaktion.
Mikroskopischer Befund.
Milz: Lymphatisches Gewebe im ganzen reduziert: kleine, zellarme
Lymphfollikel, geringe Lymphocytenanhäufungen nur noch in unmittel-
barer Umgebung der Gefäße. Das Gesichtsfeld wird beherrscht durch
die in breiten Straßen zwischen den spärlichen Resten Iymphatischen
(Gewebes hinziehende Pulpa. Stellenweise um intra- und extrakapıl.är
gelegene Bakterienhaufen herum Nekrosen und Blutungen. Die breite
Pulpa setzt sich aus stark gewuclherten, spindeligen Zellen mit hellem
feingezeichnetem, meist längsovalem Kern zusammen. Der verhältnis-
mäbig schmale Zelleib hat 2 oder 3 spitz auslaufende Fortsätze, die un-
Se
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Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose“ (3. Leukämieform?) 185
mittelbar in Reticulumfasern übergehen. Die Maschen dieses breiten
reticulären Netzes sind ausgefüllt mit blassen Erythrocyten und großen
einkernigen Zellen, die morphologisch viel Ähnlichkeit mit den Reticulum-
zellen besitzen. Ihr Kern ist ebenfalls groß, feinwabig, verhältnismäßig
chromatinarm, nur zeigt er eine vorwiegend runde Form. Der Proto-
plasmaleib ist selten spindelig, meistens polygonal bis rund und im Gegen-
satz zu den lymphatischen Zellen recht breit. Da fließende Übergänge
zwischen sich eben ablösenden Sinuswandzellen und solchen frei in den
Maschen liegenden Zellen zu sehen sind, kann es sich nur um abge-
stoßene, gewucherte Sinusendothelien handeln. Auch in den an Zahl
und Ausdehnung ganz zurücktretenden Malpighischen Körperchen ist das
reticuläre Gerüst stärker als gewöhnlich betont. Zwischen typischen,
dunkelkernigen, plasmaarmen Mikro- und Makrolymphocyten liegen un-
regelmäßig verstreut große Zellelemente mit großem, rundem, hellem Kern
und breitem polygonalem Protoplasma, die wegen ihres Zusammenhanges
mit dem Reticulum ebenfalls als gewucherte Reticulumzellen angesprochen
werden müssen. ÖOxydasereaktion negativ.
Lymphdrüsen: An sämtlichen Lymphdrüsen (axillaren, inguinalen,
mesenterialen, paraortalen, periportalen, perilienalen) lassen sich die
gleichen Befunde wie an der Milz erheben, nur sind die Veränderungen
bier quantitativ noch stärker. Das Iymphatische Gewebe wird durch die
gewucherte Pulpa oft fast ganz erdrückt, nur in der Rindensubstanz und
an einzelnen Stellen der Markstränge erkennt man noch Lymphocyten-
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Abb. 1. Wucherung der Reticulum- und Endothelzellen in der Lymphdrüse.
Schwache Vergrößerung.
186 KRAHN
häufchen als Reste lymphatischen Gewebes. Die Marksubstanz wird fast
ausschließlich von stark vermehrten plasmareichen Zellen gebildet, die in
ihrer Gesamtheit durch die Parallelstellung der Kerne eine streifige
Struktur darbieten. Es handelt sich auch hier um stark gewucherte
7 DA:
Dieselbe Lymphdrüse bei starker Vergrößerung.
R = Gewucherte Reticulumzellen
7°
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E = In Ablösung begriffene Endothelzellen
B = Bakterienhaufen
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Reticulumzellen. Stellenweise nehmen sie mehr rundere, plumpere
Formen an, lösen sich aus dem Zusammenhang mit den übrigen Reti-
culumzellen los und liegen dann frei in den Maschen zwischen Lympho-
und Erythrocyten, so daß die Unterscheidung von abgeschilferten Endo-
thelzellen äußerst schwierig oder unmöglich sein kann. Die Sinusendo-
thelien zeigen ebenfalls starke Proliferation; fast in jedem Gesichtsfeld
Retieuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose“ (3. Leukämieform ?) 187
sieht man, wie einzelne Endothelzellen in Ablösung begriffen sind. Oft
ist dabei der Zusammenhang mit dem Wandendothel so locker, daß man
gar nicht sagen kann, ob es sich schon um freie, oder noch haftende
endotheliale Elemente handelt. Auch die Iymphatischen Rindenknötchen
und Markstränge sind diffus mit gewucherten und losgelösten Reticulum-
und Endothelzellen durchsetzt, so daß oft der Knötchencharakter in der
Anordnung der Iymphatischen Zellen ganz verloren geht. An zahlreichen
Stellen der Rinden- und Markzone finden sich um Bakterienhaufen herum
die gleichen 'Nekroseherde wie in der Milz. Oxydasereaktion negativ.
Knochenmark: Das Mark ist mäßig zellreich, bei starker Ver-
größerung sieht man überall das verbreiterte reticuläre Gewebe zwischen
den einzelnen Blutzellnestern. Auch an den Kapillarendothelien besteht
deutliche Proliferation mit Vorspringen in das Lumen und Abstoßung
der gewucherten Zellen. Das myeloische Gewebe ist wie die Oxydase-
reaktion zeigt, stark reduziert, reifere granulocytäre Formen fehlen fast
ganz, Riesenzellen sind spärlich, Lymphocyten und Lymphoblasten zahl-
reicher vertreten.
Leber: Normale Leberstruktur überall erhalten. Kupffer’sche
Sternzellen vermehrt, oft in das Lumen abgestoßen, stellenweise mit
phagocytierten Leukocyten beladen, doch bleibt die Stärke der endo-
thelisalen Reaktion hinter der in Milz und Lymphdrüsen zurück. Inter-
lobulär in der Umgebung der Pfortaderäste Rundzellinfiltrate, oft mit
Bakterienhaufen. Polynucleäre Zellformen fehlen in diesen Infiltraten fast
ganz. Oxydasereaktion negativ.
Nieren: Um zentrale Bakterienhaufen ausgedehnte Nekrosen mit
Blutungen; sie durchsetzen die ganze Nierensubstanz, halten sich in der
Marksubstanz vorwiegend an den geraden Verlauf der Sammelröhren, in
der Rindensubstanz an den der Markstrahlen. Die schwersten Verände-
rungen liegen in der Nähe der Markpapillen. Die Randpartien dieser
Nekroseherde sind diffus durchblutet und mit Infiltratzellen durchsetzt;
auch hier besteht wie in der Leber das Gros der Infiltratzellen nicht
aus polynukleären Leukocyten, sondern aus großen und kleinen rund-
kernigen Zellelementen mit negativer Oxydasereaktion. Außer diesen
schweren Veränderungen finden sich noch in der Rinde in der Umgebung
der Vasa afferentia und in einzelnen Glomerulusschlingen umschriebene
Kokkenhaufen, die noch nicht zu Nekrose und zellulärer Reaktion ge-
führt haben. Lungen: Kokkenemboli in den Kapillaren, in der Um-
gebung Nekrose und Blutungen. In den Tonsillen Vermehrung der
Reticulumzellen und Hyperplasie der Iymphatischen Elemente. Epithel
intakt.
Im Leichenblut (Hygienisches Institut Jena) Bakterium Coli und
Bazillus Proteus.
Bei dem uncharakteristischen Krankheitsbeginn,. den wechseln-
den Beschwerden, dem geringen Organbefund war es klinisch nicht
möglich, zu einer sicheren Deutung des ganzen Krankheitsbildes
zu kommen. Die hohen Temperaturen, das schlechte Allgemein-
befinden, die schwere Schädigung des Granulocytenapparates und
188 Kraun
die hochgradige Anämie ließen einerseits an Sepsis mit aregenera-
tiver Anämie denken, andererseits war bei der diffusen Hyper-
plasie des gesamten Iymphatischen Apparates, der Vermehrung der
lymphatischen Zellen im Blute (88°,) eine leukämische Lymph-
adenose nicht mit Sicherheit auszuschließen.
Die Klärung war erst durch den pathologisch-anatomischen
Befund gegeben: Die streifenförmigen Nekrosen und Hämorrhagien
in beiden Nieren, die Blutungen in der Nierenbecken-, Ureteren-
und Blasenschleimhaut sind zweifellos Ausdruck einer ascendieren-
den, eitrigen Pyelonephritis, die ihrerseits wieder zur Allgemein-
infektion, zu den Bakterienembolien mit Nekrosen und Hämorrhagien
in Lungen, Milz, Lymphdrüsen, Leber, Glomerulusschlingen geführt
hat. Die geringe Beteiligung granulocytärer Formen an den ent-
zündlichen Infiltraten in Leber und Nieren, das Fehlen eigentlicher
Abscesse, die Thrombo- und Neutropenie, das Ausbleiben einer
Adrenalinleukocytose finden’ ihre Erklärung in der Reduktion des
myeloischen Gewebes, in der Verminderung der Megakaryocyten
und in dem Fehlen reiferer granulocytärer Zellelemente im Knochen-
mark. Die Vergrößerung von Milz und Lymphdrüsen aber ist be-
dingt durch eine außergewöhnlich starke Hyperplasie der Reticulum-
und Endothelzellen, die mikroskopisch auch in gleichem Maße im
Knochenmark und weniger deutlich in der Leber seitens der
Kupffer’schen Sternzellen festzustellen ist. In Milz und Lymph-
drüsen wird das normale Gewebe durch die enorme reticuloendo-
theliale Wucherung fast ganz verdrängt, so daß stellenweise direkt
leukämieähnliche Bilder entstehen. Nach dem ganzen klinischen,
makroskopischen und mikroskopischen anatomischen Befund, handelt
es sich jedoch um eine Sepsis mit myeloischer Insufficienz, die nur
zu ungewöhnlich hoher (leukämoider) reticuloendothelialer Reaktion
geführt hat.
Ganz ähnlich wie in diesem mitgeteilten Falle reticuloendo-
thelialer Hyperplasie sind auch die Befunde, die Reschad-
Schilling, Fleischmann, Ewald, Hirschfeld, Bingel,
Letterer und Goldschmid-Isaac in ihren Fällen erhoben
haben, nur kommen genannte Autoren zu einer anderen Deutung,
insofern sie nicht von einer reticuloendothelialen Reaktion bei
Allgemeininfektion, sondern von einer selbständigen Krankheit im
Sinne einer 3. Leukämieform, einer „Reticuloendotheliose* sprechen.
\Wieweit eine solche Auffassung zu Recht besteht, ob man bis heute
überhaupt berechtigt ist, von einer reticuloendothelialen Leukämie
Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticulvendothelivse“ (3. Leukämieform?) 189
zu sprechen, möchte ich, angeregt durch die vorstehende Beob-
achtung, an Hand der einzelnen Fälle hier noch erörtern.
Ich gehe zunächst auf die mit charakteristischem Blutbild ver-
laufenden, also „leukämischen Reticuloendotheliosen“ ein, von denen
bisher fünf in der Literatur zu finden sind. Es handelt sich um
die Veröffentlichungen von Reschad-Schilling, Fleisch-
mann, Ewald, Hirschfeld und Bingel. Ich bringe als
ersten den Fall Reschad-Schilling etwas ausführlicher, da
sich auf diesen, als auf die erste diesbezügliche Veröffentlichung
(1913) die weiteren Beobachtungen hauptsächlich stützen.
Ein 33jähr. Maurer erkrankt aus voller Gesundheit heraus mit Zahn-
fleischentzündung, Schüttelfrost, Hautblutungen, Nasenbluten, Durchfällen.
Klinisch läßt sich ein besonderer Organbefund nicht erheben. Im Harn
1°/, Albumen, zahlreiche Leukocyten und granulierte Zylinder. Blut-
befund: Erythrocyten: 2245000, Leukocyten: 15100, große Mononu-
cleäre und Übergangsformen : rundkernig: 7,4, polymorphkernig: 64,4 °/,,
zusammen: 71,8°,. Basophile u. Eosinophile: 0, Myelocyten: 0,2, Meta-
myelocyten: 2,4, Stabkernige: 2,2. Segmentkernige 10,6 °/, = regene-
rative Verschiebung der Neutrophilen mittleren Grades, Lymphocyten:
12°',, Reizformen: 0,4°;,. Schließlich Milzschwellung, Ansteigen der
Leukocyten auf 43000; der genauere Blutbefund im großen und ganzen
unverändert, etwas geringere regenerative Verschiebung der Neutrophilen
„absolut müssen die Zellen jedoch eine erhebliche Zunahme erfahren
haben“, da sie mit der allgemeinen Zahlerhöhung ziemlich Schritt halten.
Große Mononucleäre und Übergangsformen werden z. T. atypisch: „zen-
trale Vakuolen oder sehr große Sphärenbildung mit deutlichen Zentro-
somen®. Die großen Einkernigen werden auch von Pappenheim und
Naegeli für Monocyten gehalten. Nach Naegeli liegen in dem ihm
zugesandten Präparat jedoch nur „typische Mononucleäre und Übergangs-
formen“ vor. Die Sektion ergibt: Starke Milzschwellung, Perisplenitis,
Siderosis hepatis, Trübung der Nieren als Hauptbefund. Histologisch
finden sich in der Haut adventitielle Infiltrate aus großen einkernigen
Zellen, im Femurmark beginnende Umbildung zu myeloischem Gewebe
mit auffallend wenig Erythropoese, positive Oxydasereaktion. In den
Mesenterialdrüsen reichliche Spuren der Erythrophagocytose, Umwand-
lung des interfollikulären Gewebes in normales myeloisches Gewebe mit
stärkster Oxydasereaktion, adventitielle Anbäufung von großen Einkernigen
mit negativer Oxydasereaktion. In der Leber kleinzellige Infiltration des
interlobulären Gewebes, in den Gefäßen der Acini massenhaft große, gut
erkennbare Splenocyten ohne ÖOxydasereaktion. Milzabstriche bestehen
fast rein aus Splenocyten, Follikel kaum noch erkennbar, Pulpa vollge-
stopft mit Erythrophagen, großen Herden vom Plasmazellen und außer-
ordentlichen Mengen der großen Einkernigen. Einzelne normale, reife
Myelocyten sind stellenweise vorhanden, und scheinen Herden beginnen-
der myeloischer Umwandlung anzugehören, keine Riesenzellen; myeloische
Zellen geben stärkste Oxydasereaktion, während die große Zellmasse
weiß bleibt.
190 KRAHN
Zur Begründung ihrer Diagnose Splenocytenleukämie führen
Reschad-Schilling aus: „Da die klinischen Daten unzweifel-
haft für das Krankheitsbild sprachen, welches man bei akuter
großzelliger Leukämie beobachtet, alle Anzeichen einer leukämi-
schen Entartung der Granulocyten oder der Lymphocyten völlig
und dauernd fehlten und nur massenhafte große Mononucleäre und
Übergangsformen in leukämischen Graden zu finden waren, so
stellten wir die Diagnose auf reine, bisher unbekannte Splenocyten-
leukämie“. Als weitere Stütze für diese Diagnose geben sie an:
die leukämische Zahlenhöhe der Monocyten im Blut, die Verdrän-
gung der normalen Hämatopoese und das infiltrative Wachstum der
Splenocyten.
Einer Auslegung des angeführten Falles in diesem Sinne kann
ich nicht beistimmen. Was zunächst das klinische Bild der akuten
Leukämie anbelangt, so ist es so wenig charakteristisch und be-
sitzt so weitgehende Parallelen mit septischen Erkrankungen, daß
Sternberg, Wilbur u.a. die akuten Leukämien aus der Gruppe
der echten Leukämien ausscheiden wollten. Auch in diesem Falle
Reschad-Schillings sprechen der akute Beginn der Erkrankung
aus voller Gesundheit heraus bei dem kräftigen Manne mit Zahn-
fleischentzündung, Hautblutungen, Schüttelfrost usw., der weitere
Verlauf mit Durchfällen, Albuminurie, die Milzschwellung und
schließlich das Blutbild mit regenerativer Verschiebung der Neutro-
philen, Neutropenie und enormer Monocytose ebenso für eine sep-
tische wie für eine leukämische Erkrankung.
Was weiter die leukämische Zahlenhöhe der Monocyten anbe-
trifft, so wissen wir, daß bei schweren Infektionen mit starker
monocytärer Reaktion ähnliche, selbst noch höhere Werte längere
Zeit vorkommen können (Endocarditis lenta 80°% Joseph, Angina
83°, Hopmann, Kohn 74°, u. a... Das Auftreten gewisser
atypischer monocytärer Formen bei infektiösen Erkrankungen ist
durch die hohe Inanspruchnahme des reticuloendothelialen Schutz-
apparates verständlich und des öfteren gefunden worden. Selbst
die unreifen Vorstufen der Monocyten, die Makrophagen und endo-
theloiden Stammzellen treten bei solcher gesteigerten reticuloendo-
thelialen Reaktion im Blute auf. Solche Stammzellen aber, auf
die wir doch bei der Diagnose einer Leukämie den Hauptwert
legen müßten, fehlen im Falle Reschad-Schilling ganz.
Naegeli spricht ja auch nach dem ihm vorgelegten Präparat nur
von typischen Mononucleären und Übergangsformen. Es erlaubt
also das Blutbild ebensowenig wie das klinische Bild, die An-
Reticuloendutheliale Reaktion oder „Retieuloendotheliose* (3. Leukämieform ?) 193
Erachtens gar nicht in Frage, meine ablehnende Einstellung einer
reticuloendothelialen Leukämie gegenüber zu entkräften, zumal
man noch hier die Parallele Monocytose und Myelocytose im Sinne
Naegelis für die myeloische Genese der Monocyten verwerten
könnte.
Der von Bingel als Monocytenleukämie beschriebene Fall
betrifft einen 48jähr. Mann, der 3 Wochen nach einem mittel-
schweren Typhus von neuem unter septischen Temperaturen, Hals-
schmerzen, Zahnfleischentzündung, Durchfällen und roten, derben
Flecken der Haut erkrankte. Blutbefund: Hämoglobin 50°/,,
Erythrocyten 2,5 Millionen, Leukocyten 16500, davon Neutrophile
38,75 °,,, Eosinophile, Mastzellen und Myelocyten 0, Lymphocyten
14,75 %,. Plasmazellen 2,25°/,, Übergangsformen 42,25 °;,, große
Mononucleäre 2°,. Bei der Sektion fanden sich frischere und
ältere Typhusgeschwüre, tuberkulöse Kehlkopfgeschwüre, tuber-
kulöse Halslymphdrüsen. Bingel selbst scheint von der Leukämie-
natur des Krankheitsbildes nicht fest überzeugt zu sein und meint:
„darüber, ob es sich in unserem Falle nur um eine starke Mono-
cytenreaktion oder um eine fortschreitende Erkrankung, um eine
Monocytenleukämie handelte, ließ sich bei der leider nur dreitägigen
Beobachtung nur schwer ein Urteil bilden“. Da atypische Mono-
cyten und unreife monocytäre Vorstufen fehlten, die histologische
Untersachung kein infiltratives histiocytäres Wachstum ergab,
außerdem Typhus und Tuberkulose vorlagen, zwei Erkrankungen,
von denen jede mit starker Beteiligung des reticuloendothelialen
Systems einherzugehen pflegt, kann es sich m. E. auch hier nur
um eine hochgradige monocytäre Reaktion gehandelt haben.
In keinem der fünf mitgeteilten Fälle „Leukämischer Reticulo-
endotheliose“ ist also die Leukämienatur zwingend bewiesen.
Auf solchen unsicheren Befunden aufbauend, sind nun bereits
„aleukämische Reticuloendotheliosen“ beschrieben worden, d.h. Krank-
heitsbilder, die nur mit reticuloendothelialen Wucherungen in ver-
schiedensten Organen, im übrigen aber mit ganz uncharakteristischem
Blutbild einhergehen sollen. Diese aleukämischen Verlaufsformen
wurden wieder in „aleukämische Reticulosen“ und „aleukämische
Endotheliosen“ geteilt. Eine solche scharfe Trennung zweier gleich-
berechtigter Anteile eines einheitlichen Systems erscheint mir nicht
ganz berechtigt.
Bestehen doch nach Ansicht der meisten Autoren in genetischer
Hinsicht zwischen Reticulumzelle und Endothelzelle nahe verwandte
Beziehungen. Die Reticulumzelle soll sich direkt aus der Endothel-
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 13
194 KRAAN
zelle entwickeln, und wie für das fötale soll auch für das postfötale
Leben dieser Entwicklungsmodus gelten. So glaubt Aschoff,
daß dieselbe Zelle auskleidende Endothelzelle und zugleich Bildner
des Reticulums sein kaun. Nach Mollier soll überhaupt das
Milzsinusendothel beim Hunde dauernd reticulär sein. In morpho-
logischer Beziehung gilt das gleiche. Jeder, der sich mit
histologischen Bildern reticuloendothelialer Reaktion beschäftigt
hat, weiß, daß es oft ganz unmöglich ist, bei losgelösten freien
histiocytären Zellen zu entscheiden, ob sie reticulärer oder endo-
thelialer Natur sind. Und was schließlich die funktionelle Seite
anbelangt, so war es ja gerade die beiden Zellarten gleichmäßig
zukommende Eigenschaft der Phagocytose und Speicherung, die
Aschoff und Landau überhaupt veranlaßte, von einem Reti-
culoendothelialen System zu sprechen. Erst in jüngster Zeit hat
Paschkis wieder gezeigt, daß naclı Carmininjektion die Farb-
stoffspeicherung in Endothel- und Reticulumzelle völlig gleichartig
verläuft. Bei der Lipoidaemia diabetica sollen nach Siegmund
und Lutz ebenfalls neben den Reticulumzellen die Endothelzellen
beteiligt sein, und bei der experimentellen Cholesterinsteatose ver-
halten sich nach Anitschkow Endothelien und Reticulumzellen
in Milz, Lymphdrüsen und Knochenmark völlig identisch. Bei der
Splenomegalie Typ Gaucher scheinen die Ansichten noch geteilt
zu sein; während Pick und Schlagenhaufer für eine Wuche-
rung vorwiegend reticulärer Elemente eintreten, kommen Mandle-
baum und Downey nach eingehenden Untersuchungen zu dem
Schluß, daß auch hier „die Möglichkeit einer Mitbeteiligung der
Endothelien in den venösen Milzsinus nicht geleugnet werden kann“.
Bei so naher genetischer, morphologischer, funktioneller und
patho-physiologischer Beziehung zwischen Reticulumzelle und Endo-
thelzelle sind die Voraussetzungen für die scharfe Trennung in
eine „Reticulose* und „Endotheliose* m. E. nicht gegeben. Die
beiden bisher mitgeteilten Beobachtungen (Letterer, Gold-
schmid-Isaac) vermögen mich auch nicht von dem Vorkommen
solcher in sich geschlossener Krankheitsbilder zu überzeugen.
Im Falle Letterer handelt es sich um ein 6 Monate altes Kind,
das mit punktförmigen Blutungen, eitrigem Ohrausfluß und hohen Tempera-
turen erkrankte. Bald gesellten sich dazu Drüsenschwellungen, Milz-
und Lebertumor, schließlich Drüsenabscesse. Blutbefund: Erythrocyten
5,6 Millionen, weiße Blutkörperchen 26000, davon Neutrophile 65 °;,,
Lymphocyten 25 °/,, Mononucleäre 8°/,, Übergangsformen 2°/,, Hämo-
globin 65 °/,, Färbeindex 0,58. Klinische Diagnose: Otitis media puru-
lenta beiderseits, Absceß am linken Hinterkopf, Sepsis, Purpura, Broncho-
Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose* (3. Leukämieform?) 195
pneumonie. Die Sektion ergibt hochgradigste Purpura mit hämor-
rbagischer Diathese und systematischer Erkrankung aller Iymphatischer
Apparate (ausgenommen in Dünndarm und in mesenterialen Lymph-
drüsen), subpleurale, subendo- und subepikardiale Blutungen ; Broncho-
pneumonien; Phlegmone am linken Hinterhaupt, rechter Axillar- und
linker Inguinalgegend. Otitis media purulenta beiderseits. Mikro-
skopisch findet sich: Hochgradige Wucherung der Reticulumzellen in
Milz, Lymphdrüsen, Solitärfollikeln des Dickdarms, Knochenmark, Haut-
gefäßadventitia; Proliferation der Leberkapillarendothelien; Neigung zu
knötchenförmigen Bildungen, Hämorrhagien und Nekrosen, Riesenzellen
in Milz und Lymphdrüsen, adventitielle großzellige Infiltrate in der
Glissonscheide der Leber.
Überblickt man diese Befunde, so ist auch hier wieder an eine
Allgemeininfektion zu denken. Die Lymphdrüsenvereiterungen, die
erwähnten Hämorrhagien und Nekrosen, die Infiltrate der Glisson-
scheide dürften zusammen mit dem klinischen Befund sich zwanglos
in das Bild einer Sepsis fügen. Was die eigentümliche, systema-
tische Proliferation der Reticulumzellen anbelangt, so wissen wir,
wie auch der von mir mitgeteilte Fall zeigt, daß solche Bilder
sehr wohl auf dem Boden einer Infektion entstehen können. Let-
terer selbst führt einen von ihm beobachteten Typhusfall an, der
weitgehende Parallelen mit diesem von ihm als aleukämische Reti-
culose beschriebenen Fall besitzt. Denn auch dort bestand Wuche-
rung von Reticulumzellen in Milz und Lymphdrüsen, oft von knöt-
chenförmigem Charakter, mit Nekrosen. Darum neigt auch Let-
terer in der Frage nach der Ätiologie dieser als aleukämische
Reticuloendotheliose hingestellten Beobachtung dazu, einen infek-
tiößsen Prozeß anzunehmen und einen chronischen, von Geburt an
datierenden, abzulehnen, — die Infektion etwa als interkurrent,
bzw. als sekundär anzusehen, weist er selber schon zurück. Damit
geht der Leukämiecharakter des Krankheitsbildes verloren. Die
Bezeichnung „aleukämische Reticulose“ läßt sich dann nicht mehr
halten; denn wir sind nur berechtigt, von Aleukämien zu sprechen,
wenn wirklich im klinischen wie pathologisch-anatomischen Befund
mit Ausnahme des uncharakteristischen Blutbildes weitgehende Ana-
logien mit der „Leukämie“ vorliegen (Cohnheim, Wunderlich).
Unter der Bezeichnung „Endothelhyperplasie als Systemerkran-
kung des hämatopoetischen Apparates“ ist von Goldschmid-Isaac
ein Fall beschrieben worden, der bei uncharakteristischem Blut-
bild in Milz, Leber und Knochenmark eine Wucherung der Endo-
thelien und zahlreiche Riesenzellen aufwies. Die Autoren neigen
dazu, hier ein ganz ähnliches Krankheitsbild anzunehmen, wie es
13*
196 Kraun
uns mehr isoliert in dem Endotheliom der Leber entgegentritt.
Sie streifen aber auch die Frage, ob nicht hier eine leukämische
Erkrankung vorliegt, in Form von Stammzellwucherungen ohne
Weiterdifferenzierung dieser Stammzellen zu Lymphoidocyten bzw.
Myeloblasten, und sprechen deshalb von „Gefäßwandzellenpseudo-
leukämie“,
Der Verwertung dieses Falles als aleukämische Form der
dritten Leukämie, und zwar als „aleukämische. Endotheliose*
(Gödel), kann ich nicht beipflichten. Da reifere Zellformen mye-
loischer, Jymphatischer oder monocytärer Art gänzlich fehlen, ist
eine Entscheidung dahin, ob es sich hier um eine monocytäre, lym-
phatische oder myeloische Stammzellenaleukämie handelt, m. E.
unmöglich. Wie schwierig die Deutung solcher indifferenter Stamm-
zellen selbst bei leukämischem Blutbild sein kann, zeigen die Fälle
Ewald, Frehse und Hennig. Schließlich wäre, wenn es sich
in diesem Falle wirklich um eine „aleukämische Endotheliose“ als
Gegenstück zu Ewalds „leukämischer Endotheliose* handelte, zu
fordern, daß die Stammzellen beider Fälle weitgehend überein-
stimmten. Während nun aber Goldschmid-Isaac in ihren
Stammzellen das Fehlen der Plasmabasophilie und das konstante
Auftreten von immer nur einem Nucleolus besonders betonen, be-
schreibt Ewald das Protoplasma seiner Stammzellen als basophil
und die Zahl der Nucleolen als schwankend zwischen 1 und 5.
Da ferner in letzter Zeit von Barth endotheliale Proliferation
mit Riesenzellenbildung als „leukämische Endotheliose“ beschrieben
worden ist, im Falle Barth aber eindeutig eine myeloische Leu-
kämie vorlag, scheint es mir nicht berechtigt, die ähnlichen Be-
funde des Goldschmid-Isaac’schen Falles im Sinne einer
dritten Leukämie zu deuten. Man kann wohl an eine Stamm-
zellenpseudoleukämie denken, wobei dann die histiocytären Ele-
mente, in diesem Falle die Endothelien, zu Hämocitioblasten
(Ferrata), also pluripotenten Stammzellen geworden sind, doch
verliert damit der Fall jede prinzipielle Bedeutung als Beitrag
zur „aleukämischen Reticuloendotheliose“. Ich stimme deshalb
Letterer darin bei, daß man diese Endothelhyperplasie Gold-
schmid-Isaac’s nur als „Sonderfall einer speziellen proliferativen
Erkrankung des reticuloendothelialen Systems mit einseitigen Mani-
festationen an der endothelialen Komponente auffassen darf, dem
eine prinzipielle Sonderstellung nicht zukommt“.
Holler und Haumeder haben als „aleukämische Reticulo-
endotheliose auch die Lymphogranulomatose gedeutet. Sie gingen
Reticuloendutheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose* (3. Leukämieform?) 197
von folgenden Überlegungen dabei aus: Durch fermentative Pro-
zesse, die die Kittsubstanz um die Zellen zur Lösung bringen, werden
(nach Holler) die reifen Blutzellen aus ihrem Keimgewebe aus-
geschwemmt. So gelang es genannten Autoren, durch Protein-
körperinjektion in Leukämiefällen mit aleukämischem Blutbefund
eine reichliche Zellausschwemmung der in Hyperplasie begriffenen
Gewebe unter Auftreten zahlreicher jugendlicher Zellformen zu
erzielen, gewissermaßen dadurch also die aleukämische Form in
die leukämische überzuführen. Da nun bei gleichem Vorgehen
auch beim Lymphogranulom eine reichliche Zellausschwemmung
und zwar von Monocyten eintrat, folgerten Holler und Hau-
meder daraus, daß das Lymphogranulom eine aleukämische Form
der reticuloendothelialen Leukämie sei.
Ganz abgesehen von dem, was ich schon allgemein über die
reticuloendotheliale Leukämie gesagt habe, möchte ich hier noch
auf folgendes hinweisen: Wir wissen, daß bei allen infektiösen
Prozessen, besonders aber bei den infektiösen Granulomen, zu denen
wir auch das Lymphogranulom gerechnet haben, das reticuloendo-
theliale System eine besondere Rolle spielt. Wir wissen weiter,
daß es durch Proteinkörperinjektion gelingt, einen proliferativen
Reiz auf das reticuloendotheliale System auszuüben und eine Mono-
cytose herbeizuführen (Schittenhelm, Ehrhardt u.a) Es
wird uns also nicht verwunderlich erscheinen, wenn bei einer in-
fektiösen Erkrankung, wie sie die Lymphogranulomatose zweifellos
darstellt, durch Proteinkörpereinverleibung das an und für sich
schon in gesteigerter Tätigkeit befindliche reticuloendotheliale
System eine weitere Leistungssteigerung erfährt und schließlich
eine Monocytenvermehrung resultiert. Wir werden m. E. in solcher
Monocytose lediglich den Ausdruck erhöhter reticuloendothelialer
Reaktion und nicht das Signum einer „aleukämischen Reticulo-
endotheliose* zu erblicken haben.
Hier, wie in den anderen angeführten Beobachtungen „aleu-
kämischer und leukämischer Reticuloendotheliosen“ konnte ich aus
Gründen, die schon im einzelnen erwähnt, mich nicht davon über-
zeugen, daß wirklich die Berechtigung zur Aufstellung einer neuen
Leukämieform gegeben ist.
Die ganze Monocytenfrage scheint mir heute noch zu wenig
geklärt, als daß wir schon von einer Monocytenleukämie als dritter
Leukämie oder reticuloendothelialer Leukämie sprechen könnten.
Die Ansichten der Autoren gehen hinsichtlich Stellung und Genese
der Monocyten ja weit auseinander. Schon Paul Ehrlich brachte
198 Krann
durch die Bezeichnung „Übergangsformen“ zum Ausdruck, daß die
Entstehung dieser Zellen keine einheitliche sei. Maximow,
Dantschakoff, Weidenreich u. a. lehnten die Monocyten als
selbständige Zellklasse von vornherein ab. Benda, Ferrata,
Helly erklären sie für Lymphocytenabkömmlinge Pappenheim
sieht in ihnen nur tiefstehende, mehr oder weniger pluripotente
Zellelemente mit Entwicklungsmöglichkeiten zu Lymphocyten, wie
auch Myeloleukocyten. Grawitz hält sie für regelrechte Über-
gangszellen zwischen Lymphocyten und Neutrophilen, Naegeli,
Türk, Ziegler u. a. glauben wieder an rein myeloische Zellele-
mente, deren Mutterzelle der Knochenmarkmyeloblast ist (weil Oxy-
dasereaktion der Monocyten positiv, Monocytose oft kombiniert mit
Leukocytose, Monocyten sehr ähnlich pathologischen Myeloblasten,
zwischen Myeloblasten und Monocyten Übergangsformen — Promono-
cyten, initiale Monocytenlenkämien in Myeloblastenleukämien über-
gehen. Sternberg und Jagi? lassen nur unter pathologischen
Verhältnissen auch aus reticuloendothelialen Zellen Monocyten ber-
vorgehen. Die Trialisten Aschoff, Kiyono, Schilling u.a
stellen die Monocyten als drittes spezifisches Blutzellsystem den
beiden anderen Systemen, dem Iymphatischen und myeloischen gegen-
über (weil: Oxydasereaktion der Monocyten negativ, vitale Farb-
stoffspeicherung nur in monocytären Blutzellen, Makrophagocytose
nur bei Monocyten, eigene Monocytenlinksverschiebung und eigene
monocytäre Stammformen von endotheloidem Typ). Da nun die
Speicherungsversuche von Goldmann, Kiyono, Pappenheim
u. a. gezeigt haben, daß nicht alle Monocyten speichern, daß solche
Speicherzellen nur im venösen System vorkommen, und analog den
Knochenmarksriesenzellen in den Lungenkapillaren oder dem linken
Herzen zugrunde gehen, so daß im peripheren Blut nur ungespeicherte
Monocyten anzutreffen sind, wird die einheitliche Genese aller
Monocyten angezweifelt. Kiyono unterscheidet jedenfalls auf Grund
supravitaler Toluidinblaufärbungen drei verschiedene Klassen von
Monocyten: Bluthistiocyten (intravital färbbar), myeloische Ver-
wandtschaft aufweisende Monocyten (Ehrlichs Übergangsformen,
supravital färbbar), Iymphogene Monozyten (weder intra- noch
supravital färbbar). Auch Pappenheim glaubt, daß die echten
(chromophoben) Monocyten nicht identisch sein können mit den
Aschoff’schen carminspeichernden Histiocyten. Schilling faßt
wieder alle Monocyten einheitlich als reticuloendothelialer Natur
auf und sieht in dem gespeicherten Histiomonocyt und dem nicht
speichernden Monocyt nur verschiedene Funktionszustände ein
Reticuloendotheliale Reaktion oder „Reticuloendotheliose* (3. Leukämieform?) 199
und derselben Zellart, wobei eine in die andere übergehen kann.
Naegeli meint, daß es sich bei den Histiomonocyten, da sie im
peripheren Blut nahezu fehlen, um alternde Formen handelt, die
in der Blutbahn schnell zugrunde gehen. Auch Schridde sieht
in ihnen nur „geschädigte Zellen oder Zelleichen“, die ohne eine
Funktion auszuüben irgendwo im Blutkreislauf abgelagert und ver-
arbeitet werden.
Während so die einen Autoren für reticuloendotheliale Genese
eintreten und damit die Monocyten als dritte Zellklasse von der
Iymphatischen und myeloischen Reihe abtrennen, glauben die anderen
wieder an eine rein myeloische bzw. lymphatische Genese oder
lassen schließlich aus allen drei Keimlagern gemeinsam die Mono-
cyten hervorgehen. So lange wir in dieser Frage aber nicht klarer
sehen, sollte man m. E. noch nicht von einer Monocytenleukämie
als dritter Leukämie sprechen.
Zusammenfassung.
Schon bei Lymphadenosen und Myelosen kann es schwierig
sein, zu entscheiden, ob eine leukämoide, Jymphatische, resp. mye-
loische Reaktion auf infektiöser Basis oder aber eine irreparable
Vegetationsstörung im Sinne einer echten Leukämie vorliegt. Bei
den echten Leukämien fand Berblinger eine starke myeloische
Metaplasie unter anderem auch im Zwerchfell, die er bei rein
leukämoiden Reaktionen vermißte. Er sieht in der Ausbreitung
der myeloischen Metaplasien eine Trennung zwischen den beiden
Proliferationen am hämatopoetischen Apparat, betont aber auch,
daß bei den akuten Leukämien meist Leukocytenwerte erreicht
werden, die weit über das Maß bei infektiösen Leukocytosen
hinausgehen.
Beim reticuloendothelialen System ist eine solche Entscheidung
noch schwieriger, weil das Reticuloendothel als Schutzapparat auf
die verschiedensten Reize hin in ausgiebigster (leukämoider) Form
reagiert. So können bei Tier und Mensch im Verlauf von infek-
tiösen, toxischen, parasitären Prozessen in Organen und Geweben
Bilder entstehen, die fast ganz denen bei echter Leukämie gleichen.
In Lymphdrüsen, Milz, Leber, Knochenmark kann es, wie die eigne
Beobachtung zeigt, zu ausgesprochenen reticuloendothelialen Wuche-
rungen kommen, selbst unreife, endotheliale, monocytäre Stamm-
zellen und atypische Formen können bei leukämischen Monocyten-
werten im Blute auftreten, ohne daß eine echte Leukämie, eine
Monocytenleukämie, vorzuliegen braucht. Auch die bisher bekannt
200 Kraun
gegebenen „leukämischen und aleukämischen Reticuloendotheliosen “
sind nicht eindeutig als echte Leukämien anzusprechen und lassen
Deutungen als leukämoide reticuloendotheliale Reaktionen zu.
‘Nach Abschluß der Arbeit finde ich in Virchow’s Archiv, Bd. 260,
H.1 (1926, 30. März) von Rynicki Akiba aus dem C. Stern-
berg’schen Institut eine Auffassung vertreten, die sich z. T. —
wenigstens hinsichtlich der aleukämischen Verlaufsform der Reti-
culoendotheliose — mit meinen Ansichten deckt. Auch Akiba
meint, daß es sich bei der aleukämischen Reticulose Letterer
um keine echte Leukämie, sondern um einen durch Allgemein-
infektion hervorgerufenen Symptomenkomplex handelt.
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grite und Termini aus der Pathologie der Erkrankungen des blutbildenden
Apparates. Vortrag i. d. Ges. d. Arzte Wiens. Med. Klinik Nr. 50. 1925. --
Ders., Zur Frage der aleukämischen Reticulose. Vortrag i. d. Verein dtsch.
Arzte in Prag. Klin. Wochenschr. Nr. 7, 1926.
202
Aus der akademischen Kinder- und Infektionsklinik Düsseldorf.
(Direktor: Geheimer Medizinalrat Prof. Dr. Schloßmann.)
Einige Beobachtungen an Scharlachkranken.
e Von
Dr. Karl Benjamin,
ehemaligem Assistent der Klinik, Kinderarzt in Essen.
Angesichts der lebhaften Bemühungen, die gegenwärtig der
Entdeckung des Scharlacherregers gelten, mag es vielleicht minder
wichtig erscheinen, das schon überreiche Symptomenbild des Schar-
lachs von neuem um einige Züge zu ergänzen. Die Beschreibung
der folgenden rein phänomenologischen Beobachtungen, die ganz
unbekümmert um ätiologische Fragen angestellt wurden, entspringt
indes nicht nur der Freude des klinischen Zuschauers beim mannig-
faltigen Wechsel der Scharlacherkrankungen in allen ihren Abarten:
sie rechtfertigt sich vielmehr durch den Glauben, daß die patho-
genetische Aufklärung der Besonderheiten gerade des Scharlachs
(anaphylaktische Erscheinungen, zweites Kranksein, Immunisations
vorgänge usw.) von der Bakteriologie allein nicht zu erwarten ist,
daß es ebensosehr auf die Aufhellung der biologischen Zusammen-
hänge ankommt, und daß hierzu selbst die einfache Krankenbeob-
achtung noch einiges beitragen kann.
Meine Erfahrungen umfassen nur 8 Monate und zufällig gerade
100 Kranke, sind also nach Zeit und Zahl klein, dafür aber auf
möglichst eingehende Beobachtung gestützt. Ein großer Vorzug
des Materials liegt darin, daß es alle Lebensalter einschließt, und
zwar in einer Proportion, die vermutlich den Morbiditätsziffern
der Altersstufen einigermaßen entspricht (indem nämlich berufs-
tätige Erwachsene relativ häufiger wegen mangelnder Pflege- und
Isvliermöglichkeit ins Krankenhaus eingewiesen werden als Kinder.
Kinder andererseits wieder oft als Insassen von Heimen und Pflege-
anstalten).
Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 203
Die Statistik meines Materials bestätigt zunächst die bekannte
Tatsache, daß das
Kleinkindesalter
vom Scharlach relativ wenig betroffen wird. Von meinen 100
Kranken waren
Erwachsene: 36, Kinder von 5 bis 14 Jahren: 48, Kinder von
2 bis 5 Jahren: 16, Kinder unter 2 Jahren: 0.
Auffallender noch als die kleine Scharlachmorbidität des Klein-
kindes ist bei meinen Fällen die geringe Intensität der Erkrankung.
In zwei Fällen (die hier trotzdem mitgezählt sind) blieb die
Scharlachdiagnose überhaupt zweifelhaft,’) aber auch in mehreren
anderen Fällen war die Entscheidung schwierig, weil das Krank-
heitsbild, das beim Erwachsenen und beim größeren Kinde ge-
wöhnlich von unverkennbarer Eigenart ist, beim Kleinkinde manche
Züge gar nicht, manche nur verwischt erkennen läßt.
Schon der stürmische, anaphylaxieartige Beginn der Erkrankung
gehört nicht zum Scharlach des Kleinkindes. Erbrechen, das doch
sonst beim Kleinkinde fast jeden akuten Infekt einleitet, fand sich
nur 3mal in der Anamnese von Kleinkindern, fehlte bei 12 Fällen
(in 1 Fall fehlen Angaben darüber). Das Fieber steigt meist nicht
plötzlich zu voller Höhe, sondern langsam und gewöhnlich nicht
hoch, in 6 Fällen nicht einmal über 38°. Ein typisches Scharlach-
exanthem sah ich nur bei 5 Kleinkindern, bei den übrigen nur
flüchtige, schwache und uncharakteristische Ausschläge, einigemal
an den Extremitäten relativ großfleckige, morbilliforme Exantheme.
Mit der Angina machte ich ähnliche Erfahrungen: eine typische
Scharlachangina sah ich nur 2mal bei 4jährigen Kindern, bei
7 Kleinkindern war die Rachenrötung so gering, daß man die An-
nahme einer Angina dem subjektiven Belieben des Untersuchers
anheimstellen mußte. Die verstärkte Urobilinogenreaktion, die
sonst als wichtiges Scharlachdiagnosticum gilt, versagt beim Klein-
kinde ebenfalls; nur 2mal fand ich die Reaktion positiv, in 2 Fällen
wurde sie nicht untersucht, bei den übrigen 12 fehlte die Uro-
bilinogenvermehrung. Auch das direkte oder indirekte Auslösch-
phänomen, das sonst bei Zweifeln oft Klärung bringt, läßt gerade
beim Kleinkinde meist im Stich.
Es wäre allerdings verkehrt, aus diesem meist leichten Verlauf
des ersten Krankseins auf einen harmlosen Charakter des Scharlachs
1) Außer beim Kleinkinde sind in meiner Statistik nur sichere Scharlachfälle
berücksichtigt.
204 BENJAMIN
beim Kleinkind überhaupt zu schließen. Es scheint vielmehr, daß
gerade die mangelhafte primäre Reaktion einem stärkeren zweiten,
wohl auch dritten und vierten Kranksein Raum läßt (ungenügende
Antikörperbildung?). Ich zählte unter meinen 16 Kleinkindern 5,
bei denen die Fieberhöhe des zweiten oder dritten die des ersten
Krankseins übersteigt, einigemal reihten sich die Otitiden, Anginen
und Lymphadenitiden viele Wochen hindurch aneinander.
Auch der Scharlach der Erwachsenen hat ihn besonders aus-
at Eigentümlichkeiten, so vor allem das
„Scharlachrheum atoid“.
Ich wähle diese Bezeichnung für dje das erste Kranksein be-
gleitenden Gliederschmerzen, um jede Verwechslung mit. der (pyämi-
schen) Synovitis zu vermeiden, die als weniger harmlose Komplika-
tion trotz ihrer Seltenheit einen viel breiteren Raum in den Lehr-
büchern einnimmt. Das ungefährliche Rheumatoid ist im Gegenteil
sehr häufig: von 36 Erwachsenen brachten 22 ungefragt in der
ersten bis zweiten Krankheitswoche Klagen über Gelenk- und
Gliederschmerzen vor. Von Kindern waren Angaben über derartige
Beschwerden auch bei Nachfrage nie zu erhalten. Die Schmerzen
sitzen am häufigsten in Schultern und Nacken, oft auch in Hand-
wurzel- und Fingergelenken, weniger häufig im ganzen Arm oder
Bein. Meist ist leicht zu erkennen, daß außer den Gelenken auch
die Muskulatur betroffen ist.
Eine merkwürdige Beobachtung konnte ich über den Zeitpunkt
dieser- Schmerzen machen. Sie treten nämlich auf, sobald der
Gipfel der Temperaturkurve überschritten ist, am ersten oder zweiten
Tage des beginnenden Fieberabstiegs, dann gewöhnlich am stärksten,
wenn auch die Temperatur steil und tief abstürzt. Die Gültigkeit
dieser Regel erwies sich mir bei Nachprüfung meiner sämtlichen
Fälle (mit Ausnahme eines undeutlichen, nur schwach fiebernden).
Die Entstehung der Beschwerden möchte man vielleicht auf
kapillare Blutungen in Muskeln und Gelenken beziehen. Nicht
nur kleine Hautblutungen, sondern auch Schleimhautblutungen, be-
sonders der Nase, sind beim Scharlach gerade des Erwachsenen
fast immer anzutreffen. (Davon konnten wir uns gut überzeugen,
weil wir von jedem neuen Kranken einen Nasen- und Rachen-
abstrich zur bakteriologischen Untersuchung abzunehmen pflegten.)
Aber ein Zusammentreffen dieser Blutungen mit dem Rheumatoid
war nicht zu erweisen.
Dagegen ergaben sich Zusammenhänge ganz anderer Art. Es
Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 205
fiel auf, daß die schwersten Rheumatoide bei den Patienten beob-
achtet wurden, die mit stark gedunsenem Gesicht oder gar mit
deutlichem Ödem eingewiesen wurden, — ebenfalls ein initiales
Scharlachsymptom, das vornehmlich bei Erwachsenen zu beobachten
ist. Die Aufmerksamkeit wird dadurch auf den
Wasserhaushalt
der Scharlachkranken gelenkt. Unverkennbar ist zunächst die
Wasserretention beim Beginn der Krankheit, während des Fieber-
anstiegs: Schwellung des Gesichts, manchmal sogar leichte Ödeme
der Extremitäten, Durst und Erhöhung des Körpergewichts.
Während der Entfieberung sinkt das Gewicht wieder, beim Er-
twachsenen gewöhnlich um etwa 2 kg, das Gesicht schwillt rasch
ab. In überraschendem Gegensatz dazu lehren die Kurven der
Harnausscheidung, daß die Harnmengen während der Entfieberung
keineswegs vermehrt, sondern meist sogar vermindert sind, und
daß die große Ausschwemmung erst gegen Ende des Fieberstadiums
oder gar nach völliger Entfieberung einsetzt. Das Verschwinden
der subödematösen Hautdurchtränkung geht dem Beginn der Harn-
fiut in allen daraufhin beobachteten Fällen zeitlich voran. Man
könnte vermuten, daß die Entfieberung mit vermehrter extrarenaler
Ausscheidung beginnt und die renale Ausschwemmung erst später
nachfolgt; meine wenigen darauf gerichteten Beobachtungen reichen
noch nicht aus, um diese Frage zu entscheiden. Dann bleibt aber
noch die Möglichkeit, daß beim Verschwinden der sichtbaren Haut-
ödeme das angesammelte Wasser zunächst nicht ausgeschieden,
sondern nur innerhalb des Organismus verschoben wird. Diese
Annahme scheint mir durch analoge Befunde im Verhalten des
Blutes gestützt. Ich habe in einigen Scharlachfällen und bei Pa-
tienten mit experimentell (durch Injektion pyrogener Substanzen)
erzeugtem Fieber den Wassergehalt des Blutserums (durch Re-
fraktometrie) und gleichzeitig (mit dem Hämatokrit) das Volum-
verhältnis zwischen Blutkörperchen und Plasma, also den Quellungs-
zustand der Erythrocyten, bestimmt und dabei folgendes gefunden:
beim Fieberanstieg ist das Volumen, d. h. der Wassergehalt der
Erythrocyten stark vermehrt, der Wassergehalt des Serums ent-
weder gar nicht oder relativ viel weniger, beim Fieberabstieg da-
gegen nimmt der Wassergehalt des Serums beträchtlich zu, während
die Erythrocyten ihr Wasser wieder abgeben. So findet also (ab-
gesehen von der mit anderen Methoden nachweisbaren Wasser-
retention des Gesamtblutes) eine Verschiebung des Wassers zwischen
206 BENJAMIN
Blutzellen und Plasma statt, beim Fieberanstieg vom Plasma in
die Zellen, beim Abstieg in umgekehrter Richtung. Aus allge
meinen physikalisch-chemischen Gründen ist zu vermuten, daß die
gleichen Bedingungen auch bei den eigentlichen Körperzellen zu
entsprechenden Wasserverschiebungen führen, beim Temperatur-
anstieg Wasserbindung in den Geweben, beim Abstieg Entquellung
der Zellen und Ausscheidung des Wassers in die Gewebsflüssigkeit
und von dort ins Blut.
Erinnern wir uns nun nochmals der Beobachtungen beim
Rheumatoid, so waren seine beiden merkwürdigsten Eigentümlicl-
keiten die Verknüpfung mit stärkerer Hautschwellung (gedunsenen
Gesicht) und das Auftreten im Moment des beginnenden Fieber-
abstiegs, also gleichzeitig mit dem Schwinden des Ödems. Es er-
gibt sich daraus ungezwungen die Hypothese: die Muskel- und
Gelenkschmerzen sind bedingt durch das Einsickern von Wasser
aus den entquellenden Geweben in die Gewebsspalten, durch die
Umwandlung von Quellungswasser in Imbibitionswasser.
Die weitere Frage nach der Ursache der Wasserverschiebungen
entfernt sich zu weit vom Thema, das auf die klinische Kranken-
beobachtung beschränkt bleiben soll; ich will ihre Beantwortung
im Rahmen einer späteren Veröffentlichung versuchen, in der ich
auch die Richtigkeit der vorstehenden Angaben durch Unter-
suchungsprotokolle belegen werde. Dennoch ist es notwendig. ein-
zelne Ergebnisse und Überlegungen schon hier anzuführen, weil
sie auch auf andere Vorkommnisse beim Scharlach ein neues Licht
werfen.
. Der Antagonismus zwischen dem Fieberanstieg einerseits. der
Akme und dem Abstieg des Fiebers andererseits zeigt sich am
augenfälligsten im Verhalten des Blutkreislaufs: beim initialen
Temperaturanstieg kleiner, harter Puls, blasse Haut, Retention des
Blutes im Splanchnicusgebiet und geringe Herzfüllung, auf der
Fieberhöhe voller, weicher Puls, starke Durchblutung der Peri-
pherie und vermehrte Herzfüllung. Diese Regel gilt für Fieber-
zustände aller Art, und das läßt schon vermuten, daß dieser
Doppelphasigkeit im Kreislauf allgemeinere Ursachen, Abweichungen
des Stoffwechsels, zugrunde liegen.
Als die zentrale Bedingung dieser Veränderungen betrachtet
man den Wechsel im Tonus des autonomen Nervensystems oder.
was damit gleichbedeutend ist,
Verschiebungen der Elektrolytgleichgewichte.
Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 207
Ich habe mich durch Bestimmungen der Säure-Basenausscheidung
im Harn überzeugt, daß die erwartete Doppelphasigkeit tatsäch-
lich besteht, beim Fieberanstieg acidotische Stotfwechselrichtung
(= zunehmende lonisierung des Blutkalks), auf der Höhe des
Fiebers und beim Fieberabfall alkalotische Stoffwechselrichtung
(= Entionisierung des Blutkalks). Dieses Ergebnis deckt sich
nicht ganz mit den Angaben früherer Untersucher; ich werde den
Beweis für seine Richtigkeit an anderer Stelle nachholen ?).
Zu meiner Überraschung fand ich bei meinen Scharlachkranken,
daß auch das Verhalten des Facialisphänomens oft die vorhandenen
Elektrolytverschiebungen anzeigt. Gerade beim Erwachsenen wird
sonst das Chvostek’sche Phänomen nicht als Zeichen einer „Al-
kalose“, einer absteigenden Ca-Ionisierung, gewertet, sondern als
dauernde, konstitutionelle Eigentümlichkeit.e Doch sah ich bei
zahlreichen Individuen, die sonst kein Facialisphänomen hatten,
während der Entfieberung und oft auch noch einige Zeit nachher
positives Facialisphänomen auftreten, andererseits bei Kranken,
die ein dauerndes, „konstitutionelles* Facialisphänomen aufwiesen,
eine Abschwächnng oder Aufhebung des Symptoms beim Fieber-
beginn, eine Verstärkung während und nach der Entfieberung.
Damit will ich die Besprechung des initialen Fiebers schließen
und die des Il. Krankseins mit der `
Scharlachnephritis
als seiner wichtigsten Komplikation beginnen. Die pathologische
Anatomie kennt seit langem neben der hämorrhagischen Glomerulo-
nephritis die interstitielle Iymphocytäre Nephritis als ebenfalls nicht
seltene Form der Scharlachniere. Bei den Klinikern hat diese
Feststellung bisher kaum einen Widerhall gefunden, und es ist
wohl an der Zeit, die Tatsachen der Sektionsbefunde klinisch zu
1) Für die Intensität der Vagus- oder Sympathicuswirkung ist wahrschein-
lich nur der Grad der Zu- oder Abnahme, also das Differential der wirksamen
Ionenverschiebung maßgebend, nicht der absolute Wert der Ionenverteilung. Bei
einer einmaligen Störung der normalen Elektrolytverteilung und deren rück-
läufigen Ausgleich muß das Differential dieser Verschiebung zweiphasig verlaufen,
im einfachsten Falle dem Berg und Tal einer Sinuskurve entsprechend. Auf
diese Weise erkläre ich mir die Tatsache, daß man jetzt bei zahlreichen Pharmaka,
Hormonen und physiologischen Einwirkungen einen zweiphasigen Verlauf der
Erregung des autonomen Nervensystems gefunden hat. Das Fieber fügt sich
dieser Regel ein, Sympathieus- und Vaguserregung folgen einander wie Fieber-
anstieg und -abstieg. Auch die Tatsachen der „Elektrolyt-Akkommodation“ und
„Elektrolyt-Inversion“ (Kraus und Zondek) scheinen mir auf diese Weise
zwanglos erklärt.
208 BENJAMIN
bestätigen und zu ergänzen: der glomerulären Scharlachnephritis
geht ein Stadium mit seröser Exsudation und Iymphocytärer In-
filtration der Nieren voraus, das klinisch durch den Nachweis von
Leukocyten und Eiweiß im Harn festgestellt werden kann und
zwar, soweit ich nach meinen wenigen Nephritisfällen schließen
darf, wohl gar nicht selten. Die anatomische Bestätigung dieser
Diagnose ist am ehesten beim toxischen Scharlach zu erwarten.
in den Fällen, die noch während des initialen Krankseins zum
Tode führen, also in einem Stadium, das die Blutanschoppung der
Glomeruli noch nicht oder erst im Beginn zeigt. Folgende Bei-
spiele mögen das erläutern:
Der erste Fall (nach der Krankheitsdauer geordnet), ein 5 jähriger
Knabe, starb am 6. Krankheitstage. Im Urin hatte er Eiweiß und viele
Leukocyten, daneben wenige Erythrocyten. Die Sektion ergab eine stark
gequollene, hellgraue, im Schnitt glasige und feuchte Niere mit verwaschener
Zeichnung, mikroskopisch dichte kleinzellige Infiltration, also eine typische
interstitielle Nephritis.
Der zweite Fall, ein Mädchen von 10 Jahren, starb am 10. Tage.
Im Harn wurden zunächst nur Leukocyten und Eiweiß gefunden.
erst 3 Tage vor dem Tode auch wenige Erythrocyten und Zylinder bei
abnehmendem Eiweißgehalt. In den letzten Lebenstagen sehr kleine Ham-
mengen. Sektionsbefund: interstitielle Nephritis mit wenigen glomerulären
und streifenförmigen interstitiellen Blutungen.
Der dritte Fall, ein 4jähriger Knabe, starb am 12. Tage, batte im
Urin von Anfang an viel Eiweiß, viele weiße und wenige rote Blutzellen,
erst am 11. Krankheitstag, eineu Tag vor dem Tode, auch stärkere
Hämaturie. Wie bei den beiden vorerwähnten Fällen auch hier starke
extrarenale Flüssigkeitsausscheidung (große Atmung!) und hochgradige
Exsikkose, aber diesmal keine Harnsperre; noch am Vortage des
Todes wurden 485 ccm Urin ausgeschieden, am Todestage selbst noch
300 ccm. Die Sektion zeigte an der Niere auch bei histologischer Unter-
suchung außer beträchtlicher Blutfülle nichts Krankhaftes.
Der Fall gibt ein eindringliches Beispiel, wie wenig die mor-
phologischen Harnbestandteile als Maßstab für die Schwere der
anatomischen Nierenveränderung zu werten sind. Die Funktions-
tüchtigkeit der Niere hatte sich auch klinisch erwiesen, als Tode-
ursache war sicher nicht die Nephritis, sondern andere Folgen der
Intoxikation (Exsikkose, Lähmung zerebraler Zentren, pathologische
Blutverteilung) anzuschuldigen. Die Funktionsprüfung der Nieren
hat uns in anderen Fällen das gleiche gelehrt, sie beweist z. B.
oft die Harmlosigkeit noch fortdauernder Zyturien nach funktionell
ausgeheilten Nephritiden, andererseits aber auch die eingeschränkte
Funktionsbreite der Nieren bei manchen frisch Erkrankten, auch
wenn kein Sedimentbefund zu erheben ist. Auf „Wasserversuch”
nn Sr -
Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 209
und „Durstversuch“ lernte ich hierbei allerdings verzichten, weil
sie den Fieberkranken quälen. Aber schon die Verfolgung der
physiologischen Konzentrations- oder Aciditätsschwankungen (vor
allem bei Tag und Nacht) kann manchen überraschenden Aufschluß
geben. Leider habe ich derartige Beobachtungen nicht systematisch,
sondern nur gelegentlich angestellt und bin vorläufig dabei ge-
blieben, die Diagnose der interstitiellen Nephritis auf den Befund
von Eiweiß und Leukocyten zu gründen.
Von meinen 8 Nephritiskranken wurden 3 erst im II. Krank-
sein mit voll entwickelter Glomerulonephritis eingewiesen, scheiden
also für die Frage des interstitiell-nephritischen Vorstadiums aus.
So bleiben außer den 3 toxischen noch 2 Fälle, bei denen die Ent-
wicklung der Nephritis vom Beginn an beobachtet werden konnte:
11!/, jähriger Knabe. Erstes Kranksein mit hohem Fieber, schwerer
Angina und Lympbadenitis. Urin eiweißhaltig, ohne krankhafte Form-
bestandtelle.e Am 17. Krankheitstage zweiter Fieberanstieg. Danach
zunächst nur Gewichtszunahme, erst 3 Tage später starke Albuminurie,
Oligurie und Ödeme. Im Harnsediment massenhaft Leukocyten, Zylinder
und vereinzelte Erythrocyten. An den folgenden Tagen Urämie und
eklamptische Pseudourämie bei fast völliger Anurie. Am 24. Tag im
Sediment wenige Leukocyten und viele Erythrocyten, gleichzeitig be-
ginnende Entfieberung und in den folgenden Tagen zunehmende Diurese.
Die Ödeme waren in kurzer Zeit vollständig ausgeschwemmt, auch der
anfangs stark erhöhte Reststickstoff im Serum war nach 2 Wochen zur
Norm zurückgekehrt. Isosthenurie beim Wasser- und Durstversuch und
dauernde Gefäßhypertension bestanden indes noch bei der Entlassung in
der 9. Krankheitswoche, so daB schon ein Übergang in chronische Ne-
phropathie befürchtet werden mußte, spätere Nachuntersuchungen ergaben
aber doch völlige Heilung.
8 jähriges Mädchen. Während des lang hinziehenden initialen Fiebers
waren Eiweiß und Leukocyten im Harn gefunden worden, danaclı folgte
ein Intervall mit normalem (oder fast normalem?) Harnbefund, während
dessen schon ein leichter Anstieg des Körpergewichts die Wasserretention
der kommenden Nephritis ankündigte, dann ziemlich unvermittelt Albumin-
urie und Hämaturie, in den ersten Tagen wiederum mit starker, später
mit schwächerer Beimengung von Leukocyten. Ausgang in Heilung.
Die angeführten Krankengeschichten lehren in guter Überein-
stimmung: bei der primären Scharlachintoxikation erkrankt die
Niere im Sinne einer interstitiellen Nephritis, mit diffuser Exsuda-
tion und zelliger Infiltration. Je früher die Fälle zum Tode und
zur Sektion kommen, um so reiner findet man dieses Bild, bei zu-
nehmender Krankheitsdauer mehren sich die Zeichen der hinzu-
tretenden hämorrhagischen Glomerulonephritis. So kann es, wenn
auch in seltenen Fällen (weil die schweren primären Intoxika-
Deutsches Arcbiv für klin. Medizin. 152. Bd. 14
210 BENJAMIN
tionen meist schon vorher zum Tode führen), noch während des
ersten Krankseins zur hämorrhagischen Nephritis kommen (auch
von Pospischillund Weiß!) beobachtet). In den meisten Fällen
aber beginnt schon nach leichter entzündlicher Infiltration die
Heilung, und erst, wenn die sich bereits erholende Niere durch das
zweite Kranksein wiederum geschädigt wird, schreitet der Prozeß
bis zum Stadium der glomerulären Stase fort. Die Identität oder
wenigstens die pathogenetische Zusammengehörigkeit der erst- und
zweitmaligen Nierenschädigung ist sehr wahrscheinlich, bleibt aber
doch zunächst Hypothese; um sie weiter zu stützen, habe ich des-
halb auch bei den leichteren, ohne grobe Insufficienzerscheinungen
verlaufenden Nierenschädigungen des II. Krankseins nachgeprüft,
wie sich die Niere beim Krankheitsbeginn verhalten hatte. Solche
Fälle mit stärkerer Eiweißausscheidung beim II. Kranksein, z. T.
auch mit pathologischen Formelementen zählte ich außer den er-
wähnten Fällen mit echter Nephritis 13 unter meinen 100 Kranken;
bei 11 von diesen war auch beim I. Kranksein ein gleichartiger
Urinbefund erhoben worden. In 6 weiteren Fällen waren Albumi-
nurie bzw. Leukocyturie beim II. Kranksein so gering, daß man
nicht mit Sicherheit eine frische Nierenschädigung annehmen darf,
aber auch unter diesen hatten 5 schon beim Krankheitsbeginn Ei-
weiß ausgeschieden. Im Gegensatz dazu fehlte bei den zahlreichen
Kranken mit normalem Harnbefund während des II. Krankseins
die Nierenschädigung auch beim I. Kranksein in den meisten Fällen.
Pospischillund Weiß vertreten die Ansicht, daß das zweite
Kranksein überhaupt eine im Wesen gleichartige Wiederholung des
ersten ist. Die zeitliche Sonderstellung der typischen glomerulären
Scharlachnephritis machte dieser Auffassung einige Schwierigkeit,
die aber behoben wirid, sobald man auch für die Nierenstörungen
die pathogenetische Einheit beider Krankheitsphasen annehmen
darf. Einige weitere Einzelbeobachtungen über Wiederholung von
Symptomen des Krankheitsbeginnes beim II. Kranksein bestärkten
mich in diesem Glauben: ein Fall mit kapillaren Hautblutungen,
drei Fälle mit typischer Anaphylaxie (Brechen, Blässe, Leib-
schmerzen und Tachykardie), schließlich die auch sonst gelegentlich
beobachteten Fälle mit zweitem Exanthem.
Die merkwürdige Tatsache, daß beim Scharlach gleichartige
Krankheitserscheinungen nach einem freien Intervall wiederholt
werden, erklärt man meist so, daß aus inneren Gründen nach
1) Über Scharlach. Verlag S. Karger, Berlin 1911.
Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 211
vorübergehender Immunität die Resistenz gegen den Erreger oder
seine Toxine zur Zeit des II. Krankseins wieder absinkt und da-
durch noch vorhandenes oder neu eindringendes Virus seine Wirk-
samkeit von neuem entfalten kann. Daß der Erreger auch nach
überstandener Erkrankung im Körper verbleiben kann, ja dab es
geradezu „Bazillenträger“ des Scharlachs gibt, wissen wir von den
sogenannten „Heimkehrfällen“. Daß aber gelegentlich auch
exogene Reinfektionen
beim II. Kranksein anzuschuldigen sind, möchte ich nach meinen
Beobachtungen gleichfalls nicht ablehnen. Mehr als einmal konnte
ich erleben, daß nach der Aufnahme eines frisch Erkrankten oder
auch nach einem zunächst vereinzelten Falle von heftigerem
ll. Kranksein mit einem Schlage mehrere Patienten des gleichen
Saales mit Anginen oder Lymphadenitiden rückfällig wurden, daß
manchmal förmliche Endemien des IL Krankseins zu gleicher Zeit
den ganzen Saal befielen. Die in kleineren Eigzelzimmern unter-
gebrachten Kranken hatten dementsprechend auch viel weniger
unter den Übeln des II. Krankseins zu leiden (wobei ich allerdings
nicht weiß, ob dabei nicht auch die Altersdisposition dieser meist
erwachsenen Patienten mitspielt).
Was ich aus der
Pathologie des Herzens und des Blutkeislaufes
an Scharlachkranken zu sehen bekam, entspricht dem, was nach
früher von mir dargelegten Regeln !) für den Blutkreislauf bei In-
fektionskrankheiten überhaupt gilt: die oben erwähnten wechseln-
den Phasen der Blutverteilung und die dadurch bedingten Phäno-
mene am Herzen, besonders das „atonische“ Herzgeräusch während
des Fiebers und der Rekonvalescenz. Ich zweifele nicht, daß aus Un-
kenntnis dieser Vorgänge noch viele Fehldiagnosen auf Endokar-
ditis, Myokarditis oder „Myasthenie“ gestellt werden, zumal auch
die vagotonischen Arrııythmien der Rekonvalescenz noch oft ver-
kannt werden. Ich selbst habe keinen Fall von Endokarditis beim
Scharlach erlebt und neige mit Pospischill zu der Annahme,
daß die Scharlach-Endokarditis wohl überhaupt seltener ist, als
meist geglaubt wird.
Die kapillar-vasomotorischen Hauterscheinungen beim Schar-
lach, wie der rotumränderte Dermographismus .albus, sind hin-
reichend oft beschrieben worden, dagegen dürfte weniger bekannt
sein, daß beim toxischen Scharlach zugleich mit dem Zerfließen
1) Dtsch. med. Wochenschr. Nr. 35, 1924.
14*
212 BENJAMIN
des Exanthems zu einer gleichförmigen Röte die Kapillarerregbar-
keit vollständig erlischt. Ich bin geneigt, dieses Phänomen mit
der lebensbedrohenden Kapillarlähmung der Eingeweide in Parallele
zu bringen und ihm prognostischen Wert beizumessen.
Eine weitere Scharlachkomplikation, die ebenfalls leicht zu
schwerwiegender Fehldiagnose Anlaß geben kann, ist die
Scharlachvaginitis.
Ein 9jähriges Mädchen, das die erste Periode des Scharlachs gut
überstanden hatte, bekam am 20. Tage unter Fieberanstieg auf 39,0°
plötzlich einen starken, dünnflüssigen, grünlich-gelben Ausfluß aus der
Scheide. Die mikroskopische Untersuchung zeigte massenhaft Leuko-
cyten, dazwischen wenige Diplokokken, die beim ersten Anblick sehr
wohl für Gonokokken gehalten werden konnten, zumal jede weitere
Bakterienflora fehlte. Die extrazelluläre Lagerung. die grampositive
Färbung und auch die etwas abweichende Form (es fehlte die Abplattung
an den einander zugewandten Seiten) ließen aber die Diagnose Gonorrhöe
ausschließen, und die Kultur erlaubte die Identifizierung hämolysierender
Streptokokken, die ja bei ihrem Vorkommen im Körper gewöhnlich in
kurzen, oft nur zweigliedrigen Ketten wachsen. Der Fluor ließ bald an
Menge nach, heilte aber erst in 4 Wochen ganz ab. Während dieser
ganzen Zeit blieben die Streptokokken in Reinkultur nachweisbar.
Die eitrige Vaginitis als Scharlachkomplikation ist in der
Literatur nicht unbekannt, doch wird sie zu Unrecht für ein ver-
hältnismäßig seltenes Vorkommen gehalten. Seit diesem besonders
eindringlichen Fall habe ich bei 19 scharlachkranken Mädchen und
2 Frauen wiederholte Vaginalabstriche bakteriologisch untersuchen
lassen und fand dabei eitrigen Fluor mit Streptokokken bei 9 Mäd-
chen und 1 Frau, hämolysierende Streptokokken, aber ohne deat-
lichen Fluor, bei 2 Mädchen, keine Streptokokken und keinen Fluor
bei 8 Mächen und 1 Frau. Die Streptokokkenvaginitis ist also
keineswegs selten. Sie gehört zu den üblichen Manifestationen des
I. wie des II. Krankseins, in 4 Fällen fand ich sie so stark, dab
sie auch ohne besondere Genitalinspektion kaum zu übersehen war.
Bakteriologisch fanden sich immer Streptokokken, meist hämoly-
sierende, anfangs in Reinkultur, später oft in Gesellschaft mit
Pneumokokken, Staphylokokken oder Colibakterien. Der Zustand
heilt immer spontan, seine Kenntnis ist aber wichtig, um Ver-
wechselung mit Gonorrhöe zu vermeiden.
Aus der Zahl der
kleineren Einzelbeobachtungen während der
Rekonvalescenz
führe ich hier einige an, weil sie zeitlich, wenn auch nicht immer
Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 913
ursächlich, zum II. Kranksein gehören. Ziemlich häufig traten bei
Erwachsenen, seltener bei Kindern im Verlauf der Rekonvalescenz
Neuralgien auf, am häufigsten der Interkostalnerven und des Nervus
ischiadicus.
In einem Falle schweren toxischen Scharlachs wurde neben stark
positivem Kernigsymptom, gesteigerten Patellarreflexen und Fußklonus
ein dem Strümpell’schen Tibialisphänomen ähnlicher Reflex beobachtet:
schon leichte Hüftbeugung des gestreckten Beines löste regelmäßig eine
starke Babinski-Stellung der Zehen aus.
Bei einem 19 jährigen asthenischen, neuro- und psycholabilen Manne
wurde bei der Entfieberung des II. Krankseins eine vorübergehende
vagoneurotische Überleitungsstörung am Herzen bemerkt. Die Puls-
frequenz sank bis 44 ab, die Art der Rhythmusstörung wurde (nach dem
Versuch einer rein auskultatorischen Analyse ohne Elektrokardiogramm)
als partieller Block mit Systolenausfall kombiniert mit extrasystolischer
Bigeminie gedeutet.
Zum Schluß dieses Abschnittes noch wenige Worte über eine
Erscheinung, die, obwohl wahrscheinlich schon längst den Scharlach-
kennern bekannt, in den Lehrbüchern nie erwähnt ist, bis sie vor
kurzem in zwei besonderen Veröffentlichungen gewürdigt und aus-
führlich beschrieben wurde [Kleeberg,'!) Fanconi,?)] nämlich
über das
„Schuppungserythem“.
Bei vielen Scharlachkranken sieht man zur Zeit der Schuppung
eine fleckige, streifige oder netzförmige Rötung mancher Hautpartien,
oft sehr augenfällig und intensiv rot, wie aus den Abbildungen
Fanconi's gut zu erkennen ist. Von den echten Exantlemrezi-
diven sind diese Bilder auf den ersten Blick verschieden.
Der Name „Schuppungserythem“ war bei uns in Gebrauch,
bevor wir die Bezeichnungen von Kleeberg und Fanconi als
postskarlatinöses Exanthem oder Spätexanthem kennen lernten.
Ein Exanthem ist ein Ausschlag, der aus der gesunden Haut, wie
der Name sagt: „herausblüht“, dageren bezeichnet man reaktiv
entzündliche Rötungen der Haut, um die es sich auch nach An-
nahme der beiden genannten Autoren handelt, besser als Erytheme.
Der Zusammenhang mit der Schuppung ist leicht ersichtlich bei
den streifigen und netzförmigen Erythemen. Man erkennt un-
schwer, daß diese Zeichnungen der Form der Schuppung ent-
sprechen, indem überall in den Lücken und Rissen des abschuppenden
Stratum corneum die tieferen Hornlautschichten mit roter Farbe
l; Zeitschr. f. Kinderheilk. 38, S. 577.
2) Jahrb. f. Kinderheilk. 107, S. 18.
214 BENJAMIN
vorleuchten. Die vorzeitige Entblößung mangelhaft verhornter
junger Epidermisschichten genügt vielleicht schon allein, entzünd-
liche Hyperämie, Schwellung und das vor allem von Erwachsenen
lästig empfundene Gefühl des Brennens auszulösen; es ist aber zu-
zugeben, daß auch bei schwacher und oberflächlicher Abschilferung
starke Erytheme vorkommen (von Kleeberg mit Psoriasis, vun
Fanconi mit Pithyriasis verglichen), und ich stimme Fanconi
darin bei, daß wohl auch andere (reparative?) Vorgänge in der
durch den Scharlachprozeß veränderten Haut bei disponierten
Menschen die entzündliche Rötung bedingen können.
Die
epidemiologischen Beobachtungen,
zu denen ich Gelegenheit hatte, machen mich geneigt der An-
sicht derer beizustimmen, die im Scharlach eine Angina erblicken.
welche bei gegebener (ihrem Wesen nach unbekannter) Disposition !)
unter dem besonderen Bilde des Scharlachs verläuft. Die geläufige
Erfahrung, daß Scharlacherkrankungen in chirurgischen und otia-
trisch-rhinologischen Kliniken oft „autochthon“ auftreten und dann
meist nicht zu größeren Endemien führen, sondern sporadisch bleiben,
scheint mir als Argument für diese Ansicht verwertbar. Wir selbst
erhielten einen Teil unserer Kranken aus einem Waisenhaus, in
dem kaum ein Monat ohne Neuerkrankungen verlief, in dem es
aber nie zu gehäuften Erkrankungen kam. Die fast gleich-
mäßige Verteilung der Scharlachfälle aus diesem Waisenhaus wird
durch beistehende Tabelle verdeutlicht. Nicht minder eindrucksvoll
Oktober | November Dezeniher ‚Januar Kran März April
| ! '
| | | |
| | | | TE | | | '
sind Einzelbeobachtungen nach Art der nachfolgenden: ein Arzt,
der als Kind mit Sicherheit Scharlach gehabt hat, wird von einem
Scharlachkranken bei der Racheninspektion angehustet und er-
krankt kurz darauf an Halsentzündung und starker Lymphadenitis.
Wenige Tage später hat er die meisten seiner Haushaltsgenossen
angesteckt, und zwar erkranken seine Frau und das Hausmädchen
an Scharlach, das 1ljährige Kind und die 59jährige Großmutter
aber, die beide durch ihr Lebensalter weniger zum Scharlach dispi-
niert sind, nur an starker Angina.
1) Daß diese in einer Sensibilisierung durch vorangehende Infekte bestehen
soll, ließ sich durch meine Anamnesen nieht bestätigen.
Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 215
Ist danach also die Angina der wichtigste und zentrale Be-
standteil des Scharlachs, so scheint die
Lehre vom anginafreien Wundscharlach
dieser Ansicht zu widersprechen. Man nahm bisher an, daß bei
extrapharyngealer Infektion keine Angina zu erwarten sei. Viel-
leicht ist aber schon diese Voraussetzung irrig, jedenfalls verträgt
sie sich nicht mit der neueren, besonders von Fein!) vertretenen
Auffassung des Anginaproblems: über der Angina steht die „Angi-
nose“, über der lokalen Erkrankung des Schlundrings die entzünd-
liche Reaktion des gesamten Iymphatischen Systems in allen Or-
ganen. Denn damit verliert eine Sonderstellung der „Eintritts-
pforte“ Sinn und Bedeutung. Wäre es nicht denkbar, daß die
widersprechende Meinung vom Wundscharlach ohne Angina mehr
auf irrigen Theorien als auf guten Beobachtungen aufgebaut ist?
Und umgekehit: auch was von der Anginosenlehre zu halten sei,
könnte gar nicht besser geprüft werden als durch eine kritische
Untersuchung des Verhaltens beim Wundscharlach.
Unter diesem Gesichtspunkt habe ich aus meinem Material
die Fälle mit sicherem Wundscharlach (bei denen das Exanthem
kurz nach einer Verwundung einsetzte und von der Wundumgebung
ausging), die Fälle mit wahrscheinlichem bzw. möglichen Wund-
scharlach (bei denen meist kleinere Wunden oder Hauterkrankungen
mit Epitheldefekten in Frage kamen), ferner die Fälle von sog.
Menstruationsscharlach (wenn Angina und Exanthem nach dem
Beginn der Menses auftraten) und schließlich alle Fälle ohne nach-
weisbare extrapharyngeale Eintrittspforte ausgesondert und weiter
nach der Intensität der Anginen gruppiert: starke Anginen, wenn
Rötung, Schwellung und Belag gefunden wurde; schwache, wenn
deutlicher Belag und beträchtliche Schwellung fehlten; unsichere,
wenn sich der Zustand beim Krankheitsbeginn wegen späterer
Einlieferung dem Urteil entzog, aber anamnestisch Angina an-
gegeben wurde; keine, wenn die geringe Rötung oder Schwellung
nicht sicher als pathologisch zu bezeichnen war und anamnestisch
keine Halsentzündung angegeben wurde.
Dabei ergab sich folgendes. S. Tabelle auf nächster Seite.
An der Übersicht ist zunächst auffallend, in wie vielen Fällen,
die trotzdem als sicherer Scharlach zu diagnostizieren waren, keine
zweifellose Angina beobachtet wurde. Die Ursache liegt darin,
daß viele Patienten erst nach den ersten Krankheitstagen ein-
1) Die Anginose. Verlag Urban u. Schwarzenberg. Wien 1921.
‘
216 BENJAMIN
geliefert wurden. Weiter ist aber beachtenswert, daß die meisten
Fälle von sicherem oder wahrscheinliichem Wundscharlach mit
Angina verliefen (auch wenn von den beiden Nasenoperierten ab-
gesehen wird, bei denen die Eintrittswunde im Zuflußgebiet der
lymphatischen Rachendrüsen liegt), in meiner kleinen Statistik
zufällig sogar in höherer relativer Beteiligung als die Fälle mit
vermutlich pharyngealer Infektion.
| |
Angina: starke schwache unsichere : keine Summe
| |
sicherer Wundscharlach |
a) nach Nasenoperationen | — 2 = = 2
b) nach anderen verauns — 1 E= S G 2
dungen | |
wahrscheinlicher Wund-| 2 | 6 1 | 4 13
scharlach | | |
Menstruationsscharlach — |! 2 | 2 2: 6
kein Wundscharlach 6 26 S | 97 IM
100
Zugegeben, daß der Widerspruch dieses Ergebnisses gegen
die bisherige Lehre auf dem Fehler der kleinen Zahl beruhen mag,
so ist doch sicher erwiesen, daß erstens die Angina bei extra-
pharyngealem Wundscharlach nicht immer fehlt, zweitens wäre
aber sogar ein sicher nachgewiesenes Überwiegen der Anginen bei
pharyngeal Infizierten noch keineswegs ein Argument gegen die
Richtigkeit der Anginosenlehre bzw. für die lokale Erkrankung
der Eintrittspforte. Denn es leuchtet doch ein, daß bei Individuen,
die konstitutionell zu Katarrhen der Atemwege disponiert sind
und die bei hyperplastischem Iymphatischen Apparat oft und stark
an Anginen erkranken, auch die Möglichkeit einer pharyngealen
Infektion gesteigert ist. Wenn es also bisher hieß: wer pharyı-
geal infiziert wird, kriegt eine stärkere Angina, — so wird man
fortan sagen müssen: wer starke Anginen kriegt, wird wohl auch
leicht pharyngeal infiziert.
Ich habe den sog.
„Menstruationsscharlach“
herkömmlicherweise als Sonderfall des Wundscharlachs angeführt,
obwohl es von vornherein schwer zu glauben ist, daß der Uterus
in einem doch häufigen und physiologischen Zustand zum Ausgangs-
ort einer Allgemeininfektion werden soll. Es ist zwar unbestritten,
daß ein großer Feil der scharlachkranken Frauen in den ersten
Tagen des Krankenhausanfenthalts menstruiert ist, in meinen
Einige Beobachtungen an Scharlachkranken. 217
Material 19 von 24 Frauen. Bei weiterer Prüfung fand ich aber,
daß der Beginn des Scharlachs meist nicht der Menstruation folgt,
wie bei dem vermuteten Zusammenhang zu erwarten wäre, sondern
daß die Menses oft erst nach dem Auftreten der Scharlachangina
oder des Exanthems einsetzen.
Unter meinen 24 Fällen erfolgte der Beginn des Scharlachs
(Angina oder Exanthem)
innerhalb der Inkubationszeit (1—5 Tage) nach den Menses
6 mal, kurze Zeit (1—3 Tage) vor dem Beginn der Menses _
13mal(!), ganz unabhängig von den Menses 5mal.
In den meisten Fällen folgte also die Menstruation kurz nach
dem Beginn des Scharlachs. Die naheliegende Vermutung, daß die
Blutung infolge der Krankheit verfrüht eintritt, ließ sich an meinem
Material nicht bestätigen. Es bleibt also nur die Folgerung, daß
weniger die Menstruation selbst als die prämenstruelle Zeit eine
besondere Scharlachempfänglichkeit schafft. Nicht die blutende
Wundfläche des Uterus, sondern die endokrinen oder Stoffwechsel-
wirkungen der Eireife dürften also das disponierende Moment ab-
geben.
Es ist verwunderlich, daß diese einfache Feststellung in den
früheren Veröffentlichungen über den Menstruationsscharlach ver-
säumt worden ist und sich so eine falsche Auffassung über seine
Natur festsetzen konnte.
Ergebnisse.
1. Im Säuglings- und Kleinkindesalter ist der Scharlach selten,
sein Bild ist symptomenärmer und weniger charakteristisch als
beim älteren Kinde und beim Erwachsenen.
2. Den Scharlach der Erwachsenen zeichnet das Rheumatoid
aus, das beim Beginn der Entfieberung auftritt und wahrschein-
lich durch den Übertritt von Wasser aus den entquellenden Zellen
in die Gewebsinterstitien bedingt wird.
3. Als Ausdruck der Elektrolytverschiebungen tritt beim Fieber-
abstieg oder kurz danach häufig ein vorübergehendes Facialis-
phänomen auf, in anderen Fällen verschwindet ein schon konstitu-
tionell vorhandenes im Fieber und kehrt bei der Entfieberung ver-
stärkt zurück.
4. In Übereinstimmung mit den Sektionsbetunden lehrt auch
die Klinische Beobachtung, daß eine interstitielle Iymphocytäre
Niereninfiltration der typischen Glomerulonephritis vorangeht.
5. Endokarditis und Myokarditis sind keine häufigen Scharlach-
218 Benyamın, Einige Beobachtungen an Scharlachkranken.
komplikationen, nur aus Mißdeutung der vasomotorischen Blutver-
schiebung, der „atonischen“ Geräusche und der vagotonischen Re-
konvalescenz-Arrhythmien oft fälschlich diagnostiziert.
6. Die Streptokokkenvaginitis ist eine häufige Manifestation
des ersten und zweiten Krankseins. Da die Ketten der Erreger
oft nur zweigliedrig sind, ist eine Verwechselung mit Gonorrhöe
möglich.
7. Die Lehre vom anginafreien Wundscharlach entspricht weder
den klinischen Tatsachen, noch der richtigeren Auffassung der
Angina als einer allgemeinen Systemerkrankung (nicht nur einer
lokalen Reaktion der „Eintrittspforte*).
8. Der sog. „Menstruationsscharlach“ ist nicht die Folge einer
uterinen Infektion, sondern anderer prämenstrueller oder menstru-
eller Vorgänge; denn der Beginn des Scharlachs geht dem Einsetzen
der menstrnellen Blutung meist um kurze Zeit voraus.
219
Aus der medizinischen Universitätsklinik Köln-Lindenburg.
(Direktor: Geheimrat Prof. Dr. Moritz.)
Zur Frage,
ob das Insulin beim Gesunden auf die Ausscheidung von
Gesamtstickstofl, Aminosäurenstickstoff und Kupferoxyd-
reduzierenden Substanzen im Harn einen Einfluß hat.
Von
Fritz Zinsser.
Seit den grundlegenden Untersuchungen von Banting und
Best besteht kein Zweifel mehr darüber, daß das Insulin mit
einem Pankreasinkret identisch ist, und daß es dem Diabetiker
etwas ganz Wesentliches ersetzt. Daraus ergibt sich schon, daß
das Insulin auch für den gesunden Menschen zur Erhaltung des
Stoffwechselgleichgewichtes erforderlich sein wird. Wenn sich auch
naturgemäß die Literatur in erster Linie mit dem Einfluß des In-
sulins auf den Diabetiker beschäftigt, so finden sich dennoch hier
und da Hinweise, die seine Bedeutung für das normale Individuum
dartun.
Cammidge (1) und vor allem Harris (2) schildern die Be-
schwerden mehrerer Patienten, welche darin bestanden, daß sie
längere oder kürzere Zeit nach einer Mahlzeit über außerordent-
lich starkes Hunger- und Mattigkeitsgefühl, über Zittern und Ohn-
machtsanfälle klagten. Beim Fehlen jedes abnormen klinischen
Befundes war nur der Blutzucker erniedrigt. Gab man den Pa-
tienten etwas Fruchtsaft, so schwanden die Krankheitserscheinungen
sofort; sie traten überhaupt nicht auf, wenn die Personen die Zeit-
räume zwischen den Mahlzeiten verkürzten. Nicht ohne Unrecht
führen Cammidge und Harris dieses so häufig beobachtete
Krankheitsbild auf eine Insulinwirkung zurück. In eine ähnliche
Richtung weisen die Versuche von Staub (3) Staub ließ einen
Gesunden eine reichliche Kohlehydratmahlzeit zu sich nehmen und
220 ZINSSER
transfundierte 5 Stunden später 400—500 ccm seines Blutes einem
Diabetiker, dessen Blutzucker gleich nach der Injektion für ca.
4 Stunden erheblich unter den Wert sank, der allein aus der Ver-
dünnung des Diabetikerblutes zu berechnen war. Transfundierte
er dagegen Blut von einem Gesunden, der 24 Stunden gehungert
hatte, so trat beim diabetischen Empfänger die Blutzuckersenkung
nicht ein.
Wiechmann (4) fand bei Gesunden und leichten Diabetikern
nach oraler Glukosezufuhr ein Absinken der Aminosäurenwerte
im Blute, wie er sie in ähnlicher Weise beim Diabetiker nach
Insulinzufuhr nachweisen konnte. Beim schweren Diabetiker da-
gegen blieb die Senkung des Aminosäurenspiegels des Blutes nach
Glukosezufuhr aus. Man geht wohl nicht fehl, wenn man sowohl
die Versuche von Staub als auch die von Wiechmann dahin
deutet, daß das Pankreas des Gesunden und des leichten Diabe-
tikers auf die Glukosezufuhr mit vermehrter Insulinproduktion
antwortet.
Im Hinblick auf diese „physiologische* Rolle des Insulins
habe ich auf Veranlassung von Herrn Privatdozent Dr. Wiech-
mann untersucht, welchen Einfluß das Insulin beim Gesunden auf
die Ausscheidung von Gesamtstickstoff, Aminosäurenstickstoff und
Kupferoxyd-reduzierenden Substanzen mit dem Harn ausübt. Man
muß annehmen, daß sich ein Teil der Vorgänge, die sich im Blut
und Gewebe abspielen, im Harn wiederspiegelt.
Die Untersuchungen wurden an fünf weiblichen Individuen
angestellt, die entweder vollkommen gesund waren oder nur ganz
unwesentliche Spitzenbefunde aufwiesen. Daß sie fieberfrei waren,
braucht wohl kaum hervorgehoben zu werden. Sie wurden auf
eine bestimmte Kost und Flüssigkeitszufuhr eingestellt; mit den
Insulinversuchen wurde erst begonnen, nachdem die Werte für die
zu untersuchenden Substanzen konstant waren. Die Urine wurden
von 8 Uhr morgens bis 8 Uhr abends und von 8 Uhr abends bis
8 Uhr morgens getrennt gesammelt. Menge und spezifisches Ge-
wicht wurden festgestellt. Bei allen Untersuchungen wurden
Doppelbestimmungen angestellt, die gut übereinstimmten. Das
Insulin wurde jedesmal eine halbe Stunde vor der Mahlzeit sub-
kutan injiziert. Zur Verwendung kamen Insulin „Bayer“ und das
englische Insulin „AB“ (Brand). Die Wirkung beider war iden-
tisch. Die höchste injizierte Kinzeldosis betrug 20, die höchste
injizierte Tagesdosis 70 Einheiten.
Zur Frage, ob das Insulin usw. 221
I. Gesamtstickstoff.
Über den Einfluß des Insulins auf die Ausscheidung des Ge-
samtstickstoffs mit dem Harn herrschen in der Literatur verschie-
dene Ansichten. Es erscheint zweckmäßig, die Beobachtungen, die
man an Diabetikern und an pankreas-diabetischen Tieren gemacht
hat, von jenen zu trennen, die anı gesunden Menschen und an nor-
malen Tieren angestellt wurden.
Die Erfahrungen beim menschlichen Diabetes und bei dem
durch Pankreasexstirpation experimentell hervorgerufenen Diabetes
decken sich im allgemeinen. An pankreas-diabetischen Tieren be-
obachteten McCarthy und Olmstead (5), daß das Insulin die
Stickstoffausscheidung herabsetzt, welche nach den Erfahrungen
Minkowski’ (6) beim menschlichen Diabetes erhöht zu sein
pflegt. In ähnlicher Weise fanden Nash (7) und Ringer (8) bei
phloridzin-diabetischen Hunden eine Abnahme der Stickstoffaus-
scheidung unter der Einwirkung des Insulins. In dieselbe Rich-
tung weisen die Beobachtungen Wiechmann’s (4) und Pollak’s (9)
beim Diabetes des Menschen.
Im Gegensatz zu diesen übereinstimmenden Befunden am dia-
betischen Individuum gehen die Ansichten der Autoren über den
Einfluß des Insulins anf die Gesamtstickstoffausscheidung beim
normalen Menschen resp. Tier erheblich auseinander. Collazo
und Haendel (10) fanden bei Tauben nach Insulininjektion eine
Zunahme der Stickstoffausscheidung. Nash (7) stellte bei Hunden
4 Stunden nach der Injektion von 7,5 Einheiten Insulin eine Zu-
nahme der Stickstoffausscheidung um nahezu 25°/, fest, die von
einem. Absinken gefolgt war. Labbé und Theodoresco (11)
stellten Versuche an normalen Hunden an und fanden ebenfalls
nach Insulin starke Stickstoffverluste. Labbé und Theodoresco
glauben sogar den Tod eines ihrer Versuchstiere auf zu große
Stickstoffverluste zurückführen zu müssen. Mit diesen Versuchen
stimmen die Befunde von Blatherwick, Bell und Hill (12)
nicht überein. Ihre Beobachtungen an gesunden Individuen zeigen,
daß nach Insulinzufuhr anfänglich eine gesteigerte Stickstoffaus-
scheidung stattfindet, daß diese aber bei fortgesetzter Insulingabe
einem allmählichen Absinken der Stickstoffwerte unter die Norm
Platz macht. Kudrjawzewa (13) stellte bei gleichmäßig er-
nährten Kaninchen gleichfalls ein Absinken der Stickstoffausschei-
dung, manchmal sogar bis auf die Hälfte der Normalwerte fest.
Bei den eigenen Versuchen wurden die Versuchspersonen 9 bis
12 Tage lang beobachtet, und immer die 12stündigen Urinportionen
222 ZINSSER
untersucht. Die Bestimmung des Gesamtstickstoffs erfolgte durch
das Makro-Kjeldahlverfahren. Alle Versuche verliefen in gleicher
Richtung. Als Ergebnis kann zusammenfassend gesagt werden,
daß sich in keinem von den fünf Fällen ein Einfluß
des Insulins auf die Ausscheidung des Gesamtstick-
stoffs im Urin nachweisen ließ. Tabelle 1 soll die Ergeb-
nisse illustrieren. Von der Wiedergabe der übrigen Tabellen sehen
wir aus Gründen der Raumersparnis ab.
Der Übersicht halber wurden von den Tagen, an welchen kein
Insulin gegeben wurde, und von denen, an welchen die Versuchs-
personen Insulin in steigenden Dosen erhielten, die Mittelwerte
der Ausscheidungszahlen bestimmt. Bei einem Fall stieg der
mittlere Ausscheidungswert von 5,09 g ohne Insulin auf 6,34 g mit
Insulin, während bei einem anderen die mittlere Gesamtstickstoff-
ausscheidung von 5,60 g ohne Insulin auf 4,80 g mit Insulin herab-
sank. Diese nach oben und unten veränderten Ausscheidungszahlen
liegen jedoch scheinbar noch innerhalb der Variationsbreite, welche
sich auch ohne Insulinzufuhr findet. Entsprechend der größeren
Urinmenge am Tage war die Gesamtstickstoffausscheidung am Tage
in der Regel größer als in der Nacht.
Nach den in der Literatur niedergelegten sich widersprechenden
Beobachtungen war ebensogut mit einem Ansteigen als auch mit
einem Absinken der Gesamtstickstoffausscheidung zu rechnen. Unsere
Untersuchungen ergaben jedoch bei genau gleichbleibender Er-
nährung und konstantem Körpergewicht keine Veränderung in der
Ausscheidung des Gesamtstickstoffs unter Insulinzutuhr. Es wäre
aber immerhin denkbar, daß ein anfängliches Ansteigen und ein
darauffolgendes Absinken der Stickstoffausscheidung, wie es bei-
spielsweise von Blatherwick, Bell und Hill (12) innerhalb
6 Stunden beobachtet wurde, bei unseren Versuchsanordnungen
deswegen nicht zutage trat, weil sich die Abweichung nach oben
und unten bei Untersuchung der zwölfstündigen Harnportionen kom-
pensierte. Wäre der Urin etwa zweistündig untersucht worden, so
hätte man möglicherweise einen Ausschlag nach der einen oder
anderen Richtung finden können.
II. Aminosäurenstickstoff.
Wie sich die Aminosäurenausscheidung im Harn nach Insulin-
zufuhr beim Gesunden verhält, darüber existieren bisher keine An-
gaben in der Literatur. Nur der Einfluß des Insulins auf die
Aminosäurenausscheidung des Diabetikers ist verschiedentlich unter-
223
Zur Frage, ob das Insulin usw.
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224 ZINSSER
sucht worden. Wiechmann (4) fand beim Diabetiker eine deut-
liche Verminderung des Aminosäurengehaltes in Blut und Harn
nach Insulingaben. Beim pankreaslosen Hunde beobachtete
v. Falkenhausen (14) dagegen keine wesentliche Beeinflussung
der Aminosäurenausscheidung durch Insulininjektion.
Es wurden die gleichen fünf Personen untersucht. Die Be-
stimmung des Aminostickstoffs geschah nach der von Folin (15)
angegebenen Methode. Alle Untersuchungen führten zu dem gleichen
Ergebnis. Ein Beispiel ist in Tabelle 1 wiedergegeben.
Die Tabelle. zeigt, daß sich die Mittelwerte der abso-
luten Aminosäurenausscheidung (0,037 g vor und 0,038 g
nach Insulininjektion) nicht geändert haben. Außer ganz
geringen Schwankungen, welche in der Variationsbreite liegen,
konnte diese Tatsache bei allen 5 Versuchspersonen beobachtet
werden.
Die interessanten Feststellungen vonSchmitzundSiwon(16),
daß eine Vermehrung der Harnmenge mit einer vergrößerten Amino-
säurenausscheidung meist Hand in Hand geht, daß also ein ge-
wisser Parallelismus zwischen Wasser- und Aminosäurenausschei-
dung besteht, konnten fast durchweg bestätigt werden. Aus der
Tabelle ist ersichtlich, daß z. B. am 19. I., 21. I., 24.1. und 28.1],
also an den Tagen, an welchen die Harnmenge sehr groß war, die
Zahlen für die Aminosäurenausscheidung ziemlich hohe Werte er-
reichten. In den anderen Fällen wurde die gleiche Beobachtung
gemacht.
Wenn man das Verhältnis von Amino-N und Gesamt-N vor
und nach Insulininjektion errechnet, so finden sich auch hier un-
veränderte Werte.
III. Kupferoxyd-reduzierende Substanzen.
Nach Blatherwick, Bell und Hill (12) übt das Insulin
keinen Einfluß auf die Ausscheidung der reduzierenden Substanzen
des Harnes beim Gesunden aus. Blatherwick, Bell und Hill
haben beobachtet, daß die Menge des gärungsfähigen sowohl wie
des nichtgärungsfähigen Zuckers durch Insulin nicht beeinflußt wird.
Wir haben die Kupferoxyd-reduzierenden Substanzen nach
Moritz (17) bestimmt und können die Feststellungen von Blather-
wick, Bell und Hill für alle fünf untersuchten Fälle bestätigen
(vgl. Tabelle 2). Geringe Schwankungen der Ausscheidung nach
oben wie nach unten kommen sowohl mit als auch ohne Insulin-
zufuhr vor.
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Zur Frage, ob das Insulin usw.
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226 Zınsser, Zur Frage, ob das Insulin usw.
Eine annähernde Konstanz der Ausscheidung von reduzierenden
Substanzen im Harn von 24 Stunden, wie sie von Moritz (17)
beschrieben worden ist, geht auch aus unserer Tabelle deutlich
hervor. Die prozentuale Ausscheidung ist im Nachtharn ent-
sprechend seiner höheren Konzentration eine größere, während
andererseits eine große Urinmenge wie z. B. am 13. II., 15. IL, 16.11.
und 21.1I. mit einer vergrößerten absoluten Ausscheidung der redu-
zierenden Substanzen einhergeht.
Beim Gesunden bewirkt Insulin eine Herabsetzung des Blut-
zuckergehaltes unter die Norm, und man könnte daher auch eine
Verringerung der reduzierenden Substanzen im Harn erwarten. Da
sich jedoch die Blutzuckersenkung im wesentlichen auf den Glu-
kosegehalt des Blutes bezieht, und da der Gehalt des normalen
Harnes an Traubenzucker außerordentlich gering ist, so ist es er-
klärlich, daß eine Hypoglykämie nicht in einer verminderten Aus-
scheidung von reduzierenden Substanzen im Harn zum Ausdruck
zu kommen braucht.
Zusammenfassung.
Bei fünf gesunden Individuen wurde der Einfluß des Insulins
auf die Ausscheidung von Gesamtstickstoffl, Aminosäurenstickstoff
und Kupferoxyd-reduzierenden Substanzen im Harn untersucht.
Eine Veränderung, speziell im Sinne einer Verminderung, konnte
in keinem Fall nachgewiesen werden.
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217, 1890.
227
Aus dem Pathologisch-anatomischen Institut Zürich.
(Direktor: Prof. Dr. H. von Meyenburg.)
Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen
der Herzklappen zum spezifischen Muskelsystem.
Von
E. Vehlinger,
Assistent am Institut.
(Mit 5 Abbildungen.)
Die pathologisch-anatomische Klassifikation des Adams-Stokes-
schen Symptomenkomplexes verdanken wir den Arbeiten von
Nagayo und Mönckeberg. Sie unterscheiden
I. Neurogene Formen a) zentraler Typus (Morgagni),
b) peripherer Typus.
II. Cardiale Formen a) Reizleitungstypus,
b) muskulärer Typus,
c) Isolierungstypus.
In dieser letzteren, von Mönckeberg aufgestellten Form,
ist das Atrioventrikularbündel selbst vollkommen intakt, dagegen
vom Vorhof oder Ventrikelmyokard oder von beiden zugleich ge-
trennt. Die kardiale Form des Adams-Stokes’schen Symptomen-
komplexes unterscheidet sich klinisch von der neurogenen Form
durch ihre Unbeeinflußbarkeit durch Atropin. Ihr, wie auch dem
unvollkommenen und vollkommenen Herzblock ohne cerebrale Be-
gleiterscheinungen, liegt pathologisch-anatomisch in den meisten
Fällen der Reizleitungstypus zugrunde. — Das spezifische Muskel-
system kommt in seinem Verlauf vom Coronarsinus durch den An-
nulus fibrosus und das Kammerseptum zur Herzspitze absteigend,
dann wieder subendokardial zur Herzbasis und in die Papillar-
muskeln ansteigend, in ausgedehnte Berührung mit dem Myokard
und Endokard, unter fast vollkommener Umgehung der Klappen.
Es sind daher vor allem Myokard- und Wandendokardprozesse die
15*
228 ÜEHLINGER
per continuitatem auf das spezifische Muskelsystem übergreifen, es
schädigen und zerstören. Die Folge sind Überleitungsstörungen,
denen pathologisch-anatomisch fibröse, eiterige, rheumatische und
gummöse Myokarditiden und Parietalendokarditis zugrunde liegen.
Nur der kurze Durchtritt durch den zentralen Bindegewebs-
körper bringt das Crus commune in unmittelbare Nähe von Aorten-,
Tricuspidal- und Mitralklappen. Trotzdem sind Überleitungs-
störungen im Verlaufe einer Endokarditis selten, was einerseits
durch die Lokalisation der Entzündungen am freien Klappen-
rand, andererseits durch die Seltenheit von Tricuspidalleiden be-
dingt ist. Nur für die basalen Klappenaffektionen ist der natür-
liche Ausbreitungsweg der Übergriff auf den Annulus fibrosus und
damit auf das His’sche Bündel. Dieses gewissermaßen typische
Ausbreitungsbild zeigen
1. die ascendierende Arteriosklerose der Aortenklappen,
2. die maligne destruierende, ulceröse Endokarditis.
Mönckeberg hat in seiner Arbeit: Der normale histologische
Bau und die Sklerose der Aortenklappen, 2 Typen scharf heraus-
gearbeitet. Die primäre ascendierende Klappensklerose beginnt am
Ansatzrand und bleibt im wesentlichen auf die innerste, dem Sinus
Valsalvae zugewendete. von elastischen Fasern freie Schicht be-
schränkt. Die Veränderungen bestehen zunächst nur in geringen
Verdickungen und vereinzelten Verkalkungen der Ansatzränder.
Die Segel selbst bleiben zart, leicht beweglich. Histologisch findet
man herdförmige Nekrosen, Infiltrate, Verfettung und geringgradige
Verkalkung der Intercellularsubstanz. Mit Fortschreiten der Skle-
rose bildet sich ein Kalkrosenkranz an der Klappenbasis aus, da
in dem Auftreten eines Kalkherdes immer zugleich die Tendenz
zu seinem appositionellen Wachstum liegt. Die Kalkschollen fließen
zusammen, drängen das Endothel gegen den Sinus Valsalvae vor,
breiten sich in der Klappe selbst aus und strahlen in die Basis
des großen Mitralsegels und das subendokardiale Gewebe des
Kammerseptums aus. Die Klappen bleiben dabei vollkommen
schlußfähig, da die Pars luxurians von jeder Entartung verschont
bleibt. Dagegen ist in den schweren Fällen das Aortenostium
insufficient und eingeengt, die Kommissuren sind miteinander ver-
wachsen. Die die Sinus fast vollkommen ausfüllenden Kalknester
durchbrechen das Endothel, und die den Defekt zudeckenden Fibrin-
massen fallen selbst wieder der Verkalkung anheim.
= Die Erstarrung des Aortenostiums führt zur ungehemmten
Übertragung des Blutrückstoßes auf den Annulus fibrosus. Die
Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 9229
Folgen sind mannigfache Verzerrungen und Verschiebungen seiner
Fibrillenbündel und Störungen im Gewebssäftestrom, eine be-
schleunigte Gewebsabnützung, ein vorzeitiges Altern. Zellen und
Intercellularsubstanz verfetten. Das hyaline Bindegewebe wandelt
sich in knorpelähnliches Gewebe um, das Gerüst verkalkt. Die
ersten Kalkschollen treten z. T. selbständig auf, meist aber bilden
Verfettung und knorpelige Degeneration nur die Vorbedingungen
für ein rasches Fortschreiten der Verkalkung von den Aorten-
klappen auf den Annulus fibrosus. Damit treten die Altersprozesse
in unmittelbare Nähe des His’schen Bündels.
In S-förmiger Biegung gegen die rechte Septumseite weicht
dieses zunächst den vordringenden Kalkmassen aus. Bogenförmig
wird das Bündel über die Kalkkugeln ausgespannt und sehr bald
entwickeln sich in ihm Druckschädigungen. Die Muskelfasern
werden schmal, langgezogen, verlieren ihre Querstreifung und
schwinden teilweise vollkommen. Hand in Hand damit kommt es
zu starker Vermehrung des fibrillären Binde- und Fettgewebes,
das sich in breiten Strängen zwischen die noch erhaltenen Muskel-
fasern einlagert. In den Endstadien wird das Bündel durchbrochen.
Die Gefäße bleiben meist schmalwandig, im Gegensatz zur arterio-
sklerotischen Knotenatrophie.
Eine zweite Lieblingslokalisation für Kalkablagerungen im
Herzen bilden die Spitzen der Papillarmuskeln und das Septum
membranaceum. Die in seine hintere Umrandung eingelagerten
Kalkmassen gefährden besonders den linken Schenkel. Anderer-
seits haben diese Kalkablagerungen das Bestreben zu wachsen.
Sie dringen ebenfalls in den Annulus fibrosus ein und das Crus
commune wird zwischen diesen und den von den Aortenklappen
einstrahlenden Kalkschollen zusammengepreßt, und bei Zusammen-
fluß der Kalknester mehr oder weniger vollkommen unterbrochen.
Klinisch weisen zuerst ventrikuläre Extrasystolen auf die
Reizung des spezifischen Muskelsystems durch die vordringenden
Kalkmassen hin. Mit. zunehmender Durchtrennung des Bündels
kommt es zur Verlängerung der Überleitungszeit, Kammersystolen-
ausfall, und in den Endstadien zu unvollkommener, selten voll-
kommener Dissoziation der Vorhofkammerschlagfolge.
Solche Fälle sind schon zahlreich in der Literatur beschrieben
worden von Mönckeberg, Nagayo, Aschoff usw. Als Bei-
spiel will ich kurz einen von Mönckeberg veröffentlichten Fall
anführen:
230 ÜEHLINGER
59 jähriger Mann, litt seit 5 Jahren an plötzlich und regellos ein-
tretenden Schwindelarfällen mit Bewußtlosigkeit. Die Untersuchung er-
gab starke Herzvergrößerung nach links. Puls 28—42, regelmäßig, voll.
gespannt. Sekundenherztod. Bei der Sektion findet man schwerste
ascendierende Arteriosklerose der Aortenklappen mit Verschmelzung der
beiden vorderen Klappen und verkalkender Thrombose. A.orteninsufficienz.
‘Von der rechten Aortenklappe erstrecken sich die Kalkablagerungen
bis zum Grunde des Septum membranaceums und verschmelzen mit Kalk-
schollen, die in dessen untere Umrandung eingelagert sind. Die Kalk-
massen durchtrennen das Crus commune im Bereich seiner Teilungsstelle.
Die Anfangsteile der beiden Schenkel fehlen vollkommen, der rechte bleibt
auf einer Strecke von 3,5 mm. der linke auf einer Strecke von 5,6 mm
unterbrochen. Die proximalen Schenkelenden splittern sich in das derb-
fasrige, die Kalkmassen umzieliende Bindegewebe auf. Das Crus commune
endigt links, subendokardial, unter einer starken Endokardverdickung.
Die ersten Stadien der Bündelverdrängung durch die vordrin-
genden Kalkablagerungen, und selbst hochgradige Druckatrophie
des spez. Muskelsystems können klinisch aber auch absolut sym-
ptomlos bleiben. Trotzdem besteht eine gewisse Leistungsbeein-
trächtigung, die sich in einer erhöhten Vagusempfindlichkeit zeigt.
Der überraschende, plötzliche, in Sekunden eintretende Herztod im
Alter, aus scheinbar voller Gesundheit heraus, beruht meist auf
seniler Atrophie oder Druckschädigung des Reizleitungssystems.
dessen Leitfähigkeit durch den plötzlich gesteigerten Vagustonus
aufgehoben wird. (Kohlensäureüberladung des Blutes bei schlechter
Atmung.)
In dem ersten von mir untersuchten Fall hatte bei dem 66 jäh-
rigen Patienten, der wegen Atembeschwerden (Emphysem und
Bronchitis catarrhalis) in Spitalbehandlung eingetreten war, eine
gewisse Pulsunregelmäßigkeit, bei regelmäßigem Venenpuls auf
eine Überleitungsstörung hingewiesen. Die Herzgrenzen waren
leicht verbreitert, die Töne rein. In der Nacht nach Spitaleintritt
plötzlicher Herztod in wenigen Minuten.
Die Sektion ergab (S.-P. 284/1925): Endocarditis chronica
fibrosa calculosa mit Übergreifen auf das Septum ventriculorum
und das große Mitralsegel.e. Exzentrische Herzhypertrophie. be-
sonders links. Braune Atrophie des Herzens. Chronisch-substan-
tielles Lungenemphysem. Stauungsbronchitis Chronischer Milz-
tumor. Stauungsorgane.
Herzbefund: Im Herzbeutel 10 ccm klare gelbe Flüssigkeit.
Herz etwas größer als die Faust der Leiche, wiegt 440 g. mibt
vom Sulcus terminalis bis zur Spitze 14 cm, von der Kranzfurche
bis zur Spitze 8 cm, ist straff kontrahiert. Spitze rund, von beiden
Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 9231
Ventrikeln gebildet. Epikard und Perikard glatt, glänzend. Sub-
epikardiales Fettgewebe hellgelb, an der Spitze reichlich entwickelt.
Venöse Ostien für 2 Finger durchgängig. Arterielle Ostien halten
auf Wassereinlauf.
Mitralis am freien Rand guirlandenförmig verdickt, Sehnen-
fäden schlank, frei. Tricuspidalis und Pulmonalis zart. Klappen
durchsichtig, leicht beweglich. Aortenklappen am gesamten An-
satzrand wulstartig verdickt und knotig verkalkt. Die Sinus Val-
salvae, besonders der hinteren und rechten Klappe, fast vollkommen
mit festhaftenden, papillären und traubenartigen Gebilden aus zu-
sammenhängenden Kalkkugeln angefüllt.e In den Kommissuren
Klappenränder 3—5 mm weit miteinander verwachsen. In die
Verwachsungsfläche Kalkschollen eingelagert. Die übrige Pars
luxurians zart, leicht beweglich im Gegensatz zur starren Klappen-
basis. Von der Basis der hinteren Aortenklappe greift die Ver-
kalkung einerseits auf den Annulus fibrosus über, durchsetzt ihn
vollkommen als stacheliges, walzenförmiges Gebilde, das Endokard
und Ansatzgebiet der hinteren, medialen Tricuspidalklappe in die
rechte Kammer vorwölbend; andererseits greift die Verkalkung auf
die Basis des großen Mitralsegels über (Zone Sato III), rafft und
spannt das Segel an. Die Aorta mißt über den Klappen 7, die
Pulmonalis 8 cm. Linker Vorhof und linker Ventrikel mäßig er-
weitert. Myokard im linken Ventrikel auf Schnitt braunrot, trans-
parent, mißt 15 mm. Papillarmuskeln und Trabekel kräftig. Rechter
Vorhof und rechter Ventrikel stark erweitert, Muskulatur wie links,
mittlere Breite 6 mm. Beide Herzohren frei. Intima der Coronar-
arterien überall verdickt, gelb, z. T. verkalkt. Lumen weit.
Histologischer Befund: Zur histologischen Untersuchung
wurde aus dem Septum ein Block herausgeschnitten mit Atrio-
ventrikularknoten, His’schem Bündel und proximalen Schenkelteilen.
Einbettung in Parafin. Serienschnitte bei horizontaler Schnitt-
richtung. Schnittdicke 10—20 u. Färbung abwechselnd in Häm-
alaun-Eosin und van Gieson.
In den ersten Schnitten sind Vorhofsseptum, hintere und rechte
Aortenklappe quer getroffen. Die Ansatzränder der Klappen werden
durch ein lockeres, mittelzellreiches Bindegewebe mit sternförmigen
Zellen, das in der innersten, von elastischen Fasern freien Wand-
schicht liegt, stark verbreitert. Auf den folgenden Schnitten sind
in dieses lockere Bindegewebe Kalkkugeln eingelagert, die anfangs
noch durch ein kernarmes, stark hyalinisiertes, fibrilläres Binde-
gewebe voneinander getrennt werden. Die Kalkkugeln nehmen in
232 | UEHLINGER
den nächsten Schnitten rasch an Zahl zu, fließen zusammen, drängen
das Endothel, von dem sie nur eine schmale Bindegewebsschicht
trennt, gegen den Sinus Valsalvae vor, füllen ihn fast vollkommen
aus. Zugleich treten neue Kalkschollen subendothelial im Septum
auf, stellen eine brückenartige Verbindung zwischen den knotig-
verkalkten Klappenansatzrändern her und dringen andererseits in
den Annulus fibrosus ein.
Mit Schnitt 270 beginnt das spezifische Muskelsystem. Seine
Muskelfasern sind zart, lang, schmal und werden durch reichlich
zwischengelagertes Fettgewebe und feinste Bindegewebsfibrillen
auseinander gedrängt. Gefäße zart. Spärlich perivaskulär ge-
lagerte Lymphocyten- und Plasmazellinfiltrate.e Auf Schnitt 330
treten am Ansatzrand des Tricuspidalsegels neue Kalkschollen auf.
die in den folgenden Schnitten rasch an Masse zunehmen, und
ebenfalls in den Annulus fibrosus und das Vorhofmyokard eindringen.
Der Atrioventrikularknoten wird durch diese Kalkmassen gegen
die linke Septumseite ausgebogen und die Muskelfasern halbmond-
förmig über die kugelige Oberfläche der Kalkschollen ausgespannt.
Die in den Annulus fibrosus eingedrungenen Kalkmassen vereinigen
sich mit den Kalkkugeln der muskulären Septumspitze und stellen
so eine Kalkschranke zwischen Vorhof- und Ventrikelmyokard her.
Auf Schnitt 400 tritt plötzlich eine starke Massenzunahme der
Kalknester im Sinus Valsalvae der hinteren Aortenklappe ein.
Diese dringen auch in den Annulus ein und das auf diesen
Schnitten längsgetroffene His’sche Bündel wird zwischen die beiden
Kalklager eingefaßt (Abb. 1). In S-förmiger Krümmung sucht das
Reizleitungssystem den vordringenden Kalkmassen auszuweichen.
In den nächsten Schnitten vereinigen sich aber die Kalkmassen
zu einem einzigen, ceircinär begrenzten Knoten, der das Crus com-
mune vollkommen unterbricht. Um den Kalk verläuft ein breites
Band aus hyalinisiertem, fibrillärem Bindegewebe mit herdförmiren
Lymphocyteninfiltraten, die stellenweise auf Ventrikel und Vor-
lofmyokard und spezifisches Muskelsystem übergreifen. Mit
Schnitt 450 schwinden die Kalkschollen wieder. Nur eine, zwischen
Ansatz des Tricuspidalsegels und hinterer Aortenklappe sich aus-
breitende Kalkspange bleibt noch bis Schnitt 720 sichtbar. Von
distalen Fragment des His’schen Bündels spaltet sich in den letzten
Serienschnitten der linke Schenkel ab und der rechte senkt sich
in das Septummyokard ein. Beide Schenkel sind im weiteren Ver-
lauf vollkommen intakt.
Der Sinusknoten kräftig entwickelt, intakt.
Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 233
Ventrikelmyokard: Muskelfasern schmal, mit deutlicher
Streifung, wenig braunem Pigment, ohne Fett. Das fibrilläre Stroma
zart, nicht infiltriert.
Die fabelhafte Leistungs- und Anpassungsfähigkeit des spezi-
fischen Muskelsystems zeigt sich in diesem Fall sehr anschaulich.
Die von 3 Seiten gegen das Crus commune vordringenden Kalk-
massen hatten das His’sche Bündel fast vollkommen unterbrochen.
Trotzdem. war die Überleitung nur wenig gehemmt und die gering-
gradige Pulsarrhythmie bei 100 Schlägen in der Minute wahrschein-
lich durch ventrikuläre Extrasystolen bedingt. Nur der Minuten-
‚Abb. 1. Zusammenpressen des Crus commune zwischen den, in den Annulus
fibrosus von links und rechts einstrahlenden Kalkmassen.
herztod weist auf die Schädigung des spezifischen Muskelsystems
hin. Der: gesteigerte Vagustonus, bedingt durch eine Kohlensäure-
überladung des Blutes bei dem schlechten Gasaustausch infolge des
Emphysems und der Bronchitis, führte zur plötzlichen, vollkommenen
Unterbrechung der Überleitung. Damit waren die Bedingungen
für die Entwicklung einer Kammerautomatie und des Kammer-
fimmerns geschaffen.
Typisch ist in diesem Fall die Lokalisation der Kalkeinlage-
rungen an den mechanisch am meisten beanspruchten Organteilen,
l. in den Gelenken der Klappen (Klappenansatzränder), 2. in der
unteren Umrandung des Septum membranaceums, das als Sehne
234 ÜEHLINGER
der longitudinalen Myokardschichten gleichfalls zahlreichen Zer-
rungen ausgesetzt ist. |
II.
Im Gegensatz zur ascendierenden, primären Arteriosklerose
der Aortenklappen wird durch die sekundäre, von der Aorta ascen-
dens auf die Pars luxurians der Klappen descendierende Arterio-
sklerose, das Reizleitungssystem nicht unmittelbar in Mitleiden-
schaft gezogen. Auch die Mesaortitis luetica greift nur auf den
freien Klappenrand über und führt zu Stenose und Insufficienz des
Aortenostiums. Aneurysmabildungen der Sinus Valsalvae sind daher
sehr selten, da die mesaortitischen Infiltrate auf der Höhe des
Schließungsrandes der Aortenklappen glatt aufhören. Doch siud
von Roth zwei Fälle beschrieben worden, in denen kirschkern-
große Ausbuchtungen der hinteren Aortentaschen, das Vorhofseptum,
über dem hinteren Fünftel des medialen Tricuspidalsegels in den
rechten Vorhof eingedrückt und so zu einer mehr oder weniger
vollkommenen Durchtrennung des Atrioventrikularknotens geführt
hatten. (Keine histologische Untersuchung.) In beiden Fällen be-
stand klinisch vollkommener Herzblöck. Die zahlreichen Fälle von
Überleitungsstörungen bei Lues sind durch gummöse Myokarditis
und Endartritis obliterans bedingt und sind ganz unabhängig von
gleichzeitigen Aortenaffektionen.
III.
Die Seltenheit von Überleitungsstörungen im Verlauf einer
Endocarditis verrucosa wird durch die typische Lokalisation der
Effloresceenzen am Schließungsrande und unmittelbar darüber ver-
ständlich. Dem Destruktionsprozeß der malignen Endokarditis, der
rücksichtslos die Klappen zerstört und in Form tiefer Ulcerationen
auf Vorhof und Kammerwand übergreift, kann dagegen das spezi-
fische Muskelsystem ebenfalls zum Opfer fallen. Durch Abklatsch-
ulcerationen am Septum bei losgelösten Mitralsegeln, wird be-
sonders der linke Schenkel beschädigt und unterbrochen. James
hat einen Fall von akuter, ulceröser Endokarditis bei einem
65jährigen Manne beschrieben, wo eine ulceröse, von der medialen
Kommissur der Mitralis ausgehende Endokarditis ein 3:11, cm
messendes Ulcus in die Kammerscheidewand gefressen hatte und
Atrioventrikularnoten und den proximalen Teil des linken Schenkels
zerstörte. Die dann vollkommen unabhängig voneinander schlagen-
den Vorhöfe und Kammern wurden beide in verschiedener Weise
Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 235
durch das septische Fieber beeinflußt. Adams-Stokes’sche Anfälle
fehlten.
Der Endocarditis ulcerosa können Verkalkungen, die vom Klap-
penansatzrand in das Septum membranaceum ausstrahlen, den Aus-
breitungsweg vorzeichnen. Eine solche Kombination von schwer-
ster ascendierender Arteriosklerose der Aortenklappen mit Knochen-
bildung und destruierender, ulceröser Endokarditis, die zu einer
fast vollkommenen Unterbrechung des spezifischen Muskelsystems
geführt hat, zeigt der folgende Fall.
Die 64 jährige Patientin mit Sepsis lenta und Aorteninsufficienz
zeigte in den letzten Tagen vor dem Tode einen auffallend lang-
samen, regelmäßigen, vom Fieber kaum beeinflußten Puls von un-
gefähr 40 Schlägen in der Minute. Die Sektion ergab:
Sepsis lenta. Endocarditis chronica fibrosa calculosa retrahens
recurrens valvulae aortae mit Übergreifen auf Ventrikel und Vor-
hofseptum. Absceßbildung in der Herzscheidewand mit Durch-
bruch in den Sinus Valsalvae der hinteren Aortenklappe. Aorten-
stenose. Exzentrische Hypertrophie des linken Ventrikels. Akuter
Milztumor mit hyalinen Follikelzentren. Zentrale Lebernekrosen.
Hyperämie der Bauchorgane. Stauungsinduration und Infarkt-
narben der Nieren. Submuköses Leiomyom des Magens. Leiomyo-
mata uteri.
Herzbefund: Im Herzbeutel finden sich 20 ccm klare, gelbe
Flüssigkeit. Herz vergrößert, mißt von der Spitze bis zum Sulcus
terminalis 14, bis zur Kranzfurche 9 cm.
Spitze abgerundet, vom linken Ventrikel gebildet. Perikard und
Epikard glatt. Venöse Ostien für 2 Finger durchgängig. Aorten-
klappen lassen das Wasser durch. Mitralsegel zart, am freien
Rand zahlreiche, harte, glatte Knötchen. Sehnenfäden schlank,
nicht verwachsen. Mitralis mißt über den Klappen 8cm. Tricus-
pidalis und Pulmonalis zart. Tricuspidalis mißt 9, Pulmonalis 7!/, cm.
Aorta mit 6 cm Umfang besitzt nur 2 Klappen Beide vorderen
Taschen miteinander verwachsen. Verwachsungsfläche bis auf eine
ausgezackte, die Klappen vereinigende und ausspannende Leiste
zerstört. Pars luxurians aller Klappen wulstig verdickt. Ansatz-
ränder grobknotig verkalkt. Sinus Valsalvae der beiden vorderen
Klappen fast vollkommen mit korallenstockähnlichen Kalkmassen
angefüllt. Von der hinteren Aortenklappe breiten sich die Kalk-
massen, besonders auf das große Mitralsegel und in Form von
großen Kalkkugeln auf die untere Umrandung des Septum mem-
branaceums aus. Über den großen, breiten Kalkmassen, die sich
236 U EHLINGER
von der Basis der hinteren Aartenklappe auf das vordere Mitralsegel
erstrecken, ist das Endocard ulceriert. Der circinär begrenzte,
5:5 mm messende, flache Substanzdefekt ist z. T. durch graurote,
thrombotische Massen verdeckt, seine Ränder sind unterminiert,
schlaf. Mit der Sonde gelangt man in eine große Absceßhöhle,
die sich in Vorhofkammer- und Vorhofseptum ausbreitet, in den
hinteren Sinus Valsalvae durchbricht und das Endokard, sowohl
in den linken Vorhof über der medialen Kommissur der Mitralis,
als auch im rechten Vorhof in einem dreieckigen Feld zwischen
Ansatz der hinteren Mitralklappe, Todaro’sche Sehne und Coronar-
sinus halbkugelig vorwölbt. Im Bereich dieser drohenden Durch-
bruchstellen ist das Endokard beiderseits sclımutzig, blutig dunkel-
blaurot unterlaufen. Die spaltförmige Rißstelle im hinteren Sinus
Valsalvae ist mit frischen, roten Thromben belegt. Linker Vorhof
und linker Ventrikel erweitert. Myokard auf Schnitt graurot bis
graugelb, trübe, mißt im linken Ventrikel 12—15, im rechten 3—4 mm.
Papillarmuskeln und Trabekel mittelkräftig, auf Schnitt wie die
Wandmuskulatur. Rechter Vorhof und rechter Ventrikel weit.
Herzohren frei. Coronararterien an den Abgangsstellen durch
polsterartige, gelbe Verdickungen und im Verlauf durch zahlreiche,
gelbe Intimaverdickungen eingeengt.
Zur histologischen Untersuchung wurde aus dem Septum ein
Block herausgeschnitten, der die gesamte Absceßhöhle und den
proximalen Teil des Reizleitungssystems umfaßte. Serienschnitte
bei transversaler Schnittrichtung.
Histologischer Befund: Am Aortenostinum haben sich
2 zeitlich getrennte Prozesse abgespielt, die sich histologisch streng
auseinander halten lassen.
1. Eine schwere ascendierende Arteriosklerose.
2. Eine frische, akute, ulceröse destruierende Endocarditis.
In allen 3 Klappen sind die Taschen mit dichtgelagerten Kalk-
kugeln angetüllt, die von einem kernarmen, hyalinen, fibrillären
Bindegewebe eingehüllt werden und die in den beiden vorderen
Klappen streng auf die innerste, den Sinus Valsalvae zugekehrte
Klappenschicht beschränkt bleiben, dagegen in der hinteren Tasche
das ganze Segel in seinem Ansatzbereich durchbrochen haben und
in breiten Zügen seitlich auf das Septum membranaceum, absteigend
auf das muskuläre Septum übergreifen. In der Durchbruchstelle
umschließen die Kalkmassen schalenförmig spongiöses Knochen-
gewebe. Die lamellär-gebauten Knochenbälkchen liegen z. T. den
Kalkschalen unmittelbar an, z. T. bilden sie ein grobmaschiges
Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 9237
Netzwerk und werden fast vollkommen von flachen Osteoblasten-
säumen bekleidet. In den Markräumen liegt Fettmark. Über den
gesamten Kalkknochenmassen der hinteren Aortenklappe ist das
Endokard zerstört und mit einer dicken Lage von geschichteten,
plumpen Fibrinfäden und polynucleären Leukocyten belegt. Die
noch erhaltenen Reste des subendokardialen Bindegewebes sind auf-
gequollen, mehr oder weniger dicht mit Leukocyten infiltriert. Be-
sonders breit, unregelmäßig geschichtet, zerfressen ist dieser Belag
über den unterhalb der hinteren Aortenklappen gelegenen Kalk-
knoten. Von dieser Stelle bricht das Infiltrat in das Vorhof-
kammerseptum ein. Dichte Leukocytenstränge dringen zwischen
den Kalkkugeln vor und umspühlen sie. Von diesen Randwällen
aus strahlen die Infiltrate in breiten, fächerförmigen Zügen in das
Vorhofseptum ein, und häufen sich an zahlreichen Stellen zu
knötchenförmigen Abscessen, die von konzentrisch geschichteten
Fibrinfäden umhüllt werden und in denen jede (Gewebsstruktur
vollkommen verschwunden ist. Besonders große und stark blutig-
durchsetzte Abscesse wölben das Endokard über dem medialen
Trieuspidalsegel und über der medialen Kommissur der Mitralis in
die Vorhöfe vor. Die noch erhaltenen Muskelfasern werden durch
reichliche Gewebsflüssigkeit, Leukocyten, Plasmazellen, mit peri-
vaskulärer Häufung, auseinandergedrängt. Viele haben ihre Quer-
streifung verloren. Das Protoplasma bildet eine homogene, sich
mit Eosin schlecht rosafärbende Masse. Die Kerne sind verklumpt,
gelappt, fragmentiert, umgeben von reichlich feinkörnigem Pigment.
Die Gefäße sind strotzend mit Blut gefüllt, ihre Wandschichten
durch leukocytäre Infiltrate lamellär aufgesplitter. Durch die
gegen den linken Vorhof vordringenden Infiltrate wird der proxi-
male Teil des Reizleitungssystems in die eiternde abscedierende
Entzündung miteinbezogen.
In den ersten Serienschnitten sind die Ausstrahlungen des
Aschoff-Tawara’schen Knotens in den Coronarsinus quergetroffen.
Dem überall vordringenden Infiltrat setzt der Annulus fibrosus
eine Grenze. In der Mitte des Septums, unmittelbar dem Annulus
anliegend, häufen sich die Leukocyten zu einem 2 mm großen
Absceß, der die kranialsten Bündel des Atrioventrikularknotens
einschließt (Abb. 2). In der Randzone liegen zwischen zirkulär an-
geordneten Fibrinfasern, in Bündeln gelagerte Sarkolemmschläuclıe,
die kern- und fibrillenlos sind. Die Hauptmasse des Knotens aber
bleibt in allen Schnitten mehr oder weniger gut erhalten, doch
werden die einzelnen Muskelfasern besonders im Bereich der den
238 UEHLINGER
Knoten durchziehenden beiden Arterien durch reichliche Ödem-
flüssigkeit und ganz diffus verstreute Leukocyten stark auseinander
gedrängt. Einzelne Muskelfasern besitzen vielgestaltige, gekerbte,
kompakte Kerne, in vielen ist die Querstreifung fast vollkommen
verloren gegangen, viele sind von zentral-gelegenen, großen Vakuolen
durchsetzt. Die Bindegewebszellen sind rund, aufgequollen, die
Kerne oval, stark basophil. In den folgenden Schnitten sammeln
sich die einzelnen Bündel des spezifischen Muskelsystems zu einem
kompakten Knoten, der durch strichförmige, leukocytäre Infiltrate,
Abb. 2. Absceß im Vorhofseptum, z. T. auf den ödematös aufgelockerten Atrio-
ventrikularknoten übergreifend.
die sich gegen den Ansatzpunkt des medialen Tricuspidalsegels
vordrängen, vom Annulus fibrosus abgehoben wird. Bis auf
Schnitt 480 bleiben die Verhältnisse dieselben, dann treten einzelne,
fast vollkommen infiltratfreie Muskelfaserbündel als Crus commune
in den zentralen Bindegewebskörper ein. Auf Schnitt 520 bricht
plötzlich, entlang einem vom Vorhof zum His’schen Bündel vor-
dringenden Gefäß, der große Absceß im Vorhofseptum in das Reiz-
leitungssystem ein. Dieses wird dicht mit Leukocyteninfiltraten
durchsetzt. Die kranial gelegenen Muskelfasern zerfallen schollig
Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 239
und verlieren jede Struktur. Die Verhältnisse bleiben im ganzen
Verlauf des Crus commune unverändert; kranial nekrotische, kaudal
leukocytär infiltrierte Muskelfaserbündel. Mit Schnitt 750 setzt
der Abgang des linken Schenkels ein, während der rechte vorerst
noch seine Lage auf dem Scheitel des muskulären Ventrikelseptums
einhält. Die Schenkel sind in ihrem ganzen Verlauf infiltratfrei,
intakt. |
Der kräftige Sinusknoten wird von einer zartwandigen weiten
Arterie durchzogen. Das Myokard besitzt mittelbreite Muskel-
fasern, mit wenig feinkörnigem, braunem Pigment. Das Stroma
ist zart.
Die auffallend langsame und von den Temperaturschwankungen
ganz unbeeinflußte Pulszahl (um 40) hat ihre morphologische Grund-
lage in der teilweisen Zerstörung des Atrioventrikularknotens und
des His’schen Bündels. Die ausgedehnte Absceßbildung im Vorhof-
septum hat aber jedenfalls auch die Überleitung vom Sinus- zum
Atrioventrikularknoten stark beeinträchtigt. (Leider fehlen Ekg.)
Auch die Reizleitung im spezifischen Muskelsystem selbst war in-
folge der toxischen Schädigung der noch erhaltenen Muskelfasern
(Verfettung) eine sehr schlechte. Die alte Sklerose an den Aorten-
klappen mit der großartigen Verkalkung und Knochenbildung hat
einerseits die Lokalisation des Streptococcus viridans begünstigt
aber auch der Ausbreitung der Entzündung zahlreiche Hindernisse
in den Weg gelegt. Daher spielt sich auch die ausgedehnteste
Zerstörung im kranialen Teil des Vorhofseptums ab, während nur
kleine Abscesse weiter gegen die Tricuspidalis vordringen und auf
das spezifische Muskelsystem übergreifen.
Viel rascher und ungehemmter ist der Verlauf und die Zer-
störung von Myokard und spezifischem Muskelsystem im folgenden
Fall, wo die Ausbreitung der ulcerösen Streptokokkenendokarditis
nicht durch Sklerose und Verkalkung der Aortenklappen gehemmt
wurde.
Der 51jährige Patient !) erkrankte am 2. Dezember 1925 plötz-
lich mit Schüttelfrost und hohem Fieber; er wird als Grippe be-
handelt. Am 4. und 5. XII. ist die Temperatur afebril, dann treten
wieder Steigerungen ein, erst nur abends, dann mehrmals täglich.
Am 28. XII. ergibt die Untersuchung des Herzens über der Pulmo-
nalis und Aorta ein systolisches Geräusch mit accentuiertem 2. Ton;
1) Die klinischen Angaben verdanke ich der Liebenswürdigkeit von Herrn
Prof. Dr. Löffler, Direktor der Med. Poliklinik Zürich.
240 U EHLINGER
an der Herzspitze und über der Mitte des Sternums ein diasto-
lisches Geräusch mit accentuiertem erstem Ton. Puls 40. Temp.
axillär 37,4° C. B.-D. 120/60. Der Blutbefund ergibt 30 000—40 000
weiße Elemente. Neutrophile 87,4°%, mit toxischer Granulierung.
Linksverschiebung, Riesenformen mit 7—10 Kernsegmenten, Eosino-
phile 0,6 %,, Monocyten 7,4 °/,, Lymphocyten und Plasmazellen 4.6° ..
Rote Blutkörperchen oft blaß, Normo-Mikro-Anisocytose. Polychro-
masie spärlich. Ordination: Cardiaca. Das Krankheitsbild bleibt
in den folgenden Tagen unverändert. Dauernd besteht eine Brady-
kardie von 40 Schlägen. Am 31. XII. 10'/, Uhr morgens plötz-
licher Exitus.
In den Blutkulturen wächst ein hämolysierender Streptococcus
pyogenes.
Path.-anat. Diagnose: (S.-Protokoll 827/25) Streptokokkensepsis.
Endocarditis ulcerosa et polyposa valvulae aortae mit Perforation
in das Septum atrio-ventriculorum. Dilatation und braune Atrophie
des Herzens. Trübe Schwellung von Nieren und Leber. Septische
Infarkte in Milz und Nieren. Verfettung der Leber. Septische
Schleimhautblutungen im Dünndarm. Rotbraune Induration der
Lungen. Struma nodosa colloides, pt. fibrosa pt. cystica.
Herzbefund: Im Herzbeutel ca. 20 ccm einer klaren, gelben
Flüssigkeit. Herz wiegt 595 g, ist größer als die Faust der Leiche.
mißt im gesamten 18 cm, von der Spitze bis zur Kranzfurche
13 cm. Spitze vom linken Ventrikel gebildet, abgerundet. Peri-
kard und Epikard glatt, spiegelnd; reichlich subepikardiales Fett-
gewebe, besonders an der Herzvorderfläche. Venöse Ostien für
2 Finger durchgängig. Aortenostium insufficient. Mitralis zart.
Umfang 10 cm. Am freien Rand im Bereich der Ansätze der
Sehnenfäden einige leistenförmige, fibröse, transparente Verdickungen.
Auf der Ventrikelseite des vorderen Segels eine bandförmige gelbe
Intimaverdickung. Tricuspidalis zart, mißt über den Klappen 10';, cm.
Pulmonalis zart, mißt 7 cm. Die beiden aneinanderstoßenden Hälften
der hinteren und rechten Aortenklappe und die entsprechenden
Sinus Valsalvae sind vollkommen zerstört. Durch den 2 cm im
Durchmesser haltenden, circinär begrenzten, Substanzdefekt in der
Aortenwand gelangt man mit der Sonde in eine Absceßhöhle im
Septum atrioventriculorum, die an der Kommissur des hinteren und
medialen Triceuspidalsegels in die rechten Herzhöhlen durchbricht.
Die beiden stehengebliebenen Aortenklappenhälften werden durch
ein polypöses Gebilde miteinander verbunden. Dieses mißt 2' ,:3 cm.
ist graurot, matt, auf Schnitt graugrün, geschichtet und mit einem
Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 9241
hackenförmigen Fortsatz in der Septumabsceßhöhle verankert.
Zwischen der hinteren und linken Aortenklappe liegt ein 1 cm
langes, flaches Ulcus mit hellrotem, fein granuliertem Grund. Der
linke Vorhof ist weit, das Endokard ganz zart. Das Herzohr frei.
Der linke Ventrikel ist stark dilatiert, das Endokard spiegelnd.
Das Myokard auf Schnitt braunrot, mäßig transparent, mißt im
Mittel 15 mm. Papillarmuskeln und Trabekel mittelkräftig. Rechter
W
y
Abb. 3. Linke Herzhöhlen. Ulceröse Endokarditis der hinteren und rechten
Aortenklappe mit Zerstörung der Taschen und der Sinus Valsalvae ; Einbruch
in das a
Vorhof sehr weit, Herzohr frei. Foramen ovale geschlossen. Der
durchbrechende Septumabsceß bildet eine flache, ca. 1 cm breite
Vorwölbung, die von einem Kranz von hellroten, strich- und fleck-
förmigen Blutungen umgeben wird. Rechter Ventrikel dilatiert,
das Myokard auf Schnitt wie links, 6 mm dick. Papillarmuskeln
und Trabekel sehr kräftig. Coronararterien zart, weit. Die Aorta
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 16
242 UEHLINGER
ascendens zeigt zahlreiche, in Gitterfiguren angeordnete, hellgelbe
Intimaverdickungen, zwischen denen zarte, blaßrote Intima liegt.
Auf einem transversalen Schnitt durch Septum (Abb. 4) und die
Mitte der hinteren Aortenklappe zeigt sich, daß der keilförmige Absceß
die Basis von Vorhofseptum
und Spitze des Ventrikel-
septums vollkommen zerstört
hat und breit in den rechten
Vorhof durchgebrochen ist.
Die Absceßhöhle ist mit ge-
schichteten, grauen und roten
Massen ausgekleidet, gegen
das Myokard durch gelbe
Striche und Knoten abgesetzt,
die fächerförmig in die Mus-
kulatur eindringen und sich
in ihr verlieren.
Zur histologischen Unter-
suchung wurde wieder der
gesamte proximale Teil des
spezifischen Muskelsystems in
Serien geschnitten bei trans-
versaler Schnittrichtung.
Die polypösen Gebilde,
die die rechte und hintere
Klappe vereinigen, bestehen
aus gewellten Schichten, z. T.
homogener, z. T. körniger,
kernloser Massen, in die Bündel
aufgesplitterter und zertrüm-
merter, elastischer Fasern ein-
gelagert sind. Zwischen den
einzelnen Schichten liegen
wolkenförmige Züge in Haufen
zusammengeballter Strepto-
kokken. Mit einem hacken-
förmig umgebogenen Fortsatz
Abb. 4. Transversalschnitt durch das Septum sind diese Auflagerungen, in
in der Mitte der hinteren Aortenklappe. dem das ganze Septum durch-
Durchbruch des Septumabscesses in den brechenden Absceß verankert.
rechten Vorhof im Bereich des Atrio- e 3 \
ventrieularknotens. Die Sinus Valsalvae der hin-
Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 243
teren und rechten Aortenklappen, große Teile des zentralen Binde-
gewebskörpers sind vernichtet. Der Durchbruch erfolgt über und be-
sonders unter dem Ansatz des medialen Tricuspidalsegels und ist
durch kern- und formlose, nekrotische Thromben verdeckt. Die
ganze Absceßhöhle ist mit geschichteten, z. T. mit Kerntrümmern
durchsetzten, größtenteils kernlosen Massen ausgekleidet, zwischen
die strichförmig rote Blutkörperchen eingelagert sind. Die Scheide-
wand gegen das Myokard bildet ein breiter Leukocytenrandwall,
der sich oft zu kugeligen Abscessen verdichtet, die dicht mit roten
Blutkörperchen durchsetzt sind. Von dieser Randzone aus strahlen
die Infiltrate strichförmig in das Vorhof- und Ventrikelseptum-
myokard aus, splittern die Reste des Annulus fibrosus auf und ver-
lieren sich allmählich im Myokard. In den absceßfernen Infiltraten
finden sich neben neutrophilen auch zahlreiche eosinophile Leuko-
cyten und Plasmazellen.
Die Absceßnekrose mit dem Durchbruch in die rechten Herz-
höhlen haben den Ventrikelteil des Aschofti-Tavara’schen Knotens,
das ganze Crus commune und die proximalen Teile der beiden
Schenkel vernichtet. Von dem Vorhofsteil des Atrioventrikular-
knotens sind nur noch spärliche Muskelbündel und die Ausstrah-
lungen gegen den Sinus coronarius zu erhalten. In diesen Resten
sind die Muskelfasern vollkommen intakt, das Stroma stark mit
Gewebsflüssigkeit durchtränkt, kaum infiltriert.
Der linke Schenkel ist in seinem proximalen Teil durch Abs-
cesse vernichtet worden. In breiten Zügen durchsetzen und um-
grenzen die Leukocyten die Purkinje’schen Fasern fast bis in die
Mitte des Kammerseptums. Besonders dicht gelagert ist das Infiltrat
in den perifaszikulären Lymphscheiden. In den Purkinje’schen Fasern
selbst treten im zentralen Sarkoplasma Vakuolen auf. Der Kern hängt
im Mittelpunkt des sternförmigen Sarkoplasmanetzes. Gleichzeitig
nimmt die Zahl der Fibrillen ab. Diese beschränken sich auf eine
schmale, peripher gelegene Zone, in extremsten Fällen verschwinden
sie ganz. Die Muskelfaser stellt dann nur noch eine große, un-
förmliche, ovale Vakuole dar mit wandständig gelegenem, spindel-
föürmigem Kern (Abb. 5).
Im Gegensatz dazu kann man im übrigen Myokard in den
Muskelfasern, selbst wenn sie dicht von Leukocyten umringt sind
oder unmittelbar an blutig durchtränkte Abscesse angrenzen keine
vakuoläre Degeneration feststellen. Die Muskelfasern verfallen
unverändert der Nekrose, werden homogen, körnig, die Kerne zer-
splittern in kleinste Fragmente. Die Anfänge des rechten Schenkels
10*
244 ÜEHLINGER
finden sich erst auf den letzten Serienschnitten, bei seinem Eintritt
in das Septummyokard.
Der vollkommene Block hat in der ausgedehnten Zerstörung
des Atrioventrikularknotens, des gesammten Crus commune und
der proximalen Schenkelteile seine path.-anat. Grundlage. Das
Vorherrschen der Nekrose, die fast rein leukocytäre Infiltration,
die ausgedehnten Bakterienrasen, das Fehlen jeder Bindegewebs-
Abb. 5. Vacuoläre Degeneration der Purkinje’schen Fasern.
und Gefäßalteration weisen auf den raschen Verlauf und die rück-
sichtslose Zerstörung hin, die keine Anpassung an neue Verhält-
nisse gestatteten. (Entwicklung des nodalen Rhythmus.)
Allen 3 Fällen von Endocarditis ulcerosa mit Übergreifen auf
die Kammerscheidewand und mit Zerstörung des Atrioventrikular-
knotens und des His’schen Bündels lag eine Streptokokkensepsis zu-
grunde (1 mal Strept. viridans).
IV. Zusammenfassung.
Atrioventrikularknoten und Crus commune, im Kreuzpunkt von
Aorten-Tricuspidalklappen und der Herzscheidewand gelegen, können
durch Ausbreitung von ursprünglich rein valvulären Entzündungs-
Die Beziehungen der Entzündungen und Sklerosen der Herzklappen usw. 245
und Degenerationsprozessen geschädigt und zerstört werden. Dieses
Wachstums- und Ausbreitungsbestreben ist der ascendierenden
Arteriosklerose der Aortenklappen und der ulcerösen Endokarditis
gemeinsam, die im übrigen sowohl klinisch wie morphologisch
schroffe Kontraste bilden.
Die ascendierende Klappensklerose ist die Krankheit des hohen
Alters, der Arbeit, der Abnützung. Wie das Alter unmerkbar ein-
tritt, schleichend sich entwickelt, den Zusammenhang mit dem Leben
solange als möglich aufrecht zu erhalten sucht, so ist auch das
morphologische Geschehen ein gegenseitiges Anpassen, Ausweichen
und trotzdem ein unaufhaltsam fortschreitender Degenerationsvor-
gang und Gewebsumbau. Solang als möglich sucht das Crus com-
mune den von den Klappen: vordringenden Kalkmassen auszu-
weichen, bis es schließlich, in Kalkschollen eingemauert, festgehalten
und unterbrochen wird. Im Leben sind die Verlängerung der Über-
leitungszeit, Ventrikelsystolenausfall, unvollkommene und schließlich
vollkommene Dissoziation der Ausdruck der mangelhafteren An-
passung und der Zerstörung des spezifischen Muskelsystems, wie
andererseits das vollkommene Fehlen irgendeiner Rhythmusstörung,
trotz weit vorgedrungener Verkalkung die Zeichen der erstaun-
lichen gegenseitigen Anpassungsfähigkeit sind.. Der plötzliche
Sekundenherztod aus scheinbar voller Gesundheit heraus ist die
einzige und letzte Manifestation der schwer geschädigten Über-
leitung.
Im krassen Gegensatz dazu ist die Endocarditis ulcerosa des-
truens eine schwere Krankheit mit überstürztem Verlauf. Die in
wenigen Tagen sich entwickelnde Aorten- oder Mitralinsufficienz
und ein plötzlicher Pulsabfall auf 30—40 Schläge, trotz der hohen
Zacken des septischen Fiebers, sind die Zeichen der sich aus-
breitenden Zerstörung, des Übergreifens der Nekrose von den
Klappen auf das Myokard und der Vernichtung von Atrioventri-
kularknoten oder Crus commune. Blutstauung im Gefolge der
Klappeninsufficienz und toxische Myokardschädigung führen rasch
zum Tode. Jedes Alter wird befallen. Die Erreger sind Strepto-
kokken.
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Agnes Kubasch.
Den wesentlichsten Fortschritt in der Chemie des Sputums
brachten uns Friedr. Müller und seiner Schüler (1) Studien über
die Fermente, die man für den Abbau des Eiweißes verantwortlich
machen muß. Simon (2) untersuchte die chemischen Vorgänge
bei der Lösung pneumonischer Infiltrate und konnte so Tyrosin und
Leucin darstellen. Fr. Müller (3) erbrachte bei Fortsetzung der
Arbeit noch den Nachweis von Lysin. Böhm (4) fand bei Auto-
lyse pneumonischer Lungenteile Histidin und Arginin. In frischen
Lungen mit grauer Hepatjsation fand Böhm diese Stoffe noch nicht,
ebensowenig geht nach Simon der Abbauprozeß in der Lunge
mit roter Hepatisation vor sich; es fanden sich nämlich nach
14 tägigem Stehen noch die gleichen Werte für unkoagulablen und
Albumosenstickstoff wie zu Beginn des Versuches. Einen geringen
Abbau des Eiweißes wies Simon bei einer Lunge mit sehr starker
Bronchitis nach. Zu den eben erwähnten Tatsachen paßt die Be-
obachtung Wanners (ö), daß im Verlauf einer Pneumonie der
Gehalt an abiuretem Stickstoff im Sputum ansteigt. Es spiegelt
sich also gewissermaßen in dem Gehalt an unkoagulablen Stick-
stoff der in den Lungen stattfindende Auflösungsvorgang wieder.
Im frischen Sputum sind die bei der Autolyse gefundenen
Aminosäuren außer Tyrosin, welches Birmer und Stadelmann (6)
schon gefunden hatten, und Leucin, das zuerst Petters (7) nach-
wies, nicht dargestellt worden. Kürzlich konnte Reinwein den
Nachweis von Histidin erbringen. Die Möglichkeit, daß auch
Arginin auftreten kann, ist aus seinem Befunde des Tetramethylen-
diamin wahrscheinlich, da wir seit den Untersuchungen von Acker-
248 Kusasch
mann (9) wissen, daß bei Fäulnis von Eiweiß Putrescin nur aut-
treten kann, wenn Arginin vorhanden ist. Als Basen des Sputums
sind außer dem eben erwähnten Putrescin bisher Metylamin (Lay-
kok) und das von Reinwein dargestellte Neosin sicher gefunden
worden. Vielleicht findet sich manchmal Kadaverin (Loebisch
und Rokitanski).
Gerade was das Vorhandensein von Eiweißabbauprodukten be-
trifft, gibt es eine Reihe wichtiger Fragen: es sei hier nur auf die
Möglichkeit hingewiesen, daß durch Resorption bestimmter Spalt-
produkte Intoxikationszustände auftreten können. Diese Frage ist
wohl einerseits wenig in Angriff genommen worden, da eine halb-
flüssige, halbgallertige, zudem ekelerregende Masse wie das Sputum
einer chemischen Aufarbeitung schwer zugänglich ist, andererseits
die diagnostische Bedeutung solcher Untersuchungen durch die Er-
rungenschaften der Röntgenkunde sehr eingeschränkt bleiben.
Auf Anregung und unter Beihilfe von Dr. Reinwein unter-
suchte ich die Frage, ob in jedem Sputum Imidazolderivate vor-
handen sind und ob sich neben den Aminosäuren auch stets Amine
nachweisen lassen. Eine chemische Trennung ist durch das be-
kannte Kossel-Kutschersche Verfahren möglich.
Methode: Es wurden die täglichen Sputummengen untersucht.
die Patienten hatten ihren Auswurf in ein reines Glas, das etwas
Toluol enthielt, zu entleeren. Da im Laufe der nächsten 24 Stunden
die weitere Aufarbeitung erfolgte, braucht man die Autolyse, die
nur relativ langsam vor sich geht, nicht zu befürchten. Der
24stündige Auswurf wurde mit 3%, Essigsäure versetzt und kräftig
geschüttelt. Dann wurde solange 20°), neutrale Bleiacetatlösung
hinzugefügt, bis kein Niederschlag mehr erfolgte. Aus dem Filtrat
wurde mit Schwefelsäure das Blei entfernt, das nun entstandene
Filtrat, das kongosauer reagierte, solange mit Äther ausgeschüttelt
bis in der letzten Ätherprobe Essigsäure nicht mehr nachweisbar
war; die überschüssige Schwefelsäure durch Baryt entfernt und
in das Filtrat zur Ausfüllung des Bariums Kohlensäure eingeleitet.
Das nun erhaltene Filtrat wurde gegen Phenolphtalein neutralisiert
und auf dem Wasserbade eingeengt. Jetzt wurde nochmals auf
das Vorhandensein des Eiweißes geprüft, das nur in 2 Fällen nach-
weisbar war. Diese beiden Male erfolgte eine weitere Entfernung
des Eiweißes durch Alkoholzusatz. Um nach Koessler den Ge-
halt an Imidazolderivaten feststellen zu können, wurde zur Ent-
fernung des Ammoniaks Luft durch die barytalkatische Lösung ge-
saugt. Die Bestimmung des Histidin erfolgte in strenger Anlch-
249
es Sputums.
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250 KusascH
nung an die Arbeiten von Koessler (12) mittels des Bürkerschen
Colorimeter. Außerdem wurden in der Phosphorwolframsäure-
füllung und -Filtrat Mikrokjeldalbestimmungen nach Pregl aus-
geführt, um einen gewissen Anhalt über das Verhältnis der Hexon-
basen zu den Aminosäuren zu gewinnen.
In vorstehender Tabelle sind die gefundenen Werte zusammen-
gestellt.
Bei der Verfolgung des Krankheitszustandes einer Pneumonie
findet sich wieder ein Ansteigen des abiureten Stickstoffes. Der
höchste Gehalt an unkoagulablen Stickstoff fand sich wie es nicht
wundernimmt, bei einer schweren kavernösen Phthise. Sehr über-
raschend hoch war der Stickstoffgehalt bei Fall 18 (Bronchial-
asthma in und nach dem Anfall). Vielleicht kann man sich dieses
so erklären, daß vor dem Anfall eine Stagnation stattgefunden hatte.
Aus dem Verhältnis der Hexonbasen zu dem abiuretem Stick-
stoff sind weitgehende Folgerungen nicht möglich. Man ersiehıt
nur daraus, daß immerhin relativ beträchtliche Mengen von Aminen
vorhanden sein können.
Histidin, das heißt richtiger gesagt Imidazolverbindungen, die
die Paulische Reaktion geben, fanden sich in 14 von 20 Fällen.
Das Vorhandensein dieser Verbindungen ist deshalb so interessant,
da wir durch Ackermann (13) wissen, daß Bakterienmischkul-
turen imstande sind, aus dem Histidin das physiologisch so wirk-
same Histamin zu bilden. Es gelingt bekanntlich mit Histamin
asthmaähnliche Zustände zu erzeugen. Als physiologisch wirk-
same Substanz kommt ja auch noch das Tyramin in Frage.
Harkavy (14) hat festgestellt, daß der Alkoholextrakt des
Sputum in 8 Fällen von Bronchialasthma Substanzen enthielt, die
Katzendarm zur spastischen Kontraktion brachten. Berthelot
und Bertrand (15) haben nun andererseits einen Bacillus vom
Typus des Pneumococcus Friedländer gefunden, der imstande ist.
aus Histidin Histamin zu bilden. Diese Fähigkeit scheint auch
anderen Bakterien zuzukommen, denn O. Brienne konnte an 30
verschiedenen Bakterienarten dieselbe Eigenschaft feststellen.
Da wir aus den Arbeiten von Hanke und Koessler wissen.
daß die Zusammensetzung des Sputum (Vorhandensein von an-
organischen Substanzen, Kohlehydrate und Eiweiß) das Wachstum
und die fermentative Fähigkeit der Bakterien begünstigen dürfte.
scheint die Möglichkeit gegeben, daß auch in dem Alkoholextrakt
von Harkavy Substanzen waren, die durch den Abbau von
Histidin entstanden.
Beitrag zur Chemie des Sputums. 251
Literatur.
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2. Simon, Dtsch. Arch. f. klin. Med. 70, 1901. — 3. Fr. Müller, Verhandl. d.
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Biochem. Arbeitsmethoden Bd. 8, S. 266.
252
Besprechungen.
l.
Lehrbuch der speziellen Pathologie und Therapie der
inneren Krankheiten für Studierende und Arzte
von Prof. Dr. Adolf Strümpell7. Fünfundzwanzigste völlig
neu bearbeitete Auflage von Prof. Dr. med. et phil. Carly
Seyfarth. Leipzig 1926.
Das Lebrbuch von Strümpell feiert mit seiner fünfundzwanzigsten
Auflage ein Jubiläum und beweist eine Lebenskraft, wie sie kaum einem
anderen Lehrbuch zuteil geworden ist. — Man wird zu einem richtigen
Verständnis von der Bedeutung dieses Buches nur gelangen können,
wenn man sich vergegenwärtigt, daB es vor 45 Jahren von einem jungen
Dozenten entworfen und in frischem Zug einheitlich niedergeschrieben
worden ist. Es trat damals an die Stelle des veralteten Lehrbuches der
speziellen Pathologie und Therapie von Felix Niemeyer und de-
jenigen von Eichhorst, welches durch seine Überladung mit Einzel-
heiten als Lehrbuch für Studenten unbrauchbar geworden war. Die
innere Medizin stand um jene Zeit noch völlig unter dem Bann der
pathologischen Anatomie; Strümpell hat dagegen von Anfang an die
ärztliche Beobachtung in den Vordergrund gestellt.
Im Laufe der Jahrzehnte hat das Buch manche Umwandlungen er-
fahren und Strümpell hat für jede Neuauflage ein oder mehrere
Kapitel einer gründlichen Umarbeitung unterzogen. Trotzdem hat es
bis auf den heutigen Tag seinen ursprünglichen Umfang kaum über-
schritten und seine Einheitlichkeit bewahrt. Darin, sowie in der behag-
lichen Flüssigkeit des Stieles liegt sein Hauptwert im Vergleich zu
anderen Lelrbüchern, bei welchen der Stoff auf eine größere Anzahl
von Spezialforschern verteilt ist. — Ich stehe nicht an, das Kapitel der
Nierenkrankheiten als besonders eindrucksvoll zu bezeichnen, obwohl
Strümpell auf diesem Gebiete niemals gearbeitet hat. In der knappen
historischen Einleitung, in der Darlegung der Symptome versteht es der
Verf. meisterlich, das Wesentliche herauszuheben. Er verliert sich
nicht in eine Diskussion über die Theorien des Tages, er steht über
seinem Thema, indem er den soliden Boden der klinischen Beobachtung
nicht verläßt, aber man gewinnt aus den Darlegungen dieses ehrlichen.
unparteiischen Forschers den erschütternden Einblick in die Unzuläng-
lichkeit unserer Erkenntnis.
Ein Glanzpunkt des Buches war von Anfang an der Abschnitt über
Besprechungen. 253
die Erkrankungen des Nervensystems, also des eigentlichen Forschungs-
gebietes von Strümpell, auf dem er durch seinen Instinkt für das
Richtige und seine feine Beobachtungsgabe unendlich viel Nutzen ge-
schaffen hat. Strümpell hat dieses Kapitel noch in seinem letzten
Lebensjahr einer gründlichen Neubearbeitung unterzogen und wir finden
darin ein klares Bild von dem heutigen Stand des Wissens. Vielleicht
würde mancher daran aussetzen können, daß er in dem Abschnitt über
die Neurasthenie die einzelnen Formen jener krankhaften Seelenzustände
auf dem Grenzgebiete zwischen innerer Medizin und Psychiatrie nicht
klar genug unterscheidet, oder daß er die große Bedeutung der vege-
tativen Nervensystems nicht hervorgehoben hat, daß von Vagotonie und
Sympathicotonie kaum die Rede ist und daß die Störungen des Trieb-
lebens keine Erwähnung finden. Aber Strümpell hielt wohl die Zeit
noch nicht für reif, um diese Fragen in lehrbuchmäßiger Form darzu-
legen. Auch wird man nicht verkennen, daß die Anordnung des
Stoffes nicht immer einheitlich durchgeführt und den heutigen Anschau-
ungen angepaßt ist. Gehört Pellagra und Beri-Beri wirklich unter die
Infektionskrankheiten? Oder die Tetanie in das Kapitel der Nerven-
krankheiten ? Sollte die Tuberkulose nicht unter den Infektionskrank-
heiten eine zusammenhängende Darstellung finden und auch die Syphilis
in ihrem ganzen Verlaufe geschildert werden? Aber das sind unlösbare
Fragen, über welche die Einteilung jedes Lehrbuches der inneren Medizin
strauchelt. Wenn z. B. die akute Polyarthritis im Anschluß an Angina
und Sepsis erörtert wird, wo sie als Infektionskrankheit eigentlich hin-
gehört, dann geht der Zusammenhang mit den chronischen Gelenkleiden
verloren, und das ärztliche Verständnis leidet darunter, wenn die Phthisis
pulmonum, der Keuchhusten und das Asthma aus dem Kapitel der
Lungenkrankheiten herausgenommen und unter die Infektionskrankheiten
oder die Allgemeinleiden eingereiht werden. Ahnliche Schwierigkeiten
erheben sich auch bei der Anordnung der Nervenkrankheiten: Die Menin-
gitis cerebrospinalis, die Heine-Medin’sche Krankheit, die Encephalitis
letargica sind Infektionskrankheiten und können nur a potiori und nicht
einmal vom rein anatomischen Standpunkt unter die Erkrankung der
Häute oder des Gehirns oder des Rückenmarks eingeordnet werden.
Eine wirklich logische Einteilung des Stoffes auf der Grundlage des
pathologischen Geschehens und der Atiologie läßt sich bei der Unvoll-
kommenheit unserer Erkenntnis nicht restlos durchführen. Doch soll
ausdrücklich hervorgehoben werden, daß die Darstellung der Infektions-
krankheiten durch Seyfarth eine ausgezeichnete Neubearbeitung er-
fahren hat und daß er in ebenso knapper wie klarer Weise die neuesten
Ergebnisse auf diesem Gebiete, auch bei den tropischen Krankheiten,
aus eigener Anschauung, geliefert hat. Es wird seine Aufgabe sein, bei
den nächsten Neuauflagen, auch in einigen anderen Kapiteln, z. B. in
demjenigen der Herzkrankheiten, den neuen Forschungsergebnissen Rech-
nung zu tragen: Das Studium der Herzarrhythmien hat uns so viel neue
und wichtige Erkenntnisse gebracht, daß diese unter Vorlage typischer
Elektrokardiogramme auch dem Studierenden auseinander gesetzt werden
müssen; sie dürfen nicht in der Darstellung der Myokarderkrankungen
aufgehen. Auch sind die Sphygmogramme veraltet, wie überhaupt die
954 Besprechungen.
Abbildungen vielfach zu wünschen übrig lassen. So eröffnen sich für
den Herausgeber von Strümpell’s Lebenswerk manche neue und schöne
Aufgaben. Er wird es sich aber zum Grundsatz machen müssen, den
ursprünglichen Charakter des Buches aufrecht zu erhalten. Sit ut e-t
aut non sit. Das Lehrbuch von Strümpell hat in den 43 Jahren
seines Bestehens eine Ausbreitung über die ganze Welt erfahren. Es
ist in alle Kultursprachen übersetzt worden und hat in hohem Mabe
dazu beigetragen, das Ansehen der deutschen Medizin in der Welt zu
verbreiten. ‚Friedrich Müller, München.
2.
Handbuch der inneren Medizin. Zweite Auflage, herausgegeben
von G. v. Bergmann und R. Staehelin. I. Band: Infek-
tionskrankheiten, Teil 1, gebunden 45.— M., Teil 2, gebunien
54.— M. Verlag von Julius Springer, Berlin 1925.
Während das eben besprochene Lehrbuch von Strümpell dazu
geschaffen ist um in einem Zuge durchgelesen zu werden, stellen sich
die Anforderungen an ein Handbuch ganz anders dar; denn eın
solches dient niemals dem Anfänger, sondern nur dem fertig ausgebildeten
Arzt und dem Lehrer als Nachschlagewerk, wenn er sich in irgendeinem
bestimmten Kapitel über die neuesten Fortschritte orientieren will: es
setzt also bereits eine große Menge von Kenntnissen über die Grund-
begriffe voraus und hat diese nicht in derselben Weise zu erörtern, als
wie es in einem Lehrbuch nötig ist. Von diesem Gesichtspunkt aus
haben sich die Herausgeber entschlossen, bei der Neubearbeitung des
ersten Bandes, nämlich der Infektionskrankheiten, jenen allgemeinen Teil
über Bakteriologie und Serologie wegzulassen, der die erste Auflage ein-
leitete. Man kann dies bedauern. Tatsächlich sucht aber der bildung=-
bedürftige Arzt die allgemeine Pathologie der Infektionskrankheiten
nicht in einem solchen Nachschlagewerk. Es war ein Wagnis, die Dar-
stellung der Infektionskrankheiten mit einem Kapitel zu beginnen, welches
voll von Schwierigkeiten steckt wie kaum ein anderes, nämlich mit einer
Erörterung der Serumkrankbeit und damit der erworbenen und konstitu-
tionellen Überempfindlichkeitsreaktionen überhaupt. Schittenhelm
hat sich dieser schwierigen Aufgabe mit großer Gründlichkeit unterzogen.
Unter Hintansetzung seiner eigenen früheren Arbeiten auf diesem Ge-
biete hat er sich mit Recht in der Hauptsache den Anschauungen von
Dörr angeschlossen., Indem er die widerspruchsvollen Angaben aus der
umfangreichen Literatur zusammenstellt, zeigte er, daß diese Überempfind-
lichkeitsreaktionen sich nicht nur bei den Einspritzungen von körper-
fremdem Serum äußeren, sondern daß sie auch weit auf andere Gebiete
der Pathologie ausstrahlen. Aus Schittenhelm’s Feder stammen in
dem vorliegenden ersten Bande außerdem noch die wichtigen Kapitel
über Tetanus, Ruhr (einschließlich der Amöbenruhr), Weil’sche Krank-
heit, Wolhynisches Fieber und Fleckfieber, also über Krankheiten, welche
Schittenhelm während des Krieges eingehend zu studieren imstande
war und über die er sogar am eigenen Leib Erfahrungen sammeln
Besprechungen. 255
konnte. Dadurch gewinnen diese Darstellungen einen besonderen Wert
und große Anschaulichkeit.
Diesen Kapiteln von Schittenhelm schließen sich ebenbürtig an
die Beschreibungen der Cholera durch Elias und Dörr, ferner des
Keuchhustens und der Parotitis epidemica durch Klotz, sowie der
Diphtherie durch Göppert. Es berührt wohltuend, daß Göppert
bei der Besprechung der therapeutischen Erfolge des Behring’schen
Serums auf der experimentellen Grundlage aufbaut, vollkommen unpar-
teiisch die Statistiken abwägt und auch den Angaben Bingel’s gegen-
über den Heilwert des Diphtherieserums hochhält. Sollten wir Arzte
uns bei der Beurteilung des Diphtherieserums wirklich alle so sehr geirrt
haben? In besonders gründlicher Weise erörtert Massini die Grippe-
erkrankung, und seine Stellungnahme zu der Bedeutung des Pfeiffer-
schen Influenzabacillus ist von sympathischer Klarheit. Die Darstellung
der akuten Exantheme durch Rolly baut auf umfangreichem, eigenem
Beobachtungsmaterial auf, ist aber mehr lehrbuchartig gehalten und läßt
ein näheres Eingehen in die neuesten Kontroversen auch der amerikani-
schen Literatur vermissen. Es ist sehr zu begrüßen, daß neben der
Meningitis cerebrospinalis epidemica auch die epidemische Kinderlähmung
und die Encephalitis letargica in dem Band der Infektionskrankheiten
aufgenommen sind, denn sie gehören hierher und nicht unter die Nerven-
erkrankungen. Freilich wird sich dann die Notwendigkeit ergeben, auch
bei der Darstellung der Gehirn- und Rückenmarkskrankheiten vom neu-
rologischen Standpunkt aus nochmal auf die beiden letzteren Infektions-
krankheiten und ihre Folgen zurückzukommen. Eduard Müller hat
seiner Darstellung der Heine-Medin’schen Krankheit hauptsächlich
seine persönlichen Erfahrungen über die Hessische Epidemie zugrunde
legen können und er hat daneben über den Nachweis der Erreger und
über deren Übertragung auf Tiere in sehr vollständiger Weise berichtet.
Der zweite Teil eröffnet mit einer Beschreibung des Erysipels und
des akuten Gelenkrheumatismus durch Hegler und daran schließt sich
in organischer Folge eine ausführliche Darstellung der septischen Er-
krankungen durch Schottmüller an. Diese Arbeit Schottmüller’s
ist durch ihre Gründlichkeit und ihre Originalität besonders wertvoll.
Freilich ermüdet sie etwas durch allzu große Ausführlichkeit, aber sie ist
eine Fundgrube für alle, die sich auf diesem Gebiete orientieren wollen.
Gehört das Kapitel über die allgemeine Miliartuberkulose wirklich hierher
oder sollte sich dieses nicht organischer in die Gesamtdarstellung der
Tuberkulose einreihen lassen? Von Schottmüller stammt auch die
Beschreibung der typhösen Erkrankungen, unter denen er den T. abdomi-
nalis, den Paratyphus und den T. wandschuricus zusammenfaßt. Das
Rückfallieber wie auch das Fleckfieber, welche in früheren Lehrbüchern
nach dem Vorbild von Murchison unter den typhösen Erkrankungen
eingereiht waren, sind glücklicherweise aus dem Typhusbegriff ausge-
schieden und an passender Stelle untergebracht. Maltafieber, Pappataci-
fieber, Denguefieber, Malaria, Rekurrens-, Gelbfieber und die Trypanosomen-
krankheiten sind von Schilling mit einem Beitrnoz von Chagas über
die amerikanische Trypanosomiasis verfaßt und mit zahlreichen Kurven
und Bildern anschaulich gemacht. Aber gehört die Beri-Beri wirklich
256 Besprechungen.
hierher? Unter den Zoonosen faßt Lommel die Akinomykose, den
Rotz, Maul- und Klauenseuche, Trichinose, Milzbrand und Wut zusammen.
Es ist dies meiner Ansicht nach keine sehr glückliche Anordnung, denn
die Übertragbarkeit einer Infektionskrankheit vom Tier auf den Menschen
kann doch nicht als Einteilungsprinzip verwertet werden. Sonst müßte
man auch viele Fälle von Pest, von Boviner Tuberkulose und selbst von
Paratyphus B unter die Zoonosen rechnen.
Die vorliegende zweite Auflage unterscheidet sich von der rasch
vergriffenen Auflage in vorteilhafter Weise, indem sie die Ergebnisse
wissenschaftlicher Forschung bis auf die neueste Zeit berücksichtigt.
Mehrmals sind die Kapitel in andere Hände übergegangen, und zwar
aus dem traurigen Grunde, weil manche der früheren Mitarbeiter unter-
dessen den Tod gefunden haben.
Man erkennt allenthalben, mit welcher Gewissenhaftigkeit und Ver-
tiefung die beiden Herausgeber G. v. Bergmann und R. Staehelin
ihren Einfluß auf die Ausgestaltung, Gesamtordnung und Einzeldar-
stellungen ausgeübt haben und sie können des wärmsten Dankes der
deutschen Ärzteschaft und der Kliniken sicher sein, indem sie ein Nach-
schlagewerk von solcher wissenschaftlicher Gründlichkeit und Gerechtig-
keit geschaffen haben. Sie haben es sich zur Aufgabe gestellt, die
pathologisch-physiologische Betrachtungsweise als Grundlage
des klinischen Denkens und Handelns zum Ausdruck zu bringen, ohne
jedoch dabei die Bedeutung der pathologischen Anatomie zu verkennen.
Wenn dieses Programm mehr sein soll als ein modernes Schlagwort, so
wird man die Absicht der Herausgeber wohl dahin zusammenfassen
können, daß sie die krankhaften Störungen der Funktion mehr in den
Vordergrund stellen wollen als den morphologischen Befund und
daß sie der experimentellen Forschung über Krankheitsursachen, Krank-
heitssymptome und Therapie den ihr gebührenden Platz einräumen woilen.
Mögen die folgenden Bände in ebenso glücklicher Weise eine Neubearbeitung
erfahren; manche Kapitel hatten in der ersten Auflage eine nicht ganz
befriedigende Darstellung gefunden, oder durch allzu umfangreiche theo-
retische Auseinandersetzungen den Leser ermündet und verwirrt.
(Friedrich Müller, München..
257
Aus dem pathologisch-anatomischen Institut Basel.
(Vorsteher: Professor R. Rößle.)
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie.
Von .
Dr. Hans Mehlin,
Assistent am Institut.
(Mit 6 Abbildungen.)
Im Gegensatz zu der bekannten Pulmonalsklerose bei Wider-
ständen im kleinen Kreislauf und der seltenen sog. primären oder
idiopathischen Endarteriitis obliterans der kleinen Lungenarterien
unbekannter Herkunft (Fälle von Romberg, Aust, Rößle,
Mönckeberg, Posselt) ist die echte Arteriitis der Lungen-
schlagader, im Sinne einer akuten infektiösen Entzündung der
Gefäßwand, nur sehr wenig bekannt. Sie wäre gleichzusetzen der
akuten Aortitis, die, wenn auch ebenfalls selten, doch erheblich
häufiger beobachtet wurde, und bis zu einem gewissen Grade auch
den Arteriitiden der kleineren Arterien, die in der Form embolisch
mykotischer Arteriitis bekannt sind.
Die Entstehung der phlegmonösen und eitrigen Entzündung
einer großen Arterie kann nach der Zusammenstellung von Jores
in dem Kapitel über die Pathologie der Arterien in dem eben er-
schienenen zweiten Band des Handbuchs von Henke und Lu-
barsch erfolgen:
1. Durch Übergreifen von einem Herd der Nachbarschaft.
2. Durch Fortleitung von den Aorten- bzw. Pulmonalklappen.
3. Als primäre Aortitis (Stumpf), besser als hämatogen ent-
standene zu bezeichnen (Öttiker).
Daneben ist aber noch eine verruköse und verrukös-uiceröse
Endarteriitis speziell der großen Arterien bekannt, welche das
Analogon bildet zur Endocarditis. Daneben findet sich eine davon
Deutsches Archiv f. klin. Medizin. 152. Bd. 17
258 MEHLIN
getrennte Klappenerkrankung; die Infektion der Gefäßwand erfolgt
von der Lichtung her durch die Intima.
Die Fälle, bei denen der Entzündungsprozeß primär an der
Innenfläche der großen Gefäße entstanden ist, sind selten. (Stumpf
cit Bergé, Bizot, Buhl, Barbaceci, siehe auch Posselt.)
Als Vergleichsobjekt diene uns zunächst die akute Aortitis.
In einer kürzlich erschienenen Arbeit hat Öttiker dieganze Literatur
über dieses Gebiet zusammengestellt. Als klinisches Bild kommt sie
kaum in Betracht, die Diagnose kann wohl vermutet, niemals aber
mit Sicherheit gestellt werden. Französische Autoren kennen eine
„Aortiteabdominale aigue“, die aber mit einer wirklichen Entzündung
nichts zu tun hat, sondern der „angina pectoris“ evtl. der „angina
abdominalis“ (Frey) entspricht, also als Sklerose, evtl. Angio-
spasmus zu betrachten wäre. Allerdings wird auch eine „Aortite
aigue maligne“ beschrieben, die eher unserer infektiösen, akuten
Aortitis entspricht. „Makroskopisch bietet die akute Aortitis die
verschiedensten Bilder: Ulcera, Aneurysmen, beide u. U. perforiert,
Einrisse oder thrombotische Auflagerungen jeder Art und Größe*
(Öttiker).
Die Ausgänge der akuten Aortitiden sind sehr verschieden.
Der Zustand der Vernarbung kommt selten zur Beobachtung.
Öttiker hat ihn bei 85 aus der Literatur zusammengestellten
Fällen nur zweimal gesehen. Das mag sich dadurch erklären, daß
die Narben von einem akut-entzündlichen Prozeß schwer von
atheromatösen Plaques zu trennen sind. „Der größte Teil der
schweren Entzündungen führt zu Ruptur oder Aneurysma und
kommt entweder in frühem Zustand zur Autopsie oder vernarbt
in derselben Weise wie die entsprechenden traumatischen und
chronischen Affektionen.*
An Präparaten von mehreren Fällen mehr oder minder akuter
Aortitis (Sammlung von Professor Rößle) haben wir uns über-
zeugt, daß die Entzündung des Pulmonalisstammes dieselben histo-
logischen Bilder darbietet.
Die Pulmonalitis im Gegensatz zur Aortitis — darunter
verstehe ich die Entzündung des Pulmonalisstammes, nicht der
mittleren und kleineren Äste!) — ist erheblich viel seltener.
Jores (a. a. O.) erwähnt sie nur kurz unter Anführung von 8 Fällen.
1) Einen sehr interessanten Fall von Periarteriitis nodosa der kleinen Lungen-
arterienäste hat in jüngster Zeit Sternberg beschrieben. Durch diesen ProzeL
war es zur Bildung zahlreicher Aneurysmen und Gefäßrupturen gekommen.
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 259
Bei der Frage nach der Pathogenese wäre zu prüfen, ob sie
derjenigen der bekannteren Aortitis entspricht. Es kommen dann
folgende Möglichkeiten in Betracht:
1. Übergreifen eines entzündlichen Prozesses aus der Nachbar-
schaft der Pulmonalis auf deren Wandung, also vom Herz-
beutel, vom Herzen, von der Aorta, vom Lungenhilus, von
den Lymphdrüsen.
2. Von den Pulmonalklappen oder von den Aortenklappen bei
offenem Ductus Botalli fortgeleitete Entzündung (per con-
tinuitatem aut contiguitatem).
3. Primäre hämatogene Entzündung (vermittels durch die Vasa
vasorum). (Hämatogen embolische Pulmonalitis.)
4. Infektion von der Intima her aus dem vorbeiströmenden
Blute.
Das Übergreifen entzündlicher Prozesse aus der Umgebung auf den
Pulmonalisstamm ist wohl ein sehr seltenes, wenn überhaupt beschrie-
benes Vorkommnis. Hödlmoser (s. unten) beschreibt ein myko-
tisches Aneurysma der Aorta, das in die Pulmonalis durchgebrochen
war, doch steht auch bei diesem Falle nicht sicher fest, ob es sich
nicht um eine Entzündung des offen gebliebenen Ductus Botalli gehandelt
hat. Selbst die Mesaortitis luetica, die in der Adventitia der Aorta oft
sehr massige Infiltrate bildet, greift nie, nicht einmal an der Kreuzungs-
stelle, auf die Pulmonalis über. Anders verhalten sich die mittleren
und vor allem die kleineren Aste der Lungenschlagader. Entzündungen
im Lungenparenchym greifen fast regelmäßig auf dieselben über. Von
praktischer Bedeutung ist das hauptsächlich bei der Lungentuberkulose.
Eine schwere mykotische Arteriitis der Pulmonalishauptäste wurde
von Oberndorfer in zwei rapid verlaufenden Fällen von Influenza
beschrieben. Sehr interessant ist der histologische Befund, indem er
nämlich zeigt, daß die Intima am Entzündungsprozeß am meisten beteiligt
ist. Bei Gramfärbung wimmelt hier alles von Streptokokken. Es sind
dies beides Fälle, wo aller Wahrscheinlichkeit nach die Infektion primär
von der Intima ausgegangen ist.
Ebenfalls eine Endarterütis der Pulmonalis bei Influenza beschreibt
Schlagenhaufer (1901), doch sind hier sehr bemerkswerte Besonder-
heiten vorhanden. Es handelt sich um einen 13 jährigen Knaben, der
mit fieberhaften Symptomen erkrankt war. Er wies ein systolisches und
diastolisches Geräusch, letzteres maximal über der Aorta, auf, dazu kardiale
Insufficienzerscheinungen. Die Autopsie ergab u. a. folgendes: Alle
Klappen außer der Aorta sind zart, letztere zeigen hahnenkammartige,
festhaftende, weißliche Vegetationen. Die Abgangsstelle des Ductus
Botalli, der offen ist, weist dieselben Exkrescenzen auf, ebenso die Pul-
monalis bis zur Teilungsstelle. Bakteriologisch findet sich ein Bacillus,
der mit größter Wahrscheinlichkeit als Pfeiffer’scher Influenzabacillus an-
gesprochen werden muß.
1”
260 MEBLIN
Dies ist der erste Fall mykotischer Endarteriitis des Pulmonalis-.
stammes. Das Haftenbleiben der infektiösen Teilchen an der Arterien-
wand ist durch den offenen Ductus Botalli und die dadurch entstehenden
abnormen Wirbelbewegungen und die nen der Gefäßwand wohl
hinreichend erklärt.
Ähnliche Fälle einer Endarteriitis pulmonalis bei offenem Ductus
Botalli sind noch mehrere bekannt:
C. Hart beschreibt zwei Fälle einer Endocarditis verrucosa der
Aortenklappen, bei denen durch den offenen Ductus Botalli hindurch end-
arteriitische Vegetationen sich in der Pulmonalarterie am die Einmündung
derselben festgesetzt hatten. Ahnliche Fälle waren früher schon be-
schrieben worden von Babington, de Amalgro; Buchwald,
Murray, Rickards, Percy Kidd, Ganchery (zit. nach Hart).
Daß endarteriitische Vegetationen von den Aortenklappen- aus durch
den offenen Ductus Botalli rückwärts sogar die Pulmonalklappen sekundär
infizieren können beweist ein Fall, den Sommer beschrieben hat. Von
einer Endocarditis ulcerosa der Aortenklappen hatte sich eine Endarteriitis
der Aorta, des offenen Ductus Botalli und der Pulmonalis gebildet. Auf
der vorderen Pulmonalklappe saß ein hirsekorngroßer, reichzerklüfteter,
roter Knoten. Daß der Infektionsmodus umgekehrt gewesen wäre, ist
wegen der Druckdifferenzen und den Strömungsverhältnissen sehr un-
wahrscheinlich.
Den umgekehrten Weg, d. h. die Infektion der Aorta von kranken
Pulmonalklappen aus, beschreibt Hochhaus. Die Pulmonalklappen
zeigen eine schwere Endokarditis, von der aus sich Auflagerungen
thromboarteriitischer Natur in der Pulmonalarterie, im Ductus Botalli
und in der Aorta bis zum Bogen gebildet hatten. Der Kranke starb
unter den Symptomen einer recidivierenden Endokarditis mit pyämischen
Erscheinungen.
In neuester Zeit hat Terplan einen Fall eines mykotischen Anen-
rysmas des Stammes der Pulmonalarterie mit Endarteriitis des offenen
Ductus Botalli bei einem Falle von Sepsis lenta publiziert. Eine rekur-
rierende polypös-ulceröse Endokarditis der Aortenklappen hatte zur In-
fektion der Pulmonalis durch den offenen Ductus Botalli geführt, die
Thrombendarteriitis des Stammes der Pulmonalarterie ihrerseits wieder
zu einem umschriebenen Äneurysma. Intra vitam war aus dem Blute der
Streptococcus viridans gezüchtet worden.
Ein auch klinisch sehr interessanter Fall von Pulmonalarterien-
entzündung findet sich von Hödlmoser beschrieben. Eine 37 jährige
Frau erkrankt an Ödemen mit vorübergehenden Temperatursteigerungen.
{m 2. IKR. 1l. Fr&missement sichtbar, daselbst ist auch das über dem
ganzen Herzen hörbare systolische Geräusch am lautesten. Das Röntgen-
bild zeigt an derselben Stelle einen beträchtlich breiten, ausgebuchteten
bogenförmig begrenzten Schatten entsprechend der Pulmonalarterie. Das
Herz ist besonders nach links verbreitert. Anatomisch besteht eine
Vergrößerung des linken Herzens. Auf der Mitralis finden sich teils
feinwarzige, teils größere weiche Auflagerungen von grünlichgrauer Farbe;
auf einer Aortenklappe eine ca. linsengroße, weichere, endokarditische
Auflagerung. Der Einmündung des Ductus Botalli entsprechend findet
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 961
sich hinter einer querverlaufenden Leiste eine flach-trichterartig gegen
die Pulmonalarterie ausgebuchtete Aortenwand. Dieser Trichter ist mit
zarten, feinwarzigen Auflagerungen besetzt. Der Trichter führt durch
ein rundes Loch direkt in die Pulmonalarterie, in welcher sich dieselben
zarten Exkrescenzen finden. Der Autor faßt den Fall als ein in die
Pulmonalarterie perforiertes Aneurysma auf, läßt aber die Möglichkeit
offen, daß es sich um einen offen gebliebenen Ductus Botalli handelt.
Der umgekehrte Weg der Infektion wurde von Richards be-
schrieben.
In allen diesen Fällen sind wohl die abnormen Wirbelbewe-
gungen und Strömungsverhältnisse für die Lokalisation der end-
arteriitischen Veränderungen verantwortlich zu machen. Auch auf
dem Boden einer Gefäßsklerose entwickeln sich gerne entzündliche
Vorgänge der Intima (von Schrötter).
Mitteilungen über isolierte Entzündung der Pulmonal-
arterie sind sehr selten.
Reiche beschreibt zwei Fälle von Arteriitis der Pulmonalis,
von denen der zweite als isolierte Entzündung der Arterienwand
aufzufassen ist, ohne daß das übrige Gefäßsystem affiziert wäre.
Die Krankheitsdauer war in beiden Fällen drei Wochen.
Im ersten Falle handelt es sich um ein 17jähriges Mädchen, das
unter Herzsymptomen erkrankte und plötzlich ad exitum kam. Die
Sektion zeigte Folgendes: Das Herz ist im ganzen vergrößert, auf den
Pulmonalklappen finden sich mehrere weißliche, knötchenartige, kleine
Gebilde. Das Anfangsstück der Pulmonalis zeigt in einer Höhe von
mehreren Zentimetern über den Semilunarklappen an der Seite, an der
sie der Aorta anliegt, eine fast markstückgroße, rundliche Region mit
papillären Exkrescenzen.
Im zweiten Fall handelt es sich um einen 21 jährigen Mann, der
nach zwei Wochen, nachdem er an unbestimmten fieberhaften Symptomen
erkrankt war, ad exitum kam. Anatomisch zeigte er einen recht inter-
essanten Befund: der rechte Ventrikel war mäßig dilatiert, alle Klappen
zart, dagegen fand sich in der Arteria pulmonalis, 3—4 cm oberhalb der
Semilunarklappen ein mit breiter Basis aufsitzender Thrombus, die darunter-
liegende Pulmonalarterienwand ist eine ca. 5 Pfennigstückgroße, leicht
erhabene Fläche mit unregelmäßigen welligen Rändern. Auch hier hat
es sich zweifellos um eine echt entzündliche Veränderung der Arterien-
wand gehandelt. Die mikroskopische Untersuchung wurde nicht ausgeführt.
Gotthardt beschreibt auch einen Fall von Endarteriitis ver-
rucosa arteriae pulmonalis bei Endocarditis der Pulmonalklappen,
bei einem 18?/, jährigen Mädchen.
Auffallend ist bei allen diesen Fällen das jugendliche Alter,
so daß also Gefäßsklerose kaum als Mitbedingung in Betracht
kommt.
262 MEHLIN
Eine Arteriitis der Pulmonalis mit Aneurysmenbildung fand
E. Kaufmann in einem Fall osteomyelitischer Pyämie.
Die Erreger dieser Arteriitiden sind — soweit sie in den
Publikationen überhaupt genannt werden — Staphylokokken und
Streptokokken, nach Posselt kommt auch der Scharlach und selten
die Gonorrhöe!) als Ätiologie in Betracht.
Auf Veranlassung von Professor Rössle sollen im folgen-
den einige weitere Fällemykotisch-endarteriitischer
Veränderungen an der Pulmonalis beschrieben werden.
Herrn Geheimrat Romberg in München und Herrn Pro-
fessor Hotz in Basel bin ich für die Überlassung der entsprechen-
den Krankengeschichten zu Dank verpflichtet.
Von den folgenden Fällen ist besonders der erste von Wichtig-
keit, weil er auch klinisch zu sehr interessanten differentialdia-
gnostischen Erwägungen Anlaß gab.
Fall I.
Der ledige 25jährige E. S. bekam im Dezember 1921 plötzlich
Beklemmungsgefühl und Schmerzen auf der Brust und in der Herzgegend,
die in den linken Arm ausstrahlten, dabei hatte er starken Lufthunger,
mußte sich im Bett aufrichten, wurde blau im Gesicht und hatte das
Gefühl der Todesangst. Solche Anfälle wiederholen sich öfters Nachts,
sind von kurzer Dauer, ca. 10 Minuten. Er trat deswegen in der
Münchner I. medizinischen Klinik ein.
Herr Geheimrat R o m ber g stellte auf Grund der sehr ausgesprochenen
Geräusche über der Pulmonalis und der Herzkonfiguration die Diagnose
einer Pulmonalinsufficienz fest. Die Herzfigur ist in der neuen
: Ausgabe des Lehrbuches der Krankheiten des Herzens von Herrn Ge-
heimrat Romberg auf Seite 330 abgebildet.
Im Juni 1924 trat Pat. in der Basler chirurgischen Klinik ein
wegen Verdacht auf Nierentuberkulose. Er war zwischen München und
Basel noch in mehreren kleineren Spitälern gewesen, überall war eine
andere Diagnose gestellt worden. Er erholte sich jeweilen wieder
ordentlich und soll bis vor 2 Monaten blühend ausgesehen haben, seither
ist er abgemagert und blaß geworden. Es sollen öfters Darmblutungen
aufgetreten sein.
Da die Temperatur meist afebril war und nur einmal eine leichte
Zacke zeigte, zweifelte man an der Diagnose einer Sepsis, trotzdem die
übrigen Symptome dazu paßten. Aus äußeren Gründen unterblieb die
Blutkultur.
Am 2. VII. notiert die Klinik: Das Hämoglobin nimmt ständig ab,
Pat. verfällt langsam, der Puls wird schwach, Appetit fehlt vollkommen.
1) Kürzlich beschrieb Lindau einen Fall gonorrloischer Aortitis mit Bil-
dung eines Aneurysmas. Auch hier war die Infektion offenbar von der Intima
aus angegangen.
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 963
Am 5. VII. erfolgt der Exitus letalis unter den Erscheinungen einer
Herzinsufficienz.
Die am gleichen Tage vorgenommene Sektion (SN
398/24) ergab Folgendes: Sepsis lenta, — Hyperplasie des
Knochenmarkes. — Starke chronische Milzschwellung. — Insuffi-
cienz der Pulmonalklappen durch vollständig abgelaufene Endo-
karditis, Thromboendarteriitis des Stammes der Pulmonalis. — Di-
latation und mäßige Hypertrophie der rechten, keine solche des
linken Herzens. — Chronische seröse Perikarditis. — Geringer beid-
seitiger Hydrothorax. — Braune Induration der Lungen. — Mäßiges
Lungenemphysem. — Terminale, schlaffe Pneumonie der hinteren
Teile des rechten Unterlappens. — Hämorrhagische Nephritis als
Recidiv einer älteren schleichenden Nephritis mit Nephrose. —
Leberschwellung (im wesentlichen toxisches Ödem). — Stauungs-
ödeme des Magens und des Darms. Hämolymphdrüsen im Bereich der
Lungenwurzel. — Alter Käseherd in Bronchiallymphknoten. — Ob-
literation und Verwachsung der Wurmfortsatzspitze, gallertige Atro-
phie des Fettgewebes, Hautnarben, starke Anämie und Abmagerung.
Aus dem ausführlichen Sektionsprotokoll: Mittelgroße, männliche,
sehr lange, schlanke Leiche in sehr stark herabgesetztem Ernährungs-
zustand. Auffallend ist die starke Blässe des ganzen Körpers, die Haut
in langen Falten abhebbar, zeigt über dem rechten Schienbein, rechtem
Oberschenkel und besonders über der Brust am rechten Schlüsselbein
verschiedene strahlige Narben. An den Knöcheln leichte: Odeme, keine
Hautblutungen, die Drüsen in den Gelenkfalten sowie am Hals sind nur
klein durchfühlbar. Die Muskulatur ist sehr dürftig, einzig am Kiefer
ist die Totenstarre vorhanden. Die Leichenflecken fehlen, die Behaarung
ziemlich reichlich, auch am Ober- und Unterschenkel neben den ge-
wöhnlichen Stellen. Uber dem Kreuzbein oberflächliche, eingetrocknete
Hautdefekte.e. An den Armen Zeichen ärztlicher Einstichstellen. Die
Schleimhäute an Lippen und Konjunktiven sind stark blaß, die Skleren
weiß, die Gesichtsfarbe leicht gelblich, sonst keine subikterische Ver-
färbung.
Die Leber überragt den unteren rechten Rippenbogen um 2 Quer-
finger. Zwerchfell steht links im 4. IKR, rechts am unteren Rand der
5. Rippe, ist noch schlaf. Die Rippenknorpel schneiden sich leicht,
Rippen nicht brüchig. In der rechten Pleurahöhle befindet sich
500 ccm gelbliche, getrübte Flüssigkeit. Die linke Lunge ist im Ober-
lappen strangartig verwachsen, ähnliche spangenartige Verwachsungen
finden sich am Unterlappen, sowohl an der Spitze als gegen das Zwerch-
fell zu. Im Herzbeutel finden sich 300 ccm gelbliche, leicht getrübte
Flüssigkeit. Am Aortenbogen, besonders aber auch an der Herzspitze
finden sich bindegewebige, derbe Spangen zwischen den beiden Blättern
des Herzbeutels.
Der Herzbeutel im übrigen mit ganz frischen, fibrinösen Auflage-
264 MEHLIN
rungen, besonders über der rechten Hälfte, daselbst finden sich auch
frische punktförmige Blutungen. Das epikardiale Fettgewebe ist stark
dunkelgelblich, gequollen.
Das Herz etwas verbreitert, fühlt sich in der linken Hälfte mäßig
fest an, in der rechten dagegen stark schlaff. In beiden Herzkammern
findet sich ziemlich viel ungeronnenes Blut, das ganz wässerig hell ist;
kein Blutgerinnsel. Der gleiche Inhalt findet sich in der Pulmonalis.
Die Pulmonalis zeigt an der Gabelung in die bei-
den Äste eine warzenartige, zerklüftete, haselnuß-
große Auflagerung, die der Wand fest anhaftet, die
feinhöckerige Oberfläche ist mit geronnenem Blut
bedeckt. Die darunterliegende Arterienwand ist ver-
dickt, die Schwiele verursacht an der Außenwand
der Arterie an der entsprechenden Steile eine Vor-
wölbung. Die Lymphdrüsen in der Nähe sindklein,
ohne Verwachsungen, ohne Narben. Die Pulmonal-
klappen selbst sind ziemlich dick und milchig, etwas
steif, spielen nur schwach im Wasserstrahl, zeigen
aber keine frischen Auflagerungen. An einer Klappe
ist der Nodulus Arantii verschoben. Die Berührungs-
stelle zweier Klappen wird von einem akzessori-
Abb. 1. Akute mykotische Pulmonalitis. Fall I.
a Thrombotische Auflagerung. b Accessorische Klappenbildung.
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 265
schen, festen, sehnig glänzenden, einem Segel ähn-
lichen Streifen überdacht (s. Abb. 1).
Die Pulmonalis selbst ist etwas weit, zeigt sonst keine Besonder-
heiten, auch nicht in den mittelgroßen Asten. Die Tricuspidalklappen
sind zart und dünn, ohne frische oder alte Auflagerungen. Der gleiche
Befund zeigt sich an den Mitral- und Aortenklappen. Der Anfangsteil
der Aorta ist ganz glatt, elastisch, die Kranzarterien sind leer mit
glatter, elastischer Wand. Der Herzmuskel ist in der ganzen Ausdehnung
sehr stark blaßgelb, blutleer, etwas matt und zeigt dazwischen feine, zahl-
reiche grauweiße Schwielen. Der rechte Ventrikel ist sichtlich erweitert
und dünn, das eirunde Loch geschlossen.
Die linke Lunge hat im Oberlappen glatte, glänzende Pleura, gegen
den Unterlappen zu bestehen bindegewebige Verwachsungen. Der Ober-
lappen stark gebläht, zeigt hellrote, blutarme Schnittfläche, der Saftgehalt
ist mäßig reichlich, das Gewebe knistert laut, Narben sind nicht nach-
weisbar, der Unterlappen zeigt auch bindegewebige Verwachsungen, be-
sonders im Bereich des Zwerchfells, daselbst sind auch derbe, binde-
gewebige Einziehungen der Pleura sichtbar, die paravertebralen Teile
zeigen auf der Pleura einen matten, fibrinösen Belag mit spärlichen
Blutungen. Im Schnitt zeigen die oberen und unteren Teile eine gelb-
rötliche Fläche mit stark erhöhtem Saftgehalt und viel feinem, abstreif-
barem Schaum. Eine mittlere Zone ist gelbbraun verdichtet, fühlt sich
fest und brüchig an, ist feinkörnig, der Luftgehalt hier aufgehoben. In
den Bronchien feinschaumiger, reichlicher Inhalt, die Schleimhaut ganz
blaß, intakt. Die bronchialen Lymphknoten sind klein, schiefrig, hier
ohne besondere Einlagerungen.
Die rechte Lunge: auch hier zeigen die vorderen Partien des Ober-
lappens, der ganze Mittellappen und ein kleiner vorderer Saum des
Unterlappens eine glatte, glänzende Pleura. Im Schnitt sind diese
Partien ganz hell, sehr blutarm, knistern laut beim Aufschneiden. Die
hinteren Teile des Oberlappens und fast der ganze Unterlappen sind da-
gegen gleichmäßig gelbbraun verdichtet, matt, feinkörnig, fest.
Die Milz ist stark vergrößert, mittelfest, die Kapsel glatt, im Schnitt
wenig Blut abstreifbar, hellrote Farbe, in der die Trabekel und Follikel
eben sichtbar sind.
Die Leber mittelgroß, mit glatter Kapsel, im Schnitt ziemlich viel
stark verdünntes Blut abfließend, das Gewebe glänzend, saftreich, braun-
rot, mit eben sichtbarer Läppchenzeichnung. In der Gallenblase mittel-
reichlich dünnflüssige, hellgrüne Galle, die Schleimhaut intakt, nicht rot.
Beide Nebennieren sind mittelgroß. Das Knochenmark im mittleren
Teil des Femur braunrot, saftreich, gequollen, wenig fetthaltig.
Die bakteriologische Untersuchung der Milz ergab:
Im Abstrich spärlich grampositive Diplokokken, vereinzelt in kurzen
Ketten, reichlich gramnegative Stäbchen, vereinzelte grampositive Stäbchen.
Kulturell: Bact. coli und Streptococcus viridans.
Die mikroskopische Untersuchung der Organe ergab folgende Befunde:
Herz: Sowohl rechts wie links kleine Schwielen, keine Myokarditis,
mäßige braune Degeneration. Vereinzelte Faserverfettungen.
266 MEHLIN
Milz: Chronische Milzschwellung mit Hypertrophie von Pulpaelementen
und reichlich Phagocytosen.
Lunge: Kruppöse Pneumonie im Stadium der gelben Hepatisation
mit Herzfehlerzellen im r. Unterlappen.
Leber: Lymphocytäre Infiltrate der Glisson’schen Kapsel. Hyper-
ämie des Parenchyms. Geringe grobtropfige Verfettung.
Nieren: Eiweißausscheidung und Zylinder. Chronische Glomeraulitis.
Geringe vereinzelte Infiltrate.. Keine Verfettung. Ödem der Nieren-
beckenschleimhaut und Ekchymosen.
Aorta: sowohl in den oberen Partien als auch im Bauchteil ohne
Veränderungen.
Mesenterialdrüse: o. B.
Bronchialdrüse: Starke Erweiterung der Sinus durch Blut und teil-
weise sehr zahlreiche Wucherungen, stellenweise mit Fibrinausscheidung.
Knochenmark: einfache, mäßige Hyperplasie.
Hoden: Verdickung der Hodenkanälchenhüllen. Mäßig reichlich
Zwischenzellen.
Zur Untersuchung der Pulmonalarterie an der Stelle der Auflagerung
wurden folgende Färbetechniken angewandt: Hämalaun-Eosin, Elastin-
van Gieson, Plasmazellfärbung nach Unna-Pappenheim, Bakterienfärbung
nach Gram und Weigerts Fibrinfärbung. Mikroskopisch zeigte sich
folgendes Bild (siehe Abb. 2—4):
Die Pulmonalarterie ist im Bereich der Auflagerungen erheblich
verdickt, vorwiegend im Bereich der Intima. Es lassen sich daselbst
deutlich drei Prozesse unterscheiden: in der im ganzen sklerosierten
Intima finden sich jüngere, leicht strahlig angeordnete Narbenbildungen,
daneben in einer sklerotischen Platte ein ganz frischer, aus polynucleären
Leukocyten bestehender Absceßherd mit Zeichen eitriger Einschmelzung.
In den oberflächlichen Lagen ist das Endothel defekt, in den innersten
Intimaschichten liegen fibrinoide Degenerationsherdchen, die sich manch-
mal auch unter einem noch erhaltenen Endothelhäutchen finden. An der
Stelle, wo der Thrombus der Arterienwand aufliegt, findet sich auch in
ihrer innersten Schicht fädiges Fibrin, das in direktem Zusammenhang
steht mit den Auflagerungen. Diese bestehen vor allem aus throm-
botischen Massen: Fibrin, Blutplättchen, reichlichen Leukocyten und
einzelnen Lymphocyten. Die Intima ist daselbst stark aufgelockert und
zeigt an einzelnen Stellen Einpressung von roten Blutkörperchen zwischen
ihre Lamellen. Neben dem obenerwähnten Absceßherd findet sich in den
erweiterten Saftlüäcken der Intima reichlich kleinzellige Infiltration von
lymphoidem, vorwiegend aber von leukocytärem Charakter, parallel den
Faserrichtungen angeordnet. Gegen die Grenze zur Media werden die
Zellanhäufungen massiger, an einzelnen Stellen verdichten sie sich phleg-
monenartig, von einzelnen Nekrosen begleitet (Abb. 2). Auch in der
Media finden sich mehrere Absceßbildungen (Abb. 4), aus massenhaften
Leukocyten bestehend. Die elastischen Faserbündel sind durch diese
Herde unregelmäßig aufgesplittert, teilweise eingeschmolzen (Abb. 3).
Daneben zeigen sich in der Media Kernwucherungen ohne Absceßhildung
oder Zeichen frischer Infiltration, aus protoplasmaarmen, undeutlich be-
grenzten, mit groBen gekerbten Kernen versehenen Zellen bestehend.
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 267
Abb. 2. Akute mykotische Pulmonalitis. Hämalaun-Eosin. Phlegmone der Media.
Vergr.: Leitz Obj. 3. Zeiß Kompens. Ok. 4
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Abb. 3. Akute mykotische Pulmonalitis. Elastinfärbung nach Weigert und Binde-
| gewebsfärbung nach van Gieson. a Absceß der Media. b Endarteriitisch-myko-
tische Auflagerung.
Vergr.: Leitz Obj. 2. Zeiß Kompens. Ok. 4.
268 MEHLIN
Dieselben sind offenbar aus Adventitialzellen der vasa vasorum hervor-
gegangen. Den Gewebsdruckverhältnissen angepaßt sind sie hier streifen-
förmig angeordnet, während sich in der Adventitia ähnliche, aber zu
Knötchen gelagerte Kernwucherungen. finden, ähnlich den rheumatischen
Knötchenbildungen. Dieselben großzelligen Wucherungen zeigen sich in
Nerven um kleinste Gefäße gelagert. Sie sind sehr dicht aufgebaut, beinahe
an Krebsnester erinnernd. Sie bestehen aus Zellen mit ovalem Kern
und undeutlich abgesetztem Protoplasma, erst in der lockeren Adventitia
finden sich gemeine Rundzelleninfiltrate. Die in den Nerven verlaufenden
Gefäßchen zeigen Endothelwucherungen. Der Adventitia aufgelagert
finden sich vielschichtigte, teilweise papillär angeordnete Serosaepithel-
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Abb. 4. Akute mykotische Pulmonalitis. Hämalaun-Eosin.
a Mediaabsceß. b verdickte Intima. c endarterütisch-mykotische Auflagerung.
Vergr.: Leitz Obj. 2. Zeiß Kompens. Ok. 4.
wucherungen des Perikards.. Im Grampräparat finden sich, in den Auf-
lagerungen und diffus in der Wand verteilt, besonders reichlich in den
Absceßherden, grampositive, meist zu Diplokokken gelagerte Strepto-
kokken.
Wir haben hier also das typische Bild einer phlegmonösen,
zum Teil abscedierenden Entzündung der Wand der Lungenschlag-
ader vor uns. Fragen wir uns nach dem Infektionsweg, so sind
wir wohl zur sicheren Annahme berechtigt, daß die Bakterien vom
Lumen aus in die Wandung eingedrungen sind. Die Erscheinungen
frischer Entzündung in der Intima und in der Media bei Fehlen
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 269
jeglicher akuten Entzündungserscheinungen in der Adventitia,
speziell auch um und an den vasa vasorum bestätigt diese Ansicht.
Auf dem Boden der Enndarteriitis setzte sich der Gefäßwand sekun-
där ein Thrombus auf.
Was ist nun der Grund dieser seltenen Lokalisation einer Ent-
zündung? Fassen wir nochmals die früher publizierten Fälle ins
Auge so ist sehr auffallend, daß in allen genauer beobachteten sich
eine Hypertrophie und Dilatation des rechten Herzens oder ein
durchgängiger Ductus Botalli findet. Auch in unserem Falle war
das rechte Herz enorm hypertrophisch und dilatiert infolge einer
Insufficienz der Pulmonalklappen. Bei der enormen Exposition der
Pulmonalis für Infektionen — sämtliche in den venösen Kreislauf
eingedrungenen Keime passieren dieses Gefäß — ist man ge-
zwungen, eine gewisse Nicht-Disposition ihrer Wandungen anzu-
nehmen, für die der geringere Druck im kleinen Kreislauf eine
vielleicht nur teilweise Erklärung gibt. Ändern sich die normalen
Druck- und Strömungsverhältnisse im kleinen Kreislauf, so ist die
Wandung der Pulmonalarterie wahrscheinlich infolge Dehnung der
schützenden Endothelschicht und erhöhter mechanischer Inanspruch-
nahme für Infektionen bedeutend empfänglicher. Einen sehr inter-
essanten Nebenbefund bildet die akzessorische Klappen-
bildungunmittelbar über demPulmonalostium (s. Abb.1).
Im linken arteriellen Ostium sind solche Taschenbildungen, meist
mit Aorteninsufficienz kombiniert, schon mehrfach beschrieben auch
im Bereich der Ausflußbahn, von den einen (Zahn) auf rein mecha-
nische Ursachen zurückgeführt, von anderen auf rein entzündliche
(Wilke). Sotti hält sie für teratologische Erscheinungen. Die
Taschen sind fast stets aortenwärts gerichtet. Fälle, wo die Klap-
penbildungen umgekehrt gerichtet waren, sind selten beschrieben.
Krasso publizierte kürzlich einen solchen mit genauer histologi-
scher Beschreibung. Er nimmt an, daß primär eine Verdickung
des Endocards, sei es auf entzündlicher, sei es auf rein mechani-
scher Basis, stattgefunden habe. Der sich an diesen Stellen brechende
Blutstrom hat dann die Aushöhlung der Verdickung und ihre Um-
wandlung in eine Tasche bewirkt. Ganz eigenartig liegen die Ver-
hältnisse in unserem Falle: Da wir an den Pulmonalklappen deut-
liche Reste einer Endokarditis mit Insufficienzerscheinungen haben
und da an der sonst glatten Intima keine präformierte Taschen-
bildung vorhanden ist, so ist eine entzündliche Entstehung das
Wahrscheinlichste und zwar sich sekundär anschließend an klein-
sten wandständigen, später organisierten Thrombus, der durch die
270 MEHLIN
Mechanik der Insufficienz der Klappe sozusagen ausgehöhlt und so
zu einer akzessorischen Klappe umgebildet wurde. Eine histo-
logische Untersuchung der Bildung wurde nicht vorgenommen, um
das Präparat zu schonen.
Das Besondere an unserem Falle ist also, daß sich die
Klappenbildung im Gebiete des rechten Herzens und
zwar über den Klappen findet. Dazu kommt noch, daß sie
nach unten gerichtet ist (s. Abb. 1b). Von zwei weiteren
Fällen von Arteriitis der Pulmonalarterie stehen mir nur mit
Hämalaun — Eosin gefärbte Präparate zur Verfügung, so daß eine
Untersuchung auf Bakterien leider nicht ausgeführt werden konnte.
Fall II.
Der 11jährige Walter L. hatte seit 4. IV. 1916 zeitweise Aufstoben,
Erbrechen, starke Durchfälle, 6 Wochen lang blutige Durchfälle. Am
4. VI. trat wieder Erbrechen, Durchfall und Blut im Stuhl auf. Am
17. VI. erfolgte die Aufnahme in die chirurgische Klinik in Jena. Die
Operation ergab eine eitrige Peritonitis mit Kot in der Bauchhöhle. Im
unteren Dünndarm fand sich eine walnußgroße Perforation. Es wurde
eine Resektion von 25 cm des untersten Dünndarms ausgeführt. Trotz-
dem kam Pat. ad exitum. Nach Angabe des Vaters soll er zur Zeit
einer kurz vorher in der Stadt ausgebreiteten Epidemie keinen Typhus
mitgemacht haben.
Die am 18. VI. ausgeführte Sektion (S. N.. 263/16 des Pathol. In-
stituts Jena) ergab folgende Diagnose:
Chronischer Typhus. Schwerste chronische lleocolitis. Begionäre
Lymphadenitis. Diffuse eitrig-fibrinöse Peritonitis. Zeichen vorgenommener
lleo-Colo-Anastomose und Resektion der untersten Ileumschlingen (nach
Angabe wegen Perforation eines Geschwürs), chronische Milzschwellung.
Embolische Myocarditis. Frische Thromboarteriitis der Pulmonalis
hinter einer Klappe. Diphtheroide beiderseitige Pyelitis. Multiple
Konglomerattuberkulose der linken Lunge, zum Teil abgekapselt. Kalk-
herd einer linksseitigen Bronchialdrüse. Akutes terminales Lungenödem.
Protokoll (im Auszug): Leiche eines schmächtigen Knaben in starker
Totenstarre. Lippen sehr bleich. In der Mittellinie des Bauches, unter-
halb des Nabels, ist eine Schnittwunde, durch die die Bauchhöhle drei-
fach drainiert ist. Die Därme sind gebläht, mit Fibrin belegt. Die
unterste Ileumschlinge ist entfernt, ihr Mesenterium vernäht. Oberhalb
des Ileumstumpfes, der durch Naht verschlossen ist, ist der Dünndarm
an das Colon transversum vernäht.
Herz: von normaler Größe, gut kontrahiert. In der Pulmonalis
Speckhautgerinnsel. Die Klappen sind. ohne Veränderungen. Hinter
einer Klappe trägt die Pulmonalis weißliche. Beläge. . Das Herzfleisch
ist fleckig, enthält weiße streifige Herde und kleine Blutungen. Aorta
zeigt ein paar gelbe Flecken, Kranzgefäße sind o. B.
Lungen: sind gebläht und elastisch. Im linken Oberlappen mehrere
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 271
größere Käseherde, deren Umgebung narbig ist. Ein größerer nicht abge-
kapselter und miliare Knoten unter der Spitze. Im übrigen sind alle
Lappen gut lufthaltig, auf der Schnittfläche bleich, ziemlich trocken, ohne
Knötchen. Die Unterlappen sind etwas blutreicher als die Oberlappen.
Am linken Hilus ein Kalkherd in einer Drüse. Auch in der Spitze des
linken Unterlappens ein abgekapselter Kreideherd.
Halsorgane zeigen genarbte linke Tonsille, sonst o. B.
Milz: ziemlich groß, Oberfläche nicht verwachsen, Schnittfläche
bleich, rosarot, Pulpa nicht quellend, Follikel deutlich.
Leber, Gallenwege, Ureteren, Nebennieren und Nieren zeigen keine
Besonderheiten. Im Nierenbecken beiderseits ist die Schleimhaut dunkel-
grau, grün verfärbt, mißfarben belegt, rauh.
Die im hygienischen Institut vorgenommene bakteriologische Unter-
suchung der Milz ergab Typhusbazillen.
Die mikroskopische Untersuchung der Pulmonalarterie im
Bereich der im Protokoll erwähnten weißlichen Beläge ergibt
folgenden Befund:
Die Auflagerungen bestehen aus Fibrin, Blutplättchen und reichlich
Leukocyten. Im Bereich des Thrombus fehlt das Endothel größtenteils,
an seiner Stelle liegen fädige, streifenförmige Elemente, die mit reichlich
Leukocyten untermischt sind. Die etwas verdickte Intima ist sehr zell-
reich, sie enthält neben kleinen runden Zellen reichlich polynucleäre
Leukocyten, die sich aber nirgends zu einem Absceß verdichten. Die
Media enthält neben reichlicher kleinzellulärer leukocytärer Infiltration
kleine streifenförmige Zellkonglomerate, deren Zellen mit großen ge-
kerbten Kernen und undeutlich abgegrenztem Protoplasma versehen sind.
Die Adventitia zeigt vorwiegend perivasculär gelagerte, kleinzellige In-
filtration; doch finden sich auch hier dieselben großzelligen, in dieser
Schicht zu kleinen Knötchen gelagerten Wucherungen.
Wir haben hier also auch eine frische phlegmonöse Entzündung
der Pulmonaliswand vor uns. Trotzdem keine Bakterienfärbung
ausgeführt werden konnte, ist dieser Prozeß olıne Zweifel auf
bakteriellen Ursprung zurückzuführen und zwar auf die Typhus-
bazillensepsis. Die ‘Infektion ist bei der außerordentlichen Be-
teiligung der Intima sicher vom Gefäßlumen her eingedrungen.
Fall IH.
Beim dritten Fall konnten wir keine klinischen Angaben er-
halten, da die Patientin im Versorgungshaus starb, wo keine
Krankengeschichten geführt werden. Es handelt sich um eine
79jährige Frau.
Die Sektionsdiagnose (S.N. 603/22 Basel) lautete:
Weicher und teilweise nekrotischer Krebs des kleinen Beckens,
wahrscheinlich ausgehend vom linken Ovar. Vereinzelte Milz-
272 | MEHLIN
metastasen. Metastatische Knoten der Wand der Flexura sigmoidea.
Allgemeine Kachexie und Anämie. Seniles Emphysem. Chronische
eitrige Bronchitis. Polypöser Thrombus der Pulmonalis
über den Klappen (s. Abb.5). Vereinzelte, wahrscheinlich davon
ausgehende Embolie eines Pulmonalishauptastes. Braune Degenera-
tion des Myocards und Polyposis ventriculi. Frischere Perikarditis
Abb. 5. Akute mykotische Pulmonalitis. Fall III endarteriitisch-mykotische
Auflagerung über den Klappen.
über der Herzwurzel. Vereinzelte Polypen der Flexura sigmoidea.
Hochgradige Erweiterung der Blase mit leichter trabekulärer Hyper-
trophie. Zysten des Blasenausganges. Apoplektische Zyste im
rechten Putamen. Hydrocephalus ext. und int. Chronische Pachy-
und Leptomeningitis.
Protokoll: (im Auszug). Leiche einer kleinen Frau in herabgesetztem
Ernährungszustand. Totenstarre nur an den unteren Extremitäten er-
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 273
halten. Leichenflecken spärlich blaurot am Rücken. Zwerchfellstand
rechts 4. IKR. links 5. Rippe. Das kleine Becken ausgefüllt durch
größere Tumormassen. Lungen mäßig kollabiert und retrahiert, beider-
seits völlig frei, in den Pleurahöhlen keine freie Flüssigkeit, im Herz-
beutel einige Kubikzentimeter klare Flüssigkeit.
Herz mittelgroß, schlaff. In beiden Kammern flüssiges Blut und
Cruor. In der Pulmonalis ein Speckhautgerinnsel. Über der vorderen
Klappe sitzt in der Pulmonalis ein gestielter, ca. 1 cm großer, polypöser
grauroter, unregelmäßig geformter Thrombus (s. Abb. 5). Die Klappen
des rechten Herzens zart, frei spielend. Die Mitralis etwas verdickt, :
die Sehnenfäden plump. Die Aortenklappen zart. Die Aorta ascendens
7! cm, zeigt zarte Intima mit wenig gelben Verdickungen. Die Coronar-
arterien zart. Die Wanddicke links 12, rechts 4 mm. Auf Schnitten
ist das Myokard braun, transparent, das Endokard spiegelnd. Das foramen
ovale geschlossen.
Die linke Lunge mittelgroß, von leicht erhöhtem Luftgehalt, schlaff,
Pleura glatt und glänzend. Abstreifen läßt sich vom Unterlappen in
reichlicher Menge blutige, schaumige, klare Flüssigkeit. Gewebe nach dem
Abstreifen dunkelgraurot, glatt und glänzend, schlaff. Die rechte Lunge
von auen wie links, Pleura glatt und glänzend. Unterlappen wie links,
Mittel- und Öberlappen wie linker Oberlappen. Die Bronchien beider-
seits mittelweit mit blutig schleimigem Inhalt, die Schleimhaut hyper-
ämisch. Die Lungengefäße zart, in der linken Lunge in einem Gefäß
ein kleiner gerippter, grauroter Embolus. Die Hilusiymphknoten anthra-
kotisch, gering vergrößert.
Die mikroskopische Untersuchung der Pulmonalis an der
Stelle, wo sich die gestielte Auflagerung findet, ergibt folgendes Resultat:
Die Auflagerung in der Pulmonalarterie ist ein fast reiner Plättchen-
thrombus mit Zeichen von Organisation. Die darunterliegende Arterien-
wand ist teilweise ihres Endothels beraubt. Zwischen die aufgelockerten und
verdickten Intimalamellen sind Erytbrocyten eingepreßt. Die Intima ist
verbreitert, ihre Fasern teilweise verfettet. In den Saftlücken, parallel
den Fasern, sind reichlich kleine Rundzellen und einzelne Leukocyten
eingelagert. Die Media zeigt im großen und ganzen gehörigen Aufbau,
nur an einer Stelle in der Tiefe zeigt sie einen aus vorwiegend größeren
Zellen mit teilweise gekerbten Kernen bestehenden, mit Leukocyten unter-
mischten Entzündungsherd. In der Adventitia etwas vermehrte klein-
zellige Infiltration ohne frische Entzündungszellen.
Dieser Fall bietet ein wesentlich verschiedenes Bild von den
vorhergehenden, sowohl mikroskopisch als auch was seine Ent-
stehung betrifft. Es handelt sich um eine in Vernarbung begriffene,
herdförmige Entzündung in der Tiefe der Media. Die Beteiligung
der inneren Schichten an der leukozytären Infiltration spricht auch
hier für eine Entstehung vom Lumen her. Allerdings bleibt es
eine offene Frage, ob sie mykotisch bedingt ist, zumal eine sichere
Quelle dafür nicht aufzufinden ist. Eine bakteriologische Blut-
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 18
274 MEBLIN
untersuchung wurde leider unterlassen und über klinische Angaben
verfügen wir nicht. Es wäre höchstens die Frage zu diskutieren,
ob vielleicht vom nekrotischen Krebs des Beckens eine Allgemein-
infektion sich ausgebildet hatte. Die fehlende septische Milz-
schwellung spricht nicht dagegen, da der Prozeß sicher älter ist.
Auch in diesem Falle ist interessant, daß sich ein ausgesprochenes
seniles Emphysem fand. Der landläufigen Ansicht gemäß soll zwar
das senile, atrophische Emphysem keine Druckzunahme im kleinen
` Kreislauf verursachen, nach den Erhebungen von W. Fischer kommt
dasselbe aber ebenso wie das substantielle als Ätiologie der Pul-
monalsklerose in Betracht, ein Zeichen dafür, daß doch veränderte
Druckverhältnisse im kleinen Kreislauf herrschen können. Auch
hier fanden sich wieder rote Blutkörperchen zwischen den innersten
Intimalamellen unter dem Endothel wie im ersten meiner Fälle.
Fall 4.
Es handelt sich um einen 22jährigen Gärtner, dessen Krankenge-
schichte mir in liebenswürdiger Weise von Herrn Professor Lutz zur
Verfügung gestellt wurde.
Der Mann erkrankte am 14. V. 1925 an Gelenkschmerzen, die sich
zuerst in der linken Schulter, später in beiden Fußgelenken, in den
Ellbogengelenken und im linken Knie festsetzten. Die Körperwärme hielt
sich damals dauernd auf 39°, Wa.R. negativ. Ein Abstrich aus der
Harnröhre am 3. VI. ergab positiven Gonokokkenbefund, trotzdem Patient
jede Infektion abstritt. Eine Blutkultur ergab grampositive Kokken,
keine Gonokokken, die Diagnose einer Sepsis war also sicher. Auf eine
Schwitzkur besserten sich die Gelenksymptome.
Die Untersuchung des Herzens ergab eine geringe Verbreiterung
nach rechts und links, Spitzenstoß hebend, lautes systolisches und dia-
stolisches Geräusch über dem ganzen Herzen, besonders laut über der
Spitze und über der Pulmonalis. Am 25. VII. traten allgemeine Odeme
auf, die sich auf Calcium-Diuretin und Einschieben von Milchtagen
besserten. Ein Monat später steigerten sich die Insufficienzerscheinungen
des Herzens ziemlich akut, es zeigte sich starkes Herzklopfen und Hals-
venenpuls, am 12. IX. erfolgte der Exitus letalis unter den Zeichen der
Herzinsufficienz. Die Temperaturen waren in der letzten Zeit dauernd
nach Art des septischen Fiebers, sie stiegen bis 40°, der Puls sehr
wechselnd, seine Frequenz betrug zwischen 90—130 Schläge in der
Minute, Blutdruck normal.
Die am gleichen Tage vorgenommene Sektion
(S.N. 583/25) ergab folgende Diagnose:
Chronische Sepsis bei Urethritis posterior. Endocarditis ulcerosa
der Pulmonalklappen mit fast vollständiger Zerstörung aller Klappen
und großen thrombotischen Auflagerungen. Endarteriitis throm-
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 275
botica des Pulmonalisstammes durch Übergreifen. von den Klappen.
Kleine Parietalthromben des Endokards vom rechten Ventrikel.
Chronische septische Milzschwellung. Schwerste Nephrose mit
starker Verfettung der Rinde. Rote Umwandlung des Knochen-
marks. Schwerste allgemeine Anämie. Trübung und Ödem der
braunatrophischen Leber; embolische Verschlüsse mehrerer Äste
beider Arteriae pulmonales. Ältere, bereits entfärbte und frischere
hämorrhagische Infarkte der Lungen, besonders beider Unterlappen.
Hypertrophie des rechten Ventrikels und geringe Dilatation,
Abb. 6. Schwere ulcerös-polypöse Endokarditis der Pulmonalklappen mit Über-
greifen auf die Lungenschlagader. .
allgemeine Ödeme des subkutanen Fettgewebes. Ascites. Hydro-
thorax besonders rechts. Atelektase des rechten Unterlappens,
braune Atrophie der Leber und des Herzmuskels. Blähung der
Randteile der Lungen. Chronische schiefrige Tonsillitis mit Pfröpfen.
Struma colloides nodosa. Ascariden. Ödem der Darmschleimhaut.
Cyste der Epiphyse.
Protokoll (im Auszug): Mittelgroßer, schlank gewachsener gut ge-
bauter Mann in gutem Ernährungszustand, ohne Totenstarre, keine
Leichenflecken. Haut außergewöhnlich blaß, am ganzen Körper etwas ge-
dunsen, im Bereich des Bauches, des Sorotan und beider Beine starke
Ödeme. In den Flanken des Bauches und an den Oberschenkeln
18*
276 MEHLIN
Dehnungsstreifen; Ohren, Nase o. B. Im Mund gute Zähne, sehr blasse
Lippen, Skleren weiß, Pupillen beiderseits mittelweit, aus der Harnröhre
läßt sich weder Eiter noch Flüssigkeit auspre@sen. After o. B. Im
Bauch 800 ccm milchiger chylöser Ascites (im Mikroskop nur Fett-
tröpfehen). Serosa zart. Freier Leberrand eben sichtbar. Die Pleura-
höhlen enthalten beiderseits klare gelbe Ergüsse, rechts 500, linka 300 ccm.
Herz. Herzbeutel zart, enthält klare, nicht vermehrte Flüssigkeit,
Herz geringgradig vergrößert, besonders nach rechts, der rechte Ventrikel
klafft auf Schnitt, enthält meist flüssiges, wässeriges Blut. Der linke
Ventrikel völlig zusammengezogen.
Die Pulmonalklappen (s. Abb. 6) sind ausgedehnt zerstört, an ihrer
Stelle finden sich der Wand locker aufsitzende, teilweise flottierende,
graurote Auflagerungen, durch dieselben ist das Lumen stark eingeengt,
das Ostium aber schlußunfähig, einzig die vordere Semilunarklappe ist
noch erhalten, zeigt aber reichliche Auflagerungen. Die rechte und die
linke Semilunarklappe sind vollkommen zerstört. Reichlich kleine Wärzchen
in Form graurötlicher Gebilde sitzen auf dem Endokard des Conus
arteriosus auf. Der Prozeß greift teilweise kontinuierlich von den Klappen-
wurzeln auf die Pulmonalarterie über, teilweise sitzen aber vollkommen
isolierte Geschwüre am oberen Rande der Sinus arteriae pulmonalis, den
zerstörten freien Rändern der Pulmonalklappen gegenüber, woselbst die
Zerstörung der Wand am tiefsten ist. Die Geschwüre sind von un-
scharfen zackigen Rändern begrenzt und zeigen dieselben feinen Wärzchen
aufgelagert, wie das Endokard. Das größte Geschwür hat seine obere
Begrenzung 27 mm oberhalb des Ansatzes der vorderen Semilunarklappe.
Die Wand der rechten Kammer ist deutlich verdickt, mit ausge-
prägtem Innenrelief. Alle übrigen Herzklappen sind völlig
zart, das eirunde Loch ist geschlossen, Kranzgefäße unverändert, Herz-
muskel blutarm, stark braun und trübe.
Lungen klein, leicht knisternd, besonders in den Randteilen, da~
Gewebe blaß, der rechte Unterlappen fast luftleer. An beiden Seiten
enthalten die unteren Lungenteile zahlreiche keilartig verdichtete, derbe
Knollen. In zahlreichen gröberen und feineren Verzweigungen der Arteria
pulmonalis finden sich lose oder in Organisation begriffene helle krümelige
Blutgerinnsel von derselben Beschaffenheit wie das an Stelle der Pulmonal-
klappen befindliche Material.
Milz wenig vergrößert, schlaff, Kapsel zart, das Gewebe schmutzig
und weich, blaßgraurot.
Leber eher klein, ziemlich derb, der Schnitt blutarm, feucht,
stark braun.
Nieren groß, rundlich, schneiden sich auffallend weich, Oberfläche
blaßgraugelb, trüb, glatt.
Genitalorgane. Die Urethra ist überall gleichmäßig weit, die
Schleimhaut nirgends merklich gerötet oder sonst verändert, zuleitende
Samenwege und Keimdrüsen zart.
Knochenmark des Femur schmutzig rot, sehr feucht.
Die durch das bakteriologische Institut vorgenommene Untersuchung
des steril entnommenen Herzblutes ergab folgendes Resultat:
Grampositive Haufenkokken, gramnegative Diplokokken verschiedener
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie: 277
Form und Größe, gramnegative Stäbchen. Eine Kultur auf Schottmüller
Blutplatte ergab u. a. makroskopisch hämolysierende Staphylokokken-
kolonien.
Sichere Anhaltspunkte für Gonokokken konnten nicht gefunden
werden.
Mikroskopisch zeigt die Lungenschlagader im Gebiet der makro-
skopisch sichtbaren Geschwürsbildung das Bild einer schweren phlegmonös-
ulcerösen Entzündung. Die Intima der Arterie fehlt fast durchwegs, an
ihrer Stelle finden sich sehr reichliche Auflagerungen von Fibrin und
mykotischen Rasen, teilweise ist sie von dichten entzündlichen Infiltraten
unterminiert. Die Media ist ausgedehnt von Leukocyten, weniger von
kleinen Rundzellen und Plasmazellen durchsetzt, die sich zum Teil den
Fasern parallel anordnen, zum Teil aber zur dissezierenden Phlegmone
anhäufen. Streckenweise sind die elastischen Fasern gut erhalten, strecken-
weise aber bunt durcheinandergewürfelt, unterbrochen und in ihrer An-
ordnung verworfen. Stellenweise ist auch die Media von der Lichtung
her stark abgefressen, an der makroskopisch tiefsten Stelle, der Geschwüre,
den Klappenschließungsrändern gegenüber, fehlt sie vollkommen. Zwischen
den zertrümmerten elastischen Fasern liegen auch zablreiche Nekroseherde
und Abscesse. Von der Adventitia her dringen feine Kapillarsprossen
in die Media vor und bilden ein junges Granulationsgewebe. Daneben
finden sich auch umschriebene narbige Stellen mit echtem, nach van
Gieson sich leuchtend rot färbendem Bindegewebe. Bei den mit Kresyl-
violett gefärbten Schnitten tritt deutlich eine Metachromasie des Binde-
gewebes im Sinne vermehrter „mukoider Grundsubstanz* in die Er-
scheinung.
Die Adventitia ist hochgradig ödematös gelockert, zeigt ebenfalls
zerstreute, meist perivaskulär gelagerte, massige Zellinfiltrate, hier größten-
teils aus Rundzellen bestehend. Dazwischen findet sich ein eigenartiges
Netz feiner Fädchen, welche Lücken zwischen sich fassen. Sie färben
sich mit der Weigert’schen Fibrinmethode typisch blau, nach van Gieson
gelb, mit Kresylviolett zart himmelblau. Sie dürfen wohl als Fibrinoid
anzusprechen sein. In älteren Zellinfiltraten zeigt sich schon straffes,
echtes Bindegewebe als Ausdruck einer Narbenbildung, auch jüngere
Stadien mit stark geschlängelten Kapillaren sind deutlich zu beobachten.
Der ganze Fall darf wohl als Gonokokkensepsis mit Misch-
infektion aufgefaßt werden, bei der die Staphylokokken über-
wucherten und in der Blutuntersuchung dominierten. Auch im
Schnitt bestanden die oben erwähnten mykotischen Rasen aus
Haufenkokken, die zuweilen auch als Streptokokken imponierten.
Das Bild der mykotischen Veränderungen in der Gefäßwand
zeigt gegenüber den drei vorher beschriebenen wesentliche Unter-
schiede. Wir haben hier, im Gegensatz zur embolischen Genese
der übrigen Fälle, das direkte Übergreifen der Entzündung von
den Klappen — per continuitatem — und als Abklatschgeschwüre
— per contiguitatem. Es dürfte dieser Entstehungsmodus mit.
278 MEHLIN
durch die außerordentliche Virulenz der Erreger bedingt sein.
Dafür spricht auch das mikroskopische Bild, das eine rezidivierende,
z. T. fast perakut verlaufende, ungeheure entzündliche Zerstörung
der Arterienwand zeigt. Daneben finden sich auch ältere Ver-
änderungen, jüngeres und älteres Granulationsgewebe, ja sogar
Narbenbildungen.
Die Gonorrhöe wurde schon von Posselt als Ätiologie der
mykotischen Endarteriitis der Pulmonalis bezeichnet, wir haben in
diesem letzten Fall'eine neue Bestätigung dafür gefunden.
Zusammenfassung.
Die in der Literatur beschriebenen Beobachtungen von End-
arteriitis der Pulmonalarterie zeigen, daß sich in den meisten Fällen
eine Hypertrophie und Dilatation des rechten Herzens, zum minde-
sten aber Veränderungen finden, die erfahrungsgemäß zu einer
solchen führen, als Ausdruck einer Überbelastung und Druck-
erhöhung in der Pulmonalis; dazu gehören auch offen gebliebene
fötale Kommunikationen.
Auch unser erster Fall zeigt Zeichen starker Mehrbelastung
des rechten Herzens infolge Pulmonalinsufficienz. Die beiden
anderen weisen Befunde auf, die dem rechten Herzen zweifellos
Mehrarbeit verursachten, die aber im ganzen doch zu geringfügig
sind, als daß sie als sichere kausale Faktoren dieser speziellen
Lokalisation einer Entzündung angesprochen werden dürften. In
beiden Fällen fehlt eine Hypertrophie des rechten Herzens.
Gänzlich verschieden von den drei ersten in Beziehung auf
seine Genese stellt sich der letzte Fall dar, indem hier ein direktes
Übergreifen der Entzündung von der Nachbarschaft her — nämlich
von den erkrankten Klappen — nachzuweisen ist. Die Pulmo-
nalitis ist hier mit größter Wahrscheinlichkeit darauf zurück-
zuführen, daß eine primäre isolierte Endocarditis ulcerosa der Pul-
monalklappen durch Abklatsch auf der Intima der Lungenschlag-
ader die Infektion deren Wand vermittelte. In den ersten hier
beschriebenen Fällen fehlte diese Möglichkeit, da die Pulmonal-
klappen nicht an der mykotischen Entzündung beteiligt waren.
Doch muß angenommen werden, daß die Pulmonalitis unmittelbar
hämatogen von der Intima her entstand, da die inneren Wand-
schichten am stärksten beteiligt waren. Für die dritte Möglichkeit,
nämlich die Infektion auf embolischem Wege, vermittels der Vasa
vasorum, haben unsere Fälle keinen Anhaltspunkt geliefert.
Über akute mykotische Arteriitis der Pulmonalarterie. 279
Literatur.
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Veränderungen bei der Sklerose der Pulmonalarterie. Ziegler's Beitr. Bd. 36. —
Wilke u. Zahn, zit. nach Krasso.
280
Aus der Medizinischen Universitäts-Klinik zu Rostock.
Über den respiratorischen Stoffwechsel bei
perniziöser Anämie.
Von
Prof. Hans Curschmann und Dr. Fr. Bachmann.
(Mit 2 Kurven.)
Die Frage nach dem Gaswechsel bei perniziöser Anämie hat
heute nach mehreren Richtungen hin erhöhtes Interesse gewonnen.
Einerseits gestattet die Untersuchung des respiratorischen Aus-
tausches Schlüsse auf die Fähigkeit des Hämoglobins dieser Kranken
trotz erheblicher Reduzierung sich hinreichenden Sauerstoff zu ver-
schaffen. Daß diese Fähigkeit nicht durch besondere Eigenschaften
des Hämoglobins zu erklären ist, dürfte feststehen. Eher ist mit
Morawitz an eine bessere Ausnützung des Blutfarbstoffs etwa
durch eine beschleunigte Zirkulation des Blutes in den Kapillaren
zu denken.
Andererseits gibt uns die Bestimmung des Grundumsatzes (G. U.:
unter Umständen eine Antwort auf die von manchen Autoren be-
sprochene und angenommene Bedeutung endokriner Faktoren.
für die Entstehung der Biermer’schen Krankheit. Denn neben
Funktionsstörungen der Nebennieren und des Pankreas hat man
auch an solche der Schilddrüse gedacht. Das hat bei einigen
Klinikern bereits zur regelmäßigen Thyreoidinbehandlung der p. A.
geführt. Wenn eine solche Berechtigung hätte, so würde die
Untersuchung des Grundumsatzes, der bei thyreoidinbedürftiger
Schilddrüsen-Insufficienz sicher herabgesetzt wäre, dies erweisen
können.
Eine weitere, bisher noch nicht unternommene Aufgabe der
Stoffwechseluntersuchung bei p. A. betrifft die Feststellung der
spezifisch-dynamischen Eiweißwirkung auf den G. U. Auch wenn
wir weit davon entfernt sind, diese Funktion bezüglich ihrer
Über den respiratorischen Stoffwechsel bei perniziüser Anämie. 281
Spezifität in patho-physiologischer und speziell diagnostischer Be-
ziehung zu überschätzen, wie das in letzter Zeit bisweilen ge-
schehen ist, so ist ihre Untersuchung aus noch zu erörternden
Gründen gerade bei der p. A. von Interesse.
Bevor wir nun zur Frage des respiratorischen Umsatzes selbst
kommen, seien einige Bemerkungen über die pathogenetische Rolle
der endokrinen Drüsen bei p. A. vorausgeschickt. Naegeli deutet
sie an, ohne gerade bei der p. A. näher auf sie einzugehen.
Stephan nimmt auf Grund klinischer Erfahrungen und experi-
menteller Untersuchungen eine Unterfunktion der Nebennieren als
Ursache der p. A. an. Histologische Untersuchungen von Roos
(zit. nach Schaumann) haben nun gewiß erhebliche Verminderung
der Lipoide und der chromaffinen Substanz der Nebennieren bei
diesen Kranken gezeigt. Trotzdem bin ich mit Morawitz der
Meinung, daß weder histologischer Befund, noch klinische Funk-
tionsprüfung, noch das Tierexperiment bisher berechtigen, eine
Hypofunktion der Nebenniere (oder einzelner Teile) als patho-
genetisch irgendwie bedeutsam für die p. A. zu erachten. Gegen
einen Hypadrenalismus sprach ja auch die von Johnsson und
unserem Mitarbeiter Hardt festgestellte Tatsache der häufigen
Hyperglykämie gerade bei schweren Fällen von p. A.
In noch schärferer Weise aber müssen wir, wie bereits früher
anderenorts, die Meinung ablehnen, daß eine Schilddrüseninsufficienz
ursächlich für die p. A. irgendwie in Betracht käme; sei es auch
nur bei der Formung des (nach Fr. Martius und O. Schaumann
ja vorauszusetzenden) Konstitutionstypus der Biermerpatienten. Es
spricht klinisch nichts für diese Annahme; eingehende Blutunter-
suchungen an über 20 Fällen von Myxödem haben uns im Gegen-
satz zu einigen Beobachtungen von Unverricht gezeigt, daß
unter ihnen niemals eine der p. A. entsprechende Blutveränderung
vorkam. Und die klinische Beobachtung an über 100 Fällen von
p. A. in den letzten 4 Jahren haben uns gelehrt, daß von irgendwie
eindeutigen hypothyreoiden Symptomen in einiger Konstanz bei
ihnen gar keine Rede war.)
Wenn trotzdem, wie bereits bemerkt, von manchen Autoren
die T'hyreoidinbehandlung der p. A. bereits empfohlen wurde, so
sei darauf hingewiesen, daß irgendwie ausreichende anatomische
1) Auch die neueste Arbeit von H. Zondek und Koehler, die erst nach
Abschluß dieser Arbeit erschien, kann in bezug auf die pathogenetische Be-
deutung der Schilddrüse oder einer pluriglandulären Insufficienz mit vorwiegen(ler
Hypotliyreose keineswegs überzeugen.
2892 ÜURSCHMANN U. BACHMANN
Untersuchungen über die Schilddrüse bei p. A. überhaupt noch nicht
vorzuliegen scheinen; gleiches gilt übrigens auch von der Thymus,
der Hypophyse und den Keimdrüsen (O. Schaumann). Schon
daraus ist ersichtlich, auf wie schwachen Füßen diese Therapie
steht. Unsere Untersuchungen werden dies bestätigen.
Kraus und Chvostek und später Thiele und Nehring
fanden bei ihren Gaswechseluntersuchungen, daß sich die Oxy-
dationsverhältnisse bei p. A. kaum anders abspielen, wie bei
normalen Menschen. O,-Verbrauch und CO,-Ausscheidung sollen
bezüglich ihrer Quantitäten keine besonderen Änderungen erfahren,
ja Kraus fand sogar Werte, die an der oberen Grenze der Norm
lagen.
Schaumann bemängelt an diesen Versuchen mit Recht, daß
sie an einem viel zu kleinen Material ausgeführt worden sind, und
daß sie des Vergleichs mit normalen Personen entbehren, die ja
individuell in gewissen (nicht erheblichen Grenzen) wechselnde
Stoffwechselwerte zeigen. Er erwähnt auch die Befunde Eber-
stadts, der neuerdings bei experimentellen Anämien Herabsetzung
der Oxydationen gefunden hat. Die Untersuchungen Olin’s (auf
O. Schaumann’s Veranlassung bei R. Tigerstedt ausgeführt)
ergaben in 8 Fällen von kryptogenetischer p. A. und 5 Fällen von
Bothriocephalusanämie, daß die Kohlensäureproduktion sich bei
ihnen ungefähr mit denen normaler Menschen deckt. Trotz der
hochgradigen Herabsetzung des Hämoglobingehaltes und der Erythro-
cytenzahl sind also nach Olin und Schaumann die Verbrennungs-
vorgänge bei p. A. durchaus vollständige. Wie dies zu deuten ist,
wird uns später beschäftigen.
Unsere eigenen Untersuchungen waren zum größten Teil bereits
beendet, ehe wir von denjenigen Schaumann’s Kenntnis erhielten.
Unsere Untersuchungen wurden mit dem Gasstoffwechselapparat
nach Knipping vorgenommen, der sich uns in der Klinik bei
kurzfristigen Untersuchungen als durchaus zuverlässig erwiesen
hat. In allen Fällen wurde zunächst klinisch das Stadium der
Krankheit, ob Remission oder Progression vorlag, erforscht. Außer-
dem wurde streng darauf geachtet, daß nicht etwa Temperatur-
steigerungen das Ergebnis der Untersuchung beeinflußten. Nur in
einem Falle (Fall 8 der Tabelle) wurde aus anderen Gründen die
wiederholte Untersuchung durchgeführt, obgleich am Abend vorher
eine Temperatur von 38,2° C bestanden hatte. Hier war 20 Stunden
vorher eine Transfusion von 640 ccm Blut vom Sohn auf den Vater
gemacht worden. Selbstverständlich wurde darauf geachtet, daß
Über den respiratorischen Stoffwechsel bei perniziöser Anämie. 283
die Patienten spätestens 12 Stunden vorher die letzte Nahrung zu
sich genommen hatten, und sich in absoluter Muskelruhe befanden.
Es soll gleich hier erwähnt werden, daß die weiteren Unter-
suchungen über die spezifisch-dynamische Eiweißwirkung an die
Bestimmung des Grundumsatzes angeschlossen wurde. Hatten
mindestens 2 Versuche von je 10 Min. Dauer übereinstimmende
Werte ergeben, so wurde die Standardkost (bestehend aus 200 g
Rindfleisch in 50 g Butter gebraten und 100 g Weißbrot) gereicht
und in Abständen von 1 Stunde nach 1, 2, 3, in einigen Fällen
auch nach 4 Stunden der respiratorische Gaswechsel geprüft.
Tabelle 1.
| | | Nor-
| F ` Ery- iai 0,- Ruhe-; mal-
i iew, Ea gl. y um- | zahl + — g
Alter Geschl. in kgieyten! 9, Verbr satz | nach | in o | tadium
in a m eem in Kal.Bene-
| | dikt
|
1. E. | 47 m. 60 2,7 62 | 200,4] 1463 | 1435 +19. Remiss.
2.1L. ' 64 wW. 42,5 | 1,65 | 56 | 184,1 | 1318 | 1224 ! +7 do.
3. St. , 65 m. , 72,5 | 24 64 : 199,3 1428 | 1479 | — 3 | do
$ Seb. 39 | m | 60 |25 | 57 |18}6] 1321| 1444 —7 do.
3. N. DBH m. 59 3,1 83 | 174,9| 1277 | 1349 1—5 | do.
6. H. 39 | m. 74 1,9 74 | 254,0 1828 | 1726 | +5 | Progr
1. P. 64 m. | 61 1,8 61 | 220,0 1579 | 1318 , +19 do.
8. W.!' 54 m. |
25. III 54 1,4 52 | 217,8 1562 | 1305 I+19 | do
4.V. 57 | 1,6 50 | 218,2 1567 | 1346 | +16 | 20 Std
| | | | n. Blut-
transf
9. B. 56 m. 55 0,8 | 22 | 2284| 1642 | 1300 |-}-26 | Progr.
10. H. 36 m. : 80 2,12 60 | 274,8) 1978 | 1814 |+9 | Remiss.
11.K. ; 53 | m. 61 | 1,95 | 55 | 227,7| 1636 | 1498 | + 10 do.
Aus der Tabelle 1 ergibt sich, wenn man mit Benedikt und
Harris eine individuelle Variationsbreite beim Stoffwechsel-Ge-
sunden von + — 10°% annimmt, für 8 von 11 Fällen ein normaler
respiratorischer Grundumsatz.
In 7 von diesen Fällen war im Verlaufe einer längeren oder
kürzeren klinischen Behandlung eine offensichtliche Remission ein-
getreten, zumeist im Anschluß an eine, in 2 Fällen an wiederholte
Bluttransfusionen. Bei Fall 8 der Tabelle 1, der uns seit 3 Jahren
bekannt ist, und der bei der Aufnahme und weiteren Beobachtung
das Bild einer langsam fortschreitenden p. A. bot, wurde bei der
ersten Untersuchung eine Steigerung des Grundumsatzes von 19°),
festgestellt. Bei der dann am Tage nach der Transformation vor-
984 (URSCHNANN U. BACHMANN
genommenen Untersuchung betrug die Steigerung des Grundum-
satzes noch 16°/,. Doch ist hierbei die im Anschluß an die Trans-
fusion aufgetretene Temperatursteigerung zu beachten. Immerhin
ist auffallend, daß bei Fall 7 und 9 der Tabelle 1 — Patienten,
die sich in einem Zustand langsam zunehmender Verschlechterung
befanden, ebenfalls eine Steigerung des Grundumsatzes um 19 °%
bzw. 26°, festgestellt wurde. Ob es sich hier um eine Gesetz-
mäßigkeit für die p. A. handelt, läßt sich auf Grund unserer bis-
herigen Beobachtungen noch nicht entscheiden.
Frank und Herzger fanden bei einem Fall von p. A. eine
deutliche Steigerung (4,87 ccm O,-Verbrauch pro kg/Min.) und aus
dem von Olin auf Schaumann’s Veranlassung vorgenommenen
Untersuchungen entnehmen wir die Ergebnisse bei einem Fall, der
bei Hgl. 20, Erythroc. 0,890 Millionen einen Kalorien-Verbrauch
von 1,42 pro kg/Std., 5 Wochen später bei Hgl. 28 und Erythroc.
0,95 Mill. einen Kalorienverbrauch von 1,13 pro kg/Stunde aufwies.
Ob es sich bei diesem Fall um eine Remission gehandelt hat, geht
aus der Aufstellung Schaumann’s nicht hervor. Bei einem weiteren
Fall unserer Beobachtung (Fall 6 der Tabelle 1) betrug die Steige-
rung nur 5°/, und blieb damit innerhalb der Grenze der individuellen
Variationsbreite, obgleich auch hier klinisch eine Progression, jedoch,
wie aus der Tabelle hervorgeht, ein noch leidlicher Zustand vorlag.
Weitere Untersuchungen sind nötig, um hier Klarheit zu schaffen.
‘ Wir kommen nunmehr zu dem zweiten Punkt unserer Unter-
suchungen. Bei allen in Tabelle 1 ausgeführten Patienten wurde
die spezifisch dynamische Eiweißwirkung geprüft, ebenso die Sekre-
tion und Motilität des Magens. In den meisten . Fällen bestand
eine Hypochlorhydrie, in einigen Fällen Achylie. ‘In allen Fällen
fand sich röntgenologisch eine gesteigerte Motilität und beschleunigte
Austreibung des Mageninhaltes. Dementsprechend fanden wir in 8
von 11 Fällen bei teilweise wiederholter Untersuchung das Maximum
der spezifisch dynamischen Eiweißwirkung nach 1 Stunde, während
übereinstimmend bei anderen Autoren und auch bei uns selbst beim
Stoffwechsel-Gesunden das Maximum der spezifisch-dynamischen
Eiweißwirkung zumeist nach 1'/, Stunden einzutreten pflegt.
Die folgenden Kurven geben einen Überblick über die einzelnen
Untersuchungsergebnisse.
Hieraus geht hervor, daß die Steigerung des respiratorischen
Gaswechsels nach Eiweißzufuhr bei fast allen p. A.-Kranken, deren
Umsatz normal war, fast die Höhe von Stoffwechsel-Gesunden er-
Über den respiratorischen Stoffwechsel bei perniziöser Anämie. 285
reichte. Nur in 2 Fällen, Fall 6 und 10 der Tabelle 1 (vgl. Kurven)
blieb die spezifisch-dynamische Eiweißwirkung nennenswert zurück.
In den 3 Fällen, die eine Steigerung des Grundumsatzes von 16
bzw. 19°), bzw. 26°, aufwiesen, konnten wir in Übereinstimmung
mit Pollitzer und Stolz, Duerr, Bahn u. a., die eine gewisse
umgekehrte Proportionalität zwischen der Höhe des G.U. und der-
jenigen der spezifisch-dynamischen Eiweißwirkung fanden, ein er-
Fall 1.
A 2. —— —
I.
A O E
DO NXXX
10. —x—->
11. 000000000
157d. 2 srd. “I S’d. 4 5/d.
Kurve 1.
1Srd. RStd. ISrd. 45rd.
Kurye 2.
hebliches Zurückbleiben der spezifisch-dynamischen Eiweißwirkung
feststellen. Wir glauben in diesen 3 Fällen nicht eine besondere
Veränderung der Sekretion und Motilität des Magens hierfür ver-
antwortlich machen zu können. An sich wäre natürlich durchaus
denkbar, daß infolge mangelhafter Resorption der zugeführten
Standardkost eine verminderte Wirkung eintreten könnte. Jedoch
die übrigen Fälle, die sich hinsichtlich der Sekretion und Motilität
des Magens gar nicht von diesen unterschieden, sprechen nicht
gerade dafür. Nach dem jetzigen Stande unseres Wissens von der
Bedeutung der spezifisch-dynamischen Eiweißwirkung müssen wir
uns damit begnügen, zu registrieren, daß beide Fälle in den
Rahmen der bisher empirisch gefundenen Tatsachen passen.
1) Die Arbeit von Gosta Becker, Acta med. scandinav. Bd. 68, 1926, er-
schien erst nach Abschluß dieser Arbeit und wurde nicht mehr berücksichtigt.
986 Curschmann u. BACHMANN, Über d. respiratorischen Stoffwechsel bei p. A.
Zusammenfassung: 1. Die Untersuchung des respirato-
rischen Gaswechsels ergab bei 7 in Remission befindlichen
Kranken mit Biermer’scher Anämie normale Werte. Bei 4
in Progression befindlichen Kranken einmal keine deutliche
Steigerung, dreimal eine deutliche Steigerung des Grund-
umsatzes. Es ist möglich, daß dieser Befund für die progressiven
Fälle typisch ist.
Diese Befunde bilden ein weiteres Argument gegen die An-
nahme einer Schilddrüseninsufficienz und gegen die Indikation einer
Thyreoidinkur bei solchen Kranken.
2. Die Bestimmung der spezifisch-dynamischen Eiweiß-
wirkung auf den respiratorischen Gaswechsel ergab keine aus
dem Rahmen der bisher bekannten Ablaufsarten herausfallende,
für die p. A. charakteristische Änderung, abgesehen davon, daß
das Maximum der Einwirkung bereits nach der ersten Stunde
eintrat, also früher, als normal; ein Verhalten, das wir auf die
beschleunigte Magenaustreibung bei Achylie zurückführen möchten
Literatur.
Bahn, Münch. med. Wochenschr. 1926, Nr. 8. — Duerr, Klin. Wochenschr
1925, Nr. 31. — Eberstadt, zit. nach Schaumann (loc. citat.) — Franck
u. Herzger, Klin. Wochenschr. 1926, Nr. 19. — E. Grafe, Pathologische
Physiologie des Stoffwechsels. München 1923. — Hardt, Inaug. -Diss. Rostock
1923. — Johnsson, Acta med. scandinav. Suppl. III, S. 139. — Kraus u.
Chvostek, Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 22, 1893. — P. Morawitz, Handb. d.
inn. Med. von Mohr u. Staehelin Bd. 4, Berlin 1912. — O. Naegeli, 'Blutkrank-
heiten und Blutdiagnostik 4. Aufl., Berlin 1923. — Pollitzer u. Stolz, Wien.
Arch. f. inn. Med. Bd. 10, H. 1. — O. Schaumann u. F. Saltzmann, Schitten-
helm’s Handb. der Krankheiten des Blutes und der blutbildenden Organe. Berlin
1925. — Stephan, Münch. med. Wochenschr. 1925, Nr. 16. — Thiele u.
Nehring, zit. nach O. Schaumann. — Unverricht, Klin. Wochenschr. 1925.
Nr. 4. — H. Zundek u. Köhler, Klin. Wochenschr. 1926, Nr. 20.
287
Aus der Medizinischen Klinik Lindenburg der Universität Köln.
(Direktor: Geh. Rat Moritz.)
Über experimentelle Beeinflussung der Form
des Elektrokardiogramms.
4. Mitteilung (1).
Die Veränderung der Form des Elektrokardiogramms unter
der Wirkung von Säure, Alkali und Methylenblau.
Von
Prof. Dr. E. Schott,
Oberarzt der Klinik.
(Mit 10 Kurven.)
Bei der Betrachtung des Elektrokardiogramms von Einzel-
individuen drängt sich immer wieder die Frage auf, durch welche
Momente die Größe und Anordnung seiner Zacken bedingt sein
kann. Gewiß spielt die Art der Ableitung und die Lage des
Herzens im Thorax eine Rolle, ebenso wie die Hypertrophie einzelner
Herzabschnitte in einer Mehrzahl von Fällen gleichartige Ver-
änderungen der Form des Ekg. im Gefolge hat. Aber diese Koeffi-
zienten reichen doch bei weitem nicht zu einer Ausdeutung der
überaus großen Mannigfaltigkeit der Ekg.-Formen im Einzelfall
und zu einer Aufklärung über die Genese von Veränderungen in
der Form des Ekg. im Verlaufe von pathologischen Prozessen aus.
Um zu einer Klärung zu gelangen, hat man in großen Zahlen-
reihen empirisch die Form des Ekg. mit den klinisch festgestellten
Veränderungen am Herzen verglichen, man hat die pathologisch-
anatomischen Befunde zur Ekg.-Form in Parallele gesetzt, ebenso
mannigfache experimentelle Läsionen und die physikalisch-mecha-
nischen Änderungen der Herztätigkeit unter der Einwirkung von
Giften. Der letztere Weg erscheint uns noch immer aussichtsreich
um zur Aufstellung von allgemeineren Richtlinien zu kommen. Um
288 SCHOTT
nach dieser Richtung hin weiteres Material zu sammeln, wurden
die im folgenden niedergelegten Untersuchungen angestellt.
Es wurde bei den experimentellen Beobachtungen Wert darauf
gelegt, den Verhältnissen am Krankenbett möglichst nahezukommen
— soweit ein solcher Parallelismus im Tierexperiment möglich ist
— und es wurde daher das Herz des Kaninchens am unversehrten
Tier untersucht und auch das Froschherz in situ belassen ohne
Rücksicht darauf, daß dabei die Einflüsse der Herznerven im
Spiele bleiben.
1. Versuche mit Säure und Alkali.
Entsprechend den vielfachen bekannten Einflüssen von Ver-
änderungen des Säure-Basenhaushalts auf die Vorgänge im
Organismus wurde zunächst deren Einflußnahme auf die Aktions-
ströme des Herzens einer Untersuchung unterzogen.
a) Versuche am Kaninchen.
Technisch bielten wir uns an das Vorgehen von Wieland und
Schön (2) bei ibren Untersuchungen über die Beziehungen zwischen
Pupillenweite und Kohlensäurespannung des Blutes: den mit Urethan
narkotisierten Kaninchen wurden in Abständen von etwa je 5° je 5 ccm
is bzw. e saures Phosphat in die Ohrvene einlaufen lassen, im ganzen
bis zu 50 ccm; sobald eine Einwirkung auf die Form des Ekg. sowie
Veränderungen der Atmung im Sinne des Auftretens einer Acidose fest-
zustellen waren, erfolgte in gleicher Weise Einverleibung von 5 °/ Na,C0,.
Kontrollversuche wurden in der Art ausgeführt, daß den Tieren
nach dem Vorgang von Walter 0,4°/, Salzsäure in 3 Gaben im Ver-
lauf von 16 Stunden in einer Menge per os gegeben wurde, die im
ganzen 0,9 g HCl pro kg Tier enthielt. Nach Einsetzen schwerer Ver-
giftungserscheinungen intravenöse Alkalizufuhr.
Sehr häufige Elektrokardiogramms, bis zu 30 Abschnitte im Einzel-
versuch. Ableitung mit Neusilberelektroden vom ÜÖsophagus- Anus.
Kleines Edelmann’sches Saitengalvanometer. Saitenspannung 1 MV — 2 cm.
Im voraus sei bemerkt, daß bei peroraler wie intravenöser
Zufuhr von gleich großen Mengen Wasser bzw. physiologischer
NaCl-Lösung erkennbare Veränderungen in der Form des Ekg.
nicht eintreten.
Das Ergebnis eines Säureversuches ist aus den Abbildungen
der Kurve 1 ersichtlich; die einzelnen Versuche zeitigten unter-
einander weitgehende Übereinstimmung.
Es zeigt sich, daß bei fortschreitender Säurevergiftung das
Elektrokardiogramm im ganzen größer wird; dabei bleiben die
Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 289
f, AA Aaf F
„à
Kurye 1. Versuch vom 20. VII. 25. Kaninchen, 2100 g. a = Norm; b = 23' p.,
nach intravenöser Infusion von 35 ccm 5 NaH,PO,; e = 17' nach b, nach ins-
gesamt 50 ccm saurem Phosphat; danach Infusion von 5%, Na,CO;; d = 27' nach
c, nach Infusion von 55 ccm, e= 13' nach d.
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Kurve 2. Kaninchen, 3600 g, hungert seit 9. VIII. 25. a= 11. VIII. 7? p. m., dar-
nach 75 ccm 0,8% HCl per os, b = 12. VIII. 8 a. m., darnach 100 cem HCl wie
oben, ebenso um 1è p. m., c = 12. VII. 7* 50 p. m., nochmals 100 cem, d = 13. VIII.
5" a. m., dann 50 ccm 5°, NaCO; intravenös, e= 12 30 p. m., f = 630 p. m.
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 19
290 . SCHOTT
Proportionen der einzelnen Zacken untereinander wie auch das
Verhältnis ihrer Abstände zueinander nahezu oder völlig unver-
ändert; lediglich die R-Zacke wächst etwas stärker als es den
allgemeinen Proportionen entspricht. Durch Zufuhr von Na,CO,
lassen sich diese Veränderungen wieder zum Rückgang bringen
und es kommt schließlich zum entgegengesetzten Ergebnis: Das
Elektrokardiogramm wird im ganzen, wieder unter Wahrung der
proportionalen Verhältnisse eher kleiner als es vor Beginn des
Versuches gewesen war. Besonders klar zeigten auch die Ver-
suchstiere, welchen Säure peroral zugeführt wurde, die beschriebenen
Veränderungen (s. Kurve 2), allerdings waren hier die Vorgänge nicht
mehr so glatt zur Rückbildung zu bringen wie bei intravenöser
Zufuhr; der Vergiftungsprozeß ist dann langsamer vor sich ge-
gangen und die Rettung solcher Tiere durch intravenöse Alkali-
zufuhr gelingt nicht immer.
b) Die Verhältnisse am Froschherzen.
Technik. Zerstörung des Rückenmarks. Aufbinden in Rücken-
lage. Einbinden einer Glaskanüle in die V. cava inf., einer 2. Kanüle
in die linke Aorta, Abbinden der r. Aorta. T-Rohr führt von der Ein-
flußkanüle in die Cava zu 2 Mariotte’schen Flaschen, von denen die eine
mit Frosch-Ringerlösung, die andere mit dem Medikamente gefüllt ist.
Die Höhe des Venendrucks wurde im allgemeinen auf 4 cm gehalten.
Ausflußhöhe 2 cm über Aortenhöhe. Ableitung mit feinen Platindrähten,
von denen der eine am Bulbus aortae durch einen Seidenfaden befestigt
ist, welcher um die Aortenkanüle geschlungen ist; die 2. Elektrode ist
mit einer kleinen Ose in die Herzspitze eingehakt. Die Herzspitze ist
mit Hilfe des leicht federnden Platindrahts etwas angehoben.
Als saure Durchströmungsflässigkeit diente Frosch-Ringerlösung,
welche durch Zusatz von a NaH, PO, auf eine Konzentration gebracht
wurde, bei der eine sehr ausgesprochene Wirkung eintritt, die aber nicht
zum raschen Stillstand des Froschherzens führt. Während Staub (4)
bei einer Konzentration von i saurem Phosphat noch eine eher günstige
Wirkung auf den Herzmuskel des Frosches feststellen konnte, führt
Ja lösung nach unseren Feststellungen nach wenigen Schlägen zum dia-
=
20
führten Forderung entspricht. Die alkalische Lösung war o stark; die
“stolischen Stillstand. Wir verwandten lösung, die der eben aufge-
meisten Froschherzen schlagen bei einer Durchströmung mit einer solchen
Lösung länger als eine balbe Stunde.
Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 291
Bei der Durchströmung mit der sauren Lösung geht das
Froschherz alsbald in ausgesprochene diastolische Stellung; der
Ventrikel ist nach allen Richtungen hin etwa um das !/, fache
erweitert, die systolischen Kontraktionen werden weniger ausgiebig,
verlaufen langsamer und werden deutlich träge; das Schlagvolumen,
an der aus der Aortenkanüle austropfenden Flüssigkeitsmenge ge-
messen, geht rasch auf die Hälfte, bald auf noch geringere Werte
zurück; es kommt zu starker Pulsverlangsamung und schließlich
zum Herzstillstand.
Bei Durchströmung mit der alkalischen Ringerlösung sind
die Erscheinungen ganz ähnliche, aber weniger stark ausgesprochen.
Die diastolische Stellung ist deutlich erkennbar, ebenso die Träg-
heit der Systolen; Verringerung der Auswurfsmengen und Verlang-
samung des Pulsschlages treten aber erst nach längerer Durch-
spülung ein und es kann vorübergehend zu einer deutlichen Er-
holung kommen. Durchspülung von etwa 1 Stunde führt, wenn
auch nicht regelmäßig, zum irreparablen Stillstand.
Die Veränderungen in der Form des Elektrokardiogramms bei
direkter Ableitung vom freigelegten Froschherzen sind bei Durch-
strömung mit saurem Phosphat und mit Na,CO, einander außer-
ordentlich ähnlich: es kommt nämlich unter der Wirkung der einen
wie der anderen Lösung zu einer sehr ausgesprochenen Ver-
kleinerung aller Zacken, wobei die ursprüngliche Form des
Ekg. nahezu vollständig erhalten bleibt, s. Kurve 3 und 4.
In bezug auf die Beeinflussung der Form des Ekg. durch Alkali
haben also die Versuche am Kaninchenherzen bei der Ableitung Öso-
phagus-Anus und am Froschherzen bei direkter Ableitung vom
Herzen übereinstimmende Resultate ergeben: es kommt zu einer
Verkleinerung aller Zacken. Während aber unter der
Säurewirkung beim Kaninchen eine allgemeine Ver-
a b
Kurve 3. Frosch. a Durchströmung mit Ringerlösung, b nach 2° Durchströmung
mit saurem Phosphat (s. Text).
19*
292 SCHOTT
größerung eintrat, hat am Froschherz eine solche nicht
statt, es kommt vielmehr zur Verkleinerung des Ekg.
Wir haben versucht, diesen Unterschied in folgender Weise zu
klären. Man mußte daran denken, daß die Verschiedenheit in den
Versuchsergebnissen durch die Art der Ableitung oder durch Be-
einflussung der Leitfähigkeit der Gewebe durch das saure Phosphat
beim Kaninchen hervorgerufen war. Es wurden daher Frösche
nach Einbinden der Durchströmungskanülen zunächst, um die Ein-
wirkung von Drüsenströmen zu vermeiden, von der Haut befreit
und sodann der ganze Frosch in eine kleine Wanne gelegt. Sodann
wurde die Wanne mit Ringerlösung gefüllt und das Herz mit
Ringer- bzw. Säure- bzw. Alkalilösung durchströmt. In anderen
Versuchen wurde das Herz mit Ringerlösung durchspült und die
a b c
Kurve 4. Frosch. a Durchströmung mit Ringerlösung, b nach 2' Durchströmung
mit alkalischer Lösung. Darnach wieder Ringerlösung und nach 10': c.
Wanne nacheinander mit Ringer- bzw. Säure- bzw. Alkalilösung
gefüllt. Die Ableitung geschah mit plättchenförmigen Platin-
elektroden aus diagonalen Stellen der Wanne heraus, nach Art
der „Fluidableitung“ (Boden und Neukirch )).
Die Elektrokardiogramme, die man auf diese Weise beim
Frosch gewinnen kann, sind sehr klein und Veränderungen in
ihrer Form sind deshalb recht schwer zu beurteilen; wir nehmen
von ihrer Wiedergabe hier Abstand und nennen als Ergebnis der
Versuche lediglich die Feststellung, daß es zu einer deutlichen
Vergrößerung wie beim Kaninchen nie gekommen ist.
2. Methylenblau.
Es war mir aus früheren Beobachtungen am Froschherzen
bekannt, daß Methylenblau in stärkerer Konzentration zu einer
Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 293
deutlichen Erweiterung des Froschherzens während der Diastole
und zu unvollständiger Systole führen kann — daß seine Ein-
wirkung also zu ähnlichen Erscheinungen Veranlassung gibt wie
die Vergiftung mit Säure und Alkali. Aus diesem Grunde wurden
die Veränderungen des Ekg. unter Methylenblauwirkung zum Ver-
gleich herangezogen.
a) Kaninchen.
Über die Beeinflussung des Herz-Gefäßsystems durch Methylenblau
liegen im Vergleich zur Kenntnis der anderweitigen Wirkungen des
Mittels (s. z. B. Heffter (6)) nur wenige Untersuchungen vor. Kowa-
lewsky (7) sah nach intravenöser Injektion von 2 ccm einer 2°/,,
Lösung von Methylenblau, die er bis zu 20 mal wiederholte, den Druck
in der A. carotis um 12—16°/, vorübergehend ansteigen, die Pulszahl
verminderte sich etwas; nach etwa 1 Minute waren die Verhältnisse
wieder die gleichen wie vor der Injektion. Wiederholte Einspritzungen
hatten jeweils die gleichen Veränderungen im Gefolge. Lundberg (8)
fand bei Durchströmung von Herzen von Kaninchen und Meerschweinchen
nach Langendorff unter Zusatz von Methylenblau in Konzentrationen
von 0,0000001°/,—0,004 °/, vagotropähnliche Wirkungen mit myotoxischen
Symptomen; Systole und Diastole werden kleiner, die Frequenz nimmt
ab, die Herzgefäße werden dilatiert. Bei Katzen tritt auf Injektion von
3—6 ccm, 0,33 °/, Methylenblaulösung oder von einigen Kubikzentimeter
1—4 °/, Lösung eine Blutdrucksteigerung bis auf das Doppelte der Norm
ein, deren Maximum rasch unterschritten wird, eine geringere Steigerung
überdauert aber.
Wir haben unsere Versuche am Kaninchen in analoger Art
ausgeführt wie die Infusion von Säure und Alkali. Es wurde
Methylenblau Höchst 1:1000 ver-
wandt und von dieser Lösung je 10
bis 20 cem intravenös infundiert. Die
Veränderungen in der Form des Ekg.
sind dabei nicht sehr auffallend und
gehen rasch wieder vorüber (s. Kurve5).
Die R-Zacke wird etwas kleiner, die
T-Zacke höher. Die Sektion von
Tieren, welchen bis zu 100 ccm dieser
Lösung einverleibt wurde, zeigte, in
Analogie zu den Befunden von Ko-
walewsky, nur eine verhältnismäßig karye 5. Kaninchen. a Norm,
geringe Blaufärbung des Herzens — b Rasch vorübergehende Form-
deutlich wahrnehmbar nur am rechten Veränderung des Ekg. nach intra-
$ di ., venöser Einverleibung von 20 cem
Herzen —, während der größere Teil Methylenblau 1: 1000.
a b
294 ScHoTT
des Farbstoffs in anderen Organen abgefangen oder bereits in
den Magen wieder ausgeschieden war.
b) Die Wirkung von Methylenblau auf das
Froschherz.
Von den Untersuchungen über die Wirkung des Methylenblau
auf das Froschherz liegt lediglich die Mitteilung von Heymans
und Maigre (9) vor, wonach nach Durchströmung mit dem Mittel
die Vagusreizung erfolglos bleibt. Wir haben daher zunächst die
Wirkung des Mittels auf die Schlagfolge und das Schlagvolumen
festgestellt. Das Froschherz wurde mit Ringerlösung durchblutet
und sodann wurde der Durchströmungsflüssigkeit Methylenblau in
verschiedenen Konzentrationen zugesetzt. Das Herz arbeitete unter
einem venösen Druck von 4 cm gegen einen konstanten Aortendruck
von der gleichen Höhe. Die in der Zeiteinheit austretende Tropfen-
zahl wurde jeweils bestimmt. Unter Verzicht auf die Wiedergabe
von Protokollen sollen nur die Ergebnisse der Versuche hier zu-
sammengefaßt werden.
Die Erscheinungen bei der Metlıylenblauvergiftung des Frosch-
herzens sind, soweit sie zum Vergleich mit den elektrokardio-
graphischen Veränderungen in Betracht kommen, folgende: Sowohl
bei Vergiftung durch langsam ansteigende niedere Konzentrationen
von Methylenblau wie auch bei einer einmaligen 2—5 Minuten
dauernden Durchspülung mit Methylenblau in einer Konzentration
von 1:1000 kommt es zunächst zu Verlangsamung des Herz-
schlages, zu. verstärkter diastolischer Stellung des Herzens und
unvollständiger Systole. Es folgt ein Stadium, in welchem es zu
Herzblock, schließlich zum Stillstand des Ventrikels kommt. Läßt
man das Herz sodann wieder mit Ringerlösung durchströmen, so
erholt sich das Herz rasch, obschon es tiefblau verfärbt bleibt. Es
stellt sich dann ein Zustand ein, welcher für den Vergleich mit
den Veränderungen nach Durchspülung mit Alkali oder Säuren
insofern eine weitgehende Parallele bietet als die Diastole des
Ventrikels in ähnlicher Weise wie bei Schädigung. mit Alkali und
Säure erheblich verstärkt ist. Ein Unterschied besteht allerdings
insofern als es bei Vergiftung mit Methylenblau zu erhöhtem
Schlagvolumen kommt, während bei den zunächst mit Alkali und
Säuren vergifteten und danach wieder mit Ringerlösung durch-
strömten Herzen die Systole sehr viel unvollständiger bleibt.
Die elektrokardiographischen Veränderungen sind nun bei der
Methylenblauvergiftung folgende (vgl. Kurve 6): Bei Durchströmung
Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 295
des Herzens mit Methylenblau 1:1000000 sind deutliche Ver-
änderungen im Ekg. nicht nachweisbar (Fig. 6b). Das gleiche ist
bei 6° dauernder Durchströmung mit Methylenblau 1:100000 der
Fall. Bei Durchströmung mit Methylenblau 1:10000 sieht man
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pülung mit Ringerlösung. b
mit Methylenblaulösung 1: 1000000. c = nach 15’ langer Durchspülung mit
Sodann Durchspülung mit Ringerlösung
e= nach 8' langer Durchströmung mit Methylenb
Norm. Danach Durchströmung mit Methylenblaulösun
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die Pulszahl langsamer werden. Die Nachschwankung verschwindet
fast vollständig und R und S werden sehr viel kleiner (Kurve 6c).
Bei der nachfolgenden Durchströmung mit Ringerlösung (Kurve 6d)
erholt sich die Nachschwankung wieder sichtlich, während R und S
296 ScHoTT
die ursprüngliche Größe nicht mehr erreichen. Im ansteigenden
Schenkel von R ist eine Spaltung erkennbar. Bei der nachfolgenden
Durchströmung mit M 1:1000, 8 Minuten lang, verschwindet die
Nachschwankung, R und S werden kleiner, R bleibt gespalten
(Kurve 6e).
Bei Vergiftung mit Methylenblau 1: 1000 wird (Kurve 7) sofort
das ganze Ekg. sehr viel kleiner (7b); bei länger dauernder Durch-
spülung wird R gespalten (7c), schließlich deutlich zweizipflig (7d)
und auch bei der nachfolgenden Durchspülung der Ringerlösung
stellt sich die ursprüngliche Form des Ekg. nicht wieder her (7e),
es bleibt vielmehr R zweizipflig und die Nachschwankung verläuft
träger und zeigt nicht mehr die gleich starken Ausschläge wie
vor der Vergiftung. Es liegt nahe, die Verdoppelung der R-Zacke
in Zusammenhang zu bringen mit den bei Augenbeobachtung (s.
Protokolle) feststellbaren Veränderungen im Charakter der Systole.
Die beiden nach aufwärts gerichteten Zacken dürften den in
kurzem zeitlichem Abstand erfolgenden Kontraktionen der Basis
und der Spitze entsprechen. Eine solche Deutung würde weniger
im Sinne der weit verbreiteten Auffassung über die Entstehung
des Ekg. (z. B. F. B. Hofmann (10)) sprechen, wonach der ab-
steigende Schenkel des Ekg. der Kontraktion der Spitze seinen
Ursprung verdankt; vielmehr sind unsere Beobachtungen besser
mit der Auffassung anderer Autoren, z.B. Fredericqu’s (11), zu
vereinbaren, wonach jeder einzelne Herzabschnitt, isoliert beobachtet,
eine melırphasige Kurve ergibt, deren erste Zacke einer Elektro-
negativität entspricht.
Es mußte nunmehr der Versuch gemacht werden, eine Ent-
scheidung nach der Richtung hin zu treffen, ob es sich bei den
beobachteten Veränderungen des Ekg. um Vorgänge handelte,
welche einer spezifischen Giftwirkung ihre Entstehung verdanken,
etwa wie bei der Phosphorvergiftung oder bei der Einwirkung von
Salizylsäure, Chinin u. a. oder ob sie lediglich auf Veränderungen
im Füllungszustand bzw. der Kontraktionsstärke oder des Ablaufes
der Kontraktion des Herzens zu beziehen sind. Die letztere Mög-
lichkeit wird durch die Untersuchungen von Straub (12), See-
mann (13), Weitz (14) und Frey (15) nahegelegt.
Straub hat gezeigt, daß bei vermehrter Füllung und Anfangs-
spannung der Ausschlag der Ventrikelzacke und insbesondere der der
Finalschwankung kleiner wird. Seemann gibt Kurven wieder, aus
denen zu ersehen ist, daß bei isometrischer Füllung des Froschherzens
(d. h. bei Bestehenbleiben des venösen Zuflusses und Abklemmung der
Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 297
Aorta) das ganze Ekg. im Vergleich zum isometrisch leer schlagenden
Herzen (venöser Zufluß gesperrt, Aorta offen) viel kleiner wird. Weitz
sah am Katzenherzen bei vermehrter Kontraktionskraft und verringerter
Blutfüllung die Zacken P und T sich vergrößern, bei verminderter Kon-
traktionskraft und vergrößerter Blutfüllung sich verkleinern; auf die
Zacken Q, R und S war ein sicher erkennbarer Einfluß nicht fest-
zustellen.
Unter den komplizierten Verhältnissen einer Vergiftung wird
man vergleichbare Resultate am ehesten bei möglichst vereinfachten
Versuchsbedingungen erhalten. Als solche haben sich uns ver-
gleichende Aufnahmen des Ekg. am leer schlagenden
vergifteten Froschherzen bewährt.
Die Ausflußöffnung der Aortenkanüle wurde auf die Höhe
des Ventrikels eingestellt und der venöse Zufluß unterbrochen.
Am gesunden Froschherzen (Kurve 8) zeigt das Ekg. dann
verhältnismäßig geringe, aber immerhin deutliche Veränderungen.
R wird kleiner, S größer, und T wird etwas größer und breiter.
'Klemmt man bei dem unter der Wirkung der Säure in stark
diastolischer Stellung schlagenden Froschherzen die Zufuhr ab, so
sieht man (Kurve 9) von Schlag zu Schlag die bis dahin stark
verkleinerten Zacken R und S größer werden und T, das nahezu
völlig verschwunden war, wird wieder deutlich erkennbar. Das
Ekg. erreicht nicht völlig, aber nahezu wieder die gleiche
Form, welche es vor der Säurewirkung aufgewiesen
hatte. |
Die Verhältnisse am methylenblau-vergifteten Herzen stellen
sich folgendermaßen dar (s. Kurve 10): Wenn das Herz in stark
diastolischer Stellung bei ausgesprochener Vergiftung schlägt, so
erkennt man vom ganzen Ekg. nur noch die verdoppelte R-Zacke
(Kurve 10a) und eine eben erkennbare Nachschwankung. Auch
hier werden bei Sistieren der Durchströmung (Kurve 10b) alle
Zacken mit jedem Schlag größer (Kurve 10c) — die durch das
Methylenblau bedingte Formveränderung des Ekg. in Gestalt der
Verdoppelung der R- und S-Zacke bleibt jedoch bestehen (Kurve 10c
und d). Sofort nach Wiederherstellen der Zufuhr (Kurve 10e) unter
einem V.D. von 4cm wie vor dem Abklemmen des Zuflusses, ver-
größert sich die Füllung des Ventrikels wieder und das Ekg. weist
abermals sehr kleine Ausschläge auf (Kurve 10f).
Aus dem Vergleich zwischen dem Verhalten des leer schlagenden
Froschherzens unter der Wirkung von Säure einerseits, von Methylen-
blau andererseits, läßt sich folgendes erschließen. Im einen wie
im anderen Fall gehen die unter der Wirkung der Ver-
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298
Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 299
giftung entstandenen Formveränderungen insofern
zurückalsdie VerkleinerungallerZacken weitgehend
beseitigt wird Während aber das Methylenblau-
vergiftete Froschherzeineähnlich charakteristische
Formveränderung beibehält wie wir sie früher unter
der Einwirkung z. B. des Chinidins oder von Salizyl-
säure feststellen konnten, ähnelt die Form des leer
schlagenden säurevergifteten Froschherzens wieder
weitgehend derjenigen, welche das Ekg. vor Einsetzen
der Vergiftung gehabt hatte.
Bei dem heutigen Stande des Wissens läßt sich nicht über-
sehen, welchen Momenten die beschriebenen Veränderungen des
Ekg. im einzelnen ihre Entstehung verdanken. Es ist naheliegend,
die am freiliegenden Herzen beobachtete Verkleinerung der Zacken-
größe in Parallele zu bringen mit der Verkleinerung der Aus-
schläge, die nach Einthoven und Hugenholtz (15) bei ab-
nehmender Kontraktionsgröße des Herzens zu beobachten ist. So-
weit die Augenbeobachtung ein Urteil zuläßt, trifft ein solcher
Parallelismus für die Vorgänge bei Säure- und Alkalivergiftung zu;
auch die Ergebnisse A. J. Clark’s (16) bei graphischer Registrie-
rung der Aktion des Froschherzens zeigen eine erhebliche Ab-
nahme der Ausschläge bei Durchströmung mit saurer Ringerlösung
wie mit Karbonat- oder Phosphat-Ringerlösung, die durch Zusatz
von NaOH alkalisch gemacht war. Jedoch läßt sich diese Deutung
nicht vereinigen mit der Beobachtung, daß trotz großen Auswurfs-
volumens das Ekg. des Methylenblau-vergifteten Herzens sehr
kleine Ausschläge aufweist und auch nicht damit, daß die Zacken-
größe wächst, sobald die Füllung eines solchen Herzens abnimmt.
Es ist daher wahrscheinlich, daß noch weitere Bedingungen
für das Zustandekommen der Formveränderungen des Ekg. verant-
wortlich zu machen sind. Eine dieser Bedingungen dürfte die
sein, daß die Leitfähigkeit der Ringerlösung für den elektrischen
Strom durch den Zusatz von Säure und Alkali verändert wird.
Maßgebend für diese Überlegung ist die Auffassung von See-
mann. Seemann (13) hat gezeigt, daß die Schwankungen des
Ekg. bei Zunahme der Füllung des isolierten Froschherzens ab-
nahmen; er deutet diese Beobachtung in dem Sinne, daß bei stär-
kerer Füllung des Herzens die entstehenden elektrischen Spannungs-
unterschiede besser abgeglichen werden können.
Seemann hat den Beweis für die Richtigkeit dieser Behaup-
tung in der Art erbracht, daß er das Froschherz mit nichtleitender
300 SCHOTT
Petroleumlösung durchspülte; dabei blieb die Verkleinerung der
Zackengröße bei Vermehrung der Füllung aus. Wir haben analoge
Versuche in der Art angestellt, daß wir bei gleichbleibendem
venösem Druck das Herz abwechselnd mit Ringerlösung und mit
Sauerstoff durchströmt haben. Man sieht bei dieser Versuchs-
anordnung, daß die Proportionen der Einzelzacken des Ekg. zu-
einander nahezu unverändert bleiben, das Ekg. nimmt aber im
ganzen bei Sauerstoffüllung des Herzens erheblich an Größe zu.
Veränderungen in der Leitfähigkeit des Blutes und der Ge-
webe für den elektrischen Strom glauben wir auch, neben anderen
unbekannten Momenten, für die Deutung der Beobachtung heran-
ziehen zu sollen, daß am unversehrten Kaninchen bei Ableitung
von der Körperoberfläche die Zackengröße des Ekg. zunimmt —
ohne daß wir aber imstande wären eine Erklärung dafür abzugeben.
weshalb am freiliegenden Herzen die Zackengröße sowohl bei Säure-
wie bei Alkalidurchspülung abnimmt, und eine solche Abnahme
bei der Ableitung Ösophagus-Anus zwar bei Alkalizufuhr gleich-
falls, unter der Wirkung der Säure aber ein gegensätzliches Ver-
halten festzustellen ist.
Für die Übertragung der experimentellen Beobachtungen auf
die Verhältnisse am Krankenbett ergeben sich nach dem Gesagten
Schwierigkeiten. Vergleichbar dürften nur die Vorgänge sein,
welche am unversehrten Tier in Erscheinung traten. Wir hatten
bis jetzt noch keine Gelegenheit, das Ekg. bei Fällen von schwerer
Säurevergiftung mit Ausgang in Heilung aufzunehmen. Es mag
Erwähnung finden, daß Staub (4) alkalische Lösungen in relativ
großer Menge am Menschen intravenös gegeben und danach Besse-
rung der Herztätigkeit gesehen hat; er veröffentlicht nur eine einzige
elektrographische Kurve, aus der aber eine Abnahme der Zacken-
größe ersichtlich ist. Erhebliche Verschiebungen des Säure-Basen-
gleichgewichts wie sie beim Eintritt des Coma diabeticum bzw.
beim Verschwinden dieses Zustandes, etwa unter der Wirkung von
Insulin, auftreten, dürften in Parallele zu unseren experimentellen
Beobachtungen gleichfalls mit Veränderungen in der Zackengröße
des Ekg. einhergehen — auch über Beobachtungen nach dieser
Richtung hin verfügen wir bisher noch nicht; es sei aber bemerkt,
daß aus den Kurven von Wittgenstein und Mendel (17) mit
dem Fortschreiten der Insulinvergiftung am Hunde eine Verkleine-
rung der Zackengröße sich feststellen läßt.
Über experimentelle Beeinflussung der Form des Elektrokardiogramms. 301
Zusammenfassung.
Bei intravenöser und peroraler Zufuhr von saurem Phosphat
bzw. Salzsäure wächst beim Kaninchen die Zackengröße des Ekg.
bei Ableitung Ösophagus-Anus, während sie bei intravenöser Zufuhr
von Soda abnimmt.
Am freiliegenden Froschherzen nimmt die Größe der Ausschläge
des Ekg. bei Durchspülung mit Alkali wie mit Säure ab.
Methylenblau ändert den diastolischen Füllungszustand des
Froschherzens in ähnlicher Weise wie Säure und Alkali; bei er-
höhter Füllung tritt auch unter Wirkung des Methylenblau eine
Verkleinerung der Schwankungen des Ekg. auf.
Während mit Verminderung der Füllung (Unterbrechung der
Zufuhr) das unter Alkali- und Säurewirkung stehende Herz nahezu
wieder die Form des Ekg. aufweist, die ihm vor Eintritt der Ver-
giftung zukam, wächst auch bei dem Methylenblau-vergifteten
Herz die Zackengröße, das Ekg. behält aber auch beim leer
schlagenden, noch dunkelblau verfärbten Herzen seine charakte-
ristische Formveränderung (insbesondere Verdoppelung der R- und
S-Zacke).
Neben Änderungen der Kontraktionsgröße und des Füllungs-
zustandes des Herzens kommen als Koeffizienten für die Änderung
der Größe des Ekg. unter Säure und Alkali die durch Zufuhr
dieser Agentien bedingten Schwankungen der Leitfähigkeit des
Blutes und der Gewebe für den elektrischen Strom in Betracht.
Klinische Parallelen sind für Größenänderungen des Ekg. z. B.
bei Säurevergiftung und im Coma diabeticum zu erwarten.
Literatur.
1. Vgl. a) Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 107; b) ebenda, Bd. 134; c) Arch.
f. exp. Pathol. u. Pharmakol. Bd. 87. — 2. Wieland u. Schön, Arch. f. exp.
Pathol. u. Pharmakol. Bd. 100. — 3. Walter, Ebenda Bd. 26. — 4. Staub,
Biochem. Zeitschr. Bd. 128. — 5. Boden u. Neukirch, Dtsch. Arch. f. klin.
Med. Bd. 136. — 6. Heffter, Handb. d. exp. Pharmakol. Bd. 1, 1923. — 7. Ko-
walewsky, Zentralbl. d. med. Wissensch. 1888, 209. — 8. Lundberg, Skan-
dinav. Arch. f. Phys. Bd. 45. — 9. Heymans u. Maigre, Cpt. rend. de la soc.
de biol. Bd. 85, 45, 1921. — 10. F. B. Hofmann, Dtsch. med. Wochenschr. 1926.
— 11. Fredericg, Cpt. rend de la soc. de biol. Bd. 85. — 12. Straub, Zeitschr.
f. Biol. Bd. 53. — 13. Seemann, Zeitschr. f. Biol. Bd. 57 u. Münch. med.
Wochenschr. 1911. — 14. Weitz, Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 111. —
15. Einthoven u. Hugenholtz, Arch. neerl. de phys. 5, 1921. — 16. Clark,
un physiol. Bd. 47. — 17. Wittgenstein u. Mendel, Klin. Wochen-
schr. 1924.
302
Aus der I. Medizinischen Klinik der Universität München.
(Direktor: Prof. Dr. von Romberg.)
Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie.
Von
Dr. Fritz Lange,
Assistenzarzt der Klinik.
(Mit 3 Abbildungen.)
Angeregt durch die Ausführungen von Otfried Müller und
G. Hübener über Hypertonie (1) habe ich die Protokolle über die
Kapillaren der von mir in den letzten 3 ‚Jahren untersuchten
Hypertoniker statistisch zusammengestellt. Wenn ich alle Hyper-
toniker unberücksichtigt Jasse, bei denen eine Dekompensation des
Kreislaufes eine Änderung in der Form der Kapillaren bedingen
konnte, und nur die Protokolle benutze, bei denen mir eine Skizze
und Messung vorliegt, so kann ich über die Kapillaren von 154
Hypertonikern berichten. Eine nach denselben Gesichtspunkten
geordnete Statistik der Kapillaren nicht hypertonischer Menschen
etwa gleichen Alters stellte ich zum Vergleich daneben. Die
Hypertoniker gruppierte ich wie Otfried Müller nach ihrer
nachweisbaren und nichtnachweisbaren Nierenschädigung.
Die Technik meiner Kapillarmikroskopie ist im Prinzip die gleiche,
wie die in der Tübinger Klinik geübte; ich verdanke ihre Kenntnis dem
Entgegenkommen des Herrn Prof. O. Müller, der mir ihre Erlernung
in liebenswürdiger Weise gestattete.. Zur Beobachtung der Hautkapillaren
benutzte ich ein ohne Tisch beweglich montiertes Zeißmikroskop mit
Objektiv AA und Okular I, mit einer 52 Kerzen starken Lichtquelle,
deren Wärmestrahlung durch eine Blauwasserkugel abgefangen wird. Die
Kapillaren der Lippe werden mit einem binokularen und binobjektiven
Mikroskop mit einer daran von Zeiß beweglich montierten Lampe be-
obachtet. Die Länge der Kapillaren wurde stets mit dem Zeiß’schen
Meßplättchen gemessen, die Zahl der auf eine Skalalänge fallenden
Kapillaren festgestellt und dementsprechend eine Skizze entworfen.
Währenddessen wurden Angaben über die Anordnung, die Länge, über
Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 303
das Dickenverhältnis von arteriellen und venösen Schenkeln, die Schlingen-
form, die Sichtbarkeit des subpapillären Plexus, Farbe der Kapillaren
und des Untergrundes und über die Art der Blutdurchströmung diktiert.
Nach den Mitteilungen in der Literatur ist es schwer, ein
Urteil über typische Gestaltung der Kapillaren des Normalen und
des Hypertonikers zu gewinnen.
Schon die Beurteilung, welche Form der Kapillaren für normal
anzusehen ist, stößt auf Schwierigkeiten.
Die normale Topographie der Kapillaren an der Körperoberfläche,
wie sie Otfr. Müller (2) aufgestellt hat, bietet uns eine verlässige
Grundlage. Man muß die Grenzen des Normalen recht weit ziehen,
um nicht Irrtümern anheim zu fallen. So besteht die Warnung Otfr.
Müller’s (2) zu Recht, andere als ausgesprochene Verlängerungen und
Verkürzungen unter 0,2 mm in Rechnung zu stellen oder jede mehrfach
gewundene Achtertour als abnorm anzusehen.
Ebenso schwierig ist es „die Strömungsart als normal oder
pathologisch zu werten“ (Kraus (3)).
Die Strömung des Blutes ist unter normalen Verhältnissen in den
Haargefäßen der menschlichen Haut „im großen und ganzen regelmäßig
und gleichmäßig“. (Otfr. Müller (2)) und die Strömung so schnell,
„daß sie als solche auf den ersten Blick in ihrem kontinuierlichen Strome
gar nicht erkannt werden kann“ (Eugen Weiß(4). Nach anderen
Beobachtern ist jedoch die Kapillarströmung beim „Normalen durchaus
nicht immer gleichmäßig, sondern sie variiert häufig“ (Neumann (5)).
Selbst in nebeneinander liegenden Kapillaren kann zu derselben Zeit in
einem Gefäß direkt Stase herrschen und im nächstliegenden Gefäße das
Blut blitzartig durchschießen (Schur (6)).
Wenn man sehr häufig Gelegenheit hatte, die Kapillaren bei
Einwirkung von Wärme und Kälte zu beobachten, so weiß man,
wie leicht sich Stillstand oder körnige Strömung in schnelle und
jagende verwandeln kann. Zimmertemperatur, Körpertemperatur,
Temperatur des beobachteten Körperteils, ja selbst Tageszeit und
psychische Einflüsse ändern die Strömungsart in den Kapillaren
desselben Menschen, und alle Mitteilungen über die Strömung ohne
Berücksichtigung dieser Faktoren sind wertlos.
Auch die Befunde an den Hautkapillaren bei Hypertonie
sind keineswegs einheitlich.
Bei der Nephritis acuta beschreiben die einen Beobachter in
beiden Schenkeln erweiterte und stark gewundene Kapillarschlingen mit
fast bis zum Stillstand verlangsamter körniger Strömung. (Weiß (4, 7))
(Thaller und Braga (8)). Dem entgegen stehen Beobachtungen,
nach denen die ischämischen Kapillaren als sehr eng, oft haarfein aus-
gezogen, vielfach ganz blutleer, oft geschlängelt beschrieben werden
(Volhard (9), Kraus (3), Schur (6). Oder aber die Kapillar-
304 LANGE
schlingen zeigen bei der Nephritis ganz verschiedene Formen, einzelne sind
von normalem Kaliber, andere fadendünn, fast blutleer (Jürgensen (10)).
Auf Grund der wechselnden Bilder bei sehr zahlreichen Versuchen
konnte Schur (6) den Zusammenhang zwischen den Abnormitäten der
Kapillaren am Nagelrand und der Nephritis nicht für erwiesen ansehen.
Dazu führte ihn vor allen Dingen die Beobachtung, daß er bei be-
stehender Nepbhritis auch in den ersten Tagen der Erkrankung bei sehr
häufigen Untersuchungen niemals das Auftreten der beschriebenen Ver-
änderungen’nachweisen konnte. Wo beim Eintritt in die Anstalt an den
Limbusgefäßen keine Abnormitäten zu sehen waren, traten sie auch im
weiteren Verlaufe nicht auf.
Auch sonst wird die Änderung der Form und Durchströmung
der Kapillaren im Krankheitsbilde der Hypertonie verschieden be-
schrieben. Einheitlich wird nur die Verlängerung der Schlingen
festgestellt. Von dem sonst wechselnden Verhalten unterrichten
die Beschreibungen ihrer namhaftesten Beobachter.
In einem Teil der Fälle wird die starke Schlängelung hervorgehoben
(WeiB (11), Jürgensen (10)), in anderen erscheint ihre Gestalt lang-
gestrekt (Otfr. Müller (12)). Die Kapillaren sind um so stärker ge-
schlängelt, je mehr das klinische Bild der insterstitiellen Nephritis zu-
neigt (Weiß (11)). Die starke Schlängelung wird sowohl bei arteriolo-
sklerotischer Schrumpfniere (W eiß (4)) als auch bei genuiner Schrumpf-
niere beschrieben (Weiß (11)).
Die Weite der Schlingen wird durchaus verschieden beobachtet. Bei
arteriolosklerotischer Niere werden die Schlingen meist als verschmälert
bezeichnet (Weiß (7)), oder aber die „Schaltstücke“ sind stark erweitert
und zeigen den 3—4fachen Durchmesser der Kapillargefäße.. (Jür-
gensen (10)). Von wesentlichem Einfluß auf die Weite der Kapillaren
wird dabei die Kompensation des Kreislaufs hervorgehoben. So lange
der hypertonische Kreislauf vollständig kompensiert ist, erscheint — bei
Hypertonie gleichviel auf welcher Grundlage — der arterielle Schenkel in
der Regel deutlich kontrahiert und dünn, der venöse normal weit. Bei
Dekompensation tritt zunächst Erweiterung des venösen Schenkels und eine
cyanotische Verfärbung des Gefäßinhaltes auf (Otfr. Müller (12)).
Sichere Unterschiede in der Form der Kapillaren bei Schrumpf-
nierenerkrankung und peripherer Arteriosklerose sind nach der Literatur
nicht zu erkennen. „Sklerotische Nierenveränderungen geben die gleichen
Kapillarbilder wie Arteriosklerose“ (Niekau (13) und O. Müller (2)).
Die Strömungsgeschwindigkeit in den Kapillaren ist entweder be-
schleunigt oder verlangsamt. Beschleunigung der Stiömung finden wir be-
schrieben bei Hypertonie im Stadium der Kompensation (Weiß (11).
Müller (12)), Verlangsamung der Strömung bei genuiner und arterio-
skerotischer Schrumpfniere (Weiß (7), (11)) und bei Hypertonie bei
Dekompensation des Kreislaufes (Müller (12)).
Nach Otfr. Müller und Hübener (1) unterscheiden sich die
Kapillaren bei Hypertonie ohne nachweisbare Nierenbeteiligung von den
bei einer sicheren Schrumpfniere grundlegend. Bei der Hypertonie
Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 305
ohne nachweisbare Nierenbeteiligung findet sich nach diesen
Autoren
l. eine völlige Planlosigkeit und Unordnung im Gefäßaufbau,
2. eine „Dysergie“, i. e. ein gegensätzliches Verhalten des arteriellen
und venösen Gefäßanteils.. Beide Schenkel sind reichlich gewunden, der
arterielle Schenkel überaus eng kontrahiert, der venöse varicenartig er-
weitert. Der subpapilläre Plexus ist deutlich erkennbar. Am Oberarm
sind die Umbiegungsstellen aneurysmenartig erweitert;
3. keine kontinuierliche, vielfach körnige, oft lange Zeit stockende
Strömung.
4. Kapillarknäuel an Brust, Oberarm, Lippe.
An den Kapillaren einer sicheren sekundären Schrumpfniere
beobachteten sie dagegen:
l. eine gewisse Ordnung und Planmäßigkeit im Gefäßaufbau,
2. keine „Dysergie“, keinen „spastisch-atonischen Symptomenkomplex“;
die Schlingen sind normal oder eher spastisch. Der subpapilläre Plexus
ist nicht oder kaum sichtbar. Der Grundton der Haut ist blasser;
3. eine kontinuierliche Strömung, meist beschleunigt
4. das Fehlen der Kapillarknäuel.
Zu fast genau entgegengesetzten Feststellungen war ein Jahr vorher
Redisch (14) bei Bied? gelangt. Er sah bei Beteiligung der
Nieren immer Verlängerung im Sinne von Ausbuchtungen, Windungen
der Schlingen bis zu Teppichklopferformen, während gerade die essen-
tiellen Hypertonien auffallend langgestreckte Kapillaren meist mit
lebhafter Strömung hatten.
Auch die Statistik, die jüngst Groedel und Hubert (15) an
reichem Material veröffentlichten, scheint gegen die Thesen O. Müller’s
und Hübener’s zu sprechen.
Die Autoren berichten unter anderem über 120 Fälle von Hyper-
tonie. Dabei fanden sich
bei nephrosklerotischen Hypertonien (57 Fälle)
in 19,3 °/, Haarnadelform,
in 52,3 °/, Schlängelung;
bei arteriolosklerotischen Hypertonien (38 Fälle)
in 80,2 °/, Haarnadelform,
in 20°, Schlängelung;
bei nervösen Hypertonien (8 Fälle)
in 25°), Haarnadelform,
in 25°), Schlängelung;
bei klimakterischen Hypertonien (10 Fälle)
in 43,5%, Haarnadelform,
in 37,4 °/, Schlängelung.
Danach ist bei Hypertonien mit nicht nachweisbarer Nierenschädi-
gung, zu denen wir wohl die beiden letzten Gruppen rechnen dürfen,
die Haarnadelform gleich häufig oder weit häufiger als die geschlängelte
Kapillarform.
Die angeführten Beschreibungen sind, wie wir sehen, durchaus
widersprechend. Da an der Richtigkeit der Beobachtungen bei
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 20
306 LANGE
der Gewissenhaftigkeit der bekannten Beobachter nicht zu zweifeln
ist, muß die Schwierigkeit in der Sache selbst liegen.
Wir stellen im folgenden Befunde an 154 Hypertonikern, 154
Nichthypertonikern, insgesamt 308 Fällen zusammen.
Unter den Hypertonikern sind ohne Auswahl alle Patienten
aufgeführt, die mir mit einem Maximaldruck von 160 mm Hg und
mehr zur Untersuchung kamen. Davon haben einen maximalen
Blutdruck von
160—170 = 28 Fälle
170—180 = 52 „
180—200 = 38 ,
200—220 = 20 ,
220—240 = 12 ,
240—280 — 4 „
154 Fälle.
Es handelt sich dabei um 58 Männer und 96 Frauen.
Diesen 154 Hypertonikern stellte ich aus meinem Material
von Nichthypertonikern eine gleiche Zahl gegenüber, deren Aus-
wahl ich lediglich so traf, daß wieder 58 Männer und 96 Frauen
zur Statistik herangezogen wurden. Es handelt sich dabei zum
kleineren Teil um völlig gesunde, zum größeren Teil um Patienten,
deren Krankheit mit den Kreislauforganen in keinem direkten Zu-
sammenhang steht.
Ich ordnete die Kapillarbilder in)
A. Typie= regelmäßige Anordnung der Schlingen. DieSchlingen
stehen im großen und ganzen in Reihen parallel geordnet (Skizze 1a).
B. Atypie = unordentliche Anordnung der Schlingen. Die An-
ordnung läßt eine Regel vermissen. Reihen sind nicht zu erkennen.
Neben weit nach vorne liegenden Schlingen stehen weit zurück-
liegende. Die Stellung der Schlingen zueinander ist nicht parallel.
Oft scheinen sie sich zu überkreuzen. Der Abstand der Schlingen
voneinander ist ungleich, neben dicht stehenden Büscheln von
Schlingen sind kapillarlose Lücken (Skizze 2a).
C. Übergang von A zu B. Solche Kapillarbilder, die sich ohne
Zwang weder in A noch in B einreihen ließen (Skizze 3a).
Die Länge der sichtbaren Schlingen, mit dem Zeiß’schen Meg-
okular gemessen, ist
1. kurz = bis 10 Teilstriche der Skala (Skizze 2a),
2. mittel = 10—20 Teilstriche der Skala (Skizze 1a),
3. lang = 20 Teilstriche und darüber (Skizze 3a).
1) Vgl. Skizze 1—3.
Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 307
Das Verhältnis von arteriellem zum venösen Schenkel ist
eingeteilt:
a) Verhältnis arterieller Schenkel zum venösen ist normal, d.h.
arterieller etwas enger als venöser (Skizze 1a),
b) enge arterielle, weite venöse Schenkel (Skizze 3a),
c) enge arterielle und enge venöse Schenkel (Skizze 2a),
d) weite arterielle und weite venöse Schenkel (Skizze 2a).
Die Einzelschlingen besitzen
a) Haarnadelform (Skizze 1a),
8) geringe Schlängelung (Skizze 2a),
y) starke Schlängelung (Skizze 3a).
ò) Der subpapilläre Plexus ist sichtbar (Skizze 2a).
o 10 20 30
Skizze la. Fingerlimbus. Anordnung: regelmäßig (Typie) [A]. Länge: mittel,
bis 18 Teilstr. [2]. Verhältnis arterieller zu venöser Schenkel normal [a].
Haarnadelform [a].
Skizze la, lb, lc stammt von 6ljähr. Frau, R.R. 210/125.
Klinische Beschwerden: Kopfschmerz, Schwindel, Aufgeregtheit.
Urin, kein Eiweiß. Sediment o. B. Rest-N 35 mg°/,. Wasserversuch
"Hedinger I. Hedinger II völlig normal. Kochsalzkonzentration
bis 2%/,. 15 g Salz werden in 8 Stunden ausgeschieden.
20*
308 LANGE
Skizze 1b. Lippe.
Skizze 1c. Ellenbogen.
Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 309
Vergleich der Kapillaren der Hypertoniker und
Nichthypertoniker.
Bei Hypertonikern Bei Nichtbypertonikern insgesamt
Typie 120 = 77,92 °/, 106 = 68,83 |, 226 — 73,37 9),
Atypie 28 — 18,18%), 22 — 14,28 9), 50 = 16,23 9),
Zwischenfrrm 6= 3,89), 26 — 16,88 1 32 = 10,887,
Ergebnis: Es findet sich bei unseren Hypertonikern die
regelmäßige Anordnung in 9°, der Fälle häufiger als bei Nicht-
hypertonikern. Dem steht die größere Zahl der Zwischenformen
bei den Nichthypertonikern gegenüber. Der Unterschied zwischen
beiden ist somit — im ganzen betrachtet — bei unserem Material
zu gering, als daß man die Anordnung der Kapillaren bei der
Hypertonie als charakteristisch bezeichnen könnte.
0 10 20 30 40
Skizze 2a. Fingerlimbus. Anordnung: unregelmäßig (Atypie) [B]. Länge: Kurz,
— bis 10 Teilstriche, nur wenige darüber [1]. Verhältnis arterieller zu venöser
Schenkel: beide eng [c] oder beide weit [d]. Schlängelung gering [8].
Subpapillärer Plexus sichtbar.
Skizze 2a, 2b, 2c stammt von 58jähr. Frau, R.R. 180/110.
Klinische Diagnose: Apoplexie, Arteriosklerotische Schrumpfniere,
Schrumpfnierenherz. Urin, Eiweiß-Opalescenz, einige Zylinder, keine
roten Blutkörperchen, starke Isosthenurie.
310 LANGE
Skizze 2c. Ellenbogen.
Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 311
Die Länge der sichtbaren Kapillarschlingen
bei Hypertonikern bei Nichthypertonikern insgesamt
kurz 26 = 16,88 °/, 24 — 15,58 °/, 50 = 16,23
mittel 44 = 28,57 €o 64 — 41,55"), - 108 = 35,06 9
lang 84 — 54,54 °/, 66 = 42,85 ° 150 = 48,70 °/,
Ergebnis: Die Hypertoniker haben in 12°, der Fälle häufiger
lange Kapillaren als die Nichthypertoniker. Dagegen übersteigt
die Zahl der mittellangen Kapillaren beim Nichthypertoniker die
beim Hypertoniker um 10°/,.
Unsere Statistik bestätigt demnach den allgemeinen Eindruck,
daß bei Hypertonie die Kapillaren oft verlängert sind. Immerhin
ist auffällig, daß auch unter Nichthypertonikern die Prozentzahl
der langen Kapillaren beträchtlich ist.
0 10 20 30 40
Skizze 3a. Fingerlimbus. Anordnung: zwischen Typie u. Atypie [C]. Länge:
über 30 Teilstr. [3]. Enge arterielle, weite venöse Schenkel [b].
Starke Schlängelung [y].
Skizze 3a, 3b, 3c stammt von 70jähr. Mann, R.R. 230/110.
Klinische Diagnose: Claudicatio intermittens. Angina pectoris.
Urin, spez. Gew. zwischen 1005—1022 schwankend. Rest-N 44 mgr /,.
Wasserversuch normal. Entlastungstag normal. Belastungstag mangel-
hafte Ausscheidung und mangelhafte Konzentration. Sektion: Arteriolo-
sklerotische Schrumpfniere.
312 LANGE
Skizze 3c. Ellenbogen.
Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 313
Die Form der Kapillaren
bei Nicht-
hypertonikern
Haarnadelform 38 — 24,67%, 42 = 27,27%), 80 = 25,96 )/,
geringe Schlängelung 84 — 54,55%, 86 = 55,84%), 170 = 55,20),
starke Schlängelung 32 — 20,78%, 26 = 16,88% 58 — 18,83 ;,
Ergebnis: Alle Arten von Kapillarformen kommen beim
Hypertoniker in beträchtlicher Prozentzahl vor. Es finden sich
bei Hypertonikern etwas häufiger stark geschlängelte Kapillaren
und etwas seltener Haarnadelformen als bei Nichthypertonikern.
Die Prozentzahlen weichen jedoch zu wenig von dem Gesamtdurch-
schnitt ab, als daß man eine Form der Kapillaren als besonders
typisch für Hypertonie ansehen könnte.
Außer der unregelmäßigen Anordnung und Schlängelung der
Kapillaren wird das unruhige Kapillarbild gelegentlich durch den
sichtbaren subpapillären Plexus charakterisiert.
Wir fanden Sichtbarkeit des subpapillären Plexus
bei Hypertonikern bei Nichthypertonikern insgesamt
48 = 31,16), 14 = 9,09 9), 62 — 20,13 9],
Ergebnis: Der subpapilläre Plexus ist beim Hypertoniker
sehr viel häufiger sichtbar, als beim Nichthypertoniker.
bei Hypertonikern insgesamt
Das Verhältnis desarteriellen zum venösen Schenkel.
Verhältnis bei bei Nicht- .
arteriell: venös Hypertonikern hypertonikern BEBSeN:
normal 96 = 62,34 9}, 94 = 61,03), 190 = 61,68),
eng: weit 22 — 14,28 24 = 15,58 |, 46 = 14,93 9),
eng : eng 20 = 12,99 °/° 18 = 11,69 °/, 38 = 12,34 9),
weit: weit 16 = 10,39 |, 18 = 11,69 9, 34 = 11,049,
Ergebnis: Die Übereinstimmung in dieser Tabelle zwischen
den Befunden bei Hypertonikern und Nichthypertonikern ist über-
raschend. Es gibt demnach bei Hypertonie bei unserem Material
keine typische Veränderung in der Weite der Kapillarschlingen
und dem Verhältnis zwischen arteriellem und venösem Schenkel
bei der Hypertonie.
Zusammenfassend ist über den Vergleich der Kapillaren
des Hypertonikers und Nichthypertonikers zu sagen: In Form und
Kaliber der Schlingen stimmen die Kapillaren des Hypertonikers
und Nichthypertonikers weitgehend überein. Die Kapillaren sind
beim Hypertoniker häufiger lang und der subpapilläre Plexus ist
häufiger sichtbar. Es wird aber auch beim Nichthyperteniker die
lange Form der Kapillaren in einem sehr großen Teil und ein
314 LANGE
sichtbarer subpapillärer Plexus in einer beträchtlichen Zahl der
Fälle angetroffen. Es kann demnach keine dieser Erscheinungs-
formen als für die Hypertonie charakteristisch angesehen werden.
Bei den untersuchten 154 Hypertonikern boten 141 klinisch
sichere Zeichen einer Nierenschädigung, bei 13 Fällen war eine
Nierenbeteiligung nicht nachweisbar.
Wir fanden bei diesen Patienten
Eiweiß 101 mal
Zylinder 38 mal
Rote Blutkörperchen 45mal; das spez. Gew. war stark fixiert
105 mal.
In 74 Fällen konnte aus dem gleichzeitigen Vorkommen mehrerer
dieser Befunde bei stets völlig fixiertem spezifischen Gewicht die
Beteiligung der Nieren mit Sicherheit erschlossen werden. In 80
weiteren Fällen, und zwar bei allen Fällen, in denen nicht das
Vorhandensein von Eiweiß, Zylindern oder roten Blutkörperchen
bei fixiertem spezifischen Gewicht mit Sicherheit auf eine Nieren-
schädigung hinwiesen, wurden weitere Nierenprüfungen angestellt.
Dem Trinkversuch (1500 ccm Wasser früh nüchtern) wurde
der Durstversuch am gleichen Tage angeschlossen. Bei diesen, bei
77 Patienten angestellten Versuchen war die Wasserausscheidung
prompt und die Konzentration gut in 43 Fällen, die Wasseraus-
scheidung verzögert und die Konzentration mangelhaft in 34 Fällen.
Bei 80 Patienten wurde mit der Probemahlzeit von Schlayer
und Hedinger (16) der Nierenbelastungsversuch (Hedinger I)
gemacht. Dabei fanden sich die Wasserausscheidung, spezifisches
Gewicht und Kochsalzgehalt der Mahlzeit entsprechend gut
schwankend in 29 Fällen, die Zeichen einer Nierenschädigung
durch gleichförmige Wasserausscheidung, Fixierung des spezifischen
Gewichtes und des Kochsalzgehaltes zum Teil verbunden mit
Nykturie in 51 Fällen.
Der Entlastungstag nach Hedinger (Hedinger II) mit
geringer diuretisch wirkender Kost zeigte in 27 Fällen einen
normalen Ausfall von Wasserausscheidung, der Konzentration und
der Kochsalzausscheidung und in 53 Fällen die Zeichen einer
Nierenschädigung. Im einzelnen ergaben die Funktionsprüfungen
folgendes Ergebnis.
Wassertag normal, Hedinger I und II normal 13 mal
Wassertag normal, Hedinger I und II ungenügend 17 mal
Wassertag normal, Hedinger I oder II ungenügend 17 mal
Wassertag ungenügend, Hedinger I u. oder II ungenügend 33mal.
Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 315
Aus diesen Zahlen geht hervor, daß der Wasserdursttag am
meisten normal erscheinenden Ausfall zeitigt, und häufig erst die
Belastungs- oder Entlastungskost Nierenschäden zutage treten läßt.
Der Wasserdursttag war für uns deshalb niemals allein ausschlag-
gebend, sondern nur in Verbindung mit den Hedingertagen.
Der Rest-N zeigte 23 mal unter allen Bestimmungen einen Wert
von über 50 mg in 100 ccm Serum. Es sind das alles Fälle, die
auch in den bisher besprochenen Untersuchungen Störungen gezeigt
hatten. i
Die 13 Fälle mit normalem Ausfall der Funktionsprüfungen
hatten auch normalen Harnbefund und nicht erhöhten Rest-N. Bei
Kochsalzbelastung zeigten einige dieser Fälle auffällig hoch konzen-
trierte Kochsalzausscheidung. Im übrigen war uns der Versuch
mit Kochsalzbelastung eine Bestätigung der bei Schon- und Be-
lastungskost erhobenen Befunde.
Zu unseren Untersuchungen wurden von uns — selbstverständ-
lich — die Hypertoniker ohne Auswahl herangezogen, auch die,
bei denen Störungen des vegetativ-endokrinen Systems oder nervöse
und toxische Krankheitszustände vorlagen.
Auffällig klein ist die Zahl unserer Hypertoniker ohne nach-
weisbare Nierenschädigung gegenüber den von Fahrion (17) und
von Otfr.Müllerund Hübener (1) genannten Zahlen. Fahrion
errechnete aus 1763 Krankengeschichten von Hypertonikern mit
einem Druck von über 140 mm Hg 949 mal, das ist in 53,8°/, der
Fälle, ein Fehlen von Nierenbeteiligung, Otfr. Müller und
Hübener stellten 50 nierennegative Fälle zusammen.
Bei der Sorgfalt des Statistikers ist es bei einer nachträg-
lichen Durchsicht der Krankengeschichten von Hypertonikern, die
nicht speziell auf eine Nierenbeteiligung hin untersucht worden
sind, ungemein schwierig, auf Grund des Urinbefundes und des
Verlaufs der Diuresekurve eine Entscheidung zu treffen, ob eine
Nierenschädigung vorgelegen hat oder nicht. Bei unseren 141
Hypertonikern mit Nierenschädigung hätten wir ohne die ange-
stellten Nierenfunktionsprüfungen lediglich auf Grund des Harn-
befundes und des spezifischen Gewichtes 39 Fälle zu den nieren-
negativen rechnen müssen. Eine Statistik aus einer großen nicht
ad hoc untersuchten Zahl der Fälle wird demnach immer mehr
nierennegative Fälle aufweisen müssen und wird in ihrem Ausfall
— bei allem guten Willen — von der Einstellung des Statistikers
beeinflußt sein.
316 LANGE
Die viel geringere Zahl unserer nicht nachweisbar nieren-
geschädigten Hypertoniker gegenüber der von Otfr. Müller und
Hübener gefundenen, dürfte vielleicht ihre Erklärung in der
angewandten Methodik der Nierenfunktionsprüfung finden. Müller
und Hübener untersuchten ihre Fälle 1. mit dem Verdünnungs-
und Konzentrationsversuch, 2. mit Kochsalzbelastung, 3. mit Rest-
stickstoffbestimmung, 4. mit Stickstoffbelastung. Wir legten
außerdem, wie in dem oben ausgeführten ersichtlich, entscheidendes
Gewicht auf den Belastungs- und Entlastungstag nach Hedinger
und Schlayer. Aus unseren oben angeführten Zahlen geht hervor,
daß der Verdünnungs- und Konzentrationsversuch (Wassertag) in
34 Fällen normal ausfiel, obwohl Belastungs- und Entlastungstag
eine sicher mangelhafte Nierenfunktion aufdeckte.
In derselben Art, wie wir die Kapillaren der Nichthypertoniker
und der Hypertoniker verglichen, stellten wir Vergleiche zwischen
den Kapillaren von Hypertonikern mit und ohne nachweisbare
Nierenschädigung an.
Vergleich der Kapillaranordnung bei Hypertonikern
ohne nachweisbare Nierenschädigung mit Nierenschädigung
Typie 9 = 69,23), 111 = 78,72 0
Atypie 3 — 23,08 |, 25 = 17,73,
Ubergangsform 1 = 7,69%, 5 = 3,55°,
13 141
Ergebnis: Hypertoniker mit Nierenschädigung haben nur in
9°), der Fälle häufiger typische Anordnung ihrer Kapillaren und
nur in 6°/, der Fälle seltener atypische Anordnung als Hypertoniker
ohne nachweisbare Nierenschädigung.
Die Länge der sichtbaren Kapillarschlingen war bei
Hypertonikern
ohne nachweisbare Nierenschädigung mit Nierenschädigung
kurz 1= 7,89%, 25 = 17,73,
mittel 5 = 38,46 °/, 39 — 27,66 °/,
lang 7 = 53,85 77 = 54,61 °%
Ergebnis: Lange Kapillaren sind prozentual beim Hyper-
toniker mit und ohne nachweisbarer Nierenveränderung gleich
häufig. Mittellange Kapillaren sind beim Hypertoniker ohne
nachweisbare Nierenschädigung häufiger, als bei den mit Nieren-
schädigung.
Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 317
Die Form der Kapillaren
ohne nachweisbare Nierenschädigung mit Nierenschädigung
Haarnadelform 2 — 15,38), 36 — 25,53 9),
geringe Schlängelung 7 = 53,85 °% 77 = 54,61),
starke Schlängelung 4 = 30,77 %;, 28 — 19,86 9),
13 TA
Ergebnis: Mäßig gewundene Kapillaren sind bei Hyper-
tonikern mit und ohne Nierenschädigung gleich häufig. Die Prozent-
zahl der stark gewundenen Kapillaren ist bei den Hypertonikern
ohne nachweisbare Nierenschädigung größer, als bei den mit Nieren-
schädigung.
Sichtbarkeit des subpapillären Plexus
fand sich
bei Hypertonikern
ohne nachweisbare Nierenschädigung mit Nierenschädigung
5:13 = 38,46 9), 43 : 141 = 30,50 9),
also bei Hypertonikern ohne nachweisbare Nierenschädigung um
8°/, häufiger, als bei den mit Nierenschädigung.
Das Verhältnis des arteriellen zum venösen Schenkel
bei Hypertonikern.
Verhältnis ohne nachweisbare mit
arter.:venös Nierenschädigung Nierenschädigung
normal 4 = 30,77 h 92 = 65,25 o
eng: weit 5 — 38,46 9), 17 = 12,06 °/,
eng:eng 3 — 23,08), 17 = 12,06 °
weit: weit 1= 7,69%, 15 = 10,64 °),
13 141
Ergebnis: Bei Hypertonikern mit Nierenschädigung sind
normale arterielle und venöse Schenkel um 35°/, häufiger, enge
arterielle und weite venöse um 16°/, seltener, enge arterielle und
enge venöse Schenkel um 11°/, seltener, weite arterielle und weite
venöse um 3°/, häufiger als bei Hypertonikern olıne nachweisbare
Nierenschädigung.
Wohl sind beim Vergleich der Kapillaranordnung und -form
des Hypertonikers mit und ohne nachweisbare Nierenschädigung
zahlenmäßig geringe Unterschiede vorhanden, jedoch erscheinen
sie zu klein, als daß man die Formveränderungen für eine der
beiden Gruppen typisch nennen könnte.
Die Zahl unserer Fälle von akuter Nephritis ist für eine
Statistik zu gering. Bei der stark wechselnden Form der Kapillaren
318 LANGE
des Nichtnierenkranken, dürfte man nach den mitgeteilten Er-
fahrungen erst dann die Kapillarform für eine Nephritis als
charakteristisch ansehen, wenn sie sich mit der Erkrankung ge-
ändert hat. Mir liegt ein Fall vor, dessen Kapillaren ich schon
vor der Erkrankung gezeichnet und beschrieben hatte.
Es handelte sich um eine 22jähr. Patientin, die mit Angina herein-
kam. Acht Tage später trat mit Blutdrucksteigerung und entsprechendem
Harnsediment eine akute Glomerulonepbritis auf. Nach weiteren 12 Tagen
waren alle Erscheinungen wieder geschwunden. Das kapillar-mikroskopische
Bild bot vor, während und nach der Nephritis stets dasselbe Bild hin-
sichtlich der Form, der Weite der Kapillaren und ihrer Durchströmung.
Es deckt sich diese Beobachtung durchaus mit der von Schur (6)
mitgeteilten.
Außer am Fingerlimbus wurden in einer großen Zahl der
Fälle die Kapillaren an der Außenseite des rechten Oberarms,
über der Brust an der Teststelle Niekau’s und an der Innenseite
der Unterlippe untersucht.!) Von allen Hypertonikern ohne nach-
weisbare Nierenschädigung liegen mir die Untersuchungsergebnisse
an diesen Hautstellen vor.
Unter diesen 13 Fällen war die Anordnung der Kapillaren an
der Lippe regelmäßig in 7 Fällen, unregelmäßig in 5 Fällen. In
denselben Fällen war die Form der Schlingen reichlich gewunden.
Am Oberarm wurden aneurysmaartige Erweiterungen in 4 von den
13 Fällen notiert. Von diesen 4 hatten 2 ähnliche Knäuelbildungen
an der Brusiteststelle.
Der Typus der Schlingen an Lippe und Fingerfalz stimmt
oftmals nicht überein. Ich sah regellose Anordnung und gewundene
Schlingen in der Lippenschleimhaut bei regelrechter Anordnung
und geringer Schlängelung am Nagelfalz und umgekehrt.
Im großen und ganzen stimmen diese an anderen Körperstellen
erhobenen Befunde mit unseren statistischen Feststellungen am
Fingerfalz überein.
Wir können somit, wie aus unseren Aufstellungen hervorgeht,
das Vorkommen der von Otfr. Müller und Hübener bei
Hypertonie beschriebenen Kapillarformen durchaus bestätigen. Da
wir jedoch beide von ihnen beschriebenen Typen sowohl bei
Hypertonie als auch bei normalem Blutdruck, sowohl bei Hypertonie
mit Nierenschädigung als auch ohne nachweisbare Nierenschädigung
sahen, können wir keine dieser Typen für Hypertonie charakte-
ristisch ansehen.
1) Vgl. dazu die Skizzen 1—3 b und c.
Die Gestalt der Blutkapillaren bei Hypertonie. 319
Auffällig häufig ist bei den Hypertonikern der Tübinger Klinik
der Typus der Kapillarformen vertreten, die Otfr. Müller als
spastisch-atonisch bezeichnet. Wenn wir der Otfr. Müller’schen
Auffassung folgen, die diese Kapillarformen als Charakteristikum
der Vasomotoriker ansieht, so dürfte das häufigere Vorkommen in
der verschiedenen Art des Krankenmaterials beider Untersuchungs-
reihen ihre Erklärung finden. Ist doch in der schwäbischen Be-
völkerung, wie mir Herr Prof. von Romberg mitteilte, die Zahl
der psycho- und vasolabilen Kranken viel größer, als in unserem
Münchener Krankenbestand.
Das Vorkommen so wechselnder Kapillarbilder findet nicht
zuletzt seine Erklärung in der mannigfaltigen Beschaffenheit der
menschlichen Haut. Die Unterschiede zwischen der turgorge-
schwellten, rosigen Haut des jungen Menschen und der faltigen,
glatten, zigarettenpapierdünnen, trockenen Haut des Greises läßt
die wechselnden Formen der dazugehörigen Kapillaren schon
normalerweise selbstverständlich erscheinen. Lebensgewohnheiten,
Hautpflege, der geringere oder stärkere Einfluß der Witterung sind
von Belang.
Für die Bedeutung des konstitutionellen Momentes spricht eine Be-
obachtung: eine Mutter, ihre zwei Töchter und ein Sohn, die auch sonst
große Ahnlichkeit zeigten, hatten alle einen gewissen auffälligen Typus
in Form und Anordnung ihrer Hautkapillaren.
Die Vielgestaltigkeit der Formen bei Hypertonie ist nach
allem nicht durch die Krankheit bedingt. Ebensowenig läßt sich
die Genese der Hypertonie aus der Gestaltung der Hautkapillaren
ableiten.
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I.-D. Med. Tübingen 1925.
321
Aus der Universitätskinderklinik Jena.
(Vorstand: Prof. Dr. Ibrahim.)
Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie und anderen
hämorrhagischen Diathesen. ')
Von
Dr. Fritz von Bernuth,
Assistent der Klinik,
In der Pathogenese der hämorrhagischen Diathesen ist vieles
noch nicht geklärt. Wir wissen zwar, daß für die Hämophilie
z. B. die Verlängerung der Gerinnungszeit oder für die Werl-
hof’sche Krankheit die Verminderung der Blutplättchen und die
Verlängerung der Blutungszeit von großer Bedeutung sind. Aber
fast alle Forscher haben sich mit der Feststellung dieser Blut-
veränderungen nicht begnügt, sondern haben außerdem irgendeine
Schädigung der Gefäße angenommen. Denn die genannten patho-
logischen Eigenschaften des Blutes können wohl die lange Dauer
von einmal entstandenen Blutungen erklären, nicht aber das spon-
tane Entstehen von Blutungen, das für die hämorrhagischen
Diathesen charakteristisch ist. Außerdem ist man in letzter Zeit
mehr und mehr zu der Erkenntnis gekommen, daß auch bei der
normalen Blutstillung der Gerinnungsvorgang nicht die Rolle spielt,
die man ihm früher zugeschrieben hat. Wir wissen heute, daß die
Gefäße selbst daran einen großen Anteil haben, und zwar sowohl
die großen Gefäße als auch die kleinen und die Kapillaren. Noch
bestehen aber Zweifel darüber, in welcher Weise die Gefäße an
der Blutstillung mitwirken.
Werner Schultz (1) spricht einfach von einer „Selbststeuerung“
der Gefäße und versteht darunter das Zusammenwirken aller vom Ge-
fäßinhalt unabhängigen Kräfte, die in der Gefäßwand und auf sie wirken;
1) Nach einem Vortrag, gehalten am 2. Juni 1926 in der Medizinischen
Gesellschaft zu Jena.
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 21
322 v. BERNUTH
es sind dies Kontraktilität, Verklebungsfähigkeit durchschnittener Gefäß-
enden, Wirkungen der Gewebsspannung, nervöse Einflüsse und anderes
mehr; sie wirken im Bereich des kapillaren und des diesem benachbarten
Gefäßabschnittes.
Stegemann (2), (3) hat experimentell an der Schwimmhaut des
Frosches und am Mesenterium des Kaninchens und des Meerschweinchens
gearbeitet und faßt seine Beobachtungen dahin zusammen, daß er die
Summe aller die Blutstillung bewerkstelligenden Kräfte als „autonome
Umstellung des Kreislaufs“ bezeichnet, Die -Hauptrolle fällt seiner An-
sicht nach der selbsttätigen Umleitung des Blütstroms in den Kollateral-
kreislauf zu, wobei es kurze Zeit zu einer Umkehrung der Stromrichtung
kommt. Die Kontraktion der angeschnittenen Gefäße und die Throm-
‚bosierung sollen erst sekundäre Vorgänge sein, wenigstens an den größeren
Gefäßen. Bei kleinen Gefäßen und besonders bei den Kapillaren findet
so schnell eine Kontraktion statt, daß eine Entscheidung darüber, was
das Primäre ist, nicht möglich ist.
Auch Herzog (4) hat an der Froschzunge die Umleitung des Blut-
stroms auf den Kollateralkreislauf und die Eröffnung neuer Kollateral-
bahnen beobachtet. Das Wichtigste für die Blutstillung ist aber nach
seiner Ansicht eine Verklebung der Kapillarwände, die allein genügt.
Dazu kann eine Kontraktion kommen, sie ist aber relativ selten mit
Sicherheit zu erkennen.
Magnus (5), (6) dagegen führt die Blutstillung sowohl bei großen
Gefäßen als auch bei Kapillaren auf Kontraktion zurück. Seine Unter-
suchungen an Kapillaren hat er an der Schwimmbaut von Fröschen und
.am Nagelfalz des Menschen angestellt, indem er mit Hilfe des Zeiß’schen
Mikromanipulators einzelne Kapillaren unter dem Mikroskop angeschnitten
hat. Er hat dabei festgestellt, daß die Kapillaren im Anschluß an die
“Verletzung ihren Inhalt auspressen, verschwinden und dann verschwunden
bleiben. Er faßt das, wie gesagt, als einen Kontraktionsvorgang auf.
Derselben Ansicht ist Heimberger (7), (8), der mit etwas anderer
. Methode am Menschen zu demselben Ergebnis gekommen ist. Abweichend
stellt er jedoch fest, daß ganz geringfügige Verletzungen, bei denen nur
wenige Blutkörperchen aus dem Lumen austreten, nicht zu einem Ver-
schwinden, sondern nur zu einer Kontraktion der Kapillaren führen.
Diese Beobachtung habe auch ich machen können, jedoch kommen solche
kleinen Blutungen nur äußerst selten vor, wenn man, wie ich es getan
habe, nach dem Vorgang von Magnus mit dem Mikromanipulator
‚arbeitet. Es sei hier gleich vorweg genommen, daß bei den Unter-
suchungen, über die im folgenden berichtet werden soll, nur solche Ver-
letzungen berücksichtigt worden sind, bei denen eine größere Blutung
entsteht und bei denen also normalerweise die Kapillaren verschwinden.
‚ Auch meiner Ansicht nach liegt es am nächsten, das Ver-
schwinden der Kapillaren auf einen Kontraktionsvorgang zurück-
zuführen. Man kann in vielen Fällen deutlich beobachten, wie
der Inhalt der angeschnittenen Kapillare ausgepreßt wird und die
Kapillare dann unsichtbar wird. Daß gleichzeitig der Kollateral-
Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie usw. 323
kreislauf erhöht in Anspruch genommen wird, hat schon Magnus
festgestellt. Man kann das daran erkennen, daß in den u
barten Kapillaren eine Hyperämie entsteht.
Wenn nun auch über die Art und Weise des Va: ver-
schiedene Ansichten herrschen, so geht doch aus allem klar her-
vor, daß die Gefäße selbst normalerweise an der Blutstillung in
erster Linie beteiligt sind. Der Gedanke liegt nahe, daß in
pathologischen Fällen, bei schweren kaum stillbaren Blutungen,
den Gefäßen diese Fähigkeit fehlt. Nachdem uns die Kapillar-
mikroskopie mit ihren neueren Verbesserungen die Möglichkeit
geboten hat, das Verhalten von Kapillaren auf Reize und Ver-
letzungen direkt zu beobachten, konnte man hoffen, auf diese
Weise dem Wesen solcher pathologischen Blutungen näher zu
kommen. Insbesondere handelt es sich dabei um die hämorrhagi-
schen Diathesen. Schon Magnus hat darauf hingewiesen, daß
es sehr wichtig sein müsse, bei Blutern die Reaktion von Kapillaren
zu prüfen. Da wir in letzter Zeit mehrere solcher Fälle beobachten
konnten, habe ich die Gelegenheit wahrgenommen, en guter
suchungen vorzunehmen.
Ich bediente mich dazu, wie schon erwähnt, der Methode von
Magnus. Mit Hilfe des Zeiß’ schen Mikromanipulators (Peterfi),
in den ein kleines Messerchen, hergestellt aus dem Splitter eines
Rasiermessers, eingesetzt ist, kann eine einzelne Kapillare unter
dem Mikroskop angeschnitten werden. Zur Beobachtung dient
ein gewöhnliches Mikroskop mit dem Objektiv von Zeiß’ „Apo-
chromat 16 mm“. Mit Hilfe eines ebenfalls von der Firma Zeiß
hergestellten photographischen Okulars läßt sich der Vorgang
gleichzeitig beobachten und photographieren.
Über das Ergebnis meiner ersten Untersuchung habe ich be-
reits früher berichtet (9, 10). Auf den einen dieser Fälle muß ich
hier jedoch noch einmal eingehen, da er besonders wichtig zu
sein scheint, und da ich inzwischen auch Gelegenheit gehabt
habe, ihn nachzuuntersuchen, wobei sich neue interessante Gesichts-
punkte ergaben. |
Der jetzt 12 jährige Werner R. leidet seit frühster Jugend an häufigen
Blutungen, insbesondere an Schleimhaut- und Gelenkblutungen. Die
Blutungen treten in den meisten Fällen spontan auf, nur bei den Gelenk-
blutungen wird einige Male ein mehr oder weniger starker Stoß oder Fall als
Ursache angegeben. Die Haut bleibt stets frei von auffallenden Blutungen.
In der Familie lassen sich trotz genauester Nachforschung andere
Bluter nicht feststellen. Die Blutungszeit bei dem Patienten ist normal
21*
324 | v. BERNUTH
(bestimmt nach Duke). Die Plättchenzahl (nach Fonio) normal oder
leicht vermehrt, die Gerinnungszeit verlängert. Letztere
schwankte während des ersten Klinikaufenthaltes des Patienten von
Januar bis November 1924 zwischen 13 und 17 Minuten, gemessen nach
der Methode von Bürker (normal 7 Minuten). Der Rumpel-Leede-
sche Stauungsversuch fiel negativ aus. Im Salzplasmaversuch nach
Wooldridge (ll) erfolgte die Gerinnung normal nach 2 Stunden.
Die Retraktion des Blutkuchens war normal. Bei der Kapillarunter-
suchung ergab sich der äußerst interessante Befund, daB die Kapillaren
im Anschluß an die Verletzung nicht verschwanden, sondern daß sie
offen und durchgängig blieben. Die Blut- und Kapillarbefunde wurden
durch therapeutische Maßnahmen nicht beeinflußt (Blutinjektionen). Im
Januar 1926 hatten wir Gelegenheit, den Patienten nachzuuntersuchen.
In der Zwischenzeit waren keine auffallenden Blutungen mehr eingetreten,
nur war 8 Tage vor der Aufnahme durch Fall auf das rechte Knie, das
schon durch häufige Blutungen deformiert und in der Bewegung be-
schränkt war, ein stärkeres Hämatom aufgetreten. Der Blutbefund war
dem früheren ähnlich, die Gerinnungszeit war bis auf 30 Minuten ver-
längert. Die Kapillaruntersuchung ergab dasselbe Ergebnis wie bei dem
ersten Aufenthalt. Bemerkt sei, daß die Prüfung der Kapillaren oft
wiederholt wurde, und daß stets der gleiche Befund erhoben wurde.
Abnlich lagen die Verhältnisse bei einem 2. Fall, den ich Dank der
Liebenswürdigkeit von Herrn Prof. Bessau!) in der Leipziger Kinder-
klinik untersuchen konnte. Der 12jährige Junge Alfred K. litt eben-
falls seit früher Jugend an häufigen spontanen und schwer zu stillenden
traumatischen Blutungen. Sehr oft traten bei ihm subkutane Blutergüsse
auf. Schon als er ein halbes Jahr alt war, bemerkten die Eltern blaue
Flecke am Körper, sobald er sich am Korbrande gedrückt hatte. Häufig
hatte er Nasenbluten und beim Ausfallen des Milchgebisses heftige Zahn-
fleischblutungen. Die Gelenke waren seltener in Mitleidenschaft gezogen.
Bluter waren in der Familie nicht vorhanden. Die Auf-
nahme in die Klinik erfolgte wegen eines starken Hämatoms ın der
rechten Wade, das dadurch entstanden war, daß er beim Rückwärts-
schreiten gegen eine Eisenstange gestoßen war. Das Hämatom erstreckte
sich auf den ganzen rechten Unterschenkel von dicht unterbalb des Knies
bis über die Knöchel hinaus. Die Blutungszeit war herabgesetzt
(1—1!/, Minuten nach Duke). Die Plättchenzahl war auffallend ver-
mehrt (825 000—1840000), die Gerinnungszeit war verlängert
(27—87 Minuten). Bei der Aufnahme erhielt der Patient Clauden per
os und intravenöse Blutinjektionen. Meine Kapillaruntersuchungen wurden
14 Tage nach der Aufnahme vorgenommen. Dabei wurde festgestellt.
daß die Kapillaren auf die Verletzung hin nicht verschwanden, sondern
offen blieben. Bei dem Anschneiden einer Kapillare ergab sich folgendes
Bild. Kurz nach dem Anschneiden wurde die Kapillare extrem weit,
es entstand Stase und die ganze Kapillare war prall gefüllt mit zya-
notischem Blut. Die Stase blieb 1!/, Stunden unverändert bestehen, dann
1) Es sei mir gestattet, Herrn Prof. Bessau auch an dieser Stelle meinen
ergebensten Dank zu sagen.
Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie usw. 325
trat eine Lücke im zuführenden Schenkel auf, die sich im Lauf der
nächsten 20 Minuten wieder füllte, nun mit hellrotem Blut. Bald darauf
` wurde die ganze Kapillare von hellrotem Blut durchströmt, sie war jetzt
sehr eng.
Bei diesen beiden Blutern also reagierten die Kapillaren auf
eine Verletzung in paradoxer Weise. Sie verschwanden nicht, wie
es normalerweise der Fall ist, sondern sie blieben offen und durch-
gängig. Eine Kontraktion ließ sich nicht beobachten, im Gegen-
teil, im einen Falle eine deutliche Dilatation. Die Fähigkeit zur
Kontraktion ist an sich vorhanden. Das habe ich des Öfteren an
der spontanen Veränderung der. Kapillarweite feststellen können,
die man ja auch beim Normalen beobachtet. Bei dem zweiten
Fall folgte außerdem auf die Dilatation und Stase eine deutliche
Kontraktion. Worauf das paradoxe Verhalten bei den Verletzungen
zurückzuführen ist, darüber lassen sich nur Vermutungen äußern,
zumal die Frage über die kontraktilen Elemente an den Kapillaren
und ihre Nervenversorgung noch nicht weit genug geklärt ist.
Am ehesten möchte ich glauben, daß die Erregbarkeit des auto-
nomen Gefäßnervensystenis verändert ist. Eine gute Erklärung
hat Ricker (12) schon früher gegeben, der bei Blutern eine herab-
gesetzte Erregbarkeit der Gefäßnerven annimmt, wodurch ein
Übergewicht der Dilatatoren über die Konstriktoren entsteht.
Dadurch wird bedingt, daß die Kapillaren sich auf Reize, die beim
Normalen gar nicht oder mit Kontraktion beantwortet werden, er-
weitern. Daß eine Dilatation der Kapillaren zu erhöhter Durch-
lässigkeit der Gefäßwände führt, ist einwandfrei erwiesen. Es sei
hier nur an die Arbeiten von Ricker, Krogh (13), Ebbecke (14),
Herzog (4) und anderen erinnert. Auf diese Weise würden sich
spontane Blutungen gut erklären lassen. Interessant sind in dieser
Hinsicht Beobachtungen, die neuerdings Herzog an zwei Fröschen
mit hämorrhagischer Diathese gemacht hat. Bei den beiden Tieren
konnte er schon beim Ausbreiten der Zunge feststellen, daß rasch
an einer Anzahl Kapillaren Stasen eintraten und daß es hier sehr
leicht zum Blutaustritt kam. Nach der Injektion vom Chikagoblau
oder Tusche konnte er sehen, daß die Farbstoffe durch die Gefäß-
wand hindurchtraten und an einigen Stellen im umliegenden Ge-
webe kleine Infiltrate bildeten. Wurde bei diesen Versuchen ein
Tropfen Urethan auf die Zunge gebracht, so trat Dilatation und
sehr häufig Stase der Kapillaren ein, wobei es oft zum Durchtritt
von roten Blutkörperchen kam. Bei normalen Fröschen war eine
Diapedese von roten Blutkörperchen nach Urethanaufträufelung
326 v. BEBNUTH
zwar auch schon gesehen worden, aber nie in dem Umfang wie
bei diesen Tieren. “Also auch hier sehen wir die wichtige Rolle,
die ‘das Verhalten der Gefäße für das’ spontane Entstehen von
Blutungen spielt. |
' Einen weiteren wichtigen Beitrag für- die Bedeutung der Ge-
fäßnerven hat Heimberger (7, 8) geliefert. Nach parakapillärer
Injektion von Atropin konnte er beim Gesunden auch bei mehr-
tägiger Beobachtung nie eine sichere Wirkung feststellen; zuweilen
schien es so, als ob die gereizte Kapillare etwas weiter wäre als
zuvor. Bei einer-vasoneurotischen Patientin dagegen wiesen ‚die
angegangenen Schlingen nach mehreren Tagen starke Erweiterung
und Stase auf. Bei dieser Patientin kam auch bei einfacher Wand-
reizung ohne Verletzung die sonst übliche Reaktion. nicht oder
erst nach mehrmaliger kräftiger Reizung zustande. Diese Beobach-
tung scheint mir außerordentlich wichtig zu sein, zeigt sie doch.
daß auch bei Vasoneurosen ‚die Kapillaren sich anders als in der
Norm verhalten.
Auf einen wichtigen Befund bei dem Patienten Werner R. muß
noch eingegangen werden. Wie erwähnt, blieben bei ihm die
Kapillaren auch bei der 2. Aufnahme in die Klinik, bei der Ver-
letzung offen, anstatt sich zu kontrahieren. Dieser Befund wurde
mehrmals kontrolliert und bestätigt. Ich kam dann aus äußeren
Gründen etwa 3 Wochen lang nicht zur Kapillaruntersuchung bei
dem Jungen. Als ich sie wieder aufnahm, stellte ich zu meiner
Überraschung fest, daß die Kapillaren sich nunmehr normal ver-
hielten, daß sie sich also bei einer Verletzung kontrahierten und
verschwanden. Nur hatte ich den Eindruck, als ob eine stärkere
Verletzung als beim Normalen dazu gehörte, um die Kapillaren
zum Verschwinden zu bringen. Dieeinmal verschwundenen Kapillaren
blieben auch in der Folgezeit verschwunden. "Zu dieser Zeit be-
stand bei dem Patienten keine auffällige Blutungstendenz Über-
haupt war die Blutungstendenz bei ihm allmählich immer mehr
zurückgegangen. Während seines ersten Klinikaufenthaltes von
Januar bis November 1924 hatte er bis Mitte April neben den
Gelenkblutungen an immer sich wiederholenden' 'profusen Schleim-
hautblutungen gelitten. Es kamen Darmblutungen, Nasenbluten,
Zahnfleischblutungen, Blutungen aus dem Mittelohr und auch eine
kurz dauernde Nierenblutung vor. ‘Vom Mitte April’an blieben
die Schleimhautblutungen völlig aus, und von nun an sahen wir
uur noch bei ihm Gelenkblutungen auftreten. - -Zuhause sind dann
auch diese immer seltener geworden; sie sind schließlich gar nicht
Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie usw. 327
mehr in die Erscheinung getreten bis auf die Kniegelenkblutung
acht Tage vor der zweiten Aufnahme im Januar 1926.. Während
der 7°!/, Wochen seines zweiten Klinikaufenthaltes' sind keine
neuen Blutungen vorgekommen, obwohl der Junge außer‘ Bett war
und mit den anderen Kindern herumtollte. Eine solch. Jange Pause
hatten wir früher nie bei ihm gesehen. Ich glaube daher zu der
Annahme berechtigt zu sein, daß die Blutungstendenz mit der
Zeit geringer geworden ist, und daß der Umschwung in die nor-
male Kapillarreaktion damit in Zusammenhang steht. Die Ge-
rinnungszeit war übrigens nach wie vor verlängert, sogar noch
mehr als früher. Sie betrug bei der letzten Unterspchung 53 bis
68 Minuten.
Nun erhebt sich die Frage, in weiche der bekannten hämor-
rhagischen Diathesen sich die Krankheitsbilder der beiden Patienten
eingliedern lassen. Zweifellos besteht mit der normalen oder ver-
kürzten Blutungszeit, der verlängerten Gerinnungszeit und der
Art und Weise des Auftretens und der Lokalisation der Blutung
eine große Ähnlichkeit mit der Hämophilie. Die anderen Blutungs-
übel kommen diagnostisch gar nicht in Betracht.: Gegen Hämo-
philie spricht das Fehlen der hereditären Belastung in unseren
Fällen. In Ermangelung. einer anderen Möglichkeit glaubte ich
zunächst trotzdem eine Hämophilie annehmen zu dürfen, habe
aber früher schon darauf hingewiesen, daß man ein endgültiges
Urteil erst abgeben könne, wenn man zweifellos echte Hämophilie
zum Vergleich untersuchen würde. Dazu habe ich . nun in letzter
Zeit Gelegenheit gehabt.
In dem einen Fall Georg K. handelt es sich um einen 8 iibrigen
Juugen, der bereits von Opitz und Zweig (15) in einer Arbeit über
Hämophilie verwertet worden ist. Dort ist auch sein Stammbaum ver-
öffentlicht. Bei ihm bestehen die für Hämophilie charakteristischen
Erblichkeitsverhältnisse. In der Familie der Mutter sind eine
größere Anzahl von Blutern; ein Onkel von ihr und drei ihrer Brüder
sind an Hämophilie gestorben. Der Patient leidet seit frühester Jugend
an häufigen z. T. lebensbedrohenden Blutungen. Schleimhaut- und Ge-
lenkblutungen stehen im Vordergrunde, aber auch Hautblutungen kamen
häufig vor, ebenfalls mehrmals Blutungen innerer Organe. Die Ein-
lieferung in die Klinik erfolgte wegen’ blutigen Erbrechens. Die
Blutungszeit war normal, die Blutplättchenzahl leicht erhöht (384000),
die Gerinnungszeit stark verlängert. Sie betrug 3 Stunden,
gemessen nach der Uhrschälchenmethode. Im Salzplasmaversuch nach
Wooldridge war nach 24 Stunden noch keine Gerinnung erfolgt
(normal nach zwei Stunden). Die Kapillaren nun verhielten sich in
diesem Fall normal, d. h. sie verschwanden auf die Verletzung hin und
blieben verschwunden. Der zweite Fall betrifft einen 3!/, jährigen Jungen
328 v. BERNUTH
Walther J. Auch bei ihm besteht hereditäre Belastung.
Zwei Brüder der Mutter sind an Hämophilie gestorben. Auch er bat
des öfteren starke Blutungen gehabt, wenn auch nicht so häufig wie der
vorige Patient. Die Einlieferung in die Klinik erfolgte wegen einer
meningealen Blutung im Anschluß an einen Fall auf den Kopf. Die
Blutungszeit war normal, die Plättchenzahl ebenfalls (336 000), die Ge-
rinnungszeit betrug 27!/, Minuten, war also verlängert. Auch
in diesem Fall verhielten sich die Kapillaren beim Anschneiden normal.
Nun sind ja auch bei der Hämophilie spontane Remissionen
in der Blutungstendenz bekannt. Man könnte daher vielleicht
glauben, daß die beiden Patienten sich bei der Kapillarunter-
suchung in einer Zeit herabgesetzter Blutungstendenz befunden
hätten, und daß deshalb die Kapillaren normal reagierten. Für
den ersten der beiden Fälle können wir das mit aller Bestimmt-
heit verneinen, denn während seines Aufenthaltes in der Klinik
traten immer wieder neue spontane Blutungen auf. Wir müssen
daher annehmen, daß die Kapillaren bei der Hämophbilie
auf eine Verletzung hin sich in normaler Weise kon-
trahieren. Damit haben wir einen grundlegenden Unterschied
gefunden zu den beiden zuerst untersuchten Fällen. Soweit aus
zwei Fällen überhaupt ein Schluß gezogen werden kann, glauben
wir daher zu der Annahme berechtigt zu sein, daß wir es hier
mit zwei verschiedenen Krankheitsbildern zu tun haben. Wir
haben einerseits die echte Hämophilie, bei der die
Kapillaren sich normal verhalten, d. h. beim Anschneiden
verschwinden. Ob gar keine Kapillarveränderungen vorliegen,
kann man vorläufig nicht entscheiden. Jedenfalls aber lassen sich
mit der angewendeten Methodik keine Veränderungen nachweisen.
Von der echten Hämophilie abzutrennen ist eine
andere Gruppe, die durch ein paradoxes Verhalten
der Kapillaren charakterisiert ist. Hierbei fehlt den
Kapillaren die Fähigkeit, sich auf eine Verletzung
hin zu kontrahieren. Mit zunehmendem Alter scheint sich
diese mangelhafte Kapillarfunktion zu bessern. Vielleicht wird
man mit der Zeit auch noch weitere klinische Unterscheidungs-
merkmale auffinden. Möglicherweise ist das Fehlen der Heredität
bei der einen Gruppe schon als ein solches zu werten.
Ich habe früher schon über Kapillaruntersuchungen bei einem
Patienten mit Werlhof’scher Krankheit (essentielle Thrombo-
penie) berichten können. Ich konnte feststellen, daß die Kapil-
laren sich dabei normal verhielten. Denselben Befund
habe ich inzwischen bei einem Fall von symptomatischer thrombo-
Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie usw. 329
penischer Purpura auf der Grundlage einer aplastischen Anämie
erheben können,
Der 11jährige Junge war früher immer gesund gewesen, Seit
4 Monaten fiel den Eltern eine immer zunehmende Blässe auf. Seit
derselben Zeit litt der Patient an häufigen Nasen- und Zahnfleischblutungen,
die sehr stark und von langer Dauer waren. Es bestand eine hoch-
gradige Anämie (Erythrocyten 1060000—720000, Hämoglobin (A uten-
rieth) 28—18°/,, Leukocyten 3000—1425) ohne Regenerationsformen.
Die Gerinnungszeit war normal. Die Plättchenzahl war äußerst herab-
gesetzt, auf 8600—2160. Die Blutungszeit war verlängert, sie betrug
30 Minuten. Der Rumpel-Leede’sche Stauungsversuch fiel positiv
aus. Die Kapillaren verschwanden auf das Anschneiden und blieben
verschwunden.
Eigentlich ist es verwunderlich, daß bei der Werlhof’schen
Krankheit, bei der man schon allein auf Grund des positiven
Rumpel-Leede’schen Phänomens eine Gefäßschädigung an-
nelimen muß, die Kapillaren normal reagieren. Es ist jedoch an-
zunehmen, daß doch irgendwelche Gefäßveränderungen bestehen,
die sich mit dieser Methode nicht nachweisen lassen. Bemerkens-
wert ist, daß sich kein Zusammenhang zwischen Rumpel-
Leede’schen Phänomen und der Reaktion verletzter Kapillaren
feststellen läßt.
Das Ergebnis der bisherigen Untersuchung läßt sich kurz
folgendermaßen zusammenfassen: Bei der von Magnus eingeführten
Methode des Anschneidens von Kapillaren mit Hilfe des Mikro-
manipulators verschwinden die Kapillaren normalerweise. Ebenso
verschwinden sie bei echter Hämophilie.e. Von der Hämophilie
abzutrennen sind andere Fälle, die zwar klinisch und im Blut-
befund (verlängerte Gerinnungszeit bei normaler oder vermehrter
Plättchenzahl und normaler Blutungszeit) große Ähnlichkeit mit
ihr haben, bei der die Kapillaren aber paradox reagieren. Wenn
überhaupt aus den wenigen Fällen Schlüsse erlaubt sind, so kann
man annehmen, daß bisher unter dem Namen Hämophilie ver-
schiedene Krankheitsbilder zusammengefaßt worden sind. Die ab-
weichenden Fälle unterscheiden sich von der echten Hämophilie
dadurch, daß die Kapillaren auf eine Verletzung hin offen und
durchströmt bleiben, und daß — vielleicht — die Erblichkeit fehlt.
Es müssen noch weitere Beobachtungen abgewartet werden, ehe
man mit Sicherheit entscheiden kann, ob das, was wir bisher mit
Hämophilie bezeichnet haben, ein einheitliches Krankheitsbild ist
oder nicht. Ich glaube, daß die Kapillarmikroskopie uns darin
weiter bringen wird und daß wir in ihr ein Mittel in der Hand
330 v. BERNUTH, Über Kapillarbeobachtungen bei Hämophilie usw.
haben, um die noch immer nicht ganz .befriedigende Einteilung
der hämorrhagischen Diathesen, vor allem bei den Grenzfällen,
zu fördern. |
Bei der Werlhof' schen Krankheit verhalten sich die Kapil-
laren normal.
Es ist beabsichtigt, die Untersnchnneen fortzusetzen, besonders
auch an den anderen hämorrhagischen Diathesen, der Schönlein-
Henoch’schen Purpura und dem Skorbut. Bei diesen beiden
Blutungsübeln . müssen Gefäßveränderungen angenommen werden
und es wird daher von. besonderem Auleresse sein, bei ihnen die
Kapillarfunktion zu prüfen.
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1924, 107, S. 158. f
331
_ Aus der Medizinischen Universitäts-Klinik Frankfurt a. Main.
(Direktor: Professor Dr. G. v. Bergmaun))
Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks
und ihre theoretische Begründung.
3 Von
Karl Westphal,
Privatdozent und Oberarzt der Klinik,
und
Robert Blum,
"früherer Assistent des städtischen Krankenhauses Sandhof, Frankfurt a. Maim:
(Mit 5 Kurven.)
-` Die Annahme, daß dem Cholesterin in der Reihe der zum
genuinen arteriellen Hochdruck führenden Bedingungen eine be-
sondere Bedeutung als tonpgener Substanz für die glatte
Muskulatur der Arterien und Arteriolen zukomme, wurde
die Veranlassung zu dem Versuch, durch Rhodansalze eine intensive
Senkung des pathologisch gesteigerten Blutdrucks herbeizuführen.
Über die ersten solcher Anschauung entsprechenden Beobachtungen
konnte bereits kurz vor zwei Jahren berichtet werden. Die in-
zwischen an einem großen Krankenmaterial durchgeführten Beob-
achtungen gestatten jetzt eine bessere Beurteilung der ‚Frage, wie-
weit das SCN auch wirklich eine Bedeutung in der. ärztlichen
Therapie dieser Krankheit beanspruchen kann. ,
Als wesentlichstes Moment für die Entwicklung einèr ächernden Er-
ħöhung des arteriellen Blutdruckes müssen wir-die Verengerung der
arteriellen Strombahn besonders im Gebiet ihrer kleinen und kleinsten
Gefäße ansehen. Die Verengerung kann nicht überwiegend anatomischer
Art sein, zu große Gefäßgebiete, z. B. der quergestreiften Muskulatur
und Haut bleiben meist von arteriolo-sklerotischen Prozessen frei, ein
dauernd mehr oder minder verstärkter Kontraktionszustand der glatten
Muskulatur der kleinsten Arterien und Arteriolen ist als das Ausschlag-
gebende anzusehen. Wir sprechen bei diesem Zustand nach dem Vor-
332 Westpaau u. BLUM
gang von Pal besser nicht von einem Spasmus sondern von einer ver-
änderten Tonuseinstellung, einer tonogenen Sperrung im Sinne der Physio-
logen Grützner und Üxküll. Ein einfacher Versuch, eine Minute
lang Abschnürung des Oberarms mit der Blutdruckmanschette, zeigt be-
sonders charakteristisch bei der Betrachtung mit dem Kapillarmikroskop
diese Neigung zur pathologischen Sperrung der Muskulatur der Arteriolen.
Anstatt reaktiver byperämischer Erweiterung der Kapillaren sieht man
beim Hypertoniker bis zu 20 Minuten anhaltend Verschwinden und hech-
gradige Verengerung infolge mangelnder Erweiterungsfähigkeit der nach
der Abschnürung engkontrahierten Arteriolen. Diese und ebenso die
folgenden Mitteilungen über die Bedeutung des Cholesterins sind bereits an
anderer Stelle mit ausführlicher Berücksichtigung der Literatur von dem
einen von uns (W.) publiziert. Untersuchungen von O. Müller und
Hübener sowie von Lange aus der Romberg’schen Klinik führen zu
ähnlicher Auffassung auf Grund kapillarmikroskopischer Beobachtungen.
Eine solche abnorme tonogene Sperrung der Muskulatur der Arte-
riolen und Arterien kann theoretisch auf verschiedenen Wegen verursacht
sein, erstens durch geänderte nervöse Steuerung: zentral vom Vaso-
motorenzentrum aus oder peripher durch Eigenreflex des Gefäßsystems,
zweitens humoral durch abnorme innersekretorische Beeinflussung oder
durch andere Zustandsänderungen in der umgebenden Gewebsflüssigkeit
und drittens durch Anderung der Struktur der glatten Muskelfasern der
Gefäße selbst in ihrem sogenannten Substanztonus (Schulz). Dem Bei-
spiel von O. Loewi’s grundlegenden Feststellungen am Herzen und
anderen Untersuchungen der modernen Physiologie können wir allerdings
entnehmen, daß nervöse und humorale Steuerung im Endeffekt an dem
Erfolgsorgan sich oft nicht grundlegend unterscheiden, daß sie beide,
teils durch chemisch stofflliche Veränderungen in der Bildung von
örtlichen Reizstoffen, teils in physiko-chemischen Zustandsvariationen,
Jonenverschiebungen, , Umänderungen der Kolloidteilchen und ihres
Quellungszustandes, Anderung der Zellwandpermesbilität und dergleichen
bestehen und daß so auch Einwirkungen auf den Substanztonus selbst
in verschiedener Form hervorgerufen werden können.
Aber aus Gründen praktischer Forschung am Krankenbett werden
wir einem gewissen Schematisierungsbedürfnis nicht ausweichen und daher
auch nicht dem Versuch, durch Gruppierung faßbarer Bedingungen in der
noch völlig unklaren Genese dieser Krankheit weiter zu kommen.
Für die eigenen Untersuchungen über das Zustandekommen der
genuinen Hypertension wurde nun besonders die Frage geprüft, wie weit
kommen humoral wirkende, peripher an der Gefäßmuskulatur und
ihrem Substanztonus angreifende Stoffe für die Entstehung des Hoch-
drucks in Betracht? Ausgangspunkt waren die interessanten Fest-
stellungen der pathologischen Anatomen, daß unter den gleichen Be-
dingungen, die im Tierexperiment zu atheromatösen Veränderungen
der Gefäße führen, auch arterielle Blutdruckerhöhung stattfindet: von
van Leersum, Fahr, am exaktesten durchgeführt von M.Schmidt-
mann. Die von diesem Autor gefundene Tatsache, daß Cholesterin-
fütterung bei vielen, nicht allen Kaninchen, wochen- und monatelang
Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 333
oft schwankende Blutdruckerhöhung hervorruft, konnte in eigenen Nach-
untersuchungen bestätigt werden. Gleichzeitig mit der Blutdruckerhöhung
fand sich dabei eine Vermehrung des Cholesterins im Serum. Dieses
Lipoid wirkt nach gemeinsam mit F. Herrmann durchgeführten Ver-
suchen von W. am isolierten Arterienstreifen als Sensibilisator für gefäß-
kontrahierende Substanzen wie Adrenalin und Sauerstoff. Bei dem Ver-
such der Übertragung dieser Feststellung auf das Krankheitsbild der
genuinen Hypertension zeigte sich, daß hier in etwa 75°/, im Durch-
schnitt eine meist recht ausgesprochene Hypercholesterinämie besteht.
An dem Haupteinwand, der gegen die engen Beziehungen
zwischen Cholesterinanreicherung im Organismus und arteriellem
Hochdruck erhoben werden kann, nämlich daß es Zustände gibt,
bei denen keine Blutdruckerhöhung vorhanden ist trotz hochgradiger
Hypercholesterinämie, wie bei der Nephrose, Gravidität, Leber-
erkrankungen und schwerem jugendlichen Diabetes; ersieht man die
Kompliziertheit des vorliegenden Problems. Sie ist u. E. bedingt
durch die enge Verknüpfung der Einwirkung des Cholesterins auf
die Arterienwand mit dem physiko-chemischen Zustand im gesamten
Organismus. Die hochgradige Umstellung der Eiweißkörper im
Blute nach der Fibrinogen- und Globulinseite bei der Nephrose
und Gravidität gibt uns hier z. T. im Einverständnis mit Munk,
Kollert, Rusznyak Ausdruck von der völlig anderen Ein-
stellung des Kolloidzustandes nicht bloß im Blut sondern auch im
gesamten Körper, die den im Experiment festgestellten Cholesterin-
effekt auf die Gefäßwand verhindert. Die flüchtigen Hypercho-
lesterinämien bei vielen akuten und chronischen Leberschädigungen,
auch im Anschluß an Gallensteinattacken, finden mit ihrer gleich-
zeitigen Retention von Gallensäuren im Körper und anderen durch
die Dysfunktion der Leber bedingten Stoffwechselstörungen ebenso
wie die Blutcholesterinanreicherung bei schwerem zu Acidose und
Coma neigendem jugendlichen Diabetes ebenfalls statt bei einem
völlig anderen chemisch und physikalisch-chemischen Geschehen im
Organismus wie die Dauerhypercholesterinämie beim Hypertoniker.
Auf Einzelheiten soll hier nicht weiter eingegangen werden, auch
nicht auf die anderen entscheidenden Unterschiede zur Lipoid-
nephrose, wie z. B. auf das Absinken des Cholesterinspiegels zur
Norm bei starker Wasserausscheidung der Nephrose. Uns erscheint
die Entstehung der Hypercholesterinämie bei der genuinen Hyper-
tension und bei der Nephrose aus völlig entgegengesetzten Gründen
zu erfolgen, bei der Hypertension durch eine dauernd verstärkte
Retention im Körper: Leber- und Hautfunktion, innersekretorische
Steuerung, sowie physikalisch-chemische Bindungsverhältnisse werden
334 WESTPHAL u. BLUM
'hier für das Entscheidende gehalten, bei der Nephrose im Gegenteil
durch eine Lockerung der Lipoide aus sämtlichen Zellmembranen,
dadurch verstärktem Erscheinen im. Blut sowie Infiltration der
Nierenepithelien.
Es ist eben ein bestimmter Komplex von Bedingungen zur Ent-
wicklung des dauernd erhöhten Blutdruckes auch bei Hypercho-
lesterinämie notwendig, von nervöser Vasomotorensteuerung, inner-
sekretorischer Beeinflussung der Gefäßmuskulatur — Nebenniere
und Hypophyse seien da genannt als die bisher gesicherten — und
allzgemeinem Kolloidzustand der Eiweißkörper des Organismus. Als
wichtig wird ferner eine.nicht zu hochgradig veränderte Einstellung
des normalen Verhältnisses von Albumin, Globulin und Fibrinogen
“angesehen, bei hochgradiger Globulinvermehrung, z. B. beim Fieber
sinkt auch der erhöhte Blutdruck oft ab, um später bei der Rückkehr
zum normalen Albumingehalt wieder anzusteigen. Schließlich wird
ebenso das gesamte ionale Milieu stark mitentscheidend sein bei
seiner weitgehenden Beeinflussung jeder Körperzelle auge auch der
glatten Muskelfaser.
Für die Entstehung der zum Hypertonus führenden Hspercholesterin-
ämie ist wohl oft endokrine Steuerung mit ausschlaggebend, am ge-
sichertsten ist dies von der Keimdrüse, ibre Entfernung sowie das Zu-
rücktreten ihrer Funktion im Klimakterium führt zur Hypercholesterin-
ämie und oft zum Hypertonus, eine Subfunktion der Thyreoidea scheint
in ähnlicher Richtung wirksam sein zu können.
Bei der sekundären Schrumpfniere und bei der akuten Glomerulo-
nephritis spielt eine Cholesterinanreicherung im Blut keine Rolle. Auch
für die Entstehung besonders früh entwickelter genuiner Schrumpfnieren
wird das Cholesterin keineswegs als einziger ursächlicher Faktor ange-
sehen, die Mitwirkung anderer Stoffe, von Eiweißabbauprodukten, biogenen
Aminen usw. soll da keineswegs ausgeschlossen sein, doch dieser bisher
mit einer gewissen Sicherheit allein faßbare Faktor bei der Entwicklung
von genuiner Blutdruckerhöhung, die Vermehrung an Cholesterin, solite
vorerst in den Vordergrund der Betrachtung geschoben werden.
Wie könnte man sich den feineren Mechanismus erhöhten
Cholesterinangebotes auf die glatten Muskelfasern der kleinen und
kleinsten Arterien vorstellen? Es können da vorläufig nur Hypo-
thesen geäußert werden. Das hydrophobe Cholesterin als nicht
wasserlösliche Substanz spielt nach unseren allgemeinen An-
schauungen für die Bildung der aus Lipoiden und Eiweißkörpern
aufgebauten Zellmembran eine wichtige Rolle, ein erhöhtes Angebot
dieses Stoffes wird nicht bloß an Blutkörperchen (Brinkmann u.
van Dam) und künstlichen Membranen (Pascuceci) zu erhöhter
Abdichtung führen, sondern auch an den Muskelfasergrenzschichten
Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 335
der glatten Muskelfasern der Arterien. Eine solche Membranüber-
dichtung könnte in irgendwelcher Beziehung zum Kontraktionsakt
selbst stehen — am quergestreiften Muskel des Kaninchens haben
die weißen, schnell zuckenden und schnell ermüdenden Muskeln einen
viel geringeren Gehalt an Cholesterin als die roten, zu langsamerer
Zuckung aber auch zu stärkerer Dauerleistung befähigten Muskeln
(Embden und Lawascek, Behrendt) — und sie könnte zweitens
nach eingetretener Kontraktion die entsprechend den Feststellungen
von Meixs mit Wasser- und loneneintritt einhergehende Wieder-
ausdehnung der glatten Muskelfasern der kleinen Arterien hemmen.
Eine dauernde Entquellungsverkürzung derselben wäre bei solcher
Vorstellung die für die Entstehung des Dauerhochdruckes ent-
scheidende Veränderung an ihrem Substanztonus. Sehen wir die
abdichtende Wirkung des Cholesterins als das Wesentliche seiner
Einwirkung an, so muß ein entgegengesetzt wirkender Effekt mit
starker Auflockerung, Permeabilitätssteigerung der Muskelfaser-
grenzflächen auch einen entgegengesetzten Effekt auf den erhöhten
Blutdruck ausüben, Erweiterung der kleinsten Arterien und Blut-
drucksenkung. Aus dieser Überlegung wurde das Rhodan gewählt,
da die dauernde Zufuhr großer so wirksamer Mengen von Lecithin,
diesem dem Cholesterin in vielem antagonistisch wirkenden Lipoid,
praktisch nicht möglich erschien.
Rhodan (SCN) steht in der nach ihrem Entdecker Hofmeister
benannten lyotropen Reihe der Anionen auf dem äußersten
Flügel der auf Scheiben von Gelatinegallerte am stärksten quellend
wirkenden Substanzen neben dem Jod, im Gegensatz zu dem oberhalb
einer gewissen Konzentration stark entquellenden und schrumpfen-
lassenden Sulfat, Tartrat usw. Die Anionen ordnen sich dabei in
ihrer Quellungsfähigkeit in folgender Weise: SO, < Tartrat < Citrat
< Acetat < Chlor < Brom NO, < Jod < Rhodan. Weniger deut-
lich sind die Unterschiede bei den Kationen. Von der Anionenreihe
wird in ähnlicher Weise beeinflußt die Erstarrungszeit von Gelatine,
der osmotische Druck der Eieralbumine, und was für biologische
Verhältnisse am wichtigsten erscheint, auch die Löslichkeit von
Hühnereiweiß und Lecithin (Hofmeister, Höber, Porges und
Neubauer, Pauli). Der rechte Flügel der Anionenreihe am
stärksten SCN, weniger ausgesprochen Jod fällen sehr oft nicht nur
nicht, sondern rufen sogar eine Aufhellung der Lösung hervor.
Die Quellung und auflösende Wirkung des Rhodans und Jod ist
nur in alkalischer und meist in neutraler Lösung vorhanden, in
sauerer tritt ein umgekehrter Effekt der Iyotropen Reihe ein (Pauli,
336 WestpHuaL u. BLUM
Höber). Auch am lebenden Objekt sind gleichsinnige, meist der
Wirkung und alkalischem Milieu entsprechende Beeinflussungen
durch die Anionenreihe oftmals gezeigt.
Die Hämolyse der Erythrocyten verschiedenster Tierarten erfolgt in
schwach hypotonischer Salzlösung zeitlich entsprechend der Hofmeister-
schen Anionreihe (Höber). Die pigmentierten Eizellen des Seeigels Arbacia
zeigen Pigmentaustritt mit steigender Geschwindigkeit bei Variationen
der Anionen in der gleichen Reihenfolge, die parthenogenetische Ent-
wicklung findet in gleicher Folge am stärksten und schnellsten statt
(Lillie). Bei Protozoen (Paramaecium) findet bei Rhodankali eine
starke Vermehrung und Zellteilung statt mit Schwellung des Körpers ganz
im Gegensatz z. B. zu CaCl, (Spek). An der Pigmentierung der
Fischschuppen eines Teleostiers konnte Späth die Wirkung der
lyotropen Anionenreihe an den im steigendem Maße expandierten
Melanophoren direkt ablesen. Flimmerepithelien verschiedener Art
(Weinland, Höber, Lillie) werden in ihrer Bewegung am
schnellsten gelähmt, ja sogar bei den bewimperten Larven von Arenicolar
zur Auflösung gebracht durch den Jodflügel der Anionenreihe, Spermatozoen
in ähnlicher Weise geschädigt (Gellhorn). Turgormessungen an Pflanzen-
zellen (Tröndle, Kahko) zeigten ebenfalls schön den gleichen
quellenden Einfluß dieses Teils der Anionen.
Alle diese Beobachtungen rechtfertigen den Standpunkt, daß
auch am lebenden Objekt die Wirkung der Salze in einer Kolloid-
zustandsänderung zu erblicken ist. In ähnlicher Weise wie
Traube’sche Niederschlagsmembranen nach Walden für Chlor,
Brom, Jod und Rhodanionen im allgemeinen durchlässig sind,
während sie für Phosphate, Sulfate undurchlässig sind, können wir
uns auch an den nach unserer begründeten Annahme nicht nur aus
Lipoiden, Cholesterin und Lecithin sondern auch Eiweißkörpern
bestehenden Plasmahäuten unter dem Einfluß des Rhodans
am stärksten, unter den benachbarten Ionen weniger stark Auf-
lockerung, Quellung und Permeabilitätssteigerung
vorstellen. Sekundär werden die Salze dann auch im Zellinnern
ihre Wirkungen auf die Kolloide ausüben können, als Effekt sehen
wir dementsprechend die Hämolyse, den Pigmentaustritt, die Auf-
quellung der Flimmerepithelien und Pflanzenzellen an dieser im
wesentlichen aus dem Höber’schen Buche gewonnenen Zusammen-
stellung.
Auch am quergestreiften Muskel erweist die Hofmeister'sche
Anionenreihe eine ausgesprochene Wirkung: Schwarz zeigte, daß die
in Rohrzuckerlösung gelähmten Froschmuskeln durch Zusatz der Natrium-
salze der Hofmeister’schen Reihe in niedriger Konzentration durch
Rhodan und Jod am besten, schwächer durch Brom, Nitrat und Chlorid
wieder erregbar gemacht werden konnten. In enger Beziehung zu dem
Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 337
starken Kontraktionseffekt des Rhodans und Jod stehen Feststellungen
aus dem Embden’schen Institut (Embden und Lenhartz, Lange
und Mayer), welche die stärkste Phosphorsäureabspaltung aus dem
Lactacidogen unter dem Einfluß dieser beiden stark quellungsbegün-
stigenden und permeabilitätssteigernden Ionen beobachteten im Gegensatz
zur Sulfat- und Tartratwirkung und den sogar Lactacidogensynthese herbei-
führenden Citrat und Fluorid. Physikochemisches und chemisches Ge-
schehen erscheinen dabei am quergestreiften Muskel eng gepaart.
In dieser, oft stärker wie beim Jod ausgeprägten kolloid-
quellenden Wirkung des Rhodans und seiner Permeabilitätssteigerung
an den Zellgrenzflächen wurde die gesuchte entgegengesetzte Wir-
kung zum Cholesterineffekt gesehen. Daher erfolgte seine An-
wendung zur Senkung des Blutdruckes. Die Wirkung am Kranken
entsprach der Erwartung. Es erfolgten große und ausgesprochene
Blutdrucksenkungen von 40—80 mm Hg. Nach der ersten Mit-
teilung darüber machte Volhard in einer Besprechung darauf
aufmerksam, daß bereits von Pauli und Pal Ähnliches über der
Rhodanwirkung berichtet sei. Bei der dann vorgenommenen Durch-
sicht der Literatur fand sich, daß Pauli bereits 1903, ebenfalls
ausgehend von seinen eigenen Untersuchungen über die Wirkung
der Anionenreihe an den Eiweißkörpern an Stelle des Jod Rhodan
angewandt und seine stark blutdrucksenkende Wirkung konstatiert
hat. Bestätigungen dieser Wirkung liegen von Pal und Dalmady
vor. Seitdem ist jedoch die Rhodananwendung wieder so aus der
ärztlichen Therapie und dem Wissen verschwunden, daß sie auf
dem Kongreß für innere Medizin in Wien 1923 mit dem Haupt-
thema „Arterieller Hochdruck“ keine Erwähnung fand. Dieses
Verschwinden aus der allgemeinen ärztlichen Verwendung kann
an den unangenehmen Nebenwirkungen der größeren von Pauli
und Pal angewandten Dosierung liegen.
Die hier vorliegenden Untersuchungen über die Einwirkung
des Rlıodans auf den Blutdruck wurden stets mittels Dauerkurven
desselben durchgeführt, die gewonnen waren mittels 1—2mal täg-
licher Bestimmung nach dem Vorgange von Fahrenkamp,
Kylin, F. Kauffmann. Es wurde vor Anwendung des Mittels
mindestens 10—14 Tage lang der Blutdruck gemessen, um die
spontan bei Bettruhe und auch manchmal bei Dekompensierten in-
folge Besserung der Kreislaufverhältnisse — Sahli’s Hochdruck-
stauung — eintretende Blutdrucksenkung nicht für eine rhodan-
bedingte zu halten. Oft war die Zeit des Vorversuchs länger
ausgedehnt, vor allem bei den durch den einen von uns (B.) unter-
suchten Fällen aus dem Material des Krankenhauses Sandhof, die
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 22
338 WestpHAL u. BLUM
wir mit gütiger Erlaubnis des Herrn Professor Alwens dieser Be-
handlung unterziehen konnten. |
Die erste Serie von Kranken wurde mit größeren
Rhodandosen behandelt, die Menge betrug, nachdem wir an
dem ersten, hiermit beeinflußten Patienten nach 3tägiger Behand-
lung mit je 3g Rhodankali neben dem Absturz des erhöhten Blut-
drucks toxische Erscheinungen gesehen hatten, 3mal täglich 0,5 g.
Diese Menge wurde 8—12 Tage lang gegeben. Bei 12 so be-
handelten Patienten wurde nur dreimal eine ausgesprochene Blut-
drucksenkung vermißt, sie betrug im Durchschnitt 40—50 mm Hg
und trat etwa am 6.—10. Tage der Behandlung ein. Die Kranken
waren zum großen Teil Patienten mit überstandenen Apoplexien,
solche mit sekundärer Schrumpfniere oder ausgesprochen schwerer,
maligner Form der genuinen Schrumpfniere befanden sich nicht
darunter. Bei den mit subjektiven Beschwerden Behafteten trat
oft eine weitgehende Besserung derselben auf, aber an deren Stelle
traten häufig so unangenehme und schwere Nebenerschei-
nungen, daß diese Art der Dosierung bald verlassen werden
mußte.
Es mag vielleicht an der Art der meisten so behandelten Kranken
liegen, daß wir, im Gegensatz zu Pal, der 1—3 g Rhodansalz, und zu
Pauli, der 1 g täglich gab, die Schädigungen so häufig und stark aus-
geprägt sahen. Während Pauli z. B. nur ähnlich wie beim Jodismus
von Rhodanschnupfen und Akne zu berichten weiß, wurde hier in viel
stärkerem Maße eine Steigerung der Entzündungsbereitschaft an ver-
schiedenen Organen gesehen. Dreimal trat, allerdings stets bei den dazu
stärker disponierten Apoplexiekranken, eine Bronchopneumonie auf, bei
zweien von ihnen mehrere, 6 und 10 Tage nach dem Absetzen des
Mittels, wir werden später an dem Blutrhodangehalt sehen, daß hier trotz-
dem ein Zusammenhang anzunehmen ist, einmal trat eine Laryngitis auf
und einmal eine Angina, sowie gleichzeitig Konjunktivalblutungen, nicht
durch einen lokalisierten und erkennbaren Prozeß bedingten Fieberanstieg
auf 38,2 sahen wir bei einem Kranken — es sei an Höber’s Auf-
fassung von Kochsalzfieber erinnert — und schließlich trat einmal ein
Rhodanexanthem auf.
Bei 4 Kranken bemerkten wir psychische Störungen, bei zweien
waren sie geringen Grades, leichte kurzdauernde Verwirrtheitszustände
verbunden mit einer gewissen Apathie im Verlaufe von 1—2 Tagen, bei
den beiden anderen trat 2—3 Tage lang anhaltend ein psychoseartiger
Zustand auf mit völliger Desorientiertheit, Visionen von Verwandten,
Angstzuständen, der dann ohne irgendwelche Folgeerscheinungen ver-
schwand. Volhard berichtet auch von solcher Rhodanwirkung. Endlich
klagten 3 Patienten nach der schnellen Senkung des Blutdrucks etwa
von 200 auf 125 bis 140 mm Hg über allgemeine Mattigkeit, leichte
Übelkeit, ein flüchtiger Kollaps trat einmal ein, die muskuläre Schwäche
Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 339
war nicht bloß subjektiv vorhanden, sondern auch mit dem Dynamometer
als stark ausgeprägt erkennbar.
Diese Steigerung der Entzündungsbereitschaft, die hochgradige
Schwäche der quergestreiften Muskulatur und die Neigung zu
Psychosen erschienen uns sämtlich als Ausdruck der in jeder Zelle,
vielleicht an jedem Eiweißkörper des Organismus angreifenden
Wirkung des Rhodans, sie gehen weit über das vom nahestehenden
Jod als Intoxikationserscheinung Bekannte hinaus und sind aus
theoretischen Gründen als Ausdruck einer starken Permeabilitäts-
steigerung an vielen Organzellen, z.B. den Kapillaren (Entzändungs-
bereitschaft) und vielleicht auch den Ganglienzellen des Großhirns
(Psychose) für Fragen der allgemeinen Pathologie und der Psych:
iatrie sehr interessant. Diese Beobachtungen werden daher in
gewisser Richtung von uns weiter verfolgt. |
Für das praktische Handeln am Krankenbett bedeutete jedoch
diese Erfahrung die Forderung einer starken Verkleinerung der
therapeutischen Dosis. Es wurde jetzt gewählt als mittlere
Rhodandosis 3mal 0,2 g Rhodankalium oder -natrium
täglich, manchmal wurde bei guter Verträglichkeit nach langer
Durchführung der Therapie mit der Dosierung angestiegen, etwa
239
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Kurye 1. Blutdruckkurve bei 135 tägiger Behandlung mit mittleren und gröbe
Dosen von Rhodannatrium (3 mal 0,2-- 0.4 täglich) bei Frau G. C., 59jährig.
790
3o j.
70
60
J0 \ :
20 |
u Praemar grip
Akku am
Tage 2345- -- -TOM- --15- == 202 - --25- -- -30-- --25- ---40-- -45-.-- -30-- --35- -- -OQAR
Kurve 2. Blutdruckkurven unter 4wöchiger Behandlung mit mittleren Rhodan-
kalidosen 3 mal 0,2 täglich bei Frau M. K., 63jährig.
22*
340 Westpruar u. BLUM
bis 3mal 0,3 g. Es wurden 38 Patienten in dieser Weise 14 Tage
bis 6 Monate lang behandelt. Die Beeinflussung ihres erhöhten
Blutdrucks war dabei folgende: bei 19, also der Hälfte erfolgte
eine ausgesprochene Senkung nach 8—10—20 Tagen, 30, meist
40—60 mm Hg betragend, sie trat auffallenderweise manchmal
erst nach Aussetzen der Rhodangaben ein, hielt im Durchschnitt
4—6 Wochen an, um dann langsam wieder anzusteigen. Auch ein
Kranker mit ursprünglich endokarditisch bedingter Aorteninsufficienz
befindet sich unter den so Beeinflußten. Unter den Kranken mit
geringer ausgeprägtem Effekt trat bei 9 eine Senkung um 10 bis
20 mm ein, der Rest von 10 blieb in der Höhe des Blutdrucks
unbeeinflußt. Rhodankalium machte wenige Male eine stärkere
Senkung im Blutdruckniveau bei den gleichen Patienten als Rhodan-
natrium, Kochsalzentziehung schien einigemal den vorher nicht so
deutlichen Effekt der Rhodanwirkung zu beschleunigen. Zu den
unbeeinflußten Fällen gehörten zum überwiegenden Teile die in
unserem Krankenmaterial nicht so häufig vertretenen mit ausge-
sprochener Funktionsstörung der Nieren.
Unter ihnen waren 4 sekundäre Schrumpfnieren und 2 maligne
genuine Schrumpfnieren. Bei einer dieser Kranken trat eine deutliche
Blutdrucksenkung um 30 mm Hg ein, doch blieben ihre Angina pectoris-
Beschwerden völlig unbeeinflußt. Auch bei den übrigen schwer Nieren-
kranken blieben die Beschwerden, die Kopfschmerzen und leichte prä-
urämische Erscheinungen weiter bestehen und außerdem zeigte sich
selbst bei diesen kleineren Dosen eine starke Neigung zu Rhodan-
intoxikationserscheinungen: Depressive Stimmung und Mattigkeit; eine
wegen dauernder schwerer apoplektiformer Insulte mit stundenlanger Be-
wußtlosigkeit mit 4mal 0,2 g 6 Tage lang behandelte Kranke wurde ge-
bessert und klar, die Lähmungen schwanden größtenteils, dann setzte
plötzlich eine 2 Tage lang anhaltende Rhodanpsychose ein. Ein 50jähriger
Schneider mit sekundärer Schrumpfniere bekam nach 7 tägiger Behandlung
mit 4mal 0,2 Rhodannatrium eine Angina, 9 Tage später eine Pneumonie,
gleichzeitig bestand ein sehr hoher Rhodanspiegel im Blutserum und dem
20 Tage nach Absetzen des Mittels festgestellten Pleursexsudat über
der Pneumonie (vgl. Kurve 4). Wir werden später auf diese Frage
näher eingehen. Auch ein hier nicht mitgezählter, mit 1 g Rhodan-
natrium behandelter Kranker mit primärer genuiner Schrumpfniere und
versagendem Kreislauf mit ausgedehnten Odemen wurde ebenso wie ein
anderer Fall von jugendlicher maligner Schrumpfniere nicht beeinflußt.
Nur an einer Patientin mit einer alten sekundären Schrumpfniere erlebten
wir eine deutliche Blutdrucksenkung und Besserung ihrer Beschwerden,
Im allgemeinen aber möchten wir wegen dieser Erfabrungen davon ab-
raten, Kranke mit ausgesprochenem, leicht erkennbarem Versagen der
Nieren und Krankheitserscheinungen derselben im Sediment, Rest N im
Blute und bei Funktionsprüfung der Rhodantherapie zu unterziehen.
Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 341
Bei den übrigen Patienten, die sich zusammensetzten aus
genuinen Hypertensionen ohne klinische Erscheinungen einer
Nierenschädigung außer vielleicht einer leichten Einschränkung
der Konzentrationsfähigkeit, und die in der Mehrzahl wohl als
anatomischen Prozeß eine -leichte arteriosklerotische Schrumpfniere
aufwiesen, sahen wir keine derartigen Intoxikationserscheinungen,
bei ganz langer Durchführung der Therapie nur einmal am
60. Tage ein Rhodanexanthem, das sofort durch eine Heliobrom-
pinselung beseitigt werden konnte, einmal Rhodanschnupfen, zweimal
nach 65 und 170 Tagen Magen-Darmerscheinungen mit Übelkeit
und einmal auch Durchfällen, einmal eine Art von flüchtigem
Quincke’schem Ödem und zweimal hörten wir Klagen über die
Psyche nach wochenlanger Behandlung, einmal über leichte Auf-
regung und einmal über leichte Depression. Alle diese leichten
Beschwerden waren sofort nach Aussetzen des Mittels zu beseitigen,
auch die geringe Müdigkeit, die sich bei einigen der Patienten (4)
bemerkbar machte nach starker Senkung des Blutdrucks.
Da besonders diese Müdigkeit den im subjektiven Befinden
der Patienten sonst meist so eklatanten Erfolg in geringem Maße
störte, wurde schließlich noch eine Therapie mit kleinen
Rhodandosen verwandt. Es wurde 3 X< 0,1 g pro Tag gegeben,
absteigend bis auf 10,1 und 0,05 g. Unter genauer klinischer
Beobachtung wurden so behandelt 25 Kranke. Der Erfolg der
Blutdrucksenkung war bei diesen so behandelten Patienten ein
meist nur geringer, an den Blutdruckkurven sahen wir 4X eine
Senkung um 30—50 mm Hg, bei 5 Kranken um 20 mm Hg; jedoch
konnten wir öfter feststellen, daß die Stärke der Schwankungen
des Bilutdrucks bedeutend nachließ (vgl. Kurve 5, auch 1—2).
Gerade diese Schwankungen des Blutdrucks bei der genuinen
Hypertonie sehen wir nach den Beobachtungen an der v. Berg-
mann'schen Klinik hauptsächlich als Ursache der starken subjek-
tiven Beschwerden und auch oft als Auslöser der angiospastischen
Insulte des Gehirns an, über deren Bedeutung für die Entstehung
der Apoplexie kürzlich der eine von uns (W.) eingehende Unter-
suchungen veröftentlicht hat.
Besonders durch dasZurücktreten dieser Blutdruckschwankungen
und durch eine geringe arterielle Gefäßerweiterung in den für ischä-
mische Zustände besonders empfindlichen Gebieten wie Hirn, Herz,
Mittelohr usw. erklären wir uns den so günstigen, auch mit den
kleinen Rhodandosen zu erzielenden Effekt. Bei 3 Patienten, die
monatelang mit mittleren und kleinen Rhodandosen behandelt
342 WESTPHAL u. BLUM
wurden, war das subjektive Befinden unter den kleinen Dosen
noch günstiger beeinflußt als mit den mittleren. Wir ziehen diese
Art der Dosierung für die allgemeine Therapie daher im allge-
meinen vor. Kopfschmerzen, manchmal in Form der Migräne,
Schwindelanfälle, Schlaflosigkeit, Angina pectoris-Anfälle, Klagen
über Herzklopfen und Druckgefühl in der Herzgegend, die Neigung
zu angiospastischen Insulten des Gehirns, das Ohrensausen und die
diffusen muskel-rheumatischen Beschwerden (Hochdruckrheumatis-
mus) verschwinden sehr oft schon nach 3—4tägiger Behandlung,
kurz, der gesamte für den mit dem Krankheitsbilde Erfahrenen so
charakteristische Komplex der Beschwerden des arteriellen Hoch-
druckes erfährt meist eine ausgezeichnete therapeutische Beein-
flussung. Manchmal stellt sich während der Therapie eine Ab-
blassung des Gesichtes des „roten“ Hypertonikers Volhards ein,
wir halten diese Verengerung von kleinen Venen und venösen
Schenkeln der Kapillaren für bedingt durch die Arteriolenerweite-
rung, der spastischatonische Symptomenkomplex O. Müller’s wird
in doppeltem Sinne günstig beeinflußt.
Die Erfolge dieser an großem Krankenmaterial
weiter durchgeführten Therapie mit den kleinen und
mittleren Rhodandosen erschienen uns oft besser als mit
der im allgemeinen bisher üblichen Behandlung mit Theobromin-
präparaten, Jod, Nitriten, Fiebertherapie, Kalzium und Atropin.
Vergleichsbehandlungen wurden öfter durchgeführt. Wegen
dauernder Schwindelanfälle und Kopfschmerzen oder Angina pectoris-
Beschwerden arbeitsunfähige Menschen wurden wieder arbeitsfähig.
des öfteren von flüchtigen apoplektiformen Lähmungen und schweren
Ohnmachtsanfällen Befallene blieben nun frei, wir sehen daher in
einer konsequent durchgeführten Rhodantherapie auch eine gute
Prophylaxe gegen den Eintritt der Apoplexie. Ganz auffallend
besserten sich ebenfalls nach den an der Frankfurter Ohrenklinik
von Herrn Kollegen Berberich erhobenen ausgedehnten Beobach-
tungen die beim Hypertonus so häufigen Klagen über Ohrensausen
und Schwerhörigkeit, Herr Dr. Berberich wird selbst darüber
berichten. Die Dosierung wurde auch wegen der bei der Be-
stimmung des Rhodangehalts im Blutserum gewonnenen Eindrücke
in der letzten Zeit nach vielen Nachprüfungen an ambulant be-
handelten Kranken als günstigste so gewählt, daß 3mal 0,1 g
täglich in der ersten Woche, 2mal 0,1 g täglich in der zweiten
Woche und 1 mal 0,1 g täglich in der dritten Woche gegeben wurde.
dann 1 Woche nichts und anschließend gegebenenfalls wieder ein
Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 343
neuer Turnus in der gleichen Art von vier Wochen Dauer.
Für monatelang durchgeführte Dauerkuren hat sich 0,1—0,05 g
täglich auch oft gut bewährt. Irgendwelche störende Neben-
erscheinungen traten bei diesen kleinen Rhodandosen nie auf. Das
Medikament wird am besten nach dem Essen genommen, klagt
mal ein sehr empfindlicher Patient über leichte Müdigkeit, so geht
man mit der Dosis herunter oder setzt für einige Tage die
Therapie aus. | |
An Salzen wurden verwandt meist in wäßriger Lösung das
Rhodan-Kalium, -Natrium und -Ammonium. Inder letzten Zeit hat
sich uns sehr gut bewährt ein Rhodanpräparat der Chemisch-
Pharmazeutischen Aktiengesellschaft Bad Homburg, das Rhoda-
purin, das auf Anregung des einen von uns (W.) aus der Absicht
entstanden ist, mit der guten Wirkung der kleinen Rhodandosen
die gefäßerweiternde der Koffein- und Theobromingruppe zu ver-
einigen. Es ist ein Komplexsalz des Rhodanammon mit dem
Trimethylxanthin, gut haltbar in Tablettenform und bietet so eine
völlig zuverlässige und bequeme Möglichkeit der Therapie mit den
kleinen SCN-Dosen. Im ganzen verfügen wir jetzt zusammen mit
dem Krankenmaterial des Herrn Dr. Berberich und einiger
Kollegen, die auf unsere Bitte diese Therapie der Hypertension an-
wandten, über eine Übersicht von etwa 300 Fällen, bei denen wir
bis auf wenige Versager nur Gutes damit gesehen haben, wir
können daher in der Form der kleinen Rhodandosen die Therapie
nur empfehlen.
Auch bei zwei der genuinen Hypertension wegen der in gleicher
Weise vorhandenen Hypercholesterinämie wohl nicht ganz fern-
stehenden anderen Krankheiten sahen wir allerdings an nur kleinem
Krankenmaterial Gutes: bei den Kreislaufbeschwerden des Kli-
makteriums oder der künstlich kastrierten Frauen mit den Blutdruck-
schwankungen, Wallungen usw. und zweitens auch bei anfallsweise
eintretenden angiospastischen Beschwerden ohne ausgesprochene
Hypertension z. B. beim Altersdiabetes. Bei intermittierendem
Hinken, Raynaud-Attacken erscheint uns ein Versuch mit ihr auch
angebracht. |
Große Rhodandosen wurden nur noch zweimal
bier angewandt wegen drohenden Verlustes der Zehen durch
Gangrän bei ausgesprochenen Hypertensionen, das eine Mal mit
Diabetes, das andere Mal ohne diesen. Beide Male konnte schnell
eine erhebliche Blutdrucksenkung und damit gleichzeitig bessere
344 WestpHaL u. BLUM
Durchblutung und Rettung der Zehen erreicht werden, im Falle
des Diabetes zusammen mit energischer Insulintherapie. Hier war
der therapeutische Effekt ein besonders schöner, da nicht nur die
ganze große und Partien der 2. und 3. Zehe tiefblau verfärbt und
kalt waren, sondern auch über den Strecksehnen benachbarte
Partien des Mittelfußes. Mit der Blutdrucksenkung trat gute
Durchblutung der von Gangrän bedrohten Partien ein (vgl. Kurve 3),
der Patient konnte später mit völlig geheiltem Fuß das Kranken-
haus verlassen.
Als Gegenindikation der Behandlung auch mit kleinen
Dosen von Rhodan betrachten wir erstens wegen der Steigerung
Kurve3. Blutdruckurve — -
und Rhodangehalt im Serum
------ bei 6tägiger Behand-
lung mit großen Rhodandosen
(mal 0,3 Rhodannatrium;) bei
0. B. 66jährigem Diabetiker
mit beginnender Gangrän der
1.—3. Zehe und benachbarter
Mittelfußteile deslinken Fußes.
Bei und nach der Blutdruck-
senkung bessere Durchblutung
der gefährdeten Zehen und Ein-
1 Errak x setzen der Heilung der be-
TOO 2IHSUTEIMMZ--IE- -- -B0-- --25- -- MN 'ginnenden Gangrän.
der Entzündungsbereitschaft durch SCN Fälle von ausgesprochen
entzündlichen Erkrankungen jeder Art, nicht abgeheilte
Tuberkulosen usw., zweitens neben der akuten Glomerulonephritis
und ihrer sekundären Schrumpfniere auch bei der genuinen Schrumpf-
niere die ausgesprochenen Erscheinungen von Nieren-
erkrankung wie große Eiweißmengen im Urin, schwerverändertes
pathologisches Sediment, schwere Funktionsstörungen bei Aus-
scheidungs- und Konzentrationsversuch, Rest-N-Erhöhung im Blut,
präurämische und urämische Erscheinungen. Vereinzelte hyaline
Zylinder im Sediment und eine geringe Beschränkung der Kon-
zentrationsfähigkeit, wie sie bei der gutartigen Form der Nephro-
sklerose vorzukommen pflegt, stellen kein Hindernis der Behand-
lung dar, auch nicht leichte Dekompensationsstörungen des Kreis-
laufes, wie geringe Ödeme, Stauung in Lunge und Leber. Im
Gegenteil, wir sahen dann manchmal zusammen mit der Digitalis-
einwirkung schöne dauernd anhaltende Erfolge in der Behandlung
der Dekompensation besonders dann, wenn eine mäßige Blutdruck-
erniedrigung eintrat. Schwere Dekompensation mit ausgedehntem
Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 345
Ödem und mit ausgeprägter Stauungsniere möchten wir wegen der
Rhodanretentionsgefahr im allgemeinen von der Therapie aus-
schließen.
Damit kommen wir zu der Frage, ist die Blutdruck-
senkung, wie sie bei der Behandlung mit den mittleren Rhodan-
dosen oft eintritt, nicht für die Nierenfunktion schädlich?
Traube’s alte Lehre von der kompensatorischen Herzhypertrophie,
heute vertreten durch die Auffassung von der Nützlichkeit des
hohen Biutdrucks bei der arteriosklerotischen Schrumpfniere durch
H. Strauß, Goldscheider, Rosin, Ambard und Loeb
steht da einer Auffassung gegenüber, wie sie etwa Krehl äußert:
„verengern sie (die Nierengefäße) sich mit den anderen Gefäßen,
so wird der allgemeine Erregungszustand im Gegenteil schädlich .
für die Nierenarbeit sein“. Ähnlich denken auch Külbs und
F. v. Müller und gerade nach den hier gewonnenen Erfahrungen
möchten wir uns solcher Auffassung anschließen. Auf die in
gleicher Richtung erfolgten Untersuchungen von Roßbach,
Müller-Dehan und F. Kauffmann’s sei verwiesen.
Es wurde hier bei einer Reihe von Kranken mit genuinem
Dauerhochdruck und wohl auch oft arteriosklerotischer Schrumpf-
niere vor und nach Eintritt der Blutdrucksenkung Konzentrations-
fähigkeit und Ausscheidungsfähigkeit der Nieren sowie Rest-N im
Blut bestimmt.
Über 3 Kranke sei als Musterbeispiel genauer mit Zahlenangaben
berichtet.
1. R. Ö., 52jähriger Mann. Dauerhochdruck von 200—210 mm
Hg. Nierenfunktion: Ausscheidung gut, Verdünnung bis 1001, Konzen-
tration bis 1025. Rest-N im Blut 0,021 g°/,. Nach 7 Wochen lang
durch mittlere Rhodangaben durchgeführter Senkung des Blutdrucks auf
135—150 mm Hg. Nierenfunktionsprüfung: Ausecheidung gut, Ver-
dünnung bis 1001, Konzentration bis 1026, Rest-N im Blut 0,023 g "h"
2. G. C., 59jährige Frau. Blutdruck (vgl. Kurve 1) 200—230 mm
Hg. Nierenfunktion: Ausscheidung gut, Verdünnung bis 1001, Konzen-
tration bis 1020. Rest-N im Blut 0,030 g°’/,. Nach 15 Wochen langer
Senkung des Blutdrucks durch Rhodan auf 150 —170 mm Hg. Nieren-
funktion: Ausscheidung gut, Verdünnung bis 1001, Konzentration bis
1025, Rest-N 0,024 g°/,.
3. K. O., 63 jährige Frau. Blutdruck 160—190 mm Hg. Nieren-
funktionsprüfung:. Ausscheidung gut, Verdünnung bis 1001, Konzen-
tration bis 1025, Rest-N 0,035 g°%- Nach 10 Wochen Rhodan-
behandlung Senkung auf 130—140 mm Hg. Nierenfunktion: Ausschei-
dung gut, Verdünnung bis 1001, Konzentration 1030, Rest-N im Blut
0,024 g °.
346 Westpuan u. Buum
Bei den übrigen Kranken verhielten sich die Zahlen in ähnlicher
Weise. In einem Falle könnte man vielleicht von einer Erhöhung des
Rest-N sprechen von 33 mg auf 40 mg °/,, aber auch diese Zahlen fallen
noch in die Breite der normalerweise vorkommenden Schwankungen.
nP
.. Eine Schädigung der Nierenfunktion trat demnach niemals ein.
Ödeme traten auch niemals auf. Entsprechend der geringen Er-
weiterung der Kapillaren, die wir kapillarmikroskopisch öfter
sahen nach der Blutdrucksenkung, und dem dann auch weniger
ausgeprägten Umschnürungsreflex wird auch die Durchblutung der
Niere dann im allgemeinen wenigstens in den anatomisch nicht
zu stark veränderten Partien der Gefäße mindestens ebensogut
sein wie vorher, wenn nicht besser. Der Standpunkt von
H. Strauß, daß „bei arteriosklerotischen Veränderungen in der
Niere die ausreichende Leistung derselben von der arteriellen
Hypertension vermittelt wird“, kann daher für die Mehrzahl solcher
Kranker nicht geteilt werden.
Verfolgt man bei therapeutischen Rhodangaben die Aus-
scheidung des SCN im Urin und Speichel, so sieht man dort eine
deutliche Vermehrung desselben. Das ist im Schrifttum bekannt.
(0. Adler, A. Edinger, Diena, A. Mayer, Saxl, Grober,
Juergens), eine gute Zusammenstellung der gesamten Literatur
gab neben gediegenen eigenen Untersuchungen vor kurzem
Lickind. Im Serum konnte nun ebenfalls mit Hilfe einer
zusammen mit unserem Mitarbeiter H. Schreiber ausgebauten
Methodik ein deutlicher Anstieg der SCN-Ionen fest-
gestellt werden. Dieser Nachweis erschien uns wichtiger als die
dauernde Nachprüfung im Urin oder Speichel, da dort der Gehalt
schon nach den alien und seitdem oft bestätigten Feststellungen
Claude Bernards vom Tabakrauchen abhängig ist, die Re-
sorption von Cyanverbindungen, die bei der Verbrennung der im
Tabak vorhandenen Proteinkörper entstehen, ist anscheinend die
Ursache dieser Vermehrung im Speichel. Unsere Methode geht
aus von der bekannten Eisenchloridprobe, sie ist in der biochemi-
schen Zeitschrift von Schreiber eingehend publiziert.
Es wird aus dem Serum ein eiweißfreies Filtrat gewonnen, in dem
2 ccm desselben mit gleichen Teilen 20°/,iger Trichloressigsäure ver-
` setzt werden, dabei geht naturgemäß ein Teil des an die Kolloide ge-
bundenen -oder adsorbierten SCN verloren, nur das wirklich gelöste
ionisierte oder im Moment der Eiweißfällung freiwerdende SCN ist so
feststellbar. Dann wird zur Anstellung der Rhodanreaktion benutzt ein
folgendermaßen zusammengesetztes, farblosses Ferrireagens:
Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 347
10 ccm 10%, Fe(NO,),
10 ccm N/10 HNO,
30 Tropfen 20°, HNO,
15 Tropfen davon geben dem Filtrat einen blaßgelben bis gelbroten
Farbton, der verglichen wird mit einem Keil eines Autenrieth-
Kolorimeters, dessen Füllung jedesmal neu geschehen muß mit einer
1 mg’ Rhodan-Kali-Lösung und einen bestimmten NaCl-Zusatz und
dem Ferrireagens. Dieser Keil wurde geeicht gegen Rhodan-Kali-
Lösungen verschiedenen Gehaltes und eine Eichungskurve gewonnen,
Darausergibt sich die Möglichkeit der Berechnung des Rhodangehaltes
in dem zu untersuchenden Serum, bei großem Gehalt von SCN nach Ver-
dünnung desselben.
Bei einer Untersuchung an 225 Patienten schwankten die im Serum
gefundenen Rhodanwerte zwischen 0,015—0,06 mg?/. Bei Diabetikern
erschienen die Werte oft etwas höher als bei den anderen, deutlich er-
höht erschienen sie auch bei Rauchern bis auf 0,1 mg °p, das entspricht
auch der erhöhten Rhodanausscheidung im Speichel bei ihnen. Starke
Schwankungen waren bei Normalen sonst nicht feststellbar. Nach intra-
muskulärer Schwefelinjektion fand kein Anstieg statt, die SCN-Bildung
spielt daher bei der Biutdrucksenkung durch solche Injektionen keine
Rolle, diese erscheint eher bedingt durch das dabei erzeugte Fieber.
Bei Normalen fanden wir nach mittleren Rhodangaben
etwa 2—4mal 0,2g täglich einen Anstieg im Serum bis auf
ca. 1,0 mg °/,, das ist das 20—30 fache der Norm. Nach Aussetzen der
Rhodangaben erfolgt interessanterweise noch manchmal ein ge-
ringer Anstieg — es sei an die gleichzeitig öfter gefundene starke
Blutdrucksenkung erinnert —, dann nach wenigen Tagen ein
schnelles Absinken, welches sich später verzögert, so daß sich noch
etwa 2—3 Wochen lang erhöhte Rhodanwerte im Serum nach-
weisen lassen. Edinger und Treupel konnten im Urin 14 Tage
nach Aussetzen der Rhodanverabreichurg noch gesteigerte Aus-
scheidung desselben feststellen. Auch bei dem Durchschnitt der
genuinen Hypertensionen mit mehr oder minder ausgebildeter, un-
komplizierter arteriosklerotischer Schrumpfniere ist meist nach
3 Wochen der Rhodanspiegel zur Norm zurückgekehrt (cf. Kurve 3).
Dagegen sahen wir bei einem 50 jährigen Kranken, der mit sekun-
därer Schrumpfniere mit reichlichen Eiweißmengen im Urin,
Erythrocyten und zahlreichen granulierten Zylindern im Sediment,
schlechter Konzentrationsfähigkeit der Nieren und einem Rest-N
im Blute von 73 mg°/, wegen frischer Apoplexie mit Dauerhoch-
druck eingeliefert wurde, eine deutliche, über 6 Wochen sich hin-
ziehende Retention des SCN im Blutserum und einen Anstieg zu
den höchsten bei uns erlebten Werten von 1,3 mg °/,. Diese Werte
348 WESTPHAL u. BLUM
wurden 3 Wochen lang auf stark erhöhtem Niveau beibehalten,
trotzdem nach 8tägiger Verabreichung von 4 x 0,2 Rhodannatrium
bereits mit dieser Therapie aufgehört worden war. Eine Angina
und Pneumonie mit späterer Exsudatbildung traten als Effekt der
zu starken Rhodanspeicherung im Organismus auf, 6 Wochen lang
hielt sich das Rhodanniveau auf über 0,8 mg°),, um erst dann
allmählich abzufallen, nach 52 Tagen war der Normalgehalt noch
nicht erreicht (cf. Kurve 4). Wichtig ist, daß auch im Pleura-
punktat dieses Kranken ein Gehalt von 0,9 mg"), Rhodan fest-
gestellt werden konnte. Zweimal konnte auch im Lumbalpunktat
bei dieser Therapie ein deutlich erhöhter Gehalt gefunden
werden, die Annahme, daß die Gewebe und Flüssigkeiten von
Kurve 4. Rhodangehalt im
Serum I --:--- nach 16 tägiger
Behandlung mit 3mal 03 g
Rhodannatrium täglich bei
Qodi” jugendlichem Kranken mit
TH mopar j syphilitischer Kniegelenksent-
ZZ \ra fg 0 2 zündung. Rhodangehalt im
M D Serum II nach dtäxriger
= 5 Behandlung mit 4mal 0,2 g
2 ar Khodannatrium täglich bei
bOjährigem Kranken mit se-
kundärer Schrumpfniere. Auf-
treten von Angina und Pneu-
monie infolge gesteigerter
BIST ITIETANSBTBENEBETBUIEHEOHLD Khodanretention, im Pleura-
erguß 0,9 mg °,iger Gehalt
von Rhodan ebenfalls nach-
weisbar.
diesem leicht Membranen durchwandernden Anion durchtränkt
werden, ist demnach berechtigt.
Bei wochen- und monatelanger Durchführung der Rhodan-
therapie mit kleinen Dosen sahen wir an einer größeren Anzahl
von Patienten (14) meist einen Anstieg auf 0,3—0,4 mg /, (cf.Kurve5),
nur bei einem einzigen auf 0,55 mg °/,, das Absinken zur Norm er-
folgte auch hier in 3—4 Wochen, man sieht auch an diesen relativ
niedrigen Rhodanwerten den Unterschied zu einem zweiten Falle
von sekundärer Schrumpfniere mit schweren Nierenschädigungen,
wo wir noch 4 Wochen nach dem Absetzen dieser Rhodankur
deutlich erhöhte Werte von 0,4 mg°/, fanden. Die Neigung zur
erhöhten Rhodanretention im Organismus bei den ausgesprochenen
Nierenkranken zeigt wieder, daß dort diese Therapie im allge-
meinen nicht indiziert erscheint. Nach diesen Beobachtungen
liegt vielleicht die Möglichkeit vor, eine Funktionsprüfung der
Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 349
Nieren mittels des Rhodannachweises im Blutserum aufzubauen.
Auffallend sind die gewaltigen Anstiege des Rhodans im Serum,
vom Brom wissen wir Ähnliches. Die verhältnismäßig geringen Wir-
kungen bei so hochgradigen Veränderungen im physiologischen
Ionen-Antagonismus sprechen allerdings nur bis zu einem gewissen
Grade für Schade’s Auffassung von der „Freiheit der Anionen“
im Organismus. Eine Herabsetzung des Cholesterinspiegels im Serum
fand nach der Rhodaneinwirkung im Serum nicht statt, das stand
auch kaum zu erwarten.
Die theoretisch gar nicht unmögliche Annahme, die Wirkung
des Rhodans im Organismus beruhe im wesentlichen auf den Einfluß
seines Schwefelbestandteils, erscheint bei der großen Menge des im
Serum nachweisbaren SCN kaum wahrscheinlich, außerdem spricht
die Ähnlichkeit der Intoxikationserscheinungen mit dem Jod zu sehr
Mronkheäsisge 1 2.3 4.50 789 DUUMEBITESDULE TARANAN 3
apis 89 UK U DIOR VLIE 2333524733.
RR SA gi as Natrum JQ Irgi )
Kurve 5. D. 52jährige Frau mit genuiner Hypertension bei Behandlung mit
kleinen Rhodandosen, Rh.-Natrium 3mal 0,1. Kurve vom Blutdruck von
Rhodangehalt im Serum ------ und Pulfrich-Refraktometer-Skalenteilen des Sun
nach der „Globulin“-Fällung durch halbgesättigte Ammoniumsulfatlösung:
Am Anfang ergibt die Berechnung Globulin zu Albumin = 52:58, am Ende > 61: .39,
ca. vom 18. bis zum 35. Tage sind keine Albumine mehr erfaßbar nach Robertson-
Reiß. Die Blutdrucksenkung ist unter kleinen Rhodandosen keine starke, doch
treten die Schwankungen ee Rhodan-Anstieg im Serum bis auf
mg "/o-
für die hier vertretene Anschauung der Art der Rhodanwirkung.
Das Umgekehrte erscheint jedoch nicht ausgeschlossen, daß konse-
quente Schwefeltherapie z. T. über eine Rhodanwirkung im Orga-
nismus ihre Wirksamkeit entfalten kann, wenn auch nach den In-
jektionen mit kleinen Schwefelmengen sich keine Rhodanvermehrung
im Serum feststellen ließ.
Können wir aus der klinischen Beobachtung Genaueres über
die Art und Weise der Rhodanwirkung im Organismus
ermitteln? Die blutdrucksenkende Wirkung ist nicht bloß auf
350 | WESTPHAL u. BLUM
Hypertoniker beschränkt, auch beim Menschen mit nicht patho-
logisch erhöhtem Blutdruck sahen wir dreimal nach 3—6 wöchiger
Durchführung der Rhodanbehandlung mit mittleren Dosen eine
Senkung des Blutdrucks um 10—20 mm. Hg. Der Vergleich
mit dem Tierexperiment ist für diese Blutdrucksenkung nicht
möglich. |
Dort wissen wir aus alten Untersuchungen von Paschkis und
Pauli’s, daß nach intravenöser Rhodaninjektion nach ganz flüch-
tiger Blutdrucksenkung eine hochgradige Blutdrucksteigerung und
Bradykardie eintritt. Auch eigene Versuche am isolierten Gefäß-
streifen zeigten uns, daß Rhodan in bis zu 1°/,, verdünnter
Lösung dort keine Dehnung, sondern hochgradige Kontraktion des-
selben auslöst, selbst dann, wenn schon vorher durch eine starke
Zusammenziehung mittels Adrenalin oder auch Adrenalin + Cholesterin
der Streifen verkürzt war. Herr E. P. Ellinger, der auf Ver-
anlassung des einen von uns (W.) in einer gründlich durchgeführten
Dissertationsarbeit den Einfluß der gesamten Hofmeister’schen
Anionenreihe auf den überlebenden Gefäßstreifen prüfte, sah unter
allen Salzen neben dem Jod wieder das Rhodan als am stärksten
kontrahierende Substanz. Wir sehen wieder das gleiche paradoxe
Phänomen wie in den Versuchen von Trendelenburg am über-
lebenden Bronchialstreifen, der auch auf Jod stärkste Kontraktion
zeigt im Gegensatz zu der Bronchiallumina dehnenden Wirkung
des Jod beim Bronchialasthma auch hier beim Hypertonus in der
Rhodanwirkung.
Sollte die Erklärung nicht so liegen? Im Moment der Permeabilitäts-
steigerung der Plasmagrenzflächen der glatten Muskelfasern durch das
Rhodan findet eine Erregung des in seinem Wesen noch unbekannten
Kontraktionsvorganges statt und damit Eintritt erhöhten Blutdrucks im
Tierversuch. Zweimal sahen wir auch bei peroral zugeführten großen
Rhodandosen am ersten und zweiten Behandlungstag an Hypertonikern aus-
geprägte, 20 mm betragende Blutdruckanstiege. Diese Anstiege ragten
deutlich über das sonstige Niveau hinaus. Diese Blutdrucksteigerung
entspräche einer ersten Phase der Rhodanwirkung, wie sie bei intra-
venöser Einwirkung erzielt wird.
Bei längerdauernder peroraler Rhodanzufuhr wird die dauernde
Permeabilitätssteigerung der Grenzflächen der glatten Muskelfasern und
die dann eintretende Wirkung auf die Binnenkolloide wohl im Sinne
einer Quellung und Dehnung derselben eine geringere Ansprechbarkeit
auf kontraktile Reize bewirken. An eine allgemeine zentral bedingte
sedative Wirkung des Rhodans — Pauli denkt an solche Möglichkeiten
— können wir wegen der gerade bei stärkster Blutdrucksenkung auf-
tretenden psychischen Erregungszustände nicht glauben. Die erhöhte Ent-
Die Rhodantherapie des genuinen arteriellen Hochdrucks usw. 351
zündungsbereitschaft spricht auch eher für solche Permesbilitätssteigerung,
allerdings nur in den kleinsten Gefäßen.
Diese Vorstellung einer zweiphasigen Wirkung des Rhodans
am glatten Gefäßmuskel, die erste parallelgehend dem Einsetzen
der Permeabilitätssteigerung der Grenzflächen mit Erregung und
Auslösung der Kontraktion, die zweite bei dauernder Permeabilitäts-
steigerung der Grenzflächen nach Änderung der Binnenkolloide
durch Rhodanwirkung mit herabgesetzter Erregbarkeit der Kon-
traktion und Dehnung der Muskelfasern wohl infolge Quellung,
stimmt auch in manchem überein mit jüngst mitgeteilten Gedanken-
gängen von Höber, die in Weiterführung der Nernst’schen Vor-
stellung von der Bedeutung der polarisatorischen Ionenkonzen-
trationsveränderungen an den physiologischen Membranen für die
elektrische Erregung und nach Beobachtungen von Gildemeister,
Ebbeke u. A. über Erregung und Lähmung als physikalisch-
chemischen Vorgängen geäußert wurden. Auch am quergestreiften
Muskel beschreibt Höber in früheren Untersuchungen nach der
zuerst eintretenden starken Rhodankontraktion ein zweites Stadium
mit Herabsetzung der Erregbarkeit, die er auf das Eindringen der
Rhodanionen ins Muskelfaserinnere zurückführt. Die hochgradige
allgemeine Muskelschwäche der zu starken Rhodaneinwirkung an
unseren Patienten halten wir ebenfalls durch eine solche zweite
Phase der Schwächung am quergestreiften Muskel bedingt.
Solche Auffassungen über die Art des Einwirkens des Rhodans
auf die glatten Gefäßmuskeln lassen sich vorläufig leider nicht
dırekt erweisen. Daß aber starke Änderungen der kolloidalen
Struktur im Organismus unter der Rhodaneinwirkung sich ent-
wickeln, zeigt uns die bei dieser Therapie stets beobachtete hoch-
gradige Umstellung der Serum-Eiweißkörper. Das Mengenverhältnis
der mit der halbgesättigten Ammoniumsulfatlösung ausfällbaren Ei-
weißkörper des Serums, der „Globuline“, zu den „Albuminen“, welche
normalerweise etwa 1:2 beträgt, wird in den meisten Fällen stark
verändert, die Fraktion der sogenannten Albumine geht in wenigen
Tagen an Menge sehr zurück, das Serum scheint bei der refrak-
tometrischen Untersuchung nach Robertson-Reiß bis auf wenige
Spuren nur aus Globulin zu bestehen (vgl. Kurve 5). Das sei hier
nur kurz angedeutet. Es wird später über diese von dem einen
von uns (W.) zusammen mit Herrn Albrecht ermittelten inter-
essanten Tatsachen genauer berichtet werden und auch darüber,
wieweit sich diese Verschiebungen als physiko-chemisch oder chemisch
352 Westraar u. BLUM
bedingt erklären lassen. Diese Änderung zeigt auch wieder die in
der Einleitung ja zur Genüge betonte hochgradige Bedeutung der
Bluteiweißkörper und wohl auch des gesamten kolloidalen Zustandes
des Organismus für die Einstellung der Blutdruckhöhe und außer-
dem die Parallele in dieser Blutdruckbeeinflussung durch Rhodan
und Fieber, denn auch bei diesem findet ja in gleicher Richtung
neben der Blutdrucksenkung die Verschiebung der Serum-Eiweiß-
körper statt.
Zum Schluß sei noch eine Bemerkung gestattet über die nahe
Verwandtschaft der Rhodan- zur Jodtherapie, deren
Art der Wirkung, besonders bei hohem Blutdruck noch so um-
stritten ist. Sie geht auch bei dieser nach den hier geäußerten
Ansichten nicht so sehr über die Schilddrüse wie im wesentlichen
über chemisch-physikalische Wirkungen im Organismus. Auch bei ihr
finden wir zusammen mit Albrecht manchmal das Zurückgehen
der Albuminfraktion im Serum. Nur stärker und schneller wirkt
meist das Rhodan. Dementsprechend erlebten wir auch bei dem
alten klinischen Anwendungsgebiet des Jod, der Spätlues, ebenso
wie Pauli und Dalmady auffallend bald eintretende Erfolge
von Rhodan in mittleren Dosen. Gummen verschwanden in wenigen
Tagen, ebenso die starken periostitischen Schwellungen der Tibia
oder Kniegelenkserkrankungen gleicher Genese, luetische nächtliche
Kopfschmerzen, einige Male auch tabische Krisen wurden ebensogut
beeinflußt. Doch ist unser so behandeltes Syphilismaterial zu klein
und verlangt noch der Nachprüfung. Der quellende und permea-
bilitätssteigernde Effekt des Rhodans bedingt anscheinend auch hier
die schnellere Resorption von entzündlichen Infiltrationen.
Die Rhodantherapie in kleinen und mittleren Dosen kann dem-
nach an der Hand der hier gewonnenen Erfahrungen in Zukunft
bei der Behandlung der Krankheitserscheinungen der genuinen
Hypertension, als Prophylaktikum des Schlaganfalls sowie bei ver-
wandten funktionellen Gefäßerkrankungen und bei der Behandlung
der Lues eine stärkere Beachtung beanspruchen als bisher.
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schr. f. klin. Med. Bd. 101, H. 5 u. 6, 1925. — 28. Ders., Uber die Entstehung
des Schlaganfalls Nr. 1—8, 1 zus. mit R. Bär. Dtsch. Arch. f. klin. Med. Bd. 151,
H. 1—2, 1926.
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 23
354
Aus der Medizinischen Poliklinik Bonn.')
(Direktor: Prof. Dr. Siebeck.)
Untersuchungen über den Wasserhaushalt.
III. Mitteilung..
Über die Austauschvorgänge zwischen Blut und Gewebe
bei Gesunden und Kranken.
Von
Dr. med. Hellmut Marx.
(Mit 5 Kurven.)
Die Vorgänge, die sich nach dem Trinken im Organismus ab-
spielen, sind außerordentlich vielgestaltig. Um die Einzelheiten
ihres Ablaufs kennen zu lernen, sind fortlaufende Untersuchungen
des Blutes von Wichtigkeit. Diese geben uns zugleich einen Ein-
blick in die Austauschvorgänge, die sich zwischen Blut und Gewebe
abspielen.
In früheren Versuchen (1, 2, 3), die sich hauptsächlich auf
fortlaufende Hämoglobinbestimmungen mit dem sehr exakten Bürker-
schen Kolorimeter gründeten, hatte sich ergeben: Nach dem Trinken
tritt stets rasch eine deutliche Blutverdünnung ein, die in einer
charakteristischen, doppelphasigen Kurve verläuft. Die Grüße
dieser Blutverdünnung ist von der getrunkenen Menge weitgehend
unabhängig, nach dem Trinken von nur 100 Wasser trat eine
Blutverdünnung um etwa 10°, auf. Diese Tatsache ist auch von
Blix (4) in Versuchen am Tier gefunden worden. Die Einzelheiten
des Kurvenverlaufs sind nicht allein durch Resorption und Aus-
scheidung zu erklären; das zeigen schon die Versuche mit kleinen
Trinkmengen, in denen die Blutverdünnung typisch verläuft, ohne
daß es zur Diurese kommt. Zur weiteren Prüfung dieser Frage
habe ich Trinkversuche an doppelseitig nephrektomierten Hunden
angestellt; die Tiere bekamen am dritten Tage nach der einzeitigen
._——— M
1) Ein Teil der Versuche wurden mit der gütigen Erlaubnis von Geheimirat
Krehl in der medizinischen Klinik in Heidelberg gemacht.
Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 355
Operation mit der Sonde 150—200 Wasser zugeführt. Es zeigte
sich eine rasches Absinken der Hb-Werte, die wie beim normalen
Tier nach 2—3 Stunden zum Ausgangswert zurückkehrten.
Nach alledem bildet die Aufnahme der Flüssigkeit einen Anstoß,
der komplizierte Austauschvorgänge zwischen Blut und Gewebe
zur Folge hat (5). Auch ist der Zusammenhang zwischen Hydrämie
und Diurese nicht einfach der zwischen Ursache und Folge. Zwar
sahen wir in etwa 200 verschiedenartigen Trinkversuchen bei
Gesunden nie eine Diurese, ohne daß eine Blutverdünnung nach-
weisbar war; doch kann es zu einer Blutverdünnung kommen,
ohne daß eine Diurese folgen muß, z. B. bei kleinen Trinkmengen.
(Hier möchte ich kurz anfügen, daß wir in gemeinsamen
Versuchen mit Dr. Schröder bei manchen Versuchspersonen auf
subkutane Adrenalininjektion eine deutliche Diurese eintreten
sahen; in diesen Fällen war stets eine Blutverdünnung nachweisbar,
oft nach anfänglicher Steigerung der Hb-Werte.)
In einer weiteren Versuchsreihe konnte ich dann zeigen, daß
es gelingt, durch Trinksuggestion in tiefer Hypnose eine typisch
verlaufende Blutverdünnung und gleichzeitig deutliche Diurese zu
erzeugen. Daraus geht hervor, daß auch die Austauschvorgänge
und koordiniert mit ihnen die Diurese cerebral reguliert sind.
Nun hatten wir in unseren früheren Versuchen nur das Blut
der Fingerbeere untersucht und man könnte deshalb einwenden,
die beschriebenen Vorgänge spielten sich nur im peripheren Blute
ab. Freilich wird beim Einstich in die Fingerbeere nicht nur
„Kapillarblut“ gewonnen, vielmehr werden dabei stets auch die
präkapillaren Arterien und kleinen Venen eröffnet. Die Frage,
ob die Erythrocyten in der Blutbahn gleichmäßig verteilt sind,
und wie weit Änderungen im Erythrocytengehalt des peripheren
Blutes auf ungleichmäßige Verteilung der Körperchen im Gefäß-
system zu beziehen sind, ist vielfältig untersucht worden. Die
neueren Ergebnisse von Heß(6), Hofmeier (7), Hopmann,
Schüler (8) u. a. haben übereinstimmend gezeigt, daß beim Ge-
sunden unter normalen Verhältnissen die Verteilung gleichmäßig
ist. Im Trinkversuch haben Hopmann und Schüler eine gleich-
mäßige Abnahme der Erythrocytenzahl im Blut der Vene, Finger-
beere und Arterie (hier 6 = 13°/,) gefunden.!) Dennoch erschien es
uns nötig, auch in unseren Versuchen das Venenblut fortlaufend
zu untersuchen. (Bei der Häufigkeit der Entnahme war eine
Arterienpunktion bei unseren Patienten nicht möglich.) Wir fanden
1) Auch fanden diese Autoren einen diphasischen Verlauf der Blutverdünnung.
23*
356 Marx
dabei im Blut der Kubitalvene genau die gleiche Kurve der Hb-
Verminderung nach dem Trinken, wie im Blut der Fingerbeere
(vgl. Abb. 1). Die Kreuze x geben die Hb-Werte im Venenblut an.
Voraussetzung ist freilich, daß ohne jede Stauung und genau
gleichzeitig entnommen wird, denn die Prozesse spielen sich,
zumal im Anfang, sehr rasch ab. Deshalb stachen wir in die
Fingerbeere während das Blut in die Spritze einfloß. Die Punktion
der ungestauten Vene gelingt bei den meisten Menschen leicht.
| Nach alledem können wir
109 w @ » 7 » 2 x 730 annehmen, daß Änderung
PEN AUGI der Erythrocytenzahl oder
des Hämoglobins in kurzen
Zeiträumen auf Änderung
der Gesamtblutmenge zu be-
un serrös- | ziehen sind, und daß auch
die aus dem Blut der Finger-
beere gewonnenen Werte in
diesem Sinne verwertbar sind.
In neuerer Zeit hat nun
Barcroft(9) Beobachtungen
mitgeteilt, nach denen die
im Kreislauf zirkulierende
Erythrocytenmenge erheb-
lichen Schwankungen unter-
worfen sein soll; die Ur-
sache hierfür sollen Verände-
rungen im Volumen der Milz
sein und zwar soll dies Organ
die Fähigkeit besitzen, je
nach der umgebenden Außen-
temperatur wechselnde Men-
gen von Erythrocyten zu
speichern und wieder in die
Kurve 1. Dr. Sehr.. 32 J., 72 kg.. Vers. Nr. 131. Blutbahn auszuschwemmen.
Wir haben deshalb, um
solche Fehlerquellen ausschalten zu können, unsere Trinkver-
suche an splenektomierten Patienten wiederholt. Es standen uns
3 Patienten zur Verfügung, die vor 9 Jahren (Fall 1, wegen Peri-
splenitis), vor 6 Wochen (Fall 2, wegen hämolytischem Ikterus)
und vor 19 Tagen (Fall 3, traumatische Milzruptur) splenektomiert
worden waren. Tabelle 1 zeigt von jeden einen Trinkversuch:
Ausfuhr 730gr
Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 357
man erkennt die charakteristische Hb-Kurve, es findet sich keine
Abweichung vom Normalen. Danach spielt jedenfalls die Milz in
unseren Versuchen keine entscheidende Rolle und die beschriebenen
Hb-Schwankungen können nicht auf von der Milz abhängige Ände-
rungen der zirkulierenden Blutkörperchenmenge bezogen werden.
Vielmehr weisen sie auf reziproke Änderungen der Gesamtblut-
menge hin.
Tabelle 1.
1. F. L., operiert vor 2. P. V., operiert vor | 3. C. K., operiert vor
9 Jahren 6 Wochen 14 Tagen
Zeit Hb Zeit Hb Zeit Hb
gh 12,60 g °% gh 13,58 g %, gh 12,25 g %,,
800 H,0 1000 H, 1000 H,O
915 11,28 „ 915 12,40 „ 9:0 1195
940 12,45 „ 98 11.21 „ 930 11,22 „
10 11,96 „ 9‘5 12,20 „ 10 12,28 „
1020 1110. 10 11,65 „ 10% 12,40 „
11 11.DL. . 103 11,80 „ 11 11,92 „
12 11.78, 11 12,22 _ 12 11,02 „
1 12,52 „ 12 12,45 „ 1 11.85 ..
1 138.35 , |
Daß die Plasmamenge durch Austauschvorgänge zwischen Blut
und Gewebe schwankt, geht nun weiter aus den folgenden Unter-
suchungen hervor, die uns zugleich über die Zusammensetzung der
ausgetauschten Flüssigkeit Aufschluß geben.
Von den Bestandteilen der nach dem Trinken in das Blut
einströmenden Flüssigkeit ist zunächst der Eiweißgehalt wichtig.
Über quantitative Schwankungen des Bluteiweißgehaltes nach dem
Trinken haben Veil (9, M. Daniel und Högler (11) einander
widersprechende Ergebnisse mitgeteilt. Diese Untersuchungen wurde über-
wiegend mit Hilfe der Refraktometrie ausgeführt; wie kürzlich wieder
eine umfassende Kritik der Eiweißbestimmungsmethoden von Starlinger
und Hart] (12) gezeigt hat, ist diese Methode jedoch zur Beurteilung
derartiger Fragen nicht geeignet. Die Autoren kommen zu dem Schluß,
daß „von einer einheitlich-konstanten spezifischen Refraktion des Gesamt-
serumeiweißes überhaupt nicht gesprochen werden kann,“ und daßz. B.
Verdünnung der Eiweißlösungen in vitro den Brechungsindex der Lösungen
nicht gleichsinnig ändert.
Qualitative Untersuchungen des Eiweißes, deren Bedeutung Falta (13)
jüngst wieder betont hat, haben wir nicht vorgenommen. Wir unter-
suchten ausschließlich den Trockenrückstand.
Während der Trockengehalt des Gesamtblutes den Erythrocyten-
schwankungen weitgehend entsprechend verläuft (vgl. Tab. 2) bietet der
Trockenrückstand des Serums ein zuverlässiges Maß für den Eiweib-
gehalt der Lösung. Die häufig benutzte Bang’sche Methode erwies sich
358 Marx
uns als zu ungenau, da die Wägungen mit der Torsionswage zu lange
Zeit beanspruchen, während der sich der Trockengebalt der Blättchen
stark ändern kann. Wir brachten deshalb in sorgfältig getrocknete und
gewogene Wiegegläschen 300 = 400 mg Serum und wogen die ver-
schlossenen Gläschen sofort auf der analytischen Wage; dann brachten
wir sie in einen Vakuumexsikkator und trockneten bis zur Gewichts-
konstanz, die gewöhnlich nach 24—48 Stunden erreicht war. Stets
wurden Doppelbestimmungen ausgeführt; ihre gute Übereinstimmung
zeigte, daß bei dieser Versuchstechnik keine wesentlichen Fehlerquellen
bestehen, wovon wir uns auch in Kontrollversuchen überzeugt haben.!)
` Es ergab sich, daß der Serumtrockenrückstand nach dem Trinken
stets deutlich bis um 12°, absinkt. Freilich verläuft die Kurve
anders, als die der Hb-Werte. Die Eiweißwerte kehren nämlich
nach einmaliger Senkung schon nach etwa anderthalb Stunden zur
Norm zurück, um sich während der sekundären Welle, die an den
Hb-Werten stets deutlich zu erkennen war, nicht mehr zu ändern
(vgl. Abb. 1). Aus dieser Kurve ergibt sich, daß bei der initialen
Verdünnung eine fast eiweißfreie Lösung übertritt, während bei
der sekundären Welle die Flüssigkeit fast den gleichen Eiweiß-
gehalt wie das Plasma hat. Dies weist schon darauf hin, daß die
beiden Wellen verschiedenartig sind; die erste folgt sofort auf das
Trinken und ist zweifellos zum Teil durch die Resorption aus dem
Darm bedingt; das sie hierdurch nicht vollständig erklärt werden
kann, geht aus den Versuchen mit kleinen Trinkmengen und auch
aus den Hypnoseversuchen hervor. Dagegen unterliegt die zweite
Welle anderen Bedingungen.
Weil Wasser- und Salzhaushalt auf das engste miteinander
verknüpft sind, erschien die Beobachtung der Chlorbewegung nach
dem Trinken von besonderer Bedeutung. Als Methodik erwies sich
uns die Mikromethode von Koranyi-Rusznyak (14) als sehr
zuverlässig; die Doppelbestimmungen differierten um höchstens 3" ,
des Wertes.
Wir untersuchten zunächst das Gesamtblut und fanden hier
nach dem Trinken stets eine deutliche Abnahme der Cl-Werte.
Weil das Cl aber zwischen Plasma und Körperchen ungleichmäßig
verteilt ist und Verschiebungen in ihrem Mengenverhältnis nach
dem Trinkeu auftreten, schließlich - Austauschvorgänge zwischen
Körperchen und Plasma im Bereich der Möglichkeit liegen, be-
stimmten wir das CI weiterhin im Serum. Auch-hier fand sich ein
D Die Mehrzahl der Troekenbestimmungen wurde von Frl. Dr. Hilden ans-
geführt, der ich für ihre Hilfe sehr zu Dank verbunden bin.
Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 359
deutliches Absinken des Cl-Gehaltes um etwa 6—8°/, des Ausgangs-
wertes (Abb. 1).
Die gleiche Unabhängigkeit wie zwischen Hydrämie und Diurese
zeigte sich zwischen den Cl-Schwankungen im Blut und der Cl-
Ausscheidung im Harn; auch wo im Blute deutlich eine diphasische
Kl-Kurve zu erkennen war, zeigte der Cl-Gehalt der einzelnen
Harnportionen nur einfache Senkung und Wiederanstieg, parallel
dem spezifischen Gewicht.
83o 9 9g 710 s 7) æ 72 3 TI 8s 9 oO 30 V so 7 Jo 7
- 7000 M0
Nalli Serum
NaCl i Ges blur z
Na Cl Serum
Trockenrück - 2
fand i Serum
Wernmenge 280 Aernmenge 7870
Kurve 2. H. K., 22., 51,5 kg.
Diese Cl-Bewegungen zwischen Blut und Gewebe sind nun von
der Vorperiode abhängig. Während wir für gewöhnlich und nach
NaCl-armer Vorperiode ein Absinken der Cl-Werte im Blute nach
dem Trinken sahen, konnten wir nach NaCl-reicher Vorperiode ein
Ansteigen nach dem Trinken beobachten. Abb. 2 zeigt einen
solchen Doppelversuch; bei einem zweiten Doppelversuch mit einer
anderen Versuchsperson ergaben sich die gleichen Verhältnisse.
Die Abbildung 2 läßt außerdem den großen Einfluß der Vor-
periode auf die Wasserbilanz im Trinkversuch erkennen; nach einer
4tägigen NaCl- und flüssigkeitsarmen Vorperiode scheidet ein Ge-
sunder in 5 Stunden von einem Liter nur 280 g Harn mit 1,47 g
NaCl aus, während derselbe 4 Tage später (nach täglich je 15 g NaCl
360 Marx
und 2000 Flüssigkeit) nach Trinken von 1 Liter Wasser 1870 g
mit 15,75 g NaCl ausscheidet. Im zweiten Versuch ist hierbei die
Blutverdünnung deutlich stärker als im ersten; doch ist das nicht
gesetzmäßig so. Die Blutverdünnung kann nach NaCl- und flüssig-
keitsreicher Vorperiode im Trinkversuch auch geringer sein als
vorher, trotz der stark negativen Wasserbilanz. Schließlich sieht
man auf der Abbildung 2, daß der Nüchtern-Hb-Gehalt bei dem
zweiten Versuch geringer ist, als vorher. Die Gründe für diese
Erscheinung werden wir weiter unten besprechen.
Man kann sich demnach vorstellen, daß der Füllungszustand
gewisser Depots, den wir aus der Bilanz erschließen, für den Reak-
tionsablauf nach dem Trinken maßgebend ist. Je mehr die Depots
mit Cl gefüllt sind, desto Cl-reicher ist die nach dem Trinken über-
tretende Flüssigkeit, je wasserreicher der Organismus, desto mehr
Wasser scheidet er im Trinkversuch aus.
Vielleicht ist freilich eine andere Vorstellung für das Ver-
ständnis dieser Erscheinung noch wichtiger. Die wiederholte gleich-
artige Beanspruchung einer Funktion, etwa durch reichliche wieder-
holte NaCl-Zufuhr, kann zu einer veränderten Einstellung und
Ansprechbarkeit dieser Funktion führen. Weil man nun annimmt, |
daß diese Fähigkeit, Reize zu summieren, eine charakteristische
Eigenschaft der nervösen Substanz ist, könnte die durch die Vor-
periode veränderte Einstellung des Organismus auf eine wechselnde
Funktion nervöser Zentralorgane bezogen werden. Daß sowohl die
Austausch- als auch die Ausscheidungsvorgänge im Wasserhaushalt
cerebral reguliert sind, haben sowohl frühere Untersuchungen, zumal
von E. Meyer, als auch meine Hypnoseversuche deutlich erwiesen.
Ähnlich wie sich die Erregbarkeit des Wärmezentrums im Fieber
ändert oder wie das Atemzentrum nach einer Hyperpnoe den einzelnen
Atemzug anders als sonst ablaufen läßt, könnte sich auch die Ein-
stellung der Wasserbewegungszentren durch die Vorperiode ändern.
derart, daß sie nın Austauschvorgänge und Diurese im Trinkversuch
anders ablaufen lassen, als vorher.
Wie weitgehend die Vorgänge zwischen Blut und Gewebe durch
die Vorperiode zu beeinflussen sind, zeigt noch folgende Beobachtung:
wenn statt Wasser im Trinkverbrauch eine 1° ige NaCl-Lösung
getrunken wird, so tritt nach gewöhnlicher Kost und nach NaCl-
reicher Vorperiode eine typische Blutverdünnung ein, wenn sie auch
meist etwas stärker ist und länger dauert, als nach Wassertrinken
(vgl. 1. Mitt, Falta, Brunn). Läßt man nun bei der gleichen
Versuchsperson unter sonst gleichen Bedingungen, jedoch nach NaCl-
Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 361
armer Vorperiode einen Liter 1°/,iger NaCl-Lösung trinken, so zeigt
die Kurve der Blutverdünnung ein völlig anderes Bild: es fehlt
hierbei regelmäßig die initiale Verdünnung ; erst nach 50—70 Minuten
sinken die Hb-Werte langsam zu einer einzelnen tiefen Verdünnungs-
welle ab und kehren erst nach 6—7 Stunden zum Nüchternwert
zurück (Abb. 3). Dabei kann die Diuresehemmung durch das NaCl
in beiden Versuchen genau gleich stark sein; denn auch nach NaCl-
reicher Vorperiode sahen wir meist eine starke Hemmung der
Diurese auf Trinken von NaCl-Lösung.
ni 8 uw 9 » © æ 1 wo 1m 2
73
72
77 Marnmenge 240
Kurve 3. Frl, M. B.. 35 1. 527 kge. 157 m groß. 4 1000 9,0 +10 ge Nat.
a) Nach Gtägierer NaCl-armer Vorperiode mit 1000 Flüssigkeit pro Tag. b) Nach
“tägiger Nat'l-reicher Vorperiode, pro Tag 15 g NaCl- 2000 Flüssigkeit.
Die eben beschriebene Kurve entspricht völlig dem Verlauf der
Blutverdünnung, wie wir ihn bei parenteraler Zufuhr von Flüssig-
keit sahen. Wir injizierten hierbei 1 Liter Normosal im Verlauf
von 10—20 Minuten in die Subkutis des Oberschenkels und be-
stimmten wie bei den anderen Versuchen fortlaufend das Hämoglobin.
In diesen Versuchen sahen wir nie eine Diurese auftreten. Die
Hämoglobinwerte sanken nach 40—60 Minuten zu einer einzelnen
Verdünnungswelle ab; nach 4—5 Stunden war in der Regel der
Nüchternwert wieder erreicht. Auch hierbei fehlte stets die rasch
eintretende initiale Verdünnung und der diphasische Verlauf der
Kurve. Diese sind also beide an die perorale Aufnahme gebunden
und finden ihre Erklärung wohl auch zum Teil durch die hierdurch
gegebenen besonderen Verhältnisse. So spielt wohl die Aufsaugung
vom Darm her und die Passage der Leber, auf deren Funktion im
362 MARX
Wasserhaushalt besonders Pick, Molitor (15) und Eppinger (16)
hingewiesen haben, eine wichtige Rolle in Ablauf dieser Vorgänge.
Die wechselnde Einstellung des Organismus, die wir also zum
Teil +) durch die Vorperiode erklärbar fanden, ist noch in folgendem
zu erkennen: Nach allem bisher Gesagten ist es zur Bestimmung
eines exakten Hämoglobinwertes, etwa zu hämatologischen Zwecken,
unerläßlich, daß man morgens nüchtern entnimmt. Verfolgt man
nun über Monate hin den Nüchtern-Hb-Gehalt eines gesunden
Menschen, so findet man erhebliche Schwankungen, bis zu 20°.
Diese treten'u. U. so rasch von einem einem Tage zum anderen auf,
daß sie nicht auf Schwankungen der Hämatopoese bezogen werden
können. Vielmehr klärt sich die Erscheinung, wenn wir die dabei
die Abläufe im Wasserhaushalt des Organismus in Betracht ziehen.
Hierzu genügt es, das Körpergewicht, das spezifische Gewicht des
Nüchternharnes und den Ablauf des Trinkversuches an den einzelnen
Tagen zu beobachten.
Die Tabelle 2 zeigt die Nüchtern-Hb-Werte eines gesunden
24jährigen Mannes von 68 kg an 26 Tagen im Verlauf von 4 Mo-
naten. Man erkennt deutlich, daß der Hb-Gehalt an den Tagen
höher ist, an denen auch das spezifische Gewicht des Nüchtern-
harnes höher ist (es wurde dabei stets die Portion von 6—8 Uhr
morgens gemessen), an denen die Bilanz im Trinkversuch positiv
ist und das Körpergewicht erniedrigt ist. Hier besteht also zweifel-
los eine Flüssigkeitsverarmung des Organismus, die z. B. am 9. 11. 25
(siehe Tab.) durch einen anstrengenden Fußmarsch mit reichlich
Schwitzen und wenig Trinken absichtlich erzeugt war. Hingegen
fanden wir an den Tagen mit negativer Bilanz im Trinkversuch,
mit niederem spez. Gewicht im Nüchternharn und höherem Körper-
gewicht, also bei Wasserreichtum des Körpers einen niedrigeren
Hb-Gehalt. Man erkennt an der Tabelle, wie selbst geringe Schwan-
kung im Wasserhaushalt von gleichsinnigen Schwankungen der
Hb-Werte begleitet werden.
Diese Verhältnisse sind auch für die Praxis der Hb-Bestimmung
von Bedeutung. Vielleicht kann z. B. die Zunahme der Hb-Werte
im Hochgebirge zu einem Teil durch die veränderte Bedingung für
den Wasserhaushalt (trockene Luft usw.) erklärt werden.
Es sei noch hinzugefügt, daß wir aus 220 Nüchtern-Hb-Be-
1) Daß auch idiotypische Momente für die Einstellung des Wasserhaushaltes
von Bedeutung sind, zeigten uns Trinkversuche an eineiigen Zwillingen. Wir
fanden bei einigen Paaren eine fast völlige Übereinstimmung sowohl im Ablauf
der Diurese als auch in den Veränderungen im Blute.
Untersuchungen über den Wasserhausbalt. 363
stimmungen mit Hilfe des von Bürker selbst spektroskopisch ge-
eichten Apparates von 90 Gesunden einen Mittelwert von 15,68 g °/,
gefunden haben. Er liegt älso höher, als der Normalwert von
Bürker mit 15 g°/, und der von Barcroft mit 14 g°/,. Neuer-
dings fand Osgood bei der Untersuchung von 137 Gesunden am
häufigsten Werte zwischen 15,5 und 16,0 g °h.
Tabelle 2.
H. M., 24 Jahre 68,5 kg.
|
'Bilanz im Körper- | Hb in , Trocken-
Datum ; Wasser- | Ta gewicht a ‚rückstand Bemerkungen
' versuch | i in kg 8’0 ‚Ges. Blut
l |
6. VII +280 | 1024 | 686 15,90 |
9. „ + 80 | 1026 | 685 16,22
10. „ +140 | 1035 68,7 16,48
11. . | — 180 | 1026 691 15,82 |
14. „ + 60 | 1027 | 692 16,29
16. „ — 20 | 1026 ; 693 15,81
18. 1320 ` 1027 |! 690 16,47
2. VIIL | — 80 | 1021 | 691 15.60 |
4. „ — 140 | 1027 69,1 15,20 |
20. „ +240 | 1027 68,1 14,25 | Vom 7.—19. Infekt.
22. | — 60 | 1020 68,0 14,18 |
24. — 60 ! 1020 68,4 14,62
2D. n 1027 | 68,1 15,05 | 22,55
26... | —100 | 108 ; 686 14,65
2T. 7 — 60 | 101 | 68 | 1420
2o o — 120 ' 1020 | 689 14,30 22,20
1. IX. —180 | 1021 | 688 14,45
Di — 80 | 1019 ! 686 15.20
10. „ © + 10 | 1022, 68,8 15.62 |
5, | + 40i 106 | 687 15.82 15. IX.—1. X. in
| | Berchtesgaden
1. X —- so! 1023 ' 692 1512 | |
5. „ + 60 | 1027 690 | 1555 ` |
1. XL — 20 ! 1022 69,1 15,50, 2165
9, . | -+ 240 | 1032 ° 686 1742 | 23.20! Am Vortage 5stünd.
i | | | Marsch
2... | -10: 1025 | 692 | 1580 21,80
16. | —100 ; 1024 69,2 15,42 ° 21,70
|
Die bisher beschriebenen Vorgänge gelten nur für den gesunden
Erwachsenen. Bei Kranken fanden wir bei der Untersuchung des
Blutes nach dem Trinken eine Reihe von Abweichungen. Unser
Material ist zwar noch zu klein, um weitgehende Schlüsse zu ge-
statten, doch haben sich einige typische Verhältnisse ergeben. Die
fortlaufenden Hb-Bestimmungen nach dem Trinken gewähren uns
einen gewissen, wenn auch beschränkten Einblick in die Vorgänge
zwischen Blut und Gewebe, deren Beobachtung bei manchen Er-
krankungen besonders wichtig ist.
|
364 Marx
Bei akuter Nephritis sahen wir in 4 Fällen ein spätes
Eintreten (nach etwa 50 Minuten) und sehr langes Andauern einer
einzelnen oft sehr tiefen Verdünnungswelle; erst nach 6—7 Stunden
war der Nüchternwert wieder erreicht. Ähnliches beobachteten
schon Daniel und Högler. Bei der schlechten Wasserausscheidung
‘ dieser Kranken könnte man daran denken, daß das resorbierte Wasser
durch die erkrankten Nieren in der Blutbahn zurückgehalten wird;
so spricht Falta in diesem Falle von einer „Retentionshydrämie‘“.
Für diese Auffassung spräche auch vielleicht noch, daß wir bei
einem Kranken (siehe Abb. 4a, b) bei der Ausschwemmung der
Ödeme und Besserung des Zustandes (b) einen Wiederanstieg der
Hb-Werte nach 3 Stunden fanden, der vorher bei ihm im Stadium
der starken Ödeme (a) gefehlt hatte. Doch haben wir wiederholt
darauf hingewiesen, daß der Zusammenhang zwischen Hydrämie
und Diurese wesentlich komplizierter ist.
Bei manchen SchrumpfnierenkrankenmitIsostenurie
sahen wir nach dem Trinken eine einzelne rasch vorübergehende
(initiale) Verdünnungswelle, während nach 60 Minuten etwa die
Hb-Werte unverändert auf dem Nüchternwert blieben und die
sekundäre Welle vollständig fehlte. Es weist dies auf eine schwere
Störung des Stoffaustausches zwischen Blut und Gewebe bei diesen
Kranken hin; und der Gedanke liegt nahe, daß auch im Symptomen-
komplex der „Sekretionsstarre* extrarenale Faktoren wesentlich
mitbeteiligt sein können (Abb. 5). Man könnte sich wohl vorstellen.
daß die gleichen krankhaften Veränderungen, wie sie an den Nieren-
gefäßen am leichtesten anatomisch faßbar sind, das gesamte Kapillar-
system betreffen und hier zu einer allgemeinen Funktionsstörung
führen. Die Nierenveränderungen sind hierbei nur Teilerscheinungen,
die „Funktion des Nierenrestes* nicht die einzige Störung, wenn
freilich auch die Veränderungen in den anderen Gefäßgebieten weit
schwieriger nachzuweisen sind.
In diesem Zusammenhange möchte ich noch kurz erwähnen,
daß ich bei Kranken mit essentieller Hypertonie den gleichen
Kurvenablauf wie beim Gesunden fand.
In Trinkversuchen an Kreislaufkranken fanden wir sowohl
im Stadium der Kompensation, als auch bei hydropischen Kranken
neben den Ausscheidungsstörungen Hb-Kurven, die vom Normalen
stark abwichen. Tabelle 3 zeigt die Verhältnisse bei einer Kranken
mit einem Mitralvitium, die seit über einem Jahr frei von Ödemen
und arbeitsfähig ist; man erkennt einen ganz atypischen Verlauf
mit 4 maliger tiefer Senkung der Hb-Werte.
Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 365
Tabelle 3.
Frau Th., 40 Jahre.
. Harn- N Körpergewicht . 0
Zeit menge | Spez. Gew nn ke | Hb in g%
845 80 1031 51,2 12,94
1000 H,0
9 52,2 12,05
918 20 1026 11,62
gw 12,20
gen 130 1004 10,75
1015 250 1001 | 11,70
10 360 1000 13,18
1148 RO 1007 11,72
12143 50 1012 12,82
145 y0 1018 , 51,1 13,02
8w 9 æ 70 3x% N Jo T Jo 7 %2
#8 9 Jo R zo 7T? g0 72 J30 7 0
Harnmenge 100
a
Kurve 5. a) Herr K., 56 J.. 54 kg. b) Frau Nch.,
52 J., 62 kg.
Kurve 4. Herr P., 54 J., 60,5 kg.
Solche Befunde können für die Annahme verwertet werden,
daß die Störung im Wasserhaushalt bei solchen Kranken nicht nur
auf die mangelhafte mechanische Leistung des Herzens zu beziehen
sind, sondern daß, wie bei den Nierenkranken, eine generalisierte
Erkrankung der Gefäße mit Funktionsstörung auch des Kapillar-
gebietes vorliegt. Von anderen Gesichtspunkten aus hat jüngst
Eppinger pathologische Veränderungen im peripheren Kreislauf
zur Erklärung des Asthma cardiale herangezogen. Die von ihm
beobachteten vasomotorischen Störungen könnten die Grundlage für
Veränderungen der Austauschvorgänge bilden. (Näheres hierüber
in der folgenden 4. Mitteilung.)
Sehr deutliche und auffallende Abweichungen fanden wir
schließlich bei Kranken mit Störungen des Wasserhaushalts bei
366 Marx
Störungen der inneren Sekretion. Nächst der Schilddrüse,
über deren Einfluß auf den Wasserhaushalt Eppinger (15) umfang-
reiche Untersuchungen angestellt hat, wissen wir noch von Neben-
nieren und Hypophyse, daß ihr Inkret eine Wirkung auf den inter-
mediären Wasserwechsel hat. Neben ausgedehnten experimentellen
Arbeiten liegen nur wenige Beobachtungen an Kranken vor. So
hat Veil (16) über Veränderungen bei Myxödem und pluriglandu-
lären Erkrankungen berichtet; von Diabetes insipidus ist lange
bekannt, daß er mit Veränderungen in der Hypophyse i im Zusammen-
hang stehen kann.
Ich möchte nur kurz über 2 einander ähnliche Fälle berichten.
Im ersten handelt es sich um eine 28jährige Patientin mit enormer
Adipositas, die besonders den Körperstamm betrifft (1,61 m groß,
Körpergewicht 88,6 kg). Die Fettsucht hat bei ihr im Laufe der
letzten 3 Jahre stark zugenommen, gleichzeitig wurde die Men-
struation unregelmäßig und sehr schwach. Schon seit 4 Jahren
hat sie über stetes Durstgefühl zu klagen, so daß sie tagsüber
etwa 4, nachts gewöhnlich 1 Liter Flüssigkeit (Wasser, Kaffee) trinkt.
Die Harnausscheidung ist bei ihr ganz unregelmäßig, und zwar
wechseln Tage mit ausgesprochener Obligurie, an denen das Körper-
gewicht sprunghaft steigt, mit solchen Tagen, an denen sie große
Flüssigkeitsmengen ausschwemmt. Während dieses Wechsels sind
das Durstgefühl und die Trinkmengen unverändert gleich. Von
allen versuchten Entfettungskuren half ihr nur eine Behandlung
mit Hypophysin vor 7 Monaten vorübergehend. Jetzt klagt die
Patientin über starke Kopfschmerzen, quälendes Durstgefühl und
zunehmende Fettsucht; besonders morgens „sei sie oft so verquollen,
daß sie kaum aus den Augen sehen könnte“. Der Harn ist frei
von Eiweiß und Zucker, Sediment o. B. Blutdruck 120 mm Hg.
Wa.R. neg. Sella turcia ohne Veränderungen. Die Tabelle 4 zeigt
2 Trinkversuche von der Patientin zwischen denen 2 Tage lagen.
Neben der schlechten Ausscheidung durch die Nieren fällt die stark
verminderte extrarenale Wasserabgabe auf. Die Konzentrations-
breite des Harnes ist deutlich eingeschränkt, besonders im zweiten
Versuch (1010—1004). Die Hb-Werte zeigen keine Blutverdünnung.
vielmehr steigen sie in beiden Versuchen nach dem Trinken prompt
und deutlich an. Hier bewirkt das Trinken scheinbar einen Reiz
für das Gewebe, Flüssigkeit aus der Blutbahn abzusaugen, es kommt
zu einer deutlichen Bluteindickung.
Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 367
Tabelle 4.
Frl. H., 28 Jahre 87,2 kg.
Harn- Re | Körpergewicht | x Bo
Zeit | menge | Spez. Gew. in kg Hb in g%
5. V. 1926.
gh | 60 | 1017 87,2 12,40
| 1000 H,O
9:5 — 88,2 14,32
gso | 30 1015 13,72
gss | = | | 13,80
10 | 80 | 1009 13,98
1030 150 1003 14,16
11” 250 1003 13,10
1230 80 1016 13,42
1% 30 1018 87,5 13,38
8. V. 1926
ga 100 | 1007 : 87,6 | 12,52
1000 H,O \ |
> = | | 88,6 | 12,92
; | _ | | 13,5
gs0 | 180 1010 ()) 14,08
10 90 1007 | 1835
11 | 90 | 1004 14.30
12 120 i 1007 13.42
1 | 70 1010 | 13,32
0] | en (9
daa 30) | 1110 | 87,9 12,38
Tabelle 5.
J. D., o 36 Jahre 69,5 kg.
PAE: Harn- F Körpergewicht .
Zeit menge Spez. Gew. | in kg Hb in g%
gr 40 1024 69,5 | 12,40
~ 1000 4,0 z
915 | — 70,5 12,22
930 30 1021 Ä 11,70
945 | en 11,75
10 40 1020 | 11,72
103° — | 11,90
11 S 12,12
1130 40 1020 | 12,40
12 u | 12.25
1 | = ' 12,02
2 40 | 1020 | 70,25 11,85
(i
Der zweite Fall betriftt einen Kranken mit auch röntgeno-
logisch an den Sellaveränderungen nachweisbarem Tumor der
Hypophyse, der im Laufe von 5 Jahren zu einer Erblindung des
Patienten durch Optikusatrophie und zu einer zunehmenden Fett-
ansammlung besonders am Abdomen geführt hat; gleichzeitig ist
368 Marx
die Libido sexualis geschwunden. Bei diesem Kranken kommt es
(Tab. 5) zwar nach dem Trinken zu einer geringen Abnahme der
Hb-Werte, die Verdünnung ist jedoch sehr gering und der Kurven-
verlauf ganz atypisch. Von einem Liter Wasser wurden in
5 Stunden nur 160 g durch die Nieren, nur 50 g extrarenal aus-
geschieden.
Schließlich möchte ich noch kurz einen Patienten erwähnen,
bei dem es nach einem Schrappnellschuß in das rechte Occipital-
hirn zu einer schweren Polyurie mit Polydipsie kam. Im Laufe
von 10 Jahren hat sich der Zustand langsam gebessert. Jetzt
trinkt der Kranke noch etwa 4 Liter (nachts etwa ?/, Liter) neben
den Mahlzeiten her, weil „er sonst so heiser. wird, daß er nicht
sprechen kann“. Der Trinkversuch ergibt bei ihm (Tab. 6) eine
weit überschießende Ausscheidung und deutlich eingeschränkte
Konzentrationsbreite des Harnes. Der Hb-Gehalt steigt nach dem
Trinken zunächst deutlich an und zeigt nur nach ?°/, Stunden eine
geringe, rasch vorübergehende Blutverdünnung.
Tabelle 6.
Joh. Ad., 43 Jahre.
7» 200 Kaffee
98160/1014
1? 130;1015
FR | Harn- Körpergewicht :
Zeit menge Ä Spez. Gew in fig Hb in g°%
13 e | 15,60
2 — | 15,55
230 40 1015 69,4 | 15,62
un 1000 4,0 | u
2 = | 70,4 16,38
3 140 1008 | 15.88
333 — 15,05
PEN 190 1008 | 15,50
q 240 1003 15,16
430 300 1003 | 15.30
5 260 | 1003 1542
p30 | 210 1006 | 16,12
6 50 | 1008 16.20
63° Ä 30 1010 15.90
7. | 40 Ä
1010 | 68,7 15,92
Aus meinen Untersuchungen möchte ich als wichtig hervor-
heben: |
Bei der Betrachtung des Wasserhaushaltes dürfen wir weder
allein die Nierenfunktion, noch allein die Austauschvorgänge
zwischen Blut und Gewebe in Betracht ziehen, vielmehr müssen
Untersuchungen über den Wasserhaushalt. 369
wir vor allem auf das Zusammenspiel aller am Wasserhaushalt
beteiligten Vorgänge und auf die Funktion der sie beherrschenden
Regulationsmechanismen sehen.
Wenn wir nach dem Trinken den Einstrom einer eiweiß- und
kochsalzarmen Flüssigkeit in die Blutbahn finden, so liegt es nahe,
dies durch die Resorption der Flüssigkeit vom Darm her zu er-
klären; die genauere Betrachtung zeigt jedoch, daß die Vorgänge
viel verwickelter liegen und daß die Flüssigkeitsaufnahme nur den
Anstoß bedeutet, während der Ablauf der Reaktion von ganz ver-
schiedenen Momenten abhängt. Die Einzelheiten des Ablaufs und
den anatomischen Ort, wo ame Vorgänge sich abspielen, kennen
wir nur teilweise.
Blutverdünnung und Diurese sind zweifellos miteinander ver-
knüpft, aber nicht im Sinne einer einfachen Abhängigkeit von-
einander. Vielmehr sind beide Funktionen miteinander koordiniert
und unterstehen, wie meine Hypnoseversuche gezeigt haben, einer
gemeinen zentralen Regulation.
Für die Vorgänge im Wasserhaushalt nach Trinken ist die
Vorperiode oft von entscheidender Bedeutung; sowohl die Zusammen-
setzung der zwischen Blut und Gewebe ausgetauschten Flüssigkeit,
als auch der Ablauf der Veränderungen im Blute zeigen sich von
ihr abhängig. Weiterhin lassen sich in längeren Zeiten ganz er-
hebliche Schwankungen im Wasserbestand des Körpers und in der
Wasserverteilung besonders in der Plasmamenge unter den ver-
schiedensten Bedingungen erkennen. Diese spiegeln sich besonders
deutlich in den Abweichungen des früh nüchtern bestimmten Hämo-
globingehaltes.
Um den Wasserhaushalt des Organismus zu beurteilen, genügt
es nicht den Zustand, etwa den Wasserbestand aus dem Körper-
gewicht festzustellen; vielmehr ist es unsere Aufgabe, aus der
Reaktion auf verschiedene Beeinflussung hin, etwa im Trinkversuch,
ein Urteil über die Tendenz und die Einstellung des Wasser-
haushaltes zu gewinnen.
Auch für das Verständnis der Vorgänge bei Kranken ist es
wichtig, auf die Korrelation der Funktionen und deren Störung
zu achten. So sahen wir bei Kranken mit akuter Nephritis neben
der Nierenstörung Veränderungen der Austauschprozesse zwischen
Gewebe und Blut. Ebenso finden wir bei Kranken mit Schrumpf-
nieren Abweichungen des Stoffaustausches, die nicht von der ge-
störten Nierenfunktion abhängen. Auch bei diesen Kranken handelt
Deutsches Archiv für klin. Medizin. 152. Bd. 24
370 Marx, Untersuchungen über den Wasserhaushalt.
es sich offenbar nicht nur um eine „Organerkrankung“ sondern um
eine ganz allgemeine Störung in den Gefäßen und Geweben.
Auch bei Kreislaufkranken fand ich eine deutliche Alteration
dieser Vorgänge.
In alledem erweist sich die „Plasmamenge“ als eine überaus
variable Größe. Wir können danach verstehen, daß die nicht sehr
zahlreichen einwandfreien Beobachtungen bisher nicht zu einem
eindeutigen Ergebnisse geführt haben. Solche wären nur zu er-
warten, wenn stets unter genau vergleichbaren Bedingungen unter-
sucht werden könnte, und wenn nicht nur Momentaufnahmen
gemacht würden, sondern zugleich der Ablauf unter verschiedenen
Bedingungen untersucht würde. Schließlich möchte ich noch darauf
hinweisen, daß die Schwankungen der Plasmamenge, die wechselnde
Füllung der Gefäßbahn für die Kompensation des Kreislaufs sicher
von großer Bedeutung ist.
Literatur.
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pinger, v. Papp u. Schwarz, Das Asthma cardiale. Springer 1924.
371
Besprechungen.
1.
The Life of Sir William Osler, by Harvey Cushing. In
two volumes. Clarendon Press, Oxford 1925.
Wer Osler nicht gekannt, wer sich nie in dem von dieser merk-
würdigen Persönlichkeit ausstrahlenden Lichte gesonnt hat, wird sich
auch aus diesem umfangreichen und höchst bedeutenden Werk Cushing’s
keine klare Vorstellung über ihn machen können. Er wird sich darüber
wundern, daß eine so ausführliche, mit so zahllosen Dokumenten belegte
Biographie einem Manne gewidmet wurde, dessen Namen er zwar aus
der Literatur kennt, der aber nicht zu den großen Entdeckern und Re-
formatoren der medizinischen Wissenschaft zu gehören scheint.
Allerdings, beim Lesen der ersten Abschnitte dieses Werkes kann
der Leser bemerken, daß in dem medizinisch gänzlich geschichts- und
traditionslosen Amerika von vor 50 Jahren Osler der erste war, welcher
nach kontinental-europäischen Begriffen einen regelrechten klinischen
Unterricht aus ungefähr nichts geschaffen hat. Für Amerika war er
ein Reformator und wie sehr diese Tatsache von den jetzt noch lebenden
Zeitgenossen Osler’s anerkannt wird, geht aus der Widmung des hier
besprochenen Werkes hervor, welche lautet: „Den Medizinstudierenden,
in der Hoffnung, daß etwas von Osler’s Geist („spirit“) einer Genera-
tion übermittelt werde, welche ihn nicht gekannt hat; und besonders den
amerikanischen Studenten, damit nicht vergessen werde, wer er war, der
es ihnen ermöglichte, in den Krankensälen am Krankenbette zu arbeiten.“
Rein wissenschaftliche Forschung wird hauptsächlich aus
Osler’s Jugendjahren berichtet. Gefesselt durch das Mikroskop, wie
so mancher junge Forscher in jener Zeit der sich entwickelnden Technik
der Mikroskopie, begann er als Morphologe, studierte die kleinsten Lebe-
wesen und wurde dabei von der eben erwachenden Bakteriologie und
durch das Studium der Krankheitsursachen mitgerissen. Bald aber
packte ihn das Interesse für den kranken Menschen selbst und für die
zahllosen, am Krankenbette auftauchenden Fragezeichen und Probleme.
Mit seinem warmen Herzen begeisterte er sich für die Bekämpfung der
Leiden der Menschheit und drängte es ihn zur Mitteilung seines Wissens
und seiner Ideen an Jüngere. So wurde er schon in jungen Jahren ein
gesuchter und hochgeschätzter Lehrer und es wurden ihm Lehrämter an
verschiedenen Medizinschulen angetragen. Nach seinen großen Erfolgen
an McGill und Pennsylvania, bekam er die für sein Leben ent-
24%
372 Besprechungen.
scheidende Aufforderung, in Johns Hopkins Hospital, Baltimore, eine
„Medical school“ nach modernen Begriffen einzurichten. Er nahm sich
dabei diejenige Lehrmethode zum Beispiel, welche man die deutsche
nennen kann. Er kannte aus einer früheren Europareise die in den
meisten Universitäten des Kontinents schon Dezennien herrschenden
„wissenschaftlichen“ Prinzipien des medizinischen Unterrichts und nahm
in 1890 neuerdings, auf einer zweiten Reise, seine Studien über diesen
Gegenstand auf. Bezeichnend ist folgender Passus aus einem hier mit-
geteilten Briefe aus Straßburg, in welchem es heißt: „I should say that
the characteristic, which stands out in bold relief in German scientific
life, is the paramount importance of knowledge for its own sake.
The presence in every medical centre of a class of men devoted to
scientific work gives a totally different aspect to professional aspi-
rations.“ DBezeichnend ist auch die Tatsache, daß er unter dem Ein-
druck des Gesehenen, schon im folgenden Jahr sein später berühmt ge-
wordenes Lehrbuch „Principles and Practice of Medicine“ schrieb,
welches, obgleich in vollkommen origineller Weise verfaßt, dem Bedürf-
nisse nach möglichst wissenschaftlicher Grundlage unseres Denkens und
Handelns voll entspricht. Auch dieses Lehrbuch bedeutete für Amerika
eine umwälzende, reformatorische Tat.
Als Lehrer, als leitender und führender Arzt, als Propagator wissen-
schaftlicher Prinzipien in Forschung und Praxis war Osler unüber-
troffen. Zur Erreichung seiner Ziele widmete er einen sehr großen Teil
seines Tages oder auch seiner Nächte der medizinisch journalistischen
Arbeit für die ärztliche Presse und dem Abhalten zahlreicher Vorträge
für Arzte. Dann aber führte ihn sein Schicksal nach England auf den
altehrwürdigen Posten des „regius professor of Medicine“ in Oxford.
Hiermit hatte er die höchste für den englischen Arzt erreichbare Schwelle
überschritten.
Auch in England hat er Großes geschaffen, unter anderen auf dem
Gebiete der Geschichte der Medizin und der alten Medizinischen Biblio-
graphie. Groß war sein Einfluß in allen Schichten und Schattierungen
der englischen Arzteschaft und doch — mit allen diesen Leistungen und
Erfolgen hat Osler sich den Weltruf, die ungeteilte Bewunderung,
Freundschaft und Liebe seiner Umgebung und auch dieses monumentale
Werk nicht erobert. Es war Osler selbst, seine „Humanitas“, seine
unendliche Güte, der Ernst seiner Überzeugung, seine wahrhafte Tugend
und dabei sein unerschöpflicher Humor, es war seine ganze, kleine, leb-
hafte, bezaubernde Person, welche ihm überall den Weg zum Herzen
der ersten und der letzten seiner Mitmenschen finden ließ. Weir
Mitchell, Psychiater und Dichter, preist Osler’s geistige Eigen-
schaften und schließt mit diesen Worten:
„And in the practice of life's happiest Art“
„You little guessed how easily you won
The added Friendship of the open Heart.“
Es waren hohe Ideale, welche Osler mit schlichter Selbatverständ-
lichkeit angestrebt hat; Th. Brown’s „religio medica“ gab ihm die
Richtschnur nicht weniger als die Bibel, welche er, wenn auch im
späteren Leben nicht mehr mit dem festen Glauben seiner Jugend, aus-
Besprechungen. 373
nehmend gekannt und befolgt hat. War es reine Güte, welche ihn mit
lebhaftem Interesse und Humor seiner Umgebung in Freundschaft ver-
band, es war seine große Tugend. welche nicht im schwarzen Priester-
kleide, sondern mit herzgewinnender Heiterkeit, andere zur Tugend
zwang. Garrison schreibt: „Wherever Osler went, the charm of
bis personality brought men together; for the good in all men he saw,
and as friends of Osler, all men met in peace.“ Tatsächlich
wurden in seiner Nähe nichts Schlechtes über einen Abwesenden gesagt;
Osler hätte es nicht vertragen; und wo noch jetzt über Osler ge-
sprochen wird, da fühlt man sich in reiner Luft! Viele werden das
vielleicht mit Recht als einen Erfolg im Leben betrachten, welcher
mancher großen Entdeckung die Wage hält... .
Sein Ideal des akademischen Lehrers fand er in jungen Jahren in
seinem väterlichen Freunde James Bovell verkörpert, von dem er
sagt: „and in him (was) all that one could desire in a teacher — a
clear head and a loving heart.“ Übrigens waren seine Außerungen über
den akademischen und im besonderen über den klinischen „Chef“ ebenso
frisch und persönlich wie zutreffend. „From my point of view there is
only one intellectual infection of any permanent value for tbe medical
student: scientific spirit, outlook and attitudo of mind. If good it lea-
vens his lifes work. That he may be steeped in it and be at the
same time tboroughly practical is the experience of scores of teachers.“
Er ist ein Gegner des „whole time“ klinischen Professors u. a.
wegen der Gefahr, welche darin liegt, daß der Student und zukünftige
Praktiker an eine Gruppe von Lehrern ausgeliefert wird, die vollkommen
unbekannt mit den Bedingungen sind, unter welchen er zu arbeiten
haben wird.
Wo er die Schwierigkeiten des Amtes des akademischen Lehrers
bespricht, sagt er u. a.: „Nur eine Rettung gibt es für den Direktor
einer Klinik oder eines Institutes, er muß Mitarbeiter („associates* =
Assistenten) haben, welche von gewissen Unterrichtegegenständen mehr
wissen als er selbst!“
Berühmt sind Osler’s Laienpredigten „Aegquanimitas“ und „A Way
of life“, in welchen er die „attitude of mind“ des Arztes, die Lebens-
weisheit, welche dieser braucht, in einer Weise schildert, wie vor und
nach ihm vielleicht kein anderer. Beide Reden hielt er für Studenten;
die letzte im 64. Lebensjahre, mit der ganzen Erfahrung eines reichen
Lebens als Arzt und Wegweiser der Jugend. Sein Rat war: sorge nicht
für das Morgen, laß’ das Gestern dich nicht drücken, leiste die Arbeit
des Heute so gut du kannst und mit Liebe! „The load of to-morrow,
added to that of yesterday, carried to-day makes the strongest falter.“
„The quiet life in day-tight compartments will help you to bear
your own and other’s burdens with a light heart. Pay no heed to the
Batrachians who sit croaking idly by the stream. Life is a straight,
plain business and the way is clear, blazed for you by generations of
strong men, into whose labours you enter and whose ideals must be your
inspiration.“
Wer Osler nicht gekannt hat, wird schon aus den wenigen, hier
übernommenen Aussprüchen, mehr und besser als aus seinen wissenschaft-
374 Besprechungen.
lichen Arbeiten, ersehen, welcher Art dieser Erstaunlichste aller Ärzte
war. Ihn besser bekannt zu machen, seine ganz exzeptionelle Persön-
lichkeit für die Nachwelt festzulegen, ist das Ziel, welches sich Cushing
mit dieser Sammlung von Briefen und Biographien gestellt hat. Niemand
kann dieses Buch zur Hand nehmen, ohne tiefen Respekt für die ge-
leistete Arbeit zu empfinden, und für die Art in der sie geleistet wurde.
Bei der Beurteilung ist es ein Gebot, nicht aus dem Auge zu verlieren,
daß Cushing ausdrücklich „mömoires & service“ hat schreiben wollen.
„Here are merely the outlines for the final portrait, to be painted when
the colours, lights and sbadows come in time to be added.“ Wer das
Werk allzu umfangreich findet und etwas ermüdend zu lesen, bedenke,
daß er es später oft und oft in die Hand nehmen und ruhiger die hier
aufgestapelten Schätze genießen wird, als bei der ersten Lesung, welche
naturgemäß zum Ende drängt. Zweifellos hat sich Cushing nach einer
von ihm zitierten Außerung Osler’s gerichtet: „Meine eigene Meinung
ist, daß ausgewählte Briefe uns wenig über den Charakter eines Menschen
sagen, daB man aber, wenn es möglich wäre, alle Briefe und Aufzeich-
nungen und außerdem alle Schecks, welche diese Person in ihrem Leben
geschrieben hat, zu sammeln, dann eine Meinung baben könnte.“ Aller-
dings, alle Briefe Osler’s wären zu viel gewesen, denn er erfreute alle
seine Freunde mit häufig kurzen, jedoch immer die Freundschaft be-
friedigenden „Notes“. So wäre es auch mit seinen Schecks gewesen,
doch liest man auch über diesen Punkt häufig nur zwischen den Zeilen
dieser Biographie. Sie ist überhaupt in vielen Hinsichten einzig da-
stehend oder jedenfalls „ein seltener Fall“. Es ist vor allem der
Chirurg Harvey Cushing, der damit Jahre seines Lebens dem
Andenken seines Freundes, des Internisten Osler opfert. Der Name
des Biographen ist im mächtigen Namensregister nicht zu finden und
seine Persönlichkeit läßt sich nur durch Eingeweihte an vielen Stellen
binter persönlichen Mitteilungen vermuten. War je eine solche Be-
scheidenheit eines Biographen? Komposition und Durchführung sind
hoch zu loben. Daß man vor lauter Bäumen hier und da den Wald
nur undeutlich sieht, daß bei dieser großartigen Analyse der Persönlich-
keit Osler’s nicht immer der Mann uls Ganzes vor uns steht, scheint
mir bei dieser so berechtigten Art der Behandlung des Stoffes unver-
meidlich. DaB das Werk so umfangreich geworden ist und für den
Durchschnitts-Mitteleuropäer unerreichbar, man möge es bedauern, es
trifft damit den Autor kein Vorwurf. Vielleicht wäre es doch, trotz
Ösler’s Worten über Briefe, erwünscht aus diesem riesigen Strauß ein
kleineres, für einen weiteren Leserkreis von nicht intimen Freunden be-
stimmtes Sträußchen zu sammeln; es wäre als abendliche Lektüre für
den angehenden Mediziner ein prächtiger Wegweiser, dem Arzte nach
schwerem Tage Trost und Stütze, dem jungen akademischen Lehrer der
Wegbereiter zu hohen Idealen, dem zurückblickenden älteren Kämpfer
ein lieber Genosse auf dem Wege zum Endziel des Lebens.
(Wenckebach)
Besprechungen. 375
Voeleker und Ledderhose, Chirurgische Erkrankungen
und Verletzungen der Harnorgane. Pels-Leusden,
Chirurgische Erkrankungen und Verletzungen der
männlichen Geschlechtsorgane. 10. Heft der Samm-
lung „Diagnostische und therapeutische Irrtümer und deren Ver-
hütung“, herausgegeben von J. Schwalbe, 136 Seiten. Thieme,
Leipzig 1925. Preis 5.70 M.
Der vorliegende Band ist in seinem diagnostischen Teil von Voelcker,
in seinem therapeutischen von dem vor kurzem verstorbenen Ledder-
hose bearbeitet. Die diagnostischen Schwierigkeiten, die ja am häufig-
sten Veranlassung zu Irrtümern geben, sind in so klarer Weise darge-
legt, ihre Vermeidung so sehr bis ins Einzelnste beleuchtet, daß ein auch
nur wenig mit der Materie Vertrauter den richtigen Weg zur Diagnose
und damit Therapie finden kann. Es ist aber auch für den auf diesem
Gebiete Geübten ein reines Vergnügen, die aus der Feder V. stammenden,
zum Teil in der Literatur noch nicht gehörten Auffassungen und Er-
fahrungen kennen zu lernen. Das ist ganz besonders der Fall beim
Kapitel der Prostataerkrankungen, der Harnblasenentzündungen, der
Blasendivertikel.e. Einfach und klar ist V. Zusammenfassung der Sym-
ptome bei paranephritischen Eiterungen je nach ihrer Lokalisation. .
Abscesse an der Vorderseite der Niere liegen unter dem Bauchfell und
machen infolgedessen peritoneale Reizerscheinungen wie Meteorismus, Ob-
stipation, Aufstoßen. Die Abscesse am oberen Pol haben den Charakter
der subphrenischen Abscesse, äußern sich durch Hochdrängen des Zwerch-
fells und in den Anfangsstadien durch Singultus, Erbrechen und ähnliche
Symptome. Die Abscesse an der Rückseite der Niere liegen nahe der
Wirbelsäule und der Rückenmuskulatur und verursachen meistens von
dieser Seite her Symptome: Schmerzen bei Bewegung der Wirbelsäule,
einseitige Haltung im Sinne einer Skoliose, Druckschmerz unterhalb der
letzten Rippe. Ganz besonders hat mir der kurze Absatz über Erwei-
terungszustände der Niere gefallen. V. nennt sie absichtlich nicht
„Hydronephrosen“, da dies ja nur einen Endzustand bedeute; ebenso
wichtig können aber auch die Anfangsstadien sein. Der weitverbreiteten
Meinung, daß nach Lösung einer großen Hydronephrose auch große
Mengen Harns durch die Blase erscheinen müßten, tritt er entgegen,
indem er auf die entscheidende Rolle des noch funktionsfäbigen Paren-
chyms hinweist, das nach Nachlassen des Verschlusses sehr lebhaft secer-
niert und in den nächsten Stunden sehr erhebliche Mengen ausscheiden
kann. Große praktische Erfahrung vereint mit modernster Untersuchungs-
technik zeigt endlich der allgemein interessierende Abschnitt: „Über die
Frage, ob ein im Abdomen fühlbarer Tumor der Niere angehört oder
nicht.“
Die Ausführungen Pels-Leusdens über die Irrtümer bei der
Diagnose und Therapie der Penisverletzungen, Entzündungen, Hoden-
und Samenblasenerkrankungen sind einfach und klar geschrieben. Wer
sie gegenwärtig hat, wird vor mancher Fehldiagnose bewahrt sein.
(Kielleuthner, München.)
376 Besprechungen.
3.
E. Leyser, Herzkrankheiten und Psychosen. S8. Karger,
Berlin 1924. 4, — M.
Es ist sicher dankenswert, daß ein Psychiater sich mit den psy-
chischen Störungen bei Herzkrankheiten beschäftigt. Dem Verf. standen
verhältnismäßig zahlreiche Beobachtungen der Gießener und Frankfurter
Klinik zur Verfügung. Es war mir von Interesse, daß der Psychiater
offenbar viel häufiger als der innere Mediziner auch ernstere psychische
Störungen bei Herzkrankheiten und Arteriosklerose günstig verlaufen
sieht. Wir Inneren sehen ja überwiegend derartige Störungen als Vor-
boten des Todes. Vom Standpunkt der inneren Medizin ist es nur be-
dauerlich, daß die Schilderung der Krankheitserscheinungen auch auf
psychischem Gebiete stark hinter den Bestrebungen einer Klassifikation
zurücktritt. Auch außerhalb der Krankengeschichten würde ich anschau-
lichere Krankheitsbilder gewünscht haben. Der körperliche Befund ist
oft nicht ganz ausreichend geschildert. Insbesondere vermisse ich An-
gaben über den Blutdruck und oft über die Temperatur. Es mag sein,
daß die Schrift den Psychiater vollständiger befriedigt.
(Romberg, München.)
4.
A. Renner, Schlafmittel. Erweiterter Sonderabdruck aus den Er-
gebnissen der Innern Medizin und Kinderheilkunde 23. Bd.
Berlin 1925. 125 S. 4,80 M.
Der Verf. hat sich der verdienstvollen Aufgabe unterzogen, auf
Grund eingehender Durcharbeitung des experimentellen und klinischen
Materials und eigener mehrjähriger Prüfung eine kritische Übersicht über
den heutigen Schlafmittelschatz zu geben. Die im ganzen wohl richtig
getroffene Beurteilung der einzelnen Mittel, die unvoreingenommene Be-
trachtung und vielseitige Beleuchtung Er Stoffes werden den Thera-
peuten und allen, die es werden wollen, das Studium der Schrift anregend
und nutzbringend machen. Mitunter möchte man wohl wünschen, gegen-
über den klinischen Ergebnissen ebensoviel Vorsicht angewandt zu sehen,
wie gegenüber dem Tierexperiment,. Weniger gelungen erscheinen dem
Ref. die einleitenden Kapitel über die Theorie des Schlafes, seiner
Störungen und der Schlafmittelwirkung im allgemeinen. Ursache und
Wirkung im Erscheinungskomplex des Schlafes lassen sich doch heute
sicherer auseinanderhalten, als es hier manchmal zu sein scheint. Auch
fehlen die wichtigen Feststellungen H. Straub’s und seiner Mitarbeiter
über den Schlaf des Atemzentrums. Die Übertragung der Beobachtungen
am Atemzentrum auf das Gefäßzentrum dürfte z. B. gerade bei den
ausführlich dargestellten Kreislaufverhältnissen im Schlaf zu einer wesentlich
anderen Auffassung ihrer Bedeutung führen. — Alles zusammen jedoch
eine wertvolle Bereicherung der pharmakotherapeutischen Literatur !
(Haffner, Königsberg.)
Besprechungen. 377
5.
R. v. d. Velden u. P. Wolff, Einführung in die Pharmako-
therapie. Für Mediziner u. Naturwissenschaftler. Leipzig
1925. 200 S. 6,60 M.
Eine Flugzeugaufnahme vom Gebiet der Pharmakologie; einige große
Züge springen überzeugend in die Augen, manches ist vollständig be-
schattet. Beim Nichtmediziner wird das Büchlein kaum Interesse für
die Probleme der Pharmakotherapie erwecken können, weil eine solche
Aufnahme an sich mehr oder weniger auf Anschaulichkeit verzichten muß.
Für den fertigen Arzt dagegen, dem durch die Not am Krankenbett
täglich so und so viele Fragen an die Pharmakologie aufgedrängt werden,
dürfte es als Einführung und Leitfaden zur Vertiefung in die neuere
pharmakotherapeutische Spezialliteratur von Nutzen sein. `
(Haffner, Königsberg.)
6.
R. Martin, Anthropometrie. J. Springer, Berlin 1925.
„Anthropometrische Erhebungen können nur dann vergleichbare
Resultate ergeben, wenn sie nach streng einheitlichen Methoden durch-
geführt werden“ — sagt das Vorwort. Es ist das große Verdienst des
leider viel zu früh versterbenen Verf., ausgezeichnete Methoden der
Anthropometrie geschaffen und an einem jetzt schon erstaunlich großen
Material erprebt zu’haben. Die in ihrem Umfang wohl einzig dastehende
Erfahrung Martin’s über menschliche Körpermessungs- und sonstige
bestimmende und beschreibende Methoden der Anthropologie ließ all-
mählich die jetzige Apparatur entstehen, die in ihrer derzeitigen Aus-
bildung eine bewunderungswürdige Vollkommenheit erreicht hat. Die
vorliegende kurz gefaßte Anleitung ist in erster Linie für den Sozial-
hygieniker geschrieben, hat aber zweifellos auch für den Kliniker gerade
den geeigneten Umfang (47 Seiten). Das eigentliche Meßgerät besteht
aus dem Anthropometer (zur Feststellung der Höhenlage irgendwelcher
Körperpunkte über der Stand- oder Stützfläche), dem Stangen- oder
Schieberzirkel (Körperbreiten usw.), Gleitzirkel (feinere Gesichts- und
Winkelmessungen), Tasterzirkel (Kopfmaße), Bandmaß, Ansteckgoniometer
(Abnahme verschiedener Winkel am Körper). Das wirklich fachmännische,
kunstgerechte Meßvorgehen, ohne das vergleichbare Ergebnisse ausge-
schlossen sind, erfährt eingehende Darstellung. Ein weiteres Kapitel
enthält alle wesentlichen Verhältniszahlen und Indices, das nächste die
Methoden für die Erfassung beschreibender Merkmale wie Haltungstypen,
Haar- und Augenfarben. Der wissenschaftlich exakten, anthropologischen
Photographie ist ein eigener Abschnitt gewidmet, den Schluß bildet die
Darstellung von Proportionsfiguren zur Veranschaulichung der durch die
Meßmethoden gewonnenen Resultate. Zu einer Zeit, in der das Interesse
für die Konstitution und ihre Bewertung für Krankheitsentstehung und
Krankheitsverlauf so groß ist, wie in der jetzigen, wird die Beherrschung
anthropometrischer Methoden sicher vielen Klinikern und praktischen
Arzten wichtig erscheinen und diese vorzügliche kurze Anleitung will-
kommen sein. (H. Kämmerer, München.)
EE EERE PAE
378
Vom Büchertisch der Redaktion.
(Besprechung vorbehalten.)
Abderhalden, Emil: Handbuch d. biolog. Arbeitsmethoden. Unters. v. Gewebs-
u. Körperfl. A. Blut u. Lymphe. Lfg. 179, brosch. 7,20 M.; Lfg. 192,
brosch. 7,50 M.; Lfg. 194, brosch. 7,80 M. Urban u. Schwarzenberg. Berlin
1925/1926.
Allgem. Deutsch. Bäderverband: Deutscher Bäderkalender Abt. A, 1926.
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Gustav Fischer, Jena 1926, brosch. 35,— M., ge eb. 38, — =.
Balneol. Gesellschaft Berlin: Hauskuren mit natürlichen Heilquellen und
Quellprodukten i. d. kassenärztlichen Praxis. 32 S. Bäder- und Verkehrs-
verlag, Berlin 1926.
Boas- kelilar G.: Diätetik d. Magen- u. Darmkrankheiten. 2. Aufl., 19 Abb.,
242 S. Gg. Thieme, Leipzig 1926, brosch. 12,— M., geb. 14,40 =.
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